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Das Gauklershiff, Cover von Lieferung 1
Das Gauklershiff, Titelblatt von Lieferung 1
Das Gauklerschiff, Band 3
Verlag Dieter von Reeken, 2022
Wir müssen nun eine neue Hauptperson einführen, deren frühere Schicksale wir in eine besondere Erzählung kleiden wollen, und versetzen uns dazu in eine Gegend Mitteldeutschlands. —
Auf einem der Hügel, welche das Tal in weitem Kreise umschlossen, stand ein Wandersmann und blickte auf das zu seinen Füßen liegende Städtchen hinab. Hinter den letzten Häusern erhob sich ein größeres, rotes Gebäude, auf dem freien Platze exerzierten Soldaten, dann kamen gleich Felder und Wiesen, die, da in dem Tale weitere Gehöfte fehlten, alle zu dem schlossähnlichen Herrenhaus gehören mussten, das sich im Hintergrunde auf einer bewaldeten Anhöhe erhob.
»Alles noch so! Nur Militär hat es noch bekommen, Infanterie, wohl ein Bataillon. Das wäre ja ausgezeichnet, wenn ich...«
Ein Gendarm war's, ein alter Wachtmeister mit weißem Schnauzbart, der sich lautlos über das weiche Moos ihm genähert hatte.
Seine Neugier war auch berechtigt. Der Wandersmann mochte ja erst 30 Jahre zählen, das ist aber für einen Handwerksburschen mit Felleisen und Knotenstock schon ein verdächtiges Alter, und nun war auch sein Aussehen durchaus kein vertrauenerweckendes. Der Anzug vor Staub gar nicht zu erkennen, die Stiefel ohne Hacken, die Krempe des alten Strohhutes nur noch aus einzelnen Halmen bestehend, und darunter ein dunkelgebräuntes, verwettertes und verwittertes Gesicht, von einem wildwuchernden blonden Vollbarte umrahmt, von zwei furchtbaren Narben durchzogen.
Lächelnd blickte dieses Gesicht, in dem die blauen Augen lustig blitzten, den alten Gendarm an.
»Sie leben auch noch, Herr Wachtmeister Schulze. Das freut mich.«
»Ach was, keine Vertraulichkeiten hier, ob Sie mich kennen oder nicht. Ich kenne Sie nicht. Zeigen Sie mir mal Ihre Legitimationspapiere.«
»Solche, wie Sie wünschen, habe ich nicht.«
»Aha! Wie heißen Sie?«
»Artur Hennig.«
»Was sind Sie?«
»Walfischjäger. Haben Sie keine Beschäftigung für mich? Im Sommer schippe ich auch gern Schnee.«
»Warte, alter Freund! Wo sind Sie gebürtig?«
»Von dort unten.«
Der Gendarm stutzte.
»Sie sind aus Beheim?!«
»Ja. Eigentlich geboren bin ich dort im Schlosse.«
»Und Artur Hennig heißen Sie? Herr Gott, da sind Sie doch nicht etwa...«
Der Wandersmann nickte.
»Der werde ich wohl sein. Der Erbe von jenem Rittergute — gewesen.«
Der Gendarm machte eine Bewegung, als wolle er die Hände überm Kopfe zusammenschlagen.
»Artur Hennig! Ja, jetzt erkenne ich Sie wieder, so furchtbar Sie sich auch verändert haben. Mein Gott, so weit musste es kommen!«
Er wollte ganz wehmütig werden, wie er den vor ihm Stehenden betrachtete, raffte sich auf, wurde wieder dienstlich.
»Wo kommen Sie her?«
»Von Amerika, von New York.«
»Zu Fuß?«
»Nein, mit 'n Schiffe. Das heißt, von Bremen an bin ich zu Fuß gelaufen, das stimmt.«
»Haben Sie denn gar kein Geld?«
»Plenty.«
»Sprechen Sie deutsch.«
»Geld haufenweise.«
»Warum sind Sie denn zu Fuß gelaufen?«
»Weil's mir Spaß macht.«
»Gewöhnen Sie sich doch diesen Spott ab, da werden Sie nicht weit kommen!«, sagte der martialische Wachtmeister in fast bittendem Tone. Vor elf Jahren noch hatte dieser jetzige Landstreicher für ihn manchen Schoppen bezahlt, manches »Bäffschteck«, hatte ihm die Zigarren händevoll in die Taschen gesteckt, das Stück nicht unter 8 Pfennig. Das war ihm jetzt höchst fatal.
»Macht denn das Marschieren keinen Spaß?«
»Dann werden Sie jetzt genug solchen Spaß bekommen.«
»Jawohl, ich weiß was Sie meinen.«
»Sie sind als fahnenflüchtig registriert.«
»Als fahnenflüchtig? O nein, das bin ich nicht.«
»Sie haben sich Ihrer Dienstpflicht entzogen.«
»Das ist etwas ganz anderes. Bisher. Ich komme eben aus Amerika, um meiner Militärpflicht zu genügen.«
»Das ist etwas spät.«
»Oder zu früh. Ich hätte noch zehn Jahre warten müssen.«
»Zeigen Sie mir doch mal Ihre Papiere.«
»Zeigen Sie mir doch mal Ihre Papiere!«, herrschte der Gendarm den Wandersmann an.
»Sie werden sofort als unsicherer Heerespflichtiger eingezogen.«
»Deshalb komme ich ja eben her. Herr Wachtmeister, Sie können doch etwas dazu tun, dass ich hier in Beheim ankomme.«
»Das geht mich nichts an. Haben Sie sich schon in Bremen oder sonst wo gemeldet?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Nu, weil man mich dann sofort festgenommen und in die nächste Kaserne gesteckt hätte.«
»Sie hätten sich aber sofort beim Betreten des deutschen Bodens beim nächsten Bezirkskommando melden müssen. Da Sie das unterlassen haben, werden Sie nun sofort hier eingestellt.«
»Na ja, das will ich doch.«
»Kommen Sie mit.«
Sie schritten den Weg nach der Stadt hinab.
Der alte Gendarm dachte und sann über die Veränderlichkeit des Schicksals.
Auch er war hier geboren, war natürlich nicht von Kindesbeinen an hier Gendarm gewesen, hatte aber mit seiner Heimatstadt immer die engste Fühlung gehabt, hatte in der nächsten Garnison gedient, bis zum Feldwebel und als solcher noch gar lange, nun war er doch schon wieder 14 Jahre hier Gendarm. Er kannte alles, alles.
Schon der Urgroßvater dieses jetzigen Landstreichers hier war der reichste Bauer im ganzen Kreise gewesen, der Großvater hatte vollends alles unter seinem Zepter, unter seiner Mistgabel vereinigt, der Vater, Hermann Hennig, noch das Rittergut dazu erworben, das renovierte Schloss zu seiner Residenz machend.
Es war ein prächtiger Mensch gewesen! Ein feiner Mann, ein generöser Mann, der lebte und andere leben ließe. Und dabei der tüchtigste Landwirt, im Sommer vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl im Sattel, auf den Feldern, abgesprungen und mit einem Scherzwort selbst sich mit in die Räder gestemmt, wenn der schwere Wagen im Moraste stecken blieb, und es brauchte nicht sein eigener Wagen zu sein, einmal war es auch der von dem schlimmen Neidhart gewesen, dem Prozesshansel, der ihn wegen jeder Kleinigkeit verklagte.
Und er hatte eine nicht minder prächtige Frau, eine Uradlige, eine hochgebildete Dame, die hatte ebenfalls viel Geld mitgebracht — und sie hatte doch wie eine echte Bäuerin aus der alten Zeit das Brot für den Hausbedarf stets selbst gebacken, den Teig selbst angerührt und gewirkt, hatte früh dem Briefträger das Butterbrot stets selbst geschmiert und belegt, dem auf dem Rittergut vorsprechenden Gendarmen manches Schnäpschen eigenhändig eingeschenkt.
Und der Artur hier, das einzige Kind, das war auch so ein prächtiger Junge geworden. Wie hätte es denn auch anders kommen sollen. Andere Eltern in solchen Verhältnissen hätten doch aus ihm sicher einen Offizier gemacht. Zumal da die ganze männliche Verwandtschaft der Mutter des Kaisers Rock trug, die Offiziere aus der nahen Residenz fortwährend in dem gastfreien Schlosse lagen. Das Rittergut konnte er später doch immer noch übernehmen.
Aber der Junge hatte so schnell wie möglich die Schulbank verlassen und praktischer Landwirt werden wollen. Die Eltern waren freudig damit einverstanden gewesen. Auf der Realschule sein Einjähriges gemacht und nun ganz zum Vater gekommen. Zu lernen brauchte Artur ja nichts mehr. Der hatte schon als achtjähriger Knirps den schwankendsten Heuwagen durch die schwierigste Passage gelenkt. Was Ökonomie und Agrikultur studieren! Das hatte der alles schon mit der Muttermilch eingesogen. Dann im faulen Winter wurden große Reisen gemacht, da lernte der Junge Land und Leute kennen, bekam Weltschliff. Bis nach Ägypten und Palästina waren sie gekommen, obgleich es damals noch gar nicht solche Gesellschaftsreisen gab.
Da war das Unglück über sie hereingebrochen. Schlag auf Schlag war es gegangen. Der totale Zusammenbruch eines Bankhauses — alles bare Geld futsch. Eine uralte Hypothek fällig, die einzige, aber auch sehr hohe, bisher unkündbar gewesen. Bürgschaft für einen Verwandten geleistet, der eine riesige Zuckerfabrik baut, eine Kleinigkeit für den reichen Hennig — jetzt begräbt die zusammenstürzende Fabrik ihn unter ihren Trümmern. Das Geld so teuer, dass eine zweite Hypothek nicht unter sechs Prozent zu haben ist. Der Inspektor hat die Hagelversicherung zu erneuern vergessen — und die ganze Ernte hagelt zusammen. Eine Viehseuche. Und so fort. Zwei Jahre hatte er noch gewürgt, hatte gekämpft, wie nur ein ganzer Mann kämpfen kann. Dann war er plötzlich verschwunden gewesen. Hatte vorher noch zu Gelde gemacht, was noch zu Gelde zu machen war. Ganz korrekt war er ja dabei nicht gewesen. Aber der rechtschaffenste Mann in Beheim, dessen Gewissen ein rohes Ei war, sagte, dass er an Hennigs Stelle noch etwas ganz anderes getan hätte. Die Geschädigten waren nur Wucherer, Halsabschneider.
Den achtzehnjährigen Artur hatte er mitgenommen. Eine Abmeldung hatte es natürlich nicht gegeben. Bis nach Holland konnten die Gläubiger die Spur verfolgen. Dann verschwand sie für immer. Man hatte niemals wieder von den beiden gehört.
Und jetzt nach elf Jahren taucht dieser Artur Hennig, seinerzeit gewissermaßen der Kronprinz von Tal und Stadt Beheim, hier wieder auf, als Landstreicher! Denn ganz abgesehen von verstaubtem Anzug und durchlöcherten Strohhut und hackenlosen Stiefeln — wer gar keine Ausweispapiere hat, das ist ein Landstreicher — besonders für einen Gendarmen.
»Wie ging's denn?«, brach der alte Wachtmeister das Schweigen.
»Schwer gewürgt, aber immer fidel dabei geblieben.«
»Der Vater?«
»Der ist gleich damals noch auf der Reise im Hospital zu Amsterdam gestorben. Bekam auf der Straße einen Lungenschlag.«
»Ach jeh!«
»Na, er hatte einen ganz leichten Tod, ging ganz fröhlich von hinnen. Um mich hatte er keine Sorge, das war ihm wohl die Hauptsache.«
»Na und Sie?«
»Ich ließ mich in der holländischen Fremdenlegion anwerben, ging nach Java.«
»Ach herrjeh!«
Der Wachtmeister hatte einen Bekannten gehabt, der war auch holländischer Fremdenlegionär gewesen. Des konnte etwas erzählen, wies dort zuging! Schon dieser Transport!
»Auch gegen die Chinesen mitgemacht?«
Er meinte die ständig im Aufruhr liegenden Atschinesen, ein kriegerischer Malaienstamm auf Sumatra.
»Aber feste!«
»Daher wohl die Narben im Gesicht.«
»Habe lange daran gelegen.«
»Ja, ich weiß die langen Krise, wie die Dingen heißen, flammenähnliche Schwerter, und mit vergifteten Pfeilen schießt die Bande. Auch einen abbekommen?«
»Davon bin ich glücklicherweise verschont geblieben.«
»Wie lange sind Sie denn dabei gewesen?«
»Auf sechs Jahre muss man sich verpflichten. Die habe ich durchgemacht.«
»Es zu etwas gebracht?«
»So weit man es dort zu etwas bringen kann«
»Unteroffizier geworden?«
»Ja, der bin ich gewesen.«
»Da haben Sie noch Glück gehabt.«
»Ja, das hatte ich auch.«
»Denn dort geht's ja genau so zu wie in der französischen Fremdenlegion, noch schlimmer. Fremde haben gar keine Chancen, am wenigsten Deutsche. Ich weiß alles. Als wäre ich selber drüben gewesen. Na und dann, als Sie entlassen wurden?«
»Da ging ich nach Amerika.«
»Gearbeitet?«
»Aber feste!«
»In der Ökonomie?«
»Nein, im Tran — Walfischtran.«
»Sie sind doch nicht wirklich auf einem Walfischjäger gewesen?«
»Nein. In einer Fabrik, einer Raffinerie. In San Francisco.«
»Ich dachte schon, auf so einem Schiffe. Das soll ja ein Hundeleben sein. Ich weiß, alles. Geld verdient?«
»O ja, ganz hübsch.«
»Auch was mitgebracht?«
»Na, ein paar hundert Dollars sind.«
»Haben Sie die mit?«
»Sogar einstecken.«
»Und da laufen Sie zu Fuß her?«
»Warum denn nur nicht, wenn's mir Vergnügen macht.«
»Doch nicht etwas auf dem Kerbholz?«
»Gar nichts.«
»Auch nicht von da drüben?«
»Absolut nicht. Unschuldig wie ein neugeborenes Kind.«
»Hören Sie, falls Sie hier eingestellt werden, weil Sie Geld haben — ich will Ihnen einen guten Rat geben. Der Major Grüttner ist ein patenter Mensch, ist wie ein Vater zu seinen Leuten. Aber wehe dem Unteroffizier, der von einem Soldaten auch nur eine Zigarre annimmt! Der fliegt! Wenigstens wenn's zum zweiten Male vorkommt. Da kann der Major zum spionierenden Horcher werden. Und wenn ein Soldat dem Unteroffizier zum zweiten Male etwas anbietet, nur eine Zigarre, das gilt als Bestechungsversuch! Da gibt's beim Major Grüttner kein Erbarmen.«
»Schade. Gerade deshalb hatte ich mir das Geld gleich eingesteckt, dachte...«
»Um Gottes willen nicht! Sie werden gleich von oben herab aufs Korn genommen, haben dann nichts mehr zu lachen. Lassen Sie sich von dem Gelde lieber gar nichts merken.«
»Gut. Ich werde Ihren Rat befolgen. Sie wissen doch, dass ich mein Einjährigen-Zeugnis habe.«
»Na, das ist natürlich hops. Sie müssen volle zwei Jahre dienen, und die sogar erst vom Oktober an gerechnet. Das ist jetzt alles anders geworden. Aber eigentlich viel besser. Einmal sind es doch überhaupt nur noch zwei Jahre, und dann ist der unsichere Kantonist jetzt ganz gleichberechtigt. Es wird ihm gar nichts weiter mehr nachgetragen. Er kann ebenso gut wie jeder andere Offiziersbursche werden.«
»Zu dieser Ehrenstellung hätte ich ja nun weniger Lust!«, lachte Artur.
»Ich meine nur so. Früher gab's ja so etwas nicht beim unsicheren Kantonisten. Der musste seine drei Jahre in der Front abmachen, kam mit keinem Tritt heraus, erhielt keinen Urlaub und gar nichts. Heute ist der einzige Unterschied der, dass er sofort eingestellt wird und dass man die Zeit bis zum nächsten Einstellungstermin nicht mitzählt. Sonst ganz gleiche Rechte. Er wird Gefreiter, kann als Unteroffizier entlassen werden.«
»Ich kann doch ein Gesuch einreichen.«
»Sagen Sie lieber: den Gnadenweg betreten. Können tun Sie's, aber Hoffnung machen dürfen Sie sich nicht die geringste. Haben Sie sich denn wenigstens in Amerika jetzt als Stellungspflichtiger beim deutschen Konsulat gemeldet?«
»Nein.«
»Na da! Dann brauchen Sie gar kein Gesuch erst aufzusetzen, das wird gar nicht befördert. Und jetzt habe ich Sie aufgegriffen, ich würde Sie nicht wieder laufen lassen, dass Sie sich noch jetzt melden könnten. Nicht für eine Million. Das ginge gegen meinen Diensteid.«
»Nein, nein, ich komme ruhig mit, ich mache geduldig meine zwei Jahre ab!«, wurde sorglos gelacht. »Wie ist's denn mit dem Rittergute immer gegangen?«
»Ach — fortwährend aus einer Hand in die andere. Keiner hat darauf bestehen können. Aber jetzt scheint das anders zu werden. Erst kürzlich hat's eine Engländerin gekauft, eine Lady Bristol, eine Adlige. Die hat gleich alle Hypotheken gekündigt.«
»Eine Engländerin?! Wie kommt denn die hierher?«
»Nun, wir haben schon manche feine Engländer und Amerikaner und Russen gehabt. Beheim ist doch jetzt Kurbad, ei ja! Wenn auch niemand weiß, was an dem Wasser eigentlich dran ist. Seitdem wir das Militär bekommen haben, ist Beheim Kurbad. Wir haben ein Kurhotel, eine Kurkapelle, eine Kurtaxe und alles. Ja, die Lady Bristol ist schon vor zwei Jahren einmal hier gewesen, hat ein paar Wochen im Kurhotel gewohnt. Es war ja eine feine Dame, und ein hübsches Weib dazu, ich hab sie ein paar mal gesprochen — aber dass die so viel Geld hätte, das hat niemand geahnt. Trat so einfach auf, keine Zofe und gar nichts. Und jetzt bringt sie aus England ihre eigene Dienerschaft mit, mehr als zwanzig Personen, und ihren eigenen Marstall, wieder mit einem Dutzend Kutschen und Reitknechten. Sie hat es nur auf das Schloss abgesehen. Der bisherige Besitzer betreibt die Ökonomie noch als Pächter, soll's zu einem Spottpreis bekommen haben. Der ist ja glücklich! Na, das wird ja hier ›a Hatz‹ geben.«
»Was für a Hatz?«
»Die ist noch ledig. Und ein pompöses Weib. Und nun hier unsere jungen Off... , das geht mich nichts an. — Was wollen Sie denn nun machen, wenn Sie die zwei Jahre hinter sich haben?«
»Das weiß ich noch nicht. Vorläufig bin ich glücklich, meine Heimat wieder zu sehen, in ihr wieder leben zu können — und wenn's auch nur als Gemeener ist.«
»Jaja, die Heimat! Die hat schon manchen aus Amerika wieder zurückgetrieben, obgleich ihn ein ganz anderes Haus erwartete als die Kaserne. — Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Das machen Sie recht. Das kommt immer noch früh genug.«
Der Herr Wachtmeister schien recht schlechte Erfahrungen mit dem Heiraten gemacht zu haben.
Sie hatten das Städtchen erreicht.
Der unsichere Kantonist war noch an demselben Tage ärztlich untersucht, für tauglich befunden, eingestellt und eingekleidet worden, am anderen Morgen ging es schon los. Er wurde einzeln ausgebildet, ganz allein von einem Unteroffizier. Das ist manchmal sehr nett — manchmal auch nicht. Bei Artur war es nicht nett.
Der Unteroffizier hatte bisher einen bequemen Kammerdienst gehabt, wegen dieses unsicheren Kantonisten musste er jetzt den ganzen Tag auf dem sonnendurchglühten Kasernenhof stehen.
Dem neuen Rekruten konnte ja nicht viel vorgemacht werden. Nur einige Griffe brauchte er zu ändern. Schon am Nachmittag desselben Tages hätte er als tadellos ausgebildet vorgestellt werden können. Aber das wäre reglementswidrig gewesen. Und der Unteroffizier dachte an seine kühle Kammer, wo er jetzt so schön auf den Mänteln hätte schlummern können. »Schlapp! Schlapp! Sie denken wohl, Sie sind noch bei den Chinesen und haben einen Unterrock an, schießen mit Fitschepfeilen?«
Am anderen Tage, als der Unteroffizier gegen dieses Wunder von einem Rekruten etwas milder werden wollte, wurde er aufs Kompaniebüro gerufen. Dort hauchte ihn der Hauptmann ganz eklig an. Der Herr Major hatte aus dem Fenster gesehen, wie sich der exerzierende Unteroffizier dort unten ein Stück Prim abgebissen hatte.
»Und Sie wollen den Leuten mit gutem Beispiel vorangehen? Schämen Sie sich was! Das nächste Mal sperre ich Sie ein.«
Na, an diesem Prim des Herrn Unteroffiziers bekam der Rekrut nachträglich ja noch tüchtig zu kauen. Er wurde mit ihm während der ganzen Einzelausbildung nicht fertig.
Auf der Stube hatte er auch nichts zu lachen. Er war in eine Korporalschaft gekommen, die nur aus Polacken bestand, denen man hier erst mit unsäglicher Mühe den Unterschied zwischen links und rechts beigebracht hatte.
Der Einzelrekrut hatte andere Pausen als die schon ausgebildeten Leute. Einmal hatte der Korporalschaftsführer, ein Unteroffizier, Nachtdienst gehabt, war eben erst aufgestanden, als sich Artur zum Frühstück allein auf der Stube befand.
»Hier, Hennig, wichsen Sie mir mal schnell meine Stiefel.«
Der Rekrut richtete sich stramm auf und nahm die Hände nicht von der Hosennaht, um nach den dargebotenen Stiefeln zu greifen.
»Das habe ich nicht nötig, Herr Unteroffizier.«
»Aha! So! Das haben Sie nicht nötig! Nein, da haben Sie recht, das haben Sie wirklich nicht nötig. Ich bitte Sie höflichst um Entschuldigung, Herr Hennig.«
Ehe der Unteroffizier seine Stiefel selber putzen musste, kamen die Polacken und stritten sich um die Ehre, sie ihm ablecken zu dürfen.
Armer Rekrut! Nicht etwa, dass ihm auch nur versehentlich einmal auf die Hühneraugen getreten wurde. Keine Kniebeuge und dergleichen. So etwas gab's hier nicht! Aber seine eigenen Stiefel musste er jetzt wichsen, immer und immer wieder. Sie waren einfach noch nicht blank genug. Wenn die anderen ihre Freizeit hatten, musste Artur wichsen, immer wichsen, wichsen. Und die Stiefel dazwischen wieder einmal einschmieren und dann abermals blank wichsen, wichsen, wichsen. Und dagegen war absolut nichts zu machen.
Die Einzelausbildung war beendet, Artur wurde der Korporalschaft eingereiht. Die Polacken mussten regelmäßig nachexerzieren, bekamen keinen Urlaub, durften überhaupt nicht ausgehen, hatten auch sonntags nachmittags Stubenarrest, und Artur gehörte mit zu ihnen. Und der musste außerdem noch seine Stiefel wichsen.
Endlich wollte sich des Korporalschaftsführeres Groll gegen ihn, der sich sonst tadellos betrug, doch einmal legen, als Artur beim Bajonettfechten, das in der holländischen wie auch in der französischen Armee ganz intensiv betrieben wird, täglich mehrere Stunden, das Unglück hatte, seinem Unteroffizier eins in den Bauch zu geben, dass ihm Hören und Sehen und Atem verging.
Das hielt der für Revanche, jetzt musste Hennig erst recht Stiefel wichsen, dazu kam noch fortwährendes Bettmachen und dergleichen. Nun verlor aber auch Artur endlich die Geduld, er freute sich immer aufs Bajonettfechten. Bis ihn einmal der Unteroffizier vornehmen musste, dann vertobackte er diesen nach allen Regeln der Kunst, und das kam umso öfter vor, weil Leutnant Tönnchen seine helle Freude daran hatte, den »Hauptmann von Batavia« mit seinem Unteroffizier immer wieder zusammenzubringen.
Doch wir greifen durch Namen vor.
Jedenfalls also konnte durch solche Sachen zwischen den beiden keine Harmonie entstehen, der Unteroffizier wusste sich schon wieder zu revanchieren. Aber vergebens bemühte er sich, diesen Teufelskerl in den Kasten zu bringen oder ihm wenigstens eine Stunde Strafexerzieren aufzuhängen.
Artur hatte zu seinem Gesuche den vorschriftsmäßigen Weg betreten. Er kam vor den Hauptmann, vor den Major, wurde weiter nichts als über ganz Sachliches gefragt. Dass er einst der Kronprinz von Beheim, auf dessen Vaters Schloss die Offiziere der Residenz ständig zu Gaste gewesen, das wusste man hier nicht, das hatte bei der ganzen Sache ja auch gar nichts zu sagen, und ebenso wenig fragte ihn der Hauptmann und der Major, wie es ihm in der holländischen Fremdenlegion gegangen sei und was er in Amerika getrieben habe.
»Können Sie beweisen, dass Sie Ihr Einjähriges gemacht haben?«
»Dieses Schulzeugnis habe ich mir bereits verschafft und es mit eingereicht.«
»Hatten Sie denn im Auslande keine Gelegenheit, sich als Heerespflichtiger beim deutschen Konsul zu melden?«
Ja, die hatte er genug gehabt, das musste er gestehen; er hatte es aber eben nicht getan.
»Ich werde Ihr Gesuch weiterbefördern. Aussicht haben Sie keine.«
Schon nach acht Tagen kam es abschlägig beschieden zurück.
Es wurde in der Kompanie bekannt. Jetzt war er der »Zweijährig-Unfreiwillige«, der von allen Seiten gehänselt wurde. Bis er wieder einen anderen Namen bekam.
Der zweite Leutnant seiner Kompanie war ein von Tonn, genannt Tönnchen. Ein kleines, dickes Männchen mit bartlosem, unschuldigem Kindergesicht, ein possierliches Kerlchen. Sehr eitel, war der einzige, der ein Monokel trug, das pomadisierte Haar bis in den Nacken gescheitelt, nach Parfüm duftend, die Taille zu schnüren versucht, die Brust ausgestopft, im Gehen sich in den Hüften wiegend, immer an einem unsichtbaren Bärtchen drehend — sich seiner unwiderstehlichen Mannesschönheit bewusst. Dazu passte schlecht, dass sein Waffenrock ständig am Hals und an den Ärmeln einen merklichen Fettrand zeigte, die Hosen waren auch nur so, und die Stiefel hatten es manchmal sehr nötig, vom Schuster wieder offizierswürdig gemacht zu werden.
Im Übrigen ein sehr tüchtiger Offizier, auf den auch der Bataillonskommandeur die größten Stücke hielt, das merkten sogar die Soldaten, wie zum Beispiel beim Felddienst, da war es immer nur Leutnant von Tonn, bei dem alles tadellos geklappt hatte, und ferner wussten auch die Leute, dass dies eine Strafversetzung war, vor noch gar nicht so langer Zeit war er erst wieder von der Festung gekommen, hatte ein Duell gehabt, in dem er Sieger geblieben, mit einem Kameraden, der ihn gehänselt hatte. Er war hier auch Turn- und Fechtlehrer der Offiziere.
Und nun außerdem zu den Leuten ein geradezu liebenswürdiger Vorgesetzter! Das sah man ihm auch gleich an. Ein ewig heiteres, selbstzufriedenes Gesicht; wenns nur irgend ging, pfiff oder trillerte er vor sich hin: »Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida« — ein anderes Lied schien er nicht zu kennen.
Als Artur zum ersten Male mit zum Kompanieexerzieren angetreten war, Leutnant Tönnchen die Front abschritt, blieb er vor ihm stehen.
»Was ist denn das für ein Neuer? Ach so, der Hauptmann von Batavia.«
Da war dieser Name zum ersten Male geprägt worden. Es blieb nicht bei diesem einem Male. Der Leutnant richtete selbst.
»Sie da — mit den Schmarren — der Hauptmann von Batavia — — etwas mehr raus!«
Seitdem war Artur der Hauptmann von Batavia. Von der holländischen Fremdenlegion erzählen brauchte er nicht, wurde nicht gefragt. Von wem denn? Er kam ja fast gar nicht aus der Stube heraus, nur zum Dienst. Die Polacken sprachen ihr Kauderwelsch, die wussten überhaupt gar nichts von Indien, der Unteroffizier war sein Todfeind.
Eines Mittags, als die Polen noch beim Essen saßen, während der Hauptmann von Batavia schon wieder an seinen Stiefeln putzen musste, wurde »Ordnung!«, gerufen, Leutnant Tönnchen trat ein, winkte ab, auch dem Unteroffizier, der die Stubenmannschaft voll zur Stelle meldete.
»Schon gut. Haben Sie nicht einen Burschen für mich? Ich brauche sofort... ach, da bin ich wohl in die Polackenstube geraten. Halt, da ist ja mein Hauptmann von Batavia. Hat der Mann eine Strafe?«
»Nein, Herr Leutnant.«
Haben Sie Lust, mein Bursche zu werden?«, wandte sich Tönnchen jetzt an den mit Stiefel und Bürste Strammstehenden, der ohne Vollbart trotz der furchtbaren Narben noch gar nicht so alt aussah, mit seinen neunundzwanzig Jahren unter den anderen gar nicht auffiel.
»Zu Befehl, Herr Leutnant!«, erklang es ohne Zögern.
»Aber Sie müssen auch wirklich Lust haben, ich kommandiere Sie nicht etwa dazu.«
»Ich habe wirklich Lust dazu, Herr Leutnant.«
»Gut. Sie müssen aber sofort kommen, ich brauche Sie. Pfitzmann, der Stromer, sitzt wieder im Loch. Haben Sie schon gegessen? Gut. Hier haben Sie meinen Schlüssel. Rosengasse Nummer acht, erste Etage, vornheraus. An der Tür steht mein Name. Sie treten ins Entree, gehen durch den Salon in mein Schlafzimmer — rechts! nicht links! — da sehen Sie einen kostbar geschnitzten Kleiderschrank, den öffnen Sie, gleich vorn hängt eine Uniform, die reinigen Sie. Verstanden? In einer Stunde bin ich dort. Und ob Sie die Reinigung dieser nicht zu verwechselnden Uniform zu meiner Zufriedenheit ausgeführt haben, davon wird es abhängen, ob Sie mein Bursche werden oder nicht. Ich kann nur einen intelligenten Mann gebrauchen Fort!«
So war Artur doch noch Bursche geworden, er, der ehemalige Kronprinz von Beheim. Die Stiefelwichserei hatte seinen Stolz gebrochen.
Ach, wenn er's nur bleiben könnte! Gerade bei diesem Leutnant. Da hatte er aber erst seine Aufgabe zu lösen. Wenn er nun die richtige Uniform nicht fand? Die falsche reinigte? Gleich vorn sollte sie hängen — ja, was heißt in einem großen Kleiderschrank gleich vorn! Woran sollte man denn erkennen, dass sie nicht zu verwechseln sei? Er kam wirklich zum ersten Male ins Städtchen. Viele, viele erkannten ihn. Nicht aus eigener Erinnerung, sondern weil der Gendarm von ihm erzählt hatte, von seinen zwei mächtigen Narben im Gesicht. Das fiel doch gleich auf!
»Herr Hennig, ist es denn möglich!! Artur! Der Hauptmann von Batavia!«
So klang es ihm wiederholt entgegen und nach. Aber weder der Herr Hennig, noch Artur, noch der Hauptmann von Batavia, was also auch schon bekannt war, hielt sich auf, der dachte nur immer an das Entree, den Salon, das Schlafzimmer rechts, den kostbar geschnitzten Kleiderschrank und an die gleich vorn hängende, nicht zu verwechselnde Uniform.
Er kannte noch jede Straße, jedes Haus. Wenn sich auch manches verändert hatte.
Rosengasse Nummer acht? Das war damals ein baufälliges Häuschen gewesen, unten ein Kohlenschuppen, hatte überhaupt nur eine...
Natürlich, so war es ja auch noch heute! Unten der Kohlenschuppen, dann eine Etage mit kleinen Fenstern und darüber kam gleich das Dach. Und ein hinten heraus gab's ebenso wenig wie früher.
Da hatte sich Leutnant Tönnchen hochnobel ausgedrückt: erste Etage vornheraus. Anders konnte man hier überhaupt nicht wohnen.
Quietschende Stufen, die ganz vorsichtig behandelt sein wollten. Einige Türen, aus der einen roch es nach Schusterpech, aus der anderen nach kleinen Kindern, und an der in der Mitte ein wirklich prachtvolles Schild, Theodor von Tonn, Leutnant und so weiter, auf himmelblauem Grund goldgemalt mit wunderbaren Schnörkeln und Arabesken, mit einer ganz komplizierten Kerbholzschnitzerei eingerahmt.
Er schloss auf. Finstere Nacht gähnte ihm entgegen. Doch es war nur ein Vorhang, der in halber Armeshänge noch das Licht absperrte. Nach Zurückschlagen dieser Portiere befand er sich im... Entree? Nein, schon im Salon. Das Entree hatte er bereits passiert, das hatte eben in der schmalen Spalte zwischen Tür und Vorhang bestanden, in der sich auch ein Schlangenmensch nicht hätte umdrehen können.
Aber dieser Salon nun — ei, der war ja prächtig. Alles Schnitzerei. Wohin man auch blickte — allüberall schönes Kerbholzschnitzwerk! Nur durfte man nicht gar so genau hinblicken, den Untergrund nicht untersuchen. Der prachtvolle Tisch zum Beispiel war im Grunde genommen das allergemeinste, wurmstichigste Möbel, aber ganz mit Kerbholzschnitzerei benagelt, aus gespaltenen Zigarrenkistchen bestehend, die Nägelchen mit goldenen Köpfchen. So auch die Stühle, von denen das ganze Dutzend in der Auktion für fünf Groschen zu haben war, zu wertlos, um sie noch zu Feuerholz zu zerhacken, das war inwendig von Würmern schon mehlig gemacht, aber nun durch die geschnitzten Zigarrenkistenbrettchen mit den goldenen Nägelköpfchen einfach prachtvoll herausstaffiert. Und so auch die Wände eine einzige Kerbholzschnitzerei und alles, wohin man nur blickte. Links eine Tür, natürlich ebenfalls mit Schnitzerei benagelt, und rechts desgleichen eine Tür. Diese also führte in das Schlafboudoir. Merkwürdig, dass sie gar keine Klinke hatte. Und als Artur daran stieß, erschrak er fast. Die Tür und die ganze Wand erzitterte, schaukelte in wellenförmigen Bewegungen.
Es war einfach ein Vorhang, ein Lappen, der wieder mit solchen zahllosen Kerbholzstreifchen beklebt war, hier nicht angenagelt, sondern mit Golddraht angeheftet.
Hinter diesem geschnitzten Holzvorhang nun wirklich das Schlafboudoir, mit Bett und Waschtisch, wieder die elendesten Möbel, zu schade für eine Rumpelkammer, aber wieder so prächtig mit geschnitzten Stängelchen und Scheibchen und Kreuzchen herausstaffiert, über das Bett auch so eine geschnitzte Holzdecke. Artur lüftete sie einmal — darunter Pferdedecken, ohne Überzüge. In diese wickelte sich der Herr Leutnant von Tonn einfach ein, lag gleich auf der Matratze, — wenn's nicht ein Strohsack war.
Und nun vor einem Mauerwinkel wieder solch ein holzbesetzter Vorhang, das nur konnte der »kostbar geschnitzte Kleiderschrank« sein. Artur schlug den klappernden Lappen zurück, und — dahinter hing einsam und verlassen eine einzige Hose! Um ja keinen Irrtum entstehen zu lassen, dass diese einzige Hose diejenige Uniform sei, welche gereinigt werden sollte, sah aus der einen Tasche die mit reicher Kerbschnitzerei versehene Kleiderbürste heraus, aus der anderen die Klopfpeitsche mit nicht minder kunstvoll geschnitztem Griff. Und darüber auf einem Kerbholzbrettchen stand eine halbgefüllte Benzinflasche, der Kork mit einem kerbgeschnitzten Kränzchen umgeben.
Als Artur diese einsame Hose hängen sah, sich dabei noch einmal die ganze, komplizierte Instruktion vergegenwärtigte, wie die zu reinigende »Uniform« zu finden sei, da musste er erst einmal herzlich lachen.
Dann nahm er die Hose. Die hatte eine gründliche Reinigung allerdings sehr nötig. Leutnant Tönnchen musste sich mit ihr geradezu in einem Saucentopf gebadet haben. Der Stoff war sonst noch ziemlich gut.
Der Hauptmann von Batavia klopfte sie zunächst auf dem Flur gründlich aus, dann wollte er sie im Salon mit Benzin vornehmen, wozu auf dem Brettchen ein weißer Lappen lag. Dem Benzin war eine gute Dosis starkes Parfüm zugesetzt. Daher also duftete Leutnant Tönnchen immer so schön, welchem Duft sich aber noch ein anderer, merkwürdiger Geruch beimischte. Doch mit Benzin war da nicht viel zu machen, der alte Fremdenlegionär wusste bessere Mittel. Er ging schnell hinunter und hinüber zum Drogisten, ließ sich auf kein freudiges Wiedersehen ein, kaufte etwas Ammoniakgeist und einige andere geheimnisvolle Substanzen, die überall zu haben sind, von denen aber »niemand nichts weiß«, dass sie auch zum Fleckreinigen gut sind.
Nun begann im Salon das große Werk. Aber auch sonst behandelte er die Hose in eigentümlicher Weise. Eine reichgeschnitzte Kommode war vorhanden, mit vier Schubladen, unverschlossen. Mit Hilfe der obersten wurde der Hosenbund festgeklemmt, in die unterste das Ende der Beine, dann zog er die mittleren Schubladen heraus, bis das Tuch ganz straff gespannt war, so bearbeitete er es mit den Chemikalien, dabei zur Stütze nur die Hand unterlegend, eine Seite nach der anderen.
Nach einer halben Stunde war er mit seinem Werke zufrieden. Die Hose machte einen ganz neuen Eindruck. Zumal dadurch, dass sie jetzt so geglättet war, die üblichen Falten der Neuheit zeigte. Durch das Spannen zwischen den Schubladen. Nur hatte sie dort, wo man sich draufsetzt, ein gerissenes Dreieck. Ohne erst hier nach Nähzeug zu suchen, öffnete Artur, gleich das Richtige ahnend, die linke, wirkliche Zimmertür, in eine wirkliche Kammer führend, die noch einen Ausgang nach dem Flur besaß.
Hier hauste Pfitzmann, der bisherige Bursche, der jetzt im Loche saß oder heute noch hineinkam, mit einem Strohsackbett, einer Decke, Tisch, Stuhl, Petroleumlampe und Kleiderkiste, ohne alle Kerbholzschnitzerei.
Die Kleiderkiste war offen, oben auf den hineingestopften Sachen, alles so liederlich, wie jeder geborene Offiziersbursche ist, lag das Nähzeug, zwar nur den zehnten Teil von dem enthaltend, was es nach Vorschrift enthalten sollte, aber doch wenigstens eine einzige Nähnadel und weißen und schwarzen Zwirn. Der Hauptmann von Batavia »wiebelte« das Dreieck zu, mit einer Geschicklichkeit, um die ihn mancher Flickschneider beneidet hätte, brachte seine Chemikalien hinüber in die Burschenstube, wartete der Dinge, die da noch kommen sollten, brauchte nicht lange zu warten.
»Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida, ganz famos zu leben weiß...«
So trällerte es auf der Treppe, deren Stufen unter den elastischen Turnersprüngen gar keine Zeit zum Quietschen hatten.
»Da sind Sie ja. Uniform gefunden? Fertig?«
Mit unerschütterlichem Diensternst präsentierte Artur die Hose. Leutnant Tönnchen nahm sie, betrachtete sie von allen Seiten erstaunt, misstrauisch, mit neuem Staunen!
»Was soll denn das? Wo haben Sie denn die hier? Das ist doch nicht meine Hose? Die ist doch ganz neu?«
»Zu Befehl, das ist Herrn Leutnants Hose.«
»Ja, den Knopf hier habe ich mir selber angenäht, das stimmt, aber hier war doch ein Loch ein Triangel!«
»Das habe ich zugestopft. Hier war es.«
Ja, nun musste es der Leutnant glauben, und doch betrachtete er noch immer staunend das Kleidungsstück, das er nur in einem ganz anderen Zustande kannte.
»Wie haben Sie denn das nur gemacht?! Die alte Hose ist doch wieder ganz neu geworden? Wie haben Sie denn nur die Falten hineingebracht?«
Der neue Bursche, der er allerdings noch nicht so ganz war, erklärte es ihm an der Kommode.
»I, das ist großartig! Das müssen Sie sich patentieren lassen! Dafür kriegen Sie sofort eine Million! Sie sind überhaupt ein Patentmensch! Es ist ja wahr, ich habe ein ganz besonderes Benzin, meine eigene Erfindung, für die ich sofort eine Million bekäme, aber so wusste Pfitzmann die Flecke damit doch nicht herauszumachen. Das Tuch ist ja ganz wie neu geworden.«
»Das hat auch nicht allein das Benzin gemacht, Herr Leutnant.«
»Was denn sonst?«
Artur zählte die Chemikalien auf, die er dazu verwendet hatte, Tönnchen ging mit hinüber, besah sich die Flaschen, machte dazu etwas große Augen.
»Das haben Sie wohl erst gekauft?«
»Jawohl, drüben beim Drogisten.«
»Gleich bezahlt?«
»Zweiundfünfzig Pfennige.«
Das Kindergesicht bekam noch viel größere Augen. »Zweiund — fünfzig — — Fenge?! Ja, Mensch Sie denken wohl, ich bin ein Millionär?!«
Er zog ein Portemonnaie, das sehr geschwollen aussah, brachte daraus 45 Pfennige in Nickel zusammen, ging hinüber, kramte in seiner Kommode und kam mit sieben einzelnen Pfennigen zurück. Artur hätte sie am liebsten nicht angenommen, aber davon konnte natürlich keine Rede sein.
»Da haben Sie. Ich bin natürlich sehr zufrieden, dass Sie meine Hose so weit gebracht haben, aber ein ander Mal kaufen Sie nichts für mich, was ich Ihnen nicht direkt heiße, auch nicht für einen Pfennig. Verstanden? Also Sie können mein Bursche bleiben, wenn Sie wollen. Pro Monat den üblichen Taler. Sie schlafen hier, essen aber mittags in der Kaserne. Richten Sie sich heute Nachmittag hier ein, ich brauche Sie heute nicht mehr. Wenn Sie Ihr Zimmer mit künstlerischen Kerbholzschnitzereien verzieren wollen, die können Sie von mir in Menge bekommen, mit nur ganz kleinen, unsichtbaren Fehlern. Pfitzmann verstand nichts von Kunst. Wenn Sie Zigarrenkisten auftreiben können, die kaufe ich Ihnen mit 10 Pfennig pro Stück ab, mit sehr dicken Brettern auch mit 15 Pfennig. Ihr bekommt solches Zeug doch geschenkt. Bei unsereinem will so ein Händler an so einer Kiste immer gleich Millionär werden.«
Leutnant Tönnchen griff in die Tasche der gewölbten Brust, brachte ein zusammengequetschtes Zigarrenkistchen heraus, betrachtete es liebevoll.
»Ja, und sonst: ich gebe Ihnen einen Dauerurlaubspaß für die ganze Nacht. Ich bringe meinem Burschen immer Vertrauen entgegen. Pfitzmann, so intelligent er sonst auch war, hat es missbraucht. Der ist gleich drei Tage nicht nach Hause gekommen. So missbraucht ein Schwein seinen Dauerurlaubspaß, aber kein anständiger Offiziersbursche. Ein anständiger Bursche hat einen anständigen Dienstbesen oder eine solide Köchin, die am Tage arbeitet. Ich würde Ihnen zu einer Köchin raten, wenn Sie sonst noch nichts haben. Pfitzmann war nächtelang fort und hat am Tage hier geschlafen, wenn er überhaupt nach Hause kam. Das dulde ich nicht. Keinen nächtlichen Besuch! Auch am Tage nicht! Wenn Sie von einer anständigen Person besucht werden, von Ihrer Mutter oder von ihrer wirklichen Braut, so ist das etwas ganz anderes. Das erlaube ich. Sie wissen genau, was ich meine. Wenn Sie dumm wären, dann könnten Sie nicht so gut schießen und fechten und turnen. Ich habe Sie schon immer im Auge gehabt. Sie sollen sich hier zu Hause fühlen, sich gemütlich einrichten und nicht wie Pfitzmann hier wie ein ungebildetes Schwein leben. Lesen Sie gern? Dort unter der Kommode finden Sie einen ganzen Haufen Bücher, Zola und Jules Verne und Schopenhauer und die Marlitt und Paul de Kock, und Fichte und andere schöngeistige Literatur. Aber nur anständige Bücher gibt's bei mir! Sie können die ganzen zwei Jahre bei mir sein, Sie unsicherer Kantonist, und so einen Offizier finden Sie nicht wieder! Aber halten Sie sich danach! Und — was ich noch sagen wollte: wenn Sie leere Zigarrenkisten auftreiben können, die kaufe ich Ihnen ab. Und wenn Sie täglich eine Million bringen. Sonst noch was? Dann gibts zwischen uns weiter keine Aussprache.«
Mit demselben unerschütterlichen Ernst, wie ihn jetzt das blühende, sonst so heitere, runde Kindergesicht zeigte, hatte Artur den Vortrag angehört.
»Darf ich aus der Menage treten?«
»Aus der Menage? Das gibt's für Offiziersburschen gar nicht.«
»Ich habe genügenden Zuschuss...«
»Ach so! Das ist etwas anderes. Sie können natürlich essen, wo Sie wollen, da mache ich Ihnen doch keine Vorschriften. Auch hier auf Ihrem Zimmer können Sie essen, sich das Mittagsessen hier nebenan aus der Restauration holen. So hat's Pfitzmann auch sehr oft gemacht. Aber die fünfunddreißig Pfennige Menagegeld bekommen Sie nicht aus der Kaserne. Sonst noch etwas?«
»Nein, Herr Leutnant.«
»Gut. Ihr Schlüssel steckt dort drin. Einen Hausschlüssel müssen Sie sich selber besorgen. Ich brauche Sie erst morgen früh um sechs wieder. Zu welchen bestimmten Stunden ich Sie sonst brauche und was Sie da zu machen haben, werde ich Ihnen noch sagen, respektive schreibe ich das von Fall zu Fall dort immer auf die Schiefertafel. Jetzt gehen Sie nach der Kaserne und holen Ihre Sachen. Als Bursche abkommandiert gemeldet sind Sie schon. Gehen Sie einmal zu Pfitzmann, sprechen Sie mit ihm, er wird noch auf seiner Stube sein, Nummer 15.«
Der nunmehr angenommene Bursche trottete sich. Noch im Laufe desselben Tages erfuhr er alles, was er wissen wollte, nicht nur von Pfitzmann, der das Burschenleben überdrüssig geworden — er war dabei ganz auf den Hund gekommen — der auch nur noch wenige Wochen vor sich hatte und der trotz seiner unfreiwilligen Entlassung noch von Leutnant Tönnchen nur in Begeisterung sprach.
Das ganze Städtchen wusste es, wovon der Leutnant glaubte, dass niemand etwas davon wisse. Es war nämlich das reine Hungerleben, was dieser adlige Leutnant führte. Er hatte einmal viel Geld gehabt, oder vielmehr sein Vater, aber das war schon längst vorbei. Von keiner Seite Zuschuss mehr. Hatte absolut nichts weiter als monatlich seine 80 Mark.
Ein Glück für ihn war es, dass der Bataillonschef seine Offiziere nur bei unumgänglichen Pflichtessen im Kasino versammelt sehen wollte, sonst konnte jeder leben wie er wollte, brauchte niemals ins Kasino zu kommen, was ja nicht etwa in jeder Garnison der Fall ist.
Immerhin, mit monatlich 80 Mark auszukommen, das ist für einen Leutnant ein Kunststück. Dieser adlige Leutnant, der einst in dulci jubilo gelebt, brachte es fertig. Aber freilich wie! Besonders die Gewinnung seines täglichen Mittagsessens war schon eine ganz komplizierte Geschichte.
Wir müssen den ehemaligen Burschen wieder in die Gegenwart rücken.
Pfitzmann musste also in der Kaserne essen, tat es auch wirklich. Scheinbar aber holte er sich sein Mittagsessen nebenan aus einer kleinen Arbeiterkneipe, für 50 Pfennig Suppe, geselchtes oder gebratenes Fleisch, Kartoffeln, Gemüse und auch noch ein großes Stück Brot. Das kaufte ihm der Leutnant nobel für 55 Pfennig ab.
Der Bursche holte sich Wurst, Schinken, Käse, natürlich immer dort, wo es am billigsten war, brachte es meist aus der Kantine mit — Leutnant Tönnchen kaufte es ihm mit einem kleinen Zuschlage ab. Der Leutnant rauchte leidenschaftlich, Pfitzmann gar nicht. Der priemte nur. Aber er musste so tun, als ob er rauche, musste sich Knaster kaufen, das Hundertgrammpäckchen womöglich nur für einen Groschen, Fünfundvierzigpfennigzigarren — Herr Leutnant von Tonn stänkerte damit seinen künstlerisch geschnitzten Salon voll.
So kam er mit den 80 Mark aus. Und wenn der liederliche Pfitzmann nun mittags einmal nicht zu Hause war? Na, dann sparte der Leutnant eben seine 55 Pfennige, knabberte Brot und Speck, womit er Fleisch und Butter zu vereinen wusste, und wenn er das nicht zu Hause hatte, dann hungerte er einstweilen, bis der Bursche wiederkam und aß dann auf einen Sitz gleich ein halbes Kommisbrot auf.
Das alles wusste das ganze Städtchen. »Der lebt wie Leutnant Tönnchen.« Das war ein Schlagwort geworden, um eine ganz sparsame Lebensweise, bei der man aber doch möglichst viel genießen wollte, äußerlich auftrat, zu bezeichnen. Es wurde ja viel gelacht, sogar gespottet, aber... im Großen und Ganzen stand Leutnant von Tonn doch im höchsten Ansehen, und zwar gerade bei den angesehensten Personen des Städtchens
Die Hauptsache war ja, dass er keine Schulden machte. Es wäre doch spaßhaft gewesen, wenn dieser Leutnant, ob nun adlig oder nicht, nicht alles geborgt bekommen hätte. Natürlich hätte es einmal eine Grenze gegeben, aber die war doch sehr weit gesteckt. Doch Leutnant Tönnchen blieb keinen Pfennig schuldig! Wenn die neue Uniform und die neuen Stiefel kamen, wurden sie sofort bar bezahlt. Das machten die anderen Offiziere nicht, wenn sies vielleicht auch hatten. Und nicht etwa, dass er auswärts größere Schulden auf Wechsel und dergleichen gehabt hätte. Der fürchtete keinen Besuch eines Gläubigers, der konnte jeden Brief mit Ruhe öffnen. So etwas hat man in solch einer kleinen Garnison, wo man sich für alles interessiert, doch sofort heraus.
Und diesem Hungerleben und allem sonstigen Elend hätte Tönnchen mit einem Schlage ein Ende bereiten können! Er brauchte nur seine zehn Finger auszustrecken, und zehn reiche Mädchen hingen daran, unter denen er hätte wählen können.
In dem alten Städtchen gab es schwerreiche Familien. Da war zum Beispiel der Holzhändler Noak, der im ganzen Bezirk alle Bäume abgehackt hatte, die er abhacken durfte, ein doppelter Millionär, mit nur einem einzigen Kinde, einer heiratsfähigen, sehr, sehr hübschen Tochter, deren Hasenscharte man fast gar nicht bemerkte, in einem Pensionat erzogen, sodass sie nur dann und wann »mir« und »mich« verwechselte und dass sie »nunger« anstatt »hinunter« sagte und jeden Satz mit einem »niwwer?«, schloss, was »nicht wahr?«, bedeuten sollte, außerdem sich bei einem Besuch im Voigtland das schöne »gelle heh?«, angewöhnt hatte, das hatte doch gar nichts zu sagen.
Leutnant Tönnchen hätte nur anzuklopfen brauchen. Der Holzhändler hätte sich noch bei Lebzeiten von einer sauer erhackten halben Million getrennt. Sofort! Und nicht etwa, dass da jeder andere Leutnant hätte kommen können. Gott bewahre! Ein Graf hätte umsonst angepocht. Gab's nicht. Das kennt man schon. Zwei Millionen sind schneller verfeuert als zusammengehackt. Aber hier, dieser Hungerleutnant — vor dem riss Stadtrat Noak schon am andern Ende der Straße den Hut ab.
Aber Leutnant Tönnchen pochte eben nicht an. Nun gut, so pochte man bei ihm an.
Es gab viele Gelegenheiten, bei denen die Offiziere mit den besseren Bürgerkreisen zusammenkamen. Kaisers- und Königsgeburtstag, Reunion, Wohltätigkeitsfest des B. F. S. V. Z. B. C. N. U. S. J. M. W. S. — Beheimer Frauen-Strick-Verein zum Bekleiden christlicher Negerkinder unter sechs Jahren mit wollenen Strümpfen — dessen Präsidentin die Frau Kommandeuse war, und ähnliche Anlässe mehr.
Immer war Leutnant Tönnchen der Umschwärmteste. Erstens weil er wirklich wie ein Gott tanzte, und zweitens, weil er eben derjenige war, welcher. Der seiner Frau das Wörtchen »von« verlieh und dem der Papa auch das Geld anvertraute, weil der doch nicht alles in leeren Zigarrenkisten vermöbeln konnte.
Besonders war es immer Fräulein Noak, welche die verwegensten Versuche machte, ihn vollends zu ködern, wenn sie ihn einmal erwischt hatte.
»Hier isses doch furchtbar heiß niwwer? Wollen mir nich e bisschen in dn Garten nunger gehn, gelle heh?«
Aber Tönnchen ging nicht mit nunger, oder nur dorthin, wo es im Garten ganz hell war. Denn trotz seines unschuldigen Kindergesichts hatte er es doch ganz tüchtig hinter den Ohren, hatte gar scharfe Augen — er war ja auch Fechtmeister — sah die Mama Noaken immer zum Sprunge bereit im Hinterhalt stehen.
Als es auf diese Weise nicht ging, versuchte man es auf andere, um sein stolzes Herz zu rühren. Oder es mochte auch wirkliches Mitleid sein, dass man dem Hungerkünstler anonyme Schinken und Würste, ganze Kisten mit Fressalien zuschickte. Vergebens. Leutnant Tönnchen überwies alles sofort dem Armenhaus. Einmal auch 500 Mark, worüber im Stadtblättchen quittiert werden musste: von Leutnant Th. von Tonn im Auftrage eines edlen Unbekannten.
Und als dann der Wohltätigkeitsbasar veranstaltet wurde, da hatte Leutnant Tönnchen eine ganze Batterie von gestickten Hausschuhen und Pantoffeln, Schlummerrollen, Zigarrenetuis mit seinem eigenen Monogramm und ähnlichen Sachen gestickt, lauter weibliche Handarbeiten.
Von da an hörten die anonymen Sendungen auf. Nur einmal kam etwas an, und mit diesem Geschenk wurde Leutnant Tönnchens schwächste Seite getroffen, da sollte er einen harten Kampf mit sich selber durchzufechten haben: eine ganze Waggonladung leerer Zigarrenkisten.
Ja, damals sollte er, wie der indiskrete Pfitzmann verraten hatte, in seinem künstlerisch geschnitzten Salon schwer mit sich gerungen haben. Aber er war der stolze Sieger geblieben. Der Kutscher hatte mit seinen leeren Zigarrenkisten wieder abfahren müssen. Dabei aber spekulierte er wirklich auf eine reiche Frau, das sagte er selbst. Ja, was wollte er denn eigentlich? Eine mit einer Milliarde oder doch mit hundert Millionen, so ein amerikanisches Goldfischchen? Da konnte er wohl lange warten, da gab es denn doch noch andere als solche Tönnchen.
Nun, er sagte es wiederum selbst, was er eigentlich wollte, natürlich nicht zu den heiratsfähigen Töchtern oder deren Eltern, sondern zu seinen Freunden.
Dann überzeugte er sich, dass sein Poposcheitel in tadelloser Ordnung war, klemmte das Monokel ein, drehte an seinem unsichtbaren Bärtchen und erklärte:
»Nicht nur dreierlei, sondern viererlei verlangt Leutnant Theodor von Tonn von seiner zukünftigen Gemahlin: erstens sehr viel Geld; zweitens sehr viel Schönheit; drittens sehr viel Bildung; viertens sehr viel Rrrasse. Überhaupt etwas ganz Exklusives. Das ist für mich gerade gut genug. Ich weiß, was ich wert bin, und billiger verkaufe ich mich nicht. Bis dahin wird weiter an einer Brotrinde und einem Schinkenknochen geknabbert.«
Dies alles hatte Artur noch im Laufe des Nachmittags erfahren, besonders an einem arbeitsscheuen Stammtisch, an dem er einige Stunden verbracht, an dem schon sein Vater manchmal gesessen hatte.
»Mit dem Essen, das Du für ihn holen musst, als wäre es für Dich, wird er schon selber zu Dir kommen!«, hatte Pfitzmann zu seinem Nachfolger gesagt. »Dass Du nicht etwa davon anfängst.«
Hatte der eine Ahnung!
Als er gegen Abend mit seiner Kleiderkiste unterwegs war, kaufte er sich einige Kleinigkeiten, die er bisher vermisst oder noch gar nicht gebraucht hatte, da er ja noch gar nicht aus der Kaserne herausgekommen war.
»Haben Sie nicht ein paar leere Zigarrenkisten?«
Ein halbes Dutzend war da, das Stück einen Groschen. Der neue Bursche hielt seinen Einzug in die Kammer, die unterdessen von seinem Vorgänger geräumt worden war. Drüben brannte schon Licht, Tönnchen pfiff sein »Studio auf seiner Reis'«, schien gar nicht fortgewesen zu sein. Um ihn zu kümmern hatte sich der Bursche natürlich nicht, wenn er nicht gerufen wurde, und sein Kommen würde schon gemerkt werden.
»He, Hauptmann von Batavia!«
Tönnchen saß in Hemdsärmeln am Tisch, bearbeitete im Scheine der Petroleumlampe gespaltene Zigarrenkistenbrettchen mit dem Messer, hatte auch eine Laubsäge und andere Werkzeuge daliegen.
»Haben Sie sich eingerichtet?«
»Ich bin gerade dabei, Herr Leutnant.«
»Haben Sie Zigarrenkisten gesehen?«
Freudestrahlend nahm Tönnchen das halbe Dutzend in Empfang, das Kindergesicht war wirklich von seliger Freude ganz verklärt, und doch glaubte Artur darin nebenbei einen leisen Zug von Kummer zu entdecken, dessen Ursache übrigens gar nicht schwer zu erklären war.
»Was haben Sie dafür bezahlt?«
»Zehn Pfennig fürs Stück, Herr Leutnant.«
»So. Hm. Das sind sie ja auch wert. Sehr schönes Holz, amerikanische Zeder. Das ist sehr hübsch von Ihnen, dass Sie daran gedacht haben. Nun bringen Sie mir aber vorläufig keine mehr, bis ich es Ihnen sage. Hier haben Sie zwei Mark. Siebzig Pfennige davon gehören Ihnen. Jetzt gehen Sie mal hinunter in die Restauration von Winkler, da ist heute Schlachtfest, holen Sie mir eine Bratwurst mit Sauerkraut. Kostet dreißig Pfennige. Lassen Sie sich einen großen Klecks Senf auf den Teller geben. Verstanden?«
»Zu Befehl, Herr Leutnant.«
»Halt! Warten Sie mal noch. Für wen sollen Sie die Bratwurst holen?«
Aha, jetzt kam es!
»Für mich selbst!«
Da mit einem Male wurde das heitere Kindergesicht furchtbar ernst, böse, die kurzen, sehr kräftigen Finger begannen auf dem Tisch zu trommeln, mit fast finsteren Augen blickte er den Burschen an.
»Für — Sie — selbst?! Wer hat Ihnen denn das gesagt? Etwa ich? Oder Pfitzmann? Oder wer sonst? Gut! Ich will es nicht wissen! Mir ist etwas zu Ohren gekommen! Lächerlich! Sie gehen in die Restauration und sagen mit vernehmlicher Stimme: eine Bratwurst mit — Sauerkraut — für — Herrn — Leutnant — von — Tonn! Verstanden? Der Herr Leutnant bittet um einen Klecks Senf. Verstanden? Und dann gehen Sie nebenan zum Krämer und sagen mit vernehmlicher Stimme: fünf Zigarren zu fünf für — Herrn — Leutnant — von — Tonn — — und noch fünf Zigarren zu vier Fengen für — Herrn — Leutnant von — Tonn! Verstanden? Gehen Sie.«
Ganz bestürzt verließ Artur das Zimmer. Und dann stieg es diesem dreißigjährigen Manne, der die Welt gesehen, der doch unter ganz besonderen Verhältnissen noch seiner Dienstpflicht genügte, plötzlich siedend heiß zum Herzen empor.
Gerede war es gewesen und war es noch, nichts als Gerede!
Diesen braven Spießbürgern hier genügte es schon, dass dieser junge Leutnant mit seinen 80 Mark auskam, ohne Schulden zu machen, das achteten sie schon hoch.
Aber was in diesem Manne sonst noch für ein Charakter steckte, das ahnten sie nicht, konnten sie nicht verstehen, das ging über ihren Horizont. Sie schlossen eben von sich auf andere, in aller Ehrenhaftigkeit.
Dieser Leutnant mit dem Kindergesicht — mochte er auch als Mensch seine Schwächen haben — war ein ganzer Mann vom Scheitel bis zur Sohle!
Und wie er den neuen Burschen in seine Wohnung geschickt hatte, wie er sie beschrieb, das Entree und so weiter, in dem kostbar geschnitzten Kleiderschrank gleich vorn die erste Uniform, nicht zu verwechseln — das war einfach Humor gewesen, spottende Witzelei über sich selbst und seine Verhältnisse.
Aber so etwas, wie er es sicher immer machte, wurde hier natürlich nicht verstanden. Und der Leutnant hielt es doch nicht etwa für nötig, seinen Burschen darüber aufzuklären, wie das nur ein Witz gewesen sei. Der belustigte sich eben selbst in seiner Weise.
Als Artur mit dem Gewünschten zurückkam, fragte der Leutnant nicht erst, ob der Bursche das auch so verlangt hatte. Das war für ihn ganz selbstverständlich und er befand sich wieder in rosigster Laune.
»Schön, mein Hauptmann von Batavia. Aaah, das ist wohl eine extra lange Wurscht. Wie sies nur für dreißig Pfennige herstellen! Stimmt das Geld? Hier haben Sie einen Groschen.«
Natürlich, weil er seinem Burschen fürs Holen ganz unnötiger Weise immer noch extra etwas gab, eben bei aller Dürftigkeit und Sparsamkeit immer noch nobel, musste er's dem »abkaufen«!
Ebenso natürlich aber hatte der Bursche den Groschen zu nehmen, durfte dafür kaum ein »danke, Herr Leutnant« sagen.
»Herr Leutnant?«
»Was gibt's noch?«
»Darf ich Briefe an mich hierher adressieren lassen?«
»Selbstverständlich.«
Die Tage vergingen. Artur putzte, klopfte und bürstete, wischte die Dielen, stäubte im Salon ab oder saugte vielmehr mittelst eines ingeniös erdachten Apparates, von Leutnant Tönnchen selbst aus einer alten Radluftpumpe gefertigt, den Staub aus den zahllosen Schnitzereien ein, holte für seinen Herrn das Essen. Sonst hatte er nichts weiter zu tun, auch keine Wege zu gehen, ging auch selbst selten einmal aus, saß in seiner Kammer, las viel, schrieb auch viel Briefe.
Ebenso sein Leutnant, wie der es ja schon immer gehalten. Wenn er keinen Dienst hatte, saß er zu Hause, sägte, schnitzte und nagelte. Es war bei ihm eine Leidenschaft geworden. Er opferte seinen Schlaf dafür. Immer wieder riss er Schnitzwerk ab, um neues, besseres an die Wände zu nageln. Aber die Hauptsache war ja, dass es ihn glücklich machte.
Hungerleben? Jammerdasein? Elend?
Davon war bei dem nichts zu merken. Erstens aß er sich jeden Tag satt, und zweitens pfiff und trällerte der bei seiner Schnitzerei und überall, wo es nur angängig war, nicht nur aus Angewohnheit so vor sich hin, das kam bei ihm wirklich aus fröhlichem Herzen heraus. Dieser Mann war wirklich glücklich!
Näher kamen sich die beiden nicht, wie's wohl sonst manchmal geschehen kann. Hier Leutnant von Tonn und dort Bursche Hennig — und wenn er ihn auch immer den Hauptmann von Batavia nannte, wenn er auch zu ihm von geradezu liebenswürdiger Freundlichkeit war — deshalb kam ihm Artur keinen Zoll näher. Es fiel ihm auch gar nicht ein, den für einen Soldaten doch schon so alten unsicheren Kantonisten einmal nach seiner Vergangenheit zu fragen, er wusste doch, dass er in Indien und Amerika gewesen war, sechs Jahre in der holländischen Fremdenlegion gedient, mörderische Kämpfe mitgemacht hatte, das hätte den jungen Offizier doch interessieren müssen.
Nein, keine einzige Frage deswegen. In dieser Hinsicht war der Bursche, den er sonst so freundlich behandelte, Luft für ihn.
Und Artur, wie wir gleich verraten wollen, war nun derjenige, der den Grund hierzu verstand. Aber dieser Grund ist mit Worten kaum zu erklären, deshalb sei es gar nicht erst versucht.
Wer die Verhältnisse in der Marine oder in der Kauffahrteischifffahrt kennt, der weiß es am besten. Es ist eine Undenkbarkeit, dass der Kapitän — gleichgültig, ob von einem Ozeandampfer oder von einem Ostseesegler — das Matrosenlogis betritt. Das kann sich ein Matrose im Geiste gar nicht vorstellen. Weshalb nicht? Weil es gegen die Bordroutine geht. Was ist das, die Bordroutine? Das vermag kein Matrose zu erklären. Das ist ein ungeschriebenes und unausgesprochenes Gesetz, und dennoch ein eisernes Gesetz. Der Kapitän kann sich mit jedem Matrosen freundlich unterhalten, sich von ihm erzählen lassen, im Dienst, auf Wache, aber es ist eine Unmöglichkeit, dass der Kapitän die Behausung der Matrosen betritt. Und außerdem, auch so eine Merkwürdigkeit, die vertrauliche Unterhaltung kann nur auf der Leeseite erfolgen, auf der Seite, wohin der Wind geht; in Luv ist der Kapitän unnahbar.
Der Leutnant hingegen kam häufig in des Burschen Stube; aber er unterhielt sich nicht mit ihm über persönliche Angelegenheiten.
»Herr Leutnant.«
»Nun, was gibt's, edler Hauptmann von Batavia?«
»Herr Leutnant hatten doch einmal gesagt, wenn ich meine Kammer mit solchem Schnitzwerk...«
Artur kam gar nicht zum Aussprechen. Tönnchen war schon dabei. Mit einer wahren Wut stürzte er sich über das Austapezieren der Kammer seines Burschen. Zu der spottbilligen Wohnung gehörte auch noch ein Verschlag, den hatte Tönnchen schon mit solchen kerbgeschnitzten Stängelchen, Rädchen und Sternchen vollgepfropft, mit diesen benagelte er jetzt die Wände der Burschenkammer, den Tisch, den Stuhl, das Bett und was sonst noch zu benageln war. Aber das war alles erst pro forma, um den Eindruck vom Ganzen zu gewinnen. Das alles wurde nach und nach wieder abgerissen und durch neue Schnitzerei ersetzt. Hierbei wurde er auch gesprächig, wollte das Urteil des Burschen hören; das war ja auch wiederum etwas ganz anderes. Im Reiche der Wissenschaft und Kunst herrscht Freiheit.
»Hier werde ich lieber doppelten Kerbschnitt anbringen? Meinen Sie nicht? Oder wie würde sich hier einfacher Schwalbenschwanz mit Kreisschnitt ausnehmen? Treten Sie mal zurück. Halten Sie sich ein Auge zu. Wie nimmt sich das aus?«, Und dann fing er an zu sägen und zu spalten und zu raspeln und zu schnitzen, jetzt ging es erst recht immer die halbe Nacht durch, um seines Burschen Kammer zu schmücken. Es war wirklich rührend. Diese Kopfschmerzen, die sich der arme Mann machte, ob er seines Burschen Strohsacklager mit einfachem oder mit doppeltem Schwalbenschwanzschnitt verzieren sollte, und er nagelte und prüfte in den verschiedensten Entfernungen durch die Faust als Fernrohr und riss wieder ab und nagelte und nagelte, bis er das ganze Bett in Stückchen genagelt hatte und diese erst wiederzusammenleimen musste. Und trotz der Kopfschmerzen, die ihm das machte, pfiff und trällerte und zwitscherte er doch dabei, wie nur ein Vögelchen im Hochzeitsmond pfeifen und trällern und zwitschern kann.
Mit einem Male aber, es war am vierten Tage dieser uneigennützigen Liebesarbeit, verstummte das Pfeifen und Trällern. Er schnitzte emsiger denn je, blieb in der Nacht noch länger aus, aber er war stumm dabei geworden. Grübelte er vielleicht darüber nach, ob es auch noch eine andere Melodie gebe als das jubsheidi, jubsheida des reisenden Studios?! Nämlich wenn der Kanarienvogel einen anderen Schlag und neue Roller beginnen will, was manchmal vorkommt, dann sitzt er auch immer erst so still da.
Aber bei Leutnant Tönnchen wollte kein neuer Schlag und kein neuer Roller kommen, er pfiff kein neues Lied, und überhaupt... bei dem musste etwas nicht in der Ordnung sein. Das Kindergesicht war nicht mehr so sonnig heiter — es war überhaupt gar kein richtiges Kindergesicht mehr. Und dann beim Essen. Oder vielmehr beim Essenholen, wenn er den Burschen danach schickte, erst den Speisezettel wissen wollte, wenn er ihn, am Fenster der Wirtschaft hängend, nicht schon selbst studiert hatte, diese Wahl und Qual zwischen den beiden Fünfgroschengerichten, aus denen die ganze Speisekarte bestand! Das war bisher immer eine gar wichtige Angelegenheit gewesen.
»Rindfleisch mit Reis und Pflaumenkompott. Hm. Oder Schweinebraten mit Kartoffeln und Selleriesalat. Hm. Wenn ich wüsste, dass — hm. Am liebsten wäre mir ja der Schweinebraten mit dem Bouillonreis. Aber da kriege ich natürlich keine Kartoffeln. Bringen Sie mir — hm. Wenn ich den Selleriesalat nur erst einmal sehen könnte. Na, da bringen Sie mir Rindfleisch mit Reis und Pflaumenkompott.«
Das gab's jetzt nicht mehr.
»Bringen Sie mir, was Sie wollen!«
Er titschte die Sauce ja immer noch mit einem ganzen Pfund Brot auf, aber das Richtige war es nicht mehr.
Am dritten Tage dieser Periode bekam Artur Hennig mit der Morgenpost zwei Briefe, einen eingeschriebenen und einen einfachen.
Er öffnete den eingeschriebenen, nickte zufrieden, erbrach den anderen. Da nickte er nicht zufrieden. Er begann zu zu starren.
Auf Ihr wertes gestriges Schreiben erwidern wir höflichst, dass wir Ihren übermorgen fälligen Wechsel über 4000 Mark nicht wieder prolongieren können...
Alle Wetter! Da stand es ja darüber — Herrn Leutnant Th. von Tonn Hochwohlgeboren — und natürlich auch auf dem Kuvert! Der Briefträger hatte nichts gesagt, Artur hatte den Brief erbrochen, ohne einen Blick auf die Adresse zu werfen.
Na, das konnte ja gut werden. Was war da zu machen? Gar nichts. Jetzt hatte der Leutnant Felddienst, da konnte er ihn nicht aufsuchen, um elf, in zwei Stunden, kam er so wie so nach Hause.
Er kam.
»Herr Leutnant, ich habe versehentlich einen Brief von Ihnen erbrochen.«
»Macht nix, kann mal vorkommen. Ein ander Mal sehen Sie erst richtig auf die Adresse.«
Artur begab sich erleichtert wieder in seine Kammer. Aber was war das? Es wurde Mittag, es wurde ein Uhr, und der Leutnant rief ihn nicht, dass er Essen hole. So spät wurde es sonst nie, auch nicht wenn er dienstfrei wie heute war, brachte immer einen Riesenappetit mit. Übrigens hätte er seinen Burschen auch sonst brauchen müssen, er hatte noch seine staubigen Sachen an, die ja nicht etwa nur aus der Dienstuniform und der einen Hose bestanden. Das wurde anderswo aufbewahrt.
Da endlich — »Hennig!«
Tönnchen saß vor dem Tische, untätig, noch in denselben Sachen, starrte vor sich hin, und jetzt war das erst recht kein Kindergesicht mehr.
»Herr Leutnant?«
Verwundert und verdrießlich blickte er auf.
»Was wollen Sie?«
»Herr Leutnant hatten mich gerufen.«
»Ich? Ach so. Nein. Schon gut.«
Artur ging wieder hinüber. Erst jetzt fing er richtig darüber nachzudenken an, was er da zufällig gelesen hatte.
Also doch Schulden! Wechselschulden. Na, warum denn nicht? Wer wusste denn, wie er dazu gekommen war? — Aber das sich so furchtbar zu Herzen nehmen? Sollte denn Leutnant von Tonn nicht die 4000 Mark auftreiben können, um übermorgen oder vielmehr nun morgen den Wechsel einzulösen? Lächerlich! Er brauchte deswegen auch nicht zum Holzhacker Noak zu gehen, weil er sich dort vielleicht anderweitige Verpflichtungen hätte aufladen können. Da gab es hier noch viele andere, die ihm sofort 4000 Mark verschafften.
Indem das dieser welterfahrene Offiziersbursche wusste, wusste er aber auch zugleich, dass über so etwas gar nicht zu debattieren ist.
Der eine spekuliert mit Millionen, verliert sie, schließt mit einer Unterbilanz von einer Million ab und fängt einfach von vorn an, tritt nicht nur als tadelloser Ehrenmann auf, sondern hält sich selbst wirklich für einen solchen, ist tatsächlich entrüstet und erstaunt, wenn ihm der Kredit verweigert wird. Ein anderer schämt sich zu Tode, glaubt, jeder auf der Straße müsse ihm ansehen, dass er nicht gleich beim ersten Termin seine Steuern bezahlt hat; hält eine Mahnung für eine unauslöschbare Schande. Und jener ist vielleicht in physischer Hinsicht ein elender Feigling, dieser ein tollkühner Draufgänger.
Das sind Charakterveranlagungen. Darüber lässt sich gar nichts weiter sagen.
Jetzt wurde drüben im Salon gegrübelt, und hier in der Burschenkammer auch. Wieder verging eine Stunde.
Da stand Artur auf, nahm ein Papier, klopfte an, brauchte kein »Herein« abzuwarten, trat ein.
Herr Leutnant Tönnchen saß fast noch genau so da, schien den Burschen gar nicht zu bemerken.
»Herr Leutnant.«
»Was gibt's denn schon wieder? Ich habe Sie doch nicht gerufen.«
»Ich habe heute früh einen Scheck über zehntausend Mark bekommen.«
Er legte das Papier auf den Tisch, der Leutnant nahm es, machte ein erstauntes Gesicht
»Wie kommen Sie denn dazu?«
»Ich bin in Amerika...«
»Das geht mich nichts an!«, wurde er gleich unterbrochen, das Staunen war sofort wieder verschwunden, der Scheck wurde ihm gleichgültig auf den Tisch hin geworfen.
»Na, was wollen Sie denn sonst noch?«
»Ich wollte den Herrn Leutnant fragen, wie ich diese zehntausend Mark anlegen könnte.«
»Hm. Ich weiß, es wird den Leuten in der Instruktionsstunde gesagt, sie sollen sich in solchen Geldsachen an den Hauptmann wenden. Der bin ich nicht. Es ist begreiflich, dass Sie erst zu mir kommen. Da kann ich Ihnen aber keinen Rat geben. Ich verstehe von Geldsachen gar nichts. Gehen Sie zu Herrn Hauptmann Weiße. Heute Nachmittag. Von vier bis fünf ist er immer in der Kompanie. Gut.«
Der Bursche aber blieb stramm stehen.
»Na, was gibt's denn nun noch!«
»Ich habe den Brief des Herrn Leutnant nicht nur versehentlich geöffnet, sondern auch gelesen!«
Eine lange Pause. Nein, dass war jetzt ganz und gar kein Kindergesicht mehr.
»Hennig! Eigentlich sollte ich Sie ja jetzt sofort hinausschmeißen. Aber ich will Ihnen in Ruhe etwas sagen. Ich habe über Sie einiges gehört. Sie sind in der Welt herumgekommen, haben vielleicht mehr durchgemacht als wir alle zusammen. Sie brauchten jetzt nicht als mein Bursche, der mir die Stiefel putzt, hier zu stehen Sie hätten als Einjähriger dienen können, könnten unter Umständen jetzt Offizier, mein Vorgesetzter sein. Warum nicht. Aber das sind Sie eben nicht. Sie sind jetzt mein Bursche Hennig. Und wenn Sie hundert Millionen hätten und Ihr Vater der Fürst von, auf und zu Montcucculli wäre — Sie sind jetzt mein Bursche Hennig. Wenn Sie einmal eine Dummheit machen, so werde ich Ihnen verzeihen, wenn die Sache zu verzeihen ist, werde selbst sie zu vertuschen suchen. Aber geht die Sache nicht zu verzeihen, dann fliegen Sie in Arrest und in die Front zurück. Nun weiter: Sie haben ein gutes, mitfühlendes Herz. Sie wollen mir helfen. Schön, ich nehme die viertausend Mark von Ihnen an.«
Das hatte Artur nun eigentlich nicht mehr erwartet, nach dieser Einleitung! Er musste sich beherrschen, dass ihm nicht wenigstens die Mundwinkel zuckten.
Das sonst so heitere Kindergesicht blieb tiefernst.
»Wie viel Zinsen nehmen Sie?«
»Am liebsten keine.«
»Das habe auch auch erwartet. Sie bekommen von mir auch keinen Schuldschein, denn...«
»Herr Leutnant, das ist auch gar nicht nötig.«
»Schweigen Sie! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich weiß am besten, was nötig ist und was nicht!... Denn ein Schuldschein von mir hat gar keinen Wert. Aber etwas anderes Ihnen zu offenbaren ist meine Pflicht. Das Geld ist Ihnen auch ohne Schuldschein und ohne jede Quittung todsicher. Auf mein Ehrenwort! Hierzu bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. Ich bekomme dereinst ein großes Vermögen. Es ist ein Familienkapital, unantastbar, nur die Zinsen dürfen benutzt werden. Dieses Familienkapital befindet sich jetzt in den Händen meines Onkels, meines Vaters Bruder. Ich bin der einzige Erbe, kann auch nicht enterbt werden, kann aber dieses Vermögen testamentarisch schon jetzt bestimmen. Dieser mein Onkel ist ein Lump. Mein Vater hat stets verächtlich von ihm gesprochen, ich habe stets verächtlich von ihm gesprochen. Nie würde ich von diesem Menschen einen Pfennig annehmen, auch nicht nach seinem Tode. Jenes Familienkapital ist bereits mein Eigentum, wenn ich es auch noch nicht mitgenießen kann. Und nie würde ich daraufhin auch nur einen Pfennig Schulden machen. So lange es dieser Mensch noch in Händen hat. Aber sicher ist es mir. Auch noch nach meinem Tode. Das heißt, ich kann testamentarisch schon jetzt darüber verfügen. Was jener nicht kann. So, nun wissen Sie es. Dass Sie darüber nicht sprechen, ist ganz selbstverständlich. Noch manches andere ist selbstverständlich, worüber ich also gar nicht erst zu sprechen brauche. Können Sie mir noch weitere tausend Mark pumpen?«
Jetzt fing's aber doch um Arturs Mundwinkel zu zucken an.
»So viel Herr Leutnant...«
»Ich frage nur um tausend!«, wurde er nicht gerade angeschnauzt, aber doch ziemlich scharf unterbrochen.
»Jawohl, Herr Leutnant.«
»Also zusammen fünftausend Mark.«
»Jawohl, Herr Leutnant.«
»Sie entbehren das Geld aber auch wirklich nicht?«
»Nein, Herr Leutnant.«
»Denn sonst wäre das ein Belügen eines Vorgesetzten.«
»Nein, Herr Leutnant, ich brauche das Geld wirklich nicht!«, verteidigte sich der Angeklagte unter krampfhafter Anstrengung, seine Lachlust zu beherrschen.
»Bis wann können Sie das Geld besorgen?«
»Heute noch.«
»Sie müssen selbst nach der Residenz fahren?«
»Nein. Es kann auch ein anderer sein. Der Scheck wird an den Überbringer ausgezahlt.«
»Hm. Ich kann nicht. Fahren Sie lieber selbst. Bis wann ist die Kasse auf?«
»Bis um sechs.«
»Da haben Sie noch viel Zeit. Sie müssen aber um acht wieder hier sein, ich habe heute Abend etwas vor, Sie müssen mir noch den Scheitel ziehen.«
»Zu Befehl, Herr Leutnant.«
»Da fahren Sie mit dem Vieruhrzug, haben noch viel Zeit. Da holen Sie mir jetzt erst mal mein Mittagsessen, aber nicht aus der Kneipe unten, sondern aus der goldenen Sonne. Table d'hôte. Für drei Mark. Und bringen Sie mir eine halbe Flasche Medoc mit. Hier haben Sie meine letzten fünf Mark. Trinken Sie ein Glas Bier auf meine Rechnung. Und dann von Simon an der Ecke eine Henry Clay zu fünfzig. Machen Sie schnell.«
Artur war schon so froh, die Türe erreicht zu haben, um seine Gesichtsmuskeln nicht mehr martern zu müssen, als er auch noch zurückgerufen wurde.
»Halt! Da fällt mir ein... die Frau Schönherr aus dem Zigarrenladen am Markt hat mir heute früh dreihundert Stück leere Zigarrenkisten angeboten. Für nur zwanzig Mark. Ich hab natürlich abgeschlagen — Unsinn — was soll ich denn mit dreihundert Kisten anfangen — — aber — man weiß ja niemals — wissen Sie was, Hennig, besorgen Sie sich einen Handwagen und holen Sie mir die dreihundert Zigarrenkisten aber gleich, noch vorm Essen — fix, eh die jemand anders bekommt — — Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida...«
Das große Ereignis war geschehen.
Die neue Rittergutsbesitzerin war in ihr Schloss eingezogen, hatte aus England drei Dutzend Diener mitgebracht, und nicht nur einen Marstall von Wagen- und gewöhnlichen Reitpferden, sondern ihren eigenen Rennstall, aus acht Pferden bestehend, darunter den berühmten »King of Cleveland«, den vorigen Derbysieger.
Sie war also schon vor zwei Jahren einmal hier gewesen, hatte einige Wochen sich im Kurhotel aufgehalten, viel Spaziergänge und Ausflüge gemacht. Ja, sie hatte Aufsehen erregt. Durch ihre Erscheinung, durch ihre schlanke, prächtige Gestalt, durch ihr klassischedles Gesicht, durch ihr reiches, aschblondes Haar. Nicht durch ihren Namen.
Es gibt in England eine Unmenge von Bristols, alle adlig. Zwar nur einen Lord, aber die Barone, Baronets und Honorables, die diesen Namen führen, sind wirklich zahllos. Das heißt, sie werden gar nicht gezählt, sind es gar nicht der Mühe wert. Es gibt gar arme Schlucker darunter.
Lady Ethel Bristol. Die Offiziere hatten damals Hilleys Register befragt, das gewissenhaft sämtliche Adlige Großbritanniens und Irlands aufführt. Eine Lady Ethel Bristol war darin gar nicht angegeben. Deshalb durfte man noch nicht glauben, dass sich die Dame einen falschen Titel angemaßt habe. Da käme auch noch Indien, Australien, Südafrika, Kanada und überhaupt ganz Amerika in Betracht, wo die Adligen aber gar nicht mehr kontrolliert werden können.
Sie war damals äußerst bescheiden aufgetreten und ganz unnahbar gewesen.
Jetzt kam sie mit einem Gefolge zurück, das man schon einen kleinen Hofstaat nennen konnte. Das Rittergut mit neunmalhunderttausend Mark bar bezahlt, die Ökonomie dem bisherigen Besitzer für einen Preis in Pacht gegeben, der ihr kaum ein Prozent Zinsen einbrachte — eine Lady, die so viel Geld hat, die kann auch nicht so unbekannt sein.
Der »King of Cleveland« und ihr mitgebrachter Trainer namens Vetterson waren es, die über sie Licht verbreiteten. Es war der ganze Vetterson'sche Rennstall, der aber, wie man schon immer gewusst, einem Bristol gehörte, der seine Pferde jedoch unter dem Namen seines Trainers laufen ließ. Und es war kein Besitzer, sondern eine Besitzerin, eben diese Lady Ethel Bristol, und nun stellte sich schnell heraus, dass sie einer amerikanischer Seitenlinie dieses uralten Adelsgeschlechtes angehörte, nur ihre Pferde noch unter englischer Flagge rennen ließ, wofür ihr Trainer einen fixen Gehalt von 40 000 Mark bekam. Schon ihr Vater, Sir Benjamin Bristol, hatte in Louisiana große Baumwollenplantagen besessen, dort war auch noch ein Bruder, davon war sie jedenfalls Mitbesitzerin. Oder sie war eben ausgezahlt worden. In Amerika sind überhaupt viele, viele englische Adlige landwirtschaftlich und industriell tätig, dort haben sie ihren Adel abgelegt, führen einen einfachen; gewöhnlich ganz anderen Namen, was in Amerika erlaubt ist, nehmen aber Adel und Titel wieder an, wenn sie auch nur einmal besuchsweise nach England oder sonst ins Ausland gehen.
So weit war die Person der neuen Schlossherrin aufgeklärt und das genügte. Alter 24 Jahre, unverheiratet, englische Nationalität. Letzteres würde schon stimmen. Selbstverständlich. Deshalb brauchte sie gar nicht in England geboren zu sein. Das Kind des englischen Vaters bleibt, auch im Auslande geboren, immer englisch. Hierin kommt England mit Deutschland in Konflikt, was aber wohl niemals die Ursache eines Krieges werden dürfte.
Die neue Schlossherrin entsprach nicht ganz den Erwartungen, die man in der Stadt von ihr gehegt hatte. Nur einige Lieferanten waren glücklich, und Handwerker hatten noch viel auf dem Schlosse zu tun. Sonst ließ die ganze englische und amerikanische Gesellschaft das Städtchen vollständig links liegen, sie alle fuhren, wenn sie frei hatten, die halbe Stunde nach der Residenz, brauchten auch auf dem Wege nach dem Bahnhofe das Städtchen nicht zu berühren. Nachdem das acht Tage so gegangen war, wusste man, dass sich daran nichts mehr ändern würde.
Lady Bristol selbst wurde von den Handwerksmeistern wie von den Gesellen, mit denen sie während der Arbeit über jede Kleinigkeit persönlich sprach als die liebenswürdigste Dame geschildert. Von jener stolzen Unnahbarkeit, die sie vor zwei Jahren im Kurhotel gezeigt, gar keine Spur mehr. Ganz das Gegenteil. Der derbste Maurer konnte sich mit ihr wie mit seinesgleichen unterhalten, sie liebte einen derben Witz, konnte herzlich lachen.
Aber das alles galt eben nur für ihr Haus, für ihr »castle«. Sie war eben eine Engländerin. Außerhalb desselben war und blieb sie einfach unnahbar. Der große Park genügte ihr zum Spazierengehen, trieb darin viel Landschaftsgärtnerei, sonst ward sie nur zu Pferd oder im selbstgelenkten Dogkart gesehen, bespannt mit einem wundervollen, mächtig ausgreifenden Traber, beobachtete stundenlang, wie auf der großen Wiese, die immer mehr zur regelrechten Rennbahn vorgerichtet wurde, ihre Pferde von Stalljockeis geritten wurden, gern sah sie auch den auf dem großen Exerzierplatze übenden Soldaten zu. Dabei schien es manchmal fast unvermeidlich, dass sie mit dem und jenem Offizier ins Gespräch kommen musste, aber es geschah eben nicht, sie zog sich immer von allein rechtzeitig zurück, ehe der Offizier sie bitten konnte, aus der Linie des gleich zu eröffnenden Schnellfeuers zu gehen, sie nach einem anderen Platze geleitete, womit die Anknüpfung geschehen gewesen wäre.
Es war eben nicht möglich. Sie wollte nicht. Eine Einladung zum Abschiedsball der Kurgäste, an dem sämtliche Offiziere teilnahmen, mit ihren Damen, was ausdrücklich vermerkt worden, hatte sie mit zwei Zeilen dankend abgelehnt und an demselben Abend war sie im Mondschein spazieren gefahren. Das war fast ungezogen gewesen. Oder eben englisch.
In ihrer Gesellschaft zu Pferd und Wagen war meist eine junge, sehr hübsche Dame, als Mistress Lucy Hockins, verwitwet, kinderlos, angemeldet. Die ins Schloss kommenden Handwerker sagten, es müsse die Dienerin, die Kammerzofe der Lady sein. Sie hatte ihr Schlafzimmer neben jener, frisierte sie und leistete ihr andere Handdienste, die man nur von einer Kammerzofe, nicht aber von einer Kammerdame verlangt. Dennoch schien zwischen den beiden ganz intime Freundschaft zu herrschen. Sie fuhren auch zusammen nach der Residenz, aber immer im eigenen Wagen, spannten in einem Hotel oder größeren Gasthofe aus, machten Einkäufe, fuhren gleich wieder zurück. Während die Lady vollkommen deutsch sprach, schien die Kammerzofe kein Wort davon zu verstehen. Bei ihrer englischen Unterhaltung lachten die beiden oft herzlich.
Leutnant Tönnchen saß in seinem Salon und schnitzte. Es war das ja zu Hause seine einzige Beschäftigung.
Dabei pfiff er wieder wie ein Gimpel und trällerte wie eine Heidelerche. Aber immer noch das Jubheidi und Jubheida vom reisenden Studio, obgleich er gar nicht studiert, sondern die Kadettenschule besucht hatte.
Er hatte ja auch allen Grund, wieder so fröhlich zu sein. Hatte sich vollständig neu equipiert, was auch sehr nötig gewesen war, gleich drei neue Uniformen und ebensoviel Stiefelpaare, trug jetzt eine schwergoldene Uhr. Aber sie war schon alt, die hatte er irgendwo auf einen anderen Namen versetzt gehabt.
Nun schien es aber auch mit den tausend Mark alle zu sein. Artur merkte es so an verschiedenen Anzeichen. Doch nicht etwa, dass Tönnchen üppig gelebt hätte. Durchaus nicht! Nur an jenem Tage in der ersten Freude über die Befreiung von seiner schweren Sorge hatte er sich aus der »Goldenen Sonne« das Diner, eine halbe Flasche Rotwein und eine Henry Clay geleistet, dann war er sofort wieder zu seinem Mittagsessen aus der Arbeiterkneipe und zu Fünfpfennigzigarren zurückgekehrt, als er auch noch über einige Hundertmarkscheine verfügte.
Mit diesen hatte er dann seine Uhr ausgelöst, jetzt schien er gar nichts mehr zu haben, oder doch nicht mehr, als er sonst für seinen täglichen Bedarf in der Tasche gehabt. Doch er hatte ja die dreihundert Stück Zigarrenkisten, das war ihm wohl die Hauptsache da konnte er nach Herzenslust sägen und schnitzen, pfeifen und trällern.
Sein Bursche war ihm durch das geliehene Geld keinen Zoll näher gerückt. Bei guter Laune, die er ja fast immer hatte, war Tönnchen gegen ihn so freundlich, sogar liebenswürdig so wie er auch im Dienst zu allen Leuten war; bei verdrießlicher Stimmung gab er seine Anordnungen mit militärischer Kürze, aber ohne jede Schroffheit eines Schimpfwortes, etwa eines doch ganz harmlosen »Esels«, war er gar nicht fähig; in anderer Hinsicht aber war der Bursche nach wie vor für ihn vollkommen Luft. —
»Bayrisch Bier und Leberwurst, jubheidi, jubheida, und ein Kind mit voller...«
»Herr Leutnant.«
»Na, was gibt's denn, mein lieber Hauptmann von Batavia?«
»Ich habe hier ein Bild...«
Er präsentierte es gleich, eine Fotografie, in London gefertigt, ein sehr hübsches Mädchen darstellend.
Tönnchen hatte die Fotografie genommen.
»Das ist doch die Kammerzofe der Lady Bristol!«, sagte er ohne großes Staunen.
»Ihre Gesellschafterin, Herr Leutnant.«
»Na ja, ich weiß schon. Wie kommen Sie denn zu der?«
Tönnchen musste es wissen, was die ganze Stadt und Garnison wusste: dass sein Bursche jeden Abend und manchmal auch am Tage, wenn er frei hatte, nach dem Schlosse ging, um die Kammerzofe, wie sie nun einmal genannt wurde, zu besuchen. Gleich am ersten Tage da die englisch-amerikanische Gesellschaft angekommen, — Artur hatte etwas auf dem Bahnhof zu tun gehabt oder war von allein hingegangen — hatten sich die beiden angesprochen, es war ein äußerst freudiges Wiedersehen gewesen, Hennig hatte zu ihr immer Lucy gesagt — sonst hatte niemand etwas von der englischen Unterhaltung verstehen können. Seit dieser Zeit also war er so oft als möglich auf dem Schlosse, wenn er seinen Aufenthalt auch nie bis über Mitternacht ausdehnte. Er hatte mit der Kammerzofe, einer verwitweten Frau, die noch ganz wie ein Mädchen aussah, ein Verhältnis, hatte es sicher schon früher gehabt. Das musste auch Leutnant Tönnchen wissen. Darüber war unbedingt auch im Offizierskasino gesprochen worden. Denn dieser Bursche, ein Soldat, war eben der allereinzigste Mensch der Stadt und Garnison Beheim, der in dem Schlosse besuchsweise aus- und einging.
Aber Leutnant Tönnchen hatte zu seinem Burschen darüber noch kein Wort verloren. Es wäre auch seltsam gewesen, wenn er's getan hätte.
Dass er jetzt solch eine Frage stellte, wo er die Fotografie der Kammerzofe in die Hand bekam, das war wiederum ganz selbstverständlich. Schließlich war dieser Leutnant doch auch nur ein Mensch. Übrigens war es wenig genug, was er fragte, die kürzesten Antworten genügten ihm.
»Wie kommen Sie denn zu der?«
»Hatte sie in Amerika kennen gelernt, als sie noch unverheiratet war.«
»Und hat einen anderen geheiratet?«
»Jawohl, Herr Leutnant.«
»Ihr Mann ist gestorben?«
»Vor einem Jahre.«
»Und nun ist es Ihre Braut?«
»O nein, Herr Leutnant, zwischen uns herrscht nur Freundschaft.«
»Na ja, weiß schon. Verkaufen Sie sich nicht so leicht, denn — doch das geht mich nichts an. Was soll's nun mit der Fotografie?«
»Lucy hat sie mir geschenkt — und ich dachte — ich wollte sie in meine Kammer hängen...«
»Sie wollen wohl einen Kerbschnittrahmen drum haben?«
»Wenn der Herr Leutnant so...«
Der Herr Leutnant war schon dabei, warf alles andere beiseite und stürzte sich über die Fotografie her, vergaß heute die Bestellung seines Mittagsessens und hätte beinahe den Dienst verpasst.
Es war merkwürdig, dass niemand anders ihn bat, etwas für ihn zu schnitzen. Das war doch Tönnchens höchste Wonne. Aber er bot sich eben nicht selbst an, machte mit seinen Schnitzereien keine Geschenke, das war es. Deshalb kam auch niemand mit solch einer Bitte zu ihm. Sonst — der Bürgermeister hätte nur ein Wort fallen zu lassen brauchen — Leutnant Tönnchen hätte sämtliche Häuser Beheims vollgenagelt, in- und auswendig, alles auf seine Kosten, hätte nur noch trocken Brot gegessen, um die nötigen Zigarrenkisten zu erstehen.
Noch am Abend desselben Tages bekam Artur die Fotografie kunstvoll eingerahmt zurück, zwar nur einfacher Kerbschnitt, aber eben durch diese gleichmäßige Einfachheit wirklich schön wirkend. Diese Kerbschnitzerei ist überhaupt eine echte Kunst, über welche, wovon die sie ausübenden Liebhaber meist gar nichts wissen, eine ganze wissenschaftliche Literatur existiert Sie gehört zum Gebiet der Archäologie und Ethnografie, indem es kein Volk gegeben hat und noch heute gibt, welches die Kerbschnitzerei nicht selbständig erfunden hätte und heute noch ausübt, die alten Ägypter haben geschnitzt und von den Eskimos wird diese Kunst von jeher gepflegt. Die schönsten Schnitte haben die alten Skandinavier gemacht. Freilich nicht an Zigarrenkistenbrettchen, sondern an den Holzteilen ihrer Waffen; die Wikingerschiffe waren manchmal über und über mit Kerbschnitzerei bedeckt. Darüber berichtet ausführlich das Prachtwerk »Kerbschnittmeister aus dem nordischen Museum zu Stockholm« von Professor Oldenburg. —
Am andern Mittag stellte sich Artur, ohne dass er gerufen worden war, wieder in strammer Haltung vor seinen Herrn und Gebieter hin, hatte ein großes Kuvert in der Hand, die er aber an der Hosennaht halten musste.
»Ich habe gleich gestern Abend die eingerahmte Fotografie der Lucy — der Missis Hockins gezeigt.«
»Na und? Hat sie sich gefreut?«
»Und wie, Herr Leutnant! So etwas kennen die Amerikaner und Engländer gar nicht, wenigstens nicht die besseren Leute. Das machen dort nur Matrosen und Schiffer.«
»Weil's dumme Luder sind, die von echter Kunst so viel verstehen wie ein Bär vom Klavierspielen. Hm. Wollten Sie mir nur das sagen?«
»Missis Hockins hat es gleich der Lady gezeigt.«
»Soooo? Na und?«
»Die Lady war von der Schnitzerei ganz entzückt, ich musste zu ihr kommen.«
»Soosooso? Na und?«
»Ob ich das selber geschnitzt hätte. Nein. Wer denn sonst. Mein Leutnant, bei dem ich Bursche bin, der Herr Leutnant von Tonn. Ach, sagte sie da, wenn ich doch auch so einen Rahmen bekommen könnte, — Na warum denn nicht, sagte ich, der Herr Leutnant tut's ganz gern. — Sie zögerte lange, dann gab sie mir das Bild, ihre letzte Fotografie...«
Artur nahm sie aus dem Kuvert, großes Kabinettsformat, ein Brustbild, in der Residenz beim ersten Hoffotografen gefertigt. Ja, das war sie, die klassischen Züge, die edle Nase, das üppige Haar lose gewellt. Tönnchen hatte nämlich auf dem Exerzierplatz lange Zeit gehabt, dieses Gesicht studieren zu können.
»Was hat sie denn sonst noch gesagt?«
»Ich sollte den Herrn Leutnant bitten, er möchte doch auch so einen Rahmen drumschnitzen.«
Das war eigentlich ein starkes Verlangen. Oder es hätte doch ganz anders eingeleitet werden müssen, mindestens durch ein Briefchen. Aber so — vielleicht englisch.
Aber solche Gedanken hatte Tönnchen ja jetzt überhaupt gar nicht. Seine schwächste Seite war berührt worden.
»Da mache ich einen doppelten Schwalbenschwanz drum!«
Wieder war es eine wahre Wut, mit der er sich über die neue Arbeit stürzte, sofort, das Mittagsessen wurde nur so nebenbei verschlungen, dann in den Dienst, dann ging das Schnitzen wieder los.
Als Artur einmal in der Nacht erwachte und nach der Uhr blickte, war es schon früh um vier, und drüben pfiff und trällerte es noch immer, Tönnchen hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, obgleich er sich in zwei Stunden schon wieder zum Dienst anziehen musste. Jetzt aber nagelte er den Rahmen schon zusammen, und nicht lange mehr, so hörte ihn Artur zu Bett gehen, bald fing er an zu schnarchen, unterbrach dieses Geräusch plötzlich, pfiff einige Takte des reisenden Studio und schnarchte weiter. Er hatte im Traum gepfiffen, so wie es Star und Gimpel manchmal tun.
Als um sechs Arturs Wecker klingelte, war auch Tönnchen sofort auf den Beinen, die anderthalb Stunden Schlaf hatten ihm vollkommen genügt, er war in bester Laune. Und nun, während er schnell Kaffee trank und eine dicke Butterstulle hinunterwürgte, geschah etwas, was ganz gegen die Prinzipien dieses Leutnants ging. Es war eben das ewig Weibliche, was dazwischen gekommen, welches die ganze Hausordnung und alles, alles über den Haufen werfen kann — das ewig Weibliche, dessentwegen wohl sogar einmal das Ungeheuerliche passieren kann, dass der Kapitän das Matrosenlogis betritt.
»Sie, mein lieber Hauptmann von Batavia, Sie könnten mir einmal einen rechten Gefallen tun — Sie scheinen doch ein Krösus zu sein — könnten Sie mir nicht mal mit 'nem Taler aushelfen? Sie kriegen ihn am Ersten wieder.«
»Gewiss, Herr Leutnant, so viel Sie...«
»Nur 'nen Taler. Nein, ich brauche ihn nicht. Gehen Sie mal um acht zu Gärtner Krause und lassen sich ein schönes Rosenbukett machen, die schönsten, die er hat, für 'nen ganzen Taler. Um zehn holen Sie's ab, nehmen hier die eingerahmte Fotografie mit, ich habe sie schon fein eingewickelt, um den Strauß lassen Sie sich so'n bisschen Seidenpapier machen, dann gehen Sie aufs Schloss, dass Sie so halb elf dort sind, lassen sich der Lady melden und sagen: Eine Empfehlung von Herrn Leutnant von Tonn. Nichts weiter. Geben ihr die beiden Sachen Verstanden?«
»Zu Befehl, Herr Leutnant. Wenn die Lady nun nicht da ist?«
»Dann... sie wird schon da sein. Um diese Zeit sieht man sie nie außerhalb des Schlosses oder Parkes. Und Sie sind doch auch mit der Kammerzofe vertraut. Natürlich kommen Sie gleich wieder her. Ich bin um zwölf hier, will Antwort haben. Hier«, Tönnchen suchte in seinem Portemonnaie, das immer so vollgepfropft aussah, worin er aber nach Geld meist sehr lange zu suchen hatte, »hier haben Sie 20 Pfennige. Ich kann von meinem Burschen eigentlich nichts weiter verlangen, als dass er für mich putzt. Trinken Sie auf dem Rückweg, wenn Sie noch Zeit haben, ein Glas Bier.«
Er trällerte die Treppe hinab. Zum Mittag kam er staubbedeckt wieder.
»Nun?«
Stumm präsentierte ihm Artur ein zierliches, rosafarbenes Kuvert. Das nächstliegende Instrument war ein großes Stemmeisen, mit diesem wurde es aufgeschlitzt.
Lady Ethel Bristol erlaubte sich Herrn Leutnant von Tonn heute Nachmittag zum Five o'Clock Tea einzuladen.
Wenn der Bursche von allein nichts sagte, weil er eben nichts weiter zu melden hatte, so musste das genügen, diese Einladung genügte doch auch vollkommen. Niemals hätte Leutnant Tönnchen früher den Burschen noch extra gefragt.
Aber einmal war es eine ganz besondere freudige Überraschung, und dann war es eben das ewig Weibliche, was hier dazwischenkam.
»Was hat sie denn gesagt?«
»Die Lady war außer sich vor Freude über den schönen Rahmen.«
»Außer sich? Was hat se denn gemacht?«
»O how nice, how beautiful!«, rief sie immer wieder.
»Und das Bukett?«
»Da war sie auch ganz entzückt darüber. Wie doch so ein deutscher Offizier aufmerksam ist, sagte sie zu Missis Hockins. Dann musste ein Diener gleich eine Vase mit Wasser bringen, aber die war ihr nicht schön genug, sie suchte selber eine aus, und als Missis Hockins das Bukett hineinstellen wollte, nahm sie es ihr schnell aus der Hand, das habe sie selber zu tun.«
»Sooo? Und dann schrieb sie das Briefchen?«
»Erst sprach sie darüber mit Missis Hockins, da müssten sie den Herrn Leutnant doch einmal einladen...«
»Mit ihrer Zofe sprach sie darüber?«
»Missis Hockins ist nicht ihre Zofe, sondern...«
»Na ja, ich weiß schon. Weiter?«
»Dann fragte die Lady mich, ob Herr Leutnant heute Nachmittag wohl Zeit hätten: Ja, heute Nachmittag wären Herr Leutnant dienstfrei. Da schrieb sie den Brief.«
»Und hat sie sonst noch was zu Ihnen gesagt?«
»Tausend... Dank, mein lieber Mann, sagte sie zu mir, sonst nichts weiter.«
Einen einzigen Moment hatte Artur zwischen dem ersten und zweiten Wort gestockt, es war ganz unmerklich gewesen, ebenso wie das Zucken seiner Mundwinkel dabei.
Hatte er vielleicht »tausend Grüße an den Herrn Leutnant« sagen wollen? Tönnchen kam nicht auf solch eine Idee.
»Und dann hat sie mir noch eine Mark gegeben!«, setzte Artur noch hinzu. »Ich habe sie angenommen.«
»Natürlich natürlich. Das müssen Sie überhaupt! Sehen Sie, da profitieren Sie auch noch was Schönes dabei. Jetzt putzen Sie mal gleich hier die neuen Schwibbeln, sie werden nicht blank gehen, aber Sie wichsen so lange, bis Sie sie blank haben. Erst aber holen Sie mir mein Mittagsessen. Was gibt's heute? Ä das ist mir heute egal. Bringen Sie nur irgendwas.«
Nach dem Essen oder schon während desselben vertiefte sich Tönnchen in ein Buch, welches englische Redensarten und dann besonders auch Vorschriften für den gesellschaftlichen Verkehr in England und englisch Amerika, was Beides ja so ziemlich übereinstimmt, enthielt.
Dort ist ja so manches in gewisser Beziehung ganz anders. Man nimmt in das Empfangszimmer Stock und Hut mit, ist erst wirklich als Besuch willkommen, wenn man ihm Stock und Hut abnimmt oder abnehmen lässt. Bei dem Offizier kam nur die Mütze in Betracht. Aber den rechten Handschuh ausziehen! Nur den rechten! Dann ist eine eigentümliche englische Sitte das »Treaten«, gerade umgekehrt wie bei uns. In England fragt der Besuch gleich nach dem Kommen: »What is Yours? What is Yours?«, — gibt dem Dienstmädchen Geld und lässt das Gewünschte holen, Whisky und Portwein und Bier und Limonade, ist kein Dienstmädchen da, so setzt er selbst noch einmal den Hut auf und holt das Gewünschte aus dem Public house.
Und das wird nicht etwa nur in den unteren und mittleren Bürgerkreisen so gehandhabt, sondern das geht bis oben hinauf. Nur die Form ändert sich, im Grunde genommen bleibt es immer dasselbe, an eine feine Familie schickt der eingeladene Gast durch einen Diener eine Pastete und eine Flasche uralten Portwein.
»Sie, mein lieber Hauptmann von Batavia.«
»Herr Leutnant?«
»Können Sie noch einmal fünf Mark entbehren?«
»So viel Herr Leutnant...«
»Still! Ich frage, ob Sie noch fünf Mark entbehren können. Ja oder nein!«
»Zu Befehl ja, Herr Leutnant!«
»Sind Sie wirklich überzeugt, dass ich Ihnen für das geliehene Geld gut bin?«
»Zu Befehl ja, Herr Leutnant!«
»Aber keinen Vorgesetzten belügen! Borgen Sie mir weitere fünf Mark auch gern?«
»Zu Befehl ja, Herr Leutnant!«
»Dann gehen Sie mal zum Konditor Schurig, da steht im Schaufenster eine brillante Marzipantorte, die bringen Sie ins Schloss. Eine Empfehlung von Herrn Leutnant von Tonn. Nichts weiter.
Erst in der zehnten Stunde kam Tönnchen von dem Five o'Clock Tea nach Hause, sein Bursche zwei Stunden später, und da hörte er den Leutnant noch zwitschern und pfeifen, obgleich er schon im Bette lag.
Am anderen Morgen musste Artur wieder ein Rosenbukett für drei Mark hintragen, natürlich wieder für sein eigenes Geld, am dritten Morgen abermals und außerdem noch am Nachmittag eine Schokoladentorte, denn da war Tönnchen wieder zum Five o'Clock Tea eingeladen.
»Hennig, können Sie das Geld auch wirklich entbehren?«
»Zu Befehl, Herr Leutnant.«
»Wehe, wenn Sie einen Vorgesetzten belügen! Alles kann ich verzeihen, nur das nicht. Sie fliegen sofort in den Kasten und für immer in die Front zurück!«
»Ich kann das Geld entbehren, Herr Leutnant.«
»Auch zehn Mark?«
»Zu Befehl, Herr Leutnant.«
»Dann pumpen Sie mir zehn Mark. Schön. Und jetzt schmieren Sie mal meine hohen Stiefel. Aber nicht mit der Bürste, mit der Hand! Immer tüchtig rin mit dem Fett in die Poren.«
Wie Artur dann ja selbst aus dem Schlosse erfuhr, hatte Tönnchen jedem der drei in Frage kommenden dienstbaren Geister drei Mark in die Hand gedrückt.
»Und hier haben Sie auch eine Mark für Ihre viele Lauferei.«
»Danke, Herr Leutnant!«, schmunzelte Artur. »Von der Lady bekomme ich ja auch immer eine Mark.«
»Sehen Sie, auf diese Weise werden Sie noch ein reicher Mann. Sparen Sies nur immer hübsch.«
Und so ging das weiter. Tönnchen verbrachte immer mehr seine ganze Freizeit auf dem Schlosse, schlief nur noch zu Hause, speiste jetzt auch regelmäßig in Gesellschaft der Lady zu Mittag, auch wenn er nachmittags Dienst hatte.
Was Stadt und Garnison dazu sagte, wollen wir nicht wissen. Wir sehen und hören nur mit seines Burschen Augen und Ohren, und auch nur insoweit, als es in des Leutnants Wohnung etwas zu sehen und zu hören gab.
Rund eine Woche war dies nun gegangen, und in dieser Zeit hatte Artur für seinen Leutnant rund hundert Mark ausgelegt, für Buketts, Torten, Baumkuchen, Gänseleberpasteten und dergleichen, wozu noch rund fünfzig Mark bares Geld kamen.
Übermorgen war der erste. Dass Tönnchen diese Schulden nicht mit seinen 80 Mark bezahlen konnte, war selbstverständlich. Er hatte darüber auch schon mit seinem Burschen gesprochen.
»Ich bin Ihnen doch gut dafür, Hennig?«
»Zu Befehl, Herr Leutnant.«
»Sie werden auch nicht auf den Tod meines Onkels zu warten brauchen«, machte er auch noch eine nähere Andeutung, »sehr bald wird in meinen pekuniären Verhältnissen eine vollständige Umwandlung eintreten.«
Falls sein Bursche so beschränkt gewesen wäre, diese Andeutung nicht zu verstehen, hätte er nur irgend jemanden in Beheim deswegen zu fragen brauchen. Leutnant Tönnchen wandelte auf Freiersfüßen, es war nur eine Frage der Zeit, wann seine Verlobung mit Lady Ethel Bristol öffentlich verkündet würde.
Infolgedessen war Tönnchen natürlich vergnügter denn je. Er war ja jetzt selten zu Hause, immer im Schloss, die wenigen Stunden aber, die er außer der Schlafenszeit noch in seinem Salon verbrachte, wurden nach wie vor verkerbschnitzt, welche Schnitzereien, meist Rahmen, aber auch schon Verzierungen für Möbel und Wände, ins Schloss wanderten, und jetzt pfiff und trällerte er bei seiner Arbeit, wie er noch nie gepfiffen und geträllert hatte, setzte dieses Konzert immer häufiger auch im Traume fort.
Manchmal hörte Artur ihn auch Selbstgespräche führen, was er früher nie getan hatte, und das längste hielt er zwei Tage vor dem ersten, also als dieses Besuchen des Schlosses schon acht Tage gewährt hatte.
Die Arbeit ruhte einmal, jetzt blickte er nachdenklich vor sich, hin oder zur Decke empor, und Artur hörte in seiner Kammer, dessen Tür der Leutnant selbst vorhin offen gelassen hatte. »Erstens sehr viel Geld; zweitens sehr viel Schönheit; drittens sehr viel Bildung; viertens sehr viel Rrrasse. Alles vorhanden, wofür sich Leutnant von Tonn verkauft. Außerdem uralter englischer Adel, der sehr gern noch mitgenommen wird. Und, last not least, an die dreißig Zimmer. Ha, dreißig Zimmer, über die ich verfügen kann, mein Eigentum! Nehmen wir einmal an: 4 Meter hoch und im Durchschnitt 5 Meter im Quadrat. Das ist ganz bescheiden, da kann ich Türen und Fenster gleich abziehen. Oder die Türen brauchen ja überhaupt so wenig abgezogen zu werden wie Schrank und dergleichen. 4 mal 5 ist 20, mal 4 ist 80. Also 80 Quadratmeter Wandfläche für das Zimmer. Mal 30 ist 2400. Ich will auf den Quadratmeter bescheiden 5 Zigarrenkisten rechnen. Das wären 12 000 Kisten. Ha, das wäre ein Lebenswerk! Und nur für mich selbst, für mein eigenes Heim! Da wüsste man doch am Ende seines Lebens, weswegen und wofür man eigentlich gelebt hat!«
Eine Pause. Dann, als das Selbstgespräch fortgeführt wurde, war die Stimme gar nicht mehr so begeistert, vielmehr recht gedrückt.
»Dass sie mich liebt, daran ist ja nun gar kein Zweifel. Die kann es gar nicht erwarten, bis ich mit der Sprache herausrücke. Wenn nur diese verdammte Kammerzofe nicht wäre. Das ist — das ist... einfach scheißlich mit der! Die klebt an unserem Tische; und wenn wir im Parke spazieren gehen, klebt sie an unseren Fußsohlen. Noch nicht eine Minute, ach, nicht eine Sekunde konnte ich mit der Lady allein sein. Die ist wie ihr Schatten. Weshalb die Lady sie nur nicht einmal entfernt. Ich sehe es ihr doch deutlich an, wie unangenehm ihr selber diese Kleberei der Zofe ist, Sie möchte gern mit mir allein sein. Aber sie wagt's nicht, sie fortzuschicken. Dieser Schatten ist ihr einfach zur Gewohnheit geworden, sie ist durch diese Gewohnheit sogar in ein gewisses Untergeordnetenverhältnis zu der Zofe gekommen. Das ist einfach scheißlich. Dieses aufdringliche Frauenzimmer muss weggeekelt werden. Das bin ich meiner Braut geradezu schuldig. Aber wie das machen?«
Eine längere Pause der Überlegung.
»Sie, Hauptmann von Batavia!«
»Herr Leutnant?«
»Sagen Sie mal, Hennig — wie stehen Sie sich denn eigentlich mit der Kammerzofe?«
Zum ersten Male wieder berührte Tönnchen dieses Thema. Er wusste ja natürlich, dass auch sein Bursche ständig in dem Schlosse ein- und ausging, hatte aber hierüber noch nicht ein einziges Wort verloren.
»Herr Leutnant meinen Mistress Hockins?«
»Na ja, wen denn sonst! Wie stehen Sie sich mit ihr?«
»O, ganz gut, Herr Leutnant.«
»Wollen Sie se heiraten?«
»Das ist ganz ausgeschlossen, Herr Leutnant.«
»Aber Sie unterhalten mit ihr ein Verhältnis.«
»Herr Leutnant, es ist die reinste Freundschaft.«
»Ach zum Teufel mit Ihrer Freundschaft. Was machen Sie denn immer im Schloss?«
»Nun, ich helfe so mit, besonders im Stall...«
»Im Stall? Wie kommen Sie denn in den Stall?«
»Ich verstehe etwas von Pferden, Mister Vetterson, der Trainer, kennt mich, nach meiner Entlassung komme ich ganz ins Schloss...«
»Ach so. Aber Sie verkehren doch auch mit der Zofe.«
»Mit Mistress Hockins? O ja, mit der komme ich auch oft zusammen.«
Tönnchen wusste auch, dass sich sein Bursche meist im Schlosse aufhielt, wenn er selbst Dienst hatte. War der Leutnant im Schloss, dann hatte die Zofe für ihr Verhältnis eben keine Zeit, dann verließ sie die Herrin mit keinem Schritt.
»Sagen Sie mal, Hennig — im Vertrauen gefragt — können Sie denn nicht mit Ihrer Liebsten oder Freundin einmal eine Partie machen, am Tage? Mit ihr nach der Residenz fahren oder sonst einen Ausflug?«
Ehe Artur eine Antwort geben konnte, klopfte es. Es war in der neunten Abendstunde, Tönnchen war vom Mittag an bis zum Tee auf dem Schlosse gewesen, hatte sich dann doch wohl verabschieden müssen.
Es war der Hausknecht vom Kurhotel, er brachte Herrn Leutnant von Tonn eine Karte. Er möchte doch gleich ins Hotel kommen, unten in die Restauration, fast sämtliche Offiziere der Garnison hatten sich zufällig dort am Biertisch zusammengefunden, auch der Major hatte die humoristisch gehaltene Aufforderung kameradschaftlich mit unterschrieben.
Das war so gut wie Befehl. »Mein Schwert her! Wir sprechen morgen weiter darüber Hennig, Sie Krösus, nun können Sie mir auch noch 'nen Taler pumpen — oder gleich fünf Mark. Schön. Schreiben Sie's dort selber ins Kontobuch ein.«
Er ging, trällerte die Treppe hinab. Und aus der Fortsetzung dieses Gesprächs sollte nichts werden. Oder es sollte doch eine ganz andere werden, als sich Tönnchen jetzt hätte träumen lassen.
In die Restauration des Kurhotels waren gegen Abend zwei Leutnants getreten, um schnell einen Schoppen Bier zu trinken, hatten den Major und einen Hauptmann beim sechsten Schoppen angetroffen, noch ein anderer Offizier kam zufällig dazu.
»Na, nun können wir auch gleich das ganze Bataillon zusammentrommeln.«
Gesagt, getan — Telefon, Hausknecht, Pikkolos und sonstige Leute wurden benutzt, um schnell alle Offiziere, die nicht Wachtdienst hatten, zusammenzuholen.
»Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit Leutnant von Tonn und der Lady Bristol?«, fragte der Major, der hier nichts weiter als Kamerad war.
Ehe hierüber noch ausführlich gesprochen werden konnte, kam schon Tönnchen, seine Gegenwart machte dieser Unterhaltung ein Ende, erstickte sie vielmehr im Keime. Nun stellte sich ein Offizier nach dem andern ein, wurde meist mit lautem Hallo begrüßt, dann kamen die letzten Erlebnisse, Garnisons- und andere Witze aufs Tapet, Anekdoten wurden erzählt.
Nur noch am Nachbartisch saßen drei Gäste, drei fremde Herren in Touristenkleidung. Sie hatten hier schon gesessen, als die Offiziere erst nachträglich den großen, runden Tisch belegten. Es waren Ausländer. Zwar unterhielten sie sich in einem perfekten Deutsch, zum Beispiel, wenn sie nach einem Reiseführer ihre weitere Fußwanderung besprachen kamen aber auch oft ins Holländische. Es war sehr entschuldbar, wenn sie über die Witze des Nachbartisches manchmal lachen mussten, sie hätten dies gar nicht so zu bemänteln versuchen brauchen.
Einmal aber musste dieser teilnehmenden Distancen doch ein Ende gemacht werden, wenn die Herren nicht gingen, und Sache der hier dominierenden Offiziere war es, den Fremden, die auch in ihren stark benutzten Touristenkostümen noch ein sehr distinguiertes Aussehen hatten, entgegenzukommen.
»Wer sind die drei Herren?«, wurde der Oberkellner bei der ersten Gelegenheit leise gefragt.
»Es sind Holländer, die eine Fußtour durch das Gebirge machen, sie bleiben über Nacht hier, haben sich noch nicht eingeschrieben, aber ich glaube sicher, es sind holländische Offiziere.«
Auf einen Wink des Majors ging ein Leutnant hin, lud die Herren an die Tafelrunde ein. Ja, es waren holländischer Offiziere, die einen längeren Urlaub benutzten, um Deutschland kennen zu lernen. Nach einer kleinen Stockung ging die humoristische Unterhaltung weiter, die Holländer trugen das Ihrige dazu bei.
»Verzeihung«, sagte da der eine von ihnen, »wir mussten doch hören, was an diesem Tisch gesprochen wurde — da fiel uns ein Name auf — Lady Bristol.«
Es wurde ihnen über die neue Schlossherrin und Gutsbesitzerin erzählt, auch von ihrem Rennstall, worüber die Holländer noch besondere Fragen stellten.
»Jawohl, wir ahnten es doch gleich — das ist die Gräfin von Mohakare!«, sagten die drei übereinstimmend.
»Gräfin von Mohakare?!«
»Ja, die Lady Ethel Bristol ist mit dem holländischen Grafen von Mohakare verheiratet.«
»Verheiratet?!«, erklang es jetzt erst recht im Chor.
»Gar kein Zweifel. Das ist diese Lady Ethel Bristol. Der Vettersonsche Rennstall — das stimmt alles. Auch das haben wir erfahren, dass sich der Graf von Mohakare mit seiner Gattin in Deutschland niedergelassen hat. Nur, hier vermuteten wir sie nicht zu treffen.«
»Dieser Graf lebt noch?!«
»Gewiss, der ist noch gar nicht so alt.«
Jeder — in der Meinung, dass er der einzige sei, der dies täte — blickte nach Leutnant Tönnchen. Dessen gesundes Kindergesicht war plötzlich leichenblass geworden.
»Sie — sie — hat sich als unverheiratete Lady Ethel Bristol angemeldet — als ledig...«, konnte er nur hervorwürgen.
»Hat sie? Als ledig? Dazu mag sie auch einen Grund, ein Recht haben.«
»Wieso?«, wurde von anderer Seite gefragt.
»Als englische Aristokratin darf sie überhaupt auch als verheiratete Frau ihren Mädchennamen mit Titel weiterführen. Das ist den Herren doch bekannt. Als unverheiratet darf sie sich allerdings nicht ausgeben, das stimmt. Aber haben die Herren nicht von der tollen Geschichte gehört, die vor einem halben Jahre in London passiert ist?«
»Nein. Was für eine tolle Geschichte?«
»Es ist Ihnen doch bekannt, dass in England entweder nur standesamtlich oder nur kirchlich getraut wird, beides zusammen gibt es nicht. In der Bartholomäuskirche der ältesten Kathedrale Londons, traut seit seinem halben Menschenalter der Bischof von Lancaster — ein protestantischer Bischof der anglikanischen Hochkirche. Da stellt sich vor einem halben Jahre durch einen Zufall heraus, dass dieser Bischof schon seit fünf Jahren gar kein Recht mehr hat, Trauungen zu vollziehen. Durch ein Versehen ist damals die staatliche Konzession nicht erneuert worden. Also sind alle Ehen, die der Bischof seit fünf Jahren vollzogen hat, ungültig, haben überhaupt nie existiert. Alle diese Paare haben in wilder Ehe gelebt, ihre Kinder sind illegitim. Na, so schlimm ist das natürlich nicht. Die Ehe wird eben nachträglich vollzogen, eine Rückwirkung hat das nicht etwa.«
Ja, hiervon hatten auch diese deutschen Offiziere fast alle gehört.
»Und unter diesen waren auch der Graf und Lady Ethel Bristol?«
»Jawohl. Die haben sich vor drei Jahren in der Bartholomäuskirche zu London trauen lassen.«
»Ja, die beiden haben sich aber eben nicht nochmals trauen lassen!«, flüsterte Tönnchen.
»Vielleicht bis jetzt noch nicht. Das hat sich aus irgend einem Grunde noch verzögert. Aber die kommen schon wieder zusammen. Das war bei denen doch die reinste Liebesheirat. Ach das wurde doch damals bei uns in Holland so besprochen! Sie kennen den Grafen von Mohakare nicht?«
Die Offiziere verneinten.
»Nun ja — in Holland ist er eine Berühmtheit. Aber auch in England wird er noch immer als Held gefeiert. Freilich ist das alles ja schon lange her, und andere Länder interessiert es nicht weiter. Dieser Graf von Mohakare hat eine Vergangenheit hinter sich, eine Karriere gemacht, wie so etwas heutzutage nur sehr, sehr selten vorkommt. Eben nur in den Kolonien ist so etwas noch möglich — und dann Glück muss man haben! Vor etwa zwölf Jahren tritt in unsere Fremdenlegion ein blutjunger Russe namens Paul Urschinsky ein, kommt nach schneller Ausbildung gleich nach Sumatra, macht einen Feldzug gegen die Atschinesen mit. Natürlich als Gemeiner. Seine Kompanie wird versprengt, die Hälfte fällt, alle Offiziere und Unteroffiziere weggeschossen oder im Sumpfe versunken, die ganze Kompanie ist rettungslos verloren. Da übernimmt Urschinsky die Führung, und er vollbringt das Wunder, bringt, was noch lebendig ist, nach dem Fort zurück, das heißt nach vielen Wochen, nach unausgesetzten Kämpfen mit den Atschinesen, schlägt sich eben überall durch. Auch den schwerverwundeten Hauptmann schleppt er mit zurück. Der sagt über ihn aus, Urschinsky wird zum Leutnant ernannt, ist gar nicht erst Unteroffizier geworden. Und die nötige Bildung hatte er auch.
Nun ging es schnell weiter zum Hauptmann und Major. Immer im Kampfe gestanden und immer ein fabelhaftes Glück gehabt. Nun war der junge Russe aber auch wirklich ein furchtbarer Draufgänger und ein militärisches Genie. Glück muss man freilich trotzdem haben.
Im fünften Dienstjahre als der gewöhnliche Legionär eigentlich höchstens Unteroffizier hätte sein können, war er also schon Major.
Da machen Mitglieder der englischen Königsfamilie eine Weltreise, besuchen Java, machen eine Fahrt durch die Provinz Mohakare, ihnen hat sich alles angeschlossen, was auf Java einen klingenden Namen hat, auch Verwandte des holländischen Königshauses sind dabei. In Fort Mohakare dessen Kommandeur Major Urschinsky ist, mitten in der Wildnis gelegen, wird Quartier genommen, um in den folgenden Tagen auf Tiger und Elefanten zu jagen. In der Nacht erheben sich die Mohaks, ein kriegerischer Malaienstamm, versuchen das Fort zu stürmen. Sie sind aufs Beste bewaffnet und geschult, es ist ein schon längst im geheimen vorbereiteter Aufstand, er bricht nur schon vorzeitig aus, weil man hier gerade lauter so hohe Persönlichkeiten zusammen hat.
Ich will es kurz machen: im Sturm kann das Fort zwar nicht genommen werden, aber die Eingeborenen wissen das Wasser des Brunnens abzuleiten, ein Ausfall ist durch die Terrainverhältnisse und aus anderen Gründen ganz und gar unmöglich, die telegrafische Verbindung ist zerstört — — alles, was sich in dem Fort befindet, ist unrettbar mindestens dem Verschmachtungstode ausgeliefert.
Wer wagt es, sich durch die Feinde nach Balwore zu schleichen, der nächsten Garnison, aber doch zwei Tage entfernt. Niemand meldet sich. Auch der Verwegenste und Kundigste hält es für unmöglich. Da übergibt Major Urschinsky das Kommando dem nächsten Offizier, verkleidet sich als Malaie, schleicht bei Nacht hinaus. Ein Getümmel mit Schüssen zeigt den Zurückgebliebenen an, dass ihm der kühne Versuch misslungen ist. Vier Tage vergehen. Die Soldaten sind vor Durst schon so entkräftet, dass sie nicht einmal mehr die Brandpfeile löschen können, die vornehmen und durchlauchtigsten Gäste die das letzte Selterwasser bekommen haben, selbst die Damen müssen es tun, und die Malaien rüsten sich zum neuen Sturm, rücken an. Da — wohlbekannter Hörnerklang, aus dem Walde kommen im Sturmschritt die Truppen von Balwore, geführt von Major Urschinsky. So wurden sie in der letzten Minute noch gerettet. Sie wären alle massakriert worden.
Es war überhaupt wirklich eine grandiose Tat des Majors, und es handelte sich um Mitglieder des englischen und holländischen Königshauses, die er vor einem entsetzlichen Schicksale bewahrt hatte. Das musste natürlich auch grandios belohnt werden. Major Urschinsky ging nach Holland, erhielt von unserer jungen Königin den Ritterschlag, wurde zum Grafen von Mohakare erhoben. Den Dienst quittierte er aber, er ist dann nach Amerika gegangen. Dort sah er Lady Ethel Bristol wieder, die damals auch mit unter den Gästen des Forts gewesen war, und hat sie geheiratet. Lady Bristol hat im Süden große Baumwollplantagen und ist Mitbesitzerin der größten Tranraffinerie in San Francisco. Dort ist wohl auch der Graf mit eingetreten, obwohl er immer noch zu unserer Armee gehört. Jetzt ist er Oberst und außerdem, was aber nur für einen Kriegsfall gilt und überhaupt mehr ein Ehrentitel bei uns, Kommandant von Batavia, Hauptmann von Batavia.«
Der Erzähler schwieg.
Alle die Offiziere blickten wie fragend nach Leutnant Tönnchen. Sie wagten ja nicht, an solch eine Möglichkeit zu glauben, aber...
»Sie sprechen immer von einem Russen, von Major Urschinsky«, sagte da ein anderer der Holländer, »und ich wollte Sie nicht unterbrechen. Wissen Sie denn nicht, dass der Major, ehe er den Ritterschlag erhielt, gebeichtet hat, gar kein Russe zu sein, in der Fremdenlegion unter falschem Namen gedient zu haben? Was ihm übrigens gar nicht verübelt wurde. Dieser Graf von Mohakare, meine Herren, ist ein Landsmann von Ihnen, ein Deutscher, und heißt mit seinem richtigen Namen Artur Hennig.«
Da kam ein Soldat in Dienstuniform herein, ging an den Tisch, stellte sich stramm vor Leutnant Tönnchen auf.
»Eine Depesche an Herrn Leutnant von Tonn.«
Alle starrten in das von zwei malaiischen Säbelhieben durchfurchte Gesicht, sie alle wussten, dass dieser Mann sechs Jahre in der holländischen Fremdenlegion gedient, ein Gesuch eingereicht hatte, hier noch nachträglich als Einjähriger dienen zu dürfen, dass er täglich auf dem Schlosse verkehrte...
Als der Bursche des Leutnants von Tonn mit einer Depesche das Gastzimmer
betrat, starrten alle hier Versammelten in das von zwei malaiischen
Säbelhieben durchfurchte Gesicht, als sähen sie dieses zum ersten Male.
Noch ehe den Gedanken Ausdruck gegeben werden konnte, erhob sich der Major.
»Hennig, kommen Sie mal mit heraus, hier ins Weinzimmer.«
Nur oder ganze zehn Minuten blieben die beiden dort drin zusammen, der Major und der Gemeine. Dann kam nur der Major zurück, Artur hatte eine andere Tür benutzt.
»Herr Leutnant von Tonn — ich habe Ihren Burschen aus besonderen Gründen auf unbestimmte Zeit beurlaubt.«
Wir wollen nicht dabei sein, wie es jetzt an dem Tisch zuging, als der Major wieder als Kamerad erzählte, was ihm der Soldat Hennig soeben offenbart hatte.
Am andern Morgen hatte Leutnant Tönnchen das Turnen der Offiziere zu leiten, die Reckstange, an der er gerade eine Übung vormachte, riegelte sich aus, er stürzte, erlitt einen komplizierten Oberschenkelbruch und ward im Lazarett untergebracht.
Noch am Nachmittage desselben Tages, als einmal kein Kamerad bei dem im Gipsverbande Liegenden war, meldete der Lazarettgehilfe den Grafen von Mohakare.
»Jawohl, Graf, Graf... der Kerl soll hereinkommen!«
Artur trat ein, in Zivil, ein gar vornehmer Herr. »Hennig, Sie sind ein ganz gemeiner Lappen! Oder Sie denken wohl, ich rede Sie jetzt als Herr Graf an? Sie sind vorläufig als der ganz gemeine Soldat Hennig beurlaubt, verstanden? Mein Bursche sind Sie natürlich nicht mehr. So 'nen Kerl kann ich nicht gebrauchen. Nur weil Sie Zivillumpen anhaben, will ich Sie anders behandeln, noch anders, als Sie es verdienen, ich will meiner Verachtung Ausdruck verleihen. Setzen Sie sich dort hin — rücken Sie den Stuhl etwas mehr herum, dass ich Ihr infames Galgengesicht besser sehe — so — nun werden Sie mir Rede und Antwort stehen! Und wehe, wenn Sie einen Vorgesetzten belügen! Ich schmettere Sie sofort ins Loch! Feixen Sie nicht!«
Tönnchen verzog etwas schmerzhaft das Gesicht und fuhr fort:
»Na, mein lieber Hauptmann von Batavia, wie ich ahnungsvoller Engel Sie ja schon immer genannt halbe — nun beichten Sie mal offen. Los!«
»Herr Leutnant, ich habe nichts zu beichten.«
»Nicht? Gut, ich werde Sie fragen, wie der Beichtvater fragt, und wenn Sie dann nicht vor Scham erröten, dann... haben Sie es eben nicht nötig. Weshalb haben Sie hier nicht gleich gesagt, wer Sie sind?«
»Ich bin der unsichere Heerespflichtige Artur Hennig.«
»Was Sie geworden sind.«
»Das zu sagen hatte ich absolut nicht nötig.«
Tönnchen starrte den Sprecher groß an.
»Hm. Sie sind ein... Prachtmensch. Nee, das hatten Sie eigentlich doch wirklich nicht nötig. Sie konnten Ihre Dienstzeit doch als Einjähriger abmachen.«
»Hatte ich nicht das Gesuch eingereicht? Es ist abschlägig beschieden worden.«
»Hätten Sie aber gesagt, dass Sie der berühmte Graf von Mohakare sind, der Besitzer von ungezählten Millionen — ja, Bauer, das ist freilich etwas anderes.«
»Und das eben wollte ich nicht. War Artur Hennig nicht gut genug zum Einjährigen, dann sollte es auch der Graf von Mohakare nicht werden.«
Eine längere Pause. Tönnchen verzog wieder einmal schmerzhaft das Gesicht. »Hennig«, sagte er dann leise, »wenn Sie nicht ein ganz gemeiner Soldat wären, dann würde ich Ihnen die Hand geben. Na, da haben Sie se.«
Es war ein ernstes Lächeln, mit dem Artur den kräftigen Händedruck erwiderte.
»Nun aber weiter. Für unverheiratet durften Sie sich ausgeben, das weiß ich jetzt. Überhaupt geht mich das gar nichts an. Und wie Sie mir gestern sagten, Sie kannten den Trainer, Sie würden nach Ihrer Entlassung aufs Schloss kommen, das haben Sie ja auch sehr fein gemacht. Sie schlauer Fuchs, der sich durch die Malaien zu schleichen gewusst hat, sind ja überhaupt gar nicht zu fangen. Soweit ist alles in Ordnung. Nun kommt aber die moralische Seite von der Sache. Jetzt ernsthaft, Hennig! Oder meinetwegen auch Herr Graf! Haben Sie gewusst, dass ich der Lady Bristol den Hof mache?«
Ja, es waren sehr, sehr ernste Augen, die den Gefragten anblickten.
»Da gestatten Sie mir zunächst eine ebenso ernsthafte Frage, Herr Leutnant: Hat Ihnen Lady Ethel Bristol jemals irgendwie Hoffnung gemacht?«
Wieder eine längere Pause, Tönnchen schien angestrengt nachzusinnen.
»Hm — wenn ich mir alles so recht überlege — nee, eejentlich nich. Aber, mein schlauer Fuchs, diesmal kommen Sie nicht aus der Klemme. Sie haben dies alles erst arrangiert, um mich...«
Tönnchen bekam einen Hustenanfall, der aber künstlich zu sein schien.
»Hennig«, sagte er dann mit tränenden Augen, »erzählen Sie mir schnell etwas recht Trauriges von einer sauren Gurke, die sich in eine gepickelte Zwiebel verliebt hat — — ich darf ja nicht lachen, sonst geht ja mein Gips aus dem Leime — — ich darf nicht an die Buketts und Torten und Gänseleberpasteten denken — für Ihr Geld — für Ihre eigene Frau — und Sie bringen diese Präsente als mein Bursche zu ihr hin... Himmel und Hölle, Hennig, so erzählen Sie mir doch etwas recht Trauriges, oder ich bekomme den Lachkrampf, und das darf nicht sein!«
Na, wenn er die ganze Geschichte von dieser Seite auffasste, dann war es ja gut. Dadurch bewies er auch, dass er ein ganz kluger Kopf war. Klüger hätte er ja gar nicht handeln können.
»Herr Leutnant, ich bin nur auf einen Sprung hergekommen, muss mich um fünf beim Herrn Major melden, wollte nur in aller Schnelligkeit fragen, ob Ihnen morgen früh der Besuch der Lady Bristol und der Mistress Hockins angenehm ist. Ich will Sie auch gleich noch auf etwas anderes vorbereiten. Meine Frau wird Sie innig bitten, dass Sie Ihr Schmerzenslager, sobald Sie transportabel sind, nach dem Schlosse verlegen. Sie waren im Schlosse ein so gern gesehener Gast, da ist gar keine Mache dabei gewesen, und inwiefern soll sich dann etwas ändern? Und dasselbe gilt von Mistress Hockins, die wird Sie erst recht herzinniglich bitten, dass Sie...«
»Halt!«, unterbrach Tönnchen den Sprecher. »Vor eines haben Sie sich doch noch zu verantworten, ehe ich Sie wieder als meinen Burschen annehmen kann! Sie wollten doch mit der Kammerzofe ein Verhältnis halten.«
»Mit Mistress Hockins?! Ich?!«, erklang es im Tone des vorwurfsvollen Staunens. »Ich habe doch niemals auch nur so eine Andeutung gemacht!«
»Hm. Eigentlich haben Sie ja recht. Sie haben vielmehr immer betont, dass es nur die reinste Freundschaft wäre. Das stimmt allerdings. Ja, wer ist denn diese Kammerzofe nur?«
»Kammerzofe? Herr Leutnant, wie kommen Sie nur dazu, die Mistress Hockins eine Kammerzofe zu nennen?«
»Na weil — weil — weil...«
»Weil die ganze Stadt sie so tituliert?«, kam Hennig dem Stockenden zu Hilfe. »Die ganze Stadt hat sich immer geirrt. Mistress Lucy Hockins steht tatsächlich zu mir in einem Verhältnis; in einem verwandtschaftlichen — sie ist nämlich die Schwester von meiner Frau, ist ebenfalls eine Lady Bristol.«
Weit riss Tönnchen seine Augen auf.
»Es — ist — doch — nicht — möööglich!«
»Ja warum denn nicht? Ihr Gatte, Mister Hockins, der nach kurzer, kinderloser Ehe starb, hatte in St. Louis eine Zigarrenkistenfabrik, die größte Amerikas, also überhaupt der Welt, von dieser ist meine Schwägerin noch jetzt alleinige Besitzerin...«
Artur musste wohl erstaunt abbrechen, weil der im Bett halb aufrecht Sitzende plötzlich seinen Kopf wie eine Schildkröte gegen ihn vorreckte, als wäre der sonst etwas kurz geratene Hals aus Gummi elastikum, und dabei umspielte ein ungläubig-erstaunt-seliges Lächeln seine Lippen.
»Zigarren — — kisten — — macht se?!«
»Nun, sie macht sie nicht gerade selber, aber... Herr Leutnant, ich muss jetzt unbedingt gehen, muss schon Sturmmarsch anschlagen. Dürfen morgen früh meine Frau und Schwägerin kommen?«
Ja, sie durften.
Noch während seines Urlaubs wurde Artur Hennig, der er hier nur sein wollte, in der Kirche seiner Heimatstadt zum zweiten Male mit Lady Ethel Bristol getraut, dann diente er als verheirateter Einjähriger noch ein halbes Jahr, worauf er die Bewirtschaftung des väterlichen Rittergutes übernahm, ein Ökonom, der ganz in dieser Beschäftigung aufging.
Das war ja auch die Sehnsucht gewesen, die ihn nach der Heimat zurückgetrieben hatte.
Leutnant Tönnchen ließ seinen Schenkelbruch im Schloss ausheilen unter der speziellen Pflege der Mistress Hockins. Die Heilung verlief nicht ganz glatt, er hatte durch zu vieles Lachen wohl zu oft die Ruhe des geschienten Beines gestört, er behielt ein lebenslängliches Hinken, musste den Dienst quittieren. Nun, er hinkte nach Amerika, nach St. Louis, übernahm die Leitung der Zigarrenkistenfabrik seiner Frau, der geborenen Lady Lucy Bristol verwitweten Hockins.
Freilich war es eine etwas eigentümliche Fabrikleitung, wie sie der ehemalige Leutnant da ausübte.
»Ich habe ihn besucht. Er legt selbst tüchtig mit Hand an die Zigarrenkisten, nagelt sie allerdings nicht zusammen, sondern reißt sie im Gegenteil wieder auseinander, nagelt die kerbgeschmitzten Stängelchen und Scheibchen und Sternchen in seinem grandiosen Hause an die Wände und an die Möbel und wo es sonst noch etwas anzunageln gibt, und an die Portieren und Fenstergardinen heftet er sie mit goldenen Fäden, und dabei pfeift und trällert er nach wie vor das einzige Lied, das er kennt: Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida.«
So berichtete ein Beheimer Offizier, der einen längeren Urlaub zu einer Vergnügungs- oder wohl mehr militärischen Studienreise, wahrscheinlich in höherem Auftrage, durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika benutzt hatte, und da hatte er auch seinen ehemaligen Kameraden aufgesucht, konnte nicht genug davon erzählen, wie fürstlich er von ihm aufgenommen worden war.
»Und was macht denn unser Graf von Mohakare?«, fragte dann der Zurückgekommene.
»Der? Wissen Sie denn nicht, dass der gar nicht mehr hier ist?«
»Was? nicht mehr hier?!«, Nein, der war schon seit einem Vierteljahr fort, mit Gattin und seinem ganzen Hofstaate, hatte das Rittergut in Pacht gegeben.
»Ja warum denn nur?! Wohin denn nur?!«
Das wusste niemand. Die einen sprachen von Holland, die anderen von England, die anderen gar von Amerika. Da, als man hierüber noch debattierte, wo der Verschwundene geblieben sein mochte, brachten die führenden Zeitungen eine Meldung:
Brasilien hat einen neuen Präsidenten bekommen, den ersten demokratisch gesinnten Ivan Lopez. Sein erstes war eine vollständige Neuorganisation der verwahrlosten brasilianischen Armee. Bei solch einer Neuorganisation nimmt man gern einen tüchtigen Offizier von einer fremden Macht. Ein türkischer Offizier wird niemals die türkische Armee neu organisieren können. Bei Brasilien aber kam nicht nur europäischer Drill in Betracht, da musste man auch an einen Guerillakrieg, an einen Schleichkrieg in Pampas und Urwald denken. England oder Frankreich? Aus politischen Gründen nicht gut angängig. Es gibt noch eine andere recht ansehnliche Kolonialmacht. Die Wahl des neuen Präsidenten war auf Holland gefallen. Auf einen Graf von Mohakare, der sich als gewöhnlicher Soldat die Offiziersepauletten auf Java und Sumatra verdient hatte.
Das war die erste Zeitungsmeldung gewesen.
Und einige Tage später:
»Der Graf von Mohakare ist bereits in Rio de Janeiro eingetroffen und hat als »General-Inspektor von Heer und Marine« die neue Organisation der brasilianischen Armee übernommen. Wie uns aus zuverlässiger Quelle mitgeteilt wird, ist dieser holländische Graf ein geborener Deutscher bürgerlicher Abkunft namens Artur Hennig. Weiter erfahren wir, dass sich in seiner Begleitung, als seine rechte Hand, ein nordamerikanischer Offizier befindet, ein Oberst von Tonn, der ebenfalls, wie auch schon sein Name sagt, ein geborener Deutscher sein soll. Wir werden noch darauf zurückkommen.«
Mehr war von den großen, führenden Zeitungen, die mit Beheim nicht eben in enger Fühlung standen, vorläufig auch nicht zu verlangen.
Wir haben diese Einleitung als eine humoristische Erzählung dem Leser nicht vorenthalten wollen.
Die ganze Kriegsflotte hat gemeutert! Großadmiral Macedo Almeida hat sich zum Kaiser von Brasilien proklamiert!« Nur mit etwas erhobener Stimme hatte es Georg Stevenbrock gesagt, aber es wirkte auf den Präsidenten wie ein Donnerschlag, seine Hände brauchten nicht mehr festgehalten zu werden, dass sie nicht nach einer verborgenen Waffe griffen. Denn Juan Lopez musste wissen, dass in diesem Lande so etwas nicht unmöglich war, eine Meuterei der gesamten Kriegsflotte.
Ach Du armes, reiches Brasilien, Du unglückseliges Land!
Was könntest Du sein mit Deinen unermesslichen Schätzen an Erzen, an Gold, Silber und Edelsteinen, an den kostbarsten Hölzern aller Art, mit Deinen ungeheuren Territorien von unerschöpflicher Fruchtbarkeit, mit Deinen Weiden, auf denen sich noch viel besser als in Argentinien Millionen von Rindern tummeln könnten! Wenn Du Dich nicht eben in den Händen einer Clique von einigen wenigen Männern befändest, welche aus krassestem Egoismus alle Industrie und allen Bergbau und alle Kolonisation unterdrücken, um keine anderen Großkapitalisten aufkommen zu lassen, um eben ganz allein das Heft in Händen zu behalten.
Wir wollen einmal die Sache von einer anderen Seite betrachten, obgleich es nur eine Folge von dieser Tyrannenherrschaft eines Geldkonsortiums ist.
Wann eigentlich hat Brasilien, Kaiserreich oder Republik, schon einmal einen ernstlichen Krieg mit einem anderen Staate geführt?
Gewiss, eigentlich sogar fortwährend. Aber über Grenzstreitigkeiten mit einigen Gefechten ist es niemals hinausgekommen. Dann haben die Kriegführenden immer sofort die Waffen gegen einen inneren Feind zu richten gehabt. Stets wurde ein Bürgerkrieg im eigenen Land daraus! Immer musste die jeweilige Regierung schleunigst einen demütigenden Frieden mit dem feindlichen Nachbar schließen, um der inneren Revolution Herr zu werden.
Wann ist denn Brasilien überhaupt einmal ohne Revolution, ohne inneren Bürgerkrieg gewesen? Niemals! In Europa hat man sich nur schon so daran gewöhnt, dass man sich gar nicht mehr darum kümmert, die Zeitungen gar nichts mehr davon melden, es müsse sich denn gerade um ganz bedeutende Aufstände handeln. Einen wirklichen Frieden aber hat es in Brasilien noch nie gegeben.
Und schon einmal, im Jahre 1893, hat die gesamte brasilianische Kriegsflotte gemeutert, unter Admiral Custódio de Mello, hat Rio de Janeiro ohne jeden triftigen Grund bombardiert, die Hälfte der Stadt in einen Trümmerhaufen verwandelt, welche Revolution nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten unterdrückt werden konnte, und ebenso meuterte im Jahre 1904 noch einmal wenigstens die Hälfte der Kriegsflotte, und wiederum konnte die Regierung der Rebellen nur mit Hilfe einer anderen Macht Herr werden, mit Hilfe Argentiniens, da die Vereinigten Staaten unterdessen beschlossen hatten, sich in die inneren Unruhen Brasiliens nicht mehr einzumischen. —
Es konnte dem Präsidenten also gar nicht so überraschend kommen, was er da zu hören bekam. Eine Unmöglichkeit lag durchaus nicht vor.
Deshalb brach er im ersten Augenblicke fast zusammen. Dass er dann an Stevenbrocks Behauptung zweifelte, das war wieder etwas ganz anderes.
So raffte er sich wieder empor.
»Das ist nicht wahr!«, schrie er mit starker Stimme.
»Bei Gott — bei meinem Ehrenwort als deutscher Offizier: ich spreche die Wahrheit!«
Diese Worte wirkten besser als jeder andere Schwur. Wie der Präsident jetzt nicht mehr daran zweifelte, das bewies er dadurch, dass er nochmals zusammenbrach, noch ganz anders als vorhin, wenn er sich auch nochmals gleich wieder empor raffte, jetzt sogar eisern wurde.
»Woher wissen Sie... ? Wie kann Ihnen das bekannt geworden sein?«
»Mi sabe!«, war es diesmal Stevenbrock, der diesen spanischen Ausdruck der stärksten Behauptung, die keine weitere Gegenfrage duldet, gebrauchte.
»Weshalb«, fuhr Lopez dann aber gleich fort, »hat sich denn das Geschwader nicht erst in San Movo gemeldet, sodass man sich auf seine Ankunft hier vorbereiten konnte?«
»Weil es eben ganz unerwartet hier eintreffen wollte. Damit sich Almeida umso leichter des Präsidenten bemächtigen konnte.«
»Sich meiner bemächtigen?!«
»Na selbstverständlich«, sagte Stevenbrock leichthin, »Ihrer Person und Ihrer ganzen Familie. Dann natürlich auch all der hohen Offiziere und Beamten. Die hatte man ja alle gerade so hübsch hier beisammen in Para. Sie alle hätten doch zuerst das Flaggschiff betreten — schwubb war mit einem Schlage die ganze Gesellschaft gefangen. Einesteils hätte der Rebellenkaiser nun die treu gebliebene Armee, die sich doch nur um Rio de Janeiro konzentriert, gar nicht mehr zu fürchten, weil gänzlich führerlos, anderseits hätte er eben die höchsten Persönlichkeiten als Geiseln in seinen Händen. Der ganze Plan ist doch so einfach, und er wäre ja auch geglückt, wenn ich Sie und all Ihre Getreuen nicht noch rechtzeitig entführt hätte.«
»Mann, Mann, woher ist Ihnen dies alles aber nur bekannt?! Haben Sie Spione auf den Schiffen?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie das sonst?«
»Wie nennt man dieses Schiff, auf dem Sie sich befinden?
»Die Argos.«
»Hat es nicht sonst so einen hübschen Namen bekommen, wegen seines Berufes, dem es und seine Mannschaft nachgeht?«
»Das Gauklerschiff.«
»Nun, unter Gaukler versteht man doch nicht nur Akrobaten, Seiltänzer, Taschenspieler und dergleichen. Besonders im Orient zählen zur Kaste der Gaukler auch die Wahrsager und ähnliche Berufsgenossen...«
»Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie hellsehend oder gar allwissend sind?!«
»Allwissend sind wir nicht, doch viel ist uns bewusst!«, gebrauchte diesmal Stevenbrock dieses Zitat. »Und dies gilt nicht einmal von uns Argonauten, dazu sind wir viel zu nüchterne Menschen, sondern unter uns weilt nur als Gast ein Mann, der mehr als Brotessen kann. Bitte, lassen Sie sich das vorläufig genügen, Sie werden ihn selbst kennen lernen. Nun aber vor allen Dingen kommen Sie in die Batterie, in den Theaterraum, und beruhigen Sie Ihre Offiziere und Beamten, dass die nicht etwa an Bord unseres Schiffes selbst eine Meuterei machen.«
Der Präsident verstand sofort, er folgte dem Vorausgehenden.
»Sind unter diesen auch solche, die mit den Rebellen gemeinschaftliche Sache machen?«, fragte er nur noch unterwegs.
»Nur ein einziger, und der ist bereits von anderen Seite in Gewahrsam genommen worden, damit er uns nicht etwa einen Streich spielt. Admiral Almeida war sehr vorsichtig, er hatte in Para nur einen einzigen seiner Getreuen als Spion zurückgelassen, sonst hatte er alle mit sich genommen.«
»Und wer ist das?«
»Benito Merveillas, der Hafenkapitän von Para.«
»Capitano Merveillas!«, wiederholte der Präsident zähneknirschend, weil die Nennung dieses Namens ihm wohl die größte Enttäuschung bringen musste. »Ihn, den ich mit Gunstbezeugungen überschüttete, ihm mein vollstes Vertrauen schenkte, ihn für den Getreuesten meiner Getreuen hielt! Ja aber... unter Ihren Gästen befindet sich doch auch die Gattin des Admirals Almeida nebst ihren drei Kindern!«
»Und ferner noch die Familie des Marinesekretärs, der gleichfalls mit den Meuterern gemeinschaftliche Sache macht. Aber diese Damen und Kinder wissen nichts von dem schmählichen Verrat, den ihre Gatten und Väter begangen haben, die ganze Geschichte ist in größter Heimlichkeit eingeleitet worden. Für uns ist es natürlich von größtem Vorteil, dass wir die Familien dieser beiden an der Spitze der Verschwörung stehenden Männer in Händen haben, wir haben den Spieß einfach umgekehrt. Die Rebellen werden sich jetzt wohl hüten, auf unser Schiff zu schießen.«
Sie hatten die Batterie erreicht, und es war auch die höchste Zeit gewesen, schon wurde dort drinnen mächtig gegen die Türen gedonnert.
Kaum hatte der letzte der ungefähr 200 Gäste den Zuschauerraum betreten, als sich das Schiff in Bewegung gesetzt oder doch gedreht hatte, was sie doch alle bemerkt haben mussten, und da donnerten auch schon die Salutschüsse, da sah man durch die Bullaugen hinter der Insel die ersten Linienschiffe hervorkommen.
Die Aufregung lässt sich denken. Die Kriegsflotte war unangemeldet gekommen, und alle die Hauptpersonen hier zu einem Schauvergnügen versammelt!
Also schleunigst zurück an Land, sich zum Empfang vorbereitet, so lange man noch Zeit dazu hatte!
Da zeigte es sich, dass die Türen hinter ihnen geschlossen waren. Und es waren eiserne Schiffstüren, die sich nicht so leicht eindrücken ließen. Und keiner von der Schiffsmannschaft zu sehen. Die Bühne war erreichbar, aber auch dort alles durch eiserne Türen geschlossen.
Allerdings kam niemand gleich auf den Gedanken, dass man hier in eine Falle gegangen wäre. Dass hier ein ehrbares deutsches Handelsschiff, mochte es auch ein auf Abenteuer ausgehendes Gauklerschiff sein, alle die höchsten Würdenträger der Republik Brasilien gefangen nahm, einfach einsperrte und mit ihnen auf und davon fuhr... so eine Möglichkeit war ja gar nicht auszudenken!
Wie der Präsident und der eine Kapitän zurückgehalten worden war, das hatten nur die wenigsten bemerkt, sie besaßen jetzt keine Gelegenheit, es den anderen mitzuteilen.
Dann freilich, als sich keine der geschlossenen Türen öffnen und niemand von der Schiffsmannschaft zeigen wollte, erwachte schließlich doch ein Misstrauen, wenn man den Grund auch noch nicht definieren konnte, die Erregung ging zuletzt in ein Toben über.
Dabei aber ist zu bedenken, dass die Unterredung Stevenbrocks mit dem Präsidenten ja nur wenige Minuten in Anspruch genommen hatte.
Kurz, gerade als erst die Misstrauischsten und Ungeduldigsten gegen die Türen zu pochen begannen, erschien auf der Bühne der Präsident, der sie durch eine der Seitentüren betreten hatte.
»Meine Herren, ich bitte um Ruhe! Furchtbares ist es, was ich Ihnen zu verkünden habe. Aber wollen Sie darüber nicht Ihre Fassung verlieren, die wir gerade jetzt am allernotwendigsten brauchen.«
Und es war denn auch eine Totenstille, die der Erklärung des Präsidenten folgte.
Die ganze brasilianische Kriegsflotte gemeutert, der sie heimführende Großadmiral Almeida sich zum Kaiser von Brasilien proklamiert!
Wenn auch alle diese Männer ebenfalls die Verhältnisse ganz genau kannten, so etwas nicht für ausgeschlossen halten kannten, weil es eben in Brasiliens Weltgeschichte schon mehrmals passiert war, so war es doch begreiflich, wenn sie es nicht gleich glaubten.
»Das ist nicht wahr! Das ist rein unmöglich!«
So und anders klang es durcheinander.
»Dieser Herr, der Kargokapitän dieses Schiffes, der bekannte Waffenmeister der Argonauten, hat mir versprochen, sofort den Beweis der Wahrheit zu erbringen. Denn einer der Hochverräter weilt als Spion des Admirals Almeida mitten unter uns, wenn er auch schon entfernt worden ist — — Capitano Merveillas muss und wird sofort alles gestehen.«
Wir können nicht die Einzelheiten schildern, wie sich alles entwickelte. Schon die Nennung dieses Namens löste wiederum einen Tumult aus. Und dann waren ja auch Damen und Kinder vorhanden, unter letzteren aber auch schon erwachsene Töchter, deren Gatten und Väter sich mit auf den Kriegsschiffen befanden, wenn man auch noch nicht wusste, ob sie mit den Rebellen gemeinschaftliche Sache machten oder nicht; sie konnten ja auch von diesen überwältigt worden und gefangen gehalten sein.
Nur eine einzige dieser Damen schien sich ihrer Sache ganz sicher zu sein, obgleich sie gerade durch ihren Ausruf ihre eigene Unschuld bewies.
»O, meine Ahnung, mein Traum!«, stöhnte Senhora Almeida, die Gattin des Großadmirals, und fiel in Ohnmacht, und jammernd warfen sich die noch unerwachsenen Kinder über ihre Mutter.
Das waren solche Zwischenfälle, die wir eben nicht alle einzeln schildern können.
Und dann erhob der Präsident, der unterdessen mit Stevenbrock nochmals Rücksprache genommen hatte, wiederum seine Stimme:
»Ruhe, meine Damen und Herren! Alles bleibt hier unten! Wir dampfen jetzt den Strom hinauf. Weshalb und wohin, das werden Sie später erfahren. Herr Kapitän Stevenbrock hat mir seinen Plan soeben in aller Kürze offenbart, und ich heiße ihn gut. Also, wir alle bleiben hier unten, niemand lässt sich an Deck sehen. Mögen die Rebellen nur erst glauben, wir wären einfach von einem Hamburger Handelsschiff, dessen Kapitän plötzlich vom Wahnsinn befallen wurde, entführt worden. Jetzt wollen wir zunächst einmal den Capitano Merveillas vernehmen!«
Und es geschah.
Die Szene wird zum Tribunal,
Und es gestehn die Bösewichter,
Getroffen von der Rache Strahl.
So schließt Schillers doch allgemein bekanntes Gedicht »Die Kraniche des Ibykus.«
Und genau so war es auch hier.
Auf die Bühne, auf welcher die Argonauten die heitersten Szenen vorführen sollten, wurde ein reichuniformierter Seeoffizier geführt, der Hafenkapitän Benito Merveillas, der höchste Beamte von Para.
Er wurde von Juba Riata geführt, der ihn auch schon vorher, so wie Stevenbrock den Präsidenten, von der Gesellschaft weggelockt und in Empfang genommen hatte, und ferner war noch ein Herr mit einem langen, blonden Vollbart dabei, in dem wir den Mann erkennen, der sich den »Fürsten des Feuers« nannte.
Hatte dieser geheimnisvolle Mann mit dem Hafenkapitän schon ein Verhör angestellt, hatte er sonst etwas mit ihm vorgenommen, um ihn zu veranlassen, vielleicht direkt zu zwingen, die völlige Wahrheit zu sagen?
Jedenfalls war der verräterische Hafenkapitän ganz und gar geständig.
Wir brauchen nicht näher zu wissen, was er alles offenbarte. Nur die Hauptsache geben wir wieder.
Es handelte sich eben um eine von langer, langer Hand vorbereitete Revolution, für die man aber vorläufig nur die Mannschaften der Kriegsflotte gewonnen hatte, einfach durch großartige Versprechungen. An die Armee hatte man sich noch gar nicht gewagt, kein einziger Offizier des Heeres war daran beteiligt.
Das Ganze ging natürlich von jenen siebzehn Plantagenbesitzern aus, sie wollten mit dem Großadmiral Macedo Almeida über Brasilien einen Kaiser sehen, um durch ihn den jetzigen, unleidigen Präsidenten zu stürzen, überhaupt wieder die Macht in die Hände zu bekommen.
Wie gewöhnlich sich der Hauptstadt des Landes zu bemächtigen, davon wollte man diesmal absehen, eben wegen der Treue des Landheeres.
Der ausgemachte Plan war, mit den Kriegsschiffen Para und die ganze Mündung des Amazonenstromes zu besetzen und hier ein Heer anzuwerben, mit dem man dann gegen Rio de Janeiro und überhaupt gegen die Landarmee vorgehen wollte.
»Was denn für ein Heer anwerben?«, lassen wir den examinierenden Präsidenten einmal persönlich fragen.
»Ein Söldnerheer. In allen Ländern, die dabei in Betracht kommen, vor allen Dingen in Deutschland, Frankreich und Skandinavien, sind bereits unsere Agenten massenhaft angestellt, allüberall verteilt, welche, sobald der Telegraf die Revolution der Welt verkündet hat, die Werbetrommel rühren werden. Die feilen Söldner werden zweifellos massenhaft kommen, zumal ihnen nach Niederwerfung der jetzigen Regierung große Ländereien am Amazonenstrome versprochen werden. An einer Landung können die Passagierschiffe nicht gehindert werden, da unsere Kriegsflotte ja die See beherrscht.«
Das war die Hauptsache gewesen, die man von dem geständigen Hochverräter erfuhr.
Dann traten die Herren zu einer Beratung zusammen, und außerdem waren nun auch die äußeren Vorgänge zu beobachten.
Schon dass die »Argos« plötzlich abtaute, d. h. die Verbindung durch Taue mit dem Kai löste und nach der Mitte des Hafens ging, hatte an Land natürlich das größte Staunen mit nachfolgender Erregung hervorgerufen.
Oder war dieses Staunen nicht so »natürlich«?
Es kommt hierbei etwas in Betracht, womit in gewissen Romanen und Erzählungen, die nicht gerade für die Jugend bestimmt zu sein brauchen, sehr viel gesündigt wird. Weil sie dann eben von Autoren geschrieben worden sind, die von dem ganzen Seewesen nicht die geringste Ahnung haben.
Da fährt irgend ein Schiff in irgend einen Hafen hinein, weil es dem Herrn Kapitän gerade so passt, oder er hat es auf irgend ein anderes Schiff abgesehen, er legt dicht neben diesem bei, »geht vor Anker«, und am nächsten Morgen, nachdem er seinen Zweck erreicht, ist er spurlos verschwunden, hat in der Nacht heimlich den Hafen verlassen.
Teufel noch einmal, diesen Kapitän würden die Seebehörden ja schnell beim Wickel haben! Der wird samt seinem ganzen Schiffe unter Piraterie erklärt! Der verliert, wenn er dann keinen genügenden Entschuldigungsgrund vorbringen kann, sein Kapitänspatent!
Kann man einem Küstenbewohner erzählen, bei uns im Binnenlande dürfte jeder Fremde, wenn er gerade müde ist, irgend ein Hotel betreten, in ein Zimmer gehen, sich ins Bett legen, ausschlafen und dann einfach wieder fortgehen, ob er nun den Zimmerpreis auf den Tisch geworfen hat oder nicht? Alles so ohne weiteres; ohne sich anzumelden, ohne den Portier oder einen Kellner zu fragen.
Nein, solch ein Märchen, dass im Binnenlande solche Hotelverhältnisse herrschen, das glaubt nicht einmal ein Ostfriese, der niemals aus seinem Kaff herauskam.
Nun, dann dürfen wir Binnenländer uns auch nicht solche Hafenmärchen aufbinden lassen.
Gewiss, jedes Schiff kann jederzeit jeden Hafen, der für den Weltverkehr freigegeben, anlaufen. Aber sobald es die weitvorgeschobene Hafengrenze überschritten hat, steht es unter den Hafengesetzen. Der Hafenmeister schreibt ihm vor, wo es vor Anker zu gehen oder festzumachen hat, und dort hat es liegen zu bleiben, bis es sich wieder abgemeldet hat, und will es einen anderen Platz im Hafen haben, so muss darum nachgesucht werden.
Von den Zollverhältnissen und der Sanitätspolizei wollen wir dabei gar nicht sprechen.
Kurz und gut, dass die Matrosen der Hamburger »Argos« plötzlich die Taue von den Pollern warfen und vom Kai absetzen, dass dieses Schiff nach der Mitte des Hafens manövrierte, das war für Para ein unerhörtes Ereignis, und wäre es auch für jeden anderen zivilisierten Hafen gewesen.
Hatte es sich denn abgemeldet? Oder hatte es die Erlaubnis erhalten, seinen Platz zu verändern?
Ach, kein Gedanke da dran! Da gab es so viele Hafenbeamte, die hätten davon unbedingt wissen müssen, und sie wussten nichts von solch einer Erlaubnis.
Oder etwa, weil sich die hohen Offiziere an Bord befanden, der militärische Hafenkapitän als Stadtkommandant, der Präsident selbst? Etwa deshalb wäre nicht erst eine vorschriftsmäßige Abmeldung oder ein Nachsuchen um solch eine Erlaubnis nötig gewesen?
Ebenfalls gar kein Gedanke daran! Man muss nur die Hafenverhältnisse kennen, um dies alles begreifen zu können.
Und um die Überraschung voll zu machen, tauchte jetzt hinter jener dem Hafen vorgelagerten Insel das erste Linienschiff auf, das ganze Geschwader folgte nach, seinen Salut abgebend.
Ganz unangemeldet war es gekommen! Und dort ging das deutsche Gauklerschiff hin, mit dem Präsidenten an Bord und all den Offizieren und Beamten, welche das Kriegsgeschwader hatten feierlichst empfangen wollen!
Wir zählen nicht die Tage. Großadmiral Macedo Almeida hatte sich als neuer Kaiser von Brasilien Paras ohne einen scharfen Schuss und Schwertstreich bemächtigt. Es hatte ja auch gar nicht anders sein können. Er war eben als Geschwaderchef gekommen, war als solcher von der ahnungslosen Bevölkerung empfangen worden, und dann hatte er sich einfach mit seinen gelandeten Mannschaften in allen Hauptpunkten, die bei einer Verteidigung der Stadt in Frage kamen, festgesetzt.
Einen Teil seiner Flotte schickte er den Amazonenstrom hinauf, alle anderen Plätze eben so leicht einnehmend, auch Manaus befand sich bereits in der Gewalt der Rebellen, ohne irgend welchen Widerstand geleistet zu hoben.
In der Hauptstadt war dies alles natürlich schon bekannt. Das Heer, im Frieden aus 30 000 Mann bestehend, war bereits mobilisiert worden und konnte bis auf 150 000 Mann gebracht werden, darunter 14 Regimenter Kavallerie. Sämtliche Truppen wurden in der Umgebung von Rio de Janeiro zusammengezogen, aber das hatte für den Rebellenkaiser gar nichts zu bedeuten.
Es fehlte ja an allen Transportschiffen für die Truppen. Und wenn solche auch aufgebracht werden konnten, was wollten die denn gegen die ganze Kriegsflotte ausrichten, die in den nordamerikanischen Häfen reich mit Munition versehen worden war. Ebenso wenig würde sich eine fremde Nation in diesen inneren Streit Brasiliens einmischen.
Denn so klug war Almeida, um die strengste Neutralität zu wahren. Natürlich musste der Amazonenstrom jetzt für fremde Schiffe gesperrt werden. Aber die einmal darauf befindlichen durften ihn ungehindert verlassen. Die in Para erfolgende Untersuchung war nur die übliche. Brasilianische Handelsschiffe freilich wurden von den Meuterern konfisziert, das war auch etwas ganz anderes. Eine fremde Macht hatte keine Ursache zum Eingreifen.
So hätte Almeida mit seinem Erfolge und seiner jetzigen Lage ganz zufrieden sein können. Er befand sich hier in einer todsicheren Position, von wo aus er seine weiteren Operationen in Ruhe leiten konnte. Von den Niederlassungen am Amazonenstrome konnte er mit Lebensmitteln im Überfluss versehen werden. Es galt nur ruhig abzuwarten, unterdessen trieben seine Agenten in allen Provinzen für den neuen Kaiser von Brasilien energische Propaganda, wenn auch immer auf die Gefahr hin, kriegsgerichtlich erschossen oder vom Volke am nächsten Baume aufgeknüpft zu werden. Aber die großartigen Versprechungen, die der neue Kaiser machte, vor allen Dingen Freigabe aller Kolonisation, mussten zuletzt doch ziehen. Sonst konnte ja auch einmal eine Demonstration gegen Rio de Janeiro gemacht werden.
Aber der Großadmiral war durchaus nicht zufrieden. Sein Plan war ein so ganz anderer gewesen. Er hatte im Gegensatz zu früheren Rebellen, die sich der Herrschaft bemächtigen wollten, jedes Blutvergießen vermeiden, hatte ganz und gar friedfertig vorgehen wollen. Dazu war nur nötig gewesen, dass er sich aller führenden Regierungspersonen bemächtigte. Dann waren Heer und das ganze Land eben ohne Führer. Und das hätte hier alles so schön geklappt. Alle, alle waren hier zum Empfang der Flotte versammelt gewesen, mit einem Schlage wären sie alle in seiner Gewalt gewesen, sogar ihre Familien dazu, Frauen und Kinder, was doch sehr viel zu bedeuten hat. Macedo Almeida wäre tatsächlich sofort unumschränkter Herrscher des Landes gewesen. Der Präsident hätte zurücktreten müssen, dafür hätte er schon gesorgt.
Da hatte ihm jenes deutsche Gauklerschiff so einen fürchterlichen Strich durch die Rechnung gezogen, hatte alle diese Hauptpersonen ihm einfach entführt.
Ja, wo war dieses Gauklerschiff nur geblieben?
Es war spurlos verschwunden.
Mit Zauberei hatte das freilich nichts zu tun.
Einmal hinterlässt ein Schiff im Wasser überhaupt keine Spur, und dann gibt es eben an den Ufern des Amazonenstromes Verstecke genug, in denen man sich unsichtbar machen kann.
Die »Argos« war stromaufwärts gefahren. Eine Stunde hatte es doch gedauert, ehe der Admiral des Geschwaders alles erfahren. Schäumend vor Wut, dass ihm die Hauptpersonen alle entgangen waren, hatte er sofort einige Torpedoboote nachgeschickt, allerdings mit der strengsten Weisung, keine Gewalt zu gebrauchen, das heißt keinen Schuss abzufeuern. Seine eigene Familie befand sich ja an Bord.
Das deutsche Handelsschiff machte nur 12 Knoten in der Stunde, das schnellste der nachgeschickten Torpedoboote 22 Knoten. Ehe dieses aber die »Argos« erreicht, war sie schon in die Mündung eines nördlichen Nebenflusses verschwunden gewesen, und das Torpedoboot hatte sie nicht wiederfinden können, auch das Suchen aller anderen Fahrzeuge war vergeblich gewesen.
Dabei war ja wiederum nichts Wunderbares. Es ist ja schon geschildert worden, wie es dort aussieht, die Küsten werden gerade an der Mündung des Stromes aus lauter Inselchen gebildet, und da niemand dort etwas zu suchen hat, von dort nichts zu holen ist, so sind diese Wasserwege auch noch gänzlich unbekannt.
Kurz und gut, die »Argos« wurde nicht gefunden. Zum Strome heraus konnte sie ja nicht, die Flotte sperrte die ganze Mündung, so breit diese auch sein mochte, aber zum Vorschein kam das deutsche Schiff mit seiner kostbaren lebendigen Ladung auch nicht wieder.
Es war nachts gegen zehn Uhr.
Macedo Almeida, der, wenn er sich nicht an Bord seines Flaggschiffes aufhielt, den Regierungspalast bewohnte, saß am Schreibtisch, die Ellenbogen aufgestemmt, den Kopf in die Hände gestützt, und brütete finster vor sich hin.
Es war ein Mann mittleren Alters, eine magere, kleine, unansehnliche Figur, aber sein energisches Gesicht verriet schon, dass er wirklich durchsetzte, was er einmal durchsetzen wollte! Jene Plantagenbesitzer, von denen dies alles doch ausging, mussten sich wohl geirrt haben, wenn sie gerade diesen Mann als Werkzeug für ihre Pläne auserwählt hatten. Der blieb nicht lange ein Spielball in ihren Händen. Das musste ihnen übrigens schon jetzt klar geworden sein, der neue Kaiser von Brasilien ging bereits ganz seine eigenen Wege, worauf wir aber nicht weiter eingehen wollen.
Schon seit einer halben Stunde brütete er so vor sich hin, bewegungslos, nur immer mit den Zähnen an seinem schwarzen Knebelbart nagend.
Seine Ordonnanz trat ein.
»Ein Signor Prodelli bittet Seine Exzellenz sprechen zu dürfen, hier seine Karte.«
Der Kaiser von Brasilien, der sich vorläufig aber lieber noch nicht Majestät titulieren ließ, wendete den Kopf, ohne die dargebotene Karte zu nehmen.
»Was will er?«
»Es handele sich um eine ganz dringende, hochwichtige Angelegenheit.«
»Bloß diese Andeutung?«
»Ja.«
»Er soll Ihnen erst klipp und klar sagen, was er von mir will.«
»Aber ich habe ihm schon...«
»Weg!«
Die Ordonnanz ging, der Admiral, in kleiner Uniform, fiel wieder in sein Brüten, bis die Ordonnanz kam.
»Der Herr, ein Kaufmann aus der italienischen Kolonie, will wissen, wo sich das Gauklerschiff befindet.«
Diese doch höchst wichtige Meldung machte anscheinend sehr wenig Eindruck auf den Admiral. Er lehnte sich nur in den Stuhl zurück, kreuzte die Arme über den Brust und stierte einige Minuten in die elektrische Tischlampe.
Doch wer diesen Mann näher kannte, konnte dabei nichts Besonderes finden. Großadmiral Macedo Almeida war wegen seiner Schweigsamkeit bekannt. Jedes Wort legte er auf die Goldwaage, brauchte auch zur Antwort einer ganz unbefangenen Frage immer eine reichliche Überlegung. Schon dadurch verriet er, dass er kein gewöhnlicher Mensch war.
»Er soll kommen!«, erklang es dann.
Der Admiral befand sich allein im Zimmer und wollte den ihm fremden Mann auch allein empfangen.
Das muss gewürdigt werden.
Wenn dieser Italiener jetzt auf den proklamierten Kaiser ein Attentat beging, so wäre es innerhalb von acht Tagen das fünfte gewesen, und wer weiß, ob es wieder so gut abgelaufen wäre wie die vier vorausgegangenen.
Also dieser kleine, unansehnliche Admiral war ein ganzer Mann. Dass er jetzt einen Revolver auf dem Schreibtisch handlicher legte und sich einmal überzeugte, ob sein Stilett griffbereit in der Brusttasche stecke, das konnte man ihm freilich nicht verdenken. Der Angemeldete trat ein. Es war ein elegant gekleideter Herr von südländischem Aussehen, mehr braucht über ihn nicht gesagt zu werden. Almeida drehte kaum merklich den Kopf nach ihm, behielt ihn aber ganz sicher in den Augenwinkeln, ließ, sich keine Bewegung entgehen.
»Was wollen Sie?«
»Exzellenz! Es ist ein ganz merkwürdiger Fall, der mir den Mut...«
»Sie wollen wissen, wo sich das sogenannte Gauklerschiff befindet?«
»Ich selbst weiß es nicht. Aber mir ist eine seltsame Mitteilung zuteil geworden und ich halte es für meine Pflicht...«
»Fassen Sie sich kurz — ganz kurz! — Oder verlassen Sie das Zimmer.«
Der Italiener, der zwischen jedem Worte einen Bückling gemacht hatte, raffte sich zusammen.
»Meine Tochter ist mediumistisch veranlagt. Schon seit Jahren halten wir fast jeden Abend in meinem Hause spiritistische Sitzungen ab. So auch heute Abend. Da meldete sich ein Geist. Wie gewöhnlich zuerst um seinen Namen befragt, gab er sich für Ihre Frau Gemahlin aus, für die Dona Mercedes Almeida. Sie verlangte Sie zu sprechen. Sie will Ihnen sagen, wo sich das Gauklerschiff befindet, will Sie nach seinem Versteck führen. Immer energischer wiederholte sie ihre Forderung. Ich sollte Sie holen. Da hielt ich es für meine Pflicht, der Aufforderung nachzukommen. So sehr ich auch gezögert habe.«
Es war ausgesprochen.
Spiritismus! Lieber Leser! Verlasse Dich darauf, dass es in — in Deutschland England und Frankreich sei zunächst nur behauptet — kein Dorf von über 100 Einwohnern gibt, in dem nicht Spiritismus getrieben wird. Immer hat sich ein spiritistisches »Cercle« zusammengefunden. Drei Bauern gibt es in jedem Kuhdorfe, die ab und zu des Abends mit ihren Frauen und erwachsenen Kindern zusammenkommen, um durch Tischklopfen die Seelen Verstorbener zu befragen.
Das haben Männer, die sich für so etwas interessieren, mit Gewissheit konstatiert, wenn sie deswegen auch nicht gerade in jedem einzelnen Dorfe der genannten drei Hauptländer der Erde nachfragen mussten. Was übrigens auf diese Weise auch sehr schwer zu erfahren ist. Denn dieser Spiritismus wird ganz geheim getrieben. Eben aus Schamgefühl.
Aber es ist schon so! Und was für Deutschland, England und Frankreich gilt, dürfte wohl auch für die anderen zivilisierten Länder der ganzen Welt gelten. Oder das »zivilisiert« kann man auch weglassen. Wilde Völker haben nur einen anderen Namen für diese Art von Geisterbeschwörung. Und für unsere deutschen Bauern ist das aus Amerika importierte Tischrücken und Tischklopfen nicht etwa was Neues, sondern ist als sogenanntes »Kloppeding« schon seit uralten Zeiten bekannt, das stammt schon aus grauer Germanenzeit. Und je höher die Gesellschaftsklasse, desto intensiver wird der moderne Spiritismus betrieben, aller sonstigen zur Schau getragenen Freigeisterei zum Trotz, zum Hohn.
Das große Interesse für den Spiritismus rechtfertigt sich dadurch, dass einfach an der Sache etwas Tatsächliches ist. Es kommen Phänomene zustande, die wir uns nicht mit unserem natürlichen Menschenverstande erklären können, die allen physikalischen Gesetzen spotten.
Anderseits freilich ist der ganze Spiritismus und was damit zusammenhängt, der helle Blödsinn. Nicht nur Wahnsinn, in verdunkelten Gehirnen entstehend, sondern an sich der albernste Blödsinn. Und dennoch also ist der Spiritismus eine Tatsache. Die übernatürlichen oder vielmehr übersinnlichen Phänomene, die Botschaften aus einer unbekannten Welt können nicht hinweggeleugnet werden, oder der scharfe Beobachter ist nicht ehrlich. Aber ein ernster, selbstdenkender Mensch wird auch bald den Blödsinn erkennen, gerade wenn er sich von der Echtheit der Phänomene überzeugt hat, wird dann von dem ganzen Schwindel nichts mehr wissen wollen, dem ganzen Spiritismus als einem Humbug verächtlich den Rücken kehren.
Wie diese Gegensätze zu verstehen sind — echte Wahrheit und dennoch betrügerischer Schwindel — das werden wir später aus Georg Stevenbrocks eigenem Munde zu hören bekommen. —
»Glauben Exzellenz an Spiritismus?«, fragte der Italiener endlich zaghaft, als schon Minuten vergangen waren und der Admiral noch immer regungslos in die Tischlampe blickte.
Als gebildeter Mann, der er war, wusste er sicher davon — — aber ob er sich damit schon beschäftigt hatte, ob er daran glaube oder nicht, das würde er diesem fremden Manne sicher nicht sagen, oder es wäre nicht der Großadmiral Macedo Almeida gewesen, den seine Bewunderer schon mit dem deutschen Moltke verglichen.
Endlich brach er sein Schweigen. Und es war wirklich sehr eigentümlich wie er sein Examen begann.
Ein anderer hätte doch wohl zunächst gefragt, ob seine Gattin denn tot sei, dass sie solche Geisterbotschaften einem Medium zukommen ließ.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, war seine erste Frage.
»Sie wird im November 18 Jahre.«
»Ist es Ihre einzige Tochter? Ihr einziges Kind?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Die ältere von zwei Töchtern, und dann habe ich noch zwei Söhne. Der eine, Emilio, ist jetzt...«
»Gut. Wie heißt die betreffende Tochter?«
»Veronika.«
»Sind die anderen Kinder auch mediumistisch veranlagt?«
»Nein.«
»Wann ist ihre Mediumschaft erkannt worden?«
»Wir wollten einmal Tischrücken machen, es war in meinem Hause eine Dame zu Besuch, die behauptete, sie könne den Tisch drehen und klopfen lassen, Tote geben Antworten auf Fragen, sie buchstabierten das Alphabet bis der betreffende...«
»Lassen Sie das jetzt! Keine näheren Schilderungen davon. Nur die Hauptsache von dieser ersten Sitzung will ich hören!«
»Ich hatte wohl schon von dergleichen gehört, glaubte aber damals gar nicht an so etwas, wir alle nicht. Aber es geschah wirklich. Der Tisch wurde lebendig und begann zu klopfen...«
»Wie entdeckte Ihre Tochter Veronika ihre Mediumschaft? Das will ich hören!«
»Gleich darauf, noch an demselben Abend, legte Veronika zum Spaß einmal allein ihre Hände auf das Tischchen — ›Ist jemand da?‹, — und da begann das Tischchen wirklich unter ihren Händen lebendig zu werden und zu antworten. Und seitdem gelingt das immer.«
Ruhig hatte der Admiral zugehört, er steckte jetzt, sich mehr zurücklehnend, auch noch die Hände in die Hosentaschen.
Er schien es nicht gerade sehr eilig zu haben, zu erfahren, wo sich das Gauklerschiff befände oder was ihm seine Gattin, ob nun lebendig oder tot, durch Geisterklopfen sonst mitzuteilen habe.
Aber durch diese Fragen bewies er auch, dass er im Spiritismus wohlbewandert war, jedoch nicht zu jenen Spiritisten gehörte, die gläubig alles hinnehmen, was die »lieben Geister« da zusammenkloppen, mit deren Spiritistenschädel man infolgedessen die solidesten Wände einrennen kann.
»Wann war das?«
»Vor ungefähr vier Jahren.«
»Also Ihre Tochter war damals 14 Jahre alt?«
»Jawohl.«
»War es zur Zeit des Eintritts ihrer Pubertät?«
Erst blickte der Italiener erstaunt auf, dann wurde er verlegen.
»Sie wissen nicht, weshalb ich diese Frage stelle?«
»Nein, Exzellenz.«
»So, hm. Ist Ihre Tochter verheiratet?«
»O nein, sie denkt gar nicht daran.«
»Weshalb denkt sie gar nicht... nun, lassen wir das.«
Der Admiral blickte wieder einige Zeit schweigend in die Flamme.
Dass er nicht weiter über geschlechtliche Verhältnisse des Mädchens forschte, dazu war er nicht zu rücksichtsvoll dem Vater gegenüber. Dieser Portugiese war in dieser Hinsicht gar nicht so rücksichtsvoll, es wäre in diesem Falle auch wirklich gar nicht angebracht gewesen.
Aber er durchschaute den Italiener eben, gleich hatte er nun bereits erkannt, wes Geistes Kind der in Sachen des Spiritismus war, und da hatten solche intime Fragen eben auch gar keinen Zweck.
»Ist Ihre Tochter besessen?«, fragte er dann ganz gemütlich.
»Besessen?!«, wiederholte der Italiener, die Augen, vor Staunen weit aufreißend.
»Ist sie krank?«
»Ganz und gar nicht.«
»Bleichsüchtig?«
»Ja, bleichsüchtig ist sie allerdings sehr, aber sonst...«
»Sonst gesund?«
»Ganz und gar, treibt viel Sport, also auch sonst ganz kräftig, hat guten Appetit und...«
»Ist sie mondsüchtig?«
»O nein!«
»Nachtwandelt nicht?«
»O nein!«
»Spricht nicht im Schlafe?«
»Na ja, manchmal, aber das tut doch jeder.«
»Kommen in Ihrem Hause Spukphänomene vor?«
»Spukphänomene?!«, wiederholte der Vater wiederum erstaunt. »Ich verstehe nicht, Exzellenz...«
»Erschallen bei nächtlicher Weile Klopftöne, werden Möbel gerückt oder gar umgeworfen, zerbrechen Fensterscheiben oder klingt es doch so, als wenn Glas zerbrochen würde?«
Immer verblüffter wurde das Gesicht des Italieners.
»O, Exzellenz, so etwas gibt's doch gar nicht«, sagte er dann mit blödem Lächeln.
»So. Hm. Gut. Wie betreiben Sie nun das Tischrücken mit Ihrer Tochter?«
»Nun, wir setzen uns um ein leichtes Tischchen...«
»Wer, wir?«
»Nun, meine Frau und ich und die anderen Familienmitglieder, oder sonstige Personen, die ich eingeladen habe...«
»Aber Ihre Tochter Veronika muss immer mit dabei sein.«
»Ja natürlich!«
»Es könnte doch einmal ein anderes Medium sein.«
»Allerdings, und in den vier Jahren sind auch schon zwei andere Personen...«
»Bleiben wir bei Ihrer Tochter. Was nun weiter?«
»Sobald wir die magnetische Kette... Verzeihen Exzellenz, wissen — —«
»Ja, ich weiß, was man unter der magnetischen Kette versteht. Und wenn nun die Hände vorschriftsmäßig zusammengelegt sind?«
»Dann beginnt es in dem Tischchen sofort zu knacken.«
»Sofort?«
»Sofort. Augenblicklich. Und das ist auch der Fall, wenn nur Veronika allein ihre Hände auf den Tisch legt.«
»Auch dann knackt es in dem Tische?«
»Sofort.«
»Wenn sie ganz allein die Hände auf den Tisch legt?«, vergewisserte sich der Admiral nochmals, wozu er wohl seinen Grund haben mochte.
»Auch dann.«
»Aber nur im Finstern.«
»Nein, auch am hellen lichten Tage.«
»Dann klopft auch der Tisch, am hellen Tage nur unter ihren Händen?«
»Ja. Sobald sie fragt: Ist jemand da? — beginnt der Tisch zu klopfen. Allerdings nur ganz schwach.«
»Wie viel beträgt dann die Gewichtszunahme des Tisches?«
»Gewichtszunahme?«, wiederholte der Italiener verwundert.
»Bemerken Sie nicht, dass der Tisch dann viel schwerer wird?«
»Ja, allerdings, aber...«
»Haben Sie diese Gewichtszunahme noch niemals gemessen?«
»Wie denn gemessen?«
»Nun einfach mit einer Waage. Sie setzen den Tisch auf eine Tafelwaage.«
»Nein.«
»Sind Sie auf solch einen Gedanken noch nie gekommen?«
»Nein!«, gab der Italiener zögernd zu.
»Keine andere Person, die an den Sitzungen teilnahm?«
»Nein.«
»So. Hm. Was klopft denn nun der Tisch — oder meinetwegen der Geist — wenn Ihre Tochter allein am hellen Tage die Hände auflegt?«
»Dann sagt der Geist stets zuerst: zu hell; Kraft zu schwach; mehr Personen — oder so etwas ähnliches.«
»So, hm. Ich verstehe. Bleiben wir nun bei der geschlossenen Gesellschaft von mehreren Personen. Also der Tisch beginnt sofort zu klopfen.«
»Erst zu knacken, das sofort. Dann muss gefragt werden: ist jemand da? Dann —«
»Fragt das Ihre Tochter?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Die mag niemals fragen.«
»Weshalb nicht? Antwort!«
»Die — die — der — der... ist die ganze Sache überhaupt immer höchst unangenehm!«, erklang es zögernd.
»Fällt sie dabei in Trance? Wissen Sie, was man hierunter versteht?«
»Ja. Aber einschlafen tut sie dabei eigentlich nicht. Ganz richtig ist es freilich auch nicht. Sie verdreht die Augen nach oben, seufzt und stöhnt, klagt über eisige Kälte im ganzen Körper...«
»Schon gut. Also kein eigentliches Trancemedium. Und doch, eines muss ich noch fragen. Sie wohnt solchen Sitzungen nicht gern bei?«
»Nein.«
»Und doch halten Sie solche Sitzungen fast jeden Abend ab?«
»Ja.«
»Sie befehlen Ihre Tochter dazu?«
»In diesem Falle lässt sie sich gar nichts befehlen.«
»Sondern? Wie bringen Sie sie dazu?«
»Durch — durch Versprechungen...«
»Sie bezahlen sie dafür?«
»O nein! Aber sie verlangt etwas dafür, ein neues Kleid oder einen Schmuck oder auch nur einen Ausflug, einmal Theater...«
»Gut, ich verstehe. Aber wenn fremde Gäste da sind, lässt sie sich gern als Medium gebrauchen, nicht wahr?«
»Ja, dann fordert sie selbst dazu auf...«
»Richtig. Es ist ihre Eitelkeit...«
»Nein, eigentlich ist meine Veronika ganz und gar nicht eitel...«
»Schon gut, schon gut. Es ist eine besondere Art von Eitelkeit. Oder mehr gekränktes Ehrgefühl. Man könnte an ihrer Ehrlichkeit zweifeln. Weiß schon. Lassen wir das. Was für Intelligenzen — oder Wesen, wollen wir sagen — melden sich nun da?«
»Die allerverschiedensten Geister.«
»Geister?«
»Nun ja, es sind doch die Seelen von Verstorbenen, da darf man doch wohl von Geistern sprechen.«
»Kommen nicht auch manchmal noch lebende Personen?«
»Noch lebende Personen?!«, wiederholte der Italiener im Tone des höchsten Erstaunens. »Ja, wie sollen die denn kommen können?!«
Zum ersten Male wendete der ausgedörrte, wie in der Kaffeetrommel geröstete Admiral ihm voll das Gesicht zu, um sich dieses menschliche Gewächs ordentlich zu betrachten. Kläglich sah dieses allerdings nicht aus, nicht so kläglich, wie der zusammengeschrumpelte Großadmiral.
Aber wusste der, wen er vor sich hatte, wes Geistes Kind?
Ganz sicher! Eben solch einen Spiritisten, mit dessen Kopf man jede Mauer einrennen kann.
»So, hm!«, wurde dann wiederum gebrummt. »Also es kommen immer nur die Seelen von Verstorbenen?«
»Ja natürlich. Dann allerdings manchmal auch noch andere Geister.«
»Was für andere Geister? Von welcher Sorte?«
»Ja, das sind eben Geister, die — die auch früher gar keine Menschen gewesen sind.«
»Sondern? Tiere?«
»Nein. Die kommen nie.«
»Engel?«
»So ungefähr.«
»Was man Elementargeister nennt, nicht wahr?«
»Ja — nein — vielleicht... sie geben über sich keine nähere Auskunft.«
»Sonst aber kommen nur Tote, nie noch lebende Personen.«
»Gewiss doch.«
»Demnach also wäre auch meine Frau tot.«
Zum allerersten Male berührte Almeida diese Frage.
Doch sicher ganz seltsam. Der Italiener wurde sehr verlegen.
»Exzellenz, ich bedaure ungemein, dass gerade ich es bin, der Ihnen diese Hiobsbotschaft...«
»Schon gut, schon gut. Kommen diese Geister und Toten von selbst?«
»Ja freilich, sie beginnen von selbst zu klopfen...«
»Ich meine: kann man sie nach Willkür herbeirufen?«
»Ja, einer holt den anderen, wenn man ihn dazu auffordert. Ganz nach Wunsch. Allerdings wird einem die Bitte manchmal oder sogar sehr häufig abgeschlagen.«
»Und was sagen nun die Geister aus?«
»Alles was man sie fragt, beantworten sie. Wenn sie wollen.«
»Manchmal aber wollen sie wohl nicht, eh?«
»Allerdings nicht, aber...«
»Befragen Sie die Geister über die Zukunft?«
»Ja, aber...«
»Dann ist die Antwort immer eine so dunkle, dass man gar nichts daraus entnehmen kann, eh?«
»Allerdings, aber...«
»Alle diese Geister geben doch vor, hellsehend zu sein?« — »Ja.«
»Haben Sie geprüft, ob solche Aussagen stimmen?«
»Ja, schon oft.«
»Nun?«
»Manchmal stimmt's, manchmal stimmt's nicht.«
»Unter zehn Malen stimmt die Angabe höchstens einmal, nicht wahr?«
»So ungefähr!«, musste der italienische Spiritist, der immer verlegener wurde, zugeben.
»Kommen bei Ihrer Tochter auch Phänomene zustande?«
»Phänomene?«
»Führt der Tisch selbständige Bewegungen aus?«
»Ei gewiss. Er wackelt hin und her, springt in die Höhe und tanzt nach der Melodie eines Walzers, der auf dem Klavier gespielt wird.«
»Steigt er auch in die Höhe und bleibt in der Luft frei schweben, wenn auch von den Händen der Umsitzenden berührt?«
»In der Luft schweben bleiben? Nein, das hat er noch niemals getan.«
»Wirft er Gegenstände um?«
»Jawohl, das tut er.«
»In welcher Weise?«
»Nun, wenn wir zum Beispiel eine Klingel auf einen Stuhl setzen, und wir befehlen, der Geist soll die Klingel herabwerfen, so marschiert der Tisch hin, bückt sich und wirft die Klingel vom Stuhle.«
»Oder aber mit Vorliebe wirft er einfach auch den ganzen Stuhl um?«
»Allerdings!«, bestätigte der Italiener schon wieder mit verdutztem Gesichte. »Wenn wir nicht direkt befehlen, dass der Geist dabei den Stuhl stehen lassen soll, so wirft er regelmäßig den ganzen Stuhl um.«
»Wirft er die Klingel auch vom Stuhle, ohne dass er hinmarschiert?«
Jetzt bekam der Italiener ganz große Augen.
»Ohne dass der Tisch die Klingel berührt?!«
»Ja. In einiger Entfernung von dem Cercle.«
»Wie soll er denn das machen?!«
»Durch Fernwirkung.«
»Fernwirkung?«, erklang es verständnislos zurück. Wieder einmal wandte der Admiral jenem sein ganzes Gesicht zu.
»Haben Sie noch niemals in Ihren Sitzungen solche Forderungen gestellt?«
»Nein.«
»Haben Sie Materialisationen verlangt?«
»Nein.«
»Wissen Sie, was man hierunter versteht?«
»Dass der Geist sich sichtbar macht oder doch einen leuchtenden Körperteil erscheinen lässt, etwa eine Hand.«
»Und solche Forderungen haben Sie noch nie gestellt?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Weil — weil — — ach, so was gibt's ja gar nicht!«, wurde jetzt blöde gelächelt.
»So. So etwas gibt's ja gar nicht!«, wiederholte der Examinator in verächtlichem Tone. »Haben Sie denn noch keine spiritistischen Bücher gelesen?«
»Sehr wenige, ich habe keine Zeit dazu, und das ist ja alles auch Erfindung, was da drin steht.«
»Aha! Wie heißen Sie?«
»Leo Prodelli.«
»Was sind Sie?«
»Kaufmann.«
»Kaufmann, Kaufmann — womit Sie schachern, will ich wissen!«
»Ich bin Importeur!«, sank der nicht eben freundlich Angeredete in sich zusammen.
»Was importieren Sie?«
»Hauptsächlich Petroleum, Stearinlichter und Streichhölzer — für ganz Brasilien.«
»So. Also Sie sorgen, dass Brasilien während der Nacht immer die nötige Helligkeit hat. Sehr löblich von Ihnen. Aber ich dachte eher, Sie handelten mit Nachtmützen, Sie haben in Ihrer Familie ein ausgeprägtes Medium, anscheinend sogar ein ziemlich starkes, und Sie begnügen sich damit, einen wackligen Tisch auf sinnlose Fragen alberne Antworten klopfen und ihn nach dem Takte eines Walzers tanzen zu lassen, das genügt Ihnen vollkommen, um an die Existenz von Geistern zu glauben, Sie denken nicht einmal daran, ein Phänomen zu fordern, das keines der Cerclemitglieder mit seinem ausgestreckten Beine ausführen kann. Ja, mein Herr, Sie sind gerade der Richtige, Sie haben in der Gemeinschaft der Spiritisten nur noch gefehlt, um den Blödsinn voll zu machen. Schämen Sie sich!«
Von einem anderen hätte dieser elegante Italiener sich ja schwerlich so etwas sagen lassen, danach sah er gar nicht aus, aber mit so einem selbstherrlichen Kaiser von Brasilien ist doch nicht gut Kirschen essen. Der ließ ihm, wenn es ihm beliebte, einfach eine Bastonade aufs Hinterteil geben oder hing ihn auch gleich am nächsten Laternenpfahl auf. Solche Fälle waren nämlich während dieser neuen, noch nicht anerkannten Kaiserherrschaft schon vorgekommen. Nein, mit diesem Männchen in Admiralsuniform war durchaus nicht zu spaßen, der machte kurzen Prozess, wenn ihm etwas nicht passte. Also der so gemaßregelte Italiener knickte immer mehr zusammen, während Macedo Almeida wieder einige Minuten schweigend in die Lampe starrte.
»Also heute Abend meldete sich bei Ihnen meine Gattin als Geist an!«, nahm er dann wieder das Wort.
»Jawohl, Exzellenz!«, wurde geflüstert.
»Wann heute Abend?«
»Es mag jetzt ungefähr eine halbe Stunde her sein.«
»Hatten Sie sie gerufen?«
»O nein, Exzellenz.«
»Weshalb o nein?«
»Wie konnten wir erwarten, dass Donna Almeida tot sei!«
»Hat sie gesagt, dass sie tot sei?«
»Das hat sie allerdings nicht direkt gesagt...«
»Haben Sie sie nicht deswegen gefragt?«
»Das war natürlich die erste Frage, die wir erschrocken stellten.«
»Nun und?«
»Da gab sie keine Antwort.«
»Weshalb wohl nicht?«
»Die Seelen der Abgestorbenen antworten niemals auf solche Fragen, niemals.«
»Weshalb nicht. Ihre Meinung hierüber will ich hören!«
»Mir scheint, als ob diese Seelen gar nicht wüssten, dass sie schon tot sind.«
»Stimmt!«, nickte der Admiral gedankenvoll seiner Tischlampe zu.
»Und was nun weiter?«
»Immer wieder forderte der Geist Ihrer seligen Frau Gemahlin uns auf, wir sollten sofort Eure Exzellenz herbeirufen.«
»Sagte sie nicht, weshalb?«
»Sie hätte Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.«
»Sonst nichts weiter?«
»Auf immer energischeres Drängen gab sie an, sie könnte Ihnen sagen, wo das Gauklerschiff liege.«
»Wollte sie Ihnen selbst das nicht sagen?«
»Ich gestehe, dass ich immer wieder den Versuch machte, aber sie verweigerte hartnäckig. Nur Ihnen wollte sie es mitteilen und Sie dann direkt hinführen.«
»Auf welche Weise mich hinführen?«
»Das hat sie nicht gesagt.«
»Obgleich Sie deshalb fragten.«
»Ich gestehe, dass ich...«
»Da ist gar nichts weiter zu gestehen, das kann ich Ihnen nicht übel nehmen. Wo wohnen Sie?«
»In der Calle minores Nummer neun.«
»Wie weit ist das von hier?«
»Keine Viertelstunde.«
»Zu Fuß?«
»Jawohl.«
»Äußert sich die Mediumschaft Ihrer Tochter auch anderswo, außerhalb des ihr vertrauten Raumes?«
»Ich glaube ja...«
»Was heißt glauben!«, wurde der Allmächtige schon wieder ungeduldig. » Ja oder nein! Doch können Sie auch ausführlicher sein.«
»Zweimal schon haben wir solche Sitzungen in anderen Häusern abgehalten, es glückte stets, einmal auch in Rio —«
»Gut! Wird Ihre Tochter kommen, wenn ich sie bitte, dass sie die Sitzung hier abhält?«
»Aber selbstverständlich doch, Exzellenz«, beeilte sich der Italiener zu versichern, »es gereicht ihr doch zur höchsten...«
»Still. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Ich weiß sehr wohl, dass man solch einem Medium gar nichts befehlen kann, oder ihre Kraft verlässt sie, und dann greift sie gewöhnlich zum Be...«
Der Sprecher brach ab. Zum Betrug, hatte er sagen wollen. Dass er die letzte Silbe unterdrückte, das zeigte, dass dieser Mann doch noch einige Rücksicht kannte.
»Benutzen Sie bei Ihren Sitzungen immer ein und denselben Tisch?«, fragte er dann weiter.
»Ja, einen kleinen, sehr leichten Bambustisch. Aber es braucht durchaus nicht immer derselbe zu sein, es geht auch mit jedem anderen Tische, selbst bei einem sehr schweren, nur dass dann...«
»Gut! Haben Sie Telefon in Ihrem Hause?«
»Ja.«
»Hier ist ein Telefon. Rufen Sie Ihr Fräulein Tochter an, ich lasse sie höflichst bitten, mir sofort einen Besuch abzustatten, um bei mir eine spiritistische Sitzung abzuhalten. Sie möchte den betreffenden Bambustisch mitbringen. In zehn Minuten wird meine Equipage dort sein, um sie abzuholen, in weiteren zehn Minuten erwarte ich die Signorina hier. Also keine Toilette! Sie kann auch jemanden mitbringen, ihre Frau Mama und Geschwister. Wen sie will. Aber sofort! Bei so etwas kommt es nicht auf einen Schlafrock an. Sie können auch noch sagen, dass Sie, ihr Herr Vater, durch ihre Gefälligkeit den größten geschäftlichen Vorteil haben werden. Telefonieren Sie. Ordonnanz!«
Die Equipage, immer bereit stehend, fuhr schon davon, als Signor Prodelli noch sein Gehirn anstrengte, um sich seiner Telefonnummer zu erinnern, die er sonst im Schlafe wusste. So verwirrt war er geworden. Endlich hatte er mit seinem Hause Verbindung, einige Wechselreden, und dann: »Ja, Papa, ich komme sofort, erwarte nur den Wagen.«
Unterdessen hatte der Admiral das Zimmer verlassen, kehrte nach wenigen Minuten mit zwei Herren zurück, von denen der eine ein hoher Offizier war, der andere, im schwarzen Gehrock, ein glattrasiertes, höchst energisches Yankeegesicht hatte. Wer einigermaßen Erfahrung besaß, sah ihm den Detektiv gleich an. Mister Wilsley, wie er hieß — er führte aber noch hundert andere Namen — hatte innerhalb der letzten acht Tage dem Kaiser von Brasilien viermal das Leben gerettet, d. h. jedes Attentat noch rechtzeitig vereitelt.
Diese beiden hatte der Admiral draußen schon eingeweiht, wozu der ja nicht viel Worte brauchte.
Auch einige Männer kamen, Diener, welche verschiedene Vorbereitungen treffen mussten. Der Teppich wurde zurückgeschlagen, an dem elektrischen Kronleuchter wurden zwei doppelte Isolierdrähte befestigt, unten kam ein doppelter Kontakt daran, die eine Glühbirne wurde mit einem schwarzen Flor umhüllt, sodass man mit einem Druck des Fußes sowohl ganz helles wie auch nur ganz schwaches Licht erzeugen konnte.
»Haben Sie es statt des langwierigen Buchstabierens noch nicht mit einem Psychografen versucht?«, fragte der Admiral den Italiener einmal. »Wissen Sie, was man hierunter versteht?«
»Ja, ein hölzerner Zeiger, der sich über den im Kreise geordneten Buchstaben des Alphabets dreht. Wenn das Medium den Zeiger berührt, soll sich der Zeiger von selbst auf den betreffenden Buchstaben einstellen. Das haben wir wiederholt versucht, aber es ging niemals.«
»Dann haben Sie es nur nicht geschickt genug angefangen. Übrigens gibt es einen noch viel einfacheren Psychografen, nur aus einer Nussschale und einer Glastafel bestehend. Nun, bleiben wir nur beim Klopfen des Alphabets, wir haben jetzt keine Zeit mehr, solch einen Apparat zu fertigen.«
Dann berußte der »Kaiser von Brasilien« mit eigener Hand über einer Kerze einen weißen Porzellanteller, baute verschiedene Gegenstände auf, die in aller Schnelligkeit besorgt werden mussten, darunter recht merkwürdige Sachen, so zum Beispiel eine Schüssel mit Mehl, einen großen Gummiball und anderes, was sich ein Unkundiger nicht so leicht erklären konnte, auch der Italiener machte ein verdutztes Gesicht. Der im Spiritismus Erfahrene aber wird merken, dass hier eine Sitzung von kundiger Hand vorbereitet wurde, von einem Manne, der die Echtheit des Mediums den schärfsten Prüfungen unterziehen wollte, der sich von keinem Taschenspieler betrügen ließ.
So ein echter, rechter Spiritist, der an die »lieben Geister« glaubt, alle ihre Offenbarungen für bare Münze nimmt, wird freilich mit diesen Ausführungen wenig zufrieden sein. Der ganze Spiritismus ist hier ja wiederholt ein alberner Blödsinn genannt worden. Desto zufriedener aber mit dieser Ausführung wird ein echter Okkultist sein, ein Mann, der zwar den Spiritismus mit all seinen Phänomenen als Tatsache anerkennt, ihn studiert hat, ihm dann aber als einer albernen Kinderspielerei den Rücken wendet.
Wie dieses Paradoxon zu verstehen ist? Nun, die drahtlose Telegrafie ist doch eine Tatsache. Wer glaubt da heute noch an eine Zauberei? Gewiss, es gibt solche Menschen. Hinterwäldler, Wilde, Blödsinnige. Die werden sich wohl entsetzen, wenn so ein Apparat plötzlich zu klappern beginnt. Es braucht nicht einmal drahtlose Übertragung der elektrischen Wellen zu sein.
Und diesen Naturmenschen gleichen ganz genau jene gläubigen Spiritisten, welche diesen Ausdruck einer psychischen Kraft für eine Art von Zauberei hinnehmen.
Was das für eine Kraft ist, wissen wir freilich noch nicht. So wenig wie wir wissen, was eigentlich Elektrizität und Magnetismus ist. Ja, wir haben ja noch nicht einmal die geringste Ahnung, weshalb eigentlich der Stein zu Boden fällt, d. h. weshalb ein größerer Gegenstand jeden kleineren anzieht. Aber in Wirklichkeit existiert doch diese Kraft. Und das ist doch keine Zauberei.
Mag diese erklärende Andeutung vorläufig genügen. Nur noch eines möchte hier gesagt werden: wer nicht selbst mit einem Medium experimentiert hat, der hat auch kein Recht, über den Spiritismus irgend welches Urteil zu fällen!
Diese Vorbereitungen waren gerade beendet, als Signorina Veronika Prodelli gemeldet wurde. Sie kam allein, brachte nur das Tischchen mit.
Eine zierliche Jungfrau, einen äußerst unschuldigen Eindruck machend. So ein halber Engel. Zumal sie im Gegensatz zum Vater rotblondes Haar und blaue Augen hatte, weil durch die Mutter venezianischer Abstammung. In Venedig ist das Rotblond zu Hause. Ihre Schüchternheit schien sie nicht nur vor dem Kaiser von Brasilien zu haben, sie war ihr angeboren. Überhaupt ein ganz einfaches Mädchen. Dass sie trotzdem für solche ihr höchst unangenehmen Sitzungen manchmal ein neues Kleid oder einen Schmuck oder etwas ähnliches verlangte, das war wieder etwas ganz anderes, das war ganz normal, oder es wäre eben kein richtiges Mädchen gewesen.
Doch nicht lange, so wurde sie von ihrer Schüchternheit verlassen, begann aufzutauen. Daran war nur Admiral Almeida schuld. Denn den erkannte man gar nicht wieder. So höflich war er gegen die kleine Person — nein, nicht nur höflich sondern so liebevoll zärtlich, so redete er mit ihr von diesem und jenem, von Alltäglichkeiten, so führte er sie in das Nebenzimmer, wo Erfrischungen aufgestellt waren, schob ihr die Bissen förmlich in den Mund, nötigte ihr wenigstens ein Glas Limonade auf.
Und dabei war Macedo Almeida sonst nicht etwa ein galanter Kavalier. Seine Brüskheit auch den Damen gegenüber war schon sprichwörtlich geworden.
Aber er war eben im Spiritismus erfahren und wusste, woran es hierbei ankam. Wenn er die Tochter so barsch wie den Vater behandelt hätte, würden sie sich dann vergebens stundenlang um den Tisch gesetzt haben. Vor Gericht wird man nie eine spiritistische Sitzung mit Erfolg abhalten können. Aber das wollen ja die Herren nicht einsehen, können es nicht begreifen. Nein, das geht nicht. So wenig wie eine fette Nachtigall singt oder ein satter Poet dichten kann.
»Sind Sie jetzt bereit, mein liebes Fräulein, uns einige Beweise von Ihrer phänomenalen Kraft zu geben?«
»Mit dem größten Vergnügen, Exzellenz!«, konnte das junge Mädchen schon ganz unbefangen lächeln.
Jetzt aber musste sie sich erst einige Untersuchungen gefallen lassen, freilich ganz harmlose, keine Leibesvisitationen.
Sie musste auf eine Gummidecke treten und wurde von den beiden Seeoffizieren mit einem stabilen Kompass gewissermaßen abgeleuchtet. Dasselbe galt vom Vater. Da die Nadel nicht abgelenkt wurde, konnten sie keinen Magneten bei sich verborgen haben.
Dann wurde auch auf einen Tisch eine Gummidecke gelegt und der Kompass darauf, das Mädchen musste seine Hände darum schließen, die Fingerspitzen zusammen. Die Nadel drehte sich nicht.
Als aber nun der Kompass frei auf dem Holztische lag, schlug zwischen ihren Händen die Nadel sofort einige Striche nach Osten aus.
Darüber schon das größte Staunen von Vater und Tochter! Auch dieser Versuch, um eine mediumistische Kraft zu erkennen, war ihnen ganz fremd. Allerdings schlägt die Nadel nicht immer aus. Erst muss das Medium wissen, dass es ein Medium ist. Erst muss das Bewusstsein in Kraft treten. Und dann kommt noch der Wille hinzu, der durch jede unfreundliche Störung aufgehoben werden kann.
Dann wurde auf eine Tafelfederwaage ein dünnes Brett gelegt. Es wog ungefähr 200 Gramm. Wenn jemand ganz leicht die Fingerspitzen auflegte, kamen noch ungefähr 50 Gramm hinzu. Als aber nun Veronika ihre Fingerspitzen aufsetzte, so leicht als möglich, ging der Zeiger sofort bis auf ein Kilo herab.
Eine Täuschung war dabei ganz ausgeschlossen. Nicht etwa, dass das Mädchen irgendwie drückte. Man hat auch Apparate konstruiert, um diesen eigentlichen Fingerdruck zu messen, die hier aber fehlten, und sie waren auch wirklich nicht nötig. Beide Lampen brannten, es war ganz hell im Zimmer, und man kann doch deutlich unterscheiden, ob jemand mit den Händen einen Druck von einem Kilo ausübt oder nur mit den Fingerspitzen ein Brett eben berührt.
Und als nun die helle Flamme abgestellt wurde, die umflorte Birne nur einen schwachen Dämmerschein verbreitete, in dem man den Zeiger der Waage aber doch noch deutlich erkennen konnte, übten die leise aufgelegten Fingerspitzen des Mädchens sofort einen Druck bis zu vier Kilo aus.
Als aber nun gar auch die umflorte Lampe ausgedreht wurde, völlige Finsternis im Zimmer herrschte, sank die Waage noch viel, viel tiefer. Diese Gewichtszunahme konnte aber nicht mehr konstatiert werden. Denn in dem Augenblick, da das Licht angedreht wurde, schnellte auch der Zeiger wieder zurück.
Dann wurde das mitgebrachte Tischchen vorgenommen. Die runde, dünne Platte einen halben Meter im Durchmesser, die drei Füße aus leichtem Bambusrohr. Es wog anderthalb Kilo. Wie es so kopfüber auf der Waage lag, musste Veronika ebenfalls ihre Fingerspitzen leicht auf die untere Seite der Tischplatte legen, und sofort ging der Zeiger bis zu acht Kilo herab, bei gedämpftem Lichte bis zu dreizehn Kilo.
Das Gewicht multipliziert sich mit dem Volumen, mit der Masse. Und dass das zarte, schwächliche Mädchen mit den Fingerspitzen solch einen Druck von mehr als zehn Kilo ausüben konnte, das war nun gänzlich ausgeschlossen. Und doch tat sie es. Aber eben nicht durch Muskelkraft, sondern durch ihre Nervenkraft — wollen wir gleich sagen. Obgleich das im Grunde genommen gar nichts sagt. Denn wir wissen nicht, was Nervenkraft ist.
Jetzt begann die eigentliche spiritistische Sitzung. Zuerst aber musste Veronika allein ihre Hände, die beiden Daumen und Zeigefinger mit den Spitzen zusammen, in die Mitte der Tischplatte legen, sie setzte sich auch gar nicht, sondern blieb stehen,
Sofort knackte es in dem Tischchen heftig, man sah in dem vollen Lichte, wie sich die dünnen Füße stark bogen. Ein Mann, die Hand unter die Platte legend, könnte den Tisch kaum noch aufheben, jetzt musste die Gewichtszunahme noch viel mehr als zehn Kilo betragen. Weil das Medium jetzt eben seine Nervenkraft in ein ihm vertrautes Möbel überfließen ließ.
»Los, fragen Sie!«, kommandierte Almeida.
Und die Geschichte ging los. Noch sei erwähnt, dass ein einmaliges Klopfen Nein, ein dreimaliges Ja bedeuten sollte.
»Ist jemand da? fragte das Mädchen.
Nur wenige Sekunden, durch heftiges Knacken ausgefüllt, dann neigte sich der Tisch etwas und pochte einmal vernehmlich mit einem Fuße auf.
Also nein. Es sollte niemand da sein.
Hiermit ging also auch schon der Widersinn los.
Das Mädchen wurde denn auch gleich sehr verlegen.
»Das machen die Geister immer so, wenn sie...«
»Ich weiß schon, woher das kommt!«, ermunterte sie gleich Almeida, »für mich ist das durchaus kein Widersinn. Fragen Sie nur weiter, ganz so, wie Sie es gewohnt sind.«
»Ist jemand da?«, wiederholte das Mädchen.
»Nein!«, wurde einmal geklopft.
»Es ist aber doch jemand da!«
»Nein.«
»Willst Du uns Deinen Namen nennen?«
»Nein.«
»Hast Du uns etwas zu sagen?«
Ganz, ganz schwach, aber doch noch deutlich hörbar, wurde dreimal geklopft. Also ja.
»Bitte buchstabiere. A b c d.«
Das langweilige Buchstabieren begann. Wenn der betreffende Buchstabe kam, hörte das Klopfen auf.
»Keine Kraft!«, kam heraus. Obgleich es ziemlich laut geklopft hatte. Dann hatte sich der Geist eben einmal sehr angestrengt, und das behagte ihm nicht.
»Ist es Dir zu hell?«
»Nein.«
»Brauchst Du mehr Personen?«
»Ja.«
Jetzt setzten sich alle um den Tisch, gingen gerade daran, und wollten sich nicht ganz eng zusammenquetschen, es musste sowieso ein weiterer Kreis gebildet werden, sodass jeder bequem unter den Tisch blicken konnte. Die sogenannte magnetische Kette wurde gebildet. Das heißt, sie legten die Hände so auf den Tisch, dass jeder seine eigenen Daumenspitzen und einer des anderen kleinen Finger berührte. Aber so genau kommt das gar nicht drauf an, und ist die Sache einmal im Gange, braucht auch gar nicht mehr auf eine geschlossene Kette gehalten zu werden, es genügt schon, wenn jeder nur eine Hand irgendwo auf oder an den Tisch legt. Dann brauchen sich die Hände auch nicht mehr zu berühren. Dann, wollen wir sagen, pflanzt sich die Nervenkraft durch das nun einmal leitend gewordene Holz fort. Nur das Medium muss seine beiden Hände möglichst immer zusammenhalten.
Jetzt knackte es in dem Tische noch ganz anders, er krachte in allen Fugen, und man hätte die Platte eher abbrechen können, ehe man den ganzen Tisch heben konnte. Dies als geschah noch bei vollem Lichte.
»Ist jemand da?«, übernahm jetzt Almeida, wie bereits ausgemacht, das Verhör.
Der Tisch neigte sich ganz auf die Seite, dorthin, wo Veronika saß, blieb so stehen, in einem Winkel von mindestens 45 Grad. Also auf zwei Beinen, das dritte seitwärts ausstreckend.
Plötzlich, wie der Tisch noch so stand, schlug der Detektiv von unten des Mädchens Hände weg. Aber es hatte keinen Zweck, auch ohne sie blieb der Tisch jetzt so stehen, überhaupt hatten ihre Hände wirklich ganz lose darauf gelegen, und trotzdem vermochte man den Tisch auf der anderen Seite kaum wieder herabzudrücken.
»Glauben Sie denn etwa, ich bin es, die den Tisch hier herabdrückt?!«, fragte das Mädchen schwer beleidigt.
»Nein, nein, das glauben wir nicht!«, beeilte sich Almeida zu versichern. »Senhor Wilsley! keine solchen Eingriffe mehr!«
Veronika legte die Hände wieder auf den Tisch und sofort ging der Tisch wieder herab, was also doch gerade den physikalischen Gesetzen entgegensprach.
Dreimal klopfte der freie Fuß sehr stark. Der Tisch hatte zu dieser Bejahung gewissermaßen ausgeholt. Was er manchmal tat, besonders für ein energisches Nein.
»Bist Du es, Mercedes?«
»Nein.«
»Willst Du mir Deinen Namen buchstabieren?«
»Ja.«
»Los! A b c d...«
»Fernando!«, kam heraus.
»Fernando? Was für ein Fernando?«
Ein dreimaliger Doppelschlag erfolgte.
»Das bedeutet, dass der Tote noch weiter buchstabieren will!«, erklärte Prodelli.
»Also weiter.«
»Honjas!«, kam heraus.
Der Admiral machte ein etwas erstauntes Gesicht. »Fernando Honjas, mein Studienfreund aus Sevilla.
An den habe ich jetzt nun freilich auch nicht im entferntesten gedacht! Und seit zwanzig Jahren schon sind wir auseinander, uns völlig fremd geworden! Hm, höchst merkwürdig!«
»Er ist tot und will Sie sprechen!«, sagte Prodelli.
»Wir werden sehen. Fernando, bist Du tot?«
»Nein!«, wurde höchst energisch geklopft.
»Du lebst also noch?«
Dreimal ein sehr starkes Pochen... jawohl ja gewiss!
»Das ist so ein Truggeist, Lebende können gar nicht kommen, wie soll denn das möglich sein!«, hielt sich Prodelli zur Erklärung für verpflichtet.
»Fernando, bist Du noch da?« — »Ja.«
»Wie geht es Dir? Gut?« — »Ja.«
Dann aber folgte hinterher noch eine Verneinung.
»Dir geht es nicht gut?« — »Nein.«
»Was fehlt Dir?«
Keine Antwort, nur ein heftiges Knacken.
»Bist Du krank?« — »Ja.«
»Was fehlt Dir. Buchstabiere Deine Krankheit.«
»Leber.«
»Du bist leberkrank?« — »Ja.«
»Wo wohnst Du jetzt?«
»Lissabon.«
»Wo da?«
»Paladina zweiundvierzig.«
»Senhor Wilsey, schreiben Sie sich diese und die weiteren Angaben einmal auf, damit wir dann kontrollieren können.«
»All right.«
»Bist Du verheiratet?« — »Ja.«
»Wie heißt Deine Frau?«
»Emilia.«
»Vatersname?«
»Sakko.«
»Hast Du Kinder?« — »Ja.«
Name und Alter, alles wurde befragt, beantwortet und aufgeschrieben.
»Was machst Du gegenwärtig?«
»Ich schlafe.«
»Träumst Du von mir?« — »Nein.«
»Was ist es, was jetzt zu mir spricht?«
»Mein Unbewusstes.«
»Ist das so viel wie Deine Seele?«
Wohl erfolgte eine Bejahung, aber zögernd erst nach einer Pause.
»Ist diese Deine Seele — oder Dein Unbewusstes — jetzt hier bei uns in diesem Zimmer?«
Erst ein kräftiges Ja, dann gleich hinterher ein eben so energisches Nein.
»Was soll das heißen?«
Keine Antwort. »Deute durch ein Stichwort an, wie Du das meinst.«
»Raumlos.«
»Du meinst, für Deine Seele existiert kein Raum, keine Raumbegrenzung?« — »Nein.«
»Du bist sowohl in Lissabon wie hier wie allüberall.« — »Ja.«
»Kannst Du Dich auch auf fremde Planeten versetzen?« — »Ja.«
»Bist Du jetzt zum Beispiel auf dem Mars?« — »Ja.«
»Wie sieht es dort aus?«
Keine Antwort.
»Sind die Marskanäle Tatsache oder beruht das nur auf einer chromatischen Linsenstörung?«
Keine Antwort.
»Weißt Du das?« — »Ja.«
»Du willst mir hierüber nicht antworten?« — »Nein.«
Da lag schon der Hase im Pfeffer!
»Kennst Du die Hamburger ›Argos‹, das sogenannte Gauklerschiff?«
»Ja.«
»Weißt Du, wo es sich gegenwärtig befindet?« — »Ja.«
»Willst Du mir sagen, wo es sich befindet?« — »Nein.«
»Weshalb nicht? Willst Du mir durch ein Stichwort den Grund angeben, weshalb Du das verschweigst?«
»Befehl!«, wurde buchstabiert.
»Wer hat Dir befohlen, darüber zu schweigen? Gott?« — »Nein.«
»Ein anderer Geist?« — »Nein.«
»Wer sonst? Buchstabiere.« — »Ich selbst.«
Es war gar nicht so unlogisch, was da gesagt wurde. Almeida verstand es denn auch sofort. Der hatte ja überhaupt schon seine Erfahrungen mit den »lieben Geistern«, das merkte man doch gleich an seinem ganzen Vorgehen.
»Es geht gegen Dein Gewissen, solche Fragen zu beantworten?« — »Ja.«
»Ist Dir in diesem Zustande die Zukunft enthüllt?« — »Ja.«
»Willst Du mir die Zukunft enthüllen?« — »Nein.«
»Ist die Seele unsterblich?«, sprang der Fragende auf ein anderes Thema über. — »Ja.«
»Können auch Tote kommen und sich so manifestieren?« — »Nein.«
»Aber sie melden sich doch manchmal, sogar meistenteils.« — »Nein.«
»Was sind das dann sonst für Intelligenzen?«
Keine Antwort.
»Sind das trügerische Elementargeister, die sich für Tote ausgeben?«
Keine Antwort.
»Bist Du noch da, Fernando?
Der Tisch kippte erst stark um, um dann ein Nein zu klopfen.
»Ist jemand anders da?«
Jetzt wurde die Bejahung ganz anders geklopft, viel schneller und es klang auch viel hohler.
»Willst Deinen Namen buchstabieren?«
»Bunsen!«, kam heraus.
»Doch nicht der berühmte deutsche Chemiker?« — »Ja.«
»Der zum Beispiel das Eisenoxydhydrat als Gegengift gegen arsenige Säure erkannt hat? Nach dem der Bunsenbrenner benannt worden ist?« — »Ja.«
Almeida fragte nicht erst, ob einer der Anwesenden zufällig gerade an diesen deutschen Chemiker gedacht habe. Der hatte eben seine Erfahrung.
»Ist jemandem bekannt, wann Robert Bunsen — seinen Vornamen weiß ich zufällig — gestorben ist?«, fragte er hingegen. »In welchem Jahre und gar an welchem Tage?«
Nein, niemand wusste es. Es wäre auch viel verlangt gewesen.
»Herr Professor, sind Sie noch da?« — »Ja.«
»Sind Sie tot?«
Keine Antwort.
»Sie müssen doch zugeben, dass Sie im vorigen Jahrhundert gelebt und das Leben verlassen haben.« — »Ja.«
»Wann geschah das? Wann sind Sie gestorben? Wollen Sie mir das mitteilen?« — »Ja.«
»Gut. Wollen Sie also erst die Jahreszahl klopfen, bitte.«
Ein einzelner Schlag — acht — neun und noch einmal neun Schläge.
»Im Jahre 1899?« — »Ja.«
»Wollen Sie mir nun auch den Todestag angeben bitte.
Erst den Monat, dann das Tagesdatum.«
Es wurde achtmal, dann sechzehnmal geklopft.«
»Am 16. August 1899?« — »Ja.«
»Wollen Sie uns nun auch gleich noch Ihren Geburtstag angeben.«
Der 31. März 1811 kam heraus.
»Senhor Wilsley, wollen Sie in der Enzyklopkädie nachschlagen, ob das stimmt.«
Der Detektiv stand auf, ging in das Nebenzimmer, kam mit dem dritten Bande des englischen Konversationslexikons zurück, hatte den betreffenden Artikel schon aufgeschlagen. »Es stimmt! Robert Bunsen, geboren am 31. März 1811, gestorben am 16. August 1899.«
Das war so ein Fall, den die Spiritisten für einen vollgültigen Beweis hinnehmen, dass der Mensch nach dem Tode mit voller Erinnerung weiterlebt.
Mit demselben Rechte aber könnte man vor einem Phonografen niederknien und ihn als eine Gottheit anbeten. Wie es Wilde ja auch wirklich tun.
Denn wenn auch keiner der Cerclemitglieder den Geburts- und Todestag dieses deutschen Chemikers kannte, sozusagen keine Ahnung davon hatte, sollte einer oder der andere nicht dennoch diese Daten einmal gelesen haben? Ganz sicher!
Und das Gehirn ist ganz mit einer Phonografenwalze oder -platte zu vergleichen. Nur eben noch viel, viel empfindsamer. Alles, was man mit den fünf Sinnen wahrnimmt, hinterlässt im Gehirn einen Eindruck. Wirklich eine Vertiefung, mag sie auch noch so winzig sein. Und dieser Eindruck, dieser Nadelstich verschwindet niemals wieder, wenn sich die Gehirnmasse auch ständig erneuert. So wie sich auch die charakteristische Struktur der Haut niemals ändert. Der Fingerabdruck des Kindes ist derselbe wie der des Greises, wenn sich die Linien auch vergrößert haben, Narben hinzugekommen sind, obgleich sich die Haut doch fortwährend abnutzt und sich neu bildet. So ist es auch mit dem Gehirn. Das ist jetzt sogar schon mikroskopisch erwiesen. Sind die Erinnerungseindrücke nun gar zu flüchtig gewesen, so genügen sie nicht, um den normalen Bewusstseinsnerv zu reizen. Aber in einem anormalen Bewusstseinszustand ist es dennoch möglich. Das zeigt sich doch ganz einfach im Traum, das zeigt sich im Delirium. Wo der Fiebernde längst vergessene Reden, die er vor Jahrzehnten gehalten hat, sie aber damals nicht einmal auswendig gelernt hat, wortgetreu herunterschnarrt. Eben genau so wie ein Phonograf.
Und so wirkt auch das Gehirn des in ganzem oder halbem Trance liegenden Mediums, und ist das Betreffende nicht in seinem eigenen Gehirn aufgestapelt, so kann es solche Kenntnisse in diesem Traumzustande mit Hilfe der magnetischen Kette auch den fremden Gehirnen entnehmen.
Für die meisten Leser wird diese Erklärung wohl genügen. Weiter lässt sich die Sache hier nicht ausführen. Und einem gläubigen Spiritisten ist überhaupt nicht zu helfen.
»Sind Sie noch da, Herr Professor?« — »Ja.«
»Ist Ihnen in diesem Zustande mehr bewusst als im irdischen Leben?«
»Ja.«
»Ist es möglich ein Element in das andere zu überführen? — »Ja.«
»Also kann man auch ein Metall in ein anderes verwandeln?« — »Ja.«
»Blei in Gold?« — »Ja.«
»Können Sie das jetzt machen?« — »Ja.«
»Wollen Sie mir sagen, wie das gemacht wird?« — »Nein.«
»Wollen Sie mir einmal ausführlich mitteilen, weshalb Sie mir das verschweigen.«
»Menschheit noch nicht reif dazu!«, kam endlich heraus.
Natürlich! Immer dieselbe Geschichte!
»Also es wird noch entdeckt werden, wie man ein unedles Metall in Gold verwandelt?« — »Ja.«
»Wann?«
Keine Antwort, und dieser Admiral, der früher aber noch ganz andere Studien als nur Nautik getrieben hatte, wusste schon warum, hielt sich nicht weiter damit auf, hatte aber doch noch andere Fragen in dieser Beziehung zu stellen.
»Wird dieses künstliche Gold billiger herzustellen sein, als man das natürliche gewinnt?« — »Ja.«
»Viel billiger?« — »Ja.«
»Also wird das schon vorhandene Gold entwertet.« — »Nein.«
»Na doch ganz sicher. Da muss doch eine kolossale soziale Revolution stattfinden.« — »Nein.«
Jetzt allerdings durfte man wirklich darauf gespannt sein, wie sich da der tote Herr Professor Bunsen oder vielmehr das träumende Medium herausfitzen würde.
»Wie wäre das zu erklären? Bitte buchstabieren Sie.«
»Gold schon vorher entwertet.«
»Das Gold hat überhaupt keinen Wert mehr?«
»Nein. Andere Werte geschaffen.«
»Was für welche?«
»Arbeit.«
Der Herr Professor hatte sich herauszufitzen verstanden! Es ist diesen »Geistern« einfach gar nichts zu wollen. Der Mensch ist im Traume eben überaus schlau, niemals um eine Auskunft verlegen.
»Wird es noch gelingen, das Eiweiß auf künstlichem Wege darzustellen?«
»Ja.«
»Direkt aus der Atmosphäre?« — »Nein.«
»Auf andere Weise direkt aus den betreffenden Elementen?« — »Nein.«
»Überhaupt nicht auf synthetischem Wege?« — »Nein.«
»Ja wie in aller Welt denn sonst?!«
»Aus Hefe.«
Almeida fragte nicht weiter in dieser Beziehung.
»Herr Professor, können Sie sich materialisieren, sich uns hier sichtbar zeigen?« — »Ja.«
»Wollen Sie uns zunächst einmal Ihre Hand erscheinen lassen?«
»Nein.«
Almeida fragte nicht weiter, er kannte die Geschichte schon, obgleich er deshalb den Versuch noch nicht aufgab.
»Können Sie hier auf einen berußten Teller einen Strich ziehen?« — »Ja.«
»Wollen Sie es tun?« — »Nein.«
»Wollen Sie uns jemand anders rufen?« — »Ja.«
»Kennen Sie die Signora Prodelli, die Gattin hier eines Cerclemitgliedes?«
»Ja.«
»Wollen Sie uns dieselbe einmal rufen?« — »Ja.«
»Na dann gute Nacht, Herr Professor Bunsen, schlafen Sie wohl im Jenseits.«
Der Offizier war es, der bei diesem Abschiedsgruß seines Vorgesetzten in ein herzliches, sogar schallendes Gelächter ausbrach und merkwürdiger Weise fing auch das Mädchen so zu lachen an, und da begann auch der Tisch anhaltend zu klopfen, wobei es aber ganz ausgeschlossen war, dass etwa die Hände des lachenden Mediums dieses schnelle Klopfen hervorbrachten.
»Dieses anhaltende Klopfen bedeutet Lachen«, meinte Signor Prodelli erklären zu müssen, »die Geister lachen überhaupt sehr gern.«
Ja, die Seelen der Verstorbenen lachen überhaupt sehr gern, sind überhaupt Witzbolde, selbst diejenigen, die im Leben die mürrischsten Gesellen gewesen sind, auch die verzweifeltsten Selbstmörder. Vorausgesetzt ist nur, dass sich unter den Cerclemitgliedern eine humoristisch veranlagte Person befindet. In deren Lachen stimmen die »lieben Geister« regelmäßig mit ein.
Ein neues, wieder ganz anderes Klopfen ertönte — Signora Rosa Prodelli meldete sich.
»Sie brauchen sich nicht zu entsetzen«, sagte Almeida zu dem Italiener, »seien Sie nur ohne Sorge, Ihre Gattin lebt noch, Sie sollen sich gleich telefonisch davon überzeugen, erst aber will ich einige Fragen stellen. Leben Sie noch, Signora?« — »Ja.«
»Gehst es Ihnen gut?« — »Ja ja ja ja ja ja.«
»Was machen Sie jetzt? Was treiben Sie gegenwärtig?«
Keine Antwort.
»Ist Ihnen bewusst, dass Sie mit uns sprechen?« — »Nein.«
»Sie meinen dabei Ihr normales Ich.« — »Ja.«
»Ihr Unbewusstes aber — Ihre Seele, will ich sagen — weiß, dass sie sich jetzt mit uns unterhält.« — »Ja.«
»Sie können mir nicht sagen, was jetzt Ihre körperliche Person treibt?«
»Nein.«
Das war ein Widerspruch mit den Aussagen jenes ersten Geistes. Das findet man aber stets. Die »Geister« wissen sich eben immer jeder Kontrolle zu entziehen. Das heißt, das Medium weiß seinen Traum immer entsprechend einzurichten.
»Wissen Sie, wo sich das Gauklerschiff befindet?« — »Ja.«
»Wollen Sie es mir sagen?« — »Nein.«
»Haben Sie Mathematik getrieben, Signora?« — »Nein.«
»Was ist die Kubikwurzel aus 0,002 744?«
»Null Komma 14«, wurde augenblicklich geklopft. »Das ist ja fabelhaft!«, staunte auch einmal der Offizier. »Meine Frau hat von so etwas gar keine Ahnung!«, setzte Prodelli nicht minder verblüfft hinzu.
Nur Almeida lächelte. Dann machte er eine kleine Pause, ehe er fortfuhr.
»Signora, können Sie den Tisch einmal heben?«, Keine Antwort, dafür knackte und krachte es in dem Tischchen heftig, man sah ganz deutlich, wie sich unter den lose gelegten Fingerspitzen des Mädchens die Tischplatte richtig bog. Und da fuhren alle erschrocken zurück, auch der Admiral.
Plötzlich war der Tisch wohl einen halben Meter hochgesprungen mit einer schier ungeheuren Vehemenz, so heftig war er auch wieder niedergeschlagen.
»Ein Fuß oder Bein war das nicht, ich sah zufällig gerade unter den Tisch!«, sagte der Detektiv.
Nein, solch eine Bewegung, solch ein Aufspringen und Niederschlagen des Tisches kann ein Mensch überhaupt gar nicht fertig bringen. Da sind nun wieder die Antispiritisten im Unrecht, wenn sie meinen, das könnte das Medium oder ein anderes Cerclemitglied mit dem Fuß oder Knie ausführen.
»Sehr gut!«, lobte Almeida. »Können Sie den Tisch auch frei in der Luft schweben lassen?« — »Nein.«
»Haben Sie uns sonst etwas zu sagen?« — »Ja.«
»Buchstabieren Sie.«
»Zu hell!«, wurde geklopft.
»Ahso, es ist Ihnen zu hell! Soll ich es ganz finster machen?« — »Nein.«
»Nur etwas verdunkeln?« — »Ja.«
»Dann werden Sie den Tisch schweben lassen?« — »Ja.«
»So gestatten Sie mir erst noch eine Frage. Weshalb können Sie solche Kraftleistungen nur im Finstern ausführen? Wollen Sie das einmal ausführlich buchstabieren, wir haben Zeit genug.«
»Ihr könnt nur im Hellen arbeiten, wir nur im Finstern!«, lautete die Antwort.
Das ist einmal eine der vernünftigen Antworten, die man von den »Geistern« bekommt, und es ist immer derselbe Bescheid. Hiergegen ist gar nichts einzuwenden. Die Forderung der Antispiritisten, die schwierigsten Phänomene sollen wegen der Kontrolle auch in hellem Licht ausgeführt werden, ist einfach eine Torheit. Diese Intelligenzen sagen ständig aus, dass sie im hellen Lichte keine Kraft haben, nur im Finstern schwierigere Phänomene zustande bringen können, und das müssen wir ihnen eben glauben. Denn das Unbewusste im Menschen arbeitet eben ganz anders als sein normales Bewusstsein. Wir können doch nicht auch im Finstern feine Arbeiten verrichten. Kein Lehrer verlangt, dass der Schüler seine Examenarbeit im Finstern niederschreibt. Da müssen wir diesen Intelligenzen auch glauben, dass sie im hellen Licht nichts leisten können. Das ist nur recht und billig. Oder die Kritik hört auf, eine ehrliche Kritik zu sein.
Hieraus dürfte es sich auch erklären, weshalb man des Nachts besser geistig arbeiten kann als am Tage. Das heißt schaffen, schöpfen, produktiv tätig, wie es etwa der Dichter ist, Weil die Phantasie doch offenbar mit dem Unbewussten zusammenhängt. Oder es müsste erst einmal jemand erklären, was überhaupt Phantasie ist. Während die frühen Tagesstunden, wenn sich das Gehirn durch Schlaf ausgeruht hat, wieder besser zum Auswendiglernen geeignet sind, oder etwa zum Lösen mathematischer Probleme, was aber mit dem Unbewussten, mit der Phantasie, doch gar nichts zu tun hat.
Die helle Kronleuchterbirne erlosch, nur die verhüllte leuchtete noch schwach, zuerst schien völlige Finsternis zu herrschen, doch gewöhnte sich das Auge bald daran, dann sah man noch deutlich die Hände auf dem Tische liegen.
Und ohne weitere Aufforderung begann sich jetzt das Tischchen zu heben, frei in der Luft zu schweben, nur von dem Magnetismus der leicht aufliegenden Fingerspitzen gehalten. Die Auftriebskraft war dabei so stark, dass sich ein Mann anstrengen musste, um den Tisch niederzudrücken. Dabei brauchte auch nicht die magnetische Kette geschlossen zu bleiben, einer nach dem anderen konnte seine Hände wegnehmen, das Tischchen blieb schweben. Nur dass die Auftriebskraft dann immer geringer wurde. Aber erst als auch Veronika ihre Hände entfernte, oder nur die eine, fiel es herab.
Es blieb nicht nur bei einem ruhigen Schweben, sondern der Wunsch brauchte nur geäußert zu werden, so begann der Tisch auch in der Luft zu schwingen, zu tanzen, ganz wie man wollte.
Dieser Wunsch brauchte nicht einmal ausgesprochen zu werden. Sobald die psychische Kraft einmal in Aktion getreten, die Sache eingeleitet ist, werden die Gedanken desjenigen, der das Fragen übernommen, also den Cercle leitet, sofort erraten.
Almeida hatte daran gedacht, einmal zu fragen, ob sich der Tisch auf seinen Schoß setzen wolle, und noch ehe er das erste Wort ausgesprochen, neigte sich der Tisch in der Luft stark zur Seite, kippte halb um, schwebte herab und legte sich auf des Admirals Knie, dabei einen ganz bedeutenden Druck ausübend.
Sobald aber das helle Licht aufflammte, fiel der Tisch als tote Masse von selbst herab.
»Sind Sie noch da, Signora?« — »Ja.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen.«
Das rasche, anhaltende Klopfen sollte wohl wiederum den Dank für diese Anerkennung ausdrücken. Almeida aber glaubte wohl, die Signora wolle etwas sagen.
»Haben Sie uns etwas mitzuteilen?« — »Ja.«
»Bitte.«
»Besser als Fernando und Bunsen!«, kam heraus. Da war es! Alle diese »Geister« sind ungemein eitel. Wenn einer etwas nicht ausführen kann, so muss man nur einen anderen holen, ihn bei seiner Ehre angreifen, dann macht er alles, so weit es nur irgend möglich ist. Dabei kann es eine »Seele« sein, die bei Lebzeiten der allerbescheidenste Charakter gewesen ist, oder noch ist. Außerdem aber lügt auch ein Geist immer mehr als der andere.
»Ich habe hier einen berußten Teller. Können Sie auf denselben einen Strich ziehen?« — »Ja.«
»Nun gut. Wohin soll ich dazu den Teller setzen? Auf den Boden?«
»Ja.«
»Unter den Tisch?« — »Ja.«
»Muss es dazu völlig finster sein?« — »Nein.«
»Die umflorte Lampe darf dabei brennen?« — »Ja.«
Der berußte Teller wurde unter das Tischchen gesetzt, die helle Lampe gelöscht.
Sofort wieder ein heftiges Knacken in dem Tisch, dann neigte er sich auf zwei Beinen, marschierte auf diesen, eines nach dem andern bebend, etwas zur Seite, erst einige missglückte Versuche, das dritte Bein auf den Teller zu heben, bis es gelang, und der Tischfuß zog in den Ruß einen weißen Strich.
Die Aufgabe war gelöst worden. Aber nicht so, wie es Almeida gewollt hatte. Der hatte an eine Geisterhand gedacht, die den Strich ziehen würde. An diese Möglichkeit, dass das Tischbein den Strich ziehen würde, hatte er überhaupt gar nicht gedacht.
»Können Sie den Strich nicht auch ohne Hilfe des Tisches ziehen?«
»Ja.«
»Wollen Sie es tun?« — »Nein.«
»Ich werde dort auf den Stuhl einen Gummiball legen. Können Sie diesen vom Stuhl werfen?« — »Ja.«
»Mit Hilfe des Tisches, indem sie den Ball herabstoßen?« — »Ja.«
»Aber Sie sollen ihn ohne Hilfe des Tisches herabwerfen, durch Fernwirkung.« — »Nein.«
»Wollen Sie uns einen anderen Geist rufen?« — »Ja.«
»Einen Geist, der stark genug ist, um dieses Experiment der Fernwirkung auszuführen.« — »Nein.«
»Sie wollen mir keinen solchen Geist rufen.«
Ein anhaltendes Klopfen erscholl.
»Was haben Sie zu sagen? Buchstabieren Sie.« — »Ich selbst.«
»Sie selbst wollen das Experiment ausführen. Den Ball ohne Hilfe des Tisches herabwerfen?« — »Ja.«
Der »Geist« war also bei seiner Ehre, bei seiner Eitelkeit gefasst worden. Das kann keiner vertragen.
Almeida stand auf, legte den Gummiball von ungefähr 15 Zentimeter Durchmesser auf einen Stuhl, der, noch weit entfernt von der Wand, etwa drei Meter von dem Tische entfernt stand.
»Also wollen Sie diesen Gummiball von dem Stuhle werfen, ohne Hilfe des Tisches, bitte. Wollen Sie?«
Erst ein anhaltendes Klopfen.
»Haben Sie noch etwas zu sagen?« — »Licht aus.«
Es wurde stockfinster, und nicht lange währte es, so begann das Mädchen in kläglicher Weise zu seufzen und zu stöhnen.
»Ist es ein Irrtum, dass ich über meine Hände einen kalten Hauch streichen fühle?«, rief der Offizier.
Nein, es war kein Irrtum, diesen kalten Hauch fühlten besonders Almeida und der Detektiv, welche zu beiden Seiten des Mädchens saßen und dessen Hände nicht nur berührten, sondern gefasst hielten, ganz deutlich. Ihre Hände wurden auch immer kälter, kalt wie Eis, und sie schien vor Kälte zu zittern.
Ferner musste man einen elektrischen Strom konstatieren, der durch die geschlossene Handkette ging. Zwar war das Prickeln nur ganz schwach, aber vorhanden war es, daran war kein Zweifel.
So vergingen einige Minuten, ganz unheimliche Minuten. In dem Tische hatte es wohl einige Male gekracht, dann aber nicht mehr; dagegen schien er jetzt ganz außerordentlich schwer zu werden.
Plötzlich ein schmetternder Krach, erschrocken, entsetzt sprang alles auf. Einmal, weil niemand in der Todesstille solch einen furchtbaren Krach erwartet hatte, und zweitens, weil sie alle einen ziemlich heftigen elektrischen Schlag erhalten hatten. Aber Almeida hatte nicht vergessen, in demselben Moment mit dem Fuße das helle elektrische Licht anzustellen.
Nur Veronika war nicht mit aufgesprungen, saß noch mit verdrehten Augen an dem Tische, die Hände aufgelegt, wusste gar nichts, wie später konstatiert wurde, von dem ganzen Vorgange, wollte auch den Krach nicht gehört haben.
Der Stuhl war umgefallen, der Gummiball lag dicht daneben.
Wir wollen den Fall einmal mit eigenen Augen betrachten.
Der Schreiber dieses hat solch oder ein ähnliches Experiment wohl hundert Mal von den verschiedensten Medien ausführen lassen.
Um sich gegen einen Betrug zu sichern, dass nicht etwa ein Cerclemitglied den betreffenden Gegenstand herabwirft, dafür gibt es ja die verschiedensten Mittel. Unter Umständen gelingt dieses Experiment auch in einem anderen Raume, den man abgeschlossen hat.
Vor allen Dingen ist die Regelmäßigkeit merkwürdig, mit welcher die »Geister« lieber die ganze Unterlage umwerfen, als von dieser herab den leichtesten Gegenstand schleudern. Weshalb, das ist unerklärlich, Sie sagen eben, es sei ihnen leichter, geben aber weiter keine Auskunft. Auf den Wunsch, von einem entfernt stehenden Vertiko eine am Rande stehende Streichholzschachtel herabzuwerfen wurde das ganze Vertiko umgestürzt und es ging dabei in Trümmer. Dieses Umwerfen ist stets mit einem ganz besonderen Klange verbunden. Niemals ein Poltern, sondern immer nur ein einziger Krach. Wenn man eine Stahlkugel auf eine Eisenplatte wirft, so springt sie erst einige Male in die Höhe, ehe sie liegen bleibt. Ist diese Platte aber magnetisch, so bleibt die Stahlkugel sofort fest haften, dadurch entsteht beim Aufschlagen ein ganz anderer Klang.
Genau so ist es, wenn ein Medium durch Fernwirkung einen Gegenstand umwirft, der aber auch aus Holz oder aus irgend einem anderen Material sein kann. Ferner rollt eine gleichzeitig herabgeworfene Kugel, ob nun aus Holz oder Eisen oder Gummi, nicht weiter, sondern bleibt sofort ruhig liegen. Sie schlägt auf und rührt sich nicht mehr. Im nächsten Augenblick freilich kann man sie weiter rollen.
Also es ist dabei zweifellos Magnetismus im Spiele, und zwar Elektromagnetismus, wie ja auch schon die elektrischen Ströme beweisen, die man kurz vor dem Ausführen der Leistung regelmäßig verspürt.
Was ist Elektrizität? Was Magnetismus? Wir wissen es nicht.
Und sollte es denn nur die beiden Arten von Elektrizität und Magnetismus geben, die wir kennen?
Der Mensch besitzt in sich oder ist selbst eine elektrische Batterie. So wollen wir uns ausdrücken. Wahrscheinlich ist es eine ganz besondere Art von Elektrizität. Besonders veranlagte Menschen vermögen diese Elektrizität ausströmen zu lassen, dabei setzt sie sich auch in Magnetismus um. Auf diese Weise kommen solche Fernwirkungen zustande.
Eine Erklärung ist das an sich ja nicht, aber jedenfalls fällt da doch alle »Zauberei« fort. Oder wir müssten eben auch die drahtlose Telegrafie für Zauberei halten.
Nach einer Erfrischungspause wurde die Sitzung wieder aufgenommen. Veronika erklärte sich vollkommen fähig dazu, obgleich das sonst ganz frisch aussehende Mädchen schon tiefe Ringe um die Augen bekommen hatte. Sie mochte dem Kaiser von Brasilien wohl bloß nichts ausschlagen.
»Ist jemand da?« — »Ja.«
»Sind Sie es noch, Signora?« — »Nein.«
»Wollen Sie uns Ihren Namen buchstabieren.«
»Mercedes«, wurde buchstabiert.
»Du bist es, Mercedes?«, fragte Almeida jetzt erstaunt. — »Ja.«
»Weißt Du, wo sich das Gauklerschiff befindet?« — »Ja.«
»Wo?«
Es erfolgte eine geografische Ortsbestimmung, welche lautete:
»2 Grad 14 Minuten 8 Sekunden nördlicher Breite, 56 Grad 36 Minuten 11 Sekunden westliche Länge.«
Die Wiederholung wurde als richtig bezeichnet, und dann ließ Almeida eine lange Pause eintreten, die niemand zu unterbrechen wagte. Jedenfalls wusste er doch, wie all diese Geister logen. Dann musste der Detektiv eine Spezialkarte holen, sie wurde befragt. Der angegebene Punkt lag in jener Urwaldswildnis, die wir schon beschrieben haben, in einem gänzlich unbekannten Gebiet.
»Bist Du noch da, Mercedes?« — »Ja.«
»Wie soll ich dorthin gelangen? Antworte ausführlich.«
»Ich führe Dich.«
»Wie führen?« — »Kompass.«
»Du willst die Kompassnadel immer dorthin zeigen lassen, wohin wir zu fahren haben?«, hatte der Admiral sofort begriffen. — »Ja.«
»Durch die Kraft eines Mediums?« — »Ja.«
»Durch Signorina Prodelli hier?« — »Ja.«
»Soll sie etwa die Hände um den Kompass legen?« — »Ja.«
»Kannst Du mir gleich jetzt eine Probe geben, dass Du durch sie die Kompassnadel nach Willkür ablenken kannst?« — »Ja.«
Ein Kompass wurde auf den Tisch gelegt, Veronika musste die Finger darum schließen, aber ohne ihn zu berühren — die Nadel wurde nach den verschiedensten Richtungen abgelenkt, zeigte auf Personen, auf Gegenstände — ganz wie Almeida wünschte.
»Auf diese Weise willst Du mir also immer die Richtung angeben, die ich zu fahren habe?« — »Ja.«
Wieder eine lange Pause des Sinnens. Dass es keinen Zweck hatte, weitere Fragen zu stellen, etwa was auf dem Gauklerschiffe für Zustände herrschten, wusste dieser Mann.
»Mercedes, ich traue Dir nicht, dass Du es wirklich bist. Gib mir Beweise dafür.«
»Fordere.«
»Kannst Du Dich hier manifestie... au!«
Almeida war ganz empfindlich in die Wade gekniffen worden. Als er sich erschrocken niederbückte, sah er, wie es sich unter dem Kleide des neben ihm sitzenden Mädchens bauschte.
Ein ganz gewöhnlicher Vorgang, dass der »Geist«, wenn er sich materialisieren will, bei Helligkeit die Röcke des Mediums als Dunkelkabinett benutzt. Merkwürdig ist, dass das Medium immer davon gar nichts merkt, so wie es auch hier der Fall war.
Almeida hatte sich schnell wieder gefasst.
»Bist Du das gewesen, Mercedes?«
Das Kleid des Mädchens sank wieder zusammen, die Frage wurde bejaht, dann das Zeichen gegeben, dass der »Geist« zu sprechen wünsche.
»Großes Tuch über Tisch decken, Licht aus!«, wurde buchstabiert.
»Willst Du Dich materialisieren, Dich uns sichtbar zeigen?« — »Ja.«
Es geschah ein Tischtuch wurde über das Tischchen gedeckt, das Licht verlöscht.
Aber es sollte keine Materialisation stattfinden, oder doch eines ganz andere, als man erwartet hatte, und Admiral Almeida sollte nicht nötig haben, das Gauklerschiff erst in den brasilianischen Urwäldern aufzusuchen.
Erst wenige Sekunden hatten sie so im Finstern gesessen, wohl niemand wusste, dass unterdessen schon der junge Tag angebrochen war, als sich die nach dem Korridor führende Tür öffnete, volles Tageslicht drang herein, und mit ihm zugleich ein halbes Dutzend Offiziere die Degen gezogen und Revolver in den Händen, und hinter ihnen zeigten sich noch eine Menge anderer Uniformen.
Ganz lautlos waren sie gekommen, und ihr Anblick wirkte besonders auf den Admiral noch ganz anders, als wenn ihm seine Gattin hier im Finstern als grünphosphoreszierende Gestalt erschienen wäre.
Entsetzt war er aufgesprungen, um dann wie gelähmt wieder zurückzusinken.
Entsetzt war Almeida aufgesprungen, als plötzlich durch
die Tür Bewaffnete eindrangen, an ihrer Spitze Graf Moha-
kare mit dem Ruf: »Ergeben Sie sich, keinen Widerstand!«
»Graf Mohakare!«, stöhnte er.
»Ergeben Sie sich, keinen Widerstand!«
Im nächsten Augenblick waren alle die Cerclemitglieder ohne Unterschied von starken Fäusten ergriffen, dass niemand mehr Gebrauch von einer Waffe machen konnte.
»Graf Mohakare, mein Gefangener!«, stöhnte der Admiral nochmals.
Die Fenstervorhänge waren aufgerissen worden, man hatte von hier aus einen Überblick über den Hafen, in dem es von Kriegsschiffen wimmelte, diese ganze Szene vom goldenen Scheine der Morgensonne übergossen.
Und der noch junge Mann in der Generalsuniform eines brasilianischen Garderegimentes streckte die Hand aus.
»Sie haben nicht nötig, das sogenannte Gauklerschiff in den Urwäldern aufzusuchen, dort fährt es soeben in den Hafen ein, von Rio de Janeiro kommend, wo es schon alle seine Gäste abgesetzt hat. Aber sie kommen bereits wieder zurück, Präsident Lopez selbst, um von den Mannschaften der Kriegsflotte wieder als Regierungsoberhaupt empfangen zu werden. Denn die Meuterer waren schon längst Ihrer Tyrannenherrschaft überdrüssig, sie sind reumütig unter das Gesetz zurückgekehrt, auch wenn sie den Lohn für ihre Rebellion bekommen sollten. Sie aber, Admiral Almeida, waren mit Blindheit geschlagen, dass Sie von alledem nichts gemerkt haben. Nun ja, Sie halten ja hier eine spiritistische Sitzung ab, wie ich merke, und von einem Spiritisten ist ja auch nichts anderes zu verlangen.«
Der Leser wird nicht glauben, dass wir die ganze Zeit untätig im Urwald versteckt gelegen haben. So lassen wir Georg Stevenbrock wieder persönlich erzählen.
Oder wenn er es geglaubt hat, so hat er sich eben geirrt. Dann aber kennt er uns auch noch nicht richtig.
Der Plan, den ich dem Präsidenten vorlegte, bestand einfach darin, dass wir die ganze Gesellschaft, die wir dem Rebellenkaiser im letzten Moment noch aus den Zähnen gerückt hatten, nach Rio de Janeiro brachten. Es konnte ja auch gar nichts anderes geben.
»Da hätten Sie aber gleich den Ausgang nach dem offenen Meere gewinnen müssen!«, meinten der Präsident und die anderen Herren.
»Nein, das wäre uns nicht gelungen, wir können nur 12 Knoten dampfen, da hätten uns die schnellen Kriegsschiffe bald am Enterhaken. Wir müssen uns vorläufig in der waldigen Küstenregion verstecken und dann bei Nacht uns hinausschleichen.«
»Wird Ihnen das auch gelingen?«
»Es wird schon gelingen.«
Und es gelang. Nur dass wir nicht den Strom benutzten, nicht den Hafen passierten, sondern einfach durch eine Bifurkation nach jenem geheimen Kanal fuhren und dann ins freie Meer hinaus.
Die Herrschaften erfuhren von diesem Schleichweg freilich nichts, nicht ein einziger. Die mussten sich am Abend, oder als es überhaupt so weit war, unter Deck begeben, natürlich fuhren wir mit gelöschten Lichtern, alle Bullaugen waren geschlossen, niemand durfte sich an Deck zeigen, und als wir uns schon drei Stunden später im freien Meere weit ab von der Küste befanden, mochten die nur glauben, wir hätten uns durch die Wachlinie der Kriegsschiffe geschlichen.
Nach viertägiger Fahrt erreichten wir Rio. Ich will nicht schildern, wie wir empfangen worden, was es für einen Eindruck machte, als wir die ganze Gesellschaft, alle Oberhäupter des Staates, ausfrachteten.
Bemerken will ich nur, dass man in Para von diesem Ereignis nicht so leicht erfahren konnte. Wir waren wohl schon unterwegs mehrmals gesichtet worden, aber Para wurde doch von keinem Schiffe mehr angelaufen, und dass von Rio aus das nicht telegrafiert werden konnte, dafür wurde natürlich gesorgt. Auch nicht das unschuldigste Telegramm wurde durchgelassen, es hätte dennoch chiffriert sein können.
Weiter muss ich noch erwähnen, dass in der brasilianischen Armee und überhaupt im Volke unterdessen ebenfalls eine Revolte ausgebrochen war, die sich aber nur gegen die Fremden richtete, hauptsächlich gegen die fremden Offiziere, welche der neue Präsident als Instrukteure angenommen hatte. Vor allen Dingen richtete sich der Volkshass gegen den Grafen von Mohakare, der sollte an der ganzen Rebellion der Kriegsflotte schuld sein. Jedenfalls ganz ungerechtfertigter Weise. Aber die Brasilianer hassen nun einmal alles Fremde. Übrigens waren der Graf Mohakare und sein Adjutant Major von Tonn selbst auf dem Admiralsschiff als Gefangene, denn sie hatten die Reise nach New York, um die neuen Kriegsschiffe abzuholen, mitgemacht. Aber es hieß eben, sie hätten diese Rebellion erst angezettelt, wenn auch indirekt.
Noch an demselben Tage verließen wir Rio wieder.
»Wohin nun?«, fragte ich den famosen Price O'Fire, den ich immer lieber gewann, ein so kurioser Kauz er auch war.
Andere freilich hätten ihn eine ganz geheimnisvolle rätselhafte Persönlichkeit genannt. Mir aber war die Hauptsache, dass er kein Duckmäuser war, der um sich etwa einen geheimnisvollen Nimbus verbreiten wollte, was durchaus nicht der Fall. Seine sonstigen Privatverhältnisse gingen mich ja gar nichts an. Da mochten sich andere den Kopf darüber zerbrechen, ich tat es nicht.
»Würden Sie noch einmal nach Para zurückgehen?«
»Wozu denn? Wir wollen uns doch nicht etwa noch weiter in diese politischen Wirren mischen? Habe nicht die geringste Lust dazu. Mögen diese Brasilianer nur die Suppe allein auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben.«
»Wollen Sie nicht Kaiser von Brasilien und ganz Amerika werden?«
»Nich in de Diete!«, lachte ich. »Oder soll etwa die Prophezeiung jenes verrückten Spaniolen wirklich in Erfüllung gehen? Da habe ich doch auch ein Wörtchen mitzusprechen.«
»Nein, das ist nur so ein Aberglauben. Die Prophezeiung über jenes Schwert des Cid geht ja wirklich so, aber jeder Mensch hat einen ganz freien Willen, daran scheitert auch die Macht des Schicksals.«
»Na also! Und ehe ich mich zum Kaiser von Brasilien krönen lasse, hänge ich mich lieber selber auf. Was wollen wir sonst noch in Para?«
»Zwei Personen aufnehmen. Wenn Sie sie an Bord Ihres Schiffes als Gäste dulden wollen.«
»Wen?«
»Zwei Landsleute von Ihnen: den Grafen von Mohakare und seinen Adjutanten, den Major von Tonn.«
Er berichtete mir von diesen beiden, in welchen Schwulitäten die sich als Gefangene der Meuterer jetzt befänden.
»Ja, wir werden aber in Para doch nicht gerade festlich empfangen werden.«
»Wenn wir dort eintreffen, wird die ganze Rebellion bereits niedergeschlagen sein.«
»Wie das?«
»Die Mannschaften, besonders die Offiziere, sehen ein, was für einen törichten Streich sie begangen haben, sie werden sich mit dem gefangenen Grafen von Mohakare in Verbindung setzen, dieser selbst wird sich an die Spitze setzen und den Rebellenkaiser gefangen nehmen.«
So sprach Price O'Fire. Also war er ein allwissender Prophet? Mir ganz gleichgültig.
»Und dann sollen wir die beiden an Bord nehmen?«
»Nebst ihren Frauen, die sich an Bord des Admiralsschiffes noch als Gefangene befinden. Kinder sind nicht vorhanden. Es wäre wenigstens sehr angebracht, um die beiden Männer weiteren Verwicklungen zu entziehen.«
»Werden Sie freiwillig mit uns kommen?«
»Sie werden selbst den Antrag stellen.«
»Passen sie auch zu uns?«
»Es sind die liebenswürdigsten Menschen.«
»All right. Und wohin dann weiter?«
»Nun, ich dächte, dann machten wir uns einmal auf die Suche nach dem Kapitän Satan, um dem seine Schätze abzunehmen, die er sich unrechtmäßig angeeignet hat.«
»Noch all righter! Wir haben die Goldklumpen und Kisten voll Edelsteine auch recht nötig. Mich wundert schon, dass in Rio nicht bereits ein Haftbefehl für uns vorlag, ausgewirkt von jener Alice Powell, die doch dem Vernehmen nach, wie Sie sagen, ihre von uns verpulverte Million Dollars oder wie viel es nun ist, wieder haben will.«
»Dieser Haftbefehl wird auch noch kommen.«
»Ja, und was machen wir dann?«
»Sie erlauben wohl, dass ich diese Schuld begleiche!«, lächelte O'Price.
»Gewiss, wenn es Ihnen Spaß macht. Da bin ich nicht so. Und wenn wir erst die Flibustierschätze haben, können wir es Ihnen ja mit guten Zinsen zurückzahlen. Wo werden wir nun diesen lebendig gebliebenen Teufelskapitän finden?«
»Bestehen Sie darauf, dass ich Ihnen den Ort schon jetzt nenne?«
»Wenn Sie uns eine Überraschung bereiten wollen — recht so! Mir nichts lieber als das.«
»Nur unser nächstes Ziel muss ich Ihnen wohl schon nennen.«
»Das wäre allerdings angebracht. Gar so an der Nase herumführen lassen möchten wir uns doch nicht.«
»Petersburg.«
»Was, in Petersburg werden wir den Kapitän Satan finden?!«, rief ich doch etwas überrascht.
»Nicht direkt dort, sondern Petersburg ist nur der Ausgangspunkt unserer weiteren Reise.«
»Gut, dann genügt mir das. Da fällt mir aber noch ein — Sie wollten uns doch auch sagen, wo die anderen Indianer geblieben sind, so weit sie sich nicht gegenseitig abgemurkst haben.«
»Sie werden sie wiederfinden.«
»Gut, dann frage ich nicht weiter. Nur nicht wieder in diesen vermaledeiten Urwald hinein!«
Denn diese tropischen Urwälder hatten wir nun zur Genüge genossen.
Ach, wie war uns so wohl hier wieder auf dem freien Meere! Nein, wir waren nicht für solche Kolonisationsversuche geschaffen. Überhaupt wieder einmal hinein in kühlere Breiten! Wir sehnten uns nach Schnee und Eis und einem tüchtigen Nordsturm. Nun, schon auf der Fahrt nach Petersburg würde daran ja kein Mangel sein, wir kamen gerade so hübsch in die richtige Jahreszeit hinein. —
»Herr Kapitän, glauben Sie an Spiritismus?«
So fragte mich Price O'Fire am Anbruche der Nacht, die uns noch von Para trennte.
»Ich? Nee. Oder meinetwegen ja. Mir ganz schnuppe, ob es Geister gibt oder nicht. Nur in meine persönlichen Verhältnisse dürfen sie sich nicht mischen. Sonst roochts. Und wenn in meine Kabine ein Geist unangemeldet eintritt, dann mag der Kerl einen noch so ätherischen Hosenbund haben — ich will ihn schon dran packen und ihn mit Schwung in sein Geisterreich zurückversetzen, wohin er gehört.«
»Dann erst einmal eine andere Frage!«, lächelte O'Fire, wozu er ja Grund haben mochte, obgleich ich nicht etwa humoristisch sein wollte, sondern ich sprach ganz ernsthaft meine Meinung über diese Sache aus. »Wir hätten doch Gelegenheit gehabt, uns eines oder des anderen meuternden Kriegsschiffes zu bemächtigen, indem wir sie einfach in den Urwald lockten.«
»Ich weiß, was Sie meinen«, entgegnete ich, »und ich will Ihnen hierüber gleich meine offene Meinung sagen. Wenn nach Bismarcks Ausspruch alle Balkanstaaten nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert sind, so ist ganz Brasilien nicht einen kleinen Finger eines einzigen meiner Jungen wert. Niemals würden und werden wir uns in diese politischen Wirren einlassen. Nicht so lange ich hier an Bord dieses Schiffes etwas zu sagen habe. Und mehr habe ich darüber überhaupt nicht zu sagen.«
»Nun gut. Aber bitte, wollen Sie doch einmal darauf eingehen. Wir hätten also doch eines oder das andere Kriegsschiff in den Urwald locken können, um die Meuterer zu überwältigen.«
»Ja, das hätten wir allerdings können.«
»Es wäre nur schwer gewesen, solch ein Lockmittel zu finden.«
»Nun, das hätte sich schon machen lassen.«
»Das möchte ich bezweifeln. Dieser Macedo Almeida ist ein überaus schlauer Fuchs.«
»Ja, was wollen Sie eigentlich damit sagen?«
»Ich will mich Ihnen offenbaren. Es handelt sich um Folgendes. Ich kenne diesen Almeida sehr gut. Er ist Spiritist. Aber kein ganz gläubiger, sondern ein überaus misstrauischer. Nun findet heute Abend in Para eine spiritistische Sitzung statt, im Hause eines gewissen Prodelli. Woher ich das weiß, das werden Sie mich nicht fragen, das ist ja eben das Schöne bei Ihnen. In diese Sitzung werde ich mich einmal einmischen. Ich werde das Medium, seine Tochter, durch Fernwirkung suggerieren. Auch die Gattin des Admirals soll sich melden. Sie will wissen, wo sich das Gauklerschiff befindet, will ihren Gatten hinführen. Ob dieser Admiral Almeida so geistergläubig ist, dass er in diese Falle geht, das will ich dabei erfahren, weiter nichts. Geändert wird dadurch an der Sachlage nichts, sein Schicksal ist bereits besiegelt, heute Nacht noch meutern die Rebellen gegen ihn selbst.«
So hatte Price O'Fire zu mir gesprochen. Und er hat es ausgeführt.
Auf welche Weise, d. h. wie er es fertig brachte, sich als »Geist« in die spiritistische Sitzung zu mischen, das weiß ich nicht. Wohl hat er es mir später erklärt, aber ich habe ihn nicht verstanden, wollte ihn damals gar nicht verstehen. Ich habe diese spiritistische Sitzung ausführlich beschrieben, wie sie mir später in Para von Prodelli und seiner Tochter und ganz besonders von Mister Wilsley geschildert wurde.
Es wurde dann später an Bord unseres Schiffes ebenfalls eifrig Spiritismus getrieben, indem sich unter meinen Leuten zwei Medien fanden, Kerls, denen man das nimmermehr angesehen hätte.
Ihre Namen will ich nicht nennen, auch keine solche Sitzung beschreiben, obgleich bei uns noch viel wunderbarere Phänomene zustande kamen als bei jener in Para geschilderten, auch sichtbare Materialisationen von ganzen Gestalten, die sogar sprechen konnten.
Aber ich will nicht mehr von Spiritismus anfangen, und eben deshalb habe ich jene Sitzung in Para so ausführlich beschrieben.
Nur das eine will ich noch hinzufügen:
Was kann denn eigentlich so ein »Geist« mehr als ich?
Absolut gar nichts!
Ich kann auch einen Tisch springen und tanzen lassen. Ich kann auch einen Tisch umschmeißen.
Sogar ohne dass ich ihn dabei anfasse. Durch Fernwirkung. Wie ich das mache? Indem ich einen starken Wasserstrahl gegen den Stuhl richte. Oder durch einen starken Luftstrom. Oder durch Elektromagnetismus. Auf diese oder ähnliche Weise kann man auch einen Gummiball zu Boden werfen, ohne dass er springt oder rollt. Wenn das die »Geister« auf eine andere Weise machen, so ist das ihre Sache. Nur auf den Effekt kommt es an, und dieser ist derselbe.
Und dasselbe gilt von den sichtbaren Erscheinungen von leuchtenden Händen und ganzen Gestalten. Die kann ich ebenfalls erzeugen, durch Laterna magica oder ganz freischwebend durch Hohlspiegel oder durch einfachen Spiegel mit Glasscheibe, wie es in jedem physikalischen Experimentierbuch beschrieben ist.
Wer sich gewissenhaft und vorurteilslos einmal mit Spiritismus beschäftigt hat, muss zugeben, dass es einen menschlichen Bewusstseinszustand gibt, in dem ganz besondere Fähigkeiten entwickelt werden, die wir mit unserem normalen Verstande nicht begreifen, nicht erklären können.
So ist es einem kräftigen Medium ein leichtes, auch ohne Berührung, zwei nahtlose Metall- oder Holzringe ohne Verletzung zusammenzustecken. Wie dies möglich ist, versuchte der Leipziger Professor Zöllner in seinen »Wissenschaftlichen Abhandlungen« durch eine vierte Dimension zu erklären. Dass es noch etwas anderes gibt als Länge, Breite und Höhe. Ein zweidimensionales Wesen könnte keinen Knoten knüpfen, würde einen solchen als ein »Wunder« ansehen.
Nun kann ich aber denselben Effekt, dasselbe Resultat erzielen. Zwei nahtlose Ringe ohne sichtbare Verletzung zusammenstecken. Bei hölzernen lasse ich sie aus einem Blocke drehen, bei Eisenringen feile ich den einen auf und schweiße die Stelle wieder zusammen. Gewiss dieses Zusammenstecken habe ich auf andere Weise vollbracht als der »Geist«. Aber das Resultat ist doch dasselbe, und darauf kommt es an!
In Anbetracht alles dessen bin ich auf den Gedanken gekommen, eine Aufgabe zu stellen, deren Lösung ein echtes Wunder bedeuten würde, das ich mit der Post in alle Welt senden könnte.
Ich habe einen Ring aus Eichenholz und einen zweiten aus Buchsbaumholz drechseln lassen und gefordert, diese beiden Ringe zusammenzustecken.
Wenn das geschieht, so ist ein echtes Wunder geschaffen worden, kann jedem Zweifler gezeigt werden! Eine Naht müsste man durch mikroskopische Untersuchung erkennen.
Dieses Problem ist von keinem meiner Medien gelöst worden!
Übrigens, wie ich aber erst hinterher erfuhr, ist auf denselben schlauen Gedanken auch schon Professor Zöllner gekommen, er hat gleichfalls zwei Ringe aus verschiedenen Holzarten drehen lassen. Oder es genügt auch schon, zwei Ringe aus einem Stück Leder zu schneiden.
Das haben dann noch zahllose Spiritisten und Antispiritisten nachgemacht, mit derselben Forderung, und noch nie, niemals sind zwei solche Ringe zusammengesteckt worden!
Da sieht man also ganz deutlich, dass diese Geister nichts machen können, was der Mensch nicht auch in seinem normalen Bewusstseinszustand fertig brächte. Und was nun gar die Antworten und sonstigen Botschaften ans dem »Geisterreiche« anbetrifft, so ist das erst recht alles ganz ungereimtes Zeug. Entweder Behauptungen die gar nicht zu kontrollieren sind, oder Orakel, die sich jeder nach Belieben auslegen kann wie die von Delphi.
Mit dem ganzen Spiritismus ist es nichts! Man vergeudet nur eine Unmenge Zeit damit, ohne irgend einen Vorteil davon zu haben.
Anderseits aber schadet es gar nichts, dieser geheimnisvollen Sache — denn geheimnisvoll, ganz rätselhaft ist sie, das muss man ihr lassen — einmal ernsthaft zu Leibe zu gehen. Denn wer sich nur mit einigen Sitzungen begnügt, ohne weiter zu prüfen, der verfällt leicht dem traurigen Schicksal, aus dem Spiritismus eine Religion zu machen. Und das ist Abgötterei, die nicht einmal etwas einbringt. Da ist es immer noch gescheiter, den Gott Mammon anzubeten.
Wer aber diesen Geisterbecher bis zur Hefe ausleert, dem wird es zuletzt genau so gehen, wie es allen meinen Leuten ergangen ist: erst staunten sie, fürchteten sich sogar vor den Phänomenen; dann belustigten sie sich über den Hokuspokus; bis sie schließlich von dem albernen Blödsinn nichts mehr wissen wollten.
Als wir in Para einliefen, wurde der »Kaiser von Brasilien« gerade als Gefangener auf sein Flaggschiff gebracht, die braunen, hundsföttischen Kriegsschiffsmatrosen spieen ihn an und sangen dazu patriotische Lieder zur Ehren der brasilianischen Republik und ihres Präsidenten. Nicht viel länger als acht Tage hatte diese ganze Komödie gewährt, von der die Welt kaum etwas erfahren hat, und dann zum Danke, dass wir ihren geliebten Präsidenten gerettet, verlangten diese Schufte auch noch, dass wir ihnen einige Vorstellungen geben sollten, womöglich gratis, wofür wir nun freilich nicht zu haben waren. Doch kam es wegen unserer Weigerung nicht zu Streitigkeiten — leider nicht, möchte ich fast sagen — alle meine Jungen hatten schon die Gummiknüppel und Hundepeitschen in den Hosenbeinen stecken.
Dann kamen der Graf von Mohakare und Major von Tonn zu uns an Bord, begrüßten uns als Landsleute, trugen eine Bitte vor. Ich will die Unterredung nicht wiedergeben. Die Hauptsache war die, dass die Verpflichtungszeit der beiden fremden, gewissermaßen nur gemieteten Offiziere bereits abgelaufen war, diese Reise, um die neuen Kriegsschiffe mit abzunehmen sollte ihre letzte Tat gewesen sein, sie hatten sogar schon ihre Frauen mitgenommen um sie gleich in New York zu lassen, aber aus gewissem Grunde waren diese doch wieder mit zurückgekehrt. Die anderen Verhältnisse habe ich schon geschildert oder doch angedeutet. Wie sich der Unwille des ganzen brasilianischen Volkes gegen diese fremden Armee-Instrukteure kehrte. Daran änderte auch nichts, dass jetzt der Graf Mohakare alias Artur Hennig tatkräftig mit in die Rebellion eingegriffen hatte. In Rio de Janeiro waren bereits die Wohnungen der beiden vom Pöbel vollständig demoliert worden, da hätten sie unbedingt Rechenschaft und Genugtuung fordern müssen, wenn sie nun einmal zur Stelle waren, oder sie wären Waschlappen gewesen, das hätte nur noch böseres Blut gegeben, und so zogen die beiden vor, für einige Zeit von der Bildfläche zu verschwinden.
Wir waren das einzige fremde Schiff in Para. Ob wir sie aufnehmen würden. Gleichgültig, wohin die Reise ging. Wenn nur nicht gerade zur Erforschung des Nord- oder Südpols. Selbstverständlich! So bekamen wir wiederum zwei Menschenpaare als Gäste an Bord.
Dieselben wurden schon in einer besonderen Erzählung zur Genüge geschildert. Besonders der brasilianische Major von Tonn war noch ganz derselbe, der er als deutscher Leutnant gewesen, nur dass er jetzt etwas hinkte.
Seine erste Frage, sobald er seine Siebensachen untergebracht und wieder an Deck erschien, war, ob das nicht recht hübsch aussehen müsse, wenn alle die Holzboote mit Kerbholzschnitt verziert seien und ob er das ausführen dürfe.
Ich kannte ja seine Leidenschaft damals noch gar nicht, und außerdem war diese Frage auch etwas seltsam gestellt, so ungefähr mit der schüchternen Wahnsinnsglut eines verliebten Jünglings, der die Auserwählte fragt, ob sie ihn will oder nicht, und dabei hatte das kleine, dicke Kerlchen auch schon heimlich so eine Art von Skalpiermesser gezückt. Aber gewiss! Das ist eigentlich ein Gedanke! Die Matrosen treiben ja überhaupt gern Kerbschnitzarbeiten und warum nicht auch die Boote so verzieren? Die alten Wikinger haben ja sogar ganze Schiffe so beschnitzelt.
Und kaum hatte ich so gesprochen, erst eine Andeutung gemacht, als das Kerlchen auch schon mit geschwungenem Skalpiermesser auf die große Jolle losstürzte und zu schnipseln begann. Und so hat er geschnipselt, so lange er bei uns war, keine Mitarbeiterschaft duldend. Nun aber hatte er unterdessen zu seinem Kerbholzschnitt noch einen modernen Blumenschnitt hinzu gelernt, also er schmückte unsere Boote auch mit Gänseblümchen und Vergissmeinnicht — andere Sorten schien er nicht zu kennen — was nun freilich zu den Seebooten passte wie die Faust aufs Auge.
Dann später verzierte er die Holzeimer und was sonst noch schneidbar war. Schade, dass das Schiff von Eisen und nicht von Holz war. Oder eigentlich gut für uns. Sonst hätte der unser ganzes Schiff zerschnipselt. Nun, dafür machte er sich dann an die Kojen und an die sonstigen Möbel, bedeckte auch alle Wände mit Räderchen und Sternchen, und dazu sang er nach wie vor unermüdlich sein »Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida...«
Am achten Tage sichteten wir einen mittleren Dampfer, der Notsignale gab. Es war ein Franzose, von Neu-Orleans nach Marseille unterwegs, der die Schraubenwelle gebrochen hatte. Doch nicht etwa, dass er deswegen Notsignale gab, er wollte sich auch nicht ins Schlepptau nehmen lassen, was ein Heidengeld kostet. Denn auch auf See wird es nur von den Lebendigen genommen, von den Toten ist nichts mehr zu wollen.
Seit drei Tagen wurde der Dampfer schon getrieben, man hatte die Welle bereits einmal geflickt, die Flickerei war wiederum gebrochen, und nun wurde weitergeflickt.
Es befanden sich auch einige Passagiere darauf, und diese hatten das Warten endlich satt, zumal sie sonst nicht satt wurden, auf dem französischen Dampfer herrschten die kläglichsten Verpflegungsverhältnisse, und endlich musste Kapitän Fernais ihrem Drängen nachgeben, der nächste in Sicht kommende Dampfer wurde angerufen.
Ja, wir waren gern bereit, die acht Passagiere an Bord zu nehmen und nach Frankreich zu bringen. Allerdings nicht nach Marseille, sondern nach einem Hafen der West- oder Nordküste. Wir einigten uns auf Bordeaux.
Dann begab ich mich selbst mit dem Abholungsboot hinüber. Denn ehe die Franzosen ihr Boot ausgeschwungen hatten, waren wir schon drüben. Als ich, hörte, dass es Vergnügungsreisende waren, die auf eigene Kosten führen und nicht gerade zu den mit Gütern gesegneten Sterblichen gehörten, und dass der Kapitän den prozentualen Teilpreis nicht zurückzahlen wollte, wozu er auch kaum gezwungen werden konnte, sagte ich kurzerhand, dass wir die Passagiere als Gäste kostenlos nach Bordeaux befördern wollten.
Als das Kapitän Fernais vernahm, hatte das Männchen die Dreistigkeit, mich zu bitten, sein ganzes Schiff kostenlos nach Bordeaux zu schleppen. Da gab es aber nun freilich nichts. Jetzt ging ich auch auf den zuerst geforderten, sehr bescheidenen Preis nicht mehr ein, den der Kapitän nur deshalb nicht angenommen hatte, weil er, wenn er das Schiff nicht selbst wenigstens in den nächsten Hafen brachte, um seine Dividende kam.
Vor allen Dingen aber erwartete mich eine große Überraschung. Wie die acht Passagiere, nur Männer, mit ihren Siebensachen angetreten sind, da sehe ich unter ihnen einen Ritter von der traurigen Gestalt...
»Herr Gott, wo hast Du denn den Kerl schon einmal gesehen — diesen schwarzen Spitzbart und den pomadisierten Poposcheitel — — ach, der Monsieur Leblanc, der Revolverjournalist, der in Paris seine Schmähschrift gegen uns als Salat mit Essig und Öl und Senf auffressen musste!«
Ein merkwürdiges Wiedersehen, hier auf hoher See! Ich hätte natürlich nichts mehr davon gesagt, ihn gar nicht erkannt. Aber er hatte schon gemerkt, dass ich ihn erkannt, und er musste Grund haben, selbst unsere »Argos« zur Weiterreise zu benutzen, und so näherte er sich mir in gedrückter Haltung.
»Monsieur Kapitän«, begann er wie ein junger Hund zu winseln, »bei Gott, ich habe nichts mehr gegen Sie geschrieben — parole d'honneur — und ich muss am ersten unbedingt in Paris sein, oder ich verliere meine Stellung...«
»Schon gut, schon gut, die Sache ist vergessen.«
Als wir sie an Bord hatten, ging die Schweinerei gleich los. In der ersten Viertelstunde wurden fünf von den acht Herren seetoll, ganz fürchterlich, spieen das ganze Deck voll.
Dabei waren sie alle doch eigentlich seefest hatten ja schon eine Hinreise gemacht, kamen doch von einem Dampfer, auf dem sie Zeit genug gehabt hatten, dem Neptun zu opfern, und der Seegang war doch hier wie dort der gleiche, der Dampfer rollte noch ganz anders, als unsere scharf auf Kiel gebaute »Argos«, und auf dem Dampfer waren sie nicht seekrank gewesen, wurden es erst bei Betreten unseres Schiffes.
Die Seekrankheit ist eben ganz unberechenbar. Der robusteste Mann wünscht sich den Tod, und das zarteste Dämchen mit den schwächsten Nerven bleibst ganz verschont. Wobei allerdings ein festgeschnürtes Korsett mit helfen mag, was schon die alten Kreuzfahrer wussten, indem sie auf dem Schiff einen besonderen Gürtel fest um die Hüften schnürten. Wohl auch das einzige Mittel, um sich gegen die Seekrankheit zu schützen. Um den Magen, der die Stampfbewegungen des Schiffes, das Auf- und Niedergehen, nicht so schnell mitmachen kann, also immer oben und unten gegen die Wände der Bauchhöhle schlägt, fester zu halten. Aber schließlich hilft das alles nichts. Manch alter Kapitän oder sonstiger Seebär wird immer wieder fürchterlich seekrank, sobald der Wind umspringt oder das Schiff von einem anderen Wellenschlag getroffen wird, andere Bewegungen macht. So wie auch der Weltumsegler Cook, wie schon einmal erwähnt, fortwährend seekrank wurde.
Es handelt sich also meist um andere Bewegungen des Schiffes, als die, an die sich der Magen schon gewöhnt hat. Nun macht aber ein Dampfer ganz andere Bewegungen als ein Segelschiff. Der Dampfer bricht durch die Wellen, der Segler hebt sich darüber hinweg. Das Schlingen und Stampfen mag scheinbar dasselbe sein — es sind dennoch ganz andere Bewegungen. Wer nur auf einem Dampfer zu fahren gewöhnt ist, wird zum ersten Male auf einem Segler regelmäßig wieder seekrank, wenn er überhaupt dazu disponiert ist, und umgekehrt.
So war es auch hier. Die fünf Herren waren auf dem Dampfer seefest geworden, aber wir benutzten den Wind zum Segeln, und diese neuen Stampfbewegungen konnte ihr Magen nicht vertragen.
So konnten wir gleich kontrollieren, was es auf dem französischen Dampfer für einen Schlangenfraß gegeben hatte. Die Mittagszeit war kurz vorüber. Als Hauptsache Maraschgemüse. Das sind die getrockneten Stiele von besonderen Pilzen, welche in den Südstaaten Nordamerikas massenhaft wachsen. Nur die Stängel kann man essen, sie schmecken ganz gut, müssen aber stundenlang mit Soda gekocht werden, ehe sie halbwegs verdaulich werden, man benutzt sie nur, um der Bouillon einen angenehmen Geschmack zu geben. Und dieses spottbillige Luderzeug hatte auf dem französischen Dampfer das Hauptgericht gebildet!
Ich würde bei dieser unappetitlichen Geschichte ja gar nicht so lange verweilt, sie vielleicht gar nicht erwähnt haben, wenn ich nicht seiner Zeit, als der Monsieur Leblanc seine Broschüre auffressen musste, erwähnt hätte, dass über diese Sache einer unserer Heizer noch nachträglich einen famosen Witz vom Stängel ließ, und dieses Versprechen muss ich nun einlösen.
Also die fünf Herren haben sich an Deck verteilt und streuen verschwenderisch die schwarzen, unverdauten Maraschstängelchen aus, vermischt mit der nötigen Majonnaise. Darunter befindet sich auch Monsieur Leblanc, der halb über einer Winde hängt und immer feste den Inhalt seines Magens ausschüttet.
Da gehen zwei Heizer vorüber, sie ziehen auf Wache. Von der damaligen Komödie in Paris hatten sie natürlich alle erfahren, das hatte ja gar nicht ausbleiben können, das hatten wir doch ausführlich in der Kajüte erzählt — und jetzt hatte ich auch gleich der Patronin gesagt, wen wir hier wieder trafen, das hatte Siddy gehört, der hatte wieder einmal sein Maul nicht halten können...
»Hört, der da mit dem schwarzen Spitzbart und dem Scheitel in der Mitte, das ist der Franzose, den damals unsere Patronin in Paris seine von ihm verfasste Broschüre auffressen ließ.«
Also die beiden Heizer gehen vorüber und wissen, wen sie vor sich haben. Anzüglichkeiten durften sie sich ja nicht leisten, das wussten sie, aber bei dieser Gelegenheit, wie der Franzose die schwarzen Pilzstängel massenhaft an Deck streut, da blitzt dem einen Heizer ein genialer Gedanke auf, und da kann er sich doch nicht halten.
»Du, sieh mal, Garl«, sagt der Heizer Felix, ein gelernter Buchdrucker, dessen Wiege in Sachsen gestanden, ganz erstaunt zu seinem Kollegen, »sieh mal, der schbuckt Lettern — — setzt se glei zusamm — na, da guck doch, da schteht ja: Madame Helene Neubert et les argonautes.«
Ich hatte es gehört.
Ich weiß nicht, ob dieser Witz so wirkt, wie er damals auf mich gewirkt hat.
Man muss wohl dabei gewesen sein.
Wie der Buchdrucker-Heizer die schwarzen Stängelchen mit der vor drei Jahren aufgefressenen Broschüre zu verquicken weiß, und wie er nun mit dummerstauntem Gesicht das hervorbringt, auch das Französische!
Ich machte schleunigst, dass ich fort kam. Seit langer Zeit hatte ich nicht wieder so herzlich gelacht, habe mich fast ausgeschüttet vor Lachen.
In Bordeaux gaben wir eine Vorstellung. In dieser Hafenstadt tagte gerade ein Kongress von Gelehrten aus ganz Frankreichs über Tiefseeforschung, und da war es, wo die schon erwähnte Geschichte mit dem dressierten Igel passierte, wie der eine Professor der Akademie einen langen Vortrag über die Darwinsche Anpassungstheorie hielt, wie der Igel an Bord eines Schiffes so ganz seine Natur geändert habe, dass er jetzt sogar die Wände hinaufklettern könne. Und dann entpuppte sich der Igel als eine nur in eine Igelhaut eingenähte schwanzlose Ratte. Es war schon eine andere, von dem Segelmacher aber vielleicht noch besser dressiert als die erste.
Dann ging es nach Hamburg. Wir konnten doch nicht am Heimathafen vorbeifahren, ohne ihn einmal anzulaufen. Jeder, der wollte, bekam zwei Wochen Urlaub, um die Seinigen zu besuchen. Es war ungefähr nur ein Drittel der Mannschaft, die davon Gebrauch machte.
Wegen seiner Militärpflicht hatte sich nur Hans zu stellen, der noch einmal zwei Jahre zurückgeschrieben wurde.
Lord Harlin stand zwar noch unter der Anklage des Hochverrates, wurde aber, wie wir uns schnell orientiert hatten, von den deutschen Behörden nicht an England ausgeliefert, und er hatte keine Lust, sich selbst zu stellen.
Wegen der kleinen Peeresse von Suffolk bekamen wir einen anonymen Brief aus England, man wolle sie uns, wenn eine diplomatische Auslieferung versage, entführen. Da aber eine hohe Summe gefordert wurde, wenn der Schreiber angebe, wie wir das umgehen könnten, so handelte es sich nur um den Erpressungsversuch eines Gauners. Wir wussten schon, wie äußerst schwer es war, auch auf diplomatischem Wege die noch unmündige Herzogin auf einem deutschen Schiffe von der Seite des Onkels und Vormunds zu reißen, so lange er nur angeklagt, nicht verurteilt war.
Dagegen erfolgte eine Beschlagnahmung des ganzen Schiffes auf Antrag des Generalkonsuls der Vereinigten Staaten. Aber das war nur ein Versehen gewesen, die Siegel wurden gleich wieder gelöst. Price O'Fire hatte die Angelegenheit mit der Alice Powell schon von Para aus geregelt, ihr eine Million Dollar angewiesen, wovon wir gar nichts gewusst hatten.
Wir waren gegen derartige Geldgeschichten schon dermaßen abgebrüht, dass wir uns um so etwas gar nicht mehr kümmerten. Wenn wir so einen famosen Mann an Bord hatten, der uns Berge von Gold und Edelsteinen verschaffen wollte — na, da konnte doch nichts schief gehen, und dann konnte der diese Lappalie auch einstweilen für uns auslegen.
Ich selbst meldete mich gleich in den ersten Tagen bei dem Seemannsamte zum Kapitänsexamen, bestand es, dann fuhr ich mit Helene nach Kiel, umarmte meinen alten Vater, den ich wohlauf fand — was ich natürlich schon gewusst hatte — und als wir nach Hamburg zurückkehrten, waren auch schon alle Urlauber wieder eingetroffen. Bei manchem hatte sich zu Hause gar viel geändert, bei uns an Bord nicht das geringste, wir waren alle wieder vollzählig beisammen, so verließen wir Hamburg und trafen am 18. Oktober in Petersburg ein, um hier zu überwintern.
Jawohl, den ganzen Winter wollten wir in Petersburg oder doch in Kronstadt eingefroren bleiben. Das war bereits ausgemacht worden. Denn unterdessen hatte mir O'Fire doch Einiges darüber offenbart, wohin er uns führen wollte. Wenigstens Einiges. Wir sollten abermals eine große Strompartie ins Binnenland hinein machen. Den Jenissei hinauf und dann weiter den Tunguska, einen rechten Nebenfluss dieses Hauptstromes.
»Was, in den sibirischen Urwald soll es hineingehen?!«, rief ich wirklich erstaunt, nachdem ich einen Blick auf die Karte geworfen hatte.
»Ja, und zwar immer noch ein ganz anderer Urwald als der des Amazonenstromes, der größte der Erde, vom Ob bis zur Jana sich erstreckend, 500 geografische Meilen lang und 300 breit, fünfzehn mal so groß wie Ihr ganzes Deutschland, dabei ebenso wenig erforscht, so unbekannt wie der brasilianische Urwald, obgleich fast überall passierbar, und in das Herz dieses Riesenwaldes will ich Sie führen. Wenn es Ihnen recht ist.«
O ja, mir war es schon recht, und die anderen würden gegen solch eine abenteuerliche Fahrt in die sibirische Wildnis wohl auch nichts einzuwenden haben.
»Dort werden wir den Kapitän Satan mit seinen oder vielmehr mit unseren Schätzen finden?!«
»Wünschen Sie, dass ich Ihnen alles offenbare?«
»Nein, wenn Sie uns Überraschungen bereiten wollen, dann sind mir diese lieber. Nur noch eine Frage: können wir denn mit unserem Schiffe so hoch diese Ströme hinauffahren?«
»Ja. Wenigstens bis ziemlich an unser Endziel. Aber ich möchte fast, dass Sie und Ihre Auserwählten dem Schiffe voraus fahren, ich möchte Ihnen den Genuss einer winterlichen Schlittenpartie auf den sibirischen Strömen verschaffen. Das Schiff folgt dann einen Monat später nach, immer unter sicherster Führung, die ich selbst stellen werde.«
Er erklärte mir weiter, was er beabsichtigte. Er wollte eine großartige Expedition arrangieren, hauptsächlich zur Freude für uns unternehmungslustige Abenteurer. Ich will es jetzt nicht schildern, da wir es dann ja ausführten.
Vor allen Dingen aber musste unsere »Argos« unbedingt einmal in das Dock, sie hatte gar viele Reparaturen unter der Wasserlinie nötig. Der ganze Kupferbeschlag musste erneuert werden. Es hatten sich schon so viel Muscheln angesetzt, dass wir kaum noch acht Knoten dampfen konnten, noch hinderlicher war diese Reibung beim Segeln. Wer eine Masse erfindet, die vor dem Ansetzen der kleinen Seemuscheln schützt, der kann sich gleich als Multimillionär fühlen. Am besten hat sich das Kupfer bewährt, aber ganz erfüllt es seinen Zweck eben auch nicht. Oder wenigstens eine kupferhaltige Farbe erfinden, die nur aufgestrichen zu werden braucht und dann so wirkt wie metallisches Kupfer! Aber das gibt es auch noch nicht. Und die Muschelkruste erst abklopfen, mit Hammer und Meißel und dann die rauhe Fläche glatt schleifen, das würde viel, viel teurer zu stehen kommen als ganz neue Kupferplatten.
Ich hätte unser Schiff schon in Hamburg aufdocken lassen, wenn mir O'Fire seinen Plan nicht schon damals offenbart hätte, und Kronstadt ist durch seine Bekupferung berühmt.
Einige Monate konnte das dauern, und so blieben wir gleich den ganzen Winter in Kronstadt liegen, was aber gleichbedeutend mit Petersburg ist. Die russische Hauptstadt ist mit ihrem eigentlichen Hafen durch einen 25 Kilometer langen Kanal verbunden. Nur darf man das nicht falsch verstehen. Sankt Petersburg liegt ja selbst direkt am Meere, hat eigene Häfen, sogar mitten in der Stadt. Aber nur für Schiffe bis zu 1000 Tonnen. Der Kanal geht durch den Busen von Kronstadt, es ist eine künstlich angelegte Fahrrinne im Wasser.
Wir haben in dem glänzenden Petersburg einen herrlichen Winter verlebt.
Wir sind als Gäste am Zarenhofe gewesen, und wir haben den ganzen Zarenhof an Bord unseres Schiffes bewirtet.
Besonders ich habe dabei einige mächtige Klatsche auf der Brust abbekommen, mehr als alle anderen. Ich glaube, wir hätten jahrelang in Petersburg liegen können, und Abend für Abend wäre unsere Batterie, tausend Sitzplätze enthaltend, gefüllt gewesen. In Russland gibt es noch ganz anderes Geld als in Amerika, das heißt es ist noch viel ungleichmäßiger verteilt und drängt sich hauptsächlich in Petersburg zusammen, und der Rubel rollt noch viel leichter als der Dollar, und es gehörte zum guten Tone, dass man unsere Vorstellungen besuchte.
Wir konnten ja auch, wenn wir wollten, jeden Abend etwas anderes bieten, Monate lang. Man musste es nur einteilen. Schon der schwimmende Affe war eine Sehenswürdigkeit für sich, auch Juba Riata konnte sowohl als Peitschenjongleur wie mit seinem zugerittenen Büffel einen ganzen Abend ausfüllen, und so gab es noch hunderterlei anderes, und wir verstanden Preise zu nehmen.
Nein, wir hätten gar nicht mehr nötig gehabt, in den sibirischen Urwald zu dringen, um den Schätzen des Flibustierkapitäns nachzuforschen. Weniger als 5000 Rubel nahmen wir keinen Abend ein, manchmal aber auch das dreifache, und so konnten wir schon nach vier Wochen Price O'Fire die eine Million Dollars zurückerstatten, oder wir hätten es können, wenn er noch anwesend gewesen. Er hatte uns bereits verlassen. Weshalb und wohin, das werde ich später sagen.
Außerdem gab es fast tagtäglich Sportwettkämpfe aller Art, und unser gemeinschaftlicher Siegesschrank füllte sich mit kostbaren Ehrenpreisen, wenn die Prämie nicht in barem Gelde bestand. Und wir waren nicht mehr so wie früher, dass es gegen unsere Ehre gegangen wäre, solches anzunehmen. Dazu waren wir nun schon viel zu sehr abgebrüht.
Ich will nicht weiter schildern, was wir, die Helden und Löwen von Petersburg während der fünf Monate alles getrieben und erlebt haben. Es würde dicke Bücher füllen.
Am 2. April trafen wir in Krestowsk ein, an der äußersten Mündung des Jenissei gelegen. In sechzehn Tagen hatten wir ganz Skandinavien und Nowaja Semlja umschifft. Wir hatten zwar oft schwer gegen Eis anzukämpfen gehabt, aber bei den heutigen Dampfern spielen die Eisverhältnisse gar keine Rolle mehr. Etwas anderes ist es natürlich in den hohen Polarkreisen, da hört es im Winter freilich auf. Aber sonst — wenn in Hammerfest, der nördlichsten Stadt Europas, im Winter alles tot liegt, kein einziges Schiff mehr einläuft, so kommt es eben daher, weil im Winter dort kein Schiff etwas zu suchen hat. Die modernen Eisbrecher könnten sonst recht wohl Luft schaffen.
Krestowsk sieht aus wie ein elendes Fischerdorf, bedeutet aber für Sibirien mit seinen 500 Einwohnern eine ansehnliche Stadt, im Sommer konzentriert sich auch hier der ganze Stromhandel.
Von den eingefrorenen Fahrzeugen löste sich alsbald, noch ehe wir signalisiert hatten, ein ganz moderner Eisbrecher ab, hielt auf uns zu. Aber wie! Furchtbar war es, wie der massive Stahlkoloss, mochte er auch nur sehr klein sein, so wie ein riesenstarker Zwerg Alberich durch das Eis brach, wie er zurückfuhr und mit aller Kraft gegen die Eisbarriere rammte, wie er förmlich in die Luft sprang und mit seinem Gewicht meterdickes Eis durchbrach. In Hamburg bekommt man ja so etwas oft genug zu sehen, noch mehr in Halifax und anderen nördlicheren Häfen, aber solch einen furchtbaren Kampf mit den Eisschollen oder vielmehr mit Packeis hatte ich noch nicht beobachtet.
In einer Stunde hatte er uns erreicht, die wir noch in eisfreiem Seewasser lagen. Bepelzte Männer blickten zu uns herauf, alle die schwarzen, blonden oder roten Haare halblang, und zwar so geschnitten, wie man es wohl macht, wenn man jemandem die langen Haare kürzen will und von der Frisierkunst nichts versteht, man stülpt eine Schüssel über den Kopf, und was darunter hervorsieht, schneidet man weg, und ein Gesicht immer schmutziger und fettiger als das andere. Na, eben echte Russen aus dieser sibirischen Gegend. Mich wunderte nur, dass sie nicht schon nach Schnaps schrien, nach Wodka oder Wutki, was wörtlich übersetzt »Wässerchen« heißt.
Als erster kletterte das Fallreep ein Mann herauf, der aber kein Russe sein konnte. Dazu hatte er ein gar zu mongolisches Affengesicht, in dem die Backenknochen wie Eckpfeiler hervortraten. Er erinnerte sehr an unseren Mister Tabak, besonders auch seine unansehnliche Gestalt mit mächtig krummen Beinen. Außerdem war er nicht wie die anderen in Pelze, sondern in Rentierfelle gekleidet, die freilich noch mehr von Dreck und Fett starrten. Und trotzdem eine ganz sympathische Erscheinung. Besonders taten es einem gleich die so listig und lustig wie schwarze Karfunkelsteine blitzenden Schweinsaugen an.
Doktor Cohn stand schon als Dolmetscher der russischen Sprache bereit, aber es war gar nicht nötig.
»Biehscht Du der Waffenmeister von dieschem Schiff?«, fing da der Samojede, der er doch sicher war, da schon im schönsten Schwäbisch an.
»Ich werde Ihnen überall die sichersten Führer zur Verfügung stellen, denen Sie sich bedingungslos anvertrauen können.«
So hatte Price O'Fire gesagt, als er uns verließ um schon an Ort und Stelle Vorbereitungen für unsere sibirische Expedition zu treffen, weiter nichts.
Es gibt ja in Russland, auch im asiatischen, viele Deutsche, Schwaben bewohnen massenhaft die Täler des Kaukasus, aber der war doch etwas weit von hier.
»I woher kannst Du denn Deutsch?«, entfuhr es mir überrascht.
»Nu ihsch hab doch vier Jahre den Doktor Schbießle aus Schtuggart geführt!«
Ah so, der langjährige Führer eines deutschen, eines schwäbischen Forschungsreisenden! Da war das Rätsel gelöst.
Ich halte mich nicht weiter dabei auf, was ich sonst noch erfuhr, wie Price O'Fire schon hier gewesen war und alles arrangiert hatte. Kurz, es war alles aufs Sorgfältigste vorbereitet worden, und dieser Samojede hier, der auf den schönen Namen Jilibeambärtje hörte, führte diejenigen, die ich zur ersten Expedition ausgewählt hatte, zunächst bis nach Turuchansk, an der Mündung des Tunguska in den Jenissei gelegen, rund 100 geografische Meilen von hier, die wir auf Rentier- und Hundeschlitten in höchstens zehn Tagen zurücklegen würden. In Turuchansk nahm uns ein anderer Führer in Empfang, dann ging es weiter nach Osten, in die eigentliche Urwaldwildnis hinein. Unser Schiff blieb einstweilen hier in Krestowsk liegen, bis es uns im Anfang Mai, wenn der obere Jenissei eisfrei wurde, nachfolgte.
Vor allen Dingen aber muss ich noch eines erwähnen. Wir waren auf eine zweijährige Expedition gefasst und hatten uns danach natürlich ausgerüstet. Zum Teil schon in Hamburg, dann weiter in Petersburg, je nachdem, wo die betreffenden Waren billiger zu haben waren. In Hamburg hatten wir vor allen Dingen mächtige Quantitäten von Tabak und Spirituosen eingenommen, ohne welche »Tauschartikel« im sibirischen Russland ja gar nicht durchzukommen ist. Jeder eingeborene Arbeiter oder Jäger will von dem europäischen Reisenden für jede Handreichung einen Schnaps haben, oder er macht eben nicht mehr mit, diesen Schnaps ersetzen ihm keine Berge Gold, nicht einmal der Tabak, den er so wie so ebenfalls beansprucht.
Diese Sachen hatten wir im Hamburger Freihafen eingenommen, also zoll- und steuerfrei. Nun gibt es aber in Russland kaum einen Artikel, der zollfrei eingeführt werden darf. Und gerade auf Spirituosen und Tabak liegt ein enormer Zoll. Und wir durften doch nicht etwa so ohne weiteres mit unserem Schiffe den Strom hinaufdampfen und diese Waren nach Belieben freigebig verteilen. Das musste alles, alles erst versteuert werden. Auch unser eigener Proviant und was wir sonst für uns selbst zu verbrauchen gedachten. Oder aber, es wurde alles versiegelt. Schon diese erste Untersuchung hätte mindestens eine Woche gedauert. Wir hätten, um das Schiff frei zu bekommen, eine Kaution von mindestens hunderttausend Rubel hinterlegen müssen. Die weiteren Verwicklungen wären überhaupt gar nicht abzusehen gewesen. Das ist es ja eben, was die Erforschung des noch gänzlich unbekannten Sibiriens dem fremden Reisenden so ungeheuer schwierig macht.
Für uns aber trat ein Fall ein, der nur im heiligen Russland möglich ist.
Wir waren nicht umsonst am Zarenhofe gewesen, nicht umsonst hatte sich der Kaiser aller Reußen als Gast bei uns an Bord befunden.
Wir besaßen einen Generalpass von ihm mit seiner eigenen Unterschrift, wir besaßen einen Ukas.
Das heißt wörtlich übersetzt Befehl, Verordnung — bedeutet aber Gesetz.
Durch seine eigenhändige Unterschrift, durch einen »Vysocajsije Ukazy« hatte der Zar für uns ein besonderes Gesetz geschaffen. Wenn es auch nur, ohne ins Staatsarchiv zu kommen, auf einem Blatte Pergamentpapier stand, das ich in der Brusttasche hatte und von dem Price O'Fire eine Kopie besaß.
Danach hatte jeder russische Beamte zu unserer Verfügung zu stehen. Wir befahlen, er musste gehorchen, jeder Nachtwächter sowohl wie jeder Stadtkommandant wie jeder Regimentskommandeur, oder er hatte die Folgen seines Ungehorsams zu tragen. Und weiter konnten wir alles, was sich an Bord unseres Schiffes befand, zollfrei ins Land bringen, wohin wir wollten, ohne jede Untersuchung.
Was das zu bedeuten hat, das weiß wohl nur der richtig zu würdigen, der schon einmal an der russischen Grenze oder auch an anderen kujoniert worden ist.
So etwas aber ist heutzutage auch nicht mehr in Persien und nicht mehr in der Türkei möglich, obgleich diese Reiche doch ebenfalls absoluten Monarchismus haben. So etwas ist heute nur noch im heiligen Russland möglich! Dass ein Federzug des Landesvaters alle bestehenden Gesetze einfach auf den Kopf stellt!
Danach also wurden wir in Krestowsk empfangen, von den Behörden und von der ganzen Bevölkerung. Dass wir unsere Allmacht nicht missbrauchten, brauche ich wohl nicht erst zu sagen.
Die Patronin, Ilse, Lady Evelyn und Klothilde — ich, Doktor Cohn, Juba Riata, Kabat, Wenzel-Attila, Maler Gerlach und acht Matrosen, darunter auch die Turner Schneider-Schnipplich und Kretschmar — diese achtzehn Personen waren von vornherein für die erste Expedition bestimmt gewesen, danach hatte sich O'Fire richten müssen.
Fünfzehn Schlitten standen für uns schon bereit, sechs mit Rentieren, neun mit Hunden bespannt.
Es sind in Bezug auf diese Zugtiere in Lappland und Grönland ganz andere Verhältnisse als im nördlichen Sibirien.
Der Lappe fährt nur mit zwei Rentieren, denen er höchstens 16 Wog oder etwa 5 Zentner zumutet, verlangt täglich höchstens 8 Meilen — der Samojede und Tunguse spannt vier vor, lässt sie 12 Zentner ziehen und bringt es dennoch bis auf 12 Meilen den Tag. Die sibirischen Rentiere sind allerdings auch viel größer und stärker als die norwegischen, hauptsächlich aber ist besonders der Tunguse gegen seine Zugtiere rücksichtslos bis zur Grausamkeit, lässt sie lieber zusammenbrechen und verenden, ehe er sein vorgenommenes Ziel nicht erreicht, was es bei dem Lappen nicht gibt. In Sibirien sind die Rentiere eben viel billiger, man hat schon Herden bis zu 70 000 Stück gezählt, einer einzigen Familie gehörend! Außerdem reitet der Sibirier auch das Rentier, was für dessen Größe und Stärke spricht.
Sie sind viel größer und stärker als die der Eskimos, müssen eine Last von 640 Pfund ziehen und täglich bis zu 20 deutsche Meilen zurücklegen. Wer das nicht glaubt, der lese in Brehms »Tierleben« nach. Das sind nun allerdings Ausnahmeleistungen.
Das Verladen der mitzunehmenden Sachen und die Verteilung der Personen in die Schlittenboote — richtige Wasserboote aus Birkenrinden, auf Kufen ruhend — begann.
Es waren interessante Beobachtungen, die ich da machte. Na, was ich überhaupt noch erleben sollte! Besonders mit diesen höllischen Hundekötern! Doch davon später.
Mit einem Male sehe ich, wie »Bärtchen«, — so hatten meine Jungen den Samojeden-Führer Ilibeambärtje gleich getauft — mit ausgebreiteten Armen auf unsere Patronin zugeht, sie an seine Brust drückt, dabei sie auch etwas in die Höhe hebt und herumschwenkt.
Na, ich denke doch der Kerl ist verrückt geworden. Ich bin ob dieser Liebkosung dieses schmierigen Jünglings eben so erstarrt wie Helene, die ebenfalls kein Wort findet, sich die Umärmelung ruhig gefallen lässt.
Und wie er sie wieder hingesetzt hat, geht der Samojede auf mich zu, schließt auch mich in die Arme, hebt mich hoch.
Ich will es kurz machen. Nicht etwa, dass dies Abschiedsformalitäten waren.
»Ihsch musch doch wische, wie schwer Du bihscht.«
Der Samojede bestimmte also das Gewicht jeder Person, dann auch aller der Ballen und Kisten, nur durch einfaches Aufheben. Wir haben dann Verschiedenes nachgewogen, und ich habe mich von der Wahrheit dessen überzeugen lassen müssen, wovon ich schon früher gehört und gelesen hatte: nämlich dass diese Samojeden und Tungusen, Schlittenführer wie Jäger wie Kaufleute, durch einfaches Aufheben das Gewicht eines jeden Gegenstandes fast genau bis zum Gramm bestimmen können! Wenn so ein Pelzjäger ein Pfund Tabak bekommt, kann er sofort sagen, dass daran fünf Gramm fehlen! Bei größeren Lasten können sie sich ja um einige Pfund irren — aber immerhin, es ist ganz wunderbar, schier fabelhaft, wie diese Menschen jedes Gewicht durch einfaches Aufheben bestimmen!
Nachmittags um zwei fuhren wir los, ich mit Helene in einem Rentierschlitten, gelenkt von Herrn Bärtchen, doch änderte sich diese Verteilung während der zehntägigen Reise fortwährend, jeder wollte doch auch einmal in einen Hundeschlitten, wollte selbst fahren lernen, und deshalb bedarf das einer näheren Beschreibung.
Von einer Dressur, einem Abrichten zum Ziehen ist gar keine Rede, weder bei den Rentieren noch bei den Hunden.
Der Samojede fängt mit dem Lasso — in dessen Handhabung er sich aber nicht mit dem nordamerikanischen Indianer oder Cowboy vergleichen kann — beliebige Tiere heraus, auch solche, die noch nie vor einem Schlitten gegangen sind. Durch vieltausendjährige Benutzung zum Ziehen scheint das diesen Tieren in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Die vier Stück werden nebeneinander eingespannt, in einer Weise, die ich mit Worten nicht so leicht zu schildern vermag, ganz einfach und dennoch genial ausgedacht, sie lassen sich willig das Maul zusammenschnüren, sie ziehen beim Zügelschlag sofort an und bieten ohne Peitschenschlag bis zum letzten Augenblick, bis sie zusammenbrechen, ihre ganze Kraft auf. Das Lenken geschieht durch Zug genau wie bei den Pferden, und sie gehorchen sofort ohne jede Dressur.
Ganz anders bei den Hunden. Während der Eskimohund mehr ein großer Spitz ist, sind diese sibirischen echte Wolfshunde, Kreuzungen zwischen einem unbekannten Haushunde und dem Wolfe, werden durch eine Wölfin immer wieder einmal aufgefrischt, ihrem wilden Ahnherrn wieder näher gebracht.
Bei diesen Hunden ist von einer Abrichtung erst recht gar keine Rede. Dass sie sich zum Menschen halten, das ist das einzige, wodurch sie unseren Haushunden gleichen. Sonst aber sind sie völlig selbständig, folgen keinem Rufe. Sie halten sich beim Menschen nur in der Hoffnung auf, von ihm gefüttert zu werden. Geschieht dies nicht, wird der ewige Heißhunger gar zu groß, so verlassen sie ihn treulos, die Ansiedlung wie den einzelnen Jäger, um durch Jagd oder bei anderen Menschen Nahrung zu suchen. Was übrigens auch die Eskimohunde tun, wie manche Polarforscher zu ihrem Schaden erfahren haben. Dass eines Tages alle Hunde durchbrennen. Was bei unserem kultivierten Haushund doch ganz undenkbar ist.
Sie werden durch einen Fisch angelockt, gepackt und vor den Schlitten gespannt, ihrer sechs oder auch acht und noch mehr in einer Längsreihe, im Gegensatz zur Einspannung der Rentiere, die also nebeneinander laufen. Es fällt den Hunden gar nicht ein, anzuziehen. Lieber lassen sie sich totschlagen. Da wirft der Lenker einen getrockneten Fisch von der Größe eines Herings voraus, so weit er ihn werfen kann. Und nun die sechs verhungerten Köter drauf los wie das Kreuzmillionendonnerwetter! Jeder will doch den Fisch haben. Aber an der Art der Bespannung liegt es, dass nur der erste den Bissen erhascht und verschlingt. Trotzdem geht jetzt der rasende Lauf weiter. Offenbar — ich nehme es an, ein Hundegehirn habe ich nicht — glauben die anderen fünf immer noch, der erste Kamerad hat den Bissen noch im Maule, sie wollen ihn ihm abjagen. Und der erste muss nun auch mitlaufen.
Das geht so weiter, bis nach etwa zehn Minuten die Tiere vollkommen erschöpft sind. Sie werfen sich mit lang heraushängender Zunge hin, bleiben liegen. Da nützt keine Peitsche.
Aber es braucht nur ein neuer Fisch geworfen zu werden, dann gehts wieder los wie das Kreuzmillionendonnerwetter. Mir fällt wirklich gar kein anderer Ausdruck ein. Wie diese Hunde, die total erschöpft erscheinen, aufschnellen und auf den Bissen losschießen. Und wieder halten sie ungefähr zehn Minuten aus, bis sie eben nicht mehr können. Und so geht das weiter von früh bis abends, manchmal zehn geschlagene Stunden lang, in welcher Zeit sechs Hunde mit einer Last von sechs und mehr Zentnern bis zu 20 geografische Meilen zurücklegen! Diese sibirischen Eingeborenen wissen schon, was sie tun. Es hat gar keinen Zweck, die Hunde anderweitig abzurichten. Nur der ewige Heißhunger ist die Triebfeder, welche diese halbwilden Tiere zu solch schier unglaublichen Leistungen befähigt. Wären sie dressiert, dem Menschen wirklich anhänglich und dienstbar, wüssten sie, dass sie regelmäßig gefüttert würden, dann würden sie ihre Kräfte gar nicht so anspannen. Denn es ist ganz ausgeschlossen, dass ein Haushund solch eine Leistung vollbringt. Bei unseren Bordhunden war erst recht nicht daran zu denken. Nur der Ahnherr der Hunde, der wilde Wolf, scheint im Laufen einfach unermüdlich zu sein. Was ich gehört habe, welche Strecken ein jagender Wolf in einer Nacht durchmisst, will ich nicht wiedergeben, denn es klingt mir selbst unglaublich. Bei dem Wolfe ist es ebenfalls der ewige Heißhunger, und das gilt also auch von diesen seinen halbwilden Nachkommen. Nur am Abend oder nach Beendigung der vorgenommenen Strecke werden sie mit gedörrten Fischen richtig gefüttert, können fressen so viel sie wollen, dann müssen sie wieder 24 Stunden und noch länger hungern.
Bei solchen Fahrten kommen nun die verschiedensten Zwischenfälle vor. Manchmal — oder vielmehr oft genug — geraten die Hunde unter sich in Streitigkeiten, fallen mitten im Laufe über einander hier, bilden ein wirres, in sich verbissenes Knäuel. Dann muss sie die Peitsche des Lenkers auseinander bringen, und dazu gehört eine Kunst, die anfangs weder Juba Riata noch Mister Tabak fertig brachte, das muss gelernt werden, und Mancher von uns hat das später überhaupt niemals gelernt.
Dasselbe ist der Fall, wenn der erste Hund einmal über den vorgeworfenen Leckerbissen hinausschießt, dann ist die Balgerei und Beißerei erst recht fürchterlich.
Und wenn man nun einmal keinen Fisch mehr hat, nichts anderes Essbares, was man vorwerfen kann? Nun, etwas Essbares braucht es gar nicht zu sein. Diese Köter verschlingen eine alte Stiefelsohle oder einen wollenen Handschuh oder einen Segeltuchfetzen mit demselben Appetit wie ein Beefsteak. Sie verschlingen überhaupt alles, was nicht von Holz oder Metall oder Stein ist.
Ist alles Verschlingbare erschöpft, so wirft man anfangs ein Stück Holz vor. Doch nicht lange, so fallen die Hunde nicht mehr drauf rein. Und was dann? »Aha, der hat nichts mehr!«, sagen dann die Hunde und gehen ihren eigenen Weg, laufen nach der nächsten Ansiedlung, die sie mit unfehlbarer Sicherheit in direktester Richtung zu finden wissen, und da hilft keine Peitsche und gar nichts.
Das ist aber doch nicht etwa eine Untugend. In diesem Falle hat der Führer doch selbst keinen Proviant mehr. Oder will er davon den Tieren nichts mehr abgeben, so geschieht ihm nur ganz recht, wenn sie ihn anderswo hinziehen.
Aus diesem Grunde aber kann sich ein Mensch im Hundeschlitten auch niemals verirren, ist niemals verloren. Er braucht den Hunden nur einige Zeit nichts vorzuwerfen, dann suchen diese die nächste Ansiedlung auf, und auch der wütendste Schneesturm, der den Tag zur Nacht macht, kann sie nicht in der Richtung beirren. Außerdem ist man durch diese Hunde vor Wölfen geschützt. Der Rentierschlitten wird auf größeren Strecken von Ansiedlung zu Ansiedlung während der Nacht unfehlbar von Wölfen angegriffen. Vor seinem halbzahmen Nachkommen, der sich dem Menschen angeschlossen, hat, der Wolf einen heiligen Respekt. Es ist fast unerklärlich. Die Wölfe, die nur in großen Rudeln jagen, könnten doch leicht so ein paar Hunde überwältigen. Aber sie tun es nicht, halten sich in scheuer Entfernung. Ebenso hasst der Wolfshund seinen ganz wilden Ahnherrn glühend. Wehe dem Wolfe, der sich in eine Ansiedlung schleichen wollte! Ein gefangener Wolf wird in furchtbarem Grimm zerfetzt. Hinwiederum lässt sich der Wolfshund nicht zur Jagd auf seinen wilden Vetter verwenden, er verfolgt ihn überhaupt nicht. Das ist auch etwas Rätselhaftes. Nur der Begattungstrieb hebt manchmal allen Hass und gegenseitigen Respekt auf.
Zehn Tage haben wir zu der rund hundert Meilen langen Fahrt an dem Eise des Jenissei gebraucht. Die Hunde wurden geschont, d. h. ihre Fressgier nicht so zum Laufen ausgenützt, die Rentiere wurden täglich gewechselt.
An diesem Oberlaufe des Jenissei liegen an beiden Ufern zahlreiche Ortschaften, sogar Städte genannt, und Dörfer, deren Bewohner abgesehen von einigem Flusshandel ausschließlich von Fischfang und Jagd auf Pelztiere leben. Denn schon hier ist alles Urwald, von dem wir freilich vorläufig noch nichts zu sehen bekamen. Denn einmal ist der Jenissei, wenn er auch nicht mit dem Amazonenstrom zu vergleichen ist, an seiner Mündung drei Meilen breit und bei Turuchansk immer noch eine, und dann kommt an diesem Oberlaufe erst noch eine Überschwemmungsregion an beiden Ufern in Betracht, ebenfalls mehrere Meilen breit, die sogenannte Tundra, ein baumloser Morast, allerdings im Jahre acht Monate lang zugefroren und daher passierbar.
Immerhin, in diesen Ortschaften des Jenissei liefern die Waldjäger ihre erbeuteten Pelze ab, hier haben sie ihre Familien wohnen. Ein gut Teil von ihnen sind schon Verbannte. Doch will ich mich bei diesen Verbannten nicht weiter aufhalten. Jedenfalls darf man sich unter solchen nicht nur in Ketten schmachtende Bergwerksarbeiter vorstellen, die stets auf Flucht bedacht sind.
Eine langweilige Reise war es durchaus nicht. Jeder Tag, fast jede Stunde brachte eine Abwechslung. Wir waren nicht nur auf die Schlitten angewiesen. Wenn hier auch noch voller Winter herrschte, so äußerte die Aprilsonne doch manchmal schon ihre Wirkung. Zur Mittagszeit, wenn der Himmel wolkenlos war, taute die körnige Schneedecke oftmals auf, gefror dann wieder, und so gab es dann die herrlichste Schlittschuhbahn. Und Schlittschuhe hatten wir natürlich mitgenommen. Dann aber trat auch wieder Schneefall ein, und auch mit Schneeschuhen waren wir versehen. So konnten wir uns Bewegung neben den Schlitten machen.
Dazu muss ich noch bemerken, dass man die Hunde vor den Schlitten auch noch in anderer Weise vorwärts bringen kann. Man geht oder rennt einfach vor oder neben ihnen her. Dann laufen sie willig mit. Diese Hunde halten sich eben immer zum Menschen.
Vor allen Dingen aber mussten wir das Lenken der Rentiere und Hunde erlernen, dazu hielt unser Führer während der zehntägigen Fahrt jeden einzelnen von uns persönlich an, zeigte auch alle Reparaturen, die an den Bootsschlitten vorkommen können, führte solche Defekte absichtlich herbei, lud manchmal Schlitten um, zeigte wie die Sachen verpackt werden müssten, und so weiter.
»Denn von Turuchansk aus müsst Ihr die Schlitten selbst fahren, denn Ihr seid ganz auf Euch allein angewiesen!«, sagte er.
»Weshalb? Können wir dort nicht als Führer Tungusen bekommen?«, fragte ich.
»Das wohl, aber... Du wirst später erfahren, weshalb Ihr dann keine Tungusen und auch keine Samojeden mehr gebrauchen könnt.«
Dieser Meister Bärtchen hatte überhaupt seine Heimlichkeiten. Ein offenen ewig heiterer Charakter, aber auf gewisse Sachen wollte er sich durchaus nicht einlassen.
Nun, Price O'Fire hatte ja gesagt, dass er uns Überraschungen bereiten wollte, und auch dieser samojedische Führer stak schon mit ihm unter einer Decke.
Am 12. April erreichten wir Turuchansk, eine Stadt mit 200 Einwohnern, und die Hälfte davon sind kleine Kinder. Hier gibt es auch Verbannte, die in Kupfer-, Zinn- und Kohlenbergwerken arbeiten, denn hier treten schon Gebirgszüge auf.
Bei der ersten Gelegenheit, nachdem wir in der gastlichen Karawanserei untergebracht waren, nahm mich Meister Bärtchen allein vor. Ich gebe sein Schwäbeln nicht mehr wieder.
»Bist Du mit meiner Führung bis hierher zufrieden gewesen?«, fragte er.
»Na und ob, mein lieber...«
Ich brach ab, weil der Samojede seine mongolischen Schlitzaugen plötzlich ganz erschrocken aufriss, so starrte er mich da an, wahrhaft entsetzt.
»Was sagtest Du da?!«
Ich wusste gar nicht mehr, was für eine Redensart ich zur Einleitung gebraucht hatte.
Er hatte sich auch schnell wieder beruhigt.
»Ach so, ich weiß — ich hörte ein Wort — es war ein Irrtum — aber doch ein seltsamer Zufall. Also Du bist zufrieden mit mir gewesen. Du wirst Dich meiner weiteren Führung anvertrauen, durch ein Gebiet, in dem es keine menschlichen Niederlassungen mehr gibt?«
»Ja natürlich, mein liebes Bärtchen.«
»So darf ich Dir jetzt mitteilen — der Mann, den Du Price O'Fire nennst, erlaubt es mir — weshalb wir als Schlittenlenker keinen Samojeden und Tungusen mehr mitnehmen können! Du hast doch also schon von den Obis gehört.«
Ganz leise hatte er das Letzte gesagt, sich dabei scheu umsehend, wie er mich schon in die äußerste Ecke des Bretterraumes geführt hatte.
Und ich horchte erstaunt auf. Aus zweierlei Gründen.
Der Leser entsinnt sich meiner Unterredung mit Kapitän Satan an Bord seines »Seeteufels«.
Er hatte mir etwas von der Sekte der Proslewiten erzählt, die dem Obi dienten, dem Gotte der Vernichtung, einfach dem Teufel.
Ich hatte dann später Doktor Cohn hiervon erzählt, und der wusste schon Bescheid.
Kapitän Satan hatte gesagt, dieser Obi sei eine altfinnische Gottheit, aber es ist eine schamanische, welchem heidnischen Götterglauben alle diese sibirischen Eingeborenen angehören. Aber in Finnland ist der Schamanismus auch heute noch stark verbreitet.
Das Wort Obi ist uns ja gar nicht fremd, einer der mächtigsten Ströme Sibiriens heißt doch Ob oder richtiger Obi. Und das bedeutet eben Teufelsfluss. Oder gleich der Teufel selbst.
Weshalb die Eingeborenen diesen Strom der für Sibirien gerade der wichtigste und segensreichste ist, den »Teufel« genannt haben, dafür liegt ein besonderer Grund vor. Alle wilden oder halbwilden Völker, also überhaupt alle Naturvölker, geben mit Vorliebe einer recht schlechten, gefährlichen Sache einen heiligen Namen, und einer guten Sache einen bösen Namen. Im ersteren Falle, um der bösen Sache die Gefährlichkeit zu nehmen, im anderen Falle, um die böse Gottheit zu versöhnen. Ich komme nicht gleich auf das Fremdwort, mit welchem diese Verdrehung benannt wird, die, wie gesagt, bei allen Naturvölkern üblich ist. Ein besserer Lateiner, als ich einer bin, wird es sofort wissen.
Wir hatten während der Schlittenreise daran gedacht, hatten die Samojeden gefragt, ob sie etwas von den Proslewiten und dem Gotte Obi wüssten.
Nein, absolut nichts. Auch jenen westlichen Hauptstrom kannten sie nur unter dem Namen Omar oder Aß oder Kolta. Und das stimmt allerdings. Auch in der Provinz Tobolsk durch welche der Ob fließt, wird er allgemein so genannt. Das Wort Ob oder Obi wird nur bei Gelegenheit mit feierlicher Scheu ausgesprochen. Aber das weiß doch unsereiner nicht, der noch nicht dort gewesen ist.
Ebenso wenig freilich wollten diese Samojeden auch von anderen bösen Geistern etwas wissen, wollten uns überhaupt in ihre Religion gar nicht einweihen. Was man ihnen auch nicht verdenken kann. Sie wissen, dass sie mit ihrem Schamanismus einer Religion der Zauberei, des gröbsten Aberglaubens, von uns Europäern meistenteils doch nur ausgelacht werden. Nun wollen sie aber auch die ernsten Forscher nicht aufklären.
Entweder wichen die Befragten mit äußerster Schlauheit aus oder sie schwiegen, in die Enge getrieben, ganz still. Auch die Fetische, kleine Götzenbilder aus Holz, die sie um den Hals hängen hatten, unter ihren Pelzen verbargen sie ängstlich vor unseren Blicken. Heimlich beschäftigten sie sich freilich nur um so öfter mit ihnen.
Und jetzt fing dieser Samojede von dem Obi an!
»Das ist der Teufel, der Obermeister der Hölle.«
»Nicht so laut! Nein, es sind lauter Teufels, lauter böse Geister!«, flüsterte Bärtchen.
»Ihr Name darf wohl gar nicht genannt werden?«
»Nein, sonst zieht man sie an, und dann hat man den Schaden. Und in dieses Reich der Obis soll ich Dich führen.«
»Wo liegt dieses Reich der Obis?«
»Sechs Schlittentage östlich von hier.«
»Du warst schon dort?«
»Ja.«
»Was wohnen dort für Menschen? Tungusen?«
»Menschen? Wie können denn im Reiche der Obis Menschen wohnen! Denen würden doch gleich die Hälse umgedreht werden.«
»Von den bösen Geistern.«
»Gewiss, von wem denn sonst?«
»Also ein ganz menschenleeres Gebiet. Wie groß ist es wohl?«
»Es geht von der westlichen Grenze an bis an das Ende der Welt.«
Ich wollte diesen Samojeden nicht weiter über die Größe des Weltalls belehren.
»Davon ist also den umwohnenden Tungusen, die doch nur in Frage kommen, bekannt, sie wagen dieses Gebiet nur nicht zu betreten, die Grenze nicht zu überschreiten, nicht wahr?«
»Niemals! Auch würdest Du vergebens irgend jemanden danach fragen, niemand will etwas von dem Reiche der Obis wissen.«
»Bist Du nicht selbst ein guter Schamane?«
»Ich glaube an Nuhm und alle seine Geister, an die guten wie an die bösen!«, war die feierliche Antwort.
»Und trotzdem wagst Du das Gebiet der Obis zu betreten?«
»Der Herr der Obis ist mir freundlich gesinnt. Weshalb, was ich ihm einmal für einen Dienst geleistet habe, darf ich nicht verraten.«
»Der Herr der Obis ist doch entweder Nuhm, Euer höchster Gott, oder der Meister aller Teufel.«
»Es ist ein Mensch.«
»Und dennoch gehorchen ihm die bösen Geister?«
»Es ist ein Nuhmajili, der sich nur einmal als Mensch verkörpert hat.«
Wie er mir weiter erklärte, oder wie ich so aus ihm herausbrachte bedeutet Nuhmajili soviel wie Gottessohn, also etwa unserem Christus entsprechend.
»Dieser Nuhmajili wird Euch an der Grenze in Empfang nehmen und Euch weiter in das Reich der Obis einführen.«
»Das hat Dir Price O'Fire schon gesagt?«
»Gewiss, das ist alles schon ausgemacht.«
Auch von diesem Nuhmajili hatte mir jener kuriose Kauz, Price O'Fire, kein Sterbenswörtchen gesagt!
Und eben so wenig konnte ich daraus klug werden, wie dieser Samojede eigentlich mit ihm stand. Der »Fürst des Feuers« musste hier doch eine ganz bekannte Persönlichkeit sein. Hinwiederum...
Ach, ich wollte mir über diese Geschichte nicht den Kopf zerbrechen! Ich nahm einfach alles, wie es kam, nur mein Möglichstes tuend, um alles Böse auch ins Gute zu verdrehen.
Mir hat mancher gescheite Kopf gesagt, dass dies die glücklichste Natur ist, die der Mensch haben kann.
Andere Fragen waren natürlich gerechtfertigt, ich bin doch nicht etwa ein Stockfisch.
»Du meinst, kein Samojede oder Tunguse würde uns bis dorthin bringen? Auch nicht bis an die Grenze?«
»Nein, Du würdest keinen Führer und keinen Schlittenlenker finden. Deshalb musstet Ihr das selbst lernen.«
»Wir brauchten ihnen doch nicht zu sagen, wohin wir fahren wollen.«
»Das musst Du. Du musst doch ein Ziel angeben.«
»Das ist nicht unbedingt nötig. Wir machen eben eine Forschungsexpedition nach Osten.«
»Ihr würdet an die Obigrenze kommen, die Führer erkennen sie sofort, sie wollen nicht weiter, liegen bleiben können sie nicht, sie wollen zurück, dazu brauchen sie die Schlitten mit dem Proviant, und überhaupt, es wäre die grenzenloseste Beleidigung, wenn Du dann, unterwegs, die Führer und Lenker entlassen wolltest... ich könnte mir das alles gar nicht ausmalen. Du musst die hiesigen Verhältnisse nur kennen.«
»Nun gut, ich glaube Dir, dass es unmöglich ist, von hier aus eingeborene Führer und Lenker mitzunehmen, wenn wir in jenes Gebiet wollen. Sie erkennen die Grenze gleich, sagtest Du?«
»Sofort.«
»Woran?«
»Weil dort überall der Obibaum vorkommt.«
»Was ist das für ein Baum?«
»Den kennst Du doch recht gut. Bei Dir zu Haus und auch im westlichen Russland ist er doch ein ganz gewöhnlicher Baum. Bei Euch ist er heilig, Ihr betet ihn an. Bei uns aber ist er ein Baum des Teufels.«
Ich hätte eigentlich gleich darauf kommen können, was der für einen Baum meinte, aber mir war einmal der Kopf vernagelt.
»Ein Baum, den wir Deutschen anbeten sollen?!«
»Gewiss, der Obibaum ist Euch heilig.«
»Nein, mein lieber Freund, wir beten keine Bäume an!«
»Ihr tut es doch, ich weiß es ganz bestimmt.«
Ich sann und sann — ich kam nicht auf den Trichter. »Was ist denn das nur für ein rätselhafter Baum?!«
Er konnte ihn beschreiben. Es war ein Laubbaum, der sehr große Dimensionen erreichte, ein knorriger Stamm mit knorrigen Ästen, sich auch seitwärts sehr verbreitend.
Ich konnte das Rätsel nicht lösen.
»Kannst Du mir nicht seine Blätter beschreiben?«
Er malte solch ein Blatt sogar an die Wand, freilich unsichtbar, mit sehr großer Scheu, aber es genügte, jetzt erkannte ich den Baum sofort.
Eine Eiche war's!
Der Samojede, der vier Jahre lang einem deutschen Gelehrten als Führer gedient hatte, mochte etwas von den alten Germanen gehört haben, denen die Eiche heilig war. Das brachte er jetzt an. Im nördlichen Sibirien gedeihen alle Nadelbäume, so weit sie die lange Winterkälte vertragen können. Von Laubbäumen aber kommt nur die Birke vor. Auch Eichen fehlen gänzlich. Für diese ist die Winterkälte eben doch schon zu groß, der Sommer zu kurz.
Nun kann es aber doch einmal vorkommen, dass an einem geschützten, besonders warmen Orte einige Eichen gedeihen, der Samen ist irgendwie dorthin verschleppt worden. Dann entsteht um solch einen fremden Baum eine Sage. Weshalb, das lässt sich nicht so leicht erklären, aber wir haben ganz genau dasselbe bei uns in Deutschland. Die heute überall verbreitete Eberesche, der Vogelbeerbaum, ist ein fremder Eindringling, ist aus dem Süden gekommen. In dem nasskalten Klima des alten Germaniens, mit Sümpfen und Urwäldern bedeckt, konnte er überhaupt nicht gedeihen. Noch im Mittelalter galt er als ein Baum des Teufels. Weshalb, das ist freilich nicht mehr zu sagen. Er mag diesen Aberglauben gleich mitgebracht haben.
Aber ist es denn nicht heute noch so? Uns Kindern wurden diese roten Beeren als giftig bezeichnet. Und in den meisten Gegenden Deutschlands gelten die Vogelbeeren noch heute als giftig. Obgleich gar keine Spur von Gift vorhanden ist. Im Gegenteil, aus den roten Beeren kann man mit Zucker ein ganz ausgezeichnetes Mus und Gelee machen!
Merkwürdigerweise ist es in England ganz genau so mit der Heidelbeere, die dort massenhaft wächst. Aber in England isst niemand Heidelbeeren. Das ist ein Teufelskraut, diese schwarze Beere ist giftig! Die Engländer entsetzen sich, wenn man im Walde Heidelbeeren pflückt und isst. Und das lassen die sich nicht ausreden.
So ist es in Sibirien auch mit der Eiche. Wo sie vorkommt, wird sie als ein Baum der Hölle betrachtet, den der Teufel gepflanzt hat. Deshalb sind ihre Früchte auch so bitter, dass man sie nicht essen kann. Dass die Wildschweine die Eicheln so gierig fressen, ist nur wieder ein Beweis, dass es ein Obibaum ist. Denn die Schweine gehören dem Teufel.
»Dort kommen also viel solche Obibäume vor?«, fragte ich weiter.
»Alles, alles ist dort Obibaum, von der Grenze an bis zum Ende der Welt, so weit der große Nuhm den bösen Obis den Aufenthalt gestattet.«
»Ist es denn dort besonders warm?«
»Ja natürlich, wo die Höllengeister wohnten, muss es wohl warm sein.«
»Ist der Winter nicht so streng wie hier?«
»Lange, lange nicht so kalt.«
»Aber auch jetzt liegt dort noch Schnee?«
»Ja natürlich, wir haben doch noch Winter, da muss doch auch noch Schnee liegen!«
Es war mit diesem Samojeden, so klug er sonst auch sein mochte, doch schwer, sich über so etwas zu unterhalten. Wahrscheinlich war es eine durch Gebirgszüge besonders geschützte Gegend, in der sich ganze Eichenwälder entwickelt hatten.
»Sechs Tage brauchen wir zu der Fahrt?«
»Sechs Tage, wir müssen aber etwas schneller fahren als bisher.«
»Immer auf dem Tunguska entlang?«
»Nein, diesen Weg kenne ich nicht.«
»Liegt der Ort, wohin Du uns bringen sollst, nicht nahe am Tunguska, weil doch unser Schiff später nachfolgen soll?«
»Ja, aber auf dem Tunguska könnte ich mich verirren.«
»Man braucht doch nur immer stromauf zu fahren, das heißt immer auf dem Eise des Stromes, da kann man sich doch nicht verirren.«
»Aber die vielen Nebenflüsse, und das ist doch überhaupt ganz anders, als Du denkst.«
Der Samojede hatte recht, ich sah meine Dummheit auch gleich ein.
Die Quelle des Nils aufzufinden ist von jeher die Sehnsucht aller Afrikaforscher gewesen. Kann denn das so schwierig sein? Man fährt einfach den Nil hinauf, oder geht am Ufer entlang. Der Nil hat ja nicht einmal Nebenflüsse, da muss man doch also schließlich an seine Quelle kommen. Jawohl! Auf dem Papiere geht das ganz gut, aber nicht in Wirklichkeit.
»Wie führst Du uns sonst?«
»Erst über die Tundra, dann durch den Wald.«
»Du führst uns nach einem ganz bestimmten Ziele?«
»Ja.«
»Was ist das für eines?«
»Dort, wo uns der Nuhmajili schon erwartet.«
Näher konnte oder wollte er es mir nicht beschreiben. »Und Du weißt dieses Ziel in sechstägiger Fahrt, wobei wir also mehr als 60 Meilen zurücklegen werden, zu finden, immer durch den pfadlosen Wald?«
»Zweifelst Du etwa daran?«
Nein, ich zweifelte nicht daran, dass dieser Naturmensch das konnte.
»Na, dann mal los!«
Die anderen Schlittenlenker wurden reichlich belohnt und beschenkt entlassen, ihr Gewicht durch neuen Proviant ersetzt, hauptsächlich mit getrockneten Fischen für die Hunde, und wir brachen auf, die Zügel nur noch in eigenen Händen.
Zuerst über die gefrorene Tundra hinweg, und dann ging es in den Wald hinein.
O, dieser Urwald!
Solch ein nordischer Urwald ist doch etwas ganz anderes als ein tropischer! Wobei man natürlich gar nicht an die winterliche Szenerie denken darf. Es kommt doch auch hier der Sommer, sogar ein sehr, sehr heißer Sommer, der alles blühen und üppig wuchern lässt.
Den brasilianischen Urwald habe ich ausführlich geschildert. In den ist ja überhaupt gar nicht hinein zu kommen. Entweder schwarzer Morastboden, zwischen den wie Säulen aufsteigenden Stämmen herrscht ewige Nacht, die grüne Vegetation entwickelt sich erst oben in unersteiglicher Höhe, und der Mensch ist doch kein Affe; oder ein undurchdringliches Dickicht, außerdem alles noch starrend von winzigen oder meterlangen Dornen, zum Teil sogar giftig; oder aber im günstigsten Falle wird jeder Spaziergang zu einer halsbrecherischen Kletterpartie, so mächtig ragen überall die Wurzeln empor.
Den schönsten tropischen Urwald gibt es wohl auf Java. Das heißt, den kann man am leichtesten passieren. Der ist schon mehr parkähnlich. Weil das Unterholz fehlt, der Boden nicht überall sumpfig ist und die Wurzeln nicht so in die Höhe streben. Aber auch hier gibt es Dornen genug, und gerade hier sind sie giftig, jede Verwundung erzeugt heftiges Fieber. Brennnesseln im Großen, in Dornenausgabe. Und dann diese vermaledeiten Blutegel, die einem den Aufenthalt in den indischen Wäldern zur Hölle machen. Von Schlangen und anderen Überraschungen gar nicht zu sprechen.
Aber nun hier dieser nordische Urwald! Jetzt in seiner winterlichen Pracht! Alles überzuckert. Und im Sommer wird er noch schöner. Dann aber, wenn der Winter kommt, denkt man, dass er da wieder herrlicher ist.
Ach Ihr armen Tropenbewohner, die Ihr keinen knospenden Frühling und keinen buntfärbenden Herbst kennt, von einem weißglitzernden Winter gar nicht zu sprechen.
Tannen und Kiefern und Lärchen herrschten vor, riesige Bäume, und dann Birken von einer Mächtigkeit wie ich sie in diesen hohen Breiten gar nicht erwartet hätte. Gar kein Unterholz. Weit, weit konnte das Auge zwischen den Stämmen hindurch blicken.
Ein denkender Leser dürfte die Frage aufwerfen, wo denn im Urwald eigentlich die vor Altersschwäche oder durch eine Katastrophe stürzenden Bäume bleiben. Das müsste doch im Laufe der Jahrhunderte ein undurchdringliches Tohuwabohu von übereinander liegenden Stämmen geben.
Mir ist diese Frage schon als Kind aufgetaucht. Wenn in Jugendschriften von den Urwäldern erzählt wird, durch welche die Indianer oder sonstige Eingeborene marschieren. Wo bleiben denn nur die alten Bäume, die schließlich doch einmal stürzen müssen!
Nun, ich wurde von sachlicher Seite belehrt, habe es dann selbst beobachten können.
In den tropischen Gegenden sind es hauptsächlich die Termiten, welche die gestürzten Baumstämme, sobald sie saftlos werden, austrocknen, in fabelhaft kurzer Zeit in Holzmehl verwandeln, woraus dann wieder Humus wird.
In gemäßigten Breiten besorgen dasselbe Geschäft gewisse Ameisenarten — ich unterscheide überhaupt die Termiten gar nicht von den Ameisen — wozu natürlich auch noch zahllose andere Insekten kommen, die wir wahrscheinlich noch nicht einmal dem Namen nach kennen. Sie mögen ja auch mikroskopisch klein sein.
Hier in diesen nordischen Breiten ist es hauptsächlich die Larve, die Made einer Kriebelmücke, die dieses nützliche Zerstörungswerk verrichtet. Welche Mücke selbst zwar im Sommer auch entsetzlich werden kann. Zwar sticht sie nicht, aber sie erfüllt die Luft mit Myriaden, dass man nicht mehr atmen kann. Doch wir würden uns schon zu schützen wissen.
Dann freilich gibt es auch Flecke, auch hier im sibirischen Urwald, wo die gestürzten Baumstämme massenhaft übereinander liegen, undurchdringliche Barrieren bildend, richtige bizarre Gebirge. Dann ist dort regelmäßig Sumpfboden. Das Holz kann nicht austrocknen, die vernichtenden Insekten, die hierbei in Frage kommen, gehen nicht dran. Dann vermodert es eben im Laufe der Zeit, eben durch die immerwährende Feuchtigkeit oder die Stämme versinken nach und nach im Sumpf. Auf diese Weise sind die Kohlenlager entstanden.
Ebenso weiß es die Natur mit dem Nachwuchs einzurichten. Der müsste sich doch zuletzt gegenseitig ersticken. Solch ein parkähnlicher Urwald mit freiem Durchblick wäre doch gar nicht möglich. Ein junges Bäumchen müsste doch dicht neben dem anderen stehen!
Da hat die weise Natur — ich gehöre zu diesen Naturanbetern — wieder andere Tiere als Waldhüter eingesetzt. Gleich die aufsprossenden Keime der neuen Bäumchen werden von den Rentieren und anderen Hirscharten mit Vorliebe gefressen. Ja, es gibt Tiere, welche richtige Gärtnerarbeit besorgen. Bei uns in Mitteleuropa, in Deutschland spielt diese Rolle das Eichhörnchen. Das beißt die Keime nur zum Zeitvertreib ab. Der geistreiche Naturforscher Radde hat zuerst auf diesen notwendigen Zweck des sonst als total unnützen, sogar höchst schädlichen Eichhörnchen hingewiesen. Nein, so etwas wie Zwecklosigkeit kennt die Schöpfungskraft überhaupt nicht. Übrigens gilt dasselbe auch für Amerika und Asien, gerade in Sibirien betreiben Tausende von Jägern nur den Eichhörnchenfang.
Ab und zu weiß doch ein junger Baumsprössling dem allgemeinen Schicksale zu entgehen, und nun bleibt er für hundert oder einige hundert Jahre gesichert stehen. So erhält sich der Urwald immer in seiner ursprünglichen Gestalt. Und nun diese Luft und dieser Duft! Mich und uns alle hatten allerdings auch die Düfte des brasilianischen Urwalds entzückt und berauscht. Anfangs! Bald hatten wir nur noch Pomade gerochen. Besonders der Vanillegeruch wurde zum widerlichen Gestank. Diese intensiven Düfte entzückten nicht mehr, noch weniger erquickten sie, sie berauschten nur noch und erzeugten einen Katzenjammer.
Aber nun hier, diese klare, kalte Luft, dieser Ozongehalt! Und im Sommer sollten wir erst die köstlichen Düfte kennen lernen, die solch ein nordischer Urwald aushauchen kann!
Sechs Tage lang ging es immer in fast schnurgerader Richtung dem Osten zu. Wir erlebten manches Abenteuer, aber keines ist so interessant, dass ich es schildern möchte. Besonders die massenhaften Spuren von Luchsen und Vielfraßen verrieten, was es hier für Wild geben musste, wenn man nicht glauben wollte, dass einzelne Rentiere und andere Hirscharten nur immer hin und her gelaufen seien. Diese Raubtiere wollten sich doch ernähren. Wir selbst bekamen freilich nicht viel Wild zu sehen, dazu war unsere Fahrt mit fünfzehn Schlitten doch zu laut, und wir wollten auch schnellstens unser geheimnisvolles Ziel erreichen, uns daher nicht mit Jagd aufhalten. Auf einen Auerochsen oder Wisent, der sich zeigte, hätten wir gern Jagd gemacht, trotz aller Warnung unseres eingeborenen Führers, der dieses Ungeheuer wohl mit Recht für eine Ausgeburt der Hölle hielt, aber das bepelzte Ungetüm war schon, ehe wir in Schussnähe kamen, in einem undurchdringlichen Gewirr von gestürzten Baumstämmen verschwunden.
Ein brauner Bär, der schon aus dem Winterschlafe erwacht war — übrigens halten gar nicht alle Bären Winterschlaf — lieferte uns drei Zentner Fleisch, so fett durchwachsen, dass auch dieser Bursche sicher den ganzen Winter hindurch gefressen haben musste. Wir ließen es gefrieren, hatten so auch wieder frischen Proviant für die Hunde. Hätten wir aber jagen wollen, so hätten wir überhaupt für die Hunde gar keine getrockneten Fische mitzunehmen brauchen.
Und womit wir die Rentiere fütterten? Nun, deren Futter wuchs hier überall. Eine besondere Art von Moos, welches das Rentier fast ausschließlich frisst, ohne dass es gar nicht existieren kann, wie die Erfahrung gelehrt hat, eben Rentiermoos genannt. Unter der Schneedecke konnten sie es sich freilich nicht hervorscharren, dazu war diese zu hoch und zu fest. Aber unter den Bäumen, besonders unter den Lärchen lag der Schnee doch viel weniger hoch, da holten es sich die Tiere mit leichter Mühe hervor.
Kein Dorf, keine Ansiedlung, keine Hütte, kein einziger Mensch! Am ersten Tage hatten wir ein Zeltlager von Samojeden gesehen, die eine unübersehbare Rentierherde bewachten, am zweiten Tage begegneten wir noch einigen Jägern, dann niemandem wieder...
Auch im neuesten Konversationslexikon steht, dass dieses Urwaldgebiet, fünfzehn mal so groß wie ganz Deutschland, noch gänzlich unerforscht ist. Nur einige Flussläufe hat man verfolgt und in die Karte eingetragen, mehrere Gebirgszüge angedeutet, weil man sie eben nur vermutet, noch nicht weiter bestimmt hat.
Wie ist denn das nur möglich? Unsere Forscher sind doch sonst so hinter jeder Gegend her, die für die Geografie noch nicht aufgeschlossen ist? Weshalb sucht sich niemand in diesem Teile Sibiriens seine Rittersporen zu verdienen, den Ruhm als Entdeckungsreisender zu ernten?
Nun, solche Forschungsreisende haben diesen Wald ja schon genug durchzogen, ganze Expeditionen, jahrelang haben sie darin vermessen.
Aber man bedenke nur die ganzen Verhältnisse. In solch einem Walde, mag auch alles Unterholz fehlen, kann man doch nicht weiter als einen Kilometer nach links und einen nach rechts zwischen den Baumstämmen hindurchblicken, dann hört es auf. Also kann jede Expedition doch immer nur einen Streifen von zwei Kilometern Breite durchstöbern.
Der ganze Urwald ist aber ungefähr 500 geografische Meilen lang und 300 breit. Der Breite nach könnte man ihn, wenn man täglich zehn Meilen macht, in 30 Tagen durchqueren; was freilich auch besser auf dem Papiere als in Wirklichkeit geht. Das müsste aber mehr als tausendmal gemacht werden, dann wäre man durch den ganzen Urwald gekommen, das heißt hätte alle Streifen von zwei Kilometer Breite gesehen. Nein, so einfach ist das nicht. So lange sich die aus Übervölkerung verhungernde Menschheit nicht auch auf diesen Urwald stürzt, wird er uns immer ein terra incognita, ein unbekanntes Land bleiben.
»Wir befinden uns in einem Gebirge!«, sagte Bärtchen am dritten Tage zu uns.
Wir wollten es nicht glauben, dass sich links und rechts riesige Gebirgswände erhöben, zwischen denen wir uns bewegten, also in einem Tale fuhren. Nichts war davon zu bemerken, die Schneebahn war genau so eben wie bisher.
Aber wir bogen einmal ab von der Richtung und erreichten diese Gebirgswände die zum Teil auch ersteigbar waren.
Ja, wie soll man solche Gebirge auch erblicken, wenn man sich ihnen durch Zufall nicht dicht nähert, sozusagen mit der Nase darauf stößt? Diese mächtigen Bäume hindern doch auch den freien Durchblick seitlich nach oben, sie können im Winter auch entlaubt sein, was aber bei den Nadelbäumen ja nicht einmal der Fall ist. Und eine Eigentümlichkeit dieser nordsibirischen Gebirge ist es, dass sie ganz jäh aus der Ebene emporspringen, und hebt sich oder senkt sich in den Tälern und Pässen der Boden, so verteilt sich das doch auf riesige Strecken, man merkt kaum etwas von einer Steigung.
Also man kann in einer Entfernung von zwei Kilometern an einem riesigen Gebirge vorbeifahren, man hat gar keine Ahnung davon! Nun aber lässt sich denken, was man da auch sonst noch alles entdecken kann. Was solch ein ungeheures Waldgebiet für Geheimnisse und Naturwunder bergen kann, von denen die Menschheit nichts weiß, nichts ahnt! Wir sollten es erleben. Wir verbrachten die sechste Nacht in unseren Schlafsäcken.
»Morgen erreichen wir unser Ziel, oder doch das meine!«, sagte Meister Bärtchen, ehe er sich anschickte, in den seinen zu kriechen, und dieser Samojede schnürte ihn auch bei dieser ertragbaren Kälte immer über seinem Kopfe zu. »Dann übernimmt Nuhmajili die weitere Führung. Da sind wir aber schon zwischen den Obibäumen.«
»Hat der auch einen Schlitten?«, fragte sie kleine Ilse, wie eben so Kinder fragen.
»Nein, wenn Merlin nicht zu Fuß kommt, dann reitet er auf einem Ochsen.«
»Was, auf einem Ochsen reitet er?!«, erklang es erstaunt von verschiedenen Seiten. »Auf einem Auerochsen?!«
»Ach was, — auf einem Tjunkarna, meine ich natürlich!«, war Bärtchens verdrießliche Antwort.
Da war der Irrtum aufgeklärt. Hätte er dieses samojedische Wort gleich gebraucht, so hätten wir ihn sofort verstanden, hätten uns nicht erst einen zweiten Juba Riata auf einem sibirischen Büffel vorgestellt. Aber der deutsch sprechende Samojede hatte den einheimischen Ausdruck wörtlich übersetzt. Denn Tjunkarna heißt so viel wie »Rennochse«, man versteht darunter ein Rentier, das man zum Reiten benutzt, wozu es allerdings auch erst abgerichtet werden muss. Man verwendet dazu natürlich nur die stärksten Tiere männlichen Geschlechts. Die norwegischen Rentiere — oder ich werde fernerhin lieber Rens sagen, dieses Wort hat mit unserem »Rennen« gar nichts zu tun, der Norweger schreibt es sogar Reen — hat im Durchschnitt eine Rückenhöhe von 1,08 Metern. Das ist kein geeignetes Reittier für einen Mann. Der Lappländer denkt auch gar nicht daran, sich auf seinen Rücken zu setzen. Das sibirische Ren hingegen ist viel größer und auch viel stärker gebaut, Tiere von 1,20 Meter Höhe sind gar keine Seltenheit, das ist schon die Größe eines Ponys, darauf lässt es sich recht wohl reiten. Schwere Männer können natürlich nicht drauf sitzen, oder das Reittier würde das Gewicht nicht lange tragen können.
Wir hatten hin und wieder einen Renreiter gesehen. Bärtchen hatte uns Erklärungen gegeben, daher kannten wir schon das Wort Tjunkarna.
Mir aber war noch ein anderes Wort aufgefallen.
»Merlin heißt der Mann?!«, fragte ich überrascht
»Ach Papperlapapple, ihsch weisch nit wie er heischt und worauf er reite tut!«, war diesmal die noch mehr als verdrießliche, sogar unhöfliche Antwort, und Meister Bärtchen verschwand in seinem Schlafsacke, schnürte ihn innen über seinem Kopfe doppelt und dreifach zu. Wie der Kerl da drin atmen konnte, weiß ich nicht. Doch das bringen auch alle Eskimos und Lappländer fertig, sie lassen sich in solch einem luftdicht abgeschlossenen Pelzsacke gleich tagelang einschneien.
Aber hieran dachte ich jetzt nicht. Mir gingen andere Gedanken durch den Kopf, als auch ich in meinem behaglichen Schlafsacke lag, aber nur bis zum Halse eingeschnürt, noch die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen und so in die verglimmenden Lagerfeuer blickte.
Es war etwas Eigentümliches mit diesem unseren samojedischen Führer. Sonst die liebenswürdige Gefälligkeit selbst, er konnte mit seiner Hilfsbereitschaft geradezu aufdringlich werden, nahm einem das Messer, mit dem man etwas schneiden wollte, aus der Hand weg. Und dabei geschwätzig wie eine Elster, tat sich auf seine Kenntnisse, die er bei dem schwäbischen Forschungsreisenden erworden, ungemein viel zugute; wollte auch sonst immer alles erklären, wir brauchten gar nicht zu fragen.
Aber das ging nur bis zu einer gewissen Grenze. Sobald wir von Price O'Fire anfingen, was er von diesem wisse, was der mit uns hier vorhabe, oder was jener Nuhmajili für eine Person sei — dann verstummte der geschwätzige Samojede regelmäßig; oder er wusste überaus schlau unseren Fragen auszuweichen; oder er konnte in seinem Abweisen geradezu beleidigend werden. So wie er es jetzt geworden, weil er versehentlich gesagt, dass jener geheimnisvolle Nuhmajili auf einem »Rennochsen« reite, weil er sogar einmal seinen Namen genannt hatte.
Doch diese Geheimniskrämerei des Samojeden war es auch noch nicht, was jetzt meine Gedanken beschäftigte. Jener Name war's.
Merlin! Merlin der Wilde! Auch Merlin der Zauberer genannt.
Es ist der Held einer uralten englischen Sage, in zahllosen Liedern und Romanzen verherrlicht.
Der Teufel zeugt mit einer Jungfrau einen Sohn, den er Merlin nennt. (Die Bedeutung dieses Namens ist nicht mehr zu ergründen, obgleich die englischen Mythologen eine ganze Bibliothek darüber zusammengeschrieben haben.) Nach zahllosen Abenteuern, die er schon als Kind zu bestehen hat, kommt Merlin an den Hof des Königs Uther-Pendragon. Er wird der gefeiertste Dichter, ist ein unbesiegbarer Kämpe, und nachdem er Geist und Körper bis zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet hat, findet er auch noch in einer Ruine, in die man ihn einmal eingemauert hat, ein Zauberbuch. Jetzt kann er auch noch zaubern, es ist ihm einfach nichts unmöglich. Aber diese seine Zauberkünste benutzt er, der Sohn des Teufels, wie schon früher seine Geistes- und Körperkraft nur zu guten, edlen Zwecken. Und das eben ist der tiefsinnige Kern dieser ganzen Sage, nämlich dass der Charakter der Menschen ein Erbteil der Mutter ist! Er ist der Held der edlen Entsagung, der unverbrüchlichen Treue gegen seinen Herrn. Er liebt die schöne Iguerne, aber auch der König liebt sie, und Merlin selbst führt sie ihm zu. Er muss dabei seine Zauberkünste gebrauchen, anders ist es nicht möglich. Dieser illegitimen Ehe entspringt Arthur (der bekannte Arthur von der Tafelrunde, also spielt das Ganze im 5. Jahrhundert), und auch seiner nimmt sich Merlin an, erzieht ihn zu einem gewaltigen Helden. Dann fällt Merlin zum zweiten Male in Liebe, zur noch schöneren Viviana. Sie wird seine Geliebte. Sie möchte gern wissen, worin das Geheimnis seiner unüberwindlichen Kraft besteht. Endlich gibt Merlin ihrem Schmeicheln nach. Wenn er sich auch noch nicht deutlich ausdrückt. Alle Kraft besteht darin, dass man, auf gut Deutsch gesagt, das Maul hält. Oder feiner ausgedrückt: in der Kraft des Schweigens in der Bewahrung eines Geheimnisses. Nun natürlich fängt Viviana erst recht zu schmeicheln an. Und er lässt sich betören. Er kann in der Zukunft lesen. Da er nun aber einmal A gesagt hat, muss er auch B sagen. Er gibt der Geliebten einen Beweis von seiner Prophetengabe. Alsbald fühlt er, wie ihn seine Kraft verlässt. Aber noch immer gibt es ein Mittel, um sich dieselbe zu erhalten: er flieht in die Waldeinsamkeit, hüllt sich in ewiges Schweigen. Und dort in Robin Hoods Walde haust Merlin der Zauberer noch heute, man sieht ihn manchmal auf einem mächtigen Hirsche reiten, immer in wilder Flucht vor den Menschen, und so hat man auch Merlin den Wilden aus ihm gemacht, eine Art wilden Jäger der deutschen Sage. —
Das erste Buch, das man mir als Lektüre in die Hand gegeben, hatte diese altenglische Sage behandelt, und es hatte auf mich siebenjährigen Bengel einen mächtigen Eindruck gemacht.
Nicht etwa, dass ich den tiefen symbolischen Sinn verstanden hätte. Auch aus Merlins Zauberei machte ich mir gar nicht so viel. Sondern Merlin der Wilde war es, der mir so imponierte, wie er dann in die Wälder geflohen war und auf einem Hirsche herumritt, das war es gewesen.
Das füllte damals meine ganze kindliche Phantasie aus. Ich wurde selbst Merlin der Wilde. Auf mein Steckenpferd setzte ich ein Hirschgeweih aus Ästen, so tummelte ich mich in dem nahen Wäldchen herum, mied meine bisherigen Spielkameraden, hüllte mich in unergründliches Schweigen, sprach auch zu Hause nicht mehr, als unbedingt nötig, blieb sogar in der Schule dem Lehrer die Antworten schuldig, obgleich ich sie wusste, nahm die Wichse für meine vermeintliche Unkenntnis mit höchster Genugtuung hin, mit dem beglückenden Stolze des Märtyrers, der freiwillig Qualen erduldet, unverständlich für alle anderen.
Kindertraum, Kinderspiel —
Wollet sie mir nicht schelten...
Diese Periode, in der ich als Knirps mit kurzen Höschen Merlin den Wilden spielte, hat wohl einen starken Einfluss auf meinen späteren Charakter gehabt. Ich brauche noch heute keine Gesellschaft, könnte mich für immer in der Einsamkeit vergraben, würde nie Langeweile verspüren. Und außerdem, wenn ich mich recht entsinne, war es wohl die glücklichste Periode in meiner sonst überhaupt fröhlichen Kinderzeit, da ich stundenlang träumend in dem Walde lag, neben mir mein Steckenhirsch angebunden, oder das Binden war auch nicht nötig, das hölzerne treue Vieh folgte mir natürlich auf jeden Pfiff, immer nur darauf bedacht, mich des Anblicks jedes Menschen zu entziehen, und wie ich damals in der Schule die meisten Wichse wegen meines Gelübdes der freiwilligen Dummheit bekam.
Ja, ich glaube sogar, ich habe damals doch schon etwas den tiefen Sinn dieser englischen Sage verstanden. Ich glaube, ich habe damals sogar die Symbolik einer biblischen Legende verstanden, die heute den meisten Menschen und auch Religionslehrern in ihrem Kern ganz unverständlich ist.
Wir hatten damals nämlich gerade die Geschichte vom Simson vor. Sollte dessen ganze Riesenkraft etwa nur in seinen langen Haaren stecken? Weil ihm die Delila dieses Haar abschnitt, sollte er plötzlich ein Waschlappen geworden sein? So sagte der Lehrer. Und er wusste es sicher auch gar nicht anders, machte sich eben weiter keine Gedanken darüber. Mir aber kam das schon damals geradezu albern vor. Nein, weil er sein Maul nicht hatte halten können, weil er ein ihm anvertrautes Geheimnis »ausgebabelt« hatte, deshalb verließ ihn plötzlich seine Kraft!
Das war es, woran ich jetzt dachte.
Und mit solchen Gedanken schlief ich ein.
Was Wunder, dass ich davon auch träumte, dass ich Merlin den Wilden auch mit dem Manne verquickte, den wir morgen kennen lernen sollten?
Nuhmajili — das ist also so viel wie Gottessohn.
Mir träumte, ich sehe den Heiland, unseren Jesus Christus mit seinem typischen Leidensgesicht — aber es war ein Samojede, in Pelze gehüllt — und er ritt auf einem Rentier, das aber dann plötzlich ein Hirsch wurde — denn es war Merlin der Wilde...
Was ich etwa mit der Traumgestalt gesprochen habe, und ich sonst mit ihr erlebt habe, weiß ich nicht.
Ich wachte auf.
Die Morgendämmerung war schon angebrochen.
Und da sehe ich... Da sehe ich etwas, was noch viel märchenhafter ist, als mir der Traum vorgegaukelt hat.
Unsere neunzehn Schlafsäcke liegen im Kreise um die verlöschten Feuerstellen, und in der Mitte dieses Kreises steht ein Hirsch, — kein Ren, sondern ein Edelhirsch — aber einer von einer ganz riesenhaften Größe, am Widerrist mindestens anderthalb Meter hoch — erst denke ich an einen Elch, aber der ist viel plumper gebaut, während dieser die schönsten, harmonischen Formen hat, ich muss ihn für einen Wapiti halten, für einen kanadischen Edelhirsch — und dieser Hirsch ist schneeweiß, hat aber ein blutrotes Geweih, ein mächtiges, stolzes Geweih, es funkelt wie Rubinglas und ist außerdem noch mit goldenen Punkten gesprenkelt — und dieses herrliche Tier ist mit roten Riemen gezäumt — auf dem Rücken hat es eine Art Sattel von Pantherfell — und in diesem Sattel sitzt ein Mann, in gelbes Leder gekleidet, aber ein wahrhaft elegantes Kostüm, als zierlich mit roten Fäden genäht, die auf dem gelben Grunde als Muster hervortreten — außerdem ist dieses Gewand noch mit weißen Arabesken verziert — in der rechten Hand hält er den roten Zügel, in der linken einen langen Bogen — auf dem Rücken trägt er einen Köcher mit Pfeilen — es ist ein alter Mann, ein sehr alter Mann, denn sein langes, lockiges Haar ist schneeweiß, und sein bartloses Gesicht von zahllosen Fältchen durchzogen...
Und wie ich noch so starre und mir die Augen reibe, ob ich nicht nur noch träume, da bricht zwischen den Bäumen der erste goldene Morgensonnenstrahl hervor, trifft gerade dieses Gesicht — und da plötzlich sehe ich keinen alten Mann mehr, sondern das faltige Gesicht hat sich plötzlich in das jugendfrische, schöne Antlitz eines Jünglinge verwandelt, die Locken sind nicht mehr weiß wie Schnee, sondern ich denke, jetzt sind sie von blitzendem Silber...
Und da kommt mir gleichzeitig noch etwas anderes ganz Märchenhaftes oder doch Rätselhaftes zum Bewusstsein. Neun der fünfzehn Schlitten wurden von 54 Hunden gezogen. Des Abends wurden sie freigelassen. So lange sie wissen, dass noch etwas Proviant vorhanden ist, gehen sie auch nicht eigenmächtig auf die Jagd. Wir konnten jede Nacht sorglos in unsere Schlafsäcke kriechen, diese Hunde waren die besten Wächter. Ganz unangenehme Wächter. Bei jedem Uhu, der des Nachts über unseren Lagerplatz flog, machten diese Höllenhunde einen Mordsspektakel. Doch daran gewöhnt man sich schnell. Wir waren so müde, dass wir nichts mehr davon hörten. War aber eine wirkliche Gefahr vorhanden, hätten wir zur Stelle sein müssen, dann hätten sie uns geweckt, dafür hätten sie schon gesorgt. Dann trampeln sie einem so lange auf dem Schlafsack oder auch gleich im Gesicht herum, bis man erwacht. Einen fremden Menschen, der ins Lager kommt, fallen sie zwar nicht an, nageln ihn aber fest, umringen ihn, heulen ihn wütend an, zeigen ihm die Zähne, und wenn sich der Fremde rührt, dann hat er diese Zähne auch wirklich im Leibe.
»Nuhmajili, der Herr der Obis!«, rief Meister Bärtchen,
indem er vor dem Hirschreiter platt auf den Bauch fiel,
sein Gesicht in den Schnee drückend.
Auch diesen Hirschreiter hatten unsere 54 Hunde umringt. Aber in ganz, ganz anderer Weise. Die Wolfshunde schienen es zu sein, die von dem Anblick festgenagelt worden waren. So lagen sie da, ganz still und friedlich, blickten die fremde Erscheinung vertrauensvoll oder geradezu zärtlich an. Für mich, der ich den Charakter dieser Wolfshunde nun schon zur Genüge kannte, lag dabei wirklich ein märchenhaftes Wunder vor.
Und der Reiter, der jugendfrische Greis, möchte ich sagen, blickte nicht auf die Schlafsäcke nieder, nicht auf die Hunde, sondern hatte seine großen, blauen, strahlenden Augen träumend geradeaus gerichtet, der aufgehenden Sonne entgegen.
»Hallo, wer ist denn das?!«
Osbar, der Segelmacher, war es gewesen, der das gerufen hatte, sich ebenfalls wie ich die Augen reibend, als wolle er einen seltsamen Traum verscheuchen.
Und da plötzlich verwandelte sich der eine Schlafsack, derjenige des Samojeden, in eine Kanone, die abgefeuert wurde. Denn nicht anders war es, nur dass es dabei nicht knallte und keinen Pulverrauch gab, wie Meister Bärtchen plötzlich mit Vehemenz aus seinem Pelzsacke hervorschoss und vor dem Hirschreiter platt auf den Bauch fiel, sein Gesicht in den Schnee steckend.
»Nuhmajili, der Herr der Obis!«
Noch immer saß der Reiter regungslos auf dem herrlichen Hirsch, und auch dieser stand so merkwürdig regungslos da, wie aus Stein gemeißelt, nur dass aus den Nüstern weiße Dampfstrahle quollen, noch immer blickte er träumend in die aufgehende Sonne.
Dann aber öffnete er den Mund, jedoch ohne uns einen Blick zu schenken.
»Frühstückt, dann folgt meiner Spur. Ich will nicht angeredet sein.«
Sprach's — sagte es auf Deutsch, dabei mit einer Stimme, die wie volles Glockengeläut klang — wendete seinen Hirsch, beugte sich, als er an der kleinen Ilse, die wie die meisten von uns schnellstens aus dem Schlafsack geschlüpft war, vorbeiritt, etwas in dem steigbügellosen Sattel herab, strich, im Vorbeireiten dem Kinde sanft über das blonde Haar, richtete sich wieder auf, hatte plötzlich ein Lasso in der Hand, ließ das eine Ende fallen und noch länger nachschleifen, wir sahen eine kleine Kugel, es begann in dem hartgefrorenen Schnee zu zischen und zu dampfen, der Hirsch setzte sich in Trab, und die Erscheinung war zwischen den Bäumen ostwärts verschwunden.
Wir blickten einander an.
»Onkel«, sagte da die kleine Ilse zu mir, »der ist elektrisch — wie der mir übers Haar strich, das knisterte gerade so, als wenn man eine Katze streichelt, die am Ofen gelegen hat.«
Wir begaben uns hin, wo die Kugel an dem Lasso gezischt hatte. Dort fing der tiefe Strich an, der sich weiter durch den hartgefrorenen Schnee zog. Auf diese Weise hatte er also die versprochene Spur hinterlassen, und das war auch gut, denn die Schneedecke war so hart gefroren, dass der mächtige Hirsch nicht die geringste Spur erzeugt hatte.
Wie er das gemacht, darüber zerbrachen wir uns nicht weiter den Kopf. Auch Price O'Fire hatte ja in der Westentasche immer so eine Kugel, die er nach Belieben erglühen lassen konnte, sogar ohne sich dabei die Finger zu verbrennen.
Nein, darüber wunderten wir uns am allerwenigsten.
»Bärtchen, ist denn dieser Nuhmajili ein Deutscher, da er so gut deutsch spricht?!«
»Ihsch weisch nischt, gar nischt!«, wehrte der schleunigst ab.
»Es war ein Wapiti, ein kanadischer Edelhirsch«, sagte Juba Riata, sich zunächst für das Reittier interessierend, »und zwar ein Albino, eine weiße Spielart, aber das rote Geweih kann nur angemalt sein.«
»War das eigentlich ein alter Greis?«, fragte ein anderer, und er hatte ganz recht, es gibt auch junge Greise, wie es auch alte Jünglinge gibt.
»Ach, das war doch noch ein ganz junger Mensch!«, erklang es von anderer Seite.
Da aber musste Meister Bärtchen doch einmal Einspruch erheben.
»Mensch?! Dasch ihscht kei Mensch, dasch ihscht ein Geischt.«
»Geischt?!«, echote Oskar. »Nee, mein Junge, das war kein Geist. Frühstück! — das ist sein erstes Wort gewesen — und was wissen denn solche traurige Geister vom Frühstücken.«
Oskar hatte ganz recht, der Bann war gebrochen, wir befolgten den uns gegebenen Befehl. Eiligst wurde Kaffee gekocht, wir aßen schneller denn je. Denn der Spur dieses geheimnisvollen Mannes zu folgen, das war jetzt doch die Hauptsache.
Bei diesem Frühstück nun ereignete sich eine Szene, die ich doch einmal schildern möchte.
Unser Meister Tabak war ja überhaupt immer gefräßig, jetzt aber, da es darauf ankam und ich zur Eile antrieb, leistete er im Schlingen extra etwas ganz Außerordentliches.
Er hatte sich von dem noch vorhandenen Bärenspeck einen Streifen abgeschnitten, ungefähr so dick und breit wie eine Streichholzschachtel und reichlich einen Meter lang. Diesen Streifen hielt er übers Feuer, bis der ganze Speck brannte, erstickte die Flammen schnell — so, nun war der Braten fertig, nun konnte die Mahlzeit beginnen. Sonst aber benutzte er wenigstens ein Messer, um sich Viertelpfundstücke abzuschneiden, die er dann ohne weiteres Kauen mit einem Druck der Halsmuskeln hinterschluckte. Heute, weil wir's eilig hatten, benutzte er die Gelegenheit, wieder einmal nach echter, rechter Eskimoweise zu »speisen«.
Also er steckte das Ende des Streifens in den Mund und begann zu schlucken. Ob er dabei auch kaute, war nicht zu unterscheiden. Er schluckte eben und ließ den angekohlten Speckstreifen so nach und nach verschwinden.
Wie ihm nur noch die Hälfte zum Munde heraushängt, kommt plötzlich ein Hund angeschossen. Vor diesen verhungerten Wolfskötern musste man sich beim Essen überhaupt höllisch in acht nehmen. Sie holten einem die Bissen vom Teller, aus den Fingern weg. Man brauchte nur einmal den Kopf zu wenden.
Ein Schnapp, und der Hund hatte das andere Ende des Streifens im Maule, wollte damit das Weite suchen.
Aber weit kam er nicht, denn Mister Tabak hatte schleunigst die Zähne zusammengebissen, wurde freilich auch gleich durch den heftigen Ruck vornüber gerissen, sodass er auf den Knien zu liegen kam.
Und da auch der Hund den Bissen nicht fahren lassen wollte, musste er sich umkehren.
Und so standen sich nun die beiden auf allen Vieren gegenüber, auf der einen Seite der Hund auf der anderen der Eskimo. Durchschneiden wollte er den Streifen nicht, er hatte überhaupt gar kein Messer bei sich, und mit den Händen nachzufassen, das ging auch schlecht, denn sobald er nur eine Hand hob, um zuzufassen, wurde er von dem kräftig ziehenden Hunde über die glatte Schneedecke fortgeschleift. Also er benutzte seine beiden Hände lieber dazu, um sich festzustemmen.
Und die beiden, der Hund und der Eskimo zogen nun an dem Speckstreifen, ruckten immer hin und her.
Dabei aber brachten es die beiden dennoch fertig, immer weiter zu fressen, immer mehr von dem Streifen in ihrem Schlunde verschwinden zu lassen. Also näherten sich ihre Nasen immer mehr.
Ich überlegte schon, ob die beiden wohl auch ihre Nasen und dann sich gegenseitig verschlingen würden, wie sie das wohl fertig brachten, da sollte die Katastrophe eintreten, die den Sieg entschied.
»Hat...« sagte der verzweifelt ziehende Eskimo. Natürlich, nicht so einfach. Es war nur ein »ha« gewesen, das er brüllend hervorgestoßen.
Aber da war der Zweikampf schon entschieden.
Da erwies es sich wieder einmal, dass ich mit meiner Ansicht recht hatte: Mensch, wenn Du etwas in Dir hast, ein Geheimnis oder sonst etwas — halts Maul!
Wenn der Eskimo sein Maul gehalten, fest die Kinnbacken zusammengepresst hätte, nicht zu quasseln angefangen hätte, er wäre in diesem Zweikampfe zuletzt doch noch Sieger geblieben. Er hätte zuletzt den Hund bei den Ohren bekommen, und ihm vielleicht auch noch das Stück Speck aus dem Schlund gezogen, um es selbst zu verzehren.
Aber Mister Tabak fing an zu quasseln, und da hatte er das Spiel verloren, da war der schweigsame Hund derjenige, welcher.
»Ha... !«, sagte der Eskimo, nichts weiter.
Das aber genügte schon, in demselben Augenblick, da jener die Zähne auseinander machte, riss ihm der Hund mit einem Rucke den ganzen Speckstreifen aus Schlund und Magen, und lief wies Kreuzmillionendonnerwetter mit eingeklemmtem Schwanze auf und davon. Nun war nichts mehr zu machen.
Mister Tabak richtete sich empor, strich sich den leer gewordenen Magen und schaute mit trübseligem Gesicht um sich.
Und nun vollendete er, was er schon vorhin hatte sagen wollen.
»Hat man denn schon je solch eine Gefräßigkeit von einem Hundevieh gesehen?!«
Ach, haben wir gelacht!
Schon diese ganze Szene, und nun auch noch diese Bemerkung!
Ich dachte, mir müsste mein Kopf platzen.
Wie gesagt, während der ganzen Schlittenfahrt war ja kaum eine Stunde ohne Zwischenfall verlaufen, meist war es ein humoristischer gewesen, aber diese letzte Szene am Ende der Reise habe ich beschreiben müssen.
Doch das Ende der Fahrt war es ja noch gar nicht. Hastig gefrühstückt, die Hunde eingefangen und vorgespannt, und fort ging es, der in den Schnee durch Feuersglut gezogenen Furche nach.
»Ein Obibaum!«, flüsterte der Samojede scheu.
Wie schwach es mit meinen botanischen Kenntnissen bestellt ist, habe ich wohl schon einmal gesagt. Ich kann nicht eine Linde von einer Buche unterscheiden, und nun gar im Winter, wenn die Blätter fielen.
Dass dieser Baum, der seine schwarzen, kahlen Äste in die Luft streckte, keine Birke war, das freilich wusste ich sofort, aber als eine Eiche hätte ich ihn nicht erkannt.
Und diese hier fremden Bäume mehrten sich, und immer mächtiger wurden sie. Merkwürdig war, sogar mir auffallend, dass an diesen Bäumen auch nicht ein einziges verdorrtes Blatt vom vorigen Sommer mehr hing, was aber auch schon von den Birken galt, über welche Merkwürdigkeit ich noch später sprechen werde. Denn bei uns gibt es doch im Winter keinen so vollständig entblätterten Laubbaum, einzelne vertrocknete Blätter sieht man doch an jedem Baume noch hängen.
Die Gegend wurde felsig. Das heißt, man musste aus Erfahrung wissen, dass unter den bizarren Schneehaufen, die ja auch der Wind so geformt haben konnte, Gestein steckte.
Dann tauchte vor uns zwischen den Bäumen eine weiße Wand auf, eine Gebirgswand, wie immer ganz jäh aus der Ebene sich erhebend. An dieser Felsenwand, die nur an geschützten Stellen ein schwarzes Gestein zeigte, führte die Furche entlang. Manchmal sahen wir großartige Gebilde von Eiszapfen.
Wohl eine Stunde ging es an dieser Wand entlang. Dann wurde sie, durch eine Spalte unterbrochen, kaum breit genug, dass sich zwei Schlitten ausweichen konnte, und die gezogene Spur führte hinein.
Aber Bärtchen lenkte nicht gleich hinein. Er hielt seinen Hundeschlitten an, wartete, bis ich, der ich ihm mit einem Rentiergespann als zweiter folgte, neben ihm war.
»Führe Du jetzt weiter an!«, sagte er.
»Weshalb?«
»Ich — ich — ich — ich...«
»Du fürchtest Dich wohl?«
»Hier bin ich noch nicht gewesen, hier fängt erst richtig das Reich der Obis an!«, flüsterte Bärtchen.
»Weißt Du eigentlich, dass hier ein Gebirge ist?«
Nein, nicht einmal das wusste er. Weiter, als wo man die ersten Eichen erblickte, war er noch nicht gekommen, und dort, mehr als eine Meile von hier entfernt, war ja von der Felswand noch nichts zu sehen gewesen, immer wegen der Bäume, und dort hatte es auch noch nicht solche Felsformationen gegeben, durch die man wohl auf die Nähe eines Gebirges schließen darf, obgleich man sich da auch irren kann.
Ich lenkte als erster in die Schlucht ein. Nach zehn Minuten Fahrt musste ich einen Bogen beschreiben, und wie ich den hinter mir hatte, schimmerte mir ein unübersehbarer Wasserspiegel entgegen.
Erst hinterher, als ich schon aus der Schlucht heraus war, in der dichten Nähe des Sees mich befand, kam mir zum Bewusstsein, dass hier doch ein Naturwunder vorlag.
Weshalb war denn dieser See nicht gefroren?! In der ganzen Nacht war es sehr kalt gewesen, mein Thermometer, gleich vorn an der Brust befestigt, zeigte noch immer minus fünf Grad Celsius an. Dabei muss man bedenken, dass wir schon Ende April hatten.
Nun, ein so großes Naturwunder brauchte schließlich nicht vorzuliegen. Entweder hatte dieses Gewässer warme Quellen, oder es war sehr salzhaltig. Das Meerwasser mit seinen drei Prozent Salzgehalt friert bekanntlich erst bei vier Grad Kälte.
Ich hielt mich jetzt mit keiner Untersuchung auf, folgte der Spur weiter, die nahe am Ufer entlang führte, dabei Umschau haltend.
Der Landstreifen zwischen der Felswand und dem See mochte anderthalb Kilometer Breite betragen, schien aber immer breiter zu werden. Auch hier gab es Fichten und Kiefern und Birken, vor allen Dingen aber herrschte jetzt die Eiche vor, und zwar Exemplare von kolossalen Dimensionen. Bäume mit Stämmen von drei Metern Durchmesser waren gar keine Seltenheit, es gab aber auch noch ganz andere.
Ob dies ein Tal war, welches von jener Felswand eingeschlossen wurde, konnte ich noch nicht unterscheiden. Dann musste es eben ein mächtiges Tal sein. So weit das Auge reichte, erblickte es den blauen Wasserspiegel.
Nach etwa halbstündiger schneller Fahrt trat die Felswand wieder näher an das Wasser heran, immer näher und näher, bis es nur noch einen Landstreifen von 20 Metern Breite gab, und da schwenkte die Spur links ab, führte direkt auf die Felswand zu, endete vor der Öffnung einer großen Höhle, musste enden, weil in der selben kein Schnee mehr lag.
Aus dem dunklen Hintergrunde der Höhle trat die gelbe Gestalt des Hirschreiters hervor, jetzt aber zu Fuß, hob die Hand und winkte mir. Ich stieg aus dem Schlitten, näherte mich.
»Lass Deine Leute draußen warten, bis ich Dich eingeweiht habe, sie können unterdessen schon abladen. Du allein folge mir.«
So erklang die glockenartige, aber tiefe Stimme, er wandte sich, ich folgte ihm.
Eine wahre Backofenhitze empfing mich. Aber das war eine Täuschung. Es war nicht wärmer als 10 Grad. Wir waren an solch eine Wärme im Freien nur nicht mehr gewöhnt, nur in unserem Schlafsack.
Dasselbe galt auch von der Finsternis, die hier zu herrschen schien. Schnell gewöhnte sich das Auge daran, wir befanden uns ja überhaupt noch nahe dem weiten Eingange, ich hatte nur wenige Schritte in die Dunkelheit getan, da sah ich die helle Gestalt des Hirschreiters emporschweben, da erkannte ich aber auch schon die steinerne Treppe, die er seitwärts benutzte.
Ich ihm nach.
Als es wirklich finster werden wollte, sorgten Fensteröffnungen, allerdings keine regelrechten, für Tageslicht, immer höher ging es hinauf, manchmal aber zweigten schon Gänge ab, und in einem nackten Felsenraume wandte sich mein Führer gegen mich um.
Ja, es war ein alter Mann, der sich aber jugendfrisch erhalten hatte, und das macht gewöhnlich das Herz aus, oder die Seele, möchte ich lieber sagen, weil das Herz heute für die meisten Menschen doch nur eine Blutpumpe ist, und der Spiegel der Seele ist das Auge. Wunderbare große, blaue Augen!
Im Übrigen war es eine mittelgroße, schlanke Gestalt, der freie Hals verriet den sehnigen Bau, und die Muskelkraft noch mehr die Hände. Schöne, feine, weiße Hände, aber starrend von Muskeln.
»Seid mir willkommen!«, begann die Glockenstimme. »Ich heiße Merlin. So sollt Ihr mich nennen, wenn Ihr untereinander über mich sprecht. Den Namen Nuhmajili, dessen Bedeutung Ihr doch jetzt kennt, sollt Ihr nicht gebrauchen. Ich bin ein Mensch wie Ihr.
Ich kenne Euch und Eure Wünsche.
Ihr wünschtet Euch immer einen Ort, wo Ihr unbekannt und unangefochten von aller Welt Euren Neigungen leben könntet. Zweimal schon wies Euch jene Gesellschaft, der auch ich angehöre, solch einen Ort an. Einmal im brasilianischen Urwald, dort sogar wieder zweimal, erst die Sandbank und dann das Eldoradoplateau, dann immer seid Ihr geleitet worden, wenn Ihr das zuerst auch gar nicht gemerkt habt, und dann wurde Euch der Seelandsfelsen bei Australien angewiesen.
An allen drei Punkten hat es Euch auf die Dauer nicht gefallen, am wenigsten auf dem Seelandsfelsen, und ich weiß warum.
Jetzt wissen wir es! Denn auch wir sind Menschen, die nur durch Erfahrung lernen können.
Jetzt aber wissen wir auch, dass wir Euch in eine Gegend geführt haben, in der Ihr bis an Euer Lebensende hausen könnt, und nie werdet Ihr es überdrüssig bekommen, Euch von hier fortsehnen, wieder nach dem freien Meere oder anderswohin, denn jeder Tag wird hier neue Überraschungen bringen. Es liegt nur an Euch, sie zu suchen.
Ihr befindet Euch hier in meinem Reiche. Ich trete es Euch gern ab. Aber glaubt nicht etwa, dass ich Euch ein Opfer bringe. Ihr könnt mich nicht stören. Es ist meine eigene Lust, Euer Treiben zu beobachten.
Die geografischen Bestimmungen könnt Ihr selbst machen.
Also nur noch einige kurze Angaben und Erklärungen. Es ist dies ein von Gebirgswänden eingeschlossenes Tal, ungefähr acht geografische Meilen lang und fünf Meilen breit. Die Hälfte davon nimmt ein See ein. Süßwasser. Er hat sehr viele heiße Quellen, sodass sich erst bei 30 Grad Kälte, die hier aber höchst selten im Januar eintritt, eine dünne Eisdecke bildet. Sonst habt Ihr auch im Winter eine freie Wasserfläche, auf der Ihr nach Herzenslust segeln könnt, Ihr könnt Euch wie auf dem Meere fühlen, und es wird auch nicht an Stürmen fehlen, die haushohe Wellen werfen.
Dies gilt aber nur von dem südwestlichen Teil des Sees, wo Du Dich jetzt befindest. Der andere Teil, ungefähr die Hälfte, hat im Gegenteil sehr kalte Quellen, wodurch dieser Teil des Sees sofort gefriert. Die beiden Wasserteile von ganz verschiedenen Temperaturen vermischen sich überhaupt nicht so leicht, außerdem sorgt dafür noch ein Abfluss, an dem wir uns hier gerade befinden, überhaupt an der Grenze, was Du bisher aber noch nicht bemerken konntest. Sieh es jetzt.«
Er winkte mir, wir traten an eine der Öffnungen, die nischenartig in die Felswand eindrang.
Ich blickte in eine Seitenschlucht, ungefähr 25 Meter breit. Mir gegenüber erhob sich also wiederum eine Felswand, und unter mir, die ganze Schlucht ausfüllend, floss Wasser. Doch mit sehr geringer Strömung.
Nun aber befanden wir uns gerade an der Ecke dieser Seitenschlucht, sodass ich auch auf den See blicken konnte, und da sah ich, dass dieser doch nicht so eisfrei war, wie es von weitem aus geschienen hatte. Nach Nordosten zog sich durch den ganzen See, so weit das Auge reichte, eine scharfe Grenze. Dort drüben war eine einzige Eisfläche, hier freies Wasser. Wie das möglich war, hatte mir Merlin bereits erklärt. Es ist dies übrigens kein besonderes Naturphänomen, es kommt sehr häufig vor, beruht auf einem ganz einfachen physikalischen Gesetz. Warmes und kaltes Wasser vermischen sich eben gar nicht so leicht, besonders wenn noch wie hier eine gewisse Strömung hinzukommt, und dann kann auch solch eine scharfe Eisgrenze entstehen, die man bis dicht an den Rand begehen kann. Auch auf dem Müggelsee bei Berlin, bei Friedrichshagen, entsteht alljährlich ein Phänomen. Bei genügender Kälte friert der See wohl gleichmäßig zu, sobald aber ein Dampfer noch eine Fahrtrinne schafft, friert diese nicht mehr zu, auch bei der strengsten Kälte nicht. Man hat sich daran gewöhnt, die meisten Menschen finden gar nichts Wunderbares dabei, fragen nicht, wie das möglich sein kann. Man muss es sich von einem Physiker erklären lassen.
Hier lagen andere Ursachen vor, aber das Resultat war dasselbe, nur in viel großartigerem Maßstabe.
»Dort auf jener Eisfläche«, fuhr Merlin fort, »könnt Ihr Euch tummeln. Allerdings nur im Winter. Anfang Mai schmilzt sie, dann bleibt der ganze See bis zum Anfang November offen.
Aber auch im Sommer, der hier sechs Monate währt, wirklicher Sommer, könnt Ihr dem Wintersport huldigen. Wie und wo, das zu entdecken bleibt Euch überlassen. Ich will jetzt nur diese eine Andeutung machen. Ihr sollt selbst suchen. Ihr sollt Überraschungen erleben. Ich mische mich nicht in Euer Treiben ein. Nur das rate ich Euch, dass Ihr Euer festes Quartier hier in dieser Höhlenregion nehmt. Denn hier durch diese Wasserschlucht wird in zwei Wochen Euer Schiff kommen, hier kann es am bequemsten beilegen.
Was ich sonst noch zu sagen habe, ist Folgendes: Das ganze Tal steht zu Eurer Verfügung. Natürlich freie Jagd und alles. Auch ein Tier, welches Euch selten erscheinen mag, braucht Ihr nicht zu schonen.
Ihr werdet die ganzen Felswände durchhöhlt finden. Ihr werdet erkennen, dass dies nicht natürliche Höhlen sein können, wie schon hier nicht, und es sind ja auch gemeißelte Treppen vorhanden.
Das bedarf noch einer kurzen Erklärung.
Die Erde ist viel älter, als die heutige Wissenschaft annimmt, auch das Menschengeschlecht reicht viel, viel weiter zurück.
In diesem Tale, wie überhaupt in ganz Sibirien, hat schon einmal ein Volk mit hochentwickelter Kultur gehaust. Wenn auch mit einer ganz, ganz anderen Kultur als der heutigen. Sie wohnten in diesen Höhlen, die vorhandenen erweiternd, sich darin einrichtend. Sucht, ob Ihr noch Spuren von diesen Menschen findet.
Sonst überlasse ich Euch ganz Euch selbst, verirren könnt Ihr Euch in diesen Höhlen nirgends, auch ohne Hilfe des Kompasses nicht. Sollte doch einmal solch ein Fall eintreten, so werde ich Euch oder dem Betreffenden helfend zur Seite stehen. Ich könnte Euch sofort viele Vorteile verschaffen. Bequemlichkeiten und dergleichen, aber ich will nicht, denn ich weiß, dass Ihr selbst es nicht wollt, Ihr wollt Euch aus eigener Kraft einrichten. Nur hin und wieder werde ich für Beleuchtung sorgen. Wie das gemeint ist, werdet Ihr später erkennen.
Ich habe gesprochen. Hast Du etwas zu fragen? Tue es. Obgleich ich Dir vielleicht die Antwort verweigere.«
»Über Deine Person darf ich Dich nicht fragen?«
»Nein!«, erklang es kurz, obgleich liebenswürdig wie immer.
»Werden wir hier den Mann wiederfinden, der sich Price O'Fire nennt?«
»Nein.«
»Ist dieses ein noch unentdecktes Tal?«
»Ja. Das heißt, es ist noch auf keiner Karte eingetragen.«
»Ist schon einmal ein Forscher hier gewesen?«
»Nein. Weshalb stellst Du solche Fragen? Ich halte sie für unnütz.«
»Ich meine, ob wir hier einmal von anderen Menschen entdeckt werden können.«
»Nein.«
»Weshalb nicht? Es können doch andere Menschen unseren Spuren folgen.«
»Sie würden in dieses Tal nicht eindringen können, überhaupt gar keines vorfinden.«
»Wie ist denn das möglich?!«
»Ich hindere sie daran.«
»Ich verstehe nicht.«
Da legte der jugendliche Greis seine Hand auf meine Schulter, blickte mich lächelnd und gütiger denn je an.
»Mein lieber Sohn. Es existiert überhaupt gar keine Welt. Es gibt nichts anderes als Dein Ich. Du bist das einzig existierende Zentrum der Welt. Alles, was Du für Wirklichkeit hältst, träumst Du nur.
Du verstehst mich nicht? Ich glaube es Dir. Aber es wird die Zeit kommen, da auch Du es verstehen wirst. Eine Zeit nach Deinen Begriffen. Denn es gibt so wenig Zeit wie Raum. Auch das sind nur Begriffe, die sich der Mensch gemacht hat, weil er die ganze Täuschung der Maja nicht begreifen kann. Sobald man aber diese Täuschung überwunden hat, ist man auch Herr über diesen Lebenstraum, kann ihn nach Willkür gestalten, wie man will.«
Nein, ich verstand den Sprecher nicht.
Aber etwas Neues war es mir auch nicht, was ich da zu hören bekam. Es ist die Lehre einer uralten Religionsphilosophie, welche auf der Erde 660 Millionen Anhänger hat, während sich zum Christentum nur 560 Millionen Menschen bekennen, und von diesen schwenken immer mehr zu jenem Glauben ab, besonders in Amerika, wo diese Theosophen schon nach Millionen zählen, und zwar sind es gerade die praktischsten Männer, welche zu diesem Glauben übergehen, weil sie ihn für wahr anerkennen, Männer wie Edison und Carnegie.
Ob sie den Kern dieser Lehre verstehen, weiß ich nicht. Ich verstehe ihn nicht. Und doch, manchmal habe ich intuitiv so eine Ahnung, dass es so ist!
Manchmal, besonders in der Nacht, wenn ich einsam im Freien stehe, da habe ich solche Momente.
Manchmal, wenn eine Eule ruft,
Oder ein Hund bellt im fernen Gehöft,
Oder ein Wind geht in den Zweigen —
Dann muss ich schauernd lauschen und schweigen.
Dann flieht meine Seele zurück,
Bis wo vor zahllos vergessenen Jahren
Der Vogel und der wehende Wind
Mir ähnlich und meine Brüder waren.
Dann wird meine Seele ein Tier
Und ein Wind und ein Wolkenweben.
Verwundert kehrt sie zurück und fragt mich. —
Wie soll ich ihr Antwort geben?
Und dann, in solchen feierlichen Momenten, wird mir plötzlich auch ganz klar, dass alles nur eine Täuschung, nur ein Traum ist. Es gibt in der Welt, die jedoch ebenfalls gar nicht existiert, gar nichts weiter als mein eigenes Ich. Dieses träumt nur, dass dies alles Wirklichkeit sei.
Im nächsten Moment ist das wieder verschwunden. Nur eine dumpfe Erinnerung bleibt zurück. Aber es war wie ein Zuckblitz gewesen, der die Nacht einmal tageshell erleuchtet hat. Und haben wir denn nicht genau dasselbe in der christlichen Religion?
Christus verspricht immer und immer wieder das Himmelreich, als eine ganz reelle Sache. »Noch zu dem Schächer sagt er am Kreuz: »Heute wirst Du mit mir im Paradiese sein.«
Da er aber einmal direkt gefragt wurde: »Meister, wo ist denn das Himmelreich?« — da antwortete er: »Das Himmelreich ist nicht hier und nicht da, sondern das Himmelreich ist inwendig in Euch!«
Und so sagt er auch wiederholt: »Ich hätte Euch noch mehr zu sagen, aber Ihr würdet mich nicht verstehen.« —
Merlin zog seine Hand von meiner Schulter zurück.
»Ich habe gesprochen, ich kann gehen. Du wirst Deinen Leuten mitteilen, was ich Dir jetzt gesagt habe.«
»Ich werde es tun.«
»Ich will nicht immer unsichtbar bleiben. Gestattest Du, dass ich mich manchmal in das Treiben Deiner Leute einmische?«
»Aber selbstverständlich, so oft Du willst, Du sollst uns immer herzlich willkommen sein!«
»Nur dass ich dann nicht angeredet werde.«
»Mit keinem Worte.«
»So lebe jetzt wohl, wir sehen uns wieder.«
Er wandte sich, ging nach dem Hintergrunde des Raumes, verschwand in einer schmalen Spalte.
Ich begab mich hinab, sagte, was ich zu sagen hatte. Viel war es ja nicht. Dann begannen wir uns mit unserem Schlittengepäck häuslich in den Felsenkammern einzurichten, wozu wir die geeignetsten aussuchten, das war ja bald geschehen, und nun ging es an eine weitere Untersuchung der ausgehöhlten Felswände und der weiteren Umgebung im Freien.
Dabei jagte eine Überraschung die andere. Zunächst wurde konstatiert, dass, je tiefer man in die Felswand eindrang, es desto wärmer wurde, bis man es vor Hitze einfach nicht mehr aushalten konnte.
Also befanden wir uns auf vulkanischem Gebiet. Aber dass wir eines Tages in die Luft flogen oder mit glühender Lava übergossen wurden, darum brauchten wir uns nicht zu sorgen, sonst hätte dieser Merlin der Zauberer schon etwas davon gesagt.
Übrigens konnte es sich auch um heiße Quellen handeln, die gar nicht auf vulkanischem Gebiet selbst zu entspringen brauchen, sie kommen eben aus sehr großer Erdtiefe hervor, und dass es so war, davon sollten wir uns bald überzeugen.
Gar nicht weit von unserem Quartier, übrigens, wie später gefunden wurde, auch durch Felsengänge direkt zu erreichen, wurde eine andere Höhle entdeckt, aber noch an der Felswand gelegen, durch Öffnungen mit Tageslicht erleuchtet, in der eine mächtige, kochend heiße Quelle entsprang.
Uns nichts angenehmer als das! Hier wurde ein Dampfbad eingerichtet, in Verbindung mit einer Garküche. Auch auf Vancouver hatten wir solch eine Dampfgrotte gehabt, aber die war nicht zu vergleichen mit dieser hier gewesen, zu deren Benutzung hätten wir aus verschiedenen Gründen erst mindestens ein halbes Jahr lang schwere Arbeit gehabt, hier dagegen waren die Bassins schon von unseren Vorgängern eingemeißelt worden, wenn man nicht glauben wollte, dass die Natur gleich alles so vorgerichtet hatte.
»O Wunder über Wunder!«, erklang da der Ruf.
Ich wurde von den Entdeckern des Wunders geholt, die anderen schlossen sich mir an, es wurde uns aber nichts verraten, wir sollten mit eigenen Augen schauen.
Den Weg, den wir zum Eindringen in die Felswand nahmen, kann ich nicht beschreiben, zumal da er sich, wenn man die Gänge erst kannte, immer mehr verkürzte.
Wir benutzten unsere Benzinlampen. Mit einem Male hatten wir sie nicht mehr nötig, in dem Gange, den wir gerade passierten, begann es zu dämmern, es wurde heller und heller, ohne dass die Lichtquelle zu ergründen war, gleichzeitig wurde es kälter und kälter, und wie wir um eine Ecke bogen, erwartete uns ein grandioser Anblick.
Eine ungeheure Eisgrotte war es, in die wir blickten. Eine weite Eisfläche, aus der hier und da eine Säule emporwuchs, wahrscheinlich aus Gestein bestehend, aber mit Eis bekleidet, und zwar nahm es die bizarrsten Gestaltungen an, und diese Säulen endeten an einer schwarzen Decke. Was, wie gleich gezeigt werden soll, von besonderer Wichtigkeit war. Dass also die Decke selbst nicht mit Eis überzogen war. Ein gleichmäßig herrschender Luftzug sagte uns sofort, dass wir eine dynamische Eisgrotte vor uns hatten, die sich, auch wenn draußen der heißeste Sommer herrschte, nicht verändern würde. Das heißt derjenige erkannte das gleich aus dem Luftzug, der überhaupt etwas von den Eisgrotten weiß. Ich selbst wusste nur theoretisch etwas davon, hatte einmal bei Gelegenheit viel über solche Eisgrotten gelesen. Gesehen hatte ich noch keine bisher.
Es gibt sehr viele Eishöhlen oder Eisgrotten, sicher viel, viel mehr, als die wir kennen. Sie werden einmal so durch Zufall entdeckt, beim Bergbau, oder beim Tunnelbau, oder spielende Kinder finden einen Höhlengang, dringen ein und kommen plötzlich, während draußen der schönste Sommer herrscht, in eine mit Eis gefüllte Höhle.
Mit der Gegend, ob die heiß oder kalt ist, haben diese Eisgrotten gar nichts zu tun. Man hat schon genug solcher Naturphänomene direkt unter dem Äquator gefunden.
Als Entstehungsursache kommt in der Hauptsache dreierlei in Betracht. Entweder das Eis bildet sich in der Höhle im Winter, meist im Gebirge, durch Gletscherwasser, wie das Geldloch am Ötscher in Niederösterreich, schmilzt im Sommer zwar bedeutend ab, erneuert sich aber doch immer wieder. Das sind die periodischen Eishöhlen. Oder, wie hauptsächlich in heißen Gegenden, es ist ein Überbleibsel aus der Eiszeit, die sich einst über die ganze Erde erstreckt hat. Das in dem geschlossenen Raume aufgehäufte Eis strahlt eine so große Kälte aus, dass es niemals zum Auftauen kommt. Das sind die statischen Eishöhlen. Oder es handelt sich um eine natürliche Eismaschine, die mit verdünnter Luft arbeitet. Dann ist gewöhnlich ein unterirdischer Wasserfall in der Nähe, der durch eine Röhre aus der Höhle die Luft mit sich reißt, es entsteht also ein luftverdünnter Raum, durch andere Spalten strömt von draußen Luft wieder nach, sie dehnt sich in dem luftverdünnten Raume rasch aus, dadurch entsteht nach physikalischen Gesetzen große Abkühlung, die bis zum Gefrieren des Wassers gesteigert werden kann. Diese Eishöhlen nennt man dynamische. Dabei ist es fast gleichgültig — allerdings nicht immer — ob die nachströmende Luft an sich schon kalt ist oder warm. Ja, da die warme Luft dünner ist als kalte, kann es sogar vorkommen, dass im Sommer die Temperatur in solchen Höhlen noch tiefer sinkt als im Winter.
Die größte dynamische Eisgrotte, die wir in Europa kennen, ist die von Dobschau in Ungarn. Ich hatte schon Lichtbilder von ihr gesehen. Herrlich! Sie ist elf Meter hoch, 120 Meter lang und durchschnittlich 50 Meter breit. Eine Treppe von 145 Stufen führt zu einer Eisgalerie hinauf. Wunderbare Gebilde! Besonders die sogenannte Orgel.
Aber mit dieser sibirischen hier konnte sich die ungarische nicht vergleichen. Wir maßen gleich im Anfang einen Durchmesser von mehr als 400 Metern, und das war nur der erste große Saal, einer reihte sich an den anderen, und mit den Eisgängen sind wir überhaupt niemals fertig geworden. Und nun diese Galerien, diese erstarrten Wasserfälle, diese sonstigen Gebilde! Ganze Eispaläste, so kolossal und doch so zierlich, von so einer verschnörkelten Architektur, dass man sie höchstens mit indischen Bauwerken vergleichen konnte.
Die konstante Kälte betrug drei Grad, die nur an den heißesten Sommertagen um ein Grad fiel. Die Hauptsache aber war, dass an der Decke die riesigen Eiszapfen fehlten, welche das Betreten jener ungarischen Eishöhle so furchtbar gefährlich machen. Jeden Augenblick kann einem der Schädel eingeschlagen werden.
Hier fehlten sie gänzlich. Überhaupt gar keine Eisbildung an der schwarzen Decke.
Ja, schwarz war sie, und dennoch konnte nur von ihr das gleichmäßige Licht ausstrahlen, welches die ganze Grotte erfüllte, diese wie jede andere, jeden Eistunnel.
Was war das für ein rätselhaftes Licht? Nun, eben dasselbe, das uns auch schon im Seelandsfelsen geleuchtet hatte. Hier brauchte es aber nicht erst angestellt zu werden.
Unser Schutzpatron hatte gesagt, dass wir auch im heißen Sommer Gelegenheit zum Eissport haben würden, dass er hin und wieder für Beleuchtung sorgen wird, und hier hatte er sein Versprechen eingelöst.
Lange Zeit trieben wir uns in den Eisgrotten herum, viele schon auf Schlittschuhen, und wir wurden immer von neuem Staunen über die grandiosen Gebilde erfüllt.
»Moin, Käpten, feines Wetter heute.«
So erklang es über mir mit bekannter Stimme.
Ich blickte empor.
Da fläzte sich Oskar schon mit qualmender Pfeife aus dem Fenster des zweiten Stockes solch eines Eispalastes heraus.
Er hatte einen Aufstieg gefunden, einen inneren, ich fand ihn auch. Aber nicht etwa, dass es regelrechte Treppen und Räume und dergleichen gab. Alles wilde Natur, wie es die Eisbildung eben schafft. Eben dadurch noch viel großartiger. Doch wir brauchten nur mit Feuer oder glühendem Eisen zu arbeiten, oder sonst ein Mittel zu erfinden, um bequem abzuschmelzen, so könnten wir solch einen Eisberg in ein wirkliches Wohnhaus verwandeln. Solche Experimente wurden ja später auch viel gemacht.
Erst nach zwei Stunden verließ ich die Eisgrotten wieder, war ständig unterwegs gewesen und hatte doch vielleicht nur den hundertsten Teil gesehen. Wir sollten in dieser Eisregion noch manches erleben, sie war nicht so unbewohnt, wie wir zuerst glaubten.
Ich suchte wieder die Seitenwand auf, die den Abfluss begrenzte, um zu sehen, wo da unser Schiff am besten anlegen könnte.
»Eine Werft, Käpten, eine ganze Werft mit allem, was dazu gehört!«, erklang es mir da jauchzend entgegen.
Entgegen? Ich blickte doch zu so einer Fensteröffnung hinaus, in beträchtlicher Höhe. Jawohl, auf der anderen Seite des also ungefähr 25 Meter breiten Wasserkanals befanden sich in der glatten Felsenwand auch solch unregelmäßige Fensteröffnungen, und aus der einen blickte ein Matrose, ein zweiter gesellte sich gleich noch hinzu.
»Wie seid Ihr denn dort hinüber gekommen?!«, musste wohl meine erste Frage sein.
»Immer die Treppen hinunter, dann kommt ein Gang, der unter dem Wasser wegführt!«
Man konnte nicht fehlgehen. Alle in die Tiefe führenden Treppen mündeten in einer weiten Halle, von der aus ein breiter und hoher Tunnel unter dem ungefähr acht Meter tiefen Wasserlauf hinwegführte, nach der anderen Felswand hinüber.
Auch hier wieder zahllose Säle und Kammern.
Der eine Saal war mit Brettern von allen Längen und Breiten und den verschiedensten Holzarten angefüllt, ein anderer enthielt alles, was zum Bau eines hölzernen Schiffes vom Kiel bis zum Flaggenkopf nötig ist, also eine vollständig eingerichtete Werft mit allen dazu nötigen Werkzeugen.
Hatte unser Schutzpatron Merlin nicht gesagt, er könne uns ja mit allen möglichen Vorrichtungen und Bequemlichkeiten versehen, aber er wolle es nicht tun, weil er unseren Charakter kenne, weil wir doch wohl alles aus eigener Kraft schaffen wollten? Und jetzt stellte er uns hier eine vollständig eingerichtete Werft zur Verfügung! Nun, ein so großer Widerspruch lag nicht darin. So ganz und gar als Robinson anzufangen, das ist nicht gerade angenehm, besonders wenn man es wiederholen muss. Wir wollten schon aus eigener Kraft etwas schaffen, aber »alles« war gar nicht möglich oder wir hätten Jahre dazu gebraucht. Dazu gehörte auch die Herstellung des einfachsten Brettes. Die Erfindung der Bandsäge ist von weltbewegender Bedeutung gewesen. Daran aber denkt wohl niemand, wenn er ein Brett in die Hand nimmt, was es vordem für unsägliche Mühe gekostet hat, um aus der Hälfte eines Baumstammes ein Brett abzuspalten, indem man einen Meißel neben den anderen setzte, so wie man schon den ganzen Stamm spaltete, was solche Bretter, mit denen man eine ebene Fläche herstellen konnte, damals für einen Wert repräsentierten.
Wo kam diese ganze Werfteinrichtung, die einen so neuen Eindruck machte, hierher? Nun, darüber zerbrachen wir uns nicht den Kopf. Jedenfalls aber hätte der geheimnisvolle Mann uns doch auch gleich fertige Boote und sonstige Fahrzeuge zur Verfügung stellen können, wir zweifelten nicht daran. Er hatte es nicht getan. Nur für Bretter und Werkzeug hatte er gesorgt.
Die kamen so wie so mit unserem Schiffe nach, Price O'Fire hatte uns schon in Petersburg geraten, noch besonders viel zum Schiffsbau geeignetes Holz mitzunehmen. Darauf hätten wir so wie so gewartet. Nun aber konnten wir gleich anfangen. Die Schlittenboote aus Birkenrinde waren doch recht untauglich. Also es wurde gleich der Kiel zum ersten Klinkerboote gelegt. Der Engländer Sam war ein gelernter Schiffsbauer. Aber etwas verstehen wir Seeleute ja alle davon, und hätten wir unsere Kunstfertigkeit auch nur an kleinen Modellen erlernt. Es wurde auch schon von einer Segeljacht und von einer Rudergaleere und von anderen Fahrzeugen geschwärmt, mit denen wir den See beleben wollten, um uns gegenseitige Seegefechte zu liefern.
Ich kann nur sagen, dass wir auf unseren bisherigen Stationen, auf denen wir uns hatten einrichten wollen, niemals Gelegenheit gehabt hatten, solchen Bootsbau zu betreiben. Es gehört gar vielerlei dazu, was ich hier nicht weiter ausführen kann. Mister Tabak hatte sich an Bord des Schiffes ein neues Walfischboot gebaut, er hatte tüchtige Hilfskräfte zur Seite gehabt, aber etwas Brauchbares war nicht herausgekommen. Der Bootsbau ist eine Kunst, die gar vieler Vorrichtungen bedarf. Nicht umsonst kostet ein gutes Seeboot mehrere tausend Mark. Und was meint man denn wohl, was so eine Rennjacht kostet, nur so ein kleines Ding? Da ist unter einer halben Million Mark nicht viel zu wollen.
Die Hauptsache war, dass sich auch hier gleich nebenan ein Dampfraum mit heißer Quelle befand. Die Bootsplanken können nur mit Wasserdampf regelrecht gebogen werden. Oder es wird ein Kasten daraus, aber kein Boot.
Ich verließ die Matrosen, die über ihren Bootsbau alle weiteren Untersuchungen vergaßen, sogar das Mittagsessen. »Kommen Sie mit?«, fragte mich Juba Riata, als ich auf der anderen Seite der Wasserstraße wieder ins Freie trat.
Er war damit beschäftigt, wieder sechs Hunde vor einen Schlitten zu spannen.
Ich bemerke noch nachträglich, dass Peitschenmüller während der sechzehntägigen Schlittenfahrt drei von den neun Hundegespannen, die wir nie gewechselt, so eingefahren hatte, dass sie jetzt auch ohne vorgeworfenen Fisch anzogen und weiterliefen. Zum allergrößten Staunen des Meister Bärtchens. Diese Samojeden und Tungusen geben sich eben gar keine Mühe, ihre Hunde regelrecht einzufahren, und weil sie gar nicht auf solch einen Gedanken kommen, halten sie es überhaupt für unmöglich. Ungefähr ebenso, wie noch vor 25 Jahren die Zähmung, das Einfahren und Reiten des Zebras für unmöglich galt. Auch Brehm behauptet es noch. Bis als erster der Londoner Baron Rothschild im Hydepark mit zwei Zebras spazieren fuhr. Er hatte extra dazu aus Amerika einen gewissen Raleigh, der für den berühmtesten Pferdebändiger galt, kommen lassen. Dieser Amerikaner hat es fertig gebracht, diese afrikanischen vierbeinigen Teufel zu bändigen, zu zähmen. Heute sind zugefahrene und zugerittene Zebras schon gar keine Seltenheit mehr. Es hat eben nur am ersten Versuche gefehlt, der Gedanke, dass so etwas überhaupt unmöglich sei, musste erst einmal gebrochen werden.
In anderer Hinsicht aber haben die sibirischen Hundezüchter ganz recht. Freiwillig, ohne vorgeworfene Fische, entwickelten diese drei Hundegespanne ihre ganze Schnelligkeit nicht mehr, machten täglich keine 15 Meilen mehr.
»Wohin?«
»Nun, einmal die weitere Umgebung des Sees abfahren.«
»Jawohl, ich komme mit.«
Es war eine Stunde nach Mittag, als wir los fuhren, wir nahmen nichts weiter mit als unsere Büchsen, jeder eine schwere, einen doppelläufigen »Knochenschmetterer«, der eine Lauf auch für Schrot, dessen Benutzung wir aber verschmähten, und das englische Infanteriegewehr, auf das wir vorzüglich eingeschossen waren. Mancher von uns hätte als Kunstschütze auftreten können. Revolver und Munition brauchten wir nicht extra mitzunehmen, die hingen so wie so immer an unseren Gürteln. Da wir sicher am Abend zurück sein wollten, blieben auch die Schlafsäcke »zu Hause«.
Wir fuhren etwa eine Stunde, ohne dass sich etwas Neues bot. Immer dieselben schneebedeckten Fichten und Kiefern und Lärchen und Birken und Eichen, höchstens dass diese letzteren immer mehr den Hauptbestandteil des Waldes ausmachten und immer mächtiger wurden.
Hin und wieder sahen wir ein Stück Wild, hauptsächlich Rens, aber auch echte Hirsche, die jedoch immer schleunigst hinter dem nächsten Baume verschwanden, um diesen als Deckung zur weiteren Flucht zu benutzen.
»Hier ist schon tüchtig gejagt worden, das Wild kennt den unbarmherzigen Menschen und seine furchtbaren Mordwaffen!«, sagte Juba Riata. »Mir ist das nur lieb, ich jage nicht gern in einem Parke, in dem das Wild erst zahm gemacht wird, um es dann wie auf dem Scheibenstand niederknallen zu können.«
Übrigens bewies schon das zahlreiche Vorkommen von echten Hirscharten, dass dieses Tal sein eigenes, sehr mildes Klima haben musste. In diesem Teile Sibiriens kommen noch keine Hirsche vor. Das heißt nicht im Winter. Die sibirischen Hirsche wandern, legen kolossale Strecken zurück. Im Winter gehen sie wieder nach Süden. Jetzt war hier noch vollständiger Winter. Er musste aber für die Hirsche noch erträglich sein, sie wanderten gar nicht mehr aus.
An diesem milden Klima war einfach das warme Wasser des Sees schuld. Es hatte 18 Grad, war im Gegensatz zu der sechs Grad kalten Luft, wenn man schnell die Hand hineinsteckte, förmlich heiß zu nennen. Dabei aber reichte die Schnee- und Eisgrenze doch bis dicht an das Wasser herab. So weit, dass auch die nahe Umgebung des Sees abgetaut wäre, reichte der Einfluss der Wasserwärme eben doch nicht. Sie verteilte sich über das ganze Tal, wenigstens auf dieser eisfreien Seite des Sees. Wir hatten ihn verlassen, drangen mehr in den Wald ein. Bald sahen wir wieder die Felswand zwischen den Bäumen auftauchen.
»Die schwarze Stelle dort scheint eine Höhle zu sein«, sagte Juba Riata, »wir wollen sie doch einmal untersuchen, vielleicht dass Ihr Merlin uns da wieder etwas vorzaubert, wir sollen uns ja überall auf Überraschungen gefasst machen, wir müssen nur suchen.«
Hatte Peitschenmüller eine Ahnung? Nein, er hatte nur so gesprochen.
Ehe wir aber die Höhle erreichten, sollten wir ein Abenteuer erleben, zum Zeichen, dass wir hier nicht etwa in ein Paradies versetzt worden waren, zwar in ein winterliches, in dem es aber auch Gefahren gab.
Plötzlich tritt keine zehn Schritt von uns entfernt hinter einer Eiche ein mächtiges Vieh hervor. Ein Wisent! Der als Ur- oder Auerochse einst das ganze nördliche Europa bewohnt hat, jetzt nur noch in dem russischen Walde bei Bealowies vorkommt, dort aber geschont und sogar gehegt wird, soweit man in einem richtigen Urwalde von 2000 Quadratkilometern Wild hegen kann. Jedenfalls darf er nicht gejagt werden. In Sibirien dagegen ist der Wisent ein ganz gewöhnliches Wild.
Mit dem amerikanischen Bison lässt sich der Wisent nicht vergleichen. Der indianische Büffel ist und bleibt mit seinen zwei Metern Höhe das gewaltigste Rind, wozu nun noch die gewaltige Mähne kommt. Der Wisent wird höchstens anderthalb Meter hoch, hat keine solche Mähne, auch keinen Buckel.
Das heißt, solche Vergleiche stellte ich damals nicht an. Es war immerhin ein furchtbares Ungeheuer, das uns da plötzlich in den Weg trat. In zehn Schritt Entfernung, sagte ich. Das stimmt nicht. Wir waren ja in voller Fahrt. Aber näher kamen wir jedenfalls nicht heran.
Da schoss schon der alte Bulle, der er war, mit gesenkten Hörnern auf uns los.
Dass unsere sechs Hunde diese Begegnung nicht weiter erwarteten, war ihnen nicht zu verdenken. Im rechten Winkel herumgeschwenkt, dass der Schlitten beinahe umgekippt wäre und mit eingekniffenem Schwanze losgelegt, mit einer Schnelligkeit wie sie auch der fetteste Fisch nicht erzeugte, der ihnen vorgeworfen wurde.
Aber weit kamen sie nicht. Wir freilich auch nicht. Peitschenmüller hatte die Herrschaft über sie verloren. Wenn da mit dem Zügel überhaupt etwas zu machen gewesen wäre.
Im nächsten Augenblick schmetterte unser Schlitten an einen Baum, verwandelte sich in einen Trümmerhaufen von Birkenrindenstücken.
»Hoch, für Christi Sache hoch!«, schrie Peitschenmüller und hing schon oben in den Zweigen. Ich ihm schleunigst mit affenartiger Behändigkeit nach. Ein Glück war es, dass wir uns in den letzten Jahren so turnerisch ausgebildet hatten. Aber so schnell bin ich nie wieder einen Baum hinaufgekommen zumal nicht in solch einem schweren Pelzkostüm.
Und ein weiteres Glück, dass es gerade eine Lärche mit tief herabhängenden Zweigen war, an denen wir Schiffbruch erlitten. Sonst wären nämlich wir Lerchen gewesen. Ich denke dabei an einen Witz, der damals in ganz Deutschland zirkulierte. Nicht erfunden in einem Witzblatt, sondern unabsichtlich gemacht in einer ernsten, angesehenen Tageszeitung. In Hagenbecks Tiergarten hatte ein toll gewordener Elefant hingerichtet werden müssen, das wurde berichtet, und da hieß es am Schluss: »Ein Sprenggeschoss zwischen die Augen und der riesenhafte Elefant war eine Lerche.«
Wie gesagt, dieser famose Witz, den der Druckfehlerteufel da vom Stapel gelassen, machte damals die Runde durch ganz Deutschland. Es gab keine Leichen mehr, nur noch Lerchen.
Und so wären auch wir im nächsten Augenblick Lerchen gewesen, hätte uns die Lärche, an der wir Schiffbruch erlitten, nicht gütig ihre niedrigen Äste entgegengestreckt. Im nächsten Moment schmetterte der Schädel des Wisents gegen den Stamm, dass wir, wenn wir uns nicht genügend festgeklammert hätten, wie die reifen Pflaumen abgefallen wären.
Wir waren dem Tode entgangen, aber nicht unsere armen Hunde. Die waren, hinter sich am Riemengespann noch einige schlagende Bootsbretter schleifend, nur bis an den nächsten Baum gekommen, eine junge Kiefer, keine zehn Schritt von unserer Lärche entfernt, die einen wollten links um den Baum, die anderen rechts herum, und da verfingen sie sich eben mit den Riemen, saßen fest. Und das Ungetüm war sofort nach dem Anprall gegen unseren Baum drauf zugestürzt und auf den Hunden herumgetrampelt. Etwas Näheres war schwer zu unterscheiden. Der Schnee war dort nicht sehr hoch und ganz fest gefroren, von Grund auf. Eine schrecklich heulende und winselnde Masse von Hundeleibern und Hundebeinen, auf denen das Ungeheuer herumstampfte. Dann wurde es still, und der Wisent verließ den rotgefärbten Schneeplatz, um wieder nach unserer Lärche zurückzukehren.
Das hatten wir beobachtet, während wir uns zwischen den Ästen der Lärche häuslich einrichteten, und es war alles schneller geschehen, als ich hier beschreiben konnte.
»So«, sagte Peitschenmüller gemächlich, auf seinem Aste sitzend und mit den Beinen baumelnd, »ich habe einmal gesagt, ich würde niemals wieder so einen wilden Büffel bändigen, weil man gar zu schreckliche Hilfsmittel dabei anwenden muss. Aber diesen Wisent dort unten werde ich mir noch einmal vornehmen, den werde ich noch einmal dressieren. Das bin ich schon den Manen unserer sechs braven Hunde schuldig.«
»Zunächst aber«, entgegnete ich, »scheint mir dieser Wisent derjenige zu sein, der uns dressiert!«
Juba Riata lächelte über meine Bemerkung, allerdings ein etwas verlegenes Lächeln.
Ihm, dem erfahrenen Jäger, war nämlich dieselbe fatale Sache passiert, die bei mir schon eher verzeihlich war.
Unsere Gewehre hatten wir so wie so im Stiche lassen müssen, das hatte nicht anders sein können. Aber ich hatte während der Schlittenfahrt aus Bequemlichkeit auch meinen Gürtel mit dem schweren Revolver und dem Jagdmesser abgelegt, und dasselbe hatte auch Peitschenmüller getan, für mich schier unbegreiflicher Weise, dass er sich einmal von seinen Handwaffen getrennt hatte.
Das lag jetzt dort unten im Schnee verstreut, zum Teil weit ab vom Baume, und kein Gedanke daran, dass wir hinabspringen und es holen konnten, so lange es das Ungeheuer nicht wollte.
»Oder haben Sie noch einen anderen Sackpuffer bei sich?«, setzte ich noch hinzu. »Ich nicht.«
Er hatte seine augenblickliche Verlegenheit überwunden.
»Nein, ich auch nicht, und was nützt mir denn auch eine Feuerwaffe, wenn ich den Stier bändigen will. Dazu habe ich hier etwas anderes.«
Und er wickelte seinen Lasso ab, den er quer über Brust und eine Schulter trug.
Allerdings, an diese seine Waffe hatte ich im Augenblick gar nicht gedacht.
Zunächst bemerke ich, dass er mit seiner Wurfschlinge ja auch recht gut unsere Schusswaffen wieder herbeiholen konnte, mochten sie auch noch so flach auf dem Schnee liegen. Die Cowboys heben ja im Wettkampf mit ihren Lassos kleine am Boden hineilende Schlangen auf.
Aber damit wollte sich Juba Riata nicht aufhalten, schon befestigte er das eine Ende sorgfältig an einem starken Aste in der Nähe des Hauptstammes, machte die Schlinge bereit, sie dem Stiere über den Kopf zu werfen. Da muss ich nun zunächst etwas anderes erwähnen. Wer diesen Lederriemen sah, nur fingerbreit und ziemlich dünn, würde es nicht für möglich gehalten haben, mit ihm solch ein Ungeheuer festzuhalten, wenn es seine ganze Kraft anstrengte, und noch weniger hätte jemand geglaubt, dass dieser Riemen solch einen furchtbaren Ruck aushielt, wie ihn der Wisent dann gab. Das musste man mit eigenen Augen gesehen haben.
Unzerreißbar ist ja schließlich nichts in der Welt, aber ich hatte schon öfters Gelegenheit gehabt, zu beobachten, was dieser dünne Lederlasso in Peitschenmüllers Hand aushielt, deshalb zweifelte ich von vornherein nicht an dem Experiment.
Mit diesem Lasso war ein Geheimnis verknüpft, wie es überhaupt mit dem ganzen Leder der Fall ist.
Die Umwandlung von roher Tierhaut in Leder ist wohl eine der ältesten Erfindungen der Menschheit, es gibt heute kein wildes Volk, welches diese Kunst nicht versteht — in der Steinzeit war sie aber noch nicht bekannt — und dennoch steht unsere moderne Wissenschaft dabei noch vor einem ungelösten Rätsel. Man weiß nicht, weshalb der Saft gewisser Baumrinden oder gewisse Chemikalien oder eine gewisse Fäulnis oder eine gewisse Art der Bearbeitung Tierhaut in. Leder verwandelt. Beide zeigen noch genau dieselbe Struktur, aber es ist etwas ganz anderes daraus geworden. Etwas total Verschiedenes. Der Unterschied ist so groß wie zwischen Eisenerz und gediegenem Stahl, oder wie zwischen Holz und Eisen. Man kann das Leder auch nicht wieder zurückverwandeln.
Verzeihe der Leser mir diese lederne Abhandlung. Aber man frage nur einmal einen Techniker aus der Lederindustrie, oder einen universellen Chemiker oder Physiker, was hier für ein Rätsel vorliegt, wie sich diese Herren den Kopf zerbrechen!
Und mir ahnt, dass die Menschheit dereinst mit der Tierhaut noch etwas ganz anderes anfangen wird. Die Umwandlung in Leder ist erst das Allerprimitivste, darüber sind wir im Laufe der Jahrtausende noch nicht hinausgekommen. Ich muss immer daran denken, wenn ich herrlich leuchtende Farben sehe, und es wird mir gesagt, dass es Anilinfarben sind, aus Teer hergestellt. Mich sollte es gar nicht wundern, wenn man noch einmal aus Tierhaut undurchdringliche Panzerplatten einerseits und anderseits seidenartige, in allen Farben schillernde Gewänder herstellen kann.
Für den Rinder- und Pferdehirten Amerikas ist der Lasso ein unentbehrliches Werkzeug geworden. Von ihm hängt seine Ehre und sein Leben ab. Ich glaube, nur ein indischer oder japanischer Schwertfeger verwendet auf die Herstellung einer Klinge, die ihn unsterblich machen soll, so viel Sorgfalt wie so ein Cowboy auf die Herstellung seines Lassos. Man denkt vielleicht, da wird eben eine Ochsenhaut in Streifen zerschnitten, dann ist der Lasso fertig. Jawohl. Ich habe es mir erzählen lassen. Das bedarf vieler Jahre tagtäglicher Arbeit! Sie fängt schon mit dem Kalbe an. Nein, schon mit der zukünftigen Mutter, die das Tier erzeugt, welches einst das Leder liefern soll. Denn so wie die Inder Stiere mit riesigen Hörnern erzeugen können, die sie zu ihren religiösen Zeremonien bedürfen, was aber nur auf Kosten des ganzen übrigen Körpers geschieht, das Tier selbst verkümmert dabei, so wollen die Cowboys schon bei lebendigen Tieren eine ganz besondere Art von Haut, schon bei lebendigem Leibe richtiges Leder erzeugen können. So behaupten sie, und ich glaube es ihnen.
Der Cowboy, der sich einen neuen Lasso zulegen will, sondert eine trächtige Kuh von der Herde aus — wenn er nicht schon für einen besonderen Vater gesorgt hat — widmet ihr seine ganze Sorgfalt, füttert sie in besonderer Weise, wofür jeder sein Geheimnis hat. Noch mehr gilt das, wenn das Kalb geboren wird, am Euter liegt. Dann, wenn es abgesetzt ist, bekommt es nur noch abgerahmte Milch. Bis wegen Fettmangel die Haut rissig zu werden droht. Zusätze von gepulverten Schildkröten- und Schneckenschalen mögen dabei doch nicht nur so auf Aberglauben beruhen. Dann aber bekommt es wieder massenhaft blanke Butter zu fressen, bis es das Fett aus den Poren schwitzt Auch äußerlich wird es mit besonderen Salben eingerieben. Dazu wird es geschoren, sogar rasiert, täglich gebadet, keine Zecke darf sich einfressen, keine Bremse darf es stechen. Dazu immer wieder eine besondere Fütterung, einmal ganz trocken, einmal recht feucht. Und das geht jahrelang so fort. Es tun sich dazu immer mehrere Hirten zusammen. Bis frühestens im dritten Jahre das Rind getötet wird. Am besten soll es sein, wenn es sich bei großer Kälte durch Öffnen einer kleinen Ader langsam verblutet. Aus der kolossal dick gewordenen Haut werden zwei Streifen von gleicher Länge geschnitten. Erst jetzt werden diese gegerbt, müssen ein halbes Jahr in der Erde faulen, müssen andere Prozeduren durchmachen, immer mit geheimnisvollen Ingredienzien. Dann, wenn es so weit ist, wird jeder Lederstreifen dem Durchschnitt nach dreimal gespalten. Offenbar also werden die drei verschiedenen Hautschichten, Lederhaut, Unterhautzellgewebe und Epidermis, von einander getrennt. Sehr bezeichnend aber ist schon, dass diese amerikanischen Hirten von fünf verschiedenen Schichten sprechen, wovon unsere Wissenschaftler nichts wissen wollen. Die Russen, deren Juchtenleder wir nicht nachahmen können, sprechen wenigstens von vier verschiedenen Hautschichten.
Zwei von diesen verschiedenen Bändern werden ganz, ganz dünn geschabt, sodass also zusammen vier Bänder entstehen, und diese werden nun zusammengenäht, also vierfach, in abwechselnder Reihenfolge, der offene Rand wird gesteppt.
So entsteht nach jahrelanger Arbeit ein echter Lasso, die Riata der Mexikaner und Texaner. Da darf man wohl glauben, dass solch ein Lederband seinem Besitzer um nichts feil ist. Das ist überhaupt schon etwas ganz anderes als Leder. Weich wie ein Seidenband, und dabei noch viel fester als Seide. Und das Gespinst der chinesischen Seidenraupe ist heute das Festeste, was wir kennen. Das heißt, es hält die größte Zugkraft aus. Da kann kein Metalldraht mit. —
Solch ein Lasso war es, dessen eines Ende Juba Riata, nach der spanischen Bezeichnung dieses Instrumentes so genannt, anknüpfte, die Schlinge wurfbereit machend.
Unten stand das Ungeheuer, schielte mit seinen tückischen Augen zu uns empor. Wenn ihm die Schlinge nur über die kurzen Hörner, nicht über den ganzen Kopf fiel, so war das natürlich Absicht. Peitschenmüller konnte, wie wir erprobt hatten, aus zehn Meter Entfernung eine an einem Faden schnell hin und her pendelnde Apfelsine »einfangen«, wozu er also die Schlinge mit einem besonderen Ruck auch noch von unten nach oben dirigieren musste!
Die zugezogene Schlinge saß fest. Der Stier fühlte etwas Unangenehmes, schüttelte sich, stieß — zum ersten Male — ein dumpfes Brüllen aus, rieb den Kopf an dem Baume, dass dieser wie Espenlaub zitterte. Und nun geschah dasjenige, was niemand für mögliche gehalten hätte. Aber es war sogar ein dreifaches Wunder. Erstens, wie ganz genau dieser ehemalige Cowboy die ausgestreckte Länge seines Lassos berechnen konnte; zweitens, wie er sich dann dem Stiere gegenüber benahm, was er noch extra für ein Kunststückchen leistete; und drittens eben, was dieses dünne Lederband aushielt.
»Haben Sie sich fest, es gibt einen gewaltigen Ruck!«, So rief Peitschenmüller, sprang mit gleichen Beinen von seinem Ast und rannte davon. Der Stier sofort ihm nach. Aber weit ging es nicht. Plötzlich blieb Juba mit einem Ruck stehen, wandte sich blitzschnell um, kreuzte gleichzeitig die Arme über der Brust. Es ist schwer zu schildern, worauf es hierbei ankam, worin das Fürchterliche und Grandiose der ganzen Situation lag. Bei spanischen Stiergefechten mag man Ähnliches zu sehen bekommen.
Der Stier, dicht hinter ihm, mit gesenkten Hörnern auf ihn los, in vollem Galopp. Aber da, wie sich Juba Riata umgedreht hatte, wie ich schon die spitzen Hörner in seinem Leibe sah, gab es in dem Baume einen furchtbaren Ruck, der mich trotz aller Vorsicht fast herabgeschleudert hätte.
Die Sache war eben die, dass Peitschenmüller ganz genau die Länge des Lassos berechnet und sich so hingestellt hatte, dass die Hörner des Ungeheuers gerade seine Kleidung berühren konnten. Im übrigen kann ich, wie gesagt, die Fürchterlichkeit dieser Szene gar nicht schildern.
Ich hatte einen Schreckensschrei ausgestoßen, kalter Angstschweiß um meinen Kameraden brach mir plötzlich hervor. Da war es schon geschehen. Das Kunststückchen, wie in der Arena ausgeführt, war gelungen, und der Lasso hatte die furchtbare Kraft des Ruckes ausgehalten.
Jetzt begann Juba im Kreise zu gehen, der Stier ihm immer nach, schäumend vor Wut, dass er den Menschen nicht erreichen konnte, dabei nicht merkend, wie er sich selbst an dem Riemen um den Baum aufwickelte. Oder er merkte doch vielleicht, wie er immer mehr zurückgedrängt wurde, dachte aber nicht daran, sich durch Laufen nach der entgegengesetzten Richtung wieder abzuwickeln, nur dass er ab und zu etwas zurückwich, um mit einem neuen Anlauf gegen seinen Bändiger loszugehen.
»Ruhig, nur ruhig, mein Tierchen, wir werden schon noch die besten Freunde!«, sagte Peitschenmüller, dem Wisent den ungeheuren Kopf streichelnd.
Es sah ganz, ganz merkwürdig aus, wie der das wutschäumende Ungeheuer zwischen den Hörnern kraulte. Aber was wollte der Wisent dagegen machen? Beißen tun diese Rinder nicht. Auch nicht ausschlagen. Sie kennen keine andere Angriffs- und Verteidigungswaffe als ihre Hörner. Und die konnten den Mann immer nur gerade mit der äußersten Spitze berühren.
Der Lasso hatte sich vollständig aufgewickelt, der Wisent stand mit dem Kopfe dicht am Stamme. Wie sich das Ungetüm gebärdete, in seiner ohnmächtigen Wut, kann ich gar nicht beschreiben
Da sprang Peitschenmüller davon, dort, wo unser Schlitten in Trümmern gegangen war, zwar an diesem Lärchenstamme, aber als Haupttrümmerhaufen doch etwas abseits liegend, er hob einige Riemen auf, sprang auch dorthin, wo die sechs Hunde ihr Ende gefunden hatten, sammelte auch dort einiges blutiges Riemenzeug aus, schnitt es ab und kehrte zurück.
»Soll ich Ihnen helfen?«, fragte ich.
»Nein, bitte, bleiben Sie oben, mir noch aus der Schusslinie.«
Infolgedessen sah ich nicht deutlich, wie er es anfing, den Stier zu fesseln. Dieser gebärdete sich ja fürchterlich, sonst aber schien die ganze Sache spielend vor sich zu gehen.
Als dann Juba wieder um den Baum marschierte, um das Lasso sich wieder etwas aufwickeln zu lassen, sah ich nur, dass der Stier zwischen seinen Füßen sich kreuzende Riemen hatte. Wie Juba es fertig gebracht hatte, sie anzulegen, weiß ich nicht. Jedenfalls aber hinderten sie das Tier jetzt noch nicht an seiner Bewegungsfreiheit.
Da, wie sich der Wisent wieder drei Meter von dem Stamme entfernt hatte, ein Ruck von Müller, gar nicht so gewaltig, aber im Nu brach das Ungeheuer zusammen, wälzte sich schrecklich brüllend auf die Seite und auf den Rücken, die eng zusammengefesselten Füße in die Luft reckend, brachte sich auch wieder auf die Seite, aber nicht mehr auf den Bauch.
»So, es ist geschehen«, sagte Juba Riata gleichmütig, »nun kommen Sie herab, nun wollen wir unseren Weg nach jener Höhle fortsetzen.«
Ich sprang herab, am ganzen Leibe zitternd. Vor Aufregung, vor Begeisterung. Es war ein gewaltiges Schauspiel gewesen, wie das Menschlein diesen Riesen des Urwaldes besiegt hatte, durch nichts anderes als durch Anwendung einiger Riemen. Und durch seine Erfahrung, seine Gewandtheit und Kaltblütigkeit — was dabei wahr die Hauptsache ist. Immerhin, es war doch etwas ganz anderes gewesen, als wenn man solch ein Ungeheuer oder ein Raubtier durch eine Kugel zur Strecke bringt, wozu aber ein Gewehr und Pulver gehört, was beides der betreffende Jäger sicher nicht erfunden und selbst hergestellt hat. Der Leser versteht wohl, was ich meine! Im Grunde genommen ist es nicht der Jäger, sondern der Gelehrte am Schreibtisch und im Laboratorium, der durch seine Geisteskraft die Erde von Raubtieren befreit, solch ein pflanzenfressendes Ungeheuer bezwingt, tötet. Hier hatte aber einmal die Menschenkraft allein gesiegt. Die fesselnden Riemen durfte man als gerechte Zugabe betrachten. Das war noch mehr gewesen als der Kampf eines alten Germanen, der solch einem Ungetüm mit der selbstgefertigten Lanze zu Leibe ging.
»Sie wollen den Stier hier liegen lassen?«
»Ja, er muss erst einige Zeit hier liegen bleiben, ehe ich ihn mir zur Dressur vornehme. Er muss erst tüchtig ausgehungert sein.«
»Die Fesseln werden halten?«
»Da können Sie beruhigt sein. Unsereiner versteht ebenfalls Knoten zu schürzen, die sich bei dem Bemühen, sie zu lockern, nur immer fester zusammenziehen.«
»Wie lange werden Sie ihn hier liegen lassen?«
»Bis morgen früh.«
»Werden sich nicht Raubtiere an den hilflosen Gefangenen machen, Bären und Wölfe, die es hier doch sicher gibt?«
»Wenn ich von dem amerikanischen Büffel auf solch einen Wisent schließen darf — nein. So lange der Stier lebhaft genug ist, sich unter einem Brüllen aufzurichten, das heißt, es nur zu versuchen, wird der stärkste Bär und das verhungertste Wolfsrudel ihn nicht anzugreifen wagen, und dasselbe würde vom Löwen und Tiger gelten. Ich kenne das. Diese wilden Urtiere sind die gefürchtetsten Tiere von allen. Aber gespannt bin ich, wenn ich diesem asiatischen Wisent einmal meinen amerikanischen Büffel gegenüber stelle, wer da im Kampfe Sieger bleiben wird.
»In einem regelrechten Zweikampfe auf Leben und Tod?«, fragte ich interessiert.
»Ja. Sobald ich meinen Teufel hier habe, werde ich die Sache einmal arrangieren. Amerika gegen Asien. Wenn ich auch die spitzen Hörner durch Kugeln unschädlich machen werde. Aber um Tod und Leben werden die beiden dennoch kämpfen, oder es müssten nicht zwei alte Bullen sein, zumal verschiedener Rasse. Die gehen sofort auf einander los. Ich bin nicht gerade ein Freund von solchen Kampfspielen, aber das ist man geradezu der Wissenschaft schuldig, und außerdem gewährt man den beiden Tieren selbst die größte Freude. Es ist ihnen sogar sehr gesund, sonst können sie leicht tiefsinnig und dadurch toll werden, gehen ein. Solch ein Kampf gibt ihnen immer wieder neue Lebenslust. Nur muss man sie eben gegen ernste Verwundungen schützen.«
Ja, auf solch einen Kampf zwischen dem amerikanischen Bison und dem asiatischen oder auch europäischen Wisent, dem germanischen Auerochsen, durfte man allerdings gespannt sein.
Wir wandten uns nun der schon erwähnten Höhle zu, oder die wir doch vermuteten. »Haben Sie den Mister Merlin vielleicht wegen der Schätze des Flibustierkapitäns gefragt, ob wir die hier finden werden?«, meinte Peitschenmüller, als wir noch auf dem Wege nach der Felswand waren, jetzt bescheiden auf Schusters Rappen.
Nein, daran hatte ich gar nicht gedacht! Und nicht die Patronin, niemand anders hatte mich gefragt, ob ich hierüber jenen geheimnisvollen Mann gesprochen hätte.
Da sieht man, wie geringschätzend wir alle über den schnöden Mammon dachten. Zumal wir durch den sechsmonatlichen Aufenthalt in Petersburg unseren New Yorker Verlust wieder ersetzt hatten.
Manchem Leser dürfte es unglaublich erscheinen, dass man mit Zirkusvorstellungen innerhalb von sechs Monaten mehr als acht Millionen Mark verdienen kann. Es ist durchaus nicht unglaublich, wenn man die Verhältnisse kennt. Petersburg mit seinen anderthalb Millionen Einwohnern hat zwei ständige Zirkusse, einen mit 4000, den anderen mit 1500 Plätzen. Im ersten wollte der amerikanische Zirkus Stokis für den Winter gastieren, im zweiten der Franzose Loisset. Beide verzichteten unseretwegen auf das Petersburger Winterspiel, hatten andere Gastreisen unternommen, und gegen den Franzosen, der dadurch schwere Verluste gehabt, waren wir sehr nobel gewesen. Das war bereits in Bordeaux telegrafisch und durch Agenten erledigt worden. Stokis hatte täglich 6000 Mark Unkosten. Ein Riesenwanderzirkus wie Barnum und Bailey hat fast die doppelten. Wer sich für solche Verhältnisse interessiert, der lese das Buch »Buntes aus der Zirkuswelt« von Signor Domino, wo die Höhen der Gagen und alle anderen Unkosten eines Zirkus angeführt sind, als zur Peitsche und dem »Panneau«, dem flachen Polstersattel. Wobei aber zu bedenken ist, dass dieses Buch die Zirkusverhältnisse der Jahre 1860 bis 1880 schildert. Heute hat sich das noch bedeutend geändert, heute ist ein guter Clown unter 2000 Mark gar nicht mehr zu haben. Nun, und wir hatten tagtäglich Vorstellungen gegeben, jene 5500 Plätze wurden auf unsere 1000 reduziert, deshalb waren sie auch täglich besetzt, deshalb konnten wir auch ganz andere Preise fordern, und wir hatten ja überhaupt gar keine Unkosten.
Dabei will ich noch etwas anderes erwähnen, nur zwei Fälle will ich von hundert anderen herausgreifen. Ich tue es nicht gern, die ganze Sache behagt mir nicht. Ich will nur zeigen, wie wir gestellt waren.
Der Matrose Albert hatte eines Tages in Begleitung eines rosafarbenen Billettchens eine Busennadel zugeschickt bekommen, die noch vor kurzem in einem Juwelierladen mit 4000 Rubel ausgezeichnet gewesen war.
Ja, das war Albert, der Evangeliumsänger, der mit seiner Stimme immer mehr alles in seinen Zauberbann schlug! Wer hat von solchen Tenören nicht schon gehört, wie die vergöttert werden! Für den allein konnten wir ja auch den zehnfachen Eintrittspreis fordern, und unsere Batterie wurde knallvoll. Aber nein, es brauchte nicht gerade Albert der göttliche Sänger zu sein.
Eines Morgens war der Heizer Ferdinand — der Nante — mit einem Viergespann von vier prachtvollen tscherkessischen Hengsten vorgefahren gekommen. Schon allein das Zobelpelzwerk des Schlittens repräsentierte ein großes Vermögen. Dies alles war über Nacht sein Eigentum geworden Weshalb, weiß ich nicht. Ich meine: ich bin kein Weib, keine Fürstin X. Ich weiß nicht, wie die an dem geradezu hässlichen, pockennarbigen Kerl einen Narren gefressen haben konnte. Eben Faszination, erzeugt durch öffentliches Auftreten.
Er freute sich nicht lange an dem Geschenk, das Viergespann wurde ziemlich preiswert verkauft, und da wir das Geld durchaus nicht in unsere Schiffskasse aufnehmen wollten, schickte er die Hälfte davon nach Hause, die andere überwies er einer Lepra-Kolonie, einer Station für Aussätzige.
Das sind nur zwei von hundert oder vielmehr Hunderten von Fällen. Und es sind noch lange nicht die extremsten. Mehrere von uns wurden in Petersburg Hausbesitzer, oder hätten es doch werden können. In Petersburg sind die Verhältnisse noch viel lockerer als in Paris, und mehr Geld ist ganz sicher vorhanden.
Aus Geldmangel konnten wir also nicht verderben, das wollte ich hiermit nur sagen, sonst hätte ich gar nicht davon angefangen. Denn diese Geschichten waren mir höchst unangenehm — und noch vielmehr natürlich unserer Patronin.
Wir hatten unser Ziel erreicht.
Ja, es war eine Öffnung, die tiefer in die Felswand hinein ging, also eine Höhle, groß genug, um mit einem Fuder Heu hineinfahren zu können.
Zunächst wurde unsere Aufmerksamkeit durch eine Inschrift gefesselt. Die Felswand hing etwas über, direkt über der Höhle war sie noch besonders durch vorspringendes Gestein gegen Schneefall geschützt, und hier nun hatte ein Meißel mit großen Buchstaben sechs Zeilen eingehauen, in deutscher Sprache. Sie lauteten:
Ist einer Welt Besitz für Dich zerronnen,
Sei nicht in Leids darüber, es ist nichts;
Und hast Du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
Vorüber gehn die Leiden und die Wonnen.
Geh an der Zeit vorüber, es ist nichts.
Ich bemerke im Voraus, dass wir solcher Inschriften noch viele fanden, Sinngedichte, weise Aussprüche, Lebensregeln und dergleichen, über Höhlen oder sonst wo in die Felswand eingemeißelt, ohne dass der Inhalt einen Bezug auf diesen Ort hatte. So wie man eben ein Zimmer mit Sinn- und Bibelsprüchen schmückt, die gewöhnlich wie die Faust aufs Auge passen. So wie über mancher Haustür die schöne Einladung steht: »Gott segne Deinen Eintritt« — und wenn man eintritt, dann fährt einem die Hausfrau mit dem Besen ins Gesicht. Wie es mir einmal ergangen war, als ich einen schief geladenen Kapitän nach Hause gebracht hatte. Der wusste sich zu schützen, ich bekam als Segen Gottes die Prügel.
Diese Sprüchlein schufen die Namen, die wir den verschiedenen Gegenden und besonderen Punkten des weiten Tales gaben, um uns in der Unterhaltung orientieren zu können, wir entwarfen dann auch eine topografische Karte, in die diese Namen eingetragen wurden.
Diese Höhle hier zum Beispiel wurde »Nixenhöhle« getauft.
Weswegen? Weil es hier drin Nixen gegeben hatte? Absolut nicht, keine Spur von Nixen. Ich sagte ja auch schon, dass der Inhalt solcher Verse und Sprüche nur Veranlassung zu den Namen gaben, welche selbst den Ort oder die Umgebung nicht etwa charakterisierten.
Und nun sehe man sich daraufhin jene sechs Strophen noch einmal an. Drei von ihnen enden mit den resignierten Worten: es ist nichts.
Nun, da hatten meine Jungen, sobald sie diese Höhle und diese Verse kennen lernten, sie eben das »Nischtloch« getauft.
»Du Hein, geihst mit mi ins Nischtloch?«
Das ging wohl unter den Matrosen, aber doch nicht unter dem besseren Kreise unserer Bordmannschaft oder vielmehr Damenschaft.
Nichtsloch Nixloch Nixhöhle — — — auf diese Weise entstand endlich Nixenhöhle, so wurde der Punkt in der Karte eingetragen, obgleich es dort gar keine Nixen gab, weshalb die Matrosen auch ganz recht hatten, wenn sie bei ihrem »Nischtloch« blieben. Oder, um noch ein anderes Beispiel zu zeigen, wie bei uns die Ortsnamen entstanden: da gab es auch eine Petersilienschlucht.
Eine Schlucht war es wohl, aber von Petersilie gar keine Ahnung.
Wie die dann zu diesem Namen gekommen war?
In dieser Schlucht stand in der Felswand ein Vers aus der Bibel eingemeißelt:
Da sprach Petrus: Sie lieben die Hoffahrt der Welt und so weiter.
So, das genügte zur Namenstaufe! Die Matrosen nahmen einfach die Worte oder Silben heraus, aus Petrus Peter machend: Peter sie lie...
Da war eben die Petersilienschlucht fertig.
Nur immer geistreich!
Da sieht man aber auch, dass ich von solchen Sachen gar nicht erst anfangen darf. Denn meine Jungen wurden von solchem Geistreichtum dermaßen geplagt, dass ich, wenn ich da ausführlich werden wollte, ein Werk im Format eines zwanzigbändigen Konversationslexikons schreiben müsste. Geordnet nach hunderttausend Stichwörtern. Und dabei wären die humoristischen Handlungen noch ganz ausgeschlossen. Also lieber gar nicht erst anfangen.
Aber wirklich, der Schriftsteller fehlt uns noch, der sich die Wiedergabe des deutschen Matrosenwitzes zum Lebenszweck macht. Nachdem einem der Saphir und der Baron Mikosch und der jüdische Witz und ähnliches nun schon zum Halse heraushängt. Freilich muss man das meiste selbst, im Mannschaftslogis und an Deck hören, die Wiedergabe dürfte schwer sein. — — —
Es machte auf uns beide den gewaltigsten Eindruck, was wir da über der Höhle lasen.
Weshalb, das ist schwer zu sagen.
Es war das... ganze Milieu, wie man wohl sagte, wodurch diese Verse so mächtig auf uns wirkten. Diese Verse in deutscher Sprache, die grenzenloseste Weltverachtung predigend, wie sie da plötzlich in dem verschneiten Walde, im Herzen Sibiriens vor uns hintraten.
Dreimal schon hatte sie Peitschenmüller laut gelesen, immer feierlicher und feierlicher.
»Großartig, großartig!«, rief er dann. »Ob das von diesem Merlin selbst ist?«
Ich wusste es nicht.
Nein, es war nicht von ihm. Doktor Cohn hat es mir dann gesagt. Es ist aus Saadis Gulistan. Scheich Musslich eddin Saadi war ein persischer Philosoph und Dichter, im 12. Jahrhundert, lebte lange Zeit in Damaskus am Hofe, bis er sich in die Wüste zurückzog, in ein Felsenloch.
»Meiner Freunde in Damaskus müde, beschloss ich in die Einsamkeit zu gehen.«
So fängt eine seiner Liedersammlungen an, Gulistan betitelt, das ist »Rosengarten«, gedichtet in der öden Wüste. Die er sich aber in seiner Einbildung in einen Rosengarten umzugestalten wusste.
Die unübertreffliche Übersetzung ins Deutsche ist von Graf. Unübertrefflich deshalb, weil sie alle Feinheiten des persischen Originals bis ins Kleinste wiedergibt. Man beachte den reimenden Wohllaut auch innerhalb der Verse.
»Was werden wir wohl in dieser Höhle finden, die solch eine bedeutungsvolle Überschrift trägt?«, fragte Peitschenmüller.
»Na«, entgegnete ich poesieloser Mensch, »wenn alles in der Welt nischt ist, dann dürfen wir auch nicht erwarten, in dieser Höhle viel mehr als nischt zu finden.«
Also war eigentlich ich derjenige, der schon den Grund zur »Nischthöhle« legte.
Und meine Weisheit sollte denn auch recht behalten. Unsere Benzinlampen, die wir bald anstecken mussten, beleuchteten nichts weiter als nackte Felswände, und das war noch der Fall, als wir schon mindestens 30 Meter tief eingedrungen waren.
Und dort war schon das Ende der Höhle zu sehen, gleichfalls wieder eine nackte Felswand.
Da blieb Peitschenmüller stehen, witterte wie ein Jagdhund.
»Riechen Sie nichts?«
Auch ich schnüffelte, mehr mit den Augen, indem ich mich nämlich dabei umsah, was hier riechen könnte.
»Ich rieche nichts.«
»Doch!«
»Geh am Geruch vorüber, es ist nischt!«, deklamierte ich.
»Ich rieche es ganz deutlich.«
»Na was denn nur?«
»Es riecht hier nach — nach... Patriarchen.«
»Waaas?! Wonach soll's hier riechen?!«, staunte ich natürlich nicht schlecht.
»Nach Patriarch, nach Lebenseiche! Und ich irre mich nicht, immer lebhafter fühle ich mich in die texanische Savanne versetzt!«
Mit diesen Worten eilte Müller vorwärts, auf die abschließende Felswand zu, wandte sich seitwärts und blieb mit einem Rufe der Überraschung stehen, und dann, wie ich neben ihm stand, starrte und staunte auch ich.
Diese Felswand schloss die Höhle eben nicht ab. Der Gang machte eine scharfe Biegung, und da...
Ja, da erblickten wir etwas!
Diese Biegung mündete sofort ins Freie, und vor uns lag unübersehbar eine blumige Prärie, in dem bunten Grasmeere ab und zu eine einförmig grüne Waldinsel, und gleich neben dem Höhlenausgange stand ein riesenhafter Baum mit silberweißen Blättern, dessen Zweige bis auf den Boden herabhingen das Ganze einem silbernen Berge vergleichbar, und solcher erhob sich noch hier und da, immer ganz einzeln stehend, Lebenseichen, wegen ihrer weißen Blätter und überhaupt ehrwürdigen Aussehen »Patriarchen« genannt, welche die texanische Prärie charakterisierten.
»Bei Gott, die texanische Savanne!«, rief Juba Riata außer sich. »Ich irrte mich nicht, der balsamische Duft, den die Patriarchen aushauchen, sagte es mir gleich, und auch dieses kurze Gras, diese Blumen sind nur der texanischen Savanne eigen... Kapitän, Kapitän, erklären Sie mir dieses Rätsel!«
Ich antwortete nicht, fand keine Worte, ich stand und staunte und starrte.
Für mich war jedenfalls ein noch viel größeres Rätsel vorhanden als wie für meinen Begleiter.
Ich als alter Seemann starrte vor allen Dingen in die Sonne, so weit man in die blendende Sonne starren kann, und dann war mein nächster Griff nach der Taschenuhr. Gleich halb vier.
Das musste nach Ortszeit, auf welche ich meine Uhr hier eingestellt hatte, wohl stimmen, dafür sorgte schon Doktor Cohn.
Ja, was war denn da mit der Sonne passiert?! Die stand jetzt ganz anderswo. Wohl im Südsüdosten, wie mir der Kompass sagte, aber jetzt nachmittags halb vier noch in einer Höhe, die sie in dieser nördlichen Gegend Sibiriens auch nicht am 22. Juni zur Mittagsstunde erreichte! Das weiß unsereins, der immer mit Sonnen- und Gestirnzeiten zu rechnen hat, doch gleich aus dem Kopfe. Ganz abgesehen davon, dass wir dort drüben einen wolkenbedeckten Himmel gehabt hatten, während er hier ganz blitzblau war.
Ich mich umgedreht, um wieder in und durch die Höhle zu rennen, schon mein Taschenbesteck in der Hand, mit Sextant und was sonst noch dazu gehört.
Ich kam nicht weit. Da trat hinter jener Biegung die gelblederne Gestalt mit den silbernen Locken hervor.
»Gib Dir keine Mühe, Freund«, sagte die glockenartige Stimme. »Ich kann Dir sagen, was Du bestimmen würdest, vorausgesetzt, wenn es Dir gelänge, alle die komplizierten Verwicklungen zu lösen: Du würdest ungefähr den 100. westlichen Längengrad und den 33. nördlichen Breitengrad herausrechnen.«
»Das wäre dann wirklich Texas!«, durfte ich sofort rufen.
»Du sagst es. Nur das wirklich musst Du weglassen.«
»Du meinst, dies alles hier wäre gar keine Wirklichkeit?!«, stutzte ich, und dabei sah ich Peitschenmüllern schon in dem kniehohen Grase stehen, sah, wie er eine Prärierose abpflückte.
»Ja und nein und nein und ja!«, lächelte der jugendliche Greis. »Ich könnte Dir alles erklären, aber Du würdest mich nicht verstehen. So lasse mich einmal fragen. Ihr habt an Bord Eures Schiffes einen alten Araber, der Euch in einem besonderen Raume wunderbare Sachen vormacht. Ist das, was er Euch da vormacht, Wirklichkeit?«
»Nein, es ist alles eben nur Gaukelei, er versetzt uns in einen Zustand, in dem wir alles für Wirklichkeit hinnehmen, was er uns suggeriert, durch erzählende Worte oder auch nur durch Gedankenübertragung.«
»Aber unterscheidet sich das, was Ihr in dem Raume seht und erlebt, von der Wirklichkeit?«
»Das allerdings nicht.«
»Nun, dasselbe ist auch hier der Fall. Was aber Vater Abdallah nur in einem engen Raume vermag, den er mit seiner Einbildungskraft ausgefüllt hat, weil sie eben nicht weiter reicht, das kann ich hier in diesem meinem Reiche in endlose Weiten ausdehnen.«
Plötzlich, wie der geheimnisvolle Mann dies sagte, zuckte mir eine Erinnerung durch den Kopf.
Wir hatten es sogar in der Schule gehabt.
Der größte Gelehrte des 13. Jahrhunderts war Graf Albert von Bollstädt, genannt Albertus Magnus. Auch in der Magie soll er Unvergleichliches geleistet haben, aber er trieb nur »weiße Magie«, keine schwarze, also er war ein guter Zauberer, dem niemals der Prozess gemacht wurde. Die merkwürdigsten Sagen zirkulierten über ihn.
So besuchte ihn einmal der damalige Gegenkaiser Friedrichs II., Graf Wilhelm von Holland, in seinem Hause zu Köln, es war strenger Winter, Albertus führte ihn und sein ganzes Gefolge in einen paradiesischen Garten, bewirtete die Herren und Damen mit Pomeranzen und anderen Südfrüchten, die er von den Bäumen pflückte oder die sie sich selbst pflücken konnten.
So wurde uns vom Lehrer in der Schule erzählt, so habe ich es auch in anderen Büchern gelesen, so steht es auch in älteren Konversationslexika, welche noch solche Einzelheiten aufführten, weil sie sich noch nicht so viel mit den modernen Erfindungen zu beschäftigen hatten, und dies alles ist Kölner Chroniken entnommen, die heute noch im Stadtarchiv existieren. Nun müssen wir das aber doch auf natürliche Weise erklären, sonst wären wir doch keine modernen Menschen.
Und da heißt es, dass Albertus Magnus in seinem Hause einen Wintergarten besessen habe, ein Treibhaus, damals in Deutschland noch unbekannt.
So! Und von diesem Wintergarten zu Köln hätten alle die Chronisten nichts gewusst, die über Albertus Magnus und das ganze Treiben in der Stadt berichten?
Nein, meine Herrschaften, dann glaube ich lieber, dass der alte Albertus wirklich zaubern konnte! Und nicht anders ist es auch gewesen. Der hat schon etwas von Hypnotismus gewusst, wahrscheinlich sogar noch viel mehr, als wir heute davon wissen. Der hat der ganzen Gesellschaft nur eine Halluzination vorgegaukelt. So wie es Goethe so köstlich schildert, wie die Studenten in Auerbachs Keller herrliche Weintrauben sehen, die sie abschneiden wollen, bis Mephistopheles sie erwachen lässt, und da haben sich die Studenten gegenseitig bei den Nasen gefasst.
Noch etwas anderes fällt mir ein. Im Jahre 1898 führte Lord James Churchill die Kommission nach Teheran, welche als neutrales Schiedsgericht die Grenze zwischen Beludschistan und Persien bestimmen sollte. Er verkehrte freundschaftlich mit dem Schah Muzaffer Mirza. Es war im Januar, vom Winter war dort freilich nichts zu merken, alles sonnenverbrannt.
»Ach, wäre ich jetzt in meinem winterlichen England!«, seufzte da eines Tages Lord Churchill, wie er im Salon unter einem Windventilator sich den Schweiß abtrocknete.
»Das kannst Du haben, nur einige Minuten Geduld!«, sagte der Schah.
Bald kam ein alter Derwisch, ließ die Fenstergardinen zuziehen, kauerte sich nieder, holte unter seinem Kaftan einen Blechteller hervor, legte Kräuter darauf, brannte sie an, atmete den Qualm ein, dann zog er seine Zunge endlos weit aus dem Munde heraus, bis zur Stirn empor, band sie dort mit einem Tuche fest, und nun klatschte er immer mit dem Kopfe vorn gegen die Brust und hinten gegen den Rücken, als gäbe es so etwas wie Halswirbel gar nicht.
Hierzu bemerke ich, dass ich genau dieselben Vorbereitungen, um Illusionen auszuführen, von indischen Fakiren gesehen habe, an Bord eines Schiffes, wo wir sie heimlich beobachten konnten. Die Sache wird eben die sein, dass diese Gaukler, um solche Massensuggestionen ausüben zu können, sich erst selbst in Hypnose versetzen, wovon wir im Abendlande noch gar nichts wissen. Ich meine: dass der Hypnotiseur, ehe er andere hypnotisiert, sich selbst hypnotisiert.
Jetzt stand der Derwisch auf, anscheinend ganz normal, zog die Fenstergardinen zurück. Man blickte von dem Fenster in einen morgenländischen Garten, mit Mandelbäumen und dergleichen, trotz aller künstlichen Bewässerung alles von der Hitze verwelkt, verdorrt. Eben der Winter in jener Gegend. Das heißt, man hatte sonst diesen verwelkten Garten erblickt. Jetzt sah Lord Churchill eine winterliche Landschaft mit nordischen Nadel- und anderen Bäumen, alles schneebedeckt, der Schnee lag fußhoch auch auf dem Fenstersims. Und nicht etwa, dass man dies nur durch die Scheiben sah. Lord Churchill durfte auch das Fenster öffnen, bittere Kälte schlug ihm entgegen, er konnte den Schnee greifen, Bälle daraus formen. Freilich hatte das seine Grenzen. Diese waren dort gezogen, wo sich die Fensterscheiben befunden hatten, jetzt also zwischen den Fensterrahmen. Nur wenn er den Kopf oder die Hand über diese Grenze hinaus streckte, empfand er die Kälte. Ins Zimmer selbst drang sie nicht. Und der Schneeball verschwand in seiner Hand, sobald er sie über diese Grenze zurückzog.
Als der Schah von dem Derwisch verlangte, er solle den englischen Gast auch hinausführen, ihn in dem Schnee herumwaten lassen, sagte jener, dass er dies zwar könne, aber es würde ihn zu sehr anstrengen, er weigerte sich entschieden, wofür der arme Kerl dann auch noch eine Tracht Prügel erhielt. Das konnte also nicht ausgeführt werden, und dieser Derwisch war zur Zeit in Teheran der beste Illusionist.
Lord Churchill begab sich hinaus und fand prompt den verdorrten morgenländischen Garten. Wieder zurück von diesem Fenster aus war wieder die Winterlandschaft zu sehen. Leute, die in den Garten geschickt wurden, waren nicht zu erblicken. Gegenstände, die sie von unten in dieses Zimmer der ersten Etage werfen mussten, kamen plötzlich wie von unsichtbarer Hand geschleudert hereingeflogen. Lord Churchill nahm sein Taschenmesser, schrieb auf die Elfenbeinschale seinen Namenszug und die gegenwärtige Uhrzeit bis zur Sekunde, warf es hinaus, sah es etwas in den Schnee einsinken, schnell hinaus und hinab, die Uhr in der Hand — er fand das Messer auf dem Gartensand liegen.
Jetzt berechnete er, noch im Garten selbst, die Stelle, wo ein großer Baum mit dickem Stamm stand, wie er dann zu werfen habe, begab sich ins Zimmer zurück, nahm eine Porzellanfigur, schleuderte sie nach der betreffenden Richtung, wo jetzt aber nichts mehr stand.
Den Erfolg will Churchill nicht richtig gesehen haben. Die Figur schien wie in der Luft zu verschwinden. Wie er wieder unten war, fand er die Porzellanfigur zerschmettert an dem Baum liegen. Von dem Zerbrechen war nichts zu hören gewesen.
Dann wollte der Lord auch zum Fenster hinaus und an einer Leiter hinab klettern, aber ehe diese kam, erklärte der Derwisch, dass ihn seine Kraft verlasse, und die Winterlandschaft verwandelte sich im Nu wieder in den morgenländischen Garten. Der arme Kerl nahm als Lohn für seine Bemühungen dankend eine Bastonade auf seine Fußsohlen in Empfang. —
So berichtet Lord James Churchill in seinen »Erinnerungen an Persien«. Es wäre geradezu töricht, zu glauben, dass dieser Mann dem Publikum etwas habe vorflunkern wollen. Hätte er lügen wollen, dann hätte er auch noch etwas ganz anderes zusammenlügen können. Außerdem gibt es tausende von Menschen, die im Morgenlande noch ganz andere Illusionen gesehen haben, und zu diesen gehöre auch ich. Wir Abendländer kommen erst jetzt auf den Standpunkt, dass wir wieder — diese Ära ist schon einmal dgewesen, es gibt nichts Neues unter der Sonne, es ist eine ewige Wiederholung — an Magie zu glauben beginnen. Dass es Seelenkräfte gibt, die in jedem Menschen unbewusst schlummern, die sich ausbilden lassen, sodass sie sichtbare Effekte erzielen. Das zeigt die heutige Anerkennung des Hypnotismus durch die Wissenschaft. Über den man noch vor 25 Jahren in keiner gebildeten Gesellschaft sprechen durfte, ohne ausgelacht zu werden. Das zeigt auch der Spiritismus, dessen Phänomene ebenfalls auf unleugbaren Tatsachen beruhen. Man darf nur keine Religion daraus machen. Aber das ist es eben, was die Menschen nun einmal nicht lassen können. Und das haben alle Religionsstifter, die doch gewiss kluge, weitsichtige Köpfe waren, im voraus gewusst, weswegen sie jegliche »Zauberei« streng verboten, Moses, Buddha, Zoroaster, Mohammed. — »So wäre dies alles gar keine Wirklichkeit?«, fragte ich, nachdem Merlin den Vergleich mit Vater Abdallahs Gaukeleien gezogen hatte.
»Für Dich ist es Wirklichkeit, gewiss.«
»Kann ich hier in Texas eine Blume pflücken und sie mit hinüber nach Sibirien nehmen?«
»Selbstverständlich kannst Du das, oder es wäre doch keine Wirklichkeit.«
»Es gibt hier doch auch Tiere.«
»Alle die Tiere, welche nach Texas gehören.«
»Wir können sie mit nach dem nordischen Tal hinüber nehmen, tot oder lebendig?«
»Sicher. Fangt Euch Pumas und Panther und zähmt sie, woran Ihr ja so große Freude habt — fangt Euch Mustangs und reitet sie zu, falls Euch das nicht bei den Kulans und Tarpans gelingt, die Ihr noch in Sibirien finden werdet. Nennst Du dies alles keine Wirklichkeit?«
Ich machte eine Pause, versank in Gedanken, bis ich mich wieder emporraffte, mit einem Körperruck.
»Mann, den ich mit Du anrede, weil Du kein zeremonielles Sie kennst — Du willst doch nicht behaupten, dass Du uns hier wirklich, wenn wir die 30 Meter lange Eishöhle passieren, nach der anderen Hälfte der Erdkugel nach Texas versetzen kannst?«
Über das ernste und doch so überaus gütige Gesicht des jugendlichen Greises huschte ein Lächeln.
»Nein, das behaupte ich nicht, und Du verlangst überhaupt viel von mir, Freund, wenn Du so etwas für möglich hältst. Dann müsste ich Gott selbst sein, der aber auch nicht gegen die von ihm einmal bestimmten Gesetze verstößt. Nein, es ist nur eine Theaterdekoration die ich hier für Euch aufgestellt habe, dass Ihr Euch ergötzen könnt, aber keine aus Pappe und Leinewand, überhaupt nicht aus materieller Substanz, sondern es ist eine geistige Dekoration, der nur scheinbar reelle Wirklichkeit verliehen ist, aber so, dass ein Mensch sie mit seinen fünf irdischen Sinnen nicht von der Täuschung unterscheiden kann. Eine andere Erklärung kann ich Dir nicht geben, Freund, Du würdest mich nicht verstehen und wenn ich nicht wüsste, dass Du derjenige bist, der sich hieran genügen lässt, was auch von allen Deinen Gefährten gilt, weil Du auch ihr geistiger Führer bist, so hätte ich für Euch gar nicht dieses Reich der Illusion geöffnet, hätte Euch nur auf jenes Tal beschränkt.
Nur noch eine einzige Andeutung will ich Dir machen, um Dich auf den Weg zu lenken, wie dies alles zu erklären ist. Denn nach einer Erklärung zu suchen, das soll Euch ja gar nicht vorenthalten sein, oder Ihr wäret keine denkenden Menschen. Hast Du schon einmal etwas von Bewusstseinsebenen gehört, die sich gegenseitig durchdringen?«
Ja, von dieser okkultistischen Lehre hatte ich schon gehört, von der irdischen Ebene, der Astralebene, der Devachanalebene, und so weiter, die sich gegenseitig durchdringen, ohne dass ihre Bewohner etwas davon merken. So dass jetzt vielleicht hier in meinem Zimmer, in dem ich einsam sitze und schreibe, ein astrales Meer brandet, auf dem Bewohner dieser Astralebene um ihr Leben ringen, oder ich werde von einem astralen Kaffeekränzchen durchdrungen, in diesem Augenblick wird mir ein Kaffeelöffel durch den Kopf geschoben, und ein Mitglied dieser Gesellschaft wird ausgelacht, weil es die Behauptung aufgestellt hat, dass es vielleicht noch eine andere Bewusstseinsebene gibt, die ihre Ebene durchdringt, von »Geistern« bewohnt — die also wir Menschen sind, deren Existenz jene anderen Wesen leugnen. Wer es fassen kann, der fasse es. Ich kann es fassen. Und nicht nur intuitiv, ahnungsvoll. Denn ich sehe Korrespondierendes mit vollem Bewusstsein. Ich sehe, wie sich die Ätherschwingungen des Lichtes, die Luftschwingungen des Schalls gegenseitig durchdringen, ohne einander zu stören. Weiter will ich mich hierüber nicht auslassen.
So hatte ich auch jetzt meine Ansicht über diese verschiedenen Bewusstseinsebenen, auf deren eine wir uns im Traume bewegen, mit kurzen Worten ausgesprochen.
»Und so ist es auch. Wenn Du dafür auch nicht die richtigen Worte findest, nicht finden kannst, weil wir Menschen für das, woraus es ankommt, gar keine Worte haben, so wenig wie man eine Farbe definieren kann. Ich fragte deshalb, ob Du etwas von diesen verschiedenen Bewusstseinsebenen weißt, weil ich Euch noch auf etwas vorbereiten wollte. Dass Ihr dann nicht etwa tiefsinnigen Gedanken nachhängt, die schließlich zum Trübsinn führen können. Doch das ist ja bei Euch ausgeschlossen. Oder Ihr wäret mir gar nicht zugewiesen worden. Immerhin, ich muss Euch noch auf etwas vorbereiten.
Diese Höhle hier werde ich wieder verschließen. Den Ausgang nach dieser Bewusstseinsebene, meine ich. Ihr werdet dort, wo Ihr Quartier genommen, mehrere Türen finden, dicht nebeneinander liegend. Jede führt in eine andere Bewusstseinsebene. Zwar von demselben Grade, auf derselben Stufe liegend, aber doch immer etwas anderes bietend. Kurz gesagt: durch die eine Tür werdet Ihr etwa in eine sonnenverbrannte afrikanische Wüste treten, durch die zweite Tür, dicht daneben liegend, kommt Ihr in eine nordische Gebirgsgegend mit Gletschern. Diese beiden Ebenen durchdringen sich also. Auch die Menschen, die sich darin bewegen, durchdringen einander. Verstehst Du?«
Es war gar viel, was man mir da aufpackte, aber ich verstand. Weil ich eben in dieser Hinsicht schon gewappnet war. Obgleich ich nicht glaube, dass es die Seelen von Verstorbenen sind, welche mit dem Tischbein das Alphabet klopfen und sonstige Allotria treiben, nicht einmal morsen können. Weil ich mich dazu zu hoch einschätze.
»Gut, ich verstehe, und auch meine Jungen werden es verstehen, nicht neugierige Fragen stellen, wenn sie sich gegenseitig durch den Bauch kriechen, sonst bläue ich ihnen das Verständnis für solch ganz einfache Vorgänge mit der neunschwänzigen Katze ein. Nur eine Frage habe ich noch.«
»Frage!«, lächelte der gelbe Mann.
»Wenn ich nun durch solch eine Tür in eine andere Bewusstseinsebene, in eine andere Welt trete, und ich habe gerade tüchtigen Hunger, und ich fülle mir in jener anderen Welt den Magen, und ich kehre nach einiger Zeit zurück in die normale Ebene — bin ich dann auch wirklich gesättigt? Oder klappt dann mein Magen unter unwilligem Knarren wieder wie ein leerer Strick zusammen?«
Da zeigte es sich, dass dieser geheimnisvolle Mann, der er doch war, nicht nur gütig lächeln, sondern auch herzlich lachen konnte. Ich wusste erst gar nicht warum. Mir war es mit meiner Frage höllisch Ernst gewesen.
»Aber gewiss doch! Es ist nicht etwa nur ein Traumzustand, in den Ihr versetzt werdet, und auch die Zeit geht regelrecht weiter.«
»Na dann ist es ja gut. Dann kannst Du uns vorgaukeln, was Du willst. Wenn es nur in dieser Hinsicht nichts an Realität einbüßt.«
Plötzlich wurde das lachende Gesicht wieder sehr ernst.
»Nein, Ihr sollt nicht das geringste an Realität vermissen. Und das ist es eben, wovor ich Euch noch warnen habe. Wenn einer von Euch in solch einer anderen Welt seinen Tod findet, so ist er auch wirklich tot, also nicht etwa, dass er dann in das Tal zurückgebracht, wieder lebendig würde. Ihr werdet einen Toten zurücktragen.«
»Das ist sehr schade!«, sagte ich, wohl so trocken, dass Juba Riata, der in einiger Entfernung im Grase saß und mit einem Messer seine Tabakspfeife auskratzte, ein kurzes Lachen ausstieß.
»Werden wir hier Tote zu beklagen haben?«
»Willst Du es wirklich wissen?«, lautete die tiefernste Gegenfrage.
»Nein!«, besann ich mich schnell eines anderen.
»Ich würde Dir den Schleier der Zukunft auch nicht lüften. Also Ihr seid gewarnt! Ich kann Euch wohl in Gefahr beistehen, aber nicht ein böses Schicksal von Euch wenden. Ich bin nicht Herr des Schicksals. Hast Du sonst noch Fragen?«
Ja, da ich diesen Zaubermenschen nun einmal wieder vor mir hatte, wollte ich auch noch mehr fragen.
»Ist jenes Tal dort drüben durchaus reelle Wirklichkeit?«
»Ja, es liegt auf der irdischen Ebene, es wird sich darin also auch nichts andern, so weit es nicht mit der Natur im Einklange steht.«
»Die Eisgrotte?«
»Gehört mit zu dem Tale. Es ist eine dynamische, wie Du gleich ganz richtig erkannt hattest. Ihr werdet auch noch andere merkwürdige Gebilde finden, die mit zu dem Tale gehören.«
»Was für Gebilde?«
»Suchet danach.«
»Werden wir in den anderen Welten auch auf Menschen stoßen?«
»Nein. Wohl könnte ich es arrangieren, aber die Sache würde zu kompliziert, für mich wie für Euch. Ebenso rate ich Euch nicht immer den Sonnenstand zu berechnen, Euch nicht danach zu richten, denn da können unvermeidliche Irrungen vorkommen.«
»Gut, wir werden uns um Sonne und Gestirne gar nicht kümmern, wenn sie uns nur leuchten. Werden wir in dem Tale selbst auf andere Menschen stoßen?«
»Suchet danach, ob Ihr welche findet!«, lautete wiederum die ausweichende Antwort. »Mister Price O'Fire sagte, dass wir in Sibirien die Schätze des Flibustierkapitäns wiederfinden würden, auf die wir ein größeres Anrecht haben als jener Teufelskapitän, der noch leben soll und den wir noch zur Strecke bringen sollen.«
»Wenn dieser Price O'Fire Euch so weit die Zukunft enthüllt hat, was er auf seine eigene Verantwortung nehmen muss, so wird es sich wohl erfüllen. Ich weiß davon, aber ich spreche nicht darüber. Sonst noch etwas?«
»Nicht dass ich gleich wüsste.«
»So kommt, ich verschließe den Ausgang dieser Höhle wieder, und das für immer, und Ihr habt noch einen weiten Weg zu Fuß zu machen, woran ich jetzt auch nichts ändern kann.«
»Könnten wir nicht auch den Weg durch diese texanische Prärie nehmen, immer die Felswand entlang?«
»Ihr könntet es wohl, aber tut es nicht. Ihr sollt fernerhin diese fremden Gebiete nur noch durch die Eingänge aus Eurem Quartier betreten. So geht jetzt durch die Höhle in das Tal zurück.«
Wir gehorchten der Aufforderung. Mir war es schon deshalb lieb, weil mir bereits unter meinem Pelzkostüm das Wasser am Leibe herablief, ich hätte mich der warmen Kleidung entledigen müssen und war darunter für einen längeren Marsch durch die Prärie nicht eingerichtet. Als wir mit wieder brennenden Benzinlampen die Ecke passiert hatten, drehte ich mich um, in der Meinung, hinter mir Merlin zu erblicken. Als dies nicht der Fall war, kehrte ich noch einmal um, vielleicht schon von einer kleinen Ahnung erfasst.
Richtig, die gelbe Gestalt war nicht mehr zu sehen — aber das war das Wenigste, was ich vermisste — ich blickte jenseits der Ecke auch nicht mehr in die sonnige Prärie mit ihren Waldinseln, sondern das Licht meiner Lampe, durch einen Reflexspiegel verbreitert, erleuchtete eine Grotte mit nackten Wänden ohne Ausgang!
Also nicht etwa, dass nur vor den zweiten Teil des rechtwinkligen Höhlenganges jetzt eine Wand geschoben worden wäre, sondern jetzt war hier eine geschlossene Grotte von wenigstens zehn Metern Durchmesser, die bei unserem ersten Passieren und auch bei dem Rückweg überhaupt gar nicht vorhanden gewesen war!
Mein Ruf brachte schnell Peitschenmüllern an meine Seite. Der machte natürlich ebenso große Augen wie ich.
»Sollten wir denn das alles mit der texanischen Savanne nur geträumt haben?!«
»Ja, Juba, das ist eine Frage! Sollte es uns in dem Augenblick, da wir diesen zweiten Teil der Höhle betraten, so ergangen sein, wie wenn wir das schwarze Kabinett von Vater Abdallah betreten, dass wir in demselben Augenblick in einen Traumzustand kommen? Haben wir vielleicht hier eine halbe Stunde lang schlafend am Boden gelegen? Oder dabei auf zwei Beinen gestanden?«
»Ich musste es für Wirklichkeit halten.«
»Ich auch. Aber das muss man im schwarzen Kabinett ebenfalls, alles für Wirklichkeit halten, was einem da Vater Abdallah zu suggerieren beliebt.«
»Ach, lassen wir die dumme Geschichte, zerbrechen wir uns doch nicht den Kopf!«, meinte Müller verdrießlich, sich gleich wieder umdrehend. »Wir werden ja sehen, ob wir solche Türen finden oder nicht.«
Die Folge davon war, dass wir den anderen nichts von diesem unseren Abenteuer, ob nun erlebt oder erträumt, erzählten, das machten wir gleich jetzt aus, und daran änderte sich auch nichts, als draußen im hellen Tageslichte Peitschenmüller an seinen Stiefelsohlen und in der Pelzkleidung frische Grashalme fand, die unmöglich in diesem winterlichen Tale wuchsen.
Wir schlugen uns diese ganze Sache vorläufig aus dem Kopfe.
Der Wisent lag noch an seiner alten Stelle, ganz still, begann sich erst wieder zu wälzen und gegen seine Fesseln zu wüten, als er unser Kommen bemerkte.
Es war gleich vier Uhr, und da wir zu der Schlittenfahrt eine Stunde gebraucht hatten, ohne uns aufzuhalten, so mussten wir wenigstens zweieinhalb Stunden tüchtig marschieren, wir erreichten unser Quartier also nicht vor Anbruch der Nacht.
Peitschenmüller hätte ruhig bei seinem Wisent bleiben können, aber er wollte nicht, und nicht etwa, dass er um mich besorgt gewesen wäre. »Der Büffel muss unbedingt eine ganze Nacht mit seinen Gedanken allein bleiben, darf keinen Menschen wittern, und dazu musste ich mich so weit entfernen, dass ich ihn nicht kontrollieren könnte. Außerdem brauche ich verschiedenes Riemenzeug, das ich unbedingt selbst auswählen muss.«
So traten wir zusammen den Rückweg per pedes apostolorum an. Und diese Fußwanderung war uns in gewisser Hinsicht viel günstiger als die Fahrt im Hundeschlitten, die immer von einem ganz gehörigen Spektakel begleitet wurde. Wir bekamen jetzt viel mehr Wild zu sehen, das sonst schon das Schleifen der Schlittenkufen auf fabelhaft weite Entfernungen hörte — wie wir später noch konstatierten — wozu auch die starke Ausdünstung der Hunde kommen mochte, und es waren die Vettern ihres Erbfeindes, des Wolfes, sodass die Tiere schon in einer Entfernung flohen, dass man sie zwischen den Bäumen überhaupt niemals zu sehen bekam.
Jetzt, wie wir geräuschlos durch den Wald schritten, erblickten wir geradezu zahllose Rentiere und Hirsche aller Art, deren massenhaftes Vorkommen in diesem Tale wir bisher weniger aus den Spuren, da hierzu der Schnee zu hart gefroren war, als aus ihrer Losung hatten ahnen können. So ohne weiteres wären wir freilich niemals zum Schusse gekommen, so weit unsere Büchsen auch trugen. Wir hätten uns immer regelrecht anschleichen müssen. Sobald wir die Tiere erblickten, wussten sie sich auch schon wieder unsichtbar zu machen. Dabei brauchte man gar nicht anzunehmen, dass sie hier schon mit dem Menschen und seinen Mordwaffen Bekanntschaft gemacht hatten. Es genügte schon, dass sie vom Wolfe gejagt und von Luchs und Vielfraß belauert wurden, dann trauten sie auch dem fremden Wesen nicht viel zu, das aufgerichtet auf zwei Beinen ging, es kam überhaupt der natürliche Instinkt hinzu.
Immerhin, jetzt erst merkten wir richtig, sahen es mit eigenen Augen, in was für einer wildreichen Gegend wir waren, und dass dieses Tal kein Paradies, kein Park war, in dem das Wild gehegt und gepflegt wurde, sodass man es bequem auf kurze Entfernung hin nieder knallen konnte, das war uns, wie schon gesagt, nur sehr angenehm. So wurden wir hier auf unsere Jagdfertigkeit geprüft. Nur wer stundenlang ein scheues Wild verfolgen oder sich unter den größten Anstrengungen, immer das Terrain und den Wind beobachtend, anschleichen muss, oder wer die ganze Nacht auf dem Anstand sitzt, regungslos allen Unbilden der Witterung trotzend, nur der kann sich dann doch der Jagdbeute wirklich erfreuen. Nur dann wird die Jagd wirklich zum edlen Waidwerk.
Da sauste in einer Entfernung von tausend Schritt eine Herde großer Tiere durch den Wald.
Ich sage tausend Schritt, um die größte Entfernung anzugeben auf die man hier zwischen den Bäumen, wenn auch fast alles Unterholz fehlte, überhaupt etwas erblicken konnte.
Ich hatte nur schattenhaft große Tiere gesehen, größer als Rens und die bisher gesichteten Hirsche, ich konnte höchstens an Elche denken, Juba Riatas leuchtende Adleraugen aber hatten gleich noch mehr unterscheiden können.
»Das waren Pferde mit Eselsschwänzen!«
»Dann sind es Kulans gewesen!«, konnte ich nun auch gleich sagen.
»Kann man die zähmen und zureiten?«, war des ehemaligen Cowboys nächste Frage die er sofort stellte
Er hätte Gelegenheit genug gehabt, sich über die Tiere Sibiriens zu orientieren, wir hatten Brehms »Tierleben« an Bord und auch andere Spezialwerke über dieses Land, und ich hatte meine Jungen schon so weit gebracht, dass sie, ehe sie in eine ihnen neue Gegend kamen, diese Bücher auch benützten, wenn sie es nicht von jeher von selbst getan hatten.
Juba Riata tat es nie. Nicht, dass er ein Bücherverächter gewesen wäre, sondern er hatte keine Zeit dazu, er war wohl der vielbeschäftigtste Mann bei uns an Bord, er ging ganz in unserer immer größer werdenden Menagerie auf, nicht etwa nur mit Dressuren, sondern da gab es noch tausenderlei anderes zu beobachten und zu besorgen, und dass unter diesen Tieren, aus den verschiedensten Weltgegenden stammend, an Bord eines Schiffes immer aus einem Klima ins andere kommend, niemals eine Seuche ausbrach, dass überhaupt ihr Gesundheitszustand immer ein so vorzüglicher war, das hatte man nur diesem rastlosen Manne zu verdanken, der deswegen überhaupt wohl niemals in ein Bett oder eine Koje kam. Ich denke hierbei an den alten Renz, der mehr als 40 Jahre lang Zirkusdirektor gewesen ist, und während dieser ganzen Zeit, nachdem er von früh 7 bis abends 11 tätig gewesen war, noch in seinem siebzigsten Jahre, wohl keine Nacht, wie seine Mitarbeiter versichern können, in einem richtigen Zimmer geschlafen hat. Immer musste sein Feldbett in der Box eines kranken Pferdes aufgeschlagen werden, damit er selbst dem Tiere die Umschläge erneuern, oder ihm stündlich die vorgeschriebene Medizin einflößen konnte. Und in solch einem großen Marstall gibt es doch immer ein verschrammtes oder innerlich krankes Pferd. Auf diese Weise bringt man einen Zirkus hoch. Auf diese Weise wird man vom armseligen Jahrmarktsgaukler zum Millionär! Aber daran denkt wohl niemand im Publikum, wenn er den Stallmeister oder Direktor einige Dutzend Pferde in freier Dressur vorführen sieht. Und als eines Abends im Hamburger Zirkus in der Manege ein Panneau-Schimmel, also ein Pferd mit Matratzensattel, auf dem jemand stehend reitet, unglücklich stürzte und sich gleich das Genick brach, sofort tot war, und als der alte Renz herbeigeeilt kam und sich weinend und jammernd über den toten Gaul warf und ihn immer wieder küsste, da hielt man das für eine ganz unangebrachte sentimentale Mache. Weil niemand ahnte, dass der noch so stattlich aussehende Schimmel, der »Hippolyt« schon mehr als 30 Jahre alt war, dass auf ihm der alte Renz noch als junger Mann selbst geritten war, auf dem Jahrmarkt unter dem elenden Leinwandzelt. Den alten »Hippolyt« ließ er nur deshalb noch arbeiten, weil das Tier eben sonst krank wurde, aus beleidigtem Ehrgefühl, wenn es nicht noch jeden Abend den Panneau-Sattel aufgeschnallt bekam, nicht in der Manege nach den Klängen der Musik tanzen konnte. —
Vielleicht war es auch ganz gut, dass Juba Riata keine solchen Bücher las. Sonst hätte er sich vielleicht so weit entmutigen lassen, gar nicht erst den Versuch zu machen. Denn nach Brehm und allen anderen Sachverständigen ist es noch niemals gelungen, einen Kulan zu zähmen, von einem Zureiten gar nicht zu sprechen. Was sich auch zumal Kirgisen schon für Mühe gegeben haben.
Ein erwachsener Kulan ist lebendig gar nicht zu bekommen. Das ungemein scheue Tier spottet dem schnellsten Kirgisenpferde, dabei im Gebirge nicht nur wie eine Ziege, sondern wie ein Steinbock kletternd. In gelegte Schlingen und Fallen geht er absolut nicht. Nur durch rossige, zahme Stuten lässt er sich anlocken und muss eine tödliche Kugel bekommen. Nur angeschossen, rennt er so weit, bis er verendend zusammenbricht. Ab und zu wird ein von der Herde versprengtes Füllen gefangen. Es wird so weit zahm, dass es aus der Hand seines Pflegers frisst, auf seinen Ruf herbeikommt, eben in der Hoffnung, etwas zu fressen zu bekommen. Weiter geht es nicht. Und wenn es älter wird, beißt und schlägt es auch seinen Pfleger. Außerdem kann es nur in seiner Heimat existieren, die ja allerdings groß genug ist. Hier scheint seine Gesundheit unverwüstlich zu sein. Hier stürzt es sich nach stundenlanger Flucht durch die sonnenverbrannte Steppe schweißbedeckt in den eisigen Gebirgsstrom, es schadet ihm nichts. Aber es verträgt eben nur das Klima seiner Heimat. Entweder sehr kalt, oder sehr heiß. Worüber ich noch später sprechen werde. In Deutschland reicht ein einziger nasskalter Tag, wie wir ihrer so viele im Frühjahr und Herbst, aber auch im Winter und Sommer haben, hin, um den Kulan zu ruinieren. Er bekommt sofort die Klauenseuche, oder eine ähnliche Krankheit, das Horn des Hufes schält sich in großen Stücken ab, daran geht er ein.
Meines Begleiters Adlerauge hatte gleicht das Richtige erkannt, während ich nur Schatten gesehen hatte.
»Pferde mit Eselsschwänzen!«, hatte er gleich gesagt. Was wir können, kann die Natur doch auch. Sie kann sogar noch vielmehr, indem sie als echten Wildling ein Mittelding zwischen Maultier und Maulesel hervorgebracht hat.
Der Kulan gleicht ganz einem Pferde, hat also auch kurze Ohren, aber den Schwanz eines Esels. Der Größe nach gleicht er einem stattlichen Maultiere ist, aber weit graziöser, könnte recht gut einen ziemlich gewichtigen Reiter tragen und wohl auch mit diesem alle anderen Arten seiner Gattung an Schnelligkeit und Kletterkunst übertreffen. Wenn eben seine Zähmung möglich wäre.
»Ich werde solch ein Tier fangen und zureiten!«, sagte Peitschenmüller, ohne meine Antwort abzuwarten, und ich hätte ihm auch keine Belehrung zuteil werden lassen. Nur den Namen hatte ich ihm genannt. Bei den Kirgisen heißt der Kulan aber Tischiggetai, zu Deutsch »Langohr«, weil seine Ohren doch ein klein wenig länger sind als die der Pferde.
Schon wollten wir den Marsch fortsetzen, als ein eigentümliches klagendes Schreien in unser Ohr drang.
»Das ist ein Füllen dieser Kulans«, sagte Juba Riata sofort, »so schreit ein Pferd unter einem Jahre in Todesangst, wenn es auch anders klingt als von einem Pferde oder Esel.«
Hast Du, lieber Leser, schon einmal ein Pferd in Todesangst oder Todesschmerz schreien hören? Es klingt ganz fürchterlich, hat mit dem gewöhnlichen Wiehern nichts mehr gemein. Aber es ist ein Unterschied, ob ein erwachsener Mann oder ein kleines Kind vor Schmerzen brüllt. Das hier war mehr ein klägliches Quieken zu nennen.
Wir hin, wo das wiederholte Schreien erklang, die Büchsen entsichert, denn wir dachten an ein großes Raubtier, an einen Bären oder an Wölfe, obgleich wir von diesen letzteren hier noch keine Spuren und keine Losung gefunden hatten.
Nicht lange, so erblickten wir die Szene.
Ein junges Füllen von der Größe eines Rehes mochte gar zu übermütige Sprünge gemacht haben, es hing mit dem einen Vorderfuße in dem Gabelaste eines Bäumchens, machte die verzweifeltesten Versuche sich zu befreien, so kläglich zu schreien fing es wohl jetzt erst an, nachdem es uns gewittert hatte.
Aber was war das? Wir hatten natürlich nur an ein Füllen jener Kulaherde gedacht. Aber dieses Tierchen hatte einen regelrechten Pferdeschwanz!
Ein Tarpan!
Dass solche hier vorkamen, hatte schon Merlin uns gesagt.
Das verriet wiederum, dass der Winter in diesem Tale viel milder sein musste, als es dem Breitengrade entsprochen hätte, denn wenn der Tarpan auch tüchtige Kälte verträgt, so läuft doch seine nördliche Grenze durch Sibirien auf dem 49. Breitengrade hin, und wir befanden uns auf dem 64., das ist ein gewaltiger Unterschied!
Der Tarpan ist ein echtes wildes Pferd. Ganz echt insofern, als die Mustangs und Cimmarones Amerikas ja nur die verwilderten Nachkommen von spanischen Pferden sind. Er hat die Größe und Figur eines stattlichen Ponys, kann ebenfalls nicht eingeholt, nur durch List erlegt werden, ist noch weniger zähmbar als der Kulan, beißt und schlägt, sobald er das Jugendkleid abgelegt hat, alles zusammen. Die Kirgisen fürchten ihn mehr als die Wölfe, suchen ihn auf alle Weise wenigstens zu verscheuchen. Fürchten ihn nicht direkt, nicht dass er auf den Menschen los ginge, sondern einmal entführt der von seiner Herde ausgestoßene junge Hengst mit Vorliebe zahme Stuten, und zweitens sind zwei Tarpans imstande, in einer Nacht einen ganzen Heuschober aufzufressen. Was das für ein Quantum ist, weiß ich zwar nicht, aber ich weiß, dass der Tarpan einfach unersättlich ist, er frisst, bis er rund wie eine Kugel ist, und nach zwei Stunden geht die Fresserei schon wieder los. Dafür freilich kann er auch wieder drei Tage und noch länger hungern und dabei in dieser Zeit unglaubliche Strecken zurücklegen.
Das heißt, diese meine Kenntnisse brachte ich Peitschenmüllern jetzt nicht bei, dazu hatte ich keine Zeit. Bei mir fing sofort ein Kampf um die Hose an.
Da kam nämlich hinter einer dicken Eiche schon ein erwachsener Tarpan hervor, die Mutterstute, die ihr Füllen nicht im Stiche gelassen hatte. Nein, angreifen tut der Tarpan den Menschen nicht, aber wenn es seinen Sprössling zu verteidigen hat, dann hat die Gemütlichkeit ein Ende.
Es war nur ein Pony, das auf uns los ging. Aber dieses Pony hatte ganz fürchterlich tückische Augen, hatte die Nase so grimmig gerunzelt wie ein bissiger Köter vor der Hundehütte, und aus dem Maule ragten mächtige Zähne hervor.
So ging das Pony auf uns los.
Man kann mir gewiss nicht den Vorwurf der Feigheit machen. Aber ich will auch nicht von besonderem Heldenmut sprechen, den ich in diesem Augenblicke zeigte. Ich will zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich nur deshalb nicht von meinen Schusswaffen Gebrauch machte, weil ich sah, wie Peitschenmüller schon seinen Lasso abwickelte und ich guter Kerl ihm den Spaß, diesen Tarpan lebendig zu fangen, nicht verderben wollte. Glauben tue ich diese meine Entschuldigung ja allerdings selber nicht, aber... na kurz und gut, ich suchte an diesem gesegneten Tage mein Heil zum zweiten Male auf einem Baume.
Diesmal aber wäre es mir beinahe traurig ergangen. Dieses Pony hatte die Sache besser weg als der Wisent.
Noch hing ich an dem Aste, schickte mich eben erst an, den Bauchaufschwung zu machen, als ich mich an der Kehrseite dieses Bauches gepackt fühlte, und im nächsten Augenblick fühlte ich an derselben Stelle so eine unangenehme Ventilation, so ein angenehmer, kühler sibirischer Lufthauch umsäuselte die Kehrseite meiner Medaille von keinem Pelze und auch keinem Hemdchen mehr bedeckt.
Während der Waffenmeister versuchte,
sich auf einen Ast des Baumes zu schwing-
en, fühlte er sich plötzlich von den Zähn-
en des Tarpans am Hosenboden gepackt.
In demselben Moment krachte ein Schuss. Von Müllers Revolverkugel hinters Ohr getroffen, brach der Tarpan zusammen. Es war auch die höchste Zeit gewesen. Ganz sicher hätte er noch einmal zugeschnappt, und dann hätte ich wohl Zeit meines Lebens nicht mehr sitzen können. Wenigstens nicht mehr auf meinem natürlichen Polster.
Ich will die weitere Angelegenheit dieses Falles gleich jetzt erledigen. Ich verwarf die Lehren des neuen Testamentes, ging wieder zum alten über — »Zahn um Zahn« das heißt ich vergalt Gleiches mit Gleichem. Also nicht, dass ich dem Tarpan nun die Zähne einschlug, das hatte er mir ja auch nicht angetan, sondern jetzt war ich derjenige, der ihm hinten das Fell abschnitt. Dann freilich ging ich in meiner Revanche noch weiter, schnitt auch noch einige gute Stücke Schinken heraus. Schließlich war es gar keine so übertriebene Rache, denn das hatte der Tarpan bei mir doch auch gewollt, hatte sein Vorhaben nur nicht ausführen können, aber der Gedanke ist doch schon Tat.
Jetzt war keine Zeit, mir dieses Rossbeef — diese Schreibweise ist in diesem Falle richtiger als Roastbeef — zuzubereiten und mir zu Gemüte zu führen, so hing ich mir die rohen Schinkenscheiben dann über den Rücken. Dann aber, wie es so weit war, merkte ich, wie sehr recht Peitschenmüller hatte, wenn er nicht sehr viel Achtung gegen naturwissenschaftliche Bücher hegte. Die sibirische Fachliteratur hatte mir nämlich erzählt, dass die Kirgisen vom Tarpan am liebsten die Hinterschenkel essen, weil diese eben das zarteste Fleisch haben sollen. Mir kam diese Sache gleich ein bisschen spanisch vor, aber ich glaubte doch den Herren Zoologen und Ethnologen und Forschungsreisenden und war wieder einmal gründlich hereingefallen. Oder die Kirgisen müssen ganz andere Zähne als ich und einen ganz besonderen Geschmack haben. Rücken- und Rippenstück des Tarpans fand ich dann später ganz ausgezeichnet, aber dieses Hinterteil war kaum kaubar.
So weit war ich aber noch nicht. Zunächst ging ich, während sich Peitschenmüller mit dem Füllen beschäftigte, daran, meinen dem Tarpan aus den Zähnen gerückten Hosenboden wieder dort einzufügen, wohin er gehörte. Nadel und Zwirn hatte ich als Seemann und Forschungsreisender natürlich bei mir. Dazu musste ich natürlich meine Pelzhose ausziehen und fror nun ebenso natürlich wie ein junger Hund — oder wie ein Schneider — im Schnee, will ich mich feiner ausdrücken. Immerhin, ich war doch besser daran wie Peitschenmüller. Während ich mich unten verbesserte, verschlechterte der sich oben immer mehr. Als meine Pelzhose wieder heil war, hatte der keinen Pelzrock mehr. Das kleine Teufelsvieh hatte ihm bei seinen Bemühungen, es zu befreien, buchstäblich mit den Milchzähnen den Pelz vom Leibe gerissen, und da war auch gar nichts mehr zu flicken.
Endlich lag es gefesselt am Boden, auch das beißende Kindermäulchen mit Riemen umwickelt. Aber die Fesselung sollte nur eine vorübergehende sein.
»Es darf nicht gefesselt sein, wir dürfen es nicht tragen, es muss unbedingt mit uns laufen, es muss den Willen des Menschen sofort anerkennen, oder ich kann es niemals bändigen!«, sagte Juba Riata und löste die um die Füße gewickelten Lederschlingen wieder, nötigte das Tierchen zum Aufstehen, begann zu locken und an dem Lasso zu ziehen.
Ich will es kurz machen, gleich die Pointe verraten. Von hier aus hätten wir bei normalem Marschieren in zwei Stunden in unserem Quartier sein können. Statt dessen haben wir sechs Stunden gebraucht. Sechs ganze Stunden haben wir uns mit dem kleinen Teufelsvieh herumgebalgt. Was wir alles anstellten, um das Tierchen, nicht größer als ein Reh, aber rund wie eine Nudel, Schritt für Schritt vorwärts zu bringen, vermag ich gar nicht zu schildern. Ein störrisches Schwein, das immer rückwärts will, ist nichts dagegen. Kräfte hatte das kleine Ding schon wie ein ausgewachsener Bär. Ich war wirklich manchmal der Verzweiflung nahe. In meinem Galgenhumor machte ich den Vorschlag, ich wolle vorauseilen und den Doktor Cohn holen, er solle es chloroformieren. Oder, ernstlich gesprochen, ich wollte einen Schlitten holen, um es darauf zu transportieren. Aber Peitschenmüller wollte nicht. Es müsse unbedingt mit uns laufen. Und er hatte ja auch ganz recht, sonst hätten wir es ja auch gleich tragen oder auf einer Schleife ziehen können.
»Wenn Sie nicht mehr mitmachen wollen, so gehen Sie voraus und schicken mir ein paar andere Leute zu.«
Das ging gegen meine Ehre, ich beteiligte mich weiter an der Balgerei, und der Vollmond lachte dazu.
»Wie meinten Sie?«
Ich hatte gar nichts gesagt. Mein Magen war es, der so rebellisch knurrte. Ich hatte seit Mittag nichts mehr gegessen, und ich bin doch kein Tarpan, der einen Zentner Heu einnehmen kann, um dann drei Tage zu hungern. Dasselbe galt zwar auch für Peitschenmüllern, aber dessen Magen ging mich nichts an.
Doch wirklich, so gegen zehn Uhr, wir sahen schon den Schein eines mächtigen Holzfeuers, das im Quartier unseretwegen als Wegweiser angezündet worden war, besann sich das Füllen plötzlich eines anderen. Plötzlich ging es ganz artig zwischen uns. Der Wille des Menschen hatte gesiegt. Wenn das nur einige Stunden früher eingetreten wäre.
Wenn die Zurückgebliebenen um unser langes Ausbleiben bis in die späte Nacht hinein, wovon wir nichts gesagt hatten, besorgt gewesen waren, so ließen sie sich doch nichts davon merken, nach uns gesucht worden wäre erst morgen früh und auch nicht so direkt durch eine Hilfsexpedition, und im Quartier herrschte überhaupt eine sehr aufgeregte Stimmung, es musste auch hier etwas Besonderes vorgefallen sein.
Wir hatten nur ganz kurz über unsere Abenteuer berichten können, was ich übrigens Peitschenmüllern überließ, und der war alles andere als ein Schwätzer, über die Geschichte mit der Höhle und der texanischen Prärie wurde also überhaupt Stillschweigen beobachtet, und dann ging es gleich los!
»Waffenmeister, was wir hier unterdessen gefunden haben?!«
Doktor Cohn war es, der als erster mich anredete.
»Na was denn? Ein Fass mit tausendjährigem Kognak, noch von den Ureinwohnern dieses Tales stammend?«
»Etwas ganz, ganz anderes!«
Dann allerdings musste es etwas ganz Besonderes sein, was den Doktor Cohn noch in solche Aufregung versetzen konnte.
»Denken Sie nur, wir haben hier...«
»Nichts verraten, nichts verraten!«, fiel ihm die vorbeigekommene Patronin eifrig ins Wort. »Er muss es selbst sehen! Kommen Sie, Waffenmeister, ich führe Sie gleich hin, es sind nur fünf Minuten...«
Fünf Minuten? Hatte die eine Ahnung!
Und wenn ich nur eine Minute gebraucht hätte, um in den siebenten Himmel zu kommen, wo mich 10 000 Huris erwarteten, ich wäre nicht mitgegangen Ich machte mich über die Reste des gemeinschaftlichen Abendessens her, auch gleich die Tarpansteaks in die Bratpfanne legend, fand sie dann ungenießbar, überließ sie dem Eskimo, für den waren sie gut genug, der brauchte ja auch nicht zu kauen, der verschlang sie gleich.
Dann legte ich mich auf die Felle und fing zu schnarchen an.
Der Leser dürfte sich etwas wundern. Nämlich wenn ich sage, dass ich mit keinem Wörtchen gefragt hatte, was die denn unterdessen so ganz Außergewöhnliches hier gefunden hätten. Aber meine Leute und die sonstigen Herr- und Damenschaften wunderten sich nicht. Die kannten mich zur Genüge, wussten, was ich in dieser Hinsicht für ein kurioser Kauz war. Wenn die mir nicht von selbst sagen wollten, was sie entdeckt hatten — gut, ich wurde von keiner Neugier geplagt. Morgen war auch noch ein Tag. Jetzt hatte ich meinen Hunger gestillt und nun war ich müde. Basta.
Die sechsstündige Balgerei mit dem kleinen Teufelsvieh hatte mir einen gesegneten Schlaf gebracht, und da ich mich mit dem Bewusstsein niedergelegt hatte, nicht zu einer bestimmten Zeit aufstehen zu müssen, wachte ich erst auf, als die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel stand. Sie schien durch die unregelmäßige Fensteröffnung in die Felsenkammer, die ich mit den männlichen Hauptpersonen unserer Expedition als Schlafzimmer geteilt hatte. Außer mir war niemand mehr da. Durch das Fenster blickte ich auf den See und Umgebung, sah ebenfalls niemanden. Nur einige Dutzend Hunde waren am Strande des offenen Wassers eifrig mit Fischen beschäftigt. Das haben diese Köter ausgezeichnet weg. Jeder Fisch, der sich in erreichbarer Nähe des Ufers an der Wasseroberfläche zeigt, ist verloren, wird mit einem blitzschnellen Prankenschlag aufs Trockene geworfen. Freilich wimmeln alle diese sibirischen Gewässer geradezu von Fischen. Deshalb gehen diese Hunde, die sonst so selbstständig sind, niemals auf andere Wildjagd, so lange Wasser in der Nähe ist, und man braucht ihnen nur ein Loch ins Eis zu hacken, dann ernähren sie sich selbst.
Ich befand mich nach dem mehr als zehnstündigen Murmeltierschlaf in einer wunderbaren Stimmung. Wie ich mir ausrechnete, war heute Sonntag. Ja, so eine richtige Sonntagvormittagsstimmung. Dieser Ausblick nach dem See, in den schneeglitzernden Wald, diese Stille — es war auch gar zu schön.
Meine Sonntagstimmung wurde noch feierlicher, ich hörte in meinen geistigen Ohren gewissermaßen schon die Kirchenglocken läuten, als ich gleich nebenan auch noch den Proviantraum und die Küche fand, alles erst provisorisch eingerichtet. Ich öffnete eine Zweipfunddose echt bayrische Steinpilze, im eigenen Saft eingekocht, setzte sie in einem Topfe auf unserem Patentpetroleumofen an, von dem aber nur noch eine Flamme funktionierte. Es war auch noch ein Spiritusofen vorhanden, der aber natürlich wieder leer war, und den Spiritusvorrat fand ich nicht. Es war überhaupt eine heikle Geschichte mit diesem Spiritusofen. Wenn man ihn frisch gefüllt hatte, so brauchte man ihm nur den Rücken zu wenden, dann hatte ihn Meister Bärtchen sicher ausgesoffen. Der Samojede liebte nämlich denaturierten Brennspiritus über alles.
Also ich musste mich mit der einzigen Flamme des Petroleumofens begnügen, wollte aber zum »Morgenkaffee« doch noch etwas anderes haben als nur bayrische Steinpilze. Nach einigem Nachdenken wählte ich eine Pfunddose mit gerollter Rindszunge, wischte sie fein säuberlich ab, machte oben in den Deckel vorläufig nur ein Löchelchen hinein und packte sie so zwischen die Steinpilze. Auf diese Weise wird der Inhalt am schnellsten warm, schneller, als wenn man den ganzen Deckel abmacht. Dann entkorkte ich noch eine halbe Flasche Château Lafite — man sieht, wir lebten im traurigen Sibirien nicht schlecht — fand den Wein zu kalt, so packte ich auch diese Flasche zwischen die Steinpilze, um sie etwas anzuwärmen.
Inzwischen brannte ich mir eine Pfeife an. Nicht lange währte es, so gab es einen Knacks, und wie ich, das Unglück schon ahnend, die Flasche aus den Pilzen nahm, fand ich sie leer, sie hatte auch unten eine Öffnung bekommen, der Boden war abgesprungen, meine Steinpilze schmorten in Château Lafite. Na, das sollte mich nicht stören, in ein und denselben Magen kam ja doch alles.
Wieder nicht lange, und durch die Küche zog ein säuerlicher Geruch. Meine Pfeife war's nicht, die so sauer stank. Ich rauchte sogar Honeydew, mit Honig getränkten Tabak. Dort das Löchelchen in der Fleischbüchse schien es zu sein, aus der der saure Duft kam. Ich ging der Sache auf den Grund — richtig, die Affen in der Hamburger Konservenfabrik hatten wieder einmal die Etiketten verklebt, es waren nicht gerollte Rindszungen, sondern zwei Dutzend gerollte Häringe, marinierte, auch Rollmöpse genannt, die ich wärmte.
Warmen Rollmops mit Steinpilzen in Château Lafite habe ich zwar noch auf keiner Speisekarte gelesen, aber es hat mir ganz ausgezeichnet geschmeckt, ich kann dieses Gericht warm empfehlen. So hatte ich die edle Kochkunst wiederum um eine Erfindung bereichert. Freilich ohne meinen Geist besonders anzustrengen. Wirklich große Erfindungen werden eben nur im Dusel gemacht.
Ich habe hierbei so lange verweilt, um meine behagliche Sonntagsvormittagsstimmung zu schildern, in der ich mich befand. Nun beschloss ich eine Entdeckungsfahrt anzutreten. Oder gleich in bestimmter Absicht: ich gedachte in der Dachkammer ein warmes Bad zu nehmen. Ich halte es nicht für gesund, mit leerem Magen zu baden. Alle Vögel baden sich erst, nachdem sie sich satt gefressen haben. Ich gehöre zwar nicht zu den Vögeln, aber... na kurz und gut, ich halte einen leeren Magen überhaupt für ungesund.
Unten vor dem Höhleneingang stand der Matrose Fritz und schippte Schnee, oder sollte doch einen Weg schaufeln — jetzt visierte er mit dem Schippenstiel nach dem blauen Himmel.
»Sind Sie schon wach, Herr Waffenmeister?«, begrüßte er mich, seine Visierschippe senkend.
»Na so ziemlich.«
»Wenn Sie wach sind, dann soll ich Ihnen sagen, dass für Sie das Frühstück bereit steht.«
»Wo denn?«
»In der Küche.«
»Wo denn da?«
»Na in der Wärmkiste, Kaffee und Rinderzunge und Steinpilze, alles gewärmt.«
Auf dieser Wärmkiste hatte ich gesessen, als ich meine Kocherei beobachtete.
»Und wenn Sie gefrühstückt haben, soll ich Sie nach... dorthin führen, wo die anderen sind.«
»Wo sind denn alle die anderen?«
»Dort, wo ich Sie hinbringen soll. Ich darf nichts verraten.«
Ach so, das große Geheimnis!
»Nur Peitschenmüller ist mit Mister Tabak im Hundeschlitten fort, sie wollen den Wisent holen.«
»Gut, ich werde frühstücken, vorher aber will ich ein Bad nehmen.«
»Wollen Sie nicht vorher frühstücken?«
»Nein, ich halte es für ungesund, mit vollem Magen zu baden.«
Mit dieser ungeheuerlichen Lüge wandte ich mich. Aber ich drehte mich noch einmal um, und ich muss gestehen, dass mir nicht die Schamröte ins Gesicht getreten ist, als ich jenen wieder anblickte.
»Wo hat Juba Riata das Tarpanfüllen gelassen?«
»Dort steht es ja.«
Da erst bemerkte ich es. Neben dem Eingange zu der großen Höhle befanden sich zu beiden Seiten der Felswand noch kleinere, nur Grotten, nur Vertiefungen, stets erblickte man von draußen die hintere Wand, wir nannten sie Nixchen, und in solch einer stand das Füllen, reckte den Kopf halb heraus, schaute mich neugierig an.
Wie ich sofort bemerkte, war es weder gekoppelt noch angebunden, vor der Nische keine Barriere angebracht.
»Flieht es denn nicht?«
»Juba Riata hat es hyp — hyp — hypnotisiert.«
Es war mir nichts Wunderbares, was ich da von schwerer Matrosenzunge zu hören bekam, was ich beim Nähertreten erblickte. Quer vor der Nische war auf dem schneefreien, schwarzen Boden mit weißer Farbe ein Strich gezogen, der abwechselnd wieder von Querstrichen und Ringen unterbrochen wurde. Diese gemalte Barriere wagte das Tier nicht zu überschreiten, anders konnte man doch nicht annehmen.
Weshalb nicht? War es wirklich hypnotisiert worden? Ich weiß es nicht.
Aber ich kenne korrespondierende Beispiele genug. Der nordamerikanische Indianer kennt keine Dressur seiner Pferde. Und doch übt er auf seinen Gaul eine Macht aus, wobei man manchmal an einen geheimnisvollen Zauber glauben möchte. Der Pawnee steigt ab, steckt seine Lanze in den Boden, hängt den Zügel seines Pferdes darüber und entfernt sich. Das Pferd, sonst ein vollkommener Wildling, das seinem Herrn sonst bei jeder Gelegenheit zu entfliehen sucht, bleibt ruhig stehen. Kommt der Pawnee nicht zurück, so verhungert es an dieser Lanze. Es wittert ein Raubtier, es zittert an allen Gliedern, es schreit vor Entsetzen, es wäre ihm doch ein Leichtes, die Lanze aus dem Boden zu reißen, aber es denkt nicht daran, es wird ein Opfer des Raubtieres.
Da möchte man doch wirklich an eine hypnotische Suggestion glauben. Es ist dem nur ein grausamer Dressurakt vorausgegangen.
Das gebändigte Pferd bekommt ein Stachelhalsband, so wird es an der eingerammten Lanze befestigt. Indianerstämme, die keine Lanze führen, legen auch nur einen besonderen Gegenstand an den Boden hin, das Pferd bleibt unerschütterlich daneben stehen. Zuerst will es natürlich fliehen, dann später jagt man es sogar durch Prügel weg, aber es wird durch eine lange Leine festgehalten, das Stachelhalsband zerfleischt es fürchterlich. An diesen Schmerz denkt das Pferd dann später immer, sobald es an der Lanze angehangen wird, oder wenn es nur den betreffenden Gegenstand am Boden liegen sieht, es hütet sich, sich wieder solche Schmerzen zu erzeugen, und daraus wird zuletzt eine Gewohnheit, es muss schließlich wie gebannt neben der Lanze stehen bleiben.
Also könnte man schließlich doch von einer Art von Hypnose sprechen.
Wir müssen nur erst einmal definieren können, was Hypnose und Hypnotik überhaupt ist. Das beste Lehrbuch über Pferde- und Hundedressur ist wohl das von Oberländer, hat auch die meisten Auflagen erlebt, es führt den Titel »Die mnemonische Dressur«. Es sollte richtiger heißen »Mnemotechnischhypnotische Dressur«.
Man kann tatsächlich Tiere hypnotisieren, ganz leicht. Man nimmt ein gewöhnliches Huhn, legt es auf den Tisch, drückt den Kopf besonders fest herunter und zieht nun schnell mit Kreide vom Auge an einen Strich über die Tischplatte. Das Huhn verdreht das Auge, schielt nach dem Kreidestrich und bleibt so, losgelassen, stundenlang unbeweglich liegen. Es ist der Meinung, es würde noch festgehalten, durch einen Strick, der sich über seinen Körper spannt, glaubt in dem Kreidestrich die Fortsetzung dieses Strickes zu sehen.
So heißt es. Aber eine Erklärung ist das durchaus nicht. Man hat ja gar keinen Strick angewendet. Es scheint vielmehr ein ganz echter hypnotischer Zustand zu sein, in dem sich das Huhn befindet. Wenn wir nur eben wüssten, was das ist, Hypnose. Dass das Pferd neben der lose eingesteckten Lanze ruhig stehen bleibt, das ist ihm ja auf eine ganz besondere Weise beigebracht worden, aber man darf doch nicht etwa von einem freiwilligen Gehorsam sprechen, überhaupt nicht. Von beigebrachter Dressur, hier liegt etwas ganz anderes vor. Man möchte es eine mnemotechnische Hypnose nennen.
So werden auch Löwen und Tiger und andere Raubtiere gezähmt und dressiert. Oder vielmehr gebändigt. Von einer richtigen Zähmung ist ja gar keine Rede. Es ist immer nur eine vorhandene Angst, die sie abhält, sich auf ihren Herrn und Meister zu stürzen.
Man wird beobachten, dass der Tierbändiger immer eine rotgefärbte Eisen- oder Holzstange bei sich hat; oder der Stiel seiner Peitsche ist rot gefärbt; oder er hat sonst etwas Rotes bei sich, wenn es das Publikum auch gar nicht merkt. Bleiben wir bei der roten Stange. So bald er diese, nur eine Holzplatte, dem widerspenstigen Tiere vorhält, kriecht es zu Kreuze, flieht in eine Ecke.
Weil das ursprünglich eine rotglühende Eisenstange gewesen ist, mit der sich der Bändiger vor den wilden oder halbwilden Tieren geschützt hat. Zuletzt braucht es nur noch eine rote Farbe zu sein, sie kann auch auf andere Gegenstände übertragen werden, zuletzt auch ganz weggelassen werden. Sobald das Tier den betreffenden Gegenstand sieht, empfindet es auch den früheren brennenden Schmerz.
Aber das rotglühende Eisen war schon vorher mehr eine Angriffswaffe, um sich den Gehorsam zu erzwingen. Zum Schutze hatte der Dompteur noch ein anderes Mittel.
Man sieht, wie die Raubtiere die Pranken erheben und murrend nach dem Dresseur zucken, ohne wirklich zu schlagen, obgleich sie doch so gern möchten. Das macht, der Dompteur war zuerst mit einem Kostüm bekleidet, das ganz mit feinen Stacheln bedeckt war. Auch solche Handschuhe solch eine Maske vorm Gesicht. Er ist geschützt wie ein ausgerollter Igel. Die Raubtiere verletzen sich empfindlich, wenn sie ihn schlagen. Daran denken sie, wenn sie noch einmal die Pranke gegen ihn erheben, und sie schlagen eben nicht mehr. Durch das glühende Eisen wird er selbst zum Angreifer, wird zum Herrn und Meister.
Das ist die Feuer- und Stacheldressurmethode, die heute nur allein noch angewandt wird. Es gibt oder gab noch andere Methoden. Die holländische. Das Schießen, um die Raubtiere einzuschüchtern, ist heute nur noch ein Knalleffekt, bei der holländischen Methode war es wirklich die Hauptsache. Aber nicht um Knall und Feuerstrom handelte es sich, sondern der Revolver oder die Pistole war nichts weiter als eine Spritze, durch Federdruck spritzte sie gegen das unbändige Tier Ammoniak, Salmiakgeist, wenn eine Patrone dabei explodierte, so war das nur eine Verstärkung, das Feuer schlug in einer besonderen Kammer nach oben. Man kann sich denken, was es bedeutet, wenn ein Tier solch eine Ladung scharfen Salmiakgeist ins Gesicht bekommt. Es ist sofort blind. Es vergeht ihm Hören und Sehen. Daran denkt es, wenn es dann die Pistole vorgehalten bekommt. Aber es konnte auch für immer blind werden, konnte eingehen. Heute ist das Schießen nur noch eine Effektspielerei.
Jedenfalls sieht man, dass die ersten Dressuren, die man doch wohl für die gefährlichsten hält, wenn der Bändiger die ersten Male den Raubtierkäfig betritt, gerade die ungefährlichsten sind. Da kann gar kein Unglück passieren, so gut wissen sich diese Dompteure zu schützen. Die Gefahr fängt erst dann an, wenn man diese Hilfsmittel weglässt, nur mit der mnemotechnischen Hypnose rechnet. Denn die kann natürlich einmal versagen.
So ging auch Juba Riata gegen neue Raubtiere vor, mit Feuer und Stacheln, wozu noch Schreckmasken und andere Hilfsmittel kamen. Ich habe etwas aus der Schule geplaudert. Aber das letzte Geheimnis gab er doch nicht preis. Denn da musste noch irgend etwas anderes vorhanden sein, dass er solche Macht über die Tiere bekam. Offenbar bediente er sich auch der wirklichen Hypnose. Wenn man darunter sich auch nicht vorstellen darf, dass er die Tiere durch Anblicken und Manipulationen einschläferte. Sonst hätte er das doch gleich gestern getan, wir hätten uns nicht erst sechs Stunden mit dem kleinen Teufelsvieh herumzubalgen brauchen.
Jedenfalls aber stand es jetzt frei in der Nische, wagte den weißen Farbenstrich nicht zu überschreiten, wobei doch irgend ein Geheimnis vorliegen musste.
»Peitschenmüller ist die ganze Nacht bei dem Tiere gewesen!«, sagte der Matrose noch. »Wir sollen es nicht anfassen und nicht füttern.«
»Hat es denn etwas zu fressen?«
»Nein, nur eine Pfütze Wasser hat es drin, es soll erst hungern.«
Ich nahm im Dampfraum ein Wannenbad, dann begab ich mich wieder in die Küche und ließ mir mein »erstes« Frühstück schmecken, wenigstens das erste nach Fritzens Meinung, der es mir selbst servierte, also wieder Steinpilze, diesmal aber dazu wirkliche Rindszunge, und anstatt des Château Lafite Kaffee, wie es sich am frühen Morgen gehört.
»Da ist wieder jemand über unserm Proviant gewesen«, murrte Fritz, »natürlich war es Mister Tabak, hat sich Steinpilze gewärmt und dazu eine große Dose Rollmöpse aufgefressen, auf so einen Gedanken kommt doch nur so ein Eskimo, und dabei hat er bei unserem Frühstück wie ein Wolf geschlungen.«
»So ein verfressener Kerl!«, machte ich den armen Mister Tabak herunter.
Natürlich hätte ich nicht die geringste Ursache gehabt, meinen Appetit zu leugnen. Aber ich wollte doch dabei sein, wenn sich dann der unschuldige Eskimo gegen den ihm gemachten Vorwurf verteidigte. Denn dass er das musste, dafür wollte ich schon sorgen. Steinpilze mit Rollmöpsen — das kann doch eben nur so ein Eskimo fertig bringen.
»So, Fritz, nun kannst Du mich führen.«
Mit Lampen bewaffnet, schritten wir durch finstere Gänge, Treppen hinab, unter der Wasserschlucht hinweg, auch noch unter der Werft, stiegen wieder hinauf, in dem Gang begann es zu dämmern, es kamen ganz, helle Felsenkammern, von jenem rätselhaften Licht erleuchtet, das aus den Wänden heraus kam, von allen Seiten, sodass also keine Schatten geworfen wurden, ich hörte Stimmen, Geräusch der Arbeit, und dann stand ich vor dem großen Geheimnis, mit dem man mich hatte überraschen wollen.
Ja, ich war allerdings höchlichst überrascht, hier so etwas vorzufinden.
Es war ein Zirkus, in den ich blickte, von jenem tageshellen Lichte erfüllt. Also in der Mitte eine ebene Kreisfläche, um die sich herum die Zuschauerplätze amphitheatralisch erhoben, einfach steinerne Stufen, gerade so hoch und breit, dass man bequem darauf sitzen konnte.
Aber nun was für ein Zirkus, was für Dimensionen! Ach, wo sind wir modernen Menschen bei all unserer Technik und sonstigen Erfindungen geblieben, wenn es sich um kolossale Bauten handelt!
Ich will dabei nicht von den Pyramiden und anderen auch nützlichen Bauwerken anfangen, von den chinesischen Mauern und Kanälen, von den Landstraßen der alten Peruaner und Mexikaner, gegen welche so eine Arbeit wie etwa die Durchstechung der Landenge von Suez oder Panama das reine Kinderspiel ist, welche Arbeiten wir schon deshalb gar nicht mehr fertig bringen, weil wir nicht mehr Hunderttausende von Sklaven während ganzer Generationen arbeiten lassen können, ihnen nichts weiter als den kärglichsten Lebensunterhalt gebend, weil sich heute jedes angelegte Kapital auch verzinsen muss, womit man früher nicht rechnete.
Ich bleibe nur beim Theater, beim Zirkus.
Als größter Zirkus der Welt oder sonstiger Raum, der sich für Schaustellungen eignet, gilt heute eine ehemalige Vereinshalle in Frankfurt am Main, die 15 000 Menschen fasst.
Was will das aber heißen gegen die Zirkusse der alten Griechen und Römer!
Ich nehme gleich den größten heraus, zum Teil noch erhalten, genau beschrieben von Plinius. Es ist der Zirkus Maximus in Rom, der, wie man besonders nach alten Münzen sehr genau bestimmen kann, in den Jahren 328 bis 176 vor Christi erbaut wurde, der Hauptsache nach, er wurde beständig vergrößert. Die Arena war 640 Meter lang und 130 Meter breit, unter Vespasian fasste er 200 000 Zuschauer, im 4. Jahrhundert nach Christi Geburt waren 385 000 Sitzplätze vorhanden! Dann wurde er von einem Erdbeben zerstört.
Nun mache man sich eine Vorstellung! 385 000 Sitzplätze!
Solch riesenhafte Zirkusse waren natürlich ungedeckt, oben offen. Das konnte nicht anders sein.
Dieser Zirkus hier aber hatte eine gewölbte Decke, konnte eine haben, denn er war ganz aus dem Felsen herausgehauen. Die Maße seiner Dimensionen will ich nicht weiter angeben, was auch schwer zu machen wäre, weil da noch vieles andere hinzukam, ich will nur sagen, dass wir dann später ungefähr 150 000 Sitzplätze herausrechneten.
Dagegen muss ich Näheres über die Manege sagen. Es war also keine langgestreckte Arena wie bei den alten Zirkussen, in denen hauptsächlich Wettläufe und Wagenrennen stattfanden, sondern sie war wie bei den modernen kreisrund, hatte aber einen ganz anderen Durchmesser.
Dieser hat heute das feststehende, internationale Maß von 13 Metern. Sonst könnten die Artisten nicht aus einem Zirkus in den anderen gehen. Die Pferde würden beim Herumlaufen im Kreise bei verschiedenem Durchmesser eine andere Neigung annehmen, die Artisten würden sich verspringen, oder sie müssten in jedem Zirkus alles neu einüben.
Der Durchmesser dieser Manege hier betrug 82 Meter. Die unterste Stufe, 3 Meter hoch, wurde, und zum Teil auch noch die darüber liegenden Sitzstufen, zweimal unterbrochen. Auf der Westseite durch eine 5 Meter breite und entsprechend hohe Öffnung, gegenüber war eine glatte Wand, sich bis zur Wölbung der Decke erstreckend, nur in der Mitte gähnte noch ein schwarzes Loch. Hin und wieder führte von der ersten hohen Stufe noch ein Treppchen in die Arena hinab.
Das war es, was ich zuerst überschaute, nachdem ich durch einen der Tunneleingänge, der auf die unterste Sitzstufe führte, eingetreten war. Dort unten in der Manege kriebelten meine Jungen herum, brachten aus dem Ausgange Balken angeschleppt, die sie zusammensteckten und aufrichteten, auf eine mir noch nicht bekannte Weise.
»Na, was sagen Sie dazu, Herr Waffenmeister?«, begrüßte mich Doktor Cohn.
Ja, was sollte ich dazu sagen! Merlin hatte mir ja schon wenigstens eine Andeutung gegeben. Dass hier schon einmal, vielleicht vor vielen Jahrtausenden, ein Volk gehaust hatte, das bereits eine hohe Kultur besaß.
»Die Erbauer dieses Zirkus haben übrigens eine leichte Arbeit gehabt«, fuhr Doktor Cohn fort, »selbst wenn nicht erst eine natürliche Riesenhöhle vorhanden war, auch wenn sie alles aus dem Felsen herausholen mussten. Erst jetzt ist es mir eingefallen, die Gesteinsart zu untersuchen. Da wird sich Mister Tabak freuen, da kann er sich Pfeifenköpfe schnitzen. Das ist nämlich alles Meerschaum, schneidet sich frisch wie Butter.«
»Was, Meerschaum?!«
Es war nicht wörtlich zu nehmen. Es war eine schwarze Abart des chinesischen Agalmalotith, der wie der Meerschaum zum Speckstein, dieser zum Talk gehört. Man kennt vielleicht die grünen oder gelben Figuren und Gerätschaften wie Tintenfässer und dergleichen, mit denen manchmal Japaner hausieren, überaus zierlich und pittoresk geschnitten, mit den feinsten Ranken, man wundert sich, wie das bei diesem ungemein harten Stein möglich ist, bei dieser Billigkeit. Es ist Agalmalotith, hauptsächlich in China vorkommend, der nicht nur wie Meerschaum und unser gewöhnlicher Speckstein, sondern wie richtiger Speck geschnitten werden kann, in frischem Zustande, erst nach einigen Tagen geht er mit dem Sauerstoff eine andere Verbindung ein, jetzt erst wird er hart wie Granit. Und vorher kann auch etwas abbrechen, man braucht, so lange sie weich sind, die Bruchstellen nur anzufeuchten, dann kitten sie wieder zusammen, wie auch der Meerschaum begierig Wasser aufsaugt, freilich ohne so hart zu werden.
Diese ganzen Felsmassen bestanden aus schwarzem Agalmalotith. Die Dicke der harten Außenschicht war ganz verschieden, jedenfalls aber stieß man nach Bohren eines Tunnels immer auf eine Region, aus der man die Bausteine wie aus Speck mit dem Messer schneiden konnte, gleich gebogene Platten, wovon wir später ausgiebigen Gebrauch machten.
Ein hober, dicker Balken fiel um. Mich wunderte, was er trotz seines offenbar großen Gewichtes beim Aufschlagen auf den dunklen Steinboden nur für einen schwachen, kaum hörbaren Schall gab.
»Was ist denn das für ein Balken oder für ein Boden?!«
»Kommen Sie nur herab!«
Ich stieg eines der Treppchen hinab. Es war kein harter Stein, der Boden war elastisch wie Gummi.
Doktor Cohn zeigte mir eine Platte von etwa 10 Zentimeter Dicke.
»Mit diesem Zeuge ist der ganze Steinboden wie mit einem Teppich belegt, nur dass man ihn in Kreisausschnitten abheben kann. Ich möchte es fast mehr für schwarzen Bernstein halten als für Gummi oder Kautschuk. Doch alles dreies ist ja das Harz von Bäumen, nur dass der Bernstein von einer prähistorischen Konifere stammt, die heute also nicht mehr existiert. Diese an sich dunkle Masse ist durchsichtig, blicken sie so durch das Licht, da sehen Sie eine Mücke eingeschlossen, eine Art, die es heute nicht mehr gibt, die man aber noch in manchem Bernsteinstücken wohlerhalten findet. Hingegen ist dieser schwarze Bernstein hier etwas weich und elastisch wie Kautschuk und hat davon in den Jahrtausenden, mit denen wir doch wohl rechnen müssen, nichts davon eingebüßt. Das ist sehr, sehr merkwürdig.«
»Und was haben die Balken zu bedeuten?«
»Das ist auch eine große Merkwürdigkeit. Doch zunächst von der Holzart abgesehen, die sich durch viele Jahrtausende so gut erhalten hat. Sie sehen an dem schwarzen Boden hier und da einen runden Fleck von hellerer Farbe. Das sind besondere Ausschnitte, die Matrosen heben sie schon aus. Denn unter jedem Kreise befindet sich im Steinboden ein Loch, da kann immer so ein Balken hineingesteckt werden, so ein langer, tief, sehr tief, dann steht er wie ein Ast, ohne im geringsten zu wackeln, und die halblangen Balken ergeben wieder die Querstangen, und das passt alles zusammen, da ist auch keine Nummerierung nötig, ganz egal, wie man steckt, ein Ausschnitt passt immer genau in den anderen!«
»Und was wird da für ein Gerüst daraus?«
»Ja, das lasse ich eben erst ausprobieren. Es wird eben ein Gerüst, dem man aber eine ganz beliebige Gestalt geben kann. Man scheint es bis in den Himmel hinan bauen zu können, oder auch beliebig seitwärts, und überall sind Löcher vorhanden!«
»Wo haben Sie denn diese Balken gefunden?«
»Nu in den Requisitenkammern.«
»Requisitenkammern?«
»Ach, was wir schon alles gefunden haben — kommen Sie nur mit — ich sage Ihnen — mir ist schon ganz schwach geworden — haben Sie nicht einen Kognak bei sich?«
Das hatte ich leider nicht, und Doktor Cohn vermochte mich auch ohne solch eine Stärkung noch zu führen.
Wir wandten uns dem Manegenausgange zu, der aber gerade verschlossen wurde. Matrosen hatten in der Steinwand kupferne Handgriffe entdeckt, als sie daran zogen, schob sich eine dicke hölzerne Wand hervor, wie eine Tür den Ausgang verschließend, auf der anderen Seite genau in eine Spalte passend; sie konnte eben so leicht wieder zurückgeschoben werden.
Nicht weit hinter dieser Schiebetür befand sich links in der Seitenwand des Ganges eine größere Öffnung, vor der kupferne Gitterstäbe angebracht waren.
Hinter diesem Gitter wurden die Ichtysosauren gehalten, kurz vor der Vorstellung, bis sie in die Manege geführt worden, war die unverfrorene Antwort des Schiffsarztes und ich fiel wirklich darauf herein.
»Was, Ichtyosauren? Vorsintflutliche Riesenkrokodile?!«
»Jawohl, die wurden hier dressiert vorgeführt. Ich weiß es doch, ich bin doch dabei gewesen. Ich war doch damals hier erster Stallmeister, ritt die hohe Schule aus Höhlenbären und Höhlenlöwen. Sie glaubens nicht? Na kommen Sie nur mit.«
Wir wanderten weiter, ich gab diesem Gerede jetzt wenig Gehör. Es war eben unser Doktor Isidor, der so schwatzte.
Ich blickte in Kammern, in ganze Säle, alle von jenem rätselhaften Lichte erleuchtet, alle angefüllt mit Balken und Brettern und anderen Gegenständen, zum Teil auch aus Erz, wahrscheinlich eine Kupferlegierung. Näher beschreiben kann ich die verschiedenen Sachen nicht, sie kamen mir alle ganz fremd vor. Zum Beispiel riesenhafte Becken, deren Zweck man sich nicht leicht erklären konnte.
Nur einen Apparat erkannte ich gleich wieder, an dem diese prähistorischen Artisten ihre Künste in der Manege einem hochverehrten Publikum vorgeführt hatten. Es war das Pferd. Diesen Turnapparat kennt wohl jeder. Auf vier Beinen ein langgestreckter Holzbock, gepolstert und mit Leder überzogen, oben noch zwei Handgriffe, auf die man sich stützt und dann mit den Beinen herumquirlt. Hier fehlte die Polsterung und das Leder, dagegen schienen diese vorsintflutlichen Künstler auf so einem Pferd gleich en gros geturnt zu haben, auf den längeren Pferden — es gab deren eine ganze Masse von verschiedenen Größen — waren gleich vier und sechs und noch mehr Handgriffe vorhanden.
Übrigens ist dieses Pferd nicht etwa ein neuer Turnapparat, etwa vom Vater Jahn erfunden. Schon die alten Römer kannten dieses hölzerne Pferd, das Turnen darauf war beim Militär obligatorisch, auch die Legionäre, die Fußsoldaten, wurden damit gezwiebelt. Wie uns die alten Schriftsteller berichten, Reck und Barren waren unbekannt, dagegen spielte die Leiter eine Hauptrolle.
»Was sagen Sie aber nun hierzu!«
Wir waren weitergewandert. In den Gängen kamen wieder Nischen, vergittert mit Kupfer- oder wohl richtiger Bronzestäben. Denn wir waren offenbar in die Bronzezeit entrückt worden.
Und hinter diesen Gittern lagen ungeheure Knochen, ganze Skelette, riesige Köpfe mit furchtbaren Zähnen.
Höhlenbären und Höhlenlöwen, gar kein Zweifel. Und diese Menschen, die hier einst gehaust, hatten sie gefangen gehalten, hatten sie zu Schaustellungen im Zirkus verwendet.
»Und dieses kolossale Skelett hat nicht einem Elefanten, sondern einem Mammut angehört, so viel verstehe ich davon, und es sind noch eine ganze Menge Mammutskelette vorhanden!«, sagte Doktor Isidor.
Ob der Mensch schon zusammen mit Mammut und Höhlenbären und Höhlenlöwen gelebt hat, diese einst heiß umstrittene Frage darf jetzt als bejaht gelöst gelten. Aber das war der Mensch der Steinzeit, und zwar der ersten Steinzeit, als er den Feuerstein erst spalten, ihn noch nicht schleifen und polieren konnte. Hier aber hatten wir Menschen aus der viele Jahrtausende später liegenden Bronzezeit vor uns. Auch der trojanische Krieg ums Jahr 1200 vor Christi, gehört noch der Bronzezeit an.
Nun, in diesem Tale hier hatten sich die Menschen eben entweder schneller entwickelt, oder die Urtiere hatten sich länger erhalten.
So hatte ich gesprochen.
»Urtiere? Was verstehen Sie denn unter Urtieren? Sehen Sie mal hierher.«
Die ungeheuren Skelette, die ich da erblickte, gehörten jenen Tieren an, die man — zwar nicht wissenschaftlich, aber doch allgemein üblich — als vorsintflutliche bezeichnet. Saurier. Ichtyosaurus, Plesiosaurus, Teleosaurus und wie sie alle heißen. Gerade im Petersburger prähistorischen Museum hatte ich Gelegenheit gehabt, diese Reste einer Urwelt zu bewundern.
Und diese Menschen hier hätten solche ungeheuerlichen Tiere, meist nur im Wasser lebend, noch lebendig gefangen gehalten, sie zu Vorstellungen im Zirkus verwendet?
Nun wusste ich nicht mehr, was ich dazu sagen sollte. Mindestens will ich den Leser damit verschonen, was ich mit Doktor Cohn darüber disputierte.
Übrigens konnte die Sache ja auch ganz anders sein. Auch diese Menschen hatten nur Knochen zusammengetragen, hatten sie hier als Schaustücke zu Skeletten zusammengestellt, so wie wir es auch machen. Wir standen vor einem Käfig, der das zusammengebrochene Skelett eines straußähnlichen Vogels beherbergte, der aber vier bis fünf Meter hoch gewesen sein musste, wie man solche Skelette eines ausgestorbenen Riesenvogels noch heute findet, auch in Europa, die größte der drei Zehen — unsere jetzigen Strauße haben nur zwei Zehen — war nicht weniger als 54 Zentimeter lang, als uns Schreien und ein prasselndes Donnern aus unserem Staunen riss.
Wir erschrocken in die Manege zurückgeeilt, konnten sie freilich schon nicht mehr betreten, mussten ein Treppchen benutzen, um auf die Stufen hinaufzugelangen
Aus der Öffnung, die sich oben in der glatten Wand befand, ergoss sich donnernd ein gewaltiger Wasserfall in die Manege herab. Die Sache klärte sich bald auf. Ein Matrose hatte unten in einem Seitengang in der Wand einen dicken Stöpsel entdeckt, aus jenem elastischen Bernstein bestehend, hatte ihn herausgezogen — da war das Wasser dort oben auch schon hervorgesprudelt gekommen.
Ich erkläre gleich weiter, was wir erst später auskundschafteten, aber noch im Laufe dieses Tages. In einiger Entfernung von diesem Zirkus floss ein unterirdischer Wasserstrom vorbei, also im Felsen, aber noch hoch über dem See gelegen, in den er sich dann an anderer Stelle im Freien ergoss. Es war eine genial ausgedachte pneumatische Vorrichtung, bei der aber auch die Natur mitgeholfen hatte. In einer besonderen Höhle herrschte ein starker Luftdruck, die Luft wurde eben durch dieses eingeschlossene Wasser zusammengepresst. Zog man nun hier den Stöpsel heraus, so entwich pfeifend die Luft, der Strom wurde in einen anderen Kanal gelenkt, ergoss sich hier in die Manege. Sobald der Pfropfen wieder eingesteckt wurde, hörte das Wasser auch zu fließen auf, sodass man die Höhe des Wasserstandes nach Belieben regeln konnte. Allerdings nicht höher als drei Meter, denn höher war die unterste Stufe nicht und auch nicht die den Ausgang abschließende Tür, die eben ein Wehr war, sonst floss das Wasser über dieses hinweg und ergoss sich in den Stallgang, wie ich ihn fernerhin bezeichnen will.
Aber es schadete auch nichts, wenn es darüber hinwegfloss. Dann floss es in dem vergitterten Loche ab, welches Doktor Isidor scherzhaft als einen Käfig für Ichtyosauren bezeichnet hatte. Dann kam das abfließende Wasser draußen in einer Höhle wieder zum Vorschein und ging in den See.
Nur musste erst noch ein zweites Wehr vorgeschoben werden. Sonst allerdings hätte es eine Überschwemmung im Stallgange gegeben.
Meine Jungen hatten das erste Wehr gerade vorgeschoben gehabt, und auch alles Weitere hatten wir bald heraus. Das erste Wehr hielt ja nicht ganz dicht, zumal bei dem hohen Druck von drei Metern, aber das Wasser, das sich durch die Seitenspalten und unten durchdrängte, konnte leicht in dem Loche abfließen, dafür sorgte auch schon wieder eine Bodenneigung, und dann fanden wir noch besondere Bernsteinplatten, offenbar für diesen Zweck bestimmt, mit denen man das erste wie das zweite Wehr vollkommen wasserdicht abschließen konnte. In noch nicht einer halben Stunde war die ganze Manege bis zum Rande der ersten Stufe, also drei Meter hoch, gefüllt. In derselben Zeit floss es auch wieder ab. Das Wasser hatte eine Temperatur von 24 Grad Celsius. War also warm wie Brühe. Meine Jungen jubelten. Ein Wasserzirkus. Wer hätte den hier vermutet? Nun, etwas Neues war es gerade nicht. Auch die alten römischen Zirkusse konnten meistenteils unter Wasser gesetzt werden. Immerhin, das war ja etwas für meine Jungen, was für Wasserspiele wollten sie hier arrangieren, die Roten gegen die Grünen, zumal man hier noch solche Gerüste errichten konnte, was draußen im freien See doch nicht gut möglich war, was konnte man da nicht alles ausführen!
Sollten diese Ureinwohner nicht auch für die Wasserspiele Boote und andere Fahrzeuge gehabt haben? Sie wurden nicht gefunden. Nun desto besser, so musste man sich alles erst selbst fertigen, was ja erst recht Spaß machte, wenn man nicht nur die Seeboote des Schiffes benutzen wollte.
»Nun lassen Sie sich weiter zeigen, was wir schon alles entdeckt haben«, sagte Doktor Isidor zu mir, »obgleich es erst ein geringer Teil von allem sein mag, was die ehemaligen Bewohner dieses Tales hier aufgehäuft haben, denn das scheint ein Labyrinth von schier endloser Ausdehnung zu sein, mit dessen Erforschung man vielleicht niemals fertig wird.«
Wir begaben uns in die Stallgänge zurück.
»Haben Sie schon Überreste von diesen Menschen selbst gefunden?«, fragte ich. »Nein, keine Mumie und keinen einzigen Knochen, wohl aber wissen wir schon, dass diese Menschen nicht größer und nicht kleiner gewesen sind als die heutige Generation.«
»Woraus kann man das schließen?«
»Nun, woraus wohl?«
»Haben Sie Bekleidungsgegenstände gefunden?»
»Erraten! Ihr Scharfsinn ist bewundernswert.«
»Richtige Kleidungsstücke? Gewebe?«
»Nein, da verlangen Sie zu viel. Mit vielen Jahrtausenden muss man hier doch unbedingt rechnen, und da kann sich kein Gespinst und kein Gewebe erhalten. Nicht einmal Lederzeug. Und doch sind Merkmale vorhanden, dass es hier so etwas gegeben hat. Außer Knochen und Erz und jenem merkwürdigen Holz, ganz leicht aber eisenhart wie Teakholz, ist alles dem Zahne der Zeit zum Opfer gefallen. Und dann die nicht minder rätselhafte schwarze Bernsteinmasse. Doch unser gelber Bernstein stammt ja auch aus einer Zeit, da es sicher noch keine Menschen gab.«
»In den ägyptischen Mumiengräbern findet man auch noch wohlerhaltene Kostüme aus Stoff.«
»Ja, das sind aber eben Mumiensachen, immer unter Luftabschluss gehalten, vielleicht noch besonders konserviert, überhaupt in einer heißen Gegend, die sich durch ganz besondere Trockenheit auszeichnet. Hier aber ist es doch ziemlich feucht, hier kann sich so etwas nicht erhalten. Vielleicht finden wir auch noch Mumiengräber, in denen sich auch Tuchstoffe erhalten haben, bis jetzt ist es noch nicht der Fall. Und trotzdem haben wir schon Anzüge entdeckt, in die sich jene Menschen hüllten, sodass wir ihre Größe bestimmen können, nur sind es Kostüme ganz besonderer Art. Ahnen Sie, was für welche?«
Diesmal konnte Doktor Isidor meinen Scharfsinn nicht loben, ich kam nicht darauf, und sein Examinieren war überhaupt albern, was ich ihm auch sagte.
»Verzeihen Sie, ich dachte nur, weil Sie doch der Waffenmeister von heldenhaften Jünglingen sind, die sich die Argonauten der trojanischen Zeit zum Muster genommen haben — hier schauen Sie es mit eigenen Augen.«
Es war eine Rüstkammer, die wir betraten, ein ganzer Saal, angefüllt mit ehernen Panzern, den Menschen vom Scheitel bis zur Sohle einhüllend, mit Schilden, mit Schwertern und Streitäxten und Keulen und Dolchen und anderen Waffen, teils dunkle Bronze, teils vergoldet oder versilbert, und der Überzug dieser edlen Metalle hatte die Jahrtausende überdauert, besonders die Vergoldung strahlte noch in ungetrübtem Glanze.
O, wie ward mir bei diesem Anblick! Denn das war ja so etwas für mich.
Die schönste und größte Sammlung ritterlicher Rüstungen und Waffen des Mittelalters und einer noch früheren Zeit befindet sich im Londoner Tower. Aber was war das gegen hier! Wenn diese Sammlung hier auch gleichmäßiger war. Aber die Masse machte es, und dann das Blitzen und Gleißen der goldenen Panzer, der vergoldeten Bronzeschwerter. Also alles aus Bronze! Oder, wo Verbindungsteile schmiegsamer sein sollten, aus reinem Kupfer. Eisen und Stahl hatte man hier noch nicht gekannt.
Hierzu muss ich eine Bemerkung machen.
Die meisten Menschen dürften gar nicht wissen, was es mit diesen Bronzewaffen für eine geheimnisvolle Bewandtnis hat.
Wenigstens gilt es für sehr viele Bronzegegenstände, angefertigt in der sogenannten Bronzezeit, die der Steinzeit folgte.
Wer das Rätsel löst, kann sich 50 000 Pfund Sterling verdienen, eine Million Mark, als Prämie ausgesetzt von der Londoner Akademie der Wissenschaften, der Kanonenfabrikant Armstrong hat noch weitere 20 000 Pfund hinzugefügt, und das sind erst Aufmunterungsprämien, dem Rätsellöser würden dann wohl noch unermessliche Belohnungen zufließen.
Hier liegt nämlich wieder einmal der Fall vor, dass schon vor vielen Jahrtausenden die Menschheit eine Erfindung besessen hat, die wieder verloren gegangen ist, von der wir gar nichts mehr wissen.
Bronze ist eine Legierung von Kupfer und Zinn. Man verwendet diese Legierung heute noch zu den verschiedensten Gegenständen, besonders bei Maschinen zu Lagerteilen, England versucht es noch immer mit Bronzegeschützen, es sind die verschiedensten Gründe vorhanden, den Stahl, der heute allein in der Geschützfabrikation herrscht, durch etwas anderes zu ersetzen, er hat große Nachteile, vor allen Dingen gestattet er nur eine mäßige Anzahl von Schüssen, dann wird der Stahl kristallinisch, springt, was die Bronze nicht tut, während sie freilich alle die anderen guten Eigenschaften des Stahles nicht besitzt. Und im Schiffsbau würde nun gar eine Bronze, welche den Stahl voll und ganz ersetzt, eine Revolution hervorrufen. Denn die Ablenkung des Kompasses durch die vielen Eisenmassen ist eine ganz fatale Geschichte, und der Kreiselkompass steckt erst in den Kinderschuhen, es scheint auch niemals etwas Richtiges daraus werden zu wollen. Wissenschaftliche Forschungsschiffe baut man heute wieder aus Holz, alles Eisen wird vermieden, die ganze Maschine ist aus Bronze, jeder Nagel aus Kupfer.
Wenn man aber nur der Bronze die Härte, die federnde Elastizität und die sonstigen Eigenschaften des Stahls verleihen könnte! Dieses Problem hatten bereits einmal die Menschen vor Jahrtausenden gelöst. Die Bronzewaffen, die man jetzt in alten Gräbern findet, besitzen alle diese Eigenschaften. Sie sind ganz dem Stahl vergleichbar, blau oder auch gelb angelassen. Sie können haarscharf geschliffen werden, ritzen dann ungehärteten Stahl, man kann sie auch im rotglühenden Zustande schmieden, ohne dass sie diese Eigenschaften verlieren — aber man kann sie nicht umgießen. Sobald das Metall flüssig geworden ist, ist wieder gewöhnliche Bronze daraus geworden. Und doch sind diese Waffen ursprünglich gegossen worden, das erkennt man aus den Gussrändern. Das ist das vorliegende Rätsel! Wie haben die damaligen Menschen das gemacht! Chemische und physikalische Untersuchungen haben noch zu keinem Resultate geführt. Es ist immer eine Kupferlegierung mit Zinn, dessen Gehalt zwischen 10 und 25 Prozent schwankt. Mehr wissen wir nicht. Es konnte noch keine entweichende Gasart, kein anderes Element festgestellt werden, so weit fremde Bestandteile nicht überhaupt immer vorkommen. Der Zusammensetzung nach gleicht diese alte Bronze ganz der unsrigen, aber wir können ihr nicht mehr die Eigenschaften des Stahles geben. Wir stehen vor einem unergründlichen Rätsel.
Übrigens muss dies auch schon für die Bronzemenschen ein Kunststück bedeutet haben. Denn nicht etwa alle Bronzegerätschaften besitzen diese Eigenschaften. Schmucksachen niemals, und von den Waffen auch nur die besseren, deren sorgfältige Arbeit man gleich erkennt. Immerhin sind solche stahlharten Bronzewaffen und Rüstungen, letztere besonders durch Schliemanns Ausgrabungen auf den Gefilden Trojas zu Tage gefördert, doch gar nicht so selten.
Ganz merkwürdig ist es nun, dass auch in Amerika, das auch seine Bronzezeit gehabt, dieselben stahlharten Bronzewaffen gefunden werden wie in Europa und Asien, neben anderen Bronzesachen, die nicht gehärtet wurden.
Und dieser Unterschied ist erst von Alexander von Humboldt erkannt werden. Der hat zuerst überhaupt gemerkt, dass einige solcher Bronzewaffen diese Eigenschaften des Stahles besitzen. Seine erste Entdeckung machte er an einem Dolche, den er in einem Inkagrab fand. Und dann konstatierte er weiter, dass dies auch auf die in Asien und Europa gefundenen Bronzewaffen zutrifft, wenigstens sehr häufig. Es klingt schier unglaublich. Nämlich dass man schon immer solche alte Bronzewaffen gefunden hatte, dass sie von forschenden Gelehrten untersucht wurden, und dass erst ein Alexander von Humboldt kommen musste, der diese stählerne Eigenschaft erkannte.
Dann aber setzte die Bewegung ein, die noch heute besteht. Wer löst das Problem, wie jene alten Heiden der Bronze die Eigenschaften des besten Stahls verleihen konnten! Es würde, wie gesagt, eine Revolution besonders in der Geschützfabrikation und im Schiffsbau bedeuten. Man hat aber tatsächlich schon Bronzewaffen gefunden, die jeden Stahl an Härte weit, weit übertreffen! Ich will nicht mit Zahlen der Bruchfestigkeit und so weiter kommen, sondern nur anführen, dass man vor einigen Jahren in einem englischen Bankhause solch einen Bronzedolch fand, von einem nächtlichen Einbrecher zurückgelassen, mit dem es ihm gelungen war, einen Panzerschrank halb aufzumeißeln. Dieser Bronzedolch war, wie sich später ergab, aus dem Britischen Museum gestohlen worden, stammte aus einem altindischen Tempel. Aber auch die heutigen Inder kennen dieses Geheimnis nicht mehr.
Hier hatten wir solche Bronze vor uns, und zwar war alles ohne Ausnahme von dieser stahlharten gefertigt. Eine Schuppenrüstung vom Scheitel bis zur Sohle einhüllend, wog kaum 20 Pfund, so dünn waren die Schuppen, wunderbar fein mit Kupferdrähtchen übereinander geordnet, und dennoch wurden sie auf keiner Entfernung von der stählernen Spitzkugel des englischen Infanteriegewehres durchschlagen. Einen blauen Fleck bekam man freilich von ihr, wie später durch Zufall konstatiert wurde. Hinwiederum konnte man mit solch einem Bronzeschwert eine zolldicke Stahlstange glatt durchhauen, ohne dass dann in der Schneide die geringste Scharte zu bemerken war. Deshalb eben, für solchen Nahkampf, musste es auch stärkere, massive Panzer geben. Es waren solche bis zu einem Zentner Schwere vorhanden. Dieses Gewicht hatten auch die unserer letzten Ritter, als sie sich noch gegen die Feuerwaffen schützen wollten. Es mussten also gar kräftige Männer gewesen sein, welche diese Rüstungen einst getragen hatten.
Übrigens konnten wir die Waffen und Rüstungen auch nach Belieben umschmieden. Nur musste man dabei sehr vorsichtig sein. Nur über die schwächste Rotglut erhitzt, im Dunkeln eben zu bemerken, und die Eigenschaften des Stahls verflogen, gewöhnliche Bronze blieb zurück. Weshalb, das konnte auch Doktor Isidor später nicht in seinem Laboratorium ergründen.
Was wir sonst noch alles entdeckten, auch noch im Laufe dieses Tages, darüber werde ich später berichten, wenn wir es benutzten, wie es der Lauf der Erzählung mit sich bringt.
Am Abend kam Juba Riata auf dem Wisent angeritten. Viel mehr bekamen wir nicht zu sehen, er sperrte das Tier gleich in eine Höhle ein, niemand hatte Zutritt. So weit war es eben doch noch nicht, er musste den Stier noch weiter vornehmen.
Eines Abends kam Juba Riata auf
dem Wisent ins Lager geritten.
Er brachte eine bittere Kälte mit, die wir gar nicht mehr gewohnt waren, das Thermometer sank in dieser Nacht noch bis auf 20 Grad.
Aber besonders Meister Bärtchen freute sich darüber.
»Das ist der Frühling!«, jubelte der Samojede.
Er sollte recht behalten. Das ist eben immer so im sibirischen Klimawechsel. Der sibirische Winter scheint am Ende seines Daseins noch einmal seine ganze Kraft zusammenzunehmen. Es mag mit einer Luftverdünnung durch besondere atmosphärische Einflüsse zusammenhängen, denn hinterher folgt auch regelmäßig ein furchtbarer Sturm aus Süden.
Das Schönste aber ist dabei, dass man in diesen Gegenden gar keine Nachfröste kennt. Ist der Winter einmal vertrieben, dann setzt auch sofort der Frühling oder sogar der Sommer ein, und das bleibt so, bis im Herbst wieder einmal eine kalte Nacht kommt, dann beginnt der Winter, der keinen warmen Tag mehr kennt.
Gegen Morgen stieg das Thermometer wieder rapid, gleichzeitig setzte auch der erwartete Südsturm ein. Erst aber fing es noch einmal zu schneien an, und wie! Am Mittag konnten wir die Höhle schon nicht mehr verlassen, die Schneedecke reichte schon bis zu den untersten Fensteröffnungen, die sich mehr als zehn Meter über dem Boden befanden. Nicht, dass der Schnee überall so hoch gelegen hätte, aber so wehte er hier an. Und drei Meter hoch lag er am anderen Tage doch überall.
Vier Tage lang wehte ununterbrochen der furchtbarste Sturm, immer wärmer wurde er, sichtlich schmolz der Schnee zusammen, die Eisdecke des natürlichen Sees zerbrach, er warf wirklich haushohe Wellen, schrecklich donnerten die Schollen zusammen. Verlassen konnte man die Höhlen gar nicht, man wurde von dem Sturme sofort gegen die Felswand gepresst, wurde fortgeschleudert, konnte keinen Schritt gehen.
Endlich am fünften Tage legte sich der Sturm, und da hatte sich wie mit einem Schlage die ganze Natur verwandelt. Von Schnee gar keine Spur mehr, auch an der kältesten, schattigsten Stelle nicht mehr, und im Walde knospte und sprießte alles mit Macht. Wunderbar war es, wie schnell sich auch an den höchsten Eichen und Birken die grünen Blättchen entwickelten. Das machte nicht nur die große Wärme, die jetzt sofort einsetzte, sondern das machte hauptsächlich der ausgiebige Winterschlaf, in dem die Natur ununterbrochen gelegen hatte. Und das ist es eben, was man in den heißen Gegenden gar nicht kennt, dieses Erwachen der Natur nach langem Winterschlaf. Wohl gibt es ja auch in den Tropen solch eine ähnliche Periode, in der heißesten Zeit verdorrt alles, bis dann die Regenzeit wieder einsetzt, aber das lässt sich nicht vergleichen mit dem Frühlingsanfang nach solch einem langen Winterschlafe, und das findet man in dieser Weise auch nicht in Europa, nicht einmal in dessen kälterem Teile wie in Schweden und Norwegen. Denn da kommen doch auch einmal wärmere Tage vor, in denen es zu keimen beginnt, Nachtfröste verderben dann alles wieder. So etwas bringt nur ein kontinentales Klima wie das in Asien und Nordamerika mit sich.
Ach, dieser köstliche Duft, der den ganzen Wald erfüllte! Er ging schon von dem sich immer grüner färbenden Moose aus, das auf jedem Quadratfuß Tausende von Hälmchen reckte, von denen man noch nicht wusste, was daraus werden würde. Beeren sollten es werden, hauptsächlich Heidelbeeren und Erdbeeren, selbst die ersteren von einem köstlichen Wohlgeschmack, gegen den keine westindische Ananas konkurrieren kann.
Wir waren in den fünf Tagen unserer unfreiwilligen Gefangenschaft nicht müßig gewesen, hatten uns nicht nur in der Manege mit Turnen belustigt und in dem Felsenlabyrinth nicht nur Forschungsreisen angestellt, sondern heute in aller Frühe machte unser selbsterbautes Boot auf dem wieder stillgewordenen See seine erste Probefahrt — ein sechsriemiges Rennboot, das sich sehen lassen konnte.
In dem Wasserzirkus hatten wir es doch nicht richtig auf seine Schnelligkeit und sonstige Leistungsfähigkeit prüfen können, es war überhaupt erst heute früh ordentlich wasserdicht geworden, nun ging es aber gleich auf den See hinaus.
Es sollte keine größere Expedition werden, sonst hätten wir auch die Damen mitgenommen. Nur erst einmal ein Manövrieren, wir wollten gleich wieder zurückkehren. Aber es sollte wieder einmal anders kommen.
Ja, auf dem Rückweg waren wir bereits, nachdem wir, sechs pullende Matrosen und ich am Steuer, unser Boot tadellos gefunden hatten. Aber weshalb nicht gleich, ehe wir wieder anlegten, einen Abstecher in den Wasserkanal hineinmachen? Es war noch nicht geschehen, die ersten beiden Tage hatten wir anderes zu tun gehabt und dann waren wir ja eingeschneit gewesen. Ich meine also die Wasserschlucht, die unser Hauptquartier von der Werft und dem Zirkus trennte, in welcher auch unser Schiff demnächst beilegen sollte.
An beiden Seiten führten zwar im Felsen Gänge hin, in mehreren Etagen übereinander. Fenster waren überall vorhanden, aber nur ungefähr 100 Meter weit, dann hörten die Gänge entweder wirklich auf, oder wir hatten ihre Fortsetzung noch nicht erforscht.
Gut, wir lenkten in die Wasserschlucht ein. Es war also ein Abfluss des Sees nach Norden, die Strömung war eine nur ganz mäßige.
Ich passte gut auf Merkmale an den sonst ziemlich glatten Felswänden auf, um ungefähr die zurückgelegten Entfernungen taxieren zu können. Später sollte das alles ja topografisch aufgenommen werden. Denn dass wir hier, wenn wir wollten und sonst nichts dazwischen kam, Zeit unseres Lebens aushalten konnten, ohne uns je zu langweilen, das war ja, ohne Zweifel, hier würden wir auch nie das freie Meer vermissen, das war hier doch etwas ganz, ganz anderes als dort auf dem EldoradoPlateau im brasilianischen Urwalde oder auf dem Seelandsfelsen mit Schokoladenautomaten, und unsereins lässt sich doch nicht in einer Gegend häuslich nieder, ohne nach und nach alle Punkte topografisch zu bestimmen.
Die wie gemauerten Felswände, ursprünglich also etwa 30 Meter von einander entfernt, traten bald näher zusammen, bald entfernten sie sich wieder von einander, ohne aber scharfe Krümmungen zu bilden. Ich schätzte die bisher zurückgelegte Strecke auf 400 Meter, als richtig wieder auf beiden Seiten in den Felswänden Fensteröffnungen zu sehen waren. Es lag also nur an uns, die Fortsetzung jener Seitengänge zu finden. Wenn diese Fenster vom Boot aus auch nicht mit bloßen Händen zu erreichen waren, so hatten wir doch Seile und Haken bei uns, hätten hineinklettern können, hielten uns aber vorläufig damit noch nicht auf.
Wieder ungefähr 200 Meter weiter, da machte die sehr breit gewordene Schlucht einen großen Bogen, so sanft, dass sich das Wasser kaum staute, und wie ward uns, als wir diesen Bogen hinter uns hatten!
Schwer ist es, zu beschreiben, was wir erblickten.
Ich will es ganz sachlich tun, nicht von dem ersten Eindruck sprechen, den wir staunend empfingen. Die Felsbände hörten plötzlich auf, die Ebene links und rechts von der Wasserstraße waren ursprünglich nur noch mit Felsblöcken bedeckt gewesen, an diesen hatten die Ureinwohner dieses Landes ihre Kunst ausgeübt, als Bildhauer.
Ein Gebiet von fast, wie wir später ausmaßen, vier Quadratkilometern war über und über mit Figuren bedeckt, Menschen und Tiere darstellend.
Ich will gleich bemerken, dass — es gibt eben nichts Neues unter der Sonne — so etwas ja auch in unserer Zeit geschaffen worden ist: der Campo santo von Genua, der ungeheure Friedhof, auf dem man stundenlang zwischen Steinfiguren wandeln kann, alle aus carrarischem Marmor, meist Heiligenbilder und biblische Szenen darstellend, wozu dann aber leider auch noch die Geschmacklosigkeit gekommen ist, dass die Überlebenden ihre toten Angehörigen in modernen Kostümen, sogar mit Frack und Zylinder haben aushauen lassen.
Dieses ausgestorbene Urvolk hier war ein kriegerisches, kampfesfreudiges gewesen. Überall Kampfesszenen mit sich kreuzenden Schwertern oder Streitäxten oder anderen Waffen, und stand ein Mann allein, so nahm er doch wenigstens eine Fechterstellung ein. Und dann hauptsächlich auch Tierkämpfe, das heißt Kämpfe zwischen Menschen und Tieren, mit riesenhaften Bären und Löwen und Tigern und dann mit Ungeheuern ganz scheußlicher Art, mit Drachen und Lindwürmern, und wenn wir nicht irrten, konnten wir schon jetzt die Gestalten von vorsintflutlichen Tieren erkennen, die also wirklich einmal existiert haben.
Alle diese Figuren waren von voller Lebenswahrheit erfüllt, das durften wir behaupten, wenn sonst auch niemand von uns etwas von echter Kunst verstand. Niemand an Bord unseres Schiffes. Vielleicht Meister Hämmerlein ausgenommen. Jedenfalls hatte niemand etwas an diesen Bildhauerarbeiten auszusetzen, wir konnten immer nur staunen, und wenn wir uns auch wochenlang in dieser Skulpturensammlung unter freiem Himmel ergingen, die übrigens noch eine Fortsetzung in geschlossenen Räumen hatte.
Nur die Dimensionen ließen die Wirklichkeit vermissen. Denn manchmal waren die menschlichen Figuren und entsprechend die Tiere dreimal so groß, als man nach normalen Verhältnissen annehmen musste, dann gab es wieder zwerghafte Gestalten, und man durfte doch nicht annehmen, dass hier solche Riesen und spannenlange Zwerge nebeneinander gehaust hatten.
Die Sache war die, wie wir uns später überzeugten, dass diese Figuren nicht anderswo gemeißelt und dann hier aufgestellt worden waren, sondern dass die Felsmassen mit dem Boden verwachsen waren, und da hatte man sich eben nach der einmal vorhandenen Größe der Steinblöcke gerichtet, um Figuren herauszuhauen.
Steinerne Figuren? Daran dachten wir zuerst gar nicht. Wir hielten zuerst alles für pures Gold. Denn das glänzte und gleißte alles in der Morgensonne. Freilich bald erkannten wir den Kern. Hier und da war doch eine Hand oder sonst etwas abgeschlagen. Da zeigte sich der schwarze Stein, ebenfalls Agalmalotith. Es war alles nur vergoldet, aber auch so stark, und vielleicht noch durch eine besondere Methode, die auf Stein überhaupt gar nicht so einfach ist, dass diese Vergoldung den vielen Jahrtausenden vollständig getrotzt hatte.
Nun kann man sich vorstellen, wie uns zumute war, wie wir mit einem kräftigen sechsriemigen Ruderschlag, hinter der Krümmung hervorkommend, plötzlich zwischen diese goldenen Figuren hineinschossen!
Noch bemerke ich, dass sich an den Kämpfen auch sehr viele Weiber beteiligten. Da, wo ich das Boot stoppen ließ, spielte sich linkerhand an der hier sehr schmal gewordenen Wasserstraße eine ganze Amazonenschlacht ab.
Die jungen Weiber balgten sich auf der Erde herum, eine kniete mit erhobenem Dolche auf der anderen, wieder andere kreuzten stehend die Schwerter und Streitäxte, wieder andere hoch zu Roß, auf ganz gewaltigen Gäulen sitzend, die prachtvolle Stellungen einnahmen, sie stürzten aus dem Sattel, dazwischen aber auch wieder Kämpfe mit ungeheuren Bären und Löwen und anderen Ungetümen — ach, wie soll ich nur diese eine Szene beschreiben, die sich hier linkerhand an uns hinzog! Da will ich lieber jede einzelne Figur des Genueser Campo santo schildern. Wenn man das sagt: »Der betende Mönch«, »Flöte spielender Hirt«, da weiß man doch gleich, was die Figur darstellt, kann sie sich auch gleich ganz klar im Geiste vorstellen. Das ist hier nicht möglich da müsste ich erst solch einen Lindwurm beschreiben, wie der mit seinem Schuppenschweif ein Pferd umstrickt, wie furchtbar sich dieses wehrt, wie seine Reiterin gewaltig mit der Lanze ausholt.
Es waren durchweg junge, bildschöne Weiber mit klassischen Zügen, wenn auch ab und zu eine Nase weggeschlagen war, was ja nun freilich weniger schön aussah. Alle wie die Männer strotzend von athletischer Muskulatur, was man besonders bei denen beurteilen konnte, die keine Panzer und auch keine Schuppenhemden anhatten. Denn alle die Panzerung, die wir in der Rüstkammer gefunden, war auch hier vertreten, die Panzerschuppen waren bis ins Feinste gemeißelt, und um die vergoldeten Rüstungen von den Fleischteilen unterscheiden zu können, waren letztere in dunklerer Vergoldung gehalten, sodass man fast daraus schließen könnte, dass dieses Urvolk eine dunklere Hautfarbe besessen hatte. Besonders aber die Tierkämpfer rangen meist ganz nackt mit den Ungeheuern, und sorgsam war darauf geachtet, dass man deutlich sah, wie Klauen und Zähne das Fleisch zerrissen, wie das Blut hervorsickerte.
»Hein, o Hein, wat seggst tau!«, machte sich zuerst das Staunen eines Matrosen Luft, wie wir so mit gestopptem Boot auf Riemen vor jener Amazonengruppe lagen.
»Wenn als diese Frunslüt nur lebendig wären!«, meinte Hein zunächst.
»Nu, diese roocht doch!«
Was, Teufel, der Mann hatte recht! Ich sehe da eine Amazone, die eine andere am Boden liegende abwürgt, und die goldene Figur hat eine halblange Pfeife zwischen den Zähnen, raucht aber nicht nur kalt, sondern raucht wirklich, qualmt wie ein Schornstein!
Im nächsten Augenblick klärte sich der Irrtum auf. Es war nur eine optische Täuschung gewesen. Hinter der goldenen Amazone kam Mister Tabak hervor. Er hatte gerade so gestanden, dass es ausgesehen, als ob jene die qualmende Fuhrmannspfeife im Munde gehabt habe.
»Wie kommen denn Sie hierher?!«
Erst spuckte der Eskimo den braunen Saft seines Kautabaks verächtlich einem Lindwurm in den weitaufgerissenen Rachen, dann nahm er auch noch eine Prise, ehe er Antwort gab.
Er hatte heute früh mit Juba Riata eine größere Forschungsreise in dem Felsenlabyrinth angetreten, sie hatten einen Gang entdeckt, der schließlich hier auf der Nordseite ins Freie mündete, in dieses offene Skulpturenmuseum.
»Auch die Höhlen dort sind mit lauter solchem Plunder angefüllt!«, setzte er noch hinzu, seinen Pelzstiefel auf das Hinterteil einer sich bückenden Amazone stemmend.
Da kam auch schon Peitschenmüller herbei.
»Das sind gerade solche belgische Bierwagengäule, wie wir sie auf dem EldoradoGebirge wild fanden!«, war dessen erste Bemerkung. »Ob die Pferde in früheren Zeiten wohl alle so groß und stark und dick gewesen sind?!«
Ja, auf diese Vermutung möchte man fast kommen. Dass die Ritter mit ihrer manchmal bis zu einem Zentner schweren Rüstung nur die allerstärksten Gäule ritten, die sie selbst auch noch panzerten, das lässt sich begreifen. Merkwürdig ist aber, dass auch die alten Griechen und Römer nur die allerschwersten, dicksten Pferde geritten und sie vor ihre Wagen gespannt haben, wie man ja auch in Skulpturen und Reliefs deutlich erkennt.
Damals war die Zucht solcher mächtiger Gäule eben Modesache. Die Zucht magerer Tiere mit feinen, aber stahlharten Knochen kannte man vielleicht noch gar nicht oder überließ sie den wilden Asiaten und Sarazenen.
Ferner bemerkt man auf solchen alten Bildern, wie diese mächtigen Pferde immer so eigentümliche Stellungen einnehmen, sie bäumen sich so viel, aber auch beim Stehen haben sie unter dem Leibe eingeknickte Hinterbeine.
Das macht, alle Pferde wurden früher an Hinterhand zugeritten, wie der technische Ausdruck lautet. Das heißt, der Reiter legt sein Gewicht mehr nach hinten, weshalb dem Pferde die Hinterbeine durch Dressur mehr nach vorn gezogen werden. Auch jetzt wird noch allgemein auf Hinterhand geritten, in Europa. Auch alle Kavallerie mit Ausnahme der nordamerikanischen. Diese reitet wie alle wilden Reitervölker auf Vorderhand, ebenso auch wie die Jockeis, welche das Gewicht möglichst nach vorn zu legen versuchen. Dadurch kommt zwar eine schlechte Haltung des Reiters heraus, der Jockei sitzt zuletzt wie der Pawnee und der Kirgise ganz vorn auf dem Halse des Pferdes, aber zweckmäßiger ist es jedenfalls, denn das Tier soll sich mit seinen Hinterfüßen doch nicht abstützen, sondern sich vorwärtsschnellen.
Alle diese Pferdefiguren hier zeigten eine ungemein starke Ausbildung auf Hinterhand. Sie saßen manchmal förmlich auf dem Hinterteil. Das fiel nicht nur einem Manne wie Juba Riata auf, sondern jedem, der so etwas nur irgendwie beobachtet. Man wurde gleich an die alten Bilder der Griechen und Römer erinnert, zumal die Gäule sonst auch so nackt, wie rasiert aussahen, aber in Zöpfchen geflochtene Mähnen hatten. Und außerdem glichen sie bis auf diesen künstlichen Schmuck wirklich ganz jenen starken, mächtigen Rossen, die wir in wilder Freiheit auf dem EldoradoPlateau gesehen hatten, und ich sagte schon damals, dass wir gleich an Bierwagengäule dachten, wie man sie am dicksten vor englischen und belgischen Bierwagen sieht. »Brabanter« heißt dieser Schlag, am nächsten kommt ihm der Percheron.
Die anderen mussten geholt werden, um diese neuen Wunder zu schauen, das waren wir ihnen schuldig. Am einfachsten war es, das Boot holte sie hierher, das ging am schnellsten, und so geschah es, meine Jungen ruderten zurück. Ich aber blieb gleich hier.
Wir drei schritten langsam an dem Wasser entlang, uns auch einmal mehr zwischen die Figuren begebend, immer wundersamere Szenen sehend. Die Bewunderung mochte freilich eine sehr verschiedene sein.
»Ach wäre doch solch ein Gaul richtig von Fleisch und Blut, was müsste der für Beefsteaks abgeben!«
Das waren ganz sicher Mister Tabaks sehnsuchtsvolle Gedanken, wenn er so einem vergoldeten Vieh zärtlich aufs Hinterteil klopfte.
Nach ungefähr einem Kilometer hatten wir die Grenze dieses Figurenparkes erreicht, ganz scharf gezogen, weiter hatte sich eben das Trümmerfeld von Gesteinsmassen nicht erstreckt, und vor uns lag die unübersehbare Steppe im ersten Frühlingsgewande.
Und nicht etwa, dass wir, Juba Riata und ich, daran gedacht hatten, dass uns hier wieder nur eine unbegreifliche Illusion vorgegaukelt würde. Kein Gedanke daran. Die Sonne hatte den vorschriftsmäßigen Stand, das war hier eine echte sibirische Steppe in den ersten Frühlingstagen, sie wurde von dem waldigen Tale durch diese Felsenwand geschieden.
Da war es mir, als ich noch einmal rückwärts zwischen die Statuen blickte, als ob ich einen blitzenden Schimmer huschen sehe. Ich achtete gar nicht weiter darauf, hier glänzte und gleißte ja alles, und ich hatte gerade gegen die im Südosten stehende Sonne geblickt.
»Dort ist so eine goldene Figur davongelaufen!«, sagte da auch schon Meister Tabak.
»Es war eine Spiegelung!«, meinte ich.
»Was denn für eine Spiegelung? Wer hat denn hier einen Spiegel? Nein, es war so eine goldene Figur, die dort fortgerannt ist.«
»Ach, machen Sie doch keinen Unsinn.«
»Herr!«, trumpfte der Eskimo auf. »Ich behaupte, dass dort so eine goldene Figur weggelaufen ist, ich habe es ganz deutlich gesehen — ich behaupte sogar, dass es so ein Weibsbild im goldenen Hemde gewesen ist, und wenn ich mich geirrt habe, dann sollen Sie meinen ganzen Tabaksvorrat bekommen.«
Wenn dieser Eskimo seine Behauptung so begründete, da mussten wir beiden anderen allerdings stutzig werden.
Wir also hin, und jener führte uns gerade dorthin, wo ich den blitzenden Lichtschein hatte huschen sehen.
»Hier ist das Luder gelaufen, oder ich lasse mich hängen und will nie wieder eine Speckseite kauen.«
»Und hier ist ein frischer Fußabdruck!«, ergänzte Juba Riata.
Ich konnte in dem kurzen Steppengrase, das mit seinen ersten zarten Spitzen schon unter der Schneedecke gesprosst hatte, zwar absolut nichts sehen, musste diesem ehemaligen Pfadfinder aber wohl glauben.
»Oder könnte es nicht seine Spur von uns selbst, von einem der Leute sein? durfte ich höchstens noch zweifeln.
»Ausgeschlossen! Es könnte höchstens der kleine Fuß der Ilse oder der Prinzess in Betracht kommen, schon nicht einmal der von der Patronin, und dann müssten die eine andere Fußbekleidung haben als ihre Pelzstiefeln, was aber nicht der Fall ist. Es ist ein sehr kleiner Frauenfuß, der hier gelaufen ist, er war bekleidet, aber ohne Hacke, man muss an Mokassins denken oder an so eine Sandale, wie diese Amazonenstatuen sie tragen, wenn ihr Fuß nicht gepanzert ist.«
Nun wurde die Sache allerdings bedenklich!
»Na, die sind doch wirklich tot, nur aus Stein und mit Gold überschmiert!«, meinte Mister Tabak, wieder solch eine weibliche Statue beklatschend.
»Merlin hat ja schon gesagt, dass wir hier Menschen finden werden, hat uns geradezu dazu aufgefordert, sie zu suchen. Vorwärts, wir müssen der Spur nach!«
Im Eilmarsch ging es fort, Juba Riata als Späher an der Spitze.
Die Spur führte zwischen den Statuen hindurch, dem Wasser zu, von dem wir uns etwas entfernt hatten.
»Da schwimmt sie!«
Es war ein grandioser Anblick!
Nämlich wie die goldschimmernden Arme, also mit goldenen Panzerschuppen bedeckt, kraftvoll das Wasser teilten, wie der mit ebensolchen Goldschuppen bedeckte Nacken in der Sonne gleißte, zwischen den silbernen Wassertropfen, und nun schließlich noch ein goldener phantastischer Helm, ein Ungeheuer darstellend, wie auch die gepanzerten Statuen solche trugen.
Sie war schon sehr nahe dem jenseitigen Ufer, schwang sich die niedrige Böschung hinauf, wandte sich uns zu.
Es war ein schlankes, aber vollbusiges Weib, das goldene Schuppenhemd ging ihr noch nicht bis zu den Knien, darunter sah man eine dunkle, wohl braune Haut, von derselben Farbe war das Gesicht, unter dem phantastischen Helm quollen schwarze, kurze Locken hervor. In der linken Hand hielt sie, wovon wir beim Schwimmen gar nichts bemerkt hatten, einen ziemlich langen Bogen und offenbar ein Bündel Pfeile. Mehr war jetzt nicht zu unterscheiden, denn es ging überhaupt alles sehr schnell.
Kaum war sie mit wunderbarer Elastizität ans Ufer gesprungen, so wandte sie sich auch schon um, hob die rechte Hand gegen uns, schüttelte sie und war schon wieder mit einem Sprunge hinter den nächsten Statuen verschwunden, die also auch auf dem jenseitigen Ufer standen.
»Vorwärts, ihr nach!«, rief ich, mich schon anschickend, ins Wasser zu springen, und ich hatte nichts bei mir, was vor Nässe zu schützen war. Die modernen Patronen können ein langes Wasserbad vertragen.
»Sie hat uns gedroht!«, sagte der Eskimo. »Und sie ist mit Bogen und Pfeilen bewaffnet.«
»Nein, das war nur eine abwehrende Handbewegung, dass wir ihr nicht folgen sollen!«, versetzte Juba Riata und warf sich, seine kurze Büchse über den Kopf erhebend, noch vor mir ins Wasser.
»Das läuft auf ganz dasselbe hinaus. Wenn sie will, schießt sie einen nach dem anderen weg. Gut, ich bleibe hier und fange sie ab, falls sie nochmals durchs Wasser geschwommen kommt.«
So rief uns Mister Tabak nach, während wir schon die Schwimmtour machten.
Dieser Eskimo war alles andere als ein Feigling. Er hatte ganz recht. Wir mussten darauf gefasst sein, einen Pfeilschuss abzubekommen. Aber wenn man sich vor so etwas fürchtet, darf man nicht den Kriegspfad betreten oder auf eine Menschenverfolgung gehen. Dann muss man überhaupt lieber zu Hause bleiben.
Kurz und gut, uns waren die Fitschepfeile höchst gleichgültig, Mister Tabak hatte uns nur gewarnt und hatte auch darin ganz recht, wenn er als dritter hier zurückblieb.
Der Fluss war hier nur 20 Meter breit, das aus dem warmen See kommende Wasser dünkte uns immer noch wie Brühe.
Auch auf dem jenseitigen Ufer ging die Spur immer zwischen den Statuen hindurch, mehr als einen Kilometer weit, und dann führte sie in die freie Steppe hinaus. Doch nicht lange, so wandte sie sich wieder nach der Felswand zurück, die auch hier ganz glatt war, nur mit zahlreichen Höhlenlöchern durchsetzt, in einem solchen verschwand sie.
Jetzt hätte das kriegerische Weib erst recht Gelegenheit gehabt, uns aus dem Hinterhalte mit einem Pfeilschuss zu beglücken, aber es geschah nicht. Freilich war auch unser Nachsetzen zwecklos. Unsere Taschenlampen beleuchteten einen nackten Höhlengang, auf dessen glattem Steinboden auch Juba Riatas Späherauge versagte. Ohne seine Hundenase war da nichts zu machen. Wir verirrten uns in ein ganzes Labyrinth von Gängen und Höhlen, die aber hier einen ganz natürlichen Eindruck machten, hier hatte nirgends die Hand des Menschen mit dem Meißel oder bei schneidbarem Steine mit dem Messer nachgeholfen. Bald gaben wir unsere weiteren Bemühungen auf, fanden nur mit Hülfe des Kompasses den Rückweg ins Freie, und es wäre uns nicht so leicht gelungen, wenn nicht alle Gänge miteinander verbunden gewesen, sodass wir schließlich zu einer ganz anderen Höhle wieder herauskamen.
Da hatten wir nochmals einen überraschenden Anblick.
In einiger Entfernung weidete in der freien Steppe ein Pferd! Solch ein mächtiger Gaul, wie ihn dort die Bildhauer in Menge dargestellt hatten. Ein schwarz und weiß gefleckter Schecke, bei aller Mächtigkeit ein herrliches Tier von den edelsten Formen.
»Genau derselbe Schlag wie aus dem EldoradoPlateau!«, setzte Juba Riata auf meine Bemerkung noch hinzu.
»Ob er der Amazone gehört?«
»Er ist vollständig ungezäumt, und wenn ich ihn fangen kann, dann gehört er mir.«
Peitschenmüller machte sich daran, auf Umwegen heranzuschleichen. Es war gar nicht nötig. Das Tier bemerkte doch sicher den Menschen, hatte überhaupt schon nach uns geblickt, jetzt ließ es sich aber im Genusse der jungen Grasspitzen durchaus nicht stören.
Die Lassoschlinge legte sich um den Hals — das Tier beobachtete es gar nicht. Juba Riata klopfte ihm den Nacken, und das stolze Roß neigte dankend für die Liebkosung den Kopf, nachdem es den Mann schon vertraulich beschnüffelt hatte, nicht anders, als suche es in der Tasche nach Zuckerchen. Da, wie Peitschenmüller auf die andere Seite getreten, ich unterdessen herangekommen war, stieß er einen Ruf der Überraschung aus.
»Mein Totem — mein Brand!«
Ich sah auf dem weißen Schenkel einen schwarzen Schnörkel, eine Art von Violinschlüssel, wusste aber noch gar nicht, was Peitschenmüller meinte, hatte noch nie ein solches Zeichen von ihm gesehen.
»Ja, es ist mein Eigentumszeichen. Und das ist die Schecke, die ich auf dem EldoradoPlateau gebrannt habe!«
Der Leser entsinnt sich. Juba Riata hatte bei unserem Aufenthalt auf dem EldoradoPlateau wohl einige solcher großen Gäule gefangen und zugeritten, er selbst war vollkommen Meister über diese ungemein unbändigen Tiere geworden, aber für meine Jungen, die das Reiten erst lernen mussten, waren sie nichts gewesen, sie hatten sich dann an die leicht zähmbaren sanften Ponys gehalten. Und Juba Riata hatte dann später nur noch Interesse für seinen Büffel gehabt.
»Es ist meine Schecke, die ich bei unserem zweiten Aufenthalt auf dem Plateau nicht wiederfand, da ist jeder Irrtum ausgeschlossen. Wie kommt das Tier jetzt hierher nach Sibirien?«
Vergebliche Frage!
Oder auch ganz einfach zu beantworten: sie war eben hierher gebracht worden. Von wem? Nun eben von denjenigen Personen, die uns auch hier auf geheimnisvolle Weise umgaben, ohne sich sichtbar zu machen.
Wir nahmen das Tier mit. Peitschenmüller brauchte es nicht zu reiten, es folgte wie ein Lamm an der Schnur. Wenn die Amazone Anspruch auf das Pferd machte — gut, so mochte sie es sich nur holen, sie würde uns schon zu finden wissen, dann lernten wir uns ja gleich näher kennen.
Das sagten wir den anderen, die unterdessen mit dem Boote eingetroffen waren. Es konnte nur beim Staunen bleiben, was schon für die weitere Besichtigung der Statuen galt.
Sechs weitere Tage vergingen, und immer herrlicher wurden sie. Denn immer herrlicher grünte und duftete der Wald, und jetzt hatte er sich auch noch mit zahllosen Scharen von Singvögelchen angefüllt, die ihr Brautliedchen jubilierten, überall balzte der Birk- und Auerhahn, und gar erst in dem Schilf, das überall am Rande des Sees emporzuschießen begann, wimmelte es von Wasservögeln aller Art.
Jeden Morgen wurde ich von neuem Entzücken erfüllt, immer glaubte ich, ein herrlicherer Tag könne doch niemals unter Gottes Sonne anbrechen, und dann wurde ich jedes Mal sentimental, bis zu Tränen, und ich wusste nicht warum. So wie es mir noch heute an jedem schönen Frühlingsmorgen im einsamen Walde ergeht.
Ich schildere nicht, was wir in diesen sechs Tagen für Expeditionen machten, was wir fanden, erlebten und trieben — ich gebe nur das Resultat wieder.
»Uns nicht stören lassen!«
Das war die Parole, welche die Patronin gab, noch ehe ich es aussprechen konnte, als am vierzehnten Tage unseres Hierseins, wie Merlin prophezeit hatte, unvermutet unsere »Argos« durch die Wasserschlucht gerauscht kam.
Nur ich allein stand an einer Fensteröffnung und kommandierte, wo sie beilegen sollte, sprang an Deck. Einige scherzende Begrüßungsworte, ein Händedruck mit Kapitän Martin — nichts weiter.
»Alles wohl?«
»Well.«
»Gute Fahrt gehabt?«
»Well.«
»Wer hat geführt?«
Kapitän Martin deutete mit der Fußspitze nach einem schmierigen Kerl, einem Meister Bärtchen in zweiter Ausgabe.
»Hat er etwas gesagt, wo er Sie hinführt?«
»Nichts. Stockfisch. Aber bannig fein hier, alles so scheun greun.«
Dabei aber hatten sie erst während der letzten zweitägigen Fahrt die grüne Steppe gesehen, zwar ebenfalls schon »bannig fein«, weil eben »scheun greun«, aber die war doch nicht mit diesem Walde zu vergleichen, und von dem konnten sie von hier aus noch nichts sehen, sie hatten nur den freien Wasserspiegel des Sees vor sich.
»Na, da kommt mal alle mit — jawohl alle, alle! — Du auch, Kännchen, lass nur ruhig Deine Suppe eindampfen — Sie auch, Kapitän — nu Sie erst recht, Vater Abdall...«
Die letzte Silbe konnte ich nicht mehr aussprechen. Nein, sonst fand keine Begrüßung statt. Wenigstens nicht seitens der zweibeinigen Wesen unseres Schiffes. Ich hatte die anderen vergessen.
Plötzlich öffnet sich eine Luke, eine bunte Masse quillt hervor, und da liege ich auch schon platt auf den Planken, bin so ungefähr von drei Dutzend Hundekötern zugedeckt, von etlichen Bären, einem Löwen, einem Tiger und anderem Viehzeug, das mich mit seinen Liebkosungen erdrücken will.
Endlich befreite ich mich von der freudetollen Bande oder wurde befreit.
»Nun mir nach, alle, alle!«
Die aus mehr als hundert Personen bestehende Menschenschlange folgte mir durchs Fenster. Ich führte sie so, dass sie nicht erst schon bewohnte Räume passierte, führte sie direkt ins Freie.
Da standen sie und staunten den grünen Wald an.
Bis zuerst einer von den gelben Knirpsen, die freilich nun alle schon vier Jahre älter und dementsprechend größer geworden waren, das Schweigen brach.
Etwas ganz Merkwürdiges geschah.
»Waffenmeister, dürfen wir da hinaufklettern?«
Nicht weit von dem Höhlenausgange stand eine mächtige Eiche, bei Sonnenhöhe bedeckte der Schatten ihrer Zweige ein Gebiet von einem Viertel Hektar, und überall sprossten jetzt die grünen Blättchen hervor.
Merkwürdig fand ich diese erste Frage besonders deshalb, weil auch die schon anwesenden Matrosen bei jeder Gelegenheit auf dieser Eiche herumgeklettert waren, und ich mit, nur bedauernd, dass wir nicht das nötige Tauzeug besessen hatten, um das Geäst noch miteinander zu verbinden, um sozusagen dort oben ein Spinnengewebe herzustellen, aber eines nach allen drei Dimensionen, um dann erst recht nach Herzenslust herumzuspringen.
Wirklich ganz merkwürdig, was diese Eiche schon immer für eine Anziehungskraft auf uns ausgeübt hatte, und jetzt war dieses kleinen Jungen erste Frage, ob er mit seinen Kameraden da oben herumklettern dürfe.
Natürlich durften sie.
Und mit einem Jubelschrei kletterten sie hinauf, wie auf Verabredung gleichzeitig alle 32 Bengels. Dabei war das Hinaufkommen gar nicht so einfach. Kein Ast hing so weit herab, dass ihn selbst ein großer Mann mit den Händen im akrobatischen Sprunge hätte erreichen können. Doch diese Bengels wussten schon hinaufzukommen. Es waren Schiffsjungen, und ich hatte sie noch in ganz besonderer Weise ausgebildet. Sie kletterten einander auf die Schultern, drei übereinander, so bauten sie lebendige Leitern, an denen die anderen hinaufkletterten, ja die gewandtesten kletterten sogar direkt am Stamme empor, obgleich dieser gar keine sichtbaren Vorsprünge bot, nur eine sehr rissige Rinde hatte — wie die Affen, nein, wie die Eichhörnchen.
Und nun ging es dort oben los, von den untersten Ästen bis hinauf in den Wipfel, ich schätzte eine Höhe von wenigstens 30 Metern, das ist noch ein halb mal so hoch als ein vierstöckiges Haus, immer von einem Ast zum andern gesprungen und geschwungen.
»Seile her, Seile her!«, erklang da auch schon der Ruf. Sie hatten denselben Gedanken gefasst, den auch wir Erwachsenen schon gehabt.
»Dürfen wir?«
Ja selbstverständlich durften sie.
Zurück an Bord und geeignete Seile und Tauwerk geholt, ein Bündel folgte dem anderen in schier endloser Anzahl. Da war aber auch noch eine zweite solche mächtige Eiche in der Nähe, und nun ging es gleich los wie immer: Gelb gegen Blau! Welche Partei ihren Baum am schnellsten und am schönsten in Tauwerk eingewickelt hatte, dass man auch von einer Astspitze zur anderen klettern und sich schwingen konnte, und wer dabei stürzte, dessen Partei bekam einen Fehlpunkt.
Genug, weiter will ich nicht schildern, was das für ein Leben oben auf den Bäumen war, es ist überhaupt gar nicht zu schildern. Jedenfalls aber war es herrlich! Nur der eine bedauernde Gedanke stieg mir manchmal auf, wie viele Knaben es doch in der Welt gibt, die zu solch einem Spiele keine Gelegenheit, daher von solch einem herrlichen Genuss überhaupt gar keine Ahnung haben.
»Wo sind denn nun aber die anderen?«
Da kam schon der eine: Juba Riata.
Aber wie kam er an!
In einem Birkenschlitten, dessen Kufen durch Räder ersetzt waren, einfach aus einem Brette gefügt, mit Reifen von jenem schwarzen Bernstein, also auf Gummirädern, und vor diesen Schlittenwagen nun nicht weniger als 49 Hunde gespannt, in sieben Reihen zu je sieben geordnet!
Wir hatten 54 Hunde mitgebracht, sechs davon hatte der Wisent zerstampft; vier waren eingegangen oder im letzten Schneesturm verschwunden. Dafür aber hatte Juba Riata fünf junge Wölfe gefangen und sie bereits zwischen den anderen Hunden eingefahren.
Ach, was für unsägliche Mühe hatte er gehabt, um die Hunde an ihre wilden Vettern zu gewöhnen, zu verhindern, dass sie nicht sofort über sie herfielen und sie zerfleischten! Was für Mühe, um die Wölfe im Joch an die Hunde zu gewöhnen! Und nicht minder für Mühe, um das Entsetzen unseres Meister Bärtchen zu bemeistern! Denn für die Samojeden wie überhaupt für alle diese sibirischen Völkerschaften sind die Wölfe sämtlich böse Menschen, die sich zeitweise in Wölfe zu verwandeln wissen. Da gibt es gar keine Ausnahme.
Jetzt liefen diese fünf jungen Wölfe schon ganz willig zwischen den anderen Hunden mit, und großartig sah es nun aus, wie Juba Riata mit 49 Tieren angefahren kam, wie der schöne, stattliche Mann vorn in dem eigentümlichen Gefährt aufrecht stand, das Bein vorgestemmt, in der einen Faust sieben Zügel vereinigt, in der anderen die endlos lange Peitsche, bald einen ungehorsamen Hund strafend, bald einem anderen einen mehr liebkosenden Schlag versetzend.
Da aber kam die Katastrophe.
Ein donnerndes Gebrüll, und alle war's mit jeder Dressur und Fahrkunst.
Unser Leo, jetzt ein ausgewachsener Löwe — und was für ein stattliches Exemplar der abessinischen Rasse war er geworden — hatte es ausgestoßen.
Diese Hunde gingen vor keinem Bären und keinem Wisent mehr durch, aber den ihnen noch fremden Anblick des Königs der Tiere vermochten sie doch nicht zu ertragen.
Zum Überfluss kam auch noch die Marchesse angesetzt, die Königstigerin, und ihr nach noch eine ganze Menge von Bestien, um den trotz all seiner Strenge doch so geliebten Herrn und Meister zu begrüßen.
Da war es natürlich mit aller Dressurfestigkeit der 49 sibirischen Hunde und Wölfe vorbei.
Ach, gab das ein Theater! Wie diese in sieben Reihen wohlgeordneten 49 Tiere plötzlich nach allen Richtungen davonstoben!
Im nächsten Augenblick war wiederum einer unserer Birkenschlitten an einem Baumstamm zerschellt.
Aber nicht etwa der zweite, sondern von unseren fünfzehn Birkenschlitten, die wir mitgebracht, schon der achte! Denn diese allgemeine Hundedressur hatte bereits sechs andere Schlitten gekostet! Vielleicht noch großartiger aber war nun das Weitere, wie Juba Riata diese Sache nun noch einzurichten wusste. Wohl hatte er trotz seiner sieben Zügel die Gewalt über die Hunde verloren, wohl erlitt er Schiffbruch, aber Herr und Meister über die Tiere blieb er schließlich dennoch!
Er selbst war nicht zu Boden gestürzt, aufrecht ging er aus den Trümmern hervor. »Nach allen Richtungen stoben die Hunde davon!«, hatte ich zuerst gesagt. Das ist nicht wörtlich zu nehmen. Daran wurden sie ja schon durch die Art der Bespannung gehindert. Außerdem hatten diese 49 Hunde durch ihr wiederholtes Durchgehen nun schon so viel Erfahrung gesammelt, dass sie wussten, wie ihr Heil gerade im Zusammenbleiben lag, wenn es auch nicht mehr ein so geordnetes war, und ebenso wussten sie jetzt, dass sie nicht an beiden Seiten eines Baumstammes vorüber durften, sonst verfingen sie sich und waren geliefert.
Durch diese gewitzigte Erfahrung aber wäre ihr Lenker geliefert gewesen, auch wenn er nicht die Zügel aus der Hand verlor. Was wollte denn da ein Mensch machen. Mitrennen konnte er nicht. Klammerte er sich an einen Baumstamm an, so konnte ihm, wenn er nicht losließ, doch gleich ein Arm ausgerissen werden. Oder er kam schließlich doch zum Sturz und wurde geschleift, musste also endlich doch die Zügel fahren lassen.
Aber Juba Riata ließ sie eben nicht fahren! Vielmehr fuhr er selbst weiter, nur ohne Räderschlitten, in ganz besonderer Weise. Per pedes apostolorum. Er hatte sich aus Erz eine Art von Sporen gefertigt, sie in genialer Weise an seine Hacken befestigt, dass sie felsenfest saßen, und so ließ er sich schleifen, ganz zurückgeneigt, in der einen Faust die sieben Zügel, mit der Peitsche die Hunde karbatschend und mit den Füßen in den Moosboden zwei wahre Ackerfurchen ziehend.
Ich hatte solche auf diese Weise von ihm gezogene Ackerfurchen schon anderswo gesehen, hatte dasselbe Manöver auch schon einmal beobachtet, aber nur von weitem, hier sah ich es zum ersten Male in meiner dichten Nähe ausgeführt, und ich kann nur sagen, dass es geradezu fürchterlich anzuschauen war, wie sich dieser Mensch auf solche Weise von den 49 Wolfshunden schleifen ließ, halb mit dem Rücken am Boden liegend und dennoch auf den Füßen stehend, wie er dabei die Hunde karbatschte, und so ruhte er nicht eher, als bis er sie schließlich dennoch seinem Willen unterworfen hatte und sie in geordneten Reihen an Ort und Stelle zurückbrachte.
»Ja, wo sind denn aber nun die anderen?!«, erklang es immer wieder.
Im Zirkus fanden wir sie alle zusammen. Und das waren jetzt keine Gaukler mehr, sondern es waren aus ihnen bereits richtige Zirkuskünstler geworden, es fand gerade eine Probe statt, oder sie übten, was man aber schließlich auch als eine richtige Zirkusvorstellung betrachten konnte. Hatten wir vielleicht die Absicht, nun wirklich unter die Zirkusmenschen zu gehen, auch in anderen Zirkussen öffentliche Vorstellungen zu geben?
Sei dem, wie es wolle — jedenfalls hatten wir uns den im Zirkuswesen üblichen Verhältnissen angepasst.
In der Mitte der Manege war eine kleinere errichtet, einfach indem im Kreise solche elastische Bernsteinplatten aufgeschichtet waren, denen man leicht die nötige Rundung hatte geben können, und diese zweite Manege hatte genau den vorschriftsmäßigen Durchmesser von 13 Metern. Das war es nämlich, wodurch ein wirklicher Artist leicht auf den Gedanken kommen konnte, dass wir Seegaukler ihm Konkurrenz machen wollten. Und vielleicht hatte er ja gar nicht so Unrecht. Jedenfalls hatten wir uns jetzt dem Kunstreitersport ergeben.
In dieser Manege trabten oder vielmehr galoppierten zwei Pferde, zwei mächtige Gäule. Der eine hieß »Viola«, von meinen Jungen nach dem ihm von Juba Riata schon auf dem EldoradoPlateau eingebrannten Violinschlüssel so getauft, der andere hörte auf den Namen »Zeus«, aber schon so weit waren wir im Pferdesport gekommen, dass wir dieses Wort »Ze—us« aussprachen — jeder Kavallerist und sonstiger echte Pferdejunker weiß sofort Bescheid — und das waren nicht die beiden einzigen Riesengäule, die wir besaßen, sondern im Stalle standen noch drei andere, ebensolche mächtige Tiere. Woher wir die hatten? Nun eben von dort, wo wir auch die Schecke mit dem Violinschlüssel gefunden hatten. Von der Steppe jenseits der Felsenwand. Dort tummelte sich noch eine große Herde solcher Riesenpferde herum, vielleicht auch viele Herden. Ob die erst von dem EldoradoPlateau extra unseretwegen hierher verpflanzt worden waren, darum kümmerten wir uns nicht, über solche Neugier waren wir schon längst erhaben. Juba Riata hatte vier weitere von ihnen gefangen, die aber diesmal wirklich gehascht werden mussten, hatte sie schon ganz brauchbar für Reit, und Zirkusdienst dressiert, und dasselbe galt von einem Dutzend Tarpans und Kulans, sodass wir schon über einen ganz stattlichen Marstall verfügten. Peitschenmüller brauchte nur Erfahrung zu sammeln, dann wurde er auch mit Tarpans und Kulans fertig, sogar mit schon älteren Tieren. Der wusste ihnen bald alle Mucken auszutreiben.
Jetzt also galoppierten Viola und Zeus im Kreise herum, mit dem Panneau gesattelt, dem flachen, tischähnlichen Polstersattel, dessen Herstellung uns eine Kleinigkeit gewesen war, und Hans und die Prinzess waren es, die sich im Stehendreiten übten, oder vielmehr schon in wagehalsigen Sprüngen, wozu sie noch an die »lange Longe« genommen wurden.
Ich bin mit der Zeit im ganzen Zirkuswesen perfekt geworden. Der Artist, womit ich hierbei Akrobaten, Seiltänzer, Forcereiter und ähnliche Leute meine, keine Komiker, kennt der Hauptsache nach dreierlei Arten von Hilfsmitteln bei seinen halsbrecherischen Übungen, die er im allgemeinen mit dem Namen »Longe« bezeichnet. Woher dieses Wort kommt, weiß ich allerdings nicht, hat mir niemand erklären können. Die HandLonge besteht aus Riemen, die am Körper festgeschnallt werden, mit Handgriffen, der Lehrmeister greift direkt zu, um dem Übenden behilflich zu sein und ihn vor Stürzen zu bewahren. Bei der kurzen Longe besteht die Verbindung zwischen Lehrmeister und Schüler in einem Seil; sie wird hauptsächlich beim Stehendreiten angewendet, verhindert aber nur, dass der Übende nach außen stürzt, er kann nur nach innen in die Manege fallen, was ungefährlicher ist. Bei der langen Longe schließlich ist die Verbindung noch indirekter, das Seil läuft erst durch eine Rolle, die von der Decke herabhängt, hierbei ist ein Sturz überhaupt ganz ausgeschlossen, der Fallende bleibt in der Luft schweben, denn das andere Ende wird von einigen Männern gehalten, angezogen und nachgelassen, wie es der Bedarf erfordert. Aber die lange Longe kann nicht immer angewendet werden, wenn sie eben hinderlich ist, wie zum Beispiel beim SaltomortaleSchlagen. Da muss man mit der kurzen Longe auskommen, trotz aller Gefährlichkeit. Doch leisten diese artistischen Lehrmeister in der Handhabung der kurzen Longe auch ganz Erstaunliches. Der Schüler kann stürzen wie er will, solch ein Trainer weiß ihn durch einen eigentümlichen Ruck an der Leine immer vor dem Schlimmsten zu bewahren, bringt ihn, auch wenn der Stürzende kopfüber durch die Luft saust, noch immer auf die Beine. Wofür sich solche Lehrmeister freilich auch bezahlen lassen. Oder sie fesseln eben den Schüler durch jahrelangen Kontrakt an sich, nutzen ihn aus was aber ganz verzeihlich ist.
Wir benutzten nur die lange Longe. Für die mehr als 50 Meter hohe Decke hätten wir gar kein Seil gehabt, aber wir konnten ja, wie schon geschildert, quer über die ganze Manege ein Gerüst bauen, nur 20 Meter hoch, das genügte schon, solch ein langes Seil besaßen wir, es wurde in der Mitte leicht drehbar befestigt, oder vorläufig, weil die doppelte Länge fehlte, saßen einige schon gut eingeschulte Matrosen oben, welche die Sache handhabten, den Übenden am Gängelbande hielten.
Wir waren in den zirzensischen Künsten bereits tüchtig vorgeschritten. Hans übte gerade den freien Sprung auf das ungesattelte Pferd, war ja allerdings auch unser bester Springer, aber dass die kleine Prinzess im kurzen Röckchen mit Pumphöschen, auf dem Panneausattel schon die ganze Pirouette fertig brachte, das Umsichselbstdrehen im Sprunge, bei senkrechter Haltung des Körpers, das hatte wirklich schon viel zu bedeuten. Wenn sie es auch noch sehr ängstlich tat, dabei die Hände immer ausstreckte, als wolle sie sich an etwas festhalten. Schneider-Schnipplich und Kretschmar dirigierten als Stallmeister mit der Peitsche die beiden Pferde, die ja nie aus den Augen gelassen werden dürfen und die freilich erst von Juba Riata so weit gebracht worden waren, dass sie ohne Leine gleichmäßig im Kreise liefen und willig Menschen auf sich herum trampeln und hopsen ließen. So war das Bild beschaffen, als nun die ganze Schiffsbesatzung, von mir geführt, den Zirkus betrat.
Das allgemeine Staunen galt im Augenblick weniger dem kolossalen Felsenbau als vielmehr diesen artistischen Übungen, worin sich die Teilnehmer gar nicht stören ließen.
»Well«, nahm zunächst an meiner Seite Kapitän Martin etwas spöttisch das Wort, »das hat die Herzogin und Peeress bei ihren zukünftigen Regierungsgeschäften ja auch sehr nötig, dass sie so auf einem Pferde herumhopsen kann.«
»Gelernt ist gelernt«, versetzte ich, »und ich sehe nicht ein, inwiefern solche Kunstreiterei unangebrachter ist, als ein anderer Sport, als etwa das LawnTennisSpiel, und Sie geben doch wohl zu, dass eine englische Herzogin, die nicht perfekt LawnTennis spielen kann, einfach eine englische Unmöglichkeit ist.«
»Well, da haben Sie ganz recht!«, gab der biedere und welterfahrene Kapitän denn auch gleich zu.
»Herr Kapitän, machen Sie mir das einmal nach!«, rief jetzt die kleine Prinzess, nicht mehr Pirouetten schlagend, nur noch graziös im Stehen mit den Beinen schlenkernd, tanzend, was sie aber auch schon ganz famos heraus hatte.
»Well«, fing der alte Seebär wieder an, sich aber nur an mich wendend, oder an die Patronin, die daneben stand, auch schon im Turnerkostüm, »ich bin ein ganz tüchtiger Reiter.«
»So?!«, lachte die Patronin. »Ich habe Sie aber noch nie auf einem Pferd gesehen!«
»Weil ich mich in Ihrer Gegenwart noch nie auf eins drauf gesetzt habe. Weil ich's nicht nötig hatte. O ja, in meinen jüngeren Jahren machte mir niemand so leicht im Reiten etwas vor.«
»Konnten Sie auch stehend reiten?«
»Das nicht grade. Das heißt, ich hab's nie probiert. Weil ich's nie nötig hatte. Aber da ist doch gar nichts dabei.«
»Sie meinen, das ist so leicht, auf dem Rücken des galoppierenden Pferdes zu stehen?«, fragte die Patronin mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Well, das meine ich. Wenigstens wenn das Vieh so einen großen Tisch auf den Buckel geschnallt hat. Auf dem nackten Rücken zu stehen, wie es der Hans da macht, will ich ja nichts sagen, das mag schwierig sein, aber auf so einem flachen Tischsattel — bah! Man macht einfach die Bewegungen des Pferdes mit, hopst immer bei jedem Galoppsprunge und hat dabei nur gut aufzupassen, dass man weder nach rechts noch nach links herunterfällt, nur hübsch Balance halten — was soll da weiter dabei sein?«
Ich dachte schon, jetzt würde die Patronin den Kapitän beim Wort nehmen, ihn auffordern, zu zeigen, dass es wirklich so einfach sei, aber sie tat es nicht. Auch sie hatte vor dem alten Seebären den größten Respekt.
In anderer Weise wollte sie die Schwierigkeit dieses einfachen Stehendreitens beweisen. »Leute — wer von Euch kann stehend reiten! Wer dreimal im Stehen auf dem PanneauSattel in der Manege herumreitet, der der der — soll fernerhin den Ehrentitel Argonautenschiffsrittmeister führen!«
Jubelnd von allen Seiten wurde diese humoristische Aufforderung begrüßt. Sie alle hatten ja schon nur darauf gewartet, auch einmal ihre Kunst probieren zu dürfen.
Und die Geschichte ging los! Einer nach dem anderen wurde an die lange Longe genommen.
Es war nicht gerade etwas Neues, was sich da in unserem Felsenzirkus abspielte.
Jeder Zirkus nimmt heute die betreffende Nummer für einige Zeit in seinem Programm auf. Nachdem eine Reitkünstlerin den ersten Teil ihrer Evolutionen auf dem Panneau absolviert hat, fordert der Stallmeister oder ein Clown nach einer humoristischen Unterhaltung das Publikum auf, es soll einmal jemand dieses Stehendreiten nachmachen. Jeder, der dreimal stehend in der Manege herumreiten kann, ohne herabzufallen, erhält eine gewisse Geldprämie.
Es melden sich aus dem Publikum junge Leute, einer nach dem andern wird an die lange Longe genommen, er klettert hinauf oder wird hinaufgehoben, der Gaul setzt sich sofort in den üblichen kurzen Galopp, und sofort oder nach kürzerer oder längerer Zeit verliert der Jüngling die Balance und fängt an zu »schwimmen«, zappelt an der Leine in der Luft herum. Das Publikum amüsiert sich über die lächerlichen Kapriolen. Wer die Sache kennt oder zu beobachten versteht, der weiß oder merkt sofort, dass die Betreffenden, die sich melden, mit zum Zirkuspersonal gehören. Ganz abgesehen davon, dass unter den fremden Leuten ja welche sein können, welche diese Kunst verstehen, sich dann die ziemlich hohe Geldprämie verdient haben. Aber die Polizei gestattet so etwas überhaupt gar nicht. Oder der sich Meldende müsste erst in die Unfallversicherung eingekauft werden oder einen Verzicht unterschreiben.
Gesetzt aber den Fall, es würden sich Fremde melden, so würde die Sache durch unfreiwillige Komik noch viel lächerlicher werden. Nur dass wohl niemand auch nur zwei Galoppsprünge aushalten könnte oder er hat das Stehendreiten auf dem Panneau eben wirklich durch lange Übung gelernt. Denn es ist eine ganz verflixte Geschichte! Und da hilft kein Reit- und kein Seiltänzergenie. Das Pferd macht nur den ersten Galoppsprung, setzt nur dazu an, und sofort liegt man unten oder zappelt in der Luft herum.
Hier bei uns war es keine abgekartete Mache, und wir kannten einander, das war es, was die Komik verdoppelte und verdreifachte. Keiner wollte es glauben, dass es so schwer, dass es unmöglich sei, auch nur einmal im Kreise stehend zu reiten, einer nach dem andern wurde an die Leine genommen, kletterte oder vielmehr schwang sich elegant hinauf, sie alle waren doch schon mehr ganze als nur halbe Akrobaten und Seiltänzer — und, ach, dann diese Gesichter, wenn sie plötzlich in der Luft schwammen, diese possierlichen Bewegungen! Bei uns kam eben noch die Individualität eines jeden einzelnen hinzu, die wir doch kannten, was für ein Unterschied, ob der dreizentrige August der Starke oder der federleichte und spinnendürre Siddy abgeworfen wurde und dann in der Luft herumkrebste! Und bei diesem letzteren, dem indischen Meisterschaftsgaukler, der auf einem ganz schräg gespannten Telegrafendrahte in unbegreiflicher Weise hinaufgleiten konnte, hatte ich eigentlich geglaubt, dass er es fertig brächte. Nein, auch er wand sich nach dem zweiten Galoppsprung wie ein verhungerter Regenwurm in der Luft. Und als nun gar unser »Bandlwurm« von 2,30 Meter Länge in der Luft schwabbelte, da war eben richtig der am Seile hängende Bandwurm fertig.
Ach, dieses homerische Gelächter, das die Riesenhalle erfüllte, dass die Felsenwände widerhallten! Das war doch etwas ganz anderes, als was man sonst Ähnliches in einem Zirkus vorgemacht bekommt.
Merkwürdig war, dass Kapitän Martin sich durchaus nicht von der Schwierigkeit der Sache überzeugen lassen wollte. Wie sich dieser alte Seebär überhaupt plötzlich echauffierte!
»Dösköppe seid Ihr, Ihr fangt es nur falsch an! Das ist doch ganz einfach! Ihr müsst die Hände ausbreiten — so, so — und immer nur auf einem Beine hopsen — so, so — immer die Galoppsprünge des Pferdes mitmachen — so, so — immer nur auf einem Beine und dazu so mit den Händen — so, so...«
Und, in der Mitte der Manege stehend, führte er die Bewegungen auch aus, zeigte, wies gemacht werden musste, hopste auf einem Beine herum, mit dem anderen in der Luft herumquirlend, dabei mit den Armen wie mit Flügeln wedelnd.
Wie ein lahmgeschossener Engel im langschößigen Gehrock mit graumeliertem Vollbarte!
Einfach zum Totschießen!
Wenzel-Attila, der Zwerg, der übrigens noch etwas ganz anderes konnte als dieses Stehendreiten, lachte, dass ihm die Tränen über das Kindergesichtchen rannen.
»Herr Kapitän, Herr Kapitän — Sie haben Ihren Beruf verfehlt! Clown hätten Sie werden müssen! Sie brauchen kein Engagement unter monatlich 3000 Mark anzunehmen, mit freiem Hotel und Equipage!«
Der kleine Mann hatte recht! Unser ehrwürdiger Kapitän gab einen Clown ab, wie ich noch keinen gesehen hatte! Und dass er dies nun ganz unfreiwillig tat, selbst sich gar nichts davon bewusst war, das war ja eben der Hauptwitz dabei!
Ich saß auf einer der Stufen und hielt mir den Bauch vor Lachen.
»So so«, machte der Kapitän immer weiter, »immer nur auf einem Beine hopsen — so die Hände halten — so, so...«
»Na, da versuchen Sie es doch einmal selbst auf dem Pferde!«, ermunterte da die Patronin.
Wurde denn unser Kapitän vom Teufel geritten? Wahrhaftig, er war bereit dazu!
»Well, ich will's Euch mal zeigen, wies gemacht werden muss, wie einfach die Geschichte ist. Nehmt mich mal an dee Lien!«
Und er ließ sich anschnallen, biss sich erst noch ein tüchtiges Stück Kautabak ab, dann schwang er sich hinauf, trotz seiner alten Knochen gar nicht so ungeschickt, kam gleich zum Stehen.
»So — nun das eine Bein zur Balance seitwärts gestreckt — und die Hände natürlich auch — so, so nun gebt dem Gaul mal Volldampf...«
Der Gaul ging ab — und mein Kapitän auch!
Es war eben nichts mit der Theorie gewesen, die Praxis fehlte!
Nun aber passierte etwas, was an Komik alles Vorangegangene übertraf, wenn es auch nur einen Moment währte.
Also Kapitän Martin purzelte sofort als lahmgeschossener Engel herab, kam natürlich nicht zu Fall, blieb an der Leine hängen.
In Folge des Beharrungsvermögens machte der Herabgefallene natürlich erst immer noch die Kreisbewegung etwas mit, schwebte hinter dem galoppierenden Pferde her.
In demselben Augenblick nun, da Kapitän Martin von dem Pferderücken herabschwebte, steckte er, auf beiden Backen Tabak kauend, schnell seine beiden Hände in die Hosentaschen, spritzte dem abgehenden Pferde eine Ladung Tabakssaft nach und versuchte ihm auch noch mit seinem endlos langen Beine einen Tritt zu geben. »Satan! Well, die Sache ist doch nicht so einfach — lasst mich wieder herab, Jungens.«
Es lässt sich eben nicht schildern. Wie der siegesbewusste alte Herr mit den langen Schoßröcken in der Luft flatterte, dem Gaule nach wie er blitzschnell die Hände in die geliebten Hosentaschen steckte und dem Pferde nachspuckte und mit seinem langen Beine nachtrat... das war nicht mehr nur ein homerisches Gelächter, das die Riesenhalle erfüllte, das war noch etwas ganz anderes.
Und so ging es den ganzen Tag weiter, auch die nächsten Tage noch, wenn nicht immer ab und zu etwas anderes dazwischen kam.
Ich für mein Teil hatte mich nach diesem letzten Intermezzo hinauf begeben, ich konnte nicht mehr, der Kopf drohte mir zu springen. Die Bengels turnten noch in den beiden Eichen herum.
»Waffenmeister, was ist denn das für eine Burg dort?«, wurde mir zugerufen.
»Was für eine Burg?«
»Na, die dort oben auf dem Felsen liegt!«
Ich wusste nichts davon, wir hatten noch nichts von einer Burg gesehen. Obgleich die oberen Etagen in den Felsen noch viel höher waren als diese Bäume. Allerdings war heute auch eine ausnahmsweise klare, durchsichtige Luft. Ich kletterte hinauf, jetzt war es ja leicht genug gemacht — jawohl, dort im Südosten konnte ich schon mit bloßen Augen etwas Burgähnliches unterscheiden, und mit meinem Taschenfernrohr sah ich sie ganz deutlich, eine vollkommene Burg mit Türmen und Zinnen, jede Täuschung durch ein Naturgebilde war ausgeschlossen.
Ob sie dicht am See lag, das war jetzt nicht zu unterscheiden. Wenn ich mich nicht irrte, war erst noch ein Höhenzug vorgelagert, dann erst erhob sie sich auf einem Felsen oder einem Berge.
Unten ging gerade Juba Riata vorüber, der seine Hundemeute entlassen hatte. Nein, der wusste natürlich auch nichts von dieser Burg, kam ebenfalls herauf und besichtigte sie.
»Da müssen wir einmal hin.«
»Sofort!«
»Sofort? Ich wollte eigentlich jetzt mit meinem Pluto nach jener Höhle, in der die Amazone damals verschwand, vielleicht dass der Bluthund doch noch eine Witterung findet... na, meinetwegen, ich komme gleich mit. Zu Pferd?«
»Die Pferde haben jetzt genug zu tun. Aber gehen Sie nicht in den Zirkus, ich möchte Sie nicht so lachen sehen, das steht Ihrer Würde nicht. Wir nehmen die beiden Kutter, die Blaugelben mögen um die Wette rudern.«
Gesagt, getan. Dazu aber mussten wir uns natürlich erst an Bord begeben, was Peitschenmüllern um so lieber war, er hatte noch nicht einmal seinen »Teufel«, seinen Büffel begrüßt. Er wurde auch noch von anderen Tieren stürmisch begrüßt, alle verließen das Schiff doch nicht ohne Zwang, so die kleineren Katzen nicht.
Pluto und Chloe kamen gleich mit in die Boote, dann schlossen sich uns noch die beiden Walrosse und die vier Seehunde an, die in dem Kanal und auch weiter draußen im See bereits eifrig der Fischjagd oblagen. Das heißt, sie folgten uns schwimmend im Wasser, blieben allerdings hinter den racenden Booten bald zurück, aber wir wiesen sie nicht zurück, forderten sie im Gegenteil dazu auf, uns zu folgen, wir wollten sehen, ob sie uns dann zu finden wüssten. Dass sie sich nicht verirrten, dann später den Rückweg fanden, das war ganz selbstverständlich, diese Wassertiere konnten noch etwas ganz, ganz anderes.
Im Wettkampf ging es über den spiegelglatten See, Gelb gegen Blau. Juba steuerte die erstere Farbe, ich die letztere. Doch bald gaben wir das Wettrudern auf, wir hatten uns Verschiedenes zu sagen. Ich hätte gleich von unserem Quartier aus eine trigonometrische Berechnung, so weit möglich, von der Lage jener Burg machen sollen, mit Zuziehung von Doktor Cohn, der darin etwas los hatte. So aufs Geratewohl war unser Ziel außerordentlich schwer zu finden.
Wir hatten im Laufe der Tage schon den ganzen See abgefahren, immer am Ufer hin, und von einer Burg hatten wir nichts gesehen. Freilich war das mit dem »AmRandeHinfahren« hier ebenso schwierig, wie die Quelle des Nils zu entdecken. Überall zweigten sich Seitenarme oder Zuflüsse ab. Erst den allergeringsten Teil von ihnen hatten wir befahren, und auch immer nur eine kleine Strecke hinauf.
»Wir müssen dort den Gebirgszug besteigen, dort hinten hat die Burg bestimmt gelegen, von dort werden wir sie schon wieder sehen.«
So wurde es auch gehalten. Die von Süden nach Norden verlaufende Felsenmasse erstreckte sich als steiles Vorgebirge etwas in den See hinein. Es wurde umfahren, wir legten bei, begannen den Aufstieg, der zwar beschwerlich, aber doch nicht gerade halsbrecherisch war. Außerdem sammelte sich nach oben auf dem erst nackten Felsboden immer mehr Humus an, es gediehen Sträucher, dann stattliche Bäume, sodass wir uns fortziehen konnten. Also wir erstiegen schon den jenseitigen Abhang. Von der anderen Seite aus hätten wir ja die ganze, sehr beträchtliche Höhe erklettern müssen, ehe wir nach der anderen Seite blicken konnten, und dort lag die Burg bestimmt.
»Da liegt sie ja!«
Ja, da sahen wir sie zwischen den Bäumen hindurch liegen, sozusagen in handgreiflicher Nähe, hoch oben auf einem Felsen, eine stattliche Burg, schon mehr ein Schloss zu nennen, ein imposantes Gebäude mit Türmen und Zinnen und zahllosen Söllern und Erkern und Galerien und anderen Vorsprüngen — so deutlich lag sie im Abendsonnenschein vor uns, dass wir die mächtigen Quadersteine erkennen konnten, aus denen sie zusammengesetzt war, und wenn diese auch im Laufe der Jahrtausende sehr verwittert sein mochten, verfallen war absolut nichts.
Aber von hier aus in erreichbarer Nähe war die Burg noch nicht. Da kam erst noch ein Wasserarm dazwischen und dann noch ein anderer Höhenzug. Jedenfalls aber wussten wir nun, wie sie zu erreichen war.
Wieder hinab zu den Booten.
»Da kommt die Tante!«
Das weibliche Walross war das erste, das wie ein Pfeil durchs Wasser geschossen kam. Der Leser entsinnt sich wohl: ich hatte das Tier nach der Seenixe Dandea getauft, meine Matrosen hatten schleunigst Tante daraus gemacht.
Dann folgte Neptun, ihr Gatte. Und dann in einiger Entfernung die vier Seehunde, die, wie schon einmal gesagt, die schönen Namen Kasper, Nauke, Pimberle und Knipperdolling bekommen hatten.
Den zehnriemigen Kuttern, von geschulten Matrosenhänden gerudert, von gestählten Armen, wenn diese auch erst Knaben angehörten, hatten diese Tiere nicht folgen können, hatten uns sogar sicher aus dem Gesicht verloren, aber sie hatten uns zu finden gewusst. Das heißt: die Tante hatte die Führerin gespielt. Eben ein Weib. Dass die weiblichen Tiere klüger sind als die männlichen, findiger, das wissen alle Jäger und Dompteure und Dresseure. Übrigens spricht ja Schopenhauer auch dem menschlichen Weibe mehr Intellekt zu als dem Manne, Artur Schopenhauer, dieser ausgemachte Frauenverächter! Freilich ist Intellekt nicht mit Intelligenz zu verwechseln. Schnelle Auffassungsgabe, wollen wir sagen, leichtes Lernen, und darin ist das Mädchen dem gleichaltrigen Knaben ja auch zweifellos überlegen.
Die Ruderpartie wurde fortgesetzt, wir ließen auch den zweiten Gebirgszug hinter uns, fanden jenseits eine breite Wasserstraße, sie mündete nach kurzer Fahrt in einen ansehnlichen See, und jetzt hatten wir die Burg direkt vor uns oder noch mehr über uns.
Es war noch viel imposanter, als wir erwartet hatten. Die Burg lag nicht an dem See, sondern in ihm. Mitten in dem See erhob sich, eben ein Naturspiel, ein kolossaler Felsblock, von rechteckiger Form, ungefähr, wie wir später ausmaßen, 80 Meter lang und 60 Meter breit, mindestens 200 Meter hoch, und oben dran lag die Burg, die Plattform gänzlich einnehmend, denn oben hingen noch die Balkons und andere Vorsprünge vor.
Wir fuhren näher. Schnurgerade wie die künstlichen Mauern stiegen die Felswände empor. So war es auf dieser Seite, und als wir um den ganzen Felsen herumgefahren waren, wussten wir, dass es auch auf den anderen drei Seiten so war.
Keine Treppe, kein anderer Aufstieg, kein Loch — gar nichts! Nur einmal streckte Juba Riata schweigend seine Hand aus.
Dort in von einem Boote erreichbarer Höhe hatte wieder einmal ein von deutscher Hand geführter Meißel Worte eingegraben — oder einen Sinnspruch nur aus vier Worten bestehend.
Gewinn — Enttäuschung.
Entsagung — Gewinn.
Nichts weiter.
Wenn man das einen Sinnspruch nennen kann. Natürlich liegt ein tiefer, tiefer Sinn in diesen vier Worten.
Wer war der Mann, der in deutscher Sprache hier allüberall solche Verslein eingemeißelt hatte?
Ich will mich dabei nicht weiter aufhalten.
Für uns hatte dieses Sprüchlein nur insofern Bedeutung, weil dadurch der Name »das Schloss der Entsagung« entstand.
Und dieser kleinere See wurde der schwarze getauft, weil er, wohl wegen der Bodenbeschaffenheit, ein sehr dunkles Wasser zu haben schien, obgleich es sonst ganz klar war. Man konnte auch bei höchstem Sonnenstand keinen halben Meter unter Wasser blicken.
Aber dieser Sinnspruch stand über keinem Tore, nichts Ähnliches war zu sehen — das war für uns jetzt die Hauptsache.
»Wie sind die ehemaligen Bewohner dieser Burg da hinauf gekommen?«
»Mit einem Aufzug«, meinte Juba Riata, »einfach indem sie ein Seil herabließen und hinaufzogen. Dort oben gibt es ja Vorsprünge genug.« »Aber da muss doch erst einmal der erste Mensch hinaufgeklettert sein, der die anderen nachzog.«
»Der ist mit einem Luftballon hinaufgeflogen!«, bemerkte ein vorwitziger Junge.
Er wurde von den anderen, die nun schon gehört hatten, dass es sich hier sicher ums Jahrtausende handelte, ausgelacht.
»Na, warum denn nicht«, nahm ich aber den Knirps in Schutz, »die haben vor Jahrtausenden vielleicht schon lenkbare Luftschiffe gehabt. Ihr werdet hier noch manches sehen, was wir jetzt nicht mehr nachahmen können.«
»Ja, aber wir haben kein lenkbares Luftschiff«, versetzte Juba Riata, »nicht einmal einen Luftballon, der einen Mann trägt, können mit Gummiblasen, die Doktor Isidor in seinem Laboratorium mit Wasserstoffgas füllt, nur kleine Ballons aufsteigen lassen.«
»Und so ein kleiner Ballon genügte vielleicht. Wir dirigieren ihn bei günstigem Winde so, dass die dünne Schnur, nur ein Seidenfaden, dort über einen Vorsprung zu liegen kommt, natürlich muss der Ballon so weit, dass wir auch das andere Ende des Seidenfadens zu fassen beisammen, an diesem ziehen wir eine stärkere Leine hoch, und so weiter, bis daraus eine Strickleiter wird.«
»Ich glaube das lässt sich besser erzählen als ausführen.«
Natürlich, da hatte Juba Riata recht. Da war schon besser, wir versuchten es mit einem richtigen Aufstieg. Denn unersteigbar ist doch schließlich überhaupt keine Felswand. In erreichbarer Höhe werden nebeneinander zwei Löcher eingemeißelt, in diese Eisenstangen einzementiert, über diese ein Brett gelegt, auf dieses stellt sich der Arbeiter und fängt wieder in etwa zwei Meter Höhe zu meißeln an.
Aber da war eine kleine Berechnung doch angebracht. Zunächst überzeugten wir uns, dass es Basalt von außerordentlicher Härte war. Und der Felsen war mindestens 200 Meter hoch, dann erst begann die Burg. Und wir wollten nicht zu fix arbeiten, meißeln, in der Phantasie, wir hatten da schon einige Erfahrung. Wenn da ein Mann jeden Tag zwei solche Löcher fertig brachte, so wollten wir zufrieden sein. Also jeden Tag um zwei Meter höher. Das ging auch nicht schneller, wenn zwei oder drei Mann nebeneinander arbeiten konnten. Also hätten wir zur Überwindung dieser Höhe hundert Tage gebraucht.
Es hat sich doch etwas, solche glatte Felswände zu erklimmen! Und wir sind doch keine Chinesen, die geduldig von Generation zu Generation an einem Bohrloche arbeiten, mit dem primitiven Fallbohrer am Seile mit dem Schöpflöffel, und wenn dort das Gewünschte nicht gefunden wird, dann wird daneben wieder einige hundert Jahre gebohrt. So viel Zeit wie solche Chinesen hatten wir nicht.
Nein, da probierten wir es doch lieber einmal mit dem Luftballon. Na, wir würden schon hinaufkommen. Es war zuletzt nur scherzhaft so gesprochen worden. Heute Abend war doch nichts mehr zu machen, aber zurückkehren wollten wir auch nicht, sondern hier nächtigen und den Jungen eine Jagd gönnen. Ihre Jagdgewehre und was sie sonst brauchten, hatten sie natürlich mitnehmen müssen, sonst wäre es doch keine richtige Expedition gewesen, ich brauchte nur immer an meine eigenen Kinderjahre zu denken, dann vergaß ich auch diese »meine« Kinder niemals. Die Ufer des Sees waren nur wenig hügelig und dicht bewaldet, dort gab es sicher Wild in Masse, wir hatten auch schon ein großes Rudel Elche gesehen.
Also wir suchten eine Landungsstelle und ein idyllisches Lagerplätzchen aus. Vorher aber, ehe ich weitere Arrangements traf, setzte ich einen Bericht darüber auf, was wir hier gefunden hatten. Jeder der sechs Robben trug immer ein Halsband mit wasserdichter Kapsel daran, sodass sie sich, wenn sie einmal die Boten spielen mussten, nicht erst daran zu gewöhnen brauchten. Als Ordonnanz wählte ich den Seehund Kasper, er wurde von der Frau Nauke begleitet. Ich bemerke nachträglich, dass die weiblichen Robben, zwei Seehunde sowohl wie das Walross, uns schon wiederholt mit Jungen beschenkt hatten, dass es uns aber nie geglückt war, sie groß zu bekommen. Sie wurden von den Müttern, obgleich die Robben doch sonst so ungemein zärtlich gegen ihre Jungen sind, stets dermaßen vernachlässigt, dass sie bald eingingen. Das Leben an Bord war für die Tiere eben doch ein zu unnatürliches, hier versagte auch Juba Riatas Kunst, obwohl er noch immer hoffte, das fehlende Mittel zu entdecken, um eine Nachkommenschaft großzuziehen, um den Müttern die richtige Liebe zu geben. Denn diesen Robben fehlte offenbar irgend etwas, was sie in der Freiheit im Überfluss hatten. Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit. So etwa wie die Hühner keine Eier legen oder nur unbebrütbare Windeier, wenn sie keinen Kalk zu fressen bekommen.
Nur einige freundliche Worte, mit Nachdruck gesprochen, ein freudiges, verständnisvolles Bellen, und das Seehundsehepaar schwamm ab, nach dem Schiffe zurück, sie würden sich bemerkbar zu machen wissen und diejenigen, welche dieses Schloss in Augenschein zu nehmen wünschten, hierher führen. Das war ich den Zurückgebliebenen schuldig.
So, nun wurde die Jagd arrangiert. Immer wieder ein Wettkampf, Blau gegen Gelb. Welche Farbe bis Mitternacht die meiste Beute machte oder vielmehr hier am Lagerplatz ablieferte, die hatte gewonnen, die bekam eine Prämie, welche dann bei der nächsten solchen Jagd von ihr zu verteidigen war. Geschont brauchte nicht zu werden, das erlegte Wild kam dann ausgeweidet in die Eisgrotte, hielt sich dort ewig — nein, bis es aufgezehrt war. Die Beute wurde dann gewertet, etwa dass zwei Birkhühner einen Auerhahn rechneten, vier Auerhühner einen Hirsch, zwei Hirsche einen Elch, und so weiter. Jeder Unglücksfall, den ein Junge erlitt, zog für seine Farbe eine erkleckliche Anzahl Strafpunkte nach sich. Da konnte dann, wenn es zum Austrag kam, nicht viel Streit entstehen, höchstens zwischen Peitschenmüller und mir, denn ich war wie immer blau, jener gelb, und jeder wahrte natürlich die Interessen seiner Partei.
»Nun vorwärts, verschwindet! Wenn es Mitternacht ist, das wisst Ihr aus der Stellung des Mondes und der Sterne, wie ich Euch eben erklärt habe. Sonst entscheidet das Ende der Jagd mein Chronometer. Die Beute, die punkt zwölf Uhr nur noch einen Schritt außerhalb dieses Kreises ist, den wir um den Lagerplatz gezogen denken, zählt nicht mehr mit. Denkt an die Strafpunkte! Dass Ihr Euch gegenseitig anschießt, kann überhaupt nicht vorkommen. Wer sich von einem Eber anlaufen und verwunden lässt, der muss ihn, nachdem er ihn zur Strecke gebracht hat, dann auf einen Sitz auffressen. Verduftet!«
Lachend zerstreuten sich die 32 Jungen in dem dämmernden Wald, einzeln oder sich in Gruppen haltend. Dass sie die Jagdbeute auch hierher tragen mussten, das bewirkte besonders ein solidarisches Zusammenhalten.
Doch nur wenige Schritte in den Wald hinein, so verstummte das Lachen und Schwatzen. Jetzt verwandelten sich diese Knirpse in echte Jäger, deren waidmännische Kunst jeder nordamerikanische Indianer bewundert hätte. Besonders auf dem EldoradoPlateau hatten sie unter Juba Riatas Leitung etwas gelernt.
Wir beiden zündeten das Lagerfeuer an, eines, an dem man schon nach einer halben Stunde einen ganzen Ochsen hätte braten können. Zwischen einer Waldlichtung hindurch sahen wir vor uns die alte Burg hoch oben auf dem Felsen liegen, vom ersten halben Mond beschienen, sich im schwarzen Wasser spiegelnd.
Aber wir unterhielten uns nicht über die uralten Erbauer dieser Burg, sondern wir blieben beim Leben, wir unterhielten uns über diese Jungen, über »unsere« Kinder, die wir einst als durch und durch verdorbene Taugenichtse, die fast sämtlich schon den Verbrecherstempel an der Stirn getragen, dem wracken Zirkusschiffe entnommen hatten.
Was war aus diesen Kindern geworden! Eine Pracht war es! Und was würde noch dereinst aus ihnen werden? Nun, jedenfalls ganze Männer vom Scheitel bis zur Sohle, die sich dereinst in jeder Lebenslage zurecht fanden und die dann im Herzen noch dasjenige hatten, was nicht allein den ganzen Mann, sondern den wahren Menschen ausmacht!
Die Schüsse hallten im Walde, und ab und zu wurde die Beute angeschleppt gebracht. Es gehörten sechs kräftige Burschen dazu, um einen Elch von fünf Zentnern eine halbe Stunde lang über Stock und Stein zu tragen.
»Ich hätte einen erlegen können, der wenigstens noch eineinhalbmal so schwer war, aber er war zu weit von hier.«
»Und ich einen Wisent, aber wie hätten wir den fortschleppen sollen.«
Das war es eben, was einen Massenmord verhinderte, ganz abgesehen davon, dass das Wild hier den Jäger schon gar nicht so nahe herankommen ließ.
Schon taxierten wir beiden Schiedsrichter, oftmals ins Wortgefecht kommend, und auch die Art der Schüsse fielen ins Gewicht, je nach ihrer Tödlichkeit, und auch Fehlschüsse oder nur angeschossene Tiere, welch letztere morgen mit den Hunden gesucht werden sollten, mussten gemeldet werden, und da gab es bei diesen Jungen nichts von einem Verschweigen.
Mit dieser Beschäftigung und mit Schmausen verging noch eine Stunde, dann wickelte sich jeder in seine dünne, aber warme und wasserdichte Decke, und wer die Augen zumachte, der war sofort eingeschlafen, wie es auch mir erging. Die Hunde wachten für uns, wenn man hier überhaupt einen Wächter nötig hatte.
Da wurde ich am Arm gefasst und gerüttelt. Der halbe Mond war bereits um Mitternacht untergegangen, auch hatte sich der Himmel bewölkt, das Lagerfeuer glühte nur noch, außerhalb dieses schwachen Scheines herrschte Stockfinsternis.
Über mich gebeugt stand Juba Riata.
»Was gibt es? Welche Zeit ist es?«
»Noch nicht um zwei.«
Dann hatte ich also auch noch keine Stunde geschlafen.
»Was gibt es denn?«
»Eben ist es wieder verschwunden, was ich Ihnen zeigen wollte... da da da ist es wieder!«
Wo die Burg lag, wusste ich. Es war von ihr absolut nichts zu sehen. Plötzlich aber hing dort, wo sie lag, in der Luft ein leuchtendes Viereck.
»Ein erleuchtetes Fenster!«
»Nichts anderes. Und vorhin waren drei Fenster nebeneinander erleuchtet.«
»Sonst nichts weiter?«
»Da sind Menschen drin.«
»Es braucht nur einer zu sein, der ab und zu die Lampe ansteckt und wieder ausbläst.«
»Jener Merlin?«
»Was weiß ich?«
»Da da — jetzt wird einige Etagen höher eine ganze Zimmerreihe erhellt!«
»Na wissen Sie was, Juba — wenn sonst noch etwas passiert außer dieser Illumination, dann wecken Sie mich wieder. Es muss aber auch wirklich von Wichtigkeit sein. Illuminationen habe ich schon ganz anderes gesehen. Gute Nacht.«
Sprach's und legte mich wieder aufs Ohr, hörte noch von Juba ein kurzes Lachen, dann war ich wieder eingeschlafen.
Diesmal weckte mich erst der grauende Morgen, das tat er aber auch ohne Rütteln.
So ganz gleichgültig war mir diese Illumination natürlich nicht gewesen, ich lasse mich nur nicht gern in der Befriedigung meiner natürlichen Bedürfnisse stören.
»Na, was haben die Fenster sonst noch gemacht?«
»Bis gegen drei waren sie erleuchtet, immer verschiedene, dann blieben sie finster.«
»Da wollen wir einmal ernstlich das Problem überlegen, wie wir dort hinaufkommen, um den Bewohnern dieses Schlosses unsere Visitenkarte abgeben zu können.«
»Dieses Problem ist bereits gelöst«, lächelte Peitschenmüller.
»Nun?«
»Wir schießen eine Leine hinauf, mit der Cordes'schen Büchse.«
Ich schnellte empor, stürzte mich auf die nächsten kleinen Schläfer, die nicht von jeder Morgendämmerung geweckt wurden.
»Auf auf! Na habt Ihr Euch nun endlich überlegt, wie wir da hinauf kommen? Immer noch nicht? Auch im Schlafe ist Euch nichts eingefallen? Wozu schlaft Ihr denn eigentlich? Jungens, Jungens, seid Ihr dämlich! Ich wollte es Euch gestern nur nicht gleich sagen, ich hoffte, Ihr würdet von alleine drauf kommen. Na wozu haben wir denn die Rettungsraketen an Bord, die Cordes'schen Büchsen? Wir schießen einfach eine Leine hinauf!«
»Es ginge aber ooch mit'n Drachen!«, meinte einer der Knirpse.
Ich wurde still, kratzte mich unbewusst hinterm Ohre. Der Junge hatte recht. Ja, ein Drache, mit gutem Winde steigen gelassen, war doch noch vielleicht besser als solch eine Cordes'sche Büchse, welche die Leine nur 400 Meter weit trägt, bei einem Winkel von 45 Grad, aber wie hoch, das weiß man nicht, das heißt das kann man nicht berechnen, es gibt überhaupt noch kein ballistisches Gesetz, das muss immer von Fall zu Fall ausprobiert werden.
Jedenfalls ging gleich wieder ein Seehund ab, mit der schriftlichen Bitte, dass uns sofort eine Cordes'sche Donnerbüchse mit mehreren Leinen nachgeschickt würde. Kaum war das Tier abgeschwommen, als die Pinass ankam, mit der Patronin und einigen Mitglieder ihrer Gesellschaft, von Matrosen und Heizern gerudert, die freiwillig mitgegangen waren, weil sie dieses aufgefundene Schloss interessanter fanden als die Zirkusvorstellungen. Oder sie wollten doch einmal eine Abwechslung haben, sich überhaupt die Umgegend einmal besehen.
Etwas ändern an der Sachlage taten die neuen Ankömmlinge ja nicht. Sie konnten das Schloss nur von außen bewundern, konnten um den Felsen herumfahren, mussten warten, bis nun das zweite Boot mit den gewünschten Raketenapparaten kam. Die Fahrt dauerte ungefähr dreiviertel Stunden, also mit zwei Stunden musste man mindestens rechnen.
Unterdessen ließ Juba Riata die Jungen mit den Hunden verwundetes Wild suchen, woran ich mich aber nicht beteiligte. Ich bummelte am Ufer herum, erging mich in der Einsamkeit.
So mochte eine Stunde vergangen sein, als ich einen seltsamen Reitersmann sah. Allerdings nicht mehr seltsam für mich. Aber was hätte wohl ein anderer gesagt, der so etwas noch nicht gesehen, und er sieht da im Wasser ein gewaltiges Walross mit mächtigen Hauern schwimmen, auf dem ein Mensch als Reiter sitzt.
Dass wir die Walrosse als Reittiere benützten, habe ich ja schon einmal erzählt, habe auch schon einmal meine diesbezügliche Ansicht gesagt. Nachdem der Mensch den Hund schon seit Jahrtausenden zu seinen Gefährten gemacht hat, ist er heute endlich, auf den genialen Gedanken gekommen, die feine Hundenase auch im Polizeidienst zu benützen, um mit ihr Bösewichter habhaft zu werden und sie unschädlich zu machen, und den Seehund, der meiner Überzeugung nach noch viel klüger ist als der vierbeinige Hand, hat er heute glücklich so weit gebracht, dass dieses Tier eine Petroleumlampe auf der Nase balanciert, mit Bällen spielt und den Leierkasten dreht.
Nein, ich habe vor dem Herrn der Schöpfung in dieser Hinsicht sehr wenig Achtung. Wenn er das, was ihm die Natur ganz von selbst fix und fertig bietet, so außer acht lässt, da lassen mich alle die Erfindungen der Mechanik und Chemie kalt.
Aber ich sehe schon die Zeit kommen, da man den überaus pfiffigen Seehund und den schlangengleichen Seelöwen noch in ganz anderer Weise benutzen wird, und das mächtige Walross, bis zu sieben Meter lang und dreißig Zentner schwer werdend, jung eingefangen bei geeigneter Behandlung jeder Dressur zugänglich, als Reittier des Wassers. Erst wirds ein Sport werden, zuletzt ein Bedürfnis. Genau so, wie ein reicher Mann einmal auf den Gedanken gekommen ist, die Unmöglichkeit zu widerlegen, sein Zebra zu zähmen, es ihm gelungen, der Sportsman paradierte mit seinen eingefahrenen und zugerittenen Zebras — in Bälde wird die Zucht des Zebras den ganzen Charakter aller jener afrikanischen Gegenden umkrempeln, in denen die für Pferde und Rinder tödliche Tsetsefliege auch den Aufenthalt des Menschen so gut wie unmöglich macht.
Der Eskimo war mit dem zweiten Schub nachgekommen, hatte mir bereits Vorwürfe gemacht, dass ich ihn nicht gleich mitgenommen hatte.
Ich stand gerade auf einer Sandbank, die sich etwas in den See erstreckte, als er auf seinem Reittiere angeschwommen kam. Ohne Sattel saß er auf dem speckigen Riesenleibe, kaum berührten seine Füße das Wasser, ohne Zaum und alles lenkte er das Tier. Ein unmerkliches Zeichen, und es stoppte sofort, an einer tiefen Stelle dicht neben der Sandbank, nahm nur gleich die Gelegenheit wahr, einige Muscheln zu verschlingen, die es hier in Menge gab. Muscheln bilden die Hauptnahrung des Walrosses, dazu scheint ihm auch die Natur die Elefantenhauer verliehen zu haben, um die Muscheln vom Meeresboden losreißen zu können. Sie werden wohl aufgeknackt, aber ein guter Teil der Schalen geht doch mit in den Magen und wieder ins Freie. Außerdem frisst es noch Fleisch aller Art und Algen, gewöhnt sich schließlich überhaupt an alles. Aber ohne Muscheln geht es zuletzt ein, und vielleicht sind ihm gerade die Schalen, die eine Wanderung durch den Darm machen müssen, ein unablässiges Bedürfnis. Dieses Tier war noch jung, wahrscheinlich sogar noch sehr jung, war erst fünf Meter lang und wog vierzehn Zentner.
»Was machen Sie hier?«, begrüßte mich Mister Tabak.
»Nichts.«
»Das ist nicht viel. Worauf wartet man hier eigentlich?
Weshalb besichtigt man nicht die Burg dort oben?«
»Na das wissen Sie doch ganz genau! Wir warten auf die Cordes'sche Büchse, um ein Seil hinaufzuschießen.«
»Ja wozu denn ein Seil hinaufschießen?«
»Ach stellen Sie sich doch nicht so!«
Der Eskimo blickte sich um.
»Ich war schon oben!«, sagte er dann.
»Was?!«
»Ich habe einen Eingang gefunden. Kommen Sie mit, ich zeige ihn Ihnen.«
Ich kannte diesen Eskimo. Der schrie nicht: »Kommt mal alle mit, ich habe einen Eingang gefunden!«, Er war ein Menschenverächter und überhaupt ein sonderbarer Kauz. Er war eitel, ein bisschen sehr, wollte zu allem eingeladen werden. Und wenn er nicht an erster Stelle sitzen konnte, kam er nicht. Juba Riata war sein einziger Freund gewesen. Nicht dass ein Knax dazwischen gekommen wäre, so etwas kam bei solchen Männern überhaupt nicht vor, höchstens, dass sie Todfeinde werden konnten — aber seitdem der sich einsam fühlende Junggeselle trotz meiner Bemühungen keine Frau bekommen, hatte er sich ganz und gar an mich angeschlossen. Und dass ich ihm in Hamburg eine Meerschaumpfeife geschenkt hatte, bei der beim Anrauchen nach und nach ein weißes Männchen zum Vorschein kam, das vergaß er mir auch nicht. Da, wie er die Entdeckung machte, dass auf dem Ulmer Kopf sich ein Männchen zeigte, da hatte ich ihn vor seliger Rührung sogar weinen sehen, und er hatte mich in seine Arme geschlossen und mich an seine Brust gedrückt, dass ich den Tran- und Tabaksgestank jetzt noch nicht los geworden war, ihn wenigstens immer noch in der Nase hatte.
Also wenn der Eskimo den von ihm entdeckten Eingang nur mir zeigen wollte, nur mir allein, da war nichts dagegen zu machen. Oder man könnte den Orden, der einem vom Landesvater überreicht wird, kaputt brechen und die eine Hälfte dem Lakaien geben, der einem die Tür geöffnet hat. So was gibt's doch nicht.
Ich watete etwas ins Wasser und schwang mich hinter ihm auf den Speckrücken. Es hätten auch noch drei andere drauf Platz gehabt, und das riesige Tier sank nicht viel tiefer ein. Nur dass meine Füße tiefer ins Wasser hingen. Weil dieser menschliche Dackel von Eskimo überhaupt gar keine Waden hatte, weil dessen Füße gleich an den säbelförmig gebogenen Schenkelknochen saßen.
Wir ritten ab. Wenn erst einmal Walrosswettrennen abgehalten werden, mit Jockeis auf den Rücken, auch Hindernisrennen, nur dass es nicht über die Hürden weggeht, sondern drunter hinweg, unter Wasser, kein Jockei kann mehr Knochen und Hals brechen, wohl aber hat er die beste Gelegenheit zum Ersaufen, darauf freue ich mich. Das sehe ich mir mit an. Da will ich nicht so sein wie der Schah von Persien.
Kennt man das Urteil, das der Schah von Persien über das moderne Pferderennen fällte? Mir fällt immer einmal so etwas ein. Unsereiner hört so vieles, vielleicht mehr als ein Weinreisender. Das Geschichtchen ist historisch.
Als im Jahre 1896 Muzaffer Mirza 1 den persischen Thron bestieg, war sein erstes, dass er nach Europa fuhr, um sich seinen fürstlichen Kollegen vorzustellen. Sehr mit Erfolg — er nahm überall einen mächtigen Pump auf. Hatte es auch sehr leicht, denn damals wollten alle Mächte in Persien die Vorderband bekommen.
Dementsprechend wurde der Schah denn auch überall empfangen, mit mehr als fürstlichen Ehren, ganz besonders auch in Frankreich. Präsident Loubet tat, was er nur tun konnte, nahm seinen exotischen Gast überall mit hin.
So ging es auch einmal in ein Konzert. Als es nach zwei Stunden beendet war, fragte Loubet:
»Welches Stück hat Eurer Majestät am besten gefallen?«
Ja Du lieber Gott, welches Stück! Wie sollte das die persische Majestät erklären!
»Das eine, das hat mir am besten gefallen — das — das das... diedeldie, diedeldäää, diedeldädädä — das möchte ich gern noch einmal hören.«
Gewiss, das konnte er. Wenn man nur gewusst hätte, was das gewesen wäre, diedeldie, diedeldäää, diedeldädä.
Nun, da wurde eben probiert, ein Stück nach dem anderen.
»Ist es das?«
»Nein, das ist es nicht, es, war viel, viel schöner.«
Nach einer halben Stunde hielt es der Präsident für das Beste, das ganze Konzert noch einmal von vorn spielen zu lassen. Einem Schah von Persien, der in seinem Reiche den Eisenbahnbau und andere Konzessionen zu erteilen hat, ist man schon so eine Gefälligkeit schuldig, mögen die Musikanten dabei auch krepieren.
»Ist es das?«
»Nein, das ist es nicht, es war viel, viel schöner.«
»Also es geht weiter. Endlich müssen wieder einmal die Geigen gestimmt werden.
»Das ist's, das ist's!«, ruft da Seine persische Majestät entzückt.
Diese Geschichte ist historisch.
Oder wie ihm in London das New Gate gezeigt wurde, die Richtstätte, wo die zum Tode Verurteilten gehangen werden, die Vorrichtung des Galgens mit dem Fallbrett wird ihm erklärt, wie die ganze Vorrichtung funktioniert.
Aber diese theoretische Erklärung genügt Seiner persischen Majestät noch nicht, er findet sich nicht richtig hinein.
»Hängen Sie doch mal einen.«
»Bedaure, es ist gerade kein zum Tode Verurteilter auf Lager.«
»Na da hängen Sie einen anderen Verbrecher.«
»Das geht nicht, Majestät, er muss erst verurteilt werden.«
»Dann verurteilen Sie einen.«
»Es ist unmöglich, Majestät, wir bedauern lebhaft — es geht gegen die guten Sitten dieses Landes.«
»Na, da hängen Sie mal den hier auf.«
Der edle Schah spricht's, dreht sich um, packt einen seiner Minister beim Halsband und zieht ihn vor.
Natürlich konnte auch dieser persische Minister beim besten Willen nicht gehangen werden. Der Schah mag einen schönen Begriff von englischer Gastfreundschaft bekommen haben.
Doch das war es ja nicht, was ich erzählen wollte. Wir bleiben in Frankreich, wo dieser selbe Schah einen klassischen Ausspruch über das Pferderennen tat.
Also es ging auch einmal zum Pferderennen. Oder es wurde erst dazu aufgefordert
»Pferderennen, was ist das?«
»Nun, Pferdewettrennen.«
»Pferdewettrennen? Ich verstehe nicht.«
Der Präsident von Frankreich erklärt es seinem exotischen Gaste näher.
Endlich begreift der Schah, aber noch immer schüttelt er nachdenklich den Kopf, und dann bricht er in die denkwürdigen Worte aus, hier auf Deutsch wiedergegeben:
»Dass ein Pferd schneller als das andere ist, das weiß ich — und welches nun von diesen Pferden, die nicht mir gehören, das schnellste ist, das ist mir piepschnuppe!«
Das habe ich nicht dem Leser erzählt, sondern das erzählte ich meinem Vordermanne, während wir auf Walrosses Rücken durchs Wasser nach dem Felsen ritten, und Mister Tabak schüttelte sich vor Lachen, und das Walroß hielt sich verpflichtet, mitzubrüllen, obgleich den Witz einer so wenig wie der andere verstand. Aber der Eskimo lachte so gern. Freilich kam es ganz darauf an, wer ihn zum Lachen bringen wollte. Sein Freund Juba Riata machte überhaupt keine Witze, und irgend ein anderer hätte ihn mit Witzen totkitzeln können, Mister Tabak hätte seinen Mund, der schon von einem Ohre bis zum andern reichte, keine Linie weiter verzogen, während ich den allerdümmsten Witz reißen konnte, dann fing der Kerl zu lachen an, dass ich so wie jetzt seine Mundwinkel von hinten sehen konnte.
So erreichten wir den Felsen.
»Wo ist denn nun der geheime Eingang?«
»Na kommen Sie nur mit.«
Wenn ich nicht nachschwimmen wollte, musste ich wohl mitkommen.
Es ging um den Felsen herum. Das Walross stand im Wasser.
»Hier ist er.«
»Wo denn?!«
»Hier unten.«
Und Mister Tabak deutete neben der Felswand ins Wasser hinein.
»Unter Wasser. Es ist gar nicht tief, keine vier Ellen, und dann haben Sie kaum drei Ellen zu schwimmen, dann tauchen Sie wieder auf und können Luft schnappen. Also tauchen Sie mal unter.«
Na das heißt — so fix ging das bei mir nicht! Da wollte ich doch erst einmal mein Testament machen.
»Wie haben Sie diese unterseeische Öffnung gefunden?«
»Wie ich vorhin um den Felsen ritt, sah ich hier Blasen aufsteigen, dachte mir gleich etwas, Knipperdolling war bei mir, den schickte ich zuerst hinab, er blieb lange aus, erzählen konnte er mir ja nicht, aber er nieste doch so freundlich — na, da kalkulierte ich weiter, und da bin ich einmal hinunter gejumpt und fand richtig das Loch. Ausgemessen hab ich ja noch nicht, aber ich kalkuliere, dass ein Walfisch durch kann.«
Dieser Eskimo schwamm und tauchte wie ein Fisch, das wusste ich, wenn er sich auch nicht zum Wettschwimmer eignete, weil er da überhaupt nicht mitmachte, und verwegen war dieser Kerl wie ein Teufel, wenn ers auch nicht so von sich gab.
»Der Felsen ist hohl?«
»Wie ein ausgelutschtes Ei.«
»Sie waren drin?«
»Na, sonst wüsst' ich doch nicht, dass er hohl ist.«
»Und was ist denn nun da drin?«
»Sie werden's schon sehen.«
»Sie wollen's nicht sagen?«
»Nee. Ich will Ihnen die Überraschung nicht verderben.«
»Wirklich etwas ganz Merkwürdiges?«
»Da staunt der Laie, selbst der Kenner stutzt!«, gebrauchte der Eskimo eine Redensart, die damals neu aufgekommen war und die er in Hamburg aufgeschnappt haben mochte. Possierlich war nur, wie das aus dem breiten Maule herauskam.
»Waren Sie auch oben?«
»Wo oben?«
»In der Burg.«
»Nee.«
»Weshalb nicht?«
»Weil keine Treppe und nicht einmal eine Tür vorhanden war.«
»Es war also nur eine einzige Öffnung?«
»Ja, sozusagen ein geschlossenes Loch, aber ein sehr, sehr großes Loch, hübsch erleuchtet und auch sonst sehr hübsch drin. Na, schwimmen Sie nur mal hinunter und besehen Sie sich die Geschichte selber, und dann vergessen Sie nicht, wieder den Mund zuzumachen.«
»Kommen Sie nach?«, lachte ich.
»Noch nicht gleich. Ich will erst meine Pfeife ausrauchen, sie brennt gerade so hübsch, es quatschelt schon.«
Denn natürlich hatte er seine qualmende Fuhrmannspfeife zwischen den Zähnen. Ich war bereits aufrecht auf den Rücken unseres Reittiers geklettert, entledigte mich der Sachen, die mir beim Tauchen hinderlich sein konnten, hing zum Beispiel mein Gewehr über Mister Tabaks Schulter.
»Was ich noch fragen wollte... können Sie eigentlich noch nicht unter Wasser rauchen?«, sagte ich dabei.
»Ich? Nee. Ist das möglich, unter Wasser zu rauchen?«
»Sie müssen's mal probieren.«
Ich hatte meine Toilette beendet, schickte mich zum Hechtsprung an, der mich gleich tief hinabbefördern sollte.
»Also vier Ellen tief?«
»Höchstens.«
»Und drei Ellen weit dann zu schwimmen?«
»Kaum.«
Ich setzte zum Abschnellen an.
»Halt halt halt halt!«, schrie da Mister Tabak und packte mich, musste auch tüchtig zupacken, denn ich war schon in halber Fahrt gewesen, musste krampfhaft nach rückwärts arbeiten, um mich noch halten zu können.
»Was gibt's?«, fragte ich erschrocken, was sich begreifen lässt.
»Meinen Sie wirklich, dass es möglich ist, auch unter Wasser zu roochen?«
»Na ich will's mir mal unter Wasser überlegen!«, lachte ich aus vollem Halse und jumpte kopfüber hinab.
Wenn man solch eine Partie unter Wasser vorhat, muss man sich erst etwas vorbereiten, darf vorher nicht lachen und lachend verschwinden, sondern man muss, solange man dazu noch Gelegenheit hat, mehrmals ruhig atmen, dann sich die Lungen voll Luft pumpen, so schwimmt man kopfüber nach unten, die Bewegungen der Füße genügen schon, so kann man bis sechs Meter tief tauchen, tiefer geht es beim normalen Menschen nicht, dann wird der Druck zu groß — bei den Perlentauchern ist das ja etwas ganz anderes — dann stößt man langsam die Luft aus, die nach oben perlt, so kann man sich, wenn man auf dem Grunde etwas zu suchen hat, leichter unten halten, und auf diese Weise kann man es bei einiger Übung bis zu einer Minute bringen. Wobei natürlich auch das Wiedernachobenschwimmen inbegriffen ist. Denn das darf man natürlich nicht vergessen.
Ich hatte mich nicht gut vorbereitet, ich hatte gelacht. Aber wäre es nicht eine Kinderspielerei gewesen, eine Kinderspielerei für einen nur einigermaßen guten Schwimmer und Taucher — an jene menschlichen Froschimitationen, die man in unseren Schwimmbädern für gewöhnlich im »Tiefen« herumkrebsen sieht, darf man dabei freilich nicht denken — dann hätte mich mein grönländischer Freund schon gewarnt, mir noch andere Instruktionen gegeben.
Also es ging auch mit lachendem Abfahren, ich schoss hinab, half mit den Füßen nach, ließ dabei die eine Hand an der Felswand herabgleiten, die sich ganz schleimig anfühlte, und ich hatte sekundenweise noch nicht bis fünf gezählt, als ich die Kante schon fühlte.
Noch ein wenig tiefer und unter der Kante weg, ich konnte nach Belieben austreten, bei der zwölften Sekunde einmal nach oben getastet, immer höher hinauf, die Augen aufgemacht, hellgrünes Licht gesehen — und da war ich schon oben, konnte Luft schöpfen.
Es war ein weites Wasserbassin, über das sich die Felsenwand kuppelförmig wölbte, rings herum lief eine Galerie, und dort, wo sich die Wand noch nicht wölbte, sondern noch senkrecht abfiel, befanden sich Fenster, eines neben dem andern, durch welche das helle Tageslicht fiel.
Ja aber von diesen Fensteröffnungen war doch von draußen nichts zu bemerken gewesen?!
Nun, ich musste erst einmal auf die Galerie klettern, um dieses Rätsel lösen zu können. Von hier im Wasser konnte ich nicht hindurchblicken, und vielleicht waren es nur angemalte Fenster, das Licht ging wahrscheinlich wieder von der ganzen Wand aus.
Also ich schwang mich hinauf, mit leichter Mühe stellte mich auf die Beine und...
Ja, da staunt der Laie, selbst der Kenner stutzt!
Ich will erst noch etwas bemerken.
Seit damals, wo wir durch die Nixengrotte in die texanische Prärie gekommen waren, hatte sich Merlin noch nicht wieder gezeigt. Und weder Peitschenmüller, noch ich, noch ein anderer hatten in der Nähe unseres Quartiers oder anderswo solch eine Tür oder eine Höhle gefunden, durch die man in eine fremde, gewissermaßen illusionistische Gegend gekommen wäre.
Die anderen hatten freilich auch noch nicht gesucht, mir, Peitschenmüller und ich, hatten ihnen noch immer nichts von unserem Abenteuer mitgeteilt, im Schweigen waren wir beide eben sehr beharrlich.
Sollten wir nun hier in dieser Burg oder schon hier unten in dem hohlen Felsen diese Zugänge zu den fremden, auf einer anderen Bewusstseinsebene liegenden Regionen gefunden haben?
Mein Blick durch das Fenster fiel auf eine tropische Landschaft. Ich musste sie für eine indische halten. Eine Waldblöße, eingeschlossen von riesenhaften Bäumen, an denen sich herrlich blühende Schlingpflanzen emporrankten. Oder eine natürliche Schneise im Urwald, will ich lieber sagen. Denn im fernen Hintergrunde erhob sich ein hohes Gebirge, dessen schneebedeckte Gipfel in der Sonne, die man aber nicht selbst sah, glitzerten.
Und diese Szenerie nun in vollem Leben. Die Blätter bewegten sich im leisen Winde, prachtvolle Schmetterlinge gaukelten umher, ich sah, wie sich ein starker Grashalm unter der Last eines mächtigen, goldschillernden Käfers bog.
Und dies alles in handgreiflicher Nähe. Das heißt, so weit man eben seine Hand hätte ausstrecken können. Diesen Käfer hätte ich zum Beispiel greifen können müssen. Aber es war nicht möglich. Denn es war keine einfache Fensteröffnung von ungefähr einem Meter Breite und anderthalb Meter Höhe, sondern es war ein richtiges Fenster, mit Glasscheibe, nicht zu öffnen. Die Scheibe war in das Gestein eingelassen.
Wahrheit oder Illusion? Nur das letztere konnte in Betracht kommen. Wie mir mein Kompass sagte, wie ich überhaupt wusste, hätte ich in dieser Richtung auf den See und auf den westlichen Höhenzug blicken müssen, der durch die Wasserstraße unterbrochen wurde. Statt der sibirischen Landschaft im Frühlingsschmuck also eine tropischindische.
Na, was war da überhaupt erst zu grübeln, ob das nur eine Illusion sein könne oder nicht. Ganz selbstverständlich.
Doch was ist eine Illusion? Ist nicht jede Kinematografie eine Illusion?
Ja, nicht schon jedes andere Bild, vor das man sich hinsetzt, sich im Geiste in das versenkend, was es vorstellt?
Never mind!
Ich ergötzte mich an dem, was ich hier erblickte, an dieser tropischen Urwaldspracht, an den gaukelnden Schmetterlingen, an den summenden Bienen...
Halt! Summten sie wirklich? Nein, zu hören war absolut nichts. Das war etwas Unnatürliches. Ich hätte die Bäume rauschen hören müssen. Oder war die Glasscheibe zu dick? Diese war durchsichtig wie — wie Luft, ich hätte gar nichts von ihr bemerkt, wenn ich sie nicht gefühlt hätte, und ferner musste ich konstatieren, dass ich wohl ihre diesseitige Ebene wahrnahm, eben durch Gefühl, dass es mir aber unmöglich war, ihre Stärke zu erkennen. Wie ich auch seitwärts blickte, nach der Fassung in der Felswand lugte.
Nun, das war Nebensache, ich beobachtete weiter. Alles realistisches Leben! Aber nicht nur ein harmloses Spiel der aus Blumenkelchen naschenden Insekten. Ich sah eine Art von großer Heuschrecke mit riesigen Fangarmen, eine sogenannte Gottesanbeterin, und ich sah, wie sie sich auf eine Fliege stürzte, sie im Sprunge erhaschte und zu verzehren begann.
Mein Taschenfernrohr rückte mir diese Szene zehnmal näher vors Auge, und ich sah, wie die furchtbaren Fresswerkzeuge den Fliegenleib zermalmten.
Und so der Kampf ums Dasein allüberall, der Stärkere fraß immer den Schwächeren auf, wenn man nur scharf beobachtete. Dort stach eine Wespe eine Schmetterlingslarve an, legte ihre Eier hinein, auf dass die auskriechenden Maden an der Larve Nahrung fanden, und als die Wespe mit diesem ihr von instinktiver Mutterliebe diktiertem Geschäft fertig war, da flatterte aus dem Busch ein Vogel hervor, fing die Wespe weg, trug sie im Schnabel davon, wahrscheinlich seinen Jungen im Neste zu.
Was war nun durch die anderen Fenster zu erblicken? Ich wandte mich dem nächsten zu, drehte mich dabei mehr zur Seite als nötig gewesen wäre, und da hatte ich zunächst eine vollständig realistische Erscheinung.
Dass der Eskimo wirklich schon hier gewesen war, das hatte ich gleich an dem hinterlassenen Duft von Tran und Tabakschmant gerochen, und jetzt kam die Fortsetzung.
In diesem Augenblick, wie ich mich umdrehte, schoss Mister Tabaks bepelzter Kopf aus dem Wasser empor, er reckte sich noch höher, nahm die Pfeife aus den Zähnen, die Hand von dem Pfeifenkopf, auf den er sie gepresst gehalten, und blies eine mächtige blaue Wolke von sich.
»Sehen Sie, es geht!«, frohlockte er. »Richtig rauchen unter Wasser kann ich zwar noch nicht, aber ich habe die brennende Pfeife doch mit herübergebracht, das ist schon ein guter Anfang. Sehen Sie nur, wie sie noch brennt.«
Und wie ein Schlot qualmend, schwamm er mit der einen Hand ans Ufer, kletterte ebenfalls herauf.
»Na, was meinen Sie dazu? Dass Sie hier drin einen Kintopp fanden, das hatten Sie doch sicher nicht erwartet.«
Der hatte es also gleich erfasst.
Ich wandte mich, wie beabsichtigt, dem nächsten Fenster zu und wurde etwas fassungslos.
Keine indische Urwaldsszenerie mehr, sondern eine nackte Steingrotte, aber oben offen, von Sonnenlicht erfüllt, ungemein pittoresk, in der Mitte ein Wasserbassin, und in diesem plätscherten ein halbes Dutzend Nixen, aber ohne Fischschwänze, ganz natürliche Jungfrauen mit schneeweißen Leibern, plätscherten herum, spritzten sich, trieben allerhand Allotria, kletterten die Felsen hinauf, jumpten wieder ins Wasser, und auf den Felsen lagen auch ihre Gewänder, anscheinend orientalische Kostüme.
»Fein, was?«, meinte der Eskimo. »Aber in Amsterdam habe ich doch eigentlich besser gesehen, da war die Geschichte auch mit einem Phonografen verbunden, da hörte man die Mädels auch quieken.«
Das war hier nicht der Fall. Gewiss, sie lachten und »quiekten«, aber es war davon nichts zu hören, es war eine stumme Pantomime.
Der Eskimo trank den Schmant aus dem Stiefel seiner Pfeife aus, trat näher, spuckte erst noch einmal kräftig aus und klopfte mit dem Knöchel gegen die Fensterscheibe.
»He, Du da — Du kleine Blonde mit der Stulpnase — komm mal her.«
Die kleine Blonde mit der Stulpnase kam natürlich nicht.
»Na da komm doch mal her, Mädel! Guck mal, was ich hier Schönes habe. Eine seidene Schürze mit goldenen Klunkern dran — willst die haben? Nee? Sehen Sie, Waffenmeister, das ist alles nur zappelnde Malerei, was die Gelehrten gewöhnlich Kintopp nennen. Denn wenn ein Mädchen, dem man so eine seidene Schürze mit goldenen Klunkern schenken will, sie nicht nimmt, dann ist eben kein richtiges Mädel, dann ist's nur Kintopp.«
Es war nur gut, dass ich diesen Eskimo bei mir hatte, der an Realistik nicht mehr zu überbieten war. Freilich musste man erst näher mit ihm bekannt werden, ehe er richtig vom Leder zog.
»'s ist alles nischt mit der ganzen Kintopperei«, fuhr er fort, »ich halte die Kintopperei überhaupt für einen großen Rückschlag in der menschlichen Kultur. Sehen Sie, so vor zwanzig Jahren, als es so etwas noch nicht gab, da habe ich ganz dasselbe schon in New York gehabt, aber nun in voller Wirklichkeit — na, vielleicht kann hier ja auch noch kommen.«
Vorläufig aber blieb es beim harmlosen Plätschern und Springen und Purzelbaumschießen. Köstlich genug!
»Diese badenden Mädchen waren schon vorhin da?«
»Nee.«
»Was war denn sonst an diesem Fenster hier zu sehen?«
»Nu, diese Felsenschlucht hier mit dem Wasserbassin, die war schon da, das stimmt, aber noch keine Mädels badeten sich drin. Wollen wir einmal diese Fensterscheibe einhauen?«
Und schon hatte Mister Tabak seinen gewaltigen Nickfänger aus der Tasche gezogen, war bereit, die Scheibe zu zertrümmern.
»Wozu denn das?!«
»Na um zu sehen, wie hier die Kintopperei gemacht wird.«
»Es ist eben Kinematografie, Sie sagen es doch selbst.«
»Ja, aber was für eine Sorte, darauf kommt es an. Sehen Sie, es gibt doch ganz verschiedene Art von Kintopperei. Eine von hinten und eine von vorne, es gibt Kintopps mit durchsichtiger Leinewand und Kintopps mit Glastafeln. Wir haben hier eine Glastafel vor uns, das stimmt, aber wenn Sie nur einigermaßen in der Kintopperei bewandert sind, so müssen Sie doch zugeben, dass hier eine ganz besondere Art von Kintopperei vorliegt, denn wir sehen die zappelnden Figuren doch nicht eigentlich auf der Glastafel, sondern hinter der Glastafel, und wie das zustande kommt, das müssen wir doch ergründen. Ich wollte schon vorhin eine Fensterscheibe zerschmeißen, aber dann hätten Sie wahrscheinlich nichts mehr gesehen, und das wollte ich Ihnen nicht antun...«
»Sehr gütig von Ihnen, und ich bitte Sie, auch jetzt Ihre Fenstereinschmeißerei zu unterlassen.«
»Weshalb denn?«
»Nun, weil es mir genügt, hier den Effekt zu beobachten. Wie er zustande kommt, das ist mir ganz gleichgültig.«
»Sooo?! Hören Sie, Waffenmeister, da bin ich doch eigentlich wissenschaftlich gebildeter als Sie, obgleich ich keine Universität besucht habe, nicht einmal den Konfirmandenunterricht, von einer sonstigen Schule ganz abgesehen. Sehen Sie, als ich in New York zum ersten Male in einen Kintopp ging — ich habe ja nicht schlecht gestaunt, das muss ich gestehen — aber da war auch gleich mein erstes, dass ich so einer Dame, die vor mir an der Wand herumzappelte, eine Ladung Tabakssaft ins Gesicht spritzte. Da sie das nun gar nicht weiter genierte, wo doch ein Walfisch davon blind geworden wäre, so war doch hierdurch für mich wissenschaftlich erwiesen, dass es auch kein richtiges lebendiges Frauenzimmer sein konnte, und dann fügte ich zur Sicherheit noch einen zweiten wissenschaftlichen Beweis hinzu, indem ich dann bei einem Wettrennen auf so ein Pferd mit dem Revolver schoss.«
»Nun, und was war der Erfolg?«, lachte ich.
»Das Pferd rannte weiter, denn es war eben nur eine mit lebenden Farben gemalte Figur — oder wie man die Geschichte nun sonst macht, jedenfalls ganz einfach, sonst würde es doch nicht nur zehn Cents Entree kosten — also das Pferd rannte weiter, aber dort, wo ich es hatte erschießen wollen, war in der Wand ein Loch, und außerdem war die ganze Glasscheibe zersplittert. Das war eben eine Glasscheibe gewesen, das hatte ich hiermit wissenschaftlich konstatiert.«
»Und wie fasste man diesen Scherz auf?«
»Na, ich sollte die Glasscheibe einfach bezahlen.«
»Das mag ein teurer Scherz gewesen sein.«
»Gar nicht. Nicht einen Cent habe ich bezahlt. Ich hatte keinen roten Cent mehr. Ich hatte schon vorher alles durchgebracht. Ein anderer hatte für mich den Eintritt bezahlt.«
»Und da hat man Sie so einfach gehen lassen?«
»Nu nee! Ich musste sechs Wochen in SingSing singen. Aber ich habe keine Woche gesungen. Die Saison hatte begonnen, Mister Kabat wurde doch als Harpunier wie eine Stecknadel gesucht, ein Waljäger löste mich aus. Der Kapitän hat mir dann ja die Strafe oder überhaupt das Geld abgezogen, aber davon habe ich nichts gemerkt. Also Sie meinen nicht, dass ich hier die Glasscheibe einschmeißen soll?«
»Nein, bitte nicht, jetzt nicht, vielleicht später einmal.«
»Na, dann also später!«, sagte der wissenschaftliche Eskimo und steckte seinen Nickfänger wieder ein. Inzwischen hatten sich die Nymphen weiter im Wasser getummelt. Die Unterhaltung hatte ja nur fünf Minuten gewährt, da kann man viel sprechen. Langweilig wurde einem diese Baderei überhaupt nicht, immer wieder andere Tollheiten.
Jetzt aber schien die Geschichte in ein anderes Stadium zu treten. Ein allgemeiner Schreck, dann glaubte ich die Mädels förmlich aufkreischen zu hören. Raus aus dem Wasser, auf die Kleider gestürzt, sie übergeworfen. Ich hatte erst von orientalischen gesprochen. Jetzt merkte ich, dass die Szene wohl im alten Griechenland spielte, solche Tuniken waren es, welche die Weiber trugen, daher auch die eigentümliche Haartracht, mit Goldstreifen und anderem Schmuck festgehalten. Im Körperbau werden die alten Griechinnen wohl nicht viel von den heutigen Weibern abgewichen sein, und wenn man ihnen nicht allen so ein edles griechischrömisches Profil mit entsprechend gebogener Nase gegeben hatte, so hatte der, der die kinematografische Aufnahme geleitet, wohl auch ganz recht gehabt, denn ich will mich doch hängen lassen, wenn es im alten Rom und Hellas nicht auch solche reizende Stumpfnäschen gegeben hat.
Die Sandalen bekam keine an, die meisten begnügten sich, auch ihre Gewänder nur unter den Arm zu nehmen, um nach einer Höhle zu fliehen, die wohl den Ausgang dieser Grotte bildete, der einen gelang auch das nicht, die begnügte sich nur mit ihren Sandalen, was zur Bekleidung des Körpers ja nicht eben viel ist, sie konnte ihren fliehenden Schwestern auch nicht folgen, sie hatte über die Felsen einen andern Weg genommen, hatte sich auf einen Felsblock verirrt.
Und da kam schon das störende Prinzip, ein bildschöner Judenbengel — nein, ein antiker Griechenjüngling war's wohl, kletterte hastig die Felsen herab, stürzte sich prompt auf die zurückgelassene Bekleidung, an der nur die Sandalen fehlten.
Und oben auf dem Felsblock stand die arme Maid wie eine verstiegene Ziege und hatte zur Verhüllung ihrer Reize nichts weiter als ihre Stiefel ohne Schäfte!
»Jetzt wird die Sache interessant!«, meinte Mister Tabak.
Ich dachte im Augenblick etwas anderes. Wenn ich gewusst, dass hinter der Glasscheibe wirkliches Leben gewesen, jetzt hätte auch ich die Scheibe sofort eingehauen. Um den edlen Griechenbengel zu ohrfeigen. Das Feixen in der klassischgriechischrömischjüdischen Visage war gar zu widerlich.
Die beiden schienen wegen der Herausgabe der Gewänder einen Pakt zu schließen. Weiter sah ich nichts, denn ich hatte einen Blick nach dem nächsten Fenster geworfen, und schnell sprang ich hin.
Hei, das hier war etwas anderes!
Ich starrte, ich staunte, ich geriet außer mir! Ebenfalls eine Szene aus dem antiken griechischen Leben, aber nun was für eine!
Im Hintergrunde eine ummauerte Stadt, und vor ihr tobte ein furchtbarer Kampf.
Durch das Fenster blickend sah der Waffenmeister im Hintergrunde
eine ummauerte Stadt, und vor ihr tobte ein furchtbarer Kampf.
Eine Szene aus dem Kampfe von Troja, gar kein Zweifel!
Mehr oder weniger in gleißende, phantastische Rüstungen gehüllte Krieger, sie schlugen auf einander los, dass die Funken stoben und das Blut spritzte. Streitwagen, von vier Rossen gezogen, die an den ehernen Rädern befestigten Sichelschwerter mähten lange Furchen in die Reihen der Feinde. Wenn sich zwei Streitwagen begegneten, so sprangen die Helden neben den Rosselenkern herab und lieferten einander furchtbare Zweikämpfe.
»Nischt war's«, wandte sich in diesem Augenblick Mister Tabak von seinem Fenster ab, »da habe ich in Amsterdam im Kintopp etwas ganz anderes gesehen.«
Das konnte sein. Amsterdam ist die verludertste Stadt in der ganzen Welt. Wenn es auf einem anderen Planeten keine Sittenpolizei gibt, schlimmer kann's dort nicht getrieben werden.
»Was ist denn das?«
»Ein Kampf vor Troja.«
»Hm. Die vertobaken sich ja nicht schlecht. Aber da habe ich in New York einmal etwas ganz anderes gesehen. In der Waterstreet, englische Matrosen gegen skandinavische und deutsche, na, da flutschte es ja noch ganz anders!«
»Hatten die auch solche Streitwagen?«
»Nee. Die hatten sie gar nicht nötig. Solche Memmen waren die nicht. Aber hinterher kamen die Leichenwagen und sammelten ein.«
»Da da da — der mächtige Riese in der goldenen Rüstung, das ist der Achilles!«
»Ja, ja, ich weiß. Wo ist denn nun der David?«
»Was für ein David?«
»Na, der den Achilles mit der Schleuder totschmiss.«
»Sie meinen wohl den Goliath. Das war aber ein Philister oder sonst ein Feind der Juden.«
»War er? Achilles oder Goliath — das ist mir egal.«
»Oder nein, es dürfte der gewaltige Ajax sein.«
»Ajax hatte nur 500 Tonnen und war ein blutig gottverdammter Trankocher!«, fing der Eskimo wieder von einem Schiffe zu phantasieren an.
»Da — das aber ist gewiss Hektor!«
»Hunde sind auch mit dabei? Wo denn?«
»Ja, wie kann aber so etwas nur gemacht werden?!
Einmal muss es doch erst in Wirklichkeit fotografiert werden!«
»Ach das ist ganz einfach«, belehrte mich der Eskimo, »da nimmt man solche Schauspieler und andere Vagabunden von der Straße her, die kriegen einen Dollar, dann zappeln die herum, ganz wies verlangt wird.«
»Ja, die töten sich aber doch wirklich, da fließt doch Blut!«
»Blut? I keene Spur. Das ist nur rote Tinte oder so was.«
»Da — da... jetzt wurde dem einen der Kopf vom Scheitel bis zu den Kinnbacken gespalten. Haben Sie's gesehen?«
»Yes! Und Sie meinen, dass das Wirklichkeit ist? Nee, Waffenmeister. Die Fotografen haben da solche Tricks. Wies gemacht wird, weiß ich auch nicht, aber Humbug ist schließlich doch alles, alles Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sehen Sie, da habe ich mal im Kintopp gesehen, wie ein Neger innerhalb von fünf Minuten einen ganzen gebratenen Ochsen verschlang. Das bringt auch der gefräßigste Mensch nicht fertig, nicht einmal ich. Aber auf etwas anderes will ich Sie aufmerksam machen. Die Täuschung kann manchmal doch nicht so richtig herausgebracht werden. Haben Sie jetzt gesehen, wie der Riese Goliath seine Lanze warf? Das war ganz jämmerlich. Der würde als Harpunier keine fünf Cents verdienen, den würde jeder Walfisch auslachen. Hallo, was ist denn das?!«
Ich folgte seinen Blicken, musste mich dazu umdrehen. Der Wasserspiegel des Bassins war, von uns unbemerkt, um mehr als drei Meter gesunken. Dadurch war uns ziemlich gegenüber eine Öffnung freigelegt worden, die bisher von dem dunklen undurchsichtigen Wasser bedeckt gewesen, und so weit es sich von hier aus unterscheiden ließ, führte von der Galerie auch eine Leiter hinab.
Ehe wir uns aber dorthin begaben, um diese Öffnung näher zu untersuchen, war anderes zu überlegen.
Wenn hier das Wasser sank, musste nicht auch draußen der Spiegel des Sees sinken? Natürlich, oder alle physikalischen Gesetze waren aufgehoben.
»Oder das Loch, durch das wir gekommen, ist verstopft worden«, sagte Mister Tabak, »und man hat hier das Bassin halb ausgepumpt.«
»Wahrscheinlich nur, um uns einen anderen Ausweg zu zeigen, der nach oben führt.«
»Das ist mir egal. Ich bin gewohnt, zu dem Loche zu dem ich hereinkomme, wieder hinauszukriechen, es mir wenigstens ohne triftigen Grund nicht heimlich hinter mir verstopfen zu lassen.«
Der Eskimo sprach's und war schon hinab ins Wasser gejumpt, nur dass er diesmal seine Pfeife nicht mitnahm.
Pustend tauchte er wieder auf.
»So eine infame Gemeinheit! Haben die wahrhaftig das Loch verstopft! Es ist wie eine Platte vorgeschoben!«
»Können Sie sich auch nicht geirrt haben? Waren Sie an der richtigen Stelle?«
»Na ganz sicher! Da gibt's bei mir doch keinen Irrtum. Nun müssen wir das andere Loch dort untersuchen. Aber gefallen lasse ich mir das nicht, dass man mich hier so wie in einer Mausefalle gefangen setzt.«
Er schwamm gleich hin. Wäre dort keine Leiter gewesen, so hätte er es gar nicht so leicht gehabt, dann wieder heraufzukommen, bei einer Höhe von drei Metern. Doch er hatte schon Stricke bei sich, die er mir in diesem Falle zugeworfen hätte.
Ich begab mich auf der Galerie nach der anderen Seite, ohne die anderen Fenster vorläufig weiter zu beachten. Die kupferne Leiter reichte nicht ganz bis zur Galerie herauf, deshalb hatten wir sie auch vorhin nicht bemerkt, sie war noch etwas unter Wasser gewesen, aber man konnte sie doch ohne Schwierigkeit betreten. Die zwei Meter hohe Öffnung, eben so breit, war vom Wasser gerade freigegeben worden.
Kabat war darin bereits verschwunden, ich folgte schnell nach.
Nur drei Schritte in dem etwas düsteren Tunnel, und ich stand wieder in hellem Tageslichte.
Grenzenloses Staunen bemächtigte sich meiner, oder ich wäre kein Mensch gewesen.
Der Felsen war also außen regelrecht vierkantig, das Wasserbassin mit seinen Wänden war rund gewesen. Jetzt standen wir in einem etwa vier Meter breiten Treppengange, dessen eine Wand der schwarze Basaltfelsen bildete, die andere Seite war offen, war einfach Luft.
Dort drüben war das Ufer, an dem sich unsere Gefährten beschäftigten, wir sahen sie ganz deutlich. Es war also nicht anders, als ob der Treppengang außen um den Felsen frei herumführe, nur mit einer schwarzen Decke über sich.
Wie war das möglich?
Nun, wir hatten ja auch schon von den unteren Fenstern nichts von außen bemerkt. Hier freilich war die Sache noch anders, hier konnte man wirklich ins Freie blicken.
Im nächsten Augenblick hatte ich mich überzeugt, dass wir uns nicht im Freien befanden, sondern meine ausgestreckte Hand stieß gegen einen Widerstand, gegen luftklares Glas. Wie soll man sich anders ausdrücken. Diese ganze Außenwand bestand aus Glas von absoluter Reinheit und Durchsichtigkeit, sodass man weder den Anfang noch das Ende der Außenflächen erkennen konnte.
Auch Mister Tabak klatschte mit seinen Pfoten darauf herum, spuckte dagegen, und diese Fett- und anderen Spuren blieben sichtbar.
»Hier möchte ich ja nicht Fensterputzer sein. Waffenmeister, Sie behaupten doch, in eine Schule gegangen zu sein — was ist das eigentlich, Glas?«
»Wenn man Sand mit Metalloxyden zusammenschmilzt, mit Hilfe von Soda, welche die Sache erst in Fluss bringt, so entsteht eine durchsichtige Masse, die man Glas nennt.«
»Weshalb ist diese Masse durchsichtig?«
»Weil sie die Lichtstrahlen durchlässt.«
»Weshalb lässt sie die Lichtstrahlen durch?«
»Hören Sie, Kabat, da fragen Sie mich zu viel. Und ich glaube, diese letzte Frage kann Ihnen auch kein Physiker beantworten, so wenig, wie weshalb der Stein zur Erde fällt und nicht in der Luft schweben bleibt. Der letzte Grund ist uns immer unbegreifbar.«
»Wer hat das Glas erfunden?«
»Es sollen phönizische Schiffer gewesen sein, die einmal an Land ein Feuer anmachten auf sandigem Boden, ihre kupfernen Kessel auf Blöcke von natürlicher Soda setzten, die Geschichte fing an zu schmelzen, es entstanden durchsichtige Massen. Nicht gerade gleich Biergläser und Schaufensterspiegelscheiben, aber immerhin doch durchsichtige Platten und Barren. So erzählt Plinius, und das soll tausend Jahre vor Christus passiert sein. Möglich ist die Sache ja schon, aber bereits die Sanskritbücher, mindestens 6000 Jahre vor Christi Geburt verfasst, sprechen von durchsichtigem Kristall, den man künstlich herstellen konnte und den man Kelasa nannte. Ich jedoch bleibe lieber dabei, dass es phönizische Seeleute gewesen sind, welche diese hochwichtige Erfindung gemacht haben, weil nur Seeleute, wie ich einer bin, so pfiffig sein können, wenn auch eine gute Portion Dusel dazu gehört.«
»Was haben denn da die phönizischen Matrosen gesagt, als sie plötzlich solches durchsichtiges Zeug im Sande fanden?«
»Hurra, Boys, haben sie geschrien, jetzt haben wir's Glas erfunden!«, Der Eskimo hatte schon vorher sein Froschmaul bis hinten in den Nacken auseinander gezogen, und jetzt fing er vor Lachen zu brüllen an, dass die gläserne Mauer sicher sehr dick sein musste, sonst wäre sie gesprungen.
Dann, nachdem er mir noch einen Knuff in die Seite gegeben und noch einmal gegen die Glaswand gespuckt hatte, wurde er wieder ernst.
»Also aus Sand, Soda und einem Metall. Muss es gerade Sand sein? Kann es nicht auch ein anderer Dreck sein?«
»Nein. Die Hauptsache ist möglichst reiner Sand, das ist eine Verbindung der Kieselsäure.«
»Und das Zeug muss unbedingt schmelzen?«
»Unbedingt.«
»Es geht noch nicht auf kaltem Wege, nicht irgendwie anders?«
»Nein, im Grunde genommen machen wir's noch genau so wie jene phönizischen Schiffer.«
»Hören Sie, Waffenmeister — ich bin mal mit 'nem Käpten zusammengefahren, das Luder log den Himmel grün, und der erzählte, sein Vater hätte eine Erfindung gehabt, eine Flüssigkeit, wenn er mit dieser irgend einer Steinplatte angepinselt hätte, dann wurde die Steinplatte durchsichtig wie Glas. Pinselte er sie auf beiden Seiten an, dann wurde sie auch von beiden Seiten durchsichtig. Sonst konnte man nur von der Seite aus durchsehen, auf der sie mit der Flüssigkeit angepinselt worden war, auf der anderen Seite war sie dann duster. Halten Sie so etwas für möglich?«
Hm. Da könnte man nachdenklich werden!
Wir sind, wie schon gesagt, im Grunde genommen noch nicht über jenen Vorgang hinausgekommen, den einmal phönizische Schiffer oder andere gemacht haben. Sand und Metalloxyde würden mit Hilfe von Soda in Feuersglut zusammengeschmolzen.
Das dürfte man doch wohl einen physikalischen Vorgang nennen.
Bei uns wird der Delinquent physikalisch oder mechanisch hingerichtet, indem man ihn aufhängt oder ihm den Kopf abhackt. Die alten Griechen hatten eine chemische Hinrichtung, die gaben dem zum Tode Verurteilten, wenigstens manchmal wie dem Sokrates, einen Giftbecher zu trinken. In Nordamerika dagegen muss sich der Betreffende heute auf ein elektrisches Stühlchen setzen, um ins Jenseits zu segeln.
Sollte dementsprechend — ein etwas gewagtes Gleichnis — die Herstellung des Glases nicht auf chemischen oder auf elektrischem Wege erfolgen können? Mir schwant so etwas, als ob dereinst noch die ganze Glasmacherei umgekrempelt würde.
Jedenfalls also hatten wir hier eine Gesteinsart oder eine sonstige Masse vor uns, die wohl das Licht von außen durchließ, aber nur von der einen Seite, nur von innen durchsichtig war, woran gar nichts so Wunderbares, denn man kann doch auch sehr schwer von außen durch eine Fensterscheibe ins Innere des Zimmers blicken, und ist es gar eine besondere Art von Milchglas, so wird es überhaupt unmöglich. Und das lässt sich doch noch bedeutend vervollkommnet denken.
Wir stiegen die Treppe hinauf, die immer im rechten Winkel um ein festes Rechteck herumführte An jeder Ecke war ein größerer Absatz, sonst nichts weiter. Keine Tür und gar nichts. Und die Außenwand blieb immer durchsichtig. Weiß.
»Hätten die hier nicht einen Fahrstuhl anlegen können?«, brummte der Eskimo.
»Der dürfte wohl vorhanden sein, hier in diesem schwarzen Kern, den wir immer umgehen. Wir müssen nur den Zutritt ausfindig machen.«
Häher und höher ging es hinauf. 200 Meter — das ist die Höhe von zehn übereinandergestellten vierstöckigen Häusern. Morgen würden uns die Wadenmuskeln schrecklich schmerzen, trotz aller athletischen Ausbildung. Denn mit den Kniekehlen eines Stadtbriefträgers kann kein Athlet und kein Fußequilibrist konkurrieren.
Wieder erreichten wir einen Absatz, der aber diesmal anders beschaffen war. Auf drei Seiten von undurchsichtigen Mauern eingeschlossen, diese von richtigen Türöffnungen durchbrochen.
Wir merkten es gleich: jetzt befanden wir uns schon oben in der eigentlichen Burg.
Ein Raum schloss sich an den anderen, kleine Kammern und große Säle und Korridore, und ab und zu führte auch eine Treppe weiter nach oben. Hier änderte sich die Art der Beleuchtung. Hier waren die aus mächtigen Quadersteinen zusammengesetzten Mauern nicht mehr durchsichtig, sondern für die Beleuchtung war durch richtige Fenster gesorgt.
Ganz richtige moderne Fenster mit Glasscheiben. Nur dass die Rahmen aus Erz, aus Bronze bestanden, und dass ich eine Handhabe fand, um sie zu öffnen.
Sollten die Menschen in der Bronzezeit schon solche Fenster mit Glasscheiben besessen haben? Na, warum denn nicht. Wenn nicht anderswo, dann eben hier in Sibirien.
Nun gab es aber auch Räume genug, die nicht von außen durch Fenster mit Tageslicht versehen wurden. In diesen strahlte wieder von den Wänden das rätselhafte Licht, das keinen Schatten warf, wenn auch nur deshalb nicht, weil es eben von allen Seiten kam. Da kann doch kein Schatten entstehen.
»Die Fenster müssen aber doch jeden Tag geputzt werden?«, meinte der Eskimo in fragendem Tone, wieder einmal gegen solch eine luftklare Scheibe spuckend.
Es war das letzte gewesen, was ich von meinem Gefährten für lange Zeit gehört und gesehen haben sollte.
Was ich aber noch nicht sogleich bemerkte.
Ich war linkerhand durch eine unverschließbare Tür, nur eine Türöffnung, wieder in einen großen Saal getreten, so nackt wie alle anderen Räume. Die Fugen in den Wänden kaum sichtbar, so genau waren die Quadersteine übereinander geschichtet, anscheinend ohne Mörtel oder dergleichen — man nennt derartige Mauern zyklopische, findet ihrer gerade im europäischen Russland und asiatischen Russland genug, von einem prähistorischen Menschengeschlechte errichtet, die Jahrtausende überdauert haben — die Decken immer kunstvoll gewölbt, der Boden ebenso kunstvoll mit großen Steinplatten belegt. Nirgends eine Spur von Schutt oder Verwitterungsmaterial oder auch nur von Staub. Als würde hier täglich sorgfältig gefegt und gewischt.
Aus diesem Sale führte wieder einmal eine breite Steintreppe nach oben.
»Die wollen wir doch einmal hinaufsteigen«, sagte ich, »wir haben doch von unten Balkone gesehen, ob man auf einem solchen nicht ins Freie treten kann.«
Als ich keine Antwort bekam, blickte ich mich nach meinem Gefährten um.
Der war nicht zu sehen.
»Mister Kabat, wo sind Sie?!«
Ganz schauerlich hallte meine erhobene Stimme in der weiten, nackten Halle wider.
Ich rief noch mehrmals, ging auch in den nächsten Raum zurück, machte mir aber, als ich den Eskimo nicht sah, keine Antwort bekam, nichts weiter daraus. Er war eben seine eigene Wege gegangen, so tat auch ich, stieg allein die Treppe hinauf.
Trotzdem — ich muss es gestehen, weil ich ein ehrlicher Kerl bin — es war mir sehr unheimlich zumute. In solchen großen, nackten Räumen herumzugehen, wo jeder Schritt hallt, ganz allein — es hat doch etwas auf sich. Furcht ist ja natürlich etwas ganz anderes. Also ich stieg die Treppe hinauf, kam in die nächste Etage, wo alles ganz genau so beschaffen war wie dort unten.
Und doch nicht.
Merkwürdig! Weshalb lag hier am Boden der Staub drei Zentimeter dick? Nun, er hätte sich ja im Laufe der Jahrtausende so hoch aufhäufen können, hier oben wurde eben nicht gefegt und gewischt. Weshalb aber lag er nur am Boden, nicht auch auf den Fenstersimsen?
Ja, und was war denn das überhaupt für ein merkwürdiger Staub?!
Ich begann zu staunen.
Das war — das war — — mehr Wasser!
Das heißt, dieser Staub schien die Eigenschaften des Wassers zu besitzen.
Mein Fuß sank tiefer ein, eben drei Zentimeter tief, aber sofort, wenn ich ihn hob, verschwand die Spur wieder, der Staub rieselte im Nu wieder zusammen.
Das macht feiner Sand ja auch. Aber bei dem geht das doch nicht so schnell. Es war auch kein dünnflüssiger Schlamm. Es war ein richtiger Staub, der sich wie Wasser verhielt. Anders kann ich mich nicht ausdrücken.
Natürlich war mein erstes, nachdem ich diese Entdeckung gemacht hatte, dass ich mich bückte und etwas von dem schmutziggrauen Staube in den hohlen Händen aufhob. Ganz auffallend schwer! Ich erschrak förmlich. Schwerer als Eisenfeilspäne, als Blei — ich schätzte das spezifische Gewicht auf das des Quecksilbers. Aber nicht etwa Quecksilber! Es war und blieb ganz feiner Staub!
Und wie ich noch so dastehe und das rätselhafte Metallpulver, für das ich den Staub halten muss, durch die Finger laufen lasse, da fange ich erst recht zu starren an und eiskalt läuft es mir über den Rücken. Denn da sehe ich in einiger Entfernung, von mir plötzlich in diesem Staube die Spur eines Menschenfußes entstehen!
Ein kleiner, zierlicher Menschenfuß, nackt, jede Zehe ist deutlich erkennbar.
So drückt er sich Schritt für Schritt in dem Staube ab! Ist ja immer gleich wieder verschwunden, weil der schwere Staub eben gleich wieder zusammenläuft, aber dann entsteht auf kurze Schrittweise schon wieder ein neuer Fußabdruck!
Nur von dem Menschen, von dem Wesen, das diese Fährte erzeugt, ist nichts zu sehen!
»Kabat, Mister Kabat, kommen Sie mal schnell her!«, schreie ich aus voller Lunge.
Ja, da soll man wohl nicht nach seinem Gefährten schreien, wenn man so etwas erblickt, in solch einem einsamen Schlosse, in solch einem leeren Raume so etwas erlebt!
Dass es mir eiskalt über den Rücken gelaufen war, habe ich ja schon gesagt.
Als ich aber nun von meinem Gefährten keine Antwort bekam, worauf ich auch nicht lange wartete, da sprang ich sofort los, dorthin, wo die Spuren entstanden, mit ausgestreckten Händen.
Ich griff ins Leere!
Aber nicht, dass ich durch den wesenlosen Schatten, der trotzdem sichtbare Fußspuren hinterließ, hindurchgerannt wäre, sondern nach diesen Spuren begann das Wesen jetzt selbst zu rennen. Es war ganz deutlich zu merken, an der größeren Entfernung der Spuren, auch an deren Form, wie sich die Zehen fester eindrückten, die Fersen den Staub manchmal kaum noch berührten, und außerdem hielt sich ja die Fährte vor mir, der ich noch immer hinterher rannte.
Aber fassen hätte ich das Wesen schon einmal müssen, wenn es zu fassen gewesen wäre.
Der Schatten lief in dem weiten Saale im Kreise herum, ich hinterher, und immer mehr merkte ich, dass er es geradezu darauf abgesehen hatte, mich hinter sich her zu locken, er machte die verschiedensten Bogen, schlug Haken — wollte einfach Haschens mit mir spielen.
Ich blieb stehen — der unsichtbare Schatten ebenfalls, in zwei Schritten Entfernung von mir. Zum ersten Male sah ich gleichzeitig die zwei Menschenfüßchen nebeneinander abgedrückt, und zwar die Zehen gegen mich gekehrt.
»Wer bist Du?«
Keine Antwort, auch kein kühler Hauch traf mich.
»Bist Du ein Geist?«
Keine Antwort. Da aber entstand plötzlich zwischen jenen Füßen und mir in dem Staube der Abdruck einer kleinen Hand.
Ich musste annehmen, dass sich der Schatten niedergekauert hatte, um seine Hand abzudrücken.
Es war eine menschliche Hand, etwa die eines zehnjährigen Kindes, wie auch die Füße einem solchen angehörten. Um Größenverhältnisse zu geben.
Und es blieb nicht bei dieser Hand, eine zweite kam hinzu, der ganze Körper.
Wie dies geschah, will ich auf andere Weise schildern. Wir hatten dasselbe als Kinder gemacht, im Schnee, in den wir unser Konterfei abdrückten, die Umrisse der Figur mit Ausfüllung. Schneefotografien nannten wir das. Es ist ein ziemlich schwieriges Kunststückchen, das geübt werden muss, denn es muss dabei doch vermieden werden, dass nebenbei andere Abdrücke entstehen. Auf einer Böschung lässt es sich viel leichter ausführen, aber unsere Ehre bestand darin, die Figur auf völlig flacher Schneefläche hervorzubringen. Dazu lässt man sich mit gestreckten Beinen nach hinten fallen, dass man zum Sitzen kommt, legt nun auch den Oberkörper hinten über, drückt ihn samt Kopf fest in den Schnee, die ausgestreckten Arme, die ausgespreizten Finger, die Füße möglichst seitwärts — und dann kommt das Aufstehen, welches noch schwieriger ist, um störende Nebenabdrücke zu vermeiden.
Ist es gelungen, hat man sich mit einem letzten Sprunge entfernt, dann ist die »Schneefotografie« fertig. So geschah es auch hier. Nur dass dieses Wesen es viel leichter hatte, weil Nebenspuren, die beim Hinlegen entstanden, ja gleich wieder verrannen.
Vor mir entstand nach und nach der Abdruck eines Menschen, der ungefähr anderthalb Meter groß war, den Kopf natürlich nur als Kugel markiert und folgerichtig sehr klein ausfallend, mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern, aber die Beine nicht einzeln, sondern der Zwischenraum ausgefüllt, sodass ich annehmen musste, dass ich ein Weib vor mir hatte, oder doch ein menschliches Wesen, das mit einem bis zu den Füßen gehenden Rocke bekleidet war.
Zunächst beging ich die große Ungezogenheit, mich auf die geisterhafte Dame zu werfen, gleich mit den Füßen auf ihren Bauch zu springen.
Vergebens — ich sprang in den weichen Staub, die Form rann zusammen, oder war überhaupt plötzlich verschwunden, dafür waren neben mir gleich wieder die beiden Fußspuren da, aber nicht stillstehend, nicht schreitend, sondern die Füßchen machten unverkennbar tanzende Bewegungen.
Das Wesen schien sich zu amüsieren, dass meine List nicht geglückt war, drückte seine Freude darüber durch Springen und Tanzen aus.
Also jedenfalls ein ganz harmloser Geist, mit dem man sich unterhalten konnte.
»Hörst Du mich sprechen?«
Sofort blieben die Füßchen stehen, die Zehen mir zugewandt.
»Können wir uns nicht verständigen? Obgleich Du unsichtbar und sogar gegenstandslos bist, kannst Du doch nicht gewichtlos sein, sonst würdest Du keine Spuren erzeugen. Oder überhaupt vermagst Du solche Abdrücke auf irgend eine Weise hervorzubringen. Bitte, drücke noch einmal Deine Hand ab.«
Sofort erschien im Staube der Abdruck der kleinen Hand.
»Nun die andere daneben.«
Es wurde sofort ausgeführt.
»Zwei Hände bedeuten ein Ja, nur eine Hand bedeutet ein Nein. Verstehst Du mich?«
Die beiden Hände verschwunden, erschienen sofort wieder. Also eine Bejahung.
»Kannst Du nicht sprechen?«
Die eine Hand verschwand, nur eine blieb — also nein.
»Kannst Du schreiben?«, war meine nächste Frage, in der Hoffnung gestellt, dass wir dadurch unsere Unterhaltung sehr abkürzen könnten.
Die eine Hand verneinte.
»Bist Du ein Geist?«, begann ich nun zu examinieren.
Zwei Hände bejahten.
Der Leser dürfte sich wundern, wenn ich gestehe, dass ich an die Existenz von Geistern glaube.
Ich zitiere hier eine Stelle aus dem englischen Romancier Bulwer. Er lässt seinen Helden Mesnour sprechen:
Der Mensch ist im Verhältnis so anmaßend als er unwissend ist. Des Menschen natürlicher Hang ist auf Egoismus gerichtet. Der Mensch in der Kindheit seines Wissens meint, die ganze Schöpfung sei nur für ihn gemacht. Jahrhunderte lang sah er in den zahllosen Welten, welche durch den unendlichen Raum funkeln wie die Schaumblasen eines uferlosen Meeres, nur die hübschen Lichter, die nützlichen Fackeln, welche der Vorsehung gefallen habe anzuzünden zu keinem anderen Zwecke, als dem Menschen die Nacht angenehmer zu machen.
Die Astronomie hat diese Täuschung berichtigt, und der Mensch gesteht jetzt mit Widerstreben zu, dass die Sterne Welten sind, größer und herrlicher als die seine, dass die Erde, auf der er herumkrabbelt, ein kaum sichtbarer Punkt ist auf der ungeheuren Karte der Schöpfung. Aber im Kleinen wie im Großen strömt Gott das Leben gleich verschwenderisch aus. Der Wanderer sieht hinauf zum Baume und bildet sich ein, seine Zweige seien dazu bestimmt, ihm vor der Sommersonne Schatten zu gewähren oder Brennstoff gegen die Kälte des Winters.
Aber auf jedem Blatt in diesen Zweigen hat Gott eine Welt geschaffen; es wimmelt auf jedem Blatte von unzähligen Tiergeschlechtern. Jeder Tropfen Wasser in einem Teich ist eine Kugel, bevölkerter als ein Königreich es mit Menschen ist. Daher bringt überall in diesem unermesslichen Plane die Wissenschaft neues Leben zu Tage. Das Leben ist das eine allverbreitete Prinzip, und selbst das Wesen, das zu sterben und zu vermodern scheint, erzeugt neues Leben und geht in neue Formen der Materie über.
Daher nach augenfälliger Analogie zu schließen, — wenn ein jedes Blatt, jeder Tropfen Wasser, nicht minder wie jeder Stern, eine bewohnbare und atmende Welt ist, ja wenn der Mensch selbst eine Welt ist für andere Leben, und Millionen und Myriaden von anderen Lebewesen in den Bächen seines Blutes hausen und den Leib des Menschen bewohnten wie der Mensch die Erde: sollte der gesunde Menschenverstand — wenn die Schulgelehrten ihn hätten — genügen, um sie zu belehren, dass die die Erde umfließende Unendlichkeit, welche ihr den Raum nennt, das grenzenlose Ungreifbare, das die Erde vom Mond und den Sternen trennt, — auch erfüllt ist von einem ihm entsprechenden eigentümlichen Leben.
Ist es nicht eine handgreifliche Abgeschmacktheit, zu glauben, während jedes Blatt von Wesen wimmelt, werden sie fehlen in der Unermesslichkeit des Raumes?
Das Gesetz des großen Systems verbietet die Verschleuderung auch nur eines einzigen Atoms; es kennt keinen Ort, wo nichts Lebendiges atmet. Das Beinhaus selbst ist eine Stätte der Erzeugung und Belebung. Ist dies wahr, nun so könnt Ihr auch annehmen, dass der Raum, welcher die Unendlichkeit selbst ist, allein eine Öde, allein leblos sei, minder entsprechend dem einen Plan eines allgemeinen Seins als das Gerippe eines Hundes, als das bevölkerte Blatt, als der wimmelnde Wassertropfen? Das Mikroskop zeigt Euch die Geschöpfe auf dem Blatte, auf dem Grashalm; noch ist der mechanische Tubus, die Brille nicht erfunden worden, um die edleren und begabteren Wesen zu entdecken, welche im unbegrenzten Äther wohnten, und doch ist zwischen diesen und dem Menschen eine geheimnisvolle und fruchtbare und furchtbare Verwandtschaft. Und daher ist durch Sagen und Legenden, nicht ganz falsch und nicht ganz wahr, der Glaube an Erscheinungen und Gespenster entstanden. Wenn dieser bei den früheren einfacheren Geschlechtern gewöhnlicher war als bei den Menschen unserer stumpfen Zeit, so rührt dies nur daher, dass bei jenen die Sinne schärfer und lebhafter waren.
Und wie der Wilde auf Meilen die Spur eines Feindes sieht oder wittert, welche den plumpen Sinnen des zivilisierten Tieres ganz entgeht, so ist auch die Scheidewand zwischen jenem und den Geschöpfen der Luftwelt weniger dicht und dunkel!
Das ist auch mein Glaubensbekenntnis.
Dass ich kein Spiritist bin, ist deshalb keine Inkonsequenz. Ich bin ja überhaupt von den Phänomenen des Spiritismus überzeugt. Ich bestreite nur ganz entschieden, dass die albernen Abgeschmacktheiten, die dabei zu Tage kommen, von den Seelen verstorbener Menschen herrühren. — — —
»Kannst Du irgendwelche Töne von Dir geben?«, begann ich das geheimnisvolle Wesen wieder zu befragen.
Die eine Hand sagte Nein
»Verstehst Du nur deutsch?« — Nein.
»Kann ich auch Englisch zu Dir sprechen?« — Ja.
»Kannst Du überall sein im Weltenraume?« — Nein.
»Du kannst also nicht überall sein, wo Du willst, etwa nur innerhalb dieser Mauern?«
Zu meinem Staunen erschienen gleich vier Hände nebeneinander! Das intelligente Wesen wollte eine starke Bejahung geben, weil ich gleich so richtig gefragt hatte, aber anstatt die beiden Hände zweimal hintereinander abzudrücken, erschienen gleich vier nebeneinander.
»Hast Du denn vier Hände?!«
Die vier Hände verschwanden, dann kamen wieder zwei, dann nur eine, welche stehen blieb.
Also Ja und Nein. Ich verstand.
»Du hast wohl beliebig viele Hände?«
Ja wurde durch zwei Hände ausgedrückt.
»Hast Du überhaupt wirklich eine Menschengestalt?«, Wiederum erst ein Ja und dann ein Nein.
»Du kannst Dir wohl jede beliebige Gestalt geben?« — Ja.
»In Wirklichkeit?«
Nein — und das hatte ich fast erwartet.
»Vielleicht nur in Deiner Einbildungskraft?«
Eine wiederholte Bejahung erfolgte.
»Du hast mich wohl nur nicht erschrecken wollen?« — Ja.
»Nur deshalb machtest Du Dich durch menschliche Fußspuren bemerkbar.« — Ja.
»Kannst Du auch Deine Fußspuren verschwinden lassen?«
Statt weiterer Antwort verschwanden diese jetzt sofort.
»Kannst Du nun noch immer Deine Hände abdrücken?«
Sofort erschienen die beiden Handabdrücke wieder im Staube, die der Füße blieben unsichtbar.
»Kannst Du auch andere Abdrücke als die von menschlichen Händen und Füßen in dem Staube erzeugen?« — Ja.
»Bitte tue es. Irgend welche.«
Eine kleine Pause, und dann begannen Gänsefüße in dem Staube herumzumarschieren.
Mein Staunen lässt sich denken. Obgleich ich doch schon darauf gefasst gewesen war.
»Jetzt bist Du wohl eine Gans?«
Die Gänsefüße blieben stehen, vor ihnen erschienen zwei menschliche Hände — ja.
»Hast aber menschliche Hände.« — Ja.
»Drücke Deinen jetzigen Leib, wie Du ihn in Wirklichkeit oder nur in Deiner Einbildung besitzest, im Staube ab, bitte.«
Die Gänsefüßchen und die beiden Hände verschwanden, dafür entstand fast sofort wie mit einem Schlage der deutliche Abdruck einer Gans.
»Und nun ein Krokodil.«
Die Gans verschwand, dafür entstanden die Umrisse eines großen Krokodils, sechs Meter lang, und nicht nur mit Linien gezeichnet, sondern so, als hätte solch ein Krokodil im Schlamme gelegen.
Ich atmete tief. Mir weitere Tierformen zeigen zu lassen, danach begehrte ich nicht.
»Weißt Du, was ein Kreuz ist?«
Das Krokodil verschwand, in dem Staube entstand ein Kreuz. Also ein horizontaler und ein senkrechter Strich, die sich kreuzten, jeder 20 Zentimeter lang. Die Striche wurden nicht gezogen, sondern das ganze Kreuz war plötzlich da.
»Nun setze einen Kreis daneben.«
Es geschah.
»Nun daneben ein Dreieck.«
Es entstand.
»Lasse den Kreis verschwinden.«
Er verschwand.
»Ziehst Du diese Figuren mit der Fingerspitze oder mit sonst einem Hilfsmittel?«
Zu den beiden Figuren kam noch eine verneinende Hand hinzu.
»Bist Du unsterblich?« — Nein.
»So bist Du als Geist geboren worden?« — Ja.
Ich dachte an die uralten Sagen von den Nixen und Kobolden, die sich alle als vergänglich bekennen.
»Wie lange führst Du dieses Dein jetziges Dasein? Schon hundert Jahre?«
Es kam keine Antwort.
»Bist Du nur an dieses Schloss gebunden?« — Ja.
»Weißt Du mehr als wir Menschen, als ich?« — Ja.
»Weißt Du, dass wir zu zweit hier drin sind, dass ich einen Gefährten habe?« — Ja.
»Weißt Du, wo er sich jetzt befindet?« — Ja.
»Willst Du ihn holen?« — Nein.
»Kannst Du Dich gleichzeitig auch ihm bemerkbar machen?« — Nein.
»Leben in dieser Burg, in diesem Felsen Menschen?« — Nein.
»Nur Du allein hausest hier drin?« — Nein.
»Noch andere Geister?« — Ja.
»Können sich diese mir bemerkbar machen?« — Ja.
»Bitte, sie mögen es tun.« — Nein.
»Wer bist Du denn?!«
Keine Antwort.
»Ich soll es wohl erraten?« — Ja.
»Kenne ich Dich persönlich?« — Ja.
»Von Fleisch und Blut?« — Ja.
»Ich denke, Du bist niemals Mensch gewesen?« — Ja.
»Jetzt bist Du tot?« — Nein.
»Du lebst wohl gar immer noch?« — Ja.
»Wo denn da? Hier in diesem Schlosse?« — Ja.
Ich wollte mich bei dieser Inkonsequenz nicht weiter aufhalten.
»Und ich soll Dich persönlich kennen?« — Ja.
»Willst Du mir nicht Deinen Namen sagen?«
In dem Staube entstand ein großes Eichenblatt.
»Soll das Dein Name sein?« — Nein.
»Ein Erkennungszeichen?« — Ja.
»Hiermit willst Du symbolisch Deinen Namen ausdrücken?« — Ja.
»Das ist mir unverständlich.«
Nein, sagte ganz energisch das eine Händchen. Na, wenn die es besser wusste als ich! Mein Scharfsinn hat aber seine Grenzen. Wenn es überhaupt so weit mit ihm her ist.
»Bitte, bitte, schreibe mir doch einmal Deinen Namen!«
Und es wurde geschrieben, nachdem das Eichenblatt wieder verschwunden war.
»Viviana!«, kam heraus.
Da war es!
Dieses intelligente Wesen gab sich für die Geliebte jenes Merlins aus, die ihn treulos verraten hatte. Die Eiche mochte ihm heilig gewesen sein, deshalb hatte sie sich erst durch ein Eichenblatt legitimieren wollen.
Da sie nun annahm oder wusste, dass ich diese ganze Geschichte kannte, sagte sie, dass ich sie auch persönlich kenne.
»Aha, also Du bist die Viviana, die Geliebte Merlins des Wilden oder des Zauberers.« — Nein.
»Was denn sonst? Bist Du überhaupt verwandt mit diesem Merlin?« — Ja.
»Seine Tochter?«
Diesmal eine rasche Wiederholung beider Hände, ein verstärktes Ja.
»Du bist Merlins Tochter, die Tochter des Mannes, der hier haust, der sich Merlin nennt?« — Ja.
»Kannst Du Dich mir nicht sichtbar machen? — Ja.
»Jetzt sofort?« — Nein.
»Heute noch?« — Ja.
»Kannst Du mir nicht jetzt gleich noch etwas vormachen?«
Es kam keine Antwort, mit einem Male aber entstand in der Mitte des Saales in dem Metallstaub ein Ring, der sich schnell vergrößerte, bis er den ganzen Boden bedeckte, während in der Mitte immer neue Ringe entstanden. Es war eben nicht anders, als wenn dies Wasser gewesen wäre und man hätte einen Stein hineingeworfen. Bald jedoch änderte sich das, es kamen andere Linien hinzu, Striche, geometrische Figuren entstanden, die sich fortwährend verschoben und ineinander flossen.
Ein ganz wunderbares Schauspiel, das ich nicht weiter zu schildern vermag.
Diese geometrischen Figuren verschwanden, in dem Metallstaube entstand der Abdruck eines Pferdes in natürlicher Größe, und jetzt begann sich dieses Pferd in Bewegung zu setzen, zu traben und zu galoppieren, erst gewissermaßen als Schattenbild, dann aber wendete es auch, ich bekam es in perspektivischer Verkürzung zu sehen, und dann färbte es sich, es wurde ein schwarzes Ross mit weißen Flecken darauf, und plötzlich hatte es auf seinem Rücken einen gelben Sattel, und dann saß in diesem ein Reiter, erst farblos, schon aber erkannte ich das indische Kostüm und dann plötzlich schillerte dieses in den herrlichsten Farben, verwandelte sich wieder, jetzt hatte der Reiter einen goldenen Schuppenpanzer an, eine Lanze in der Hand, und da entstand dort in der Ecke am Boden ein Felsengebirge, ich sah eine Höhle, und da kroch aus dieser ein scheußlicher Lindwurm, er öffnete den Rachen und spie Feuer, und der Reiter auf ihn los mit eingelegter Lanze, der Kampf begann, inmitten einer grotesken Felsenszenerie...
Mein Staunen war grenzenlos.
Und gleichzeitig stieg mir eine Ahnung auf.
»Viviana, ich muss Dich erst einmal sprechen!«, rief ich außer mir.
Die Figuren, die an lebendiger Wirklichkeit nicht das Geringste eingebüßt hatten, zerrannen in nichts, zu meinen Füßen lag wieder der graue Staub.
»Wie machst Du denn das nur? Willst Du es mir nicht erklären?«
Nein und Ja.
»Kannst Du es mir nicht erklären?«
Diesmal ein direktes Nein.
»Ich würde Dich gar nicht verstehen?« — Nein.
»Du kannst auf diese Weise in diesem Staube alle beliebigen Bilder erzeugen, wie Du nur irgend willst?« — Ja.
»Du weißt doch natürlich, dass sich unten in der Wasserhalle Fenster befinden, durch welche man lebendige Szenen sieht.« — Ja.
»Weißt Du, was wir unter Kinematografie verstehen?« — Ja.
»Handelt es sich hierbei um Kinematografie?«
Ja... dann aber wurde wie zögernd wieder die eine Hand zurückgezogen — doch noch nein.
»Wohl eine besondere Art von Kinematografie?«
Ganz lebhaft wurden die beiden Hände abgedrückt.
»Die Bilder werden hier erzeugt und dann kinematografiert?« — Ja.
»Handelt es sich hierbei überhaupt um eine ganz andere Art von Fotografie?« — Ja.
»Beruht diese vielleicht auf elektromagnetischem Prinzip?«
Wieder ein ganz lebhaftes Ja.
Ich hatte es erraten. Hatte es geahnt. Weil ich mich schon einmal mit einem amerikanischen Ingenieur, einem alten Diftelbruder, über so etwas unterhalten hatte.
Der Phonograf, eine Edison'sche Erfindung, beruht auf mechanischem Prinzip. Die Schallwellen werden mittelst eines Stiftes in einer nachgiebigen Masse als Punkte und Striche eingegraben, bei der Wiedergabe fährt ein anderer Stift über diese Vertiefungen und Unebenheiten hin, dadurch wird eine Membrane in Schwingungen versetzt, so hört man die Töne wieder.
Der Däne Poulsen hat dasselbe Problem der Aufnahme und Wiedergabe von Tönen auf elektromagnetischem Wege gelöst. Die Schallwellen werden auf einem laufenden Stahlband oder Stahldraht elektromagnetisch festgehalten und bei der Wiedergabe wieder ausgelöst. Das Wie verstehe ich nicht. Aber ich habe bereits solch ein »Telegrafon« gesehen und gehört. Im Berliner Postmuseum. Die Wiedergabe der Töne lässt an Wirklichkeit absolut nichts mehr vermissen, der mechanische Phonograf lässt sich mit diesem Apparat gar nicht vergleichen. Außerdem kann man auch stundenlang hineinsprechen, der Stahldraht kann ja endlos lang gemacht werden. — Auch sind Korrekturen während des Sprechens möglich, Unrichtiges kann wieder ausradiert werden. Aber der Apparat ist noch sehr teuer und braucht eine elektrische Spannung von 220 Volt, sodass er nicht so bald den mechanischen Phonografen verdrängen wird.
Unsere heutige Fotografie, die sich von ihren ersten Anfängen im Grunde genommen nicht unterscheidet, beruht der Hauptsache nach auf chemischem Prinzip. Ich bin überzeugt, dass wir dasselbe Resultat, das Bannen der Lichtstrahlen auf einer Platte, noch einmal auf elektromagnetischem Wege erzielen werden.
Wie diese farbigen, beweglichen Bilder hier in dem grauen Metallstaube erzeugt wurden, anscheinend ganz nach freier Willkür, das freilich war und blieb mir ein Rätsel. Nur an Zauberei brauchte man deswegen nicht zu glauben. Hier war man eben der Technik der Menschheit um einige Jahrhunderte voraus, oder gar um Jahrtausende, und was dann die Menschheit erfunden haben wird, das kann sich auch nicht die kühnste Phantasie ausmalen. Jedenfalls wurde hier zum Erzeugen von Bildern etwas anderes als Papier oder Leinewand und etwas anderes als Bleistift oder Pinsel mit Farben benutzt. Nun male man auf einen Streifen Papier nebeneinander Punkte, einer immer etwas tiefer oder höher als der andere, lege den Papierstreifen in einen runden Kasten, der mit Ausschnitten versehen ist, befestige den Kasten drehbar auf einem Stativ, lasse ihn schnell rotieren, und wenn man nun gegen die Ausschnitte blickt, so sieht man statt der einzelnen Punkte eine sich bewegende Linie. Das ist das Lebensrad, das Spielzeug unserer Jugend, das man vor 25 Jahren aus der Rumpelkammer hervorgeholt hat, um auf ihm die Kinematografie aufzubauen. Jedenfalls also ist doch die Möglichkeit gegeben, jede Linie beweglich zu machen, und nun denke man sich noch eine kompliziertere Vorrichtung, als die ganz einfachen Schlitze in dem Kasten, und unsere Nachkommen werden vielleicht aus freier Hand sofort bewegliche Bilder malen können. Vor mir erschienen im Staube wieder die beiden Menschenfüßchen, trippelten hin und her, schienen mich einzuladen, ihnen zu folgen.
»Soll ich folgen? Willst Du mich führen?«, brauchte ich ja nur zu fragen.
Die beiden Händchen, für einen Moment abgedrückt werdend, bejahten, und ich folgte den voraustrippelnden Füßchen. Es ging durch einige Kammern und Säle, deren Boden immer mit dem grauen Metallstaube bedeckt war, manchmal aber noch in viel dickerer Lage.
Sonst waren alle diese Räume leer. Nur in dem weiten Saale, den ich jetzt betrat, sah es ganz anders aus. Auch hier lag der graue Staub mindestens 20 Zentimeter dick, in der Mitte aber befand sich eine schwarze, kreisrunde Fläche von etwa drei Metern Durchmesser, und dann vor allen Dingen war der ganze Saal ein wahres zoologisches oder anatomisches Beinhaus.
Allüberall lagen massenhaft Knochen verstreut, oben auf und halb im Staube verborgen, Knochen der verschiedensten Art und der verschiedensten Größe, menschliche und tierische, diese riesigen Knochen mochten einem Elefanten angehören, es war wohl ein Schenkel, oder er gehörte einem vorsintflutlichen Ungeheuer an, und dieses Knöchelchen da stammte entweder von einem Sperling oder von einem Frosche — ich verstehe verflucht wenig vom anatomischen Knochenbau — und nun Rippen und Wirbelknochen und Totenschädel und was sonst noch dazu gehört.
Alle diese schneeweiß gebleichten Knochen lagen bunt durcheinander.
Die Füßchen führten mich nach dem schwarzen Kreis, wo sie, da hier der Steinboden staubfrei war, verschwanden.
Offenbar sollte ich diese schwarze Fläche betreten, ich fragte nicht erst, sondern tat es. Von dieser schwarzen, staubfreien Kreisfläche muss ich erst noch sprechen. Also der Staub war hier einfach von dem schwarzen Steinboden zurückgefegt, an dem Rande türmte er sich auf. Auffallend war nur, wie ungemein sorgfältig, wie ganz genau zirkelrund das besorgt worden war.
Und da merkte ich schon, dass die Sache doch nicht so einfach war.
Beim Betreten der Kreisfläche schleuderte ich unabsichtlich mit der Fußspitze eine gute Portion hinein. Sofort rieselte der Staub bis zum letzten Partikelchen wieder zurück, bis er sich wieder mit der Staubmasse der Grenze vereinigt hatte! Und das geschah immer wieder, wenn ich auch ganze Hände voll Staub auf die schwarze Fläche warf. Es war nicht anders, als ob Wasser auf eine schiefe Platte, deren Oberfläche gewachst oder leicht geölt ist, gegossen würde. Nur dass diese Kreisfläche hier durchaus nicht geneigt war, nach keiner Seite.
Jedenfalls handelte es sich hier um positiven und negativen, oder überhaupt um verschiedene Arten von Magnetismus, will ich vorsichtiger sagen, die sich gegenseitig abstießen. Der Staub konnte sich auf der schwarzen Platte nicht halten, wurde sofort zurückgeschleudert. Dabei suchte er sich immer den nächsten Weg. Denn als ich eine Handvoll Staub über das Zentrum des Kreises hinauswarf, huschte er schnell nach der anderen Seite.
Dabei bemerkte ich auch erst jetzt, dass es nicht möglich war, mit diesem Staube Hügel zu bilden. Er verhielt sich ganz wie Wasser, oder wie Quecksilber, verteilte sich sofort zur waagerechten Ebene. Daran mochte ja seine ungemeine Schwere schuld sein, aber so einfach war es doch nicht zu erklären. Da musste bei dem Staube, so außerordentlich fein er auch war, doch noch etwas anderes in Betracht kommen. Ich mochte fast annehmen, dass sich diese Pulvermasse in einem besonderen Aggregatzustande befand, der zwischen fest und flüssig in der Mitte lag, oder, möchte ich fast sagen, zwischen fest und gasförmig. Wenn man sich hierunter überhaupt etwas vorstellen kann.
Meine Experimente wurden durch ein klapperndes Geräusch unterbrochen.
Wie ich seitwärts blicke, sehe ich, wie sich einzelne Knochen selbständig bewegen, sie schusseln und springen über den Staub, ein Knochen fügt sich an den anderen, die Wirbelknochen reihen sich klappernd zusammen, ein Totenschädel rollt herbei und sitzt mit einem Knacks am vorschriftsmäßigen Halswirbel fest, unterdessen springen schon andere Knöchelchen herbei, sie ordnen sich zu regelrechten Füßen und Händen, und wie das menschliche Skelett fertig ist, fast schneller, als ich hier erzählen kann, erhebt es sich und macht vor mir eine Verbeugung.
Ich bemerke hierzu, dass ich etwas ganz Ähnliches schon einmal gesehen hatte, mehrmals, und jeder Leser kann dieses selbe Wunder gegen Bezahlung von fünf Groschen anstaunen. Im Crystal Palace zu Sydenham bei London. In der großen Haupthalle sind Buden eingebaut, Jahrmarktsschaubuden. Unter anderem ist da auch das Marionettentheater eines Italieners, es ist heute noch da, wie ich weiß. Fabelhaft ist schon, was dieser Mann mit seinen Püppchen macht. Er scheint ihnen wirkliches Leben einhauchen zu können. Was man da in anderen Marionettentheatern zu sehen bekommt, in italienischen Städten oder wie in München, das verblasst alles dagegen. Es ist einfach unerklärlich, wie der seine Puppen lenkt. Da reichen Drähte nicht aus, der muss mit Elektromagnetismus arbeiten oder sonst sein eigenes Geheimnis haben. Es ist auch wirklich sein Patent, oder eben sein Geheimnis, das er nicht preisgibt. Dieser Italiener — seines Namens entsinne ich mich nicht — war früher Direktor am Marionettentheater des Fürsten von Monaco — wo man auch schon ganz erstaunliche Sachen zu sehen bekommt — hat eben eine Erfindung und sich mit dieser selbständig gemacht, hat sich im Crystal Palace bei London niedergelassen, reist auch nicht mehr, obgleich er Berge von Gold verdienen könnte.
Wie er die Püppchen tanzen und jonglieren lässt, das ist an sich schon ganz und gar unerklärlich. Am Fabelhaftesten aber sind seine Evolutionen mit Skeletten. Auf die Bühne werden Knochen geworfen, bunt durcheinander. Plötzlich ein Ruck, ein Knack, und sie fügen sich zusammen, ein menschliches Skelett steht da, bewegt sich, tanzt und springt. Es ist eine Imitation, soll einen erwachsenen Menschen darstellen, ist aber kaum einen Meter groß. Dann bricht es wieder zusammen, die Knochen werden durcheinander geworfen — ein Klapp, und das Skelett steht wieder auf. Dann kommt unter anderem auch eine Riesenspinne, aus lauter einzelnen Knochen bestehend, bricht auch so zusammen und baut sich wieder auf, sie tanzt mit dem menschlichen Skelett einen Cancan, und dann beginnen die beiden Skelette ihre Knochen zu vertauschen, die Spinne bekommt den Menschenschädel, der Mensch die Spinnenbeine, und so wechselt es immer hin und her, alles bricht einmal zusammen, wird durcheinander geschleudert, fügt sich immer wieder zusammen, immer verrückter und immer verrückter, immer tanzend und springend.
Hier geschah etwas Ähnliches, nur in anderer Weise und in meiner handgreiflichen Nähe.
Das menschliche Skelett, aber eines von normaler Größe, hatte sich also in aller Schnelligkeit zusammengesetzt, machte vor mir eine Verbeugung, dabei die Zähne in dem Totenschädel noch ganz besonders fletschend, wandte sich um, machte einige Schritte, ohne jedes Klappern, kniete nieder, begann mit seinen fleischlosen Fingern andere Knochen auszuwählen und zusammenzusetzen. Ich konnte zwar alles deutlich sehen, es spielte sich nur drei Schritt von mir entfernt ab, aber es ging ganz außerordentlich schnell, ich sah nur, wie er die Knochen zusammensetzte, und mit einem Male war das Skelett eines Tieres fertig, das ich für einen Hund oder noch eher für einen Fuchs hielt, und kaum war das Gerippe von den Knochenhänden freigelassen, als es auch schon in großen Sprüngen in dem Saale herumzujagen begann. Die menschlichen Knochenhände arbeiteten weiter, jetzt war es etwas ganz Zierliches, was sie zusammensetzten, mit zauberhafter Schnelligkeit, an den Boden gesetzt, und vor mir in dem Staube lief das Gerippe einer Maus herum, verbarg sich bald unter einem größeren Knochen, aber ich hatte doch schon gesehen, dass selbst der Schwanz in allen seinen Wirbelchen vorhanden gewesen war.
Immer weiter arbeitete das menschliche Skelett, das aufgestanden war, jetzt wählte es die größten Knochen aus, baute, wie ich bald erkannte, einen Elefanten zusammen, und nun merkte ich auch, dass es keine so ganz natürliche Arbeit war, sondern die Knochen flogen ihm von allen Seiten von allein in die Hände, obschon es auszuwählen schien, aber es brauchte nur die Hand nach dem betreffenden Knochen auszustrecken, so erhob sich dieser mit einem Ruck und flog ihm zu, etwas Unnatürliches war auch, dass die vier Beine des Elefanten gleich aufrecht standen, aber die Hauptsache war, dass es dadurch ganz außerordentlich schnell ging, innerhalb von fünf Minuten war der ganze Elefant fertig, trottete davon, den Rüssel bewegend.
Weiter arbeitete der Knochenmann, wieder kam etwas ganz Zierliches daran, wozu er sich wieder hingesetzt hatte, und wieder nach fünf Minuten hüpfte in dem Staube das Skelett eines Frosches herum.
Jetzt stand der Knochenmann wieder auf, machte vor mir abermals eine Verbeugung, wackelte mit den Kiefern, machte mit der Hand einladende Bewegungen. Offenbar sollte ich die schwarze Kreisfläche verlassen — ich tat es. Wollte das Gerippe meine Hand schütteln, weil es die seine so hinhielt? Gut, das konnte es haben, ich ergriff die mir gebotene Hand.
In demselben Augenblick, da ich sie berührte, brach das ganze Gerippe zusammen, aber nicht so in sich selbst, sondern sämtliche Knochen wurden wie auseinander geschleudert, sodass sie dann ganz verstreut lagen.
Was sollte das? Nun, jedenfalls war Elektromagnetismus im Spiele, meine Berührung hob sie auf, oder erzeugte getrennte Elektrizitäten, die Knochen stießen sich von einander ab, daher auch das plötzliche Herumschleudern.
Ich fing den noch herumhüpfenden Frosch — im Moment der Berührung spritzten auch dessen Knöchelchen nach allen Richtungen auseinander. Der Elefant kam, von allein auf mich zu; in ganz bedrohlicher Weise in vollem Galopp und mit hochgehobenem Rüssel, wäre ein natürlicher Elefant gewesen, so hätte ich mich verloren gegeben, auch jetzt noch hätte es mir traurig ergehen können, der knöcherne Rüssel sauste herab, um mir einen furchtbaren Schlag zu versetzen — aber kaum, dass ich eine Berührung fühlte, so wurde das ganze Skelett in seinen einzelnen Teilen auseinandergeschleudert.
Ich befand mich wirklich wie in einem Knochenregen, die großen, schweren Knochen hätten mich noch immer verletzen können, aber merkwürdig war, dass mich kein einziger traf. Ich konnte beobachten, wie sie vor mir niederfielen, ehe sie mich berührt hatten, wie sie von meinem Körper in der Luft geradezu abgestoßen wurden, und so beobachtete ich auch, wie einige Knochen auf die schwarze Kreisebene fielen, von der sie aber sofort durch eine unsichtbare Kraft herabgeschleudert wurden. Eben alles ohne Zweifel elektromagnetische Vorgänge, verschiedener Magnetismus stieß sich gegenseitig ab.
Was nun? Die Maus und den Fuchs sah ich nicht mehr. Ich hob einige der Knochen auf. Es schienen ganz echte zu sein, schneeweiß gebleicht. Aber bei mir wollten sie nicht zusammenhaften. Doch wozu war dort wohl die schwarze, staubfreie Kreisfläche vorhanden? Ich will mich nicht meines Scharfsinnes rühmen, jedenfalls aber ahnte ich gleich etwas. Ich trat wieder in den Kreis, und jetzt blieben die Knochen in meiner Hand sofort aneinander kleben. Ja, es war ein richtiges Kleben. Oder ich fühlte eben ganz deutlich die magnetische Kraft, mit der sie zusammengehalten wurden, ein Abreißen gelang mir gar nicht, aber ziemlich leicht ein Voneinanderziehen, so seitwärts, wie man auch den Anker vom Magneten entfernt. Dabei war es ganz gleichgültig, wo ich sie zusammenbrachte. Ein Knochen hing sofort fest am anderen, kreuzweise oder wie ich sonst wollte. Für die natürliche Lage musste man sie eben richtig aneinander passen, die Kugeln in die Gelenkhöhlen und so weiter.
Also jetzt wurde ich der Knochenbaumeister, suchte mir die passenden Knochen zusammen, trug sie nach dem schwarzen Kreis, heftete sie aneinander. Na, da wurde ja etwas Schönes daraus. Mir flogen die Knochen nicht so zu, ich hatte wählen müssen und war auch sonst ganz auf meine eigenen Kenntnisse angewiesen. Ein menschliches Skelett hatte ich fabrizieren wollen, weil ich glaubte, dieses am besten zu kennen, hatte das Material auch hauptsächlich dort aufgesammelt, wo der Knochenmann auseinandergeplatzt war, aber als der Brustkasten so ungefähr fertig war, kam ich zur Überzeugung, dass es doch eigentlich mehr ein großer Hund wurde, also nun suchte ich Hundeknochen zusammen und baute am Hunde weiter, wollte schon einmal abschwenken und lieber eine Riesenschildkröte draus machen, bis ich zur Überzeugung kam, dass es doch wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Skelett eines Schweines habe — na, nun gab ich dem Schweinehunde wenigstens einen Menschenschädel, und als es so weit fertig war, bemerkte ich, dass das Vieh ja gar kein Rückgrat habe, die Wirbelknochen aneinander zu kleben dauerte mir doch zu lange, also ich steckte einfach einen großen Knochen durch, es war wohl der Schenkelknochen eines Esels, von richtigen Beinen natürlich gar keine Spur, das linke Vorderbein bestand zum Beispiel, wie ich mich später entsann, als ich meine osteologischen Kenntnisse erweiterte, zur oberen Hälfte aus einem menschlichen Unterarm, zur unteren Hälfte aus dem Flügelknochen eines Storches — aber das war ja auch ganz egal, das konnte ich als Schöpfer eines Schweinehundes doch machen wie ich wollte — na, und da gab ich dem Vieh nun auch noch Flügel, leimte die Knochen zusammen, wie sie mir gerade in die Hand kamen, wenn sie nur ungefähr die passende Länge hatten, auf diese Weise entstanden zwei drachenähnliche Gestelle, die ich links und rechts an den Brustkasten klebte.
So, meine Schöpfung war fertig. Nun musste ich ihr nur noch Odem einpusten. Denn vorläufig war von Leben noch keine Spur zu bemerken. Nicht einmal auf seinen vier Beinen konnte das Vieh mit den Engelsschwingen stehen, es klappte immer zusammen, ganz folgerichtig, wie das Knochengerüst eines toten Schweinehunds auch zusammenklappen muss. Aber sonst hielt alles fest. Nur eben das Lebensprinzip fehlte noch.
Nun, ich wusste mir schon zu helfen, wusste, worauf es ankam. Und richtig, ich brauchte das Skelett nur außerhalb der schwarzen Kreisfläche auf den grauen Staub zu setzen, wobei ich mich aber hütete, den Staub selbst zu berühren, denn sonst wäre ganz sicher meine Schöpfung wieder in die Brüche gegangen — sofort begann der Schweinehund lustig zu galoppieren. Er galoppierte umso mehr, weil, wie ich jetzt merkte, das rechte Hinterbein ganz bedeutend zu kurz ausgefallen war. Dafür aber konnte er prächtig mit den Flügeln schlagen. Also ein Pegasusschweinehund mit Menschenkopf.
Ich lachte aus vollem Halse.
Da erschienen vor mir im Staube wieder die Kinderfüßchen und bezeugten die Teilnahme ihrer Besitzerin an meiner Freude durch Tanzen.
»Das ist hier wohl eine Geisterkinderspielstube?«, fragte ich.
Lebhaft bejahten die sich jetzt abdrückenden Händchen.
»Deine eigene?« — Ja.
»Wie alt bist Du denn, mein Kind?
Als der dritte Händeabdruck kam, begann ich zu zählen, und ich zählte bis achtzehn.
»Achtzehn Jahre?« — Ja.
»Oho, entschuldigen Sie gütigst, da muss ich doch Fräulein Viviana sagen, wenn nicht Fräulein Merlin!«
Nein, wurde abgewehrt.
»Du bist also gar kein so echter Elementargeist, sondern eigentlich ein Mensch aus Fleisch und Blut.« — Ja.
»Es ist nur Deine Seele, Dein Astralkörper, oder wie man das Ding nun nennt, den Du aussenden kannst, und mit dem ich hier verkehre.« — Ja.
»Und Du hältst Dich in Fleisch und Blut auch hier in diesem Schlosse auf?« — Ja.
»Kann ich Dich denn nicht einmal in Natura zu sehen bekommen?«
Da entstanden in dem Staube wieder Schriftzüge. »Nicht eher, als bis Du errätst, wer ich bin.«
»Ja, Viviana, wie soll ich das erraten.«
Die Schriftzüge verschwanden, neue entstanden.
»Du kennst mich ganz genau.«
»Persönlich?!«
Auch diese Schriftzüge verschwanden, nur die beiden Hände wurden zur Bejahung abgedrückt.
»Ich hätte Dich schon einmal gesehen?!« — Ja.
Wer sollte denn das gewesen sein?
»Bist Du Schwester Anna?« — Nein.
»Gehörst Du mit zu jener geheimen Gesellschaft?« — Ja.
»Und ich wäre Dir wirklich schon einmal persönlich begegnet?!« — Ja.
Mehr erfuhr ich nicht, ich konnte fragen wie ich wollte, Viviana wollte aber auch nicht mehr schreiben, blieb nur bei der Behauptung, dass ich sie ganz, ganz genau kenne, von Angesicht zu Angesicht.
Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf, wer das sein könne. Lang freilich hielt ich mich mit der Kopfzerbrecherei nicht auf.
»Kannst Du mir sonst noch etwas Hübsches vormachen? Ich gestehe, dass ich mich wenig zum Osteologen eigne, ich habe an dieser meiner ersten Knochenschöpfung vollständig genug, möchte mich nicht zum zweiten Male blamieren.«
Die Füßchen begannen hin und her zu trippeln, ich sollte ihnen offenbar folgen und ich tat es. Es ging nach dem nächsten Raume. Ehe ich diesen betrat, blickte ich noch einmal zurück.
Was wurde denn nun aus diesen Knochentieren? Mein Pegasusschwein galoppierte noch dort hinten herum. Da war es mir, als ob durch den mit weißem Tageslicht erfülltem Saal ein violetter Schein husche — jawohl mein geflügeltes Schwein erschien plötzlich in violettem Lichte, und in demselben Augenblicke auch brach es in seine einzelnen Knochen zusammen.
Der nächste Saal enthielt am Boden wieder eine dicke Schicht grauen Staub, aber keine Knochen mehr, dagegen nur in der Mitte wiederum eine schwarze Kreisfläche.
Als mich die Füßchen bis hierher geleitet hatten, merkte ich, dass diese schwarze Kreisfläche aber anders beschaffen war. Hier war der graue Staub nicht bis auf den schwarzen Steinboden entfernt, sondern die Fläche wurde von einem schwarzen Staub gebildet. Eine Probe ergab, dass hier auch wieder so ein Phänomen vorlag. Der graue Staub ließ sich nicht mit dem schwarzen vermischen. Stets strebten die grauen Staubpartikelchen unter die schwarzen gebracht, wieder zur Grenze zurück, um sich mit ihresgleichen zu vereinen, und umgekehrt. Wir kennen dasselbe von Flüssigkeiten. So lässt sich doch auch nicht Öl mit Wasser vermischen, sie trennen sich sofort wieder. Hier war dasselbe mit einer festen, wenn auch pulverisierten Masse der Fall. Deshalb kam ich immer mehr zur Überzeugung, dass hier ein besonderer Aggregatzustand vorlag. Da begannen unsichtbare Hände in dem grauen Staube zu formen, zwei Meter von dem schwarzen Kreise entfernt, in dem ich stand.
Und plötzlich backte der graue Staub zusammen, schien sich in schmiegsames Wachs zu verwandeln, so konnte die Masse bearbeitet werden von den unsichtbaren Händen, und mit zauberhafter Schnelligkeit entstand ein Männchen, einen halben Meter hoch.
Zauberhaft? Ich habe einen Künstler gekannt, einen Maler, noch mehr ein berühmter Karikaturenzeichner, der mit Bleistift in wenigen Strichen aufs Papier jeden gewünschten Charakterkopf hinwarf, einen Bismarck oder Moltke oder sonst einen bekannten Kopf, wozu er manchmal keine fünf Sekunden brauchte, und die Ausführung war immer klassisch zu nennen. Das hat er uns in der Kneipe oft genug vorgemacht.
Sollte so etwas nicht auch in der Plastik möglich sein, durch Modellieren? Natürlich nicht gerade in fünf Sekunden. Es dauerte denn auch länger. Aber jedenfalls nicht länger als eine halbe Minute, dann war das Männchen fertig. Es schienen auch mehr als nur zwei Hände daran zu arbeiten, denn während ich das Gesicht entstehen sah, wie die Nase herausgedrückt wurde, wurden gleichzeitig die Beine und Füße geformt.
Wie das Männchen fertig war, stand es auf und machte vor mir eine Verbeugung. Es sollte wohl ein Heinzelmännchen sein, hatte so eine Kapuze auf dem Kopf, ein kurzes Röckchen an, Kniehosen und dann vor allen Dingen einen langen grauen Bart. Grau war freilich überhaupt alles, auch der Bart nicht aus richtigem Haar bestehend, und dennoch alles vollkommen beweglich, auch diesen Bart konnte er streichen und biegen, ebenso auch die Augen verdrehen, wenn diese auch aus Stein zu sein schienen, und so konnte er mich ja auch anlächeln, also das Gesicht verziehen.
Jetzt, nachdem es seine höfliche Verbeugung vor mir gemacht, begann das Heinzelmännchen mit seinen Fingerchen im Staube zu formen. Es war ein Topf, den es fertigte, sozusagen im Handumdrehen, und dann kam ein Stängelchen daran, unten mit einer Quaste, — ich erkannte einen Pinsel, der in den Topf gesteckt wurde, dieser auf den Boden gesetzt.
Dann nudelte das Männchen aus dem knetbar gewordenen Staube eine Platte auseinander, ganz dünn, etwa 20 Zentimeter im Quadrat, legte sie auf den Boden, machte vor mir wieder eine Verbeugung, nahm den Topf und den Pinsel, begann auf der Platte zu malen. Ich sah eigentlich keine Farbe, die Pinselquaste war und blieb grau; aber sobald er die Platte berührte, entstanden farbige Striche und Punkte und Kreise und Arabesken, und im Nu war ein schönes Muster in allen Farben fertig, und nun erkannte ich, dass die ganz dünne, rollbare Platte einen kleinen Teppich vorstellen sollte.
Jetzt fing das Heinzelmännchen wieder zu formen an, geschwind entstand unter seinen Fingern ein Tischchen, nicht für ihn selbst bestimmt, ein winziges Puppentischchen, 6 Zentimeter hoch, es wurde aus dem Topfe, der alle gewünschten Farben enthielt, blitzschnell schneeweiß angestrichen und in die Mitte des Teppichs gesetzt.
Weiter wurde der knetbare Staub geformt, immer zierlichere Sachen entstanden, ich konnte sie so im Stehen trotz meiner guten Augen gar nicht mehr erkennen, und schon mehrmals hatte das Heinzelmännchen so einladende Handbewegungen gegen mich gemacht, ich verstand, streckte mich innerhalb des schwarzen Kreises aus, legte den Kopf auf die gekreuzten Arme, hatte nun die ganze Geschichte kaum einen Meter vor meinen Augen, da konnte mir nichts entgehen.
Es waren Puppenspielsachen, die der kleine Künstler mit wunderbarer Geschicklichkeit und Schnelligkeit fertigte. Ein winziger Reifen, ein Körbchen, erbsengroße Brille, die mit einem Pinselstrich golden angemalt wurden, und dann noch viele andere Gegenstände, deren Zweck ich mir noch nicht erklären konnte. Das alles wurde, nachdem es in verschiedenen Farben angemalt worden, fein säuberlich auf den Teppich gelegt, und es hätte nicht so außerordentlich schnell zu gehen brauchen, denn da hätte ich stundenlang zusehen können, es war gar zu reizend, wie das alles zwischen den Fingerchen entstand. Jetzt wurde eine menschliche Puppe gefertigt,
10 Zentimeter groß. Mit dem Gesicht gab sich der Künstler einmal besondere Mühe, arbeitete längere Zeit daran herum, schien auch mit einem Instrument zu modellieren — zu bossieren, wie der Kunstausdruck lautet — aber das Instrument war so klein, dass ich es nicht näher unterscheiden konnte.
Die Figur war fertig, wurde zauberhaft schnell angepinselt, und entstanden war ein winziger Zirkusmensch in fleischfarbenen Trikots mit rotem Höschen, aber selbst die reiche Goldstickerei fehlte nicht.
Zunächst blieb das Figürchen liegen, der Modelleur fertigte ein zweites, eine kleine Künstlerin entstand, ein winziges Mädchen, noch nicht 10 Zentimeter hoch, bekam ein flitterbesetztes Röckchen angemalt, sonst auch in fleischfarbenen Trikots.
Wie die beiden Figürchen jetzt auf die Beine gestellt wurden, waren sie plötzlich lebendig, sprangen auf den Teppich, machten zierliche Verbeugungen und Knixe und warfen Kusshändchen, und die Vorstellung begann.
Auf dem weißen Tischchen lag bereits ein rotes Gestell von eigentümlicher Form. Der winzige Künstler rieb seine Füßchen auf einer weißen Platte ein, gipste sie, schwang sich elegant auf den Tisch, legte sich mit dem Rücken in das rote Gestell hinein, klappte wiederholt die Füße zusammen, rückte sich nochmals zurecht, jetzt nahm das kleine Dämchen ein weißes Holzkreuz, warf es hinauf, der Künstler fing es mit den Füßen, balancierte es in verschiedener Weise, begann es zu drehen, schneller und immer schneller.
Also ein Fußequilibrist! Und so ging es weiter. Die verschiedensten Gegenstände wurden mit den Füßen jongliert. In den Zwischenpausen, wenn sich der Künstler von seinen Anstrengungen erholte, produzierte sich das Mädchen, das ihn sonst bediente, schlug um den Tisch herum auf dem Teppich Räder und Salti mortali, sprang dabei auch durch den Reifen, oder schwang sich auf den Tisch, jetzt bediente sie ihr Partner, nahm aus dem Körbchen eine goldene Kugel nach der anderen, warf sie ihr zu und das Mädchen jonglierte damit.
Ich rieb mir die Augen.
Obgleich es eigentlich für mich nichts Neues war. Ich betone nochmals, dass man ganz Ähnliches im Crystal Palace zu Sydenham bei London zu sehen bekommt, heute noch! Die Puppen sind größer, vielleicht einen viertel Meter hoch, aber auch sie machen solche Kunststückchen, spielen miteinander Ball, jonglieren Kugeln, turnen am Reck, bauen Pyramiden, und ihre Bewegungen sind absolut natürlich, man kann das beste Opernglas benutzen! Es ist rätselhaft, wie das dieser Marionettenmensch macht. Man möchte manchmal an bewegliche Lichtbilder glauben. Aber gerade deswegen betritt ab und zu ein Mann die Bühne, hebt die umfallenden Püppchen auf, zeigt, dass sie an Drähten hängen, schlägt sie um seinen Arm, setzt sie wieder hin und lässt sie wieder lebendig werden.
Das hier war freilich etwas ganz anderes.
Ich hatte das größere Heinzelmännchen von unsichtbaren Händen aus Staub entstehen sehen, es hatte die winzigen Püppchen aus Staub geformt, und hier konnte doch von keinen Drähten die Rede sein.
Es gab nur eine einzige Erklärung. Diese Menschen, die hier hausten, hatten zur Erzeugung solcher Spielerei eine Erfindung gemacht, die wir vielleicht auch noch einmal machen werden, von der wir heute aber noch gar nichts ahnen.
So wie vor 25 oder 30 Jahren noch niemand etwas von der heutigen Kinematografie ahnte.
Mit Ausnahme von denjenigen, die Tag und Nacht über dieses Problem brüteten.
Aber die anderen? Ich entsinne mich noch, wie die deutschen Zeitungen berichteten, ein englischer Journalist habe Edison besucht, den »Zauberer von Orange«, dieser habe ihm seine neueste Erfindung gezeigt, bewegliche Fotografien — es war das Mutoskop — ein Schmied arbeitete am Amboss, ein Lehrjunge zog den Blasebalg, holte ein Glas Bier, der Schmied nahm es, trank es aus, und arbeitete weiter — und dieser Bericht des englischen Journalisten, der durch alle deutschen Zeitungen ging, war betitelt »Eine fette amerikanische Ente!«
Ein halbes Jahr später sah ich in einem Hamburger Varieté das erste kinematografische Bild an der Wand. Ein in den Bahnhof einlaufender Zug, die Passagiere stiegen aus.
Also wir können heute Bilder beweglich machen, als wären sie lebendig. Dass diese Bilder erst Fotografien von natürlichen Szenen sind, hat dabei nichts zu sagen. Man kann sich vorstellen, dass man die Filme auch malen könnte, wie es beim Lebensrad ja auch gemacht wird. Dabei kommt freilich nur etwas ganz Primitives heraus, aber das kann man sich auch bis zur höchsten Vollendung vorstellen.
So könnte man sich statt der gemalten Bilder auch plastische Figuren vorstellen, die durch irgend ein Mittel scheinbar lebendig werden.
Es ist eine Erklärung — wenn man das eine Erklärung nennen darf.
Jedenfalls sind es logische Schlussfolgerungen.
Oder es gab auch noch eine andere Erklärung.
Ich dachte an Vater Abdallah, der uns in seinem schwarzen Kabinett ja auch alles mögliche und unmögliche vormachte, was wir freilich gar nicht in Wirklichkeit sahen, nur durch Suggestion träumten.
Das war es, weshalb ich mir jetzt die Augen rieb. Träumte ich etwa nur?
Nein.
Aber das konnte ich in jenem schwarzen Kabinett ja auch nicht unterscheiden.
»Viviana, ich muss Dich noch einmal sprechen!«, rief ich außer mir.
Als ob es ein Kommando der Vernichtung gewesen wäre, so zerfielen bei meinem ersten Worte alle die Figuren und alles andere in farblosen Staub, auch kein Häufchen blieb davon übrig, das schwere Metallpulver, oder was es nun sonst war, ebnete sich sofort wieder.
Dafür wurden vor mir die beiden Händchen zur Bejahung abgedrückt.
»Ist das nur Illusion oder Wirklichkeit! Träume ich das nur?« — Nein.
»Keine Gaukelei, keine Illusion?« — Nein.
»Volle Wirklichkeit?« — Ja.
»Sage mir, wie das gemacht wird!« — Nein.
»Du willst es mir nicht sagen?« — Ja.
»Du kannst es mir nicht sagen?« — Ja.
»Ich würde Dich nicht verstehen?« — Nein.
»Gib mir eine Erklärung, so weit ich sie verstehen kann, meinen Bildungsgrad kennst Du doch sicher, gib mir nur ein Stichwort, ich flehe Dich an!«
Da wurde in dem Staube wieder geschrieben
»Diagonaler Magnetismus.«
Ja, es genügte für mich, musste genügen.
»Es gibt noch andere Arten des Magnetismus, als den positiven und negativen?« — Ja.
»Der diagonale würde sich also gewissermaßen kreuzen?« — Ja.
»Gibt es immer noch andere Arten?« — Ja.
»Auch von der Elektrizität, von der wir ebenfalls nur positive und negative kennen?«, Ja.
Es genügte mir, was nützten da auch weitere Fragen.
Aber Schlüsse verstand ich zu ziehen.
Was wussten wir früher vom Licht. Na ja, es sind Schwingungen des Äthers. Ohne dass wir wissen, was »Äther« überhaupt ist. Und diese Theorie wird jetzt auch schon wieder umgekrempelt. Es sollen elektromagnetische Schwingungen der Luft sein, nicht mechanische wie beim Schall. Jedenfalls aber war doch Licht immer Licht, bis man entdeckte, dass es Lichtstrahlen gibt, die wir mit unseren Augen überhaupt gar nicht sehen. Die ultravioletten. Dann machte Professor Röntgen seine Entdeckung. Jetzt konnte man organische Körper durchleuchten. Dann wurde das Radium entdeckt, dessen selbsterzeugte Strahlen auch Metallplatten durchdringen. Und so scheint das weiter gehen zu wollen, immer neue Lichtstrahlen mit ganz neuen Eigenschaften werden gefunden. Was daraus noch werden wird, das kann noch kein Mensch ahnen.
Wir kennen nur positiven und negativen Magnetismus, dasselbe gilt von der Elektrizität. Wenn nun dereinst noch eine dritte Art, noch andere Arten entdeckt werden? Weshalb sollen sich diese beiden Ströme, oder wie man es nun sonst nennen mag, nicht diagonal kreuzen, oder parallel nebeneinander laufen, oder sich diametral entfernen? Und wird nicht selbst eine Substanz wie Harz oder Gummi, die man doch eigentlich als unelektrisch bezeichnet, durch Reiben mit einem Seidentuche elektrisch, zieht eine geriebene Siegellackstange nicht Papierschnitzelchen an, kann man aus ihr nicht sogar Funken herauslocken? Unsere Nachkommen werden darüber lächeln, dass die heutige Wissenschaft nichts von einem tierischen Magnetismus wissen will, ihn ins Reich der Fabel, des Betrugs oder der Selbsttäuschung gehörend erklärt. —
Ist aber der Mensch selbst eine elektrische Batterie, die man nur in Betrieb zu setzen verstehen muss, dann sind auch sofort alle die spiritistischen Phänomene erklärt. Ich selbst begann den grauen Staub zu formen. Wie ich mich dabei verhalten musste, hatte ich bald heraus. Hob ich ihn außerhalb des schwarzen Kreises auf, so hatte ich eben feines Pulver in den Händen. Befand ich mich dabei aber auf der schwarzen Fläche, so backte er zu einer schmiegsamen Masse zusammen, die ich dann auch außerhalb des Kreises niederlegen konnte. Auf dem schwarzen Staube zerfiel sie sofort wieder in graues Pulver, das heißt wenn sie mit diesem in Berührung kam, vermischte sich aber nicht, blieb nicht liegen, sondern, wie schon geschildert, der graue Staub rann davon, um sich wieder mit der großen Masse zu vereinen. Also da war doch zweifellos Magnetismus im Spiele.
Ich bin ein noch schlechterer Modelleur als Zeichner. Am besten hätte ich eine Kugel, einen Kloß fertig gebracht — ich bin doch einmal als Schiffskoch gefahren — statt dessen verstieg ich mich gleich zur Schöpfung eines Menschen. Was da für ein Männchen herauskam, lässt sich denken. Der Oberkörper wurde ein Ei, daran unten zwei Würste geklebt, oben als Arme zwei kleinere Würste, eine Kugel als Kopf darauf, an diesen machte ich sogar noch eine Nase, aber weiter ging's nicht, dann war Adam geschaffen.
Als ich aber nun diese Jammerfigur auf den grauen Staub setzte, ohne diesen selbst mit einer Fingerspitze zu berühren, da ward Adam sofort lebendig. Machte vor mir eine Verbeugung, schwang die Wurstarme, trippelte herum, mit ganz natürlichen Bewegungen, so weit man bei solchen Gliedmaßen von natürlichen Bewegungen sprechen kann.
Es war ja schließlich nichts anderes als bei den zusammengehefteten Knochen, die doch auch als Skelette auf dem grauen Staube lebendig geworden waren, ich ließ mich nur durch die Form irritieren, ich geriet nochmals außer mir vor Staunen.
»Viviana, gib mir nochmals eine Erklärung, nur ein Stichwort, wie ist das nur möglich, dass solch eine aus Staub geformte Masse plötzlich so beweglich, wie lebendig wird?«
Und ich erhielt die Erklärung diesmal aber nicht nur durch ein Stichwort.
Plötzlich verdunkelte sich der Saal, es wurde stockfinster, und da erschien an der einen grauen Quaderwand mein Männchen als Lichtbild in Riesengröße.
Es war ein ganz besonderes Lichtbild. Was dabei für Lichteffekte in Betracht kamen, ist schwer zu schildern.
Vor allen Dingen sah ich nicht die Lichtquelle, keinen Blendstrahl. Dagegen gingen von dem Lichtbilde selbst Strahlen aus, die sich genau auf die Figur konzentrierten, sodass diese vor mir in schwärzester Finsternis im Brennpunkt von blendenden Strahlenbüscheln stand, jetzt noch bewegungslos.
Da hob das Lichtbild den rechten, ungeheuren Wurstarm, und gleichzeitig hob meine Figur den linken. An dem Wurstarm des Lichtbildes entstand eine Hand, und auch mein Figürchen bekam eine solche. Das Lichtbild begann sich zu färben, die Beine wurden rot, der Oberkörper blau, das Gesicht fleischfarben, und so färbte sich auch meine Figur.
Versteht der Leser, worauf es hierbei ankam?
Ich hatte die Erklärung gefunden. So weit mein Verstand und mein Bildungsgrad hierzu ausreichten.
Nicht meine Figur wurde zuerst bewegt und angepinselt, dieser Vorgang durch Lichtstrahlen gegen die Wand projiziert, sondern es geschah gerade umgekehrt. Das Lichtbild wurde auf irgend eine Weise gefärbt und bewegt, das wurde dann durch Lichtstrahlen auf meine Figur projiziert, hier setzte sich die Lichtmalerei in Plastik um so kamen reelle Bewegungen heraus.
Ich will es noch auf andere Weise zu erklären versuchen, durch ein Gleichnis.
Auf einer großen Wasserfläche fährt ein Boot. Es besitzt wohl einen Motor, aber niemand befindet sich drin, diesen zu bedienen. Und dennoch fährt dieses Boot hin und her, kreuzt und wendet, stoppt und setzt sich wieder in Fahrt. Am Ufer steht ein Mann, er kommandiert und das führerlose Boot gehorcht ihm.
Wie ist das möglich?
Noch vor 20 Jahren wäre das absolut unerklärlich gewesen. Vielleicht noch vor 200 Jahren hätte man diesen Mann, der das Boot so aus der Ferne lenken kann, als Hexenmeister auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Heute weiß jedes Kind, mindestens jedes Berliner Kind, dass dieses Boot auf dem Wannsee durch elektrische Wellen gelenkt wird. Drahtlose Telegrafie, aber zur Erzeugung von mechanischem Effekt verwendet. Wenigstens wird das Steuer gedreht, der Gang des Motors geregelt. Man kann aber sogar die Schiffsschraube selbst durch Fernwirkung sich drehen lassen.
Dasselbe lag auch hier vor.
Die Figuren, aus Metallstaub bestehend, wurden durch elektrische Fernwirkung gelenkt. Sonst unsichtbar, waren mir jetzt einmal diese elektrischen Wellen als Lichtstrahlen sichtbar gemacht worden.
Erst wurde das Lichtbild beweglich gemacht, dessen Bewegungen übertrugen sich auf die Figur.
Ja, wie aber nun konnte man das Lichtbild sich so ganz nach Willkür bewegen lassen?
Wenn ich hierfür auch keine Erklärung fand, so konnte ich mir doch wenigstens eine Möglichkeit ausdenken.
Bewegliche Lichtmalerei, die Malkunst der Zukunft. Und ich glaube, ich glaube, dass es schon einmal im 15. Jahrhundert einen Menschen gegeben hat, der eine Erfindung gemacht hatte, die unsere heutige Kinematografie noch bei weitem übertraf! Der muss dieses Problem der beweglichen Lichtmalerei schon gelöst haben!
Ich habe einmal seine ganz merkwürdige Geschichte gelesen.
Ich mag 12 Jahre alt gewesen sein, als mir einmal ein alter Schmöker in die Hände fiel, ein altes, abgegriffenes Buch mit vergilbten Blättern. Unser Dienstmädchen las es, hatte es auch erst geborgt. Weiß nicht mehr den Titel des Buches, nicht von wem es war. Mein Vater verbot es mir, suchte mich durch Spott von solcher »Schundlektüre« zu kurieren. Desto gieriger nur verschlang ich es. Und wenn heute noch ein einziges Exemplar dieses Buches existierte, es wird »ausgegraben«, in einer Rumpelkammer entdeckt, dann — »staunt der Laie, auch der Kenner stutzt!« Dann würden die Herrn Kritiker vielleicht ganze Bibliotheken über den einst verachteten Schmöker schreiben. Man weiß doch, wie es in dieser schnöden Welt zugeht, und die niederträchtigste Abteilung von ihr ist die literarische.
Wunderbare Geschichten! Der Held einer solchen war kein anderer als der berühmte italienische Maler Leonardo da Vinci, der Schöpfer des unvergleichlichen Wandgemäldes »Das heilige Abendmahl« in dem ehemaligen Kloster St. Maria delle Grazie zu Mailand, bekannt durch zahllose Kopien und Kupferstiche.
Geboren 1452 sind über die ersten vierzig Jahre seines Lebens nur spärliche Nachrichten vorhanden. Vor allen Dingen wissen wir, dass er ein tüchtiger Zechbruder und Raufbold gewesen ist. Als Abenteurer ging er in die Fremde, kam auch nach Ägypten, soll hier großartige Festungsbauten ausgeführt, überhaupt als Baumeister und Ingenieur gewirkt haben, soll eine wunderbare Kanone erfunden haben — hauptsächlich aber trat er am Hofe des Königs als Gaukler und Illusionist und Wahrsagen und Sterndeuter auf.
Dieser Leonardo da Vinci muss überhaupt ein Universalgenie gewesen sein. Seine hinterlassenen Schriften umfassen Kunstlehre, Architektur, Anatomie, Astronomie, Geografie, Chemie, Mechanik und den verschiedensten Teufelskram. Sie sind kaum zu entziffern, denn er schrieb wohl Italienisch, aber sein eigenes, hatte seine eigene phonetische Orthografie, wenn er sich nicht überhaupt einer Geheimschrift bediente, und so war alles an ihm originell, er wusste einen geheimnisvollem mystischen Schleier um sich zu breiten, ließ sich nicht hinter die Kulissen blicken.
In jenem Buche nun wurde erzählt, wie er seine Freunde in intimem Kreise belustigte. Er führte ihnen bewegliche Lichtbilder vor, konnte die wunderbarsten Szenen hervorbringen, alles lebendig, ganz natürlich. So auch das heilige Abendmahl, wobei aber Christus Brot und Wein wirklich verteilte, wobei sich alle die Jünger wirklich wie im Leben bewegten.
Wie er das fertig brachte, verriet er nicht. Während seiner Abwesenheit drangen seine Freunde einmal in die Wohnung ein, in den Raum, von dem aus er die Lichtstrahlen gegen die Wand lenkte. Noch sei bemerkt, dass er diese beweglichen Lichtbilder in voller Farbenpracht erscheinen ließ. Die Eindringlinge fanden nichts weiter als viele Glastafeln regellos mit bunten Farbenklecksen bedeckt. Keine Figur war zu erkennen.
Der sehr jähzornige Leonardo war über diesen Vertrauensbruch so erbost, dass er in seiner ersten Wut alle die beklecksten Glastafeln zerschmetterte und alle seine Freunde forderte, einige von ihnen mehr oder weniger schwer verwundete, einen tötete. Nur durch die Gnade des Papstes entging er selbst dem Tode durch Henkershand.
Dies bildete den Inhalt einer Erzählung in jenem Buche.
Wie kam nun der Verfasser jenes alten Buches dazu von solchen beweglichen Lichtbildern zu sprechen, wo man damals, als dieser Verfasser lebte, oder meinetwegen noch zu meiner Kinderzeit, noch gar keine Ahnung von so etwas hatte?
Es gibt zu denken!
Und in einer Biografie später habe ich gelesen, dass Leonardo da Vinci tatsächlich einmal ein Massenduell gehabt hat und deshalb beinahe hingerichtet worden wäre! —
Die Lichtfigur an der Wand wurde weiter geformt, und ebenso formte sich auch mein Männchen, es wurde ein wirklicher Mensch daraus. Freilich war da ja noch nicht zu unterscheiden, ob nicht die plastische Figur gegen die Wand projiziert wurde, das Umgekehrte war nur eine Theorie von mir.
Aber ich sollte gleich noch eine andere Belehrung bekommen, welche die Richtigkeit meiner Theorie bestätigte.
Das Lichtbild an der Wand verschwand, gleichzeitig stürzte auch mein schon wohlausgebildetes Männchen in Staub zusammen.
Da tauchte ein neues Lichtbild auf, im Nu stand es fix und fertig da.
Es war die bekannte LaokoonGruppe.
Der Sage nach war Laokoon ein Priester in Troja. Weil er seine Landsleute vor dem hölzernen Pferde gewarnt hatte, welches die arglistigen Griechen bei ihrem Abzuge zurückgelassen, wodurch dann Troja erobert wurde, schickte Apollo dem braven Manne zur Strafe — auch so eine echtgriechische Gemeinheit — zwei ungeheure Schlangen zu, die Laokoon samt seinen beiden Söhnen umstrickten und erwürgten.
Diese Gemeinheit ist von einem unbekannten Bildhauer verherrlicht worden, wahrscheinlich im zweiten Jahrhundert vor Christi Geburt, man hat die über lebensgroße Statuengruppe in Rom bei den Titusthermen aufgefunden, hat einen ungeheuren Quark deshalb gemacht.
Es mag ja eine wunderbare Bildhauerei sein, aber für mich ist und bleibt diese ganze Geschichte eine niederträchtige Gemeinheit, so wie ich die Göttin Athene, die in dem Zweikampfe des Achilles und Hektor die Gestalt eines Freundes des letzteren annahm, um ihm beizustehen, obwohl sie auf Seiten des Achilles war, und wie nun Hektor seinen Speer verschleudert hatte und sich nach dem zweiten umsah, da war dieser schöne Freund samt dem Speere verduftet — so wie ich diese Göttin Athene, wenn ich sie erwischen könnte, überschnallen und ihr jeden Tag drei Dutzend auf ihr göttliches Hinterteil erteilen würde.
Also diese LaokoonGruppe stand als Lichtbild an der Wand, in Riesengröße, plötzlich fix und fertig.
Der arme Teufel von Priester verzog sein Gesicht in schrecklichem Schmerze, wozu er auch allen Grund haben muss, denn in die linke Hüfte beißt ihn eine Schlange, deren hinteren Leib er mit dem rechten Arm von sich hält, links und rechts neben ihm stehen seine beiden Söhne, ebenfalls schon von Schlangen umstrickt, vergebens sich aus den Umschlingungen zu befreien suchend.
Vor mir in dem Staube aber war noch nichts.
Da jedoch gingen von dem Lichtbilde rote Strahlen aus, sie konzentrierten sich vor mir in einem Punkte, und alsbald begann sich der graue Staub zu bewegen, erst bildete sich ein Hügelchen, schnell wuchs er, er folgte den roten Lichtstrahlen, und ehe drei Minuten vergangen waren, stand auch vor mir diese ganze Gruppe in voller Plastik da.
Also war meine erklärende Theorie eine ganz richtige gewesen. Erst wurde das Lichtbild erzeugt, nach diesem aus dem Metallstaub die plastische Masse geformt. Wenn das vorher ein Männchen mit seinen Händen getan hatte, so war das nur eine Spielerei gewesen, um eine besondere Illusion hervorzubringen. So etwa, wie man in früheren Zeiten mit Vorliebe die Zeiger der Uhr von Figuren drehen ließ, als ob diese die Uhrzeit anzeigten, während doch immer nur das Räderwerk mit der treibenden Kraft dahintersteckt.
Es blieb nicht bei der unbeweglichen Gruppe. Es kam Leben in die Schlangenungeheuer und in die drei Menschen. Der furchtbare Kampf begann.
Aber ehe es eigentlich richtig losging, wurde es in dem Saale wieder tageshell, und obgleich deshalb die Geschichte ruhig ihren Fortgang hätte nehmen können, sank die ganze Gruppe plötzlich in Staub zusammen, der sich sofort auch wieder ebnete, wie Wasser oder Quecksilber zu einer Fläche ausrann.
Die Vorstellung war gestört worden. Der Störenfried war kein anderer als Merlin, der in seinem gelben Lederkostüm plötzlich neben mir stand. Seit jener Begegnung in der texanischen Prärie sah ich ihn zum ersten Male wieder.
»Deine Gefährten versuchen vergeblich«, redete er mich ohne Weiteres in seiner freundlichen Weise an, »nach der Burg eine Leine hinaufzuschießen, um so hinaufzukommen.
Begib Dich auf dem Wege, den Du gekommen bist, hinab und sage ihnen, dass sie es nicht mehr nötig haben. Da Du durch eigene Tatkraft einen Weg ins Innere dieses Felsens gefunden hast, kann ich Euch nun auch nicht mehr den Eintritt verweigern, wenn dies auch anfangs meine Absicht war.
So habe ich Euch unten ein Tor geöffnet, durch das Ihr mit den Booten direkt in das Wasserbassin fahren könnt.
Deine Gefährten sehen es nur noch nicht, weil sie sich auf der anderen Seite befinden.
Also Ihr könnt Euch hier nach Belieben belustigen, und Ihr werdet auch noch genug anderes finden, für Euch Erstaunliches.
Meine dienstbaren Hände werden dabei Euch immer zur Verfügung stehen, aber eine Erklärung kann ich Euch nicht geben, Ihr würdet sie gar nicht verstehen.
Dagegen muss ich Dir, mein Freund, etwas verweigern. Meine Tochter Viviana hat Dir versprochen, sich Dir heute zu zeigen.
Es war ein unbedachtsames Versprechen, ich muss es rückgängig machen.
Ein andermal, nur heute nicht. Heute ist es nicht möglich.
Aber in anderer Weise will ich ihr Versprechen gleich jetzt lösen.
Sie versicherte doch, Du kenntest sie persönlich, nicht wahr?«
»Ja, das sagte sie allerdings!«, konnte ich nur bestätigen.
Lächelnd blickte mich der Jüngling mit den weißen Haaren an.
»Nun, fällt Dir nicht ein, wo Du ihr schon einmal begegnet sein könntest?«
Nein, mir fiel nichts ein.
»Meine Tochter ist doch an Bord Deines Schiffes gewesen.«
»An Bord unseres Schiffes, der ›Argos‹?!«
»Jawohl, sogar ziemlich lange Zeit.«
»Ziemlich lange Zeit?!«
»Gewiss doch, und sie gab ja auch hier ein Erkennungszeichen.«
»Was denn für ein Erkennungszeichen?«
»Das Eichenblatt, das sie im Staube abdrückte.«
Da plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Plötzlich sah ich vor mir im Geiste ein braunes Weib, ein junges, schönes Mädchen, ein Kind fast noch, in bunte, baumwollene Gewänder gehüllt — und ich sah, wie diese Gewänder auf dem Rücken zurückgeschlagen wurden, und da erblickte ich auf dem sammetartig glänzenden Nacken, oder vielmehr auf dem einen Schulterblatt, auf dem linken, ein weißes Muttermal, ganz genau einem Eichenblatt gleichend, auch von natürlicher Größe...
»Ist es möglich, jenes Mädchen, das wir in dem chinesischen Piratenschlupfwinkel fanden, in einem sargähnlichen Kasten, in Todesstarre liegen?«
Lächelnd nickte der geheimnisvolle Mann.
»Es war meine Tochter Viviana. Ihre Mutter ist eine Inderin. Sie war mir geraubt worden, von einem Mächtigeren als ich, der aber nun nicht mehr existiert. Sie war nicht tot, und nur körperlich war sie mir entführt worden. Im Geiste befand sie sich immer hier bei mir. Dass ich aber auch körperlich sie wiedererlangte, das habe ich nur Dir und Deinen Gefährten zu verdanken, und eben deshalb bin ich Euch so großen Dank schuldig, stehe ganz zu Euren Diensten.«
»Und jener Mister Carlistle?! Der sie seine Traumkönigin nannte?«
»Es war ein Wahn von ihm. Oder vielleicht auch nicht nur so ein Traumgebilde. Doch das verstehst Du nicht, ich könnte es Dir nicht erklären. Jedenfalls aber war meine Tochter ganz unschuldig an diesem seinem Wahne.«
»Und was macht dieser Carlistle jetzt?«
»Er weilt nicht mehr unter den Lebenden.«
»Tot?!«
»Ja, er hat in Australien seinen Tod gefunden, einen sehr schönen. Somit hat sich diese Angelegenheit geklärt. Du wirst meine Tochter später noch kennen lernen, sie wird Euch allen danken.«
Sprach's, wandte sich und ging der nächsten Tür zu. Ich konnte ihm nur nachstarren.
Da aber zeigte sich, dass dieser rätselhafte Mann nicht besonders prophetisch veranlagt sein konnte.
Der Eskimo hatte sich wieder hinab begeben, hatte ein offenes Wassertor gefunden, hatte die anderen geholt.
Da kamen meine Jungen schon angestürmt, und jetzt wurde die Sache in diesen Geisterkinderspielstuben fortgesetzt, in noch ganz anderer Weise.
Jedenfalls konnten wir hier Zeit unseres Lebens verweilen, dieses Spieles konnte man nie überdrüssig werden, und immer neue Überraschungen fanden sich, man musste nur suchen und sich gewöhnlich erst einige Neckereien gefallen lassen.
Waffenmeister, in der Eisgrotte halten sich fremde Menschen auf oder haben sich doch noch vor kurzem darin aufgehalten.« So sprach Juba Riata zwei Tage später zu mir, an Bord des Schiffes, in meiner Kabine, wo ich mich aufhielt, um mein in letzter Zeit arg vernachlässigtes Tagebuch zu führen.
»Woher wissen Sie das?«, fragte ich überrascht »Plutos Nase und Benehmen sagt es mir. Ich hatte mich vorhin in die Eisgrotte begeben, um meine heutige Jagdbeute aufzuhängen. Pluto war bei mir. Er stöberte etwas auf eigene Faust herum, schlug plötzlich an, läutete, kam auch, um mich zu holen, führte mich ziemlich weit in eine Gegend, in der ich noch gar nicht gewesen war, vielleicht noch keiner von uns, zeigte auf dem Eise eine Spur an, die einem fremden Menschen angehören muss, vor noch gar nicht so langer Zeit hinterlassen. Und der Bluthund irrt sich nicht.«
»Er hat die Spur jenes gepanzerten Weibes in der Höhle nicht verfolgen können.«
»Das ist etwas ganz anderes, darüber war schon zu lange Zeit vergangen, und ich bin sogar überzeugt, diese Fährte wurde künstlich verwischt, was sehr leicht zu machen ist, wenn man die Mittel dazu kennt. Schon etwas Spiritus genügt. Jetzt aber hat Pluto eine fremde menschliche Spur gefunden, die er verfolgen will.«
»Haben Sie es nicht gleich getan?«
»Das Benzin in meiner Taschenlampe war alle geworden, ich wollte neues holen, oder lieber gleich eine Petroleumlampe.«
»Ist denn die Eisgrotte nicht wie immer erleuchtet?«
»Die Grotte wohl, aber die Spur führt in einen Tunnel hinein, in dem es finster ist. Kommen Sie mit?«
Natürlich war ich sofort bereit dazu, nur dass ich erst wärmere Sachen anzog, wenn auch nicht gerade ein Pelzkostüm.
Es war die neunte Stunde abends, als wir das Schiff verließen. Nur ein kurzer Gang die Felswand entlang, und wir betraten die Eisgrotte.
Sie war wie immer von jenem rätselhaften Lichte erfüllt. Gleich vorn in einer großen Nische hing an Stangen die Jagdbeute, die wir nicht immer gleich verzehrten, sodass der Jagdlust keine Schranken gezogen zu werden brauchten. Überdies hatten wir ja auch an Bord eine Eiskammer, nur dass zur Erzeugung dieser künstlichen Kälte der Donkey gehen musste, die kleine Hilfsmaschine, wenigstens ab und zu, und wozu das, wenn wir hier einen natürlichen Eisschrank besaßen.
Meine Jungen belustigten sich oftmals hier mit Schlittschuhlaufen und anderem winterlichen Sport, hatten auch schon eine grandiose Rodelbahn geschaffen — jetzt war niemand hier.
»Halten Sie schon einem anderen von Ihrer Entdeckung gesagt?«
Nein, das hatte Juba Riata nicht, das war nicht die Art und Weise dieses Mannes. Nur mich hatte er zu der weiteren Erforschung geholt, hätte dies wahrscheinlich auch bei seinem Freunde dem Eskimo getan, aber der war heute Abend wieder einmal seine eigenen Wege gegangen.
Der Bluthund begrüßte mich. Wir hätten besser noch andere Hunde mitnehmen sollen, aber da wäre wieder Pluto in seiner Ehre gekränkt worden. Das war immer so eine eigentümliche Geschichte bei uns, bei den Tieren wie bei den Menschen.
Er führte uns tief in die ungeheure Grotte hinein, durch Spalten und Löcher hindurch, in die wohl nur zufällig einmal jemand gekrochen sein konnte, denn hier wimmelte ja alles von solchen Löchern und Tunnels. Aber immer kamen neue Eissäle, alle erfüllt von jenem tageshellen Lichte.
Da aber verschwand Pluto in einem Loche, aus dem es finster herausgähnte.
»Hier führt die Spur hinein!«, sagte Juba Riata.
»Wie kommt es, dass diese Öffnung nicht erleuchtet ist?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist die Beleuchtung in Abteilungen geteilt, gerade hier versagt einmal der Mechanismus. Denn irgend ein Mechanismus muss doch dabei sein.«
Der Hund kam wieder hervor, lud uns ein, ihm zu folgen, wir taten es. Hinter dem Tiere Peitschenmüller, dann ich, der ich mich ebenfalls mit einer Petroleumlampe bewaffnet hatte — und dann freilich auch mit richtigen Waffen.
Das Loch war von vornherein so niedrig, dass wir gebückt gehen mussten, und bald blieb uns nichts anderes übrig, als auf Händen und Knien zu kriechen.
Da hörte das Eis auf, eine nackte schwarze Felswand kam. Zum ersten Male, dass man in dieser Eisgrotte außer der Felsendecke solch eine schwarze Steinwand sah.
Und weiter und weiter ging es, immer auf Händen und Knien. Ich hatte nicht nach der Uhr gesehen, jedenfalls aber waren schon zehn Minuten vergangen, das ist für solch eine Kriecherei eine höllisch lange Zeit.
Dazu kam auch noch etwas anderes, im Scheine unserer Lämpchen.
»Juba, mir wird's ganz grausig zumute!«, gestand ich offen, wenn auch in flüsterndem Tone.
»Pluto verfolgt noch immer eine Spur, erklang es ebenso flüsternd zurück.
»Vielleicht ist's ein Felsenmaulwurf gewesen, dessen Spur er verfolgt.«
»Nein, es war ein Mensch.«
»Dann aber sicher ein menschlicher Maulwurf. Wie kann denn nur ein richtiger Mensch hier in solch einem Mäusegange auf dem Bauche spazieren gehen und sich dabei wohl fühlen! Und ich bin weder ein Straßenpflasterer noch eine alte Betschwester, die schon Horn auf den Knien hat, ich halt's kaum noch aus!«
»Wollen Sie sich etwas ausruhen, sich auf den Rücken legen?«
»Na, ein bisschen warte ich noch damit.«
Wir krochen weiter, wieder vergingen mindestens fünf Minuten, und dieser Gang wollte kein Ende nehmen, wollte auch nicht höher werden.
Da aber schimmerte uns ein Licht entgegen! Vor mir erbob sich Peitschenmüller, hinter ihm konnte ich es tun.
Wir standen in einem höheren Gange, in dem wir nur deshalb etwas sehen konnten, weil wir aus der schwärzesten Stockfinsternis kamen.
Das Licht selbst kam seitwärts aus einer Fensteröffnung heraus, oder noch mehrere waren erleuchtet. Wir schlichen uns hin nach der nächsten, in Brusthöhe angebracht, also eine Öffnung in der nackten Felsenwand, aber mit Glasscheiben versehen.
Ein unvermuteter Anblick erwartete uns. Wir sahen in eine Kammer, die Wände verkleidet mit Holzbrettern, angefüllt mit Hausgerät und Gerümpel aller Art, hauptsächlich aber auch mit ritterlichen Waffen und Rüstungen, jedoch nicht mit solchen von jener vergoldeten oder versilberten Bronze, sondern die Panzer alle ganz schwarz, und zwar war das sicher wirkliches Eisen oder Stahl, denn auch die Schwerter waren von blitzendem Stahl.
Und was waren das für Schwerter, die da kreuzweise an der Wand hingen! Wenn es auch Zweihänder sein mochten. Und ein Riese musste es auch sein, der diese Schwerter führte, denn für einen solchen waren auch diese verschiedenen Rüstungen bestimmt, offenbar alle für ein und denselben Mann. Wenn er auch nicht gerade 2,30 Meter wie unser »Bandlwurm«, so überstieg seine Länge zwei Meter doch noch bedeutend, und nun überhaupt einen ganz anderen Körper mit mächtigem Brustkasten und gewaltigen Schultern!
Und das hier war nicht nur so eine Rüstkammer, als Museum eingerichtet. Es war ja überhaupt mehr ein Wohnraum — die Klause eines Eremiten, der sonst eine härene Kutte trug, aber ehemals ein Ritter gewesen war und sich nur noch zeitweilig in seine Rüstungen hüllte. Da war ein Lagerbett, bedeckt mit Bärenfellen, und alles verriet, dass es erst vor kurzem benutzt worden und noch nicht wieder in Ordnung gebracht worden. Daneben über einem rohgezimmerten Stuhle hing eine braune Kutte und ein gebrauchtes Handtuch. Ein Waschtisch aus Naturholz, aus zusammengenagelten Baumästen, und das Wasser in der irdenen Schüssel war eisig. Und schließlich sorgte hier für die Beleuchtung nicht jenes rätselhafte Licht, aus den Wänden kommend, sondern auf dem Bauerntisch stand eine primitive Petroleumlampe brennend, eine alte, große Bibel war aufgeschlagen, daneben lag ein eiserner Handschuh, für einen Riesen bestimmt, und außer einem Tintenfass und anderen Sachen stand da auch ein mächtiger Humpen mit Deckel. Alles machte den Eindruck des gegenwärtigen Gebrauches, von dem Humpen waren über den Tisch Tropfen verkleckert, dort war eben erst ein Schwert mit einem Putzlappen bearbeitet worden, und so weiter. Der Bewohner dieser Klause war nicht zu sehen. Ja, das war ja alles ganz realistisch, aber... die Fensteröffnung, durch die wir blickten, war mit einer Glasscheibe verschlossen und wir waren schon gar zu sehr an kinematografische Bilder gewöhnt. Wir hatten solche Einrichtungen allerdings noch nicht hier in dieser Gegend unseres Quartiers gefunden, nur im Schlosse der Entsagung, bei welchem Namen es geblieben war, dort waren wir aber auch mit solchen kinematografischen Szenen sozusagen totgefüttert worden.
Kurz und gut, die Glasscheibe, die uns von dieser Klause trennte, brachte mich gleich auf den Gedanken, ob hier nicht nur eine kinematografische Illusion vorliegen könne.
»Ist das Wirklichkeit oder nur so ein lebendes Lichtbild?«, zeigte da Juba Riata, dass er gleich denselben Gedanken gefasst hatte wie ich.
»Wenn es ein Lichtbild ist, so muss es doch irgend einen Zweck haben. Wir müssen warten, was noch weiter kommt.«
Aber vorläufig geschah nichts weiter. Nur dass die Lampe blakte.
Doch dort weiter rechts befanden sich in gleicher Höhe ja noch andere Öffnungen, aus denen Licht hervorschimmerte. Rasch ging ich dorthin.
Ich hatte erst sechs Schritte getan, das nächste Fenster noch nicht erreicht, als ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Nicht dass ich in ein Loch gestürzt oder dass unter mir eine Falltür aufgeklappt wäre, sondern ich war wie auf eine schiefe, sehr glatte Fläche getreten, erst mit dem einen Fuße, und ehe ich mich mit dem anderen abstemmen konnte, saß ich schon auf meinem Hosenboden und rutschte abwärts.
Jawohl, es war eine perfekte, wunderschöne Rodelbahn, die ich hinabsauste. Nur dass ich dabei keinen Schlitten benutzte, sondern direkt auf dem Hosenboden saß. Das heißt, humoristisch war mir dabei nicht zumute. »Wo werde ich landen?«, das war die schwerwiegende Frage, die ich sorgenvoll aufwarf. Wenn ich überhaupt etwas dachte. Immer sausender ging die Fahrt hinab, vergebens suchte ich mich an den Wänden oder am Boden einzukrallen, eines war so spiegelglatt wie das andere, aber kein Eis, sondern schwarzer Stein, bis ich auch das nicht mehr erkennen konnte, weil durch den heftigen Luftzug meine am Gürtel befestigte Lampe verlöschte.
»Nun ade, Georg, das nimmt nimmer ein gutes Ende!«
Das war dass letzte, was ich dachte, ahnungsvoll ganz mit Recht, denn im nächsten Augenblick erhielt ich einen Schlag vor den Kopf und Georg war tot.
Denn wenn man nichts mehr von sich weiß, kann man sich als tot betrachten.
Als ich aber wieder erwachte, da wusste ich, dass ich noch nicht tot war. Denn wenn es auch im Paradiese, in das ich doch hoffentlich dereinst hineinkomme, so aussieht, so hoffe ich doch ebenso bestimmt, dass ich dort dereinst nicht einen so mächtigen Brummschädel habe und an meiner Stirn keine solche Beule fühle, wie es hier der Fall war. Ich befand mich in einem sogenannten Boudoir. Zwar war ich noch nie in ein Boudoir gekommen, aber so stelle ich es mir vor. Weiche Teppiche, in denen der Fuß bis zum Knöchel versank, dass man sich am Boden wie in einem Federbett wälzen konnte, schwellende Polster und Kissen und anderer Klimbim, für den ich weiter keinen Namen habe, und dazu noch ein süßlicher Parfümduft.
Ganz gewiss, das war ein sogenanntes Boudoir. Haben das nicht nur Damen?
Natürlich, es war ein Damenboudoir, sonst hätte es hier doch nicht so nach Parfüm gestunken. Dass dies manchmal auch in Herrenzimmern der Fall sein kann, wusste ich damals noch nicht. Damals dachte ich noch, was so ein richtiger Mann ist, der müsse entweder nach Teer oder nach Stiefelwichse oder nach Schweiß oder nach Leder oder nach so etwas Ähnlichem duften, nur nicht nach Parfüm.
Nachdem ich also zur Überzeugung gelangt war, mich in einem Damenboudoir zu befinden, konstatierte ich weiter, dass ich selbst auf einem niedrigen Polster lag, meine Sachen nicht mehr anhatte, aber auch nicht nackt dalag, sondern dass ich mit seidener Unterwäsche und einem wundervoll geblümten Schlafrock bekleidet war, aber besonderer Art, wohl ein türkischer Kaftan, wie hier überhaupt alles orientalisch war.
Danach musste ich längere Zeit bewusstlos gewesen sein, dass man mich so hatte umkleiden können, wenn ich nicht irrte, hatte man mich sogar gebadet, ganz sicher mein Haar sein frisiert, glücklicher Weise dabei keine Pomade hineingeschmiert, während man nicht für nötig gehalten, meine mächtige Brausche auf der Stirn zu behandeln, sonst hätte ich doch eine Kompresse oder einen Verband darauf gehabt. Mit Ausnahme einiger Kopfschmerzen fühlte ich mich denn auch ganz wohl.
Wo bin ich? Nun, zweifellos im Reiche Merlins des Zauberers und speziell, da es sich um ein Damenboudoir handelte, in einem Wohnraume seiner Tochter, des Fräulein Viviana.
Das sagte mir schon das keinen Schatten werfende Licht, das aus den teppichbehangenen Wänden wie aus jedem Gegenstande hervorzukommen schien, und wo man solche Beleuchtung hat, wenn sonst genügend für Luftventilation gesorgt ist, braucht man ja auch wie hier keine Fenster.
Aber eine Tür war vorhanden. Oder doch eine doppelte Portiere, die jedenfalls eine Tür verhüllte. Ich stand auf, konstatierte dabei, dass meine nackten Füße mit hocheleganten Sandalen bekleidet waren und dann weiter, dass ich die Portiere nicht zurückschlagen konnte. Das war kein Teppich oder sonstiger gewebter Stoff, sondern das war Eisen oder sonst etwas Unbiegsames, nur gerade wie Portieren geformt, man konnte seine Hand in einen schmalen Schlitz stecken und unten war noch ein größeres Dreieck, aber nicht groß genug, dass ein normaler Mensch durchkriechen konnte, und beim Durchblicken sah ich nur schwarze Nacht. Diese massiven Portieren waren nicht nur wie solche bemalt, sondern sogar mit Fasern bedeckt, boten mir aber jedenfalls einen unbesiegbaren Widerstand.
Da aber, wie ich schon zurücktrat, wurden diese unbeweglichen Portieren plötzlich zurückgeschlagen, so wie man eben Portieren zurückschlägt, und herein trat ein Mann, ein Türke.
»Good morning.«
Ein starrer Blick meinerseits, und ich prallte doch förmlich entsetzt zurück, obgleich der Eintretende absolut nichts Entsetzliches an sich hatte. Es war ein kleiner Mann, noch kleiner durch seine unförmliche Dicke erscheinend, der bunte türkische Schlafrock, noch prachtvoller als meiner, spannte sich über einen ganz gewaltigen Schmerbauch, über den die kleinen, aber überaus fetten Hände gefaltet wurden, und so war auch der Kopf beschaffen, klein, aber wahre Hängebacken, nicht nur Pausbacken, sie konnten vor Fett gar nicht mehr stehen, die Züge überhaupt vor Fett ganz verschwommen.
Im übrigen ein äußerst gutmütiges Gesicht, sonst wohl sehr heiter und zufrieden, nur jetzt mit einem wehmütigen Lächeln unter dem blonden Schnurrbärtchen, und wenn der Kerl auch einen türkischen Kaftan und auf dem glattgeschorenen blonden Kopfe einen roten Fez trug, so war es doch ein echt germanisches Gesicht, von der Fettsucht befallen.
»Good morning!«, sagte also dieses Männchen gleich nach dem Eintritt, faltete die Wurstfingerchen über dem Schmerbauche und schaute mich wehmütig lächelnd an.
»Ach, machen Sie keine Faxen!«, stieß ich hervor.
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie mich wiedererkennen?«
»Mister Harry Sandow!«
»Ich bin's. Das wundert mich aber, dass Sie mich wiedererkennen. Denn sonst können Sie von meinem Hiersein doch nichts wissen. Das wundert mich sehr.«
Ja, es gehörte in der Tat ein ganz besonderes Genie dazu, um diesen Mann wiederzuerkennen. Harry Sandow — der Leser entsinnt sich, der englische Bierbrauersohn, der die Indianer nach dem EldoradoPlateau gebracht hatte — das schlanke, zierliche Männchen, wenn auch mit stählernen Muskeln, aber jedenfalls doch ein dürrer Hering — und jetzt eine runde Fettkugel. Und da war auch keine Ähnlichkeit mehr in den aufgeschwemmten Zügen vorhanden. Wenigstens wohl nicht für andere Menschen.
Dass ich ihn gleich wiedererkannt hatte, das kam daher, weil ich als Sprössling einer Fechtmeistergeneration überhaupt sehr scharfe Augen besitze, und zweitens, weil ich ein Seemann bin, der an Bord des Schiffes überhaupt sehr wenig Gesichter zu sehen bekommt, und wenn man sich einmal für ein solches interessiert, dann merkt man es sich auch ganz genau, dieser »Merks« wird durch andere Gesichter nicht viel gestört.
»Harry Sandow, ist es möglich?«
»Ich bin's.«
»Ja was machen Sie denn hier?!«
Das wehmütige, obgleich nicht gerade unglückliche, mehr verschämte Lächeln trat noch stärker hervor.
»Ich werde hier gemästet.«
»Als Schlachtvieh?!«
Denn ich dachte im Augenblick an Kapitän Satan, den wir ja hier wiedersehen sollten, an seine menschenfressenden Proslewiten.
»Nee, aus Liebe. Obgleich allerdings das Schwein, das man als zukünftige Wurst mästet, ja auch von seinem Besitzer heiß geliebt wird. Aber ich soll nicht geschlachtet werden. Ganz im Gegenteil.«
»Ja weshalb werden Sie denn da gemästet?«
»Weil ich Mitglied eines Harems bin.«
»Sie haben sich hier einen Harem eingerichtet?«
»Nee, wiederum ganz im Gegenteil, ich gehöre mit zu denjenigen, mit denen andere einen Harem eingerichtet haben. Ich bin sozusagen Odaliskrich. Sie verstehen doch. Eine männliche Odaliske. Hier herrscht ein weiblicher Sultan, also eine Sultana, die sich einen männlichen Harem zugelegt hat, und alle ihre Untertanen, lauter Weiber, mit ihr.«
»Ja, was sind denn das für Weiber?!«
»Sie fragen noch? Sie sind doch an meinem ganzen Unglück schuld.«
»Ich?!«
»Jawohl, Sie! Sie haben mir doch damals geraten, nach Halsmahera zu fahren und die sogenannten Maladekkaranis zu holen, die indischen Amazonen, um mit diesen kraftvollen Weibern das indianische Blut aufzufrischen. Das habe ich denn auch getan. Aber diese vermaledeiten Weiber haben den Spieß bald umgekehrt, haben mir und meinen Indianern die Hosen aus und sich selber angezogen, und uns haben sie in ihre Weiberkittel gesteckt.«
Ich war sprachlos.
»Erzählen Sie ausführlich!«, entschied ich dann.
Wir setzten uns, und jetzt hatte Sandow kein wehmütiges, noch weniger ein heiteres Lächeln mehr, als er begann
»Es ist Schreckliches, Schreckliches, was ich Ihnen zu berichten habe.
Gleich, nachdem Sie damals mit Ihrem Schiffe fort waren, fing die Murkserei zwischen den Apachen und Komantschen an. Sie wissen schon, weil der schwarze Biber, der Häuptling der Komantschen, den Apachen Steinherz, der ihren Matrosen ermordet, Ihnen zum Hängen ausgeliefert hatte.
Aber nicht etwa, dass ich Ihnen deshalb einen Vorwurf mache, Gott bewahre, und es war ja auch vorhin nur mein Spaß, Sie wären schuld an meinem ganzen Unglück. Obgleich mir sonst gar nicht so spaßig zumute ist.
Also die Murkserei ging los, und ehe ich stoppen konnte, lebten von den 258 Männern und Bengels keine 200 mehr, und da sie außerdem gegenseitig ihre Lager überfallen hatten, waren von den 155 Frauen und Mädchen keine 80 mehr übrig. Alle anderen abgeschlachtet!
Da war es mir endlich gelungen, sie zu bewegen, das Kriegsbeil zwischen sich wieder zu begraben.
Nun brauchte ich aber, wollte ich meinen Plan durchführen, erst recht frische Weiber. Ich dachte an Ihre indischen Amazonen. Was Sie mir da erzählt, hatte mir imponiert.
Also ich wollte hin nach Indien, nach dem malaiischen Archipel. Aber die Rothäute konnte ich nicht allein lassen. Sobald ich ihnen den Rücken wandte, ging die Murkserei wieder los, das wusste ich bestimmt. Sie wissen, dass ich kein Renommist bin, aber darauf können Sie sich verlassen, dass ich einen ganz außerordentlichen Einfluss auf diese roten Burschen besaß.
So wollte ich sie lieber gleich mitnehmen. Ich redete ihnen vor, dass ich eine noch viel bessere Gegend wüsste als diese, und da kamen sie mit. Nun konnte ich sie aber auch nicht daran hindern, dass sie verschiedene gut zugerittene Pferde mitnahmen, denn sonst hätte ich doch gestehen müssen, dass ich sie angeflunkert, dass ich sie wieder hierher bringen wollte. Daher kommt es, dass Sie hier den Gaul mit dem Violinschlüssel wiedergefunden haben. Denn ich weiß recht wohl, was Sie hier treiben. Doch davon später.
Zurück nach der Küste durch Guyana und ein Schiff gechartert, später gleich gekauft. Was ich dabei für Verwicklungen gehabt habe, dabei will ich mich jetzt nicht aufhalten.
Wir kamen nach dem vermaledeiten Maladekka, das der Teufel holen soll. Denn dort fing mein Unglück an, woran Sie aber ganz unschuldig sind. Dass ich Einfaltspinsel mich mit solchen Weibergeschichten einlassen muss, wo ich geschworen habe, unverheiratet zu bleiben! Nun habe ich die Strafe dafür bekommen. Die Sachlage war noch gerade so, wie Sie sie mir erzählt hatten. Alle die Weiber steckten noch oben in ihrer Felsenburg, wurden wohl unten von den Eingeborenen belagert, die die Ermordung ihrer Fürsten und Blutsverwandten rächen wollten, aber anhaben konnten sie den Mörderinnen nichts, die hatten oben zu essen genug, machten sogar oft genug Ausfälle, ohne freilich weit zu kommen.
Ich holte sie heraus. Es war einfach genug, ging ohne jeden Kampf ab. Sie brauchten nur ein Fahrzeug, um auf dem Wasserwege fortzukommen, ein bemanntes und armiertes Schiff, das von den traurigen Eingeborenen mit ihren Prauen nicht so leicht aufgehalten werden konnte.
Und fort wollten die kriegerischen Weiber auch. Ich brauchte ihnen nur den Vorschlag zu machen, mit mir zu kommen, und sofort waren sie bereit dazu, mitzukommen, ganz gleichgültig wohin.
Wir fuhren ab. Gleich am zweiten Tage merkten wir, wen wir an Bord hatten. Bei günstigster Gelegenheit fielen die Amazonen über uns her, überwältigten sowohl die Indianer wie die ganze Mannschaft, erklärten dieses Schiff für ihr Eigentum und uns für ihre Sklaven. Und die roten Weiber wurden gleich abgeschlachtet und über Bord geworfen, nicht das kleinste Kind weiblichen Geschlechts wurde verschont. Das ist das Schrecklichste dabei. Sonst würde die Sache fast mehr humoristisch zu nehmen sein. Ich habs schon lange hinter mir, deshalb kann ich es Ihnen jetzt so ruhig erzählen. Das Weiberschiff hatte keinen langen Bestand. Die kraftvollen Amazonen hatten wohl geglaubt, selbst heizen zu können, und was sie sonst vorhatten, das mag Gott wissen, aber so einfach war die Sache eben nicht. Schon am andern Morgen rannten wir in der Nähe einer Koralleninsel prompt auf einen Felsen, kamen zwar wieder frei, der starke Wind trieb uns ab, aber das Schiff leckte unrettbar.
Da, als die Amazonen schon die Rettungsboote klar machten, aber wohl nur für sich selbst, die Gefangenen sicher ihrem Schicksale überlassen wollend, tauchte ein Schiff auf, oder vielmehr ein Fahrzeug, eine Art von Torpedoboot, und näherte sich uns mit rasender Schnelligkeit.
Es war der ›Seeteufel‹ vom Kapitän Satan. Aber ein anderer ›Seeteufel‹. Sein erster ist ja dank Ihrer Bemühungen in die Luft gesprengt worden. Ich weiß nämlich alles, Kapitän Satan hat mir alles erzählt, auch sein Renkontre mit Ihnen.
Er nahm uns an Bord. Wir Gefangenen, immer noch an Händen und Füßen gebunden, wurden wie die Heringe übereinander geschichtet. Mehr weiß ich nicht. Wir müssen betäubt worden sein, wahrscheinlich für lange, lange Zeit. Als ich wieder erwachte, hatte ich schon so ein Kostüm wie dieses an und war auch schon so aufdringlich dick geworden. Alle die Indianer und englischen Matrosen ebenfalls. Wir müssen während unserer Bewusstlosigkeit gefüttert worden sein, gemästet. Als mich Kapitän Satan zum ersten Male wieder sah, oder ich ihn, wie ich mich im Spiegel betrachtete, wollte er sich einen Bruch lachen.
Dann teilte er mir einiges mit. Viel war's nicht. Wir befänden uns hier im Herzen Sibiriens. Und hier würden wir Zeit unseres Lebens bleiben. Nicht als Gefangene, sondern als Gatten dieser Amazonen, und danach würden wir auch behandelt. Herrlich! Nur freilich dass wir nicht völlige Freiheit hätten. Und dann leben diese Weiber nicht in Monogamie, sondern in Polygamie, in Männergemeinschaft. Die haben jetzt eben den Spieß umgedreht. Wir werden abwechselnd ausgelost. Und diese Geschichte geht nun schon anderthalb Jahr lang. Wie sie uns allen bekommt, sehen Sie hier an mir. Ich bin unterdessen noch viel, viel dicker geworden, obgleich ich schon damals bei meinem Erwachen glaubte, unförmlicher könnte ich nun gar nicht mehr werden. Ich habe in den anderthalb Jahren noch mindestens 40 Pfund zugenommen.«
Der Erzähler schwieg. Ich hatte ihn mit keinem Worte unterbrochen.
»Wie sind Sie denn nun hierher gebracht worden?«, war jetzt meine erste Frage.
»Ich weiß es nicht. Die Inderinnen, mit denen ich ja ganz gemütlich sprechen kann, halten diesen Kapitän Satan für einen mächtigen Zauberer, der uns einfach durch die Luft hierher ins Innere Asiens entführt hat. Tatsache ist ja allerdings, dass dieser Mann mehr kann als andere Menschen, er ist im Besitz wunderbaren Erfindungen, die an Hexerei grenzen. Die eiserne Portiere dort, die nur, wenn es ein Höherer erlaubt, zum beweglichen Lappen wird, ist nur eine Kleinigkeit davon, Sie werden noch andere Wunder erleben. Aber dass wir auf sein Kommando plötzlich durch die Luft gesaust sind, davon kann natürlich keine Rede sein. Entweder wir sind in Kisten über Land auf Karawanenwegen hierher transportiert worden, immer ohne Zolluntersuchung oder der ›Seeteufel‹ hat ebenfalls den Jenissei und andere Wasserstraßen benutzt, wie Sie ja auch, oder doch Ihre ›Argos‹. Nur dass dieses Torpedofahrzeug, nehme ich an, ein Unterseeboot ist, es kann auch unter Wasser fahren, sich also unsichtbar machen und entgeht so der Untersuchung von den russischen Behörden. Es ist meine Ansicht. Hierüber spricht der Teufelskapitän nicht, er fängt nur immer in seiner schrecklich höhnischen Weise zu lachen an, wenn ich hierüber etwas wissen möchte.«
»Er befindet sich immer hier?«
»Jetzt, ja. Im Anfange waren immer lange Pausen dazwischen, ehe wir ihn wieder einmal zu sehen bekamen. Seit einem halben Jahre etwa, haben wir täglich die zweifelhafte Ehre seiner Gesellschaft.«
»Hat er Ihnen gesagt, wie er hierher kommt, was er hier treibt?«
»Das hat er. So weit er es für gut findet. Und dann weiß man niemals, was man ihm glauben darf, denn der Kerl lügt wie gedruckt, mindestens renommiert er ganz gewaltig. Danach gehöre er einer geheimen Gesellschaft an, welche der Menschheit um einige Jahrtausende voraus sei, auch die Geschicke der Menschheit lenke, wenn ihre Mitglieder auch nicht tätlich eingriffen. Von dieser Gesellschaft wüssten auch Sie. Stimmt das?«
»Jawohl.«
»Dann ist's ja gut, dann hat mich der Kerl einmal nicht angeflunkert. Kennen Sie einen Mann namens Merlin?« — »Ja.«
»Kann der auch so zaubern?«
»Er ist zweifellos im Besitze wunderbarer Erfindungen.«
»Merlin und Satin, wie der Kerl eigentlich heißt, haben hier einst in bester Eintracht gemeinschaftlich gehaust. Wenn letzterer auch als ehrlicher Handelskapitän zur See fuhr, von Halifax aus. Das wissen Sie ja selbst. Er musste sich eben praktisch in der Welt betätigen. Hier war nur sein Schlupfwinkel, hier gehörte er mehr jener geheimen Gesellschaft an, musste für diese wirken. Da hat er sich während seiner Seefahrten schwere Verfehlungen zuschulden kommen lassen, hat sogar Seeraub getrieben. Er ist eben vom guten Wege abgewichen, ist zum bösen Prinzip geworden, während sein früherer Freund Merlin das gute Prinzip geblieben ist. Einige Zeit ließ man ihn noch treiben, bis man ihn hierher verbannt hat, wo er einst geherrscht hat, jetzt aber als Gefangenen. Merlin ist sein Wächter, Satin steht unter dessen Aufsicht. Obgleich er doch manchmal Urlaub zu bekommen scheint. Das hat er mir ganz offen erzählt, hohnlachend, renommierend, weil es ihm jetzt viel besser gefalle als früher, und was sich der arme Merlin seinetwegen plagen müsse.«
»Wie werden Sie hier behandelt?«
»Zu klagen hätten wir ja nichts. Jeden Tag gibt es neue Belustigungen, faktisch jeden Tag etwas anderes, wenn auch dabei die Kinematografie eine Hauptrolle spielt. Aber in einer Weise, dass man es nie überdrüssig bekommt. Und dann auch reelle Vorstellungen genug. Und nun dazu immer das denkbar beste Essen, die ausgesuchtesten Leckerbissen. Und wir müssen irgend etwas einbekommen, dass wir fortwährend starken Appetit haben und dass uns diese Fresserei auch so gut bekommt. Keine Verdauungsstörungen und gar nichts. Nein, zu klagen hätten wir nichts, aber... haben Sie nicht etwas Tabak bei sich? Ach, den hat man Ihnen doch gewiss abgenommen. Na, da muss ich mich wieder mit einer Salmiakpastille begnügen.«
Die fette Hand, kaum noch eine menschliche zu nennen, zog aus der Tasche des Schlafrocks eine goldene Dose hervor, wunderschön ziseliert und funkelnd von Juwelen, und öffnete sie.
»Ach, Schokoladenkonfekt, Marzipan und überzuckerte Rosenblätter!«, erklang es enttäuscht. »Da habe ich die falsche Bonbonniere erwischt. Ich dachte, es wären Salmiakpastillen. Das ist doch wenigstens ein kleiner Ersatz für den Tabak, schmeckt sehr herzhaft und pikant.«
»Sie dürfen nicht rauchen?«, konnte ich trotz des Schrecklichen, das ich gehört, schon wieder lächeln.
»Nicht rauchen und nicht kauen. Wir stänken danach so aus dem Halse. Zuerst war uns Schnupftabak vergönnt, aber der wurde uns auch wieder entzogen, weil wir die Nase gar so voll pulverten.«
Er begann Bonbons und Rosenblätter zu lutschen.
»Was treiben Sie denn nun sonst hier?«
»Gar nischt. Wir essen, schlürfen Sorbet — so was wie Spirituosen gibt's natürlich nicht hier, das sind lauter Mohammedaner — lassen uns Vorstellungen geben und stehen im übrigen unseren Gattinnen zur Verfügung.«
»Und was treiben diese?«
»Sport. Sie fechten und schießen und reiten und treiben athletische Spiele. Die sorgen dafür, dass sie schlank bleiben. Nur ihre Männer wollen sie so dick als möglich haben. Das ist eben Geschmackssache.«
»Und was machen die Apachen und die Komantschen?«
»Genau dasselbe wie ich: gar nischt.«
»Ja, lassen sich denn diese Indianer denn nur solch eine Gefangenschaft mit Weiberherrschaft gefallen?!«
»Ja, was sollen sie dagegen machen? Wir sind alle eingesperrt, dürfen auch nicht zusammenkommen, oder doch nur in beschränkter Weise. Immer nur zu je zwei. Diese Gesellschaft dürfen wir uns täglich auswählen, da können wir uns gegenseitig aussprechen. Schon drei sind nicht erlaubt.«
»Und das lassen sie sich gefallen, diese rachsüchtigen Indianer?«
»Ja, was soll man dagegen tun?«
»Denken diese Indianer, deren Frauen und Kinder ermordet worden sind, denn nicht an Rache?!«
»Ich weiß, was Sie meinen. Diese Weiber beim Zusammensein mit den Händen erdrosseln. Mein lieber Herr Kapitän! Das hat einen bösen Haken. Wie lässt Shakespeare seinen Hamlet bei Gelegenheit sagen? ›Ich will dicke Menschen um mich haben.‹ Oder so ähnlich. Er meint, dass dicke Menschen immer harmlos sind, auf keine bösen Gedanken kommen. Und das ist auch so ziemlich Tatsache. Der Intrigant und Bösewicht muss immer hager sein. Dicke Menschen sind viel zu faul, um böse Taten auszuführen. Und das ist umso mehr der Fall, glaube ich, wenn es keine angeborene Fettsucht ist, sondern wenn man erst nach normaler Beschaffenheit davon befallen, künstlich dazu gebracht wird. Wenn man sich toll und voll gefuttert hat. Dann wird man ein ganz anderer Mensch.
Sehen Sie, mein lieber Kapitän, stellen Sie sich mal vor, Sie wären recht jähzornig, kämen über einen Menschen in eine ganz besondere Wut. Plötzlich, wie Sie den Kerl gerade erwürgen wollen, stürzen Sie in kaltes Wasser. Ist Ihre Wut da nicht sofort verraucht? In derselben Lage befinden wir uns. Nur dass wir in Fett gepurzelt sind. Wir schwimmen sogar ständig in warmem, schmierigem Fett, das noch viel nachdrücklicher alle auffallenden Leidenschaften besänftigt als kaltes klares Wasser, wir ersticken fast in unserem eigenen Fett. Oder ich will mich kürzer ausdrücken: wir sind durch diese Fettsucht alle Schlappsäcke geworden. Das ist die Sache. Nein, auch der rachsüchtigste Indianer hat sich jetzt in seinem Fette in ein geduldiges Schaf verwandelt. Noch kein einziger tätlicher Angriff ist erfolgt. Wir denken einfach an so etwas gar nicht mehr.«
»Auch alle die Indianer sind so dick geworden?«
»Alle, alle. Kannten Sie den großen Knochen? Haben Sie ihn damals zufällig gesehen? Ein baumlanger Komantsche, der so hieß, weil er eben das reine Skelett war. Der wiegt jetzt bald drei Zentner. Da können Sie keine Rachsucht und keine heroischen Taten mehr verlangen. In solch einem Körperfette erstickt auch die Seele.«
Ich glaubte schon, dass Sandow recht hatte.
»Werden denn auch diese Weiber von dem Kapitän Satan als Gefangene gehalten?«
»Ja und nein. Anfangs durften Sie sich in der Steppe frei bewegen. Sie wissen, in dem Steppenlande nördlich von der Felswand. Das bewaldete Tal durften sie überhaupt nie betreten. Da kamen Sie mit Ihrer Mannschaft, wovon wohl auch Kapitän Satan nichts gewusst hatte. Jedenfalls wurde die Steppe dann auch den Amazonen verboten — Sie haben einmal eine im Freien gesehen, ich weiß es. Die hatte dieses Verbot übertreten, ist dafür bestraft worden. Wie, weiß, ich nicht, vielleicht ist sie für immer verschwunden. Jetzt dürfen auch die Weiber die Felsenräume nicht mehr verlassen, es ist ihnen überhaupt unmöglich gemacht worden, sie haben aber immer noch große Talkessel, in denen sie sich so gut wie im Freien bewegen. Nur der Ausgang ist ihnen verschlossen.«
»Lassen sich die indischen Amazonen diese Gefangenschaft gefallen?«
»Es wird ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich darein zu fügen.«
»Gehen sie nicht mit Befreiungsplänen um, wenigstens insofern, dass sie sich auch draußen den freien Wald erschließen wollen?«
»Das weiß ich nicht, in ihre Pläne weihen sie uns Männer nicht ein.«
»Wie viele Weiber sind es?«
»Genau noch 208.«
»Wo sind die übrigen geblieben? Es waren doch ursprünglich 256.«
»Der Kampf um die Maladekkaburg, ihre Ausfälle haben doch viele Opfer gefordert, auch hier sind einige wegen Ungehorsams oder sonstiger Vergehen mit dem Tode bestraft worden, oder Unglücksfälle tödlicher Art haben sie hinweggerafft!«
»Hat etwa Kapitän Satan solche Bestrafungen durch den Tod gefordert?«
»Ganz gewiss!«, wurde eifrig bestätigt, so weit diese Fettkugel noch eines Eifers fähig war.
»Und wie verhalten sich da die Weiber dazu?«
»Die scheinen mit dem Kapitän Satan überhaupt unter einer Decke zu stecken, die vertragen sich ganz gut.«
»Wie viele Indianer sind noch übrig?«
»Von den früher vorhandenen genau nochmals 97. Damals wurden ja die halbwüchsigen Knaben als unbrauchbar über Bord geworfen.«
»Sind sonst keine Kinder hinzugekommen?«
»Ja gewiss, gegen 40 Mädchen. Die genaue Zahl kann ich gar nicht angeben wie bei den Erwachsenen, ich weiß nicht einmal, wie oft ich selbst glücklicher Vater geworden bin und durch wen. Hier ist der Platonische Idealstaat verwirklicht worden. Die Kinder lernen ihre Eltern gar nicht kennen, und es wird dafür gesorgt, dass auch die Mutter ihr Kind nicht kennt, es verliert sich gleich unter den anderen.«
»Sie sprechen von 40 Mädchen. Werden denn nicht auch Knaben geboren?«
»Doch, natürlich.«
»Und wo bleiben die?«
»Die verschwinden sofort nach der Geburt.«
Ohne weiteres Zögern hatte es Sandow gesagt. Er schien sich schon ganz daran gewöhnt zu haben.
»So! Sie verschwinden. Sie werden getötet?«
»Das weiß ich nicht. Kapitän Satan nimmt sie in Empfang, sie kommen nicht wieder zum Vorschein.«
»Na, Sie sind doch überzeugt, dass diese hier unbeliebten Knaben getötet werden!«
»Ich muss es annehmen!«, gab er jetzt zu.
Nicht mit Verachtung, sondern nur mit tiefstem Mitleid blickte ich an den Mann herab, der in solche Verhältnisse geraten war und sich ihnen fügen musste — musste! Denn was sollte er dagegen tun? Und um Rache oder doch Strafe ausüben zu können, dazu muss man am Leben bleiben!
»Kommen da nicht manchmal Szenen vor?«
»Gewiss, oft genug sogar. Allerdings nicht gleich während der Niederkunft. Die erfolgt in der Narkose. Nur hinterher begehrt die Mutter oft stürmisch nach ihrem Kinde. Nun, da wird ihr eben gesagt, dass es ein Mädchen gewesen ist. Auftritte erfolgen nur deshalb, weil dann die Mutter oftmals auch dieses ihr Mädchen haben will. Aber dem wird nicht nachgegeben. Es wird ihr gleich direkt gesagt, dass es ein anderes, fremdes Mädchen ist, das sie an die Brust nehmen muss. Und nach einiger Zeit fügt sie sich immer. Diese Weiber haben sich schon daran gewöhnt, schon ihre frühere Erziehung war danach beschaffen, das geht ihnen immer mehr in Fleisch und Blut über. Ich dachte lebhaft an die alten Spartaner, welche verkrüppelte oder auch nur schwächliche Kinder einen Felsen hinabstürzten, und niemand hat dabei eine Ungeheuerlichkeit gefunden, wenn es auch zu schrecklichen Szenen gekommen sein mag. Und noch heute töten Insulaner der Südsee, auf Eilanden wohnend, die nur eine beschränkte Anzahl Menschen ernähren können, überzählige neugeborene Kinder, wie auch alte Leute als unnötige Esser getötet werden, und indem eine religiöse, feierliche Handlung daraus gemacht wird, verliert dies alles seinen Schrecken.
»Was ist denn aus der Mannschaft jenes Schiffes geworden?«
»Die ist auch hier.«
»Spielt dieselbe Rolle?«
»Genau dieselbe.«
»Auch alle so dick?«
»Selbstverständlich. Kapitän Arnold hat in der Fettsucht sogar den Rekord geschlagen.«
»Wie viele sind das Leute?«
»27 Mann, und noch keiner von ihnen ist gestorben.«
»Und wie viele hat Kapitän Satan von seinen eigenen Leuten bei sich?«
»Das wissen wir nicht. Wir bekommen nicht einen einzigen von ihnen zu sehen.«
»Hat er überhaupt eigene Leute bei sich?«
»Sicher.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Es wird für uns gekocht, Reinigungsarbeiten werden verrichtet, wir werden überhaupt bedient. Nur dass wir diese Menschen niemals zu sehen bekommen. Da müssen wir vorher die betreffenden Räume verlassen.«
»Wissen Sie nicht zufällig, ob unter diesen Männern ein außergewöhnlich großer ist, der manchmal eine eiserne Ritterrüstung trägt?«
»Eine eiserne Ritterrüstung?«
Sandow verstand mich gar nicht. Obgleich ich nicht gerade etwas Ungewöhnliches fragte. Auch die Amazonen hatten hier in diesem Felsenbezirk solche Rüstungen gefunden, bedienten sich ihrer, aber nur solche von Bronze. Jedenfalls wusste Sandow nichts von dem riesenhaften Klausner in dem Felsenloche, und ein Glück war es für mich, wie ich später merken sollte, dass ich nur vorsichtig gefragt hatte, wenn auch gar nicht absichtlich mit solcher Vorsicht, sodass Sandow später gar nicht mehr daran dachte.
»Sie werden mit allem versorgt, was Sie brauchen?«
»Mit allem, mit allem.«
»Das ist ein weiter Begriff.«
»Wir können verlangen, was wir wollen, in spätestens einer Stunde ist es zur Stelle.«
»Das ist nicht möglich.«
»Ich versichere es Ihnen! Nun ja, die Sterne vom Himmel können wir nicht fordern. Und Tabak auch nicht, keinen Wein und sonstige Spirituosen, das wird uns vor enthalten. Aber sonst können wir alles verlangen.«
»Zum Beispiel auch... Bücher?«
»Ich verlangte neulich den ›Gargantua‹ von Rabelais, doch gewiss ein ungewöhnliches Werk, und in zehn Minuten war es in meinen Händen.«
»Wenn aber nun ein Buch erst kürzlich erschienen ist, wie dann?«
»Hm, das kann allerdings nicht herbeigeschafft werden, und solche Fälle sind auch schon vorgekommen. Wenn Sie es freilich auch so wörtlich nehmen.«
»Ich will nur erfahren, ob dieser Kapitän Satan noch mit der Außenwelt in Verbindung steht, alles erst herbeiholt, oder ob hier schon alles Wünschenswerte aufgestapelt ist.«
»Das Letztere ist der Fall. Es muss hier eine ganz großartige Einrichtung geben. Es müssen hier Menschen wohnen oder bis vor kurzem gewohnt haben, die allen modernen Komfort besaßen, der sich nur denken lässt. Als ich zum Beispiel ein Notizbuch verlangte, war ein solches sofort zur Stelle, ganz neu, rotes Juchtenleder.«
»So, das wollte ich nur wissen. Sie kennen also den Mann, der sich Merlin nennt?«
»Nur dem Namen nach.«
»Gesehen haben Sie ihn noch nicht?«
»Nein. Wir dürfen diese Felsenräume ja nicht verlassen.«
»Er hätte doch hierher kommen können.«
»Das darf er nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Weil die beiden, Merlin und Satin, Feinde sind, oder doch als Nachbarn auf ganz getrennten Revieren leben, sich nicht gegenseitig besuchen dürfen, nichts miteinander zu tun haben.«
»Ich denke, Merlin ist gewissermaßen der Gefangenenaufseher, der Wächter von diesem Teufelskapitän, der jetzt hierher verbannt worden ist.«
»Ja, das ist aber wohl mehr geistig aufzufassen, in persönliche Berührung kommen die beiden nicht.«
»Gut, ich verstehe. Aber Kapitän Satan hat Ihnen von diesem Merlin erzählt?«
»Ja.«
»Was?«
»Eigentlich wenig genug. Er gibt zwar zu, dass jener der Mächtigere ist, aber er verhöhnt ihn in jeder Weise, macht sich über ihn lustig.«
»Inwiefern?«
»Nun weil er seinem Wächter eben das Leben sauer macht. Weil dadurch Merlin in seiner eigenen Freiheit beschränkt ist, sich nicht von hier entfernen darf.«
»Über seine persönlichen Verhältnisse hat er Ihnen nichts erzählt?«
»Gar nichts. Das scheint er nicht zu dürfen, sonst hätte er's sicher schon getan.«
»Sie kennen aber doch eine geheime Gesellschaft, eine Schwester Anna.«
»Da hat er nur einige wenige Andeutungen gemacht. Dass eine solche geheime Gesellschaft existiert, der auch er angehört, jetzt aber nur noch zwangsweise als Abtrünniger, dem enge Schranken gezogen worden sind. Mit seiner ehemaligen Seeräuberei und sonstigen Gräueltaten hingegen renommiert er ganz offen, davon bekomme ich genug zu hören.«
Hierfür aber interessierte ich mich jetzt nicht.
»Ist dieser Satan auch derjenige, der dem Merlin seine Tochter Viviana entführt hatte?«
»Eine Tochter Viviana?«, wiederholte Sandows verwundert.
Er wusste gar nichts von dieser, und mich ging das auch nichts weiter an.
»Sie wissen also, dass wir schon hier sind und was wir hier treiben?«
»Kapitän Satan erzählt uns viel von Ihnen und Ihren Leuten.«
»Was erzählt er?«
»Nun, wie Sie sich eingerichtet haben, wie Sie Wölfe und Kulans und Tarpans fangen und sie zähmen, wie Sie Ihre Matrosen und auch die Damen in dem Zirkus als Reitkünstler ausbilden. Darüber höhnt und spottet er.«
»Was hat er darüber zu höhnen und zu spotten?«
»Weil dieser Kerl eben ganz aus Hohn und Spott zusammengesetzt ist. Aus keinem anderen Grunde. Das sage ich ganz offen, obgleich er es vielleicht hört.«
»Er belauscht uns?!«
»Sehr leicht möglich. Aber er freut sich nur, wenn man ihm sagt, wie grundverdorben er ist, was für ein miserabler Mensch, was für ein echter Teufel. Das macht ihm nur Spaß.«
»Also er beobachtet auch uns.«
»Ja, so weit es ihm gestattet ist.«
»Wie weit ist es ihm gestattet?«
»Das weiß ich nicht. Jedenfalls aber darf er sich auch nicht mit dem kleinen Finger in Ihre Angelegenheiten mischen. Das weiß er ja aber auch wieder nur zu seinen Gunsten zu deuten. So erzählte er mir höhnisch, wie Sie und Juba Riata einmal auf dem Baume gesessen haben, von dem Wisent gestellt, und er bedauerte nur, erzählt er ganz offen, dass er nicht hervortreten durfte, um Sie zu verspotten.«
»Er hätte uns also, wenn wir uns nicht selber hätten helfen können, unserem Schicksale überlassen, nichts für unsere Rettung getan.«
»Das nun weniger. Er hätte Ihnen wohl im Gegenteil gerade geholfen, um Sie verbindlich zu machen, um Sie dann verspotten zu können. Das sagt er selbst ganz frei heraus. Ein echter Teufel.«
»Gut, ich verstehe. Hat er gesagt, weshalb sich jene geheime Gesellschaft unserer so annimmt?«
»Nein, mit keinem Worte. Auch dafür hat er nur Hohn.«
»Wie drückt er diesen Hohn aus? Das möchte ich einmal näher erfahren.«
»Wenn Sies wollen — Sie und Ihre Leute wären Kinder, die noch am Gängelbande geleitet werden müssten.
»Never mind. Vielleicht sprechen wir uns noch einmal. So, das wäre der erste Teil unserer Unterhaltung gewesen. Wie komme ich nun hierher? Was ist mit mir geschehen?«
»Sie sind in einen Schacht gestürzt, man hat Sie bewusstlos aufgefunden.«
»Man hat mich mit Absicht in jenen Schacht stürzen lassen?«
»Nein, das dürfte man gar nicht. Kein Haar darf Ihnen oder einem Ihrer Leute gekrümmt werden, keine List darf man anwenden, um Ihrer habhaft zu werden, kein Lockmittel und gar nichts. Sie sind in den Felsen herumgekrochen und auf eine schiefe, glatte Fläche gekommen, wo sie abrutschten und zuletzt heftig aufschlagen. So kamen Sie in dieses Reich des Kapitän Satan, wo nun wieder jener Merlin nichts zu suchen hat, weder mit List noch mit Gewalt eindringen darf. Da Sie aber nun einmal zufällig hierher geraten sind, wird man Sie, so viel ich schon gehört habe, nun auch hier festhalten.«
»Wozu?«
»Um gegen jenen Merlin eine Handhabe zu bekommen.«
»Inwiefern?«
»Näheres weiß ich nicht, so weit hat man mich noch nicht eingeweiht. Jedenfalls aber soll durch Sie auf Merlin ein Druck ausgeübt werden, dass er Satin und den Weibern, die ja mit ihm unter einer Decke stecken, Zugeständnisse macht.«
»Was für Zugeständnisse?«
»Nun, dass sie etwa mehr Freiheiten bekommen, sich auch draußen bewegen können.«
»Wird man mich da eventuell auch martern? Sie wissen vielleicht, dass ich ja nicht gerade ein Angsthase bin, aber so etwas interessiert einen doch.«
»Ich glaube nicht. An Ihrem Leben und Ihrer Gesundheit wird man sich nicht zu vergreifen wagen. Aber herausgeben wird man Sie sicher auch nicht, das ist mir auch schon gesagt worden.«
»Sind Sie zu mir geschickt worden, um mir das zu sagen?«
»So halb und halb. Ich soll Ihnen mitteilen, wo Sie sich hier befinden und alle Ihre Fragen beantworten, so weit ich kann. Weitere Instruktionen habe ich nicht bekommen. Verheimlicht habe ich Ihnen nichts, und ich brauche auch nicht, wie gesagt, rücksichtsvoll zu sprechen, selbst wenn wir belauscht würden.«
»Wie lange bin ich bewusstlos gewesen?«
»Ungefähr drei Stunden. Es ist gleich Mitternacht.
Aber Tag und Nacht macht hier wenig Unterschied aus. Das heißt, Sie sind mit Absicht so lange in Bewusstlosigkeit gehalten worden. Inzwischen sind Sie gebadet worden, auch hat man schon zu konstatieren gewusst, dass Ihnen der Sturz nichts weiter geschadet hat — auch Ihrem Gehirn nicht, meine ich. Das hat man mir noch gesagt, um Sie zu beruhigen, weiter nichts.«
»Wer hat mich gebadet und sonst behandelt?«
»Entweder die Amazonen — oder Kapitän Satans Leute — das weiß ich nicht.«
»Was hat es dort mit jener Portiere für eine Bewandtnis?«
»Das ist so ein Schutzmittel, so eine Verschlussvorrichtung, wie es hier in Masse gibt, und jede immer anders, dass man sich nie zurechtfindet, wenn es einem nicht erklärt wird, was natürlich nicht geschieht.«
»Wie kommen Sie hindurch?«
Sandow zog aus seiner Schlafrocktasche eine schwarze Kugel von Walnussgröße hervor.
»Das ist der Talisman. Wer diese Kugel bei sich trägt, für den verwandelt sich der eherne Vorhang bei der Berührung in einen weichen Lappen. Es ist dabei wohl Elektrizität im Spiele. Muss dabei eine ganz besondere Art von Elektrizität sein, von der die anderen Menschen noch gar nichts wissen. Und es nützt Ihnen nichts, dass Sie mir die Kugel nehmen. Sie ist immer nun auf eine einzelne Person eingestellt, einer anderen nützt sie nichts.«
»Weshalb nicht?«
»Nehmen Sie, probieren Sie selbst, die Portiere zu öffnen. Auf einen kleinen Schreck kommt es Ihnen doch nicht an, sonst passiert Ihnen nichts weiter, gefährlich ist die Sache nicht.«
Ich nahm die Kugel, begab mich hin, und noch ehe ich die Portiere herrührt hatte, erhielt ich einen elektrischen Schlag, der mich förmlich zurückschleuderte, jedoch ohne dass dabei das Überspringen eines Funkens zu bemerken gewesen wäre.
»Es nützt auch nichts«, erklärte Sandow weiter, während ich noch ganz bestürzt dastand, »dass ich die Kugel bei mir habe und Sie bei der Hand fasse. In diesem Falle werden eben wir beiden von einer elektrischen oder wahrscheinlicher von einer magnetischen Kraft zurückgeschleudert. Wie diese Kugel gerade auf eine bestimmte Person eingestellt werden kann, das freilich ist mir ganz und gar unbegreiflich.«
Da erscholl in der Kugel, die ich noch in der Hand hielt, ein helles Klingeln, und so schnell er konnte, erhob sich der Fettwanst.
»Das ist das Zeichen, dass meine Zeit abgelaufen ist, ich muss mich entfernen. Gehaben Sie sich wohl, und nicht wahr, Sie machen keine Dummheiten, wenn jetzt die Sultana zu Ihnen kommt. Hier ist jeder Widerstand ganz zwecklos.«
Mit diesen Worten hatte er mir die Kugel abgenommen, schlug die Portieren zurück, hinter ihm fielen sie wieder zusammen.
»Bonjour, Monsieur maître des armes«, erklang es hinter mir. Ich wandte mich um. In der Teppichwand war eine freie Türöffnung entstanden, und in dieser stand ein junges Weib in goldener Schuppenrüstung die sich trikotähnlich an den üppigen Körper anschmiegte, nur dass noch ein kurzes Röckchen hinzukam, ebenfalls aus zusammengesetzten Goldschuppen bestehend.
Ich erkannte sie sofort wieder. Es war die Begum Sallah, die mich ja damals auch an Bord besucht hatte. Sie hatte sich nicht im Geringsten verändert.
Es war ein wirklich klassischschönes Gesicht, wenn auch nicht mehr mädchenhaft, einem reifen Weibe angehörend, nicht gerade braun, nur brünett, desto schwärzer funkelten die Augen.
Die starken, sogar muskulösen Arme über dem vollen Busen verschränkt, betrachtete sie mich.
»Ich hoffe, Sie kennen mich noch, Herr Waffenmeister!«, begann sie dann, sich der französischen Sprache bedienend.
»Ja.«
»Als ich Ihnen damals den Vorschlag machte, mit mir auf meine Felsenburg zu kommen, und als Sie mich nicht anders als wie einen Hund von Bord jagten, sagte ich Ihnen ja gleich, dass wir uns noch einmal wiedersehen würden.«
Es war ohne weitere Gehässigkeit gesagt worden, nur etwas Spott klang hindurch. Sonst aber drückten diese sinnlosen Gesichtszüge etwas ganz anderes aus.
»Ich glaube, dieses Wiedersehen ist auch Ihrerseits ein recht unfreiwilliges!«, entgegnete ich.
»Darauf kommt es nicht an. Sie sind mein Gefangener auf Gnade und Ungnade. Ihr englischer Freund hat Sie eingeweiht. Nur in einem hat er sich geirrt. Ich scheue mich durchaus nicht, Sie Marterqualen zu unterwerfen.«
»Weshalb wollen Sie mich denn martern?«
»Wenn Sie nicht auf meine Bedingungen eingehen.«
»Auf was für Bedingungen?«
»Sprechen Sie mit Merlin. Wir verlangen größere Freiheit von ihm. Wir wollen uns gänzlich frei bewegen, wie und wo wir wollen. Denn jetzt dürfen wir uns nur innerhalb dieser Felswände aufhalten. Das ist das, was ich von jenem Merlin fordere. Das zweite fordere ich von Ihnen selbst. Dass, wenn wir uns frei in der Steppe und in dem waldigen Tale bewegen können, Sie und Ihre Leute uns nicht als Feinde betrachten, sondern als Freundinnen, dass wir mit Ihren Leuten ohne Ausnahme verkehren und uns an ihren Spielen beteiligen dürfen.«
Mein Entschluss war sofort gefasst.
»Das erstere will ich tun. Mit Merlin sprechen, ihm Ihren Vorschlag machen. Mehr kann ich nicht, über die Entscheidung habe ich doch gar nichts zu sagen. Dagegen schlage ich Ihren zweiten Wunsch von vornherein ab. Gesetzt den Fall, Sie dürften sich frei in dem Tale ergehen, so werden wir, meine Leute und ich, doch niemals mit Ihnen und Ihresgleichen freundschaftlich verkehren.«
»Weshalb nicht?«
»Weil wir mit Mörderinnen niemals Gemeinschaft haben wollen.«
Die weißen Zähne nagten an der Unterlippe.
»Nun gut!«, gab sie dann überraschend schnell nach.
»So versprechen Sie mir wenigstens, dass Sie und Ihre Leute nicht das geringste gegen uns unternehmen, wenn wir uns draußen im Freien zeigen.«
»Auch das kann ich Ihnen nicht versprechen.«
»Warum nicht?«
»Weil wir gewohnt sind, Mörder und andere Verbrecher, welche der Menschheit schädlich sind, zu fangen und sie zur Bestrafung der irdischen Gerechtigkeit auszuliefern. Ist die Auslieferung aber nicht möglich, so halten wir es für unsere Pflicht, diese Bestien in Menschengestalt selbst unschädlich zu machen.«
»Wenn Sie unsere ganze Erziehung kennten, würden Sie weniger hart über uns urteilen, würden uns...«
»Sparen Sie doch Ihre Worte! Ich habe ein für alle Mal gesprochen.«
»Aber ich noch nicht. Überlegen Sie sich meinen Vorschlag. Zunächst hier. Sie bleiben heute Nacht bis morgen früh hier. Dann werden Sie entlassen, um mit Merlin und Ihren Leuten zu sprechen. Natürlich müssen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, zurückzukehren. Spätestens nach 24 Stunden. Ihrem Ehrenwort vertraue ich unbedingt. Nur könnten Sie von Ihren Leuten ja mit Gewalt zurückgehalten werden. Um dies unmöglich zu machen werde ich für Sie eine andere Geisel fordern. Vorläufig habe auch ich dem nichts mehr hinzuzufügen, morgen früh sprechen wir uns noch einmal.«
In diesem Augenblick, da sie das gesagt, ward mir klar, in was für einem furchtbaren Dilemma ich mich befand. Hier gab es nur eines, wenigstens musste es versucht werden, so lange noch Zeit dazu war.
Die Begum war nicht in meinen Raum getreten, stand noch jenseits der Türöffnung, in einem Gemache, dessen Einrichtung ich nicht weiter beachtet hatte.
Sofort stürzte ich mich auf sie, während sie noch so mit gekreuzten Armen dastand, das letzte Wort noch auf ihren Lippen.
Es war vergebens. Ich prallte gegen eine unsichtbare Wand, die sich doch noch in der frei erscheinenden Türöffnung befand — gegen eine Glaswand, will ich sagen, wenn ich von dieser auch nicht das geringste bemerkt hatte, auch die Stimme war dadurch nicht gedämpft worden.
Ein Glück war es gewesen, dass ich, um jene zu packen, die Hände vorgestreckt gehabt hatte. Andernfalls hätte ich mir den Kopf zerschmettern können. Immerhin war der Anprall so heftig, dass ich weit zurückgeschleudert wurde und zum Sturz kam.
»Versuchen Sie das nicht wieder, ich bin für Sie ungreifbar!«, erklang es noch einmal, und die Türöffnung war verschwunden, die Teppichverkleidung wieder da.
Ich blieb gleich liegen, wo ich lag.
Ja, ich befand mich in einem schrecklichen Dilemma.
Jeder meiner Jungen wäre natürlich sofort bereit gewesen, sich für mich als Geisel zu stellen, dann wäre es aber doch genau dieselbe Geschichte gewesen — mehr brauche ich nicht auszuführen. Wir hätten schließlich mit diesen Mörderinnen Freundschaft schließen müssen, und das ging doch wider unseren Charakter.
Ich sollte nicht lange mehr hierüber grübeln. War es natürliche Müdigkeit oder eine Nachwirkung des mir künstlich beigebrachten Betäubungsmittels — bald schlief ich wieder ein.
Ein leichtes Rütteln an der Schulter weckte mich. Ich blickte in ein schönes, tiefbraunes Mädchenantlitz, das sich über mich beugte.
Ach, wie gut noch kannte ich diese sanften Züge!
»Viviana!«, flüsterte ich, obgleich vielleicht in der Meinung, das nur zu träumen.
»Ich bin es!«, erklang es ebenso flüsternd zurück. »Diesmal kann ich Dich noch retten. Komm, folge mir schnell.«
Da wusste ich, dass ich nicht nur träumte. Auf schnellte ich.
Das in dunkle Gewänder gehüllte Mädchen schlug die ehernen Portieren zurück, auch ich konnte den Ausgang passieren, wir kamen in einen erleuchteten Gang, in dem links und rechts auf Teppichen zwei Amazonen lagen, mit silbernen Schuppenrüstungen angetan, in den Händen ein bronzenes Schwert, in tiefem Schlafe liegend.
Viviana wendete sich einmal nach mir um, den Finger auf den Lippen, wir schritten vorbei, drangen in einen schmäleren Seitengang, immer andere Gänge kamen, bis ich in einer Kammer meine mir abgenommene Kleidung und meine Waffen liegen sah.
»Kleide Dich um«, sagte meine Führerin mit nur wenig gedämpfter Stimme, »ich lasse Dich allein, aber Du bist schon in vollkommener Sicherheit, in einigen Minuten komme ich wieder.«
Sie verschwand hinter einer Ecke, doch kaum hatte ich meine Metamorphose beendet, als sie wieder auftauchte, wieder die Führung übernahm, ohne ein Wort zu sprechen.
Es ging weiter kreuz und quer durch Gänge, auch Treppen hinab und hinauf, es wurde finster, nur in der Hand meiner Führerin leuchtete ein Licht, bis auch dieses verlosch. Doch da dämmerte mir schon Tageslicht entgegen.
»Mein Vater erwartet Dich draußen, er will Dich sprechen!«, sagte sie und blieb hinter mir.
Es war die Steppe, in die ich trat, der Morgen dämmerte. Neben der Felswand in dem taufeuchten Grase stand eine gelbe Gestalt — Merlin.
»Es war meine Schuld«, begann er ohne weiteres, »dass Du in die Gefangenschaft der indischen Amazonen gerietest. Einer meiner Leute hatte Euer Gebiet betreten und den Eingang hinter sich offen gelassen, dadurch stürztest Du in den schrägen Schacht. Da ich diese Schuld auf mich nehmen muss, musste ich Dich auch wieder befreien. Dadurch ändert sich nun alles. Wollt Ihr dieses Tal und diese ganze Gegend verlassen?«
»Weshalb verlassen?!«, fragte ich bestürzt
»Ihr braucht es nicht. Aber, wie gesagt, durch Deine Befreiung ändert sich nun das ganze Verhältnis. Du hast erfahren, in welchem Verhältnis ich zu jenem Manne stehe, den Ihr Kapitän Satan nennt, und es entspricht alles den Tatsachen. So lange Ihr Euch hier aufhaltet, bleibt er in ein bestimmtes Gebiet gebannt, innerhalb der Felsen, er musste unbedingt gehorchten, und dasselbe gilt oder galt auch für die Amazonen.
Aber auch ich hatte Verpflichtungen. Auch ich durfte sein Gebiet nicht betreten, niemand von meinen Leuten. Das ist nun anders geworden. Ich bin es gewesen, der kontraktbrüchig geworden ist. Durch Deine Befreiung. Indem ich meine Tochter jenes Gebiet betreten ließ, und sie hat sogar Amazonen eingeschläfert und andere Listen gebrauchst, sogar eine kleine Gewalt.
Dadurch ist nun auch Satin seiner Verpflichtung enthoben. Er wird sich fernerhin mit seinen Leuten frei in der Steppe wie in dem Tale ergehen, und dasselbe gilt von den Amazonen. Ich kann ihn daran nicht mehr hindern, und gerettet musstest Du werden, denn Dir stand zweifellos Fürchterliches bevor. Willst Du also mit diesen fremden Menschen dieses Gebiet fernerhin teilen?«
»Werden sie uns als Feinde gegenüber treten?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich bin nicht allwissend, kenne die Pläne anderer Menschen nicht. Jedenfalls aber müsst Ihr darauf gefasst sein. Ihr müsst fernerhin mehr zusammenhalten, nicht mehr so einzeln herumschweifen und immer auf Eurer Hut sein.«
»Gut, das werden wir tun«, erwiderte ich sofort, »deshalb verlassen wir diese herrliche Gegend noch lange nicht, wenn in ihr außer Bären und wilden Wisents auch einige feindselige Menschen herumschwärmen. Sonst könnte man ja auch heute noch nicht in den Prärien und Wäldern des wilden Westens Amerikas jagen, weil man da immer noch stündlich ein Renkontre mit noch ganz waschechten, skalplüsternen Indianern zu erwarten hat. Nein, diese Amazonen machen den Aufenthalt hier vielleicht nur noch interessanter.«
»Recht so! Werdet nun Ihr selbst gegen die Amazonen feindlich vorgehen?«
»Weshalb wir?«
»Du sagtest es doch der Begum selbst. Ich bin nicht allwissend, kann aber hören, was ich hören will. Du hieltest es für Deine Pflicht, verbrecherische Menschen festzunehmen und sie der Gerechtigkeit auszuliefern oder wenn das nicht möglich ist, sie gleich selbst unschädlich zu machen...«
»O, das ist nicht so ganz buchstäblich zu nehmen. Mindestens gibt es da auch hier wie überall Ausnahmen. Ich will annehmen — und es dürfte auch in Wirklichkeit der Fall sein — dass diese Männer- und Kindesmörderinnen hier ein Asyl gefunden haben, in dem sie vor Verfolgung gesichert sind. So werde auch ich sie nicht verfolgen. Nein, sie sollen nur ruhig hier neben uns ihr Wesen treiben. Etwas anderes ist es natürlich, wenn sie wieder zu morden beginnen, oder wenn mir nur ein Hilfeschrei in die Ohren dringt. Dann muss ich natürlich neue Verbrechen zu verhindern suchen und der Hilfsbedürftigen mich annehmen, das ist meine Pflicht, die mir mein Gewissen vorschreibt, und ich spreche im Namen aller meiner Leute. Auch um die anderen Gefangenen wollen wir uns jetzt nicht weiter kümmern, die scheinen sich ja in ihrem Fette ganz behaglich zu fühlen.«
»Recht so!«, erklang es wiederum im Tone eines alten Seemannes. »Kann ich dies den Amazonen und Kapitän Satin als Deinen endgültigen Beschluss mitteilen?«
»Tue es, das ist mir nur sehr lieb. Sage ihnen auch, dass wir alles bisher Geschehene verzeihen, oder vielmehr vergessen, wir kümmern uns gar nicht darum, es existiert nicht für uns, weil es uns nicht selbst betrifft, und dass es somit nur an ihnen liegt, wenn wir als gute Nachbarn nebeneinander leben wollen.«
»Ich werde es ausrichten.«
»Dagegen brauchst Du ihnen nicht zu sagen — das sage ich Dir jetzt nur unter vier Augen — dass sie uns gewappnet finden werden, falls sie einmal feindselig gegen uns vorgehen wollen. Und wenn es auch die zarteste Jungfrau ist, die einem meiner Jungen oder sonst jemand von uns nur ein Haar gekrümmt hat — dann gibt es keine Schonung! Die gelindeste Strafe wird sein, dass wir die Jungfrau überschnallen. Aber das brauchst Du ihnen eben nicht zu sagen, so etwas sagt man doch keinem guten Nachbarn, mit dem man in Frieden leben will.
»Ich werde es so zart andeuten, dass es keine Beleidigung sein wird, das überlass nur meinem Feingefühl!«, lächelte der jugendhafte Greis an meiner Seite, gegen den ich mich trotz alledem gerade jetzt etwas als Herr und Meister fühlte.
Während unserer Unterhaltung waren wir nicht stehen geblieben, sondern durch das taufeuchte, herrlich duftende Steppengras immer nach Westen marschiert, vor uns tauchten die goldenen oder vergoldeten Statuen auf, gleißend in den ersten Strahlen der Morgensonne, die sich hinter uns über die Bergesrücken erhob.
»Du kannst mein Boot benutzen«, nahm Merlin nach einer Pause wieder das Wort, »nicht nur zur Überfahrt, dass Du dann durch die Höhlengänge Dich nach dem Quartier begibst, sondern fahre nur direkt stromaufwärts nach dem Schiffe. Ich würde Dich natürlich nicht fahren lassen, wenn ich nicht wüsste, dass Dir vorläufig keine Gefahr mehr droht Auch Deine Gefährten sind bereits benachrichtigt, dass Du in Sicherheit bist, sie wurden schon gestern Abend über Dein Schicksal beruhigt, sodass sie ihr Suchen nach Dir aufgaben. Übrigens hat Juba Riata den schrägen Schacht gar nicht mehr gefunden, er wurde sofort nach Deinem Absturz geschlossen.«
»Und wer ist der Mann, in dessen Klause wir blickten, wovon Du doch ebenfalls sicher weißt?«
»Auch Dein Freund hat ihn selbst nicht zu sehen bekommen, aber Ihr werdet ihn schon noch kennen lernen!«, lautete die ausweichende Antwort, und ich ärgerte mich schon, solch eine neugierige Frage gestellt zu haben, weil das eben sonst nicht mein Fall ist.
Wir hatten das kilometerlange Gebiet der Statuen durchschritten und das Wasser erreicht, das hier zwischen den Felswänden hervorkam, am Ufer lag ein zierliches Boot aus gelbgefärbtem Leder mit Schaufelruder, so leicht, dass es höchstens drei Personen fassen konnte.
»Gehabe Dich wohl, mein lieber Freund, wir sehen uns wieder. Ich fahre nicht mit. Behalte das Boot, wenn Du es magst. Also bleibt auf dem Kriegsfuße, wenn Ihr Euch auch frei bewegen könnt. Auch braucht Ihr Euch nicht etwa in Panzer zu hüllen — noch nicht! Erst werden sich Euch die Amazonen freundschaftlich nähern. Vor einer Gefahr, die Euch droht, kann ich Euch zwar nicht warnen, oder darf es nicht, werde Euch aber in jeder Gefahr beistehen, denn Eure Feinde sind auch meine Feinde.«
Ich war schon eingestiegen, hatte mich gesetzt und das Schaufelruder ergriffen, er löste das Lederband von dem Beine der Figur, um das es geschlungen, stieß mich ab.
Nach zehn Minuten war ich mit den Meinen wiedervereint, konnte ihnen berichten.
»Ein Schiff, ein Ruderboot, eine Galeere!« So erklang es in der späten Nachmittagsstunde desselben Tages, der für uns in gewöhnlicher Weise vergangen war, nur dass niemand größere Ausflüge gemacht hatte.
Es war ein prachtvoller Anblick, den wir bekamen. Ein goldenes Fahrzeug, das man schon als Schiff bezeichnen musste, 50 Meter lang, wie wir später maßen, auf jeder Seite von 30 Riemen gerudert, auch diese vergoldet, wie überhaupt alles, hinten die »Hütte«, was wir jetzt Ruderhaus nennen würden, für eine Galeere aber als Aufenthalt des Steuermanns oder des Taktschlägers wie vorn als Schmuck der riesenhafte Kopf eines phantastischen Ungeheuers, der heutigen Galionsfigur, nur eben ganz ungeheuer groß.
Die Galeere war hinter dem Felsen vorgekommen, der sich etwa drei Kilometer östlich von uns in den See hineinreckte, allerdings noch einen Uferstreifen zum Begehen freilassend, uns aber doch die Aussicht auf einen Teil des Sees versperrend, der sich dann weiter nach Norden hinaufzog.
Das Fahrzeug beschrieb einen eleganten Bogen und hielt auf unser Quartier zu, also auf diesen Abfluss des Sees. Die Ruderer mussten sich schon tüchtig eingeübt haben, dass sie mit den sieben Meter langen Riemen solchen Takt halten konnten. Was hierzu gehörte, das sollten wir bald selbst erfahren. Menschen waren nicht zu sehen, die hielten sich hinter der hohen Bordwand, zeigten sich nicht darüber. Beim Näherkommen erwies sich das fabelhafte Ungeheuer des Bugschmucks als ein phantastischer Menschenkopf, dessen Nase als Raubvogelschnabel mit einem Tigerrachen verschmolz, von furchtbaren Zähnen starrend, die Locken sollten wohl Schlangen vorstellen, statt eines Augenpaares gleich drei Dutzend oder noch mehr, aus grünen Steinen bestehend, hauptsächlich auf die Stirn verteilt, aber auch anderswo im Gesicht, und dennoch erkannte man, dass es ein menschlicher Kopf sein sollte.
Unsere Nachbarn wollten uns offenbar einen Besuch abstatten. Instruktionen wegen des Empfangs brauchte ich nicht mehr zu erteilen, wenn ich auch nicht gerade an ein Wasserfahrzeug gedacht hatte. Die Patronin überließ alles mir, auch bei der persönlichen Begrüßung, wie die auch ausfallen mochte, sollte ich der Hauptmacher sein, weil sie wahrscheinlich für alle Eventualitäten keine Verantwortung übernehmen wollte.
Jetzt tauchten auf dem erhöhten Vorderdeck einige Weibergestalten auf, alle in solche trikotähnliche goldene oder silberne Schuppenkostüme gehüllt, nur das Gesicht frei und keine Kopfbedeckung tragend, die durchweg schwarzen Haare flatterten im leichten Winde.
»Gesicht und Kopf dürfen sie, wenn sie hier an Land wollen, nicht noch panzern, oder auch wir müssten uns panzern, sonst sind wir gar zu sehr im Nachteil!«, sagte ich.
»Ach, das macht nix«, meinte ein Matrose, »mögen sie nur auch noch eine Blechmaske vorbinden, und wenn keine Kugel durchgeht, dann schlagen wir sie einfach langsam mit dem Hammer tot.«
Die Galeere war in Rufweite gekommen.
»Wir kommen als Freunde!«, erklang es. »Empfangt Ihr uns als solche?«
»Wir erwarten Euch in Frieden!«, rief ich zurück.
»Wo sollen wir anlegen?«
Ich brauchte nur vor mich hin zu deuten. In die Wasserstraße, in der unser Schiff lag, sollten sie lieber nicht kommen. Es war auch nicht nötig, denn auch hier dicht vor unserem Quartier, als vor der großen Höhle, die wenigstens den Zugang zu unseren Felswohnungen bildete, war das felsige Ufer wie ein gemauerter Kai beschaffen, das Wasser war auch für unser Schiff tief genug, um direkt anzulegen.
Die Galeere fuhr heran, drehte mit einem sehr schön ausgeführtem Rudermanöver bei, ein donnernder Knall, der aber für uns nichts Schreckhaftes mehr haben konnte, wir hatten schon vorher die dumpfen Paukenschläge gehört, die Galeere wurde ganz echt nach antikem Muster durch Paukenschläge kommandiert, bei diesem donnernden Paukenschlag wurden gleichzeitig alle Riemen eingezogen, sie lag längsseit des Felsenufers, meine Jungen waren behilflich sie festzumachen — machten sie sogar sehr gut fest, sehr fest!
Wir selbst waren dieselben geblieben, trugen unsere gewöhnlichen Strapazieranzüge für Jagd und Arbeit bestimmt, und wer wie ich es liebte, ohne Jacke zu gehen mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, vorn das Hemd auf der Brust zurückgeschlagen, der tat es auch jetzt. Nur dass nicht alle hier am Strande versammelt waren, die meisten innerhalb der Felsen auf Posten standen, klar zum Gefecht. Aber von diesen war nichts zu sehen, so wenig wie bei uns etwas von Waffen, höchstens das übliche hinten am Gürtel hängende Schiffsmesser in der Scheide.
Eine Leitertreppe wurde herabgelassen, als erste stieg die Begum an Land, von den Fersen bis zum Hals in goldene Schuppen eingenäht, aber der Scharfrichter hätte für sein Schwert noch freie Arbeit gehabt, hätte nur die langen schwarzen Haare zurückstreichen müssen. Waffen trug sie natürlich nicht, das hätte ich mir auch sofort verbeten, das heißt ich hätte sie zum Ablegen genötigt.
»Ich komme als Deine Nachbarin, um Dich um gute Nachbarschaft zu bitten!«, sagte sie, wieder auf Französisch, wohl die einzige moderne Sprache, die sie kannte, sich jetzt aber gleich des vertraulichen »Du« bedienend.
»Sei mir willkommen.«
»Ich komme als Deine Nachbarin, Dich um gute Nach-
barschaft zu bitten!«, sagte die Anführerin der
Amazonen und reichte dem Waffenmeister die Hand.
Und ich konnte ihr auch gleich die Hand schütteln, die sie mir bot, um so aufrichtiger, als sie nicht von Freundschaft gesprochen hatte. Äußerlich eine zierliche, elegante Hand — innen alles hartes Leder. Es imponierte mir.
»Ich habe Merlin gesprochen — Du willst alles vergeben und vergessen.«
»Da es so ist, war schon dies zu viel.«
»Dürfen auch meine Freundinnen Dein Landgebiet betreten?«
»Gewiss, wen Du mitbringst, der ist mein Gast.«
65 Weiber wurden gezählt, welche die Leitertreppe herabkletterten, oder vielmehr elegant herabbalancierten, ohne Benutzung der Hände, alle in solchen Schuppenrüstungen, teils in goldenen, teils in silbernen.
»Verzeihe, dass wir in Schuppenrüstungen kommen. Es ist unsere übliche Tracht, wir sind keine andere gewöhnt, ja wir haben aus unserer Heimat gar keine andere mitgenommen, oder nur sehr dürftige Gewänder, mit denen man keinen Besuch machen kann!«, lächelte sie.
Ich hatte bereits bemerkt, dass diese Metallschuppen mit Drähtchen auf einer Stoffunterlage aufgeheftet waren, es waren überhaupt dieselben Trikotkostüme, mit denen sich die Amazonen schon damals in ihrer Burg uns präsentiert hatten, während bei den Schuppenrüstungen hier, von den Ureinwohnern dieses Landes gefertigt, die Bronzeblättchen aufeinander gelötet waren, auf eine Weise, die wir uns nicht erklären kannten. Denn das Ganze war ja vollständig beweglich.
»Jeder kleidet sich nach seinem Geschmack, deshalb brauche auch ich Dich nicht um Entschuldigung zu bitten, dass ich Dich in Wasserstiefeln und aufgekrempelten Hemdsärmeln empfange!«, entgegnete ich. »Deshalb eben sind wir ja zur See gegangen, zur freien Handelskauffahrtei. Also verlange auch keine Vorstellung, die ja übrigens auch damals bei Euch nicht stattfand. Es ist genug, dass wir beide als führende Hauptpersonen uns kennen. Befinden sich noch Leute an Bord Deines Schiffes?«
»Warum fragst Du das?«, erklang es misstrauisch, was nicht eben höflich war, freilich ebenso wenig wie meine Frage, nämlich wenn sie falsch aufgefasst wurde.
»Nun, weil ich auch sie bewirten möchte. Dann müsste ihnen etwas an Bord gebracht werden.«
»Ah so! Nein, auf meiner Galeere ist keine Seele mehr. Sie steht auch Deinen Leuten jederzeit zur Besichtigung frei.«
»Ich danke Dir, später werde ich wohl auch Gebrauch davon machen. Bitte folge mir.«
Einerseits waren wir ja nicht auf solch eine Menge von Gästen vorbereitet gewesen, anderseits vollkommen, es hätten noch viel mehr kommen können, es bedurfte nur eines Winkes von mir.
Wir hatten viele große Felsensäle zur Verfügung, allerdings keinen, der künstlich erleuchtet war, das war hier nur bei der Eisgrotte der Fall, und mein Wink hatte den bezeichnet, der an der Ecke lag, auf der einen Seite floss also der Strom vorüber, welcher Saal daher durch Fensteröffnungen das meiste Tageslicht erhielt.
Ehe wir ihn erreicht, wozu wir uns allerdings Zeit genommen hatten, über dies und jenes plaudernd, hatten ihn meine Jungen, so weit sie abkömmlich, schon für die Bewirtung von rund hundert Menschen vorgerichtet, so schnell und apart, dass auch alle meine Erwartungen übertroffen worden waren.
Eine lange Tafel, an der hundert Menschen Platz nehmen konnten, hochnobel gedeckt, was darunter war, das verhüllten eben die bis zum Boden reichenden schneeweißen Tischdecken, alle mit dem ArgosMonogramm, auch sämtliche Sitze waren schon vorhanden, allerdings etwas bunt, ich sah gerade noch, wie über ein altes Butterfass ein kleiner Teppich und über eine Eierkiste ein Pantherfell geworfen wurde, da stand aber auch schon auf dem Tische das KaffeeStaatsService der »Argos«, hundertteilig, da waren auch schon aus unseren Prämienschränken die Silbersachen herausgenommen und aufgebaut worden, nur als Tafelzierde, andere Silber- und Porzellangegenstände waren den Kajüten entnommen worden, und da standen auch schon mächtige Berge von Weißbrotschnitten und Kuchenscheiben und da rauchten auch schon auf einem Nebentische gewaltige, aber künstlerisch schöne Kannen mit Schokolade!
Vor acht Minuten hatte die Begum das Land betreten und ihre Absicht kundgegeben, mit 65 anderen Weibern unsere Gäste zu sein, in diesen acht Minuten war dies alles geschaffen worden, ohne dass wir vorher von so etwas nur eine Ahnung gehabt hätten.
Die Patronin hatte gegen Siddy Schokolade mit Gebäck bestimmt, Siddy hatte einen weiteren Befehl gegeben, und zwei Dutzend Paar Beine mit ebenso viel Händen waren gerannt. Als Sporn hatten dahinter die beiden Bootsleute gesessen, Napoleon und August der Starke. Nur so war diese zauberhafte Schnelligkeit zu erklären, und ich halte so etwas überhaupt nur an Bord eines Schiffes möglich, eines deutschen oder englischen Schiffes, ausgeführt von solch einer Schiffsmannschaft. Allerdings war für die letzten Arrangements, dass alles schon fix und fertig war, günstig, dass das kochende Wasser gleich den heißen Quellen entnommen werden konnte und dass Meister Kännchen gerade zwei große Kuchen gebacken hatte. Sonst hätten wir nur mit Weißbrot aufwarten können.
Weniger nobel sah es aus, dass gerade in dem Augenblick, wo ich mit der Begum als erste eintraten, ein Matrose noch schnell eine Holzpütze, einfach Pferdeeimer genannt, voll Schokolade in eine der Staatskannen goss. Das zeigt aber auch, wie hier gearbeitet worden war. Hinter die Kulissen durfte man nicht gerade blicken.
»Hattest Du uns denn erwartet?«, wunderte sich denn auch die Begum.
»Das nicht, aber es ist eine deutsche Schiffsmannschaft, die im Dienst nur Laufschritt kennt!«, konnte ich nur erklären.
Wir ließen uns nieder, ich mich zwischen der Begum und einer Silbernen, von der Schiffsmannschaft waren außer dem Kapitän nur die Exklusiven vertreten, die sich zusammenhielten, wie die Patronin, die mir gegenüber saß, schon vorher bestimmt haben mochte. Also sonst keine bunte Reihe, ich war der einzige, der zwischen den Amazonen saß. Matrosen füllten die Tassen am Nebentisch und servierten auf silbernen Präsentierbrettern. Sie machten ihre Sache tadellos, nur dass sie alle grobe Pfoten hatten und meist Seestiefeln mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, so wie auch ich am Tische saß. Richtig gesellschaftsmäßig war nur Doktor Isidor gekleidet, weil der eben fast immer einen schwarzen Gehrockanzug trug, er behielt aber auch bei Tafel seinen Zylinder auf dem Kopfe, und außerdem war er, da er die Schokolade zu »lätschig« fand und deshalb Kognak trank, eine Viertelstunde später bezecht wie ein Stint.
Wir fingen an zu pusten, zu schlürfen und zu kauen. Mister Tabak ging mit gutem Beispiele voran, verschlang Kuchenscheiben und Brotschnitte und schluckte die Butter hinterher, rührte die letzte Schokolade mit dem Finger um und leckte die Tasse mit der Zunge aus.
»Nehmen nicht auch Deine Leute Platz an der Tafel?«, begann die Begum die Unterhaltung, sich nur an mich wendend, dabei ihre Blicke über den Tisch wandern lassend, an dem allerdings noch gegen 20 Platz gehabt hätten.
»Jeder, der hierher gehört, befindet sich auch hier — die Gäste unserer Patronin, der Schiffsbesitzerin. Die anderen haben Dienst oder sie bedienen uns.«
»Gestattest Du, dass ich trotz unserer Vereinbarung, alles Bisherige soll vergessen sein, noch einmal davon spreche, wie Ihr uns damals auf der Maladekkaburg besuchtet?«
»Gewiss, wenn keine unangenehmen Erinnerungen dazwischenkommen.«
»Ich hatte von der ›Argos‹ und von den berühmten Argonauten gehört, hatte Euch eingeladen, in der Hoffnung, dass Ihr uns eine Vorstellung geben würdet.«
Sie hatte noch etwas anderes gehofft, es von vornherein darauf abgesehen gehabt, auf uns selbst, die Ermordung all der Männer in der Burg war damals ja schon eine beschlossene Sache gewesen, aber es war ganz richtig, wenn sie der ganzen Sache jetzt eine andere Deutung gab.
»Ja, durch die Entführung unseres Schiffes durch die Jungen wurde Eure Vorstellung jäh unterbrochen, wir mussten schnellstens machen, dass wir unser Schiff wieder bekamen und gerieten dann auf eine Sandbank.«
»Wir hofften auch, uns dann mit Euch im friedlichen Wettkampfe zu messen.«
»Nun, das kann jetzt noch geschehen.«
»Willst Du?!«, fuhr sie etwas hastig auf.
»Gewiss, die ganze Zwischenzeit existiert nicht, wir setzen unser erstes Zusammentreffen fort. Ob wir Eure Gäste sind, oder Ihr unsre seid, das bleibt sich ja gleichgültig.«
»Auch Ihr habt einen Zirkus hier, wie ich gehört habe.«
»Ja, also auch Ihr dort drüben?«
»Weißt Du, dass ich eine gebotene Französin und früher Kunstreiterin und Seiltänzerin gewesen bin?«
Wir wussten es. Jener alte Holländer hatte es uns erzählt. Es war hübsch von ihr, dass sie das gleich selbst sagte. Oder sie war wohl auch stolz auf ihren früheren Beruf, in dem sie es bis zur Sultana eines indischen, unabhängigen Fürstentums gebracht hatte.
Die Patronin hatte schon immer kein Auge von ihrem Gegenüber verwendet. Das war ja so etwas für die! So eine ehemalige Kunstreiterin, die es so weit gebracht hatte und nebenbei zum Zeitvertreib Männer und Kinder dutzendweise mordete, aus Prinzip! So einer so nahe gegenüber zu sitzen, mit ihr aus einer Kanne Schokolade zu trinken. Immer mehr leuchteten ihre Augen auf, röteten sich ihre Wangen vor Begeisterung.
Diese Begeisterung, dieses Vergessen all der Abscheulichkeiten war verzeihlich. Man muss nur gerecht sein. Mancher Mensch ist göttlich verehrt worden, wir bewundern ihn noch heute als Helden, und im Grunde genommen war er nichts anderes als ein Bluthund erster Güte, ein Massenmörder. Dieses Weib hier war keine christliche Französin mehr, sondern schon längst eine mohammedanische Inderin geworden, eine ganz waschechte, damit musste man rechnen. Der Montenegriner ist ein strenger Katholik, seine Gastfreiheit, die er dem Fremden gewährt, ist grenzenlos, selbst sein Todfeind ist unter seinem Dache geschützt — aber ebenso heilig ist ihm die Blutrache. Der malaiische Dajak jagt Menschen, um ihnen die Köpfe abzuschneiden, mit demselben Sammeleifer, wie wir als Knaben Schmetterlinge und Käfer fingen, um sie aufzuspießen, wofür uns der Buddhist als Mörder betrachtet, weil der keinen Unterschied zwischen Menschen- und Tierseele macht. Tatwam asi, das bist Du! Der christliche Quäker — und wenn ich in Sachen der Religion penibel wäre, würde ich unbedingt Quäker werden, diese Sekte meint es wenigstens noch ehrlich mit der Nachfolge Christi — der Quäker, der keine Waffe in die Hand nimmt, deshalb auch nur in England und Nordamerika möglich ist, verkehrt mit keinem Soldaten, weil dieser bereit ist, auf Kommandos auf andere Menschen zu schießen, also zum Mörder zu werden. Das sind Ansichten, über die kein anderer Mensch richten darf. Oder wir richten uns selbst.
Mir ging es nicht viel anders als der Patronin. Immer mehr vergaß ich, dass neben mir eine Massenmörderin saß, ich sah nur noch die mohammedanischindische Amazone, die Männer und Kinder aus Prinzip tötete, nicht aber um sich zu bereichern, wie es jeder Wucherer tut, der ganze Familien langsam erdrosselt und dann, wenn er nach seinem Tode sein Blutgeld, wenn er es nicht mehr braucht, der Stadt vermacht, ein Denkmal gesetzt bekommt.
»Ich habe gehört, dass Ihr Kulans und Tarpans gefangen und völlig gezähmt habt, sie im Freien wie im Zirkus als Reittiere benutzt.«
»So ist es.«
»Als wir uns noch frei in der Steppe und im Walde bewegen durften, gelang es uns trotz aller Bemühungen nicht einmal, solch einen Wildling zu fangen, oder wir mussten ihn verwunden, woran er aber regelmäßig einging, und der Kulan wie der Tarpan gilt ja auch als unzähmbar.«
»Unter uns ist ein amerikanischer Pferdebändiger — dort Mister Juba Riata — der wurde mit den Tieren schon fertig.«
Die funkelnden Augen der Begum betrachteten lange den schönen Mann, der würdevoll sein Butterbrot in die Schokolade titschte.
»Es waren für uns Pferde aus Amerika hierher gebracht worden, zwei ganz verschiedene Rassen. Kleine Ponys, die sich sehr leicht zähmen ließen, die aber die lange Seereise nicht vertrugen, unterwegs alle starben. Und dann mächtige Rosse. Diese aber konnten wir nicht reiten, sie waren gar zu unbändig. Nur das eine, mit einem eingebrannten Zeichen, schwarz und weiß gefleckt, war ganz geduldig, dieses Pferd ist uns aber abhanden gekommen.«
»Die Entführer sind wir gewesen. Ihr reitet also so gern?«
Die Begum himmelte verzückt zur schwarzen Decke empor, die meisten der Amazonen mit ihr.
»Ach so sehr, so sehr gern! Besonders weil wir noch nie zum Reiten Gelegenheit hatten.«
Ich musste lebhaft an Paul de Kocks Helden denken, einen Franzosen, der so sehr für deutsches Sauerkraut schwärmt — weil er's noch nie gegessen hat.
»Ihr werdet dieses Pferd zurückerhalten und noch andere dazu, wohleingerittene.«
»Willst Du?!«, erklang es freudig. Und dann nach einer nachdenklichen Pause. »Auch wir haben ja nordamerikanische Indianer, welche jedes Pferd bändigen können, aber sie sind alle zu...«
Sie brach ab. »... dick geworden!«, hatte sie offenbar sagen wollen. Weshalb diese Indianer so dick gemacht worden waren, dieses Geheimnis musste ich noch ergründen, hielt es nur jetzt für noch nicht passend.
»Du willst uns einige eingerittene Pferde geben?«
»Wie ich sagte, und wir können Euch so viele liefern, als die Steppe hergibt.«
»Wir dürfen nichts geschenkt annehmen, es ist bei uns Amazonen ein Gesetz.«
»Diese Riesengäule haben Euch ja so wie so gehört...«
»Nein, sie gehörten ursprünglich Euch, ich weiß es wohl, und überhaupt entscheidet nach unseren Ansichten der letzte Besitz. Habt Ihr solche Schiffe, wie wir mit einem gekommen sind?«
»Kein einziges Fahrzeug ist hier gefunden worden.«
»Wir haben drüben eine Menge solcher Schiffe, noch viel kleinere und auch viel, viel größere. Dort drüben ist der Hafen des Sees gewesen. Willst Du uns für solch ein Schiff eine Anzahl Pferde geben? Denn, wie gesagt, wir dürfen aus Prinzip, es ist uns ein heiliges Gesetz, nichts geschenkt annehmen, und für den rechtmäßigen Besitz entscheidet immer der letzte.«
Das ist der Rechtsgrundsatz aller Räubervölker. Welchem aber im Grunde genommen auch wir zivilisierten Menschen huldigen. Besonders wenn sich diese Menschen als geschlossene Nation präsentieren. Dann heißt es: wer den Hammel zuletzt gemaust hat, dem gehört er. Bis ihn wieder ein anderer stiehlt. Ist der Hammel aber schon aufgefressen, dann ist nichts mehr zu wollen. Nur dass bei Nationen statt der Hammel ganze Länder in Betracht kommen, mit allem, was drin ist,
»Wenn Du gestattest, besichtigen wir nach aufgehobener Tafel einmal die Galeere...«
Die Tafel wurde sofort aufgehoben. Der Tisch wurde noch weit schneller abgeräumt, als er gedeckt worden war. Das besorgte unser Schiffsarzt.
Herr Doktor Isidor Cohn musste schon vorher tüchtig gebügelt haben, von dem halben Fläschchen Kognak allein, das er während dieser Viertelstunde verkonsumiert hatte, konnte er nicht so mörderlich bezecht sein, da war der anders geeicht.
Wie er jetzt die Tasse zum Munde führte, oder vielmehr zur Nase, noch hoch über die Nase hinaus, denn merkwürdiger Weise verwechselte er in diesem Zustande immer seine Organe, da durfte er keine Gabel bekommen, sonst stach er sich mit ihr beim Essen in die Augen — also wie er jetzt mit der Schokoladentasse seinen Mund oben an der Stirn suchte, sich immer weiter hintenüber bog, da verlor er die Balance, fiel rücklings von seiner teppichbelegten Eierkiste, wollte sich noch halten, packte das Tischtuch und hatte im Nu die ganze Tafel abgeräumt.
Ein Glück war es, dass wir schon den Boden dieses Festsaals mit solchen elastischen Bernsteinplatten belegt hatten, sonst wäre von unserem StaatsPorzellanservice nicht viel mehr übrig geblieben. So ging die Sache noch ziemlich glimpflich ab! Und ich war froh, dass ich auf der anderen Seite zwischen den Amazonen saß. Denn dort drüben die Exklusiven waren sämtlich in Schokolade gebadet.
Kreischend war alles aufgesprungen. Wenigstens alle Amazonen. Sie verrieten, dass sie trotz ihrer Schuppenpanzerung und Muskeln noch ganz echte Frauenzimmer waren, so kreischten sie. Die dort drüben hatten gar keine Zeit dazu, die besahen sich tiefsinnig die braune Sauce auf ihren Kleidern. Als sie dann aber, zumal wie jetzt Doktor Isidor in dem Schokoladenmeere am Boden nach seinem Klemmer zu krebsen anfing, immer in der Sauce herumpatschte, in ein schallendes Gelächter ausbrachen, stimmten auch die Amazonen mit ein.
Auch die Patronin lachte mit, aber nur aus Höflichkeit, es war ein sehr erzwungenes Lachen. Ganz ohne Schaden war es doch nicht abgegangen, und sie hatte eine Porzellanfigur aufgehoben, ein niedliches Rokokodämchen, vielleicht ohne ihren Willen von Siddy als Tafelschmuck einem ihrer Glasschränke entnommen, und dem Figürchen waren Kopf und ein Arm abgeschlagen.
Und außer mir bemerkte dieses erzwungene Lachen noch eine andere Person, was mir sehr an ihr gefiel — die Begum. Schnell verstummte ihr Lachen.
»O, die schöne Figur!«
»Ach, es ist nichts weiter, ganz billiges Porzellan, nur ein Andenken...«
»Grämen Sie sich nicht. Lassen Sie alle Scherben aufsammeln, aber auch das kleinste Splitterchen, wir nehmen es mit und schicken es Ihnen in kurzer Zeit wieder zu, alles vollkommen wieder ganz.«
»Zusammengekittet?«
»Nein, sondern alles wie neu, Sie entdecken auch nicht die kleinste Fuge daran. Und selbst wenn ein Splitterchen fehlen sollte, so wird dieses auf andere Weise ersetzt.«
»Wie, das könnten Sie?!«
»Nicht ich, aber ein Mann, der sich bei uns befindet.
Sie kennen ihn auch. Der hat dabei eine besondere Erfindung. Wie er es macht, ist mir auch unbegreiflich. Ich habe es einmal erlebt oder doch das Resultat gesehen. Eine Vase war in tausend Splitter gegangen, und diese wurden wieder zusammengesetzt und... zusammengeschmolzen, muss man annehmen. Aber schon, wie er die Splitterchen zusammensetzt, dass sie wieder zusammenpassen, schon das verstehe ich nicht. Dabei muss noch etwas ganz anderes im Spiele sein als eine Geduldsarbeit. Jedenfalls versichere ich Ihnen, dass Sie alle diese zerbrochenen Porzellansachen wie neu wiederbekommen.«
Da hatte die Begum natürlich bei unserer Patronin einen großen Stein im Brette, zumal als dann dieses Versprechen voll und ganz eingelöst wurde.
So ist der Mensch! Weil sie der Porzellanfigur den Kopf wieder aufleimen konnte, darüber wurde aus Dankbarkeit ganz vergessen, wie vielen lebendigen Menschen sie schon den Kopf abgehackt haben mochte. So wie es dem Bluthund Napoleon von gewisser Seite hoch, hoch angerechnet wird, dass er den Dünenstrand unten am Mittelmeere mit Kiefern bepflanzen ließ und so der Menschheit ein paar Äcker kulturfähiges Land schenkte.
»Wollen wir nun den Cherub besichtigen?«, fragte mich die Begum.
»Wen besichtigen?« — »Den Cherub!«
»Wer ist denn das?« — »Unser Schiff.«
»Cherub heißt diese Galeere?« — »Wir haben sie so genannt.«
»Weshalb denn das?«
»Nun, weil doch vorn die Figur eines Cherubs, eines Engels angebracht ist.«
Was, dieses Scheusal sollte ein Engel sein?!
Und dennoch, jetzt verstand ich!
Ich war nicht umsonst bei Vater Abdallah als zukünftiger Mohammedaner in die Schule gegangen.
Mohammed will im Traume Cherubim gesehen haben und beschreibt sie im Koran. Halb Löwe, halb Adler, und halb Mensch, über und über mit Augen bedeckt. Übrigens werden die Cherubim ja auch in der Offenbarung Johannis so beschrieben, Mohammed hat zweifellos die seinen erst aus der Bibel gestohlen. Wir stellen uns Engel nur gewöhnlich anders vor.
Wir begaben uns an den Strand und an Bord der Galeere, wir Hauptpersonen der »Argos« von der eigentlichen Mannschaft aber nicht einmal die Offiziere, die eben ihre Instruktionen bekommen und auf etwas anderes zu passen hatten, was aber überflüssig gewesen wäre, als ich merkte, dass nur die Begum selbst die Führung übernahm, alle anderen Amazonen zurückblieben.
Also das Ruderschiff war ungefähr 50 Meter lang bei 6 Meter Breite, der Hauptsache nach gebaut aus Planken von jenem ungemein leichten und doch eisenharten Holze, dem indischen Teakholz vergleichbar, das aber nicht mehr in diesem Tale wuchs. Ich bemerke nachträglich, dass der große Vorrat von Schiffsbauholz, den wir auf der Werft vorgefunden hatten, von anderen Bäumen stammte. Kiefer und Fichte und Eiche, und das war sehr gut, denn dieses Eisenholz, aus dem zum Beispiel auch jene Balken zu dem Zirkusgerüst bestanden, konnten wir kaum bearbeiten, mühsam nur mit dem Drehstahl und sonstigen Werkzeugen, die nur für Bearbeitung des härtesten Metalls bestimmt waren, der Stahl musste hellgelb angelassen werden, besser noch waren Werkzeuge mit Diamantschneide, und da nun hier diese Schiffsplanken so außerordentlich gut gefalzt waren, wie auch das Zirkusgerüst und überhaupt alle Holzarbeiten, die noch von den Urbewohnern herrührten, so musste man annehmen, dass diese für die Bearbeitung dieses Holzes eine ganz besondere Methode gehabt hatten. Offenbar hatten sie es erst ganz weich bearbeitet, es erst hinterher härtend, sonst war es gar nicht begreiflich, wie sie diese zahllosen Löcher und Falze und Schnitzereien hatten herstellen können. Die Ruder, also jedes sieben Meter lang, waren nur schwach vergoldet, oder bronziert, sonst bestanden sie ebenfalls aus jenem eisenharten Holz, das aber hier nun wieder äußerst elastisch war. Das ganze Schiff hingegen war außen nicht nur leicht bronziert, sondern mit zentimeterdicken Bronzeplatten belegt, gepanzert.
»Es gibt kein Geschütz, dessen Geschoss diese Bronzeplatten durchschlagen könnte!«, sagte die Begum.
»Hast Du denn das schon probiert?«
»Jawohl, wiederholt.« — »Habt Ihr denn Geschütze?«
»Nicht wir, aber... ich hoffe, es ist Dir nicht unangenehm, wenn ich von dem Manne spreche, der sich selbst mit Stolz den Kapitän Satan nennt?«
»Durchaus nicht, ich hoffe vielmehr, diesen Herrn selbst bald persönlich zu sprechen.«
»Kapitän Satan hat Geschütze und zwar solche von einer Schussweite und Durchschlagskraft, wovon die andere Welt noch nichts weiß. Aber auch diese Spitzkugeln, ob nun groß oder klein, vermögen auf keine Weise in diesen Bronzeplatten auch nur den leisesten Eindruck zu erzeugen, und wenn das ganze Schiff beim Auftreffen auch kentern will.«
Wir hatten ja schon selbst diese unheimliche, uns ganz unbegreifliche Widerstandskraft an den Bronzerüstungen konstatiert.
»Besitzt Kapitän Satan hier ein eigenes Schiff, ein modernes Schiff?«, fragte ich zunächst.
»Jawohl, so ein Torpedoboot, wie sie alle Kriegsmarinen haben.«
»Ist es zugleich ein Unterseeboot?«
»Unterseeboot?«, wiederholte die Begum verwundert.
»Ein Fahrzeug, mit dem er unter Wasser fahren kann.«
»Unter Wasser fahren kann?!«, erklang es in noch erstaunterem Tone.
»Hast Du noch nichts von den modernen Unterseeboten gehört?«
Nein, das hatte sie nicht. Zu jener Zeit, da die Französin noch der europäischen Welt angehört, hatte es noch keine Unterseeboote gegeben, auf die einsame Maladekkaburg war keine Kunde von dieser Erfindung des Seewesens gedrungen.
»Wie hat denn Kapitän Satan Euch hierher gebracht? Hat er Dir darüber keine Erklärung gegeben?«
»Er behauptet, er sei mit uns samt seinem ganzen Schiffe von Indien bis hierher durch die Luft geflogen, ein einfaches Zauberwort habe genügt, um uns sofort hierher zu versetzen.«
»Und das glaubst Du wirklich?«
»Ich muss es wohl glauben. Dieser Kapitän Satan hat uns schon Beweise genug gegeben, dass er mit Geistern in Verbindung steht, wirklich zaubern kann.«
Es war begreiflich, dass sowohl die Inderin wie die ehemalige französische Kunstreiterin so etwas glauben konnte, und wer wusste denn, was dieser Mann, der sich ja auch mir gegenüber schon gerühmt, wunderbare Erfindungen zu besitzen, den Weibern schon alles vorgemacht hatte.
Ich ließ es hierbei vorläufig bewenden. Jedenfalls also wusste ich nun, dass, wenn Kapitän Satan hier ein Unterseeboot besaß, er den Weibern und überhaupt den anderen noch nichts davon offenbart hatte.
Wir besichtigten das Schiff weiter. Ich will es nicht näher beschreiben, ich müsste technisch werden; nur noch erwähnen will ich, dass sich die hölzernen Ruderbänke, auf jeder Seite 30, auf dem freien Deck befanden, die Steuerung geschah durch eine Hebelpinne, ein Mast war nicht vorhanden, auch keine Vorrichtung, um einen solchen einzusetzen.
Die vor dem hinteren, erhöhten Aufbau stehende Pauke, mit der also auch die Urbewohner dieses Tales wie schon die alten Hellenen den Rudertakt angegeben hatten, war ein großer, eherner Kessel, mit phantastischen Figuren in erhabener Arbeit geschmückt, statt des Trommelfelles war es, soweit ich urteilen konnte, mit Bronzeblech bespannt, nur war es merkwürdig, dass dieses beim Schlagen mit dem hölzernen Klöppel genau denselben Ton gab wie ein starkes Kalbfell.
Wir begaben uns unter Deck, zwei steile Treppen führten hinab. Es waren in größere und kleinere Kammern geteilte Räume, nur zwei Meter hoch, daher der Boden über der Wasserlinie, kleine, runde Öffnungen, unseren Bullaugen entsprechend, die auch durch Metallplatten verschlossen werden konnten, nicht aber durch Glasscheiben, ließen Tageslicht ein, jeder Raum war von dem anderen durch eine hölzerne Schiebetür getrennt, immer mit schönen Schnitzarbeiten bedeckt und vergoldet. Sonst enthielten diese Räume gar nichts weiter.
»Was befindet sich nun unter dem Zwischendeck? Auch nur ein leerer Kielraum?« So fragte ich, als ich in den letzten, hintersten Raum trat, der daher nur eine einzige Tür hatte. Hinter mir war die Begum eingetreten, ja die einzige Führerin. Übrigens kroch jeder auf eigene Faust im Schiffe herum, gerade jetzt war niemand anders hinter uns gewesen.
Ich stutzte schon, als ich hörte, wie hinter mir die Tür zugeschoben wurde.
Mich rasch umdrehend, stand ich vor der Begum, und gleich wie sie die Arme über der vollen Brust verschränkte, verriet mir, dass jetzt etwas Besonderes kommen müsse, wenn ich dies nicht auch schon in ihren plötzlich so glühenden Augen gelesen hätte.
»Monsieur maître des armes, ich möchte einmal mit Dir allein sprechen.«
Da war es mit meinem Stutzen sofort vorbei, eine eisige Ruhe überkam mich.
»Bitte sehr.«
»Wir brauchen Männer.«
Da kam es schon wieder!
»Nun, ich dächte, Ihr hättet dort drüben genug Männer.«
Die vollen Lippen verzogen sich verächtlich.
»Bah, kannst Du diese faulen Dickwänste etwa Männer nennen?!«
»Ja, was habt Ihr mit diesen Leuten denn nur eigentlich angefangen, dass sie, wie ich gehört habe, sämtlich so unförmlich dick geworden sind?«
»Kapitän Satan hat uns diesen bösen Streich gespielt.«
»Wie das?«
»Ich fragte ihn einmal, gleich im Anfange, als er uns von dem sinkenden Schiffe gerettet hatte und er sich erbot, mir in allen meinen Plänen behilflich zu sein, ob er ein Mittel wüsste, um diese Indianer und weißen Männer uns willfährig zu machen. Denn auf einen großen Widerstand konnten wir doch gefasst sein, und Gewalt wollten wir nicht anwenden.
»Wir müssen sie dick machen, dicke Menschen sind nicht obstinat!«, meinte er. Ich sagte zu, er solle sein Mittel anwenden, ohne mir weiter dabei etwas zu denken. Als ich unsere Gefangenen wiedersah waren sie sämtlich solche unförmliche Mehlsäcke geworden. Kapitän Satan wollte ersticken vor Lachen.
»Wie hat er denn das nur gemacht?«
»Das weiß ich nicht. Er besitzt irgend ein Mittel, um jeden Menschen zu mästen oder auch sofort aufzublasen.«
»Hat er denn kein Gegenmittel dafür?«
»Er behauptet nein. Obgleich er sicher lügt. Aber dagegen kann ich nichts machen.«
»Diese Leute haben immer einen großen Appetit?«
»Unausgesetzt, sie sind ungeheuerliche Esser.«
»So lasst sie doch einmal längere Zeit fasten.«
»Hungern? Das dürfen wir sie nicht lassen.«
»Weshalb nicht?«
»Wir haben geschworen, ihnen und uns selbst, ihnen kein Haar zu krümmen.«
»Na, eine Hungerkur ist doch kein Frisieren!«, musste ich lachen.
»Nein, wir dürfen ihnen keine Speisen entziehen. Wir haben geschworen, alle ihre Wünsche zu erfüllen, wenn es irgendwie möglich ist, bis auf Zurückgabe ihrer Freiheit, und unser Gelübde müssen wir halten. Wenn sie also Speisen fordern, müssen wir sie ihnen auch verabreichen.«
»Na, da sollen sie es doch einmal freiwillig mit einer Hungerkur versuchen.«
»Bah, als ob solche Fettwänste solch einer Energie fähig wären! Sie nehmen es sich wohl vor, — aber länger als drei Stunden, von einer Mahlzeit zur anderen, halten sie es nicht aus, dann schreien sie schon wieder nach ihrer gewohnten Mahlzeit.«
Freilich, da hatte die Begum recht. Sonst brauchte es keine Kaltwasserheilanstalten und keine Trinkerasyle und auch nicht die meisten Bäder zu geben, wenn derartige »Patienten« die Energie besäßen, solch eine Kur selbst durchzuführen, was doch meist zu Hause geschehen kann. Sie müssen eben zwischen die Scheren von Ärzten und Krankenwärtern genommen werden.
»Ich spreche überhaupt nicht von diesen unseren Gefangenen, sondern von Dir und Deinen Leuten.«
»Was willst Du von uns?«
»Seid Ihr bereit, unsere Gatten zu werden?«
Ich hatte es erwartet, und da gab es nur eine Antwort.
»Das ist vollkommen ausgeschlossen.«
»Das hatte ich mir gleich gedacht, hätte diese Frage gar nicht erst stellen sollen. Aber es gibt noch ein anderes Mittel, um uns zu vereinen.«
»Was für ein Mittel?«
»Du weißt doch, dass die weibliche Leibgarde des Sultans von Maladekka kriegerisch ausgebildet wurde, ich tat es später noch viel mehr, erzog diese Amazonen zu Athletinnen. Wir hörten von Eurem Schiffe, von den Argonauten, wie sie in den athletischen Spielen in aller Welt die Siegespalmen errangen, bei Gelegenheit lud ich Euch zu uns ein. Meine Absicht war, dass meine Amazonen sich mit Euch im Wettstreit maßen. Es konnte nicht zur Ausführung kommen.«
»Nun, das können wir ja jetzt noch arrangieren, wenn es Dir Spaß macht.«
»Ja, das wollen wir auch. Und nun mache ich Dir folgenden Vorschlag: wir kämpfen zusammen, immer je ein Mann von Dir gegen eine meiner Amazonen. Ihr sollt immer die Art des Zweikampfes bestimmen und auch unter uns die Gegnerin auswählen. Der Sieger führt den Besiegten als sein Eigentum nach Hause. Der Mann das Weib, das Weib den Mann. Bist Du hiermit einverstanden?«
»Ganz und gar nicht. Das ist ebenfalls ganz ausgeschlossen.«
»Weshalb? Kann ich Dir günstigere Bedingungen...«
»Gib Dir keine Mühe, sprich nicht weiter. Dass Du mir diesen Vorschlag machst, das zeigt mir, dass Du keine Christin mehr bist, dass Du ganz andere Ansichten über Moral und andere Dinge bekommen hast, für die in meinem Kopfe gar kein Platz ist. Ich gebe mir gar keine Mühe, Dich zu belehren, weshalb ich unmöglich auf solch einen Vorschlag eingehen kann. Und dasselbe gilt für alle meine Leute.«
»Gut, ich verstehe Dich dennoch. Aber bei meinem Vorschlage bleibe ich. Wir wollen uns im Zweikampfe messen, jeder Deiner Männer gegen irgend eine Amazone.«
»Im blutigen Zweikampfe?! Auf Tod und Leben?«
»Nein, nur im friedlichen Wettspiele, in athletischen Übungen.«
»Gewiss, das können wir tun.«
»Aber einen Einsatz muss jeder geben.«
»Bestimme ihn. Ob ich darauf eingehe, das ist ja etwas anderes.«
»Der Mann, der von einer Amazone besiegt wird, folgt ihr als ihr Gefangener nach Hause.«
»Ausgeschlossen, sage ich! Was wiederholst Du diesen Vorschlag, Begum!«
»Warte nur, jetzt kommt doch erst unser Einsatz. Vielleicht besinnst Du Dich dann eines anderen. Und besiegt der Mann die Amazone, so hat er die Freiheit eines unserer Gefangenen erwirkt, er kann ihn sich auswählen. Verzichtet er aber etwa darauf, dann... schicken wir den betreffenden Gefangenen zu Euch als Leiche hinüber.«
Ganz ruhig hatte es das Weib gesprochen.
Ich aber bekam doch plötzlich einen förmlichen Hexenschuss.
Denn um zu verstehen, was das für uns bedeutete um alle weiteren Konsequenzen sofort zu ziehen, dazu reichte mein Scharfsinn aus.
»Weib, was wagst Du mir da für einen Vorschlag zu machen!«, brauste ich dann auf.
»Ich wage gar nichts. Wir sind Deine Gastfreunde, und die Gastfreundschaft ist doch natürlich auch Dir heilig.«
»Du befindest Dich hier auf dem See, an Bord Deines Schiffes.
»Mach keine Sachen! Ich habe es gar nicht für nötig gefunden, Dir dieses Schiff erst zu schenken oder auszutauschen. Wir liegen am Ufer Deines Gebietes, und wenn wir uns auch entfernten — wir befinden uns im Heiligtume der Gastfreundschaft.«
Sie hatte recht. Ich sank etwas zusammen, richtete mich wieder auf.
»Und wenn ich auf Deinen Vorschlag nicht eingehe?«
»So schicken wir Euch unsere Gefangenen als Leichen zu — einen nach dem anderen. Dann habt Ihr sie auf dem Gewissen.«
»Ungeheuer!«, brauste ich noch einmal auf, dann nicht wieder. »Ich denke, Ihr dürft diesen Männern die Ihr ganz unrechtmäßiger Weise Eure Gefangenen nennt...«
»Was heiß hierbei Recht, was Unrecht? Es sind unsere Gefangenen.«
»Ich denke, Ihr habt ein Gelübde abgelegt, ihnen kein Haar zu krümmen!«
»Das ist etwas ganz anderes. Nein, martern und quälen dürfen wir sie nicht. Aber wir sind Herr über Tod und Leben unserer Gefangenen. Töten dürfen wir sie. Und wir werden es tun, wenn Ihr nicht auf unseren Vorschlag eingeht.«
Jetzt war mein Entschluss sofort gefasst. Da gab es ja auch nur eines. Wir konnten doch nicht die mehr als hundert Menschen von diesen Hyänen in Weibergestalt abschlachten lassen.
»Gut, ich gehe darauf ein. Obgleich ich da nicht in letzter Instanz zu entscheiden habe...«
»Wer sonst?«
»Unsere Patronin, und schließlich doch überhaupt jeder einzelne. Es muss abgestimmt werden, schließlich braucht überhaupt niemand mitzumachen. Ich kann Dir aber schon jetzt die Versicherung geben, dass keiner meiner Leute sich ausschließen wird. Wollen wir also die Bedingungen gleich klarlegen.«
»Ich habe sie schon klar genug dargelegt.«
»Tue es noch einmal.«
»Wir sind 208 Amazonen. Wir treten Euch gegenüber.«
»Hier oder drüben bei Euch?«
»Wie Du bestimmst.«
»Dann hier bei uns.«
»Gut. Dann wählt jeder Mann eine Amazone aus und bestimmt die Art des Zweikampfes, in dem er sich mit ihr messen will.«
»Was für ein Zweikampf?«
»Ganz wie er will. Nur muss er auf eigene Körperfähigkeiten beruhen.«
»Wie meinst Du das?«
»Zum Beispiel nicht reiten. Denn dabei bedient man sich doch eines anderen Wesens, es kommt überhaupt hauptsächlich auf das Pferd an. Das kannst Du von uns nicht verlangen.«
»Gut, alles Reiten soll ausgeschlossen sein. Alles andere können wir bestimmen?«
»Ja alles.«
»Fechten, Weitsprung, Hochsprung, Wettlaufen, Speerwerfen, Schießen?«
»Alles, alles.«
»Das Heben von Gewichten?«
»Alles, alles sage ich.«
»Turnen?«
»Ich kann nichts wiederholen als: alles, alles.«
»Weißt Du denn überhaupt, was Turnen ist?«
»Als ob ich das nicht wüsste!«
»Was ein Reck und ein Barren ist?«
»Selbstverständlich weiß ich das.«
»Und Deine Amazonen wollen sich mit uns auch an Reck und Barren messen?«
»Ganz wie jeder einzelne bestimmt.«
»Haben sich denn Deine Amazonen auch an solchen Turngeräten ausgebildet?«
»Das wird sich ja erweisen. Ich finde Deine Fragen nicht gerade fair.«
»Du sollst in dieser Hinsicht nicht mehr über mich klagen. Und doch muss ich noch einige Fragen stellen. Ist auch ein Schachkampf erlaubt?«
Denn ich dachte dabei an unseren Doktor Isidor. Und der stand ja in nichts weiter als im Schachspiel seinen Mann.
»Ist denn Schachspiel eine körperliche Übung?«
»Also es ist nicht erlaubt.«
»Nein, nur athletische Leistungen des Körpers.«
Nun, da musste sich Doktor Isidor eben ausschließen.
»Das möchte aber doch noch etwas näher definiert werden. Also auch Wettschießen, Kunstschießen.«
»Gewiss. Das gehört mit zum Sport. Sport sagt hierbei doch alles.«
Jetzt dachte ich an unseren Siddy.
»Gliederverrenkungen, Jonglieren.«
»Auch das. Das kann alles im Zirkus produziert werden.«
Na, dann war ich meiner Sache sicher. Dann konnte ich nur diese Weiber nicht begreifen. Ich hatte doch mehr als 50 hier vor mir, konnte ihren Körperbau gerade recht gut beurteilen.
»Ringkampf?«, fragte ich nur noch.
»Den erst recht.«
»Gut. Und jeder einzelne Mann kann also immer eine beliebige Amazone zum Wettkampf auswählen.«
»Ja.«
»Der Sieger scheidet aus wie die Besiegte.« »Und die Siegerin wie der Besiegte!«, wurde bedeutungsvoll bestätigt.
»Der Sieger hat einen Eurer Gefangenen befreit.«
»Ja.«
»Kann er ihn selbst auswählen?«
»Ja.«
»Bringt Ihr die Gefangenen gleich mit?«
»Das können wir, da Ihr ja doch nicht in unser Felsengebiet kommen wollt. Nur möchte ich da eine Bedingung aufstellen.«
»Stelle sie.«
»Es gibt unter ihnen genug, denen man nicht auf Ehrenwort glauben kann. Wenn sie nicht freiwillig mit uns zurückkehren wollen, so müsst Ihr uns dabei behilflich sein, uns mindestens nicht daran hindern, wenn wir selbst sie mit Gewalt zurückbringen.«
»Das verspreche ich, das ist dann nur recht und billig.«
»Also tut Ihr dann nichts zu ihrer Befreiung?«
»Das ist dann doch ausgeschlossen. So lange sie sich hier bei uns befinden, sind es Eure Gefangene, meine ich, die Ihr auch zurückfordern könnt.«
»Gut, ich verstehe.«
»Dass Du mich wegen ihrer Befreiung nicht etwa für immer bindest.«
»Ich verstehe, sagte ich. Nein, ich binde für nichts, nicht für die Zukunft.«
»Und wenn die Amazone siegt?«
»So nimmt sie den Besiegten mit sich als ihren Sklaven.«
»Was ist sein Los?«
»Ein sehr gutes.«
»Das ist ein weiter Begriff. Er wird auch so dick gefüttert?«
»Ganz im Gegenteil. Er soll seine volle Kraft und Gewandtheit und Beweglichkeit behalten, das kann ich Dir zuschwören, denn darüber haben wir schon unseren Entschluss gefasst.«
»Ja, das kannst Du sagen, darüber aber hat ein anderer zu bestimmen. «
»Wer denn?!«
»Jener Kapitän Satan. Dem wird es wieder ein höllisches Vergnügen bereiten, den neuen Gefangenen sein Mittel heimlich in das Essen zu mischen, um Euch wieder solche Masttiere zu liefern.«
»Ich habe mit ihm bereits hierüber gesprochen, und er hat mir versprochen, dies nicht zu tun. Denn natürlich hegte ich dasselbe Misstrauen wie Du in dieser Sache.«
»Und Du traust seinem Versprechen? Du sagtest doch selbst, dass diesem Satan absolut nicht zu glauben wäre.«
»Aber in diesem Falle hat er einen Schwur abgelegt, den er nicht brechen wird.«
»Was für einen Schwur?«
»Er hat beim Obi geschworen.«
Wieder einmal der Obi!
»Ist das sein Gott, an den er glaubt?«
»Du sagst es.«
»Hat er Dir das selbst erklärt?«
»Ja.«
»Was hat er Dir sonst noch von diesem Obi erzählt?«
»Nichts weiter.«
»Er opfert ihm Menschen?«
»Er opfert Menschen? Davon weiß ich nichts.«
Ich erkannte gleich in ihren Augen, dass sie die Wahrheit sprach.
»Wo bleiben die männlichen Kinder, die Ihr verschwinden lasst?«
»Sie werden getötet!«, gestand dieses Weib mit größter Seelenruhe.
»Da bist Du selbst mit dabei?«
»Jawohl, und wenn es auch mein eigenes Kind ist.«
»Es findet keine religiöse Opferung durch die Proslewiten statt?«
»Proslewiten? Was ist denn das? Ich verstehe Dich überhaupt nicht, weshalb Du von unserem Thema so abschweifst.«
Sie hatte recht. Diese Sache ging mich ja gar nichts an. Und das wegen der Mastkur mit meinen Leuten, das war nur so eine Frage der Neugier gewesen, denn natürlich würden die Amazonen keinen einzigen meiner Jungen besiegen. Bei wem da irgendwie ein Zweifel war, der durfte einfach nicht mitmachen. Dann mochte doch lieber ein anderer, mir fremder Mann in dieser Gefangenschaft bleiben. So weit geht die Uneigennützigkeit denn doch nicht.
»Also es kann sich doch auch jeder ausschließen, wenn er will.«
»Gewiss, gezwungen soll dazu niemand werden, mit uns zu kämpfen. Und wer sich ausschließt, der ist eben nicht fähig, mit uns zu kämpfen, den können wir später also auch nicht brauchen. Dagegen hoffe ich sehr, dass auch die 32 Knaben, die Du bei Dir hast, mit uns zum Wettkampf in die Schranken treten.«
»Was, auch auf diese 32 Bengels habt Ihr es abgesehen?!«, rief ich in hellem Staunen.
»Jawohl, sogar mit am allermeisten.«
»Ja wozu denn?! Es sind ja einige Jünglinge dazwischen, sie sind es unter meiner Erziehung geworden, aber die meisten sind doch noch die reinen Kinder, es gibt achtjährige!«
»Gerade diese Kinder sind uns sehr lieb.«
»Ja, was wollt Ihr denn mit denen anfangen?!«
»Sie zu ganzen Männern erziehen, sie zu Athleten und Kriegern ausbilden, aber auf unsere Weise.«
»Ja, mein Gott, dann macht das doch mit Euren eigenen Söhnen, anstatt sie dem Moloch zu opfern oder sonst wie ins Jenseits zu befördern!«
»Uns bindet ein Gelübde. Unsere eigenen Söhne müssen wir töten. Und wir müssen doch auch dereinst Gatten für unsere Töchter haben. Diese wollen wir entsprechend erziehen, um ein kraftvolles Geschlecht heranzuzüchten.«
Nun, dann allerdings hatte sie da gar kein so schlechtes Programm entworfen. Nur keine Innenzucht! Die verdirbt in Bälde auch die beste Rasse.
»Also wirst Du auch diese Knaben und Jünglinge in die Schwanken treten lassen?«
»Wie sollen sich denn diese Kinder, die sie meist noch sind, sich mit Euch messen können?«
»Nun, sie werden schon ihrer Kraft und Gewandtheit entsprechend etwas leisten, dazu wirst Du sie schon erzogen haben, daran zweifle ich nicht. Hauptsächlich ihrem Gewicht entsprechend werden sie sich mit uns messen können.«
»Wie meinst Du das?«
»Nun, Übungen und Sport, wobei das Alter keine Rolle spielt. Wie zum Beispiel im Wettlauf, oder irgend ein Ballspiel, oder im Klettern.«
Ja, da konnte ich die Zusage geben. Da hatten allerdings erst noch andere zu entscheiden, aber die würden schon die Erlaubnis nicht versagen. Es gab Sportarten, in denen auch die jüngsten dieser Knirpse einfach unbesiegbar waren, und dann handelte es sich um die Befreiung jener Gefangenen.
»Natürlich erhält auch jeder dieser Knaben, wenn er siegt, einen Eurer Sklaven ausgeliefert.«
»Selbstverständlich. Verliert der Knabe, der irgend ein Kampfspiel bestimmen kann und sich unter den Amazonen irgend eine auswählt, dann gehört er uns.«
»Könnt Ihr vielleicht auch eine oder die andere unserer Damen gebrauchen?«, spottete ich.
»Gewiss, sie sollen mit uns kämpfen. Unter den gleichen Bedingungen wie die Männer.«
»Auch sie gewinnen je einen Gefangenen?«
»Selbstverständlich.«
»Und wenn eine verliert?«
»So hat sie sich selbst verloren. Sie muss mit zu uns herüber.«
»Als was?«
»Wir bilden sie weiter zur Amazone aus. Denn ist sie fähig, mit uns zu kämpfen, in irgend einer athletischen Übung oder sonst einem Sportspiele, so passt sie eben zu uns.«
»Gut, ich werde es ausrichten. Wann soll der Wettkampf stattfinden?«
»Wie Du bestimmst.«
»Morgen schon?«
»Ganz wie Du bestimmst. Wenn Du keine weiteren Vorbereitungen bedarfst.«
»Wir nicht.«
»Wir auch nicht.«
»Wir sind jederzeit fit, wie der Kunstausdruck lautet.
Stehen immer auf der Höhe des Trainings.«
»Dasselbe gilt von uns. Also morgen. Bestimme auch die Stunde, wann wir kommen sollen.«
»Halt! Natürlich muss ich die Sache erst mit den anderen besprechen, ob die auch damit einverstanden sind.«
»Tue es sofort.«
»Das will ich wohl, aber einige Stunden dürfte es doch bis zur definitiven Entscheidung dauern.«
»So lasse ich eine Amazone zurück. Makuba wird hier bleiben. Der übergibst Du dann die Antwort, mit Tag und Stunde, da wir kommen sollen. Ihr habt nur nötig, sie dann über den Fluss zu setzen, sie läuft zu Fuß zurück. Willst Du?«
»Sehr wohl.«
»Wir anderen fahren jetzt gleich zurück. Besten Dank für die gastfreundschaftliche Aufnahme, wir werden uns später zu revanchieren wissen. Wegen der gegen Pferde auszutauschenden Schiffe sprechen wir ebenfalls später.«
Eine leichte Kopfneigung, zum ersten Male löste sie die Verschränkung der Arme über der Brust, öffnete die Tür und verließ den Raum. Ich ihr nach.
Draußen kamen gerade andere, an der Spitze die Patronin, um auch diesen letzten Raum zu besichtigen. Lange hatte unsere Unterhaltung ja gar nicht gewährt.
»Wo haben Sie denn nur gesteckt, Waffenmeister?!«, »Hier gibt es keine Verstecke. Aber ich habe Ihnen und allen etwas sehr Interessantes mitzuteilen.«
»Was?«
»Sie werden es gleich erfahren.«
Als wir wieder an Deck waren, ertönten Paukenschläge, die Begum bearbeitete das Blech mit dem Klöppel in besonderem Takte, und da kamen auch schon die silbernen und goldenen Weiber im Laufschritt aus der Höhle hervorgestürmt, auf das Schiff zu.
»Vorwärts, meine Herren und Damen und Kollegen, verlassen wir das Schiff!«, sagte ich. »Einen Überfall gibt es nicht etwa, aber wir sind jetzt hier überflüssig, die Amazonen rudern zurück, und ich selbst brenne danach, Ihnen mitzuteilen, was mir soeben von der Begum für ein Vorschlag gemacht worden ist.«
Wir befanden uns an Land, und während die goldene Galeere, im letzten Abendsonnenschein gleißend, noch nicht um die Felsenecke gebogen war, hatte ich schon alle um mich versammelt und begann meinen Vortrag.
Ach, dieses Hallo meiner Jungen, als ich geendet hatte, und die Patronin glühte förmlich!
Denn hierbei handelte es sich doch um etwas ganz anderes als um ein gewöhnliches Sportwettspiel. Hierbei handelte es sich schon mehr um Tod und Leben. Mindestens konnten wir hier durch unsere Kunstfertigkeit Menschen aus Gefangenschaft befreien, einfach aus Sklaverei erretten.
Dass jeder von uns in dem Wettkampf, den er bestimmte, Sieger bleiben würde, daran zweifelte ja niemand.
Niemand?
Doch, es erhoben sich Stimmen des Bedenkens. Die der Patronin freilich war nicht dabei. Aber zum Beispiel Kapitän Martin, auch der erste Ingenieur, auch noch andere bedächtige Menschen wollten diese Sache erst reiflich erwogen haben.
»Die müssen doch in den verschiedenen athletischen Übungen etwas ganz Bedeutendes leisten, dass sie solch eine Herausforderung an uns ergehen lassen.«
»Ach, die haben ja gar keine Ahnung, was wir können!«, lachten die anderen, wenn sich solch eine Stimme erhob.
»Diese Amazonen haben vielleicht ein ganz besonderes Training erfunden, auch so eine Erfindung dieses Teufelskapitäns!«
»Ach was, was soll denn da erfunden werden, die können sich doch nicht mit uns messen!«
»See taun uns vielleicht hyp—hyp—hypnotisieren!«, ließ sich auch der Matrose Fritz vernehmen, mit zu diesen Zweiflern gehörend.
Das »hypnotisieren« hatte er aber noch nicht ausgesprochen.
»Hip hip hip hurra für Fritzen!«, jubelten da schon die anderen.
Und so ging das noch einige Zeit weiter mit dem Für und Wider.
»Na, nun kurz und bündig«, sagte ich endlich, »entweder oder, wollen wir oder wollen wir nicht.«
»Na selbstverständlich wollen wir!«, jubelte die Patronin. »Überhaupt, wir müssen doch — wir müssen doch alles daransetzen, um jene Unglücklichen aus der Sklaverei zu befreien.«
»Herr Kapitän Martin? Sie haben auch ein großes Wort mitzusprechen. Wir stehen alle im Heuerkontrakt. Denn wer verliert, geht hinüber.«
»Meinetwegen!«, brummte der Kapitän, die Hände in den Hosentaschen und mächtig mit den Beinen schlenkernd.
»Ist das Ihre bestimmte Zusage, dass Sie mit allem einverstanden sind?«
»Well.«
»Nehmen Sie auch einen Zweikampf auf sich?«
»Nu, weiter fehlte nischt, ich bin doch nicht der Kapitän von Brants Narrenschiff!«, brummte Martin noch verdrießlicher, wandte sich und schlenkerte davon.
»Also wann, Frau Patronin?«
»Gleich morgen früh, schlage ich vor.«
»Zu welcher Stunde?«
»Das überlasse ich Ihnen.«
»Wo ist denn nun die Amazone, die zurückbleiben sollte?«
Sie stand am Ufer, hatte sich weit genug entfernt gehalten, um nichts von unserer Unterredung hören zu können, so laut dabei auch geschrien worden war.
Als ich winkend auf sie zuging, kam sie mir halb entgegen.
Es war ein berückend schönes Weib, das mir schon während der Tafel aufgefallen war, aber eine ganz eigentümliche Schönheit, mehr ein dämonisch schönes Gesicht, ein wilder, finsterer Trotz lag darin, und dem entsprach auch die kraftvolle Gestalt von harmonischem Ebenmaß.
Finster glühten mich die schwarzen Augen an.
»Speak Englisch?«
Nur ein Kopfschütteln.
»Parlezvous français?«
Nur ein kurzes Kopfnicken, während ich immer grimmig angefunkelt wurde.
So und so. Morgen früh um acht kann die ganze Gesellschaft kommen, wir erwarten sie.
Ich hatte geendet, und sie blitzte mich noch immer an.
»Wenn Sie noch etwas zu sagen haben — ich nicht mehr.«
Da drehte sie sich wie ein Kreisel um, ging davon, dem Flussufer zu — also im Gehschritt, aber dennoch flüchtend wie eine Gazelle — und dennoch stolz wie ein Löwe schreitend.
»Halt, halt, Madame Makuba!«, rief ich ihr nach.
Sie blieb stehen und wendete sich um.
Nur ein trillernder Bootspfiff von mir, und im Nu war die kleine Jolle bemannt, kam im Sechsertakt angeschossen.
»Wir wollen Sie zwar nicht direkt bis nach Ihrer Wohnung bringen — verzeihen Sie das uns — aber Sie müssen doch wenigstens über den Strom gesetzt werden.«
Die Antwort war wieder ein furchtbarer Blitz aus den finsteren Augen, über denen die kühn geschwungenen Brauen fast zusammenstießen, umgedreht, den Weg mit flüchtigem Fuße fortgesetzt, sich ins Wasser gestürzt, hinübergeschwommen.
Da war nichts mehr zu machen.
Es sah prächtig aus, wie sie schwamm, wie die goldschimmernde Gestalt mit kraftvollen Armen das Wasser teilte, wie die langen, schwarzen Haare nachzogen.
Sie schwamm sehr, sehr gut. Das heißt, mit den Augen eines Menschen betrachtet, der nicht selbst ein geborener Fischotter oder durch lange Übung dazu geworden ist. Und wir alle hatten uns bei jeder Gelegenheit im Schwimmen mächtig trainiert! Und die Jolle wurde von Oskar gesteuert, unserem besten Schwimmer, schon mehr Fisch als Otter.
Der sah das Schwimmen dieses Weibes ja nun mit anderen Augen an, und er tat eine Äußerung, im entsprechenden Tone.
»Das nennt die schwimmen? Bah! Die darf ich morgen nicht zum Wettschwimmen herausfordern. Jetzt nicht mehr, da ich gesehen habe, wie jämmerlich sie paddelt. Das ginge gegen meine Ehre.«
Wolle sich der geneigte Leser diese Äußerung unseres Segelmachers, unseres Meisterschaftsschwimmers merken.
Wir begaben uns zurück, wo der Trubel weiter ging. Auch Doktor Isidor beteiligte sich daran, der aus seinem ersten Stadium der Bezechtheit ins zweite geraten war, das schon mehr dem Delirium ähnelte.
»Ich nehme gleich zwei auf mich — drei — vier — ein halbes Dutzend — zwei Dutzend...«
»Mit was wollen denn Sie herausfordern, Herr Doktor?«, wurde er gefoppt. »Wer es von den Amazonen Ihnen nachmacht, drei Flaschen Kognak hintereinander ut to supen?«
»Was sie wollen, was sie wollen!«, fuchtelte das Krummbein mit der noch krümmeren Nase herum. »Mir ganz egal — mir ganz egal — ich nehme es mit allen auf — ich befreie sie alle aus der bab — babyl — bababababab...«
Ich machte dem Trubel bald ein Ende. Wenn jemals dem Waffenmeister der Argonauten unbedingt gehorcht werden musste, dann war es jetzt. Das Abendessen eingenommen — ohne besondere Diät, das nützte jetzt nichts mehr, das muss wochenlang zuvor getan werden, und wir taten es überhaupt immer, nur dass es heute nichts Alkoholisches gab — und dann das Lager aufgesucht.
Bald herrschte Stille. Auch an diesem Tage, da wir immer auf eine Botschaft der Amazonen oder Merlins gewartet, hatten wir doch ein so tatenreiches Leben geführt, wenn auch nur in Sportübungen bestehend, dass auch dem Phantasiereichsten bald die Augen zufielen.
Nur Doktor Isidor phantasierte noch einige Zeit von der babylonischen Gefangenschaft, aus der er alle, alle erretten wollte, dann verstummte auch er. Dass uns der noch einmal im Delirium tremens abging, das war ja ganz sicher.
»Sie kommen, sie kommen!« Es war bald acht, als dieser Ruf erklang. Kein Lüftchen regte sich in dem im herrlichsten Frühlingsschmucke prangenden Tale, die Morgensonne stand an einem azurblauen Himmel, sie ließ die drei goldenen Galeeren erglänzen, welche hintereinander hinter jener Felsenecke hervorgerudert kamen.
Schon seit Sonnenaufgang, seit drei Stunden waren wir auf den Beinen. Aber kein lautes Durcheinander mehr, ruhig hatten wir gefrühstückt, dann ernst beraten und unsere Vorbereitungen getroffen. Ja, der Matrose Fritz hatte gar nicht so Unrecht gehabt. Es konnte doch sein, dass diese unter des Kapitän Satans Herrschaft stehenden Weiber irgendwelche Teufelskünste anwenden wollten, um unsere Kraft zu lähmen.
Aber wir wussten, wie wir uns gegen jeden Zauber schützen konnten. Nicht in dem Felsenzirkus in dem künstlichen Lichte sollten die Wettkämpfe stattfinden, wie ursprünglich geplant, weil es überhaupt so nahe gelegen hatte, sondern hier draußen im Freien unter Gottes strahlender Sonne! Da sollten einmal Hexenkünste versucht werden, ob die noch wirkten!
Dort, wo linkerhand von unserem Quartier neben den Dampfkammern die Felsenwände in weitem Bogen zurückgingen, stand uns ein großer, ebener, baumfreier Platz zur Verfügung, das Gras war schnell mit Sense und Maschine niedergemäht worden; für andere Spiele, die noch weicheren Boden verlangten, war dort am See der Strand mit feinem Sand; wer für seinen Fuß den härtesten Boden begehrte, für den zog sich dort einige hundert Meter felsiger Grund hin, wie zementiert.
Dort war es auch, an diesem wie gemauerten Kai, wo die drei Galeeren beilegten. Als erste stieg wieder die Begum an Land, ihr nach von allen drei Fahrzeugen, die Amazonen in hellen Scharen.
Nein, in dunklen Scharen. Heute trugen sie nun gerade nicht ihre ritterliche Schuppenpanzerung, sondern jetzt, da es zum Turnier ging, kamen sie in dunklen indischen Frauengewändern. Und auch darunter trugen sie nicht, wie sich dann zeigte, die goldenen oder silbernen Schuppentrikots, sondern solche von schwarzem Baumwollenstoff.
Keine Begrüßung. Vorläufig nicht. Zunächst waren die Weiber auch noch bei der Arbeit. Sie luden ihre Galeeren aus. Menschenfracht. Mehr lebendiges Fett als Fleisch. 125 zählten wir. 97 Indianer und 27 andere, die zur Besatzung jenes Dampfers gehört hatten, meist Engländer, aber auch zwei Neger darunter.
Himmel, waren da Fettkugeln dazwischen! Ich hatte mich durch Sandow, den 125., in meiner Phantasie täuschen lassen, der war gegen andere noch geradezu schlank zu nennen!
Nein, wer so ungeheuerlich dick ist, solche Fettmassen mit sich tragen muss, der denkt nicht mehr an Flucht und Widerstand. Der ist froh, wenn er sitzt, wo er sitzt, ohne über Rachegedanken nachzubrüten.
Das menschliche Mastvieh wurde ausgeladen, in Weiberröcke gewickelt, die Amazonen trieben es vor sich her, dorthin, wo wir sie erwarteten, rollten es vor sich her. Denn auch mit dem stolzen Gange der Komantschen, wodurch diese berühmt sind, war es vorbei. Auch der schlankste unter ihnen konnte nicht mehr gehen, nur noch watscheln; die andern rollten. Fast alle nutschten aus Bonbonnieren Konfekt, einen sah ich von einem großen Stück Kuchen abbeißen, andere mochten dasselbe tun. Kauen taten wohl alle.
»Soll der Wettkampf hier stattfinden? fragte mich die Begum.
»Ja, hier.«
Alles ordnete sich im weiten Kreise, die Männer bekamen Decken, auf denen sie niederhocken konnten.
Alles andere ging äußerst schnell, obgleich vorher gar nichts weiter ausgemacht worden war, das erledigte sich erst jetzt, sodass es nicht eben reglementmäßig vor sich ging.
»Habt Ihr Eure eigenen Waffen und Turnapparate und sonstigen Sachen mitgebracht?«, war meine erste Frage.
»Nein, wir benutzen die Euren. Ihr habt immer ganz zu bestimmen.«
»Auch sonst bleibt alles dabei, wie gestern bestimmt worden war?«
»Selbstverständlich.«
»Also dann mal gleich los. Ich übernehme den ersten Gang. Fechten! Mit leichtem oder schwerem Säbel, mit Florett oder Degen, ganz wie gewünscht wird.«
»Wie wir wünschen? Nein, das hast Du zu bestimmen. Natürlich nur für eine einzige Waffe.«
»Mir ist es aber ganz gleich, und wenn eine von Euch ganz besonders auf...«
»Verstehst Du denn nur nicht?!«, wurde die Begum etwas ungnädig. »Nur Ihr allein habt immer alles bis ins Kleinste zu bestimmen.«
Natürlich hatte ich voll und ganz verstanden, mir bescheidenem Kerle war nur so etwas unangenehm.
Na, das half nun alles nichts.
»Also dann... leichter Säbel. Leichtestes Kaliber. Wer von Deinen Amazonen weiß am besten diese Waffe zu handhaben?«
»Beim Barte des Propheten«, wurde die Begum noch ungeduldiger, »willst Du uns denn nur verspotten?! Du selbst hast Dir Deine Gegnerin auszusuchen, Du sollst auch erst mit Deinen Augen urteilen...«
Und als ob ein geheimes Kommando gegeben worden wäre, was wohl auch geschehen war, so ließen plötzlich alle 208 Weiber ihre langen, verhüllenden Gewänder fallen, standen in noch dunkleren, in schwarzen Trikots da, als Schmuck auch nicht mit einem Badehöschen angetan. Anderseits war ja das Ganze ein Badekostüm.
So standen sie in weitem Halbkreise da, in einer einzigen Reihe, wie sie sich schon vorher aufgebaut hatten.
Na, nun durfte ich nicht mehr den Großmütigen spielen, so schwer mirs auch wurde. Nun wählte ich aber auch nicht mehr lange unter diesen herrlichen Gestalten, von denen eine immer kraftvoller als die andere war. Wenn die meisten von ihnen schon Mutter gewesen, so war davon doch nichts zu merken, niemand hätte das den Formen nach konstatieren können. Ebenso wenig wie bei den Artistinnen, die man im Zirkus als Kunstreiterinnen oder als Akrobatinnen im Trikot auftreten sieht. Es ist eben ein gewaltiger Unterschied, ob sich ein Weib von Jugend auf in körperlichen Übungen aller Art betätigt oder ob es den größten Teil des Lebens sitzend oder in mechanischer Arbeit ein und derselben Art verbringt. Die erstere Lebensweise ist die natürliche, die andere straft die Natur, zuerst bei der Mutterschaft. Denn wie jedes höheres Tier ist auch der Mensch dazu bestimmt, den größten Teil seines Lebens für seine Nachkommen zu sorgen, das gilt ganz besonders für die Mutter, und die Ernährung der Jungen geschieht durch Fangen von Beute, wozu eine hohe Ausbildung aller körperlichen Fähigkeiten nötig ist. Ist dieses Beschleichen und Fangen der Beute, wie es nur im Urzustande des Menschen nötig gewesen, nicht mehr nötig, so müssen die ausfallenden Körpertätigkeiten durch künstliche Leibesübungen ersetzt werden. Dann bleibt auch das menschliche Weib die Löwin, die sich noch in hohem Alter sehr wenig von einer jungen unterscheidet, mit noch eben so stolzem, elastischem Gange schreitet, und wenn sie auch schon Dutzende von Nachkommen hat. Oder man betrachte eine Milchkuh, die im Stalle steht, und eine, die niemals in den Stall kommt. Was das für ein Unterschied ist!
Die Engländerinnen und die Nordamerikanerinnen und besonders auch die Japanerinnen, die der besseren Klasse, haben das erfasst. Deshalb sieht man dort sechzigjährige Damen, die schon zehn Kinder haben, aber trotz ihrer schneeweißen Haare sonst noch die reinen Mädchen sind, flink wie die Wiesel, elastisch wie die Sprungfedern, kraftvoll wie die Walküren und in ihrem ganzen Wesen und Äußeren einfach noch reizend. Nicht nur liebenswürdig sondern noch liebenswert! Alte Großmütter! Das macht allein der Sport! Der aber nicht nur den Körper, sondern auch das Herz, die Seele jung erhält, und das ist es eben! —
»Wähle! Du kannst auch ihre Muskeln befühlen.«
Ich tat es natürlich nicht, ging auch nicht die Reihe ab, nur um in die Augen zu blicken, aus denen ein geübter, ein geborener Fechter ja schon viel erkennen kann, was für einen Gegner er haben wird.
»Nun, der Waffenmeister der Argonauten kann wohl nur mit der Vorkämpferin der Amazonen fechten. Also Du, Begum.«
»Wie Du bestimmst.«
Auch sie hatte schon ihre weiten Gewänder fallen lassen.
Alles, was wir irgendwie brauchten, war schon vorhanden, der Kasten mit den leichten Übungssäbeln wurde gebracht.
»Wir schützen uns doch durch Paukzeug, durch ledernen Koller und Helm?«
»Wie Du bestimmst.«
Das Paukzeug war sofort da, wir wurden gewappnet.
»Nicht wahr, die Säbel werden eingerußt, dass sie auf dem hellen Leder schwarze Striche ziehen, der erste Strich entscheidet?«
»Wie Du bestimmst«, erklang es hinter dem Drahtgeflecht.
Die stumpfen Säbel wurden eingerußt.
»Wähle Deinen Säbel.«
»Gib Du mir einen.«
Es gab nichts weiter unter dem halben Dutzend Säbeln auszusuchen, weder an Klinge noch am Griff.
»Wer soll das Kommando übernehmen?«
»Wie Du bestimmst!«, hieß es immer wieder.
Es war die längste Auseinandersetzung gewesen, sie wiederholte sich nicht wieder. Wir hatten Mensur und Stellung genommen.
»Los!«, rief ich, und wir legten los.
Sie verstand den Säbel zu führen, sehr gut. Aber bei mir konnte sie nichts wollen. Mehr will ich darüber nicht sagen. Ich spielte etwas mit ihr, freute mich an ihren anmutigen Bewegungen, dann bezeichnete ich mit einem schwarzen Strich die Stelle, wo ich ihr den rechten Arm von der Schulter getrennt hätte.
Hatte das Weib etwa geglaubt, eine Fechtmeisterin ersten Ranges zu sein? Ja, sie hatte ganz gut gefochten, aber von einer besonderen Meisterschaft war keine Rede gewesen.
Jedenfalls war sie furchtbar enttäuscht, versuchte ihren aufsteigenden Grimm zu bemeistern. Ihr brünettes Gesicht wurde plötzlich ganz dunkelrot, wie Kupfer, so schleuderte sie den Säbel von sich, dass er tief in den Rasen drang und mit zitterndem Griff stecken blieb.
»Besiegt!«, sagte sie dann, wieder ganz ruhig. »Wähle Dir den Sklaven aus, den Du befreit hast.«
Ich schnallte ab, ging auf Sandow zu, dessen Standort ich schon vorher ausgekundschaftet hatte, oder vielmehr seinen Sitzplatz.
»Kommen Sie, Mister Sandow, ich bringe Sie in das goldene Land der Freiheit zurück.«
Langsam und pustend richtete sich die Fettkugel auf den Bratwurstbeinen empor.
»Na, wissen Sie, Geehrtester, einen großen Gefallen tun Sie mir eigentlich nicht!«, sagte da dieser unverschämte Kerl, und zwar meinte er es sicher ganz ehrlich. »Ob es bei Ihnen so schöne Puddings gibt wie dort drüben, das bezweifle ich!«
»Na, Männeken«, entgegnete ich, »dann bleiben Sie mal ruhig drüben, ich will Ihnen keine Gewalt mit der Befreiung antun. Aber Ihr Los kennen Sie doch. Sie selbst werden von den rabiaten Weibern in Pudding umgewandelt und mir zugeschickt, im Ganzen oder gleich in Portionen geschnitten.«
»Ja, das weiß ich, und unter solchen Aussichten ziehe ich doch lieber vor, Zeit meines Lebens bei Ihnen blau angelaufenes Salzfleisch und harte Erbsen zu kauen.«
Sprach's und wälzte sich nach dem ihm zugewiesenen Platz, wo unsere Leute standen.
Von dort löste sich jetzt Mister Tabak ab, bekleidet mit Pelzmütze und Pelzhose, sonst mit nichts weiter, wenn man nicht als Bekleidung die Fettschicht gelten lassen will, mit der er seinen gelben Oberkörper samt Hängebauch eingerieben hatte, in der Faust einen Speer — und natürlich die qualmende Fuhrmannspfeife im Maule. So schritt er über den freien Platz. Er wollte nach mir der erste sein, der sich mit einer Amazone maß, hatte vorhin schon Strecken mit Schritten abgemessen.
»Hier«, rief er, auf einen im grünen Grase mit weißem Sande markierten Punkt stehen bleibend, noch einmal seine noch unter dem Bauche an der Hose hängenden drei Orden und die goldene Uhrkette zurechtzupfend, »wer mir das nachmacht, diese Lanze hundert Schritte weit wirft, dass sie dort in dem Baume stecken bleibt, der darf mich heiraten, mich, den berühmten Kabat.«
Noch einmal kräftig gequalmt, ausgespuckt und die Lanze geschleudert.
Tief drang die Spitze in den bezeichneten Baumstamm.
Wie wir dann ausmaßen, betrug die Entfernung 68 Meter.
Der letzte Rekord im Speerwerfen ist in Stockholm von dem Finnländer Tormark aufgestellt worden, mit 64 Metern. Dieser Eskimo, der ehemalige Harpunier, hatte diesen Rekord noch mit 4 Metern übertroffen, ja noch viel mehr, weil der Speer ohne getroffenes Ziel ja noch eine gute Strecke weiter gegangen wäre, und beim Weitwurf entscheidet der Punkt, wo die Lanzenspitze den Boden berührt, minus der Lanzenlänge.
Auf Länge und Gewicht des Speers kommt es dabei gar nicht an, das kann sich jeder nach Gutdünken wählen. Eine Bleikugel lässt sich doch weiter werfen als eine hölzerne, oder gar als ein Papierball, während doch eine gewisse Gewichtsgrenze nicht überschritten werden darf, und diese Mitte muss eben aufs Sorgfältigste ausprobiert werden.
Gemächlich schritt Mister Tabak nach dem Baume, riss die Lanze heraus, gemächlich ging er wieder zurück. Sonst aber machte er es viel kürzer als ich, ging gleich auf den Weiberkreis zu, direkt auf eine, die sich weniger durch Schönheit auszeichnete, das plumpe Gesicht war von Pockennarben entstellt, als durch ihre Größe und Korpulenz. Ein ungemein strammes Weib, mit Oberarmen wie die Schenkel eines starken Mannes, und danach war auch alles andere proportioniert.
Vor der blieb der Eskimo stehen und äugelte zu ihr empor.
»Wie heißt Du, mein liebes Kind?«
»Gelania!«, entgegnete von oben aus den Lüften herab eine Bassstimme.
»Gelania? Ach neeee!«, erklang es unten mit freudigem Staunen. »Na das ist ja famos! Eine Germania wollte ich ja gerade haben! Denn Du heißt fortan Germania, verstanden? Hier, Dicke, nimm den Speer, mach mir das mal nach.«
Das Riesenweib nahm den Speer, schritt nach der markierten Stelle, wog ihn in der Faust, holte mehrmals aus, nach dem Baume, bis sie ihn mit Riesenkraft entsandte.
Er hätte den Baum getroffen. Wenn er ihn erreicht hätte. Die Entfernung bis dorthin, wo die Spitze den Rasen berührte, betrug nur 46 Meter.
Jawohl, nur! Es war schon eine ganz ungeheuerliche Leistung gewesen! Man probiere es nur einmal, einen Speer, der 5 Pfund wiegt, 46 Meter weit zu schleudern! Wie es Menschen gibt, die irgend eine Lanze, ob nun aus Bambus oder schwerem Holze, 60 Meter und noch weiter oder auch nur 50 Meter weit schleuderte können, das begreife ich überhaupt nicht.
Niedergedrückt stand die braune Riesendame in schwarzem Trikot da. Ich begab mich hin. Der Eskimo zog gerade bedächtig einen Strick aus der Hosentasche, knüpfte eine Schlinge hinein, wozu, wusste ich nicht, beachtete es auch gar nicht.
»Nun, Mister Kabat, jetzt können Sie wählen. Ich schlage den Kapitän Arnold vor. Wenn auch Mensch Mensch ist, etwas Rücksicht müssen wir doch auf den Rang nehmen.«
»Wen?«, fragte der Eskimo, mich verwundert aus seinen Schweinsaugen ansehend.
»Den englischen Kapitän, dort steht er.«
»Was soll ich denn mit dem?«
»Na, ihn befreien.«
»Befreien?«
»Na ja, das ist doch ausgemacht. Sie haben doch die Amazone besiegt, nun können Sie doch einen der Gefangenen auswählen, wodurch er frei wird.«
»Frei wird? Die sind doch schon frei genug. Und wenn sie noch freier werden wollen, dann mögen sie sich doch gefälligst selber befreien. Was soll ich denn mit so einem dicken Mastschwein dort? Das sind doch Männer. Ich kann doch keinen Mann heiraten. Hier dieses Weib will ich zur Frau haben, die habe ich mir ausgewählt. Komm, mein Püppchen, Du sollst's gut bei mir haben.«
Und das kleine Krummbein reckte sich auf den Zehenspitzen empor und legte der Riesendame die Schlinge seines Strickes um den Hals.
Na, ich war doch starr!
»Aber — aber — Mister Kabat — wir hatten doch ausgemacht, dass...«
»Was Sie ausgemacht hatten, geht mich gar nischt an. Ich habe den Speer geworfen, um endlich eine Frau zu bekommen, die mir gefällt. Das ist überhaupt Ihre Schuld.«
»Meine?!«
»Jawohl. Warum haben Sie mir keine andere Frau verschafft? Wir hatten doch an Bord einen ganzen Haufen davon. Auf die Größe und Figur wäre es mir ja gar nicht so angekommen, meinetwegen hätte ich auch eine verheiratete genommen. Aber nun suche ich mir hier auch eine nach Belieben aus, die größte und dickste. Denn Mama Bombe wäre sonst nicht so nach meinem Geschmack, die ist mir zu klein. Aber die hier, die Germania, die hat gerade die richtige Länge für mich. Ich kann keine Frau gebrauchen, bei ders ganz egal ist, ob sie kreuz oder quer oder vierkant in der Koje liegt, bei mir herrscht Ordnung.«
Juba Riata eilte herbei, wollte mir zu Hülfe kommen, wurde aber gleich in entgegengesetzter Weise empfangen.
»Sie, Peitschenmüller«, frohlockte ihm der Eskimo gleich entgegen, »sehen Sie, das ist so eine Germania, von der ich Ihnen erzählt habe, die mir so gefiel — wissen Sie, damals in New York, wo die deutschen Sänger durch die Straßen zogen, mit Wagen, und auf dem einen stand ein Weibsbild, Germania hieß es, mächtig groß und dick, mit ganz weißer Haut und blonden Haaren — gucken Se mal, hier is se — und, hol's der Henker, Germania heißt sie auch, nur das R und das M fehlen — Gelania...«
»Ja aber mein bester Kabat«, fing es Peitschenmüller auf andere Weise zu versuchen an, »die ist doch tiefbraun und hat schwarze Haare...«
»Ach, das will ich schon fixen, die Haare färbe ich blond, ganz echt, und außen pinsele ich sie weiß an...«
»Aber die hat doch Pockennarben!«, genierte sich Juba Riata nicht, auch auf diesen Schönheitsfehler aufmerksam zu machen.
Mister Tabak blickte in die Höhe, betrachtete das braune Gesicht, als bemerke er die Pockennarben jetzt erst.
»Ja, die hat mit'm Gesicht uff'n Rohrstuhl gesessen. Das ist mir egal. Das ist mir sogar gerade recht angenehm. Solche Karrees liebe ich. Da kann ich mich künstlerisch betätigen. Die lege ich mit farbiger Elfenbeinmosaik aus... also nun komm, mein Püppchen.«
Er zog an dem Strick.
»Halt!«, wollte auch ich es noch einmal versuchen »Das kannst Du doch nicht erlauben, Begum! Wir hatten doch ausgemacht...«
»Es gilt!«, entschied aber die näher gekommene Begum. »Wer von Deinen Männern eine Amazone besiegt, dem gehört sie als Sklavin, er kann sie nur, wenn er will, gegen einen unserer männlichen Sklaven austauschen. Gelania ist dieses Mannes Eigentum.«
»Ich hab's ja gleich gesagt. Also komm, mein Püppchen, heute Abend feiern wir Hochzeit, ich will Dich aber lieber inzwischen an die Kette legen, damit Du mir nicht etwa durch die Lappen geht.«
Und der Eskimo legte sich den Strick über die Schulter und zog das Riesenweib hinter sich her. Sie folgte ja allerdings ganz willig, aber es war doch immerhin ein Ziehen.
Der Eskimo legte sich den Strick über die
Schulter und zog das Riesenweib hinter sich her.
Alles brüllte vor Lachen. Es sah auch gar zu komisch aus, wie das kleine Krummbein das Riesenweib an dem Stricke hinterher zog! Das heißt, meine Jungen, die Matrosen und Heizer, brüllten vor Lachen. Ich meinesteils krümmte mich, um nicht mit einstimmen zu müssen.
Es war dies die erste und die letzte humoristische Szene, die bei diesen Wettkämpfen passierte. Uns sollte das Lachen bald vergehen.
Jetzt kam nach meinem Namensverzeichnis, das ich aufgestellt, Juba Riata daran.
Auf dem Rasen wurden zwölf leere Weinflaschen in einer Reihe aufgebaut, auf jede ein Kork gesetzt, Juba Riata nahm zwei Revolver, maß zehn große Schritte ab, drehte sich um, feuerte sechs Mal schnell hintereinander ohne merkliches Zielen, also in jeder Hand einen Revolver. Bei jedem Doppelschuss verschwanden zwei der Korke.
»Wer macht mir das nach, die beste Schützin melde sich!«, war auch Juba Riata so entgegenkommend wie ich, wie auch schon dieses Revolverschießen nur eine höfliche Rücksicht war, denn mit dem Lasso oder gar mit seiner Peitsche hätte er noch ganz andere Kunststückchen ausführen können, worin er eben einzig war.
Er musste selbst wählen, winkte einer beliebigen Amazone. Noch eine kurze Erklärung, es käme nicht auf die Zeit an, ein längeres Zielen sei gestattet, nur müsse unbedingt mit beiden Händen zugleich geschossen werden, gleichzeitig, und die Amazone erhielt dieselben Revolver, musste sie selbst laden, feuerte.
Sie hatte immer sorgfältig gezielt, einmal hüben einmal drüben, bald gar nicht, sie erfüllte die Bedingungen nicht, aber es war erstaunlich genug, was sie leistete! Mit den sechs Schüssen der rechten Hand hatte sie vier Stöpsel herabgeworfen, einen Flaschenhals ganz oben zersplittert, nur eine Kugel war fehlgegangen, und mit der linken Hand hatte sie doch wenigstens zwei Stöpsel getroffen, bei gleichzeitigem Abdrücken!
Soll das nur jemand nachmachen! Ja, ich habe es gesehen, gleichzeitiges Schießen mit beiden Händen; von Kunstschützen im Varieté, aber nicht mit Revolvern, nicht auf diese Weise, unter viel, viel leichteren Bedingungen!
»Entweder habe ich zufällig ein Revolvergenie ausgewählt, oder diese Weiber müssen sich im Schießen kolossal geübt haben!«, flüsterte mir denn auch Peitschenmüller mit ganz rotem Kopfe zu. »Hätte ich das gewusst, dass die mir so nahe kam, dann hätte ich lieber etwas anderes vorgemacht, mit der Peitsche.«
Immerhin, die Amazone war besiegt. Jetzt wurde Kapitän Arnold ausgelöst, er wälzte seine mehr als drei Zentner zu uns herüber. Fast bedauerte ich es. Der hätte meinetwegen ruhig drüben bleiben können. Dieser englische Kapitän hatte mir ein gar zu unsympathisches Gesicht.
»Graf von Mohakare!«, rief ich auf.
Der Hauptmann von Batavia kam. Er hatte sich schon gestern Abend zur Teilnahme an den Wettkämpfen gemeldet, ohne dass wir wussten, in was er sich produzieren würde. Das wusste man allerdings eigentlich bei keinem, das konnte jeder noch im letzten Augenblick entscheiden. Aber gerade bei dem Grafen hatte auch niemand eine Ahnung, was der eigentlich Hervorragendes leisten könnte, worin er sich unbesieglich fühlte.
Jetzt freilich merkte ich sofort, was der vorführen wollte. Er hatte schon den ganzen Morgen in der Schiffswerft gesteckt, hatte da geschnitzt und geraspelt, und jetzt brachte er einen Bumerang mit.
Das ist eine Waffe, welche den Australnegern eigentümlich ist. Ein flaches, etwa 60 Zentimeter langes Holz, eine Schiene, die in der Mitte, aber nicht ganz genau in der Mitte, knieartig gebogen ist. Wird dieser Winkel flach oder in einem Winkel von 30 bis 45 Grad geschleudert, so steigt er rotierend in die Höhe, und wenn er sein Ziel, nach dem er geschleudert worden ist, verfehlt hat, so kehrt er in einem Bogen zurück, bis dorthin, von wo er abgeschleudert worden ist. Was freilich gelernt sein muss, nicht nur das Treffen.
Weiter lässt es sich hier nicht beschreiben. Das Ganze beruht auf dem Gesetz der Schraube. Es ist einfach genug. Wenn man's kennt! Wie gerade die armseligen Australneger, unter allen Menschen dem Tiere am nächsten stehend, darauf gekommen sind, sich dieses Gesetz der freifliegenden Schraube zunutze zu machen, darüber ist in Gelehrtenkreisen schon viel debattiert worden.
»Will mal sehen, ob ich es noch kann, was ich als Kind im Herbst auf den Wiesen von Beheim eifrig betrieben habe!«, lächelte der Graf.
Dass er Bumerang werfen konnte, davon hatten wir noch nichts gemerkt, ich hatte einmal im zoologischen Garten zu Hamburg eine Truppe Australneger sich mit ihrer heimatlichen Waffe produzieren sehen — staunenswert — und nach alledem, besonders auch nach dieser letzten Äußerung, stieg mir eine gewisse Sorge auf. Es handelte sich ja in jedem einzelnen Falle darum, dass der Besiegte mit hinüber musste zu den indischen Weibern, als ihr Sklave auf Gnade und Ungnade, für immer, daran konnten wir dann nichts mehr ändern!
»Seien Sie vorsichtig, Graf«, warnte ich, »Halmahera ist gar nicht so weit entfernt von Australien und das sind nicht nur reine Inderinnen und Malaiinnen — da scheinen auch fremde Rassen darunter zu sein, Afrikanerinnen — weshalb nicht auch Australnegerinnen — und ich habe auch australische Weiber ihre Meisterschaft im Bumerangwerfen beweisen sehen...«
»Ohne Sorge«, unterbrach mich lächelnd der Graf, »ich bin mir meiner Sache sicher. Sonst würde ich es doch gar nicht riskieren. Ich habe schon als Junge eine neue Art von Bumerang ausgediftelt, oder doch eine Verbesserung daran, habe sie später im Mannesalter noch oft genug erprobt. Sehen Sie hier, diese unscheinbaren Rillen, die ich eingefräst habe, das ist, das Geheimnis dabei, dadurch bekommt der Holzwinkel noch einen ganz anderen Schraubenflug, aber das eigentliche Geheimnis besteht doch in einem Kniff beim Werfen, in einer besonderen Handbewegung, und wer diesen Kniff nicht kennt, kann mir die Sache auch nicht nachmachen, und wenn er sich Zeit seines Lebens übt. Ich habe diesen Bumerang vorhin schon einige Male geschleudert, er geht tadellos.«
Und er schleuderte den Bumerang kräftig in die Luft hinaus.
Und das Wunder geschah. Denn ein Wunder fast war es zu nennen.
Höher und höher schraubte sich der Holzwinkel, und immer noch höher, zwei große Bogen hatte er schon beschrieben, beim dritten Bogen war er mit bloßem Auge kaum noch am blauen Firmament sichtbar, dann senkte er sich wieder herab, wieder drei Bogen von wenigstens 300 Meter Durchmesser beschreibend, dann kam er zurückrotiert, direkt auf den Grafen zu, und der fing ihn auf, griff ihn am langen Ende aus der Luft heraus.
Im Ganzen war er vier Minuten und einige Sekunden in der Luft gewesen, der Graf selbst hatte die Zeit mit der Uhr kontrolliert.
»Wer mir das nachmacht, diesen Holzwinkel sechs Bogen in der Luft beschreiben lässt, drei hinauf und drei wieder herab, auf die Zeit soll es dabei nicht ankommen, und ihn zuletzt wieder auffängt, wobei man auch die Stellung verändern kann, dem gehöre ich als »Sklave!«
Das tiefste Schweigen herrschte rings umher. Dann erst ein Gemurmel unter den Amazonen, es schwoll an, bis es dann losbrach.
»Inschallah, alschallah, das ist Zauberei!«
Wenn wir diese indischen Worte nicht verstanden, so verdolmetschte sie uns die Begum.
»Das ist Zauberei! Die darf bei diesen Wettkämpfen nicht angewendet werden!«, rief sie heftig.
»Es ist keine Zauberei, es geht ganz natürlich dabei zu!«, sagte der Graf.
»Es ist dennoch Zauberei! Wie soll es denn möglich sein, dass das Stück Holz, dass Du weit von Dir weg wirfst, wieder zu Dir zurückkehrt!«
»Das kann jeder. Versuche es doch selbst.«
Mit einigem Misstrauen nahm die Begum den Bumerang, überwand ihre Furcht, schleuderte ihn, so wie sie es gesehen hatte: Richtig, der Holzwinkel schraubte sich in die Höhe, drehte um, kehrte zu der Begum zurück.
Freilich mit dem, was der Graf geleistet hatte, war es nicht im Entferntesten zu vergleichen gewesen. Der Unterschied war etwa wie der zwischen der Schussleistung einer Windbüchse und einer Krupp'schen Kanone gewesen. Auch fiel der Bumerang von der Begum zehn Meter entfernt wieder zu Boden. Immerhin, es war sonst ein normaler Bumerang, der den Gesetzen des Schraubenfluges gehorchte. Auch wir hatten als Kinder auf den abgeernteten Feldern und Wiesen den Bumerang geworfen. Solch ein Ding kostete damals in den Spielwarenhandlungen fünf Groschen, oder wir verfertigten ihn uns selbst. Dieser Sport scheint ganz in Vergessenheit geraten zu sein. Man kann ihn nur empfehlen. Er ist sehr belustigend, lehrreich, man kann dabei studieren. Jedenfalls ist er doch auch viel interessanter als das langweilige Drachensteigenlassen, das wir von den langweiligen Chinesen bekommen haben.
Wir alle hatten nicht minder gestaunt, als die Amazonen. Auch diejenigen, die schon echte Australneger den Bumerang oder Woomera hatten schleudern sehen. Das war noch etwas ganz, ganz anderes gewesen. Und ich staunte im Moment hauptsächlich über diesen Grafen, der so etwas konnte und noch kein Sterbenswörtchen davon gesagt hatte. Das verriet aber eben schon den ganzen Mann und großen Mann. Der spricht nicht viel von dem, was er kann, gibt es erst zum Besten, wenn es einmal sein muss.
»Wir verzichten«, sagte die Begum nach ihrem misslungenen Versuch, obgleich sie dabei doch erkannt hatte, dass es nicht gerade eine Zauberei war, »suche Dir einen Gefangenen aus.«
Der Graf wechselte mit Sandows einige Worte, der ihm einen dickwanstigen Indianer bezeichnete. Es war der Häuptling der Komantschen.
»Der nächste«, sagte die Begum.
»Halt!«, rief ich aber. »Wenn Ihr auch auf einen Kampf mit dieser Holzwaffe verzichtet, so muss doch eine Amazone als besiegt gelten, die muss ausscheiden.«
»Gewiss, Du hast recht, es könnte ja gerade diejenige sein, welche einen Deiner Männer im nächsten Kampfe besiegt!«, wurde gespottet.
»Darauf kommt es gar nicht an, sondern es muss nur auf Ordnung gehalten werden.«
»Jener Mann soll sich eine Amazone auswählen.«
Das tat der Graf ohne langes Besinnen, sie trat zu den andern Besiegten.
»Major von Tonn!«, las ich den nächsten Namen von meinem Verzeichnis ab.
Der kleine, dicke Stöpsel, der er noch immer war, kam angehinkt. In was der sich produzieren würde, das war bekannt genug, auch wenn er es nicht gesagt hatte. Der ehemalige Bataillonsfechtlehrer brachte denn auch gleich seinen Klingenkasten mit.
»Degen! Oder meinetwegen Florett. Das ist den Damen doch handlicher. Also Florett! Sie da, Madame, kommen Sie mal her. Sie können sich aber auch von einer anderen vertreten lassen, die die Sache besser versteht.«
Nein, die Gewinkte kam nun auch.
Beim Florettfechten brauchte nicht mit Leder gepanzert zu werden, nur das Gesicht wurde durch eine Drahtmaske geschützt, der Knopf des Floretts eingekreidet. Nur um keine Ausnahme zu machen, band auch Tönnchen die Maske vor; dass er die Jacke auszog und die Hemdsärmel hochkrempelte, war Gewohnheit von ihm. Was dieser kurze, dicke Stöpsel für gewaltige Unterarme hatte! Alles starrte von Sehnen und Muskeln. Das hätte ihm so niemand angesehen.
»Wo wollen Sie den weißen Punkt hinhaben, Gnädige? Na egal, ich werd's schon machen. Geben Sie acht auf Ihr jungfräuliches Herz, dass es nicht von Amors Pfeil durchbohrt wird, solch ein Stich ist manchmal tödlich. Los!«
Tönnchen machte es noch viel kürzer als ich. Eine spielende Finte und nur ein einziger Ausfall, dann hatte die Amazone auf der linken Seite der Brust schon ihren weißen Fleck auf dem schwarzen Trikot. Bei spitzer Klinge wäre ihr Herz durchbohrt gewesen.
»Wer von Euch kann fechten?«, fragte Tönnchen die englische Schiffsmannschaft.
Denn bei dem fing der Mensch erst mit der Fechterei an.
Keiner.
Aber boxen konnten sie alle.
»Bah, boxen! Kinderspielerei! Wer von Euch kann gut Kerbholzschnitzen?«
Sie mussten gleich Proben ihrer Kunstfertigkeit liefern, ich kümmerte mich nicht weiter darum. Es war ein norwegischer Matrose, den er dann angeschleppt brachte.
Von unseren anderen männlichen Gästen, wie Vater Abdallah und der Maler Gerlach hatte weiter keiner zugesagt, oder sie wollten sich die Geschichte erst noch ansehen. Dasselbe galt vom ersten Steuermann und vom ersten Maschinisten, von denen man bei ihrem Alter überhaupt keine athletischen Leistungen verlangen konnte, desgleichen vom zweiten Maschinisten. Denn wenn sich auch dieser immer mit an unseren Übungen beteiligt hatte, so musste man doch damit rechnen, dass er einmal an eine Amazone kam, die ihm bedeutend überlegen war, ihn besiegte, und dann war er für uns einfach verloren. Daran wollten wir es doch nicht etwa ankommen lassen.
Nun aber konnte ich meine eigentlichen Athleten ins Feld führen, die Resultate meiner eigenen Trainingsmethode.
»Der zweite Steuermann!«
Ernst kam. Hätte man dem vor drei Jahren gesagt, was der heute für ein gewaltiger Hantelstemmer und Ringkämpfer sein würde. Er hätte einen ausgelacht. Nur durch eine winzige Kleinigkeit, indem ich seiner Hantel täglich 50 Gramm zugefügt hatte, war er es geworden. Aber was machte der Kerl denn für ein niedergeschlagenes Gesicht, was humpelte er so und rieb sich den Buckel?
»Du, Georg, ich kann nicht. Ich habe heute schon den ganzen Morgen furchtbare Kreuzschmerzen. Weiß nicht woher. Ich dachte immer, es verginge wieder, aber es tuts nicht. Ich könnte keine 50 Pfund heben.«
Na da nicht. Dagegen war nichts zu machen.
Also dann der erste Unteroffizier...
Halt!
Da wollte ich anstandshalber doch noch die »Exklikusen« bevorzugen. Der Koch und den indischen Steward. Sie waren ja überhaupt Unteroffiziere, rangierten jedoch hinter den Bootsleuten, die eben schon Deckoffiziere waren, Feldwebel, und es waren nun einmal unsere Exklusiven, schon deshalb, weil sie bedeutend höhere Gehälter bekamen als sogar die Offiziere. Denen freilich hatte ich sie nicht vorziehen können. Nur bei Juba Riata und Mister Tabak war das etwas anderes gewesen, das waren die Gentlemen an Bord unseres Schiffes.
Der Leser wird später merken, weshalb ich jetzt diese Erwägungen anstelle, wie der Zufall diese Reihenfolge gerade so arrangiert hatte.
»Meister Kännchen!«
Der chinesische Koch trat vor, auch jetzt angetan mit weißer Schürze und weißer Mütze, wovon er sich nicht trennte.
Er drückte zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand eine zöllige Flintenkugel aus Hartblei zu einer Platte zusammen. Aus Hartblei! Das machte ihm niemand nach, das wussten wir. Wenn unter den Amazonen auch eine chinesische Zahnkünstlerin gewesen wäre. Denn, wie schon erwähnt, solche Kraft in den betreffenden Fingern haben ja alle chinesischen Zahnärzte, aber unser Koch hier war kein gewöhnlicher Zahngaukler gewesen, der hatte der Kaiserin von China kranke Zähne herausgeruppt, hatte sich darin auch noch weiter ausgebildet.
»Gilt dies als Herausforderung zu einem Wettkampf?«, musste ich allerdings erst fragen. Staunend betrachteten die Begum und andere Amazonen die zusammengequetschte Bleiplatte, ritzten sie mit den Fingernägeln, Kännchen musste dasselbe Experiment noch zweimal wiederholen.
»Wir verzichten — ja natürlich gilt es — suche Dir einen Gefangenen und eine Amazone aus!«, erklärte dann die Begum.
Es war anerkennenswert, dass sie so etwas für eine volle Sportleistung nahm, manch anderes Frauenzimmer hätte sich da auf die Hinterbeine gesetzt.
Ein fettes Blassgesicht vor, eine Amazone zurück.
»Siddy!«
Der Hofgaukler einer indischen Majestät steckte den Kopf zwischen die Beine, knüpfte in seinen schlangengleichen Körper noch extra einen Knoten, und so, in einer unbeschreiblichen Stellung, begann er mit einem Dutzend Kugeln zu jonglieren. Wunderbar! Wirklich ans Fabelhafte grenzend.
»Gilt das?«
»Sicher — alle körperlichen Übungen gelten — wir verzichten.«
Eine fette Rothaut vor, eine Amazone zurück.
So, nun waren aber die Exklusiven und die Spielereien erschöpft, nun kamen erst die richtigen Athleten.
Nein, noch immer nicht!
»Na, wenn so etwas gilt, dann kann ich auch etwas vormachen!«
Mit diesen Worten trat Klothilde vor und brachte ihre holländischen Holzschuhe mit. Wollte sie so einen holländischen Tanz zum Besten gelben? Gewiss, den würde ihr wohl schwerlich solch eine indische Amazone nachmachen, dann hatte sie einen Sklaven befreit, ihm sogar das Leben gerettet, was ihr mindestens die schönste Erinnerung bleiben musste. Aber...
Nein, sie wollte nicht erst lange tanzen, sie machte es viel kürzer.
Mit ihren Segeltuchschuhen in die mächtigen Pannen hineingetreten, hochgesprungen, die Beine nach hinten geschlenkert, die Holzpantoffeln flogen ihr über den Kopf, die Beine wieder nach vorn geschlenkert, und ehe sie wieder den Boden berührte, hatte sie die Pantinen auch schon wieder an den Füßen, also vorn wieder aufgefangen.
»Na, wer macht mir das nach. Es ist ja ganz einfach — so — so — so...«
Sie machte es noch einige Male schnell hintereinander, die Pantinen hinter sich über den Kopf werfend und sie im selben Sprunge mit den Füßen wieder auffangend. Es sah unbeschreiblich aus — köstlich — wir lachten, dass uns die Tränen über die Backen liefen.
Denn wir hatten das noch gar nicht von ihr gesehen, wussten gar nicht, dass dieses Teufelsweib so etwas konnte!
»Genug — genug — wir verzichten!«, lachte denn auch die Begum aus vollem Halse, ihre Würde nicht wahren könnend.
Der Austausch erfolgte.
Es war doch noch einmal eine humoristische Szene gewesen, nur eine ganz andere als die, welche uns der Eskimo geliefert hatte.
Nun aber hörte es mit solchen »Kinkerlitzchen« auf. Jetzt waren auch die Exklusiven wirklich erschöpft. Zwar hatte sich noch Simson gemeldet, der riesenhafte Neger, aber ich hatte ihn nicht angenommen. Denn er hätte uns trotz seiner herkulischen Kraft doch einen bösen Streich spielen können. Der Kerl war gar zu dämlich. Er konnte einen Fünfzentnersack auf dem Rücken meilenweit tragen, aber wenn es einmal drauf ankam, dann fing der Kerl zu lachen an und konnte nicht mehr vor Lachen, oder es brauchte ihn nur ein Floh zu beißen, dann war's aus mit ihm, dann ließ er schnell die Hantel fallen, um sich zu kratzen und natürlich direkt auf seine Zehe.
»Der erste Bootsmann!«
Napoleon der Dritte marschierte auf seinen fürchterlichen Säbelbeinen vor, mit den ungeheuren Pfoten, die faktisch keine Hände mehr zu nennen waren, fast den Boden berührend.
»Tautrecken.«
Das hatten wir gewusst. Dieser finnische OrangUtan besaß die Kraft eines Gorillas. Oder eines Bären, eines Grizzlybären, will ich lieber sagen. Davon habe ich ja schon einmal gesprochen. Sein Name war Eleen Kunst, und...
Ik heet Eleen Knast,
Un wat ick anfass, halt ick fast.
Das war sein Wahlspruch. Und es war auch tatsächlich so. Was dieser Kerl anpackte, das bekam man nicht wieder aus seinen Fäusten heraus, oder man hätte jeden Finger einzeln abschneiden müssen.
Er mochte schon immer ein gewaltiger Held im »Tautrecken« gewesen sein. Bei uns hatte er sich nun ganz auf diese Kunst gelegt, den Gegner am Strick über die Marke zu reißen. Dadurch war nun auch noch, wenn er sie nicht schon früher besessen, die Kraft in den Beinen gekommen. Wenn der sein rechtes Schenkelbein vorgestemmt hatte, dann schien dieses mit dem Boden verwachsen zu sein, im Zentrum der Erde zu wurzeln, nichts konnte den Fuß von seinem Standpunkte entfernen. Nur der Boden selbst konnte unter diesem Fuße weichen. Was ja nun freilich nicht ganz buchstäblich zu nehmen ist. Aber jedenfalls konnten ihn die drei stärksten Männer an Bord unsere Schiffes August der Starke, der lange Peter und als dritten muss ich mich nennen, keinen Zoll von der Stelle bringen. Als zweitstärkster war dann Häckel hinzugekommen, aber der vermochte daran nichts zu ändern. Und wenn dann Napoleon ansetzte, da zog er uns drei mit Hurra davon, und dagegen war nichts zu machen, und wenn wir auch beide Füße gegen eiserne Poller stemmten, er brach uns eher die Beine, ehe er noch einmal stehen blieb. Im Gewichtsheben dagegen überbot ihn schon der schlanke Hans, oder sogar schon Fritz der Mondgucker, unser Jüngster, jetzt allerdings schon Vollmatrose. Darauf hatte sich eben der Bootsmann nicht trainiert. Aber im Tauziehen einfach ein unbesiegbarer Heros, der es mit allen Göttern aufnahm.
»Eh jü!«
Der Sachverständige erkennt den Danziger Dialekt, es heißt so viel wie »Du da«, und der klobige Tatzenfinger hatte gewinkt.
Aus den Reihen der Amazonen löste sich eine ab. Es war ein normal gebautes Weib — normal für diese Amazonen — kraftvoll wie alle anderen, aber nicht eine von denen, die sich ganz besonders durch Größe und Muskulatur auszeichneten. Doch darauf kam es ja gar nicht an.
Die Marke wurde gezogen, das Tau war zur Stelle. Ich erklärte der Begum auf Französisch, worauf es ankam.
»Verstehst Du?«
Sie nickte.
»Willst Du es auch Deiner Amazone in ihrer Sprache erklären.«
»Sie versteht Französisch, es ist gut.«
Angetreten, Stellung genommen.
Ich wollte mich noch einmal einmischen, die Amazone darauf aufmerksam machen, dass ihr Gegner derbe Seestiefeln mit Hacken trug, während sie nicht einmal leichte Schuhe, die Amazonen gingen so gut wie barfuß, es waren geschlossene Trikots, gingen auch über die Zehen, also sie waren nur in Strümpfen, das war doch gar zu ungleich, aber ich unterließ es. So oder so, es war ja ganz gleichgültig. Und hätte sich das Weib in eine Eisenrüstung hüllen und sich an einen eisernen Turm anschmieden lassen, unser Napoleon hätte sie dennoch losgerissen!
Die beiden standen sich gegenüber, das Seil angepackt, die äußere Hand ungefähr je zwei Meter von dem Bodenstrich, auch eine dünne Leine, entfernt, der Bootsmann den rechten Fuß vorgestemmt, die Amazone den linken.
»Los!«, kommandierte ich.
Bei dem Bootsmann wusste man niemals, ob er zog oder nicht zog, der stand eben wie ein krummer Baumstamm da. Bei der Amazone merkte ich nur ein klein wenig, wie plötzlich ihre Arm- und Beinmuskeln schwollen.
So standen sich die beiden gegenüber.
Und daran wollte sich innerhalb einer halben Minute, was bei so etwas eine gar lange Zeit ist, nichts ändern.
Und da wird mir plötzlich ganz unheimlich zumute. Weshalb änderte sich hieran nichts?
Weshalb quollen Napoleons Karpfenaugen so hervor? Weshalb fing er jetzt leise zu stöhnen an?
Und da plötzlich war es geschehen!
Ich kann es gar nicht beschreiben.
Mir war es mehr, als hätte ich nur eine Vision gehabt. Plötzlich geht das Weib rückwärts nach hinten, die rechte Stiefelhacke des Bootsmannes zieht in den Rasenboden eine gewaltige Furche, reißt wahre Schollen auf, und da ist er auch schon jenseits der Grenzlinie!
Todesschweigen herrschte rings umher. Ich selbst starrte nur immer die Ackerfurche an, konnte es nicht begreifen, glaubte zu träumen.
Bis dann eine Stimme erklang.
»Komm mit, Du gehörst uns.«
Die Begum hatte es gesagt. Sie war auf den Bootsmann zugegangen, der noch immer in seiner Stellung verharrte, das linke Bein geknickt, das rechte vorgestemmt, in den Händen das Tau, aber eben jenseits der Markierungslinie, und sie hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt.
Ohne jeden Triumph hatte sie es gesagt, ganz ruhig, nicht eben sehr laut, aber ihre volle Stimme hatte die Todesstille doch wie eine Posaune durchbrochen.
Und da brach der Tumult los.
Von allen Seiten kamen sie angestürmt, meine Jungen und die anderen Bordgäste. Nur die Amazonen nicht.
»Das ging nicht mit rechten Dingen zu!«
»Das ist ja gar nicht möglich, dass die unseren Bootsmann gezogen hat!«
»Der Boden ist unter ihm gewichen!«
»Nein, der ist einfach verhext worden!«
So und anders klang es durcheinander.
»Du glaubst, diese Amazone hätte ein unerlaubtes Mittel angewendet, etwa gar eine Zauberei?!«, wandte sich die Begum jetzt an mich.
»Ach, das ist ja gar nicht möglich, dass die den gezogen hat!«, rief jetzt auch ich. »Komm mal her, zieh mal mich!«
Und ich sprang hin, schob den Bootsmann zur Seite, der plötzlich schlapp wie ein Waschlappen geworden war, während auf der anderen Seite die Amazone noch in Kampfesstellung stand, ergriff das Tau.
»Los, versuche mich einmal...«
»Halt!«, rief die Begum, dazwischen tretend. »Diese Amazone hat gekämpft und gesiegt, sie kommt nicht mehr in Betracht.«
»Na dann eine andere...«
»Dasselbe gilt von Dir, Du hast schon gekämpft und gesiegt, Du scheidest aus!«
»Nur einmal außer Konkurrenz...«
»Nein! Die Spielordnung, die wir ausgemacht haben, darf unter keinen Umständen verletzt werden!«
»Na da ziehe ich, komm Du mal her!«
Häckel war es, der das gerufen hatte. Die Amazone, die er gerufen, war ein eben solch normales Weib, wohl athletisch gebaut, mit strotzenden Muskeln, aber doch nicht etwa vergleichbar mit unserem Häckel.
Ich versichere noch einmal, dass dieser ehemalige Advokatenschreiber eine Muskulatur und überhaupt bei fast zwei Meter Größe einen Körperbau besaß, um den ihn der farnesische Herkules beneidet hätte. Und diese Statue des griechischen Heros, die farnesische genannt, weil sie früher im Besitze der Familie Farnese zu Rom war, ist die höchste menschliche Muskulatur, die wir kennen, von einem anatomisch gebildeten Künstler geschaffen. Ich glaube aber, dieser Künstler hätte lieber unseren Häckel als Vorbild für seinen Herkules genommen. Solch einen gewaltigen Menschen mit solch mächtigen Schultern habe ich überhaupt nie wieder gesehen. Nur durch ein beständiges Training von frühester Jugend auf hatte er es ermöglicht, dass er diesen schweren Körper auch als Turner am Reck und Barren in fabelhafter Weise schwingen konnte.
Die beiden hatten gegenüber Positur genommen. »Los!«
Häckel war mit weißer Hose und Flanellhemd bekleidet. Bei dem sahen wir deutlich, wie machtvoll er anzog, wie furchtbar seine riesigen Muskeln anschwollen.
Er brachte die gegen ihm zwerghaft zu nennende Amazone nicht von der Stelle! Obgleich die sich weiter gar nicht anzustrengen schien.
Und da ging dieses Weib nach hinten ab, zog den Riesen unaufhaltsam mit sich, bis über die Grenze, und auch er hatte, obgleich nur mit Segeltuchschuhen bekleidet, in den Rasenboden eine tiefe Furche gezogen.
Wieder dasselbe wie vorhin, wenigstens im ersten Teile.
Im Todesschweigen stand alles da, wie niedergedonnert. Auch Häckel. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen.
Da schritt die Begum auch auf ihn zu, legte auch ihm die Hand auf die Schulter.
»Komm, folge mir, Du bist unser Sklave.«
Das hob wieder die allgemeine Betäubung auf.
Aber zu solch lärmenden Szenen wie vorhin kam es nicht mehr. Nur hier und da ein unterdrückter Fluch oder ein Stöhnen.
»Napoleon und Häckel — verloren!«, stöhnte auch ich. Ja, was sollten wir dagegen tun?
Die Spielregeln waren ausgemacht worden.
Und es war ganz ehrlich zugegangen, davon waren wir jetzt alle überzeugt.
Von einem hinterlistigen Mittel gar keine Spur.
Diese Weiber hatten sich eben gerade im Tauziehen mächtig geübt, mochten ja wohl einen besonderen Trick oder vielmehr eine besondere Methode dabei anwenden, aber, nochmals: von einem hinterlistigen Kniff oder etwa gar von Hexerei durfte man da noch nicht sprechen. Es ist ja überhaupt mit den körperlichen Leistungen eine ganz merkwürdige Sache, das sieht man schon bei der gewöhnlichen Arbeit, man muss nur beobachten. Da ist etwa ein Müllerbursche, ein ganz schmächtiges Kerlchen, der schwingt ohne fremde Hülfe einen Zweizentnersack auf den Rücken, trägt ihn fort. Das soll ihm einmal jemand nachmachen! Ich kann nicht. Dieser selbe Mann kann aber vielleicht keinen Zentner hochstemmen. Nur den Zweizentnersack sich auf den Rücken schwingen, das kann er! Oder ich habe einen Drahtzieher kennen gelernt, auch nur ein ganz unansehnliches Männchen, ohne irgend welche besondere Kraft — ja, wenn der einem die Hand gab, der zog einen fort, da gab es keinen Widerstand.
Das heißt, solche Betrachtungen stellte ich jetzt nicht an.
»Unser erster Bootsmann — unser Napoleon und Häckel — verloren!«
Was war dagegen zu machen?
Sollten wir jetzt etwa über diese Amazonen herfallen? Wer mir solch einen Vorschlag, nur eine Andeutung dazu gemacht hätte, der würde etwas erlebt haben!
Aber auf solch einen Gedanken kam gar niemand, dazu waren sie alle viel zu ritterliche Naturen.
Halt, noch einen Ausweg gab es, um jene zu retten!
»Jetzt kämpfen wir natürlich um die Befreiung dieser unserer Kameraden.«
»Natürlich?!«, fuhr die Begum etwas empor und ihre Augen flammten auf. »Wie meinst Du das?!«
»Wer von uns fernerhin siegt, der wählt nicht mehr einen Eurer bisherigen Sklaven aus, sondern nimmt einen der neuen Gefangenen zurück.«
»Nein! Und da sprichst Du von natürlich?! Nein, wir haben die Bestimmungen klipp und klar ausgemacht! Und dabei bleibt es!«
Sofort gab ich nach. Da war ja auch gar nichts dagegen zu machen. Oder ich wäre doch ein Jesuit und ein Lump gewesen. Und das galt für alle anderen, kein Widerspruch wurde mehr erhoben, kein listiger Schlich ausgediftelt, um aus grade ungrade zu machen. Von uns eignete sich niemand zum Linksanwalt.
»Kommt mit!«, wiederholte die Begum ihre Aufforderung.
Häckel richtete sich aus seiner halben Betäubung auf, in der er noch immer dagestanden.
»Ja, Waffenmeister, ich bin besiegt, sie hat mich hinübergezogen, es ging mit ganz rechten Dingen zu, wenn ich's auch nicht begreifen kann.«
»Müssen sie sofort mit?«, wandte ich mich an die Begum.
»Sofort.«
»Was ist ihr Los?«
»Das von Sklaven.«
»Du sagtest doch, sie würden...«
»Wenn ich es schon gesagt habe, so weißt Du es ja, was fragst Du noch.«
Ich wollte mich mit diesem Weibe lieber gar nicht weiter einlassen.
»Ja, mein lieber Häckel, Napoleon — da geht mal mit. Das lässt sich nun nicht ändern.«
Dabei blinzelte ich etwas mit den Augen. Leider. Denn ich wusste, dass es die Begum gemerkt hatte. Ja, Teufel noch einmal, was soll man in solch einer Situation tun! Eine Hoffnung mussten die armen Kerls doch wenigstens mitnehmen. Dass sie keinen Widerstand versuchen sollten, darüber durfte ich ihnen gar keine Vorschriften machen.
»Ik mött noch Tabak hämm!«, sagte Napoleon, aus seiner Tasche ein kleines Endchen Kautabak ziehend.
Ich weiß nicht — ich musste lachen. Dass der, nur mit Hemd und Hose bekleidet, für seine lebenslängliche Sklaverei nur an Tabak dachte. Anderseits habe ich ja schon einmal erklärt, was für eine Rolle der Tabak im Seemannsleben spielt. Verbietet mal das Rauchen und Kauen, ob Ihr dann noch Seeleute bekommt. Und auf jeder längeren Reise bricht unfehlbar der Skorbut aus. Oder wir müssten uns wieder wie die alten Seefahrer an Brot und getrocknete Früchte gewöhnen.
»Dürfen sie rauchen und kauen?«, wandte ich mich wieder an die Begum.
»Sie dürfen es.«
»Den anderen Gefangenen war es doch bisher verboten.«
»Diese dürfen es, sie werden als Männer behandelt.«
Faktisch, mir fiel ein Stein vom Herzen, mit einem Male bekam die Morgensonne, die sich für mich verdüstert hatte, wieder einen goldenen Schein, das Schicksal der beiden kam mir nicht mehr so traurig vor.
»Kannst Du es mir wirklich versprechen?«, wollte ich mich dieser wichtigen Sache noch mehr vergewissern.
»Sie werden es Dir selbst sagen, dass ich mein Versprechen halte.«
»Sie selbst sagen? Wie das?«
»Nun, ich hoffe doch, dass wir auch fernerhin gute Nachbarn bleiben werden.«
»Ich verstehe nicht.«
»Deine bisherigen Leute und Kameraden werden auch als unsere Gefangenen Euch wiederholt besuchen.«
»Was?!«
»Gewiss doch. Wenn sie uns ihr Ehrenwort geben, zu uns zurückzukehren, dann bekommen sie Urlaub genug, so oft sie wollen, können Euch besuchen, mit Euch jagen und spielen. Was sie brauchen oder mitnehmen wollen, holen sie dann selbst ab. Nur jetzt sollen sie an Bord der Galeere kommen, bis diese Wettkämpfe beendet sind. Es ist nur um die Form zu wahren. Wir haben es einmal so beschlossen. Der Besiegte kommt gleich auf die Galeere. Dann können sie sich wieder mit Euch vereinen, bis ihr Urlaub abgelaufen ist, und so immer wieder. Nein, wir wollen doch mit Euch in guter Nachbarschaft bleiben.«
»Na, dann ist es ja gut!«, jubelte ich auf, und ich wäre der Begum fast um den Hals gefallen. »Na, dann macht mal, dass Ihr fortkommt!«
Alle hatten es gehört, und wer nicht Französisch verstand, dem war es schnell verdolmetscht worden, und alle atmeten so wie ich auf, machten ihrer plötzlichen Herzensleichtigkeit in Worten Luft. Ja, nun war dieser bösen Sache der Stachel genommen!
»Na da adjüs, Bootsmann, adjüs, Häckel besucht uns bald!«
So und ähnlich erklang es, mit einigen saftigen Bemerkungen dazu, weil es doch in die Gefangenschaft von Weibern ging, kein einziger Händedruck, und die beiden wurden von den acht Amazonen, die schon besiegt worden waren, aber also frei blieben, nur ausschieden, in die Mitte genommen und an Bord einer Galeere, wo sie vorläufig verschwanden.
Dass einmal eine Zeit kam, da wir sie nicht nur als beurlaubte Sklaven dieser Amazonen wiedersahen, dass wir sie auch wieder mit von hier fortnahmen, das war ja ganz selbstverständlich, so oder so. Nur durfte das jetzt nicht direkt gesagt werden.
Die Begum selbst kehrte sofort zurück, hatte nur einige Schritte mitgemacht.
»Wollen wir die Kampfspiele fortsetzen?«
Gewiss doch! Nur kam es auch nicht mehr darauf an, wenn einer von uns hinüberwanderte. Vermieden sollte es natürlich werden. Und nicht etwa, dass nun noch weiter zum Tauziehen herausgefordert wurde. Da waren uns diese Weiber eben aus irgend eine Weise überlegen, und das wäre dann von uns kein Edelmut mehr gewesen, ihnen diesen Vorteil zu gewähren, sondern die bornierteste Dummheit.
»Der zweite Bootsmann!«
August der Starke brachte auf der Achsel eine Hantel von drei Zentnern angeschleppt, von uns selbst wie alle Hanteln und Gewichte gegossen, allerdings nicht von Eisen, sondern von Blei. Nur der Stab war immer von Eisen, die Kugeln gossen wir von Blei daran, das wir noch von jenem Wrack aus dem Feuerlande massenhaft hatten, es konnte ja ständig nach Belieben umgegossen werden und behielt immer seinen Wert nach dem Marktpreis.
Es war kein gewöhnliches Hantelstemmen, mit dem der zweite Bootsmann herausfordern wollte. Sondern er legte sich platt auf den Rücken, ließ sich die Hantel von zwei starken Männern reichen, nahm sie mit gebeugten Armen, drückte die drei Zentner vier mal hoch.
So, welcher trainierte Kraftmensch macht ihm das nach! Der heutige Weltrekord im Hantelstemmen, von einem Polen oder Russen geschaffen, steht auf ziemlich vier Zentner. Also im Stehen, die Hantel wird von unten, vom Boden mit Schwung hochgenommen. Gedrückt muss zuletzt doch immer werden. Wie viel schon im Liegen gedrückt worden ist, wobei jeder Schwung ausgeschlossen, weiß ich nicht, diese Übung ist auch nicht als Kampfobjekt in den Rekordregistern eingetragen. Dieses Hantelstemmen im Liegen auf dem Rücken hatte sich August zur Spezialität gemacht, hatte es durch sukzessive Zugabe schon auf mehr als drei Zentner gebracht, diese tarierte Hantel hier konnte er ohne besondere Anstrengung vier mal hochdrücken.
Wer machte ihm das nach! Man versuche es nur einmal mit einem Zentner. Es hat sich was, dabei die Beinmuskeln nicht zu gebrauchen, mit Rücken und Kopf am Boden zu liegen. Da schwellen einem aber die Halsadern!
Jetzt erst, nachdem August seine Übung absolviert und sich wieder erhoben hatte, suchte er seine Gegnerin aus.
Dabei muss ich etwas erwähnen um seine Handlungsweise zu rechtfertigen.
Dieser ehemalige Bäckerjunge aus Bayern war ja der allertüchtigste Seemann geworden, aber so einen ganz richtigen Seemannscharakter hatte er doch nicht bekommen. Er war sparsam, wie ich schon einmal gesagt habe. Dass er so wie damals in Para, von Oskar und Absinth verführt, »ausgelatscht« war, das war eine Ausnahme gewesen, die sich nie wiederholte. Er dachte an seine Zukunft. Und er wollte nicht immer zur See fahren. Im Grunde seines Herzens war er noch immer der Bäckergeselle. Er sparte, um dereinst in einer großen Residenz eine feine Konditorei aufzumachen. Das war sein Ideal. Er war auch sonst ein Geschäftsmann. Darin glich er ganz unserem Kapitän Martin, nur dass der nicht von der Seefahrerei lassen konnte. Aber sonst war doch auch dieser der gerissenste Geschäftsmann. Doch sicher ein durchaus vornehmen hochherziger Charakter — aber im Geschäft hörte jede Gemütlichkeit auf. Geschäft ist eben Geschäft und keine Gefälligkeit. Und dasselbe galt für unseren zweiten Bootsmann.
Also — jetzt kommt die Pointe von alledem — er wählte sich als Gegnerin nicht etwa das massigste Weib mit den stärksten Muskeln aus, was wohl sonst jeder von uns getan hätte, weil wir eben... in Geschäftssachen dumme Luder waren — nein, August der Starke suchte sich gerade das zierlichste Figürchen unter den Amazonen aus.
»Du da — Sie da — — mach mir halt nach — leg Dich auf den Rücken und stemm die drei Zentner vier mal.«
Ja, der zukünftige Konditoreibesitzer hatte sich mit Kennerblicken die schwächlichste unter den Amazonen ausgesucht. Muskeln hatte sie allerdings auch, war aber im Gegensatz zu den anderen Athletinnen doch geradezu ein kleines, nixiges Ding zu nennen, mit wirklich sehr schwachen Knochen, an denen die Muskeln bei den Oberarmen wie die Apfelsinen klebten, das Trikot schlotterte an dem dürren Körper — eine bedauernswerte Figur. Besonders der kleine Kopf saß auf einem so dünnen Hälschen, dass ich der auch nicht die sanfteste Ohrfeige hätte geben mögen, aus Besorgnis, das Köpfchen könnte von diesem Stängel abknicken.
Sie schritt nach der Mitte, legte sich hin, die Hantel wurde ihr in die Hände gegeben und... sie drückte die drei Zentner fünf mal hoch.
Der Eindruck lässt sich nicht schildern.
Todesschweigen ist Todesschweigen, das kann doch nicht mehr an Stille übertroffen werden, nur waren wir alle noch viel mehr wie vom Donner gerührt als vorhin, da zuerst jene Amazone unseren Napoleon über den Haufen gezogen hatte.
»Du bist besiegt, folge Deiner Siegerin!«, sagte die Begum.
August riss in seinem Kürbisgesicht das Maul auf.
»Das kann unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein!«
»Da muss Hexerei dabei sein!«
Wiederum wurden solche Stimmen laut.
»Was, Hexerei, Zauberei?!«, fuhr die Begum wiederum etwas auf. »Wer behauptet das?!«
Nein, im Ernste glaubte niemand daran.
Es war ganz regelrecht vor sich gegangen.
Denn so einfach war es doch nicht gewesen, wie ich geschildert hatte. Nur eben so schnell, und das hatte ich wiedergeben wollen.
Wir alle hatten beobachtet, wie furchtbar sich das unansehnliche Weib angestrengt hatte, um diese Kraftleistung zu vollbringen. Wie furchtbar ihre Halsadern angeschwollen waren, wie sich ihre Armmuskeln gespannt hatten, dass jedes Fäserchen wie ein Strang hervorgetreten war.
Nein, dass er durch »Zauberei« besiegt worden war, daran glaubte auch August nicht, aber so ohne weiteres wollte er auch nicht mit in die Gefangenschaft gehen.
»Das gilt nicht, das gilt nicht — hätte ich das gewusst, dann hätte ich die Hantel nicht nur vier Mal gestemmt, ich bringe es auch noch öfter...«
»Monsieur maître des armes, war dieser Kampf gültig oder nicht?«, wandte sich die Begum an mich, dadurch verratend, dass sie nicht nur Englisch, sondern auch Deutsch verstand.
»Er gilt, er ist ganz regelrecht ausgefochten worden — Bootsmann, Ihr seid besiegt.«
Aber der wollte sich noch nicht zur Ruhe geben — weil er eben ein besserer Geschäftsmann war als ich. Denn ich dürfte ja zum Beispiel keine Konditorei und keine Bäckerei aufmachen, meine besten Kunden wären immer die Straßenkinder, und dann würde ich des Abends verdammt wenig in der Kasse haben.
»Aber wenn ich das gewusst hätt, dann hätt ich die Hantel öfters gedrückt...«
»Gut, Du sollst es noch einmal tun«, fiel ihm die Begum ins Wort, trotz seiner deutschen Rede aber immer auf Französisch, »kannst auch eine schwerere Hantel nehmen, und wenn die Amazone Dir nicht nachmachst, was Du ihr als Deine Höchstleistung vormachst, dann ist sie Deine Sklavin, oder Du kannst sie gegen einen Gefangenen austauschen. Ich betone aber, dass dies eine Ausnahme ist, dass ich eine Wiederholung erlaube, mit oder ohne Mehrleistung, oder meine Erlaubnis muss ich immer von Fall zu Fall geben. Nicht wahr, Monsieur maître des armes?«
»Gewiss, selbstverständlich«, bestätigte ich, und auf Deutsch setzte ich noch hinzu, weil es mir gerade so einfiel: »Sie sprechen Deutsch?«
»Non, Monsieur.«
»Aber Sie verstehen Deutsch?«
»Non, Monsieur.«
»Sie sind geborene Französin?«
»Oui, Monsieur, Elsässerin.«
»Ja, dann sind Sie aber doch eine geborene Deutsche!«
»Non, Monsieur, ich bin Französin.«
Aha! Ahaaa!
Und es war nicht das erste Mal, dass ich so etwas zu hören bekam, solch eine Zurechtweisung. Gerade wir Seeleute erleben da manchmal im Auslande mit Franzosen etwas. Ebenso wie wir Seeleute, die wir in der Welt herumkommen, ohne Zeitungen zu lesen, niemals an ein Bündnis zwischen Frankreich und England glauben können. Nein, an solch eine lächerliche diplomatische Mache können wir nicht glauben, wir nicht, dazu haben wir zu viel Erfahrung. Aber dass die Japaner die Russen in die Pfanne hauen würden, das haben wir von vornherein ganz bestimmt gewusst. Nun, dass unsere gefangenen Kameraden als Deutsche nicht etwa unter diesem französischen Patriotismus zu leiden hatten, das wussten wir ebenfalls; das war wieder etwas ganz anderes. Denn jede Französin heiratet skrupellos den Deutschen, den sie liebt — obwohl sie im Herzen immer Französin bleibt.
August legte sich noch einmal hin, behielt dieselbe Hantel, stemmte sie sechs Mal hoch, das letzte Mal nur mit größter Anstrengung, zitternd.
Die nixige Amazone drückte sie sieben Mal hoch, das letzte Mal nicht so zitternd wie ihr Gegner, schleuderte sie dann auch noch in weitem Bogen über ihre Füße weg.
Wir standen vor einem Rätsel. Diese Weiber hatten irgend eine Trainingsmethode erfunden oder sonst irgend ein Mittel, um solche exorbitante Resultate zu erzielen. Zu begreifen war es nicht. Aber selbst wenn sie ein Mittel anwendeten, vorher ein Medikament eingenommen hatten, durch welches sie ihre Muskeln momentan zu einer kolossalen Kraftleistung anspannen konnten — solche Mittel gibt es, für momentane Kraftleistungen zum Beispiel Alkohol und Kokain, bei Dauerleistungen Kola — so mussten diese Siege doch für vollgültig und einwandfrei genommen werden, dagegen war nichts zu machen.
»August, Du bist besiegt. Na, wir sehen uns ja wieder!«
Ob nun August die letzte Andeutung verstand oder nicht, dass wir unsere Kameraden natürlich auf keinen Fall in der Gefangenschaft dieser indischen Weiber ließen, ob nun mit oder ohne Urlaub — jedenfalls war der arme Bootsmann doch ganz geknickt. So ließ er sich von seiner Siegerin nach der Galeere abführen.
Jetzt hatten die Amazonen ebenso lachen können wie wir dorthin, als der Eskimo das Riesenweib abführte.
Denn genau dasselbe Bild hatte man hier, nur umgekehrt, und dass die Amazone ihn nicht am Stricke führte, hatte auch nichts zu sagen. Ja, es sah nur um so komischer aus, wie das kleine, zierliche Ding diesen Fleischkoloss von drei Zentnern bei der Hand hatte, ihm einen halben Schnitt voraus gehend, also ihn ebenfalls zog, und wie nun dieser Fleischkoloss mit gesenktem Kopfe und überhaupt ganz geknickt hinterher jappte.
Ja, jetzt hätten die Amazonen auch so lachen können wie wir vorhin.
Sie taten es nicht. Und uns war das Lachen natürlich schon längst vergangen.
»Segelmacher!«
Auch Oskar war so ungalant — oder aber so vorsichtig geworden — als Gegnerin jene Amazone zu wählen deren Leistungsfähigkeit oder eigentlich vielmehr Minderwertigkeit im Schwimmen er schon gestern Abend zu konstatieren Gelegenheit gehabt hatte.
300 Meter, verlangte er, sollte um die Wette geschwommen werden, direkt, Seite an Seite. Das Einzelschwimmen nach der Zeit hätte komplizierte Vorrichtungen erfordert, wegen der fünftel Sekunden entstehen da leicht Streitigkeiten.
Es gibt Forceschwimmer, die sich nur auf 100 Meter trainieren, und Dauerschwimmer bis zu 10 000 Meter. Dazwischen gibt es Schwimmer für mittlere Strecken. Wer den Weltrekord für 500 Meter hält, niemand kann ihn da übertreffen der darf sicher sein, in einem Wettschwimmen über 600 Meter zu unterliegen. Das heißt in einem großen internationalen Wettschwimmen, wo alle Meisterschwimmer der Erde zusammenkommen. Der Sieger ist eben gerade für 600 Meter geeicht, während die Kraft jenes anderen genau nur für 500 Meter ausreicht. So weit ist man heute schon in der Spezialisierung gekommen. Genau so wie einst die Athleten des alten Griechenlands. Aber heute kann man auch mit so etwas ein Vermögen verdienen, mindestens eine große Leibrente. So wie die olympischen Sieger im alten Hellas königliche Ehren genossen, steuerfrei waren und andere große Vorteile hatten.
Oskar hatte seine Höchstleistung im Schnellschwimmen immer wieder bei 300 Metern fertig gebracht. 3 Minuten 14 Sekunden war einmal seine beste Zeit gewesen. Der jetzige Weltrekord ist vom Australier Broadman mit 3 Minuten 8 Sekunden geschaffen worden. Und noch einige fünftel Sekunden dazu.
Die Strecke war an dem felsigen Ufer abgemessen worden, an beiden Enden wurde mittelst Booten je eine Leine quer über das Wasser gespannt. Die beiden fassten die Startleine mit beiden Händen an, mussten dahinter bleiben, auf meinen Pistolenschuss schwammen sie los, wer die andere Leine zuerst mit einer Hand fasste, hatte gesiegt. Bei den großen Wettschwimmen wird so etwas durch eine elektrische Vorrichtung kontrolliert, was hier natürlich nicht nötig war.
So hatte ich der Begum auf Französisch erklärt.
»Bitte, verdolmetsche es der Amazone.«
»Es ist nicht nötig, Makuba hat es verstanden!«
Oskar warf seine Sachen ab, hatte schon ein Badehöschen an, so wenig Stoff wie möglich.
»Na, Mademoiselle, genieren Sie sich nicht. Wenn es um Tod und Leben geht, gibt's so etwas nicht.«
»Makuba schwimmt so, wie sie ist!«, erklärte die Begum.
Na, dann war ihr Schicksal entschieden. Wenn es da überhaupt noch einen Zweifel gegeben hätte.
Die beiden gingen ins Wasser. Die Amazone, deren herrlicher Gliederbau ich heute in diesem schwarzen Trikotstoff noch viel besser bewundern konnte als gestern in der Schuppenrüstung, so eng diese auch angelegen haben mochte, warf mir dabei aus ihren finsteren Augen noch einen Blick zu, dass mich nur wunderte, dass das Wassers nicht zischte, als sie erst einmal untertauchte.
Sie hatten die Leine gefasst. Mein Revolverschuss fiel, ab ging die Fuhre.
Und zwar sofort in vollster Fahrt. Nicht etwa, dass Oskar seine Kräfte bis zuletzt aufsparte. So etwas gibt's bei solch einer kurzen Strecke nicht. Sofort Volldampf!
Und da geschah das Wunder. Wenn dieses Weib gestern vor den Augen eines Schwimmkünstlers keine Gnade gefunden hatte, so musste es sich geradezu verstellt haben. Makuba hielt sich von vornherein an Oskars Seite. Keine Kopflänge konnte er aufrücken.
Das war das erste Wunder, das mir es schon eiskalt über den Rücken laufen ließ. Und dann geschah das zweite Wunder.
In der letzten halben Minute, noch etwa 40 Meter vom Ziele entfernt, schoss die Amazone geradezu an ihm vorüber, erreichte mindestens fünf Körperlängen vor ihm das Seil! Ja, es war ein Wunder gewesen.
Aber von einer »Bezauberung«, wodurch der Gegner geschwächt worden, durfte man da nicht sprechen.
Oskar hatte, auch als er überholt worden, seine ganze Schnelligkeit bis zuletzt entwickelt, man hatte die Zeit kontrolliert, 3 Minuten 16 Sekunden hatte er gebraucht. Das waren nur zwei Sekunden mehr als seine beste Leistung für diese Strecke. Die Amazone hatte es in 3 Minuten 13 Sekunden geschaffen.
Sie war unserem besten Schwimmer einfach überlegen, hätte ganz sicher auch einen neuen Weltrekord für diese Strecke aufstellen können. Nur zuletzt hatte sie ihre ganze Schnelligkeit entwickelt. Da hatte sie sich nicht in einen schießenden Fisch, sondern geradezu in einen abgeschossenen Pfeil verwandelt.
Die beiden waren aus dem Wasser gestiegen. Oskar nicht anders als wie ein Pudel — nein, wie ein wasserscheuer Spitz, der ein unfreiwilliges Bad nehmen musste. Und diesmal war es die siegende Amazone selbst, die dem Besiegten die Hand auf die Schulter legte und etwas sagte, und zwar im besten Englisch:
»Komm, mein Freund, Du bist mein Sklave, aber Du sollst es gut bei mir haben.«
Dieser »Kölner Jong« war ein ganzer Mann. Da nun nichts mehr zu ändern war, fügte er sich in sein Schicksal, richtete sich auf, ging mit. Gleich so, wie er war. Gleich in seinem Badehöschen. Das sah unserm Oskar ja auch so ganz ähnlich.
Das heißt, uns war nicht lächerlich zumute, mir am allerwenigsten.
»Hans!«, rief ich auf, mich nicht mehr um mein Namensverzeichnis kümmernd.
Hochsprung. Amerikanischen Riedsprung. Eine feststehende Hürde ist oben mit aufrechtstehendem, elastischem, schwarz lackierten Riedgras besetzt. Man springt wie zwischen Schilf hinein, die Halme richten sich sofort wieder auf. Die Fußspitzen werden eingekreidet, so sieht man, wie hoch jemand gesprungen ist. Natürlich entscheidet der untere Fuß. Ohne Sprungbrett.
»Hans, wenn Du Dich überspringen lässt, dann — bin auch nicht mehr Euer Waffenmeister. Dann gehe ich zu den Amazonen hinüber und lasse mich von denen ausbilden.«
Hans sprang 191 Zentimeter. Man messe es aus. Es war eine seiner besten Leistungen gewesen. Ich selbst hatte die Gegnerin ausgesucht, eine mit möglichst kurzen Beinen, die mir überhaupt nicht so den Eindruck eines menschlichen Flohs machte. Denn bei mir hörte es nun auch auf mit dem galanten Edelmut.
Diese kurzbeinige Schickse sprang noch zwei Zentimeter höher!
Ich heulte laut auf vor Wut.
»Knut! Wettlauf über hundert Meter!«
Unser bester Schnellläufer auf kurze Strecken durchrannte sie in seinen gewöhnlichen elf Sekunden. Auf die fünftel Sekunden kam es dabei nicht an. Der Weltrekord steht auf 10 Sekunden zwei Fünftel.
Wie lange die Amazone, die wiederum ich ausgesucht hatte, dazu brauchte, weiß ich nicht. Jedenfalls aber war sie eher am Ziele als Knut.
Und ich fing zu weinen an.
Ob meine Jungen drüben mit Zucker dickgefüttert oder von Kapitän Satan zum Schlachtfest im Wurstkessel abgebrüht wurden, das war mir jetzt egal — nur diese Scham, diese Scham! Dass diese höllischen Weiber alle meine erzieherische Kunst als Trainingmaster zuschanden machten, dass sie meine Jungen überhaupt besiegten!
Kapitän Martin schlenderte auf mich zu.
»Kollege, Kollege, was haben Sie da gemacht!«
»Kapitän, machen Sie mir keine Vorwürfe, ich konnte doch nicht anders, und wer hätte das gedacht!«, druckste ich mit versagender Stimme hervor.
»Well, so war das ja auch nicht von mir gemeint. Aber diese Weiber holen uns die ganze Mannschaft weg, und mit dem Wiederkommen siehts mau aus.«
»Aber nun können wir doch auch nicht feig zurücktreten!«
»Nein, das können wir nicht mehr!«, stimmte mir Kapitän Martin sofort mit größter Entschiedenheit bei, eigentlich zu meiner Verwunderung. »Jetzt muss der Kampf unbedingt ausgefochten werden, bis zum letzten Mann, und wenn ich keinen einzigen Mann mehr habe, dann fordere ich auch noch heraus. Weiß schon, was ich tun würde. Well, Waffenmeister, aber das geht nicht so weiter. Diese Weiber sind unseren Jungen nur an eigentlicher Kraft und Fixigkeit überlegen. Fechten und schießen können sie nicht. Auch nicht den Kopf zwischen die Beine stecken und dabei mit Kugeln jonglieren. Verstehen Sie? Lassen Sie doch unsere Jungen an ihren Apparaten turnen!«
»Schneider-Schnipplich! Reck!«
Das Reck war schon aufgebaut, mit Drahtseilen gespannt. Schneider-Schnipplich, der sich nun als unser bester Turner legitimiert hatte, mindestens am Reck, machte die Riesenwelle rückwärts mit Ristgriff — mir unbegreiflich, wie er das fertig brachte — machte die Rückenwaage mit einem Arm, machte andere fabelhafte Sachen, ging mit dreifachem Salto mortale ab. Die Amazone, die er mit kritischem Blick ausgesucht hatte, machte ihm alles aufs exakteste nach!
Schneider-Schnipplich hinüber!
Hammermann der Uhrmacher, unser bester Turner am Barren, darin wohl überhaupt der Weltmeisterschaftler — er musste hinüber. Ein Pferd wurde gebracht, das heißt ein hölzernes, der Turnapparat, der bebrillte Schriftsetzer Starke produzierte sich daran, fabelhaft war es, wie der darauf herumquirlen konnte — die Amazone, die er aufgefordert, quirlte noch ganz anders darauf herum, und Starke verschwand aus der Galeere.
»Kapitän, Kapitän, was sagen Sie dazu! flüsterte ich ganz entgeistert.
Kapitän Martin wühlte in den Hosentaschen, knickte die Knie und schlenkerte die Beine.
»Ik segg nix mehr.«
Sie mussten hinüber, alle diese deutschen Meisterschaftsturner.
Nein, nicht alle.
Endlich wieder einmal ein Lichtblick, ein Sieg für uns. Kretschmar war es, der als letzter der acht Turner auftrat und eine Amazone besiegte.
Aber nicht im Turnen.
Er war eben der ehemalige Damenkonfektionär, der den Damen Kleiderstoffe und Höschen und Korsetts verkauft hatte, da musste er doch wohl das weibliche Geschlecht kennen.
Doch nein, damit hatte es nichts zu tun. Jedenfalls aber war er der einzige, der, obwohl neben Schneider-Schnipplich der Beste aller Turner, an jedem Apparat ein Meister, endlich erkannte, nun erkannt hatte, dass diesen Amazonen mit der Turnerei nicht beizukommen war und deshalb einen speziellen Trick wählte, den er sich eingeübt hatte. Ich habe davon schon einmal gesprochen. Er nahm drei Eisenkugeln, jede von einem Zentner Gewicht. Kanonenkugeln alten Kalibers, legte sie vor sich hin, fasste die eine mit beiden Händen, warf sie in die Höhe, schnell die zweite und dritte nach, dann fing er die erste wieder auf, und so immer weiter. Also er jonglierte mit den drei Zentnerkugeln — Und das machte er 25mal hintereinander, wozu er genau eine Minute brauchte.
Dabei mache ich nochmals darauf aufmerksam, dass dieser ehemalige Damenkonfektionär, übrigens ein gebildeter Mensch, hatte als Einjähriger gedient, ein kleiner, spindeldürrer Hering war, ein ganz zierliches Männchen! Nur seine Hände durfte man nicht betrachten, ebenfalls klein und schlank, aber so starrend von Sehnen und Muskeln, dass man da schon einen Schluss auf den ganzen Körper ziehen konnte. Seine dünnen Knochen schienen förmlich aus Stahl zu bestehen, man konnte tatsächlich nicht glauben, dass sie wie bei anderen Menschen der Hauptsache nach aus phosphorsaurem Kalk zusammengesetzt seien, da musste noch eine andere Mischung dabei sein, sonst ließ sich so etwas gar nicht erklären, und in dem Muskelfleische, das er auf diesen Knochen hatte, konnte man auch bei abgespanntem Zustande mit dem Finger keinen Eindruck erzeugen, es war gar nicht möglich.
Die auserwählte Amazone warf wohl die drei Zentnerkugeln schnell hintereinander in die Höhe, schon eine ganz erstaunliche Leistung, ich brachte es nicht fertig, wie ich es auch manchmal geübt hatte, konnte aber die erste nicht wieder auffangen.
Kretschmar befreite wieder einmal einen Gefangenen, wählte sich einen Indianer. Ich bemerkte dabei recht wohl, wie ihm die Inderin viel lieber gewesen wäre. Er hatte sich auch als Gegnerin das hübscheste Weib ausgesucht. Der dürre Hering war ein Don Juan.
Das also war wieder einmal ein Erfolg gewesen. Durch Jonglieren. Unsere Theorie hatte schon etwas für sich. Wenn es allein auf Kraft und Gewandtheit ankam, da waren uns diese Weiber immer überlegen.
Da wurde im nächsten Gange der englische Matrose Sam abgeführt. Er war unser Lehrer im Keulenschwingen gewesen, er hatte sich darin zum Meister, zum Virtuosen ausgebildet. Ebenfalls mit Hilfe meiner Trainingsmethode. Indem die Keulen, ursprünglich je ein Kilo schwer, nach und nach mit Blei beschwert wurden, bis zu 25 Pfund. Wenn der Betreffende dann wieder mit den normalen hölzernen Keulen jonglierte, so fühlte er überhaupt gar kein Gewicht mehr.
Aber es hatte nichts genützt, und Sam hatte sich vergebens täglich viele Stunden lang geübt. Eine Amazone machte ihm alles, alles nach, übertraf ihn noch bei weitem, und Sam musste hinüber ins feindliche Lager.
Hiermit war aber auch wieder unsere Hoffnung zuschanden geworden, den Weibern durch besondere Tricks, die sich der Jongliererei wenigstens näherten, beizukommen. Wenn sie uns selbst in diesem Keulenjonglieren überlegen waren, dann hörte alles auf. Und so ging es weiter. Nämlich indem diese indischen Weiber einen Mann nach dem anderen zu sich hinüberzogen, ihn auf einer der Galeere verschwinden lassend. Es war vergebens gewesen, dass ich wegen der öffentlichen Wettspiele jeden einzelnen Mann für eine besondere Spezialität ausgebildet hatte, wie sie sich nach einer Veranlagung ergab. Während der Produktion der Turner war ein Wettlauf über zehn Kilometer ausgetragen worden, und die Amazone hatte gesiegt, gleich nach Sam produzierte sich ein Matrose als unvergleichlicher Stabspringer, und er wurde von solch einem Teufelsweibe übersprungen.
Dann, nachdem der lange Peter, unser bester Ringkämpfer, geworfen worden war, von einem ganz schmächtigen Frauenzimmer, regelrecht geworfen, ohne jeden hinterlistigen Kniff, ereignete sich ein bedeutsamer Zwischenfall. Wenigstens für später sollte er für uns noch von größter Bedeutung werden. Vorläufig war er nur sehr aufregend.
Auch Wenzel-Attila meldete sich. Eine Amazone sollte sich mit ihm im Bogenschießen messen. Da muss ich über diesen Zwerg, den ich erst jetzt handelnd auftreten lasse, aber auch furchtbar handelnd, erst etwas später sprechen.
Bisher hatte ich nichts weiter über ihn gesagt, als dass Mister Alois Wenzel ein geborener Österreicher war, noch nicht einen Meter hoch, bei einem unschuldigen Kindergesichtchen eine sehr tiefe Stimme besaß, sich als Artist ein Vermögen verdient hatte und ein ganz famoses Männlein war. Es gefiel ihm wie seiner noch kleineren Gattin Rosamunde bei uns an Bord, sie waren unsere Gäste, und da die Patronin keine Bezahlung einnahm, wussten sich die beiden bei jeder Gelegenheit durch Geschenke oder sonstige Aufmerksamkeiten zu revanchieren.
So hatte ich schon einmal gesagt. So einfach war die Sache aber nicht, nicht so harmlos.
Mister Alois Wenzel wollte, obgleich er gar nicht wusste, wo seine Wiege gestanden, kein geborener Österreicher, sondern ein Ungar sein. Er produzierte sich doch unter dem Namen Attila als Hunne, auf einem Hunde reitend. Und die echten magyarischen Ungarn rühmen sich, Nachkommen der verschwundenen Hunnen zu sein. So mochte er sich das zusammengereimt haben. Nun aber hatte er tatsächlich etwas Hunnisches oder sogar Mongolisches an sich. Ein wenig hervortretende Backenknochen und Schlitzaugen, was ihm erst recht das Gesicht einer chinesischen Puppe gab, oder eines chinesischen Kindes, nur durfte man es nicht länger und genauer betrachten, dann sah man immer mehr den gewaltigen Irrtum ein.
Es war ein Irrtum in doppelter Hinsicht, oder vielmehr nach zwei Seiten hin.
Der Zwerg hatte mir damals gesagt, er sei schon 42 Jahre alt, jetzt wäre er 45 gewesen. Das bewies er durch einen Taufschein, in einem böhmischen Dorfe ausgestellt. Aber das konnte nicht stimmen. Er musste viel, viel jünger sein. Fahrende Leute hatten eben das winzige Kind aufgekauft, gleich den zukünftigen Zwerg erkennend, es hatte in ihrem Interesse gelegen, das Kind als viel älter auszugeben oder sie hatten den Taufschein nachträglich gefälscht. Ich glaube, als wir ihn damals bei Vancouver von dem Wrack holten, war er noch nicht älter als 20 Jahre. Wenn er selbst darum wusste, den Unterschied von mehr als 20 Jahren musste er doch kennen, so wollte er doch nichts davon wissen. Weil er stolz auf seinen Taufschein war, das einzige Legitimationspapier, das er besaß.
Meine Ansicht über sein Alter oder vielmehr seine Jugendlichkeit wurde auch dadurch bestätigt, dass er sich unterdessen sehr verändert hatte. Der Zwerg schien noch kleiner geworden zu sein. Nämlich dadurch, dass er sehr in die Breite gegangen war. Und zwanzig Jahre, das ist so das Alter, da man in die Breite geht. Mit 40 Jahren findet das nicht mehr statt, doch sicher am allerwenigsten bei solch einem Zwerge.
Ja, Wenzel-Attila war ganz mächtig in die Breite gegangen, hatte schier gewaltige Schultern bekommen. Dazu mochten auch viel die athletischen Übungen mit beigetragen haben, an denen er sich immer eifrig beteiligt hatte, vielleicht mehr als alle anderen. Aber ein starker Kerl war er überhaupt immer gewesen. Das erforderte ja sein ganzer Artistenberuf. Er produzierte sich also als Hundereiter, machte die verwegensten Kunststückchen auf dem Rücken eines großen Köters, ließ ihn über Hecken springen und voltigierte nebenher darüber; und außerdem schwang und schleuderte er die Lanze und schoss als Spezialität mit Pfeil und Bogen. Der Bogen, den er schon damals benutzt, war nur kurz, kaum einen halben Meter lang, bestand aber aus einem starken elastischen Stahlstab. Schon damals hatten wir über die Kraft des Männleins gestaunt, wie das überhaupt diesen Stahlstab mit der Sehne beugen konnte. Ja, dieser Zwerg hatte schon damals einen für seine sonstige Figur ungemein muskulösen rechten Arm gehabt. Denn dieser war viel, viel kräftiger entwickelt als der linke, was man übrigens auch bei allen Naturvölkern findet, die sich viel des Bogens bedienen, sich darin von Kind an eifrig üben, was eben durch das Zurückziehen der Sehne kommt, was doch nur mit der rechten Hand geschieht, während der linke Arm ausgestreckt bleibt. Kräftig wird dieser ja allerdings dadurch auch, aber doch nicht so wie der rechte.
Während der Bordzeit war der Zwerg also durch die athletischen Übungen immer stärker geworden, was sich auch schon in der veränderten Figur, in den Schultern ausdrückte. Und immer stärkere Bogen hatte er sich gefertigt. Denn das tat er selbst, nicht so einfach, er schweißte verschiedene Stahlbänder zusammen, hatte da sein eigenes Geheimnis. Die Bogen, die er jetzt benutzte, konnten wir gar nicht mehr handhaben, auch nicht der stärkste von uns. Zurückziehen konnte ich die Sehne wohl, natürlich, also auch den Pfeil absenden, aber zielen konnte ich dabei nicht viel, weil ich vor Anstrengung dabei zitterte, und das hauptsächlich deswegen, weil man die ganze Kraft in Daumen und Zeigefinger der rechten Hand verlegen musste. Denn so wird der Pfeil doch angefasst. Man zieht nicht eigentlich die Sehne, sondern den Pfeil zurück, nur mit diesen beiden Fingern.
Und das war es, was keiner von uns Athleten fertig brachte. Auch Meister Kännchen nicht. Der hatte zwar in Daumen und Zeigefinger noch eine ganz andere Kraft, nur aber doch wieder ganz anders ausgebildet, der fasste den Zahn nur mit den Fingerspitzen an, und außerdem hatte er im rechten Arm gar nicht solche Kraft, um überhaupt den stählernen Bogen zu biegen.
Dies war zunächst das eine, nun zu dem Charakter dieses Zwerges. Ich würde mich bei alledem ja nicht so lange aufhalten, wenn das Männlein nicht noch so bedeutungsvoll für uns werden sollte.
Zum Zeichen des Charakters gehört auch die Stimme. Also eine sehr tiefe Stimme, die schon mehr Baß zu nennen war. Das verriet aber auch schon, dass Mister Wenzel-Attila nicht zu jenen Zwergen gehörte, die doch eigentlich zu den Missgeburten zu rechnen sind. Die haben doch alle eine ganz quäkende Stimme, sind überhaupt anormal entwickelt. Nein, dieses Männlein hier war nur außerordentlich kurz geraten. Sonst war dieses Männlein sogar ein ganzer Mann. Wenn seiner Ehe keine Kinder entsprangen, so lag das sicher nur an seiner Gattin Rosamunde, die eben solch eine echte Zwergin war, wenn sie sich auch etwas weiblich entwickelt hatte. Auch seine immer stärker werdende Körperkonstitution zeigte das ja. Es war ein Herkules in Miniaturausgabe. Oder er hätte sich nicht Attila, sondern Albarich nennen sollen. Man kennt doch diesen Zwerg aus der Nibelungensage, den riesenstarken Gnom, den Siegfried mit Not und Mühe bezwang. Und diesem Albarich glich unser Mister Alois Wenzel umso mehr, weil er sich in letzter Zeit auch einen sehr langen Vollbart hatte wachsen lassen. Auch etwas, was es sonst bei den gewöhnlichen Zwergen ja gar nicht gibt. Nun aber war der Albarich fertig! Doch wollte er von diesem germanischen Namen nichts wissen, wollte Magyar oder noch lieber Hunne bleiben, nannte sich daher lieber Attila.
Also, was nun seinen eigentlichen Charakter betrifft, ein ganz vortrefflicher Mensch, ein famoser Gesellschafter und Kamerad. Aber... bei Gelegenheit war mit ihm schlecht Kirschen essen! Er wollte ein Gentleman sein und war es auch wirklich!
Was ist eigentlich ein Gentleman?
Der englische Romancier Bulwer, den ich schon einmal zittert habe, kennzeichnet ihn bei Gelegenheit wie folgend, wenn er auch nicht gerade von Gentlemen spricht. Das geschieht aber an anderer Stelle.
Ich habe bemerkt, dass der unterscheidende Zug von Menschen, die an gute Ge
sellschaft gewöhnt sind (es soll also der Unterschied zwischen Gentlemen und
Nichtgentlemen gezeigt werden), eine kalte, unerschütterliche Ruhe ist, welche
allen ihren Handlungen und Zuständen, von den wichtigsten bis zu den gerings
ten, sich mitteilt; sie essen mit Ruhe, machen sich Bewegung mit Ruhe, leben in
Ruhe und verlieren ihr Weib, ja sogar ihr Geld mit Ruhe, während gemeine Leute
keinen Löffel voll zu heißer Suppe und keine Beleidigung einnehmen können,
ohne einen fürchterlichen Lärm dabei zu schlagen.
Ich kann dieser Definition des Gentlemans nur beistimmen. Dass solch ein Mensch nicht schäbig und knauserig ist, ist ganz selbstverständlich. Auch darf der echte Gentleman gar kein weicher Gemütsmensch sein, der jeden Bettler beschenkt. Dagegen verliert er mit Ruhe sein Geld. Dieser Nachsatz »ja sogar ihr Geld verlieren sie mit Ruhe«, nachdem sie vorher schon die Frau verloren haben, der ist übrigens köstlich, das ist echt Bulwer.
Solch ein Gentleman war dieser mannhafte Zwerg. Nicht gravitätisch, sondern nur von eiserner Ruhe. Wäre er gravitätisch gewesen, so hätte er nicht gescherzt. Und das tat er. Man entsinne sich, wie ich damals im düsteren Kajütenkorridor seine Gattin auf dem Arme hatte, wie jovial er das auffasste. »Ach ich bin durchaus nicht eifersüchtig, und Rosamunde is ooch nich so, wenn se sich ooch so stellt.«
Also jovial und humoristisch veranlagt. Anderseits aber der Gentleman von eiserner Ruhe. Wenn hinter ihm eine Pistole losging, oder ein Steward ließ einen ganzen Stoß Teller fallen, alle anderen sprangen erschrocken auf, so zuckte er nicht nur mit keiner Wimper, sondern hielt es auch unter seiner Würde, sich umzudrehen, um zu sehen, was denn da passiert sei.
Aber das war nur Selbstzucht. Eigene Dressur. Und die kann einmal versagen. Im Inneren dieses Zwerges sah es ganz anders aus. Wehe, wenn man ihn als Zwerg betrachtete, sich über seine Kleinheit lustig machte! Das konnte er nicht vertragen, dann ging das Männlein hoch wie eine Rakete!
Wir hatten da schon mancherlei mit ihm erlebt. Einmal, gleich im Anfange. Simson, der als Untersteward den Tafeldecker machte, hatte ihm ein Kinderbesteck vorgelegt, so recht mit Absicht, dabei hämisch grinsend.
Da springt das Männlein mit gleichen Füßen auf den Tisch, weil es ja sonst nicht hinauflangen kann, und knallt dem Riesen eine ins Gesicht, dass Simson acht Tage lang eine geschwollene Backe hatte!
Und das war nicht der einzige Fall gewesen, nicht der harmloseste. Schon vier Mal hatte der Zwerg einen, der sich über seine Kleinheit lustig gemacht, zum Zweikampf auf Leben und Tod herausgefordert. Darunter auch mich. Unser »Bandlwurm« war zur Tür hineingekommen, gerade wie Mister Wenzel-Attila hinaus wollte, und da war er jenem versehentlich zwischen den Beinen hindurchgelaufen. Da hatte ich gelacht. Soll man da auch nicht lachen. Forderung auf Pistolen!
Die Sache wurde schnell in Güte geregelt, wie in jedem anderen solcher Fälle. Ich bat einfach, wie es sich gehörte, um Entschuldigung und es war erledigt.
Aber verlacht wurde der nicht mehr wegen seiner Kleinheit. Und nicht etwa nur deshalb nicht, weil er immer gleich so martialisch draufging. Nein, sondern weil wir immer mehr erkannten, dass er wirklich ein ganzer Mann war! Schade, dass er sich nicht Albarich nennen ließ. Denn er war wirklich der gewaltige Zwerg Albarich, der den Siegfried beinahe untergekriegt hätte.
Und nun noch ein anderer Charakterzug von ihm. Er war ein Oppositionsgeist. Wenn eine allgemeine Abstimmung war, wobei sich auch die Gäste beteiligen sollten, und alle waren sich einig — nur Mister Wenzel-Attila musste dagegen stimmen. Doch nicht etwa, dass er dadurch lästig wurde. Durchaus nicht. Dazu war er nun wieder zu sehr Gentleman. Er fügte sich dem allgemeinen Beschlusse. Aber opponieren musste er. Aus Prinzip. Also Mister Alois Wenzel-Attila, wie er sich wirklich nannte, so auch unterzeichnete, hatte sich zum Bogenschießen gemeldet.
Obgleich er gestern Abend entschieden abgelehnt hatte, sich an den Zweikämpfen zu beteiligen.
Es war ja keine Inkonsequenz von ihm, jetzt da es um die Wurst ging, wollte doch sogar Kapitän Martin vielleicht noch eintreten, aber immerhin, ich muss darauf aufmerksam machen.
»Nein, ich mache so etwas prinzipiell nicht mit!«
So hatte er gestern Abend erklärt, mit der allergrößten Betonung, und nun kam er dennoch, nachdem er bisher gar nicht zu sehen gewesen war, um sich mit einem Weibe zu messen.
Übrigens hatte ich mich vorhin falsch ausgedrückt. Gemeldet hatte er sich gar nicht dazu, weder bei mir noch bei einem anderen, so etwas gab's bei dem nicht. Nur keinen Zwang! Ein Außenseiter in jeder Weise.
Aber wie er jetzt auf dem Plane erschien, da war ja nun gar kein Zweifel, dass er seine Kunst mit Pfeil und Bogen beweisen wollte.
Er kam nicht zu Fuß, sondern hoch zu... Hund. Ritt den Cäsar, eine höchst merkwürdige Kreuzung zwischen deutscher Tigerdogge und Tibetdogge, welch letztere der Riese des ganzen Hundegeschlechtes ist, sehr selten, auch etwas gar zu plump. In England sieht man sie manchmal, wahre Hundemammuts. Cäsar vereinigte die gewaltige Größe des Tibetaners mit dem fast windhundartigen Bau der Tigerdogge, war auch kurzhaarig und gefleckt wie diese, hatte aber Hängeohren und einen buschigen Schwanz. Ein kolossaler Kerl, dabei flüchtig wie ein Reh. Ich habe noch nicht über ihn gesprochen, weil eben noch keine Gelegenheit dazu war. Wenzel-Attila ritt ihn mit Vorliebe, denn für die anderen Hunde war er in letzter Zeit doch etwas zu schwer geworden. Tragen konnte ihn allerdings auch jeder Bernhardiner, sogar die noch kleineren Neufundländer. Aber nur auf diesem Cäsar konnte er reiten wie jeder erwachsene normale Mensch auf einem kräftigen Pferde, setzte mit ihm über anderthalb Meter hohe Hürden weg.
Er ritt ohne Zügel und Zaum, ohne Sattel und Decke. Davon hätten die alten Hunnen auch nichts gewusst, behauptete er, wenn's auch nicht wahr ist. Nun, einen Hund kann man doch wohl viel besser nur durch Schenkeldruck oder auch nur durchs Wort lenken als das beste Pferd.
Bekleidet war er mit einem braunen Lederkostüm, reich mit Zobel und anderem kostbaren Pelzwerk verbrämt, mit pelzbesetzten Schaftstiefeln, an denen ungeheure Rädersporen klirrten, wenn er diese auch nie benutzte, auf dem Kopfe ein Pelzbarett — das war sein Kostüm, in dem er sich produzierte, das er überhaupt mit Vorliebe trug, nicht das eines Hunnen, wohl aber das eines Ungarn, solch ein schnüren- und pelzbesetzter Magyarenrock wird ja heute noch »Attila« genannt. Sonst aber, muss ich ausdrücklich bemerken, trug er nur die elegantesten Straßenkostüme, und nicht etwa, dass er rohes Fleisch verschlang, sich sonst als barbarischer Hunne benahm; er war doch ein vollkommener Gentleman.
So kam er auf dem Hunde langsam über den freien Platz geritten, mit bis auf die Brust wallendem hellblondem Vollbart, der fast weiß erschien, in der Hand seinen Bogen, auf dem Rücken einen Köcher mit Pfeilen.
Wir waren diesen Anblick ja gewohnt. Aber in den Reihen der Amazonen entstand eine Bewegung des Staunens. Solch ein bärtiger Zwerg, ein Wichtelmann beritten auf einem Hunde, in diesem phantastischen Kostüm — was mochte das auf diese indischen Weiber auch für einen Eindruck machen! Der Zwerg war zwar schon damals mit auf ihrer Burg gewesen, aber da hatte er noch keinen Bart gehabt, hatte sich immer glatt rasiert, da mochten sie ihn wie seine mitgekommene Gattin eben für ein Kind gehalten haben.
Und noch ein anderer Anblick wurde den Amazonen geboten, noch fremdartiger und phantastischer und reizvoller.
Ihrem Gatten nach kam Rosamunde gesprengt, auf einem schneeweißen Ziegenbock, den wir zuletzt in Bordeaux erstanden hatten, ein geradezu ideales Exemplar seiner geschlechtslosen Art, die mächtigen Hörner vergoldet, mit rotem Zaumzeug das mit goldenen Knöpfchen besetzt war, zierlich aufgeschirrt, einige schwarze Quasten herabhängend, der Rücken mit einem kleinen Pantherfell belegt, und nun im Damensattel Rosamunde im langen Reitkleide von himmelblauer Seide, nach einem Pariser Modell für sie gefertigt, mit gelben Stulpenhandschuhen, auf den schwarzen, zierlich frisierten Haaren einen für dieses Köpfchen mächtigen Hut mit wallenden Straußen- und Reiherfedern...
Wie gesagt, uns war dies alles ja nichts Neues. Madame Rosamunde, die reizendste lebendige Puppe, die es je gegeben, auch dem Charakter nach, hatte einen großen Reisekorb voll lauter solcher Kostüme, für Straße und Gesellschaft und für ihre Produktionen, eines immer eleganter als das andere, Mister Wenzel-Attila war seiner Gattin gegenüber ein Kavalier, und er war ein wirklich vermögender, wenn nicht reicher Mann, obgleich er es deswegen, um seine Gattin so zu kleiden, gar nicht hätte zu sein brauchen. Denn nach dem, was ich hier beschrieben, darf der Leser nun wohl auch glauben, was wir in Petersburg für Einnahmen gehabt hatten. Schon dieses Zwergenpaar, nur diese Rosamunde allein, bildete ja eine Zugnummer, welche unsere Batterie allabendlich bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. Wenn sie in den eleganten Kostümen auf diesem herrlichen Ziegenbocke die hohe Schule ritt, wenn sie dann auf einem künstlichen Gebirge die verwegenen Kletterpartien unternahm, dann im Trikot auf einem russischen Windhunde als Parforcereiterin auftrat! Was die mit Geschenken überschüttet worden war, mit Juwelen! Aber ihr Gatte hatte auch nicht das Geringste angenommen. Wenn er seine Frau schmücken wollte, dann musste das aus seiner eigenen Tasche bezahlt werden. Da er nun auch keine Gage von uns begehrte, so durfte man doch auch nicht sagen, dass er bei uns an Bord umsonst gelebt hätte. Er gehörte einfach mit zu den Argonauten, und wir lebten einander zu Liebe.
Also was mochten diese indischen Weiber denken, als da das zierliche Dämchen, gleich als solches erkennbar, man sah sofort, dass es nicht etwa nur ein Kind war, auf dem herrlichen, schneeweißen Ziegenbocke angesprengt kam. Man musste sich beeilen, diesen Eindruck in sich aufzunehmen. Mit wenigen Sprüngen ihres Reittieres hatte sie ihren Gatten erreicht, wechselte einige Worte mit ihm, warf den Ziegenbock auf den Hinterbeinen herum und sprengte wieder zurück, war wieder verschwunden.
Die Amazonen staunten, als sie das zierliche Dämchen auf
dem schneeweißen Ziegenbock angesprengt kommen sahen.
»Inschallah! Wer war das?! Und wer ist dieser Zwerg mit dem langen Barte?!«
So redete mich die Begum an, und ihre schwarzen Augen, auf den Hundereiter gerichtet, oder dorthin, wo Rosamunde verschwunden war, glühten geradezu vor Gier, und die Flügel ihrer feinen Nase bebten.
»Es sind eben... Zwerge.«
»Ist der Bart nur angeklebt?«
»Nein, der ist ganz echt!«, lächelte ich.
»Ein Zwerg mit solch einem langen Barte, o Wunder!«
»Ja, es ist eine große Ausnahme, bärtige Zwerge sind selten.«
»Und die Zwergin?«
»Das ist seine Gattin.«
»Sie gehören mit zu Deinen Leuten?«
»Eigentlich nicht. Nicht mit zur Schiffsbesatzung...«
»Es sind Deine Sklaven? Sind sie Dir feil?«
So war ich unterbrochen worden, das Weib sprudelte diese Frage nur so heraus.
»Was fällt Dir ein, Begum! Du weißt doch ganz gut, dass wir keine Sklaverei kennen!«
»Aber es sind doch Zwerge, sie müssen doch einen Besitzer haben!«
Ich verstand sofort. Dieses Weib war doch mehr Inderin geworden, als sie Französin geblieben war, während des langen Aufenthaltes unter exotischer Umgebung hatte sie die früheren Verhältnisse vergessen, andere Ansichten waren ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. In ganz Indien herrscht nämlich das Gesetz, oder die Sitte, oder wie man es nun sonst nennen mag, dass alle Zwerge dem Maharadscha, dem Landesfürsten gehören. Alle zwerghaft geborenen Kinder müssen abgeliefert werden. Wir haben so etwas auch einmal in Europa gehabt. Es ist noch gar nicht so lange her, da ein europäischer Fürstenhof ohne mindestens einen Zwerg, der den Narren spielen musste, ob er sich nun dazu eignete oder nicht, gar nicht denkbar war. Einige solcher Hofzwerge haben dadurch historische Berühmtheit erlangt. Und sie wurden ihren Familien entrissen, ob die Eltern wollten oder nicht. In Indien ist das heute noch so. Es ist noch gar nicht so lange her, dass England beinahe einen Feldzug gegen einen sonst ganz friedsamen Maharadscha im Himalaja eröffnen musste, der von einem englischen Gesandten besucht worden war, der hatte einen Zwerg bei sich, es war sein eigener Bruder, und der indische Fürst beanspruchte diesen Zwerg nach uraltem Gesetz als sein Eigentum, ließ ihn wegfangen und wollte ihn zuerst nicht wieder herausgeben. Eben so wie der Kaiser von Abessinien alle Albinos, auch Kakerlaks genannt, Menschen mit weißen Haaren und roten Augen, für sich beansprucht, die müssen alle an seinem Hofe abgeliefert werden, er hat da eine Kakerlaksammlung, und da ist es auch passiert, dass einem italienischen Herzog, der Abessinien bereiste und sonst mit den höchsten Ehren empfangen wurde, die Tochter weggenommen wurde, weilt sie eine Albino war, erst nach langen diplomatischen Verhandlungen wieder ausgeliefert wurde.
»Nein, Begum, es sind freie Menschen, die sich nur als Gäste an Bord unseres Schiffes befinden. Aber sieh, auch er will sich an dem Wettkampfe beteiligen, er will Euch eine Probe seiner Schießkunst mit Bogen und Pfeil geben.«
Attila, wie ich ihn fernerhin kurz nennen will, wie wir es überhaupt taten, war abgestiegen, sein Hund legte sich hin, der Zwerg machte sofort seinen Bogen bereit.
»Dort das Ziel — wer trifft das Zentrum.«
So rief seine Bassstimme, und der Pfeil entschwirrte der Sehne.
Erst jetzt sahen wir, dass an dem nächsten Baume, der aber, wie wir später maßen, 114 Meter von diesem Standpunkte entfernt war, eine kleine weiße Scheibe mit schwarzem Zentrum befestigt war.
Es war ein hölzerner Pfeil mit Stahlspitze gewesen, hinten befiedert — er benutzte auch durchweg stählerne, von deren Leistungsfähigkeit ich später noch sprechen werde — und auf diese Entfernung war auch mit bloßen Augen zu erkennen, wie der Pfeil genau oder doch ziemlich genau den schwarzen Punkt getroffen hatte. Daneben steckte er jedenfalls nicht im Holz.
Jetzt tauchte dort hinter den Bäumen auch Rosamunde wieder auf, zu Fuß, ging mit hochgerafftem Reitkleide hin nach der Scheibe.
»Zentrum — ganz genau Zentrum!«, rief ihr dünnes Kinderstimmchen.
»Wer macht mir das nach.«
»Wählen Sie sich eine Amazone aus!«, sagte ich.
»Ach was. Die beste Bogenschützin mag sich doch selbst melden.«
Ich kannte ja diesen Oppositionsgeist, der hätte nun niemals eine ausgewählt, ich selbst tat es.
»Gib ihr Deinen Bogen und einen Pfeil!«, sagte die Begum.
»Sie mag doch ihren eigenen Bogen nehmen!«, musste der natürlich antworten.
»Wir haben gar keine Waffen mit.«
»Da holt Euch doch einen Bogen.«
»Bitte, Mister Attila, lassen Sie die Amazone doch mit demselben Bogen schießen, es ist schon, um den Kampf ganz gleich zu machen!«, bat ich.
»Na meinetwegen!«, gab er jetzt einmal nach. Ein Grund zur richtigen Opposition lag ja auch nicht vor.
Die betreffende Amazone nahm den Bogen, den gereichten Pfeil, legte ihn auf, visierte nach der Scheibe, von der Rosamunde unterdessen das erste Geschoss entfernt hatte, zog mehrmals die Sehne zurück.
Ich staunte schon, dass sie dies überhaupt fertig brachte, die Sehne zurückzuziehen, das Pfeilende nur mit Daumen und Zeigefinger gefasst.
Ich kannte diesen Bogen, der stärksten einer, und ich versichere nochmals, dass hierzu eine ganz außerordentliche Kraft gehörte, ohne viel Übung brachte man es auch dann nicht fertig. Aber diese Amazone brachte es fertig, konnte den Bogen sogar anscheinend mit spielender Leichtigkeit spannen. Der Pfeil entschwirrte, wir hörten ihn aufklappen, und wir sahen, dass er gleichfalls im Zentrum stak.
Rosamunde war wieder hingesprungen.
»Zentrum! Eigentlich noch genauer!«
»Einfach Zufall!«, brummte Attila und setzte sich in Bewegung, um selbst die Scheibe zu besichtigen, sein Hund hinter ihm her und wir anderen, die wir hierbei in Betracht kamen, ebenfalls.
Wir erreichten den Baum, den ersten der bewaldeten Umgebung.
Ja, die Amazone hatte noch besser geschossen, es war deutlich zu sehen. Es war ein unverletztes Holzbrett, mit Kreide geweißt, in der Mitte ein schwarzes Zentrum von 4 Zentimeter Durchmesser, und natürlich war zu sehen, wo der erste Pfeil gesteckt hatte. Fast in der Mitte, aber doch nicht so ganz genau. Das Loch war ein klein wenig mehr nach links gerückt, der zweite Pfeil hingegen stak mit der Spitze ganz, ganz genau in der Mitte.
»Einfach ein Zufall«, brummte Attila nochmals verdrießlich, »solch eine Genauigkeit gibt es nicht...«
»Gibst Du zu«, unterbrach ihn die Begum, »dass die Amazone besser geschossen hat als Du?«
»Ja, das gebe ich wohl zu, aber das war einfach ein Zufall, ich werde Euch einmal etwas anderes vormachen...«
»Du bist besiegt, Du gehörst uns.
»Wuat?«, machte da der Zwerg, seine Schlitzaugen weit aufreißend.
»Du bist besiegt, Du gehörst uns!«, wiederholte die Begum.
Der Zwerg wandte sein bärtiges Gesicht mir zu.
»Wuat sagt die?«
Na, wie mir zumute war! Aber das half nun alles nichts, ich musste der Wahrheit die Ehre geben.
»Ja, Mister Attila, die Amazone hat besser geschossen als Sie, Sie sind besiegt worden, Sie müssen der Amazone folgen.«
»Wohin denn? Als was denn?«
»Zunächst auf die Galeere. Als ihr Sklave.«
»Als... Sklave?! Ach, machen Sie doch keine Geschichten.«
»Ja, Mister Attila, Sie kennen doch die Bedingungen...«
»Was denn für Bedingungen?«
»Die wir gestern Abend lang und breit besprochen haben. Na, nun stellen Sie sich mal nicht so! Sie waren doch selbst mit dabei!«
»Was geht mich denn an, was Sie mit diesen verrückten Weibern ausgemacht haben?«
»Mister Attila!«, wurde ich jetzt etwas ungeduldig. »Sie kannten die Bedingungen, Sie haben eine Amazone zum Zweikampf im Bogenschießen herausgefordert —«
»Ist mir gar nicht eingefallen.«
»Doch! Sagen Sie nicht etwa, weil ich es gewesen wäre, der Ihre Gegnerin ausgesucht hätte...«
»Das ist ganz never mind dabei. Aber ich habe mich hier überhaupt außer Konkurrenz produziert, ich wollte nur einmal...«
»Das hätten Sie gleich sagen müssen! Dass Sie nicht willens waren, unter den bekannten Bedingungen zu schießen oder sonst zu kämpfen. Dann wäre natürlich auch keine Amazone gegen Sie aufgetreten. Sie kannten die Bedingungen! Hier geht es um Freiheit oder Gefangenschaft! Sie haben geschossen, eine Amazone hat besser geschossen als Sie, Sie sind besiegt, Sie müssen als Sklave dieser Amazone hinüberfolgen! Da gibt es gar nichts zu deuteln!«
»Als Sklave dieser Amazone, lassen Sie sich doch nicht auslachen!«, lachte der Zwerg selbst, wieder einmal runksig werdend.
Aber das war es nicht, was mich veranlasste, gegen ihn Partei zu nehmen. Ich stellte mich nur auf den Standpunkt des Rechtes.
»Komm, folge mir!«, sagte jetzt die Begum.
»Nein. Ich will Euch noch einmal eine Probe geben, dann will ich mich unter Umständen bereit erklären.«
»Du bist bereits besiegt! Folge mir!«
»Nein.«
»Hast Du nicht gehört, was Dein Waffenmeister gesagt hat?«
»Mein Waffenmeister? Der mag der Meister aller Teufel sein, aber meiner ist er nicht. Mich geht's nichts an, was der schwatzt.«
»Dann muss ich Dich mit Gewalt fortführen lassen.«
Es hatten sich noch eine Masse andere Amazonen eingestellt, ein Wink, einige fremde Wörter, und zwei Amazonen gingen auf den Zwerg zu, schon mit ausgestreckten Händen.
»Probiert's.«
Nur dieses einzige Wort, und da war die Situation schon geschaffen, die ich hier erst beschreiben muss.
Der Zwerg stand mit dem Rücken ganz nahe jenem Baumstamme. Cäsar hatte sich schon vorher zu seinen Füßen niedergelegt. In dem Augenblick nun, da Attila dieses einzige Wort aussprach, hatte er mit einem blitzschnellen Griff über seinen Rücken den Köcher entleert, einen Pfeil auf die schon zurückgezogene Sehne gesetzt, in der linken Hand, die den Bogen hielt, hatte er noch sieben andere Pfeile, zu deren Absenden er keine fünf Sekunden brauchte, und dann hatte er gleichzeitig noch den linken Fuß auf den Rücken des Hundes gestemmt.
So stand er da, fertig zum Schusse.
»Probiert's.«
Aber nur ein einziges Mal hatte er es gesagt. Ganz ruhig, man sah in seinem Gesicht auch nicht den geringsten drohenden Ausdruck, nicht in den Augen. Aber...
Ob die beiden Weiber nun von selbst stehen geblieben wären oder nicht — jedenfalls hatte die Begum ein indisches Wort gerufen, und sofort blieben sie stehen.
Noch muss ich bemerken, um nichts zu vergessen, dass der riesenhafte Hund ganz friedlich dalag, die Schnauze auf den Vorderpfoten und behaglich blinzelnd. Dabei aber war er bereit, sofort los zu gehen. Dieser deutsche Doggenhund mit tibetanischem Blute war durchaus nicht falsch, aber er sprang und biss ohne vorheriges Knurren und Zähnefletschen, ohne irgendwelche Warnung. Nur ein »Cäsar greif!« und er schoss unvermutet wie ein Blitz auf den bezeichneten Gegner los. Er zählte kaum noch zu uns, hatte sich vollständig an den Zwerg gewöhnt, erkannte nur noch diesen als seinen Herrn an.
Die Begum, die Arme über der vollen Brust kreuzend, wandte sich mir zu.
»Liefere uns diesen Zwerg aus.«
»Das kann ich nicht.«
»Weshalb nicht? Du selbst hast bestätigt, dass ihn seine Gegnerin im ehrlichen Kampfe besiegt hat, dass auch er sich den Bedingungen unterwerfen muss.«
»Ja, das muss er, aber ausliefern kann ich ihn Euch nicht. Begum! Wäre dieser Mann einer von meinen Leuten, über die ich als Schiffsoffizier zu befehlen hätte, so würde ich ihn Dir ausliefern. Unbedingt! Und wenn er sich weigerte, so müssten sich alle meine Leute auf ihn werfen, und wenn er sie alle niedermachte, und wenn er sich verschanzte, seine Festung müsste erstürmt werden, ich würde auch den letzten Mann opfern, mich selbst, um ihn Dir auszuliefern... glaubst Du mir das auf mein Ehrenwort?«
»Ich glaube es Dir auch ohne Dein Ehrenwort.«
»Aber diesen Zwerg kann ich Dir nicht ausliefern. Kann nicht mit Gewalt gegen ihn vorgehen. Denn er ist unser Gast.«
»Er stehst unter den Gesetzen der heiligen Gastfreundschaft?« — »Ja.«
»Du schützest ihn auch gegen uns?«
»Nein, in diesem Falle nicht. Das ginge zu weit. Du selbst kannst ihn Dir holen, durch Deine Weiber mit Gewalt, auch von Bord unseres Schiffes. Wir werden Euch nicht daran hindern. — Hören Sie, Mister Attila, was ich sage? Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders handeln.«
Unbeweglich stand der Zwerg da, den Pfeil auf dem Bogen.
»Ich weiß, dass Sie nicht anders handeln können«, entgegnete er jetzt, »als Ihnen Ehre und Gewissen vorschreiben, deshalb billige ich Ihren Entschluss, nehme es Ihnen nicht etwa übel. Aber fortführen lasse ich mich nicht. Wer mich anrührt, ist ein Kind des Todes.«
Die Begum wandte sich um. Hinter ihr, zehn Schritt entfernt, stand Rosamunde. Ihr reizendes Gesichtchen, ohne Schminke ein wirkliches Puppengesicht, schneeweiß mit rot angehauchten Bäckchen, war jetzt gänzlich weiß geworden.
»Das ist die Gattin dieses Zwerges?«
Ich bejahte.
»Ist es nicht recht und billig«, fuhr die Begum fort, »dass ich einen Bürgen dafür fordere, bis sich der Mann, den wir besiegt haben, uns freiwillig gestellt hat? Dass wir einstweilen seine Gattin mit uns nehmen?«
Schwer wäre mir die Antwort geworden, sehr schwer! Eigentlich hatte die Begum ganz recht. Anderseits verlangte sie zu viel. Ganz wie man die Sache auffasste.
Ich sollte der Antwort enthoben werden.
Die Patronin trat vor, mit glühenden Wangen und blitzenden Augen.
»Deine Forderung, Begum, ist recht und billig!«, rief sie leidenschaftlich. »Wenn dieser Mann, der durch eine Deiner Amazonen im ehrlichen Kampfe besiegt worden ist, sich den Bedingungen nicht unterwirft, die er recht wohl gekannt hat, wenn er nicht freiwillig mit Dir geht, so nimm seine Frau als Bürge mit, bis er sich Dir freiwillig gestellt hat!«
So rief die Patronin leidenschaftlich. Ja, sie hatte recht, ganz recht.
Wohl entstand jetzt unter meinen Jungen, die herbeigekommen waren, ein Gemurmel des Unwillens, es sah etwas nach Meuterei aus, aber es kam nicht so weit, und als wir dann die Sache mit Ruhe besprachen, mussten sie alle der Patronin ganz recht geben.
Sie hatte in die Bedingungen der Wettspiele gewilligt. Es war ganz anders gekommen, als wir geahnt. Aber ohne Murren hatte sie einen nach dem anderen ihrer Leute, die ihr alle, alle ans Herz gewachsen waren, hinübergehen sehen. Wir hätten die Wettspiele doch abbrechen können. Unsere Patronin war die letzte, die da feig zurücktrat. Sie selbst war bereit, wie sie dann auch noch beweisen sollte, sich mit an den Wettspielen zu beteiligen, auf die Gefahr hin, in lebenslängliche Sklaverei zu wandern — wie kam jetzt dieser Zwerg dazu, einfach alle unsere ausgemachten Bedingungen nicht anzuerkennen? Sich auf die Hinterbeine zu setzen? Nein, das war nicht angängig, da konnte man auch noch andere Maßregeln ergreifen!
»Mister Attila, wollen Sie freiwillig mit der Amazone, die Sie regelrecht besiegt hat, auf die Galeere gehen?«
»Nein.«
»Dann ergreift seine Gattin, führt sie fort. Sie ist Eure Gefangene, bis sich Mister Attila selbst stellt.«
Dem Leser dürfte etwas auffallen.
Es war ja gar nicht nötig, dies Zwergin als Gattin fortzuführen, die konnte doch ganz aus dem Spiele bleiben.
Die Amazonen mochten sich doch den Zwerg holen, was ging denn sie wie die Patronin seine Frau an. Der Zwerg war doch hier zur Stelle.
Offenbar aber hatte es die Begum hauptsächlich auf die niedliche Puppe abgesehen, und wir anderen alle vergaßen im Drange des Gefechts die unlogische Forderung der Begum und den unlogischen Bescheid der Patronin.
»Nehmt seine Gattin mit, ich schütze sie nicht!«
Ein fremdes Wort der Begum, ein Kommando, und wieder waren es dieselben beiden Amazonen, welche sich umwandten und auf Rosemunde zuschritten.
Da aber sauste es an ihnen vorbei, der aufgeschnallte Riesenhund war es, und auf seinem Rücken saß der Zwerg. Im Nu hatte er seine Gattin erreicht, flog nur so an ihr vorüber, dabei aber sie ergreifend und das federleichte Figürchen quer vor sich auf den Hunderücken werfend.
Wohl stürzten von allen Seiten die Amazonen herbei, aber da gab es noch Lücken genug, der Hund huschte zwischen ihnen hindurch und war mit seinen beiden Reitern zwischen den Bäumen verschwunden.
Schusswaffen besaßen die Amazonen ja nicht, nur einige waren noch einige Schritte gerannt, geflogen, die Zwecklosigkeit einer Verfolgung gleich einsehend, auch wurden sie durch einen Ruf ihrer Anführerin zurückgehalten.
Die Begum schien sich nicht viel daraus zu machen, man merkte ihr wenigstens nichts an.
»Wohl, er hat sich seiner Verpflichtung durch die Flucht entzogen. Wir werden ihn dennoch bekommen.«
»Und wenn er sich uns wieder zugesellt, Ihr könnt ihn Euch abholen, auch mit Gewalt, auch von Bord unseres Schiffes, wir werden ihn nicht schützen!«, sagte die Patronin, und dasselbe hätte auch ich gesagt.
»Ja, wir werden ihn uns in diesem Falle abholen.«
»Ihn Euch direkt ausliefern, das werden wir allerdings nicht. Meine Leute beteiligen sich nicht an seiner oder seiner Gattin Ergreifung.«
»Ich verstehe, ich verstehe. Du denkst gerecht, und Du wirst auch mich immer gerecht finden. Wollen wir die Wettspiele jetzt fortsetzen?«
Sie wurden fortgesetzt. Das war aber nur der erste Teil der Episode gewesen, die wir mit dem Zwerge erlebten, es sollte noch furchtbarer kommen.
Die Wettspiele wurden fortgesetzt. Ja, die »Spiele«. Konnte man das etwa noch »Spiele« nennen? Was den anderen bevorstand, wussten wir ja nun schon.
Und so geschah es.
Einer nach dem anderen meiner Jungen wurde besiegt und wanderte als Gefangener, als Sklave hinüber auf eine der Galeeren.
Aber was sollten wir tun?
Dass wir jetzt noch zurücktraten, das war gänzlich ausgeschlossen.
Wie mir dabei zumute war, das kann ich nicht schildern.
Ich heulte nicht mehr vor Wut, weinte nicht mehr vor Gram und Scham. Das hatte ich nun schon längst hinter mir.
Der blinde König dreht sich um.
»Bin ich denn ganz allein?«
So konnte bald auch ich sprechen.
Nur dass ich nicht blind war.
Mit meinen hellen Augen, mit furchtbarer Deutlichkeit sah ich, wie von meinen Jungen einer nach dem anderen hinübergeführt wurde. Wer würde von den 28 Matrosen und 9 Heizern, dem alten, ursprünglichen Stamme der »Argos«, noch übrig bleiben? Voraussichtlich kein einziger! Es wurden die verwegensten Ideen ausgeheckt, um doch noch ab und zu einen Gefangenen zu befreien — nein, um wieder einmal einen Sieg zu erringen, um von unserer Ehre zu retten, was noch zu retten war.
Der Bandlwurm kam zu mir.
»Mensch was willst denn Du?!«, fuhr ich ihn grimmig an, nachdem er seine Absicht offenbart hatte, mit in die Konkurrenz zu treten.
Denn dieses endlos lange Laster konnte nichts weiter als Teller zerschmeißen. Er hatte während seines Aufenthaltes an Bord als Tellerwäscher schon mehr Porzellan zerbrochen, als unsere Spinde fassten, sie mussten immer wieder einmal gefüllt werden.
»Ich weiß, wie ich eine Amazone besiege. Ganz bestimmt, was ich vormache, das kann mir keine nachmachen.«
»Na was denn?!«
»Wer von den Amazonen hier dieses Taschentuch auf diesen Ast legen kann, ohne dabei zu springen, im Stehen, die Füße dürfen den Boden nicht verlassen.«
Mit diesen Worten zog der Kerl aus der Hosentasche einen entsetzlich schmutzigen Lappen hervor und legte ihn, ohne sich besonders zu recken, auf einen Baumast, der sich mehr als zweieinhalb Meter über dem Boden befand.
»Wer mir das nachmachen kann. Und das ist doch auch eine körperliche Leistung, dabei braucht man doch nicht sein Gehirn anzustrengen.«
Ich starrte den Sprecher groß an. Wahrhaftig, der Kerl hatte Recht!
Auch insofern, als dabei der menschliche Scharfsinn nicht im Geringsten angestrengt zu werden brauchte.
Und gewiss, das machte ihm keine einzige Amazone nach, keine von ihnen war auch nur zwei Meter groß, und da konnte sie noch längst nicht nach da oben hinauflangen, was unser Bandlwurm von 2,35 Meter Länge mit leichter Mühe ausführte. Gesprungen durfte also nicht werden, die Füße mussten dabei am Boden bleiben.
Aber ich ging nicht darauf ein.
Ich hätte mich geniert, der Begum so etwas vorzuschlagen, als einen Zweikampf.
Zunächst musste ich aus vollem Halse lachen. Weiß nicht warum. Es war Galgenhumor. Ich brauchte einmal eine Erschütterung, um nicht in Verzweiflung zu fallen. Oder vielleicht war es auch ganz echter Humor. Hatte dieser Kerl dann nur gar keine andere Waffe für Einen geplanten Zweikampf, nicht irgend ein anderes Objekt als gerade diesen entsetzlich schmutzigen Lappen, den er mit dem heitersten Optimismus sein Taschentuch nannte?
Wirklich, das war es, was meine Lachmuskeln in so krampfhafte Bewegung setzte.
»Na, gehe mal selbst hin zur Begum, mache ihr den Vorschlag«, sagte ich dann, »vielleicht geht sie drauf ein.« Bandlwurm schob ab.
»Aber Du brauchst nicht zu sagen, dass ich Dich geschickt habe, Du kommst allein mit Deinem Vorschlage!«, rief ich ihm noch nach.
Denn wirklich, ich selbst hätte mich geniert, den Amazonen diesen Vorschlag zu machen.
Bandlwurm hatte die Begum bald gefunden. Sie kam ihm gerade entgegen, und so geschah es, dass die Auseinandersetzung noch in meiner Nähe stattfand, dass ich alles verstehen konnte.
Zunächst sprach nur Bandlwurm auf Englisch, setzte auseinander, was er wollte.
Und da geschah wieder etwas, dass ich die krampfhaftesten Anstrengungen machen musste, um nicht laut aufzulachen.
Plötzlich wich die Begum entsetzt zurück.
Bandlwurm hatte nämlich sein Taschentuch wieder eingesteckt gehabt, und der blieb bei diesem Objekt, fand in seinem Bandwurmgehirn kein anderes, zog wiederum den Fetzen aus der Hosentasche, als gebe es aus der Welt nichts weiter, was man dort auf jenen Baumast legen könnte.
Nun befand sich aber die Hosentasche dieses menschlichen Riesenwurmes in der Brusthöhe eines anderen normalen Menschen, und Bandlwurm brauchte nur leicht den Unterarm zu heben, so hatte die Begum den schmierigen Lappen direkt vor der Nase.
Das war es gewesen, weshalb sie geradezu entsetzt zurückgefahren war. Wozu sie ja auch allen Grund hatte. Man verlange nicht von mir, dass ich dieses sogenannte »Taschentuch« beschreiben soll. Es war fürchterlich, was der Kerl da in seiner Tasche mit sich herumschleppte, was der mit diesem Lappen schon alles abgewischt haben mochte!
Dieses erschrockene Zurückfahren der Begum war das erste gewesen. Es sollte aber noch besser kommen.
»Was sind Sie?«, hörte ich sie jetzt fragen, und zwar auf Englisch, wie sie noch mit halbzurückgeneigtem Leibe dastand. »Matrose oder Heizer?«
Der Riese klappte die Hacken seiner ungeheuren Plattfüße zusammen und richtete sich noch höher empor.
»Tellerwächter an Bord der ›Argos‹!«, meldete er militärisch.
Und da sehe ich, wie die Begum, noch so halb abgewendet mit zurückgeneigtem Oberkörper stehend, den noch immer vorgehaltenen Lappen betrachtet — und da sehe ich, wie sie in ganz eigentümlicher Weise den Mund verzieht, ein ganz schiefes Maul macht.
Und da drehte ich mich schnell um, um etwas recht Trauriges zu sehen, wie meine Jungen besiegt und abgeführt wurden, denn da konnte einem das Lachen doch vergehen.
Jetzt war es die Begum, die mich aufsuchte. »Monsieur maître des armes! Da war soeben einer Deiner Leute bei mir, ein sehr langer Riese — dort läuft er ja noch! — Der machte einen Vorschlag, den kann ich doch unmöglich annehmen!«
»Selbstverständlich nicht, selbstverständlich nicht!«, beeilte ich mich zu versichern.
»Du weißt, wie er seine Körperlänge benutzen wollte, um...«
»Ich weiß, ich weiß, er war erst bei mir, aber ich sagte ihm gleich, dass...«
»Das ist doch kein ehrliches Kampfspiel...«
»Die Sache ist erledigt, Begum, die Sache ist erledigt!«
Wir trennten uns wieder, ich ganz schamerfüllt.
Das war der erste Fall gewesen, da so ein sonderbares Mittel gewählt wurde, um für uns zu retten, was noch zu retten war. Der zweite Fall folgte sofort hinterher.
Fabs näherte sich mir, schüchtern wie immer. Mister Balduin Fabian, unser Bordlehrer für die Kinder. Einfach unser Fabs. Er war noch ganz derselbe. Seine Nase war ihm noch nicht gewachsen, noch immer wunderte man sich, wie auf diesem Fragment von einer Nase der Brillensteg einen Halt finden konnte, noch immer sah er verhungert aus, und dabei kaute er noch immer, sobald er sich unbeobachtet glaubte. Im Übrigen ein guter Mensch! Und ein tüchtiger Lehrer und Pädagoge dazu. Das war aber auch alles, was er konnte, die Kinder unterrichten. Höchstens noch, dass er sich dadurch nützlich machte, an Bord auf Insektenreinheit zu halten. Er untersuchte immer die Hunde und die anderen Tiere unserer Menagerie auf Flöhe. Das war sein Steckenpferd, seine Liebhaberei in den Mußestunden. Ach, war das Schulmeisterlein glücklich, wenn es einmal einen Floh entdeckte und ihn haschen konnte. Als er den letzten Bissen verschluckt, hatte er mich erreicht. Oder es war auch nicht nötig, dass er ihn verschluckt hatte. Fabs verstand die Kunst, hatte sie sich durch jahrelange Übung angeeignet, einen ganzen Kloß im Munde zu behalten, ohne dass man etwas davon merkte, nichts von geschwollenen Backentaschen. Er musste sich hinten in der Kehle ein besonderes Futteral angeschafft haben. Ein ganzes hartgekochtes Ei fand darin Platz, das hatte ich einmal konstatiert. Und so konnte er auch noch sprechen. Nur mit ein klein wenig belegter Stimme.
»Herr Waffenmeister«, begann er schüchtern, »ich möchte einen Gefangenen befreien.«
»Sie?!«, konnte ich vorläufig nur erstaunt hervorbringen, nicht gerade sehr artig.
Aber was wollte der denn diesen Athletinnen vormachen, wenn alle geistigen Kämpfe ausgeschlossen waren? Etwa einen Kartoffelkloß in den Mund nehmen und dann noch klar und deutlich das Vaterunser beten? Oder erst einen Pudelhund im ätzenden Seifenwasser baden und dann noch in seinem Felle einen lebendigen Floh auftreiben?
»Ich glaube, ich kann eine Amazone besiegen.«
»Ja womit denn, wodurch denn, mein lieber Fabs... mein lieber Herr Fabian, wollte ich sagen.«
»Indem ich sie herausfordere, mir das nachzumachen, was ich ihr vormache.«
»Ja ja.«
»Es dauert aber etwas lange.«
»Ach darauf käme es nicht an, Zeit haben wir genug.«
»Es dauert vier...«
Er hatte es wohl ausgesprochen, aber ich hatte es nicht verstanden, er hatte gerade einmal geschluckt.
»Vier ganze Stunden würde der Wettkampf dauern?«
»Vier Wochen.«
Ich reckte meinen Hals vor, glaubte nicht richtig gehört zu haben.
»Vier ganze Wochen?!«
»Vier ganze Wochen. Es dürfte sich auch in drei Wochen machen lassen, schon in zwei Wochen, aber bei vier Wochen bin ich meiner Sache ganz sicher, das macht mir keine Amazone nach.«
Ich durfte meinen Hals wieder zusammenziehen, ich hatte richtig gehört.
»Vier ganze Wochen soll der Zweikampf dauern?«, fragte ich nur nochmals.
»Vier ganze Wochen.«
»Ununterbrochen?«
»Ja freilich, unterbrochen werden darf er doch nicht.«
»Doch nicht etwa auch des Nachts?«, scherzte ich.
»Gewiss doch, da macht die Nacht doch gar keinen Unterschied.«
»Ja mein lieber Fabs — Herr Fabian, wollte ich sagen — was ist denn das nur für eine Art von Zweikampf, der vier ganze Wochen ununterbrochen Tag und Nacht währt?«
»Ich kann hungern. Ich kann vier Wochen lang hungern, ohne einen Bissen zu essen.«
Ach soo!
»Haben Sie denn schon einmal so lange gehungert?«, fragte ich zunächst, und es interessierte mich wirklich, weil man diesen Schulmeister ja sonst nur fortwährend kauen sah.
»Jawohl. Vier ganze Wochen. Nur Wasser durfte ich trinken.«
»Freiwillig?«
»Ganz freiwillig.«
»Sie produzierten sich als Hungerkünstler?«
»Nein, das eigentlich nicht.«
»Um sich von einer Krankheit zu kurieren?«
»Ich war so kerngesund wie jetzt.«
»Sie hatten kein Geld, um sich zu ernähren, und schämten sich zu betteln?«
»Ganz im Gegenteil, ich hatte 6000 Mark geerbt.«
»Und da fingen Sie freiwillig zu hungern an?«
»Ja, um dieses Geld am besten anzulegen.«
»Na, wissen Sie was, Herr Fabs, nun erzählen Sie mir mal diese ganze Geschichte ausführlich, sonst drehen wir uns weiter so in Rätseln herum. Zeit haben wir ja genug.«
Er erzählte.
Schade, dass ich es schriftlich nicht so wiedergeben kann, wie er es tat, so bescheiden, so schüchtern, so melancholisch lächelnd dabei, immer alle Welt um Entschuldigung bittend, dass er überhaupt geboren war. Es würde nie wieder passieren.
Herr Balduin Fabian, damals noch in Deutschland wirkend, war Hauslehrer bei einer begüterten, kinderreichen Familie gewesen, als ihm durch Erbschaft 6000 Mark zugefallen waren. Die Familie hatte vegetarisch gelebt, der Hauslehrer war zum Vegetarismus bekehrt worden und machte, wie es da immer im Anfange ist, mit fanatischem Eifer Propaganda für die naturgemäße Lebensweise.
Nun waren dem armen Schlucker plötzlich 6000 Mark in den Schoß gefallen. Was nun tun? Seine ideale Überzeugung, dass der Mensch von der Natur dazu bestimmt ist, Heu und anderes Gemüse zu fressen, wurde durch den Mammon nicht im geringsten erschüttert. Im Gegenteil, jetzt hatte er die Machtmittel in Händen, um noch ganz anders als Apostel für den Vegetarismus zu wirken. So viel es auch in Deutschland schon vegetarische Zeitschriften gab, so fehlte es seiner Meinung nach doch noch an der richtigen.
Also Herr Balduin Fabian gründete eine neues vegetarische Zeitschrift. Zweimal wöchentlich sollte sie erscheinen, später hoffentlich täglich. Wie die nun am besten und schnellsten einführen?
Eigentlich war es gar kein so übler Gedanke, den Herr Balduin Fabian da ausgeheckt hatte. Es war ein Geschäftstrick, der einem echten Yankee Ehre gemacht hätte.
Zur naturgemäßen Lebensweise gehört auch — wenigstens nach Ansicht der Vegetarier, Kaltwasserhelden und ähnlicher Geister — dass der Mensch ab und zu fastet, hungert. Gleich einmal tagelang. Das soll sehr gesund sein. Vielleicht haben sie recht. Mir bekommt es nicht. Ich bekomme davon immer so eine Leere im Magen. Doch die Körperkonstitutionen sind eben verschieden, und die Einbildung macht viel. Ich bilde mir ein, wenn ich einmal unfreiwillig hungern muss, dass ich davon schwach werde, und dann ist das eben nicht meiner Gesundheit dienlich. Ebenso wie ich auch ein Rumpsteak von nur einem Viertelmeter Länge einer ganzen Fuhre Heu vorziehe, und wenns auch die delikateste Sorte wäre.
Also der reiche Herr Balduin Fabian ging hin zu einem Äskulapjünger, auch Arzt genannt.
»So und so, Herr Doktor, ich möchte einmal vier Wochen lang fasten, absolut hungern. Oder so lange wie ich kann. Und wenn's ein halbes Jahr ist. Wollen Sie mich dabei beobachten? Immer kontrollieren? Meine Atmung, meinen Herzensschlag, Gewichtsabnahme und so weiter?«
Ei gewiss, da war der Arzt sofort dabei! Er hatte eine eigene Klinik, da sperrte er den freiwilligen Hungerkünstler als Versuchskaninchen mit hermetischem Abschluss ein, und die Geschichte ging los.
Wirklich, es war ein ganz geschickter Geschäftskniff! Denn natürlich gab der Hungerkünstler unterdessen seine Zeitung heraus. Noch ehe er die Kur antrat, erschien schon die erste Nummer, die er zusammengeschrieben, sie kündigte sein Hungerexperiment an, die nächste Nummer brachte schon das Resultat der ersten Tage, Gewichtsabnahme, allgemeines Befinden, üble Zu- und Anfälle, Pulsabnahme, was für Kraftleistungen er ausführte, zum Beispiel indem er aller zwei Stunden eine Handquetsche zusammendrückte, auch Rechenexempel musste er lösen, um die Wirkung des Hungers auf das Gehirn zu kontrollieren, wie er in der zweiten Nacht von Gras und Disteln geträumt hatte, in der dritten Nacht aber schon von himmlischen Dingen, denen sich in der vierten Nacht nur leider ein in Brotteig gebackener Schinken beigemischt hatte und so weiter, das wurde alles ganz gewissenhaft berichtet, die Wahrheit von dem berühmten Arzt notariell beglaubigt. Bis auf den Schinken in Brotteig. Die Träume konnten nicht kontrolliert werden, da musste man sich auf die Ehrlichkeit des Hungerkünstlers verlassen.
Natürlich wurden die sensationellen Berichte über diese Hungerkur von aller Welt mit wahrem Heißhunger verschlungen. Also die Zeitung wurde in Zehntausenden von Exemplaren verkauft.
Das heißt, so meinte Herr Balduin Fabian in seiner Hungerzelle, so hoffte er wenigstens!
Schon in der dritten Woche merkte er, doch immer in voller Redaktions- und Expeditionstätigkeit, dass die Sache schief ging. Die Herausgabe und Einführung solch einer neuen Zeitung kostet doch ein Heidengeld, und die Abonnenten blieben aus.
Und als Herr Balduin Fabian den 28. Hungertag beendete, da hatte er in seinem Geldhafen, auf Französisch Portemonnaie genannt, keinen einzigen Pfennig mehr, um sich einen Zwieback oder eine halbe harte Semmel zu kaufen, da hatte er auch schon große Schulden aufgehäuft, alle seine Habseligkeiten waren bereits von Gläubigern gepfändet worden, und außerdem präsentierte ihm der edle Arzt, mit dem er vorher weiter keine Abmachung genossen, auch noch eine Rechnung über 800 Mark, für vierwöchentliche Behandlung in seiner Klinik unter ständiger Aufsicht!
So hatte mir unser Bordlehrer jetzt erzählt.
Und wie er dies nun erzählt hatte! Mit so wehmütiger Heiterkeit.
Ei Du heiliges Kanonenrohr!
Da soll man nun nicht vor Lachen losplatzen!
Erbt das arme Schulmeisterlein 6000 Mark und weiß damit nichts anderes anzufangen, als sich einsperren zu lassen und vier ganze Wochen zu hungern, und wie er damit fertig ist, da ist sein Geld alle!
Für diese 6000 Mark hätte er eine Million Schiffszwiebäcke bekommen, erste Sorte durchstochen, da wäre er für sein ganzes Leben verproviantiert gewesen, hätte bis zu seinem hundertsten Jahre nie wieder zu hungern brauchen. Oder hätte er dieses ganze Geld auf einmal verhaun, nur an einem einzigen Tage den fünfzigfachen Millionär gespielt, hätte gebratene Kanarienhähnchen gespeist, echte Harzer Roller, oder als Vegetarier in Rosenöl gebackene Orchideen mit Vergissmeinnichtsauce, dann hätte er von seinen 6000 Mark doch wenigstens etwas gehabt, eine schöne Erinnerung! Nein, muss das Kerlchen achtundzwanzig Tage hungern, um sein ganzes Geld verlieren zu können!
Soll man da nicht lachen?
Nein, ich lachte nicht.
Obgleich ich den Humor dabei recht wohl empfand. Aber ich betrachtete die ganze Sache auch von einer anderen Seite.
Natürlich... wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Das ist ein ganz hundsgemeines Sprichwort, ein hundsgemeiner Kerl, der ihm huldigt!
Die Sache war eben schief gegangen.
Wenn sie aber nun geglückt wäre? Wenn er die Zeitung glänzend eingeführt hätte? Dann wäre Herr Balduin Fabian heute ein reicher Zeitungsverleger und würde wegen jenes Hungertricks als genialer Geschäftsmann bewundert werden.
So ist die Welt!
Zu dieser Welt möchte ich nicht gehören.
Und da ich ihn nicht verspottete, hätte ich wenigstens herzlich lachen dürfen, wozu ich ja allerdings auch die größte Lust hatte, aber ich tat es nicht, bezwang mich, um den armen Kerl nicht zu kränken.
»Und was geschah nun weiter?«, fragte ich teilnahmsvoll.
»Ich hatte wirklich keinen Pfennig in der Tasche, der Arzt warf mich einfach hinaus, als ich sagte, dass ich seine Rechnung nicht bezahlen könne, und meine Wohnung und die Geschäftsräume der Zeitung fand ich schon versiegelt. Obgleich ich wirklich gar keinen Hunger hatte, sagte ich mir doch, dass ich jetzt unbedingt etwas essen müsse, eine ganz leichte Speise. Betteln kann ich nicht, wusste niemand, der mir aushelfen könnte. Schon wollte ich meine Weste verkaufen, als ich zufällig in einem ausgehängten Zeitungsblatte las, dass für eine Privatschule sofort ein Elementarlehrer gesucht würde. Ich sofort hin...«
»Fühlten Sie sich denn nach der vierwöchentlichen Hungerkur nicht ungemein schwach?«, musste ich erst einmal fragen.
»Ja und nein. Wie mans nimmt. Ich hatte ja allerdings oftmals böse Anfälle von Schwäche gehabt, aber das war überstanden. Zur Zeit fühlte ich mich gerade sehr kräftig und elastisch. Das sind freilich anormale Zustände, eine Überspannung, die sich später bitter rächt. Ich stellte mich vor, erzählte gleicht ganz offen, wer ich war und was ich durchgemacht hatte. Man lachte. Aber die Hauptsache war doch dem Direktor, dass ich für den mir gebotenen Hungerlohn bereit war, die angebotene Lehrerstelle zu übernehmen. Also Elementarfächer. Und außerdem musste ich Turnstunden geben. Ob ich turnen könnte. Jawohl, das konnte ich. Ich sollte gleich etwas vormachen. Dass ich vier Wochen lang keinen Bissen über die Lippen gebracht hatte, schien der Herr Direktor ganz vergessen zu haben. Und da machte ich am Reck den Bauchaufschwung, was dem Herrn Direktor vollständig für meine Legitimation als Turnlehrer genügte. Sie wissen doch, Herr Waffenmeister, dass ich den Bauchaufschwung kann.«
Ja das wusste ich. Herr Balduin Fabian war sonst ein sehr schwacher Turner, beteiligte sich auch nicht an unseren athletischen Übungen, aber den Bauchaufschwung konnte er, worauf er sehr stolz war.
»Und da machten Sie den Bauchaufschwung?«
»Jaaa, da machte ich den Bauchaufschwung!«, seufzte der Pädagoge verschämt, mit seitwärts geneigtem Kopfe. »Obgleich ich so etwas wie einen Bauch doch gar nicht mehr hatte. Jaaa, da machte ich am Reck den Bauchaufschwung. Und da war ich engagiert. Musste gleich zwei Unterrichtsstunden abmachen. Dann bekam ich mein Mittagsessen vorgesetzt. Eine Scheibe Kommisbrot mit kaltem Käse. Kaltes Mittagsessen meinte ich. Die Lehrer in dieser Anstalt aßen erst des Abends warm, was die Pensionäre vom Mittag übrig gelassen hatten.«
Ach Du heiliger Klabautermann! Eine Scheibe Kommissbrot mit kaltem Käse! Wie das herausgekommen war!
Da allerdings platzte ich los, und niemand konnte es mir verübeln.
»Ja, Herr Waffenmeister«, fuhr er dann eifrig fort, »und nun erbiete ich mich, solch seine vierwöchentliche Hungerkur noch einmal durchzumachen. Ich weiß, dass ich dazu imstande bin. So eine Amazone soll es gleichzeitig mit mir tun. Und zwar schlage ich vor — wenn es auch nicht gerade edel ist — wir wählen eine recht dicke aus. Die verträgt das Hungern am allerwenigsten, kommt mindestens dabei ganz von Kräften. Und dann, wenn wir fertig sind, am 28. Tage, soll jeder einen Bauchaufschwung machen. Ich garantiere, dass ich ihn fertig bringe, während ich es stark von der einst dick gewesenen Amazone bezweifle. Und ich werde das selige Gefühl genießen, einem bedauernswerten Sklaven die Freiheit zurückgegeben zu haben.«
Ich lachte noch immer, stärker als zuvor. Denn jetzt stellte ich mir im Geiste vor, wie sich die beiden gegenübersaßen, der klapperdürre Schulmeister und die dicke Inderin, und sich gegenseitig anhungerten, vier ganze Wochen lang. Und wie sie dann den Bauchaufschwung probierten. Und zu welchem Zwecke diese vierwöchentliche Hungerkur? Wegen solch einer menschlichen Fettkugel!
Sein Angebot musste natürlich abgelehnt werden. Ich hätte doch gar nicht gewagt, es der Begum vorzutragen. Ich sagte es ihm mit schonenden Worten, mit Worten des Dankes für seine edle Opferwilligkeit. Schüchtern und linkisch wie er sich mir genaht, ging er wieder von dannen, zog gleich nach den ersten Schritten hinten aus der Schößentasche seines Bratenrockes ein Taschentuch hervor, putzte sich die Nase, aber das war nur Nebenzweck, die Hauptsache bestand darin, dass er, wie wir alle recht wohl wussten, wenn man es auch nicht bemerkte, gleichzeitig ein Stück Hartbrot in den Mund schob.
Der arme Kerl litt eben an zurückgetretenem Hunger, an ewigem Heißhunger. Um an der gemeinschaftlichen Tafel besondere Leistungen zu zeigen, dazu war er zu schüchtern. Oder er konnte vielleicht gar nicht größere Portionen essen, es war wirklicher Heißhunger, der ihn immer plagte, das ist eine ganz ernst zu nehmende Krankheit, deshalb musste er immer kauen, was er natürlich seinem Charakter nach dem stillen Veilchen gleich im Verborgenen tat, war so bescheiden, sich mit Hartbrot zu begnügen. Trotz alledem oder vielleicht gerade deshalb konnte er recht wohl zum Hungerkünstler befähigt sein, viel mehr als ein normaler Esser.
Übrigens zeigte es sich bald, dass die Begum auch einmal eine Herausforderung zum Zweikampf abschlagen konnte, wenn der Gegner durch eine besondere Befähigung des Körpers ihren Amazonen gar zu sehr überlegen war.
Kaum war der Lehrer fort, als Gruh mit Riesensätzen angesprungen kam.
Wer das war? Wenn ich ihn Känguru nenne, würde ihn der Leser gleich wieder erkennen. Jim Snyder, das menschliche Känguru. Eine ganz regelrechte Missgeburt, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, indem er einbeinig geboren war, und zwar nicht mit einem Beinstummel, sondern sein einziges Bein, das weder eine Eigentümlichkeit des linken noch des rechten aufwies, saß mitten unter dem Rumpfe, sonst war es normal, hatte aber keinen Fuß, nur eine Art von kleinem Huf, und es war nicht nötig, dass er darunter eine breitere Gummiplatte trug, er konnte auch so darauf springen und sogar stehen, musste dann allerdings sehr balancieren, fiel leicht um, wenn er eben nicht immer sprang, sodass er für gewöhnlich doch eine breitere Platte daran befestigt hatte.
Ich muss über unseren Gruh, wie wir ihn abgekürzt nannten, noch etwas ausführlicher sprechen, weil er noch eine Hauptrolle spielen wird, von jetzt an.
Der einstige Knabe hatte sich zum Jüngling entwickelt. Er war schon immer ein stiller, verschlossener Charakter gewesen, und er war es immer mehr geworden. Es war mit ihm überhaupt ein großes Rätsel verknüpft. Geistig ganz normal entwickelt, sogar ein höchst intelligenter Junge, schien er doch wie unter fremden, unkontrollierbaren Einflüssen zu stehen. Auch er hatte sich nach meinem Rezept mächtig trainiert, war mit immer schwereren Gewichten gesprungen. Dieses Rezept ist ja so überaus einfach, aber bei seiner früheren Ausbildung war es doch nicht angewandt worden. Übrigens bestand das Ei des Kolumbus, das ich gelegt hatte, auch nicht darin, dass man das Gewicht, welches man heben will oder sonst wie zum Training als hindernden Ballast gebraucht, ab und zu um einige oder auch nur um ein Pfund vermehrt, sondern um die alltägliche Zunahme von nur wenigen Gramm, dies aber nun auch ganz konsequent durchgeführt! Ich werde gleich nachher noch einmal davon sprechen, was hierdurch selbst der schwächlichste Mensch für außerordentliche Kraftleistungen erzielen kann.
Schier fabelhaft war es, was dieses Einbein im Hochsprung, Weitsprung und Schnelllauf leistete. Er schlug darin jeden zweibeinigen Weltrekord. Manchmal schien es für ihn gar keine Grenzen zu geben. Mit 20 Pfund auf den Schultern belastet, sprang Gruh noch zwei Meter hoch. Dann hätte er ohne Gewichte doch wenigstens einen Viertelmeter höher springen müssen. Aber da irrte man sich eben. Er schnallte die Gewichte ab — und konnte nicht mehr über einen Stuhl springen. Und so war es in allem. Seine Leistungen waren unkontrollierbar. Manchmal rannte er mit einem Windhunde um die Wette, manchmal konnte er auf seinem Beine kaum noch langsam hüpfen. Ob Gewichte oder nicht, das war dabei ganz gleichgültig. Er selbst vermochte nicht zu sagen, woher das käme. Nicht etwa, dass er in seinem Klumpfuße Schmerzen gehabt hätte. Körperlich war er vollständig disponiert. Es waren seelische Einflüsse, denen er unterlag.
Das war übrigens auch schon im Zirkus des Direktors Smetani so gewesen, der das einbeinige Kind erst gekauft und ausgebildet hatte. Das Auftreten des menschlichen Kängurus in der Manege war stets ein Risiko gewesen. Der kleine Jim konnte plötzlich total versagen, und da war nichts dagegen zu machen.
Das aber hatte sich geändert, als das Zwergehepaar zu dem Zirkus gekommen war. Rosamunde war es, die den geheimen Einfluss ausübte, in ihrer Gegenwart war Jim stets zu seinen Höchstleistungen befähigt.
Das war nach und nach entdeckt worden, denn Jim hatte es natürlich nicht gestanden — nämlich, dass er zu der menschlichen Puppe in Liebe entbrannt war. Denn um weiter nichts handelte es sich dabei. Und so blieb es auch bei uns an Bord. Zwischen den beiden bestand ein Liebesverhältnis, freilich ein ganz einseitiges, außerdem ein ganz harmloses, ein platonisches, in dieser Hinsicht auch nicht nur einseitiges, und ein ganz rührendes dazu. Merkwürdig war es ja genug. Der einbeinige Jüngling drückte seine innige Liebe für die reizende, lebendige Puppe nur dadurch aus, dass er stundenlang dasitzen und sie anstarren konnte. Nicht einmal mit verzückten Augen, sondern eben nur mit starren. Wie er überhaupt etwas Starres, Regungsloses an sich hatte. Und nicht einmal an Aufmerksamkeiten dachte er. Wenn Rosamunde etwas fallen ließ, so fiel es ihm gar nicht ein, hinzuspringen und es ihr aufzuheben. Das ließ sich schließlich noch begreifen. Er war eben so in Bewunderung der Puppe versunken, dass er so etwas gar nicht merkte. Aber auch nicht etwa, dass Gruh vor ihrer Kabinentür schlief, so weit ging die Romantik nicht, und nicht einmal, dass er für sie auch nur ein Blümchen pflückte. Die ganze Anbetung bestand nur in einem stummen Anstarren. Auch nicht, dass er errötete, wenn sie ihn ansprach. Antworten tat er freilich auch nicht. Er war immer ganz in ihrer Betrachtung versunken. Und dann eben, dass das menschliche Känguru in Gegenwart der Zwergin immer zu seinen Höchstleistungen befähigt war. Wenn er wusste, dass die Augen seiner Angebeteten auf ihm ruhten, so schienen an seinem Beine geradezu Schwingen zu wachsen. Und wenn er merkte, dass sie ihn nicht mehr beobachtete, so verließ ihn plötzlich alle Kraft und Elastizität, er verwandelte sich in einen einbeinigen Krüppel. Was aber nicht so ganz buchstäblich ist, etwa als hätte ihn nur ihr Blick hypnotisiert. Auch ohne ihre Gegenwart war er manchmal zu außerordentlichen Leistungen befähigt, und dann brauchte er auch nur zu wissen, dass er etwas im Interesse seiner Angebeteten tat, wenn es einmal etwas für sie zu holen galt, dann machte er Sätze von vier Meter Länge, sprang auch über Gräben von sechs Meter Breite und über Hecken von zwei und noch mehr Meter Höhe.
Der Zwerggatte duldete dieses Verhältnis. Wenn es da überhaupt etwas zu dulden gab. Es war ja durchaus harmlos. Ja und doch, Mister Wenzel-Attila hätte eifersüchtig sein können. Er war es nicht. Er war ein Gentleman und überhaupt im Grunde genommen ein guter Mensch und ein einsichtsvoller dazu. Die drei hatten sich überhaupt vollkommen aneinander gewöhnt, gehörten zusammen. Das war schon damals im Zirkus so gewesen. Wenn uns der Hundereiter einmal verlassen würde, um wieder selbständig seinem Artistenberufe nachzugehen, so würde auch das menschliche Känguru ihn begleiten.
Als vorhin der Zwerg mit seiner Gattin geflohen, war mir der Gedanke sofort durch den Kopf geschossen, was Gruh dazu sagen würde, aber ich hatte noch keine Zeit gehabt, weiter daran zu denken.
Dann war ja gleich Simson mit seinem Vorschlage gekommen, dann der Bandlwurm dann der Hungerkünstler, und diese Zwischenepisoden hatte ich nur als günstige Gelegenheiten aufgefasst, um meine verzweifelte Stimmung zu zerstreuen, denn auch sonst dachte ich ja an alles andere als wie daran, wie das menschliche Känguru das Verschwinden seiner Angebeteten auffassen würde.
Da gestern Abend Mister Attila mit aller Entschiedenheit erklärt hatte, sich an den Wettkämpfen nicht zu beteiligen, so war das auch von Gruh von vornherein ausgeschlossen gewesen. Er war heute früh, wie auch das Zwergehepaar, an Bord des Schiffes geblieben, wie überhaupt alle, die sich nicht an den Wettspielen beteiligten oder nicht ganz besonderes Interesse daran hatten. Denn wegen der Nähe der Amazonen hatten wir unser Hauptquartier doch lieber aufs Schiff verlegt, die Hunde als Wächter konnten doch einmal versagen. Es mussten wenigstens einige Menschen an Bord anwesend sein. Das waren der erste Steuermann, die beiden Maschinisten, der Zimmermann, Vater Abdallah, seine Töchter und Dienerinnen und noch einige andere. Lord Harlin zum Beispiel grübelte gerade über ein Schachproblem nach, da ließ sich der durch nichts stören, Doktor Isidor schlief seinen gestrigen Rausch aus.
Das Zwergenpaar hatte das Schiff verlassen, ohne etwas von seiner Absicht zu sagen, sonst wäre Gruh ganz sicher sofort mitgekommen.
Jetzt erst mochte er das Resultat erfahren haben, jetzt kam er angesetzt, schon mehr geflogen als gesprungen, und zwar wie immer, wenn er seine ganze Kraft entwickeln wollte, ohne an den Klumpfuß geschnallte Gummiplatte. Mit dem letzten Satze von mehr als vier Meter Länge wurzelte er vor mir im Boden.
»Mister Attila und Rosamunde sind auf dem Cäsar geflohen?«
Ganz ruhig hatte er es gefragt, so war auch sein Gesicht.
Es war ein hübsches, gesundes, männliches Gesicht mit schwarzem Flaumbärtchen, aber etwas merkwürdig Starres, Ehernes lag darin, und es blieb immer dasselbe. Dieser Jüngling konnte nicht lachen und nicht weinen, nicht erblassen und nicht erröten. Und wenn er stundenlang gehetzt war, sein Atem und sein Puls ging nicht im geringsten schneller, kein Schweißtropfen und gar nichts. Grund zu einer besonderen seelischen Erregung hatte er bei uns an Bord wohl noch nicht gehabt, aber ich wusste schon, dass auch eine solche keine Verwandlung bei ihm hervorgebracht hätte. Aber ich ahnte auch, dass dieser Jüngling nicht etwa ein seelenloser Stockfisch war, sondern... hier hatte die Natur einmal einen gewaltigen Charakter geschaffen, einen geborenen Helden, der, wenn er wollte, die ganze Welt besiegt zu seinen Füßen niederlegte, noch einen ganz anderen Charakter als einen Napoleon, aber die Natur hatte ihm das zweite Bein mitzugeben vergessen, und so war er unter die Artisten geraten, war das menschliche Känguru geworden.
Jetzt, jetzt hätte er seelisch furchtbar erregt sein müssen! Keine Spur davon. Nur eine sachliche Frage, höflich gestellt.
»Sie haben es gehört?«
»Der zweite Steuermann hat mir soeben alles erzählt.
Ich weiß alles, kenne die Bedingungen. Sie erlauben doch, Herr Waffenmeister, dass auch ich jetzt in die Konkurrenz trete, für Mister Attila. Wenn ich siege, so ist er also frei. Seine Gattin kommt ja gar nicht weiter in Betracht.«
»Wenn Sie dies vorhaben, so verraten Sie, dass Sie die Bedingungen doch nicht genau kennen.«
»Inwiefern nicht?«
»Wer einmal besiegt ist, ist besiegt, muss als Gefangener hinüber und kann nicht wieder zurückerobert werden.«
»So?«, erklang es ganz ruhig. »Das habe ich allerdings nicht gewusst.«
Ich setzte es ihm noch einmal auseinander.
»Kann da nicht einmal eine Ausnahme stattfinden?
Vermögen Sie es nicht zu arrangieren, Herr Waffenmeister?«
Der Junge tat mir in tiefster Seele leid. Gerade weil ich am besten wusste, wie es trotz seiner Gleichgültigkeit in seinem Innern stand.
»Es tut mir herzlich leid, aber daran ist nichts zu andern, es ist unmöglich. Sie können nur zum Zweikampf antreten, wenn Sie einen jener weißen oder roten Gefangenen befreien wollen...«
Da trat die Begum heran, die sich hinter meinem Rücken uns genähert hatte, sie musste alles gehört haben, wie sie auch schon das Einbein hatte herbeispringen sehen, dabei einmal seine fabelhaftesten Sätze entwickelnd.
»Sie wollen eine meiner Amazonen zum Zweikampf herausfordern?«
»Ja. Wenn ich dadurch Mister Attila befreien kann.«
»Ich habe Ihre Absicht gehört — das ist ausgeschlossen.
Sie würden springen oder laufen?«
Gruh bejahte, vielleicht doch noch eine Hoffnung habend.
»Nur auf einem Beine?«
Es war eine recht merkwürdige Frage, der arme Kerl hatte doch nur eines, das andere konnte er doch nicht etwa einstweilen in die Tasche gesteckt haben, das war doch deutlich genug zu sehen, aber es war eben nur eine Einleitung gewesen, um den Krüppel in anständiger Weise weiter befragen zu können.
»Ich bin nur mit einem Beine geboren.«
Ich betone nochmals, dass auch ganz deutlich zu sehen war, wie ihm dieses eine Bein unten mitten am Rumpfe angewachsen war.
»Nein, in diesem Falle gebe ich nicht meine Genehmigung, dass sich dieser Mann an den Wettspielen beteiligt!«, wandte sich die Begum an mich. »Ich würde es auch dann nicht tun, wenn er ein Bein durch Amputation verloren hätte. In diesem Falle sind die Waffen doch gar zu ungleich. Und das wäre auch der Fall, wenn eine Amazone mit beiden Füssen laufen oder springen dürfte. Es ist hin wie her. Dieser einbeinige Mann darf keine Amazone zum Wettkampf herausfordern. Halten Sie meine Weigerung für billig und recht, Herr Waffenmeister?«
Ja, das tat ich. Sonst hätte auch unser arabischer Schiffszimmermann sein Holzbein absägen und verlangen können, eine Amazone solle ihm das einmal nachmachen.
Die Begum entfernte sich wieder. Aber diese Angelegenheit war noch nicht erledigt. Gruh vertrat oder vielmehr versprang ihr den Weg.
»Sie wünschen noch?«
»Nehmen Sie mich für Mister Attila als Sklaven an.«
»Für den Zwerg? Nein. Er gehört uns, und kein Gefangener wird ausgetauscht.«
»So nehmen Sie mich statt seiner Gattin als Bürgen an, bis er sich freiwillig gestellt hat.«
»Nein, auch das nicht. Seine Gattin ist uns als Bürge zugesprochen worden, und dabei bleibt es.«
Auch die Begum wusste mit einer Entschiedenheit zu sprechen, dass man sofort merkte, wie jedes weitere Wort vergebens war.
Gruh hüpfte wieder dem Quartier zu.
Bald darauf, während ich mich mit anderen Dingen zu beschäftigen gehabt hatte, es waren auch erst wenige Minuten vergangen, sah ich das menschliche Känguru wieder über den freien Platz hüpfen, dem Walde zu, dort bückte er sich, und alsbald erscholl ein dünnes Hundegekläff, etwas Gelbes huschte zwischen den Bäumen hindurch, Gruh setzte ihm mit großen Sprüngen nach.
Wir alle wussten, was das zu bedeuten gehabt, schon das uns bekannte Hundegekläff sagte es uns.
Gruh hatte von Bord Wichtelmann geholt, einen Wachtelhund, hatte ihn auf die Spur der Geflohenen gesetzt, um sich mit diesen zu vereinen. Schließlich gehörte auch Wichtelmann dazu, deshalb hatte Gruh gerade diesen als Spürer mitgenommen. Das winzige Hündchen war der Liebling der Zwergin, die beiden passten ja auch ganz zusammen. Der Wachtelhund ist ja eigentlich ein sehr schlechter Späher, zur Jagd lässt er sich überhaupt gar nicht gebrauchen, er nimmt jede kreuzende Fährte auf, die ihm besser behagt, wenn er überhaupt Witterung bekommt, seine Nase ist schlecht, aber der Spur Cäsars würde er schon folgen können, denn dieser Riese war nun gerade wieder der innige Freund des Hundezwerges.
Und da, wie ich das menschliche Känguru in weiten Sätzen zwischen den Bäumen verschwinden sah, da überkam mich wieder einmal so eine Ahnung. Oder ich hatte sogar eine Vision.
Gruh trug einen sehr dunklen, wenn nicht schwarzen Sportanzug, und er schien ein Plaid, eine Decke über der Schulter zu tragen, es flatterte ihm etwas Dunkles nach — und plötzlich sah ich dort nicht mehr unseren Gruh auf seinem einen Beine springen, sondern ich sah einen schwarzen Engel fliegen, die schwarzen Fittiche mächtig schlagend... Er war verschwunden.
Aber mir rann es plötzlich eiskalt über den Rücken, ein furchtbares Entsetzen befiel mich, ich wusste nicht warum...
Ob auch die Begum von solch einer Ahnung befallen worden war?
Nein, sicher nicht!
Sonst hätte sie in den Vorschlag gewilligt, hätte für den Zwerg oder für Rosamunde das menschliche Känguru ausgetauscht...
Sie hatte es nicht getan, und sie rief ihn nicht zurück...
Also sie ahnte nicht, keine warnende Stimme sagte ihr, dass sie dort den Engel des Todes fortgeschickt hatte, der zurückkehren würde, um in diesem Tale Tod und Entsetzen zu verbreiten, so fürchterlich wie ich es nimmer wieder erleben sollte!
Doch es war nur ein Moment gewesen, dann war es vorüber, ich wusste gar nicht mehr, dass ich solch eine Ahnung und Vision gehabt hatte. Erst später, als alles in Erfüllung ging, erinnerte ich mich ihrer wieder.
Nochmals kam die Begum schnell auf mich zu.
»Der einbeinige Mann folgt den entflohenen Zwergen?«
»Es scheint so.«
»Weshalb?«
»Das weiß ich nicht, geht mich nichts an. Mister Snyder, wie er heißt, ist nur unser Gast und kann über seine Handlungen frei bestimmen.«
»Er folgt den Zwergen mit Hilfe eines Hundes?«
»Ja.«
»Ihr habt doch noch mehr Hunde, die eine Spur verfolgen können.«
»Ja, die haben wir.«
»Leihe mir einige oder nur einen, der die Spur der Entflohenen verfolgt.«
»Nein.«
»Du willst es nicht.«
»Nein. Ich werde Dir in keiner Weise behilflich sein, dass Du Dich der Entflohenen bemächtigen kannst.«
Die Begum neigte den Kopf.
»Gut. Ich verübele Dir Deine Absage nicht. Die Sache ist erledigt.«
Sie entfernte sich wieder.
»Well, Herr Kollege, dort gehen unsere letzten Matrosen und Heizer ab. Nun können wir etliche Jahre warten, bis die 32 Bengels das erforderliche Alter haben, um unser Schiff fortzubringen.«
So sprach mich wieder einmal Kapitän Martin an.
Ich sah es selbst.
Soeben wurden fünf Matrosen und zwei Heizer von ihren Siegerinnen abgeführt, und hiermit war die eigentliche Mannschaft der »Argos« erschöpft.
Zuletzt war nämlich nicht mehr einzeln gekämpft worden, sondern gleich en gros, jeder hatte sich ein Weib ausgesucht und sich mit ihm in irgend etwas gemessen, um dieses Trauerspiel endlich zu beenden. Deshalb hatte sich natürlich niemand etwa gutwillig gefügt, sie hatten mit aller Kraft der Verzweiflung gerungen, aber alles war vergebens gewesen. Es waren auch gute Fechter und Schützen dabei, auch das war noch einmal probiert worden — vergebens. Diese Amazonen waren meinen Jungen auch im Fechten und Schießen weit überlegen. Bei mir und Juba Riata und Tönnchen war das etwas anderes gewesen, ich war der Sprössling einer uralten Fechtmeistergeneration, hatte mich in den letzten Jahren mächtig darauf gelegt, nur Tönnchen konnte mir beim Kreuzen der Klingen einige Zeit die Spitze bieten, und ein solcher Meister war Juba Riata, der ehemalige Cowboy, im Schießen. Alle anderen unterlagen in diesen beiden Künsten gegen die Amazonen.
»Sie werden doch nicht etwa auch die 32 Kinder ins Treffen führen wollen?«
»Daran denke ich gar nicht, und selbst wenn ich entschlossen wäre, eventuell auch sie zu verlieren, wüsste ich doch gar nicht, worin sie sich mit diesen Teufelsweibern messen sollten, die eine hat ja sogar unseren Bob im Schnellklettern besiegt...«
Ich wurde unterbrochen. Die kleine Ilse kam angesprungen, jetzt neunjährig, noch ziemlich klein für dieses Alter.
Dies war der Moment, da die letzten sieben Matrosen und Heizer summarisch abgeführt wurden, darunter auch Albert unser Sänger, der sich geweigert hatte, eine Amazone zum Sängerwettstreit herauszufordern, worauf die Begum wahrscheinlich auch nicht eingegangen wäre. Albert war, wie ich schon einmal betont, damals als wir beiden die Mama Bombe an der Stange über die Brücke vom Wrack getragen hatten, ein bärenstarker Kerl, seine Spezialität war der Ringkampf, er hatte nicht glauben wollen, dass ihn solch ein Weib werfen könne, obgleich schon sein Lehrmeister im Ringen, der lange Peter, besiegt worden war. Albert hielt es nicht für möglich, dass ihm das passieren könne — und er war geworfen worden! Jetzt konnte er drüben den mohammedanischen Amazonen die christlichen Seligpreisungen vorsingen.
Die Zuschauer bildeten um den Kampfplatz herum Gruppen. Einige hundert Zuschauer! Da waren doch noch die meisten der Amazonen vorhanden, alle die roten und weißen Gefangenen, unsere 32 Schiffsjungen und wer nun sonst noch zu uns gehörte, ohne sich an den Wettkämpfen beteiligt zu haben.
Das anfängliche Halten in Reih und Glied war schon längst aufgehoben worden, es hatten sich eben Gruppen gebildet, innerhalb solcher Gruppen waren auch Wettspiele ausgetragen worden.
Soeben war in solch einer Gruppe ein lautes Hallo erschollen, und jetzt löste sich von dieser Gruppe die kleine Ilse ab und kam auf mich zugesprungen.
»Gesiegt, Onkel, gesiegt!«, jubelte sie. »Ich habe eine Amazone besiegt, ich kann einen Gefangenen befreien!«
Ehe ich es richtig begreifen konnte, befiel mich eine kleine Erstarrung vor Schreck. Unsere Ilse hatte also mit einer Amazone gekämpft. Hatte sich mit ihr gerungen.
Worin, das war vorläufig ganz gleichgültig.
Unsere Ilse hatte gesiegt.
Das war sehr, sehr schön.
Aber wenn sie nun verloren hätte?
Dann hätte sie jetzt als Gefangene mit auf die Galeere wandern müssen, oder... es wäre irgend etwas Ungeheuerliches passiert.
Diese momentane Erwägung war es, die mir einen kalten Schreck einjagte, noch ehe ich irgend etwas Näheres wusste.
»Du hast mit einer Amazone gekämpft?!«, stieß ich in diesem meinem ersten Schreck hervor.
»Ja, ja, und ich habe gesiegt, ich habe gesiegt«, jubelte Ilse ganz toll vor Freude.
»Worin hast Du Dich denn nur mit ihr gemessen?«
»Im Hantelhalten, und ich habe das Kilo viel, viel länger gehalten, die konnte es keine drei Minuten aushalten!«
Da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen! War ich denn nur bisher verhext gewesen, dass ich noch nicht auf diese Idee gekommen war, die Amazonen zu solch einem Zweikampf herauszufordern?! Und alle anderen ebenfalls?!
Ich muss eine Erklärung einschalten. Hoffentlich findet sie der Leser nicht uninteressant, und interessiert er sich besonders dafür, so wird er die Übung wohl auch nachmachen, sie kostet ihm täglich nur fünf Minuten, freilich muss sie ganz konsequent durchgeführt werden, dann aber wird man auch reichlich dafür belohnt. Und man wolle nicht sagen, dass so etwas zwecklos sei. Etwas ganz Zweckloses gibt es überhaupt nicht so leicht. Oder man müsste überhaupt allen Sport als zwecklos bezeichnen.
Jeder normale Mensch, der nicht gerade ein ausgemachter schlapper Schwächling ist, wird seine beiden Arme und Hände nach beiden Seiten fünf Minuten lang waagerecht halten können. Es wird ja anfangs am Ende der fünf Minuten, oder schon in der dritten, etwas in den Armen und Schultern schmerzen, das Genick tut weh, aber es lässt sich schon aushalten. Am zweiten Tage geht es schon viel leichter, am dritten Tage fühlt man gar nichts mehr, man kann es sechs Minuten aushalten, dann vergehen sieben Minuten, ehe sich die Schmerzen und ein Zittern einstellen, und so bringt man es bei regelmäßiger Übung bis zu zehn Minuten und noch länger. Sofort, wenn sich Stiche im Kopfe oder in der Schläfe bemerkbar machen, muss man unbedingt aufhören!
Dabei machen Alter und Körperkraft gar keinen Unterschied aus. Na ja, von einem vierjährigen Kinde kann man es nicht verlangen, auch nicht von einem taddrigen Greise und einer alten Großmutter, die brauchen so etwas nicht noch anzufangen. Aber sonst ist es ganz gleichgültig, ob es etwa ein achtjähriges Mädchen mit Streichholzärmchen ist oder ein dreißigjähriger starker Mann, ein Steinetreiber mit Herkulesmuskeln. Diesem fallen die ersten fünf Minuten genau so schwer wie dem zarten Kinde, und auch während der ganzen Übungsperiode bleiben die Resultate immer die gleichen, der herkulische Riese kann das schwächliche Kind nicht übertreffen, später auch nicht im Halten von Gewichten. Das kommt daher, weil der erwachsene Mensch dabei das Gewicht seines eigenen Armes tragen muss, der natürlich bedeutend schwerer ist als der Arm des zarten Kindes, und der ausgestreckte Arm wirkt noch dazu als Hebelgewicht, es vermehrt sich ins Ungeheure. Und schließlich ist bei der ganzen Sache überhaupt ein Geheimnis, das ich nicht ergründen kann. Höchstens kann ich annehmen, dass dabei Muskeln angestrengt werden, welche sonst auch beim stärksten Arbeiter oder Turner gar nicht ausgebildet werden. Jedenfalls aber kenne ich das Resultat. Es ist beim zarten Kinde wie beim stärksten Manne ganz das gleiche, von Anfang an und noch nach vielen Jahren ständiger Übung.
Dann, wenn man nach einigen Tagen — denn nur Geduld, nur Geduld — seine Hände fünf Minuten lang ohne Anstrengung ausgestreckt halten kann, also immer seitlich in Schulterhöhe fängt man mit Gewichten an. Jeden Tag ein Mehr von fünf Gramm. Am besten kauft man sich dazu Schrot, oder, viel billiger, gewalztes Weißblei, Bleiblech. Das Pfund kostet je nach Marktpreis 24 bis 28 Pfennige, im Kleinhandel. Das schneidet man mit der Papierschere in Streifen und Stücke, wiegt sie auf der Briefwaage zu je fünf Gramm ab. Das hat man bald heraus. Größere Schrotkörner kann man abzählen. Als erstes Gewicht nimmt man in jede Hand eine leere Streichholzschachtel, die ziemlich genau 5 Gramm wiegt. In diese kommen dann die anderen Fünfgrammgewichte hinein. Später kann man sich das Blei ja auch zu größeren Gewichten zusammengießen, diese können dann gegen Eisengewichte ausgetauscht werden.
Also alltäglich in jede Hand ein Mehr von 5 Gramm, immer fünf Minuten gehalten.
Das sind im Monat 150 Gramm, im Jahre 3 Pfund und 300 Gramm.
Es werden Zeiten kommen, da das Gewicht zu schwer wird. Man hält die fünf Minuten nicht mehr aus. Da geht man gleich einmal 100 Gramm zurück.
Überhaupt darf die Vorschrift über das tägliche Mehr von 5 Gramm nicht buchstäblich genommen werden. Die eherne Konsequenz muss nur in der Zeit liegen, in den täglichen fünf Minuten! Oder es können ja auch mehr oder weniger Minuten sein. Aber diese Zeit, die man sich einmal vorgenommen hat, muss nun auch konsequent eingehalten werden! Wir bleiben also hier bei fünf Minuten.
Die Gewichtszunahme muss individuell geregelt werden. Das tägliche Mehr von 5 Gramm wird man besonders zuerst gar nicht merken, da kann man also täglich gleich 10 Gramm für jede Hand zulegen. Aber mehr lieber nicht! Das sind am Ende des ersten Monats schon 300 Gramm, die hält man gewöhnlich nicht aus, es strengt zuletzt furchtbar an. Da geht man gleich um 100 Gramm zurück. Und wird nun staunen! Die 200 Gramm fühlt man gar nicht mehr. Dann kommen Tage, da man sich indisponiert fühlt. Nicht krank — dann muss aufgehört werden — sondern nur indisponiert. Man hat keine Lust dazu, ist zu faul, infolgedessen strengt es auch sehr an. An solchen Tagen legt man wieder nur 5 Gramm zu, oder auch gar nichts. Dann kommen wieder Tage, da man sich außerordentlich kräftig und aufgelegt für die Übung fühlt, dann fügt man immer wieder 10 Gramm zu. Aber lieber nicht mehr! Spaß macht es, besonders für später, wenn man darüber Tagebuch führt. Es sind täglich nur fünf Minuten zu opfern. Wer will, kann es ja täglich zweimal machen, aber es ist nicht nötig, um das fabelhafte Resultat zu erreichen.
Natürlich gibt es wie überall auch hierbei Grenzen. Was nach einigen Jahren alltäglicher Übung für Gewichte gehalten werden können, darüber will ich hier gar nicht sprechen, denn das ist gänzlich verschieden.
Aber das eine kann ich versichern: Nach einem Jahre solcher Übung kann auch jedes zehnjährige Kind in jeder Hand ein Kilo fünf Minuten lang ausgestreckt hatten!
Dafür kann ich garantieren! Ich habe eben meine Erfahrungen gemacht.
Nun stelle man sich die Sache vor. Ein halbwüchsiges Kind, ein zehnjähriges zartes Mädchen, dem nichts weiter als seine Schwächlichkeit anzusehen ist, stellt sich hin, man wettet, dass dieses zarte Mädchen in jeder Hand eine KiloHantel fünf Minuten lang seitlich ausgestreckt halten kann. Oder etwa ein volles Bierglas, ein Halbliterseidel, in jeder Hand eines.
Das wollen die anderen natürlich nicht glauben. Und das umso weniger, wenn sie selbst es erst einmal probieren. Das ist nicht möglich.
Das zarte zehnjährige Mädchen macht es. Ohne sichtliche Anstrengung.
Da sind die anderen, die das Geheimnis nicht kennen, einfach baff! Sie möchten an Zauberei glauben. Wenigstens insofern, als schon Stimmen laut werden, man hätte das Kind vielleicht hypnotisiert, in künstlichen Starrkrampf versetzt.
Dann wird man sich wahrscheinlich das Kind näher betrachten, und da allerdings wird man entdecken, dass das sonst so zarte Wesen einen recht kräftig entwickelten Hals hat. Schlank und zart und fein, aber immerhin sehr muskulös. Und wenn sie dann die Schultern dieses schwächlichen Geschöpfes befühlen, so werden sie über diese eisernen Schultern staunen, wenn nicht erschrecken! Das ist kein Fleisch mehr, das ist Eisen!
Durch dieses Halten werden nämlich besonders die Schulter- und Nackenmuskeln angestrengt und daher gekräftigt, gestählt. Deshalb auch anfangs die Genickschmerzen, bis man sie ein für allemal überwunden hat.
Aber konsequent muss es durchgeführt werden, um solch ein Resultat erzielen zu können. Nicht ein einziger Tag darf ausgesetzt werden! Sonst kommt einmal ein zweiter hinzu, dann ein dritter... und dann ist's vorbei! Da tritt plötzlich ein Rückschlag ein, es geht nicht mehr so gut, man verliert die Lust. Und das umso mehr, wenn man etwa das Versäumte durch plötzliches Mehr von Gewicht einholen will. Dann ist's erst recht vorbei. Man kann höchstens wieder mit einem bedeutend kleineren Gewicht anfangen. Aber der Ärger bleibt. Und dann setzt man doch einmal wieder aus. Weil man es schon einmal getan hat. »Einmal ist keinmal« — das ist des hinterlistigen Teufels Sprichwort, mit dem er auch die frömmste Jungfrau fängt. Etwas anderes ist es, wenn man sich krank fühlt. Dann muss man aussetzen, muss es unbedingt! Sonst ist da ein Forcieren ebenso schädlich wie ein gänzliches Unterlassen bei Gesundheit. Freilich kommt es ja ganz auf die Art der Krankheit an. Wenn man die Gicht in der großen Zehe hat, kann man noch recht gut seine Arme ausgestreckt halten. Selbst wenn man mit geschientem Beine im Bette liegt. Wenn man nur will! Ja sogar mit Bauchkneipen geht es noch recht gut. Aber schon bei einem leichten Schnupfen hört es gewöhnlich auf. Ob man aufhören muss oder nicht, das fühlt jeder selbst ganz deutlich. Das Gehirn ist da ein untrüglicher Manometer. Sobald man bei dieser Übung Kopfschmerzen bekommt, muss man aufhören, das tut man auch ganz von selbst, kann gar nicht anders. Denn eine Spielerei ist das natürlich nicht. Wenn man es sonst auch spielend ausführt. In anderer Hinsicht aber erfordert es die eiserne Energie eines ganzen Mannes!
Und hierbei nun habe ich eine Entdeckung gemacht, bin einem großen Geheimnis auf die Spur gekommen, mit dem sich die Herren Physiologen einmal wissenschaftlich beschäftigen sollten!
Wenn man also diese Übungen aus Unlust unterlassen hat, man hat sich Ferien genommen, oder man hat für die täglich fünf Minuten keine Zeit gehabt, in Entschuldigungen ist man da ja groß — das lässt sich bei längerer Pause gar nicht wieder einholen. Oder man kann nur gleich wieder von vorn anfangen, wozu aber eine große Dosis Energie gehört. Nun wird man aber wirklich einmal krank, kann es nicht machen, lange Zeit nicht, ein halbes Jahr lang nicht. Man gesundet wieder. Eines Tages fühlt man sich recht kräftig und tatenlustig, man fängt die Sache wieder an. Da wird man staunen! Nämlich wie leicht einem das Halten wird. Natürlich beginnt man ja mit einem stark reduzierten Gewicht. Aber bald bemerkt man, dass man so eine große Reduzierung gar nicht nötig hat. Man hat sich viel zu wenig zugetraut. Man kann das Gewicht täglich um 50 Gramm und mehr steigern. Innerhalb von acht Tagen hat man das ganze halbe Jahr, da man im Bett gelegen hat oder sich sonst schonen musste, nachgeholt, ist wieder bei seinem letzten Gewicht angekommen! Was bei einer Ferienzeit, die man sich aus Unlust oder Faulheit genommen, vollständig ausgeschlossen ist!
Das habe ich an mir selbst probiert und an vielen anderen bestätigt gefunden, und da habe ich eben ein Geheimnis erkannt. Mir scheint fast, als ob geradezu manchmal eine Krankheit, etwa ein tüchtiges Schnupfenfieber, dem Menschen förderlich sei! Es dient zu seiner späteren Gesundheit. Die Krankheit gibt ihm später nur eine größere Spannkraft zurück.
Dass es wirklich so ist, habe ich bei jenen Hantelübungen konstatiert, wenn eine Hantel mit sukzessiver Gewichtszunahme täglich gestemmt wird, da zeigt sich dasselbe, nach langer Pause wegen Krankheit wird das Versäumte schnellstens wieder eingeholt, während eine ungezwungene Pause sofort weit zurückwirft, kaum wieder gut zu machen ist. Am intensivsten aber zeigt sich das bei diesem längeren Halten der Hände. Weil hierzu eine größere Aufwendung von Energie nötig ist als bei dem schnellen Hantelstemmen. Und das scheint mir eben der Hauptgrund zu sein, was hierbei so mächtig wirkt. Die Stählung der Energie in immer wachsendem Grade! Dann wird die Sache aber psychologisch.
Das ist es auch, weshalb ich bei dieser Sache lange verweile. Und sie ist es auch wert.
Ich habe einmal ein junges Mädchen in die Kur genommen, eben mit solchen Übungen. Sechzehnjährig, äußerst bleichsüchtig, nervenschwach bis zum Lach- und Weinkrampf und Veitstanz, unfähig zu jeder geistigen und körperlichen Arbeit; obgleich hochmusikalisch, musste sie das Klavierspielen aufgeben, sie wagte nicht mehr die Tasten zu berühren, bekam Nervenanfälle, konnte nicht am Reck hängen bleiben, sie fiel ab, konnte sich nicht festhalten... so nahm ich dieses jammervolle Geschöpf in die Kur. Jenes Hantelstemmen, aller Stunden zehn Mal, mit zehn Pfund beginnend, und dann zweimal täglich jenes Halten der Hände fünf Minuten lang, mit täglich nur drei Gramm Zunahme, anfangs.
Ich kann die einzelnen Phasen nicht schildern. Nach einem halben Jahre war dieses jammervolle Mädchen eine blühende Jungfrau, strotzend von Kraft und Gesundheit, mit schwellenden Gliedern und Muskeln, geistig und körperlich tätig von früh bis abends, sie musste tätig sein, musste sich ausarbeiten!
Das ist eine Tatsache, die ich hier berichte. Auf mein Ehrenwort!
Ich glaube, ich könnte eine orthopädische Heilanstalt aufmachen.
Ich denke nicht an so etwas.
Aber berichten will ich es. Dann kann es jeder zu Hause selbst probieren, ob er nun schwächlich ist oder seine schon vorhandene Kraft weiter ausbilden will. Den Haupterfolg schreibe ich dabei diesem minutenlangen Halten der Arme mit zunehmendem Gewicht zu. Hierin liegt ein tiefes Geheimnis verborgen. Es ist die Stählung der Energie, der Willenskraft, die den Menschen von innen heraus umkrempelt. Wer es fertig bringt, diese Übung konsequent jeden Tag fünf Minuten durchzuführen, der bringt es auch fertig, wenn es sein muss einmal fünf Stunden ununterbrochen am Schreibtisch zu sitzen, oder 20 Stunden lang, der ist überhaupt dann für jede Leistung befähigt, so weit sie in den Grenzen seines Machtgebietes liegen, er braucht sich selbst dazu nur zu kommandieren.
Diese Übung hatte sich seit zwei Jahren auch an Bord unseres Schiffes eingebürgert. Ich selbst, immer neue Methoden ausheckend, um große Kraft- und Dauerleistungen zu erzielen, hatte sie eingeführt. Anfangs hatten sich alle daran beteiligt, alle! Auch die Damen. Und gerade die hielten aus. Freiwillig. Eben weil es ihnen Spaß machte, da mit den Männern in einer Kraftleistung konkurrieren zu können. Und aus dem gleichen Grunde hörten die meisten Matrosen und Heizer und sonstigen erwachsenen Männer bald wieder auf. Weil sie die Sache forciert hatten. Die wollten doch viel mehr halten können als die Damen und Kinder, waren nicht nur mit zehn oder gar nur fünf Gramm zufrieden, fingen gleich mit einem Pfund an, steigerten mit 100 und noch mehr Gramm, schwitzten und quälten sich ganz erbärmlich ab, bis sie nicht mehr steigern konnten. Da warfen sie die Gewichte weg. Diesen Männern hatte ich in dieser Hinsicht nichts zu befehlen, ich hatte ihnen nur raten können, sie hatten meinen Rat nicht befolgt. Bei den 32 Jungen aber war es eine vorschriftsmäßige Übung. Auch die Damen und Ilse und die Prinzess beteiligten sich daran, freiwillig. Es hatte ja gar nichts auf sich, es machte den größten Spaß, den Fortschritt zu beobachten, zumal wenn man wieder einmal im Gewichte herunter ging. So bildeten sich diese Damen und Kinder immer weiter aus. Als nun die Matrosen und Heizer das erstaunliche Resultat sahen, wollten sie wieder anfangen. Nun aber konnten sie schon nicht mehr so viel halten wie diese Damen und Kinder. Da warfen sie die Gewichte zum zweiten Male weg, um nicht wieder anzufangen.
»Bah, das ist eine Übung für Weiber und Kinder!«, hieß es verächtlich. Ungefähr so, wie der Fuchs die Trauben verachtete, die ihm zu hoch hingen.
Von der eigentlichen Mannschaft hatten nur zwei Matrosen und ein Heizer diese Halteübung nach meinen Angaben konsequent durchgeführt. Der eine konnte acht Pfund in jeder Hand fünf Minuten lang ausgestreckt halten! Er hatte täglich vier Mal geübt. Das hilft natürlich, dann geht's schnell vorwärts! Aber es gehört eine außerordentliche Energie dazu. Denn es kann zur fürchterlichen Qual werden. Er hatte es durchgesetzt und es innerhalb der zwei Jahre bis zu acht Pfund gebracht, was aber auch seine Grenze zu sein schien.
Er hatte nicht daran gedacht, mit dieser Kraftleistung eine Amazone herauszufordern. Seine eigentliche Spezialität war das Werfen einer Kugel von 25 Pfund gewesen, darin hatte er sich für unbesiegbar gehalten. Die Amazone, die er ausgewählt hatte ihn weit überworfen. Wenn aber der mit seinen acht Pfund keine Amazone zum Halten herausgefordert hatte, so dachten die beiden anderen mit ihren vier oder gar nur drei Pfund erst recht nicht daran.
Die kleine Ilse hatte eine Amazone aufgefordert, ihr einmal das nachzumachen, was sie ihr vormachen wolle. Oder gleichzeitig wollten sie es probieren. Wer am längsten in jeder Hand eine KiloHantel seitlich ausgestreckt halten könne. Ilse vermochte es sicher sieben Minuten und vielleicht noch länger, denn sie hatte dieses Gewicht schon überschritten, mit einem Kilo merkte sie nach fünf Minuten nicht mehr die geringste Ermüdung in den Armen. Oder vielmehr in den Schultern und im Nacken. Die Arme selbst gewöhnen sich am schnellsten daran.
Die Amazone hatte sich einverstanden erklärt, die beiden traten an. Wie gesagt, es hatten sich Gruppen gebildet, innerhalb derer auch gekämpft wurde, diese hier setzte sich nur aus Amazonen und Schiffsjungen und anderen zusammen, die sich über die Bedeutung des Falles nicht recht klar waren. Hätte die Amazone gesiegt, so hätte sie ohne jeden Zweifel die kleine Ilse als Gefangene gefordert, wir hätten sie ihr kaum verweigern können. Ich wenigstens weiß nicht, was daraus geworden wäre.
Es kam anders. Noch waren nicht ganz drei Minuten vergangen, als die Amazone, ein starkes Weib mit dicken Armen, denn eine solche Gegnerin hatte sich die hierin erfahrene Ilse vorsichtiger Weise ausgesucht, stöhnend zusammenbrach. Nicht dass sie nur die Arme sinken ließ, sondern sie brach gleich ganz zusammen, vor Anstrengung, Überanstrengung. Man versuche es nur einmal, ein Kilo in jeder Hand nur drei Minuten ausgestreckt zu halten!
Staunen der zusehenden Amazonen, großes Hallo der umstehenden Schiffsjungen, und jubelnd hatte mir Ilse ihren Sieg mitgeteilt. Da also war es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Und den anderen, so weit sie noch vorhanden waren, ebenfalls.
Ich schloss Ilse in meine Arme, und dann sprach ich mit der Begum.
»Erkennst Du diesen Stieg als vollgültig an?«
»Selbstverständlich, das war eine körperliche Leistung.
Wie hat dieses Kind das nur fertig gebracht?«
Ich brauchte keine Erklärung zu geben. Zur Vorsicht wurde erst noch eine Probe mit einem Schiffsjungen gemacht, wieder mit einem der jüngsten, der aber hierin ganz Bedeutendes leistete. Seine Gegnerin hielt die drei Pfund nur zwei Minuten aus, dann brach auch sie zusammen. Ein zweiter und dritter Versuch, einzeln ausgeführt, dann war ich meiner Sache sicher. Ein Kilo genügte vollkommen. Wer dieses Gewicht in jeder Hand am längsten ausstrecken konnte. Und nun wurde es gleich en gros ausgeführt, KiloHanteln hatten wir massenhaft, sonst wurden hölzerne Keulen genommen, gleichfalls genau auf zwei Pfund taxiert, 29 Schiffsjungen stellten sich ebensoviel Amazonen gegenüber.
Alle 29 Amazonen wurden besiegt. Die Enttäuschung der Weiber, besonders der Begum, war eine furchtbare. Sie hatten nicht mehr erwartet, dass noch so etwas kommen würde. Ausschließen konnten sie sich natürlich auch nicht, die Begum hatte ja selbst gesagt, dass sie es gerade auf diese halbwüchsigen Kinder abgesehen habe.
Wir hätten 33 Gefangene auswählen können, taten es vorläufig noch nicht. Nun waren wir einmal im Zug. Die nächste war die Prinzess, die eine Amazone mit der KiloHantel besiegte, dann die Patronin, dann die beiden Schwestern Pooteken, zusammen mit Hildgard Gerlach, dann traten dicht vermummt die beiden Töchter Vater Abdallahs an, von den vier arabischen Dienerinnen drei. Sie alle hatten sich an diesen Übungen beteiligt, hatten die Sache konsequent durchgeführt — jede gab einem Gefangenen die Freiheit wieder. Keine Amazone konnte die KiloHantel so lange halten wie ihre Gegnerin, die ihr gegenüber stand. Es schadete nichts, wenn sie die Hantel einmal etwas höher hielten als genau waagerecht. Die eine brachte es durch diese unerlaubte Hilfe, was man aber ganz unabsichtlich macht, bis auf vier und eine halbe Minute, dann stürzte sie zusammen, gleich besinnungslos Schaum vor dem Munde. Und lächelnd stand die schlanke, zarte Senta Pooteken noch da, die Arme genau waagerecht ausgestreckt, in jeder Hand ein Kilogewicht, und so hätte sie es noch zwei weitere Minuten aushalten können.
Und es war bei uns noch nicht erschöpft. Noch drei Männer kamen und wurden durch ihren Sieg berechtigt, dann einen Gefangenen auszuwählen, wenn sie nicht die Amazone behalten wollten: der erste Maschinist, Meister Hämmerlein und Maler Gerlach. Auch sie hatten sich an diesen Übungen beteiligt, hatten sie konsequent durchgeführt. Und dass Meister Hämmerlein bucklig und schief war und kaum 25 Pfund heben konnte, das hatte nichts zu sagen gehabt. Mit dieser Übung besiegte er seine Amazone. So, nun war aber unser Heldenmaterial erschöpft. Nun konnten wir daran gehen, die Gefangenen auszuwählen.
46 Mann durften wir befreien.
»Halt!«, ließ sich da Kapitän Martin vernehmen »Herr Kollege, ich möchte mit Ihnen erst sprechen, ehe unter den roten und weißen Kerls gesichtet wird. Bitte, geben Sie Befehl, dass es niemand eigenmächtig tut, das ist Ihre Sache.«
Ich tat es, kündigte das kommende Kommando, wenn es schließlich auch nur eine Bitte war, erst mit der Bootsmannspfeife an.
»Großartig, Herr Waffenmeister, großartig!«, fuhr dann Kapitän Martin fort, nachdem er genügend mit den Beinen geschlenkert und mit den Händen in den Hosentaschen gewühlt hatte. »Wer hätte das gedacht, dass wir noch so einen Erfolg haben würden. Ja, dieses verdammte Hantelhalten. Das war eine verdammt feine Idee von Ihnen, das einzuführen. Möchte es fast auch noch anfangen. Ob ich aber dabei meine Hände...«
Er brach ab.
»... ob ich aber dabei meine Hände in den Hosentaschen behalten kann?«
Das hatte er wohl sagen wollen.
Nee, das war dabei leider nicht möglich. Bei dieser Übung musste man die Hände aus den Hosentaschen nehmen. Also war diese Übung auch nichts für Kapitän Martin.
»Well, Herr Kollege«, fuhr er dann fort, »wir müssen erst einmal ernstlich sprechen. Die Patronin braucht nicht dabei zu sein. Ich kalkuliere, hier gibts noch einmal Mord und Totschlag.«
»Ich glaube es auch.«
»Wir können doch unsere Jungen nicht drüben bei den Weibern lassen.«
»Nein.«
»Wir müssen sie doch wieder an Bord haben, wenn wir von hier wieder absegeln.«
»Sicher.«
»Freiwillig geben uns diese braunen Mädels sie nicht wieder heraus.«
»Das bezweifle auch ich.«
»Dann müssen wir ein bisschen mit Gewalt nachhelfen.«
»Es wird wohl nicht anders gehen.«
»Also kommt es hier noch zu Mord und Totschlag.«
»Zweifellos.«
»Well. Sollten wir da nicht auch eine gute Portion Amazonen nehmen? Anstatt Gefangene auszulösen?«
»Weshalb das?«
»Um Geiseln in die Hände zu bekommen«
»Herr Kapitän Martin«, erwiderte ich, »ich bin der Meinung, dass es dieser Begum verdammt schnuppe ist, ob sie ein paar Dutzend ihrer Kriegerinnen behält oder verliert. Und so denken sicher auch alle anderen Amazonen. Die sind vielleicht sogar zufrieden, wenn sie recht dezimiert werden. Und ob wir nun diese unsere Geiseln massakrieren oder sonst etwas mit ihnen machen, das ist ihren freien Schwestern sicher ganz egal. Alles weist darauf hin, dass es so ist...«
Meine Ansicht sollte sofort eine Bestätigung finden. Der englische Kapitän, der dickste Mastmensch von allen, hatte sich unterdessen eines anderen besonnen. Er wollte wieder zu den Weibern hinüber. Dort gefiel es ihm besser als bei uns. Die Unterhaltung zwischen ihm, der Patronin und der Begum war bereits in vollem Gange.
Ja, die Begum war bereit, ihn wieder zurückzunehmen. Aber es müsse dabei ganz gerecht zugehen. Geschenkt nehme sie ihn nicht, hingegen tausche sie für ihn auch keinen anderen Gefangenen aus. Dann müsse die Amazone, die ihn durch ihre Besiegung verloren, zu uns herüber.
So geschah es schließlich, nachdem auch ich noch zu Rate gezogen worden war. Denn der englische Kapitän wollte durchaus in seine Gefangenschaft zurück. Dort drüben gab es einen gar zu guten Pudding. Wir ließen den Kerl abschieben, so kam eine zweite Amazone in unsere Gefangenschaft.
»Da sehen Sie«, konnte ich dann wieder mit Kapitän Martin unter vier Augen sprechen, »wie wenig der Begum an der Zahl ihrer Kriegerinnen gelegen ist, und so ganz ohne Mitwillen aller übrigen Amazonen wird die in diesem Falle wohl nicht handeln dürfen, und daraus können wir schließen, wie wenig sie sich auch um das Schicksal ihrer gefangenen Schwestern kümmern werden.«
»Sie haben recht«, entgegnete Kapitän Martin, »auch ich hatte von vornherein diese Ansicht wollte nur erst Ihre hören. Nun aber haben Sie auch den Charakter dieses englischen Kapitäns erkannt, der reine Waschlappen, und das ist es, weshalb ich hauptsächlich mit Ihnen sprechen wollte. Dasselbe gilt nämlich von der ganzen Mannschaft jenes Dampfers. Ich habe vorhin Umschau unter den Leuten gehalten, mit ihnen gesprochen, ihnen auf den Zahn gefühlt, jedem einzelnen. Das ist nur englischer Ausschuss. Ohne Ausnahme. Kein einziger könnte auf einem echten Engländer fahren. Diese Seeleute wollen wir ruhig drüben lassen, bis dereinst die Stunde ihrer Befreiung schlagen wird, so oder so. Dafür wollen wir 46 Indianer auswählen.
Herr Kollege, ich bin aus den Jahren heraus, wo man in jedem Indianer einen idealen Helden erblickt. Hab's in meiner Jugend auch einmal getan. Das ist vorbei. Aber immerhin, wir haben unsere Leute verloren, wir brauchen andere, die mit den Amazonen kämpfen werden müssen, und da geben nur diese Rothäute das geeignete Material ab. Denn tüchtige Krieger sind es, das muss man ihnen lassen, zumal diese Apachen und Komantschen. Waffengeübt und tapfer, den Tod verachtend, und vor allen Dingen wissen sie auch, was Disziplin ist. Wir wollen diese unförmlichen Fettklumpen schon wieder dünn bekommen. Und wenn wir sie einspannen und in die Länge ziehen müssen. Eine richtige Hungerkur mit genügender Eiweißzufuhr wird aber schon das ihrige tun. Und dann wird diese rote Bande sich auch wieder erinnern, dass jene Weiber ihnen die Frauen und Kinder ermordet haben, die Rachsucht wird erwachen, und wenn der Tanz losgeht, werden den Amazonen die geeigneten Tänzer gegenübertreten Well, meinen Sie nicht?«
Ich hatte Kapitän Martin sprechen lassen. Ich hätte auch ohne seinen Vorschlag dasselbe gemacht.
Nur noch eine kurze Verständigung mit der Patronin, eine umso längere Rücksprache mit Harry Sandow, und dann war es dieser selbst, welcher die 46 Indianer auswählte, jeden einzelnen, nach der Körper- und Charakterbeschaffenheit, die der Betreffende besessen hatte, ehe er sich in solch eine Fettkugel verwandelt.
Es war geschehen. Immer noch blieben 48 Indianer übrig.
»Ach, der kleine Fuchs!«, rief da Sandow. »Wie konnte ich den nur vergessen!«
Leicht zu übersehen war er allerdings. Es war ein sehr kurz geratener Apache, in diesem Zustande fast eben so dick wie groß, wenn sein Gewicht auch nicht den Durchschnitt dieser Mastmenschen erreichte, weil er eben klein war.
Aber was half es, dass Harry Sandow jetzt alle die Vorzüge dieses Indianers pries, wonach der kleine Fuchs Oberhäuptling sämtlicher noch existierender Rothäute hätte werden müssen?
Er hatte ihn vergessen, und wir hatten keinen einzigen Kämpfer mehr auf den Plan zu schicken. Also fort damit, der kleine Fuchs kam für uns nicht mehr in Betracht.
Die Amazonen schickten sich an, die übrig gebliebenen Gefangenen fortzutreiben, um sie wieder in den Galeeren zu verpacken. Von den fünf Galeeren hatte sich noch keine entfernt, von unseren Leuten hatten wir noch nichts wieder zu sehen bekommen.
Da, wie die Amazonen schon abrücken wollten — oder, um in die Geschichte mit Schillern einen dichterischen Schwung zu legen:
Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehn,
Naht der Poet, er kam aus weiter Fern'.
Ach, da war überall nichts mehr zu sehn,
Und alles hatte seinen Herrn.
Dieser Poet, der jetzt nahte, hatte wehmütig geschwungene Säbelbeine, eine dementsprechende krumme Nase, abstehende Elefantenohren, konnte eben so viel dichten wie ich und hieß Doktor Isidor Cohn.
Im schwarzen Gehrockanzug, die Fittiche zurückgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen den Zylinder im Nacken, auf der krummen Nase den Klemmer, so kam er angeschlendert, noch ein letztes Gähnen unterdrückend.
»Guten Morgen, Ladies und Gentlemen und Kinder!«, begrüßte er die anwesende Gesellschaft, obgleich es schon zwei Uhr war.
Und dann nahm sein geistreiches Schafsgesicht einen erstaunten Ausdruck an, so blickte er um sich.
»Was sind denn das für schwarze Weiber?! Wo kommen denn die her?!«
Ach, Du unschuldsvoller Engel! Der hatte keine Ahnung, dass er schon gestern Nachmittag mit diesen Damen zusammen Schokolade getrunken hatte, ja, er wusste nicht einmal, dass ich schon gestern früh von diesen Amazonen erzählt hatte! Der wusste überhaupt noch gar nichts davon, dass wir die Amazonen von Maladekka hier wiedergefunden hatten! Also noch weniger davon, was unterdessen hier alles passiert war.
Denn er hatte sich schon gestern früh in einem Stadium des Deliriums befunden, wenn man ihm da auch wie immer nichts angemerkt hatte. Es war erst bemerkt worden als er sich gestern Nachmittag mit dem Tischtuche und dem Porzellan zugedeckt hatte. Nun hatte er seine 18 Stunden durchgeschlafen, nun war er wieder ein normaler Mensch. Vielleicht verloren wir ihn doch nicht so bald, vielleicht überlebte der uns alle. Dieser schmächtige nixige Judenbengel hatte eine eiserne Natur, war einfach nicht tot zu machen! Wenigstens nicht durch den Suff.
»Was sind denn das nur für Weiber, die da im Trikot herumlaufen?«
Es wurde ihm alles mitgeteilt. Viel Worte brauchte man bei dem ja nicht zu machen.
»Kämpfen?! Irgend eine körperliche Übung vormachen, die eine Amazone nachmachen soll, und wenn sie es nicht kann, ist sie besiegt? Na da mache ich mit! Wenn noch Zeit dazu ist?«
Die Begum hatte es gehört.
»Gewiss, es ist immer Zeit dazu, auch später noch wenn sich ein neuer Kämpfer findet!«, sagte sie.
Es mochte ihr ja daran gelegen sein, auch diesen Schiffsarzt, über den sie sich schnell hatte orientieren lassen, auf ihre Seite hinüber zu bringen, vielleicht sogar den unvergleichlichen Schachspieler, von dem sie schon früher gehört haben mochte. Das Schach ist ja ursprünglich ein indisches Spiel, wird dort noch leidenschaftlich betrieben.
»Aber das Schachspiel gilt nicht!«, fügte sie denn auch gleich hinzu.
»Nein, das Schachspiel ist ja auch keine körperliche Leistung.«
»Auch darfst Du uns nicht etwa eine ärztliche Operation vormachen, das kann ich nicht als Herausforderung zu einem Zweikampf annehmen, dass Dir so etwas eine meiner Amazonen nachmachen soll.«
Solch ein ähnlicher Fall war nämlich schon vorgekommen. Als es uns so schlecht erging, hatte sich der erste Maschinist doch noch erboten, mit in die Zweikämpfe zu treten. Aber noch nicht an das Hantelhalten denkend. Er hatte eine kunstfertige Goldschmiedearbeit ausführen wollen, so etwa wie damals die Fassung der Billardkugel, wer ihm das in solch kurzer Zeit nachmachen könne.
Es war nicht angenommen worden. Was ich der Begum auch nicht verdenken konnte. Das ist doch etwas anderes als eine körperliche Übung, die auf dem Gebiet der Athletik liegen soll.
»Eine Operation ausführen? Ich denke nicht daran. Oder wenn eine der Damen irgend etwas gern abgeschnitten haben möchte, das besorge ich außer jeder Konkurrenz.«
»Was willst Du ausführen?«
»Das werden Sie gleich sehen. Das braucht ja zuvor nicht gesagt zu werden, wie ich gehört habe.«
»Wo soll der Zweikampf stattfinden?«
»Gleich hier, wo ich stehe.«
»Wähle Dir eine Amazone aus.«
»Sie da, Mademoiselle oder Madame, Sie da mit der reizenden Matica hepatica auf der linken Wange, was die gewöhnlicher Menschen Leberfleck nennen, oder 's ist wohl mehr eine kleine Warze mit einem tüchtigen Büschel Haare drauf, also eine Verruca kloasma, steht Ihnen übrigens ganz allerliebst, wenn auch unsere Klothilde noch viel schönere Haarbüschel hat — bitte wollen Sie sich mir gegenüber stellen.«
Die zur Genüge kenntlich Gemachte kam und baute sich auf.
»So, ich bin fertig — eins, zwei, drei — nun machen Sie mir das mal nach.«
Doktor Isidor stand da auf seinen geschweiften Postamenten, den Zylinder im Nacken, die Körperstelle, wo beleibte Menschen ihren Bauch haben, weit vorgereckt, die Hände in den Hosentaschen — »Gott der Gerechte, hast de gesehn!«
So stand er da, als wolle er das sagen. Aber wir sahen nichts. Und was wollte er denn auch machen? Mit den Händen in den Hosentaschen? Nun, da kann man ja schließlich noch springen und laufen. Aber davon verstand Doktor Isidor ebenso viel wie unser Igel, der echte Igel, der Peter, nicht die in ein Igelfell eingenähte Ratte. Denn wir hatten schon längst wieder einen neuen Peter.
Oder sollte es etwa das sein, eben dass er die Hände in den Hosentaschen hatte? Das konnte ihm die Amazone allerdings nicht nachmachen. Oder doch. Sie schnitt sich einfach an der betreffenden Stelle erst Schlitze ins Trikot, dann konnte auch sie die Hände verschwinden lassen.
Aber siehe da, nun wussten wir, mit welcher athletischen Kunst unser Doktor Isidor brillieren wollte! Nicht nur, dass er die Hände in die Hosentasche steckte und den Bauch vorreckte. Was man doch auch nicht als Athletik bezeichnen darf.
Jetzt klappte er seinen linken Elefantenhorchlöffel — ich denke dabei an den indischen Elefanten, der afrikanische hat viel größere Ohren, und ich möchte nicht übertreiben — nach vorn, dann klappte er auch den linken nach vorn, ließ ihn stehen und wackelte mit dem rechten, dann klappte er diesen zurück, und zwar ganz weit zurück und wackelte mit dem linken Horchlöffel, dann klappte er den einen nach oben und den anderen nach unten, teils mit Wackeln, teils ohne Wackeln, dann klappte er beide gleichzeitig nach vorn und nach hinten, nach oben und nach unten, mit dem einen wackelnd, mit dem anderen nicht, dann führte er mit dem linken Ohre eine Kreisbewegung aus, während er das rechte sanft erzittern ließ...
Na kurz und gut, es war so eine Art Keulenschwingen, aber mit den Horchlöffeln ausgeführt, und so wurden alle Phasen durchgenommen, und immer kühner und schwieriger und komplizierter wurden die Übungen.
»Inschallah, allschallah!«
Die Amazonen hätten das doch nicht staunend gerufen, wenn es nicht wirklich etwas ganz Extraorbitantes gewesen wäre. Ja, es war auch tatsächlich fabelhaft, wie Doktor Isidor mit den Ohren wackeln konnte. Ich hatte ihn schon manchmal wackeln sehen, aber solch eine Wackelei war mir neu. Er war eben in der Ohrenwackelei ein gottbegnadetes Genie, und hatte sich darin, sicher durch allerfleißigste Übung, zum höchsten Virtuosentum ausgebildet. Faktisch auch ich wurde von dieser Ohrenwackelei überwältigt, es ging mir nicht anders als damals, da ich zum ersten Male die Oper besucht, Wagners Lohengrin hörte, oder vielmehr sah, wie Lohengrin mit seinen Schwänen angeschwommen kam.
Noch ein wildes Flügelschlagen, knatternd klatschten die Fleischlappen gegen den Schädel, dann ein ruhiges Aufschweben, so wie der Adler sich auf seinem Horst niederlässt, und die Ohren standen.
»So, Madame, nun machen Sie mir das einmal nach.«
»Es ist nicht nötig, dass sie es versucht«, sagte die Begum, »Du hast sie besiegt. Nimm sie als Deine Sklavin oder tausche sie gegen einen Gefangenen aus.«
Ach Du gerechter Strohsack! Ich hatte doch ganz, ganz bestimmt geglaubt, das die Begum diese Art von Zweikampf nicht gelten lassen würde.
Ja, aber weshalb eigentlich nicht? War das nicht auch eine körperliche Übung, in der man sich ausbilden kann? Ganz gewiss. Zwei Ohren hat jeder. Wenigstens jene Amazone hatte sie. Ein klein wenig mit den Ohren wackeln kann jeder, man braucht bloß ein gut durchgebratenes Stück Beefsteak von einer frisch geschlachteten zehnjährigen Kuh in den Mund zu stecken, mit dem festen Vorsatz, es klein zu kauen, blickt dabei in den Spiegel — da sieht man ganz deutlich, wie die Ohren wackeln. Wenn sie sich auch nicht gerade wie Windmühlenflügel bewegen — etwas wackeln tun sie! Oder man hat sie erfroren. Oder es sind überhaupt gar nicht die eigenen Ohren, man hat sie von einem anderen Menschen gepumpt, hat sie sich operativ ansetzen lassen. Oder man hat überhaupt keine Ohren, dann kann man natürlich auch nicht mit ihnen wackeln.
Diese Amazone hatte zwei Ohren, ganz vorschriftsmäßig auf jeder Seite eins an der richtigen Stelle, hatte sie sicher nicht erfroren, es waren zweifellos auch ihre eigenen — weshalb hatte sie sich nicht von zarten Kindesbeinen an in der Kunst geübt, diese Ohren nach Belieben lenken zu können?
Es war ihre eigene Schuld, dass sie besiegt worden war, sofort für besiegt erklärt wurde. Die Begum hatte ganz recht gehabt. So bekamen wir doch noch den kleinen Fuchs, dieses Ideal von einem racheschnaubenden Indianer auf dem Kriegspfade. Nur mussten wir ihn erst wieder dünn walzen. Allerdings bekamen wir ihn nicht sofort.
Zuerst begehrte Doktor Isidor als Siegeslohn die Amazone selbst.
»Sie? Sie?! Was wollen denn Sie mit der anfangen?!«
»Ich möchte sie in Spiritus setzen...«
»Sie in Spiritus setzen? Als ob Sie jemals für so etwas Spiritus übrig hätten!«
Er bekam sie nicht, der kleine Fuchs wanderte zu uns herüber.
»Well, wenn das gilt, dann kann ich auch etwas vormachen«, lachte Kapitän Martin, »eine ganz exakte körperliche Übung.«
Und er ließ auf eine der noch dastehenden leeren Weinflaschen wieder einen Kork aufsetzen, trat reichlich sechs Schritte zurück, baute sich auf, ebenfalls die Hände in den Hosentaschen — bei dem ganz selbstverständlich — schrietz ging es, aus dem Munde, der einmal zu kauen aufhörte, schoss ein brauner Tabakstrahl, und der mit unfehlbarer Sicherheit getroffene Stöpsel war von dem Flaschenhals geschleudert.
Appetitlich war diese Sache zwar nicht, aber Kunstfertigkeit gehört dazu, das musste man lassen. Dabei war Kapitän Martin gar kein Spucker, was beim Tabakkauen auch gar nicht nötig ist, nur eine üble Angewohnheit. Oder es macht so wie dem am Kamin sitzenden Amerikaner Freude, immer ins Feuer zu spucken, und dann kann er auch anderswo nicht davon lassen.
Und wahrhaftig, auch diese geniale Spuckerei erkannte die Begum als zur Athletik gehörig an! Sie musste es eben geradezu darauf abgesehen haben, möglichst viele Gefangene loszuwerden, oder auch ihre eigenen Amazonen.
»Du hast gesiegt, wir verzichten — suche Dir eine Amazone oder einen Gefangenen aus.«
Kapitän Martin schlenderte hin, wo eine Gruppe Weiber stand.
»Du da, komm mal her, Du gehörst mir.«
Mit Kennerblick hatte er das schönste aller dieser meist schönen Weiber herausgefunden. Ein bildschönes Gesicht, die Figur schlank und voll zugleich und alles was sonst noch dazu gehört, alles vorhanden.
Aber dass Kapitän Martin auf eine Amazone bestand, das hätten wir nun freilich nicht erwartet.
»Sie wollen keinen Gefangenen befreien?«
»Nein.«
»Sie wollen eine Amazone behalten?«
»Ja. Für mich selbst.«
»Für sich selbst?!«, durfte man da wohl mit Recht sich wundern.
»Ja, weil solch ein Weib, gerade dieses hier, drei und vier Mal so viel wert ist wie ein Mann, und wenn's auch ein Adonis oder ein Apollo oder ein Herkules wäre.«
»Mehr wert, wie meinen Sie das?«
Zunächst ging Kapitän Martin einmal um seine Auserwählte herum, betrachtete sie mit kritischen Blicken wie der Metzger die Kuh, die er kaufen will, um sie als Ochsenfleisch zu verwerten.
»Well«, hub er dann an, »die ist unter Brüdern 2000 Taler wert. Man muss nur auf den richtigen Sklavenmarkt kommen. Ich kenne schon Plätze genug, auch Häfen...«
»Was, Sie wollen dieses Weib als Sklavin verkaufen?!«
Gelassen drehte sich der Kapitän nach mir um.
»Blicken Sie mich nicht so an, Herr Kollege. Ja, ich werde dieses Weib auf dem Sklavenmarkte verkaufen. Das ist eine mohammedanische Inderin, die gehört überhaupt in den Harem. Und für die 2000 Taler, die ich für sie lösen werde, werde ich ein viertel oder ein halbes Dutzend oder noch mehr christliche Sklaven freikaufen, die ihre verlorene Freiheit besser zu schätzen wissen, werde sie in ihre Heimat schicken. Well, Ihr Gesicht verändert sich. Gefällt Ihnen das, Herr Kollege? Finden Sie das edel? Well, Sie verdienen doch auch Geld genug, haben wohl auch von zu Hause aus Geld. Well, so verwenden Sie es doch dazu, um Christenklaven freizukaufen. Sie tun es nicht? Ich auch nicht. Mein Geld, das ich mir verdient habe, gehört meinen Kindern und Kindeskindern. Aber wenn ich hier so ein Geschäft einmal machen kann — well, ich bin ein Geschäftsmann, aber kein Schacherjude — mit diesem Haremsweibe werde ich einigen bedauernswerten Menschen die Freiheit schenken.«
So sprach Kapitän Martin.
Ich habe dem nichts weiter hinzuzufügen. Das Spiel war aus, es war auch die höchste Zeit, schon längst wartete Meister Kännchen mit dem Mittagessen auf uns.
Ach, wie viele würden dabei fehlen!
Von der eigentlichen Mannschaft der »Argos« war ja überhaupt so gut wie niemand mehr vorhanden!
Doch jetzt will ich erst von etwas anderem sprechen. Zu guter Letzt hatte sich das Blatt noch gewendet, uns den Sieg gebracht.
Aber gefallen taten mir diese letzten Siege durchaus nicht.
Am allerwenigsten die beiden letzten Turniere, die Ohrenwackelei und die Spuckerei.
Aber auch schon die Hantelhalterei, einfach die Arme nach beiden Seiten ausstrecken, war gar nicht nach meinem Geschmack gewesen.
Ich hatte doch gehofft, war überhaupt felsenfest davon überzeugt gewesen, meine Jungen, die eigentlichen Argonauten, die ich zu Athleten ausgebildet, würden diese indischen Weiber spielend überwinden!
Nichts war es gewesen!
Man glaube nicht etwa, dass ich mich in so guter Laune befunden hätte, wie es vielleicht manchmal geschienen. Weil ich gelacht, weil ich es so geschildert habe.
Ich war furchtbar niedergeschlagen, fast der Verzweiflung nahe.
Aber das eine stand bei mir fest, dieser Entschluss beruhigte mich etwas: Wenn keiner meiner gefangenen Jungen in dem Weiberlager hinter das Geheimnis kam, wie sich diese Amazonen in derartiger Weise ausgebildet hatten, um solche phänomenale Leistungen zu erzielen, dann ging ich selbst noch als Sklave hinüber, um dieses Geheimnis zu ergründen.
Die fünf Galeeren waren zurückgefahren. Schon zwei Stunden später, nachmittags um vier, tauchte wieder eine hinter jener Felsenecke auf, eine bedeutend kleinere als die, welche wir bisher gesehen hatten, keine andere folgte ihr, und sie wurde recht unregelmäßig gerudert, die langen Riemen klapperten manchmal zusammen, das Landungsmanöver gelang schlecht.
Wieder eine Blamage für mich! Für uns alle, aber ich empfand es am allermeisten!
Die Hälfte der Leute war es, die wir hatten abgeben müssen, also genau zwei Dutzend, denn 48 waren besiegt worden. Überhaupt sämtliche Matrosen und Heizer, ausgenommen Albrecht, der noch immer in seiner eigenen Kabine Messing putzte. Zu den Matrosen zählten natürlich auch die Turner, von denen uns nur Kretschmar übrig geblieben war.
Es war eine zwanzigriemige Galeere, wurde also von 20 Mann gerudert, auf jeder Seite zehn, zum Handhaben der langen Stangen brauchte man anderthalb Meter Raum, woraus man sich die ganze Länge des Fahrzeugs berechnen kann, wozu freilich noch Vorder- und Hinterteil kamen, zwei Mann verrichteten die sonstigen Arbeiten, der erste Bootsmann schlug auf der großen Pauke den Rudertakt, und Oskar, obgleich hinter diesem rangierend, wenn auch als Segelmacher Unteroffizier, schien den Kommandanten zu spielen.
Wenigstens war er der erste, der das Land betrat, machte den Sprecher, und er war von der Begum für diese Fahrt auch wirklich zum Kapitän erwählt worden. Weil er eben tatsächlich eine größere Intelligenz als Napoleon war, was jene gleich gemerkt hatte.
»Werde ich als Abgesandter Ihrer Majestät der Königin von Maladekka und Kaiserin von Sibirien so wie aller anderen Länder anerkannt?
»Werde ich als Abgesandter Ihrer Majestät der Königin von Mala-
dekka anerkannt?«, fragte Oskar in möglichst feierlichem Tone.
So fragte er in möglichst feierlichem Tone, auch sonst sich so gebärdend und dabei fuhr er mit der Hand vorn in seine Badehose hinein, in der er, wie sich später herausstellte einen Brief stecken hatte.
Denn er war immer noch nur mit seiner Badehose bekleidet, mit der er von uns gegangen, aber sie hatte sich sehr verändert, er musste mit ihr geradezu zwischen die Dornenhecken gekommen sein, es waren nur noch zusammenhängende Lumpen, allüberall Löcher, und dazwischen hingen die Fetzen herab.
»Hat man Euch denn so gehen lassen, in dieser Badehose?«, war meine erste Frage, und es mochte etwas in meinem Tone liegen, auch schon weil ich ihn nicht wie gewöhnlich mit »Du«, sondern mit Euch anredete, was nur im strengen Dienste vorkam, dass Oskar gleich seine affektierte Feierlichkeit aufgab und militärische Stellung annahm. Denn wenn ich nicht als Waffenmeister mehr der Kamerad der Leute war, sondern als zweiter Kapitän und überhaupt als Schiffsoffizier auftrat, dann war mit mir manchmal nicht gut Kirschen essen.
»Nein, ich habe ein neues Päckchen bekommen, ein ganz feines, aus roter Seide mit Hermelin besetzt.«
Der Seemann sagt nicht Anzug oder Kleidung oder Gewand, sondern » Päckchen«. Das, was Oskar bekommen hatte, wäre eher Kostüm zu nennen gewesen, aber ich kann einen echten Seemann, wie Oskar einer war, unmöglich Kostüm sagen lassen, besonders nicht, wenn er mit seinem Kapitän spricht, es könnten unter meinen Lesern Seeleute sein, und die würden sich totlachen. Da sage ich schon lieber einmal Ruder für Riemen, obgleich Ruder ja das ist, was der Laie das Steuer nennt, lasse meine Jungen auch einmal rudern, anstatt pullen. Das ist schon eher verzeihlich.
»Habt Ihr das Päckchen nicht mitbekommen?«
»Ja freilich...«
»Weshalb habt Ihr es nicht angelegt? Weshalb präsentiert Ihr Euch hier in der Badehose, die Ihr ganz offenbar mit Absicht so zerfetzt habt?«
»Weil ich — weil ich — ich dachte — ich bin doch mit der Badehose fortgegangen.«
»Macht keine Faxen!«, schnauzte ich den Segelmacher noch grimmiger an.
Ich hatte gar trübe Stunden hinter mir, die letzten beiden, die ich mit Kapitän Martin und der Patronin in Beratung verbracht, waren die allertrübsten gewesen, und jetzt war mir nun auch noch dieses jämmerliche Rudern meiner Leute mächtig in die Nase gefahren! Sie konnten ja nichts dafür, das war ein ganz, ganz anderes Pullen auf diesen hohen Galeeren als in unseren niedrigen Booten, das musste so gut wie von vorn gelernt werden, die Amazonen hatten sich eben schon eingeübt gehabt — aber immerhin, ich war furchtbar ärgerlich gestimmt, wie es bei mir sonst selten vorkommt.
»Ihr sollt Eure Sachen abholen?«
»Zu Befehl!«, wurde Oskar jetzt ganz und gar militärisch, obgleich es das sonst bei uns nicht gab.
»Ihr habt dazu Urlaub bekommen?«
»Jawohl. Zwei Stunden. Punkt sechs müssen wir zurück sein.«
»Ihr habt Euer Ehrenwort abgeben müssen?«
»Jawohl.«
»Auch daraufhin, dass Ihr nie einen Fluchtversuch unternehmen werdet?«
Mit einem gewissen Lauern hatte ich es gefragt, obgleich mir so etwas doch sonst ganz fremd ist. Es entsprang einer furchtbaren Sorge, die mich, die uns alle in den letzten Stunden gequält hatte.
Die Besiegten waren immer so schnell abgeführt worden, um auf einer der Galeeren zu verschwinden. Wir hatten ihnen keine Instruktionen gegeben. Was auch für Instruktionen?
Erst hinterher, als sie fort waren, hatten wir daran gedacht, mit Schrecken.
Wenn ihnen die Begum nun das Ehrenwort abforderte, niemals einen Fluchtversuch zu machen? So leichtfertig würde ja niemand dieser Männer — und sie alle waren ganze Männer — sein, um daraufhin sein Ehrenwort abzugeben.
Wenn ihnen aber nun mit Martern gedroht wurde? Wenn nicht mit persönlichen Qualen, dann dadurch, dass man drohte, einen anderen zu martern, wenn jener nicht sein Ehrenwort abgab, niemals einen Fluchtversuch zu machen, sich nicht von anderen befreien zu lassen? Einfach den Vasalleneid der Begum gegenüber zu leisten?
Ein erzwungener Eid gilt nicht, braucht nicht gehalten zu werden.
So heißt es.
Wohl dem, der nie in die Lage kommt, darüber nachzugrübeln, ob ein erzwungener Schwur wirklich nicht gilt oder dennoch unter allen Umständen gehalten werden muss.
Für mich ist die Geschichte von anno... doch nein, ich will gar nicht davon anfangen, mir ist es gar zu peinlich.
Alle waren am Strand versammelt, alle lauschten ebenso atemlos wie ich der Antwort auf die von mir gestellte Frage.
»Nein, das brauchten wir nicht.«
»Was brauchtet Ihr nicht?«
»Daraufhin unser Ehrenwort abzugeben. Die Begum selbst fing davon an.«
»Wovon fing sie an? Berichte ausführlich!«
»In dem Weiberquartier angekommen, nahm die Begum uns alle zusammen sofort vor. Sie kitzelte uns ein bisschen. In unserem Ehrgefühl, meine ich. Dass jeder von uns sein einmal gegebenes Ehrenwort unbedingt halten würde, davon sei sie vollkommen überzogen... überzeugt, wollte ich sagen. Aber sie würde unser Ehrenwort immer nur von Fall zu Fall abnehmen. Also zum Beispiel, wenn sie uns Urlaub gebe. Dagegen niemals ein uns für immer bindendes Ehrenwort. Also zum Beispiel nicht, dass wir niemals an eine Flucht oder sonstige Befreiung dächten. Dazu sei sie eine zu gute Menschenkennerin. Da warf sie sich ein bisschen in die Brust, wenn die das überhaupt sonst, noch nötig hätte, ihren vorderen Buckel herauszudrücken. Solch ein für ewig bindendes Ehrenwort, das man gegen seine Überzeugung gibt, also erzwungen wird, könnte zu leicht gebrochen, umgangen werden, und dann hätte man auch noch die Bewunderer oder gar den Schein des Rechtes aus seiner Seite. Da verzichte sie also lieber gleich. Solch ein Ehrenwort, dass wir niemals an unsere Befreiung dächten, fordere sie uns nicht ab.«
So hatte der Segelmacher berichtet. Einige Witze hatte er ja dabei nicht unterdrücken können, er hieß eben Oskar, war der »Kölner Jong«, mit allen Wassern getauft — aber sonst hätte er sich präziser nicht ausdrücken können. Genau das hatte er berichtet, was wir hatten wissen wollen.
»Gott sei Dank!«
Es waren wenige unter den Umstehenden, die diesen oder einen ähnlichen Seufzer der Erleichterung nicht von sich gaben Mir wäre es lieb gewesen, wenn die Begum gleich mitgekommen wäre. Ich hätte sie noch zuvorkommender empfangen und behandelt als gestern.
»Wie viele seid Ihr, die Ihr den ersten Urlaub bekommen habt?«
Jetzt erst erfuhr ich, dass es genau die Hälfte war.
»Also Ihr sollt Eure Sachen holen?«
»Jawohl. Und die der anderen auch gleich mit.«
»Weshalb holen diese ihre Sachen nicht selbst?«
»Das können sie ja auch. Wenn wir sie nicht gleich mitbekommen.«
»Wann erhalten die ihren Urlaub?«
»Morgen oder auch gleich nachher, wenn wir wieder zurück sind. Das weiß ich noch nicht. Wir wurden so fein behandelt, dass wir gar nicht solche Fragen stellten.«
»Sollt Ihr auch Eure Papiere mitbringen?«
»Davon sagte sie nichts. Aus Papieren wird die sich wohl auch nicht viel machen. Aber unsere Instrumente möchten wir mitbringen. Wenn's möglich wäre. Wenn's der Herr Waffenmeister erlaubt. Damit wir den Frauenzimmern was vortuten.«
Das hätte ich sonst auf keinen Fall gestattet. Dass die Gefangenen ihre Instrumente mitnahmen, um den Weibern ab und zu ein Konzert zu geben. Aber wie sich die Begum nun gezeigt hatte, wollte ich auch entgegenkommen. Die Leute nahmen dann ihre Instrumente mit. Die Patronin ließ mir darin ganz freie Hand.
»Ich richte nur aus, womit die Begum mich beauftragt hat«, setzte Oskar, selbst das Richtige gleich fühlend, denn auch noch hinzu, »sie wird davon wohl auch geschrieben haben.«
»Ihr könnt die Instrumente mitnehmen. Uns nützen sie hier doch nichts mehr.«
»Gut. Ob wir den Weibern auch etwas vorblasen werden, das ist ja eine andere Sache.«
»Natürlich, darüber habe ich Euch nichts zu befehlen. Aber tut es nur, ich kann es Euch nur raten.«
»Gewiss, wenn sie uns weiter so fein behandeln, dann werden wir ihnen schon etwas vorposaunen und vorpauken, dass ihnen die Trommelfelle platzen.«
»Auch etwas Schriftliches hat die Begum Euch mitgegeben?«, fragte ich weiter.
Jetzt erst holte Oskar vorn aus seiner Badehose, der er vorhin nur herumgefingert hatte, das zierliche Briefchen. Das Kuvert war so stark parfümiert, dass es noch nichts von seinem Duft verloren hatte.
Jetzt allerdings musste ich erst einmal herzlich lachen. Wie und wo der das Briefchen hervorbrachte! Es war eben Oskar. Übrigens war ich nun auch gleich in ganz andere Stimmung gekommen. Nun würde ich meine Jungen schon wieder an Bord bekommen, so oder so.
Das französische Schreiben lud uns alle zu heute Abend nach dem Weiberquartier hinüber ein. Zu einem Souper mit nachfolgenden Überraschungen. Die Heiligkeit der Gastfreundschaft war betont, heilig speziell den Mohammedanern. Wir könnten ja gleich die Galeere benutzen, auf dieser die Pferde mitbringen, die wir abzutreten geneigt wären, dann dafür die Galeeren aussuchen. Und schließlich noch die Bitte wegen der Instrumente.
Das Schreiben war direkt und nur an mich gerichtet. Die Patronin nahm es nicht übel, die war gerade über so etwas erhaben.
Wer diesen Brief geschrieben, das stand schon an der Spitze, wie überhaupt der französische Brief mehr morgenländisch gehalten war.
»Ich, die Begum von Maladekka, begrüße Dich...« und so weiter.
Dann aber auch noch zum Schlusse eine Unterschrift mit einleitenden Worten.
Jedoch keine solche Schlussbegrüßung, wie sie im Mittelalter die türkischen Sultans gegen die deutschen Kaiser gebrauchten, wenn sie ihnen etwas zu schreiben hatten.
Ich speie Dich an, Dich voll Jauche gepumpten Christenhund...
Faktisch, ich habe solche Handschreiben im Original in Bibliotheken gesehen, in Schlossers Weltgeschichte werden mehrere Proben wiedergegeben. Besonders Sultan Suleiman II. hatte in solchen Schlusskomplimenten etwas los. Und wenn man nun heute bedenkt! Hochmut kommt stets vor dem Falle.
Nein dieser Briefschluss einer französischen Mohammedanerin hier war anders gehalten.
In der angenehmen Hoffnung, dass Sie meiner Einladung und Bitte Gehör schen
ken werden, bin ich mit ganz ergebener Hochachtung Ihre Circe.
Hallo! Also Circe nannte sich die Begum. Sie verglich sich demnach mit jener Göttin oder Halbgöttin, die ihre Zauberkunst dazu benutzte, um die Gefährten des Odysseus in Schweine zu verwandeln.
Übrigens kommt die Circe ja auch in der Sage der Argonauten vor. Jason und Medea kehren bei ihr ein, lassen sich von ihr die fabelhaftesten Dinge vorzaubern, aber Medea, dieses liebenswürdige Weib, das aus ihren kleinen Geschwistern ein Ragout zusammenkocht, zaubert ihr noch ganz anders die Hucke voll.
Nun, diese französische Kunstreiterin brauchte ja gar nicht so sehr gebildet zu sein, diese Sachen konnte sie doch gelesen haben, und möglich auch, dass sie uns etwas vorgaukeln wollte. Deshalb hatte sie sich mit »Circe« unterschrieben.
Sollten wir dieser Einladung Folge leisten?
Da gab es schwere, schwere Bedenken. Selbst wenn wir der mohammedanischen Gastfreundschaft völlig trauen durften. Da war noch anderes zu misstrauen. Zum Beispiel dem Kapitän Satan, der dort drüben...
»Merlin!«, wurde da von verschiedenen Seiten leise gesagt. Um mich aufmerksam zu machen, nachdem ich diesen Brief laut vorgelesen hatte und mit mir selbst noch Beratung abhielt, ob oder ob nicht. Da stand er schon neben mir, in seinem gelben Leder, wie immer plötzlich wie aus dem Boden gewachsen, obgleich er stets wie ein anderer Mensch kam und wieder ging. Und trotzdem hatte er so etwas Schattenhaftes an sich.
»Darf ich erfahren, was die Begum Dir in diesem Briefe schreibt?«
Ich gab ihm den Brief, er las ihn und händigte ihn mir wieder ein.
»Folge der Einladung. Wenn Du willst. Du darfst es. Die Begum führt nichts gegen Euch im Schilde, und wenn sie gegen Euch vorgehen will, so wird sie Euch erst warnen. Jetzt weiß ich es. Und ebenso wenig braucht Ihr jenen Kapitän Satin zu fürchten. Folgt ruhig der Einladung.«
Sprach's, wandte sich und ging.
Ich hätte ihn noch so viel fragen mögen, Erklärungen fordern. Aber nachlaufen tat ich ihm nicht, niemandem. Und da er gewünscht hatte, von den anderen nicht angeredet zu werden, so war das bei uns ganz ausgeschlossen. Auch die Patronin hätte sich mit der brennendsten Frage nicht an ihn gewandt.
So war er wieder zwischen den Bäumen verschwunden, gleich darauf sah ich dort noch einmal etwas Weißes huschen. Offenbar ein weißer Hirsch.
»Ihr habt es alle gehört. Also wir nehmen die Einladung an. Wer mitkommen will, melde sich. Ganz entblößen können wir unser Schiff natürlich nicht. Von den Jungen kommen die Blauen mit.«
Halb sechs Uhr machte sich die Galeerenmannschaft wieder klar zum Abfahren. Aus unserem Marstall nahmen wir vier Pferde mit, und zwar zwei der Riesengäule, darunter Viola, einen Tarpan und einen Kulan. Juba Riata war bereit, mehr zu fangen und für die Amazonen zuzureiten, wollte in wenigen Wochen einige Dutzend liefern, aber nicht mehr aus unserem jetzigen Marstalle herzugeben, und hierüber hatte allein er zu bestimmen.
Alle unsere Gäste kamen mit, nur Vater Abdallah und seine Sippschaft nicht, wir befanden uns an Bord der Galeere, aber die 16 blauen Jungen ruderten den großen Kutter. Mit diesem würde dann voraussichtlich die eingetauschte Galeere auch eingeschleppt werden, damit sich meine Jungen, ob nun groß oder klein, nicht nochmals so schrecklich blamierten.
Verzeihlich allerdings war es. Ich selbst handhabte während der Überfahrt einmal einen der langen Riemen. Es war ein so ganz, ganz anderes Pullen als im niedrigen Seeboot. Die lange Hebelbewegung eine so gänzlich andere. Das musste erst eingeübt werden. Und nun vor allen Dingen sah man durch die Pforten ja auch nicht die Riemenblätter, man konnte sich nur nach den Bewegungen des Vordermannes richten! Daher auch die Paukenschläge womit schon die alten Griechen in vorhomerischer Zeit den Takt angaben. Genau so, wie die Soldaten nach dem Paukenschlag marschieren, wenn es einmal ganz besonders auf den Takt ankommt, wie beim Parademarsch. Und das kann durch nichts anderes ersetzt werden, nicht etwa durch Pfiffe. Das hat man ausprobiert. Das Pauken- oder doch Trommelfell bringt eine ganz andere Lufterschütterung hervor, man kann das Tempo des Taktes schon im voraus bestimmen. Ehe aber der Soldat den Parademarsch machen kann, muss er erst marschieren können, Musik mit Paukenschlag allein macht's noch nicht. Und genau so wars hier mit dem Pullen dieser langen Riemen, deren Blätter man nicht sehen konnte.
Dass hinter jener Felsenecke eine tiefe Einbuchtung war, hatten wir bereits gewusst. Aber nicht, dass sich auf der rechten Seite in der glatten Felswand ein weites Tor befand. Davon war früher nichts zu bemerken gewesen.
Wir fuhren ein. Oskar, der mir in seinem roten mit weißem Hermelin besetzten Schlafrock nicht wie ein Türke, sondern wie der Hofkämmerer eines phönizischen Königs vorkam — ich hatte einmal so ein Gemälde gesehen — steuerte. Die anderen Jungen trugen ihr gewöhnliches »Päckchen«, auch Oskar hatte ja jetzt seinen Kleidersack, nun aber behielt er gerade dieses Kostüm an, in das er gekleidet worden war.
Eine weite, ungeheure Felsenhalle mit Wasser gefüllt, ringsherum eine Galerie, an der einige Dutzend solcher Galeeren lagen, von den verschiedensten Größen noch ein halb mal so groß als die, mit der die Amazonen zuerst gekommen, für 100 und mehr Ruderer bestimmt, und solche mit nur sechs Riemen, nahm uns auf. Auch dieser geschlossene Hafen war mit jenem rätselhaften Lichte erfüllt. Die Amazonen, die uns empfingen, waren wieder mit goldenen oder silbernen Schuppen gepanzert, aber das waren nicht mehr, wie ich gleich erkannte, diejenigen Panzertrikots, die sie mit aus ihrer Heimat gebracht hatten, sondern solche solide und doch so schmiegsame Bronzerüstungen, wie wir sie auch drüben bei uns gefunden hatten.
Unsere vier Pferde verursachten die größte Freude. Die sonst so stolzen Weiber versuchten gar nicht ihren hellen Jubel zu unterdrücken. Zumal ihnen gleich gesagt wurde, dass sie solche noch massenhaft bekommen könnten. Freilich, die eigentliche Amazone fängt doch erst mit dem Pferde an. Die Begum stellte mir gleich die Hälfte aller Galeeren zur Verfügung. Doch mit deren Auswahl, die nicht so groß sein würde, wollte ich mich erst später befassen. Mein Magen erinnerte mich daran, dass ich heute Mittag in meiner Niedergeschlagenheit kaum etwas gegessen hatte, und das sagte ich gleich ganz offen, da gab es bei mir nichts. Dabei erinnere ich mich — ich habe immer einmal so eine Erinnerung, die dann auch von der Pfanne muss — einer alten Tante, einer Frau Stadtrat, verwitwet, mit zwei erwachsenen Töchtern. Hatten kaum etwas zu beißen, knabberten zu Hause trocken Brot und abgelegte Schinkenknochen. Nämlich deshalb, weil die ganze Witwenpension für die Wohnung und Kleiderstaat ausgegeben wurde. Die beiden heiratsfähigen Töchter sollten doch gut untergebracht werden. Also: den Leuten Sand in die Augen streuen! Und solch eine Heuchelei wird doch natürlich zum Charakter und drückt sich in allem und jedem aus. Nur immer so geziert wie möglich.
Diese drei werden einmal von einem ehemaligen Freunde des seligen Stadtrates eingeladen. Er hat einige Meilen von Kiel entfernt eine schöne Gartenvilla. Ein reicher Mann, ein feiner Mann, ein gastfreier Mann — aber ein alter Junggeselle und ein Sonderling dazu.
Also die drei rücken in aller Herrgottsfrühe ab. Zu Fuß! Sie hatten Fahrgelegenheit, es geht eine Vorortsbahn, aber selbst das Fahrgeld für die vierte Klasse war der Frau Stadtrat zu viel. Doch nein... das Laufen ist so gesund! Erst bei der vorletzten Station benutzen sie den Zug, noch fünf Minuten, nun natürlich aber auch zweiter Klasse.
So kommen die drei an in der einsamen Villa. Fünf Minuten gefahren und drei Stunden marschiert. Verhungert wie die Wölfe. Und, o Entzücken, da winkt ihnen durch die geöffnete Tür des Nebenzimmers auch gleich eine opulente Frühstückstafel.
»Bitte, meine Damen«, sagte der biedere Hausherr, »Sie werden gewiss tüchtigen Hunger mitbringen...«
»O nein, ach nein, bitte nur gar keine Umstände, wir sind durchaus nicht hungrig, wir haben unterwegs gut gefrühstückt...«
»Schade. Abräumen!«
Alle war's! Sie bewunderten den Garten, gossen in den leeren, knurrenden Magen ein Glas Limonade, und dann sockten sie wieder ab. Auch zwischen uns war es dann alle. Weil mein Vater vor Lachen fast vom Stuhle fiel, als ihm das die Frau Stadtrat halb weinend erzählte. Leider hat ihr und ihren Töchtern diese Lehre nichts genützt.
Wir wurden eine breite Steintreppe hinaufgeführt, die hier aber mit einem prächtigen Teppichläufer belegt war, in den Festsaal. Es war ein orientalischer Prunksaal, weiter will ich ihn nicht beschreiben, nur noch sagen, dass wir bei Tafel nicht wieder auf überdeckten Fässern und Eierkisten saßen, sondern auf Samtsesseln.
Diesmal wurde auch eine bunte Reihe gebildet, aber doch nicht so nach Willkür durcheinander gewürfelt, sondern jeder Argonaut saß neben der Amazone, die ihn besiegt hatte, ebenso auch wir Sieger neben unserer Gegnerin, und zwar hatten diese Weiber unsere Gesichtszüge und Figuren besser gemerkt als wir die ihren.
Nur einige wenige erkannte ich wieder, so zum Beispiel die stolze, finstere Makuba, die neben dem Segelmacher saß, und dann neben August dem Starken das noch stärkere Weib, das so klapperdürr war, an deren Knochen die hervortretenden Muskeln wie angeklebt waren, über welche Nachbarin unser zweiter Bootsmann gar nicht so sehr erbaut schien, und das umso weniger, als diese Nachbarschaft nicht nur hier an der Tafel bestand, Oskar hatte mir nun schon nähere Erklärungen gegeben, jetzt war bei den Amazonen die Monogamie eingeführt worden.
Auch sonst hatten sich die Amazonen recht verändert. Von stolzer Zurückhaltung war keine Spur mehr. Nichts von emanzipierter Weiberselbstherrlichkeit. Jede bediente bei Tafel aufmerksam ihren Nachbar, ihren Gatten, obgleich der doch ihr Sklave sein sollte, sie hatte nur für ihn Augen, plauderte nur mit ihm, und die Aufmerksamkeit ging so weit, dass sie ihm sogar oftmals die Bissen in den Mund schob.
Bedient denn der Herr so seinen Sklaven? Nun, mich konnte das wenig irritieren. Füttere ich meinen Hund, stecke ich ihm die Bissen ins Maul, oder füttert mich etwa mein Hund?
So kam es, dass August der Starke keine Gelegenheit hatte, sich mit seiner bildschönen Nachbarin zur linken zu beschäftigen, vergebens schielte er nach ihr, seine eckige Herrin zur rechten nahm ihn völlig in Anspruch, auch mit der Unterhaltung, und zwar sprachen sie jetzt alle fließend englisch, und da dies also von allen Paaren galt, so konnte es auch nicht auffallen, dass sich die Begum ausschließlich mit mir beschäftigte, da ich sie ja besiegt hatte. Ebenso wurde ja auch die Patronin von ihrer Gegnerin, die sie im Halten der Arme besiegt, voll und ganz in Anspruch genommen. Und ebenso aufmerksam wurden die mitgekommenen Jungen behandelt, auch jeder neunjährige Knirps als ein ganzer Mann.
Wir speisten von Silber. Alles war von Silber. Aber jedes Monogramm und sonstige Merkmal fehlte an den Gerätschaften. Auch diese Weiber, obgleich Mohammedanerinnen, benutzten Messer und Gabeln und Löffel. Wie überhaupt fast alle mohammedanischen Inder. Gegen zwei Dutzend Amazonen spielten die Kellnerinnen. Es waren köstliche Speisen, die sie auftrugen. Dazu gab es außer anderen harmlosen Getränken auch Wein. Aber ich merkte gleich, weshalb Doktor Isidor nach dem ersten Schluck so ein schiefes Maul machte. Dieser Wein war ebenso harmlos, da war kein Alkohol drin.
Nun fehlten aber doch noch immer an die hundert Amazonen. Denn jede an der Tafel Sitzende hatte als Nachbar einen der unsrigen, Herrn oder Dame, immer ihren Gegner. Wenn auch diejenigen, die nicht mitgekämpft hatten, wie der zweite Steuermann, ebenfalls eine Amazone als Gesellschafterin oder mehr als Dienerin zugeteilt bekommen hatten.
»Wo sind Deine anderen Amazonen?«, fragte ich.
»Die haben Dienst!«, lautete die Antwort, und dabei wurde ein Blick nach oben geworfen.
Als ich diesem Blicke folgte, gewahrte ich, dass sich oben an den Wänden des hohen Felsensaales eine Galerie hinzog.
Zwar sah ich keine Zuschauer, aber nun wusste ich genug.
Es hätte also keinen Zweck gehabt, wenn wir etwas den Plan ausgemacht, unsere holden Nachbarinnen während der Tafel auf ein Signal hin samt und sonders bei der Gurgel zu fassen. Die Wächterinnen dort oben konnten in aller Gemütsruhe aufgelegt zielen. Die Unterhaltung ging weiter.
»Habt Ihr eine besondere Ausbildungsmethode, um solche phänomenale Kraftleistungen zu erzielen?«
»Ja, die haben wir. Willst Du hier diese Nudeln kosten?«
Sie hielt mir die gehäufte Gabel vor, ich sperrte gehorsam den Rachen auf, ließ mir die Fuhre hineinschieben.
»Mum mum mum mum — was ist das für ein besonderes Training?«
Ich musste mit vollem Munde sprechen, sonst hätte ich gar keine Gelegenheit dazu gehabt, denn die Begum präsentierte mir immer wieder eine gehäufte Gabel oder gar einen Löffel, und dabei war das delikate Luderzeug immer so heiß.
»Du wirst es erfahren, wenn Du der unsrige bist.«
»Du bildest auch die Argonauten, die jetzt Dir gehören, nach dieser Methode weiter aus?«
»Ja.«
»So erfahren sie also die Art und Weise.«
»Nein.«
»Wie das?«
»Sie merken die Resultate, aber nicht die Mittel, die wir dabei anwenden, um ihre Kraft und Gewandtheit immer mehr zu steigern.«
»Durch Medikamente oder sonstige Mittel, innerlich oder äußerlich angewendet?«
»Nein.«
»Wie sonst?«
»Du wirst es erfahren, wenn Du einer der unsrigen bist, Dir werde ich es offenbaren.«
»Ich komme doch nicht mehr in Betracht.«
»Wir können die Zweikämpfe ja wiederholen.«
»Darauf werden wir uns wohl schwerlich einlassen.«
»Ist es nicht recht und billig, dass Ihr uns Revanche gebt?«
»Ja, aber dasselbe gilt von Euch. Wir kämpfen wieder um Rückgabe unserer Argonauten.«
»Nein, die setzen wir nicht wieder ein.«
»Was sonst?«
»Die anderen Gefangenen oder uns selbst.«
»Sprechen wir hierüber ein andermal.«
»Wie Du willst. Ich hoffe, wir werden in guter Nachbarschaft zusammen leben.«
»Gewiss. Das soll nur von Euch abhängen.«
»Wir werden zusammen jagen.«
»Können wir.«
»Auf den Galeeren um die Wette rudern.«
»Auch das. Wenn wir uns erst eingepullt haben.«
»Uns Seegefechte liefern.«
»Seegefechte?!«
»Harmlose. Keine blutigen. Wir fahren dicht aneinander vorüber, welche Galeere der anderen die Ruder abbricht.«
»Das lässt sich machen.«
»Und die Mannschaft der manövrierunfähigen Galeere muss zu den Siegern hinüber.«
»Als Gefangene?«
»Ja. Für immer.«
Sie fing immer wieder davon an. Ich aber ließ mich darauf nicht ein.
»Ob wir uns noch einmal um solch einen Einsatz messen, darüber sprechen wir später, sagte ich Dir schon.«
»Wie Du bestimmst.«
Zwischen uns beiden trat eine kleine Pause ein, während die anderen Paare lustig weiter parlierten. Ich hörte nicht hin.
»Dort drüben«, hub die Begum dann wieder an, eine Handbewegung nach Südosten machend, »steht auf einem hohen Felsen mitten im Wasser eine alte Burg. Ihr nennt sie, wie ich erfahren habe, das Schloss der Entsagung.«
»Ja.«
»Wir dürfen sie nicht betreten, wenn jetzt auch ein sichtbarer Eingang vorhanden ist.«
»Weshalb nicht?«
»Dort drin haust Merlin, oder doch seine Tochter. Wir dürfen sie nicht betreten, Kapitän Satin hat es uns verboten, und darin ändert sich auch nichts durch unser jetziges neues Verhältnis, wonach wir uns in der Steppe wie in dem waldigen Tale frei ergehen dürfen. Dieses Schloss ist uns trotzdem noch auch bei offenem Tor unwiderruflich verschlossen.«
Man schien hier vor diesem Merlin doch noch einen höllischen Respekt zu haben.
»Wenn Ihr Euch nun an dieses Verbot nicht kehrt?«, fragte ich.
»Wer von uns die Grenzlinie des Wassertores passiert, sich also zwischen diesen Felswänden befindet, der bricht augenblicklich tot zusammen, und das kann auch Satin nicht aufheben, so viel er auch sonst vermag. In gewisser Hinsicht ist ihm jener Merlin doch über.«
»In welcher Weise bricht man sofort tot zusammen? Durch einen elektrischen Schlag?«
»Das weiß ich nicht. Nein, Elektrizität scheint es nicht zu sein. Jedenfalls aber waren die beiden Amazonen sofort tot.«
»Wie, Ihr habt das schon ausprobiert?!«
»Jawohl, wir wollten die Wahrheit dieser Drohung einmal prüfen. Zwei meiner Kriegerinnen fuhren in einem Boote hinein. Ich selbst schaute zu. Plötzlich brachen die beiden zusammen, das Boot selbst wurde von einer fremden Macht wieder zurückgetrieben. Aber es war schon zu spät. Die beiden waren tot, wurden nicht wieder lebendig.«
Ja dann freilich! Da durfte man wohl vor diesem Merlin solchen Respekt haben.
»Aber ich weiß«, fuhr die Begum fort, »was dieses alte Schloss für Geheimnisse birgt. Allerliebste Spielereien, mit denen sich Merlins Tochter Viviana ergötzen kann. Kapitän Satin hat mir einiges davon erzählt. Aus einem grauen Staube kann man die verschiedensten Figuren formen, alles was man will, und dann wird alles lebendig. Nicht wahr? Denn Du warst doch selbst drin.«
Ich bestätigte es, musste meine Erlebnisse erzählen, die Begum hörte mir mit größtem Interesse zu, auch die nächstsitzenden Amazonen, obgleich deren Tischnachbarn, meine Jungen und sonstigen Argonauten, ebenfalls davon erzählen konnten, was sie dann auch taten.
»Auch ich kann zaubern!«, nahm die Begum dann wieder das Wort.
»Aha! Das dachte ich mir gleich.«
»Weshalb?«
»Weil Du Dich Circe unterschriebst.«
»Also Du verstandest diese Andeutung.«
»Gewiss doch. Und Du sprachst ja auch von nachfolgenden Überraschungen. Bitte, zaubere uns etwas vor. Nur mich nicht etwa in ein Schwein, wie es weiland die Circe mit den Gefährten des Odysseus tat, ihnen dann sogar Eicheln in den Trog vorschüttend, die sie auch gierig fraßen, obgleich sie noch immer ihren Menschenverstand besaßen. Nur eben auch den Geschmack von Schweinen hatten sie bekommen, auch sonst alles, was zum Schweine gehört. Vor solcher Verwandlung graut mir. Eicheln sind nicht nach meinem Geschmack. Da ist mir hier gleich solch ein Hammelsteak lieber.«
Sie lachte.
»Und doch könnte ich Dich in jedes Tier verwandeln.«
»Tue es nicht, ich bitte Dich.«
Das sagte ich aber in aller Ruhe, mit etwas Spott, ohne jeden Schreck.
»Es wäre mir auch nur unter einer Bedingung möglich.«
»Unter welcher?
»Du selbst müsstest hierzu Deine Einwilligung gehen.«
Das war es, was ich schon gewusst hatte! Deshalb war ich vorhin auch bei der Ankündigung, mich in ein Schwein zu verwandeln, nicht im Geringsten erschrocken. Ich hatte unterdessen schon meine Erfahrung bei Vater Abdallahs Gaukeleien gesammelt, worüber ich gleich sprechen werde.
Übrigens fing die Begum selbst hiervon gleich an.
»Ihr habt einen arabischen Derwisch an Bord, der Euch alles mögliche vorzaubern kann, nicht wahr?«
Ich bejahte. Davon hatte sie in allen Hafenstädten und in den Zeitungen lesen können.
»Er bedient sich dazu der Hypnotik.«
»Ja, aber einer besonderen Art von Hypnotik, die wir Abendländer noch nicht kennen. Zwar können wir auch jedem Menschen in der Hypnose, vorausgesetzt, dass man ihn in Hypnose zu versetzen vermag, alles mögliche vormachen, ihm vorzaubern, durch Suggestion, dass er es wirklich zu sehen glaubt, aber er erwacht erinnerungslos. Ihm diese Erinnerung zu erhalten, dass er auch noch nach dem Erwachen weiß, was er gesehen und erlebt hat, sodass er Illusion und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden weiß, dies vermögen wir mit unserer Art von Hypnotik nicht zu erzielen, das ist ein Geheimnis der orientalischen Gaukler, die es streng behüten.«
»Ich weiß, ich verstehe den Unterschied. Immerhin wenden doch auch sie Hypnotik an.« — »Ja.«
»Aber man muss seine Einwilligung dazu geben, sonst gelingen die Illusionen nicht.«
Ja, und das ist es eben!
Wenn die »Zauberei« so weit ginge, dass mich jemand ohne meinen Willen in einen Affen verwandeln könnte, wenn auch nur in meiner Einbildung, die aber so weit geht, dass ich mich tatsächlich für einen Affen halte, hinterher nach der Zurückwandlung auch noch fest glaubte, ein Affe gewesen zu sein, dann... hörte die Gemütlichkeit auf! Ich glaube, ich wäre fähig, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Solch ein Gedanke wäre zu schrecklich für mich. Mindestens würde ich an diese ganze Sache nicht mehr mit dem kleinen Finger rühren.
Aber der liebe Gott sorgt schon dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Der superkluge Mensch selbst ist es, der die Bäume immer gleich in den Himmel wachsen lässt — in seiner Phantasie, in seiner törichten Furcht und Übertreibungssucht. Kaum hatte in Amerika der erste Tisch geklopft, von einer fremden Kraft bewegt, als die Menschen den Schlüssel zum Geisterreiche in der Hand zu haben glaubten. Das heißt eben diejenigen, welche... und dann meine ich uns Europäer. Nicht wissend, dass die Chinesen schon seit vielen Jahrtausenden diese Klopferei betrieben, ebenso wie die nordamerikanischen Indianer, die sich nur statt des Tisches einer großen Trommel bedienten, es heute noch tun, ebenso wie alle schamanischen Völker Asiens ebenso wie die norddeutschen Bauern. Nur mit dem Unterschiede, dass alle diese das »Kloppeding«, oder wie sie es nun sonst in ihrer Sprache nennen, als belustigende Spielerei betrieben und noch betreiben. Nein, gerade die hochkultivierten Abendländer, mit Kenntnissen vollgepfropft, umgeben von allen möglichen Erfindungen, gebadet in Aufklärung gerade wir, das heißt die sogenannten Spiritisten, mussten aus diesem geistigen Schwindel eine Religion machen!
Und genau so ist mit dem Hypnotismus. Erst war's Humbug und dann wurde sofort davon phantasiert, wie man Liebe suggerieren könne, jeden Verbrecher entlarven, wie man jeder Mutter in der Hypnose befehlen könne, ihrem Kinde Gift in den Kaffee zu schütten, wie der Geschäftsreisende dem Kunden nur zwischen die Augen zu blicken braucht, mit einem festen Vorsatze, und der hypnotisierte Mann kauft gleich das ganze Ramschlager auf, obgleich er gar nichts gebrauchen kann.
Oder ist es nicht so? Nur immer gleich über den Strang hauen! Und die Zeitungen helfen immer wacker mit. Vorn im redaktionellen Teile wird die ganze Hypnotik als ein Schwindel verächtlich gemacht, hinten im Annoncenteile werden solche »Lehrbücher« massenhaft angepriesen.
»Aber... der Herr spottet ihrer!« Es ist ein schönes Wort.
Gewiss, jeder Mensch kann hypnotisiert werden. Wenn er will! Auf die geistige und körperliche Beschaffenheit kommt es dabei gar nicht an. Ja, eben deswegen sind — ganz im Gegensatz zu der früheren Ansicht, die eben eine falsche war — willensschwache Personen, besonders hysterische Frauen, am allerschwersten einzuschläfern. Weil ihnen die Willenskonzentration fehlt, in Schlaf zu fallen. Anfänglich. Ist es erst einmal gelungen, dann allerdings lassen sie sich sehr leicht hypnotisieren. Weil sie dann eben Zutrauen zu dem Hypnotiseur, zu der ganzen Sache haben. Sie glauben daran. So bald sie sich aber sträuben, gelingt es nicht. Sehr willensstarke Männer sind ganz leicht zu hypnotisieren. Wenn sie wollen. Sonst geht es nicht.
Und genau so ist es mit jener Hypnotik, welche die indischen Fakire und arabischen Derwische anwenden, um Illusionen zu erzeugen. Der Gaukler rührt auf der Straße die Trommel und zieht mit weißer Farbe oder Sand den magischen Kreis. Wer zufällig in diesen Kreis tritt, oder ohne zu wissen, dass ihm etwas vorgegaukelt werden soll, der sieht überhaupt nichts. Man muss von vornherein mit der Absicht den Kreis betreten, der Suggestion zu unterliegen. Dabei hilft nun freilich nichts, an der ganzen Sache zu zweifeln. Zu sagen: »Ich glaube an so etwas nicht, so etwas gibt es ja gar nicht.« — das genügt noch nicht. Er hat im Hintergrunde seiner Seele dennoch den geheimen Wunsch, solch eine Zauberei einmal zu sehen. Und das genügt vollkommen für den Hypnotiseur, um ihn durch Suggestion, durch Gedankenübertragung zu beeinflussen. Konzentriert er jedoch seine ganze Willenskraft auf den festen Vorsatz: »Ich will nichts sehen!«, — dann sieht er auch nichts, die Suggestionen des Gauklers prallen an ihm ab.
Und ebenso war es mit den Illusionen Vater Abdallahs in seiner schwarzen Kabine. Das hatten wir nun schon längst bemerkt. Wer sie betrat, der wurde von ihm erst vorbereitet. Wenn auch nur insofern, als ihm gesagt wurde, dass er Zauberei oder überhaupt etwas Wunderbares erleben und sehen würde. Das genügte schon. Wer mit dieser Absicht das schwarze Kabinett betrat, der erlag dem Willen des Derwisches, sah und erlebte, was ihm dieser suggerierte, wenn auch nur durch Gedankenkraft. Wenn wir nun einmal während solch einer Vorstellung den festen Entschluss fassten, nichts sehen zu, wollen, dann konnte es passieren, dass die Bilder, die wir zu sehen meinten und eigentlich ja auch wirklich sahen, sich merkwürdig verschoben, verzerrten, seltsame Verschmelzungen kamen vor, die nicht in Vater Abdallahs Absicht lagen, und manchmal trat auch die nüchterne Wirklichkeit zu Tage.
Freilich war das sehr schwer, es glückte selten. Die Illusionen nicht zu sehen, nachdem man einmal die schwarze Kabine mit der Absicht betreten hatte, sich eine Viertelstunde ergötzen zu lassen. Also wenn man diesen Entschluss erst während der Vorstellung fasste, sich schon in der Gedankenmacht des Magiers befand. Aber immer gelang es, wenn man den festen Vorsatz, nichts sehen zu wollen, schon draußen gefasst hatte.
Hierüber hatte ich mich mit der Begum ausführlich unterhalten, und sie war ganz meiner Meinung.
»Wer sagt Dir nun, dass jene lebendigen Figuren, die in dem Schlosse der Entsagung aus dem Staube entstehen, nicht auch nur Gebilde Deiner Phantasie sind, durch fremde Gedankenkraft erzeugt?«
Ja, daran hatten auch wir schon gedacht. Aber wir hatten diese Ansicht aufgeben müssen. Es musste Wirklichkeit sein.
Weil es uns auch beim festesten Vorsatze, keiner Illusion zu unterliegen, nicht gelang, uns von dieser etwaigen Illusion zu befreien. Weil wir eben schon jahrelange Erfahrung in Vater Abdallahs schwarzem Kabinett gesammelt hatten. Der nüchternste phantasieloseste Mensch, den ich je kennen gelernt, der überhaupt an nichts glaubte, was er nicht mit Fäusten packen und nicht fressen konnte, war Mister Tabak, und auch zwischen dessen Händen verwandelte sich der graue Staub in eine plastische, knetbare Masse, nahmen die Figuren Leben an.
»Ja, dies beruht auf Wirklichkeit«, bestätigte denn auch die Begum auf meine Äußerung, »es ist eine technische Erfindung. Kapitän Satin hat mir alles erklärt, aber ich verstehe es nicht, oder doch nur sehr wenig davon. Erst wird ein Bild erzeugt, das nach Belieben bewegt werden kann, wird dieses Bild durch Spiegelung auf den Staub reflektiert, der plötzlich in allen Teilen durch magnetische Kraft zusammenhält und so alle Bewegungen des Bildes mitmacht. Dies verstehe ich ungefähr. Aber das Weitere nicht mehr, was mir Kapitän Satin sonst noch erklärt.«
»Dasselbe erklärte mir Merlin, und weiter geht auch mein Verständnis nicht.«
»Also ist es schließlich dennoch nur eine Illusion.«
»Wie meinst Du das? Dennoch?«
»Nun, ist nicht die ganze Welt, mit allem, was darin ist, nur ein Traum der Götter. Was wir Menschen, selbst nur solche erträumte Wesen, zu sehen meinen, erblicken wir nur in einem Spiegel, den uns die Göttin Maja vorhält.«
»Ja, das ist eine indische Philosophie. Aber dann gehst Du zu weit, wenn Du diese auf jene Figuren im Schlosse der Entsagung beziehst. Wir müssen doch jetzt dabei bleiben, dass es überhaupt eine Wirklichkeit gibt. Und nun ist die Frage, ob diese lebenden Figuren Wirklichkeit sind oder nicht.«
»Sie sind Wirklichkeit, keine Täuschung. Aber ich kann Dir etwas vorgaukeln, was Du nicht von der Wirklichkeit unterscheiden kannst.«
»Das glaube ich schon.«
»Soll ich es tun?«
»Nein.«
»Du willst nicht so etwas Wunderbares erleben?«
»Ich bin schon mit solchen Gaukeleien und Illusionen übersättigt.«
»Aber es ist einmal etwas ganz, ganz anderes.«
»Inwiefern?«
»Ich gebe Dir ein Mittel, dass Du selbst zaubern kannst.«
»Ich danke für dieses Mittel.«
»Du kannst alles, alles zaubern, was Du nur willst. Du selbst bist ein Gott, der durch sein gesprochenes Wort ›es werde!‹ alles schöpfen kann, was er will.«
»Hm, das ließe sich hören!«, ging ich jetzt doch darauf ein, denn das war mir wieder einmal etwas Neues. »Es ist mir also gar nichts unmöglich?«
»Gar nichts, gar nichts.«
»Natürlich ist alles nur eine Täuschung.«
»Ja, ebenso wie die ganze Welt, die wir nur in einem Spiegel erblicken. Denn das muss ich wiederholen, wenn Du so sprichst.«
Ich schämte mich bereits, jenes gesagt zu haben.
»Die Hauptsache ist doch«, fuhr die Begum fort, »dass Du selbst nichts an Wirklichkeit vermissest.«
»Und ich erinnere mich alles dessen, was ich gesehen und erlebt habe, auch später?«
»Sicher.«
»Ich kann mich selbst in eine andere Gestalt verwandeln?«
»In welche Du willst.«
»In ein Tier, in einen Löwen?« — »Ja.«
»Und dann habe ich die Empfindungen eines Löwen?«
»Gewiss. Du kannst nicht mehr sprechen, nur noch knurren und brüllen. Das heißt, Dein menschliches Gehirn behältst Du dabei. Denn sonst würdest Du Dich der Zauberei ja gar nicht bewusst werden.«
»Na, das möchte ich einmal versuchen!«, lachte ich »Du hast nur nötig, ein Tränklein zu trinken.«
»Aha! Nein, dann verzichte ich darauf, diese Art Zauberei kennen zu lernen.«
Groß blickte mich die Begum an.
»Du hegst Misstrauen? Freund, Du hast mit uns Brot und Salz gegessen! Und wenn ich auch eine geborene Französin bin und Christin war, so bin ich jetzt doch eine Mohammedanerin, und ich nehme es ernst! Du bist in diesen Hallen, die ich als meine Wohnung betrachte, geschützt! Wenn ich Dich töten oder wahnsinnig machen wollte, so müsste ich Dich erst entlassen und warten, bis Du Dich weit entfernt hast. Das Tränklein, das ich Dir gebe, ist absolut unschädlich.«
Ich dachte an Merlins Worte, dass wir der Begum unbedingt trauen könnten und Kapitän Satan nicht zu fürchten hätten, und wer in die Geheimnisse des Geisterreiches oder des geistigen Reiches dringen will, der muss etwas wagen, ganz besonders auch mit Medikamenten und Räucherungen.
»Wo findet das Experiment statt?«
»Es könnte gleich hier stattfinden, aber ich bitte Dich, mir in einen besonderen Raum zu folgen.«
»Warum?«
»Weil der kleinere Raum dazu geeigneter ist. Eine andere Erklärung kann ich Dir jetzt nicht geben. Vertraue mir. Das Tränklein hat auch nicht die geringsten üblen Folgen. Du kannst auch Begleiter mit Dir nehmen, sie sollen mir den Dolch auf die Brust setzen, ich will Dir dann in Dein Lager hinüberfolgen, und zeigen sich üble Nachwirkungen so habe ich mein Leben verwirkt, Du sollst mich martern...«
»Ich glaube Dir. Wo gehen denn die alle hin?«
Es hatten sich schon wiederholt Paare erhoben und den Saal verlassen. Ich war so in unsere Unterhaltung vertieft gewesen, dass ich es erst jetzt merkte. Auch die Patronin saß mit ihrer Nachbarin nicht mehr an der Tafel.
»Es werden ihnen ebensolche Überraschungen gezeigt, wie ich Dir jetzt eine bereiten will, wenn auch wieder ganz anderer Art. Ihr werdet Euch dann gegenseitig erzählen. Hast Du Dir Deine Begleiter gewählt?«
»Mister Juba, Mister Kabat, wollen Sie mich begleiten?«
Die beiden waren bereit dazu, ohne mich nach dem Warum zu fragen. Dabei hatten alle beide den Vorschlag ihrer Amazonen, sich von ihnen Zauberei vormachen oder Merkwürdigkeiten zeigen zu lassen, abgeschlagen. Meiner Einladung folgten sie, ihre Amazonen blieben zurück.
Wir verließen den Saal, schritten durch zwei Korridore, alle mit prächtigen Teppichen belegt, betraten ein orientalisches Gemach, dessen Fenster nach dem See ging.
»Willst Du Deinen Freunden erklären, um was es sich handelt.«
Ich tat es.
»Wie Sie wollen!«, meinte Peitschenmüller, während sich der Eskimo damit begnügte, den süßlichen Duft, der das Boudoir erfüllte, durch den Qualm seiner Pfeife zu verdrängen.
»Ich habe Dir noch einige Erklärungen zu geben!«, nahm dann die Begum wieder das Wort. »In diesem Raume selbst ist Dir überhaupt gar nichts unmöglich. Was Du mit Worten aussprichst, das vollzieht sich sofort. Also ausgesprochen muss es werden, laut oder noch so leise, aber jedenfalls darfst Du es nicht nur denken. Das ist das Geheimnis des gesprochenen Wortes, des Logos, wie es in unserer Geheimsprache heißt. Es ist eben die Zauberformel, die nicht nur gedacht werden darf. Du kannst aber auch diesen Raum verlassen. Dann brichst Du zwar ebenfalls mit den Naturgesetzen, wenigstens im Geiste, kannst sie aber nicht mehr umändern. Wie das gemeint ist, kannst Du nur durch Erfahrung begreifen. Höchstens ein Beispiel vermag ich zu geben: Du willst Dich etwa in Deine Heimat versetzen. Sobald Du diesen Wunsch aussprichst, wird hier in diesem Raume Deine Heimat entstehen, Dein Haus oder Dein Garten, Du kannst ihn betreten. Willst Du Deinen Vater sehen, so sprich es aus, und er wird Dir erscheinen.
Nun kannst Du Dich aber in Wirklichkeit nach Deiner Heimat begeben. Wenn es überhaupt eine Wirklichkeit gibt. Dann aber musst Du doch diesen Raum verlassen. Und dann, außerhalb dieses Raumes, wenn auch nur im Geiste, kannst Du nicht mehr die Verhältnisse umändern, überhaupt nicht mehr zaubern. Du vermagst Dich also nicht mehr im Nu nach Deiner fernen Heimat zu versetzen, nicht einmal dort nach jenem Ufer. Sondern Du musst diese Felsenräume wie jeder andere Mensch verlassen, musst Dich nach der nächsten Stadt begeben, zu Fuß oder zu Pferd oder im Boote, von der nächsten Stadt aus musst Du eine andere Fahrgelegenheit benutzen, wenn Du über das Meer willst, als Passagier einen Dampfer, und so fort und fort, bis Du Deine Heimat erreicht hast, und da kann auch passieren, dass Du Schiffbruch erleidest, und Du bist nicht imstande, Dein Schicksal zu ändern. Nur ein einziges Recht hast Du noch. Sobald es Dir etwa nicht passt, so brauchst Du nur auszusprechen, dass Du diese Episode beenden willst, und sofort erwachst Du wieder hier in diesem Boudoir.
Aber Du brauchst die Reise nicht als Mensch anzutreten. Du kannst Dich ja auch in einen Fisch verwandeln oder in einen Vogel. Dann machst Du die Reise eben im Wasser oder durch die Luft. Dann vermagst Du aber mit Deinen Angehörigen nicht zu sprechen, Du verstehst sie auch nicht. Ein Fisch und ein Vogel versteht die menschliche Sprache doch nicht. Obgleich Du immer Deinen menschlichen Verstand behältst, Du selbst glaubst Dich wohl mit menschlicher Stimme sprechen zu hören, aber, wenn Du etwa ein Singvogel bist, hören die Menschen nur ein Zwitschern. Verstehst Du mich?«
Ja, ich verstand. Wenn man da überhaupt etwas verstehen kann.
Jetzt will ich zunächst bemerken, dass die Sache mit dem »Logos«, mit der Kraft des gesprochenen Wortes, nicht indischen Ursprungs ist, sondern das war die Lehre der Platoniker, besonders der Neuplatoniker, die dann auch in andere Philosophien überging auch in die christliche Mystik. Die Begum schien hierin nicht recht beschlagen zu sein, doch das war ja gleichgültig. Ich bin diese Erklärung aber den Lesern schuldig, welche in diese Art Philosophie eingeweiht sind.
Ja, ich verstand. Vor allen Dingen aber staunte ich. Das war etwas ganz Wunderbares was mir da bevorstand!
»Und wie lange dauert das?«
»So lange Du willst. Nur eine Sekunde, oder eine Minute, die Du nach Deiner Uhr kontrollieren kannst, oder auch eine ganze Ewigkeit. Das musst Du aber — die Dauer der Zeit — vorher bestimmen, deutlich aussprechen, ehe Du das Elixier einnimmst.«
»Wenn ich nun eine halbe Stunde bestimme?«
»So kehrst Du eben nach dieser halben Stunde zu Deinem wirklichen Bewusstsein zurück, die Wirkung des Trankes ist aufgehoben, ohne dass Du die geringsten üblen Folgen verspürst.«
»Und wenn ich eine ganze Ewigkeit dem Zauber unterliegen will?«
»So wirst Du auch eine ganze Ewigkeit durchmachen.«
»Ohne jemals wieder zum wirklichen Bewusstsein zu kommen?«
»Doch.«
»Wann geschieht dies?«
»Wenn Dich Deine natürlichen Bedürfnisse dazu zwingen. Also durch Hunger und Durst. Dann kehrt Deine Seele in den Leib zurück, Du erwachst.«
»Ich liege unterdessen hier bewusstlos?«
»Nur wenn Du diesen Raum verlässt, um draußen umherzuschweifen. Sonst nicht.«
»Kann ich denn nicht auch als Tier meinen Hunger und Durst stillen?«
»Ja, aber das geschieht nur imaginär, in Deiner Einbildung. Verstehst Du?«
Ja, ich verstand. »Und dennoch issest Du in Wirklichkeit, nicht nur in Deiner Einbildung. Aber wie das gemeint ist, das kann ich Dir nicht erklären, ich verstehe es selbst nicht, habe da aber ganz eigentümliche rätselhafte Erfahrungen gemacht.«
Dann verstand ich davon schon mehr als die Begum. Doch will ich hierüber nicht weiter sprechen.
»Ich kann verlangen, dass ich innerhalb einer Minute eine ganze Ewigkeit durchlebe.«
»Das kannst Du.«
»Und dass ich hundert Jahre mich in diesem Zustande befinde und dennoch glaube, nur eine Minute zu erleben.«
»Nur einen einzigen Augenblick.«
»Weil es eigentlich überhaupt gar keine Zeit gibt.«
»Hast Du hiervon schon gehört? Nein, es gibt keine Zeit, keine Zukunft und keine Vergangenheit, es gibt nur ein momentanes Jetzt. So habe ich gehört, aber ich verstehe es nicht, und doch erlebe ich es manchmal, durch dieses Tränklein.«
»Gut. Und gesetzt nun den Fall, ich verwandle mich in einen Fisch, schwimme draußen im See, ein anderer Fisch verschlingt mich?«
»Im Augenblick, da Deine Fischseele entflieht, kehrt sie zurück hier in Deinen Körper, Du erwachst gesund bei normalem Bewusstsein. In diesem Falle ist die Zeit, die Du bestimmt hast, schon vorher beendet.«
»Und wenn ich nur schwer verwundet werde?«
»So brauchst Du nur zu wünschen, wieder hier zu sein, in dem Raume, von wo Du ausgegangen bist, so bist Du auch sofort wieder hier. Das ist, wie gesagt, das einzige, wodurch Du Dein Schicksal ändern kannst. Du musst es aber immer aussprechen.«
»Auch dann bin ich wieder bei normalem Bewusstsein?«
»Nein, dann, wenn Du nicht den Tod gefunden hast, befindest Du Dich noch im Zauber. Du kannst das Experiment fortsetzen. Aber auch hier kannst Du durch Dein gesprochenes Wort erwachen, also die Zeit abkürzen. Jedoch nicht verlängern. Sobald Du erwachst, ist die Kraft des Elixiers erschöpft. Du müsstest erst ein neues Tränklein nehmen.«
Ich zog meine Taschenuhr.
»Es ist zehn Minuten vor sieben. Ich will zuerst eine halbe Stunde aufnehmen.«
»Wie Du willst.«
Die Begum wandte sich um, entnahm einem Wandschrank eine Karaffe mit einer gelben Flüssigkeit und ein Gläschen, füllte und reichte es mir.
»Sprich die Zeit der Wirkung noch einmal aus.«
»Eine halbe Stunde soll es währen, 20 Minuten nach sieben will ich wieder erwachen.«
»So trink.«
Ich schluckte die paar Tropfen hinter, sie schmeckten nach gar nichts, ich fühlte gar keine Wirkung.
»Und was nun?«
»Jetzt bist Du allmächtig!«, lächelte die Begum.
»Ich merke nichts davon.«
»So sprich doch das Zauberwort.«
Ich drehte mich um. Dort stand Peitschenmüller und blickte mich an, dort saß der Eskimo auf einem Diwan und stopfte sich eine frische Pfeife.
»Dieser Raum verwandle sich in eine tropische Landschaft!«
So hatte ich mit lauter Stimme gesagt, und da war es schon geschehen.
Mit einem Schlage war das ganze Meublement verschwunden. Ich stand in kniehohem Grase zwischen Urwaldbäumen, an denen sich herrlich blühende Lianen emporschwangen.
Ich will gleich erledigen, wie die Verwandlungen immer vor sich gingen, von welcher Art und von welchen Grenzen umzogen sie waren.
»Dieser Raum verwandle sich in eine tropische Landschaft!«, hatte ich gesagt.
Das ist ja nun ein weiter Begriff. Man nehme an, man könne den Inhalt seiner Träume willkürlich bestimmen. Man will im Traume in eine tropische Gegend versetzt werden. Es geschieht. Was das nun für eine tropische Gegend ist, das muss man dem Traumgott überlassen.
So war es auch hier. Im Moment, da ich es aussprach war das Gewünschte vorhanden, mit festen Linien umgrenzt, ohne dass ich diese näher gezogen hätte, wie es mir eine Erinnerung oder meine Phantasie eingab, absolut nichts an Wirklichkeit vermissen lassend. Das blieb bestehen. Was ich daran ändern wollte, musste ich immer erst aussprechen.
Ich erblickte eine unaufgeschlossene Lianenblüte.
»Diese Blüte öffne sich!«
Sofort hatte sie sich zur vollen Pracht entfaltet.
»Aus dieser Blüte entwickle sich ein Apfel!«
Sofort hing statt der Blüte an dem dicken Stängel ein großer, rotwangiger Apfel, einer von der Tiroler Sorte.
Ich pflückte ihn ab, biss hinein — ich konnte ihn essen. Hatte den richtigen Apfelgeschmack, fühlte den Bissen in den Magen rutschen.
Wie ich staunte, lässt sich denken. Dabei verlor ich aber nicht die Besinnung. Das heißt, ich wollte immer sachgemäß prüfen.
Ich zog meine Brieftasche, nahm einen alten Brief mit der Unterschrift meines Vaters, legte einen der Apfelkerne hinein, faltete ihn zusammen, barg die Brieftasche wieder.
»Mister Juba, wo sind Sie?«
Keine Antwort.
»Mister Juba Riata, erscheinen Sie mir!«
Da stand Peitschenmüller urplötzlich vor mir.
»Sind Sie das wirklich?«
»Ja, das bin ich wirklich.«
»Hören Sie mich sprechen?«
»Natürlich, sonst könnte ich Ihnen doch nicht antworten.«
»Was sehen Sie hier?«
»Eine tropische Urwaldszenerie.«
»Und Sie selbst befinden sich in dieser?«
»Ja selbstverständlich.«
»Essen Sie mal hier dieses Stück Apfel.«
Er nahm das Stück, ich sah ihn essen.
»Schmeckt sehr gut!«, sagte er von selbst.
»Nehmen Sie doch einmal Ihr Messer und schneiden Sie mich hier in den Arm.«
Ich streifelte den linken Ärmel zurück, Jubas Messer zog in meinen Unterarm einen blutenden Schnitt.
»So, danke. Jetzt will ich in den ursprünglichen Raum zurückversetzt sein!«
Im Moment war der Urwald verschwunden ich sah wieder das orientalische Möblement...
»Stiff!«, sagte in demselben Augenblick Juba Riata.
Ja, er stand vor mir. Aber nicht in der Stellung, in der ich ihn soeben gesehen hatte. Überhaupt stand er mehr neben mir, hatte auch nicht sein Messer in der Hand, sondern er fingerte an mir herum.
»Was sagten Sie da?«, fragte ich. Aber wir sprachen Englisch zusammen, auch die Begum konnte es jetzt. Ich mache auf so etwas nicht immer aufmerksam, nur jetzt muss ich es tun.
»Perfectly stiff — vollkommen steif... jetzt freilich sind Sie's nicht mehr.«
»Steif bin ich gewesen?!«
»Wie ein Baumast.«
»Ja, es ist besser, wenn Sie sich immer hinsetzen, ehe Sie das Zauberwort aussprechen«, sagte die Begum, »Sie könnten doch einmal umfallen.«
»Steif bin ich gewesen?!«, wiederholte ich nochmals.
»Sobald man das Zauberwort ausspricht, fällt man in einen Starrkrampf, der aber nicht etwa schädlich ist.«
So, nun wusste ich's. Aber doch noch nicht genug.
»Ich habe mich gar nicht geregt?«
»Nein, Sie befanden sich eben im Starrkrampf.«
»Also habe ich auch nicht solche Bewegungen gemacht, als ob ich einen Apfel abpflücke und ihn verzehre?«
»Haben Sie das getan? Wir wissen ja gar nicht, was Sie erlebt haben.«
»Haben Sie denn nicht gehört, wie ich meinen Wunsch aussprach?«
»Nein.«
»Dieser Raum verwandle sich in eine tropische Landschaft.«
»Das haben wir schon nicht mehr gehört. In demselben Augenblicke, da Sie sich vornahmen, diese Worte auszusprechen, da sich in Ihrem Gehirn die dazu nötigen Vorbereitungen abspielten, begann schon der Zaubertrank zu wirken, da handelten und sprachen Sie nur noch in Ihrer Einbildung.«
So, nun wusste ich's wirklich.
Also hatte ich natürlich auch nicht etwa meinen Ärmel aufgekrempelt, keinen Schnitt im Fleisch, keinen Apfelkern in der Brieftasche. Es war alles nur eine Einbildung nur ein Traum gewesen, nichts weiter.
Aber die Zeit war dabei regelrecht weitergegangen, sechs Minuten hatte diese ganze Geschichte gewährt.
Ich setzte mich, sah mich in dem großen Wandspiegel.
»Ich will dort vor dem Spiegel stehen!«
Da stand ich plötzlich vor dem Spiegel.
Diesmal waren auch noch die drei anderen anwesend, saßen oder standen oder gingen herum.
Mister Kabat, Sie haben einen blonden Vollbart!«
Da hatte ihn eben der sonst bartlose Eskimo, ich konnte ihn nach Belieben wachsen lassen oder sonst verändern.
»Mein Spiegelbild lege sich hin!«
Ich blieb stehen, mein Spiegelbild legte sich auf den Teppich hin.
Ich will nicht weiter beschreiben, was ich sonst noch für knifflige Experimente machte.
Plötzlich, wie ich mich gerade in einer Wüste befand, aus einem Felsen Wasser schlug, Gras und Palmen wachsen ließ, so nach und nach eine Oase schuf, zerrann das Traumgebild, das aber nicht das geringste an Wirklichkeit vermissen ließ, und ich saß auf dem Diwan.
»Deine Zeit ist abgelaufen!«, sagte die Begum.
Ja, es war genau 20 Minuten nach sieben.
»Also ich kann ein neues Tränklein nehmen?«
»Gewiss, so oft Du willst. Hast Du Dich schon in ein Tier verwandelt?«
»Noch nicht. Ich dachte gerade daran, wollte gerade ein Löwe werden, als die Zeit um war.«
»Ich mache Dich darauf aufmerksam, dass Du, wenn Du ein Vogel und als solcher dieses Zimmer verlassen willst, um draußen herumzufliegen, Dich beeilen musst.«
»Weshalb?«
»Weil es bald dunkel wird. Als Vogel siehst Du in der Nacht nichts, Du würdest überhaupt gar nicht umherfliegen, es würde gegen Deinen Vogelinstinkt gehen, den Du natürlich annimmst.«
»Dann verwandle ich mich einfach in eine Eule, welche sich nur in der Nacht wohl fühlt.«
»Allerdings, da hast Du recht, das kannst Du. Also wie viel Zeit willst Du wieder aufnehmen?«
»Nochmals eine halbe Stunde.«
Ich trank ein zweites Gläschen leer.
»Ich möchte ein Vogel sein.«
Da saß ich schon als solcher in dem offenen Fenster. Als was für ein Vogel denn? Das ist doch ein weiter Begriff.
Wenn man das Wort »Vogel« ausspricht, oder auch nur denkt, so muss man sich im Geiste doch wohl auch irgend einen bestimmten Vogel vorstellen. Ich wenigstens muss es.
Ich hatte dabei an einen Raben gedacht, an einen Kolkraben, und als solcher saß ich in dem Fenster.
Zwar sah ich mich nicht, nicht im Spiegel und versuchte nicht mich selbst zu besehen, nicht einmal meine Füße, sondern ich wusste, dass ich ein Rabe war. Der Rabe ist nämlich mein Lieblingsvogel, mein Ideal eines Vogels. Wobei ich alle Rabenarten einbegreife, den Kolkraben, die Nebel- und Saatkrähe, die Elster, die Dohle.
Der Rabe hat es mir angetan. Der Rabe ist der Raubvogel des Nordens. Der Rabe ist ein echt germanischer Vogel. Der Rabe ist uns treu geblieben, hat sich weder ausrotten noch durch die Kultur vertreiben lassen, dazu ist er zu schlau, zu klug.
Alfred Brehm in seinem »Tierleben« schildert am Ende jeder Beschreibung das betreffende Tier in seiner Gefangenschaft, wo man seine geistigen Fähigkeiten am besten beurteilen kann.
Nur beim Raben tut er dies nicht. Es ist dies die einzige Ausnahme. Obgleich es doch so viel gefangene Raben gibt.
Brehm verzichtet einmal auf diese Beschreibung. Weshalb?
Es würde viel zu weit führen, wollte ich alle Geschichten, welche mir über gezähmte Raben bekannt sind, hier wieder erzählen, und deshalb muss es genügen, wenn ich sage, dass dieser Vogel wahren Menschenverstand beweist und seinen Gebieter ebenso erfreuen als andere Menschen zu ärgern weiß. Wer Tieren den Verstand abschwatzen will, braucht nur längere Zeit einen Raben zu beobachten; derselbe wird ihm beweisen, dass die abgeschmacktesten Redensarten von Instinkt, unbewussten Trieben und dergleichen nicht einmal für die Klasse der Vögel Gültigkeit haben.
So urteilt Brehm über den Raben. Kann es eine höhere Zensur geben?
Ich habe viele Raben gefangen gehalten — ich möchte nicht beschreiben, was ich mit ihnen erlebt habe. Schon die einfachsten Dinge würden dem, der den Raben nicht kennt, unglaublich klingen.
Jetzt, da ich dies schreibe, habe ich keinen zahmen Raben mehr.
Aber noch immer habe ich täglich und stündlich, wenigstens im Winter, eine ganze Gesellschaft von echten Raben vor meinen Augen. An meinem Fenster geht durch einsame Landschaft ein Eisenbahndamm vorüber. Wenn der Winter naht, stellen sie sich ein, immer ein bis zwei Dutzend. Wenn sie eines Morgens da sind, im Dezember oder auch schon im November, dann weiß ich bestimmt, dass jetzt bald der Winter mit Kälte und Schneefall kommt, und wenn auch alle Zeitungen nach den Berichten der meteorologischen Institute das Gegenteil behaupten. Ich lache dieser menschlichen Wetterprophezeiungen, meine Raben wissen es besser, sie irren sich nie. Es sind »meine« Raben. Sie kennen mich, wir sind gute Freunde. Sie horsten auf den benachbarten Bäumen, aber der Bahndamm ist ihr Tummelplatz auf ebener Erde. Da hoffen sie immer etwas Fressbares zu finden. Denn in wenigen Minuten erreicht der Zug eine Stadt, da werfen die Passagiere vorher Paketchen zum Fenster hinaus, Frühstücksreste und dergleichen. Ich halte mich mit der Beobachtung dieser Raben länger auf, als mir meine Zeit erlaubt. Wie sie die Paketchen öffnen und untersuchen. Ein Streit deswegen kommt unter ihnen niemals vor. Eine Taube jagt wegen eines Kornes die andere weg, die stärkere die schwächere, da gibt es keine Rücksicht — so etwas kennt der Rabe nicht. Vollster Frieden, vollste Eintracht. Und wenn ein Zug angebraust kommt, dann verlassen sie den Schienenweg natürlich, aber nun wie! Nicht etwa, dass sie erschrocken davon fliegen. Über die große Zehe watschelnd, steigen sie gravitätisch über das Gleis. Aber das tun sie keine Sekunde früher als es unbedingt nötig ist, um nicht unter den Zug zu kommen, und so entfernen sie sich auch keinen Zoll weiter als es unbedingt nötig ist. So sitzen sie ruhig da, die Trittbretter gehen über sie hinweg, und dicht hinter dem letzten Wagen steigen sie wieder über die Schienen und beschäftigten sich weiter mit den Paketchen und deren Inhalt. Möglich, dass sie kleine Vögel würgen. Sie wären Narren, wenn sie's nicht täten. Dann wären sie doch auch nicht »menschenähnlich«. Aber ich bemerke nichts davon. Um die sich ebenfalls auf dem Bahndamm tummelnden Tauben und Spatzen kümmern sie sich gar nicht. Und wenn ich das Fenster öffne, dann passen sie auf. Ob ich ihnen einen Knochen oder sonst etwas zuwerfe. Aber deshalb nicht die geringste Unruhe, kein Näherkommen. Haben sie ja auch gar nicht nötig. Entweder ich werfe, oder ich werfe nicht. Und zeige ich mich am geschlossenen Fenster, dann passen sie auch nicht auf. Weil die ganz genau wissen, dass das Fenster geschlossen ist und ich nicht durch die Fensterscheiben werfe. Und kommt der Knochen oder das Stück Fleisch geflogen, so flattern sie wohl auf, aber wer den Leckerbissen hat, der hat ihn, nicht der geringste Streit deswegen, die anderen gehen sofort wieder ihrer Beschäftigung nach. Und wenn ich ihnen längere Zeit nichts zugeworfen habe, dann kommt wohl einer ans Fenster, blickt mit seinen klugen, verschmitzten, funkelnden Augen ins Zimmer, mir direkt auf den Schreibtisch, pocht mit seinem gewaltigen Schnabel gegen die Scheiben und fliegt zurück, sobald ich aufstehe. Denn weiter geht die Vertraulichkeit nicht. Ja, wir sind die besten Freunde, aber... immer drei Schritt vom Leibe! Sie halten es genau wie ich. Auch ich habe einige menschliche Freunde, sehr gute Freunde, aber duzen tue ich mich mit keinem.
Am liebsten aber beobachte ich meine Raben, wenn es schneit, wenn der Schneesturm braust. Dass sie die Kälte lieben, daran ist ja gar kein Zweifel. Stundenlang können sie im Schnee vergraben sitzen und vor sich hin philosophieren. Aber im Schneesturm, da werden sie erst richtig lebendig, da schwingen sie sich hoch empor, da sieht man sie einmal zusammen spielen, in den Lüften wie in dem neuen Schnee sich balgen.
Natürlich, es sind ja Kinder des kalten Nordens. Eines Tages versammeln sie sich auf den Bäumen, steigen empor und fliegen direkt nordwärts davon, um nicht wiederzukommen. Sie verkünden mir den nahen Frühling, mit unfehlbarer Sicherheit kommen jetzt die ersten warmen Tage. Trotzdem sehe ich sie mit Wehmut scheiden, meine Raben, und freue mich schon auf das nächste Wiedersehen, wenn sie auch den Winter bringen.
Jetzt war ich selbst solch ein Rabe geworden
Weil ich von vornherein beabsichtigt hatte, diesen Raum zu verlassen, draußen herumzufliegen, saß ich nun auch gleich im offenen Fenster.
Was ich als Rabe für Gedanken und Empfindungen hatte, vermag ich nicht zu beschreiben, und das muss ich noch öfter wiederholen.
Ich wusste, dass ich eigentlich Georg Stevenbrock war, ein Mensch, dessen Leib jetzt dort starr auf dem Diwan saß oder lag, in anderer Hinsicht aber war ich ein perfektes Rabenvieh, und es fiel mir gar nicht ein, zurückzublicken, um meinen starren menschlichen Leib zu betrachten.
Es war mir ganz selbstverständlich, dass ich fliegen konnte. Kein Gedanke daran, ob ich es könnte oder nicht. Wir befanden uns in der dritten Etage, tief unter mir lag der Spiegel des Sees, schon in der Abenddämmerung. Ohne jedes Bedenken stürzte ich mich mit ausgebreiteten Schwingen hinab, flog.
Ich beschrieb über dem See Kreise, schraubte mich höher und höher, bis ich hinter den Felswänden die untergehende Sonne erblickte.
Aber nicht etwa ein Staunen, auch keine Freude, kein Entzücken darüber, dass ich so schweben konnte. Es war mir ganz selbstverständlich. Ich war doch ein Rabe. Obgleich ich immer noch wusste, dass ich doch eigentlich ein Mensch war. Das störte aber meine Rabenempfindungen nicht weiter.
Eine Maus, die nahe am Ufer durch das Gras huschte, erregte meine Aufmerksamkeit.
O Wunder, ich sah diese Maus!
Als Mensch schätzte ich die Entfernung, die mich von dieser Maus trennte, auf mindestens fünf Kilometer, als Rabe dachte ich gar nicht an solch eine Schätzung — als Rabe sah ich nur ganz deutlich die Maus durch das Gras huschen, obgleich dieses dunkel gefärbt war wie die Maus!
Gesehen hatte ich sie, meine Aufmerksamkeit hatte sie erregt, aber nicht meine Jagdlust. Ich fühlte mich gesättigt. Ich sah noch vieles, vieles andere, was mein Interesse als Rabe erregen musste, ich sah Nester mit jungen Vögeln, sah Frösche, sah aus einer Entfernung von fünf und noch mehr Kilometern dort unten kleine Heuschrecken hüpfen und Käfer laufen, sie hätten mir geschmeckt, aber mein Magen war voll bis zum Platzen.
Ich senkte mich hinab, ließ mich auf dem sandigen Ufer nieder, begann zu watscheln.
»Weshalb hast Du Dich eigentlich herabgelassen?«
So fragte ich mich als Mensch, als Rabe war mir die Antwort ganz selbstverständlich ohne dass ich es tat. Dieser Zwiespalt, der sich doch so gut zusammenreimte, das ist es, was ich nicht zu schildern vermag. Das Ufer war hier sandig, dazwischen aber auch kleinere und größere Steine, alle dunkel, grau bis schwarz.
Ein einziger weißer Stein erregte meine Aufmerksamkeit, so groß wie ein Pfennig, nur wenig dicker. Etwas Goldglimmer war eingesprenkelt, in der Form eines A.
Das sah ich als Mensch.
»Das sieht ja gerade aus wie ein A.«
So sagte ich mir als Mensch.
Als Rabe sah ich dieses A nicht.
Als Rabe empfand ich plötzlich nur eine Gier, diesen weißen Stein, der sich von den anderen so hervorhob, zu verschlucken. Ich weiß nicht, ob die Raben wie einige Raubvogelarten, aber auch wie die Hühner, manchmal Steine verschlucken, wahrscheinlich zur besseren Verdauung. Ich hatte es weder bei freien noch bei gefangenen Raben beobachtet.
Aber ich weiß, dass dieser weiße Stein meine Gier erregte, ihn zu verschlucken, und ich tat es. Ich flatterte auf, ließ mich wieder nieder, verschluckte den Stein. Hatte ein sehr angenehmes, mich befriedigendes Gefühl dabei.
Dann stieg ich wieder auf.
Dort in der Wasserschlucht lag die »Argos«.
»Das ist unser Schiff.«
So sagte ich mir als Mensch.
Auch als Rabe dachte ich bei Anblick dieses Schiffes etwas, dachte es ganz klar, aber wiederzugeben vermag ich es nicht. Ja, ich glaube sogar, ich sah alles ganz, ganz anders, die Maus sowohl wie den Stein wie dieses Schiff, sah alles mit Rabenaugen, in meinem Gehirn entstand ein vollkommen anderes Bild, das ich für mein menschliches Gehirn gewissermaßen erst übersetzen musste, was aber in demselben Moment geschah, da es die Rabenaugen erblickten. Ich kann es nicht schildern.
»Dort willst Du Dich einmal niederlassen.«
So sagte ich mir sowohl als Mensch wie als Rabe, nur in total verschiedener Weise, unbeschreiblich.
Ich schwebte hinab und setzte mich auf die Oberbramrahe des Großmastes.
Die Sonne war schon längst untergegangen, aber die Dämmerung hielt hier sehr lange an. Ich sah alles noch ganz deutlich.
Die meisten der 16 zurückgebliebenen Jungen waren an Deck mit Kartoffelschälen beschäftigt.
Als Mensch kannte ich sie alle bei Namen, als Rabe waren sie mir fremd, ich wusste überhaupt nicht, dass es »Menschen« waren. Unbeschreiblich dieses Doppelgefühl. Immer muss ich es wiederholen.
»Undici — Diecinove — seht Ihr mich?!«
So rief ich.
Die Jungen hatten noch immer ihre italienischen Zahlennummern.
Wieder geschah etwas Unbegreifliches.
Doch nein, für mich war es vollständig begreiflich, aber beschreiben kann ich es nicht. Ich wusste, dass ich es gerufen hatte, und gerade als Mensch hörte ich nur ein »raab, raab«, aus meinem geöffneten Schnabel kommen. Was dieses »raab, raab« bedeutete, das wusste ich als Rabe, es war eine für mich ganz verständliche Sprache, aber als Mensch verstand ich es nicht, und doch hatte ich es ja selbst gerufen. Unbeschreiblich.
Die Jungen und andere blickten empor.
Sie deuteten und sprachen zusammen.
Jedes Wort verstand ich. Als Mensch. Und dennoch war es mir unverständlich. Das heißt, ich vermochte später, als ich wieder erwachte, nicht mehr zu sagen, was die Jungen damals gesprochen hatten. Mit anderen Raben bin ich damals leider nicht zusammengekommen. Wahrscheinlich wäre es mir dabei auch traurig ergangen.
Auch der Bandlwurm befand sich an Deck, wusch Kartoffeln. Als Artist, der ja auch gutes Geld verdient hatte, liebte er natürlich Schmuck über alles, auch bei uns trug er immer einen goldenen Ring mit rotem Stein.
Den hatte er jetzt beim Kartoffelwaschen abgestreift, ihn auf die Bordwand gelegt.
Dieser Ring erregte mächtig meine Habgier. Eine unbändige Lust wandelte mich an, ihn zu besitzen.
Herabgestürzt, über Deck geschossen, im Fluge den Ring mit dem Schnabel von der Bordwand erhascht.
Dann saß ich schon wieder auf der Marsrahe des Kreuzmastes, den Ring im Schnabel, mit einem wahren Entzücken in meinem Rabenherzen. Dabei hatte ich mich auch schon wieder den Menschen dort unten zugekehrt, betrachtete sie.
Bandwurm schrie, deutete nach mir, alles blickte nach mir.
Ich hohnlachte ihrer. Aber nicht etwa, dass ich dabei den Schnabel aufsperrte. Ich lachte ihrer in meinem Rabenherzen und freute mich des glitzernden Ringes.
Ventuno war es, der jetzt unter der Back hervorgesprungen kam, ein Gewehr in der Hand, es auf mich anlegte.
Das sah ich als Mensch wie als Rabe.
Aber doch grundverschieden.
»Pass auf, der will Dich schießen!«
So sagte ich mir als Mensch.
Als Rabe wusste ich gar nicht, was der da unten für einen Stock in der Hand hatte und ihn nach mir richtete. Als Rabe kannte ich noch keine Feuerwaffe.
Und der Rabencharakter war der mächtigere, ich blieb ruhig sitzen und beobachtete.
Bimbim — bimbim — bimbim — bim, ging es.
Da Wache gegangen, wurde geglast, mit der Schiffsglocke die Zeit gemeldet, aller halben Stunden.
Sieben Glasen — halb acht.
Puff!
Doch nein, ich hörte den Knall gar nicht, ich sah nur den Feuerstrom, ich fühlte einen heftigen Schlag, einen schneidenden Schmerz...
»Ventuno hat mich erschossen!«
Ventuno kam mit einem Gewehr hinzugesprungen,
legte es auf den Raben an und schoss ihn herunter.
Das war das letzte, was ich als Mensch dachte, und als Rabe fühlte ich, wie ich meine Fänge noch einmal krampfhaft zusammen krallte, den Ring hatte ich schon aus dem Schnabel fallen lassen, dann stürzte ich, meine Seele versank in schwarze Nacht.
Und dann wusste ich, dass ich in der orientalischen Kammer auf dem Diwan saß, wusste es ganz deutlich. Wusste, dass Juba Riata und der Eskimo und die Begum um mich waren, ich sah sie und sah sie dennoch nicht — ich war tot und dennoch lebendig...
Ein furchtbares Grausen befiel mich. Ich wollte mich bewegen und konnte nicht. Ich war ja tot. Obgleich ich lebte. Ich war scheintot...
Und dieser entsetzliche Zustand währte eine ganze Ewigkeit!
Bis ich endlich Juba Riata sprechen hörte.
»Es ist zehn Minuten vor acht, jetzt müsste er wieder zu sich kommen.«
Da war ich bereits wieder zu mir gekommen.
Ich war aufgesprungen.
Fort, fort, nur fort von hier!
Vergebens befragte mich die Begum, was ich denn erlebt habe, was mir passiert sei, ob ich etwa getötet worden sei.
Ich wollte nichts hören!
Nur fort, fort von hier!
Noch immer rannen mir die kalten Todesschauer über den Rücken. Wie es weiter kam, weiß ich nicht. Ich saß im Kutter, zwischen Juba Riata und Doktor Cohn, die 16 Jungen pullten durch die einbrechende Nacht.
Als ich das Deck betrat, war ich wieder etwas bei Besinnung.
Da sah ich Ventuno, und ich konnte ihn befragen.
»Was habt Ihr vorhin gegen halb acht gemacht?«
»Kartoffeln geschält.«
»Und — habt Ihr da etwa einen Raben gesehen?«
Der Junge riss vor Staunen die Augen weit auf.
»Woher wissen Sie denn das schon, Herr Waffenmeister? Ja, dort oben auf der Oberbramrahe des Großmastes saß ein Rabe, wir wunderten uns, wo der herkäme, alle anderen Raben sind doch schon fortgeflogen — plötzlich schreit der Bandlwurm, und da sehen wir auch schon, wie der Rabe dicht über Deck streicht. Bandlwurm hatte seinen Ring auf die Bordwand gelegt, den hatte der Rabe schon im Schnabel, saß mit ihm dort oben auf der Marsrahe des Kreuzmastes, ich sprang schnell unter die Back und holte mein Tesching, lud es — der Rabe saß noch dort oben — ich schoss ihn herunter, der Ring fiel gerade in den Kartoffeleimer...«
Leser, verlange nicht, dass ich schildern soll, wie mir zumute ward, als ich dies vernahm!
Aber ich konnte noch weiter fragen.
»Was ist aus dem toten Raben geworden?«
Ängstlich und scheu blickte mich der sonst so kühne Junge an. Er mochte vielleicht eine Stimme wie aus dem Grabe gehört haben, dementsprechend mochte ich auch aussehen.
»Dort liegt er noch. Die Hunde wollten ihn nicht fressen.«
Ich hielt den toten Raben, von einer Teschingkugel ins Herz getroffen, in meiner Hand.
Ich brachte es über mich, seinen Leib zu öffnen, seinen Magen.
Er enthielt zwei Mäuse, einige Eidechsen, Käfer und anderes Gewürm.
Und ferner einen weißen Stein, von der Größe eines Pfennigs mit Goldglimmer gesprenkelt, und dieser zeigte deutlich die Figur eines lateinischen A...
Es war Nacht geworden. Ich saß in meiner Kabine, vor mir ein dickes Buch, in dem ich gelesen hatte.
Mein furchtbarer Schreck war schon längst überwunden. Jener furchtbare Schreck, den ich empfunden, als ich den gezeichneten Stein in dem Magen des Rabens gefunden hatte.
Ich sage: furchtbarer Schreck. Es war eine ganz andere Empfindung gewesen, für die ich aber keine Bezeichnung habe. Höchstens könnte ich sagen, dass mir plötzlich eine eiskalte Hand ans Herz gegriffen hätte.
Das hatte ich also hinter mir, die besonnene Ruhe war wieder bei mir eingekehrt. Ich hatte mit Juba Riata und Doktor Cohn gesprochen, ihnen alles erzählt, und letzterer hatte mir aus seiner eigenen Bibliothek dieses dicke Buch gebracht. Es war der zweite Band von Karl Kiesewetters dreibändigem Werke »Geschichte des Okkultismus«.
Da drin fand ich eine Erklärung dieses Phänomens. Karl Kiesewetter, erst vor einigen Jahren gestorben, war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, war selbst Okkultist, aber einer von der denkbar nüchternsten Sorte, der scharfsinnigste Denker dazu, und dann vor allen Dingen ehrlich bis auf die Knochen! Von seinem Großvater erbte er seine ansehnliche okkultistische Bibliothek, die er während seines ganzen Lebens ständig vermehrt hat, er setzte sich mit anderen angesehenen Okkultisten in Verbindung, bereiste ganz Deutschland, Frankreich und England, um in privaten und öffentlichen Bibliotheken nach ihm noch unbekannten Schriften aus dem Gebiete der Geheimwissenschaften zu forschen, wozu er selbst noch Arabisch lernte und sich einen hebräischen Übersetzer hielt, und auf diese Weise ist sein dreibändiges Lebenswerk entstanden, in dem er alles zusammen getragen hat, was alle Völker dieser Erde auf dem Gebiet des Übersinnlichen gedacht und praktiziert haben, von den Chinesen vor zehntausend Jahren an bis auf den heutigen Tag.
Es ist nicht zu verlangen, dass unser materialistisches Zeitalter solch ein Buch zu würdigen weiß. Aber diese Zeit wird noch kommen. Und dann wird man vor diesem deutschen Gelehrten den Hut abnehmen, vor seinem Denkmal. Die kleine Auflage, die Kiesewetter auf seine Kosten drucken ließ, ist vergriffen, selten einmal findet man das Buch in einer öffentlichen Bibliothek, die Exemplare verteilen sich auf Privatbibliotheken, ich selbst besitze eins.
Das Phänomen, welches hier bei mir vorlag, fällt unter die Rubrik der sogenannten persönlichen Transformationen.
Zur Erklärung knüpft Kiesewetter an ein gerichtliches Aktenstück aus dem 17. Jahrhundert an, das er in einem französischen Archive fand.
Zwei Brüder, Bauern aus der Gegend von Dijon, klagten sich selbst vor Gericht an, von Gewissensbissen geplagt, dass sie ihre Seelen dem Teufel verschrieben hatten, der ihnen Schätze versprochen habe, um diese habe er sie aber geprellt, statt dessen habe er ihnen nur ein Mittel gegeben, durch welches sie sich in Wölfe verwandeln könnten. Das täten sie nun allnächtlich, schweiften als Wölfe herum, zerrissen Schafe und trieben anderen Unfug, hätten auch schon viele Menschen gefressen. Davon könnten sie nun nicht mehr lassen. Obgleich es ihnen selbst das größte Unbehagen bereite. Wenigstens hinterher. Abgesehen von den Gewissensqualen fühlten sie sich auch am anderen Tage, wieder in die Menschengestalt zurückversetzt, wie zerschlagen. Weil sie als Wolf immer fürchterlich rennen müssten. Das mache ihnen zwar als Wolf das größte Vergnügen, aber hinterher könnten sie die menschlichen Beine kaum noch regen. Gerade deshalb müssten sie sich wieder in Wölfe verwandeln. Und nun noch als Wolf die Lust am Zerreißen und Fressen von Schafen und Menschen
Also die alte Geschichte vom Werwolf.
Die Sache kam vors Quirinal, und zwar wurde sie hier einmal prüfend untersucht, alles protokolliert, welche Akten sich eben noch erhalten haben. Kiesewetter gibt sie im französischen Original wieder.
Die beiden sollten einmal ihr Mittel in Gegenwart von Zeugen anwenden. Gut, sie zogen sich aus, rieben ihren ganzen Körper mit einer Salbe ein... und fielen bald in Starrkrampf. Als sie nach einigen Stunden wieder zu sich kamen, behaupteten sie, als Wölfe herumgerannt zu sein, Schafe zerrissen und gefressen zu haben, auch ein Kind hatten sie angefallen, waren aber verscheucht worden.
Den betreffenden Ort, wo es geschehen, konnten sie immer genau angeben, man forschte nach, und siehe da, es war eine Tatsache! So, wie sie es geschildert, waren die Schafe zerrissen worden, der hatte ein Bein gefressen, jener nur die Leber und Nieren, und ein kleines Mädchen war wirklich von zwei Wölfen angefallen worden, genau so, wie es die beiden Brüder beschrieben.
Es lässt sich denken, was die Herren vom Quirinal für Gesichter machten. Die beiden hatten doch immer hier gelegen! Diese selbst wussten natürlich nichts davon, die waren der Überzeugung, auch mit ihren Leibern wirklich draußen gewesen zu sein, eben nur in Wölfe verwandelt. Sie hatten sich auch niemals gegenseitig beobachtet. Denn der Teufel, einfach ein Fremder, der einmal auf ihrem Bauernhofe übernachtet hatte, solche magische Künste verstand und dem es Vergnügen bereitete, andere Menschen darin einzuweihen, natürlich mit dem nötigen Hokuspokus, der hatte ihnen gesagt, dass sie die Einreibungen unbedingt gleichzeitig vornehmen müssten, denjenigen, der es unterließe, wenn sich der Bruder in einen Wolf verwandele, würde er sofort in seine Hölle holen.
Das Experiment wurde, wie die Akten angeben, noch mehrmals gemacht, immer mit dem gleichen Erfolg. Die beiden Brüder zerrissen als Wölfe Schafe, gaben den Ort an, wo es geschehen war, mit allen Einzelheiten, und immer stimmte es. Ein einziger der Zeugen, ein Bischof, der durch seine Frömmigkeit teufelsfest war, gebrauchte selbst das Mittel, rieb sich mit der Salbe ein und verwandelte sich richtig in einen Wolf, der in einen Schafstall einbrach, aber erst nachdem er stundenlang mörderlich herumgerannt war, sodass er dann nach dem Erwachen kaum noch seine menschlichen Beine regen konnte. In jenen Schafstall war wirklich ein Wolf eingebrochen, genau so wie es der Bischof beschrieb. Außerdem aber hatte er sich, wie auch die beiden Brüder, mit anderen Wölfen vereinigt, und ich darf nicht verschweigen, dass dabei immer der Begattungstrieb eine wichtige Rolle spielte. Das mochte auch der Hauptgrund gewesen sein, weshalb sich die beiden so gern in Wölfe verwandelten.
Der Prozess wurde abgeschlossen, ohne dass man weiter nach einer Erklärung suchte. Eben Zauberei, Bündnis mit dem Teufel — die beiden Brüder wurden hingerichtet — aufs Rad geflochten und verbrannt. Auch gar nicht so mit Unrecht. Sie hatten vielerlei auf dem Kerbholz. Hatten noch andere Scheußlichkeiten begangen, nicht nur in ihrer Einbildung als Wölfe, Leichenschändung, Kirchenraub und dergleichen. Um sich eben die Ingredienzien für jenes Zaubermittel zu verschaffen.
Am interessantesten nämlich ist, dass in diesen Akten einmal das Rezept für das Zaubermittel des Werwolfs angegeben ist. Kiesewetter hatte es sich bereitet und an seinem eigenen Körper angewendet, mit teilweisem Erfolge, oder sogar in gewisser Hinsicht mit vollständigem Erfolg. Natürlich hat er nicht, wie es der »Teufel« angegeben und wie es auch die beiden Brüder gemacht hatten, bei nächtlicher Weile auf dem Friedhofe die Leiche eines totgeborenen Kindes ausgegraben, hat sie nicht gebraten, um das Fett zu gewinnen, er ist auch nicht in eine Kirche eingebrochen um ein geweihtes Kruzifix zu stehlen, des Goldes wegen, das unter Teufelssprüchen ganz fein pulverisiert werden musste, sondern er hat einfach feingefeiltes Gold mit Schweinefett verrieben.
Weiter gebe ich das Rezept zu der Salbe hier nicht an. Es handelt sich durchweg um sehr giftige Pflanzen, deren Säfte mit Fett zu einer Salbe verrieben werden, das Gold spielt dabei die Rolle des Quecksilbers, welches in diesem feinverteilten Zustande beim kräftigen Einreiben in die Poren der Haut dringt, in den Körper übergeht. Denn auch das metallische Quecksilber ist ja an und für sich nicht etwa giftig. Oder man kann es überhaupt nicht in den Körper bringen. Es dringt nicht etwa in die Poren der Haut ein. Das ist eine Fabel. Früher, aber zum Teil auch heute noch, wurde für gewisse Fälle, wenn es die Därme zu reinigen gilt, metallisches Quecksilber gegeben, innerlich eingenommen bis zu 100 Gramm. Es geht glatt durch Magen und Därme hindurch. Anders ist es, wenn Quecksilberdämpfe eingeatmet werden, oder wenn man es in ganz feinverteiltem Zustande, wozu man es mit Fett vermischt, in die Haut verreibt, dann allerdings dringt es in den Körper und wirkt sehr giftig, wie auch die meisten Quecksilberverbindungen.
Hierbei also wurde feinverteiltes Gold verwendet. Jedenfalls zu keinem anderen Zwecke, als dass es die dem Fette beigemischten Pflanzensäfte mit durch die Poren der Haut nahm. Kiesewetter hat diese Salbe an sich selbst probiert. Nachdem er seinen Körper tüchtig damit eingerieben, dauerte es nicht lange, so trat Gliederstarre ein. Das klare Bewusstsein behielt er zunächst noch. Da bemerkte er, dass er zuerst einen pelzigen Geschmack auf der Zunge bekam. Es war ihm, als hätte er auf der Zunge einen Pelz. Dieser Pelz erstreckte sich immer weiter, über den ganzen Körper. So lange er noch seine Hand rühren konnte, fühlte sich alles, was er betastete, pelzig an, auch eine Glasscheibe, und dieses Gefühl erstreckte sich auch auf seinen eigenen Körper. Sehr einfach, denn wir fühlen doch nicht nur mit den Fingern.
Dann verlor er das Bewusstsein. Ob er etwas Bestimmtes geträumt hat, weiß er nicht. Aber das weiß er bestimmt, dass er immer rennen musste. Rennen, immer rennen mit Windeseile. Als er nach einigen Stunden wieder zu sich kam, war das Pelzgefühl nicht mehr vorhanden, aber er fühlte sich am ganzen Körper wie zerschlagen, und am längsten hielt der große Schmerz in den Lenden an, noch länger in den Bein- und Wadenmuskeln. Genau so, als wäre er einen ganzen Tag lang, wie ich einmal, Treppen gestiegen, oder eben als wäre er unausgesetzt gerannt, ohne es gewohnt zu sein, und dessen entsann er sich auch noch. Dieses Gefühl wurde er erst nach zwei Tagen wieder los, während derer er auch sonst unter einem fürchterlichen Katzenjammer zu leiden hatte.
Hierbei will ich noch etwas anderes anführen, es gehört in denselben Rahmen. Kiesewetter hat auch Rezepte für Hexensalben aufgestöbert, hat sie zusammengebraut und an sich selbst probiert. Wieder Starrkrampf und dann das Gefühl, als ob er durch die Luft flöge. Das kann ich bestätigen. Ich selbst habe später mir solch eine Salbe einmal bereitet und probiert, auch ich glaubte durch die Luft zu fliegen, wenn auch nicht auf einem Ziegenbock oder auf einem Besenstiel, landete nicht auf dem Blocksberge, wohnte keiner Hexenorgie bei, sondern ich flog nur und flog, bis ich wieder zu mir kam.
Dass es Substanzen gibt, die innerlich eingenommen oder äußerlich gebraucht, bestimmte Bewegungsgefühle auslösen, das weiß eigentlich jeder. Wenigstens jeder, der einmal einen Rausch gehabt, ohne den man ja bekanntlich kein braver Mann ist. Zuerst, wenn man an den Alkohol noch nicht gewöhnt ist, man hat einmal mehr Bier getrunken, als man vertragen kann, und man legt sich zu Bett, dann fängt doch alles sich zu drehen an, der Betreffende selbst dreht sich am meisten, besonders wenn er die Augen schließt. Mir wenigstens ist es so gegangen, als ich so ungefähr mit 13 Jahren meinen ersten »Kommers« gehabt hatte, ach, was bin ich mit meinem Bett herumgegondelt, immer im Kreise herum, und das immer wieder, bis ich »bierfest« war, und auch weiß, dass es den meisten Menschen so ergangen ist, und besonders Damen, die sonst nichts trinken, haben es immer wieder.
Also Alkohol, innerlich eingenommen, löst das Gefühl von Drehbewegungen aus. Äußerlich eingerieben dürfte die Wirkung eine noch viel intensivere sein. Aber einfaches Einreiben genügt da noch nicht. Die Flüssigkeit dringt doch nicht richtig ein. Anders schon, wenn Alkoholdämpfe von den Hautporen eingeatmet werden. Dadurch wird man ebenfalls bezecht. Am stärksten aber dürfte die Wirkung des Alkohols als Berauschungsmittel sein, wenn man ihn in homöopathischer Verdünnung, etwa ebenfalls mit Fett vermischt, einreibt, auch wieder unter Zusatz eines feingepulverten Metalls.
Auf diese Weise löst jenes Werwolfsmittel das Gefühl des Rennens, jene Hexensalbe das des Fliegens aus. Diese Theorie ist um so richtiger, als auch die dazu verwendeten Pflanzensäfte erst in alkoholische Gärung übergehen müssen.
Somit wäre die natürliche Erklärung gegeben. Bei dem Wolfsmittel kommt noch das Gefühl des Pelzigseins hinzu. Nun freilich fühlte sich Kiesewetter nicht in einen Wolf verwandelt, erlebte keine Wolfsabenteuer, so wenig wie ich unter Vorsitz des Teufels mit Hexen eine Orgie feierte.
Aber auch hierfür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Wir glauben heute nicht mehr an Vampire, Werwölfe und Hexen. In jenem Zeitalter hingegen war man von solchen Möglichkeiten vollständig überzeugt, Inquisition und Hexenprozesse füllten alle Köpfe aus. Also handelte es sich um Massensuggestion. Wer solch eine Salbe mit Gebrauchsanweisung erhielt und benutzte, der verwandelte sich in seiner Einbildung auch in einen wirklichen Wolf. —
Die letzte Erklärung ist das ja nun freilich noch nicht. Die Hauptsache fehlt, die Erklärung des letzten Phänomens, wie die Angaben des menschlichen Werwolfs stimmten, wie auch ich als Rabe wirklich den Stein verschluckt hatte.
Kiesewetter braucht zu dieser Erklärung 20 Seiten. Die kann ich unmöglich hier wiedergeben, und außerdem setzt er dazu voraus, dass auch der erste, fast tausendseitige Band und die Hälfte des zweiten gelesen worden ist. Und schließlich kann man dies alles doch nur intuitiv begreifen, ahnungsvoll, am wenigsten es in Worte kleiden.
Die brahmanische Philosophie der Veden fasst dies alles in den zwei Worten zusammen: tatwam asi — das bist Du!
Dann flieht meine Seele zurück,
Bis wo vor zahllos vergessenen Jahren
Der Vogel und der wehende Wind
Mir ähnlich und meine Brüder waren.
Dann wird meine Seele ein Tier.
Und ein Baum und ein Wolkenweben.
Verwundert kehrt sie zurück und fragt mich. —
Wie soll ich ihr Antwort geben?
Es braucht sich aber gar nicht um »zahllos vergessene Jahre« zu handeln.
Es gibt gar keine Zeit. Auch sie ist nur eine Täuschung der Maja. Es gibt nur ein momentanes Jetzt. Wer im Finstern einschläft und im Finstern erwacht, wer will sagen, wie lange er geschlafen hat? Ob nur eine Minute oder einige Stunden? Und kann er in dieser einen Minute nicht einen langen, langen Traum gehabt, ein ganzes Leben durchlebt haben?
Ich will bei meinem Falle bleiben.
Jenes Elixier in der Kristallflasche war ein Universalmittel, um solche Verwandlungen in der Einbildung herbeizuführen.
Ich hatte gewünscht, ein Vogel zu werden, im Hintergrunde meiner Gedanken dabei schon einen Raben sehend.
Da hatte ich auch schon als Rabe im offenen Fenster gesessen. Aber nicht etwa in sichtbarer Gestalt. Juba Riata und der Eskimo hatten nicht etwa einen Raben im Fenster sitzen sehen. Das wäre ihnen sicher nicht entgangen.
Vorläufig war es nur meine unsichtbare Seele, oder mein zweites Ich oder mein Astralkörper, oder wie man es nun sonst nennen mag, was sich in der Einbildung als Rabe fühlte.
Denn an so etwas muss man nun freilich glauben. Und im nächsten Jahrhundert wird es keinen gebildeten Menschen mehr geben, der an so etwas nicht glaubt. Ebenso wie es heute keinen gebildeten Menschen gibt, der nicht vollständig davon überzeugt ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Und woher will er denn das wissen? Wer kann denn das berechnen? Und es lässt sich überhaupt nicht berechnen. Es ist noch immer nichts weiter als eine Theorie. Es ist etwas Übersinnliches. Denn wir können diese Bewegung der Erde um die Sonne doch nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen. Unsere Sinne sagen uns sogar gerade das Gegenteil. Die Sonne dreht sich um die Erde. Und dennoch sind wir vom Gegenteil fest überzeugt.
Da hat man es! Das ist solch ein Fall, wo ich jeden Materialisten sofort auf den Sand setzen will, wenn er mit handgreiflichen Beweisen anfängt, die er haben will, wenn er etwas glauben soll.
Ich will jenes unfassbare Etwas Seele nennen. Meine Seele hatte den Körper verlassen, hatte die Gestalt eines Raben angenommen, saß als solcher im Fenster, flog hinaus. Zunächst unsichtbar, nur in der Einbildung, obschon dennoch in Wirklichkeit.
Da flog ein wirklicher Rabe vorbei, der die Sommerreise nach dem Norden mit seinen Kameraden nicht angetreten hatte.
Dieses Raben bemächtigte sich meine Seele, sie fuhr in ihn hinein, nach den Gesetzen der Affinität, der Anziehungskraft der verwandtschaftlichen Gefühle.
Und ich glaube, ich glaube — solch ein Austausch der Seelen findet alltäglich und allstündlich und jeden Moment in zahllosen Wiederholungen statt.
Jede Volksversammlung, in der ein feuriger Redner die ganze Menge umstimmt, bis alle ihm begeistert zujubeln, oft genug im direkten Widerspruch zu ihren sonstigen Überzeugungen, ist mir ein Beweis dafür.
Sie werden einfach... »besessen«!
Meine Seele hatte ein Rabe sein wollen, deshalb war sie in den nächsten ihr begegnenden Raben gefahren; Sie hatte ihn »besessen« gemacht. Wenn der Rabe hiervon auch gar nichts zu merken brauchte.
Das Weitere erübrigt sich nun.
Als der Rabe seine Seele aushauchte, verließ auch meine den toten Körper, fuhr in den starren Menschenleib zurück, musste nur noch die einmal festgesetzte Zeit ausharren, bis sie auch wieder als Menschenseele funktionieren konnte.
Nur noch eine Frage will ich aufwerfen. Gesetzt nun den Fall, ich hätte gewünscht, mich in ein Tier zu verwandeln, welches in dieser Gegend gar nicht vorkam. Etwa in ein Zebra. Und nicht nur in meiner Einbildung wollte ich in jenem Raume ein Zebra sein, mich als solches im Spiegel sehen, sondern ich wollte als ein solches wirklich draußen herumschweifen.
Nun, ich hätte schon ein Zebra zu finden gewusst, von dem meine Seele Besitz ergriff. Ich wäre einfach nach dem nächsten zoologischen Garten hinübergerutscht, oder auch gleich nach Afrika. Für die Seele gibt es ja keinen Raum. Ebenso wenig wie für die Phantasie. Ich kann doch im nächsten Moment auf einem fernen Planeten sein, im Traume sowohl wie im wachen Bewusstsein.
Wenn ich aber nun als Zebra hier in diesem sibirischen Tale umherschweifen wollte?
Dann, nehme ich an, hätte ich jedenfalls vom nächsten einem Zebra am ähnlichsten Tiere Besitz ergriffen. Also von einem Tarpan, oder noch wahrscheinlicher von einem Kulan. Als solchen hätten mich andere Menschenaugen gesehen. Ich selbst aber hätte mich als afrikanisches Zebra gefühlt, und hätte ich in einen Wasserspiegel geblickt, so hätte ich mich zweifellos auch als wirkliches Zebra mit buntgestreiftem Felle gesehen.
Und wenn ich nun ein Tier hätte sein wollen, das heute gar nicht mehr existiert, ein vorsintflutliches Ungeheuer?
Dann wäre ich zweifellos auch dieses geworden. Ohne mich des Unterschiedes der Zeit bewusst zu werden.
Denn für die Seele gibt es keine Zeit, es gibt nur ein Jetzt.
»Die Begum bittet den Herrn Waffenmeister sprechen zu dürfen.«
So meldete Siddy.
»Ich empfange sie hier.«
Sie trat ein, in einen weiten, dunklen Mantel gehüllt.
»Ich stehe doch unter dem Schutze Deiner Gastfreundschaft?«
»Selbstverständlich.«
»Du bist vorhin so schnell davongegangen, fast fluchtähnlich, ohne mir etwas zu berichten.«
»Ja, ich war sehr erregt, bestürzt, erschrocken.«
»Hast Du Schreckliches erlebt?«
Ich berichtete ihr mein Rabenabenteuer.
»Also nur ein Schreck über das Ungewohnte. Dass Dir sonst nichts passieren kann, habe ich Dir ja gleich gesagt. Du brauchst ja auch nur zu wünschen, wieder in jenem Raume zu sein, dann bist Du es sofort und jeder drohenden Gefahr entronnen. Und Du hast doch auch sonst keine üblen Folgen verspürt?«
»Nein, eigentlich nicht. Nur eben einen Schreck, und der ist überwunden.«
»Du wirst Dich bald daran gewöhnen.«
»Woran denn?«
»An solche Verwandlungen in Tiere.«
»Du meinst, ich mache dieses Experiment noch einmal?«
»Gewiss doch.«
Ich hob beide Hände empor, als wollte ich gleich mit allen zehn Fingern einen Eid leisten.
»Nicht für alle Schätze der Welt! Und ich täte es nicht, auch wenn ich dadurch mein Liebstes vom Verderben retten könnte.«
»Weshalb denn nur nicht?«
»Weil ich nichts mit solch unnatürlichen Künsten zu tun haben will...«
»Weil Du ein Feigling bist!«, wurde ich unterbrochen.
»Begum! Du willst ein streitbares Weib sein. So fordere ich Dich für diese Beleidigung zum Zweikampf auf Leben und Tod heraus, Du sollst die Art bestimmen, von der Du ganz sicher bist, mir darin überlegen zu sein.«
»Nein, wir wollen friedliche Nachbarn bleiben, es war nicht so gemeint, ich wollte nicht beleidigen. Aber weshalb willst Du nur das Experiment nicht wiederholen? Du hast doch selbst gesehen, wie gefahrlos...«
»Nein, sage ich, und bei diesem Nein bleibe ich!«
»Du wirst dadurch so gut wie allwissend, kannst in fremder Gestalt andere Menschen beobachten und belauschen...«
»Du willst mich wohl als Spion benutzen?«
»Ja, allerdings, ich gestehe es! Nicht gerade als Spion — ich habe etwas ganz Besonderes mit Dir vor.«
»Weshalb verwandelst Du Dich denn nicht selbst in einen Vogel und fliegst auf Spionage aus. Oder kannst Du es nicht?«
»Doch.«
»Nun, warum tust Du es nicht?«
»Ich vermag es nur in jenem Raume auszuführen!«, erklang es etwas zögernd, als müsse ein unliebsames Geständnis gemacht werden, und nicht anders war es ja auch.
»Du darfst diesen Raum wohl nicht in solch einer anderen Gestalt verlassen?«, kam ich gleich entgegen.
»Nein.«
»Weshalb denn nicht?«
»Ein Gelübde bindet mich.«
Wieder einmal ein Gelübde! Genau wie bei den spiritistischen Tischgeistern. Die wissen, wenn man sie danach befragt, auch immer einen Schatz unter der Erde liegen, ganz in der Nähe, und wo in der Nähe von menschlichen Ansiedlungen sind wohl auch nicht Gelder und Schätze vergraben, die »Geister« können die Münzen und Goldsachen ganz genau beschreiben, sie geben die Tiefe bis auf den Zentimeter an, der Ort ist erreichbar, man braucht nur den Spaten mitzunehmen, sie wollen einem auch den Ort zeigen, sehr gern, aber... sie dürfen nicht. Sie haben ein Gelübde abgelegt, einen Schwur getan. Und dagegen ist natürlich nichts zu machen, da hilft kein Bitten und auch nicht das Anpacken an der Ehre, wogegen diese Geister sonst so empfindlich sind. Solch ein Schwur ist natürlich unumstößlich — bei einem ätherischen Geiste. Wenns auch im Leben der größte Lump war, der für einen Schnaps dreimal falsch schwor. Im Geisterreiche scheint's keinen Schnaps zu geben.
»Dann schicke doch einen anderen als Vogel hinaus, um ihn beobachten zu lassen.«
»Es geht nicht.«
»Wohl nur ich darf den Verwandlungstrunk nehmen?«
»Du sagst es. Wenigstens darf niemand anders als Du in anderer Gestalt jenen Zauberraum verlassen.«
»Wer hat denn das geboten?«
»Kapitän Satin.«
»Oho! Der hat mir weder etwas zu verbieten noch zu gebieten!«
»Es ist ein Befehl Merlins, dem sich auch Kapitän Satin zu fügen hat.«
»Aha, das ist etwas anderes. Nein, gib Dir keine Mühe weiter, ich wiederhole dieses Experiment nicht wieder.«
Finster und drohend blickte mich das Weib an.
»Und Du musst dennoch einer der unsrigen werden!«
»Gar nichts muss ich.«
»Ich stehe also unter dem Schutze der heiligen Gastfreundschaft?«
»Weshalb fragst Du das nochmals?«
»Weil Du jetzt eine Drohung von mir zu hören bekommen wirst.«
»Zu hören? Gut. Drohen kannst Du so viel Du willst, das tut nicht weh. Aber sobald Du drohend gegen mich vorgehst, handgreiflich werden willst, dann ist es natürlich mit der heiligen Gastfreundschaft vorbei, dann wirst Du auch einen handgreiflichen Gegner finden.«
»Wenn Du nicht freiwillig zu mir kommst und Dich meinen Wünschen fügst, dann — lasse ich Deine Leute martern.«
So sprach das Weib und hatte auch schon die Kabine verlassen.
Mit einem leisen Stöhnen ließ ich mich auf einem Stuhl nieder.
Was sollte ich tun, um zu verhindern, dass sie ihre Drohung ausführte?
Im Augenblicke hatte ich nur einen einzigen verzweifelten Gedanken.
»O Price O'Fire, Du Fürst des Feuers, warum hast Du mich hierher gelockt! Konnte mich dieser Merlin nicht wenigstens davor schützen, dass wir nicht...«
Wieder öffnete sich die Tür, wieder trat Siddy mit einer Meldung ein.
»Merlin ist da und möchte Sie sprechen.«
Ich will nicht annehmen, dass ich ihn wie einen Geist beschworen hatte, plötzlich zu erscheinen. Er mochte eben schon unterwegs gewesen sein.
Jedenfalls aber kam er im geeignetsten Momente, schon jetzt fiel mir eine Zentnerlast vom Herzen.
Er trat ein, der jugendfrische Greis, zum ersten Male, dass er das Schiff betrat.
Jetzt hatte er wieder einmal seinen langen Bogen in der Hand, auf dem Rücken den mit Pfeilen gespickten Köcher.
»Verzeihe mir, wenn ich Dich störe.«
»Du störst mich nicht, Du kommst mir vielmehr wie gerufen.«
»Die Begum war soeben bei Dir.« — »Ja.«
»Was sagte sie?«
Ich berichtete.
»Es war eine leere Drohung, um Dich zur Nachgiebigkeit zu bewegen!«, lautete dann der Trost. »Sie darf auch Deinen Leuten, die sie jetzt ihre Sklaven nennt, kein Haar auf dem Haupte krümmen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil es ihr verboten ist, und sie weiß, dass sie nicht dagegen handeln darf.«
»Was würde dann geschehen?«
»Es wäre ihre eigene Vernichtung, ihre und ihrer sämtlichen Amazonen.«
»Dieses Weib ist zu allem fähig, es wird sich, wenn es darauf ankommt, an solch ein Verbot nicht kehren, mögen auch die Folgen sein, welche sie wollen.«
»Genug, glaube mir, dass sie Deine Leute nicht martern wird. Etwas anderes wäre es, wenn sich die Gefangenen, um sich zu befreien, tätlich an den Amazonen vergriffen, dann würden sich diese wehren, jene mit Waffengewalt überwältigen und auch töten, das dürften sie, dann handelten sie eben in der Notwehr. Sonst aber sind sie in ihrer Gefangenschaft vor jeder Unbill geschützt.«
»O, Merlin, warum konntest Du es so weit kommen lassen, dass meine Argonauten erst in diese schmachvolle Gefangenschaft gerieten!«, konnte ich jetzt nur schmerzlich sagen. »Du wolltest uns doch vor jeder Gefahr warnen! Warum tatest Du es nicht? Dass wir uns mit diesen höllischen Weibern nicht in solche Zweikämpfe einließen?«
»Wäret Ihr etwa zurückgetreten, wenn ich Euch gesagt hätte, diese Amazonen seien Euch überlegen? Hättet Ihr es mir überhaupt geglaubt?«
Ja freilich, da hatte er recht! Erstens hätten wir es ihm nicht geglaubt, und wenn doch, so hätten wir dennoch den uns zugeworfenen Handschuh aufgenommen.
»Wie ist es nur möglich, dass uns diese Weiber so überlegen sind? Was haben die für eine besondere Ausbildung?«
»Gar keine besondere Ausbildung.«
»Was denn sonst?!«
»Deine Argonauten sind durch magische Künste besiegt worden.«
»Was, durch magische Künste?!«
»Ja. Aber nicht durch Zauberei, wie Du jetzt wohl meinst. Ich verstehe unter Magie noch etwas ganz anderes. Die Indianer würden mich sofort verstehen. Wenn ich statt Magie Medizin sagen würde. Diese Weiber haben ein medizinisches Mittel angewandt, um die Kraft und Gewandtheit des Körpers, um die Leistungsfähigkeit aller Muskeln und Sehnen und Organe für einige Stunden bis zur höchsten Leistungsfähigkeit zu steigern. Deshalb waren sie stärker und schneller als Ihr. Dadurch wurde ihr Auge so sicher und ihre Hand so ruhig, dass sie auch solche Schießleistungen erzielen konnten. Nur in gewissen Spezialfächern versagte das Mittel. Das Rückgrat konnte nicht so geschmeidig gemacht werden wie das Deines indischen Dieners. Auch einer ganz besonderen Fechtkunst vermochte die ihre nicht standzuhalten. Und ebenso versagte dieses Mittel, wenn wie bei jenem Halten der Hände ganz besondere Muskeln in Anspruch genommen wurden.«
Dann war dieses Rätsel gelöst!
Ich hatte ja auch schon damals angedeutet, dass es solche Mittel, um die Leistungsfähigkeit des Körpers bis zum extremsten Grade zu steigern, der die Blätter der Kokapflanze kauende peruanische Indianer hält 24 Stunden im schnellsten Laufe aus, natürlich nicht ohne üble Nachfolgen, er kann hinterher vor Schwäche sterben, aber von dieser Schwäche merkt er noch nichts am Ende des Laufes — also ich hatte schon eine Ahnung gehabt.
Ja, es gereichte mir zur höchsten Befriedigung, dies zu vernehmen. Meine Jungen freilich würde ich dadurch nicht wieder bekommen.
»Können die Amazonen dieses Mittel immer wieder anwenden?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Sie haben es für diese eine Leistung völlig verbraucht, und lange Zeit bedarf es, mindestens ein Jahr, ehe sie sich neue Medizin in genügender Menge herstellen können, abgesehen davon, dass ihnen das Ausgangsmaterial fehlt, woraus das Präparat hergestellt wird.«
»So könnten sie sich jetzt nicht mehr mit meinen Leuten messen?«
»Nicht im entferntesten mehr. Aber denke nicht daran, dass sie sich nochmals zu solchen Zweikämpfen, zu solchen Wettspielen stellen werden.«
Nein, das wusste ich.
»Und was ist denn das nun für ein wunderbares Mittel?«
»Lecithin.«
Der Leser kennt sicher schon dieses Wort. Es wird bereits Unfug damit getrieben. Wohl bauen sich die Nerven darauf auf, aber die zahllosen Lecithinpräparate, mit denen jetzt der Markt überschwemmt wird, sind gar nicht nötig, die natürlichen Nahrungsmittel liefern uns Lecithin zum Ernähren der Nerven in genügender Menge, und Milch und selbst Eier, besonders das Gelbe enthält sehr viel, sind zehnmal billiger als das billigste Lecithinpräparat.
Eine wichtige Entdeckung scheint dem im Laboratorium konzentriert hergestellten Lecithin allerdings noch vorbehalten zu sein. Die wunderbare Wirkung, wenn es direkt ins Blut gespritzt wird. Besonders in Verbindung mit dem Extrakt der rätselhaften Schilddrüse. Wie wunderbar solche direkte Einspritzungen das Wachstum von körperlich zurückgebliebenen Kindern fördern, wie sie auch auf das Gehirn wirken, der Blödsinn scheint heilbar zu sein, wie sie auch die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des normalen Menschen mächtig fördern. Freilich wird auch hier die Natur einen eigenmächtigen Eingriff in ihre Rechte nicht ungestraft lassen. Diese Versuche sind jetzt erst aufgenommen worden. In Gedanken versunken, blickte Merlin auf seinen Bogen herab, spielte mit ihm, zog die Sehne zurück und ließ sie schnellen.
Der Bogen war von weißer Farbe. Ich hatte erst an weißes Holz geglaubt. Jetzt aber bemerkte ich, dass es wohl Metall sein musste. Ich dachte an Weißguss, eine Legierung von Zink und Zinn. Ein Stab aus Weißguss ist freilich nicht elastisch.
Merlin blickte wieder auf mich.
»Habt Ihr schon solche Bogen gefunden, wie sie die Urbewohner dieses Tales benutzten?«
Nein, das hatten wir nicht. Rüstungen und Schwerter und Streitäxte und dergleichen, aber noch keine Bogen und Pfeile.
»Ich werde Euch die Rüstkammer zeigen, die solche Bogen und Pfeile enthält. Spanne diesen Bogen.«
Ich nahm ihn und... vermochte die Sehne kaum einen Viertelzoll zurückzuziehen, wie ich mich auch anstrengte, mit der ganzen rechten Faust die Sehne packte, wie ich mich auch dabei krümmte.
Und dieser schlanke, fast zierlich gebaute alte Herr hatte soeben die Sehne mit spielender Leichtigkeit mehrmals zurückgezogen! Eine kräftige Hand hatte er allerdings, trotz aller Feinheit starrend von Sehnen und Muskeln, aber solch eine Kraft hätte ich dem doch niemals zugetraut!
»Gib ihn mir noch einmal!«, lächelte Merlin, wahrscheinlich über meine krampfhaften Bemühungen und was ich dabei für ein verdutztes Gesicht machte. Er wickelte die Sehne an dem einen Ende anders, ich sah nicht deutlich, was er daran machte, gab ihn mir zurück.
»Nun probier es noch einmal, jetzt wird es besser gehen.«
Ja, jetzt konnte ich die Sehne ziemlich weit zurückziehen, auch wenn ich sie nur mit zwei Fingern fasste, allerdings immer noch mit äußerster Kraftanstrengung.
Dabei muss ich jetzt gestehen, dass ich an Bord der »Argos« nach Wenzel-Attila der beste Bogenspanner war. Weil ich mich am meisten damit geübt hatte. Eben weil es mich so irritiert hatte, dass dieser Knirps darin eine größere Kraft entwickelte als ich. Dabei aber muss ich noch einmal bemerken, dass es hierbei nicht allein auf Kraft ankommt. Es gehört ein ganz besonderer Kniff dazu. Das ist schon beim Auflegen der Sehne der Fall. Ich war dabei, als der alte Hagenbeck in Hamburg an einem Kneiptisch die Wette arrangierte, keiner der anwesenden Herren könne das nachmachen, was ihnen ein elfjähriger Indianerjunge vormachen würde: die Sehne auf einen Bogen legen. Hagenbeck ließ eine Truppe Siouxindianer gastieren. Der Indianerjunge wurde geholt, brachte einen Bogen mit, aus Horn, die Sehne abgestreift. Ein Stemmen gegen den Boden, ein Druck, ein eigentümlicher Griff, und das elfjährige Bürschchen hatte die Sehne übergelegt. Es waren baumstarke Männer in der Stammtischrunde — keiner brachte es fertig! So oft es uns der Junge auch vormachte.
»Das ist der vollgültigste Beweis, dass das echte Sioux sind!«, sagte damals Hagenbeck.
»So, dass genügt schon!«, sagte Merlin jetzt. »Ich will Dir dann zeigen, wie Du den Bogen beim Spannen anders anfassen musst. Der Zwerg Attila kennt das Geheimnis, scheint Euch aber nicht eingeweiht zu haben.«
»Weißt Du, wo sich Attila aufhält?«, fragte ich zunächst.
»Ich weiß es, habe ihn schon gesprochen. Er ist mit seiner Gattin und dem einbeinigen Jüngling wohl aufgehoben, hat ein sicheres Versteck gefunden. Nun lass, bitte, zwei von jenen Bronzepanzern besorgen. Einen mit Schuppen und einen massiven, letzteren von möglichster Stärke. Der Korridor draußen genügt zur Schussprobe.«
Solche Rüstungen und auch Bronzewaffen hatten wir schon an Bord genommen, ich benutzte zur Beorderung das Telefon.
Als wir auf den Korridor hinaustraten, wurden die beiden Panzer schon gebracht. Merlin nahm die Brustteile, der massive Harnisch war ungefähr fingerdick, stellte sie am Rande des Korridors gegen die Wand, wir gingen an das andere Ende, sechzehn große Schritte, Merlin reichte mir wieder seinen Bogen und dazu einen Pfeil aus seinem Köcher.
Dieser Pfeil war dreiviertel Meter lang, die vordere Hälfte aus gelber Bronze mit gezackter Spitze, hinten eine Höhlung, in die ein Holzschaft gesteckt war, der ganz hinten befiedert war. Die seitlich hervorragenden Federn dienen zur Herstellung des Gleichgewichts während des Fluges durch die Luft. Anders kann ich mich jetzt nicht ausdrücken. Jedenfalls kann man mit unbefiederten Pfeilen kaum schießen, oder vielmehr nicht treffen, der unbefiederte Pfeil wird zu leicht abgelenkt, dreht sich.
»Nun schließe gleich nach dem massiven Panzer. Strenge Deine ganze Kraft an. Treffen wirst Du ihn schon. Sonst fährt er in die Holzverkleidung der Wand, das schadet wohl nichts.«
»Du willst doch nicht etwa sagen, dass ich mit diesem Pfeile den Brustpanzer durchbohren könnte, der unseren stählernen Spitzkugeln aus den englischen Infanteriegewehren getrotzt hat?«
»Ja, das behaupte ich. Wenn Du den Pfeil mit der genügenden Kraft absendest.«
»Aus was besteht denn da die Spitze?«
»Aus gehärteter Bronze, die aber Euren guten Stahl nicht etwa an Härte übertrifft. Wohl hat sie bessere Eigenschaften, man kann sie leichter bearbeiten, aber härter ist sie nicht als Stahl. Du könntest auch die Stahlpfeile des Zwerges anwenden. Nun nimm nur erst diesen.«
Ich stellte mich in Positur, zog mit aller Kraft die Sehne zurück, oder vielmehr den mit zwei Fingern gepackten Pfeil, zielte und ließ ihn abschnellen.
Ich hatte den massiven Brustharnisch gut getroffen. Fast genau in der Mitte.
Und das Wunder war geschehen. Ich glaubte erst daran, als ich hingegangen war und es mir in der Nähe beschaute, betastete. Der Pfeil hatte den fingerdicken Panzer, gerade an dieser Stelle noch besonders verstärkt, glatt durchschlagen, hatte auch noch die Rückenwand etwas angebohrt. Die Spitze war so gut wie unverletzt, nur der Holzschaft war zersplittert. Und dicht daneben war der leichte Eindruck zu sehen, den eine stählerne Spitzkugel des englischen Infanteriegewehres von furchtbarer Durchschlagskraft in dem Bronzepanzer, der schon einmal zu solchen Schießversuchen gedient, hervorgebracht hatte!
»Wie ist denn das möglich?!«
Merlin gab mir eine Erklärung, erläuterte physikalische Gesetze.
Ich gebe es hier in anderer Weise wieder.
Die Feuerwaffen haben trotz fortwährender Verbesserungen die Armbrust und den Bogen nur sehr, sehr langsam verdrängt. Das machte die Beschwerlichkeit des Ladens.
Bei der Belagerung von Bayonne 1451, als die Donnerbüchse schon als ein Wunder der Waffenschmiedekunst oder gar der Feinmechanik galt, einen Schuss abgab, sendete der französische Armbrustschütze in derselben Zeit 3 Bolzen ab und der englische Bogenschütze gar 36 Pfeile!
Die letzten militärischen Bogenschützen werden im Jahre 1572 erwähnt, als Königin Elisabeth von England dem Karl IX. 6000 Bogenschützen zur Hilfe schickte, die noch immer als Elitetruppe galten. Dann aber verschwinden sie aus der Geschichte. Zum Unterschied sei bemerkt, dass bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts, also ums Jahr 1350, in Deutschland der Bogen schon vollständig von der Armbrust verdrängt war. Die Engländer hielten noch zwei Jahrhunderte länger zu Bogen und Pfeil.
Und so ist es eigentlich noch heute. Bei der echten deutschen Volksbelustigung darf doch die Armbrust nicht fehlen. Vogelschießen. Es gibt auch vornehme, »privilegierte« Vereine, Gesellschaften, Klubs, die diesem Sport ganz exklusiv noch huldigen. Merkwürdigerweise nur nennen sie sich »Bogenschützengesellschaften«. Obgleich sie nur die Armbrust benützen. Das stammt eben noch von damals, wo in Deutschland der Bogen ganz verschwand, sein Name auf die Armbrust oder den Schnepper überging.
In England hingegen spielt dieselbe Rolle heute noch der echte Bogen mit Pfeilen. Ebenfalls allgemeine Volksbelustigung, ebenfalls gibt es für diesen Sport ganz exklusive Vereine. Und gerade jetzt wird dieser englische Sport auch wieder nach Deutschland getragen. Man sieht schon recht tüchtige Leistungen. Zentrum auf 100 Meter. Die nördlichen Indianer Südamerikas freilich verfehlen ihr Ziel auf 150 Meter nicht, bringen es bis auf 200 Meter. Das macht ihnen nur so ein englischer Bogensportsman nach, ein »Archerman«, der von früh bis abends nichts weiter tut, als einen Pfeil nach dem anderen nach der Scheibe abzusenden. Dann bringt ihm seine Schießfertigkeit aber auch etwas ein.
Und mir ahnt, als ob der verachtete Bogen und Pfeil noch einmal aus der Rumpelkammer hervorgeholt würde, um ihn wieder dem Soldaten in die Hand zu geben, so wie man unser altes, liebes Lebensrad hervorgeholt hat, um daraus die moderne Kinematografie zu machen, wie aus unserem Kinderkreisel den Schiffskreisel!
Natürlich nicht, dass man den Soldaten statt des modernen Gewehres wieder mit Fitschepfeilen bewaffnen wird. Es kommt immer nur auf das Prinzip an, auf die Grundidee.
Einer der besten Kenner des mittelalterlichen Ritterwesens war der englische Romancier Walter Scott. Was er beschrieb, das musste er alles aus eigener Anschauung kennen lernen. Das musste alles stimmen. Er hatte eine große Sammlung von Kostümen, Rüstungen, Waffen und so weiter. Der Ritter des 12. Jahrhunderts hatte doch einen ganz anderen Schild als der aus dem 14. Und das schildert Scott nun alles ganz ausführlich. Daher oftmals seine langatmigen Breiten, die in den deutschen Übersetzungen meist weggelassen werden. Leider.
In seinem herrlichen Romane »Ivanhoe« schildert er, wie der Räuber und Waldkönig Robin Hood mit seinen grünen Gesellen dem Richard Löwenherz zu Hilfe kommt. Wie die Kerls die Burg des Templers stürmen. Und da erzählt nun Scott, wie dieser Robin Hood mit seinen unfehlbaren Pfeilen, von seinem gewaltigen Bogen abgeschnellt, die Panzerrüstungen der Ritter durchschießt. Nur einige Sarazenenpanzer, welche die Kreuzritter aus dem Morgenlande mitgebracht haben, vermögen den todbringenden Geschossen zu widerstehen. Sonst durchschlagen Robin Hoods Pfeile alle eisernen und stählernen Panzer, auch einige seiner Gesellen vermögen dasselbe zu vollbringen. Da hat Walther Sicott natürlich einmal mächtig übertrieben.
Wohl gibt es verbürgte Berichte genug, dass in der Schlacht schwergepanzerte Ritter von Pfeilspitzen verwundet oder gar getötet worden sind, aber da hat die Pfeilspitze eben einen Weg durchs Visier gefunden, oder durch eine Lücke in den Gelenkstellen, wie unter den Achseln, wo doch der Panzerarm mit dem Harnisch durch Scharniere verbunden sein muss.
Wohl hat man in Sammlungen auch Ritterpanzer, die ein Löchelchen aufweisen, Gott weiß, wie die entstanden sind, zu einer Zeit, da es noch keine Feuerwaffen gab, vielleicht durch Hagelkörner, oder die Panzer sind erst in späterer Zeit zu Schießversuchen benutzt worden, jedenfalls aber rühren die Löchelchen doch nicht von Pfeilen oder Armbrustbolzen her.
Dass ein vom Bogen abgeschnellter Pfeil solch einen Panzer, wie man sie zu Richard Löwenherz' Zeiten trug, durchschlagen hätte... Unsinn!
Erst hundert Jahre später sollte Walther Scotts Ehre auch in dieser Hinsicht gerettet werden.
Ein Vorfall trug hierzu bei, der mit Bogen und Pfeil eigentlich absolut nichts zu tun hat.
Es ist noch gar nicht so lange her, jetzt etwa acht Jahre, als in den Straßen des nächtlichen Londons ein Feuerwehrmann in Dienstkleidung gefunden wurde, tot, ermordet. Die Schädeldecke war ihm total zertrümmert. Aber er hatte noch seinen starken Metallhelm auf, unterm Kinn zugeriemt, dieser war gänzlich unverletzt. Und nicht etwa, dass der Mörder seinem Opfer den Helm erst nachträglich aufgesetzt haben konnte. Das klebte ja alles zusammen.
Wie konnte dem Manne unter dem Helm die Schädeldecke zertrümmert worden sein! Man stand vor einem Rätsel.
Hätten die Herren von der Untersuchungskommission mich um Rat gefragt, ich hätte ihnen bald auf die Sprünge helfen können. Ich wusste nämlich schon als Kind, dass — ich plaudere etwas aus der Schule — ein deutsches Haselnussstöckchen ganz anders zieht als ein indisches Bambusrohr. Das Haselnussstöckchen zieht ganz andere Schwielen. Das arbeitet so fein, schmiegt sich so elegant an. Der Bambus arbeitet viel plumper. Gegen den kann man sich auch durch eine genügende Polsterung schützen. Aber beim Haselstöckchen nützt das nichts. Das geht durch, und wenn man auch noch so viel Watte und Werg und Handtücher nimmt, da fühlt man noch immer jeden Schlag, und jeder erzeugt eine rote Strieme, die sich dann so schön blau und grün färbt......
Doch Scherz beiseite. Obgleich es eigentlich gar nicht so scherzhaft ist. Eher schmerzhaft.
Die englischen Herren von der Untersuchungskommission lösten auch ohne meine Sachkenntnis das Problem.
Totenschädel bekamen Feuerwehrhelme aufgesetzt, sie wurden mit allen möglichen Instrumenten bearbeitet. Eine schwere Eisenstange verbeulte den Helm, aber der Schädel blieb unverletzt. Höchstens eine kleine Gehirnerschütterung. Vorausgesetzt, dass der Totenschädel ein Gehirn gehabt hätte. Mit einem Ochsenziemer wurde die Sache schon anders. Da bekam der Feuerwehrhelm Sprünge, und der Totenschädel ebenfalls. Als man aber nun mit einem Gummiknüppel drauflos hieb, da blieb der Helm ganz unverletzt, dagegen darunter der Schädel ging dabei in Trümmer.
Eigentlich hätte man das gleich im voraus wissen können. Man hätte nur einen schweren Zuchthausjungen oder einen Professor der Physik zu Rate zu ziehen brauchen. Der erste kennt die Sache aus der Praxis, der letztere aus der Theorie, hat sie wissenschaftlich studiert. Es handelt sich hierbei um die Fortpflanzung des Druckes, des Schlages, in Verbindung mit dem Beharrungsvermögen.
Immerhin, durch diesen Vorfall begann man sich wieder einmal mit den Gesetzen des Beharrungsvermögens zu beschäftigen, aber mehr in der Praxis. Unter anderen wurden auch wieder einmal Bogen und Pfeil hervorgeholt, als Waffen, um die Durchschlagskraft des Pfeils zu prüfen.
Und da gelangte man eben zu jenem erstaunlichen Resultate.
Der Pfeil mit stählerner Spitze, kraftvoll abgeschnellt, durchbohrt eine Panzerplatte welche dem spitzen Stahlgeschoss des modernen Infanteriegewehres trotzt, abgegangen mit 750 Metern Geschwindigkeit pro Sekunde.
Ich kann hier nicht erklären, woher das kommt.
Nur einige andere Beispiele für die Rätsel des sogenannten Beharrungsvermögens. Das Bohrloch in einem Felsen wird mit Pulver gefüllt, als Verschluss kommt etwas loser Sand davor. Bei der Explosion wird der ganze Felsen auseinander gesprengt, das bisschen Sand bewegt sich kaum. Man lasse sich von einem Physiker erklären, woher das kommt. Wie jedes Sandkörnchen einen selbständigen Körper bildet, einer prallt gegen den anderen, der Widerstand wächst, im Quadrate der Entfernung, daher ins Ungemessene, während der Felsen eine kompakte Masse bildet.
Man lade ein Gewehr mit einem Talglicht, setze es vor eine Platzpatrone gebe noch etwas Pulver nach. Dieses abgefeuerte Talglicht geht glatt durch ein ziemlich starkes Brett, ohne sich besonders verändert zu haben.
Das Talglicht hat im Moment des Aufschlagens keine Zeit hierzu, die Sache geht ihm zu schnell.
Man nimmt einen Flaschenkork, durchbohrt ihn der Länge nach mit einer gewöhnlichen Nähnadel, dass die Spitze unten noch zwei Millimeter vorsieht, das obere hervorsehende Ende muss man allerdings abknipsen, legt einen Pfennig auf eine hohle Unterlage, setzt den Kork mit der Nadelspitze darauf und führt nun einen kräftigen, aber nicht übermäßigen Schlag darauf. Die Nadelspitze fährt durch den Pfennig durch, er ist durchbohrt die Nadelspitze ist unverletzt.
Dieses dreies gehört dazu, um sich erklären zu können, weshalb ein von Bogen abgeschnellter Pfeil eine Panzerplatte durchdringt. Natürlich darf man nicht gleich an Schiffspanzerplatten denken. Schließlich aber noch ein viertes Experiment ebenfalls die Wirkung des Beharrungsvermögens zeigend, nur gerade in umgekehrter Hinsicht. Wie das getroffene Material dem Ausschlag trotzt, wenn es keine Zeit zur Nachgiebigkeit hat.
Man nimmt ein Taschentuch taucht es ins Wasser und spannt es pitschnass aus, schießt mit einem Tesching drauf. Die Kugel prallt ab. Unter Umständen sogar eine runde Büchsenkugel. Sie muss allerdings senkrecht abgefeuert werden.
Mit einem gewöhnlichen Fitschepfeil, von einem Kinderbogen abgeschnellt, kann man ganz leicht das nasse Tuch durchlöchern.
Hier ist also das Umgekehrte der Fall. Die Moleküle des Wassers werden im Moment des Aufschlagens so stark zusammengepresst, finden an dem einfachen Tuche einen genügenden Rückenhalt, dass sich die Kugel nur breit schlägt, nicht hindurch kann. Der Pfeil hingegen verursacht keine solche Materienzusammenziehung, der kommt durch. Und ebenso ist es, wenn das Zielobjekt aus Metall oder Eisen oder Stahl besteht. Auch hier handelt es sich doch immer noch um einzelne Moleküle, die beim Aufschlagen sich mehr oder weniger zusammendrängen.
Dies ist auch der Grund, weshalb die durchschlagende Wirkung ausbleibt, wenn man den Pfeil aus einem Gewehre mit Pulverkraft abschießt.
Das ist ungefähr so wie mit dem elektrischen Strome. Wenn man eine Leitung berührt, durch die ein Strom von 220 Volt Spannung geht, oder es werden schon 110 Volt genügen, dann ist man tot. Wenn nun ein Strom von 200 000 Volt durchgeht, welche Spannung zu erzielen heute möglich ist, noch eine ganz andere, dann müsste man doch eigentlich bei der Berührung tausendmal tot sein. Tiptoptot, wie heute der feinste Kunstausdruck für so etwas lautet. Nein, im Gegenteil, das ist sogar sehr vorteilhaft für die Gesundheit. Mit solchen Hochströmen, in die man eingeschaltet wird, werden heute ärztliche Kuren gemacht. Denn dieser kolossale Spannungsstrom geht nicht durch den tierischen Körper hindurch, sondern er gleitet schadlos über die Haut hinweg. Aber weshalb — das weiß kein Mensch. Da tastet man nur mit Theorien herum.
Das ist ja etwas anderes als die Sache mit dem Beharrungsvermögen, und doch ähnelt ein Fall dem anderen ganz.
Ja, ich sehe schon die Zeiten kommen, da man wieder zu den alten Schusswaffen zurückgreifen wird. Also natürlich nicht, dass unsere Soldaten wieder mit Bogen und Fitschepfeilen armiert werden, mit denen sie nach Panzerschiffen schießen, vor denen zum Schutz nasse Bettücher gehangen werden — aber immerhin die riesenhaften Katapulte und Balliste der Alten dürften doch noch einmal wieder zu Ehren kommen. Wenn man mit den Pulvergeschossen bei tausend Anfangsgeschwindigkeit und im Kaliber bei Hirsekörnern angelangt ist, dann dürfte die Zeit des Pulvers vorbei sein, dann wird man wieder zum Alten zurückgreifen, um die Menschen zu dezimieren, oder die Erde hört auf, um sich selbst zu rotieren. —
Und nun verzeihe mir der geneigte Leser diesen langatmigen Vortrag. Aber ich kann später doch nicht die Amazonen, eingehüllt in Rüstungen, welche jeder Spitzkugel trotzen, einfach mit Fitschepfeilen durchlochen und sie mit Gummischläuchen totschlagen lassen. Das würde man mir sonst noch viel weniger glauben als dem gewissenhaften Walter Scott seine Pfeilschüsse.
Merlin hatte mir einen noch viel längeren Vortrag gehalten, noch viel wissenschaftlicher. Auch er hatte mit der verschiedenen Wirkung des Schlages angefangen, von dem Unterschied dabei zwischen einer Stahlstange und einem Gummiknüppel, wenn er auch nicht das Beispiel mit dem Feuerwehrmann anführen konnte, weil dieser Fall damals noch nicht passiert war. Und ich hatte mir dabei immer an demjenigen Körperteil herumgefingert, an dem ich schon als Schuljunge den Wirkungsunterschied eines deutschen Haselnussstöckchens und eines indischen Bambusrohres experimental studiert hatte.
So, nun wusste ich es, weshalb diese Bronzepanzer, auch die stärksten, die jeder modernen Spitzkugel trotzten, von solch einem Pfeile durchschlagen wurden, der freilich auch mit der nötigen Kraft abgesendet werden musste, mit einem solchen Bogen, wie ihn heute die Sportsleute benutzen, war da nichts getan, während wiederum es auch nichts nützte, solch einen Pfeil durch Pulverkraft abzuschicken.
Merlin hatte geendet. Sinnend blickte er auf den Schuppenpanzer herab, den er selbst während seines Vortrags mit zwei Pfeilen durchlöchert hatte, und zwar hatte dieses Schuppenhemd dereinst ein Weib getragen, das konnte man doch gleich erkennen.
»Ja, die Zeit dieser indischen Amazonen ist gekommen«, sagte er dann leise, »sie müssen vernichtet werden.«
»Müssen vernichtet werden?!«
»Ja, sie haben ihr Asylrecht verwirkt. Ich hatte ihnen alle ihre Gräueltaten verziehen, hatte den Männer- und Kindesmörderinnen erlaubt, sich hier anzusiedeln. Durch einen neuen Frevel haben sie dieses Asyl verwirkt. Jetzt müssen sie mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, — diese Amazonen sowohl wie der Kapitän Satin mit seinen Leuten.«
»Was haben denn diese Weiber wieder Frevelhaftes begangen?«
»Sie haben sich jene Medizin hergestellt, um Euch zu besiegen. Das Lecithin. Aber es ist kein gewöhnliches Lecithin. Sie haben es aus den Gehirnen ihrer eigenen Kinder hergestellt. Komm, ich will Dir die Rüstkammern zeigen, wo Ihr solche Bogen und Pfeile findet, und was Ihr sonst noch mitnehmen müsst, denn Ihr könnt nicht mehr hier liegen bleiben, die Amazonen würden von oben Felsblöcke herabwälzen und Euer Schiff zerschmettern, Ihr müsst in den freien See hinaus, und dann wird der Vernichtungskampf beginnen. Denn Ihr seid dazu bestimmt, die Erde von diesen Bestien in Menschengestalt zu säubern!«
Wir verlassen nun einmal Georg Stevenbrocks persönliche Erzählung, um einzelne Episoden zu schildern. Durch den schattigen Wald, der sie vor der Mittagsglut schützte, schritten zwei Amazonen in silbernen Schuppenrüstungen, jede auf der Schulter ein Jagdgewehr, am Gürtel die Patronentasche und ein schwertähnliches Messer in der Scheide.
Schweigend marschierten sie zwischen den Bäumen dahin.
Da blieb die eine stehen und lauschte.
»Hörst Du, Zilla?!«
Sie hatte es in der PaliSprache gefragt, ein indischer Dialekt, der den malaiischen Archipel beherrscht. Wir müssen uns natürlich der deutschen Wiedergabe bedienen.
Es war deutlich genug, was die andere hören sollte. Ein dünnes Hundegekläff, gar nicht weit entfernt, ertönte.
Die beiden wechselten einen wie freudig erstaunten Blick.
»Wenn es möglich wäre!«
Nichts weiter, dann schlugen sie die Richtung ein, woher das Hundekläffen kam, vorsichtig schleichend, hinter jedem Baum und Busch Deckung suchend.
Das Hundegekläff näherte sich ihnen, wenn auch nur sehr langsam. Und da sahen sie auch schon die Ursache.
Durch den Wald floss ein breiter Bach, schon mehr ein Fluss zu nennen, in seiner Mitte trieb ein Baumstamm, und auf demselben stand der kleine Wichtelmann, das Hündchen, und bellte um Hilfe.
Der Wachtelhund kann nämlich meist nicht schwimmen. Nicht, dass ihm wie dem Kamel und dem Affen diese den anderen Tieren angeborene Kunstfertigkeit abginge, sondern sein lockiges Fell ist zu langhaarig, es sind überhaupt ganz besondere Haare, mehr wollig, sie saugen sich schnell voll Wasser, dann kann der Wachtelhund sich nicht mehr über Wasser halten. Ebenso geht es vielen Seidenspitzen.
Wichtelmann mochte auf eigene Faust gejagt haben, wie es alle Wachtelhunde tun, das Wild war in den Fluss gegangen, das Hündchen hatte einen gestürzten Baumstamm benutzt, um so weit als möglich zu folgen, der Stamm hatte sich vom Ufer gelöst und war abgeschwommen, und Wichtelmann mochte schon Erfahrung gemacht haben, dass er im Wasser unterging.
Jetzt klagte er der Welt seine Not, bei Anblick der beiden menschlichen Gestalten klang es schon freudiger.
Wieder wechselten die beiden Amazonen schnelle Blicke und Worte.
»Der kleine Hund, der den einbeinigen Springer geführt hat!«
»Ja, den beiden Zwergen nach!«
»Er ist allein!«
»Sonst würde sein Herr ihn schon befreit haben!«
»Er wagt sich nicht ins Wasser!«
»Wir fangen ihn!«
»Vielleicht führt er uns nach dem Versteck der Zwerge!«
Und schon hatte die eine Amazone ihr Gewehr hingeworfen und den Patronengürtel abgeschnallt, sprang in den Fluss, teilte mit kräftigen Armen das Wasser, als habe sie keine sie vom Hals bis zur Fußsohle einhüllende Schuppenrüstung an, und viel schwerer als voll Wasser gesaugte Kleidung würde diese wohl auch nicht sein. Willig ließ sich das Hündchen auf den Arm nehmen, die Amazone schwamm zurück.
Unterdessen hatte die andere mit ihrem Messer schon von einer Weide einen langen Streifen Bast abgeschält, dem Hündchen wurde eine Schlinge um den Hals gelegt, die sich nicht zusammenziehen konnte.
»Wo bist Du zu Hause? Wo ist Dein Herrchen? Wo ist Dein Frauchen? Geh, führe uns zu Deinem Frauchen!«
Sicher gibt es dieselben Ausdrücke in der PaliSprache. Aber wenn die beiden Amazonen irgend etwas von Hunden verstanden, so mussten sie merken, dass Wichtelmann nicht darauf reagierte.
»Where is your Master? Where is your Mistress?«
Da mussten sie auch ohne Hundekenntnis merken, dass Wichtelmann diese englischen Worte sofort verstand, diese kannte sein Ohr. Und er war offenbar hungrig und sah, dass diese beiden Weiber ihm nichts geben konnten, und dazu kam schließlich noch, dass diese glänzenden Frauengestalten ihm schon vertraut waren, er hatte sie doch mit den Menschen, die er als seine Herren betrachtete, vertraulich verkehren sehen.
Er übernahm die Führung, tüchtig an dem ihm ungewohnten Bande ziehend. Und da er kein eigentlicher Schoßhund war, der im engen Raume alle seine natürlichen Instinkte verloren, so würde er sich auch nicht in der Richtung irren, brauchte seine eigene Spur nicht erst wieder aufzusuchen, um diese dann rückwärts zu verfolgen, er würde seinen Ausgangspunkt auch so zu finden wissen.
So wurde das kleine, sonst so treue Hündchen zum Verräter an denen, die er liebte.
Und dennoch musste es so sein. Dieses Hündchen war vom Schicksal dazu auserlesen worden, über alle diese Amazonen den Tod zu bringen, die beiden Weiber hätten dieses Hündchen nur gleich als ihren eigenen Todesengel betrachten können.
Es ging durch Wald und Busch.
»Die Zwerge werden uns feindlich empfangen, und der kleine Mann, der Attila heißt, hat gezeigt, was er im Schießen leisten kann.«
»Wir kommen als Friedensboten der Begum.«
»Er wird dennoch seine starken Pfeile nach uns absenden, und unser Gesicht ist ungeschützt.«
»So sterben wir für die Begum, und Obi wird uns in sein Freudenreich aufnehmen.«
»Damit ist der Begum aber nicht gedient.«
»So will ich voraus gehen, Du folgst mir weit zurück, dann erfährst Du dennoch, wo sich das Versteck der Zwerge befindet und kannst es der Begum dann melden.«
»Er hat einen anderen Hund, durch den wird sich der Zwerg schnell überzeugen, ob ich allein gekommen bin oder nicht, er wird mir den Hund nachhetzen.«
»Fürchtest Du Dich, Zilla?«
»Frevle nicht, Schwester. Ich würde den Hund töten.«
»Aber dann ist der Zwerg doch gewarnt, er wird sein Versteck verlassen und ein anderes suchen. Nein, wir müssen als Friedensboten kommen. Die Begum verzichtet auf den Besitz des Zwerges, also auch auf seine Frau als Bürge.«
Das wurde denn zuletzt auch beschlossen. Man durfte den Weibern nicht gerade besondere Hinterlist vorwerfen. Sie wollten sich einer Person bemächtigen, die eigentlich ihnen gegenüber das Wort gebrochen hatte, mochte der Zwerg hierüber auch anders denken. Die Amazonen hielten sich in ihrem Rechte, da war schließlich auch jede List erlaubt.
Sie brachen sich grüne Birkenzweige ab, als internationales Zeichen des Friedens, und setzten ihren Weg fort. Die Gegend wurde hügelig, wurde gebirgig, wild zerrissen — es war eine Schlucht, in die das Hündchen sie geführt hatte, wozu es nur zehn Minuten gebraucht, während es wahrscheinlich viel länger gejagt hatte, jedenfalls doch immer im Zickzack und großen Bogen.
Immer tiefer führte Wichtelmann sie in das wilde Felsenlabyrinth hinein, bis er an einer glatten Felswand stehen blieb, die in einiger Höhe mehrere Höhlenöffnungen zeigte.
Zuletzt hatte er so kräftig gezogen, dass die beiden gleich erraten mussten, wie er sich seinem Ziele näherte, und jetzt fing er fröhlich zu kläffen an.
»Bist Du es, Attila?«, erklang oben ein dünnes Kinderstimmchen.
Da standen die beiden Amazonen schon unter einem Haselnussstrauch, der sich hier aber schon mehr zu einem ansehnlichen Baume entwickelt hatte.
»No, Madam!«, erwiderte die eine, und weiter brauchte sie nicht fortzufahren.
»Ach die Frau Patronin!«, erklang es jubelnd zurück. »Warten Sie, Mylady, warten Sie, gleich...«
Und da ward von oben auch schon eine seidene Strickleiter herabgelassen.
Es mochte ein behagliches Versteck sein, das der Zwerg gefunden hatte, aber der Zugang war sehr ungünstig. Der Haselnussbaum verdeckte unten die Aussicht. Wäre er gefällt worden, so wäre das auch wieder eine verräterische Spur gewesen. Und Rosamunde überzeugte sich nicht erst, wer denn dort unten stand. Sie hatte zweifellos den Besuch der Patronin erwartet, war zweifellos der Meinung, dass ihr Gatte oder Gruh bei ihr sei, sie war doch hierher geführt worden, auch das Hündchen sah sie wohl schon, ohne das Bastseil zu erkennen, oder vielleicht wurde er überhaupt geführt, und sie glaubte die Stimme der Patronin gehört zu haben, und überhaupt durfte man von dieser Zwergin, dieser Puppe gar keine besondere Vorsicht verlangen.
Da sah sie, nur den Kopf hervorstreckend, wie ein in silberne Schuppenrüstung gehülltes Weib die Strickleiter schnell erstieg, und ein zweites trat soeben unter dem Baume hervor.
Noch hätte sie Zeit gehabt, die Strickleiter abzulösen oder abzuschneiden, und sie wäre gerettet gewesen, die beiden Amazonen hätten nicht eindringen können, wenigstens nicht so ohne weiteres, hätten sich erst eine Leiter fertigen müssen, und schon in einer Viertelstunde wären Attila und Gruh zurückgekommen, Rosamunde wäre gerettet gewesen, zumal diese Höhle noch andere, aber einfach unauffindbare Aus- und Eingänge hatte, dieser hier war nur der bequemste.
Es sollte nicht sein. Diese Zwergin führte zwar im Zirkus die wagehalsigsten Kunststückchen aus, war eine perfekte Akrobatin, aber im Kampfe mit Menschen oder mit dem Schicksal war sie nicht gestählt worden.
Sie dachte nicht daran, diese Strickleiter loszumachen, wie gelähmt waren plötzlich ihre Hände, wie sie da die Amazone heraufklettern sah. Und da stand diese schon in der Höhlenöffnung, konnte aufrecht stehen, hielt den grünen Zweig vor sich hin.
»Ich komme als Gesandte der Begum und bringe den Frieden! Sie verzichtet auf den Zwerg, auf Deinen Gatten, er soll seine Freiheit haben.«
So hatte die Amazone schnell gesagt.
Und weshalb sollte es Rosamunde nicht glauben?
Sie schlug die Kinderhändchen in freudigem Staunen zusammen.
»Ach, das ist ja schön...«
»Wo ist Dein Gatte?«
»Er sucht das Schiff, das seinen alten Platz verlassen hat...«
»Wann kommt er zurück?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und wo ist der einbeinige Knabe, den ihr Gruh nennt?«
»Er hat meinen Mann begleitet, sie wollen noch Verschiedenes holen...«
»Und Du kommst mit uns.«
Mit diesen Worten hatte das Weib das Püppchen schon auf dem Arme.
Ja, die menschliche Puppe war eine kleine Akrobatin, konnte eine ganz gehörige Kraft entwickeln, aber diese Amazonen waren wirkliche Athletinnen, sie brauchten für gewöhnlich nicht jenes geheimnisvolle und scheußliche Mittel anzuwenden, um als Kriegerinnen es mit jedem Manne aufzunehmen — und diese Amazone hier war der kraftvollsten eine — die Zwergin war in ihren Händen wirklich nur eine Puppe.
Wohl hatte Rosamunde im nächsten Augenblick einen zierlichen Revolver aus der Tasche gezogen — in demselben Augenblick war er ihr auch schon aus der Hand gerissen.
Gewandt stieg die Amazone die Strickleiter wieder hinab, das Püppchen dabei so fest an ihre Brust drückend, die Arme dabei festklemmend, dass Rosamunde diese Arme nicht befreien konnte.
»Fort, fort, sie ist allein fort, ehe ihre Gefährten mit dem großen Hunde kommen!«
»Wir töten sie.«
»Den Zwerg dürfen wir nicht töten — fort fort!«
Und sie setzten sich in Dauerlauf, den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Hilfe, Hilfe!«, schrie das dünne Stimmchen. Eine eisenharte Hand verschloss der Zwergin das Mündchen.
Aber zwecklos war der Hilferuf nicht gewesen.
Jetzt merkte Wichtelmann, dass etwas nicht in Ordnung war, und der Wachtelhund ist alles andere als feig. Wütend fuhr er auf die Trägerin seiner Herrin los, schlug ihr die Zähne in die Wade. Das heißt, er wollte es tun, seine Zähne konnten aber die Panzerschuppen nicht durchdringen.
Da bückte sich die andere Amazone, schon glänzte in ihrer Hand das schwertähnliche Bronzemesser, ein Hieb, und Wichtelmann würde später keine Vorwürfe zu hören bekommen — der Leib des Hündchens war halbiert. Die beiden rannten weiter, nicht nur im Dauerlauf, sie schienen Schwingen an die Füße zu bekommen.
Zwei Stunden später rannte der riesige Cäsar am Ufer des Sees entlang, die Nase dicht am Boden. Ihm nach setzte in großen Sprüngen das menschliche Känguru.
Es muss nachträglich bemerkt werden, dass diese kleine Gesellschaft inzwischen wieder mit dem Schiffe Fühlung genommen haben musste. Da war doch zunächst die seidene Strickleiter gewesen. Dann hatte die Zwergin nicht mehr ihr blaues Reitkleid angehabt, sondern ein einfacheres Kostüm, mehr für Strapazen berechnet. Und ebenso trug Gruh jetzt nicht mehr den Sportanzug mit dem er damals den Zwergen gefolgt war, sondern ein dunkelgrünes Trikotkostüm, oben einen sogenannten Sweater, auch den Hals bis zum Kinn einhüllend. Ferner war er ohne Gummiplatte abgegangen, jetzt hatte er diese an seinem Klumpfuß befestigt. Also hatten sich die drei unterdessen vom Schiffe oder von dem allgemeinen Quartier aus mit allem versehen, was sie brauchten, sie mussten sich mit Stevenbrock schon ausgesprochen haben.
Die ungeheure Dogge blieb an einem breiten Abfluss stehen, der aus dem See herauskam und dann nordöstlich den Felsen zustrebte. Hier endete die Spur, die er verfolgte.
»Nur hinüber, Cäsar, Du wirst die Spur schon wiederfinden!«, ermunterte ihn Gruh.
Er konnte mit dem Hunde recht freundlich sprechen, so hörte man ihn nie zu einem Menschen reden. Nur sein tiefgebräuntes Gesicht blieb dasselbe, leidenschaftslos, unbeweglich wie von Erz.
Der Hund ging ins Wasser, schwamm hinüber, Gruh ihm nach. Er schwamm besser und schneller, als man erwartet hätte. Er konnte ja sein eines Bein immer nur hinter sich schnellen. Die ziemlich breite Platte mochte dabei im Vorwärtskommen behilflich sein.
Cäsar fand am jenseitigen Ufer keine Spur, obgleich er ziemliche Strecken nach links und rechts machte.
»Sie sind erst eine gute Strecke im Wasser geschwommen, wie sie es bereits zweimal gemacht haben, um ihre Spur zu verbergen. Hast Du sie trotzdem nicht immer wiedergefunden? Nur zu, lauf erst einmal nach links, immer weiter, immer weiter.«
Das Einbein sprach mit diesem Hunde mehr, als es gegen irgend einen Menschen tat. Auch dem Zwerge gegenüber war er äußerst wortkarg, obgleich er mit diesem doch am besten befreundet, und Rosamunde gegenüber fand er überhaupt gar keine Worte, antwortete auf keine Frage, die konnte dieser seltsame Mensch immer nur bewundernd anstarrten. Es muss wiederholt werden.
Der Hund war am jenseitigen Ufer schon eine bedeutende Strecke nach links gerannt, ohne die Spur wiedergefunden zu haben, als in der Ferne ein Schuss krachte.
Gruh, bisher ebenfalls die Augen am Boden, blickte auf. In etwa 200 Meter Entfernung erhob sich eine dunkle Felswand, wie hier überall von Löchern unterbrochen, und an einem solchen in einiger Höhe zeigte sich eine weiße Gestalt, die unverkennbar ihm winkte.
Und Gruh hatte denn auch sofort verstanden.
»Es ist gut, mein lieber Cäsar, die Amazonen selbst erwarten mich, wollen mit mir unterhandeln. Kehre zurück zu Deinem Herrn, Du brauchst keine Botschaft mitzunehmen, er wird alles sofort wissen, wenn Du ohne mich zurückkommst, und wenn wir beide uns nicht wiedersehen sollten, dann — bin ich dort geblieben, wo sie sich befindet. Entweder in dieser Welt, oder in einer anderen. Und wenn mir der Himmel offen stände, und sie müsste in die Hölle zur ewigen Qual, so werde ich auf den Himmel verzichten. Geh, mein guter Cäsar, ich danke Dir für Deine Führung.«
Mit überaus sanfter Stimme hatte es der unglückliche Krüppel mit den hübschen, aber so ehernen Zügen gesagt, noch ein Streicheln und Klopfen des muskulösen Nackens, und Cäsar stürzte sich wieder ins Wasser, schwamm zurück, setzte am jenseitigen Ufer seinen Weg in Karriere fort.
Das Einbein sprang der dunklen Felswand zu, wo die weiße Gestalt noch immer winkte, jetzt auch mit einem weißen Tuche. Es war eine baumlose Gegend mit kniehohem Grase, obwohl noch immer in diesem Tale befindlich. Dieses war eben nicht so durchaus bewaldet, es gab auch steppen- und prärieähnliche Gegenden, weite, weite Flächen. Von dem Quartier, wo die Amazonen von den Argonauten besucht waren, befand sich diese Gegend aber mehr als eine Meile entfernt. Doch wer wusste, wie weit sich die bewohnbaren Felsengänge hinzogen.
Gruh war in Rufnähe gekommen, einige mächtige Sätze brachten ihn noch weiter an die Felswand heran.
»Bist Du ein Abgesandter des Zwerges?«, rief die Amazone im silbernen Schuppenpanzer aus der Höhe einer zweiten Etage herab, sich der englischen Sprache bedienend. — »Ja.«
»Du kommst, um wegen der Zwergin zu verhandeln, die jetzt unsere Gefangene ist?« — »Ja.«
»Du sprichst wirklich im Auftrage ihres Gatten?« — »Ja.«
»Du bist geschützt durch Gastfreundschaft. Tritt durch das Tor ein.«
Ein solches war gar nicht zu sehen. Da aber öffnete sich in der Felsenwand eine Tür, eine Steinplatte drehte sich zurück, wovon aber sonst keine Fuge etwas verriet.
Übrigens konnte diese geheime Felsentür nicht viel benützt werden, sonst wäre das Gras hier mehr zertreten gewesen. Kein Halm war geknickt. Auch hatte der Hund die Fährte gar nicht bis hierher verfolgt, die beiden Amazonen hatten einen anderen Weg genommen.
Gruh hüpfte hinein, stand einer Amazone gegenüber.
»Folge mir.«
Das Einbein hüpfte ihr nach eine Treppe hinauf, durch einen Korridor, noch eine Treppe hinauf, der Boden immer mit kostbaren Teppichen belegt, und ebenso kostbar orientalisch war auch die Felsenkammer eingerichtet, in der sein Weg vorläufig endete.
Die Begum war es selbst, die ihn empfing.
»Setze Dich.«
Gruh rührte sich nicht.
»Setze Dich, mein Freund.«
»Ich bin Dein Freund nicht.«
Die Begum blieb ob dieser trotzigen Antwort, allerdings ganz gelassen hervorgebracht, ebenso ungerührt.
»Du stehst unter den Gesetzen der Gastfreundschaft. Was willst Du?«
»Frau Rosamunde Attila abholen.«
»Sie ist meine Gefangene und bleibt es, bis sich der Zwerg, der im Zweikampfe besiegt worden ist, selbst gestellt hat.«
»Von wem sprichst Du? Was ist das, ein Zwerg?«
»Bis sich Mister Wenzel-Attila, der im Zweikampfe besiegt worden ist, selbst gestellt hat.«
»Mister Attila weiß nichts von einem Zweikampfe — Mister Attila fordert seine Frau zurück.«
»Also Mister Attila erkennt die Bedingungen nicht an?«
»Mister Attila fordert seine Frau zurück.«
»Weshalb ist er denn da von dem Schiffe geflohen und hat ein heimliches Versteck aufgesucht?«
»Mister Attila ist ein freier Mann und macht, was ihm beliebt. Ihr habt ihm seine Gattin entführt, er fordert sie zurück.«
»Weißt Du, wie die Höhle gefunden worden ist?«
»Ihr habt unseren Hund gefangen, er hat Euch hingeführt, Ihr habt gesagt, Ihr kämet in Frieden, und dann habt Ihr Frau Rosamunde Attila mit Gewalt davongetragen.«
Über das schöne Gesicht der Begum flog ein Schatten.
»Woher ist Dir dies alles so genau bekannt?«
»Wir haben an Ort und Stelle zwei grüne Birkenzweige gefunden. Sie erzählten uns alles. Genug! Ich soll die Frau Rosamunde Attila abholen. Der kleine Hund hat der Freifrau von der See Helene Neubert gehört, die mag für ihn Schadenersatz fordern oder nicht. Allerdings wird auch Mister Attila noch ein Wörtchen mit Dir darüber sprechen, dass Deine Leute ihm den Hund, der ihm anvertraut worden war, getötet haben.«
»Du wagst zu drohen?«
»Ich will jetzt Frau Rosamunde Attila abholen.«
»Sie bleibt hier, bis sich ihr Gatte gestellt hat. Geh, sage das ihm. Und sage ihm auch noch, wenn sich Mister Attila innerhalb von vier Stunden, was völlig genügt, nicht gestellt hat, bis zum Untergang der Sonne, dann wird seine Gattin gemartert.«
Es brachte auf dem leidenschaftslosen, ehernen Gesicht des Jünglings nicht den geringsten Eindruck hervor.
»Mister Attila stellt sich nicht. Er weiß nicht, was er für einen Grund dazu hat.«
»Gut, dann wird seine Gattin dafür büßen müssen. Du glaubst wohl nicht, dass ich meine Drohung ausführen würde?«
»O doch.«
»Du weißt ganz bestimmt, dass sich der Zwerg nicht stellen wird?«
»Er kommt unter keinen Umständen.«
»Auch nicht, wenn er ganz bestimmt weiß, dass ich seine Frau foltern werde?«
»Nein, auch dann nicht.«
»Das ist ja ein netter Gatte!«
Gruh blieb die Antwort schuldig.
»Vielleicht besinnt er sich doch eines anderen«, fuhr die Begum fort, »wenn Du ihm berichten kannst, dass ich meine Drohung ausführen werde. Ein kleines Beispiel sollst Du schon sehen, erzähle ihm davon.«
Ein Händeklatschen, einige indische Worte, und zwei Amazonen traten ein, von denen eine die Zwergin auf dem Arme trug, die andere schon eine Peitsche in der Hand hatte.
»Sie hat unsere Unterredung gehört. Nun, Frau Rosamunde, haben Sie dem Freunde Ihres Gatten etwas zu sagen?«
Das niedliche Puppengesicht war schneeweiß. Zu solch einem Puppengesicht gehören auch merkwürdig große Augen, schön bewimpert mit geschwungenen Brauen darüber. Und diese Puppenaugen waren weit geöffnet, blickten den einbeinigen Jüngling aber ganz ruhig an.
»Sage meinem Manne, lieber Gruh, er soll nicht kommen, auch wenn ich getötet werde!«, erklang es ebenso ruhig aus dem Puppenmündchen.
»Töten ist etwas ganz anderes!«, sagte die Begum, »zählt ihr erst einmal sechs Peitschenhiebe auf, von denen jener dann ihrem lieben Gatten berichten kann.«
Und es wurde Ernst. Die Begum gab Anweisung, der Oberkörper der Zwergin wurde entblößt, auch das Hemd herab, eine Amazone legte sie über ihr Knie, die andere holte mit der Peitsche aus...
Ein schmetternder Krach erscholl. Gruh war mit einem mächtigen Satze vorgeschnellt. Er war gegen eine unsichtbare Wand gesprungen, die ihn von jener Gruppe trennte, er war zu Boden geschleudert worden, schnellte sofort wieder empor, führte einen zweiten Sprung aus, diesmal aber stieß er dabei den Klumpfuß mit der Platte vor, und es klang nicht, als ob Gummi, sondern als ob Eisen mit furchtbarer Kraft gegen eine tönende Wand gestoßen würde — aber die vollkommen durchsichtige Glasscheibe, die ihn von jener Gruppe trennte, wurde nicht zertrümmert.
»Gib Dir keine Mühe«, spottete die Begum, »wir wissen uns zu schützen. Also los, sechs Peitschenhiebe, damit jener berichten kann.«
Pfeifend sauste die Peitsche sechs mal durch die Luft, auf dem kleinen entblößten Rücken der Zwergin waren sechs rote Streifen entstanden, einer davon blutete. Ohne zu zucken hatte es die Zwergin ertragen. Ruhig blickte sie nach dem Einbein. Bleicher hatte ihr Gesichtchen nicht mehr werden können.
»Halt!«, sagte die Begum. »Nun berichte ihrem Gatten, was Du gesehen hast, wozu ich fähig bin, wenn er sich bis zu Sonnenuntergang nicht gestellt hat. Ich verlange nur mein Recht.«
»Sage ihm, dass er nicht kommen soll!«, sagte ruhig der Puppenmund.
Auch Gruh, nachdem er seinen zweiten zwecklosen Sprung ausgeführt hatte, stand ganz ruhig da, die Arme über der Brust verschränkt, schaute ganz ruhig der schrecklichen Szene zu.
»Ich werde es ihm sagen, und ich weiß, dass er nicht kommen wird. Adieu.«
Sprach's, wandte sich und hüpfte der Tür zu, durch die er gekommen, er brauchte nur den Vorhang zurückzuschlagen, fand seinen Weg allein, hüpfte zwei Treppen hinab, durch den von jenem rätselhaften Lichte erfüllten Korridor, der direkt ins Freie führte. Jetzt war der Ausgang verschlossen. Aber vor der Felswand stand eine Amazone, die erste, die er auf diesem Rückwege wieder erblickte.
Ein kurzes, schrilles Klingeln ertönte, es war ein Zeichen für die Torhüterin, sie tastete an der Wand, ein Stück des Felsens drehte sich um Angeln, die Tür war geöffnet.
»Du kannst passieren!«, sagte sie.
Mit zwei kleinen Sprüngen wäre Gruh im Freien gewesen.
Erst aber, noch in dem Felsengange stehend, bückte er sich noch einmal, beschäftigte sich mit der Platte an seinem Klumpfuße, hatte vorher auch einmal unter seinen Sweater gegriffen, etwas hervorgeholt.
Die Amazone sah es wohl, aber es ging so schnell, dass es ihr nicht richtig zum Bewusstsein kam, sie konnte sich höchstens wundern, über das, was der da machte.
Gruh hatte unter seinem Sweater ein Dreieck hervorgeholt, ungefähr 20 Zentimeter lang, die kürzeste Seite nur 15, an dieser sah noch ein Stift hervor, und dieses Instrument, dunkelblau gefärbt, etwa an eine große Lanzenspitze erinnernd, fügte er vorn an die Platte seines Klumpfußes, nachdem er aus dieser einen kleinen, für gewöhnlich gar nicht sichtbaren Stöpsel gezogen hatte. Das Dreieck passte gerade vorn an die Fußplatte den hervorstehenden Stift hatte er in die Höhlung gesteckt, es hatte auch einen leisen Knacks gegeben.
Dies ist hier ausführlich geschildert worden. Die Amazone hatte es beobachtet, aber wie gesagt, es war so schnell gegangen, dass es ihr gar nicht richtig zum Bewusstsein gekommen.
Ein Blick, ein Griff, ein Knacks, und es war geschehen, Gruh richtete sich wieder auf.
Und die Amazone sollte in ihrem Gedankengange auch nicht weiter kommen, als dass sie sich etwas gewundert hatte. Gruh richtete sich nicht nur aus seiner gebückten Stellung auf, sondern er schnellte gleich ganz empor, dabei sein Bein vorwerfend.
Die Amazone war von der Sohle bis zum Halse in goldene Schuppen gehüllt. Der Schuppenpanzer legte sich auch noch um den unteren Teil des Halses, schmiegte sich als Kragen eng an. Nur der obere Teil des Halses war noch frei. Und da plötzlich fiel der Kopf ab, fiel so ganz gemächlich zur Seite und zu Boden, und dort, wo er soeben noch gesessen, spritzte aus dem Halsstumpfe wie eine Fontäne ein Blutstrahl empor.
Das Dreieckmesser des Einbeins hatte ihr den Kopf glatt vom Rumpfe geschnitten, dicht über dem Schuppenkragen.
Gruh stand wieder auf seinem Beine, und der kopflose Körper des Weibes stand ebenfalls noch da, aufrecht, sich nicht anlehnend, eine blutige Fontäne empor sendend, die nur schnell an Höhe abnahm.
Gruh wartete nichts weiter ab, befand sich mit einem Satze im Freien.
Hinter ihm erst brach der kopflose Körper zusammen, er hatte es nicht mehr gesehen.
Aber in anderer Weise wurde es hinter ihm lebendig. Der Korridor war doch nicht so verödet, wie es geschienen.
Die furchtbare Szene war von anderen gesehen worden, wenn es auch erst einige Zeit dauerte, bis das Gehirn sie erfassen konnte. Dann erklangen gellende Schreie, Schritte liefen. Durch den Korridor sausten zwei Amazonen dicht hintereinander, andere folgten.
»Madawi, Madawi!«, schrien sie. Es mochte so viel wie »Mörder« heißen.
Gruh kümmerte sich nicht darum, blickte nicht hinter sich, hüpfte ruhig durch das blumige Gras. Ruhig, musste man sagen. Wohl machte er weite Sätze, aber er konnte noch ganz, ganz andere ausführen. So sprang er, wenn er sich gemächlich von einem Orte zum anderen begab.
Aber eine Veränderung mit sich nahm er doch vor. Ein Griff unter seinen Sweater, er hatte eine gelbe Platte in den Händen, diese klappte er auf, so wie man eine moderne Taschenlampe aufklappt, jetzt war aus der Platte ein Kubus geworden, ein Kasten, so ungefähr, man erkannte aber auch schon den Helm mit geschlossenem Visier, und den stülpte er über seinen Kopf, und auch sein Hals war geschützt Vorn hatte er zwei kleine Augenlöcher.
»Madawi, Madawi!«
So schrie die erste Amazone, und sie hatte ihn fast erreicht. War noch drei Meter hinter ihm, und diese Entfernung verkürzte sich in jeder Sekunde beträchtlich.
Sie hatte ein langes Bronzeschwert in der Hand, wollte dieses aber offenbar nicht gebrauchen, sonst hätte sie es schon jetzt zum Stoß oder zum Schlage erhoben, sie wollte den Flüchtling offenbar lebendig greifen, hätte wahrscheinlich das Schwert auch noch weggeworfen.
Sie kam nicht dazu. Gruh, ohne sich einmal umzublicken, machte wieder einen Satz, aber in demselben Augenblick, da sein Fuß den Boden berührte, schnellte er nach rückwärts, zugleich hoch empor, sein Bein anziehend, und gleichzeitig drehte er sich auch herum — und das große Dreieckmesser schnitt den zweiten menschlichen Kopf ab, glatt vom Halse, oberhalb des Schuppenkragens. Und bei diesem zweiten Opfer blieb es nicht.
Der ersten Amazone, die ihm nachgesetzt, war ja dicht eine zweite gefolgt, sie hatte das Schicksal ihrer Genossin gesehen, sie sah ihr eigenes kommen, denn während der kopflose Körper noch aufrecht stand, schnellte das Einbein schon wieder empor, sie hatte gar keine Waffe bei sich, so legte sie, ihren Lauf nicht mehr hemmen könnend, beide Hände schützend vor den Hals — da wurde der Klumpfuß mit dem Messer hoch in der Luft vorgeschleudert, eine seitliche Bewegung, und außer dem Kopfe waren auch noch von den Armen, die nur bis zu den Handgelenken schuppengepanzert waren, die Hände oder doch die Finger abgeschnitten.
Auch dieser kopflose Leib machte, eine Blutfontäne empor sendend, noch einige laufende Schritte, ehe er zusammenbrach.
Noch andere Verfolgerinnen waren unterwegs, bewaffnet und unbewaffnet, um den Mörder lebendig zu greifen, ein ganzes Dutzend, aber sie waren noch weit, weit zurück, und was sie da zu sehen bekommen, das machte, dass ihr flüchtiger Fuß im Boden wurzelte. Gruh kümmerte sich nicht um sie, nahm nicht das Bronzeschwert auf, er setzte seine Springtour fort, dem Wasserlaufe zu, ganz gemächlich, er verwandelte sich noch immer nicht in ein fliehendes Känguru.
Schreie, indische Kommandos, und dann krachten Schüsse, ganze Salven.
Sollten die Kugeln der gezogenen Büchsen, in den Händen dieser Amazonen, die ihre Treffkunst schon bewiesen, denn aus noch nicht hundert Meter ihr Ziel verfehlen, wo sich dieses in ganz direkter Richtung entfernte, keine Zickzacklinien beschrieb, nur mäßig hoch sprang?
»Er ist gepanzert, er ist gepanzert!«
Natürlich, so war es. Er hatte nicht nur nachträglich seinen Kopf durch einen Bronzehelm geschützt, er trug auch unter seinem schwarzen Trikotanzug eine Schuppenrüstung, und so dünn diese auch sein mochte, sie spottete den Büchsenkugeln. Diese mochten ihn vielleicht nur wie empfindliche Mückenstiche irritieren, ihm auch etwas Schmerz bereiten, nichts weiter. Wahrscheinlich hatte er dann auf seinem Rücken, oder wo die Kugeln sonst aufgeschlagen waren, einige blaue Flecke.
Dass er gepanzert war, bewiesen besonders vier Pfeile, die ihm nachgesaust kamen, keiner verfehlte sein Ziel, den Rücken, sie waren mit genügender Kraft abgeschnellt worden, um etwa einen Lederkoller zu durchbohren, aber nicht mit jener Kraft, die dazu gehörte, um solch einen Schuppenpanzer zu durchschlagen — wirkungslos prallten sie ab.
»Fangt ihn lebendig — lebendig müssen wir ihn haben!«
Also die erste Taktik wurde wieder aufgenommen, die direkte Verfolgung. Aber das Dutzend Amazonen, das gezögert hatte, wurde von anderen überholt, die aus dem Felsentore quollen, und diese hatten unterdessen schon Helme aufgesetzt, welche aber auch das Gesicht und den Hals vollständig einhüllten.
Aber auch diese wurden wieder überholt, von einer goldschimmernden Reiterin, die auf dem Rücken eines Tarpans saß, auch sie hatte schon Kopf und Hals geschützt, schien aber nicht willens zu sein, den zuletzt gegebenen Befehl zu befolgen, den Mörder ihrer Schwestern lebendig zu fangen, sondern, wenn es nicht anders möglich war, ihn auch zu töten, denn in ihrer rechten Faust schwang sie eine mächtige Streitkeule aus Bronze, und sie sprach es auch gleich aus, was jener zu erwarten hatte.
»Hund, mir entkommst Du nicht, und bist Du gegen Kugeln und Pfeile gefeit, so zerschmettere ich Dir den Kopf, und Dein Gehirn soll mir neue Kraft geben.«
So schrie sie und stieß dem Tarpan die Hacken in die Seiten, und wenn diese Hacken auch spornlos waren, so waren sie doch mit Metall gepanzert, und der flüchtige Tarpan verwandelte sich vollends in einen abgeschnellten Pfeil, dass sein Leib fast den Boden berührte, aber scheinbar die Hufe diesen nicht mehr.
Und das Einbein beschleunigte seine Flucht durchaus nicht. Da musste ihn die Reiterin schnell eingeholt haben, und mochte ihn der Helm auch gegen stählerne Spitzkugeln schützen, gegen einen Schlag mit solch einer Metallkeule nicht, der musste ihm den Schädel zertrümmern.
Und nicht einmal einen Blick warf er hinter sich!
Da aber, wie die Amazone schon zum Schlage ausholte, machte Gruh einen unbeschreiblichen Seitensprung, gleichzeitig schnellte er hoch empor, noch viel höher als sonst, und wie der Tarpan mit weit vorgestrecktem Hals an ihm vorbeisauste, warf Gruh sein Bein hoch in der Luft vor, und man weiß doch, was für eine Kraft man in seinem Beine hat, eine ganz andere als im Arme, das jetzt so viel betriebene Fußballspiel gibt Zeugnis davon, und das so vorgeschnellte Dreieckmesser traf diesmal nicht den Hals, der von dem Helmkragen geschützt war, so hoch war Gruh auch gar nicht gesprungen sondern es traf seitwärts den Oberkörper, und da nützte es nichts, dass dieser ebenfalls mit jenen Bronzeschuppen gepanzert war, tief drang das furchtbare Messer zwischen die Rippen, und das Messer war lang genug, dass es auch noch das Herz erreichen konnte — ein hervorspritzender Blutstrahl, ein gellender Schrei, der erhobenen Faust entfiel die Keule — der Tarpan setzte seinen rasenden Lauf fort, hatte aber keine Reiterin mehr auf dem Rücken, die war herabgeglitten, lag sterbend oder schon tot im Steppengrase — und ruhig setzte Gruh seine Springtour fort.
Also auch dem Stoße dieses messerbewehrten Beines konnten die Schuppenpanzer nicht widerstehen, die sonst jeder aus einem modernen Infanteriegewehr abgefeuerten Stahlspitzkugel trotzten! Was für ein furchtbarer Stoß mochte das freilich auch gewesen sein!
Gruh hatte das Wasser erreicht. Mehr als 200 Meter betrug die Entfernung zwischen diesem Wasserfluss und dem Felsentore sicher nicht, und schon hatte diese kurze Strecke drei nachsetzenden Amazonen das Leben gekostet, wobei die erste, die Torhüterin, nicht mitgerechnet wird. Jetzt aber ließen die anderen Amazonen von der Verfolgung erst recht nicht ab.
Glaubten die Weiber, dass sie den furchtbaren Krüppel im Wasser bewältigen könnten, dass er seine schreckliche Waffe in diesem Elemente nicht zu gebrauchen vermöge?
Denn Gruh hatte sich ins Wasser gestürzt, die Amazonen setzten ihren Wettlauf fort, eine war die schnellste oder hatte überhaupt einen großen Vorsprung gehabt, Gruh hatte sich noch keine zehn Meter vom Ufer entfernt, befand sich noch nicht in der Mitte, als ihm diese erste Amazone mit einem Hechtsprung, der sie schon weit brachte, nachstürzte, ihr Schwert hatte sie schon vorher als zwecklos weggeworfen und wie der Flüchtling nun mit seinem einen Beine schwamm, und wie gewandt sich die Amazone bewies, danach musste sie ihn unbedingt eingeholt haben, ehe er das andere Ufer erreicht hatte, und schon folgten andere Amazonen nach, um sie dabei zu unterstützen, jenen im Wasser unschädlich zu machen. Sie holte ihm denn auch mit wenigen Stößen ein. Aber zu einem Ergreifen sollte es nicht kommen. Wieder schien Gruh gar nicht zu wissen, was sich ihm von hinten für ein Gegner schnell näherte, wie sollte er auch, er blickte sich gar nicht um — aber wie die Amazone nur noch zwei Armlängen von ihm entfernt war, wie sie sich im Wasser hochschnellte, um sich auf ihn zu werfen, da lag Gruh plötzlich auf dem Rücken.
Was er tat, das entzog sich den Blicken, denn es geschah unter Wasser. Aber das Resultat war dennoch mit furchtbarer Deutlichkeit erkennbar.
Hoch warf die Amazone die Arme empor, ein gellender, entsetzlicher Schrei, ein nachfolgendes Gurgeln, und sie war verschwunden, um nicht wieder aufzutauchen. An ihrer Stelle aber rötete sich das Wasser, es bildete sich eine ganze Blutlache, sich immer mehr vergrößernd, die mit dem Flusse abwärts trieb.
Also auch im Wasser hatte der Schlag des bewehrten Beines nichts an furchtbarer Kraft eingebüßt. Wie später konstatiert wurde, wie Gruh dann aber auch gleich angeben konnte, hatte das Messer wiederum die Brust durchbohrt.
Es waren also schon einige Amazonen der ersten ins Wasser nachgesprungen. Aber als sie dies beobachtet, wagten sie nicht weiter zu schwimmen. Das schreckliche Einbein hoffte ja nur, dass sie es täten. Es lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Wasser, das behelmte Gesicht seinen Verfolgern zugekehrt, nur die nächste Schwimmerin erwartend, um ihr den tödlichen Stoß, gegen den es absolut keinen Schutz gab, am wenigsten im Wasser, versetzen zu können.
Ein Pfiff und ein indisches Kommando machten der Verfolgung überhaupt ein Ende. Die im Wasser befindlichen Amazonen kehrten ans Ufer zurück. Da setzte auch Gruh seine Schwimmtour fort, stieg am jenseitigen Ufer ans Land, und jetzt, obgleich er nicht mehr verfolgt wurde, legte er richtig los, verwandelte sich in ein fliehendes Känguru vorausgesetzt, dass dieses mit nur einem Beine so springen kann. Mit Windeseile hüpfte er davon, Sätze von sechs und noch mehr Meter Weite machend.
Aber weit sollte er nicht mehr rennen, sich dabei am Ufer des Sees haltend. Diese schrecklichen, aber auch einzigartigen Szenen waren auch von anderer Seite beobachtet worden.
Schon als Gruh auf dem Herwege über dieses Grasland gesprungen war, war auf dem See die »Argos« zu sehen gewesen, die mit einigen gesetzten Segeln offenbar gerade auf diese Gegend zuhielt.
Es ist davon nichts gesagt worden, weil sich Gruh, auf den hierbei alles ankam, absolut nicht um das Schiff gekümmert hatte.
Während seines Aufenthaltes in den Felsenräumen, der ungefähr eine Viertelstunde gewährt haben mochte, hatte sich die »Argos« ganz bedeutend dem Ufer genähert. Allerdings wollte sie wohl nicht landen, sie benutzte eben den mäßigen Westwind zu einer Segelfahrt, manövrierte, kreuzte, soeben wurden die Rahen zum Wenden gegen den Wind herumgeworfen.
Dies geschah in einer Entfernung von etwa anderthalb Kilometern vom Ufer, und das hat für ein gutes Fernrohr nichts zu sagen. Man darf wohl glauben, dass diese mörderischen Kampfesszenen dort an Bord des Schiffes ganz genau beobachtet worden waren. Schon ein mittelmäßiges Seefernrohr muss 20 mal vergrößern, das heißt, es zieht das zu betrachtende Objekt 20 mal heran, also wären die anderthalb Kilometer für das bloße Auge scheinbar auf 75 Meter verkürzt worden. Da lässt sich solch ein Kampf schon deutlich erkennen.
Und die Schiffsmannschaft schien auch in diesen seltsamen Kampf eingreifen zu wollen.
Schon als Gruh seine ersten beiden Verfolgerinnen empfing und abfertigte, wurde sofort das Segelmanöver eingestellt, die Bootsmannspeife schrillte in ganz anderer Weise, und als das Einbein die Reiterin von ihrem Rosse herabholte, wurde eine Jolle zu Wasser gelassen, mit jener einzigartigen Schnelligkeit, welche auch schon diese Schiffsjungen der »Argos« in solchen Manövern entwickeln konnten, und als sich Gruh in den Fluss stürzte, war die Jolle im sechsriemigen Takte schon unterwegs.
Gruh fertigte seine schwimmende Gegnerin ab, erreichte das Ufer, setzte seine Flucht zu Lande fort.
Da sah er die Jolle angeschossen kommen. Gesteuert von Georg Stevenbrock selbst. Aber die Hauptsache war für das Einbein die Gestalt, die vorn im Bug aufgerichtet stand und so klein sie auch war, die musste er sofort erkennen... der Zwerg Attila selbst!
Sein gellender Pfiff war unnötig, ein Wink genügte. Gruh stürzte sich in den See, hatte aber nur noch wenige Stöße zu machen, so war das Boot bei ihm, stoppte in voller Fahrt, er wurde hereingezogen, die Jolle wendete, ging zurück, wurde gleich mit der ganzen Mannschaft an Bord gehievt.
Wir wollen nicht dabei sein, wenn Gruh in der Kajüte berichtet. Die »Argos« hatte das unterbrochene Segelmanöver ausgeführt, hatte gewendet, kreuzte mit dem mäßigen Westwind wieder gegen Süden, etwa 4 Knoten in der Stunde machend.
Seit diesem Segelmanöver war eine Viertelstunde vergangen, also hatte sich das Schiff wieder drei Kilometer vom Ufer entfernt.
Da kam aus einem der Flussläufe, der sich zwischen einer Felsenschlucht am Nordufer verlor, dort, wo jener Kampf stattgefunden hatte, eine goldglänzende Galeere hervor, und eilte dem Schiffe nach.
Eilte ihm nach?
Wir wissen, dass die schnellsten Rudergaleeren der altrömischen Marine, der besten des klassischen Altertums, nicht mehr als fünf Knoten in der Stunde machen konnten, und da sind also die schnellsten Galeeren gemeint, die Aufträge überbrachten, der Flotte mit Ordern nacheilten, also unsern Depeschenbooten, Avisos entsprechend. Das wissen wir aus alten Berichten, und ebenso wissen wir, dass auch die venezianischen Rudergaleeren, wieder die besten des Mittelalters, diese Schnelligkeit von fünf Knoten in der Stunde niemals übertroffen haben. Das waren eben keine Boote, sondern ganze Schiffe, die sollen gerudert werden!
Ferner wissen wir heute — und das muss hier unbedingt einmal erwähnt werden — dass alle die Erzählungen von zweireihigen, drei- oder gar vierreihigen Rudergaleeren — Bireren, Trireren und so weiter — erdichtet worden sind. Es hat immer nur einreihige Galeeren gegeben!
Trotzdem berichten alte Schriften von Bireren, Trireren und so weiter, wobei also mehrere Ruderreihen übereinander geordnet waren, alte Münzen zeigen Abbildungen von solchen mehrreihigen Rudergaleeren, es sind ja auch noch wohlerhaltene Galeeren aus der römischen Zeit gefunden worden, und obgleich diese nun wirklich mehrere Reihen Löcher für die Riemen übereinander besaßen, so erklärten doch alle Sachverständige, die sich damit befassten, dass auch diese Galeeren immer nur mit einer Reihe Riemen gerudert wurden, denn es sei gar nicht möglich, mit mehreren Reihen, die übereinander liegen, zu rudern. Es sei vollständig ausgeschlossen! Von Takt gar nicht zu sprechen — die langen Riemen müssten überhaupt ständig zusammenklappern.
Infolgedessen entstand ein wissenschaftlicher Streit, der länger als hundert Jahre gewährt hat, zwischen den historischen Forschern, woran sich aber auch gebildete Seeleute beteiligten, über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der alten Bireren, Trireren und so weiter. Im Mittelalter kannte man sie gar nicht. Dieser wissenschaftliche Kampf hat eine ganze Bibliothek gezeitigt.
Ums Jahr 1850 mischte sich auch Kaiser Napoleon III. in diesen Kampf ein, machte es sehr praktisch, ließ in Cherbourg eine sechzigriemige Trirere bauen. Also auf jeder Seite 30 Riemen, in drei Reihen zu je zehn übereinander angeordnet.
Als die französischen Matrosen diese Trirere nicht rudern konnten, wie sie auch eingedrillt wurden, ließ Napoleon die besten englischen Matrosen kommen. Diese brachten es auch nicht fertig. Es war nicht möglich, im Takt zu bleiben, auch nicht mit zwei Reihen Rudern. Also die erfahrenen Seeleute hatten den Wissenschaftern gegenüber Recht behalten. Es ist nämlich der pure Unsinn, mit verschieden langen Riemen übereinander rudern zu wollen. Was meint man wohl, was da für verschiedene Hebelwirkungen herauskommen!
Weshalb dann aber die mehrreihigen Ruderlöcher an den noch erhaltenen Galeeren aus alter Zeit, weshalb da überhaupt der Ausdruck Bireren und Trireren, und zeigten nicht alte Münzen solche Galeeren mit mehrfacher Ruderreihe, wirklich in Fahrt begriffen?
Nun, da man einmal das eine als Tatsache auf experimentellem Wege bewiesen hatte, konnte man andere auf spekulativem Wege erklären. Es wurden immer nur die untersten Ruderlöcher benutzt. Wurde das Schiff schwer beladen, kamen die untersten Löcher unter Wasser, so mussten diese natürlich verstopft werden, dann kam die nächste Reihe dran. Und so fort.
Das ist die ganz einfache Erklärung! Der Name Bireren, Trireren und so weiter kam nur von der Anzahl der Löcherreihen. Und dann allerdings konnten an jedem Riemen auch zwei oder drei oder noch mehr Mann arbeiten, das mag ebenfalls für diese Bezeichnung den Ausschlag gegeben haben. Und was die Münzenbildnisse anbetrifft, so beruhte das eben auf Phantasie. So wie doch auch wir ganz merkwürdige Wappenbilder mit wilden Männern und absonderlichen Tieren haben. —
Mehr als 4 Knoten machten auch diese Galeeren niemals, also auch diese hier, an jeder Seite von 20 Riemen gerudert, konnte die »Argos« nicht einholen, so langsam sie auch segelte.
Auf dem erhöhten Vorderdeck stand ein Weib, es war die Begum selbst, sie winkte lebhaft, und wirklich ging die »Argos« auch wieder aus dem Winde und strich einige Segel.
Nun dauerte es nur noch 20 Minuten, dann war die Galeere dem Schiffe in Rufweite gekommen, die wir mit 150 Metern annehmen wollen. Wenn dabei auch geschossen werden kann, so ist dies zu wissen von Wichtigkeit.
»Werde ich als Gastfreundin empfangen?«
Auf der Kommandobrücke stand neben Kapitän Martin Georg Stevenbrock, und er rief die Antwort zurück.
»Nein.«
»Nein?!«
»Nein! Du bist von jetzt an meine Feindin! Als geheiligte Parlamentärin will ich Dich und die, die Du wegen einer Botschaft sendest, noch empfangen, aber mit der Gastfreundschaft ist es vorbei.«
Es machte auf die Begum wenig Eindruck. Sie hatte ganz genau dasselbe gemeint, wollte gar nicht als Gast empfangen sein.
»Ich bin als Parlamentärin geschützt?« — »Ja.«
»Auch alle meine Kriegerinnen?«
»Ja, insofern sie zur Fortbewegung Deines Schiffes dienen. Kommt heran, Ihr seid geschützt, aber die Verhandlung findet von Bord zu Bord statt, niemand betritt das Deck unseres Schiffes.«
Die Galeere ruderte vollends heran, legte mit einem geschickten Rudermanöver bei. Obgleich es keine der größten war, von der »Argos« um die doppelte Länge übertroffen wurde, war sie doch so hoch gebaut, dass die beiden Decks in fast ganz gleicher Höhe lagen.
Das Vorderdeck war gerade der Kommandobrücke gegenüber zu liegen gekommen, und jetzt musste die Begum wohl erkennen, wie fahl das sonst von Gesundheit strotzende Gesicht des germanischen Waffenmeisters war, was für ein furchtbarer Ernst in seinen sonst gutmütigen, treuherzigen Zügen lag. Die Hälfte der 32 Jungen waren auf verschiedene Stellen verteilt, auf ihre Gefechtsstationen, können wir gleich sagen, die andere Hälfte war nicht zu sehen, und dasselbe galt von den erwachsenen Männern, über welche dieses entvölkerte Schiff noch verfügte, es galt zum Teil sogar von den Damen. Von Waffen war nichts zu sehen, aber auch niemand war herbeigesprungen, um die Galeere festzumachen, alles verharrte regungslos auf seinem Posten, den Blick der Kommandobrücke zugekehrt, von dort ein lebendig machendes Wort oder nur einen Wink erwartend.
»Auf Deinem Schiffe befinden sich der Zwerg und der einbeinige Mann?«
»Ja.«
»Den Zwerg will ich von Dir nicht verlangen, aber den einbeinigen Mann musst Du uns herausgeben.«
»Weshalb?«
»Er hat fünf meiner Kriegerinnen ermordet.«
Die Antwort blieb einige Zeit aus, erst musste Stevenbrock mit sich ringen, was man dem Arbeiten seiner Brust ansah, ehe er es hervorbrachte:
»Ungeheuer, Du hast die Zwergin peitschen lassen!«
»Ja, ich habe es getan. Als erste Drohung, wozu ich fähig bin, wenn sich ihr Gatte, der einer meiner Kriegerinnen im Wettkampf unterlegen ist, sich nicht freiwillig als Gefangener stellt.«
Stevenbrock hatte seine Arme über der Brust verschränkt gehabt, er löste sie, um die Fäuste zu halten, steckte sie in die Hosentaschen, zog sie wieder hieraus und verschränkte sie abermals über der Brust. Offenbar wusste er nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte.
»Weib, Weib«, brachte er dann wieder hervor, und es klang mehr wie das Stöhnen eines verwundeten Stieres, »danke Deinem Gott, oder an welchen Dämon Du sonst glaubst, dass ich Dich als Parlamentärin anerkenne, dass ich mich beherrschen kann — sonst würde ich hinüberspringen und Dich mit meinen Fäusten bearbeiten, und kein Panzer sollte Dich schützen — und danke Deinem Dämon, dass hier unter meinen Leuten solche Disziplin herrscht, sonst solltest Du jetzt Schreckliches erleben — und ich war vorsichtig genug, die beiden, den Zwerg und das Einbein, in eine Kabine mit eisernen Wänden einzuschließen, die auf der anderen Seite des Schiffes liegt, denn für diese beiden könnte ich nicht garantieren! Du abscheuliches Scheusal Du!«
Dieser Ausbruch brachte bei der Begum keinen Eindruck hervor.
»Liefere mir den einbeinigen Krüppel aus.«
»Nein.«
»Du vergisst wohl, dass sich 45 von Deinen Leuten in meiner Gefangenschaft befinden.«
Da brach Stevenbrock in ein Hohnlachen aus.
»Ha, Begum«, rief er dann, »mit dieser Drohung kommst Du mir zum zweiten Male vergeblich! Jetzt weiß ich, dass Ihr alle, ehe Ihr jenes teuflische Mittel anwendetet, wodurch Ihr meine Argonauten besiegtet, bei dem Heiligsten, was Ihr kennt, schwören musstet, diesen durch ein unlauteres Mittel Überwundenen kein Haar auf dem Kopfe zu krümmen! Auch hungern dürft Ihr sie nicht lassen, kein anderes Eurer höllischen Mittel, vom Satan selbst gebraut, dem Ihr Euch verschrieben habt, anwenden, um ihrer Gesundheit irgendwie zu schaden. Nicht einmal den Sonnenschein dürft Ihr ihnen vorenthalten. Oder Ihr habt Euren Schwur gebrochen. Und dann lässt der, der hier der Mächtigste ist, die Felsen über Euch zusammenstürzen oder weiß Euch sonst aus der Welt verschwinden zu lassen! Ist es etwa nicht so?«
Finster nagte die Begum an der Unterlippe.
»Nun gut, ich gestehe, dass es so ist. Ich bin zum zweiten Male so schwach gewesen, Dir mit etwas zu drohen, was ich nicht ausführen könnte. Nein, ich darf diesen Gefangenen nicht einmal das Sonnenlicht entziehen. Aber nur eines ist in dem Kontrakt, den jener Merlin mit unserem Satin geschlossen hat, vergessen worden. Von jetzt an wird jeder Gefangene isoliert gehalten.«
»Meinetwegen!«, lachte Stevenbrock, wenn es auch grimmig genug klang.
»Du scheinst das zu unterschätzen.«
»Was liegt mir daran?«
»Mit der Freiheit ist es jetzt vorbei. Einen Urlaub, um Euch zu besuchen, gibt es natürlich nicht mehr.«
»Das kann ich mir lebhaft denken!«
»Und jeder wird einzeln eingesperrt...«
»Aber Ihr dürft ihm weder Luft noch Sonne entziehen, und was sie fordern, müsst Ihr ihnen geben, so weit es irgend möglich ist, Ihr es beschaffen könnt. Nur Waffen sind dabei ausgeschlossen. O, ich kenne die Bestimmungen jetzt ganz genau. Ihr habt meine Argonauten nicht so ehrlich besiegt, wie Ihr uns zuerst glauben machen wolltet. Es war Lug und Betrug dabei, und das dient mir sogar zur Beruhigung.«
»Denke hierüber, wie Du willst. Deine Leute siehst Du jedenfalls nie wieder.«
»Dann eben nicht.«
»Aber die Zwergin haben wir nicht auf diese Weise besiegt, sie hat sich nicht zum Wettkampf gestellt...«
»Sondern die habt Ihr noch auf viel infamere Weise in Eure Gefangenschaft gebracht, Du hast zwei Amazonen als Friedensboten nach ihrem Versteck gesandt...«
»Dieser Plan ging nicht von mir aus, aber ich hieß ihn nachträglich gut. Und trotzdem, es ist ein Frevel begangen worden, und wir sind zur Sühne bereit. Die beiden Kriegerinnen, Zilla und Hektale, sie stehen zu Eurer Verfügung, dass Ihr sie töten könnt, unter Folterqualen. Wir bringen sie gleich mit.«
»Behaltet sie!«
»Hierüber hätte hauptsächlich der Zwerg zu entscheiden, dem müssen wir sie ausliefern, dass er an ihnen seine Rache ausübt...«
»Behaltet sie!«
»Gut, sprechen wir hierüber dann später. Die Hauptsache ist jetzt die, dass wir auf die Gattin des Zwerges, der sich nicht freiwillig stellt, einen Anspruch als Bürgin haben und dass sie in unsere Gefangenschaft geraten ist. Und zwar steht diese Gefangene nicht unter jenen Bestimmungen. Wir können mit ihr tun, was wir wollen, wir können sie töten oder auch peitschen und martern.«
»Ungeheuer, bist Du denn nur wirklich ein Weib, hast Du ein Herz im Busen, dass Du es über Dich bringst, dieses zarte Geschöpf peitschen zu lassen?!«, rief Stevenbrock außer sich, wieder die Fäuste ballend.
»Ich habe das Recht dazu und tue, was mir beliebt!«, war die kalte Antwort. »Jetzt aber stelle ich noch eine andere Forderung. Der Zwerg gehört so wie so uns. Nun aber fordere ich für die Herausgabe der Zwergin auch noch den einbeinigen Krüppel, der fünf meiner Kriegerinnen gemordet hat. Oder noch eine Nachgiebigkeit will ich zeigen. Auch auf den einbeinigen Mann wollen wir verzichten. Dann aber musst Du Dich statt seiner in unsere Gefangenschaft begeben. Wenn nicht, so werdet Ihr bald sehen, wozu wir fähig sind. Als erstes werden wir Euch ein Ohr der Madame Rosamunde zuschicken. Dann, wenn Ihr Euch noch nicht gefügig zeigt, das zweite. Dann kommt die Nase daran, dann ein Finger, dann die ganze Hand... verstehst Du?«
Stevenbrock hatte sich wie zum Sprunge geduckt.
Er sprang nicht.
Er richtete sich wieder auf.
Aber furchtbar arbeitete seine Brust
»Wenn ich mich stelle, dann — dann — gebt Ihr — die Zwergin frei?«, brachte er mühsam hervor.
»Und wenn sich auch ihr Gatte stellt. Durch Dich verzichten wir nur auf den einbeinigen Mörder. Gehst Du aber nicht auf diesen Tausch ein, so wird die Zwergin noch ganz besonders gemartert.«
»Ich werde die beiden sprechen!«, erklang es tonlos, und Stevenbrock ging in das Kartenhaus, von dem aus also ein Gang unter Deck, in die Kajüte führte.
Stille ward es.
Nur einmal, kaum als er sich entfernt hatte, erklang eine verzweifelte Frauenstimme.
»Georg, Georg!«
Nichts weiter. Es war die Stimme der Patronin gewesen.
Dann dauerte es längere Zeit, dann wurde es nur um so lebhafter.
Der Raum, wo es gerufen wurde, mochte weit entfernt sein, auf der anderen Seite des Schiffes, aber deutlich war die tiefe Stimme des starken Zwerges zu vernehmen.
»Nein, nein, und abermals nein! Ich gehe nicht, und Gruh geht nicht, und wenn mir Rosamunde auch in tausend Stücken zugesandt wird! Für mich existiert meine Frau überhaupt nicht mehr! Für mich existiert nur noch die Rache! So wahr ich bestimmt weiß, dass in meinen Adern echtes Hunnenblut fließt! Rache, Rache, Rache! Das Blut dieser Weiber will ich lecken! Und Ihr, Waffenmeister, was habt Ihr denn damit zu tun? Schert Euch zum Teufel, kümmert Euch nicht um meine Frau! Was geht Euch meine Frau an?! Und wenn Ihr hinübergeht und wenn ich dadurch meine Frau wiederbekäme — bei Gottes Tod, ich schwöre, so wahr ich ein echter Hunne bin — mit dieser meiner Hand stoße ich ihr den Dolch ins Herz — um Euer Opfer zwecklos zu machen!«
So hatte die Bassstimme gedonnert, mit furchtbarer Wildheit.
Man hatte einen riesenhaften Berserker zu hören geglaubt.
Dann trat wieder Todesstille ein, bis Stevenbrock wieder aus dem Kartenhause auf die Kommandobrücke trat, und sein Gesicht schien immer noch um eine Schattierung fahler geworden zu sein.
»Nein! Weder der Zwerg noch der einbeinige Gruh liefert sich Dir aus.«
»Ich habe es gehört, es ist laut genug gebrüllt worden!«
»Dann weißt Du ja auch, dass es keinen Zweck hätte, wenn ich mich Dir stellen würde.«
»Ja, auch das habe ich gehört. Gut, dann nicht. Aber meine Drohung mache ich doch wahr, darauf kannst Du Tisch verlassen. Morgen bei Sonnenaufgang werde ich Euch zunächst das linke Ohr der Zwergin zuschicken, eine Stunde später das...«
»Nun höre erst einmal mich an, Weib. Ihr habt genau 18 Minuten gebraucht um von der Flussmündung bis hierher zu rudern, und die Entfernung ist dieselbe geblieben, wir sind unterdessen nicht abgetrieben. So gebe ich Dir jetzt 18 Minuten Zeit. Dort hängt der Schiffschronometer. Wir werden unterdessen hier liegen bleiben, keine Vorbereitungen zu einem Manöver treffen. Aber nach achtzehn Minuten geschieht es. Es ist jetzt genau ein viertel fünf. Drei Minuten über halb fünf gehen wir gegen Euch vor. Verstanden?«
»Das soll also eine Kriegserklärung sein?«
»Weib, zweifelst Du noch daran?«
»Wir nehmen sie an.«
»Brauchen wir nicht. Wir schlagen Euch tot, wo wir Euch finden. Und wenn eine Amazone hilflos im Grase liegt, wir kennen kein Erbarmen, wir schlagen sie tot. Ihr seid wilde Tiere, die ausgerottet werden müssen. Also schicke nicht noch einmal eine Parlamentärin. Mit wilden Bestien wird nicht verhandelt. Man tötet sie einfach Und da ist jedes Mittel erlaubt, sogar Gift, um solches Ungeziefer auszurotten. Nun mach, dass Du fortkommst. Eine halbe Minute ist schon verstrichen.«
»Oooh, mein verehrter Herr Waffenmeister!«, fing da das Weib höhnisch zu lachen an. »Wenn es so ist, dann werdet Ihr ja Überraschungen erleben! Du hast ja gar keine Männer mehr, nur Kinder noch, die vielleicht ein Stückchen Eisen fünf Minuten lang halten können, Ihr alle werdet noch unsere Gefangenen...«
»Weib, mach dass Du fortkommst, oder ich vergesse, dass ich Euch noch 17 Minuten lang schonen will!«, rief Stevenbrock jetzt außer sich, die Fäuste schüttelnd. »Ja, ich bitte Dich, tue mir den einzigen Gefallen, brich Du selbst die heiligen Parlamentärgesetze, falle jetzt gleich über uns her, gib Deinen Kriegerinnen einen Wink, dass sie an Bord meines Schiffes springen...«
Und Stevenbrock selbst schien den Seinen einen Wink gegeben zu haben, denn plötzlich machten alle an Deck Stehenden, die Jungen wie die Erwachsenen, einen besonderen Griff, sie alle brachten unter ihren Jacken solche Klapphelme zum Vorschein, die sie sich über den Kopf stülpten, die weiblichen Mitglieder nicht ausgeschlossen, in einem Moment war es geschehen. Waffen hatten sie zwar nicht in den Händen, aber jedenfalls trugen sie unter ihrer gewöhnlichen Kleidung auch schon Schuppenpanzer, und dann würden sie auch schon geeignete Waffen in griffbereiter Nähe haben, sie warteten nur noch einem weiteren Wink ab, und Stevenbrock selbst, ebenfalls blitzschnell solch einen Klapphelm über den Kopf stülpend, hatte noch einen zweiten Griff hinter sich gemacht, und er spannte einen gewaltigen Bogen, auf der Sehne lag ein Pfeil auf die Begum gerichtet.
»Wir sind bereit, Euch zu empfangen!«
Gestaunt hatte die Begum allerdings, diese Verwandlung war gar zu plötzlich vor sich gegangen — sie versuchte es zu bemänteln, griff wieder zum Hohn.
»Aha, also so habt Ihr Euch schon vorbereitet! Vollständig kriegsgerüstet, obgleich ich noch an gar keine Kriegserklärung dachte! Dann allerdings hättet Ihr jetzt leichtes Spiel mit uns. Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet, wir kamen als friedliche Parlamentäre, haben keine Waffen bei uns, nicht einmal Helme...«
»Weib, nun mache dem Geschwätz ein Ende! Drei von den achtzehn Minuten sind schon vergangen, und wir sind nicht nur auf Segel angewiesen, wir liegen unter Dampf, in genau einer Viertelstunde gebe ich das Kommando, wir fahren mit voller Kraft los, und habt Ihr bis dahin nicht dort die Flussmündung gewonnen, so will ich einmal probieren, ob Eure Bronzegaleere einen Rammstoß unseres Schiffes aushält...«
»Genug, genug, wir gehen schon. Auf Wiedersehen also als Gegner, aber, nicht nur zum harmlosen Wettspiele, sondern im Kampfe auf Leben und Tod, und Ihr werdet vielleicht finden, dass wir nicht unbedingt jenes Hilfsmittel nötig haben, um mit einem Schwerthiebe Eure Köpfe und Gliedmaßen von den Rümpfen zu trennen, trotz aller Panzerungen, mit denen Ihr Euch zu schützen sucht. Also morgen früh bei Sonnenaufgang hört Ihr wieder etwas von mir, wenn ich Euch das linke Ohr der Zwergin schicke, und die Amazone, die es Euch bringt, mögt Ihr meinetwegen massakrieren.«
Noch ein höhnisches Winken, ein indisches Kommando, ein Paukenschlag, und durch geschicktes Streichen der freien Ruderreihe machte sich die Galeere von dem Schiffe frei, hatte in wenigen Sekunden gewendet und strebte mit doppelter Riemenreihe wieder dem Ufer zu.
Als die letzten 15 oder nur 14 Minuten vergangen waren, hatte die Galeere die Flussmündung zwar noch nicht ganz erreicht, jetzt aber wäre sie auch vom schnellsten Torpedojäger nicht mehr eingeholt worden.
Bald darauf wünschten auch Attila und Gruh das Schiff wieder zu verlassen. Es ist nicht geschildert worden, wie ersteren als die »Argos« noch in der Nähe des Südufers gekreuzt hatte, an Bord gekommen war.
»Mister Attila, ich muss Sie erst noch einmal sprechen!«, sagte die Patronin mit vor Erregung zitternder Stimme, als Attila seinen Wunsch wieder an Land gebracht zu werden, geäußert hatte.
»Es hat keinen Zweck, Mylady!«, entgegnete der trotzige Zwerg. »Wenigstens nicht, wenn Sie mich nochmals wegen meiner Frau sprechen wollen. Da ist mein Entschluss gefasst. Oder wegen Cäsars? Der Hund gehört Ihnen, ich muss ihn Ihnen wieder...«
»Bitte, kommen Sie noch einmal in meine Kajüte.«
Der Zwerg folgte ihr, kam aber schon in wenigen Minuten wieder zum Vorschein, und die Unterredung musste resultatlos verlaufen sein.
Die Patronin selbst, die ganz starre Züge bekommen hatte, gab die nötigen Kommandos, die »Argos« fuhr etwas westlich das Ufer entlang, die Jolle wurde ausgesetzt, Attila und Gruh wurden nach einer von ihnen bezeichneten waldigen Stelle gerudert, sie stiegen aus, bald waren sie zwischen den Bäumen verschwunden. Nur noch einmal hörte man ein dröhnendes, jauchzendes Hundebellen, der an Land gebliebene Cäsar hatte sich wieder mit ihnen vereinigt.
Die »Argos« fuhr zurück, blieb wieder jener Flussmündung und Felswand gegenüber liegen, drei Kilometer vom Ufer entfernt, nur ganz langsam hin und her kreuzend, weil bei Anbruch der Nacht völlige Windstille eintrat.
Diese Nacht war vergangen. Windstill, lautlos, ohne jedes Ereignis. In strahlender Pracht erhob sich die Sonne eines neuen Tages über den östlichen Gebirgszügen und küsste mit goldenem Strahle das Argonautenschiff, das noch auf seiner alten Stelle lag, das aber, ach, jetzt diesem Namen so wenig entsprach. Weil jene Männer, die den Namen Argonauten führten, sich nicht mehr darauf befanden.
Höher stieg die Sonne während einer Stunde, und es wollte sich nichts ändern.
Weshalb standen die führenden Männer und die Jungen und auch die weiblichen Mitglieder mit so verzagten Gesichtern an Deck herum, sich höchstens scheinbar mit einer Arbeit beschäftigend?
Weshalb blickten sie immer wieder so besorgt und verzagt, wenn nicht gar ängstlich nach der Tür, welche von der Patronatskajüte an Deck führte, weshalb nicht nach jenen nahen Felsen oder nach der Flussmündung irgend ein Fahrzeug erwartend, das ihnen die Kunde brachte, dass die Begum ihre erste Drohung an der Zwergin wahrgemacht habe?
»Well, das ist fürchterlich«, brach da endlich Kapitän Martin, der schon immer mehr denn je beim Auf- und Abwandern mit den Beinen geschlenkert und in den Hosentaschen gewühlt hatte, das allgemeine Schweigen. »Ich habe in mancher Situation das Warten gelernt, auch wenn's dabei um den Hals oder sogar ums ganze Geld ging, aber dieses Warten ertrage ich nicht länger! Eh, Siddy, ist denn die Patronin noch immer nicht auf?«
»Sie hat noch nicht geklingelt, Kapitän.«
»Das ist ja merkwürdig. Eh, Klothilde, könnt Ihr nicht einmal klopfen?«
»Ich habe keine Befugnis dazu, sie zu wecken!«, entgegnete Klothilde.
»Well, tut es nur einmal, es ist doch eine freudige Nachricht, die Ihr zu bringen habt.«
»Well, Käpten, klopft Ihr doch selbst und bringt Ihr diese freudige Nachricht, über die sie sich ja verdammt freuen wird!«, erwiderte Klothilde.
»Viellieks hädd see sick uphängt.«
Kapitän Martin starrte den Wicht an, der dies gesagt hatte.
Es war ein elfjähriger Knirps, der schon das schönste deutsche Schiffplatt sprach und sich auch sonst viel vom deutschen Matrosencharakter angeeignet hatte, mehr als alle die anderen Jungen.
»Du Näswater verdammter, willst dien Mul halten, bis Du gefragt wirst?!«, herrschte ihn der Kapitän an, schon das Bein hebend, und der Junge machte, dass er aus der gefährlichen Nähe kam.
»Well, und der Junge kann doch recht haben!«, fuhr Kapitän Martin dann fort. »Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, nur von so einem verdammten Skribifax erfunden, der nichts weiter zu tun hat, als sich solche erlogene Geschichten aus den Fingern zu klauen — da hatte mal einer etliche Jahre im Zuchthaus zu spinnen, unschuldig, glaube ich wohl. Jedenfalls wusste er, dass bei ihm zu Hause alles in Ordnung war, seine Frau und Kinder freuten sich bannig drauf, wenn er wieder raus kam, und Geld hatte er auch genug — und endlich kommt der Tag, wo er entlassen werden soll — das heißt erst bricht die Nacht an — am anderen Morgen wird ihm die Freiheit verkündet — und wie das so weit ist, der Wärter die Zelle öffnet, da hängt der Kerl an seiner Bettstelle, einen Streifen Bettuch um den Hals — der Döskopp hat die letzten Stunden nicht mehr ertragen können, hat sich vor Ungeduld zu guter Letzt noch aufgehängt...«
»Da kommt sie!«, wurde geflüstert.
Sie erschien an Deck, die Patronin.
Wie die Morgensonne ihr ins Gesicht fiel, sah man erst recht deutlich, dass sie eine schlaflose Nacht hinter sich habe.
»Guten Morgen, Leute!«, sagte eine müde Stimme, die sich zur Freundlichkeit zwingen wollte.
»Guten Morgen, Frau Patronin!«
Es klang nicht so kräftig wie sonst, alle die eigentlichen Argonauten fehlten, ja — es klang überhaupt ganz anders.
Eine stille Pause. Überall nur ein verlegenes Blicken.
Dann nahm Kapitän Martin einen Anlauf, als wolle er die Hände aus den Hosentaschen ziehen, brachte es nicht fertig, setzte sich nur in Bewegung, kam aber auch nur bis zu Juba Riata, der ihm im Wege stand.
»Well und verdammt, ich bring's nicht fertig!«, sagte er leise zu ihm. »Tut mir den Gefallen, macht Ihr's, und eigentlich ist's überhaupt Eure verdammte Pflicht.«
Ohne ein Wort zu sagen, wandte Juba Riata, der einzige, der nicht verlegen nach der Patronin geblickt hatte, dieser sein schönes, tiefgebräuntes Antlitz zu, ging mit ruhigem, federndem Schritt auf sie zu.
»Guten Morgen, Frau Patronin.«
»Guten Morgen.«
»Sie werden ungeduldig gewartet haben.«
»Ich... erwarte eine schreckliche Nachricht.«
»Ich bringe sie nicht, diese Nachricht, die Sie erwarten.«
»So — hat die Begum — Ihre Drohung noch nicht ausgeführt — nur ein Aufschieben — nur eine Verzögerung...«
»Nein«, unterbrach Juba Riata die Sprecherin, welche die Worte kaum hervorbrachte, »Frau Rosamunde Attila befindet sich bereits wohlbehalten an Bord unseres Schiffes.«
Mit weitgeöffneten Augen richtete sich die Patronin empor.
»Was?!«
»Nachts gegen drei Uhr wurde sie gebracht, von den beiden Amazonen, welche sie entführt hatten. Sie mussten sich selbst als unsere Gefangenen ausliefern. Und Frau Rosamunde ist wohlauf, natürlich ganz unbeschädigt. Nur dass sie gestern die wenigen Schläge erhalten hat. Sie befindet sich in ihrer Kabine, musste sich niederlegen, Doktor Cohn hat es angeordnet. Denn einiges Fieber ist doch noch zu erwarten. Aber Doktor Cohn garantiert dafür, dass sie es ohne jeden Schaden überstehen wird.«
In den weit geöffneten Augen der Patronin wollte kein freudiges Staunen entstehen, nicht einmal ein ungläubiges, sie ließ diese Augen über die versammelte Mannschaft schweifen, und deren gedrücktes Verhalten war allerdings danach angetan, dass ein immer größeres Misstrauen gegen diese Nachricht in ihr aufsteigen musste, die nachfolgende Hiobsbotschaft erwartend.
»Wie — ist — denn — das — möglich? Gegen wen ist die Zwergin ausgetauscht worden?!«
Durch alle an Deck Anwesenden ging es wie ein erschrecktes Zucken. Weil sie es sofort erraten hatte.
Noch einmal, ehe Juba Riata eine Antwort geben konnte, ließ sie ihre Augen über Deck gleiten.
»Gegen... Mister Kabat?! Er hat sich freiwillig gestellt?«
Wie kam sie gerade auf den?
Nun, weil sie den Eskimo eben nicht erblickte
»Nein. Mister Kabat wäre doch nicht als Ersatz angenommen worden. Heute gegen Mitternacht regte Kapitän Stevenbrock eine Beratung an, wir kamen uns eigentlich alle entgegen, hier musste doch etwas geschehen, und auf Mister Attila und Gruh war nicht mehr zu rech...«
Juba Riata brach ab, erschrocken, wie dieser eiserne Mann sonst wohl niemals erschrak. So furchtbar veränderte sich plötzlich das Gesicht der jungen Witwe, so entsetzt blickte plötzlich ihr Auge, und so hastig klammerte sie sich an dem Bootskran an, neben dem sie stand.
»Georg!«, hauchten ihre plötzlich schneeweiß gewordenen Lippen.
Wie ergebungsvoll neigte Juba Riata sein Haupt.
»Ja. Nur er konnte zur Auswechslung gegen die Zwergin in Betracht kommen. So sagte er, und wir sahen es ein, und wir hätten uns seinem Vorhaben auch nicht widersetzen können. Wenn wir es überhaupt gewollt. Er sprach zu überzeugend. Ja, Kapitän Georg Stevenbrock, unser Waffenmeister, hat sich freiwillig als Gefangener gestellt, um Frau Rosamunde zu befreien...«
Juba Riata machte schnell einen Schritt vorwärts, Klothilde sprang einige Sätze vor — beide wollten die Stürzende auffangen.
Es war nicht nötig. Mit einem Ruck hatte sich die junge Witwe mit den mädchenhaften Zügen selbst wieder aufgerichtet, und plötzlich war nichts mehr von Schreck und Entsetzen in diesen Zügen.
Langsam faltete sie die Hände an der Brust, und langsam und leise kam es hervor:
»Ich habe es gewusst, geahnt... nein, gewusst! Heute Nacht habe ich plötzlich gewusst, dass er von mir gehen würde, um die Zwergin zu befreien. Von mir gehen würde, ohne Abschied von mir zu nehmen!«
»Er wollte Ihnen das Leid ersparen...«
»Und ich habe ihn nicht gehalten, obgleich ich es wusste — denn er ist von mir gegangen, um meine Sünde zu sühnen...«
»Um Gott, Frau Patronin, Sie meinen doch nicht, weil Sie damals darauf bestanden haben, dass Frau Rosamunde als Bürgin für ihren Gatten eintreten sollte — das haben wir alle dann gut geheißen — Mister Attila selbst hat uns dann später nicht den geringsten Vorwurf darüber gemacht!«
»Nicht das, nicht das. Nein...«
Und sie machte einige Schritte vorwärts, streckte die Hände, aber immer noch gefaltet, aus, den Blick zum Himmel gerichtet.
»Ihr alle sollt es hören — Ihr Kinder auch — und den Engeln im Himmel muss ich es jetzt sagen — meine Sünde — er ist von mir gegangen, — der mein Geliebter war — mein Mann und mein Gatte, ohne dass ein Priester unseren Bund gesegnet hätte — und das Pfand unserer heimlichen Liebe, ein Töchterchen — es befindet sich im Hause seines Vaters — das ist meine Sünde — nur meine — denn er wollte es nicht — ich aber wollte ihm seine Freiheit lassen — nein, ich selbst wollte frei sein — und deshalb nun ist er von mir ohne Abschied gegangen — und ich habe es gewiss — und deshalb habe ich ihn gehen lassen — wegen meiner Sünde...«
Alles starrte auf das weinende Weib. Wenn das Weinen auch nur in der Stimme lag.
Viele hatten von alledem gewusst. Die weiblichen Gäste an Bord. Schon während des letzten Aufenthaltes auf dem EldoradoPlateau, dann während der Fahrt nach Hamburg, während welcher die Patronin kaum noch an Deck erschienen war, dann die Reise nach Kiel zu Stevenbrocks Vater...
Diese weiblichen Mitglieder waren in das Geheimnis eingeweiht gewesen.
Aber auch alle anderen hatten es geahnt, wenn nicht ganz bestimmt gewusst. Es hatte nicht ausbleiben können.
Es war noch mit keinem Worte darüber gesprochen worden, auch nicht im heimlichsten Winkel vertraulich unter vier Augen.
Sie selbst hatte es jetzt öffentlich ausgesprochen.
Und wie sie es getan, da neigte sie sich etwas zurück, um die Hände vors Gesicht zu schlagen, und noch einmal erklang es in namenlosem Schmerze, in den sich auch ein undefinierbares Etwas wie von seligem Jubel mischte:
»Doch alles, was mich dazu trieb,
Ach war so gut, ach, war so lieb!«
Wer kennt sie nicht, diese herrlichen Worte, diese herrlichen zwei Zeilen?
Dann kennt er Goethes »Faust« nicht. Gretchen am Brunnen, ihre Freundin berichtet ihr das Neueste.
Hast nichts von Bärbelchen gehört? [...] Es stinkt!
[Sie füttert zwei, wenn sie nun isst und trinkt.]
Und dann geht Gretchen vom Brunnen nach Hause.
Wie konnt ich sonst so tapfer schmälen,
Wenn tät ein armes Mägdlein fehlen.
Wie konnt ich über andrer Sünden
Nicht Wort g'nug der Zunge finden!
Wie schien mir's schwarz, und schwärzt's noch gar,
Mir's immer doch nicht schwarz g'nug war,
Und segnet' mich und tat so groß —
Und bin nun selbst der Sünde bloß. —
Doch — alles, was mich dazu trieb,
Gott, war so gut! ach, war so lieb!
Das muss man aber von einer gottbegnadeten Schauspielerin gehört haben.
Diese letzten zwei Zeilen! Wenn sie den Ton umschlagen lässt. Das furchtbare Weh mit grenzenloser Seligkeit verschmelzen lässt. Wenige Schauspielerinnen haben es gekonnt.
Dieses Weib hier hatte nicht nötig, eine schauspielerische Kunst anzustrengen.
Aber der Himmel, dem sie durch öffentliches Aussprechen ihr Geheimnis preisgegeben, der nahm das als Sühne an, der sorgte auch dafür, dass ihr nun nicht erst noch offenbart werden musste, wie der Geliebte in der Erwartung gegangen war, dass nun er statt der Zwergin gemartert werden würde, um auch die letzten der Argonauten den Weibern noch willfährig zu machen.
Doch — alles, was mich dazu trieb,
Gott, war so gut! ach, war so lieb!
Dabei hatte sie langsam wieder die Hände vom Gesicht genommen, um die Arme noch höher gen Himmel auszubreiten, sich noch mehr zurückneigend. In solch einer Stellung überblickt man ein gut Teil des Himmels.
»Georg!«, schrie sie da auf.
Ja, sie erblickte ihn wirklich.
Aller Augen folgten der Richtung, die sie jetzt mit einer Hand bezeichnete, und sie alle sahen ihn.
Dort oben in einer Fensteröffnung der zu Wohnungen ausgehöhlten Felswand, in der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses, stand eine kleine menschliche Figur, ein Mann, aber so klein sie auch in dieser Entfernung erschien, die Luft war so klar, dass alle doch deutlich ihren Waffenmeister erkannten, die Seele ihres Schiffes.
»Georg!«, schrie die Patronin auf, während sie dabei nach der Höhe
des Felsens blickte, wo der Waffenmeister in einer Nische stand.
Doch nicht lange konnten sie sich an dem Anblick ihres Waffenmeisters weiden.
Im nächsten Augenblicke durchgellte ein einziger und doch vielstimmiger Schrei den herrlichen Frühlingsmorgen, ausgestoßen an Deck dieses Schiffes.
Georg stand nicht mehr in der Fensteröffnung er sauste herab durch die Luft!
Er überschlug sich nicht dabei, was immer der Fall ist, wenn solch ein Sturz aus großer Höhe unfreiwillig erfolgt, sondern mit Überlegung musste er kopfüber abgegangen sein, so sauste er herab, die Brust herausgereckt, die Arme möglichst weit ausgebreitet, um das physikalische Gesetz von der Beschleunigung des fallenden Steines möglichst einzuschränken, um die Schnelligkeit durch künstlich hervorgebrachten Widerstand der Luft möglichst zu bremsen.
So wird hier beschrieben, wie er durch die Luft kopfüber herabsauste, aus der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses.
In Wirklichkeit ist gar nichts zu beschreiben.
Nur der Momentverschluss der besten Kameras, bis auf eine tausendstel Sekunde einstellbar, hat es fertig gebracht, solche Springbilder fotografisch festzuhalten.
Man sah ihn, als er dreiviertel des Weges zurückgelegt hatte, die Arme schnell nach unten über den Kopf zurückgeschlagen, und in demselben Moment, als der vielstimmige Schrei des Entsetzens, meist aus Kinder- und Frauenkehlen kommend, noch nicht verhallt war, spritzte auch schon dort unten das Wasser im See zwei Etagen hoch empor!
Todesstille.
»Ja wie hat er denn überhaupt das Wasser erreichen können? Dort ist doch noch ein tüchtiger Streifen Land. Konnte er denn diesen überspringen? Weshalb schlug er nicht dort unten auf? Wo er natürlich zerschmettert wäre, und wenn's auch der weichste Sand gewesen? Wie hat er überhaupt das Wasser erreicht?«
Es war wohl kein einziger der Zuschauer, der diese Frage nicht aufwarf.
Natürlich nicht so, wie es hier angeführt wird. Das war nur ein einziger Zuckblitz in jedem Gehirn gewesen.
Und ebenso hatte die Todesstille nur einen einzigen Moment gewährt. Da ertönte schon klar und deutlich Kapitän Martins sonore Bruststimme, und da setzte er auch schon sein rechtes Bein auf die fünfte Stufe der Kommandobrücke, die ersten vier Stufen übersteigend.
»Volldampf! Klar die erste Jolle! Auf die Gefechtsstationen! Auch die Rettungsmannschaft den Helm nicht vergessen!«
So, das genügte.
Kapitän Martin selbst hatte nichts vergessen.
Die Kessel mit Petroleum geheizt, wozu einige der Jungen genügten, hatten volle Dampfspannung, und Maschinisten waren ja vorhanden.
Die erste Jolle, das vorschriftsmäßige Rettungsboot, war so wie so schon ausgeschwungen, brauchte nur noch zu Wasser gelassen zu werden, und auch zur Handhabung dieses Rettungsbootes waren speziell sechs Schiffsjungen ausgebildet worden, unter Leitung des Eskimos, der als ehemaliger Walfischharpunier ja etwas vom Bootswesen verstand, er steuerte dieses Rettungsboot, wenn es von Jungen bedient wurde.
Der Signalapparat klingelte, die Schraube begann sich zu drehen, schneller und immer schneller, bis das Schiff in voller Fahrt war, und dann wurde der Dampf schon wieder abgestellt. Es waren ja nur drei Kilometer zu durchfahren, und dorthin bis nahe an das Ufer, wo das Wasser aufgespritzt war, konnte das Schiff sicher nicht, dazu ging der sandige Strand zu flach ins Wasser hinein, das war von hier aus schon mit dem bloßen Auge zu erkennen. Deshalb das Rettungsboot, zum Herablassen klar in den Davits hängend, schon bemannt, nur der Steuerer, Mister Tabak, noch auf der Bordwand stehend.
Und wozu die ausklappbaren Panzerhelme, schon über den Kopf gestülpt?
Nun, falls es einen Kampf mit den Amazonen gab, wenn die sich auch noch der Leiche bemächtigen wollten.
Der Leiche?
Wer nicht ein phantastischer, unverbesserlicher Optimist durch und durch war, der konnte nicht anders glauben, als dass Stevenbrock nur als Leiche geborgen werden konnte.
In diesem Augenblicke, wenn er auch etwas länger währte, waren sie freilich alle solche unverbesserliche Optimisten, vielleicht sogar der sonst überaus nüchterne Kapitän Martin.
So schoss die »Argos«, wenn auch schon wieder mit stillstehender Schraube, jener Uferstelle zu.
»Er lebt, er lebt — da schwimmt er!«
So hatten erst zwei geschrien, dann stimmten sie alle, alle in denselben Ruf ein, wiederholten ihn.
Nur Kapitän Martin nicht, dazu war der viel zu selbständig und originell.
Der sagte etwas anderes, brummte es nur:
»Gott bewahre mich, muss der 'nen Schädel hamm!«
Aber die Hauptsache war es, dass niemand sich täuschte. Dort schwamm er, teilte mit rüstigen Armen, wie über solche nur ein kerngesunder Mensch gebietet, das Wasser, hielt direkt auf das ihm entgegenkommende Schiff zu. Der mörderliche Sprung aus der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses, also sagen wir 40 bis 50 Meter, war ihm gelungen.
Es sind schon wiederholt Sprünge aus solcher und aus noch größerer Höhe ins Wasser ausgeführt worden und bedeuteten für den Betreffenden keinen Todessprung.
Freilich spricht man gewöhnlich nur von wenigen Prozenten, denen solch ein Sprung glücklich gelungen ist, die feiert man dann in Zeitungen und Dichtungen.
Georg Stevenbrock gehörte eben mit zu diesen wenigen Prozenten.
Er hatte den Landstreifen übersprungen, und er verstand zu springen, den beschleunigten Fall möglichst zu bremsen, den Kopf zuletzt in die geeignetste Lage zu bringen und die Hände schützend davor zu halten, und dort, wo er aufgeschlagen, war das Wasser, wie später konstatiert wurde und gleich jetzt gesagt werden soll, fünf Meter tief, das reicht, um schon einen ganz gewaltigen Sturz abzuschwächen, und den Grund bildete ganz feiner Sand, in den er allerdings mit Händen und Armen sehr tief hineingefahren war, aber der ihn doch nicht hatte festhalten lassen, und dann eben und vor allen Dingen... »Gott bewahre mich, muss der 'nen Schädel hamm!«
Denn ohne einen besonderen Schädel geht's nicht. Der platzt bei solch einem Experiment sehr leicht auseinander. Selbst wenn man die Hände im Moment des Aufschlagens noch so gut zu halten versteht.
Und noch eine Episode muss erwähnt werden, an sich bedeutungslos, aber das ganze Schiffswesen charakterisierend, besonders das dieses Argonautenschiffes.
»Aus die Jolle!«
So hatte Kapitän Martin kommandiert.
Da stürzte die Patronin hin, um mit in die Jolle zu springen, um dem Geliebten mit die erste Hilfe zu bringen.
»Entschuldigen Sie, das geht nicht — das ist das Rettungsboot, das ich nach der Schiffsroutine steuere, wenn es mit Schiffsjungen bemannt ist — da kann ich keinen anderen mitnehmen.«
So sprach der Eskimo aber nicht, er sagte überhaupt kein Wort, sondern er packte die Patronin, die sich schon auf die Reling schwingen wollte, beim Ledergürtel und schleuderte sie zurück.
»Let go!«
Die Jolle schoss hinab, wurde von dem noch in Fahrt befindlichen Schiffe geschleift, nahm eigene Fahrt an, tanzte über das aufgeregte Wasser.
Der Schwimmer wurde erreicht, Mister Tabak beugte sich über Bord, packte zum zweiten Male einen Menschen beim Gürtel, und warf ihn mit einem einzigen Ruck ins Boot. Wer das nicht fertig bringt, der eignet sich nicht zum Rettungsbootsteuerer. Fünf Minuten später war Georg wieder an Bord seines Schiffes, wohlbehalten, nichts tat ihm weh.
Es war nicht gerade ein jubelnder Empfang, dazu war die ganze Sache gar zu großartig. Wenn jemand, um den eine ganze Familie weint, begraben werden soll, und plötzlich wird der Tote wieder lebendig, dann wird nicht gejubelt, da wird eine Empfindung ausgelöst, für die wir noch kein Wort haben.
»Was macht Frau Rosamunde?«
Das war Georgs erstes Wort.
»Sie befindet sich wohl!«, wurde ihm geantwortet.
»Na dann ist ja alles gut.«
Dann berichtete er selbst, gleich hier an Deck, während sich das Schiff wieder vom Ufer entfernte.
Was ihn veranlasst hatte, sich für die Zwergin als Gefangener zu stellen, mit was für Gefühlen er gegangen war, davon freilich konnte er der Patronin nichts berichten, das könnte auch hier nicht wiedergegeben werden.
Um Mitternacht hatte die Beratung zwischen den Hauptpersonen des schlaflosen Schiffes stattgefunden, der Waffenmeister hatte sie wohl einberufen, aber eigentlich war alles ganz von selbst gekommen. Jeder hatte dasselbe tun wollen, jeder bot sich an, sich gegen die Zwergin austauschen zu lassen. Und dass nur die Patronin hierbei fehlte, das war eigentlich auch ganz selbstverständlich gewesen.
Ebenso sah jeder sofort ein, dass bei diesem Austausch nur der Waffenmeister in Frage kommen konnte. Ihn nur hatte die Begum begehrt, nicht einmal als vollen Ersatz für die Zwergin oder eigentlich für ihren Gatten, sondern nur als Ersatz für Gruh, dessen Auslieferung die Begum verlangte, sonst sollte die Zwergin gemartert und verstümmelt werden, und dass die Begum ihre Drohung ausführte, daran zweifelte niemand im geringsten, und um das zu verhindern, dazu musste versucht werden, was nur irgendwie möglich war.
Um ein Uhr war Jokate, die von Kapitän Martin besiegte und behaltene Amazone, die einen besseren Eindruck machte als die andere dem Eskimo gehörige, abgeschickt worden, mit einem Handschreiben Stevenbrocks. Ob die Begum ihn für die Zwergin annehmen wolle, als vollgültigen Ersatz für den Zwerg sowohl als für Gruh, in der Voraussetzung natürlich, dass ihm selbst kein Haar gekrümmt würde. Wenn ja, dann solle sie die Zwergin schicken, er würde sich dann sofort stellen.
Jokate war abgegangen, allein, das Dingi benutzend, das kleinste Boot. Dass sie zurückkommen würde, das war ganz selbstverständlich, da brauchte man ihr keinen Schwur abzunehmen, und ebenso hatte man lieber gleich darauf verzichtet, von der Begum einen Eid zu fordern. Was der heilig war, wusste man ja gar nicht. Man erinnerte sie nur an ihre kriegerische Ehre, das war das einfachste und beste.
Eine Stunde später war Jokate zurückgekehrt, mit der schriftlichen Antwort der Begum.
»Ja, ich gehe auf Deine Bedingungen ein. Wenn Du Dich stellst, will ich auch auf den Zwerg und auf das Einbein verzichten. Sobald Du Dich hier einfindest, schicke ich die Zwergin zurück. Bist Du bis Sonnenaufgang nicht hier, bleibt es beim Alten, ich sende Euch als erstes das linke Ohr der Zwergin.«
Die Unterschrift — nichts weiter.
Also so ganz war die Begum doch nicht auf die gestellten Bedingungen eingegangen. Erst sollte sich der so heiß begehrte Waffenmeister stellen, dann wollte sie die Zwergin zurückschicken, und auch davon, dass er nicht gemartert werden sollte, war nichts gesagt worden.
Nun, das war schließlich das Wenigste. Man musste der Begum vertrauen, dass sie ihr Wort betreffs der Zwergin halten würde, das war die Hauptsache und es ging überhaupt nicht anders.
»Sie wird mich anständig behandeln und ich werde mich zu befreien wissen. Das sagt der Patronin, weiter nichts. Wüsste nichts, was ich ihr sonst noch mitzuteilen hätte. Adjüs, Käpten adjüs, Jungens, adjüs Ihr alle — na, wir sehen uns ja doch bald wieder, lange sollen mich die nicht halten können.«
Und so war Stevenbrock gegangen, ebenfalls allein, das Dingi benutzend.
In der Nähe des Ufers mit seinen Riemen plätschernd wurde er angerufen, er meldete sich, die Begum selbst war zur Stelle, sie konnte ihren Triumph, nun auch diesen heiß ersehnten Mann in ihre Hände bekommen zu haben, worauf sie schon verzichtet hatte, nicht bemeistern.
»Die Zwergin wird sofort abgesendet, Zilla und Hektale, die beiden verräterischen Amazonen, bringen sie in Deinem Boote zurück. Diese beiden gehören also Euch, wie ich schon gesagt habe, Ihr könnt sie langsam zu Tode martern.«
Das war dem Waffenmeister jetzt sehr gleichgültig, er wollte die Zwergin auch gar nicht sehen, es genügte ihm zu hören, dass sie nur die sechs Schläge erhalten habe, nichts weiter, dass sie sich wohl befände — weshalb er sie selbst jetzt nicht sehen wollte, das wollen wir hier nicht erörtern. Man bedenke nur, in was für einer Stimmung sich dieser Mann befinden musste.
Dagegen forderte er etwas anderes, bat darum.
»Lass mich noch so lange hier im Freien, bis sich die Zwergin an Bord befindet. Oder stelle mich an ein offenes Fenster, von dem aus ich bis dahin das Schiff sehen kann, jene Gegend, wo es jetzt liegt.«
»Wozu?«
»Weil ich ein Zeichen erwarte.«
»Was für ein Zeichen?«
»Dass die Zwergin an Bord eingetroffen ist.«
»Was ist das für ein Zeichen?«
»Das verrate ich nicht.«
Die Begum war emporgefahren.
»Du misstraust mir?!«
»Ich bitte Dich, dieser meiner Bitte Gehör zu schenken.«
Es geschah, Georg konnte gleich hier am Ufer stehen bleiben. Eine Viertelstunde verging, und da war es dort in der finsteren Nacht dreimal aufgeblitzt, zweimal lang und einmal kurz.
Es war das vorher verabredete Zeichen gewesen, dass Frau Rosamunde an Bord wohlbehalten abgeliefert worden war.
»So, nun gehöre ich Dir.«
Er wurde in die Felsen hineingeführt, es ging mit einem Fahrstuhl, der kein moderner zu sein brauchte, hoch hinauf, eine Bronzetür öffnete sich vor und schloss sich wieder hinter ihm, er befand sich in einer Felsenkammer, deren Wände aber mit schönen Teppichen verkleidet waren, mit einem bequemen Bett, der ganze Raum erfüllt von jenem rätselhaften Lichte, das aber nicht durch das weite, offene Fenster hinaufgelangte, da war für dieses Licht wie eine unsichtbare Grenze gezogen, man sah dieses Licht also auch nicht von draußen, und Georg war allein.
Schon vorher hatte er auf sein Ehrenwort erklären müssen, unter seiner Kleidung nicht gepanzert zu sein und keine irgendwelche Waffe bei sich zu haben. Nein, es war nicht der Fall. Was hätte er sich dieses alles erst abnehmen lassen sollen. Nachdem er sein Ehrenwort daraufhin gegeben, war er auch nicht visitiert worden.
Er streckte sich sofort auf dem Lager aus.
In welcher Gemütsstimmung?
Himmelhoch jauchzend, zu Tode bedrückt.
Mehr kann darüber nicht gesagt werden.
Georg selbst berichtete hierüber überhaupt nichts. Alls er erwachte, mochte die Sonne schon seit einer Stunde am Himmel stehen.
Jetzt kam das Licht nur durch das offene Fenster. Georg trat hin, sah dort unten auf dem friedlichen See die »Argos« liegen. Dieser Anblick war ihm nur unangenehm. Besser, die »Argos« wäre schon fort gewesen. Oder auch nicht.
Natürlich dachte er gleich an eine zukünftige Flucht, darauf hin sah er sich näher in seiner Zelle um, oder zunächst durch dieses Fenster.
Es war eine zwei Meter breite und drei Meter hohe Öffnung in der Felswand, nicht regelmäßig viereckig gehalten, sodass sie von unten, das heißt von draußen gesehen nicht den Eindruck eines richtigen Fensters machte. Der untere Rand war in Brusthöhe, die Felswand ungefähr ein Meter stark.
Georg schwang sich hinauf, stellte sich aufrecht, trat ans äußerste Ende, streckte die Hand aus, so weit er konnte, — da war von solch einer Glaswand nichts zu fühlen, und dass die noch weiter draußen angebracht sei, das war wohl ausgeschlossen.
Er blickte hinab. Die Höhe oder Tiefe schätzte er auf 40 bis 50 Meter. Unten lag der See. Doch nein, da kam erst noch ein Streifen grasiges Ufer, dessen Breite Georg auf sechs bis acht Meter schätzte. Und gerade ein Seemann weiß so etwas zu taxieren, lässt sich da durch große Entfernungen nicht beeinflussen. Das grasige Ufer ging dann sandig in das Wasser hinein. Aber nicht etwa, dass Georg schon die Möglichkeit eines befreienden Sprunges dort in den See hinein erwog! Vollkommen ausgeschlossen. Es wäre hirnverbrannt gewesen, an solch eine Möglichkeit zu denken.
Immerhin, Georg wunderte sich bereits, dass man ihn hier untergebracht hatte. Seine Zelle hatte ein großes Loch, das ins Freie führte, und eine Höhe von 40 bis 50 Metern lässt sich doch durch geeignete Hilfsmittel überwinden.
Daraufhin sah sich Georg näher in seiner Zelle um. Und erkannte schnell, dass eine Flucht in der Weise, an die er gedacht, unmöglich sei.
Die vermeintlichen Teppiche welche die Wände bedeckten, bestanden aus einem löschpapierartigen Stoffe. Zwar nicht gerade leicht zerreißbar, aber doch nicht etwa durch Zusammendrehen als Stricke zu benutzen, denen man sein Körpergewicht anvertrauen kann. Eine unserer Fenstergardinen wären hierzu geeigneter gewesen. Und dasselbe galt für alles, was sich innerhalb dieses Raumes vorfand. Das Bett schien aus einer Unmenge von Stoffen und Decken zu bestehen, wenn man es aber näher betrachtete, so fand man, dass alles zusammen kein brauchbares Rettungsmaterial ergab, und wenn man es auch hätte vervierfachen können. Mit indischer oder gar chinesischer Geduld zusammengenähte Vogelfederchen, der Bettbezug durchbrochenes Seidengewebe, die Durchbrechungen wieder mit bunten Vogelfederchen übernäht... solches Zeug hätte der Teufel als Rettungsstrick benutzen können! Und nun überhaupt — 40 bis 50 Meter Tiefe!
Nur in gewissen Jugendschriften und in unmöglichen Romanen dreht sich der »Held« aus Gardinen, zerschnittenen Bettüchern, Schnupftüchern, Halsbinden, Krawatten und anderem Gelumpe einen Strick zusammen, an dem er sich überhaupt in jede Tiefe hinablässt, bis in den Mittelpunkt der Erde, wenn's verlangt wird. Der verwegenste Gämsenjäger, der vor nichts zurückschreckende Wildschütz verlangt ein solides Hanfseil, ehe er sich in die Hälfte dieser Tiefe hinablässt. Nicht bis zur Hälfte des Mittelpunktes der Erde, sondern auf 20 bis 25 Meter Tiefe.
Dieser Seemann hier dachte gar nicht daran, solches Zeug zur Herstellung eines Strickes zu benutzen, er hätte sich solch eines Gedankens geschämt. Wie er wieder zurückgekrochen war, stand die Begum in dem Raume, vielleicht gepanzert, sonst aber in einen bunten Morgenrock gehüllt — oder in ein indisches Frauenkostüm, sei gesagt.
»Du willst Dich doch nicht etwa da hinabstürzen?«
»Wozu denn?«
»Um Selbstmord zu begehen.«
»Ich denke gar nicht an so etwas.«
»Dann, bitte, denke auch nicht daran, Dich auf mich oder auf eine andere Amazone, wenn sie hier Dein Gemach betritt, um Dich zu bedienen oder Dir sonst Gesellschaft zu leisten, stürzen zu wollen. Es würde Dir nie gelingen. Draußen im Freien sind wir nur gewöhnliche Weiber, höchstens etwas kriegerisch und athletisch ausgebildet. Hier zwischen diesen Felswänden aber sind wir so gut wie allmächtig, Du würdest eine Art von Hexerei erleben, sobald Du mich oder eine andere ohne Erlaubnis berührst. Glaubst Du mir das?«
»Ich glaube es Dir.«
»Dann darfst Du auch niemals an einen Befreiungsversuch denken.«
»Nein, Begum, das kann ich Dir nicht versprechen. Seine Gedankenwelt mag ein Fakir oder Derwisch beherrschen, der seinen Gehirnkasten vollständig gedankenleer machen kann — ich vermag das nicht, ich muss mich immer mit geistreichen Gedanken beschäftigen.«
»Gut«, hatte die Begum gelächelt, »ich verstehe Dich, und ich will Dir nicht einmal Dein Ehrenwort abnehmen, dass Du niemals eine Befreiung versuchen willst, ebenso wenig wie ich das von den anderen Gefangenen verlangt habe. Nämlich deshalb nicht, weil es ganz und gar unmöglich ist, dass uns jemand entkommen kann. Er bräche denn sein Ehrenwort betreffs des ihm gewährten Urlaubs. Sonst aber kann er sich nicht befreien, uns nicht entschlüpfen. Wir haben deswegen wunderbare Sicherheitsmaßregeln zu treffen gewusst. Gelingt es Dir oder einem anderen Gefangenen, zu entkommen, dann sollen sie alle frei sein.«
Hoch horchte Georg auf.
»Wie, wenn es mir gelingt, von hier fortzukommen, dann sollen alle Gefangenen frei sein?!«
»Sofort.«
»Wenn ich dabei aber nun meinen Tod finde?«
»Ja, dann natürlich nicht. Sonst könntest Du auch Selbstmord begehen. Wenn es Dir gelingt, lebendig diese Felswände zu verlassen, dann gebe ich sofort sämtliche Gefangenen frei. Auf mein Ehrenwort. Und wenn Du auch noch so schwer verwundet wärest. Auf das »lebendig« kommt es dabei an. Aber es ist unmöglich. Wir haben merkwürdige Sicherheitsmaßregeln zu treffen gewusst.« —
Georg machte eine Pause in seiner Erzählung, wischte sich die Wassertropfen ab, die nach dem Bade noch auf seiner Stirn perlten.
»Kinder«, fuhr er dann fort, »verlangt nicht von mir, dass ich Euch schildern soll, was es für Gedanken waren, die mir plötzlich durch den Kopf schossen als ich diese Worte vernahm.
Solche geistreiche Gedanken, mit denen ich renommiert hatte, waren es jedenfalls nicht.
Oder vielleicht gerade!
Nämlich insofern, als ja bekanntlich Genie und Wahnsinn ganz enge aneinander grenzen, wenn sie nicht sogar ein und denselben Ursprung im Prägekasten haben.
Denn Wahnsinn war's, was mich plötzlich befiel. Jawohl, ich sagte es mir mit ganz klarem Bewusstsein, dass es ja heller Wahnsinn sei, was ich da ausführen wollte — und doch, ich tat es.
Mit einem Satze stand ich plötzlich in dem Fenster. Das heißt, von diesem Satze selbst weiß ich nichts — ich stand plötzlich in dem Fenster, unter mir Tiefe, klar zum Sprunge.
Nun aber muss ich doch noch etwas erwähnen, etwas ganz Kurioses.
Ich muss es berichten, denn ich stehe noch ganz unter dem Eindruck dieses Gedankens.
Denn ein Gedanke war es, der mich erfasste, der meine ganze Seele und sogar meine sämtlichen Eingeweide, so weit sie hohl sind, ausfüllte, als ich so da oben stand und in die furchtbare Tiefe hinabblickte.
Ja, ich glaube sogar oder weiß es auch ganz bestimmt, dass ich mich noch während des Hinabsausens mit diesem Gedanken herumbalgte.
Ihr wisst doch, dass ich sonst eigentlich durchaus nicht dichterisch veranlagt bin. Ich glaube, ein Ochse kann ein besseres Gedicht fertig bringen als ich. Wenn der eine Kuh sieht, dann sagt er muh — zu solch einer Poesie könnte ich mich schon gar nicht aufschwingen.
Aber als ich nun da oben stand, klar zum jumpen, fing ich plötzlich zu dichten an.
Allerdings nicht selbstständig, ich machte es mir leichter, ich deklamierte ein Gedicht, das schon vorher ein anderer fix und fertig gemacht hatte.
Also ich rezitierte, aber das hat bei mir schon sehr, sehr viel zu sagen.
Und was rezitierte ich?
Am geeignetsten für diese Situation wäre ja etwa »Harras, der kühne Springer« gewesen, oder noch besser, da der beritten gewesen und ich kein Pferd zwischen den Beinen hatte, etwa Schillers »Taucher«. So vielleicht die Stelle: Da ergreift's ihm die Seele mit Himmelsgewalt...
Zu viel mehr hatte ich ja auch gar keine Zeit.
Na, na, ich konnte mich doch nicht etwa erst in Positur stellen, das linke Bein vorgestellt, mit der rechten Hand durch die Dichterlocken gefahren, sie dann in den Westenlatz gesteckt und nun losgelegt. Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp — und so weiter den ganzen Taucher durch bis zur Endzeile: Den Jüngling bringt keines wieder.
Da hätte die Begum den Jüngling doch gar nicht springen lassen, hätte ihn zuvor hinten beim Hosenbund genommen.
Und überhaupt, es war ja gar kein Deklamieren.
Es war nur ein einziger poetischer Blitz, der mir durch den Kopf schoss.
Und was nun war es für ein poetischer Erguss, der mir rezitativ durch den Kopf schoss, während ich vielleicht schon durch die Luft sauste?
Nein, nichts aus Schillers Taucher, obgleich das so gut gepasst hätte.
Merkwürdig, ganz merkwürdig!
Und überhaupt hatte ich auch sonst eine ganz merkwürdige Empfindung dabei.
Dass die ganze Sache schief ginge, das war mir ja dabei sozusagen klar wie dicke Tinte. Ich fühlte mich bereits mit zerplatztem Schädel und auch sonst wie ein Frosch, der unter die Straßenwalze geraten ist, unten liegen.
Dabei aber wusste ich auch ganz deutlich, weshalb ich das tat, wofür ich so eine aufgeplatzte Froschleiche geworden war.
Ich hatte dabei so ein himmlisches Kribbeln im Herzen. Na kurz und gut, nun will ich zu Ende kommen — wie ich da hinunter schieße, schießen mir plötzlich zwei Zeilen durch den Kopf, an die ich sonst niemals mit einem Gedanken gedacht habe:
Doch alles, was mich dazu trieb,
Ach, war so gut, ach, war so lieb!
Georg hatte geendet. Nicht so humoristisch wie er seine Erzählung begonnen und sie mit immer gesteigertem Humor durchgeführt hatte.
Jetzt schlug er, sich halb abwendend, die Hände vors Gesicht und weinte heftig.
Die Reaktion war eingetreten. Oder er wäre ja gar kein Mensch gewesen.
Und sie alle, alle blickten, von einer heiligen Scheu erfasst, auf den Weinenden.
Wunderbar, o wunderbar! Wieder einmal war der Beweis erbracht, dass es etwas in der Welt gibt, wovon sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt.
Dieselben Worte, die vorhin die Patronin, seine Geliebte, mit schmerzender und jauchzender Seele zugleich gesprochen, er hatte sie auch im Herzen empfunden! Wenn nicht in demselben Moment, so doch sofort hinterher!
Solche Szenen, wie zwei sich Liebende ein und denselben Gedanken im Sprechen und im Handeln haben, sind ja oft genug geschildert worden. Aber wiederum ist es Goethe, der dieses übersinnliche Thema am köstlichsten geschildert hat, und dabei in einer genialen Weise, dass einem die Selbstverständlichkeit dieses geheimnisvollen Vorgang sofort einleuchtet, in seinem Romane »Wahlverwandtschaften«.
Wunderbar, o wunderbar!
Niemand sprach es aus, sie alle starrten nur in heiliger Scheu — »als ob die Gottheit nahe wär« — nach dem starken Manne, der dort stand und wie ein Kind weinte und schluchzte.
Und es sollte auch nicht gleich darüber gesprochen werden, Georg erfuhr von diesem seltsamen Vorgange erst viel später.
Jetzt, wenn es so weit war, musste über anderes gesprochen werden.
Es dauerte gar nicht lange, so war die Reaktion überstanden, als der starke Mann die Hände vom Gesicht nahm und den Kopf schüttelte, konnten es ebenso gut Wassertropfen sein, die er von sich schleuderte, sein Gesicht strahlte schon wieder in voller Lebenslust.
»Kinder — die Damen dort drüben haben mir das Frühstück vorzusetzen vergessen — oder ich bin zu früh davongeflogen — eigentlich war's ja auch ganz gut, dass ich noch nicht gefrühstückt hatte, sonst wäre mein Gewicht noch um einige Pfund beschwert worden und dann wäre ich natürlich noch ganz anders aufgepflanzt... aber wollt Ihr Euren Waffenmeister denn verhungern lassen? Siddy, vorwärts, ein Frühstück! — ein Frühstück, bei dessen Einnahme ich ganz bestimmt weiß, dass ich noch nicht unter den himmlischen Lebensbäumen mit Äppeln und anderen Südfrüchten liege!«
Diese Worte wirkten, da war es mit der allgemeinen heiligen Stimmung vorbei.
Und jetzt war es Kapitän Martin, der das aussprach was logisch nun die erste Frage aller sein musste.
»Wenn Sie sich befreien könnten, so wären auch alle die anderen Gefangenen frei?!«
»So sagte die Begum.«
»Auf Ihr Ehrenwort hat sie das versichert?«
»Ich entsinne mich ganz genau, dass sie in dieser Beziehung noch hinzufügte: auf mein Ehrenwort!«
»Dann muss sie jetzt doch die Gefangenen frei geben!«
»Eigentlich ja.«
»Und wird sie es tun?«
»Darüber, geehrter Herr Kollege, habe ich mit der Dame nicht weiter gesprochen, da befand ich mich schon unterwegs, und da war es noch höllisch zweifelhaft, wie ich unten landen würde, was von mir alles in Trümmern ginge. Die Geschichte ist gut abgelaufen, und nun müssen wir eben warten, ob die Begum ihr Wort halten wird oder nicht. Das heißt, ich habe keine Lust, bis dahin mit meinem Frühstücke zu warten. Siddy, Stephan und alle ihr anderen Götter — ein Königreich, sämtliche Königreiche der Erde und der benachbarten Planeten für eine fingerdicke Schinkenscheibe, belegt mit einem Quadratfuß Schweizerkäse mit möglichst wenig Löchern! — — Was, Mensch Doktor — sind Sie denn schon früh um fünfe besoffen?! Ich denke, das geht bei Ihnen laut Hausordnung immer erst früh um sechse los?«
So empfing Georg den Schiffsarzt, der aus dem Kajütenausgange auftauchte, sich über Deck bewegte, was aber kein Gehen zu nennen war, sich überall festklammerte.
Zunächst warf Doktor Isidor einen Blick auf den Schiffschronometer.
»Um fünf. Es ist doch schon zehn Minuten vor sechs.«
»Ach so!«, lachte Georg. »Na, da entschuldigen Sie nur — aber immerhin, da haben Sie doch eigentlich zehn Minuten zu früh angefangen.«
»Sie irren, Herr Waffenmeister, mir ist nur mein linker Fuß eingeschlafen...«
»Pardon, dann ist also nur Ihr rechter bezecht...«
»Nichts von alledem, ich bin nüchtern wie ein Karpfen in Eisverpackung aus destilliertem Wasser. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie denn gar nichts zu flicken haben. Nicht ein kleines Sprüngelchen im Schädel? Keine Darmverschlingung? Keine Trichinose? Fehlt Ihnen denn gar nichts? Sie wissen doch, wie gern ich mir ein paar Groschen extra verdiene. Stecken Sie doch mal Ihre werte Zunge heraus. Eine Mark 25 müssen dabei doch herausspringen.«
»Das haben Sie als festangestellter Schiffsarzt überhaupt alles ganz kostenlos zu machen!«
»Nee, nee, mein alter Freund! Höhere Fügungen vorbehalten — so steht's in meinem Kontrakte. Und wenn es Ihnen beliebt, dort oben aus der achten bis zehnten Etage herunter zu huppen, das hat mit dem Schiffsdienste gar nichts zu tun, und wenn Sie dabei nicht wie ein Eierkuchen auseinander gehen, so weit Sie sich nicht unsichtbar verspritzt haben, höchstens noch als eine Fett- oder vielmehr Schweißschicht auf dem Wasser schwimmen, so ist das nicht nur lausiges Glück zu nennen, sondern dann ist das einfach höhere Fügung, und für eine solche, wenn ich da als Arzt eingreifen muss, habe ich laut Kontrakt auch etwas Honorar zu verlangen. Also nun zeigen Sie mal Ihre Zunge her! Sonst ziehe ich sie mir selber raus! Wenn sie zittert, das ist ein Zeichen, dass sich in Ihrem Kopfe etwas gelockert hat, und das werde ich dann wieder anziehen. Und im übrigen soll ich Ihnen sagen, dass Sie einmal zur Frau Rosamunde Wenzel-AttilaAlbarich kommen möchten, aus dem Bett darf sie nicht, und sie seufzt nach Ihnen wie eine verstöpselte Bouteille nach dem Korkzieher.« Da erschien Frau Rosamunde schon selbst an Deck. Ohne dass sie das ärztliche Verbot übertreten zu haben brauchte. Sie kam nicht selbst, sondern die niedliche Zwergin, in einem Puppennachtgewande saß auf den Armen der Patronin.
Es muss nachträglich bemerkt und jetzt betont werden, dass zwischen der Patronin und Georg absolut keine Szene des Wiedersehens stattgefunden hatte. Kein Wort war gewechselt worden, und wenn vielleicht ein Blick, so hatte doch niemand etwas davon bemerkt.
Und auch jetzt fand nichts Derartiges statt. Nur dass die menschliche Puppe von den Armen der Patronin hinüber auf die des Waffenmeisters wanderte.
Und dennoch, dieses Auswechseln war von einer Bedeutung, die... hier unmöglich geschildert werden kann, das kann jeder nur fühlen.
So kam es, dass Georg dieses zierliche Dämchen, die Gattin des kleinen und sich doch so groß fühlenden Mister AttilaWenzel zum zweiten Male auf seinen Armen hielt.
Und diesmal färbte sich gleich von Anfang an sein braunes Gesicht so dunkelrot, wie es damals erst nachträglich geschehen, als er erfuhr und merkte, dass er kein Kind, sondern auf den Armen ein ganz perfektes Weib hielt, das in der Schöpfungsgeschichte nur etwas klein und niedlich ausgefallen war. Und das menschliche Püppchen im Nachtkleidchen legte gleich die Ärmchen um seinen rotbraunen, muskulösen Nacken und drückte das Gesichtchen gegen die breite Brust.
»Ich weiß alles!«, weinte das dünne Stimmchen an dieser Brust.
»Na, dann ist ja gut!«, sagte Georg trocken, gab die Puppe wieder ab, auf die Arme der Patronin zurück, machte dies nur mit dem einen Arm, mit der anderen Hand langte er schon nach den beiden dicken Schinkenscheiben, die ihm soeben Siddy auf einem Teller präsentierte, ohne Brotunterlage, dafür wirklich mit Schweizerkäse belegt, klappte diese beiden Platten zusammen, sodass eine einzige von reichlich sechs Zentimeter Dicke entstand, biss hinein und fing an zu kauen.
»Hööh, höööhhh!«, machte der daneben stehende Eskimo, diesen Vorgang mit Interesse beobachtend.
Nichts weiter. Wie der Eskimo aber nun das hervorbrachte, wie er dabei den Hals vorreckte, seine Schlitzaugen aufriss, so begehrlich dem Abbeißenden gewissermaßen in den Mund guckte — gab es schon wieder welche, die sich vor Lachen wälzen wollten, und unter diesen befand sich auch die Patronin.
Und diese Sache ging noch weiter, jetzt aber von anderer Seite. Jetzt war Georg derjenige, der die beiden Platten noch einmal aufklappte, dazwischengriff und dem lüsternen Eskimo etwas zwischen den Fingerspitzen darreichte.
»Da«, brachte er mühsam aus dem vollgepfropften Munde hervor, »weil Sie gar so gefräßig sind — und Schweizerkäse so gern essen — da gebe ich Ihnen auch ein Stück Schweizerkäse ab. Verzehren Sie es mit gesundem Appetit.«
Mister Tabak blickte auf die zusammengeklemmten Fingerspitzen, machte ein verdutztes Gesicht.
»Wo denn? Ich sehe doch gar nischt.«
»Nicht? Dann muss ich jedenfalls von dem Schweizerkäse gerade ein Stück Loch erwischt haben.« —
Dies alles gehört ja gar nicht zur Sache, und doch, es musste erwähnt werden, um einmal zu zeigen, wie es auf diesem Argonautenschiffe zuging, inmitten von gewaltigen Szenen und Episoden — wie es aber eigentlich auch auf jedem anderen deutschen Schiffe zugeht, besonders auf Seglern, wo sich eben die uralte Seemannszunft noch in ihrer ganzen Echtheit erhalten hat.
Ein Matrose hat sich das Bein gequetscht, das Bein muss ab, das besorgt der Kapitän, oder ein Steuermann, der auf der Seemannsschule auch etwas ärztlichen und chirurgischen Unterricht bekommen hat, in diesen Fächern ein Examen bestehen muss — na, aber fragt mich nur nicht wie! — und dieser Schiffsoperateur nimmt eine Säge her, lieber eine gewöhnliche Holzsäge als die im vorschriftsmäßigen Besteckschrank vorhandene chirurgische Knochensäge weil die ihm »nicht so liegt«, und der Matrose wird festgebunden oder nur festgehalten, und dann geht die Sägerei los, ohne Chloroform, und inzwischen brodelt schon der Kessel mit heißem Teer, in den dann der Beinstumpf getaucht wird — und trotz der ganzen Fürchterlichkeit geht es nicht ohne Humor ab, der arme Kerl selbst reißt feste immer Witze, oder er wäre eben kein echter Jan Maat, kein Segelschiffsmatrose.
So etwas kann aber nur der begreifen, der selbst auf Seglern gefahren ist, oder doch auf gewöhnlichen Frachtdampfern.
Das ganze Seemannsleben ist ein einziger guter Witz, durchwürzt mit blutiggottverdammter Furchtbarkeit! —
»Sie kommen — die Amazonen kommen!«
»Auf die Gefechtstationen!«, kommandierte in demselben Augenblicke Stevenbrock, wozu er aber erst einen großen Schinkenkloß mit Schweizerkäse aus dem Munde hatte nehmen müssen.
Aus jener Flussmündung die sich gleich hinter Felsen verlor, kam eine Galeere heraus, auf jeder Seite mit 20 Riemen.
»Oder bringen sie uns die Gefangenen?«
»Vielleicht — jedenfalls aber müssen wir klar zum Gefecht sein — verflucht, sie lassen die Gefangenen pullen — denn so erbärmlich pullen diese Weiber nicht — ja: dann können wir die Galeere auch nicht in den Grund rammen...«
»Dee Seilmaker, he winkt!«
Ja, es war Oskar der Segelmacher — Sailmaker — der auf dem hohen Vorderdeck stand und seine Mütze lustig schwenkte. Aber es gehörten ohne Fernrohr sehr gute Augen dazu, um in dieser Gestalt auf solche Entfernung hin den Segelmacher zu erkennen. Er trug ein schwarzes Gewand, das man an ihm ja gar nicht gewöhnt war.
»Der trägt Trauer.«
»Ja, sogar op sien Näs hat er nen swarten Klecks, der trauert so, dass er sich nicht mehr wäscht.«
»Wenn er was Trauriges brächte, würde er nicht so toll seine Mütze schwenken.«
»Grade — bei 'ner Leiche muss es fidel zugehen.«
So und anders klang es durcheinander, und wenn auch die eigentlichen Matrosen fehlten — diese Schiffsjungen machten schon wacker mit.
»Machen wir's kurz, fahren wir entgegen — aber immer in voller Gefechtsbereitschaft!«, entschied der Waffenmeister.
Da hatten sich die beiden Schiffe schnell erreicht.
»Wir kommen allein — wir sind frei!«, rief Oskar vorher noch, ehe die Galeere beilegte.
»Himmeldonnerwetter, alle Hochachtung vor der Begum!«
Die Galeere hatte beigelegt, Oskar, in ein langes pechschwarzes Gewand gekleidet, eine eigentümliche schwarze Mütze auf dem Kopfe, hob das eine Bein, um von Bord zu treten, und dabei schlug er in die Luft feierlich ein Kreuz. Es war eben der Oskar!
»Was, das sind ja alle?!«
Ja, es waren alle Gefangenen, die als freie Männer kamen, nicht nur die Argonauten, die jetzt gerudert hatten — auch die noch gefangenen Indianer, die englischen Seeleute, lauter runde Fettkugeln — sie alle befanden sich auf dieser Galeere.
»Jawoll, ich bringe sie alle mit«, erklärte Oskar gravitätisch, »ich habe sie alle befreit.«
»Du?!«
»Jawoll, als wie ick! Durch meine Überredungskunst. Oder, kann ich auch sagen, ich habe der Begum die sämtlichen Gefangenen mit Gold abgekauft. Nämlich insofern, als ich kein Sterbenswörtchen gesagt habe, und Schweigen ist bekanntlich Gold — das habe ich den Amazonen überlassen und dafür sämtliche Gefangene mitgenommen.«
So sprach Oskar in seiner übersprudelnden Laune. Und er konnte auch wirklich keine Erklärung geben. Nämlich weil er von dem befreienden Todessprunge des Waffenmeisters noch gar nichts wusste.
Vor einer halben Stunde, konnte er nur berichten, waren einige Amazonen in den Saal getreten, in dem sämtliche Gefangene beim Morgenkaffee saßen.
»Vorwärts, packt Eure Lumpen und Euch selbst.«
So wenigstens gab Oskar die Aufforderung wieder, auf eine Galeere zu gehen und sich an Bord der »Argos« zu begeben. Als freie Männer. Und sie hatten sich das nicht zum zweiten Male sagen lassen. Obgleich unter den englischen Seeleuten einige gewesen waren, die lieber in dieser angenehmen Damengesellschaft und bei diesen vollen Futtertrögen geblieben wären. Aber diese hatten mitgehen müssen, ob sie wollten oder nicht. Mehr also konnte Oskar nicht berichten, kein anderer. Sie erfuhren es ja schnell genug, was ihnen die Freiheit eingebracht hatte, aber das war jetzt ganz Nebensache.
»Jungens, Jungens«, jubelte jetzt Georg, »da sind wir ja wieder alle beisammen! Na da mal los, vorwärts, fort von hier aus diesem sibirischen Paradiese, das uns indische Evas zur Hölle gemacht haben! Und da wir auch die anderen Gefangenen mitnehmen, brauchen wir uns auch sonst keine Gewissensbisse zu machen...«
»Aber Mister Attila und Gruh?«
»Ach so, verflucht noch einmal...«
»Da stehen die beiden!«
Die beiden Verbündeten standen am Ufer, wollten überhaupt an Bord oder doch mit dem Schiffe sprechen, sie winkten. Der Hund war nicht zu sehen.
Die Stelle, wo sie landeten, muss wegen der kommenden Ereignisse näher beschrieben werden. Es war immer noch das Nordufer des Sees, aber mehr als ein Kilometer westlich von jener Flussmündung und also überhaupt von dem Orte entfernt, wo sich diese letzten Szenen abgespielt hatten.
Hier an dieser Stelle war kein sandiges, flaches Ufer mehr, sondern felsiges, und zwar war der drei Meter über dem Wasserspiegel befindliche Felsboden glatt wie ein gemauerter Kai, und schon früher hatte man einmal ausgelotet, dass die »Argos« an dieser Stelle beilegen konnte.
Dieser Uferstreifen hatte eine Breite von etwa 20 Metern, war bis auf den Rand grünbewachsen, dann stieg die Felswand jäh empor. So war hier überhaupt das Tal bis auf eine Länge von sechs Kilometern beschaffen, zwischen Wasser und Felswand befand sich immer nur ein schmaler Uferstreifen, während dann wie auf allen anderen Seiten des Tales die einschließenden Gebirgswände meilenweit zurücktraten. Jedenfalls waren sie gar nicht mehr zu sehen, höchstens in der Ferne ihre Kämme. Erforscht war dies alles ja noch nicht.
»Die beiden wollen an Bord!«, sagte Georg. »Fahren wir hin. Die kommen ja wie gerufen. Hoffentlich quirlt dieser Hunne, wie er geschworen, seiner lieblichen Gattin nicht mit dem Dolche im Herzen herum, sonst wäre meine Springerei ja ganz vergeblich gewesen.«
Die »Argos« dampfte hin, setzte nicht erst ein Boot aus, legte gleich an dem natürlichen Kai bei.
Des Waffenmeisters Worte wurden natürlich nicht ernst genommen, brauchten es auch wirklich nicht.
Der Zwerg mit dem langen Vollbart kam an Bord.
»Das sind doch alle Gefangene, alle?!«
»Ja, und Ihre Frau Gemahlin ist auch mit dabei.« — »Was?!«
»Na, das ist Ihnen wohl unangenehm?«
Es wurde ihm berichtet, nicht von Georg, wie die ganze Befreiung gekommen war.
Wohl machte es auf den Zwerg tiefen Eindruck, was er da zu hören bekam, mit ganz besonderen Augen blickte er nach dem Waffenmeister der modernen Argonauten, der unterdessen etwas mit dem Kapitän zu besprechen hatte, und noch ganz anders blickte Gruh nach diesem.
Dann kam Georg wieder zurück geschlendert. »Also die Sache ist nun all right. Haben Sie Ihre Gattin schon gesehen? Sie liegt in ihrer Koje, ist aber sonst kreuzfidel und puppenlustig. Ja, nun geht's fort.«
»Wohin?«
»Na zurück. Wir haben in diesem gesegneten Tal Abenteuer genug erlebt, nun wollen wir es gern den Amazonen überlassen. Es geht sofort zurück. Den Führer, der das Schiff hierher gebracht hat, haben wir ja noch an Bord.«
»Ich möchte meine Frau sprechen.«
»Bitte. Es sind doch Ihre Räumlichkeiten, in denen sich Ihre Gattin befindet.«
Der Zwerg verschwand.
»Er wird doch nicht etwa Ernst machen... ?«, wurde auf einigen Seiten besorgt geflüstert.
»Ach, Unsinn!«
Es dauerte gar nicht lange, so erschien Attila wieder an Deck.
Vorher noch kam Stephan vorbei, der zweite Steward, und er mochte gelauscht haben.
»He hädd see nich affmorkst!«, konnte er leise die Beruhigung geben.
»Ja, meine Frau geht mit Ihnen!«, sagte jetzt der Zwerg. »Und Sie?!«
»Und ich? Ja, was denken Sie denn eigentlich von mir?«
»Sie wollen hier zurückbleiben?«
Es war ein furchtbarer Ausdruck, den das bärtige Gesicht des Zwerges, der früher kindliche Züge gehabt, jetzt annahm.
»Meine Frau ist gepeitscht worden. So lange sich noch eine Amazone in diesem Tale befindet — sich lebendig darin befindet — bleibe ich hier. Und wenn sie von hier fortgehen, so folge ich ihnen nach. Bis jeder Peitschenschlag mit ihrem letzten Blutstropfen bezahlt ist. Das schwöre ich, so wahr ich ein echter Hunne bin! Und dasselbe gilt für Gruh. Kein Wort weiter.«
Nein, da war wirklich jedes weitere Wort verloren. Dermaßen hatte dieser Zwerg gesprochen.
»So leben Sie herzlich wohl!«, fuhr er dann gelassen fort, mit der Hand einen Halbkreis beschreibend. »Bitte, ersparen Sie mir die Worte des Dankes, Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen allen bin. Ersparen Sie mir auch jeden weiteren Abschied. Mitzunehmen habe ich nichts. Von meiner Frau habe ich mich bereits verabschiedet. Auch sonst ist mit ihr alles geordnet. So leben Sie herzlich wohl, ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Und der Zwerg sprang wieder ans Ufer, das Gruh gar nicht verlassen hatte, die beiden gingen oder hüpften wieder dem nahen Walde zu, verschwanden darin.
Das drückende Schweigen, mit denen man den beiden nachblickte, war begreiflich.
Diese Stille sollte auf fürchterliche Weise unterbrochen werden. Plötzlich ging durch die Luft ein Zischen, ein nachfolgendes Prasseln, hier und da lag an Deck oder stak im Holz ein befiederter Pfeil...
»Deckt Euch, sie schießen aus den Felsenlöchern!«, schrie Georg und warf sich hinter die Bordwand.
Eine zweite Pfeilsalve fand an Deck schon kein menschliches Ziel mehr.
Nur einer war noch sichtbar.
Mit einem einzigen Satze stand Kapitän Martin auf der Kommandobrücke, riss aus seinem linken Oberarm einen Pfeil heraus, drehte den Signalapparat, sprang zurück nach dem Steuerrad und stand hier ebenfalls gedeckt.
Im nächsten Augenblick begann die Schraube zu arbeiten, das Schiff kam frei, ging mit voller Fahrt in den See hinaus, bald war es aus jeder Schussweite, auch aus der eines gezogenen Gewehres.
Die Deckungen konnten verlassen werden.
»Doktor Cohn«, rief als erster Kapitän Martin von der Brücke herab, »nehmen Sie so einen Pfeil und ritzen Sie eine weiße Maus oder ein Karnickel damit, ob er vergiftet ist — ich habe einen durch den Arm bekommen!«
»Herr Kapitän«, entgegnete Doktor Isidor zurück, der von jenem nicht gesehen werden konnte, an der rechten Backe die Hand, unter der reichlich Blut hervorquoll, »ich kann mich Ihnen selber bestens als Versuchskaninchen empfehlen. Wenn Sie noch 'n bisschen warten, will ich Ihnen sagen, ob oder ob nicht. Ich habe so 'n Luder durch die Backe bekommen.«
»Ist sonst noch jemand verwundet worden?«, rief jetzt Georg, schnell auf eine Katze zugehend, die sich von einem Pfeile durchbohrt, lautlos an Deck krümmte, sie mit einem blitzschnellen Griff bei den Hinterbeinen aufhebend, so sie mit dem Kopfe gegen die Bordwand schmetternd und sie dann über Bord werfend, alles in einer einzigen Sekunde.
»Ist sonst jemand verwundet worden?«
Nur noch die Nora Pooteken meldete sich. Das Mädchen hatte einen Pfeil mitten durch die rechte Hand bekommen. Sie wurde ebenso wie Kapitän Martin gleich von Doktor Isidor in Behandlung genommen, obgleich dieser mit sich selbst genug zu tun hatte. Alle drei Verwundungen waren ohne größere Bedeutung.
Es war ein Glück gewesen, dass sich die meisten der Zurückgekehrten gerade unter der Back oder sonst unter Deck befunden hatten, sonst wäre die Sache noch ganz anders abgelaufen. Und die anderen hatten sämtlich unter ihrer Kleidung noch Schuppenpanzer getragen, bis auf Kapitän Martin, und der hatte auch richtig einen Pfeil durch den Oberarm bekommen.
»Na, dann ist ja alles noch gut abgelaufen, nun aber...«
»Um Gott, hier liegt der Duo!«, erklang da der Ruf. Der zwölfjährige Junge lag hinter zwei Fässern, deshalb hatte ihn noch niemand gesehen — lag da mit einem Pfeile durch den Hals, lebte noch. Der hölzerne Schaft des Pfeiles mit Bronzespitze war zerbrochen, Georg, sich über den Knaben beugend, beobachtete ihn einige Augenblicke, dann zog er den Schaft mit ruhiger Hand heraus.
Es war auch das beste für den armen Jungen gewesen. Nur eine halbe Minute noch, dann ein röchelndes Gurgeln, und er streckte sich — er war in seinem eigenen Blute erstickt. In seinem letzten Todeskrampfe hatte er Georgs Hand gepackt.
»Ja, mein lieber, braver Duo«, sagte dieser jetzt, ganz ruhig, aber mit was für Augen, »Du sollst mir nicht umsonst die Hand gedrückt haben, es war ein Versprechen, das Du mir abnahmst...«
»Auch Albrecht ist getroffen worden, ist tot!«, erklang da von neuem der Schreckensruf.
Sanft machte sich Georg frei von der Hand des toten Knaben und begab sich unter Deck, dorthin, wo Albrecht immer zu finden war, in die Kabine, wo der unglückliche, vielleicht aber auch gar nicht bedauernswerte Matrose noch immer ständig Messing putzte, und wenn man ihn daran hindern wollte, dann fing er zu weinen an. Jetzt war seine Messingputzerei beendet, für immer. Aber einen Messingstab, von einem alten Gitter stammend, hatte er doch noch auf seinen Knien, hatte ihn noch voll Seifenpomade geschmiert, hatte noch den Putzlappen in der Hand — und so kauerte er da, an die Wand gelehnt, einen Pfeil mitten im Herzen. Das Geschoss hatte seinen Weg durch das offene Bullauge gefunden. Freilich nicht etwa zufällig. Das war gänzlich ausgeschlossen. Eine Amazone, durch die Schießscharte des Felsens zielend, hatte durch das Schiffsfenster in der Kabine den am Boden sitzenden Matrosen erblickt, hatte ihm einen Pfeil ins Herz gesendet. Das war so klar, dass gar kein anderer Gedanke aufkommen konnte.
Georg hatte sich auf den Kojenrand gesetzt, blickte einige Zeit schweigend, in Gedanken versunken, auf die Leiche herab. Dass sich seine Augenbrauen etwas zusammengezogen hatten, das war alles, was man ihm dabei ansehen konnte.
»Wohl ihm!«, kam es dann in gewöhnlichem Tone über seine Lippen, und nur wenig veränderte sich noch seine Stimme. »Wohl ihm! Aber nicht wohl ihnen! Nicht diesen Weibern! Wehe ihnen! Nun ist genug! Die Rache ist mein, spricht der Herr. Gut, sie soll ihm bleiben. Ich kenne überhaupt keine Rache. Ich bin kein Hunne. Ich bin ein Christ. Vielleicht mehr, als mancher, der sich bei jeder Gelegenheit als solcher bekennt. Nein, ich will nichts von Rache wissen, sie ist eines Christen unwürdig. Aber ich kenne Notwehr, und ich kenne eine gerechte Bestrafung. Und ich kenne auch noch etwas anderes. Den prinzipiellen Kampf gegen das Böse. Das Raubtier, das mich bedroht oder in meine Herden fällt, töte ich, ohne dabei an eine Rache zu denken. Oder ich töte es auch schon vorher, ehe es mir ein Leid getan. Um mich für die Zukunft zu schützen. Weil es eben ein Raubtier ist. Und es gibt auch menschliche Raubtiere — Bestien. Schon wiederholt habe ich diese Weiber als solche erkannt, und ich war schwach genug, immer wieder an etwas wie eine Verzeihung oder an ein Vergessen zu denken. Hier sind die Folgen meiner Schwachheit. Nun aber ist genug! Jetzt bleibe auch ich hier, jetzt verlasse auch ich dieses Tal nicht eher, als bis die letzte dieser...«
»Sie kommen — die Amazonen greifen an!«, erklang draußen der Ruf.
Georg vollendete den Satz nicht, stand auf, strich im Vorübergehen über Albrechts Haar und sprang an Deck.
Aus jener Flussmündung, die man von hier aus noch immer sehen konnte, kamen drei Galeeren hervor, zwei mit je 40 Riemen, eine bedeutend kleinere mit nur 16, ordneten sich in eine Reihe, die kleine in der Mitte, hielten direkt auf die »Argos« zu.
»Wenn die uns angreifen wollen, so ist das entweder heller Wahnsinn oder es steckt irgend eine Teufelei dahinter.«
Wer das sagte, ist gleichgültig. Es war die Meinung aller, die selbstdenkend urteilen konnten.
Ein kurzer Kriegsrat zwischen den führenden Personen, und die »Argos« ging mit halber Kraft zurück, weiter in den See hinaus.
Man wollte die Galeeren möglichst weit vom Ufer ablocken, um sie dann erst zu vernichten, damit möglichst wenig oder gar keine Amazone schwimmend das Ufer erreichen konnten.
»Pardon wird nicht gegeben, keine Schwimmende wird aufgefischt, sie wird im Wasser totgeschlagen.«
Ließen sich die Galeeren aber auch wirklich vom Ufer ablocken?
Ja, alle drei, immer eine Reihe bildend, folgten dem sich zurückziehenden Schiffe in den See hinaus.
»Das ist entweder heller Wahnsinn, oder es steckt irgend eine Teufelei dahinter.«
Es konnte nur wiederholt werden.
»Die Galeeren haben ein oberes Deck bekommen, die Ruderer sitzen darunter!«, riefen jetzt die Matrosen, die in den Mars geschickt worden waren, um ihn zu panzern.
Der Mars ist der ehemalige Mastkorb. Heute haben nur die großen Passagierdampfer solch einen »Mastkorb« wieder bekommen, am Fockmast, dem ersten, in geringer Höhe angebracht, der auf Ausguck stehende Matrose befindet sich in ihm. Sonst gibt es nur noch »Marsen«, jeder Mast besitzt seinen eigenen, er ergibt sich aus der ganzen Zusammensetzung des Mastes, der ja immer aus mehreren Teilen besteht. Es ist immer eine Plattform auf der Längssäling des Untermastes, dient hauptsächlich dazu, um eine Spreizung der Stängenwanten zu gestatten, ist auch eine große Bequemlichkeit für die Matrosen, die auf ihm einmal ausruhen oder daran Arbeiten verrichten können, die auf den Rahen selbst nicht gut möglich sind. Auf Kriegsschiffen bekommt der Mars durch schützende Verkleidung wieder das Aussehen eines Korbes und heißt dann Gefechtsmars. Von einem »Mastkorbe« darf man niemals mehr sprechen, man wird ausgelacht, ebenso wenn man statt Wanten etwa »Strickleitern« sagt. Die »Argos« war als Kriegsschiff gebaut worden, aus Stahl, ohne gepanzert zu sein, wohl aber konnte der erste Mars mit Panzerplatten umgeben werden und zwei Revolverkanonen aufnehmen, das war alles noch vorhanden, und das wurde jetzt schnellstens hinaufgebracht und montiert. Später waren noch zwei weitere Revolverkanonen und zwei Schnellfeuergeschütze hinzugekommen, die man für die Armierung dieses Schiffes, das nur als Frachtschiff oder Lustjacht dienen sollte, für vollständig genügend gehalten hatte.
Georg selbst enterte die Wanten auf.
Ja, das Aussehen der Galeeren hatte sich verändert.
Die Ruderer waren nicht mehr zu erblicken, auch über die hohe Bordwand waren Bronzeplatten gelegt worden. Die dazu nötigen Falze waren wohl schon früher bemerkt worden, aber niemand hatte sich dabei etwas gedacht. Auch oben war niemand zu erblicken, alles vollständig geschlossen.
Wieder eine Beratung im Kartenhaus.
Die Begum hatte die gegen die Pferde versprochenen Galeeren nicht abgeliefert, oder eigentlich war das des Waffenmeisters Schuld, mit dem sie als Hauptperson verkehrte, er hatte die Galeeren damals beim ersten Besuch in dem Weiberquartier sich aussuchen und gleich mitnehmen sollen, hatte es nicht getan, später hatte man mit den Amazonen immer schon so halb und halb auf dem Kriegsfuße gestanden. Hätte Georg die Galeeren noch nachträglich gefordert, er hätte sie sicher erhalten, aber es war eben unterlassen worden. Dort schwamm noch die Galeere, mit der die Gefangenen gekommen waren.
Noch hatte man Zeit, sich ihr, ohne die Richtung viel zu ändern, zu nähern, an ihr Schieß- und Rammversuche zu machen.
Wozu aber eigentlich? Wenn die dünnen Schuppenpanzer den Spitzkugeln der Infanteriegewehre trotzten, dann durfte man sicher sein, dass die mehr als zolldicken Bronzeplatten der Galeeren, ebenfalls gehärtet, auch nicht von achtzölligen Hartgussgeschossen der Schnellfeuergeschütze durchschlagen wurden. Und ein versuchsweises Rammen dieser Galeere?
Gewiss, wenn dieses Fünftausendtonnenschiff, wenn es auch keinen Rammsporn besaß, bei zwölf Knoten Fahrt mit seinem scharfen Bug gegen solch ein Fahrzeug traf, dann musste dieses in Trümmer gehen, es konnte gepanzert sein wie es wollte, oder es hörte überhaupt alles auf.
Freilich konnte auch die »Argos« schwer beschädigt, ihr der Vordersteven eingedrückt werden. Nicht, dass das Schiff deshalb gesunken wäre. Dieser hinter dem Bug liegende Raum ist immer ganz für sich isoliert. Aber jedenfalls konnte man solch einen Rammstoß nicht wiederholen.
Nein, wenn gerammt werden sollte, dann gleich direkt solch eine feindliche Galeere. Doch nur im höchsten Notfalle. Man hatte überhaupt eine ganz andere Angriffsweise vor. Es war eben nur eine Beratung gewesen, um den Vor- und Nachteil eines Rammens zu erwägen. Denn wer das Kommando dazu gab, der hatte dann doch auch die Verantwortung dafür.
Es war noch Zeit genug. Nur immer weiter in den See hinaus.
Die Zeit wurde natürlich ausgenützt. Die Argonauten panzerten sich.
Als Merlin damals in der Nacht an Bord gekommen war, hatte die »Argos« auf seine Warnung hin die bisherige Anlegestelle verlassen müssen, die Wasserschlucht, diese ganze Küstengegend, sie war für das Schiff zu gefährlich, es konnte, wenn die Amazonen feindlich vorgingen, von oben herab mit Felsblöcken beworfen werden.
Vorher aber war alles mitgenommen worden, was man zu gebrauchen gedachte, nach dem Rate Merlins. Vor allen Dingen Panzerrüstungen und Bronzewaffen, nicht nur Bogen und Pfeil. Die ganze Nacht hatten die 32 Jungen geschleppt, die anderen auch, selbst die Damen, oder die hatten sonst wie mit Hand angelegt.
Jeder der Argonauten konnte sich vom Scheitel bis zur Sohle in Bronzeschuppen einhüllen, für jeden war etwas Passendes vorhanden, und dann waren die Rüstungen noch lange nicht erschöpft. Auch die Indianer und die englischen Matrosen hätten sich panzern können. Nein, es war nicht möglich. Für diese Fettkugeln gab es keine passende Rüstungen, und die waren nicht so leicht zu verändern.
Georg begab sich ins Zwischendeck in die Batterie. Hier hielten sich für gewöhnlich die zirka 40 Indianer auf, die seiner Zeit gegen besiegte Amazonen ausgetauscht worden waren.
Die ehemaligen Fettkugeln hatten in den wenigen Tagen schon ganz bedeutend abgenommen. Besonders der kleine Fuchs, wenn man den noch etwas zusammenquetschte, dann ging er vielleicht schon in das weiteste Panzerkostüm hinein.
Doktor Cohn hatte sie in die Entfettungskur genommen. Ganz mageres, scharfgeröstetes Fleisch, so viel sie wollten, aber sonst nichts weiter, und als Getränk nur kohlensaures Wasser, an Bord selbst hergestellt, gewürzt mit viel Pfefferminzgeist und etwas Chinin — chlorsaurem Chinin, das sich viel leichter in Wasser löst als das sonst übliche schwefelsaure, nur teurer ist.
Auch hiervon konnten sie trinken, so viel sie wollten. Aber wer dieses Zeug trinkt, der muss von einem wahren Höllendurst gepeinigt werden!
Pfefferminzgeschmack verträgt sich nicht mit Wasser. Das weiß jeder, der ein starkes Pfefferminzplätzchen »nutscht« und hinterher kaltes Wasser trinkt. Das tut im Halse förmlich weh. Obgleich ganz harmlos. Kohlensäure verstärkt noch diese Wirkung.
Chinin ist das Bitterste was wir kennen, und dasselbe gilt von allen seinen Salzen, die in der Apotheke überhaupt nur zu haben sind, und auch nur auf ärztliches Rezept hin. Die rätselhafte Wirkung des unersetzlichen Chinins gegen alle Fiebererscheinungen beruht, wie erst neuere Forschungen dargelegt haben, darauf, dass es den Eiweißumsatz des tierischen Körpers bei regelmäßigen Gaben auf ein Minimum beschränkt. Die schon vorhandenen Eiweißzellen verbrauchen sich nicht mehr. Weshalb nicht, das ist das Rätsel. Also kann man Chinin auch nehmen, ohne Fieber bekämpfen zu wollen. Wenn man für längere Zeit schwere körperliche oder geistige Arbeit verrichten will, wobei ein voller Magen hinderlich ist, überhaupt jede Sättigung — Sportsleute und konzentrierte Geistesarbeiter wissen schon, was hiermit gemeint ist — so braucht man während dieser Zeit täglich nur ein halbes Gramm Chinin zu nehmen, das tut Wunder! Dabei ist es absolut unschädlich. Nur ab und zu etwas Ohrensausen muss man mit in Kauf nehmen. Wenn mancher Arzt hiervon nichts wissen will, weil er davon nichts auf der Universität gelehrt bekommen hat, so muss man lieber dem glauben, der sich viele Jahre lang in tropischen Gegenden, in verpesteten Hafenstädten und auf Pilgerschiffen mit Fiebern aller Art herumgebalgt hat, nicht als Kranker gepflegt wurde, sondern dabei immer schwer, furchtbar schwer arbeiten musste.
So verhungerten diese Indianer langsam, ohne etwas davon zu merken, ohne sich geschwächt zu fühlen, und auch über ihren Durst wurden sie getäuscht, sie verdursteten auch langsam, ohne es zu merken. Fett und Stärke gab es nicht, sie fühlten sich satt, aber das Eiweiß der Fleischnahrung wurde gar nicht verbraucht — da schrumpelten sie zusehends zusammen, was durch die Wasserentziehung noch verstärkt wurde. Das heißt, dass man nicht falsch versteht: das hier war nicht etwa eine geheimnisvolle Wunderkur, um »dünn zu werden«, die patentiert werden kann. Gegen Fettsucht gibt es noch kein Mittel. Da hilft auch Karlsbad nichts. Da quält man sich in vier Wochen 20 Pfund vom Leibe, dann bringt man nach Hause so herrlichen Appetit mit, und nach zwei Wochen hat man wieder um 25 Pfund zugenommen. Und so ist, es mit allem, was auch gegen die Dickleibigkeit, die an sich eine normale ist, angewendet wird. Oder man wird dünn und stirbt. Als einzig wirklich wirksames Mittel gegen angeborene oder krankhafte Fettsucht kann nur empfohlen werden der Ankauf von Türkenlosen, oder von einer chinesischen Goldmine, oder die Zulegung einer geeigneten Schwiegermutter, oder eines verschuldeten Schwiegersohnes, oder eines Hauses mit Schwamm oder so etwas Ähnliches.
Hier lag ja ein ganz anderer Fall vor. Diese Gefangenen hatten zweifellos irgend ein Mittel bekommen welches den Verbrennungsprozess des Fettes, worin auch das Stärkemehl umgewandelt wird, aufhob. Dadurch waren sie so fett geworden. Nun wurde das entgegengesetzte Mittel angewendet, da schrumpelten sie wieder bis auf die Muskeln zusammen.
Dazu auch sonst noch eine geeignete Lebensweise. Mit Bogenschießen hatten die körperlichen Übungen angefangen. Der Indianer hat nun einmal eine Vorliebe für Bogen und Pfeil, es ist ihm eine heilige Waffe, so wie uns einst das Schwert, und wo in Nordamerika noch Büffel vorkommen — ihre Ausrottung ist nicht gar so schlimm, wie man in Zeitungen manchmal liest — da dürfen sie auch nur mit Bogen und Pfeil erlegt werden, das ist eine heilige Tradition, hat überhaupt etwas mit Religion zu tun. Weil sämtliche nordamerikanischen Indianer Sonnenanbeter sind — Manitou ist nur etwas Neutrales, dem indischen Brahma ganz vergleichbar, wird nicht verehrt — der Pfeil ist das Symbol des Sonnenstrahls, und der Büffel ist der Sonne geheiligt. Dann, als die Bewegungsfreiheit eingeleitet war, kamen Ballspiele daran. Alle nordamerikanischen Indianer sind leidenschaftliche Ballspieler, da werden die würdevollen Krieger zu Kindern, fast alle unsere Ballspiele sind indianischen Ursprungs. Und die Batterie war mit Dampfheizung versehen, und sie wurde geheizt. Da schwamm in dieser Batterie manchmal alles.
Und da begann sich auch wieder die Seele aus dem Fett zu schälen. Denn die Seele war in diesem Fett erstickt gewesen, wirklich erstickt.
Jetzt standen sie alle an den Bullaugen und beobachteten die drei goldschimmernden Galeeren. Freilich immer noch unförmliche Gestalten.
»Nun, Stahlherz, was sagst Du dazu? redete Georg den einen an. »Dort kommen die Amazonen, um uns anzugreifen.«
Der rote Krieger, der wieder wie alle anderen seinen Schädel rasierte und die Skalplocke pflegte, was während der Gefangenschaft ganz vernachlässigt worden war, antwortete nicht, schweigend blickte er mit furchtbar drohenden Augen nach den Galeeren.
»Uff«, übernahm statt seiner der kleine Fuchs die Antwort, »gib mir Waffen, dass ich gegen diese Weiber kämpfen kann — gib mir eine Peitsche, dass ich diese Hündinnen totpeitschen kann.«
»Weshalb denn? Was haben sie Dir getan? Sie haben Euch doch so gut behandelt.«
Ein allgemeines Gemurmel entstand.
»Sie haben unsere Squaws und Kinder getötet — — das Blut meines Sohnes raucht noch und die Sonne lacht noch über den feigen Salamander — meine Töchter singen mir jede Nacht klagend ins Ohr, dass sie noch keine Vergessenheit in Manitous Schatten finden können...«
So und anders klang es durcheinander, murmelnd und lauter und immer grimmiger.
»Nach einer Woche wollen wir sehen, wer in einen Panzer geht, jetzt ist noch bei keinem möglich...«
»Wir sind Krieger, wir bieten dem Feinde offen die Brust...«
»Und lasst sie Euch durchlöchern. Fort da! Jetzt werden die Gucklöcher zugemacht.«
Georg machte kurzen Prozess mit diesen edlen Rothäuten, und er musste sich bei ihnen in mächtigen Respekt zu setzen gewusst haben, dass sie sich von ihm und den Matrosen, die er mitgebracht hatte, so einfach bei Seite schieben ließen.
Die Bullaugen wurden mit den eisernen Platten geschlossen, die besonderen Schraubenschlüssel dazu mitgenommen.
Ein schrilles Klingeln rief alle Mann auf ihre Stationen.
»Die Mitte des Sees ist so ziemlich erreicht!«, sagte Kapitän Martin. »Herr Kollege, jetzt sind Sie nicht mehr KargoKapitän, sondern nur noch der Waffenmeister, Sie haben die taktische Führung, ich nur die nautische, lasse nur Ihre Kommandos ausführen.«
»Stopp! Wenden gegen den Feind!«
Es wurde ausgeführt, die »Argos« drehte den Bug den drei Galeeren zu, blieb still liegen.
Ein Lachen erscholl. Es kam aus der Hühnerkammer. Nur der Eskimo hatte seine Gelania oder Germania in einer besonderen Kabine untergebracht, er wollte sie »dressieren«, sagte er, ohne sich weiter zu offenbaren. Viel Liebelei schien auch wirklich nicht dabei zu sein, denn er hatte seiner zukünftigen Gattin bereits einen stählernen Ring durch die Nase gezogen, um sie besser »anlaschen« zu können, und das hat doch eigentlich mit der wahren Liebe nichts zu tun.
Kapitän Martin hatte seine lebendige Schokoladenware in den Hühnerstall gesperrt, heute früh waren noch die beiden anderen Amazonen hinzugekommen.
Bei dem »Hühnerstall« durfte man sich aber nichts besonderes Grausames oder auch nur Rücksichtsloses vorstellen. Na ja, ein regelrechter Hühnerstall war es, der sich auf Backbordseite gleich vor der Kommandobrücke befand, gegenüber auf Steuerbordseite war der Schweinestall, beide dazu bestimmt, um lebendiges Federvieh oder Vierbeiner als Proviant mit auf die Reise zu nehmen.
Aber keiner von den beiden Ställen wurde jetzt zu diesem Zwecke benutzt, beide glänzten vor Sauberkeit, die drei Weiber hatten es höchst komfortabel bekommen, und jeder erstklassige Kajütenpassagier wäre mit solchen Kabinen zufrieden gewesen, hätte nicht geahnt, dass er in einem Schweine- oder Hühnerstall hauste.
An dem in niedriger Kopfhöhe angebrachten vergitterten Fenster — denn vergittert müssen solche Stallfenster natürlich sein, einmal damit die Hühner nicht heraus, und dann, damit die zweibeinigen Hühnermarder, besonders in orientalischen Häfen, nicht hinein können — zeigte sich das Gesicht einer Amazone, nur die konnte gelacht haben.
Georg hatte sein Kommando gegeben, nun hatte er weiter nichts zu tun als die drei Galeeren zu beobachten, und dabei konnte er sich auch unterhalten.
»Was hast Du zu lachen, Weib?«
»Zilla lacht über Euch.«
»Und warum lacht Zilla über uns?«
»Weil Ihr in die Mitte des Sees gefahren seid, um die Amazonen hier zu erwarten.«
»Nun, was gibt's denn da zu lachen?«
»Weil Ihr nun verloren seid!«
»Weshalb sollen wir denn verloren sein?«, fragte Georg ganz gleichgültig.
»Ergebt Euch auf Gnade und Ungnade.«
»Und weshalb sollen wir uns ergeben? Weil wir jetzt verloren sind. Nicht wahr?«
»In zehn Minuten werdet Ihr wissen, weshalb Ihr verloren seid.«
Einen starren Blick in das schöne, trotzige Gesicht der Sprecherin, und Georg wandte sich gleichgültig ab und erstieg die Kommandobrücke.
Es war ihm aber durchaus nicht so gleichgültig zu Mute.
Was hatte die Amazone gemeint?
Wodurch konnten die drei Rudergaleeren diesem mächtigen Schiffe so gefährlich werden?
Was wurde dort drüben für eine Teufelei ausgeheckt? War es nicht schon geradezu unheimlich, dass diese armseligen Rudergaleeren, mochten sie auch noch so fest gegen Geschosse aller Art gepanzert sein, diesem dampfenden Schiffe überhaupt in die Mitte des Sees zu folgen wagten?
Und Ihnen allen, die auch nichts von diesen höhnischen Bemerkungen der Amazone wussten, sollte gleich ebenso unheimlich zumute werden.
Kaum hatte die »Argos« gewendet, sonst still liegen bleibend, also ihre Absicht kundgebend, den Feind zu erwarten, als sich die drei Galeeren zu trennen begannen. Nur die mittlere, die kleine, fuhr weiter gerade aus, aber viel langsamer rudernd, die beiden anderen beschrieben nach links und rechts einen Bogen.
Das sah ja ganz danach aus, als wollten die Galeeren zum tatsächlichen Angriff übergehen, das Schiff einschließen, um es von allen Seiten anzugreifen!
Und nichts anderes hatte der Feind vor, das war ja ganz offenbar! Aber mit welchem Rechte! Wie kamen die dazu! Das war das Unheimliche dabei.
500 Meter Entfernung! Die beiden Schnellfeuergeschütze nahmen die linke Galeere aufs Korn, die Schüsse krachten. Von zehn ging nur ein einziger fehl, die anderen neun trafen ihr Ziel, an den verschiedensten Rumpfteilen. Aber gleichgültig, ob es Hartgussspitzkugeln waren oder Granaten, sie brachten keine Wirkung hervor.
Von einer explodierenden Granate wurden einige Riemen zersplittert, das war alles, und aus den Ruderlöchern schoben sich alsbald neue hervor.
»Klar zum Ramm!«
Aber es sollte zunächst nicht direkt gerammt werden, der Kriegsplan war ein anderer, nur musste für dieses Manöver, das den Feind hilflos machen sollte, alles klar zum Ramm sein.
Die »Argos« schoss mit Volldampf los, schneller und immer schneller, bis sie sich noch 100 Meter vor der auserwählten Galeere in schnellster Fahrt befand, die ihr möglich war, also 12 Knoten in der Stunde machte.
Kapitän Martin selbst hatte die Speichen des Steuerrades ergriffen. Er war der einzige von uns, der noch seine gewöhnliche Kleidung trug. Alle anderen hatten sich in schuppengepanzerte Ritter verwandelt. Kapitän Martin konnte sich von seinem dunkelblauen Bratenrock nicht trennen. Aber darunter trug er ebenfalls einen Schuppenpanzer, und auch Kopf und Hals waren durch solch einen Klapphelm geschützt. Denn man musste ja erwarten, beschossen zu werden, die Riemenlöcher waren doch ganz vorzügliche Schießscharten.
Und was für eine Gefechtsweise wollte man anwenden, um die Galeeren unschädlich zu machen? Nun, ganz genau dieselbe, welche im Altertum und Mittelalter die Rudergaleeren gegen einander anwendeten, so lange sie sich noch im eigentlichen Seegefecht befanden, so lange noch nicht eine die andere enterte, worauf der Kampf Mann gegen Mann begann.
Zuerst ging es direkt los auf die auserwählte Galeere, sie hätte gar nicht mehr ausweichen können. Im letzten Augenblick aber, ehe ihr Vorderteil von dem scharfen Bug des Riesen mit furchtbarer Kraft getroffen wurde, drehte Kapitän Martin noch einmal das Steuerrad, nur eine ganz leichte Vierteldrehung, aber sie genügte, um das Schiff etwas aus dem Kurs zu lenken, so schoss es ganz dicht an der Galeere vorüber, freilich nicht so ganz harmlos — ein knatterndes Krachen, und die sämtlichen 20 Riemen auf Steuerbordseite waren dicht an den Ruderlöchern abgebrochen!
Das selbe Manöver, das schon in alten und mittelalterlichen Zeiten die Rudergaleeren auszuführen suchten, um sich gegenseitig unschädlich zu machen. Durch dichtes Vorüberstreichen die Riemenreihen abzuknacken. War eine Galeere so manövrierunfähig gemacht worden, dann konnte man ja ruhig die beste Zeit und Gelegenheit zum Entern abwarten, oder sie konnte beliebig von allen Seiten mit Katapulten und Ballisten beschossen werden, der Gegner vermochte sich nicht mehr zu drehen, um den unförmlichen, unbeweglichen Schleudermaschinen die nötige Richtung zu geben.
So, dieses war der erste Streich gewesen. Und mochte jede Galeere noch so viel Ruderstangen in Reserve mit führen, sie wurden alle weggeknackt. Was man dann mit den manövrierunfähigen Fahrzeugen anfing, wie man sie etwa wie die Nüsse aufknacken wollte, um zu ihrem lebendigen Inhalte zu gelangen, das konnte ja später beraten werden, wenn es so weit war, dann hatte man Zeit genug.
Also zunächst gewendet, aber nicht völlig, um dieser selben Galeere auch die zweite Ruderreihe abzuknacken, das war nicht nötig, jetzt erst einmal gegen die zweite große Galeere losgehalten...
»Backbord, Ruder hart Backbord!«, schrie da plötzlich der mit auf der Kommandobrücke befindliche Georg und stürzte sich auf das Steuerrad.
Und da ertönten auch schon andere Schreie des Schreckens, und wie Kapitän Martin nach Backbord blickte, da sah auch er es, was auch diesen eisernen Mann ganz außer Fassung bringen musste.
Da kommt von dieser Seite plötzlich die kleinere Galeere auf den Stahlriesen losgeschossen, oder auch wie ein goldener Vogel geflogen, indem nämlich die 16 Riemen, auf jeder Seite 8, waagerecht gehalten werden, also es wird nicht mehr gerudert, und dennoch kommt diese Galeere mit ungeheurer Schnelligkeit herangeschossen, dass das Wasser am Bug hoch aufschäumt, durch die in Schwebe gehaltenen Ruderstangen macht sie aber den Eindruck eines goldenen Riesenvogels, und ehe man noch weiter etwas denken kann, da ist es schon geschehen...
Ein furchtbarer Krach, ein Bersten und Splittern, und da geht die Galeere, durch den eigenen Anprall zurückgeworfen, schon wieder rückwärts, vollkommen unbeschädigt, so weit man das beurteilen kann — die »Argos« aber neigt sich schwer nach Backbord über! Mehr und immer mehr!
Es war der vordere Kohlenbunker, der ein Leck erhalten halte. Das wusste man doch sofort, ohne weitere Untersuchung. Er war leer gewesen, jetzt füllte er sich schnell mit Wasser, und da dabei ein Gewicht von fast 100 Tonnen in Frage kam, so musste das deutlich und immer mehr zu merken sein.
Weiter gefährlich konnte dieses Leck für die »Argos« nicht werden. Das ursprüngliche Kriegsschiff hatte natürlich Schottendichtung, war in große Kammern geteilt, oder Abteilungen, wollen wir sagen, die sämtlich für sich wasserdicht geschlossen werden konnten, abgesehen davon, dass überhaupt jede Tür wasserdicht schloss und das Kommando »Klar zum Ramm« hatte schon vorher alles geschlossen. Von den 14 vorhandenen Schottenabteilungen konnten sich acht vollkommen mit Wasser füllen, ehe das Schiff wirklich sank.
Nein, dieses Leck war es nicht, was die ganze Mannschaft mit lähmendem Entsetzen erfüllte. Lässt man sich in ein Seegefecht ein, so muss man so etwas eben erwarten.
Das Entsetzenerregende war, wie die kleine Galeere plötzlich losgeschossen war, ohne Hilfe der 16 Riemen, die dem Fahrzeug ja überhaupt gar keine solche Schnelligkeit verleihen konnten, das war es gewesen, dass es jedem nicht anders zumute war, als ob plötzlich der Himmel einstürzte.
»Das ist Hexerei, das ging nicht mit rechten Dingen zu!«
»Hahahahaha!«, erklang es hohnlachend aus dem Hühnerstall.
Und da — schon wieder ein neues Entsetzen!
Da kam auch eine der großen Galeeren, und zwar dieselbe, die nur noch über eine einzige Ruderreihe verfügte, mit der Schnelligkeit eines Pfeiles auf die »Argos« losgeschossen, von einer geheimnisvollen Kraft getrieben, ein zweiter furchtbarer Krach, ein Bersten und Splittern, und die »Argos« war zum zweiten Male gerammt worden, wieder auf Backbordseite, aber weiter nach hinten.
Diesmal konnte es nur die Eiskammer gewesen sein, die leckgerammt worden war, ein Raum von 60 Kubikmetern, und schon merkte man, wie sich das Schiff noch mehr nach Backbord über legte. Flucht!
Es gab nichts anderes Flucht vor diesen unheimlichen Höllengaleeren!
Wehe, wenn der dritte Stoß unter Wasser mehr mittschiffs die Stahlplatten zermalmte! Dort lagen die Kessel- und Maschinenräume. Nicht, dass das Schiff gesunken wäre, wenn sich auch diese mit Wasser gefüllt hätten. Aber eine unter Wasser stehende Maschine kann doch nicht etwa arbeiten, und mit der Kesselheizung ist es dann auch vorbei.
Und der Stahlriese floh vor den Bronzezwergen, floh wie die Richtung gerade gewesen, mit voller Kraft dem Südosten zu.
Und es war auch gerade die höchste Zeit gewesen, dass Kapitän Martin volle Kraft gegeben. Diese Weiber wussten recht wohl, wo solch eines Schiffes empfindlichste Stelle lag, durch deren Verwundung man sofort das ganze Schiff völlig manövrierunfähig machen konnte.
In demselben Augenblick, da sich das Schiff, das ziemlich auf der Stelle gewendet hatte, wieder in volle Fahrt setzte, schoss hinten die dritte Galeere mit jener unheimlichen Geschwindigkeit vorbei, wozu sie vorher auch noch die Riemen eingezogen hatte.
Sie rutschte gerade unter dem geschweiften Heck durch.
Nur eine Sekunde früher, und sie hätte dem Schiffe das Steuer abgebrochen, wenn bei ihrem Tiefgange nicht gar die Schraube! So war die »Argos« im allerletzten Augenblick, weil sie sich schon in Fahrt befunden, noch diesem Schicksale entgangen.
»Jammer, o Jammer, was ist das für eine teuflische Hexerei der Hölle!«
So schrie, so heulte Stevenbrock in heller Verzweiflung.
Er war der einzige, der dieser seiner Verzweiflung überhaupt noch in Worten Luft machen konnte.
Alle anderen waren ob dieser Vorgänge einfach wie vor den Kopf geschlagen.
Was ja allerdings nicht etwa verhinderte, dass Kapitän Martin mit klarer Stimme seine Kommandos gab und dass diese sofort ausgeführt wurden.
Die »Argos« floh also in südöstlicher Richtung davon, stark auf Backbordseite liegend, und da jeder Dampfer doch nur dann seine höchste Schnelligkeit, die ihm der Erbauer garantiert, entwickelt, wenn er sich im besten vorschriftsmäßigen Zustande befindet, wozu auch ein ganz genaues Ausbalancieren gehört, so war es ganz selbstverständlich, dass die »Argos« jetzt nicht mehr 12 Knoten pro Stunde machen konnte. Diese schiefe Lage genügte schon, um zwei Knoten vermissen zu lassen.
Immerhin, zehn Knoten machte sie noch.
Jetzt aber kam man erst richtig zum Bewusstsein, was hier für ein unerklärliches Rätsel vorlag.
Die drei Galeeren folgten dem Schraubendampfer! Folgten ihm, ohne überhaupt die Ruderstangen noch zu benutzen. Allerdings konnten sie die »Argos« nicht einholen. Sie fuhren langsamer, sie blieben zurück. Das war schon nach einer halben Minute deutlich zu merken.
Aber acht Knoten Fahrt machten sie doch sicher, die kleinere, die den größeren immer mehr vorauskam, noch etwas mehr.
Wie war dieses Rätsel zu erklären?
Nun, man brauchte ja nur anzunehmen, dass auch diese Galeeren eine Maschine im Bauche hatten, die hinten eine Schiffsschraube drehte, dann war das Rätsel gleich gelöst.
Aber Georg hatte bereits vorhin, als die beiden Galeeren auf das Schiff losgeschossen waren, etwas Besonderes bemerkt, und jetzt sahen es alle.
Die Galeeren, die nicht mehr gerudert wurden und nun erst recht so schnell fahren konnten, ließen hinter sich im Wasser Streifen, jede deren zwei, links und rechts von sich, es war nicht anders, als ob Luft in Blasen emporstiege.
Wer irgend eine Erfahrung darin hatte, musste sofort auf den Gedanken kommen, dass diese Galeeren durch die rückwärts wirkende Kraft von Wasser getrieben wurden, das man aus zu beiden Seiten des Fahrzeugs angebrachten Röhren herauspresste.
Man mache einen Versuch, es ist ein hübsches Experiment, man kann Kindern ein Spielzeug fertigen, ein selbstfahrendes Schiff, das sich bei einiger Überlegung immer weiter vervollkommnen lässt. Man nimmt einen wasserdichten Kasten, dem man möglichst das Aussehen eines Schiffes gibt, fügt eine Glasröhre ein, die hinten den Kasten noch unter Wasser durchbohrt, das Loch wird mit Pech oder Wachs wasserdicht gemacht, in der Mitte des Schiffes ist das andere Ende der Röhre nach oben gebogen, darauf wird ein kleiner Kasten gesetzt, ein Bassin, alles wasserdicht gemacht.
Wenn man weiß, worauf es ankommt, lässt sich das alles ganz leicht arrangieren und immer verbessern.
Füllt man nun dieses Bassin mit Wasser, so drückt dieses doch nach unten, es drängt sich hinten zu der Röhre, die sich noch unter Wasser befindet, heraus, dadurch wird das Schiffchen vorwärts getrieben.
Dies ist die allereinfachste Konstruktion. Nun aber kann man auch zwei Glasröhren nehmen, auf jeder Seite des Schiffchens eine anbringen. Setzt man nun auch noch zwei getrennte Wasserbassins auf, so hat man schon die Möglichkeit, das Schiffchen auch ohne Steuerruder nach Belieben zu lenken, indem man in das eine Bassin mehr Wasser gießt als in das andere, oder man kann auch kleine Hähne anbringen, oder schon einfache Quetschhähne genügen, nur müssen dann die Glasröhren einmal durch etwas Gummischlauch unterbrochen sein.
Dieser Art von Fortbewegung von Wasserfahrzeugen dürfte die Zukunft gehören! Denn auch die Schraube wird wieder einmal verdrängt werden. Sicher aber der Riemen, das gewöhnliche Ruder beim Ruderboot. Wobei wir bei der Erfindung der uralten Völker stehen geblieben sind, die im Laufe von ungezählten Jahrtausenden noch nicht den geringsten Fortschritt gemacht haben.
Aber nicht, dass sich in dem Boote ein Bassin befindet, in das immer Wasser nachgegossen werden muss. Sondern die bisherige Bewegung des Ruderns wird von der Mannschaft auf Pumpenhebeln übertragen, das Wasser wird in den Röhren vorn aufgesaugt und hinten wieder herausgepresst.
Der Vorteil solcher Boote ist klar. Die Mannschaft blickt dorthin, wohin sie fährt. Durch Umschaltung kann sofort auch rückwärts gefahren werden. Das Steuer kann ganz wegfallen, trotzdem ist die höchste Lenkbarkeit gesichert. Das Wasser braucht nur so schmal zu sein, dass es das Boot eben befahren kann. Schling- und andere Wasserpflanzen, die auch der Schraube sehr gefährlich werden, können diesem Röhrensystem nicht viel anhaben.
Aber diese Art von Triebkraft lässt sich auch auf große Schiffe anwenden, und das ist auch schon einmal in der Praxis ausgeführt worden! Bereits ums Jahr 1850 befuhr den Stettiner Hafen ein Dampfer, der »Albert«, bei dem diese Triebkraft angewendet wurde. Eine Zentrifugalpumpe durch Dampfmaschine getrieben, hob das Wasser hoch, es drückte in Röhren herab, so wurde das Schiff vorwärtsgetrieben. Seine Manövrierfähigkeit soll eine ganz erstaunliche gewesen sein, um so schlechter seine sonstige Leistungsfähigkeit, der »Albert« wanderte bald ins alte Eisen, das ganze Röhrensystem ebenfalls, um nicht wieder hervorgeholt zu werden. Ja ganz natürlich! Diese Art und Weise, das Wasser erst hoch zu pumpen, um es dann durch seinen eigenen Gewichtsdruck wirken zu lassen, das ist doch auch die allerprimitivste, eben nur für Kinderspielerei passend.
Nun lässt sich die Sache aber doch auch noch anders denken. Ein Kessel, der hohen Atmosphärendruck aushält, wird mit Wasser gefüllt, Feuer darunter gemacht. Das Wasser verwandelt sich in Dampf, der nicht heraus kann. Aber das Wasser muss herauskönnen. Unten ist in dem Kessel eine Röhre eingelassen, die außen nach oben eine Biegung macht, die Dampfspannung drückt das Wasser heraus und direkt in die Triebröhren hinein, das Schiff bewegt sich vorwärts.
So ungefähr. Es kommt hier nicht auf die Beschreibung einer Konstruktion an, sondern nur aufs Prinzip! Und dieses Prinzip ist es, welchem im Schiffswesen die Zukunft gehören wird!
Wer sich aber nun mit diesem Problem beschäftigt, es glücklich löst, der kommt wieder einmal einige Jahrtausende zu spät. Denn — ganz abgesehen von jenem Stettiner Pumpschiffe — diese Erfindung ist schon ums Jahr 100 vor Christi Geburt von dem bekannten Mathematiker und Physiker Heron von Alexandrien gemacht worden.
Am bekanntesten von diesem ist der sogenannte Heronsball und der Heronsbrunnen. Was das ist, weiß wohl jeder. Aber in seiner Schrift »Über die Verfertigung von Automaten« gibt er schon die Anweisung, wie man ein Wasserfahrzeug durch die treibende Kraft des Dampfes sich bewegen lassen kann, und schon dieser Heron hat einen ganz regelrechten Dampfkessel konstruiert, den er heizte, den sich entwickelnden Dampf benutzte er, um Wasser durch Röhren zu pressen und so ein Schiffchen vorwärts zu treiben!
Dieses Experiment, vor 2000 Jahren angestellt, ist vergessen worden! Wer kennt auch jene angeführte Schrift. Das altgriechische Original ist verschwunden, es gibt nur noch eine einzige Übersetzung, ins Italienische, erschienen 1601 zu Venedig, auch schon äußerst selten.
Jedenfalls also: wenn einmal unser oder ein kommendes Jahrhundert dieses Prinzip als treibende Kraft im Schiffswesen benutzen wird, man hat keine neue Erfindung gemacht — die hat schon der alte Heron von Alexandrien vor 2000 Jahren gewusst und praktisch erprobt!
Freilich könnte es auch noch etwas anderes geben als Dampf, um Wasser mit Hochdruck durch enge Röhren zu treiben und so eine Fortbewegung zu ermöglichen. Die ganze Heizerei fällt dereinst vielleicht weg. Inwiefern? Man denke nur etwa an das metallische Kalium oder Natrium, welches das Wasser zersetzt. Auch hierdurch kann in einem geschlossenen Kessel jede Spannung erzeugt werden. Und hiermit sind noch unbegrenzte Möglichkeiten für die Kraftentwicklung der Zukunft eröffnet.
Mit solchen Erwägungen ließen sich die fliehenden Argonauten jetzt freilich nicht ein. Die drei Galeeren besaßen irgend eine Triebkraft, durch die sie fast ebenso schnell fahren konnten wie diese Schiff unter vollem Dampfe. Und sie waren fähig, dieses Schiff leck zu rammen. Das war jetzt die Hauptsache.
Freilich dieser Schreck, dieser Grimm, diese Enttäuschung, dieses furchtbar beschämende Gefühl!
Die Patronin riss ihren Helm vom Kopfe, und ihr Gesicht glühte, ihre Augen funkelten.
»Weshalb fliehen wir!«, rief sie außer sich, mit dem Fuße aufstampfend. »Auch wir können rammen...«
»Aber sicher nur ein einziges Mal, dann ist unser Bug zertrümmert!«, sagte Kapitän Martin mit Ruhe. »Während die beiden anderen Galeeren uns immer wieder rammen können.«
»Und dort kommt noch ein ganzes Dutzend!«, setzte Georg noch hinzu.
Ja, dort im Norden, von wo man gekommen, tauchte noch eine ganze Reihe von großen Galeeren auf, und schon mit bloßen Augen konnte man erkennen, dass sie überhaupt gar nicht gerudert wurden und dass sie sich ganz auffallend schnell näherten.
»Viele Hunde sind nicht nur des Hasen, sondern auch des stärksten Bären Tod, zumal wenn diese Hunde auch noch mit dem Teufel verbunden sind!«
So hieß es, und es wurde weiter geflohen, die drei Galeeren immer nach, und auch die anderen Galeeren schlossen sich der Verfolgung an. Wohin sollte man fliehen? In aller Schnelligkeit wurde eine Beratung abgehalten, im Kartenhaus auf der Kommandobrücke.
Die »Argos« musste auf den Strand gesetzt werden. Es gab nichts anderes. Sie war schon leck, sie würde von den Galeeren noch lecker gerammt werden, wenn nicht heute, dann ein anderes Mal, und das durfte nicht in tiefem Wasser geschehen, sonst ging sie eben verloren, die Mannschaft musste sich in Booten retten, und dann war man diesen höllischen Weibern natürlich erst recht ausgeliefert.
Wo sollte man auf den Strand gehen? Nun irgendwo, wo das Wasser eben flach genug war. Und dann die Umgebung möglichst baumlos, um sich vor Überfällen von der Landseite her zu sichern.
Freilich konnten die Galeeren auch dort noch ihre Rammversuche fortsetzen, besonders da sie nicht so tief wie die »Argos« gingen. Aber das stählerne Schiff ganz und gar in Trümmern zu legen, das war doch nicht so einfach. Und dann würde man schon noch ein Mittel finden, um es mit diesen höllischen Fahrzeugen aufnehmen zu können, um sie sich vom Leibe zu halten, und dann später konnte die »Argos« in dem seichten Wasser gleich durch Taucher repariert werden, durch Leichtern wurde sie wieder flott gebracht.
So weit war die Beratung gediehen, was nur wenige Minuten in Anspruch genommen, jetzt brauchte man nur nach der nächsten flachen Küste zuzufahren, als alles erschrocken emporfuhr.
Im Kartenhaus hatte das Telefon geklingelt.
Wer konnte jetzt in dieser Situation das Telefon benutzen?!
Man musste diese Bordverhältnisse kennen, um zu begreifen, was es bedeutete, wenn sich jetzt das Telefon meldete.
Ganz unbegreiflich!
Stevenbrock sprang auf und hin.
»Wer ist dort?«
»Viviana.«
Aaahh!
Alle hatten es gehört.
»Hier Stevenbrock. Sie wünschen?«
»Diese Katastrophe, von der Sie betroffen worden sind, konnte nicht vermieden werden, wir konnten Sie nicht warnen, denn wir wussten selbst nichts davon. Aber in Sicherheit kann ich Sie bringen.«
»Tun Sie es!«
»Sie wollen das Schiff auf den Strand setzen?«
»Ja, es ist beschlossen worden.«
»Tun Sie es nicht.«
»Sondern? Geben Sie einen besseren Rat.«
»Fahren Sie in die Bucht der Entsagung. Schluss.«
Es antwortete niemand mehr.
In die Bucht der Entsagung? Also in jene Bucht, in der das Schloss der Entsagung lag, wie die sich auf dem Wasserfelsen erhebende Burg nun einmal getauft worden war?
Niemand hätte den Rat erteilt, in diese Bucht zu flüchten. Überhaupt in keine einzige Bucht oder Flussmündung, wo man doch eventuell oder sogar ganz sicher wie in einer Mausefalle saß. Überall am Ufer des freien Sees festrennen, nur nicht in einer schmalen Wasserstraße!
»Aber wir befolgen den Rat doch.«
»Selbstverständlich befolgen wir ihn. Und wenn wir dort sind, werden wir auch schon weiter geführt werden, oder Viviana, unsere Schutzgöttin, hätte doch gar nicht erst den Anfang gemacht.«
Es war nicht sehr weit entfernt. Keine Viertelstunde. Während dieser ließ man die drei Galeeren immer weiter hinter sich. Sie schienen etwa acht Knoten zu machen. Aber folgen taten sie doch und die anderen, von denen man jetzt vierzehn zählte, schlossen sich ihnen gleichfalls zur Verfolgung des Schiffes an.
Die Bucht wurde erreicht, man steuerte ein, und wie sich nach kurzer Fahrt durch die Wasserstraße vor ihnen der große Nebensee ausdehnte, in dessen Mitte der Felsen mit der Burg lag, da ward ihnen auch sofort klar, weshalb sie hierher beordert worden waren, wo sie eine sichere Zuflucht finden sollten, sie brauchten keinen Führer und keine Anweisung mehr.
Als sie zum ersten Male hierher gekommen waren, hatten die steilen, glatten Felswände keine Öffnung gezeigt. Dann aber, während sich Georg und der Eskimo noch im Innern befunden, während die anderen noch mit Harpungeschützen probiert hatten, um durch ein Seil hinaufgelangen zu können, war plötzlich eine Öffnung, ein Wassertor vorhanden gewesen.
Es war auf der hinteren Seite des Felsens entstanden, eben groß genug, um ein Ruderboot durchzulassen, es konnte auch einen Mast gesetzt haben. Diese Öffnung war also nicht von dieser vorderen Seite aus zu sehen gewesen.
Jetzt aber war auch hier auf dieser Vorderseite ein Wassertor entstanden, und zwar groß genug, um drei solcher Schiffe nebeneinander durchzulassen, und auch die Höhe genügte für den höchsten Mast.
Auf der Vorderseite des Felsens war ein Wassertor entstanden, groß
genug, um selbst den mächtigsten Dampfer hindurch zu lassen.
Das erkannten diese Seeleute sofort, und nun also brauchten sie auch nicht erst noch eine Einladung.
Halbe Kraft, viertel Kraft — langsam fuhr da schiefliegende Schiff ein, in jenes weite Bassin, in dem einst Georg und der Eskimo aufgetaucht waren, die »Argos« ging der Länge nach gerade gut hinein, die Breite war ja eine viel größere.
Die Schraube stoppte, einige Schläge rückwärts, und das Schiff lag still auf dem ruhigen Wasser der weiten Halle, die von jenem rätselhaften Lichte erfüllt war.
Oder aber das konnte ja auch von außen eindringendes Tageslicht sein... doch nein, als man sich umblickte, was erst nachträglich geschah, denn sonst hatte bei der Einfahrt doch jeder vorausgeblickt, da gewahrte man, dass sich das Felsentor bereits wieder geschlossen hatte, in einer Weise, die man eben nicht beobachtet hatte. Erwähnt sei noch, dass jenes erste, viel kleinere Wassertor gar nicht in dieses große Wasserbassin hineinführte, sondern nur zwischen die beiden Felswände hinein, welche einen massiven Felskern umgaben, zwischen sich den Treppenaufgang freilassend. Jene Wassereinfahrt mündete nur an einer Treppe.
Wieder klingelte das Telefon.
»Hier Stevenbrock. Wer dort?«
»Merlin. Meine Tochter sagte Dir schon, dass ich Dich nicht vorher warnen konnte. In diesem Reiche Vivianas seid Ihr in Sicherheit. Die Amazonen dürfen und können nicht in den Felsen eindringen. Ihr könnt hier Euer Schiff reparieren. Ich lasse jetzt das Wasser abfließen. In einer Tiefe von sieben Metern befindet sich weicher Sandgrund. Das Schiff wird mit dem Kiel etwas eindringen, dann sitzt es fest. Steift es mit Balken ab, so wie Ihr es auf der brasilianischen Sandbank getan habt. Den Abfluss kannst Du telefonisch regeln, Deine Anordnung, ob schneller oder langsamer, wird immer sofort ausgeführt. Ihr werdet auf dem Grunde mehrere Ausgänge finden. Sie führen in Burgen. Diese besetzt, so weit Euch möglich. Von dort aus führt den Kampf gegen die Amazonen zu Lande. Auch bemächtigt Euch ihrer Galeeren, greift sie mit ihrer eigenen Waffe an. Mehr habe ich jetzt nicht zu sagen. Schluss.«
Betreffs der Burgen war es nichts Neues gewesen, was man da zu hören bekommen hatte. Es wäre ja überhaupt merkwürdig gewesen, wenn die technisch so weit entwickelten Urbewohner dieses Tales nur diese eine Burg auf dem Seefelsen aufgeführt hätten.
Man hatte im Laufe der Zeit noch mehr solche Festungsbauten entdeckt, man musste nur danach suchen. Denn so offen zu Tage wie diese hier auf dem isolierten Felsen mitten im Wasser lag keine andere. Die anderen waren mit offenbarer Absicht möglichst versteckt angelegt worden, zwischen Felsen hinein, im Walde verborgen, meist an freiem Wasser, das heißt an großen Buchten oder Nebenseen.
Offenbar hatte es hier einmal eine aristokratische Feudalherrschaft gegeben, etwa unserem mittelalterlichen Ritterwesen entsprechend. Kleine Fürsten hatten sich in Burgen festgesetzt und von hier aus die Umgebung beherrscht, die darin wohnenden und jedenfalls dem Ackerbau und der Viehzucht nachgehenden Untertanen gegen fremde Willkür geschützt, unter einander immer im Kampfe liegend zu Wasser und zu Lande, was man doch aus den vielen vorhandenen Waffen und Galeeren schließen konnte.
Nur der große See selbst und seine Ufer hatten als freies Gemeingut gegolten. Das musste man daraus schließen, weil an diesem großen See selbst keine einzige solche Burg lag, immer nur an Nebenflüssen oder Nebenseen. Oder auch einmal so wie hier mitten drin im Wasser. Wer die heilige Gemeinschaftlichkeit des großen Sees brach, an ihm eine Burg errichten wollte, über den fielen dann alle Ritter auch gemeinschaftlich her, sodass solch ein Vertragsbruch unmöglich wurde.
Nun allerdings befanden sich ja am Nordwestufer des Hauptsees jene ungeheuer ausgebreiteten Felsenräume, die man doch auch als eine Festung gelten lassen musste. Und auch nur dort hatte man die Rüstungen und Waffen und Galeeren gefunden, hier aber auch gleich massenhaft.
Dort, musste man annehmen, hatte einst der König oder Kaiser residiert, der über dieses ganze Tal herrschte, ohne sich in die Ritterfehden einzumischen, höchstens als Schlichter zwischen Recht und Unrecht, als Richter und Rächer auftretend. Und hier auch waren die feudalen Ritter manchmal zusammengekommen, um sich in friedlichen, wenn auch immer noch blutigen Kampfspielen zu messen, also in Turnieren, und um sich an anderen Belustigungen zu ergötzen. Also alles genau so wie bei uns im Mittelalter, wenn die Ritter und Grafen und die kleineren Fürsten am Hofe des Kaisers zusammenkamen.
Dann wahrscheinlich hatte dieses ganze Tal einmal vor einer großen Katastrophe gestanden, vielleicht war ein fremdes Volk erobernd eingedrungen, alle die Ritter hatten ihre Burgen verlassen und sich nach der kaiserlichen Hauptfestung begeben, um hier den letzten Verzweiflungskampf auszufechten. Dabei hatten sie alles, alles mitgenommen. Denn in diesen anderen Burgen, alle aus zyklopischen Mauern ausgeführt, hatte man bisher absolut nichts gefunden.
Das Wasser sank. Es war schon einmal gesunken, um jenen Tunneleingang freizulegen. Dann, nachdem ein bequemerer Eingang entstanden war, war es in diesem Bassin wieder gestiegen. Jetzt sank es zum zweiten Male, tiefer und tiefer, und nicht lange währte es, so berührte der Schiffskiel den Boden, einen weichen Grund.
Georg oder Kapitän Martin hatten nicht nötig, durch telefonische Bitte den Wasserabfluss anders zu regulieren, das Schiff sank in dem weichen Sande wie in Schlamm ein, durch geeignete Mittel konnte von vornherein auch das Gleichgewicht wieder hergestellt werden, es saß fest, das spätere Absteifen oder Abstützen mit Balken war nur noch eine Sicherheitsmaßregel.
Das Wasser war bis auf den letzten Tropfen verlaufen, nur feuchter, reiner, feiner, weißer Sand bedeckte den Boden, in dem die »Argos« wohlgebettet saß, so wie damals auf der Sandbank des brasilianischen Urwalds.
Eine kupferne Leiter führte zu jenem Tunnel hinauf, durch den die beiden damals in die außen befindlichen Treppengänge gekommen waren, von wo man auch oben die Galerie mit den kinematografischen Fenstern erreichen konnte, denen man jetzt freilich keine Beachtung geschenkt hatte, und das war ihnen ja auch nichts Neues mehr, man war doch schon wiederholt hier gewesen — und ferner befanden sich unten in den weißen, marmorähnlichen Quaderwänden acht große, viereckige Öffnungen, also Türen und Tore, genau im Achteck geordnet.
Durch diese konnte ja das Wasser der größten Menge nach abgeflossen sein, aber doch nicht bis zuletzt. Denn vor jeder Tür befand sich eine ziemlich hohe Steinschwelle, offenbar zu dem Zwecke angebracht, um in den Gang keinen Sand gelangen zu lassen. Wo das letzte Wasser geblieben war, das war ein Rätsel. Einfach im Sande versickert. Was aber nun doch nicht so einfach zu erklären ist.
Nun, darüber zerbrach man sich jetzt nicht den Kopf. Auch die Gänge wurden zunächst nicht untersucht. Erst handelte es sich um das Schiff, um seine Sicherheit und spätere Reparatur. Mindestens hatten da die Führer erst ihre Untersuchungen und Anordnungen zu erledigen.
Dann erst, nachdem dies geschehen war, alle Matrosen und Heizer ihre Arbeiten begannen, erstieg Georg mit noch anderen die kupferne Leiter, begab sich durch den oberen Tunnel in die Treppengänge, durch deren durchsichtige Außenwand man die ganze Umgebung übersehen konnte, wozu man freilich im Kreise oder vielmehr im Viereck herumgehen musste.
Die Amazonen waren gefolgt. Siebzehn Galeeren hatte man gezählt, jetzt waren hier elf zu erblicken. Wo die anderen geblieben waren, wusste man nicht. Diese elf Galeeren waren ganz verschieden verteilt. Einige fuhren langsam hin und her, jetzt rudernd, andere lagen still auf dem Wasser, wieder andere hatten an den verschiedensten Stellen der den See umgrenzenden Ufer angelegt, die Weiber ergingen sich an Land, lagerten, trafen offenbar Vorbereitungen zu einer Mahlzeit, hatten schon große Feuer angezündet, schienen auch zum Teil schon etwas zu rösten, dort wurde soeben ein erlegter Hirsch in Empfang genommen.
Also die Amazonen rüsteten sich zu einer regelrechten Belagerung dieser Wasserburg. Wenn sie selbst nicht hineinkonnten, so wollten sie den Feind doch auch nicht wieder herauslassen. Und die anderen sechs Galeeren würden auch schon ihre Instruktionen bekommen haben.
Noch sei bemerkt, um nichts zu vergessen, da wir doch mit den Köpfen dieser Männer denken müssen: da die ersten drei Galeeren allein zur Bedienung der Riemen 106 Weiber nötig gehabt hatten, wenn man nicht annehmen wollte, was wohl auch ausgeschlossen war, dass diese Ruder durch eine maschinelle Vorrichtung bewegt worden waren, so mussten die anderen 14 Galeeren nur ganz schwach besetzt sein. Denn es waren ja überhaupt nur 208 Amazonen vorhanden, vier davon gingen als Gefangene ab.
Und die anderen 14 Galeeren waren ja auch von vornherein nur durch jene geheimnisvolle Kraft getrieben worden.
Nach dieser Umschau begab sich Georg in das Bassin zurück, um nun die Gänge zu untersuchen. So einfach war das aber doch nicht, wie das hier ausgedrückt wird.
Es waren also acht Stück vorhanden, ein Zugang wie der andere aussehend. Sie alle sollten, wenn man Merlin recht verstanden hatte, in eine Burg führen, das heißt jeder in eine andere.
Sollte man nun alle acht Burgen besetzen? War das auch wirklich angebracht?
Kurzum es fand erst eine Beratung statt, an der sich aber Kapitän Martin schon nicht mehr beteiligte, weil der jetzt nur noch für die Sicherheit des ihm anvertrauten Schiffes zu haben war, und bei dieser Beratung führte überhaupt fast nur Georg das Wort, machte seine Vorschläge, deren Richtigkeit auch allen sofort einleuchtete.
Nein, man wollte nur eine einzige Burg besetzen. Einfach schon aus dem Grunde, weil man seine Kräfte nicht zersplittern, sich überhaupt nicht trennen wollte.
Es konnten dann ja die Ausgänge mit Wachtposten besetzt werden, aber nicht etwa, dass man die ganze Mannschaft in acht oder noch mehr Parteien spaltete, um in jede Burg eine Garnison zu legen. Das war von vornherein ausgeschlossen. Welche Burg sollte man nun wählen? Oder vielmehr welchen Gang zuerst untersuchen? Weder Merlin noch seine Tochter ließen sich wieder anrufen, da brauchte man sich gar nicht erst Mühe zu geben, das wusste man schon — wer die Wahl hat, hat die Qual, und da ist das erste immer das beste.
Man drang in irgend einen Gang mit genügender Waffenmacht sein, fand man eine Burg, so wurde sie besetzt, und fand man später eine andere, die bessere Eigenschaften zeigte, so konnte noch immer umgezogen werden — aber jedenfalls wollte man sich nicht trennen und nicht den Sperling aus der Hand lassen, um nach der Taube auf dem Dache zu greifen.
»Wähle Dir die hierzu geeignetsten Leute aus, Georg«, sagte die Patronin.
Ja, wenn Georg das nur gekonnt hätte! Das konnte er aber nicht als KargoKapitän und noch viel weniger als Waffenmeister, und wäre er auch eine königliche Hoheit gewesen, oder ein deutscher Kapitän wie Kapitän Martin hätte sofort sein Kommando niedergelegt.
Die Patronin, die einst die »Fensterchen« mit Gardinen hatte schmücken wollen, schien sich nie in die eigentliche Seele des ganzen Schiffswesens hineinleben zu können.
»Wie viele Leute können Sie bei Ihrer Arbeit entbehren, Herr Kapitän?«
»Die Hälfte. Genügt Ihnen das? Well, dann suchen Sie sich nur aus. Von den Heizern muss ich nur alle Schlosser behalten. Und von den beiden Bootsleuten ist mir der erste lieber.«
August der Starke hatte in der Nähe gestanden, hatte das gehört, was doch nichts anderes als ein Tadel, eine Minderachtung war. Und er durfte mit keiner Wimper zucken, ja er musste diesen gehörten Tadel auch sofort in seinem Gedächtnis und auch in seiner Seele auszulöschen verstehen, oder er hätte sich nicht zum Seemann geeignet, am wenigsten zum Bootsmann — so wenig wie zum Offizier irgend einer Truppengattung.
»Nehmen Sie die Jungen mit? Über die habe ich nicht zu bestimmen, die sind nicht registriert.«
»Nein. Es könnte gleich ins Gefecht gehen, und wenn auch jeder dieser Jungen schon einen ganzen Mann stellt... nein, ich möchte es vermeiden, wenn es nur irgendwie möglich ist.«
»Well, dann trete ich Ihnen zwei Drittel der Mannschaft ab.«
So waren es 32 Mann, welche der Waffenmeister aussuchte, und die Nichtgewählten durften wiederum nichts von einer Kränkung wissen — nichts davon wissen, nicht nur sich nichts davon merken lassen — und als der Ruf »Fritz der Mondgucker« erklang, da leuchteten die Augen des Jünglings, der für fähig gehalten wurde, mit den Kriegspfad zu betreten, während mancher starke Mann zurückbleiben musste, um Balken auszurichten und Sand zu schaufeln.
Dazu kamen natürlich noch Juba Riata und Mister Tabak, die überhaupt gar nicht gewählt werden konnten und sich auch nicht erst nötigen ließen.
»Nein, Helene, bitte, bleibe zurück!«, sagte der Waffenmeister, und es genügte.
Klothilde war so gescheit, dass sie sich überhaupt gar nicht erst bemerkbar machte. Gewappnet waren sie alle schon. Man kam ja überhaupt aus den Schuppenrüstungen gar nicht mehr heraus, die auch wirklich nicht unbequemer und nicht schwerer waren als eine normale Winterbekleidung, für die man 6 bis 7 Kilo rechnet. Was man nämlich für besondere Verhältnisse ganz genau wissen muss. Man denke nur an Truppen- oder überhaupt große Menschentransporte.
Am Gürtel für alle Fälle ein geladener Revolver, ohne weitere Munition, und auf die Mitnahme von Gewehren wurde von vornherein verzichtet. Dagegen war jeder mit einem Bogen und zwei Dutzend Pfeilen bewaffnet. Obgleich sie fast alle damit gar nichts anfangen konnten, wenigstens nicht im Kampfe mit den gepanzerten Amazonen.
Denn an Bord der »Argos« gab es immer nur noch drei Menschen, welche mit solch einem Pfeil einen Schuppenpanzer durchschlagen konnten: Georg Stevenbrock, Juba Riata, und Kretschmar, der Damenkonfektionär.
Wohl konnten jetzt die stärksten nach einiger Übung die Sehne des metallenen Bogens mit zwei Fingern zurückziehen, der riesenhafte Häckel und August der Starke brachten es mit Leichtigkeit fertig, noch andere bärenstarke Kerls wie Albert der Sänger und der lange Heinrich, diese sandten den Pfeil genau so weit und so hoch wie jene drei, mussten ihn also bei Anwendung desselben Bogens und Pfeils doch mit der ganz gleichen Kraft abschnellen — und doch war es ihnen nicht möglich, solch einen Schuppenpanzer zu durchschlagen. Es war hierbei etwas wie Zauberei, an die man sich nur als an eine Tatsache gewöhnen musste, um sie nicht mehr als etwas Wunderbares zu empfinden. So wie es uns ganz selbstverständlich ist, dass wir mit der Erde durch das Weltall sausen, ohne davon etwas zu merken. Es lag hier auch tatsächlich etwas vor, was der Physiker noch nicht als Gesetz in mathematische Formeln zu zwängen vermag. So wie ja überhaupt die ganze Ballistik nicht. Es gibt noch keine Berechnung der Flugbahn eines Geschosses, das ist ein falscher Ausdruck, es ist immer nur eine Erfahrungsformel nach längerem Ausprobieren.
Hierüber ist schon einmal gesprochen worden, es soll nicht wieder davon angefangen werden.
Worum es sich aber hierbei eigentlich handelte, das kam auch in einer anderen, ähnlichen Sache noch zum Ausdruck.
Diese Schuppenpanzer, die von keiner Stahlspitzkugel eines modernen Infanteriegewehrs durchbohrt wurden, konnten auch in Stücke zerhackt werden, mit schweren Säbeln. Ein guter Hieb gehörte allerdings dazu. Wiederum brachten das nur wenige fertig, und dann wurde der Entersäbel, der hier allgemein eingeführt war, sehr leicht schartig, ganze Stücke brachen heraus, und wurde der Stahl zu weich angelassen, dann schlug er eben nicht durch.
Da eigneten sich die vorgefundenen Bronzeschwerter hierzu viel besser. Das war eben etwas ganz anderes als Stahl. Diese Klingen schlugen durch, ohne schartig zu werden, höchstens verbog sich die Schneide etwas und konnte sofort wieder scharf gehämmert werden, so wie man eine Sense dengelt.
Aber in diesem Falle gab es nur zwei an Bord, welche mit einem Bronzeschwert dasselbe ausführen konnten wie mit einem Entersäbel, solch einen Schuppenpanzer durchschlagen: wiederum der Waffenmeister der Argonauten, und außerdem noch Major von Tonn.
Obgleich Tönnchen, so kräftig er auch sein mochte, doch nicht etwa der Stärksten einer war. Da gab es doch Kerls dabei, denen er gar nicht das Wasser reichte. Aber er war nach Georg der beste Fechter, hatte die meiste Übung, hatte den besten Hieb, den besten »Zug«! Und das war es, der »Zug«, den man in den Hieb legte, worauf es hierbei einzig und allein ankam.
Man denke nur an jene Apparate auf dem Jahrmarkte, Kraftmesser oder ähnlich genannt, man schlägt mit einem großen, schweren Holzhammer unten auf einen beweglichen Stift, dadurch fährt an zwei senkrecht stehenden Schienen ein Gewicht empor, und wenn es die höchste Höhe erreicht, oben anschlägt, dann knallt es.
Es ist nicht so nutzlos, bei so etwas daneben zu stehen und zuzusehen. Da kann man Beobachtungen machen, kann studieren. Wie mancher starkgebaute Mann, der auch ein entsprechender Arbeiter sein kann, gelernter Schmied, professioneller Zuschläger, sich vergebens abmüht, er bringt das Gewicht nicht hinauf, und ein anderer, ein schmächtiges Kerlchen, treibt das Gewicht mit jedem Schlage bis oben hinauf, dass es nur immer so knallt. Hier liegt genau dasselbe vor. Das liegt im »Zuge«. Wofür aber noch keine physikalische Formel erfunden ist. Den letzten Grund, worauf es dabei ankommt, kennen wir noch nicht. Es ist nur so eine Ahnung, die wir davon haben. Übrigens haben wir dasselbe schon beim einfachen Werfen. Es gibt Jungens, Kinder, die einen Stein dreimal so weit werfen, als es der stärkste und gelenkigste Mann vermag, er kann sich üben wie er will. Das Letzte, was dazu gehört, geht ihm ab. Es ist einzig und allein ein kleiner »Zug«.
Und so war es auch hier mit dem Bogenschießen. Sie alle wussten recht wohl, worauf es ankam, um dem Pfeil die nötige Durchschlagskraft zu geben. Im Moment des Absendens der Sehne noch eine kleine Idee zurückziehen das war das ganze Geheimnis! Aber das brachte eben niemand heraus. Nur jene drei konnten es. Vielleicht lernten es auch die anderen noch — vielleicht auch nicht. Alle die Indianer hätten es wohl fertig gebracht, denen war der Bogen eben eine vertraute Waffe, aber solch einen Schuppenpanzer durchbohren konnte keiner, denn kein einziger vermochte solch einen Metallbogen, der hierzu nötig war, zu spannen. Das brachten nur die allerstärksten der Argonauten fertig.
Und — um wieder auf die Hiebwaffen zurückzukommen — es nützte nichts, dass man denen, welche die Schuppenpanzer mit ihren Entersäbeln durchschlagen konnten, nicht aber mit einem Bronzeschwert, dieses letztere umschmiedete, ihm ganz die Gestalt eines Entersäbels gab. Dann war dieses zu leicht, es fehlte der »Zug«. Wurde es genau so schwer gemacht wie ein Entersäbel, dann war es wieder etwas zu groß, die Hand war nicht daran gewöhnt, es fehlte dem Hiebe der »Zug«.
So hatte jeder am Gürtel seinen Entersäbel hängen, auf den er geeicht war, und außerdem noch an der rechten Seite einen gelben Stock, von ungefähr einem halben Meter Länge, drei Zentimeter dick, obgleich das verschieden war.
Ein Uneingeweihter hätte sich den Zweck dieses Stockes nicht so leicht erklären können. Vielleicht eher, wenn er schwarz gewesen wäre, oder wenn der Betreffende ihn in die Hand genommen hätte. Es war der Ersatz für einen Gummiknüppel. Aus jenem gelben Bernsteinkautschuk, wie man das Zeug genannt hatte, hergestellt. Diese Masse konnte nämlich, wie man bald herausgefunden hatte, in heißem Wasser in jede beliebige Form gepresst werden. Besaß die besten Eigenschaften des besten Gummiknüppels.
Den Bogen und die Pfeile nahmen alle ganz zwecklos mit. Höchstens insofern nicht, als sie sich eben damit bei Gelegenheit üben konnten, und vielleicht fand der eine oder der andere zu seinem Staunen, dass er so einen Schuppenpanzer plötzlich durchbohren konnte, er hatte plötzlich das Rezept dazu entdeckt. Mit dem Entersäbel konnte ein halbes Dutzend solch einen Schuppenpanzer durchschlagen, einem anderen ganzen Dutzend gelang es manchmal. Aber dieser Bernsteinkautschukknüppel war in der Hand eines jeden eine furchtbare Waffe! Der zermalmte alles. Allerdings nun gerade nicht den Schuppenpanzer, der blieb gänzlich unverletzt, wohl aber verwandelte sich das darunter liegende Fleisch, das Muskelgewebe in einen unzusammenhängenden Brei, und ebenso wurde der Knochen zermalmt.
»Hoffentlich haben die Amazonen diese Erfindung mit den Gummiknüppeln noch nicht gemacht.«
Das hatte Stevenbrock früher einmal gesagt, jetzt tat er es nicht.
Jetzt sagte er etwas anderes.
Wollte es tun, er holte, nachdem er seine Leute gemustert hatte, zu einer Anrede aus, und man merkte ihm deutlich an, wie schwer sie ihm wurde.
Wie er mit sich rang. Bis er endlich dazu fähig war.
Aber die Stimme klang noch gepresst genug. Oder so, als wäre er vorher ganz außer Atem gewesen.
»Leute! Jungens! Kameraden! Es sind nicht etwa Weiber, gegen die wir jetzt losgehen. Keine menschlichen Frauen. Wir würden uns niemals an Frauen und Mädchen vergreifen. Es sind schuppengepanzerte Bestien. Die wollen wir unschädlich machen. Was nur durch ihre Vernichtung möglich ist. Denkt an unsern Albrecht und an den armen Jungen. Marsch!«
Und Georg schritt einem der Ausgänge zu, wohl ohne besonders gewählt zu haben, aber doch einen benutzend, der voraussichtlich nach dem nahen Südufer führte. Der ganze Zug ihm nach. Voraus einige gute Spürhunde, die man aber nicht den Pfeilen der Amazonen auszusetzen gedachte. An Georgs Seite gesellte sich bald Mister Tabak, ganz possierlich aussehend, in der trikotartigen Schuppenrüstung, die seine krummen Dachsbeine zur schönsten Geltung brachte, ohne dass sie besonders für solch eine Gestalt geschneidert zu sein brauchte, sie schmiegte sich eben jeder Form an, wenn man nur irgendwie ein passendes Kostüm gefunden hatte.
Wie der Kerl nun über die große Zehe latschte! Den Klapphelm weit im Nacken, weil er sonst die qualmende Pfeife nicht hätte im Maule halten können. Denn diese Art Helme hatten keine anderen Öffnungen als ganz kleine für die Augen, dafür waren sie unten etwas weiter, sodass man von unten Luft bekam.
Der Eskimo hatte sowohl auf den Entersäbel wie auf Bogen und Pfeile verzichtet, sich nur auf den Gummiknüppel beschränkt. Dafür aber hatte er sich noch mit einem großen Regenschirm bewaffnet, den er unter dem linken Arm geklemmt trug.
Das heißt, es war kein Regenschirm. Es waren ein halbes Dutzend Wurfspeere, kurze Harpunen, oben durch eine Art Futteral zusammengehalten, das sich nach hinten spreizte, wodurch ganz die Form eines großen Regenschirmes herauskam.
Also wie dieser säbelbeinige Ritter in silberschillernder Rüstung nun so über die große Zehe latschte, mit dem Regenschirm unterm Arm, es sah grade aus wie — wie...
»Entschuldigen Sie gütigst, Herr von Kabatabak«, fing hinter ihm Oskar an, »wenn ich mir eine Bemerkung erlaube — aber ich fühle mich plötzlich nach meiner Heimat zurückversetzt, das übermannt mich bis zu Tränen — Sie sehen nämlich gerade aus wie eine alte Hökerfrau, die ausnahmsweise gepanzert zu Markte geht, mit ihrem großen Hökenschirm...«
Der Eskimo achtete nicht darauf, ein Segelmacher existierte nicht für ihn.
»Sagen Sie mal, mein lieber Waffenmeister«, fing er jetzt an, »da fällt mir gerade was ein. Alle diese Leute waren doch eigentlich mit den Frauen, die sie jetzt mit Gummiknüppeln tothauen wollen, so gut wie verheiratet...«
»Bitte, Mister Kabat, sprechen Sie nicht hierüber.«
»Weshalb nicht?«
»Weil — weil — ich bitte Sie, fangen Sie nicht davon an, ich mag gar nicht daran denken.«
»Nun ja, ich verstehe Sie. Es ist Ihnen unangenehm. Weil Sie zartfühlend sind. Genau so wie ich. Das ist bei mir eine angeborene Schwäche. Wir müssen aber nur den Fall richtig klar legen. Sehen Sie, lieber Waffenmeister, das ist nun einmal das menschliche Leben, das ist der menschliche Charakter, und deshalb gehört das auch mit zur richtigen, gediegenen Ehe. So lange man mit seiner Frau noch nicht richtig verheiratet ist, liebt man se, und sofort nach der Hochzeit drischt man se...«
»Ich bitte Sie über alles — hören Sie auf davon!«, sagte Georg in fast flehendem Tone. Er blieb auch stehen, als wolle er diesen aufdringlichen Gesellschafter vorauslassen, aber es hatte doch noch einen anderen Zweck, er wandte sich um, der ganze Zug hielt.
»Leute! Noch eine andere Instruktion! Die Amazonen, die ich vorhin gesehen habe, trugen zum größten Teile schon Helme, andere als unsere Kappen, mit herablassbaren Visieren, und sobald sie merken, dass wir gegen sie vorgehen, werden sie davon keine Ausnahme machen. Und nun wollte ich noch eines sagen. Es fällt mir sehr schwer, weil — weil... never mind! Also den Getöteten wird niemals der Helm abgenommen, auch nicht das Visier gelüftet! Mit geschlossenem Visier werden sie später begraben oder ihre Leichen sonst wie beseitigt. Niemand soll ein Gesicht sehen! Verstanden, Jungens?«
»Ay ay, Waffenmeister!«, erklang es einstimmig.
Ob sie den Grund für dieses merkwürdige Gebot und Verbot verstanden?
Sicher! Jeder unter ihnen.
Es hatte schon in dem seemännischen »ay ay« gelegen, was noch etwas anderes als ein »Ja« bedeutet. Es ist das Verständnis für den gegebenen Befehl, das ausgedrückt wird.
Im Übrigen durfte man den vorliegenden Fall gar nicht so schlimm nehmen.
Ohne an irgend eine Gefühlsrohheit dieser Männer glauben zu wollen. Soldatenlos! Heute ist man mit dem, der eine andere Uniform und Kokarde trägt, der beste Kamerad. Morgen vielleicht schon sucht man ihn zu töten.
Nun ganz anders aber noch im Seemannsleben, nämlich wenn Marine und Kolonien in Betracht kommen.
Man bedenke doch nur: Die Kriegsschiffsmatrosen werden in einem kleinen Hafen oder in einem Dorfe von den Eingeborenen aufs Beste aufgenommen, und da spielt doch die Liebe eine große Rolle, und das sind doch noch ganz andere Verhältnisse, als wenn bei uns zu Lande im Manöver die Soldaten in einem Dörfchen einquartiert werden. Da kommen auch heilige Sitten der Gastfreundschaft und überhaupt der Religion in Betracht. Der Gast gehört vollständig mit zur Familie, hat manchmal mehr Rechte als der Hausherr und Familienvater. Vergnügungsreisende, die mit gespicktem Geldbeutel unter der Flagge von Cook und Sohn segeln, den roten Baedeker in der Hand, bekommen ja freilich nicht viel von so etwas zu merken. Aber Seeleute! Matrosen! Auch Handwerksburschen! Das sind diejenigen, die erzählen können!
Und nun, wenn alles eine Familie bildet, alles in dulci jubilo schwelgt, da passiert etwas. Ein Mord, oder anfangs nur ein kleiner Diebstahl, eine Verweigerung der Herausgabe des Übeltäters, eine Achtungsverletzung der Kriegsflagge, ein Aufstand... und es ist fertig.
Jetzt muss das Kommando kommen. Mit bewaffneter Hand muss vorgegangen werden. Das meuterische Dorf muss dem Erdboden gleich gemacht werden. Muss. Und wenn dem, der das Kommando dazu gibt, auch das Herz dabei blutet. Die in die Enge getriebenen Neger wehren sich, auch die Weiber kämpften wenigstens noch mit Nägeln und Zähnen, und das Maschinengewehr knattert und das aufgepflanzte Bajonett sticht...
Ach Du lieber Gott! —
»Weiter. Marsch!«
Der Eskimo wartete, bis Georg wieder an seiner Seite war.
»Ja aber, mein lieber Waffenmeister, da ist doch noch etwas anderes...«
»Nun haltet endlich Eure dreifach verdammte Schnauze, diese Angelegenheit ist doch nun erledigt!«, wurde der Sprecher von diesem so rücksichtsvollen und feinfühligen Waffenmeister unterbrochen.
Und der Eskimo, der auch schon einen Beweis von seiner zarten Feinfühligkeit gegeben, nahm diese »Zurechtweisung« auch durchaus nicht übel, nicht von diesem Waffenmeister.
Das musste einmal so wiedergegeben werden, wie es im Leben, im Seemannsleben wirklich zugeht, so erst bekommt man ein richtiges Bild.
»Nee, nee, mein lieber Waffenmeister — das ist erledigt, das weiß ich — ich meine etwas ganz anderes. Die Begum hatte doch gesagt, wie Sie erzählt haben, die Amazonen dürften nicht hier herein, sonst fielen sie sofort tot um. Nicht?«
»So sagte die Begum, und sie will es an einigen Beispielen mit eigenen Augen gesehen haben.«
»Na sehen Sie. Nun haben wir aber doch vier Amazonen mit hereingebracht und keine ist tot zusammengesackt. Ich habe nämlich bei meiner Germania sogar ganz genau deswegen aufgepasst. Ich stand extra deswegen neben ihr, als wir in den Felsen fuhren. Weil ich eben zum wissenschaftlichen Forscher veranlagt bin. Das wissen Sie doch auch. Wie ich zum Beispiel damals im Kintopp an die Glasscheibe erst spuckte und dann hineinschoss. Und hier bei dieser Kintopperei wollte ich doch auch gleich die Fenster einschmeißen. Woran Sie mich hinderten, weil Sie sich eben nicht so zum wissenschaftlichen Forscher eignen, woraus Ihnen ja nicht etwa ein Vorwurf zu machen ist. Das hat man von Geburt bekommen, und dafür kann man nichts. Ja, da stand ich extra neben meiner Germania, in der linken Hand die Kette von ihrem Nasenring und in der rechten Hand den Gummiknüppel. ›Luder‹, sagte ich mir, ›wenn Du tot zusammensackst, dann will ich Dich wenigstens, noch vorher tothaun.‹ Dazu hatte ich ein Recht, denn die Germania gehört mir, ich habe sie besiegt, und wenn irgend jemand sie tot zusammensacken lassen kann, dann bin ich derjenige, und dieses Recht lasse ich mir nicht nehmen. Nun aber ist sie nicht zusammengesackt. Auch keine von den drei anderen. Alle viere sind auch hier drin noch lebendig wie die unsterblichen Bandwürmer. Wie lösen Sie nun dieses Rätsel, Waffenmeister?«
»Nun, da unsere Gefangenen doch ganz unfreiwillig hier hereingekommen sind, so wird jenes Verbot wohl keine Geltung haben, sie bleiben vom Tode verschont.«
»Richtig, ganz richtig. So habe ich mir die Sache auch gleich erklärt. Wie wäre aber da das, mein lieber Waffenmeister, da hätte ich einen genialen Vorschlag zu machen. Wir laden alle Amazonen ein, uns hier zu besuchen. Zu einer Tasse Kaffee. Wenn wir es erlauben, dann dürfen sie also doch herein kommen, bleiben vollständig lebendig. Mit einem Male nun heben wir diese Erlaubnis auf. ›Innerhalb einer einzigen Sekunde müsst Ihr Kanaillen alle wieder draußen sein.‹ Das ist nicht möglich. Innerhalb einer einzigen Sekunde kann niemand wieder draußen sein. Das ist uns aber ganz egal. Jedenfalls halten sie sich ohne unsere Erlaubnis in dem Felsen auf — bums, fallen alle die 200 Weiber tot um.«
»Das, mein lieber Mister Kabat«, meinte Georg, »wäre aber eigentlich doch nicht eine ganz ehrenwerte Handlungsweise, nicht einmal eine erlaubte Kriegslist. Da könnten wir die Amazonen doch auch als Gäste einladen und, falls sie wirklich kommen sollten, ihnen einfach ein bisschen Zyankali in den Kaffee tun, sie wie die Ratten vergiften.«
»Hm, ja, da haben Sie eigentlich recht. Also bleiben wir nur lieber dabei — gehen wir hinauf und schlagen sie hübsch nacheinander tot. — Haben Sie nicht ein Taschentuch bei sich, Herr Waffenmeister? Ich möchte mir gern einmal die Nase putzen und habe in meiner Panzerhose gar keine Tasche.«
Der Waffenmeister konnte ihm nicht aushelfen, der war ja in der ganz gleichen Lage, aber Oskar bot ihm seine Igelfellmütze an, die er noch unter dem Helm trug, jedoch nur unter der Bedingung, dass er zu der Nasenputzerei nur die äußere Seite benutze, und hiermit war diese Unterhaltung auf dem Kriegspfade beendet.
Der Gang, immer von jenem rätselhaften Lichte erfüllt, hörte plötzlich auf. Aber nur in der horizontalen Richtung. Durch eine Treppe setzte er sich schräg nach unten fort, immer noch erleuchtet.
Man stieg die Steinstufen hinab. Auch sie zeigten keine Spur von Feuchtigkeit. Also konnte das abfließende Wasser des Bassins nicht diesen Weg benutzt haben, es musste auf irgend eine andere Weise so vollkommen ausgepumpt worden sein. Übrigens war es ja gar nicht erklärlich, wo es dann hätte hinfließen sollen.
Denn man war mindestens 20 Meter tief hinabgestiegen, ehe sich der Gang wieder horizontal fortsetzte, so befand man sich jetzt also zweifellos schon unter dem Boden des Sees.
Fast eine Viertelstunde musste man marschieren, wobei der erleuchtete Gang immer sanft aufstieg, sodass man wohl wieder die ursprüngliche Höhe erreichte, als abermals eine Sperrwand auftauchte. Vorher aber zog sich quer über den Gang noch seine niedrigere Barriere, dahinter ging es tief hinab, man sah einen Wasserspiegel glänzen.
Zweifellos ein Brunnen, der zu der betreffenden Burg gehörte. Wenn man auch in all den Burgen, die man bisher untersucht, noch keinen einzigen Brunnen oder eine andere Wasserquelle gefunden hatte, worüber man sich schon gewundert. Dass es ein künstlich angelegter Brunnenschacht war, der in eine menschliche Behausung führte und auch einst als Weg benutzt worden war, das ergab sich schon daraus, dass in dem Schacht in regelmäßigen Zwischenräumen Kupferstäbe eingelassen waren, zum bequemen Besteigen, also einfach eine Leiter.
Bequem zu ersteigen für körpergewandte Menschen. Von den Hunden konnte man das nicht verlangen. Obgleich diese Schiffshunde auch die Wanten aufentern konnten. Aber diese nur wenig von der Wand abstehenden Sprossen zu erklimmen, das war von ihnen nicht zu verlangen, oder sie hätten hierzu erst abgerichtet werden müssen.
So blieben diese Hunde, die überhaupt nur als Depeschenboten mitgenommen worden waren, hier zurück, bis auf einen kleinen, schmächtigen Terrier, dessen Transport Juba Riata übernahm, und der Aufstieg begann, Georg an der Spitze.
Auch dieser Brunnenschacht war von dem rätselhaften Lichte erfüllt. Hoch, hoch ging es hinauf. Ab und zu war ein Absatz vorhanden, auf dem man sich hätte ausruhen können, aber die emporklimmende Menschenschlange hielt sich nicht auf.
Da war der Schacht zu Ende, durch eine Steinplatte geschlossen. Aber es waren auch gleich Vorsprünge vorhanden, um seine Füße einzustemmen, für einen normalen Mann gerade in der richtigen Höhe, um in gebückter Stellung seine ganze Körperkraft entwickeln zu können. Georg brauchte seinen Rücken nicht besonders anzustrengen, so gab die Steinplatte nach. Oder vielmehr der Felsen über ihm. Erst jetzt erkannte man ja, dass es eine Platte war.
Sie ließ sich weiter zurückschieben, wenn auch nicht so einfach; sie stieß oben auf verschiedene Widerstände, dann aber war die Öffnung frei.
Erst wurde dem Führer von Juba Riata der Hund gereicht, Georg setzte ihn oben ins Freie.
Der Foxterrier hatte eine gute Nase und ein feines Gehör, war scharf und gut abgerichtet. Wenn er irgend etwas Verdächtiges merkte, nur die Anwesenheit eines fremden Menschen, ohne ihn zu sehen, würde er nur ein leises Knurren hören lassen, nicht anschlagen, und er würde zurückkommen, um eine Gefahr seinem Gebieter ausdrucksvoll zu melden.
Er stöberte etwas herum, meldete nichts — Georg schwang sich empor, nachdem er schon vorher einige Umschau gehalten hatte.
Es war ein von Mauern eingeschlossener Hof, der Boden mit Moos und Gras bewachsen, auch die den Brunnen verschließende Platte war es gewesen. Wenn das überall so war in den Burgen, dann freilich hatte man auch niemals einen Brunnen finden können.
Die ganze Rotte war ans Tageslicht gestiegen. Einige Matrosen erkannten sofort, dass sie schon einmal hier oben gewesen waren, auf einem Jagdausflug hatten sie diese Burg ganz zufällig gefunden. Sie waren einer angeschossenen Felsenziege nachgestiegen, auf einem verschlungenen Pfade, dem aber nichts anzumerken war, dass er sicherlich einst künstlich angelegt worden war, bis sie sich plötzlich in dieser Burg befunden hatten.
Es muss dies erwähnt werden, weil man wohl hier oben sofort ganz deutlich sah, dass das eine aus Quadersteinen aufgeführte Burg war, aber von unten war davon nichts zu bemerken, von keiner Seite aus, da sah man immer nur einen felsigen, zum Teil bewaldeten Hügel.
»Hier war der Eingang, und einen anderen gab es nicht!«
Diese Leute konnten gleich führen. Es war eine mäßig große Burg, deren Räume diesen Hof umgaben. Nur leere, nackte Kammern. Dann ein Tor, mit Angeln versehen, aber die Tür fehlte, und von hier aus ging es ohne weitere Sicherheitsmaßregeln, ohne Graben und Zugbrücke direkt ins Freie, jenen waldigen Pfad hinab.
Durch die mit Absicht ganz unregelmäßig angebrachten Fenster konnte man Umschau nach allen Seiten halten. Man blickte in das weitere Tal hinab, und dort lag der See, jener Nebensee, in dem sich im Wasser der große Felsen mit dem Schloss der Entsagung erhob — und dort unten fuhren die Galeeren herum oder lagen am Ufer.
Georg machte es kurz, hielt nicht erst einen Kriegsrat ab, um auch anderer Meinung zu hören.
»Wir greifen sofort an.«
Es war auch die Meinung aller, niemand hätte Widerspruch erhoben. »Du und Du und Du — Ihr kommt mit — Du bleibst hier — Du kommst mit...«
Und so weiter. Zehn Mann sollten als Besatzung der Burg zurückbleiben, darunter der zweite Bootsmann als Kommandant, und für diesen Zweck hielt Georg den ehemaligen Bäckergesellen nun viel geeigneter als den ersten Bootsmann. Der mochte besser ein Schiff im Trockendock mit Balken abzusteifen verstehen, aber als Festungskommandant war August der Starke ganz entschieden vorzuziehen, der brauchte seine schuppengepanzerten drei Zentner Nettogewicht nur in das ungeschützte Tor zu klemmen, dann kam niemand mehr durch, und auch sonst konnte man sicher sein, dass der ehemalige Brezelkünstler den ihm anvertrauten Platz zu verteidigen wusste.
22 Leute kamen mit, von ihrem Waffenmeister angeführt, dazu noch Juba Riata und Mister Kabat.
»Wenn's genau 200 Weibsbilder sind, dann kommen auf jeden von uns ganz genau achte!«, sagte dieser letztere.
Der Eskimo war der einzige, der auf dieses Missverhältnis aufmerksam machte, und er tat es auch nur, sich dabei schnell noch eine frische Pfeife stopfend, um seine Kenntnisse in der Mathematik zu beweisen.
Und das wussten auch alle anderen.
»Vorwärts!«
Die Kriegsmannschaft rückte ab, in die Schlacht, Georg an der Spitze. Zuerst also den steilen Pfad hinab. »Lassen Sie mich vorausgehen — als Kundschafter!«, bat Juba Riata nach kurzer Zeit.
Willig trat ihm Georg den ersten Platz ab. Der Hund war zurückgeblieben, und der ehemalige Cowboy und Pfadfinder hatte doch andere Augen für Spuren.
Der Pfad lief so, dass man den See nicht erblicken, man selbst also auch nicht von dort gesehen werden konnte.
Dann hatte man ebenen Boden erreicht, bewegte sich durch den Wald, in Schlangenlinie zwischen den Bäumen hin, immer auf den See zuhaltend.
Da hob Juba Riata den Arm, und alles stand.
»Deckung!«
Jeder verschwand hinter dem nächsten Baume oder warf sich zu Boden.
Nur noch wenige Baumreihen trennten sie von einer Waldblöße und über diese schritten jetzt vier schuppengepanzerte Amazonen, auf dem Haupte den Helm mit phantastischem Schmuck, aber das Visier hochgeschlagen.
»Sie sind des Todes, keine Schonung, denkt an unsere gemordeten Kameraden!«, flüsterte Georg und hatte als erster einen Pfeil auf seinen Bogen gelegt.
Er zog die Sehne zurück — da aber begann seine ebenfalls schuppengepanzerte Hand zu zittern, wie kraftlos ließ er den Bogen sinken.
»Ich kann nicht — ich kann nicht!«, erklang es leise stöhnend. Und auch Juba Riata und Kretschmar zögerten noch, den aufgelegten Pfeil abzusenden, obgleich wohl aus einem ganz anderen Grunde, denn ihre Arme zitterten nicht, und hinter den Helmlöchern funkelten ihre Augen in ganz besonderer Weise.
Nein, die dachten an keine Schonung. Es war hier nur einmal so ein Fall eingetreten, der in solchen Situationen leicht sehr verhängnisvoll werden kann: einer wartete auf den anderen, dass er zuerst schösse, um nicht dasselbe Ziel zweimal zu treffen. So etwas mag bei jedem Schützengefecht zahllose Male vorkommen, bis sich die Leute aneinander gewöhnt haben.
Der Eskimo war es, der dieser bangen Situation ein Ende machte. Einen Speer aus dem Futteral hervorgezogen, den Arm zurückgeneigt, und die Harpune entsauste seiner Faust.
Und auch gegen den Lanzenwurf dieses grönländischen Harpuniers half solch ein Schuppenpanzer nichts. Sie alle wussten es, der Eskimo hatte es schon wiederholt an aufgestellten Panzern bewiesen. Wir aber haben davon noch nichts gesagt.
Das war kein Werfen mehr, das konnte man schon eher ein Schießen nennen. Jedenfalls erwies sich solch eine Lanze, von dieser Faust geschleudert, genau so furchtbar wie ein Pfeil, vom stärksten und geschicktesten Bogenschützen abgeschnellt.
Der Speer traf die eine Amazone in die linke Brustseite, tief drang die stählerne Spitze zwischen die Rippen, der Schuppenpanzer hatte nicht schützen können. Mit einem gellenden Schrei warf das Weib die Arme hoch und stürzte in die Knie, schlug zu Boden.
Im nächsten Augenblick zischten zwei Pfeile durch die Luft, wieder waren zwei Brustharnische durchschlagen, wieder sanken zwei Amazonen ins Gras, die eine noch gellend schreiend!
»Die vierte gehört mir!«, schrie Georg, seinen Bogen lassend und mit geschwungenem Entersäbel über die Waldblöße stürmend.
Diese vierte Amazone wusste wohl gar nicht, was sie erblickte, — dann wandte sie sich zur Flucht.
»Steh, Weib, und ziehe Dein Schwert!«
Und die Fliehende stand wirklich, wandte sich, ein verzweifeltes Gesicht, von selbst klappte das Visier des phantastischen Helms herab, sie zog das gewaltige Bronzeschwert, und sie erwartete nicht den Kommenden, stürmte selbst gegen ihn an.
Furchtbar prallten die beiden zusammen, furchtbar die Klingen gegeneinander, und diese gehärtete Bronze gab Funken, dass Feuer stob.
Aber nur kurz war der Zweikampf. Da sauste Georgs gewaltiger Entersäbel zwischen Hals und Schulterblatt, tief durchschnitt er die Schuppenrüstung, hoch auf spritzte das Blut, mit einem Weheschrei ließ die Amazone ihr goldglänzendes Schwert fallen, brach zusammen.
»Nach dem See, nach dem See!«
Sie stürmten durch den Wald. Da blinkte vor ihnen zwischen den Bäumen der Spiegel des Sees.
Da glitzerten vor ihnen die goldschimmernden Galeeren, und noch näher vor ihnen, noch an Land, die ebenso gleißenden Rüstungen der Amazonen.
Merkwürdig, hatten diese denn gar nicht das Kampfesgetöse und das gellende Schreien gehört?
Es waren gegen 50 Amazonen, die am Ufer um mehrere Feuer lagerten und sich der Ruhe hingaben, und noch ein Dutzend mochten an Deck der befestigten Galeere beschäftigt sein.
Sollten diese nichts gehört haben, dass sie gar nicht die Köpfe nach der Richtung wandten, von wo die Feinde durch den Wald gestürmt kamen?
Es war begreiflich. Die Strecke, welche die Anstürmenden durchmessen hatten, war eine weit größere, als sie in ihrer Erregung und Kampfesgier taxiert hatten.
Jetzt, als sie die letzten Baumreihen erreicht hatten, aber noch immer gegen 100 Schritte von den Amazonen entfernt waren, erhob sich die eine, trat näher ans Ufer und hob die Hand gegen die Wasserfestung, in der sie ihre Gegner sämtlich vermutete.
»Ihr elenden Feiglinge!«, hörte man sie in englischer Sprache mit schallender Stimme rufen. »Ihr Memmen, die Ihr Euch hinter Mauern verkriecht, von denen Ihr wisst, dass eine höhere Macht uns sie zu betreten verbietet — kommt hervor aus Eurem Versteck, Ihr elenden Füchse, dass wir Euch in Stücke zerhauen und Euer Fleisch den Geiern vorwerfen...«
Sie brach ab und wandte sich um. Und sämtliche Amazonen sprangen auf und rissen ihre Schwerter aus den Scheiden.
Denn da kamen aus dem Walde die 25 schuppengepanzerten Männer hervorgestürmt, über das baumlose Grasland.
Die Weiber flohen nicht, ob sie sich nun in Übermacht fühlten oder nicht.
Die Visiere herabgelassen, und sie stürmten den Angreifern mit geschwungenem Schwerte entgegen, mit wildem Triumphgeschrei.
»Die Galeere beschießen, sie muss unser sein!«, hatte Georg noch zuletzt geschrien.
So blieben von den Angreifern, nachdem sie nur noch eine kurze Strecke durchmessen, um sich der Galeere näher zu bringen, zwei zurück: Juba Riata und Kretschmar, um ihre Pfeile nach der Galeerenbesatzung abzuschnellen, und fast jeder durchschlug einen goldenen oder silbernen Schuppenpanzer.
In der Mitte des grasigen Uferstreifens prallten die beiden gepanzerten Haufen zusammen.
Im nächsten Augenblick freilich mussten die Weiber wohl mit Schrecken erkennen, mit was für Gegnern sie da zusammengetroffen waren.
Es war kaum ein Gefecht zu nennen, keine Schlacht — mehr ein Schlachten und mehr noch ein Zermalmen.
Den ersten Hieb führte Georg, und sein Entersäbel spaltete einen massiven Bronzehelm und den darin befindlichen Kopf bis auf die Schultern, und gleichzeitig sauste sein mit der linken Hand geführter Gummiknüppel auf einen zweiten Helm herab, und auch mit dem linken Arm wusste er den richtigen »Zug« hineinzulegen, obgleich der Helm nicht in Trümmer ging, klang es doch nicht anders, als ob ein irdener Ton berste, der Getroffenen spritzte die Materie aus den Augenlöchern des Helms heraus, dann erst wurde Georg von einigen Schwerthieben getroffen, die aber unschädlich an seiner Schuppenrüstung abprallten, unter diesen Weibern, was es auch für Kriegerinnen und Athletinnen sein mochten, war eben wohl keine einzige, die mit dem Bronzeschwert solch furchtbare Schläge führen konnte, die dazu nötig waren, um diese Schuppenrüstungen zu durchschlagen — da streckte er schon die dritte, die vierte nieder, und die anderen ahmten ihm nach, wenn sie auch nicht so fürchterlich hausen konnten wie dieser Mann, der eben der Argonauten Waffenmeister war.
Da, als die Weiber sahen, wie ihre Kameradinnen überall zerfetzt und zermalmt niedersanken — da wandten sich diejenigen, welche es noch konnten, zur Flucht!
Und wenn sie auch vorher willens gewesen wären, mit Absicht ihren Tod zu finden, niemals einen Schritt zurückzutun, und wenn sie auch sonst die Energie besessen hätten, diesen Entschluss durchzuführen — im Moment, da sie die Wirkung der Waffen ihrer Gegner erkannten, konnte kein Todesmut Schritt halten.
Von grausem Schrecken erfüllt, wandten sie sich und flohen davon. Die Besinnung konnte zurückkehren, sie konnten wieder stand halten — aber jetzt mussten sie erst fliehen, da gab es nichts!
»Die Galeere, die Galeere!«, schrie Georg, einigen fliehenden Amazonen nachsetzend.
Und da kam es, wie es gewöhnlich bei solchen Gefechten kommt. Wodurch sich eben das Gefecht von der Schlacht unterscheidet, wobei es gar nicht auf die Menge der Kämpfenden ankommt. Die Schlacht ist ein wohlgeordnetes Ganzes, wird wie ein Schachspiel gelenkt — im Gefecht kämpft jeder nach Gutdünken, und da ändert auch ein vorher ausgemachter Plan nichts.
Natürlich musste hauptsächlich auch die am Ufer liegende Galeere genommen werden.
Nun aber bezog das letzte Kommando des Waffenmeisters ein jeder auf sich, und wer nicht mehr mit einer Amazone zu tun hatte, der stürmte sofort der Galeere zu.
So kam es, dass Georg der einzige war, der den fliehenden Amazonen nachsetzte. Und es waren die ersten gewesen, die sich zur Flucht gewandt hatten, vier Weiber.
Sie flohen am Seeufer entlang, hofften auf eine andere Galeere, die jetzt in schnellster Fahrt, ohne gerudert zu werden, angeschossen kam.
Georg war schnellfüßiger, er holte die letzte Amazone ein, sein Entersäbel sauste durch die Luft und trennte der Fliehenden den rechten Arm glatt vom Rumpfe und durchschlug immer noch den die Brust schützenden Schuppenpanzer. Da aber hatte Georg nur noch das Heft seines Entersäbels in der gepanzerten Faust. Die Klinge war zersplittert.
Es hatte wenig zu sagen, er warf den Griff weg, jetzt nahm er den Gummiknüppel in die rechte Hand.
Die Abfertigung dieser Amazone hatte seinen schnellen Sturmlauf kaum etwas verlangsamt, dies alles war im vollsten Laufe geschehen, er holte die zweite ein, — der Gummiknüppel zertrümmerte ihr unter dem unverletzt bleibenden Helm die Schädeldecke — weitergerannt — da aber standen die beiden anderen Amazonen schon vor ihm, sie waren stehen geblieben und erwarteten ihn. Georg parierte einen Hieb, wohl gar nicht wissend, dass er statt des Entersäbels den Gummiknüppel in der Hand hatte — da schlug ein Bronzeschwert diesen kurz vor dem Griff ab.
Es hatte noch immer nichts zu sagen, in diesem Kampfe sollte der Waffenmeister der Argonauten immer noch Sieger bleiben, auch wenn er jetzt waffenlos war.
Die Schwerthiebe, die jetzt hageldicht auf ihn niedersausten, prallten an seinem Helm und Schuppenpanzer wirkungslos ab, höchstens dass sie ihn schmerzten — und lange schlagen konnten die beiden Weiber auch nicht, da stand Georg mit einem Sprunge schon dicht vor ihnen, und er packte die beiden an ihren Schuppengürteln, hob sie etwas in die Höhe und schmetterte sie zusammen, dass die Knochen krachten...
Da ward ihm von hinten die Helmkappe vom Kopfe gerissen, und er erhielt von solchem einem gelben Gummiknüppel, der nur etwas kürzer war, nämlich von seinem eigenen, der sich in der Hand einer anderen Amazone befand, die sich noch hinter ihm auf der Flucht befunden hatte, einen Schlag über den Kopf, dass er zwischen den beiden zusammenbrechenden Amazonen ebenfalls sofort zu Boden sank.
Sein Schädel war nicht zertrümmert worden, er war nicht tot.
Aber er wusste nichts davon, dass sein Körper jetzt von einigen anderen nachträglich geflohenen Amazonen aufgehoben und nach jener zu Hilfe gekommenen Galeere geschleppt wurde, und wie jetzt ein Trupp Argonauten angestürmt kam, da war es schon zu spät für sie, um ihren Waffenmeister noch diesen Weibern wieder zu entreißen. Die Galeere floh mit ihm davon.
Als Georg wieder zu sich kam und mit klarer Besinnung um sich blicken konnte, befand er sich in einem kleinen orientalischen Raume, lag auf Teppichen und Polstern, bekleidet mit einem indischen Gewand.
Mehr braucht nicht beschrieben zu werden, und wir wollen zwei oder drei Tage und Nächte überspringen.
Denn so lange schätzte Georg die Zeit, die er hier verbrachte, ohne einen Menschen zu sehen zu bekommen.
Er wurde gut verpflegt. In eine Mauernische wurde zu regelmäßigen Zeiten das beste Essen gesetzt; was er dort hinein stellte, verschwand wieder; aber vergebens bemühte er sich, auch nur eine Hand zu erblicken, die ihn so bediente, und alle seine Fragen blieben unbeantwortet.
Ja, auf zwei bis drei Tage taxierte er die Zeit, die er auf diese Weise hier verbrachte. Ein Ausblick ins Freie war nicht vorhanden.
Wir wollen nicht versuchen, die Gedanken zu schildern, mit denen er sich während dieser Zeit beschäftigte. Fürchterlich langsam verstrich ihm diese Zeit, deren Länge er ja nur nach dem Gefühle des Hungers und nach den Perioden, nach welchen er Schlafbedürfnis empfand, ganz ungefähr abschätzen konnte. Vielleicht war er auch schon viel, viel länger hier. Weniger als zwei Tage und zwei Nächte aber sicher nicht.
Da endlich wurde er von seiner Pein erlöst. Freilich auf recht seltsame und durchaus nicht angenehme Weise.
Er hatte zum Nachtisch wie immer sein Schälchen vorzüglichen Kaffee erhalten, er hatte nichts besonderes geschmeckt, die nachfolgende Müdigkeit fiel ihm nicht auf, er war immer nur froh, wenn er schlafen konnte und wie er wieder erwachte, war er an Händen und Füßen gefesselt.
»Wenigstens eine Abwechslung!«, sagte er sich mit Resignation.
Es dauerte auch nicht lange, als ein Teppich von der Wand zurückgeschlagen wurde, zwei Amazonen traten ein.
Ohne ein Wort zu sagen, hoben sie den Gefesselten auf, trugen ihn davon. Trugen ihn durch mehrere Korridore, Treppen hinauf und hinab, und Georg verschmähte es, irgend eine Frage zu stellen.
Der Transport endete in einem großen Saale, in dem sich die Amazonen befanden, alle schuppengepanzert. Sie waren zu irgend einem Zwecke im Karree aufgestellt, so konnte sie Georg leicht zählen. 16 mal 7 ist 112, dazu kamen noch drei Außenseiter und die beiden, die ihn trugen, macht zusammen 117, und bei dieser Zahl sollte es auch bleiben.
Sonst war der weite und sehr hohe Saal leer. Nur in der Mitte erhob sich eine steinerne Säule, ungefähr 15 Meter hoch und ein Meter im Durchmesser, und dann lief noch rings herum eine steinerne Wendeltreppe.
»Hähähähähähä!«
Georg, einfach an den Boden gelegt, wendete den Kopf, betrachtete die Gestalt, die so hämisch gemeckert hatte.
Eine seltsame, unheimliche Gestalt.
Man wurde an einen indianischen Medizinmann erinnert, der für eine feierliche Zeremonie sich in seinen Feststaat geworfen hat.
Ein Kostüm von den verschiedensten Fellen, bunt durcheinander zusammengenäht, Zobel und Karnickel und Eichhörnchen und was sonst noch kreucht und fleucht, denn auch Vogelbälge waren dazwischen, der Pelzlappen dort schien das Fell eines eben erst geborenen Bären zu sein, und dieses Kostüm nun behängt mit Eidechsen und Schlangen und Knochen von allen möglichen Tieren, besonders Schädel spielten eine Hauptrolle, auch drei menschliche Totenschädel klapperten an dem Gürtel, der, wenn sich Georg nicht irrte, aus Menschenhaut war, die nämlich im gegerbten Zustande eine ganz eigentümliche Struktur hat, und Portemonnaies und Brieftaschen aus Menschenhaut waren einmal in Frankreich in Paris sehr beliebt, Deutschland verschloss sich glücklicher Weise diesem Unfuge — und dann vor allen Dingen fiel noch die schreckliche Teufelsmaske auf, welche die Gestalt vor dem Gesicht trug.
Eine schreckliche Maske, so hässlich und scheußlich als möglich mit entsetzlichen Zähnen im Rachen, dabei offenbar mit Absicht angebrachte Zahnlücken, überhaupt ein ganz unregelmäßiges Gebiss — mag das zur Beschreibung dieser Maske genügen. In ethnografischen Museen sieht man solche Masken genug, besonders in der Abteilung für Neuseeland und die anderen SüdseeInsulaner.
»Hähähähähähä!«, erklang es hinter dieser Maske. Dieses Meckern kenne ich, oder ich will gehangen werden, sagte sich Georg.
»Guten Tag, Kapitän Satan.«
»Hähähähähähä!«
Nichts weiter, und die tierische Teufelsgestalt wandte sich von ihm ab.
Die zwei Amazonen hoben den Gefesselten wieder auf, trugen ihn die Wendeltreppe hinauf, dort oben auf der Plattform erhob sich noch ein manneshoher Pfosten, wohl aus Metall, an diesen wurde Georg in aufrecht stehender Stellung gebunden.
Die beiden Amazonen stiegen wieder hinab, unten das Karree löste sich auf, die Weiber bildeten um die Säule herum einen Kreis, fassten sich an den Händen und begannen im Kreise zu hüpfen, nach einer eintönigen Melodie, welche die Teufelsgestalt gellend aus einer großen Knochenpfeife ertönen ließ, unverkennbar ein menschlicher Schenkelknochen. Dabei bewegte er sich im Innenring in entgegengesetzter Richtung, und die hüpfenden Weiber sangen auch zu dieser Melodie ein Lied, für Georg unverständliche Worte.
Was sollte das bedeuten.
Georg dachte an etwas.
An den letzten Krieg Englands gegen die Buren.
Und diese Ideenverbindung war eine ganz logische, wie gleich gezeigt werden soll.
Am 30. Dezember trat Doktor Leander Jameson, Statthalter des Matabelelandes, also doch ein hoher Staatsbeamter, im Grunde genommen aber ein verwegener Abenteuer comme il faut, mit 800 Mann der Chartered Company, die er einfach aufgriff, so ungefähr wie sich der Hauptmann von Köpenick an die Spitze einer Abteilung Soldaten stellte, seinen Raubzug nach Transvaal an, marschierte einfach auf Johannesburg los, wollte eben so ein bisschen Krieg auf eigene Faust machen.
Nur zwei Tage währte dieser »Krieg«, schon am 1. Januar musste sich Jameson bei Krugersdorp den Buren auf Gnade und Ungnade ergeben. Das war die Ursache des EnglischSüdafrikanischen Krieges. Wenn sich die Sache auch noch drei Jahre hinausschob. Drei Jahre lang verhandelte die Republik Transvaal mit England wegen der verschiedensten Forderungen, immer mehr spitzte sich das Verhältnis zu, bis Transvaal am 9. Oktober 1899 die Forderung stellte, bis zum 14. solle England seine Truppen von der Grenze zurückziehen, wenn es nicht geschehe, sei der Krieg erklärt, England tat es nicht, und nun also musste es losgehen.
Man weiß ja, wie traurig es England ergangen ist. Anfangs! Die Niederlagen bei Glencoe und Dundee und Elandslaagte, am Tugela und Modderfluss — überall waren die Buren siegreich, brachten den Engländern schreckliche Verluste bei, eine Demütigung immer schlimmer als die andere, und zuletzt hatten die Buren fast die ganze englische Streitmacht in Ladysmith und in Kimberley und in Bloemfontain festgenagelt.
Ganz Europa jubelte. Die bekannte Geschichte vom getreuen Nachbar. Die Schadenfreude soll ja die aufrichtigste Freude sein. Dazwischen mischte sich aber doch auch etwas Mitleid. So eine gewisse herablassende Gnade.
Die Buren peitschen die Engländer ins Meer. England ist für immer verloren,
hört auf zu existieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Da muss eine Macht inter
pellieren. Am besten Russland. Noch besser Deutschland.
So war damals in den deutschen Zeitungen zu lesen. Ach Du lieber Himmel!
Haben diese Menschlein von Zeitungsschreibern eine Ahnung von England! England verblutet sich lieber, ehe es sich werfen lässt, ehe es irgend eine fremde Einmischung duldet.
Aber England verblutet sich nicht so leicht.
Der Schreiber dieses lebte damals in England, in London.
Er hat etwas Unvergessliches erlebt.
Diese ungeheure Begeisterung, von der plötzlich die ganze britische Nation ergriffen wurde!
Eben wegen dieser schmachvollen Niederlagen! Da erwachte der britische Stolz!
Und so ist es ja überhaupt immer. So lange alles gut geht, schlummert das Nationalgefühl. Erst im Unglück, in der Schmach erwacht es, da lodern die Flammen plötzlich hoch empor.
So war es damals auch in England.
Jetzt erst ging es richtig los.
Der alte ausgedörrte Lord Roberts wurde aus Indien geholt, innerhalb von zwei Monaten wurden zweimalhunderttausend Mann nach Südafrika geworfen!
Woher kamen diese 200 000 Soldaten plötzlich?
Ja, das ist es eben!
Man spotte nur über die englischen Söldlinge.
Die können der Welt noch etwas ganz anderes zeigen! Gezwungen konnte niemand werden, das Gewehr zu nehmen.
Freiwillig verließen die jungen Leute die bestbezahlten Stellungen, um für die Ehre des britischen Löwen zu kämpfen! Die Londoner City war plötzlich ganz verödet. Diese 200 000 Soldaten brauchten auch Offiziere. Nun, daran ist ja in England kein Mangel. Wenn man auch jahrelang in England, in London leben kann, ohne unter Umständen einen einzigen zu sehen. Denn der englische Offizier trägt die Uniform nur im Dienst, nur vor der Front. Sonst ist er immer in Zivil. Und das gilt natürlich erst recht für die Reserveoffiziere. Und solche sind ja alle die Junker.
Und alle diese jungen Lords und Barone und Baronets gingen vor die Front.
Vorher aber, ehe sie sich einschifften, fand noch eine feierliche Zeremonie in der Kirche statt.
Dazu muss erst etwas bemerkt werden.
In England ist es fast allgemein Sitte, wenigstens in den besseren Bürgerkreisen bis hinauf zum höchsten Adel, dass die jungen Leute schon als Kinder verlobt werden. Sie werden von vornherein für einander bestimmt. Das ist ein besonderes Kastenwesen, ist aber auch gesetzlich streng geregelt. Der »Ehekontrakt« ist schon vom zwölften Jahre an bindend. Deshalb hört man so oft, dass die Engländerin schon mit dem zwölften Jahre heiraten kann, der Junge mit 14 Jahren. Das wird dann aber falsch verstanden. Es handelt sich nur um einen Kontrakt, der später erfüllt werden muss. Dann aber auch ganz gewiss! Man kennt doch das »breach of promise«, das Brechen des Eheversprechens. Wer das tut, der darf sich in England nur gleich als ruiniert betrachten. Das Eheversprechen braucht auch nur mündlich abgegeben zu sein. Deshalb erlebt auch der Deutsche in England so oft das Merkwürdige, dass ihm etwa auf der Straße ein zehnjähriger Bengel in kurzen Höschen ein achtjähriges Mädchen als seine Braut vorstellt, und kommt er dann in die Familie, so merkt er, dass dieses Verhältnis völlig ernst genommen wird, und wenn der Fremde hierüber lächelt und hinterher spottet, so stellt er sich nur selbst ein geistiges Armutszeugnis aus.
So waren auch alle die Offiziere, die damals nach Afrika gingen, verlobt. Wenn sie nicht schon verheiratet waren.
Verlobt durch schriftlicher Ehekontrakt, den sie schon als Kinder unterschrieben hatten.
Nun wird diese Verlobung, eben weil das in England etwas so Heiliges ist, später auch öffentlich in der Kirche gefeiert.
Und alle diese Offiziere, zirka 600, davon die Hälfte adlig, Lords und Barone und Baronets, ließen sich damals, ehe sie an Bord gingen, an ein und demselben Tage und an ein und demselben Tage und an ein und derselben Stunde in verschiedenen Kirchen Londons öffentlich durch Priestersegen verloben, und nicht nur das, sondern mehr als hundert haben auch gleich die Trauung vollziehen lassen!
Und diese zirka 600 Bräute und junge Frauen haben damals in die Hand des Priesters das Gelübde abgelegt, dass sie unverheiratet oder aber Witwen bleiben würden, wenn der Verlobte oder Gatte nicht wieder in die Heimat zurückkehren werde! Die Verlobung oder Trauung wurde vollzogen, nur in der Kirche, und dann ging der Offizier sofort an Bord, um sich nach Afrika einzuschiffen.
Man muss doch zugeben, dass dies etwas ganz Gewaltiges, Imposantes gewesen ist!
Und wie viele dieser jungen Lords und Barons und Baronets und sonstiger Offiziere haben die Heimat nicht wieder gesehen, sind auf den Schlachtfeldern Südafrikas geblieben! Oft in Massengräbern verschwunden, wenn ihre Knochen nicht von Hyänen und Geiern verschleppt wurden.
Und daher kommt es, dass es heute in England besonders in den aristokratischen und höchsten Kreisen so viele ledige Damen gibt, welche die 30 schon überschritten haben, und so viele Witwen, die nicht wieder heiraten — jungfräuliche Witwen!
Sie haben ihr Gelübde gehalten!
O, es war damals etwas Gewaltiges in England. Man muss dabei gewesen sein.
Nun aber noch etwas anderes, und das ist es, worauf es hierbei ankommt, woran Georg Stevenbrock dachte, als er dort oben auf der Säule stand und das Treiben der Weiber beobachtete.
Diese Zeremonie, mit der sich die englischen Offiziere verabschiedeten, war eine christliche gewesen, hatte sich doch in der Kirche abgespielt.
Aber vorher schon hatten diese Offiziere eine andere Zeremonie vollzogen, die nichts mit der christlichen Kirche zu tun hatte. Hat man vielleicht schon gemerkt, dass, wenn einmal die Wogen der nationalen Begeisterung recht hoch schlagen, das Vaterland in größter Gefahr ist, dann das Volk gern zu seinen alten, heidnischen Göttern zurückkehrt?
Manchem Leser dürfte das vielleicht eine gewagte Behauptung dünken.
Aber es ist schon so.
Man muss nur darüber nachdenken. So ganz deutlich liegt es auch nicht auf der Hand.
Es ist etwas Verborgenes, Verstecktes dabei.
Das Volk selbst weiß es gar nicht.
Es ist nur eine dunkle Empfindung.
Zum lieben Gott wird hüben wie drüben in allen Kirchen um Sieg der »gerechten Sache« gebetet.
Eine dunkle Empfindung sagt jedem Menschen, dass dies ein fluchwürdiger Unfug ist.
Da kehrt das Volk lieber zu seinen alten, heidnischen Göttern zurück, die fleht es um Sieg an, um Segen der Waffen — ohne sich dessen richtig bewusst zu werden.
Die Germania, die Wacht am Rhein — es ist etwas Heidnisches dabei.
Denn mit dem Christentum hat es doch zweifellos nichts zu tun!
Der Schwur erschallt, die Woge rinnt,
Die Fahnen flattern hoch im Wind.
Was für ein Schwur denn?
Da wird nichts vom lieben Gott und vom Heiland gesagt. Schon die ganze Fahnengeschichte hat etwas Heidnisches an sich!
Der alten Barden Schlachtgesang...
Na, da kommt doch einmal das Heidnische aus alter, grauer Germanenzeit ganz, ganz deutlich zum Vorschein!
Und was ist der höchste Siegespreis? Womit schmückt man den heimkehrenden Krieger?
Mit dem Eichenkranze! Mit dem Laube der den Germanen heiligen Eiche! Dem Donner- und Schlachtengott Thor geweiht!
Und bevor nun jene 600 englischen Offiziere sich öffentlich verloben oder trauen ließen, da schickten sie dieser kirchlichen Zeremonie noch eine andere voraus, an der sich auch die schon verheirateten Offiziere beteiligten, die mit nach Afrika gingen.
Im 11. Jahrhundert kam Herzog Wilhelm von der Normandie, unehelicher Sohn des Herzogs Robert, genannt der Teufel, und der Kürschnerstochter Arlotta, mit seinen normannischen Heerscharen nach England herüber, besiegte die Angelsachsen und krönte sich zum Herrscher des ganzen Inselreiches.
Mit diesem englischen König Wilhelm I., genannt der Eroberer, beginnt die Geschichte des heutigen Englands.
Der richtige Name ist Großbritannien und Irland, aber wir sagen einfach England. Es hatte schon vorher ein »Engelland« gegeben, und was für eins! — Alfred der Große! — Aber die Geschichte des heutigen Englands beginnt mit Wilhelm dem Eroberer.
Er hat alle die Gesetze geschaffen, die noch heute in England in vollster Kraft bestehen.
Dieser geniale Mann hat auch mit wunderbarem politischem Geschick das stark französische Element, das er mitbrachte, denn seine ursprünglich skandinavischen Normannen waren schon stark mit romanischem, mit französischem Blute vermischt, mit den germanischen oder keltischen Angelsachsen zu verschmelzen verstanden.
Diese beiden verschiedenen Rassen sind noch heute in England ganz deutlich zu unterscheiden, dem Aussehen nach — schwarzhaarig und schwarzäugig und zur Körperfülle neigend — und auf der anderen Seite die echten Angelsachsen, flachshaarig, blauäugig und dürr wie die Windhunde, knochig und sehnig wie die Rennpferde.
Aber das ist nur dem Äußeren nach. Als Nation sind diese beiden Rassen vollständig verschmolzen.
Dieses Kunststück hat schon Wilhelm der Eroberer fertig gebracht. Denn man muss nur bedenken, was es hieß, diese stolzen, trotzigen angelsächsischen Thans, wie die kleinen Fürsten hießen, zum freiwilligen Gehorsam zu bringen!
Wilhelm der Eroberer liegt in der Westminsterabtei begraben. Dort wird auch an einer besonderen Stätte sein Schwert aufbewahrt. An dieses Schwert knüpft sich eine Sage, sie kann aber im ersten Teile auch recht wohl auf Tatsache beruhen. Wilhelm soll sich vor seinem Eroberungszuge schon vorher inkognito als Spion in England aufgehalten haben, und da soll ihm einmal ein heidnischer Druidenpriester, dessen Vertrauen er sich erwarb, ein heiliges Schwert gezeigt haben, in einer heiligen Eiche versteckt, durch zahllose Menschenopfer geweiht, und wer dieses Schwert schwinge, der würde ganz England unter seine Gewalt bringen, der sei überhaupt unbesieglich, er brauche nur auf dieses Schwert zu schwören, entweder zu siegen oder zu sterben. Dann könne er allerdings in der Schlacht fallen, aber als Herrscher niemals besiegt werden. Und darauf kommt es dem Helden doch allein an.
Bisher sei kein angelsächsischer Than würdig gewesen, dieses Schwert zu führen. Diesem seinem Gaste aber schenkte der Druidenpriester es. Oder, ist eine andere Lesart dieser Sage, der gute Wilhelm hat dieses heilige Schwert einfach gestohlen.
Jedenfalls hat er es geführt, hat mit ihm England erobert.
Und nun, ehe jene 600 Offiziere nach Afrika gingen, noch vor jener kirchlichen Familienzeremonie, verschaffen sie sich dieses heilige, heidnische Schwert, heimlich, hatten um Mitternacht eine heimliche Zusammenkunft, zwischen Buckhursthill und Sharesbrock, in jenem Walde, in dem einst Robin Hood mit seiner grünen Bande gehaust hat, versammelten sich mit Mummenschanz unter einer uralten Eiche, die hier steht, unter der ganz sicher einst die Druiden Menschen geopfert haben, hier unter dieser Eiche riefen die 600 christlichen Offiziere Thor und Odin und die anderen heidnischen Götter an und legten auf dieses Schwert den Eid ab, in Südafrika entweder zu siegen oder zu fallen!
So, nun wussten sie, dass der britische Löwe auch diesmal in Südafrika siegen würde. Nun konnten sie wieder Christen werden, am anderen Tage mit ihren Bräuten in die Kirche gehen. —
Diese Episode ist historisch, wenn davon damals auch nichts in den Zeitungen gestanden hat — aus leicht begreiflichen Gründen — im frommen England.
Und die Herren Söhne der englischen Zeitungskönige waren ja selbst mit dabei.
Aber man weiß ganz bestimmt, dass diese heidnische Zeremonie mit Wilhelms Schwert schon mehrmals stattgefunden hat.
Jedes Mal, wenn England mit einem Kriege bös in der Klemme steckte.
Das letzte Mal, vor diesem, im Jahre 1858, als England durch den furchtbaren indischen Aufstand beinahe seine reichste Kolonie verloren hätte. Es handelte sich nur noch um eine einzige Schlacht, ging auch die noch verloren, dann hätte England kein Indien mehr gehabt. Dafür hätten schon Frankreich und Russland gesorgt. Da kam als letzter Retter General Havelock mit den letzten englischen Truppen und warf die Empörung nieder. Und damals hatten die nach Indien gehenden Offiziere ebenfalls bei Thor und Odin auf jenes heilige Schwert geschworen, entweder zu siegen oder zu fallen.
An alles dies dachte Georg, als er von seiner Säule herab die tanzenden und singenden Amazonen beobachtete.
Er kannte dies alles.
Er wusste auch von dem versteckten heidnischen Hintergrund in der deutschen Volksseele, sobald in Zeiten der nationalen Schmach das patriotische Bewusstsein erwacht, erst sehnend sich streckt.
Die alte, gute, deutsche Sage vom Kaiser Barbarossa, der im Kyffhäuser schläft — wer ist so blind, um hierbei nicht den heidnischen Hintergrund zu erkennen?
Sind es nicht Raben, dem Schlachtengotte Wodan heilige Raben, die den Berg umschwärmen? Na also!
Und da wusste Georg auch ganz bestimmt, was hier vorlag, weshalb die gepanzerten Weiber dort unten herumhüpften, nach den Klängen einer Melodie, die der herausgeputzte Hanswurst mit der Teufelsmaske auf einem menschlichen Schenkelknochen pfiff.
Und als ob ihm sofort die Bestätigung der Richtigkeit seines Gedankens werden sollte, so unterschied er unter den sonst ihm fremden Lauten ein einziges Wort, das er ganz deutlich verstand. »Ooooobiiiii.«
So wurde langgedehnt gesungen.
Jawohl, nun war ihm vollends alles klar.
Er hatte vorhin 117 Weiber gezählt, und mehr wurden es auch nicht.
Wo waren die anderen von den 204 Weibern, die sie ursprünglich gewesen? Nun, mindestens zehn hatte allein Georg ins Jenseits befördert, neulich bei dem Scharmützel, dafür konnte er garantieren.
Und seine Jungens würden doch auch etlichen freie Passage gewährt haben.
Und unterdessen waren zwei oder drei Tage vergangen, sollten da nicht noch andere Gefechte stattgefunden haben?
Kurz, es war nur noch die Hälfte der Amazonen vorhanden. Und für diese sah es jedenfalls ebenfalls sehr traurig aus. Der gehoffte Sieg blieb aus.
»Hört, Ihr mohammedanischen Inderinnen, ich will Euch doch noch zum Siege verhelfen. Wenn Ihr Eurem dummen Propheten abschwört, Allah verleugnet und an meinen Obi glaubt. Hähähähähä.«
Georg glaubte es geradezu zu hören, diese Worte, die Kapitän Satan zu den Weibern gesprochen hatte, mit dem nachfolgenden Meckern.
Und diese Amazonen waren dazu bereit gewesen. Sie hätten noch etwas ganz anderes getan, um sich dieser fremden Männer zu bemächtigen oder sie zu töten, um sie zu besiegen. Sie hatten dem Allah und seinem Propheten abgeschworen, waren ObiAnbeter geworden.
»Ich lasse mich doch gleich hängen, wenn es nicht so ist!«, sagte sich Georg. »Und jetzt wird dem Obi ein Menschenopfer dargebracht. Und dieser Mensch bin ich. Das ist sehr traurig, aber... heiliger Gott, was ist das?!«
Ein rauchiger Geruch war ihm in die Nase gestiegen. Er sah direkt zu seinen Füßen nieder, und da sah er, dass die Plattform, auf der er stand, siebartig durchlöchert war. Und jetzt begann aus diesen kleinen Löchern Rauch zu strömen.
Und da merkte er auch schon, dass diese Steinplatte sich zu erwärmen begann. Merkte es um so deutlicher, weil seine Füße unbekleidet waren.
Er hatte schon vorhin einmal daran gedacht, dass diese Säule doch eine Ähnlichkeit mit einem Fabrikschornstein habe, auf dem er stände.
Und jetzt ging ihm die Gewissheit auf, dass es ein Ofen war, auf dem er gefesselt stand, und dieser Ofen wurde geheizt.
Das Opfer Obis wurde lebendig verbrannt — nein, noch viel entsetzlicher, wurde lebendig langsam geröstet!
Und da, während seine nackten Fußsohlen fühlten, wie sich die Steinplatte immer mehr erwärmte, rieselte über seinen Körper das kalte Entsetzen.
Es wäre ja auch kein Mensch gewesen, wäre er von diesem furchtbaren Entsetzen nicht befallen worden.
Winseln und die bösen Menschen um Gnade anwimmern — das ist wieder etwas ganz anderes.
»Heiliger Vater im Himmel, erbarme Dich meiner!«
So betete Georg. Ja, wenn die große Not kommt, die persönliche Not, wenn's ans Leben geht, dann werden keine heidnischen Götter angerufen. Und gerade diejenigen Christen, die sonst am allerwenigsten an den lieben Gott denken, die wollen dann plötzlich mit dem lieben Gott anbändeln. Wer einmal eine Katastrophe mitgemacht hat, etwa den Untergang eines Passagierdampfers, der kann etwas davon erzählen. Geradezu possierlich ist es, wie da plötzlich alle die aufgeklärten Realisten und Materialisten und NietzscheVerehrer auf den Knien liegen und zum lieben Gott pater peccavi sagen. Vater, ich habe gesündigt. Ach, Du lieber, guter Gott im Himmel, lass mich nur diesmal noch gnädig durchschlüpfen dann will ich auch ein braves, artiges, frommes Kindchen werden, will jeden Sonntag in die Kirche gehen, zweimal, dreimal...
Der Schreiber dieses hat's erlebt!
Zu diesen jämmerlichen Wichten gehörte Georg Stevenbrock nicht. Bei ihm war's keine Heuchelei, keine erbärmliche Feigheit.
Wenn er ab und zu dammichte, so war das wieder etwas ganz anderes!
»Heiliger Vater im Himmel, erbarme Dich meiner!«
»Ooobiiii!«, sangen und heulten dort unten die im Kreise tanzenden Weiber.
Der Teufelspriester stellte sein Pfeifen ein, schlüpfte unter den zusammengefassten Händen zweier Tanzenden hindurch, ging in den Hintergrund des Saales, verschwand dort durch eine Tür.
Der Teufelspriester stellte sein Pfeifen ein, schlüpfte unter
den Händen zweier Tanzenden hindurch und verließ den Saal.
Georg hatte es gar nicht beachtet. Die singenden und tanzenden Weiber hatten auch keine Begleitung mehr nötig. Immer mehr wurden sie wie von einer Raserei ergriffen. Immer gellender wurde ihr Gesang, ihr Heulen, immer heftiger wurden ihre Tanzbewegungen. Sie kamen eben in Ekstase. Brauchten dazu kein Mittel eingenommen zu haben, es brauchte kein betäubender Rauch den Saal zu erfüllen. Dieser Massentanz mit dem monotonen Liede, taktmäßig gesungen, genügte schon, um eine Art von ekstatischer Raserei hervorzubringen. Das kennt man doch.
Und dort oben wurde die Steinplatte immer wärmer und immer heißer!
Schon musste der Gefesselte ab und zu einen der nackten Füße heben, oder wenn er es nicht schon unbedingt musste, so empfand er es doch schon als eine Wohltat, wenn er nur auf einem Fuße stand, den anderen unterdessen der kühleren Luft preisgab.
Er neigte sich vor, so weit es seine Fesseln erlaubten, noch tiefer neigte er sein Haupt, und auf die Steinplatte tropften zwei große Tränen, um schnell zu verdunsten.
Und dann richtete er sich wieder auf, hob auch das Gesicht, um nach der nackten Steindecke zu blicken, denn er wollte beten, und das kann man nicht stehend, mit zur Erde gerichtetem Gesicht.
»Gnädiger Gott im Himmel, ich flehe Dich an, habe Erbarmen mit mir. Lass mich eines anderen Todes sterben. Gib mir einen ehrlichen Seemannstod, oder wie Du sonst bestimmst. Nur lass mich nicht hier als Opfer eines heidnischen Götzen lebendig rösten. Beweise, dass Du der einzige Gott bist, der allein die Macht hat, mache diesem frevelhaften Götzendienst ein Ende und ich glaube daran, dass Du es tust — ich weiß bestimmt, dass Du es tun wirst. Herr, Du Gott aller Welten, schicke mir einen Deiner Engel...«
Und da ward sein Gebet schon erhört!
Da erschien ihm schon der gewünschte Engel!
Aber nicht als geflügelter Engel frei in der Luft schwebend.
Um den ganzen Saal zog sich eine steinerne Galerie herum. Mit einer Brüstung versehen. In einer Höhe von etwa 12 Metern. Also die Säule in der Mitte war noch höher, so konnte Georg gerade noch über diese Brüstung weg blicken. Eine Treppe zu dieser Galerie führte nirgends hinauf. Aber eine Tür war oben vorhanden, Georg brauchte nur etwas schräg zu blicken. Ob diese Tür schon immer offen gestanden hatte, wusste er nicht.
Jedenfalls stand jetzt in dieser Tür der von ihm erbetene Engel.
Ein Engel, der ein gelbes Lederkostüm trug, nach seinen weißen Locken schon ein sehr alter Engel, aber sonst noch mit ganz jugendfrischen Gesichtszügen.
Und dieser lederne Engel, der sich Merlin nannte, hob die Hand und winkte ihm freundlich, dann legte er den Finger auf seine Lippen, klopfte darauf, winkte nochmals freundlich, und dann war der Engel wieder verschwunden.
Es hatte genügt.
»Gnädiger Vater im Himmel, ich danke Dir! Dir allein will ich die Ehre geben, jetzt und immerdar!«
So betete Georg mit überströmendem Herzen und überströmenden Augen.
»Oooooobiiiii!«, heulten unten die gepanzerten Weiber beim rasenden Tanz.
Und dabei blieb es.
Wohl noch eine halbe Stunde verstrich, und es wollte sich nichts andern.
Und dass sich nichts änderte, das war eben das Gute dabei. Nämlich dass Georg nicht nötig hatte, seine Füße noch öfters zu heben. Kälter wurde die Steinplatte allerdings nicht, aber sicher auch nicht heißer. Und jetzt begann den Löchern, die zuletzt nur noch heißen Atem ausgehaucht hatten, wieder ein stickiger Qualm zu entströmen.
Offenbar wurde das unterirdische Feuer erstickt.
»Oooobiiii!«
Da tauchte in jener Galerietür eine andere Gestalt auf.
Sie hatte nur ein einziges Bein, auf diesem kam sie hereingehüpft.
Etwas gebückt, obgleich der Ankömmling das gar nicht nötig hatte, denn von unten konnte er wegen der Brüstung unmöglich gesehen werden.
Er trug etwas unter dem Arm, oder unter beiden Armen — legte es hin. Was es gewesen war, hatte Georg nicht unterscheiden können. Gruh war wieder hinausgehüpft, kam wieder herein, wieder etwas unter den Armen, legte es hin, hüpfte wieder hinaus. Und so tat er noch mehrmals.
Und dann kam wieder eine andere Gestalt durch die Tür. Es war nur ein schattenhafter Anblick gewesen, sie war gleich wieder hinter der Brüstung verschwunden.
Und dann stand diese dritte Gestalt plötzlich auf der steinernen Brüstung.
Es war ein kleiner Mann, ein sehr, sehr kleiner Mann, aber mit einem langen, langen Barte. Ein ganz echter Wichtelmann, ein Gnom.
»Halt!«, rief eine sehr tiefe Stimme. Nicht eben auffallend für diesen äußerst breitschultrigen Zwerg mit dem langen Vollbarte.
Unten die rasenden Tänzerinnen erstarrten und verstummten plötzlich, blickten empor.
Und der Zwerg, auf der Brüstung stehend, machte eine höfliche Verbeugung und nahm das Wort.
»Meine hochverehrten Damen! Ich habe die Ehre, mich Ihnen vorstellen zu dürfen: mein Name ist Wenzel-Attila Ich bin professioneller Rechenkünstler. Ich erlaube mir, Ihnen eine kleine Probe von meiner Rechenkunst zu geben. Sie sind, wie ich zufällig weiß, genau 117 Damen. 117 dividiert durch 6 ist 19, Rest 3. Dazu werde ich die Probe aufs Exempel machen. Ich habe hier genau abgezählte 117 Stäbchen, sogenannte Rechenstäbchen. Diese werde ich in sechs Serien verteilen jede Serie zu 19 Stück, jede Dame erhält ein Rechenstäbchen, und wenn dann drei übrig bleiben, so muss das Exempel doch stimmen. Weshalb ich gerade sechs Serien nehme? Nun, meine Damen, Sie hatten doch die Güte meiner Frau, der Missis Rosamunde Wenzel-Attila, sechs Peitschenhiebe auf den nackten Rücken zu verabreichen! Für jeden Peitschenhieb eine Serie von neunzehn Stück! Und die letzten drei Pfeile sind für das Leben meines kleinen Hundes... los! Eins...«
Und beiden letzten Worten hatte der Zwerg hinter sich gegriffen, hatte plötzlich einen großen Bogen in der Hand, legte einen Pfeil darauf, der ihm ebenfalls gereicht wurde.
»Eins...«
Klatsch! ging es.
Die Weiber dort unten hatten regungslos gestanden, hatten ruhig zugehört, eben weil sie gar nicht wussten, was ihnen der kleine gepanzerte Mann dort oben erzählte, sich überhaupt schon über seinen Anblick wundernd, sich immer fragend, wie der denn da hinauf komme.
Da war der Pfeil geschwirrt gekommen.
Klatsch!
Er hatte eine gepanzerte Brust getroffen, nicht ganz genau in der Mitte, etwas mehr nach links.
In der Totenstille war dieses Aufschlagen der metallenen Spitze auf dem Bronzepanzer mit erschreckender Deutlichkeit zu hören gewesen.
Aber der Pfeil war von dem Schuppenpanzer nicht etwa abgesprungen, sondern er hatte ihn durchschlagen. Und nicht nur den Brustteil, sondern die Spitze kam auch durch die Rückenseite wieder heraus.
Die durch das Herz geschossene Amazone warf die Arme hoch und stürzte lautlos zu Boden.
Da freilich wussten die anderen Weiber, was es geschlagen hatte, was der kleine Mann dort oben eigentlich wollte, und da blieben sie nicht mehr ruhig stehen.
Eine wilde Jagd nach dorthin, wo vorhin der Teufelszauberer verschwunden war, den Saal verlassen hatte. Ein furchtbares Drängen nach diesem einen Punkte.
»Zwei...«, erklang es dort oben.
Klatsch!
Das zweite »Rechenstäbchen« war einer anderen Amazone durchs Herz gegangen, diesmal aber von hinten, durch den Rücken.
Das furchtbare Drängen nach ein und demselben Punkte war vergeblich gewesen, jetzt sahen es die Amazonen ein. Jene Tür war verschlossen, war gar nicht mehr vorhanden! Und einen anderen Ausgang aus diesem Saale gab es nicht!
»Drei...«
Klatsch!
Diesmal hatte sich der Pfeil einen Weg nach dem Herzen von der Seite her gesucht.
Wir wollen nicht jeden einzelnen Pfeil beschreiben. Mit fürchterlicher Ruhe zählte der Zwerg sie her, wie er sie absendete.
Und unten rannten die Weiber herum.
Wie sollten sie sich vor den Todesboten schützen? Es gab keinen Schutz, kein Versteck.
Höchstens hinter die Säule konnten sie sich stellen.
Aber alle gingen sie nicht dahinter, noch nicht, da waren ihrer noch zu viele.
Zweimal war der Versuch gemacht worden, sich auf die Wendeltreppe der Säule zu stellen.
Beide Amazonen waren schleunigst wieder herabgesprungen, unter gellenden Schmerzensschreien.
Weshalb?
Nun, das war eben ein Ofen, der geheizt wurde, und er erhitzte sich von unten nach oben, war dort unten schon glühend heiß, wie ein gut angeheizter Kanonenofen, man konnte sich der Säule schon gar nicht mehr nähern, das war ganz deutlich erkennbar.
Das einfachste war da natürlich, dass sie sich hinwarfen, sich schon tot stellten.
Aber der fürchterliche Hunnenzwerg ließ sich nicht täuschen. Ganz abgesehen davon, dass er ja noch nicht den zehnten Teil Pfeile abgesendet hatte, wie dort Weiber am Boden lagen.
Er ließ sich nicht irre machen.
»Sieben! Sie sind wohl müde, meine Damen, dass Sie sich hinlegen? Oder Sie denken wohl, ich soll glauben, Sie hätten das Rechenstäbchen schon bekommen? Nein, meine Damen, da irren Sie sich, so einen Irrtum gibt es bei mir nicht, bei mir herrscht Ordnung, ich weiß ganz genau, wer sein Rechenstäbchen schon bekommen hat und wer noch nicht. Zum Beispiel Sie da, Madam, Sie dort hinten in der linken Ecke, passen Sie auf, ich stecke das Ihnen gehörende Rechenstäbchen unter Ihren rechten Arm, in die Achselhöhle hinein... acht!«
Und die bezeichnete Amazone hatte den Pfeil in die Achselhöhle bekommen, wälzte sich herum, krümmte sich wimmernd und streckte sich.
Da zogen die anderen vor, wieder aufzuspringen und ihr Heil in schnellem Hin- und Herrennen zu suchen.
Es nützte ihnen nichts.
Mit gelassener Ruhe zählte der Zwerg die Pfeile weiter, die ihm sein einbeiniger Begleiter einzeln reichte.
»Neunzehn! Die erste Serie ist voll! Die war also für den ersten Peitschenschlag. Jetzt kommt die zweite Serie für den zweiten Peitschenschlag. Eins...«
Klatsch!
Und so ging es weiter.
Und der Zwerg nahm sich Zeit.
Zwei Stunden gebrauchte er dazu, um die sechs Serien voll zu machen.
Jetzt hätten sich die letzten Überlebenden doch verstecken können müssen, ihn sonst wie täuschen.
Nein, es gelang keiner. Vergebens suchten sie sich mit Leichen zu decken. Der Zwerg ließ sich nicht täuschen, er wusste durch irgend ein Mittel immer ganz genau, ob eine Daliegende schon ihr »Rechenstäbchen« bekommen hatte oder nicht, und wie sie sich auch deckten, sein Pfeil wusste immer eine Blöße zu finden, immer in der Brust oder doch am Oberkörper, und wenn solch ein Pfeil durch den Magen oder durch die Eingeweide ging, dann war die Getroffene natürlich ebenfalls dem Tode verfallen, musste sich nur noch länger in ihren Schmerzen krümmen.
Nur die allerletzten schienen Chance zu haben, ihr Leben noch zu retten, sich vor den Pfeilen zu schützen.
Diese wenigen konnten sich doch immer hinter der Säule halten, wie sie denn auch taten.
Jawohl!
Erstens blieb der Zwerg jetzt nicht mehr stehen, sondern veränderte auf der Brüstung manchmal seine Stellung, schon deshalb, weil Gruh die Pfeile portionsweise auf der ganzen Galerie verteilt hatte.
Nun, die letzten Amazonen achteten einfach darauf, dass die Säule zwischen ihnen und dem Todesengel blieb.
Aber dieser hatte es doch so leicht!
Er sprang einfach einmal herab von der Brüstung, verschwand dahinter, brauchte sich gar nicht erst zu bücken — und plötzlich stand er an einer ganz anderen Stelle wieder oben und sandte seinen unfehlbaren Pfeil ab, den Amazonen in den Rücken.
»Neunzehn! Die sechste Serie ist voll! Sind noch drei Pfeile vorhanden, Gruh? Ja? Also stimmt mein Rechenexempel. Dieser Rest von drei Pfeilen ist dem Andenken meines braven Hündchens geweiht, das Ihr in zwei Hälften halbiert habt! Eins...«
Klatsch! Und der zweite Pfeil warf die vorletzte Amazone nieder.
Stehen tat aber überhaupt keine mehr.
»Also das ist der letzte Pfeil, Gruh? Stimmt. Nun, wollen wir sehen, wo die letzte ist, der dieses letzte Rechenstäbchen gehört. Die ist so bescheiden, dass sie sich nicht freiwillig meldet. Aber da liegt sie ja. Hat sich ein bisschen ausgestreckt. Sie da, Madam, Sie da links von mir an der Säule, mit dem goldenen Helm, auf dem ein Raubvogel sitzt, der eine ganze Masse Augen hat — seien Sie doch so freundlich und drehen sich ein bisschen herum, sonst könnte ich Ihnen das Stäbchen nur in die Leber stecken...«
Da schnellte die bezeichnete Amazone empor, drehte sich ihm zu, breitete die Arme aus, um so den Todesboten durchs Herz zu erwarten.
»Danke sehr, — sehr freundlich. Drei!«
Klatsch! — Die letzte stürzte zu Boden.
Ruhe herrschte in dem von einer fürchterlichen Atmosphäre erfüllten Saale.
Es war erstickend heiß, und überall dampfte das Blut. Nur hin und wieder noch ein leises Stöhnen, noch ein Todesröcheln.
Nur hier und da noch ein letztes krampfhaftes Zucken, ein Strecken im letzten Todeskampfe.
Nirgends mehr ein Krümmen und Winden.
Und jetzt streckte der auf der Brüstung stehende Zwerg den Arm aus, blickte halb empor, dabei aber seine Opfer nicht aus den Augen lassend, und feierlich erscholl seine tiefe Stimme:
»Großer Hunnenkönig, der Du jetzt herrschest in der himmlischen Wagenburg! Sieh hier das Werk Deines Enkels, des letzten Hunnen, der Deinen Namen führt! So hat er sich zu rächen gewusst! So hat er die Ehre seiner Gattin wieder hergestellt und damit auch seine eigene! Frau Rosamunde darf mit ihrem Gatten wieder an einem Tische sitzen!«
Sprach es, sprang herab von der Brüstung und verschwand durch die Galerietür.
Wieder herrschte Stille.
Diesmal war es wirkliche Todesstille.
Und doch — da erscholl neues Ächzen und Stöhnen. Aber es erklang nicht hier unten, hier schlief schon alles still.
Dort oben auf der Plattform erklang dieses Ächzen und Stöhnen.
Schwer hing der Mann dort oben vorn über, nur die Banden, die ihn an den Pfahl fesselten, hielten ihn noch aufrecht.
Da öffnete sich dort unten wieder die verschlossene Tür.
Ein Mann trat in den Saal in gelbes Leder gehüllt — Merlin.
Er schritt nach der Säule, über die Leichen steigend. Er erstieg die steinernen Stufen.
Er hatte es nicht vermeiden können, dass seine Füße mit Blut besudelt worden waren, und bei jedem Schritte auf den Stufen zischte und qualmte es.
So glühend heiß waren diese Steinstufen Aber diesem rätselhaften Manne konnte die Feuersglut nichts anhaben, auch seine ledernen Schuhe verbrannten nicht, nur das fremde daran haftende Blut verzischte.
Er hatte die Plattform erreicht, er hob die Hand, strich dem Stöhnenden über die Augen, und das Stöhnen verstummte.
Dann band er den Gefesselten ab, hob den starken, schweren Mann auf seine Arme, als wäre es eine Strohpuppe, so trug er ihn die Treppe hinab, nur sorgsam darauf achtend, dass der Getragene nicht mit der Wand der Säule in Berührung kam.
Und so verließ er mit seiner Bürde den Saal.
»Na, Sie kranker Starmatz, haben Sie endlich ausgeschlafen?« Mit diesen Worten wurde Georg von Klothilde begrüßt, als er die Augen wieder aufschlug.
Er lag in seiner Koje, daneben saß Klothilde, den linken Fuß auf den Waschtisch gelegt und rauchte eine lange, schwarze Zigarre.
»Wo bin ich?«, flüsterte der Erwachte.
»Na, nun stellen Sie sich mal nicht so dumm, als ob Sie das nicht wüssten.«
»An Bord unseres Schiffes, in meiner Kabine.«
»Die Wahrheit erkannt, o scharfsinniger und vom Lichte der Weisheit erfüllter Prophet!«
Georg schloss wieder die Augen und stöhnte
»Wenn Sie fertig sind mit Stöhnen, dann sagen Sies.«
»Klothilde, o Klothilde, wenn Sie wüssten, was ich erlebt habe...«
»Wir wissen alles. Wenn wir auch nicht dabei gewesen sind. Aber den Erfolg haben wir noch gesehen. Na, wir haben ja nicht schlecht schaufeln müssen, um diese Weiber unter die Erde zu bringen.«
»Sind denn alle tot?«
»Alle, alle, alle. Auch unsere vier Gefangenen.«
»Auch die?!«
»Haben die Zunge verschluckt.«
Noch einmal stöhnte Georg.
»Was stöhnen Sie denn schon wieder? Geniert Sie denn das, wenn andere Menschen Ihre eigene Zunge auffressen? Aber recht so, stöhnen Sie sich nur aus. Ja, mein lieber Waffenmeister, das hilft nun alles nichts, nun müssen Sie erst einmal alles erfahren. Ich habe meine Instruktionen bekommen. Erst einmal alles herunter von der Leber — dann aber ist auch vorbei! Also der Franz ist tot, hat damals in dem Scharmützel einen Pfeilschuss ins Auge bekommen. Und der Paul hat nur noch die linke Hand. Von der anderen verlor er den Panzerhandschuh und da ließ sich der dämliche Kerl die auch gleich abschlagen. Na, es hat für ihn nicht viel zu bedeuten. Paul war so wie so schon immer linkshändig. Und sonst ist nix weiter passiert.«
Georg drehte sich etwas um und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen. »Hören Sie, Waffenmeister, durch diese Taktik des Vogels Strauß wird weder Franz wieder lebendig, noch bekommt Paul seine rechte Hand wieder«, sagte die unbarmherzige Klothilde.
Und Georg drehte sich denn auch richtig gleich wieder um.
»Hat Franz noch lange gelitten?«
»Nee. Der Pfeil ging ihm durch das Augenloch des Helms direkt ins Gehirn, der war sofort tiptoptot.«
»Tiptoptot?«
»Yes. Sie wissen wohl nicht, was das ist? Dann, geehrter Herr Waffenmeister, sind Sie noch sehr rückständig, oder Ihre allgemeine Bildung hat durch den zwanzigstündigen Murmeltierschlaf etwas gelitten. Was das ist, tiptoptot? Wenn sich jemand vom Leben zum Tode befördern will, und er hängt sich an einem Brückengeländer auf, überm Wasser, vorher noch nimmt er eine gute Dosis Arsenik ein, und dann, wenn er hängt, schneidet er sich die Pulsadern auf, und dann schießt er sich in jede Schläfe eine Revolverkugel, und dann hat er schon vorher auch noch eine glimmende Lunte angelegt, sodass der Strick nach einiger Zeit durchbrennt, sodass er also ins Wasser stürzt — wenn man dann den Kerl aus dem Wasser zieht, dann ist er tiptoptot. Da ist jeder Scheintod ausgeschlossen, da sind alle Wiederbelebungsversuche vergeblich. Der ist einfach tiptoptot.«
Aber Georg hatte kein Lächeln übrig.
»Klothilde, Klothilde — wie können Sie jetzt nur solche schreckliche Witze reißen!«, »Das will ich Ihnen sagen, weshalb ich das tue, Sie wissbegieriger Jüngling. Sie haben einen Wurm am Herzen sitzen. Es ist ein ganz trauriges Vieh. Dieser Wurm muss totgekitzelt werden. So hat jener Merlin gesagt, als er Sie angeschleppt brachte. So hat er zu Doktor Isidor gesagt. So behauptet der wenigstens. Und diesen traurigen Wurm an Ihrem Herzen totzukitzeln, diesen Auftrag hat die Klothilde Gracco aus Genua bekommen. Deshalb sitzt die hier und hat so lange gewartet, bis Sie aufgewacht sind.«
»Sie sollen mich zum Lachen bringen?«
»Ahem, Sie haben's erfasst. Die Krisis haben Sie bereits überstanden. Vergebens habe ich vorhin in Ihren semmelblonden Locken nach einem weißen Haare gesucht. Eine Laus habe ich drin gefunden — oder 's war wohl eine Ameise — aber kein einziges weißes oder auch nur gräuliches Haar. Und nun müssen Sie noch einmal herzhaft lachen, sodass Ihr ganzer hochgeschätzter Bauch wackelt und Ihr Zwerchfell einen kleinen Riss bekommt. Dann sind Sie wieder kerngesund. So hat der Merlin gesagt, so berichtet Doktor Isidor, und ich will verdammt sein, wenn ich nicht glaube.«
»Klothilde, Klothilde — was ich erlebt habe — ich werde das Lachen und jedes Lächeln für immer verlernt haben.«
Klothilde schnippste die Asche von ihrer Zigarre ab, nahm den Fuß vom Waschtisch und beugte sich vor, blickte den in der offenen Koje Liegenden ernst an, tiefernst. Doch so tiefernst war sie überhaupt immer, und wenn sie auch die schrecklichsten Kalauer riss. Nur dass sie jetzt einmal nicht ihre gewöhnlichen Grimassen schnitt.
»Hören Sie, Waffenmeister, ich will Ihnen mal ein Geschichtchen erzählen. Selber erlebt. Etwas für Ihren Wurm, um den totzukitzeln, ist freilich nicht, im Gegenteil, der wird dadurch nur noch lebendiger. Aber schadet nichts, das Totkitzeln kommt erst später dran.
Sie wissen doch, was für ein klassisch gebildetes Frauenzimmer ich bin. Ich kann sogar lesen. Und so sorge ich immer für meine Weiterbildung. Und wenn ich einmal ein Buch haben will, dann kann's meinetwegen drei Groschen kosten, dann kaufe ich's mir.
Also da sehe ich einmal, wie ich mit meinem Schiffe in Hamburg liege, bei so einem fliegenden Buchhändler, der die ganze Weltliteratur mit der Schubkarre herumführt, einen kleinen Schmöker liegen. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri. Sie kennen se. Ich ooch. Hatte sie im Urtext gelesen, im Italienischen. Das hier war eine deutsche Übersetzung. War doch gespannt, wie man das im Deutschen wiedergeben konnte.
Kostet? Fuffzn Reichsfenge. Ich berappe. Mehr als fünfzehn Pfennige war der Schmöker auch nicht wert. Erstens war's überhaupt nur der mittlere Teil, das Inferno — die Hölle — und zweitens hatte der alte Dante im Senf gelegen. Das ganze Buch ein einziger Senffleck. Wenn's nicht etwas anderes gewesen war.
Also ich lese die deutsche Übersetzung von Dantes Hölle. Schön, sehr schön. Das heißt als Übersetzung. Denn sonst — — Sie wissen doch, wie die armen Luder da unten geschunden werden.
Und wie ich nun zur letzten Seite gekommen bin, diese herumblättere, die allerletzte Seite sehe, die noch einmal extra recht tüchtig mit Senf beschmiert worden ist, da sehe ich eine Handschrift, ganz fein säuberlich mit Tinte geschrieben, und was ich da gelesen habe, die Zeilen eines namenlos gebliebenen Dichters, das steht mir noch heute ganz deutlich vor den Augen.
An den göttlichen Dante, nachdem ich seine Hölle gelesen habe:
Um das Lächeln zu verlernen,
Braucht's nicht dort hinabzusteigen
Allen Schmerz, den Du gesungen,
Alle Pein und Qual und Wunden
Hab ich schon auf dieser Erde,
Hab ich in Florenz gefunden.
Klothilde machte eine Pause, ohne ihre Stellung zu verändern, dem in der Koje Liegenden immer tief in die Augen blickend.
»Sehen Sie, Waffenmeister«, fuhr sie dann fort. »Daran dachte ich als Sie vorhin sagten, Sie glaubten, das Lächeln für immer verlernt zu haben. Da mussten mir jene Zeilen natürlich sofort einfallen. Und was dieses Verslein auf mich damals für einen furchtbaren Eindruck gemacht hat, das kann ich gar nicht sagen. Das lag bei mir nämlich noch viel tiefer. Nämlich auch ich war schon einmal in Florenz gewesen. Hatte mich einmal bezecht wie eine Strandkanone, mit dem höllischen Absinth, war bewusstlos von der Straße aufgehoben worden. Wie ich wieder zu mir kam, lag ich im Asyl für Säuferinnen, AbsinthSäuferinnen.
Florenz war nämlich damals — zum Teil auch heute noch — durch und durch von Absinth verseucht. In keiner Stadt Italiens wird so viel Absinth getrunken als in Florenz. Und der Mann, der diesen Höllenstoff fabriziert, der namenloses Unglück in die Welt setzt, der ist in Italien dasselbe, was in Deutschland ein Kommerzienrat ist. Ist es durch seine ›Verdienste‹ geworden.
Jener Dichter hatte nur von Florenz gesprochen, um eine der schönsten Städte der Erde zu nennen, wo man schon unter lebenden Menschen all das Elend, all die Pein und Herzenswunden finden kann, die Dante in seiner Hölle geschildert hat.
Ich aber habe dies als tatsächlich in Florenz gefunden! In dem Asyl für AbsinthTrinkerinnen.
Drei Tage hielt man mich dort eingesperrt. Waffenmeister, Waffenmeister — was ich da zu hören bekommen habe!
Was mir da diese armen Frauen und Mädchen erzählt haben, als sie mir einen Blick in ihr Herz gewährten!
Meistenteils ganz gute, brave Weiber — aber der Absinth, ach, dieser höllische Absinth — aus der Familie gerissen — getrennt vom Gatten und von den Kindern — verstoßen und verachtet vom Vater und von Mutter — von den eigenen Kindern angespien... Waffenmeister, Waffenmeister — ich muss es wiederholen, ich kann nicht anders!«
Um das Lächeln zu verlernen,
Braucht's nicht dort hinabzusteigen.
Allen Schmerz den Du gefangen,
Alle Pein und Qual und Wunden
Hab ich schon auf dieser Erde,
Hab ich in Florenz gefunden!
Die Sprecherin schwieg.
Noch immer saß sie vorgebeugt da, dem Kranken tief und ernst in die Augen blickend, und ebenso blickte Georg.
»Klothilde«, sagte er dann, »was Sie doch für schöne Augen haben — wunderwunderschöne Augen!«
Klothilde schnitt eine fürchterliche Grimasse, streckte die Hand aus und krabbelte Georg mit dem Zeigefinger unterm Kinn.
»Ei, Sie kleiner Schäker, Sie wollen mir wohl die Cour schneiden?! Nee, Waffenmeister, is nich — is nich mehr — Klothilde hat abgesattelt.«
Sie lehnte sich wieder zurück, legte gleich alle beide Füße auf den Waschtisch und paffte mächtig.
»Es war nicht umsonst«, fuhr sie dann fort, »was ich Ihnen da erzählt habe. Es gibt ein Leid auf der Erde, das über jede Vorstellung geht. Die Abschießerei der 117 Amazonen durch unseren Hunnenzwerg ist dagegen die reine Kinderspielerei gewesen. Nicht viel anderes als wenn man mit einer persischen Insektenpulvergummiflinte in ein Wanzennest spritzt. Denn das waren ja überhaupt gar keine Menschen mehr, nicht einmal mehr mütterlich fühlende Wölfinnen. Wir haben nämlich überhaupt nichts mehr Lebendiges in jenen Felsenräumen gefunden. Zur Ehre Obis, um sich den Sieg über uns zu sichern, haben sie auch alle die Kinder geopfert, geschlachtet oder gar lebendig verbrannt, ihre eigenen Kinder, deren Väter jene Indianer und die englischen Matrosen waren. Was sagen Sie dazu?«
Diese Mitteilung machte trotz aller Fürchterlichkeit auf Georg nicht mehr solch einen Eindruck wie vorhin, da er den Tod des Matrosen erfahren hatte.
»Wie ist Attila eigentlich da hineingekommen?«
Klothilde berichtete, so weit sie selbst etwas davon wusste.
In dem vor nunmehr drei Tagen stattgefundenen Kampfe am Ufer um die Galeere waren nicht weniger als 87 Amazonen auf dem Platze geblieben. Überhaupt alle, welche zu dieser Galeere gehört hatten. Auf Georgs Rechnung allein waren elf gekommen, und hätten alle 85 Argonauten so gearbeitet wie ihr Waffenmeister, so hätte es ja 385 Tote geben müssen. Geschont war natürlich nichts worden, es gab keinen Pardon, was noch lebte, wurde nachträglich mit dem Gummiknüppel totgeschlagen, ohne dass der Betreffenden erst das Helmvisier gelüftet wurde, und so waren sie dann auch begraben worden.
Als die Amazonen auf den anderen Galeeren diesen furchtbaren Erfolg ihrer Feinde sahen, mochte sie kaltes Grausen überlaufen. Oder sie sahen eben die Zwecklosigkeit eines weiteren Kampfes zu Lande ein. Keine Galeere landete mehr. Sie alle zogen sich sogar sehr schnell zurück, als sie sahen, dass die Argonauten die erbeutete Galeere dazu benutzen wollten, um jetzt auch zu Wasser gegen sie vorzugehen.
Denn was es mit der geheimnisvollen Triebkraft der Galeeren für eine Bewandtnis hatte, das hatte man nun bald heraus. Wenn auch immer noch ein großes Rätsel dabei bestehen blieb.
Der Kielraum dieser metallenen Ruderboote bildete doch überhaupt ein geschlossenes Bassin. Der von dieser genommenen Galeere zeigte sich halb mit Wasser gefüllt. Weiter fand man in einem besonderen Kasten haselnussgroße Stücke einer Substanz, schwarz und glänzend wie Steinkohle, aber bedeutend schwerer.
Diese schwarze Masse hatte die Eigenschaft, das Wasser bei der bloßen Berührung in seine beiden Elemente zu zersetzen, also in Wasserstoff und Sauerstoff, welche Mischung man Knallgas nennt, was zwar unter Zischen geschah, aber ohne besondere Wärmeentwicklung.
Was das für eine Substanz war, das hatte Doktor Isidor in seinem Laboratorium bis jetzt noch nicht herausbekommen. Wohl hatte die Analyse schon Aluminium und Chlor in bestimmtem Mengeverhältnis ergeben, aber das dem Chemiker bekannte Chloraluminium war es nicht, das ist eine weiße, äußerst hygroskopische Masse.
Nun, damals hatte man sich nicht mit solchen Untersuchungen aufgehalten. Eine besondere Vorrichtung ganz einfach und doch überaus genial ausgedacht, ermöglichte, diese schwarze Masse in jeder beliebigen Quantität in den mit Wasser gefüllten Kielraum einzulassen, ohne diesen erst öffnen zu müssen, weiter erkannte man nun auch die beiden Röhren, die außen am Schiffskiel nach hinten liefen, das in dem geschlossenen Bassin entstehende Knallgas presste das Wasser mit hohem Drucke nach hinten zu den Röhren heraus, auf diese Weise schoss das Fahrzeug so schnell vorwärts, das verbrauchte Wasser konnte immer wieder ergänzt werden.
Als man diese Vorrichtung erkannt hatte, ging die Jagd sofort los. Den gefangenen Waffenmeister wieder befreien, darum handelte sich jetzt doch alles!
Aber schon die sämtlichen Galeeren waren auf dem Rückzuge begriffen, und man konnte sie nicht einholen, und als man auch von der letzten noch weit entfernt war, verschwand auch diese in einem Felsentore.
Dafür stand an einer anderen Stelle des Ufers Merlin und winkte, er wollte an Bord, und er brachte gleich die beruhigende Nachricht.
»Seid ohne Sorge, Euer Waffenmeister lebt noch und wird am Leben bleiben — ich selbst werde ihn retten, was diese Amazonen auch über ihn beschließen.«
Zwei Tage vergingen. Die Sorge wuchs ja allerdings wieder, zumal sich Merlin nicht mehr blicken ließ, aber man traute doch seinem Versprechen.
Und gestern war er mit einem Boote angekommen, in seiner Gesellschaft befanden sich Attila und Gruh und auch den Waffenmeister brachte er mit, in tiefem Schlafe liegend!
Merlin hatte nur einige Anordnungen über den Geretteten gegeben, den er wohl in künstlichen Schlaf versetzt, Gruh war überhaupt kein Erzähler, und was Attila berichten konnte, war auch nicht viel.
Er war Merlin im Walde begegnet.
›Das Maß dieser Weiber ist voll. Willst Du sie sämtlich mit Deinen Pfeilen vernichten?‹
So ungefähr hatte er gesprochen. Natürlich war der Zwerg mit Vergnügen hierzu bereit.
Er musste gleich mitgehen, auch Gruh, die beiden hatten sich mit genügend Pfeilen versehen müssen.
Sie waren auf die Galerie des Saales geführt worden, in dem die Weiber die Orgie mit Menschenopfern feierten.
Das andere wissen Sie ja selbst am besten!«, schloss Klothilde ihren Bericht. »Wir sind dann hingegangen und haben die Toten nur noch begraben.«
»Wer hat nun den Ausgang verschlossen?«, fragte Georg.
»Das wissen wir nicht.«
»Der Kapitän Satan selbst? Hat der es vielleicht selbst von vornherein darauf abgesehen, diese Weiber zu vernichten?«
»Das wissen wir nicht, kann ich nur wiederholen. Aber die Versicherung hat uns Merlin noch gegeben, dass wir in diesem Tale nun keinen Menschen mehr zu fürchten hätten, denn Kapitän Satan und seine Leute, obgleich sie noch hier hausten, kämen für uns gar nicht in Betracht. — So, mein lieber Waffenmeister, nun wissen Sie alles, was ich Ihnen hierüber berichten kann, jede weitere Frage ist zwecklos. Sonst kann ich Ihnen nur noch mitteilen, dass die Reparatur unseres Schiffes gute Fortschritte macht. In einigen Tagen könnten wir, wenn wir wollten, diese Gegend wieder verlassen. Nun aber noch etwas anderes, was Sie sehr interessieren wird: Wir werden in Bälde an Bord des Schiffes ein freudiges Familienereignis erleben.«
»Die Holle? Oder etwa gar die Chloe?!«
Wie schon gesagt, Klothilde war immer tiefernst, selten, sehr selten sah man sie lachen — aber dafür schnitt sie jetzt wieder eine ihrer fürchterlichen Grimassen.
»Na, mein lieber Waffenmeister, wenn Sie das an Bord unseres Schiffes ein besonderes freudiges Familienereignis nennen, wenn ein Hundevieh Junge bekommt, dann können Sie mir leid tun, und dann könnten wir ja Feste feiern...«
»Doch nicht etwa gar die Herzogin?!«
Jetzt riss Klothilde ihre Augen vor Staunen sperrangelweit auf.
»Waffenmeister, ich glaube, bei Ihnen piept's! Mensch — wie kommen Sie auf die Idee, unsere kleine Prinzess könnte...«
»Um Gottes willen, Klothilde, ich meine doch unsere vierbeinige Herzogin, die Marquise, die Königstigerin!«
Klothilde verringerte die Weite ihrer Augen nur um ein Geringes.
»Dann verstehe ich Sie immer noch nicht. Wie soll denn unsere Marquise zu Mutterfreuden kommen?!«
»Nun, durch unseren Leo.«
»Durch den Löwen?! Die Königstigerin?! Waffenmeister, Sie müssen doch noch nicht ganz bei Besinnung sein. Haben Sie denn etwa schon einmal gehört, dass eine Tigerin mit einem Löwen Junge erzeugen kann?«
Jawohl, das gibt's! Klothilde war eben diejenige, die hiervon noch nichts gehört hatte. Es ist allerdings auch noch gar nicht so lange her, dass solche Bastarde zwischen Löwen und Tiger erzeugt worden sind. Obgleich man schon im alten Rom davon gewusst zu haben scheint, bei den Kampfspielen im Zirkus sollen solche künstlich erzeugte Bastards verwendet worden sein. Mehrere Schriftsteller jener Zeit sprechen davon. Wir haben es ins Reich der Fabel verwiesen. Heute muss man es wieder als Tatsache anerkennen.
Klothilde musste sich belehren lassen.
»Nein, auch die Marquise ist es nicht, es kommt überhaupt gar kein Vierbeiner in Betracht.«
»Was, ein Mensch, eine von unseren Borddamen?!«, fuhr da Georg jäh empor.
»Ahem, jetzt haben Sie's erfasst.«
»Doch nicht... die Frau Major von Tonn?!«
»Nee.«
»Die Gräfin von Mohakare?!«
»Ooch nich.«
Man sah es Georg an, wie er sein Hirn marterte, wie er etwas aussprechen wollte, es aber nicht wagte.
»Eine von... den gefangenen Amazonen?«
»Mensch, da verlangen Sie zu viel, die sind doch tot!
Bleiben Sie nur bei den Lebendigen, raten Sie weiter. Ich will Ihnen aber jedes unangenehme Gefühl dabei ersparen. Es hat nicht etwa ein Techtelmechtel stattgefunden, es ist eine verheiratete Dame. Na, kommen Sie nun auf den Trichter?«
»Eine verheiratete Dame?«, wiederholte Georg. »Ja, welche hätten wir denn da außer den schon Genannten noch an Bord?!«
»Wirklich keine mehr? Waffenmeister, Sie müssen durch den zwanzigstündigen Schlaf doch eine gute Portion von Ihrem Verstehstemich verloren haben. Sie kommen wirklich nicht drauf? Eine Dame, die etwas kurz geraten ist...«
»Was, doch nicht etwa die Frau Rosamunde?!«
»Ahem, jetzt haben Sie's erfasst.«
»Diese Zwergin?! Wie ist denn das möglich?!«
»Was noch niemals geschehen ist, kann noch immer jeden Tag möglich werden. Noch immer geschehen Zeichen und Wunder. Oder da braucht auch von einem Wunder gar keine Rede zu sein. Das macht eben die gesunde Seeluft und die gute Schiffskost, oder vielleicht haben auch die Klitsche mitgeholfen — Doch Spaß beiseite! Frau Rosamunde ist in bester Hoffnung, in Bälde Mutter zu werden. Und wenn sonst alles klappt, dann müssen's Drillinge werden.«
»Was, Drillinge! Woher wollen Sie denn das wissen?!«
»Weil ich's geträumt habe. Faktisch ich habe vor acht Tagen geträumt, Frau Rosamunde hätte drei Drillinge bekommen...«
»Drei Drillinge?! Also gleich neun zusammen?!«
»Sie sind ein Quasselkopp! Nur dreie einfach, meine ich. Ich habe nichts von meinem Traume erzählt, er war ja doch zu blödsinnig, und nun ist's doch so weit gekommen. Obgleich ich sonst nicht an solche Wahrträume glaube. An Drillinge dürfen wir freilich nicht denken. Und doch, vorkommen kann so etwas. Wir haben so einen Fall in unserer Verwandtschaft gehabt. Eine Tante von mir, ein ganz zartes Püppchen, wenn auch nicht gerade eine Zwergin, hatte einmal Drillinge, lauter Jungen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann müssen es noch heute stramme Bengels sein.«
»Und ich, Klothilde, ich habe eine Tante, die Frau von meines Vaters Bruder, die hat zweimal Zwillinge und zweimal Drillinge bekommen, zusammen zehn Stück.«
»Auf einmal?«
»Nee. In drei Portionen, innerhalb von fünf Jahren.«
»Hm. Immerhin. Das ist viel. Da hat ihr Mann wohl immer in der Kneipe gesessen?«
»In der Kneipe gesessen? Wie meinen Sie das?«
»Kennen Sie nicht die Geschichte vom Herrn Huber?«
»Was für ein Herr Huber?«
»Lassen Sie sich erzählen.«
Und Klothilde erzählte.
Herr Huber sieht nach langjähriger kinderloser Ehe dem ersten Familienereignis entgegen. Er zieht es vor, da er ja doch dabei ganz überflüssig ist, diesen großen Moment in der Kneipe vorübergehen zu lassen, womit seine Frau auch ganz einverstanden ist.
Also Herr Huber sitzt nebenan seelenruhig beim Bier. Da kommt die Hausmagd angelaufen.
»Herr Huber, ich gratuliere! Ein strammer Junge ist angekommen!«
»Schön, schön, ich danke Dir, meine liebe Annemarie!«, sagt Herr Huber freudestrahlend. »Sage meiner Frau, ich hätte mir grad noch eine frische Maß bestellt — dann komme ich nach Hause.«
Herr Huber hat die frische Maß eben erst angetrunken, da kommt die Annemarie schon wieder gelaufen.
»Herr Huber, Herr Huber, es sind Zwillinge — es ist noch ein Mädchen nachgekommen!«
»Sooo? Na, schön. Sage meiner Frau, ich will noch hier die Maß austrinken, dann komme ich nach Hause.«
Herr Huber ist mit seiner Maß noch nicht ganz fertig, da kommt die Annemarie zum dritten Male angelaufen...
»Herr Huber, Herr Huber, Herr Huber — es ist auch noch ein zweiter Junge nachgekommen, es sind Drillinge!«
Da springt der Herr Huber auf.
»Himmeldonnerwetter noch einmal! Nun wird's aber die höchste Zeit, dass ich nach Hause komme! Sonst macht die noch 's ganze Dutzend voll!«
Klothilde schwieg, blickte den kranken Mann an.
»Na, fühlt sich der melancholische Wurm an Ihrem Herzen noch nicht gekitzelt?«
»Nein, Klothilde, mir ist noch immer durchaus nicht lachhaft zumute. Sagen Sie mal, Klothilde — mir fällt es gerade ein — Sie sind doch katholisch, nicht wahr?«
»Na und wie! Bis auf die Knochen und noch tiefer!«
»Römischkatholisch?«
»Römischkatholisch — immer nur römisch.«
»Also griechischkatholisch sind Sie in Ihrem religiös bewegten Leben noch nicht gewesen?«
Da plötzlich legte Klothilde beide Hände an ihre linke Backe und fing zu heulen an wie ein Kettenhund, den man zu füttern vergessen hat.
»Aaaauuuu. Jaaaa — ich bin schon einmal griechischkatholisch gewesen — aaauuuu...«
»Na nu!«, staunte Georg, wenn er auch noch kein Lächeln übrig hatte. »Was ist denn plötzlich los mit Ihnen?!«
»Aaaauuu!«, heulte Klothilde nach wie vor, sich immer die linke Backe haltend. »Jaaaa, ich bin einmal griechischkatholisch gewesen — einmal und nicht wieder — aaauuuu mir tun noch jetzt alle Zähne weh, wenn ich dran denke, wie ich getauft und gefirmelt worden bin...«
»Hat denn das so weh getan?«
»Lassen Sie sich erzählen, wie mir's dabei ergangen ist!«
Klothilde gab ihre Heulerei auf, brannte sich eine neue Zigarre an und erzählte. Und zwar lassen wir sie diesmal mit eigenen Worten sprechen.
»In Odessa war's. Ich war von einem englischen Dampfer abgemustert worden, hatte als Stewardess auch sonst fein verdient, und in Odessa kann man leben — ich hatte wieder einmal ganz mächtig gebechert.
Als ich wieder wusste, dass ich Klothilde Gracco hieß, hatte ich keinen roten Penny und keine Kopeke mehr im Sacke, mein Dampfer war schon fort und mit ihm meine sämtlichen Sachen. Das Päckchen, das ich anhatte, war ja noch ganz gut, nur der Kittel unten ein bisschen ausgefranst, aber an den Füßen hatte ich ein Paar riesige Galoschen, die reinen Elbkähne ohne Hacken, ohne Sohlen, und vorne guckten mir die Zehen raus. Das heißt, ursprünglich hatte ich ganz feine Stiefelchen angehabt. Wie ich in meinem Trane zu diesen Dingern gekommen war, weiß ich heute noch nicht.
Na, so schlimm stand es ja noch nicht mit mir. Klothilde weiß sich schon zu helfen. Ich war auch nicht zum ersten Male in Odessa. Also zuerst nach Simons Heuerbüro. Was in Odessa anmustert, muss alles durch die Hände dieses deutschen Juden gehen, etwas anderes gibt es nicht.
Also ich gleich hin. Herr Gott, wie ich mich auf der Straße genierte, obgleich ich doch sonst gar nicht zimperlich bin. Alles blieb doch stehen und guckte mir nach. Denn stellen Sie sich nur vor, Waffenmeister — ich war wirklich pompös angezogen, einen blauen Atlasrock und oben eine knallrote Seidenbluse, das alles hatte in den zwei Lumpentagen gar nicht so gelitten, nur der Rock war unten ein bisschen abgetreten — aber nun vor allen Dingen an den Füßen diese durchlöcherten Elbkähne ohne Hecken und Sohlen...
Na, ich lande glücklich in dem Heuerbüro. Der alte rothaarige Judas ist selber da, empfängt mich, er kennt mich noch von früher, der Seelenverkäufer hat mit mir schon einmal ein Bombengeschäft gemacht.
›Jawohl, Klothilde, ich habe etwas für Dich. Du kannst sofort auf einem erstklassigen Salonluxusdampfer ankommen, als erste Stewardess in der ersten Salonkajüte. Monatlich zwar nur zehn Rubel Heuer, aber Du weißt doch, wie es da Trinkgelder regnet.‹
›Was ist denn das für ein Salonkasten?‹, fragte ich misstrauisch. Denn den alten Juden kannte ich schon.
Schließlich musste er denn auch gestehen, dass es ein griechisches Pilgerschiff war, durch und durch verrottet, das Ungeziefer hatte sich bald schon durch die Eisenplatten gefressen.
Na, immerhin, ich nahm die Heuer an. Nämlich weil ich die Hälfte des ersten Monats im voraus bekam. Fünf Rubel. Die nahm ich — und machte mich dann natürlich unsichtbar. Ich fuhr doch nicht etwa auf so einem griechischen Pilgerkasten unter russischer Flagge, wo man Läuse massenhaft bekommt, aber keinen einzigen Kopeken Trinkgeld. Und das wusste der alte Simon natürlich auch, dass ich die Stelle nicht antrat, dann mit dem Vorschuss durch die Lappen ging. Aber das war dem doch ganz egal, dem kam es doch nur drauf an, die anderen fünf Rubel einzustecken.
›Ja aber, Klothilde, was ich noch sagen wollte‹, fängt da der Jude noch an, wie ich schon unterschrieben habe, ›nicht wahr, Du bist doch griechischkatholisch?‹
›Ich! Nee. Ich war noch niemals griechisch gewesen.‹
›Ich denke doch?!‹
Da hatte der alte Simon eben falsch gedacht.
Ich war damals gerade evangelisch — evangelischlutherisch — oder reformiert — nee, lutherisch — oder halt, ich glaube, ich war damals Methodistin — oder... na, das ist ja ganz egal, was ich damals war, jedenfalls nicht griechischkatholisch.
›Ja, das hilft nix, Klothilde, De musst werde griechischkatholisch wenn De willst fahre auf diese Schief. Und, heute Mittag noch musst De sain an Bord.‹
›Ja, wenn's möglich ist, wenn das so fix geht...‹
›Na warum denn nich? De gehst hien in de Sakristei von den frommen Schwästern zum blutjen Rock, was da ies in den Probandystraße, un De sagst, De willst treten ein in de allein sälig machende Kärche, un De wärrschst aufgenomme mit Frraiden, un De wärrscht gefärmelt sofort, un wenn De wärrscht nich hamm ä Poor ganze Stiefelsohle, wärrschte bekomm ä Poor gute, feine Stiefelche...‹
Was, auch ein Paar neue Stiefel bekam ich, wenn ich griechischkatholisch wurde? Na, dann allemal, dann mal los! Zumal ich vorher auch nicht die fünf Rubel bekam, als bis die Stewardess die richtige Religion hatte, sonst galt der Kontrakt gar nicht.
›Und was ich noch wollte sagen, Klothilde‹, ruft mir der alte Simon noch nach, ›wenn De wärrscht geschickt zum Färmeln, lass Dich nich schicke in de Kapelle, was da haisst de Verklärungskapelle, da färmelt drin ä Poppe, wo da heißt Pope Papapopulos, das is ä graußer Mann, un hat so grauße Hände, De wärrschst...‹
Weiter kam er nicht, er wurde geschäftlich unterbrochen.
Ich segelte auf meinen beiden Elbkähnen schleunigst ab, in die Probandystraße in die Sakristei der frommen Schwestern zum heiligen Rock.
Um die Warnung, die mir Simon noch nachgerufen kümmerte ich mich gar nicht, dachte gar nicht mehr daran.
Es waren wirklich nette, feine, höchst freundliche Damen, denen ich meinen sehnsüchtigen Wunsch vortrug.
Gewiss, konnte ich haben, sofort. Brauchte ich etwas? Mein auffallendes Kleid hatte nichts zu sagen, da kam bei der Firmelung ein schwarzer Überhang drüber? Neue Stiefel? Gewiss, herzlich gern. Ich bekam sofort einen Gutschein, konnte mir da und da ein Paar neue Stiefel holen. Und außerdem bekam ich einen Schein, dass ich mich in der Verklärungskapelle zu melden habe, der Pope Papapopulos wurde gebeten, mir sofort eine Katechismuslektion zu geben und an mir dann die heilige Firmelung zu vollziehen. Ich sockte wieder los. Also richtig hatte ich doch den Popen Papapopulos bekommen. Denken tat ich mir noch immer nichts dabei.
Ich fand die Verklärungskapelle. Richtig, der Pope Papapopulos war ein großer, ungemein knochiger Mann mit Pfoten, mit denen nur die unseres Napoleons konkurrieren können.
Ich trug mein Anliegen vor, gab meinen Zettel ab und wurde sofort in den Katechismusunterricht genommen. Nur eine halbe Stunde, das genügte. Während dieser halben Stunde, da ich allein mit dem Priester in der Sakristei saß, dachte ich doch manchmal daran, weshalb mich denn der alte Simon gerade vor diesem Popen Papapopulos gewarnt haben mochte.
Dieser Mann mittleren Alters war ein wirklich würdevoller Diener Gottes, fasste seinen Beruf mit wirklich heiligem Ernste auf, wusste zu sprechen, dass ich wirklich ganz gerührt wurde. Hauptsächlich freilich interessierte ich mich während dieser Katechismusstunde dafür, wie in den beiden langen schwarzen Locken, die ihm hüben und drüben unter dem Käppchen hervorquollen, die Läuse öffentliches Schauturnen machten, und dann, wie die beiden Ärmel des schwarzen Kaftans, aus denen die ungeheuren roten Tatzen hervorsahen, wie die silbernen Spiegel glänzten, weil er sich mit diesen Ärmeln aller drei Sekunden die Nase wischte. Aber sonst ein tadelloser Priester.
Ich war instruiert, konnte das Glaubensbekenntnis herbeten, konnte gefirmelt werden. Wenn Sie die Verhältnisse nicht kennen sollten, Waffenmeister, so bemerke ich, dass in der griechischkatholischen Kirsche im Gegensatz zur römischen die Taufe mit der Firmelung oder Firmung zusammenfällt. Sofort nach der Taufe wird das Kind gefirmelt. Ist das Taufkind aber schon älter, so wie ich, dann wird es überhaupt nicht getauft, sondern nur gefirmelt. Dann ist in der griechischen Kirche zu dieser Firmelung jeder Priester berechtigt, während in der römischen Kirche sie nur ein Bischof vollziehen darf. Sonst ist die Zeremonie so ziemlich dieselbe. Der Unterschied besteht fast nur darin, dass bei der römischen Firmelung nur die Stirn mit dem Chrisma, dem heiligen Öle, gesalbt wird, bei der griechischen auch Augen, Nase, Ohren und Füße.
Also ich war fertig, meine schwarze Kutte hatte ich schon an und folgte dem Popen in die Kapelle. Die Firmelung ist eine öffentliche. Insofern, als die Kirche oder Kapelle ja überhaupt Tag und Nacht offen steht.
Es sind denn auch einige fromme Leutchen drin, zumal Weiber, die sich heranmachen, um der Zeremonie beizuwohnen.
Da fällt mir auf, was die meisten dieser Frauenzimmer für schadenfrohe Gesichter machen, sogar so recht hämisch grinsen, wie sie hören, dass ich gefirmelt werden soll.
Aber ich hatte gar keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weshalb die denn so schadenfroh grinsten. Es ging sehr schnell. Der Pope sagte seine Sprüchlein her, alle lateinisch, und als ich, die ich dabei knien musste, wieder aufgestanden war, salbte er mir Stirn, Augen, Nase, Ohren und Füße mit Öl ein, dabei sagend: Ich bezeichne Dich mit dem Zeichen des Kreuzes, und kräftige Dich mit dem Chrisma des Heils im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes Amen.
Und nachdem der Pope dies gesagt hat, holt er mit seiner Rechten weit aus und knallt mir eine in meine linke Gesichtshälfte, dass ich doch gleich Denke, meine sämtlichen Zähne sollen batterieweise den Parademarsch zum Rachen raus machen! Aaaaaauuuuuu!«
Und so heulend bedeckte Klothilde wiederum ihre linke Backe mit beiden Händen, eine furchtbare Schmerzensgrimasse schneidend.
»Ja in aller Welt weshalb denn das?!«, staunte Georg...
Er hätte das als ein Mann, der in der Welt herumgekommen, eigentlich selbst wissen können, brauchte deswegen kein Katholik zu sein.
Bei der Firmelung, in der römischen wie griechischen Kirche, erhält der Firmling zum Schluss vom Priester einen Backenstreich zur Erinnerung an die Leiden Christi unter Pilatus, wo er doch auch von den Kriegsknechten geohrfeigt worden ist, und überhaupt als Hinweis auf die eigenen Widerwärtigkeiten um des Glaubens willen
Natürlich ist das immer nur ein ganz sanfter Backenstreich, nur ein Berühren der Wange. Es ist doch eben nur ein Symbol. Dieser russische Pope Papapopulos aber nun nahm sein Amt von der ernstesten Seite, auch diese Zeremonie, Christus hat doch auch nicht nur solche sanfte Backenstreiche bekommen, und dazu nun war er ein so großer, bärenstarker Mann mit solch ungeheuren Pfoten — da wurde aus dem sanften Backenstreich immer eine knallende Ohrfeige, dafür war er in ganz Odessa berühmt und berüchtigt.
So hatte Klothilde noch mit kurzen Worten erklärt, und dann fing sie wieder zu winseln an.
»Aaaaauuuuu! So eine Ohrfeige hatte ich noch nie bekommen. Acht Tage lang bin ich mit einer geschwollenen Backe herumgelaufen — so dick — konnte nichts essen, alle meine Zähne waren locker — so sauer habe ich mir noch nie ein Paar Schuhe verdient — nein, ich werde niemals wieder griechischkatholisch — nich in de Hand — nich in de Diete. Na, was gibts denn da zu lachen?«
Ja, da war es geschehen!
Da erscholl in der Kabine ein herzliches, ein dröhnendes Lachen!
Und da war Georg wieder gesund.
Da konnte er mit gleichen Füßen zur Koje herausspringen.
Klothilde hatte den melancholischen Wurm, der ihm am Herzen saß und fraß, glücklich totgekitzelt.
Beginn des 78. Kapitels in der Lieferung 31
der Originalausgabe, Seite 1926
Ende des 111. Kapitels und Beginn des 112. Kapitels
in der Lieferung 45 der Originalausgabe, Seite 2865
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