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ROBERT KRAFT

DAS GAUKLERSCHIFF

DIE IRRFAHRTEN DER ARGONAUTEN

BAND 2

Cover Image

RGL e-Book Cover
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Ex Libris

Erstveröffentlichung als Kolportageroman unter dem Titel
Das Gauklershiff. Die Irrfahrten der Argonauten,
Dresdner Roman-Verlag, 1912

Überarbeitete Neuauflage
4 Bände in neuer deutschen Rechtschreibung
Verlag Dieter von Reeken, Lüneburg, 2022

Quellenangabe
Das Gauklerschiff. Die Irrfahrten der Argonauten.
Lieferungs-Roman von Robert Kraft. Dresden:
Dresdner Roman-Verlag 1912, Kapitel 39—77
(Lieferungen 15 teilweise bis 31 teilweise = S. 956—1926)

Abbildungsnachweis:
Braatz, Thomas (Archiv): Einbandvorder- und -rückseite
Hertting, Georg: Einbandillustration und sämtliche
Illustrationen im Text Dresdner Roman-Verlag: S. 2

Einbandvorderseite:
Das Gauklerschiff. Die Irrfahrten der Argonauten.
Lieferungs-Roman von Robert Kraft. Dresden:
Dresdner Roman-Verlag 1912, Lieferung 1, vordere
Umschlagseite; Frontispiz auf Seite 2: A.a.O., S. 1 (unpaginiert)

Texterfassung und -aufbereitung:
Ralf Schönbach und Helmut Prodinger

Korrektur:
Ellen Radszat und Dieter von Reeken

Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe:
Dieter von Reeken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg
www.dieter-von-reeken.de

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2024
Fassung vom: 2024-12-DD

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle: Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlegers)

Alle von RGL hinzugefügte Inhalte sind urheberrechtlich geschützt

Link zu weiteren Werken dieses Autors



Illustration

Das Gauklershiff, Cover von Lieferung 1


Illustration

Das Gauklershiff, Titelblatt von Lieferung 1


Illustration

Das Gauklerschiff, Band 2
Verlag Dieter von Reeken, 2022


INHALTSVERZEICHNIS

39. Kapitel:
Die Königin der Amazonen

40. Kapitel:
Die Blauen und die Gelben

41. Kapitel:
Vor welchem Schicksal uns der dumme Jungenstreich
bewahrt hat und was er uns sonst noch einbringt

42. Kapitel:
Die Freifrau von der See

43. Kapitel:
Hexengold und Hexenschüsse

44. Kapitel:
Neue Werbungen

45. Kapitel:
Wie ich empfangen werde und was ich auf dem Plateau erlebe

46. Kapitel:
Drohende Konflikte und wie ich sie zu lösen weiß

47. Kapitel:
Das Indianerspielen wird ernst

48. Kapitel:
Statt Schätze nur ein Revolver

49. Kapitel:
Der Pirat

50. Kapitel:
Das Geheimnis der beiden Schwestern

51. Kapitel:
An Bord des Piraten und dessen Ende

52. Kapitel:
Rätselhafte Vorgänge

53. Kapitel:
Eine Botschaft aus unbekannter Welt

54. Kapitel:
»In der Reitzenhainer Straße
Hat'ch ne Kaffeefrau erhängt«

55. Kapitel:
Die Glocke läutet!

56. Kapitel:
Der Stowaway

57. Kapitel:
Die Taube der Argonauten

58. Kapitel:
Vor Konstantinopel

59. Kapitel:
Die Mysterien von Seeland

60. Kapitel:
Verirrt

61. Kapitel:
Der Zauberspiegel

62. Kapitel:
Professor Beireis

63. Kapitel:
Eine verunglückte Walfischjagd

64. Kapitel:
In den Händen von Seelenverkäufern

65. Kapitel:
In einem rätselhaften Lande

66. Kapitel:
Beim Mäusekönig

67. Kapitel:
Arabische Magie

68. Kapitel:
Eine Totenbeschwörung

69. Kapitel:
Was mir die »Toten« erzählen

70. Kapitel:
Der Spieß wird umgekehrt

71. Kapitel:
Auf dem Rückweg

72. Kapitel:
Auf der Fahrt nach Westen

73. Kapitel:
Das Schwert des Cid

74. Kapitel:
Der Untergang der »Argos«

75. Kapitel:
Der Fürst des Feuers

76. Kapitel:
An Bord der »Schwester Anna«

77. Kapitel:
Ein unbegreiflicher Handstreich

*

39. Kapitel

Die Königin der Amazonen

Originalseiten 956 — 994

»Haben Sie ein besonderes Ziel, Mister Carlistle?«

»Ach ja, bitte.«

»Na, da schießen Sie mal los.«

Ich machte mit dem Herrn, der auf Vancouver bei jeder nächtlichen Gelegenheit in seinem Rasierspiegel mit dem Zirkel zwischen den Sternen herumgestochert hatte nicht viel Federlesens. Unsympathisch war er mir durchaus nicht, im Gegenteil — aber wenn er gehen wollte, ich hätte ihn nicht zurückgehalten.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich etwas erwähnen.

»Haben Sie ein Glück, so einen halben Milliardär zu finden, der mit seinem Gelde Ihr ganzes Schiff unterhält!«

So und ähnlich ist unserer Patronin gar oft gesagt worden.

Von Sachunverständigen.

Da war gar kein besonderes Glück dabei.

Ein Mädchen hat nichts weiter als eine gute Figur und eine hübsche Larve — blutarm braucht sie nicht zu sein, Blut hat sie genug, aber sonst keinen Groschen — und sie wird wegen ihrer guten Figur und ihrer hübschen Larve von einem reichen Manne geheiratet, bei dem sie es auch wirklich gut hat.

Kommt das nicht häufig genug vor? Kennt wohl nicht jeder von uns solch einen Fall? Ob so etwas bei den drei Milliarden Menschen, die es auf der Erde gibt, nicht jeden Tag passiert?

Ja, und was lag denn hier anderes vor? Der halbe Milliardär hatte sich in unser Schiff, das eine gute Figur besaß, einmal verliebt, er fühlte sich glücklich zwischen uns — warum sollte er sich da das nicht leisten?

Und bei uns war es eigentlich ganz anders. Unser Schiff war zwei Millionen Mark wert, hatte ein Betriebskapital von acht Millionen. Wir hatten den doch überhaupt gar nicht nötig. Wir konnten unser Schiff arbeiten lassen und dabei noch viel mehr verdienen. Kapitän Martin war mit seinem Charterpreis ganz bescheiden gewesen. Dafür hatten wir doch auch unsere Freiheit verkauft. Freilich waren wir so vorsichtig gewesen, dass die Ehe innerhalb von 24 Stunden wieder geschieden werden konnte.

Nein, da war absolut kein besonderes Glück dabei, dass der uns gechartert hatte. —

»Na, da schießen Sie mal los, wohin wollen Sie?«

Er hatte aus den Sternen seines Rasierspiegels wieder eine geografische Ortsbestimmung herausgestochert, bis auf die Sekunde.

Der angegebene Punkt lag auf dem zweiten Grade nördlichen Breite zwischen Celebes und Halmahera, welches ebenfalls eine ganz beträchtliche Insel des malaiischen Archipels ist. Man sehe auf der Karte nach, wie auch ich es jetzt tat.

»Können Sie haben. Wenn wir dort zwischen die vielen Inselchen kommen, die Fahrstraßen sind noch nicht ausgelotet...«

»Ich weiß bestimmt, dass das Schiff dort ankern kann.«

»Das wird sich ja finden. Jedenfalls nähern wir uns der Stelle, so weit als wir können. Vorausgesetzt, dass die Patronin damit einverstanden ist.«

Ich begab mich hin zu ihr. Natürlich war die damit sofort einverstanden. Die wurde doch gleich von der Neugierde geplagt.

»Was will er denn dort?«

»Da musst Du ihn selber fragen!«, war meine Entgegnung, wenig höflich, aber ehrlich.

Denn ich hätte mir doch lieber die Zunge abgebissen, ehe ich den nach dem »Warum« gefragt hätte.

Zweiundzwanzig Tage später, am 26. Januar, gingen wir genau an der bezeichneten Stelle vor Anker, mitten in der Lagune einer der hier zahllosen kleinen Koralleninseln.

Hier wollte Mister Carlistle das Erwachen seiner Traumkönigin erwarten, so stand es in den Sternen geschrieben, und da dies niemals erfolgen würde, einfach weil sie mausetot war, so lägen wir wahrscheinlich heute noch dort, wenn nicht etwas anderes dazwischengekommen wäre.

Aber zwei ganze Monate blieben wir hier doch liegen, die Patronin hatte Geduld, die wartete ebenfalls auf das Erwachen der Toten — na, und wir anderen wussten uns die Zeit schon zu vertreiben.

Es war also eine Koralleninsel, von anderthalb Kilometer Durchmesser, stark mit Kokospalmen bestanden, in der Mitte ein Brunnen, das sich ansammelnde Regenwasser enthaltend, nur bei höchster Flut einen brakigen Geschmack annehmend, umringt von dem üblichen Barrierenriff, höher aufgebauten Korallen, das immer mehrere Durchstiche hat, Inlets genannt, ein solches hatten wir ausgelotet, es hatte uns bei gutem Wetter eine glatte Durchfahrt erlaubt.

Alle diese kleinen Inseln, die ihre Entstehung nur den bauenden Korallen verdanken, daher kein Gebirge haben, sind unbewohnt. Nur zu gewisser Zeiten kommen die Insulaner von den bewohnten Inseln, um die reifen Kokosnüsse einzusammeln. Einmal herrscht hier keine Wohnungsnot, und zweitens ist es überhaupt gar nicht möglich, sich auf diesen ungeschützten Koralleninseln für die Dauer niederzulassen. Die Äquinoktialstürme werfen alles nieder, was der Mensch hier gebaut hat, jeder Halm würde vor der Ernte abgeknickt werden, nur die schlanke Kokospalme vermag diesen Stürmen zu trotzen, sie mögen blasen wie sie wollen, deshalb eben hat die Natur sie hierher gepflanzt. Selbst die Schweinezucht, die man versucht hat, erwies sich als unmöglich. Die Tiere werden einfach ins Meer geweht. Diese kleinen Koralleninseln, so verlockend sie auch aussehen, kommen für die Kultur der Menschheit nicht in Betracht.

Nun, die nächste Sturmzeit war noch fern, und wir hatten sie auch nicht zu fürchten, unser Schiff lag auf diesem Korallengrund fest vor Anker, diese Ketten brachen nicht, das war wieder etwas ganz anderes. Aber man kann doch nicht etwa in der Lagune jeder dieser Inselchen so ein Schiff verankern.

Also zwei Monate brachten wir hier zu, und wir wussten uns die Zeit zu vertreiben. Eben mit unseren gewöhnlichen Sportübungen. Und wie ich meine Kinder ausbildete, das werden die später geschilderten Resultate zeigen. Jedenfalls war ich höchst zufrieden mit ihnen.

Nur einmal hatte ein malaiisches Anlegeboot mit 20 Mann, die unsere Masten über dem hohen Barrierenriff erblickt, einen Besuch abgestattet. Doktor Isidor hatte den Dolmetscher gespielt, sie kamen von dem Festland herüber, worunter sie aber die Insel Halmahera verstanden, 100 Kilometer von hier entfernt, wollten nach dem Stande der Kokospalmen sehen. Sie sprachen von einem Radscha von Maladekka, oder so ähnlich, dem sie untertänig seien, dem auch diese Inseln hier gehörten — aber dieser Name war weder auf der Karte noch im geografischen Wörterbuche zu finden, und kein Gedanke dran, dass die uns diese Gegend auf einer Karte hätten zeigen können. So ein buntes Papier hatten die überhaupt noch gar nicht gesehen.

Sie wurden reichlich bewirtet und segelten wieder ab. Wir glaubten, nun würden die uns auch bald andere Besucher auf den Hals schicken, aber vier Wochen vergingen, und kein anderes Boot zeigte sich.

Es war am 24. März, als ich in früher Morgenstunde an Deck stand und über einen Plan nachsann. Ich wollte gern einmal nach Menado, dem uns nächsten Hafen auf Celebes, mit Anschluss an das Telegrafenkabel. Ich wollte einmal nach England telegrafieren. Das brauchte aber die Patronin nicht zu wissen. Und wenn ich gesagt hätte, ich wollte nach Hause an meinen Vater telegrafieren, das hätte sie mir nicht geglaubt.

Nun, sie brauchte von meiner Telegrafiererei ja überhaupt nichts zu wissen. Wir brauchten zwar nichts, meine Jungen und Bengels — Jungen sind die Erwachsenen, Bengels die Kinder — hatten gar keine Sehnsucht nach Frischfleisch, wir hatten da Ersatz genug, aber ich wollte der Patronin schon plausibel machen, dass Frischfleisch doch gut sei, es könne doch einmal der Skorbut ausbrechen.

Wenn nicht das ganze Schiff hinging, weil der Sternkieker fürchtete, in dieser Zeit könne das Erwachen seiner Traumkönigin verpasst werden, so genügte auch schon die Barkasse. Die machte die Fahrt nach Menado in 12 Stunden, das Wetter war jetzt noch das denkbar günstigste und würde auch noch einige Zeit so anhalten, und in Menado würde es doch Schweine geben, da brachte die Barkasse einige Dutzend lebendig mit, die wir hier nach und nach schlachteten, vielleicht auch einige Schafe und Kälber, und außerdem dachte ich auch schon an eine großartige Karnickelzucht. Mit Karnickeln muss man auf diesen Koralleninseln doch etwas anfangen können, das sollte man einmal probieren. Nahrung finden die immer, bei den Stürmen verkriechen sie sich in ihren Löchern, und Schaden können sie auf diesen Inseln doch nicht anrichten.

Ja, eine Karnickelzucht anlegen, das war ein Gedanke von Schiller, ich hatte wieder einmal ein Ei des Columbus gelegt! Nur erst einmal ein Karnickelpaar haben, um es als Adam und Eva in den Garten Eden zu setzen!

So hing ich meinen Gedanken nach und blickte dabei nach dem nahen Strande, auf dem meine großen Jungen den verschiedensten Sportübungen oblagen, wie auch meine kleinen Jungen zur Hälfte Fußball spielten, zur anderen Hälfte unter des ersten Bootsmanns Leitung ein Landungsmanöver in den beiden Jollen übten. Einige gondelten auch unter Mister Tabaks Steuerung in dessen Walfischboot herum, das heißt sie schossen herum, und ich bemerkte schon mit bloßen Augen, wie einige der kleinen Kerls, und er hatte sich gerade die allerkleinsten ausgesucht, die Zunge zum Halse herausreckten, aber die Knirpse pullten noch immer mit ungeschwächtem Eifer.

Da kam Mister Carlistle in größter Aufregung angestürzt.

»Herr Waffenmeister, Herr Waffenmeister — sie ist erwacht!«

Es machte auf mich nicht den geringsten Eindruck. »Schon wieder einmal?«, fragte ich kalt zurück.

Ganz richtig war es im Kopfe dieses jungen Mannes ja nie gewesen, und es wurde immer schlimmer mit ihm. Nicht nur, dass er nach wie vor im Traume mit ihr verkehrte, sondern jetzt sah er sie auch manchmal im wachen Bewusstsein lebendig vor sich. Visionen. Er konnte schon Traum von Wirklichkeit nicht mehr richtig unterscheiden.

Die Inderin war eben mausetot. Ausgezeichnet einbalsamiert. Auf eine uns unbekannte Weise. Auch Juba Riata gab schon längst zu, dass sich seine Hunde damals getäuscht hatten. Solch eine einbalsamierte Leiche, die nicht in Verwesung geht, war ihnen eben etwas Neues gewesen, da hatten sie sie als ein noch lebendiges Wesen angekläfft.

»Schon wieder einmal?«, fragte ich also zurück.

»Sie hat sich auf das Sofa gesetzt!«

»Nanu!«, musste ich allerdings jetzt staunen.

So weit, dass die Leiche aufstand und sich anderswo hinsetzte, hatte es unser Sternkieker freilich noch nicht getrieben. Er sah sie sich manchmal nur bewegen, den Mund öffnen, die Augen aufschlagen, atmen und dergleichen.

»Und sie sitzt noch auf dem Sofa?«

»Sie sitzt noch da.«

»Nanu! Ganz lebendig?«

»Nein, nach wie vor starr, aber sie hat sich auf das Sofa gesetzt.«

Ich ging mit ihm hin in die Kabine, in der sie auf einem besonderen Tische standesgemäß aufgebahrt lag, festgeschnallt...

Nein, sie lag eben nicht mehr auf der Bahre!

Sie saß dort in einer Ecke des Sofas!

Ich starrte lange Zeit, ehe ich eine Untersuchung begann, nachdem ich auch die Patronin und Doktor Isidor und Kapitän Martin und die sonstigen Hauptpersonen hatte rufen lassen.

Die fanden ebenso wenig wie ich eine Erklärung für dieses Rätsel.

Wenn das Mädchen sich hatte bewegen können, so war es recht wohl möglich, dass sie sich allein losgeschnallt hatte. Sie konnte mit der Hand nach dem einen Arm reichen, dann den Brustriemen, dann den unteren, und dann hatte sie sich aufgerichtet und die Fußriemen beseitigt.

Ja, da hatte sie sich aber doch eben erst bewegen müssen!

Und jetzt saß sie so starr da, wie sie immer gelegen hatte! Aber doch in einer ganz anderen Haltung!

Ganz starr war sie allerdings nie gewesen. Die Glieder waren wie jeder Finger ungefähr wie harter Gummi, noch ein wenig elastisch.

Wir standen vor einem unlösbaren Rätsel, so unlösbar wie jene Geheimschrift.

Dass Mister Carlistle seine Hand im Spiele habe, daran war nicht zu denken. Oder er musste wissen, wie die Gliederstarre zeitweilig zu lösen war.

Sonst war sie wieder tot wie zuvor — tot wenigstens für uns.

»Boot ahoi!«, erklang da oben an Deck der Ruf. »Eingeborene kommen!«

Das war im Augenblick wichtiger für uns. Nur Carlistle blieb zurück, wir anderen eilten hinauf.

Es war wieder so ein Auslegeboot, wie es alle Insulaner der Südsee haben, das durch das »Inlet« hereinsegelte. An zwei oder drei Balken wird ein Brett weit hinausgeschoben, auf dieses setzen sich Bootsinsassen, um, wenn nötig, die Balance herzustellen, sodass diese Dinger ganz mächtige Segel führen können, ohne in die Gefahr des Kenterns zu kommen. Anderseits freilich sind diese Ausleger, auch wenn sie verschoben werden können, ja sehr hinderlich. Aber geborene Wasserratten sind diese Südsee-Insulaner jedenfalls. Und außerdem geborene Seeräuber. Es war ein größeres Boot als jenes erste, auch viel besser gebaut, zwei Dutzend Menschen darin, zum Teil beturbant, sie winkten, wir winkten friedliche Grüße zurück, das Boot rauschte heran, Segel und Ausleger wurden eingezogen, es legte am Schiffsrumpf bei.

»Ist es erlaubt, an Deck zu kommen?«, rief ein älterer, beturbanter Inder hierauf, in feine Seide gehüllt.

Er hatte es in perfektem Englisch gefragt, aber ich hatte gleich den Dialekt, den eigentümlichen Gaumenlaut herausgehört, den der Holländer in der Aussprache des Englischen hat, und es war auch das Gesicht eines Holländers.

»Bitte, Sie und Ihre Leute sind herzlich willkommen.«

Wer dies sagte und wer fernerhin von uns spricht, einmal dieser, einmal jener, ist gleichgültig. Auf der anderen Seite war nur dieser Holländer.

Er allein stieg das Fallreep hierauf, nachdem er auch noch den Kris, den malaiischen Dolch, aus dem Gürtel gezogen und ihn zurückgelassen hatte.

»Ich, Mustapha Allharrah, durch die Gnade meines Herrn sein Sirdar, ein Pascha, komme als Gesandter des Maharadscha von Maladekia.«

»Freut uns sehr. Bitte, wollen Sie uns in die Kajüte folgen. Haben noch andere Personen in Ihrem Gefolge Anspruch darauf, dass wir sie mit Ihnen zugleich empfangen? Dass wir nicht etwa die Etikette verletzen, die uns ja unbekannt ist.«

»Nein, meine Leute bleiben vorläufig im Boote.«

Wir, die Hauptpersonen, saßen in der Kajüte, Siddy servierte als erstes den unvermeidlichen Champagner und Portwein. Dabei bemerke ich nachträglich, dass der indische Steward aus Delhi stammte und von der Insel Halmahera noch gar nichts gehört, Celebes bisher für eine Provinz aus Borneo gehalten hatte. Dabei aber darf man seine geografischen Kenntnisse nicht etwa unterschätzen. Ich habe erst kürzlich von einer großen, französischen Firma einen Brief erhalten mit der Aufschrift: Dresden, Westpreußen.

»Ich danke, ich bin Mohammedaner, der Prophet verbietet allen Weingenuss!«, schlug der holländische Pascha oder indische Sirdar den Portwein ab, aber dabei einen sehnsüchtigen Blick nach der Buttel werfend.

»Ist Ihnen ein Glas Likör angenehm?«, muss ich doch erwähnen, dass es Kapitän Martin war, der dies fragte.

»Ach ja, wenn es kein Wein ist.«

Im Laufe unserer langen Unterhaltung kippte der Mohammedaner ein Gläschen Schnaps nach dem anderen hinunter. Den Schnaps hat der Prophet nämlich seinen Gläubigen zu verbieten vergessen. Einfach deshalb, weil der Schnaps damals noch nicht erfunden war. Dasselbe gilt vom Bier. Aber Pascha Mustapha Allharrah blieb lieber beim Schnaps.

»Ich habe doch die hohe Ehre, die Patronin dieses Schiffes vor mir zu sehen, Missis Helene Neubert?«

»Ich bin es.«

Der Sirdar erhob sich, nahm gegen die Patronin eine unterwürfige Stellung an.

»Meine allergnädigste Herrin, die Begum der Maladekkaranis, sendet durch mich der Patronin der ›Argos‹ ihre Grüße und ladet sie nebst allen ihren Leuten zu sich ein. Du, o Patrona, sollst über den Felsenpalast der Maladekkaranis gebieten, so lange es Dir beliebt, und Deine Leute sollen auch ihre Gäste sein. — Ich habe mich meines Auftrags entledigt.«

Er verbeugte sich mit auf der Brust verschränkten Armen, setzte sich wieder, goss das erste Weinglas voll Benediktiner hinter und leckte sich die Lippen.

»Maladekkaranis!«, wiederholte Doktor Isidor zunächst. »Maladekka ist ein Wort des indischen Pakrit-Dialektes und bedeutet Waffenreich. Das habe ich gleich gewusst, ohne mir weiter dabei etwas zu denken. Wir gebrauchen im Deutschen das Wort Frankreich ohne daran zu denken, dass dies wörtlich »reich an Franken« bedeutet. Das heißt reich an Frankenmännern. Aber Maladekkaranis? Das würde doch wörtlich, heißen: reich an waffentragenden Frauen? Nicht?«

»Sie sagen es. Der Maharadscha von Maladekka hat eine weibliche Leibgarde — also Amazonen, würden wir sagen — und seine Gemahlin ist die Anführerin derselben, hat den Titel Begum oder Königin der Amazonen.«

»Was Sie nicht sagen!«, rief Helene überrascht und gleich mit ganz strahlenden Augen. »Amazonen?! Richtige Amazonen?!«

Nun, da brauchte sie nicht so überrascht zu sein. Wenn wir von Amazonen hören, die heute noch existieren sollen, waffenkundige Frauen, die mit in den Krieg ziehen, so denken wir immer an die aus 5000 Weibern bestehende Leibgarde des Königs von Dahomey! Als gebe es nur dort noch Amazonen.

Das ist falsch! Es gibt auf der Erde noch sehr viele Reiche mit Amazonen.

Die Kurdenmädchen werden in den Waffen ausgebildet und gehen mit ihren Brüdern und Vätern bis zu ihrer Verheiratung mit auf Krieg und Raub aus.

Bei sehr vielen Völkern des Himalajagebirges ziehen Frauen und Töchter mit in den Krieg, nicht als barmherzige Schwestern, sondern sie müssen, ebenso wie die Dahomeyweiber, an der Spitze kämpfen.

Man kann die Sache aber auch noch mit anderen Augen betrachten.

Ein indischer Kaufmann in Rangoon, ein sonst ganz gebildeter, in Geografie und Politik beschlagener Mann, hat mir persönlich gegenüber einmal behauptet, dass der Kaiser von Deutschland eine weibliche, bewaffnete Leibgarde habe, die vor ihm kriegerische Evolutionen machen müsse. Das sei doch in Indien allgemein bekannt.

Wie solch eine Legende entstehen kann?

Das ist ganz einfach.

Und ein Stückchen Wahrheit steckt auch schon dahinter. Man muss das Rätsel nur gelöst bekommen.

Ein indischer Fürst kommt nach Berlin, wird mit allen ihm gebührenden Ehren empfangen, wird auch einmal in die Hofoper geführt.

Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass dies die königliche Hofoper ist.

Ein Ballett wird vorgeführt.

Das ist das königliche Ballett!

Es wird dem orientalischen Gaste zu Ehren ein orientalisches Stück gegeben, eine Bearbeitung eines Märchens aus »Tausend-und-einer-Nacht, Aladin oder die Wunderlampe«.

In dieser Burleske führt das Corps de ballet einen Waffentanz auf, mit Schwert und Spieß und Schild, kriegerische Evolutionen.

Dieser echte Orientale sieht auf der Bühne nichts Orientalisches, er sieht nur phantastische Kostüme und angemalte Pappe und Leinwand — sieht nur die tanzenden Kriegerinnen.

»Königliches Ballett?«

»Königliches Ballett.«

»Die gehören dem König?«

»Die gehören dem König!«, muss ihm gesagt werden, denn die richtige Sachlage ist dem Fremdling gar nicht begreiflich zu machen.

Ein anderer Inder, ein Kaufmann oder sonst ein gewöhnlicher Sterblicher, der kann dann später im Hotel den Oberkellner fragen, sich die Sache richtig erklären lassen.

Aber das kann der Fürst nicht.

Und jetzt fährt der wieder nach Hause und erzählt, dass der König von Preußen und Kaiser von Deutschland eine weibliche Leibgarde hat, die vor ihm Kriegstänze aufführen muss, und das sickert nun weiter herum.

So kommt es!

Der holländisch-indische Sirdar, das ist so viel wie Generalfeldmarschall, gab uns weitere Aufklärungen. Maladekka war nichts anderes als der im eigenen Lande gebräuchliche Name für Halmahera. So heißt die Insel, als Reich ist es Maladekka, das Waffenreich, über welches ein Maharadscha herrscht, absolut unabhängig.

Absolut unabhängig? Wo diese Insel doch eine holländische Kolonie ist, mit zu dem holländischer Gouvernement Celebes gehört?

Wenn ich über diese politischen Verhältnisse sprechen will, so mache ich es mir bequem, ich schreibe aus dem neuesten Konversationslexikon von dem Artikel »Celebes« den betreffenden Absatz ab:

Nur der kleinste Teil der Insel wird direkt von holländischen Beamten verwaltet.

Der weitaus überwiegende Teil steht unter einheimischen Fürsten. Mit den meisten derselben hat Holland Bundesgenossenschaftsverträge abgeschlossen. Nur die

Fürsten einiger kleinen Reiche sind tributpflichtig. Der weitaus größte Teil des

Landes mit allen benachbarten Inseln ist faktisch gänzlich unabhängig.

So ist es heute noch, gegenwärtig.

Und so wird es wohl noch lange Zeit bleiben.

Diese indischen Fürsten des malaiischen Archipels pfeifen doch auf die holländischen Gouverneure! Holland ist es vielmehr, welches diesen Fürsten Tribut zahlt, damit sie nur ja Ruhe halten!

Holland ist ja viel zu schwach, ist ja gar keine Kriegsmacht mehr.

Aber Holland ist ein politisches »Rühr-mich-nicht-an«. Diese Kolonien können ihm also nicht etwa von einer anderen Nation abgenommen werden, auch nicht durch Kauf.

Vorläufig nicht. So kommt es, dass dort die herrlichsten Länder, reich bewässert, überaus fruchtbar und meist ganz gesund, welche Hunderte von Millionen Menschen ernähren könnten, noch ganz brach liegen. Vorläufig noch.

Nach der Wahrscheinlichkeitsberechnung, die aber in diesem Falle todsicher ist, es ist die Formel der Zinseszinsrechnung, muss Deutschland in 100 Jahren zweihundert Millionen Einwohner haben. Wie es dann in Deutschland und überhaupt in der Welt aussehen wird, das kann sich keine Phantasie erträumen, hat auch noch keine probiert. Zukunftskriege mit Luftschiffen und Flugmaschinen sind leichter zu beschreiben, nur diese Bevölkerungszunahme muss dabei vergessen werden. Wir können uns doch nicht gegenseitig auffressen. Dann also dürfte sich die politische Geografie doch ganz bedeutend ändern.

Der Maharadscha oder Sultan Rangalla herrschte über die Insel Halmahera mit ihren 18 000 Quadratkilometern und 120 000 Einwohnern in absoluter Unabhängigkeit. Er duldete darauf einige holländische Ansiedlungen, aber nur an der Küste, also Hafenorte, weil er selbst dadurch viele Vorteile hatte, so bekam er zum Beispiel von Holland alle Waren vollkommen zollfrei. Diese Gefälligkeit ist aber doch nur ein Tribut, den Holland ihm zahlte.

Der also lud uns zu sich ein.

»Nein, die Begum ist es, seine Gemahlin, die Sie einlädt!«, betonte der Sirdar extra. »Es ist bei uns Sitte, dass nur die Frau Gäste einladen kann.«

»Woher kennt die Begum uns denn?«

Nun, es waren eben Eingeborene von Maladekka gewesen, die uns damals besucht, die hatten sich den Namen »Argos« gemerkt, so war die Kunde von uns an diesen indischen Hof gekommen.

»Ja, aber woher kennt man uns denn sonst? Hat man denn dort schon von diesem Schiffe und den Argonauten gehört?«

Gewiss. Der Sirdar berichtete uns näher. Dort wurden sogar Zeitungen gehalten. Überhaupt war die Königin Sallah eine Französin, der edle Sirdar, dem der Benediktiner zu Kopfe stieg, machte gar kein Hehl daraus, dass seine allergnädigste Königin einst zur Pariser Demimonde gehört hatte, jedenfalls war sie auch einmal Artistin gewesen, Zirkuskünstlerin, Seiltänzerin, hatte sich abenteuernd nach Indien verirrt, war schon in einem anderen Harem gewesen, bis sie hier als allerhöchste Majestät landete.

Die hatte von unseren Triumphen in Kapstadt und Rio gelesen, die Kunde war zu ihr gekommen, dass die »Argos« hier in einer Lagune läge — »das sind sie, die Argonauten — na, da fahre mal hin und lade sie ein, diese Argonauten müssen mir etwas vormachen und mit meinen Maladekkaranis kämpfen.«

»Was kämpfen sollen wir mit den Amazonen?!«

»Jawohl. Das heißt unblutig. Nur Kampfspiele. Diese 256 Weiber sind so halb und halb oder auch ganz als Akrobatinnen ausgebildet. Sie möchten mit den Argonauten um die Wette laufen und springen und den Speer werfen. Und dann besonders auch Ringkampf. Sie nehmen doch die Einladung an?«

Ich war schon aufgesprungen.

»Kapitän, ich rufe meine Jungens an Bord, Sie erlauben doch, dass ich gleich Dampf aufmachen lasse. Na, da fahren wir doch hin!«

Mit diesen Weibern wollten wir uns doch herumbalgen!

Das war doch ausgemachte Sache!

Ach, war dieser Sternkieker ein famoser Kerl! Denn ohne seinen Rasierspiegel lägen wir doch jetzt nicht in der Lagune dieser Koralleninsel, die Maladekkas hätten uns nicht gesehen, die Königin hätte uns nicht eingeladen, meine Jungen könnten sich nicht mit diesen indischen Amazonen herumbalgen.

Ist das nicht ganz logisch? Wirklich ein famoser Kerl, dieser Mister Carlistle! So einen Rasierspiegel schaffe ich mir auch noch an, vielleicht auch noch ein ägyptisches Punktierbuch.

»Wir müssen aber doch erst Mister Carlistle fragen!«, lächelte die Patronin ob meiner Eilfertigkeit.

»Ach, da hat er diesmal gar nichts zu sagen, sonst trage ich Ehescheidung an — — da kommt er.«

Ich nahm ihn gleich draußen vor, um ihn nicht erst einführen zu müssen.

»Wie geht's Ihrer Frau Traumkönigin?«

»Es ist nichts, sie sitzt starr auf dem Sofa.«

»Das freut mich. Wissen Sie schon, dass wir von einer indischen Königin eine Einladung bekommen haben?«

Ja, er wusste es schon. Siddy hatte ihm schon alles schnellstens erzählt.

Siddy war ein Luder, konnte sein Maul partout nicht halten — aber diesmal war's ganz gut gewesen.

»Und diese Einladung müssen wir auch annehmen«, fuhr Carlistle gleich fort, »dort werde ich erfahren, wer sie ist, dort wird sie auch erwachen. So punktieren die Sterne.«

Na, dann war's erst recht gut. Wirklich ganz famos, diese Sterne, dass sie sich so punktieren und mit dem Zirkel anstochern lassen!

Meine Jungens kamen schon von allein zurück, teils um den fremden Besuch zu besichtigen, teils weil überhaupt Frühstückszeit war.

»Hört, Jungens — Dampf auf und klar Schiff überall! — Und dann wascht Euch die Pfoten, Ihr sollt mit indischen Amazonen großes Preisringen machen — na, ich erzähle es Euch nachher ausführlich — oder lasst's Euch von Siddy erzählen.«

Als ich wieder in die Kajüte trat, berichtete der Sirdar soeben, dass es immer 256 Amazonen seien, welche die Leibgarde des Königs bildeten, eine eiserne Zahl, nämlich deshalb, weil die vier bei den Maladeklas eine heilige Zahl ist, und vier mal vier mal vier mal vier macht zusammen 256.

»Es sind Frauen des Königs?«, fragte die Patronin.

»O nein, es müssen Jungfrauen sein und bleiben.«

»Und die Begum ist zugleich die Anführerin?«

»Jawohl, und die ist auch mit in diese Zahl 256 inbegriffen.«

»Hm, dann ist die aber doch keine Jungfrau mehr!«, meinte Doktor Isidor, bedächtig mit den Ohren wackelnd.

»Doch. Sie ist zwar als Königin die erste Gattin des Sultans, aber nur dem Namen nach. Das ist die höchste Ehre, die es bei uns gibt. Die gehört ebenfalls mit zu den 256 Jungfrauen.«

»Ja, ich denke aber«, fing ich jetzt an, »die ist früher auf den Pariser Boulevards herumgelaufen...«

Die Patronin gab mir unterm Tisch einen sanften Tritt gegen das Schienbein, und ich verstummte.

Der Sirdar erzählte auf Befragen weiter, wie diese Leibgardistinnen bis auf die Königin schon als ganz kleine Kinder unter den schönsten Mädchen des Landes ausgesucht und als Tänzerinnen und in allen akrobatischen Künsten ausgebildet werden.

»In den Krieg gehen sie nicht mit?«

»Nein. Wenn sie auch in der Führung aller Waffen ausgebildet werden, worin sie auch Erstaunliches leisten. Es sind eben mehr Waffentänzerinnen, nur insofern Amazonen.«

»Sie dürfen niemals heiraten?«

»Niemals.«

»Was geschieht denn mit ihnen, wenn sie zu alt sind, um solche akrobatische Künste auszuführen?«

»Dann — dann... werden sie bis an ihr Lebensende verpflegt.«

»Hm«, brummte da Doktor Isidor, einmal ganz mächtig mit seinen großen Ohren wackelnd, »jetzt entsinne ich mich, doch schon einmal von diesen Amazonen von Halmahera gehört zu haben. Nur der Name Maladekka war mir fremd. Diese Maladekkaranis werden, wenn man sie wegen Alters oder sonstiger Unbrauchbarkeit ausrangiert, eingesperrt und müssen des Hungertodes sterben, nicht wahr?«

Während vorhin das Zögern des Sirdars kaum bemerkbar gewesen war, färbte sich jetzt sein dickes, braunes Gesicht noch dunkler.

»So ist es!«, musste er dann zugeben.

Und das nannte der nun eine Verpflegung bis zum sanften Lebensende!

»O«, fuhr er dann eifrig fort, die Sitten des Landes verteidigend, dem er jetzt angehörte, »dieser freiwillige Hungertod ist aber die höchste Ehre, was meinen Sie wohl, was dabei für Festlichkeiten gefeiert werden, wenn so eine Amazone stirbt!«

»Und wenn sie nun einmal nicht freiwillig verhungern will?«

»Ja, dann allerdings wird sie dazu gezwungen.«

»Indem man sie einsperrt und ihr nichts zu essen gibt?«

»Ja natürlich, wie soll es sonst geschehen. Aber trotzdem werden ihr dann dieselben Ehren zuteil.«

»Und dasselbe gilt doch nicht etwa auch für die Königin?«

»Ganz genau dasselbe!«

»Wenn die alt wird oder sonst nicht mehr tanzen kann, muss auch die des Hungertodes sterben?«

»Sobald es der Sultan befiehlt, ja.«

»Und auf so etwas hat sich, eine lebenslustige Französin eingelassen?!«

»Sie ist schon vollkommen eine mohammedanische Inderin geworden. Und dann diese Ehren und Vorzüge, die diese Amazonen schon bei Lebzeiten genießen! Schon dass sie als Mohammedanerinnen unverschleiert gehen, ihr Gesicht jedem Manne zeigen dürfen. Dies allein wiegt doch solch einen gar nicht so schmerzvollen Tod hundertfach auf. Aber dies dürfte Ihnen als christlichen Abendländern wohl nicht recht verständlich sein!«

Da hatte er allerdings recht!

Ich aber verstand sofort, weshalb wir das nicht verstehen.

So wenig wie ein mohammedanischer Orientale versteht, wie jemand bei uns wegen solch eines kleinen Dinges, das man an der Brust trägt, Orden genannt, zum Speichellecker werden kann. Wobei ich mich noch sehr dezent ausdrücke.

Hierbei fällt mir ein guter Witz ein, ein Wortspiel, das ich irgendwo einmal gehört habe.

Es gibt dreierlei Art von Orden: erdiente, erdienerte und erdinierte. Die letzteren sollen die häufigsten sein.

Die nötige Dampfspannung wurde gemeldet, die Boote gehievt, auch das der Eingeborenen, die Anker hoch, und es ging zur Lagune hinaus.

Ein Eingeborener machte den Lotsen. Bei den 12 Knoten, die unser Schiff dampfte, würde es neun Stunden brauchen, bis es Kalam erreichte, den Hafen der Residenz. Das berechnete der Mann genau, und es stimmte dann auch.

Aber da die mondlose Nacht sehr finster werden würde, müssten wir eine Bucht anlaufen oder im freien Wasser vor Anker gehen, das sagte er ebenfalls im voraus.

Inselchen überall, und nicht nur unbewohnte Koralleneilande. Am Nachmittage erblickten wir Küsten, die ebenso gut einem Festlande angehören konnten, wenn wir nicht gewusst hätten, wo wir uns befanden.

Es waren die Ternates, recht beträchtliche Inseln, der großen Halmahera vorgelagert.

»Gehören diese mit zu Maladekka, sind sie dem Sultan untertänig?«

»Dem Namen nach, ja. Wie wir zu Holland, so stehen diese Inseln wieder zu uns. Es hausen Seeräuber darauf. Wir nennen sie auch nur die Räuberinseln.«

Dass es hier allüberall Seeräuber gibt, ganze Seeräuberstaaten, das wussten wir bereits. Aber es sind wieder ganz andere Piraten als die chinesischen Sie gleichen mehr den alten nordischen Wikingern, die ja in ihren Booten weniger Jagd auf Schiffe machten, als plündernd ins Land einfielen. So machen es auch diese malaiischen Piraten. Sie kommen in großen Scharen in ihren Prauen angerudert, direkt in den Hafen hinein oder heimlich von der Seite, machen die überrumpelten Männer nieder und schleppen alles mit fort, auch die Frauen und kleineren Kinder. Besonders nach der Ernte werden sie zur reinen Heuschreckenplage.

Aber sie greifen nur die Ansiedlungen ihrer braunen Stammesgenossen an, die in geordneten Verhältnissen leben. Gegen europäische Schiffe und Ortschaften können sie nichts ausrichten.

Es ist wenig gegen sie zu machen. Diese einzelnen Piratenbanden sind besser organisiert und halten im Notfalle besser zusammen als alle diese doch nur kleinen Fürstentümer. Und Holland mischt sich absolut nicht ein. Das ist auch in dem Bundesvertrag festgelegt, dass es dies gar nicht darf. Übrigens kann ja Holland nichts angenehmer sein, als dass sich die Eingeborenen in solchen gegenseitigen Kämpfen aufreiben oder doch dezimieren.

Denn es sind ja nichts weiter als gegenseitige Kämpfe. Die Überfallenen revanchieren sich bei Gelegenheit wieder. Es waren überhaupt alle See- und Landräuber Piratenstaaten und Piratenrepubliken. Die hier auf den Ternaten nannten wieder die Maladekkanen Räuber. Das war hin wie her. Und so ist das alles heute noch.

Abends um fünf liefen wir in eine Bucht mit tiefem Wasser und ankerten. Einen Menschen bekamen wir nicht zu sehen, aber Raubtiere aller Art hörten wir die ganze Nacht brüllen.

Am andern Morgen hatten wir noch zwei Stunden zu dampfen, dann liefen wir in eine herrliche, weite Bucht ein, deren Ufer mit Hütten bedeckt waren — Kalam, die Residenzstadt des Sultans von Maladekka.

Aber das durfte man nicht lächerlich nehmen. Wenn auch hier unten nur einige hundert elende Hütten standen mit einigen tausend Einwohnern.

Alle Verhältnisse waren hier wegen der Seeräuber geregelt, deren Ankunft unberechenbar war.

Halmahera ist zum Teil sehr gebirgig. Es war nur ein schmaler Küstenstreifen, auf dem die Hütten standen, gleich dahinter ging es steil empor, auf der Nordseite trat die glatte Felswand vollends bis dicht ans Wasser heran, und dort oben in einer Höhe von etwa 150 Metern klebte etwas wie ein Adlernest.

Das war der äußere Teil der Felsenburg zu Ehren der Amazonen der Palast der Maladekkaranis genannt, sonst ganz in den Felsen hineingehauen, das war die eigentliche Residenz des Sultans, schon mehr eine ganze Stadt mit mehr als tausend Einwohnern, die immer dort oben lebten, die Hälfte davon Krieger, welche von hier oben nach den Piraten spähten, um dann mit ihnen den Kampf aufzunehmen.

In dieser Felsenburg wird alles aufgespeichert, was das Land liefert, und es sind gar fleißige, betriebsame Eingeborene, von Feldfrüchten vor allen Dingen Reis, in den Wäldern wird das für Lackfarben begehrte Dammarharz gesammelt, in den Bergen gibt es große Silber- und Kupferminen, auch Gold wird in ganz beträchtlicher Menge gefunden. Dies alles wird hier oben aufgespeichert, bis ein holländischer Dampfer kommt und alles, was die Eingeborenen nicht selbst brauchen, abholt.

Das muss aber doch alles erst aus dem Innern des Landes herbeigeschafft werden, und diesen Zeitpunkt, wann die Karawanen kommen, kennen die Piraten ganz genau, da nützt es nichts, die Termine von der Ernte unabhängig zu machen und sonst zu verschieben, die Piraten haben ihre Spione, und dann erscheinen sie mit ihren zahlreichen Prauen, ein ganzes schwimmendes Heer.

Aber die Krieger dort oben sind auf der Wacht. Dann werden die schon handfertig liegenden Steine und Felsblöcke auf die feindlichen Boote herabgeschleudert, das ist viel wirksamer als jedes Artilleriefeuer.

Manchmal freilich gelingt den Piraten die Landung doch, während die Waren und Produkte noch hier unten liegen, dann wird alles mitgenommen, und dann muss versucht werden, die Piraten in den eigenen Prauen zu verfolgen, um ihnen die Beute wieder abzunehmen, oder man revanchiert sich mit einem Einfall in das feindliche Land. Denn, wie gesagt, das beruht ja ganz auf Gegenseitigkeit, diese Maladekkanen machen genau solche Piratenzüge.

So hatte uns der Sirdar erklärt. Nur dass er das letztere Revanche oder eine Bestrafung der Piraten nannte.

»Wo sind denn hier die Segelboote und Ruderprauen?«, fragte ich.

Denn an der Küste lagen nur einige wenige Fahrzeuge, und der Sirdar hatte von einer Flotte von Hunderten von Booten gesprochen, und auf der Kriegsfahrt sollten sie sich jetzt nicht befinden, auch nicht zum Einsammeln der Kokosnüsse, deren gepresstes Fleisch ebenfalls für den Sultan eine Quelle des Reichtums bildet.

Der Sirdar machte mich auf einige Höhlen oder nur Löcher in der Felswand aufmerksam, in die noch das Wasser hineinspülte. Dort drin lagen alle die Boote, in einem in den Felsen hineingehauenen Hafen, der auf diese Weise leicht verteidigt werden konnte, überhaupt ebenso wie die Felsenburg uneinnehmbar war, meiner Ansicht nach auch für jedes europäische Kriegsheer.

Wer diesen Hafen und die Räume der Burg dort oben und die Treppenaufgänge in den Felsen gemeißelt hatte, das wusste hier niemand mehr. Eben die Vorfahren. Aber unter welchen Sultanen, denn da mussten doch ganze Generationen gearbeitet haben — das ging bis in die graue Vorzeit zurück. Man weiß ja, wie gern sich die Inder in die Felsen hineinbohren. Man denke an den kolossalen Felsentempel auf der Insel Elefantine bei Bombay, das muss man aber gesehen haben, um sich einen Begriff davon machen zu können, da helfen keine Angaben von Maßen, und solcher Felsentempel, bei denen nicht eine schon vorhandene Höhle benützt wurde, gibt es in Indien noch zahllose, sie sind wirklich noch nicht gezählt, und darunter, so weit uns bekannt, mit noch ganz anderen Dimensionen als jene von Elefantine.

Diese Leutchen haben ja Zeit, so etwas anzulegen, bei uns wäre solch eine Arbeit gar nicht mehr möglich, seitdem es keine kriegsgefangenen Sklaven mehr gibt.

In solch ein Wasserlöchelchen konnte unser Schiff nicht kriechen, um in den eigentlichen Hafen zu gelangen, wir konnten uns überhaupt gar nicht der Küste nähern, gingen in der Mitte der Bucht vor Anker.

»Sie werden bereits erwartet, es ist alles zu Ihrem Empfange schon vorbereitet!«, sagte der Sirdar, nachdem er mit zwei Tüchern einige Zeichen gemacht hatte, eine Art des Semaphorierens, und wir sahen, wie auch dort oben in dem Adlernest etwas Weißes und Rotes geschwungen wurde.


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Wir hatten gestern den ganzen Tag Zeit gehabt, alles zu besprechen, alle Möglichkeiten zu erwägen, nachdem uns der Sirdar alle Verhältnisse offenbart hatte.

Wir mussten ja von vornherein damit rechnen, in ein malaiisches Räubernest zu kommen, dessen mohammedanische Bewohner nur zu gern, wenn sie nur einmal können, Christen aus fanatischem Religionshasse töten, auch Männer zu Sklaven machen, und die es überhaupt auf unser Schiff und seinen Inhalt abgesehen hatten.

Aber wir durften auch unbedingt der Versicherung des Sirdars glauben, dass wir, nachdem wir einmal eine Einladung bekommen, die unter der geheiligten Gastfreundschaft der Mohammedaner stehenden unverletzlichen Gäste sein wurden, denen auch nicht ein Haar gekrümmt werden durfte.

So hatte uns der Sirdar versichert, indem er gleich selbst stark andeutete, wie er recht wohl unser geheimes Misstrauen erriete und verstände und da hatte er auch gleich noch etwas über sich selbst gesprochen, wie er als Holländer in die Dienste solch eines malaiischen Sultanats gekommen sei.

Er war einst holländischer Offizier gewesen, war ungerechtfertigt übersprungen worden, hatte sich gekränkt gefühlt, hatte sich dem Sultan von Maladekka als militärischer Beirat angeboten und war angenommen worden.

»Ich bin nicht etwa dadurch ein Feind meines Vaterlandes geworden, aber noch weniger ist daran zu denken, dass ich etwa ein holländischer Spion bin. Nein, ich diene jetzt meinem braunen König in bedingungsloser Treue. Mit meinem Mohammedanismus, der unbedingt nötig war, ist es allerdings schwach bestellt. Aber die Versicherung kann ich Ihnen auf mein Ehrenwort als Ehrenmann und als Offizier geben: an die Heiligkeit der mohammedanischen Gastfreundschaft dürfen Sie unbedingt glauben!«

So sprach der Sirdar, und wir glaubten ihm.

Dann aber war unser Plan auch gleich gefasst gewesen. Ich selbst hatte die Patronin ja einmal dazu animiert, es sich zum Prinzip zu machen, keine Einladung anzunehmen. Und wenn auch irgend ein König oder Kaiser sie zu sich an seinen Hof einlud — die Einladung wurde abgeschlagen! Wer uns oder die Patronin kennen lernen wollte, der musste zu uns an Bord kommen.

Aber hier lag ja etwas ganz anderes vor. Wir selbst waren es, die diese malaiischen Amazonen gern kennen lernen wollten. Und dass diese mohammedanischen Weiber, so viel Freiheit sie auch sonst genossen, nicht zu uns an Bord kamen, das war leicht begreiflich, das brauchte uns der Sirdar nicht erst zu erklären.

Nun gut, dann folgten wir eben einmal der Einladung, gingen in die Felsenburg, dann aber auch gleich wir alle zusammen!

Nur die 32 Schiffsjungen blieben an Bord und von uns eigentlichen Argonauten nur diejenigen, die eben nicht mitkommen wollten, denn gezwungen konnte doch dazu niemand werden, das war ja kein Dienst.

Ich führe sie außer den Schiffsjungen alle einzeln an, welche zurückblieben, habe meinen besonderen Grund dazu:

Kapitän Martin, der überhaupt nie das Schiff verließ, wenn es nicht der Dienst erforderte; der erste Steuermann, der sich überhaupt nie unter andere Menschen begab; der erste Maschinist, der überhaupt nichts anderes als seine Maschine im Kopfe hatte; ferner der Schiffszimmermann Hammid mit seinem hölzernen Bein und Kien Chen, der in seiner Kombüse keinen anderen kochen ließ.

Das waren die Zurückbleibenden von der eigentlichen Besatzung. Sonst blieben noch an Bord: Fabian, der als Lehrer das für seine Pflicht hielt; Mama Bombe; der blödsinnige Schudick; Carlistle.

Alle übrigen waren mit, der Bandlwurm sowohl wie das Zwergehepaar wie das einbeinige Menschenkänguru, selbstverständlich auch Ilse an der Hand Klothildens.

Wir nahmen gleich mit, was wir bei unseren Vorführungen zu gebrauchen gedachten: Turngerätschaften und Spielutensilien der verschiedensten Art, unsere Säbel und Rapiere, auch die Pauken und Posaunen und sonstigen Instrumente nicht zu vergessen. Dort oben sollte es gleich mehrere Turnierplätze geben, nach der anderen Bergseite hinaus, auch die Amazonen übten ja dort oben, kamen überhaupt niemals herunter. Wenn wir sonst noch etwas brauchten, konnten wir uns ja jederzeit holen lassen. Tiere begleiteten uns vorläufig noch nicht. Auch Kulissen und Garderobe für das Theaterspiel nahmen wir nicht mit, denn für dieses hätten diese Orientalen doch absolut kein Verständnis, das hatte uns der holländische Sirdar gleich gesagt. Aber Musik, ja, das war etwas ganz anderes.

Ich hatte geglaubt, er würde, als wir die Rapiere und Entersäbel einpackten oder umschnallten, etwas davon sagen, dass die Mitnahme von Waffen nicht erlaubt sei, aber kein Wort davon, und so sagte natürlich auch ich nichts.

Die Barkasse genügte, um uns 76 Köpfe, die wir genau waren, an Land zu bringen. Das heißt, es ging durch so ein Wasserloch in den Hafen hinein. Es gab nach der Felsenburg hinauf auch noch einen Weg von der Landseite hinauf, aber den durften Fremde nur mit verbundenen Augen passieren, erklärte der Sirdar, und darauf würden wir uns vielleicht nicht einlassen, worin er auch ganz recht hatte. Von dem unterirdischen Hafen ging es dagegen direkt hinauf, da war solch eine Vorsichtsmaßregel nicht nötig.

Ehe ich als letzter ins Boot stieg, ließ ich noch einmal die 32 Jungen zusammentreten, hielt noch eine kurze Ansprache. Eine humoristische. Wie ich das Schiff einzig und allein unter ihrem Schutze zurücklasse, dass sie zeigen sollten, wie sie ganze Männer seien, wozu aber auch unbedingte Subordination gegen den Kapitän und jeden anderen Vorgesetzten gehöre.

Ja, ich sprach humoristisch.

Anderseits aber war es ganz und gar nicht humoristisch.

Das alleingelassene Schiff stand tatsächlich unter dem Schutze dieser 32 Jungen mit einem Durchschnittsalter von acht Jahren.

Aber der Leser wird später noch erfahren, was ich in den vier Monaten aus diesen Kindern durch eine ganz besondere Erziehungsweise gemacht hatte!

Wie ich sie zur größten Selbstständigkeit gebracht hatte. Zu einer Selbstständigkeit von deren Größe ich selbst gar nichts ahnte!

Denn diese Bengels sollten uns während unserer Abwesenheit einen fürchterlichen Streich spielen.

Doch ich darf nicht vorgreifen.

»Jawohl, Waffenmeister!«, erklang es mir aus 32 Kehlen enthusiastisch nach, als auch ich ins Boot stieg.

Ein größeres Wasserloch ließ uns ein, wir sahen in der weiten, um nicht zu sagen ungeheuren Höhle im unsicheren Scheine von Öllampen und auch einiger Fackeln, von Malaien für uns gehalten, eine Unmenge von Auslegebooten, Ruderprauen und anderen Fahrzeugen liegen. Sonst war nichts deutlich zu erkennen.

Das Wasserbassin wurde ringsum von einer niedrigen Galerie eingerahmt, wir stiegen aus, die Barkasse blieb einfach hier liegen, einstweilen auch alle unsere Sachen, der Sirdar übernahm ohne weiteres die Führung.

Es ging die Steintreppen hinauf, alles aus dem Felsen herausgemeißelt, immer im Zickzack, an jeder Ecke von einer schön aus Kupfer oder Bronze gearbeiteten Öllampe erleuchtet, sonst alles ganz nackt.

»Hier geht der Brunnenschacht durch!«, sagte der Sirdar einmal, mit der Hand gegen eine Felswand klatschend.

»Hat der Brunnen immer Wasser?«

»Immer, er versiegt auch in der trockensten Zeit nicht.«

Dann war diese Burg überhaupt uneinnehmbar. Oder es hätte doch, wenn die hier auch alle Feldfrüchte aufspeicherten, einiger Jahre bedurft, um sie auszuhungern. Im Sturme zu nehmen war sie jedenfalls nicht, bei solchen Felsengängen. Einige Mann an jeder Ecke nur mit Lanzen bewaffnet, hätten genügt, um eine ganze Armee aufzuhalten.

Schon sehr hoch waren wir gestiegen, als sich ein horizontaler Gang zu einem Saale erweiterte, in dem die ersten Teppiche und Polster lagen, auch sahen wir hier, mit Ausnahme unten im Hafen, die ersten Menschen, wohl Diener.

Nun erwartete ich endlich die Aufforderung, auch unsere sonstigen Waffen abzulegen, und sie wäre angebracht gewesen. Der Fremde und auch schon bekannte Gast muss beim Betreten eines mohammedanischen Hauses alle seine Waffen im Vorzimmer ablegen. So, erinnere ich daran, hatte ja auch der Sirdar seinen Dolch aus dem Gürtel genommen und im Boote zurückgelassen, ehe er an Bord gekommen war.

Aber diese Aufforderung geschah nicht, keine Frage deshalb. Es handelt sich eben immer nur um offen getragene Waffen. Zwar soll man auch verborgene Waffen ablegen, aber der Gast wird daraufhin doch nicht etwa erst visitiert, braucht auch kein Ehrenwort abzugeben, nicht beim Barte des Propheten zu schwören. Der Sirdar hatte ganz sicher auch noch Waffen unter seinem Kaftan gehabt.

Jeder meiner Jungen hatte einen Sackpuffer bei sich, einen Bulldoggrevolver mit genügender Munition, und außerdem noch sein Schiffsmesser. Aber wir wurden also nicht nach verborgenen Waffen gefragt. Diese Malaien trauten uns eben, dass wir nicht etwa als Räuber kamen, die sich ihrer Burg bemächtigen wollten, so wie wir ihnen vertrauten.

Dann noch ein kurzer Gang, und wir betraten wieder einen Saal, der sein Licht durch große Fensteröffnungen erhielt, allerdings sehr hoch angebracht, und außerdem mit Teppichen und Polstern wirklich prachtvoll ausgestattet.

Auf einem thronartigen Sessel, golden oder vergoldet, die Edelsteine aber jedenfalls echt, saß, der Sultan Rangalla, ein schon älterer, sehr korpulenter Mann, und alle hinter ihm stehenden Männer, die ersten seines Reiches, waren gleichfalls dick.

Mir fiel diese allgemeine Dicke überhaupt sehr auf, ebenso die weichen, verschwommenen Züge, die ich überall erblickte, durch die zum Teil sehr großen Vollbärte nichts Energisches bekommend, überall die ungemein feinen Hände mit polierten und rotgefärbten Nägeln — diese ganze Männergesellschaft machte einen ungemein verweichlichten Eindruck, und der Sirdar hatte uns ja auch schon erzählt, was für ein reicher Mann dieser Sultan sei und in welchem Luxus an diesem Hofe gelebt würde.

Wie wir empfangen würden, wie wir uns zu verhalten hätten, darüber hatte uns ja der Sirdar schon zur Genüge instruiert, ich habe aber von alledem nichts erwähnt, da ich ja sonst wiederholen müsste.

Nun, es war einfach genug. Gar keine weitere Begrüßung, noch weniger eine Vorstellung. Dafür sofort eine gar heilige Zeremonie.

Dem Maharadscha wurde von einem Diener auf einer silbernen Platte ein großer, flacher Brotkuchen gebracht, er selbst entnahm einer goldenen Schale eine Hand voll Salz, streute es auf den Kuchen, riss ein Stückchen ab, aß es, riss weitere Stückchen ab und gab jedem von uns eines, während wir vorbeidefilierten, dazu immer dieselben malaiischen Worte sprechend:

»Im Namen des Propheten heiße ich Euch als Gäste der Sultana von Maladekka und der Begum der Maladekkaranis willkommen.«


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Der Maharadscha übergab jedem seiner Gäste, während diese
an ihm vorbeidefilierten, ein Stückchen mit Salz bestreuten
Brotes, dabei stets dieselben malaiischen Worte sprechend.


So, wir hatten Salz und Brot mit ihm gegessen, nun waren wir unverletzlich und wenn auch einer von uns aus Versehen einen Totschlag beging. Und geschah ein Mord mit Absicht, so musste der Betreffende sich erst auf freiem Felde außerhalb Gesichtsweite entfernt haben, ehe er verfolgt werden durfte.

Gleich nach dem Vorbeidefilieren wurden wir wieder in einen anderen Saal geleitet, in dem auf niedrigen Tischchen, vor denen wir niederhocken mussten, das vom Propheten für um elf Uhr vorgeschriebene Mittagsmahl serviert wurde.

Eine Schüssel wurde nach der anderen aufgetragen, nach der zehnten verzichtete ich darauf, sie weiter zu zählen. Zwar war es meistenteils Reis, aber immer in total anderer Zubereitung, mit dem verschiedensten Fleisch, das man nicht wiedererkannte, alles so in Würfelchen geschnitten, dass man mit den Fingern fertig wurde. Denn Gabel und Löffel und Messer gab es auch für die europäischen Gäste nicht.

Wie gesagt, der holländische Sirdar hatte uns schon geschildert, wie alles kommen würde, wir hatten uns verabredet, diese Esserei nicht zu lange auszudehnen, sonst hätte das ja Stunden gewährt, und als niemand mehr zulangte, wobei freilich dem Eskimo von seinem Freunde Juba Riata die Schüsseln vor der Nase weggenommen werden mussten, wurde das übliche Waschwasser herumgereicht, und dann ging es wieder in einen anderen Saal, der aber mit einem prächtigen Garten fast in offener Verbindung stand, die eine Wand war herausgemeißelt worden, nur einige Säulen hatte man stehen lassen.

Hier erwartete uns schon wieder der Maharadscha mit seinem Gefolge, auf der einen Seite sitzend, wir lagerten uns ihnen zwanglos gegenüber, so einen weiten Halskreis bildend. Nur der Sirdar blieb bei uns, zwischen der Patronin und mir, um uns Erklärungen geben zu können, unsere Fragen zu beantworten. Ein vertraulicheres Beisammensein mit dem Maharadscha und der Begum würde erst heute Abend erfolgen, jetzt ging alles noch streng zeremoniell zu.

»Bitte, keine indischen Gaukler und Schlangenbeschwörer«, hatte ich von vornherein gesagt, »wir möchten so bald wie möglich die Amazonen kennen lernen.«

Bisher war noch von keinem Weibe etwas zu bemerken gewesen, weder verschleiert noch unverschleiert, jetzt aber kamen sie anmarschiert, die 256 Leibgardistinnen.

Solch einen Anblick hatten wir nun freilich nicht erwartet. Vor allen Dingen nicht, dass diese Ehrenjungfrauen, die sie doch waren, sich uns christlichen Fremdlingen so ziemlich im Evakostüm präsentieren würden. Obgleich sie vom Halse bis zu den Füßen eingehüllt waren, sogar gepanzert. Da es aber solche schmiegsame Schuppenpanzer wohl schwerlich gibt, mögen sie auch noch so fein gearbeitet sein, so waren es sicher Trikots, auf welche dünne Blechschüppchen nur aufgenäht waren, die einen in Gold, die anderen in Silber. Sonst hätten sie unmöglich so jede Bewegung mitmachen können.

Es waren durchweg sehr, sehr schöne Mädchen, die sich uns präsentierten, einmal dem Gesicht nach, und dann auch nach den Figuren. Dass sie sehr viel körperliche Übungen treiben mussten, das war den kraftvollen Gestalten wohl gleich anzumerken, aber Riesenweiber oder besonders muskulöse waren nicht darunter.

Sie waren mit Schwert und Schild bewaffnet, führten ein Ballett mit kriegerischen Evolutionen aus, kämpften zusammen, Rot gegen Weiß, Gold gegen Silber, und wenn die blitzenden, ganz gewaltigen Säbel zusammenklapperten, dann klang es nach Holz, sogar nach hohlem Holz, und wenn die nicht anders fechten konnten, dann war es mit ihrer Fechterei nicht weit her.

»Ist denn da auch die Begum dabei?«, fragte ich den Sirdar.

»Jawohl, die vierte in der zweiten goldenen Reihe, die jetzt gerade vorrückt, ist es. Das ist die Begum Sallah, die Anführerin der ganzen Leibgarde, die sie alle in Zucht halten muss. Aber Vorkämpferinnen oder Vortänzerinnen gibt es hier nicht, weil doch sonst noch eine zweite vorhanden sein müsste, was nicht sein darf. So tritt sie bei den Spielen einfach mit in die Reihen.«

Ich sah ein ebenso schönes, schwarzäugiges und schwarzhaariges junges Weib mit orientalischen Zügen wie alle die anderen, sie blickte auch genau so kokettierend nach den fremden Gästen wie alle anderen. Ganz genau so wie bei unserem Ballett.

»Es ist wirklich eine Französin?«

»Ganz sicher. Aber bitte, sage nicht, dass Du es weißt.«

»Wie alt ist sie denn?«

»Da stellst Du eine Frage, die hier mit dem Tode bestraft wird!«, flüsterte der Sirdar zurück, lächelte aber dabei.

Nun, die meisten unserer Damen würden solch eine Frage nach dem Alter vielleicht auch mit dem Tode bestrafen — wenn sie es nur dürften.

Die trikotgepanzerten Jungfern waren so erst zehn Minuten herumgehopst, waren sicher noch lange nicht fertig, als das gesellige Beisammensein jäh unterbrochen werden sollte.

Ein malaiischer Diener kam auf uns zu, machte dem Sirdar eine Meldung, die ich ja nicht verstand.

»Weshalb ist denn Euer Schiff abgedampft?«, wandte der sich jetzt an mich.

»Was?!«

»Euer Schiff dampft zur Bucht hinaus.«

»Ach, das ist ja gar nicht möglich!«

»Wenn ich Dir sage! Unsere Krieger haben es gesehen, die stehen doch immer auf dem Söller auf Wache — soeben schicken sie mir die Meldung, dass das fremde Schiff zur Bucht hinausdampft.«


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Ich war aufgesprungen, die Patronin auch. Was kümmerte uns jetzt noch die Tanzerei und das ganze Zeremoniell. Erklärung dieses Rätsels mussten wir haben!

»Wo kann man von hier auf die Bucht hinabblicken?«

»Das ist gleich hier...«

Der Sirdar führte uns, einige von meinen Leuten, die es mit angehört, worum es sich handelte, schlossen sich an.

Dann standen wir im Freien auf einer Plattform, dadurch gebildet, dass die Felswand hier oben einen Absatz machte, weiter zurücktrat, die Plattform hatte eine Ummauerung — das war das Adlernest, das man von unten gewahrte, hier oben freilich von ganz respektabler Größe.

Ich sah nicht, wer sich alles darauf befand, ich sah nur tief unter mir die Bucht — und in dieser keine »Argos« mehr — wohl aber steuerte sie soeben mit mächtig qualmendem Schornstein zu der Bucht hinaus und verschwand hinter einem Vorgebirge.

Ich starrte und starrte.

»Helene, was soll das bedeuten?«, konnte ich nur flüstern.

»Der Kapitän macht mit den Jungen eine Probefahrt, heizen können die Kinder ja!«, entgegnete die.

»Ja, einen Kessel können die Bengels wohl heizen, aber... Kapitän Martin mit denen eine Übungsfahrt machen, ohne dass er uns davon benachrichtigt hätte?! I, da ist bei Kapitän Martin doch gar nicht daran zu denken!«

»Die Wächter sagen«, wandte sich da der Sirdar nachdem er noch mit den Malaien gesprochen hatte, »auf der Kommandobrücke hätte, als das Schiff abging, nicht der Kapitän gestanden, auch kein anderer erwachsener Mann, sondern nur lauter halbwüchsige Knaben!«

Mehr brauchte ich nicht zu hören, da plötzlich ging mir die klare Erkenntnis auf, so ungeheuerlich sie mir auch selbst dünken mochte.

»Jungens«, schrie ich, »die Bengels rücken mit unserem Schiffe aus! Hinunter! Ihnen nach!«

So schrie ich noch in dem Tanzsaale, in dem aber nicht mehr getanzt wurde. Auch alle meine anderen Jungen und sonstigen Leute standen doch jetzt da, wussten jetzt alle, um was es sich handelte, und wussten nun nicht gleich, was sie beginnen sollten.

»Mir nach! Hinab, hinab! Mit der Barkasse ihnen nach!«

Und wir rasten hinab. Wie lange wir zu den 150 Metern Tiefe brauchten, weiß ich nicht. Ich nahm immer drei und vier Stufen auf einmal und wurde dennoch von Klothilde überholt, obgleich diese die kleine Ilse auf dem Arme hatte.

Und dann saßen wir alle in der Barkasse, die noch mit unseren Sachen bepackt war, der Motor angestellt, und sie knatterte in die Bucht hinein und zu dieser hinaus, mit 14 Knoten Fahrt, während die »Argos« unter Dampf nur 12 machte.

*

40. Kapitel

Die Blauen und die Gelben

Originalseiten 994 — 1016

Ja, ich hatte aus den 32 Knirpsen innerhalb von drei Monaten etwas zu machen verstanden.

Nicht etwa, dass ich sie in der Seemannschaft schon so weit ausgebildet gehabt hätte, dass jeder einen ganzen Mann stand. Das kann man bei Jungen, von denen nur einige schon zwölf Jahre alt waren, einige aber auch erst vier, im Durchschnitt acht Jahre, wohl nicht verlangen.

Nein, in moralischer Hinsicht meine ich, in der Ausbildung des Charakters.

Ich glaube da wirklich durch eine besondere Erziehungsmethode ein Problem gelöst zu haben, das man auch anderwärts einmal versuchen sollte, um kleine Tunichtgute — geborene Bösewichte, möchte man fast sagen — in bessere Menschen zu verwandeln.

Zunächst erwähne ich, wenn das dabei auch Nebensache ist, dass die 32 Jungen unterdessen andere Namen bekommen hatten.

Mit den Götter- und Heldennamen konnten wir uns durchaus nicht befreunden, Cäsar, Hektor und Nero hießen auch schon Hunde von uns. Und das Rufen mit Nummern wurde uns nach und nach immer unsympathischer. Riefen wir einfache Zahlen, so entstanden zu oft Verwechslungen, also musste man immer »Nummer« vorsetzen, und das erinnerte doch sehr an Zuchthaus. Andere Vornamen sind aber gar nicht so leicht zu erfinden, wenn man schon 60 Leute hat, die alle beim Vornamen gerufen werden, jeder mit einem anderen, wenn er auch nachträglich mit einem solchen getauft worden ist. Das ist an Bord des Schiffes nun einmal nicht anders. Jeder Mann vor dem Mast wird beim Vornamen gerufen, und sind drei Auguste dabei, dann werden zwei von ihnen umgetauft.

Nur einer war unter ihnen, der einen christlichen Vornamen hatte. Weil er seine Eltern oder doch seine Mutter kannte, die ja mit uns an Bord war. Der Sohn der Mama Bombe.

Der hieß Otto.

Und zufällig führte er in der Größenreihe auch die Nummer acht.

Das war ein merkwürdiger Zufall insofern, als acht auf Italienisch nämlich Otto ist. Wenn auch unser Name Otto nichts mit der italienischen acht zu tun hat. Der Name Otto ist ein altskandinavisches Wort und bedeutet der Vortreffliche.

Aber die italienische Zahl otto hatte uns doch darauf gebracht.

Wir benannten die 32 Jungen einfach mit den italienischen Zahlen.

Uno, Due, Tre, Quattro, Cinque, Sei, Sette, Otto, Nove, Dieci, Undici, Dodici, Tredici, Quattordici, Quindici, Sedici, Diciasette, Diciotto, Diciannove, Venti, Ventuno, Ventidue, Ventitré, Ventiquattro, Venticinque, Ventisei, Ventisette, Ventiotto, Ventinove, Trente, Trentuno, Trentadue.

Das war sehr leicht zu behalten, deshalb braucht man kein Italienisch zu können, die Worte sind scharf voneinander verschieden, und es klingt doch ganz anders, wenn man auf einem deutsch sprechenden Schiffe jemanden »Trentuno« ruft als »Einunddreißig« oder gar »Nummer Einunddreißig«. Deshalb sollten meine Jungen, die meist germanischer Rasse waren, keine Italiener werden. Vorläufig war es ganz gut so, vielleicht konnte es auch für immer so bleiben.

Die Hauptsache war, dass ich die ganze Bande gleich wieder in zwei Farben geteilt hatte, auch äußerlich durch Abzeichen erkennbar, in die Blauen und in die Gelben.

Infolgedessen werde ich fernerhin öfters die Bezeichnungen die »Grünroten« und die »Blaugelben« gebrauchen, um die erwachsene Mannschaft, zu der ich aber auch Fritz den Mondgucker und Jim den schwarzen Kartoffelschäler zähle, von diesen eigentlichen Jungen zu unterscheiden.

Ich habe meine Erziehung während der Fahrt nach der Koralleninsel und während unseres zweimonatlichen Aufenthaltes in der Lagune deshalb nicht geschildert, weil es die größte Ähnlichkeit damit hatte, wie ich auch meine großen Jungen, die Grünroten, ausgebildet hatte.

Also mit Ausnahme einiger Schulunterrichtsstunden wurden den ganzen Tag Sportspiele jeglicher Art getrieben, es wurde geturnt, gesprungen und gerannt, geschwommen und gerudert, ich ließ sie auch fechten, ja ich gab ihnen sogar schon Revolver und Gewehre mit scharfen Patronen in die Hand, ließ sie nach der Scheibe schießen.

Weshalb nicht? Unter den Kindern der Hinterwäldler gibt es noch viel kleinere, die schon ganz perfekt mit dem Schießprügel umzugehen wissen. Sie müssen es lernen, die Not gebietet es. Und konnten wir nicht auch einmal in die Lage kommen, dass wir Erwachsenen nicht mehr fähig waren, unser Schiff zu verteidigen, dass diese Knirpse ein Gewehr abdrücken mussten, um ihr und unser Leben zu verteidigen?

Und was heißt bei so etwas überhaupt Alter? Wie häufig kommt es vor, dass ein Mann, der schon so ziemlich ein ganzes Menschenalter lang den Bürosessel gedrückt hat, nun, da er sich pensionieren lässt, zum Zeitvertreib auf die Jagd gehen will, zum allerersten Male in seinem Leben nimmt er ein Gewehr in die Hand. Und dieser alte Mann hat keine Aufsicht dabei. Ist es da nicht besser, man gibt einem Kinde unter Aufsicht ein Gewehr in die Hand? Dieses Kind wird nicht so leicht ein Unglück anrichten als so ein alter Bürokrat oder Rentier mit dem Tadderich.

Dann ferner natürlich Unterricht in Seemannsarbeiten aller Art, im Schiffsdienst. Sie mussten einen Teil des Schiffes ganz selbständig rein halten, lernten knoten und splissen, mussten in der Takelage arbeiten. Dass die 32 Bengels etwa das Schiff als Segler hätten bedienen können, daran war natürlich nicht zu denken, aber immerhin, es waren ja sowieso schon so kleine Akrobaten gewesen, sie wurden immer mehr ausgebildet, sie konnten die Matrosen schon recht wohl unterstützen.

Dies alles geschah nach genau bestimmtem Stundenplane, nach der Schiffsroutine.

Bordroutine ist das ungeschriebene Gesetz für den Anstand, der auf dem Schiffe zu herrschen hat. Unter Schiffsroutine versteht man den Stundenplan für die Arbeit und den sonstigen Dienst, der auf Kriegsschiffen von Tag zu Tag anders entworfen und öffentlich ausgehängt wird.

Ja, geregelt waren diese Stunden für jeden einzelnen Tag ganz genau. Heute war von 2 bis 3 Schulunterricht, von 3 bis 4 Flickstunde, dann konnte oder vielmehr musste geturnt oder sonstiger Sport getrieben werden.

Aber hierin ließ ich den Jungen gänzlich freien Willen. Es war genau dasselbe wie bei den erwachsenen Grünroten. Farbe ging gegen Farbe, Blau gegen Gelb. Jede Partei übte sich am meisten in der Sache, in der sie am wenigsten leistete, um beim nächsten Wettkampf gegen die andere Farbe die verloren gegangenen Punkte wieder aufholen zu können. Auch hier ging es um Prämien, auf deren Wert es ganz und gar nicht ankam, auch die Blaugelben hatten ihr eigenes »Logis« — sprich so, wie es geschrieben wird — ihren Klubraum, auch hier hatte jede Farbe ihren eigenen Glasschrank, und die Prämien wanderten zwischen den beiden Schränken hin und her.

In diesen drei Monaten hatte die erste Begeisterung für diese Wettspiele nicht im Geringsten abgenommen, im Gegenteil, sie nahm immer zu. Genau so, wie noch heute nach einem Jahre meine erwachsenen Grünroten, wenn sie sich zur Koje legten, ehe sie einschliefen, sich nur darüber unterhielten, welche Farbe wohl diese oder jene Prämie das nächste Mal erringen würde.

Mit diesen kleinen Bengeln durfte ich aber noch etwas anderes anstellen, was ich mit den Großen hätte nicht tun dürfen. Ich hätte den Leuten nicht eine Prämie für gute Führung anbieten dürfen. Etwa, welche Farbe am wenigsten flucht, die bekommt hier diese Figur als Prämie in ihren Glasschrank gesetzt. Da hätten mich diese Kerls ja nicht schlecht ausgelacht! Es hat eben alles seine Grenze.

Aber bei solchen Kindern war das noch möglich. Allerdings war es nur ein Versuch von mir. Ich glaubte selbst nicht daran, dass es gelingen würde. Eine körperliche Ausbildung ist doch etwas ganz anderes als eine moralische.

Aber das Wunder geschah.

Ich hatte die Zauberkraft des Korpsgeistes, über den ich schon früher einmal gesprochen habe, noch immer viel zu gering eingeschätzt. Denn nichts anderes als der Korpsgeist war es, der dieses Wunder fertig brachte.

Wie schon gesagt: es waren ja niederträchtige Rüpels darunter. Taugenichtse waren sie überhaupt alle gewesen. Mit niederträchtigen Gewohnheiten behaftet. Dass sie sich wegen jeder Kleinigkeit gegenseitig anspuckten, das war noch das wenigste, und mehr will ich gar nicht erwähnen. Bei vielen aber sah man schon den Stempel des zukünftigen Verbrechers ganz deutlich auf die Kinderstirn gedrückt.

Da hätten keine Strafe, nicht die fürchterlichsten Prügel genützt. Das wusste ich im Voraus, damit fing ich gar nicht erst an.

Ich setzte eine Prämie für die beste Führung aus. Nur eine Figur, einen hölzernen Elefanten. Mit Absicht hatte ich so etwas gewählt. Die Prämie durfte mit der guten Führung in gar keiner Beziehung stehen.

So, nach dieser Prämie hat jede Farbe durch gute Führung zu ringen. Jeden Mittag vor dem Essen wird sie einer Farbe neu zugeteilt, die sie dann für 24 Stunden zu verteidigen hat. Die früheren guten Führungen zählen natürlich nicht mit. Es geht immer nur von Mittag zu Mittag.

Und da geschah das Wunder, an das auch ich niemals geglaubt hätte.

Die durch und durch verrohten Bengels wurden plötzlich alle Musterknaben.

Ich musste es mir erst reiflich überlegen, ehe ich es begreifen konnte.

Es war eben der Korpsgeist, der dieses Wunder bewirkte. Alles Persönliche war ganz ausgeschaltet. Es ging nur um die Ehre der Farbe, der Partei. Welche Farbe den hölzernen Elefanten am Mittag in ihren Glasschrank bekam.

Damit die Figur nicht aus dem blauen Schrank in den gelben wanderte, deshalb hörte der unverbesserliche Dieb plötzlich zu stehlen auf. Oder er hatte vielmehr alles, was er heimlich erwischen konnte, einfach über Bord geworfen, nur aus Lust am Verschwindenlassen, an Schädigung eines anderen, an der Vernichtung. Das war ja natürlich schon mehr eine Manie, eine geistige Krankheit. Aber plötzlich war diese verschwunden. Und so war es bei allen anderen. Die verlogensten Schlingel, die aus Prinzip logen — sie sprachen plötzlich die lautere Wahrheit. Denn wenn sie einmal bei einer Lüge ertappt wurden, dann gab es wieder für die andere Farbe einen Punkt, der ihr den hölzernen Elefanten näher brachte. Und so war es bei allem und jedem.

Kurz und gut, aus diesen kleinen, nichtswürdigen Halunken waren mit einem Schlage tadellose Musterknaben geworden.

Und jetzt hatten diese Musterknaben uns das ganze Schiff gemaust!

*

Ich will es gleich erzählen, wie es gekommen war, wenn ich es auch erst später erfuhr,

Gegen zehn Uhr hatte ich meine Anrede gehalten, wir gingen mit der Barkasse davon.

Die Knirpse fühlten sich als Herren des Schiffes. Das heißt als Beschützer.

»Wenn wir nur jetzt zeigen könnten, was wir schon leisten können.«

»Wenn nur jetzt plötzlich ein Sturm käme.«

»Oder Seeräuber. Na, die wollten wir ja heimschicken.«

»Na, wenn uns dieses Schiff gehörte, wir wollten ja etwas anderes machen, als immer so lange in einer Lagune liegen.«

So und ähnlich waren die Reden zuerst gegangen.

»Wenn wir wenigstens jetzt einmal eine Fahrt allein machen dürften.«

»Das wäre ein Gedanke! Wir müssten den Kapitän fragen!«

»Dummer Hund, denkst Du denn, der erlaubt so etwas?«

»Na, da wird er einfach gar nicht erst gefragt, wir fesseln ihn einfach und fahren los.«

Ventitré war es gewesen, der diesen Vorschlag zuerst gemacht hatte, ein zehnjähriger, aber noch sehr kleiner Bursche, dem ich das eigentlich am allerwenigsten zugetraut hätte.

Doch es kommt ja gar nicht drauf an, von wem dies alles ausging. Sie machten überhaupt alle mit, waren gleich ein Herz und eine Seele, nur die Anregung musste dazu einmal gegeben werden.

»Na, warum soll's denn der Kapitän nicht erlauben«, hatte es dann weiter geheißen, »nur einmal so ein bisschen in der Bucht herumdampfen.«

Hierzu bemerke ich, dass die Blaugelben wirklich schon einmal geheizt hatten, jede Farbe eine ganze Wache lang, vier Stunden lang.

Schon auf der Fahrt von Frisco nach der Koralleninsel hatte ich ihnen die Maschine und die Heizanlagen erklärt oder von den Maschinisten erklären lassen. Diese Kenntnis gehört heute mit zur Seemannschaft, wenn ein Steuermann auch nur auf Seglern fahren will. Auf der Navigationsschule hat man ganz tüchtig Maschinenkunde und alles, was dazu gehört.

»Will mal jemand mitfeuern und Kohlen trimmen, um zu merken, wie einem da der Rücken weh tut?«

Ei gewiss, das macht doch Spaß! Und sie hatten Kohlen geschleppt und unter die beiden Kessel geworfen. Zu deren Bedienung gehörten auf jede Woche vier Heizer und Kohlenzieher, die bei uns abwechselnd arbeiteten, also einmal heizten, einmal trimmten.

Sollten 16 kräftige Jungen, ich meine keine notorischen Schwächlinge, mochten einige von ihnen auch erst vier Jahre alt sein, aber im Durchschnitt waren sie ja acht Jahre, nicht dasselbe leisten wie vier Männer?

Nun, den vollen Atmosphärendruck hatten sie nicht immer halten können. Es ist doch eine ganz höllische Arbeit, das Nachwerfen muss auch verstanden sein. Aber immerhin, der nötige Dampf war doch immer vorhanden gewesen, um die Schraube arbeiten zu lassen, die Bengels hatten sich mächtig angestrengt, zumal es wieder Blau gegen Gelb gegangen war.

Also sie glaubten, die Kessel und Maschine vollständig bedienen zu können, zumal sie unterdessen doch noch viel hinzugelernt hatten. Was die jetzt alle schon für Muskeln bekommen hatten! Und diese Hände!

»Gerade, wenn wir hier ein bisschen in der Bucht herumdampfen, dann sehen die Malaien, was wir können — falls sie Lust hätten, das Schiff anzugreifen.«

»Hm, das sollten wir dem Käpten eigentlich sagen, dann wird ers schon erlauben.«

»Wo ist der Käpten?«

»Er kriecht unten im Schiffe herum.«

»Warten wir, bis er wieder kommt.«

»Wer will dann zu ihm gehen und ihm den Vorschlag machen?«

»Ich nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Hasenfüße seid Ihr, Süßwasserheringe!«

»Na, dann geh Du doch!«

Dazu hatte der »Held« aber auch keine Lust.

»Na, dann gehen wir eben alle zusammen!«

»Jawohl, und dann auch sofort!«

Richtig, den Entschluss sobald er sich einstellt, nur immer gleich beim Schopfe gefasst, zur Ausführung gebracht.

Sie glaubten den Kapitän im Unterdeck, begaben sich sofort hin. Durften es ja auch, alle das Deck verlassen, standen gegenwärtig unter keinem Kommando.

Kapitän Martin inspizierte die unteren Schiffsräume, hatte auch einmal die Arrestelle des ursprünglichen Kriegsschiffes aufgeschlossen oder vielmehr nur aufgeriegelt, war eingetreten, um nach dem Rechten zu schauen. Dringesessen hatte bei uns ja noch niemand, aber in Ordnung musste doch alles sein, so zum Beispiel dass sich die Pritsche leicht herab und wieder hoch klappen ließ.

»Herr Kapitän!«, erklang es da hinter ihm.

Der Kapitän drehte sich um, sah da vor der Tür Jungen stehen, so viele Platz hatten, steckte die Hände, die er zu dem Herumklappen gebraucht hatte, wieder in die Hosentaschen.

»Was wollt Ihr?«

»Können wir nicht einmal in der Bucht ein bisschen herumdampfen?«

»In der Bucht herumdampfen?«

»Damit die Malaien sehen, dass wir das ganze Schiff regelrecht bedienen können, dass wir die Matrosen und Heizer gar nicht gebrauchen.«

»Das ganze Schiff regelrecht bedienen können? Ihr seid wohl verrückt geworden? Schert Euch an Deck!«

Da plötzlich krachte die Tür zu.

Mit einem Sprunge war der Kapitän an der Tür, aber da war schon der schwere Riegel vorgeschoben worden.

Wer es getan, das weiß ich nicht, danach habe ich dann später auch nicht geforscht, niemand sollte zum Ankläger werden, um sich entschuldigen zu wollen.

»Bande verfluchte, wollt Ihr gleich die Tür öffnen?!«

Aber nur die Klappe für die Wache wurde aufgemacht.

Einer musste gehoben werden, um durch das Guckloch sehen und sprechen zu können,

»Geben Sie die Erlaubnis, Käpten, dass wir ein bisschen in der Bucht herumdampfen?«

»Tollhäusler Ihr, wollt Ihr gleich die Tür öffnen?!«

»Na, dann machen wir es eben so, wir werden auch ohne Euch fertig.«

Wie es gekommen war, ich weiß, es nicht.

Jedenfalls war der Anfang gemacht, nun folgte es weiter.

Die Bürschchen wurden wie von einem Taumel erfasst. Der Rausch der Rebellion packte sie.

Aus einer Luke, die nach dem Maschinenraum führte, blickte ein Knabenkopf.

»Stürmann, Ihr sollt mal zum Käpten kommen, aber fix, fix!«

Der erste Steuermann hatte Wache auf der Kommandobrücke, durfte diese unter keinen Umständen verlassen. Aber wenn ihn der Kapitän rief? Dann selbstverständlich.

»Was ist denn passiert?!«

»Fix, nur fix!«

Der Steuermann stürzte herbei, in die Luke hinein, die Leiter hinab, hatte den Boden noch nicht mit den Füßen berührt, als ihm diese schon mit Stricken umwunden wurden, und ebenso schnell ging es mit den Armen und Händen, die er noch an der Leiter liegen hatte, um sich festzuhalten, die wurden ihm einfach festgelascht. Was wollte er denn überhaupt gegen 32 solche kräftige Bengels machen. Da unterlag auch ein Riese an Kraft. Und inzwischen hatten sie auch schon eben so leicht den ersten Maschinisten abgefertigt, Kalthoffs Nachfolger, ein stilles, etwas ängstliches Männchen, wie ich ihn schon gleich im Anfange geschildert habe.

Der lag auch schon gebunden neben der Maschine, die er geschmiert hatte, und diese Bengels verstanden Knoten zu schürzen, dafür hatte ich gesorgt, und Klothilde hatte ihnen noch extra einige besondere Kunstkniffe beigebracht, die sie jetzt mit bestem Erfolge anwandten.

Alle anderen wurden mit eben solch leichter Mühe abgefertigt. Bemerkenswert ist es aber doch, dass diese Teufelsbraten dem Zimmermann wie dem chinesischen Koch schon den Revolver auf die Brust setzten. Fabian und Carlistle kamen gar nicht in Betracht, die wurden einfach eingesperrt, letzterer im Totensalon bei seiner Traumkönigin, wo er sich natürlich befunden, und von Mama Bombe, und Schudick braucht gar nicht erst gesprochen zu werden.

Jetzt waren die Knirpse wirklich Herren des Schiffes! Nun fort!

Erst aber die Führung erwählt!

Als Kapitän und Offiziere konnten nur drei »Mann« in Betracht kommen.

Drei von den Jungen waren sehr gute Rechner, zeigten Interesse für die Sache — ich hatte sie im Ausführen von geografischen Ortsbestimmungen ausgebildet, nach der Sonne sowohl wie nach Sternbildern wie nach Monddistanzen. Da ist gar nicht so viel dabei. Eine rein mechanische Sache. Nur zur Handhabung des Sextanten gehört Geschicklichkeit, weiter nichts. Das Rechnen nach Tabellen geschieht ganz mechanisch, wenn auch Logarithmen dazu nötig sind.

Das Schifferexamen für große Fahrt hätten diese drei natürlich nicht bestehen können, auch in diesem Fache nicht — aber für kleine Fahrt ist diese Bestimmung schon gar nicht nötig.

Quattro wurde Kapitän, die beiden anderen seine beiden Offiziere, darunter auch Otto.

Sehr bezeichnend für ihre Gemütsverfassung war, dass sich diese drei den Gürtel sofort mit Revolver und Messern spickten. Das taten aber auch alle anderen, wenn sie auch zum größten Teil in den Heizraum geschickt wurden.

Na ja, regelrechte Meuterer waren sie nun doch schon geworden. Und von denen bis zum Seeräuber ist es ja nur noch ein kleiner Schritt.

Zwar wussten diese Bengels selbst noch gar nicht, was sie eigentlich wollten — aber nur in der Bucht ein bisschen herumdampfen, das konnten sie jetzt jedenfalls nicht mehr, das wussten sie bestimmt.

Wir waren ja mit voller Dampfkraft eingefahren, das Wasser in den Kesseln war noch immer kochend, die nötige Dampfspannung war bald wieder hergestellt, der einzige Anker mit der Dampfwinde gehievt und einstweilen hängen gelassen, und fort ging es zur Bucht hinaus.

Wohin?

Den Weg zurück, den wir gekommen waren. Da die an Deck Gebliebenen doch auch etwas zu tun haben mussten, ließ der Herr Kapitän von ihnen unterdessen Gewehre und Munition aus der Waffenkammer bringen, auch die Revolverkanonen klar machen.

Wozu?

»Wir wussten ja gar nicht, was wir taten, wir waren ganz verrückt.«

So wurde mir später von ihnen gesagt.

Eine andere Erklärung gibt es auch gar nicht.

Sie waren vom Größenwahnsinn berauscht.

Aber die meisten Wahnsinnigen scheinen immer noch ganz genau zu wissen, was sie tun, können oftmals ganz kaltblütig handeln.

Freilich sollten sich die kleinen Seekönige nicht lange ihrer freien Selbstherrlichkeit erfreuen.

Sie waren, seitdem sie die Bucht verlassen, vielleicht erst 20 Minuten gedampft, aber auch nicht mit voller Kraft, die konnten sie nicht aufbringen, hatten sich erst drei Seemeilen von der Bucht entfernt, als es unter dem Kiel knirschte, und immer mehr knirschte, und zwar ganz unheimlich, nicht nur nach Sand, sondern nach Felsen, oder hier wohl nach Korallen, ein Ruck und... der Dampfer saß fest!

Übrigens will ich gleich sagen: wir hätten bei der Ausfahrt ebenso gut hier festrennen können! Nämlich ohne eingeborenen Lotsen!

Die Bürschchen — steuern konnten sie alle, das ist gar keine Kunst — hatten ganz genau denselben Kurs eingehalten, den wir genommen, das war aller Ehren wert.

Aber das war vor zwei Stunden gewesen, da hatte noch höchste Flut geherrscht, und der Lotse, der sich über den Tiefgang unseres Schiffes genau orientiert, hatte uns glatt über diese Bank weggebracht, ohne uns etwas von ihr zu sagen.

Wenn wir ohne Lotsen den Rückweg zwei Stunden nach Flut angetreten hätten, wir wären hier ebenfalls todsicher festgefahren.

Ach Du großer Schreck!

Doch nein — Ehre, wem Ehre gebühret!

Die erwählte Führung erschrak durchaus nicht, sie waren ganze Männer vom Scheitel bis anderthalb Meter hinab zur Sohle.

»Alle Mann an Deck!«, donnerte der Herr Kapitän durch das Sprachrohr hinab in den Maschinenraum, soweit ein Kinderstimmchen donnern kann, nachdem er durch den Signalapparat auch schon den Dampf abbestellt hatte.

Aber das hatten die Maschinisten schon von ganz allein getan, sie kamen wie die Heizer schon von ganz allein heraufgestürzt, die hatten dort unten doch aus erster Quelle erfahren, was passiert war. Es musste ganz schauerlich gekratzt haben.

Was nun?

Da tauchte dort hinten schon unsere Dampfbarkasse auf.

Nun hätten die Bürschchen uns eigentlich auch noch beschießen müssen. Aber nein, so weit ging es denn doch nicht.

Bei unserem Anblick rutschte diesen Seehelden denn doch das Herz in die Pumphöschen.

Da war es Otto, der den besten Gedanken hatte, und ich hätte es ihm auch verdacht, wenn er's nicht gewesen wäre, denn der Sohn der Mama Bombe war wirklich der Intelligenteste von allen.

»Jungens, erwischen lassen dürfen wir uns nicht! Diese Blamage ertrage ich nicht! Die beiden Jollen klar! Wir schlagen uns in die Wildnis und führen da ein freies Jägerleben!«

So hatte Otto gerufen.

A la bonne heur, das war gar keine so schlechte Idee.

Wenn schon, denn schon! Und die anderen sahen denn auch sofort ein, dass es hier gar nichts anderes gab.

Also die beiden Jollen ausgeschwungen und zu Wasser gelassen. Das verstanden die Bengels dank meiner Bemühungen schon ganz famos. Vollkommen ausgerüstet für längere Fahrt waren diese Boote immer, hatten gefüllte Wasserfässchen und einige Säcke mit Schiffszwieback und Konserven und anderen Proviant.

Aber die wackeren Jungen waren bei so klarem Verstande, dass sie in aller Schnelligkeit noch mehr Proviant einluden, Gewehre nahmen sie selbstverständlich mit, sonst konnten sie doch nicht jagen, sie keuchten unter der Last von Patronenkisten — ja, sie dachten sogar an Äxte, Sägen, Hämmer, Nägel und dergleichen Werkzeug, um es sich als Jäger im indischen Urwald möglichst bequem zu machen.

Tatsächlich — wenn ich jetzt auch etwas ironisch erzähle — dann später fand ich dies alles höchst lobenswert.

Wenn schon, denn schon!

Es waren wirklich ganz tüchtige Bengels, diese Knirpse! Die würden es später schon einmal zu etwas bringen.

Und nun mit welcher Schnelligkeit sie dies alles ausführten!

Wir waren noch ein gutes Stück von dem Schiffe entfernt, da waren die beiden Jollen schon unterwegs.

Ob die Jungens freilich die nächste Insel erreichen würden, das war sehr die Frage, denn von der waren sie noch zwei Kilometer ab.

Aber der Himmel selbst stand den wackeren Burschen bei. Mit einem Male versagte unser Motor. Na überhaupt dieser Petroleummotor! Wir kurbelten und kurbelten — er kam nicht wieder in Betrieb!

Die Barkasse konnte auch gerudert werden, die Riemen lagen vorschriftsmäßig befestigt auf den Trachten. Aber über ihnen lagen unsere Säbel und Rappiere und Posaunen und Pauken und was wir sonst noch alles mitgenommen hatten, das musste erst fortgeräumt werden, und als wir einige Riemen herausgeholt hatten, konnten sie wegen des Gepäckes kaum gebraucht werden.

So erreichten wir mit Müh und Not das Schiff, gleich in der Absicht, die Barkasse aufzugeben und lieber einen oder zwei Kutter zu benutzen.

Kapitän Martin war es, der uns das Fangseil zuwarf und dann die Hände in die Hosentaschen steckte.

Wie er es fertig gebracht hatte, die schwere Eisentür aufzuwuchten, den kolossalen Riegel aufzubrechen, das ist mir immer ein Rätsel geblieben.

Mit wenigen Worten hatte er uns über den Vorgang verständigt, so weit es nötig war.

»Nun aber ihnen nach mit den Kuttern, oder die Jungen sind des Todes, sie kommen in die Korallenstrudel!«

Ja, die Situation hatte sich unterdessen geändert.

Die unternehmenden Bürschlein sollten keine Ternateninsel erreichen, um sie erst von Seeräubern zu säubern und dann ein freies Bukanierleben auf ihr zu führen.

Ein anderer mochte glauben, dass sie freiwillig die Richtung geändert hätten, sich von der Insel entfernen wollten. Wir aber merkten gleich an ihrem verzweifelten und daher unregelmäßigen Pullen, dass es ein unfreiwilliger Abgang war.

Sie waren in eine Ebbeströmung gekommen, die sie mit sich fortriss, so verzweifelt sie sich auch dagegen wehrten.

Und sie wussten schon, dass sie sich nicht forttreiben lassen durften, sie sahen dasselbe, was auch wir sahen: dieser mächtige Strom lief dort hinten in die Korallenriffe hinein — dort wo es so furchtbar brandete und brauste — dort wartete ihrer der unerbittliche Tod! Dort blieb keine Bootsplanke auf der anderen, dort verschwand alles in dem kochenden Strudel, wenn es nicht vorher an den spitzen Korallenriffen aufgespießt wurde.

»O, gnädiger Himmel, habe nur einmal noch Erbarmen!«, heulte ich auf, als ich diese Situation erfasst hatte.

Der erste Kutter, den für gewöhnlich ich selbst steuerte, war auch der erste im Wasser, mit der abgeteilten Mannschaft, die ich selbst eingepullt hatte.

Wir schossen über das Wasser, und als auch wir uns in der Strömung befanden, war es noch etwas anderes als ein Schießen. Eine Fahrt wie ein Torpedojäger mit 30 Knoten machten wir sicher. So hatten wir in höchstens fünf Minuten die beiden Jollen eingeholt, nur noch 300 Meter von dem kochenden Korallenstrudel entfernt.

Ich konstatiere, dass die Bengels bis zur letzten Minute und Sekunde mit voller Kraft gepullt hatten, gegen den Tod ankämpfend.

Als sie uns ankommen sahen, die Retter in der Not, die Engel vom Himmel, da freilich war es mit ihnen vorbei, da ließen sie die Riemen fahren.

Ach, diese kläglichen Gesichter, die sich uns zukehrten!

Aber noch einmal musste ich sie erst aufrütteln.

»Erste Jolle — streich backbord!«, brüllte ich.

Gelobt sei Gott, sie waren noch fähig, das Ruderkommando auszuführen.

Die Backbordruderer der Jolle Nummer eins griffen noch einmal zu den Riemen. Der Erfolg war der, dass die beiden Jollen zusammenkamen.

Nun brauchte ich weiter kein Kommando zu geben, sie begriffen schon von selbst, was sie tun müssten, oder sie taten es ganz instinktiv: Sie klammerten mit den Händen die beiden Jollen zusammen.

Mit drei Streichen hatten wir gewendet, ich schlang das Seil um den Bug der ersten Jolle, und als ich es durch den Bugring zog, da zogen auch meine Jungen schon an.

Und wieder brauchte ich den Bengels nicht zu sagen, was sie zu tun hätten. Sie dirigierten von ganz allein die zweite Jolle nach hinten, hingen sie an die erste.

Und da kam auch schon der zweite Kutter angeschossen, wie immer von Oskar gesteuert, und spannte sich vor unseren.

Und wie auch die Bengels wieder mutig zu den Riemen griffen, da kam die sechzehnriemige Pinass unter dem ersten Bootsmann angebraust und spannte sich wieder vor Oskars Kutter.

Und nun ging der Tanz erst richtig los, die letzte Jolle kaum noch 100 Meter von dem Strudel entfernt, schon immer schöpfen müssend.

Ich will ihn nicht schildern, diesen Tanz, kann es nicht. Ziemlich drei Stunden haben wir gebraucht, um wieder an Bord zu kommen, nur aus der Strömung heraus!

Von einem Vorwärtskommen war überhaupt gar nichts zu merken, das konnte man nur aller Viertelstunden konstatieren.

Als ich meinen Fuß an Deck setzte, trat Carlistle auf mich zu, ganz kläglich, mit gefalteten Händen.

»Waffenmeister — jetzt ist meine Königin wirklich tot!«, piepste er.

Ich hätte dem Yankee-Jüngling beinahe eine heruntergehauen, war nur nicht fähig dazu.

Ich hatte gleich im Anfange das Steuer einem anderen übergeben, hatte selbst mit gepullt.

Jetzt wollte ich mich auf einen Poller setzen, verfehlte mein Ziel, sackte daneben gleich zusammen.

Und so lagen auch alle die anderen wie die Fliegen da. Ja, das war auch etwas anderes gewesen als damals das Bootsracen in Rio! Wir hatten drei Stunden lang Brust an Brust mit dem Tode gerungen!

Erst nach einer halben Stunde waren wir wieder richtig lebendige Menschen. Wenigstens wir Grünroten. Die Blaugelben noch lange nicht. Das waren noch immer lauter kleine Häufchen Unglück. Kapitän Martin ließ sie in die Segelkammer einsperren. Hatte kein Wort zu ihnen gesagt, noch weniger einen berührt. Dazu hätte er ja auch die Hände aus den Hosentaschen nehmen müssen. Übrigens hätte er sie noch ganz anderswo einsperren lassen können, wir hatten nackte Räume genug; so konnten sie sich wenigstens auf die Segel hinlegen. Aber visitieren hatte er sie zuvor lassen, damit sie in ihrer Verzweiflung nicht etwa sonst noch etwas anrichteten.

»Na, Gnade Euch Gott, wenn wir Euch dann vornehmen!«, sagte August der Starke, der Herr der Segelkammer, als er einen Jungen ziemlich unsanft hineinschob.

»Still, Bootsmann«, hörte ich Kapitän Martins Stimme, »Ihr werdet sicher nicht den Richter spielen und stoßt die Jungen nicht so herum!«

Unterdessen, gleich nach unserer Abfahrt, hatte Kapitän Martin schon gelenzt. So dicht hält auch nicht das bestgefugte Stahlschiff, dass es nicht doch etwas Wasser einlässt. Und dann hinten die Stopfbüchse, durch welche die Schraubenwelle geht! Dieses sich regelmäßig im Kielraum ansammelnde Wasser, das von Zeit zu Zeit ausgepumpt wird, heißt Lenzwasser. Hier und da gehen durch alle Decks Röhren bis in den Kielraum hinab, durch diese wird das Lenzwasser zu regelmäßigen Zeiten gepeilt, es muss darüber eine besondere Tabelle geführt werden.

Das Lenzwasser war normal, also ein Leck war nicht vorhanden.

Unter den Zurückgebliebenen war kein ausgebildeter Taucher gewesen. Jetzt ging der Heizer Paul hinab, ein geschulter Taucher, gelernter Schlosser, ich begleitete ihn im zweiten Kostüm.

Eine tote Korallenbank, das heißt die Korallen waren abgestorben, es hatte sich eine hohe Schicht Korallensand gebildet, auf dieser hatten sich in hoher Lage Muscheln angesiedelt, Hammermuscheln.

In diese Muschelschicht und vielleicht auch noch in den darunter liegenden Korallensand hatte sich der scharfe Kiel in eine Tiefe bis zu einem halben Meter eingegraben, fast der ganzen Länge nach. So weit wir jetzt beurteilen konnten, war er ungebrochen. Hinten lag er naturgemäß tiefer als vorn. Aber die Hauptsache war: Die Schraube war unverletzt, lag frei, hatte noch genug Spielraum.

Als ich wieder an Deck war, den Helm abgeschraubt und meine beruhigende Meldung erstattet hatte, tauchte der Sirdar auf, der mit einem Boote gekommen war.

Was denn passiert sei. Festgerannt? Hat nichts weiter zu bedeuten?

»Na, dann ist es ja gut! Also nun kommen Sie doch gleich wieder nach der Felsenburg zurück. Die Begum hat mir befohlen, dass ich Sie unbedingt gleich mitbringen soll. Heute Nacht findet ein glänzendes Fest statt. Also bitte, kommen Sie.«

Er bekam ja von uns nichts zu hören, keine Grobheit, aber... hatte der gute Mann eine Ahnung!

Wir dachten jetzt doch an alles andere als an diese malaiischen Amazonen! Die mochten sich unter Anleitung ihrer Königin nur alle aufhängen — wir wären nicht hingekommen, um sie abzuschneiden.

Unser Schiff, unser Schiff!

Denn dass wir es so glatt wieder herausbekamen, das war noch lange nicht gesagt!

Die nächste Hochflut war hier heute Nacht einige Minuten nach zehn Uhr. Einmal aber war in diesem Inselgebiet die Flut überhaupt sehr gering, der Strom wurde, wie wir selbst schon erfahren, dort an der Inselspitze nach Norden abgelenkt, und unglücklicherweise war heute Nacht Nippflut, sie erreichte die geringste Höhe, weil der Mond mit der Sonne in Quadratur stand, 90 Grad voneinander entfernt.

Die nächste Flut war morgen früh halb elf, die war schon bedeutend höher. Die wollten wir ganz ruhig abwarten.

Wir hätten ja auch einmal mit voller Kraft zurückgehen können, jeder andere Dampfer hätte es gemacht — aber wir waren unversichert! Nein, wir wollten ganz ruhig bis morgen Mittag warten. Dann pumpten wir auch noch die hinteren mit Wasser gefüllten Ballasttanks leer, vielleicht schafften wir auch noch eine gute Portion Kohlen nach hinten, um das Vorderteil zu entlasten — dann hatten wir getan, was wir tun konnten, wir brauchten uns nie Vorwürfe zu machen, falls doch noch etwas schief ging.

Denn die deponierte Versicherungssumme unseres Chartermeisters hätten wir in diesem Falle niemals angenommen, das war ganz ausgeschlossen.

Der Sirdar ging wieder ab mit unserem Bescheid. Morgen hoffentlich würden wir wieder die Felsenburg besuchen, um der Begum etwas vorzuführen und uns mit ihren Amazonen zu messen, aber heute Nacht war nicht daran zu denken.

*

41. Kapitel (1)

(1) Im Original steht »35. Kapitel«

Vor welchem Schicksal uns der dumme Jungenstreich
bewahrt hat und was er uns sonst noch einbringt

Originalseiten 1016 — 1056

Der Abend war angebrochen, die Hauptpersonen saßen in der Kajüte beisammen zur Beratung. »Was soll nun aus diesen Bengels werden«, begann die Patronin. »Ich will mein Urteil zurückhalten, bis ich Ihres gehört habe. Herr Kapitän Martin, fangen Sie an.«

»Well, die waren von jeher reif für eine Korrektionsanstalt.«

»Bitte, lassen Sie mich das Wort ergreifen!«, sagte sofort Klothilde, aber sie kam nicht dazu, zuerst ergriff ich das Wort.

Und ich sprach eine halbe Stunde lang.

Ich sprach wie ein Buch, wie ein Advokat.

In einer halben Stunde kann ein zungengewandter Advokat tausend solcher Zeilen wie diese sprechen, und die möchte ich doch lieber nicht wiedergeben.

Ich fing von den Äpfeln in Nachbarsgarten an, die dazu da sind, um von den Nachbarskindern gemaust zu werden.

Und der Junge, der, obgleich in seines Vaters Garten noch viel bessere Äpfel wachsen, die er nach Belieben abpflücken darf, nicht in des Nachbars Garten steigt, um dessen saure Äpfel zu mausen, das ist kein tüchtiger Junge, das wird auch kein tüchtiger Mann.

Ich weiß zwar, dass ich da bei den Herren Pädagogen auf Widerspruch stoßen werde, aber da lasse ich mich gar nicht beirren, da habe ich meine Erfahrungen, und außerdem habe ich den Baum der Erkenntnis auf meiner Seite. Was ich hiermit meine, das werden die Herren Pädagogen schon verstehen, andere brauchen es nicht zu verstehen. Und wenn der Prometheus nicht die Götter bemaust hätte, dann hätten wir heute noch keine Streichhölzer, müssten die harten Erbsen roh kauen.

Quod licet Jovi, non licet bovi.

Was dem Jupiter erlaubt ist, darf noch lange nicht jeder Ochse tun.

Alles mit Unterschied. Es kommt immer ganz auf den Gesichtspunkt an.

Das Ideal des tüchtigen Jungen ist, des Nachbars essigsaure Äpfel zu mausen, auf die Gefahr hin, den Hosenboden windelweich geklopft zu bekommen.

Weiter geht der Gesichtskreis dieses Jungen eben noch nicht.

Ich war einmal als Junge bei einem Jagdwagen angestellt, der abgeschirrt und festgebremst auf einer etwas abschüssigen Straße stand, sollte aufpassen, dass kein Lausbub kam und an der Bremse leierte.

Aber der Lausbub war ich selber. Nur einmal ein klein bisschen die Bremse aufdrehen, der Wagen nur ein ganz klein wenig laufen lassen — ach, das musste doch zu herrlich sein! Ich konnte doch sofort wieder festdrehen.

Und mich zog und riss es so lange an den Fingern, bis ich die Bremse ein ganz klein bisschen aufdrehte, der Wagen kam ins Rollen — und dann wusste ich nicht mehr, nach welcher Richtung ich drehen sollte — bis der elegante Jagdwagen an einer Pappel in hundert Stücke zerschmetterte. Mein guter Vater hat ja schwer berappt, obgleich er's vielleicht gar nicht nötig gehabt hätte.

Na, und lag denn hier etwas anderes vor?

Ob ein Apfelbaum oder eine Kutsche oder ein ganzer Dampfer von 5000 Tonnen — das ist wohl in unseren kurzsichtigen Augen ein gewaltiger Unterschied, aber im großen Weltenraume ist es so ziemlich ein und dasselbe.

Wir hatten die 32 Bengels zu tüchtigen Seeleuten erziehen wollen, hatten sie bereits zur größtmöglichsten Selbstständigkeit gebracht.

Wir hatten sie bei unserer Kutsche einmal als Wächter zurückgelassen.

Und da hatten sie einmal die Bremse aufgeleiert.

Und wie sich die Kutsche festgerannt hatte, da waren sie ausgerissen. Genau so wie ich damals ausgerissen war.

Und dabei hatten sie sich dennoch wie ganze Männer von einem bis anderthalb Meter Höhe benommen.

Hatten als zukünftige Jäger die Gewehre nicht vergessen, hatten auch an Äxte und Sägen und Nägel gedacht.

Und zum Schlusse hatten sie noch gepullt wie die ganzen Männer.

»Nein«, schloss ich meine halbstündige Rede, »das ist im Grunde genommen nichts weiter als ein dummer Jungenstreich gewesen, der noch sehr gut abgelaufen ist. In eine Korrektionsanstalt hätten wir sie vorher schicken müssen, aber jetzt nicht mehr! Gerade jetzt nicht. Auch von jeder Bestrafung wollen wir absehen. Die haben eine Lektion vom Himmel bekommen — verlassen Sie sich nur darauf, die haben sie bekommen, in deren Haut möchte ich nicht gesteckt haben und auch jetzt noch nicht stecken — die machen so etwas nicht zum zweiten Male! Und da wollen wir dieser Strafe des Himmels nicht noch einige menschliche Backpfeifen ranhängen, nicht eine einzige, kein ungnädiges Wort mehr! Das käme mir wie Lumperei vor. Ich habe gesprochen. So, Klothilde, nun können Sie sprechen.«

»Ja, wenn Sie mir alle Worte wegnehmen, da bleibt mir ja gar nichts übrig.«

»Und ich stimme den Ausführungen des Waffenmeisters bei«, sagte die Patronin, »wenn ich anfangs auch anderer Meinung war. An eine Korrektionsanstalt hatte ich allerdings nicht gedacht. Nur an eine tüchtige Strafe. Aber jetzt stimme ich dem Waffenmeister voll und ganz bei, er hat mich zu überzeugen gewusst.«

»Well, die Sache ist erledigt!«, meinte nur noch Kapitän Martin, nichts weiter.

Also ich sofort nach der Segelkammer und aufgeschlossen.

Es war mäuschenstill in dem finsteren Raume, war es wenigstens geworden, als der Schlüssel gerasselt hatte.

»Kommt heraus, Ihr Sünder. Ihr seid wieder Engel. Ihr seid begnadigt worden. Begnadigt! Verstanden? Nicht etwa freigesprochen. Eigentlich habt Ihr ja alle den Tod durch Henkershand verdient, außerdem noch einige Jahre Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte! Es ist alles vergessen und vergeben! Ich nehme Euch kein Ehrenwort ab, dass Ihr so etwas nicht wieder macht. So fürchterlich dumm werdet Ihr doch nicht sein, um solch einen dummen Streich nochmals zu machen. Nun kommt heraus, esst und legt Euch zur Koje. Oder machst sonst, was Ihr wollt. Es wird nicht mehr darüber gesprochen, es ist überhaupt gar nichts geschehen.«

Sie krochen heraus.

Ach, diese Gesichter!

Nee, die machten so etwas so bald nicht wieder.

Sie holten sich ihr Abendessen aus der Kombüse und schlangen.

*

»Herr Stevenbrock«, sagte Doktor Isidor zu mir, »jetzt ist die Inderin wirklich tot, sie hat sich total verändert, geht schon in Verwesung über.«

Ja, so war es. Jetzt lag sie auf dem Sofa, mit ganz schlaffen Gliedern, die Züge total eingefallen, gar nicht mehr zu erkennen. Von einer Verwesung bemerkte ich zwar noch nichts, das heißt ich roch nichts — Doktor Isidor wollte es an der Veränderung des Blutes erkennen.

Was hier vorgelegen hatte — ich weiß, es nicht. Die anderen auch nicht. Da konnte man sich immer nur in Vermutungen ergehen, was keinen Zweck hat.

Daneben saß Carlistle, die Hände gefaltet, selbst eine Leiche, wenn sie auch noch sprechen konnte.

»Nein, nein, sie ist nicht tot — hier in Maladekka wollte sie mir ja sagen, wer sie sei — hier wollte sie mir auch in Wirklichkeit gehören.«

So wimmerte er immer wieder. Der junge Mann war nicht recht bei Sinnen. Das war er ja überhaupt nie gewesen.

Ich sprach mit der Patronin.

»Die ist tot, die ihr künstlich beigebrachte Starre hat plötzlich aufgehört, die ist nun reif dazu, in der Erde oder im Wasser zu verschwinden.«

»Das lässt Mister Carlistle nimmermehr zu!«

»Ja, aber diesem grausamen Spiele müssen wir doch endlich ein Ende machen. Ich schlage vor, wir dampfen morgen, wenn es der Himmel nicht anders will, nach Menado und setzen den Mister Carlistle an Land, mit toter oder lebendiger Leiche. Dann kann er mit ihr machen, was er will.«

»Fast ganz genau denselben Vorschlag wollte ich Dir machen, Georg!«

»Wirklich?!«

»Wahrhaftig. Ich habe schon öfters daran gedacht, mich von diesem Herrn wieder zu befreien. Ein ganz harmloser, angenehmer Mensch, aber... ich mag keinen Chartermeister mehr über mir haben. Jetzt ist Gelegenheit, uns seiner in aller Höflichkeit zu entledigen. Aber mache Du es mit ihm ab, ich möchte mit ihm darüber nicht verhandeln.«

Dann war die Sache erledigt.

Es wurde still auf dem Schiffe.

Herrlich duftete es aus dem nahen Urwalde herüber, hier fehlte auch das Gebrüll der Raubtiere. Nur riesige Fledermäuse huschten massenhaft durch die Luft.

Es war gegen elf Uhr, bei wolkenbedecktem Himmel sehr finster; nur unsere Seitenlichter und die Toplaterne leuchteten, als ein Rauschen und Ruderschlag das Nahen eines Bootes verkündete.

Ein Feind konnte es nicht sein, der hätte beim Annähern doch nicht solchen Spektakel gemacht. Trotzdem wurde der Scheinwerfer angestellt. Er traf eine malaiische Prau, in der wir gleich den Sirdar erkannten.

Aber nur an der Kleidung. Als er dann in der Kajüte stand, hätten wir ihn bald erst recht nicht wieder erkannt, so verändert hatte sich sein dickes Gesicht, so eingefallen war es. So wie sich plötzlich die starre Inderin verändert hatte.

»Um Gott, Mann, was ist denn geschehen?!«, rief die Patronin. »Wie sehen Sie denn aus?!«

Er hob die Hände, brachte es kaum heraus. »O Jammer über Jammer — o Gräuel aller Gräuel... die Maladekkaranis haben den Sultan ermordet, alle die Radschas ermordet... überhaupt alles ermordet...«

Auch unser Schreck lässt sich begreifen. Das war kein Staunen und keine Bestürzung mehr. Oder wir wären keine fühlenden Menschen gewesen.

»Alles ermordet?!«

»Alles, alles! Wenigstens alle Männer — es müssen gegen 300 sein — und alle männlichen Kinder — das Knäblein an der Mutter Brust haben sie nicht verschont...«

»Ja, um Gottes Willen, weshalb denn nur?!«

»Ich weiß es nicht... obgleich es mir die Begum eben erst erklärt hat... ich habe nichts gehört... ich bin noch jetzt ganz betäubt... die Maladekkaranis hätten sich schon längst verschworen, alle männlichen Wesen in ihrem Felsenpalast zu töten... immer wieder wäre die Ausführung aufgeschoben worden... bis sie geschworen haben, in der Nacht zum Ramsai müsse es geschehen... am Ramsai dürfe kein männliches Wesen mehr in der Burg sein,... und morgen ist der Ramsai, an welchem heiligen Tage der Prophet den Entschluss fasste, den höchsten Gott zu predigen... und die Maladekkwanis haben ihren Schwur gehalten.«

Der Sirdar brach auf einem Stuhle zusammen, verhüllte sein Gesicht.

»O Allah, Allah, was ich geschaut habe!«, stöhnte er.

»Sie wurden doch nicht Zeuge der Schlächterei?!«

»Ja, ja! Der Sultan speiste mit den Ersten seines Hofes zur Nacht. Die Maladekkaranis sollten vor ihm tanzen. Sie kamen als Bogenschützinnen. Und wie sie tanzten, da schnellten sie plötzlich ihre Pfeile ab — aber nicht nach der Scheibe, nicht um sie wieder aufzufangen — sondern jeder der spitzen Pfeile durchbohrte eines Fürsten Herz! Und das war das Zeichen zu der Schlächterei. Allen anderen Männern hatten sie bereits Opium in den Schlaftrunk gemischt. Alles schlief. Alles ermordet! Alles, alles! Nur die Weiber und weiblichen Kinder nicht. Es hätte auch niemand fliehen können, sie hatten schon alle Ausgänge besetzt, verrammelt...«

»Nur Sie hat man nicht getötet?«

Der Sirdar raffte sich zusammen.

»Ich bin verschont worden, um den Vermittler zu spielen, und jetzt zunächst soll ich Ihnen eine Botschaft bringen. Die Begum Sallah ladet Sie zu sich auf die Felsenburg ein, heute Nacht noch, jetzt sofort möchten Sie mir folgen.«

»So, ooch noch!«, brummte Kapitän Martin.

»Wir denken gar nicht daran!«, erwiderte ich einfach.

»Wenigstens Sie, Herr Waffenmeister, möchten mir sofort folgen.«

»Wohin?«

»Zu der Begum Sallah.«

»In die Felsenburg?«

»Ja.«

»Was will sie von mir?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie hat es Ihnen nicht gesagt?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Sie ahnen auch nichts?«

»Nein, durchaus nicht. Ach, ich bin ja noch halb betäubt von dem Schrecklichen, was ich gesehen habe! Wie die Weiber die kleinen Kinder...«

»Genug! Wir wollen solche Gräueltaten gar nicht näher beschrieben haben. Sagen Sie der Begum, dass ich nicht komme. Heute nicht und morgen nicht!«

Der Sirdar neigte das Haupt.

»Das habe ich mir gedacht, und auch die Begum hat sich diese Absage gleich denken können. So hat sie mir einen zweiten Auftrag gegeben. Wenn Sie absagen, so will sie zu Ihnen kommen, heute Nacht noch, auf dieses Schiff. Die Begum muss Sie unbedingt sprechen.«

»Mich?«

»Ja, Sie, den Waffenmeister dieses Schiffes. Aber Sie müssen ihr erst durch mich Ihr Ehrenwort geben, dass sie an Bord dieses Schiffes geschützt ist, dass sie es wieder verlassen kann, ohne dass Sie oder einer Ihrer Argonauten etwas gegen sie unternimmt!«

Ich überlegte einige Minuten. Niemand störte mich in meinem Nachdenken.

»Ja, daraufhin gebe ich ihr mein Ehrenwort!«, entgegnete ich.

»So bringe ich der Begum diesen Bescheid.«

Der Sirdar stieg wieder in sein Boot und fuhr ab. Wir blickten einander an.

»Meine Herren, meine Herren!«, flüsterte dann die Patronin mit ganz entgeisterten Augen.

Ja, wir wussten schon, woran sie dachte, und wir dachten genau dasselbe.

»Ich glaube, ich glaube... diese Jungen haben uns durch ihren dummen Streich vor einem fürchterlichen Schicksal bewahrt!«

»Da ist wohl nichts mehr zu glauben, sondern das ist wohl ganz sicher so. Wollten wir nicht über Nacht in der Felsenburg bleiben?«

»Ich hätte die Einladung angenommen, es war ja schon ausgemacht.«

»Auch wir wären alle abgeschlachtet worden!«

»Ja freilich, wenn man einen Schlaftrunk bekommt, gegen solch eine heimtückische List ist nicht viel zu machen.«

»Oder wir wären einfach in einen Raum gelockt worden, auch uns hätten Pfeilschüsse niedergestreckt.«

»Oder auch nicht!«, sagte ich. Andere sprachen auch mit.

»Wie meinten Sie?«

»Uns hätten die Amazonen vielleicht lebendig gelassen.«

»Uns, weshalb gerade uns?«

»Das ist nun eine Frage! Ahnen Sie nichts, Frau Neubert?«

Ja, jetzt ging ihr wohl eine Ahnung auf. Deshalb sagte sie auch nichts weiter.

»Diese Jungen haben uns mit ihrem dummen Streiche einfach gerettet!«, wiederholte sie nur nochmals.

»Ja, da wollen wir ihnen nun auch Lorbeerkränze flechten, Prämien verteilen.«

Daraus wurde natürlich nichts. Die Jungen bekamen überhaupt gar nichts oder doch nicht viel davon zu hören.

Aber eines war ausgezeichnet!

Eines freute mich riesig!

Nämlich, dass wir den Bengels schon vorher volle Begnadigung gewährt hatten, noch ehe wir eine Ahnung von den Folgen ihres Streiches gehabt hatten!

Denn es ist doch eine dumme Geschichte, wenn man einem Übeltäter Verzeihung gewähren muss, weil seine böse Tat zufällig ein großes Übel abgewandt hat.

Das hatten wir also nicht nötig. Darüber freute ich mich wirklich riesig.

»Was will aber die Begum nun noch von Ihnen?«

»Sie können noch fragen?«

Nein, die Patronin fragte nicht mehr.

Nach der Abfahrt des Sirdars war noch keine Stunde vergangen, als wieder ein Boot kam, von dicht vermummten Gestalten gerudert, woraus wir schlossen, dass es Frauen sein müssten. Doch konnten wir uns auch irren, es war nicht zu unterscheiden.

Eine vermummte Gestalt erstieg das Fallreep, ich allein empfing sie in der Kajüte.

Sie enthüllte ihr Gesicht, ich sah schöne, brünette Züge, die mir aber älter vorkamen als heute Mittag bei dem Waffentanz.

»Ich habe Ihr Ehrenwort, dass ich geschützt bin«, erklang es auf Französisch.

»Sie haben es, Sie sind geschützt.«

»Ich bin die Begum Sallah.«

»Und ich bin der Waffenmeister dieses Schiffes.«

»Nicht der Besitzer desselben, aber Sie haben hier viel zu sagen.«

»So ungefähr ist es. Was wünschen Sie?«

»Hat Ihnen der Sirdar erzählt?«

»Ja. Sie haben den Sultan und alle Männer in der Felsenburg ermordet.«

»Hat er Ihnen auch gesagt, warum?«

»Nein. Und ich will es auch nicht wissen.«

Aus den schwarzen Augen der Südfranzösin schossen Blitze furchtbaren Hasses.

»Weil wir dieser Weiber in Männerkleidern endlich überdrüssig waren...«

»Ich will es nicht wissen, sagte ich.«

»Weil wir endlich frei sein wollten...«

»Ich will es nicht wissen!«, betonte ich nochmals. »Was wünschen Sie sonst?«

»Hören Sie mich an, Herr Waffenmeister! Wir Amazonen sind Herrinnen der Felsenburg und dadurch Herrinnen von ganz Maladekka, und ich bin die anerkannte Sultana der Amazonen. Aber wir brauchen Männer! Wirkliche Männer! Und wir haben von den Argonauten schon mehr gehört, als Sie vielleicht ahnen. Wir wollen uns miteinander verbinden. Sie alle kommen mit auf unsere Felsenburg, wo wir zusammen...«

»Nein, ich höre Sie nicht an!«, fiel ich ihr ins Wort, nur deshalb so spät, weil sie außerordentlich schnell gesprochen hatte. »Ich habe Sie nur empfangen, weil doch vielleicht die Möglichkeit vorhanden ist, dass Hilfsbedürftige Schutz brauchen. Sind vielleicht Weiber und Kinder in Sicherheit zu bringen? Dass sie nicht einer Rache zum Opfer fallen, die sie nicht verdient haben? Nur das antworten Sie mir. Jeder andere Vorschlag, jedes weitere Wort ist ganz vergebens.«

Ich hatte in einer Weise gesprochen, die keine andere Deutung zuließ.

Die Begum gab sich denn auch gar keine Mühe weiter, jetzt aber galt ihr hasserfüllter Blick direkt mir.

»Sie schlagen mein Angebot also ab?!«

»Kein Wort weiter!«

»Wissen Sie, wie furchtbar Sie mich als Weib beleidigen?!«

Sie hatte es gezischt, mit vorgebeugtem Oberkörper, und ich war darauf vorbereitet, einen Dolch oder dergleichen in ihrer Hand zu sehen.

»Das ist mir ganz egal. Haben Sie mir keinen anderen Vorschlag zu machen? Dass wir uns Hilfsbedürftiger annehmen sollen? Dann verlassen Sie unser Schiff. Mit Mörderinnen wollen wir nichts zu tun haben.«

Jetzt, dachte ich, würde es kommen.

Statt dessen richtete sie sich ganz ruhig auf, ging nach der Tür, drehte sich aber dort noch einmal um.

»Auf Wiedersehen, Herr Waffenmeister«, winkte sie lächelnd zurück, aber mit furchtbarem Hohne, »ja, wir werden uns schon noch einmal wiedersehen — dann mache ich Ihnen noch einmal denselben Vorschlag — und dann werden Sie es sich wohl anders überlegen. Auf Wiedersehen!«

Sie stieg ins Boot, es ruderte ab.

Ich war die Antwort schuldig geblieben, hatte auch jede spöttische Bemerkung unterdrückt.

Die Patronin und die anderen Hauptpersonen hatten dieser kurzen Unterhaltung unbemerkt mit beigewohnt.

Sie hatten nichts weiter zu sagen. In Gegenwart der Patronin wäre es auch peinlich gewesen, noch viel darüber zu sprechen.

Siddy musste es natürlich schleunigst unter der Mannschaft verbreiten. Freilich hätte ein Wink von uns genügt, so wäre er schweigsam wie das Grab gewesen. Aber das brauchte er hier gar nicht zu sein, wir benutzten ihn in solchen Fällen geradezu als Telefon, das uns mit der Mannschaft verband.

»Na, das wäre mir schon ganz angenehm, dort oben in der Amazonenburg so einmal ein bisschen den Sultan oder Pascha zu spielen.«

So hatte Oskar gesagt, als er es erfahren, und noch manch anderer meiner Jungen mochte ebenso denken, was ich ihnen gar nicht verargen konnte. Aber... man soll den Teufel nicht an die Wand malen.

*

Die Nacht verging ohne jede Störung. Angegriffen konnten wir ja auch gar nicht werden, wir lagen in freiem Wasser, vom nächsten Ufer zwei Kilometer weit entfernt. Trotzdem hatte ich natürlich für die nötige Sicherheit gesorgt.

Ebenso friedlich brach der neue Tag an. Niemand hätte geahnt, dass dort hinter dem niedrigen Hügelrücken, der nach dem Meere hin die Bucht von Kalam begrenzt, die Revolution tobte.

Nun, wahrscheinlich »tobte« sie auch noch gar nicht so. Erst musste sich die Sache abklären.

Doch uns ging das ja überhaupt gar nichts an. Sobald die Sonne höher gestiegen war, dass ihre Strahlen nicht gar so schräge ins Wasser drangen, ging ich mit Paul im Taucherkostüm noch einmal hinab, um genauer zu messen, wie tief der Kiel sich eingegraben hatte, ob unter den Muscheln nicht doch vielleicht noch scharfe Korallenzacken waren, die uns beim Rückwärtsgehen gefährlich werden konnten.

Es waren also Hammermuscheln, eine Unterart der Vogelmuschel, zu der auch die Auster gehört.

Auf der Steuermannsschule muss man auch Muschelkunde treiben. Eben wegen des Peilens, was man mit dem eingefetteten Lote vom Meeresboden heraufbringt.

Nun muss ich gestehen, dass ich in der ganzen Zoologie äußerst schwach beschlagen bin. Ich kann heute noch kein Rotkehlchen von einem Gimpel unterscheiden. Das ist ganz merkwürdig. Das Interesse hierfür geht mir ganz ab.

Am besten von allen Tieren einer Art und Gattung wusste ich zwischen den Muscheln Bescheid. Weil mir das eben auf der Navigationsschule eingepaukt worden war. Aber auch da war es noch schlimm genug mit meinen Kenntnissen bestellt, das allermeiste hatte ich schon wieder vergessen.

Nun, unsereiner braucht auch gar nichts von Muscheln zu wissen, mindestens nicht ihre Namen. An dem bisschen Talg, womit man unten das Lot einschmiert, bleiben größere Muscheln doch nicht hängen, überhaupt keine lebendigen, man bekommt immer nur so losen Dreck herauf, eventuell zum Teil auch aus kleinen Muschelschalen bestehend.

Und bei der Unterscheidung dieses Dreckes mit kleinen Muschelschälchen da kann mir nun niemand etwas vormachen! Dazu braucht man aber keine zoologischen Kenntnisse zu besitzen. Das geschieht bei uns alles nach Nummern und nach Stichworten, die man dann im Handbuche aufsucht.

Dass dies Hammermuscheln waren, das wusste ich. Weil sie fast genau wie die Austern aussahen, und Austern kenne ich deshalb so gut, weil ich sie sehr gern esse. Aber Austern konnten es nicht sein, weil diese in den tropischen Breiten nicht vorkommen. Das freilich musste ich wissen, sonst hätte ich mich aufhängen können.

»Ob man die Dinger wohl essen kann?«, fragte ich mich und leckte in meinem Taucherhelm schon die Lippen.

Als unsere Untersuchung mit sehr günstigem Resultat beendet war, nahm ich einige mit, kleinere und größere, eine mit einem Durchmesser von fast 20 Zentimetern. Es gibt ja auch solche große Austern, sogar noch viel, viel größere, die aber nicht verschickt werden. Sie schmecken nicht, und dann wird der Transport durch das wertlose Kalkgewicht zu teuer.

Ich bin wieder an Deck, der Helm wird mir losgeschraubt, ich habe noch in den Händen die Muscheln.

»Das sind doch Perlmuscheln?!«, erklingt es da gleich von mehreren Seiten.

Unter meinen Jungen gab es eben welche, die noch viel mehr Erfahrungen hatten als ich. Da war also gar nicht daran zu zweifeln.

Was, Perlmuscheln?!

Ich hätte doch jeden Eid geleistet, ja ich wäre sogar jede Wette darauf eingegangen, dass die Perlmuschel eiförmig ist und ganz glatte Schalen hat, so wie die Pfahlmuschel, wie die Entenmuschel!

Ja, ich habe mich dann sogar überzeugt, dass ich die echte Perlmuschel so in meinem Kollegienheft beschrieben und nachgemalt habe. Genau wie eine Pfahlmuschel.

Da habe ich Döskopp damals in der Schulstunde eben geträumt! Da ist uns zum Unterschiede eine Anodonta gezeigt worden, eine Süßwassermuschel, die auch Perlen liefert, freilich nicht zu vergleichen mit den Perlen des Meeres, am häufigsten in der Elster vorkommend, wo sie sogar gezüchtet wird, mit minimalem Erfolge — und die gleicht allerdings ganz der Mies- oder Pfahlmuschel — und ich hatte die für die echte Meeresperlenmuschel genommen, während ich beim Zeichnen der echten Perlmuschel von einem Austernfrühstück geträumt hatte!

»Jawohl, das sind Perlmuscheln!«

Ich musste es wohl glauben. Dass mich etwa meine Jungen verhohniebelten, das war ganz ausgeschlossen.

Meister Kännchen kam aus seiner Kombüse herbei. »Wahrhaftig, das sind Perlmuscheln! Und in dieser großen sind Perlen — und in der auch — und in der auch.«

*

Ich will gleich erwähnen, was über die Perlen und ihre Entstehung zu sagen ist, weil es für uns noch später von Bedeutung sein sollte. Zunächst muss betont werden, dass überhaupt fast alle Muscheln Perlen erzeugen. Ich selbst habe in einer Pfahlmuschel einige Dutzend Perlchen gefunden, größer als ein Stecknadelkopf, und auch in der Auster kommen sehr häufig große Perlen vor. Aber die sind alle nichts wert. Graue Kalkkügelchen. Nur die Avicula des Meeres liefert jene tautropfenähnlichen Perlen, nach denen die Menschen so begehrlich sind, und dann hat höchstens noch die Elsterperle aus dem Süßwasser einigen Wert.

Eine einzige Perle findet man niemals. Weniger als vier ist schon eine Seltenheit. Mikroskopisch kleine Perlen hat man schon bis zu 300 und mehr Stück in einer Muschel gezählt.

Die kostbarste heute bekannte Perle, früher im Besitze des Königs Philipp II. von Spanien, ist heute unter dem Namen »La Peregrina« im englischen Thronschatz, hat bei schönster, durchsichtiger Weiße die Größe eines Taubeneis und hat heute nach Juwelierberechnung einen reellen Wert von einer Million 200 000 Mark. Liebhaber würden ja noch ganz andere Preise dafür zahlen. Und besonders der Sultan von Maskat soll auch noch ganz andere Perlen sein eigen nennen. Sonst hat die größte Sammlung der schönsten Perlen die jetzige Königin von Italien. Da können die Damen der amerikanischen Milliardäre mit ihren Klunkerketten noch lange nicht mit.

Die Perlen bestehen aus demselben Stoffe wie die Innenseiten der Schalen, aus denen man das Perlmutter gewinnt. Es ist kohlensaurer Kalk. Aber auf die Struktur durch das natürliche Ausbauen kommt es an, das ist es, was wir im Laboratorium nicht nachahmen können! Die ganze Schale ist kohlensaurer Kalk, aber nur die Innenseite liefert das schillernde Perlmutter, und was wieder von diesem durch den Magensaft oder sonst einen Schleim abgelöst wird, das liefert wieder die köstliche Perle. Durch die natürlichen Transformationen wird die Substanz eben immer wertvoller.


Illustration

»Das sind doch Perlmuscheln!«, erklang es von mehreren
Seiten, als der soeben vom Grunde heraufgekommene
Waffenmeister die dort unten gefundenen Muscheln vorzeigte.


Weshalb die einen Muscheln Perlen erzeugen, die anderen nicht, und auf welche Weise sie es machen, das wissen wir nicht. Unsere Gelehrten ergehen sich da nur in Vermutungen.

Es sollen Fremdkörper in die Muschel eindringen, weniger wohl beim Öffnen wegen Nahrungsaufnahme als durch äußere Verletzungen, Sandkörnchen und dergleichen, besonders wird auch von einem Eingeweidewurm erzählt, welcher dem Weichtiere Kummer bereitet, weshalb es ihn mit seinem Schleim, der mit Perlmutterlösung gesättigt ist, einhüllt, so wird das scharfe Sandkorn oder der Eingeweidewurm unschädlich gemacht.

Es mag sein. Man hat in Perlen mikroskopische Partikelchen gefunden, manchmal sind sie sogar mit bloßen Augen erkennbar. Aber in den meisten Perlen ist absolut nichts vorhanden, auch kein Hohlraum.

Und dann müsste man da doch auch Perlen künstlich erzeugen können, das heißt die Muscheln dazu zwingen, solche zu erzeugen, indem man ihnen künstlich Fremdkörper einführt.

Solche Versuche sind gemacht worden. Am intensivsten in der zoologischen Versuchsstation von Kensington Garden zu London. Aber alles war vergebens. Man hat dort Perlmuscheln, den natürlichsten Verhältnissen angepasst, länger als 30 Jahre gepflegt, man hat sie zu Tode gekitzelt... aber Perlen haben sie nicht erzeugt.

Ebenso erfolglos waren die künstlichen Züchtungsversuche in der Station von Colombo auf Ceylon, wo man die Muscheln gleich direkt im Meerwasser ließ. Nein, sie hüllten keine Fremdkörper mit Perlmutter ein, sie spuckten sie einfach wieder aus, oder starben daran.

Und doch, es geht!

In China werden echte Perlen zwangsweise hergestellt, indem man in Perlmuscheln winzige Zinnstückchen einführt, die bilden dann den Kern von schönen, großen Perlen.

Aber so einfach ist die Sache nicht, wie man immer hört, wie es zum Beispiel auch im Konversationslexikon steht. Wenn das so einfach wäre, dann würden die Chinesen doch den ganzen Perlenhandel ruinieren.

In China, heißt es, die Chinesen.

Nein, es gibt in ganz China überhaupt nur zwei buddhistische Klöster, welche das Geheimnis kennen, wie man Muscheln zwangsweise Perlen machen lassen kann.

Ihr Geheimnis brauchten sie gar nicht besonders zu hüten.

Die Sache verhält sich nämlich genau so wie mit der Goldmacherei.

Dass alle Metalle, also auch Gold, keine einfachen Elemente sind, wie man bisher angenommen, darüber sind sich unsere modernen Chemiker bereits wieder einig. Die verspottete Alchemie kommt wieder zu Ehren. Dann aber muss man Metalle auch auf synthetischem Wege herstellen können, also auch Gold. Dieses Problem wird ganz sicher noch einmal gelöst werden.

Aber niemals wird der Mensch Gold oder irgend ein anderes Metall billiger herstellen können, als es uns die Natur liefert. Das ist die Sache!

Und so verhält es sich auch mit den künstlichen Perlen. Jene chinesischen Mönche verkaufen sie für den doppelten und dreifachen Preis einer natürlichen Perle und behaupten, sie nicht billiger herstellen zu können, und man darf ihnen glauben.

Weshalb aber werden denn überhaupt solche künstliche Perlen zum doppelten und dreifachen Preise der natürlichen Perlen gekauft?

Weil es kleine Buddhafigürchen aus Zinn sind, welche die Mönche von den Muscheln mit Perlmutterschleim umhüllen lassen, diese Figürchen sieht man dann durchschimmern. Solche Perlen werden dann als Amuletts, als Talismane getragen, weil diese beiden Klöster im Rufe der größten Heiligkeit stehen. Nur deshalb werden diese hohen Preise dafür gezahlt. Natürlich können nur die Reichsten sich so etwas leisten, solche Buddhaperlen sind überhaupt selten genug.

Immerhin, es ist doch interessant: es ist wirklich möglich, die Muscheln zum Erzeugen von Perlen zu zwingen, und in China versteht man diese Kunst. Unsere Wissenschaft hat es noch nicht fertig gebracht. —

Die größten Perlenbänke sind bei Ceylon, im Golf von Mexiko und im persischen Golfe. Letztere sind persönliches Eigentum des Sultan von Maskat, hier werden die schönsten und größten Perlen gefunden, aber nur gelbe, welche aber von den Orientalen auch am meisten bevorzugt werden.

Am bekanntesten ist die Perlenbank bei Aripo auf Ceylon, hier hat der Fremde Zutritt, deshalb ist hier das Leben und Treiben bei der Perlenfischerei am häufigsten beschrieben worden.

Da heißt es immer, dass die von Tauchern gefischten Muscheln an der Küste aufgehäuft werden, sie müssen absterben, natürlich einen grässlichen Gestank verbreitend, dann werden die Perlen herausgelesen. Da man nun in tausend Muscheln oftmals noch nicht eine einzige kleine Perle findet, so sei dies der sinnloseste Raubbau.

Dies alles stimmt zwar — bis auf das letzte.

Die dortigen Taucher und sonstigen Sachverständigen erkennen nämlich sofort, wenn eine Muschel Perlen enthält. Diese Perlen sind für die Muscheln eine Krankheit — wahrscheinlich ganz unserem Blasenstein entsprechend, oder dem Ambra des Potwales — und diese Krankheit drückt sich auch schon äußerlich aus. Die Hammermuscheln haben an sich schon eine sehr raue Schale, aber wenn sie Perlen enthalten, dann sind sie noch viel hockriger, mit großen Kalkauswüchsen besetzt, Gebilde wie Schraubenzieher recken sich empor. Die Muschel ist krank, wenn sie auch nicht daran stirbt.

Das wissen die Leute dort natürlich. Solche Muscheln werden sofort aussortiert, in ihnen findet man regelmäßig Perlen. Je größer die Auswüchse auf der Schale, desto größer auch die Perlen. Aber auf die Größe der Muschel selbst kommt es gar nicht an.

Nun allerdings werden unter den zur Verwesung aufgeschichteten Muscheln dann beim Abräumen auch noch Perlen gefunden, es wird emsig danach gesucht. Aber das ist fast Nebensache. Die Hauptsache ist das Perlmutter. Die Ausbeute an Perlen ist überhaupt so gering, dass sie die Kosten der gewaltigen Unternehmungen kaum noch deckt. Aber die Verarbeitung dieser Muscheln auf Perlmutter, die lohnt sich vorzüglich!

*

»In dieser großen sind Perlen — und in der auch — und in der auch!«, hatte Kien Chen sofort gesagt.

Sie sind gar nicht so leicht zu öffnen, diese Muscheln, auch im kochenden Wasser dauert es noch lange genug, ehe die Hitze durch die dicken Kalkschalen dringt.

Aber wir hatten natürlich an Bord einen Austeröffner, einige, da war es eine Kleinigkeit.

Und was erblicken wir, wie wir die erste Muschel, eine mittelgroße, aufgeknackt und den weichen Körper mit dem Messer zurückgestrichen haben?

Fünf haselnussgroße Perlen von schönster Form und Milchfarbe wie die Eierchen im Nest gebettet!

Na, wir Umstehenden starrten ja nicht schlecht!

Nur Kapitän Martin blickte anstatt nach der Muschel in meiner Hand nach der nahen Insel, und dann begann er sofort mit seiner Bruststimme zu deklamieren:

»Holland gesteht seinen indischen Kolonien nur eine halbe Seemeile Küstenwasser zu, oder es sind wohl vielmehr die einheimischen Fürsten gewesen, die auf eine nur so schmale Wasserzone bestanden, wozu sie schon ihren Grund haben mögen. Wir sind von jener nächsten Insel mehr als eine Seemeile entfernt. Also befinden wir uns auf herrenlosem Freigebiet. Perlmuschelbänke stehen nach internationaler Vereinbarung unter keiner Ausnahmegesetz. Diese Muscheln und Perlen gehören dem, der sie findet.«

»Dann gehören sie mir, ich habe sie hiermit gefunden!«, sagte Mister Tabak, griff schnell zu, hatte die fünf Perlen sofort in der Hand und ließ sie in der Tasche verschwinden — griff nochmals zu, nahm mir auch die Schale aus der Hand, die Pfeife aus den Zähnen, und er schluckte auch die Auster hinter — und dann reichte er mir die Schale zurück.

»Hier, Herr Waffenmeister, diese Schale schenke ich Ihnen!«

Ach, dieses Gelächter!

Aber man kann so etwas ja so schwer beschreiben. Der Witz lag hauptsächlich in der Fixigkeit, mit welcher der Eskimo dieses Manöver ausgeführt hatte. Die fünf Perlen herausgenommen und in die Tasche gesteckt, die Auster hintergeschluckt, mir die Schale zurückgereicht — alles innerhalb von drei Sekunden.

In diesem Witz lag aber auch ein gar tiefer Sinn.

Der Eskimo behielt die Perlen doch nicht etwa in der Tasche. Er hatte nur einmal schnell einen guten Einfall gehabt. Wer die Perlen findet, das heißt, wer am fixesten zugreift, dem gehören sie.

Aber ich habe einmal eine Geschichte gelesen. Wahrscheinlich nur erfunden, aber von einem Manne geschrieben, der die Sache kannte, alles den Möglichkeiten entsprechend.

Ein Schiff findet im Indischen Ozean auch so eine Perlenbank. Die 20 Mann Besatzung sind die besten Kameraden. Was die nun für Pläne machen. Aber es kommt gar nicht zur Teilung des Perlenschatzes. Nach drei Tagen lebt niemand mehr von den 20 Mann. Sie haben sich gegenseitig abgemurkst.

Bei uns war das nicht zu fürchten. Aber ich glaube, ich glaube — wir bildeten eine seltene Ausnahme!

Das war nur die erste der drei gekennzeichneten Muscheln gewesen.

Jetzt wurde die große aufgeknackt. Die war mit Perlen strotzend angefüllt, aber nur mit winzig kleinen, mit bloßen Augen kaum erkennbar. Staubperlen, gar nichts wert. Wenn in den Zeitungen für einen halben Taler ein Ring mit zehn echten Perlen angeboten wird — das sind solche Dingerchen. Oder sie können auch noch größer sein, sie sind nichts wert. Aus diesen Staubperlen macht man im Orient Zahnpulver.

Die dritte Muschel aber, die kleinste, enthielt wieder erbsengroße, wunderschöne Perlen, gleich elf Stück. Es ist überhaupt merkwürdig, dass die meisten Muscheln zehn oder elf Perlen enthalten. Neun und zwölf sind schon Ausnahmezahlen.

Oskar kam auf mich zugetänzelt, ins rechte Auge eine kleine Lederdichtung, eine runde Lederscheibe als Monokel geklemmt.

»Ääääääh... auf ein Wort, Herr Waffenmeister... äääääh... vielleicht können Sie mir einen Rat geben... ich habe nämlich nächstens — — äääh... einige Millionen anzulegen... welche Bank könnten Sie mir empfehlen...«

Auf diese Weise ging es schon los. Also von Habgier war bei uns nicht viel zu merken.

Und Oskar war nicht etwa der einzige, der seinem Witz freien Lauf lassen musste.

Zum Beispiel auch Doktor Isidor machte sofort mit.

Es waren auch einige der Blaugelben herbeigekommen, die Jungens hatten sich unterdessen etwas von ihrer Niedergeschlagenheit erholt.

Jetzt nahm Doktor Isidor solch eine Erbsenperle heraus, hielt sie gravitätisch mit unnachahmlicher Miene solch einem Knirpse hin, einem Dreikäsehoch.

»Hier, mein Junge... hier hast Du ein kleines Trinkgeld... kaufe Dir in Steglitz bei Berlin eine hübsche Villa dafür... Balkon mit Wasserklosett... mit Musik... wenn man sich drauf setzt, dann spielt's den Priesterchor aus der Zauberflöte mit voller Pauken- und Posaunenbegleitung. Ich besuche Dich auch einmal mit meinem Luftschiffe...«

»Vorausgesetzt«, ergänzte Klothilde, »dass Sie bis dahin Ihre Perlen noch nicht versoffen haben.«

Und so ging es weiter.

Ja, und diese Bengels!

Es musste als eine Tatsache anerkannt werden.

Diese Lausbuben waren die reinen Götterknaben. Erst bewahren sie uns davor, dass uns diese malaiischen Amazonen abmurksen oder zu ihren Leibsklaven machen, und dann drücken sie uns auch noch mit der Nase auf eine Perlenbank!

Na — gedankt wurde ihnen ja nicht etwa — aber für die Zukunft dieser Kinder sollte gesorgt werden!

Das heißt, erst mussten wir noch ein paar Perlen mehr haben.

Und dafür wurde auch gesorgt, bei diesen Witzen standen wir nicht etwa untätig herum.

Schon wurde der zweite Korb, von Paul mit Muscheln gefüllt, heraufbefördert, schon war alles mit Aufknacken beschäftigt, schon hatte Mister Tabak mindestens drei Dutzend Austern verschlungen, schon stieg auch ich wieder mit bleibeschwerten Füßen das Fallreep hinab.

»Das heißt«, hatte ich noch gesagt, ehe mir der Helm festgeschraubt wurde, »vergesst mir über den Perlen nicht Luft zuzupumpen, sonst könnte mir dann mein Anteil an den Millionen verdammt wenig nützen.«

Ehe auch ich die Körbe vollsackte, schritt ich einmal den ganzen Grund ab, so weit der Schlauch reichte, aber um das ganze Schiff herum, die Pumpe wurde immer weiter gerückt.

Es war doch nur eine sehr kleine Bank, die wir ausbeuten konnten.

Sonst haben solche Perlmuschelbänke ja gewöhnlich riesige Dimensionen, und der Theorie nach müssten sie ja ins Endlose wachsen. Hat man doch in einer einzigen Muschel schon mehr als zehn Millionen Eier gezählt oder vielmehr abgewogen. Aber der Nachwuchs und schon die Eier sind eben sehr gefährdet, eben deshalb ist die Natur mit den Eiern so verschwenderisch und dann werden die Grenzen solcher Bänke durch Meeresströmungen und Bodentiefen gezogen. Tiefer als 30 Meter geht die Perlmuschel nicht, bei Ebbe muss sie noch mit vier Fuß Wasser bedeckt sein, sonst stirbt sie ab.

Dass hinten die Schiffschraube frei lag, hatte ich schon gesagt. Jetzt konstatierte ich, dass es dort hinten plötzlich ganz steil hinabging, so war es auch vorn, wenig entfernt vom Vordersteven, und ebenso an den Seiten in einem Abstande von etwa 25 Metern. Mit einer Lotleine von 50 Meter Länge fand ich noch keinen Grund.

Die Sache war also die, dass sich von dem tieferen Meeresboden hier ein Felsen emporreckte, oben ein Plateau bildend. Auf diesem hatten sich einst Korallen angesiedelt, deren Wachstum war wieder durch Perlmuscheln erstickt worden.

Wenn den umwohnenden Eingeborenen dieser unterseeische Felsen als Untiefe auch bekannt sein mochte, so wussten sie doch sicher nicht, dass hier Perlmuscheln gediehen. Sie loteten, ohne den Grund einmal zu untersuchen. Durch Strömungen konnten Muscheln wohl abgerissen, aber niemals an ein Ufer gespült werden, sie fielen dann von dem Felsen in eine große Tiefe hinab.

Hätten die Eingeborenen oder sonst jemand von dieser Perlenbank gewusst, dann wäre sie natürlich schon längst ausgebeutet worden.

Ach, wie viele unbekannte Perlenbänke mag es in jenen Gegenden noch geben!

Was mögen da in stets erreichbarer Tiefe noch für Schätze liegen!

Da der Mensch diese krankhafte Bildung der Muscheln nun einmal als Kostbarkeit betrachtet. Und wenn ich selbst auch nie viel Geld für so etwas ausgeben würde — ich kann die Vorliebe vieler Menschen für solche Dingerchen recht wohl begreifen. O ja, es ist doch etwas Herrliches, solch eine Perle, wenn sie über die Hand rollt, wie eine erstarrte Träne, wie ein geschliffener Milchtropfen! Es gibt wirklich nichts, was sich mit solch einer Perle vergleichen lässt.

Und wir hatten solch eine unbekannte, herrenlose Perlenbank gefunden!

Und die dem Menschen so angenehme Krankheit herrschte unter ihren Bewohnern außerordentlich stark.

So ging es allerdings nicht weiter, dass unter sieben Muscheln gleich drei mit Perlen beladen waren, wenn auch eine nur mit Staubperlen. Das war ein Zufall gewesen, dass ich bei sieben Stück gerade drei solche schrumplige Muscheln erwischt hatte, ein außerordentlicher Zufall. Eine ungefähre Berechnung ergab dann, dass bei 80 Muscheln, der kleine Nachwuchs nicht mit gerechnet, nur eine perlenhaltige war, mit wirklich schönen Perlen, mindestens so groß wie eine kleine Erbse.

Nur! sage ich. Das war schon ein ganz enormer Prozentsatz!

Wir gingen ganz planmäßig vor. Schon die beiden Taucher mussten ihr Augenmerk auf möglichst verschrumpelte Muscheln richten, wozu in aller Schnelligkeit ein besonderer Leuchtapparat gefertigt worden war. Fassreifen wurden kreuz und quer mit Lederschnüren übersponnen, an diese kamen einige Dutzend Glühbirnen, mit der Akkumulatoren-Batterie verbunden — das gab unter Wasser eine ganz bedeutende Lichtquelle.

Nach einer Stunde begab ich mich hinauf, um mich von einem anderen ablösen zu lassen.

Ei die Dunnerwetter!

Ein Kasten, größer als eine Zigarrenkiste, war schon halb voll. Mindestens erbsengroße Perlen, die kleineren kamen anderswohin, und eine kleine Schachtel war auch schon fast gefüllt mit solchen bis zur Haselnussgröße. Größere fanden wir auch nicht, die allererste Muschel, die erbrochen worden war, hatte zufällig die größten und auch die schönsten Perlen enthalten.

Und doch...

Gerade, wie ich den Helm herunter hatte, stieß Oskar ein wahres Indianergeheul aus, kam angestürzt, eine Perle in der Hand, so groß wie eine Billardkugel!

Ich will es gleich verraten: es war nämlich auch eine Billardkugel, die Oskar aus irgend einem Lokal zum Andenken mitgenommen und sie in seiner Kleiderkiste gehabt hatte, sicher ohne sie zu bezahlen, übrigens keine elfenbeinerne, eine ganz geringe Imitation.

Aber die Hauptsache war doch, dass wir uns alle doch erst von dieser ungeheuren Perle verblüffen ließen. Freilich wenn sie nur nicht gerade von Oskar gefunden worden wäre! Lange dauerte das Staunen ja nicht.

»Du, Oskar, zeige mal die Muschel, wo Du die Perle gefunden hast.«

»Halts Maul, Döskopp — die hat schon Mister Tabak verschlungen — samt der Schale... verdirb mir doch den Spaß nicht!«

Oskar hatte es nämlich weniger auf uns als vielmehr auf Mama Bombe abgesehen. Die saß nämlich mit ihren mehr als vier Zentnern Fettgewicht auf einem extra für sie gefertigten Stuhle — laufen konnte sie überhaupt kaum noch — und schaute dem Treiben zu.

Auf diese hatte es Oskar mit seiner Billardkugel hauptsächlich abgesehen, und da allerdings kam er auch an die Richtige. Die Madame Pompadour, jetzt Mama Bombe, war nämlich etwas dämlich, ein bisschen sehr dämlich. Na ja, was kann man denn auch bei vier Zentner Fett noch besonders viel Geist verlangen.

»Wer die Perle findet, dem gehört sie, nicht wahr, Waffenmeister?«

Ich bestätigte es, und nun hätte Oskar schon nicht mehr nötig gehabt, mich bei dieser Frage anzublinzeln.

»Wie hoch wird die la peregrina im englischen Kronschatz von der Größe eines Taubeneis taxiert?«

»Auf 60 000 Pfund Sterling.«

»Dann ist diese hier doch zehnmal so viel wert, rund zehn Millionen Mark, wollen wir sagen, was?«

»Ganz sicher!«

»Jungens, kiekt mich an, ich bin ein zehnfacher Millionär! Aber ich will es gar nicht sein, ich habe das Gelübde der Armut abgelegt. Solch eine Bombenperle kann, überhaupt nur unserer Mama Bombe gehören. Nicht wahr, Jungens?«

»Jawohl, jawohl, die muss unsere Mama Bombe haben!«, erklang es einstimmig im Chor. Denn jetzt wussten ja nun schon alle, was es mit dieser Bombenperle für eine Bewandtnis hatte.

Nur Mama Bombe merkte nichts.

»Ach, Jotte ooch — nee, Jotte ooch — das kann ich doch gar nicht annehmen!«, wiederholte sie verschämt immer wieder, als ihr Oskar die Billardkugel mit entsprechenden Worten als Geschenk überreichte. »Nee, was soll ich denn mit so 'ner Perle anfangen...«

»Zum ewigen Andenken an mich an Ihrem Busen tragen...«

Und da geschah wieder so etwas, was, glaube ich, überhaupt nur an Bord eines Schiffes möglich ist, das eine kleine, aber auch eine ganze Welt für sich bedeutet, in welcher, wie die tausendpferdige Maschine keuchend arbeitet, sich die Stunden in Minuten konzentrieren.

Der erste Maschinist war es, der plötzlich nach der Billardperle griff und davoneilte, unter Deck verschwand.

Ich habe Herrn Ingenieur Malzmann schon etwas beschrieben, als er noch zweiter Maschinist war, als er das Zeichen zum Beginn des Zweikampfes geben sollte, er hatte nur »los!«, zu sagen gehabt, hatte es aber vor Erregung nicht herausgebracht, oder vielmehr gleich in mehrfacher Wiederholung: lololololo...

Also ein fünfzigjähriges, grauköpfige Männchen, eingetrocknet, aber noch äußerst rüstig, nur so ungemein bescheiden, in gewisser Hinsicht sogar ängstlich das heißt so vorsichtig in allem, was er tat und sprach.

Und dabei war er früher Grobschmied gewesen. Nicht Schlossergeselle, wie ich erst gesagt, Hufschmied. Er war ein Selfmademan. Er war als Kohlenzieher zur See gegangen, hatte es bis zum Maschinisten gebracht ohne eine Schule besucht zu haben, hätte nach seinen bisherigen Stellen und nach den Zeugnissen, die er aufzuweisen hatte, jetzt als erster Maschinist, als erster Ingenieur auf dem größten Passagierdampfer fahren können.

Als der nun nach der mächtigen Perle griff und davon rannte, da wussten wir alle sofort, was er vorhatte.

Dieser ursprüngliche Grobschmied hatte eine fabelhafte Handfertigkeit für die feinsten Arbeiten. Er betrieb aus Liebhaberei in seiner Freizeit Goldschmiedearbeit, hatte in seiner Kabine eine vollständig eingerichtete Werkstatt dazu. Er schmolz einfach im Kesselfeuer englische Sovereigns ein, machte daraus die schönsten Phantasieringe, aber auch andere Sachen, die herrlichsten Blümchen, alles ganz naturgetreu, mit Staubfädchen und allem.

Diese Goldarbeiten schickte er bei Gelegenheit in seine Heimat, an ein Fräulein Julia Walzmann, seine auch schon bejahrte Schwester. Das hatten wir zufällig erfahren. Das letzte Wertpaket hatte er aus Para abgeschickt. In einen anderen Hafen mit Postverbindung waren wir ja überhaupt gar nicht mehr gekommen. Was er sonst mit den Schmucksachen machte, ob er sie verkaufen ließ oder für sich selbst aufbewahrte, das sagte er uns nicht, und deshalb nur die kleinste Frage zu stellen, das verbot der Bordanstand.

Es war überhaupt eine eigentümliche Sache. Es war überhaupt ein eigentümlicher Mensch. Echt wie sein Gold, gediegen wie seine Arbeiten — aber still für sich, verschlossen — obgleich dennoch der treueste Kamerad. Aber es schien ihm peinlich zu sein, dass wir nur um seine Goldschmiedearbeit wussten. Zu Ilses Geburtstag hatten wir bestimmt erwartet, dass er einen goldenen Schmuck liefern würde, denn von Knauserei war bei dem gar keine Rede. Stattdessen hatte der ehemalige Grobschmied einige Strümpfchen gestrickt und Borden gehäkelt.

Infolgedessen hatte ihn die Patronin auch noch niemals, so oft sie auch schon daran gedacht, mit der Bitte angegangen, ihr einen Schmuck zu fertigen. Der kuriose Kauz hätte doch sicher keine Bezahlung angenommen und... es wäre ihm überhaupt höchst unangenehm gewesen.

Als aber nun jetzt der erste Ingenieur mit der Billardperle davonrannte, da wussten wir alle sofort, was er vorhatte. Ein Spaßverderber war er ja überhaupt niemals gewesen, und jeder Mensch hat einmal einen Moment, da er aus seiner Charakterrolle fällt. Oftmals bedeutet solch ein Moment, da er auftaut, eine Umwandlung seines ganzen Charakters.

Und richtig, noch waren keine zehn Minuten vergangen, die sich die Jungens unterdessen durch andere Scherze zu vertreiben gewusst hatten, als der erste Ingenieur wiederkam, nur mit etwas verlegenem Lächeln sein Werk präsentierend.


Illustration

In diesen noch nicht ganz zehn Minuten, wozu aber doch auch der Weg nach seiner Kabine und zurück gerechnet werden muss, hatte dieses Männchen die Billardkugel mit starken Golddrähten gefasst und das Ganze an einer langen Stahlnadel befestigt, gelötet — eine Arbeit, so sauber und akkurat und zierlich, dass man meinen sollte, ein Goldarbeiter müsse einen ganzen Tag damit beschäftigt gewesen sein — und der hatte das in noch nicht zehn Minuten fertig gebracht!

Ich erwähne dies alles deshalb so ausführlich, weil ich damals, als ich mir die ganze Sache richtig überlegte, fast an Zauberei glaubte, ich hielt solch eine Schnelligkeit nicht für möglich, ich dachte erst, der Ingenieur hätte solch eine Billardkugel als Busennadel schon fertig liegen gehabt, musste es dann aber wohl glauben, dass er dazu nur etwa sechs Minuten gebraucht hatte.

Und zweitens schildere ich dies so ausführlich, weil diese Goldschmiedekunst des ersten Maschinisten für uns alle später noch von höchster Bedeutung werden sollte.

Jetzt zunächst setzte Oskar seine Kapriolen fort, steckte die Busennadel dorthin, wohin sie gehörte — an den Busen der Mama Bombe!

Und die merkte noch immer nichts, nur dass sie noch mehr vor stolzem Glücke strahlte.

»Jotte ooch nee, wie komme ich nur dazu, so ne Berle for zehn Millionen Märkersch!«, stammelte immer wieder ihr so ungemein kleines Mündchen.

Aber das war nicht etwa die einzige humoristische Szene, die sich während der Arbeit abspielte. Denn die Arbeit wurde ja deswegen nicht etwa versäumt. Nur noch eine will ich schildern von hundert anderen.

Alle Muscheln, die nach ihrem Aussehen keine Perlen enthielten, wurden gleich wieder über Bord geworfen, aber an einer bestimmten Stelle, die vorher schon nach rauschaligen abgesucht worden war, sodass man Muscheln nicht wiederholt heraufbrachte. Die leeren Schalen der aufgebrochenen Muscheln aber wurden gleich dorthin geworfen, wo sie in größere Tiefe sanken. Da muss man auch sehr vorsichtig sein, solche Leichen können eine ganze Bank verpesten, absterben lassen, denn das scheint doch etwas ganz anderes zu sein, als wenn Muscheln eines natürlichen Todes sterben, wozu doch auch Krankheiten zu rechnen sind. Ihre Altersgrenze kennt man noch gar nicht.

In diesen aufgebrochenen Muscheln waren die Weichtiere selbst nur noch zum Teil. Wir alle, die wir Geschmack an Muscheln fanden, hatten sie schon gekostet, roh und auch gekocht und gebacken, aber keinen Gefallen daran gefunden. Diese Perlmuscheln haben einen eigentümlichen, tranigen Beigeschmack!

Das war ja aber gerade etwas für unseren Mister Tabak!

Es gibt ja Menschen genug, die auf einen Sitz hundert Austern verzehren. Das sind immerhin noch normale Menschen. In dieser Hinsicht aber, wenn es sich um die Fresserei handelte, war dieser Eskimo kein normaler Mensch, ich glaube sogar noch weniger als seine Kameraden von der Eiskante. Der schluckte und schluckte, schneller noch als Juno — auch Schweine lieben Austern wie alle Muscheln ungemein — der erbrach besonders große Muscheln nur, um das Tier selbst zu verschlucken, und was er dabei an Perlen im Munde spürte, spuckte er in den Sammelkasten.

Dass hiermit eine Gefahr des Verlustes für uns verbunden war, das merkten wir erst später, darauf machte er selbst uns erst aufmerksam, nachdem er so ungefährer Schätzung nach schon mindestens 300 Muscheln verschlungen hatte.

»Schon wieder eine Perle verschluckt«, rief er jetzt einmal, »wenigstens so groß wie ein Kirschkern.«

Rufe des Schreckens! Was, der verschluckte Perlen so groß wie die Kirschkerne?! Hatte sicher schon mehrere solche verschluckt?!

Aber Mister Tabak beruhigte uns, mit entsprechender Handbewegung, mit der anderen Hand schon wieder nach einer anderen Riesenmuschel greifend.

»O, das macht mir nix — ich kann solche Perlen schon vertragen — und wenn sie so groß wie die Wallnüsse sind — und ich werde sie schon wieder zum Vorschein bringen, ich werde gut aufpassen...«

»Neneneneee!!«, rief aber Doktor Isidor. »Der Magensaft lässt keine Perle passieren — und nun gar Ihr Magensaft, der sogar Kotelettknochen spurlos verdaut!«

So ist es. Schon in gewöhnlichem Essig lösen sich die Perlen, nur aus kohlensaurem Kalk bestehend, unter Brausen ziemlich schnell auf, und der Magensaft ist noch viel schärfer.

Also mochte Mister Tabak vielleicht schon, um nur irgend eine Summe zu nennen, für rund hunderttausend Mark Perlen verschluckt haben! Oder vielleicht auch nur für zehntausend.

Na, wir hatten ja genug von dem Zeuge, ein Brechmittel wollten wir ihm deshalb nicht erst einflößen, das hätte seine Ehre beleidigen können. Und überhaupt, was dem sein Magen einmal gefasst hatte, das gab er doch durch keine List und durch keine Gewalt wieder her.

Jedenfalls aber ging das nicht so weiter, jetzt durfte er nur noch Muscheln schlucken, die schon von anderer Seite auf ihren Perleninhalt geprüft worden waren.

»Ja, was ist dieses Gemüse eigentlich wert?«, fragte ich einmal, als ich die erstarrten Tautropfen in dem Kasten durch meine Finger gleiten ließ. »Was kosten solche weiße Bohnen nach dem heutigen Marktpreise?«

Das konnte niemand von uns sagen. Am besten hätte es vielleicht die Patronin verstanden, die hatte doch schon genug Perlengeschmeide gekauft, das war aber eben Geschmeide, da muss doch die Juwelierkunst bezahlt werden, überhaupt will der Juwelier doch an den Perlen selbst verdienen.

In diesem Augenblick dachte ich an den ersten Ingenieur, ob der nicht vielleicht...

Da wurde ich in die Kajüte zur Patronin gerufen.

Ihre Augen leuchteten, sie musste erst ein paar Mal tief Atem holen, ehe sie sprechen konnte.

»Georg, jetzt sind wir reich!«

»Das sind wir schon immer gewesen, so lange wir auf den faulen Schwindel nicht hereinfielen, die New Yorker Bodenkreditbank könnte pleite gemacht haben. Mit zwei Millionen Dollars darf man sich wohl reich nennen.«

»Aber eine Million dürfte wohl noch hinzukommen.«

»Ja, das wird es wohl, und ich unterschätze diesen Zuwachs unseres Reichtums auch gar nicht. Nun dürfen wir schon einmal unsere ›Argos‹ verlieren, jetzt könnenwir uns eine neue kaufen, ohne dass unser Betriebskapital geschwächt wird.«

Mit einem Male nahmen Helenes erst so strahlende Züge einen Ausdruck der Niedergeschlagenheit an.

»Nun können wir aber doch nicht mehr Mister Carlistle fortschicken.«

Verdammt noch einmal, ja, da hatte sie recht!

Ich verstand sofort.

Jetzt, da wir den Perlenschatz gefunden, da wir sein monatliches Chartergeld nicht mehr brauchten, schickten wir ihn fort, lösten wir den Kontrakt.

Das heißt, so hätte er denken können.

Und dass er so hätte denken können, das war mir schrecklich fatal, nur deshalb wollten wir ihn lieber behalten.

»Schiff ahoi!«, erklang es in diesem Augenblicks wie ich noch so dachte, kein Wort deshalb noch gesagt hatte,

Wir sahen es durch das Kajütenfenster. Es war ein Frachtdampfer mit englischer Flagge, der hinter jener Insel hervorkam, offenbar Kurs auf Kalam zu hielt, wobei er in ziemlicher Nähe an uns vorüber musste.

Und da plötzlich kam Carlistle in die Kajüte geeilt. »Frau Patronin — Verzeihung, wenn ich störe — aber die Zeit drängt — ein Dampfer kommt, auf den ich als Passagier möchte — Verzeihung, wenn ich unseren Kontrakt so plötzlich löse!«

Nur einen freudigerstaunten Blick konnten wir beide wechseln.

»Sie wollen uns verlassen?!«, rief dann die Patronin, und ihr Bedauern war dabei ganz ungekünstelt.

»Ja, und natürlich nehme ich sie mit.«

»Ihre Traumkönigin?«

»Ja, ich lasse sie schon wieder in die Kiste legen.«

»Aber warum denn nur?!«

Er gab in aller Schnelligkeit eine Erklärung, die für uns gar keine war.

Eben wieder die Sterne. Oder sein ägyptisches Punktierbuch. Hier musste unser Schiff festgenagelt werden hier musste ein anderes kommen, um ihn und seine Traumkönigin mitzunehmen, dann würde die Erklärung erfolgen, dann würde sie wieder zum Leben erwachen. Wenn da nicht erst noch andere Umwege zu machen waren.

»Ja, Mister Carlistle, ganz wie Sie wünschen — da muss aber dem Dampfer signalisiert werden.«

Es geschah. Zuerst stellten sich die beiden Schiffe einander vor.

Der »Hamilton« aus Newcastle kam von Singapore und ging direkt nach Valparaiso.

»Wollen Sie denn nach Valparaiso?«, fragte die Patronin.

»Sicher, sicher — doch ganz gleichgültig, wohin er geht — ich muss unbedingt an Bord dieses Dampfers!«

»Nehmen Sie einen Passagier erster Klasse mit?«, lautete die nächste Frage, die noch mit Signalflaggen gegeben wurde.

Alle Frachtdampfer, auch die größeren Segelschiffe, nehmen einige Passagiere erster Kajüte mit, sind dazu eingerichtet. In diesen Gegenden füllen sie auch oft genug, wenn Platz und Gelegenheit, das ganze Zwischendeck mit farbigen Passagieren an, lassen sie sogar viele Tage lang auf freiem Deck kampieren. Man darf überhaupt zwischen Passagier- und Frachtdampfer gar keinen so scharfen Unterschied machen. Nur die Auswandererdampfer bilden eine besondere Klasse.

Gewiss.

»Wen?«

»Einen Herrn.«

Wenn ein Diener dabei gewesen wäre, das wäre sofort gemeldet worden, bei solcher Flaggensprache geizt man doch mit jedem Worte.

»Fünfzig Pfund!«, nannte der englische Kapitän gleich den Preis.

Das war nicht zu viel für diese noch lange Strecke, und schließlich muss solch eine besondere Gelegenheit doch auch besonders bezahlt werden.

Der Dampfer hatte direkt auf uns zugehalten, wir waren schon in Rufnähe.

Dass wir festgerannt waren, das konnte man dort noch nicht wissen — aber dass die nicht merkten, wie wir hier Muscheln heraufholten und öffneten, dafür war schnellstens gesorgt worden.

»Wir sitzen auf einer Bank fest, warten die Flut ab!«, rief Kapitän Martin durch das Sprachrohr hinüber.

Da hütete sich der andere Dampfer, noch näher zu kommen, strich langsam seitwärts vorüber.

Während sich die beiden Kapitäne noch weiter unterhielten, wurde schon ein Kutter zu Wasser gelassen. Mister Carlistles umfangreiches Gepäck hineinbefördert, und unter diesem sah ich auch die Kiste, in der wir in dem chinesischen Räuberneste die Leiche gefunden hatten.

»Die Inderin ist drin?«, fragte ich leise den neben mir stehenden Doktor Isidor.

»Sie ist drin. Carlistle gab den Auftrag dazu, sobald er die Masten des Dampfers erblickte, er hätte es allein getan, wenn ihm niemand dabei geholfen hätte. Es geht doch nicht gegen Ihre oder der Frau Patronin Ansicht, dass er die Leiche mitnimmt?«

»Durchaus nicht, mag er seine Traumkönigin nur mitnehmen. Wie sieht sie aus?«

»Ich scheine mich doch geirrt zu haben, als ich schon an eine Verwesung glaubte. Jetzt scheint die Leiche, die bisher ein so frisches Aussehen hatte, zur Mumie einzutrocknen.

»Leiche?«, wiederholte ich. »Ist sie nicht gestern aufgestanden, hat sich auf das Sofa gesetzt?«

Doktor Isidor zuckte skeptisch die Achseln.

»Nach meiner wissenschaftlichen Ansicht darf ich nur von einer Leiche sprechen. Und überhaupt ist es noch längst nicht erwiesen, dass die Inderin auch wirklich selbst aufgestanden ist. Der Yankee hat gefunden, dass ihre Gliederstarre geschwunden ist, hat sie losgeschnallt und auf das Sofa getragen, ihr die Hände im Schoße gefaltet. Aber er weiß gar nicht, dass er es getan hat. Denn ganz richtig ist es mit dem jungen Mann sicher nicht. Wenn er auch nicht gerade ein somnambuler Nachtwandler ist, so schläft er doch oft genug bei Tage mit offenen Augen.«

Carlistle kam aus der Kajüte, in der er noch einmal mit der Patronin verhandelt hatte.

»Leben Sie wohl, Herr Kapitän — leben Sie wohl, Herr Waffenmeister — lebt herzlich wohl Ihr alle — ich werde schon noch von mir hören lassen.«

Zu einem weiteren Abschied war keine Zeit vorhanden. Der Dampfer konnte nicht lange warten.

Ins Boot hinein und hinübergerudert, an Bord gestiegen, das Gepäck nachbefördert und der Dampfer, der sich noch nicht einmal ausgelaufen hatte, setzte sich mit voller Kraft wieder in Fahrt.

Carlistle winkte noch lange, wir winkten zurück, bis der Dampfer hinter dem Vorgebirge verschwand.

So, nun waren wir den kuriosen Kauz los.

Schade um den jungen Mann! Wenn der...

Doch ich wollte gar nicht mehr an ihn denken, und da mich alle zur Genüge kannten, fing auch in meiner Gegenwart niemand von ihm an.

Aber wir sollten uns doch nicht für immer von ihm getrennt haben.

*

42. Kapitel

Die Freifrau von der See

Originalseiten 1057 — 1088

Die Hochflut um elf machte uns frei, wir hätten wohl gar nicht nötig gehabt, den Wasserballast auszupumpen. Noch zwei Tage blieben wir hier liegen, ununterbrochen Muscheln tauchend, durch abwechselnde Wache auch während der Nacht. Natürlich aber liefen wir nicht wieder fest, bei niedrigem Wasser wurde das Tauchen von der Barkasse aus besorgt.

Die Nachbarschaft merkte nichts von unserer einträglichen Arbeit. Sonst wäre doch ganz sicher einmal ein Boot gekommen. Denn wo so etwas wie Perlenmuscheln zu finden ist, da ziehen sich die Menschen doch wie die Geier an einem Aase zusammen. Hin und wieder fuhr ein Auslegeboot oder eine Prau mit Eingeborenen vorüber, sie blickten natürlich nach uns, kamen aber nicht herbei.

Die Entfernung nach der nächsten Insel betrug eben zwei Kilometer, da kann man mit bloßen Augen nicht unterscheiden, was Menschen treiben, und mit einem guten Fernrohre hätte nur konstatiert werden können — vielleicht — dass wir hier tauchen ließen.

Aber die hier hausenden Eingeborenen kamen gar nicht auf die Vermutung, dass auf dieser Bank, die sie ja sonst recht gut kannten, Perlmuscheln gediehen. Dagegen mussten sie wissen, dass wir hier festgerannt waren. Dabei hatten wir eben eine Havarie erhalten. Wir führten unter Wasser eine Reparatur aus.

Ebenso wenig erfuhren wir etwas davon, was sich dort hinter dem fernen Vorgebirge im Reiche Maladekka und in der Felsenbucht abspielte. Niemand besuchte uns, wir fuhren nicht hin, wir kümmerten uns nicht darum.

Nach zwei Tagen — oder noch nicht einmal nach 48 Stunden — mussten wir unsere Fischerei beenden. Nach langer windstiller Zeit hatte über Nacht ein Lüftchen geweht, das sich bei Sonnenaufgang in einen brausenden Sturm verwandelte, und der würde nun hier zur Äquinoktialperiode das Meer wochenlang toben lassen. Da war nichts mehr zu wollen.

Übrigens war die Bank an perlenhaltigen Muscheln schon bald erschöpft. Es war eben nur ein sehr kleines Areal, das man regelrecht absuchen konnte. Aber es waren auch bald zwei Pfund der schönsten Perlen, die wir gesammelt hatten.

»Wohin nun, Georg?«

»Ja, ich hätte eine Bitte — ich habe in meinem Rasierspiegel die Sterne abgestochert...«

»Jawohl, nun fange Du auch noch an!«, lachte Helene »Na gut — und was sagen die Sterne?«

»Nicht die Sterne, sondern mein Rasierspiegel. Er sagt, dass wir heute den 27. März haben...«

»Ach, hast Du einen allwissenden Spiegel!«

»... und dass wir dann gar nicht mehr so viel Zeit haben, um unser nächstes Ziel zu erreichen.«

»Ja, was aber ist das für ein Ziel?«

»Welches wir spätestens am 16. Juni erreicht haben müssen.«

Helene stutzte.

»Am 16. Juni?!«

»Nun, was geschah da voriges Jahr?«

»Da — da... saßen wir plötzlich auf der Sandbank im brasilianischen Urwald fest! Ja, wollen wir denn dort wieder hin?«

»Ja, selbstverständlich. Oder hast Du keine Lust, dort noch einmal solche sieben Wochen durchzumachen?«

Ich will nichts weiter sagen, als dass sich unter der ganzen Mannschaft, so weit sie erwachsen war, ein ungeheurer Jubel erhob, als sie erfuhr, dass es wieder nach dem Amazonenstrome ging.

Da hatten wir aber, wenn man mit kleinen Zwischenfällen rechnen wollte, auch wirklich nicht mehr viel Zeit zu verlieren, deshalb wollten wir auch den doch etwas kürzeren Weg links herum um die Erde einschlagen, den Suezkanal benutzen. Wenn man innerhalb zweier Tage zwei Pfund solche Perlen gefunden hat, dann kommt es einem doch nicht auf 25 000 Franken an.

Am nächsten Tage liefen wir erst noch einmal Menado auf Celebes an. Es war die nächste Kabelstation, die Patronin wollte wieder einmal nach New York wegen ihres Bruders telegrafieren.

Sie erhielt den Bescheid, dass sie in fünf Stunden wiederkommen möchte, wegen der Antwort. Eher hätte es keinen Zweck. Mit dem Telegrafieren geht es eben doch nicht so schnell, wie man manchmal denkt. Wenn auch der elektrische Funke in der Sekunde mehrmals die Erde umläuft. Da kommen die Umschaltestationen und noch vieles andere in Betracht.

Nun, wir wussten uns auch noch mehr als nur fünf Stunden zu vertreiben. Wir hatten auch mancherlei zu ergänzen und anzuschaffen, und Menado ist ein wichtiger Hafen, da ist alles zu haben, was ein Schiff nur brauchen kann, wenn auch etwas teuer.

Vor allen Dingen aber betrat auch ich die Kabelstation, jedoch ohne dass die Patronin etwas davon wusste.

In dem Telegrafenraum in den ich gewiesen wurde, befand sich nur ein junger Herr.

Es ist eine sehr hübsche Episode, die ich hier erleben sollte, die ich nicht in meinem Leben vermissen möchte. Ich denke jedes Mal daran, so oft ich mir eine Zigarre anbrenne.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte nach London telegrafieren.«

»Das Wort sechs Franken.«

»Ja, ich weiß.«

»Sie müssen sich aber eine halbe Stunde gedulden, es werden gegenwärtig Regierungsdepeschen gewechselt, so lange werden die wohl noch in Anspruch nehmen. Wären Sie zehn Minuten eher gekommen, da war eine Dame hier, an die hätten Sie sich gleich anschließen können, jetzt nicht mehr. Also wollen Sie in einer halben Stunde wieder vorfragen.«

»Und in welcher Zeit werde ich dann aus London Antwort bekommen können?«

»Das kommt ja ganz darauf an, ob Ihnen auch gleich geantwortet wird...«

»Sofort. Die betreffende Stelle hat selbst direkten Kabelanschluss und wartet schon auf meine Depesche, beantwortet sie sofort.«

»Dann müssen Sie sich aber immer noch auf fünf bis sechs Stunden gefasst machen.«

»Es ist eine amtliche Depesche, eine amtliche Unterhaltung.«

»Eine amtliche?!«

Ich zeigte die Depesche, die ich schon aufgesetzt hatte, zeigte noch ein anderes Schriftstück mit einem großen Siegel versehen.

Der junge Mann stutzte nicht nur, sondern er staunte, blickte mich plötzlich ganz unsicher an.

»Ja, das ist doch eine Regierungsdepesche!«

»Jawohl, so etwas nennt man wohl eine Regierungsdepesche.«

»Ja, das ist doch etwas ganz anderes! Erstens kostet die nichts, so etwas rechnen die Regierungen unter sich ab, und zweitens wird die ohne Umschaltungen direkt befördert. Da haben Sie die Antwort auch sofort wieder. In zehn Minuten, wenn die Depesche dort schon für Sie bereit liegt. Und dann kann ich auch vielleicht eine Pause in dem jetzigen Gespräch benutzen, um Ihr Telegramm noch London zu befördern. Bitte, wollen Sie Platz nehmen.«

Wie umgewandelt konnte der junge Herr nicht sein, denn er war schon immer sehr höflich gewesen.

Ich setzte mich, er ging an ein Stehpult und schrieb, hatte sich eine Zigarre angebrannt. Einer von den drei vorhandenen Apparaten klapperte hin und wieder.

Ein Malaie trat ein, zwar in heimatlichem Kostüm, aber durch ein Messingschild auf der Brust als Beamter gekennzeichnet. Etwas Hohes konnte er jedoch nicht sein, der junge Holländer schnauzte ihn in einer mir fremden Sprache ganz mächtig an. Trotzdem nahm der braune Kerl nicht die qualmende Manilazigarre aus dem Munde, mit der er auch eingetreten war.

»Hier ist das Rauchen wohl gestattet?«, fragte ich freimütig, als sich der Kerl wieder entfernt hatte.

»Aber bitte sehr!«

Ich hätte es auch ohne Frage wissen können, im ganzen Orient betrachtet man das Tabakrauchen zum Leben gehörig wie das Atmen. Selbst im deutschen Krankenhause zu Konstantinopel, unter deutschen Ärzten stehend, lässt man noch den schon mit dem Tode ringenden Schwindsüchtigen sein Zigarettchen rauchen. Alle die Krankensäle und Krankenzimmer sind mit Tabaksqualm gefüllt, und keiner dieser Ärzte meint noch, dass dies schädlich sein könnte. Dabei muss ich auch daran denken, wie mich einmal jemand dazu verleitete, eine längere Eisenbahnfahrt in einem Nichtrauchercoupé zu machen. Und in dem saßen gleich zwei spuckende Schwindsüchtige, die ängstlich die Fenster geschlossen hielten. Na, da gute Nacht!«

Also ich zog schmunzelnd mein Zigarrenetui.

»Darf ich Ihnen Feuer geben?«

Der junge Holländer nahm aus so einem Wandfeuerzeug den Stift, mit Benzin getränkt — zog ihn aber unangebrannt zurück.

»Halt, einen Augenblick! Vielleicht ist es eine kleine Überraschung für Sie...«

Er lauschte nach dem Klappern des Apparates, ging hin, hob einen kleinen Kasten auf, unter dem sich zwei nahe gerückte Metallspitzen befanden.

»Der Generalgouverneur in Batavia gibt eine Depesche an alle Regierungen der Erde — Menado liest mit — da, jetzt wird Stockholm angerufen — mit ganz direkter Stöpselung — einen Augenblick, gleich muss Stockholm das Verstandenzeichen geben — so, jetzt...«

Zwischen den beiden Metallspitzen knisterte ein blaues Fünkchen über, der Herr hatte den Stift daran gehalten, die Benzinwatte brannte sofort.

»Bitte hier — Feuer direkt aus Schweden — ohne Schwefel und Phosphor.«

In der Tat, ich brannte meine Zigarre mit Feuer an, das direkt aus Schweden kam!

Ein geringfügiges Erlebnis, ohne jede Bedeutung — aber ich erinnere mich so gern daran.

Und gut war es vielleicht, dass die Patronin nicht dabei war. Die hätte am Ende diesem liebenswürdigen jungen Manne gleich eine Hand voll Perlen in die Tasche gesteckt.

Zwanzig Minuten vergingen, der Herr erzählte mir mancherlei von der Kabeltelegrafie, dann wurde ich mit London verbunden, so ziemlich mit der höchsten Amtsstelle Englands. Ich hatte ziemlich viel zu depeschieren, konnte es mir auch leisten, es kostete mich ja nichts. Die Antwort kam immer prompt zurück. Doch nur fünf Minuten, dann war es beendet.

Mit bestem Danke verabschiedete ich mich. Das Telegrammgeheimnis musste überhaupt gewahrt werden, und dann bat ich noch, auch der in fünf Stunden wiederkommenden Dame, der Miss Helene Neubert, nichts davon zu sagen, dass ich, der Waffenmeister der »Argos« hier gewesen sei.

Selbstverständlich nicht!

Hochbefriedigt, wirklich glücklich marschierte ich ab. Ach, sollte Helene eine Überraschung erleben!

Wie ich so durch die Straßen des europäischen Stadtviertels schlendere, erlebe aber erst ich eine Überraschung, sehe etwas, was ich auch niemals erwartet hätte.

Ich komme an so einem Vergnügungslokal vorbei, wie es die Holländer gleich wie die Deutschen lieben, höre da drin ein Brüllen und Gejohle mit deutschen Worten — hallo, das sind doch meine Jungens! — ich trete ein, komme durch die Hausflur in einen großen Garten, in der Mitte ist ein festgetretener oder gar asphaltierter Platz, zum Tänzchen im Freien, und auf diesem tummeln sich so ziemlich die Hälfte meiner Jungen, aber nicht im Tanze, sondern sie sind damit beschäftigt, auf Fahrräder aufzusteigen und sofort immer wieder herunterzufallen. Fast jeder hatte sein eigenes Zweirad.

Menado hat 10 000 Einwohner. Freilich sind es meist arme Eingeborene, Malaien und Chinesen und anderes Gesindel, aber es gibt doch auch reiche darunter, sehr reiche, und dann holländische Beamte und Kaufleute und Plantagenbesitzer, die im modernsten Komfort leben.

Wo ist heute in der Welt eine Ansiedlung, in der es noch kein Fahrrad gibt.

In solch einer Stadt gab es also etliche radelnde Herren und Damen und Kinder, sogar eine Aya, ein indisches Kindermädchen, radelte.

Nun hat jede Ortschaft, ob Millionenstadt oder hundertköpfiges Dorf, einmal eine Periode, da das Radeln zur Manie wird. Mit einem Male will jeder ein Bicycle haben, es gehört zu seinem Glück. So war es auch hier vor einem Vierteljahre gewesen. Da hatte sich ein griechischer Händler von einer amerikanischen Filiale in Batavia sechs Dutzend Clevelandräder schicken lassen, hier die beliebteste Sorte.

Einige konnte er noch verkaufen, dann war die allgemeine Lust am Radfahren hier schon wieder vorbei. Wie die Patronin vom Postamt kommt, sieht sie in einem Bacchal, in so einem Laden, in dem überhaupt alles zu haben ist, was zum Leben gehört, ein Plakat:

»Hier sind vier Dutzend ganz neue Clevelandräder spottbillig zu verkaufen.«

Da bekommt unsere Patronin eine geniale Idee.

Ha, Fahrräder!

Die hatten ihre Jungens noch nicht.

Auf der Sandbank dort im Urwald! Auf einer Bretterbahn!

Hineingegangen.

Die ganz vernickelten Räder scheinen tadellos zu sein. Noch 46 Stück sind vorhanden, darunter zwei Damen- und einige Kinderräder.

»Wie viel kosten die alle zusammen?«

Nun, das Clevelandrad ist die Elitemaschine Amerikas, durchschnittlich 400 Mark...

»Jedes Rad, wie es hier steht, kostet 300 Gulden — aber ich will es machen billig — zehntausend Gulden alle zusammen.«

So spricht der griechische Jude, der doch auf den ersten Blick sieht, wen er vor sich hat.

Und die Patronin zieht sofort ihr Scheckbuch, sie ist eine gute Kopfrechnerin, ist schon hoch beglückt, 3800 Gulden »abgehandelt« zu haben.

Da tritt zum Glück Kapitän Martin in den Laden, will sich ein paar Kisten Manilazigarren kaufen.

Nun aber kauft sich dieser olle ehrliche Seemann nicht einmal zehn Zigarren, ohne daran zu denken, ob er nicht, falls sie ihm nicht schmecken, durch Wiederverkauf ein Geschäftchen dabei machen kann. Und wäre er nicht eben derjenige, so hätte er uns auch nicht damals seinen Kredit anbieten können.

»Zehntausend Gulden? Dass Du räudiger Hund zehntausend Mal die Cholera bekommst! Fünfhundert Gulden, und keinen blutigen Cent mehr für Deine miserable Schundware!«

Und dabei weiß Kapitän Martin noch gar nicht, was die Patronin eigentlich kaufen will!

Aber der hat doch nicht umsonst jahrelang in Konstantinopel auf eigene Rechnung mit Griechen um Knochen und Lumpen gefeilscht.

Der Grieche rauft sich die Haare und schwört bei den Häuptern seiner noch ungeborenen Kinder...

Na, kurz und gut, für 2500 Gulden bekam die Patronin den ganzen Schwamm.

Wie der Händler dann mit der amerikanischen Filiale fertig wurde, wie er die wieder anschmierte, das weiß ich nicht, das ging uns ja auch gar nichts an.

Nun konnten sich die Jungens die Räder gleich abholen, brauchten aber nicht erst von Bord zu kommen. Die erste und dritte Wache, gegen 50 Mann, saß ganz in der Nähe in einem Gartenlokal, poussierten da zusammen in Kompanie mit einer einzigen österreichischen Kellnerin.

Sie wurden geholt.

Ach, diese Freude, wie die die Räder erblickten, die ihnen gehören sollen!

»O Hein, kannst Du ook radfahren?«

»O tjooo, nu worum denn nich?«

Also erst noch einmal in den Garten hinein, den asphaltierten Tanzplatz als Radfahrbahn benutzt.

Nur ganz wenige, einige Heizer, hatten schon einmal ein Fahrrad zwischen den Beinen gehabt. Ich auch noch nicht.

Aber warum soll denn nicht jeder Mensch Rad fahren können? Das ist doch so überaus einfach! Man setzt sich einfach drauf, tritt links, tritt rechts, passt auf, dass man weder nach links noch nach rechts umkippt.

Und nun diese Athleten und Akrobaten, geschmeidig wie die Panther, alle schon mehr ganze als halbe Seiltänzer... was, die sollten nicht sofort auf so einem Dinge fahren können?!


Illustration

Ich kam gerade hinzu, wie die Anfangsversuche in vollem Gange waren.

O Gott, o Gott!

Wie die kaboltzten! Mit welcher schneidigen Eleganz sich diese Akrobaten auf die Maschine schwangen, und mit welcher Vehemenz sie nach irgend einer Seite wieder herabschossen!

War das ein Gelächter und ein Gejohle damals im malaiischen Archipel auf Celebes!

»Nee, Kinners, so geiht dat nich«, kam dann einer der Geschundenen zu dieser Erkenntnis, »wir mötten irst enne Rieh bilden.«

Und sie bildeten erst eine Reihe, ein Dutzend, stiegen auf die nebeneinanderstehenden Räder und hielten sich gegenseitig fest, Arm in Arm, so wollten sie erst einmal fahren, bis sie die Balance heraus hatten.

Aber noch ehe sie abgeschoben sind, da kippt die ganze Reihe um, genau so, wie man eine Reihe Bleisoldaten umwirft.

Ach, diese Stellungen und Lagen, dieses Beinezappeln in der Luft!

Auch die Patronin wälzte sich mit — obgleich sie nicht mitfuhr — nur vor Lachen.

Und wir anderen Zuschauer desgleichen.

Ein Glück nur, dass wir imstande waren, in unserer Maschinenwerkstätte jede nötige Reparatur an den Dingern selbst auszuführen. Denn ein Dutzend Räder waren bereits demoliert. Aber, wie gesagt, wenn wir sie einmal hatten, dann konnte sich daran auch verbiegen und zerbrechen, was da wollte, wir flickten alles wieder zusammen, brauchten auch keine rohen Ersatzteile, die schmiedeten unsere Schlosser selbst, drehten und bearbeiteten sie sonstwie, viel Matrosen waren nicht minder geschickt in solchen Arbeiten, und dann wusste man sicher, dass die geflickten Maschinen noch besser hielten, als da sie neu waren.

Denn ich sah es schon kommen!

Wenn die Jungen erst gut fahren konnten, dann erst würde die Reparatur richtig losgehen!

Wenn die in der Batterie auf dem tanzenden Schiffe fuhren, gerade wenn es auf stürmischer See recht toll bockte, wenn die dann bergauf und bergab sausten, immer gegen die Wände prasselten!

Denn so war es doch auch mit dem Rollschuhlaufen gewesen.

Ich habe nur nichts davon erzählt. Ich habe geschildert, wie sich die Jungens damals in Frisco die Kunstläuferrollschuhe anprobierten, wie sie in die Fensterscheiben sausten und sich fremden Menschen an die Vollbärte hingen.

An Deck des schlingernden Schiffes kamen ja solche Situationen nicht vor, die Gelegenheit fehlte eben dazu, aber sonst ging es da noch viel, viel köstlicher zu. Aber eben gar nicht möglich, so etwas zu beschreiben. Deshalb habe ich auch gar nichts davon erwähnt.

Übrigens war das nicht etwa was Neues, was wir da trieben oder noch treiben wollten. Ich vergesse nie, darauf aufmerksam zu machen, wenn wir einmal mit einer Idee schon Vorgänger gehabt hatten.

Das Rollschuh- und Radfahren wird schon längst auf den großen Passagierdampfern als Sport betrieben. Gerade wenn das Schiff einmal recht tüchtig stampft und schlingert, dann geht das Vergnügen los. Freilich ein ziemlich kostspieliges Vergnügen. Wenigstens das Radfahren. Es handelt sich nur darum, eine bestimmte Strecke zurückzulegen, oder einmal um das Deck zu fahren und mit heiler Maschine zurückzukommen. Es muss ein sehr seefester Radfahrer sein, der das fertig bringt. Diese erstklassigen Passagierdampfer haben schon eine besondere Fahrradreparaturwerkstätte an Bord.

*

Am 15. April passierten wir für 25 000 Franken, wozu aber auch noch die Gebühren für den Lotsen und andere hinzukommen, den Suezkanal, in 19 Stunden. Man darf nur fünf und eine halbe Seemeile in der Stunde machen. Und nur wer wie wir einen elektrischen Scheinwerfer an Bord hat, darf auch in der Nacht dampfen. Allerdings kann man sich auch einen solchen nebst Dynamomaschine leihen. Sonst muss man für die Nacht in einer Ausweichbucht festmachen.

Sechs Tage später passierten wir die Straße von Gibraltar.

»Frau Patronin«, sagte Kapitän Martin, »wir müssen noch einmal Kohlen fassen, und da schlage ich Lissabon vor, dort sind sie am billigsten.«

»Ganz wie Sie wollen. Wenn wir nur rechtzeitig auf unserer Sandbank liegen.«

Es war gut, dass die Patronin die Verhältnisse doch nicht so recht kannte. In Gibraltar sind die Kohlen nämlich billiger als in Lissabon. Denn Gibraltar ist englisch, und England duldet doch nicht etwa eine so nahe Konkurrenz, lieber würden die Kohlen unter dem Preise verkauft werden. Erst müsste Lissabon als Kohlenstation tot gemacht werden.

Diese kleine Flunkerei aber hatte Kapitän Martin nur in meinem Auftrage begangen.

Wir konnten Lissabon in 20 Stunden Fahrt erreichen. Am Ende derselben aber kam eine sternenlose Nacht, und am Morgen bei bedecktem Himmel wussten wir immer noch nicht das »Wo bin«. Bis ein Fischerfahrzeug uns sagte, dass wir schon 25 Seemeilen oder zwei Stunden nördlich über das Ziel hinausgeschossen waren, uns auch genauen Kurs nach Kompass angab.

»Was, Südwest zu Süd? I, das ist ja gar nicht möglich!«

»Sim, sim, Senhor Capitano.«

Der portugiesische Fischer steuerte wahrscheinlich nach einem von ihm selbst erfundenen Kompass.

Wir wollten die Sonne abwarten oder ein anderes Fahrzeug abwarten, das in diesem Wasser beschlagen war.

Und richtig, nicht lange, da kam ein Fahrzeug angedampft, gleich mit vier Schloten, ein englischer Panzer!

Grüßend senkte er die Kriegsflagge, wir erwiderten natürlich den Gruß mit unserer deutschen Handelsflagge.

Freilich ist bei solcher Grüßerei wenig Freundlichkeit dabei. Diesem zuerst grüßenden Kriegsschiffe mussten wir sofort Namen des Schiffes, des Heimathafens und des Kapitäns melden, was man bei einem grüßenden Handelsschiffe doch nicht nötig hat. Aber stellt man sich einem Kriegsschiff, das seine Flagge halbstock holt, nicht sofort vor, dann fällt erst ein blinder Schuss, drei Minuten später gibt es ein Loch in den Bauch.

Also wir hatten uns vorgestellt. Der Panzer, immer näher kommend, dankte höflich, und jetzt kletterten auch dort drüben einige bunte Lappen hoch.

Aber nicht etwa, dass dieses englische Kriegsschiff sich jetzt uns vorgestellt hätte!

Die meisten Matrosen konnten sich das Signal sofort übersetzen, es ist allgemein bekannt, wenn es auch selten gegeben wird. Dieses Signal ist der Popanz in der Kauffahrtei, und jeder weiß doch, was ein Gespenst ist, wenn auch noch niemand eines gesehen hat.

Und Verwünschungsrufe erklangen überall. »Vermaledeite Engländer! Dass wir uns so etwas bieten lassen müssen! Was will der lausige Man of war eigentlich von uns?«

Dieses Signal, das uns das Kriegsschiff gab, lautete nämlich:

»Streicht die Segel!«

Das heißt: Wir sollten stoppen! In dieser uralten Fassung aber lautet dieser Befehl auch noch für den Dampfer, der überhaupt gar keinen Mast mehr hat, wenn er halten soll. Die englische Seemannssprache, die, ganz mit Recht, maßgebend ist, hat überhaupt gar kein Wort für »dampfen«, sie lässt noch heute auch den Dampfer »segeln«, was hier also die Bedeutung von »fahren« angenommen hat.

Ja, da war nichts dagegen zu machen, wir hatten einfach zu gehorchen, wir mussten darauf gefasst sein, dass unser ganzes Schiff durchsucht wurde, dass wir nach irgend einem Hafen geschleppt und beliebig lange Zeit festgehalten wurden, bis uns diplomatische Verhandlungen zwischen England und Deutschland wieder freigaben.

Denn eine wahre Freiheit gibt es auch auf dem offenen Meere nicht, obgleich es herrenlos ist. Hier herrscht noch das Recht des Stärkeren, das Faustrecht — das freie, internationale Meer steht ständig unter den Kriegsgesetzen.

Tatsächlich, so ist es!

Jede Seemacht hat nahe ihren Küsten eine Grenze, hinter welcher der friedliche Zustand aufhört.

Für Deutschland ist diese Grenze nach Westen die Linie Dover-Calais. Sobald ein deutsches Kriegsschiff diese Linie passiert, wird eine Flaggenparade abgehalten, der Kriegswimpel wird niedergeholt und wieder gehisst, der Kommandant erklärt den Kriegszustand, die Geschütze werden geladen, der Mannschaft werden die Kriegsartikel verlesen, das ganze Schiff befindet sich fernerhin im gefechtsklaren Kriegszustand.

Desertiert ein deutscher Kriegsschiffsmatrose in dem Hafenstädtchen Gravelines, zwei Meilen von Calais, wird fahnenflüchtig, wird erwischt, so kommt er vielleicht mit einem Jahre Festung ab. So lautet das bestimmte Urteil.

Bleibt er aber in Grisnez, zwei Stunden hinter Calais versehentlich über Urlaub, so wird er kriegsgerichtlich erschossen!

Das heißt, er wird nicht erschossen. Er wird auch nur zu einiger Zeit Festung oder sogar nur Arrest begnadigt. Aber begnadigt wird er dazu, nicht verurteilt! Das ist der gewaltige Unterschied dabei! Das Urteil kann nur auf den Tod lauten. Jede geringere Strafe ist nur eine Begnadigung.

Diesen Unterschied macht die Linie Dover-Calais aus. Also außerhalb seiner heimatlichen Gewässer ist jedes Kriegsschiff im effektiven Kriegszustande, immer klar zum Gefecht.

Dass zwei Kriegsschiffe zweier Nationen, die miteinander im Frieden leben, nicht aufeinander losgehen, das ist selbstverständlich.

Aber die Kauffahrtei bekommt diese internationale Kriegsbereitschaft doch manchmal recht derb zu fühlen.

Jedes Kriegsschiff jeder anerkannten Macht, die Gesandtschaften unterhält, kann auf internationalem Wasser jedes andere Fahrzeug irgendwelcher Nation, das keinen Kriegswimpel führt, Fischkutter oder den größten Passagierdampfer anhalten, der Kommandant oder sein Stellvertreter kann sich an Bord begeben, sich die Schiffspapiere vorlegen lassen, er kann das ganze Schiff visitieren, kann es in den nächsten Hafen schleppen, über dem seine eigene Flagge weht — unter Umständen ist aber auch das nicht nötig — kann das Schiff unter militärischer Bewachung hier festhalten.

Gehorcht der Kauffahrer der Aufforderung nicht, die Segel zu streichen, widersetzt er sich der Visitation, so wird Gewalt angewendet, er kann sofort in den Grund geschossen werden.

Nach dem Warum hat nur die Regierung des Handelsschiffes zu fragen. Der Kommandant des Kriegsschiffes gibt die Erklärung des Warums seiner Regierung ab, die antwortet der anderen.

Das machen die beiden Regierungen ganz unter sich ab!

Das ist von Bedeutung!

Nämlich dass die Öffentlichkeit, das große Publikum da gar nichts zu erfahren braucht!

Da hat keine Zeitung und niemand seine Nase dazwischen zu stecken!

Das Kriegsschiff hat sich im effektiven Kriegszustande befunden, das ist die Sache!

Auf freiem Meere herrscht immer Krieg, auch wenn er nicht zum Ausbruche kommt!

Das Kriegsschiff rechtfertigt sein Vorgehen, die Regierung entschuldigt sich oder erklärt sich der anderen Regierung, diese nimmt die Entschuldigung oder die Erklärung als gerechtfertigt an, und die Sache ist erledigt!

Also kann auch jedes chinesische oder türkische Kriegsschiff, das kleinste Kanonenboot, den größten englischen Handels- oder Salonluxusdampfer anhalten, kann ihn visitieren, kann ihn nach einem Hafen schleppen — die Regierungen machen das Warum unter sich ab, den Grund braucht sonst niemand zu erfahren.

So lauten die internationalen Bestimmungen.

In Wirklichkeit sieht es nun freilich etwas anders aus.

Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Gewiss, es kann vorkommen, dass auch das armseligste türkische Kanonenboot den größten englischen Dampfer anhält, ihn festnimmt, und die englische Regierung muss später dieses Vorgehen billigen. Und dabei braucht man gar nicht an großartigen Waffen- und sonstigen Schmuggel zu denken.

Der englische Dampfer ist etwa in Konstantinopel gewesen, verlässt den Hafen wieder — da erfährt die türkische Behörde, dass dort an Bord ein Pestfall vorgekommen ist, die Engländer haben ihn verschwiegen, um nicht unter Quarantäne zu kommen — oder ein Pestverdächtiger hat sich an Bord begeben... da jagt eben ein türkisches Kriegsschiff nach und nimmt den englischen Dampfer fest.

Ist das nicht sogar höchst ehrenwert? Das geschieht doch zum Wohle der ganzen Menschheit.

Ja, solche Fälle können vorkommen und kommen auch tatsächlich oft genug vor.

Sonst freilich... so ein dreckiger Kümmeltürke (1) wird sich doch schwer hüten, der englischen Handelsflagge nahe zu treten!

(1) Siehe zu dieser Bezeichnung meine Anmerkungen in Band 1 auf S. 8.

Wenn da nicht ein absolut genügender Grund vorliegt, einen englischen Dampfer anzuhalten... na, England wüsste sich doch zu revanchieren! Das kann doch die arme Türkei kujonieren, dass sie Blut schwitzt!

Anderseits freilich wird auch der Kommandant des größten englischen Panzers es sich erst sehr reiflich überlegen, ehe er auch den kleinsten türkischen Küstendampfer oder Segler anhält. Er muss einen durchaus triftigen Grund haben, ehe er es tut, es riskiert.

Denn auch seine vorgesetzte militärische Behörde könnte ihm sein rigoroses Vorgehen höchst, höchst verdenken. Denn auch die Türkei kann sich gegen England revanchieren. Durch Warenboykott und dergleichen

Kurz und gut, die internationale Höflichkeit wird auch auf dem Meere wegen der guten Handelsbeziehungen aufs Strengste gewahrt! Es muss ein ganz, ganz triftiger Grund vorliegen, wenn ein Kriegsschiff ein anderes Fahrzeug unter fremder Handelsflagge anhält und es gar untersucht.

»Streicht die Segel!«

Hier an uns war von einem englischen Kriegsschiffe dieser Befehl einmal ergangen. Und wir hatten einfach zu gehorchen und uns alles gefallen zu lassen, was diese Engländer mit uns vornahmen.

Hatten den Teufel danach zu fragen, weshalb sie es taten.

Ja, fragen konnten wir wohl, aber zu antworten brauchten sie nicht.

Die Erklärung erhielten wir später von der deutschen Regierung durch das Seemannsamt — oder vielleicht nicht einmal das.

Gehorchten wir nicht, so wendete das Kriegsschiff zur Erreichung seines Zieles Gewalt an, als letztes Mittel, wenn wir flohen, wurden wir manövrierunfähig gerammt oder geschossen, eventuell bis auf den Grund.

Und wenn uns eine Flucht gelang?

Dann wurden wir durch internationale Verfügung, auf schnellstem Wege sämtlichen Häfen der Erde mitgeteilt, unter den Bann der Piraterie oder doch der »Half-Piratery« gestellt.

Worüber ich später noch sprechen werde.

Jedenfalls hatte dann jedes Kriegsschiff der Welt die Pflicht, mit Hintenansetzung seiner heimatlichen Order die »Argos«, sobald sie irgendwo erblickt wurde, zu verfolgen, sie festzunehmen oder eventuell zu vernichten.

Obgleich wir deshalb noch keine Piraten, keine Seeräuber zu sein brauchten. Das englische »Piratery« hat international noch eine andere Bedeutung bekommen. Davon also später mehr. Oder schon hier eine ganz einfache Erklärung: der Pirat ist nicht nur ein Freibeuter, sondern er selbst ist »freie Beute« — indem er sich außerhalb der Gesetze stellt.

»Streicht die Segel!«

Die Verwünschungen unserer Leute gegen die Engländer waren erklungen.

Und da sah ich, wie Helene bis in die Lippen erblasste. »Die — Frei — Frau — von — der — See!«, flüsterten diese todesblassen Lippen, und tief sank ihr Kopf auf die Brust herab.

Der Leser weiß sofort, was sie mit diesen Worten meinte, so wie ich es sofort verstand, ihre ganze Gemütsverfassung, woran sie jetzt dachte, was sie zu furchtbar niederschmetterte.

Nichts war es mit ihrem erträumten Ideal!

Nichts ist es mit der freien Selbstherrlichkeit zur See! Und wenn ich mein eigenes Schiff habe — und ich weiß mitten im Meere, was es nämlich auch wirklich gibt, eine Süßwasserquelle — und ich weiß ein unerschöpfliches Lager von Kohlen und Proviant oder ich bin überhaupt von Kohlen unabhängig und kann mir die Nährmittel auf chemischem Wege aus der Atmosphäre ziehen, sodass ich niemals einen Hafen anzulaufen brauche — frei bin ich deshalb noch lange nicht, gerade nicht auf dem internationalen Meere!

Da kommt ein Kriegsschiff, es kann eine chinesische Dschunke mit der Kriegsflagge sein — »Streicht die Segel!« — ich muss gehorchen, ich muss mich eventuell bis aufs Hemd visitieren lassen...

Na, ist das etwa eine selbstherrliche Freiheit?

Nichts ist es damit!

Und das meinte unsere Patronin, als sie erbleichend jene Worte flüsterte, jenen Titel, mit dem sie manchmal verspottet wurde und den sie sich in ihren Träumen doch selbst so gern gab!

»Stopp!«

Der Signalapparat hatte geklingelt, die Schraube stoppte.

Kapitän Martin natürlich fluchte nicht, kam nicht aus der Fassung, hatte nicht einmal einen verwunderten Blick nach dem englischen Panzer.

Der handelte einfach wie er als Kapitän handeln musste, und dafür bekam er monatlich 25 Pfund Sterling. Oder jetzt vielmehr 500 Mark. Nein, 510 Mark. Denn dass der Schilling eine Mark 2 Pfennige hat, das hatte der doch nicht etwa vergessen!

Das Kriegsschiff setzte ein Boot aus. Die See war doch etwas zu sehr bewegt, als dass sich zwei große Schiffe ohne jede Gefahr des Rammens Bord an Bord hätten legen können — im Kriegsfalle freilich wäre es im Gegenteil eine Spielerei gewesen — es wird bei dieser Gelegenheit überhaupt durchaus vermieden.

Das Boot tanzte schneidig aus uns zu.

»Die Offiziere haben doch große Paradeuniform an?!«, erklang es.

»Und die Matrosen sind auch in Parade!«

»Ja, was wollen die Lumpenkerls eigentlich von uns?!«, ertönte es dann allgemein.

»Haltet's Maul!«, kommandierte ich. »Oder habt dann auch den Mut, solche Schimpfworte diesen englischen Men of war ins Gesicht zu sagen! Wir werden schon sehen, was sie von uns wollen. Ausgefressen haben wir doch nichts. Oder Sie vielleicht, Frau Patronin?«

Die starrte jetzt mit noch immer blassem Gesicht dem Boote entgegen, hatte nicht meinen Humor herausgehört.

»Die — Frei — Frau — von — der — See!«, flüsterte sie nochmals.

Die Falltreppe war herabgelassen worden, das Boot legte schneidig bei, als erster stieg ein Kapitän zur See, in der Armee einem Oberst entsprechend, herauf, ihm nach folgten zwei andere Offiziere, alle in Paradeuniform.

Kaum hatte der Kapitän, sicher der Kommandant des Panzers, den Fuß an unser Deck gesetzt, so richtete er sich straff empor, legte die Hand an den Dreimaster, und laut und klar ertönte es:

»Im Dienste Seiner Majestät des Königs von Großbritannien und Irland, Kaisers von Indien!«

Hallo!

Was hatte dieser englische Offizier hier zu sagen, dass sein Kriegsherr auch Kaiser von Indien war?

Das war uns verflucht schnuppe!

Und das war auch ganz außer der Form!

Ich kannte doch die Formalitäten in solch einem Falle. Und was salutierte denn der dabei?!

»Missis Helene Neubert, Patronin dieses Schiffes?«, wandte sich der Kapitän dann an diese, noch immer die Hand an dem Dreimaster.

»Ja!«, flüsterte die, noch immer blasser werdend.

»Im Dienste Seiner Majestät des Königs von Großbritannien und Irland, Kaisers von Indien!«, erklang es noch einmal, dabei aber zog er jetzt schnell unter dem Waffenrock etwas Weißes hervor, ein großes Kuvert, mit vielen Siegeln bedeckt, überreichte es der Patronin.

Mit zitternden Händen nahm die es. Ich blickte ihr über die Schulter.

Oben auf dem großen Kuvert stand gedruckt, was der Kommandant schon zweimal gesagt hatte, natürlich sich der englischen Sprache bedienend, und hier war es etwas anders geschrieben, als es englische Schulbücher lehren, nämlich alle Hauptwörter mit großen Anfangsbuchstaben:

»In Service of His Majesty the
King of Great-Britain and Ireland,
Emperor of India.«


Und darunter war schwungvoll eine Adresse geschrieben, halb englisch, halb lateinisch:


To
The Freelady of the Sea
Helene Neubert,
capitanea et valvasora,
Honorable.


Die Patronin starrte und starrte.

»Na, da machen Sie doch auf!«, ermunterte ich, schon im ganzen Gesicht lachend.

Denn ich wusste ja alles.

Das war ja alles erst von mir arrangiert worden!

Sie erbrach die Siegel.

Es war der Dank des Herzogs von Westmoreland für seine Rettung und für die von 200 anderen Menschen.

Der englische König erhob die Mistress Helene Neubert, erhob unsere Patronin, die Schutzherrin der Argonauten, als Freelady of the Sea, als Freifrau von der See, in den Adelsstand!

*

Dieser Titel »Freifrau von der See«, den es in England wirklich gibt, bedarf einer Erklärung.

Es gibt in England den Adelstitel Lord, es gibt auch Freelord. Den letzteren Titel aber hat man seit dem 16. Jahrhundert aussterben lassen.

Weshalb? Ich weiß es nicht.

Wir haben ja ganz genau dasselbe bei uns. Es gibt noch den Titel »Edler«. Zum Beispiel Edler von der Planitz. Früher in Österreich besonders aber auch in Bayern sehr häufig. Aber verliehen wird dieser Adel jetzt nicht mehr...

Der Adel »Freelord«, dessen Gattin eine Freelady ist, kann in England noch verliehen werden, aber es geschieht nicht mehr. Stattdessen ist der Baronet geschaffen worden.

Wer nun die englischen Adelsverhältnisse nur einigermaßen kennt, nicht genau, der glaubt gewöhnlich, dass der Freelord mehr sei als der Lord. Aber das ist falsch. Gerade das Gegenteil ist der Fall.

Ebenso, wie man gar manchmal die Meinung hört, dass ein außerordentlicher Professor mehr sei als ein ordentlicher. Das ist natürlich nicht so. Der erstere ist eben »außer der Ordnung«, ist den ordentlichen Professoren noch nicht eingereiht. So ein Irrtum kann aber leicht entstehen.

Das »Free« vor dem Lord ist nichts weiter als eine zarte Beschränkung, aber doch eine Beschränkung.

Den Adelstitel Freelord führten zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert in England die Hauptleute der königlichen Leibgarde.

Ihr militärischer Titel war: capitaneus et valvasorus« Also lateinisch. Kapitän — Hauptmann und Vasall.

Ein heutiger Lateiner mag darüber lächeln.

Aber man wird doch schon von dem sogenannten Küchenlatein gehört haben, auch Mönchlatein genannt, weil es in Klöstern gesprochen wurde. Ein ganz schauderhaftes, korrumpiertes Lateinisch, dadurch entstanden, weil damals Latein fast zur Umgangssprache geworden war, nicht nur unter Gelehrten, auch am Hofe wurde es gesprochen, sogar in der Küche, und da machte man immer mehr sein eigenes Lateinisch So, wie es heute gelehrt wird, so ist es erst wieder im 19. Jahrhundert gereinigt worden. Übrigens heißen noch heute in Italien die kleinen Lehensadligen »valvassori«.

Diese Hauptleute der königlichen Leibgarde, die auch in der Schlacht des Königs persönlichen Schutz bildeten, waren natürlich gewaltige Haudegen. Bei deren Ernennung, wenn es um die persönliche Sicherheit ging, wurde einmal nicht auf angeborenen Adel und sonstigen Stammbaum gesehen. Da wurde der gewöhnlichste Soldat zum Hauptmann gemacht, wenn er nur furchtlos und treu war und seine Plembe zu schwingen verstand!

Aber solch ein Mann, dem sich der König ganz und gar anvertraute, musste doch besonders geehrt, auch er musste in den Adelsstand erhoben werden.

Nun aber sind alle Adlige hoffähig, zu gewissen Festlichkeiten müssen sie unbedingt bei Hofe erscheinen.

Und was sollte denn nun solch ein alter, verwetterter Haudegen, ursprünglich ein gewöhnlicher Soldat, bei Hofe machen! Der aß womöglich mit den Fingern und beim Tanzen trat er die Kavaliere und Hofdämchen doch nur egal auf die Hühneraugen.

Da erfand man für diese Hauptleute der Leibgarde den Adelstitel »Freelord«.

So frei sollte dieser Lord sein, dass er nicht einmal bei Hofe zu erscheinen, dass er sich den Teufel um die ganze Zeremonie zu kümmern brauchte!

Das ist die Sache!

Und in gleichem Sinne hat es in England auch immer einen »Freelord of the Sea« gegeben, aber immer nur einen einzigen.

Diesen Titel führte der Kapitän des Schiffes, welches der König benutzte, wenn er einmal eine Seereise zu machen hatte. Das heißt, es konnte ja immer ein anderes Schiff sein — aber dann wurde dieser »Freelord of the Sea« stets zu seiner Führung kommandiert. Natürlich hatte man sich da ebenfalls den tüchtigsten Seemann ausgesucht, und wunderbar ist es da nicht, dass das kein geborener Adliger mit uraltem Stammbaum, sondern ursprünglich ein gewöhnlicher Matrose gewesen war.

Dieser »Freelord of the Sea« hat sich sogar noch viel länger erhalten als der Freelord an Land, bis ins 18. Jahrhundert hinein, man weiß sogar noch die genaue Jahreszahl, da dieser Titel aus dem Adelsregister gestrichen wurde: im Jahre 1741, als der damalige Leibkapitän von König Georg II., John Vernun, ebenfalls ein von der Pike auf gedienter Seebär, der in seinen früheren Jahren sogar nur auf Schmugglerschiffen gefahren war, zum Großadmiral der britischen Flotte ernannt wurde. Als solcher konnte er das Schiff des Königs doch nicht mehr ständig führen, da ist dieser Titel »Freelord of the Sea« für immer eingezogen worden. Obgleich er noch immer verliehen werden könnte.

*

Ich hatte dies alles schon immer gewusst.

»Kann ich für Sie — für die Patronin — für die Mannschaft dieses Schiffes etwas tun?«

So hatte mich damals auf der Reede von Frisco der jugendlich aussehende Herr mit dem weißen Kopfe gefragt, als er noch einmal unter vier Augen von mir Abschied nehmen wollte.

»Wer sind Sie?«

»Der intimste Freund des mächtigsten Herrschers auf dieser Erde — ich bin Earl und Peer von England — ich bin der Herzog von Westmoreland.«

Da war mir sofort der Gedanke durch den Kopf geschossen — da hatte ich schnell die Mütze abgenommen und mir noch ein Stück Tabak abgebissen.

Ja, wenn dieses Männchen solch einen Rang einnahm, da hatte ich allerdings einen Wunsch vorzutragen, und ich tat es.

»Ist das möglich?«

»O ja, das ist schon möglich«, hatte der Herzog gelächelt, »dieser Titel ist ja nicht eigentlich gestrichen worden, er liegt nur in der Rumpelkammer, könnte wieder hervorgeholt werden. Und weshalb sollte ihn nicht auch eine Dame bekommen können? Aber auch von der Flagge, die früher dazu gehört hat, sprachen Sie?«

»Gewiss, gewiss, das ist doch die Hauptsache dabei, sonst hat es ja gar keinen Zweck!«, rief ich eifrig.

»Ich will sehen, ob es sich machen lässt. O ja, ich kann es Ihnen schon jetzt zusichern, dass es geschehen wird. Natürlich bedarf es einiger Zeit.«

Und wir hatten weiter darüber gesprochen, wie wir uns verständigen wollten, und der Herzog hatte auf ein schon mit mehreren Siegeln versehenes Formular einige Zeilen geschrieben, hatte seinen Namen und sein eigenes Siegel darunter gesetzt, noch dazu einige merkwürdige Stichworte, und kraft dieses Dokumentes konnte ich überall auf der Erde, wo sich eine Telegrafenstation befand, ohne Gebühr direkt mit dem englischen Kriegsministerium hin und her depeschieren. Dort würde er alles niederlegen, wenn er nicht selbst antworten konnte. Vor einem Vierteljahre würde eine Anfrage freilich wenig Zweck haben, zumal der König von England sich gerade auf einer Reise befand.

In Menado hatte ich nach dem Kriegsministerium telegrafiert.

Ja, es war alles in Ordnung, lag alles fix und fertig da.

»Kommen Sie nach London?«

»Wie Sie bestimmen.«

»Es ist nicht unbedingt nötig.«

»Wie sonst?«

»Wohin gehen Sie jetzt?«

»Nach Para.«

»Übermorgen geht H. M. S. ›Prince of York‹ nach Lissabon. Soll Kommandant Diplom und Flagge mitnehmen, unserer Gesandtschaft in Lissabon übergeben?«

»Wie Sie bestimmen.«

»Bestimmte Antwort Ihrerseits.«

»Ja.«

»In 14 Tagen bei englischer Gesandtschaft in Lissabon abzuholen. Schluss.«

So hatten wir nach Passieren der Straße von Gibraltar den Abstecher nach Lissabon gemacht. Weil dort die Kohlen am billigsten sind. Kapitän Martin war der einzige, den ich eingeweiht hatte.

Der hatte einmal, o Wunder, ohne ganz dringenden Grund die Hand aus der Hosentasche gezogen und sich auf den Schenkel geklatscht, dass es wie eine Fuhrmannspeitsche geknallt hatte.

»Donnerschlag ja — dann darf sich unsere Patronin wirklich eine Freifrau von der See nennen — eine Frau, deren Freiheit zur See gänzlich unbegrenzt ist — und diese absolute Freiheit fällt auf das ganze Schiff zurück!«

Der »Prince of York« musste schon seit einer Woche in Lissabon sein, das heißt das Bewusste schon vor einer Woche bei der englischen Gesandtschaft abgegeben haben.

Da tauchte am frühen Morgen der große Panzer mit englischer Kriegsflagge auf.

»Streicht die Segel!«

Ich konnte nicht wissen, dass dieses Panzerschiff der »Prince of York« war, ich kannte es nicht, konnte den Namen nicht lesen, aber als dieser Befehl zum Stoppen kam, da wusste ich es sofort. Und richtig, es war der »Prince of York«, dessen Kommandant alles bei sich hatte, um es bei der Gesandtschaft zu hinterlegen. Es war etwas dazwischengekommen, er erreichte Lissabon eine Woche später.

Als ich nun die Offiziere in großer Parade sah, da bestand vollends gar kein Zweifel mehr.

So kam alles noch weit, weit besser, als ich im schönsten Traume geträumt hatte. Auf der englischen Gesandtschaft wäre bei Überraschung der betreffenden Sachen gar keine Zeremonie gemacht worden. Freelord, Freelady — auch frei von jeder traditionellen Zeremonie! Das ist ja eben das Schönste dabei, was unser zeremonielles Zeitalter aber eben nicht mehr dulden will.

Hier war es schon etwas anderes, der Kommandant und seine Offiziere und die rudernden Matrosen hatten doch wenigstens ihre besten Anzüge anlegen müssen — Paradeuniform — und dann überhaupt die Bordroutine! Hier wurde doch schon eine kleine Zeremonie daraus.

Die Patronin starrte auf das geöffnete Schriftstück, wie sie vorhin auf das Kuvert gestarrt hatte.

»Die — Frei — Frau — von — der — See!«, flüsterte sie nochmals, wie sie schon vorhin zweimal geflüstert hatte, jetzt aber wohl in einer ganz anderen Gemütsverfassung. Und plötzlich färbte sich ihr bisher so blasses Gesicht dunkelrot.

Ich ließ sie rot werden, ich war den beiden anderen Offizieren behilflich.

Diese hatten über die Bordwand hinuntergelangt, die Matrosen hatten ihnen ein ziemlich umfangreiches und gewichtiges Paket, in Seide gehüllt, heraufgelangt, sie hatten es in Händen, wussten nicht gleich, was sie damit anfangen sollten — ich nahm es ihnen einfach ab.

Das dünne Seidenzeug enthielt eine große Flagge aus schwerster Seide. Es war die englische Kriegsflagge, aber das große Mittelkreuz im weißen Felde, sonst rot, hier von blauer Farbe.

Es war die englische Halbkriegsflagge Sie wird von einem Nichtkriegsschiffe geführt, also von einem Passagier- oder sonstigem Schiffe der Kauffahrteiflotte oder auch nur vom kleinsten Segler, auf dem sich ein Mitglied des königlichen Hauses oder sonst ein Fürst oder überhaupt eine Person befindet, die in königlichem oder nur amtlichem Auftrage reist, und es ist Grund vorhanden, sie vor jeder Visitation zu schützen. Das muss sich dann aber auch auf das ganze Schiff erstrecken, über dem diese Flagge weht. Kein englisches Kriegsschiff kann solch ein Fahrzeug anhalten. Der Befehl »Streicht die Segel« kann nur irrtümlich ergehen. Es braucht nur diese Halbkriegsflagge gehisst zu werden, das Kriegsschiff bittet um Entschuldigung und zieht wieder ab.

Zwar ist das nur eine interne Angelegenheit Großbritanniens. Es besteht keine internationale Abmachung. Ein Kriegsschiff einer anderen Nation könnte solch ein Fahrzeug dennoch anhalten. Aber so etwas ist ganz ausgeschlossen. Das wäre für den englischen Stolz eine tödliche Beleidigung — es ist vollkommen ausgeschlossen.

Diese Halbkriegsflagge hatte stets als Attribut zu dem Titel »Freelord of the Sea« gehört, er hatte sie auch auf seiner Privatjacht oder sonstigem Handelsschiffe geführt, auf dem er sich gerade befand.

Sie hatte auch einer Freelady of the Sea nicht vorenthalten werden können.

Wir waren zum ersten und letzten Male von irgend einem Kriegsschiffe angehalten worden, nie wieder würde es passieren.

Jetzt waren wir wirkliche freie Herren der See!

*

Die Offiziere waren zurückgerudert, nachdem in der Kajüte etlichen Champagnerflaschen der Hals gebrochen worden war, der Panzer nahm seinen Kurs nach Lissabon wieder auf.

Die Patronin war in alles eingeweiht worden, in alle ihre Rechte; Pflichten hatte sie durch diesen, allerdings nicht erblichen Adelstitel absolut nicht auf sich genommen, und sie war in ihrem Glücke wohl stolzer, als sie sich merken ließ, zu welchem Stolze sie auch wirklich allen Grund gehabt hätte.

»Folgen wir gleich dem Panzer nach Lissabon?«, fragte ich.

Mit leuchtenden Augen blickte die Gefragte auf das weite Meer hinaus, gerade nach der anderen Richtung, wo Lissabon lag.

»Ach, dass wir wegen dieser schwarzen Steine jetzt erst einen Hafen anlaufen müssen — dass wir nicht gleich in das freie Meer hinaus können!«

»Nun«, meinte Kapitän Martin, »bis Para wird's schon langen, wir haben ja Zeit genug, wir segeln, wenn wir irgendwie können — dann nehmen wir die Kohle eben in Para ein — wie viel die dort kosten, das ist uns doch ganz schnuppe.«

Es war die Entscheidung gewesen.

*

43. Kapitel

Hexengold und Hexenschüsse

Originalseiten 1089 — 1149

Am 14. Juni gingen wir im brasilianischen Urwald neben unserer Sandbank vor Anker. Neben ihr, nicht auf ihr.

Es war ja ganz hübsch gewesen, wie unser Schiffchen von 5000 Tonnen so direkt auf dem trockenen Sande gelegen hatte, wie ein Ei in weichem Flaum gebettet, wie man gleich so von Bord herabspringen konnte, aber... wir wollten unserem Schiffe doch lieber die Bewegungsfreiheit lassen.

So waren wir in der Fahrstraße vor Anker gegangen, die auch bei niedrigstem Wasserstande noch Tiefe genug für das größte, schwerste Kriegsschiff hatte. Die Entfernung konnte später noch mehr verkürzt, es konnte ja dann eine bequeme Brücke nach der Sandbank geschlagen werden.

Vorläufig stand sie noch unter Wasser. Dort sah der Baumstamm heraus, mit unserer Inschrift, wonach wir uns als Herren dieser Brutbank betrachteten — und dort reckten sich nun gar die beiden hohen Masten empor, zwischen denen wir die Springschaukel befestigt gehabt hatten. Denn die hatten wir damals stehen lassen. Weshalb hätten wir die kolossal verankerten Masten erst wieder ausgraben sollen? Reparaturen, neue Befestigungen würden ja freilich vorzunehmen sein.

Vor allen Dingen aber handelte es sich darum, ob auch wirklich wieder in der Nacht vom 15. zum 16. das Wasser abfließen würde, so weit, dass die Sandbank freigelegt wurde. Oder an einem etwas späteren Termine, darauf kam es uns ja gar nicht an.

Ich will nicht schildern, wie die zwei Tage vergingen, was wir während derselben an die Pünktlichkeit der Naturordnung für Anforderungen stellten.

»Wenn übermorgen bei Sonnenaufgang die Sandbank nicht frei liegt, dann trete ich aus der christlichen Kirche aus und werde Mohammedanerin, das bin ich noch nicht gewesen.«

So sprach Klothilde. Mag das genügen.

Aber die Natur sollte uns in dem Vertrauen, das wir auf ihre Zuverlässigkeit setzten, nicht täuschen.

Ja, es ist wirklich wunderbar, wie pünktlich die Naturelemente, Wind und Regen und dergleichen, in jenen Breiten sind!

Eigentlich war sie ja nicht ganz pünktlich. Diesmal fing das Fallen des Wassers schon am Abend an, noch vor Sonnenuntergang.

Na, diese kleine Verfrühung wollten wir der Mama Natur verzeihen. Klothilde wollte eine gute Katholikin bleiben. Oder eigentlich gehörte sie jetzt wohl der Sekte der Quäker an. Sie wusste es nicht mehr genau, führte darüber kein Buch. Na, darauf kam es ja auch nicht so genau an.

Also diesmal konnten wir das rapide Fallen des Wassers beobachten.

Schon um Mitternacht war es vollkommen beendet, und als die Sonne eines neuen Tages aufging, hatten wir unsere Lage schon verändert, waren der Sandbank bedeutend näher gerückt, waren sogar schon dabei, eine solide Brücke von 25 Meter Länge zu schlagen.

Dann richteten wir uns auf der Sandbank wieder ein, brauchten aber nicht wieder ganz von vorn anzufangen.

Dort stand wohlerhalten noch unser Backofen, Kapitän Martin sollte wieder seinen Riesenpfefferkuchen haben, diesmal natürlich mit einem anderen Zuckergemälde. Der Ofen brauchte nur etwas von eingeschlemmtem Sande gereinigt zu werden, dann war er gleich wieder betriebsfähig.

Auch der Argonautenkanal mit größerem Teich — alles noch vorhanden. Das darüber stehende stille Wasser hatte da doch nicht viel versanden können, auch nicht die ankommende Flut. Das ging hier alles so glatt vor sich.

Etwas ausgebessert und ausgeschippt musste ja natürlich doch werden. Aber das war jetzt eine Kleinigkeit, in wenigen Stunden war alles schon wieder tadellos. Dann die Masten mit neuen Tauen gespannt, und noch vor dem Mittagsessen schwang schon wieder die Riesenschaukel, meine Jungen gingen mit Kopfstürzen und einfachen und doppelten und dreifachen Salti mortali ab und hauten ins Wasser, dass es eine Pracht war!

Und als am Abend unter Hämmerleins Meisterhänden die Orgel im Urwald erbrauste, da erstrahlte das ganze Schiff schon wieder in voller Illumination, das Licht in diesen Flaschen lieferten wieder phosphoreszierende Pilze.

*

Ich überspringe die nächsten fünf Wochen.

Ach, es waren wieder fünf köstliche Wochen gewesen! Eines Nachmittags, nach der Siesta, bin ich unten im Ballastraum und sehe nach den Wassertanks, von denen einer lecken soll.

Mit dem Aufschrauben vergeht einige Zeit. Ich habe oben niemandem gesagt, wohin ich mich begebe.

»Waffenmeister, Waffenmeister!«, brüllt da Siddys Stimme.

»Hier! Was gibt es?«

»Sie werden im ganzen Schiffe gesucht!«

»Ist etwas passiert?!«

»Nein, das nicht — aber Besuch haben wir bekommen.«

»Was denn für einen Besuch?«

»Na, raten Sie mal.«

Ich muss hierzu bemerken, dass Siddy seine Stellung als Exklusiver zu wahren gewusst hatte. Als gewöhnlicher Steward, als Schiffskellner und Diener, hätte er mir, dem Kargo-Kapitän, doch nicht etwa so kommen dürfen. »Na, raten Sie mal.« Aber dieser indische Gaukler, der er früher gewesen, hatte nur sein Vergnügen daran, mit den Tellern zu jonglieren, die Speisen zu servieren, überhaupt eine dienende Rolle zu spielen. Doch was heißt dienende Rolle? Überhaupt jeder Mensch, der nicht gerade dem lieben Gott den Tag abspielt, nimmt im Leben eine dienende Rolle ein.

Ein einziges Mal, gleich im Anfange, als ich noch gar nicht an Bord gewesen, war etwas vorgekommen, gerade mit dem Kapitän. Kapitän Martin, der das Verhältnis der »Exklikusen« noch nicht richtig gekannt, hatte den indischen Steward achtern aus der Kajüte gerufen, er sollte umgeschüttete Tinte aufwischen. Siddy war nicht gekommen, hatte den Gehorsam verweigert. Eine kleine Auseinandersetzung mit der Schiffspatronin — — die Sache war ein für alle Mal in aller Gemütlichkeit erledigt. Wenn Kapitän Martin fernerhin wünschte — Siddy putzte ihm sofort die Stiefel. Mir auch. Aber er tat es freiwillig. Da durften wir nicht verlangen, dass er vor uns stramm stand. Wir mussten uns vertrauliche Anreden gefallen lassen. Und wir verstanden unser gegenseitiges Verhältnis ganz genau.

»Na, raten Sie mal.«

Ich war mit meiner Arbeit fertig, nahm das Lämpchen und den Schraubenschlüssel und begab mich nach der Luke, durch die Siddy seinen beturbanten Kopf steckte.

»Indianer?«

»Nein. Wenn Sie's raten, bekommen Sie meine nächste Monatsheuer — 30 Pfund Sterling.«

Zum ersten Male erfuhr sich durch Zufall — denn nie, nie hatte ich mich um so etwas gekümmert — dass dieser Steward mehr bekam als ich und der Kapitän! Es war eben ein »Exklikuser«, mit zu der Firma Juba Riata, Mister Tabak und Kompanie gehörend, die von der reichen Weltreisenden aus ihren Lebensstellungen gerissen worden waren.

»Ja, mein lieber Siddy, wie soll ich da raten.«

»Sie kennen ihn.«

»Was, ich kenne ihn?!«

»Sehr, sehr gut.«

»Und er besucht uns hier im brasilianischen Urwald?«

»Jawohl. Wissen Sie nun, wer's ist?«

Ich kam nicht darauf. Ich konnte mir unmöglich jemanden vorstellen, den ich gut kennen sollte und der uns hier besuchte.

»Na, Waffenmeister, da polstern Sie sich mal hinten Ihre Hosen aus, damit Sie sich nicht weh tun, wenn Sie dann vor Staunen umfallen. Kommen Sie nur, kommen Sie nur, Sie werden wie eine Stecknadel gesucht — der Herr wartet in der Kajüte, alles ist schon beisammen, nur Sie fehlen noch.«

Na, da war ich doch wirklich gespannt wie ein Regenschirm, wen ich da in der Kajüte finden würde! Ich trete ein.

Die Patronin ist drin, Kapitän Martin Juba Riata, Doktor Isidor.

Die aber sehe ich gar nicht.

Ich sehe nur die abenteuerliche Gestalt, eingemummt in einen schäbigen Mantel, sehe die Krallenfinger, die ein Zigarettchen unter die schiefe Nase führen...

Heiliger Klabautermann!

Unser Prospektador!

Der Señor Montezuma della Estrada!

Ja, mein lieber Siddy, Du hättest ruhig Deinen Kopf verwetten können — ich würde ihn Dir nicht abgenommen haben. Diesen alten Freund hier wiederzusehen, das hätte ich mir allerdings nie träumen lassen!

Die Unterhaltung war schon im besten Gange. Natürlich drehte sie sich um den Riesendiamanten, der als corpus delicti auf dem Tische lag, auch eine Schüssel mit Wasser war bereits vorhanden.

Señor Estrada hatte sich auch schon überzeugen lassen, dass es kein echter Diamant war. Er schien selbst nicht viel von Diamanten zu verstehen. Wenigstens kannte er nicht diese Wasserprobe. Es ist auch wirklich ganz merkwürdig. Diese Wasserprobe ist doch so überaus einfach, und sie ist doch so wenig bekannt.

Gerade, wie ich eintrat, richtete sich die spanische Mumie mit unnachahmlichem Stolze empor, richtete seine schiefe Nase von einem zum anderen.

»Señor Capitano — Señora Patrona... halten Sie mich für fähig, dass ich Sie habe betrügen wollen?«

Nein, davon konnte keine Rede sein. Sonst hätte der sich doch nicht wieder vor uns blicken lassen.

Das war so logisch, dass darüber gar nicht weiter gesprochen zu werden brauchte.

»Well«, nahm Kapitän Martin das Wort, »davon kann keine Rede sein. Sie sind eben selbst das Opfer einer Täuschung, wahrscheinlich eines Betrugs geworden. Wo haben Sie den Diamanten eigentlich her?«

»Mi sabe!«, konnten wir wieder einmal hören.

»Hören Sie mal, mein lieber Freund, mit Ihrem mi sabe kommen Sie diesmal nicht weit!«, fuhr Kapitän Martin fort. »Sie haben garantiert, dass Sie uns für vier Millionen Dollars Chinarinde liefern wollten, Sie haben auch eine Bürgschaft geleistet, wir nahmen sie auch an, aber diese Bürgschaft hat sich als wertlos erwiesen...«

»Verzeihung, Señor Capitano, wenn ich unterbreche. Vier Millionen Dollars hatte ich gesagt?«

»Vier Millionen Dollars.«

»So biete ich Ihnen als Ersatz vier Milliarden Dollars an.«

Der Kerl hatte es gesagt, wie so etwas mit solcher Grandezza nur so ein verlumpter spanischer Hidalgo sagen kann.

Am schnellsten hatte das Gesagte unser Doktor Isidor begriffen, der hielt gleich die offene Hand hin.

»Vier Milliarden Dollars? Her damit. Womöglich in Gold.«

»Si si, Señores — in Gold!«, erklang es zurück.

Die kleine Pause war begreiflich.

»Well«, nahm dann wieder Kapitän Martin das Wort, was ich aber wohl nicht immer zu sagen brauchte, wenn ein »well« erklingt, »wir nehmen als Entschädigung gern vier Millionen Dollars in Gold an.«

»Ich schätze es mindestens auf vier Milliarden Dollars.«

»Well, wir begnügen uns schon mit dem tausendsten Teil, nur mit vier Millionen.«

»Ich biete Ihnen aber den ganzen Goldschatz an, stelle ihn Ihnen zur freien Verfügung.«

»Well, wir danken. Das heißt nämlich: wir nehmen ihn dankbar an. Wo befindet sich denn dieser Goldschatz?«

»Gar nicht weit von hier.«

»Well, wenn man mit Monddistancen rechnet, so ist es von hier bis nach Honolulu auf der anderen Seite der Erdkugel gar nicht sehr weit.«

»Wenn Ihr Schiff mit halber Kraft dampft, sechs Seemeilen in der Stunde, so können wir das Ziel in einem Tage erreichen. Oder in sechzehn Stunden, will ich sagen.«

»So. Hm. Wollen Sie uns nicht etwas nähere Auskunft geben, ehe wir hier die Anker lichten, die schöne Brücke abbrechen müssen?«

»Ich habe das Eldorado gefunden.«

»Ach herrjeeehses, ach herrjeeehses!«, ließ sich in diesem Augenblick Huckebein unser Rabe mit schnarrender Stimme vernehmen.

Jawohl, mein Huckebein Du hattest ganz recht.

Das Eldorado... ach herrjeeehses.

Ich habe über dieses Goldland ja schon früher erzählt, brauche es nicht zu wiederholen.

»So, Sie haben Eldorado gefunden.«

»Si si, Señor.«

»Das goldene Land.«

»Si si, Señor.«

»Sind selbst dort gewesen?«

»Si si, Señor.«

»Wann?«

»Komme soeben von dort.«

»Und dort ist wirklich Gold?«

»Si si, Señor.«

»Haben natürlich gleich welches eingesackt.«

»No, Señor.«

»Weshalb denn nicht?«

»Mi sabe.«

»Hören Sie, mein lieber Freund, ich wiederhole, dass Sie diesmal mit Ihrem mi sabe...«

»Weil ich bei der heiligen Veronika von Camonna, die meine Schutzpatronin ist, geschworen habe, niemals wieder Gold zu berühren.«

»So, hm!«, brummte Kapitän Martin, und auch wir anderen mussten uns bei dieser Erklärung beruhigen, gegen solch ein Gelübde ist eben nichts zu machen.

»Wie ist das Gold dort beschaffen? Wie wird es gefunden?«

»Es ist eine Bonanza.«

»Bonanza? Was ist denn das?«

»Eine Bodenvertiefung, in welcher das Gold frei zu Tage liegt, indem jedenfalls Wasser alles Erdreich wegspülte, nur die schweren Goldblöcke liegen gelassen hat. Das nennen wir eine Bonanza.«

Hallo!

»Es liegt in ganzen Blöcken da?«

»In mächtigen Blöcken, so groß wie hier diese Kajüte, wie dieses ganze Schiff.«

Richtig gehört hatten wir, da gab es ja nun nichts.

»So — groß — wie — die — ses — gan — ze Schiff?«, wiederholte Kapitän Martin in rhythmischem Takt.

»Si si, Señor!«, erklang es gleichmütig wie immer zurück.

»Doch nicht etwa reines Gold?«

»Si si, Señor.«

»Nicht nur Erzblöcke, die einiges Gold enthalten?«

»Gediegenes Gold.«

»Gediegenes Gold in Blöcken so groß wie dieses ganze Schiff?«

»Si si, Señor. Freilich auch kleinere Klumpen. Dann aber auch wieder ganze Berge von Gold, größer als dieses Schiff.«

»Das haben Sie selbst gesehen?!«

»Si si, Señor.«

»Wann denn?«

»Vor drei Tagen, als ich dort war.«

Der Prospektador war, bemerkte ich jetzt, in einem kleinen, primitiven Boote angerudert gekommen.

Ja, warum denn nicht? Weshalb soll man denn so ganz und gar für ausgeschlossen halten, dass es solche riesige Goldklumpen gibt?

Die ersten Goldfunde in historischer Zeit, die man so richtig kontrollieren konnte, waren die in Kalifornien. Dort hat man gediegene Goldklumpen frei und glänzend auf dem Boden liegend gefunden. Was man früher auch schon bezweifelt hatte, dieses freie Vorkommen von gediegenem Golde auf dem Erdboden. Nicht denkend, was da für Wasserkräfte im Spiele gewesen sein können.

Es waren aber höchstens hühnereigroße Stücke. Und da kam der Mensch mit seinem wunderbaren Scharfsinn sofort wieder zu der Erkenntnis, dass größere Goldklumpen überhaupt gar nicht vorkommen können.

Habe acht, o Natur, die Grenzen sind Dir gezogen: bis zur Hühnereigröße basta!

Bis in den fünfziger Jahren in Australien ausgerechnet ein Schäfer dieses »Naturgesetz« über den Haufen wirst, ganz wörtlich über den Haufen wirft.

Ein alter Schäfer sitzt jahraus jahrein unter einem Baum auf einem Steine. Es ist sein Lieblingsplätzchen, von wo er seine Schafe beobachtet. Eines Tages sieht er, wie unter diesen Stein eine kleine Schlange schlüpft. Zum ersten Male legt er Hand an den Stein, um ihn umzukippen, er wundert sich über die ungemeine Schwere, endlich gelingt es ihm — da gleißt es ihm golden entgegen!

Es ist ein gediegener Goldklumpen von 87 Kilogramm Schwere, nur außen etwas mit Lehm beschmiert, dessen Gewicht hierbei aber schon abgerechnet ist.

Dieser Nugget, nach seiner ersten Besitzerin »Sarah Sand« benannt, wurde vom Britischen Museum in London erworben, dort ist er heute noch in der geologischen Abteilung zu sehen.

Aber hiermit nicht genug — dort in derselben Gegend wurden noch drei andere Goldklumpen gefunden, einer von 74, der zweite von 68, der dritte von 51 Kilogramm Gewicht.

Dann aber hörte es auf. Nicht ein Körnchen wurde mehr gefunden. Der Boden enthält dort keine Spur von Gold.

Wie kommen nun gerade diese vier großen Goldklumpen dorthin?

Frage die vergangenen Jahrtausende!

Nach alledem ist es also recht wohl möglich, dass man einmal einen ganzen Goldberg findet, einen Klumpen so groß wie ein ganzes Haus.

»Mir hat einmal so ein alter Diftelbruder gesagt, als wir über das Vorkommen von Gold sprachen, dass es das noch gänzlich unbekannte Patagonien und noch mehr das trostlose Feuerland sein dürfte, welches uns in Sachen des Goldes noch die größten Überraschungen bereiten würde.

Ja... ich weiß nicht... auch ich habe so eine Ahnung!

Wer hat im Jahre 1895 gewusst, dass im nächsten Jahre in Alaska, in dieser Eiswüste, Gold gefunden würde, allein im Jahre 1906 für 100 Millionen Mark!

»Wie haben Sie dieses Goldlager entdeckt?«, setzte Kapitän Martin das Examen fort. »Aber bitte — kein mi sabe.«

»Ich war von der wirklicher Existenz eines Eldorado immer überzeugt, habe so lange geforscht, bin so lange im Urwalde herumgekrochen, bis ich es gefunden habe. Allerdings besaß ich schon immer eine uralte Überlieferung. Schon früher ist einmal ein Spanier, ein Ahne von mir, dort gewesen. Er hatte den Weg aufgezeichnet. Nach jahrelangem Bemühen habe ich ihn endlich gefunden.«

»Außer Ihnen weiß niemand davon?«

»No, Señor.«

»Eine Bodensenkung, sagten Sie?«

»Si si, Señor. Das heißt, es ist ein ganzes Tal, angefüllt mit riesigen Goldblöcken.«

»Ein ganzes Tal?«, wiederholte der Kapitän, und ich hätte es auch getan.

»Si si, Señor.«

»Dann müsste doch ein Gebirge in Betracht kommen.«

»Si si, Señor.«

»Das Grenzgebirge nach Guayana hin?«

»Si si, Señor.«

Das stimmte, das mussten wir so ungefähr in 16 Stunden erreichen können, bei halber Fahrt.

»Englisch Guayana? Niederländisch Guayana? Französisch Guayana?«

»Mi sabe.«

Diesmal mussten wir diese ausweichende Redensart gelten lassen.

Eigentlich war uns dieser Mann ja gar keine nähere Erklärung schuldig. Wir mussten uns einfach seiner Führung anvertrauen — oder ließen es eben bleiben.

»Wie weit können wir mit unserem Schiffe heranfahren?«

»Direkt bis zum Aufstieg.«

»Wie hoch ist dieser Aufstieg?«

»Er erfordert eine halbe Stunde.«

»Schwierig?«

»Ganz und gar nicht.«

»Ist es denn nicht möglich, dass ein anderer Mensch dieses Goldtal findet?«

»Es wäre ein sehr, sehr großer Zufall.«

»Weshalb?«

»Es ist ein hohes Plateau, überall von senkrechten, ganz glatten Felswänden begrenzt, und es gibt nur diesen einzigen Aufstieg.«

»Ist denn dieser so schwer zu finden, zu sehen?«

»Zu sehen ist er überhaupt nicht.«

»Überhaupt nicht zu sehen? Das begreife ich nicht.« »Sie werden es begreifen, sobald ich Sie hingeführt habe.«

Der Kapitän schien nichts mehr zu fragen zu haben. Ob wir jetzt hinführen oder nicht, das blieb der Patronin oder einer Beratung überlassen.

»Sie sagten doch«, nahm da Doktor Isidor das Wort, »es handele sich um das sagenhafte Eldorado.«

»Si si, Señor Dottore.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil in dem Tale eine große Stadt liegt, auf welche ganz die Beschreibung passt, welche alle geben, die in Eldorado gewesen sein wollen und jedenfalls auch wirklich gewesen sind.«

»Aah, eine große Stadt liegt in diesem Tale?«, erklang es mit größter Überraschung, nicht nur aus dem Munde des Doktors.

»Si si, Señores e Señora.«

»Aber unbewohnt!«

»Si si, Señor. Eine Ruinenstadt, wenn auch nicht gerade ganz in Trümmern liegend. Die goldenen Dächer sind noch wohl erhalten.«

»Was, goldene Dächer?!«

»Si si, Señores. Wie alle die Beschreibungen lauten.«

Ich muss hierzu bemerken, dass die spanische Literatur über dieses sagenhafte Eldorado eine eigene Spezialität hat, schon zu einer ganzen Bibliothek angewachsen.

Freilich — so mussten doch auch wir annehmen — nur der Phantasie entsprungen. Wenn die Beschreibungen dieser Goldstadt so übereinstimmend sind, so kommt das einfach daher, weil einer vom anderen abgeschrieben hat.

»Sie waren in dieser Ruinenstadt?«

»No, Señor.«

»Nein?!«

»Ich konnte nicht hinab.«

»Ja, weshalb denn nicht?«

»Diese Stadt liegt in dem Goldtale.«

»Ja, wir denken, Sie waren in dem Tale!«

»Nein. Ich habe nur von oben hinabblicken können.

Kennen die Señores nicht die Beschreibung des Baptiste Salvatore, welche die genaueste und sachlichste über Eldorado ist?«

Nein, die kannte niemand von uns.

»Es ist ein Tal von anderthalb Kilometer Breite und vier Kilometer Länge, in welchem die Doristis, wie Salvatore die ausgestorbenen Einwohner getauft hat, hausten, in der sie ihre Stadt hatten. Oben auf dem Plateau trieben sie nur Ackerbau und Viehzucht. Das Tal ist rings von hohen Felswänden eingeschlossen, unersteigbar, wie ich selbst gesehen habe.

Die Doristen wussten einen geheimen Auf- respektive Abstieg, von dem aber die Überlieferung mit Plan, die ich besitze, nichts meldet, ich habe ihn auch nicht zufällig gefunden. Vielleicht gelingt das uns. Ich musste mich mit dem Anblick der Goldblöcke und der Ruinenstadt mit ihren goldenen Dächern und Pfeilern von oben begnügen.«

Wir wurden von immer größerer Spannung befallen. Irgend etwas Wahres musste doch unbedingt daran sein! Dieser Mann wollte uns doch direkt hinführen!

»Wie sollen denn wir da hinabgelangen?«

»Nun, einfach durch Seile. Eine Stelle habe ich gemessen, die Tiefe betrug 42 Meter.«

»Sie hatten kein Seil mit?«

»Nicht solch ein langes.«

»Wie haben Sie denn da diese Tiefe gemessen?«

»Durch zusammengeknüpfte Schlingpflanzen.«

»Da konnten Sie sich doch auch auf solchen ein Seil herstellen, um sich daran hinabzulassen.«

»In eine Tiefe von 42 Meter, Señores?«

Der Mann hatte recht. Das ist leichter in der Phantasie ausgeführt als in der Wirklichkeit. Für uns würde es eine Kleinigkeit sein, aber ein einzelner Mann würde sich doch verdammt hüten, sich an einem aus Schlingpflanzen gedrehten Seil in die zweifache Tiefe eines vierstöckigen Hauses hinabzulassen, wo er dann doch auch wieder heraufklettern muss! Ei, da soll man einmal klettern!

»Wie groß ist das Plateau?«, wurde weiter gefragt.

»Baptiste Salvatore hat es gemessen, hat es fast kreisrund gefunden mit einem Durchmesser von etwa drei Meilen.«

»Seemeilen?«

»No, Señor, Landmeilen.«

»Sie meinen geografische Meilen?«

»Si si, Señor.«

»Wie sieht es dort oben aus?«

»Zum Teil Urwald, herrliche Grascampos, dann aber auch viele Felsformationen, auf denen zahlreiche Ziegenherden klettern.«

»Ziegen?!«

»Si si, Señor. Und auf den Grasflächen tummeln sich unübersehbare Pferdeherden.«

»Was, Pferde?!«, wurde in immer größerem Staunen gerufen.

»Si si, Señores. Baptiste Salvatore, der Eldorado im 16. Jahrhundert besuchte und beschrieb, es dann aber nicht wiedergefunden hat, auch auf seiner zweiten Reise gestorben ist, erzählt von diesen Pferdeherden, er nimmt nach Funden von angebrannten Pferdeknochen an, dass die Doristen diese hauptsächlich deshalb züchteten, um ihr Fleisch zu essen, und auch ich habe diese ungeheuren Pferdeherden gesehen.«

Ja, wir mussten es wohl glauben — vorläufig auf Hörensagen hin. Dieser Mann konnte uns doch nicht so Ungeheuerliches vorflunkern!

»Schöne Pferde?«, fragte Juba Riata aufmerksam.

»Herrliche Rosse, Señor, wie sie edler und feuriger nicht auf den Gefilden Andalusiens weiden. Nicht zu vergleichen mit den sonstigen amerikanischen Mustangs, die alle so dicke Fesseln haben.«

»Ja, meine Herren — Frau Patronin — wollen wir da nicht hin?«, fragte jetzt auch Juba Riata, dem es gleich die Pferde angetan hatten.

Denn seiner Reitlust konnte er freilich nicht an Bord frönen. Pferde hatten wir nicht, das wäre doch etwas schwer zu machen gewesen. Diese langbeinigen Tiere leiden auf dem stampfenden und schlingernden Schiffe schrecklich.

»Ja, Waffenmeister, wollen wir?«, fragte mich die Patronin.

»Na, gewiss doch, dann mal los! In zwei Wochen müssten wir die Sandbank doch sowieso verlassen, oder da ist sie vielmehr verschwunden, da kommt es auf diese zwei Wochen nun auch nicht mehr an.«

Bis zum Abend war alles an Bord gepackt. Viel war es ja auch nicht. Den Hauptbestandteil bildeten die Bretter der Radfahrbahn.

Dann waren wir fertig zum Abdampfen. Aber unser Prospektador wollte den Morgen abwarten, es war eine finstere Nacht, auch das Licht des elektrischen Scheinwerfers hielt er für ungenügend, um ganz sicher den Weg auf den Wasserstraßen durch den Urwald zu finden.

Also am nächsten Morgen um sechs Uhr, sobald sich die Sonne über den Horizont erhob, für uns noch gar nicht sichtbar, dampften wir los, mit halber Kraft.

Unsere Erregung lässt sich denken.

Gold bleibt Gold. Es hat von jeher die Erde beherrscht und wird es wohl auch immer tun.

Der lotsende Spanier machte uns immer auf besondere Inseln und leicht erkennbare Bäume aufmerksam, wonach auch eine Karte entworfen wurde, sodass wir später den Weg auch allein finden konnten. Am späten Nachmittage tauchte im Norden über dem Urwald ein Gebirge auf, das Tumuchumac-Gebirge, welches die Grenze zwischen Brasilien und Französisch-Guayana bildet. Aber nur eine geografische, keine politische. Diese Grenze ist noch nicht festgelegt, noch immer beansprucht sowohl Brasilien wie Frankreich dieses Gebirge für sich, ohne dass es deswegen zu Streitigkeiten gekommen ist.

Guayana ist nämlich für Frankreich ganz wertlos, diese Kolonie kostet den Franzosen jährlich nur ungeheures Geld.

Mit Guayana beweist Frankreich seine totale Unfähigkeit für jede energische Kolonisation.

Diese französische Kolonie, 80 000 Quadratkilometer, ist nicht minder fruchtbar, wahrscheinlich noch viel fruchtbarer als das benachbarte Niederländische und Britische Guayana, hat mit seinen vielen Gebirgszügen ein ganz gesundes Klima. In Fiebersümpfe darf man sich natürlich nicht setzen.

Die Engländer führten aus ihrem Guayana im Jahre 1900 Landeserzeugnisse, hauptsächlich Tabak, Kaffee und Kakao im Werte von zehn Millionen Mark aus. Die Holländer im gleichen Jahre für sechs Millionen. Die Franzosen mussten in demselben Jahre, wie es noch heute ist, alle diese Waren sogar noch einführen, sogar Kakao, obgleich der dort wild wächst!

Unter internationalen Jesuiten entwickelte sich dieses jetzige Französisch-Guayana einst wunderschön. Ich bin doch nicht etwa ein Freund der Jesuiten, aber das muss man diesen Jesuitenpatern lassen, dass sie die Eingeborenen zur Kultur des Landes anzuhalten verstanden, dass sie Verkehrswege anlegten, dass sie das ganze Land immer höher brachten. Zucker, Reis, Mais, Kaffee und Kakao wurden massenhaft erzeugt und ausgeführt.

Da übernahm die französische Regierung die Verwaltung, die Jesuiten wurden enteignet, vertrieben und die Franzosen haben die Kolonie total verlottern lassen. Alle die Verkehrsstraßen sind wieder mit der Wildnis verschmolzen, jetzt ist das Innere dieses Landes wieder genau so unbekannt wie vor 400 Jahren, es treiben sich darin einige tausend Indianer und Buschneger, die Nachkommen von entlaufenen Sklaven herum, in Sachen der französischen »Zivilisation« hört man nur von der Teufelsinsel und anderen Deportationsorten — Cayenne, Ile Royale, Kourou, Maroni etc. — in denen gegenwärtig 6000 Sträflinge schmachten, meist politische »Verbrecher«. Das ist alles, was die Franzosen aus diesem herrlichen Lande zu machen gewusst haben.

An diesem Tage konnten wir das Gebirge nicht mehr erreichen. Am anderen Morgen hatten wir noch drei Stunden zu fahren, die Gegend wurde immer hügeliger, immer höher reckte sich das Gebirge empor, bis die glatte Felswand jäh aus Wasser und Urwald emporstieg.

»Wir sind am Ziel, hier ist der Aufstieg«, sagte der Spanier eine Viertelstunde später.

Wie, hier sollte ein Aufstieg sein?

Wenigstens 300 Meter hoch stieg die rötliche Porphyrwand glatt wie eine Mauer empor, kein Grashälmchen konnte Fuß fassen, keine Schlingpflanze fand einen Halt.

Wenn der Aufstieg freilich so leicht erkennbar gewesen wäre, dann hätte er doch auch kein solches Geheimnis sein und bleiben können, wie unser Prospektador auf Fragen immer wieder versicherte, ohne eine nähere Erklärung zu geben.

Nur ganz unten nahe dem Wasser zog sich an der Felswand noch ein breiterer Grat hin, auf dem sich Humus gebildet hatte, auf dem daher auch tropische Vegetation wucherte, auch riesige Wollbäume standen, sich auf der einen Seite mit den Zweigen gegen die Felswand quetschend, nach der anderen Seite die mächtigen Äste desto weiter über das Wasser reckend.

An zwei solchen Urwaldriesen wurde, wie der Spanier anordnete, unser Schiff festgemacht, also auch dieser Felsgrat fiel noch steil ins Wasser hinab, wir loteten noch immer eine Tiefe von einigen zwanzig Metern, und ich will nur sagen, dass unsere Masten 30 Meter hoch waren und dass ihre Topen doch immer noch nicht die untersten Äste der Wollbäume berührten, und dabei standen diese hier doch nicht etwa auf besonders gutem Boden, die Humusschicht war nicht allzu dick! Diese Wollbäume sind eben Riesen, die man gesehen haben muss, um sich von ihnen eine Vorstellung machen zu können.

»Nun teilen Sie die Leute ab, die Sie mitnehmen wollen.«

»Es können beliebig viele sein?«

»Möglichst viele, das Gold muss doch herunter transportiert werden, wenn wir es auch meist rutschen lassen können. Vorher ist es aber doch noch eine ziemliche Strecke zu tragen.«

Es herunter rutschen lassen? Nun, wir würden ja sehen. Der Spanier hatte ganz recht, wenn er nicht viel Erklärungen gab, da wir ja gleich alles mit eigenen Augen schauen sollten.

Ich wählte die Roten, welcher Farbe ja auch ich angehörte. Mehr als die Hälfte der Mannschaft wollte ich lieber nicht mitnehmen, wenn der Spanier auch versicherte, in den vielen Jahren, seitdem er sich hier herumtrieb, niemals einen Indianer erblickt zu haben.

Die Kinder blieben sämtlich zurück, die kamen dann auch schon einmal daran, wenn es dort oben wirklich so interessant war.

Juba Riata gehörte überhaupt zu den Roten, und bei solchen Hauptpersonen war es ja auch etwas ganz anderes, von den Grünen kamen auch noch Kabat und Doktor Isidor mit, natürlich die Patronin, auch Klothilde schloss sich der Expedition an, da die kleine Ilse ja unter genügendem Schutze stand.

Zuerst wurde das zweite Frühstück eingenommen. Ohne Essen fährt die Seele aus dem Körper. Dann beluden wir uns mit dem, wie der Prospektador anordnete, hauptsächlich mit Seilen, und da mehrere Laternen nötig sein sollten, nahm gleich jeder eine mit, dazu genügend Petroleum.

»Auch Stangen, Balken, Bretter?«, fragte ich.

»Nein, die sind nicht nötig, um uns in das Tal hinabzulassen, dicht am Rande stehen Bäume, die genügen zur Befestigung der Seile. Aber noch einige Rollen, Äxte und Sägen. Balken schon deshalb nicht, weil zum Transportieren derselben erst ein Weg geschaffen werden müsste. Ich bitte nämlich, wenn wir jetzt durch das Unterholz kriechen, möglichst wenige Spuren zu hinterlassen. Wir wollen diesen Aufstieg doch lieber als unser Geheimnis hüten.«

Wir brachen auf, einer hinter dem anderen, der Spanier als Führer an der Spitze, mit schon brennenden Lampen. Auch einige Hunde begleiteten uns, falls eine schnelle Botschaft nach dem Schiffe zu schicken war.

So krochen wir Mann hinter Mann durch das Unterholz, durch die Büsche, die hier glücklicherweise keine Stacheln hatten, kamen in eine Felsspalte, die sich aber nicht nach oben, fortsetzte, also in eine Höhle.

»Dies ist ein unterirdischer Flusslauf!«, erklärte der Spanier mir, der ich der nächste hinter ihm war, aber auch die anderen Hauptpersonen konnten es noch hören. »Hier ist einst das Wasser eines Flusses herausgekommen, der früher das Plateau durchströmte und plötzlich im Boden verschwand. Es lässt sich oben noch an dem ausgetrockneten Flussbett erkennen. Aber auch zur Regenzeit fließt jetzt kein Tropfen Wasser mehr hier herab, es hat sich mit der Zeit einen anderen Weg gewählt, ergießt sich oben in einen großen See, der nur nach Norden einen Abfluss hat, am Rande des Plateaus einen mächtigen Wasserfall bildend.«

In schnurgerader Richtung stieg der Tunnel empor, in einem Winkel von etwa 30 Grad, nur deshalb leicht zu ersteigen, weil der Boden ziemlich rau war, breit genug, dass mehrere Männer nebeneinander gehen konnten, und auch unser Bandlwurm hätte überall aufrecht stehen können.

Sonst war hier nichts Bemerkenswertes zu sehen, von Gold keine Spur.

Nach einer halben Stunde schimmerte uns ein schwaches Dämmerlicht entgegen, wir kamen in eine große Höhle mit ebenem Boden, grüne Zweige verdeckten den Ausgang.

Wir drangen durch, ohne noch darauf zu achten, keine Spuren zu hinterlassen, hieben uns mit Messern Bahn.

Zuerst kam eine breite Rinne, das ehemalige Flussbett, jetzt mit Buschwerk angefüllt, wir arbeiteten uns durch und hinauf und...

Ein herrlicher Anblick bot sich uns dar!


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So weit das Auge reichte, schweifte es über wellenförmige Grasflächen, aber nicht zu vergleichen mit den um diese Zeit sonnenverbrannten Llanos oder Campos dort unten, sondern das hier oben waren richtige Prärien im herrlichsten Blumenschmuck, wie sie sonst nur die Mississippigegenden aufzuweisen haben, und das jetzt in der trockensten Jahreszeit!

»Das macht die Höhenlage«, erklärte der Prospektador unaufgefordert auf unser freudiges Staunen, »jede Nacht fällt hier reichlich Tau, sodass gar kein Tropfen Regen nötig wäre.«

Aber es war keine einförmige Prärie, hier und da standen Baumgruppen, die dort hinten einen ganzen Wald bildeten, einen Urwald, jedoch ohne Unterholz, parkähnlich, und ferner fehlte es auch nicht an pittoresken Felsgruppen.

Gerade hinter uns befand sich eine solche, wir waren ja aus einer großen Höhle getreten, und, gerade sprang vor uns eine Ziege auf, die an den Knospen genagt hatte, sprang mit mächtigen Sätzen die Felsen hinauf, und plötzlich zeigten sich dort überall solche Ziegen.

Waren das nicht unsere gewöhnlichen Ziegen und Ziegenböcke? Fast mochten wir es glauben. Allerdings sehr, sehr stattliche Tiere!

»Endlich Ziegenböcke, da fangen wir ein paar, die reite ich zu!«, jubelte Frau Rosamunde Wenzel-Attila auf, die uns natürlich nebst Herrn Gemahl begleitet hatte. Denn wenn man solch eine Reise tut, da will man doch auch etwas sehen.

Wir hatten uns in Menado vergebens nach Ziegen umgesehen, auf dass uns die Zwergin ihre Dressur und Reitkunst auf diesen Tieren einmal zeigen könne, ebenso in Para, und anderswo waren wir ja, seitdem wir die Schiffbrüchigen gerettet, noch nicht gewesen.

»Und dort Pferde!«, setzte Juba Riata mit leuchtenden Augen hinzu, schon nach dem Lasso greifend.

Es waren prächtige, langbemähnte und langbeschweifte Tiere, einige Dutzend, die hinter solch einem Wäldchen, aber aus Urwaldriesen gebildet, hervorgaloppierten und hinter einer Felsengruppe wieder verschwanden.

»Pferde, aaah, Pferde!«, ließ sich auch Mister Tabak freudestrahlend vernehmen, aber bekanntlich aus einem ganz anderen Grunde — er leckte sich dabei schnalzend die Lippen. »Gehen wir auf die Pferdejagd!«

»Na, erst wollen wir einmal auf die Goldjagd gehen!«, meinte ich.

Wir setzten uns in Marschreihe, verfolgten einige Zeit einen klaren Bach, in dem Forellen sprangen, sahen immer ab und zu eine Pferde- und Ziegenherde, wozu aber auch noch Mufflons kamen, die schon mehr zu den Schafen gehören.

»Gibt es sonst noch andere Tiere hier oben?«, fragte ich den Spanier.

»Vögel.«

Die sah ich selbst. Für diese beschwingten Bewohner der Lüfte bietet ja so eine steile Felswand kein Hindernis.

»Säugetiere, meine ich.«

»Ich habe noch keine anderen gesehen als Pferde und Ziegen und solche behörnte Schafe.«

»Schlangen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie lange haben Sie sich hier oben aufgehalten?«

»Zwei Tage.«

»Da waren Sie zum ersten Male hier?«

»Si si, Señor.«

»Und haben uns dann gleich aufgesucht?«

»Si si, Señor.«

»Weil Sie erwarteten, dass wir in diesem Jahre wieder nach jener Sandbank kommen würden.«

»Si si, Señor.«

»Nun sagen Sie bloß mal, Señor Estrada, weshalb wollen Sie uns alle denn durchaus zu Millionären oder gar zu Milliardären machen?«

»Mi sabe.«

»Weil Sie denken, dass bei uns dieses Gold am besten aufgehoben ist, dass wir mit den Reichtümern den besten Gebrauch machen?«

»Si si, Señor, Sie sagen es.«

»Und Sie sollen sich da in uns nicht getäuscht haben.«

»Wie sind denn nun«, ließ sich da dies Patronin hinter mir vernehmen, »diese Pferde und alle die sonstigen Tiere hier heraufgekommen, wenn dieses ganze Plateau von unersteigbarem Felswänden eingefasst ist?«

Da stellte Helene eine Frage, welche kein Darwin und kein Haeckel und kein anderer Mensch beantworten kann und jemals beantworten wird.

Deshalb aber, um solch eine Frage zu stellen, braucht man nicht nach Brasilien zu gehen, in das Tumuo-Humao-Gebirge.

In unseren Alpen liegt ein einsamer Gebirgssee in einer Höhe von mehreren tausend Metern.

Es sind Fische darin. Wohl mag der See einige Spezialitäten haben, aber die meisten Fischarten sind doch genau dieselben wie dort unten in den Gewässern des Tales.

Wie sind denn diese Fische da hinauf gekommen?

Na, wer kann diese Frage beantworten?

Nein, die Schöpfung lässt sich nicht hinter die Kulissen blicken! Da ist jede Grübelei und Spekulation ganz zwecklos!

Die Gelehrten spekulieren und spekulieren und... spekulieren immer daneben!

»Wie weit ist es noch bis zu dem Goldtale?«

»Hier sind wir schon.«

Eine Hügelkette, mit einigen Bäumen bestanden, hatte uns die Aussicht verdeckt.

Wie wir oben standen, da... konnten wir nur verblüfft stehen bleiben! Steil ging es plötzlich in die Tiefe hinab, dicht vor unseren Füßen lag ein weites Tal.

Und, o Wunder, was wir da erblickten!

Der Spanier hatte es uns ja geschildert, aber das musste man selbst sehen, um es glauben zu können.

Allüberall ließ es die hochgekommene Sonne gleißend aufleuchten, allüberall, wohin man auch blickte, lagen Goldblöcke, darunter solche von riesenhaften Dimensionen, und in der Mitte des Tales eine große Stadt, gar keinen so ruinenhaften Eindruck machend, und dort leuchtete erst recht alles von rotem Golde, besonders die Dächer, aber auch Säulen, ganze Mauern — alles von Gold.

Eldorado! Die goldene Stadt!

Also es war doch kein leerer Wahn!

Es war ein Sand, in dem das Gold so häufig vorkam, dass es seine Bewohner wie gewöhnliches Material zum Bauen benutzt hatten.

Großen Wert konnte da dieses Gold freilich hier nicht gehabt haben.

Aber für uns hatte es jetzt den gegenwärtigen Wert, das Pfund rund tausend Mark, wir mussten unseren Fund nur als Geheimnis zu wahren wissen.

Denn wenn solch eine Unmenge Gold auf den Markt geschleudert wurde, das konnte doch vielleicht eine bedeutende Entwertung herbeiführen. So wie es zur Zeit der Entdeckung Amerikas geschah, besonders dann durch Pizarro und Cortez. Da stiegen natürlich zumal in Spanien, wo aus Amerika ein Goldschiff nach dem anderen ankam, die Preise für alle Lebensmittel, überhaupt für alles, was man kaufen kann, ins Ungemessene und das ist gleichbedeutend mit einer Entwertung des Goldes.

Man darf wohl glauben, dass wir alle zusammen ganz fassungslos waren.

Gold ist eben Gold, es verfehlt wohl bei keinem Menschen, der nicht blödsinnig ist, seine magische Wirkung.

Nur bei einem von uns galt das nicht. Der war durchaus nicht blödsinnig, aber... er wurde von etwas anderem geplagt.

»Dort sind wieder Pferde«, sagte Mister Tabak, nicht ins Tal, sondern in die Ferne spähend, »die scheinen wirklich sehr schön durchwachsen zu sein. Ich will doch einmal eins totschmeißen. Es ist ja auch bald Mittag.«

Lachen tat ich darüber nicht, aber es gab mir doch die Fassung wieder.

»Ja, Kinders, da wollen wir uns mal hinablassen und den goldenen Mammon herausholen. Na, das wird ja eine Heidenarbeit geben!«

Mit diesen Worten trat ich dicht an den Rand, an dem die Grasnarbe wie abgestochen war. Aber da ebenso dicht am Rande ein mächtiger Baum wurzelte, würde der Boden auch mich tragen, eine Gefahr des Abbröckelns war ausgeschlossen, wir durften diesem Grenzboden noch ganz andere Lasten anvertrauen, hier und wohl überall.

So blickte ich in die Tiefe hinab. Schwindel kennt ja unsereins nicht. Sonst hätte ich mich ja auch an einen Ast festhalten können, aber es war gar nicht nötig.

Ja, ganz senkrecht ging die hier weißgraue Felswand hinab. Aber doch nicht so ganz glatt. Da war zum Beispiel in einer Tiefe von ungefähr sechs Metern erst ein meterbreiter Absatz, der nach beiden Seiten immer schmäler wurde, bis er sich ganz verlief, und auch auf diesem Grad lagen zwei Goldklumpen, einer so groß wie eine mittlere Kegelkugel, aber mehr vierkantig, also mehr ein Würfel, und der andere so groß wie — wie — wie...

»Du, Jochen, die goldene Kommode dort unten, die schenke ich Dir!«, sagte Hein.

Ja, so groß wie eine Kommode. Der mächtige Goldblock hatte auch nämlich ungefähr so eine Form, oben mit einem Aufsatz drauf. Es gibt ja nun freilich sehr große Kommoden, es gibt auch sehr kleine Kinderkommoden — das hier war eine von mittlerer Güte. Betrug ihr Inhalt »nur« einen Kubikmeter, so wog sie, da Gold das spezifische Gewicht 20 hat, das heißt zwanzigmal schwerer als ein gleiches Volumen Wasser ist, 400 Zentner, hatte also, wenn es durch und durch gediegenes Gold war, woran wir gar nicht zweifelten, einen Wert von rund vierzig Millionen Mark.

So hatte nämlich Doktor Isidor mit lauter Stimme vorgerechnet.

»Träume ich denn wirklich nicht nur?!«, flüsterte die Patronin, wie ich in die Tiefe blickend, aber mit ganz entgeisterten Augen.

»Nee, nee, Doktor, Sie haben ganz recht«, sagte ich, »Ihre Rechnung stimmt — für diese Kommode können Sie sich vier Millionen Flaschen echten Kognak kaufen.«

»Was hat sich denn der Doktor für das Ding Kognak zu kaufen, die goldene Kommode hat mir doch schon Hein geschenkt?«, meinte Jochen.

Man sieht — bei uns konnte kein Goldfieber ausbrechen — der Matrosenwitz war stärker, der ließ sich durch nichts zurückhalten.

»Gut, Jochen, Du sollst sie haben«, sagte ich jetzt, »aber Du musst sie Dir natürlich auch selber heraufholen. Das heißt — die Kommode lass einstweilen liegen — bringe erst einmal den Würfel herauf. Mit dem knobeln wir dann das andere Gold aus.«

Also an einem geeigneten Ast, der sich über den Abgrund reckte und an dem ich mich erst einmal ein bisschen schaukelte, wurde ein Block mit Rolle befestigt — ein Stängewant- oder Puppblock, will ich für einen Sachverständigen einmal ganz sachlich sein, denn es gibt sieben verschiedene Arten von Blöcken — ein Seil durchgeschoren, an diesem wurde Jochen hübsch unter den Armen aufgehängt und so hinabgelassen.

Wenn ich den etwas abgerundeten Würfel auf 15 Zentimeter Durchmesser berechnete, so ergab das rund 3400 Kubikzentimeter, mal 20 ist 68 000, also wog er ungefähr 68 Kilogramm.

Na, diese Last hatte für den stämmigen Jochen nicht viel zu bedeuten.

Aber so rechnen muss man erst, wenn man so etwas vor sich hat, solch einen Goldklumpen aus der Tiefe heraufbefördern will!

Da kann man sich nämlich verflucht irren!

Besonders in Jugendschriften wird da manchmal Großes geleistet.

Da nimmt jemand einen Goldklumpen so groß wie ein Bierfäßchen auf die Schulter und rückt damit ab.

Das gibt's nicht!

Gold ist fast dreimal so schwer wie Eisen.

Also Jochen schwebte hinab.

Ich stand an dem Baume, mich an einem Aste festhaltend, etwas vorgebeugt, kommandierte — fast alle anderen, so weit sie nicht die Taille zu bedienen, das heißt das Seil zu dirigieren hatten, lagen platt am Boden neben dem Rande und beobachteten auf diese Weise ungefährdet den ganzen Vorgang.

Jochen ist unten angelangt, hat noch einen Schritt zu machen, bückt sich, bringt beide Hände unter den kleinen Goldblock, hebt ihn...

»Ooooohhh!«, brüllt er da furchtbar auf und fällt platt auf den Boden hin, über den Goldwürfel weg, den er eben erst geliftet hat, nur wenige Zoll, wie mir schien.

»Was ist denn los, Jochen?!«, schreie ich hinab.

»Ooooohhh — — ich habe mir Schaden getan, ich habe mir einen Bruch gehoben!«, winselt der dort unten, auf dem Gesicht liegend.


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Ach, was der Matrose schrie und winselte
und heulte, wie er wieder in der Luft hing!


»Hol auf!«

Er wurde hochgezogen.

Und Jochen war ein ganzer Kerl, der hätte nicht geschrien, mit keiner Wimper gezückt, wenn man ihm etwa ein Bein amputiert hätte, ohne Narkose.

Aber er musste Schmerzen haben, die jeder Beschreibung spotteten.

Ja freilich, wenn man sich durch zu schweres Heben einen innerlichen Schaden getan hat, wenn ein Gewebe oder sonst etwas zerrissen ist, dann muss es wohl die denkbar ungünstigste Situation sein, wenn man so in der

Der Matrose schrie und winselte vor Schmerz, während seine Kameraden ihn an der Leine wieder hochzogen.

Schwebe hängt und hochgezogen wird, wenn man die ganze Last des Körpers mit den Armen oder unter den Schultern zu tragen hat.

Doch was half's? Herauf musste er, so oder so. Er wurde, wie er auch winselte und heulte, hochgezogen und eingeschwungen. Es hatte ja auch kaum eine halbe Minute gedauert.

Dann lag er am Boden, auf dem Rücken, nach wie vor heulend und wimmernd, schien sich vor Schmerzen krümmen zu wollen, wagte es aber nicht, konnte nicht.

»Mein Rückgrat — oooohhh — ich habe das Rückgrat gebrochen — macht mich tot, ich halte es nicht mehr aus, macht mich tot — oooohhh...«

Es war einfach haarsträubend, wie sich der Mann gebärdete.

Aber dieser stämmige Kerl sollte sich beim Heben von vielleicht 130 Pfund Schaden getan, sich einen Bruch gehoben oder gar das Rückgrat gebrochen haben?

Ach, Unsinn! Was müssen wir manchmal heben, so aus der Kniebeuge heraus!

»Der wird einen Hexenschuss bekommen haben!«, sagte ich gleich, oder vielmehr erst jetzt diesen Gedanken erfassend.

»Ja, das glaube ich auch, es wird ein Hexenschuss sein!«, bestätigte Doktor Isidor sofort, wenn er auch gleich an eine Untersuchung nach einem Unterleibsbruch ging.

Ein Hexenschuss!

Was ist denn das eigentlich, ein Hexenschuss?

Ich weiß es nicht.

Und kein anderer Mensch weiß es, und wenn er auch die sämtliche Medizin der ganzen Erde mit Löffeln gefressen und einige hundert Menschen anatomisch in lauter Atome zerschnipselt hat!

Ich gewissenhafter Mann schlage im allerneuesten Konversationslexikon nach — das heißt jetzt, am Schreibtisch im Schlafrock mit Pantinen, ich hatte damals doch nicht die siebzehn Riesenbände einstecken — und lese:


Hexenschuss (Lumbago), ein heftiger, meist ganz plötzlich auftretender und alle Bewegungen, insbesondere Drehungen und Beugungen des Rückens in hohem Grade erschwerender Kreuz- und Lendenschmerz welcher entweder auf einem einfachen Rheumatismus der Lendenmuskeln oder auf der Zerreißung einzelner Muskelfasern der Rückenstrecker infolge einer allzu hastigen und kräftigen Bewegung beruht. In der Regel verschwindet das Leiden bei einem geeigneten diätischen Verfahren (Ruhe, Bettwärme, Schwitzen) nach einigen Tagen von selbst; bei heftigeren Schmerzen bringen kräftige Hautreize, wie Spanischfliegenpflaster, Schröpfköpfe, der elektrische Pinsel, die heiße Dampfdusche, die Anwendung der Massage und dergleichen oft überraschend schnelle und anhaltende Erleichterung. Der Namen hängt mit dem Hexenglauben zusammen.


So, nun wissen wir es, was ein Hexenschuss ist.

Also entweder Rheumatismus der Lendenmuskeln oder eine Zerreißung einzelner Rückenmuskeln.

Mich deucht aber, zwischen Rheumatismus und Muskelzerreißung ist ein Unterschied wie zwischen Zahnschmerz und der Trichinose.

Und was soll denn überhaupt bei einer Zerreißung von Rückenmuskeln Fliedertee helfen, damit man schwitzt?

Nein, meiner Ansicht nach ist es ein akuter Rheumatismus der Rücken- und Lendenmuskeln, wobei auch Brustmuskeln in Mitleidenschaft gezogen werden können.

Die Urplötzlichkeit, mit welcher dieser Schmerz, also dieser Rheumatismus auftritt, hat dabei nichts zu sagen.

Denn was ist denn nun überhaupt wieder Rheumatismus?

Niemand weiß es.

Es tut sehr weh, das weiß jeder, der den Rheumatismus schon einmal gehabt hat.

Und dann weiß er auch — wenigstens wenn er sich selbst scharf beobachtet hat — wie urplötzlich jeder Rheumatismus sich bemerkbar macht oder doch sich bemerkbar machen kann.

Man macht irgend eine kleine Bewegung mit dem Arm, greift nach einem Glase, denkt gar nicht an Rheumatismus — schrumm, plötzlich ein heftiger Stich in der Schulter — man hat im Arm den schönsten Rheumatismus, der lange, lange Zeit anhalten kann. Ganz nach und nach verschwindet er, aber mit den heftigsten Schmerzen angemeldet hat er sich in einem einzigen Moment.

So wird es wohl auch mit dem Rheumatismus der Rückenstreckmuskeln sein, die mit den Muskeln der Lenden und auch der Brust verbunden sind. Vorbereitet hat sich die Krankheit schon längst, die Muskeln warten nur noch auf eine passende Gelegenheit, auf eine besondere Drehung, um ihr Kranksein definitiv anzumelden.

Ich konnte davon erzählen, ich hatte auch einmal einen Hexenschuss abbekommen, nur einen einzigen, aber auch einen vom besten Kaliber.

Es war schon viele Jahre her, in Acapulco, ich schlenkere meine Spazierhölzer in einem Tanzsaal, habe da so eine niedliche kleine Mexikanerin, nehme das Mädel einmal bei den Hüften und schwinge es hoch... pflauz, da fällt mein Georg plötzlich so lang wie er ist, auf die Nase, bleibt so liegen, wimmernd und stöhnend.

»Georg, mit Dir ist's vorbei — Du hast Dir einen Schaden gehoben — hast Dir die Rückenmarkssäule zerknaxt und Dir außerdem noch die ganze Lunge umgekrempelt — nun ade Du schöne Welt!«

Dabei hatte ich aber doch noch andere Gedanken, zweifelnde.

Deibel noch einmal, Du und Dir einen Bruch oder so was heben?! Bei diesem kleinen Mädel, das vielleicht noch keine achtzig Pfund wiegt, brutto?!

Na, kurz und gut — ich wurde der Länge nach an eine Stange gebunden und so von meinen Kameraden an Bord getragen. Das sagt wohl am besten, wie es mit mir bestellt war. Ich konnte nicht stehen und nicht sitzen und nicht liegen. Wenn ich nur den kleinen Finger krumm machte, fühlte ich in der Wirbelsäule, dass ich laut aufschrie, und als ich einmal niesen musste, glaubte ich, meine Lungen müssten zerplatzen. Denn auch so furchtbare Lungenschmerzen hatte ich bei jeder Bewegung! Es waren aber nur die Brustmuskeln, die das Atmen besorgen.

Unser Kapitän wusste gleich, was es war, einfach ein Hexenschuss und der glaubte auch nicht an eine Muskelzerreißung. In die Koje gepackt und tüchtig geschwitzt, dass das Wasser nur so lief. Nach zwei Tagen war es vollkommen vorbei. Aber noch einmal durchmachen möchte ich diese zwei Tage nicht. Und noch lange hinterher getraute ich mir nichts zu heben. Oder ich dachte immer mit Grausen dabei: wenn's nur nicht wieder schießt! Auch dieser ängstliche Gedanke schwand, dann lachte ich darüber, spielte mit einer anderthalbzentrigen Holländerin beim Tanzen Fangeball, ohne an Hexenschießerei zu denken.

Jedenfalls also wusste ich jetzt, wie es dem armen Jochen zumute war.

»Was hat denn der Spanier da, ist denn der Kerl plötzlich übergeschnappt?!«, wurde da gerufen,

Wirklich, was sollte man davon denken?

Liegt unser Prospektador da plötzlich auf den Knien, hat eine Reihe Zwiebeln zwischen seinen Krallenfingern und benützt sie als Rosenkranz, murmelt Gebete und schiebt dabei die Zwiebeln hin und her.

Hierbei muss ich nachträglich etwas erwähnen. Die Spanier sind doch überhaupt ganz von religiösem Aberglauben durchseucht, solche spanische Goldsucher erst recht. Bei unserem Prospektador aber hatten wir hiervon niemals auch nur das Geringste bemerkt. Ebenso wenig etwas von einer Frömmigkeit. Noch nie hatten wir ihn beten oder sich bekreuzigen sehen. Dass er immer Hartbrot und Zwiebeln unter seinem Mantel bei sich führte, das wussten wir — aber dass er jetzt mit solch einer Reihe Zwiebeln den Rosenkranz betete, ganz öffentlich, dabei auf den Knien liegend, das war uns etwas ganz Neues.

Und wie der Kerl dabei aussah!

Wie eine vieltausendjährige Mumie, die wieder zum Leben erwacht ist, um nochmals zu sterben! Und wie die Augen angstvoll, mit allen Zeichen des Entsetzens angstvoll umherirrten!

Und jetzt fing er auf den Knien zu rutschen an, gerade auf mich los.

»Gnade, Señor — Erbarmen, Señor — Verzeihung, Señor — um aller Heiligen willen, gewähren Sie mir Absolution!«, winselte er.

»Ja, Mann, was ist denn nur los?!«, staunte ich, wie er auch noch meine Knie umklammerte.

»Ich habe Euch betrogen!«

»Uns betrogen? Wieso denn?!«

»Ich habe Euch etwas Furchtbares verschwiegen!«

»Was denn verschwiegen?«

»Den Fluch — den schrecklichen Fluch!«

»Was denn für einen Fluch?«

»Der auf diesem Tale, auf diesem Golde ruht!«

Endlich fing er an zu sprechen, erzählte.

Erzählte von dem alten Eldorado, wie die einstigen Bewohner hier wie im Paradiese gelebt hatten — wie ein christlicher Missionar gekommen war, ein heiliger Mann, natürlich ein Spanier, der ihnen das Evangelium gepredigt hatte — wie der von den Eldoristen verhöhnt und verlacht worden war — zuletzt hatten sie ihn auch gemartert — und da hatte der heilige Mann, ehe er seinen Geist aufgab, gerufen:

»Verflucht sei dieses Tal — verflucht bis in alle Ewigkeit sei Euer Gold — wer es anrührt, den soll der Spinodezza treffen und er soll daran elendiglich sterben...«

So hatte unser Prospektador winselnd erzählt.

»Es gibt böse Geister, welche den Menschen mit furchtbaren Schmerzen peinigen können...«

»Der Spinodezza?«, fragte ich. »Was ist denn das?«

»Spinodezza ist bei den Spaniern genau dasselbe, was bei uns der Hexenschuss!«, erklärte Doktor Isidor.

»Verzeiht mir, Señores — ich habe es gewusst und habe Euch nichts davon gesagt — aber ich habe es selbst nicht geglaubt — jetzt sehe ich es...«

»Ach, Quark!«, sagte ich. »Verschont uns mit Euren spanischen Faxen. Der Matrose ist einfach schon längst für Rückenrheumatismus disponiert gewesen, und zufällig in dem Augenblick, da er sich nach dem Goldklumpen bückte, ist die verhaltene Krankheit zum Ausbruch gekommen. Vorwärts, seilt mich an, ich selbst gehe hinunter.«

»Señor, ich beschwöre Euch...«

Ich ließ ihn weiter beschwören, ich glitt hinab. Kein einziger von uns schenkte solchem Aberwitz Glauben. Weiter hätte doch auch nichts gefehlt.

Ich habe den Sims erreicht, vor mir liegt der Goldwürfel. Ich bücke mich, habe ihn eben erst mit den Händen berührt — plötzlich geht es mir wie ein Blitz durchs das ganze Rückgrat, auch ich stütze hin, brülle und wimmere vor Schmerz.

Ich habe in meinem Leben den zweiten Hexenschuss bekommen!

Ich habe nicht an den auf diesem Golde ruhenden Fluch des heiligen Märtyrers gedacht, dazu war mein Schmerz zu groß; in meinem Inneren schien sich alles zu verdrehen — aber man kann sich wohl vorstellen, was die dort oben dachten, wie auch ich, sobald ich das Gold berühre, hinstürze und zu brüllen anfange!

Natürlich zieht man auch mich gleich wieder hoch.

O, Du heiliges Kanonenrohr, was ich in der halben Minute ausgestanden habe, wie man mich hochzog, wie ich so unter den Armen in der Schwebe hing, wie sich meine Wirbelsäule ausdehnte!

»Lasst mich los — lasst mich in die Tiefe stürzen! — das halte ich nicht mehr aus!«

So heulte auch ich.

Dann lag ich oben auf dem Rücken.


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Ich hätte mich gern vor Schmerzen gekrümmt, aber ich konnte nicht. Bei der kleinsten Bewegung wurde der Schmerz nur noch unerträglicher, der sich von der Wirbelsäule über den ganzen Körper verbreitete, bis in die Fingerspitzen hinein.

Na, diese Gesichter der Umstehenden! Das lässt sich ja wohl auch denken. Und ich habe sie trotz meiner furchtbaren Schmerzen auch wirklich gesehen. Wie die fassungslos auf mich herabblickten, mit welchen Augen!

»Georg, um Gottes willen, was ist das, was ist das?«, schrie Helene, neben mir kniend, die Hände ringend.

Doktor Isidor wollte mir behilflich sein, riss mir Jacke und Hemd auf.

»Rührt ihn nicht an, rührt ihn nicht an!«, schreit da der Spanier. »Auch wer den nur berührt, der schon einmal dieses verfluchte Gold angefasst hat, wird vom Spinodezza getroffen, so lautet der Fluch!«

»Ooooohhh!«, stöhnt da Doktor Isidor und fällt über mich hin.

»Ooooohhh, mein Rückgrat, mein Rückgrat!«, jammert da plötzlich Helene und wirft sich zu Boden.

»Uuuuuhhhh — aaauuuhhh — verflucht noch einmal — verflucht und zugenäht!«

So und ähnlich heult und winselt es plötzlich, allüberall, einer nach dem anderen stürzt hin oder legt sich hin, krümmt sich vor Schmerzen und erstarrt wieder, brüllt und wimmert und stöhnt.

Wie soll ich es schildern?

Wir waren 42 Personen.

Keine blieb verschont.

Ich sehe noch Juba Riata, wie er daliegt, auf dem Gesicht, ohne zu schreien und zu winseln, wie er aber dafür wie ein toller Hund wütend ins Gras beißt.

Ich sehe noch den Eskimo, wie er auf dem Rücken liegt, noch vielmehr höre ich ihn, was der für schauerliche Töne ausstößt, es klingt wie ein Gesang, es sind auch Worte, aber mir unverständliche — es ist ein Zaubergesang seiner Heimat, der die bösen Geister bannen soll.

Ich sehe noch Klothilde, wie sie sich dort brüllend am Boden wälzt.

Ob ich jetzt an einen Fluch glaubte, der über dieses Gold, über dieses Land ausgesprochen worden war, der an uns in Erfüllung ging, dass wir alle zusammen einen schrecklichen Hexenschuss bekommen hatten, oder so etwas ähnliches, ein »Spinodezza«, woran wir hier kläglich sterben sollten?

Ich weiß nicht, ob ich damals so etwas gedacht habe. Jedenfalls aber hatte ich etwas anderes zu denken. Diese Schmerzen, ach, diese furchtbaren Schmerzen in der Wirbelsäule, in den Lenden, im Brustkasten, die von hier aus wie Feuer durch den ganzen Körper gingen!

Da denkt man nur an Rettung, an Linderung und da allerdings musste ich an einen bestimmten Mann denken.

»Doktor — oooohhhh — Doktor — — was — was ist das!«, »Ich — oo-oohhhh — ich — ich weiß es nicht!«, winselte Doktor Isidor neben mir. »Weshalb aber — oooohhhh — weshalb aber — bleibt — ooohhhh — der Spanier davon verschont!«

Wahrhaftig!

Jetzt erst sah ich es!

Nicht alle waren von der rätselhaften Krankheit befallen worden! Nur einer nicht!

Dort auf den Knien lag noch der Spanier, drehte noch den Zwiebel-Rosenkranz zwischen den Krallenfingern und betete dazu!

Mochten seine Augen auch noch so entsetzt blieben — von den furchtbaren Schmerzen war er jedenfalls nicht befallen worden.

Ich fand keine Erklärung dieser Rätsels grübelte auch nicht weiter darüber nach.

»Chloe — ooohhhh, aaauuuh — Chloe!«, wimmerte ich. — Der Leser entsinnt sich. So hieß der Schäferhund oder eigentlich eine Hündin — jedenfalls unser bester Hund, der zuverlässigste Depeschenträger.

Ja, die Hunde, die wir mitgenommen, wie die sich betrugen! Zuerst hatten die geglaubt, wir wollten mit ihnen spielen, hatten sich über uns geworfen, sich mit uns balgen wollen.

Aber der Irrtum währte bei diesen klugen Tieren nicht lange.

Sie wurden unsicher, ganz kopfscheu — dann fingen sie auf eine schreckliche Weise zu heulen an.

Die konnten doch gar nicht wissen, nicht begreifen, was mit uns los war, weshalb wir uns so auf der Erde wälzten und brüllten und stöhnten.

Einer und der andere oder vielleicht auch alle wären schon noch davon gelaufen, nach unserem Schiffe, um ganz aus eigenem Antrieb Hilfe zu holen, dessen bin ich sicher.

Aber vorläufig waren sie noch ganz fassungslos, und es war gut, dass sie nicht schon alle davon gelaufen waren.

»Chloe — oooohhh — Chloe — komm her!«

Der Schäferhund kroch winselnd auf mich zu, als hätte er selbst solch furchtbare Rückenschmerzen, machte aber dazwischen doch manchmal einen merkwürdigen, wie mich aufmunternden Sprung, als sollte ich den nachmachen, und dann leckte er winselnd mein Gesicht.

Ach, diese Augen, die auch solche Hunde machen können!

Chloe, also der zuverlässigste Depeschenhund, hatte am Halsband gleich eine Kapsel hängen.

Kaum, dass ich sie öffnen, den Bleistift aus der Brusttasche ziehen und ein Blatt Papier von dem Notizblock abreißen konnte. Mit unsäglichen Schmerzen gelang es mir, konnte ich einige Worte schreiben.


Wir sind alle von rätselhafter Krankheit befallen worden, von Wirbelsäule ausgehend, sind ganz hilflos. Leute schicken. Stevenbrock.


So hatte ich gekritzelt, kaum leserlich.

Da, noch hatte ich das Papier nicht in die Kapsel gesteckt, erscholl in der Ferne Hundegebell.

Der zurückgebliebene Neufundländer Odin kam angesetzt, eine Kapsel am Halse.

Juba Riata richtete sich etwas auf, öffnete den Mund, wollte wohl rufen, konnte es nicht.

»Odin — hierher — zu mir!«, brachte ich mühsam hervor. Jedes gesprochene Wort ließ die Brust krampfhaft schmerzen.

Ich machte die Kapsel auf, nahm das Papier heraus. Kapitän Martins Handschrift, aber kaum zu erkennen!


An Bord rätselhafte Krankheit ausgebrochen, furchtbare Schmerzen im Rückgrat, auch Lenden und Brust, wie Hexenschuss! Aber alle ganz plötzlich! Nur alle Kinder und Siddy sind verschont geblieben. Kommt sofort zurück! Martin.


Ich starrte und starrte.

Doktor — hier lest!«

Er war fähig dazu, presste die Lippen zusammen. Dann stieß er einen Schrei aus, der ganz anders klang als die sonstigen Wehelaute.

»Der Spanier verschont? Siddy verschont? Die Kinder verschont? Ich hab's, ich hab's! Waffenmeister — oooohhhh — aaauuuh — haben Sie heute — zum Frühstück — den Kindern — von dem australischen Büchsenfleisch gegeben?«

»Nein, nein...!«, wimmerte ich.

Da zuckte Klothilde empor, als habe sie einen Gegenhexenschuss bekommen.

»Strychnin, Strychnin!«, schrie sie auf, sie, die sich auch in Australien viel herumgetrieben hatte, mitten im Busch.

»Ja, ja, bestätigte Doktor Isidor winselnd, »das australische Büchsenfleisch — enthält Strychnin — wir alle sind mit Strychnin vergiftet!«

Ja, da allerdings war die Erklärung sofort gegeben! Der Fluch des heiligen Märtyrers hatte eine ganz natürliche Lösung gefunden — freilich nicht eben eine uns beruhigende.

Strychnin ist ein furchtbares Pflanzengift. Diejenigen Pflanzen, welche es in den Blättern, Wurzeln und Früchten — meist Nüssen — sehr reichlich enthalten, kommen hauptsächlich in Australien vor. Man gewinnt das weiße, kristallinische Pulver leicht durch alkoholische Extraktion, aber auch auf andere Weise.

In ganz Australien wird dieses Strychnin, das sich also jeder so leicht selbst herstellen kann, dazu verwendet, um die Dingos, wilde Hunde, das einzige Raubtier Australiens, das unter den Schafherden mörderischen Schaden anrichtet, zu vergiften.

Ein Schaf wird geschlachtet — oder es gibt doch auch immer einmal ein gefallenes Tier — man reibt es innen tüchtig mit dem weißen Pulver ein, lässt es liegen.

In der Nacht kommen die Dingos, fressen von dem Fleische und sterben sehr bald. Am andern Morgen liegen Dutzende von Dingoleichen um den Rest des Schafes, alle mit krampfhaft aufgerissenem Rachen. Denn das Strychnin wirkt hauptsächlich auf das Rückenmark, erzeugt Starrkrampf, der schnell mit dem Tode endet. Doch davon später mehr.

Hat man nicht gleich ein gefallenes Schaf zur Hand, so nimmt man ein verendetes Rind.

Uns waren in Menado zehn Zentner australisches Cornedbeef angeboten worden. 50 Büchsen a 20 Pfund, wie solche auch die englische Marine bekommt, von einem Händler, der sie schnellstens los werden wollte, weil er eben Geld brauchte.

Zwei geöffnete Probedosen, nach Belieben ausgewählt, hatten das vorzüglichste Fleisch enthalten. Wir hatten die 50 Büchsen gekauft, sehr billig.

Die ersten beiden Dosen hatten uns nichts geschadet. Wir hatten unterdessen neun weitere Büchsen verzehrt — wir hatten nichts von einer Strychninvergiftung, nichts auch nur von den leisesten Rückenschmerzen gemerkt.

Es brauchte ja auch nur eine einzige Dose solches mit Strychnin durchsetztes Fleisch zu enthalten. Diese 50 Büchsen enthielten doch nicht nur das Fleisch eines einzigen Rindes. Oder, anders ausgedrückt, von dem mit Strychnin vergifteten Rinde brauchten wir doch nicht sämtliches Fleisch konserviert bekommen zu haben. Das ist doch alles Massenfabrikation. Wer weiß, in welche verschiedenen Erdteile diese giftigen Fleischdosen gegangen waren!

Jedenfalls aber war da eine Schweinerei vorgekommen. In der Konservenfabrik — die aber vielleicht mitten in der Wildnis stand — war jedenfalls ein nicht frisch geschlachtetes Rind verwendet worden, ein schon vorher totgewesenes Tier war eingekocht worden — freilich hatte wohl niemand gewusst, dass das Fleisch mit Strychnin vergiftet gewesen war.

Solch eine Dose hatten auch wir bekommen, hatten das Cornedbeef heute zum zweiten Frühstück gegessen. Aber nur die eigentliche Besatzung, die Exklusiven und die Kajütengäste. Für diese, ungefähr 80 Personen, langte solch eine Zwanzigpfunddose gerade so hübsch, da bekam jeder sein Viertelpfund zugeteilt, der Kapitän, die Offiziersmesse und die Patronatskajüte als Aufschnitt.

Die Kinder, die Blaugelben, hatten zum Frühstück etwas anderes bekommen. Die standen auch betreffs der Ernährung unter meiner speziellen Aufsicht. Und was brauchten die Cornedbeef zu haben. Einerseits ist es nur eine Leckerei, anderseits nur ausgekochtes Fleisch, die eigentliche Kraft ist doch schon heraus. Die hatten zum zweiten Frühstück ihre mit kondensierter Milch versüßte Hafergrütze bekommen, welche die Hauptspeise der alten Germanen bildete, welcher noch heute die Gebirgsschotten ihre sprichwörtlich gewordene Muskelkraft und ihren mächtigen Knochenbau verdanken, und dann hinterher hatten sich die 32 Bengels noch mit einem großen holländischen Käse amüsieren können.

Die hatten also kein Corned Beef gegessen.

Und der Spanier fristete sein Leben bekanntlich nur mit Brot und Zwiebeln.

Und der indische Siddy war ein strenggläubiger Buddhist, dem das Rindvieh heilig ist, der kein Rindfleisch aß.

Und wie nun Doktor Isidor das vernahm — die 32 Kinder verschont geblieben. Siddy und hier unser Prospektador — da kam er sofort auf den Trichter!

»Haben die Kinder heute zum Frühstück von dem australischen Büchsenfleisch bekommen?«

Und wie er diese Frage gestellt hatte, da ging auch sofort der Klothilde ein Licht auf, die sich eben schon genug in Australien herumgetrieben hatte.

»Strychnin!«

Denn so äußert sich die Strychninvergiftung.

In furchtbaren Rückenschmerzen.

Freilich nur, wenn man noch nicht so viel Strychnin geschluckt hat, dass man gleich daran stirbt, oder dass doch nicht sofort Starrkrampf eintritt, der regelmäßig mit dem Tode endet.

Wie das Strychnin eigentlich auf den Organismus wirkt, das wissen wir noch gar nicht. Es scheint, als ob zuerst das Rückenmark angegriffen, gelähmt wird, und diese Lähmung erstreckt sich schnell über den ganzen Körper. Sobald das vergiftete Tier den Rachen aufreißt, der Mensch den Mund, sobald der Krampf die Kinnbacken ergreift, dann ist es vorbei mit ihm.

Ich hatte von Strychnin schon genug gehört, aber doch nichts weiter, als dass es ein furchtbares Pflanzengift ist, welches durch Starrkrampf den Tod herbeiführt, wobei man zuletzt das Maul aufreißt.

Wir hatten mit Strychnin infiziertes Büchsenfleisch gegessen, ungefähr eine Stunde später machte sich die Wirkung urplötzlich bei allen ziemlich gleichzeitig bemerkbar, und ich fühlte bereits, wie ich die Maulsperre bekam — das heißt in meiner Einbildung! So ein eingebildeter Narr ist eben der Mensch.

Ob es ein Gegenmittel gibt, ob noch eine Rettung möglich war, ohne dass wir samt und sonders Zeit unseres Lebens mit aufgesperrtem Maule herumlaufen mussten, das brauchte ich nicht erst zu fragen, darüber äußerte sich unser Doktor Isidor gleich selbst.

Dieser krummbeinige Jude bewies überhaupt bei dieser Gelegenheit, dass er ein ganzer Kerl war, wenn er sich auch auf der Erde herumwälzte und stöhnte und quietschte.

»Wasser, Wasser!«, heulte er. »Nach dem Bach! Trinkt Wasser, bis Ihr platzt! Wenn wir keinen Starrkrampf bekommen, sind wir gerettet! Ohne schädliche Folgen! Aber Wasser, Wasser saufen! Das schafft das Gift wieder heraus! Und dann... Juba Riata, schickt den Hund an Bord! Sie alle sollen Wasser saufen, immer saufen, bis sie platzen! In meiner Apotheke links oben in vierter Reihe die sechste Büchse — Diuxetin steht dran! Aller halben Stunden einen... halt, ich schreibe es auf! Wir müssen...«

Er sagte, was wir mussten.

Es ist zu dumm, dass man so etwas nicht wiedergeben kann.

Hier wurde freilich kein Blatt vor den Mund genommen.

Wenn's brennt, springt sogar die Frau Bürgermeisterin im Hemd zum Fenster heraus, und bei uns brannte es ganz bedenklich.

Ich will es kürzer beenden, die vielleicht grausigste Szene meines Lebens — man muss sich die ganze Sache nur richtig vorstellen — will nicht mehr brüllen und stöhnen und wimmern und quietschen lassen.

Wir schleppten und rollten uns nach dem Bache, der zum Glück nicht weit entfernt war. Im langsamen Gehen nur fünf Minuten, auf diese Weise brauchten wir zwanzig.

Unser Prospektador zeigte sich gleich wieder ganz energisch, rannte davon, kam wieder, hatte seinen Sombrero mit Wasser gefüllt, hielt sich wohl verpflichtet, mir als Waffenmeister und Kargo-Kapitän als erstem das Leben zu retten. Der Bach schien kalte Bouillon zu enthalten. So eine Fettschicht schwamm auf dem Wasser in dem Filz. Und ehe ich diese Kraftbrühe, aus des Spaniers Kopf gezogen, einer anderen Person anbieten konnte, etwa der Patronin, hatte der Spanier durch eine ungeschickte Bewegung auch schon wieder das ganze Wasser ausgeschüttet.

Mit solchen kleinen Wassermengen war hier überhaupt nichts zu machen.

Wieder war es Doktor Isidor, der anordnete, dass der Spanier erst die beiden Zwerge an den Bach trug. Gerade diese beiden kleinen Menschlein wurden ganz fürchterlich herumgerissen. Bis das geschehen war, hatten auch wir anderen den Bach erreicht, jeder so gut wie er konnte.

Und nun ging die Panscherei los. So ein alter, echter Münchner, allabendlicher Stammgast im Hofbräu, der's nicht unter zehn Maß tut, hätte seine Freude an uns gehabt. Das heißt, wenns Bier gewesen wäre. Hier hätte er ja ohne Grund nicht mitgemacht.

Töpfe und dergleichen hatten wir nicht mitgenommen, aber jeder hatte doch eine Mütze. Wer sich gleich ins Wasser setzen wollte, konnte das ja auch machen. Und wir zechten, dass, wenn dort weiter unten am Bachesrand Leute wohnten, die sich wundern mussten, wo denn plötzlich das Wasser bliebe.

Es gibt auch wirklich kein anderes Mittel. Man kennt keines gegen Strychnin. Nur die Erfahrung hat gelehrt, dass Rettung noch möglich ist, wenn man das Strychnin durch möglichst vieles Wassertrinken wieder aus dem Körper schafft, so lange sich noch kein Starrkrampf bemerkbar macht, und am besten ist dieser schnelle Stoffwechsel durch harntreibende Mittel zu unterstützen.

Dafür wurde denn auch bei uns gesorgt. Nach noch nicht ganz einer halben Stunde kamen gleich mehrere Hunde angesprungen, die uns das betreffende Medikament brachten, und Doktor Isidor verteilte die Pülverchen. Genau so wurde es natürlich an Bord gehalten, dort hatte der vierbeinige Depeschenbote schon instruiert, und dieser Depeschendienst wurde weiter aufrecht gehalten, es kamen immer beruhigendere Nachrichten.

»Ilse erholt sich merklich wieder, versichert kaum noch Schmerzen zu haben. Martin.«

Na, dann war es gut. Das Kind hatte auch nur ein Scheibchen von dem Teufelszeug gegessen. Aber unsere Ilse war doch unsere Hauptsorge gewesen. Auch schon wegen der Patronin. Denn die hatte durchaus hinuntergewollt, nur wegen des Kindes ihres Bruders. Ach, hatte die gebrüllt! Weil sie eben vor Schmerzen nicht konnte. Ich mag gar nicht dran denken. Nun aber konnten wir der weiteren Entwicklung mit Ruhe entgegensehen.

Das Wasser half. Die Schmerzen schwanden bei allen ohne Ausnahme sichtlich, oder vielmehr merkliche. Gegen ein Uhr stellte sich bei allen eine große Müdigkeit ein. Aber die hatte nichts mit unserer Vergiftung zu tun, sondern war im Gegenteil ein Zeichen der Gesundheit, dass wir wieder normal wurden.

Denn wie ich unser Sandbankleben beim ersten Male ausführlich beschrieben habe, wir waren hier gewöhnt, nachts bis gegen zwei Uhr aufzubleiben — Moskitofang bei elektrischem Licht und dergleichen — bei Sonnenaufgang wieder aufzustehen und dann des Mittags eine ausgiebige Siesta zu halten. Das hatten wir nun auch schon wieder fünf Wochen so getrieben, das zweistündige Nachmittagsschläfchen war uns zum Bedürfnis geworden.

Allein Doktor Isidor riet uns, die Neigung zum Schlaf zu bekämpfen. Wir taten es, aber es ward uns wirklich schwer, sehr schwer. Vielleicht mochte doch die Erschöpfung durch die Schmerzen mit beitragen, auch ich konnte mich des Schlafes kaum erwehren.

»Na, Kinders, da erzählt ein paar gute Witze!«, munterte Klothilde auf.

Jawohl, uns war gerade zum Witze erzählen zumute! So weit waren wir noch lange nicht.

»Na, da will ich den Anfang machen!«, blieb jedoch Klothilde dabei. »Aber diesmal will ich — autsch! — nichts von mir selber erzählen, kein Erlebnis, sondern eine — aaauuutsch! — Gespenstergeschichte. Weil wir hier doch auch eine Gespenstergeschichte erlebt haben. Denn dass dieses Gold hier verhext ist, das ist doch — aaaauuuh, jetzt stach's wieder mal im Rücken! — gar kein Zweifel! Also eine Geistergeschichte, die tatsächlich passiert ist, auch wenn ich nicht mit dabei gewesen bin.«

Und Klothilde erzählte.

Ich will diese wahrhaftige Geistergeschichte dem Leser nicht vorenthalten. Nur gebe ich sie in etwas anderer Fassung wieder, flechte nicht ab und zu ein »au« oder »autsch« ein, wie es die Erzählerin tat, und was dieses Teufelsweib für Grimassen schneiden konnte, das habe ich ja schon früher erwähnt.

Also:

Die Geisterhand von Black Castle

Eine wahre Gespenstergeschichte

Tausend Mark Prämie demjenigen, der beweist, dass so etwas nicht passieren kann.

War da eine lustige Gesellschaft englischer Aristokraten bei Lord Walsome, dessen Schloss, eine ehemalige Ritterburg, hoch oben auf dem schwarzen Felsen von Walsomecliff trotzig seine Türme und Zinnen zum Himmel reckte. Es heißt noch heute Black Castle, die schwarze Burg. Diese grausige Geschichte ist übrigens vor noch gar nicht so langer Zeit passiert.

Morgen sollte Jagd auf Hochwild sein, heute Abend kreiste der Pokal. Manch Märlein wurde erzählt, auch der Vergangenheit dieses Schlosses gedacht.

»Spukt in dem Turmzimmer immer noch die Geisterhand?«, fragte jemand.

Der Schlossherr nickte trübe.

»Ja, leider. Immer noch. Und das wird wohl auch nie anders werden.«

»Was, Spuk! Was Geisterhand?!«, erklang es von verschiedenen Seiten.

»Sie kennen das noch nicht?«

»Kein Wort!«, riefen die meisten. »Erzählen, erzählen!«

»Die Geschichte ist ganz einfach, wenn man so etwas einfach nennen kann. Da ist hier einmal vor hundert und mehr Jahren ein Rosshändler hergekommen, hat dem Burgherrn sein Pferd angeboten. Der Gaul schien schon, wenigstens nach den Zähnen, seine zwanzig Jahre auf dem Buckel zu haben, war wohl nur mit Arsenik oder mit einem ähnlichen Teufelsmittel so rund und für einige Stunden so feurig gemacht worden, aber der Jude hob seine Hand zum Schwure empor. Und sagte feierlich: Der Gott meiner Väter soll mer erscheine lasse jede Nacht meine Hand vor dem Bette, wenn das Pferd älter ist als sechs Jahre!

Da hat der Burgherr das Pferd gekauft. Der Jude ist im Turmzimmer über Nacht geblieben. Am anderen Morgen fand man ihn tot im Bett. Ein Herzschlag. Andere sagten, die Läuse hätten ihm das letzte Stückchen Niere aufgefressen. Und am Abend war der Gaul klapperdürr und stolperte über seine eigenen Beine.

Ein Kammerjäger wurde beordert, der säuberte das Turmzimmer von der lebendigen Hinterlassenschaft des Juden. Weil er an einem Tage nicht fertig wurde mit den vielen Tierchen, legte er sich am Abend gleich auf das Bett, um mit dem ersten Morgensonnenstrahl mit fröhlichem Halali gleich wieder auf die Jagd gehen zu können. Er schlief ein. Mit einem Male erwachte er durch einen kühlen Lufthauch, der über ihn hinstrich. Der Vollmond schien in das Turmzimmer. Und da sah der Mann zu seinen Füßen am Bettrand eine große, weiße Hand, so groß, wie der Rosstäuscher sie gehabt hatte. Gerade verkündete die Turmuhr die zwölfte Stunde, und eine volle Stunde, bis es eins schlug, stand die Hand so da. Dann verschwand sie wieder.

Während dieser ganzen Stunde konnte der Kammerjäger kein Glied rühren, war wie erstarrt, musste unverwandt nach der Hand blicken. Geschadet hatte es ihm ja weiter nichts. Nur wurde er dann in seinem Berufe so unsicher, dass er nicht einmal mehr einen lahmen Floh zur Strecke bringen konnte. Infolgedessen soll er dann noch die juristische Laufbahn betreten haben, wobei man nicht so zu eilen braucht. Das ist die ganze Geschichte.«

So hatte der Gastgeber geschlossen.

»Und dieser Spuk existiert jetzt noch?«, wurde ungläubig gefragt.

»Heute noch. Regelmäßig bei Vollmond. Während meiner Zeit haben es zwei Männer gewagt, bei Vollmond in dem Turmzimmer zu schlafen. Beide sind um Mitternacht von dem kühlen Luftzug geweckt worden, beide haben die große, leuchtende Hand erblickt. Das heißt, es darf nur ein einziger im Turmzimmer sein, er muss im Bett liegen. Bei zwei Personen kommt der Spuk nicht. Ich spreche von zwei verschiedenen Fällen. Geschadet hat es ja keinem, aber... nicht für alles Geld der Welt noch einmal! Und das ist ein Faktum!«

»Haben Sie den Spuk selbst schon gesehen?«, fragte ganz aufgeregt Baron Naugham.

Dieser junge Baron war erst kürzlich von einer Reise um die Erde zurückgekehrt, erzählte fortwährend die haarsträubendsten Jagd- und Abenteuergeschichten, renommierte mit seinen Heldentaten, nahm es sehr übel, wenn man ihm nicht volle Aufmerksamkeit schenkte. Er allein wollte immer das Wort führen.

»Nein, ich mache solche Experimente nicht, für mich genügt die Aussage glaubwürdiger Zeugen!«, entgegnete Lord Walsome.

»Ach, das ist ja Unsinn! So etwas gibt's ja heutzutage gar nicht mehr!«, rief der Baron.

»Ich weiß es nicht. Ich habe die beiden Herren für glaubwürdig gehalten.«

»Das sollte man doch einmal versuchen!«, sagte ein anderer. »Heute ist ja gerade Vollmond.«

»Ja, wer wagt's?!«, erklang es im Chor.

»Na, was gibts denn da zu wagen!«, rief Baron Naugham. »Ich bin in Indien bei Haiderabad einmal in einem Leichenturm gewesen, da...«

»Ist in dem Turmzimmer ein Bett?«, wurde er schleunigst unterbrochen, denn sonst kam wieder eine endlose Geschichte.

»Die alte Bettstelle steht noch da, es braucht nur eine Matratze hineingelegt und sonst alles vorgerichtet zu werden.«

»Baron, wagen Sies?«

»Na, was gibt's denn da zu wagen! Ich habe einmal in New York in einer Leichenkammer...«

»Es muss also ein einzelner sein!«, sagte Lord Walsome nochmals.

»Na, denken Sie etwa, ich fürchte mich? Ich bin in Südafrika einmal in einem offenen Grabe...«

»Baron, wenn aber der Spuk schon um Mitternacht losgeht, dann müssen Sie sich beeilen, es ist schon zehn Minuten über elf.«

»Ich bin bereit.«

Gut, der Schlossherr gab sofort Order, das Turmzimmer vorzurichten, das war schnell geschehen, alle Herren begleiteten den Baron hinauf.

Es war ein rundes, nacktes Zimmer, das nur das schon gemachte Bett enthielt, daneben ein Nachttisch, nichts weiter. Der Vollmond schien bereits herein.

»Aber ich bin für nichts verantwortlich, was auch passiert und was es auch für Folgen haben mag!«, sicherte sich der Gastherr noch.

»Selbstverständlich! Und ich wiederum mache die Herren darauf aufmerksam, dass ich hier auf den Nachttisch meinen geladenen Revolver lege. Wenn man mich etwa schrecken will, wenn ein Mummenschanz kommt — ich verfehle mein Ziel nie! Ich habe in China einmal...«

»Aber, Baron, wer denkt denn an so etwas!«

»Dann ist's gut. Muss man denn schlafen? Kommt der Spuk auch, wenn man wacht?«

»Das weiß ich nicht. Man schläft wohl durch höhere Gewalt ein.«

Noch einige humoristische Warnungen und Wünsche, und die Herren stiegen wieder hinab.

Schon unterwegs auf der Turmtreppe lachten sie sämtlich sich ins Fäustchen.

»Gott sei Dank, dass wir diesen Schwätzer mit seinen furchtbaren Aufschneidereien endlich los sind, das war ja gar nicht mehr auszuhalten! Jetzt können wir uns erst gemütlich unterhalten.«

Also nur darauf war von vornherein alles zugeschnitten gewesen, den Baron zu entfernen, ihn ins Bett zu bringen, was nur nicht sein eigenes hatte sein können. Jedoch zirkulierte wirklich solch eine Spukgeschichte über das Turmzimmer, darin hatte Lord Walsome die Wahrheit berichtet. Nur dass die Geisterhand noch niemand gesehen hatte.

Und die übermütigen Herren ahnten nicht, was sie dem jungen Baron für ein furchtbares Geschick bereiteten! Denn der sollte wirklich einen Spuk erleben, die Geisterhand wirklich zu sehen bekommen, und mit was für schrecklichen Folgen!

Wir bleiben in dem Turmzimmer bei dem Unglücklichen.

Furcht kannte der junge Bärenbinder tatsächlich nicht, das musste man ihm lassen. Er sah sich noch einmal um, auch unters Bett und in den Nachttisch! legte dann auf diesen seinen entsicherten Revolver, schloss die Tür, entkleidete sich, legte sich zu Bett, löschte das Licht aus.

Er schlief denn auch sehr bald ein. Allerdings bestand die »höhere Gewalt« wohl nur in dem reichlich genossenen Punsch.

Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, als ihn ein kühler Lufthauch weckte, der vom Fußende her zu kommen schien.

Der Vollmond schien jetzt direkt ins Zimmer, eben schlug es die zwölfte Stunde und... dort am Fußende seines Bettes zeigte sich eine große, weiße Hand!

Fassungslos starrte der Baron sie an. Aber bewegen konnte er sich noch, und couragiert war der junge Mann wirklich.

Schnell griff er nach seinem Revolver.

»Hand dort weg, oder ich schieße!«, schrie er. »Eins — zwei...«

Die Hand wich nicht.

»Drrrrr...«

Puff! Sein unfehlbarer Revolver hatte gekracht.

Die Folgen waren fürchterliche.

Wie soll ich das Folgende nun schildern?

Am nächsten Morgen konnte Baron Naugham nicht mit auf die Jagd gehen.

Weshalb nicht?

Acht Tage lang lag der unglückliche junge Mann im Bett, konnte weder gehen noch stehen.

Er hatte sich von seinem linken Fuße die große Zehe abgeschossen.

*

Die Erzählung war beendet.

Eines Kommentars bedarf sie wohl nicht.

Solch einen Schluss hätte nun freilich niemand von uns erwartet.

Und wie Klothilde nun zu erzählen verstand, wie die uns immer mehr in Spannung versetzt hatte!

Wir lachten, dass uns die Augen tränten.

Ja, wir konnten wirklich lachen, so sehr uns dabei auch der Rücken schmerzte — es war wirklich die beste Medizin gewesen, die uns Klothilde eingeflößt hatte, zum ersten Male konnten wir wieder aufstehen.

»Na, Jungens, dann machen wir uns auch gleich auf den Rückweg!«

Es geschah. So sauer es uns auch wurde. Und wenn wir dazu auch zwei Stunden brauchten, in dem schrägen Tunnel immer auf dem Hosenboden rutschten — wir kamen an Bord. Natürlich hatten wir alles zurückgelassen.

Wenn die Erkrankten an Bord unterdessen auch schon ganz bedeutend den Weg der Besserung beschritten hatten, ohne so herzlich gelacht zu haben wie wir, so schrieben wir das nur der Schwitzkur zu, die sie inzwischen schon in ihren Kojen hinter sich hatten.

Das taten jetzt auch wir, ließen uns von den Kindern gut einpacken. Doktor Isidor gab uns noch einige Pülverchen, und schon gegen sechs Uhr fiel ich für meinen Teil in einen todesähnlichen Schlaf.

Als ich erwachte, stand die Sonne schon etwas über dem Horizont. Vorsichtig wollte ich meine Glieder bewegen. Aber es war gar keine Vorsicht mehr nötig. Mit einem Juchzer sprang ich aus der Koje, fühlte mich wie ein neugeborener Mensch. Und dasselbe galt von allen anderen ohne irgend welche Ausnahme, die Schmerzen waren gänzlich verschwunden, das Strychnin war vollständig aus dem Körper herausgeschafft worden und hatte keine Spur einer nachteiligen Folge hinterlassen.

Ein gnädiger Gott war mit uns gewesen! Es hätte ja auch ganz anders ablaufen können, trotz unseres erfahrenen Schiffsarztes Wasserkur.

Wir frühstückten nach bald vierundzwanzigstündigem Fasten wie die verhungerten Wölfe, denn gestern hatte niemand Appetit gehabt. Natürlich kein Cornedbeef wieder! Dass die noch vorhandenen 38 Dosen gleich über Bord wanderten, brauchte ich wohl nicht erst zu sagen.

Die Dose, die zum gestrigen Frühstück verwendet worden, war noch vorhanden. Doktor Isidor konnte in den Fleischresten, die an den Wänden klebten, wirklich Strychnin nachweisen.

Wir wollten ein andermal beim Kaufen von Lebensmitteln aus unbekannter Quelle vorsichtiger sein. Freilich weiß man da niemals, wo man mit der Vorsicht anfangen und aufhören soll. Mit einer Hummerdose aus dem feinsten Delikatessengeschäft kann man sich genau so und noch ganz anders vergiften.

Und dann machten wir uns natürlich zum zweiten Male auf den Weg, um nun wirklich das Gold herauszuholen.

Da gab es doch nichts! Auch der Spanier sagte kein Wort mehr von dem auf dem Golde ruhenden Fluche, sagte überhaupt gar nichts, ging schweigend mit.

Also die Expedition setzte sich genau aus denselben Personen wie gestern zusammen. Andere hätten sich ihr ohne Erlaubnis auch gar nicht anschließen können, höchstens der Kapitän, aber der verließ doch jetzt das Schiff nicht.

Nach dreiviertel Stunden standen wir wiederum vor dem Tale und blickten auf das in der Sonne gleißende Gold hinab.

Ich selbst seilte mich an, um wiederum zuerst den kleinen Goldblock heraufzubefördern. Dabei sah ich wohl was Helene für ein ängstliches Gesicht machte, aber sonst tat sie nichts, dazu hatte sie doch einen zu starken Charakter.

Alles Weitere, was mit diesem Golde im Werte von vielleicht ungezählten Milliarden zusammenhängt, mache ich so kurz wie möglich ab.

Ich schwebe hinab, erreiche den Grat, mache den Schritt, der mich noch von dem Goldwürfel trennt, blicke mich, ergreife ihn, hebe ihn...

Da bekomme ich abermals einen Hexenschuss!

Aber einen ganz anderen als gestern.

Es ist nur ein jäher Schreck, der mich durchzuckt.

Nämlich weil der Goldblock so ungemein leicht ist.

Ich habe seine Schwere doch auf mindestens 130 Pfund berechnet, und jetzt finde ich, dass es höchstens 20 Pfund sein können!

Und wenn man sich anschickt, ein schweres Gewicht zu heben, die Muskeln dazu anspannt, und man hebt plötzlich eine Leichtigkeit, so erschreckt man dabei tatsächlich, genau so, wie wenn man im Finstern glaubt, jetzt kommt eine sehr tiefe Stufe, und dann findet man nur einen ganz geringen Absatz.

Ja, wie ist denn das möglich, dass dieser Goldwürfel so leicht ist?

Sollte er hohl sein?

Aber ich brauche nur das Gold etwas näher zu betrachten, die faserige Struktur, die Fasern und Blättchen lösen sich unter meinen Fingernägeln sogar ab, da geht mir sofort die Erkenntnis auf.

Und ich breche in ein unbändiges Lachen aus.

Ja, es ist tatsächlich Hexengold, das uns der Spanier hier hat finden lassen!

Hexengold, auch Katzengold genannt.

Eine goldglänzende Spielart des Glimmers.

Wie man solche Streifen häufig in der Steinkohle findet.

Ein ganz wertloses Zeug.

Und — alles andere, was hierzu gehört, mache ich nun vollends ganz kurz — von derselben Beschaffenheit waren die sämtlichen Goldblöcke!

Einfach ein Tal, in dem solches Hexen- oder Katzengold, gelber Glimmer, massenhaft vorkam!

Die einstigen Bewohner dieses Tales hatten mit solchen goldglänzenden Glimmerplatten ihre Dächer geschmückt, hatten mit solchen Glimmerplättchen die Säulen und Mauern ihrer Häuser beklebt!

Und als diese Erkenntnis eine allgemeine geworden war, da sahen wir uns vergeblich nach unserem Prospektador um, was der nun dazu sagen würde.

Der Spanier war spurlos verschwunden, hatte englischen Abschied genommen.

Jetzt hatte der noch nachträglich von dem Hexengold seinen Hexenschuss bekommen, hatte sich schleunigst an Bord begeben, hatte sein Boot bestiegen und war davon gerudert.

Ein schallendes Gelächter klang ihm nach, wenn er es auch nicht mehr hören mochte.

*

44. Kapitel

Neue Werbungen

Originalseiten 1149 — 1173

Georg, glaubst Du an Ahnungen?« So fragte mich Helene drei oder vier Stunden später, als wir alle schon unten in den Ruinen herumkrochen.

Die verlassene Stadt erwies sich in der Nähe doch nicht so wohlerhalten, wie sie von oben aus den Eindruck gemacht hatte. Sonst habe ich über sie weiter nichts zu sagen. Wir fanden nichts Interessantes, kein Skelett, kein Hausgerät, gar nichts. Und solcher Ruinenstädte, von einer ausgestorbenen Menschenrasse aufgebaut, gibt es in ganz Amerika so zahllose, dass ein Altertumsforscher wohl schwerlich die weite Reise unternommen hätte, nur weil man hier zur Verzierung der Gebäude, die sonst gar keine architektonische Merkwürdigkeit bildeten, Platten und Plättchen von dem in diesem Tale so häufigen Goldglimmer benutzt hatte. Und ob dies doch vielleicht das sagenhafte Eldorado sei, das war eine ganz zwecklose Frage.

»Georg, glaubst Du an Ahnungen?«

Mit diesen Worten drehte sich Helene plötzlich nach mir um. Wir befanden uns gerade in einer mit Trümmern bedeckten Straße.

Ich blicke in ein wenn nicht verstörtes so doch höchst ängstliches Gesicht und in eben solche Augen.

»Um Gott, Helene, was ist denn geschehen?!«

»Ob Du glaubst, dass es so etwas wie Ahnungen gibt, frage ich!«

Ja, an so etwas glaube ich.

Ich selbst habe in meinem Leben nie so etwas gehabt.

Also die Vorahnung eines künftigen Ereignisses. Man sagt zwar manchmal, auch ich gebrauche es wohl häufig:

»Das habe ich geahnt — ich habe die sichere Ahnung...«, und dann ereignet es sich wirklich. Vielleicht — vielleicht auch nicht. Das meine ich hier natürlich nicht. Ich meine also die Vorahnung eines künftigen Ereignisses, besonders eines solchen, das tief in das eigene Schicksal greift, wenn eine Person stirbt, die man sehr liebt, und man weiß in weiter Ferne, dass sie jetzt mit dem Tode ringt, oder dass ihr sonst etwas zugestoßen ist — man weiß es ganz bestimmt, ohne dass man sich irgendwie Rechenschaft geben kann, und hinterher erfährt man, dass es Tatsache gewesen ist...

Nun, der Leser versteht schon.

Nein, ich selbst habe niemals solch eine Vorahnung gehabt. Mir sind gar liebe Personen gestorben, mein Vater, er hat auf seinem Sterbebett nur an mich gedacht, sein heißester Wunsch war, mich noch einmal zu sehen — und ich habe weder ein »Gesicht« gehabt noch sonst irgend eine Ahnung.

Aber ich bin direkt gezwungen worden, daran zu glauben, dass es doch so etwas gibt.

Ich will ganz schlicht die Tatsache erzählen.

Als ich in Hamburg die Navigationsschule besuchte, war ich bei einem weitläufigen Verwandten meiner schon verstorbenen Mutter in Pension, bei einem Bahnassistenten und dessen Frau, die überhaupt, um ihr Einkommen zu verbessern, immer einige Pensionäre nahmen.

Mit mir zusammen war noch ein Gymnasiast, ein sechzehnjähriger Untersekundaner, der Sohn eines Holsteiner Gutsbesitzers. Er war ein äußerst aufgeweckter, etwas frühreifer Junge, machte gern ein Kneipchen mit und war schon etwas sehr hinter den Frauenzimmern her. Aber deswegen war nichts zu sagen. Er war sonst ein ganz braver Junge, machte seine Sache in der Schule, war immer unter den ersten, führte sich tadellos. Er war schon sechs Jahre bei meiner Tante in Pension, eben seitdem er das Gymnasium besuchte, nie hatte er Grund zur Klage gegeben. Seine Klassenkameraden kneipten auch schon, machten einen Ausflug mit anschließendem Kommers, das ist nun einmal so in Untersekunda und schon vorher. Artur wäre ein Mucker gewesen, wenn er da nicht mitgemacht hätte, mit seinem Taschengeld kam er dabei aus, und wenn er einmal mit einer Kellnerin poussierte — na, das ist nun einmal so in diesen Jahren, da fängt die Geschichte an.

Meine Tante war eine ganz ausgezeichnete Frau, war ihren Pensionären eine wirkliche Mutter. Wenn sich Artur nicht tadellos geführt hätte, so würde sie ihn niemals behalten haben, nicht für alles Geld der Welt.

Eines Sonnabendnachmittags will sie wie gewöhnlich auf den Markt gehen, auch ich muss in die Stadt, begleite sie ein Stück, Artur will Schularbeiten machen, ist ganz allein zu Hause.

Wir sind vielleicht erst zehn Minuten unterwegs, wir plaudern harmlos zusammen, als meine Tante, den Marktkorb am Arme, plötzlich stehen bleibt und mich ganz verstört anblickt...

»Ich weiß nicht... ich muss wieder nach Hause... da ist etwas passiert... mit Artur —!«

Umgedreht, und in vollem Galopp zurückgerannt! Wirklich gerannt, dass alle Menschen stehen bleiben.

Ich hinterher.

»Was ist denn nur los?«

»Ich weiß nicht... unser Artur... o Gott, o Gott, dass ich nur nicht zu spät komme...«

Und so ins Haus hinein, die zwei Treppen hinauf, die Vorsaaltür aufgeschlossen, nach Arturs Zimmer...

Dessen Zimmertür ist verschlossen!

»Aufgemacht, aufgemacht!«, donnert meine Tante dagegen und versucht die Tür zu erbrechen, reißt fast die Klinke ab.

Drinnen wird ein Stuhl gerückt. Artur öffnet die Tür, mit einem sehr roten Kopfe.

»Artur, was hast Du tun wollen?!«

Mit diesen Worten greift ihm meine Tante sofort in die rechte Rocktasche — und nicht etwa, dass er nach dieser eine verdächtige Bewegung gemacht hätte — zieht einen Strick hervor, mit einer Schlinge daran.

Und da gesteht der Junge! Er hat vor einiger Zeit in seiner Klasse Geld kassiert, 40 Mark, um eine gemeinschaftliche Bücherrechnung zu bezahlen, hat das Geld in einer Animierkneipe verjuxt, übermorgen, am Montag, muss die Sache herauskommen, er weiß nicht, wie er sich das Geld noch verschaffen soll, will es nicht gestehen — da hat sich der Bengel aufhängen wollen, hat soeben schon auf dem Stuhle gestanden, den Strick am Nagel, die Schlinge um den Hals. — —

Das ist eine Tatsache, die ich erlebt habe, die ich durch nichts aus der Welt schaffen kann.

Meine Tante in ihrer furchtbaren Verantwortlichkeit für den ihrer Fürsorge anvertrauten Zögling wurde von einer geheimen Gewalt noch rechtzeitig zurückgetrieben.

Auf jede andere Erklärung verzichte ich.

Für so etwas gibt es überhaupt gar keine Erklärung. Nur so manchmal denke ich daran, was wohl mit dem Manne passiert wäre, der vor 25 Jahren behauptet hätte, es wäre möglich, einem Menschen die Knochen im Leibe zu fotografieren. Oder noch später, es wäre möglich, ohne Draht zu telegrafieren.

Zwar ist das etwas ganz anderes, hierbei handelt es sich doch um ein physikalisches oder sogar mechanisches Problem, das zu lösen ist, aber... ein Vergleich liegt doch sehr nahe.

Jedenfalls bin ich damals überzeugt worden, dass es so etwas wie eine Vorahnung doch gibt. Denn dann noch nicht daran zu glauben, das wäre eine Sünde wider den heiligen Geist. Dann noch von einem »Zufall« zu sprechen, das wäre schon mehr heller Wahnsinn.

Erwähnen will ich noch, dass die Rechnung natürlich sofort bezahlt wurde, und es geschah noch rechtzeitig, es kam nichts heraus. Und meine Tante behielt den Jungen nun doch bei sich. Nun gerade! Und er machte seine Schul- und Universitätszeit glatt durch — heute ist er Studienrat.

Und nun stelle man sich vor, wenn die brave Frau nach Hause gekommen wäre, und der Junge hätte dort am Nagel gehangen!

* »Ja, ich glaube, dass es so etwas wie Ahnungen geben kann!«, entgegnete ich jetzt auf Helenes nochmaliges Fragen.

Von meinem eigenen Erlebnis hatte ich ihr noch nichts erzählt, tat es auch später nicht, es hatte ja keinen Zweck.

»Ich weiß nicht... mir ist es, als ob... als ob... ich nach New York müsste!«

»Wegen Deines Bruders?«

»Ja. Als ob dem etwas zugestoßen sei. Das heißt, nicht etwa, als ob ich eine ganz bestimmte Ahnung hätte — aber... mich drängt es plötzlich nach New York!«

»Ich weiß schon, ich weiß schon.«

»Und das sofort, sofort!«

Sie geriet immer mehr außer sich.

»Ja, Helene, dann entweder — oder. Willst Du hier bleiben oder aufbrechen.«

»Ich muss nach New York, und das sofort, sofort!«

Und dabei war sie schon unterwegs mit großen Schritten, ich hinter ihr her.

»Mit dem ganzen Schiffe?«

»Ja natürlich ich trenne mich doch nicht von meinem Schiffe, von meinen Leuten!«

»Nun, das ist nicht so ganz natürlich. Wenn Du so schnell wie möglich nach New York kommen willst!«

»Sicher, sicher, so schnell wie möglich! O, Georg, wüsstest Du, wie mir plötzlich zumute ist!«

»... dann solltest Du den Weg über New Orleans benutzen, also von dort aus mit der Eisenbahn.«

»Richtig, richtig, das machen wir!«

»Ich hätte auch Lust, die Jungen und besonders die Kinder einmal sich allein zu überlassen, das heißt unter Juba Riatas Führung, der hat hier viel vor, er hat schon einige Andeutungen gemacht, und ich wäre begierig, wie die sich in einigen Wochen entwickelt hätten, ohne dass ich immer Zeuge der einzelnen Phasen bin.«

»Ganz wie Du willst, ganz wie Du willst.«

Wir hatten den Aufzug erreicht. Unterdessen war oben schon ein tüchtiger Balken verankert worden, der Förderkorb fasste vier Personen und trug noch eine ganz andere Last. In wenigen Minuten waren wir oben.

Alles Weitere fasse ich kurz zusammen.

Helene fügte sich ganz meinem Plane.

Das Schiff blieb hier liegen, die Barkasse brachte uns nach Para, unter Ernsts Führung, der versicherte, den Rückweg finden zu können, was er dann auch bewies. Schon jetzt, indem er sich ja erst aus dem Wasserlabyrinth heraus in den Amazonenstrom finden musste, welche Aufgabe er ohne mein Einreden glatt löste. Außerdem nahmen wir zwei Seehunde mit, im Boote liegend. Für solch eine weite Strecke hatten diese Wassertiere allerdings noch keine Probe abgelegt, aber sie führten sie dann wirklich aus, sollten später noch ganz andere Proben ihres Orientierungssinnes ablegen.

Wir kamen in Para an, hatten manchen Dampfer überholt. Die Patronin sofort auf die Telegrafenstation.

Schon nach einer Stunde kehrte sie in das Hotel zurück, in dem die Leute mindestens einen Tag ruhen sollten.

»Georg, mein Bruder ist tot!«

An dem Tage und wahrscheinlich in der Stunde, da sie die Ahnung gehabt, war er im Gefängnis einer akuten Lungenentzündung erlegen.

Ja, nun allerdings mussten wir schnellstens nach New York! Wegen der Hinterlassenschaft, wegen der Brieftasche mit dem Situationsplan.

Und schon in zwei Stunden ging ein Union-Dampfer von Para ab direkt nach New York, den wollten wir beide benutzen. Denn bei direkter Fahrt dauerte es nicht länger als mit der Eisenbahn.

Also die Barkasse ging schon morgen zurück. Na ja, die siebzehn Kerls konnten doch nicht hier untätig liegen bleiben, oder das wollte ich doch nicht, wer wusste denn, wie lange wir ausblieben, was wir wegen der Herausgabe der Sachen für Umständlichkeiten hatten, auch sollte der Bruder noch ein anständiges Begräbnis finden. Denn vorläufig war er doch auf dem Friedhofe der Ehrlosen eingescharrt worden.

Wie wir uns dann nach dem Schiffe zurückfanden, darüber brauchten sich die anderen nicht den Kopf zu zerbrechen, das war meine Sache, und ich wollte es schon fertig bringen, so oder so.

Abschied genommen und zum Hafen hinaus. Weshalb wir nach New York wollten, das freilich wusste niemand. Ich war der einzige, den die Patronin in das unglückliche Schicksal ihres Bruders eingeweiht hatte. Es brauchte doch auch niemand zu erfahren, dass der Vater der kleinen Ilse im Zuchthause saß, ob nun unschuldig oder nicht. Die Patronin hatte in New York eben etwas Geschäftliches zu erledigen — basta!

Von Para nach New York sind es rund tausend Seemeilen, die der Dampfer in vier Tagen und Nächten tadelloser Fahrt machte. Ich will nicht schildern, wie der verstorbene Zuchthaussträfling exhumiert wurde und bei Brooklyn auf einem Stückchen gekauften Landes ein anständiges und auch feierliches Begräbnis fand, und was wir dann für Scherereien hatten, ehe die erbberechtigte Schwester die aufbewahrten Sachen ausgeliefert bekam.

Endlich erhielten wir das versiegelte Paket. Alles war vorhanden, wie es das Protokoll aufzählte, auch die rote Brieftasche mit den gleichfalls nummerierten Papieren darin.

In unserem Hotel trennten wir die Nähte auf, ein Pergament kam zum Vorschein, auf diesem eine Zeichnung und viele Bemerkungen in englischer Sprache.

Auf eine weitere Beschreibung verzichte, ich eine verständliche könnte ich doch nicht geben.

Also es war der Situationsplan, nach dem wir uns von der Argonautenbucht im Feuerlande dorthin finden konnten, wo vor 300 Jahren der Flibustierkapitän van Horn sein Schiff, die »Desolation« samt allen an Bord befindlichen Schätzen, die er zusammen geraubt, versenkt haben sollte.

»Wie viel Tonnen Gold waren es gewesen?«, fragte ich.

»Zwanzig Tonnen.«

»Der Teufel noch einmal, das wären ja schon wieder rund vierzig Millionen Mark! Bei uns müssen es wohl immer vierzig sein, entweder Millionen oder Milliarden, Mark oder gar Dollars!«

»Und dazu noch unermessliche Schätze an Edelsteinen.«

»Na, na, wenn sich nur nicht wieder alles in Hexengold und Katzensteine verwandelt!«, lachte ich.

»Aber nachsuchen tun wir doch.«

»Na sicher!«

Zuerst aber hatten wir in New York noch etwas anderes zu tun, machten eine Erwerbung, die mir viel lieber war als alle Schätze der »Desolation« und vielleicht der ganzen Erde. Wenigstens mir viel lieber. Ich bin nun einmal so. Und die Patronin war es wohl erst recht.

Ein guter Stern hatte uns gerade jetzt nach New York geführt, dass wir diese Erwerbung, die mit keinem Golde zu bezahlen ist, machen konnten.

Die Sache war folgende:

In New York und Brooklyn und sonstiger Umgegend, wo es so massenhaft Deutsche gibt, existieren doch ganz selbstverständlich viele deutsche Turnvereine. So selbstverständlich wie Gesangs- und Schützen- und Skat- und Kegelvereine.

Da waren diese deutschen Turnvereine einmal übereingekommen: wir wollen hier doch einmal ein deutschamerikanisches Turnfest veranstalten und laden dazu unsere Turnerbrüder aus der Heimat dazu ein.

Und es geschah. An alle größeren oder vielleicht auch kleineren Turnvereine Deutschlands war die Einladung ergangen. Freie Fahrt hin und zurück zweiter Kajüte und hier volle Verpflegung. Natürlich vorausgesetzt, dass jeder Verein nur seine besten Turner schickte. Anderseits muss man bedenken, dass es unter den Deutsch-Amerikanern doch reiche Knöppe gibt. Das war zum Beispiel ein Mann, der vor 20 Jahren als armer Fleischergeselle nach Amerika gekommen war, jetzt beherrschte er den ganzen New Yorker Fleischmarkt — der allein zeichnete für hundert Gäste, die er auf seine Rechnung herkommen ließ und bewirtete, und solch splenditer Landsleute gab es noch mehrere.

Und sie waren gekommen, aus allen Gegenden Deutschlands, eine ganze Schiffsladung, die Elite der deutschen Turnerschaft.

Wobei allerdings zu bedenken ist, dass viele ausgezeichnete Turner ja nicht hatten abkommen können.

Denn auf vier Wochen mussten sie sich doch gefasst machen, und so lange Urlaub gibt doch selten ein Prinzipal, und ein solider, in fester Stellung befindlicher Kaufmannsgehilfe wird sich doch sehr überlegen, ehe er wegen solch einer Turnerfahrt nach Amerika einfach seine sichere Stellung aufgibt.

Aber immerhin, es war die Elite der deutschen Turnerschaft, die hier zusammengekommen war!

Auf Long Island war der Festplatz. Eine ganze Woche lang wurde hier geturnt, um die Preise gerungen.

So oft als möglich waren wir beide, Helene und ich, drüben, schauten dem Treiben zu. Helene hatte in diesen trübseligen Tagen ja auch sehr eine Abwechslung nötig.

Und die bekam sie dort. Sie wurde immer mehr ganz Begeisterung. Und ich auch.

Ich hatte doch natürlich schon Turner gesehen, gute Turner. Ich hatte auch schon größeren Turnfesten beigewohnt. Das heißt so Gauturnfesten.

Hier aber sah ich etwas, was ich noch nicht zu sehen bekommen hatte.

Ich habe, ganz einfach gesagt, Maul und Nase aufgesperrt.

Und wenn ich dachte, ich könnte das Maul wieder zumachen, weil ich mich an den Leistungen solch eines Turners an Reck und Barren satt geschaut hatte, dann sah ich denselben Mann seine Übungen am hölzernen und gepolsterten Pferd machen, um die meisten Punkte zu erreichen, und ich musste das Maul doch wieder aufsperren!

Und so erging es natürlich erst recht den zuschauenden Yankees und sonstigen geborenen Amerikanern, und so erging es auch den deutsch-amerikanischen Turnern.

Denn die waren aus dem deutschen Turnen schon ins Sportwesen verfallen. Das eben ist die Sache!

Der Unterschied zwischen Sport und Turnen ist der, dass beim Sport ganz einseitig die höchste Vollendung in einer einzigen körperlichen Fähigkeit erreicht werden soll, während beim Turnen jeder einzelne Muskel im Körper möglichst entwickelt wird.

Mit den Champion-Sportsmen, welche Weltrekords aufstellen, konnten diese deutschen Turner nicht antreten, das stimmt allerdings. Keiner von ihnen erreichte einen Hochsprung von nur 190 Zentimeter, keiner lief 100 Meter in elf oder gar nur zehn Sekunden, keiner konnte vier Zentner stemmen.

Aber ich habe ja schon einmal geschildert, wie es diese meist englischen und amerikanischen Athleten treiben. Sie wollen Amateure sein, nehmen ja auch wirklich keine Bezahlung an, und im Grunde genommen sind es doch nur bezahlte Professionisten. Sie werden eben von ihren Vereinen oder sonst aus einer Kasse unterhalten. Wer einmal sich als Hochspringer ausgebildet hat, der bleibt beim Hochsprung, tut nichts anderes mehr. Enorm entwickelte Bein- und Wadenmuskeln, und dabei die reinen Kinderarme. Dafür bekommt der Mann später, wenn er ausrangiert wird, eine Leibrente.

Und wie solch ein olympischer Sieger im Hochsprung nun über das Seil kommt! Das Wie ist ja ganz gleichgültig. Wenn er nur drüber kommt, ohne es zu berühren. Es sieht manchmal wirklich scheußlich aus, mit welchen Gliederverrenkungen der sich in der Luft darüber wälzt.

Dagegen nun hier diese deutschen Turner! Mit welcher Eleganz die ihren Hochsprung absolvierten! Halb Panther, halb Achilles, halb Gummiball. Und dann zum Reck, und dann zum Pferd, und dann zum Weitsprung, und dann zum Barren, und dann zum Hantelstemmen, und dann zum Schnelllauf — und überall Leistungen, dass... ich eben Maul und Nase aufsperrte!

Und ich war doch schon von meinen Jungens etwas gewöhnt, ich selbst hatte mich unterdessen auszubilden verstanden, und ich hatte doch auch schon früher etwas im Zirkus gesehen.

Pah, Zirkus!

Da schwingt sich so ein Gymnastiker durch die Luft von Trapez zu Trapez und umschlägt sich unterwegs einige Male.

Das nachzumachen, das ist für solch einen deutschen Turner, der seine Glieder schon so in der Gewalt, einfach eine Spielerei!

Aber er tut es nicht, weil er Angehörige hat, weil er seinen Beruf hat, und weil man bei solchen Kunststückchen doch einmal das Genick brechen kann.

Das ist die Sache!

Er kann es sofort machen, aber er tut es nicht, weil er nicht für abendlich hundert oder tausend Mark seinen Hals riskiert. Er geht treu seinem Berufe nach.

Außerdem blickt er schon deshalb verächtlich auf diesen ganzen Zirkusmumpitz herab, weil hier jede elegante Körperhaltung fehlt, die für den deutschen Turner mit als Höchstes gilt!

*

»O, Georg, wenn wir solche Männer für uns gewinnen könnten!«

Helene sprach es aus, was ich mir bereits gedacht hatte, mir dazu schon den Plan zurecht legend.

Als wir unsere Sachen geordnet hatten, ließ ich den Werberuf erschallen. Freilich nicht mit Pauken und Posaunen.

Ich sprach persönlich mit jedem einzelnen, der mir am meisten imponiert hatte, als Turner und... als Mensch! Was letzteres ich aus seinen Augen richtig beurteilen zu können glaubte und, wie dann die Erfahrung lehrte, auch richtig beurteilt habe.

Oft genug kam ich ja an eine falsche Adresse. Manchen, den ich sehnlichst gern an mich gefesselt hätte, musste ich fahren lassen. Verheiratet oder verlobt oder sonstige Familienbande. In fester Stellung oder sonst wie unabkömmlich für seinen weiteren Beruf sich ausbildend. (Was wiederum bewies, dass ich mich nicht in den Augen getäuscht hatte.)

Aber acht Mann brachte ich doch zusammen, und diese genügten auch, und es waren nur solche, welche in jedem Fache die erste Siegespalme davongetragen, aus deren Augen die Treue strahlte.

Ich führe sie hier namentlich an, die fernerhin mit zu den Argonauten gehören sollten, mit Angabe ihres Berufes und einer kurzen Körperzeichnung. Zur Unterscheidung der übrigen Leute wurden sie nur beim Vatersnamen gerufen, sodass ich also auch jetzt gleich den Vornamen weglasse.

Zuerst die beiden Extreme den Körperformen nach: Häckel, Advokatenschreiber. Nach seinen Umrissen ein Herkules. Aber ich habe noch keine Statue des Herkules gesehen, den farnesischen nicht ausgeschlossen, bei dem die Muskulatur so durchgearbeitet, so hervorgetreten wäre. Und trotz dieses gewaltigen Körpers, geschmeidig wie eine Katze, schon mehr wie eine Schlange.

Kretschmar, Kaufmann, d. h. Handlungsbeflissener, speziell Verkäufer in einem Damenkonfektionsgeschäft. Im direkten Gegensatz zu dem riesigen Herkules ein kleines, dürres Männchen. Nur aus Knochen und Sehnen bestehend, alles federnder Stahl. Wo der seine Kraft hernahm, dass er auch z. B. im Hantelstemmen, Steinstoßen und ähnlichen Kraftübungen immer den ersten Preis davontrug, das ist mir so lange ein geheimnisvolles Rätsel geblieben, bis ich erfuhr, wie sich solche Menschen systematisch ausbilden.

Das also waren die beiden Extreme in Körperformen. Die anderen hielten zwischen diesen beiden die Mitte.

Vogel, ebenfalls Handlungsbeflissener, aber aus der Kolonialwarenbranche.

Kaul, Maler und Tapezierer.

Swidersky, Lithograf.

Starke, Schriftsetzer.

Hannemann, Uhrmacher.

Günther, genannt Schnipplich, Schneider.

Dieser letztere bildete noch eine besondere Ausnahme, weil er ein sehr kleiner und sehr dicker Stöpsel war. Von seinen Kameraden wurde er allgemein Schnipplich genannt, welchen Spitznamen er auch bei uns beibehielt, weil er etwas Schnippliches, Zappliges an sich hatte. Das machte aber nur die Schnelligkeit, mit der er seine Übungen ausführte, schon wie er dazu antrat. Alles war so zweckmäßig. Und das hatte er auch im gewöhnlichen Leben an sich. Ob der nun sein Taschentuch hervorholte oder sich eine Zigarre anbrannte, das war alles ein Ruck und ein Zuck. Daher der Name »Schnipplich«. Ich hätte diesen kleinen, dicken Schneidergesellen manchmal für den besten Turner unter den acht gehalten, wenn ich nicht immer wieder zu der Ansicht gekommen wäre, dass überhaupt jeder der beste war. Wenn einer in irgend etwas übertroffen worden war, dann machte er es gleich wieder durch irgend etwas wett, machte etwas vor, dass ich... immer wieder nur Maul und Nase aufsperren konnte.

Wie man sieht, gingen sie alle Berufen nach, die zu solchen Kraftspielen und zu ihrem Körperbau im schreiendsten Gegensatze standen.

Das mag einen anfangs irritieren, bald aber, wenn man sich umso etwas näher kümmert, sieht man ein, wie das alles zusammenhängt.

Männer, die den ganzen Tag schwer körperlich zu arbeiten haben, Lastträger, Maurer, Schmiede und dergleichen, die haben des Abends keine Lust mehr, sich noch mit Gewichten herumzubalgen und am Reck herumzubaumeln.

Das ist schon der eine Grund, weshalb man unter den besten Turnern so viele Männer mit einer ruhigen, sitzenden Beschäftigung findet.

Aber der Hauptgrund ist das nicht.

Dieser lässt sich nicht so leicht erklären.

Hiermit ist ein tiefes physiologisches und auch psychologisches Geheimnis verbunden.

Die indische Philosophie kann dieses Geheimnis erklären, unsere moderne Wissenschaft nicht.

Doch ich will hier nicht philosophisch und okkultistisch werden, nur einiges möchte ich noch andeuten:

Solche Menschen, die ihre körperliche Kraft und Gewandtheit nach jeder Richtung hin bis zur größtmöglichsten Vollendung ausgebildet haben, die haben nicht erst in einem gewissen Alter, wenn sie selbständig denken konnten, den Entschluss gefasst, ich will ein guter Turner werden.

Dann wäre so etwas nicht mehr möglich gewesen. Da nützt der Wille und die Übung allein nicht, das sind geborene Turner, sie sind schon mit Muskeln und stählernen Knochen zur Welt gekommen.

Ihr Kismet, ihr Schicksal hat sie gleich in eine Turnerfamilie hineingeboren werden lassen, oder doch in Verhältnisse, in denen sie von zartesten Kindesbeinen an sich im Turnen geübt haben, zuerst sogar unbewusst.

Ich spreche aus Erfahrung, ich selbst kenne persönlich solch eine Familie, wo schon die kleinen Kinder in der Wiege unbewusst Freiübungen machen. Ich brauche keine Diskretion zu beobachten: es ist die Familie Faber in Leipzig. Alle Mitglieder dieser Familie auch die weiblichen, sind Meisterschaftsturner, ohne einen Beruf daraus zu machen.

Solche Kinder haben dann nichts weiter als die Turnerei im Kopfe. Danach richten sie dann von vornherein ihr ganzes Leben ein, alles bis ins Kleinste, bis aufs Essen und Trinken. Und als Beruf wählen sie sich meist eine ruhige, womöglich sitzende Beschäftigung. —

Doch genug hiervon, soweit es das Allgemeine betrifft. Damals freilich, als ich hörte, dass dieser riesenhafte Herkules mit dieser furchtbaren Muskulatur von seinem vierzehnten Jahre an Schreiber bei einem Advokaten gewesen war, es niemals über 80 Mark im Monat hinausgebracht hatte, da... bin ich doch förmlich erschrocken!

Was lag denn hier für ein Rätsel vor?

Fehlte es dem Manne etwa an Intelligenz?

Ganz und gar nicht! Ganz im Gegenteil! Der hätte ebenso gut studieren können, wenn seine Eltern nur das nötige Geld dazu gehabt hätten. Dann wäre der jetzt Professor gewesen.

Nun, ich lernte die Verhältnisse mit der Zeit kennen. Der war in seinen bescheidenen Verhältnissen eben glücklich.

Und was kann denn der Mensch mehr verlangen? Und im Gegensatz dazu nun sein Extrem, der kleine, dürre Konfektionär.

Ja, der eignete sich dazu, den Damen Kleiderstoffe vorzulegen, Korsetts und Unterhöschen. Dieses zierliche, gewandte, patente, etwas eitle Männchen.

Aber wenn man dieses Männchen, das bis auf die krummen Beine ganz die schwächliche Figur unseres Doktor Isidors hatte, nun nackt sah!

Himmeldonnerwetter noch einmal!

Da hatte man allerdings Grund zum Erschrecken! Gegen diesen nixigen Zwerg konnte auch unser dreizentriger Bootsmann mit seiner Riesenkraft im Ringkampfe nichts ausrichten. Wenn sich das dürre Männchen feststemmte, dann wurzelte es wie ein Eichbaum im Boden. Und griff es richtig zu, dann spritzte tatsächlich unter seinen Fingern sofort das Blut hervor.

Und dann führte dieser kleine Konfektionär ein Kraftkunststückchen aus, das gar nicht zur Turnerei gehörte, das er nur einmal so nebenbei zum Besten gab, sich aber wohl erst eingeübt haben musste: er legte vor sich auf den Boden drei Zentnerkugeln und warf eine nach der anderen schnell empor, immer wieder auffangend, immer wieder hochwerfend — jonglierte also mit ihnen, einige Minuten lang. Ich habe dies von keinem anderen Menschen nachmachen sehen, von keinem professionellen Herkules. Und dieses Männchen verkaufte den Damen Kleiderstoffe, Korsetts und Unterhöschen!

Na, lassen wir es. Aber ich habe damals so gelacht, dass ich dabei weinte.

*

Ja, sie kamen mit, erklärten sich mit allem einverstanden.

Dazu hatte es natürlich längerer Verhandlungen bedurft.

Die wollten doch wissen, wohin und wozu eigentlich. Nun, ich wusste es ihnen zu erklären, ihnen auch etwas den Mund wässerig zu machen.

Turnerschiff — das genügte schon — und was ich nun sonst von unserem Leben schilderte.

Wegen des Gehaltes musste ich schnell sein, sonst machte die Patronin ihre Vorschläge, und die dachte doch natürlich, solche Eliteturner, schon mehr Übermenschen, müsse man stückweise mit Gold aufwiegen.

»Englische Matrosenheuer, wenn wir auch unter deutscher Flagge segeln — monatlich 80 Mark.«

»Wir sollen als Matrosen arbeiten?«

»Als Matrosen? Ja, meine Herren, können Sie denn als Matrosen fahren? Haben Sie die dreijährige Schiffsjungenzeit und eine mindestens einjährige Leichtmatrosenzeit durchgemacht? Oder woher können Sie denn sonst alle Schiffsarbeiten?«

Die Elitemenschen stutzten etwas.

»Ja, was sollen wir denn sonst dort auf dem Schiffe?«, Da begann ich einen Vortrag zu halten, einen sehr, sehr langen.

Und die Patronin staunte und die acht Männer lachten immer wieder aus vollem Halse.

Was ich sprach, worüber die Patronin so staunte und weshalb die acht Turner so lachten, das wird der Leser erst später erfahren, wenn es so weit ist. Sonst würde ich die Pointe vorwegnehmen.

»Ja, gewiss, da machen wir erst recht mit!«, erklang es mit strahlenden Gesichtern.

»Gut. Also 80 Mark im Monat. Für uns gilt der Kontrakt ein Jahr, von heute an gerechnet. Sie können uns jederzeit verlassen, sobald es möglich ist, spätestens aber müssen wir Sie, nachdem Sie den Kontrakt lösen, nach zwei Monaten in einen Hafen gebracht haben, wo eine gute Verbindung nach Hamburg herrscht, Heimreise auf unsere Kosten. Außerdem ist jeder gegen erwerbsunfähig machenden Unfall oder gegen Tod mit 10 000 Mark versichert, innerhalb dieses ersten Probejahres. Wollen Sie jeder eine Adresse angeben, wohin das Geld bei Todesfall geschickt werden soll.«

Die acht Männer staunten ob unserer Großmut.

Das hatte ich aber mit der Patronin vorher verabredet, hatte sie wieder einmal tüchtig in die Kandare nehmen müssen. Dass die nicht wieder gleicht mit Goldklumpen um sich schmiss.

Na ja, wenn man zwei Millionen Dollars auf der Bank hat, eine ganze Zigarrenkiste voll erbsen- bis haselnussgroße Perlen sein eigen nennt und zwanzig Tonnen oder 400 Zentner Goldbarren liegen weiß, dazu noch etliche Fässer voll Diamanten und sonstiges Geschmeide, dann braucht man ja auch nicht so auf die Groschen zu sehen. Aber alle kann's doch einmal werden, wenn man nur tüchtig zu schmeißen weiß. Da hielt ich ihr doch lieber ein bisschen die Hand fest.

Das Turnfest war beendet, auch der letzte Katzenjammer vom letzten Kommers überwunden — na nun vorwärts, auf, nach dem Amazonenstrom!

Vorher aber musste noch eingekauft werden, die Ausrüstung.

Na, das war ja nun wieder so etwas für meine Helene! Aber es machte auch wirklich Spaß, besonders im Waffenladen, wo sich die acht Turner aussuchen konnten, was sie wollten.

Zwar hatten wir ja alles an Bord, aber es war doch auch die lange Fahrt durch die Wildnis zu bedenken.

Und ob es den Turnern Spaß machte, sich die Jagdkostüme und dann besonders die Waffen auszusuchen?

Na und ob!

Oder es wären doch keine Turner und überhaupt keine jungen Männer gewesen! Denn wenn so viele pensionierte Beamte oder Rentiers mit weißen Haaren noch auf den Gedanken kommen, nach dem Schießprügel zu greifen, vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben, um an einem Häslein vorbeizuschießen und noch viel, viel weiter an einem Rebhuhn, dagegen oftmals mit Sicherheit in das Hinterteil eines Treibers — na, dann soll doch die ganze Frisch-Frei-Fromm-Fröhlichkeit der Teufel holen, wenn die nicht erst recht Spaß an so etwas hat!

»Nur nicht genieren, nur nicht genieren!«, musste ich die bescheidenen jungen Männer wiederholt ermuntern. »Es ist die Freifrau von der See, für deren Schutz und Ernährung Sie sich bewaffnen sollen! I nu nee, Häckel, was wollen Sie denn mit dieser leichten Bleispritze, die benutzen Sie doch höchstens nur als Zahnstocher — hier, diese Elefantenbüchse, das ist etwas für Sie — und wenn's dort keine Elefanten gibt, dann schaffen wir einfach erst welche hin. Diesen Revolver, Starke? Für zwei Dollars? Nee, Starke, mit solcher Lumperei fangen wir nicht an. Das Allerteuerste ist für uns Freiherren von der See gerade gut genug.«

So ging es zu, und so ging es weiter.

»Und nun noch ein Dutzend englische Sättel, das habe ich Juba Riata versprochen«, sagte die Patronin, »falls die Matrosen in Para keine solchen oder nur spanische Sättel bekommen haben.«

»Sättel?«, wurde verwundert gefragt. »Wozu denn Sättel?«

»Nun, zum Reiten!«, entgegnete ich.

»Zum Reiten?!«

»Jawohl, zum Reiten. Wir haben Pferde an Bord. Wir reiten in der Takelage auf Pferden herum, bedienen die Segel zu Pferde. Sie glauben's nicht? Auf mein Ehrenwort als Reserveoffizier.«

Dieses Ehrenwort durfte ich geben. Die unter den Rahen gezogenen Taue, auf denen der Matrose beim Arbeiten steht, heißen nämlich Pferde, und die kurzen Taue, an denen er sich festhält, Handpferde.

»Wir sind nämlich in einer Gegend, wo es wilde Pferde gibt«, setzte ich noch hinzu, »die wollen wir fangen und zureiten. Können Sie reiten, meine Herren?«

Nein, kein einziger. Na ja, vielleicht im Hippodrom hatten sie einmal einen Gaul zwischen den Beinen gehabt. Gedient hatten sie alle, Kretschmar und Starke, welch letzterer fremdsprachliche Schulbücher setzte, als Einjährig-Freiwillige — aber zufälligerweise alle bei der Infanterie oder Festungsartillerie. Sechs von ihnen waren als Unteroffiziere entlassen worden.

Also reiten konnte keiner.

Aber ich wusste schon, was ich da erleben würde. »Können Sie reiten, meine Herren?«, hatte ich gefragt Ebenso gut hätte mich der Advokatenschreiber fragen können: »Können Sie eine Klageschrift kopieren?«

Nein, das hatte ich noch nie gemacht.

Diese Meisterschaftsturner schwangen sich doch ganz einfach drauf auf den Gaul und ritten davon, und wenn er bockbeinig werden wollte — na, dann quetschten sie ihn ganz einfach tot.

Wir benutzten gleich wieder einen nach Para gehenden Dampfer, der diesmal freilich einige westindische Inseln anlief, was mir aber ganz lieb war. So gewöhnten sich die Neulinge nach und nach an das tropische Klima. Außerdem ließ ich sie eine kleine Chininkur durchmachen.

An Bord war ein englischer Artist, Luftgymnastiker, Reckturner, der vom dreifachen bis auf das fünffache Reck gekommen war. Es sollte seine letzte Gastreise sein, die er so ziemlich um die ganze Erde machte. Daraus aber sollte nichts werden.

Er hatte seinen Apparat in einem besonderen Abteil des Zwischendecks aufgebaut, übte täglich. Bis er eines Tages jammernd auf der Matratze lag. Er hatte einen mächtigen Schlag gegen den Bauch bekommen.

»Wollen Sie mir den Turnapparat verkaufen?«, fragte ich ihn.

»Was geben Sie dafür?«

Ich kaufte ihn. Er blieb gleich stehen. Meine Turner nahmen ihn gleich in Benutzung.

Noch keiner von ihnen hatte an einem fünffachen oder auch nur doppelten Reck geturnt. Schon eine halbe Stunde später machten sie nicht nur alle die fabelhaften Schwungübungen nach, die sie von dem Artisten gesehen hatten, sondern ein jeder übertraf ihn noch bei weitem!

Stürzen taten sie dabei allerdings oft, machten Fehlgriffe, zumal im Anfange. Ganz halsbrecherisch aussehende Stürze.

Aber wie die sich gegenseitig abfingen!

Und das ist es eben! Nämlich wie die deutschen Vorturner in einem Sonderkursus speziell in diesem Abfangen ausgebildet werden!

Und das war es eben, wozu ich diese systematisch geschulten Turner hauptsächlich zu gebrauchen gedachte. Ich war immer ein sehr guter Turner gewesen. Hatte mich unterdessen weiter ausgebildet, täglich. Am Reck konnten die mir wenig vormachen. Aber von diesem Abfangen hatte ich noch gar keine Ahnung gehabt. Uns fehlte überhaupt ganz die systematische Schulung, die elegante Haltung — die sollten uns die erst beibringen.

In Para kaufte ich von der Werft ein nagelneues Seeboot, einen zehnriemigen Kutter, und es ging den Amazonenstrom hinauf.

Gerudert hatten sie ja alle schon. Gegondelt. Oder auch schon gepullt.

Freilich, wenn ich tüchtige, intelligente Kauffahrteimatrosen habe, so will ich sie bei täglich achtstündiger Übung in einer Woche so weit bringen, dass wir eine Bootsparade mitmachen können. Freilich nur pullen, kein Bootsmanöver, anlegen und absetzen und dergleichen.

Diese acht Eliteturner hier zogen schon nach der ersten Viertelstunde mit einem kraftvollen und eleganten Takt durch, dass auch Prinz Heinrich seine Freude daran gehabt hätte! Und dessen eingepullte Bootsmannschaft steht in der ganzen Welt unerreicht da.

Mit einem Bootsmanöver war freilich noch nichts zu wollen, und ehe sie nur auf Riemen halten konnten, würden sie noch manchen Tropfen schwitzen müssen. Die würden sich überhaupt noch über manches wundern, wenn die mit uns mitmachen wollten! Mit der Turnerei allein ist es noch nicht abgetan.

Jedenfalls aber schossen wir mit einem ganz schneidigen Takt den Strom hinauf, brauchten uns vor keinem Kriegsschiff zu schämen.

Jedoch nahmen wir uns Zeit. Sehr oft wurde gelandet, ich gab reichlich Gelegenheit zur Jagd, jeden Abend legten wir frühzeitig an einem der hier überall vorhandenen Dörfer an.

*

45. Kapitel

Wie wir empfangen werden und
was ich auf dem Plateau erlebe

Originalseiten 1173 — 1223

Am 24. Juli hatten wir das Schiff verlassen, am 30. August, nach fünfwöchentlicher Abwesenheit, tauchte es vor uns wieder auf. Ach dieser trauliche Anblick im brasilianischen Urwalde! Ich verstand, weshalb die Patronin so aufjubelte.

»Sie kommen, sie kommen!«, jubelte da ein Kinderstimmchen zurück. »Die Tante, die Tante — der Onkel, der Onkel — sie kommen, sie kommen!«

Na, das war ja eine schöne Zucht an Bord!

Erspäht die kleine Ilse zuerst den nahenden Feind!

Aber das Kind hatte eben zufällig gerade nach der Inselecke geblickt, hinter der wir hervorgeschossen kamen.

Dann schlugen wütend die Hunde an, und bis sich ihr drohendes Bellen in ein Freudengeheul verwandelte, hatten wir das Schiff erreicht, legten mit möglichster Schneidigkeit an der Falltreppe bei.

»Wat sin denn dat for Seutratten?«, erklang es da dort oben verächtlich aus Matrosenmund. »Wat späln dee denn for Sößunsöchzig?«

Ei die Dunnerwetter! Ich hatte meine acht Puller während der langen, langen Stromfahrt doch wenigstens hundert Mal anlegen lassen, hatte ihnen alles und alles erklärt und gezeigt, hatte ihnen jeden Griff vorgemacht — jetzt war es früh in der achten Stunde, sie hatten eine ruhige Nacht hinter sich, hatten gut geschlafen, waren also bei ganz, frischen Kräften, und natürlich hatten sie sich jetzt bei diesem Anlegen doch die denkbarste Mühe gegeben, es hatte ja auch ganz famos geklappt — und da sagen die Matrosen dort oben, diese acht Meisterschaftsturner hier unten spielten mit den Riemen sechsundsechzig!

Und sie hatten nämlich recht, diese Matrosen!

Ja, meine lieben Meisterschaftsturner Deutschlands, Ihr werdet noch manches auszuhalten haben, ehe Ihr meinen Argonauten als vollwertig eingereiht werden könnt!

Ich hatte diesen meinen Argonauten doch nicht umsonst nunmehr schon anderthalb Jahre lang täglich den Schweiß in Strömen den Buckel hinunterlaufen lassen!

Ich sprang hinauf. Kapitän Martin kam mir entgegen, nahm eine Pranke aus der Hosentasche, um... sich ein neues Stück Kautabak abzubeißen. Bei dieser Gelegenheit gab er sie mir aber auch gleich.

»Well?«

»Alles wohl. Und an Bord?«

»All right.«

»Kein Unfall?«

»Nee.«

Kein Krankheitsfall?«

»Nee.«

»Wir bringen acht neue Argonauten mit.«

»Well.«

»Die ausgesuchtesten Eliteturner Deutschlands.«

»Well.«

Na, mit dem war ja doch nicht viel anzufangen. Die acht Mann waren hochgekommen.

»Siddy, nimm Dich dieser acht Herren an, bringe sie gut in der Kajüte unter. Es sind Argonauten, sie bleiben bei uns, vorläufig aber sind es die Gäste der Frau Patronin.«

»All right, Waffenmeister. Bitte, kommen Sie, meine Herren. Nehmen Sie das Gepäck gleich mit?«

Die erst so freudestrahlenden Gesichter der umstehenden Matrosen und Heizer hatten sich plötzlich in recht mürrische verwandelt.

»Na, nun vorwärts, Jungens, holt den Herren mal ihr Gepäck herauf!«, fuhr ich sie an.

Sie gehorchten. Ihre Mienen dabei waren mir höchst gleichgültig.

»Gott grüße Sie, Waffenmeister!«, rief jetzt Juba Riata, mir herzlich die Hand schüttelnd, wie er schon die Patronin begrüßt hatte.

Jetzt war Juba ein vollkommener Cowboy, indem er nämlich auch Sporen trug — und was für silberne Dinger mit Fünfmarkrädern — und außerdem duftete er nach Pferd.

An Bord unseres Schiffes schien mir jetzt überhaupt alles mehr nach Pferd als nach Teer zu duften.

»Wie geht's, mein lieber Juba?«

»Nu fein!«, lachte er im ganzen Gesicht.

»Sind wohl schon tüchtig hinter den Gäulen her?«

»Nu!«

»Haben schon viel zugeritten?«

»Nu!«

»Wie steht's sonst oben aus auf dem Plateau?«

»Gehen Sie nur selbst hinauf, ich verrate nichts!«

»Wo sind die Kinder?«

»Alles oben aus dem Plateau, alles! Nur die Wache ist an Bord. Gehen Sie hinauf!«

»Jawohl.«

»Sofort?«

»Na, wenigstens etwas Frühstück will ich noch in aller Schnelligkeit verschlingen...«

»Können Sie auch oben.«

»Ein Bad nehmen, habe es fast nötig.«

»Können Sie auch oben.«

»Na, lassen Sie mir nur wenigstens fünf Minuten Zeit!«, lachte ich.

»Gut, fünf Minuten. Dann kommen Sie hinauf?«

»Jawohl.«

»Oder in einer Viertelstunde, wollen wir sagen«

»Weshalb denn gerade in einer Viertelstunde? Was haben Sie eigentlich?«

»Lassen Sie nur — ich habe tatsächlich etwas vor.«

»Was?«

»Einen Empfang für Sie.«

»Was für einen Empfang?«

»Lassen Sie nur! Sie werden's schon sehen. Gehen Sie allein hinauf?«

»Allein?«

»Nicht mit den Herren, nicht mit... bitte, gehen Sie in einer Viertelstunde allein durch den Tunnel hinauf.«

»Wie Sie wünschen.«

»Also in einer Viertelstunde kommen Sie nach.«

»Jawohl.«

Peitschenmüller entfernte sich schleunigst. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was der wollte.

Ich begrüßte Klothilde und den Doktor und einige andere, packte aus, was ich der kleinen Ilse mitgebracht hatte — die arme Waise, die sie nun geworden! — sah noch einmal nach den acht Turnern, ob sie gut untergebracht waren, wobei ich eine halbpfündige Schinkenscheibe frei aus dem Handgelenk verzehrte. Dann machte ich mich auf den Weg, mit einem Lämpchen ausgerüstet. Durch das Unterholz war noch keine Bahn geschlagen, doch hatte es durch das viele Hin- und Herkriechen natürlich stark gelitten. Aber das war ja bei dieser tropischen Üppigkeit bald wieder zugewachsen.

Ich ersteige den Tunnel, in dem sich nichts verändert hat, habe, wie gesagt, gar keine Ahnung, wie man mich oben empfangen will. Na ja, wahrscheinlich eine Ovation mit Pauken und Posaunen. Vielleicht tuten auch die Kinder mit.

Nach noch nicht einer halben Stunde bin ich oben. Auch durch das Buschwerk des trockenen Flusses muss man noch kriechen, um ins Freie zu kommen.

Jetzt bin ich wirklich oben und im Freien, vor mir liegt die Prärie, genau noch so frischgrün und blumig, wie vor fünf Wochen. Was hier niedergetreten wird, richtet sich über Nacht wohl wieder auf.

Aber kein Mensch ist zu sehen.

Doch da, wie ich noch so dastehe, eben erst aus dem Busche herausgekommen bin, schwirrt plötzlich etwas Schwarzes vor meinen Augen, es legt sich etwas um meinen Leib, wie eine Schlinge, schnürt mir die Arme fest, und ehe ich mich versehe, kriege ich von hinten einen mächtigen Ruck, dass ich gleich rücklings in die Knie sacke, dann liege ich auch schon vollends auf dem Rücken und plötzlich kriebelt und wiebelt es um mich herum von kleinen, halbnacktem rotbraunen Gestalten von Indianern in Miniaturausgabe will ich gleich sagen — und ehe ich mich weiter versehe, sind mir meine Hände auch schon vollends gefesselt, desgleichen die Füße.


Illustration

Ich hätte mich tatsächlich nicht wehren können, wenn ich es auch gewollt hätte.

Und da setzt auch schon so ein kleiner Indianer seinen Fuß auf meine Brust, macht ein fürchterliches Gesicht, rollt drohend die Augen und sagt in fürchterlichem Ton, aber auf gut Deutsch:

»Hugh! Was macht das Blassgesicht auf den Jagdgründen der Komantschen?!«

Na, da guten Morgen.

So wird der Herr Waffenmeister von seinen Zöglingen empfangen!

Na, nun wusste ich's.

Meine Kinder spielten Indianers.

Recht so!

Jeder Junge hat doch wohl Indianerschmöker gelesen — und es gibt gar vortreffliche darunter, sie brauchen nicht gerade von Cooper oder »nachempfunden« zu sein — und kein tüchtiger Junge, der dann nicht auch »Indianers« gespielt hat. Mindestens zeugte das von großer Phantasielosigkeit, die sich wohl auch später im praktischen Leben als Mangel an Unternehmungsgeist fühlbar machen wird.

Wir Jungen seinerzeit haben alle »Indianers und Trappers« gespielt, haben einander die imaginäre Kopfhaut abgezogen und im Walde ganz reelle Lagerfeuer angezündet.

Die Jungens heute machen es auch noch.

Nur ist zwischen damals und heute ein kleiner Unterschied.

Wir haben damals deswegen, hauptsächlich wegen der Lagerfeuer, erst vom Förster und dann vom Lehrer den Hosenboden voll bekommen.

Heute werden die Jungen als »Pfadfinder« von oben her protegiert und organisiert und von ihren Lehrern bei ihren Indianerspielen angeführt.

Also sind wir Jungens von anno dazumal es gewesen, die diese ganze Sache erst in Gang gebracht haben, wir haben dafür die Märtyrerprügel erlitten. Hut ab vor uns!

Und außerdem ist es sehr schade, dass die »Pfadfinder« auch erst von England importiert worden sind.

Mehr Originalität, meine Herren, mehr Originalität! — —

Ich will den Miniatur-Indianer, den ich da erblickte, ganz genau beschreiben, und zwar gilt diese Beschreibung für alle. Ich fange von unten an und gehe zollweise nach oben.

Mokassins aus weichgegerbtem Leder, sehr sauber genäht, sehr hübsch gestickt.

Lederne Leggins — auf gut Deutsch Hosen — sicher gleichfalls eigene Arbeit, an den Seiten Fransen.

Festgehalten wurden die Leggins durch einen Gürtel, an dem... Skalpe hingen!

»Jawohl, echte Skalpe!«

Denn ein Lappen zusammengeschrumpelte Haut, an dem sich eine Haarlocke befindet, das nennt man doch wohl einen Skalp.

Was sonst noch in dem Gürtel steckte oder daran baumelte, das werde ich später beschreiben.

Der Oberkörper war nackt und von der Sonne schon so braunrot gebrannt, dass sein Besitzer als ganz echter kupferroter Indianer durchgehen konnte, und dasselbe galt von dem Gesicht.

Bemerkenswert war, dass jeder der Zwergindianer, die ich hier erblickte, in der Mitte der Brust ein spannenlanges Herz von gelbem Tuch angepappt hatte, mit Harz befestigt, dessen Zweck mir später erläutert werden sollte. Es mochte eben das Totem sein.

Tätowierungen und Malereien am Körper fehlten, nur das Gesicht zeigte einige Striche und Punkte von schwarzer und weißer Farbe, wodurch auch das pausbäckigste, gutmütigste Kindergesicht ein ungemein wildes Aussehen bekam.

Und nun schließlich in der Mitte des glattrasierten Schädels eine prachtvolle Skalplocke, geschmückt mit einer langen, gelben Feder.

Wo die Jungen, die immer ganz kurz geschnittenes Haar tragen mussten, plötzlich so eine lange Wirbellocke herbekamen, das wurde mir ja bald klar. Einfach eine Perücke, wohl aus einer Fischblase hergestellt, daran eine steife Locke aus Pferdehaar. Das war der Skalp, den sie dem besiegten Feinde abnahmen, um ihn sich als Trophäe an den Gürtel zu hängen.

Alle, die ich hier erblickte, gehörten zur gelben Partei, hatten auf der Brust gelbe Herzen und auf dem Kopfe eine gelbe Feder, also würde die blaue Partei eben ihre Farbe tragen.

Nun wieder zum Gürtel. An diesem hingen verschiedene Beutelchen, die natürlich alles enthielten, was der Wald- oder Prärieläufer immer bei der Hand haben muss, beim Indianer durfte sicher auch der Medizinbeutel nicht fehlen — dann steckte darin und noch in der Scheide das lange, starke Schiffsmesser, das auch diese Jungen, wenn sie in der Takelage arbeiten sollten, unbedingt haben mussten, und ferner ein ganz regelrechter Tomahawk, eine Axt, aber doch etwas anders, besonders auch mit schön geschnitztem und geschmücktem Griffe, und dann von etwas kleinerem Format.

Auch Bogen und auf dem Rücken hängende Pfeilköcher erblickte ich, alles saubere, kunstvolle Arbeit, da gab es keine solche zusammengebundene Stümpereien, wie man sie bei indianerspielenden Kindern manchmal sieht, das schien hier alles ganz echte indianische Hausarbeit zu sein — und dann vor allen Dingen hatte jeder in der Hand oder auf dem Rücken noch ein Gewehr, über deren Herkunft ich mir nicht gleich klar werden konnte.

Es waren kleine Gewehre, Teschings, aber mit kürzerem Lauf — Miniatur-Kugelbüchsen. Das Schloss konnte ich nicht richtig erkennen.

Wo hatten sie denn die her? An Bord hatte es die nicht gegeben.

Nun, ich würde es schon später erfahren.

Jedenfalls waren es ganz waschechte Rothäute. So realistisch hatten wir Jungens uns nicht ausstaffiert, hätten freilich auch gar keine Möglichkeit dazu gehabt.

Und nun außerdem zeigten alle diese kleinen Indianer für ihr Alter, selbst jeder fünfjährige Knirps, eine Muskulatur, die das Staunen eines jeden Menschen und besonders auch das höchste Interesse eines jeden Arztes hervorrufen musste!

Über diese ausgebildete Muskulatur, die ich allen Kindern ohne Ausnahme innerhalb eines halben Jahres beigebracht hatte — angeschöpft, hätte ich beinahe gesagt — darüber werde ich später noch einiges zu sagen haben.

Es war Otto, der Sohn der Mama Bombe, der mir den Fuß auf die Brust setzte. Wie ich gleich bemerkte, war er durch ein besonders großes Herz und durch eine besonders schöne Skalplocke und desgleichen Feder als Häuptling ausgezeichnet.

»Howgh! Was macht das Blassgesicht auf den Jagdgründen der Komantschen?!«

So hatte der Indianerhäuptling grimmig gefragt, und ich bin und war nicht derjenige, der lange Zeit zur Antwort brauchte, meine Beobachtungen machte ich so nach und nach. Ich fand mich sofort in meine Rolle.

»Ich bin ein harmloser Jäger, der nicht wusste, dass dies die Jagdgründe der tapferen Komantschen sind, deren Ruhm die ganze Welt erfüllt!«, gab ich zurück.

Kein Zeichen des Beifalls. Immer finsterer blickten die Augen in den wilden Gesichtern auf mich herab. Meine Lobhudelei schien also nicht viel genützt zu haben.

»Hat das Blassgesicht schon einen Namen?«

Die waren ja schon ganz gut beschlagen! Wenn's wahr ist, was in den besseren Schmökern steht, dann bekommt der Indianer erst einen Namen, wenn er eine kühne Tat vollbracht hat.

»Meine weißen Brüder nennen mich den Meister der Waffen.«

»Den Meister der Waffen!«, wiederholte der kleine Häuptling gravitätisch. »Der starke Bär, der große Häuptling der Komantschen, wird prüfen, ob das Blassgesicht die Wahrheit spricht. Hat der weiße Jäger eine gespaltene Zunge, so wird er am Marterpfahl sterben. Uff! Der starke Bär hat gesprochen.«

Und da geschah etwas, was ich auch niemals für möglich gehalten hätte!

Er hob die Hand und winkte, und da...

Da galoppierten hinter der Felsengruppe, neben der wir uns befanden, ein Dutzend Pferde hervor, auf ihren mit Decken, aber auch mit Pantherfellen belegten Rücken saßen einige solcher kleinen Indianer, führten die ledigen Tiere an Lassos.

Ich staunte ja nicht schlecht!

Hatten sich diese Jungens als ganz regelrechte Komantschen sogar schon beritten gemacht!

Dass Juba Riata unterdessen schon Pferde gefangen und gebändigt und zugeritten hatte, dass glaubte ich ja, das hatte er mir vorhin ja selbst gesagt — aber sogar schon alle diese Kinder zu Pferde...

Ja, und was waren denn das für Pferde?!

Ich hatte damals in der kurzen Zeit, da ich auf dem Plateau geweilt, nur große, stattliche Tiere gesehen.

Das hier aber waren Ponys, den Shetländern ähnlich, auch so struppig, trotzdem aber sehr schöne Tiere, ungemein kräftig und doch von eleganten Formen, und außerdem alle gescheckt.

Wo kamen denn die her?

Gab es hier zweierlei Pferderassen, eine große und eine kleine?

Nun, ich würde dies alles ja später erfahren.

Jetzt erst bemerkte ich, dass alle auch mit Lasso und mit federgeschmückter Lanze versehen waren, eine ganz achtunggebietende Lanze mit glänzender Stahlspitze.

»Uff!«

Und ich, der ich halb aufgerichtet dasaß, bekam, während mir gleichzeitig die Fußfesseln gelöst wurden, einen Stoß mit der umgekehrten Lanze in den Rücken, gar nicht so sanft.

Na, wartet nur, meine Jungens, wenn ich nicht mehr Euer Gefangener bin!

Sie schwangen sich auf ihre Gäule.

Prachtvoll, großartig!

Und dann wurde ich, mit noch besser umschnürten Händen, am kurzen Lasso oder gleich an zweien zwischen zwei Reiter genommen, musste zwischen ihnen herlaufen, rennen, die Pferde schlugen einen ganz gehörigen Trab an. Das fand ich ja nun weniger prachtvoll und großartig.

So eine gemeine Schwefelbande!

Lassen die ihren Herrn und Meister und Erzieher mit gebundenen Händen zwischen zwei Gäulen in vollem Trabe rennen!

Na, wenn ich Euch erst wieder als Schiffsjungen an Bord habe, dann will ich Euch doch...

Doch Spaß beiseite!

Die Kerlchen hatten ihre Sache großartig gemacht!

Da musste man Respekt bekommen!

Ich war vollständig überrumpelt worden — aber auch vollständig! Den Lasso von hinten über den Kopf geworfen, und ich hatte dagelegen. Da war ich auch schon an Händen und Füßen gefesselt gewesen. Und das war nicht etwa nur so eine Spielerei, auf die ich einging — nein, ich hätte mich wirklich nicht wehren können, ganz ausgeschlossen. Es war zu plötzlich gekommen und zu geschickt gemacht worden. Diese Knoten hielten, diese Lederbanden zu sprengen war keine Möglichkeit. Und ich musste hier zwischen den Pferden mitlaufen, ob ich wollte oder nicht!


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Der Waffenmeister wurde mit umschnürten Händen am kurzen
Lasso genommen und musste in ziemlich scharfem Tempo laufen.


Zu meinem Glück war unser Ziel nicht weit. Ein Wäldchen, oder nur ein größerer Platz, der mit hohen Bäumen ziemlich eng umstanden war. Hier und da sah ich auf einem hohen Aste eine kleine Rothaut sitzen. Das waren die Wächter des Lagers, die das hohe Gras beobachten mussten, in dem ein Anschleichen doch sehr leicht möglich gewesen wäre.

Denn dass die Gelbherzen mit den Blauherzen, von denen auch die Skalpe stammten, im Kampfe lagen, dass sich die beiden Indianerstämme auf dem Kriegspfade befanden, daran war ja für mich gar kein Zweifel.

Ich war doch wirklich auf die spätere Erklärung gespannt, wie die diesen Krieg führten, in welchem Falle sie einen Skalp erbeuteten. Der Tote wurde dann natürlich schnell wiedergeboren, sein Skalp wuchs ihm gleich wieder nach. Aber der Sieger hatte dann einen feindlichen Skalps erbeutet, das war natürlich die Hauptsache. Wir hatten es früher so mit unseren Schülermützen gemacht, bei uns gab die Besiegung im Ringkampf den Ausschlag, was hier aber wegen der großen Verschiedenheit des Alters und daher der Körperstärke wohl nicht angebracht war.

In der Mitte der Waldblöße standen drei Wigwams. Ganz regelrechte. Vielleicht nur etwas kleiner als wie für normale Indianer. Aber sonst ganz regelrecht aufgebaut und ausgeführt, aus Lederhäuten, mit grotesken Tiergestalten und sonstigen Figuren bemalt. Die gelbe Farbe herrschte vor.

Dann brannten zwei große Lagerfeuer, über dem einen schmorte ein mächtiger Braten, jedenfalls eine Ziege. Gedreht wurde der Spieß von einem Indianer. Weiber und Kinder konnte ich natürlich nicht verlangen.

Meine Begleiter saßen ab, die Pferde wurden regelrecht gekoppelt. Oder vielmehr gehobbelt, wie es im wilden Westen heißt. Die Vorderfüße wurden ihnen so zusammengebunden, dass sie beim Weiden nur kleine Schrittchen machen, nicht entfliehen konnten.

Und die Kerlchen machten das alles, als wären sie geborene Rothäute, aber schon ausgewachsene Krieger!

Die mussten ja in den fünf Wochen tüchtig ausgebildet worden sein! Natürlich von Juba Riata. Viel faulenzen aber hatten die jedenfalls nicht können, und... gelernt bleibt gelernt, sogar das Pferdehobbeln.

Mir wurde bedeutet, mich in einiger Entfernung von den Feuern niederzulassen. Zwei Wächter blieben bei mir, und mit deren handbereiten Tomahawks wäre gar nicht zu spaßen gewesen. Auch im Ernstfalle hätte ich bei diesen Kindern nicht so leicht eine Flucht gewagt.

Die anderen ließen sich an dem Lagerfeuer ohne Braten nieder, zur Beratung. Erst aber wurden Pfeifenrohre aus dem Gürtel gezogen, andere steckten den Pfeifenkopf an den hohlen Stiel ihres Tomahawks, und gravitätisch wurde einige Zeit geraucht.

Doch nein, sie rauchten nur kalt. Gestopft hatten sie den Kopf aus einem Beutel, hatten wenigstens so getan, hatten auch mit einem Luntenfeuerzeug Funken geschlagen aber Qualm gab's nicht.

Und doch, als ich dann einige solcher Pfeifen näher betrachtete, da merkte ich, dass sie alle ganz regelrecht nach Tabak rochen, die Steinköpfe auch schon angeräuchert waren, und das hatten nicht etwa die Matrosen getan.

Na, meinetwegen. Da bin ich nicht so. Wir haben als zehnjährige Indianer auch schon die Friedenspfeife geraucht, auch andere Pfeifen, auch Zigarren, haben uns dann hinter einen Busch gestellt und mit bleichem Gesicht den Magen umgekrempelt. Und haben uns hochbeglückt als ganze Männer gefühlt.

Als ich diese Kinder übernahm, da hatte schon mancher der fliegenden Engel bei jeder Gelegenheit sein Zigarettchen ganz offen geraucht. Das hatte ich ihnen nun freilich schleunigst aus den Fingern geschlagen. Es gab überhaupt kein Rauchen, direktes Verbot!

Wenn sie aber hier einmal heimlich eine Pfeife rauchten, weil sie Sehnsucht danach hatten, oder weil es nun einmal zu ihrer »Vollkommenheit« gehörte — na, da hätte ich nichts dagegen gehabt. Das heißt, ich hätte es nicht gesehen. Am wenigsten, wenn sie den Indianer markierten.

Dem Indianer ist der Tabak eine hochheilige Pflanze. Als Manitou, der große Geist, den Menschen geschaffen, seinen roten Sohn, und nun die Erde verließ, auf der er bisher gesessen, da sprosste dort, wo seine rechte Hand geruht, der Mais hervor, und dort, wo seine linke Hand gelegen, wuchs der Tabak. Der Mais zur wirklichen Stillung des Hungers, der Tabak zur vermeintlichen Stillung, zur Besänftigung des knurrenden Magens, falls der Mais einmal missriet. Gar nicht so dumm ausgedacht!

Deshalb ist der Tabak als Geschenk des großen Geistes dem Indianer auch tatsächlich heilig, es werden beim Rauchen viele Zeremonien getrieben. Deshalb die heilige Friedenspfeife, gemeinschaftliches Rauchen gilt als Schwur, das Calumet spielt ja überhaupt eine große Rolle. Die indianische Tabakspfeife ist Gegenstand einer eigenen Forschung geworden, es existiert darüber eine eigene Literatur. Genau so, wie bei uns die alten Wappen vergangener Geschlechter studiert werden.

Matrosen sind die ersten gewesen, welche mit den Ureinwohnern Amerikas in Berührung kamen. Matrosen haben den Tabak, nach Salz heute das unentbehrlichste Bedürfnis des Menschen, über die ganze Erde verbreitet. Es ist ganz merkwürdig, wie die Seeleute aller Nationen die indianische Ehrfurcht für den Tabak mit übernommen haben. Inwiefern diese Ehrfurcht, das kann man aber nur verstehen, wenn man selbst Seemann ist. Jedenfalls kann sich der heutige Seemann die Seefahrt ohne Tabak gar nicht mehr vorstellen und dass der Mangel an Tabak beim Anlaufen eines Hafens als halbe Seenot gilt, die Hafengebühren bedeutend erleichtert, habe ich ja schon einmal gesagt.

Schon der vierzehnjährige Schiffsjunge darf rauchen. Allerdings nur mit jedes Mal bei den Matrosen eingeholter Erlaubnis, die ihm nur gegeben wird, wenn er ein tüchtiger Kerl ist. Zum Kauen des Tabaks dagegen wird er direkt angehalten.

Weshalb? Weil ohne Tabakkauen bei dem heutigen Salzfleisch sofort der Skorbut ausbrechen würde! Als die Seefahrer noch keinen Tabak hatten, da gab es auch noch kein Salzfleisch, nur getrocknetes und geräuchertes, welches bald von Würmern wimmelt. Erst der Tabak hat die dauernde Ernährung durch Salzfleisch möglich gemacht. Was man aber damals noch gar nicht gewusst hat. Das ist ein ganz, ganz merkwürdiges Zusammengreifen gewesen! —

Die kalte Pfeife der nachdenklichen Sammlung war ausgeraucht, wurde ausgeklopft, der Steinkopf in das Beutelchen, das lange Rohr oder der Tomahawk in den Gürtel zurückgesteckt.

Jetzt hielten sie Beratung ab.

Ganz nach indianischer Weise.

Es imponierte mir wirklich äußerst. Mädchen bringen so etwas nicht fertig.

Die können keine »Indianers« oder »Indianersch« spielen.

Das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Wenn ich auch Ausnahmen zulassen will. Stadtrat Piekers Grete zum Beispiel konnte es ganz ausgezeichnet, die durfte an unserem Beratungsfeuer mit teilnehmen. Denn die war taubstumm.

Diese meine Jungens hier machten als waschechte Indianer so wenig Worte wie möglich. Sogar eine Zeichensprache hatten sie sich schon zurechtgelegt.

Dann erhoben sie sich, König Otto der Achte, als Komantschenhäuptling der starke Bär, trat auf mich zu.

»Der Meister der Waffen wird beweisen, dass er diesen Namen mit Recht führt.«

»Ich werde es beweisen.«

»Er wird mit mir kämpfen.«

Kämpfen mit dem Knirps? Na, da war ich doch gespannt, wie nun das wieder arrangiert werden sollte.

Nun, das war ganz einfach. Es gibt einen Waffenkampf, bei dem man sich nicht gegenseitig abzuschlachten braucht. Man kann doch auch um die Wette schießen.

Und um so etwas handelte es sich auch hier.

An einen Baumstamm wurde in Kopfhöhe solch ein Tuchherz befestigt, der Häuptling ging hin, entfernte sich mit zehn großen Schritten, die bei einem Erwachsenen vielleicht sechs ausmachten, sieben Meter, drehte sich um, zog sein Schiffs- oder vielmehr Skalpiermesser, nahm die Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt es im erhobenen Arm etwas über die Schulter, visierte, ein kräftiger Schleuderruck — und zitternd steckte das Messer tief in dem Baume, hatte das Herz ziemlich in der Mitte durchbohrt.

Dabei hatte es sich nicht in der Luft herumgewirbelt, sondern hatte nur eine halbe Umdrehung gemacht.

Hallo!

Ich war doch ganz starr! Nein, das konnte ich nicht, darauf war ich nicht geeicht.

Obgleich ich im Messerwerfen einige Erfahrung hatte, Früher war nämlich das Messerwerfen bei den Seeleuten allgemein üblich, wurde also als Sport geübt, auch für den Ernstfall verwendbar. Es hörte immer mehr auf. Zuletzt betrieben es nur noch die englischen Matrosen. Jetzt auch diese nicht mehr, es ist durch das Boxen ganz verdrängt worden.

Immerhin, wenn das Gespräch darauf kommt, probiert man es doch einmal wieder, mit dem Messer nach einem Ziel zu werfen.

Das ist gar nicht so einfach. Man trifft wohl das Ziel, aber nicht mit der Spitze. Das Messer dreht sich schnell im Kreise, und es ist nur Zufall, wenn es gerade mit der Spitze auftrifft. Es kommt darauf an, dass das Messer nur eine halbe Umdrehung macht, oder nur eine viertel oder gar keine, je nachdem wie man es anfasst, bei der Spitze oder beim Heft, wie man es sich eben einmal eingeübt hat. Oder solche Meisterschaftswerfer lassen es sich auch zweimal oder dreimal oder sehr viele Male umdrehen, ganz wie sie wollen.

Das ist nicht so leicht wie es aussieht. Es kommt auf eine gewisse Bewegung an, oder auf irgend etwas, was man nicht definieren kann. Das ist gerade so wie etwa bei dem Doppelkreisel, Diabalo oder wie das Ding heißt, welches die Kinder mit einer ausgestreckten Schnur aufheben und in der Luft tanzen lassen. Das probiert man und probiert man, das Teufelsding will nicht an der Schnur kleben bleiben, so schwitzt man einige Stunden lang — bis es mit einem Male geht. Weshalb das Ding jetzt plötzlich tanzt, das weiß man gar nicht. O, es ist ganz interessant, auch für einen alten Mann, wenn er sich einmal mit solch einem Teufelsding abmüht und sich von den Kindern mit seiner Gelehrsamkeit auslachen lässt. Diese Stunden sind durchaus nicht unnütz verbracht, jedenfalls nützlicher als beim Kartenspiel.

Ich hatte das Messerwerfen probiert, es nicht gebracht, mich auch nicht weiter darin geübt. Nein, das konnte ich nicht nachmachen.

»Junge, wer hat Euch denn das beigebracht?!«, fiel ich da vor Staunen aus meiner Rolle.

Dass unter meinen Leuten ein Messerwerfer war, das wusste ich gar nicht.

Das Messer wurde aus dem Herzen entfernt, der starke Bär — oder Otto, der er jetzt für mich war — zog seinen kleinen und doch als Waffe ganz beträchtlichen Tomahawk aus dem Gürtel, den Arm zum Wurf zurückgelegt — sausend durchschnitt die blitzende Axt die Luft, hatte das Herz glatt durchschnitten, stak tief drin in der Baumrinde.

»Nanu! Hat das Euch Juba Riata gelehrt?!«

»Howgh! Das Blassgesicht spricht wie eine Squaw!«, erklang es verächtlich zurück. »Kann der Meister der Waffen das Messer und den Tomahawk auch so schleudern?«

»Na, versuchen will ich es doch einmal!«

Ich war aufgesprungen, meine Hände wurden mir entfesselt.

»Wenn das Blassgesicht an Flucht denkt, so wird es die Schärfe meines Tomahawks fühlen!«, wurde dabei gesagt.

Ich achtete nicht weiter darauf, fiel immer mehr aus der Rolle. Denn ich wurde immer mehr Feuer und Flamme. Inzwischen hatten nämlich auch andere »Krieger« Messer und Tomahawk geschleudert, den Baum hatten sie alle getroffen, stets blieb Spitze oder Schneide im Holz haften, die meisten hatten auch das Herz getroffen, allerdings keiner mit solcher Sicherheit, Kraft und Eleganz wie ihr kleiner Häuptling.

Man hatte Otto eben nicht umsonst zum Häuptling erwählt. Der Stärkste war er ja lange nicht, aber jedenfalls der Geschickteste und dann vor allen Dingen der Intelligenteste, das hatte ich ja schon immer gewusst. Nur dass es bei meiner Erziehung keinen Unteroffizier und keine andere führende oder beaufsichtigende Rolle gab. Es existierten nur zwei Farben, die miteinander wetteiferten, mit Ausschluss jeder Persönlichkeit.

Ich schleuderte ein Messer. Mit einem Male war ich nämlich der Meinung, dass es doch ganz einfach sein müsse. Denn es hatte immer so überaus einfach ausgesehen, wie diese noch nicht einmal halbwüchsigen Jungen Messer und Tomahawk geworfen hatten.

Nichts war es! Wohl traf ich das Herz mit dem Messer, aber es klapperte nur dagegen, immer und immer wieder, auch nicht der Zufall wollte es, dass es einmal mit der Spitze drin stecken blieb.

Dann ließ ich mir ein Tomahawk geben — nein, es gelang mir nicht, die halbe Drehung herauszubekommen. Entweder es prallte mit dem Stiel oder mit der hinteren Seite gegen den Baumstamm.

»Nein, Waffenmeister, auf diese Weise geht es nicht, da müssen Sie das Messer wie das Beil ganz anders anfassen.«

Das hatte Juba Riata gesagt, der hinter den Bäumen auftauchte.

Sein Dazwischenkommen schützte mich davor, dass ich als Prahlhans an den Marterpfahl gestellt wurde.


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Das Indianerspielen war für mich beendet — vorläufig. Ich wollte auch erst einmal eine sachliche Erklärung haben.

Die gab mir Peitschenmüller, während wir etwas abseits lagerten, dabei dem weiteren Treiben der Miniatur-Indianer zuschauend.

Es hatte den Kindern schon immer im Blute gesteckt, die Indianerspielerei. In der Bibliothek von zirka 2000 Bänden, welche die Patronin damals in Liverpool in aller Schnelligkeit und doch mit guter Auswahl zusammengekauft hatte, befanden sich auch zahlreiche Indianererzählungen, nicht nur die klassischen von Cooper und Ferry und Meyne-Reid. Matrosen interessieren sich für so etwas genau so gut wie andere junge Menschen — germanische Matrosen, meine ich — ja, es ist sogar sehr eigentümlich, wie bescheiden sie da in ihren Ansprüchen sind, wie sie zum Beispiel auch an abenteuerlichen Seegeschichten, von Verfassern geschrieben, die nie ein Schiff gesehen haben, gar keine Kritik üben, wenn sie eben nur durch phantastische Abenteuerlichkeit unterhalten werden, und infolgedessen wird in den Hafenstädten ein schwungvoller Hausierhandel, auf der Straße wie in Hamburg meist mit Karrenwagen, mit solchen Schmökern getrieben.

Für meine 32 Kinder waren diese Indianergeschichten natürlich erst recht etwas, und ich wäre doch der letzte gewesen, der ihnen solche Literatur vorenthalten hätte. Übrigens war auch bei uns das erste Literaturwerk, das in der Schule gelesen wurde, Robinson Crusoe. Nach der heutigen Pädagogik ist so etwas kaum noch denkbar, aber ich sehe schon die Zeit kommen, da der unsterbliche Robinson Crusoe in der Schule wieder zu Ehren kommen wird, und zwar in noch ganz anderer Weise, da er nicht nur gelesen, sondern auch gleich selbsterlebt wird — worüber ich dann noch etwas sagen werde.

An Bord war keine Gelegenheit zum Indianerspielen. Die Jungen hatten hierzu auch tatsächlich keine Zeit. Jede Stunde war durch die Schiffsroutine ausgefüllt.

Schiffsarbeit, körperliche Übungen aller Art und Schulunterricht. Wenn ich für diesen auch täglich eine Stunde oder höchstens zwei für genügend hielt, um das bisschen Lesen und Schreiben und Rechnen beizubringen, was der Mensch braucht, so lange er sich nicht für eine höhere Wissenschaft vorbereitet. Ferner mussten sich die Jungen alles, was sie brauchten, selbst fertigen, ihre Kleider und Strümpfe und Stiefeln, mussten auch abwechselnd unter Meister Kännchens Anleitung ihr Essen selbst kochen, und da war also nicht viel Zeit zum Indianerspielen vorhanden. Anderseits war ja überhaupt ihr ganzes Leben ein Spiel. Ich will hier gleich erledigen, was ich über Robinson Crusoe und die Schule sagen wollte, muss aber dazu eine kleine Einleitung machen.

Im Jahre 1905 starb zu Amiens ein Prophet, wie es einen mit solch prophetischer Gabe wohl selten gegeben hat.

Dieser gottbegnadete Prophet hieß Jules Verne.

Wohl alle meine Leser kennen seine phantastischen Schriften.

Jawohl, phantastisch!

Alles, was dieser Mann, ursprünglich ein armseliger Gerichtsschreiber, einst von Unterseebooten und lenkbaren Luftschiffen und Flugmaschinen geträumt hat, zu einer Zeit, da die andere Welt an so etwas noch gar nicht dachte — alles ist fast buchstäblich in Erfüllung gegangen oder befindet sich auf dem besten Wege der Verwirklichung.

Ganz selbstverständlich hat es seinerzeit nicht an dem nötigen Spott gefehlt, mit dem man diesen unverbesserlichen Phantasten, der sich nur in »Unmöglichkeiten« gefiel, überschüttete.

Ja, das galt sogar von denjenigen seiner Schriften, in denen er gar keine wunderbaren Erfindungen behandelte. Wie zum Beispiel in seiner »Reise um die Erde in 80 Tagen«, erschienen 1873.

Wohl haben damals auch Erwachsene dieses Buch mit Vergnügen gelesen, haben es dann aber lächelnd den Kindern in die Hände gegeben.

»In 80 Tagen um die Erde! Pff! So ein Unsinn, so eine Unmöglichkeit!«

Na und heute? Heute braucht man dazu noch nicht einmal 60 Tage.

Dann aber hat Jules Vernes seinen prophetischen Blick auch auf dem Gebiete der Schule oder überhaupt der Jugenderziehung offenbart, ohne dass dies damals gewürdigt wurde.

»Die Schule der Robinsons!«, heißt diese Erzählung. Kinder werden auf eine Insel gebracht, müssen sich von Grund auf durchs eigenes Nachdenken alles selbst fertigen.

Das, was dieser Dichter damals geträumt hat, wird jetzt bereits in Praxis ausgeübt.

In Nordamerika gibt es schon mehrere solcher »Robinsonschulen«, auch in England schon zwei.

Die Kinder kommen, so bald sie so weit sind — bei schulpflichtigem Alter, das in England mit dem fünften Jahre beginnt, oder schon vorher oder auch erst später, das ist ganz egal — in eine ländliche Kolonie, wo sie alles, was sie zu des Lebens Nahrung und Notdurft gebrauchen, sich selbst erzeugen und anfertigen müssen. Mit dem Urbarmachen des Landes fängt es an, dazu muss sich ein jeder einzelne den ersten Spaten und die erste Hacke selbst schnitzen, mit einem Steinmesser, er lernt eine Messerklinge schmieden, so verfertigt er sich die ersten eisernen Spaten und Hacken — eine kleine Gemeinschaft baut sich die erste Hütte aus Zweigen, daraus wird eine Blockhütte aus rohen Baumstämmen, daraus eine Bretterhütte, daraus ein Fachbau — bis zuletzt ein steinernes Haus entsteht, und alles, alles, was sich darin befindet, ist selbstgefertigt, das Hemd ist aus selbstgebautem Flachs gesponnen und gewebt, die Nähnadel und der Zwirn ist selbstgefertigt, das Tuch zum Anzug ist dem Schafe abgenommen, versponnen und verwebt.

Das, was wir Schulunterricht nennen, ist dabei ganz ausgeschlossen. Das heißt, dass sie dabei mit gefalteten Händen auf der Schulbank sitzen. Na ja, wenn sie lesen und schreiben und die ersten Anfangsgründe des Rechnens lernen, müssen sie dabei wohl still sitzen. Aber dann ist es hiermit vorbei. Alles Weitere erlernen sie eben gleich in der Praxis. Denn bei allem, was sie tun und fertigen, wird ihnen von vorgebildeten Lehrern auch das Woher und Wie und Warum gelehrt, die ganze Mathematik, die uns eingebläut wird, lernen diese Jungen — und auch die Mädchen — bei ihren praktischen Arbeiten. Wenn sie einen Kreis aus Holz aussägen, so haben sie zugleich geometrischen Unterricht aber das wird ihnen alles spielend beigebracht und das eben ist die Hauptsache!

Aber nicht nur das, sondern diese Kinderkolonien verwalten sich auch ganz selbständig, es sind kleine Republiken; wenn nicht einen Präsidenten, so erwählen sie doch ihren Gemeindevorstand, ihre Gemeinderäte, sie haben ihre eigene Gerichtsbarkeit, verhängen Strafen, und so weiter.

Wenn dann diese Kinder, diese Knaben mit 14 Jahren ins Leben treten, dann sind das schon vollkommene Männer, die sich in jeder Lebenslage zurechtfinden, in jeder, darauf darf man sich wohl verlassen. Und dennoch haben sie die schönste Jugendzeit genossen!

Wenn ich dagegen meine Schulzeit bedenke!

Ach, Du lieber Gott! Ach, Du großer Jammer!

Unsere Arbeiter erstreben als Ideal die achtstündige Arbeitszeit.

Wir Kinder hatten täglich außer mittwochs und sonnabends, sieben Schulstunden — und nun außerdem noch diese häuslichen Arbeiten! Mit zehn Stunden täglicher Arbeit konnte man getrost rechnen.

Und was für Ballast wurde uns aufgebürdet! Mit was mussten oder sollten wir unseren Kopf vollpfropfen! Meiner Berechnung nach neunzig Prozent davon... alles für den alten Fritzen!

Ein Glück nur, dass ich so schlau war, niemals Schularbeiten zu machen, und freilich ein weiteres Glück, dass sich auch mein Vater nichts aus meinen Schulzensuren machte. Wenn ich zu Ostern nur eben so gerade mit durchrutschte, damit kein ganzes Jahr verloren ging, dann war es schon gut, mehr verlangte er nicht von mir.

Freilich hatte ich deshalb auch in meiner Kinderzeit immer Sorgen, schwere, schwere Sorgen.

Die schriftlichen Hausarbeiten konnten vor der Schulstunde schnell noch abgeschrieben werden, was man sonst beantworten musste, das wurde vorgesagt, da waren wir mit allen Hunden gehetzt, und wenn der Lehrer daneben stand, da wurde aus weiter Ferne signalisiert, dafür hatten wir eine eigene Zeichensprache erfunden — aber beim Auswendiglernen von längeren Sachen, da hörte doch so etwas auf.

Und ach, was haben wir vor zirka 30 Jahren alles auswendig lernen müssen! Besonders diese Bibelsprüche, diese Gesangbuchlieder!

Ich muss es hier aussprechen. Mir ganz egal, ob ich Anstoß errege. Es ist der heilige Geist, der mich dazu drängt, dem man nicht widerstreben darf.

Ich habe solches Zeug nie auswendig gelernt. Ich hatte keine Zeit dazu.

Und ich bin nie ein schlechter Mensch gewesen, bin keiner geworden. Ja, ich bin in späteren Jahren sogar sehr religiös geworden! Und eigentlich, wenn ich es mir recht überlege, bin ich es sogar immer gewesen!

Und da denke ich nun an einen Schulkameraden. Der Junge hatte ein ganz besonderes Faible für biblische Geschichte und was damit zusammenhängt. Der konnte fast die ganze Bibel auswendig. Wo der und der Spruch stand, die Sprüche herzuschnattern, die Gesangbuchlieder herzudeklamieren, das war seine Lust. Natürlich in Religion immer die Eins, natürlich überhaupt ein Musterknabe, der uns immer als Beispiel hingestellt wurde.

Und was ist aus diesem Jungen geworden?

Er wurde Kaufmann, hatte ein großes Geschäft. Mit betrügerischem Bankrott fing das Zuchthaus an. Aber dabei blieb es nicht, es ging immer weiter. Das letzte, was ich von ihm hörte, war ein Versicherungsschwindel mit Brandstiftung!

Gewiss, es ist eine Ausnahme.

Ja und doch... wo bleibt denn da die Nutzanwendung?

Genug davon!

*

Auch während des fünfwöchigen Aufenthaltes auf der Sandbank war keine richtige Gelegenheit zum Indianerspielen gewesen. Die ganze Umgebung mit dem dunklen und feuchten oder aber undurchdringlichen Urwald eignete sich doch nicht recht dazu. Und die Sandbank selbst war nur ein großer Sportplatz gewesen.

Aber hier in dieser luftigen, gesunden Höhe, auf diesen Prärien und in diesen parkähnlichen Wäldern, da war ja nun alles wie dazu geschaffen, um »Indianers« zu spielen. Und nun außerdem Pferde!

Ich hatte ja diese Gegend gleich am zweiten Tage wieder verlassen, hatte von dem Plateau gar nichts weiter zu sehen bekommen.

»Also nicht wahr, Juba Riata. Sie lassen die Kinder hier einmal nach Herzenslust spielen!«, hatte ich beim Abschied gesagt.

»Ohne Sorge, ich will aus den Bengels schon ganz waschechte Rothäute machen!«, hatte Peitschenmüller gelacht.

Zufälligerweise waren wieder fünf Wochen vergangen, bis wir zurückkamen.

Ich hatte ja in dieser Zeit oftmals daran gedacht, erwartete bestimmt, hier die Kinder beim Indianerspiel zu finden... aber dass sie mir, von Juba Riata schnell instruiert, solch einen Empfang bereiten würden, das freilich hatte ich nicht erwartet.

Peitschenmüller berichtete ausführlich.

Alles, was ich an ihnen und sonst hier sah, hatten sie sich selbst gefertigt. Allerdings nicht so ganz buchstäblich genommen, nicht von Grund auf. Für ihre stählernen Tomahawks hatten sie nicht erst Eisenerzlager und Hochöfen mit Puddelanlagen zu errichten brauchen. Stahl war schon genug vorhanden gewesen, die Beile waren ihnen von den Schlossern geschmiedet worden, aber auch viele Matrosen hatten dabei geholfen.

Na ja, wenn sie Bäume für Zeltstangen fällen wollten, Feuerholz zerkleinern und dergleichen, dann mussten sie auch richtige Beile haben, nicht nur solche hölzerne Tomahawks, mit Silberpapier überklebt, wie wir sie uns gefertigt hatten. Wenn schon, denn schon. Und diesen kleinen Männern, von denen jeder allwöchentlich seine Schießbedingungen mit scharfen Patronen aus englischen Infanteriegewehren zu erfüllen hatte, die bei der Arbeit in der Takelage immer das große Schiffsmesser benutzen mussten, denen konnte man auch ganz ruhig scharfe Beile in die Hände geben. Oder sie wären eben nicht diejenigen gewesen, die sie waren. Den Kopf spalteten sie sich nicht gegenseitig, das wussten wir schon.

»Sonst aber haben sie sich alles selbst machen müssen. Erst wurden Ziegen geschossen, sie mussten das Abhäuten lernen, dann das Gerben...«

»Womit haben sie denn die Ziegen geschossen?«, fiel ich ins Wort. »Was sind denn das nur für kleine Gewehre?«

Da erfuhr ich es: Es waren Windbüchsen. So wenigstens werden die Dinger bei uns genannt, Wind- oder Luftbüchsen, ganz fälschlicherweise. Wohl gibt es Luftgewehre, die also mit Luft, nämlich mit komprimierter Luft schießen, aber zu kaufen bekommt man wohl keine. In den sechziger Jahren wurde einmal ein preußisches Kavallerieregiment, oder nur eine Schwadron, mit Windbüchsen ausgerüstet. Sie leisteten fast dasselbe wie Pulvergewehre, aber der Lauf explodierte zu oft. Jetzt hat auch wieder Nordamerika pneumatische Geschütze von kolossalen Dimensionen, die Dynamitbomben schleudern, eingeführt. Weitere Versuche kenne ich nicht.

Das, was wir Luftgewehre nennen, deren Schleuderkraft beruht ganz einfach auf Federmechanismus, hat mit Wind und Luft gar nichts zu tun. So war es auch hier. An Bord hatte sich von jeher ein großer Raum voll Gasrohre befunden, sie waren schon bei der Übernahme des Schiffes vorhanden gewesen, Wozu, das wussten wir nicht. Der erste Maschinist war es gewesen, dem der Gedanke gekommen. In ein möglichst gerades Stück Rohr kam eine Spiralfeder hinein, eine Vorrichtung zum Anspannen und Abschnellen. Korn und Visier, eine besondere Öffnung für die Kugel, sodass es ein moderner Hinterlader wurde, hinten ein Kolben aus Holz daran, und das Gewehr war fertig.

Freilich ist das ja nun leichter gesagt als getan, aber für solche Bordmechaniker ist es tatsächlich eine Kleinigkeit, ach, was müssen die manchmal flicken, und nun gar unser erster Maschinist, dieses alte Männchen, gelernter Grobschmied und jetziger Goldarbeiter, überhaupt ein Tausendkünstler. Der machte, wenn man es verlangte, aus einer alten Kaffeemühle innerhalb weniger Stunden eine brauchbare Weckuhr.

Also der brauchte nur das erste Modell zu fertigen, dann gab es andere Hände genug, um innerhalb eines Tages alle 32 Jungen mit solch einer Waffe zu versehen.

»Wirklich eine ganz brauchbare Büchse«, sagte Juba Riata, in der Hand solch ein Gewehr, an dem er mir die Konstruktion erläutert hatte, »durchaus solid und zuverlässig, selbst eine Sicherung ist hier vorhanden, auf zehn Schritt glatter Kernschuss...«

»Aber ich bitte Sie«, musste ich ihn wiederum unterbrechen, »wie kann man denn nur mit so einem Federdinge eine Ziege erlegen?!«

»Nein, eine Ziege freilich nicht«, lachte Peitschenmüller, »nicht einmal einen Spatzen!«

»Ja, wozu haben sie denn sonst diese Dinger?«

Ich erfuhr es, mein eigener Scharfsinn reichte zur Erklärung nicht aus.

Die ganze Bande bildete zwei Stämme. Die Gelben waren die Komantschen, die Blauen die Apachen. Natürlich mussten sie sich gegenseitig befehden. In welchem Falle nun war ein »Krieger« besiegt, musste dem Gegner seinen Skalp, mit der Feder seiner Farbe geschmückt, ausliefern, wenn ein Ringkampf wegen der großen Verschiedenheit des Alters und daher der Körperstärke nicht in Betracht kommen konnte?

Ich betone ausdrücklich, dass die Jungen selbst dieses Problem in einer Beratung gelöst hatten. Die Sache war wirklich gar nicht so einfach gewesen.

Es wuchs hier oben überall, wie auch unten, ein Strauch, der schwarze Beeren trug, so groß wie die Vogelbeeren. Seinen botanischen Namen habe ich gar nicht erfahren können, die in Brasilien einheimischen Portugiesen nennen diese Pflanze Yammaia.

Die sehr dünnschaligen Beeren enthalten einen schwarzen, dickflüssigen, klebrigen, teerähnlichen Saft, sind ungenießbar, werden auch sonst nicht verwendet.

Durch diese Beeren waren die Jungen auf den genialen Gedanken gekommen. Sie halten wohl einen kleinen Druck zwischen den Fingern aus, wenn sie aber heftiger aufschlagen, dann platzen sie, der schwarze Saft, ganz harmlos, ist nicht so leicht wieder zu entfernen.

Also jeder Krieger musste auf der Brust ein spannengroßes Tuchherz von seiner Farbe tragen, mit etwas Baumharz darauf geklebt. Als erste Schusswaffe hatten Blaserohre gedient, aus Bambus gefertigt. Als der erste Maschinist davon gehört, war der gleich auf den Gedanken gekommen, hatte die Blaserohre durch richtige Gewehre ersetzt, oder doch durch Rohre, mit denen man so einigermaßen richtig zielen und schießen konnte.

Nun handelte es sich also darum, den Feind zu beschleichen und ihm einen »tödlichen« Schuss ins Herz beizubringen. Andere »Verwundungen« zählten nicht mit. Platzte die Beere, die Kugel auf dem Herzen, dann färbte der Saft den Tuchlappen schwarz, dann war der Getroffene einfach tot, hatte liegen zu bleiben und zu warten, bis ihm der Sieger den Skalp abgenommen hatte.

Dann durfte der Skalpierte wieder lebendig werden oder nein, noch nicht so ganz, ohne Skalp durfte er sich nur erheben, seine Waffen mitnehmen, musste aber ganz still nach Hause gehen. Erst wenn er sich in seinem Wigwam einen neuen Skalp aufgeklebt und sein geschwärztes Herz wieder gewaschen hatte, war er wieder ein lebendiger Mensch durfte von neuem den Kriegspfad betreten.

Wirklich ganz genial ausgedacht! Man muss sich in die Sache nur richtig hinein versetzen, um diese Genialität zu begreifen. Es handelte sich hierbei um einen ganz richtigen Kampf um Tod und Leben, ohne dass die Geschichte irgendwie gefährlich werden konnte. Dann waren durch gegenseitiges Übereinkommen alle Kampfregeln auch bis ins Kleinste ausgearbeitet. Wenn sich zwei feindliche Indianer gegenüberstanden, durch gegenseitiges Beschleichen womöglich ganz unvermutet, so kam es eben darauf an, wer am schnellsten sein Gewehr anschlug und den tödlichen Schuss am sichersten abgab. Und nicht etwa, dass sich jemand schnell auf den Bauch warf oder dem Gegner den Rücken zukehrte, damit der sein Herz nicht treffen konnte! So etwas gibt es beim Indianer natürlich nicht, der sich die Skalplocke nur deshalb stehen lässt, um dem Gegner eine gute Handhabe zu geben, dass der ihm recht bequem die Kopfhaut abziehen kann. Immer frei dem Feinde Brust und Herz geboten. Nur auf die Geschicklichkeit des Anschleichens kam es an, oder auf die Schnelligkeit der Hand.

Und dann war die Sache immer noch nicht so einfach. Wohl musste der einmal ins Herz Getroffene sofort niederstürzen, aber seinen Skalp brauchte er deshalb noch nicht verloren zu haben, den musste der vorläufige Sieger ihm selbst abnehmen. Aber der Getroffene konnte ja Stammesgenossen in der Nähe haben. Die eilten herbei, um wenigstens noch seinen Skalp zu retten. So konnte es kommen, dass auch der erste Sieger noch Leben und Skalp verlor. Oder auch der bekam wieder Hilfe, dann entbrannte um die »Toten« ein heißer Kampf.

Und schließlich mussten die Toten, deren Skalps gerettet werden sollte, erst heimgetragen werden! Erst wenn der Betreffende in seinem Lager war, sogar im bestimmten Wigwam, erst dann erwachte er mit gerettetem Skalp wieder zum Leben.

O, es war alles bis ins Kleinste ausgearbeitet! Streitfragen, ob tot oder lebendig, ob der Skalp dem Feinde verfallen war oder nicht, konnten gar nicht vorkommen.

»Peitschenmüller, da spiele ich mit!«, rief ich ganz begeistert.

Denn ach, ich hatte damals noch ein so junges Herz! Habe es übrigens noch heute. Einige graue Haare haben dabei nichts zu sagen.

»Da sind Sie nicht etwa der einzige Erwachsene, der mitspielt!«, lachte Juba, »die ganze Mannschaft spielt mit. Die Grünen sind die Pawnees, Sie als Roter würden wie ich zu den Sioux gehören. Die bekämpfen sich auch gegenseitig, manchmal allein, manchmal macht der eine Stamm mit den Apachen oder mit den Komantschen Bundesgemeinschaft, wies gerade so kommt. Ja, wirklich, die Matrosen und Heizer haben auch solche Federbüchsen. Ach, und ich sage Ihnen, es ist wirklich ein ganz herrliches Spiel! Und glauben Sie, dass dieses kindliche Spiel auf die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten einen kolossalen Einfluss hat?«

Er erklärte näher, wie er das meinte, und ich glaubte es ihm.

Ich habe schon früher gesagt, dass Juba Riata nicht gern über sein früheres Leben sprach. Nicht etwa, dass er Grund zum Schweigen gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. Der hätte etwas erzählen können, worauf er stolz sein durfte. Er war also auf einer Rinderfarm in Texas aufgewachsen, mitten zwischen Apachen, die sich immer gegen die Blassgesichter auf dem Kriegspfade befanden, war dann aber als Cowboy oder Vaquero auch in Arizona und in anderen Indianergebieten gewesen, immer mit den Rothäuten im Kampfe liegend.

Das war so ein Mann, so ein Held des wilden Westens, wie ihn die Indianerschmöker verherrlichen. Aber er war viel zu bescheiden, um irgend etwas von seinen zahllosen Abenteuern zu erzählen. Das konnte höchstens einmal die Gelegenheit mit sich bringen.

Kurz, Juba Riata verstand alles, was der Wildwestmann können muss. Und jetzt weihte er die Kinder ein, ebenso die erwachsenen Jungen, in die Fährtenkunde und in alles andere, in die tausend Kniffe, um den Feind zu überlisten und sein eigenes Leben zu schützen.

Und nun wolle man sich die ganze Sache nur richtig vorstellen, um sie auch richtig würdigen zu können. Das Verlieren des Skalps war durchaus nicht entehrend. Aber selbstverständlich wollte doch jeder, der einen verloren hatte, nun baldigst einem Gegner den seinen abnehmen.

Und nun schlich so ein Junge, ob nun sechs- oder sechsundzwanzigjährig, durch die Prärie und durch den Wald, die Augen am Boden, um eine gefundene Splur zu verfolgen, um sich an einen Gegner heranzuschleichen, dabei aber musste er seine Augen auch allüberall haben, musste sein Gehör aufs schärfste anstrengen, um nicht selbst überrascht zu werden, hatte dabei immer auf das kleinste Merkmal am Boden zu achten...

Glaubt man, dass da fünf Wochen genügen, um die menschlichen Sinne bis zum feinsten Grade auszubilden, um einen Menschen überhaupt ganz zu verwandeln, und nicht zu seinem Nachteile?

Ich habe es selbst erlebt, dass es so ist. Weshalb wird denn der deutsche Soldat so intensiv im Felddienst, im Patrouillendienst ausgebildet, mit der Bemühung, ihn auch in der geistigen Selbstständigkeit so weit als möglich zu bringen?

Es läuft auf ganz dasselbe hinaus. Wenn heute unsere Jungen mit obrigkeitlicher Erlaubnis im sonst gesperrten Walde »Pfadfinder« spielen — was wir früher »Indianers und Trappers« nannten — so ist dies durchaus nicht zwecklos. Es ist durchaus nicht nur als ein kindliches Spiel zu betrachten. Und es ist nicht nur für einen künftigen Krieg, nicht zur Vaterlandsverteidigung, sondern es ist für das ganze Leben.

Ja, ich habe es selbst beobachtet, was aus Kindern und auch noch aus erwachsenen Männern innerhalb von fünf Wochen werden kann, wenn sie solch eine Lebensweise führen, fünf Wochen lang täglich unausgesetzt und manchmal des Nachts mit intensivster Anspannung aller ihrer Sinne, die doch geistigen Ursprungs sind. Es ist wirklich fabelhaft, was da für eine Umwandlung mit dem ganzen Menschen stattfindet. Aber zu definieren ist diese Umwandlung nicht weiter. Nun, wir sollten es erleben, was diese Ausbildung aller Sinne für einen kolossalen Nutzen für uns hatte.

»Es gibt aber auch ein Lebendigfangen des Feindes«, fuhr Juba Riata in seinen Erklärungen fort, »das geschieht mit dem Lasso, sowohl zu Fuß wie zu Pferde. Überhaupt wird ja auch das gegenseitige Beschießen zu Pferde ausgeübt...«

»Ja, die Pferde!«, musste ich wiederum unterbrechen. »Wo haben Sie denn nur diese Ponys her?!«

»Na, die kommen hier oben eben auch massenhaft vor. Es sind zweierlei Rassen vorhanden, eine sehr große und eine ponyartig. Die großen, starken lassen sich allerdings sehr schwer zähmen. Wohl habe ich einige gebändigt und zugeritten, sie gehorchen ganz gut dem Zügel und dem Schenkeldruck, aber zu trauen ist ihnen niemals. Plötzlich wälzen sie sich, oder man hat plötzlich ihr Gebiss im Schienbein. Einen nicht durch und durch geübten Rauhreiter, der besonders auch über etwas — etwas... Brutalität verfügen muss, möchte ich gar nicht drauf setzen. Ohne zungenzermalmende Kandare und grausamer Stachelschiene wird man nie mit ihnen fertig. Also überlassen wir diese edlen Rosse nur lieber unserem Mister Tabak, der findet ihr schön durchwachsenes Fleisch ganz delikat. Einige andere Leute aber auch schon, es werden immer mehr, die Geschmack an Pferdefleisch finden, und ich sehe gar nicht ein, warum man denn Pferdefleisch verabscheuen soll. So werden diese großen Tiere bereits als Jagdwild betrachtet, das Fleisch wird schon geräuchert oder eingesalzen.

Die Ponys dagegen lassen sich äußerst leicht zureiten. Das ist wirklich ganz wunderbar, obgleich die Tiere doch so wild und störrisch aussehen. Schon nach einer Stunde vernünftiger, nicht grausamer Behandlung nimmt auch der zuerst unbändigste Wildling willig Sattel und Reiterlast auf sich, gehorcht ganz sanft der Trense. Und es sind gar starke Tiere, tragen einen anderthalbzentrigen Reiter stundenlang im schärfsten Galopp, ohne irgendwelche Erschöpfung. Auch einige unserer Leute sind schon ganz tüchtige Pferdebändiger und Zureiter geworden, sodass ich nicht mehr allein alle Arbeit habe. Besonders Hans hat nicht nur einen leichten Fuß, sondern eine überaus leichte Hand, was beim Zureiten die Hauptsache ist, wenn es sich nicht nur um ein bloßes Bändigen handelt. Natürlich mit der nötigen Kraft verbunden. Aber die leichte Hand merkt das Pferd sofort und ist dankbar dafür.«

»Gibt es Raubtiere hier oben?«

»Nur Panther. Wenigstens haben wir bisher noch kein anderes Raubtier erblickt. Freilich handelt es sich um ein Areal von mehr als zehn geografischen Quadratmeilen, es gibt darin die denkbar verschiedensten Regionen, erst der geringste Teil davon ist von uns erforscht oder doch untersucht, und solche Tiere halten sich immer nur in bestimmten Gebieten auf, die ihnen am meisten zusagen.«

»Dieselbe Pantherart wie unten?«

»Ja. Nur dass sie mir alle etwas größer zu sein scheinen. Sie kommen massenhaft vor. Das muss wohl auch sein, zumal wenn es wirklich die einzigen Raubtiere sind. Sonst würden sich ja die anderen, die pflanzenfressenden Tiere ins Ungeheure vermehren, bis sie sich selbst auffressen müssten, wollten sie nicht verhungern. Dem weiß die Natur immer vorzubeugen.«

»Werden sie dem Menschen gefährlich?«

»Wenn sie angegriffen werden, natürlich. Wir jagen tüchtig auf sie, auch die kleinen Jungens haben schon viele geschossen, natürlich nicht mit der Federbüchse. Es gibt wenige, die noch kein Fell haben. Ein Unglücksfall ist noch nicht vorgekommen. Die Kerlchen schießen ja schon wie die Westernmens, wie die Hinterwäldler. Übrigens ist strenge Order, dass kein Junge ohne Beisein eines Erwachsenen, den ich selbst dazu bestimmt habe, einen Panther angreift. So lange Sie nicht hier waren, war ich dafür verantwortlich. Jetzt können Sie die Bestimmung ja ändern.«

»Sie mag nur so bleiben. Gibt es Schlangen hier oben?«

»Ja, mehrere Arten. Auch eine Riesenschlange, eine Netzschlange, der größten eine. Kommt ziemlich häufig vor, ist aber dem Menschen ungefährlich.«

»Giftschlangen?«

»Noch keine einzige gefunden.«

»Was gibt es sonst noch für bemerkenswerte Tiere hier oben?«

»Vor allen Dingen Büffel, welche...«

»Was, Büffel?!«, rief ich erstaunt.

»Büffel, die ich für echte nordamerikanische Bisons halten möchte, nur dass sie nicht einen so ausgeprägten Höcker haben. Dafür sind sie noch größer, noch mächtiger...«

Peitschenmüller fuhr fort zu erklären, ich aber hörte nichts mehr.

Erschrocken war ich emporgeschnellt, blitzähnlich erwägend, welche Waffe hier wohl am angebrachtesten sei, die ich auch wirklich gleich zur Hand hatte, außer meines Revolvers in der hinteren Hosentasche, der mir aber zur Abwehr gar nicht recht geeignet erschien.

Ein dröhnendes Brüllen war nämlich erschollen, in dichtester Nähe, ein furchtbares Brüllen, und da trat es auch schon aus dem Gebüsch heraus, ein ungeheurer Büffel, ein Stier, mit mächtigen Hörnern, überhaupt ein mächtiges, ganz unheimliches Vieh!

Der amerikanische Bison, der Buffalo, wird im Durchschnitt am Widerrist zwei Meter hoch. Beim Bison besteht dieser Widerrist in einem hohen Höcker, daher auch diese für ein Rind doch ganz bedeutende Höhe.

Bei diesem Tier hier fehlte der den Bison doch etwas entstellende Höcker, und trotzdem betrug seine Höhe immer noch mindestens zwei Meter. Sonst aber glich er ganz einem Bison. Nun kann man sich vielleicht vorstellen, was das für ein Vieh war! Und nun noch dazu diese zottige, am Boden schleppende Mähne! Dieser Haarwulst!

Und jetzt senkte dieses Ungeheuer den ungeheuerlichen Kopf mit den rotglühenden Augen, richtete die ganz gefährlich spitzen Hörner direkt gegen uns.

Und da kann man vielleicht auch begreifen, dass ich schnellstens jeden Gedanken an eine Waffe aufgab und mich lieber nach einem Baume umsah, auf den ich reterieren könnte.

Nur weil Juba Riata ganz ruhig liegen blieb, tat ich es nicht. Obwohl ich Peitschenmüllers Verhalten ganz und gar nicht verstand.

»O, Sie brauchen nicht zu erschrecken«, sagte er jetzt ganz gemütlich nachdem er seine Erklärung, die ich also gar nicht mehr gehört, beendet hatte. »Komm her, Devil, komm her, mein Liebling.«

Und Devil, der liebliche Teufel, folgte dem Rufe, kam heran, nahm aus der ausgestreckten Hand ein Stückchen Zucker. Doch nein — ein Stückchen Salz.

Da erst bemerkte ich, dass das Ungetüm einen Ring in der Nase hatte, von dem aus ein Leitseil nach dem Rücken lief, und dass außerdem auf dem Rücken ein Sattel lag — freilich ein ganz anderer als ein Pferdesattel, ein ganz ungeheures Ding, der den Buckel umspannen musste — mit entsprechenden Steigbügeln daran.

Ein zugerittener Büffel!

Im Augenblick aber musste ich über etwas ganz Besonderes staunen.

Doch ein ganz merkwürdiger Kauz, dieser Juba Riata, dieser Peitschenmüller!

Man überlege sich die Sache nur recht.

Wir sprechen über Pferde. Wir sprechen über andere Tiere, die hier oben vorkommen. Wir unterhalten uns schon länger als eine halbe Stunde. Endlich bringe ich aus ihm heraus, dass es hier oben auch Büffel gibt.

Und dabei hat dieser Kerl schon einen Büffel gezähmt und zugeritten, der hier ganz dicht in seiner Nähe weidet, der nur nicht zu sehen ist und sich nicht bemerkbar macht!

Versteht der geneigte Leser, worum es sich hierbei handelt, worüber ich so staunte?

Wohl jeder andere hätte doch alsbald gesagt: »Hören Sie mal, ich habe schon so einen Büffel zugeritten, sehen Sie mal, haben Sie schon so etwas gesehen? Na, was sagen Sie denn dazu?«

Dieser Mann hier verlor kein Wort.

Wenn der Büffel nicht zufällig gebrüllt und aus dem Gebüsch gekommen wäre, wir hätten hier tagelang im Grase liegen können, dieser Peitschenmüller hätte nichts von seinem phänomenalen Reittiere erwähnt.

Dieser Mann hatte sich in seinen früheren Jahren einen indianischen Charakter angeeignet, es war noch immer etwas Indianisches an ihm. Das war es! Ich hatte so etwas schon öfters gemerkt, ohne mir richtig Rechenschaft über diesen Charakter geben zu können. Jetzt aber kam das einmal voll und ganz zum Vorschein, nun wusste ich es!

Und jetzt erst, als ich nicht mehr vom Schreck beherrscht wurde, sah ich auch, was für ein ungeheures, fürchterliches Vieh das war!

Zwei Meter hoch und drei Meter lang!

Man messe sich das einmal aus, und dann lese man über den Bison in Brehms »Tierleben« nach. Um es nämlich auch glauben zu können, dass es solch einen Ochsen wirklich gibt!

Dann aber gehe man nicht in den zoologischer Garten, um da an amerikanischen Bisons seine Messungen zu machen.

Was man da an nordamerikanischen Bisons zu sehen bekommt, das ist ja nur Schruz. Die sind in der Gefangenschaft geboren, und schon deshalb können es gar keine ganz echten sein, denn es gibt noch kein einziges Beispiel, dass sich wildeingefangene Bisons in der Gefangenschaft fortgepflanzt haben.

Auch die Bisons, welche Buffalo Bill mit seiner Indianerbande benutzt, sind keine echten. Es sind Abkömmlinge von Bisons aus dem Yellowstone-Park mit zahmen Hauskühen, welche unter jene wilden Herden getrieben und dann wieder eingefangen worden sind. Trotzdem sind des Obersten Codys Mischlings-Bisons die schönsten und größten, die jetzt gezeigt werden, kein zoologischer Garten hat solche Exemplare aufzuweisen. Aber echte Bisons sind es noch lange nicht.

Die einzigen jetzt noch existierenden Bisons leben im Yellowstone-Park, in jenem ungeheuren Nationalpark, auf dem Grenzzipfel der Staaten Wyoming, Montana und Idaho, eine der herrlichsten, imposantesten, schaurigsten Gegenden der ganzen Erde, wo die Natur einmal alles zusammengedrängt hat, was sie an Wundern nur irgendwie bieten kann, und der Yankee ist ideal und praktisch genug gewesen, diese 13 000 Quadratkilometer für tabu, für heilig, für unantastbar zu erklären. Dort gibt es noch große Büffelherden, sie dürfen nicht gejagt werden, leben sonst aber in ungebundenster Freiheit. Wer bei der Jagd erwischt wird, bekommt Zuchthaus, kann auch sofort niedergeschossen werden. Die Aufsicht führen einige Schwadronen Bundeskavallerie, aber nur zusammengesetzt aus erprobten Wildwestjägern.

Ich bin in späteren Jahren im Yellowstone-Park gewesen, habe dort Büffelherden weiden, Stiere miteinander kämpfen sehen.

Für mich ist der amerikanische Bison das imposanteste, das fürchterlichste Tier.

Man kennt einen Löwen, man kennt einen Elefanten. Wenn man das Wort »Löwe« oder »Elefant« hört, so kann man sich doch dieses Tier gleich im Geiste vorstellen. Aber das kann man beim Bison nicht.

Man denkt an ein Rind, an einen Ochsen.

Und nun sieht man plötzlich solch einen Ochsen. Jawohl, einen Ochsen!

Der Anblick spottet aller Beschreibung.

Zwei Meter hoch und drei Meter lang!

Und das ist nur die Durchschnittshöhe, es gibt noch größere.

Und nun diese ungeheure Mähne, und dann vor allen Dingen dieses rote, glühende, furchtbar wilde Auge!

Das finstere Gesicht eines Löwen ist gar nichts dagegen.

Schon hier auf dem Gebirgsplateau im brasilianischen Urwald sah ich solch einen riesenhaften Bison. Nur dadurch vom nordamerikanischen unterschieden, dass der Höcker fehlte, dass der zwei Meter hohe Widerrist sich über den ganzen Rücken erstreckte. Also war er noch mächtiger als der eigentliche Bison.

»Sie brauchen nicht die geringste Sorge zu haben!«, sagte Juba Riata, über des Ungetüms Nase streichelnd und den ungeheuren Kopf krauend, was der Stier mit einem behaglichen Grunzen vergalt. »Mein Devil ist wie ein Lamm. Eigentlich hätte ich ihn daher lieber Angel, Engel, nennen sollen.«

Mein Schreck — oder ich will nur lieber gleich sagen: meine Furcht war verschwunden.

»Ja, wie kommen denn diese Ungeheuer nur hier herauf?!«

»Herr, das weiß ich nicht!«, lautete die einfache Antwort, und es war auch eine dumme Frage von mir gewesen, nach dem Ursprung der Schöpfung zu forschen, worüber ich ja schon einmal gesprochen habe.

»Es ist kein ganz echter nordamerikanischer Büffel oder Bison?«, konnte ich schon eher weiterfragen.

»Bis auf den Höcker. Sonst gleicht er diesem vollkommen.«

»Ich denke, der Bison lässt sich nicht zähmen, also wohl noch viel weniger zureiten?«

»Nein, und auch darin gleicht dieses Tier ganz dem amerikanischen Bison.«

»Auch darin?! Ja, Sie haben ihn aber doch zugeritten!«

Juba Riata blickte zur Seite, und es kam mir nicht anders vor, als wenn er meinen Augen ausweichen wolle.

»Herr Waffenmeister«, sagte er dann etwas leise, »ja, ich habe dieses Tier zugeritten. Ich kenne ein Mittel, um auch das wildeste Tier zu bändigen und es ganz meinem Willen zu unterwerfen, dass es mir wie ein Lamm folgt, mir wie ein Hund gehorcht. Aber zum zweiten Male möchte ich diesen Dressurakt nicht vornehmen. Fragen Sie mich nicht, wie ich es fertig gebracht habe. Es geschah auch an einer ganz abgelegenen Stelle, niemand durfte und konnte mir zuschauen. Ich habe es fertig gebracht, einen Bison zu bändigen und zuzureiten — genug! Einmal und nicht wieder!«

Da mochte es ja freilich schön dabei zugegangen sein.

»Na, da reiten Sie mir doch wenigstens einmal etwas vor!«, sagte ich, denn Juba Riata machte keine Miene, in den Sattel zu steigen, und er hätte es sicher nicht getan, wenn nicht eine zwingende Notwendigkeit vorlag.

Aber meiner Aufforderung kam er sofort nach. Er voltigierte hinauf. Denn von einem Aufsteigen durfte man bei dieser Höhe nicht viel sprechen.

O, wie das schon aussah, der Mann auf dem Büffel! Peitschenmüller war ein gar stattlicher Kerl! Aber gegen dieses ungeheure Reittier war er doch nur ein verschwindendes Menschlein!

Auch der Vergleich mit einem Elefantenreiter wäre ganz fehlgeschlagen, das war wieder etwas ganz, ganz anderes.

Nein, dieser langgelockte Mann auf dem kolossalen, mähnenumwallten Büffel, dicht hinter dem ungeheuren Kopf sitzend — einfach ein unvergleichlicher Anblick!

Und nun, wie er das Ungetüm zugeritten hatte! Eben genau wie ein gutes Schulpferd. Auf der Waldblöße ließ, er das Tier in allen Gangarten gehen, zuletzt in Galopp, in immer rasenderer Karriere.

O, dieser Anblick, wie das Ungeheuer mit tief gesenktem Riesenschädel dahinjagte! Unbeschreiblich!

Und ich dachte an etwas.

Früher benutzte man Elefanten, um die feindlichen Reihen in Verwirrung zu bringen, indem man sie einfach hineinjagte.

Was gab es wohl, was diesem Ungeheuer hier widerstanden hätte?

Felswände, künstliche Mauern in genügender Stärke. Sonst wohl nichts. Wehe, wenn dieser Büffel in eine Schwadron Kavallerie hineingerast wäre! Da wäre ja überhaupt gar kein Pferd mehr zu halten gewesen, sie brauchten dieses wütende Vieh bloß ankommen zu sehen.

Zuletzt ließ er den Büffel sogar über Büsche und einen Graben springen, und das riesige Tier tat es trotz seines unförmlichen Leibes mit einer Eleganz, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte.

Dann hielt er wieder neben mir. Aber nun wie! Ein Ruck, und das Ungeheuer, eben noch in voller Karriere befindlich, stand plötzlich wie aus Erz gegossen.

»Prachtvoll! Herrlich! Unvergleichlich!«, jubelte und staunte ich.

»Wollen wir einmal nach dem Sportplatz reiten?«

»Sportplatz?«

»Am See liegt er. Gar nicht weit von hier. Die Grünen fechten jetzt gegen die Roten ein Polospiel aus. Zu Pferde.«

»Zu Pferde?!«

»Jawohl, alle, alle sind schon beritten. Reiten Sie mit? Können Sie reiten?«

Ja, ich konnte reiten. Auf dem Karussell hatte ich schon geritten. Auch schon im Hippodrom, dreimal herum einen Groschen. Aber auch schon in orientalischen Häfen hatte ich schon geritten, auf der Straße, Ausflüge gemacht. Freilich nur auf Eseln. Und gar zu schnell durfte mir mein Reittier nicht werden. Sonst ließ ich den Zügel los und schlang liebevoll die Arme um den Eselshals. Wenn ich es nicht vorzog, an einer weichen Stelle mich sanft vom Rücken herabgleiten zu lassen.

Na, unterdessen hatte ich die Sache etwas geändert, ich war wieder der gewandteste Turner geworden, leistete noch viel mehr, als in meinen besten Knabenjahren. Mit dem Reiten hat die Turnerei ja freilich nichts zu tun, aber... doch darüber habe ich ja schon einmal ausführlich gesprochen.

Also her mit dem Gaul! Ein großes, starkes Pony wurde gebracht, die Steigbügel verlängert, und ich schwang mich mit der Grazie oder doch Geschicklichkeit eines Pavians hinauf, ohne den Steigbügel benutzt zu haben — nämlich weil ich den nicht gefunden, wie auch mein Fuß gesucht hatte.

»Recht so, ein echter Wildwestmann muss von jeder Seite aus aufsteigen können!«, lobte mich Juba Riata. Ach so, ich war ja von der verkehrten Seite aufgestiegen, von der rechten!

Aber wenn mich ein Juba Riata deswegen belobte, dann war es ja gut so.

Fort ging es! Erst im Schritt, dann im Trab!

Na, nun sage niemand mehr, dass ich nicht reiten konnte!

»Galopp!«

Nee, ich konnte doch nicht reiten.

Wenigstens muss es jammervoll ausgesehen haben, wie ich da oben herumschaukelte.

Aber die Hauptsache war doch, dass ich die Balance behielt, überhaupt nicht herunterkugelte. Das andere, was zum Reiten gehört, wollte ich schon mit der Zeit lernen.

»Dort kommt ein Wassergraben. Wollen wir ihn nehmen?«

»Nu sicher!«

»Werden Sie ihn nehmen können?«

»Nu sicher!«

»Das Pferd springt von allein. Nehmen Sie die Zügel etwas kürzer, Schenkel fest und Oberkörper etwas vor, dann schnell...«

Peitschenmüllers Anweisung kam zu spät, es war seine Schuld, er hätte schneller sprechen müssen.

Mein Gaul war schon gesprungen und ich... bruch, kladderadatsch ich war über den Kopf weggeschossen und lag drüben auf der Nase.

Aber das Pony war ausgezeichnet dressiert, das musste man ihm lassen.

Auch das Tier, ein Hengst, bleibt sofort stehen, setzt nur die Vorderfüße über mich weg, und wie es so breitbeinig über mir steht, da fängt das Luder an zu...

Na Gott bewahre mich! Muss mir so etwas passieren! Zwar war ich wie ein Blitz unter dem Pferdeleib hervorgesprungen, aber da war es schon zu spät, da hatte ich schon meine warme Dusche weg!

Und Peitschenmüller lachte auf seinem Büffel, dass ihm die Tränen über die Wangen rannen.

»Verzeihen Sie, Herr Waffenmeister, dass ich lachte — aber so ein Missgeschick, das nennt man Pech...«

»Ich verzeihe Ihnen, hoffe aber, dass Sie nicht alle Ihre Ponys so ausgezeichnet dressiert haben!«, lachte ich selbst aus vollem Halse mit. Denn da bin ich doch nicht so.

Und dann war es ein großes Glück im Unglück, dass es niemand gesehen hatte. Denn wenn etwa Klothilde dabei gewesen wäre oder es später erfahren hätte — na, die hätte mich doch einfach tot gemacht!

Das Wasser war ja ganz in der Nähe, angezogen war ich auch danach — ich also hinein in die Schwemme, dann wieder hinauf in den Sattel — und nun machte ich gleich zum zweiten und dritten Male den Sprung, ohne wieder den Boden zu küssen. Nun hatte ich es schon heraus, worauf es beim Springen ankam.

Das Hexengoldtal blieb links liegen, nach wenigen Minuten schon in Trab und Galopp hatten wir unser Ziel erreicht.

Es war ein recht beträchtlicher See, an dessen südlichem Ufer sich das ganze Treiben entwickelte.

Ich habe einmal die Behauptung aussprechen hören, dass sich gerade in England der Sport nur deshalb so ungemein entwickelt hätte, weil England einen ganz besonderen Rasenboden habe.

Das wird wohl übertrieben sein, aber Tatsache ist, dass England einen Rasen besitzt, wie man ihn sonst nirgends in der Welt wiederfinden. Wenn das hohe Gras bei gutgepflegtem Boden ganz kurz geschoren wird, dann entsteht ein Teppich, der eben für alle Rasenspiele ganz unvergleichlich ist. Anderswo muss überall für Lawn-Tennis ein besonderer Platz geschaffen werden, asphaltiert und mit Kies bestreut und gewalzt — ist in England alles gar nicht nötig. Einfach das Gras abgeschoren, und der herrlichste Sportplatz ist fertig, gerade so wie er für die Gummibälle beschaffen sein muss, weder zu hart noch zu weich, was aber auch für alle anderen Ballspiele gilt, und nicht zuletzt für das Pferderennen. Dieser Grasboden ist wie geschaffen für den Pferdehuf. Solcher Graswuchs lässt sich aber durch Kunst sonst nirgends erzeugen. Er hängt eben mit dem englischen Klima zusammen.

Hier war auch solch ein Boden, ein ganz natürlicher, der gar keiner Pflege bedurfte. Es war ein großes Felsenterrain, glatt wie ein Tisch, ohne jeden Riss auf dem in zweifußhoher Humusschicht tropisches Moos wucherte, hart wie Gummi, also doch etwas elastisch. Sonst duldete dieses Moos keine andere Pflanze.

Ich halte mich deshalb so lange bei diesem Sportplatz auf, weil jeder, der etwas von Sport kennt, doch weiß, wie sehr es auf den Boden dabei ankommt.

Auf dieser Moosfläche tummelten sich einige Dutzend Ponyreiter, tummelten sich ganz gehörig. Die Grünen fochten gegen die Roten einen Polokampf aus.


Illustration

Erstaunt sah der Waffenmeister, als er mit Juba Riata auf der Wald-
blöße ankam, wie sich dort einige Dutzend Ponyreiter lustig tummelten.


Ich will darüber nichts weiter sagen, als dass es sich darum handelt, ob nun zu Pferde oder zu Fuß, oder auch zu Schlittschuh oder zu Rollschuh, einen Ball durch das feindliche »Tor« zu treiben.

Besonders bei der englischen Hautevolee ist dieses Ballspiel zu Pferd sehr beliebt, ganz besonders in Indien. Der Ball wird dabei mit langen Stöcken geschlagen und getrieben.

Ich wunderte mich doch etwas, dass das meine Jungen schon fertig brachten. Ich hätte da nun freilich noch nicht mitmachen können. Ich bekam schon grandiose Reiterkunststückchen zu sehen.

Aber auch noch anderes gab es hier zu sehen, nicht alle waren an dem Polospiel beteiligt, vielleicht nur die Hälfte.

Seitwärts davon in gehöriger Entfernung war die Humusschicht mit dem Moos abgehoben worden, auf der freien Felsfläche, eben und glatt wie ein Tisch, wie asphaltiert, wurde Rollschuh und Rad gefahren, und mehrere von ihnen hatten sich auch schon als Kunstfahrer ausgebildet, die sich in jedem Varieté hätten sehen lassen können.

Und dort ein Turnplatz mit sämtlichen Geräten, die des Nachts in einem Schuppen aufbewahrt wurden.

Und jetzt kam die Patronin mit den acht Turnern angerückt.

»Leute, hier stelle ich Euch Eure Kameraden vor, wir haben acht neue Argonauten bekommen, es sind die Meisterschaftsturner von Deutschland, sie werden Euch jetzt etwas vorturnen.«

Und die acht Kerls begannen zu turnen.

Dem Folgenden muss ich ein besonderes Kapitel widmen, es ist gar zu wichtig für uns.

*

46. Kapitel

Drohende Konflikte und wie ich sie zu lösen weiß

Originalseiten 1223 — 1241

»Es ist schon losgegangen, Georg.« So sagte die Patronin am Abend zu mir in der Kajüte. Wenn nicht einmal oben auf dem Plateau ein Nachtlager und vielleicht auch ein nächtlicher Schleichkrieg inszeniert wurde, so mussten die beiden Wachen, welche den ganzen Tag frei hatten, bei Sonnenuntergang wieder an Bord sein, die Kinder natürlich erst recht.

So hatte Kapitän Martin während meiner Abwesenheit bestimmt, und so würde auch ich es weiter halten. In den zwölf Tagesstunden konnten die sich oben genug austoben, konnten es ja auch abends bis spät in die Nacht an Bord fortsetzen.

»Was ist schon losgange?«, fragte ich in bayrischem Dialekt, was meine humoristische Stimmung charakterisiert.

»Die Eifersucht!«, war die lakonische Antwort

Ich hatte es gewusst.

Ich hatte doch meine Jungen beobachtet, als heute nachmittag dort oben die acht Turner ihr phänomenales Können an jedem Gerät entwickelt, auch auf den Sprungbrettern ins Wasser hinein, auch schon auf dem Rücken der Pferde. Sie waren eben sofort die unübertrefflichsten Kunstreiter gewesen. Aber das Staunenswerteste hatten sie doch wieder an den Geräten geleistet, besonders an Barren und Reck.

Die biederen Seeleute hatten gestaunt, dann aber waren ihre Gesichter verdrießlich geworden, dann mürrisch dann finster, dann verächtlich — und verächtlich hatten sie sich zuletzt abgewandt.

Meine Jungen waren ganz einfach von der Eifersucht erfasst worden.

»Wenn das die neuen Argonauten sind, die ihr aus New York mitgebracht habt, dann können wir alten Argonauten ja gehen. Sucht Euch nur noch mehr solche Turnerhelden zusammen, die Euch etwas vorzappeln.«

Nicht etwa, dass ich dies sagen hörte. Von keinem einzigen, keine Andeutung davon! Aber ich las diese Worte ihnen förmlich von der Stirn ab, aus den Augen heraus.

Einfach die Eifersucht hatte sie erfasst.

Die Eifersucht ist eine der hässlichsten Leidenschaften.

Doch nein! Für diese Untugend kann der Mensch am allerwenigsten, dagegen hilft kein Ankämpfen, also soll man sie auch nicht hässlich nennen.

Die Eifersucht ist eine Leidenschaft,

Die stets mit Eifer sucht,

Was Leiden schafft.

Dieses geflügelte Wort ist wohl bekannt genug. Es schadet aber auch nichts, zu wissen, dass es von dem deutschen Philosophen und Theologen Schleiermacher ist; um von dem Geistreichtum dieses jetzt so wenig gelesenen Mannes wenigstens einen kleinen Begriff zu haben.

Und so ist es doch.

Andere unglücklich machen — und sich selbst am allertiefsten. In seinem eigenen Herzen schmerzhaft herumwühlen. Jeden Grund dazu verhundertfachen, und ist kein Grund dazu vorhanden, so wird einer mit jedem Raffinement gesucht.

Also meine Jungens waren eifersüchtig geworden.

Na, sie hatten in diesem Falle ja vielleicht auch wirklich einen Grund dazu.

Es gibt auch eine Art von Eifersucht, die man hochachten soll.

Bei den Tieren findet man diese Art von Eifersucht am ausgeprägtesten bei den Hunden, und gerade hierdurch werden sie die treuesten Freunde des Menschen, eben dadurch erheben sie sich himmelhoch über alle anderen Tiere.

Bei den Menschen hängt diese edle Art von Eifersucht mit der Vasallentreue zusammen, am stärksten im Nibelungenliede in der Person des Hagen von Tronje zum Ausdruck gebracht.

Mögen diese Andeutungen genügen.

Und für uns war die Sache wahrhaftig gar nicht so einfach.

Es drohte tatsächlich ein böser, böser Konflikt, durch den unsere ganze bisherige Harmonie in die Brüche gehen konnte.

Aber ich scharfsinniger Mensch — der wirklich scharfsinnige Leser versteht doch wohl dieses Eigenlob — hatte das alles ja gleich in New York vorausgesehen, als ich die Turner anwarb, ich geistreicher Mensch hatte auch gleich ein Mittel gewusst, um dies alles zu verhüten, der Sache noch die allerbeste Wendung zu geben.

»Offenbare es den Leuten gleich jetzt!«, bat Helene.

»Nein, morgen früh erst.«

»Bitte, bitte, Georg, offenbare es den armen Jungen gleich jetzt!«, flehte die Patronin noch mehrmals.

Aber ihr untertänigster Vasall ließ sich nicht erweichen, der blieb hart.

Mochten die Jungens nur einmal die ganze Nacht zappeln, sich mit ihrer Eifersucht herumbalgen, das schadete gar nichts.

Aber den Kapitän Martin weihte ich schon ein. Sonst freilich niemanden.

Der Morgen brach an. Die dritte Wache hatte heute Deckwaschen, überhaupt den ganzen Tag Dienst, durfte das Schiff nicht verlassen. Da noch kein dritter Steuermann angenommen, war der Offizier dieser Wache noch immer der Kapitän selbst, den dritten Bootsmann hatte schon immer der Matrose Hein gespielt, er bekleidete diesen Rang auch schon längst.

Das Deckwachen begann. Nur wenige von den anderen beiden Wachen trieben sich an Deck herum, auch sie verschwanden nach und nach wieder, aber nicht, dass sie sich nach dem Plateau begeben hätten.

Nur die Kinder waren unter Peitschenmüllers und des Eskimos Führung schon abgerückt zum täglichen Spiel, heute war besonders großes Ger- oder Speerwerfen. Aber vorher hatten die Kinder in der Batterie ihren »Törn« abmachen müssen. Bleibeschwertes Schnellgehen, Hantelstemmen und einige andere Übungen, immer mit täglich zunehmendem Gewicht, und waren es auch nur wenige Gramm. Daher die Muskulatur dieser Kinder. Man solls nur einmal probieren!

Zwar hatten sie dort oben noch viel bessere Gelegenheit dazu, auch auf dem Plateau war dazu alles vorhanden, dort konnte auch jeder noch nach Belieben üben und sich trainieren — aber der Morgentörn in der Batterie war nun einmal eingeführte Pflicht, der sich niemand entziehen durfte. Nur um ja keine Ausnahmen einreißen zu lassen. Daher, wiederhole ich, die Muskulatur dieser Kinder.

»Na, was ist denn?«, wandte ich mich an eine noch an Deck stehende Gruppe der ersten und zweiten Wache. »Geht Ihr denn nicht auf das Plateau hinauf?«

»Nee.«

»Warum denn nicht?«

»Wi hämm keen Lust.«

So!

Na meinetwegen.

Das konnten die machen, wie sie wollten.

Freilich würde dann, wenn sie keine Lust mehr für dort oben hatten, bald ein anderer Wachtdienst eingeführt werden.

Auch diese letzte Gruppe der Freigänger begab sich ins Mannschaftslogis.

Ich blickte einmal hinein. Da hockten sie, Heizer und Matrosen, und wühlten in ihren Kleiderkisten herum.

»Habt Ihr denn heute schon Euren Törn abgemacht in der Batterie?«

»Nee.«

»Warum denn nicht?«

»Wi hämm keen Lust.«

So!

Na meinetwegen.

Diese Morgenübungen gehörten ebenfalls nicht zum Schiffsdienst, darüber gibt es nirgends eine Vorschrift.

Das heißt: zum dritten Male durften sie mir diese Antwort nicht geben!

Doch so weit ließ ich es nicht kommen, ich wusste ja. Die armen Kerls!

Ob sie wohl schon ihre Kleiderkisten packten?

Mit was für einem Herzen wohl?

Die Eifersucht ist eine... und so weiter.

Der Kapitän erschien auf der Kommandobrücke.

»Alle Mann an Deck!«

Die Bootsmannspfeife schrillte das Kommando nach.

Die beiden Freiwachen kamen an Deck, natürlich mit affenartiger... nein, mit der Geschwindigkeit mit der sie kommen müssen, im Sturmschritt.

Mürrische Gesichter konnten sie ja machen, so viel sie wollten, aber ihre Spazierhölzer schlenkern mussten sie aus Leibeskräften. Oder die Bootsleute hätten ein Feuer dahintergemacht, mit Stiefel und Faust, dass ihnen Hören und Sehen vergangen wäre.

Denn der Bootsmann, der das bei Gelegenheit nicht tut, womöglich gar, weil er nicht dazu fähig ist, der bekommt etwas ins Buch geschrieben, dass er nie wieder als Bootsmann fahren kann.

Sie kamen angestürmt, bauten sich auf. Da wir drei Wachen hatten, musste ein Karree gebildet werden, nur eine Seite offen, die nach der Kommandobrücke.

»Der Kargo-Kapitän und Waffenmeister übernimmt das Kommando bis zum Beleg.«

Der nautische Schiffsführer sprach's und verschwand wieder im Kartenhaus, in dem er also einen Niedergang nach seiner Kajüte hatte.

Also ich war der Kommandant des Schiffes. Eigentlich war ich es ja immer, konnte ja sogar den Kapitän entlassen, aber dessen Würde musste doch der Mannschaft gegenüber gewahrt werden, und in den eigentlicher Schiffsdienst hatte ich ja wirklich nichts hineinzureden.

»Wegtreten?«, fragte der erste Offizier, als ich nicht gleich ein weiteres Kommando gab,

Nein. Die Leute konnten gleich stehen bleiben.

Und nun wollte ich mir auch einmal einen ganz besonderen Spaß machen.

»Aaaahhhl Händs an Deck!«

Gleich alle drei Bootsmannspfeifen schrillten und trillerten, noch in ganz anderer Weise als vorhin, besonders die Stewards rannten, die Kajütenjungen, wurden dabei von den dazu abgeteilten Matrosen unterstützt.

Nämlich um die Exklusiven und die sonstigen Gäste an Deck zu bringen, aus der Koje heraus, falls sie noch darin lagen, Alle, alle mussten an Deck!

Na ja, das Schiff konnte doch sinken, oder brennen, oder sonst eine Lebensgefahr bestehen.

Nur wegen der Mama Bombe hatte ich Siddy schon vorher einen Wink gegeben, damit die nicht ihre vier Zentner aus der Koje zu wälzen brauchte, wobei sie regelmäßig das Moskitonetz zerriss, der Kapitän blieb in seiner Kajüte, und auch die Schiffsherrin hätte nicht zu kommen brauchen, die hätte, wenn es ihr Spaß machte, freihändig verbrennen oder wegsacken dürfen.

Aber auch die Patronin stellte sich schnellstens ein, Ilse an der Hand, beide schon angezogen, während Klothilde sich noch im kurzen Unterrock befand, und der Bandlwurm knüpfte sich noch die Hosen zu, wozu er bei deren endloser Länge ja freilich auch geraume Zeit brauchte.

Und nun gar unser armer Doktor Isidor! Der hatte gerade im Bade gesessen, war aber sofort herausgeholt worden, erschien nur in einen Bademantel eingewickelt, mit schneeweißem Kopf, die Haare eingeseift!

»Was ist los?! Was ist denn passiert?!«

»Angetreten!«

Sie traten an, die acht Neulinge in ihren grauen Turnerkostümen wurden mehr nach der Mitte bugsiert.

»Diese acht Burschen dort sind auf der »Argos« als Schiffsjungen angemustert worden.«

So sprach ich, und alle war's!

Für den Leser muss ich aber wohl noch einige Erklärungen hinzufügen.

Für die Seeleute war es nichts Neues, dass gereifte Männer noch einmal als Schiffsjungen anfingen.

Ich persönlich kenne zwei Männer, welche in gereiftem Alter noch als Schiffsjungen in die Kauffahrtei eintraten.

Dabei schließe ich alle die vielen Jünglinge aus, die ich kenne, welche noch vor ihrer Militärzeit zur See, zur Handelsmarine gegangen sind. Teils, um wirklich Seemann zu werden, teils um nicht als Vier-, sondern als Dreijähriger in der Kriegsmarine zu dienen, also um »gezogen« zu werden, teils solche junge Leute, die ihr Einjährig-Freiwilligen-Examen gemacht haben und nun ihre einjährige Dienstzeit in der Marine absolvieren.

Denn das ist nur möglich — in der Matrosendivision — wenn man vorher ein Jahr zur See gefahren ist. Man muss unbedingt mindestens 12 Monate Seefahrtszeit auf deutschen Segelschiffen nachweisen, sonst kann man nicht als Einjähriger in der Marine, d. h. in der Matrosendivision dienen. Dann aber ist es ja auch ganz schön. Man kommt auf jeden Fall hinaus, sieht etwas von der Welt, und es kostet absolut nichts. An Land muss der Einjährige freilich auch in der Kaserne schlafen, anders geht es nicht. Auch der Offiziersaspirant. Und in der Marine kann noch jeder Mann Offizier werden, jeder! Wenn er das Zeug dazu hat. Meist geht es über den Feuerwerksmaat hinaus. Sonst kann er nur Deckoffizier werden. Hat aber auch schon etwas zu sagen!

Nein, diese Jünglinge meine ich hier nicht.

Ich meine gereifte Männer, die eine sichere Lebensposition aufgaben, um noch zur See zu gehen, um die Seemannskarriere zu ergreifen.

Der eine war ein siebenundzwanzigjähriger Kaufmann, ein gutgestellter Buchhalter, in Lebensstellung, der noch einmal den Schiffsjungen spielte, der andere, 32 Jahre alt, war... ein Assessor beim Landgericht.

Als gewöhnlicher Schiffsjunge zur See gegangen! Denn anders geht es nicht.

Drei Jahre als Schiffsjunge. Das ist Vorschrift, ist Gesetz. Die Zeit als Leichtmatrose hängt ganz vom Kapitän ab, aber unter einem Jahre geht es selten. Und dann, wieder Gesetz, mindestens zwei Jahre als Vollmatrose. Dann wird man zum Steuermannsexamen zugelassen, wozu man natürlich erst eine Navigationsschule besuchen muss. Oder auch nicht so natürlich. Darauf könnte man sich eventuell auch durch Selbststudium vorbereiten.

Und all diese Zeit muss man auf deutschen Segelschiffen durchmachen! Dampfer und Ausländer zählen nicht mit.

Da sieht man also, was es für ein Märchen ist: die Zeiten der Segelschiffe seien vorüber.

Im vergangenen Jahre sind in Hamburg ungefähr 4300 Segelschiffe eingelaufen und wieder ausgelaufen. Und zwar Hochseeschiffe! Kleine Küstensegler nicht mit einbegriffen. Das spricht wohl am besten.

Das ist ein Viertel aller Hochseeschiffe, die Hamburg anliefen.

Mit der Tonnenzahl können sie freilich nicht mit den Dampfern konkurrieren, auch im Verhältnis nicht, dass stimmt allerdings.

Hinwiederum werden gerade jetzt immer mächtigere Segler gebaut, in Amerika schon Sechsmaster. Denn die Konkurrenz im Seehandel wird immer größer, und in der Billigkeit des Frachtsatzes können die Dampfer wieder nicht mit den Seglern konkurrieren.

Also die vorschriftsmäßige Zeit zum Zulassen zum deutschen Steuermannsexamen unbedingt auf deutschen Hochseesegelschiffen abgemacht werden.

Wenn sich nur recht viele Schiffsjungen zur Handelsflotte melden wollten. Wie sich die deutsche Flotte noch entwickeln wird, das ist noch gar nicht abzusehen, die scheint erst noch in den Kinderschuhen zu stecken, und außerdem muss besonders deshalb für Nachwuchs gesorgt werden, weil der Abgang der deutschen Matrosen und Seeoffiziere nach der englischen und amerikanischen Flotte ein ganz kolossaler ist. Alles deutsch, alles deutsch!

Ja, Schiffsjungen genug melden sich ja auch. Aber neunzig Prozent geht wieder nach Hause zu Muttern.

Denn freilich, leicht ist es nicht. Ein schwerer, schwerer Dienst, — harte, harte Arbeit! Man muss sich nur einmal die Hände solch eines Jungen nach der ersten Woche ansehen! Bis sich das nötige Leder gebildet hat. Es gibt keinen anderen Beruf, der solches Leder bildet. Diese nassen Taue! Und nun überhaupt alles nass. Nass in die Koje, mit gefrorenen Kleidern — man denkt, jetzt endlich kann man einmal seine vier Stunden abschlafen — da fängt wieder so ein Segel zu schlagen an »all Hands an Deck!«, — und wieder geht die Balgerei auf den Rahen los, stundenlang. Und nun dazu noch dieser Schlangenfraß!

Aber wer es aushält, wer die nötige Energie und Intelligenz besitzt, und wer nicht zum Krüppel geschlagen wird oder sonst abfährt, der hat Aussicht, dereinst Kapitän zu werden, ganz sichere Aussicht!

Denn der Abgang ist groß, und sonst fährt man eben unter anderer Flagge. Der deutsche Kapitän wird von allen anderen seefahrenden Nationen mit Kusshänden aufgenommen.

Aber vor allen Dingen Energie! Das Ergreifen und Benutzen der gegebenen günstigen Verhältnisse! Daran eben lassen es ja die meisten fehlen, die trotz aller Intelligenz und seemännischen Tüchtigkeit Zeit ihres Lebens als Matrosen fahren. Sobald sie an Land ausgezahlt werden, versaufen sie alles. Saufen darf man natürlich nicht.

Ist man aber einmal Kapitän, dann ist man ein kleiner König. Zwar ein kleiner nur, aber selbstherrlicher als jede Majestät an Land. —

Die beiden Männer, die ich hier meine, haben es ausgehalten.

Und sie mussten als Schiffsjungen anfangen. Als ganz richtige Schiffsjungen. Da gibt es nichts. Und außerdem nun das uralte Zunftwesen!

Auch der Herr Assessor wurde von den Matrosen geduzt, während er sie mit »Sie« anzureden hatte, musste ihnen das Essgeschirr reinigen, alle anderen der niedrigsten Arbeiten verrichten, die dem Schiffsjungen zufallen.

Eine dreijährige Lehrzeit brauchten die beiden allerdings nicht durchzumachen. Die gesetzliche Vorschrift sagt nur, dass niemand unter 17 Jahren Matrose werden kann. Ist man schon darüber hinaus, so kommt es eben ganz auf die Leistungen an, dann kann der Kapitän nach Willkür zum Leichtmatrosen befördern. Freilich wird da der Kapitän sehr vorsichtig sein, er ist verantwortlich dafür, wenn er einen Mann als Matrosen qualifiziert, der noch nicht sämtliche Schiffsarbeiten versteht.

Ein Jahr Junge, ein Jahr Leichtmatrose — unter dem kommt sicher niemand weg. So war es auch bei dem Assessor, den ich näher kennen lernte. Und dann unbedingt 24 Monate als Matrose, ehe man zur Steuermannsschule zugelassen wird, das ist Gesetz, da kommt niemand herum.

Prügel bekommen solche große »Jungen« natürlich nicht mehr. Da ist ein »natürlich« angebracht. Ja, sie können Prügel bekommen, die Matrosen haben dazu das Recht. Aber dann sind es eben Waschlappen, die es nicht anders verdient haben, und solche gehen in späten Jahren doch nicht mehr zur See.

Aber immerhin, ich selbst habe gesehen, wie der Herr Assessor, als er nicht schnell genug einen Block einhing, vom zweiten Steuermann einen Tritt bekam, der ihn zu Boden warf.

Und der musste ihn ruhig einstecken, konnte nichts dagegen machen.

Oder er wäre heute nicht Kapitän.

Denn dieser ehemalige Landgerichtsassessor, der die Juristerei satt bekam, der noch in spätem Alter sein Jugendideal verwirklichen wollte, der hat dieses sein Ideal wirklich erreicht! Der fährt heute einen großen Passagierdampfer zwischen Bremen und Indien. Der tauscht mit keinem Reichsgerichtsdirektor mehr!

Der andere, der Kaufmann, ging zur amerikanischen Flotte über und ist heute als Staatsbeamter Hafenmeister von Charleston. —

»Haben Sie nicht Lust, den Seemannsberuf zu ergreifen, Kapitän zu werden?«

So hatte ich die acht Turner damals gefragt. Nachträglich, nachdem ich sie schon engagiert hatte.

Kapitän werden? Ja, natürlich! Wer möchte das wohl nicht gern! Aber geht das denn?

»Ja, aber Sie müssen eine dreijährige Lehrzeit als Schiffsjunge durchmachen.«

Was? Dazu freilich hatte keiner Lust.

Da hatte ich eine halbe Stunde lang gesprochen, hatte alles erzählt, geschildert, Beispiele angeführt Prügel bekamen sie ja nicht bei uns. Aber den ungeschriebenen Zunftgesetzen mussten sie sich fügen.

Und lachend hatten sie freudestrahlend ihre Zustimmung gegeben, und sie waren durch das deutsche Generalkonsulat auf dem New Yorker Seemannsamt für die Hamburger »Argos« als Schiffsjungen angemustert worden! Monatlich zehn Mark! Mehr gibt es auf deutschen Schiffen für den Jungen nicht. Reicht aus für die Kleidung, und mehr braucht er ja auch nicht. Was ich den acht Männern sonst gab, das ging ja niemandem etwas an. Die Heuer betrug zehn Mark. Nebenbei bemerkt: englische Schiffe nehmen überhaupt keine Jungen an; die Engländer sind so schlau, sich die besten Matrosen gleich fix und fertig vom lieben deutschen Vetter Michel liefern zu lassen.

»Diese acht Burschen dort sind auf der »Argos« als Schiffsjungen angemustert worden.«

So hatte ich jetzt von der Kommandobrücke herab als stellvertretender Kapitän gesagt.

Und das genügte.

Gleichgültig, ob diese Leute hier schon so einen Fall erlebt hatten oder nicht — jedenfalls wussten sie nun sofort, worum es sich handelte.

Ein allgemeiner, starrender Blick nach den acht »Burschen«, ein staunender Blick — und dann plötzlich heiterten sich alle die mürrischen und verdrießlichen Gesichter auf. Dann weiter ein allgemeines Grinsen, auch Grienen genannt.

Die hatten es sofort erfasst!

Und hiermit war der drohende Konflikt beseitigt, alles Böse hatte sich zum Guten gewendet.

Inwiefern, wodurch — diese Antwort überlasse ich dem Leser. So leicht zu definieren ist es ja auch gar nicht.

Aber das war jedenfalls das einzige Mittel gewesen, um jede Missstimmung sehnellstens zu beseitigen, alle Eifersucht, um die acht neuen Männer als gleichberechtigte Argonauten einzuführen — gerade als die niedrigsten Schiffsjungen, die eventuell jeder Matrose backpfeifen konnte. Zunächst aber mussten die neuen Schiffsjungen auf die Wachen verteilt werden, das ist immer das erste bei einer neuen Massenanmusterung.

Die Exklusiven und Gäste konnten dazu wieder wegtreten, die »Gefahr« war ja vorüber. Aber nur Doktor Isidor verschwand, in seinem Bademantel gewickelt, nicht schlecht auf mich räsonierend.

Die Verteilung der neu angemusterten Mannschaft auf die Wachen ist Sache der Offiziere, der Kapitän kümmert sich nicht darum. Die neuen Leute treten an, die Steuerleute rufen beim Namen oder winken, immer abwechselnd, bis die ganze Portion verteilt ist. Das sind immer kritische Minuten für die Offiziere, zumal wenn sie die Matrosen sonst noch gar nicht kennen gelernt haben. Jeder will natürlich die besten Matrosen für seine Wache haben. Aber woher soll man das wissen? Die Papiere sagen gar nichts. Solche mit schlechten Zeugnissen hat der Kapitän doch gar nicht angemustert. Da muss man sich auf den Blick verlassen, auf die seemännische Menschenkenntnis, wobei man sich aber doch oft grimmig täuschen kann.

Kritisch ist für den Steuermann diese Auswahl bei der Verteilung deshalb, weil er allein für die Leistung der ganzen Wache verantwortlich ist. Klappt einmal ein Segelmanöver nicht, passiert sonst etwas während dieser oder jener Wache, dann ist es allein der wachthabende Offizier, der vom Kapitän das Donnerwetter bekommt. Und was für ein Donnerwetter, manchmal mit Blitz und Hagelschlag! Um die einzelnen Matrosen, die schlapp und ungeschickt gewesen sind, kümmert sich der Kapitän gar nicht. Der hält sich nur an den führenden Steuermann, der muss dann alles ausbaden. Das ist genau so wie im Heer, wenn beim Manöver eine Kompanie einen dummen Streich gemacht hat, nur die Soldaten selbst sind daran schuld — aber diese Soldaten werden dann doch nicht etwa zum Zivil entlassen, sondern der vielleicht ganz unschuldige Herr Hauptmann ist es, dem ein »Major ade!« zugerufen wird, der den Helm mit dem Zylinderhut vertauschen muss.

Ja, die Verteilung dieser acht Schiffsjungen, von solchen strammen Bengeln war wirklich eine ganz wichtige Sache, und es ging sofort los.

»Die Jungen werden mit ihren Vatersnamen gerufen!«, brauchte ich nur noch zu sagen, und begab mich an Deck, um selbst mit zu wählen, als dritter, denn jetzt galt ich nur als dritter Steuermann, wie es auch beim Kapitän selbst gewesen wäre, das heißt als Offizier der dritten Wache.

Diese Familiennamen waren im Laufe des gestrigen Tages schon allgemein bekannt geworden.

»Häckel!«, sicherte sich der erste Steuermann sofort den Advokatenschreiber mit den riesenhaften, herkulischen Umrissen, und der Gerufene marschierte hinüber.

»Starke!«, schrie Ernst, der zweite Steuermann, mit einer krampfhaften Hast, als fürchte er, ein anderer könne ihm diesen Mann wegnehmen.

Der Schriftsetzer, der mit seinen muskulösen Riesenpfoten auch lieber Granitblöcke als Letterchen hätte setzen sollen, wie er überhaupt der Statur nach am meisten dem Advokatenschreiber ähnelte, marschierte zur zweiten Wache hinüber. Das »marschieren« ist wörtlich zu nehmen.

»Schneider Schnipplich!«, entfuhr es mir.

Alles lachte.

Es war mir wirklich nur entfahren. Ich wusste, dass Günther Schneider war, dass er allgemein Schnipplich genannt wurde, ich war nicht gleich auf den richtigen Namen gekommen — da hatte ich zur Sicherheit »Schneider Schnipplich« gerufen.

Nun blieb es aber auch bei diesem Schneider-Schnipplich. Also der kleine, dicke Stöpsel, fast eine Fettkugel, schnippelte mit zierlichen Schrittchen zu mir hierüber. Natürlich wusste ich schon, wen ich für des Kapitäns eigene Wache gesichert hatte. Ein phänomenaler Kerl, dieser Herrenkleiderkünstler! Wenn er auch Brüste wie eine Frau hatte. Das war bei dem aber alles Muskel!

»Swidersky!«

»Vogel!«

Gott sei Dank, der, auf den ich es abgesehen hatte, war noch frei! Ich hatte schon gezittert.

»Kretschmar!«

Der kleine, spindeldürre Damenkonfektionär hopste mit elegantem Sprunge zu mir herüber.

Auch ihr Beruf war ja nun schon allgemein bekannt. »Sie, Herr Waffenmeister«, musste sich denn auch Klothilde gleich vernehmen lassen, »Sie wollen wohl ein Herren- und Damenkonfektionsgeschäft aufmachen?«

»Jawohl, und ich hoffe, dass Sie uns als erste Kundin beehren, um sich einen neuen Unterrock zuzulegen. Der da sieht ja scheußlich aus!«

Nun blieben noch zwei übrig, die ausgelost werden mussten: der Uhrmacher Hannemann und der Maler und Tapezierer Kaul.

Ersterer trug eine Brille und fiel der zweiten Wache zu, letzterer hatte sich an den Zimmerdecken beim Malen die Haare abgestoßen, hatte eine mächtige Glatze, und wurde durch das Los für die dritte Wache entschieden.

Gerade diese beiden, die niemand hatte haben wollen — wenn sie auch in der Turnerei den anderen durchaus nichts nachgaben — sollten die tüchtigsten Seeleute werden und das höchste Ziel erreichen. So ist es eben gewöhnlich.

Der Kapitän erschien wieder und nahm mir formell durch »Beleg« das Kommando wieder ab. An Bord wird ein Kommando oder Befehl oder eine Anordnung nicht zurückgenommen oder aufgehoben, sondern »belegt«.

So, nun konnte es losgehen. Und es ging los! Die acht neubackenen Schiffsjungen sollten erst einmal vollen Tagesdienst tun, ehe sie mit zur Freiwache kamen.

Also schnellstens Arbeitszeug anziehen, und dann wurde ihnen zuerst der Schrubber in die Hand gedrückt — nein, zuerst ihnen gezeigt, wie sie den Besen überhaupt anzufassen hatten. Denn das will auch gelernt sein. Wenn so ein Matrose ein Dienstmädchen kehren sieht, dann sträuben sich ihm die Haare.

Dann war es natürlich Oskar, der als erster einen Jungen vornahm, um ihn »soltig« zu machen, salzig, scharf.

Er hatte heute Dienst, teerte gerade ein Segel.


Illustration

»Du, Häckel«, sagte er zu dem Herkules, »lang mal hin zum ersten Bootsmann, lass Dir eine neue Teerzange geben. Der mit den krummen Beinen und dem Napoleonsgesicht, das ist der erste Bootsmann, und darauf ist er auch stolz — das heißt auf sein Gesicht, auf seine Beine weniger — er will auch so angeredet sein. Also Du sagst zu ihm: ›Herr Napoleon, Sie möchten doch so freundlich sein und die Güte haben und mir für den Herrn Segelmacher eine neue Teerzange gehen.‹ — Verstanden? Nun lauf. Aber trapp, immer trapp!«

Also Häckel rannte, stellte sich in Positur vor das kleine Krummbein hin, ein Riese vor einen Zwerg.

»Herr Napoleon, Sie möchten doch so freundlich sein und die Güte haben und mir für den Herrn Segelmacher eine neue Teerzange...«

Das letzte Wort konnte er nicht mehr aussprechen. Da hatte das kleine Krummbein schon in die rechte seiner ungeheuren Tatzen gespuckt und zum Schlag ausgeholt.

»Du Näswater! Du Rotzjunge infamer! I hau Di een in de Snut...«

Zwar tat es der Bootsmann nicht, aber es genügte gerade.

Einmal nämlich wollte er nicht Napoleon genannt sein, und zweitens gibt es überhaupt so etwas wie eine Teerzange gar nicht...

So fing es an, und so ging es weiter. Auf diese Weise wurden die neubackenen Schiffsjungen »salzig« gemacht.

*

47. Kapitel

Das Indianerspielen wird ernst

Originalseiten 1242 — 1288

Ungefähr acht Tage später ritt ich an einem herrlichen Morgen auf meinem Pony, auf dem ich nun sattelfest geworden, allein nach Norden durch Wald und Prärie, nur begleitet von Chloe, dem Schäferhunde.

Ich wollte einmal allein sein, einen ganzen Tag lang, vielleicht noch länger, wollte mich aber dazu doch nicht in ein Versteck legen. So machte ich gleich einmal eine kleine Forschungsexpedition auf eigene Faust.

Erforscht war das Plateau ja schon innerhalb der sechs Wochen, seitdem die »Argos« hier lag, so weit dies eben bei solch einem Gebiet möglich war. Wenn man einen Begriff davon haben will, was zehn geografische Quadratmeilen bedeuten, so nimmt man am besten eine Karte von der Umgegend seiner Heimat her, die man gut kennt, alle die umliegenden Dörfer, misst ein Viereck von etwa drei deutschen Meilen ab und sieht nun nach, was da alles drin liegt. Dies also erkennt man, was zehn Quadratmeilen zu bedeuten haben, was es heißt, solch ein Gebiet mit Gebirgen und Tälern, mit Wäldern und Prärien, mit Flüssen und Seen zu erforschen, das heißt, es gründlich kennen zu lernen.

Wir hundert Menschen hätten vielleicht ein ganzes Jahr lang hier tagtäglich herumschweifen können, und dann fand man eines Tages noch immer ein weites Tal von den bizarrsten Formationen, von denen wir bisher noch keine Ahnung gehabt hatten.

Nur der ganze Rand des Plateaus war schon abgegangen, respektive abgeritten worden. Allüberall fielen die Felswände glatt wie die Mauern hinab, mindestens 300 Meter hoch, auf der Nord- und Ostseite stürzten einige prachtvolle Wasserfälle in die furchtbare Tiefe.

So war mir von Juba Riata berichtet worden, der während meiner Abwesenheit mit Matrosen und anderen schon wiederholte Forschungsexpeditionen unternommen hatte. Ich selbst hatte mich während der acht Tage nur wenige Kilometer von unserem Sportplatz entfernt, nur wie es Sport und Spiel mit sich brachte, ich hatte mich unausgesetzt meinen Jungen und Kindern gewidmet, und so war es mir nicht zu verdenken, wenn ich bei dieser meiner ersten Expedition einmal mit mir allein sein wollte. Es war für mich einmal ein Ruhetag.

Ich folgte keinem Rande, sondern wollte das Plateau zuerst möglichst in der Mitte nach Norden durchqueren Während ich so mein Pferdchen durch Wälder und Prärien lenkte, mehr im Schritt als im Trab, dachte ich dies und dachte jenes.

Zehn deutsche Quadratmeilen! Die vermochten bei diesem fruchtbaren Boden mit Ackerbau und Viehzucht mindestens 5000 Menschen zu ernähren, ganz selbständig. Ein unersteigbares Felsplateau, zu dem hinauf es vielleicht nur einen einzigen Schleichweg gab, der nur uns bekannt, der jedenfalls mit einer Hand voll Leute gegen ein ganzes Regiment zu verteidigen war.

Lag da ein Gedanke nicht sehr nahe?

Wir Argonauten setzten uns hier oben fest. Wir nahmen uns hier herauf germanische Frauen, die unserem Geschmack und idealen Zielen entsprachen. Wir zeugten Kinder und erzogen sie in unseren Idealen.

Vorläufig war dies noch herrenloses Land, stand noch unter keiner Regierung. Zwar war eigentlich gerade das Gegenteil der Fall, sowohl Frankreich wie Brasilien machten Anspruch darauf — doch das ist fast dasselbe: so lange sich zwei Hunde um einen Knochen streiten, so lange gehört der Knochen noch keinem von ihnen. Erst wenn der Knochen in einem Magen begraben ist, dann erst kann der betreffende Hund mit Recht sagen: dieser Knochen gehört mir! Vorher nicht.

Doch ob nun Frankreich oder Brasilien, das war ja überhaupt ganz gleichgültig. Wir pflanzten hier oben einfach die Argonautenflagge auf — »Argonautien sollst Du heißen Du, jungfräuliches Land!«, — als brave Christen feierten wir natürlich einen Dankgottesdienst, dass uns der liebe Gott hier so ein schönes Land geschenkt hatte, besaßen wir schon Kirchenglocken, so wurden die geläutet, sonst spielte jedenfalls die Orgel, dazwischen einige Kanonenschüsse — und die selbständige Republik Argonautien war erklärt. Oder wollten die Argonauten lieber einen König dazu haben, mich dazu wählen — gut, wurde angenommen, da bin ich nicht so — also dann war eben das Königreich Argonautien fertig. Oder vielleicht auch das Kaiserreich.

Dann, nachdem ich mich als König oder Kaiser von Argonautien — am besten beides zugleich — aller Welt proklamiert hatte, richtete ich in allen Hauptstädten Gesandtschaften ein, nahm nach allen Regeln der politischen Kunst erst einmal einen tüchtigen Pump auf, weil das nun einmal zum Anstand gehört...

Doch nein, bevor ich noch meine Gesandtschaften in England, Deutschland, Frankreich, Montenegro und so weiter eingerichtet hatte, würden hier wohl von der Nordseite her die Franzosen und von der Südseite her die Brasilianer mit Heeresmacht angerückt kommen.

»Herunter da, Ihr Strauchdiebe, was habt Ihr dort oben zu suchen! Das ist Regierungsgebiet!«

Natürlich kamen wir nicht herunter.

Da wollten sie zu uns herauf.

Hieran hatten wir und ganz besonders ich als König natürlich schon gedacht, hatten an dem Eingange zu dem Schleichweg bereits eine Warnungstafel angebracht: »Achtung! Geschlossene Gesellschaft! Gesperrtes Gebiet! Das Betreten des Königreiches Argonautien ist Fremden ohne besondere Erlaubnis streng verboten. Zuwiderhandlungen werden nach Paragraf 78 bis 2999 bestraft, nicht unter einen Tag Haft. Georg Stevenbrock — König von Argonautien.«

Natürlich würden die Franzosen oder Brasilianer nicht viel auf dieses Verbot geben.

Ebenso natürlich wussten wir dies aber auch, hatten uns schon darauf vorbereitet.

Natürlich hatte unterdessen unsere »Argos« schon alles herbeigeschleppt, was der Mensch und jeder Staat auf viele, viele Jahre hinaus zu des Leibes Nahrung und Notdurft braucht, darunter zum Beispiel auch Pulver und Blei. Und Krupp'sche Kanonen.

Doch solche moderne Mordinstrumente und Materialien hatten wir ja gar nicht nötig.

Das Wort »sperren« soll von »speeren« kommen. Wenn früher ein Weg verboten wurde, so befestigte man dort einen Speer, die Spitze dem Kommenden entgegen.

So konnten auch wir es halten. Wir hielten den uneingeladenen Besuchern einen oder einige Speere entgegen, und gehorchten sie nicht diesem Wink, dann stachen wir auch zu.

Was wollten sie denn machen?

Gar nichts konnten sie machen.

Auch Legionen von Regimentern nicht.

Sie konnten uns nicht von unten her bombardieren. Konnten uns nicht aushungern, uns nicht die Wasserleitung abschneiden.

Wir konnten uns hier oben in aller Ruhe vermehren wie der Sand am Meere. Und wenn es genug Sandkörner waren, wenn auch erst nach einigen hundert Jahren, dann rückte der Überfluss an streitbaren Jünglingen aus, germanische Helden, um die Nachbarschaft zu erobern.

Bis zum Meere waren es nach Norden wie nach Osten nur 60 Meilen. Dort würde sich wohl ein Hafen finden lassen. Dann hatten wir, unsere Nachkommen, Ellbogenfreiheit.

Und so oft die germanischen Jünglinge auch wieder zurückgedrängt würden, auf der unbezwingbaren Hochburg fanden sie immer wieder Schutz, immer neue Scharen spie dieses Plateau aus...

Genug des Traumes!

Aber nicht etwa, dass nur ich jetzt solch einem Traume nachhing.

Wir hatten uns in der Kajüte schon oft genug darüber unterhalten.

Und nicht etwa, dass es ein unausführbarer, unmöglicher Traum gewesen wäre, eben nichts weiter als ein Traum.

So etwas wie eine Unmöglichkeit gibt es ja überhaupt gar nicht.

Das, was wir uns da manchmal ausmalten, war recht wohl zu verwirklichen.

Auf diese Weise sind ja überhaupt alle Königreiche und Staaten gegründet worden, von Zwingburgen aus.

Ja, die Ausführung war recht wohl möglich, wenn man da auch mit Jahrhunderten rechnen musste.

Aber wenn wir uns auch darüber unterhielten, so dachten wir doch gar nicht daran, mit dieser Ausführung einen Anfang zu machen, uns hier niederzulassen und Ackerbau und Viehzucht zu treiben.

Wir waren Seeleute, die Liebe zur See und zum Schiffsleben war uns schon in Fleisch und Blut übergegangen, uns gehörte das ganze Meer, uns stand die ganze Welt offen, und wir wollten nur Gott danken, dass wir die englische Halbkriegsflagge bekommen hatten, die uns zu wirklichen Freiherren der See machte.

Das hier war nur ein kleiner Abstecher per Schiff in den brasilianischen Urwald hinein, wir hatten zufällig dieses Gebirgsplateau gefunden, alles war hier für unser Sporttreiben wie geschaffen, hier wollten wir einige angenehme Wochen verbringen, und damit basta! Dann ging es wieder dorthin, wo der Himmel am blauesten war, wo die Sonne am schönsten lachte oder wo das prächtigste Schneegestöber war.

Aber um Gottes willen sich nicht nur auf solche politische, welterschütternde Zukunftspläne einlassen!

Immerhin, unterhalten konnte man sich darüber, zum Scherz, aus dichterischer Neigung, wollen wir sagen, und so machte es auch jetzt mir noch den größten Spaß, solchen utopistischen Träumen nachzuhängen, während ich mein Pferdchen durch Wald und Prärie lenkte und der Schäferhund um mich herumstöberte.

So war ich ungefähr eine Stunde geritten, als ich eine Felsenformation erreichte, die ein kleines Tal bildete, oder eine Schlucht — also ein Fleckchen Grasland, aber auch mit schönen Bäumen bestanden, war von niedrigen Felsen umsäumt, unter einem solchen sprang eine klare Quelle hervor — ein idealer Lagerplatz, wie geschaffen zur Einnahme des ersten Frühstücks.

Ich war absichtlich mit nüchternem Magen abgeritten, hatte im Rucksack Weißbrot, Butter und ein delikates Brathuhn, wie sie hier massenhaft herumflogen, fast so groß wie die Truthühner — freilich flogen sie ungebraten herum, in prachtvollem Federschmuck.

Also ich stieg ab, suchte mir ein geeignetes, vom Morgentau verschontes Plätzchen, hobbelte meinen Gaul und traf Vorbereitungen zum Frühstück. Aber nicht, dass ich mir erst ein Lagerfeuer anzündete. So romantisch war ich gar nicht veranlagt. Wenigstens jetzt nicht mehr. Diese Art Romantik hatte ich schon längst hinter mir. Sonst hätte ich mir ja auch erst ein Stück Wild schießen müssen. Aber Meister Kännchen verstand doch so ein Huhn viel besser in der Bratpfanne in feinster Tafelbutter braun zu schmoren, als ich hier am Lagerfeuer am Spieß und der mitgenommene Tee war in der Thermophorflasche noch brühheiß, die Butter dagegen in der Thermaphorbüchse noch eiskalt. Das zog ich aller Romantik am Lagerfeuer vor. Jetzt erblickte ich mein romantisches Ideal darin, die 32 Kinder und auch noch meine erwachsenen Jungen zu Elitemenschen auszubilden, gegen welche die alten Spartaner und die olympischen Sieger Schwächlinge sein sollten.

Auf einem moosigen Steine sitzend, zog ich mir mein Butterbrot und Brathuhn zu Gemüte, trank dazu Tee, war ganz Wonne. Ach, dieser herrliche Morgen! Und dieses herrliche Brathuhn! Auch Chloe war ganz weg ob so vieler Naturschönheit, saß neben mir und passte gut auf, dass kein Knöchelchen verloren ging.

Plötzlich ein Knurren, ein wütendes Anschlagen und da tauchte es auch schon vor mir an einer Felsenecke auf.

Ein Reitersmann.

Ein Indianer.

Aber kein südamerikanischer, noch weniger ein brasilianischer, sondern nach aller Logik eine nordamerikanische Rothaut.

Erst dachte ich, dass Juba Riata wieder ein Späßchen gemacht hätte, mir auch hier so eine kleine Überraschung bereiten wollte. Dass er einen oder einige der Matrosen als Indianer herausstaffiert hätte, die mich hier überfallen sollten. Die erwachsenen Leute, also die Grünen und Roten, spielten, wie schon erwähnt, zwar ebenfalls »Indianers« mit, hatten sich aber noch keine solchen Kostüme gefertigt.

Nun, dachte ich, hätte sich das geändert, mir sollte hier in voller kriegsmäßiger Kostümierung eine Überraschung bereitet werden.

Natürlich war das nur so ein blitzähnlicher Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, im nächsten Augenblick hatte ich meinen Irrtum erkannt.

Nein, das hier war eine ganz waschechte, eine geborene Rothaut, einer der Söhne des großen Geistes, wie sie heute noch in einigen Gegenden Nordamerikas herumstromern.

Es war eine hohe, sehr kräftige, muskulöse Gestalt von vorschriftsmäßig kupferroter Farbe, geschmückt mit der ebenso vorschriftsmäßigen Skalplocke, die aber wohl nicht nur auf einer Perücke befestigt war, noch weniger kostümiert als meine kleinen Indianer, seine Leggins reichten nur bis an die Waden, das heißt nämlich, er trug außer den Mokassins nur noch eine Art Gamaschen aus rotem Leder, sonst nackt bis auf den kleinen Schurz, bewaffnet war er der Hauptsache nach mit Bogen und Pfeilen, die ich über seiner Schulter hervorblicken sah, und in der Hand, die außerordentlich groß, und knochig und muskulös war — wirklich ganz auffallend, sodass man es gleich bemerkte — trug er eine lange, federgeschmückte Lanze.

So thronte er auf einem hohen, prächtigen Pferde, auf einem von der hiesigen großen Sorte, so blickte er mich an, erstaunt und drohend zugleich.

»Howgh, was will das Blassgesicht auf den Jagdgründen der Apachen?!«, erklang es in ganz gutem Englisch.

Merkwürdig! Fast ganz genau so war ich von meinen kleinen imitierten Indianern empfangen worden! Nur dass das die Komantschen gewesen waren, hier war es ein Apache.

Vor allen Dingen aber gefiel mir diese ganze Art und Weise nicht, wie der mich anredete.

»Howgh, was hat denn die Rothaut mich hier beim Frühstück zu stören?«, war meine erste Entgegnung, die mir so entfuhr.

»Was sagst Du da zu mir?«, erklang es immer drohender und brüsker. »Wie wagst Du weißer Hund mich, die große Hand der Apachen, zu nennen?! Elender Knabe, Großhand nimmt Dich auf seine Lanze!«

Na, nun war mir's aber genug, nun stand ich aber auf.

»Du mich auf Deine Lanze nehmen? Großhand heißt Du? Da ist bei Deiner Namenstaufe wohl eine Verwechslung vorgekommen, man wollte Dich wahrscheinlich Großmaul nennen, wie?«

»Sohn einer Hündin, das war Dein letztes Wort!«

Und da legt der rote Kerl plötzlich seine Lanze ein und sprengt mit gesenkter Spitze auch schon auf mich los!

Hätte ich nicht einen blitzschnellen Seitensprung gemacht, so wäre ich im nächsten Augenblick durchbohrt gewesen, mitten durch die Brust, ich hätte damals meine Seele ausgehaucht, da wäre gar nichts zu fackeln gewesen.

So rutschte die Lanzenspitze gerade noch an mir vorbei. Weiter ließ ich ihn aber nicht kommen.

Wie er selbst gerade an mir vorbeisauste, griff ich schnell zu, packte ihn beim Fuß und beim Handgelenk, riss ihn von seinem Gaule herunter.

Wie er so herabstürzte, kam er mir, der ich zuletzt doch etwas in die Kniebeuge gegangen war, gerade auf das linke, etwas vorgestreckte Knie zu liegen — kam gerade so zu liegen, wie man einen Jungen überlegt, um ihm den Hosenboden auszuklopfen, und wie der Kerl nun so dalag, da dachte ich in diesem Augenblick an all die zahllosen Prügel, die ich auf diese Weise und in dieser Stellung von meinen Lehrern bekommen, weil ich das aufgegebene Gesangbuchlied wieder nicht auswendig gelernt hatte — na und überhaupt, mir war dieser Kerl doch wirklich zu dumm gekommen — ich sitze hier ganz ruhig da und frühstücke, da taucht dieser Kerl plötzlich auf und beschimpft mich ohne weiteres, natürlich gebe ich ihm eine Grobheit zurück — und da will mich dieser Kerl plötzlich aufspießen, hätte es auch wirklich getan, hätte ich nicht eine fixe Wendung gemacht — sonst hätte ich schon eine tote Leiche sein können — oder hätte ich mich gebückt, so hätte er mir mindestens ein Auge ausstechen können — und das ist doch gar keine Sache!

Kurz und gut, in diesem Augenblicke hatte es bei mir dreizehn geschlagen, und ich pochte dem tapferen Apachenkrieger hinten das Badehöschen aus, was ich nur pochen konnte, den Takt dazu mit passenden Worten begleitend:

»I — Du — Lau — se — junge — in — famer...«

Weiter kam ich nicht, obgleich es erst die Einleitung gewesen war. Nochrechtzeitig bemerkte ich, dass der Stromer plötzlich ein langes Messer in der Hand hatte, womit er wahrscheinlich untersuchen wollte, ob meine Waden echt oder nur auswattiert seien, aber ehe ihm das gelang, bekam er von mir links und rechts ein paar Backpfeifen mit der Faust. Da hatte er einen Ohnmachtsanfall, lag ganz mäuschenstill auf meinem Knie, ich legte ihn auf den Rücken, und ehe er sich wieder erholt hatte, war er mit seinem eigenen Lasso, den er um die Hüften gewickelt hatte, an Händen und Füßen gebunden.

Das heißt, mit den Füßen war ich noch nicht ganz fertig, nur der letzte Sicherheitsknoten fehlte noch, als ich bei meiner Arbeit gestört wurde.


Illustration

»Throw up your hands! Hoch die Hände!«

So wurde nicht gerade gedonnert, es war vielmehr ein sehr hohes Stimmchen, welches mir das zurief.

So wie dieses Stimmchen sah auch das ganze Männchen aus, das mir mit vorgehaltenem Revolver befahl, sofort die Hände hochzuheben.

In solchen Situationen ist ja unser natürlicher Fotografenapparat, Auge genannt, für Momentaufnahmen eingestellt, es ist ganz wunderbar, was man da in einem einzigen Augenblick alles sieht, wie das Gehirn sofort auch alles verarbeitet.

Es war ein Juba Riata in Miniaturausgabe, der da fünf Schritte entfernt vor mir stand. Bis an den Leib gehende Stiefeln mit Talersporen, unter dem breitrandigen Sombrero blonde Locken, die bis auf die Schultern fielen, und so weiter — eben auch so ein Cowboy oder Vaquero, nur klein und sogar zierlich, der mächtige Revolver, dessen Kolben die kleine Faust umspannte, nahm sich wie eine Handkanone aus.

Jedenfalls aber befand ich mich in einer ganz gefährlichen Situation. Denn jedenfalls war doch der Revolver scharf geladen, solche gestiefelte und langhaarige Burschen, ob sie nun groß oder klein sind, machen nicht langen Sums mit der Schießerei, und einer Kugel kann man nicht so schnell ausweichen wie einer Lanzenspitze.

Also ich beschloss, meine Hände erst einmal schnellstens hochzuheben, ehe dort der Revolver krachte. Dann später konnte man ja weiter sehen.

Das heißt, zu dieser Entschließung brauchte ich nur den tausendstel Teil der Zeit, die ich hier auf diese Erklärung verwende.

»Hoch die Hände!«, erklang es, und da wollte ich dieser Aufforderung auch schon nachkommen.

Aber andere Pfoten waren noch fixer als die meinen. Und zwar nicht nur Vorderpfoten, sondern auch Hinterpfoten.

Plötzlich sauste es durch die Luft wie ein schwarzweißer Blitz, und der hieß Chloe.

Und da lag mein Revolvermann auch schon wie ein geprellter Frosch auf dem Rücken, und auf seiner Brust stand Chloe und wies ihm grimmig die Zähne, und ehe dem braven Tiere der Revolver vielleicht doch noch gefährlich werden konnte, war ich mit einem Satze schon dort und hatte das Ding ihm aus der Hand genommen.

»So, meine brave Chloe«, sagte ich, während ich dieses Männchen ebenfalls mit seinem eigenen Lasso band, aber nur an den Händen, »das war Nummer zwei, und aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Diese gute Nummer drei wollen wir aber lieber nicht abwarten, sondern lieber machen, dass wir schleunigst von hier verduften. Passe mal gut auf, dass mir unterdessen niemand etwas tut, während ich hier dieses Männchen frachtfähig einpacke. Geh, such nach dem Feind!«

Der von Juba Riata dressierte Schäferhund — nein, eine Hündin war es — verstand und gehorchte sofort, verschwand in den Büschen und zwischen den Felsen, suchte die ganze Umgebung ab, und Chloe hätte mich schon rechtzeitig vor einem dritten Menschen, der nur ein Feind sein konnte, gewarnt.

Mein Entschluss war im Augenblick gefasst gewesen. Hier durfte ich auf keinen Fall bleiben. Jeder, der jenseits über die niedrigen Felsen kroch, konnte mich wegschießen oder mit dem Lasso wegfangen, allein auf diesen Hund durfte ich doch nicht meine Sicherheit bauen.

Also nur erst einmal fort von hier, womöglich gleich nach unserem Lager. Denn diese Sache hier musste doch erst einmal klargelegt werden. Dazu musste ich aber auch gleich einen Mann mitnehmen, der uns die Erklärung abgeben konnte.

Das große Pferd des Indianers hatte das Weite gesucht, aber dort stand noch das Pony, auf dem der Cowboy gekommen. Es ließ sich von mir ruhig am Zügel ergreifen.

Erst hatte ich nur den weißen Mann mitnehmen wollen. Warum aber nicht auch gleich den roten? Es waren überhaupt sehr kräftige und auch sehr große Ponys, das hier ein ausnahmsweise starkes Tier, das recht gut zwei Menschen tragen konnte, zumal einer so ein kleiner Wicht war — also ich lud zunächst den Indianer, der noch nicht zur Besinnung gekommen, aber keinesfalls tot war, auf den Rücken des fremden Tieres, löste die Fußfesseln, ließ die Beine herabhängen, laschte so seinen sonstigen ganzen Körper gut fest. Dann war vorn noch immer Platz für einen Reitersmann.

»Nun seid so freundlich und steigt auf!«, sagte ich als ich den Cowboy in die Höhe hob. »Leichter, als Ihr schon seid, braucht Ihr Euch nicht zu machen, nur die Beine wollt Ihr gefälligst ein wenig spreizen, und wenn Ihr Euch sonst ziert, dann gibt es einen Klaps.«

Es war ein noch junger Mann mit blondem Schnurrbärtchen, beim Emporheben fühlte ich trotz der sonst zierlichen Gestalt recht kräftig entwickelte Muskeln, sein sonnenverbranntes und verwettertes Gesicht war intelligent und auch freundlich zu nennen, durchaus nicht wild und verwegen — vor allen Dingen aber war es jetzt ein überaus bestürztes und daher etwas dummes Gesicht, das mich fassungslos anstarrte.

»Aber Sir, aber Sir«, stotterte er, »wer sind Sie denn nur, wie kommen Sie denn nur hierher...«

Auch durch diese Redeweise machte er mir durchaus nicht den Eindruck eines echten Cowboys.

»Diese Frage werde ich zunächst dann Ihnen vorlegen, ehe ich Ihnen eine Erklärung gebe!«, war meine Antwort, während ich ihm noch die Füße unter dem Pferdeleib festschnürte.

»Wir wollen durchaus nicht Ihre Feinde sein...«

»Na, ich danke! Erst will Ihr roter Kamerad mich mit der Lanze anspießen, dann drohen Sie mir mit dem Revolver...«

»Nur ein unglücklicher Zufall, nur ein Missverständnis! Ich versichere Ihnen, wertester Sir...«

»Halten Sie die Luft an! Wir haben dann noch Zeit genug zur Unterhaltung, jetzt habe ich erst anderes zu tun.«

Die Verladung war geschehen, ich vergaß auch nicht des Indianers Skalpiermesser und Lanze mitzunehmen, seinen Tomahawk konnte er ruhig im Gürtel behalten, vergaß auch nicht des Cowboys Revolver, auch nicht mein halbes Brathuhn und meine anderen sieben Sachen — so, nun konnte die Fuhre abgehen.

Ich schwang mich auf meinen eigenen Gaul, nahm den anderen beim Zügel und pfiff dem Hunde.

»Niemand in der Nähe, Chloe? Dann pass gut auf, dass uns niemand folgt, dass auch um uns herum niemand schleicht.«

Fort ging es, immer im Trab, nach unserem Sportplatz zurück, Chloe in voller Karriere immer in weitem Bogen um mich herum.

»So, Mister, nun können wir uns gemütlich unter halten. Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?«

Ich gebe es kurz wieder, was ich von dem Manne innerhalb des dreiviertelstündigen Rittes erfuhr, wie er auch noch später sich und seinen Charakter offenbarte — dies alles gebe ich summarisch wieder, ohne die Reihenfolge einzuhalten. Denn das wurde ja eine ganz verzwickte Konversation. Auch bemerke ich gleich, dass ich ihm schon nach den ersten zehn Minuten seine Fesseln löste.

Harry Sandow. Sein Vater war in England Brauereibesitzer gewesen, so ein Bierkönig. Als er dann starb, die Brauerei »limited« wurde, Aktiengesellschaft, bekam jedes der drei Kinder rund zwei Millionen Pfund Sterling ausgezahlt. Sie sind ja ganz kolossal, diese englischen Brauereien. Es gibt ihrer eben nur wenige.

Dabei aber hatte Harry, der einzige Sohn, keine goldene Jugend verlebt. Hatte von der Pike auf dienen müssen,

Malz schippen und Würze sieden, dann später im Kontor von früh bis abends hinter den Büchern sitzen. Und dabei war des armen Jungen Kopf ganz mit Indianergeschichten angefüllt gewesen, die in England ja noch viel verbreiteter sind als bei uns. Er hatte lieber Indianerhäuptling werden wollen.

Na, als er vor fünf Jahren frei geworden, noch immer ein zwanzigjähriger Jüngling, hatte er ja seiner Neigung folgen können. Und er war nach Amerika gegangen, hatte sich in allen Indianer-Reservaten herumgetrieben, von denen das sogenannte Indianer-Territorium zwischen Kansas, Arkansas, Texas und Neu-Mexiko nur das größte ist. Man betrachte nur einmal eine neuere Karte der Vereinigten Staaten größeren Maßstabes, was für eine Unmasse von Gebieten den Indianern noch reserviert sind, die man nicht betreten darf, oder nur auf das eigene Risiko hin, seinen Skalp zu verlieren. Die Romantik der Indianerherrlichkeit ist noch längst nicht so entschwunden, wie es die Schullehrer den Jungen glauben machen wollen, damit die nicht durchbrennen, um ein reelles Indianerspiel mitzumachen.

Also Harry hatte brav mitgemacht, hatte mit den meisten noch existierenden Indianerstämmen gejagt, sich an ihren Kriegsfehden beteiligt, war ein durchaus tüchtiger Kerl geworden. Konnte jede Fährte wie der geübteste rote Jäger verfolgen, stand auch im Kampfe seinen ganzen Mann. Was ihm am Knochenbau abging, das ersetzten ihm seine gestählten Muskeln. In der sonnenverbrannten Wüste zu schmoren, vor Durst die Zunge aus dem Halse zu recken, das war ihm die wahre Lebensfreude. Merkwürdig war, dass er sich dabei so gar nichts vom indianischen Charakter angeeignet hatte. Immer heiter, immer kreuzfidel und puppenlustig. Es war nämlich ein unverbesserlicher Phantast, Idealist und Optimist, von welchem seinem Charakterzuge ich später noch mehr sprechen werde. Oder eines will ich gleich jetzt erwähnen: wenn der einen Feind getötet hatte, den zu hassen er allen Grund haben musste, weil der ihn vielleicht schon einmal furchtbar gemartert hatte, und dann also tötete er ihn im Kampfe — dann orientierte er sich, ob dieser sein gefallener Feind eine Familie habe, und dann sorgte er für diese. Also eine Seele von einem Menschen! Aber auch ein unverbesserlicher Phantast.

Auch Südamerika hatte er sich angesehen. Nur um die Indianer zu studieren Ob die argentinischen Penchuenchen, und wie sie alle heißen mögen, vielleicht noch »idealer« seien, als die nordamerikanischen Rothäute. Nein, das waren sie nicht. So war er wieder zurückgekehrt zu seinen geliebten Komantschen, die er ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte.

Vorher aber hatte er noch einen Abstecher nach Französisch-Guayana gemacht. Die hier hausenden Indianer und schwarzen Buschklepper sollten ganz hervorragende Krieger und Jäger sein.

Das hatte er zwar nicht bestätigt gefunden, aber dafür hatte er die Bekanntschaft eines französischen Jägers gemacht, der diese ganze Wildnis wie seine Hosentasche kannte und dabei ein gott- oder teufelsbegnadeter Held der Wildnis war, wie er im Buche steht.

Der alte Renard war sein Führer geworden, bis an das südliche Grenzgebirge von Guayana hatte er ihn geleitet.

»Was gebt Ihr mir, wenn ich Euch das größte Geheimnis dieses Landes, vielleicht der ganzen Erde das größte Geheimnis meines Lebens zeige?«

»Was verlangt Ihr dafür?«

Der alte Renard verlangte dafür, dass der junge Mann Erkundigungen einzog, was aus seiner Frau und sechs Kindern geworden sei, die er, Renard, von später Abenteuerlust getrieben, oder vielleicht war auch etwas der Staatsanwalt dabei, vor mehr als 30 Jahren in Lyon hatte sitzen lassen, von denen er nie wieder etwas gehört, so sehr er sich manchmal auch schon darum bemüht, freilich ohne selbst wieder nach Frankreich zurückzukehren.

Harry hatte es versprochen und — das sei gleich bemerkt — auch sein Versprechen gehalten, hatte ein ganzes Detektivinstitut mit Kabeltelegrammen damit beauftragt. Den sechs Kindern ging es allen gut.

Da, als Harry also das Versprechen gegeben, hatte ihn der alte Renard noch tiefer in das Gebirge geführt, in eine Schlucht hinein, die sich dann aber als ein aufwärts führender Tunnel erwies.

Also auch von der Nordseite her gab es solch einen unterirdischen Aufstieg nach diesem Plateau. Zweifellos war es ebenfalls ein ehemaliger Wasserlauf, der mit der Zeit versiegt war. Vielleicht gab es noch mehrere solcher Aufstiege. Überhaupt dieses ganze Plateau hatte Karstformation, das hatten wir schon längst erkannt. Das ist ein geologischer Ausdruck für eine Gegend, in der Wasserläufe im Boden verschwinden und anderswo wieder zum Vorschein kommen. Weil sich dies sehr häufig im Karst vorfindet, in jener Einöde in der Nähe von Triest, wohl schon zu Dalmatien gehörend. Wenn ein Fluss im Boden verschwindet und anderswo wieder zutage tritt, so nennt man das auch Karstphänomen, es ist ein wissenschaftlicher Ausdruck geworden. Im afrikanischen Kapland hat man es aber noch viel häufiger und großartiger als im Karst.

Also die beiden waren hier auf das Plateau gekommen.

»Hier ist das alte Eldorado!«, hatte Renard scheu geflüstert.

Also auch er kannte die ganze Geschichte, kannte auch jenes Tal, wusste aber auch schon, dass es nur Katzengold war.

Freilich wusste der die Sache anders zu erklären, obwohl auch wieder der christliche Märtyrer in seiner Erzählung vorkam. Aber das war hier einst wirkliches Gold gewesen, erst durch den Fluch des gemarterten Missionars hatte es sich in wertlosen Goldglimmer verwandelt, und außerdem waren all die ehemaligen Einwohner dieses Landes in Pferde und Büffel und Ziegen und andere Tiere verzaubert worden.

Dies war auch der Grund, weshalb der Alte hier oben nicht jagen, sich gar nicht aufhalten wollte. Er hätte verhexte Menschen geschossen, er fürchtete sich überhaupt vor Gespenstern. Nicht einmal sprechen tat er von diesem Plateau, es war sein Geheimnis, zum ersten Male hatte er es einem anderen Menschen offenbart.

Einige Tage hatten die beiden hier oben zugebracht, Mister Sandow war viel umhergeschweift und den ganzen Plateaurand abgegangen.

Dann waren die beiden wieder hinabgestiegen, Harry war nach Nordamerika zurückgekehrt, zu seinen geliebten Komantschen, die ihresgleichen nicht hatten.

Es gibt mehrere Komantschenstämme, die, früher alle zusammen in Nebraska hausend, jetzt auf verschiedene Reservate verteilt sind. Die Lieblinge von Mister Sandow hatten unter ihrem Häuptlinge, dem schwarzen Biber, ihre Wohnsitze im südwestlichen Texas, am Pecos River.

Diese Gegend war ihnen von der Regierung in Washington für »ewige Zeiten« als Reservat angewiesen worden. Wenn aber Geld oder Geldeswert dazwischen kommt, dann ist die »Ewigkeit« manchmal recht kurz, besonders in Amerika.

In diesem geheiligten Gebiete waren mächtige Kupfererzlager entdeckt worden, und nun mussten die Komantschen hinaus zum Tempel! Ein Vorwand war bald gefunden. Also sie sollten wiederum anderswohin verpflanzt werden.

Die Komantschen hatten sich so eine Verpflanzung schon zweimal gefallen lassen, diesmal nicht wieder. Es wäre zum mörderlichen Kampfe gekommen. Und der benachbarte Apachenstamm hätte mitgemacht, weil der auch fort musste. Zwar herrschte von jeher zwischen Komantschen und Apachen die erbittertste Feindschaft, ein ewiger Kampf — die Regierung ist nämlich so schlau, immer zwei solche Stämme, die sich hassen wie Hund und Katze, als Nachbarn zusammenzubringen, da geht das Verschwinden der lästigen und so kostspieligen Rothäute am allerschnellsten — jetzt aber wurden sich die beiden feindlichen Stämme einig, tranken zusammen Blut, schworen sich Freundschaft, natürlich auch wieder eine »ewige«. Kampf den Blassgesichtern bis aufs Messer, bis zum allerletzten Mann!

Tatsächlich nur die Ankunft von Harry Sandow hatte ein ganz greuliches Morden verhindert. Die beiden Stämme konnten zusammen 142 geübte Krieger ins Feld stellen, das ist in solchen wilden Gegenden gar nicht zu verachten. Und wenn sie besiegt wurden, was ja gar nicht ausbleiben konnte, so schlachteten sie wie gewöhnlich vorher alle ihre Weiber und Kinder und Greise ab. Es ist doch scheußlich!

Da also war gerade im letzten Moment Harry Sandow angekommen und er brachte es fertig, den Verzweiflungskampf zu verhindern.

»Kommt mit mir, meine roten Brüder! Ich habe für Euch neue Jagdgründe gefunden. Und nicht etwa solche, wie man Euch jetzt in der trostlosen Llano estacado anweisen will, wo Ihr ja verhungern müsst, weshalb Ihr ganz recht habt, wenn Ihr Euch durchaus nicht dorthin verpflanzen wollt. Nein, herrliche Jagdgründe, auf denen es von Wild aller Art wimmelt, sogar Büffel gibt es dort in ungeheurer Menge.«

So hatte der weiße Jäger, der hier Heimatberechtigung besaß, gesprochen.

Howgh, Büffel!

Nur die ältesten Krieger konnten sich dieses edlen Jagdtieres noch erinnern. Aber davon wissen taten sie alle.

Da waren sie sofort bereit, dem weißen Bruder zu folgen.

Es war übrigens eine ganz große Sache, dieses Vertrauen, das man diesem weißen Jäger entgegenbrachte, worüber sich dann besonders Juba Riata noch sehr wundern sollte. Gerade deshalb bekam er vor dem Männchen die größte Hochachtung.

Aber auch an die Regierung musste sich Sandow deswegen wenden.

»Wo liegen denn diese neuen Jagdgründe, die Sie den Komantschen und Apachen anweisen wollen?«

»In Afrika!«, lautete die Antwort.

Da hatte die amerikanische Regierung gar nichts weiter zu fragen, Afrika ging sie nichts an.

Es waren genau 413 Menschen gewesen, Männer, Weiber und Kinder, mit denen Sandow nach Galveston gewandert oder zum Teil auch mit der Eisenbahn gefahren war. Nur ihre Pferde hatten sie zurückgelassen, sonst war alles Haus- und Jagdgerät mitgenommen worden, auch die Wigwams.

In Galveston charterte Sandow einen Dampfer, nach Afrika, nach Sierra Leone. So hieß es wenigstens, so wurde auf dem Seemannsamt gemeldet. In Wirklichkeit sollte er nach der Küste von Französisch-Guayana gehen. Darin wurde aber nur der Kapitän von vornherein eingeweiht, und der konnte so etwas machen, denn er fuhr sein eigenes Schiff, und überhaupt, wenn man so viel Geld hat wie dieser junge Mann, da kann man schon Verschiedenerlei machen. Im schlimmsten Falle hätte er einfach einen Dampfer gekauft, er konnte ihn dann ja wieder verkaufen.

Zwischen Organabo und Iracubo wurde gelandet, in einer Flussmündung in aller Heimlichkeit. Natürlich, heimlich musste dies alles geschehen! Die Franzosen hätten doch niemals die Landung und den Durchmarsch von 400 nordamerikanischen Indianern erlaubt! Durch dieses Deportationsland! Vor Cayenne und vor der ganzen Küste kreuzen immer einige Kriegsschiffe.

Wenn es aber heimlich und geschickt genug gemacht wurde, so konnten diese die Landung und Ausschiffung auch nicht verhindern, dazu ist die ganze Küste denn doch zu groß, zu wild, zu unbekannt.

Und der amerikanische Kapitän, wenn auch ein Deutscher, den Sandow für sich gewonnen, war gerade der richtige, mit allen Hunden gehetzt, ein notorischer Schmugglerkapitän.

Also die Einfahrt in die Flussmündung und die Ausschiffung gelang, ohne dass man an behördlicher Stelle etwas davon erfuhr. Dann später hatte es nichts mehr zu sagen, da war der Indianertrupp schon längst unterwegs, an eine Verfolgung in der Wildnis war dann nicht mehr zu denken.

In elf Tagen hatten die mit ziemlichem Gepäck beladenen Indianer die 50 bis 60 Meilen zurückgelegt. Wenn man die dortigen Verhältnisse kannte, so war es ganz erstaunlich, wie der junge Mann sie so schnell und sicher geführt hatte. Juba Riata sprach ihm dann seine ungeschminkte Hochachtung aus.

Vorgestern Nachmittag waren sie hier oben angelangt, das erste Lager wurde aufgeschlagen, gestern waren die ersten Pferde eingefangen und schnell zugeritten worden, heute früh hatten verschiedene Abteilungen die ersten Expeditionen eingetreten, um dieses Gebiet erst einmal kennen zu lernen, Sandow in Begleitung des schwarzen Bibers, des Häuptlings der Komantschen, und einiger anderer Krieger, die er aber unterwegs verloren hatte, wofür er dann Großhand, einen Apachenkrieger, getroffen hatte. Gleich darauf war das Intermezzo mit mir geschehen.

Diese Erklärung, von mir hin und wieder durch Fragen unterstützt, hatte ungefähr eine Viertelstunde in Anspruch genommen, ich hatte also unterdessen meinem weißen Gefangenen die Fesseln gelöst.

»Nun wissen Sie alles, was ich zu berichten habe, wer ich bin und wie ich hier heraus komme, und nun sagen Sie mir wohl auch, wer Sie sind. Sie können sich denken, wie fatal es mir ist, hier noch einen anderen Menschen zu treffen.«

»Ja, jetzt können Sie das erfahren. Haben Sie vielleicht schon von der Hamburger ›Argos‹ gehört?«

»Was, Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie mit zu den Argonauten gehören?!«

»Tue ich.«

»Die zum ersten Male in Kapstadt solche Triumphe feierten, dann in Rio de Janeiro, die dann in Vancouver das großartige Rettungswerk ausführten, wofür die Schiffsherrin, die Missis Helene Neubert, dann vom englischen König zur Freifrau von der See ernannt wurde...«

»Diese Freifrau von der See ist meine Herrin.«

»Aber der erste dieser Argonauten, dieser Seehelden, wird Waffenmeister genannt, heißt Georg Stevenbrock...«

»Der bin ich selber.«

Noch einen grenzenlos erstaunten Blick auf mich, dann ließ er die Zügel fahren, um die Arme auszubreiten und mit ganz verklärtem Gesicht zum Himmel aufzublicken.

»O, himmlische Sonne, dass Du mir in meinem Leben noch einmal das Glück gewährst, einen dieser Argonauten kennen zu lernen!«

So jubelte er. Er jubelte noch ganz anders. Ich kann es gar nicht schildern, wie der sich in seinem Enthusiasmus benahm, was der sonst noch alles hervorsprudelte. Uns sind ja in den vielen Jahren manche Schmeicheleien gesagt worden, aber so etwas habe ich doch nie wieder zu hören bekommen. Und doch klang alles ganz ehrlich. Jedenfalls aber widerstrebt mir, so etwas wiederzugeben.

»Sie können auch alle anderen Argonauten kennen lernen, wir liegen alle hier oben.«

Ich schilderte ihm kurz, wie uns ein spanischer Prospektador, welchen Ausdruck er natürlich kannte, nach Eldorado hatte führen wollen, wie wir anstatt Gold nur goldglänzenden Glimmer gefunden hatten, wie wir nun schon seit sechs Wochen hier oben unsere Spiele trieben.

Ach, nun jetzt erst dieses Glück, dass er in das Lager der Argonauten kommen sollte! Darüber hatte er ganz seine Indianer vergessen. Ich aber nicht.

Ich hatte immer den Gefangenen im Auge behalten, der hinter ihm auf dem Rücken des Pferdes festgebunden war. Er war wieder zu sich gekommen, das merkte ich ganz deutlich, aber er lag noch mit geschlossenen Augen da, hatte nur den Kopf zur Seite gewendet, um sein Gesicht nicht den Sonnenstrahlen auszusetzen. Übrigens waren ja erst 20 Minuten vergangen, so lange hält man solch einen Transport schon aus, und nun gar solch eine Rothaut.

»Warten Sie erst einmal, Geehrtester — was sollen wir nun mit diesem Indianer anfangen?«

»Sie haben doch wohl gesehen, wie ich ihm den Hosenboden ausklopfte.«

»Großartig, großartig!«

»Wird er das nicht übel nehmen?«

»Übel nehmen?«

»Das wird doch natürlich gegen seine Ehre gehen, und ich möchte nicht, dass daraus böse Konsequenzen entstehen, möchte mich mit dem Manne lieber versöhnen.«

»Ich verstehe, ich verstehe. Aber Sie irren. O, wie kann man sich beleidigt fühlen, wenn man von dem Waffenmeister der Argonauten besiegt wird, da sind selbst Prügel nur eine hohe Ehre!«

Es war mit dem enthusiastischen Kerlchen eben nichts anzufangen.

»Soll ich ihn freigeben, ist ihm zu trauen, kommt er freiwillig mit?«, versuchte ich es doch noch einmal.

»Lassen Sie nur, lassen Sie ihn nur gebunden! Was gibt es denn für eine höhere Ehre, als von dem unbesiegbaren Waffenmeister der Argonauten so gefesselt zu werden!«

Da gab ich den Versuch auf. Nun gut, mochte der Mann nur so bleiben, die halbe Stunde hielt er schon noch aus, und wie ich dann mit ihm fertig werden wollte, dass wir als Freunde schieden, dazu hatte ich schon meinen Plan.

»Und Sie bleiben für immer hier?«

»Nein, wir gehen sogar sehr bald wieder von hier fort.«

»O, bleiben Sie hier, bleiben Sie hier! Verbünden Sie sich mit uns...«

Und er schilderte, was er mit seinen Indianern hier vorhatte.

Es war fast genau dasselbe, was auch wir schon geträumt hatten, nur ohne an eine Ausführung zu denken.

Hier auf diesem unbezwinglichen Plateau das Indianertum in alter Herrlichkeit wieder aufleben lassen, dann von hier aus die umgebenden Länder besiegen, wenigstens so weit als es die Vermehrung nötig machte.

Er schilderte es ganz ausführlich. Ich sagte nichts dazu, ließ ihn schwärmen.

»Und da machen Sie mit Ihren Argonauten mit, wir verbinden uns zusammen!«

»Nein. Wir verlassen das Plateau bald wieder.«

Er wollte noch weitere Versuche machen, mich zu überreden, bis er endlich einsah, dass alles zwecklos war.

»Dann versorgen Sie uns wenigstens Frauen!«, scherzte er, obgleich es gar nicht so scherzhaft gemeint war.

»Wozu denn Frauen?«

»Damit diese meine Indianer hier oben nicht aussterben.«

»Ich denke, sie haben ihre Frauen und Töchter mitgebracht?«

»Das wohl, es sind auch genug, aber der Wahrscheinlichkeitsberechnung nach müsste dennoch schon in hundert Jahren keine Seele mehr hier oben sein, auch wenn kein Kampf, kein Unglücksfall vorkommt.«

Er hielt einen kleinen Vortrag, der einer wissenschaftlichen Unterlage nicht entbehrte.

Während die südamerikanischen Indianer heute noch an Zahl zunehmen, sind die nordamerikanischen ganz offenbar von der Natur selbst auf den Aussterbeetat gesetzt. Die Schöpfung hat sie einmal benutzt, nun will sie sich ihrer wieder entledigen, lässt sie aussterben.

Dabei brauchst man gar nicht an ihre Fehden und an Krankheiten zu denken, welche ja allerdings wie seinerzeit die Pocken, fürchterlich unter den Rothäuten aufgeräumt haben.

Einmal ist die Kindersterblichkeit eine sehr große, trotz aller Sorgsamkeit der indianischen Mütter für ihre Kinder, also gar nicht so leicht zu erklären, die Kinderzahl ist überhaupt eine sehr kleine — dann aber vor allen Dingen ist es ganz merkwürdig, dass viel mehr Knaben geboren werden als Mädchen.

Das ist immer ein sicheres Zeichen, dass die Natur ein Volk ausrotten will. Diesen Vorgang hat man recht deutlich bei den Maoris und bei anderen Südsee-Insulanern beobachten können.

Infolgedessen herrscht denn auch heute bei den meisten nordamerikanischen Indianerstämmen Polyandrie, Vielmännerei. Mit ernsten Augen betrachtet, ist das völlig entschuldbar. Übrigens müssen die gemeinsamen Gatten einer Frau überall unbedingt Brüder sein, was auch schon wieder ein Hindernis ist. Man sieht aber doch, wie das indianische Gesetz auch dies zu regeln sucht.

Auch hier waren 258 Männer und Knaben und nur 155 Frauen und Mädchen vorhanden.

»Doch davon abgesehen — es muss überhaupt frisches Blut zugeführt werden, und zwar durch Frauen. Denn nur die Frauen sind an dem Aussterben schuld, das weiß ich bestimmt.«

»Woher wollen Sie das so bestimmt wissen?«

»Durch ein Experiment.«

»Durch was für ein Experiment?«

Er schilderte es mir. Ich kann es hier nicht wiedergeben. Jedenfalls aber hatte alles Hand und Fuß, was mir der junge Mann da sagte.

»Na, da führen Sie Ihren roten Schützlingen doch genügend Ehehälften zu.«

»Ja, aber woher nehmen und nicht stehlen?«, lachte jener. »Welches Mädchen will denn in den Wigwam solch eines roten Kriegers ziehen?«

»Negerinnen bekommen Sie massenhaft.«

»Um Gotteswillen, nur kein Negerblut! Das entartet vollends. Sambos — Mischlinge zwischen Indianern und Negern — na, ich danke!«

»Nun, da könnte ich Ihnen einen anderen Vorschlag machen.«

»Was für einen? Sprechen Sie!«

»Würden Sie auch Inderinnen verschmähen?«

»Inderinnen?«

»Amazonen, ganz echte Amazonen — nur dass sie sich noch nicht beritten gemacht haben.«

»Was, indische Amazonen?!«

»Gegen 250 Stück, ohne die zerquetschten, die könnte ich Ihnen empfehlen.«

»Wo sind denn die zu haben?!«

Ich glaube, der Teufel hat mich damals geritten, dass ich dem unser Abenteuer in Halmahera mit den indischen Maladekkaranis erzählte!

Wie konnte ich aber auch ahnen, dass der wirklich... Doch ich will der Erzählung nicht vorgreifen. Übrigens wurde meine Erzählung, wie die Weiber alle Männer und männlichen Kinder in der Felsenburg ermordet hatten, durch unsere Ankunft im Lager unterbrochen oder schon durch den Anblick desselben.

Es lässt sich denken, was das für eine Überraschung gab, als ich mit den beiden fremden Menschen angerückt kam. Die erste und zweite Wache befand sich auf dem Plateau, auch alle Hauptpersonen mit Ausnahme des Kapitäns.

Ich sprach nicht erst mit der Patronin oder mit sonst jemand, sondern gleich alle mussten antreten, ein gut Teil, die gerade beim Schwimmen gewesen, in Badehosen — so gab ich mit schallender Stimme einen Bericht, ganz kurz, aber sie erfuhren alles, was sie wissen mussten.

Nicht länger als drei Minuten hatte ich dazu gebraucht.

»So, nun geht wieder an Eure Spiele, und zwar mit aller Energie. Macht hier einmal diesem Indianer etwas vor, damit er dann seinen roten Brüdern erzählen kann, damit die wissen, mit wem sie es eventuell zu tun bekämen.«

Meine Jungen verstanden mich sofort, und sie legten wieder los.

Nur den kleinen Engländer überließ ich der Patronin und den sonstigen Hauptpersonen, unter denen vor allen Dingen Juba Riata zu erwähnen ist, damit er diesen noch einmal seine ganze Geschichte auspackte, der Indianer gehörte mir allein. Ich band ihn vom Pferde, trug ihn unter einen Baum, von wo er gerade so recht hübsch den ganzen Sportplatz und das Seeufer überblicken konnte, löste ihm vollends die Fesseln, gab ihm auch Messer und Speer wieder.

»Hier, mein Sohn, hast Du Deine Messer und Gabel wieder, Du bekommst gleich etwas zu schnabulieren. Einen anderen Gebrauch wirst Du doch nicht von Deinen Waffen machen. Wir gerieten im Kampfe aneinander, einer von uns musste doch siegen — jetzt aber ist das vorbei, Du bist mein Gast. Dann, wenn Du gegessen hast, stopfst Du Dir gemütlich eine Pfeife und siehst hübsch zu, was wir Blassgesichter dort für Allotria treiben.«

So ungefähr sprach ich und ließ ihn allein, nur noch dafür sorgend, dass ihm ein Berg gebratenes Fleisch, frischgebackenes Brot und andere gute Sachen vorgesetzt wurden.

Der rote Krieger wollte nicht mitmachen, stellte sich einfach tot. Wie einen schlappen Sack hatte ich ihn tragen müssen, so hatte ich ihn mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt, und, so blieb er mit geschlossenen Augen sitzen.

Aber ich merkte recht wohl, wie er alsbald zu blinzeln begann, er machte die Augen vollends auf, schloss sie wieder, machte sie wieder auf — und als Häckel, dieser notorische Herkules, von der Riesenschaukel mit einem dreifachen Salto mortale abging, oder überhaupt wie eine rotierende Kugel durch die Luft wirbelnd und dann doch noch mit einem eleganten Kopfsturz im Wasser verschwindend, von da an vergaß der rote Krieger, seine Augen wieder zu schließen, sperrte sie vielmehr immer weiter auf.

Ja, da bekam er nun freilich auch etwas zu sehen! Etwas, was man nicht im Berliner Wintergarten und auch nicht im Londoner Olympia zu sehen bekommt, in welch letzterem Varieté immer auf mehreren Bühnen zugleich Vorstellungen gegeben werden.

Nicht nur, dass gerade Schneider-Schnipplich und der Uhrmacher Hannemann gleichzeitig am fünffachen Reck turnten, sondern auch alle meine Jungen taten ihr Bestes, um ihr Können zu zeigen, alle. Wohin man blickte, da sah man Leistungen auf dem Gebiete der Akrobatik, wie man so etwas eben sonst nirgends zu sehen bekommt.

Von alledem will ich nichts weiter erwähnen, als dass Olaf, der schwedische Matrose, sich gerade als Kunstläufer produzierte, sich neue Tricks einübte, auf Rollschuhen, bei denen sieben Rädchen unten in der Mitte in einer Reihe standen, dass sie also mehr Schlittschuhen glichen. Der Schwede war schon immer ein ausgezeichneter Schlittschuhläufer gewesen, und wie sich dieser Kerl nun auf den Kunstrollschuhen ausgebildet hatte, was der für Sachen machte, was der alles riskierte, das war einfach phänomenal! Er konnte stundenlang so auf dem glatten Felsboden herumtanzen, und ich konnte ihm stundenlang zusehen, und wenn ich dachte, jetzt hätte er seine Kunst erschöpft — was er eben gemacht hatte, das war doch nicht mehr zu überbieten — da führte der Kerl einen Sprung, eine Evolution aus, dass ich wiederum vor Staunen Maul und Nase aufsperrte. Gehen, tanzen, fliegen — nein, das hier war eine Bewegungsart, für welche der Mensch noch kein Wort erfunden hat.

Der rote Krieger dachte also nicht mehr daran, die Augen zu schließen und den Toten zu spielen. Ich hätte ihm auch ruhig ein Maschinengewehr zur Verfügung stellen können, er hätte es nicht gegen uns angewendet.

»Wah!«, schrie er da plötzlich und schnellte empor.

Und was war es, was diesen roten Mann, dem stoische Gleichmütigkeit gegen alles als die höchste Tugend gilt, in solche Erregung versetzte, dass er sich so weit vergessen konnte?

Nichts weiter, als dass soeben Frau Rosamunde auf einem Ziegenbock im Damensattel an ihm vorüberritt.

Ja allerdings, diesen schneeweißen Ziegenbock musste man auch gesehen haben, um glauben zu können, dass es auch eine ideale Ziegenbockschönheit gibt. Ein Ziegenbock von unbeschreiblicher Schönheit! Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass man seine mächtigen Hörner vergoldet und dass man ihn mit bunten Fransen behangen hatte. Und wie dieses Dämchen ihn nun ritt! Also eine Beschreibung kann es da gar nicht geben. Und wie sie dann nach allen Evolutionen der hohen Schule plötzlich mit dem Tiere den steifen Felsen hinaufsetzte, man wusste überhaupt gar nicht, wo der Steinbock denn nur Halt für seine Füße fand!

Und dann kam ihr Gatte, der Wenzel-Attila, auf Pollux angeritten, einer unserer Riesendoggen, und ihm nach folgten alle die anderen großen Hunde, alle gezäumt und gesattelt, alle beritten, nämlich von den leichtesten und daher kleinsten unserer Kinder, die jetzt ständig ihr Indianerkostüm trugen.

Was der rote Kriegersmann wohl dachte, als er diese winzigen Indianer da auf Hunden reiten sah? Und wie reiten! Und was die für Hindernisse nahmen?

Ferner will ich nur noch erwähnen, dann aber nichts weiter, dass sogar auf dem Wasser geritten wurde.

Auf dem Wasser, nicht im Wasser!

Wie das zu verstehen ist? Wie so etwas möglich sei? Nun, es war ganz einfach unser Seelöwe, der in dem See herumschwamm, und auch er war gesattelt, er wurde von Mister Tabak geritten, der diese Dressur vollzogen hatte. Da muss man aber doch wohl von einem Auf-dem-Wasser-Reiten sprechen.

»Uff! Medizin!«, hörte ich den roten Krieger flüstern. Also er hielts für Zauberei. Nun, mochte er es nur glauben.

Ja, wir brauchten keine Perlen zu finden, keine Goldblöcke und Diamanten liegen zu wissen. Wir waren auch nicht allein auf »Kling Klang Klung« nebst Einlagen angewiesen.

Wir mieteten oder kauften uns einfach in der Nähe einer Weltstadt wie New York oder London ein größeres Terrain mit Wasser, es wurde eingezäunt, und da gaben wir uns unseren Belustigungen hin, nur zum eigenen Vergnügen. Aber andere durften zusehen — gegen eine Mark Eintritt.

Glaubt man wohl, dass wir ebensolchen Zuspruch haben würden wie etwa eine Weltausstellung? Täglich zehn- bis hunderttausend Besucher. Und das Geld war rein verdient. Wir hatten ja gar keine Unkosten weiter als unsere Ernährung.

Aber an so etwas dachten wir ja gar nicht!

Ich hatte einige Minuten, nicht weit von dem Indianer stehend, dem ganzen Treiben zugeschaut, musste mir die Zeit noch weiter vertreiben, denn Sandow war dort noch im besten Erzählen.

»Komm mal her, mein roter Freund, mache mir das mal nach.«

Zwar kam er nicht, stand nicht auf, sah mir aber doch zu.

Außer den verschiedensten Turngeräten waren überall Apparate oder Vorrichtungen aufgebaut, die sich ein Uneingeweihter nicht so leicht hätte erklären können.

Gerade hier neben dem Baume befand sich solch eine Einrichtung, die ich jetzt nicht weiter beschreiben will, der Leser wird ihren Zweck gleich kennen lernen. Es war hier der Platz für den Fechtunterricht, oder doch für eine Spezialität desselben, ein besonderer Trainierapparat, will ich sagen, um Auge und Hand die größtmöglichste Sicherheit zu geben, um den Menschen von einer angeborenen Schwäche zu befreien.

Da stand auch ein Kasten, der Säbel enthielt, scharf geschliffen.

Einen solchen nahm ich, pflückte vom Boden einen kugelrunden Pilz ab, so groß wie eine Billardkugel. Diese Pilze wuchsen hier überall, schossen über Nacht empor.

Dann winkte ich auch dem ersten besten Matrosen — also tut es gar nichts zur Sache, wer es war — er musste die Mütze abnehmen, ich legte ihm die Kugel auf den Kopf, nahm Abstand, holte recht weit aus und schlug mit dem gewaltigen Säbel eine Quart, also einen horizontalen Hieb von rechts nach links, mit möglichster Vehemenz, und hatte mit dieser Quart den Kugelpilz in zwei Teile halbiert.

Allerdings fiel er dabei vom Kopf, das ließ sich nicht vermeiden. Aber jedenfalls waren die beiden Hälften fast ganz genau gleich.

Es ist dies nicht etwa ein besonderes Kunststück. Das kann jeder gute Fechter, oder man braucht auch gar nicht fechten zu können. Es wird doch jeder, der nicht gerade ein ausgemachter Tölpel ist, mit einem Stock solch eine große Kugel treffen können.

So, wird er es wirklich können?

Geneigter Leser, ich mache Dich hier auf ein psychologisches Geheimnis aufmerksam, Du sollst Dich gleich selbst davon überzeugen können, ich werde Dir die Mittel zur Nachprüfung in die Hand geben.

»Komm, mein roter Freund, mache mir das einmal nach. Aber meinen eigenen Kopf will ich dazu lieber nicht hergeben, es kann ja auch ein anderer sein, ein künstlicher.«

Jene erwähnte Vorrichtung bestand in nichts weiter als in einem zweizölligen Gasrohr, manneslang, das auf eine Steinplatte gestellt wurde, und oben drauf kam ein Menschenkopf aus Holz geschnitzt, angemalt, mit Perrücke, recht natürlich nachgeahmt. Es waren sogar Glasaugen, die einen ganz unheimlich anstierten.

Das war die ganze Vorrichtung. Viel Wind durfte nicht wehen, sonst fiel das Rohr um. Auch stoßen durfte man natürlich nicht dran. Sonst aber stand es fest.

Ich pflückte noch so einen Kugelpilz ab, legte ihn auf den Kopf, mit dem Säbel Abstand genommen, eine furchtbare Quart geschlagen — der Kugelpilz fiel in zwei Hälften gespalten herab.

»Nun komm, mein roter Freund, mache mir das einmal nach. Ich behaupte, dass Du es nicht kannst. Ich behaupte, dass Du den Pilz überhaupt nicht triffst. Allerdings erlaube ich Dir nur zwei Schläge. Du brauchst den Pilz auch nicht in der Mitte zu spalten. Du sollst ihn überhaupt nur treffen. Das kannst Du nicht. Oder Du triffst das Eisenrohr, wirfst es um. Aber den Kugelpilz triffst Du nicht. Ich behaupte es.«

Der Indianer stand wirklich sofort auf. Ich hatte mich schon darauf gefasst, ihn noch länger einladen zu müssen.

»Warum soll Großhand die Kugel nicht treffen?«

»Weil Du es eben nicht kannst. Mache es doch. Aber nicht das Rohr umwerfen! Sonst hast Du Deinen Kopf verspielt.«

Ich zeigte ihm noch einmal, wie leicht das Rohr stand, wie ein geringes Antippen genügte, um es umzuwerfen.

»Meinen Kopf?«

»Ja. Wenn Du das Rohr triffst, dann schneide ich Dir den Kopf ab.«

Der Indianer wurde etwas misstrauisch und es war begreiflich.

»Und wenn ich die Kugel treffe?«, fragte er dann.

»Dann kannst Du mir den Kopf abschneiden. Das heißt, wenn ich es mir gefallen lasse. Na, schlage nur zu. Über das andere werden wir uns dann schon einig. Hier hast Du den Säbel.«

Noch ein kurzes Überlegen, dann nahm der Indianer das »lange Messer«, zielte erst mit der Spitze nach dem Pilze, der wieder auf den Kopf gelegt worden war, holte aus, schlug zu — schlug wenigstens drei Zoll über den Pilz hinweg.

Ein ganz verdutztes Gesicht.

Wieder gezielt, zum zweiten Male geschlagen — wieder hoch drüber weg.

Neue Bestürzung noch eine ganz andere als vorhin.

Er zielte und holte zum dritten Male aus.

»Halt, Du hast schon verspielt, nur zweimal ist es erlaubt...«

Na, ich ließ ihn zum dritten Male schlagen, ich sah es ja schon kommen — und richtig, zum dritten Male schlug er die Quart hoch über die Kugel hinweg.

Da aber hatte der Indianer genug.

»Howgh, Medizin!«

Mit diesen Worten warf er den verhexten Säbel mit allen Zeichen des Grausens weg.

Ich nahm ihn noch einmal, halbierte den Pilz und ging meiner Wege, den roten Krieger mit seinen Grübeleien über den rätselhaften Zauber allein lassend.

Weshalb er den Kugelpilz nicht treffen konnte? Du kannst es auch nicht, lieber Leser, wenn Du Dich nicht darin geübt hast, wenn Du Dich nicht einer menschlichen Schwäche entledigt hast — oder aber, bringst Du es sofort, dann bist Du ein geborenes Fechtgenie.

Ich will hier das Rezept zu einem ganz ähnlichen Experiment geben, besonders in einer Gesellschaft höchst belustigend. Nimm einen engen Lampenzylinder, oder eine weite Glasröhre, die eben steht, ohne umzufallen, stelle sie auf den Tischrand, an eine Ecke, gib der Röhre oben noch eine kleine Plattform, lege etwa ein Stückchen Papier darauf, aber möglichst klein, setze auf dieses einen kleinen Gegenstand, etwa einen Hemdenknopf.«

Nun stelle Dich davor, ziele mit Daumen und Mittelfinger und schnipse den Knopf herunter.

Das ist höchst einfach, das wirst Du sofort und immer bringen.

Nun aber nimm einigen Abstand und gehe schnellen Schrittes — wirklich im Geschwindschritt — an dem Tisch vorüber und schnipse sie im Vorbeigehen, ohne mit dem Schritt zu stocken, den Knopf herunter, ohne die Glasröhre dabei umzuwerfen.

Das kannst Du nicht. Du kannst nicht den Knopf treffen. Du wirst immer und immer wieder hoch darüber hinaus schnipsen. Ja, Du kannst nicht einmal schnellen Schrittes vorbeigehen. Du wirst immer stehen bleiben oder doch im Gehen stocken und dabei dennoch darüber hinaus schnipsen, und wirst dabei jedenfalls ein sehr wenig geistreiches Gesicht machen.

In einer Gesellschaft ist es höchst belustigend. Besonders diese verblüfften Gesichter! Ja, weshalb in aller Welt soll ich denn den Knopf nicht treffen können?! Spaß! Und dann dieses erstaunte Gesicht, wenn der Siegessichere doch wieder hoch hoch darüber hinaus geschnipst hat.

Man begreift wirklich gar nicht, weshalb man denn den Knopf nicht treffen kann.

Bis die psychologische Schwäche überwunden ist, dann kann man es.

Diese Schwäche besteht einfach darin, dass man immer fürchtet, die Glasröhre umzuwerfen. Weiter ist es nichts. Sehr einfach, aber... so ist es.

Verstärkt wird die Gefahr und daher auch die Schwäche noch dadurch, wenn man einen Einsatz geben muss, den man beim Umwerfen verliert, einen Taler oder einen Groschen, je nachdem die finanziellen Verhältnisse sind.

Da hütet sich jeder erst recht, die Glasröhre umwerfen zu wollen, schnipst immer höher über den Knopf hinaus, kann noch weniger schnellen Schrittes vorübergehen, stockt, stutzt und macht ein dummes Gesicht.

Man probiere es nur einmal.

Hierbei dem Schlagen mit dem scharfgeschliffenen Säbel nach einem kleinen auf einem menschlichen Kopfe liegenden Gegenstand fehlt nur das schnelle Vorübergehen, sonst ist es im Prinzip genau dasselbe. Man fürchtet, den Kopf zu treffen, den wackligen Apparat umzuwerfen. Diese Schwäche muss erst beseitigt werden, sonst ist an ein Hiebfechten nicht zu denken. Wer es sofort kann, das ist ein geborenes Fechtgenie. —

Ich begab mich zu der Hauptgruppe zurück. Jetzt musste Sandow seine Erzählung doch beendet haben.

Jawohl, das hatte er, und jetzt war er mit Juba Riata in Streit geraten, wobei freilich bei diesem Manne nicht an ein »Zanken« zu denken ist.

»Nein, Sie irren sich, Sir«, hörte ich ihn gerade sagen, »Ihr Plan kann sich niemals erfüllen.«

»Na, warum denn nur nicht, so sagen Sie es doch endlich!«

»Einfach deshalb nicht, weil Apachen und Komantschen niemals in Frieden zusammen leben können.«

»Aber sie haben die Kriegsaxt vergraben, Frieden für ewige Zeiten geschlossen, ich versichere es Ihnen!«

»Ja, genau solch einen ewigen Frieden, wie auch England immer schließt, wenn es sich mit einer anderen Nation befreunden will. Bei der ersten Gelegenheit ist dann alles wieder vorbei.«

»Aber das gilt nicht für diese Indianer, die halten ihr Wort unverbrüchlich; ich kenne doch diese Apachen und Komantschen...«

»Herr, ich werde sie wahrscheinlich besser kennen.«

»Das bestreite ich...«

Mehr hörte ich nicht. Eine allgemeine Bewegung, die unter den Turnenden und Spielenden entstand, machte mich aufmerksam.

»Was ist denn los?«

»Alfreds Pferd ist zurückgekommen, ohne seinen Reiter!«, wurde mir aufgeregt gemeldet.

Ich sah, wie sich einige bemühten, ein lediges Pferd mit dem Lasso zu fangen, was auch bald gelungen war.

»Wo war denn Alfred hingeritten?«

»Nach dem Goldtale.«

»Wozu?«

»Er ist heute ganz früh dort gewesen, mit noch anderen zusammen, sie haben dort auf einen Panther gejagt. Vor ungefähr einer Stunde, als sie schon längst wieder zurück waren, vermisste Alfred sein Messer, er glaubte die Stelle zu wissen, wo er es nur verloren haben konnte, und da ist er noch einmal fortgeritten.«

»Allein?«

»Ganz allein. Und nun kommt sein Pferd zurück!«

»Kinder, was seid Ihr denn nur so aufgeregt? Der ist eben einmal abgestiegen, das Pferd ist ihm davon gelaufen.«

»Nein, sein Pferd folgte ihm wie ein Hund. Dem ist etwas zugestoßen, dass er es auch nicht mehr rufen konnte!«

»So wollen wir ihn suchen...«

»Es sind ihm schon ein paar nach.«

Und da kamen diese auch schon wieder zurück, zu Pferde.

Und der eine, der erste, hatte vor sich im Sattel eine menschliche Gestalt hängen.

»Was ist denn mit Alfred passiert?«

Es war eine fürchterliche Antwort, die schweigend gegeben wurde.

Die menschliche Gestalt glitt herab, wurde hingelegt — es war der Matrose Alfred, tot, ohne Kopfhaut. Regelrecht skalpiert!

Den Eindruck, den die Leiche auf uns machte, vermag ich nicht zu schildern.

Nicht etwa Racheschwüre!

Meine Jungen schwuren bei jeder Gelegenheit gotteslästerlich, das war ihnen nun nicht mehr abzugewöhnen. Aber Racheschwüre gab es nicht.

Mit finsteren Gesichtern standen sie alle im Kreise herum, blickten auf den guten Kameraden herab, der indianischer Mordlust zum Opfer gefallen war.

Aber diese Augen, diese Augen!

Die linke Brust des Toten war blutig, das Hemd zeigte ein Löchelchen.

Juba Riata beugte sich herab, öffnete das Hemd, untersuchte kaltblütig die kleine Wunde, aus der Herzblut quoll.

»Das ist ein Pfeil gewesen, und sollte der nicht...«

Er packte an, wälzte die Leiche herum, schnitt das Hemd hinten mit dem Messer auf.

Auch auf dem Rücken solch eine kleine Wunde.

»Der Pfeil hat ihn von hinten durchbohrt, da gibt es gar keinen Zweifel.«

Er richtete sich wieder auf, warf die langen Haare zurück.

»Wo fandet Ihr ihn?«

Nahe der Stelle, wo wir den ersten Querbalken gelegt hatten, um uns in das Tal hinabzulassen. Unterdessen aber war eine bequemere Stelle gefunden worden.

»Lebte er noch?«

»Nein!«, erklang es dumpf zurück.

»Habt Ihr Spuren gefunden?«

Das wohl, aber verfolgt konnten sie nicht weit werden, sie verloren sich bald auf hartem Felsboden.

Juba Riata sagte nichts mehr, wollte davon gehen.

»Halt«, sagte ich, »wo wollen Sie hin?«

»Meinen Teufel holen.«

»Wozu?«

»Um nach jener Stelle zu reiten.«

»Wozu?«

»Wozu, wozu!«, wiederholte er verächtlich.

»Sie wollen die Spur verfolgen, den Mörder?«

»Na sicher doch!«

»Sie werden es nicht tun!«

»Was?!«

»Sie werden es nicht tun! Sie bleiben hier! Mister Sandow«, wandte ich mich an diesen, »wissen Sie etwas davon? Können Sie aus irgend etwas erkennen, ob es ein Komantsche oder ein Apache gewesen ist, der diesen Mann meuchlings von hinten ermordet hat, um ihm den Skalp zu nehmen?«

Der kleine Mann war ganz fassungslos.

Dann schüttelte er den Kopf. Nein, da vermochte er keine Unterscheidung zu machen.

Juba Riata war es, der dem Apachen, der dort noch unter dem Baume stand, etwas in seiner Sprache zurief. Der rote Krieger gehorchte auch wirklich dem Rufe, kam langsam heran. Aber keine Muskel zuckte in dem steinernen Gesicht, als er die skalpierte Leiche betrachtete.

Dann sagte er etwas.

»Nein, auch Großhand vermag nicht zu unterscheiden, ob es ein Apache oder ein Komantsche gewesen ist!«, verdolmetschte mir dann Sandow.

»Gut!«, sagte ich. »Aber dort in den Indianerlagern wird man wohl bald erfahren, wer der Mörder gewesen ist.«

»Selbstverständlich, der Betreffende rühmt sich doch seiner Tat.«

»Auch dessen, dass er den harmlosen Mann von hinten erschlossen hat?«

»Ja, das ist mir unbegreiflich! Oder... schließlich auch nicht — Skalp ist Skalp!«

»Mister Sandow, wollen Sie sich unter solchen Umständen noch nach dem Indianerlager begeben?«

»Ganz sicher, und das sofort...«

»Ist Ihr Leben nicht bedroht?«

»O nein, das wäre ja noch schöner...«

»Gut, dass müssen Sie am besten wissen. Wollen Sie unseren Parlamentär machen?«

»Gewiss? Was haben Sie auszurichten?«

Ich erhob meine Stimme, dass es alle, alle vernehmen konnten:

»Sagen Sie den vereinigten Apachen und Komantschen, dass sie den Mörder unseres Kameraden ausfindig machen und ihn uns ausliefern sollen, damit wir ihn hängen können. Bis morgen früh zum Sonnenaufgang ist der Mörder hier, und zwar lebendig, freiwillig oder unfreiwillig, damit wir über ihn zu Gericht sitzen. Ist er bis dahin nicht hier, dann... werden wir uns ihn selbst holen. Verstanden? Das richten Sie aus. Bitte.«

Mister Sandow ritt davon, ohne noch viel zu sagen. Auch Großhand ging mit ihm.

Der Matrose Alfred erhielt sein Begräbnis, wie es dem guten Kameraden gebührte. Auch Kapitän Martin kam herauf, zum ersten Male, um der Feier beizuwohnen.

Sonst will ich sie nicht weiter schildern. Gerade war sie beendet, drei Stunden danach, nachdem Sandow abgeritten war, als er schon wieder zurückkam.

»Es ist ein Apache gewesen, Steinherz, der sich hier herangeschlichen und den einsamen Mann getötet hat. Es sieht böse aus bei uns, ganz böse. Die Apachen verweigern natürlich die Auslieferung ihres Stammesgenossen, während die Komantschen Ihre Forderung recht und billig finden. Schon haben sich die beiden Stämme getrennt, schon bereiten sie sich zum gegenseitigen Kampfe vor. Vielleicht ist er bereits ausgebrochen.«

Weiter hatte Sandow nichts zu berichten, er ritt gleich wieder zurück, ohne gefragt zu haben, ob wir uns an dem Kampfe beteiligen würden oder nicht.

Wir Hauptpersonen traten zur Beratung zusammen. Zur Beratung über Krieg oder Frieden. Wenn irgendwie möglich, wollten wir einen Kampf vermeiden. Besonders ich war es, dem das Leben eines jeden einzelnen viel zu lieb war, als es gegen solche rote Heiducken aufs Spiel zu setzen. Aber haben mussten wir den Mörder unbedingt, tot oder lebendig, eher gingen wir nicht von hier fort!

Also so musste doch ein Kriegsplan beraten werden. Ich brauche ihn nicht wiederzugeben, weil er ja doch nicht ausgeführt werden sollte.

Sandow war erst eine halbe Stunde fort, als er schon wieder zurückkam, nicht allein, sondern in Begleitung einer ganzen Bande Rothäute, Komantschen im vollen Kriegsschmuck.

Der an der Spitze Reitende, sich durch seine dunklere Farbe und durch besonderen Federschmuck auszeichnend, war der schwarze Biber, der Häuptling der Komantschen, und vor sich hatte er einen gefesselten Apachen.

»Die Apachen sind Hunde, die Blassgesichter mögen den feigen Mörder hängen!«

So sprach er, warf die gebundene Rothaut uns vor die Füße und ritt mit seiner Bande im Galopp sofort wieder zurück. Auch Sandow blieb nur noch wenige Minuten bei uns, nur um uns mit wenigen Worten eine Erklärung zu geben, dann seinen roten Freunden gleich wieder nacheilend.


Illustration

»Die Apachen sind Hunde, die Blassgesichter mögen den
feigen Mörder hängen!«, rief der Häuptling der Komantschen
und warf die gebundene Rothaut den Argonauten vor die Füße.


Der Kampf war schon ausgebrochen, es hatte bereits ein mörderliches Gemetzel stattgefunden Dabei war der betreffende Apache den Komantschen lebendig in die Hände gefallen, deren Häuptling selbst hatte ihn gefangen, hatte ihn uns gebracht.

»Weiter habe ich Ihnen nichts zu berichten. Ich muss sofort zurück. Was werden Sie jetzt tun? Ich bitte Sie innig, beteiligen Sie sich nicht an diesem roten Bruderkriege, den ich auch bestimmt noch beizulegen hoffe. Bitte, bleiben Sie neutral.«

Nun, da brauchte Sandow nicht lange zu bitten. Außerdem hätten wir doch nur den Komantschen beistehen können, und diese waren sowieso schon bedeutend in der Mehrheit.

»Dann werden wir noch heute das Plateau verlassen, vielleicht schon in

der nächsten Stunde, überhaupt diese Gegend mit unserem ganzen Schiffe, werden nicht sobald hierher zurückkehren. Wollen Sie uns begleiten?«

»Ich?! Ich bleibe hier, die Sache der Komantschen ist die meine, und ich hoffe doch noch, diesen Bruderkrieg beizulegen.

Der junge Mann blieb in seinem Vorsatze unerschütterlich, des Menschen Wille ist sein Himmelreich und es war überhaupt auch höchst ehrenwert.

»Können wir sonst etwas für Sie tun?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Kurz war der Abschied, und wir sahen den jungen Mann wieder zwischen den Bäumen des nächsten Waldes verschwinden.

Über den Mörder wurde regelrecht zu Gericht gesessen, das einstimmige Urteil lautete auf den Tod durch den Strang, und zwar hingen wir ihn nicht an den nächsten Baumast, sondern in aller Schnelligkeit wurde ein regelrechter Galgen gezimmert, außer den Kindern zogen wir alle zusammen an dem Strick, an dessen Ende der rote Mann sein Leben aushauchte. Er mochte nur hängen bleiben, seine Kameraden würden ihn schon selbst abschneiden.

Dann brachen wir die Gerätschaften und das ganze Lager ab, alles wurde auf den Rücken genommen und hinab zum Schiffe marschiert. Eine Stunde später schon waren wir mit halber Kraft unterwegs.

*

48. Kapitel

Statt Schätze nur ein Revolver

Originalseiten 1288 — 1300

Am 12. Oktober liefen wir in der Argonautenbucht ein, nachdem wir fast zwei Wochen in der Magellanstraße gekreuzt hatten, auf besseres Wetter wartend, das nun endlich eingetreten war, die Einfahrt erlaubend.

Unterwegs hatten wir Buenos Aires angelaufen, hauptsächlich deshalb, um die sechs Pferde wieder freizugeben, die wir versuchshalber von dem Plateau mitgenommen hatten. Da es meist sehr schlechtes Wetter war, hatten wir das Elend der armen Tiere nicht mehr mit ansehen können, wie sie in den engen Boxen standen, in dem sie sich kaum bewegen konnten, so gut wie festgeschnallt, dabei langsam verhungernd.

Ja, man kann Pferde zur See transportieren, so weit wie man will. Cortez und Pizarro haben doch auch Pferde mit nach Amerika genommen, oder man denke an den englischen Burenkrieg, was sind da für Pferde nach dem Kapland geschafft worden!

Aber es ist und bleibt eine scheußliche Tierquälerei, mit der wir uns nicht beflecken sollten. Wir hatten einen Versuch gemacht — und niemals wieder!

Der Büffel hingegen hatte die Überfahrt ganz ausgezeichnet überstanden. Der konnte sich auch beim schlechtesten Wetter, wenn das Schiff wie toll tanzte und bockte, auch in einem größeren Raume ganz frei bewegen, hielt immer tapfer stand, es schien ihm sogar Spaß zu machen.

Das Pferd ist ein Einhufer, das Rind hat gespaltene Hufe, das macht dabei den Unterschied aus! Das Rind klettert doch auch gern, tummelt sich im Gebirge auf Abhängen herum, auf denen das Pferd gar nicht mehr fortkommen könnte, auch das Maultier nicht, wo es hilflos dastehen würde.

Ferner hatten wir in Buenos Aires, von wo gefrorenes Fleisch ja massenhaft exportiert wird, eine Eismaschine gekauft, speziell für Schiffsbetrieb bestimmt, hatten sie einbauen lassen, besaßen nun einen großer Gefrierraum, hatten nun immer so gut wie frisches Fleisch. Auf diese Idee hätten wir übrigens auch eher kommen können.

Jetzt waren wir glücklich in die Argonautenbucht eingelaufen, ohne wieder ein anderes Schiff vorzufinden.

Der Steinherd, den die Mannschaft des »Seeteufels« damals errichtet hatte, war noch vorhanden, erwies sich aber gar nicht gebraucht, überhaupt unvollendet. Also schien Kapitän Satan sein Vorhaben, die Hummer...

Doch was ging denn das uns an?

Unterdessen hatte die Patronin die ganze Besatzung in ihr Geheimnis eingeweiht. Es galt, die Schätze des Flibustierkapitäns van Horn zu heben.

Die Aufregung der ganzen Mannschaft war ja allerdings groß, aber wegen einer Teilung, wie das dann gehandhabt werden sollte, wurde kein einziges Wort verloren. Jedenfalls stieg solch eine Frage keinem einzigen Manne auch nur in Gedanken auf. Ich geniere mich überhaupt förmlich, von so etwas auch nur anzufangen. Und von demselben Geiste, der die ganze reguläre Mannschaft beseelte, waren auch schon alle unsere Gäste angesteckt worden. Wenn sie überhaupt noch als Gäste gelten konnten, nicht schon als wirkliche Argonauten zu bezeichnen waren. Von dem Zwergehepaar war das ganz bestimmt der Fall, das dachte gar nicht mehr daran, seinen alten Artistenberuf wieder aufzunehmen. Freilich dachten sie ebenso wenig an eine Frage, ob sie denn für ihren Aufenthalt hier etwas zu bezahlen hätten. Wir aber dachten noch viel weniger an so etwas. Das hatte sich eben alles so von ganz allein geregelt. Der Bandlwurm war allerdings ein Döskopp so lang er war, aber mit seiner Tellerwäscherei waren wir durchaus zufrieden, und anderes hatten wir doch nicht von ihm zu verlangen.

Also wenn es doch vielleicht an eine förmliche Teilung ging, dann sollte der auch seine paar Goldklumpen abbekommen und sich die Hosentaschen voll Diamanten pfropfen können.

Die Expedition brach sofort auf: die Patronin, ich, Doktor Isidor, Juba Riata, der Eskimo und ein Dutzend Leute. Diese mussten allerdings Verschiedenes tragen, aber die schwersten Sachen, wie zum Beispiel die Taucherapparate, bekam der Büffel aufgeladen — na, und der konnte ja etwas buckeln!

Mit dieser Last schwamm er sogar durch jedes Wasser und kletterte dann wieder zum anderen Ufer hinauf, wenn er nur irgendwie einen Fuß hinaufbringen konnte. So etwas bringt doch ein Pferd gar nicht fertig. Ich bin überhaupt der festen Überzeugung, habe es ja auch erfahren, dass das Rind das Pferd in jeder Hinsicht übertrifft, also auch hinsichtlich der Intelligenz. Die Sache ist nur die, dass man sich mit der Zucht des Pferdes als Diener des Menschen schon seit Jahrtausenden beschäftigt hat, das Rind aber ebenso wie das höchst intelligente Schwein immer nur als Schlachtvieh betrachtet hat.

Wir rückten ab. Wohl zeigten die nahen Berge noch eine völlige Winterlandschaft, auch im schattigen Walde lag noch Schnee, aber auf freiem Gelände duldete die Frühjahrssonne unter dieser Breite keinen mehr.

Dass ich die Karte nicht beschreiben kann, habe ich schon früher gesagt. Jedenfalls aber war der Weg, den wir zu nehmen hatten, ganz genau angegeben, auch mit allen Wasserübergängen. Die englischen Bemerkungen bezogen sich auf Kompassrichtungen und dann vor allen Dingen auf besonders geformte Felsen, nach denen man peilen musste. Der Weg fing von dieser Bucht an, wo damals der Rückmarsch der Schiffbrüchigen geendet hatte.

Ich mache es kurz, schildere nicht die manchmal sehr schwierigen Wasserpassagen. Jedenfalls hatten wir es nur dem ungeheuren Büffel zu verdanken, dass wir keine einzige Brücke zu schlagen brauchten, sodass wir die langen Bretter ganz umsonst mitgenommen hatten. Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.

Morgens gegen elf waren wir aufgebrochen, froren in der Nacht wie die jungen Hunde, und am andern Nachmittage gegen drei Uhr näherten wir uns der Stelle, wo vor 300 Jahren das Piratenschiff gescheitert war, vielleicht nicht so unfreiwillig.

Es war eine weite Bucht, die von Nordwesten her eine breite Wassereinfahrt hatte, durch welche die »Desolation« also eingedrungen war, um an der Küste festzurennen.

Dann hatte man, wie eine ausführlichere Bemerkng angab, das Gold und die sonstigen Schätze ausgeladen und in einer benachbarten kleineren Bucht versenkt, um sie später wieder herauszuholen, was aus irgend einem Grunde also nicht geschehen war.

Von Schiffstrümmern war nirgends etwas zu bemerken. Aber jedenfalls stimmten die Angaben ganz, ganz genau.

Dort war der Felsen, der ungefähr einem Menschenkopf glich, dort weiter hinten der Berg mit der Einsattelung, zwischen diesen beiden Merkmalen musste man mit vier Strich nach Süden nach einer Felsensäule peilen — von dort aus stieß man mit ungefähr 80 großen Schritten auf die kleinere Bucht, in der die Schätze versenkt worden waren.

Es war ein feierlicher Moment, als wir die 80 Schritte getan hatten und nun vor dem Wasserloche standen, das in einer Tiefe von etwa 25 Metern für 40 Millionen Goldbarren barg, außerdem noch Diamanten und andere Edelsteine und sonstige Juwelen in unschätzbarer Menge.

Eine kleine Enttäuschung hatten wir freilich sofort. Also im November vorigen Jahres war Richard Hartung selbst hier gewesen, wollte mit eigenen Augen dort unten die Schätze haben glänzen und gleißen sehen.

Dass dies eine Tatsache gewesen war, daran war ja auch gar nicht zu zweifeln.

Wir aber sahen nichts gleißen, obgleich die beste Gelegenheit dazu gewesen war.

Denn es herrschte Windstille, das Wasser war glatt wie ein Spiegel, äußerst klar und durchsichtig, die Sonne stand noch ziemlich hoch, und in eine Tiefe von 25 Metern kann man unter solchen Verhältnissen recht wohl blicken.

Wir sahen denn auch den grauen Grund, aber von Goldbarren und anderen gleißenden Dingen keine Spur.

»Sind wir auch wirklich an der richtigen Stelle?«, fragte ich zweifelnd.

Die Patronin deutete auf einen Felsen, der dicht am Rande des Wasserloches sich erhob. In eine glatte Steinfläche waren zwei Buchstaben eingemeißelt, nicht eben tief, aber dennoch deutlich erkennbar — R.H. — und darunter das Datum, an dem Kapitän Richard Hartung von hier aus die Schätze der »Desolation« dort unten gesehen hatte.


Illustration

Nun war jeder Zweifel beseitigt.

»Na, da will ich mal hinab«, sagte ich.

Ein Taucherapparat wurde vorgerichtet, ich panzerte mich und glitt hinunter in das eisig kalte Wasser.

Ich erreichte den Grund, die Petroleumlampe, durch einen besonderen Schlauch mit Luft gespeist, leuchtete genügend.

Aber da war nichts von Gold und Diamanten zu sehen. Ja und doch!

Dort glänzte etwas zwischen den Steinen, die hier und da lagen.

Ich hob es auf.

Eine goldene Hutnadel! Oder doch so ungefähr aussehend. Eine lange Nadel, vielleicht auch ein sehr dünner Dolch, ein Stilett, mit einem eigentümlich geformten Griff, oben in einem Knauf endend, der wohl einen Pantherkopf darstellen sollte.

Und dort blitzte es abermals!

Es war ein goldener Fingerring, für einen Riesen berechnet, oder aber ein Armband für ein äußerst dünnes Handgelenk, mit blitzenden Steinen besetzt.

Und so fand ich noch einige andere Schmucksachen, aber nur spärlich. Ich musste die Steine sehr genau untersuchen.

Ja, die Schätze hatten hier gelegen, aber sie waren inzwischen schon von anderer Seite abgeholt worden, das war für mich nun kein Zweifel mehr.

Und was lag denn dort? Der Stein sah ja gerade aus wie ein...

Nein, es war nicht nur kein Stein, der so aussah, sondern es war ein wirklicher Revolver, den ich aufhob.

Die alten Südamerikaner hatten noch keine Revolver, aber auch vor 300 Jahren hat es die noch nicht gegeben. Der Revolver, die erste Drehpistole ist im Jahre 1840 vom Amerikaner Colt konstruiert worden.

Und überhaupt, das war ein ganz moderner Bulldoggrevolver, während die Schmucksachen jedenfalls sehr alte Arbeit der Goldschmiedekunst waren, das konnte ich auch im Scheine meines Lämpchens erkennen.

Ich gab das Signal zum langsamen Aufzug.

»Die Schätze des Flibustierkapitäns haben hier unten sicher gelegen, aber ebenso sicher hat sie ein anderer vor uns abgeholt.«

Das waren meine ersten Worte, nachdem mir der Helm abgeschraubt worden war.

»Ja, und zwar die Mannschaft des Seeteufels!«, setzte Juba Riata hinzu.

»Was?!«

»Hier hat einer seine Visitenkarte zurückgelassen.«

Und Juba Riata zeigte den Revolver, den er mir gleich abgenommen hatte, deutete auf den Kolben, beide Seiten herumdrehend.

Richtig, auf der einen Seite des hölzernen Kolbens war der Name J. Miller eingeschnitten, auf der anderen Seite das Wort »Seeteufel«.

Wir blickten einander an.

Was wir sonst sagten, brauche ich gar nicht wiederzugeben.

Es war ja alles einfach genug. Einer der Mannschaft des »Seeteufels« hatte beim Tauchen unten seinen Revolver verloren, oder er hatte ihn von hier oben hinabfallen lassen, hatte die Waffe nicht wiedergefunden oder ihren Verlust gar nicht bemerkt — ganz zweifellos aber war doch der Kapitän Satan selbst hier gewesen.

Schon damals voriges Jahr, als der »Seeteufel« in der Argonautenbucht gelegen hatte?

Wie hatte er die Kenntnis von den Flibustierschätzen bekommen?

Hatte er sie zufällig gefunden?

Es waren ganz unnütze Fragen, die wir da aufwarfen. Kapitän Satan war uns eben zuvorgekommen.

»Treten wir nur gleich den Rückweg an!«, sagte die Patronin, und ihr niedergeschlagenes und auch finsteres Gesicht war begreiflich.

»Na, da wir nun einmal hier sind, wollen wir auch gründlich nachsehen, was unser Vorgänger uns großmütig nachgelassen hat!«, meinte ich.

Helene wollte nicht, wollte sich nicht mit den Knochen begnügen, den ihr der Konkurrent von der riesigen Beute wie verächtlich zurückgelassen hatte, aber ich gab dieser weiblichen Verstimmung nicht nach, ging noch einmal hinab, auch ein Matrose kam im zweiten Apparat mit hinab.

Es war doch noch eine ganz beträchtliche Menge von altertümlichen Schmucksachen und besonders auch von losen Edelsteinen, die wir im Laufe einer Stunde zusammenbrachten. Freilich mussten wir dazu den Boden ganz gründlich absuchen, das Geröll wegräumen, größere Felssteine beiseite wälzen und in Ritzen und Ecken krebsen, um etwas zu finden.

Und das eben war das ganz sichere Zeichen, dass hier einst solches Zeug massenhaft gelegen hatte. Unsere Vorgänger hatten hier so viel davon gefunden, immer einfach hineinschaufelnd, dass sie zuletzt gegen den Mammon ganz abgestumpft geworden waren, sich zuletzt gar keine Mühe mehr gegeben hatten, nach den letzten Resten, die sie nicht mehr gleich erblickten, zu suchen.

Es war ein ansehnlicher, gewichtiger Lederbeutel, den wir dann mit solchen Schmucksachen gefüllt heraufbrachten. Meist Geschmeide von ganz altertümlicher Arbeit, jedenfalls eben altmexikanische. Dann aber war auch eine Goldplatte dabei, auf beiden Seiten mit Verzierungen versehen, sie schien doppelt zu sein, und bei näherer Untersuchung erkannten wir, dass es ein zusammengequetschter Becher war, offenbar ein Kirchenkelch — denn der Seeräuberkapitän hatte doch natürliche auch die in Amerika schon entstandenen spanischen Kirchen geplündert — der die Jahreszahl 1588 trug.

Hiermit war auch der letzte Zweifel gehoben, dass hier nicht wirklich die zusammengeraubte Beute des Flibustierkapitäns gelegen hätte.

»Nun, das ist immer noch genug, kalkuliere ich, um uns dafür eine neue Argos kaufen zu können!«, meinte ich, als ich mir diesen Rest der Juwelen, uns großmütig überlassen, bei Tageslicht betrachtete.

Es war töricht von mir, die Patronin auf diese Weise in ihrer Niedergeschlagenheit trösten zu wollen.

»Ja, es ist ein Vexierrevolver!«, sagte in diesem Augenblick Juba Riata, noch immer die Waffe in den Händen, sie hin und her drehend, an dem Kolben herumfingernd.

»Was, Vexierrevolver?«

»Das ist so ein Revolver, wie ihn eine amerikanische Fabrik als Spezialität anfertigt, der Kolben ist hohl, kann geöffnet werden, aber da ist eine geheime Vorrichtung dabei, wie bei einem Vexierschloss... ah, hier ist es schon!«

Der Kolben war in der Mitte aufgeklappt, etwas Weißes fiel heraus.

Es war ein mehr gelber als weißer Pergamentstreifen, auf dem etwas geschrieben war, wir erkannten fünf Zahlenreihen, auch Buchstaben kamen manchmal vor — einfach fünf geografische Ortsbestimmungen, nur abgekürzt wiedergegeben, wie man sie sich in der Schnelligkeit notiert.

Sie lauteten:

36 22 4 n 164 51 37 w
24 13 11 n 123 6 28 o
52 17 6 s 61 0 49 w
4 31 43 s 7 2 44 o
43 1 12 s 178 20 0 w


Die Buchstaben bedeuteten also nördliche respektive südliche Breite und westliche respektive östliche Länge.

»Was mögen diese geografischen Ortsbestimmungen zu bedeuten haben?«, meinte die Patronin.

»Ja, Frau Patronin, da verlangen Sie von meiner Allwissenheit zu viel!«, lachte ich.

»Da hat der Piratenkapitän einfach seine Verstecke!«, ließ sich ein Matrose vernehmen.

Ich fuhr gegen den Sprecher herum.

»Piratenkapitän?! Mensch, kannst Du etwa beweisen, dass der Kapitän des Seeteufels Seeraub treibt?!«

Der Mann wurde ganz unwirsch.

Ja, der Kapitän Satin oder Satan vom »Seeteufel« wurde ja der heimlichen Piraterie bezichtigt, es wurden fürchterliche Sachen über ihn erzählt — das tat man so im Vertrauen unter sich, im Matrosenlogis in der Kajüte — aber das durfte doch um Gottes willen nicht öffentlich geschehen, wenn man nichts beweisen konnte!

Ich ließ den Matrosen in seiner Verlegenheit, er hatte seine Lektion bekommen, und damit genug.

»Wo liegen denn diese bis zur Sekunde angegebenen Punkte?«, fragte die Patronin weiter, wozu sie natürlich das Recht hatte.

Nun, das konnte ich ungefähr angeben, ohne eine Karte befragen zu müssen. Unsereiner sieht ja immer im Geiste die Erdkugel mit Breiten- und Längengraden überspannt. Außerdem aber hatte ich in meinem nautischen Taschenbuche eine ziemlich große Weltkarte.

Ich gebe die Bestimmungen jetzt nur ungefähr wieder, mich nicht mit Sekunden, nicht einmal mit Minuten aufhaltend.

Der erste Punkt lag in der schwimmenden Fucusbank des Sargassomeeres, Atlantischer Ozean. Mag diese Andeutung vorläufig genügen.

Die zweite Bestimmung bezog sich auf die Insel Formosa an der Küste Chinas.

Der dritte Punkt lag in der Nähe der Falklandinseln, also gar nicht sehr weit von hier entfernt.

Der vierte Punkt war nahe der westafrikanischen Küste bei Kap Lopez.

Die fünfte Bestimmung bezog sich auf einen Punkt, der ungefähr 200 Meilen östlich von Neuseeland mitten im Meere lag.

»O ja, es muss, ganz interessant sein«, sagte ich, »einmal nachzuforschen, weshalb Kapitän Satan diese Bestimmungen gemacht hat und sie in dem hohlen Kolben seines Revolvers verbirgt.«

Der Revolver scheint aber doch einem Manne namens Miller zu gehören!«, verbesserte Juba Riata.

»Ach so, richtig! Nun gut, dann bezieht sich mein Gesagtes eben auf diesen Miller.«

»Das ist doch jedenfalls ein Mann vom Seeteufel.«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Sollte der seinem Kapitän nicht ein Geheimnis gestohlen haben?«

»Hm. Nicht so unmöglich. Nun, wir können ja erst einmal die Falklandinseln besuchen, Zeit dazu haben wir ja.«

Wir traten sofort den Rückmarsch an. Es wurde ja unterwegs noch viel von dem Funde in dem Revolver gesprochen, die verschiedensten Möglichkeiten wurden erwogen, was die geografischen Ortsbestimmungen bedeuten könnten, aber es hat keinen Zweck, dass ich unsere Unterhaltung wiedergebe.

Wenn wir einmal mit Kapitän Satan zusammentrafen, so mussten wir ihm ja den Revolver zurückgeben, auch das Pergament sollte darin bleiben, jedenfalls aber hatte ich mir die Zahlen bereits notiert.

*

49. Kapitel

Der Pirat

Originalseiten 1300 — 1337

Am anderen Tage kurz vor Sonnenuntergang trafen wir wieder ein, bekamen wenigstens unser Schiff wieder in Sicht. Wer beschreibt unser Erstaunen, als wir da auch wieder den Torpedojäger an seiner alten Stelle liegen sehen, den Seeteufel.

Wir beschleunigten unsere Schritte, das war die Hauptsache, um schnellstens eine Erklärung zu bekommen.

»Heute früh in der neunten Stunde ist er in die Bucht eingelaufen!«, wurde uns natürlich gleich berichtet, noch ehe wir selbst von unserem negativen Erfolge erzählten.

»Was tun sie hier?«

»Gar nichts. Kaum dass einer einmal das Land betreten hat.«

»Hat der Kapitän nichts von sich hören lassen?«

»Nein.«

Wir berichteten dem Kapitän Martin.

Der zuckte die Schultern.

»Ja, das ist fatal, aber da ist nichts zu machen. Auch jener Kapitän Satin hat eben von den Schätzen der ›Desolation‹ gewusst und ist mit dem Abholen schneller gewesen als Sie.«

»Und was halten Sie von diesen geografischen Ortsbestimmungen?«

So fragte die Patronin, ich hätte es gar nicht getan. Der Kapitän wusste doch genau so viel oder so wenig wie wir davon, hätte nur raten können, aber das tat dieser Mann gar nicht.

»Ich muss diesen Kapitän unbedingt sprechen!«, sagte dann die Patronin.

Nach einer kurzen Beratung hatten wir unseren Entschluss gefasst.

Die Patronin schrieb eine höfliche Einladung, ein Matrose als Ordonnanz beförderte das Briefchen hinüber.

Schon nach wenigen Minuten brachte er die Antwort zurück.

»Herr Kapitän Satan lässt sagen, er würde sich erlauben, sofort zu kommen!«, meldete der gediente Marinematrose in strammer Haltung.

»Kapitän Satin, Sat i i i n heißt der Herr!«, hatte ich zu verbessern.

»Nein«, verteidigte sich der Matrose, »er selbst sagte: sagen Sie Ihrer Patronin, Kapitän Satan würde sich erlauben, sofort zu kommen. Kapitän Satan, nicht Satin. Er betonte es extra.«

Dann allerdings war der Mann in seinem Recht, meine Verbesserung war inkorrekt gewesen.

In der schon erleuchteten Kajüte war alles bereit zum Empfang, überhaupt alles an Bord. Dazu hatte vor allen Dingen gehört, dass die Tiere eingesperrt wurden. Trotzdem merkten die Hunde den fremden Schritt, schlugen wütend an — aber diesmal war es nicht wie sonst nur ein kurzes Bellen, um gleich wieder zu verstummen, was man ihnen doch auch nicht verbieten konnte, die treuen Tiere taten doch nur ihre Pflicht — sondern diesmal stimmten sie, von Harras dem alten Wolfshund erst dazu angeleitet, wieder in jenes schreckliche, schauerliche Geheul ein, das sie sonst nie, nie hören ließen. Eben nur damals, als Kapitän Satan zum ersten Male gekommen, hatten sie es angestimmt, und nun abermals...

Juba Riata sprang schnell noch einmal hinaus, in den nahen Raum, in den die Hunde gesperrt worden, und alsbald verstummte auch das schreckliche, durch Mark und Bein gehende Heulen, um nicht wieder zu ertönen.

Dabei hatte Juba die Tür weit offen gelassen, wir sahen den Kapitän schon durch den Korridor kommen, vom ersten Steuermann respektvoll geführt.

Da wollte es der Zufall, dass Mama Bombe gerade aus ihrer Kabine, deren Tür nach diesem Korridor ging, ihre vier Zentner herauswälzte.

Und da geschah etwas Besonderes.

Kapitän Satan war von dem sich ihm bietenden Anblick dieser Riesendame — wenn sie auch gar nicht so groß war — so überrascht, dass er wohl ganz vergaß, wie wir in der Kajüte Versammelten ihn sehen konnten. Also er sah nicht uns, sondern nur dieses ungeheure Weib, in einen Schlafrock eingehüllt.

»Hei, wer ist denn das?!«, stieß er hervor, schon unverschämt genug, da er ja wohl schwerlich wissen konnte, was für eine Stellung diese Frau einnahm.

»Madame Pompadour«, hielt sich der erste Steuermann wohl zu einer Vorstellung verpflichtet, »eine der Personen, die wir bei Vancouver gerettet haben, was dem Herrn Kapitän wohl bekannt ist!«

Die Augen des Kapitäns verschlangen die unförmliche Gestalt, die sich in dem engen Korridor nicht so leicht an ihm vorbeidrücken konnte, und jener machte auch keine Miene, ihr Platz zu geben.

»Und die ist bei Ihnen geblieben?!«

»Jawohl, für immer, sie zählt mit zu den Argonauten!«

lächelte der erste Steuermann.

»Nein, so ein holder Engel! Na, da geh nur vorbei, Du reizender Fleischkoloss.«

Und er trat gegen die Korridorwand. Mama Bombe schob sich vorbei, aber wir bemerkten ganz deutlich, wie der Kapitän gerade mit Absicht ihr möglichst wenig Raum gab, sich gegen sie presste, auch mit den Händen untersuchte, ob wirklich diese kolossale Fleisch- und mehr noch Fettmasse an ihr echt sei.

Die Mama Bombe war ja ein viel zu gutmütiges, naives, beschränktes Geschöpf, als dass sie hierbei etwas gefunden hätte, von einem Beleidigtsein gar keine Spur — uns aber stieg vor Entrüstung das Blut in den Kopf!

Und dann bemerkte ich noch etwas, gerade ich, weil ich seitwärts von der Tür saß.

Endlich hatte sich Mama Bombe vorbeigeschoben, Kapitän Satan blickte ihr nach, aber doch nicht den Kopf ganz umwendend, nur so halb seitwärts, und ich saß eben gerade so, dass ich es noch sehen konnte — und da also sah ich, wie der Nachblickende seine große, rote, fleischige Zunge zum Vorschein brachte und sich über die Lippen leckte. Es sah aus, nicht als ob ein Raubtier sich das Maul leckt, sondern als ob ein Raubtier ein großes, rohes Stück Fleisch verschlingt — es sah einfach scheußlich aus, diese tierische Gier, die in dieser Bewegung lag! Von den Augen dabei gar nicht zu sprechen.

Er trat ein. Ich habe ihn ja schon damals ganz ausführlich beschrieben. Auch jetzt war er wieder so stutzerhaft gekleidet, mit einer Unmenge von Schmuck behangen, die plumpen Finger förmlich mit Diamanten gepanzert — außerdem aber war sein Gesichtsausdruck unterdessen noch impertinenter geworden, und mir kam es vor, als ob seine fettige Fistelstimme sich noch höher geschraubt habe. Aus seinem früheren »hä hä« war jetzt ein »hi hi« geworden, bei jedem dritten Worte hervorgebracht.

»Habe die Ehre, meine Herren — hi hi — und habe vor allen Dingen die allerhöchste Ehre, die allergnädigste Freifrau von der See begrüßen zu dürfen — hi hi — die unvergleichliche Heldin von Vancouver — hi hi — deren Ruhm die ganze Welt erfüllt — hi hi...«

Er schwatzte und höhnte und kicherte noch mehr, ich will es nicht ausführen.

Endlich hatte er sich erschöpft und sich gesetzt, nippte misstrauisch von dem Wein, als fürchte er Gift.

»Herr Kapitän«, begann dann die Patronin schnellstens, »es ist nur eine Frage, weshalb ich Sie zu mir habe bitten lassen.«

»Bitte, bitte, allergnädigste Freifrau von der See — hi hi — ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung — hi hi — bin Ihr alleruntertänigster Diener, hi hi...«

»Wie haben Sie von den Schätzen der ›Desolation‹ erfahren?«

Nur ein stutzendes Staunen in dem widerwärtigen Gesicht. Aber dieses Staunen war sichtlich erkünstelt, ich wenigstens erkannte es sofort.

»Desolation?!«, wiederholte er dann.

»So hieß doch das Schiff des Flibustierkapitäns van Horn.«

»Flibustierkapitäns van Horn?!«

»Sie kennen diesen Namen nicht?«

»O doch, aber... was wollen Sie denn mit dem hier?!«

»Herr Kapitän, machen wir es einfach. Sie haben hier im Feuerlande doch einige Tonnen Gold und Schätze an Juwelen gefunden.«

Ein noch größeres Staunen wurde geheuchelt.

»Ja, Frau Patronin — Mylady, wollte ich sagen — woher ist Ihnen denn das bekannt?!«

»Sie oder einer Ihrer Leute haben an dem betreffenden Orte eine Visitenkarte hinterlassen.«

Jetzt musste ich echtes Staunen konstatieren, das sich in dem niederträchtigen Spitzbubengesicht ausprägte.

»Eine Visitenkarte? Wie meinen Sie das?«

»Auf dem Grunde des Wasserbeckens fanden wir hier diesen Revolver.«

Und die Patronin griff hinter sich und präsentierte den Revolver.

Und jetzt kam es drauf an.

Dieser Revolver, das war der Hauptgrund, weshalb wir den Teufelskapitän hierher zitiert hatten, um ihn bei der Überreichung zu beobachten. Wenigstens für mich war es der Hauptgrund gewesen.

Und da sah ich, wie der Mann ganz verstört wurde, als er nach dem Revolver griff, oder doch, wie er die eingeritzten Namen las, und dann bemächtigte sich seiner eine furchtbare Wut, die er gar nicht zu unterdrücken suchte, hier in Anwesenheit fremder, distinguierter Personen und einer Dame.

»So ein Hund infamer, wenn dieser vermaledeite Schuft nicht schon tot wäre...«

So ungefähr, aber doch noch ganz, ganz anders, mit fürchterlichen Flüchen vermengt — und dabei hatte er, seiner ersten Wut folgend, den Revolver durch das offene Bullauge geschleudert, das nach dem Wasser ging, was der natürlich sehr wohl wusste.

Nun aber war es auch erwiesen!

Nämlich dass der Kapitän gar nichts von dem Hohlraum des Vexierrevolvers wusste, und wie dieser Hohlraum ein Pergament mit solchen geografischen Ortsbestimmungen barg.

Er war wütend darüber, dass einer seiner Leute, der also unterdessen seinen Tod gefunden, in seiner Tolpatschigkeit dort einen Revolver verloren hatte, mit seinem eingravierten Namen und dem seines Schiffes — dass war der einzige Grund, weshalb der jähzornige Mann plötzlich so wütend geworden war.

Schnell hatte er sich wieder beherrscht, nahm seine alte, hämische Maske wieder an.

»Verzeihen Sie, allergnädigste Mylady — hi hi — Sie werden sich wundern, dass ich plötzlich so erbost bin — hi hi — nämlich deshalb, dass ein gewöhnlicher Matrose es wagt, auf einen Gegenstand, der sein persönliches Eigentum ist, den Namen meines ehrlichen Schiffes zu kratzen — das dulde ich nämlich nicht — hi hi — ich bin nun einmal so hi hi — was würden denn Sie sagen, wenn jeder Ihrer Leute auf seinen Pfeifenkopf...«

»Ich hoffe«, unterbrach ich den Sprecher, »Sie werden dem Manne diese kleine Verletzung der Bordroutine doch nicht sehr streng entgelten lassen?«

»Ja, wenn ich nur könnte — hi hi — o, den wollte ich schon hochnehmen — hi hi — aber leider ist dieser Halunke — John hieß er, jawohl, John Miller — schon vor ein paar Monaten von einer Spiere totgeschlagen worden — hi hi — sofort zu Brei zerquetscht — hi hi...«

So, das wollte ich mir nur noch einmal bestätigen lassen. Nun war es gut, nun konnte das Scheusal ruhig weiter kichern. Nun aber tat er es gerade nicht mehr, er wurde plötzlich ganz sachlich.

»Also auch Sie, gnädigste Mylady, wussten, dass hier in dieser Gegend in einem Wasserloche große Schätze liegen?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, woher Ihnen das bekannt war? Es interessiert mich natürlich sehr.«

»Mir war ein alter Plan in die Hände gekommen!«, lautete die ausweichende und doch wahrheitsgetreue Antwort. »Genügt Ihnen diese Erklärung?«

»Sie muss mir wohl genügen, wenn Sie nichts weiter sagen wollen, hi hi!«, ging da das vermaledeite Kichern und Feixen schon wieder los.

»Und woher hatten Sie die Kenntnis von diesen Schätzen? Darf ich das fragen?«

»Mir haben einfach Pescherähs davon erzählt.«

»Hiesige Eingeborene?«

»Ja, Feuerländer, wie man sie auch nennt.«

»Diese hatten die Schätze gesehen?«

»Natürlich, sonst hätten sie mir doch nicht davon erzählen können, hi hi.«

»Weshalb haben die Eingeborenen die Schätze nicht selbst an sich genommen?«

»Erstens, weil die ja gar keinen Wert für sie hatten, und selbst wenn... na, wie sollten die sie denn aus 25 Meter Wassertiefe heraufholen, hi hi?«

Das war allerdings ein ganz triftiger Grund. Höchstens etwas angeln hätten sie können, da vermochten sie aber doch keine großen Goldklumpen heraufzubefördern.

»Wann erfuhren Sie von den Schätzen?«, forschte die Patronin weiter.

»Voriges Jahr um dieselbe Zeit ungefähr.«

»Sie kamen wegen dieser Schätze schon hierher?«, »Nein, erst nur wegen der Hummern, mit denen ich ein Geschäft machen wollte, hi hi.«

»Und dann erst erfuhren Sie von den Schätzen?«

»Ahem — so ist es — wieder von anderen Pescherähs, die uns aufsuchten, um zu betteln, hauptsächlich Talglichter, hi hi.«

»Und dann haben Sie die Schätze gleich abgeholt?«

»Jawohl.«

»Also schon voriges Jahr um dieselbe Zeit.«

»So ist es. Sonst noch etwas gefällig, allergnädigste Mylady? Ich bin Ihr gehorsamer Diener, hi hi.«

»Nein, ich habe nichts mehr zu fragen.«

»Dann gestatten Sie mir wohl noch eine Frage, hi hi?«

»Fragen Sie. So weit ich kann, werde ich antworten.«

»So weit es Ihnen beliebt, wollten Sie wohl sagen, hi hi.«

»Auch das.«

»Also Sie wissen genauer, woher diese Schätze ursprünglich stammen?«

»Jawohl.«

»Die hat der Flibustierkapitän van Horn im 17. Jahrhundert zusammengeraubt?«

»Ganz sicher.«

»Ja ja, ich weiß, sein Schreckensschiff, die ›Desolation‹, soll hier gescheitert sein.«

»Das ist auch eine Tatsache.«

»Und von diesem Schiffe stammen tatsächlich alle die Goldbarren und Schmucksachen und Edelsteine?«

»Ohne allen Zweifel.«

»Na, das ist nur gut, das ist nur gut, dass Sie mir so bestimmt diese Versicherung gehen können, hi hi hi!«, feixte händereibend der Teufelskapitän.

»Weshalb ist es Ihnen denn so lieb, dies zu erfahren?«

»Na, weil ich dachte, die Schätze könnten jemandem gehören — und selbst, wenn sie auf herrenlosem Wassergebiet liegen, mehr als zwei Faden unter Wasser, sodass sie dem Gesetze nach dem gehören, der Sie findet — aber wenn sie doch noch einen Besitzer gehabt hätten, dem hätte ich sie natürlich sofort zurückgegeben — hi hi — da bin ich nicht so, da bin ich nicht so — hi hi — ich bin doch ein Ehrenmann, ein Gentleman dazu; hi hi...«

So feixte und kicherte er weiter. O, dieser ironische Satan! Hätte ich ihn doch gleich beim Kragen nehmen und hinauswerfen können!

»Aber wenn sie von dem Flibustierkapitän van Horn stammen, der schon seit 300 Jahren tot ist — na, dann natürlich gehören Sie mir, dann brauche ich mir keine Gewissensbisse zu machen, hi hi.«

»Wie viel Gold in Barren haben Sie denn gefunden?«, konnte sich die Patronin doch nicht enthalten zu fragen.

»Wissen Sie, wie viel die ›Desolation‹ an Bord gehabt haben soll?«

»Ich glaube es zu wissen.«

»Nun?«

»Zwanzig Tonnen Gold, die Tonne nach unserer jetzigen Berechnung zu 20 Zentner.«

»Stimmt, stimmt ganz genau, hi hi, und zwar das allerfeinste, gediegenste Gold, mindestens zehn Millionen Dollars wert. Wollen Sie sich die Goldbarren einmal besehen, gnädigste Freifrau von der See, hi hi?«

»Nein, ich danke, es hat ja gar keinen Zweck.«

»Aber ein wunderbarer, wunderbarer Anblick, sage ich Ihnen, hi hi! Und nun noch dazu Geschmeide und Juwelen und lose Diamanten scheffelweise, hi hi. Wollen Sie den Schatz nicht einmal besichtigen, hi hi?«

»Nein.«

»Ich würde Ihnen gern die Hälfte abgeben, hi hi.«

»Was?! Wie kommen Sie denn dazu, mir solch ein Angebot zu machen?!«, sagte die Patronin mit höchst abweisender Miene.

»Nun, Sie haben doch gewissermaßen auch ein Anrecht auf diese Schätze.«

»Wieso denn ich?«

»Sie haben doch auch darum gewusst, sind nur beim Abholen ein bisschen zu spät gekommen, hi hi...«

Nun wurde es aber bald Zeit, dass der hinauskam, sonst griff ich doch noch zu!

Die Patronin aber behielt ihre Ruhe, was mich wieder sehr freute.

»Wer die herrenlosen Schätze abholte, dem gehören sie!«, entgegnete sie ganz sachgemäß.

»Das wohl — hi hi — und trotzdem hätte ich einen Grund, Ihnen die Hälfte davon abzutreten...«

»Was für einen Grund?«

»Sie würden sie doch gewiss zu wohltätigen Zwecken verwenden...«

»Wenn Sie das wollen, so können Sie das ja mit eigener Hand tun.«

»Oder Sie können sich die Hälfte ja auch erst redlich verdienen.«

»Wie das?«

»Geben Sie mir und meiner Mannschaft an Bord Ihres Schiffes eine Vorstellung.«

Lauernd wie die Augen einer Katze vor dem Mauseloche ruhten die seinen auf der Patronin.

»Nimmermehr!«

»Ja, warum denn nicht? Wenn Sie nun einmal nur für die Armen und Waisen...«

»Geben Sie sich keine Mühe weiter. Nein! Es ist dies mein letztes Wort.«

»Und doch hätte ich Ihnen noch einen Vorschlag zu machen.«

»In dieser Sache ist es ganz zwecklos.«

»Sie haben da doch eine gewisse Madame Pompadour an Bord.«

Die Patronin stutzte wie wir alle, jetzt ging sie doch noch einmal drauf ein, und es war ganz richtig so. Da musste man das feixende Scheusal doch noch einmal aussprechen lassen.

»Was wollen Sie mit der?!«

»Ich... ahem — hi hi hi — ich liebe solche Abnormitäten — ich... möchte diese Dame gern an Bord meines Schiffes haben...«

Es war eigentlich schade, dass die Patronin jetzt schon aufstand, welches Zeichen der Entlassung ja nicht misszuverstehen war. Jetzt hätte sie diesen Mann nun auch weiter sprechen lassen können.

»Also nicht für die Hälfte der...«

»Nun aber kein Wort mehr!«, unterbrach ihn die Patronin drohend.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung — hi hi — wenn ich etwa Ihr Zartgefühl verletzt habe — hi hi.«

Der Kapitän hatte nach seiner Mütze gegriffen und wandte sich zum Gehen.

»Halt!«, erklang es da nochmals hinter ihm, aus dem Munde der Schiffsherrin.

»Sie wünschten wohl, allergnädigste Freifrau von der See.«

»Auch dieses gehört Ihnen, was wir dann noch gefunden haben.«

Mit diesen Worten hatte sie ein flaches Körbchen auf den Tisch gesetzt, gefüllt mit jenen Pretiosen.

»Was soll das?«

»Nun, das fanden wir eben noch in dem Wasserloche.

Nehmen Sie es nur mit.«

»Aaah, das Resultat der Nachlese, die Sie noch gehalten haben! Nein, das ist Ihnen. Wer herrenloses Gut findet, dem gehört es doch. Das gehört Ihnen, hi hi hi.«

Einen größeren Hohn hätte er nun nicht mehr in Worte und Ton legen können.

»Nehmen Sie es mit!«

»Dann schenke ich es Ihnen, hi hi.«

Da nahm die Patronin den Korb und schüttete oder schleuderte seinen Inhalt durch das Schiffsfenster dem Revolver nach ins Wasser hinein.

»Na, das kann man ja durch Taucher wieder herausholen lassen, hi hi hi.«

Da war es aber gut, dass er schon draußen war!

»So ein Lump!«, sagte Kapitän Martin, der sich immer im Hintergrund gehalten hatte. »Was wollte der denn nur mit der Mama...«

»Bitte, kein Wort weiter!«, wurde er von der Patronin unterbrochen, und es fiel auch wirklich kein einziges Wort mehr über diese Sache.

Nur über den Revolver und seinen Inhalt wurde noch einmal gesprochen.

Also der Teufelskapitän konnte wirklich nichts von den geografischen Ortsbestimmungen wissen, die einer seiner Leute in seiner Waffe verborgen hatte.

Was hatte es nun mit diesen Bestimmungen für eine Bewandtnis?

Nun, wir wollten einmal nachforschen, es war doch interessant, und... wir hatten auch einen besonderen Grund dafür.

Eine Stunde später wurde uns eine große Überraschung zuteil.

Die Matrosen hatten schon vorher mit Schwabbern einige Aalfallen für die Nacht gestellt. Schwabber sind aufgefranzte Taue, oder viele dünne Seile, Kabelgarne, sie werden an einem Ende zusammengebunden. Mit dieser Vorrichtung wird allgemein an Bord das Deck aufgewischt, aufgeschwabbert. Hängt man nun solch einen Schwabber in einiger Tiefe dort, wo Aale sind, ins Wasser, so kann man sicher sein, dass immer Aale hineinkriechen, besonders kleinere, welche ja auch am besten schmecken. Dann bringt man vorsichtig einen Korb darunter, zieht so den Schwabber hoch, und in dem Korbe haben sich die Aale gefangen.

Die Matrosen brachten in dem einen Korbe außer einigen Aalen auch den Revolver hoch! Er war bei dem Wurf durch das Bullauge gerade auf solch einen durch einen Stock weiter ausgesteckten Schwabber gefallen und hatte sich mit der Sicherung an einem Kabelgarn festgehakt.

Getaucht hätten wir nach diesem Revolver ja ebenso wenig wie nach den weggeworfenen Schmucksachen, das wäre doch gegen unsere Ehre gegangen. Da wir den Revolver aber nun auf diese zufällige Weise wiederbekommen hatten — desto besser so!

Denn nun konnte ihn der Teufelskapitän nicht mehr bekommen, zufällig oder absichtlich, konnte nicht mehr erfahren, was sich in dem hohlen Kolben befand. Also auch nicht, dass wir um seine eventuellen Geheimnisse wussten.

Am anderen Morgen in aller Frühe wurde die »Argos« abgetaut; als sich die Sonne erhob, befanden wir uns schon draußen im freien Fahrwasser.

Es war ja eine bittere Erinnerung, die wir mitnahmen an unsere einst so geliebte Argonautenbucht, dass dieser hämische Halunke uns zuvorgekommen war, aber... da war nun nichts dagegen zu machen.

Eine Stunde waren wir ostwärts gedampft.

»Der Seeteufel achter uns!«, erklang da der Ruf.

Ja, dort hinter uns war das kleine und doch so lang aussehende Ding, kaum über Wasser ragend, fast einer Zigarre gleichend, aufgetaucht, es dampfte in unserer Richtung.

Schon eine Viertelstunde später war es vollends dicht hinter uns und... folgte in unserem Kielwasser!

Es war eben gar kein Zweifel, dass der das mit Absicht tat!

Wir waren mit unseren 12 Knoten gedampft, der hatte uns mit seinen mehr als 30 Knoten in rasender Fahrt bald eingeholt — und jetzt plötzlich fuhr er genau so schnell oder langsam wie wir! Legte sich ganz einfach mit Absicht in unser Kielwasser!

»Bitte, stoppen Sie, Herr Kapitän, lassen wir ihn vorüber!«, sagte die Patronin mit finsterem Gesicht.

Ein Warnungssignal der Dampfpfeife, und die »Argos« stoppte.

Der »Seeteufel« ging dicht an uns vorbei. Auf dem niedrigen Deck standen, immer halb unter Wasser, einige Männer, auf der sich nur wenig erhebenden Kommandobrücke auch, der Kapitän Satan.

»Guten Morgen, meine Herren, hi hi«, grinste er zu uns herauf, »guten Morgen, meine allergnädigste Freifrau von der See — hi hi. Schöner Morgen heute, wie?«

Die Patronin wandte ihm einfach den Rücken, verschmähte aber auch deswegen unter Deck zu gehen, da sie nun einmal den herrlichen Morgen genießen wollte.

Der »Seeteufel« war vorübergefahren.

»Stopp!«, hörten wir aber da noch das Kommando, nicht gerufen, sondern geklingelt, und der Torpedojäger hielt in seiner Fahrt inne.

Was sollte das? Die Patronin bekam denn auch schon ganz große Augen.

»Volle Fahrt, Herr Kapitän!«

Wir fuhren also wieder los und ganz von selbst änderte Kapitän Martin den Kurs, ging in fast rechtem Winkel nach backbord hinüber.

Da aber beschrieb auch der »Seeteufel« einen Bogen, war gleich wieder hinter uns, dann wieder neben uns, behielt mit uns die gleiche Geschwindigkeit.


Illustration

Mit blitzenden Augen trat die Patronin an die Bordwand. Die beiden Schiffe waren so nahe zusammen, dass man sich bequem unterhalten konnte, man brauchte gar nicht die Stimme besonders zu erheben.

»Herr Kapitän Satin!«

»Ah, ah, gnädigste Freifrau von der See, Sie wünschen, hi hi? Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, hi hi.«

»Sie wollen sich uns wohl anschließen?«

»Erraten, gnädigste Mylady, hi hi.«

»Uns begleiten?«

»Ganz sicher — immer als Ihr gehorsamer Sklave zu Ihrer Verfügung stehend, — hi hi.«

»Und auf wie lange das?«

»Für immer, hi hi. Bis an mein Lebensende, hi hi. Ich darf Ihnen aber verraten, dass mir einst eine alte Zigeunerin prophezeit hat, dass ich auch noch nach meinem Tode als ganz moderner fliegender Holländer auf der Erde oder vielmehr auf dem Meere spuken werde. Weil ich nämlich nicht einmal in der Hölle Aufnahme finde, ein so verworfener Teufel bin ich, hi hi hi hi.«

Und als oh er einen ausgezeichneten Witz gemacht hätte, so brüllte die ganze Mannschaft des Teufelsschiffes mit.

Aber wehe, was unsere Patronin jetzt für einen Kopf bekam!

»Was, Sie wollen mich für immer begleiten?«

»Wie ich sage. Ich habe es bei meiner Großmutter in der Hölle geschworen, Sie immer zu begleiten, hi hi hi. Erstens, weil ich eben Ihr gehorsamer Diener sein will, immer zu Ihren Diensten stehen will, und zweitens, weil ich hoffe, bei dieser Gelegenheit, wenn ich immer in Ihrer dichtesten Nähe bin, doch ab und zu etwas von den wunderbaren Gauklerkünsten der Argonauten zu sehen zu bekommen, hi hi hi.«

So grinste der Kerl.

Na, nun war's ja gut.

Was wollten wir denn dagegen tun, wenn der Ernst machte?

Und der führte sein Vorhaben aus, daran war doch gar kein Zweifel. Nur um uns zu kujonieren. Nur aus teuflischer Schadenfreude, um uns das Leben zu verbittern. Und wir konnten es ihm nicht verbieten. Die See ist frei. Wir konnten uns seiner auch nicht so leicht entledigen, da gehörte eine ganz besondere List dazu, die aber erst ausgeheckt werden musste.

Mit einem Male rannte die Patronin nach der Treppe der Kommandobrücke, sprang hinauf.

Sofort trat ihr Kapitän Martin entgegen, mit ausgestrecktem Arm, als wisse er schon, was sie beabsichtige, und so war es ja auch in der Tat.

»Was wollen Sie, Mylady?«

»In den Grund rammen dieses Teufelsschiff...«

Helene war außer sich, und es war begreiflich.

Aber Kapitän Martin vertrat ihr fest den Weg, ließ sie nicht vollends die Kommandobrücke betreten.

»An den Signalapparat und das Steuerrad kommen Sie nicht, in dieser Verfassung nicht auf meine Brücke! Nehmen Sie doch Vernunft an, Frau Patronin!«, setzte er bittend leise hinzu.

Und zum Glück tat es auch Helene, hatte sich gleich wieder in der Gewalt, sah ein, was sie da für eine Torheit begehen wollte.

Ziemlich ruhig, freilich mit einem ihrer Gemütsverfassung entsprechendem Gesicht, kehrte sie an die Bordwand zurück.

»Ach, Sie wollen mich wohl in den Grund rammen?«, erklang es drüben denn auch gleich mit genügendem Hohn. »Bitte, gnädigste Freifrau von der See, genieren Sie sich nicht, hi hi hi. Nur erlaube ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass mein ursprüngliches Kriegsschiff wirklich gepanzert ist, Ihres aber nicht.«

»Herr Kapitän, was habe ich Ihnen getan, dass Sie mir das Leben so verbittern wollen?«, fragte die Patronin ruhig.

»Sie haben mir gar nichts getan — im Gegenteil, ich begleite Sie ja nur, um Sie in Ihrer Freiherrlichkeit zu bewundern, allergnädigste Freifrau von der See, hi hi.«

Es war ja einfach genug. Dieser Kerl revanchierte sich eben für das Briefchen, das damals der Kapitän Martin an die Patronin geschrieben, was unglücklicherweise der Wind auch jenem in die Hände geweht hatte.

Die Patronin hätte gleich gehen sollen, wir konnten doch beraten, wie wir den los wurden, aber sie blieb, kreuzte die Arme über der Brust und nagte an der Unterlippe.

»Aber wenn Ihnen mein ständiger Anblick doch vielleicht nicht lieb ist, hi hi«, fuhr es unten fort, »so will ich Ihnen die Bedingungen nennen, zu welchen ich Sie sofort wieder verlassen werde.«

»Was für Bedingungen?«

»Lassen Sie Ihre Argonauten mir und meinen Leuten an Bord Ihres Schiffes eine zweistündige Vorstellung geben.«

Jetzt wenigstens wandte ihm die Patronin ohne weiteres den Rücken und verschwand in der Kajüte.

»Und dann bitte ich um Gelegenheit, dass ich der liebreizenden Madame Pompadour, die ich nun einmal in mein Herz geschlossen habe, einen Heiratsantrag machen kann, hi hi hi!«, klang es ihr kichernd nach.

Ich will das Weitere kurz machen.

Den ganzen Tag begleitete uns der »Seeteufel« nicht nur immer dicht neben uns, sondern er fuhr immer spielend um uns herum, wie ein Haifisch um das Schiff, dem er nun einmal seine Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Was sollten wir denn dagegen tun?

Da war absolut nichts dagegen zu machen.

Der begleitete uns auch in jeden Hafen, fuhr mit uns wieder heraus.

In der Nacht die Lichter löschen und im Dunkeln davon fahren?

Jawohl, hat sich was! Nicht ein einziger an Bord dachte an so etwas. Auch die Nichtseeleute waren schon zu lange an Bord, um an so etwas zu denken.

Wohl war es auf diese Weise möglich, diesem Seestrolch so zu entkommen, und dann sollte er sich uns ja nicht so bald wieder anschließen können.

Aber das merkte der doch, wenn wir die Lichter löschten, dann zeigte er uns an, und Kapitän Martin verlor sein Patent, auch alle Offiziere, die sich durch Eid nicht von dem Verdachte reinigen konnten, dass sie nichts von diesem Vorhaben des Kapitäns oder sonst eines Menschen gewusst hatten.

Die Lichter löschen, des Nachts ohne die vorschriftsmäßigen Lichter fahren — ei, da lassen die internationalen Seegesetze nicht mit sich spaßen!

Nur ein Krieg hebt alle solche Vorschriften auf. Die kriegführenden Nationen müssen aber erst die betreffende Note, dass sie gegenseitig Krieg führen wollen, den übrigen Mächten durch ihre Gesandten überreicht haben, dann wird der Ausnahmefall anerkannt. Das ist alles bis ins kleinste geregelt!

So etwas galt doch nicht etwa für uns hier.

Ein Zufall sollte die Lichter auslöschen?

Das müssen Kapitän und Offiziere doch alles unter Eid aussagen. Und dann etwa des Meineids überführt werden und ins Zuchthaus kommen?

Die Freifrau von der See saß in der Kajüte. Ihre Gemütsstimmung lässt sich denken. Das nennt man nun eine Freiheit zur See. Von solch einem Schufte ständig umlauert zu werden.

»Georg, einen Rat, einen Rat, wie wir den los werden!«

Ich konnte ihr nicht helfen. Vielleicht fand ich noch einen Rat, eine List, aber jetzt wusste ich nichts.

Vogel ließ sich melden, Schiffsjunge, ehemals Handlungsbeflissener, in einem Kolonialwarengeschäft, einfach Heringsbändiger.

»Herr Waffenmeister, ich weiß einen Rat, wie wir den weglocken können.«

»Sprechen Sie, Vogel.«

So unter vier Augen behandelte ich die acht Turner doch nicht als gewöhnliche Schiffsjungen, duzte sie auch nicht. An Deck und überhaupt bei der Arbeit allerdings war das etwas anderes.

»Wir machen eine Seepost.«

»Seepost? Was verstehen Sie hierunter?«

Der schien sich zu wundern, dass ich das nicht wusste. »Wir schreiben einen Zettel, mit einer geografischen Ortsbestimmung, da und dort an der Küste ist ein Schiff gescheitert, mit einer wertvollen Ladung — es wird so gemacht, als hätte es der Kapitän selbst geschrieben — der Zettel wird dann in eine recht auffallende Flasche gesteckt, gut verkorkt und versiegelt, heimlich über Bord geworfen, dass es die drüben auf dem Seeteufel nicht merken, aber die Flasche werden sie dann schon treiben sehen, sie fischen sie auf, und so ein Wrack mit kostbarer Ladung wird sie schon weglocken...«

Er berichtete noch ausführlicher, und ich ließ ihn ruhig aussprechen, sah ihn dabei nur immer fest an.

»So!«, sagte ich dann, als er fertig war. »Mensch, haben Sie sich denn auch schon überlegt, was Sie da tun wollen. Wenn diese gefälschte Flaschenpost von höchster Seenot erzählend, nun von einem anderen Schiffe aufgefischt wird? Und wenn dieses nun zwischen die Klippen fährt? Haben Sie sich überlegt, was Sie da für Menschenleben auf Ihr Gewissen bekommen können? Was Sie da für Strafe erhalten können? Vieljähriges Zuchthaus?«

Ich will es hier in etwas anderer Weise erledigen, als wie ich es diesem Turner auseinandersetzte.

Solche Bubenstreiche mit gefälschten Flaschenposten sind schon wiederholt ausgeübt worden, von Passagieren, von Badegästen und so weiter. Das ist der nichtswürdigste Bubenstreich den man sich denken kann! Bestraft wird so etwas, wenn es herauskommt, unter allen Umständen, hart bestraft — und wenn es böse Folgen hat, dann kann es Zuchthaus dafür geben! Mag das genügen.

Ich muss diesem Turner die Ehre widerfahren lassen, dass er hieran gedacht, alles wirklich reiflich erwogen hatte.

»Wir passen gut auf, dass diese Flasche auch wirklich von dem ›Seeteufel‹ aufgefischt wird, wenn sie ihm entgeht, so holen wir sie selber wieder...«

Er sprach noch weiter. Aber es nützte ihm nichts.

»Und wenn jener Kapitän nun erkennt, dass es nur eine gefälschte Flaschenpost ist? Und schließlich muss er es doch erkennen! Wenn die Sache auch ohne jede Gefahr für ihn abgegangen ist. Dann zeigt er uns an, dass wir diese falsche Flaschenpost in die Welt gesetzt haben. Und wir können es doch nicht abschwören. Und was meinen Sie wohl, was der Kapitän und die Offiziere für solch einen Streich bekommen? Die können nicht mehr zur See fahren. Nein, lieber Freund, das war nichts.«

Ganz unwirsch schlich Vogel davon.

Ich erkannte recht wohl an, wie der intelligente junge Mensch für uns seinen Kopf angestrengt hatte, um uns aus dieser fatalen Situation zu befreien.

Es war unsere eigene Schuld, dass jemand noch auf solch einen verbrecherischen Anschlag kommen konnte, ihn ganz harmlos findend, wir hatten die neuen Schiffsjungen über so etwas noch nicht genügend instruiert.

Nun könnte, um nichts zu vergessen, ein Leser auf den Gedanken kommen: aber das mit der Flaschenpost, die den Teufelskapitän von uns weglockte, konnte ja ein anderer Mann machen, ohne dass Kapitän und Offiziere etwas davon wussten, dann waren die doch auch straflos, überhaupt wirklich ganz unschuldig.

Dem kann ich nur sagen, was Pompejus dem Menas erwidert, in Shakespeares »Antonius und Kleopatra«, 2. Aufzug, 7. Szene.

Menas macht seinem Freunde Pompejus den Vorschlag, die drei Triumvirn, die sich auf seinem Schiffe befinden und gegen seine herrschsüchtigen Pläne sind, in seine Gewalt zu bringen.


... ich kappe jetzt das Tau,
Wir stoßen ab, ich greif an ihre Kehle —
Und Dein ist alles!


Worauf Pompejus erwidert:

... Ah! Hätt'st Du's getan,
Und nicht gesagt! Von mir ist Büberei,
Von Dir ist treuer Dienst! Vergiss es nie,
Mein Vorteil geht nicht meiner Ehre vor,
Die Ehre ihm! Bereu es, dass Dein Mund
So Deine Tat verriet. Tatst Dies geheim,
Dann hätt ich, wenn's geschehen, als gut erkannt,
Doch nun muss ich verdammen.«


Herrliche Worte! Wie sie eben nur ein Shakespeare fertig bringt.

Und ich musste nun alle meine Leute vornehmen und sie eindringlich warnen, dass sie nicht etwa irgend solch einen Unfug unternahmen! Musste sie auf die ganze Strenge des Gesetzes aufmerksam machen — und auf unsere Ehre!

Sonst hätten wir doch auch gleich diesen Kapitän wegschießen oder auf sein Teufelsschiff eine Dynamitbombe werfen können.

Im Übrigen aber waren alle meine Jungen schon so charakterfest, dass sie ihrem Unmut in keinem einzigen Fluche Luft machten. Wenigstens durfte er dort drüben nicht gehört werden. Das ganze Schiff war für uns einfach Luft, mochte der Haifisch nur ruhig um uns herum spielen, wir sahen ihn nicht.

Aber freilich — sitzen tat der Stachel doch in unserem Fleische!

Ja, wie sollten wir ihn aber nun los werden, diesen Teufelskapitän?

Klothilde war diejenige, die den besten Rat wusste.

»Kinder«, sagte sie, »gebt mir mal 'ne Reihe Zwiebeln her, ich will beten, dass ein tüchtiger Nebel kommt!«

Sie spielte auf den Zwiebelrosenkranz unseres Prospektadors an.

Zwar tat sie das nicht, so gotteslästerlich war unsere Klothilde gar nicht veranlagt, ich sah sie auch sonst nicht beten — aber in Erfüllung sollte ihr Wunsch dennoch gehen, der uns auch wirklich allein aus dieser vermaledeiten Patsche helfen konnte, dass wir mit Anstand dem aufdringlichen Begleiter entschwanden.

Da aber musste erst noch eine ganze Nacht vergehen. Also auch während dieser ganzen Nacht huschte der »Seeteufel« um uns herum. Wenn wir die Riesenzigarre selbst nicht mehr sahen, so doch immer seine farbigen Seitenlichter und die weiße Toplaterne. Immer um uns herum kreisend, uns verhöhnend. Sogar auch mit Worten, die wir genug zu hören bekamen.

Aber die Nacht war so beschaffen, dass wir schon hoffen durften.

Mondlos ganz windstill, der Himmel unbewölkt, eigentlich sehr finster und in anderer Hinsicht doch wieder ungemein hell. Die Sterne funkelten nämlich außerordentlich stark, ohne doch wirklich zu leuchten, ohne Helligkeit zu verbreiten, und sie schienen auch so nahe gerückt zu sein, viel näher als sonst, wie überhaupt alle Gegenstände.

Das ist immer ein sicheres Zeichen, dass man bald starken Nebel und wahrscheinlich auch Regen zu erwarten hat. Dann ist nämlich die Atmosphäre mit Feuchtigkeit gesättigt, jedes einzelne Wasserbläschen wirkt wie ein Vergrößerungsglas alle zusammen scheinen die Gegenstände näher heranzurücken. Das wissen auch die Gebirgsbewohner ganz genau. Wenn des Abends bei schönem Sonnenuntergang die Berge so scharfe Umrisse haben und so nah erscheinen, dann kommt am anderen Tage ganz bestimmt Regen.

Und so war es auch bei uns. Statt dass nach der herrlichen Nacht ein schöner Sonnenaufgang folgte, stieg es plötzlich von unten auf und senkte es sich von oben herab, wie ein weißer Schleier, und da waren wir auch schon in eine Milchsuppe eingehüllt.

So, nun mal los!

Zuletzt hatten wir die schwachen Umrisse des »Seeteufels« auf Steuerbordseite gesehen, also nach Backbord davongefahren und dann noch einige Bogen und Zickzacklinien gemacht.

Nebelsignale zu geben, dazu waren wir auf freiem Meere durchaus nicht verpflichtet, und dass wir versehentlich zusammenrammten, das wäre ein außerordentlicher Zufall gewesen, mit dieser Gefahr musste man eben rechnen.

Als nach einer Stunde im dichtesten Nebel noch kein Zusammenstoß passiert war, da durften wir bestimmt hoffen, den aufdringlichen Gesellschafter nun für immer los zu sein. Ach Gott, wo der jetzt sein mochte!

Und so bald kriegen sollte der uns ja nicht wieder! Die Welt ist groß, wir hatten die Auswahl unter den Häfen in allen Erdteilen, und wir brauchten doch auch niemals ein Ziel anzugeben.

Und eine zweite Stunde verging im dichtesten Nebel. Dann fing es an zu regnen, erst zu rieseln und dann in Bindfaden und Stricken, und es war nicht anders, als wenn ein starker Regen oder Hagel strichweise oder auch lochweise ein Getreidefeld niederlegt. Denn in einem hochstehenden Getreidefeld sieht man doch manchmal weite Mulden, die Halme sind aus irgend einem Grunde — wahrscheinlich weil der schlechte Boden gerade hier nur eine schwache Entwicklung der Halme gestattete — gerade hier vom Regen niedergelegt oder gar umgeknickt worden.

So war es auch hier bei uns betreffs des Nebels. Plötzlich lagen wir wie in einem weiten, offenen Tale, ringsherum von einer undurchdringlichen Nebelwand eingeschlossen.

Und wer beschreibt nun unseren Schreck, wie da plötzlich ostwärts auf dieser nur für den Blick undurchdringlichen weißen Wand die lange Riesenzigarre herausschießt, der Torpedojäger, der »Seeteufel«!

War es ein Zufall, dass er uns wiedergefunden hatte? Oder hatte er wirklich ein Mittel gewusst, um uns auf den Hacken zu bleiben?

Wir wussten es nicht, und das war auch ganz gleichgültig.

Wir hatten seine Gesellschaft wieder, das war die Hauptsache!

Und nicht etwa, dass wir nun schleunigst selbst in die undurchsichtige Nebelwand kriechen konnten. Diese ganze Erscheinung war nämlich nur eine optische Täuschung, das freie Tal und die Nebelwand, das wussten wir von vornherein. Dieser scheinbar nebelfreie Kessel ging immer mit uns, wir konnten so schnell fahren wie wir wollten, also auch die Entfernung von der Nebelmauer blieb immer dieselbe. Die Sache war eben die, dass es eine besondere Nebelart war — Glasnebel nennt ihn der Seemann — der nur von weitem ganz undurchsichtig erscheint, in ihm selbst merkt man auf einige Entfernung gar nichts davon.

Also wenn wir auch weiter fuhren, um uns herum war es immer frei, und da natürlich hatte uns der Torpedojäger gleich wieder ein.

Die Teufelsmannschaft machte gar kein Hehl aus ihrer Freude, uns wieder zu sehen, sie winkten und schrien uns einen Gutenmorgengruß zu, auch Kapitän Satan schwenkte die Hand und salutierte dann.

»Stopp!«, kommandierte da Kapitän Martin, die Maschine stand, und da lag auch der »Seeteufel« schon dicht neben uns.

Kapitän Martin trat an das Seitengeländer der Kommandobrücke. Zum ersten Male sprach er seinen englischamerikanischen Kollegen an.

»Herr Kapitän Satin!«

»Sie wünschen, Herr Kapitän Martin?«, erklang die fette Fistelstimme zurück.

»Weshalb verfolgen Sie uns?«

»Ich Sie verfolgen? Die See ist doch frei, ich kann doch hinfahren, wohin ich will, hi hi!«

»Sie haben doch selbst schon gesagt, dass Sie uns ständig begleiten wollen!«

»Nun ja, wenn mir das Spaß, macht, wer will mir denn das verbieten, hi hi?«

Da richtete Kapitän Martin seine Reckengestalt noch höher auf, und wie dem seine grauen Augen blitzen konnten!

»Nein, Verbieten kann ich Ihnen diese Begleitung nicht. Aber meine Meinung über Sie kann ich Ihnen sagen. In meinen Augen ist solch eine unerwünschte Begleitung zu Land wie zu Wasser eine unfaire Handlung, ist in diesem Falle, wie Sie sich dabei betragen, sogar eine direkte Infamie! Also in meinen Augen sind Sie ein infamer Lump, der also kein Schiff als Kapitän fahren darf! Verstanden!«

Himmeldunnerwetter noch einmal!

Und mit einem Male fiel es uns wie Schuppen von den Augen.

Unser Kapitän Martin hatte allein wieder einmal das Richtige getroffen.

Ja, so hatte es kommen müssen, so!

»So, nun wissen Sie meine Meinung«, fuhr Kapitän Martin fort, »und nun begleiten Sie uns nur ruhig weiter, wir gehen jetzt nach Buenos Aires, dort verklagen Sie mich wegen Beleidigung, ich werde wegen dieser Beleidigung wahrscheinlich bestraft werden — aber das Weitere tragen wir dann vor dem internationalen Seemannsehrengericht aus! Ich, Kapitän Martin, ich werde dafür sorgen, dass dies Ihre letzte Fahrt als Kapitän gewesen ist — Sie infamer Schuft!«

Himmeldunnerwetter noch einmal!

Mehr vermag ich nicht zu sagen, um unsere Stimmung zu schildern, wie wir dies hörten!

Famos, famos!

Dieser Kapitän konnte wegen solch eines unfairen, flegelhaften Benehmens zur See tatsächlich sein Patent verlieren, es musste nur richtig gehandhabt werden!

Freilich war zu erwarten, dass es auch jetzt gleich zwischen den beiden zu einer Katastrophe kam.

Der dort drüben stehende Kapitän war plötzlich im Gesicht weiß wie eine Kalkwand geworden, seine Augen drohten die Höhlen zu verlassen, so glotzten sie herüber, und seine Finger krallten in der Luft herum, also vorläufig noch außerhalb der Taschen.

Und ich war wohl nicht der einzige, der bereit war, es zu verhüten, dass er schnell in eine seiner Taschen griff und irgend etwas Gefährliches zum Vorschein brachte, vor allen Dingen sah ich auch schon Peitschenmüllern bereit stehen, gefechtsbereit mit jenem Instrument, nach dem er eben diesen Spitznamen bekommen hatte, das er ja selten aus der Hand ließ, und mit dieser Peitsche langte er ganz bequem hinüber, so nahe lagen wir zusammen.

Doch es sollte nicht zu einer weiteren persönlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Kapitänen kommen.

»Schiff ahoi!«, erklang da der Ruf. »Englischer Man of War!«

Jetzt sahen wir ihn alle. In der nördlichen Nebelwand tauchte schattenhaft die Takelage eines Schiffes auf, gleich darauf aber war es auch schon völlig heraus, in dem nebelfreien Kessel, eine Kreuzerfregatte wie die unsere, aber am Top den Kriegswimpel, und jetzt wurde am Heck die englische Kriegsflagge gehisst, grüßend gesenkt und wieder gehisst.

»Achtung vor einem Man of War — erwidert den Gruß, Ihr armseligen Pfefferkästen, und zeigt mal Eure Visitenkarten!«

Dies bedeutet solch ein Gruß eines Kriegsschiffes. Davon habe ich ja schon früher einmal berichtet.

Jedenfalls ist mit solch einem freundlichen Gruß gar nicht zu spaßen, da muss man nur schleunigst die Mütze abnehmen.

Also dies legte im Augenblick auch die ganze Streitsache bei, beide Kapitäne hatten Befehle zu geben. Der Fall konnte dann ja wieder aufgenommen werden, selbstverständlich geschah das dann auch.

Zunächst aber kletterten die Flaggen hoch, die beiden Handelsschiffe, die sie doch waren, auch wenn sie keinen direkten Handel trieben, stellten sich vor.

Und nicht etwa, dass der Novascotia-Fahrer hier die Flagge von Halifax gezeigt hätte! Solch ein Späßchen konnte er sich wohl bei einem anderen Kauffahrer bei der gegenseitigen Vorstellung erlauben, aber bei einem Kriegsschiff gab es so etwas nun nicht!

Also der »Seeteufel« hisste gehorsam seine englischkanadische Handelsflagge, und wir vergaßen nicht, auch unsere Halbkriegsflagge zu zeigen, als die Standarte der englischen »Lady of the Sea«.

Das Kriegsschiff dankte und ließ jetzt seinerseits eine Reihe bunter Lappen hochklettern. Aber nicht etwa, dass sich dieses Kriegsschiff vorstellte. Es war ein Befehl.

»Seeteufel — streich die Segel!«

Hallo!

Und da wurde dort drüben auch schon ein Boot ausgesetzt.

Also der Kapitän des Kriegsschiffes oder doch ein Offizier wollte dem »Seeteufel« einen Besuch abstatten. Und da denkt man immer gleich an eine Visitation, obschon die nicht durchaus notwendig zu sein braucht.

Na, uns ging es ja nichts an.

Nur dem »Seeteufel«, nur dem Kapitän Satin ging es etwas an.

Und dem schien dieser Besuch recht nahe zu gehen. Plötzlich stampft der mehrmals wie wütend mit dem Fuße auf, und ehe wir uns versehen, schießt auch schon die schwarze Riesenzigarre mit voller Fahrt an uns vorbei, schneller und immer schneller, bis der Torpedojäger sicher seine 32 Knoten macht!

Drüben auf dem Kriegsschiff ertönen Schreie, dann ein Kommando, mehrere Kommandos.

»Fertig — Feuer!«

Bum!

Und es war ein scharfer Schuss; mindestens aus einem Zwanzigzentimetergeschütz, das hört man doch gleich heraus, ob blind oder scharf, und gerade bei solchem Nebel sieht man das Geschoss auch in dichter Nähe fliegen — und so sahen wir ganz deutlich, wie die Granate über das Fahrzeug wegflog, so dicht, dass sie vielleicht noch den Top des kurzen Signalmastes streifte.

Jedenfalls aber doch vorbeigeschossen! Wenn es nicht bloß ein scharfer Schreckschuss gewesen war, wonach es aber gar nicht ausgesehen hatte. Und ehe dasselbe Geschütz hätte wieder geladen werden können, obgleich das heutzutage affenartig fix geht, war die lange Riesenzigarre schon in der westlichen Nebelwand spurlos verschwunden.

Nun war jede Nachschießerei zwecklos, und in diesem Nebel hätte auch eine Verfolgung nichts genützt, ganz abgesehen davon, dass diese Kreuzerfregatte, so schnell sie sonst bei Volldampf vielleicht auch war, doch sicher keine 32 Knoten machte.

Wir waren zunächst einfach sprachlos!

Von einem Kriegsschiff die Aufforderung zu erhalten, die Segel zu streichen — was noch eine andere Bedeutung hat, als nur die Fahrt einzustellen, still gelegen hatten wir ja überhaupt — der Kauffahrer gehorcht, meldet sich, das Kriegsschiff setzt ein Boot aus. Und da plötzlich geht der Kauffahrer in voller Fahrt davon, sofort wird ihm ein scharfer Schuss nachgesendet, eine Zwanzigzentimetergranate, die ganz offenbar nur durch Zufall ihr Ziel verfehlt — ei die Dunnerwetter, so etwas kommt ja heutzutage selten vor, da kann man sich höchstens in die alten Flibustierzeiten zurückversetzt fühlen.

Ja, was lag denn hier eigentlich vor?!

Nun, wir würden es wohl gleich erfahren, das Boot, gleich mit drei Offizieren dekoriert, hielt direkt auf uns zu.

»Die Lady of the Sea zu sprechen, Patronin der ›Argos‹?«, rief der am höchsten ausgezeichnete Offizier.

»Hier!«, gab die an Deck stehende Patronin zurück.

»Fregattenkapitän Dorington von Seiner Majestät Schiff »›Duke of Gloucester‹. Gestatten Sie mir, dass ich einmal an Bord komme?«

»Bitte sehr.«

»Danke verbindlichst.«

Die Falltreppe wurde herabgelassen, das Boot legte bei. Ei, es ist doch etwas Schönes, wenn man so eine halbe englische Kriegsflagge führen kann! Und ebenso höflich hätte auch der Kriegsschiffskapitän jeder anderen Nation erst angefragt, ob er unser Schiff betreten dürfe, obgleich er es durchaus nicht nötig gehabt hatte.

Der Fregattenkapitän war heraufgekommen, in die Kajüte geführt worden, wo Siddy im Handumdrehen das Nötige zum Empfang vorgerichtet hatte.

Obgleich sonst sicher ein eiserner Mann, der auch im heftigsten Geschützfeuer mit keiner Wimper zuckte, suchte er jetzt doch seine Erregung nicht zu verbergen, vergaß alle weiteren Förmlichkeiten und machte gar keine Einleitung.

»Ja, weshalb ist denn der Kapitän Satan mit seinem ›Seeteufel‹ so plötzlich auf und davon gegangen? Was haben Sie denn mit dem hier gehabt?!«

Zum Glück übernahm nicht die Patronin, sondern gleich Kapitän Martin die Erklärung, der machte es ja kurz genug.

Von den Schätzen des Flibustierschiffes brauchte natürlich kein anderer Mensch etwas zu erfahren.

»Well, ich habe mit dem Kapitän Satin einmal etwas Persönliches gehabt, was er mir übelgenommen hat, gestern früh trafen wir uns in der Magellanstraße wieder, er heftete sich uns an und wollte uns von nun an ständig begleiten, wohin wir auch führen, nur um uns zu schikanieren.«

Der Kapitän führte etwas weiter aus, wie jener eine Vorstellung und die Madame Pompadour hatte haben wollen, wie er uns sonst noch gehöhnt hatte — nichts weiter, und es genügte.

»Ja, ja, das sieht dem Burschen ganz ähnlich«, bestätigte Kapitän Dorington, »einem Menschen das Leben zu verbittern nur aus Lust an teuflischer Bosheit. Ja, aber warum ist der denn plötzlich davongeschossen?!«

»Wir dachten, diese Erklärung könnten Sie uns geben!«

»Ich? Ich weiß es nicht.«

»Weshalb ließen Sie denn den ›Seeteufel‹ die Segel streichen?«

»Um ihn einmal zu visitieren.«

»Und weshalb das?«

Der Fregattenkapitän zuckte die Schultern.

»Ja, weshalb, weshalb... weil ich eben das Recht habe, jeden Kauffahrer und sonstiges Fahrzeug, das nicht unter Kriegsflagge fährt, anzuhalten und mir seine Schiffspapiere vorlegen zu lassen, es auch gründlich zu visitieren.«

»Und hatten Sie hierzu einen besonderen Grund, den ›Seeteufel‹ zu visitieren?«

Wieder zögerte der Fregattenkapitän etwas.

»Ja und nein — nein und ja. Über diesen Kapitän Satin, der sich selbst Satan nennt, der seinem Schiffe einen solch blasphemierenden Namen wie ›Seeteufel‹ gegeben hat, zirkulieren die verschiedensten Gerüchte. Ganz unheimliche Gerüchte, ist Ihnen das bekannt?«

»Ja.«

Können Sie diesem Kapitän etwas Tatsächliches nachweisen, das ihn vor die Geschworenen bringt?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Also sind es nur Gerüchte die man gar nicht wiederholen darf, will man von diesem Menschen nicht selbst vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden. Er hat doch schon solche Dinger gemacht, das wissen Sie doch auch.«

»Ich weiß es.«

»Nun gut. Also ich sage nichts. Aber da ich ihn hier sah, wollte ich ihn doch einmal visitieren. Er hat sich der Visitation oder überhaupt meinem Besuch durch Flucht entzogen. Wissen Sie, aus welchem Grunde er dies tat?«

»Das sah doch fast aus«, mischte sich die Patronin einmal ein, »als habe er ein böses Gewissen, als habe er eine Visitation durch ein Kriegsschiff zu fürchten.«

»Hm. Auf diese Vermutung muss man allerdings kommen. Aber ich habe mich nicht in Vermutungen zu ergehen. Ich habe nur meine Pflicht zu tun. Jenes Schiff hat sich meinen weiteren Befehlen und Anordnungen durch Flucht entzogen. So erkläre ich hiermit den »Seeteufel« von Halifax als Piratenschiff, Kapitän Satin zum Piraten. Bitte, tragen Sie es sofort in Ihr Schiffsjournal ein. Da ich persönlich anwesend bin, muss ich selbst mit unterzeichnen.«

Es war ausgesprochen, es war eingeschrieben! Kapitän Satin war zum vogelfreien Piraten erklärt worden!

Ich habe schon früher einmal gesagt, dass nach der internationalen Seeordnung ein Pirat noch kein Seeräuber zu sein braucht.

Nach diesen Bestimmungen ist ein Pirat derjenige, der als vereidigter Schiffer sich gegen die internationalen Seegesetze vergangen hat und sich der Bestrafung oder auch nur der Verantwortung eigenmächtig entzieht.

Das ist die ganz einfache Definition.

Was er begangen hat, ob er nur versehentlicherweise die Seitenlichter nicht rechtzeitig bei Dunkelheit angesteckt oder ob er als Seeräuber Dutzende von Schiffen genommen und die Mannschaften hingeschlachtet hat, das ist dabei ganz gleichgültig! Sobald er sich der Verantwortung entzieht, stellt er sich außerhalb der Seegesetze und wird als vogelfreier Pirat verfolgt.

Erst wenn er sich selbst gestellt hat oder eingeliefert worden ist, stellt die Justiz die Art seines Vergehens fest, dann erst wird richtig die Anklage erhoben, die dann ja auf Seeräuberei lauten kann. Da die englische Sprache kein besonderes Wort für Seeraub hat, so unterscheidet sie zwischen »piracy« und »perfect piracy«: letzteres ist dann also Seeräuberei. So lange aber nur die Polizei in Betracht kommt, die das verfolgte Schiff den Behörden auszuliefern hat, gibt es nur Piraterie, und wenn ein Schiff beim Verlassen des Hafens auch nur ein unvorschriftsmäßiges Manöver ausgeführt hat. Dass der Kapitän sich einer Bestrafung, und habe er auch nur fünf Groschen zu bezahlen, entzieht, das gibt den Ausschlag, das stempelt ihn schon zum Piraten.

Es treiben sich immer Piratenschiffe herum. Die Sache ist ja auch höchst unschuldig. Einerseits. Anderseits furchtbar ernst!

Jedes Schiff und Fahrzeug, das erfährt, dies und jenes Schiff sei in die Acht der Piraterie erklärt worden, muss das in jedem Hafen melden und an jedes ihm begegnende Schiff weitergeben, auch wo das Piratenschiff zuletzt gesichtet worden ist.

Jedes Kriegsschiff ist verpflichtet, den Piraten festzunehmen und, wenn er sich durch Flucht entziehen will, zu vernichten.

Jedes Handelsschiff ist verpflichtet, das ihm begegnende Piratenschiff aufzufordern, sich sofort nach dem nächsten Hafen zu begeben und den Behörden zu stellen. Und jedes Handelsschiff kann dann das Piratenschiff, wenn es erklärt, der Aufforderung nicht Folge leisten zu wollen, ebenfalls mit Gewalt ins Schlepptau nehmen, kann es in den Grund rammen oder schießen.

Das Kriegsschiff ist hierzu verpflichtet, das Handelsschiff kann es tun. Das ist hierbei der einzige Unterschied zwischen Kriegs- und Handelsschiff, was aber auch für jede Privatjacht gilt. —

So stand es jetzt also auch mit dem »Seeteufel« und seinem satanischen Kapitän. In die Acht der Piraterie erklärt!

Wie wollte der sich denn da wieder freimachen? Wo wollte der denn Kohlen und Trinkwasser herbekommen? In jedem Hafen wurde er doch festgenommen und sah einer ganz exemplarischen Bestrafung entgegen, verlor auch auf alle Fälle sein Kapitänspatent.

Nun, das war uns ja alles ganz gleichgültig. Dass wir den unliebsamen Kerl auf diese Weise losgeworden, das war für uns die Hauptsache und wenn er uns nochmals auffand und sich uns anschloss, na, jetzt konnten wir ja anders mit ihm sprechen, mit diesem vogelfreien Piraten!

*

50. Kapitel

Das Geheimnis der beiden Schwestern

Originalseiten 1337 — 1379

Kapitän Dorington war nach seiner Fregatte zurück gerudert, diese verschwand im Osten. »So, jetzt wollen wir einmal nachsehen, was es mit den beiden Schwestern für eine Bewandtnis hat«, sagte ich.

Denn nach den beiden Schwestern wies uns die dritte der fünf geografischen Ortsbestimmungen, wie wir uns nun auf der Spezialkarte bereits überzeugt hatten, und es war uns gar nicht eingefallen, dem englischen Man of War von diesem unseren Funde Mitteilung zu machen.

Was ging das denn den an?

Wenn wir nun dort Gold oder sonst etwas Wertvolles fanden?

Das wollten wir dann auch für uns behalten, keinen Mitfinder haben, mit dem wir hätten teilen müssen.

Also nach den beiden Schwestern, die sich östlich von den Falklandsinseln mitten im Meere die Hände zu reichen suchen.

Die Falklandsinseln liegen 600 Kilometer von der Südostküste Patagoniens entfernt, bestehen aus zwei großen und zirka 200 kleineren Inseln. Entdeckt wurden sie ungefähr im Jahre 1600 von englischen Seefahrern, waren dann abwechselnd im Besitz von Franzosen und Spaniern, die sie vergebens zu besiedeln versuchten. Denn es sind ja trostlose Inseln. Der Boden ist ganz fruchtbar, aber der jahraus jahrein fast ununterbrochen wütende Sturm duldet auch an den geschütztesten Stellen nicht das Aufkommen eines einzigen Bäumchens.

Zuletzt saßen Argentinier drauf und gruben nach Zinn und Kupfer. Da kam 1840 ein englisches Kriegsschiff, jagte die Argentinier zum Teufel, in die Mitte der Inselgruppe wurde ein imaginärer Zirkel eingesetzt mit 150 Kilometer Spannweite, ein Kreis geschlagen, und dann sagten die Engländer: Was innerhalb dieses Kreises von 300 Kilometer Durchmesser liegt, das ist englisches Gebiet, das hat uns der liebe Gott geschenkt. God save the Queen. Amen!

Nun, die Engländer haben aus den trostlosen Falklandsinseln etwas zu machen verstanden — und Rinderzucht wird ganz intensiv betrieben, besonders das Fleisch dieser Falklandsrinder, die lebendig nach England transportiert und dort noch einmal gemästet werden, gilt als das vorzüglichste der Welt, ist in London pro Pfund nicht unter zwei Schilling zu haben. Aber die Engländer haben auch unter enormen Kosten jahrzehntelang erst eine besondere Rasse von Rindern und Schafen züchten müssen, welche dieses böse Klima vertrugen! Außerdem wird ein besonderer, starkhalmiger Hafer massenhaft gebaut.

Das Kuriosum besteht hauptsächlich darin, dass die argentinische Regierung die Falklandsinseln noch immer als ihr Eigentum betrachtet. Es ist eine argentinische Kolonie. Und England bezeichnet sie als eine englische Kolonie. Solcher Kuriositäten gibt es aber noch eine ganze Menge, die nordische Bäreninsel wird gleich von vier verschiedenen Nationen beansprucht, von Russland, Schweden, Dänemark und England, und der deutsche Jachtbesitzer Robert Braun ist es gewesen, der sich von dort jahrelang seine Kohlen geholt hat, ohne dass die Welt davon gewusst hat, bis es zufällig verraten wurde.

Nur die beiden großen Falklandsinseln kommen in Betracht, und die sind auch schon furchtbar schwer anzulaufen, nur in Port Stanley. Die anderen 200 Inselchen und Eilande, auf denen meist das unansehnliche, staudenähnliche Tunsokgras ebenfalls üppig gedeiht, sind für die Menschen wegen der schrecklichen Brandung einfach unerreichbar. Auch mag es ihnen wohl an Trinkwasser fehlen.

Ungefähr 50 Kilometer von diesem englischen Kreisgebiet, östlich entfernt stehen dann noch zwei mächtige Felsen einsam im Meere.

Sie sind nicht vom Himmel herabgefallen. Wohl sind die Falklandsinseln im großen und ganzen flach, aber hin und wieder erheben sich riesige Felsengebilde, jäh aus dem Boden sich emporreckend, bis zu 700 Metern. Dort hat es jedenfalls in prähistorischer Zeit einmal ganz anders ausgesehen, das war eine einzige große Steinmasse, die unterwaschen worden und zusammengestürzt ist, zu dieser haben auch noch die »beiden Schwestern« gehört, die jetzt weit draußen im Meere ganz einsam stehen.

Also es sind zwei Felsen, die sich unvermittelt jäh aus dem Wasser emporrecken. Ihre Höhe hat man trigonometrisch auf 340 Meter berechnet, unten mögen sie einen Durchmesser von 200 Meter haben, sie sind also höher als breit.

Von weitem meint man nur einen Felsen zu sehen, und überhaupt ist die Spalte, die sie voneinander trennt nur von Nordosten zu erblicken, ihr Abstand beträgt höchstens 30 Meter.

Diese Spalte scheint oben in schwindelnder Höhe früher einmal überbrückt gewesen zu sein, es recken sich hüben und drüben Felsvorsprünge vor, ungefähr wie Menschenarme aussehend, die sich gegenseitig die Hand reichen wollen.

»Die beiden Schwestern« haben die Seefahrer diese zwei Felsen getauft. Sonst will man von ihnen nichts wissen. Man ist froh, wenn man sie gar nicht zu Gesicht bekommt. An ein Herankommen ist natürlich gar nicht zu denken. Auch bei sonst stillster See, wenn schon wochenlang Windstille geherrscht hat, schäumt dort noch immer die fürchterlichste Brandung.

Und gerade für diese Spalte, welche die beiden steinernen Schwestern voneinander trennt, galt die dritte jener Bestimmungen, für den nordöstlichen Teil, das war aus der Spezialkarte ganz deutlich zu erkennen.

Was sollte denn dort zu finden sein?

Nun, wir mussten eben sehen.

Und jetzt lagen die beiden Schwestern vor uns.

Ein ganz imposanter Anblick, diese beiden kolossalen Felsmassen, einsam und verlassen mitten im Meere. Natürlich hielten wir uns in respektvoller Entfernung, drei Seemeilen ab, denn die letzte Zeit war durchaus nicht windstill gewesen, vielmehr sehr stürmisch, auch jetzt wehte noch eine tüchtige Brise, und dort am Felsen schäumte und kochte es denn ganz fürchterlich. Alles ein einziger weißer Wogenschwall.

»Kiek, dort oben steht see, siehst De se?«, hörte ich einen Matrosen zum anderen sagen.

»Jau, jau«, entgegnete der andere, dessen Wiege in Ostfriesland gestanden hatte, dicht bei Jever, »jau, jau. Is dat de Lowise?«

»Nee, dat is de Ida.«

»Was schwatzt Ihr da?«, fragte ich.

Die beiden wurden etwas verlegen, packten dann aber aus.

Zum ersten Male hörte ich, dass über diese beiden Felsen auch eine Sage ging. Doch natürlich, zwei solche einsame Felsen mitten im Meere mussten unter den Seeleuten doch auch ihr Märlein haben. Ich hatte davon nur noch nichts gehört, es gibt deren Märlein und Gespenstergeschichten auch gar zu viele.

Die beiden Schwestern hießen diese Felsen nicht nur darum, weil sie so dicht nebeneinander standen und sich die Hand reichen wollten, sondern auf ihnen hausten auch wirklich zwei Schwestern, zwei verwunschene Schwestern.

Es war der Lorelei-Felsen des Meeres, gleich in doppelter Ausgabe. Was die beiden weiblichen Menschenkinder bei Lebzeiten ausgefressen hatten, dass sie nach ihrem Tode dort oben herumspuken und auch noch friedliche Schiffer ins Verderben locken mussten, darüber herrschten die verschiedensten Ansichten. Die verbreitetste war die, dass sie die Töchter eines holländischen Kapitäns gewesen, diesen immer auf seinen Seefahrten begleitend, und in ihrer ungemeinen Liebesbedürftigkeit hatten sie nach und nach die ganze Schiffsbesatzung totgemacht.

Dafür hatte der Himmel sie zur Strafe in diese beiden Felsen verwandelt, oder sie dort oben drauf gesetzt, da mussten sie als Geister spuken, immer noch herrliche Jungfrauen, und durch Winken und ihren Gesang die vorbeifahrenden Schiffer anlocken. Wer hinfuhr, der fuhr natürlich in sein Verderben, zerschellte an den Felsen.

Es gab also auch noch andere Lesarten, aber darin waren sich alle einig, dass die eine Luise und die andere Ida geheißen hatte und also noch hieß.

»Jawohl, jawohl, da sind sie, da sind sie, die Ida und die Luise!«, fing Oskar, der eben erst aus der Koje kam, jetzt zu schreien an. »Hört Ihr sie singen? Seht Ihr sie winken? Fix, Jungens, jetzt das Gegenzauberlied, sonst lassen wir uns betören, also los — erst den Zauber gegen die Ida, eins, zwei drei...«

Und er fing an zu singen, mit beiden Armen den Takt schlagend, und brüllend und doch gar nicht so übel fiel der ganze dreistimmige Männerchor der Argonauten, der unterdessen zusammengekommen war, mit ein:

Und das ist die reizende Iiiiiiida,

Zeigt sie sich, ruft alles: ei siiieh da,

Nee so enne Ida wie diiiiieda,

Die war aber ooch werklich no niiiie da.

Das war das Zauberlied gegen die Verlockungskünste der Ida, nun bekam auch die »Louise« das ihre ab. Das kann ich aber nicht wiedergeben, das ist zu unanständig.

Nein, diese Matrosen! Nichts weiter als Unsinn im Kopfe, nichts weiter als Unsinn! Diese deutschen Matrosen, muss man aber betonen.

Wie gesagt, ich hatte von diesen beiden Schwestern wohl schon gehört, aber noch nichts von dieser Sage und von den Zauberliedern, die deutsche Matrosen singen, wenn sie die beiden Felsen einmal zu Gesicht bekommen. Erst jetzt hörte ich davon. Die Welt ist eben gar zu groß, solcher Sagen und Märlein und Gebräuche sind gar zu viele.

Wir umdampften langsam die ganze Felsmasse, immer in vorsichtiger Entfernung.

Ja, wozu aber diese geografische Ortsbestimmung, die sich auf jene Spalte bezog?

Wir wussten es nicht. Und da sich in Vermutungen ergehen, das hatte doch gar keinen Zweck. Ich wenigstens tat es nicht, wollte da auch nichts hören.

So waren wir ungefähr aus unseren alten Punkt zurückgekommen, lagen nordöstlich von den Felsen.

»Dort ist sie, dort oben steht sie und winkt!«, erklang da der Ruf.

Ja, wahrhaftig! Dort oben auf dem Felsenrand in schwindelnder Höhe stand ein winziges Menschlein. Sehr weitsichtige Augen konnten es schon so erkennen, und durch ein gutes Fernrohr sah man deutlich, dass es den weiten Gewändern nach ein Weib sein musste, außerdem flatterte im Winde ihr langes, blondes Haar.

»Und da eine zweite!«

Wahrhaftig, jetzt standen zwei Weiber dort oben.

Na, nun war's ja gut! Was sollte man denn zu diesem Rätsel sagen? Wie kamen denn die beiden Weiber dort oben hinauf? Denn mit solchen Gespenstergeschichten wollen wir hier doch nicht erst anfangen.

»Sie haben Fernrohre, sie semaphorieren!«

Die eine, die mit den schwarzen Haaren, begann jetzt, in jeder Hand ein Fernrohr, das erst auf uns gerichtet gewesen war, zu semaphorieren, ganz regelrecht in englischer Sprache.

»Hilfe, Rettung!«, waren die beiden ersten Worte.

Ich war schon nach unserem Semaphorapparat gesprungen und gab das Verstandenzeichen.

»Wer seid Ihr?«, fragte ich dann.

»Die — beiden — Töchter — des holländischen — Kapitäns — Pooteken.«

So hatten wir buchstabiert. Was die anderen dachten, ging mich nichts an, ich hatte nur den Semaphorapparat zu bedienen.

»Wie kommt Ihr dort hinauf?«, war meine nächste Frage, zu der man gar nicht so lange Zeit braucht. Die beiden Flügel spielen schneller als die einer Windmühle, jede gedrehte Stellung ist also ein Buchstabe. Es geht schneller als ein langsames Schreiben.

»Wir — werden — von — Kapitän — Satan — hier — gefangen — gehalten.«

Hallo!

Deshalb also jene geografische Bestimmung für diese Felsen! Jetzt kam Licht in die Finsternis.

Auch ich war zuerst doch so bestürzt, dass ich das Verstandenzeichen vergaß.

Da wurde dort oben das fragende Zeichen gegeben, ob wir das Letzte verstanden hätten. Ich holte es schnell nach.

»Abholen, uns befreien!«, fuhr es oben fort, natürlich immer möglichst lakonisch.

»Wie abholen?«

»In die Spalte hineinfahren.«

»Unmöglich.«

»Nein. Direkt hineinfahren.«

Die konnten von dort oben wahrscheinlich gar nicht den unteren Teil des Felsens sehen, wussten nichts von der Brandung, oder die Mädchen verstanden so etwas eben nicht zu würdigen.

»Unmöglich. Furchtbare Brandung. Alles zerschmettert.«

»Nein. Mächtige Ölquelle. Wasser ganz ruhig. Einfahrt ganz gefahrlos. Nur Mut.«

Da stutzten wir! Dort war irgendwo eine mächtige Ölquelle? Ja, dann allerdings konnten die Verhältnisse in Wirklichkeit ganz andere sein, als es von hier aussah.

Hierzu bemerke ich aber, dass es durchaus nichts genützt hätte, Petroleum oder anderes Öl auszugießen. Man hätte eine ganze Schiffsladung von 10 000 Tonnen auslaufen lassen können, die Brandung dort wäre nicht etwa verschwunden, hätte sich nicht im geringsten beruhigt. Gegen die Küstenbrandung versagt dieses Mittel vollständig.

Weshalb, das kann ich hier nicht ausführen. Das sind Verhältnisse, welche man einem Laien niemals schildern kann, in denen sich aber auch der Seemann oftmals vollständig irrt.

Aber dort selbst eine kontinuierliche Ölquelle? Das wäre etwas anderes gewesen!

»Eine kontinuierliche Ölquelle?«

»Ja. Zwischen den Felsen. Ganz still. Einfahrt ganz gefahrlos. Nur Mut.«

»Wir kommen.«

Meine Zusage war etwas übereilt. Ich hatte doch nicht den Ausschlag zu geben, selbst die Mannschaft war erst zu befragen, es handelte sich doch um ein Wagnis auf Tod und Leben.

Und da ereignete sich an Bord der »Argos« etwas sehr, sehr Merkwürdiges.

Ich will es ganz klar machen, mit Worten ist es auch kaum zu schildern, der Leser muss sich selbst in die Gemütsverfassung aller dieser Menschen zu versetzen suchen.

Es waren Seeleute, die meisten von ihnen abergläubisch, glaubten an den fliegenden Holländer und an andere Gespenster, ohne selbst zuzugeben, dass sie daran glaubten.

Verspotteten sich selbst, und glaubten dennoch daran. Der Leser merkt wohl schon, dass so etwas nicht zu schildern ist.

Kurz und gut, die meisten dieser einfachen Männer zweifelten nicht daran, dass die beiden Weiber dort oben nur Trugbilder der Hölle waren, die uns zwischen diesen Felsen in das Verderben lockten wollten, und dennoch zögerte keiner auch nur einen Moment, in die kochenden Strudel hineinzufahren.

Es handelt sich hierbei um eine Art von Heroismus, für welche besondere Art der Mensch noch keine Bezeichnung erfunden hat.

Übrigens fällt mir hierbei ein tiefsinniges Wort Arthur Schopenhauers ein:

»Um sich nicht vor Geistern zu fürchten, muss man an Geister glauben.«

Mag der Leser sich dieses Wort selbst auslegen, ich vermag es nicht.

Aber mir ist einmal in einem lichten Moment meines Gedankenlebens die klare Erkenntnis gekommen, dass es so und nicht anders ist!

»Ja, wir steuern hinein, und wenn es auch Kinder der Hölle sind, die uns dort zerschmettern wollen.«

Das war die einstimmige Antwort auf die an alle gerichtete Frage, ob sie bereit wären, es zu riskieren oder nicht.

Das hatte doch einige Minuten in Anspruch genommen, und die beiden Weiber fürchteten wohl, wir könnten anderen Sinnes werden, sie riefen durch Winken wieder an, und sie sprachen das aus, was hier gedacht worden war, negierten es, hatten also die Gedanken erraten, die an Bord dieses Schiffes zum größten Teile herrschten.

»Wir — sind — keine — Sirenen — keine Gespenster. Wir sind hilflose Mädchen. Erbarmen.«

»Wir kommen!«, semaphorierte ich zurück, und die letzten Vorbereitungen wurden getroffen, vor allen Dingen die Korkfender klar gemacht.

Aber noch einmal wurde beraten. Oder es war doch Kapitän Martin, der einen Vorschlag machte.

»Wollen wir nicht zuerst einen Versuch mit einem Boote machen, mit der Dampfbarkasse?«

»Das könnten wir ja!«, meinte ich. »Wer will es zuerst riskieren?«

»Ich — ich — ich — ich...«

Sie alle wollten das Versuchskaninchen spielen.

»Nun, dann können wir auch gleich alle zusammen bleiben, der Versuch wird gleich mit dem ganzen Schiffe gemacht!«, sagte die Patronin, und sie allein hatte ja zu bestimmen.

Noch einmal musste ich anfragen, ehe wir die Fahrt antraten.

»Wohin steuern?«

»Direkt in die Spalte hinein«, buchstabierten die geschwungenen Arme zurück.

»Mit welcher Fahrt?«

»Wie viel macht Ihr?«

»Bis zwölf Knoten.«

»Volle Fahrt.«

»Sonst noch Vorschriften?«

»Nein. Ganz gefahrlos.«

»Feinde dort?«

»Nein.«

»Wir kommen. Schluss.« Also nun mal los!

Und wir legten los, Kapitän Martin selbst am Steuerrad. Was nämlich bei solch einer Gelegenheit betont werden muss, weil sonst der Kapitän das Steuerrad gar nicht anrührt, auch der Steuermann nicht. Wenn es in einer Erzählung heißt, die auf einem modernen Seeschiffe spielt: der Steuermann stand am Steuer, steuerte selbst... dann weiß man schon, dass der betreffende Erzähler noch gar kein Schiff gesehen hat, mindestens von den Verhältnissen gar keine Ahnung hat.

In was für einer Lage wir uns fünf Minuten später befanden, kann ich unmöglich schildern. Um uns herum alles eine weiße Gischt, mag das genügen.

»Na gute Nacht, Georg, lebt wohl Ihr alle.«

Und dann plötzlich, da...

Da dachte ich plötzlich an ein arabisches Märchen.

Überhaupt prachtvoll, diese arabischen Märchen! Die Sinnparabeln meine ich.

Der Engel des Lebens begegnet dem eilenden Engel des Todes.

»Wohin gehst Du, mein Bruder?«, fragt der erstere. »Ich gehe nach Damaskus, um zehntausend Menschen mit der Pest zu schlagen.«

Vier Wochen später treffen sich die beiden wieder. »Du sprachst die Unwahrheit«, sagt der Engel des Lebens, »Du hast in Damaskus fünfzigtausend Menschen an der Pest sterben lassen.«

»Mitnichten. Ich schlug nur zehntausend — die anderen vierzigtausend sind vor Angst gestorben.«

Wunderbar ausgedrückt! Ich glaube, so kurz, um eine tiefsinnige Wahrheit auszudrücken, kann nur der sonst so schwatzhafte Orientale sein.

Aber an diese Parabel dachte ich damals nicht. An eine andere.

Um eine Festung rotiert blitzschnell eine hohe Mauer Sie hat ein weites Tor, immer offen, aber dieses dreht sich doch mit so blitzschnell.

Ein Ritter will in die Festung hinein, muss hinein. Doch wie da hineinkommen?

Nun, er stemmt einfach die Lanze ein, setzt sich fest, gibt dem Rosse die Sporen, sprengt los... und ist drin, in der Festung!

An dieses tiefsinnige arabische Märlein dachte ich, als wir urplötzlich in ganz stilles Wasser hineinschossen, dort aus den furchtbaren Wirbeln heraus.

Links und rechts himmelhohe ganz glatte Felswände, dazwischen ein spiegelglattes Wasser, und dieser friedliche Kanal an beiden Enden von schäumenden Wogenbergen ganz scharf begrenzt.

Man frage mich nicht, wie so etwas möglich ist. Der Physiker kann es im Laboratorium durch ein Experiment im Kleinen vorführen. Dass hier auf dem Wasser eine dicke Ölschicht schwamm, das machte es aus. Mehr noch aber, dass von irgendwoher ununterbrochen neues Öl hinzufloss.

Doch wollte man mich auch nicht weiter fragen, wohin denn nachher das Öl abfloss. Nach Südwesten zu dem Kanal hinaus, das kann ich sagen. Aber wohin dann weiter? Weshalb merkte man dann südwestlich von diesen Felsen nichts von solch einem Ölstrome?

Wenn ich das beantworten soll, so könnte man mich ebenso gut fragen, wo denn die ungeheure Menge von Kohlensäure bleibt, welche die zahllosen Vulkane auf der Erde tagtäglich aushauchen, wo man doch mit Gewissheit konstatieren kann, dass seit Jahrhunderten der Kohlensäuregehalt in der Atmosphäre um kein tausendstel Prozent zugenommen hat, obgleich die Wälder, welche am meisten Kohlensäure schlucken, doch immer abnehmen.

Das sind eben nur ungeheure Mengen in den Augen von uns rechnenden Menschlein, im Haushaltungsbuche der Natur sind es verschwindende Nullen.

Und genau so war es hier. Wohl floss ständig massenhaft Öl ab, aber jenseits der Felsen war keine Spur nachzuweisen, wie sich später auch Doktor Isidor in seinem Laboratorium abmühte. Das unendliche Meer verschlang alles Öl. Oder vielleicht auch, dass in der furchtbaren Brandung eine mechanisch-chemische Zersetzung des Öles stattfand, von der wir noch gar nichts wissen, weil wir künstlich sie nicht nachahmen können.

Es war ein dickes, weißes, durchsichtiges, völlig geruchloses Erdöl, flüssigem Paraffin gleichend, das in einer Schicht von acht Zentimetern Dicke auf dem Wasser schwamm.

Solche Untersuchungen stellten wir jetzt zwar nicht an, aber die Dickflüssigkeit und völlige Geruchlosigkeit fiel uns doch sofort auf. Gewöhnliches Erdöl, Petroleum und dergleichen, hätte ja tüchtig gestunken.

Die hüben und drüben senkrecht aufsteigenden Felswände waren wohl glatt wie die Mauern, zeigten aber doch hin und wieder Öffnungen von Höhlen, und an einigen der unteren, wenige Meter über Wasser, verrieten Ringe und andere Vorrichtungen, dass dies Anlegeplätze für Schiffe waren.

»Kinder, wir sind in dem Räubernest des Seeteufels!«, flüsterte ich mit einiger Erregung, als wir langsam und immer langsamer, das Schiff sich auslaufen lassend, durch den Kanal fuhren, der also etwa 30 Meter breit war.

»Räubernest?«, wiederholte Kapitän Martin. Er hatte Recht — Recht wie immer. Weil der Kapitän Satan hier solch einen Schlupfwinkel hatte, deswegen brauchte er noch keine Seeräuberei zu treiben. Aber... die Vermutung rückte doch immer näher.

»Wo sind denn nun die beiden verhexten Jungfrauen?«

Nun, wenn die innerhalb des Felsens Leitern oder Treppen benutzen mussten, um von dort oben hier herab zu kommen, da konnten sie ja eine Weile abwärts steigen. 340 Meter, das ist ungefähr die fünfzehnfache Höhe eines vierstöckigen Hauses; und in zehn Minuten, die wir nur gebraucht hatten, steigt man weder in die 60. Etage hinauf noch herab.

»Hoffentlich sind die Jungfrauen noch nicht gar zu alt!«, meinte Oskar, der sein Maulwerk nun einmal nicht halten konnte, wenn er nicht unbedingt musste. »Wann sind die denn damals vom Teufel geholt und hierher verpflanzt worden?«

»Am 29. Februar 1644 früh halb neun!«, konnte Klothilde sofort angeben, die überhaupt in allen Seemannssagen durchaus firm war. Und nun der Schelm, den die im Nacken sitzen hatte, noch einen ganz anderen als unser Segelmacher. »Es war gerade ein Schaltjahr.«

»Nach Christi Geburt?«, fragte Oskar noch.

»Nach Christi.«

»Na, dann sind sie ja noch keine 400 Jahre alt, dann können es auch noch keine ägyptische Mumien sein.«

»Wir kommen sofort!«, erklang da von oben eine Frauenstimme.

Wir sahen in halber Höhe des rechten, westlichen Felsens einen schwarzhaarigen Kopf durch eine kleine Öffnung herausblicken.

Das heißt, es gehörten gute Augen dazu, um das sogleich unterscheiden zu können, die Frau musste auch eine gute Lunge haben, um gehört zu werden.

»Legen Sie nur irgendwo an, wo es für Ihr Schiff passt!«, fuhr es oben fort. »Alle Wasserminen und sonstige Höllenmaschinen oder Selbstschüsse sind abgestellt.«

Der Kopf verschwand.

Oho!

Wasserminen und sonstigen Höllenmaschinen!

Also der Herr des Seeteufels hatte sich vor unerwünschten Besuch gesichert.

Hier unter uns lagen Seeminen, in einer Tiefe von nur neun Metern, wie wir schon sondiert hatten, es gab auch noch sonstige Höllenmittel.

Na, da wollten wir nur hoffen, dass die wackeren Mädchen all dieses hübsche Teufelszeug wirklich gut abgestellt hatten, dass wir nicht etwa in die Luft flogen und dann unsere Gliedmaßen einzeln zusammensuchen mussten.

Ich spreche so, um auszudrücken, in welcher Gemütsverfassung wir uns befanden. Wir sprachen damals nämlich wirklich so, dachten auch so, es war keine Blasphemie dabei.

Also never mind, wir legten an. Entweder wir flogen, oder wir flogen nicht. Wir sind nicht geflogen. Und auch sonst tat es nirgendwo knallen. Nur absichtlich haben wir es später mehrmals knallen lassen, da hat es uns aber natürlich nichts geschadet.

Es war eine geräumige Höhle, vor der wir gerade so recht bequem festmachen konnten, dann mit einem großen Schritte an Land gehen.

Wenn es eine natürliche Höhle war, so hatte man sie mit Hilfe des Meißels wohl nur etwas viereckig gemacht. Darin lagen Taubündel und Korkfender und andere Utensilien, die man beim Festmachen des Schiffes und ähnlichen Manövern bedarf, auch einige größere und kleinere Anker.

»Ei sieh da«, sagte ich sofort, auf einen respektablen Anker deutend, auf dem beim Schmieden zwei Namen geschaffen worden waren, »ein Anker von der ›Pennsylvania‹ aus Philadelphia, ein Dampfer, der vor zwei Jahren nach Singapore ging, zuletzt in der Nähe des grünen Kaps gesichtet wurde und dann spurlos verschwand, wie ich zufällig weiß — und hier, sein Buganker — ei, das lässt ja schon tief blicken!«

Ehe wir weitere Untersuchungen anstellen konnten, flatterte es durch eine Öffnung im Hintergrund herein, zwei Frauengewänder, und sie befanden sich in unserer Mitte.

»Gerettet, gerettet, endlich von dieser Gefangenschaft erlöst!«, wurde zweistimmig gejauchzt; oder gejaukst, wie der Matrose sagt.


Illustration

»Gerettet, gerettet, endlich von dieser Gefangenschaft
erlöst!«, jauchzten die beiden jungen Mädchen, als
sie die Argonauten in der Felsenhöhle erblickten.


Aber die eine war blond, die andere schwarz — den Haaren nach, meine ich — und dieser Farbenunterschied war auch sehr gut, denn sonst sahen sich die beiden zum Verwechseln ähnlich, was besonders daher kam, weil es, wie ich gleich verraten will, Zwillingsschwestern waren, und weiter will ich, nur Oskars wegen, gleich erwähnen, dass sie die zwanzig noch nicht viel überschritten hatten und dass es zwei bildhübsche Mädels waren. Die blonde hieß Senta, die schwarze Nora — ebenfalls sehr leicht zu merken. Ich als Vater hätte die Hellblonde allerdings Blanca genannt. Wenn schon, denn schon.

Man konnte es den beiden armen Mädchen nicht verübeln, wenn sie erst ein bisschen weinten, ehe sie erzählen konnten, und das musste schon deshalb in der Kajüte oder überhaupt an Bord geschehen, weil es Kapitän Martin doch mit anhören wollte und weil der ohne ganz triftigen Grund, wenn ihn nicht direkt die Pflicht dazu rief, doch niemals sein Schiff verließ, und wenn es auch an Land Goldstücke geregnet hätte — nein, sogar Kautabaksröllchen, brasilianische Sweetspions dulcissimi.

Ich gebe nun die Erzählung der beiden Schwestern wieder — den Bericht über ein fürchterliches Ereignis aus dem Seemannsleben.

Johann Pooteken hatte schon jahrzehntelang als Kapitän Schiffe einer Antwerpener Reederei über den Ozean geführt, zuletzt den »Helios«, einen Dampfer von 3000 Tonnen.

Wie mancher Kapitän hatte auch er seine ganze Familie ständig bei sich an Bord: seine Frau, die beiden Zwillingstöchter Senta und Nora und seinen einzigen Sohn Stephan, der zuletzt unter des Vaters Kommando als zweiter Steuermann fuhr.

Vor vier Jahren sollte der »Helios« seine letzte Fahrt machen, und mit ihm die ganze Besatzung.

Er war mit Kaffee, Zucker und Spirituosen nach Kapstadt bestimmt gewesen. Auf der Höhe von St. Helena trat das schreckliche Ereignis ein.

Nach dem zweiten Frühstück fühlten sich plötzlich alle an Bord befindlichen 38 Menschen von einem heftigen Unwohlsein befallen, mit Schwindel verbunden. Die beiden Schwestern konnten nur berichten, dass sie einen nach dem anderen hatten umfallen sehen — »der Tee war vergiftet!«, hatten sie den Vater noch stöhnen hören, dann hatte auch sie das Bewusstsein verlassen.

Nora war die erste gewesen, die wieder zu sich gekommen. Da hatte vor ihr ein fremder Mann gestanden.

»Hallo, mein Täubchen, hast Du endlich ausgeschlafen?«, hatte er gelacht.

»Wer sind Sie?«

»Kapitän Satan vom Seeteufel.«

Er berichtete, und auch die andere Schwester konnte es mit anhören, die sich ebenfalls bald wieder erholte. Bald nach ihren damaligen Begriffen.

Schon vor drei Tagen hatte der »Seeteufel«, der aber damals noch kein Torpedojäger, sondern ein normaler Frachtdampfer war, der aber eben auch schon diesen Lieblingsnamen des satanischen Kapitäns geführt hatte, den steuerlos treibenden »Helios« gesichtet.

An Bord begeben — alles tot gefunden! Mit entstellten Gesichtern hatte die ganze Mannschaft dagelegen.

»Ihr habt Euch einfach vergiftet«, sagte Kapitän Satan, »und zwar mit dem Tee beim zweiten Frühstück, von dem wir noch Reste vorfanden, die Frühstückstafel war ja noch gedeckt, die Matrosen lagen vor der Back im Mannschaftslogis. Der Tee enthielt Grünspan, das haben wir dann gleich konstatiert, es wurde etwas davon unserer Schiffskatze eingeflößt, und die verreckte alsbald daran. So ist's auch Euch ergangen. Nur Ihr beiden Mädels gabt noch schwache Lebenszeichen von Euch, und dank meiner unermüdlichen Bemühungen ist es gelungen, Euch ins Leben zurückzurufen, hä hä hä. Ihr habt wohl nur sehr wenig von dem Tee getrunken, eh?«

Sicher nicht weniger als die Mutter, die aber auch ihren Tod gefunden hatte und bereits wie alle anderen Toten über Bord gewandert war.

Doch was blieb denn den beiden armen Mädchen anderes übrig, als alles zu glauben, was der Unhold ihnen da vorschwatzte. Nun muss man sich überhaupt in ihre Verfassung hineindenken.

Sehr bald aber sollten ihnen die Augen aufgehen. Natürlich war der »Helios« von der fremden Mannschaft besetzt worden, oder doch von der Hälfte. Der »Seeteufel« selbst aber hatte einen anderen Kurs eingeschlagen.

Da tauchte ein französisches Segelschiff auf, nannte Namen und Heimathafen.

»Helios, Antwerpen«, gab dieses Schiff natürlich zurück, dann aber wurde hinzugesetzt: »Kapitän Pooteken.« Und sonst nichts weiter. Noch ein Flaggengruß, und der »Helios« dampfte weiter nach Süden.

Die beiden Schwestern waren zwar nicht an Bord geboren, aber doch auf dem Schiffe groß geworden, kannten alle seemännischen Verhältnisse, konnten auch solche Flaggensignale mitlesen.

Das war doch natürlich ganz inkorrekt gewesen, Kapitän Pooteken war ja tot! Und überhaupt, der ganze Vorfall hätte doch dem anderen Schiffe gemeldet werden müssen, das war direkte Vorschrift!

»Was soll denn das?! Weshalb verschweigen Sie dem Schiffe den schrecklichen Vorfall?!«

Ehe sie noch eine Antwort erhielten, sahen sie einen Mann, durch dessen Anblick ihnen die Augen aufgingen.

Den Koch, den man in Antwerpen auf den »Helios« neu angemustert hatte, und dessen teuflisches Grinsen, wie er nach den beiden Schwestern schielte, nach ihnen eine höhnische Verbeugung machte, sagte ihnen alles.

»Unser Koch ist mit Ihnen im Bunde, er hat uns vergiften müssen!«, war Senta die erste, die das sofort rief.

»Endlich erraten!«, grinste der Teufelkapitän. »Ich bewundere Ihren Scharfsinn, hä hä hä. Nun können Sie auch alles erfahren. Ja, dieser vortreffliche Koch gehört mit zu jener Bande, er hat den Tee vergiften, gleichzeitig aber auch dafür sorgen müssen, dass Sie, meine beiden jungen Damen, das Gegengift in Ihre Tassen bekamen, damit ich Sie dann noch am Leben fand. Denn ich kenne Sie schon lange, habe Sie bereits mehrmals gesehen. Sie haben mich schon immer entzückt und sollen mir fernerhin das Leben versüßen.

Also nun ohne Umschweife gesagt: ich bin Pirat, ein direkter Seeräuber, ein solches Vergiften von ganzen Schiffsbesatzungen ist meine Spezialität. Der Koch war beordert, das Vergiften auf einem bestimmten Breiten- und Längengrade auf der Höhe von St. Helena zu besorgen, wir hielten uns hier schon in der Nähe auf, nur ein Wink, wir kamen heran, bemächtigten uns des Schiffes. Das ist aber nicht schon vor drei Tagen, sondern erst vor drei Stunden geschehen. Trotzdem sind die Leichen schon alle über Bord, Sie sind die einzigen Lebendigen. Aber einmal hätten Sie es schließlich doch erfahren müssen. Und nun erlauben Sie, dass ich Sie hier einstweilen in diese Kabine einsperre. Versuchen Sie nicht etwa einen Selbstmord, es gelingt Ihnen nicht, Sie werden ständig durch ein Löchelchen beobachtet. Auf Wiedersehen, meine holden Damen, entstellen Sie Ihre schönen Augen nicht durch zu viel Weinen, Sie sollen es herrlich bei mir haben — wenn Sie artig sind, hä hä hä.«

So sprach der Unhold und schloss die Tür zu.

»Wir wurden nach diesen beiden Felsen gebracht, die beiden Schwestern genannt, wo der Piratenkapitän ein regelrechtes Räubernest angelegt hat, und hier werden wir nun seit vier Jahren gefangen gehalten.«

So schloss Nora, die am meisten erzählt hatte, ihren Bericht, der vorläufig die Hauptsache enthalten hatte.

Es lässt sich denken, wie erschüttert wir Zuhörer waren, was für Gedanken auf uns einstürmten.

Also dieser Kapitän Satan war wirklich ein regelrechter Seeräuber, einer der scheußlichsten Unholde, den die Erde wohl je gesehen. Gegen den waren die alten Flibustierkapitäne ja die reinen Waisenknaben gewesen, trotz aller Untaten, die sie begangen. Die hatten aber doch wenigstens ritterlich gekämpft, beim Erbeuten der Schiffe ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.

Natürlich mussten wir noch viel mehr erfahren, und Kapitän Martin war es, der das Examen übernahm.

»Well, wie sind Sie sonst behandelt worden?«

»Ganz gut, das müssen wir trotzdem anerkennen. Nur dass uns die Freiheit fehlte.«

»Inwieweit die Freiheit?«

»Wir haben sechs große Zimmer zu unserer Verfügung gehabt...«

»Hier in diesen Felsen sechs große Zimmer?«

»O, wie diese Felsen ausgehöhlt sind, und was diese alles enthalten! Sie werden staunen, wenn Sie die Räume durchwandern, wie wir gestaunt haben, obgleich wir doch ganz andere Gedanken im Kopfe hatten, und wir sind ja auch erst seit zwei Tagen frei, und während dieser Zeit sind wir noch längst nicht durch alle Felsen gekommen...«

»Erst seit zwei Tagen sind Sie frei?«

»Wir haben unsere fünf Wächter überwältigt, sie in eine Falle gelockt...«

»Wie, es sind fünf Männer hier?«

»Wir haben sie eingesperrt.«

Die Schwestern berichteten näher, wie sie das angefangen hatten. Ich will es ganz kurz wiedergeben.

Zu den sechs Räumen, die ihnen zur Verfügung gestellt, gehörte auch eine separierte Felsenkammer.

Natürlich hatten sich die beiden in den vier Jahren fortwährend mit Fluchtgedanken getragen, aber jeden Fluchtplan hatten sie wieder verwerfen müssen, es wäre auch nicht möglich gewesen, über die Leichen ihrer Wächter zu gehen.

Endlich war es ihnen doch geglückt. Senta hatte vorgestern ein Unwohlsein erheuchelt, Nervenanfälle, die sich bis zur Tobsucht gesteigert hatten, die beiden speziellen Wächter hatten sie nicht halten können, einer nach dem anderen war herbeigeeilt, trotzdem hatte sich das kräftige Mädchen losgerissen und war in jene Kammer gestürzt, alle ihr nachgerannt, zum zweiten Male sich losgerissen, zur Kammer hinaus, die Türe hinter sich zugeschmettert und zugeriegelt... da waren die fünf Mann gefangen gewesen!

Man sieht wohl, dass dies einfacher zu erzählen ist, als es in Wirklichkeit auszuführen gewesen war, und doch hatten es die beiden Mädchen nicht ausführlicher geschildert.

»Sind die fünf Männer dort auch wirklich ganz sicher aufgehoben, dass sie sich nicht etwa befreien können? musste dann natürlich Kapitän Martins erste Frage sein.

»Sie sind es, ein Sprengen der schweren, eisernen Tür ist ganz unmöglich.«

»Ist eine Öffnung vorhanden, durch welche man sie beobachten kann?«

»Ja, zwei. Ein Fenster, das auf der Ostseite ins Freie führt, so eng, dass niemand auch nur den Kopf durchstecken kann, und eine zweite an der Decke, allerdings viel weiter, da könnte ein Mann durch, aber die Decke ist wohl zehn Meter hoch!

»Ist das Loch nicht zu erreichen?«

»Nein, es müssten sich denn alle fünf Mann übereinanderstellen, und auch dann würde der oberste wohl noch nicht hinaufreichen.«

»Indem sie Möbel übereinander bauen?«

»Es sind keine vorhanden, die Felsenkammer war immer ganz leer.«

»Haben die Leute Waffen bei sich?«

»Das wohl, aber sie nützen ihnen nichts, und wir hüteten uns, wenn wir durch die Deckenöffnung zu ihnen sprachen, wenn wir ihnen Essen und Wasser gaben.«

»Trotzdem, es muss unser erstes sein, diese fünf Männer vollends unschädlich zu machen. Herr Kollege, wollen Sie... halt! Was hat das mit den Seeminen und Höllenmaschinen, von denen Sie sprachen, für eine Bewandtnis?«

»Überall sind solche hier gelegt. Kapitän Satan selbst hat uns in alles eingeweiht, wie die Sprengminen funktionieren und wie sie abzustellen sind, tat es mit einem eitlen Behagen. Denn dieser Mann ist furchtbar eitel, renommiert gern.«

Ja, das hatten auch wir schon bemerkt.

»So waren Sie nicht immer in Ihre sechs Räume eingesperrt?«

»Nein, nicht wenn Kapitän Satan hier anwesend war, dann genossen wir viel mehr Freiheit, durften uns überall frei bewegen, allerdings immer unter Aufsicht. In des Kapitäns Abwesenheit aber wurden wir immer eingeschlossen gehalten. Jedenfalls aber stimmt das mit der Anstellung der Minen und sonstigen Sicherheitsmaßregeln, darüber haben wir uns, immer mit solchen Fluchtgedanken beschäftigt, ganz genau orientiert.«

»Nun vorwärts, dann erst einmal die fünf Männer völlig unschädlich und in unsere Gewalt gebracht!«, rief Kapitän Martin, sich dabei an mich wendend. »Eine der Damen wird Sie führen, die andere bleibt hier, um mir weiter zu berichten. Nehmen Sie genügend und geeignete Leute mit.«

In wenigen Minuten hatte ich diese ausgewählt und sich bereit machen lassen, alle Hauptpersonen kamen mit, denn das war jetzt doch das Interessanteste, also auch die Patronin und Klothilde. Nora führte uns, Senta blieb an Bord zurück.

Also wieder in die Höhle, durch den hinteren Ausgang kamen wir in einen Korridor, es ging eine Treppe hinauf. Hier und da brannte eines große Lampe, an Öl war hier ja kein Mangel.

Auch wir konnten uns ja von dem Mädchen weiter berichten lassen, aber jetzt war keine Zeit dazu, erst wollten wir uns der Hauptaufgabe erledigen. Wir befanden uns ja in einer äußerst gespannten Stimmung.

Auf diesem kurzen Wege bekamen wir nicht eben viel zu sehen. Nackte Korridore, hin und wieder eine eiserne Tür, nichts weiter.

»Wohin führen diese Türen?«

»Sie verschließen Wohnräume der Mannschaft oder Vorratsmagazine!«, lautete die Antwort. »Die können Sie nachher besichtigen. Hier wurden wir eingeschlossen gehalten.«

Nora hatte eine der eisernen Türen geöffnet. Es waren fünf sehr schön und zum Teil prächtig eingerichtete Wohn- und Schlafzimmer, die wir durchschritten. Die kostbarsten Teppiche, die künstlerischsten Möbel, ornamentaler Schmuck überall, auch ein Konzertflügel war vorhanden.

Doch jetzt war die schmiedeeiserne Tür für uns die Hauptsache, welche Nora als die betreffende bedeutete. Diese Felsengewölbe hier waren ja nicht von vornherein als Damenboudoirs bestimmt gewesen, sie waren auch sonst nicht durch Türen voneinander getrennt, die viereckigen Durchlässe waren nur durch schöne Portieren verhangen, nur hier diese letzte Kammer war mit solch einer eisernen Tür verschlossen, die Kapitän Satan wohl in einem Hafen hatte nach Maß fertigen lassen, um sie dann hier anzubringen.

»Hier drin sind die fünf Männer.«

Wir schoben natürlich nicht gleich den schweren Riegel zurück, sondern pochten erst gegen die Tür.

Aber wie wir auch dagegen donnerten und was wir auch für Fragen stellten, es erscholl keine Antwort, und ein Guckloch wie bei den Gefängnistüren war nicht vorhanden.

Weshalb antworteten sie nicht? Was ersannen die für eine List? Oder waren sie tot?

»So müssen wir uns noch eine Etage hinaufbegeben, von dort oben kann man also durch ein Deckenloch hineinsehen.«

Wir taten es, verließen diese Räumlichkeiten wieder, erstiegen auf Umwegen vom Korridor aus noch eine Treppe, kamen in diese Gegend zurück.

In einer Kammer, die einige Mehlsäcke und Proviantkisten enthielt, befand sich in der Mitte des Bodens eine eiserne Platte, sie konnte in Angeln emporgehoben werden, wir blickten durch eine Öffnung in jene verschlossene Kammer hinein.

Schauerlich war der Anblick, der uns erwartete. Dort unten war der ganze Boden eine einzige Blutlache, in dem fünf regungslose Menschen lagen. Tot. Sie alle hatten sich mit ihren Messern die Pulsadern aufgeschnitten, hatten sich verblutet. Sie mochten gehört oder sonst wie bemerkt haben, dass dieses Räubernest von einer fremden Macht besetzt worden war, oder vielleicht genügte auch schon die Erkenntnis, dass sie von den beiden Mädchen rettungslos hier gefangen gesetzt worden waren — sie hatten sich geschämt, ihrem Kapitän wieder unter die Augen zu treten, wollten überhaupt allen Konsequenzen aus dem Wege gehen — da hatten sie einfach gemeinschaftlichen Selbstmord begangen.


Illustration

»Wann haben Sie die fünf Männer zuletzt lebendig gesehen?«

»Heute früh, als wir ihnen zwei Krüge mit Wasser hinabließen.«

»Sie sprachen nicht von Selbstmord?«

»Nein, sie legten sich aber nicht mehr wie gestern aufs Bitten, machten auch keine Versprechungen mehr, schienen sich ganz in ihr Schicksal ergeben zu haben. Da gingen sie wahrscheinlich schon mit Selbstmordgedanken um.«

»Jedenfalls.«

Nun, zuerst mussten wir sehen, ob in einem nicht doch vielleicht noch Leben war, dass wir ihn noch zum Sprechen bringen konnten.«

Also schleunigst wieder hinab, in die Kammer eingedrungen. Nein, da war nichts mehr zu machen. Bei allen war schon die Leichenstarre eingetreten.

Ich sah einige Zeit zu, wie sich Doktor Isidor mit den starren Körpern beschäftigte. Er studierte wohl eben die Todesstarre.

»Ob es mir wohl erlaubt wird, dass ich die Leichen seziere?«, meinte er.

»Da müssen Sie, wenn Sie dazu erst eine Erlaubnis brauchen, wohl die Patronin fragen!«, entgegnete ich und verließ die Kammer.

Die Patronin hatte bei dem entsetzlichen Anblick nicht lange verweilt, hatte sich mit Nora gleich wieder entfernt, wahrscheinlich hatte auch Klothilde einen Wink bekommen.

Ich hörte die drei Damen hinter einer Portiere sprechen, mit etwas gedämpfter Stimme, aber doch noch für mich verständlich, und ich hatte keinen Grund, mich diskret zurückzuziehen. Wollten die drei nicht belauscht werden, dann hätten sie noch vorsichtiger sein müssen.

Übrigens war es gar nichts so Schlimmes, worüber sie sich unterhielten, wenn allerdings auch nicht gerade in öffentlicher Männergesellschaft angebracht.

»Der Kapitän ist Ihnen wirklich mit keinem Worte zu nahe getreten?«, fragte die Patronin.

»Niemals auch nur mit einem einzigen Worte, nicht mit einem Blicke!«

»Das finde ich seltsam. Auch keiner der anderen Männer?«

»O, wenn sich der Kapitän uns gegenüber so benahm, wie hätte das dann ein anderer wagen dürfen! Hier herrschte eine geradezu furchtbare Manneszucht!«

»Ja, weshalb eigentlich hielt er Sie hier gefangen?«

»Eigentlich nur, damit wir ihn, wenn er hier anwesend war, unterhielten.«

»Womit unterhielten?«

»Ganz harmlos. Wir mussten ihm etwas auf dem Klavier vorspielen, etwas vorsingen, oder wir spielten zusammen Karten, Whist oder Tarock oder dergleichen — ganz harmlos. In dieser Hinsicht war der sonst so furchtbar blutige Seeräuberkapitän gar kein unrechter Mensch — ja sogar ein tadelloser Ehrenmann und Gentleman. Eben gerade in dieser Hinsicht, uns beiden Mädchen gegenüber, und dasselbe galt von allen seinen Leuten.«

»Das finde ich seltsam!«, hörte ich die Patronin wieder sagen und sah sie im Geiste den Kopf schütteln. »Sie verzeihen doch und verstehen doch wohl auch, wenn ich da etwas seltsam dabei finde.«

»Ich verstehe, und ich glaube, Ihnen dafür eine Erklärung geben zu können.«

»Was für eine?«

Eine Pause des Zögerns trat ein, und ich zog mich nicht zurück.

»Es ist... mir etwas fatal... aber es muss sein! Ich glaube fast, dass dieser Kapitän Satin ursprünglich ein geborener Russe ist. Oder doch seiner Abstammung nach. Ich habe mich mit Senta oft darüber unterhalten. Und mehr als die Hälfte seiner Mannschaft sind Russen, das wissen wir bestimmt.«

»Russen? Was wollen Sie hiermit andeuten?«

»Sie ahnen nichts?«

»Durchaus nicht.«

»Haben Sie noch nichts von der russischen Sekte der Proslewiten gehört?«

Die Patronin verneinte, ebenso Klothilde.

Mir aber ging plötzlich eine Ahnung auf.

Denn ich hatte schon von diesen russischen Proslewiten gehört.

Sie bilden eine religiöse Sekte, deren Mitglieder teils als Mönche in Klöstern leben, teils aber auch wie andere Menschen Berufsgeschäften nachgehen.

Woher der Name kommt, weiß ich nicht, es scheint nur die Verstümmelung eines russischen Wortes zu sein, und... diese Männer verstümmeln auch sich selbst!

Die Mönche haben natürlich die drei üblichen Gelübde abgelegt: das der Keuschheit, der Armut und des unbedingten Gehorsams gegen ihre Oberen.

Die außerhalb des Klosters lebenden Laienbrüder halten nur das erstere Gelübde, das der Keuschheit.

Von den in Russland lebenden Deutschen werden sie infolgedessen einfach »Weiberhasser« genannt, es gibt auch einen entsprechenden russischen Namen dafür.

Da nun solch ein Gelübde nicht so einfach zu halten ist, zumal außerhalb eines Klosters und von Gefängnismauern, so verstümmeln sich diese Menschen in ihrem religiösen Wahnsinn selbst!

In Russland ist das allgemein bekannt, auch in Amerika, besonders in Kanada, wo es mehrere solcher Proslewitensekten gibt, als die fleißigsten Ackerbauer und solidesten Bürger lebend, es steht auch im Konversationslexikon.

Da, wie mir dies noch durchs Herz zuckte, kam Doktor Isidor.

»Waffenmeister, ich habe bei Untersuchung der Toten eine Entdeckung gemacht! Es ist nicht nötig, dass sie Menschenfleisch essen, um alle so eine fette Fistelstimme zu bekommen. Haben Sie schon einmal von den russischen Proslewiten gehört?«

Also ich wusste es bereits.

»Wer hätte es für möglich gehalten, dass solche wahnsinnigen Brüder auch zur See fahren!«, sagte ich nur.

»Nun, warum denn nicht. In Kanada gibt es ihrer genug, da hat solch eine Gesellschaft eben einmal ein Novascotia-Schiff bemannt. Der Kapitän Satin ist einfach selbst Proslewite, hat sich solche Sektenbrüder zusammengelesen, sie als Matrosen ausgebildet, wenn es noch keine gewesen sind.«

Dasselbe hatten inzwischen die drei Damen dort hinter der Portiere unter sich abgemacht, mit noch leiserer Stimme.

»Geben sich diese Proslewiten auch dem Genusse von Menschenfleisch hin?«, hörte ich jetzt Klothilde wieder lauter fragen.

»Ob es Menschenfresser sind? Davon habe ich niemals etwas gehört!«, entgegnete Nora.

»Also auch bei der Mannschaft des ›Seeteufels‹ haben Sie so etwas nicht gemerkt.«

»Dass die Menschenfleisch verzehren?!«, erklang es im Tone des höchsten Staunens. »Um Gotteswillen, wie kommen Sie auf solch einen schrecklichen Verdacht?!«

»Nun«, erwiderte Klothilde ausweichend, »solchen Bluthunden, welche ganze Schiffsbesatzungen vergiften, um die Fracht zu erbeuten, die auch in anderer Weise Unnatürlichkeiten begehen, denen ist doch auch wohl so etwas wie Menschenfresserei zuzutrauen. Also Sie haben niemals so etwas bemerkt?«

»Niemals, niemals! Dort an Bord nicht und auch hier nicht in den vier Jahren.«

Schon vorher war Juba Riata zu uns getreten, hatte dieses Letzte noch gehört, mochte sich auch schon mit Doktor Isidor hierüber unterhalten haben.

»Dennoch bleibt mein Verdacht bestehen, dass diese Leute Menschen braten und verzehren!«, sagte der jetzt.

»Ich täte meinem braven Harras geradezu unrecht, wenn ich glaubte, er hätte sich diesmal getäuscht, als er bei Witterung des Kapitäns so schrecklich heulte, wie immer, wenn er gebratenes Menschenfleisch riecht.«

Ich ließ es dabei bewenden, räusperte mich stark und schlug die Portiere zurück, die mich von den drei Weibern trennte.

»Verzeihen Sie, wenn ich störe und Ihrer Unterhaltung ein Ende mache. Miss Pooteken zeigt uns wohl erst einmal die Vorrichtung mit den Sprengminen, wie die an- und abgestellt werden, das muss jetzt wohl unser Nächstes sein.«

»So begeben wir uns hinauf!«, sagte das Mädchen, von ihrem Sitze aufstehend. »Es ist eine Wachtstube, die ganz oben direkt unter dem Plateau liegt. Wir können den Fahrstuhl benutzen, der freilich nur drei Personen trägt, und viel schneller als der Treppenaufstieg geht es auch nicht.«

»Wie, auch einen Fahrstuhl gibt es hier?«

»Ich werde ihn Ihnen zeigen.«

Nur ein kurzer Gang durch den Korridor, und wir standen vor einem Schacht, der seitwärts in der Felswand hinauf und hinablief. Sonst erblickten wir nur vier starke Drahtseile und ein dünneres Tau, an welch letzterem Nora kräftig zog, und nach kurzer Zeit kam von unten eine Plattform herauf, an den vier Drahtseilen hängend, auf der noch ein großes Wasserfass stand.

Es war ein sehr primitiver Aufzug, die Plattform lief immer direkt von oben bis nach unten, konnte auf diesem Wege nicht angehalten werden, wer an anderer Stelle, das heißt in einer anderen Etage mitwollte, musste eben schnell eintreten, und so taten auch wir drei Personen, Nora, die Patronin und ich.

Während der Auffahrt gab sie eine Erklärung, die ich hier in anderer Form wiederhole, auch gleich noch anderes hinzufügend.

Die beiden Felsen waren durchlöchert wie die Ameisenhügel. Ob es natürliche Höhlungen waren, oder ob sie von Menschenhänden geschaffen worden waren, das konnten die beiden Schwestern nicht sagen, darüber hatte ihnen Kapitän Satan keine Erklärung gegeben, wahrscheinlich weil er es selbst nicht wusste. Ebenso aber hatte er ihnen auch nicht gesagt, wie er in den Besitz dieses Geheimnisses gekommen war. Denn einmal musste er es schließlich doch von anderer Seite erfahren haben, dass ein Fahrzeug es ohne Gefahr riskieren durfte, direkt in die furchtbare Brandung hineinzufahren, um zwischen die beiden Felsen zu gelangen.

Kurz und gut, sie waren durchlöchert wie die Ameisenhaufen, und eine Kammer hing immer mit der anderen zusammen, und wo das nicht der Fall war, da gab es doch Verbindungsgänge, also Korridore, wie wir sagen, von denen die Gewölbe wieder abgingen.

Ja, die beiden Felsen besaßen auch eine unterseeische Verbindung, ein Gang unter Wasser führte von einem zum anderen.

Oben zeigten die beiden gleich hohen Felsen ganz glatte Plateaus. Völlig eben waren sie nur scheinbar für das Auge, in Wirklichkeit neigte sich die Fläche von allen Seiten etwas nach der Mitte, wo sich ein großes, tiefes Bassin befand, das ganz sicher von Menschenhänden ausgearbeitet worden war, als Zisterne, in die also alles Regenwasser laufen musste. Da nun jedes Plateau der beiden Felsen ungefähr 200 Meter lang und ebenso breit war und da in dieser regnerischen Gegend jährlich mindestens anderthalb Meter Höhe Regen fiel, so lieferten diese beiden Plateaus zusammen jährlich 120 000 Kubikmeter Wasser, welche nach runder Rechnung genügt hätten, um 50 000 Menschen jahraus jahrein den Durst zu löschen.

Allerdings hätten da, um kein Wasser zu verlieren, die Zisternen noch viel größer angelegt werden müssen. Wenn sie sich nach starken Regengüssen gefüllt hatten, so flossen sie über, das Wasser floss nach Süden ab, dann also ergoss sich bei starkem Regen dort von oben ein Wasserfall herab.

Aber das überschüssige Wasser, das man nicht zum Trinken und zu häuslichen Arbeiten gebrauchte, wusste man hier auch noch auf andere Weise zu verwenden, es musste vorher eine Arbeitsleistung ausführen.

Nicht weit von der Zisterne — es gilt aber immer für alle beide Plateaus — war ein Loch durch die Felsendecke gebohrt, ein gebogenes Eisenrohr, als Heber dienend, führte in den Schacht, in dem der Fahrstuhl lief.

Nun war eine ganz einfache Vorrichtung vorhanden, durch einen Ruck an ein Seil wurde ein Hahn gedreht, ein in dem Rohr angebrachtes Ventil öffnete sich, das Wasser lief in ein auf der Plattform stehendes Fass, war dieses gefüllt, so schloss sich das Ventil von selbst, ein zweiter Ruck an dem Seil, jetzt war der Mechanismus gelöst, das Wasserfass glitt herab und zog auf der anderen Seite seine zweite Plattform herauf, die das Gewicht von drei Menschen tragen konnte.

War das Fass unten, so entleerte es sich durch halbes Umkippen von selbst, wurde durchs das Gewicht der Hinabfahrenden wieder hinaufbefördert, füllte sich wieder, und das unten in eine zweite Zisterne geflossene Wasser konnte noch immer benutzt werden.

Man sieht, die ganze Vorrichtung ist nicht so leicht zu beschreiben. Aber der geneigte Leser wird mich wohl verstanden haben. Jedenfalls war alles ganz einfach und dennoch ganz ideal ausgedacht.

Wir hatten die oberste Etage erreicht, über die sich die noch mächtige Felsendecke wölbte. Nora führte uns in einen Raum, welcher der Hauptsache nach eine elektrische Akkumulatorenbatterie enthielt, von der sehr viele grünumsponnene Kupferdrähte ausgingen.

An der Wand war auf einer Leinwand von mehreren Quadratmetern die ganze Anlage im Grundriss und Aufriss aufgezeichnet, woraus man deutlich ersah, wo im Wasser des Kanals wie in den unteren Felsenkammern alle die Sprengmaschinen lagen, wie sie mit dieser Zündbatterie verbunden waren.

»Nur dieser Kontakt braucht gelöst zu werden, dann sind sämtliche Minen ausgeschaltet!«, erklärte Nora.

Die ganze Vorrichtung war so einfach, dass ich dies selbst sofort herausgefunden hätte. Wir durften uns wegen dieser Explosionsminen in Sicherheit fühlen.

»Was ist das hier für ein Rohr?«

»Ein Sprachrohr, das nach dem Plateau führt, auf dem sich immer ein Wächter befinden musste. Ein zweiter Mann war ständig auf dieser elektrischen Station.«

»Wie gelangt man auf das Plateau hinauf?«

Das war nur von außen möglich. Dicht in der Nähe einer Fensteröffnung dieses Raumes war eine eiserne Leiter angebracht, noch sechs Meter hatte man zu steigen, dann befand man sich auf dem Plateau dieses Felsens.

Ich stieg sofort hinauf und hielt Umschau. Nichts als das endlose Meer war zu sehen, nur mit dem schärfsten Fernrohr konnte man gerade noch die höchsten Kuppen der Falklandsinseln erkennen.

Die beiden Schwestern, die auf einem Schiffe als Töchter eines Kapitäns groß geworden waren, erklärten dann ganz offen, wie wenig sie Hoffnung gehabt hätten, auch nach Überwältigung ihrer Wächter diese Felsen verlassen zu können.

Diese gefährliche Gegend hier wurde von allen Seefahrern wie die Pest gemieden, und auch das Feuer des größten Scheiterhaufens hier oben angezündet, hätte nicht von den Falklandsinseln aus erblickt werden können. Wohl strahlen die modernen Leuchttürme ihre Blinkfeuer noch viel weiter als 50 Kilometer aus, aber was meint man wohl, was hierzu für Einrichtungen gehören, diese ungeheuren Reflexspiegel, und dann das »Blinkfeuer«, das immer nur ab und zu aufzuckt, einen blendenden Strahl um sich schleudert, das ist eben die wirksame Hauptsache dabei.

»Was hätten Sie denn nun getan, wenn der »Seeteufel« zurückgekommen wäre?«, fragte ich Nora, die mit wie die Patronin auf das Plateau gefolgt war.

Fest blickte mich das junge, schöne Mädchen an, und ebenso festen Tones erklang es:

»Eine von uns war immer hier oben, um die Rückkehr des »Seeteufels« zu erwarten. Wir hätten ihn in den Kanal einlaufen lassen. Dann ein Druck auf einen Knopf, und wir hätten die Welt von menschlichen Ungeheuern befreit. Unsere weitere Rettung hätten wir Gott überlassen. Er hat Sie uns gleich am zweiten Tage zugesandt. Ja, weshalb eigentlich haben Sie sich diesen unheimlichen Felsen so weit genähert?«

Ich erzählte ihr von dem Fund in dem hohlen Kolben des Revolvers, ohne mich jetzt auf Einzelheiten einzulassen. Aber vergebens hatte ich gehofft, die Schwestern könnten uns Näheres mitteilen, was die anderen vier geografischen Ortsbestimmungen zu bedeuten hätten.

Es war überhaupt sehr wenig, was sie uns jetzt und später über die Lebensweise dieser modernen Seeräuber mitteilen konnten.

Kapitän Satan hatte den beiden Mädchen gegenüber nur immer renommiert, dass er der größte und blutigste Pirat der Jetztzeit sei, hatte sie in alle hiesigen Einrichtungen eingeweiht, aber was er außerhalb dieses Schlupfwinkels trieb, welche Schiffe er erbeutete, was er mit dem Raub machte, darüber hatte er niemals gesprochen, auf solche Fragen hatte er immer nur sein höhnisches Kichern gehabt.

Wann und wie oft er hier einlief, das war gänzlich verschieden. Manchmal mehrmals im Monat, einmal war er länger als ein Jahr ausgeblieben.

»Wieder eine ganze Besatzung vergiftet und das Schiff eingebracht!«, grinste dieser Teufel dann händereibend.

Aber was es für ein Schiff war, mit was befrachtet gewesen, wo es blieb, das erfuhren die Schwestern nie. Nun, das Schiff wurde dann eben, nachdem die wertvollste Fracht hier ausgeladen worden war, draußen im Meere versenkt. Dann blieb die Ladung einige Zeit hier liegen, alle verräterischen Zeichen der Verpackung wurden entfernt, vielleicht auch wurde sie ganz umgepackt — dann wurde sie auf den »Seeteufel« verladen und weiter verkauft, direkt oder indirekt durch Zwischenhändler, durch Helfershelfer, die dieser moderne Seeräuber jedenfalls in aller Welt besaß.

Sonst konnten uns die Schwestern nur noch berichten, dass der »Seeteufel« hier auch Öl einnahm, um es unter den Kesseln zu verfeuern. Die ganze Feuerungsanlage wird danach eingerichtet, dass sowohl Kohlen wie Öl benutzt werden konnte, welches einfach eingespritzt wurde. Solche doppelte Anlage gibt es schon auf vielen Dampfern, zumal auf amerikanischen, wir selbst aber hatten noch gar nicht gewusst, dass auch dieser Torpedojäger eine solche besaß.

Die mächtige Ölquelle befand sich innerhalb des östlichen Felsens, es brauchte nur ein mit dem Pumpwerk verbundener Schlauch eingelegt zu werden.

Dies zu wissen war uns sehr wichtig. Also der zum Pirat erklärte Kapitän hatte gar nicht nötig, wegen Kohlen einen Hafen anzulaufen. Aber hierher musste er unbedingt ab und zu kommen, um seinen verbrauchten Ölvorrat zu ergänzen. Vorausgesetzt, dass er nicht noch anderswo geheime Kohlenlager oder Ölquellen kannte.

Die Mädchen konnten uns seine Räumlichkeiten zeigen, die er bei seiner Anwesenheit hier bewohnte, ein Schreibtisch und ein Panzerschrank waren vorhanden, wir verstanden alles zu öffnen, niemals erfolgte eine unheilvolle Explosion, wir fanden fremde Schiffspapiere und anderes Material genug, das dem Kapitän Satan einfach den Hals brach, aber nichts, was über sein sonstiges Treiben etwas verraten hätte, ebenso wenig bares Geld oder sonstige Schätze, wenn man davon absehen will, was er zur Ausschmückung der Wohnräume für seine weiblichen Gefangenen verwendet hatte, natürlich alles von erbeuteten Schiffen zusammengeraubt, wie sich manchmal auch noch konstatieren ließ.

Was sich sonst noch alles an Waren der allerverschiedensten Art in den unteren Gewölben vorfand, mit deren Aufzählung will ich gar nicht erst anfangen, denn da würde man nie fertig. Jedenfalls aber war es genug, um ein halbes Dutzend großer Frachtdampfer damit zu füllen.

Einem trägen Leben hatten sich diese modernen Seeräuber nicht hingegeben, fleißig waren sie gewesen, das musste man ihnen lassen.

*

Nachdem wir genügend Umschau gehalten hatten in den gefüllten Magazinen und sonstigen Räumen, woran sich auch Kapitän Martin beteiligt, weil dies seine Pflicht war, saßen wir wieder in der Kajüte zur Beratung zusammen, telefonisch mit dem Plateau verbunden, auf das wir natürlich Wachen gestellt hatten. Der »Seeteufel« konnte ja zurückkommen. Wegen der eventuellen Signale, die er von seinen eigenen Leuten erwartete, konnten uns die Schwestern freilich gar nichts sagen.

Der Leser dürfte sich wundern, was bei dieser Beratung herauskam.

Ja, es wäre ja alles wunderschön gewesen.

Nämlich wenn wir uns selbst hier in diesem meerumbrandeten Felsennest festgesetzt hätten. Hier hätten wir ja erst recht die freien Seekönige spielen können, welche die andere Welt gar nicht mehr brauchten. Wasser war immer genug vorhanden, auch wir hätten eine Einrichtung für Ölfeuerung mit leichter Mühe anbringen können, dann hätte es sich nur noch um Proviant gehandelt, den wir uns schon verschaffen wollten. Auf ganz ehrliche Weise.

Wer wollte uns denn hier etwas anhaben? Die Kriegsschiffe mochten nur kommen! Das hier war bisher herrenloses Gebiet, wir hatten es besetzt, nun wollten wir es auch verteidigen, uns Anerkennung verschaffen.

Ja, das wäre alles ganz schön gewesen — wenn die internationalen Seegesetze nicht gewesen wären, diktiert von der Moral und dem Gewissen ehrenwerter Männer.

Wir waren ganz einfach verpflichtet, unsere Entdeckung so bald als möglich im nächsten Hafen den Behörden oder dem nächsten uns begegnenden Kriegsschiffe anzuzeigen!

Unterließen wir das, so machten wir uns selbst der Piraterie schuldig, wenn auch nur der einfachen, das heißt, wir stellten uns außerhalb der Gesetze und wurden deshalb, sobald die Geschichte herauskam, zur Verantwortung gezogen, wurden bestraft, dem Kapitän und den Offizieren wurde das weitere Befahren der sonst ganz freien See als verantwortliche, vereidigte Schiffer verboten.

Und uns fiel doch gar nicht ein, uns solchen Eventualitäten auszusetzen oder überhaupt wegen dieses Schuftes unser bisheriges, herrliches Leben aufzugeben. Man muss nur auch bedenken, dass jetzt doch ausgekundschaftet werden musste, wem die abgenommenen Waren gehört hatten, die mussten den Besitzern, Reedereien und Handelsfirmen wiederzugestellt werden, was das für ungeheure Arbeit kosten würde!

I, uns fiel es ja gar nicht ein, uns mit allen diesen weiteren Sachen zu befassen! Nur schleunigst wieder fort von hier!

Also mit solchen romantischen Ideen oder geschäftlichen Angelegenheiten hielten wir uns gar nicht auf, sondern unsere Beratung galt nur der schnellsten Erledigung dieser ganzen Sache.

Ich fasse es kurz zusammen. Wir ließen zwei Dutzend unserer bewährtesten Leute als Wächter hier zurück, auch die beiden Schwestern blieben freiwillig, weil sie hier doch am besten Bescheid wussten, wir anderen steuerten mit dem Schiffe noch am Nachmittage wieder zu dem Kanal hinaus, mussten wieder solch eine schreckliche Höllenfahrt durchmachen und vermochten hinterher gar nicht zu begreifen, wie alles so gut ablaufen konnte.

Wir nahmen Kurs nach Port Stanley, um in diesem nächsten Hafen, ob er nun englisch oder argentinisch war, unsere Entdeckung zu melden.

Kam inzwischen der »Seeteufel« zurück, so blieb es ganz der Beratung der beiden Schwestern und des ersten Offiziers überlassen, ob sie ihn in die Luft sprengten oder nicht, ob sie sich einstweilen in den oberen Etagen bis zu unserer Rückkehr verschanzen wollten. Das einfachste war wohl, sie ließen das ganze Schiff mit diesen Bluthunden gleich von der Bildfläche verschwinden.

Wir hatten gar nicht nötig, Port Stanley anzulaufen. Angesichts der östlichen großen Insel erblickten wir eine englische Kreuzerfregatte, in der wir alsbald wieder den »Duke of Gloucester« erkannten, dessen Ziel eben Port Stanley gewesen war.

Ich begab mich mit der Patronin unverzüglich an Bord hinüber, erstattete Bericht, der gleich protokolliert wurde.

Der englische Kriegskapitän glaubte natürlich anfangs, wir seien irrsinnig und erzählten ihm ein Märschen, musste es aber zuletzt wohl glauben, und da schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen.

Dann sofort, da er nicht unbedingt nach Port Stanley musste, nach den beiden Schwesterfelsen zurück! Es waren ja nur 30 Seemeilen, die wir in noch nicht drei Stunden machten, so erreichten wir sie noch vor Dunkelheit, das verabredete Signal, dass alles in Ordnung sei, wurde von oben gegeben, die »Argos« machte die Einfahrt vor, das englische Kriegsschiff folgte nach, was freilich vorher viel Überredungskunst gekostet hatte.

Im Laufe der Nacht wurde dem englischen Fregattenkapitän alles übergeben, am anderen Morgen fuhr die »Argos« wieder hinaus, auch die beiden jungen Damen mitnehmend.

So, nun mochte das englische Kriegsschiff und überhaupt die englische Regierung sehen, wie sie mit alledem fertig wurden. Wir hatten unsere Pflicht getan, uns kümmerte das alles nichts mehr.

Da es sich hierbei um Waren handelte, die ihren Besitzern durch Menschengewalt, nicht durch Naturgewalten verloren gegangen waren, so gab es keinen Bergelohn, sondern nur einen Finderlohn, zwanzig Prozent des Wertes der Waren, und den hatten allein wir zu beanspruchen. Mit dem Fortschaffen der Waren mochten sich nur andere abmühen, wofür sie nur ihre Kosten beanspruchen durften.

Wir richteten den Schnabel unseres Schiffes nach Nordosten, um erst einmal zu untersuchen, was es mit der vierten geografischen Bestimmung, die sich auf die Westküste Afrikas bezog, für eine Bewandtnis habe.


Illustration

*

51. Kapitel

An Bord des Piraten und dessen Ende

Originalseiten 1379 — 1401

Es war am fünften Tage, nachdem wir die beiden Felsen hinter uns hatten. Oder vielmehr in der fünften Nacht. Eine fürchterliche Nacht!

Der Sturm heulte in der Takelage, dass es pfiff, und wenn es einmal nicht pfiff, dann klang es grade, als wenn dort oben ein Riesenbraten in der Pfanne schmore — es klingt wirklich immer so, einen anderen Vergleich für dieses Geräusch kann ich gar nicht finden — und wie das Schiff tanzte und bockte, will ich gar nicht zu schildern versuchen.

Gegen elf Uhr wurden alle Mann an Deck gepfiffen, um die Pardunen zu verstärken damit nicht etwa alle drei Masten über Bord gingen, obgleich wir auch das letzte Segel festgemacht hatten.

Eine furchtbare Arbeit, das Anbringen und Spannen der schweren Taue, bei diesem Wetter! Ich beteiligte mich daran als Matrose.

Plötzlich, wie ich in halber Höhe der Kreuzwanten stehe und mich gegen den Sturm kaum anklammern kann, erhalte ich einen Schlag gegen die Brust, eine unwiderstehliche Kraft reißt meine Hände los, ich sause durch die Luft, und da liege ich auch schon drin im Wasser.

Das ist so ziemlich das einzige, dessen ich mir bewusst bin. Von den Lichtern des Schiffes sah ich schon nichts mehr. Ich kann auch nicht sagen, ob ich stundenlang oder nur minutenlang mit den Wogen gerungen habe. Ich dachte noch einmal gleichzeitig an meinen Vater, an Helene und an Haifische, dann war ich plötzlich als Kind am heimatlichen Weihnachtstische, der Christbaum brannte — und dann wusste ich nichts mehr von mir. Aber das wusste ich, dass ich, als ich wieder erwachte, noch nicht im Jenseits war.

Das war die Kabine eines irdischen Schiffes, freilich keine von unserer »Argos«. Solche winzige Bullaugen gab es bei uns nicht, auch nicht ein solch konstruiertes Hängebett, in dem ich lag, nur im Hemd, aber nicht mein eigenes.

»Jedenfalls wieder einmal mit dem Leben davon gekommen. Aufgefischt worden. Gelobt sei Gott!«

Dann sah ich mich weiter um. Es war aber nichts weiter zu sehen, als neben dem Bett ein Tischchen, auf dem eine Flasche Wasser und ein Glas gehörig befestigt standen, was sehr nötig war, denn dieses Fahrzeug bockte noch ganz anders als die »Argos«, zur Zeit da ich unfreiwillig Abschied von ihr nahm.

Es war ein Dampfer, die Schiffsplanken zitterten ganz unheimlich, noch unheimlicher ratterte die aller Augenblicke aus dem Wasser schlagende Schraube.

Auch elektrische Glühbirnen waren vorhanden, nicht brennend, da es Tag war, wenn auch durch die wogengepeitschten Glasscheiben das Licht trübe genug hereinfiel, aber eine Klingel sah ich nicht, wenigstens nicht mir zur Hand.

Nun, da stand ich einfach auf. Weh tat mir nichts, ich fühlte mich überhaupt wie neugeboren.

Dazu musste ich aber erst die Holzbedeckung aufklappen, welche sich über das Schwebebett spannte, mich bis zur Brust wie in einem grönländischen Kajak einschließend, sonst hätte der Schläfer bei solchem Wasser ja herausgeschleudert werden können — und schon bei dieser ersten Bewegung merkte ich, wie ungemein schwach ich doch war.

Da ging die Schiebetür der Kabine auf und herein trat...

Alle Heiligen!

Der Kapitän Satan!

»Nun, von den Toten erwacht, mein lieber Freund, hi hi?«, grinste er mit seinem beliebten Händereiben.

Ich war fassungslos, doch nur für wenige Augenblicke, wenn die mir vielleicht auch eine Ewigkeit dünkten. Dann hatte ich mich wieder gesammelt.

»Sie haben mich aufgefischt?«

»Ja, ein wunderbarer Zufall, wie man ihn kaum für möglich hält, hi hi.«

Er klappte von der Wand ein Sitzbrett herab, ließ sich darauf nieder, stemmte sich fest, kreuzte die Arme über der Brust und betrachtete mich mit seinem liebenswürdigsten Hohngrinsen.

»Sie wollten wohl gerade aufstehen? Geben Sie sich keine Mühe. Sie krankes Männlein, Sie können die Holzdecke gar nicht öffnen, sind auch noch innen extra mit einem Gurt festgeschnallt, damit Sie mir ja nicht aus dem Bettchen fallen, hi hi.«

Ich nahm die Sache, wie sie nun einmal lag, wollte vor allen Dingen möglichst viel erfahren.

»Wie haben Sie mich gerettet?«

»Heute Nacht gegen zwei wurde mir ein Mann über Bord gewaschen, wir leuchteten mit dem Scheinwerfer ab, sahen ihn treiben, warfen eine Zangenboje aus, sie erreichte ihn, er konnte sie nicht greifen, da ergriff die Boje ihn, wir zogen ihn an Bord — da hatten wir statt unseres Matrosen einen fremden Menschen erwischt, und der waren Sie. Ein kurioser Austausch was? Hi hi, was doch nicht alles in der Welt passiert.«

Im ersten Augenblick hatte ich als Seemann nur eines gehört.

»Eine Zangenboje?«

»Eine Zangenboje!«, wurde bestätigt.

»Was ist denn das?«

»Eine Rettungsboje, die den Schwimmer, ob er nun bewusstlos ist oder nicht, auf elektrischem Wege von selbst ergreift und festhält.«

»Habe noch nie von solch einer Zangenboje gehört, das muss ja ein ganz idealer Rettungsapparat sein.

»Ist es auch — meine eigene Erfindung — bin wirklich stolz darauf, — hi hi. O, wenn Sie bei mir bleiben, mein lieber Freund — von mir können Sie etwas lernen, als Seemann und überhaupt als wissbegieriger Mensch — was ich alles für Erfindungen besitze, wovon die andere Welt noch gar nichts weiß, hi hi.«

»Also da wäre ich drei Stunden im Wasser gewesen!«, sagte ich zunächst.

»Wann sind Sie über Bord gestürzt?«

»Es war gegen elf.«

»Ja, dann wären es drei Stunden gewesen.«

»War ich denn bewusstlos?«

»Das nicht, Sie schwammen, wussten aber nichts von sich, wehrten der Rettungsboje und den hilfreichen Händen immer ab, als hätten Sie im Wasser Liebschaft mit einer Seenixe gemacht, hi hi.«

»Wie lange habe ich hier gelegen?«

»Es ist jetzt gleich Mittag. Wie fühlen Sie sich?«

»Eigentlich ganz wohl.«

»Wohl ein bisschen schwach?«

»Ja, das merkte ich schon vorhin und jetzt erst recht.«

»Warten Sie, ich will Ihnen noch einmal Medizin einflößen, von mir selbst erfunden und gebraut, hi hi.«

Er stand auf, öffnete den unteren Teil des vollen Tischchens, brachte ein Fläschchen mit einer braunen Flüssigkeit zum Vorschein, füllte einen silbernen Löffel.

»Dass Sie nicht etwa nach mir greifen, um mich zu packen, Sie junger Held, hätte verdammt keinen Zweck, hi hi.«

»Ich denke nicht daran, ich möchte von Ihnen erst mehr erfahren.«

»Recht so, recht so, hi hi. Dann schlucken Sie erst einmal das, das wird Ihnen bald wieder auf die Sprünge helfen.«

Ich aber zögerte, das Zeug zu schlucken, aus guten Gründen.

»Sie denken wohl an Gift oder an sonst einen Höllenstoff, hi hi?«, wurden meine Gedanken natürlich gleich erraten. »Nein, mein lieber Freund, wenn ich Sie töten oder Ihnen ein Betäubungsmittel einflößen wollte, so hätte ich das in Ihrer Bewusstlosigkeit doch viel einfacher gehabt.«

Er hatte recht — ich schluckte.

Wie Feuer fühlte ich den braunen Saft erst im Magen und dann auch gleich durch meine Adern rollen, es belebte mich wirklich wunderbar.

»Köstlich, nicht wahr? Jaaaa, was ich alles für Mittelchen habe — wenn ich nicht ein Teufel wäre, ich könnte zum Heiland der Menschheit werden, hi hi.«

»Weshalb sind Sie so ein Teufel?«, fragte ich ernst.

»Weil ich es amüsanter finde, ein Teufel zu sein als ein Engel — im Himmel ist es mir zu langweilig, in der Hölle geht es fideler zu, hi hi.«

Er barg die Sachen und setzte sich wieder.

»Sonst noch etwas, was Sie wissen wollen, ehe ich meine Fragen stelle? Stehe Ihnen ganz zu Diensten, mein wertester Waffenmeister, hi hi.«

»Ja, ich habe erst noch einige Fragen. Sind Sie der ›Argos‹ gefolgt?«

»Durchaus nicht.«

»Sie haben sie heute auch nicht gesehen?«

»Nein.«

»So weiß man dort nicht, dass ich von Ihnen gerettet worden bin?«

»Nein, woher soll man das dort wissen?«

Das war es, was mich augenblicklich mit tiefster Betrübnis erfüllte. Dass man dort um meinen Tod trauerte. Und wie trauerte!

Doch das ließ sich ja schnell ändern.

»Sie werden meine Rettung doch natürlich der ›Argos‹ so schnell wie möglich mitteilen, was ja leicht zu machen ist.«

»Natürlich natürlich!«, kicherte der Kerl. »Aber nur unter einer Bedingung.«

»Unter welcher?«

»Dass Sie sich unserem Bunde anschließen.«

»Was für einem Bunde?«, stellte ich mich unschuldig.

»Nun, dass die Argonauten sich mit uns verbünden, dass wir gemeinsame Sache machen.«

»Sie meinen, wir sollen mit Ihnen zusammen Seeraub treiben?«, musste ich jetzt wirklich lachen.

»Natürlich, natürlich hi hi.«

»Na, da können Sie ja lange warten, hahahaha!«

»Na, so lange bleiben Sie dann eben bei uns, hihihihi!«

»Ohne dass Sie die ›Argos‹ von meinem Hiersein benachrichtigen?«

»Kommt ganz darauf an, kommt ganz darauf an, das muss ich mir erst noch überlegen. Sind Sie fertig mit Ihren Fragen?«

»Ich bin's. Nun fragen Sie.«

Er brachte ein Büchelchen zum Vorschein, in dem ich mein eigenes Notizbuch erkannte, das ich immer in der Innentasche meiner wasserdichten Weste trug.

Jetzt aber kicherte der Satan nicht mehr, sein Gesicht nahm vielmehr einen furchtbar drohenden Ausdruck an, als er die letzte beschriebene Seite aufschlug.

»Woher haben Sie hier diese geografischen Bestimmungen?!«

Aha, da war es!

Was sollte ich lügen? Ich erzählte von dem Funde in dem hohlen Revolverkolben.

»Dieser Schuft!«, knirschte er mit den Zähnen. »Was aber sollen die anderen vier bedeuten?«

»Was für andere vier?«

»Nun, Sie haben doch hier fünf solche Ortsbestimmungen aufgeschrieben.«

»Jawohl, auf dem Pergamentstreifen standen diese fünf.«

»Und was sollen die bedeuten?«

»Wissen Sie das nicht? Dann ich erst recht nicht.«

»Nein, mir hat der Halunke nur die eine geraubt. Welche die beiden Schwestern betrifft. Kennen Sie die beiden in Frage kommenden Felsen bei den Falklandsinseln?«

»Gewiss!«

»Sie waren wohl etwa schon dort?«, erklang es jetzt lauernd, schon wieder mit dem höhnischen Grinsen.

Im Augenblick war mein Entschluss gefasst.

»Jawohl, wir waren dort.«

»Weshalb?«

»Na, es interessierte uns doch zu erfahren, weshalb der Piratenkapitän sich solche Notizen gemacht und in einem hohlen Revolverkolben verborgen hatte.«

»Diese Notizen stammen nicht von mir.«

»Aber das mussten wir doch annehmen.«

»Stimmt. Wann waren Sie dort?«

»Vor fünf oder jetzt wohl vor sechs Tagen, wir kamen eben von dort.«

»Na und?«

»Ja was und?«

»Sie haben wohl die beiden Schwestern umkreist, was, hi hi?«

»Allerdings.«

»Und konnten sich nicht erklären, wie ich an diesen beiden steinernen Schwestern ein Interesse haben könnte, wie?«

»Allerdings nicht.«

»Hi hi — mit diesen Felsen werden Sie noch etwas erleben — da werden Sie noch Ihr blaues Wunder erleben, — hi hi.«

Er steckte das Buch wieder ein, wurde wieder ernst. »Und was die anderen vier Bestimmungen bedeuten, das wissen Sie wirklich nicht?«

»Nein, wie soll ich es wissen. Wir waren eben auf dem Wege, der vierten Bestimmung auf den Grund zu gehen.«

»Die nach Annobón weist, der südlichsten der Guinea-Inseln an der Westküste Afrikas?«

»Jawohl.«

»Gut. Werde ich auch einmal hingehen. Leider aber habe ich einen großen Ölverlust gehabt, bin gezwungen, mich erst wieder mit Öl zu versehen, denn einen Kohlenhafen möchte ich doch lieber nicht anlaufen, hi hi.«

Au!

Also nach den steinernen Schwestern zurück!

Der »Seeteufel« konnte sich ja dort auf einen heißen Empfang gefasst machen.

Und ich mit an Bord!

Da war mein Leben freilich nur vorläufig gerettet gewesen. Denn mit solch einem notorischen Seeräuber wird doch kein langer Prozess gemacht, der wird sofort in den Grund geschossen.

»Haben Sie Appetit, Herr Kapitän?«

»Ja sehr.«

»Sie werden gleich etwas erhalten. Und nicht etwa Menschenfleisch.«

»Was, Menschenfleisch?!«, fuhr ich empor, so weit ich konnte.

»Na, es geht doch über uns allgemein das Gerücht, dass wir Menschenfleisch essen, und das beruht auf Tatsache.«

»Ungeheuer — Scheusal!«, stieß ich hervor.

Ich bedauerte alsbald, meinem Entsetzen solchen Ausdruck gegeben zu haben, denn der hatte dafür doch nur ein höhnisches Kichern.

»Haben Sie schon von der russischen Sekte der Proslewiten gehört?«

»Ja.«

»Wir gehören dazu.«

»Das dachte ich mir, habe aber noch nicht gewusst, dass deren Mitglieder Menschenfresser sind!«, konnte ich schon wieder ganz ruhig entgegnen, nur gleich mit dem festen Vorsatze, hier an Bord nichts zu essen, und wenn ich auch verhungern sollte.

»Nein, nicht alle Proslewiten genießen Menschenfleisch, nur eine besondere Zweigsekte. Kennen Sie die Göttin Kali?«

»Die indische Göttin? Ja.«

»Wie heißen ihre Anhänger, die sie verehren?«

»Duggys oder Pharsingers, Schlingenwerfer, weil sie ihre Opfer nur mit einer seidenen Schlinge erdrosseln dürfen.«

»Und weshalb erdrosseln sie möglichst viele Menschen?«

»Weil die Kali, die sie verehren, die Göttin der Vernichtung ist, alles Lebendige hasst.«

»Stimmt. Sie sind ganz gut beschlagen in dem indischen Sektenwesen. Und dasselbe gilt für uns Obiten, wie wir uns als eine Zweigsekte der Proslewiten selbst nennen. Wissen Sie, wer Obi ist? Nein, können Sie nicht wissen, oder Sie wären schon eingeweiht, gehörten dann schon mit zu uns. Obi ist nach altfinnischem Glauben der erste Obermeister der Hölle, der alles hasst, was Gott geschaffen hat, und da doch einmal alles zugrunde gehen muss was geschaffen worden ist, so ist es doch ganz logisch wenn man diesen Teufel mehr verehrt als den schaffenden Gott, nicht, hi hi?«

Ich verschmähte eine Antwort.

»Also«, fuhr der Teufelsanbeter grinsend fort, »wir selbst dürfen wie die Proslewiten nicht nur nichts Lebendiges erzeugen, sondern müssen auch möglichst viel Lebendiges vernichten. Und außerdem müssen wir an gewissen Tagen auch Menschenfleisch verzehren. Da ist aber dabei gar kein Muss, das tut man gar bald nur zu gern. O, Sie sollen schon noch merken, wie köstlich Menschenfleisch schmeckt.«

»Da können Sie lange warten, ich werde verhungern.«

»Nein, das brauchen Sie nicht. Was Sie vorgesetzt bekommen, können Sie ruhig essen. Es ist bei den Obiten strengste Vorschrift, dass niemand gezwungen werden darf, der Seite beizutreten, also auch nicht Menschenfleisch zu essen. Ganz freiwillig muss dies alles geschehen.«

»Da können Sie ja bei mir lange warten!«, konnte ich nur wiederholen.

»O, wir haben schon Mittel, um jeden zum Übertritt zu bewegen, jeden!«

»Was für Mittel, Betäubungsmittel?«

»O nein, das wäre doch schon Zwang. Ganz, ganz freiwillig bei vollem Bewusstsein muss es geschehen.«

»Da bin ich doch gespannt, was das für Mittel sein sollten.«

»Einfach, indem wir Sie erst unser herrliches Leben beobachten lassen, bis Sie die größte Sehnsucht danach empfinden, da selbst mitmachen zu dürfen.«

»Was denn für ein herrliches Leben?«

»Sie werden schon sehen. Diese Orgien, die wir feiern!«

»Na, ich danke für Orgien!«

»Sie werden schon sehen. Wissen Sie auch, dass wir schon einen Argonauten verspeist haben, hi hi?«

»Einen Argonauten? Machen Sie doch keine Witze!«

»Ich versichere es Ihnen.«

»Wen denn?«

»Ihren ersten Ingenieur, den Mister Kalthoff.«

Ich wusste mich zu beherrschen, nur um noch mehr zu erfahren.

»Wie sind Sie denn zu dem gekommen?«

»Er suchte mich in London auf, wo mein »Seeteufel« gerade lag.«

»Und?«

»Und da erzählte er mir, dass im Feuerlande die Schätze des Flibustierkapitäns lägen, hi hi hi.«

So kicherte der Satan, und in demselben Moment sah ich vor meinen geistigen Augen den ersten Ingenieur, mit dem Arm in der Schlinge, wie er hinter den Bäumen stand, uns nachblickend, aber schnell wieder verschwindend!

Und da wusste ich schon alles, ich hätte gar nicht weiter zu fragen brauchen.

»Der hat uns damals belauscht?«

»Alles, alles, was Ihre Patronin Ihnen damals auf dem Hügel erzählt hat, hi hi.«

»Und?«

»Na und da sind wir einfach nach New York gefahren, haben in Sing-Sing den richtigen Mann zu finden gewusst, einen Beamten, der zu den versiegelten Sachen der Sträflinge gelangen konnte, der hat uns das Zeug des Kapitän Hartung gebracht, aufgemacht, die rote Brieftasche aufgetrennt, den Plan fotografiert, die Tasche fein säuberlich wieder zugenäht, alles tadellos wieder versiegelt — na, und da haben wir uns die Schätze einfach abgeholt, hi hi hi.«

So kicherte der Teufel händereibend.

Nun war es also heraus!

»Es macht Ihnen wohl rechte Freude, mir das mitzuteilen?«, konnte ich nur fragen.

»Natürlich, natürlich — wenn die Schadenfreude die reinste Freude eines jeden Menschen ist, so doch erst recht die eines Teufels, hi hi.«

»Eines jeden Menschen? Na, lassen wir das. Und dann also haben Sie wohl zum Danke diesen Mister Kalthoff aufgefressen?«

»Ganz freiwillig, ganz freiwillig ließ er sich verspeisen.«

»Was, ganz freiwillig ließ er sich fressen?«, musste ich lachen, wenn es auch sehr heiser klingen mochte.

»Ganz freiwillig ist er einer der Unsrigen geworden. Und Sie sollen nur erfahren, was es bei uns für eine Ehre, für ein Vergnügen ist, freiwillig in den Tod zu gehen, also Selbstmord zu begehen, wenn es einem von unserem Vorgesetzten nur erlaubt wird, was durch das Los geschieht. Und dann wird man von den anderen zu Ehren des Obi gebraten und verspeist. Sie werden's schon noch erfahren. Nicht wahr, der Kapitän Hartung der Bruder Ihrer werten Frau Patronin, kam doch ins Zuchthaus, weil er in dem New Yorker Hotel einen Mann, ebenfalls einen Kapitän, ermordet haben sollte.«

»Jawohl!«, konnte ich ganz ruhig bestätigen.

»Der eigentliche Mörder aber bin ich, hi hi hi. Mein Zimmernachbar, der Kapitän Hartung, hatte auf dem Korridor sein Messer verloren, ich fand es, führte mit ihm die Tat aus, hatte meinen Grund dazu. So nun wissen Sie es, und nun lassen Sie es sich gut schmecken hi hi hi.«

Und hinaus war er.

Statt seiner traten zwei herkulische Neger ein, von denen der eine mir eine dampfende Schüssel brachte, der andere diente jenem als Schutz.

Und ich speiste denn auch mit dem größten Appetit, trotz meines früheren Vorsatzes, der so felsenfest gewesen war.

Ich kann überhaupt nur eines sagen:

Und wenn ich bestimmt gewusst hätte, es wäre Menschenfleisch gewesen, was man mir vorsetzte, ich hätte es dennoch mit dem größten Appetit gegessen!

Denn wenn man leben will, muss man essen.

Und ich wollte leben, wollte meine Kraft behalten, wollte mit jenem Teufel in Menschengestalt noch einmal Abrechnung halten zu können.

Aber es war Hammelfleisch mit Curry und Reis, meine Lieblingsspeise, aus der Büchse.

*

Die Tage vergingen.

Ich zählte sie nicht.

Die Holzdecke hatte man von meinem Bett bald entfernt, aber in der Kabine war ich ein Gefangener, durfte sie nicht verlassen.

Gefüttert wurde ich sehr gut, und sicher nicht mit Menschenfleisch. Aber immer noch war es mir ganz gleichgültig, wenn es solches gewesen wäre.

Wenn ich nicht auf dem Bett lag, schritt ich in meinem Gefängnis rastlos auf und ab, finsteren Rachegedanken nachhängend. Oder Vergeltungsplänen, will ich lieber sagen.

Der satanische Kapitän stattete mir keinen Besuch mehr ab. Ich bekam niemand anders zu sehen als die beiden herkulischen Schwarzen, meine Gefängniswärter, die immer zusammen kamen.

An diesen mich zu vergreifen, daran dachte ich gar nicht. Hier an Bord hatte das keinen Zweck. Überhaupt war ich mir noch ganz im unklaren, wie ich meine Flucht und Vergeltung denn ausführen wollte. Ich musste eben eine Gelegenheit abwarten.

»Massa Käpten sollen mit an Deck kommen!«, sagte da eines Morgens der eine Neger zu mir.

Ich wurde nicht gefesselt. Nur dass hinter mir immer die beiden Schwarzen lauerten.

An Deck sah ich gleich, weshalb man mich gerufen hatte...

Dort im Süden erhoben sich wieder die beiden steinernen Schwestern.

Auf der niedrigen Kommandobrücke stand der Teufelskapitän, deutete nach ihnen.

»Erkennen Sie sie wieder, Herr Kollege?«

Ich blieb die Antwort schuldig, suchte mir auszumalen, was nun kommen würde, gab es aber bald auf.

Wir kamen näher, der Kapitän äugte durch das Fernrohr, gab ein Kommando.

An dem kurzen Signalmast begannen die Semaphorflügel zu spielen.

»Zum Teufel, was geben die denn keine Antwort, schlafen die Burschen denn?!«, schrie wütend Kapitän Satan.

Ich hätte eine Erklärung geben können, weshalb von dort oben kein Gegensignal kam, aber ich hütete mich.

Jetzt waren wir nur noch eine Seemeile von der kochenden Brandung entfernt, und der Semaphorapparat spielte vergebens.

»Löst einen Kanonenschuss, dass die Schlafmützen aufwachen!«

Ehe es hier an Bord krachte, quoll dort oben aus dem vorderen Plateau ein Rauchwölkchen empor, auch ein schwacher Feuerschein war zu sehen gewesen, und noch ehe wir den Geschützdonner vernahmen, schmetterte es schon furchtbar gegen den hinteren Teil des Fahrzeuges, dass es sich auf die Seite zu legen drohte.

Die Engländer hatten ein großes Geschütz hinaufgebracht, es gut maskiert, und sie warteten nicht ab, ob der Pirat auch ohne Gegensignal, das sie ja nicht geben konnten, die Einfahrt wagen würde oder nicht, sie hatten gefeuert.

Und es war ein Meisterschuss gewesen, der das Hinterteil getroffen, genau über der Wasserlinie, und da halfen dem Torpedojäger keine Panzerplatten, so stark konnte der denn doch nicht gepanzert werden, die Granate hatte die Platten durchschlagen, und gerade dort hinten unter der Wasserlinie befand sich der Munitionsraum.

Die Wirkung war eine furchtbare, obgleich ich gar nicht viel davon gesehen habe.

Ich hörte nur einen ohrenbetäubenden Knall, oder eine ganze Reihe von schrecklichen Detonationen, sah vielleicht auch noch schwarze Massen durch die Luft fliegen — in derselben Sekunde aber flog ich schon selbst, gleichzeitig auch einen stechenden Schmerz in der Brust fühlend. Mehr wusste ich nicht von mir.

Mir ist es gewesen, als ob ich mehrmals zur Besinnung gekommen wäre, aber ein klares Verständnis meiner Lage hatte ich nie. Höchstens dass mich häufig heftiger Durst plagte, der immer schnellstens mit säuerlicher Limonade gestillt wurde.

Als ich aber endlich die Augen aufschlug und gleich mit ganz klarem Bewusstsein um mich schaute — Himmel, was erblickte ich da!

Nichts mehr und nichts weniger als die mir so wohlbekannte Einrichtung des kleinen Lazarettes der »Argos«. Und links neben meinem Patentkugelbett saß Helene und las in einem Buche, und rechts davon stand Doktor Isidor und drehte jener halb den Rücken, wohl aus dem Grunde, weil er gerade einen Kognak pfiff.

»Helene!«

Im Augenblick wunderte ich mich hauptsächlich darüber, dass meine sonst so kräftige, sonore Bruststimme nur so piepste.

Gleichzeitig in meiner unaussprechlich freudigen Überraschung streckte ich ihr die Hand hin, wollte die ihre ergreifen, und da erschrak ich wirklich. Nämlich weil mein rechter Hemdsärmel weit zurückgerutscht war, und weil ich in diesem nicht mehr einen fleischigen, muskulösen Arm erblickte, sondern nur noch einen Knochen.

Sie hatte ihr Buch sinken lassen, ein ebenso besorgter wie freudig erstaunter Blick traf mich.

»Herr Doktor, er ist wieder erwacht!«, flüsterte sie ganz leise.

Schnell drehte sich Isidor herum.

»Na nu bleibt er ooch lähm.«

Dennoch wollten die beiden mich immer noch als Halbtoten behandeln, der nur einmal so vorübergehend wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, aber da gab es bei mir nichts, ich war plötzlich wirklich ganz lebendig geworden, und ich wollte nichts von Schonung wissen, wollte unbedingt sofortigen Bericht haben, ob ich nun 30 Pfund abgenommen hatte oder nicht.

Noch ein kurzes Sträuben, noch einiges Schluchzen mit Freudentränen, dann erfuhr ich alles.

Ich fasse es ganz kurz zusammen.

Der Schreck lässt sich denken, wie nach jener Sturmnacht der Waffenmeister vermisst wurde. Dass ich bei Befestigung der Hilfspardunen mitgearbeitet hatte, wusste man, aber abgehen hatte mich niemand sehen.

Wo war der Waffenmeister?

Über Bord gegangen, da gab es gar nichts weiter zu rätseln.

Und da gab es auch gar nicht mehr die tobende Wasserwüste abzusuchen.

Die Arbeit war nachts zwischen elf und eins geleistet worden, wohl nur da konnte es passiert sein, und erst um sieben zum ersten Frühstück wurde ich vermisst.

Nein, das war kein Schreck mehr, das war etwas ganz anderes, was die ganze Mannschaft erfasste. Von Helene will ich nicht erst sprechen.

Gegen zehn war sie wieder aus ihrer Kajüte gekommen, ein ganz anderes Wesen.

»Kapitän Martin! Zurück nach den beiden Schwestern mit Volldampf!«

Hatte sie wieder eine Ahnung gehabt?

Sie konnte es hinterher nicht mehr sagen. Was man bei einer wahrhaftigen Vorahnung hinterher eigentlich auch niemals kann.

Sie selbst gab dann die Erklärung ab, dass sie jetzt nicht mehr planlos auf Abenteuer ausgehen, sondern sich erst an der Vernichtung oder am Abfangen des Piraten beteiligen wolle, der doch bestimmt einmal in seinem Schlupfwinkel zu erwarten sei.

Genug — es wurde nach den beiden Schwestern zurückgedampft.

Fünf Tage hatten wir uns also schon entfernt gehabt, in fünf Tagen bekam man die beiden Felsen wieder in Sicht.

Da trugen die Luftwellen einen dumpfen Knall herüber, dem noch ein ganz anderer folgte.

Also die »Argos« kam gerade dazu, wie der »Seeteufel«, der nur mit halber Kraft gedampft sein konnte, in die Luft flog.

Das englische Kriegsschiff kam herausgeschossen, um alles Lebendige noch zu retten, die »Argos« beteiligte sich an der Fischerei.

Aber lebendige Menschen sollten nicht aufgefischt werden können.

Es wiederholte sich hier fast genau dasselbe grausige Spiel, das wir an der chinesischen Küste mit den bezopften Piraten erlebt hatten.

Wohl schwammen noch genug Lebendige herum, aber lebendig wurde keiner herausgebracht. Regelmäßig schon erstickt, regelmäßig hatten sie ihre Zunge verschluckt.

Diese Übereinstimmung zwischen buddhistischen Chinesen und Novascotiamen war gar nicht so wunderbar, wenn man wusste, dass die letzteren russische Proslewiten waren, wenn auch vielleicht in Kanada geboren, germanischer Abstammung.

In dem ungeheuren Russland leben zahllose Buddhisten, nicht nur im asiatischen. Auch in den Städten des europäischen Russlands gibt es überall buddhistische Klöster und Tempel. Der Handel ist es, der diese Elemente hier vermischt.

Aber überhaupt, der griechisch-katholische Russe hat mir immer einen mohammedanisch-buddhistischen Eindruck gemacht. Ich werde dieses Gefühl wenigstens nicht los, als ob hier eine Verschmelzung dreier Religionen vorläge. Besonders durch den Fatalismus des slawischen Russen. Wie er sich teilnahmslos auch in das schwerste Schicksal fügt, wenn es nun einmal nicht zu lindern ist. Der russische Soldat gleicht ganz dem türkischen — von fanatischer Tapferkeit, von apathischer Trägheit — der russische Bauer gleicht ganz dem indischen.

Doch wie dem auch sei — hier handelte es sich um eine religiöse Verbrechersekte, deren Mitglieder verpflichtet waren, ihre Zunge zu verschlucken — wozu also einige Vorübung unter sachgemäßer Leitung gehört — wenn sie jemandem in die Hände fielen, der sie zu einem Geständnis, zu einem Verrat zwingen konnte. Und die lebendig Herausgebrachten hatten sämtlich diesen Selbstmord begangen, auch der Schwerverwundetste, der durch die Explosion Verstümmelte, sobald er wieder zur Besinnung gekommen.

Nur einer hatte es nicht getan.

Und der war ich gewesen.

Na, diese Freude, wie ich aufgefischt worden war, gerade von der »Argos«!

Ich will sie nicht beschreiben.

Zwar war ich bewusstlos, hatte etwas davongetragen, aber es war gar nicht so schlimm. Eine Quetschung des Brustkastens, ohne dass eine Rippe gebrochen oder ein edlerer Teil verletzt worden war. Ich war bald wieder hergestellt, konnte Doktor Isidor mit Bestimmtheit versichern.

Aber ein anderes böses Symptom stellte sich ein. Ich bekam Nervenfieber. Genau sechzehn Tage hatte ich mich mit dem Tode herumgebalgt, ohne einmal zum Bewusstsein gekommen zu sein.

Gestern war der kritische Schweiß ausgebrochen, heute war ich Sieger über den Tod geblieben. Hatte ihm nur an die 30 Pfund Fleisch lassen müssen, obwohl ich doch sowieso nur ein magerer Hering gewesen war. Nur Schultern und Arm und Schenkel hatte ich immer gehabt. Das war jetzt auch vorbei. Nur noch abgenagte Knochen.

»Und Kapitän Satan?«, fragte ich.

Der war nicht aufgefischt worden, weder tot noch lebendig mit verschluckter Zunge. Eben der Katastrophe zum Opfer gefallen, weggesackt.

»O, Helene, was dieser Mann mir gestanden hat«, flüsterte ich.

Sie war niedergekniet, immer meine Hände küssend.

»Ich weiß, ich weiß alles — wenigstens wenn es wahr ist, was Du in Deinen Fieberdelirien alles geredet hast — aber sprich nicht jetzt, Du darfst nicht, Du musst Dich schonen, — und wenn ich nur Dich wiederhabe!«

Aber ich ließ mich nicht abhalten, ich musste sofort berichten.

»Ob es wahr ist, was er mir da gestanden hat?«

Mit schmerzbewegtem Antlitz und doch von Glück ganz verklärt schaute sie mich an.

»Wenn ich nur Dich wiederhabe, Georg!«, wiederholte sie, nichts weiter. —

Ich machte mich schnell wieder heraus.

Was ich in den sechzehn Tagen an Einnahme von Nahrungsmitteln versäumt hatte, wurde schnellstens nachgeholt. Ach, habe ich gegessen!

Und dann, ach, dieses Glücks wie sie alle nacheinander kamen, um mich zu sehen, alle meine Jungen und meine Kinder, große und kleine, grüne und rote, blaue und gelbe, schwarze und weiße, gerade und krumme, männliche und weibliche!

Wie ich dann als durchscheinendes Gerippe wieder an Deck mitten unter ihnen saß!

Ach das war ja die allerbeste Medizin für mich!

Doch überhaupt, dieses Nervenfieber, meine erste wirkliche Krankheit, schien mir sehr dienlich gewesen zu sein. Ich bekam einen ganz anderen Fleischansatz, mit dem mageren Hering schien es für immer vorbei zu sein.

*

52. Kapitel

Rätselhafte Vorgänge

Originalseiten 1401 — 1415

Es war in der Nacht vom 17. zum 18. November, am sechsten Tage, nachdem ich wieder zu den Lebendigen gehörte, mit welchem Termin an Bord unseres Schiffes eine neue Zeitrechnung begonnen hatte.

Während der 16 Tage, da es unentschieden gewesen, ob ich oder der Tod siegen würde, war die »Argos« immer zwischen dem 40. und 50. Breitengrad hin und hergekreuzt, so weit es der amerikanische und der afrikanische Kontinent gestattete, denn jetzt hatte nur Doktor Isidor das Kommando gehabt, und der hatte einen schnellen Klimawechsel nicht für gut befunden, hatte diese gemäßigte Breite für mich am besten gehalten.

Heute nach dem Abendessen hatte mir mein Tyrann die erste Pfeife erlaubt — ach, wie die schmeckte! — und dabei war beraten worden, wohin wir nun den Schnabel unseres wackeren Schiffes richten wollten.

»Noch Annobón, wohin die vierte geografische Bestimmung weist.

»Nicht daran zu denken!«, rief Doktor Isidor sofort. »Nach so einer Fieberinsel unter dem Äquator, weiter fehlte doch nichts!«

»Das gebirgige Annobón ist ganz fieberfrei, ist sogar äußerst gesund!«, konnte Kapitän Martin versichern.

»Trotzdem — niemals erlaubte ich, dass sich mein Rekonvaleszent innerhalb der heißen Zonen an Land begibt!«

»Niemals wieder?«, lachte ich.

»Bis Sie wieder ganz gesund sind.«

»Ach, Doktor, wenn Sie wüssten, wie gesund ich mich fühle!«

So war es in der Tat. Ich war schon am sechsten Tage völlig wieder hergestellt, nur mein ursprüngliches Gewicht fehlte noch, absolut nichts weiter.

Das wusste auch Doktor Isidor recht gut, aber er beharrte auf seinem Willen, 14 Tage müsste ich unbedingt noch als Rekonvaleszent gelten.

»Meine Herren«, sagte da die Patronin, »was mich anbetrifft, ich möchte überhaupt auf das weitere Aufsuchen dieser geografischen Punkte verzichten. Ich habe ein Haar in dieser Aufsucherei gefunden.«

Gut — wir waren alle damit einverstanden. Uns plagte die Neugier durchaus nicht.

»Wohin aber sonst, wenn wir nicht immer hier hin und her kreuzen sollen?«

»Nun«, fuhr die Patronin fort, »da schlage ich vor, wir verleben den Winter wieder auf Vancouver.«

Ja, das war ein Vorschlag, da stimmten wir alle jubelnd ein. Und diesmal sollte es noch anders werden als damals, Schneeballschlachten, Schneefestungen...

Ach, was wir uns schon alles ausmalten, wie unsere Jungen und vor allen Dingen die Kinder diesmal dort oben Weihnachten und den ganzen Winter feiern sollten.

Also sofort den Schnabel des Schiffes nach Nordwesten gerichtet, wieder der Magellanstraße zu, wenn wir diesmal nicht vorzogen, um Kap Hoorn zu segeln, wenn es auch nur denen zuliebe geschah, welche diese berühmte scharfe Seemannsecke noch nicht passiert hatten.

Dann bemerke ich noch nachträglich, dass die beiden Fräulein Pooteken gleich bei uns an Bord blieben, als die Unsrigen, ohne das Verlangen zu äußern, irgendwo einmal das Land zu betreten, um ein Lebenszeichen von sich nach der Heimat zu geben.

Die Sache war eben die, dass die beiden Mädchen in ihrer Heimat absolut keinen familiären Anhang und keine Freundschaft gehabt hatten, sie waren ja immer an Bord des Schiffes gewesen, und ihr Vater als angestellter Kapitän hatte nichts weiter als seine Heuer und Anspruch auf Pension gehabt, viel würde er sich wohl nicht erübrigt haben — und überhaupt, in den vier Jahren waren die beiden Mädchen doch sehr weltfremd geworden, und sie fühlten sich so überaus wohl bei uns, sie hatten deswegen schon genügend mit der Patronin gesprochen — kurz und gut, sie begannen als Argonautinnen ein neues Leben.

Um acht musste ich mich zu Bett begeben, da half keine Widerrede, aber das Bett stand nicht mehr im Lazarettraum, sondern seit zwei Tagen schlief ich wieder in meiner Kabine, allein, so legte ich mich zur Koje und... rauchte wie schon gestern erst meine zwei Zigarren, auch ohne Doktor Isidors Erlaubnis.

Nachdem ich den letzten Stummel in der Spitze weggelegt hatte, schlummerte ich bald ein. Wie lange ich geschlafen hatte, wusste ich nicht, als mich die elektrische Klingel weckte, da brannte auch schon das elektrische Licht, Doktor Isidor war es, der eingetreten war. Meine Tür durfte ich während dieser Rekonvaleszentenzeit nicht verschließen, das war die einzige Vorsichtsmaßregel, die er bestimmt hatte.

»Sind Sie wach, Waffenmeister?«

»Wie Sie wohl merken.«

»Fühlen Sie sich wohl?«

»Lassen Sie doch endlich Ihre dumme Fragerei!«

»Fühlen Sie sich kräftig genug, um ein wunderbares Naturphänomen zu beobachten? Dass Sie sich nicht etwa darüber zu sehr aufregen.«

»Ach, Quark!«

Schon war ich mit gleichen Füßen aus der Koje gesprungen, und auch bei einem kranken Seemanne dauert es nicht lange, um in die Oberkleider und in die Schuhe zu fahren, wenn er sich nur noch irgendwie rühren kann. Ich will damit sagen, dass man an Bord ja niemals besondere Toilette für die Nacht macht, unsereinem wenigstens kann es nicht passieren, dass man bei einem Schiffbruche im Hemd dasteht.

»Was für ein Naturphänomen?«

»Eine ganz, ganz rätselhafte Lichterscheinung. Machen Sie nur schnell, dass ich sie auch noch einmal zu sehen bekomme, sie kann ja jeden Augenblick wieder verschwinden! Ich hätte jemanden geschickt, um Sie holen zu lassen, aber ich hielt es für meine Pflicht, erst selbst nach meinem kranken Kindchen zu sehen. So, ziehen Sie noch eine warme Jacke an. Haben Sie nicht einen Kognak hier?«

Ja, den hatte ich, und während ich also eine warme Flausjacke äußerlich anzog, wattierte sich Doktor Isidor mit drei kalten »Konjacken« innerlich.

Dann waren wir unterwegs durch die Korridore. »Welche Zeit ist es?«

»Gleich elf. Vor zehn Minuten hat's angefangen. Wir waren alle noch an Deck, alles bat, Sie zu holen, ich erlaubte es nicht, es könnte Sie zu sehr aufregen, schließlich aber bracht ich's doch nicht übers Herz und ging selbst, um Sie zu holen.«

»Was ist es denn nur? Ein südliches Polarlicht?«

»Ach, Polarlicht! Eine Lichterscheinung an Deck unseres Schiffes, über die man den Verstand verlieren könnte, weil unsere ganze Schulweisheit wieder einmal in die Binsen geht. Kommen Sie nur, Sie werden's gleich sehen, wenn's nur noch da ist! Kommen Sie nur, knöppen Sie Ihre Hosen morgen zu.«

Wir hatten das Deck erreicht. Alle waren versammelt, standen in großem Bogen enggedrängt vor der Kommandobrücke, wo das Phänomen am besten zu beobachten war. Auch die Kinder hatte man aus den Kojen geholt, dass auch sie die rätselhafte Erscheinung sahen.

Und in der Tat, das war ja etwas ganz, ganz Rätselhaftes! Zunächst bemerke ich, dass es eine windstille, sehr finstere Nacht war, mondlos, der Himmel bedeckt, mit Regen drohend. Der Seegang war mäßig, das Schiff schlingerte nur wenig, stampfen tat es gar nicht.

Ich glaubte, wir hätten gesegelt, da ich doch nicht das Zittern der Schiffsplanken durch die Schraube vernahm, aber die Maschine war schon vor meinem Wecken abgestellt worden, einesteils, um das Lichtphänomen auch bei still liegendem Schiffe zu beobachten, andernteils, um auch den Heizern und Maschinisten Gelegenheit zu geben, das Wunder zu beobachten, denn in dieser Hinsicht ging es ja an Bord unseres Schiffes ganz anders zu als sonst auf irgend einem Fahrzeug, ganz familiär. Wenn es einmal etwas Besonderes zu sehen gab, dann musste alles heran, jede Arbeit konnte liegen bleiben. Natürlich alles mit Ausnahme.

Die Sache war nun folgende:

Genau dreiviertel elf war es gewesen, als der auf der Kommandobrücke stehende erste Offizier die Erscheinung zuerst gesehen hatte.

Vor der Kommandobrücke huschte an Deck ein kreisrunder Lichtschein herum.

Das klingt sehr harmlos.

Aber jeder Lichtschein muss doch irgend eine Lichtquelle haben. Wenn er nicht direkt von dieser kommt, so muss er von ihr durch Spiegelung reflektiert werden, durch einfache oder durch mehrfache.

Solch eine Lichtquelle gab es an Bord nicht, also war auch eine Reflexspiegelung ausgeschlossen. Es brannte die vorschriftsmäßige Laterne mit weißem Licht, an Backbord das rote und an Steuerbord das grüne Licht,

dann noch in der Bussole die den Kompass erleuchtende Doppellaterne, die man aber von außen gar nicht sah.

Andere Lichter waren an Decke nicht vorhanden, alle Türen und Luken geschlossen, die unter Deck befindlichen Lichtquellen kamen gar nicht in Betracht.

Außerdem war es ein ganz intensiv weißes Licht, höchstens mit elektrischem Bogenlicht zu vergleichen. Das Licht der Toplaterne, wohl als »weißes Feuer« bezeichnet, war dagegen gelb zu nennen, und elektrisches Bogenlicht, wie zum Scheinwerfer benutzt, brannte jetzt überhaupt nirgends. Oder nur ganz unten im Maschinenraum.

Nach einigem Besinnen kam der erste Steuermann zu der Ansicht, dass hier ein Naturphänomen oder doch irgendwie ein Rätsel vorliegen müsse, und dieser Ansicht waren auch schon der erste Bootsmann und einige Matrosen geworden, die sich unterdessen eingefunden hatten.

Die ganze Gesellschaft, worunter ich also die Hauptpersonen des Schiffes verstehe, saß hinter der Kommandobrücke, sie kamen hervor...

»Ja, das ist etwas ganz Merkwürdiges. Wo kommt denn dieser Lichtschein her?«

Der Kapitän, der schon schlief, weil er um Mitternacht die dritte Wache für den fehlenden Steuermann antrat, wurde geweckt und kam.

»Well, da finde ich keine Erklärung.«

Da sieht man also wohl, dass es wirklich etwas ganz Rätselhaftes sein musste.

So stand alles noch, wie auch ich kam.

Der kreisrunde Lichtschein wanderte immer vor der Kommandobrücke hin und her, aber nicht regelmäßig, sondern einmal dahin, einmal dorthin, manchmal schnell, manchmal langsam, blieb stehen, drehte direkt um, wanderte im Kreise, und so fort.

Wenn er einmal stand, so konnte man mit dem Metermaß messen, dass sein Durchmesser genau 20 Zentimeter betrug.

Dabei konnte man mit absoluter Sicherheit konstatieren, dass das Hin- und Herwandern nicht etwa von den Schiffsbewegungen herkam. Nein, der Lichtschein machte ganz, ganz selbständige Bewegungen. Erstens war es ganz gleichgültig, ob das Schiff schnell oder langsam fuhr oder ganz stand. Die Lichtscheibe hielt sich immer vor der Kommandobrücke auf. Und wenn sich das Schiff stark nach Backbord überlegte, sich also auf Steuerbordseite hob, so hätte der Lichtschein doch auch diese Seite hinaufklettern müssen. Aber nein, er ging dahin, wohin es wollte, manchmal ging er dann gerade nach Backbord hinüber, allen optischen Gesetzen zuwider, bis auf die Reling hinauf.

Es kam auch vor, dass er plötzlich auf der Treppe oder auf der Kommandobrücke selbst lag. Mit Vorliebe aber hielt er sich auf der großer Luke auf, die sich gerade vor der Kommandobrücke befand, eine erhöhte Fläche von

18 Quadratmetern.

Außerdem wurde noch etwas anderes ganz Merkwürdiges konstatiert.

Es kam ja oft genug vor, dass der Lichtschein unter die Menschen geriet, an ihnen hinaufkletterte oder huschte, dass er ihnen direkt ins Gesicht fiel.

Da nun wurde konstatiert, dass dieses Licht trotz seiner intensiven Weiße durchaus nicht blendete. Es war davon überhaupt gar nichts zu merken. Das Gesicht des Betreffenden wurde ganz hell, aber die Augen brauchte man nicht zu schließen. Aber es war auch dann die strahlende Lichtquelle nicht zu erblicken. Und da nützte es nichts, dass man sich an den Boden legte und wartete, bis der Lichtschein einmal gerade über das Gesicht fuhr. Keine Blendung, keine Lichtquelle.

Doktor Isidor hatte sich einen großen Spiegel bringen lassen, zwei, erst einen einfachen, dann einen Hohlspiegel, es gelang ihm, den Lichtschein mehrmals abzufangen.

»Wunder über Wunder, dieses intensive Licht lässt sich nicht reflektieren!«

Nein, es ging nicht. Der Lichtschein war auch in den Spiegeln zu sehen, gab aber keinen Widerschein.

Wie sollte man sich das erklären? Was für eine Art von Licht war denn das?

So war es schon zehn Minuten vor mir gegangen, so ging es auch noch einige Minuten in meiner Gegenwart fort.

Da aber plötzlich veränderte sich das Phänomen, in einer Weise, dass wir alle einen heftigen Schreck bekamen.

Immer mehr schien es, als habe es der Lichtschein auf die große Luke abgesehen, immer länger wanderte er nur auf dem Riesendeckel herum, selten einmal, dass er über den Rand hinauskam, er schlüpfte dann schleunigst auf den erhöhten Deckel zurück.

Da plötzlich gerade wie die Schiffsglocke mit drei Doppelschlägen elf Uhr glaste, blieb der Lichtschein für längere Zeit genau in der Mitte des Lukendeckels liegen, auch wieder ganz unnatürlich, er hätte sich doch wenigstens durch die Schwankungen des Schiffes bewegen müssen, aber das tat er nicht, er blieb wenigstens zehn Sekunden ganz still liegen, und dann plötzlich begann der Lichtschein zu schwellen.

Zu schwellen — anders kann ich mich nicht ausdrücken.

Die flache Scheibe, eben nur ein Schein, verwandelte sich in einen Körper.

Er wurde höher, bis es eine vollkommene Kugel war, auch wieder von 20 Zentimeter Durchmesser, die jetzt eben als Kugel hin und her zu rollen begann.

Man muss es gesehen haben, um unseren Schreck begreifen zu können.

»Vorsicht, ein Kugelblitz!«, erklang es entsetzt, und alles prallte auseinander.

Linienblitze, Flächenblitze, Kugelblitze — so wird unterschieden.

Auch von den letzteren hat wohl jeder schon gehört, so selten sie auch beobachtet werden mögen. Am häufigsten auf dem Meere, an Bord des Schiffes. Ihre Entstehung ist noch gänzlich unbekannt, obwohl man sie schon künstlich erzeugen kann, zwischen zwei feuchten Metallplatten unter hoher elektrischer Spannung. In der Natur bilden sie sich bei gewitterschwangerer Atmosphäre plötzlich auf irgend einem Gegenstand, rollen darauf herum, mit Vorliebe auf Menschen oder überhaupt lebenden Wesen, seltsamerweise merkt man selbst gar nichts davon, plötzlich ein betäubender Knall — die Elektrizitätskugel hat sich irgendwohin entladen, das lebende Wesen aber, Mensch oder Tier, bleibt stets unbeschädigt. Diese Kugelblitze sind überhaupt nie so stark wie die anderen. Mit ihnen zu tun haben mag aber natürlich niemand. Eigentlich hat es gar keinen Zweck, dass ich hier von Kugelblitzen erzähle, denn...

»I wo, das ist doch kein Kugelblitz, der sieht ganz anders aus und benimmt sich ganz anders!«, rief Doktor Isidor sofort und ging der weißleuchtenden Kugel auch gleich zu Leibe.

Es war wieder dasselbe. Auch diese Leuchtkugel hatte genau dieselben Eigenschaften wie der Lichtschein, nur dass es bei der vollen Kugel noch viel deutlicher zu bemerken war. Hielt man eine Hand hinein, so war diese in der finsteren Nacht hell erleuchtet, selbst schwarzer Samt erschien intensiv weiß, aber das merkwürdigste dabei war, dass die Kugel außer sich selbst nicht den geringsten Lichtschein verbreitete.

Auch sie rollte wieder auf dem Lukendeckel herum, kam gar nicht mehr herab. Trat jemand auf die Luke, so ging die Leuchtkugel natürlich durch ihn hindurch, obgleich sie sonst ohne den geringsten Eindruck auf dem Deckel herumrollte, als wäre es eine Kugel aus festem Material. Aber auch kein Hüpfen kam vor, wie dies der Kugelblitz immer tut.

Dass wir es aber hier mit keinem solchen zu tun hatten, davon waren wir nun schon längst überzeugt.

Auch ich betrat einmal die Luke, um mir das rätselhafte Phänomen durch die Füße laufen zu lassen, um meine Hände hineinzutauchen, wobei man weder etwas von Wärme noch von Kälte verspürte.

Nun aber geschah das Seltsame. Ich zog meine Hände zurück, trat zurück, um die Luke zu verlassen. Die Kugel rollte mir nach.

Nun, das war eben Zufall, das hatte sie bei anderen wohl auch schon einmal gemacht.

Wie ich aber nun von der Luke herabgestiegen war, sprang auch sie herab, rollte vor meine Füße, blieb vor ihnen liegen.

Ich ging weiter zurück — die Kugel rollte mir nach.

Ich ging links — die Kugel folgte mir.

Ich ging rechts — die Kugel mir immer nach.

Ich ging bis vor an die Back, das erhöhte Vorderteil des Schiffes — die Kugel mir nach, entfernte sich zum ersten Mal von ihrer alten Stelle, die sie sonst immer einhielt.

Ich ging unter der Kommandobrücke durch — die Kugel blieb mir auf den Fersen.

Drehte ich mich um, so blieb sie mir vor den Füßen liegen.

Ging ich weiter, blieb stehen, wandte ihr aber den Rücken, so rollte sie um mich herum, oder ging wesenlos durch meine Beine und lagerte sich vor meinen Füßen.

Ich stieg die Treppe zur Kommandobrücke hinauf — die Feuerkugel hüpfte ebenfalls die Stufen hinauf. Und zwar hüpfte sie diesmal wirklich ging nicht wesenlos durch das Holz hindurch war plötzlich oben. Nein, wie ein beseelter Gummiball war sie die Treppe hinaufgehüpft.

Ich trat in das Kartenhaus — die Kugel mir nach.

Ich stieg wieder hinab — die Kugel hüpfte ebenfalls die Treppe hinab, immer dicht hinter mir.

Ich ging über Deck nach hinten — die Kugel rollte mir nach.

Ich trat in die Kajüte — die Kugel wich nicht von mir. Ich ging durch verschiedene Korridore — die geisterhafte Kugel immer wie ein gehorsamer Pudel hinter mir her.

Ich wieder an Deck, nach der Kommandobrücke — mein feuriger Kugelpudel hinter mir her.

Ich streckte die Hand aus, beugte mich etwas... »Komm, mein Püppchen, hoppla auf meine Hand!«, Ich hatte nur Scherz gemacht — nein, faktisch, die Kugel schnellte empor und saß auf meiner Hand, blieb drauf sitzen, ich konnte die Hand bewegen wie ich wollte. Als wäre es eine leuchtende Kegelkugel. Freilich doch wieder in ganz anderer Weise. Erstens fühlte ich gar kein Gewicht, und zweitens, schloss ich die Hand zur Faust, dann saß sie eben oben auf der Faust.

Das Staunen der Leute, die mir zum Teil immer gefolgt waren, lässt sich denken.

Aber eines kann ich gleich behaupten: von einem Entsetzen war sicher bei keinem einzigen auch nur eine Spur vorhanden.

Das war wirklich etwas ganz Merkwürdiges, unsere Gemütsverfassung bei alledem.

Sehr erschrocken waren wir nur gewesen, als sich der flache Lichtschein plötzlich in eine volle Kugel verwandelt hatte, weil wir eben an einen gefährlichen Kugelblitz gedacht hatten.

Aber des Weiteren nun, wie die an sich schon so rätselhafte Feuerkugel sich noch viel rätselhafter benahm — das grenzenlose Staunen verwandelte sich immer mehr in fröhliches Lachen.

Das war wirklich etwas ganz Merkwürdiges dabei, diese unsere Gemütsverfassung.

»Well, das ist Zauberei!«, sagte Kapitän Martin, die Meinung aller aussprechend.

Ja natürlich, an was sonst als an Zauberei sollte man denken? Aber von Furcht oder nur Bestürzung darüber gar keine Spur.

»Das ist auch die Bestätigung, dass das eine ganz reelle Erscheinung aus der vierten Dimension ist!«, sagte da Doktor Isidor.

»Was meinten Sie da?!«

»Weil wir uns so gar nicht vor dem Phänomen fürchten.«

»Wir verstehen Sie nicht.«

»Schopenhauer sagt: eine reelle Geistererscheinung erkennt man stets daran, das man sich vor ihr nicht im geringsten fürchtet, sondern sie nur mit Interesse betrachtet.«

»Was, Doktor, Sie glauben doch nicht etwa an Gespenster?!«, erklang es von mehreren Seiten, auch aus meinem Munde, der ich noch die Feuerkugel auf meiner Hand hielt.

»Ja, ich glaube, dass es außer uns noch Wesen gibt, in einer für unsere Sinne unerkennbaren und auch für unser Gehirn unfassbaren Welt, welche wir die der vierten Dimension nennen, im Gegensatz zu unserer dreidimensionalen.«

Mit einiger Feierlichkeit hatte es Doktor Isidor gesagt. Sapperlot noch einmal!

Hatten wir doch noch nicht das geringste davon gemerkt, dass dieser krummbeinige Jude an so etwas glaubte!

Wir hatten immer gedacht, der glaube nur an seine verschiedenen Wissenschaften und an den Spiritus, was zwar auch »Geist« heißt, der aber doch ein ganz anderer ist.

Nie hatte er von so etwas gesprochen, hatte über den Sternkieker immer nur blutige Witze gemacht.

Und jetzt offenbarte der sich so!

»Ja, ich glaube an sogenannte Geister«, setzte er jetzt noch hinzu, »und wenn solche menschlichen Geister wie Kant und Schopenhauer an überirdische Geister geglaubt haben, so brauche ich mich dieses Geständnisses wohl nicht zu schämen.«

Bevor diese Unterhaltung weiter geführt werden konnte, geschah wieder etwas, was nun alles Vorhergegangene übertreffen sollte.

*

53. Kapitel

Eine Botschaft aus unbekannter Welt

Originalseiten 1415 — 1430

Plötzlich sprang die Kugel von meiner Hand herab, auf den Lukendeckel, rollte genau nach der Mitte, hier blieb sie stehen, plötzlich zerfloss sie, aber in ganz eigentümlicher Weise, nach allen Seiten hin flossen und zuckten Lichtstreifen, die flossen und zuckten einige Sekunden durcheinander, dann wie ein Ruck, und da stand auf der schwarzen Teerleinwand leuchtend geschrieben, auf Deutsch in Kurrentschrift:


Fürchtet Euch nicht!
Ich liebe Euch!


Wieder nicht der geringste Schreck unsererseits von Entsetzen gar nicht zu sprechen — aber unser Staunen lässt sich denken.

»Nein, wir fürchten uns nicht!«, rief ich dann schnellstens.

Sofort flossen die Buchstaben wieder zu Strahlen zurück, zuckten zu der vorigen Kugel zusammen — da aber gingen schon wieder neue Strahlen aus, und mit einem Ruck hatten sich andere Buchstaben und Zeilen gebildet, auf dem Lukendeckel stand ein ganzer Brief in leuchtenden Buchstaben, jeder zehn Zentimeter hoch, sodass auch Fernstehende mit Bequemlichkeit lesen konnten.

»Georg Stevenbrock! Ich will mit Dir sprechen. Aber ich kann mich Dir vorläufig auf keine andere Weise verständlich machen als auf diese. Und Du musst mir vorläufig schreiben. Nimm einen Bogen Papier und Bleistift und schreibe deutlich Deine Fragen und Antworten auf.«

Die leuchtende Schrift blieb stehen.

»Well, das ist Hexerei!«, sagte Kapitän Martin und biss sich ein neues Stück Kautabak ab.

Andere Rufe des Erstaunens erklangen ja noch genug, ich aber sorgte vor allen Dingen dafür, dass schnellstens ein Tischchen mit Stuhl zur Stelle geschafft wurde, ferner Papier, wozu mir gleich ein ganzer Block Quartbogen gebracht wurde.

Also ich setzte mich ganz gemütlich in Positur, leckte gewohnheitsmäßig den Bleistift an und schrieb mit sehr großen Buchstaben.

»Kannst Du das lesen?«

Zusammen zuckten die Buchstaben, wieder eine einzige Kugel bildend, sie lief wieder auseinander:

»Ja«, stand jetzt aus der Luke, »Du brauchst nicht so groß zu schreiben.«

Und nun ging das Gespräch weiter. Ich schrieb mit Bleistift auf mein Papier, jenes andere Wesen mit Licht auf den schwarzen Lukendeckel, und zwar ganz bedeutend schneller als ich. Es war immer nur ein Zuck. Aber zwischen Verlöschen und Neuentstehen wurde stets erst die Kugel gebildet.

»Wer bist Du?«

»Ein irdischer Mensch wie Du.«

»Das glaube ich nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Das ist doch ganz geisterhaft.«

»So geisterhaft, wie es noch vor wenigen Jahren gewesen wäre, wenn plötzlich jemand drahtlose Telegrafie benutzt hätte.«

Well, mein Partner hatte recht, ganz recht! Nur nicht sich ins Bockshorn jagen lassen!

»Was ist das für ein Licht?«, war meine nächste Frage.

»Ein besonderes Licht, für Euch so unverständlich wie noch vor wenigen Jahren die von Professor Röntgen entdeckten sogenannten X-Strahlen aller Welt noch unbekannt waren.«

Wiederum sehr wahr gesprochen!

»Wie heißt Du?«

»Nenne mich Schwester Anna.«

»Ah, Sie sind eine Dame?«

»Ein Weib — nenne mich Du.«

»Wo bist Du jetzt?«

»Das erfährst Du nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich nicht will.«

Dann war jede weitere Frage deswegen zwecklos.

»Wie bringst Du dieses Licht und diese Spiegelung zustande?«

»Es ist keine Spiegelung.«

»Sondern?

»Direkte Lichterzeugung.«

»Wie machst Du das?«

»Lass solche technische Fragen, ich darf sie nicht beantworten.«

»Wie Du befiehlst.«

»Ich befehle Euch nichts, darf Euch nichts befehlen, darf Euch nur immer bitten.«

»Das war auch nicht so von mir gemeint, wir lassen uns nichts befehlen!«, musste ich Starrkopf sogar in solch einer Situation niederschreiben. »Was hast Du uns zu bitten?«

»Dass Ihr mich liebt.«

»Da müssen wir Dich doch erst etwas näher kennen lernen.«

»Ihr sollt mich näher kennen lernen.«

»Los!«

»Ich liebe Euch weil Ihr Euch untereinander liebt.«

»Danke!«, schrieb ich und was hätte ich auch weiter schreiben sollen. Dabei, bemerke ich erst jetzt, sprach ich das Geschriebene stets laut mit, dass es alle hören konnten, sonst weiter nichts.

»Seit zwei Jahren schon beobachte ich Euch.«

»So.«

»Noch nie habe ich einen begrenzten Raum gesehen, in dem sich so viele Menschen befinden, die sich gegenseitig ohne jeden Eigennutz so lieben.«

»Danke. Du kannst uns immer sehen?«

»Ja.«

»Auch unter Deck?«

»Ja.«

Bei solch einer Erklärung hat unsereins ja nun gleich merkwürdige, knifflige und kitzlige Gedanken.

Und als ob diese erraten würden, so entstanden dort gleich neue Zeilen.

»Fürchtet Euch nicht. Nur einem reinen Wesen ist solche Macht gegeben.«

»Danke!«, antwortete ich wieder. »Und was hast Du nun zu bitten?«

»Dass Ihr mir vertraut.«

»Das kommt ganz darauf an!«, war und blieb ich starrköpfig.

»Mir ist von Gott befohlen worden, dass ich Euch unter meine Führung nehmen soll.«

»Du verkehrst mit Gott?«, fragte ich keck, und es war doch auch das einzig Richtige.

»Ja, so wie jeder Mensch mit Gott verkehrt.«

»Ich tu es nicht, kann es nicht.«

»Doch, Du tust es.«

»Wie denn?«

»Durch Dein Gewissen.«

»Na gut. Lässt sich hören. Und?«

»Ich bitte Euch innigst: forscht nicht den geografischen Ortsbestimmungen nach, die Euch durch Zufall in die Hände gefallen sind.«

Hallo!

Da freilich mussten wir stutzen.

Doktor Isidor brauchte mich nicht in den Rücken zu knuffen — ich wusste schon, was ich zu fragen hatte.

»Was weißt Du von diesen Ortsbestimmungen?«

»Ich weiß davon.«

»Du willst Dich nicht weiter darüber äußern?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Ich darf nicht.«

»Wer verbietet es Dir?«

»Gott.«

»Schwester Anna — das ist mir in diesem Falle zu weitläufig ausgedrückt.«

»So will ich sagen: eine innere Stimme warnt mich Euch hierüber mehr zu offenbaren, und diese innere Stimme trügt nie, nie, deshalb gehorche ich ihr.«

»Sokrates' Dämon!«, flüsterte mir Doktor Isidor zu.

Ich wusste recht wohl, was er meinte.

Dieser alte Schwede aus Griechenland erzählt ja auch immer von seinem »Dämon«, der ihm rät und ihn warnt, womit er ja nichts weiter als die Stimme seines Gewissens meint, die sich ausbilden lässt, man muss nur immer recht genau lauschen. Das gebe ich alles recht wohl zu. Aber das ging mich jetzt gar nichts an.

»Kennst Du den Kapitän Satan?«

»Ich weiß, wen Du meinst.«

»Bist Du mit ihm verbunden?«

»O nein. Er ist ein Kind der Finsternis, ich bin ein Kind des Lichtes.«

»Schön. Weißt Du, was wir in den beiden Felsen bei den Falklandsinseln gefunden und erlebt haben?«

»Ich weiß alles.«

»Bist Du allwissend?«

»Nein. Aber diesen Fall kenne ich, ich habe Euch beobachtet.«

»Wie ist Kapitän Satan zu der Kenntnis dieser Felsenschwestern und ihrer Einfahrt gekommen?«

»Auch er hat durch Zufall davon Kenntnis bekommen.«

»Von wem?«

»Durch einen Mann unserer Gemeinschaft, der uns einige Geheimnisse geraubt hat.«

»Was für Geheimnisse?«

»Stelle nicht solche Fragen.«

»Was ist das für eine Gemeinschaft?«

»Eine Gemeinschaft von Gottesmenschen in Christi Namen. Ich bitte Euch innigst, diese angegebenen Punkte nicht aufzusuchen.«

»Weshalb nicht?«, musste ich doch immer wieder fragen.

»Überall droht Euch Gefahr.«

»Was für eine Gefahr?«

»Ihr würdet sie kennen lernen, wenn Ihr meiner Bitte nicht Gehör schenktet, Euch dennoch hinbegebt.«

»Wir sind nicht die Männer, die sich durch eine einfache Warnung vor irgend einer Gefahr zurückschrecken lassen, wenn einmal ein Entschluss gefasst worden ist.«

Diesmal erschienen auf der Luke nur zwei Worte, aber auch riesenhaft geschrieben.

»Recht so!«

Nach einigen Sekunden rollten diese zwei Riesenworte wieder zur Kugel zusammen, es entstanden wieder Zeilen von früherer Buchstabengröße.

»Ich bitte Euch, meiner Warnung Gehör zu schenken. Da ich aber die Gründe Eurer Weigerung, wenn nicht Eures Misstrauens anerkenne, so will ich Euch erst einen Beweis geben, wie ich nur Euer Bestes will, wie Ihr mir daher vertrauen dürft.«

»Nun?«

»In der zweiten Kajüte vorn im Zwischendeck, die Ihr noch nicht benutzt habt, liegt unter der Matratze der untersten Koje eine Korallenviper im erstarrten Zustande, aber lebend. Tötet sie.«

Wir starrten ja nicht schlecht auf die leuchtende Schrift.

Dann aber fragte ich nicht erst weiter, sondern nahm schnell ein paar Leute mit, ausgerüstet mit den nötigen Instrumenten.

Und wahrhaftig, wie wir in der betreffenden Kabine und Koje die Rosshaarmatratze mit der genügenden Vorsicht hochheben, da sehen wir dort drunter aus der zweiten Matratze die prachtvollste scharlachrote Korallenviper zusammengeringelt liegen!

Ein kräftiger Hieb, und aus war es mit ihr, aber wie sie sich im Todeskampf noch gewälzt hatte, zischend mit den furchtbaren Giftzähnen herumschnappend, das hatte gezeigt, wie lebendig sie noch gewiesen war!

Es ist eine brasilianische Schlange, eine der giftigsten. Wenn die einmal gebissen hat, da ist nichts mehr zu machen. Die hatte sich, wahrscheinlich als wir dort im Urwald gelegen, an Bord geschlichen. In den kälteren Breitengraden war sie in einen Winterschlaf gefallen. In der heißen Zone wäre sie schon wieder lebendig geworden.

Ja, und erst hatten die beiden Schwestern diese Kabine beziehen sollen, nur durch einen Zufall waren sie in eine andere gekommen. Und es war gar nicht so sehr gesagt, dass Siddy oder ein anderer Steward die Matratze erst gelüftet hätte. Und auch durch die Körperwärme der Schlafenden wäre die Schlange schon wieder lebendig geworden. Na, das hätte ja eine schöne Geschichte geben können!

Wir wieder hinauf und den anderen erzählt, unseren Fund vorgezeigt.

Wir konnten uns nur groß ansehen.

In der Mitte des Lukendeckels lag noch die feurige Kugel, und ich setzte mich wieder an das Tischchen, nahm den Bleistift zur Hand.

»Liest Du mit?«

Die Kugel floss auseinander, die Strahlen ordneten sich zu Buchstaben.

»Ich sehe Euch immer.«

»Wir haben die Schlange gefunden und getötet!«, schrieb ich da noch unnötigerweise.

»Ich weiß es.«

»Wo ist sie zu uns an Bord gekommen?«

»Als Ihr an dem Eldoradoberge laget, ist sie über einen Ast des Euch nächsten Baumes an Bord geschlüpft.«

»Das wusstest Du schon immer?«

»Ja.«

»Weshalb hast Du uns da nicht schon früher oder überhaupt gleich gewarnt?«

»Weil ich noch nicht durfte. Stelle auch nicht solche Fragen.«

Mir zitterte das Herz mehr als die Hand, als ich die nächsten Worte schrieb:

»Edle Retterin, wir danken Dir von ganzem Herzen!

So wollen wir Dich auch nicht erst fragen, ob Du in der Zukunft lesen kannst, wollen also nicht wissen, ob die Giftschlange ohne Dein Eingreifen noch Unheil angerichtet hätte oder nicht, sondern wir wollen uns fernerhin Deiner Führung anvertrauen!«

So hatte ich geschrieben und auch gesprochen, und ich glaube, ich hatte aus dem Herzen aller gesprochen.

Die meisten waren ja überhaupt mit meiner bisherigen Starrköpfigkeit auch gar nicht einverstanden gewesen, am wenigsten die Patronin.

»Für dieses Vertrauen danke auch ich Dir!«, wurde leuchtend zurückgeschrieben. »Also Du versprichst mir, jene Punkte nicht aufzusuchen.«

»Ich verspreche es Dir hiermit.«

»Und ich weiß, dass Dein Wort für alle gilt.«

»Es gilt für alle!«, durfte ich ganz bestimmt versichern.

»So will ich Euch einen Ersatz dafür geben, was Ihr verloren habt. Wisst Ihr, was Ihr verloren habt?«

»Die Schätze des Flibustiers?«, fiel mir gerade nur ein, obgleich im Hintergrunde meines Gehirns vor allen Dingen eine alte, schmutzige, verkohlte Holzpfeife auftauchte, aus der ich aber am liebsten rauchte, und die ich schon seit vier Wochen vermisste.

»Nein, diese Schätze bedeuten für Euch keinen Verlust, das habt Ihr doch durch Euer ganzes Verhalten offenbart, und Menschen, die sich so untereinander lieben, wie Ihr es tut, brauchen auch kein Gold und Geschmeide, denn sie besitzen schon das Köstlichste was diese Welt bieten kann...«

Die Buchstaben mussten erst zur Kugel zusammen rutschen, weil schon der ganze Deckel vollgeschrieben war.

»Sondern?«, fragte ich unterdessen.

Die Buchstaben ordneten sich wieder.

»Habt Ihr nicht bedauert, das Geheimnis der beiden steinernen Schwestern mitten im herrenlosen Meer nicht als das Eure behalten zu können, weil sich dort schon ein Pirat eingenistet hatte? Weil Ihr die vorgefundene Seeräuberbeute einem englischen Kriegsschiffe anzeigen musstet?«

»In der Tat, das haben wir sehr bedauert.«

»Ihr hättet dieses Geheimnis lieber für Euch behalten.«

»Natürlich.«

»Um Euch dort festzusetzen.«

»Na, wenigstens um eine geheime Station für unser Schiff zu haben, von der die andere Welt nichts weiß.«

»Hierzu würde sich auch das Eldoradoplateau eignen.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Erstens hat das schon seinen Besitzer, sogar gleich zwei, Brasilien sowohl wie Frankreich macht Anspruch darauf, und dann ist auch eine sechstägige Stromfahrt nötig, um erst hinzukommen.«

»Richtig! Aber wäre es Euch nicht lieb, solch ein herrliches Eldoradoplateau mitten im freien Meere zu haben, für jedes andere Schiff völlig unzugänglich, nur Ihr wisst einen geheimen Landungsplatz?«

»Na, und ob uns so etwas lieb wäre!«, ließ ich meinen Bleistift jauchzen, welche etwas gewagte Redewendung der geneigte und mir wohlwollende Leser schon verstehen wird.

»So will ich Euch solch einen zugänglichen Felsen im freien, herrenlosen Meere anweisen, sehr ähnlich den beiden steinernen Schwestern, aber doch wieder ganz, ganz anders, oben darauf ein herrlich bewaldetes Plateau.«

»Wir danken verbindlichst!«, antwortete ich nur, während die Patronin schon jubelnd in die Hände klatschte.

»Nur dadurch den steinernen Schwestern so ähnlich, dass auch dort nur eine mächtige Ölquelle die Fahrt durch die Brandung ermöglicht.«

»Herrlich!«

»Durch dieselbe Brandung, welche jedes andere Schiff, auch den verwegensten Schiffer abhält, eine Landung zu versuchen.«

»Ich verstehe.«

»Von der Einfahrt, die Ihr benutzen werdet, um in einen sicheren Hafen zu gelangen, ohne die geringste Gefahr, ist dort überhaupt gar nichts zu sehen.«

»Es wird immer schöner.«

»In einem gemäßigten Klima, nicht zu vergleichen mit der rauhen, sturmgepeitschten Zone der beiden Schwestern.«

»Wo liegt dieser Felsen?«

»Ihr werdet es erfahren.«

»Wann?«

»Wenn es Zeit dazu ist. Bitte, frage jetzt nicht weiter. Es müssen erst Vorbereitungen getroffen werden, dass Ihr diesen Felsen auch beziehen könnt. Gegenwärtig wohnen noch Menschen darauf.«

»O weh! Was für welche?«

»Welche von unserer Gemeinschaft.«

»Sie wollen ausziehen?«

»Ja.«

»Unseretwegen?«

»Ja.«

»Das tut uns leid...«

»Es ist beschlossen, genug! Ihr werdet dann ein so gut wie jungfräuliches Land dort vorfinden, mindestens keine Spur, dass Menschen dort schon gehaust haben.«

»Wir danken, und wir können warten.«

»Erst müsst Ihr mir aber noch eine Bitte erfüllen.«

»Befiehl.«

»Ich habe Euch nichts zu befehlen.«

»Aber ich habe schon gesagt, dass wir uns Deiner Führung fernerhin bedingungslos anvertrauen.«

»Gut. Ihr wolltet nach Vancouver fahren, um dort den nördlichen Winter zu verbringen?«

»Ja.«

»Ich bitte Euch, diesen Plan aufzugeben.«

»Ganz wie Du be... wünschest.«

»Fahrt jetzt zuerst nach Gibraltar.«

»Wir werden hinfahren.«

»Dort wird sich Euch ein Mann vorstellen, Euch mit einer Bitte angehen. Gewährt ihm diese Bitte, helft ihm, führt sein Vorhaben aus, so abenteuerlich es auch klingen mag.«

»Näheres darüber können wir noch nicht erfahren?«

»Ich weiß selbst noch nicht mehr.«

»Ich meine: dass nicht etwa eine Verwechslung passiert. Denn Bittende mit den abenteuerlichsten Vorschlägen nähern sich uns in jedem Hafen immer massenhaft.«

»Ich werde Euch ein Zeichen geben, wenn der richtige Mann kommt.«

»Schön. Du bleibst mit uns fernerhin immer in Verbindung?«

»Nein. Es kann nicht sein. Auch ich habe einem anderen zu gehorchen, und dies erlaubt er mir nicht — noch nicht.«

»Schade. Was für ein Zeichen wirst Du uns geben? Dass wir darauf achten.«

»Ich werde, wenn ich mit Euch sprechen will, Eure Schiffglocke ertönen lassen.«

Wir blickten nach der unter der Kommandobrücke hängenden Glocke, an welcher die Glasen geschlagen wurden, die Zeit durch einfache und doppelte Schläge.

Auch das brachte jenes geheimnisvolle Wesen fertig, diese Glocke nach Belieben ertönen zu lassen?

Das wurde ja immer mysteriöser!

»Darf ich Dich anrufen?«, fragte ich weiter.

»Nein, es darf nicht sein.«

»Schade. Unter keinen Umständen?«

»Nein. Es darf nicht sein. Aber ich bin bei Euch alle Zeit.«

»Danke, Du bist unsere Schutzgöttin...«

»Halt!«, wurde mein Schneiden sofort durch neue Lichtbuchstaben unterbrochen. »Ich bin ein irdischer Mensch wie Ihr alle! Dass Ihr mir nicht etwa göttliche Verehrung zollt!«

»Nein. Es war nur eine Redensart von mir gewesen. Aber dass wir Dir herzlichst danken, das erlaubst Du doch wohl.«

»Ihr könnt mir Euren Dank auch durch eine Erkenntlichkeit erweisen.«

»Durch welche?«

Die zusammengerollte Kugel zögerte einige Zeit, ehe sie wieder Lichtstrahlen zu Buchstaben formte, und dann musste der schwarze Lukendeckel mehrmals beschrieben werden.

»Hört mich an, Ihr Argonauten!

Die höchste Vollkommenheit kann der Mensch nur durch Liebe erringen.

Durch jene Liebe welche das ganze Universum umfasst. Dieses ganze Universum heißt Gott.

Wer Gott über alles liebt, der wird selbst Gott, indem er in ihm aufgeht.

Der Anfang dazu ist, dass man durch Aufgabe jedes Eigennutzes sich selbst besiegt.

Das geht dann Schritt für Schritt weiter, was man aber nicht beschreiben, was man nur erleben und dann fühlen kann.

Auch Ihr habt diesen Weg schon betreten, wenn auch Euch zuerst wohl unbewusst.

Ich, ein irdisches Weib, bin auf diesem Wege schon weit vorgeschritten.

Weit für Euch.

Ja, mir sind bereits Kräfte gegeben, von denen die andere Welt nichts weiß, noch nicht einmal etwas ahnt.

Ich könnte Euch... Kunststückchen vormachen, dass Ihr aus einem Staunen ins andere fallen würdet, wenn Ihr Euch nicht entsetztet.

Aber wir, die wir so weit sind, machen keine Kunststückchen.

Trotzdem — Ihr könnt Euch nicht mit mir messen. Und trotzdem — in vielen Hinsichten seid Ihr mir himmelhoch überlegen.

Ihr könnt etwas, was ich nicht kann und was, glaube ich, alle anderen Menschen nicht können.

Wisst Ihr, was das ist?

Wollt Ihr mir einen Wunsch erfüllen? Ihr habt es mir schon zugesagt.

So singt mir jetzt noch einmal die Seligpreisungen vor, auf meinen besonderen Wunsch, also extra für mich.

Darum bitte ich Euch, und ich werde es Euch vergelten.

Lebt wohl, Ihr meine Freunde und Freundinnen, bis Ihr wieder von mir hören werdet.

Schluss!«

Die leuchtenden Buchstaben schossen zur Feuerkugel zusammen, und diese verschwand plötzlich, wie eben eine Lichterscheinung plötzlich verschwinden kann. —

Ich habe zu dieser wundersamen Episode nicht mehr viel hinzuzufügen.

Wir traten in der schönen, windstillen Nacht unter jetzt sternenfunkelndem Himmel an Deck zusammen und sangen die von Hämmerlein komponierten Seligpreisungen, und ich kann nur eines sagen: so herrlich hatte Albert den Christus noch nie gesungen, wir anderen noch nie so inbrünstig den Chor der Gläubigen, und so schön hatte Meister Hämmerlein die Orgel wohl noch niemals gespielt.

Wenigstens meiner Meinung nach.

Und wie der letzte Satz — »Seid fröhlich und getrost, es wird Euch im Himmel wohl belohnet werden« — und der letzte Orgelton verklungen war, da ertönte einige Sekunden die unter der Kommandobrücke hängende Schiffsglocke!

Ohne dass der am langen Riemen herabhängende und befestigte Klöppel dazu benutzt wurde!

Sie ertönte von ganz allein.

Es machte uns gar nichts mehr weiter aus.

Unsere Beschützerin hatte nur ihren Dank ausgedrückt.

Ein weiteres Zeichen folgte nicht nach.

*

54. Kapitel

»In der Reitzenhainer Straße
Hatt'ch ne Kaffeefrau erhängt«

Originalseiten 1430 — 1459

Eine merkwürdige Kapitelüberschrift, nicht wahr, lieber Leser? Ich will hiermit von vornherein andeuten, dass durch dieses rätselhafte Erlebnis die an Bord herrschende Fröhlichkeit nicht im Geringsten gestört wurde.

Weshalb auch?

Wir unterhielten uns ja noch oft genug über diese Vorfälle, alle Möglichkeiten erwägend, und kamen doch immer wieder zu demselben Schluss:

Weshalb soll es denn nicht hin und wieder einen Menschen oder einen ganzen Verein von Menschen geben, der durch Erfindungen oder überhaupt durch Kenntnisse aller anderen Welt, das heißt der anderen Menschheit, weit voraus ist, seine Entdeckungen aber aus irgend einem Grunde geheim hält?

In bezug auf die leuchtende Schrift hatte »Schwester Anna« schon selbst die beste Äußerung getan.

Mit der drahtlosen Telegrafie und Telefonie haben wir wohl überhaupt erst einen Anfang gemacht. Wie sich das in hundert Jahren entwickelt haben wird, das kann noch kein Mensch voraussehen.

Aber auch die Fernfotografie ist ja jetzt schon recht gut möglich, sie vervollkommnet sich immer mehr.

Und das Fernsehen, dass man etwa im Theater der Bühne gegenüber einen großen Spiegel anbringt, und jeder, der Anschluss hat, stöpselt zu Hause seinen Apparat und sieht alles mit, diese Erfindung ist nur noch eine Frage der Zeit, daran wird schon tüchtig gearbeitet.

Und wenn wir schon ein Boot, ein ganzes Schiff ohne Besatzung durch elektrische Wellen über Wasser lenken können, weshalb soll man denn da nicht auch eine Glocke ertönen lassen? Ist dies denn nicht schon überhaupt bei der drahtlosen Telegrafie der Fall, wenn der Wecker ruft?

Also bei alledem, was wir da erlebt hatten, brauchten wir durchaus nicht an Zauberei zu denken.

Wir hatten eine Beschützerin gefunden, die bedeutend mehr konnte als wir — damit wollten wir recht wohl zufrieden sein, — basta!

Ob sie auch prophezeien, in der Zukunft lesen konnte und danach uns schützend zur Seite stand, das würde sich ja später zeigen.

Darüber zerbrachen wir uns nicht den Kopf. Ich wenigstens tat es nicht.

Es wurde ja bei Gelegenheit noch viel darüber gesprochen, besonders zwischen Doktor Isidor und der Patronin, natürlich waren auch alle anderen Frauenzimmer mit Feuereifer dabei, ich aber hielt mich solchen Unterhaltungen immer fern.

Mir ganz gleichgültig, ob oder ob nicht. Wenn nur zum Schlusse alles gut geht, wenn nur alles klappt. Das ist immer die Hauptsache. Das heißt aber: wenn mir ein Geist aus der vierten oder ixten Dimension in den Weg tritt und will sich in meine irdischen Verhältnisse mischen, will mir Vorschriften machen — den Kerl packe ich, so oder so, und schmeiße ihn aus unserer irdischen Welt hinaus, dass er sich drüben in seinem Geisterreiche seine ätherischen Knochen zusammenlesen mag! Das ist bei mir ausgemachte Sache.

Und, dessen bin ich mir gewiss, so dachten auch alle meine Jungen. Ohne Ausnahme. Also auf unser bisheriges Leben hatte dies alles nicht den geringsten Einfluss gehabt, während dieser Fahrt nach Gibraltar wurden mehr Tollheiten und gute Witze denn je ausgeheckt, wovon ich aber hier nicht erst anfangen will, denn sonst müsste ich allein über diese drei Wochen ein dickes Buch schreiben.

Am 9. Dezember liefen wir im Hafen von Gibraltar ein. Wir hatten uns Zeit genommen, waren fast immer gesegelt. Wenn die Schwester Anna uns zur Eile antreiben wollte, so mochte sie nur die Glocke läuten. Aber die schwieg, kein anderes Zeichen kam.

Die Stadt Gibraltar liegt auf der Westseite des Felsens, steigt direkt vom Wasser terrassenartig an, hat 20 000 Einwohner, meist Italiener, die nämlich noch von den alten Festungsarbeiten herstammen, weil man da doch keine Spanier gebrauchen konnte, und 6500 Mann englische Besatzung.

Der großartige Hafen ist ganz künstlich angelegt, nur durch Molen eingedämmt, was bis zum Jahre 1900 schon 60 Millionen Mark gekostet hat. Übrigens ist es der einzige vollständige Freihafen Europas. Das ist ganz famos von den Engländern! Das muss man anerkennen!

Im Laufe der Tage besichtigten wir die Festung, so weit sie zugänglich ist, was ich nicht weiter beschreiben will, da kann man nur Maul und Nase aufsperren. Nämlich wie die Engländer da in den Felsen sich hineingepaddelt haben, und das Interessanteste bekommt man doch gar nicht zu sehen — dann ergänzten wir mit 400 Tonnen unseren Kohlenvorrat, sei es auch nur als Ballast, und dann gaben wir an drei Abenden hintereinander Vorstellungen, an Bord, wofür wir zusammen rund 2300 Pfund Sterling einnahmen, 46 000 Mark, die an wohltätige Anstalten in aller Welt verteilt wurden.

Unter zehn Mark war keiner der tausend Plätze zu haben gewesen, die wir aufstellen konnten. Diese englischen Söldner haben ja auch Geld wie Heu, können es in dem Städtchen ja gar nicht verhauen, über die Grenze, über die Punta de Europa, dürfen sie ja nicht.

Nun gibt es dort aber doch auch viele Offiziere, meist Aristokraten, die nicht wissen, wohin mit ihrem schweren Mammon, mit ihren Familien, es gibt sonstige reiche Leute, die sich in dem abgeschlossenen Neste vor Langeweile totgähnen — na, die hatten ja für die besseren Plätze tüchtig bluten müssen!

Es war gut, dass wir alles, was wir an Land zu suchen gehabt, vor diesen Vorstellungen erledigt hatten. Sonst wäre ein jeder von uns immer auf den Schultern durch die Straßen getragen worden, oder sie hätten uns überhaupt einfach totgemacht.

Weshalb? Weil wir auch hier wieder unser gewiss sauer verdientes Geld eben den Armen gaben. Das wirkt eben, das löste den Enthusiasmus erst richtig aus. Das ist auch ganz anerkennenswert, aber... wir wollten mit solchen Ovationen doch lieber nichts zu tun haben.

Ferner war nun hier auch schon die Seeräuberaffäre bekannt geworden, nun drängten sich die Neugierigen erst recht heran, wir bekamen Einladungen über Einladungen — aber — da gab es nichts bei uns, wir nahmen prinzipiell keine an, und wäre auch der englische König in Gibraltar gewesen.

So legte sich der Sturm nach und nach. Die Menge drängte sich nur noch Tag und Nacht am Kai und starrte unser Schiff an, ohne uns weiter zu inkommodieren.

Da aber sollten wir etwas erleben!

Es war am zweiten Morgen nach der letzten Abendvorstellung, zwischen zehn und elf. Auch in dieser Vormittagsstunde standen schon wieder etliche hundert Menschen auf der Mole und begafften uns, in der Hoffnung, nur wenigstens den Anblick eines Affen erhaschen zu können, obgleich die dort oben auf dem Felsen noch wild vorkommen, die einzigen in Europa, allerdings gehegt und gepflegt. Unsere Affen waren aber eben ganz besondere, die konnten ein Quartett spielen, sogar sechzehnhändig.

Das Laufbrett musste ausgelegt sein, das gehört im Hafen, wenn man nun einmal am Kai liegt, zur Bordroutine, ist sogar direkte Vorschrift, wenigstens muss jeder Mensch die Möglichkeit haben, an Bord zu gelangen, indem im Hafen das Schiff als Wohnung der Mannschaft gilt, und jeder Mensch darf in seiner Wohnung Besuch empfangen, worüber ich wohl schon einmal gesprochen habe. Ob man diesen Besuch empfängt, das ist ja etwas anderes.

Auf dem Laufbrett standen als Portiers — bei uns aber »Läufer« genannt — vier handfeste Matrosen, und zwar wählte ich dazu immer die rücksichtslosesten, oder doch die energischsten, will ich sagen. August der Starke hätte sich zum Beispiel dazu nicht geeignet, auch nicht Oskar, die hätten sich durch ein süßes Stimmchen und ein liebliches Frauenantlitz zu leicht betäuben lassen, das kannte ich schon — aber bei dem sangeskundigen Albert zum Beispiel gab es so etwas nicht, dieser Heiland in Matrosenausgabe setzte, wenn es sein musste, auch der heiligen Madonna den Seestiefel gegen den Leib, und solcher Charaktere gab es noch mehrere.

So lange es noch Platz an den Molen gab, mussten die Schiffe daran anlegen, das war Vorschrift, sie durften nicht in der Mitte des Hafens vor Anker gehen — dagegen war nichts zu machen.

Die Morgenpost hatte uns auch heute wieder zwei ganze Säcke voll Briefe gebracht, im Gesamtgewicht von 56 Pfund, netto, ohne Säcke. Und dabei waren die von gestern noch nicht einmal gelesen worden, noch nicht einmal sämtliche von vorgestern!

Ei die Dunnerwetter! Ich glaube, alle 27 000 Einwohner von Gibraltar machten nichts anderes mehr, als an uns Briefe zu schreiben. Es musste tatsächlich so sein.

So ging es ja in jedem Hafen, ob wir nun eine Vorstellung gaben oder nicht, ich habe mich nur niemals dabei aufgehalten, tue es jetzt zum ersten Male.

Was uns alles geschrieben wurde, das kann ich gar nicht sagen. Alles, alles, alles, was überhaupt in der Welt nur möglich ist. Der hatte Zahnschmerzen, keine Zange konnte den Stummel fassen, und fragte uns nun an, ob unser chinesischer Zahnkünstler, von dem er gehört, ihm nicht zu Hilfe kommen könne — die brauchte 10 000 Franken, um sich von ihrem Gatten scheiden lassen zu können.

Das sind so aus der Luft gegriffene Grenzen, nun mag der Leser selbst nachdenken, was zwischen diesen beiden Grenzen alles für Möglichkeiten liegen können.

Von den Vorschlägen, wie wir unser Schiff und unsere Kraft verwenden könnten, will ich gar nicht erst sprechen.

Nur noch eine kleine Andeutung: Wenn jedem Mohammedaner statt nur vier Frauen ihrer vierzig erlaubt wären, und ich hätte hundert Leute gehabt, und sie wären Muselmänner geworden — ein jeder von ihnen hätte seine Häuslichkeit mit den nötigen Ehehälften ausstatten können, ganz kostenlos, gleich hier in Gibraltar.

Ei diese Liebesbriefe, diese Anträge!

Und nun diese Adressen!

Die Frauenzimmer wussten doch gewöhnlich nicht, wie der Betreffende hieß, dem sie ihre Huldigung darbringen wollten. Nun, die Hauptsache war ja dabei der Bestimmungsort, »an Bord der Argos«, den lieferte die Post dann einfach ab, das Weitere war unsere Sache, und wenn die Betreffende nun nicht den Namen kannte, was ja fast immer der Fall war, so hatte sie den Betreffenden eben auf dem Kuvert näher beschrieben.

Ei, was wir da erlebt haben, diese Beschreibungen!

In Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und in anderen Sprachen, uns zum Teil noch ganz unbekannt, selbst unserem Doktor Isidor — und nicht zum mindesten in Deutsch.

Schon in Rio de Janeiro, wo es ja Deutsche haufenweise gibt, hatten wir uns den Spaß gemacht, alle die Variationen, in denen das Wort »Schnurrbart« geschrieben worden war, in seiner Liste zusammenzustellen.

Bis 26 verschiedene Schreibarten hatten wir zusammengebracht. Es wären noch mehr geworden, aber die Sache wurde uns zuletzt zu langweilig.

»Snuhbad« war wohl die schönste Variation gewesen. Oder der Adressat wurde auch gleich auf dem Kuvert porträtiert. Ei, diese Konterfeie, die wir da manchmal zu sehen bekamen! Zum Totschießen!

Besonders August der Starke wurde mit Vorliebe gemalt, der war ja auch am leichtesten zu charakterisieren, auch durch Beschreibung. Der war überhaupt am meisten umschwärmt. Merkwürdigerweise — wenigstens für mich merkwürdig — aber zum Beispiel auch der klapperdürre Siddy.

»An den ganz dünnen Herrn, der gar keine Knochen hat und sich mit den Zehen am Halse kratzen kann, Hochwohlgeboren.«

Und so weiter und so weiter.

Aber das hatte für uns schon längst alles Interesse verloren.

Es gab wohl gar keinen Brief mehr, der durch Adresse oder Inhalt an Originalität noch hätte übertroffen werden können.

Und doch, jeder Brief musste geöffnet und gelesen werden. Es konnte ja doch einmal einer darunter sein, der höchst wichtig für uns war, und vielleicht trug der gerade eine ganz unsinnige Adresse.

Sie wurden an die Empfänger verteilt, so weit sich das gleich erkennen oder doch erraten ließ, an dem Lesen der übrigen, und das waren noch die allermeisten, beteiligten sich alle Matrosen und Heizer und sonstigen Personen, so weit sie Lust dazu hatten. Kommandiert konnten sie doch zu so etwas nicht werden.

Nun — wir lebten einander zu Liebe — da ging dieses Geschäft immer schnell von statten. Nur vorgestern und gestern war diese Arbeit aus besonderen Gründen einmal vernachlässigt worden, das rächte sich heute bitter.

So saßen wir Hauptpersonen auch heute früh in der Kajüte und lasen die Briefe, die uns ab und zu als wissenswert aus dem Mannschaftslogis zugestellt wurden. Dort waren sie also bereits geöffnet und gelesen worden, von Matrosen und Heizern!

Eine nette Wirtschaft, diese Administration, was?

Na, geht's aber denn im Sekretariat eines königlichen Hofstaates etwa anders zu?

Sogar Doktor Isidor beteiligte sich daran, Briefe zu lesen, die so ein Matrose für lesenswert gefunden hatte, oftmals von den höchsten Würdenträgern geschrieben, von männlichen und weiblichen Herrlichkeiten — ja sogar Mister Tabak drückte manchmal auf einen englischen Brief seine zehn fettigen Finger ab.

»Hier«, sagte jetzt die Patronin zu mir, »schreibt eine Lady Evelyn Suffolk, Peeress of England, eine Herzogin, zwölf Jahre alt, mit ihrem Onkel gegenwärtig in Gibraltar — will bei uns als Schiffsjunge eintreten. Wenn wir sie nicht nehmen, vergiftet sie sich.«

Helene wies mir den Brief hin, geschmückt mit einer goldenen Herzogskrone.

Es ließ mich kalt, ich stand auf. Ich war schon zu sehr abgebrüht.

»Mag se sich vergiften!«, sagte ich und ging hinaus, zu einer Erholungspause.

Gerade hatten die vier Laufbrückenwächter ein heftiges Renkontre mit einem Weibsbilde, das durchaus an Bord wollte.

Es war eine sehr korpulente Dame mittleren Alters mit einem knallroten, höchst energischen Gesicht, unter der Nase einige Haare, auf der Nase ein ansehnliches Haarbüschel, in einem pompösen Spitzenkleide, das aber, zumal sie offenbar kein Korsett trug, wie ein Sack an ihrem massigen Körper schlotterte.


Illustration

»Und ich muss die Schiffpatronin sprechen!«, schrie sie mit Stentorstimme, dabei mit einem Spazierstock in der Luft herumfuchtelnd, der schon mehr den Namen »Knüppel« verdiente, wenn er auch einen goldenen Griff hatte.

»Die Patronin ist für niemand zu sprechen«, wurde ihr kalt entgegengesetzt, »Sie müssen ihr schreiben.«

»Ich habe bereits an sie geschrieben!«

»Dann werden Sie Antwort bekommen.«

»Ich habe keine bekommen!«

»Dann war Ihre Sache nicht wichtig genug.«

»Unerhört, unerhört!«, keuchte die Puderhenne. »Wissen Sie, wer ich bin?«

»Nee.«

»Ich bin die Lady Diggeldy!«

»So. Ich bin der Matrose Pieplack.«

»Ich bin die Gattin des Obersten Sir Diggeldy, Regimentskommandeur und Festungskommandant von Gibraltar!«

Au weh!

Das war also hier die höchste Persönlichkeit von Gibraltar, zumal wenn man annahm, dass die Frau Kommandeuse die Hosen anhatte, denn sonst wäre es doch keine echte Engländerin gewesen.

Ja, die hatte schon zwei- oder dreimal geschrieben, sie müsse die Patronin unbedingt in wichtigster Angelegenheit sprechen.

Aber was half's? Wenn wir die empfingen, dann wäre der Bann gebrochen gewesen. Nur keine Ausnahme machen! Selbst nicht bei der Frau Kommandeuse. Und wenn sie eine schriftliche Antwort haben wollte, so musste sie auch ausführlich oder doch ganz bestimmt schreiben, um was es sich denn eigentlich handele. Auf solche unbestimmte Briefe, man wolle uns in irgend einer dringenden Angelegenheit sprechen, ließen wir uns absolut nicht ein, und wenn, wie gesagt, der König von England selbst uns so geschrieben oder so gekommen wäre.

Fatal war's ja freilich doch.

Wir müssen unbedingt auf Reede hinaus, fasste ich jetzt den energischen Entschluss, es ist auch schon wegen der Tiere, die nicht mehr so lange eingesperrt sein können, und der Mann, den wir hier erwarten sollen, wird uns auch draußen zu finden wissen.

Auf den Matrosen Franz, der aber auch häufig mit seinem Vatersnamen Pieplack gerufen wurde — denn wer so einen schönen Namen hat, das darf nicht unberücksichtigt gelassen werden — machte es nicht den geringsten Eindruck, dass er die Frau Kommandeuse, die Stadtgewaltige von Gibraltar vor sich habe.

»Das ist mir piepschnuppe.«

Wenigstens gebrauchte er einen entsprechenden englischen Ausdruck. Aber ich kann doch hier nicht in englischer Sprache erzählen.

»Unerhört, unerhört!«, kollerte wieder die rote Puderhenne. »Und ich muss die Patronin, die Lady of the Sea, unbedingt sprechen!«

»Nee, gibt's nicht.«

»Und wenn ich Gewalt brauchen muss!«

»Gewalt? Probieren Sie's mal, Madam oder Mylady.«

»Sie glauben nicht, dass ich an Bord komme, wenn ich nur will?«

»Nee.«

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Sie haben's ja schon gesagt.«

Der rote Puder mit den Haaren unter und auf der Nase richtete sich noch kampfbereiter empor.

»Ich bin der General der Suffragetten von Gibraltar!«

Oho!

Von den Suffragettes — sprich, wenn es englisch sein soll, söffräddschetts — hat wohl schon jeder meiner Leser gehört. Das lateinische »Suffragium« heißt Stimme. Sie wollen also Stimmrecht haben, Wahlberechtigung.

Schon damals war diese Frauenbewegung im Gange, nicht zum Wenigsten in den englischen Kolonien, von wo sie überhaupt ausgegangen zu sein scheint, besonders in Australien gab es schon immer sogenannte »Suffragettes«. Man hörte nur nicht so viel von ihnen, weil sie sich eben wenig bemerkbar machten, noch nicht solche Tollheiten und Ausschreitungen begingen, eben noch nicht solche Propaganda für ihre Sache machten.

Nebenbei bemerkt: wenn ich ein Frauenzimmer wäre, so würde ich auch unbedingt eine Suffragette sein! Da würde ich unter allen Umständen aus Leibeskräften mitmachen! Wer Steuern zahlt, der muss auch seinen Vertreter im Parlament wählen können. Das ist recht und billig, das ist ganz klipp und klar, daran gibt es gar nichts zu deuteln! Diese jetzt verspotteten und verhöhnten Engländerinnen sind die Märtyrerinnen für eine große Sache, dereinst wird ihnen die ganze weibliche Welt Dank wissen, und nach 100 Jahren wird man ebenso wenig verstehen, wie früher ein steuerzahlendes Weib nicht wahlberechtigt war, wie wir heute kaum noch fassen können, wie man vor 200 Jahren noch Hexen verbrannte.

Der Mann, der hierüber anders denkt, mag der beste Mensch, Bürger und Hausvater sein, aber das rechte Verständnis für das Weltgetriebe spreche ich ihm ab.

»Ich bin der General der Suffragetten von Gibraltar!«

»Söff... Söff... wuoat?«

»Rufen Sie Ihre Patronin!«

»Nee.«

»Ich muss sie sprechen!«

»Ist nicht zu sprechen, für keinen Menschen.«

»Ist sie krank?«

»Nee.«

»Wo befindet sie sich?«

»In der Kajüte.«

»Rufen Sie sie.«

»Nee.«

»Dann erzwinge ich mir den Zutritt.«

»Probieren Sie's mal.«

»Sie glauben nicht, dass ich das kann?«

»Nee.«

Da setzte das rote Weib den goldenen Griff des Spazierknüppels an die behaarten Lippen und pfiff wie eine Lokomotive.

Und dann setzte sie den Stock wieder ab und fing dafür zu brüllen an:

»Tohuuuu — tohuuuuu...«

Die Wirkung dieses Signals und Schlachtgeschreis war eine wunderbare.

Nein, nicht wunderbar, sondern einfach entsetzlich. »Tohuuuu, tohuuuu, tohuuuu...«, fing es mit einem Male so hundertstimmig an, brüllend und schreiend und quiekend, und da kamen sie auch schon angestürzt.

Eine ganze Rotte wilder Frauenzimmer, teils hochelegant gekleidet, mit fabelhaft großen und federgeschmückten oder sonst wie herausgeputzten Hüten, teils auch solche sackartige Erscheinungen, alte und junge, hübsche und hässliche — ich hatte gar nicht gemerkt, dass sich dort unter dem neugierigen Publikum so viele Damen befunden hatten — und ehe wir uns versahen, waren sie schon da, waren an Deck.

Da war gar nichts zu machen. Auf solch einen Ansturm war niemand vorbereitet gewesen. Die vier Matrosen waren einfach überrannt worden.

Ja, wir hätten sie zurücktreiben können, wären zweifellos Sieger geblieben, aber...

»Hallo, hallo, das gibt's hier nicht!«, schrie ich und packte so ein zierliches Dämchen, das einen ganzen Gemüsegarten auf dem Kopfe hatte, beim durchbrochenen Glacéarm.

Ich wollte sie kräftig zurückschleudern.

Da aber fängt doch das Dämchen an zu quieken und zu quietschen, wie — wie... wie eben nur so ein Frauenzimmer quieken und quietschen kann.

Ja zum Teufel, was soll man denn da machen?

Ganz gleichgültig, ob es eine junge, schöne Dame ist mit einem ausgeschnittenen Atlaskostüm aus Paris, oder ob eine alte, hässliche Negerin, deren ganze Bekleidung aus einigen Fransen besteht — da ist Weib eben Weib, und wenn solch ein Weib so quiekt und quietscht, da ist unsereiner ganz einfach vollkommen machtlos, da hört der Mann auf, ein Mann zu sein.

Also ich ließ das Dämchen schleunigst wieder los! Das Getobe rief die weiblichen Mitglieder unseres Schiffes an Deck, sie kamen angestürzt, die Patronin und die beiden Schwestern und Klothilde.

Ja, die hätten ankämpfen können — Weib gegen Weib, das war ja etwas ganz anderes, die hätten raufen können, dass die Haare flogen, und sich gegenseitig die Augen auskratzen, — aber was wollten denn die vier Damen gegen dieses mindestens halbe Hundert weiblicher Bestien ausrichten!

Und doch... Klothilde war diejenige, die sofort den einzig richtigen Gedanken erfasste. Das war eine Strategin auf weiblichem Schlachtfelde.

»Die Pumpe — schnell die Dampfpumpe angestellt!«

Der Schlauch mit Mundstück lag vom Deckwaschen noch da, der Donkey hatte noch vollen Dampf, sofort sprang ein Matrose hin, das Ventil aufgedreht, Klothilde hatte schon den Schlauch in den Händen...

Jawohl, Klothilde, Du hattest das einzig Richtige sofort erfasst!

Nur schade, dass Du zuerst den kalten, dicken Wasserstrahl gerade mir direkt wuchtig ins Gesicht klatschen ließest und dann, wie ich mich schnell wandte, schoss der mächtige Strahl direkt in mein rechtes Ohr, dass ich drei Tage lang darauf nur undeutlich hören konnte.

Dann aber wurde der kalte Strahl richtig dirigiert, und... probatum est!

O, Ihr Londoner Polizisten, die Ihr Euch ständig mit diesen weiblichen Hyänen in Menschengestalt herumbalgen müsst, lernt doch etwas von unserer Klothilde!

»My new hat! Mein neuer Hut!«

So erklang es mindestens fünfzigstimmig, und mindestens fünfzig Händepaare fuhren nach den feder- und blumengeschmückten Hüten, und ihre Besitzerinnen machten schleunigst, dass sie wieder über das Laufbrett an sicheres Land kamen.


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»Mein neuer Hut!«, so erklang es mindestens fünfzig-
stimmig, als Klothilde den kalten Wasserstrahl auf
die herandrängenden Engländerinnen richtete.


Aber es waren mehr als mindestens fünfzig, und der Hauptzweck wurde doch noch erreicht, wir waren schließlich doch die Besiegten.

Einige wussten dem Wasserstrahle auszuweichen oder sie trotzten ihm keck, und wenn sie auch der Nymphe auf dem Pariser Montmartreplatz glichen, die gleichzeitig von 36 Wasserstrahlen bespritzt wird, von oben und unten, von vorne und hinten — die wackeren Nymphen arbeiteten sich durch nach dem Kajüteneingang, ein halbes Dutzend, an der Spitze die Generalin und Kommandeuse, drangen ein in die Kajüte.

Nun hätte Klothilde ja allerdings weiter spritzen können, aber den Siegerinnen machte das nun nichts mehr aus, die waren schon wie aus dem Wasser gezogen und um unsere schöne Kajüteneinrichtung wäre es doch schade gewesen.

Also die Schlacht war verloren, die Pumpe wurde abgestellt.

Das Parlamentieren mit den sieben triefenden Nymphen begann in der Kajüte. Na, wie die aussahen! Schon allein diese aus dem Leim gegangenen Frisuren!

»Unerhört, unerhört!«, war es diesmal unsere Patronin, die das sagte, musste sich aber dabei das Lachen verbeißen.

»Ich musste Sie unbedingt sprechen!«, keuchte die Frau Kommandeuse, deren üppige Körperformen man jetzt wie in natura bewundern konnte, denn das nasse Spitzenkleid klebte wie ein Trikot an dem taillenlosen Leibe.

»Das ist Hausfriedensbruch!«

»Ich werde mich dafür verantworten, dafür bestrafen lassen — aber sprechen musste ich Sie unbedingt!«

»Nun gut — was wünschen Sie denn nur?«

Die Unterhaltung wurde gemütlicher. Die Brunnennymphen setzten sich, verdarben unsere ganze Möbelgarnitur, wofür sie sich später allerdings großartig revanchierten, die Kommandeuse trug ihre Wünsche vor.

Ich fasse es summarisch zusammen. Die Sache war folgende:

Das ganze gesellschaftliche Leben dieser englischen Festungskolonie spielte sich natürlich in den Klubs ab.

Auch die Damen der Offiziere und Beamten und sonstigen hochstehenden Persönlichkeiten hatten ihren eignen Klub — und was für einen, ein ganzes Klubhaus, einen richtigen Palast!

Da gingen die Einladungen immer hin und her, keine Woche ohne glänzendes Fest, wobei natürlich auch getanzt wurde.

Nun war es die alte Geschichte. Alle die Herren hatten keine Lust mehr zu tanzen. Sie engagierten nicht. Ob in Frack oder Uniform — sie alle lungerten gähnend an den Wänden herum, die Hände gentlemanlike in den Hosentaschen, auch die Herren Offiziere, und suchten sich möglichst bald wieder zu drücken, nach dem Büfett, an den Spieltisch oder sonst wohin. Nur nicht tanzen.

Wenn sich einmal ein Paar drehte, das war eine große Ausnahme, da musste eine starke Pflicht dahinter stecken.

»Das ist ein Skandal!«, lasse ich die nasse Puderhenne jetzt selbst sprechen. »Unsere jungen Damen sollen tanzen, müssen tanzen! So spreche ich als General der Suffragetten. Da sehen Sie wieder, wie freidenkend wir sind. Das Tanzen hat mit dem weiblichen Wahlrecht gar nichts zu tun. Wir sind Frauen und wollen Frauen bleiben! Wir sind auch einmal junge Mädchen gewesen und haben gern getanzt, deshalb sollen auch die heutigen jungen Damen tanzen! Ich tanze noch heute für mein Leben gern, könnte zwei Stunden hintereinander aushalten. Aber nicht zu machen bei diesen heutigen jungen Herren! Das ist ein Skandal!«

Sie wischte sich die Mischung von Seewasser und Schweiß aus dem knallroten Gesicht — die Patronin war schon immer während des langatmigen Berichtes unruhig auf ihrem Stuhle herumgerutscht.

»Ja, Mylady, was soll ich dabei tun?«, fragte sie jetzt.

»Hören Sie mich an, verehrteste Mylady. Hier muss einmal ein Exempel statuiert werden. Diese Herrchen sollen eine Lektion bekommen, eine fürchterliche Lektion! Morgen Abend hat unser erster Damenklub seinen speziellen Tanzabend; also einen speziellen Ball, wie jeden Monat einmal. Dass die Herren diesmal nicht eingeladen werden, das war bei uns bereits abgemachte Sache. Eine Bestrafung ist das allerdings nicht für diese Schlappsäcke... pardon, ich habe manchmal etwas starke Ausdrücke — aber eine grenzenlose Blamage ist es für sie doch, und es wird ja auch eine Skandalaffäre daraus werden. Never mind, wir wissen immer, was wir tun.

So wollten wir Damen also zusammen tanzen. Aber ganz das Richtige ist das doch noch nicht. Wenn wir nur andere Tänzer hätten. Aber wen? Dass wir hiesige Männer oder Herren einladen, die dem ersten Klub nicht angehören, das ist aus besonderen, aus politischen Gründen ganz ausgeschlossen — wegen der nächsten Parlamentswahlen, Sie verstehen wohl. Es müssen Fremde sein.

Da, wie Ihr Schiff hier ankam, ging mir die grandiose Idee auf. Ob unsere Tänzer wohlgepflegte Fingernägel oder harte Arbeitshände haben, darauf kommt es uns gar nicht an, da sind wir nicht so. Wir sind ganz moderne Weiber mit starken Weltansichten. Anständig müssen die Männer natürlich sein. Und da dachte ich... never mind, ich fasse mich ganz kurz: Mylady, pumpen Sie uns Ihre Matrosen für morgen Abend zum Tanzen!«

Die Frau Kommandeuse hatte gesprochen.

Und das Gesicht unserer Patronin war immer länger geworden.

Ach, hatte die ein langes Gesicht bekommen! Weshalb, das lässt sich wohl leicht denken.

Ihr Volk, ihre Argonauten, ihre Helden — die sollten für diese faulen englischen »Schlappsäcke« einspringen, sollten diese englischen Dämchen herumschwenken — Tanzmatrosen!

Na, da kam die ja bei unserer Patronin schön an! »Mylady...«

Weiter kam Helene nicht.

Da war mir plötzlich ein grandioser Gedanke durch den Kopf geschossen.

»O ja, Mylady, Sie können unsere Matrosen bekommen, gewiss doch.«

Ein mehr entsetzter als erstaunter Blick der Patronin traf mich, aber ehe sie ein Wort sagen konnte, hatte ich ihr schon unter dem Tische auf den Fuß getreten, und auch von meiner Seite ein Blick — und Helene war nicht auf den Kopf gefallen, die wusste jetzt sofort, dass ich etwas Besonderes vorhatte — ihr langes Gesicht wurde gleich wieder normal.

»Bitte, sprechen Sie darüber mit diesem Herrn, mit dem Waffenmeister, das ist dessen Sache — über die Mannschaft hat nur dieser zu bestimmen.

»Aaaah, der Herr Waffenmeister! Der berühmte Waffenmeister der Argonauten, der sie so phänomenal ausgebildet hat! Es gereicht mir zur Ehre.«

»Dito.«

»Also Sie gestatten, dass Ihre Matrosen für uns Tänzer abgeben?«

»Nu sicher.«

»Sie können doch tanzen?«

»Nu allemal.«

»Denn, wie ich weiß, die meisten sind doch Deutsche.«

»Nu freilich.«

Hierzu bemerke ich, dass die Engländer und Engländerinnen, sonst in allen Körperübungen so bewandert, durchweg herzlich schlechte Tänzer sind. Einfach deshalb, weil ihnen die Gelegenheit, also die Übung fehlt. In England kommen da überhaupt nur die sogenannten »besseren Kreise« in Betracht. Im Volke, das seiner Arbeit nachgeht, ist das Tanzen so gut wie unbekannt. Öffentliche Tanzlokale gibt es überhaupt nicht, und die Klubs müssen doch immer nur als Ausnahme betrachtet werden. Dennoch tanzt der Engländer leidenschaftlich gern, eben gerade deshalb, weil ers nicht kann. Und das Ideal eines Tänzers für ihn ist jeder Deutsche. In England ist man im Allgemeinen nicht gut auf den Deutschen zu sprechen, aber im Tanzsaal ist er der vergötterte Held, da muss er ran. Also wer nach England geht, mit der Aussicht, in die »besseren Kreise« zu kommen, zu großen Gesellschaften eingeladen zu werden, in die Klubs — der schmiere sich vorher nur seine Tanzbeine ein! Und nicht zu vergessen: seine deutschen Volkslieder muss er vorsingen! Und da kann er grölen wie er will, er wird einen enthusiastischen Beifall ernten! Das ist etwas ganz Merkwürdiges.

»Wie viel Matrosen können Sie stellen?«

»Ja, wie viel Damen sind es denn?«

»Genau 47. Ich mit einbegriffen. Nicht eine mehr und nicht weniger. 47 können kommen, und da müssen sie kommen. Ich bin Präsidentin des ersten Damenklubs von Gibraltar, und da halte ich auf strengste Ordnung. Nur Tod oder schwerste Krankheit könnte entschuldigen. Können Sie 47 Mann stellen?«

»O gewiss. Es müssten allerdings einige Heizer hinzugezogen...«

»Tut gar nichts zur Sache. Wenn es nur anständige Menschen sind.«

»Sicher.«

»Und natürlich sauber gewaschen.«

»So wie...«

Na, ich hätte beinahe etwas gesagt, unterdrückte es noch rechtzeitig.

»Tadellos in Kleidung und Manieren.«

»Sie können auch mehr bringen.«

»Kann gemacht werden. Und auch die Kapelle werden wir...«

»Es spielt wie immer unsere ausgezeichnete Garnisonskapelle.«

»Ach bitte, die Musik möchten wir lieber selbst übernehmen.«

»Weshalb?«

»Weil wir nun einmal...«

»Gewiss, gewiss, ganz wie Sie bestimmen. Und wie herrlich Ihre Leute musizieren können, das haben wir ja schon erfahren.«

»Wir werden nur die neuesten Tänze blasen...«

»Ganz wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen. Wir tanzen jede Tour.«

»Jede Tour, schön. Und wann beginnt der Rumm... der Tanz?«

»Punkt acht Uhr. Wenn Sie nur um acht Uhr da sind. Eine Vorstellung gibt es bei solch einer Gelegenheit nicht, nicht im allgemeinen und nicht im besonderen, also auch der Herr stellt sich nicht der Tänzerin vor, das wissen Sie wohl. Um zehn Uhr findet eigentlich ein Souper statt, da wird erst, vorgestellt, aber — aber...«

»Sie möchten dieses Souper wohl lieber ausfallen lassen?«

»Ja, in diesem Falle — in diesem Falle...«

»Bitte, sprechen Sie ganz ungeniert. Also kein Souper, keine Tafel.«

»Nein. Bitte nicht. Es wird ein kaltes Büfett aufgestellt werden, das natürlich nichts zu wünschen übrig lassen wird...«

»Selbstverständlich, selbstverständlich.«

»Und Getränke, auch Champagner — Sie haben doch Ihre Leute genügend in der Zucht, dass sie sich nicht etwa besaufen?«

Wir sprachen englisch, und sie hatte das Wort »boos« gebraucht, das man nicht anders als mit »saufen« übersetzen kann. Obgleich man es in der besten Gesellschaft aussprechen darf. Sonst lässt ja bekanntlich der Engländer selbst die Tiere nur »trinken«, für ihn kann nur ein Mensch saufen — gar nicht so mit Unrecht.

»Aber ich bitte Sie, Mylady, meine Argonauten, was meinen Sie...«

»I beg your pardon.«

»Und bis wann dauert es?«

»Eigentlich bis zwei. Da sind aber diese Schnupfsäcke von Herren schon regelmäßig alle verschwunden. Es kann auch länger dauern.«

»Bis vier, wollen wir sagen?«

»Das kommt ganz darauf an, wie lange es Ihre Leute aushalten. Die werden das Tanzen doch nicht sehr gewöhnt sein.«

»Allerdings nicht.«

»Aber unsere jungen Mädchen wollen sich einmal austanzen, und ich auch, das muss ich offen gestehen.«

»Meine Leute werden schon ihr Bestes tun. Ist dann sonst alles in Ordnung?«

»Ich wüsste nichts mehr, was zu besprechen wäre.«

Die sieben klitschnassen Nymphen verabschiedeten sich mit herzlichstem Danke, stiegen in unterdessen herbeigeholte Wagen.

»Ach, das wird ja himmlisch!«, hörte ich sie noch flöten.

Ja, es sollte himmlisch werden.«

Wartet, Ihr Luders, meine Argonauten als Tanzmatrosen gebrauchen zu wollen!

*

Dieser und der nächste Tag verging.

Niemand kam, dessentwegen die Schiffsglocke geisterhaft geläutet hätte.

Einmal kam ein Diener, auch die Frau Kommandeuse selbst, um sich zu vergewissern, dass wir nicht etwa unseren Entschluss geändert hätten.

I Gott bewahre!

Ein Mann, ein Wort!

Da gab's doch gar nichts zu fackeln!

Im Mannschaftslogis wurde schon nichts anderes gemacht als weiße Handschuhe zusammenzuflicken und Lackschuhe herzustellen, bei denen niemand vermutet hätte, dass der Untergrund aus Segeltuch bestand.

Der Abend kam, punkt halb acht rückten wir ab, in Gala tadellos aufgetakelt, 68 ausgewachsene Männer mit zehn Trompeten und Posaunen und zwei großen Pauken.

Fünf Minuten vor acht waren wir klar zum Gefecht. Rinn in den Saal!

Da saßen abgezählte 47 Damen im strahlenden Halbkreis und wedelten mit den Fächern.

Ei die Dunnerwetter!

Erstens dieser Saal, zweitens diese Damen!

Denn die wollten sich nicht lumpen lassen, wollten ihre Tänzer nicht lumpen, weil es nur Matrosen waren!

Alles genau wie sonst!

Die prachtvollsten Toiletten, die oben nicht anfingen und unten nicht aufhörten, alles ein Gefunkel von Diamanten und Perlen.

»Hört, Kinder«, sagte Doktor Isidor beim Eintreten, »dass Ihr beim Tanzen nischt maust!«

Dann musste ich schnellstens unseren Mister Tabak beim Schlafittchen nehmen, denn der hatte schon das im Nebensaal aufgebaute ungeheure Büfett erblickt, wollte gleich drauf los, um es abzugrasen.

Die zwölf abgeteilten Mann hinan aufs Orchester, ein furchtbarer Tusch, wir mit zierlichen Schrittchen losgehüpft auf die Damen, eine Verbeugung gemacht und...

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

So begannen zehn Posaunen und Trompeten und zwei Pauken loszuschmettern.

Kennst Du, geneigter Leser, dieses schöne Lied, als Tanzmelodie unvergleichlich?

Es ist sehr zu bedauern, wenn Du es nicht kennst. Dann hast Du etwas versäumt. Das musst Du nachholen.

Es ist ein Hopser.

Die Engländer hopsen nämlich überhaupt alles. So wird aber auch bei Hofe getanzt, auch am deutschen, an allen Höfen. Da wird nur gehopst. Mächtig gehopst. Immer so hoch als möglich. Schleifende Walzer gibt es gar nicht. Immer nur recht hoch gehopst.

Die Matrosen hingegen schleifen mit Vorliebe, und zwar auf den Hacken, aber sie können auch hopsen, wenn sie nur wollen.

Und meine Jungen hopsten. Ich hatte sie doch instruiert. Na und wie die hopsten!

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Ich will es kurz machen, es wenigstens versuchen. Acht geschlagene Stunden lang, bis morgens früh um vier, haben wir keine einzige Dame auch nur eine einzige Minute aus den Klauen gelassen!

Nicht eine Viertelminute lang!

Keine hat sich einmal setzen dürfen!

Immer aus einem Arm in den anderen!

Und acht geschlagene Stunden lang schmetterten und tobten ununterbrochen die zehn Trompeten und Posaunen und zwei Pauken:

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt...«

Ununterbrochen immer ein und derselbe Hopser!

Jeder Musikant, der einmal abtreten wollte, um zu tanzen oder ans Büfett zu gehen, wurde sofort durch einen anderen ersetzt.

Aber bei den Damen gab's nichts. Die durften nicht ans Büfett gehen!

Die hatten nicht mit uns soupieren wollen, die hatten nur tanzen wollen... schön, mein Püppchen, tanze, immer tanze!

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Dass jeder seine Tänzerin, wenn sie die Zunge gar zu lang aus dem Hals reckte, schnell einmal tränkte, das war alles.

Aber freigegeben wurde sie nicht, immer aus einem Arm in den anderen!

Und auch zu essen bekamen sie nichts!

»Na was denn? Das waren doch Suffragettes. Die wollten doch mit den Männern gleich Wahlberechtigung haben. Und mit dem Steuerzahlen ist es da doch nicht abgetan. Da muss man auch mit Gott für Fürst und Vaterland in den Krieg. Und da gibt's manchmal noch viel länger als acht Stunden keinen Bissen.

Das hier war also eine gute Vorübung, demnach...

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

War das etwa fürchterlich? War das Tierquälerei?

Ich kann nur eines sagen: oben in den Logen befand sich die Patronin mit unseren Bordweibern, es gesellten sich als Zuschauer auch immer mehr Herren hinzu, obgleich die ja gar keinen Zutritt hatten. Heute war ja aber alles außer Rand und Band, sie hatten sich einzuschleichen gewusst.

Und dort oben kugelte man sich vor Lachen!

Im übrigen ging es durchaus anständig zu. Nicht das geringste fiel vor.

Nur Doktor Isidor hatte sich am Likörbüfett wieder einmal wie ein Stint bezecht, machte aber weiter keinen Unsinn, tanzte nicht mehr, klammerte sich hübsch fest und saugte weiter aus den Schnapsflaschen wie eine Biene aus Blumenkelchen.


Illustration

Und dann allerdings unser Mister Tabak! Der war nicht sehr fürs Tanzen, was man ihm bei solchen krummen Beinen auch nicht verdenken konnte, der weidete nur immer das Büfett ab. Na, da war ja nichts weiter dabei, wenn er nun einmal solchen Hunger hatte. Aber nicht hübsch von ihm war, dass er dann einmal, weil der Büffettisch ungemein breit war, er nicht überall hinlangen konnte, tatsächlich auf allen vieren zwischen den Schüsseln darauf herumkroch und aus den Sardinenbüchsen das Öl aussoff.

Gegen zwei Uhr erlosch plötzlich das elektrische Licht. Spinnenduster war es. Ich glaube sicher, so ein Herr dort oben hatte für diese Finsternis gesorgt.

Aber sie irrten sich. Es wurde ruhig im Finstern weiter getanzt.

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Es gab einige mächtige Karambolagen, weiter nichts. Und dann gab es auch noch einen gewaltigen Krach mit Gläsersplittern.

Schon nach wenigen Minuten, während welcher keine einzige Dame aus den Klauen gelassen worden war, flammte das elektrische Licht wieder auf, und da sahen wir die Bescherung.

Doktor Isidor war nur zwischen die Likörflaschen gefallen.

Hatte sich nicht weiter beschädigt, nur in die Zunge hatte er sich geschnitten, weil er die Scherben ausleckte.

Und ferner war Oskar, der wie ein angeschossener Floh herumhopste, die Füße wirklich meterhoch warf, während der Finsternis in einen Rohrstuhl getreten, gleich durch, hatte den Stuhl am rechten Beine hängen, und er streifte ihn nicht etwa gleich ab, das gabs bei dem nicht, der tanzte erst seine Kaffeefrau zu Ende, und dann erst, als er seine Dame einem anderen überliefert hatte, stieg er aus dem Stuhle heraus, rannte nach dem Büfett, bohrte sich in aller Schnelligkeit wie eine verhungerte Ratte in einen holländischen Käse ein, dann mit noch kauendem Munde auf eine andere Dame losgeschossen, die gerade frei wurde, und...

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Um vier marschierten wir in geschlossener Kolonne ab, unsere Damen den Dienern und barmherzigen Schwestern überlassend.

Wie es in dem Saale aussah, will ich nicht zu beschreiben versuchen. Alles eine Nässe. Die Atmosphäre war, wie der stereotype Ausdruck lautet, mit Feuchtigkeit geschwängert. August der Starke zog noch auf der Straße wie eine Schnecke eine nasse Spur hinter sich. —

Ich will es gleicht kurz erledigen, was noch damit zusammenhängt.

So hatte ich den Damen, die meine Argonauten als Tanzmatrosen gebrauchen wollten, eine Lektion erteilt.

Aber der Erfolg war eigentlich doch ein recht negativer.

Man denkt wohl, die hätten uns das übelgenommen, uns wegen Tierquälerei verklagt?

I Gott bewahre!

In den nächsten Tagen regnete es geradezu Briefchen, die uns meist auf geheimnisvolle Weise zugestellt wurden.

Wir wurden mit Geschenken überschüttet, deren anonyme Absender sehr leicht zu erraten waren.

Ich zum Beispiel erhielt ein Zigarrenetui zugestellt, inwendig mein Monogramm aus Diamantsplitterchen, das genau so nach Ylang-Ylang und Patschuli stank, wie die Kommandeuse danach gestunken hatte. Habe das Ding niemals gebrauchen können.

Wir bekamen es auch noch direkt zu hören, wie köstlich sich die Damen amüsiert hätten. So etwas sollte recht bald wieder gemacht werden.

Ja, dort in Gibraltar ist mir zum ersten Male aber auch ganz deutlich zum Bewusstsein gekommen, dass an der stereotypen Redensart alter, ausgedörrter Lebemänner, die sie in Romanen und auf der Bühne so gern tun, doch etwas Wahres ist: nämlich dass die Weiber einfach ganz unberechenbar sind!

*

55. Kapitel

Die Glocke läutet!

Originalseiten 1459 — 1474

Wieder waren vier Tage vergangen, und die Schiffsglocke war noch nicht von Geisterhand geläutet worden, kein anderes Zeichen hatte unsere unsichtbare Gönnerin von sich gegeben.

Ich stand neben dieser Glocke unter der Kommandobrücke und überlegte mir, was für ein Mittel ich nun noch probieren könnte, um den ekelhaften Moschusgeruch endlich wieder loszuwerden. Alle Waschungen mit greuner Seep, Soda, Sand und die verschiedensten Räucherungen hatten bisher nichts genützt. Vielleicht existierte der schreckliche Geruch nur noch in meiner Einbildung, aber das half nun nichts, auch das schärfste Paprikafleisch schmeckte mir nach Ylang-Ylang und Patschuli, es war gar nicht mehr zu ertragen.

Selten habe ich so viel geflucht wie damals in Gibraltar, und immer mehr kam ich zur Überzeugung, dass nur ich derjenige gewesen, der bei dieser Geschichte hereingefallen war. Die Frau Kommandeuse hatte mir da einen Denkzettel angehangen, den ich vielleicht Zeit meines Lebens nicht wieder los wurde, und dass die anderen, die ebenfalls mit dieser Dame getanzt hatten, nichts von dem nachträglichen Parfümgestank wissen wollten, das konnte mich nicht trösten.

Und weiß der Teufel, während dieser Zeit, die ich meine Moschusperiode nenne und die mich tatsächlich sehr unglücklich machte, surrte mir fort und fort ein Gedicht durch den Kopf, das ich irgendwo einmal gelesen oder gehört hatte, den poetischen Erguss eines ganz modernen Rinnsteindichters, und für mich hatte diese Sache damals so große Bedeutung, dass ich die geistreichen Verse meinem Leser nicht vorenthalten möchte:


Ich kenn ein glücklich Hundevieh,
Das wäscht man nur mit Patschuli
Und wohlriechender Seife.
Des Mittags kriegt es nur Filet,
Kriegt es was andres, sagt es: »Nee,
Solch Fressen, das ist treife.«

Ich aber lebe wie ein Schwein,
Der Wind pfeift mir durchs Hosenbein.
Ich habe keine Decke —
Ich friere an der Ecke.


Das ist eine Probe der allermodernsten Poesie.

Trotz der frühen Morgenstunde drängten sich die Menschen schon und noch immer auf der Mole, um uns zu bewundern.

Heute war allerdings auch ein besonderer Grund dazu vorhanden.

Gestern Nachmittag hatten wir einer Herausforderung der Garnison zu einem Fußballmatch Folge geleistet. Die Garnison von Gibraltar, wenn sie auch manchmal wechselt, ist selbst in der englischen Heimat als unüberwindliche Fußballmannschaft gefürchtet. Die Kerls haben ja in dem Felsennest nichts weiter zu tun.

Wir hatten uns ihren besten Kämpfern gestellt. Aber mit uns war nichts zu machen gewesen. Innerhalb von 20 Minuten hatten wir acht Tore geschossen, und nicht aus Leichtsinn, sondern wirklich nur aus Großmut hatten wir auch dem Gegner einen Schuss durch unser Tor gestattet.

Da war es kein Wunder, wenn sich die Menge schon bei Sonnenaufgang auf dem Kai staute, um uns Ovationen zu bringen. Denn Fußball ist dem Engländer Fußball, da geht ihm nichts drüber.

Briefe bekamen wir nach wie vor in unverminderter Zahl, aber auch noch immer versuchte ab und zu ein naives Menschenkind, persönlich Einlass zu finden.

So auch jetzt, in der neunten Morgenstunde. Auf dem Laufbrett stand ein Mann, verhandelte mit den Wächtern.

Es war ein noch junger Mensch, der mir einen ganz verdächtig deutschen Eindruck machte. Außerdem offenbar ein blondlockiger Künstlerkopf, der von dem breitrandigen Sombrero geschmückt wurde.

»Tut mir leid, die Patronin ist prinzipiell nicht zu sprechen!«, sagte denn jetzt auch der Matrose auf Deutsch. »Nein, auch der Waffenmeister nicht, nicht der Kapitän, niemand. Sie müssen schreiben, kurz, aber doch ganz bestimmt, was Sie wollen. Ist die Sache eine Antwort wert, dann bekommen Sie eine, sonst nicht.«

So hörte ich den Matrosen sprechen.

Da schrak ich furchtbar zusammen.

In diesem Augenblick begann plötzlich neben mir die Glocke zu tönen, ohne dass der herabhängende und befestigte Klöppel benutzt wurde, ohne dass die große Glocke schwang.

Da muss man wohl erschrecken, wenn man kein blödsinniges Tier ist. Nach Schopenhauers Theorie soll man ja nur über relle Geistererscheinungen nicht erschrecken.

Wenn ich erschrak, so musste also die Glocke durch eine irdisch-physische Kraft in Schwingungen versetzt werden, so rätselhaft diese auch sein mochte.

Es mochten ungefähr 20 Schläge gewesen sein, laut und deutlich genug, um das ganze Schiff rebellisch zu machen, wenn auch nicht zu verwechseln mit dem Feueralarm, der übrigens bei uns gar nicht mit der Glocke signalisiert wurde, sondern durch die Sirene mit komprimierter Luft.

Bei den letzten Tönen legte ich die Hand an die Glocke. Die Vibrationen der Metallwände wurden ganz regelrecht gehemmt.

Dann ließ ich Glocke Glocke sein und ging schnell hin nach der Laufbrücke.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte gern die Patronin sprechen, die Freifrau von der See Helene Neubert. Bitte, bitte, machen Sie es doch möglich!«

Es war ein männliches, äußerst sympathisches Künstlergesicht, in das ich blickte. Der Ausdruck einer gewissen Melancholie gehört meiner Meinung nach zum echten Künstler — da hatte ich schon in meiner Jugend einige Erfahrungen gesammelt — wenn er auch nicht gerade so stark zu sein braucht wie in diesem Antlitz.

»Sie sind wohl Maler?«

»Ja.«

»Ihr Name?«

»Reinhold Gerlach.«

Da fing die Glocke abermals zu läuten an.

»Schon gut, schon gut, weiß schon!«, musste ich Brummbär nach der Glocke abwinken.

Alles war bereits an Deck gestürzt, denn was es mit diesem Glockenläuten ohne Klöppel für eine Bewandtnis hatte, wussten sie ja alle.

»Kommen Sie mit.«

Ich führte ihn in die Kajüte, die Hauptpersonen kamen zusammen, die Patronin nahm schnell den letzten Lockenwickel aus den Haaren. Klothilde hatte noch einige Haarnadeln zwischen den Zähnen.

Kennt man das — mir fällt immer einmal so etwas ein, und dann muss es auch heraus — wie dem Mark Twain, dem berühmten amerikanischen Humoristen, nun leider auch schon im Jenseits, die Marmorstatue gezeigt wird?

Es ist so eine berühmte antike Figur, ein nacktes Weib, das sich mit kokett zurückgeneigten Armen die Haare frisiert, dabei offenbar in einen Spiegel blickend.

»Wie gefällt Ihnen das?«, fragt der Besitzer der Statue.

Mark Twain mustert mit kritischen Augen.

»Ganz unnatürlich, ganz unnatürlich.«

»Was?!«

»Die hat ja keene Haarnadeln im Munde.«

Das ist Mark Twain! Auch ein ehemaliger Seemann, als Pilot und als Heizer gefahren. —

Wir hatten uns gesetzt.

»Nun, mein junger Freund, was bedrückt Sie?«

Ja, ganz gedrückt saß er da. Die feinen Hände gefaltet, mit einem unsäglich traurigen Gesicht.

Dann kam es heraus.

»Meine Schwester ist verschleppt worden.«

»Verschleppt?! Wo denn? Wohin denn?«

»In Konstantinopel — in den Serail des Sultans.«

Ich erzähle es anders, als wie wir es nach und nach erfuhren.

Eine romantische Geschichte, die manchem vielleicht unglaublich klingen mag, und doch passiert so etwas alle Tage, und kein Hahn kräht danach.

Reinhold Gerlach war ein akademisch geschulter Maler, ein talentvoller, ein gottbegnadeter Maler.

Wer einigermaßen Einblick in solche Verhältnisse gewonnen hat, der weiß ja, was es mit der Malerei als Erwerb auf sich hat. Wer kauft denn Gemälde?

»Was soll ich denn mit dem Bilde«, sagt der reiche Parvenu zu dem Künstler, der ihm seine neueste Schöpfung zeigt, ein schönes Weib, nur mit dem Gürtel der Venus bekleidet. »Hundert Taler soll das Ding kosten? Was soll ich denn mit dem Bilde. Nach Modell gemalt? Wissen Sie was — geben Sie mir die Adresse von dem Mädel, geben Sie mir eine Empfehlung mit — dann kriegen Sie hundertfünfzig Taler.«

Ich persönlich kenne einen Maler, der — es ist noch gar nicht so lange her — die Familie eines regierenden Fürstenhauses porträtierte. Natürlich auf Bestellung. Da muss er also doch schon einen Namen gehabt haben, auf den eben alles ankommt. Und während dieser langen Zeit hat der Mann bunte Bilder für die Innenseite von Zigarrenkistendeckeln gemalt, entworfen! Um nicht zu verhungern!

Man hält es kaum für möglich. Der musste doch Vorschuss bekommen. Nein, eben nicht! Auch der spekulanteste Jude gab ihm auf die Porträts der Königskinder hin keinen Pfennig! Denn die Bilder konnten ja missfallen, brauchten nicht abgenommen zu werden. Da malte der Künstler nebenbei federgeschmückte Indianerinnen auf Zigarrenkisten, um nicht zu verhungern. Die Porträts fanden Beifall — jetzt freilich ist der fein 'raus, jetzt will jeder Isaak Levisohn von ihm konterfeit sein, jetzt wälzt der sich auf Gold.

Kurz, obgleich schon mehrere seiner Werke in verschiedenen Gemäldegalerien ausgestellt waren und enthusiastisch bewundert wurden, pries sich der gottbegnadete Reinhold Gerlach glücklich, als er endlich in einer Ansichtspostkartenfabrik als technischer Leiter der Farbenharmonie mit monatlich 150 Mark fest angestellt wurde. Nun brauchte er wenigstens seiner Schwester Hildgard, die für einen Hungerlohn in einem fotografischen Atelier tätig war, nicht mehr zur Last zu fallen.

Es kam noch besser. Auch Hildgard wanderte hinüber in die Ansichtspostkartenfabrik. Und die beiden bekamen zusammen den ungeheuren Gehalt von monatlich 500 Mark. Freilich mussten sie dafür auch die ganze Welt bereisen. Um Sujets für Ansichtspostkarten zu finden. Ohne weitere Reisespesen. Einen Gehilfen hätte Reinhold, wenn er auch fotografieren konnte, so wie so mitnehmen müssen, weil er immer eine auseinanderschiebbare Feuerwehrleiter mitzuschleppen hatte, von deren Spitze Gebäude und so weiter fotografiert werden mussten — na, da nahm er gleich die Schwester mit.

Die Geschwister merkten ja bald, dass der ungeheure Gehalt hinten und vorn nicht langte, aber sie wussten sich einzurichten, sie kamen durch, und sie sahen dabei doch die Welt.

Als erstes war ihnen die sogenannte Hundelinie vorgeschrieben, die Route von Budapest nach Konstantinopel. Hauptsächlich sollten sie alle interessanten Moscheen mitnehmen, das Innere wiedergeben, und da darf man nicht viel fotografieren, da kann man leicht gesteinigt werden. Deshalb eben der gottbegnadete Künstler mit seinem Tuschkasten.

Also Belgrad, Sofia, Philippopel, Adrianopel, Dadscharopopel — und so opelten und popelten die beiden weiter bis nach Konstantinopel.

Sie wohnten in der christlichen Vorstadt Pera, wo es aber noch muselmanisch genug zugeht. Ich war auch schon dort gewesen. Auch dort kann man des Nachts vor dem Geheul der wilden Straßenhunde nicht schlafen, und nach jedem Regen bleibt man im Kote stecken. Sie wohnten bei einer armenischen Familie. Die Armenier sind gar keine unrechten Menschen, in Kleinigkeiten sind sie ehrlich.

Eines Tages war Reinhold auf der Kunstfahrt, Hildgard entwickelte zu Hause die Platten.

Als er heimkam, war sie gerade fortgegangen, hatte etwas beim Drogisten holen wollen.

Sie kam nicht wieder. Zur Polizei gelaufen, zum deutschen Konsul — ja, was sollte da gemacht werden.

Hildgard kam nicht wieder.

Aber am dritten Tage musste Reinhold Strafporto für einen unfrankierten Brief bezahlen. Er tat es gern, denn er erkannte doch gleich die Handschrift seiner Schwester. Stutzig machte ihn nur, dass das Kuvert selbst hergestellt und zusammengeklebt war.

»Reinhard, ich bin verschleppt worden — ich bin als Odaliske im Harem des Sultans — im Serail, mehr weiß ich nicht — ich werde ganz gut...«

Nichts weiter. Vorzeitig abgebrochen.

Der junge Mann machte den großen Fehler, dass er zuerst zur türkischen Stadtpolizei ging und dort auch noch das Zettelchen aus den Händen gab.

Er sah es nie wieder. Wurde nur wegen dieses Zettelchens von Pontius zu Pilatus geschickt und gab seine diesbezüglichen Bemühungen erst auf, als er seine neuen Stiefelsohlen durchgelatscht hatte.

Konsulat, Gesandtschaft, wohlwollende, einflussreiche Persönlichkeiten, die ihn wirklich einmal anhörten — immer nur ein bedauerndes Achselzucken.

Ich will es nicht weiter schildern, mir steigt noch immer das Blut siedend heiß zu Kopfe, wenn ich nur daran denke, was ich damals zu hören bekam. Der junge Mann besaß den unverzeihlichen Fehler, dass er kein Geld hatte. Nicht einmal ein »von« vor seinem Namen. Keine vornehme Verwandtschaft.

Und auch dies alles hätte ihm wohl nichts geholfen. Ja, wenn's eine Prinzessin gewesen wäre, die aus Versehen abhanden gekommen und die man im Serail des Sultans vermutet hätte.

Aber wegen solch eines armseligen Malermädels. Wohl deswegen politische Verwicklungen einleiten?

Weiter fehlte nichts!

Diese dreckigen Türkenhunde lachen uns doch aus! Und die Türken verhöhnen und verachten uns eingeborenen Europäer mit vollkommenem Rechte.

Christliche Generationen haben die herrliche Sophienkirche gebaut, die asiatischen Türken pflanzen den Halbmond darauf, und wir dulden es ruhig. Wir borgen unseren alten Erbfeinden auch noch Geld, um recht viel »Proßentche« zu bekommen.

Doch genug davon.

Der Tag der Abrechnung wird schon noch einmal kommen.

*

Am 11. Januar dieses Jahres war es gewesen, als Hildgard verschwand.

Zwei Wochen später gehörte Reinhold mit zu denen, die täglich des Mittags vor dem Tor des deutschen Hospitals sitzen und darauf warten, ob für sie von der Krankenkost ein Schüsselchen übrig geblieben ist.

Sein Geld war verbraucht. Ach, was hatte der für Hände füllen müssen! Bakschisch! Ohne irgend etwas dafür zu haben. Alle seine Habseligkeiten schon verkauft. Auch was er noch zu Hause gehabt, hatte er sich schon schicken lassen.

Er selbst aber hatte seiner Fabrik keine Ansichten mehr schicken können, zu fordern hatte er nichts weiter, Vorschuss gab es nicht. Alle war's. Und die Schwester war weg.

Na, schließlich fand er doch noch jemanden, der ihn wenigstens wieder in die Heimat expedierte.

Aber wenn er in Konstantinopel an Ort und Stelle nichts hatte machen können, hier erst recht nichts.

Es war die alte Geschichte: wohl sahen alle, alle, an die er sich hilfeflehend wandte, das himmelschreiende Unrecht ein — »das ist ja unerhört, hier muss unbedingt etwas geschehen, Ihre Schwester muss doch wieder heraus!«, — aber diejenigen, die ihm wirklich aus ganzem Herzen helfen wollten, die hatten kein Geld und keinen Einfluss, und die die Macht dazu hatten, die speisten ihn mit schönen Redensarten ab und ließen sich dann gar nicht mehr blicken.

Es ist die alte Sache! Habe selbst persönlich etwas ganz Ähnliches erlebt, was aber nicht hierher gehört.

Die Schwester war für den Bruder einfach tot. Endlich musste er es glauben. Er spie auf die Menschen und wurde selbst ein anderer Mensch. So glaubte er wenigstens.

Da er seine Sache ja sonst sehr gut gemacht hatte, nahm ihn die Ansichtspostkartenfabrik wieder an, schickte ihn nochmals auf Kunstreisen, diesmal nach Spanien.

Zuletzt von der Alhambra nach Gibraltar.

Und nun hatte die Glocke geläutet, nun saß er hier vor uns.

»Well«, war es natürlich Kapitän Martin, der mit diesem Worte anfing, als jener schwieg, »wir sollen Ihnen also helfen. Wie stellen Sie sich das nun vor? Was könnten wir für Sie tun?«

Nein, der junge Mann war durch Menschenverachtung kein anderer Mensch geworden.

Oder diese seine Erzählung hatte noch einmal den ganzen Jammer in seinem Bruderherz aufgerührt.

Ach, Geschwisterliebe! Welch herrliches Wort! Wo ist sie denn zu finden?

Ich habe die Augen immer offen gehabt, habe gar scharfe Augen, aber bisher in der Welt verdammt wenig von wahrer Geschwisterliebe bemerkt.

Aber Geschwister, die sich als Kinder zu Hause verklatschen und prügeln und beißen und kratzen, und die dann später als »gesetzte Menschen« beim Teilen der Erbschaft mit Knüppeln dreinschlagen möchten, wenn es anständig wäre, deshalb lieber die Sache vor Gericht austragen — ja, die habe ich genug kennen gelernt. Bei uralten Jungfern und Brüdern, die den Tadderich haben und sich allein nicht mehr anziehen können, zählt die Geschwisterliebe nicht mehr mit.

Noch niedergeschlagener denn zuvor saß der junge Mann da. Die einleitenden Worte, die unser Kapitän da getan, hatten ihn doch auch nicht eben ermutigen können.

»Ich dachte — ich hatte hier von Ihnen gehört — auch schon früher — und weil Ihr Schiff gerade hier lag — da dachte ich — dachte ich — weil Sie doch so viel den Armen geben — dass Sie — Sie ein mitleidiges — Herz — und — Sie haben doch auch Verbindungen — die Lady of the Sea — mit England — und — und — ein mitleidiges Herz —«

»Gott verdamme mich ewig!«

Alles blickte erschrocken nach mir.

Denn das hatte ich gesagt.

Ich war schon vor einiger Zeit aufgestanden, marschierte in der Kajüte auf und ab.

Und ich bat nicht etwa um Entschuldigung, in Gegenwart von Damen so geflucht zu haben. Auch die beiden Schwestern waren zugegen.

»Ja, Gott verdamme mich ewig! Da brauchen wir gar keine englischen Verbindungen, da segeln wir ganz einfach hin und holen das Mädel wieder heraus, und wenn man sie uns nicht gutwillig geben will, dann...«

Und ich ließ eine der Hundepeitschen durch die Luft pfeifen, die bei uns überall herumlagen.

Alsbald heulte Doktor Isidor wie ein Kettenhund auf. Die Schwippe musste versehentlich seinen Schenkel gestreift haben — oder vielmehr sein Bein, so etwas wie Schenkel hatte das dürre Kerlchen ja gar nicht.

»Auuuuu! Was fällt Ihnen denn ein?!«

»Scheren Sie sich hinaus, wenn Ihnen das nicht passt!«, schnauzte ich ihn auch noch an. »Sie sind überhaupt ooch so'n orientalisches Brechmittel!«

Er ging nicht. Es konnte auch nicht schlimm gewesen sein.

Dieser Zwischenfall aber charakterisiert meine damalige Stimmung.

Eine wilde Fröhlichkeit war plötzlich über mich gekommen.

Ich war damals ein gar wilder Gesell. Es musste nur einmal Gelegenheit sein, dass es zum Durchbruch kam.

Obgleich sonst ein gutes Luder! Das Gefühl von Rache und Hass war mir, wie schon einmal erwähnt, ganz fremd. Ich kenne diese Gefühle eben nicht, sie sind mir nicht mit in die Wiege gelegt worden. Vielleicht ist das sogar eine Schwäche. Dann kann ich aber eben nichts dafür.

Aber manches gab es, was ich nicht leiden konnte. Ungerechtigkeit, Vergewaltigung. Da konnte ich böse werden. Da konnte ich außer mir geraten. Um dem entgegenzutreten, einer brutalen Ungerechtigkeit, da riskierte ich sofort meine Existenz, da kam es mir auch auf ein paar Jahre Zuchthaus nicht an, und da hätte es hinterher auch kein Bereuen gegeben.

Und ich hatte sofort einen Bundesgenossen auf meiner Seite.

Jetzt sprang auch die Patronin mit blitzenden Augen auf.

»Na sicher, die holen wir aus dem Serail heraus!«

»Well, wie denken Sie sich das?«, fragte Kapitän Martin kaltblütig wie immer zurück.

Da wurde die Patronin gleich wieder etwas unsicher, so blickte sie nach mir hin.

Mein Plan aber war sofort gefasst.

»Das ist doch höchst einfach!«, lachte ich noch immer mit wilder Lustigkeit. »Wir kitschen einfach einen hohen türkischen Würdenträger, so einen Pascha oder etwas ähnliches, von der Straße weg, oder holen ihn, wenn es sein muss, aus seinem Hause heraus, gleich einen türkischen Prinzen, den Thronnachfolger selbst — und dann heißt es: haust Du meinen Juden, hau ich Deinen Juden — heraus mit der Odaliske, die sich schon melden wird, Ihr braucht alle die Weiber nur antreten zu lassen und zu fragen, eher bekommt Ihr Euren Kronprinzen nicht wieder! Na, Kapitän, was machen Sie denn da für ein Gesicht? Sie meinen, das ginge nicht? Oder da machten Sie nicht mit? Weil wir da zu Piraten werden würden? O, die ›Argos‹ braucht damit auch gar nichts zu tun zu haben, da chartern oder kaufen wir einstweilen ein anderes Fahrzeug, die Führung übernehme ich — jawohl, da bin ich bereit, einmal den Piratenkapitän zu spielen, unter einer Maske, und ich versichere Ihnen, dass sich von unseren Jungen genug melden werden, die da mitmachen wollen.«

So hatte ich gesprochen.

Ja, dieser Plan war gut und ausführbar, da hatte auch Kapitän Martin nichts mehr dagegen einzuwenden.

Vorläufig hatte es gar keinen Zweck, weiter darüber zu sprechen, erst mussten wir in Konstantinopel sein, und dazu mussten wir erst Gibraltar verlassen, uns erst vorschriftsmäßig auf dem Hafenamt abmelden.

Das besorgte ich selbst, ich ging sofort an Land, nur Gerlach kam noch mit, um seine Siebensachen zu holen.

Und jetzt war der junge Mann wirklich ein ganz anderer Mensch geworden.

Er strahlte vor Seligkeit.

Dass wir seinen Wünschen gleich so entgegenkamen, die ganze Sache gleich so einfach auffassten, das hatte er ja nun freilich nicht erwartet, nicht im kühnsten Traume zu hoffen gewagt.

»Wie soll ich Ihnen nur danken — wie soll ich nur...«

»Na, halten Sie die Luft an, holen Sie Ihre Sachen. In einer Stunde müssen Sie zurück sein, dann haben wir vollen Dampf, dann geht es sofort ab!«

»In einer halben Stunde bin ich zurück!«

»Und dass Sie natürlich zu niemandem davon sprechen!«

»Gott bewahre! Ich weiß schon, um was es sich hierbei handelt. Auch an meinem glücklichen Gesicht soll niemand etwas merken.«

*

56. Kapitel

Der Stowaway

Originalseiten 1474 — 1497

Als ich nach einer halben Stunde an Bord zurück kam, hatte sich auch Gerlach wieder eingefunden, bereits eine Kabine bezogen. Es wäre ja vielleicht besser gewesen, wenn wir den jungen Mann, ob er nun hier in Gibraltar von der Entführung seiner Schwester erzählt hatte oder nicht, heimlich an Bord genommen hätten, dass überhaupt niemand von seiner Anwesenheit wusste — aber wenn man so vorsichtig sein will, da wird man ja überhaupt niemals fertig, da verbittert man sich ja das ganze Leben.

Dann hätten wir auch bei jedem Fässchen Wein und bei jedem Frühstückskorb, der uns als Präsent geschickt wurde, daran denken müssen, dass vielleicht Konkurrenzneid oder sonst irgend eine gelbe Eifersucht durch Gift unserer Argonautenherrlichkeit ein Ende bereiten wolle.

Aber obgleich wir schon einmal mit vergiftetem Büchsenfleisch eine böse Erfahrung gemacht hatten, so dachten wir ja an so etwas gar nicht, und nicht etwa, dass Doktor Isidor, wenn uns Getränke oder Fressalien geschickt wurden, erst eine Analyse gemacht hätte.

Wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre, das hätten wir schon bald genug im Magen gemerkt, oder wie damals bei dem Strychnin im Kreuze, und damit basta!

Ich erwähne erst jetzt, dass wir hier in Gibraltar wie in jedem englischen Hafen, in dem wir uns angenehm bemerkbar machten, mit solchen Präsenten, die man trinken oder verspeisen kann, geradezu überschüttet wurden. Es ist dies eine englische Eigentümlichkeit, hängt mit dem uralten Picknick zusammen. Das ist ein keltisches Wort und heißt nichts weiter als Gastfreundschaft. In den englischen Volkskreisen wird das alte, echte Picknick noch heute ganz streng gehandhabt. Es ist gerade umgekehrt wie bei uns. Dort wird man beim Besuch nicht bewirtet, sondern der Besuchende bringt Speisen und Getränke mit, oder lässt letztere auf seine Kosten aus dem nächsten Wirtshause holen. Infolgedessen werden in England gerade Familien, deren Ernährer einmal keinen Verdienst hat, von den Nachbarn des Abends recht häufig besucht. Jeder bringt etwas zu essen mit, so viel, dass die arme Familie gleich für einige Tage versorgt ist. Das ist dort eine ganz herrliche Sitte!

In den höheren Kreisen wird das heilige Picknick wenigstens noch der Form nach gewahrt. Wir bringen, wenn wir eingeladen sind oder einen Besuch machen, der Hausdame ein Bukett, den Kindern eine Bonbonniere mit. Der feine Engländer schickt seinem Besuche einen Picknickkorb voraus, mit Delikatessen und Wein und Likör. Der deutsche Kaiser, wenn er dem englischen Königshof einen Besuch macht, bringt regelmäßig einen gefüllten Wildschweinskopf mit. Wer das schon manchmal in der Zeitung gelesen und sich vielleicht gewundert hat, der weiß nun, dass dies mit der uralten, heiligen Sitte des Picknicks zusammenhängt.

Also in jedem Hafen, in dem sich Engländer befanden. denen wir es angetan hatten, bekamen wir immer massenhaft solche Picknickpräsente zugeschickt, Frühstückskörbe und ganze Kisten oder Fässer mit Wein, wenn der Sendung auch kein Besuch nachfolgte. Da hat das Picknick seine eigentliche Form, seinen ursprünglichen Zweck geändert. Das hängt nun wieder mit den Verhältnissen in den Kolonien zusammen. In den heißen Gegenden halten sich doch frische Lebensmittel und auch geräucherte Fleischwaren nicht lange. Dort sieht man, auch in großen Städten wie Kairo oder Bombay, keine solche Delikatessenläden wie bei uns. Es ist nämlich auch gar nicht möglich, dort solche feine Fleischwaren herzustellen. Weshalb nicht — das kann nur der Fachmann erklären. Das ist genau so, wie es schon in dem benachbarten Frankreich durchaus nicht gelingen will, ein wirklich gutes Bier zu brauen. Da nützt es nichts, bayrische Bierbrauer hinkommen zu lassen. Mit solchen Experimenten hat man schon Millionen verpulvert, bis man die Unmöglichkeit eingesehen hat. Ebenso wie es unmöglich ist, dem echten Schweizerkäse irgendwie Konkurrenz zu machen.

Nun sind aber gerade im Auslande, eben weil man sie dort nicht so leicht bekommt, solche »Fressalien« ungemein geschätzt. Dort gibt es Geschäfte, große Agenturen, die nichts weiter als Bestellungen auf Picknickkörbe entgegennehmen. Die will der Engländer aus seiner Heimat haben, wenn sie auch vielleicht in Braunschweig oder sonst wo in Deutschland gefüllt werden. Das ist ein gar schwunghafter Handel, und das ist auch gar nicht so einfach, dazu gehört viel Erfahrung, die Schiffe müssen genau bestimmt werden, nicht jedes hat einen Eisraum, und da muss man auch genau den Eisenbahnfahrplan kennen, das muss alles Hand in Hand gehen, sonst schlägt einem, wenn man so einen Korb öffnet, nur ein fürchterlicher Gestank entgegen.

Man soll prinzipiell keine Geschenke annehmen, für die man sich nicht revanchieren will oder kann. Wie wir es damit hielten, das habe ich schon geschildert, wie wir damals den Scheck des Mister Carlistle zurückwiesen.

Aber alles mit Ausnahme! Ganz abgesehen von Geburtstagsgeschenken und dergleichen. Man kann auch einer am Wege stehenden Blumenfrau eine Rose abkaufen und sie der ersten besten fremden Dame überreichen. Nimmt die sie nicht an, hat ihr Begleiter etwas dagegen, so stehen die beiden eben nicht auf gesellschaftlicher Höhe. Aber eine Leberwurst kann man ihr nicht plötzlich in die Hand drücken. Das ist jedoch in England erlaubt. Wenn auch etwas bildlich gemeint. Es hängt eben wieder mit dem Picknick zusammen.

Kurz, wenn wir solche Picknickpräsente zurückgewiesen hätten, das wäre für den englischen Absender eine grenzenlose Beleidigung, eine durch nichts wieder gutzumachende Kränkung gewesen. Und wir wollten doch niemanden kränken.

Die Kunde, dass unser Schiff in allerkürzester Zeit abdampfen würde, hatte sich mit Blitzesschnelle in der ganzen Stadt verbreitet. Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass unser Schornstein so mächtig qualmte. Dafür hatten schon die Hafenbeamten gesorgt.

Noch einmal wurden wir mit Picknickpräsenten überschüttet. Meist waren es Diener und Dienstmänner und Offiziersburschen, die kleine und große Körbe von gefälligem Aussehen brachten, aber auch ganze Flaschenkörbe mit Wein, dazu eine Karte oder ein Briefchen abgebend.

Alles wurde angenommen. Einen Dank schließt diese Art von Schenkerei aus. Die Begleitschreiben, wenn überhaupt welche dabei waren, kamen gleich so durcheinander, dass wir später gar nicht mehr kontrollieren konnten, von wem die einzelnen Sachen waren.

Schon wollten wir die Laufbrücke einziehen, als noch ein Rollwagen vorgefahren kam, auf dem ein stattliches Fass von bekanntem Aussehen lag, ein englisches Oxhoft, eine halbe »Pipe«, nämlich wenn Portwein in Betracht kam, 238 Liter gleich 64 englische Gallons, gesetzlich vorgeschrieben.

Und echter Douroport war es denn auch, den uns eine Weinfirma im Auftrage eines Lords Harlin schickte.

Wurde dankbar angenommen. Man kann froh sein, wenn man einmal echten Portwein von Douro bekommt. Der geht nur durch englische Hände, und die saufen dort drüben ja alles, was gut ist, selber. Dann setzen sie gequetschte Rosinen mit Zuckerwasser an, Spiritus hinein, füllen dieses Gebräu in die von ihnen geleerten Pipen und verkaufen es ihren Nachbarn als echten Portwein.

Also das schwere Fass mehr als fünf Zentner wiegend, wurde an Deck gerollt, einstweilen, da alle Luken schon geschlossen waren, mit Klampen festgelegt, die Laufbrücke eingeholt, die letzte Verbindung mit dem Lande gelöst — und fort ging es.

Dort am Kai wurden die Taschentücher und Mützen und Hüte geschwungen unsere Kapelle spielte noch einmal ein Abschiedslied, ganz selbstverständlich »Muss i denn, muss i denn«.

Zwei Stunden vergingen. Den Felsen von Gibraltar hatten wir schon hinter uns, nun ging es ins Mittelländische Meer hinein. Unser Ziel wusste niemand, das braucht man ja nicht anzugeben.

In der Kajüte unterhielt sich die Patronin mit dem jungen Maler. Nicht über seine Schwester, sondern über seine Kunst. Sie wollte ihn auch sonst in ihre Dienste stellen. Gar kein so übler Gedanke. Unsere Kajüten und sonstigen Wohnräume mit solchen Bildern zu schmücken mit schönen Landschaften mit Szenen aus unserem Argonautenleben und so weiter. An so etwas hatten wir noch gar nicht gedacht. Doktor Isidor hatte einen guten Fotografenapparat, konnte auch fotografieren, war aber viel zu faul dazu, erhielt auch keine Aufforderung. Es war bei uns niemand für so etwas eingenommen. Wir erlebten alles Schöne lieber und behielten es dann einfach in der Erinnerung. Ansichtspostkarten und dergleichen hatten wir nicht nötig. Aber immerhin, wenn der junge Mann etwas konnte — o ja, solche Ölgemäldchen, das musste ja ganz hübsch sein.

Ich hatte einige Zeit zugehört und war dann an Deck gegangen. Da unsere Abreise so plötzlich geschehen, gab es noch viel zu tun, was gerade meine Sache als die des Kargokapitäns war.

»Nun hier das Portweinfass in den großen Proviantraum!«

Die betreffende Luke wurde geöffnet, neben der das Fass schon lag, der Kran der Winde darüber geschwungen, die Zangenhaken klargemacht.

Weiter kamen wir nicht.

In dem Fasse erscholl ein deutliches, kräftiges Klopfen. So klopft kein Portwein, auch kein Rosinenwasser. Wir wussten ja sofort, was hier los war.

»Ein Stowaway!«, erkläng es von den Umstehenden einstimmig.

Ein blinder Passagier, der sich verstaut hat. Dieses englische Wort ist auch in deutschen Seemannskreisen nun einmal allgemein eingeführt.

»Ein Stowaway!«

Wir stellten nicht erst lange Fragen, sondern das Fass wurde gleich hochgekippt, wozu drei starke Männer gehörten, und mit dem Stemmeisen aufgebrochen.

»Ja, wie kann denn aber nur das Fass so schwer sein?!«, fragte jemand.

Das war eben das Geheimnis, das ich schnellstens gelöst haben wollte, weswegen ich den Insassen nicht erst anrief.

Denn unsereiner hat doch seine Erfahrung, mir kann doch niemand etwa ein volles Weinfass abliefern, und wenn man es öffnet, dann kauert nur ein Mensch drin.

So etwas kann man sehr schön in Jugendschriften erzählen, aber in Wirklichkeit ist so etwas ganz ausgeschlossen.

Hier lag wirklich ein großes Rätsel vor, das wir durch eigene Untersuchung schnellstens lösen wollten.

Das Rätsel war bereits zur Hälfte gelöst, als mit dem Holzdeckel zugleich eine dicke Bleiplatte herausgehoben wurde, wobei zwei Männer tüchtig zufassen mussten, so schwer war sie.

Und ehe ich noch in das Fass blicken konnte, da schnellte schon wie aus dem bekannten Kasten das Teufelchen an der Spiralfeder heraus, aber keine rote Fratze mit Hörnern, sondern ein liebliches Mädchenantlitz oder zuerst wäre mir beinahe ein großer Samthut an die Nase gefahren, dann erst folgte das liebliche Gesichtchen wie Milch und Blut, dann folgte ein weißer Spitzenkragen nach, dann ein dunkles Kleidchen, und dann machte das, was in dem Kleidchen steckte, über den Fassrand mit gleichen Füßen eine kunstgerechte Hocke, und neben dem Fasse stand ein allerliebstes Mädel von etwa 12 Jahren im kurzen Kleidchen, das aschblonde Haar offen und vorn über beide Schultern fallend — so stand das Mädel da, den einen Fuß im Schnallenschuhchen etwas vorgesetzt, die Arme in die Hüften gestemmt — so stand es da, öffnete das rote Mündchen und sagte ganz einfach:

»Lady Evelyn, Duchesse von Suffolk, Peeresse.«


Illustration

So, nun wussten wir es.

Also eine englische Herzogin. Aber nicht eine, die es durch Heirat wird, sondern eine geborene Herzogin, eines Herzogs Tochter, die keinen Bruder hat, die also nach des Vaters Tode die Herzogswürde erbt und fortpflanzen soll, die also auch die Peerswürde mit allen Rechten und Pflichten übernimmt, die auch einen Sitz im Oberhaus haben müsste, wenn dort Weiber Sitze hätten.

Also eine Peeresse, welche, wenn die englische Königsfamilie ausstürbe, eine neue Königsdynastie begründen könnte.

Und ehe wir noch etwas sagen kannten, fuhr das rote Mündchen schon zu plappern fort, im schönsten Deutsch: »Denken Sie nicht etwa, dass Sie mich wieder los werden! Drehen Sie nicht etwa um! Lebendig bringen Sie mich nicht an Land! Ich will bei den Argonauten aufgenommen werden, will als Schiffsjunge anfangen, und damit fertig!«

So, wenn die mit allem fertig war, dann wars ja gut!

»Bitte, Mylady, folgen Sie mir in die Kajüte.«

Vor der Patronin legte sie offene Beichte ab, nur ich war noch zugegen. Es hätte doch vielleicht etwas dabei herauskommen können, was sonst niemand zu erfahren brauchte. Aber es war gar nicht der Fall.

Die kleine Waise — denn das musste sie wohl sein, sonst hätte sie ja keine regelrechte Peeress sein können — stand unter der Vormundschaft ihres Onkels mütterlicherseits, des Lords Eugen Harlin, der wegen eines Brustleidens, das aber nach Behauptung seiner liebenswürdigen Nichte nur eine eingebildete Schrulle von ihm sein sollte, jeden Winter in Gibraltar verbrachte, das ein so mildes, glückliches Klima besitzt, dass dort sogar Affen in Freiheit leben können, ohne die Schwindsucht zu bekommen.

Auch die kleine Peeress musste immer mit, sie hatte in der palastähnlichen Villa ihren Hofstaat.

Jawohl, ihren eigenen Hofstaat. Man muss nur wissen, was so eine Persönlichkeit zu bedeuten hat. Wenn so ein vollblütiger englischer Lord, der nicht inkognito reist, nach Berlin kommt, so kann der nicht etwa in einem Hotel absteigen, sondern der wird als Gast des Kaisers empfangen. Das ist gar nicht anders möglich. Oder er muss inkognito reisen. Jeder Lord, der zugleich Peer ist, ist thronberechtigt.

Doch davon abgesehen. Oder auch nicht so abgesehen. Ich hätte bei der ja nicht den Oberhofmeister spielen mögen. Das war ein ganz böser Racker.

Sie hatte schon viel von den Argonauten gehört, hatte schon immer die Absicht gehabt, in diese seemännische Gesellschaft mit einzutreten. Wenn sie nur gewusst hätte, wo dieses rastlose Schiff zu erreichen gewesen, dann wäre sie schon längst durchgebrannt.

Das vertraute sie natürlich nicht ihrem Onkel und auch keiner Ehrendame an — so dumm war die doch nicht — sondern nur ihrem Freunde Jimmy.

Jimmy, ein in den Kolonien ergrauter Soldat, hatte den Stall unter sich. Aber nicht etwa als Oberstallmeister, hatte überhaupt eigentlich gar nichts mit den Pferden zu tun, nur mit dem Miste. War einfach ein Stallknecht. Aber, wie das nun manchmal so kommt, gerade der war der kleinen herzoglichen Herrlichkeit intimster Freund und Berater. Er musste übrigens, was sie dann alles von ihm erzählte, ein ganz kapitaler Bursche sein. War schuss- und stichfest, konnte Freikugeln gießen, Warzen versprechen, und wenn er Karten gab, so hatte er regelmäßig die höchsten Trümpfe. Eben so ein alter Soldat, der sich in aller Welt herumgeschlagen hatte.

Natürlich konnte Jimmy auch wahrsagen. Nicht aus den Karten, sondern aus alten Bleikugeln, da hatte er sein eigenes System. Und da prophezeite er mit untrüglicher Gewissheit heraus, dass jetzt für seine kleine Herrin noch nicht die Zeit zum Durchbrennen gekommen sei, um sich den Argonauten anzuschließen, sie müsse noch warten, bis es das Schicksal oder seine Bleikugeln bestimmten.

Mir schien, dass der Alte selbst ein bisschen das Schicksal gespielt hatte, er wollte das Herzogskind von solch einem Streiche abhalten.

Da aber kam die »Argos« selbst nach Gibraltar, und nun ließ sich Evelyn durch nichts mehr abhalten, und wollte ihr alter Freund nicht ihre ganze Gunst verscherzen, so musste er jetzt behilflich sein, sie an Bord zu bringen.

Dem Onkel den Wunsch als Bitte vorzutragen, daran war natürlich gar nicht zu denken. Zuerst wurde einige Male an die Patronin geschrieben, es konnte ja doch sein, dass sie so romantisch war, um die kleine romantische Peeresse gleich anzunehmen, die Briefe wurden immer drohender, als aber gar keine Antwort kam, da musste Jimmy seinen Rat erteilen, wie sie dennoch an Bord kam.

Es war ja schließlich einfach genug. Es ist ja so leicht, auch ohne Geld und Erlaubnis an Bord eines Schiffes zu kommen und eine Seereise mitzumachen.

Jedes Schiff ist ja, wie gesagt, im Hafen immer zugänglich und da kann man schon eine Gelegenheit erspähen, sich in den Kohlenbunkers oder im Laderaum zu verstecken, und auf hoher See kriecht man dann hervor, wegen solch eines blinden Passagiers dreht das Schiff nicht etwa um oder läuft einen Hafen an.

Jawohl! Um Gottes willen, dass kein unternehmender Jüngling so etwas machen will! Von hundert, die das riskieren, kommt kaum einer lebendig wieder zum Vorschein. Die Leichen, die immer einmal beim Löschen des Schiffes, beim Ausladen, gefunden werden, erzählen davon. Auf den Stowaway werden noch Kohlen geschüttet, Kisten und Säcke geladen, und aus ist es mit ihm! Er mag schreien und pochen wie er will, in den seltensten Ausnahmefällen wird er gehört. Wohl ihm, wenn er erstickt, ehe er verhungert und verschmachtet.

Das alles war dem alten Jimmy bekannt, der als englischer Kolonialsoldat Seereisen genug gemacht hatte.

Und selbst wenn es während einer unserer Vorstellung dem Stowaway gelang, ein sicheres Versteck zu finden, wo ihm so etwas nicht drohte, etwa in einer Kabine unter einer Koje, so war doch mit unseren vielen Hunden zu rechnen, und da hatte der alte Jimmy allerdings auch ganz recht. Denn da wir ja in jedem Hafen mit Anträgen von Männern und auch genug von Weibern überschüttet wurden, die zu uns an Bord wollten, so waren wir vor Stowaways immer auf unserer Hut, vor dem Verlassen eines Hafens suchte regelmäßig die ganze Hundemeute unter Peitschenmüllers Leitung alle Innenräume des Schiffes ab, auch nach jeder Vorstellung, und wir hatten auch schon mindestens zwei Dutzend Stowaways gefunden, wovon ich nur nicht gesprochen habe, weil es eben nicht am Platze war. Jedenfalls entging diesen Nasen unserer Hunde, die daraufhin nun schon scharf gemacht worden waren, keine fremde Person mehr, die sich nach einer Vorstellung oder gar bei Abfahrt des Schiffes noch an Bord aufhielt, der Betreffende mochte sich auch noch so gut und noch so tief im Schiffe versteckt haben. Dann waren immer alle Durchgänge geöffnet, die Hunde durchstrichen ganz von selbst das ganze Schiff — sie fanden jeden!

Sollte Evelyn mit List an Bord gebracht werden, woran der alte Sünder jetzt wirklich mit Enthusiasmus einging, so konnte das nur in der letzten Minute vor der Abfahrt geschehen, in Verpackung.

Als solche kam eine große Kiste oder ein Champagnerkorb oder ein Fass in Betracht.

Aus verschiedenen Gründen entschloss sich Jimmy für ein genügend großes Fass für eine halbe Pipe.

Die Vorbereitungen wurden schnellstens getroffen. Es war ja ganz unbekannt, wann wir Gibraltar wieder verlassen würden.

Das Oxhoft war schnell besorgt. Dass dies alles in größter Heimlichkeit geschah, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Nun handelte es sich vor allen Dingen darum, dem Fasse die nötige Schwere zu geben. Denn so dumm war Jimmy nicht, so eine Erzählung zu glauben, dass etwa ein Fass mit Salzfleisch geöffnet wird, und zum Vorschein kommt ein Mensch. Da müsste sich ein Mensch so in das Fass pressen, dass der Innenraum vollkommen ausgefüllt wird, eben als wäre zusammengepresstes Salzfleisch drin. Und selbst wenn hundert Fässer übergenommen werden, die Matrosen merken doch sofort, wenn statt des deklarierten Salzfleisches lebendiges drin ist, der Unterschied im Gewicht ist eben gar zu groß, das Fass würde sofort untersucht werden, nur um sich von dem Lieferanten nicht prellen zu lassen.

Nein, so einfach ist das nicht, wie man sich das manchmal denkt.

Aber der alte Haudegen wusste Rat.

An das Grundstück der herzoglichen Villa oder des Palastes grenzte eine Niederlage der Garnison, auch alte und neue Bleiplatten waren darin massenhaft vorhanden. Die Felsenkammern, in denen die Geschütze in Lafetten stehen oder in Ketten hängen, sind nämlich mit Bleiplatten ausgepolstert, weil Blei den Schall außerordentlich dämpft, besser wie das weichste Holz, so gut wie Filz, ohne wie dieser den Pulvergeruch anzunehmen, der sich nach und nach bildende Pulverschleim kann abgewischt werden.

Dort hinten hatte Jimmy schon seine Freunde, alte Veteranen, die besorgten ihm so viel Bleiplatten, wie er haben wollte. Wie es in solchen Militärniederlagen eben manchmal zugeht, nicht nur in englischen.

Um das nötige Gewicht auszurechnen, dazu waren keine besonderen mathematischen Kenntnisse nötig. Ungefähr vier Zentner waren noch nötig. Also einige Bleiplatten wurden zugeschnitten und zu Zylindern gebogen, andere bildeten den Boden und Deckel. Dann war für das Kind noch immer Platz genug drin, es konnte sich auch umdrehen, falls es mit dem Fasse einmal auf den Kopf gestellt wurde. Boden und Deckel ruhten fest auf den Bleizylindern, konnten unmöglich herabfallen, weder nach innen noch nach außen, wohl aber konnte Evelyn, wenn sie sich mit Füßen und Händen stemmte, ohne besondere Kraftanstrengung den oder jenen Deckel herausdrücken. Das war alles ganz vortrefflich arrangiert. Wenn Jimmys Erfindungskraft dazu nicht ausreichte, so wussten seine Freunde besseren Rat, denn die hatte er eingeweiht, und die alten Soldaten machten ja nur zu gern so etwas mit.

Dann noch genügend Luftlöcher gebohrt, von außen kaum bemerkbar, und die Sache war allright. Eine mehrstündige Probesitzung hielt Evelyn ganz vortrefflich aus.

Nun handelte es sich nur noch darum, die Abfahrt der »Argos« zu erfahren. Die Abmeldung des Schiffes musste unbedingt auf dem Hafenamt geschehen, und auch dort fand Jimmy seine verschwiegenen Helfershelfer. Fünf Minuten später, nachdem die Abfahrt gemeldet wurde, erfuhr auch Jimmy davon, bei Tage wie bei Nacht. Nach dieser Abmeldung hat, wenn nicht ganz zwingende Ausnahmen vorliegen, mindestens noch eine Stunde zu vergehen, ehe das Schiff den Hafen oder vielmehr seinen Anlegeplatz verlassen darf, und dicht daneben war eine Speditionsfirma, bei der ein Kutscher und ein Rollfuhrknecht auch schon ins Vertrauen gezogen waren.

Kurz und gut, nicht das geringste war vergessen worden, und wie alles geklappt, hatte ja das Resultat gezeigt.

*

So hatte uns die kleine Prinzess berichtet. Denn das war sie. Sie konnte aber nicht so angeredet werden, weil eine Peeress noch viel mehr ist. Die wird auch nicht mit »Mylady« angeredet, wie ich es getan, sondern mit »Your Ladyship«. Doch davon abgesehen — sie wurde dann unsere Prinzess.

Sie hatte zu ihrem Bericht viel kürzere Zeit gebraucht als ich hier.

Helene blickte mich an und ich sie, und dann betrachteten wir wieder das reizende Kind, das auch als Arbeitermädel in die ordinärsten Kleider gehüllt sein konnte, um ebenso reizend zu sein.

»Ja, Mylady — oder Prinzess — was soll denn nun daraus werden?«, begann dann die Patronin.

Zunächst klatschte die Prinzess die vorgeworfenen Hände zusammen, als ob sie eine Fliege fangen wolle, und dann wusste sie gleich Bescheid.

»Na ich bleibe eben hier an Bord.«

»Wir bringen Sie sofort nach Gibraltar zurück.«

»Probieren Sies mal!«, lachte sorglos das Rosenmündchen.

»Was wollen Sie denn dagegen tun?«

»Lebendig bekommen Sie mich nicht wieder von Bord.«

»Ach Prinzess, reden Sie doch keinen Unsinn. Ich kann mich wirklich nicht anders ausdrücken.«

»Sie werden's schon sehen. Sobald Sie mich mit Gewalt von Bord entfernen wollen, werden Sie etwas ganz fürchterlich Entsetzliches erleben. Und wenn es Ihnen durch eine List gelingt, mich an Land zu bringen, etwa wenn ich schlafe, dass Sie mir etwa erst einen Schlaftrunk eingehen, dann... haben Sie mein Leben auf Ihrem Gewissen. Ich begehe Selbstmord, verlassen Sie sich nur darauf.«

Durchaus nicht theatralisch hatte sie es gesagt, sogar mit lachendem Munde.

Aber... wir lachten durchaus nicht mit. Man weiß ja, wozu solch verrückte Mädels fähig sind, gerade aus solchen Kreisen.

Ehe wir jedoch etwas sagen konnten, lag die kleine Herzogin schon vor der Patronin auf dem Teppich umklammerte ihre Knie, und jetzt klang ihre Stimme ganz anders.

»Bitte, bitte, allerliebste Mylady, behalten Sie mich doch bei sich! Ach, wenn Sie wüssten, wie ich mich danach sehne, hier dieses Leben mitmachen zu können!

Und Sie haben ja auch noch viele Jungen und auch ein kleines Mädchen bei sich! Ich will ja alles, alles tun, was Sie von mir verlangen, die schmutzigste Arbeit und die schwerste Arbeit, ich will waschen und scheuern und putzen! Und wenn Sie wüssten, was ich in den letzten Tagen alles gemacht und ausgestanden habe, um meinen Plan auszuführen, ich habe keine Nacht mehr geschlafen, denn die Meldung konnte ja auch des Nachts kommen, dass Sie gleich abfahren, und ich musste mich immer bereit halten...«

Sie sprach und flehte noch weiter. Für mich war nichts weiter nötig.

Mir stieg es wieder einmal so siedend heiß zum Herzen empor, ich war aufgesprungen.

»Genug, die bleibt an Bord!«

Die sonst so romantisch und phantastische Patronin war diesmal vernünftiger als ich.

»Ja, um Gottes willen, das geht aber doch nicht! Und wenn sie schließlich auch bei uns bleiben könnte... denken Sie doch nur an den Lord, an ihren Onkel, die Prinzess wird doch bereits vermisst...«

Mit einem Jubelschrei, wie ihn der gefangene Vogel ausstößt, wenn er durch die geöffnete Tür seinem Käfig entflieht, war das Mädel aufgeschnellt und hing an meinem Arme. Denn jetzt war natürlich ich es, an den sie sich zu halten hatte.

»Das habe ich mit meinem Jimmy doch schon alles verabredet!«, jauchzte sie.

»Was denn verabredet?«, musste ich ob dieses Glückes lachen.

»Na, der erzählt doch nun gleich, wo ich mich befinde, drei Stunden später, nachdem das Schiff abgefahren ist, das haben wir natürlich ausgemacht, so in Angst will ich meinen guten Onkel doch nicht lassen.«

»Aber auch Jimmy weiß doch gar nicht, ob wir Dich auch wirklich gefunden haben, Du konntest ja dennoch verunglücken, nur als Leiche gefunden werden.«

»Ja, das musste natürlich riskiert werden, wer nichts wagt, gewinnt nichts, aber Jimmy hielt die ganze Geschichte für todsicher, und auch das Weitere haben wir ja ausgemacht.«

»Was denn?«

»Sobald ich zum Vorschein komme und alles in Ordnung ist, berichten Sie dem ersten Schiffe, das durch die Straße von Gibraltar geht, dass ich hier an Bord bin und bleibe, das meldet das Schiff dann nach der Festung hinauf...«

»Aber Kind, mein Kind, das hättest Du doch gleich sagen sollen!«

»Kind, mein Kind — ach, wie herrlich das klingt!«, jauchzte sie sofort, nicht etwa unverständlich für mich.

Es machte der kleinen Peeress, vor der doch jedenfalls alles kroch, eben den größten Spaß, von einem Fremden so familiär angeredet zu werden, und ob nun englisch oder französisch oder deutsch, das macht für derartige Kinder ja gar keinen Unterschied, die lernen die Hauptsprachen doch gleich von kleinauf, haben danach ihre Umgebung.

»Wo fahren Sie hin?«

»Nach Konstantinopel!«, durfte ich jetzt verraten, wenn es da überhaupt etwas zu verraten gab.

»Na, da kommt mein Onkel einfach nach Konstantinopel nach!«

»Und dann?«

»Na, dann bleibt er natürlich mit an Bord.«

»Was, dann bleibt er an Bord?«, stutzte die Patronin wie ich.

»Ja natürlich, wenn ich an Bord bleibe, dann muss der auch hier sein, das geht doch nicht anders. Was meinen Sie denn wohl, was der als Vormund für eine Verantwortung für mich hat! Und Sie erlauben doch, dass mein Onkel auch mit an Bord bleibt, bitte, bitte von dem alten Herrn merken Sie ja überhaupt gar nichts!«

In aller Schnelligkeit teilte sie uns etwas von der Lebensweise ihres Onkels mit. Der alte Herr war ein Sonderling, ein ganz großer. Nur wegen seiner herzoglichen Nichte musste er viele Dienerschaft oder sogar einen ganzen Hofstaat unterhalten, er selbst hatte gar keine Bedienung nötig, wollte keine haben, hätte am liebsten sich selbst sein Essen gekocht und selbst sein Bett gemacht, teils aus philosophischen, aus stoischen Gründen, teils eben aus Schrullenhaftigkeit. Man findet so etwas sehr oft in solchen Kreisen. Ich will nur erwähnen, dass Rockefeller, der amerikanische Petroleumkönig, der reichste Mensch auf diesem Planeten, ebenfalls nur von Brot und Früchten lebt und tatsächlich sein Bett in seiner Kammer selbst macht. Das sind Ansichten. Er will von aller Welt möglichst unabhängig sein. Da muss man wohl selbst erst einmal so viel Millionen und Milliarden zusammengescharrt haben, um auf solche Ideen zu kommen. Für den aber, der ernster darüber nachdenkt, ist das alles ganz begreiflich.

»Er wird sicher keinen einzigen Diener haben wollen, wenn er nun einmal hier bleibt. Wenn er nur Schach spielen kann.«

»Schach?!«

Wir erfuhren, dass des alten Herrn ganzer Lebensberuf darin bestand, selbstgesetzte Schachprobleme zu lösen.

Na, da konnte er ja bei uns allerdings an Doktor Isidor einen Gesellschafter finden, der würde ihn schon zu fesseln wissen.

»Und Jimmy kommt dann noch an Bord, nicht wahr?«, schmeichelte sie weiter.

Denn für die war das nun eben alles schon ganz ausgemachte Sache.

»Ja, dann können wir aber doch gleich wieder nach Gibraltar zurückfahren und den Lord Harlin abholen, wenigstens erst einmal mit ihm sprechen.«

»Ja, das können wir. Nur nicht in den Hafen hinein.«

»Warum nicht?«

»Weil sonst das Schiff unter englischen Hafengesetzen steht und festgehalten werden kann.«

»Was sollen wir sonst tun?«

»Natürlich in neutralem Wasser liegen bleiben.«

»Weshalb das?«

»Na, da kann Ihnen doch auch kein Kriegsschiff etwas anhaben, darf Ihnen nicht befehlen, in den Hafen zu kommen?«

»Weshalb denn nicht?«

»Nu, weil Sie doch die englische Halbkriegsflagge führen.«

Wir staunten ja nicht schlecht.

Die beiden hatten eben absolut nichts vergessen, konnten ja auch die Verhältnisse recht wohl kennen.

Es kam nur alles so altklug und siegessicher aus dem Kindermunde heraus!

»Wenn Ihr Onkel Sie aber nun wieder mitnimmt?«

»Ja, wie soll er denn nur?! Ich gehe einfach nicht. Und wenn Sie mich nun gar unter Ihren Schutz nehmen, was Sie doch ganz selbstverständlich tun. Und wenn mein Onkel auch auf einem Kriegsschiffe kommt, das hat Ihnen doch gar nichts zu sagen.«

Es war nichts zu machen, die hatte sich mit ihrem Freunde alles klipp und klar überlegt.

Nur um das An-Bord-Kommen hatte es sich gehandelt, und dieses Problem hatten sie eben zu lösen gewusst.

Es wurde nur noch mit Kapitän Martin gesprochen — der hatte nichts dagegen einzuwenden.

Also wieder umgedreht, und als wir die Signalstation auf der Felsenfestung wieder in Sicht hatten, das Signal gegeben, dass wir zu sprechen wünschten.

Da aber wurde dort oben auch schon die »Argos« angerufen.

»Ist die Duchesse von Suffolk an Bord?«

»Ja.«

Jimmy hatte also bereits gebeichtet. In Gibraltar mochte ja eine schöne Aufregung herrschen. Eine englische Herzogin und Peeress lässt man nicht so ohne weiteres verschwinden.

Es wurde weiter signalisiert.

»Ist sie wohl?«

»All right!«

»Sofort zurück!«

Waren die verrückt, wurden die Engländer vom Größenwahnsinn geplagt?

Diesem Befehle brauchten wir durchaus nicht nachzukommen, wir befanden uns in internationalem Wasser und ließen lustig die halbe englische Kriegsflagge flattern.

Dort oben kletterten weiter die bunten Lappen hoch.

»Warten! Ein Kanonenboot schon unterwegs!«

Ja, warten wollten wir. Obgleich wir auch das nicht nötig gehabt hätten.

»Lord Harlin an Bord?«

»Ja.«

Das Gespräch war beendet.

Eine halbe Stunde später kam das Kanonenboot, schon mehr ein Torpedojäger, angerauscht, angebraust.

Die See war so ruhig, dass es an Bord beilegen konnte, wozu der Kommandant aber erst um Erlaubnis gefragt hatte.

Dem alten Herrn, der alsbald das Fallreep heraufkletterte, sah man durchaus nichts von seiner eingebildeten Lungenschwindsucht an, und nicht etwa, dass er »geblüht« hätte.

»Ach, dass man mir die Vormundschaft über solch einen Wergel aufgehalst hat!«

Das war sein erstes Wort, als er das Deck betrat. Dann wurde er wieder ganz steife Würde.

»Wo befindet sich Ihre herzogliche Herrlichkeit, die Peeress von Suffolk?«

»In der Kajüte.«

»Ich möchte Ihre Ladyschaft sprechen.«

»Bitte sehr.«

Gott sei Dank, dass der nicht erst mit uns anfing, es gleich mit der Durchbrennerin persönlich abmachen wollte.

Was die nun ausmachten, das ging uns ja nichts mehr an.

Drinnen in der Kajüte ging es äußerst lebhaft zu, reichlich eine Viertelstunde lang.

Manchmal quietschte eine Stimme, wie eben nur so ein Mädel quietschen kann, der alte Lord konnte seiner fürstlichen Nichte gegenüber auch brüllen. Aber immer leiser wurde seine Stimme, immer demütiger, und dann hörten wir auch etwas wie Schluchzen.

Es tat uns leid, herzlich leid, aber wir konnten es nicht ändern.

Das junge Dämchen mit Gewalt zu entfernen, das durften wir gar nicht wagen, das wussten wir nun schon.

Die Kajütentür öffnete sich wieder, die Prinzess flog mir direkt an den Hals — mir, nicht der Patronin. Ich hatte ja aber auch zuerst die Entscheidung gegeben.

»Ich darf bleiben, ich darf bleiben!«, jubelte sie an meinem Halse.

»Nur bis nach Konstantinopel, nur bis nach Konstantinopel!«, setzte der ihr folgende Onkel hinzu, sich schnell noch einmal die Augen wischend. »Es ist nur einmal eine kleine Vergnügungsfahrt bis nach Konstantinopel. Ja, gestatten Sie aber, dass auch ich die an Bord Ihres Schiffes mitmache?«

»Aber selbstverständlich Mylord, es gereicht uns zur höchsten Ehre!«

»Und Ihre Ladyschaft möchte gern auch den Jimmy mitnehmen...«

»Bitte sehr.«

»Nun haben wir aber gar keine Garderobe...«

Doch, dafür war ebenfalls schon gesorgt.

An Deck des niedrigen Kanonenbootes hatte sich schon immer ein weißhaariger Bursche bemerkbar gemacht, pfiffig zu uns heraufblinzelnd.

Es war Jimmy, der die Fahrt hatte mitmachen müssen, um gleich hier an Ort und Stelle weitere Rechenschaft zu stehen.

Aber Jimmy hatte auch, ohne dazu eine Aufforderung zu bekommen, zwei große Koffer packen lassen, einen für den Lord, einen für die Duchesse, hatte sie mitgenommen, ohne dass sein Herr etwas davon gewusst hatte.

Sie brauchten nur heraufbefördert zu werden.

»O dieses Komplott, dieses Komplott!«, stöhnte der alte Herr, als er Einsicht in die ganze Sache bekam. »Dass mir so etwas noch passieren muss! Sagen Sie mal, Herr Waffenmeister — nicht wahr, Sie sind doch der Waffenmeister — Ihr Schiffsarzt soll doch ein so ausgezeichneter Schachspieler sein? Beschäftigt er sich auch mit Problemen, damit ich mir bis nach Konstantinopel die Zeit etwas vertreiben kann?«

Das konnte ich ihm versichern — und das Kanonenboot konnte wieder zurückdampfen, wir unseren Weg nach Osten fortsetzen.

So hatten wir wieder drei neue Personen an Bord bekommen, ohne dass es irgendwie in unserer Absicht gelegen hätte, und die wir in Konstantinopel natürlich nicht wieder los werden sollten.

Und was es für uns bedeutete, eine englische Peeress an Bord zu haben und vielleicht noch mehr den Lord Eugen Harlin, den ehemaligen englischen Kolonialminister, das sollte uns später noch klar werden.

*

57. Kapitel

Die Taube der Argonauten

Originalseiten 1497 — 1510

Drei Tage später, aber schon am Abend, wir hatten genau die Hälfte des Weges nach Konstantinopel hinter uns, saß ich in meiner Salonkabine am Schreibtisch und stellte für den nächster Tag die Sportroutine auf, den Stundenplan für die obligatorischen Sportübungen, an denen sich nun auch die kleine Prinzess schon wacker beteiligte.

Diese musste dabei freilich besonders berücksichtigt werden, das zwölfjährige Mädchen konnte noch nicht wie die gleichaltrigen Kinder, die nun seit einem Jahre unter meiner Fuchtel standen, mit spielender Leichtigkeit Gewichte von einem halben Zentner und noch mehr stemmen, konnte an Körperkraft auch der nunmehr achtjährigen Ilse bei weitem nicht das Wasser reichen, nicht einmal den sechsjährigen Jungen. Aber wenn die kleine englische Herzogin auch nur sieben Tage an Bord blieb, uns in Konstantinopel wieder verließ, und sie behielt diese Zeit in ihrer Erinnerung, wahrscheinlich als die schönste aus ihrer Kinderzeit, und sie befolgte meine einmal gegebene Anleitung prinzipiell systematisch weiter, so würde sie es mir dereinst wohl Dank wissen.

Wie mir vielleicht auch mancher Leser Dank wissen wird. Ich werde über diese meine Erziehungsmethode zur Ausbildung der höchstmöglichen Körperkraft später noch einmal ausführlich sprechen. Obgleich die im 4. Heft auf Seite 239 (1) und folgenden gegebenen Andeutungen schon genügten.

(1) Siehe Band 1 S. 159 dieser Neuausgabe.

Und dann möchte ich das sagen, was Johann Georg von Zimmermann, der Leibarzt der Kaiserin Katharina von Russland, der auch an Friedrich des Großen Sterbebett gestanden hat, in der Einleitung zu seinem berühmten Werke »Über die Einsamkeit« gesagt hat: »Herzlich will ich mich freuen, wenn auch nur ein einziger für mein Buch mir dankt und mir sagt, es habe ihn aufgeklärt, gebessert und beruhigt.«

Es mag ja sein, dass diese Methode der systematischen Körperausbildung gar nicht meine eigene Erfindung ist, dass sie schon vor mir ausgearbeitet und ausgeprobt wurde. Damals aber ist dies alles meinem Kopfe entsprungen. Und übrigens ist das ja ganz gleichgültig. Die Hauptsache ist, dass so etwas weiteren Kreisen bekannt wird. —

Da, wie ich so den Stundenplan aufstellte mit einer Fröhlichkeit im Herzen, die mich jetzt nimmer verließ, huschte plötzlich über das Papier ein Lichtschein, blieb dort liegen, wo gerade meine Feder schrieb.

Ein Blick nach der Decke, einer nach der elektrischen Glühbirne, einer nach dem mir gegenüber hängenden Wandspiegel — und ich wusste, dass dieser Lichtschein seine Quelle nicht in dieser Kabine haben könne.

Schwester Anna meldete sich wieder! Gar kein Zweifel!

Und der kreisrunde Lichtschein glitt langsam über das Papier hin, über den Schreibtisch verschwand für einige Sekunden, und dann sah ich ihn wieder an dem Wandspiegel emporklettern, sich hier immer mehr verbreiternd, bis er den ganzen Spiegel überspannte.

Dieser Spiegel war in der Glasfläche ungefähr ein Meter hoch und dreiviertel Meter breit. Ich sah in ihm mich am Schreibtisch sitzen, alles was sich darauf befand und was hinter mir war.

Plötzlich aber, wie der weiße Lichtschein die ganze Spiegelfläche bedeckte, sah ich nichts mehr von einer Spiegelung, mich nicht mehr und gar nichts.

Obgleich es doch ein heller Lichtschein war, der alles in noch stärkerem Lichte hätte erscheinen lassen müssen.

Es war aber nicht anders, als wenn über den Spiegel plötzlich ein weißes Laken gehängt worden sei. Oder, will ich sagen, als ob das Glas mit Schlämmkreide bestrichen sei.

Und plötzlich entstanden auf dieser weißen Fläche schwarze Buchstaben, mit einem Male standen sie da.

»Schwester Anna möchte Dich telefonisch sprechen.«

Gelassen griff ich nach dem auf dem Schreibtisch liegenden Telefon, das mich mit allen Räumen verband, in denen sich Telefone befanden, sonst wie jetzt ständig für die Kommandobrücke und für die Patronatskajüte gestöpselt war.

»Guten Abend, mein lieber Freund!«, sagte mir eine weiche Frauenstimme ins Ohr.

Über diese Stimme musste ich mich zunächst bass wundern.

Unsere Telefonanlage funktionierte tadellos, man hörte jedes Wort ganz deutlich, aber alle die Apparate schnarrten wie die Kaffeemühlen, das war auch aus irgend einem Grunde durchaus nicht zu ändern.

Und jetzt hörte ich die leise, weiche Frauenstimme so sprechen, als säße mir die Dame mit dem glockenreinen Organ gegenüber!

Na, never mind.

»Guten Abend, Schwester Anna!«, erwiderte ich also den Gruß und konstatierte, dass in diesem Augenblick die Schrift an dem Spiegel verschwand, dieser wieder so funktionierte, weshalb man ihn dort hingehängt hatte.

Also auch von dem Lichtschein war nichts mehr zu bemerken.

»Ich kann mich«, fuhr die leise und doch so deutliche Frauenstimme fort, »jetzt auch auf diese Weise mit Dir unterhalten. Aber bitte, sprich nicht so laut, Du brauchst nur im leisesten Tone zu flüstern, ich höre Dich schon, wie Du doch auch mich verstehst.«

»Ganz deutlich. Soll unser Gespräch niemand anders hören?«

»Es ist nicht nötig, nur mit Dir will ich sprechen.«

»Aber mein Telefon ist mit der Kommandobrücke und der Patronatskajüte verbunden, ich werde abstöpseln...«

»Es ist nicht nötig.«

»Nicht?«

»Nein. Es sind ganz andere Schallwellen, die ich Dir zusende. Wohl muss ich dabei ein Mikrofon benutzen, um mich Dir verständlich zu machen, und Du Dich mir, aber diese Schallwellen werden von den Kupferdrähten nicht fortgeleitet.«

Na, dann war es ja gut. Eine ganz vortreffliche Erfindung, die könnten unsere Ingenieure auch bald machen.

»Und Du kannst nach wie vor von anderer Seite angerufen werden, Dich mit dem Betreffenden unterhalten. Das merke auch ich sofort, und dann hören wir eben mit unserem Gespräch einstweilen auf.«

»Ich verstehe.«

»Nur dass Du jetzt allein bist und nicht belauscht wirst.«

»Ich bin allein und kann nicht belauscht werden.«

»Hast Du mich etwas zu fragen?«

»Nein.«

»Wirklich gar nichts?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Das wundert mich.«

»Und mich wundert höchstens, dass Du Dich darüber wunderst.«

»Weshalb?«

»Weil Du mich dann noch nicht genügend kennst, was ich voraussetzte.«

»Recht so!«

Das hatte sie schon damals auf den Lukendeckel geschrieben, in ganz auffallender Weise, in ausnahmsweise großen Buchstaben, und jetzt hatte ihre Stimme bei diesen Worten einen besonderen Klang, sie hatte es in einem besonderen Tonfalle gesagt, dass ich gleich auf die Vermutung kam, die »Schwester Anna« müsse eine ausgebildete »Seemännin« sein.

Dieses »Recht so!«, bekommt man nämlich an Bord des Schiffes fortwährend zu hören.

»Was liegt an?«, fragt der Kapitän oder Offizier aller paar Minuten den steuernden Matrosen. »Nord Nordost dreiviertel Ost!«, lautet etwa dessen Bescheid. »Recht so!«, erklingt es dann, wenn an dem Kurse nichts zu ändern ist.

Das ist aber nicht etwa eine beliebige Redensart, sondern das ist eine von den Seebehörden vorgeschriebene Kommandoformel der Bestätigung, die man also auch bei anderen Gelegenheiten, wenn etwas bestätigt werden soll, an Bord fortwährend zu hören bekommt.

»Sprechen die anderen nicht über ein großes Rätsel?«

»Na und ob! Besonders die Patronin und unser Schiffsarzt stecken deshalb immer zusammen, nicht minder auch unsere anderen Damen.«

»Worüber sprechen sie?«

»Als Du uns damals sagtest, wir sollten nach Gibraltar fahren und dort einen Mann erwarten, dem wir helfen könnten, wusste Gerlach noch gar nicht, dass er von seiner Firma nach Gibraltar geschickt würde, er hat auch sonst niemals eine Aufforderung dazu erhalten. Stimmt das nicht?«

»So ist es.«

»Demnach muss es auch ein Schauen in die Zukunft geben.«

»Das gibt es auch. Der, dem Gott die Augen öffnet, kann es.«

»Demnach muss es aber auch eine unvermeidliche Schicksalsbestimmung geben.«

»Gibt es ebenfalls, und dennoch ist jeder Mensch ganz freier Herr seines Willens. Glaubst Du mir, dass es so ist?«

»Ich bin gar nicht so abgeneigt, es Dir zu glauben.«

»Und Du fragst mich nicht, wie das möglich ist?«

»Kannst Du es erklären?«

»Ich könnte es.«

»Würde ich es auch verstehen?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil Du noch nicht so weit in Deiner Entwicklung bist.«

»Dann will ich so lange warten, bis ich so weit bin.«

»Recht so!«, erklang es wiederum. »Und eben deshalb, weil Du solch einen Charakter besitzest, will ich fernerhin immer nur mit Dir sprechen.«

»Das habe ich mir gleich gedacht!«, konnte ich nur erwidern.

Wie ich über so etwas denke, habe ich dem Leser ja schon mehrmals gesagt. Ich bin schon als Kind gern in eine Zauberbude gegangen, habe aber schon damals nie Neigung verspürt, hinter die Kulissen zu blicken, um zu erfahren, wie der Tausendkünstler seine Illusionen fertig bringt. Jetzt bin ich ein Mann. Ich glaube zwar nicht, dass mit dem Tode die individuelle Persönlichkeit erlischt — weshalb ich das nicht glaube, das kann ich nicht sagen, das ist eben so eine unkontrollierbare Ahnung, die zur Gewissheit werden kann — aber was sonst nach dem Tode aus mir wird, das ist mir ganz verdammt schnuppe. Es wird genau so kommen, wie es kommen muss. Darüber mache ich mir jetzt keine Sorge. Ich werde manchmal von Wissbegierden anderer Art geplagt — aber betreffs solcher Sachen kenne ich keine Neugierde.

Da also hatte die Schwester Anna meinen Charakter ganz genau erkannt.

»Ich habe Deinen Plan gehört«, fuhr das Telefon fort, »auch wenn ich Euch nicht etwa belauschte.«

»Ich glaube es, und kann mir den scheinbaren Widerspruch recht wohl zusammenreimen. Doch was für einer Plan meinst Du?«

»Du willst Gerlachs Schwester dadurch aus dem Serail befreien, dass Du einen vornehmen Türken wegfängst und ihn dann gegen das Mädchen austauschst.«

»Ja.«

»Es wäre nicht nötig.«

»Weißt Du etwas anderes?«

»Ja. Aber Du und Ihr alle sollt immer ganz Euren freien Willen haben.«

»Wenn Du einen besseren Plan hast, so werde ich ihn selbstverständlich ausführen.«

»So fahre direkt nach Konstantinopel, aber nicht in den Hafen, nicht um das goldene Horn herum, sondern gehe südöstlich davon vor Anker, an einer Stelle, die ich Dir dann noch näher bezeichnen werde. Es ist dort eine Untiefe mit Muschelgrund, wovon aber nichts in Deinen Seekarten steht, weil diese für den Anker erreichbare Untiefe eben der anderen Welt noch gar nicht bekannt ist. Du wirst diese Stelle in der Nacht vom 23. bis zum 24. erreichen. In dieser Nacht punkt zwölf Uhr nach Ortszeit wird sich dem Bug Eures Schiffes ein weißer Lichtschein zeigen. Diesem folgt. Und dort, wo sich der weiße Lichtschein in einen roten verwandelt, was ungefähr zwei Uhr nachts geschehen wird, dort lasst den Anker fallen. So ganz genau auf den Punkt kommt es dabei nicht an. Hast Du mich verstanden?«

»Ich habe Dich verstanden, o, Du unsere dodonäische Taube!«

Dem Leser, der in der griechischen Mythologie nicht bewandert ist, werde ich später erklären, was hiermit gemeint ist. Übrigens gingen meine Kenntnisse in solchen Spezialitäten auch nicht so weit, ich hatte es erst von Doktor Isidor.

Jene Schwester Anna aber wusste sofort, was ich hiermit gemeint hatte.

»Ja, ich will Euch modernen Argonauten die weissagende Taube sein, wenn mich auch nicht die Göttin Athene als Holzspan in Euren Schiffsmast eingesetzt hat. Also nun weiter: dort bleibt Ihr liegen und erwartet das Weitere. Jedenfalls aber wird sich noch an demselben Tage, am Geburtstage unseres Herrn, das erfüllen, weshalb Ihr nach Konstantinopel gefahren seid. Reinhold Gerlach wird seine Schwester wiederfinden.«

»Auf welche Weise?«

»Bitte, das frage nicht!«

»Ganz wie Du wünschest.«

»Mir ist die Zukunft enthüllt, danach darf ich Euch führen, Euch zum Heile, das ist mir erlaubt. Aber ich darf Euch nicht die Zukunft enthüllen, das ist mir verboten.«

»Das ist mir auch viel lieber so, da hat man öfters angenehme Überraschungen, wenigstens bei solch sicherer Führung.«

»Recht so! Dann werde ich Euch südwärts nach Eurem aller anderen Welt unbekannten Asyl führen, das ich Euch versprochen habe.«

»Dann, wenn Du hiervon anfängst, habe ich doch noch einige Fragen.«

»Stelle sie.«

»Es handelt sich dort also auch wieder um so eine geheime Einfahrt wie bei den steinernen Schwestern.«

»Ja, um ganz das gleiche Geheimnis, nur ist es noch viel unkenntlicher.«

»Auf meine Argonauten kann ich mich ja verlassen. Nun haben wir aber wieder vier Fremde an Bord bekommen, die Schwester Gerlachs soll auch noch hinzukommen, und es scheint ganz, als ob alle bei uns bleiben sollten. Es handelt sich auch nur um den Lord Harlin, um den ehemaligen englischen Kolonialminister...«

»Vertraut ihm!«, wurde ich kurz unterbrochen.

»Wir dürfen ihn als einen der unsrigen betrachten?«

»Vollkommen. Er wird niemals zum Verräter werden, er steht, was Ihr auch tut, immer ganz auf Eurer Seite. So steht es im Buche des Schicksals geschrieben, das wenigstens darf ich Dir sagen.«

»Dann ist es ja gut. So dürfen wir ihn und die andere also auch über unsere dodonäische Taube einweihen?«

»Tut es.«

»Soll ich den anderen auch unser jetziges Gespräch mitteilen?«

»Du sollst es. So weit Du es für gut findest.«

»Wie meinst Du das?«

»Ich meine, dass Du ja nicht alle Mann zusammenzurufen brauchst, um ihnen darüber einen Vortrag zu halten.

Teile es nur denen mit, die als Hauptpersonen dabei in Frage kommen.«

»Ich verstehe.«

»Hast Du sonst noch eine Frage?«

»Ja, jetzt möchte ich allerdings noch etwas wissen.«

»Nun?«

»Es könnte ja sein, und der Fall wird doch sicher auch noch einmal eintreten, dass wir noch einen anderen Mann und noch viel mehr an Bord nehmen. Wenn sich nun darunter ein Verräter befände, würdest Du uns vor ihm warnen?«

»Ich würde es tun.«

»So kannst Du im Herzen der Menschen lesen?!«, fragte ich mit einiger Erregung.

»Ja, im Herzen der Menschen wie im Buche des Schicksals. Nun lebe wohl bis ich mich vor Konstantinopel wieder bemerkbar machen werde. Und wenn ich Dich vielleicht schon vorher sprechen will, so werde ich die Schiffsglocke ertönen lassen, dann tritt an irgend ein Telefon, und Du wirst meine Stimme vernehmen. Schluss.«

Die weiche Frauenstimme war verklungen.

Ja, ich war nicht nur etwas, sondern sogar sehr erregt.

Fröhlich erregt.

Nur über das, was ich da zuletzt vernommen hatte. Nämlich dass wir fernerhin vor verräterischen, treulosen Charakteren gewarnt werden sollten, die sich etwa in unsere Gemeinschaft schleichen konnten, und doch auch mein Auge konnte sich da einmal irren.

Das dünkte mir köstlicher als alles, alles andere, diese Sicherheit, die uns hierin garantiert wurde.

Ich begab mich sofort in die große Kajüte, in der alle Hauptpersonen versammelt waren, auch unsere Gäste, als die sie vorläufig noch gelten mussten, waren zugegen.

Ich berichtete mein Gespräch mit der geheimnisvollen Unbekannten, und das Staunen derer lässt sich denken, die davon noch gar nichts gehört hatten.

»Das ist ja die reine dodonäische Taube!«, war es jetzt Lord Harlin, der dies sofort rief.

Ich will nun erklären, was es hiermit für eine Bewandtnis hat.

Wer in einem neueren Konversationslexikon nachschlägt, um über die Argonautensage nachzulesen, wird von der dodonäischen Taube gar nichts erwähnt finden, wahrscheinlich aber in einem älteren. Diese älteren Lexika hatten eben mehr Platz für derartige Ausführungen, die hatten sich noch nicht so viel mit den letzten Errungenschaften der Technik zu beschäftigen.

Am besten ist es natürlich, man liest gleich die Quellen. Freilich gibt es da verschiedene klassische Werke, Epen, welche die Argonautensage auch ganz verschieden behandeln. Am ausführlichsten berichtet über die dadonäische Taube das Epos des Valerius Flaccus.

Der bekannte Jason erhält von seinem Oheim Pelias den Auftrag, das goldene Vließ des Widders, auf welchem Phrixus und Helle entflohen waren, aus dem Haine des Ares zu Colchis zu holen, wo Phrixus den treuen Hammel geschlachtet und sein goldenes Fell an einer Eiche aufgehängt hatte, dort bewacht von einem Drachen.

Zunächst mächte ich etwas einschalten. Jede Sage muss doch einen symbolischen Hintergrund haben, muss irgend etwas bedeuten. Es ist eine von unseren gelehrten Mythologen heiß umstrittene Frage gewesen, was man sich denn unter dem goldenen Vlies vorzustellen habe. Wenn es einfach ein goldenes Schafsfell gewesen wäre, so hätten sich doch wohl nicht fünfzig der ersten Helden Griechenlands, darunter Könige und Königssöhne, aufgemacht, um unter den größten Strapazen dieses Fell zu suchen. Da muss irgend etwas anderes dahinterstecken.

Die modernen Okkultisten legen diese Sage so aus, dass auf dem Widderfell ein alchemistisches Rezept geschrieben war, wie man Gold machen könnte. Daher »goldenes Vlies«. Dies nur nebenbei.

Zu dieser Fahrt lässt Jason von Argus, dem Sohne des Phrixus, ein fünfzigrudriges Schiff bauen, so groß, wie es die damalige Welt noch nicht gesehen hat, das nach seinem Erbauer den Namen »Argo« bekommt.

Hier ist also zwischen uns und den alten Argonauten ein kleiner Unterschied vorhanden. Unser Schiff hieß »Argos«, nach jener griechischen Insel so benannt.

Jason fordert die berühmtesten Helden Griechenlands zur Mitfahrt auf, und ihrer fünfzig kommen. Nach anderen Schriftstellern sollen es freilich noch viel mehr gewesen sein, bis zu hundert.

Herkules, Theseus, Kastor und Pollux, und so weiter, sie alle kommen mit. Auch ein Weib war darunter: Atalanta, die unbesiegbare Schnellläuferin, welche Kaledonien von dem furchtbaren Eber befreite.

Was nun diese alten Argonauten für Abenteuer erlebten, darüber mag man anderswo nachlesen. Ich will hier nur von der dodonäischen Taube sprechen.

Dodona war ein im alten Griechenland hochberühmtes Orakel, überhaupt das älteste. Dort stand ein mächtiger, dem Zeus geheiligter Eichbaum, aus dessen Rauschen Priesterinnen weissagten. Diese Priesterinnen wurden Peleiades genannt, d. i. Tauben. Weshalb sie so hießen, weiß ich nicht.

Nun interessierte sich auch die Göttin Athene so sehr für diesen Argonautenzug, dass sie von dieser prophetischen Eiche einen Span abschnitt, der ebenfalls weissagte, also auch sprechen konnte, und ihn in den Mast der »Argo« einfügte. Der Span selbst wurde dodonäische Taube genannt.

Wenn die Argonauten nun einmal irgend etwas wissen wollten, so brauchten sie nur ihre hölzerne Taube zu befragen, und außerdem, nach Valerius Flaccus, schickte dieser prophetische Holzspan bei schwierigen Passagen von ganz allein einen Lichtstrahl voraus, dem die Argonauten einfach nur zu folgen brauchten, um überall glücklich durchzukommen.

Mit diesem prophetischen, den Weg anzeigenden Span ist zweifellos schon der Kompass angedeutet, den damals erst die Chinesen besaßen.

*

58. Kapitel

Vor Konstantinopel

Originalseiten 1510 — 1524

Wieder waren drei Tage vergangen, ohne dass sich Schwester Anna nochmals gemeldet hätte. Es war eine stockfinstere Nacht, die dem heiligen Christfest vorausging, zu dem wir schon längst unsere verschiedenen Vorbereitungen trafen.

Man konnte die Hand nicht vor den Augen erkennen. Wir steuerten nach den verschiedenfarbigen Leuchtfeuern, die hier und da an der türkischen Küste aufflammten, alle in den Seekarten eingetragen.

Aber es war eine sehr schöne Nacht, mild wie im Frühling. Denn hier unten kann es im Dezember manch mal schon bitter kalt sein. Die See war fast ganz glatt.

Wir Hauptpersonen hatten uns auf der Bank versammelt, dem erhöhten Vorderteil des Schiffes, unter dem sich fast immer, wie auch bei uns, das Mannschaftslogis befindet.

»Gleich ist es Mitternacht!«, meldete jetzt Doktor Isidor der unsere Greenwicher Zeit nach der Ortszeit umgerechnet hatte.

Nach den Leuchtfeuern wussten wir ja immer genau, wo wir uns befanden.

»Da — da — da — da ist es!«

Plötzlich lag mehrere Meter vor dem scharfen Bug an dem stillen Wasser, das sich erst hinter uns rauschend schloss, ein heller, weißer Lichtschein, derselbe kreisrunde, den wir schon damals gesehen hatten, und wir holten ihn nicht ein, er war uns immer in derselben Entfernung voraus.

Für uns war das wohl ein Phänomen, aber ein anderes Schiff hätte dicht vorüber fahren können, oder auch an Deck unseres Schiffes hätte ein Uneingeweihter den Lichtschein sehen können, er hätte daran nichts Bemerkenswertes gefunden.

Für den wäre das einfach ein Lichtschein gewesen, der vorn aus einem Bullauge herausfiel, und es hätte ein Physiker oder ein sehr scharf beobachtender Mensch sein müssen, um sich darüber zu wundern, dass der Lichtschein vorher durch die Finsternis ja gar keinen Strahl zog. Denn der fehlte, und das war es eben!

Der Lichtschein führte uns ganz beträchtlich vom Kurse ab, immer weiter nach Norden. Dadurch näherten wir uns so weit der Küste, wie wir allein es niemals gewagt hätten. Aber diesen leuchtenden Piloten durften wir wohl trauen. Es war die dodonäische Taube, die ihn uns voraussandte.

Zwei Stunden vergingen. Ach was die anderen über den Lichtschein alles für Spekulationen aufstellten. Ich aber machte da nicht mit, ich war der Odysseus, der seine Ohren verstopfte.

Da begann die Schiffsglocke zu läuten, aber nicht von Menschenhand in Schwingungen versetzt, und gleichzeitig verwandelte sich das weiße Licht in ein blutrotes.

Kapitän Martin war auf seinem Posten, das war die Hauptsache, auf der Kommandobrücke, von wo aus er den Lichtschein auch noch sehen konnte.

Der Signalapparat klingelte, die Schraube stoppte, machte einige Schläge rückwärts, in wenigen Sekunden war die Fahrt gebremst, und gleich beide Buganker rasselten herab, fassten sofort in neun Meter Tiefe.

Jetzt freilich konnte auch Kapitän Martin verwundert den Kopf schütteln.

Nach den farbigen Küstenfeuern konnten wir genau auspeilen, wo wir uns befanden, danach die Seekarten befragen.

Diese ganzen Küstengegenden hier sind von den Russen aufs genaueste ausgelotet worden. Die Russen sind überhaupt nach den Engländern die fleißigsten Seeforscher und Meridianvermesser immer gewesen und sind es heute noch, das muss man ihnen lassen — auch so ziemlich das einzige Gute, was ich von den Russen kenne. Es hängt mit der Petersburger geografischen Gesellschaft zusammen, die durch Legate überaus reich dotiert ist, und wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu, jeder reiche Mann, der sich auch noch nach seinem Tode bemerkbar machen will, setzt dieser Gesellschaft immer noch ein Legat aus.

Die hiesige Seekarte, die an Genauigkeit kaum noch übertroffen werden kann, zeigte hier überall eine Tiefe von über hundert Metern an. Und wir ankerten auf einer Muschelbank, die sich, wie wir dann später auspeilten, über vier Quadratkilometer erstreckte, bei nur neun Meter Fluttiefe.

Wir lagen sicher vor Anker, ich legte mich schlafen. Das nächste Mal, wenn sich Schwester Anna bemerkbar machte, wollte ich sie fragen, ob ich sie denn nicht anrufen könne. Bisher hatte sie den Schluss immer so kurz gemacht.

Als es zu dämmern begann, erwachte ich. Die aufgehende Sonne beleuchtete das amphitheatralisch aufsteigende Konstantinopel, ließ die vergoldeten Dächer und Kuppeln der Moscheen und Minaretts erglänzen — ein herrlicher Anblick, viel herrlicher als der innere Anblick.

Der Gebäudekomplex dort oben auf dem felsigen Vorgebirge, dem eigentlichen »goldenen Horn«, das war das berühmte Serail des Sultans, ein ganzes Stadtviertel bildend, aber durch Mauern von der anderen Welt abgeschlossen.

Serail heißt nichts weiter als Palast, für Konstantinopel hat es aber eine besondere Bedeutung, es ist eben die Residenz des Sultans, in dem sich natürlich auch sein Harem befindet, sodass man hier das Wort Serail gleichbedeutend mit Harem gebraucht.

In diesem Serail gibt es nur einen einzigen Mann, der diesen Namen wirklich verdient, und das ist der Sultan selbst. Alle anderen sind Eunuchen.

Damals zu unserer Zeit war noch Abdul Hamid Herrscher aller Rechtgläubigen, damals war das ganze Serailwesen noch in seiner vollsten Blüte.

Aber wie viele Eunuchen und Weiber und Odalisken und Sklavinnen der in seinem Serail gehabt hat, das hat man auch bei der Auflösung des ganzen Hofstaates durch seinen Nachfolger niemals richtig erfahren. Sieben Frauen oder Khadunas durfte er sich halten, das weiß man ja bestimmt, aber selbst die Angaben der ehemaligen Insassen des Harems schwankten zwischen 500 und 5000 Odalisken und Sklavinnen.

Selbst die höchsten Würdenträger waren in dem Serail ebenso abgesperrt, dass sie niemals einen völligen Überblick bekamen, und dann kommt auch noch die türkische Lügerei und Aufschneiderei hinzu.

Also dort oben war Reinhold Gerlachs Schwester als Odaliske.

Odaliske heißt wörtlich übersetzt Stubenmädchen. Jedes türkische Mädchen, das sich im Hause nützlich macht, heißt denn dort auch wirklich Odaliske. Im Serail des Sultans hat sie nun freilich eine andere Bedeutung, dort braucht sie nicht zu scheuern und zu putzen und Staub zu wischen. Diese Odalisken müssen vor allen Dingen tanzen, um den Sultan zu erheitern. Zwar kann er auch sonst über sie verfügen, aber das soll gar nicht so einfach sein. Nur während des Beiramfestes führt ihm die Walide, die Sultansmutter, eine Jungfrau zu, die trifft die Auswahl, nicht etwa der Sultan, und da deren größter Ehrgeiz darin besteht, einen prinzlichen Enkel zu bekommen, so sucht sie die Betreffende nur unter ihrer eigenen Verwandtschaft aus. Und bei dem schon damals alten Sultan war diese ganze Sache ja überhaupt sehr mau.

Wenn also sonst alles klappte, dann konnte der junge Maler über das Schicksal seiner Schwester ganz beruhigt sein. Nur eben wie sie aus dem heiligen, unantastbaren Serail wieder herausbekommen, das war die Hauptfrage, die kein Diplomat zu lösen verstanden hätte.

Es wurde Mittag, und nichts war passiert.

Einige kleine Fahrzeuge strichen an uns vorüber, meist unter Segel, größere Schiffe hatten keinen Grund, sich so weit der Küste zu nähern.

Da läutete unsere Schiffsglocke ohne Menschenhand. Ich schnell auf die Kommandobrücke, deren Telefon mir am nächsten war.

»Hier, Waffenmeister, wer dort?«

»Schwester Anna. Anker auf und Dampf! Aber bleibt dort liegen, geht nur etwas gegen die Strömung an. Um das Horn geht soeben ein kleiner Raddampfer unter türkischer Flagge. Auf diesem macht die fünfte Khaduna eine Spazierfahrt, in Gesellschaft einiger Odalisken, darunter ist auch Hildgard. Der Dampfer kommt an Euch vorüber. Beobachtet ihn ruhig. Wenn es so weit ist, werdet Ihr wissen, was Ihr zu tun habt. Hast Du mich verstanden?«

»Das wohl, aber...«

»Schluss.«

Ja, da gab es nun weiter nichts, als vollen Dampf aufzumachen, was in zwei Minuten geschehen war, die Anker zu hieven und mit Viertelkraft der von Osten kommenden Strömung entgegenzugehen.

Richtig, dort hinter dem Vorgebirge tauchte ein kleiner Raddampfer auf, am Heck die türkische Handelsflagge. Von der Strömung getrieben, näherte er sich uns schnell. An Deck lungerten einige zerlumpte Matrosen herum, lagen in der Sonne, sonst war nichts Bemerkenswertes zu sehen.

Aus gewissen Anzeichen erkannten wir gleich, dass es ein alter Holzkasten war, und die fünfte Khaduna — die sieben Frauen des Sultans werden wirklich nur nach Nummern bezeichnet — musste viel Mut haben, sich solch einem alten, durch Schaufelräder getriebenen Holzkasten anzuvertrauen. Doch schließlich waren früher ja alle Dampfer aus Holz gebaut, auch die »Loreley«, das in Konstantinopel stationierte deutsche Kriegsschiff ist ein hölzerner Radkasten.

Das Fahrzeug war vielleicht nur noch einen halben Kilometer von uns entfernt, wir hörten schon die Maschine mächtig keuchen, als plötzlich die herumlungernden Matrosen aufsprangen und durcheinander liefen, aus dem Kajüteneingang stürzten Türken in alter Nationaltracht hervor, wir konnten schon mit bloßen Augen ihre in den Gürteln steckenden Pistolen und Dolche erkennen, aus den Luken schossen schwarze Heizer empor.

Da war etwas passiert! Solch ein alter Bretterkasten, bei dem manchmal nur noch die Farbe dicht hält, kann ja leicht einmal aus den Fugen gehen.

Jetzt wurde auch mit Ball und Wimpel das Zeichen der höchsten Seenot gegeben, an Deck begann es noch viel mehr zu wimmeln, die vermummten Gestalten waren offenbar Frauen, die Matrosen wollten ein Boot aussetzen und brachten es nicht aus den Davits heraus, man winkte uns eifrigst...

Nun, wir waren schon mit Volldampf unterwegs, hatten in drei Minuten das Fahrzeug längsseit.

»Wir sinken, wir sinken!«, wurde uns außer in Türkisch auch in französischer Sprache zugerufen.

Ja, das hatten wir in den drei Minuten auch schon gesehen, der Backtrog musste sich ganz rapid mit Wasser füllen.

Der hölzerne Zwerg lag dicht neben dem eisernen Riesen. Schon hatten wir die Krane ausgeschwungen und Bootsbäume ausgeschoben, Taue hinabgeworfen, unser Kapitän brüllte wie ein französischer Schiffer, aber die türkischen Matrosen wurden nicht fertig, unsere Jungen jumpten hinab und legten die Taue um die Poller oder wussten sie sonst wie solid zu befestigen, und wir hatten das Ding fest, sinken konnte es nicht mehr.

»Was hat es denn gegeben?«

Aus dem allgemeinen Schnattern war nichts zu verstehen.

Jedenfalls aber entstand zwischen zwei türkischen Fettwansten ein Streit.

Der eine wollte, dass alle die herabgelassene Treppe benutzten, um zu uns an Deck zu kommen, der andere wollte es nicht zulassen.

»Herauf mit Euch, Euer Dampfer sinkt, in der nächsten Minute liegt er auf dem Grund!«, schrie ich.

Das gab den Ausschlag, jetzt war der zweite Türke der erste, der eiligst die Falltreppe benützte.

Das Heraufklettern ging ziemlich glatt vonstatten. Es waren etwa drei Dutzend Männer, die meisten sehr dick und alle mit Fistelstimmen, und ein Dutzend vermummte Weiber, darunter einige wie die Kugeln, die nach und nach an Deck kamen.

»Wo ist der Monsieur Kapitän?«, fragte so ein waffengespickter Dickwanst.

»Hier.«

»Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen.«

»Reinhold, Reinhold!«, erklang es da jauchzend, und eine der schlankeren vermummten Weiber warf sich an des jungen Malers Brust.


Illustration

»Reinhold, Reinhold!«, erklang es plötzlich jauchzend, und eines
der verhüllten Weiber warf sich dem jungen Maler an die Brust.


»Hildgard, meine Schwester, endlich habe ich Dich wieder!«, jubelte der nicht minder, das jetzt unverhüllte Gesicht der Schwester küssend.

Mit dieser Jauchzerei und Küsserei aber war jener waffengespickte Fettwanst nicht einverstanden, er stürzte gleich drauf zu und wollte die beiden auseinanderreißen.

Erstens aber war das gar nicht so leicht, und zweitens stand daneben Kapitän Martin, und der war gerade der richtige, um an Bord seines Schiffes so eine fremde Gewalttat zu dulden.


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Er nahm die eine Hand aus der Hosentasche und drängte den Türken zurück, ich glaube sogar, er hob ihn dabei wie eine Puppe empor.

»Halt, halt, halt, halt, wir sind an Bord eines deutschen Schiffes!«

»Das ist eine Odaliske des Padischahs!«, quiekte der Türke.

»Diese Dame ist die Schwester von einem meiner Leute.«

Ich will es nicht so wiedergeben, wie es sich abwickelte, will es ganz kurz machen.

Es war ja auch einfach genug. Wir ließen uns nicht erst in diplomatische Verhandlungen ein, noch weniger dachten wir daran, erst in den Hafen zu gehen. Dort wären wir ja doch die Schwächsten gewesen, hier aber hatten wir die Macht.

Die Khaduna hatte eine Morgenspazierfahrt machen wollen, das geschah immer unter einer Handelsflagge, eben um jedes Aufsehen zu vermeiden. Vielleicht war auch eine Kriegsflagge an Bord, aber die war doch nicht gehisst gewesen.

Was wollten sie denn da gegen uns machen. Als der Kizlar Agasi, oder wie der Kerl hieß, der Hauptmann der Verschnittenen, dem die Sicherheit der Khaduna und ihrer Dienerinnen anvertraut worden war, nur einen einzigen Griff nach einem seiner vielen Dolche machte, wohl nur so eine theatralische Bewegung, wurden ihm seine sämtlichen Waffen sofort abgenommen.

»Noch solch eine drohende Bewegung, und ich lasse Sie sofort in Arrest setzen!«, donnerte ihn Kapitän Martin im besten Französisch an. »Alle Ihre Waffen abgeben!«

Sie mussten es, da gab es keinen Widerstand. Diese Forderung war hier auch unser gesetzliches Recht.

Ich will hier nicht anführen, was uns der türkische Hauptmann alles androhte. Schwatzen konnte er, so viel er wollte. Aber ein türkisches Kriegsschiff durfte er nicht anrufen, dafür sorgten wir.

Wir richteten unseren Kurs nach den Dampferlinien, riefen den ersten ostwärts fahrenden Frachtdampfer an, einen englischen, der sich nur zu gern bereit erklärte, sich den Bergelohn verdienen zu wollen.

Also er nahm uns den sinkenden Kasten ab, befestigte ihn ebenfalls an Auslegebäumen, die ganze Türkengesellschaft wanderte hinüber, zuletzt folgte das schon versiegelte Paket nach, alle Waffen enthaltend.

»Das sollt Ihr ja büßen, Ihr räudigen Christenhunde!«, quäkte drüben der Eunuchenhäuptling, drohend seine fette Faust schüttelnd.

Vergebens hatte ich — und vielleicht noch manch anderer mit mir — gehofft, dass die Türken so etwas ähnliches einmal an Bord unseres Schiffes gesagt hätten. Sie hatten sich gehütet, kein einziges Schimpfwort war gefallen. Drohungen hatten sie ja ausstoßen können, das war etwas anderes gewesen.

Erst jetzt, da sie sich in Sicherheit wähnten, ging es drüben los.

Der Eunuchenhäuptling blieb nicht der einzige, der seinem Herzen jetzt Luft machen musste.

»Ungläubige Hunde, mit stinkender Jauche gefüllte...«

Weiter ging es vorläufig von anderer Seite nicht. Ein Blitz fuhr hinein.

Unser Windenkran war noch ausgeschwungen, das Seil hing noch herab, zwischen uns und dem englischen Schiffe, aber frei, nicht mehr um einen Poller des darunter liegenden Fahrzeugs geschlungen — und im nächsten Augenblick sprang ich an dieses Seil, hatte ja sowieso genügenden Schwung, sauste hinüber, stand an Deck des englischen Dampfers und setzte dem Eunuchenhäuptling die Faust zwischen die Augen, dass er wie ein Sack hinstürzte.

»Da, das ist ein christliches Weihnachtsgeschenk!«

Nun hatten aber auch schon die anderen uns Christenhunde beschimpft, und der zweite war ein englischer Matrose, der solch einen Türken mit einem Fausthieb niederschmetterte.

Das ging mich nichts weiter mehr an, ich hatte meine Pflicht als Mensch deutscher Staatsbürger und europäischer Christ getan, schwang mich an dem Seile wieder zurück, ignorierte das jubelnde Hallo meiner Jungen, fasste sofort einen ganz kaltblütigen Gedanken. Die beiden Geschwister hatten sich ja gar viel zu erzählen, jetzt aber fiel mir etwas ein, weshalb ich die beiden stören musste, es war schleunigst noch etwas nachzuholen.

»Haben Sie Schmuck an sich, der Ihnen nicht gehört?«, Ja, das wirklich außerordentlich schöne Mädchen war als Odaliske mit einer ganzen Menge von Armbändern und Ringen und Ohrglocken behangen.

»Her damit! Damit die uns nichts nachsagen können.«

Das ganze Gelumpe schnellstens zusammengepackt, ich selbst warf es mit erklärenden Worten hinüber. Ohne aber beleidigend zu werden.

Dann wurde die Verbindung gelöst, der englische Dampfer setzte seinen Weg ostwärts, wir den unsere westwärts fort. —

Alsbald ertönte die Schiffsglocke, ich eilte an das nächste Telefon.

»Bist Du zufrieden, wie ich das arrangiert habe?«

»Ja, sehr, Schwester Anna. Wie hast Du denn den türkischen Dampfer zum Sinken gebracht?«

»Bitte, stelle nicht solche Fragen.«

»Wie Du befiehlst, verzeihe mir meine Neugierde.«

»Er wäre auch ohne mein Zutun seinem Schicksale nicht entgangen, nur das darf ich Dir noch sagen.«

»Es genügt für mich.«

»Wohin wollt Ihr jetzt?«

»Wir haben kein Ziel.«

»Nach Konstantinopel dürft Ihr nicht. Man würde Euch doch noch etwas anhaben können.«

»Das glaube ich schon.«

»Seid Ihr bereit, den herrenlosen Besitz im Meere, den ich Euch anweisen will, anzutreten?«

»Wir sind immer bereit.«

»So erfahre es jetzt: es handelt sich um die fünfte geografische Bestimmung, welche nach Neuseeland oder richtiger nach den Chathmainseln, weist.«

»Aha! Also der sogenannte Seelandfelsen.«

»Du sagst es. Er ist von den Unsrigen für Euch geräumt worden. Wenigstens zum Teil. Einiges hat sich doch geändert. Wir müssen ihn uns teilen. Aber wir werden Euch nicht belästigen, Ihr braucht, wenn Ihr nicht wollt, gar nichts von uns zu bemerken.«

»Schon gut, schon gut — wir werden uns schon zusammen vertragen!«, lachte ich.

»Alles Weitere teile ich Dir später mit.«

»Ich warte.«

»Habt Ihr Euch noch mit etwas für diese weite Reise zu versehen?«

»Nicht dass ich augenblicklich wüsste. Wir sind für reichlich ein Jahr noch mit allem versehen.«

»So segelt zuerst nach Sydney. Dort werdet Ihr sofort Gelegenheit haben, eine ganz neue Ölfeuerung billig zu erstehen, die nach einer ganz kleinen Abänderung genau für Eure Kesselheizung passt, Ihr könnt das Einbauen unterwegs selbst besorgen.«

»Wie Du befiehlst, o dodonäische Taube.«

»Ich habe Euch nichts zu befehlen.«

»Dann wie Du uns ratest. Von unserem Danke will ich schweigen, so etwas ist mit Worten gar nicht auszudrücken. Werden wir auf dem Seelandfelsen vielleicht Gelegenheit haben, Dich selbst zu sehen?«

»Vielleicht — ich weiß es noch nicht.«

»Wir hoffen es.«

»Welchen Weg würdest Du nach Sydney nehmen?«

»Nun — ich denke doch ostwärts herum. Das ist nach Sydney der nähere Weg.«

»Um das Kapland?

»Nein, dann schon durch den Suezkanal. Auf die paar lumpigen tausend Franken kommt es uns dann auch nicht an.«

»Dann würdet Ihr Sydney und den Seelandsfelsen wohl niemals erreichen.«

»Weshalb denn nicht?!«

»Ihr würdet in Port Said festgehalten werden. Bis dahin hätten die türkischen Behörden dann schon gesorgt. Und man würde Euch nicht eher wieder freilassen, als bis Ihr die Odaliske wieder ausgeliefert hättet.«

»Festgehalten? Wie will man denn das machen?«

»Indem man Euch in Quarantäne nimmt.«

»In was denn für eine Quarantäne? Wir sind alle kerngesund.«

»Aber man würde Euch beim Passieren des Suezkanals oder schon in Port Said einen Pestfall aufhängen. Das verstehen diese Türken schon zu arrangieren. Kurz, man würde Euch nicht eher freigeben, als bis Ihr die Odaliske wieder ausgeliefert habt — und auch sonst würde man Euch natürlich zu kujonieren wissen.«

Auweh!

Ich sprach es gleich aus, was ich dachte.

»Na, wenn das im Buche des Schicksals steht, falls wir den Suezkanal passieren, dann wollen wir lieber um die Gute Hoffnung fahren.«

»Recht so! Sonst noch etwas?«

»Ja, diesmal habe ich noch etwas zu fragen.«

»Nun?«

»Darf ich nicht auch Dich einmal anrufen?«

»Nein, das darfst Du nicht!«, erklang es rasch. »Das verbiete nicht ich Dir, sondern ich selbst stehe unter den Befehlen eines Höheren, dem ich zu gehorchen habe. Und dieser erlaubt nicht — noch nicht — dass Ihr mich zu jeder Zeit anrufen könnt. Aber seid guten Mutes, ich bin bei Euch und schütze Euch vor jeder Gefahr, und kommt Ihr doch einmal in Not, in größte Todesnot, und ich greife nicht helfend ein, so seid versichert, dass dies dann nur zu Eurem Besten dient, auch wenn Ihr es nicht begreifen könnt, so wie auch ich es vielleicht nicht begreifen kann. Aber der, dem ich diene, weiß es besser. Schluss.«

*

59. Kapitel

Die Mysterien von Seeland

Originalseiten 1524 — 1554

Am 12. Februar liefen wir im Hafen von Sydney ein, wir hatten eine siebenwöchige Fahrt mit sehr viel Lust und ein wenig Leid hinter uns. Dem Matrosen Edmund war von einer Rahe das linke Bein abgequetscht worden, er stelzte bereits auf einem hölzernen umher, und der Heizer Franz hatte sich im Kesselraum durch eigene Unvorsichtigkeit furchtbar verbrüht, er war in wenigen Minuten tot gewesen.

Weshalb waren die beiden von unserer dodonäischen Taube nicht gewarnt worden, zur Zeit nicht dort zu sein, wo sich das Unglück zutrug?

Oder wäre ihnen dann noch ein schlimmeres Schicksal beschieden gewesen?

Mochten die anderen in der Kajüte dieses Gewirr der Schicksalsräder zu enträtseln versuchen, ich kümmerte mich nicht darum.

Jedenfalls aber hatte uns diese siebenwöchige Fahrt viel mehr Lust als Leid gebracht.

Schwester Anna hatte nichts wieder von sich hören lassen, und es wäre auch gar nicht nötig gewesen. Wie wir in Sydney zu der Ölfeuerungsanlage kamen, da war gar nichts Wunderbares dabei, das war die einfachste Sache von der Welt.

Sie wurde einfach in einer Sydneyer Schiffszeitung annonciert, war dort und dort zu besichtigen.

Freilich wurde dann konstatiert, dass sie damals, als Schwester Anna davon gesprochen, noch nicht verkäuflich, überhaupt noch gar nicht in Sydney gewesen und nicht einmal nach hier bestimmt war, aber das ließ mich alles ganz kalt.

Ich ging hin und kaufte sie, und es brauchten auch wirklich nur einige Rohre gekürzt zu werden, dann passte die Anlage ganz famos in unser Schiff, das Einbauen konnten wir unterwegs selbst besorgen.

Noch einmal unseren Eisraum mit frischgeschlachtetem Ochsen-, Hammel- und Schweinefleisch gefüllt, und wir dampften wieder ab.

Nachträglich erwähne ich, dass wir beim Verlassen des Mittelmeeres noch einmal Gibraltar angelaufen hatten, wegen Lord Harlin, der uns mit seiner Nichte wenigstens bis nach Sydney hatte begleiten wollen. Wenn er wegen seines Mündels auch niemandem Rechenschaft schuldig war, so hatte er für solch eine lange Reise doch erst verschiedene Sachen erledigen müssen, auch Garderobe und besonders Evelyns Schulbücher mussten mitgenommen werden. Den Schulunterricht aber konnte er selbst und ganz besonders unser Doktor Isidor übernehmen. Allerdings war ich derjenige, der dafür sorgte, dass der Kopf des armen Mädels nicht gar zu sehr angestrengt würde.

Nun waren wir in Sydney, und Lord Harlin dachte noch immer nicht daran, uns zu verlassen. Doktor Isidor wusste dem leidenschaftlichen Schachspieler immer neue Probleme zu stellen, und dann vor allen Dingen war Lord Harlin, ein ausgezeichneter Kenner der alten indischen Sprachen, über das Pergament gekommen, das wir damals in der Wüstenruine in dem Schiffsmodell gefunden und das uns Mister Carlistle als ganz selbstverständlich zurückgelassen hatte, da seine Entchifferung nur an Bord unseres Schiffes gelingen sollte, und Lord Harlin glaubte in den Hieroglyphen eine Ähnlichkeit mit dem Pakrit zu finden, einer Zweigsprache des Sanskrits, und so hatte Doktor Isidor nach langer Pause die Lösung dieses Rätsels mit seiner Unterstützung wieder aufgenommen.

Wir passierten die Cook-Straße, welche Neuseeland durchschneidet, ließen die Chatham-Inseln rechts liegen, und am 23. Februar tauchte vor uns der Seelandfelsen auf, das australische Helgoland.

Er hat eine ziemlich quadratische Basis, deren Durchmesser man trigonometrisch auf zweieinhalb Kilometer berechnet hat; seine Höhe auf 1400 Meter.

Oben scheint ein Plateau zu sein, und bei solcher Höhe wird wohl auch auf dieser südlichen Breite in den Wintermonaten, hier also im Juni, Juli und August, der atmosphärische Niederschlag als Schnee liegen bleiben.

Es ist sehr wohl möglich, dass sich dieses Plateau zur Kultur eignen würde, einige hundert Menschen ernähren könnte, aber dieser Felsen gehört zu denjenigen Punkten der Erde, welche für die Menschheit wohl für immer unerreichbar bleiben werden. Nur Seevögel können erzählen, wie es dort oben aussieht.

Denn erstens steigen die ungeheuren Felswände überall ganz steil aus dem Meere empor, nur unten ausgewaschene Höhlen enthaltend, sonst ohne den geringsten Riss — und zweitens herrscht dort auf allen Seiten zu jeder Zeit eine furchtbare Brandung. Und wenn auch wochenlang völlige Windstille geherrscht hat, das ganze Meer glatt wie ein Spiegel ist, in diesen Höhlen und überhaupt am ganzen Felsenrande schäumt und kocht und spritzt es dennoch ständig auf fürchterliche Weise.

Das ist eben die Kraft des Meeres, die empört ist, hier auf freiem Gebiet plötzlich solch einen festen Widerstand zu finden. Denn die absolute Ruhe der See ist nur eine scheinbare, in Wirklichkeit ist das Meer immer in Bewegung. Der Physiker kann es berechnen, weshalb auch das in der weiteren Umgebung stillste Meer dort so spritzen und branden muss, aber das muss man gesehen haben um es glauben zu können. An der portugiesischen Küste oder an der Westküste Englands kann man ja dasselbe beobachten. Wo Dünen sind oder überhaupt flacher Strand, da spült das Wasser kaum. Aber gegen Felsen tobt die Kraft des ganzen Ozeans mit furchtbarer Gewalt an. Das ist genau so, wie wenn man im Parterre den Hahn der Wasserleitung aufdreht. Das Wasser läuft doch ganz harmlos heraus. Schraubt man aber an das Mundstück einen Schlauch mit enger Mündung, so spritzt es bis zur vierten Etage empor.

Es ist also ganz ausgeschlossen, dass dort ein Schiff oder auch nur ein Boot anlegen kann. Es würde sofort zersplittern. Ja, wenn das möglich wäre, dort hinauf zu gelangen — dann hätte natürlich England schon längst dieses australische Helgoland im Besitz und es befestigt. Aber es ist gar nicht daran zu denken. Und es ist auch nicht so einfach, solch einen einsamen Felsen mitten im Meere ohne weiteres in Besitz zu nehmen. Da muss erst die Flagge aufgepflanzt werden, und dann hätte die betreffende Macht sicher auch die Verpflichtung, dort oben einen Leuchtturm zu unterhalten.

Dieser Felsen, der oben vielleicht kulturfähiges Land hat, ist also noch herrenlos, wie es solcher Felsen und auch ganzer Inseln ja noch massenhaft gibt.

Die Schiffer gehen in weitem Bogen um den Felsen herum, überhaupt kommen nur Segler in Betracht, von Dampferlinien führt keine vorbei, und auch in finsterster Nacht kann er nicht besonders gefährlich werden, denn das Toben der Brandung ist schon kilometerweit zu hören. Vorgelagerte Klippen scheinen ganz zu fehlen.

So standen wir an Deck und beobachteten, wie auf der Südwestseite in den ausgewaschenen Höhlen das Meer furchtbar kochte und spritzte, obgleich sonst die See glatt wie ein Spiegel war, und so war es auch auf allen anderen Seiten.

Da wurde die Schiffsglocke von unsichtbarer Hand geläutet.

Dad Telefon aus dem Kartenhaus wurde mir am verlängerten Draht herabgelassen, damit alle an Deck hören konnten, was mir Schwester Anna zu sagen hatte. Denn es hatte keinen Zweck, an andere Telefons zu treten. Nur dasjenige Telefon, das ich in die Hand nahm, sprach, kein anderes. Wenn sie aber laut sprach so war auch ihre Stimme immer in größerem Abstande zu hören.

»Hier, Waffenmeister. Schwester Anna?«

»Ja!«, bestätigte die so überaus wohltönende, weiche Frauenstimme. »Dies ist der Seelandsfelsen, den ich Euch als Euer festes Heim mitten im Meere anweise.«

»Wie sollen wir unser Heim nun in Besitz nehmen?«

»Einfach indem Ihr direkt hineinfahrt. Peile mit dem Kompass Nordost zwei Striche Ost, richte dorthin das Fernrohr.«

Wir taten es, ich brauchte dazu nicht das Telefon aus der Hand zu legen, von Mund und Ohr zu entfernen.

»Was erblickst Du?«

»Wie mit bloßen Augen den massigen Felsen mit schäumenden Höhlen, nur alles bedeutend näher gerückt.«

»Siehst Du den weißen Fleck, der sich über einer der Höhlen befindet?«

In der Tat, den erblickten wir, und der weiße, kreisrunde Fleck war so groß und so auffallend, an der fast schwarzen Felswand, dass wir ihn eigentlich schon vorher hätten sehen müssen.

»Es ist ein Lichtschein, den ich gegen die Felswand werfe«, erklärte das Telefon. »Er bezeichnet die Höhle, in die Ihr zu steuern habt. Sie ist der einzige Ein- und Ausgang.«

»In diese Höhle sollen wir fahren?«, musste ich erst nochmals fragen.

»Wie ich sage.«

»Mit dem ganzen Schiffe?«

»Natürlich.«

»Mit vollen Masten?«

»Gewiss.«

»Unser Großmast hat 30 Meter absolute Höhe.«

»Und diese Höhle ist mehr als 50 Meter hoch und so breit, dass drei solcher Schiffe nebeneinander bequem einfahren können.«

Wir wollten es glauben. Nach unseren eigenen Augen hätten wir es nicht geglaubt. Diese Höhle, die sich von den benachbarten durch nichts unterschied, in der es ebenso fürchterlich kochte, sah aus, als könne sie nicht einmal einen kleinen Segelkutter aufnehmen.

Da aber kann sich eben auch unsereiner sehr täuschen. Wir wussten noch gar nicht, wie weit wir noch von dem Felsen entfernt waren, ob drei oder sechs Seemeilen.

»Vertraut Ihr mir?«

»Gewiss doch, Schwester Anna, ganz bedingungslos.«

»So dampft mit voller Kraft in diese Höhle hinein, und wenn das Meer auch noch so tobte unter einem Orkan, Ihr werdet immer ungefährdet hineinkommen, wenn Ihr nur ungefähr die Mitte des Höhleneingangs zu treffen wisst.

Dann, sobald Ihr durch die Brandung seid, in stillem Wasser, stoppt sofort ab und gebt etwas Gegendampf. Das ist die einzige Sicherheitsmaßregel, die ich Euch zu geben brauche.

Merkt Euch die Höhle gut, dass Ihr sie immer wiederfindet, wenn ich sie auch einmal nicht durch einen Lichtschein kenntlich mache, obgleich ich dies wohl zur Vorsicht immer tun werde.

Sonst werdet Ihr fernerhin wohl nicht mehr viel von mir zu hören bekommen, und so will ich gleich jetzt erledigen, was ich Euch sonst noch zu sagen habe.

Unser Plan hat sich unterdessen, wie ich schon einmal erwähnte, etwas geändert.

Ich wollte Euch doch zuerst ein ganz jungfräuliches Eiland anweisen. Ob wir nun diesen Felsen oder ein anderes Versteck im Auge hatten, bleibt für Euch gleichgültig.

Wir wären willens gewesen, auch in und auf diesem Felsen jede Spur von unserem bisherigen Aufenthalt zu verwischen, aber auf Wunsch eines Höheren, dem wir zu gehorchen haben, soll dies nicht geschehen.

Ihr werdet also mancherlei vorfinden, oder sogar sehr, sehr viel. Es erwarten Euch die größten Überraschungen.

An Euch liegt es, nach und nach die Entdeckungen zu machen, was Euch ja nur gefallen wird.

Alles, was Ihr vorfindet, gehört Euch, Ihr könnt es benutzen, frei darüber verfügen, könntet es sogar, wenn Ihr wolltet, veräußern. Es ist eben Euer Eigentum.

Und alles dies ist rechtmäßig erworben, kein anderer hat Anspruch darauf zu machen. Dass Ihr also nicht etwa glaubt, wie in den beiden steinernen Schwestern zusammengepferchte Seeräuberbeute zu finden. Wir haben alles dereinst gekauft oder selbst angefertigt, wir schenken es Euch, den Argonauten, die wir lieben.

An Euch ist es, Euer Geheimnis zu wahren. Fahrt also nicht aus und nicht ein, wenn ein anderes Schiff in der Nähe ist, das Euch beobachten könnte. Ihr könnt ja von oben immer Umschau halten.

Zwar würde kein anderes Schiff das Wagnis so leicht nachmachen, Ihr habt auch die Mittel, die beruhigende Ölquelle abzustellen — wie das gemacht wird, das müsst Ihr eben selbst erforschen — aber es ist doch besser, wenn die andere Welt gar nichts von Eurem Geheimnis erfährt.

Sollte dasselbe aber doch einmal entdeckt werden, wollte Euch jemand diesen bisher herrenlosen Felsen streitig machen, so habt Ihr nach unserer Ansicht, worüber wir uns lange beraten haben, das Recht, ihn zu verteidigen, auch mit blutiger Waffengewalt. Doch das müsst Ihr dann mit Eurem eigenen Gewissen ausmachen. Wir aber heißen es jedenfalls gut, wenn Ihr wegen dieses Felsens auch gegen alle vereinten Mächte und Nationen den Krieg eröffnetet.

Weiter habe ich Euch nichts zu sagen. Ihr könnt in und auf dem Felsen hausen, wie Ihr wollt, absolut wie Ihr wollt. Ihr könnt Euch neue Räume schaffen, könnt bohren und sprengen. Könnt auch, wenn es Euch Vergnügen macht, Eure Mitbewohner suchen. Denn Mitbewohner habt Ihr in dem Felsen. Aber Ihr werdet nichts von ihnen bemerken, sie auch nicht finden, und wenn Ihr auch den ganzen Felsen wie ein Sieb durchlöchert. Das kann ich Euch gleich versichern.

Nun dampft hinein und amüsiert Euch. Schluss!«

Das Letzte hatte recht humoristisch geklungen. Diese wunderbare Schwester Anna schien überhaupt durchaus keine Betschwester und Kopfhängerin zu sein, ich hatte es schon manchmal so aus ihrer Stimme herausgehört. Dass sie Witze riss, das freilich konnte man ja nicht verlangen.

Ja, also dann man los. Weit und breit war kein Schiff und nichts zu sehen, wovor wir uns hätten zu genieren brauchen.

Auf das Loch zugehalten und mit Volldampf hinein. So einfach, wie ich es hier sage, war es ja auch in Wirklichkeit — nur uns selbst war es dabei nicht so einfach zumute gewesen.

Fürchterlich hatte es in der riesigen Höhle ausgesehen, alles ein einziger Wassergischt, bis zur Mastspitze hinaufspritzend.

Allerdings wurde unser Schiff ja kaum merklich in Bewegung gesetzt, aber ich kann nur sagen, dass auch ich ein Stoßgebetlein stammelte oder doch dachte, und ich glaubte sicher, es sei mein letztes, als uns die Wassergischt umtobte. Nämlich auch mit einem Höllenspektakel. Ganz unbeschreiblich. Jedenfalls war es hier noch weit, weit schlimmer als dort bei der Einfahrt zwischen die beiden steinernen Schwestern, wo wir doch noch immer den freien Himmel über uns gehabt hatten, während wir hier in ein schwarzes Loch hineinfahren. Und überhaupt auch sonst war es noch weit fürchterlicher.

Noch stand ich halb oder wohl mehr ganz betäubt da, mit geschlossenen Augen, mich an der Nagelbank des Fockmastes anklammernd, obgleich das gar nicht nötig gewesen war, weil das Schiff also kaum in Schwingungen gekommen war, als ich den Signalapparat klingeln hörte.

»Stopp! Halbe Kraft rückwärts! Volle Kraft rückwärts! Stopp!«

Ja, unser Kapitän Martin hatte mit offenen Augen auf seinem Posten gestanden, und die Maschinisten und Heizer unten merkten ja gar nichts von der Situation.

Als ich die Augen aufmachte, war das erste, was ich sah, dass Doktor Isidor neben mir gerade einen Schluck aus seinem Pullchen nahm.

»Kathodenlicht!«, sagte er dann, sich die Mischung von Kognak und Salzwasser von den Lippen leckend.

Ja, hell war es hier drin.

Wir befanden uns in einer ungeheuren Höhle, wenigstens 300 Meter im Durchmesser und fast ebenso hoch in runder Wölbung, sodass hier drin bequem ein Dutzend der mächtigsten Ozeandampfer hätten nebeneinander liegen können.

Wir staunten ja nicht schlecht. Zunächst darüber, das diese ganze Höhle mit hellem Tageslicht erfüllt war.

Wo kam das her? Hinter uns lag der Eingang, von dem Wassergischt wie mit einem weißen Schleier verhangen, Fensteröffnungen gab es nicht, keine Lichtquellen.

Es war nicht anders, als wenn das weiße Tageslicht von den Felswänden selbst ausginge, von überall her, sodass also auch kein Schatten geworfen wurde.

Kathodenlicht hatte Doktor Isidor gesagt. Mochte sein. Das ist eine besondere Art von elektrischem Licht, das man in den sogenannten Geißler'schen Röhren erzeugt. Es soll das kalte Licht der Zukunft sein, man schmiert es gewissermaßen, wenn ich mich so ausdrücken darf, an die Wände der Räume, die man erleuchten will. So weit sind wir heute freilich noch nicht, die Sache geht zunächst nur im Laboratorium.

Nun, hier war dieses Problem eben schon gelöst. Also Kathodenlicht, wollten wir sagen, ob es nun stimmte oder nicht.

Das nächste, was wir konstatierten, war, dass auf dem glatten Wasserspiegel keine Spur von Öl zu bemerken war, obgleich solches doch auch hier die Ursache der Wasserstille sein sollte. Woher das kam, werde ich später erklären. Jedenfalls waren wir sehr zufrieden, dass die Ölschicht hier drinnen fehlte, denn angenehm ist das doch schließlich nicht.

Um das ganze Wasserbassin zog sich eine sechs Meter breite Galerie herum, von der in die Felswand viele viereckige Öffnungen hineingingen, also Türen, nur dass sie unverschlossen waren. Aber sonst konnte man nicht viel sehen, das Licht, so hell dieses auch war, drang nicht weit ein.

Wieder etwas die Schraube in Bewegung gesetzt, und wir legten an, ohne jede Vorsicht zu gebrauchen, besonders ohne erst die Tiefe auszuloten. Hätten wir deswegen vorsichtig sein müssen, so hätte uns Schwester Anna schon davon gesagt, davon waren wir nun felsenfest überzeugt.

Dann erst ergab eine Peilung, dass wir dicht an der Galerie noch immer eine Wassertiefe von mehr als 30 Metern hatten. Die Decke war trotz ihrer Wölbung hier noch immer hoch genug für unsere Masten, auch die Rahen brauchten nicht erst gedreht zu werden.

Poller und Ringe und alles war vorhanden, um das Schiff zu befestigen, und nicht nur hier an dieser Stelle, sondern überall. Aber auch hinabführende Treppen, falls Boote anlegen sollten. Sonst war die Galerie so hoch, dass man nach Beseitigung der Bordwand gerade an Land gehen konnte, alles, als wäre es gerade für unsere »Argos« eingerichtet worden, und ein Unterschied zwischen Ebbe und Flut ist in diesem Teile des Stillen Ozeans kaum bemerkbar.

Die Patronin war, wie es sich gehörte, die erste, die ihren Fuß auf den Steinboden setzte. Dann folgte als zweite Person ich nach.

»Was ist denn das?«, fragte die Patronin da, schon vor einer Nische stehend, die ganz mit Ventilrädern und Hähnen und Metallstöpseln gefüllt war.

Ja, das mussten wir eben erst ausprobieren, was da angestellt und abgestellt werden konnte, und solcher Nischen mit geheimnisvollen Drehvorrichtungen gab es noch mehrere.

Drehen konnten wir ja jedenfalls alles, passieren würde nichts, sonst hätte uns doch unsere geheimnisvolle Gönnerin gewarnt. Aber es sollte nicht jeder Matrose hier nach Belieben herumleiern können. Das musste nach und nach von kundiger Hand untersucht werden, man musste es sich doch auch merken, was für einen Zweck die verschiedenen Räder und Hebel und Stöpselungen hatten. Sonst allerdings konnten die Leute nach Belieben auf eigene Faust auf Entdeckungsreisen ausgehen.

»Hier ist ein Telefon!«

»Hier ist ein Aufzug!«

»Hier steht ein Automobil!«

So und anders erklang es denn auch alsbald durcheinander.

Ich besichtigte zunächst diese letzte Entdeckung. Da aber hatte auch ich schon herausgefunden, dass sich an der Tür eines jeden Felsenraumes ein im Finstern leuchtender Griff befand, den man nur zu drehen brauchte, um das ganze Gewölbe in hellem Lichte erstrahlen zu lassen, das auch wieder ohne erkennbare Quelle direkt von den Wänden ausging.

Es war ein Lastautomobil, einfach ein großer Tafelwagen. Meine Jungen waren aber doch nicht auf einem weltverlassenen Dorfe aufgewachsen, die wussten doch gleich was vorn die Steuervorrichtung zu bedeuten hatte, ihr nächster Blick war unter die Plattform gewesen, und da hatten sie zwischen den Rädern die Maschinerie gesehen. Also konnte es nichts weiter als ein Automobil sein, wenn auch von einer Konstruktion, nämlich einer äußerst einfachen, wie wir alle eine solche noch nicht gesehen hatten.

Nun, ich schwang mich hinauf und machte mir an der Steuervorrichtung zu schaffen.

»Vorsicht, Vorsicht!«, warnte gleich der erste Ingenieur. »Solch ein Ding kann plötzlich furchtbar losschießen.«

»Kannst Du denn ein Automobil steuern?«, fragte auch Helene besorgt.

»Ich? Nee. Keine Ahnung davon. Aber wenn das Ding schießen oder sonst wie gefährlich werden könnte, so wäre es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Schwester Anna gewesen, uns davor zu warnen. Also ich fahre los — Beene weg, Hiehneroogen weg — da da da...«

Ja, ich fuhr schon los. Hatte nur den langen Hebelarm ein wenig niederzudrücken brauchen, ich fuhr sofort zurück gerade direkt gegen die Wand, dass es krachte. Aber dann hatte ich auch gleich den Rückwärtsgang heraus, fuhr noch einmal hinten gegen die Wand, dann aber war mir auch die Lenkung klar. Viel passieren konnte schon deshalb nicht, weil sich der Hebel immer nur ruckweise niederlegen ließ, die Geschwindigkeit sich also nur ganz nach und nach beschleunigen ließ.

Ich fuhr hinaus auf die Galerie, wäre mit dem ganzen Automobil beinahe ins Wasser gepurzelt, brachte nur im letzten Moment das Ding noch zum Stehen, was mir aber nun auch nicht wieder passieren sollte, lenkte in elegantem Bogen um, fuhr, um meine absolute Sicherheit als Automobilchauffeur zu beweisen, wieder in den Raum hinein, aus dem ich gekommen und... prallte wiederum gegen die Wand an!

Diesmal aber war die Anprallerei nicht so einfach. Nicht, dass ich mich oder das Automobil oder die Wand beschädigt hätte, sondern diesmal lag etwas wie Hexerei vor.

Aus diesem Loche war ich herausgekommen, da gab es ja nun gar keinen Zweifel, also musste ich durch den kurzen Tunnel doch wieder in den Raum hineinkommen, in dem das Automobil gestanden hatte, ob er nun erleuchtet oder dunkel war.

Aber nichts war's, ich rannte eben gegen eine Wand, die sich da am Ausgange des Tunnels plötzlich gebildet hatte.

Wie ich mich noch so staunend fragte, wo denn diese Felsenwand plötzlich hergekommen sei, kam sie schon wieder herab, und jetzt sah ich auch wieder in dem erleuchteten Raume die Patronin und den ersten Ingenieur nebst einigen Hunden stehen.

Nun war das Rätsel auch für mich gelöst. Der ganze Raum, mehr als zehn Meter im Durchmesser, sodass er also die ganze Schiffsbesatzung aufnehmen konnte, war eben ein Fahrstuhl. Man brauchte nur den Hebel an der Wand zu drehen, dann ging's hoch oder hinab, ganz, wie man wollte.

Wie sich dieser Fahrstuhl eigentlich bewegte, das haben wir nie erfahren können, und ich glaube, es hätte nichts genützt, auch wenn wir alle Felswände in Trümmer geschlagen hätten. Ohne Zweifel elektrisch, aber von Seilen oder Rädern oder Kugeln und dergleichen war nichts zu bemerken. Also schon die Führung war ganz rätselhaft.

Na, never mind, wenn das Ding nur auf Kommando rutschte, was es denn auch immer willig tat.

Nur das möchte ich noch bemerken, dass alle Fahrstühle so praktisch eingerichtet waren, dass man unmöglich verunglücken konnte. Ich meine nämlich, dass einmal nicht jemand zwischen Plattform und festen Boden geraten konnte. Wie das arrangiert war, will ich nicht weiter beschreiben, sondern nur sagen, dass man dann, wenn man durchaus will, auch auf der Eisenbahn verunglücken kann, nämlich indem man sich einfach auf die Schienen vor die Lokomotive legt.

Wir fuhren gleich einmal hinauf, alle, die gerade in dem Raume standen, ungefähr ein Dutzend so nach und nach zusammengekommen. Das Automobil blieb einstweilen draußen.

Die schwarzen Felswände rutschten schnell herab, wenigstens mit unseren Augen betrachtet von nach wenigen Sekunden aber färbten sie sich weiß, dann gleich wieder schwarz, dann kam wieder ein weißer Streifen, den wir im Flug passierten.

Was sollte das bedeuten?

Nun, das hatten wir Pfiffköpfe bald heraus.

Man brauchte nur einen zweiten Hebel zu drehen, so blieb der Fahrstuhl an der nächsten weißen Wand von selbst stehen, und gleichzeitig senkte sich auch diese Wand herab, wir blickten in einen Korridor, der hier aber schon mit einem Teppich belegt war, sahen auch weiter schon in einen komfortablen Salon hinein.

Die weißen Wände bezeichneten also immer die Etagen, wo man aus- und einsteigen konnte.

»Weiter, nicht aufhalten, erst einmal immer höher hinauf!«

Eine Hebeldrehung, die offene Wand schob sich wieder zu, die Fahrt wurde fortgesetzt.

»Die Etagen müssten aber nummeriert sein, dass man immer weiß, wo man sich befindet, dass man nicht immer die weißen Felder zu zählen braucht!«, meinte Helene.

»Hier ist eine Zahnstange, an der ein Zeiger emporklettert!«, sagte ein Matrose.

So war es. In einer Nische befand sich eine Zahnstange, an der sich ein Zeiger bewegte. Jeder Zahn trug eine kleine Nummer, jetzt ging der Zeiger von der Fünf zur Sechs, also passierten wir jetzt diese Höhe.

Die letzte Nummer am obersten Zahn war 200. Also 200 Etagen. Donnerwetter! Aber wenn der Felsen 1400 Meter hoch war, so konnte man jeder Etage eine Höhe von 6 bis 7 Metern geben. Wobei eben die Decken und besonders das oberste Plateau abgingen.

Dann war noch ein zweiter Zeiger vorhanden, der sich an einer Feder einschnappen ließ, und als ich den nun, als der rutschende Zeiger die Acht passierte, auf die Elf einstellte, blieb der Fahrstuhl richtig nach drei weiteren Etagen stehen, also in der elften.

Überaus genial ausgedacht! So konnte man den Fahrstuhl in jeder beliebigen Etage automatisch halten lassen, brauchte nicht erst auf angemalte Nummern zu achten.

Wenn wir nur gewusst hätten, auf welche Weise diese ganze Sache funktionierte. Da wurde doch auch ich etwas neugierig — oder vielmehr wissbegierig. Aber dieses Rätsel sollten wir nicht lösen können. Und es war das allerkleinste von vielen Hunderten, die wir hier noch finden sollten.

In der 30. Etage ließ, ich den Fahrstuhl noch einmal halten, nur aus Wissenstrieb, ob sich die Felswände auch hier als Türen so senkten. Sie taten es. Das Innere des Felsens wollten wir jetzt noch nicht erforschen, erst einmal hinauf auf das Plateau!

Anders freilich dachten wir, als wir bei geöffneten Wänden plötzlich Stimmen vernahmen.

Jauchzende und grölende Stimmen!

Wer konnte das sein?

Das musste natürlich untersucht werden.

Wir verließen den Fahrstuhl, nur zwei Mann zurücklassend, drangen in die Korridore, die hier überall erleuchtet waren, ein, folgten dem Spektakel. Denn ein solcher war es, von Männer- und wohl auch von Weiberstimmen ausgeführt. Ein allgemeines Grölen und Quieken.

»I, das sind ja unsere eigenen Jungen und Kinder!«, sagte da Juba Riata.

So war es. Nur der veränderte Schall und die Akustik zwischen den Felswänden hatte uns die sonst so wohlbekannten Stimmen nicht gleich erkennen lassen. Jetzt aber hörte auch ich es, auf diese Weise zum Beispiel konnte nur Oskar grölen

Ein Dutzend Leute hatten mit einigen kleinen Blaugelben einen anderen Fahrstuhl benutzt, waren unterwegs einmal ausgestiegen, hatten hier in dieser Etage etwas gefunden, was ihnen den größten Spaß bereitete.

Ja, wie soll ich den Raum nun beschreiben, den wir erblickten, in dem sich die Bande auf ihre Weise amüsierte.

Ein mächtiger Saal von ungefähr 20 Meter Höhe, das ist die Höhe eines vierstöckigen Hauses, kreuz und quer angefüllt mit Stangen, aber systematisch geordnet.

Jede Stange war genau zweieinviertel Meter lang und eine jede auch so weit von der anderen entfernt. Auf diese Weise wurden lauter offene Quadrate gebildet, die also den ganzen Saal füllten, vom Boden an bis zur Decke.

Nun versuche man sich dieses ungeheuerliche Holzgerüst vorzustellen.

Was sollte das bedeuten? Was mochte das für einen Zweck haben?

Nun, ich hatte einen ganz ähnlichen Raum, allerdings bei weitem nicht so groß, schon einmal in einer holländischen Gerberei gesehen. Es war der Trockenraum gewesen, wo die Felle aufgehängt wurden, auch da waren die Stangen, um den Platz möglichst auszunützen, so angeordnet gewesen.

Was waren denn hier für Felle zu trocknen, in solch ungeheurer Menge?

Nun, sei dem, wie es wolle — unsere Jungen hatten sofort erkannt, wie dieses Gerüst in besonderer Weise zu benutzen sei, nachdem sie sich überzeugt, dass die Stangen aus bestem Eschenholz bestanden, genau so dick, wie eine Reckstange, und dass sie ausgezeichnet zusammengefalzt und sonst wie befestigt waren. Das kolossale Gerüst bildete ein einziges Ganzes, mit einfacher Menschenkraft war es gar nicht möglich, solch eine Stange herauszureißen.

Und die Entfernung von Stange zu Stange war genau so, dass auch ein großer Mann an der Stange die Riesenwelle machen konnte, ohne die andere zu berühren, und dennoch war sie im Sprunge leicht zu erreichen. Und dann kam noch hinzu, dass das systematische Gerüst doch hin und wieder mit freien Stellen unterbrochen war, und an diesen Stellen hing dann immer von der Decke ein recht langes Tau herab, gerade so ein recht günstiges Klettertau.

Kurz und gut — die großen und kleinen Jungens spielten »Affens«, haschten sich gegenseitig in dem Gerüst herum und trieben andere Allotria. Gerade wie wir eintraten, sauste Kretzschmar, der ehemalige Damenkonfektionär, an solch einem Seile in weitem Bogen durch die Luft, nahm im Vorbeisausen einem Matrosen die Mütze vom Kopfe, saß im nächsten Augenblick hoch oben auf einer Stange, betrachtete mit behaglichem Grunzen seinen Raub, suchte in der Innenseite nach Tierchen, kratzte sich schnatternd — nun aber war schon der Matrose hinter ihm her, also Kretzschmar die Mütze zwischen die Zähne genommen und von Stange zu Stange gesprungen, sich auch einmal an einem Seile mächtig durch die Luft geschwungen — und als der Matrose nun sah, dass er, ein so ausgezeichneter Turner er auch selbst war, diesem klapperdürren Menschenaffen doch nicht folgen konnte, nahm er schnell einem anderen Matrosen die Mütze vom Kopfe, und nun wieder dieser hinter ihm her — nun aber erbeutete Kretzschmar schon eine zweite Mütze, eine dritte — jetzt also die ganze Bande hinter ihm her, immer Affen markierend, kratzend und schnatternd und quiekend und brüllend und jauchzend — ein unbeschreibliches Tohuwabohu. Das aufgeregteste Affenhaus war nichts dagegen. Und man vergaß auch wirklich ganz, dass es Menschen waren, man sah nur die gewandtesten Affen, eine Maskierung war dabei gar nicht nötig. Es war aber auch wirklich fabelhaft, was besonders Kretzschmar und Günther und Vogel, die anwesenden Meisterschaftsturner, an Sprüngen leisteten. Denn da konnten meine Jungen schließlich doch noch nicht mitmachen, so sehr sie sich unterdessen auch ausgebildet hatten.

Ich kann nur sagen, dass wir Zuschauer lachten, dass uns die Tränen über die Backen kugelten. Stundenlang hätten wir zusehen können. Oder lieber hätten wir mitgemacht. Wenn wir vor Lachen dazu fähig gewesen wären. Die Mitspielenden brauchten ja nicht zu lachen, die hatten sich ganz in ihre Affenrolle versetzt.

»Hier Zuckerchen!«, rief die Patronin, die für ihre besonderen Lieblinge aus der Menagerie immer Zucker in der Tasche hatte, warf ein ansehnlicher Stück in die Mitte des Saales.

Der Heizer Peter hatte es zuerst erwischt, steckte es sofort in den Mund, schwang sich weiter. Nun aber sofort die ganze Affenbande hinter ihm her. Und da half es Petern nichts, dass er von meinen ursprünglichen Leuten wohl der beste Turner war, Schneider-Günther hatte ihn doch bald eingeholt und gefangen, und eben immer den Affen spielend, keinen Spaß verderbend — Peter gab sich denn auch gefangen, und Günther quetschte ihm die Kinnbacken zusammen, griff mit den Fingern in Peters Maul — und was der Kerl nun dabei für eine Grimasse schnitt! — zog den Zucker heraus, steckte ihn in den eigenen Mund, setzte die Flucht fort, die ganze Affenbande tobend hinter ihm her...

»Ich kann nicht mehr, ich sterbe, mein Kopf platzt!«, heulte die Patronin.

Ich nahm sie untern Arm und schleifte sie davon, wieder dem Fahrstuhl zu.

Dieses Spielchen wurde ja natürlich fortgesetzt. Und wenn erst unsere richtigen Affen mit meinen Jungen in dem Gerüst in Konkurrenz traten, darauf war ich doch wirklich gespannt!

Jetzt aber wollten wir erst einmal auf den Felsen hinauf.

Zu der Fahrt vom Meeresniveau an bis hinauf auf das Plateau brauchte man, wie dann konstatiert wurde, genau 20 Minuten. Also machte der Fahrstuhl in der Sekunde etwas mehr als einen Meter. Dieser hier. Es gab noch eine andere Menge Liftzüge, kleinere, die es bedeutend schneller machten, in der Hälfte dieser Zeit. Das hier war ja ein Lastaufzug, zur Aufnahme des schweren Automobils bestimmt, auf dem aber auch wieder einige Dutzend Menschen stehen konnten.

Jetzt hielten wir prinzipiell nicht mehr an. Da aber stand der Fahrstuhl von allein. Der kletternde Zeiger hatte den 200. Zahn erreicht.

Wir befanden uns in einem Raume — in einer Grotte, will ich gleich sagen — denn von außen gesehen war es eine Felsformation und durch die offene Tür sahen wir grünes Laubwerk.

Als ich hinaustrat, war das erste, dass ich einen tüchtigen Schlag auf den Schädel bekam. Ein großer, rotwangiger, prachtvoller Apfel, einer von der Tiroler Sorte, war mir auf den Kopf gefallen. —

Ich will es beschreibend zusammenfassen.

Das völlig ebene Felsenplateau bildete einen einzigen Park von etwas mehr als sechs Quadratkilometern. Die Vegetation war die des südlichen Europa — oder die der besten Rheingegend, will ich sagen.

Unter den Laubbäumen herrschte die Eiche vor, aber die italienische, und zwar ist dies die echte, die eigentliche Steineiche, alle anderen an Größe übertreffend, das beste, härteste Holz liefernd, und süße, essbare Eicheln dazu. Ferner die Edelkastanie. Alle europäischen Obstbäume massenhaft. Der Pfirsichstrauch hatte sich zu einem ansehnlichen Baume entwickelt, bildete ganze Wälder. Wo diese nicht zu viel Schatten spendeten, gedieh die Weinrebe mit den herrlichsten Trauben als wilde Schlingpflanze.

Also einfach ein Paradies! Und das Paradies war auch ummauert. Rings um das ganze Plateau zog sich eine fast 15 Meter hohe Mauer. Außen bildete sie mit der Felsenwand eine Fläche, nach innen stufte sie sich terrassenförmig ab. Also man konnte überall zu ihr hinaufsteigen, auf der obersten Stufe hatte man noch eine Brustwehr vor sich, nur noch einen halben Meter stark.

Ob diese Mauer künstlich aufgeführt oder aus dem Felsen herausgehauen worden war, das haben wir niemals unterscheiden können. Es war derselbe Basalt wie der ganze Felsen, alles aus einem Guss. Jedenfalls war diese Mauer ein vorzüglicher Windschutz für den ganzen Park. Denn hier oben konnte es ja manchmal tüchtig pfeifen.

Am Rande der untersten Stufe zog sich an dieser Mauer, also rings um das ganze Plateau, ein breiter Weg hin, nackter Steinboden, aber doch so eigentümlich gekörnt, dass man gleich an eine künstliche Zementierung dachte.

Solche Wege, breit genug, um zwei Wagen ausweichen zu lassen, durchzogen den ganzen Park kreuz und quer, aber doch in einer Weise, dass es den Eindruck der Wildnis, des englischen Naturparks will ich sagen, durchaus nicht störte. Wenn man den Park erst richtig kannte so brauchte man überhaupt auf solche Wege gar nicht zu stoßen, dafür sorgten Überbrückungen und Untertunnelungen, die aber einen ganz natürlichen Eindruck machten, Felsenbrücken, natürliche Felsengänge und dergleichen.

Für den Eindruck der Natürlichkeit, der urwüchsigen Wildnis war überhaupt aufs Beste gesorgt. Keine Lauben, keine Kioske. Obgleich sie dennoch massenhaft vorhanden waren. Aber stets in einem natürlichen Felsen verborgen. Niemand konnte von außen ahnen, dass sich da drin regelmäßig ein in die Tiefe führender Fahrstuhl befand.

Ziemlich in der Mitte des Parks, teils von Wald, teils von blumigen Wiesen, teils von sandigem Strand begrenzt, befand sich ein Teich von 200 Meter Durchmesser, also schon mehr ein kleiner See. Mehrere Bäche, darunter sogar solche, die mit Booten befahrbar waren, ergossen sich in diesen See, und die meisten entsprangen als Quellen Felsformationen, bildeten sogar ansehnliche Wasserfälle.

Bäche? Die als Quellen entsprangen? Wie war denn das hier oben möglich?

Regen fiel ja hier allerdings genug. Er versickerte im Boden, kein Tropfen brauchte verloren zu gehen, was nicht die heiße Sonne schnell verdunstete.

Aber wie konnten denn hier oben Quellen entspringen?!

Nun, die ganze Geschichte wurde ganz einfach künstlich gemacht. Das im Boden versickernde Regenwasser wurde in mächtigen Reservoirs aufgefangen und durch irgend eine Kraft wieder hochgedrückt, so bildete das fließende Wasser einen ununterbrochenen Kreislauf.

Ja, es genügte schon, nur solche geheimnisvolle Fahrstühle gesehen zu haben, um auch das ganz einfach zu finden.

So durchstreiften wir den Park, immer größere Überraschungen erlebend.

Übrigens waren wir nicht die ersten hier oben, noch vor uns waren andere Fahrstühle benützt worden. Ich war noch gar nicht weit gekommen, als ich Mister Tabak stehen sah, starr in die Ferne blickend und dabei immer mit seiner kulbigen Zunge über die Lippen leckend.

Ich brauchte nur der Richtung seines Blickes zu folgen, da wusste ich, weshalb er so die Lippen leckte.

Dort auf einer Wiese weidete ein Rudel Pferde, prächtige Tiere.

Der Eskimo hatte gleich Appetit bekommen, wollte sie fressen.

»Pferde«, murmelte er jetzt, immer noch mit geisterhaftem Sehnsuchtsblick, »Kühe sind auch da, lauter milcherne — aber Pferde, solche schöne, edle, gutdurchwachsene Tiere...«

Er brach ab, wandte sich, gar nicht sich um mich kümmernd, wie es so seine Weise war, zog aus einem Busche neben dem Bache, an dem wir gerade standen, ein Kajak hervor, so ein einsitziges grönländisches Boot, mit einem doppelten Paddelruder zu bewegen, stieg hinein, ruderte davon, verschwand zwischen den Bäumen.


Illustration

Wir staunten ja nicht schlecht. Nämlich über das Benehmen dieses Eskimos. Er hatte eben dieses Kajak zufällig gefunden — aber wie der nun tat, als ob er hier völlig zu Hause war — ein ganz, ganz merkwürdiges Benehmen. Dann musste ich schleunigst zur Seite springen, um nicht von einem Automobil überfahren zu werden, das auf dem Wege dahergebraust kam, aber ohne jedes Knattern, ohne jedes andere Geräusch, und kein Lastautomobil, sondern ein eleganter Personenwagen.

Ein Heizer, gelernter Schlosser, der schon auf Automobile gearbeitet hatte, steuerte, einige Matrosen als Passagiere belustigten sich damit, im Vorbeisausen Orangen und andere Früchte von den Bäumen zu pflücken.

»Mensch, kannst Du denn gar nicht tuten?!«, rief ich wirklich böse, denn ich wäre faktisch beinahe überfahren worden, und ich kann diese stinkigen Teufelsdinger überhaupt nicht leiden. »Komm mal her — hierher zurück!«

Max, wie der Kerl hieß, gehorchte, bremste überraschend schnell, lenkte geschickt um und kam zurück.

»Kannst Du denn nicht tuten?!«, schnauzte ich ihn noch einmal an.

»Nee, is nich nötig!«, grinste der Kerl.

»Was, nicht nötig?! Du hättest mich beinahe überfahren.«

»Nee, ausgeschlossen.«

»Was? ausgeschlossen?!«

»Wenn Ihr nicht zur Seite gesprungen wärt, dann hätte ich direkt vor Euch gehalten. Das Auto hält sofort auf der Stelle. Da, seht mal.«

Er machte eine Wendung, war sofort in sausender Fahrt, direkt gegen eine Eiche, schon sah ich den ganzen Kasten in tausend Splittern herumfliegen — aber nein, nur ein Hebeldruck und die Kutsche stand regungslos vor dem Baume.

»Wie ist denn dieses schnelle Bremsen möglich?«, musste ich staunen, denn es war wirklich ganz frappant gewesen.

»Weiß nicht.«

»Du bist doch Automobilschlosser.«

»Ja, aber solche Dinger habe ich nicht unter den Händen gehabt, das ist ganz rätselhaft.«

»Was ist denn die treibende Kraft?«

»Weiß ich auch nicht, Waffenmeister.«

»Doch Elektrizität.«

»Vielleicht. Ich finde aber nichts von Elektrizität, keine Akkumulatoren und kein Motor und gar nix.«

»Wo stand denn das Automobil?«

»Nu, im Automobilschuppen, was man auch eine Garage nennt.«

»Was, ein ganzer Automobilschuppen?«

»Jawohl, von außen ist eine Grotte, in der eine ganze Menge Automobile stehen.«

»Eine ganze Menge?!«

»Wenigstens ein Dutzend, darunter ganz, ganz kleine, wie ich sie noch nie gesehen habe, wie die Großvaterstühle. Ein paar von uns sind schon damit losgefahren.«

»Wo ist denn diese Automobilgrotte?«

Max deutete mit der Hand.

»Wenn Sie hier gerade ausgehen und dann links an der Terrassenmauer hin, erst kommen Sie an der Munitionskammer vorbei...«

»Was, Munitionskammer?!«

»Nu ja, wo die Granaten und Pulverkartuschen drin sind...«

»Was, Granaten und Kartuschen?!«

»Nu ja, für die Geschütze.«

»Was denn für Geschütze?«

»Die ganze Mauer ist doch mit Kanonen gespickt.«

Ich ließ das Automobil weiter fahren, um selbst zu inspizieren. An dieser Mauer waren wir ja noch gar nicht gewesen.

Wir erreichten sie, stiegen die steilen Stufen hinauf. Herrlich von unbeschreiblicher Erhabenheit war der Anblick, den man von hier oben genoss. Wenn man auch nichts weiter sah als das unendliche Meer. Aber das war es eben! Aus dieser Höhe von 1400 Metern!

Mit meinem ausgezeichneten Taschenfernrohr konnte ich im Westen gerade noch einige dunkle Punkte erkennen — die Chataminseln. Sonst nichts als Wasser und Wasser, sich spiegelnd im Sonnenschein.

Doch von Geschützen war nichts zu bemerken.

Nun, die Sache war anders, als ich sie mir nach des Heizers Beschreibung gedacht hatte.

Ab und zu wurden die unteren Stufen unterbrochen, dann befand sich dort eine Tür, ein offener Zugang.

Die ganze Terrassenmauer war nämlich hohl, wurde nur hier und da durch Quermauern abgestützt, sodass lauter einzelne Kammern entstanden, natürlich durch Zugänge miteinander verbunden. Ich will es gleich zusammenfassen, was wir im Laufe von vielen Stunden konstatierten und zählten.

Es war sein großartiges Befestigungswerk. Genau aller hundert Meter stand in einer Nische ein Geschütz, und da die Länge der ganzen Umfassungsmauer zehn Kilometer betrug, so waren es hundert Geschütze, die wir dann zählten.

Kanonen von allen Kalibern, von 8 Zentimetern an bis zu 40.

Aber Kanonen von ganz besonderem Aussehen, wenn sie auch sonst ungefähr unseren Geschützen glichen. Die Hauptsache dabei ist doch eben immer das Rohr und der Verschluss.

Ich blieb über das System nicht lange im unklaren, denn ich hatte in New York schon einmal ein pneumatisches Geschütz gesehen, die letzte Errungenschaft des amerikanischen Kriegswesens.

Es waren samt und sonders pneumatische Geschütze, das Projektil wurde also durch komprimierte Luft herausgeschleudert.

Diese wurde ohne Zweifel durch das mächtige Vertikalrohr zugeführt, auf dem jedes Geschütz lagerte. Auf welche Weise, wo und wie die Luft komprimiert wurde, so schnell, wie man eben wieder laden konnte, bei den größeren Geschützen auch wieder durch eine pneumatische Vorrichtung, das haben wir niemals erforschen können.

Die Hauptsache war, dass die Bedienung eine ganz einfache war, man konnte an den Vorrichtungen alles gleich erkennen.

Das Visier konnte für jedes Geschütz einzeln eingestellt werden, es war aber auch noch auf jeder Seite ein komplizierter Spiegelapparat mit Netzvorrichtung vorhanden, um automatisch die ganze Breitseite zugleich abfeuern zu können.

Wer in diesem Artilleriewesen bewandert ist, der weiß, was hiermit gemeint ist, sonst kann ich das nicht näher beschreiben.

Die Visiere der größeren Geschütze konnten bis zu 23 Kilometer eingestellt werden, würden also wohl auch so weit reichen. Hierzu möchte ich eine Bemerkung machen. Wenn unsereiner, der bei der Marine gedient hat, von solchen Schussweiten Feld- oder Festungsartilleristen erzählt, dann kann es passieren, dass man ausgelacht wird. Von anderen Leuten gar nicht zu reden. Weil die sich um so etwas nicht kümmern, gar nicht ahnen, was unsere heutigen Schiffs- und Küstengeschütze leisten.

Ich selbst war dabei, wie im April 1892 auf dem Schießplatze bei Meppen die Flugbahn einer Panzergranate aus einem Krupp'schen 24 Zentimeter-Schiffsgeschütz berechnet wurde. Gewicht der Granate 215 Kilo, Pulversatz 120 Kilo. Bei 44 Grad Rohrwinkel ging das Geschoss 20 226 Meter weit, erreichte dabei eine Höhe von 6540 Metern, brauchte dazu 70,2 Sekunden.

Das ist aber nicht etwa die Höchstleistung. Die größeren Geschütze erreichen noch ganz andere Weiten. Für Italien hat Krupp ein 45 Zentimeter-Geschütz geliefert, die Granate wiegt 1000 Kilo, die Pulverkartusche 220 Kilo, hier wird noch bei 20 Kilometern auf Treffsicherheit garantiert. Jeder Schuss kostet 8000 Mark. —

In anderen Kammern waren die Geschosse massenhaft aufgespeichert, Granaten, Schrapnells und Spitzhartgusskugeln. Aber auch Pulverkartuschen waren vorhanden. Diese Geschütze konnten auch regelrecht abgefeuert werden. Oder man konnte doch Salut oder Warnungsschüsse abgeben. Denn solch ein donnernder Knall macht bei dem Feinde doch einen ganz anderen Effekt als das Zischen der komprimierten Luft.

Dem Feinde?

Nun, jedenfalls war dieses Paradies genügend geschützt.

Ja, es schadet gar nichts, wenn auch solch ein Paradies mit Kanonen gespickt wird.

*

60. Kapitel

Verirrt

Originalseiten 1554 — 1565

Die Patronin und ihre Begleitung inspizierte die Innenräume der Terrassenmauer weiter, ich entfernte mich, wollte erst wieder einmal hinab nach unserem Schiff, wollte den Kapitän Martin sprechen.

Was ich da zuletzt gesehen, hatte mich doch sehr erregt.

Man hatte uns da etwas in die Hand gegeben, was doch nicht so einfach zu bewerten war.

Das hier war nicht ein australisches Helgoland, sondern das war ein australisches Gibraltar!

Wenn wir uns hier festsetzten, dann konnten wir der ganzen Welt...

Genug, ich mochte es mir gar nicht weiter ausmalen. Aber aussprechen musste ich mich gegen jemanden.

Und da konnte nur Kapitän Martin in Betracht kommen, der war doch der Vernünftigste von uns allen.

Ich wollte mit dem nächsten Fahrstuhl in die Tiefe rutschen. Es wimmelte hier ja alles von solchen Fahrstühlen, jede Grotte enthielt einen, jetzt aber fand ich nun gerade keinen.

Ich hatte meinen Gedanken nachgehangen, war aufs Geratewohl durch den Park gegangen, in der Meinung, wieder nach jener Grotte zu kommen, in der wir gelandet, und wie ich aus meinen Träumen erwachte, merkte ich, dass ich mich verlaufen hatte.

Bäume, Wiesen, Wasser — aber keine Grotte sah ich. Übrigens wusste ich damals noch gar nicht, dass jede Felsformation hohl war und einen Fahrstuhl enthielt. Aber da kam mir schon ein Fahrstuhl entgegen. Allerdings kein Liftzug, sondern eben ein richtiger Fahrstuhl.

In einem bequemen Großvaterstuhl, das eine Bein über der Lehne, fläzte sich behaglich der Matrose Jochen, rauchte behaglich seine kurze Pfeife. So kam das seltsame Vehikel auf kleinen Rädern angerollt. Nur dass der Großvaterstuhl unten ausgefüllt war.

Mir war das nicht gerade etwa Neues. Auf der Weltausstellung in St. Louis hat man solche Autostühle gehabt, um eben in möglichst bequemer Weise überall herumkutschieren zu können. Es war für eine mäßige Geschwindigkeit gesorgt worden, sie konnte nicht gesteigert werden, damit die Entleiher solcher Autostühle nicht etwa ein Wettfahren machten.

Auch Jochen kam ziemlich langsam einher. Sonst hätte er sich auch nicht so hinfläzen und behaglich mit den Augen zwinkern können.

Auf meinen Ruf hielt er an, brauchte dazu nur einen der kleinen Hebel zu drehen, die sich vorn an den Armlehnen befanden.

»Wo hast Du das Ding her?«

»Dort hinten steht eine ganze Grotte voll.«

»Dann hole Dir dort einen anderen, jetzt lasse mich einmal in den Stuhl.«

Ich nahm Platz, Jochen zeigte mir überflüssigerweise noch die Handgriffe, auch wie man vorn eine Stellage aufschlagen konnte, um eine Tasse Kaffee draufzusetzen, dann fuhr ich los.

Ja, es machte mir großes Vergnügen, so herumzukutschieren. Über den selbstfahrenden Großvaterstuhl hatte ich im Augenblick die ganzen Kanonen vergessen.

Als ich um eine Felsformation fuhr, erblickte ich einen Eingang, oder für mich vielmehr eine Spalte, ich fuhr direkt hinein, und, da ich dies alles ja noch nicht wusste, wunderte ich mich, eine wohnlich eingerichtete Grotte vorzufinden, mit Tisch, Stühlen, Sofa und allem anderen, was eben zur Wohnlichkeit gehört.

Es war aber noch verschiedenes andere vorhanden, was mir zu denken gab.

Ein Wandschränkchen, das ich öffnete, enthielt mehrere Hähne, aus der Wand hervorragend, richtige Bierhähne. Unsereins hat doch gleich so etwas im Kopfe. Ich dachte aber auch gleich an ein Automatenrestaurant. »Bediene Dich selbst.« Dazu war auch nicht besonders viel Scharfsinn nötig, denn über den Hähnen standen auf einem Regal Porzellantassen und Gläser, alles nur aufs Feinste, feinstes Porzellan und die Gläser schön geschliffen.

Sechs Hähne zählte ich, alle verschiedenfarbig. Weiß, gelb, braun, schwarz, rot, grün. Daneben noch eine Art Trichter mit kleinem Hähnchen. Und darunter ein Ausguss.

Also ohne Zweifel ein Automatenrestaurant. Ob aber die Sache auch funktionierte? Auch ohne Geldeinwurf?

Der überhaupt gar nicht zu sehen war, ins Paradies auch schlecht gepasst hätte.

Ich drehte den weißen Hahn nach links. Es floss kaltes Wasser heraus, das schnell eiskalt wurde. Beim Zurückdrehen merkte ich, dass man ihn auch nach rechts drehen konnte, tat es, und schnell erwärmte sich das Wasser, bis es kochend heiß wurde.

Dann drehte ich den nächsten Hahn, den gelben. Gelb war auch die Flüssigkeit, die alsbald herauskam, aber doch erst nach einiger Zeit, dann aber auch gleich kochend heiß und schon der Geruch sagte mir, dass es Tee war. Sehr starker, den man aber je nach Belieben verdünnen konnte. Der braune Hahn spendete einen vorzüglichen Mokkakaffee, Schokolade der schwarze, Zitronenlimonade der rote, eine Art Mandelmilch der grüne. Was der Trichterapparat bedeutete, hatte ich auch bald heraus, man brauchte ihn nur zu drehen, so fielen von oben einige Stückchen Zucker hinein.

Ich nahm mir eine Tasse Tee, verdünnte sie mit etwas Wasser, sah mich nach dem Hahne um, der den dazu nötigen Kognak oder Rum spendete.

Der fehlte aber.

Also durchaus unvollkommen, diese Einrichtung im paradiesischen Schlaraffenland.

Dann musste ich mich nach einer besseren Kneipe umsehen, wo's Schnaps gab.

So räsonierte ich, während ich auf dem Sofa saß und den Tee schlürfte. Nach einigem Teegebäck oder einem Dutzend belegter Brötchen hätte ich übrigens jetzt auch Appetit gehabt. Aber nichts gab's! Eine ganz mangelhafte Bewirtschaftung hier!

So ist der Mensch immer unzufrieden. Und Doktor Isidor zum Beispiel würde ja noch ganz anders schimpfen, wenn er hier keinen Hahn mit Kognak fand.

Das heißt, als ich so auf dem Sofa saß und den Tee schlürfte, dachte ich eigentlich doch an etwas anderes.

Das heiße Wasser ließe sich ja durch eine heiße Quelle erklären.

Aber wo kamen die anderen Getränke her?

Die mussten doch erst in einer Küche zubereitet werden. Wo befand sich diese Küche?

Was waren das für Menschen oder sonstige Wesen, die immer auf frisch gekochten Kaffee und Tee hielten?

Never mind — durch solche Grübeleien konnte ich das Rätsel ja doch nicht lösen.

Ein meterhohes Gitterwerk, das in einer Ecke eine quadratische Fläche umgab, fesselte meine Aufmerksamkeit.

Das sah gerade so aus wie eine Schutzvorrichtung, die auf Bahnhöfen den in die Tiefe führenden Fahrstuhl umgibt, damit niemand hinabpurzelt.

Hebel und wieder so eine Zahnstange sagten mir vollends, dass es wirklich ein Liftzug sei. Das war es ja, was ich gesucht hatte, ich dachte wieder an die Kanonen und an Kapitän Martin.

Ich hin, klinkte die Gittertür auf, trat ein, drehte den Haupthebel. Der Boden senkte sich, der Zeiger an der Zahnstange kletterte hinab.

Die schwarzen Felswände rutschten vorbei, in regelmäßigen Zwischenräumen von weißen Feldern unterbrochen. Die bezeichneten also die Etagen, wo man den Fahrstuhl verlassen konnte, das hatte ich nun doch schon heraus.

Nur der Wissenschaft halber stellte ich einmal den zweiten Zeiger in mittlerer Höhe ein, also in den hundertsten Zahn.

Als der automatische Zeiger diesen erreicht hatte, blieb denn auch der Fahrstuhl gehorsam stehen, statt des weißen Feldes war hier eine Öffnung, die Wand hatte sich eben bereits verschoben.

Ich hatte eigentlich weiter fahren wollen, nun aber trat ich doch einmal hinaus, um zu sehen, wie es hier in der mittleren Höhe des Felsens beschaffen war.

Ich staunte ja nicht schlecht. Das rätselhafte Licht mit dem hier nicht gespart wurde — nur unten hatten wir es andrehen müssen, sonst war alles erleuchtet — zeigte mir die prachtvolle Wandverkleidung der Korridors. Mosaik, aus lauter kleinen Steinchen von den verschiedensten Farben zusammengesetzt. Eine prachtvolle Farbenzusammensetzung, prachtvolle Muster. Jedenfalls, meiner Ansicht nach, maurische Ornamentik, wie ich sie schon in der Alhambra gesehen hatte.

Wer hatte denn dies alles hier nur geschaffen?! Never mind.

Nun vergaß ich aber doch wieder die Kanonen und den Kapitän Martin, ging noch weiter.

Von dem Korridor ging ab und zu links und rechts eine Tür ab, immer unverschlossen, aber stets mit einer verschiebbaren Portiere versehen. Die schwersten Seidenstoffe, prachtvoll gestickt.

Von der Einrichtung all der Räume will ich nur sagen, dass sie etwa der eines königlichen Palastes glichen, die man manchmal besichtigen darf. Ich habe freilich nicht viel solche Häuser besucht, bin nicht in das königliche Schloss von Berlin gekommen. Aber im Schlosse des Fürsten von Monaco bin ich gewesen, es soll eines der großartigsten sein, was der da alles zusammengeräubert hat, und es ist ja auch wirklich staunenswert, dieser Glanz und Luxus.

So war es auch hier. Also weiter will ich darüber nichts sagen. Mag es sich jeder selbst ausmalen.

Nachdem ich mindestens ein Dutzend solcher Gemächer und Prunksalons durchwandert war, alle hell erleuchtet, ohne dass die Lichtquelle zu sehen war, ließ ich mich in einen Eriman fallen. Es war wohl ein Schlafzimmer. Wenigstens stand dort ein zweischläfriges Himmelbett. Für mich war es ja ein Prunksalon.

Ich wollte wieder ins Grübeln verfallen.

Wer konnte nur dies alles...

Ach zum Teufel noch einmal, was ging denn das mich an!

Sehr viel aber ging mich an, dass jetzt mein Magen zu knurren begann.

Gegen zehn Uhr waren wir hier hereingefahren, jetzt war es gleich zwei, also schon vier Stunden waren vergangen, ich hatte wie wohl die meisten, das Mittagsessen versäumt. Die anderen gingen mich nichts an, ich aber merkte jetzt meinen mörderlichen Hunger. Zu dem Tee vorhin hatte eben das Gebäck gefehlt.

Also nun definitiv zum Schiffe hinabgerutscht.

Aber schon wie ich aufstand, bekam ich gleich so eine Ahnung, dass ich vielleicht den Rückweg zum Schiffe gar nicht so leicht wiederfinden könnte.

Ich wusste ja gar nicht, in welchem Teile des Parkes ich mich befunden hatte, als ich die Grotte betrat und den Fahrstuhl benutzte, und dieses quadratische Plateau hatte zweieinhalb Kilometer im Durchmesser!

Wenn ich nun unten ankam, und auch dort war der ganze Felsen ausgehöhlt, wie sollte ich denn da den Hafen mit dem Schiffe finden? Mein Taschenkompass sagte da gar nichts, den hatte ich vorher überhaupt gar nicht befragt. Da konnte ich ja vielleicht lange herumirren, ehe ich die Wasserhöhle zufällig fand.

Na, erst einmal den Fahrstuhl wieder aufgesucht und hinabgerutscht, dort immer gut die Richtungen gemerkt, und fand ich das Schiff nicht, dann eben wieder mit diesem oder einem anderen Fahrstuhl hinaufgerutscht, bis in den Park, dort wollte ich die große Grotte mit dem Lastaufzuge schon wiederfinden.

Ja, wo war ich denn eigentlich hergekommen? Aus diesem Zimmer?! Nein, aus jenem. Oder aus dem Saale dort?

Kurz und gut, ich wusste weder aus noch ein. Eine Viertelstunde verging, ich pilgerte durch die Zimmer und durch Korridore, ohne meinen Liftzug oder einen anderen zu finden.

Hatte sich die Öffnung hinter mir wieder geschlossen? Ich wusste es nicht. Jetzt jedenfalls fand ich keine, durch die ich in einen Raum gekommen wäre, wo man einen Fahrstuhl vermuten konnte. Immer nur neue Prunkzimmer und neue Korridore. Treppen gab es gar nicht. Auch keine Küchen und Speisekammern, die mir, wenn sie gefüllt, jetzt am wünschenswertesten gewesen wären. Denn mein Magen knurrte immer mächtiger.

Eine Stunde war vergangen, und ich irrte immer noch kreuz und quer herum, aus einem Prunkgemach ins andere, manchmal einen Korridor passierend.

Den Glauben an das Auffinden eines Fahrstuhls hatte ich schon längst aufgegeben, ich suchte nur noch nach einer gefüllten Speisekammer oder nach einem Automatenrestaurant. Aber nichts war's!

Und doch, da fand ich einen Fahrstuhl! Aber wiederum keinen solchen, wie ich ihn mir gewünscht hatte, mit senkrechter Beförderung, der mich hinab oder jetzt besser wieder hinaufgebracht hätte. Sondern einen mit horizontaler Bewegungskraft. In der Nische eines Korridors stand wieder so ein Großvaterstuhl mit Hebeln an der Armlehne, und er funktionierte auch sofort.

Also jetzt konnte ich beim Suchen nach etwas Essbarem wenigstens meine Beine schonen, konnte dabei fahren. Und ich kutschierte los, in der hundertsten Etage dieses Riesenlabyrinth, immer aus einem Zimmer ins andere — ohne das zu finden, was ich jetzt am meisten brauchte.

Ich wurde immer ärgerlicher, begann zu fluchen.

War denn das eine Sache?

Hatte Schwester Anna nicht gesagt, hier bestände nirgends die geringste Gefahr?

Und ist das etwa keine Gefahr, sich in der hundertsten Etage eines zweihundertstöckigen Hauses von zehn Kilometern Umfang total zu verirren, mit einem seit nunmehr als fünf Stunden leeren Magen?!

Mein Fluchen nützte nichts.

Ich begann nähere Umschau nach anderen Sachen zu halten.

Schränke gab es gar nicht, die ich hätte visitieren können. Denn ich dachte ja immer an so einen Automatenschrank.

Doch da war ein Schrank, einer mit Glastüren. Dahinter waren die herrlichsten Silbersachen aufgebaut, Teller und Schüsseln und Krüge und dergleichen. Ein Schubkasten enthielt Messer und Gabel und Löffel, alles vom schönsten Silber, ein zweiter Kasten dasselbe in kleinerer Ausgabe, wohl fürs Dessert. Also befand ich mich wohl in einem Speisezimmer.

Teufel aber noch einmal, was nützten mir alle dieses herrlichen Silberspeisegerätschaften, wenn ich sie nicht gebrauchen konnte?!

Ich wendete meine Aufmerksamkeit einem besonderen Apparate zu, der sich fast in jedem Raume befand, auch hier und da in den Korridoren aufgehängt war.

Es war eine dünne, schwarze Metallplatte ungefähr 30 Zentimeter im Quadrat, mit zahllosen Löchelchen dicht nebeneinander versehen, also wie ein Sieb.

Oder nein, die Löchelchen waren nicht zahllos. Sie waren sogar nummeriert. Oben ging die Zahlenreihe bis 300, links von unten nach oben bis 202.

Dann hingen an festen Seidenfäden zwei Metallstiftchen, die genau in die Löcherchen passten.

Also doch offenbar eine elektrische Schaltvorrichtung. Was konnte hier gestöpselt werden? Das Licht? Dafür befand sich an jeder Tür ein besonderer Hebel, jetzt alle angedreht.

Nein, ich musste gleich an ein Telefon denken. Wenn auch nichts von Mikrofonen und sonstigen Trichtern zu sehen war. Aber etwas Telefonartiges musste doch dabei sein. Die Höhenreihen bezeichneten doch zweifellos die einzelnen Etagen.

Also ich begann zu stöpseln. Ohne eine Ahnung, was dabei herauskommen würde. Ach, was habe ich gestöpselt, an der Platte herumgefingert. Nicht nur in dieser, sondern noch an vielen anderen.

Immer wieder den zwecklosen Versuch aufgebend, immer wieder an einer anderen Platte herumstöpselnd!

Wieder einmal, meine Uhr zeigte nun schon die vierte Stunde, verließ ich solch eine Platte, um seufzend davonzufahren.

Da plötzlich klingelte es hinter mir.

Wie ich anhielt und mich umdrehte, sah ich, dass die schwarze Platte plötzlich weiß geworden war, auch ein intensives Licht ausstrahlte. Und das Klingeln schien aus der Platte herauszukommen.

Ich schnell wieder hin.

»Ist jemand dort?!«, schrie ich aufs Geradewohl auf die Platte, das Klingeln überbrüllend.

Alsbald verstummte das Klingeln.

»Ja, Kurt ist hier!«, erklang es ganz deutlich.

Also wirklich ein Telefon! Nur ein ganz anderes als wir kennen. Die ganze Platte wirkte als die Schallwellen empfangende und wiedergebende Membrane, oder wie dass Teufelsding nun sonst funktionierte.

Gott sei Dank, ich hatte wenigstens mit einem Menschen Verbindung erlangt, konnte mit ihm sprechen! Obgleich es etwas kühn von mir war, glaubte ich mich dadurch doch schon gerettet.

»Du bist's, Kurt?«

»Ja. Der Waffenmeister, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Ach, Herr Waffenmeister«, fing da mit einem Male der sonst so resolute Matrose mit ganz kläglicher Stimme an, »ich weiß gar nicht mehr, wo ich bin, ich habe mich verirrt.«

Ach Du großer Schreck! Ich fühlte gleich etwas in meine Stiefeln rutschen!

Ich denke doch, ich finde hier jemanden, der mich aus diesem Labyrinthe wieder herauslotsen kann, dabei hat sich der Kerl selber verirrt, verlangt Hilfe von mir!

»Wo bist Du denn?«

»In der hundertdreiunddreißigsten Etage. Mehr aber weißt ich nicht. Ich wollte hinunterfahren, habe unterwegs den Fahrstuhl einmal verlassen und kann ihm nun nicht wiederfinden. Auch keinen anderen. Seit wenigstens zwei Stunden irre ich hier nun schon herum.«

»Ja, mein lieber Kurt, da kann ich Dir nicht helfen, da musst Du mich erst einmal aus der hundertsten Etage herausbugsieren, dann will ich Dich aufsuchen und befreien.«

»Ich habe ganz mächtigen Hunger...«

»Ich auch.«

»Finde nichts zu essen...«

»Ich auch nicht.«

»Können Sie mir nicht wenigstens sagen, wo ich...«

»Herr Waffenmeister, sind Sie das?«, wurde da der Sprechende von einer anderen Stimme unterbrochen, die ich gleich erkannte.

»Sie wünschen, Frau Patronin?«

»Ach, Georg«, fing die jetzt auch ganz kläglich an, »ich wollte hinunterfahren, allein, schon vor einer Stunde, habe den Fahrstuhl in der vierundachtzigsten Etage verlassen, und jetzt finde ich keinen Fahrstuhl wieder, irre nun schon seit einer Stunde hier herum.«

So, nun war's ja gut! Es konnte aber schließlich auch noch besser kommen.

Wir waren rund hundert Personen, und zweihundert Etagen hatte dieses Felsenhaus! Also standen jedem zwei ganze Etagen von je zehn Quadratkilometern zur Verfügung, in denen er herumirrend verhungern konnte.

»Ja, Helene, ich bin ganz genau in der gleichen Lage...«

*

61. Kapitel

Der Zauberspiegel

Originalseiten 1566 — 1574

Ein schrilles Klingeln unterbrach mich, und gleichzeitig färbte sich die weiße Platte wieder schwarz. Doch nur wenige Sekunden, dann nahm sie wieder die weiße Farbe an.

»Georg Stevenbrock?«, wurde ich jetzt von einer weichen Frauenstimme angerufen, die ich nun schon zur Genüge kannte.

»Schwester Anna?«, durfte ich mit Recht erleichtert aufatmen.

»Verzeihe mir, dass ich Dich und Deine Gefährten in eine so unangenehme Situation gebracht habe. Es geschah natürlich unabsichtlich. Wir sind eben auch noch unvollkommene Menschen, haben mancherlei vergessen, als wir Euch diesen Felsen zur Verfügung stellten, in der Meinung, Euch nun darin gänzlich selbst überlassen zu können. Jedem Telefon auf dem Korridor gegenüber ist ein Fahrstuhl, und es braucht nur dass letzte Loch gestöpselt zu werden, so öffnet sich die Wand, an den sofort sichtbaren Hebeln kann der Fahrstuhl, wenn der Hebel weiß ist, hinauf oder herab dirigiert werden. Ist er schwarz, so wird der Fahrstuhl zur Zeit gerade benutzt, dann muss eben so lange gewartet werden, bis sich der Hebel wieder weiß färbt.«

»Aha! Erfahren das jetzt auch die anderen, dass sie davon Gebrauch machen können, ehe sie verhungern?«

»Sie erfahren es gleichzeitig mit Dir, nur in anderer Weise, ich möchte jetzt, wie immer, mit Dir allein sprechen.«

»Bitte.«

»Kannst Du mir noch einige Stunden schenken?«

»Zunächst muss ich unbedingt einmal an Bord unseres Schiffes.«

»Wozu, wenn ich fragen darf?«

»In einigen Stunden könnte ich schon verhungert sein.«

»Ist das der einzige Grund, dass Du an Bord willst?«, erklang es in einem Tone, aus dem ich ganz sicher schließen konnte, dass die Schwester Anna jetzt belustigt lächelte.

»Eigentlich ja, das ist jetzt der einzige Grund!«

»Deinen Hunger kann ich auch sofort stillen.«

»Das wäre mir sehr angenehm. Dann stehe ich Dir auch sofort für einige Stunden oder auch für einige Tage zur Verfügung.«

»Folge dem Lichtschein zu Deinen Füßen, er wird Dich an das Ziel Deiner Wünsche führen.«

Wie ich niederblickte, lag zu meinen Füßen wirklich ein kreisrunder Lichtschein, wie eben ein Sonnenfleck in einem tageshellen Zimmer, und als ich einen Schritt nach ihm hin tat, zog er sich vor mir zurück, und so immer weiter.

Also ich folgte meinem seltsamen Lotsen, der mich durch mehrere Zimmer bugsierte, bis in einen kleinen Saal, in dem vor einem Sofa ein mit dampfenden Schüsseln besetzter Tisch stand.

Zufällig wusste ich einmal ganz bestimmt, dass ich diesen selben Saal erst vor fünf Minuten passiert hatte, von hier war ich direkt an jenes Telefon gekommen, und da war dieser Tisch noch nicht gedeckt gewesen, das hätte ich mir ganz sicher nicht entgehen lassen.

Nun, ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf, setzte mich und langte zu.

Es waren mehrere warme Fleischgerichte mit Gemüsezutaten, über deren Ursprung ich mir nicht ganz klar werden konnte. Es war Fleisch und doch kein Fleisch, mehr eine Art von Kloß, oder man hätte an ganz fein gehacktes Fleisch denken können, und am meisten fiel mir auf, dass alle Speisen, so angenehm würzhaft sie auch schmeckten, doch absolut geruchlos waren. Dasselbe galt von den Gemüsen, wenn man das Zeug so nennen durfte. Immer war es ein Brei, aber der eine schmeckte wie junge Erbsen, der andere genau wie Spargel. Das Weißbrot aber war ein ganz natürliches und der Rotwein ganz vorzüglich.

Bald war ich gesättigt, das dauert ja auch bei unsereinem nicht lange, wenn man nur ungeniert essen kann. Vor Antritt der Wache hat man ja niemals länger als zehn Minuten Zeit zum Mittagsessen. Trotzdem war auf den silbernen Platten nicht mehr viel.

Zigarren und Feuerzeug hatte ich bei mir, ich steckte mir eine an, lehnte mich behaglich zurück, und erwartete das Weitere. Dort war ja auch so eine Telefonplatte, Schwester Anna würde mich schon rufen, wenn es so weit war.

Da setzte sich vor mir die Tischplatte in Bewegung, ging in die Höhe. Aber da war gar keine Zauberei dabei. Sie ruhte einfach auf fünf Beinen, die vier Eckbeine blieben stehen, nur das mittelste schob sich hoch; nahm die Tischplatte mit, oben an der holzgetäfelten Decke klappte eine doppelte Tür auf, die Tischplatte verschwand in der Öffnung, die Falltür ging wieder zu. Natürlich ragte nun vom Boden bis zur Decke empor eine dünne Säule, das verlängerte mittelste Tischbein.

Ich staunte das nicht etwa als eine besonders ingeniöse Erfindung an. Besonders auf Schiffen, wo man mit jedem Quadratfuß Raum geizen muss, ist die Speisetafel, ihr Decken, das Servieren und Abräumen immer ein Problem gewesen. Man konstruiert ein Tischchendeckdich, es steigt mit Speisen bedeckt aus einer Bodenversenkung empor, senkt sich dann wieder hinab, um abgeräumt oder neu besetzt zu werden.

Hiervon ist man aber bald wieder abgekommen. Da sind nämlich schon böse Zwischenfälle passiert. Es ist gar nicht so einfach, da eine Schutzvorrichtung anzubringen. Da ist schon manchem Bein und Fuß von der Tischplatte eingeklemmt worden oder er hat gar einen Sturz in die Tiefe getan. Denn es muss doch über der verschwindenden Tischplatte erst eine Öffnung entstehen, und die ist eben gar nicht so leicht schnellstens zu schützen, oder auch die Schutzvorrichtung kann gefährlich werden.

So verlegt man die Pantry (den Anrichteraum) jetzt lieber über das Speisezimmer, lässt sich den Tisch heben, oben verschwinden und wieder herabkommen.

Es dauerte denn auch gar nicht lange, so gingen die Klapptüren an der Decke wieder auf, jetzt aber nach unten, die Tischplatte kam wieder herab, besetzt mit einer neuen Flasche Wein, mehreren Zigarrenkisten und Feuerzeug.

Die Havannas waren nicht besser als die meinen, ich gab mich weiter deren Genusse hin, dazu noch einige Gläser des wirklich großartigen Rotweines schlürfend, dessen Flasche keine Etikette zeigte. Man schien hier schon zu wissen, dass ich Rotspon jedem anderen Weine vorziehe, ich liebe den Gerbsäuregeschmack, sonst hätte man mir wohl sicher auch Weißwein und andere Sorten vorgesetzt, davon war ich fest überzeugt, ohne von Größenwahnsinn geplagt zu werden.

Da aber ereignete sich etwas, dass ich mich fragte, ob ich nicht vielleicht von einer anderen Art Wahnsinn geplagt würde!

Etwa zehn Schritte entfernt mir gegenüber war ein großer Wandspiegel. Oder überhaupt die ganze Wand war ein einziger Spiegel. Es war überhaupt ein recht merkwürdig eingerichtetes Zimmer, bei diesen Dimensionen schon mehr ein Saal zu nennen. Auf der einen Seite stand nur dieses Sofa mit dem Tisch davor, dann weiter und auch an den anderen zwei Wänden zog sich nur ein breiter Diwan hin, sonst war der ganze Raum leer, nur dass auf dem kostbaren Teppich der den Boden völlig bedeckte, noch eine Menge Kissen und Polster verstreut lagen, wie dazu bestimmt, dass sich eine größere Gesellschaft gleich auf dem Boden lagern konnte, wie es die Orientalen machen. Und die vierte, türlose Wand, mir gerade gegenüber, war also ein einziger Spiegel.


Illustration

Ich bin gewiss kein Spiegelaffe, aber es konnte ja nicht anders sein, ich musste mich immer oder doch öfters, sobald ich die Augen hob, im Spiegel sehen. Ich hatte beobachtet, wie es mir geschmeckt, und jetzt sah ich, wie ich in den Polstern fläzte und mit behaglich blinzelnden Augen die blauen Rauchwölkchen steigen ließ.

Da plötzlich... ja, was war denn das?!

Da sitzt mit einem Male ein Mensch neben mir auf dem Sofa.

Ein altes Männchen mit schneeweißen, etwas langen Haaren, das bartlose Gesicht ganz durchrunzelt, patent gekleidet in einen schwarzen Frackanzug, mit schlohweißem Oberhemd, Stehkragen und weißem Schlips.

Das heißt, ich sehe den Kerl nur im Spiegel! Neben mir war nichts. Ich greife mit der Hand, welche Bewegung ich auch im Spiegel mache, fahre durch die Luft und dort durch das Spiegelbild meines Nachbars.

Jetzt greift das Männchen nach dem zweiten auf dem Tische stehenden Glase, nimmt die Rotweinflasche, füllt sich das Glas, hebt es mit einer Verbeugung gegen mich und trinkt.

Das alles vollzieht sich aber nur im Spiegel. Vor mir in Wirklichkeit ändert sich natürlich nichts.

Ja, wie der Mann aber nun sein Glas wieder hingesetzt hat, da stehen dort im Spiegel auf dem Tische drei Gläser und zwei Flaschen!

Wie war das möglich?

Nun, eben irgend eine Illusion, die mir da vorgemacht wurde. Es regte mich durchaus nicht auf. Wenn ich vorhin sagte, ich hätte mich gefragt, ob ich nicht vielleicht wahnsinnig geworden sei, so war das nicht so gemeint.

Jetzt stand der Mann auf, quetschte sich zwischen Sofa und Tisch hervor, während er also ein Hereinquetschen nicht nötig gehabt hatte, machte wieder eine Verbeugung gegen mich sprach zu mir, bewegte wenigstens die Lippen, zu hören war ja nichts, deutete nach den auf dem Boden liegenden Polstern, machte wie einladende Handbewegungen.

Und da kamen durch die Tür, die ich auch im Spiegel sehen konnte, Gestalten herein, türkisch und indisch gekleidet, überhaupt orientalisch bärtige Männer mit Schwertern umgürtet, herrlich geschmückte Weiber...

Da, noch ehe ich es etwas näher hatte unterscheiden können, während mein Gehirn noch diesen ersten orientalischen Eindruck verarbeitete, erscholl ein Klingeln, und im Nu war dieser ganze Spiegelspuk wieder verschwunden, auch das alte Männchen.

Die Telefonplatte hatte geklingelt, hatte sich auch weiß gefärbt. Ich stand auf, begab mich hin, wo sie über einer Lücke des Diwans hing.

»Hier Waffenmeister!«, meldete ich ganz gewohnheitsgemäß meinen Titel.

»Hier Schwester Anna!«, entgegnete deren weiche Stimme. »Ich muss schon wieder um Verzeihung bitten.«

»Weshalb denn? Das Essen war ganz ausgezeichnet.«

»Wegen der Gaukelei, mit der man Dich belästigt hat.

Kaum ist bekannt geworden, dass man Euch einen persönlichen Berater geben, also mit Euch in näheren Verkehr treten will, so hält man sich schon für berechtigt, Dir im Illusionsspiegel eine Gaukelei vorzumachen. Es war nicht bös gemeint.«

»Das glaube ich schon, und sie hätte ruhig fortgesetzt werden können.«

»Du liebst solche Illusionen?«

»Wer liebst das nicht? Das müssen doch sehr große Sauertöpfe sein, die von so etwas nichts wissen wollen. Wir sind keine solche Mucker. Wir sind ja selbst professionsmäßige Gaukler. Bitte, lass Deine Leute nur nach Herzenslust solche Illusionen vorführen, sie werden an uns ein vergnügtes Publikum haben. Nur darfst Du nicht verlangen, dass wir den Illusionen auf den Grund gehen werden, uns darüber die Köpfe zerbrechen. Ich wenigstens für mein Teil werde das nicht tun.«

»Gut, wenn es so ist, dann könnt Ihr hier noch mehr davon zu sehen bekommen. Nun aber die Hauptsache, weswegen ich Dich sprechen wollte. Es ist also doch wohl besser, wenn Ihr einen Berater bekommt, der Euch näher in die Eigentümlichkeiten dieses Felsenlabyrinthes einführt.«

»Ganz wie Du willst.«

»Nein, nur Du hast zu bestimmen. Ihr würdet doch mancherlei nicht finden, was Euch sehr angenehm sein dürfe. So wäre es schon der größte Zufall, wenn Ihr die im untersten Geschoss befindlichen Bäder entdecken würdet. Ist Dir also solch ein Berater angenehm?«

»Er ist mir und uns allen angenehm!«, entgegnete ich einfach.

»Gut. Er wird sich Dir dann gleich vorstellen. Du hast ihn übrigens schon gesehen, vorhin im Spiegel. Es ist derselbe alte Herr. Er fasste die Mitteilung falsch auf, wollte Dir gleich etwas vorgaukeln. Jetzt wird er selbst zu Dir kommen. Es ist die einzige Person, die wir in Fleisch und Blut zu Euch senden dürfen. Wir sind an strenge Gesetze gebunden. Mit diesem alten Herrn dürfen wir eine Ausnahme machen. Nun ist es freilich mit diesem alten Herrn eine eigentümliche Sache. Er ist nicht... ganz geistesnormal, will ich mich zart ausdrücken.«

»Irrsinnig?«

»Nein, das ist er nicht. Oder das ist doch ein zu weiter Begriff. Er befindet sich nur in einem Wahne, hat eine fixe Idee. Er glaubt an Seelenwanderung. Er hält sich gegenwärtig für den Professor Gottfried Beireis. Hast Du von diesem schon gehört?«

»Du meinst den gelehrten Sonderling, der in der Mitte des 18. Jahrhundert von Helmstedt aus die damalige Welt veralberte?«

»So ist es. Und Du gebrauchst gleich den richtigen Ausdruck. Für diesen hält sich der alte Herr. Ich habe nichts weiter hinzuzufügen. Du wirst ihn selbst kennen lernen. Also ein ganz harmloser, durchaus ehrenwerter Charakter. Gedulde Dich einige Minuten, dann wird er sich Dir zur Verfügung stellen, als Dein gehorsamer Diener. Schluss.«

*

62. Kapitel

Professor Beireis

Originalseiten 1574 — 1579

Die Telefonplatte färbte sich wieder schwarz. Ich setzte mich wieder hin, erwartete den Besuch. Was ich nun über jenen Professor Beireis sage, entnehme ich der zweiten Auflage von Meyers Konversationslexikon, erschienen 1870, wo solche Biografien ausführlicher behandelt worden sind. In neueren Lexika wird dieser Mann mit wenigen Zeilen abgetan.


Beireis, Gottfried Christoph, Polyhistor und gelehrter Sonderling, geboren am 2. März 1730 zu Mühlhausen in Thüringen, wo sein Vater, ein städtischer Beamter, sich mit Pharmazie beschäftigte, zeichnete sich schon als Knabe durch ungewöhnlichen Ernst, außerordentliche Reizbarkeit, glühende Einbildungskraft und Lebhaftigkeit des Geistes, sowie durch das treueste Gedächtnis und große Wissbegierde aus. Als er 1750 die Universität zu Jena bezog, hatte er es bereits in alten und neuen Sprachen, in Mathematik, Physik, Geschichte, Musik und selbst in gymnastischen Übungen aller Art ungemein weit gebracht. In Jena studierte er drei Jahre lang die Rechte, zugleich aber aus Neigung Mathematik, Physik, Chemie und Medizin.

Nach beendigter Studienzeit ging er auf Reisen, teils um seine Kenntnisse zu erweitern, teils aber auch, um seine in der Chemie gemachten Entdeckungen zu verwerten. Die Reisen, welche ein undurchdringliches Dunkel deckt, das der mysteriöse Mann nie aufzuhellen geneigt war, gingen wohl nicht, wie er vorgab, nach Indien, sondern wahrscheinlich durch Frankreich, Italien, die Schweiz, Holland und mehrere Teile von Deutschland.

Im September 1756 kehrte er unvermutet nach Thüringen zurück und brachte bedeutende Geldsummen mit, wodurch er zuerst den Ruf von seinem Reichtum begründete, von welchem in der Folge viel Übertriebenes verbreitet wurde. Im Oktober desselben Jahres ging er nach Helmstedt, ließ sich als Student inskribieren und studierte unter Heister, dessen Praxis nach seinem Tode meist auf Beireis überging, mit dem größten Eifer Medizin und Chirurgie.

Schon 1759 wurde er ordentlicher Professor der Physik an der Universität zu Helmstedt. 1762 Professor der Medizin, 1767 Hofrat, 1768 Professor der Chirurgie, 1802 Leibarzt des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, und starb am 17. September 1809, nachdem er kurz zuvor noch den Jubeltag der Doktorwürde und der fünfzigjährigen Amtsführung als Professor mit jugendlicher Kraft und Munterkeit gefeiert hatte.

Beireis gebot über einen ungemeinen Reichtum von Kenntnissen; er war ein uneigennütziger, sorgfältiger Arzt und hatte eine große Praxis. Seine Tätigkeit als akademischer Lehrer, die bis ins höchste Alter ununterbrochen fortdauerte, war ebenso umfassend wie verdienstlich, er trug die Naturlehre in ihrem ganzen Umfange vor und erläuterte sie durch Experimente, las über Naturgeschichte im allgemeinen und ihre verschiedenen Zweige, lehrte namentlich auch Botanik in Verbindung mit Exkursionen, hielt mineralogische, insbesondere metallurgische Vorlesungen, gab Unterricht in der theoretischen und Experimental-Chemie, der Ökonomie, Gartenkultur und Forstwissenschaft und so weiter, und wusste daneben noch Zeit zu gewinnen zu Vorträgen über Musik, Ästhetik, Malerei, Numismatik und so weiter, und zwar zeichneten sich alle diese Vorlesungen durch Gründlichkeit und Genauigkeit aus und wurden durch seine wertvollen Sammlungen von Natur- und Kunstschätzen und seine ansehnliche Bibliothek bedeutend unterstützt.

Bei allen diesen Vorzügen aber waren Eitelkeit und Bigotterie vorherrschende Züge seines Charakters und die eigentlichen Triebfedern seiner Handlungen. Er lebte fast ohne allen Umgang, blieb unverheiratet und war bemüht, sich ein geheimnisvolles Ansehen zu geben. Sein ganzes großes Haus, das er allein mit einem Bedienten bewohnte, dessen Frau seinen einfachen Haushalt besorgte, war mit Gegenständen der Natur und Kunst angefüllt, die teils wirklich selten und kostbar waren, teils von ihm dafür ausgegeben wurden. Er besaß die Bahn'sche Rechenmaschine, die drei berühmten Vaucanson'schen Automaten, die von Droz verfertigte Zauberuhr und andere Kunstwerke.

Von großer Wichtigkeit waren seine physiologischanatomischen Präparate, und unter diesen namentlich die von dem berühmten Lieberkühn injizierten. Unter seinen astronomischen, mathematischen und physikalischen Instrumenten befanden sich die für die Geschichte der Erfindungen merkwürdigen Instrumente Ottos von Guericke. Bedeutend war auch seine Naturalien-, besonders seine Mineraliensammlung, sowie der chirurgische Apparat, der größtenteils aus dem Heister'schen Nachlasse stammte. Sein Münzkabinett enthielt viel schöne, wohlerhaltene Exemplare aus dem Altertume, auch viele alte Goldmünzen, und war von einem ansehnlichen Werte. Seine Gemäldesammlung zählte manches seltene Original, vorzüglich aus der deutschen Schule. Beireis zeigte der Menge von Besuchenden, unter denen oft auch fürstliche Personen waren, seine Kunstschätze mit vieler Gefälligkeit, pflegte sie aber mit auffallender Scharlatanerie selbst zu rühmen und als einzig, unübertrefflich und unbezahlbar zu preisen.

Dies war besonders der Fall mit einer Masse, die größer als ein Hühnerei war und von der er behauptete, dass sie ein Diamant von 6400 Karat Gewicht sei, den alle Fürsten der Erde nicht zu bezahlen imstande wären. Er erzählte, dass der Kaiser von China dieses kostbare Juwel bei ihm versetzt habe und wusste diese Fabel mit allen Einzelheiten auszuführen. Der Obermedizinalrat Klapproth aus Berlin erkannte indes bei näherer Besichtigung nichts weiter in dem Steine als einen durch seine Größe ausgezeichneten Kiesel von Madagaskar.

Die Mittel zur Anschaffung seiner vielen und kostbaren Natur- und Kunstschätze verdankte Beireis vorzüglich seinen chemischen Erfindungen. Zu diesen gehörte eine schöne, rote, karminähnliche, aber dem Mineralreich angehörende Farbe, deren Bereitung er den Holländern gegen bedeutende Summen mitteilte; ferner eine den Indigo ersetzende blaue Farbe auf Tuch; dann ein chemischer Prozess, den er auf Kobalt anwendete und für dessen Mitteilung eine sächsische Bergwerksbehörde ihm mehrere tausend Taler bot; eine Methode, ohne Pottasche blau zu färben, wofür ihm ähnliche Anträge gemacht wurden; endlich ein vorzüglich schönes, rotes und blaues Siegellack. So lehrte er auch anderen die Kunst, aus bisher unbekannten Mitteln Essig zu bereiten, aber nur unter der Bedingung, dass er jahrelang gewisse bedeutende Prozente von ihrem Gewinn zog, und dergleichen mehr. Beireis selbst gab sich gern das Ansehen, als ob er die Kunst, Gold zu machen, besitze. Seine chemischen Erfindungen gingen größtenteils mit ihm zu Grabe; seine mathematischen, astronomischen und physikalischen Instrumente vermachte er der Universität Helmstedt, seine übrigen Sammlungen und seine große Bibliothek wurden zerstreut.


So weit das Konversationslexikon.

Ich aber kann von diesem Manne noch mehr erzählen, was meines Wissens sonst nirgends zu lesen ist.

Im Hause meines Vaters verkehrte manchmal ein alter Professor, geboren in Helmstedt, und in dessen elterlichem Hause fand später die Frau Schwennicke eine Unterkunft, die mit ihrem Manne bei Beireis die Wirtschaft geführt hatte. Die hatte natürlich viel von dem alten Herrn erzählt, wunderliche Sachen.

Alles in seinem Hause musste automatisch funktionieren. Das fertigte er sich alles selbst. Das ganze Haus war mit Röhren durchzogen, die mit komprimierter Luft oder Wasser arbeiteten. Wenn er Gäste bewirtete, was er besonders gern tat, so setzte man sich an einen ungedeckten Tisch, musste sich freilich darauf gefasst machen, dass der Stuhl, auf dem man saß, plötzlich im Boden verschwand. Dann kam eine leere Flasche, Beireis füllte sie mit Wasser und schenkte aus ihr köstlichen Wein ein, immer andere Sorten, ganz wie man wünschte. So verwandelte er Steine in Brot und andere Speisen, zauberte sie aus nichts hervor. Und wenn man ihn deswegen für einen wirklichen Zauberer hielt, für einen mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestatteten Magier, so fühlte er sich geschmeichelt, freute sich hinterher darüber königlich.

Die Menschen zu veralbern, ihnen Streiche zu spielen, das war seine Lust. Wenn sich der Gast nach dem Essen wusch, so durfte er sicher sein, beim Abtrocknen an dem weißen Handtuch ganz schwarz zu werden. Und ähnliches mehr.

Dabei aber war Beireis eine Seele von einem Menschen! Unbemittelte Studenten hatten bei ihm nichts zu zahlen, er gewährte ihnen Freitische, unterstützte sie in jeder anderen Weise, seine ärztliche Praxis übte er überhaupt ganz umsonst aus, gab auch noch das Geld für die Arznei.

Wenn man da noch davon spricht, die Haupttriebe jeder aller seiner Handlungen sei Eitelkeit und Prahlerei gewesen — gut, mag man so sprechen. Ich meinerseits denke da anders.

Aber ich sollte das alte Männchen, das ich also schon im Spiegel gesehen hatte und das sich in seinem Wahne für diesen Professor Beireis hielt, nicht so bald persönlich kennen lernen, darüber sollte erst noch eine lange Zeit vergehen.

*

63. Kapitel

Eine verunglückte Walfischjagd

Originalseiten 1580 — 1596

Wieder schrillte die weißgefärbte Telefonplatte. »Hier Waffenmeister!«, meldete ich mich. »Schwester Anna?« »Nein, ich bin's, Juba Riata!«, ließ sich dessen Stimme vernehmen. »Im Süden zeigt sich eine große Herde Walfische, Meister Tabak will auf sie Jagd machen, die Patronin hat ihre Erlaubnis dazu gegeben, wir sind schon alle unten, treffen die Vorbereitungen dazu — kommen Sie mit?«

Nu natürlich, da musste ich doch dabei sein! Ich bin sonst gar kein so leidenschaftlicher Jäger, das heißt ich muss nicht jedes von der Polizei ungeschützte Tier unbedingt tot machen, aber eine Walfischjagd, bei der ich einmal dieses grönländischen Harpuniers Kunst bewundern konnte, ließ ich mir doch nicht entgehen! Während unserer nun schon zweijährigen Seefahrerei hatten wir noch keinen einzigen Walfisch erblickt.

»Ich komme sofort!«, rief ich also, im Augenblick gar nicht mehr an den Professor Beireis denkend, eilte auf den Korridor, steckte in der nächsten Telefonplatte einen der beiden Metallstöpsel in das letzte Loch, und wirklich ging sofort ein Stück der gegenüberliegenden Wand herab, in der Öffnung zeigte sich ein weißgefärbter Hebel, ich drehte ihn, und zwei Minuten später senkte sich von oben eine Plattform herab, die ich bestieg, um die Fahrt nach unten weiter fortzusetzen.

Schon während dieses kurzen Wartens und dann natürlich noch mehr während des längeren Hinabfahrens dachte ich daran, ob ich nun unten auch gleich die Wasserhöhle mit unserem Schiffe wiederfinden würde, dass ich nicht etwa wiederum herumirrte. Juba Riata schien es nun schon herauszuhaben, wie man die einzelnen Etagen telefonisch anrief, ich war mir darüber immer noch nicht klar, und die Schwester Anna schien nur ein Lebenszeichen von sich zu geben, wenn es ihr gerade einmal passte.

Meine Erwägungen waren unnötig gewesen. Nach noch nicht zehn Minuten Fahrt landete der nur kleine Fahrstuhl in einer Kammer, wo ich schon das Lärmen meiner Jungen vernahm, und ich brauchte nur herauszutreten, da sah ich unser Schiff schon in dem Wasserbecken liegen.

In aller Schnelligkeit wurde mir das Nötigste mitgeteilt. Man hatte eben vom Plateau aus im Süden eine »Schule« Walfische erblickt, still liegend, also sich dem Schlafe hingebend. Sofort war mit Einverständnis der Patronin die Jagd beschlossen worden. Als ich ankam, war alles schon fix und fertig. Die Motorbarkasse sollte das Walfischboot mit der Mannschaft hinausbringen. Denn unter den Kesseln des Schiffes war seit fünf Stunden nur noch das übliche, ganz schwache Feuer unterhalten worden, mindestens einer halben Stunde hätte es bedurft, um wieder vollen Dampf aufzumachen.

»Wird aber die Barkasse auch glücklich hinauskommen?«

»Sollen wir deshalb nicht erst einmal die Schwester Anna anfragen?«

»Ja, wie ist sie denn anzurufen?«

So und anders klang es durcheinander, dabei aber war das vollständig ausgerüstete Walboot schon in der Barkasse verladen worden, es ging gerade hinein, die von dem Eskimo eingepullte Mannschaft saß schon drin, überhaupt alles war schon fertig, als ich ankam, ich konnte gerade noch hineinspringen, dann ging es schon fort. Ich wusste noch nicht einmal, dass auch die Patronin mit drin saß, hatte sie, weil sie ein vollständiges, mir ungewöhnliches Männerkostüm trug, nicht gleich erkannt. Es ging eben alles drunter und drüber, obgleich dennoch in vollster Ordnung.

Also den Motor angekurbelt und hinein in den Höllenstrudel! Ein tosendes Wirrwarr, wir wurden pitschnass, das war aber auch das einzige, was uns passierte.

Mit einem Male schwammen wir im schönsten Sonnenscheine auf dem stillsten Wasser.

Sofort wurde, wie Mister Tabak wollte, der jetzt allein zu befehlen hatte, das schmale Walboot ausgesetzt, die zwölf eingepullten Matrosen kletterten hinein. Nun handelte es sich nur noch um den Steuermann. Als solcher waren, da es sich hierbei doch um etwas ganz Besonderes handelte, von dem Eskimo nur ich und unser Hahn ausgebildet worden. Hahn war überhaupt ein ganz vorzüglicher Bootssteuerer, auch so eine Art von genialer Kunst, die man eigentlich nie richtig erlernen kann, die einem angeboren worden sein muss, weshalb Hahn auch in der Marine beim Wettracen immer Kuttersteuerer gewesen war. Auch jetzt hatte er die Barkasse durch die Brandung gesteuert.

So wollte ich jetzt schnell in das Walboot klettern, um die Steuerung zu übernehmen, aber Hahn war noch schneller als ich, er hatte auch besser gesessen, war mit einem Sprunge drüben am Ruder.

Da aber stieß er bei dem Eskimo auf Wiederstand. »Raus da mit dem Hahn, der Waffenmeister ans Ruder!«, kommandierte er.

Und als diesmal Hahn nicht wieder so schnell war, hatte Mister Tabak den stämmigen Matrosen mit einer Fixigkeit und Kraft aus dem schwankenden Boote in die Barkasse zurückbefördert, mit einem Doppelgriff am Kragen und Hosenboden, wie man solche dem kleinen, krepligen und eigentlich sogar schwächlich gebauten Eskimo nimmer zugetraut hätte.

Ich aber konnte stolz darauf sein, dass der mich als Steuermann bevorzugte. Denn hier gab es nicht etwa einen Rangunterschied und dergleichen, hier entschied allein die Tüchtigkeit und hierüber hatte allein wieder der Harpunier zu entscheiden.

Es sollte aber noch anders kommen! Der Eskimo bewies noch ganz anders, dass er der Harpunier war, gegen den, wenn es nun einmal die Erbeutung eines Walfisches gilt, auch der Kapitän ein Nichts ist. In dieser Situation ist allein der Harpunier unumschränkter Befehlshaber.

Auch die Patronin wollte schnell in das Boot hinüberklettern.

»Nix da!«, schrie aber Mister Tabak, setzte ihr die Hand vor die Brust und gab ihr einen Stoß, dass sie gleich wieder in die Barkasse zurückpurzelte. »Alles klar! Riemen hoch! Setzt ab! Lasst fallen! Ruder... an!«

Und fort schossen wir schon wie ein abgeschnellter Pfeil.

Hinter mir knatterte alsbald der Motor der Barkasse.

»Zurück die Barkasse bis ich winke!«, schrie aber der Harpunier, und das Knattern verstummte gehorsam.

Ich, der ich ihr beim Steuern den Rücken zukehrte, sah sie ja überhaupt nicht. Und ich ahnte nicht, dass ich sie und Helene und alle meine Gefährten nicht so bald wiedersehen sollte — ahnte nicht, dass dies eine Abschiedsfahrt für eine gar lange Trennung sein sollte!

Wir schossen über das glatte Wasser. Der Eskimo gab mir einmal mit ausgestrecktem Arm die Richtung an, ohne ein Wort zu sagen, dann traf er seine weiteren Vorbereitungen, die zunächst darin bestanden, dass er sein Hemd, dass er außer der Hose nur noch trug, auszog und seinen gelben Affenleib aus einem Topfe mit Fett einsalbte. Dann prüfte er einige Harpunen, die im Boote lagen, wog sie in der Hand, legte sie wieder hin, prüfte die Rolle mit der aufgewickelten Leine, an welche die Harpune befestigt wird, goss einige Pfützen Wasser drüber, dann richtete er sich auf, blickte zurück, winkte.

Die Barkasse sollte uns folgen.

Auch ich blickte einmal zurück. Der Felsen ragte natürlich noch mächtig empor, wir schienen uns noch gar nicht viel entfernt zu haben, die Barkasse aber war bereits nur noch als ein Punkt zu erkennen.

»Himmelhund, willst Du gleich Deine blutig verdammten Augen nach vorn auf mich richten?!«, wurde ich da belehrt, dass mit Mister Tabak jetzt nicht gut Kirschen essen war.

Ich gehorchte, aber eine Frage musste ich doch noch stellen.

»Was sind es denn für Walfische?«

»Pottwale!«, entgegneten einige Matrosen gleichzeitig.

»Mister Kabat«, musste ich da doch noch bemerken, »wissen Sie auch, was Pottwale zu bedeuten haben? Grönlandwale sind keine Pottwale.«

»Maul gehalten!«, wurde ich angedonnert. »Oder meint Ihr, ich hätte noch keinen Pottwal harpuniert? Jedenfalls mehr schon, als Ihr solche gebratenen Sardinen in dem Marseiller Speisehaus auf einen Sitz in Euren Zwergmagen stopfen könnt.«

Na, dann war es ja gut.

Also wir hatten es mit Pottwalen zu tun, welche die tropischen Meere bevölkern, vom 40. Grad nördlicher Breite an bis zum 40. Grad südlicher Breite herab. So sagt man im allgemeinen, weil der Mensch in seiner Allweisheit und Ordnungsliebe nun einmal jeder Tiergattung seine Grenze vorschreiben will. Im allgemeinen mag das ja auch stimmen. Aber man hat eine ganze Schule Pottwale auch schon auf dem 56. südlichen Breitengrade beobachtet, und die grönländischen Eskimos wissen noch heute von diesen Tieren zu erzählen, die einst an ihren vereisten Küsten ganz heimisch waren. Und von ihrer Gefährlichkeit wissen sie auch noch zu erzählen.

»Wenn ein Grönlandwal ein Schiff mit aller Gewalt anrennt oder das Jagdboot mit einem Schwanzschlage zertrümmert, es in die Luft schleudert, so ist das ein Zufall bei dem in seinem Schmerze blind gewordenen Tiere. Dass aber ein Pottwal ein friedlich einhersegelndes oder dampfendes Schiff ohne weiteres annimmt, das ist in zahllosen Fällen erwiesen. Von 1830 bis heute sind die Namen von vier Schiffen bekannt, die von Pottwalen, ohne dass diese selbst angegriffen wurden, in den Grund gerammt wurden. Allerdings muss man dabei an hölzerne Schiffe mit geringer Tonnenzahl denken. Einen eisernen Dampfer oder Segler kann kein Pottwal leck rammen, da rennt er nur seinen eigenen Kopf ein.

Aber immerhin, die Gefährlichkeit dieses Meeresriesen, der dem Grönlandwal nicht im geringsten an Größe nachsteht, bis zu 30 Meter Länge, ist zur Genüge bekannt. Dabei steht die Gefahr seiner Jagd in gar keinem Verhältnis zum Gewinn. Die Barten sind spärlich, noch weniger liefert er Tran.

Etwas anderes ist es, was den habgierigen Menschen immer wieder zur Jagd auf dieses Meeresungeheuer anreizt. Der Pottwal birgt unter Umständen etwas gar Köstliches in seinem Inneren: Ambra, eine weißgelbe Masse, die sich manchmal in der Harnblase dieses Seesäugetieres vorfindet. Es ist ein Krankheitsstoff, ein Harnstein. Für die Orientalen bis heute unentbehrlich bei der Fabrikation von Parfümen und Räuchermittel und noch mehr als Aphrodisiakum. Sein Preis ist noch ständig im Steigen begriffen. Heute wird ein Kilo Ambra vom Engros-Händler mit 7000 Mark bezahlt, ist also, dem Gewicht nach mehr als dreimal so teuer als Gold.

Am meisten Ambra findet man zufällig auf dem Meere schwimmen. Meist nur in kleinen Stücken, es sind aber schon Blöcke bis zu einem Zentner gefunden worden. Das sind dann zweifellos zusammengeklebte Stückchen. Aber mit diesem Zufall, der sich auch sehr selten ereignet, begnügt sich der Mensch nicht. Doch sind es ausschließlich nordamerikanische Schiffe, welche wegen dieses Ambras dem Pottwal direkt zuleibe gehen. So etwas bringt eben nur der Yankee fertig. Nämlich mit seiner brutalen Rücksichtslosigkeit. Die Mannschaft muss »gepresst« werden, in irgend einem Hafen werden bei nächtlicher Weile Matrosen betrunken gemacht oder gleich mit Gewalt auf das Schiff geschleppt. Die sieht man dann nicht wieder. Die nicht beim Einpullen totgeprügelt werden, die verlieren ihr Leben bei der gefährlichen Jagd.

Nun, wenn Mister Tabak um diese Gefährlichkeit wusste und sogar schon selbst Pottwale harpuniert hatte, dann war es ja gut. Von uns wäre deswegen natürlich keiner zurückgetreten.

»Halber Schlag!«

Da sahen wir sie vor uns liegen, wie schwarze, langgestreckte Inseln aus der blauen Flut emportauchend. Freilich immer noch wenigstens zwei Seemeilen von uns entfernt.

Spritzen oder »blasen« taten sie nicht. Sie schliefen oder ruhten doch, hatten dabei den ungeheuren Kopf, den ungeheuerlichsten aller Walarten, weit aus dem Wasser ragen. Nur hin und wieder sah man eine Wassersäule emporsteigen.

Mit halbem Schlage näherten wir uns der »Schule«, die aus mindestens 40 Mitgliedern bestand. Kabat deutete mir die Richtung an. Offenbar hatte er es auf ein etwas abseits schwimmendes Tier abgesehen, das ein außerordentlich großer Fettwanst sein musste.

In noch nicht einer halben Stunde hatten wir unser Ziel erreicht, hatten da aber schon andere Tiere passiert, befanden uns mitten unter der Herde.

Schauerlich war es, was wir da erblickten. Diese Riesenleiber, und nun erst diese ungeheuren walzenförmigen Köpfe, vorn aber ganz scharf abgeschnitten, und diese fürchterlichen Rachen, von schrecklichen Zähnen starrend — auch ganz besonders durch diese Zähne unterscheidet sich der Pottwal vom Bartenwal, und er weiß sie auch als Waffe zu gebrauchen — und fabelhaft war es, mit welcher Geschwindigkeit diese Rachen auf und zu geklappt wurden. Innerhalb eines einzigen Momentes meterweit auf und zu — das muss man gesehen haben, um es glauben zu können. Das liest man wohl in allen sachlichen Beschreibungen dieses Wals, aber man hält solch eine blitzähnliche Beweglichkeit dieses riesigen Rachens nicht eher für möglich als bis man es selbst gesehen hat.

Und nun schließlich noch dieser Gestank hier mitten zwischen der Herde! Wie nach verwestem Aase. Das ist allein der Atem dieser riesigen Tiere.

Doch wir hatten jetzt an anderes zu denken als solche Beobachungen anzustellen. Wenn ich mich über etwas wunderte, so war es nur darüber, dass diese Tiere, die doch so gar nicht schlafend erschienen, mitten zwischen sich ein mit Menschen besetztes Boot ließen, ohne sich darum zu kümmern. Na ja, sie schliefen eben, oder befanden sich doch in einem ganz lethargischen Zustande, dann könnte man sich auf den Rücken solch eines Ungeheuers setzen, so erzählen ja alle Walfischjäger, alle derartigen Bücher — aber gesehen muss man es haben, solch eine Teilnahmslosigkeit der Tiere, die immer das Maul schnell auf und zu klappen, um das glauben zu können.

Sonst waren die Augen der zwölf Ruderer nur starr auf mich gerichtet, und meine so wieder auf den Harpunier, weil alle Kommandos jetzt nur noch gewinkt wurden, und wie uns dabei zumute war, wie sich das Herz in der Brust zusammenschnürte, das war dabei ganz gleichgültig.

Jetzt hob der Eskimo den rechten Arm mit der am Seile befestigten Harpune, streckte dabei den linken Arm aus, ich neigte den Oberkörper vor, und geräuschlos tauchten die zwölf Riemen ins Wasser, stoppten das Boot ab.

Nur noch fünfzig Schritt lagen wir von dem auserwählten Ungeheuer entfernt, waren ihm von der Seite nahe gekommen.

Erst jetzt nahm der Harpunier richtig Stellung, stemmte den linken Fuß auf den Brig, beugte sich zurück, schloss die linke Faust und öffnete sie wieder, zugleich eine Richtung angebend — ich gab diese stummen Befehle weiter, sie wurden befolgt, wieder wurde langsam angerudert, das Boot näherte sich jetzt mehr von vorn.

Vielleicht nur noch zehn Meter von der mittleren der drei Inseln entfernt, die der Riesenleib über Wasser bildete. Jetzt wurde die Hand zur Faust geschlossen, und der Eskimo beugte seinen braunen Leib wie eine Gerte zurück, schnellte ihn wieder vor, und die Harpune entsauste seiner rechten Hand.

Ich sah, mit welcher Wucht das furchtbare Eisen mit Widerhaken zwischen Kopf und Rücken ins Wasser sauste, dort sich in den Speck einbohrte, wie gleich darauf ein roter Blutstrahl empor spritzte.

Also die Lunge getroffen! Denn sonst blutet der Walfisch nicht.

Und das ist es eben, was vom Schiffe aus mit der Harpunkanone so selten glückt, gerade die Lunge zu treffen. Das gelingt unter drei Schüssen noch nicht einmal, und gelingt es nicht, so ist der Walfisch als Beute unrettbar verloren, denn nur in der Lunge kann er tödlich verwundet werden, sonst entgeht er dem Schiffe regelmäßig, und eben deshalb ist, dieses Harpunieren mit dem Geschütz eine Aasjägerei, die noch verboten werden wird.

Im ersten Augenblick wunderte ich mich, dass der Walfisch trotz der schrecklichen Verwundung so still liegen blieb. Freilich war es eben nur ein Augenblick. Oder eine Sekunde, will ich sagen.

Diese Sekunde aber hatte der Eskimo auch schon benutzt, mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit, um der ersten Harpune noch zwei weitere nachfolgen zu lassen, die dann dicht nebeneinander in dem Riesenleibe staken. Ich wusste wirklich gar nicht, wo er die beiden anderen Harpunen plötzlich herbekommen hatte.

Da aber ging der Tanz auch schon los, ein furchtbarer Tanz!

Plötzlich schoss das Ungetüm mit dem Kopf voran kerzengerade in die Luft empor, nur der letzte Teil des Schwanzes blieb noch im Wasser, kippte um, stürzte waagerecht zurück.


Illustration

Plötzlich schoss das harpunierte Ungetüm mit
dem Kopf voran kerzengerade in die Luft empor,
kippte um und stürzte waagerecht zurück.


Es war mir nur wie ein Phantom gewesen, was er da erblickt hatte.

Die Folgen davon aber lassen sich denken. Wir befanden uns plötzlich wie auf einem sturmgepeitschten Meere mit häuserhohen Wellen — wenn die aufgeregte See nun einmal haushoch sein muss, wenn man ihr Toben beschreiben will.

Aber die Besinnung behielt ich, behielten wir alle. »Pull an!«, schrie ich da mein Winken jetzt doch nicht gesehen worden wäre.

Und die Jungens pullten an, wir schossen davon, ich in der Richtung steuernd, die der Eskimo mit ausgestrecktem Arme angab.

Aber nur acht handhabten die langen Riemen mit Macht, die vier hierzu abgeteilten Matrosen, eben vorzüglich eingedrillt, schöpften das Wasser aus, was sie schöpfen konnten. Dann griffen auch sie wieder zu den Riemen, und schneller und schneller schossen wir dahin, dass das Wasser am Bug hoch aufschäumte, während der Eskimo eine Pfütze nach der anderen über die sausende Rolle goss, damit sich die ganze Vorrichtung nicht durch die gewaltige Reibung entzündete oder doch die Lager sich nicht festbrannten.

Jetzt kam es darauf an. Oder doch in wenigen Minuten musste es sich entscheiden. Wie schnell ein Walfisch schwimmt, hat man noch nie konstatieren können, was man sich deswegen auch schon für Mühe gegeben hat. Aber dass er in Todesgefahr bis zu 20 Seemeilen in der Stunde machen kann, wenn auch nur für kurze Zeit, das ist zweifellos. So schnell kann ein Boot natürlich nicht rudern, kein Rennboot. Das vorzügliche Hanfseil, oder mehr eine Schnur, war 300 Meter lang. So lang muss sie sein, denn so tief kann der Walfisch in seiner Todesnot tauchten, das hat man schon konstatiert. Würde er tiefer tauchen können, so würde solch ein Riesentier jedenfalls das ganze Boot mit in die Tiefe ziehen. Aber bei 300 Meter Länge ist das noch nicht vorgekommen.

Wenn aber nun die 300 Meter Schnur abgelaufen sind, und das Tier ist noch nicht tot, noch nicht einmal im geringsten ermüdet? Wenn dann das Boot nicht in genügender Fahrt ist, dann reißt die Leine unbedingt. Und da gibt es keinen anderen, festeren Stoff, da lässt sich nichts mit Draht machen, am besten hat sich noch Manilahanf bewährt, für diesen Fall weit besser als Seide, die wohl viel mehr Zug, aber keinen solchen Ruck vertragen kann.

Also nun heißt es, erst das Boot in schnellste Fahrt zu bringen, dann die Kräfte möglichst zu schonen, um dann im letzten Augenblick, wenn die letzten Meter ablaufen, wenn der Harpunier das Zeichen dazu gibt, noch einmal die vollste Kraft zu entwickeln, bis die Muskelbänder zu sprengen drohen.

Darauf kommt alles an. Das ist der Grund, weshalb besonders auf den amerikanischen Walfischjägern die Hälfte der Matrosen — die aber gewöhnlich gar keine wirklichen Matrosen sind — vom Harpunier oder vom verantwortlichen Steuermann totgeprügelt werden. Nicht nur halb tot, sondern ganz tot. Nur um dieses einzige Manöver einzudrillen. So einfach zu beschreiben, und in Wirklichkeit fürchterlich.

Nun, wir waren von dem Eskimo zur Genüge eingedrillt worden. Wenn auch ohne Prügel.

Also nur ein kraftvolles Anholen, dann wurde in aller Gemütlichkeit gerudert. Während sich doch schon jede einzelne Muskel krampfartig anspannte.

Vorn neben der rasenden Rolle kauerte wie eine gelbe Katze der Eskimos, mit der einen Hand sie immer begießend, den schweren Schöpfeimer wie eine Tasse handhabend, in der anderen Faust sein langes, schweres Messer, um das Seil doch vielleicht noch zu kappen.

Denn wenn sich jetzt die Schnur verwickelte und der Walfisch ging gerade in die Tiefe, so waren wir verloren, wir wurden mit in die Tiefe gerissen.

Oder wir hätten dann doch wieder auftauchen können? Das Boot wäre doch ebenfalls in Stücke gerissen worden, wir wären doch gleich erschlagen worden.

In diesem Falle hätte die Leine doch noch gekappt werden müssen.

Aber noch rollte sie klar ab. Wie die Leine sonst stand, konnte ich nicht genau unterscheiden.

Da spritzte vor uns ein blutiger Strahl empor, der ganze Walfisch sprang hoch aus dem Wasser heraus und verschwand wieder.

Dadurch befanden wir uns wieder auf einem tobenden Meere, und jetzt durfte nicht mehr geschöpft werden, kein Mann war zu entbehren, keine Hand, wenn sie auch nur spielend den Riemen bewegte.

»Go on!«

Da erst legten meine Jungen los, dass sich die mehr als vier Meter langen Eschenstangen wie die Reitgerten bogen. Nur wenige Sekunden der verzweifeltsten Kraftanstrengung, dann ein furchtbarer Ruck, wir wurden von einer unwiderstehlichen Kraft vorwärtsgerissen, gleichzeitig aber flogen auch alle Riemen ins Boot und... Mister Tabak griff nach seiner Pfeife, schlug Feuer, brannte sie sich an.

Es war geglückt. Die abgerollte Leine war nicht gerissen, wir wurden geschleppt. Und keiner von den Ruderern hatte mit dem durch die Zugkraft herausgerissenen Riemen einem anderen den Schädel eingeschlagen. Denn das ist ja mit die Hauptsache dabei, die Riemen im gegebenen Moment aus dem Wasser zu bringen, ehe man sie seinen Nachbarn um die Ohren haut, wobei aber gewöhnlich der ganze Schädel in Trümmer geht. Wenigstens für uns war das mit eine Hauptsache. Auf den Walfischjägern, besonders auf den amerikanischen, ist dieses Schlussmanöver ganz Nebensache. Da zählt ein Menschenleben gar nichts. Wenn nur die Leine nicht gerissen ist.

Nun konnten wir gemütlich zusehen, wie wir geschleppt wurden. Wie lange wir in südwestlicher Richtung davongerast sind, weiß ich nicht, mir war schon vorher das Zeitmaß vollständig verloren gegangen.

Der Felsenberg hinter uns ragte kaum noch über dem Horizont empor, und von der Barkasse war nichts zu erblicken.

Wie lange die tolle Fahrt noch dauern würde? Nun, eben bis sich der Walfisch ausgeblutet hatte. Und wie lange das dauern würde, das wusste vorläufig nur Gott. Vielleicht konnten wir noch eine ganze Stunde lang warten.

Und wenn wir nun dann den Felsenberg völlig aus den Augen verloren hatten? Und wir in dieser Nussschale von Boot mitten auf dem Meere, wo es auch noch recht nach Sturm in der Atmosphäre lag?

Ja, wer solche Erwägungen anstellt, der muss eben hübsch zu Hause hinterm Ofen sitzen bleiben. Oder mindestens darf er nicht auf die Walfischjagd gehen. Das ist eben das Los, das jeden Walfischjäger jeden Tag erwartet, plötzlich mitten auf sturmgepeitschter See im einsamen Boote zu sein. Dazu hat man eben im Boote immer einige Fässer mit Trinkwasser und einige Kisten Proviant, wie auch wir, und dann muss man sich eben wieder nach seinem Schiffe zurückzufinden wissen, mit oder ohne erlegte Beute.

»Er lässt nach, das Seil wird schlapp!«, erklärte nach einiger Zeit der wie ein Schornstein qualmende Eskimo.

Im Osten tauchte ein Schiff auf, ein Dampfer, und als ob der sich verblutende Walfisch von dem seine Rettung erhoffe, so wandte er sich jetzt dieser Richtung zu.

Auf diese Weise näherten wir uns schnell dem Dampfer.

Aber noch ehe wir die Flagge unterscheiden kannten, sollte sich die Katastrophe ereignen, die der Jagd ein vorzeitiges Ende bereitete.

Vielleicht aller fünf Minuten hatte der Wal schon immer seinen Kopf zum Wasser herausgereckt, dann stets einen mächtigen Blutstrahl ausblasend, oder doch einen rotgefärbten Wasserstrahl.

So waren wieder einige Minuten vergangen, langsamer und langsamer wurde unsere Fahrt, jetzt konnten wir schon wieder zu den Riemen greifen. Kabat gedachte dem Ungeheuer noch eine vierte Harpune beim Auftauchen beizubringen.

Da aber sollte der Walfisch den Spieß umdrehen.

Wie es eigentlich geschah, weiß ich gar nicht. Plötzlich, ohne dass wir gemerkt hatten, dass die Leine ganz schlaff geworden wäre, tauchte neben dem Boote etwas mächtiges Schwarzes auf, ein furchtbarer Ruck von unten, und da flog ich auch schon nach oben durch die Luft, schlug einige Salti mortali, und dabei sah ich dennoch ganz deutlich, wie zwei andere Matrosen und Mister Tabak ebenfalls Salti mortali schlugen, letzterer noch die qualmende Fuhrmannspfeife zwischen den Zähnen.

Dann plauzte ich aus beträchtlicher Höhe ins Wasser hinein, und als ich wieder auftauchte, war mir natürlich nicht etwa humoristisch zumute. Ich selbst fühlte mich ja gänzlich unbeschädigt. Aber die anderen? Doch da kamen sie schon angeschwommen, einer nach dem anderen, bis wir alle Vierzehn wieder so hübsch beisammen waren, zwischen den Trümmern unseres Bootes, von dem nur das Vorderteil zu fehlen schien, das war eben mit dem Walfisch davongegangen. Und dass dieser, nachdem er uns mit dem Schwanze in die Luft geschlagen, gleich weiter gegangen war, das war noch unser größtes Glück.

»Ist jemand verwundet?«

Nein, kein einziger. Es war wirklich fast ein Wunder zu nennen, dass niemand auch nur einen Hautriss davongetragen hatte.

»Na, Kinder — wenn wir ooch nischt hamm, sein wir doch beisamm!«, konnte ich da schon wieder scherzen.

Ein weiteres Glück für uns war ja freilich, dass dort auch gerade noch ein Dampfer kam, der unser Malheur unbedingt gesehen haben musste. Denn von dem Felsenberg war jetzt so wenig noch zu sehen wie von der Barkasse. Die hatte uns eben trotz ihrer 16 Knoten Fahrt aus den Augen verloren, oder der Motor hatte wieder einmal versagt. Also wir wären sonst in einer höchst üblen Lage gewesen, denn stundenlang und meilenweit zu schwimmen, darauf waren wir denn doch nicht geeicht, und wenn das Meer auch nicht überall von Haifischen wimmelt, sie hätten uns doch hier ausspionieren können.

Der Dampfer kam näher. Es war ein englischer. Da galt es erst, eine Beratung abzuhalten, und wir versammelten uns in engerem Kreise, konnten uns dazu ja an den Bootstrümmern festhalten. Ich nahm das Wort.

»Dass wir von der ›Argos‹ sind, können wir natürlich nicht leugnen, wir werden vielleicht gleich erkannt, aber das Geheimnis muss gewahrt werden. Unser Schiff kreuzte in der Nähe des Seelandfelsens, als wir uns zur Jagd aufmachten. Die Barkasse war hinter uns her. Der Dampfer soll uns nach dem Felsen zurückbringen. Dort werden wir die Barkasse schon sichten, vielleicht mischt sich auch die Schwester Anna wieder ein. Dann gehen wir eben in die Barkasse und geben dem Dampfer mit bestem Danke den Laufpass. Die »Argos« hält sich eben hinter dem Felsen. Lange suchen wird der Frachtdampfer nicht nach ihr, so einer hat doch niemals Zeit zu verlieren. Oder wir lassen uns nach dem nächsten Hafen bringen.«

So sprach ich, und es war ja einfach genug.

*

64. Kapitel

In den Händen von Seelenverkäufern

Originalseiten 1596 — 1611

Es war der Dampfer »Persepolis« aus North-Shields, der uns auffischte. Persönlich kennen tat uns niemand, aber bekannt waren die Argonauten schon genug.

Ich berichtete, Kapitän Jeffers war ein netter Mensch, aber zurückbringen konnte er uns nicht.

»Ich kann beim besten Willen nicht. Ich habe in Callao telegrafische Order nach Wellington erhalten, habe schlechte Fahrt gehabt, bin schon vier Tage überfällig.

Nein, auch die Chataminseln kann ich nicht anlaufen. Sie müssen mit nach Wellington.«

Gut, so gingen wir mit nach Wellington. Am dritten Tage erreichten wir die Hauptstadt von Neu-Seeland. Schon am anderen Tage war eine Dampfergelegenheit nach den Chataminseln, sie seien auch das Ziel der »Argos«. Dieses Märlein musste ich wohl oder übel auftischen.

Nach den Chataminseln wollten wir auch wirklich, uns dort aber ein Segelboot nehmen, um nach dem Seelandfelsen zurückzukehren. Bis dorthin war es dann ja nur noch ein Katzensprung.

Ich hatte genau 20 Pfund Sterling bei mir, was die anderen zufällig in den Hosentaschen bei sich gehabt, war nicht der Rede wert — Kapitän Jeffers lieh mir auf das Konto unserer reichen Reederin oder überhaupt gleich mir weitere 50 Pfund, und das genügte vollkommen.

Mittags waren wir angekommen, im Laufe des Nachmittags besichtigten wir die Stadt von 50 000 Einwohnern, besonders der botanische Garten ist höchst sehenswert. Nur den halbnackten Eskimo hatte ich neu equipieren müssen, sonst hatten nur noch einige meiner Jungen Mützen bekommen. Am Abend gingen wir in eines der vier Theater, ich schon die Fahrkarten für den Dampfer in der Tasche, Betten in einem mittleren Hotel hatten wir auch schon belegt, nach dem Theater ging es aber natürlich, erst noch einmal in eine Bar, wo es etwas Klimbim gab.

Wie wir gegen Mitternacht schon bald aufbrechen wollen, gehe ich noch einmal in den Hof, allein, peile in der Stockfinsternis nach einer roten Laterne — da bekomme ich von hinten einen furchtbaren Schlag über den Kopf, dass mir das Feuer aus den Augen spritzt.

»Das war ein Gummiknüppel — das ist das erste Mal, dass mir so etwas passiert.«

So deute ich noch ganz ruhig, dann aber war's mit dem Denken vorbei.

Wie ich wieder zu mir kam, umgab mich völlige Finsternis, ich fühlte mich an Händen und Füßen schmerzhaft gebunden, und außerdem hatte ich noch einen tüchtigen Knebel im Munde, einen Lappen, der nach Schmieröl schmeckte, und dann herrschte Teergeruch.

Meine Gemütsstimmung lässt sich denken.

»Du bist gepresst worden, bist schon im Raume eines amerikanischen Walfischjägers!«

Das war mein erster Gedanke, der in meinem schrecklich schmerzenden Kopfe entstand.

Ich hatte ja schon immer gewusst, dass die amerikanischen Walfischjäger Leute mit Gewalt pressen, in jedem Hafen, wo sie anlegen, probieren sie es, so wie auch speziell in New York die Austernfischer, aber dass mir einmal so etwas passieren könnte, daran hatte ich niemals gedacht.

Ich wäre auch jetzt nicht gleich auf diese Idee gekommen, hätte nur an eine einfache Beraubung geglaubt, wenn nicht das Walfischabenteuer vorausgegangen wäre und wenn nicht in Wellington gleich zwei amerikanische Walfischjäger gelegen hätten.

Nun aber war meine Überzeugung auch felsenfest: Du bist solchen verfluchten Trankochern in die Hände gefallen, man hat Dich gepresst!

Dazu kam noch, dass ich ganz bestimmt wusste, in einem Schiffsraume zu liegen, das roch ich gleich und jetzt bemerkte ich zu meinem Schrecken, dass wir schon unterwegs waren, das Fahrzeug begann bereits zu schlingern und zu stampfen.

Ja, da kann man wohl erschrecken! An Bord solch eines Segelkastens schon unterwegs nach den antarktischen Gewässern, auf mindestens zwei Jahre hier festgenagelt, die fürchterlichste und schmutzigste Arbeit wie ein Sklave verrichten müssen! Denn wenn der Walfischjäger einmal volle Mannschaft hat, läuft er vor zwei Jahren nie wieder einen Hafen an. Die ganze Besatzung läuft ja gleich davon. Man kann sich aber auch auf vier Jahre gefasst machen.

»Meine einzige Hoffnung war die Schwester Anna, dass die mit ihrer Hellseherei...

Doch ich wollte mich solchen Hoffnungsgedanken lieber nicht hingeben, es war auch etwas Beschämendes für mich dabei.

Wie lange ich betäubt gewesen, wusste ich natürlich nicht, aber auch nicht, wie lange ich dann noch so vor mich hin gedöst hatte.

Ganz richtig kam ich erst wieder zur Besinnung, als in der Finsternis ein Licht auftauchte, eine brennende Lampe, die sich mir näherte.

In dem feuchten Dunste erkannte ich einen Mann, in einen orientalischen Kaftan gekleidet, freilich schmierig genug, und zwei ähnlich gekleidete Männer folgten ihm, in dem niedrigen Raume gebückt kriechend, auch den Gesichtszügen nach ganz waschechte orientalische Spitzbuben, Türken oder Araber oder mohammedanische Inder. Dafür hat unsereins doch gleich ein Auge.

Was, türkische oder arabische oder indische Walfischjäger?! Nee, die gibt es nicht! So wenig, wie es bei der ganzen Seefahrerei, glaube ich, keinen einzigen Juden gibt. Mir ist wenigstens innerhalb von fast 30 Jahren keiner vorgekommen.

Da aber ging mir wiederum eine Ahnung auf, und diesmal zweifellos die richtige!

Meine vorige Theorie mit den amerikanischen Walfischjägern war falsch gewesen! Ich war Seelenverkäufern in die Hände gefallen! »Seelenverkäufer« ist dem Seemann ein etwas weiter Begriff.

Seelenverkäufer heißen auch alle die Heuerbaase und Boarding-Masters, welche die Matrosen verheuern, und sie heißen ganz mit Recht so. Einen deutschen Schiffsjungen, der im Auslande einmal davonläuft, als Vollmatrosen auf einen Amerikaner zu verschachern, wo er natürlich so geprügelt wird, bis er aus Verzweiflung über Bord springt, ist ihnen eine Kleinigkeit.

Es gibt bei der christlichen Seefahrt auch noch andere Seelenverkäufer.

Dann besonders heißen Seelenverkäufer auch die orientalischen Agenten, welche indische und chinesische und auch polynesische Eingeborene, sogenannte Kulis, als Plantagenarbeiter nach aller Welt verschachern, wo man solche billige Arbeiter eben gebraucht, die man wirklich auch manchmal gar nicht entbehren kann.

Und in Wellington hatte solch ein Seelenverkäufer gelegen, hatte in einem Holzkasten von kaum 100 Tonnen mehr als 400 chinesische Kulis wie die Heringe eingepökelt gebracht, die auf einer neuen Teeplantage verwertet werden sollten. Ich brauchte die Gestalten nur zu sehen, da wusste ich es sofort, dass es solche Seelenverkäufer waren.

»How do you do? All right? Wenn sein artig, habben serr serr gut — wenn sein nix artig, machen bum bum.«

So oder ähnlich kauderwelschte der Kerl in einem kaum verständlichen Englisch, während er mir den Knebel aus dem Munde nahm.

Ich wurde an Armen und Füßen angepackt und davongetragen, oder erst geschleift, in einen höheren Raum hinein, in dem ebenfalls gerollte Segel lagen, nur dass hier noch in den Holzwänden starke Ketten mit Hand und Fußschellen eingelassen waren, und alsbald traf man Vorbereitungen, mich an solch einer Vorrichtung zu befestigen.

»Wer seid Ihr? Was habt Ihr mit mir vor? Wo bringt Ihr mich hin?!«

»Wenn sein artig, dann habben serr serr gut — wenn sein nix artig, dann machen bum bum!«, kauderwelschte der Kerl wieder, dabei mir mit einem dicken Knüppel unter der Nase herumfuchtelnd.

Da war gar nichts zu wollen. Ich war einfach ein Stück Vieh. Jede Frage war ganz zwecklos. Ebenso gut kann ein Ochse brüllen.

Die mir vorn gebundenen Hände wurden in Handschellen gelegt, dann erst löste man die Lederriemen, auch die der Füße, ohne diese in Eisen zu legen.

»Wenn sein artig, dann nix Füße fesseln — wenn sein nix artig, dann auch Füße fesseln und bum bum dazu. Trink.«

Aus einem Kruge wurde mir ein Becher eingeschenkt, es war ein süßer, feuriger Wein, der mir außerordentlich wohl tat.

Dann wurde ich am ganzen Körper mit Schwamm, Wasser und Seife gewaschen, wobei ich erst jetzt bemerkte, dass auch ich nur mit einem langen Kittel bekleidet war, alles andere hatte man mir genommen, auch Strümpfe und Schuhe.

Die Waschung mit nachfolgender sorgfältiger Trocknung geschah nur, um mich dann mit Branntwein und dann noch mit Öl einzureiben, den ganzen Körper, wie es bei diesen Orientalen eben Sitte ist, besondere Sorgfalt aber widmete man einigen abgeschürften Stellen an den Gelenken, wo die Lederriemen zu sehr geschnitten oder gerieben hatten, dort bekam ich auch Verbände angelegt, es wurde dafür gesorgt, dass die Handschellen mich nicht drückten.

Dann wurde ein Krug mit Wasser gefüllt, ein Bastkorb mit Weißbrot, Datteln, Feigen und getrocknetem Fleisch hingesetzt, und die drei Männer kletterten die Leiter hinauf, die Luke offen lassend, durch welche Tageslicht fiel.

So, nun konnte ich über mein Schicksal nachgrübeln. Na, das war einfach genug.

Die Seelenverkäufer hatten kurz vor der Abfahrt noch eine Gelegenheit erspäht, um noch ein recht gutes Geschäftchen zu machen, einen jungen, kräftigen, gutgewachsenen Menschen — ein Schlag über den Schädel, und er wurde mitgenommen, um als Sklave verkauft zu werden.

Als Sklave? Gibt es denn heutzutage noch Sklaverei?

Na, wer daran zweifelt, dass es heutzutage noch ganz regelrechte Sklaverei gibt, den will ich nicht erst darüber aufzuklären versuchen.

Für mich war das jedenfalls alles ganz klipp und klar. Und nun will ich das Weitere kurz machen, so lang mir die Zeit auch wurde.

Erst viel später habe ich es mir berechnen können, dass unsere Fahrt ungefähr acht Wochen währte.

Ich blieb angekettet, hatte aber genügend Bewegungsfreiheit und wurde aufs Beste verpflegt und behandelt. Aber ich war und blieb eben das angekettete Stück Vieh, nur nicht ein Ochse, sondern ein edles Rennpferd, das transportiert wird. Keine Frage wurde mir beantwortet, man hörte mich überhaupt gar nicht sprechen. Auch sonst gelang es mir nicht, das Ziel zu erfahren. Ich konnte mich nicht einmal orientieren, in welcher Richtung wir fuhren. Wohl war der Lukendeckel bei gutem Wetter immer geöffnet, aber das war zu wenig, als dass ich darauf den Kurs hätte bestimmen können.

So vergingen also acht Wochen. Freilich hatte ich damals eine viel längere Zeit eingeschätzt.

Über meine Stimmung will ich nicht weiter reden. Verzweifelt wurde ich jedenfalls niemals. Im Gegenteil, ich wurde immer mehr gespannt darauf, wo diese Reise denn noch enden würde, ob in Indien oder in Afrika. Mit Fluchtplänen gab ich mich nicht ab. Hier an Bord hatte das ja gar keinen Zweck.

Da, nach einer längeren Zeit schweren Unwetters, während welcher ich nur deshalb etwas trübsinnig gewesen war, weil wegen der Sturzseen die Luke immer geschlossen sein musste — aber man gab mir doch wenigstens eine Lampe, auch Tabak und Pfeife — hörte ich, wie der Anker fiel.

Wieder vergingen einige Stunden. Dann erschienen die üblichen beiden Männer, die mir das Frühstück brachten. Nur daraus wusste ich, dass ich eine Nacht hinter mir hatte und jetzt ein neuer Morgen angebrochen war. Denn wenn das Schiff so schlingerte wie jetzt, wo es auch noch vor dem Anker tat, benutzten sie nicht den Weg von oben durch die Luke, sondern kamen seitwärts durch ein Loch in diesen Raum gekrochen.

»Wo sind wir?«, ließ ich mich wieder einmal zu einer Frage verleiten.

Es hatte keinen Zweck, ich bekam keine Antwort. Das wertvolle Rennpferd hatte nur einmal gewiehert, für den Menschen unverständlich.

Ich frühstückte, ausgezeichnet wie immer. Das Schiff beruhigte sich nach und nach vor dem Anker.

Dann kam in Begleitung meiner beiden Gefängniswärter der Mann, den ich bereits den Hakim nannte, den Arzt. Als ich einmal eine Krankheit erheuchelt, hatte er mich ganz sachgemäß behandelt. Heute wurde ich wieder einmal gewaschen und rasiert, was aller drei Tage geschah, mit Branntwein eingerieben und gesalbt, und mir fiel auf, dass dies heute mit außergewöhnlicher Sorgfalt geschah, auch das Haar wurde mir geschnitten, zum zweiten Male während der Reise.

Es wurde Mittag, ich bekam mein Mittagsessen, und zwar mein Leibfutter, dessen ich nie überdrüssig werden kann: Curry mit Reis. Das hatte es allerdings wie auf allen orientalischen Schiffen fast täglich gegeben, heute aber gab es dazu in Würfel geschnittenes frisches Hammelfleisch! Und dann folgte als zweiter Gang ein gebratenes Huhn!

Das ließ tief blicken. Wir waren nicht aus Not an einer x-beliebigen Stelle vor Anker gegangen, sondern wir lagen an einer bewohnten Küste. Von Ankunft oder Abfahrt eines Bootes hatte ich freilich nichts bemerkt. Wusste ich doch noch nicht einmal, wie groß dieses Fahrzeug, wie stark seine Bemannung war, und ob ich noch Leidensgefährten hatte.

Die Luke blieb jetzt offen, ich sah den blauen Himmel, weiter nichts.

Kaum aber hatte ich das delikate Brathuhn verzehrt, als ich doch merkte, dass jetzt ein Boot angekommen sein müsse, ich hörte solche Geräusche. Die Leute schwatzten ja genug, aber ich war mir noch nicht klar darüber geworden, ob sie türkisch oder arabisch oder hindustanisch sprachen. Ich kannte diese Sprachen eben nicht. Nur chinesische Laute waren nicht darunter, die wären mir aufgefallen.

Da kletterte die steile Leiter der Mann herab, der sicher der Kapitän war, ihm folgte der Hakim, diesem ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, ebenfalls orientalisch, aber besser gekleidet, mehr »nach Land«.

Und der Handel begann. Das Handelsobjekt war ich. Ich musste mich präsentieren, wie mich Gott geschaffen hatte, danach war schon mein Kaftan eingerichtet, dass er trotz meiner Fesseln abgestreift werden konnte. Kapitän und Hakim priesen meine Vorzüge mit überschwänglichen Worten, nur schade, dass ich davon nichts verstand, und der Fremde griff mir sachgemäß in alle meine Fleischteile, ich musste ihm auch die Zähne zeigen, wie man eben auch einem Pferde ins Maul guckt. Nebenbei bemerkt: ich war angehalten worden, mir nach jeder Mahlzeit die Zähne zu reinigen, hatte dazu einen steifborstigen Pinsel bekommen, und der Hakim selbst hatte aller drei Tage sogar meine Fußnägel poliert. Ich war in den acht Wochen ein bildschöner Kerl geworden, der reine Adonis, und heute duftete ich wieder einmal nach allen Wohlgerüchen des Orients.

Der Handel dauerte wenigstens zwei Stunden. So lange schnatterten die drei ununterbrochen gleichzeitig, ich wurde immer wieder betastet und gekitzelt, immer wieder musste ich alle möglichen Stellungen einnehmen, um meine Körperformen ins beste Licht zu bringen, und ich tat alles willig. Was hätte ich denn auch anders tun sollen. Jetzt nach acht Wochen alles noch verderben? Und ich war wirklich gespannt, was da noch kommen würde, ich befand mich sogar in humoristischer Stimmung. Nur dass ich etwa als Eunuche in einen Harem käme, davor hatte ich ein bisschen Angst.

Endlich wurden sie handelseinig, der Fremde hatte mich gekauft, das merkte ich ganz deutlich. Wie viel ich wert war, das sollte ich erst später erfahren. Da war ich allerdings schon hoch im Preise gestiegen, das war doch hier der Verkauf aus erster Hand.

Zunächst gingen die drei wieder, ich bekam noch einmal mein Vesper, der Abend brach an.

Da kam der Fremde wieder, wurde nur vom Kapitän geleitet, brachte selbst zwei bis auf den Schurz nackte Neger mit, kräftige Burschen.

Ich wurde kostümiert, bekam derbe Schuhe an, eine Lederhose, die zwischen den Beinen wie ein Sack herabhing, sodass ich nur kleine Schritte machen, unmöglich rennen konnte, und ähnlich war die Jacke aus starker, aber schmiegsamer Leinwand beschaffen, eine Zwangsjacke. Aber nur die Oberärmel waren fest, sodass ich nur die Unterärmel bewegen konnte, die Hände bis zum Mund heben, und da kann man ja nicht viel machen. Ich konnte jemanden packen, ihn aber nicht boxen, ihn nicht treten.

In dieser Verfassung musste ich hinauf klettern, betrat zum ersten Male das Deck des Fahrzeuges, einer zweimastigen Brigg.

Der Vollmond stand schon hoch, beschien eine Bucht, in deren Mitte wir lagen, und eine Küste, wohl sandig, aber schön bestanden mit Palmen, sowohl Kokos- als Datteln- und anderen Palmen, so weit ich das aus der ziemlichen Entfernung erkennen konnte, und dann eine Kolonie von weißen Steinhäusern.

Wo befand ich mich? Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte ebenso gut in Indien wie in Afrika sein, oder auch in Amerika, sogar in Europa, etwa an der mazedonischen Küste. Oder auch in Australien.

Diese Küstenbeschaffenheit sagte mir absolut nichts, höchstens durch die Palmen, dass es eine sehr warme Gegend war. Das war aber auch alles. Das orientalische Element ist durch seinen intensiven Handel über die ganze Erde verbreitet, in Europa wenigstens in den Balkanländern. Bei Para zum Beispiel hatte ich eine Küstengegend gesehen, in der sich die indisch-arabische Kolonie angesiedelt hatte, und da hatte es ganz genau so ausgesehen wie hier, auch nur solche orientalische Fahrzeuge und Prauen mit eigenartigen Segeln hatten dort gelegen, kein einziges moderneuropäisches Fahrzeug. Und dasselbe kann man in vielen Gegenden Australiens finden. Dort sind die Chinesen und indische Kulis schon massenhaft eingewandert, die ziehen den ganzen orientalischen Handel nach sich, das verwischt den ursprünglichen Charakter einer Landschaft vollkommen.

Und wir waren acht Wochen lang gesegelt, ich schätzte die Zeit aber lieber auf ein Vierteljahr, und ich wusste nicht wohin und wie schnell, und in einem Vierteljahr konnte auch diese Brigg recht gut bis nach Südamerika kommen, unter Umständen sogar bis nach der Türkei hinauf.

Kurz und gut, ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich mich auf dem Erdballe befand. Nur nicht in der nördlichen oder südlichen kalten Zone, das sagte mir die Palmenvegetation. Aber nicht in einer gemäßigten Zone, das wäre schon wieder zu viel gesagt. Die Levantenküsten Italiens und Frankreichs — die Riviera — haben doch schon ganz tropischen Afrikacharakter. Wenn dort auch die Dattel nicht reift. Aber ob dort jene Palme reife Datteln hervorbrachten, das wusste ich ja noch gar nicht.

Ich musste in ein Boot steigen, das von zwei Negern stehend vorwärts gerudert wurde, mein Herr nahm als Passagier neben mir Platz. Es ging dem Lande zu.

»Speak english?«, begann ich.

»Kul.«

Das war weder Türkisch noch Arabisch noch Hindustanisch, weder Ja noch Nein, das wenigstens weiß doch unsereins.

»Parlez-vous français?«

»Kul.«

»Parla italiano?«

»Kul.«

Ich gab es auf, zu erfahren, was das für ein Land war. Wir landeten an einem niedrigen Kai, mein Herr winkte, ich ging neben ihm, die beiden Neger folgten uns.

Wir ließen die Häuseransiedlung rechts liegen, schritten einem der einzelstehenden Häuser zu, alle in maurischer Bauart gehalten, woraus ich aber noch auf gar nichts schließen konnte. Eben orientalisch.

Unterwegs begegneten uns einige Männer, alle orientalisch gekleidet, meist in weißen oder braunen Kaftanen oder Burnussen wie die Araber, aber einen arabischen Eindruck machten sie mir eigentlich nicht. Die Araber kennt man doch, und sie sind in Afrika wie in Asien ganz dieselben. Es war immer ein besonderer Gesichtsausdruck vorhanden, den ich nicht weiter definieren kann, und dann vor allen Dingen fielen mir die langen, schwarzen Locken auf, welche sie sämtlich trugen, was man bei den Arabern niemals findet. Die scheren oder rasieren sich den Schädel vielmehr ganz kahl oder lassen nur einen Stutz stehen.

Wir hatten das Haus erreicht, betraten einen von einer Öllampe erleuchteten Parterreraum, der fast ganz von einer Pritsche ausgefüllt wurde, auf der sieben Menschen lagen, lauter Neger, alle den Hals in einer doppelten Querleiste, also im Sklavenjoch, was nun ganz gefährlich aussah.

Ich wurde bedeutet, auf der Pritsche an einer noch freien Stelle Platz zu nehmen, schon wurde dort der obere Teil der hölzernen, aber mit eisernen Bändern versehenen Querleiste aufgeklappt.

Ja, was blieb mir anderes übrig, als der wirklich freundlich gegebenen Einladung nachzukommen?

Ganz abgesehen davon, dass hinter mir die zwei baumstarken Neger standen und dass dort in den Ecken auch noch zwei mit Dolchen und Pistolen gespickte Wächter lauerten, machte schon meine Zwangskleidung jeden Widerstand einfach ganz unmöglich. Ausschreiten konnte ich wohl, aber sonst das Knie nicht einmal so weit erheben, um einem Menschen einen Kniestoß in den Bauch zu geben, und so ohnmächtig waren auch meine Hände, von den Armen gar nicht zu sprechen.

Und überhaupt, ich dachte vorläufig noch gar nicht an Flucht und Gegenwehr, es wäre auch wirklich sinnlos gewesen.

Also ich kletterte hinauf, streckte mich aus, mein Hals wurde eingespannt.

Da merkte ich sofort, dass die Sache gar nicht so schlimm war. Von einem Folterblock gar keine Spur. Die Höhlung in dem unteren Balken war weich gepolstert, mit der oberen, ebenfalls etwas hohlen Leiste kam der Hals überhaupt gar nicht in Berührung, dazu nun noch ein hohes Kopfkissen — so lag man sanft wie in Abrahams Schoß, ganz bequem, konnte sich drehen und strecken. Nur nicht sich befreien, den Hals nicht herausziehen, das war bei dieser ebenso sinnreichen wie einfachen Einrichtung gänzlich ausgeschlossen.

»Toilul!«

Oder so ähnlich erklang es, wobei mir ein Schlauch in den Mund gesteckt wurde, der in einem hinter dem Kopfe stehenden Kruge endete, und solchen Krug hatte ein jeder hinter sich. Er enthielt Wasser, der Schlauch wirkte als Heber, man konnte ihn sich selbst in den Mund stecken, bis an diesen reichten ja die Hände gerade.

Dann bekam ich noch ein Weißbrot, einen Klumpen Datteln, eine gute Portion Feigen und eine große Weintraube auf die Brust gelegt, und mein Herr und die beiden Neger gingen, die zwei Wächter, ebenfalls schwarze, blieben.


Illustration

Der gefangene Waffenmeister musste in ein Boot
steigen, das von zwei Negern stehend gerudert wurde,
während Georgs neuer Herr neben ihm Platz nahm.


*

65. Kapitel

In einem rätselhaften Lande

Originalseiten 1611 — 1628

Ich will meine Gedanken nicht schildern. Nur das will ich sagen, dass es durchaus nicht traurige waren. Ganz im Gegenteil. Einmal ganz regelrecht den Sklaven spielen — recht so! Und dass ich über kurz oder lang meine Freiheit wiedererlangte, entweder durch meine Argonauten, durch Schwester Anna auf meine Spur gebracht, oder durch eigene Kraft und List, davon war ich ja nun felsenfest überzeugt.

Überhaupt, ich hatte doch wirklich nichts zu klagen. Ja, ich war förmlich gerührt ob dieser ausgezeichneten Behandlung, die man hier einem Sklaven, den man ins Joch spannte, zuteil werden ließ.

Das Weizenbrot, ungefähr ein Pfund, war frischbacken, knusprig, der reine Kuchen. Die Datteln waren köstlich. Und nun gar erst die Feigen. Nicht etwa solche Kranzfeigen, solch billiger Ausschuss, sondern auserlesene Smyrnafeigen, von denen bei uns das Pfund zwei Mark kostet. Und nun schließlich gar die Weintraube! Sie enthielt nur anderthalb Dutzend Beeren, aber jede so groß wie eine Eierpflaume, vom köstlichsten Geschmack! Das musste wohl ein Endchen von so einer Traube sein, wie sie die beiden jüdischen Kundschafter aus dem gelobten Lande auf beiden Achseln angeschleppt brachten. Wenn man übrigens die Weintraubenkulturen bei Damaskus und besonders in der ägyptischen Oase Fayum gesehen hat, hält man so etwas recht wohl für möglich. Kolossale Trauben!

Also ich schnabulierte mit gewöhnlichem Appetit, war wirklich ganz gerührt.

»Parlez-vous français?«, erklang es da neben mir.

Ich wendete den Kopf, blickte in ein wohl tiefbraunes Gesicht, das aber doch mehr ein europäisches war.

Es war, will ich gleich sagen, ein Italiener, der Französisch nicht ganz perfekt, aber doch besser sprach als ich das Italienische.

»Oui Monsieur. Wo sind wir hier?«

»In Schohar.«

»Schohar? Wo liegt das?«

»In Maskat, in Oman — 20 Meilen oberhalb der Stadt Maskat.«

Es war ausgesprochen. Nun wusste ich, wo ich mich befand.

In einem Lande, das meiner Ansicht nach das geheimnisvollste, das rätselhafteste der ganzen Erde ist, das Mexiko der Zukunft. —

Bitte, lieber Leser, gestatte mir eine kleine Einschaltung, auch wenn sie nicht direkt zur Sache gehört.

Ich war kürzlich in so einer okkultistisch-theosophischen Gesellschaft. Diese Leute sind — wie ich auch — überzeugt, dass in der Welt überhaupt nichts stirbt, so etwas wie einen Tod gibt es gar nicht, das heißt wie eine Vernichtung. Es ist ein ewiger Kreislauf. Und das gilt für das ganze Weltall mit seinen zahllosen Sonnensystemen wie auch für das einzelne Individuum, es gilt für den Wurm wie für das Molekül und das Atom, das gilt aber auch in geistiger Hinsicht, für das einmal gesprochene Wort wie für den nur gedachten Gedanken.

Was einmal ist, das ist schon immer gewesen und wird immer wiederkommen, für unsere Augen und Gedankenkraft nur immer in anderer Anschauungsweise. Das Verschwinden und Wiederkommen ist nur ein scheinbares, für uns allerdings ein reelles, und die Zwischenperioden bilden Zeitwellen, die man berechnen kann.

Also, führte nun der Vortragende in jener Gesellschaft aus, da auf unserem Planeten einmal neue Erdteile entdeckt wurden, Amerika und Australien, von denen die damalige Menschheit noch gar nichts wusste, so muss auch die Zeit wiederkommen, da die Menschheit auf diesem Planeten immer noch neue Erdteile entdeckt, von denen wir uns jetzt noch gar nichts träumen lassen.

Auf dieser Erde soll die jetzige Menschengeneration noch neue Weltteile entdecken?!

Wie soll denn das möglich sein?!

Und dabei ist nicht etwa an den Nordpol und Südpol zu denken, sondern um solche neue Erdteile wie Amerika und Australien soll es sich handeln.

James O'Donnell, ein amerikanischer Seher mit prophetischem Geiste, will dieses Problem gelöst haben, durch Schauen in die Zukunft.

Er behauptet, dass die ganze Theorie mit dem feurigflüssigen Kern der Erde eine falsche ist, dass die Erde nur innerhalb ihrer festen Rinde mehrere Zentralfeuer hat, oder dass die ganze Eigenwärme der Erde überhaupt eine ganz andere Ursache hat, dass sonst die Erde eine Hohlkugel ist, die noch eine andere Vollkugel enthält, beschienen von dem aufgesaugten Sonnenlicht, das durch die erste Außenrinde diffusiert — was O'Donnell sogar physikalisch-mathematisch berechnet — umgeben von einer für uns atembaren Atmosphäre, und diese Innenerde gilt es nun von uns zu entdecken und zu besiedeln.

So weit jener amerikanische Seher.

Ist das Wahnsinn?

Ich überlasse dem Leser, darüber zu urteilen.

Nur möchte ich darauf aufmerksam machen, dass das phantastische Projekt des Kolumbus, Indien westwärts auf dem Seewege zu erreichen, damals von der ganzen gelehrten Welt für hellen Wahnsinn erklärt worden, schon deshalb, weil natürlich doch die Schiffe am Rande der Erde ins Bodenlose hineinpurzeln mussten.

Schließlich füge ich noch hinzu, dass dieser selbe James O'Donnell auch die letzten drei großen Kriege viele Jahre vorher prophezeit hat, ferner die letzte Entdeckung eines Saturnmondes.

Genug hiervon.

Ich wollte hier etwas anderes sagen, das war nur eine Einleitung dazu, um zu zeigen, dass die menschliche Phantasie überhaupt gar keine Schranken hat, und was die Phantasie erdichtet, soll, nach okkultistischer Anschauung, auch verwirklichbar sein, indem die menschliche Phantasie ja erst ein Produkt der Schöpfungskraft ist. Was nicht ausführbar ist, ist auch nicht denkbar. Man muss nur intensiv denken und kräftig die Erfüllung wünschen, dann verwirklicht es sich auch. Hätte niemand daran gedacht und gewünscht, dass der Mensch noch einmal fliegen könnte, so hätten wir heute noch kein Luftschiff und keinen Aeroplan — für die Menschen noch vor hundert Jahren eine märchenhafte Phantasie. —

Wenn sich nun alle Ereignisse wiederholen sollen; so müsste man doch auch noch einmal ein neues Peru oder Mexiko entdecken und erobern, nicht nur unermessliche Schätze enthaltend, sondern auch eine Bewohnerschaft mit einer hochentwickelten Kultur, wenn diese auch ganz verschieden ist von der unsrigen.

Und das ist allerdings etwas, was ich sehr wohl für möglich halte, solch eine Entdeckung und Eroberung eines neuen Mexikos mit uralter Kultur und unermesslichen Schätzen an Gold und Edelsteinen, die für einige Zeit alles schon vorhandene Gold und dergleichen entwerten.

Das ist das heute noch selbständige Sultanat Oman, nach seiner Hauptstadt auch Maskat genannt, den Südostzipfel Arabiens bildend, mit einer Küstenlänge von 80 geografischen Meilen und 30 Meilen Breite.

Dieses Oman oder Maskat ist für mich das rätselhafteste Land der Erde.

Schon deshalb, weil alle Reiseberichte über dieses Land fehlen. Obgleich jeder Fremde, auch der europäische Christ, von den Bewohnern ganz freundlich aufgenommen wird, man führt ihn überall herum. Aber das, was er sehen möchte, bekommt er nicht zu sehen. Noch kein einziger hat über dieses Maskat etwas Genaueres berichten können. Im Konversationslexikon ist doch bei jedem Artikel, wo es nötig ist, die betreffende Literatur angeführt, in der man sich näher orientieren kann. Ja, dieses Maskat ist ganz ausführlich beschrieben, wir wissen genau, wie es in den Oasen aussieht, aber hier fehlt einmal eine Literaturausgabe gänzlich. Es gibt über dieses Maskat noch kein einziges Werk. Man muss die ganze Sache kennen, um das zu würdigen zu wissen.

Und was für eine Rolle nun hat dieses Maskat in der Weltgeschichte und ganz besonders im Welthandel gespielt!

Seit mehr als zweitausend Jahren ist der gesamte Handel Persiens und Indiens ausschließlich über Maskat gegangen. Das war das Monopol seiner Sultans, schon durch die Macht ihrer Flotten, welche den ganzen indischen Ozean beherrschten, und auch die ganze Küste Persiens gehörte diesen Sultanen.

Die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien, als Portugiesen, Franzosen, Holländier und Engländer an diesem Handel konkurrierten, änderte daran nur sehr wenig. Hauptsächlich waren es immer noch die Mittelmeerländer, welche die indischen und persischen Waren, das Gold, die Edelsteine, die Spezereien, besonders die Tücher und Webereien so heiß begehrten — man denke nur an Venedig unter Marco Polo! — und das alles, jährlich Waren im Werte von Milliarden, ging ausschließlich über Maskat.

Das änderte sich erst mit der Eröffnung des Suezkanals also in der Mitte des 19. Jahrhunderts, da erst begann Maskat in die Nacht der Vergessenheit zu sinken.

Unermesslich aber müssen die Summen sein, welches Maskat in den vielen Jahrhunderten an diesem Zwischenhandel verdient hat.

Wo sind diese Summen in gemünztem Gelde und in Gold- und Silberbarren geblieben?

Man weiß es nicht.

Schon die alten Perser nannten dieses Land »Töpislatan«, das ist »das schluckende Land«, und so heißt es dort noch heute. Maskat hat in den Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden immer nur geschluckt, aber niemals wieder etwas herausgegeben.

Und das ist dort ebenfalls heute noch so.

Dass Sultanat Maskat, das etwa eine halbe Million Einwohner hat, braucht nur etwas Reiszufuhr, alles andere erzeugt es sich im Überflusse selbst, hat die andere Welt gar nicht nötig. Dafür werden Datteln im achtfachen Werte des Reises ausgeführt, aber auch nur die allergeringste Sorte. Alles, was gut ist, essen und behalten die Maskaten selbst, sie geben der anderen Welt nur das schlechteste Futter.

An der Küste Maskats sind die reichsten Perlmuschelbänke der Erde, dort werden die schönsten Perlen gefunden. Die Ausbeutung ist wiederum ein Monopol des Sultans. Der Ertrag wird jährlich auf achtzehn Millionen Mark geschätzt, und da können die Perlenbänke bei Ceylon nicht etwa mitmachen, und dann ist dabei noch zu bedenken, dass das Angaben der Maskaten selbst sind, die doch sicher nicht die Wahrheit sagen, vielleicht nur den vierten Teil des Betrages nennen, oder es wären doch keine Orientalen.

Und von diesen Perlen kommt keine einzige in den Handel!

Wo sie bleiben, das weiß man nicht.

Töpislatan — das Land verschluckt sie.

Bei dem Sultan sieht man nichts von Perlen und anderen Schätzen. Das ist ein ganz einfacher Mann, er lebt bescheiden in einem ganz einfachen Hause, so wie alle diese Maskaten leben, ob sie nun Beduinen oder Fischer oder Handwerker sind.

Die haben eben die echte Lebensweisheit entdeckt. Die leben ganz bescheiden, arbeiten nur, wenn es ihnen gerade Spaß macht, essen aber nur das Beste, was ihnen ihr Land liefert, nur der größte Schund, mit dessen Menge sie nichts mehr anzufangen wissen, wird verkauft. Auch den besten Kaffee haben sie, dort gibt es noch den echten Mokka. Aber den trinken sie selber, keine Bohne kommt aus dem Lande heraus.

England weiß, was Maskat zu bedeuten hat, was dieses »schluckende Land« für Schätze enthalten muss, die man nur aufzufinden und abzuholen braucht.

Alle die der Küste vorgelagerten Inselchen sind englischer Besitz, sind von den Engländern befestigt worden.

Natürlich nur, um dem Sultanat von Maskat ihren »Schutz angedeihen zu lassen«.

Nun, die Maskaten mit deren Seeherrlichkeit es nun doch einmal vorüber ist, haben diese wasserlosen Felseneilande den Engländern ruhig überlassen, sind mit deren Schutzherrschaft ganz zufrieden.

Anderseits freilich lachen sie die Engländer aus, lachen uns alle aus.

Sie sagen es dem Fremden ja auch ganz offen.

»Was wollt Ihr uns denn anhaben? Wir ziehen uns einfach in die Wüste zurück und vergiften hinter uns die Brunnen.«

Ja, das ist es! Diesen Wüsten- und Oasenbewohnern ist absolut nichts zu wollen.

In ganz Oman gibt es kein einziges Flüsschen, dagegen Brunnen massenhaft, die aus dem Gebirge gespeist werden.

Und wenn diese Brunnen nun vergiftet werden, was will man denn da machen? Auf solche Entfernungen lässt sich den durch die Wüste marschierenden Soldaten kein Wasser nachschaffen. Dabei braucht man auch gar nicht an Arsenik und dergleichen Gift zu denken, obwohl darin diese Orientalen sehr wohl bewandert sind, besonders in Pflanzengiften, die wir noch gar nicht kennen.

Es genügt ja schon, in jedem Brunnen nur einen Kadaver zu versenken. Da bricht sofort die Ruhr und Cholera aus, die wenigsten werden sich nach der Küste zurückschleppen können.

Diese Eingeborenen aber werden immer schon Wasser zu finden wissen.

Ja, England weiß, was in diesem Maskat an Schätzen aufgestapelt ist und wartet nur auf eine Gelegenheit, um sie doch einmal abholen zu können aus diesem Mexiko der Zukunft, wenn das weltbeherrschende England bis dahin nicht von einer anderen Macht abgelöst worden ist.

*

»Wie sind Sie hier in die Gefangenschaft geraten?«

Philippo, wie der Italiener hieß, berichtete. Er war Hafenarbeiter in Suez gewesen, hatte eines Sonntags, erst vor zwei Wochen, mit einem Kameraden eine Segelpartie gemacht, Wind und Strömung hatten sie zu weit ins offene Meer hinausgetrieben, sie waren von einem arabischen Segler aufgefischt worden und einfach als Sklaven hierher verkauft worden.

Sein Kamerad war gleich am zweiten Tage mit einer Sklavenkarawane ins Innere abmarschiert, Philippo lag hier schon seit acht Tagen. Es wurde gewartet, bis eine zweite Sklavenkarawane voll war. Allerdings brauchte er nicht immer hier auf der Pritsche zu liegen, am Tage konnten sich die Gefangenen in einem ummauerten Hofe frei bewegen, nur während der Nacht kamen sie in den bequemen Halsblock.

»Wer nicht wie ich Frau und Kinder hat, der kann sich eigentlich glücklich preisen, bei den Maskaten Sklave zu werden!«, schloss er seufzend.

»Haben die es so gut?«

»Sehr, sehr gut, sie brauchen kaum zu arbeiten, werden wie die eigenen Kinder behandelt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe schon einmal in Maskat gearbeitet, in der Stadt. Da kam eines Tages ein Landsmann von mir an, der war Sklave im Innern gewesen und konnte davon erzählen. Aber nicht lange. Noch an demselben Tage wurde er von einer Steinplatte totgequetscht.«

»Was sprechen diese Leute für eine Sprache?«

»Banschanisch.«

»Was ist das?«

»Ein Gemisch von Persisch und Arabisch. Mehr ersteres als letzteres.«

Ach richtig! Jetzt konnte ich mir auch den Gesichtstypus mit den schwarzen Locken erklären, das war alles ganz persisch. Diese Vermischung stammt eben noch von den persischen Kolonien her.

»Die Baschanen sind nur an der Küste, drinnen im Lande wird reines Arabisch gesprochen!«, setzte der Italiener noch hinzu, und dann aus tiefster Brust seufzend:

»Ja, und dort aus dem Innern ist eine Flucht ganz unmöglich!«

»Weshalb denn?«

»Weil alle diese Maskaten Zauberer sind.«

»Zauberer?«

»Ganz mächtige Zauberer. Sie haben sich dem Teufel verschrieben, deshalb stehen ihnen höllische Geister zu Diensten, und die lassen keinen Sklaven entfliehen. Die bringen ihn sofort wieder zurück.«

Ich hatte es mit einem Italiener aus der untersten Volksklasse zu tun, und da weißt man doch, was man davon zu halten hat.

»Sie haben doch eben vorhin selbst gesagt, dass einem Landsmann von Ihnen die Flucht gelungen ist.«

»Weil er einen Talisman gestohlen hatte.«

»Gut, so werden wir auch solch einen Talisman stehlen.«

»Hat es ihm denn etwas genützt? Ist er denn weiter als bis nach Maskat gekommen? Wurde er dort nicht gleich am ersten Tage von einer Steinplatte totgedrückt, mit der er sonst gar nichts zu tun hatte? Die hat so ein höllischer Geist auf ihn geworfen. Nein, aus diesem Lande kommt keiner wieder lebendig heraus, den diese Zauberer einmal zu ihren Diensten gebrauchst haben. Nie, nie werde ich meine Frau und Kinder wiedersehen.«

Der Mann sprach noch weiter von der Teufelszauberei dieser Maskaten, er war von Aberglauben ganz durchseucht, ich wünschte ihm gute Nacht. Und entschlief sanft.

Als ich wie die anderen Schläfer geweckt wurde, konnte es, wie ich mich dann aus der Stellung des Mondes orientierte, erst gegen zwei Uhr nachts sein.

Jeder Mann erhielt eine große Schale schwarzen, süßen Kaffee, wie ich ihn, obgleich er gar nicht stark war, von solch köstlichem Aroma noch nie getrunken hatte.

Dann wurde gleich aufgebrochen. Wir blieben, wie wir waren, alle acht mit den Hälsen in dem doppelten Brette eingespannt, nur dass dieses natürlich von der Pritsche losgeschlossen wurde.

Wir waren so ziemlich alle von gleicher Größe, und außerdem merkte ich erst jetzt, dass jeder Mann sein eigenes Joch hatte, die einzelnen Teile waren durch einige Kettenglieder miteinander verbunden, sodass es nichts geschadet hätte, wenn ein großer Mann neben einem kleineren zu stehen kam, wenn der Unterschied nur nicht gar zu groß gewesen wäre, was bei uns eben nicht der Fall war.

An die Querjoche wurden noch einige Bündel gebunden, die wir also beim Marschieren zu tragen hatten, aber gar nicht von besonderem Gewicht, und fort ging es, in Begleitung von einem Dutzend bewaffneter Männer, zur Hälfte vor uns, zur Hälfte hinter uns, wie auch wir einer hinter dem anderen marschierten.

Als der Tag zu grauen begann, befanden wir uns noch immer zwischen Mais-, Weizen- und Baumwollenfeldern, deren außerordentliche Fruchtbarkeit — es war die Zeit der Reife — ich erst jetzt richtig erkannte, und ab und zu wundervolle Haine oder ganze Wälder von Mandel-, Orangen- und Feigenbäumen, wie vollends die Dattelpalme überall stand, auch mitten auf den Feldern.

Dann, als die Sonne aufging, kam eine sterile Wüstenregion, die in einer Stunde durchwandert wurde, wir erreichten eine herrliche Oase, und hier war schon Schluss der Tagesarbeit.

Und so wurde es vier Tage lang gehalten. Regelmäßig nachts um zwei wurde aufgebrochen und bis kurz nach Sonnenaufgang marschiert, bis sieben oder acht Uhr, erreichten wir dann eine Oase, bald nur ein kleines grünes Inselchen im gelben Wüstenmeer, bald von kaum übersehbarer Ausdehnung, immer von äußerster Fruchtbarkeit, mit ganzen Wäldern von den köstlichen Obstbäumen, und hier wurde den ganzen Tag im Schatten gelagert.

Es herrschte hier allerdings den ganzen Tag über auch immer eine fürchterliche Gluthitze, bis zu Mitternacht anhaltend. Ganz auffallend war es überhaupt, dass hier die Nächte gar nicht so kalt waren wie in den afrikanischen und auch asiatischen Wüsten, obgleich auch hier ein überreichlicher Tau fiel. Aber dieser war ganz warm. Das rührt in dieser Zone eben von den Seewinden her.


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Daher auch trotz der ungemeinen Trockenheit — im ganzen Jahre fällt hier kaum 100 Millimeter Regen, und der auch nur im März und April — die fabelhafte Fruchtbarkeit des Bodens, wo er nicht aus reinem Sand besteht.

So legten wir, wie ich mir ungefähr berechnen konnte, was dann auch ziemlich stimmte, täglich 20 Kilometer zurück. Der Charakter der Landschaft blieb immer derselbe. Im Grunde genommen war alles vegetationslose Wüstenregion, nur durch kleine und große Oasen unterbrochen, deren Bewohner, wenn ihnen nicht alles gleich in den Mund wuchs, Ackerbau und Viehzucht trieben. Allerdings sah ich nur wenige Kamele und Pferde, freilich sehr schöne Tiere, und viele Ziegen. Rinder und Schafe gab es nicht. Dann aber noch massenhaft Tauben und Hühner.

Letztere erhielten wir denn auch außer Brot und Früchten hauptsächlich gebraten vorgesetzt, manchmal auch Ziegenfleisch, wie wir überhaupt ganz ausgezeichnet verpflegt und ebenso behandelt wurden. Kein böses Wort bekamen wir zu hören. Es war ja allerdings auch kein Grund dazu vorhanden, aber immerhin, unseren Sklaventreibern war jede Roheit fremd. Die Oasenbewohner hatten nur Zelte, wir verbrachten jede Nacht im Freien, unter Bäumen lagernd, die schon genügend vor dem Taufall schützten, erhielten aber immer noch Kamelhaardecken. Nur dass wir dabei im Halsjoch bleiben mussten, was aber gar keine besondere Unbequemlichkeit war.

Jetzt beschäftigte ich mich natürlich schon mit Fluchtgedanken, das heißt ich merkte mir vorläufig gut den Weg, der immer nach Südwesten ging, hielt immer die Augen offen, merkte aber auch schon, wie schwer es einem Fremden werden würde, ungehindert durch dieses Land zu kommen, wenn er nicht genügenden Wasservorrat bei sich hatte.

Der Brunnen befand sich in jeder Oase immer in der Mitte, wo sich auch das ganze Leben konzentrierte, und wenn es auch gar keine Hunde zu geben schien, so musste es doch sehr schwer sein, sich unbemerkt heranzuschleichen, um seinen Durst zu löschen und den verbrauchten Wasservorrat zu ergänzen.

Am dritten Tage tauchte vor uns das Gebirge auf, welches in einer Entfernung von zehn geografischen Meilen die ganze Ostküste des Landes begleitet. Man weiß nur, dass es Erhebungen bis zu 3000 Metern hat, sonst ist es von unseren Geografen noch gänzlich unerforscht. Hinter ihm beginnt die eigentliche arabische Wüste.

Als wir am Morgen des vierten Tages nach bereits sechsstündiger Nachtwanderung wie immer Rast für den ganzen Tag machten, lag dieses Gebirge, jäh aus der Wüste emporsteigend, sozusagen in handgreiflicher Nähe vor uns, was freilich eben eine optische Täuschung war.

Philippo verstand die Sprache unserer Begleiter, er erlauschte vieles und berichtete mir oftmals darüber.

»Morgen wird ein schwerer Tag für uns«, erklärte er mir am Nachmittag in dieser Oase, »wir sind noch acht Stunden von dem Gebirge entfernt, treffen unterwegs auf keine Oase und auf keinen Wüstenbrunnen mehr, haben dann noch immer fünf Stunden in dem Gebirge zu marschieren, ehe wir an unser Ziel gelangen, müssen also einen bedeutenden Wasservorrat mit uns schleppen.«

»Und was für ein Ziel ist das?«, fragte ich.

»Eine Stadt, welche Arkuma heißt. Mehr habe ich nicht erfahren können. Unsere Treiber sprechen aber diesmal wirklich von einer Masr, von einer richtigen Stadt, nicht nur von einer Oase. Dort werden wir an unsere zukünftigen Herren verkauft.«

Diesmal wurden wir schon um Mitternacht geweckt, wir bekamen an unsere Joche ansehnliche Ziegenschläuche gehängt, mit Wasser gefüllt, in viel schnellerem Marsche, als sonst ging es in die nächtliche Wüste hinein, die sich erst jetzt von der Tagesglut etwas abzukühlen begann.

Man forderte einmal eine tüchtige Leistung von uns. Der Eilmarsch wurde sieben Stunden lang ununterbrochen angehalten. Als die Sonne sich über dem Horizonte erhob, in dieser Gegend und Jahreszeit eben gegen sieben Uhr, drangen wir in eine sandige Schlucht des Gebirges ein, das sich ganz unvermittelt mit steilen Felswänden jäh aus der Wüste erhob.

Ein reichliches Frühstück wurde gehalten, diesmal nur aus Fleisch bestehend, und sofort ging es weiter.

Es war ein furchtbares Schluchtenlabyrinth, durch welches wir noch fünf Stunden lang marschierten. Die sonst völlig ebenen Pässe waren manchmal so eng, dass sich kaum zwei Mann ausweichen konnten, zu beiden Seiten stiegen die Felsenmauern kerzengerade bis zum Himmel empor, man konnte diesen wirklich manchmal kaum sehen, und dabei ging es immer im Zickzack kreuz und quer, die Schluchten wurden durch zahllose Seitengänge unterbrochen, die sich von unserem Wege durch nichts unterschieden, und da verzweifelte ich fast, dass ich in diesem Labyrinthe jemals den Rückweg durch eigene Kraft finden würde.

Gerade wegen der Enge dieser Schluchten wanderten wir ja meist im Schatten, dennoch war es schier unerträglich heiß darin, und als die im Zenit stehende Sonne direkt auch in den schmälsten Riss hinein schien, befand man sich wie in einem mit siedenden Blei gefüllten Kessel.

Aber die Araber gönnten uns diesmal keine Rast, trieben uns immer wieder an, freilich ohne irgendwie grausam zu sein. Im Gegenteil, aller zehn Minuten führten sie mit eigener Hand jedem einen Becher mir Zitronenwasser oder kühl schmeckendem Kaffee an die Lippen, sie forderten uns mit gutmütigen Worten zum Singen auf, und da keiner diesem Wunsche nachkam, sangen sie selbst uns etwas vor, freilich alles andere als ein Marschlied, mehr eine eintönige Totengräbermelodie, nach arabischer Weise durch die Nase gesungen. Übrigens hatten sie ja unter der Hitze genau so zu leiden wie wir, und das Gewicht ihrer Waffen, zumal der schweren Flinten, betrug wohl nicht weniger als das unserer Wassersäcke, die wir so bequem hüben und drüben gut ausbalanciert an den Jochen hängen hatten. Was sie sonst Tröstendes und Ermutigendes sprachen, verstand ich nicht, und der Italiener hatte keine Lust mehr, es mir zu übersetzen. Er taumelte wie ein Trunkener weiter. Ich für mein Teil war ja so trainiert, dass solch ein Marsch gar keine Strapaze für mich bedeutete.

Schon seit einer Stunde hatte die Sonne den Zenit überschritten, es mochte also gegen ein Uhr sein, ab und zu entstand schon wieder ein Schattenstreifen, aber die Hitze war fürchterlich, der Italiener und einige Neger konnten sich kaum noch weiter schleppen, als sich die enge Schlucht plötzlich erweiterte, und vor uns lag in einem Talkessel ein reizendes Städtchen, umrahmt von Orangenhainen und jedes einzelne Haus überschattet von Dattelpalmen. Nach dieser langen Wüstenwanderung einfach ein paradiesischer Anblick.

Mit unserer letzten Kraft schleppten wir uns — ich will mich nur mit zu den anderen zählen — durch die um diese Zeit menschenverlassenen Straßen, auch die Ankunft der Sklavenkarawane brachte durchaus keine Aufregung hervor, wir kamen in ein größeres Steingebäude, gleich die Karawanserei verratend, die kostenlose Herberge des Orients, im Hofe wurden wir mit Hilfe eines Schlauches reichlich mit Wasser abgespritzt, ein Zeichen, dass hier durchaus kein Mangel an Wasser war, dann legten wir uns auf eine weiche Matratze und fielen in tiefen Schlaf.

*

66. Kapitel

Beim Mäusekönig

Originalseiten 1628 — 1654

Am späten Nachmittage, als wir ausgeschlafen hatten und gespeist worden waren, wurden wir, immer noch alle acht im Sklavenjoche, in einen anderen, größeren Raum der Karawanserei geführt, in dem sich schon eine ganze Menge Araber versammelt hatten, wir mussten uns entkleiden, das heißt einfach den Kaftan abstreifen, und der Sklavenmarkt begann, wir wurden verauktioniert.

Ich will nicht beschreiben, wie es dabei zuging. Übrigens einfach genug. Oder ich wurde selbst gar nicht Zeuge, weil es gerade bei mir sehr schnell ging und ich schon nach den ersten fünf Minuten einen Käufer fand.

Einer unserer Führer hatte mich eben erst zungengewandt angepriesen, mir ab und zu in die Muskeln greifend, als schon ein alter, würdevoller Araber mit langem weißen Bart das Höchstgebot gemacht hatte, das von keinem anderen Kauflustigen übertroffen wurde, so viele Augen auch begehrlich auf mir ruhten.

Wie ich später erfuhr, hatte mich der Alte für 70 Beutel Gold gleich 7000 Mark erstanden. Gewiss eine ganz beträchtliche Summe für einen Sklaven, von dem man nichts weiter weiß, als dass er, wie man eben sehen kann, gerade gewachsen ist und sehr kräftige, muskulöse Glieder hat.


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Mir schien es denn auch, als ob die anderen Kauflustigen den Alten ob dieses Gebotes, das er nach einiger Überlegung, dann aber auch sofort gemacht hatte, auslachen wollten, aber offenbar hatten sie alle vor dem Alten den größten Respekt, niemand lachte, niemand spottete, aber es hatte mir doch erst fast so geschienen, als hätten sie Lust dazu gehabt. Jedenfalls machte niemand ein höheres Gebot, und der Verkäufer war außerordentlich erfreut.

Ein Wink des Alten, und ich wurde von dem Halsjoch befreit, obgleich man ihn zu warnen schien, ich musste meinen Burnus wieder anlegen, ein zweiter Wink, und ich folgte dem alten Araber.

Um die Karawanserei war eine größere Volksmenge versammelt, so hatten sich jetzt auch die Straßen belebt, vor den Haustüren saßen arabische Männer und auch verschleierte Frauen mit spielenden Kindern.

Im Allgemeinen erregte ich hier so wenig Aufmerksamkeit, wie wir es während des ganzen Marsches in den Oasen getan hatten. Neugier war keine Untugend der Maskaten, das musste man ihnen lassen.

Wieder wurde der neben mir gehende Alte von allen Seiten mit größter Ehrerbietung begrüßt, die meisten der Sitzenden standen dazu auf.

Nur die Kinder benahmen sich etwas anders. »Boslokawa!«, hörte ich die kleinen Knaben und Mädchen öfters rufen, mit offenbarem Spott, dann schnell Reißaus nehmend. »Boslokawa, Boslokawa Abdallah!«

Dann drohte der Alte den Kindern wohl mit seinem elfenbeinernen Stock, aber gutmütig dabei lächelnd. Doch den Kindern, die ihn wohl verspottet hatten, ging es nicht so gut, ich sah mehrmals, wie solch ein kleiner Spötter von seinen Eltern in aller Schnelligkeit eine Backpfeife bekam, unter vorwurfsvollen Worten.

»Bitte, treten Sie ein!«, sagte jetzt mein Herr zu mir.

Hallo! Erstens diese Höflichkeit, zweitens auf Deutsch — das hätte ich nicht erwartet!

Nun, es konnte ja nur eine aufgeschnappte Redensart sein, und dass ich ein Deutscher war, mochte er mir schon ansehen.

Er führte mich in einen Raum, nur klein, aber recht hübsch orientalisch ausgestattet. Das unvergitterte Fenster ging nach dem Hofe, in einen grünen, blumigen Garten verwandelt, in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen.

Auf seinen Wink musste ich auf einem Kissen Platz nehmen, er ließ sich mir gegenüber mit gekreuzten Füßen nieder. Der Alte hatte wirklich ein überaus gutmütiges Gesicht.

»Nicht wahr, Du bist ein Deutscher?«, begann er jetzt ohne Weiteres, sich immer noch des besten Deutsches bedienend.

»Ja.«

Lächelnd strich er seinen prächtig gepflegten, schneeweißen Bart.

»Ich habe es nicht vorher gewusst, habe Dir aber Deine deutsche Abstammung sofort angesehen. Du wunderst Dich wohl, dass ich Dich gleich deutsch anspreche, hier im Herzen Maskats?«

»Allerdings. Sind Sie denn ein Deutscher?«

»O nein. Ich bin arabischer Maskate und Mohammedaner. Aber ich bin viele Jahre lang in Europa gewesen, auch in Deutschland, habe in Berlin Philosophie und in Leipzig Chemie studiert.«

Nun, in Deutschland gibt es manchen arabischen Studenten. Natürlich immerhin, überrascht war ich sehr.

»Du bist mein Sklave, ich habe Dich gekauft!«, fuhr der Alte unvermittelt fort.

»Ich weiß es.

»Du hältst die Sklaverei für unerlaubt?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Weil es unmoralisch ist, über Leib und Seele eines anderen Menschen befehlen zu wollen.«

»Über die Seele kann man ja gar nicht befehlen.«

»Na, dann nur über den Leib, das genügt auch schon.«

»Ihr habt in Eurer Heimat keine Sklaverei?«

»Nein. Das weißt Du doch selbst ganz gut, wenn Du lange Zeit in Deutschland gelebt haben willst.«

»Und Du willst behaupten, dass es in Deiner Heimat keine Sklaverei gibt?«

Ich wusste, was jener meinte, und schwieg lieber, wusste im Augenblick auch wirklich keine Antwort.

»Lassen wir das. Dir ist die Sklaverei verpönt, weil Du ein Christ bist. Ist es nicht so?«

»Du sagst es.«

»Ich aber bin Mohammedaner, und der Prophet erlaubt im Koran die Sklaverei.«

»Ich weiß es.«

»So nenne ich Dich mit vollem Rechte meinen leibeigenen Sklaven.«

»Ich kann dagegen nichts einwenden.«

»Wie heißt Du?«

»Gib nur Deinem Sklaven einen beliebigen Namen!«

»Nein, mein lieber Sohn, nenne mir nur Deinen wirklichen Namen, damit ich Dich so rufe!«, erklang es gütig wie immer.

»Georg.«

»Ist das nicht nur ein Vorname? Hast Du nicht noch einen anderen?«

»Georg Stevenbrock.«

»Gut. Ich werde Dich nur Georg nennen. Dieser Name gefällt mir. Ich heiße Abdallah ben Aga, bin früher Imam gewesen, einer der höchsten Priester, bin es eigentlich noch jetzt, führe noch diesen Titel, übe den Priesterberuf nur nicht mehr aus. Jetzt bin ich das, was Ihr einen Privatgelehrten nennt. Du sollst mich Vater Abdallah nennen, wie mich hier alle Kinder rufen, wenn auch auf Arabisch.

»Wie Du willst, Vater Abdallah.«

»Weshalb nennst Du mich Du? Ist es in Deiner Heimat nicht Sitte, einen Fremden, zumal seinen Herrn, mit Sie anzureden?«

Ohne jede Strenge war es gesagt worden, sicher nur aus Wissbegier.

»Ich bin gewohnt«, entgegnete ich offen, »jeden, der mich mit Du anredet, ebenfalls zu duzen. Aber in diesem Fall werde ich Sie, wenn Sie wünschen...«

»Nein, nein, auch Du sollst mich mit Du anreden, und Du sollst mich nicht nur Vater Abdallah nennen, sondern ich will Dir ein wirklicher Vater sein.«

»Ich danke Dir, Vater Abdallah!«, konnte ich nur erwidern.

Aufmerksam blickte er mich einige Zeit an, immer mit seinem überaus freundlichen Gesicht. Das war sicher ein wirklich gütiger Herr und Mensch oder alles log, ich wollte auch niemals wieder etwas auf den Ausdruck der Augen geben.

»Was bist Du in Deinem Berufe?«, fragte er dann.

»Seemann.«

»Das ist ein weiter Begriff. Matrose?

»Ich habe zuletzt im Range eines Kapitäns gestanden, wenn ich auch noch nicht die gesetzliche Befähigung zum Kapitän hatte.«

»Bist Du Soldat gewesen?«

»Ich bin in meiner Heimat sogar ein Offizier, Leutnant in der Marine.«

»Aaah. So weißt Du doch auch — oder vielmehr muss ich sagen: ich weiß was das Ehrenwort eines deutschen Offiziers zu bedeuten hat.«

»Natürlich weiß ich das!«, lachte ich.

»Gibst Du mir Dein Ehrenwort als deutscher Offizier, nicht von hier zu entfliehen?«

Da brauchte ich keine lange Zeit zum Überlegen der Antwort.

»Nein, das kann ich Dir daraufhin nicht geben.«

»Gut«, erklang es da ohne Weiteres, »ich verstehe, weshalb Du mir Dein Ehrenwort deswegen nicht geben kannst, eben weil ich weiß, was bei Euch das Ehrenwort zu bedeuten hat. Vielleicht noch etwas anderes, als wenn mancher Moslem beim Barte des Propheten schwört, wo man sich von einem Falschschwur sehr leicht wieder reinigen kann.«

Und der Alte, der mir immer besser gefiel, strich lächelnd seinen langen, weißen Bart.

»Aber als erstes«, fuhr er dann fort, »mache ich Dich, mein lieber Sohn, darauf aufmerksam, dass Dir niemals eine Flucht gelingen wird. Weshalb nicht?, dürftest Du da mit Recht fragen. Die Antwort wird Dich wundern, wenn ich Dir sage: weil ich über viele Erd-, Luft-, und Feuergeister gebiete, welche Dich mir immer wieder zurückbringen würden. Nicht wahr, diese Antwort wundert Dich?«

Allerdings, das tat sie. Der alte Herr schien in seiner Jugend von der deutschen Philosophie nicht viel profitiert zu haben. Freilich gibt es ja doch auch eine Richtung, die sich mit Geistern beschäftigt, wobei man nicht etwa an Spiritismus zu denken braucht. Leugnen doch nicht einmal solch nüchterne Köpfe wie Kant und Schopenhauer die Existenz von Geistern, das heißt von Wesen, die wir nur nicht mit unseren beschränkten Sinnen wahrzunehmen vermögen.

Oder hatte der gute Alte etwa ein bisschen einen Klaps?

»Hältst Du mich etwa für irrsinnig?«, erriet er da auch schon meine Gedanken, wozu allerdings nicht viel gehörte.

»Diesen Eindruck machst Du mir durchaus nicht.«

»Ich bin es durchaus nicht. Gut. Ich werde Dir später die Beweise geben, dass ich wirklich Herr über viele Geister bin, die mir dienen. Jetzt lass Dir meine Behauptung genügen: sie bringen Dich sofort zurück, falls Du ohne meine Erlaubnis diese Stadt oder auch nur dieses Haus verlassen wolltest. Dir erscheint die Flucht vielleicht sehr leicht. Ich bin ein alter Mann, dem ein Gelübde Waffen zu tragen verbietet, ich bewohne dieses Haus nur mit zwei Töchtern und einigen Dienerinnen, habe keinen einzigen männlichen Diener — Du glaubst vielleicht, mich einfach bei nächtlicher Weile, falls ich Dir im Wege stehen sollte, niederschlagen zu können...«

»Sehe ich etwa aus wie ein Mörder?«, fiel ich ihm ins Wort.

Wieder betrachtete er mich längere Zeit aufmerksam.

»Nein, so siehst Du nicht aus! Trotzdem, ich muss Dich warnen. Du würdest in solch einem Falle Schreckliches erleben. Durch meine Geister, die mich rächen würden. Und entkommen kannst Du überhaupt nicht, Du würdest niemals das Meeresufer erreichen. Ich werde Dir später in aller Güte einen Beweis geben, weshalb dies ganz unmöglich ist. Also Du bist gewarnt. Gut. Hast Du Verwandte, nach denen Du Dich sehnst, welche über Dein Verschwinden unglücklich sein werden?«

»Einen Vater.«

»Sonst niemanden weiter?«

»Sonst kommt wenigstens niemand weiter in Betracht, nicht von Verwandten.«

»Wo lebt Dein Vater?«

»In Kiel.«

»Kiel — kenne ich!«, wiegte der Alte sinnend sein kluges Haupt. »Du wirst Deinem Vater schreiben, dass Du Dich in guten Händen befindest.«

»Ich danke Dir, Vater Abdallah.«

»Allerdings darfst Du ihm nicht berichten, wo Du in Gefangenschaft bist.«

»Nicht?!«

»Nein, das ist doch nicht angängig. Dadurch könnten wir hier nur Unannehmlichkeiten haben. Weil bei Euch die Sklaverei nicht erlaubt ist. Aber Du sollst später Deinen Vater besuchen können.«

»Besuchen?!«

»Ich gebe Dir Urlaub! Du kommst dann freiwillig zurück.«

»Als Dein Sklave?!«

»Als mein Sohn.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du wirst einer der unsrigen, wirst Mohammedaner.«

»Niemals!«, rief ich mit Entschiedenheit.

Ich bin durchaus nicht so sehr fromm. Aber den Glauben meiner Väter halte ich hoch, da gibt es bei mir nichts! Ich glaube, ich kann mich foltern und rösten lassen, ehe ich mein Christentum verleugne. Ich glaube es. Wenigstens der feste Vorsatz ist da.

»Fürchte nicht, dass Dir Gewalt geschieht!«, erriet da der Alte wiederum meine Gedanken. »Überdies weißt Du doch, dass der Moslem einen Andersgläubigen gar nicht mit Gewalt zu seiner Religion bekehren darf. Er darf die Ungläubigen wohl mit Feuer und Schwert ausrotten, muss es sogar, aber zu seinem Glauben mit Gewalt bekehren, das darf er nicht. Nur durch freundliche Belehrung. Doch davon später, wenn ich diese Belehrung beginne. Jetzt bist Du noch mein Sklave, oder mein Diener, will ich sagen, den ich für schweres Geld gekauft habe, wenn ich Dich auch schon wie einen Sohn, den ich liebe, behandle. Du sollst meinen Hausstand führen, wenigstens diejenigen Arbeiten verrichten, welche nicht für arabische Frauenhände geeignet sind. Diese Arbeiten sind leicht genug. Du wirst Deine Pflichten im Laufe der Tage ganz von selbst kennen lernen. Bist Du müde?«

»Gar nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Ich habe vorhin vier gute Stunden fest geschlafen.«

»Wärest Du fähig, wieder eine ganze Nacht ohne Schlaf auszuhalten?«

»Sofort.«

»Die Sache ist nämlich die, dass sich hier in diesem heißen Talkessel das ganze Leben mehr auf die Nacht konzentriert, dafür wird am Tage geschlafen, wenn wir auch nicht direkt Nachttiere sind.«

»Das habe ich schon während unseres Marsches gemerkt.«

»Und so halte auch ich es in meinem Hause. Wenn Du also ausgeschlafen hast...«

»Vollkommen.«

»Gut, dann könntest Du ja gleich Deine Dienste antreten.«

»Ich bin bereit.«

»Dies ist hier Dein eigenes Zimmer. Gefällt es Dir?«

Ich sah mich zum ersten Male aufmerksamer um. Der Raum wurde bereits durch eine brennende Lampe erleuchtet, die aber erst jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war, in Wirksamkeit trat. Besonders die im Hofe blühenden Mandelbäume spendeten köstliche Düfte durch das offene Fenster herein.

»Es gefällt mir ganz ausgezeichnet, Vater Abdallah.«

»Wenn Du müde bist, kannst Du Dich jederzeit hierher zurückziehen, Du sollst ganz wie mein lieber Sohn behandelt werden.«

»Ich danke Dir, Vater Abdallah!«, sagte ich mit aufrichtiger Rührung ob solcher Behandlung, die hier einem Sklaven widerfuhr.

»Betten kennen wir Orientalen ja nicht, das weißt Du wohl. Wir schlafen auf den Polstern, auf denen wir am Tage sitzen. Was Du aber brauchst, kannst Du Dir ja leicht beschaffen, ich werde Dir dann alles zeigen.

Ich machte eine dankende Verbeugung.

»Bist Du hungrig?«

»Ganz und gar nicht. Wir sind vorhin erst tüchtig gefüttert worden.«

»Ich werde Dir dann die Küche und Speisekammer zeigen, wo Dir Tag und Nacht immer alles zur Verfügung steht. Ja, und nun... kannst Du kleine Holzarbeiten verrichten? Mit Säge und Hammer umgehen?«

Mir war es, als hätte er eine kleine Pause der Verlegenheit gemacht. Es fiel mir aber nicht weiter auf.

»O ja, das kann ich. Wenn es nicht gar zu komplizierte Holzarbeiten sind.«

»Durchaus nicht. Ganz einfache. Und ich denke doch, Du als gebildeter Mann, der Du als deutscher Offizier bist, fürchtest Dich doch nicht vor Tieren?«

»Vor Tieren?«, wiederholte ich etwas stutzend.

Denn diesmal war mir seine Verlegenheit wirklich aufgefallen.

»Vor Bosloks, meine ich.«

»Bosloks? Was sind das für Tiere?«

»Das sind — — sind — — nun komm, ich will sie Dir gleich zeigen. Es sind ganz reizende Tierchen, Du wirst meine Liebhaberei bald begreifen und dann hoffentlich ebenfalls Freude an ihrer Pflege finden.«

Wir erhoben uns, durchschritten einen Korridor — es war ein sehr großes, zweistöckiges Haus — eine Treppe hinauf, alles schön mit Teppichen belegt, alles schon erleuchtet, betraten einen großen Raum und...

Ja, da bekam ich allerdings etwas von »Tierchen« zu sehen!

Ich wusste gar nicht, wohin ich sehen sollte. Obgleich ich überall dasselbe sah.

»Weiße Mäuse!«, rief ich dann, wirklich schon mit ehrlichem Vergnügen.

»Ja, weiße Mäuse nennt Ihr diese niedlichen Tierchen!«, bestätigte der Alte, wieder mit einiger Verlegenheit. »Auf Arabisch Boslokawas. Ich bin nämlich ein großer Freund von weißen Mäusen. Weil es nach meiner Ansicht die klügsten Tiere sind, die es überhaupt auf der Erde gibt. Die Kinder nennen mich selbst manchmal den Boslokawa, weiße Maus, oder auch den Boslopadischah, den Mäusekönig. Ich nehme es ihnen nicht übel. Ach, diese Freude, die mir diese lieben, lieben Tierchen bereiten!«

Und das erst verlegene Gesicht des Alten wurde vor Seligkeit ganz verklärt. —

Ich will nun versuchen, zu beschreiben, wie es in dem Zimmer aussah, was ich erblickte.

Alle vier Wände des großen, hohen Raumes waren vom Boden bis zur Decke mit schmalen Brettern bedeckt, die wieder durch Querleisten unterbrochen waren, sodass Kästchen von verschiedener Höhe und Länge gebildet wurden, vor jedem einzelnen war eine Glasscheibe angebracht, und hinter diesen Scheiben nun wimmelte es auf den Brettern, also in den Kästchen von weißen Mäusen, von Hunderten und vielleicht auch Tausenden, die rastlos aus einem Kästchen ins andere liefen, oder, kann man gleich sagen, aus einem Zimmerchen ins andere, denn sie alle waren durch Türen verbunden, die in die Höhe geklappt werden konnten, aber immer nur nach einer Seite hin, sodass die Mäuse also auch immer nur nach einer Seite einen Ausweg fanden.

Aber das war nicht so einfach. Wohin ich auch blickte, überall sah ich eine andere Spielerei, eine andere Vorrichtung, welche die Mäuse auf ihrem Wege zu überwinden hatten.

Bald ging es eine Treppe hinauf, bald eine hinab, über Brückchen und Stege, durch lange Tunnel hindurch,

dann fehlte wieder ein ordentlicher Weg, die Mäuse mussten erst an einem Seil hinaufklettern, ehe sie auf einer Galerie einen Ausweg fanden, dort war eine ganze Villa errichtet, aus und ein ging es durch die Haustüren, auf diesem und jenem Balkon erschien eine Maus, putzte sich das Näschen, verschwand wieder, tauchte einmal zum Schornstein heraus, ohne schwarz geworden zu sein — dann in einem anderen Zimmer konnte nur ein regelrechter Liftzug zum Weiterkommen benutzt werden, er ging nur in die Höhe, wenn in einem anderen Zimmer, aber gar weit von diesem entfernt, zwei andere Mäuschen auf einer Plattform niedergingen, und auf jener anderen hatte immer nur eine einzige Platz — und dann eine Falltür, oder ein in der Schwebe gehaltenes, ausbalanciertes Brett, auf das die Maus unbedingt musste und nicht wieder zurückkonnte, seinen Weg fortsetzen musste, und dann kippte das Brett um und das Tierchen plumpste rettungslos in ein Bassin mit Wasser — nein, Milch war es, deshalb wohl auch das eifrige und behagliche Lecken, sobald das Mäuschen auf einem kunstvoll geschnitzten Treppchen das Trockene wiedergewonnen hatte — und so allüberall solche ingeniöse ausgedachte Vorrichtungen, wohin das Auge auch blickte, immer wieder etwas Neues.

Ich hatte zwar schon früher manchmal weiße Mäuse gesehen, im Schaufenster von Tierhandlungen zum Beispiel, aber sonst bestand meine ganze Erfahrung, die ich mit diesen Nagern gemacht, nur darin, dass ich einmal einen Schulkameraden gehabt hatte, der zu Hause weiße Mäuse hielt und infolgedessen dermaßen nach Mäusen stank, dass von den Lehrern dagegen eingeschritten werden musste.

Doch hier bemerkte ich keine Spur von diesem penetranten Gestank.

Übrigens dachte ich jetzt auch gar nicht an diese meine Erfahrung.

»Ach, das ist ja entzückend!«, rief ich jetzt.

Und es war auch wirklich ganz reizend, alle diese zierlichen, langgeschwänzten blendend weißen Tierchen mit den rotglühenden Augen zu beobachten, wie sie sich in den Zimmerchen und Gängen tummelten, alle die Hindernisse überwanden, sich niedersetzten und das Schnäuzchen putzten.

»Nicht wahr, es ist reizend?«, sagte der Alte freudestrahlend. »Ja, es ist eine merkwürdige Liebhaberei, es ist eine Schrulle von mir, ich weiß es, aber gern will ich mich als Mäusekönig verspotten lassen, diese Tierchen vergelten es mir jede Nacht tausendfach wieder, alle Liebe, die ich ihnen angedeihen lasse.«

»Wie kommt es denn, dass sie alle nach einer Richtung laufen?«

»Weil sie nur immer die Tür nach einer Seite hin passieren können...«

»Das verstehe ich, das habe ich schon gemerkt — aber immerhin, wie kommt es, dass sie alle überhaupt so eilen, um nach ein und derselben Richtung zu kommen?«

»Ah so, das meinst Du! Diese fortwährende Beweglichkeit während der ganzen Nacht erreiche ich dadurch, dass ich an dem einen Ende das Futter aufstelle, am anderen Ende das Trinken. So müssen die Mäuschen ständig von einem Ende zum anderen wandern, durch sämtliche Zimmer und Gänge hindurch, einmal, um ihren Hunger zu stillen, das andere Mal, wenn sie durstig sind.«

Aha! Demnach hatte der Alte so eine Art von Perpetuum mobile erfunden!

»Nun aber können sie aber doch schon ihren Durst hier in dem Milchbade löschen!«, meinte ich.

»Dieses Milchbad ist eben zugleich die Tränkstation an einem Ende der Laufbahn, eine andere Tränke gibt es gar nicht. Sie bekommen nur die beste Ziegenmilch, etwas verdünnt und mit Zucker versüßt, die lieben Tierchen. Hineinfallen müssen sie erst, gänzlich untertauchen, damit sie sich dann genügend ablecken. Früher mussten sie ein unfreiwilliges Wasserbad nehmen, da aber leckten sie sich nicht genügend ab. Die Milch aber lecken sie vom eigenen Körper mit dem größten Vergnügen auf. Auf diese Weise verbinde ich das Angenehme mit dem Nützlichen, denn auf diese Weise erziehe ich sie zugleich zur höchsten Sauberkeit. Oder merkst Du etwas von einem Mäusegeruch?«

Jetzt erst erinnerte ich mich jenes Schulkameraden mit dem polizeiwidrigen Mäusegestank. Nein, wirklich keine Spur war davon zu merken.

»Dies kommt eben von der Reinlichkeit, von dem begehrten Milchbade. Und dann freilich auch dürfen sie keinen Speck und keine andere Fleischnahrung bekommen, ausschließlich Körner.«

»Und wo ist nun diese Futterstelle?«

»Drüben im anderen Zimmer.«

Er führte mich hinüber.

Da erst merkte ich, dass die Geschichte noch weiter ging!

Die Mäuse mussten, um zum Futterplatz zu gelangen, durch eine Tunnelröhre durch die Wand hindurch, durch eine andere kamen sie wieder zur Tränke zurück. Auch dieser Raum, noch größer als jener, war schon ziemlich angefüllt mit solchen Kästchen, oder doch die Wände mit ihnen tapeziert, nur noch wenig Platz für neue Einrichtungen war vorhanden.

Ich sah den großen Futterkasten, in dem sich wohl einige hundert Mäuse drängten, aber ohne sich gegenseitig den ungeschälten Reis und andere Körner streitig zu machen, um dann wieder ihre lange, lange Wanderung durch die Wand bis zum unfreiwilligen Trinkbad zurückzulegen.

»O, ich habe noch vier weitere Zimmer für die Mäuse frei«, sagte da der alte Vater Abdallah glückselig verschämt wie ein junges Mädchen, das sich beim ersten Liebesgedanken ertappt, »ja eigentlich sogar sechs, es brauchen nur zwei Zimmer in dieser Etage ausgeräumt zu werden.«

»So willst Du alle acht Zimmer mit Mäusen bevölkern?«, musste ich mein Lachen verbeißen.

»Ja, warum nicht? An Nachwuchs fehlt es niemals. Wenn nur genügend Laufgänge vorhanden sind. Denn so frei in den Zimmern herumlaufen lassen, das kann ich sie natürlich nicht. Oder Du meinst doch nicht etwa, dass das Tierquälerei ist, wenn ich sie so lange Wanderungen zwischen Trockenfutter und Milch hin und her machen und sie solche Hindernisse überwinden lasse? O, das macht den Mäuschen doch selbst das größte Vergnügen, die wollen doch immer klettern und durch Löcher kriechen und alles untersuchen, und sieh nur, wie gesund infolgedessen alle diese lieben Tierchen sind, und was sie für gesunde rote Bäckchen haben.«

»Rote Bäckchen?!«, durfte ich mich mit Recht wundern.

»Ja, sieh doch, wie ihre Bäckchen im Dunkeln so rot leuchten und funkeln...«

»Du meinst wohl ihre roten Augen?«

»Ach richtig, ich habe mich versprochen, ich meine ihre Äuglein!«, musste der Alte jetzt selbst lachen.

Er sprach zwar ganz perfekt Deutsch, solch eine Verwechslung zweier Worte konnte ihm aber doch einmal passieren.

»Die Augen meine ich. Wenn die im Dunkeln so rot glühen, dann sind die Tierchen gesund und lustig. Hältst Du das etwa für Tierquälerei?«

»Ganz und gar nicht! Auf solch einen Gedanken bin ich überhaupt noch gar nicht gekommen.«

»Das freut mich. Und wie ich sie nun sonst noch pflege! Am Tage, wenn sie schlafen, lasse ich sie im Dunklen. Das Lampenlicht bei Nacht geniert sie nicht. Und hier sind die Wochenbettchen, diese Zimmerchen sind immer durch Bretter verdunkelt. Ab und zu nachsehen kann man ja. Die Wöchnerinnen erhalten auch besonderes Futter und Milch sind ganz ungestört für sich.«

In einem besonderen Viertel der Mäusestadt waren die Glasscheiben durch Brettchen ersetzt, der Alte schob einige zurück, und da sah ich die Bescherung, den Segen des Himmels.

Weich gebettet auf Watte, mit eigenem Fress- und Saufnapf versehen, lag in jedem Abteil ein Mäuschen in stillem Mutterglück mit seinen sechs bis zehn Kinderchen, meist noch nackten Geschöpfchen von rotem Aussehen.

»Und hier ist die Kinderstube.«

Ach, was der mir sonst noch alles zeigte.

»Ja, wenn ich die Sache nur noch weiter ausbauen könnte«, erklang es dann seufzend, »alle die anderen sechs Zimmer voll.«

»Weshalb kannst Du nicht?«

»Da müssen doch solche Kästchen angefertigt werden, anders hat die ganze Sache doch gar keinen Zweck.«

»Fehlt Dir Material und Handwerkszeug dazu?«

»Alles massenhaft vorhanden.«

»Kannst Du das nicht selbst fertigen? Das ist doch einfach genug.«

»Wohl, aber ich darf ebenso wenig ein Werkzeug wie eine Waffe anrühren, ein Jugendgelübde bindet mich.

»Wer hat dies denn alles angefertigt?«

»Mullah, ein alter Diener.«

»Weshalb hat er diese Beschäftigung aufgegeben?«

»Weil er vor einem Vierteljahre gestorben ist.«

»Bekommst Du denn keinen anderen Diener?«

»Für so etwas nicht, nicht hier in Maskat, nicht im ganzen Lande, nicht für alles Geld der Welt.«

»Weshalb denn nur nicht?«

»Ich will es Dir offen erklären, mein Sohn. Alle Maskaten sind überaus abergläubisch. Ich werde allgemein für einen Zauberer gehalten. Der bin ich ja nun auch tatsächlich insofern, als ich mir Geister dienstbar gemacht habe. Wenn Du hierin eine Inkonsequenz erblickst, so will ich Dir später erklären, dass durchaus keine vorliegt. Die Sache ist nun die, dass in ganz Maskat, wo man sonst keine solche weißen Mäuse kennt — ich habe sie vor einigen Jahren aus Italien importiert — der Glaube besteht, ich hätte die mir untertänigen Erd-, Luft- und Feuergeister in diese weißen Mäuse verzaubert, hätte sie einstweilen in diese Tierleiber hineingebannt, um sie dann nach Belieben als Geister wieder zu verwenden. Glaubst Du, dass es wirklich so sei?«

»Ich? Nee.«

»Ist es auch nicht. Infolgedessen aber bekomme ich in mein Haus keinen männlichen Diener. Seine Seele könnte verloren gehen, denn der Koran verbietet alle Zauberei wie auch den Umgang mit Zauberern, so sehr diese auch geachtet werden. Oder eben gefürchtet. Nein, geachtet. Man achtet den Mut des Zauberers, der seine Seele aufs Spiel setzt. Aber einen Diener bekomme ich in ganz Maskat nicht. Und dass mir ein solcher bei dieser Bauerei für die Geistermäuse behilflich sein soll, daran ist erst recht gar nicht zu denken. Bei Dienerinnen ist das etwas anderes, die bekomme ich, denn die Weiber sind bei uns bekanntlich religionslos, das heißt sie haben keine Seele, kommen weder ins Paradies noch in die Dschehenna, in die Hölle, ihre Seele zerfließt nach dem Tode in nichts.

Aber ein Weib kann ich für diese Arbeiten nicht gebrauchen. Der alte Mullah, der schon im Hause meines Vaters war, bildete eine Ausnahme, der war mir treu, der hatte seine Seele sowieso schon verloren. Der hat dies alles nach meinen Angaben gefertigt. Nach seinem Tode habe ich mich vergeblich bemüht, einen Ersatz für ihn zu bekommen. Es geht nicht. Ich kann auch keinen fremden Araber oder sonstigen Mohammedaner in mein Haus nehmen. Weshalb nicht, das verstehst Du jetzt noch nicht. Alle Maskaten bilden eine große Familie, kein Fremder kommt herein. Lass Dir diese Erklärung vorläufig genügen.

So gab es nur noch ein Mittel. Ich beauftragte einen Sklavenhändler, mir gelegentlich einen christlichen Diener zu besorgen. Ich habe Dich gekauft. Und nun frage ich Dich: willst Du hier diese Arbeiten übernehmen?«

Ja gewiss wollte ich!

*

Die Tage vergingen, ich hatte mich schon gänzlich eingelebt.

Neben den Mäusezimmern war eine vollständig eingerichtete Werkstatt für diese Arbeiten vorhanden, die Hauptsache dabei war ein ganz moderner Laubsägekasten, aber auch Hobelbank mit allem, was dazu gehört, dünne Brettchen waren massenhaft aufgespeichert, desgleichen Glastafeln, deren kostspieliger Transport auf dem Karawanenwege für diesen alten reichen Knasterbart gar keine Rolle spielte.

Also ich laubsägte und leimte und nagelte und schnitt mit dem Glaserdiamanten Fensterscheibchen, reinigte täglich die Mäusezimmerchen, streute Futter, füllte das Milchbad, versorgte speziell die glücklichen Mütter, hütete die nackten roten Kinderchen und hing dabei so meinen Gedanken nach.

Und die weilten nämlich nicht etwa gar so oft bei meinen Argonauten, was die sich jetzt für Sorge um mich machten, wenn sie nicht schon meinen Tod betrauerten.

Nein, meine Gedanken waren meistenteils ganz, ganz andere.

Herr, wer bin ich, und was kann aus mir noch alles werden!

Die Realschule absolviert, Seemann geworden, Reserveleutnant in der Kaiserlich deutschen Marine, Kargokapitän und Waffenmeister auf einem freiherrlichen Schiffe unter halber Kriegsflagge — und jetzt hier als weißer Sklave bei braunen Arabern in Maskat säge und leime und nagele ich Zimmerchen für weiße Mäuse zusammen, leite nackte Mäusekinderchen zu den ersten Gehversuchen an — Herr, wer bin ich, und was kann aus mir noch alles werden!

Also, will ich hiermit sagen, meine Gedanken waren durchaus nicht traurige. Ich sehnte mich noch gar nicht nach meinen Argonauten zurück.

Ach mir gefiel es ja ganz großartig hier!

Nur im Anfang hatte mich Vater Abdallah bei diesen Arbeiten angestellt. Dann staunte er über meine eigene Erfindungsgabe.

Na, was ich aber auch die armen Mäuschen kujoniert habe! Was für akrobatische Leistungen ich von denen verlangte! Ich will es nicht weiter schildern, was alles für Hindernisse ich zwischen Futterplatz und Trinkbad aufstellt. Die Kletterseile und Kippbrücken waren noch gar nichts gewesen. Federnde Sprungbretter stellte ich her, von denen herab sie doppelte und dreifache Salti mortali machen mussten, ob sie wollten oder nicht. Mag das genügen. Oder nur noch will ich sagen, dass ich auch die Fahrstühle, die immer sehr mangelhaft funktioniert hatten, ganz bedeutend verbesserte. Auch das Seiltanzen zog ich mehr ins Bereich der akrobatischen Künste, ferner konstruierte ich eine Rutschbahn mit Wagenbetrieb, eine Rodelbahn mit Schlitten, wenn auch ohne Schnee, dann eine Wasserfähre, von den Mäusen selbst in Betrieb zu setzen, schließlich sogar eine...

Doch nein, nun ist mit dem Aufzählen genug! Sonst würde ich vielleicht überhaupt nie fertig.

Jedenfalls habe ich meinen genialen Erfinderkopf noch niemals so angestrengt wie damals, wie ich den armen Mäuschen das Leben immer mehr zu versauern suchte, ihre Wanderung zwischen Trockenfutter und Getränk immer hindernisvoller gestaltete.

Aber rastlos wanderten sie hin und her, überwanden die zahllosen Schwierigkeiten, und ihre roten Augen glühten im Dunkeln immer mehr. Also wurden sie immer gesünder und glücklicher. Was wollte man mehr?

Mit anderen Arbeiten in oder außer dem Hause hatte ich gar nichts zu tun, absolut nichts. Das Reinemachen und alles andere besorgten eine ganze Menge weiblicher Gestalten, die ich immer nur vermummt erblickte und welche wie die beiden Töchter, von denen Vater Abdallah damals gesprochen hatte, sonst nie wieder, die ganze zweite Etage bewohnten.

Zu regelmäßigen Zeiten fand ich in einem besonderen Zimmer ausgezeichnete Mahlzeiten für mich bereit, die ich allein einnahm, und auch durch keine Dienerin wurde ich dabei gestört.

Ich muss offen gestehen — ehrlich wie ich immer bin — dass ich willens war, mich mit diesen weiblichen Wesen noch etwas näher zu beschäftigen, Vater Abdallah hatte mir deswegen auch noch gar kein Verbot gegeben, und ich sollte doch als Sohn des Hauses gelten. Aber nach vierzehn Tagen war noch immer nichts daraus geworden, ich ging noch ganz in meinem Mäuseberufe auf. Diese Spielerei machte mir eben tatsächlich außerordentliches Vergnügen.

Der Alte befand sich, wenn ich nicht aß oder schlief oder überhaupt der Ruhe pflegte, was ich ganz halten konnte wie ich wollte, immer bei mir, in der Werkstatt wie in den Mäusezimmern, ergötzte sich an meinen neuen Erfindungen, dabei aber führten wir ständig philosophische Gespräche.

Dieser mehr als achtzigjährige Araber war ein gar gescheiter Kopf! Wenn man ihn nur nach seinem Treiben hier in seinem Hause beurteilen wollte, so irrte man sich überhaupt total in ihm. Wohl mochte diese Mäusespielerei, die er vor einigen Jahren begonnen, in der nun sein ganzes Leben aufging, eine kindliche Schwäche seines hohen Alters sein, aber sonst war von Geistesschwäche nichts an ihm zu merken. Ein Geist von alles durchdringender Schärfe! Und diese Universalbildung! Dabei frei von jeder Eitelkeit, der solche Gelehrte, gerade wenn sie ihre Studien privat im stillen für sich treiben, sonst so gern huldigen. Im Gegenteil, dieser Alte war die Bescheidenheit selbst. Nicht dass er seine Kenntnisse und die Art und Weise, wie er sie sich erworben, verheimlichte, dass er seinen früheren Lebenslauf in ein mysteriöses Dunkel zu hüllen suchte, aber die Gelegenheit musste erst kommen, ehe er darüber berichtete, ich musste ihn dazu auffordern, sonst tat er es nicht. Als ich ihn damals verwundert fragte, woher er denn Deutsch könne, hatte er gesagt, dass er sich mehrere Jahre in Deutschland aufgehalten habe. Das musste doch einen Grund haben, und so hatte er auch gleich gesagt, dass er in Berlin Philosophie und in Leipzig Chemie studiert habe.

So erfuhr ich weiter nach und nach, immer erst durch Fragen oder sonst bei zufälliger Gelegenheit, dass er in früheren Jahren auch die Universitäten von Paris und Oxford besucht hatte, hauptsächlich Physik und Chemie studierend, nebenbei aber auch die alten orientalischen, indischen Sprachen, Sansskrit und Pakrit usw., deren klassische Pflegstätte dank der Bemühungen des deutschen Professors Max Müller ja die englische Universität Oxford geworden ist.

Aber er war selbst in Indien gewesen, in Tibet, hatte Lamaklöster besucht, hatte Amerika bereist — kurz, mehr als 20 Jahre hatte er die ganze Welt durchwandert, nur um seine Studien zu treiben.

Dabei war er, der an erster Quelle, in Konstantinopel, auch die ganze Priesterlaufbahn durchgemacht und dort die höchste Weihe erhalten hatte, ein unverfälschter Mohammedaner geblieben.

Und immer mehr lenkte er unsere philosophische Unterhaltung, über die ich nichts weiter sagen will, auf den Koran, auf die Vortrefflichkeit seiner Religion, suchte mich einfach zum Mohammedismus zu bekehren.

Es gibt für den Mohammedaner nur zwei Wege, um nach dem Tode direkt, ganz gleichgültig was man vorher für ein Leben geführt hat, und sei es auch noch so gottlos gewesen, in den siebenten Himmel zu kommen, also gleich die höchste Stufe der ewigen Seligkeit zu erreichen, was sonst ungeheurer Zeitperioden bedarf: entweder unter der grünen Fahne des Propheten im Kampfe gegen die Ungläubigen zu fallen, oder einen solchen zur allein wahren Religion des Propheten zu bekehren.

Aber hierbei darf, wie ich schon einmal gesagt habe und was mir auch bereits bekannt war, absolut kein Gewaltmittel angewendet und kein Druck ausgeübt werden. Hierüber herrscht ein vielverbreiteter Irrtum. Weil die Mohammedaner doch die Andersgläubigen mit Feuer und Schwert verfolgen, wie es der Koran ganz direkt vorschreibt. Das wird eben meist falsch verstanden, eine Inkonsequenz liegt da durchaus nicht vor. Die Nichtmohammedaner haben eben gar keine Existenzberechtigung, sie sollen und müssen ausgerottet werden — wobei allerdings nicht an Meuchelmord oder überhaupt an Mord gedacht werden darf, der heilige Krieg muss von Gesetzes wegen erklärt werden, und Gesetz und Koran sind eins.

Aber nicht, dass der Mohammedaner vorher zu den Ungläubigen, die er bekriegen will, sagen darf: wir wollen Euch verschonen, wenn Ihr den Glauben des Propheten annehmt. Nein, die Ungläubigen sind überhaupt dem Tode verfallen.

Und trotzdem also ist es die höchste Ehre des Mohammedaners, er erwirbt sich auch nach dem sündhaftesten Leben sofort das Paradies wenn er auch nur einen einzigen Andersgläubigen zu seiner Religion bekehrt. Aber dies darf ausschließlich nur durch freundliche Belehrung geschehen. Kein Geld, keine Stellung, gar nichts darf dem Betreffenden deswegen angeboten werden. Also auch nicht etwa die Tochter zum Weibe. Sonst hat der Bekehrer seinen Lohn dahin.

*

Dies alles war mir also bereits bekannt, und ich merkte ja recht wohl, wo hinaus der Alte wollte, wenn er mir immer die Vortrefflichkeit seiner Religion anpries, ohne mich direkt zum Übertritt aufzufordern. Denn nicht einmal das ist erlaubt. Ganz freiwillig, nur aus eigener Sehnsucht muss man kommen.

»Vater Abdallah«, sagte ich da eines Tages, oder vielmehr eines Nachts, als er mir wieder einmal eine Sure des Korans erläuterte, »auf diese Weise machst Du aus mir keinen Mohammedaner. Aber es gebe wohl ein Mittel, um mich zum Übertritt zu bewegen.«

»Was für ein Mittel?«

»Du sagtest doch gleich am ersten Tage, dass Du über Erd-, Luft-, und Feuergeister zu befehlen habest.«

Er hatte hiervon noch nie wieder begonnen, ich nicht wieder darüber gefragt.

»Das habe ich gesagt, und es ist tatsächlich so!«, entgegnete er jetzt.

»Du wolltest mir auch einmal Beweise davon geben.«

»Ich bin bereit dazu.«

»Gut. Wenn Du mich überzeugen kannst, dass es wirklich Geister gibt, dann...«

»Halt, mein lieber Sohn!«, fiel er mir schnell ins Wort. »Du meinst, dann würdest Du Mohammedaner werden?«

»Ja.«

»Dieses Versprechen nehme ich nicht an, es hat gar keinen Zweck, dass Du es gibst. Ja, ich bin bereit, Dir zu beweisen, dass ich über Geister gebiete.«

»Wann?«

»Jetzt sofort.«

Ich war etwas überrascht. Der Alte hatte wohl immer nur auf diese Aufforderung gewartet.

»Sind keine Vorbereitungen dazu nötig?«

»Nicht für das, was ich Dir jetzt zeigen will. Allerdings sind das nur Experimente untergeordneten Grades, die höheren kann ich Dir erst später vorführen, Du musst nach und nach ausgebildet werden, dass Du die Phänomene überhaupt ertragen kannst, und dazu sind dann allerdings längere Vorbereitungen nötig, Fasten, Waschungen, Räucherungen und dergleichen. Gehe in Dein Zimmer, wasche Dir nur die Hände, lege ein neues Gewand an, dann treffen wir im Vorraum wieder zusammen, und Du sollst schon heute Nacht Wunderbares genug zu schauen bekommen.«

*

67. Kapitel

Arabische Magie

Originalseiten 1654 — 1689

Es war gerade Mitternacht, als ich mein Zimmer wieder verließ. Im Vorraum erwartete mich schon Vater Abdallah ebenfalls mit einem neuen Kaftan angetan.

Er führte mich in einen Teil des großen Hauses, den ich noch nicht betreten hatte, nahm eine brennende Lampe vom Sims, es ging eine Treppe hinab, also in den Keller, der in den Steinboden eingehauen war.

Da erst merkte ich, dass dieses Haus ebenso tief unter dem Boden lag, wie es sich in die Höhe erhob, denn wir stiegen immer noch zwei Treppen hinab, und auch hier waren alle Korridore mit Teppichen belegt, nur dass die Hängelampen nicht brannten.

Nach einem längeren Gange durch solche Korridore blieb er vor einer Tür stehen, aus schwerem Holz und schön geschnitzt wie alle anderen.

»Hier sind wir am Ziele, mein lieber Sohn. Öffne diese Tür.«

Eine Klinke war vorhanden, aber ich drückte sie vergebens.

»Und trotzdem ist sie nicht verschlossen und nicht verriegelt. Aber keine fremde Hand kann sie öffnen, und wenn auch alle Gewalt der Erde angewendet würde. Denn sie wird von den Geistern zugehalten, die ich hinter diese Tür gebannt habe. Sieh, unter der Hand ihres Meisters öffnet sie sich sofort.«

Er brauchte denn auch bloß die Hand auf die Klinke zu legen, so konnte er die Tür sofort ganz leise öffnen.

Freilich vermochte mir dies ganz und gar nicht zu imponieren. Deswegen wurde ich noch lange nicht Mohammedaner.

Es war ein nur kleiner Raum, ganz mit schwarzem Samt ausgeschlagen, auf dem ebenfalls schwarzen Teppich waren durch Kissen und Polster einige Sitzgelegenheiten geschaffen.

»Setze Dich, mein lieber Sohn.«

Er zog die Tür hinter sich zu, befestigte die Lampe an einem von der Decke herabhängenden Draht und ließ sich mir dicht gegenüber mit untergeschlagenen Beinen nieder.

»Ich beginne ohne weiteres mit den Experimenten. Die Erklärung erfolgt erst später, wenn Du sie zu verstehen überhaupt in der Lage bist. Denn dazu musst Du einen theoretischen Unterricht bekommen, der gar lange Zeit währt. Mehr habe ich gar nicht vorauszuschicken.«

Er griff zwischen Hals und Kaftan, zog an einem goldenen Kettchen einen Ring hervor, löste ihn ab und steckte ihn an den Zeigefinger der rechten Hand, dann hielt er ihn mir näher hin.

Es war ein ganz mächtiger Ring, ein sehr breiter, dicker Goldreif, an dem sich ein Stein von der Größe einer Haselnuss befand, aber oben abgeplattet, und dort prangte er strichweise in den deutschen Landesfarben, also in Schwarz-Weiß-Rot.

»An diesem Ringe sind die Erd-, Luft-, und Feuergeister gebunden, die ich mir dienstbar gemacht habe. Ihre Zahl darf ich nur in einer magischen Formel aussprechen, und das würdest Du nicht verstehen — jetzt noch nicht. Die drei Farben bedeuten die Elemente, denen sie angehören. Schwarz ist die Erde, weiß ist die Luft, rot ist das Feuer.«

»Aha!«, machte ich, als er mich nach dieser Erklärung erwartungsvoll anblickte.

Der Alte schmunzelte. Es war überhaupt ein ganz humoristischer alter Knasterbart, er konnte Schnurren erzählen und Witze reißen, die Mäusezimmer schallten manchmal von unserem Lachen wider, und diesen feinen Humor hatte er auch jetzt nicht etwa draußen gelassen. Obgleich er sonst ganz sachlich blieb.

»Du zweifelst, dass an diesem Ringe Geister der drei Elemente gebunden sind?«

»Zunächst mache ich darauf aufmerksam, dass wir gewöhnlich mit vier Elementen rechnen. Das Wasser fehlt noch.«

»Die arabische Magie kennt in diesem Falle nur drei Elemente. Wohl gibt es auch Wassergeister, aber diese sind den Erdgeistern untergeordnet, zählen also in dieselbe Kategorie.«

»Wohl, so will ich in diesem Falle auf das Wasser verzichten, wenn ich deswegen nicht, um meinen Durst zu löschen, Erde essen muss.«

»Also Du bezweifelst, dass an diesem Ringe Geister gebunden sind?«, wiederholte der Alte seine vorige Frage.

»Gestatte mir, dass ich zunächst daran zweifle.«

»Dieser Ring kann mir durch keine Gewalt entwendet werden.«

»Weshalb nicht?«

»Die an ihn gebundenen Geister dulden es nicht. Ziehe mir den Ring ab!«

Erst nahm er ihn selbst noch einmal ab, steckte ihn wieder an den Finger und hielt ihn mir hin.

Ja, da erlebte ich allerdings schon etwas Seltsames! Er hatte den Ring ganz leicht von seinem Finger abgenommen und wieder angesteckt, jetzt aber versuchte ich vergebens, ihn abzustreifen.

Und ich wusste gar nicht, weshalb ich ihn eigentlich nicht abbrachte! Der Alte hielt seinen Finger gestreckt, ich konnte sogar deutlich sehen, wie lose der Ring auf dem Finger saß. Aber ich konnte ihn nicht abstreifen. Ich fand einen undefinierbaren Widerstand. Der Ring war wie angewachsen. Ich zog den ganzen Mann zu mir herüber, aber der Ring ging nicht ab.

Vater Abdallah machte es mir noch einmal ganz, langsam vor, wie er den Ring abnahm und ansteckte, schob ihn auf dem Finger spielend hin und her — aber mir war es unmöglich ihn vom Finger zu bringen.

Jetzt streifte er ihn wieder ab, legte ihn zwischen uns auf den Teppich.

»Nimm den Ring.«

Ich wollte es, konnte es aber nicht. Der Ring wurde von einer unwiderstehlichen Kraft auf dem Teppich, obgleich dieser doch wollig war, festgehalten.

»Da ist Magnetismus im Spiele!«

»Ah, Du kluger Mann!«, spottete der Alte, aber immer gutmütig. »Sieht das denn etwa aus, als ob der Ring durch Magnetismus festgehalten würde?«

Nein, in der Tat nicht! Der Flor des Teppich, wie man die aufrecht stehenden Fäden nennt, war, wie ich mich an anderen Stellen überzeugte, etwa ein Zentimeter hoch, war ganz weich, aber der Ring drückte sich nicht im geringsten ein, und dennoch vermochte ich ihn nicht abzunehmen.

»Wie ist das möglich?«

»Es gibt noch eine andere Kraft als die der Schwerkraft, oder Anziehungskraft der Erde — oder es gibt überhaupt noch etwas anderes als das, was wir das Gewicht eines Körpers nennen. In diesem Zustande befindet sich jetzt der Ring. Lass Dir das vorläufig genügen.«

Ich musste es wohl.

»Aber auch wenn ich Dir den Ring in die Hand gebe, vermagst Du ihn nicht zu halten.«

»Er ist so schwer, dass er mir die Hand niederdrückt?«

»Nein. Es handelt sich dabei überhaupt um gar kein Gewicht.«

»Sondern?«

»Probieren wir es. Auf einen kleinen Schmerz kommt es Dir doch nicht an.«

Der Alte hob den Ring auf, ich musste die flache Hand ausstrecken, er ließ ihn mir hineinfallen.

»Auuuu!«, heulte ich etwas auf und schleuderte den Ring schleunigst von mir. Er war plötzlich glühend heiß. Ich hatte mich ganz tüchtig gebrannt, wenn auch ohne Erzeugung einer Brandblase.

»Wie ist das möglich?«, fragte ich in offenem Staunen. »Du wirst es später erfahren. Es sind eben die an dem Ringe gebundenen Geister, jetzt die Feuergeister, die dies bewirkten, während die scheinbare Schwere die Erdgeister erzeugten. Jetzt lasse ich die Luftgeister in Aktion treten. Beachte dabei, dass ich keine magischen Formeln und dergleichen gebrauche. Es geht ganz einfach zu. Komm her zu mir! Auf meinen Finger!«

Der Alte streckte seine rechte Hand nach dort aus, wo der Ring auf dem Teppich lag, ungefähr drei Meter von uns entfernt.

Da aber, wie der Alte das letzte Wort gesprochen, war der Ring dort plötzlich verschwunden, er befand sich mit einem Male auf seinem Zeigefinger.

Ja, ich staunte. Aber an Geister glaubte ich deshalb noch lange nicht. Es war für mich nur eine Gaukelei, irgendwie zustande gebracht. Und wenn ich auch annehmen wollte, dass der Alte Kenntnisse besaß, über Naturkräfte verfügte, die der anderen Welt noch unbekannt waren, so lief es doch immer auf dasselbe hinaus.

»Erst wurde der Ring vor fremden Händen durch die Erdgeister geschützt, die ihn schwer machten, das heißt ihm eine ganz besondere Art von Widerstandskraft verliehen!«, erklärte Vater Abdallah weiter. »Dann machten ihn die Feuergeister heiß, jetzt trugen ihn mir die Luftgeister wieder zu. Nun werde ich die Erdgeister zusammen mit den Luftgeistern arbeiten lassen. Strecke noch einmal die Hand aus, aber fürchte nicht, dass Du nochmals gebrannt wirst. Diesmal fehlen ja die Feuergeister.«

Ich tat es, hielt die flache Hand hin, der Alte hielt in einiger Höhe den abgestreiften Ring darüber, ließ ihn fallen — und der große Ring fiel, ohne dass ich das Geringste davon merkte, glatt durch meine Hand hindurch auf den Teppich, von wo ihn der Alte wieder aufhob.

Ich sprang auf, machte in dem Raume einige Gänge hin und her, war plötzlich doch sehr erregt.

»Du glaubst wohl, Du seiest hypnotisiert, erlebtest dies alles nur in Deiner Einbildung, durch meine Suggestion?«, erriet der Alte wiederum meine Gedanken.

Ja, an so etwas hatte ich tatsächlich gedacht.

Aber da gab es nichts, ich war bei voller Besinnung.

Es war nicht nötig, dass ich mir erst in die Ohrläppchen kniff.

Beruhigt kehrte ich auf meinen Platz zurück. Mochte nun noch kommen, was da mochte, ich wollte es doch nur als eine Gaukelei hinnehmen.

»Bitte mache mir das Letzte doch noch einmal vor.«

»So oft Du wünschest.«

Er ließ den Ring noch mehrmals durch meine Hand fallen. Anders ist es nicht auszudrücken. Der starke Ring mit dem nussgroßen Steine ging glatt durch meine Hand hindurch. Freilich ohne dass ich dabei merkte, wie in meiner Hand etwa ein Loch entstanden wäre.

Als ich selbst den auf dem Teppich liegenden Ring einmal aufheben wollte, fand ich ihn wieder wie festgenagelt. Der Alte konnte ihn sofort wegnehmen. Oder er brauchte auch nur seine Hand auszustrecken, plötzlich war der Ring verschwunden, in einem Nichts zerflossen, und stak dafür an seinem Finger.

»Es ist dazu nicht nötig, dass ich den Befehl ausspreche, ich brauche ihn nur zu denken, und die Luftgeister führen ihn aus.«

»Musst Du dazu die Hand ausstrecken?«

»Auch nicht nötig.«

Er steckte seine beiden Hände in die Taschen seines Kaftans, während der Ring noch zwischen uns auf dem Teppich lag.

»An welche Hand soll der Ring jetzt kommen?«

»An die linke.«

»An welchen Finger?«

»An den kleinen.«

Plötzlich verschwand der Ring vor meinen Blicken und wie der Alte seine beiden Hände aus den Taschen nahm, war der Ring am kleinen Finger seiner linken Hand.

»Streife ihn ab.«

Der Ring war viel, viel zu weit für diesen kleinen Finger, und trotzdem vermochte ich ihn nicht abzustreifen. Weshalb nicht, das vermag ich gar nicht zu sagen. Der Widerstand lag mehr in der Luft.

»Jetzt bringe ich zu den Erd- und Luftgeistern auch noch die Feuergeister, der Ring soll durch Gluthitze das Hindernis überwinden. Dazu will ich aber lieber nicht Deine Hand nehmen, denn das Brandloch bleibt. Breite den unteren Rand Deines Kaftans aus. Oder hast Du ein Tuch bei Dir?«

Das hatte ich, ich war reichlich mit Wäsche und Garderobe versehen worden.

Ich musste das weiße Leinentuch zwischen beiden Händen straff spannen, der Ring wurde darauf gelegt, blieb liegen.

»Er wird erst durch meinen Befehl heiß, den ich nur in Gedanken zu geben brauche. Jetzt!«

Ein Qualmen, der Ring fiel durch, ein schwarzumrändertes Brandloch blieb in dem weißen Tuche zurück, ein Brandgeruch erfüllte das Zimmer.

»Wunderbar!«, sagte ich, und warum sollte ich nicht staunen.

»Glaubst Du nun, dass an diesem Ringe Geister gebunden sind?«

»Nein.«

»Was glaubst Du sonst?«

»Dass dies eine Gaukelei ist, die auf irgend eine Weise zustande kommt, nur nicht durch Hilfe von Geistern an die ich nun einmal nicht glaube.«

»Wohl, mein Sohn, Du sollst und darfst auch an nichts glauben, wovon Du nicht vollständig überzeugt bist. Du sollst diese Geister noch selbst sehen. Aber eines nach dem anderen. Jetzt erlaube ich Dir, dass auch Du einmal den Ring in die Hand nimmst, die Geister sind instruiert. Schließe Deine Hand zur Faust zusammen.«

Ich hatte den Ring diesmal vom Teppich nehmen können, schloss die Finger zur Faust.

»Wie fühlt sich der Ring an?«

»Der Temperatur nach? Ganz kühl.«

»Er soll sich in Deiner Faust langsam erwärmen.«

Tatsächlich wurde der Ring warm, wohl nach und nach, aber doch viel schneller, als ihn etwa die Blutwärme erwärmt hätte.

»Wenn er Dir zu heiß wird, so wirf ihn nicht gleich fort, sondern rufe einfach Halt!«

Immer wärmer wurde der Ring, wurde heiß und immer heißer, bis ich es nicht mehr aushalten konnte...«

»Halt!«

Im Nu war der Ring wieder ganz kalt.

»Kannst Du Dir das auf physikalische Weise erklären?«

»Nein, aber ich glaube schon, dass es Naturgesetze gibt, welche die Physiker noch nicht kennen. Wer sie aber nun doch schon kennt und zu benutzen weiß, vermag damit wunderbare Spielereien hervorzubringen.«

»Wohl, nimm es an. Bist Du nun aber überzeugt, dass man mir den Ring nicht entwenden kann?«

»Nimm ihn mir doch jetzt noch einmal aus meiner geschlossenen Faust — auuu!«

Schleunigst hatte ich den plötzlich wieder glühend heiß gewordenen Ring von mir geschleudert, ich sah ihn über den Teppich rollen, im nächsten Augenblick aber befand er sich schon wieder am rechten Zeigefinger des Alten.

»So war das nicht gemeint«, sagte ich, mir etwas ärgerlich die schmerzende Handfläche blasend, »Du solltest den Ring wesenlos durch meine geschlossene Hand hindurchgehen lassen.«

»Das konnte ich in diesem Falle nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich Dir den Ring freiwillig gegeben hatte, freiwillig musstest Du ihn mir deshalb auch zurückgeben oder Dich doch seiner entledigen, ihn von Dir werfen.«

»Na, ich danke! Tat ich das etwa freiwillig?«

»Gewiss.«

»Nein, er verbrannte mir die Hand.«

»Wohl, steht es nicht ganz in Deinem Willen, Dir Deine Hand verbrennen zu lassen?«

Ja, wenn der Alte freilich so anfing — da war nichts dagegen zu machen! »Kein Mensch muss müssen«, sagt Schiller. Teufel noch einmal, dieses herrliche Wort lässt sich in der Praxis nur so schlecht durchführen.

»Hast Du ein Messer bei Dir?«

Das hatte ich, ein starkes Messer in der Scheide, einen Dolch, den ich bei meinen Holzarbeiten gebrauchte, ihn aber auch immer einstecken hatte. Unsereins kann doch nicht ohne Messer sein. Ich zog ihn hervor.

»Schneide mir den Finger mit dem Ring ab.«

Ganz vorsichtig säbelte ich mit dem vorzüglichen haarscharfen Stahl über den Finger hin. Es war vergebens, ich konnte dann auch aufdrücken wie ich wollte, ich konnte nicht in das Fleisch schneiden. Warum nicht, vermag ich gar nicht zu sagen. Unter meinen Fingern konnte ich das Fleisch immer eindrücken, aber mit dem Messer fand ich einen festen, unbesiegbaren Widerstand, der mehr in der Luft als im Fleische selbst zu liegen schien.

»Wie ist das möglich?«

»Die Geister lassen dort, wo Du mich verwunden willst, immer eine feste, undurchdringliche Schicht entstehen.«

»Woraus besteht diese Schicht?«

»Aus Luft, die sich aber in einem besonderen Aggregatzustand befindet. Diese Erklärung musst Du Dir vorläufig genügen lassen, eine andere würdest Du nicht verstehen — vorläufig noch nicht.«

Immerhin, das war schon einmal eine physikalische Erklärung gewesen!

Dass jede selbständige Substanz drei Aggregatzustände besitzt, davon sind unsere Physiker schon längst überzeugt. Also den festen, den flüssigen und den gasförmigen. Beim Wasser kommt das auch in der Natur vor: Eis, Wasser und Dampf. Dass es nun auch noch einen anderen, einen vierten Aggregatzustand gibt, ahnt man oder weiß man sogar schon durch das Verhalten des Wassers, bei besonderen Gelegenheiten. Schon beim Bilden der Eisblumen am Fenster möchte man an einen besonderen Aggregatzustand glauben. Denn sonst fällt es dem Wasser doch gar nicht ein, beim Gefrieren zu kristallisieren. Und warum versucht es nun da gerade Farnkräuter nachzuahmen, die erste Pflanzenform, die sich auf unserer Erde entwickelte? Hier hat das tote Element offenbar schon das Bemühen, die Sehnsucht, ein lebendiges Wesen zu werden, aus der anorganischen in die organische Materie überzugehen.

Weiter dann der sogenannte sphäroidale Zustand des Wassers, schon genügend bekannt. Lässt man in eine weißglühende Metallschale Wassertropfen laufen, so benehmen sich diese ganz sonderbar — auf einer ebenen Platte entsteht der sogenannte »Leidenfrost'sche Tropfen« — sie rollen und tanzen hin und her, verdampfen wohl, werden immer kleiner, aber doch ohne in richtiges Kochen zu kommen. Überhaupt müssten sich die Tropfen auf dem rot oder gar weißglühenden Blech doch augenblicklich in Dampf verwandeln. Das tun sie aber eben nicht. Kühlt sich aber nun das Blech ab, dann kommt ein Zeitpunkt, da das ganze Wasser plötzlich mit einem Knall explodiert, es ist verschwunden, hat sich urplötzlich in Dampf verwandelt.

Diese Erscheinung ist für den Physiker ein großes Rätsel. Er kennt die Erscheinung recht wohl, vermag sie sich aber nicht zu erklären. Man kann nur annehmen, dass sich das überhitzte Wasser in einem besonderen Aggregatzustand befindet. Hierdurch entstehen auch die meisten Dampfkesselexplosionen, gegen die wir uns noch gar nicht schützen können. Will man aber nun das Bestreben des Wassers, bei besonderer Gelegenheit zu Eisblumen zu kristallisieren, auf einen vierten Aggregatzustand zurückführen, so müsste man bei dem überhitzten sphäroidalen Wasser doch schon an einen fünften Aggregatzustand glauben, und daraus wieder lässt sich schließen, dass es überhaupt noch eine ganze Masse solcher Aggregatzustände gibt, von denen wir noch gar nichts ahnen.

Und was hätte man denn übrigens vor hundert Jahren gesagt, wenn jemand von flüssiger Luft gesprochen hätte?

Unmöglich ist absolut gar nichts! Nichts hat eine Grenze! Also auch nicht die Beschränktheit der Menschen.

»Schneide mich irgendwo anders, stich mich, wo Du willst, auch ins Auge.«

Es gelang mir nicht. Die Spitze des Messers fand überall am Körper des Alten einen undefinierbaren, aber auch unbesiegbaren Widerstand. Als ich mit aller Kraft zustieß, war es nicht anders, als ob ich gegen eine Panzerplatte treffe. Nur dass es nicht den geringsten Schall gab.

»Wunderbar, ich gestehe es! Dann aber habe ich zunächst eine Frage.«

»Bitte, mein lieber Sohn?«

»Kannst Du Dich jederzeit in diesen Zustand versetzen?«

»Ja, wenn ich will.«

»Also auch außerhalb dieses Raumes hier, draußen im Freien? Kannst Du mir alles dies auch morgen am Tage in Deinem Garten unter Gottes Sonne vormachen?«

»Ja, ich könnte es, aber ich tue es nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Das, mein lieber Sohn, verstehst Du noch nicht. Du wirst es später begreifen lernen, aber jetzt kannst Du es noch nicht. Die Sache ist die, dass ein Adept, ein Meister der Magie, alle seine Fähigkeiten nicht zu seinem eigenen Vorteile benutzen darf. Sonst ist er überhaupt gar nicht fähig dazu, oder aber er verliert seine magischen Fähigkeiten sehr schnell wieder. Wenn ich einen Schüler ausbilden will, so muss das ganz im geheimen geschehen, in einem geschlossenen Raume und in einem besonderen dazu, der immer wieder benutzt wird. Eine weitere Erklärung kann ich Dir vorläufig nicht geben. Willst Du Dir daran vorläufig genügen lassen?«

»Es genügt mir!«, entgegnete ich, und wahrhaftig rann mir dabei etwas wie ein heiliger Schauer über den ganzen Leib. »Du willst mich zum Magier ausbilden?«

»Ich will. Wenn Du danach begehrst.«

»Na und ob ich will!«

»So lasse Dir vorläufig an den Experimenten genügen, die ich Dir vormache, ohne Dir eine Erklärung zu geben.«

Der Alte griff in die Luft, hatte plötzlich etwas in der Hand — ein braunes irdenes Töpfchen, sehr klein.

»Weißt Du, was das ist?«

»Das sieht bald aus wie ein Schmelztiegel.«

»Ist es auch, ein Schmelztiegel.«

»Wo hast Du den plötzlich herbeikommen?«

»Ein Luftgeist hat ihn mir auf meinen Befehl aus meinem Laboratorium zugetragen.«

»Du hast hier ein Laboratorium?«, fragte ich zunächst.

»Ein vollständig eingerichtetes physikalisches und chemisches Laboratorium mit allen Apparaten und Chemikalien.«

Davon hatte mir der Alte in den vierzehn Tagen auch noch kein Wörtchen gesagt!

»Nicht wahr, der Tiegel ist leer?«

»Er ist leer.«

»Jetzt lasse ich ihn von einem Erdgeist mit Wasser füllen.«

Plötzlich war das Tiegelchen fast bis zum Rande mit Wasser gefüllt.

»Ich nehme den Ring, werfe ihn in das Wasser...«

Plötzlich hatte sich das Wasser in Eis verwandelt. Der Eisklumpen fiel aus dem Tiegel in meine Hand. Es war regelrechtes Eis, schmolz schon etwas wieder durch die Wärme meiner Hand.

»Und wo ist der Ring?«

»Schon wieder hier an meinem Finger.«

Zunächst hatte ich einen besonderen Gedanken.

»Hm, da hast Du ein Mittel, um Dir in Deinem Hause immer Eis zu verschaffen?«

»Du redest unbedacht, mein lieber Sohn. Habe ich Dir nicht eben gesagt, dass ich aus meinen magischen Fähigkeiten nicht den geringsten Vorteil ziehen darf?«

»Ah so. Das ist aber sehr schade. Was hat da die ganze Sache für einen Zweck?«

»Ist es nicht schon genug, den Naturkräften befehlen zu können?«

»Mir wäre das noch nicht genug.«

»Du wirst aber nicht eher Fortschritte in der Magie machen können, als bis Du zu dieser Überzeugung gekommen bist.«

»Gut, das wird sich finden. Mache mir noch etwas anderes vor.«

Der Eisklumpen wurde wieder in das Tiegelchen getan, der Alte streifte den Ring ab.

»Die Feuergeister hatten den Ring durch Ableitung der Wärme so kalt gemacht, dass er das Wasser augenblicklich in Eis verwandelte. Jetzt soll er die intensivste Hitze ausstrahlen.«

Er warf den Ring auf das Eis, sofort ein furchtbares Zischen, eine große Dampfwolke stieg auf und... der Tiegel war leer, hatte aber am Boden jetzt ein großes Loch, oder überhaupt gar keinen Boden mehr, nur noch einen kleinen Rand, und der Ring saß schon wieder an des Alten Finger.

»Der heiße Ring hat das Wasser nicht nur zu Dampf verflüchtigt, sondern seine Hitze war so groß, dass er gleich durch den Boden des Tiegels schmolz. Dabei mache ich Dich darauf aufmerksam, dass dieser Schmelztiegel eine Hitze von mehr als 2000 Grad Celsius verträgt, auch Platin kann man darin schmelzen, wovon Du Dich selbst in meinem Laboratorium überzeugen sollst. Stecke selbst diesen Tiegel ein.«

Ich tat es, wieder etwas kopfscheu geworden.

»Das war ein sogenannter spiritistischer Apport!«, sagte ich dann.

»Ich weiß, was Du meinst. Das Herzutragen eines entfernten Gegenstandes durch Geisterhand nennt Ihr Europäer — vorausgesetzt, dass Ihr überhaupt daran glaubt — einen spiritistischen Apport. Ja, das war es. Aber ich will nichts von Eurem Spiritismus wissen. Sprich einfach von einem Apport.«

»Du kannst Dir durch Deine Geister jeden entfernten Gegenstand zutragen lassen?«

»Ja.«

»Bitte, lass mir aus meinem Zimmer das Rasiermesser holen, das auf dem Spiegeltische liegt.«

»Ich könnte es durch einen meiner Geister holen lassen, aber ich will nicht, ich darf nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Ich habe es Dir schon gesagt. Weil ich aus meiner Magie nicht den geringsten Vorteil ziehen darf.«

»Dieses Rasiermesser bedeutet weder für Dich noch für mich einen Vorteil, wir bedürfen es ja nicht.«

»Es ist dasselbe. Es ist ein unnatürlicher Vorgang, der nicht erlaubt ist. Nur hier in diesem Raume darf ich zu Deiner Belehrung solche Apporte vornehmen, lass Dir das genügen, bis Du meine Weigerung später vollkommen verstehen wirst.«

»Aber Du hast Dir doch auch den Schmelztiegel zutragen lassen«, beharrte ich dennoch, »das war sogar direkt zu Deinem Vorteil, da Du ihn sonst selbst aus Deinem Laboratorium hättest holen müssen.«

»Mein Laboratorium liegt noch in der Zone, in welcher ich meine Geister zu solchen Zwecken benutzen darf.«

Der Alte war nicht zu fangen. Denn mir schien doch so, als ob die Sache irgend einen Haken habe.

»Aber«, fuhr er fort, »ich will Dir andere Gegenstände holen lassen. Nur ist immer Bedingung, dass der betreffende Gegenstand nicht im Besitze eines lebendigen Menschen ist, dass auch kein lebendiger Mensch überhaupt davon weiß.«

Der Alte griff in die Luft und hatte plötzlich ein goldenes Armband in der Hand, prachtvoll mit farbigen Steinen besetzt, ein ganz altertümlicher Schmuck.

»Nimm es, befühle und betrachte es!«

Das Armband war eine Realität.

»Wo kommt das her?«

»Jedenfalls stammt es von einem vergrabenen oder sonst wie verborgenen Schatze, von dem kein lebendiger Mensch etwas weiß.«

»Du selbst weißt das nicht ganz genau?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Ich habe einem meiner Geister den Auftrag gegeben: schaffe mir einen Schmuck aus einem Schatze herbei, von dem kein lebendiger Mensch etwas weiß. Das Letztere wäre gar nicht nötig gewesen, denn meine Geister wissen doch schon, wie ich das halte. Und ich selbst will und darf nicht wissen, wo sich dieser Schatz in Wirklichkeit befindet, darf meine Geister deswegen nicht fragen.«

»Weshalb darfst Du das nicht wissen und darfst deswegen nicht fragen?«

»Einfach deshalb nicht, weil sich das für einen Adepten, der schon eine sehr, sehr hohe Stufe erreicht hat, nicht gehört. Das wäre eine ganz unpassende Neugier. Überhaupt eine Unmöglichkeit. Was gehen mich denn diese verborgenen Schätze an? In dieser Hinsicht muss ein Magier für die Welt schon gänzlich abgestorben sein. Schade, dass Du das noch nicht verstehst.«

»Doch, ich verstehe es bereits. Also ich darf dieses Armband auch nicht behalten und mitnehmen?«

»Nein, das darfst Du nicht. Es kommt nicht hier aus diesem Raume heraus.«

»Hier aber könnte es jahrelang liegen bleiben?«

»Unter Umständen für alle Ewigkeit.«

»Wenn aber nun dieser Schatz von einem Menschen gefunden würde?«

»Nun, was dann?«, fragte mich der Alte aufmerksam.

»Dann würde noch rechtzeitig dieses Armband hier verschwinden und dort wieder an Ort und Stelle sein.«

»Du sagst es — es freut mich, dass Du jetzt den Kern der ganzen Sache zu verstehen beginnst!«, lobte mich mein Lehrer.

»Lass das Armband wieder verschwinden, zurücktragen.«

»Lege es auf den Teppich.«

»Nein, lasse es zwischen meinen Fingern in Nichts zerfließen.«

»Das geht nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Aus demselben Grunde nicht, weswegen ich Dir auch den Ring nicht aus der geschlossenen Faust nehmen konnte. Weil Dir das Armband freiwillig gegeben worden ist: Also musst Du es freiwillig auch wieder zurückgeben. Oder aber...«

Schnell schleuderte ich das Armband von mir, denn es war in meinen Fingern plötzlich glühend heiß geworden.

Es berührte nicht erst den Boden, es zerfloss in der Luft, verschwand einfach.

Aber ich staunte nicht mehr. Denn plötzlich war mir die Erkenntnis aufgegangen, wie dies alles ermöglicht werden konnte, ohne Hilfe von »Geistern«. Oder nicht ganz plötzlich, sondern bei der Weigerung des Alten, mir mein Rasiermesser herbeizuschaffen, hatte ich diese Erkenntnis bekommen.

Ich werde später eine vollständige Erklärung für diese Gaukeleien geben. Und auch dem Alten sagte ich nichts von meiner Erkenntnis. Ich wollte mir ruhig noch mehr von ihm vorgaukeln lassen, meine Meinung würde er

schon später zu hören bekommen. Jetzt wollte ich den Gläubigen spielen, wenigstens so halb. Wenn ich mich noch über etwas wunderte, so war es höchstens über die Konsequenz des alten Gauklers und... Gauners, möchte ich gleich sagen. Denn er hätte mir recht wohl den Ring wie das Armband direkt aus der Hand »herauszaubern« können. Dass er das aber nicht tat, dafür einen Grund anzugeben wusste, das war eben seine ganz raffinierte Schlauheit, wie der Leser später merken wird.

»Kann ich mir von Deinen Geistern noch etwas anderes apportieren lassen?«

»Also Du glaubst jetzt, dass ich über Geister gebiete?«, fragte er da rasch.

»Noch nicht so ganz. Ich glaube aber, dass Du in Dir selbst magische Fähigkeiten besitzest, durch welche Du diese Phänomene erzeugst.«

»Gut, nimm das vorläufig an.«

»Also kannst Du mir noch etwas anderes herbeischaffen.«

»Gewiss. Alles, was Du willst. Nur muss es immer den genannten Bedingungen entsprechen. Kein Mensch darf durch das Verschwinden eines Gegenstandes erschreckt werden, er darf ihn nicht vermissen, überhaupt darf kein Mensch von seinem Vorhandensein etwas wissen.«

»Ich verstehe schon. So bitte ich um einen kleinen Diamanten aus demselben Schatze.«

»Wenn ein solcher loser Diamant bei dem Schatze vorhanden ist, ausgebrochen darf er nicht werden. Oder aber... nun, sehen wir zu. Strecke Deine Hand aus.«

Ich tat es, und da lag auch schon auf meiner Hand ein erbsengroßer Diamant.

»Dieser Stein ist mir also freiwillig in die Hand gegeben worden.«

»Gewiss doch...«

Schnell hatte ich das Ding verschluckt. Auf so eine Pille im Magen kam es mir doch nicht an.

Der Alte machte ein höchst bestürztes Gesicht, dann erhob er warnend die Hand.

»Mein lieber Sohn, so etwas mach nicht wieder!«, sagte er, streckte die Hand aus und hatte darauf den oder einen anderen Diamanten.

»Ist das derselbe?«

»Derselbe, ich habe ihn durch Deinen Körper wandern lassen.«

»Ich habe aber nichts von brennendem Schmerz gespürt, und der Stein war mir doch freiwillig gegeben worden, wie kann man ihn denn da wieder aus meinem Magen herausholen?«

»Aber es war Dir nicht erlaubt worden, ihn zu verschlucken, nur in der Hand durftest Du ihn behalten. So konnten ihn auch meine Geister wieder aus Deinem Magen holen.«

Der Alte war nicht zu fangen, blieb sich immer konsequent.

»Willst Du sonst noch etwas hergetragen haben?«, fragte er, als das Steinchen wieder spurlos verschwunden war.

»Was ich will?«

»Gewiss. Was Du willst. Wenn es den Bedingungen entspricht, und wenn es in diesen Raum hereingeht.«

»Es darf auch im Meere liegen?«

»Sicher.«

»In jeder Tiefe?«

»In jeder.«

»Auf dem Meeresboden liegen gesunkene Schiffe genug...«

»Aber mein lieber Sohn«, unterbrach er mich, »so ein ganzes Schiff geht doch nicht in diesen engen Raum!«

»Nee nee«, lachte ich, »das verlange ich ja auch gar nicht. Nur einen Gegenstand aus solch einem Wrack. Kann ich da näher wählen?«

»Das kannst Du.«

»So möchte ich ein Geschütz eines Schiffes von der spanischen Aramada haben, das damals gesunken ist.«

»Willst Du noch ein näheres Schiff bezeichnen?«

»Das ist nicht nötig.«

»So gib acht, erschrick nicht — jetzt!«

Ein donnerndes Poltern, und zwischen uns lag ein gelbes Geschützrohr von fast zwei Meter Länge und einem viertel Meter Durchmesser, ganz nass hier und da mit Algen und anderen Seepflanzen übersponnen.

Ja, ich war mächtig erschrocken. Sonst wäre ich doch kein normaler Mensch gewesen. Aber nur die Plötzlichkeit und das Poltern hatten mich so erschrocken. Das Phänomen selbst sonst nicht. Das konnte ich mir also bereits erklären. Aber das brauchte der Alte noch nicht zu wissen.

Es war ein Bronzerohr, so schwer, dass ich es nicht zu heben vermochte. Ziseliert und auch sonst mit erhabenen Verzierungen versehen, hinten auf der rechten Seite war das Wort »Pendula« eingraviert — die Feder — wohl der Schiffsname auf der rechten Seite die Zahl 1573.

Die spanische Armada ging im Jahre 1588 gegen England vor.

»Bist Du zufrieden?«

Ich kostete das herabrinnende Wasser. Es schmeckte salzig.

»Ganz erstaunlich!«, sagte ich, freilich ziemlich trocken. »Also Entfernung und Gewicht spielen für Deine Geister gar keine Rolle.«

»Nein. So wenig es für den Gedanken eine Entfernung gibt, so wenig auch für die Geister, über die ich befehle.«

»Und das Gewicht?«

»Weißt Du, was Schwerkraft ist?«

»Nach langen Spekulationen ist die neueste Theorie die, dass alle Schwerkraft aus Schwingungen des Äthers beruht, der jeden Gegenstand durchdringt.«

»Das ist auch die richtig erkannte Wahrheit.«

»Also verstehen seine Geister diese Ätherschwingungen aufzuheben?«

»Sie können es, aber in diesem Falle machen sie es anders, dass sie jedes Gewicht mit Gedankenschnelle hierher schaffen können.«

»Wie machen sie es?«

»Sie dematerialisieren jeden Gegenstand erst, den sie herbeischaffen wollen, und materialisieren ihn hier wieder. Verstehst Du, wie das gemeint ist?«

Ich verstand es und hoffe, dass es auch jeder Leser versteht. Denn sonst wäre dazu eine gar komplizierte Erklärung nötig. Freilich muss man da immer etwas an Magie glauben, obwohl es im Grunde genommen auch nicht nötig wäre.

»Also auch diejenigen Schwingungen des Äthers, welche die Schwerkraft oder einfach das Gewicht jedes Körpers erzeugen, können Deine Geister aufheben?«

»Sie können es.«

»Dann müsste doch auch dieses Geschützrohr gewichtslos gemacht werden können.«

»Es ist bereits geschehen. Hebe es.«

Wieder erschrak ich sehr. Nämlich weil ich mich auf mehrere Zentner gefasst gemacht hatte, die ich überhaupt nicht heben konnte, und nun fand ich das Rohr federleicht. Oder überhaupt ohne jedes Gewicht.

»Lasse es los.«

Ich tat es, und das große Bronzerohr blieb frei in der Luft schweben. Natürlich, wenn ein Gegenstand absolut gar kein Gewicht hat, dann muss er wohl dort in der Luft hängen bleiben, wo man ihn loslässt.

Mit einem Male war das Rohr vor meinen Blicken verschwunden.

»Meine Geister haben es an Ort und Stelle zurückgebracht.«

Ich blickte auf den Teppich der vorhin ganz nass gewesen war. Jetzt war keine Spur von Wasser mehr zu bemerken, ebenso wenig wie an meinen Händen, die eben noch getrieft hatten.

»Wo ist dieses Wasser hin?«

»Das ist ebenfalls schon wieder dort, von wo es gekommen ist. Aber Du stellst Dir doch nicht etwa vor, dass es meine Geister aufgewischt und so hingetragen haben. Das geschieht alles auf magische Weise, verstehst Du?«

Wenn da überhaupt etwas zu verstehen war, so hatte ich es verstanden.

»Was willst Du sonst noch von meinen Geistern herbeigeschafft haben?«

»Zunächst interessiere ich mich am meisten für diese Aufhebung der Schwerkraft. Das können Deine Geister bei jedem Gegenstande?«

»Bei jedem.«

»Auch der sich von vornherein in diesem Raume befindet?«

»Gewiss.«

»So müssen sie doch auch mich selbst gewichtslos machen können.«

»Das können sie auch. Du bist es.«

Plötzlich überkam mich ein ganz merkwürdiges, schauerliches Gefühl.

Wohl konnte ich alle meine Glieder noch bewegen, aber mit ihnen absolut keinen Druck ausüben. Ich konnte die Finger auf meinen Arm legen, aber nicht ins Fleisch kneifen. Konnte den Mund öffnen, den Finger zwischen die Zähne stecken, aber nicht so darauf heißen, dass ich das leiseste Gefühl davon hatte. Von einem Aufstehen gar nicht zu sprechen... ein ganz undefinierbarer Zustand.

»Ich habe die Gewichtslosigkeit nur einen Teil Deiner Muskeln treffen lassen!«, sagte der Alte. »Wollte ich die Ätherschwingungen in Deinem Körper vollständig aufheben, so könntest Du ja auch nicht mehr die Augen verdrehen, überhaupt nicht mehr sehen, die Sehnerven versagten den Dienst, Du könntest nicht mehr sprechen, nicht atmen, Dein Blutschlag stockte sofort, Du wärest einfach tot. Nur wer genügend Erfahrung darin hat, darf solche Experimente machen, ich wollte es Dir einmal zur Warnung dienen lassen. Es gibt die verschiedensten Grade bei dieser Gewichtslosigkeit. Jetzt versetze ich Dich in den Zustand der absoluten Gewichtslosigkeit, wobei Du aber doch alle Deine Fähigkeiten beibehältst, und Deine Bewegungen sollen allein durch die Kraft Deines Willens reguliert werden. Wolle, dass Du emporschwebst, und Du wirst emporschweben.«

Ich konzentrierte meine Gedanken auf diesen Wunsch, und sofort schwebte ich empor, bis zur Decke. Ich konnte diese mit den Händen betasten, mich auch von ihr abstoßen, aber es hatte keinen Zweck, diese Bewegung wurde nicht fortgepflanzt. Doch ich brauchte nur den Willen zu haben, so senkte ich mich wieder herab, langsam oder schnell, ganz wie ich wollte. Ich konnte mich in der Luft überschlagen, und auch meine Kleider machten diese ruhige Bewegung mit, wurden also nicht selbständig zur Erde herabgezogen. Aber auch vom Boden konnte ich mich nicht mit den Füßen abstoßen, nur allein der Wille dirigierte alle meine Bewegungen.

So trieb ich es längere Zeit, mich an dieser seltsamen Fliegerei ergötzend.

Dabei war mir immer ganz klar, wie dies alles ermöglicht werden konnte, ohne Geisterkraft und ohne die magischen Fähigkeiten eines Adepten. Oder überhaupt jeder Mensch ist so ein Hexenmeister, ohne dass er es weißt. Er muss diese für gewöhnlich unbewusste Fähigkeit nur erkennen. Davon wollte ich aber dem Alten noch nichts sagen.

Mit einem Male, wie ich gerade langausgestreckt in halber Höhe des Zimmers schwebte, strengte ich meine Willenskraft vergebens an, ich konnte zappeln nach Herzenslust, aber heraus kam ich nicht wieder aus dieser Lage.

»Was ist denn das?!«

»Ich habe Dir den Willen über Deine Bewegungen entzogen, jetzt musst Du dort oben hängen bleiben bis in alle Ewigkeit!«, schmunzelte der Alte, auch als ehrwürdiger Adept immer noch ein Humorist.

»Es ist genug!«, lachte ich nach einer Weile, als alle meine Bemühungen, mich selbst aus dieser Lage zu befreien, erfolglos blieben.

Langsam senkte ich mich herab, wie ich gewollt hatte, kam zum Sitzen, und da fühlte ich mein Körpergewicht mit einem Ruck zurückkehren, mit der Fliegerei war es vorbei.

»Was sagst Du hierzu?«, lächelte der Alte. »Wie hat Dir das gefallen?«

»Ein ganz wunderbarer — — — Zustand.«

Bald hätte ich mich verplappert.

Aber der Alte brauchte nicht besonders scharfsinnig zu sein, um meine Gedanken zu erraten.

»Du meinst wohl, dass Du dies alles nur träumst?«

Ich fasste an meine Nasenspitze und verdrehte die Augen.

»O nein, ich träume doch nicht. Ich befinde mich bei vollem Bewusstsein.«

»Willst Du diesen Raum einmal verlassen?«

»Ja, wenn ich darf.«

»Gewiss, warum nicht? Du kannst gleich etwas holen.

Ich will, da ich einen so gelehrigen Schüler an Dir habe, diese erste Experimental-Vorstellung doch gleich länger ausdehnen, als ich zuerst beabsichtigte. Ich könnte mir die dazu nötigen Sachen durch meine Geister herbeischaffen, aber es ist besser, wenn Du sie selbst holst, es gewinnt mehr Realität. So gehe in das erste Stockwerk, gleich an der Treppe links die zweite Tür, sie ist unverschlossen, es war das Spielzimmer meiner Kinder, jetzt unbenutzt, aber Du findest noch genug Spielzeug darin, hole so eine Schachtel, die auf einem Simse steht, die hölzerne Tiere enthält, Du wirst sie schon finden, brauchst ja nur hineinzusehen. Lass hier die Tür offen, dass Du Dich gleich zurückfindest.«

Ich erhob mich, nahm die Lampe mit, öffnete die Tür, trat hinaus.

In diesem Augenblicke erfasste mich ein großes Staunen, ich wurde an meiner ganzen Erklärungstheorie irre.

Doch schnell war das wieder überwunden. Nein, meine Theorie war dennoch ganz richtig.

In dem Keller konnte ich mich nicht verirren, erstieg die Treppen, fand das betreffende Zimmer, in dem es bunt genug aussah, blickte in verschiedene Schachteln, nahm eine, die eine ganze Menagerie enthielt. Es war Nürnberger Spielzeug, welches ja die ganze Welt beherrscht.

So begab ich mich in den Keller zurück, fand die offene Tür, trat ein. Der Alte saß noch so da, wie ich ihn verlassen hatte.

Als ich die Lampe aufhing, bemerkte ich, wie sich die Tür von selbst schloss, woraus ich mir nichts weiter machte.

Vater Abdallah nahm die Schachtel, schüttete alle die zahmen und wilden Tiere aus und setzte den Deckel umgestülpt zwischen uns.

»Meine Experimental-Vorstellung artet mehr in eine Gaukelei aus. Aber das ist nur scheinbar. Da müsste man erst definieren, wo die Gaukelei respektive die Wissenschaft beginnt und wo sie aufhört. Das wollen wir nicht tun. Aber eine kleine Erklärung muss ich diesmal doch vorausschicken.

Durch die magische Kraft meiner Geister sollen diese hölzernen Tierfiguren lebendig werden.

Aber Du kannst nicht verlangen, dass sie dem Holze wirkliches Leben einhauchen, sonst besäßen sie göttliche Kräfte, was nicht der Fall ist. Es ist nur ein imaginäres Leben, was Du zu schauen bekommst. Wie das zu verstehen ist, werde ich Dir später erklären, wenn Du auch theoretisch so weit bist.

Jetzt lass Dir nur folgendes gesagt sein: es gibt nur einen einzigen Urstoff. Aus diesem bestehen alle Elemente, jetzt in chemischen Sinne gesprochen. Sauerstoff oder Eisen oder Kohlenstoff oder Kupfer oder Wasserstoff oder Quecksilber oder Stickstoff — es ist immer ein und derselbe Urstoff, der sich nur immer in einem anderen Aggregatzustand befindet, was durch verschiedene Schwingungswellen des Äthers verursacht wird.

Weshalb die Ätheratome, selbst aus diesem Urstoffe bestehend, einmal so und einmal so schwingen, das vermag ich Dir nicht zu erklären. Ich kann es, aber Du würdest mich jetzt noch nicht verstehen, und wenn Du auch der größte Physiker der Erde wärest. Das lässt sich überhaupt nur intuitiv erfassen.

Wer nun diese Ätherschwingungen nach Belieben verändern kann, der vermag ein chemisches Element in das andere zu verwandeln. Der Adept kann es. Geister einer höheren Stufe vermögen noch mehr. Die können zum Beispiel auch Eisen oder Holz in Kautschuk verwandeln. Wie aber dies nun möglich ist, das vermag ich Dir jetzt ganz und gar nicht zu erklären. Diese Verwandlung ist überhaupt nur imaginär aufzufassen.

Ich komme kurz zum Resultat: die Kraft meiner Geister verwandelt dieses Holz in Gummi oder Kautschuk.«

Mit diesen Worten reichte mir der Alte ein hölzernes Reh, ungefähr fünf Zentimeter hoch sehr plump geschnitzt, braun angemalt.

»Das ist einfach Holz!«, sagte ich.

»Aber jetzt nicht mehr.«

In der Tat, mit einem Male konnte ich die dünnen Beine bewegen, den Leib etwas zusammendrücken, was ich vor wenigen Sekunden noch nicht vermocht hatte.

»Das Holz ist also plötzlich Kautschuk geworden?!«

»Frage nicht so. Nein, es ist weder Gummi noch Kautschuk geworden. Es ist noch dasselbe Holz, hat aber durch den Willen meiner Geister, indem sie durch die Substanz andere Ätherschwingungen leiten, die Eigenschaften des Kautschuks angenommen. Bitte, lass Dir doch vorläufig an dieser Erklärung genügen.«

»Sie genügt mir.«

»Gut. Du kannst also nicht verlangen, dass ein Geist, so hoch er auch schon stehen mag, einem toten Gegenstande Leben einhaucht. Du kannst auch nicht verlangen, dass er diesem hölzernen Reh Blut einflößt, dass durch das Herz Blut in den Adern pulsiert, dass er ihm Eingeweide gibt. Es ist nur ein scheinbares, ein imaginäres Leben, welches der Geist dem hölzernen Tiere zu verleihen mag. Dies sage ich Dir, weil ich Dich nicht betrügen will. Und nun setze die Figur auf den Deckel.«

Ich tat es und... das kleine Reh wurde einfach lebendig! Lief und sprang auf dem Deckel herum, hob den Hinterfuß und kratzte sich zierlich am Halse.

Ich staunte — nein, ich war entzückt! Ein Anblick von unbeschreiblichem Reiz, wie sich das winzige Tierchen so ganz natürlich bewegte.

Und — seltsam — in diesem Augenblick entstand in meinem Kopfe ein Plan!

In diesem Augenblicke dachte ich lebhaft an eine Flucht, um von hier fortzukommen.

Aber nicht allein, sondern... ich nahm diesen Hexenmeister mit! Wenn er nicht freiwillig wollte, dann mit Gewalt! Ich nahm ihn einfach auf den Buckel.

Jawohl, der musste mit auf unser Schiff! Dann wurde es erst ein richtiges Gauklerschiff, der gab der Sache erst die richtige Würze.

Doch genug jetzt hiervon, ich beobachtete weiter, immer entzückter.

Der Alte nahm einen der kleinen Büsche, wie solche und Bäumchen zu dem ganzen Tierpark gehörten, aus getrocknetem Schilf oder sonst etwas gefertigt, sehr plump, grün angemalt, setzte ihn auf den Deckel, und alsbald ging das Reh hin, knusperte, fraß das grüne Zeug.

»Dies ist ein imaginäres Verzehren!«, erklärte der Alte. »Das Tier hat ja keinen Magen, nicht einmal Zähne. Es ist nur imaginär, das Ganze wird durch die Kraft der Geister auf meinen Wunsch arrangiert. Aber nicht etwa, dass Du dies nur in Deiner Einbildung siehst. Es geschieht dennoch in Wirklichkeit. Aber es ist nur eine Transmutation, wie wir sagen, eine gleichzeitige Dematerialisation und Wiedermaterialisation. Eine andere Erklärung kann ich Dir jetzt nicht gehen.«

Ich brauchte überhaupt gar keine Erklärung mehr, wollte sie gar nicht hören.

Ich amüsierte mich königlich, wie das zierliche Rehchen die Blätter abknusperte und was es sonst für Kapriolen trieb.

»Kann ich es anfassen, aufheben?«

»Gewiss.«

Ich tat es. Das Reh bewegte sich zwischen meinen Fingern, wie — wie... wie sich ein natürliches Reh zwischen den meterlangen und entsprechend dicken Fingern eines hundert Meter großen Riesen bewegt hätte.

»Dass mich Allah nicht straft!«, begann da Vater Abdallah. »Das sind nicht etwa selbständige Bewegungen, welche die bewegliche Holzfigur da ausführt. Diese Bewegungen werden nur durch die Willenskraft meiner Geister ausgeführt, durch meine Suggestion.«

»Ich verstehe, ich verstehe.«

»Desto besser. Dann wird Allah meinen Frevel schon eher verzeihen, dann kann ich Dir auch noch mehr zeigen.«

Die ganze Arche Noah wurde lebendig. Alle die kleinen Schäfchen und Löwen und Hühnchen und Elefanten und Schweine und Panther erhoben sich, streckten und dehnten sich und trollten umher, nicht etwa nur auf dem Holzdeckel, sondern im ganzen Raume, und die Ziegen und Gemsen benutzten mich als Felsengebirge, auf dem sie herumkletterten.

Ich weiß nicht, wie lange ich diesem Treiben zugeschaut habe, will es auch nicht weiter beschreiben.

Jedenfalls war ich manchmal außer mir vor Entzücken.

Dann dachte ich an etwas, vermisste nur eines noch.

»Kann so ein Raubtier solch ein Schäfchen auch zerreißen und fressen?«

»Ja, das ist möglich. Es ist überhaupt nichts unmöglich. Aber ich mag es Dir nicht vorführen, aus besonderen Gründen nicht. Das magst Du später selbst tun, wenn Du dies alles aus eigener Kraft arrangieren kannst. Und wenn ich Dir noch Weiteres zeigen soll, so müssen wir hiermit abbrechen. Bist Du damit einverstanden?«

»Gut, lasse die Tierchen wieder zu hölzernen Figuren erstarren, so schwer es mir auch fällt, mich von diesem Anblick zu trennen.«

Es geschah, aber anders, als ich erwartet hatte.

Ich hatte geglaubt, alle die Tiere würden urplötzlich wieder auf einem Haufen liegen. Aber sie erstarrten dort, wo sie gerade gestanden hatten, purzelten zum Teil um. Ich erwähne nachträglich, dass ein Schäfchen immer auf drei Beinen herumgehopst war, weil das vierte eben abgebrochen war.

Der Alte selbst las die einzelnen Figuren zusammen, aus den entferntesten Ecken.

»Das hast Du nicht nötig«, sagte ich, noch im Anfange dieser Beschäftigung, »Du kannst die Tiere auch von Deinen Geistern zusammentragen lassen.«

»Wie Du willst.«

Und sie wurden wirklich von unsichtbaren Händen zusammengetragen, schwebten einfach durch die Luft und wurden in der Schachtel verpackt.

Es konnte mich nicht mehr irritieren. Ich wusste schon, was hier im Spiele war.

In dieser letzten Phase, als die allgemeine Erstarrung eintrat, hatte ich besonders scharf den abgefressenen Busch beobachtet, und richtig, wie mit einem Schlage hatte der plötzlich alle seine grünangemalten Blätter wiedergehabt.

»Was willst Du jetzt sehen?«

»Kannst Du in die Zukunft schauen?«

»Ja. Aber ich tue es nicht, weder für mich selbst noch für andere.«

Ich hatte diese Antwort erwartet. Man bekommt sie von allen sogenannten Adepten. Ich will mich darüber nicht weiter aufhalten.

»Werde ich diese Kunst erlernen?«

»Ja. Aber sobald Du wirklich in die Zukunft schauen kannst, wirst Du von dieser Gabe keinen Gebrauch mehr machen.«

Es war nur noch eine Prüfung gewesen, ob ich auch richtig geurteilt hatte. Es war der Fall gewesen.

»Kannst Du Tote beschwören?«

Mit einem Male wurde Vater Abdallah ganz scheu, machte dann mit beiden Händen eine Bewegung wie ein alter Pferdejude, der sich keinen abgetriebenen Gaul aufschwatzen lassen will.

»Verschone mich mit Toten! Ich treibe keine Nekromantie. Lass die Toten in Frieden ruhen.«

»Kannst Du Lebende erscheinen lassen?«

»Ja, das kann ich. Aber würdest Du glauben, dass es wirklich lebende Menschen sind?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Sondern?«

»Es sind nur visionäre Erscheinungen.«

»Du sagst es. Doch lass das jetzt. Ich wollte Dir jetzt andere Experimente nach Deiner Wahl vorführen. Ja, Du sollst später selbst Tote beschwören können.«

»Wirklich?!«

»Wenn Du ein folgsamer Schüler bist und den Mut dazu hast. Fühlst Du Dich übrigens nicht recht müde?«

In der Tat, ich wurde schläfrig. Wenn es jetzt vielleicht früh um vier war, so war ich schon fast zwanzig Stunden wach, und dasselbe galt von dem Alten. Wir hatten wegen einer besonders interessanten Arbeit in unseren Mäusezimmern gestern auch den ganzen Tag wachend verbracht.

»Wie viel Uhr mag es sein?«, fragte ich.

Dass der Alte keine Uhr bei sich hatte, wusste ich. »Nun, ich brauche ja nur meine Geister zu fragen. Wie viel ist die Uhr? Klingelzeichen!«

Kling ging es, und so noch viermal.

»Schon fünf Uhr. Wie viel Minuten nach fünf?«

Kling — kling — kling.

»Drei Minuten nach fünf. Ich dächte, wir brächen unsere Sitzung für heute ab.«

»Ich bin damit einverstanden.«

»Dann nur noch eine kurze Lektion, mein lieber Sohn, überhaupt die erste. Jedenfalls aber beginnt jetzt Deine Ausbildung zum Magier. Einfach durch die Kräftigung Deines Willens. Ihr Deutschen habt ja auch ein entsprechendes Stichwort, in dem das ganze Geheimnis enthalten ist. Wer sich selbst besiegt, der besiegt die ganze Welt. Also auch die Naturelemente. Willst Du die Übungen beginnen?«

»Ich will.«

»So gebe ich Dir als erste Willensübung nichts weiter auf, als dass Du drei Tage und drei Nächte lang nicht mit mir über alles das sprichst, was Du jetzt gesehen hast. Kein einziges Wort! Wenn Du irgend kannst, so denke auch gar nicht daran.«

»Das erstere wird mir leicht, das letztere dürfte mir schwer fallen.«

»Es ist nicht so schwer, wie man glaubt. Du musst jeden auftauchenden Gedanken daran sofort zurückdrängen. Das einfachste ist, dass Du in diesem Falle sofort ein Rechenexempel im Kopfe zu lösen beginnst. Multipliziere etwa eine mehrstellige Zahl. Verstehst Du?«

»Ich verstehe und werde es zu befolgen versuchen.« »Dieses Gedankenauslöschen braucht Dir vorläufig noch nicht zu gelingen, wenn Du nur drei Tage lang, mit jeder Frage und überhaupt mit jedem gesprochenen Worte zurückhältst. Den meisten Menschen würde dies nicht gelingen. Das ist schon Willensstählung genug. So lass uns schlafen gehen.«

Wir verließen den Raum, die Lampe mitnehmend, brauchten sie aber oben gar nicht mehr, der Morgen graute bereits!

Und ich brauchte auf meinem Lager auch nicht erst mehrstellige Zahlen im Kopfe zu multiplizieren, ich schlief sofort ein, blieb auch von jedem Traume verschont. Also von einer Aufregung gar keine Spur.

*

68. Kapitel

Eine Totenbeschwörung

Originalseiten 1689 — 1710

Die drei Tage und Nächte vergingen wie gewöhnlich im Spiele mit unseren Mäusen. Wohl hielten wir uns in diesen Zimmern immer des Nachts auf, weil eben nur da die Tierchen lebendig waren, wobei es keinen Zweck hatte, die Fenster bei Tage zu verdunkeln, diese Tiere wurden von ihrem Instinkt geleitet, deshalb störte sie auch das Lampenlicht nicht, aber wir selbst wurden dabei nicht zu regelrechten Nachttieren.

Es ging immer nur bis höchstens früh um vier, dann wurde bis um acht geschlafen, die herrlichen Morgen genossen wir in dem großen Hofgarten, uns nur unterhaltend, dann am Nachmittage eine mehrstündige Siesta, bis wir uns gegen acht wieder in den Mäusezimmern zusammenfanden.

So hielten wir es auch jetzt, und Vater Abdallah legte mir nach wie vor die Suren des Korans aus, mir in aller Gemütsruhe erklärend, wie der Prophet jegliche Zauberei aufs strengste verboten habe.

Ich tat jener Vorgänge mit keinem Worte Erwähnung und brachte es dank jenes Rezeptes mit der Kopfrechnerei auch immer besser fertig, jeden auftauchenden Gedanken daran zu verbannen.

So saßen wir auch am Morgen des dritten Tages in einer Rosenlaube des Gartens, schlürften köstlichen Mokka und schmauchten dazu gemeinschaftlich eine Wasserpfeife, saßen nun schon eine Stunde so, seit jenem Termin waren schon 76 Stunden vergangen, während 3 mal 24 doch nur 72 macht, und Vater Abdallah hatte den Bann noch immer nicht gebrochen, ich aber auch nicht.

Da legte er das Mundstück des Schlauches weg. »Mein Sohn, Deine Schweigezeit ist schon vier Stunden überschritten.«

»Ich weiß es.«

»Und Du stellst keine Frage, sprichst kein Wort darüber?«

»Ich habe Zeit, ich kann warten.«

»Wohl, Du hast die erste Prüfung bestanden, hast noch mehr Energie gezeigt, als ich Dir zugetraut habe, obgleich ich Deinen Charakter doch so ziemlich beurteilen kann. Sonst würde ich Dich gar nicht als Adeptenschüler annehmen. Und dass Du nicht teilnahmslos bist, weiß ich ebenfalls. Also sprechen wir nun darüber. Glaubst Du, dass ich über Geister gebiete?«

»Nein.«

»Du glaubst überhaupt noch nicht an Geister?«

»Nein.«

»Wohl. Wie hast Du Dir die Sache nun unterdessen zurechtgelegt, wie ich die Phänomene zustande bringen kann?«

»Ich durfte ja während der drei Tage gar nicht daran denken, und es ist mir dank Deines Rezeptes auch so ziemlich gelungen.«

»Sprich nur.«

»Alles, was Du mir da vormachtest, entbehrte der Realität. Ich habe dies alles nur geträumt, Du hast mir nur suggeriert, dass ich dies alles sehen und erleben soll. Das Tuch mit dem Brandloch und der Schmelztiegel waren präpariert.«

»So ist es!«, bestätigte der Alte sofort, eigentlich zu meiner Verwunderung. »Aber glaubst Du etwa, dass Du in der schwarzen Kammer schlafend gelegen hast?«

»Nein, das allerdings kann ich nicht glauben.«

»Hast Du auch nicht. Wie die ganze Sache eigentlich zusammenhängt, kann ich Dir immer noch nicht erklären, Du würdest mich noch nicht verstehen. Jedenfalls aber hast Du recht. Du bist durch meine Willenskraft beeinflusst worden, alles das zu sehen und zu erleben, was Du sehen und erleben solltest und sogar wolltest, Du hast mit mir gesprochen, hast Dich bewegt, hast die Spielschachtel geholt. Hast das hölzerne Reh in den Fingern gehalten. Aber ein Kanonenrohr war nicht vorhanden. Und so weiter und so weiter. Es handelt sich einfach um eine besondere Art von Hypnotik, von der Ihr Abendländer noch gar keine Ahnung habt...«

»Wie sie aber auch die indischen Fakire bei ihren Experimenten ausüben.«

»Ja, so ungefähr. Die arabische ist aber wiederum eine ganz andere Art. Doch lass das jetzt. Oder hast Du sonst noch eine Frage, die ich Dir jetzt gleich beantworten kann? Dann bin ich bereit dazu.«

»Kannst Du dieselben Sinnestäuschungen auch hier im Freien erzeugen?«

»Auch hier im Freien im Sonnenlichte. Allerdings sind sie dann nicht so scharf ausgeprägt, es können Störungen eintreten. Am besten gelingt es mir in dem schwarzen Samtzimmer, dort vermag ich meine Gedanken und meine Willenskraft am meisten zu konzentrieren.«

»Nun willst Du aber doch nicht mehr behaupten, dass es Geister gibt, die Du Dir dienstbar gemacht hast.«

»Ja, und dennoch ist es so! Nur darfst Du dabei nicht wie es die Menschen nun freilich einmal halten, an menschenähnliche Wesen denken, die in der Luft herumschweben, womöglich angetan mit weißen Leichenhemden. Was ist denn überhaupt ein Geist? Jeder Gedanke ist überhaupt ein Geist...«

Er sprach noch weiter. Ich will es aber nicht wiedergeben.

Wenn er so anfing, dann freilich hatte er recht, dann gab es Erd-, Luft- und Feuergeister. Dann wollte ich auch daran glauben.

»Lass das jetzt«, schloss er bald selbst seinen Sermon, »das lässt sich mit Worten überhaupt gar nicht ausdrücken, das wirst Du später alles verstehen. Willst Du die Fähigkeiten erwerben, solche magische Künste, wie wir jetzt einfach sagen wollen, auszuüben?«

»O ja, das möchte ich recht gern.«

»Die erste Prüfung, die des Schweigens, hast Du schon bestanden. Willst Du Dich der zweiten unterziehen?«

»Worin besteht die?«

»Du musst drei Tage und drei Nächte in völliger Einsamkeit verharren.«

»Dazu bin ich bereit. Ich bin mir immer selbst der beste Gesellschafter gewesen.«

»Im Finstern.«

»Das macht mir nichts aus.«

»Du musst dabei fasten.«

»Gar nichts essen?«

»Gar nichts.«

»Das gefällt mir nun weniger. Ich bin nicht sehr fürs Hungern.«

»Nur trinken darfst Du, Wasser.«

»Das ersetzt kein Essen. Wenn ich nur wenigstens gleich ein Resultat davon habe, eine Entwicklung meiner magischen Fähigkeiten, wovon ich jetzt nach dem dreitägigen Schweigen noch absolut nichts merke.«

»Das sollst Du.«

»Ein Resultat davon haben?«

»Ja. Sofort. Noch während dieser Fastenzeit in finsterer Einsamkeit.«

»Und worin besteht dieses?«

Immer feierlicher wurde der Alte, ganz ausnahmsweise.

»Du wolltest doch, dass ich Tote beschwöre.«

»Ja, darum bat ich Dich.«

»Ich selbst darf es nicht. Du aber bist ein Christ, dem so etwas nicht verboten ist.«

»Ich bin bereit dazu. Sage mir nur, wies gemacht wird.«

»Diese Totenbeschwörung kann nur in einem besonderen Raume vorgenommen werden, hier in diesem Hause. Aber der Raum befindet sich im Keller, noch tiefer als jenes schwarze Zimmer.«

»Ob unter dem Dache oder im tiefsten Keller, das ist mir gleichgültig.«

»Dass Dir nichts passiert, das weiß ich bestimmt, sonst würde ich solch ein Experiment gar nicht vornehmen, und ebenso weiß ich, dass es auch Deine geistige Konstitution erlaubt. Es ist unmöglich, dass Du dabei etwa in Wahnsinn verfällst. Nur gestört darfst Du während der dreimal vierundzwanzig Stunden nicht werden, absolut nicht, sonst allerdings könnte etwas Böses eintreten.«

»Was Böses?«

»Irgend etwas Schreckliches. Was, weiß ich selbst nicht. Kurz, Du darfst nicht gestört werden.«

»Dann lass mich nur ungestört.«

»Ich muss Dich einschließen, denn Du selbst darfst den Raum vor der festgesetzten Frist nicht verlassen. Also ich meine: selbst wenn Du während dieser Zeit um Hilfe rufst, darf ich den Raum nicht betreten.«

»Weshalb soll ich denn um Hilfe rufen?«

»Nicht etwa, weil Du irgend etwas Schreckliches erblickst. Das wird überhaupt alles anders werden, als Du jetzt vielleicht denkst. Jede reelle Geistererscheinung hat gar nichts Schreckhaftes an sich. Du wirst mit den Erscheinungen so ruhig sprechen können, wie mit einem lebenden, Dir befreundeten Menschen. Aber Du könntest etwa krank werden, könntest versehentlich von dem erhöhten Lager fallen, könntest ein Bein brechen — da würdest Du vergebens um Hilfe rufen, ich würde es überhaupt gar nicht hören, ich halte mich nicht in der Nähe auf.«

»Ich hoffe nicht krank zu werden und nicht aus dem Bett zu fallen.«

»Gut. Es ist Dein eigenes Risiko. Und welchen Toten würdest Du da nun sehen wollen?«

»Nun, ich hatte einmal einen alten Onkel... oder warte, Kleopatra, die ja das schönste Weib der Erde gewesen sein soll. Ja, die möchte ich mal sehen.«

Der Alte lächelte. Von meinem Onkel bis zur Kleopatra war ja nun freilich auch ein mächtiger Sprung.

Doch schnell wurde er wieder ernst, ernster als sonst. »Treibe mit dieser Sache keine Scherze...«

»Ich scherze durchaus nicht. Ich möchte die Kleopatra sehen, die Königin von Ägypten.«

»Du stellst Dir die Sache anders vor, als wie sie kommen wird. Nein, denke lieber an gar keinen bestimmten Toten. Habe immer nur die feste Sehnsucht, konzentriere darauf Deine ganze Gedankenkraft, Verstorbene, die Du einst geliebt hast und die Dich geliebt haben, zu sehen.

Denke also womöglich an gar keine bestimmten Persönlichkeiten. Dann wirst Du ganz bestimmt Erscheinungen haben, das kann ich Dir versichern.«

»Ich kann mit ihnen sprechen?«

»Ja, und sie werden Dich zu überzeugen wissen, dass es wirklich die Seelen der Verstorbenen sind.«

»Hm. Und was sind dazu für Räucherungen nötig?«

»Ich weiß, was Du meinst. Du denkst an die alten Totenbeschwörungen, wie sie wohl auch noch moderne Nekromanten vornehmen, mit narkotischen Mitteln, welche betäuben...«

»Na, Vater Abdallah Du willst doch nicht etwa behaupten, dass ich da wirklich die Geister von Verstorbenen zu sehen bekomme! Du gaukelst mir eben wieder etwas vor...«

Da fasste der Alte seinen weißen Bart mit voller Hand und sagte feierlich:


Illustration

»Beim Barte des Propheten, ich schwöre Dir, dass ich Dir diesmal nichts vorgaukeln werde, dass ich mich absolut nicht einmische, und ich kann Dir versichern, dass es reelle Geistererscheinungen sind, die Du diesmal zu sehen bekommst, wirklich die Seelen von abgeschiedenen Menschen!«

So hatte der Alte gesprochen.

Und mir ward mit einem Male ganz unheimlich zumute! Hier in Gottes freier Natur unter der goldenen Sonne.

So feierlich hatte der Alte gesprochen. Und an diesem seinem Schwure durfte ich nicht zweifeln, das wäre Frevel gewesen.

»Du selbst hast in dem Kellerraume reelle Geistererscheinungen gesehen?«

»Die Seelen von Verstorbenen.«

»Du kannst Dich nicht getäuscht haben?«

»Ausgeschlossen! Zahllose Male habe ich sie zitiert, habe die Sache streng wissenschaftlich behandelt, mich mit allen Apparaten der Physik vor einem Betrug zu schützen gewusst, habe von den Lichterscheinungen Spektralanalysen gemacht und rätselhafte Resultate erlangt — ich bin überzeugt worden, dass es die Seelen abgeschiedener Menschen sind. Aber ich mache es nie wieder, jetzt nicht mehr. Ich habe ein Gelübde abgelegt. Aber ich weiß bestimmt, dass in jenem Raume auch einem anderen Menschen die Toten erscheinen werden, wenn er den Anweisungen nach handelt.«

»Nun gut, ich bin bereit, mich dort drin drei Tage und drei Nächte lang einschließen zu lassen. Was sind das aber für Anweisungen, nach denen man handeln muss? Es scheint doch noch etwas dazu zu gehören. Zum Hungern bin ich bereit, nur nicht etwa asketischer Martern, die meiner ganzen Ansicht über so etwas zuwider gingen.«

»Es ist nicht weiter nötig, als dass Du von Deinem erhöhten Lager aus immer auf ein magisches Zeichen blickst, dass ich mit einer leuchtenden Farbe auf eine geweihte Steinplatte male. Diese magische Formel ist es, welche die Seelen der Toten zwingt. Am besten ist also, Du denkst dabei an keinen bestimmten Toten, sondern flüsterst und denkst fortwährend: Kommt, Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir. Nichts weiter, immer dasselbe. Dann wirst Du erst recht die größten Überraschungen haben. Geister werden Dir erscheinen, an die Du gar nicht gedacht hast. Nämlich solche, welche sich auch im unbekannten Jenseits mit Dir verwandt fühlen, sich zu Dir hingezogen fühlen. Denn das ist doch die wahre Liebe, die auch im Jenseits herrschen wird. Du bist Seemann. Vielleicht erscheinen Dir die großen Seefahrer früherer Jahrhunderte, die Entdecker der Erde, ein Kolumbus, ein Cook, vielleicht sogar ein karthagischer Hanno. Ich halte es für möglich. So ging es auch mir. Ich fand das Rezept dazu, von dem die Hauptsache die magische Formel ist, in einer alten Handschrift meines Vaters, der schon dieses Haus bewohnt hat. Als ich das erste Mal den Versuch machte, wollte ich den Geist meines toten Vaters beschwören. Ich beschäftigte mich damals intensiv mit Astronomie. Statt des Geistes meines Vaters erschienen, woran ich nicht im entferntesten gedacht hatte, die Geister von Kopernikus, Tycho de Brahe, Galilei und anderen Astronomen. Wunderbar war es, was sie mir mitteilten. Aber darüber darf man nicht sprechen. So werden Dir wahrscheinlich die Geister großer Seefahrer erscheinen, sich mit Dir unterhalten wollen!«

Wahrhaftig, ich wurde immer erregter.

»Wann kann das Experiment gemacht werden?«

»Jetzt sofort, wenn Du willst. Das heißt, Du kannst die dreitägige Periode gleich antreten.«

»Ich bin bereit.«

»Von heute Mittag an, wollen wir sagen.«

»Jawohl.«

»So nimm noch ein Bad, beginne schon jetzt Deine Gedanken zu sammeln. Gefrühstückt hast Du doch schon. Nun lass Dir hieran genügen, iss lieber nichts mehr.«

*

Kurz vor 12 Uhr betraten wir mit einer Laterne und einem großem gefüllten Wasserkruge den Kellerraum, der immer noch eine Etage tiefer als das schwarze Zimmer lag.

Ungefähr sechs Meter im Quadrat, eben so hoch, die Steinwände gemeißelt, der Boden mit großen Fliesen bedeckt. In einer Ecke stand eine zwei Meter hohe Pritsche, mit Matratze, auf die sollte ich mich legen, auf den Bauch, den Kopf etwas darüber hinaus, und so immer mit jenem Wunsche, dass mir verwandte Seelen erscheinen möchten, nach dem magischen Zeichen starrend, das mit Leuchtfarbe in der Mitte des Raumes auf eine Platte gemalt war.

Alle diese Bodenplatten waren »magische«, auf allen waren Zeichen und Hieroglyphen eingemeißelt, sie alle mussten mitwirken, aber die Hauptsache war doch diese mittelste, welche die leuchtende Figur trug. Es war ein doppelter Triangel, jedes Feld enthielt wiederum wunderliche Figuren und Hieroglyphen. Während ich mich gebadet, hatte Vater Abdallah es mit frischer Leuchtfarbe erneuert, schon jetzt im Scheine der Lampe sah man deutlich das Leuchten.

Weitere Anordnungen waren nicht nötig, wir hatten unterdessen auch sonst alles besprochen. Obgleich es besser gewesen wäre, wenn ich gar nicht an eine Zeit gedacht hätte, so intensiv sollte ich mich in jenen Wunsch versetzen, hatte ich doch seine Taschenuhr und ein Feuerzeug mitbekommen. Sogar Kautabak war mir erlaubt, der in dieser großen Oasenstadt recht wohl zu haben war.

Die starke Holztür, auch noch eisenbeschlagen, musste von draußen verschlossen werden, das gehörte mit dazu, es war schon ein magisches Schloss und durfte unter keinen Umständen vor drei mal vierundzwanzig Stunden geöffnet werden.

Gewissenhaften, kritischen Lesern sei noch mitgeteilt — worüber aber auch ich Erkundigungen einzog — dass man in dem somit absolut geschlossenen Raume nicht etwa ersticken konnte. Absolut geschlossen? Jawohl! Da müsste die Tür ganz anders geschlossen und Gummidichtungen besessen haben. Aber so — ach, wo die Luft überall durchzuschlüpfen weiß. Man liest ja manchmal, dass etwa ein Kind sich in einem Kleiderschranke versteckt hatte, eingeschlossen worden und so erstickt ist. Solch einen Kleiderschrank empfehle man mir. Den kaufe ich sofort als Seekiste. Gibt's ja gar nicht.

Also ich erstieg auf einem Tritt die Pritsche, legte mich bequem auf den Bauch, den Wasserkrug neben mich — »jawohl, Vater Abdallah, alles in Ordnung« — und er ging mit der Lampe, rasselte draußen mächtig mit dem Schlüssel, ich war im Finstern.

Los ging die Geschichte.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir. Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir!«

Dabei starrte ich immer auf die Figur, die immer intensiver leuchtete. Wann die erste Erscheinung kam, war ganz unbestimmt. Manchmal schon in der ersten Stunde, manchmal erst in der 72., dann aber kamen die Toten sicher auch gleich massenhaft anspaziert. Von der magischen Figur aus stieg ein Nebel empor, aus dem sie sich nach und nach formten. So hatte mir Vater Abdallah noch berichtet, der diese Geisterbeschwörung viele dutzend Mal vorgenommen hatte, immer mit dem gleichen, überraschenden Resultate, und ich durfte nicht daran zweifeln.

Denn mit dem Zweifeln hat es eine Grenze. Wenigstens bei mir. Ich habe noch keinen hopsenden und klopfenden Spiritustisch gesehen. Ich habe es oft genug probiert, auch in Gegenwart sogenannter Medien, habe manchmal viel dafür bezahlt, aber es ist mir nie gelungen, der Tisch blieb immer bewegungslos und stumm wie ein toter Stockfisch. Aber wenn mir ein solider, ehrenwerter Mann, ein aktiver Rittmeister im deutschen Heere, auf sein Ehrenwort versichert, dass solch ein Tisch unter seiner Hand getanzt und geklopft hat, dass er mit ihm die wunderbarsten Sachen erlebt hat, so glaube ich ihm alles, was er mir erzählt, bedingungslos! Es kann sein, dass er selbst das Opfer einer Täuschung gewesen ist — gut, aber in seine Wahrheitsliebe setze ich keinen Zweifel. Oder ich sage dieser Welt valet. Will mit keinem einzigen Menschen mehr etwas zu tun haben.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir!«

Ich sollte alle meine Gedanken auf diesen Wunsch als heißeste Sehnsucht konzentrieren. Das konnte ich nicht. Das mögen Fakire und Derwische können, deren Fähigkeit, wunderbare Phänomene zu erzeugen, was zweifellos Tatsache ist, eben darauf beruht, dass sie der intensivsten Gedankenkonzentration fähig sind, ihr Gehirn auch gänzlich gedankenleer machen können, ihre asketischen Übungen, Selbstmarterungen und so weiter sind dabei nur äußerlich Mittel zum innerlichen Zweck — ich vermochte es nicht.

Bei mir schlichen sich auch immer noch andere Gedanken ein.

Besonders die flammende Figur, deren Striche hin und her zu zucken schienen oder es auch wirklich taten, eben Phosphoreszenz, brachten mich auf besondere Gedanken. Lebhafter denn je musste ich an die geheimnisvolle Schwester Anna denken, die ja auch mit leuchtender Schrift operiert hatte, und dann natürlich auch an meine Argonauten.

Doch davon abgesehen, was ich hierüber dachte.

Ich will erst nachträglich etwas erwähnen.

Der alte Araber, mein Herr über Leib und Seele, hatte mich gefragt, wie ich hieße, was ich sei, ob ich noch Verwandte habe, und dergleichen mehr.

Ich hatte ihm dann auch noch gesagt, dass ich Kargokapitän von der Hamburger »Argos« sei, Waffenmeister der Argonauten.

Vater Abdallah hatte noch nichts von der Argos und von den neuen Argonauten gehört, interessierte sich auch nicht dafür. Er wollte prinzipiell nichts weiter davon wissen.

Der alte Herr hatte Jahrzehnte lang in der Welt gelebt, und wahrscheinlich ganz tüchtig, musste das Leben ziemlich genossen haben — jetzt war er für die andere Welt ganz abgestorben. Trotz seines sonstigen Humors. Er wollte prinzipiell von der Außenwelt gar nichts mehr hören.

Dann, als er sich mir als Magier und Adept offenbart hatte, wollte ich gern einmal von dieser Schwester Anna anfangen, was der wohl dazu meinte, denn eine gewisse Verwandtschaft war da doch wohl vorhanden, und unser Geheimnis betreffs des Seelandfelsens brauchte ich ja deshalb nicht preiszugeben. Allein ich dachte, ich würde auch wieder eine Abweisung bekommen — ich schwieg von der ganzen Geschichte.

Jetzt also dachte ich lebhafter denn je an diese Schwester Anna.

Konnte die mir nicht einmal mit ihrer leuchtenden Schrift zu Hilfe kommen? Diese Kellergewölbe konnten ihr doch kein Hindernis bieten, das wusste ich.

Doch von dieser ganzen übersinnlichen Geschichte abgesehen — was machten jetzt wohl meine Argonauten?

Mehr als zehn Wochen waren nun schon vergangen, seit ich damals in Wellington den Schlag über den Kopf erhalten hatte.

Wussten sie überhaupt, dass ich mich noch am Leben befand?

Oder hielten sie mich für tot?

Was taten sie, um sich zu überzeugen, ob ich tot oder noch am Leben war?

Natürlich wurde Helene, würden sie alle Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Gewissheit über mich zu bekommen.

Himmel und Hölle — zwei weite Begriffe.

Ich wollte lieber bei greifbaren Sachen bleiben. Gleich am zweiten Tage hatte ich einen Brief an meinen Vater geschrieben. So, wie es der alte Araber angeordnet, er hatte ihn mir überhaupt förmlich diktiert.

In Wellington Sklavenhändlern in die Hände gefallen, als Sklave verkauft worden. Es geht mir sehr gut, ich bin ganz zufrieden, ich hoffe Dich einmal besuchen zu können — aber wo ich mich aufhalte, darf ich nicht verraten.

So ungefähr.

Hätte ich anders geschrieben, wäre der Brief nicht befördert worden. Und da gab es keine geheime Schrift, der Alte hatte immer neben mir gesessen.

Der Brief war durch Boten sofort nach der Stadt Maskat geschickt worden. Wenn alles gut ging, konnte er in weiteren zwölf oder sogar zehn Tagen in Kiel sein.

Mein Vater würde sich ja natürlich sofort mit den Behörden und gleich direkt mit der »Argos« in Verbindung setzen.

Direkt? Da musste man erst wissen, wo sich dieses ruhelose Schiff zur Zeit aufhielt.

Doch wie dem auch sei — erfahren würde es Helene noch einmal, und dann ging natürlich die Jagd, das Suchen nach mir los!

Na, also darüber zerbrach ich mir nicht weiter den Kopf.

Nein, jetzt dachte ich nur im allgemeinen sehnsuchtsvoll an Helene, an alle meine wackeren Jungen, große und kleine, und auch an alle die Hunde und Katzen, vergaß nicht einmal unseren Hampelmann, unseren unsterblichen Laubfrosch den letzten der Mohikaner, den Lottchen, die Ringelnatter, verschont hatte.

So vergingen die Stunden.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir!«

Nur an dies sollte ich denken, an nichts weiter, und ich wurde die anderen Gedanken doch nicht los.

Ich wollte lange, lange Pausen machen, ehe ich einmal ein Streichholz anriss und nach der Kartoffeluhr sah, tat es aber doch zuerst aller halben Stunden, und ich hatte mit zwei bis drei Stunden gerechnet.

So höllische langsam verging die Zeit.

Dann merkte ich, dass ich zirka eine Stunde brauchte, bis ich ein angemessenes Stück Tabak klar gekaut hatte, dass auch nicht mehr eine Spur von angenehmer Sauce drin war, jetzt richtete ich mich hiernach, musste drei solcher Stücke kauen, ehe ich einmal nach der Uhr sehen durfte. Als ich es dann tat, waren richtig schon drei und eine halbe Stunde vergangen. Jetzt war es schon um fünf.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir! Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir! Na, zum Henker noch einmal, Kolumbus, Cook, Magellan und so weiter, da kommt doch endlich! Ihr scheint mich nicht zu sehr zu lieben.«

Aber es nützte nichts, dass ich fluchte und spottete, es kam nichts.

Mit mir aber ging noch eine Umwandlung vor sich. Ich kam in eine ganz eigentümliche Stimmung hinein.

In was für eine, das vermag ich nicht zu definieren.

Man liegt eben nicht ungestraft so in einem finsteren Kellerloch viele Stunden lang, starrt immer nach einer leuchtenden, phosphoreszierenden Figur mit magischer Bedeutung und wünscht dabei Tote erscheinen zu sehen.

Oder man ist kein normaler Mensch, kein richtiger Mensch nähert sich mehr dem Tiere.

Dazu kam nun noch, dass jene Gedanken an Helene und meine Argonauten immer mehr überhand nahmen.

Kurz und gut, ich kam in eine ganz ähnliche Stimmung wie damals, da ich an dem Teiche einsam im Wüstensande lag und plötzlich das mir sonst noch unbekannte Heimweh bekam.

Diesmal war es nicht gerade Heimweh, aber...

Kurz und gut, ich begann zu flennen.

Und ich glaube, es ist keine Schande, wenn man das gesteht.

Also ich flennte und winselte los, aber immer dabei noch meine Sache machend.

»Ihr To—ten, die Ihr mich lie—hiebt, erscheint mir! Ihr Toten, die Ihr...«

Heiliges Bombenelement!

Was war denn das?

Mit weit aufgerissenen Augen starre ich.

Plötzlich verschiebt sich die flammende Figur, verschwindet ganz — statt ihrer steigt eine leuchtende Rauchwolke empor, in ihr entsteht nach und nach eine nebelhafte Gestalt, immer deutlicher formt sie sich, ich erkenne einen Mann mit Schlapphut, unter dem lange Haare hervorquellen, ich erkenne das befranste Lederkostüm, um die Hüften den mit Patronen gespickten Gürtel, an dem zwei Revolver hängen, die hohen Schaftstiefeln ich erkenne die Person — —

»Juba Riata!«

Aber das rufe ich nur in meinen Gedanken. Ich bin nicht fähig, einen Ton hervorzubringen, höchstens ein Stöhnen. So furchtbar ist mein Schreck, wie ich da meinen Freund — denn Juba Riata war der einzige, mit dem ich an Bord wirkliche Freundschaft geschlossen, wenn wir auch nie ein Wort darüber gesprochen hatten — in geisterhafter Weise vor mir auftauchen sehe.

Denn ein lebendiger Mensch war das nicht etwa. Ganz abgesehen davon, wie er sich denn in dieser auch an sich ganz rätselhaften Wolke bilden sollte. Es war überhaupt nur eine in der leuchtenden Wolke etwas dunklere Erscheinung, wenn auch noch selbst leuchtend, aber mit scharfen Umrissen. Aber nun dieses geisterhafte Gesicht des sonst vor Gesundheit strotzenden Mannes, und nun gar erst diese Augen, wie die mich anstierten!

Und wie ich noch so fassungslos das Phänomen anstarre, da entsteht in dem Nebel, der sich immer weiter ausbreitet, eine zweite Gestalt, und auch diesen Mann erkenne ich sofort, es ist Ernst, der zweite Steuermann, wenn nicht mein direkter Freund, so doch, wie der Leser weiß, einst als Matrose mein guter Kamerad gewesen, den ich an Bord der »Arche Noah« wiedergefunden hatte — auch er blickt mich mit geisterhaften Augen an — und da entsteht eine dritte Gestalt, und wenn sie auch ein Männerkostüm trägt, so erkenne ich doch gleich ein Weib, und ich erkenne dieses Weib auch sonst...

Da ist der Bann in meiner Kehle und Brust gebrochen. »Helene!«, schrie ich auf. »Helene!«

In diesem Augenblick, wie ich der Sprache wieder mächtig bin und diesen Namen rufe, schießt mir plötzlich ein Feuerstrom aus den Augen.

Das Nachfolgende ist schwer zu beschreiben. Die blendende Lichterscheinung, die ich hatte, brachte plötzlich eine große Umwandlung mit sich, in der ganzen Szenerie wie auch mit mir im Besonderen.

Mit einem Male bin ich von mehr als hundert solcher geisterhaften Gestalten umringt, und ich kenne sie alle, alle, es sind einfach die sämtlichen Argonauten und die Gäste unseres Schiffes, dort stehen die erwachsenen Grünroten und dort die halbwüchsigen und noch kleineren Blaugelben, dort stehen die »Exklikusen« und dort diejenigen, welche noch weniger zur eigentlichen Besatzung gehören — stehen alle wie zur Musterung angetreten, mich aber dabei umringend — und ich wundere mich durchaus nicht, dass ich sie alle gleichzeitig sehe, sodass ich also auch Augen hinten am Kopfe haben muss — gerade vor mir steht Kapitän Martin, wohl mit scharfen Umrissen, sonst aber durchaus in ätherischer Verfassung, wie von einer schwach leuchtenden, farblosen Substanz gebildet, welche Geisterhaftigkeit ihn aber durchaus nicht hindert, seine Hände und Arme bis an die Ellenbogen in seinen ätherischen Hosentaschen verschwinden zu lassen — und gleichzeitig, obgleich ich meine Augen direkt auf den Kapitän gerichtet halte, sehe ich links von mir, in einer ganz anderen Richtung, unseren Schudick in Pumphosen stehen, der zweizentrige Knabe hat nach beliebter Gewohnheit blödsinnig die Zunge zum Mündchen herausgesteckt, übertroffen an Dicke wird der Riesenknabe nur noch durch Mama Bombe, die auch in ihrer ätherischen Wesenlosigkeit noch immer ein kolossales Maststück ist, und an ihrem ungeheuren Vorgebirge von Busen trägt sie noch immer die elfenbeinerne Riesenperle — und gleichzeitig, wie ich außer dem Kapitän auch diese beiden betrachte, den endlosen Bandlwurm dazu, der übrigens gerade einen Teller abtrocknet, sehe ich direkt hinter mir den Doktor Isidor, wie er eben ein Gläschen Kognak hinterkippt...

Das heißt: mir war nicht etwa humoristisch zumute. Mir sträubte sich vielmehr das Haar auf dem Kopfe vor Entsetzen!

Allerdings nicht vor Entsetzen, weil ich hier überhaupt Geister zu schauen bekam, sondern vor Schreck, weil diese Geister meine Argonauten waren!

Denn ich hatte doch nicht die Erscheinung von lebenden Menschen, sondern Tote, die Seelen von Verstorbenen hatte ich beschworen.

»Helene, um Gotteswillen, seid Ihr denn tot?!«

Ich hatte mich an Helene gewandt, die vor mir neben dem Kapitän stand, mich ebenso wie alle anderen mit entgeisterten, todestraurigen Augen anblickend. Nicht sie allein gab die Antwort, sondern diese erklang im rhythmischen Chore aus aller Munde, wurde wie gesungen, aber in ganz schauerlichem Grabestone:

»Toot! Tooot! Tooot!«

Da erst erfasste mich richtiges Entsetzen.

Und jetzt erst sah ich auch, wie alle diese Gestalten von Wasser trieften, wie die nassen Kleider am Leibe klebten.

»Um Gottes willen, wo habt Ihr Euren Tod gefunden?!«

»In den Fluten! In den Fluten!«, erklang es wiederum hundertstimmig in singendem, nervenzerreißendem Tone.

»Die ›Argos‹ ist untergegangen?!«

»An den Capreraklippen zerschellt! An den Capreraklippen zerschellt!«

Mein Entsetzen wuchs.

Allmächtiger Gott — die »Argos« gesunken — mit Mann und Maus untergegangen — meine Argonauten, Helene, alles, alles tot! Ich der einzige Überlebende!

O, warum war nicht auch ich an Bord gewesen, um mit meinen Getreuen den Tod zu finden!

Da, wie mich das Entsetzen noch voll und ganz gepackt hatte, wurde die geisterhafte Szene recht prosaisch unterbrochen.

Während sich alle anderen ganz regungslos verhielten, auch Doktor Isidor, der das Schnapsglas nicht vom Munde brachte, trat plötzlich Oskar, der Segelmacher auf mich zu, hatte eine dickbauchige Flasche in der Hand, die er mir präsentierte.

»Hier, Waffenmeister, nehmt mal 'nen herzhaften Schluck, der wird Euch gut tun. 's ist uralter Jamaikarum, mit 'n bisschen Kirsch vermischt, 's braucht niemand zu wissen, dass ich ihn aus der Bottlerei gemaust habe.«

Er selbst setzte die entkorkte Flasche an meine Lippen. Und dabei, noch ehe ich etwas Nasses fühle, starrte ich den Sprecher etwas fassungslos an.

Wie konnte dieser ätherische Geist so prosaisch sprechen und handeln?

Na ja, es war eben unser Segelmacher, und der hieß Oskar. Und der war eben im Geisterreiche frech wie Oskar, der pfiff auf die ganze Geisterei.

In der Flasche war wirklich etwas drin. Ebenfalls etwas Geistiges. Kirsch mit Rum, ganz zweifellos, ich schmeckte es sofort. Mehr Rum als Kirsch.

Und ich trank wirklich, machte einige gute Schlucke. Wieder war es wie Feuer, das mir diesmal aber nicht aus den Augen spritzte, sondern durch die Kehle in den Magen rann.

Und wie ich dieses wohltuende Feuergefühl noch im Leibe habe, starre ich den Segelmacher noch mehr an.

Bekommt dessen geisterhaftes Totengesicht, erst wie durchscheinende Milch und Spucke, plötzlich rotbraune Pausbacken! Ebenso erstrahlten plötzlich seine erloschenen Augen in frecher Dreistigkeit wie in seiner besten Zeit, da er noch als lebendiger Mensch alle Meere und Hafenstädte unsicher gemacht hat!

Das erscheint mir als ein Wunder, da muss ich doch fragen: »Oskar, mein lieber Oskar — bist Du denn wirklich tot?«

Und da antwortet mir dieser geisterhafte Lumich: »Als wie icke? Tot? Ich? Nee. Sie?«

*

69. Kapitel

Was mir die »Toten« erzählen

Originalseiten 1710 — 1732

Da kam die große Umwandlung, da war es mit meinem Traumzustand vorbei. Denn weiter war es nichts gewesen. Wann dieser Zustand begonnen, werde ich später sagen.

Jedenfalls erwachte ich und wusste auch sofort, dass ich aus einem traumhaften Zustande erwacht war. Aber durch dieses Erwachen verschwanden die Traumbilder nicht etwa so ganz und gar.

In welcher Stellung ich mich vorher befunden hatte, wusste ich gar nicht, — jetzt aber merkte ich sofort, dass ich halb aufgerichtet am Boden saß mit dem Rücken angelehnt, und vor mir kniete ein Mann, der mir soeben eine dickbauchige Flasche vom Munde nahm, und dieser Mann war kein anderer als Oskar, unser Segelmacher.

Im Moment war ich bei voller Besinnung, wusste, dass ich mich, wenn nicht doch etwas mit unnatürlichen Dingen zugehen sollte, in der Oasenstadt des Sultanats Maskat im Keller von Vater Addallahs Hause befinden musste, wohinein unser Segelmacher nicht gehörte, und dennoch war der vor mir kniende Mann mit der Schnapspulle eine Realität, da gab es bei mir jetzt nichts mehr.

»Oskar! Bist Du's denn nur wirklich? Wie kommst Du hierher?!«

Er ließ schnell die Flasche unter seinem Rocke verschwinden, der jetzt aber nicht mehr nass war, und wendete den Kopf.

»Frau Patronin!«

»Ja?«, erklang eine mir so wohl bekannte Stimme. »He leivt, he leivt und wackelt mit dem Schwanze.«

Ein unterdrückter Jubelruf, in dem nebelhaften Dämmerlicht, das hier herrschte, tauchte eine Gestalt auf, eilte auf mich zu, kniete ebenfalls nieder, weiche Arme umschlangen mich, Küsse wollten mich ersticken — —

»Georg, mein Georg, Du lebst noch, ich habe Dich wieder!«, jauchzte und schluchzte es an meiner Brust; oder vielmehr an meinem Gesicht, an meinem Munde, denn dabei wurde egal geküsst, dass mir faktisch bald die Luft ausging.


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»Georg, mein Georg, Du lebst noch, ich habe Dich wieder!«,
jauchzte und schluchzte die Patronin, wobei sie sich an die
Brust des Waffenmeisters warf und diesen innig küsste.


»Prost, Mahlzeit!«, sagte da eine andere Stimme, und in dem erleuchteten Dunstkreis, den eine Laterne erzeugte, erschien Doktor Isidor, aber nicht, wie ich ihn vorhin gesehen und wie man ihn ja sonst auch wirklich immer sah, im schwarzen Gehrock mit Zylinder, sondern in einem Sportkostüm mit Kappe.

Seine »Prost Mahlzeit« galt wohl nur dem Segelmacher, der die günstige Gelegenheit dazu benutzte, um hinter dem Rücken der Patronin einen heimlichen Schluck aus der Rumbuttel zu nehmen, obgleich dem impertinenten, ohrenwackelnden Kerl zuzutrauen war, dass er auch unsere Küsserei damit meinte.

»Halt!«, ließ sich da als vierter Juba Riata vernehmen. »Erst unsere Sicherheit! Sind Sie bei klarer Besinnung?«

»Ich bin es.«

»So berichten Sie erst. Wo sind wir hier? Was ist das für ein geschlossener Raum, in dem Sie auf der Pritsche lagen, von der Sie herabgestürzt sind?«

»Herabgestürzt bin ich?«

»Ja, Sie standen bei unserem Anblick schnell auf und stürzten herab, schlugen mit dem Kopfe heftig auf den Holztritt, Sie sind ungefähr zehn Minuten besinnungslos gewesen. Sie sind jetzt unterhalb jenes Raumes, den ich für ein Kellergewölbe halte. Werden Sie nun in diesem gesucht? Von Freunden oder von Feinden? Das ist jetzt die Hauptsache, das müssen wir erst wissen, um unser Verhalten danach einzurichten.«

Darüber konnte ich beruhigen. Noch 66 Stunden mussten vergehen, ehe Vater Abdallah die Kellertür wieder aufschloss.

Und nun berichte ich, was ich während dieser Zeit nach und nach erfuhr, nicht so zusammenhängend, wie sich es hier wiedergebe.

*

Wir verunglückten Walfischjäger waren also damals in Wellington nach dem Theaterbesuch noch in eine Bar gegangen, in eine Wirtschaft.

Ich gehe, wie wir schon bald aufbrechen wollen, noch einmal allein in den Hof — komme nicht wieder.

Meine Jungen warten und warten, suchen mich — finden mich nicht.

Ich bin verschwunden.

Schon in unser Hotel gegangen? Habe ich mich verirrt?

I Gott bewahre! Und trotz einiger Gläser war ich doch nüchtern wie ein Stint gewesen.

Ich bin und bleibe verschwunden.

Matrosen sind nicht sehr für die Polizei, Eskimos auch nicht. Wie aber die Stunden vergehen, ich weder in jener Wirtschaft noch in dem Hotel noch sonst wo wieder auftauche, muss schließlich doch die Polizei alarmiert werden.

Nützt nichts, die bringt mich auch nicht wieder.

So wird es Mittag. Die Stimmung meiner Jungen lässt sich denken. Wenn sie sich auch nichts von Verzweiflung anmerken ließen, sondern sich sachgemäß beraten und tun, was irgendwie zu tun ist, was mich wiederbringt oder mich finden lässt, lebendig oder tot.

Und da wird denn auch der Polizei ein Fund gemeldet, ein ganz schauriger.

Die Polizei hatte bereits angeordnet gehabt, dass die Kloake jener Wirtschaft untersucht werden sollte, trotz der Versicherung der Wirtsleute, dass ich da nicht hineingestürzt sein könne, wohl gab es da von oben her einen Zugang, ein Loch, gerade jetzt offen, weil gerade der Garten gedüngt wurde, aber der Wegs dorthin führte durch den Schweinestall, und um den zu passieren, musste man dicht an einem Kettenhund vorbei, der aber eben keine fremden Menschen vorbeiließ, ihn sofort gestellt, wahrscheinlich auch zerfleischt hätte, jedenfalls einen Mordsspektakel gemacht hätte. Und dieser Köter war die ganze Nacht mäuschenstill gewesen.

Trotzdem also wollte die Polizei eine Untersuchung dieser Kloake vornehmen, nur erst die Resultate anderer Recherchen abwarten.

Den Bemühungen der hohen Obrigkeit wurde vorgegriffen. Nach der Mittagszeit nimmt der Gärtner seine gestrige, mehr nützliche als angenehme Beschäftigung wieder auf — da stößt in dem duftigen Loche seine lange Schöpfkelle auf einen Widerstand, der gestern noch nicht vorhanden gewesen.

Der Widerstand wird herausbefördert — es ist ein Mensch der natürlich nicht mehr lebt. Außerdem ganz scheußlich zugerichtet.

Als er abgespritzt und abgewaschen worden war, erkannte man einen Mann, musste konstatieren, dass er noch nicht lange in der Kloake gelegen haben konnte, viel mehr aber auch nicht. Ganz scheußlich zugerichtet.


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Nämlich schon total von den Ratten zerfressen, von denen es dort unten wimmelte. Ein Gesicht gab es überhaupt gar nicht mehr, nur noch ein blutiges — na, das kann man sich vorstellen. Das war doch für diese von ewigen Heißhunger geplagten Nager einmal ein gefundenes Fressen gewesen, und so hatten sie sich also auch schon an die anderen Fleischteile gemacht, aber eben wegen dieses ihres Fleischhungers noch die Kleider verschonend, durch diese sich nur hindurchbohrend.

Dieser Tote war ich! Es waren meine Kleider, meine Segeltuchschuhe, meine Mütze — in der einen Westentasche war meine den Matrosen wohlbekannte Uhr, übrigens mit meinen eingravierten Initialen, in der anderen mein Theaterbillett. Die Körperverhältnisse, so weit die Ratten sie nicht verändert hatten, stimmten ebenfalls.

Allerdings fehlte meine Brieftasche mit dem Papiergelde, aber auf einen Raubmord brauchte man deshalb noch nicht zu schließen. Die konnte mir entweder bei dem Sturze kopfüber in die Tiefe entfallen sein, eine Ratte hatte sie bereits verschleppt oder aber: bei der Leichenwaschung waren Individuen behilflich gewesen, denen es recht wohl zuzutrauen war, dass sie dabei die Brieftasche hatten verschwinden lassen. Mit der Uhr war ihnen das nicht geglückt, einer aber war wirklich dabei erwischt worden, wie er sich mit dem Gelde, das ich lose in der Hosentasche hatte, hatte davon machen wollen.

Also ich war ganz einfach, in dem Hofe nicht Bescheid wissend, durch den Schweinestall gekommen, ohne von dem bissigen Hunde attackiert worden zu sein, und hatte in der Kloake ein klägliches Ende genommen.

Nun, dem geneigten Leser brauche ich nicht erst zu versichern, dass ich mit diesem Toten nicht identisch war. Aber das konnte ich dort nicht der hohen Obrigkeit und meinen Jungen sagen, und der Tote konnte es auch nicht.

Wie meinen Jungen zumute war, lässt sich denken. »Mir ging meine Pfeife dreimal hintereinander aus, ich musste sie immer wieder anbrennen, ich vergaß ganz das Ziehen.«

So sagte mir dann Mister Tabak, und mehr kann man doch wahrlich nicht sagen, um den Schmerz eine Menschen auszudrücken.

Na, das half nun alles nichts — erst musste ich einmal eingepaddelt werden.

Ich habe ein gar feines Begräbnis erhalten, ein pikfeines. Ich habe es später selbst besichtigt und meine Freude daran gehabt. Auf dem evangelischen Friedhofe zu Wellington auf Neuseeland, Straße B L, Katasternummer 242, da ruhen meine Gebeine. Links von mir ruht ein Jüngling von zwei Monaten, rechts von mir eine Jungfrau von vierundachtzig Lenzen. Und ich in der Mitte, tatsächlich ein herrliches Plätzchen, überschattet von einer prächtigen Platane, und auf meinem Grabhügel wächst üppig Maßliebchen und anderes Unkraut.

Ja, Unkraut ist es, was dort wuchert. Aber nicht etwa, dass ich sonst scherze. Ein ganz reizendes Plätzchen, das mir dort die Stadtbehörde von Wellington ganz kostenlos zur Verfügung gestellt hat.

Als dann Helene nach Wellington kam, um an meinem Grabe zu beten, beauftragte sie einen Bildhauer, einen tüchtigen Künstler, mir ein Monument zu setzen. Aus neuseeländischem Grünstein, ein gar kostbares Mineral, eine große Kugel, darauf ein Anker liegend, auf der einen Seite der Kugel meinen Namen, wann geboren und gestorben, auf der anderen Seite: Ihrem Waffenmeister die Argonauten.

Nichts weiter, gar nichts weiter.

Der Bildhauer machte seinen Kostenanschlag, berechnete 200 Pfund — 4000 Mark — welche Helene sofort bezahlte. Außerdem händigte sie diesem Bildhauer gleich noch weitere 50 Pfund ein, damit er für ein Gitter sorge. Und für 1000 Mark bekommt man doch schon ein sehr schönes Gitter vom Kunstschlosser geliefert.

Dann segelte die »Argos« nach Osten — und der Bildhauer segelte nach Westen.

Glücklicherweise nämlich war dieser gottbegnadete Künstler schon längst in Geldnöten gewesen, hatte gerade nur noch diese 250 Pfund Sterling gebraucht. Sobald die »Argos« abgesegelt war, schon am anderen Tage, machte er seine Bude zu, ehe sie vom Gerichtsvollzieher versiegelt wurde, und ging über die Schweiz.

Glücklicherweise sage ich, nämlich weil ich dadurch von dem Schicksal verschont geblieben bin, von einem Gitter eingeschlossen zu werden, dessentwegen auch unbedingt die schöne Platane hätte abgehackt werden müssen, und was das Monument anbetrifft — ach was mache ich mir denn nach meinem Tode aus einer Kugel aus neuseeländischem Grünstein.

Wirklich, so wie ich dann meine Begräbnisstätte sah, so gefiel sie mir am allerbesten. Ganz entzückend. Nur die verbeulte Konservenbüchse und der irdene Topf ohne Henkel hätten wegbleiben können. —

Doch so weit sind wir noch nicht.

Ich war begraben, hatte meine regelrechte Begräbnispredigt erhalten, die ungeheure Menschenmenge zerstreute sich, sie war mir so nachgelaufen, wie sie jedem Schufte und Lumpen nachläuft, der etwa einen Griff in eine fremde Kasse gemacht hat, sich dann eine Kugel in den Kopf jagt, womöglich gar Frau und Kinder mit in den Tod nehmend.

Zunächst fehlte meinen armen Jungen, die sich ohne ihren Waffenmeister wie die Waisenknaben fühlten, dasjenige, was nun einmal der nervus rerum in der Welt ist: das Geld. Bisher hatten sie sich als »sensationelle Helden des Tages« so durchgepumpt, sehr richtig hatten sie gehandelt, dass sie besonders die Zeitungsreporter tüchtig angezapft hatten. Wohin nun? Natürlich nach dem Seelandsfelsen zurück, genau so, wie wir es eben vorgehabt hatten.

Doch ganz so natürlich war das eigentlich nicht. Ein Matrose — ich will seinen Namen nicht nennen — machte gleich direkt den Vorschlag, lieber nicht zurückzukehren.

»Wir wollen unsere Kompanie auflösen, uns in alle Welt zerstreuen, wie jeden einzelnen der Wind weht.«

Weshalb?

Himmel und Hölle, ich hätte in der Haut keines einzigen dieser dreizehn Männer stecken mögen, um die Kunde von meinem, des Waffenmeisters elendiglichem Tode den Zurückgebliebenen und der Patronin zu bringen!

Dieser Matrose wurde überstimmt, die anderen wollten seinen Vorschlag überhaupt nicht begreifen, oder sie nannten ihn einen charakterlosen Feigling. Doch ich brauchte den Namen dieses Mannes nicht zu verschweigen. Er war der bravsten und treuesten einer.

Also zurück nach dem Seelandsfelsen! So wie es ursprünglich geplant gewesen. Aber sie hatten kein Geld, mit meiner Brieftasche waren auch die schon gelösten Fahrkarten nach den Chataminseln verschwunden.

Sie hätten die Reise ganz kostenlos machen können. Ich hatte doch jenem Kapitän, der uns aufgefischt, gesagt, dass die »Argos« in der Nähe des Seelandsfelsens kreuze, dort unsere Rückkehr ganz bestimmt erwarte, das war allgemein bekannt geworden, in Wellington lag eine amerikanische Jacht, deren Besitzer es sich zur höchsten Ehre anrechnete, die dreizehn führerlosen Argonauten dorthin zu bringen, oder wohin sie sonst wollten.

Dann aber hätte doch das Geheimnis des Seelandsfelsens verraten werden können, so oder so.

Nun, die dreizehn Argonauten der Freifrau von der See wussten schon nochmals 50 Pfund Sterling aufzutreiben.

Sie hätten noch viel mehr vorgeschossen bekommen können, sogar von jedem Bankhause, aber es genügte. Und so fuhren sie per Dampfer nach Chatham, erstanden dort ein gutes Auslegerboot, verproviantierten sich und segelten weiter nach dem Seelandsfelsen.

Es war eine herrliche Meeresfahrt, das denkbar günstigste Wetter — aber diejenigen, die sie mitgemacht, brauchten mir nicht besonders zu versichern, dass es die traurigste, verzweifeltste Reise ihres Lebens gewesen sei, ich glaubte es ihnen schon so. —

Nun, sehen wir uns nach den Zurückgebliebenen um. Der Petroleummotor hatte richtig wieder versagt, sobald die Barkasse einmal wirklich gebraucht werden sollte.

Da war nichts zu machen, man hatte uns schon aus den Augen verloren, die Barkasse wurde zurückgerudert, es war ja nur eine kurze Strecke, sie kam auch mit Riesenkraft spielend durch die fürchterliche Brandung hindurch.

Unterdessen aber hatten auch die oben auf dem Felsen postierten Matrosen unser Boot aus den Augen verloren, und da half auch das beste Fernrohr nichts. Natürlich, wenn schon für uns der hohe Felsen am Horizonte untergetaucht war, weil eben die Erde eine Kugel ist, dann konnten doch auch die uns nicht mehr sehen.

Was nun? Zunächst musste man geduldig warten. Die Patronin versuchte wohl einmal sich telefonisch mit der Schwester Anna in Verbindung zu setzen, wusste aber schon, dass sie es vergeblich tat, wie es denn auch war. Dieses geheimnisvolle Wesen hatte immer nur mit mir gesprochen, mit keinem anderen, und so war es auch hier.

Dafür kam bald ein altes, dürres, patentes Männlein angetänzelt.

»Professor Beireis ist mein Name — habe die Ehre — Schwester Anna befiehlt mir, mich der Freifrau von der See gänzlich zur Verfügung zu stellen.«

»Kann ich die Schwester Anna sprechen?«

»Ich bedaure.«

»Weshalb nicht?«

»Sie korrespondiert nur mit dem Waffenmeister Herrn Kapitän Stevenbrock, lässt sich aber auch von diesem nicht anrufen.«

»Weshalb diese Einseitigkeit?«

»Das weiß ich selbst nicht!«, zuckte das alte Männchen bedauernd die Schultern.

»Ist diese Schwester Anna allwissend?«, fragte die Patronin etwas unvermutet.

»O, welche Frage!«, tat denn auch der Herr ganz erschrocken.

»Ja oder nein.«

»Ich darf solche Fragen nicht beantworten.«

»Wissen Sie, dass der Waffenmeister mit einigen Leuten zur Walfischjagd ausgerückt ist?«

»Ich weiß es.«

»Dass wir das Boot aus den Augen verloren haben?«

»Ich weiß es.«

»Kann die Schwester Anna sich mit dem Boote in Verbindung setzen?«

»Alle Fragen, welche die Schwester Anna betreffen, darf ich nicht beantworten.«

»Können Sie sich mit dem Boote in Verbindung setzen?«

»Nein.«

»Sie sind doch sicher im Besitze von wunderbaren Erfindungen.«

»O ja, das bin ich, sogar nur von mir selbst erfunden!«, entgegnete das Männlein geschmeichelt.

»Können Sie das Walfischboot vielleicht doch noch erblicken, so weit es sich auch schon entfernt haben mag?«

»Nein, das kann ich nicht. Mein Wirkungskreis, die Sphäre meiner Macht liegt einzig und allein innerhalb dieses Felsens. In diesen Räumen ist mir so gut wie nichts unmöglich, aber außerhalb derselben darf und kann ich nicht wirken, nicht einmal oben auf dem Plateau.«

»Ja, mein Herr, wozu eigentlich schickt die Schwester Anna Sie zu uns? Inwiefern sollen Sie zu unserer gänzlichen Verfügung stehen?«

»Damit ich Ihnen die ganzen Räumlichkeiten zeige, und hauptsächlich auch, damit ich die Mylady und ihre Leute durch Gaukeleien aus dem Gebiete der höheren Salonmagie ergötze.«

»Ach, geht und hängt Euch!«

Das hatte unsere Patronin, die Frau Helene Neubert, die Freifrau von der See, wirklich zu dem Männlein gesagt, ihm dabei den Rücken zudrehend.

Sie war eben unter uns schon ganz zur »Seemännin« geworden.

Und hatte sie nicht ganz recht? Sie ist wie alle anderen voll schwerster Sorge ob unseres Schicksals, und der fängt von Gaukelei und Salonmagie an.

Als der Abend anbrach und die Walfischjäger noch immer nicht zurück waren, wurde Dampf aufgemacht, die »Argos« sollte große Bogen fahren und den Scheinwerfer spielen lassen.

Aber noch ehe das Schiff abgetaut wurde, stellte sich wieder der Professor ein, der inzwischen verschwunden gewesen war.

»Halt! Ich komme im Auftrag der Schwester Anna. Sie sollen ruhig hier liegen bleiben und warten, dreizehn Tage. Heute über dreizehn Tage kommen die Walfischjäger zurück.«

»Ist ihnen etwas zugestoßen?!«

»Das weiß ich nicht, das sagte mir Schwester Anna nicht. Nur das, was ich hiermit ausrichte.«

So wurde geantwortet, ungeduldig wohl, aber doch in der felsenfesten Überzeugung, dass der Schwester Anna Prophezeiung eintreffen würde. Wir hatten eben bei der Walfischjagd unser Boot verloren oder waren zu weit entführt worden, ein Schiff hatte uns aufgefischt, bei der ersten Gelegenheit kehrten wir zurück. Das war ja den Seeleuten ganz klar.

Und richtig am dreizehnten Tage kommen die Walfischjäger in einem fremden Boote an. Aber es waren nur dreizehn Mann. Der Waffenmeister lag in Wellington begraben.

Den Eindruck dieser Botschaft vermag ich nicht zu schildern, vielleicht war es auch ganz anders, als man es sich vorstellt.

Acht Tage hielt sich die Patronin in ihren Kabinen eingeschlossen, dann ließ sie Peitschenmüller rufen.

»Wir setzen doch das Werk von Georg Stevenbrock fort, die Erziehung der Knaben zu tüchtigen Seeleuten. Aber ich möchte bis auf weiteres hier bleiben, nur dass wir manchmal Übungsfahrten unternehmen, wie es die Ausbildung der Jungen erfordert. Nur von dem Felsen möchte ich mich nicht weit entfernen. Juba Riata, seien Sie fernerhin des Schiffes Waffenmeister, sprechen Sie mit dem Kapitän.«

So sagte die Patronin, und die Sache nahm ruhig ihren Fortgang. Mein Tod hatte scheinbar gar keine Störung hervorgebracht. Scheinbar nicht! Die Jungen richteten auf dem Plateau ihre Turn- und Sportplätze ein, es wurde auch viel an den Geschützen exerziert, und Professor Beireis, wie er sich nun einmal nannte, weihte sie immer mehr in die Wunder der Felsenräume ein, über welche Wunder ich später berichten werde.

Am meisten stak Doktor Isidor mit dem Professor zusammen. Die beiden hatten sich wieder über das geheimnisvolle Pergament gemacht. Und eines Tages hatten sie es enträtselt. Der Professor war dabei der Hauptmacher gewesen, hatte in den Hieroglyphen eine uralte, schon ganz vergessene assyrische Schriftart erkannt, hatte auch den Schlüssel zur Enträtselung gefunden, und das nicht etwa durch übernatürliche Mittel, sondern nur dank seiner phänomenalen Kenntnisse und seines logischen Scharfsinnes. Und dabei war dieses ausgedörrte Männchen tatsächlich irrsinnig, hatte mindestens einen ganz tüchtigen Klaps. Aber es ist ja bekannt genug, wie nahe Genie und Wahnsinn aneinandergrenzt.

Die Sache war nun folgende:

Ein phönizischer Seekapitän namens Pyra aus Sidon, der, da er einen für uns ganz sagenhaften König nannte, ungefähr 1500 Jahre vor Christi gelebt haben musste, wollte ein großartiges Naturgeheimnis kennen, es auch zum Teil selbst erforscht haben.

Von einer Bucht an der Ostküste Arabiens aus, die er sehr genau zu bezeichnen verstand, sollte ein unterirdischer Flusslauf durch ganz Arabien gehen, einmal an der Westküste wieder zum Vorschein kommend, also im Roten Meere, und dieser unterirdische Flusslauf sei überall breit genug, um eine Galeere durchzulassen, allerdings nur mit eingezogenen Rudern, man müsse sich an den Felswänden fortstoßen, könne aber doch so aus dem Mittelmeere auf dem Wasserwege direkt nach Indien gelangen.

Er selbst habe diesen unterirdischen Flusslauf vom Mittelmeere aus verfolgt, sei zwei Tage lang in das Reich der ewigen Nacht eingedrungen, musste dann aber wegen Meuterei seiner verzagten Mannschaft umkehren. Dann sei seine Galeere mit Mann und Maus gesunken, nur er sei mit dem Leben davongekommen.

Nach Sidon zurückgekehrt, habe ihn sein König nach der phönizischen Kolonie Astarnia an der Westküste Afrikas geschickt. Dort habe ihm ein Orakel verkündet, dass die Hafenstadt Astarma demnächst durch einen Sandsturz verschüttet würde, die ganze blühende Umgegend zur Wüste gemacht, auch selbst Kapitän Pyra würde dabei seinen Tod finden, dem er durch nichts entrinnen könne. So solle er zuvor sein Geheimnis, das ihm ebenfalls durch göttliche Offenbarung zuteil geworden, niederlegen in einer bestimmten Geheimschrift, das Dokument in einem ehernen Schiffmodell verbergen und dieses an einer gewissen, näher bezeichneten Stelle einmauern. So wolle es die Gottheit.

Und Kapitän Pyra hatte gehorcht. —

So weit das Pergament.

Wie gesagt, es war ungeheuer schwer, es zu enträtseln, auch wenn man schon den Schlüssel zu der Geheimschrift, einer ausgestorbenen Sprache angehörend, gefunden hatte.

Man denke nur daran, dass die Phönizier doch ganz andere geografische Namen gehabt haben. Das, was wir heute das Rote Meer nennen, war bei den Phönizern das »Jam Suph«. Aber wer weiß denn das. Das sind Gebiete, auf denen sich auch die gelehrtesten Spezial-Forscher in ewigem Streite liegen. Für den heutigen Persischen Golf hatten die Phönizier noch gar keinen Namen, sie kannten ihn noch nicht, obgleich er ihnen doch eigentlich so nahe lag.

»Das Wasser, an dem Ophir liegt!«, sagte das Pergament.

Wo hat denn dieses Ophir gelegen, aus dem König Salomo seine Schätze holen ließ. Unsere Gelehrten haben diesem Goldlande schon vier Erdteile angewiesen, nämlich sogar in Amerika. Jetzt will Carl Peters dieses sagenhafte Land, das aber ganz bestimmt eine Tatsache gewesen ist, an der Ostküste Afrikas gefunden haben.

Und die Namen dieser beiden Meerbusen waren noch Kleinigkeiten. Ach, was kamen da für geografische Bezeichnungen vor!

Der Mann, der in seinem Wahne der schon vor hundert Jahren verstorbene Professor Beireis sein wollte, hatte alle die Rätsel gelöst, dank seiner fabelhaften Kenntnisse und seines Scharfsinnes, hauptsächlich aber auch dank seiner Bibliothek, meist aus Handschriften bestehend, die ich erst selbst gesehen haben musste, um das glauben zu können, was mir Doktor Isidor von dieser Bibliothek erzählte. Nämlich nur was ihren kolossalen Umfang anbetraf. Ihren inneren Wert verstand ich ja gar nicht zu würdigen. Erwähnen will ich nur, dass sich darin auch eine Weltkarte — so weit die Erde damals bekannt war — des Karthagers Hanno befand, der zuerst Afrika umschifft hat, wohl nur eine getreue Kopie des Originals, das sich, eine der kostbarsten Raritäten, im Britischen Museum befindet, wenn auch der Professor behauptete, dies hier sei das Original und jenes nur eine Imitation. Dieses Männlein aber war genau so eitel und prahlerisch wie jener Helmstedter Sonderling, den er selbst imitierte.

Jedenfalls war diese Karte von größtem Werte bei der Enträtselung des Dokumentes. Zwar konnte der unterirdische Eingang im Mittelländischen und im Roten Meere nicht festgestellt werden, desto genauer aber der im »Wasser, welches die Küste von Ophir bespült.« Auf Hannos Karte war dieses Land Ophir angegeben. Darunter stand noch der Name »Saba«. Es war der Südostzipfel Arabiens, der heute das Sultanat Oman oder Maskat bildet!

Ungeheuer war die Erregung, die sich der ganzen Besatzung beschäftigte, als sie davon erfuhr. Auch der primitivste Matrose wusste zu würdigen, was es bedeutete, wenn man aus dem Mittelmeere auf dem Wasserwege unterirdisch durch ganz Arabien direkt in den Persischen Golf gelangen könnte. Die nunmehrige Existenz des Suezkanals hatte dabei gar nichts zu sagen. Vorausgesetzt, dass an der ganzen Sache etwas Wahres war.

Nun, das musste eben untersucht werden, das war auch bei der Patronin sofort eine beschlossene Sache. Hierdurch erwachte sie überhaupt erst wieder zu einem richtigen Leben, in die ganze Mannschaft kam durch dieses Ziel, durch diese rätselhafte Aufgabe, doch ein ganz anderes Leben hinein.

Die »Argos« verließ den Seelandsfelsen. Nur Professor Beireis kam nicht mit, der blieb zurück. Jetzt erst hatte Helene auch das Verlangen, mein Grab zu besuchen. Also zuerst nach Wellington. Wie es ihr dort mit dem Bildhauer ging, habe ich schon berichtet. Obgleich die Argonauten damals, als sie mir erzählten, selbst nach gar nichts davon wussten. Die glaubten, ich oder mein Stellvertreter läge bereits eingegittert unter einer grünen Riesenkugel.

Dann weiter nach dem Persischen Golf, nach der Ostküste von Maskat. Die betreffende Bucht war durch gewisse Angaben ganz genau gekennzeichnet und daher leicht zu finden. Sie lag ungefähr unter dem 23. Breitengrade — von welchen geografischen Bestimmungen die alten Phönizier freilich noch nichts wussten — gerade dort, wb das Küstengebirge ganz dicht an das Meer herantritt.

Eine trostlose Gegend, nach gänzlich unbekannt. Ich will gleich sagen, weshalb auch die Araber diese Bucht wie die Pest meiden, weshalb der eingeborene Fischer lieber mit Absicht anderswo scheitert, dabei Schiff und Leben verlierend, ehe er in dieser Bucht Schutz vor dem Sturme sucht, wenn wir dies auch erst später erfuhren: weil nach dem allgemeinen Volksglauben in dieser Bucht höllische Dämonen ihr Wesen treiben.

Aber die »Argos« konnte in die Bucht einfahren, bis dicht an die Felsen heran. Und in diesen befand sich eine weite Öffnung, die von weitem wie eine Höhle aussah, wie es solche noch massenhaft gab, während man hier in der Nähe gleich merkte, dass ein starker Strom herauskam, und zwar Süßwasser! Ein unterirdischer Flusslauf!

Die Barkasse, mit zwei Dutzend Leuten bemannt, drang ein. Es ging immer in südwestlicher Richtung fort, manchmal hatte dieser Hauptstrom Nebenzuflüsse, die aber schon zu schmal für die Barkasse waren.

Zwei ganze Tage verfolgten sie so mit halber Kraft den Strom aufwärts, nur selten Halt machend. Was sie dabei für seltsame und zum Teil auch wunderbare Entdeckungen machten, davon werde ich später berichten, wenn ich sie selbst auf dem Rückweg begleite. Wie weit sie während dieser Zeit vorgedrungen waren, das ließ sich wegen der Strömung und Biegungen schwer berechnen, sicher aber waren es mehr als 20 geografische Meilen.

Heute, erst vor wenigen Stunden, hatte ihr Scheinwerfer zum ersten Male eine Steintreppe beleuchtet. Sie waren hinaufgestiegen, Juba Riata an der Spitze. Immer höher ging es mit Absätzen und anderen Unterbrechungen hinauf, das Barometer zeigte bald 350 Meter, als die Treppe in einer großen Kammer endete. Nur noch ein Treppchen war vorhanden, das gegen die Decke stieß.

Hier war offenbar eine Platte eingelassen. Juba Riata besaß eine wahre Bärenkraft, aber sie langte nicht, um sie zu liften. Erst als auch noch Ernst seinen Rücken darunter stemmte, wich sie, und zwar mit einem Male ganz leicht und geräuschlos. —

Ich habe diesen Ausführungen wenig mehr hinzuzusetzen.

In dem darüber befindlichen Raume hatte ich mich befunden, von meiner Pritsche immer auf die magische, leuchtende Figur starrend, und die befand sich eben gerade auf jener Platte.

Das andere lässt sich leicht erklären. Dabei muss man meine Gemütsverfassung bedenken. Einmal schon fünf Stunden in dem stockfinsteren Raume, nur immer die phosphoreszierende Figur anstarrend, mit tränenden Augen, und immer mit der Sehnsucht, die Seelen von Verstorbenen, also Geister sehen zu wollen.

Die Platte hatte sich gehoben, ohne dass ich dies unterscheiden konnte, aus dem darunter liegenden Raume war ein feuchter Nebel aufgestiegen, von unten auch noch erleuchtet durch eine Lampe mit Scheinwerfer.

In diesem Nebel war erst Juba Riata aufgetaucht, dann Ernst, dann als dritte Person die Patronin. Diese drei hatte ich wirklich gesehen, alles andere war nur Einbildung gewesen, ein Traum.

»Helene!«, hatte ich entsetzt gerufen, war, mir ganz unbewusst, aufgesprungen und prompt von der Pritsche gepurzelt, war mit dem Kopfe heftig auf die Trittstufen geschlagen.

Dieser Sturz, der mir sonst gar nichts weiter geschadet, hatte mir die Besinnung geraubt. Während dieser Zeit hatte ich alles andere nur geträumt. Kapitän Martin war ja überhaupt nicht mit. Wohl Doktor Isidor, aber nicht im Gehrock und Zylinder, wie ich ihn gesehen, sondern in einem Sportanzug. Einen Caprerafelsen kenne ich gar nicht, gibt es überhaupt nicht.

Erst als Oskar mir die Rumflasche an den Mund setzte, vermischte sich der Traum mit der Wirklichkeit, ich kam wieder zu mir. Inzwischen aber war ich schon in den unteren Raum hinabgebracht worden.

So hatten wir uns gegenseitig erzählt, wenn auch längst, längst nicht so ausführlich wie ich es hier tat. Das alles erfuhr ich erst nach und nach, aber die Hauptsache wusste ich nun doch schon, und die anderen kannten ungefähr meine Erlebnisse.

Na, dieser Jubel meiner Jungen, so weit sie hier vorhanden!

»Unser Waffenmeister wieder da, gesund und lebendig, von den Toten wieder auferstanden!«

»Wunderbar, wunderbar!«, flüsterte Helene immer wieder, vorausgesetzt, dass sie Zeit dazu hatte, weil sie sich sonst immer in anderer Weise beschäftigte.

Ja, es war auch tatsächlich ein ganz seltsames Zusammentreffen!

Ich will hier im Herzen von Maskat Tote beschwören, als solche erscheinen mir meine Genossen, und die wiederum finden ihren als tot beweinten Waffenmeister als Lebendigen!

»Ob nicht Schwester Anna darum gewusst hat, dass Ihr mich hier finden werdet?«

»Ich weiß es nicht. Aber jedenfalls zürne ich diesem geheimnisvollen Wesen nun nicht mehr, wie ich es anfangs getan, als mich Schwester Anna in meinem tiefsten Seelenschmerze allein ließ. Georg, ich habe Dich wieder!«

Weinend und lachend lag sie wieder an meiner Brust, unbekümmert um die anderen Leute, die ja recht gut wussten, wie es um uns gestanden hatte, denen wir aber so etwas doch nie gezeigt.

»Das müssen wir, wenn wir nicht gleicht zurückfahren, sofort dem Schiffe melden!«, dachten diese Jungen jetzt nur an ihre Kameraden.

»Auf welche Weise?«

»Wir haben für solche Meldungen drei Seehunde mitgenommen.«

Das wurde sofort besorgt, gleich zwei gingen zusammen ab, um meine Wiederauferstehung an Bord zu verkünden.

Dann wurden weitere Beratungen gehalten, ich trug meinen Plan vor.

*

70. Kapitel

Der Spieß wird umgekehrt

Originalseiten 1732 — 1748

Die 72 Stunden waren vergangen. Punkt 12 nach der mir geliehenen Uhr rasselte draußen der Schlüssel, Vater Abdallah trat mit brennender Lampe ein.

Er fand mich nicht auf der Pritsche liegend, sondern ich stand schon unten.

»Nun, was hast Du erlebt? Ist Dir etwas erschienen?«

Wir hätten, um meinen Plan auszuführen, schon vor drei Tagen die Kellertür erbrechen können. Wir hatten gewartet, bis Vater Abdallah selbst kam, um mich zu holen, einmal, weil die Sache doch vielleicht nicht hätte klappen können, und zweitens, weil wir in den unteren Räumen Interessantes genug zu erforschen gehabt hatten.

Nun aber machte ich es ganz, ganz kurz.

Der Alte hatte kaum zwei Schritt in den Raum hineingetan, als ich schon zwischen ihm und der Tür stand, diese hinter mir zuziehend.

»Vater Abdallah, Du bist mein Gefangener!

Und da krochen auch schon unter der Pritsche, die ziemlich bis an den Boden mit Brettern verkleidet war, Juba Riata und einige Matrosen hervor, standen hinter dem Alten, noch ehe dieser etwas ahnte, so hatte ich ihn dirigiert, schnürten ihm von hinten die Arme zusammen und banden ihm die Hände.

Denn so harmlos auch der Alte zu sein schien, er hätte doch einen vergifteten Dolch oder eine elektrische Batterie oder sonst ein Teufelsmittel bei sich haben können, womit nicht zu spaßen war.

So, nun war er unschädlich und kürzer hätten wir es wirklich nicht machen können.

Der Alte sackte denn auch vor Schreck gleich auf die Knie nieder. Er hatte ja gar nicht gemerkt, wie Menschen hinter ihn getreten waren.

»Allah stehe mir bei, die Toten, die Du beschworen hast, sind lebendig geworden!«, stöhnte er.

»Jawohl, sehr lebendig. Es sind denn auch richtig Seefahrer, die aber überhaupt nie tot gewesen sind.«

Ich drehte ihn herum, dass er die anderen sah, was ihm freilich noch keine Erklärung geben konnte.

»Mein Sohn, mein Sohn, löse mir dieses Rätsel!«, wimmerte er nach wie vor.

»Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die dort aus jener Öffnung gekommen sind. Juba öffne sie.«

Peitschenmüller brauchte nur einmal mit dem Fuße aufzustampfen, und die Platte wurde von unten heraus gedrückt, von hier oben war sie gar nicht zu entfernen, oder man hätte sie zertrümmern müssen. Die anderen Platten lagen auf festem Gestein, gaben aber merkwürdigerweise genau denselben Klang wie diese hohlliegende, allerdings auch fast einen Viertelmeter dicke Platte.

Ich hatte den Alten dabei beobachtet.

»Inschallah, Alschallah eine Öffnung eine Treppe!«, rief er im höchsten Staunen.

Er brauchte mir nicht erst zu versichern, dass er nichts von alledem gewusst hatte, ich sah es ihm gleich an.

»Wir werden uns später mehr hierüber unterhalten. Vater Abballah, Du bist mein Gefangener!«

»Dein Gefangener?!«

»Jawohl. Du kommst mit mir.«

»Wohin?«

»An Bord unseres Schiffes. Das sind nämlich meine Schiffskameraden, die mich hier zufällig gefunden haben. Alles Weitere wirst Du schon später erfahren. Du kommst sofort mit. Hast Du etwas mitzunehmen? Das will ich Dir erlauben.«

»Allah, wie kannst Du mich alten Mann als Gefangenen fortschleppen wollen?«

»Ich will es Dir ganz kurz erklären. Du hast für Deine Mäusespielerei einen christlichen Sklaven gebraucht, hast einem Menschenhändler den entsprechenden Auftrag gegeben, und der erste beste Mann war Dir recht.

Und hätte dieser Mann zu Hause Frau und Kinder gehabt, Du hättest ihm nur erlaubt, diesen zu schreiben, hättest ihn aber nicht freigelassen. Jetzt drehe ich den Spieß herum. Ich brauche einen arabischen Magier, der mir etwas vorgaukeln soll. Du kommst mit.«

Jawohl, das war meine ehrliche Meinung. Wurst wider Wurst. Allzu großes Herzeleid wollte ich dem Alten und seinen Kindern ja freilich nicht zufügen, da bin ich doch nicht so, wir konnten ihn ja auch jederzeit wieder in Maskat absetzen, aber das brauchte er noch gar nicht zu wissen, solch eine Lektion schadete dem alten Muselmann gar nichts.

Der Alte schien sich denn auch gleich in sein Schicksal zu fügen, so geknickt er auch war.

»Ich habe Dich doch so gut behandelt, wie meinen eigenen Sohn!«, versuchte er es nur noch einmal im jammerndsten Tone.

»Und ich werde Dich wie meinen eigenen Vater behandeln, Dir soll nichts abgehen. Höchstens dass ich Dir nicht so ausgezeichneten Kaffee vorsetzen kann. Nimm Dir also eine gute Portion mit, und was Du sonst brauchst, das erlaube ich Dir.«

»Meine armen Töchter!«

»Darfst Du ebenfalls mitnehmen.«

»Darf ich?«, blickte der Alte hoffnungsfreudig auf.

»Na sicher.«

»Wie alt sind die?«, mischte sich Oskar gleich ein, eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte. Da muss man ja im mohammedanischen Orient sehr vorsichtig sein.

»Suleika ist 18, Aische erst 14 Jahre alt.«

»Wie, sind das Deine eigenen Töchter?!«, stutzte ich jetzt, dabei aber Oskar einen befehlenden Blick zuwerfend, dass er seine vorlaute Fragerei unterließ, denn das wäre doch nicht ohne Matrosenwitz abgegangen.

Ich hatte ja immer an weit ältere Töchter gedacht, an alte Jungfern oder Witwen.

»Gewiss, es sind meine eigenen Töchter, meine einzigen Kinder.«

»Hast Du so spät geheiratet?«

»Erst mit dem sechzigsten Jahre.«

»Nun, das kann vorkommen. Abraham war ja noch weit älter, ehe er Vater wurde. Also Du willst. Deine beiden Töchter mitnehmen?«

»O, wenn ich das dürfte! Und da Du der Hauptmann dieser Leute bist, weiß ich, dass sie bei Dir gut aufgehoben sind.«

»Da hast Du recht. Werden sie auch kommen?«

»Sie würden ihren alten Vater auch ins größte Elend begleiten. Es sind gar liebe Kinder.«

»Nein, das meine ich nicht, wenn wir sie einmal hier haben, müssen sie Dich auch begleiten, ob sie nun wollen oder nicht. Ich meine, ob Deine Töchter jetzt hier herunter in den Keller kommen werden, wenn ich zu ihnen gehe und sage, ihrem Vater sei hier unten etwas zugestoßen.«

»Wozu diese List? Ich will selbst gehen und sie holen...«

»Nichts da, das wäre wohl etwas für Dich, hinaufgehen und Lärm schlagen!«, lachte ich.

»Du irrst. In das nun einmal unvermeidliche Schicksal muss man sich fügen. Ich schwöre Dir beim Barte des Propheten...«

»Lass den Propheten und seinen Bart zufrieden. Werden Deine Töchter kommen, wenn ich sage, dass ihrem Vater hier unten etwas zugestoßen ist?«

»Sofort werden sie eilen.«

»Es sind vier Dienerinnen im Hause, nicht wahr?«

»Vier, und sie alle werden sofort kommen.«

»Was heißt das auf Arabisch: ›Kommt sofort, Eurem Vater ist im Keller etwas zugestoßen — er ist erkrankt‹.«

»Meine Töchter sprechen auch französisch...«

»Ich will wissen, was das auf Arabisch heißt.«

Er sprach es mir vor. Ich will hier nicht Arabisch anfangen.

Aber nach Doktor Isidor blickte ich hin, der inzwischen ebenfalls aus der Tiefe aufgetaucht war.

»Stimmt es?«

»Es stimmt!«, nickte dieser, der die verschiedensten arabischen Dialekte sprach.

Dann war es gut. Es war nur eine Prüfung, eine Falle gewesen. Denn der Alte ahnte schwerlich, dass einer unter uns Arabisch konnte, sonst hätte ich doch diesen gefragt, und so hätte er ja meine Aufforderung etwa übersetzen können: Flieht, ich bin in der Gewalt meines weißen Sklaven, holt Hilfe herbei.

Aber der Alte hatte die Prüfung der Ehrlichkeit bestanden. Das war mir wertvoller als ein Schwur beim Barte des Propheten.

Weitere Besprechungen mit den anderen brauchte ich nicht, dieser ganze Plan war schon vorher entworfen worden. Die Töchter mit Dienerinnen wohnten im zweiten Stockwerk, das genügte mir, Türen brauchte mir der Vater nicht zu beschreiben.

Also ich die Lampe genommen und hinauf. Um diese Mittagsstunde hielt alles schon Siesta.

Ich machte mein Kommen in der zweiten Etage durch kräftiges Poltern bemerkbar.

»He, holla, he!«, rief ich außerdem.

Eine Tür wurde geöffnet, ein Weib kam heraus, eine der Dienerinnen. Wenn die vier Weiber auch ganz gleich gekleidet und in meiner Gegenwart immer ganz dicht vermummt waren, so konnte sie mein Fechterauge doch schon recht wohl voneinander unterscheiden. Zwei von ihnen waren nach Bewegung und Stimmen offenbar schon älter, die beiden anderen jünger. Die beiden Töchter hatte ich vielleicht noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Wenn die Frauengestalten so durch die halbdunklen Gänge huschten, konnte man sie doch nicht richtig voneinander unterscheiden.

»Vater Abdallah ist im Keller unwohl geworden, er verlangt nach seinen beiden Töchtern, nach Suleika und Aische!«, rief ich auf Französisch.

Das Weib antwortete mit schnarrender Stimme auf Arabisch! Keine der vier Dienerinnen verstand eine der vier Sprachen, die ich beherrschte, und von mir war nicht zu verlangen, dass ich in den 19 Tagen, seitdem ich nun hier war, von denen ich aber auch noch drei Tage einsam in dem finsteren Kellerloche zugebracht, perfekt Arabisch erlernt hätte.

Aber schon das Nennen der beiden Töchternamen musste die schnarrende Alte stutzig machen, und dann hatte ich mein Französisch auch genügend laut geschrien.

»Mon ciel, was ist passiert?«, erklang es da auch schon in derselben Sprache, und in einer anderen Tür erschien eine zweite Frauengestalt, die nicht zu den mir bekannten gehörte.

Sie hatte den dichten Schleier — einfach ein Tuch — schon vor dem Gesicht hängen, wollte ihn aber wohl erst richtig befestigen, zog noch daran, er löste sich an der Stirn ab — und ich sah ein ganz liebreizendes Gesicht mit roten Lippen und dunklen, mandelförmigen Augen.

Schnell war das Antlitz wieder verhüllt. Übrigens ist es nicht gar so fürchterlich, wenn man das Antlitz einer Mohammedanerin einmal zu sehen bekommt. Die Weiber der ärmeren Klassen tragen es ja überhaupt auch auf der Straße unverhüllt. Es ist nur ein Anstand, dass die bessere Mohammedanerin dem fremden Manne ihr Gesicht nicht zeigt, massakriert wird man nicht etwa, wenn man es aus Versehen einmal zu sehen bekommt.

Und jetzt hatte dieses Mädchen überhaupt an etwas anderes zu denken.

»Mon ciel, was ist passiert, was ist dem Vater zugestoßen?«, rief sie erschrocken im besten Französisch.

»Es ist ihm im Keller unwohl geworden, er brach plötzlich zusammen, verlangte nach seinen beiden Töchtern, nach Suleika und Aische, auch alle Dienerinnen sollen kommen...«

»Sofort, sofort!«

Es gelang gleich mit einem Male, alle zusammen mitzubekommen. Ich hatte mich schon auf zwei Gänge gefasst gemacht. Aber gleich alle sechs Weiber stellten sich ein, um mich zu begleiten, sie mochten an das letzte Testament eines Sterbenden denken.

Ich führte sie mit der Laterne an, in den Geisterkeller hinab. Aber die wackeren Mädels fürchteten sich nicht. Hatten ja eigentlich auch gar keinen Grund dazu. Bei den Mohammedanern hat ja das Weib gar keine Seele, sie kommt weder in den Himmel noch in die Hölle, also kann ihr ja auch kein Teufel etwas anhaben.

Es wurde noch einfacher, als ich gedacht. Ich hatte mich darauf gefasst gemacht, zuletzt hinter sie treten zu müssen, um die letzten etwas mit Gewalt in das Gewölbe zu schieben, um dann ihre Gefangennahme zu bewerkstelligen. Aber es war nicht nötig. Sie folgten mir in den Stall hinein wie die Schafe dem Leithammel, und wenn der Stall auch gebrannt hätte. So brauchte ich nur die Tür zuzumachen und mich davor zu stellen, da sie von innen nicht geschlossen werden konnte, und es war geschehen.

Das Licht meiner Lampe fiel auf die Gestalt, die in ihrem weißen Kaftan in der Mitte der Raumes am Boden lag.


Illustration

Die eine Tochter stürzte zuerst darauf zu, kniete nieder, und in ihrer Erregung behielt sie auch jetzt das Französische bei.

»Mon père, mon père!«, rief sie jammernd, sich über den armen Vater werfen wollend, wozu man aber doch erst die Hände vorstreckt — und auf diese Weise griff sie sozusagen ins Leere, welche Leere nur mit einem weißen Tuche zugedeckt war.

Es war gar nicht der Alte, der da am Boden lag, sondern nur sein Kaftan, den man etwas ausstaffiert hatte, um ihm Form und Erhöhung zu geben.

Viel Zeit zur Bestürzung ob dieser Gaukelei, dass der alte Vater aus seinem Kaftan heraus verschwunden war, hatten die sechs Weiber nicht.

Da kroch schon als erster Oskar unter der Pritsche hervor, griff noch einmal darunter, brachte zwei Füße zum Vorschein und zog an diesen weiter den ganzen Vater Abdallah hervor, noch immer reichlich bekleidet.

»Da habbt'r eiern Bär!«, musste Oskar erst noch erklären.

Jetzt ging es Arabisch los, was ich nicht verstand. Aber Doktor Isidor war Wächter, dass keine Intrigen gesponnen wurden.

Nein, es geschah nicht. Vater Abdallah versicherte Töchtern und Dienerinnen, dass er kerngesund sei, fremde Männer seien auf einem unterirdischen, ihm unbekannten Wege in dieses Haus eingedrungen, um mich, ihren Anführer zu befreien, die Männer würden sie alle mitnehmen, wohl auf ein Schiff, aber sonst hätten sie nichts weiter zu fürchten.

So ungefähr. Und die Weiber ergaben sich denn auch gleich in ihr Schicksal, sonst wären sie ja auch keine Mohammedanerinnen gewesen, sie kauerten sich in einer Ecke zusammen. Meine Jungen brauchten keine Vorschrift, wie die Damen zu behandeln seien. Da gab es nichts, dass etwa ein Schleier gelüftet wurde.

Jetzt waren wir Herren der Festung, des ganzen Hauses, konnten uns, wenn wir wollten, wer weiß wie lange darin aufhalten, ohne dass die ganze Stadt etwas von der hier vorgegangenen Umwälzung ahnte.

Denn die Hausordnung kannte ich ja. Früh um acht wurde Milch und Brot gebracht, ab und zu auch Fleisch und sonstige Lebensmittel, und dasselbe geschah noch einmal abends um sechs. Das gaben die Zuträger an der Haustür ab, welche nach außen überhaupt die einzige Öffnung bildete, die der Zimmermann oder vielmehr der Maurer und Steinmetz gelassen hatte, es war eben ein arabisches Haus, das gar keine Frontfenster besaß, die Fenster gingen ausschließlich nach dem innen liegenden Hofgarten.

Bei der Abnahme dieser Sachen wurde nicht einmal die Tür geöffnet, sondern in dieser nur eine Klappe, kaum

so groß, dass man den Kopf durchstecken konnte, durch diese gaben die Zuträger die Lebensmittel in kleinen Paketen, meist in Palmblätter gewickelt, und in kleinen Töpfchen an die Dienerin ab.

Vater Abdallah verließ das Haus niemals. Ohne deswegen etwa ein Gelübde abgelegt zu haben. Er hatte einfach kein Bedürfnis danach. Es konnte auch einmal eine Ausnahme geschehen. Es kam schon einmal vor, dass er einen wichtigen Geschäftsgang zu machen hatte. Er war doch auch in die Karawanserei gegangen, um mich zu kaufen. Aber sonst ging er nie aus und ebenso wenig erhielt er Besuch.

Dasselbe galt von den Weibern. Die besuchten höchstens einmal im Monat den Bazar der Stadt. Aber es fiel nicht auf, wenn sie gleich einmal ein halbes Jahr nicht kamen.

Das hatte mir Vater Abdallah beim Plaudern über seine Lebensweise schon berichtet. Also wir hätten hier wer weiß wie lange hausen können, ohne dass die Stadt etwas davon ahnte. Mit den Zuträgern wollten wir schon fertig werden.

Nun, gar so lange gedachten wir ja nicht hier zu bleiben, wozu denn.

»Mein lieber Vater, was gedenkst Du nun mitzunehmen?«, wandte ich mich jetzt huldvoll an den Alten, dem man bereits auch die Fesseln wieder abgenommen hatte.

»Gedenkst Du mich und meine Töchter denn für immer als Deine Gefangenen zu behalten?«

»Das weißt ich noch nicht. Oder ich drehe eben den Spieß vollkommen herum. Du wolltest mich so gut behandeln, mir das Leben hier so angenehm machen, dass ich überhaupt gar keine Lust mehr hätte, Dich zu verlassen. Dasselbe gilt jetzt umgekehrt. Ich hoffe, es gefällt Dir bei uns so gut, dass Du freiwillig bis an Dein seliges Ende bei uns bleibst. Kannst auch ruhig ein Mohammedaner bleiben, da wollen wir keine Bekehrungsversuche machen.«

»Ihr habt ein Schiff?«

»Ja, wir leben ständig auf einem Schiffe. Auf einem wunderschönen Schiffe, wo Dir nichts an Behaglichkeit abgehen wird.«

»Wo liegt denn nur dieses Schiff?«

»An der Küste von Maskat, lasst Dir das jetzt nur genügen.«

»Und Deine Leute kommen von dort doch nicht etwa immer unter der Erde her?!«

»Vater Abdallah lasst doch jetzt solche Fragen. Das wirst Du später alles selbst sehen.«

»Was soll ich auf dem Schiffe?«

»Wie ich schon sagte: Du sollst uns durch Deine Gaukeleien belustigen. Dass Dir dasselbe überall möglich ist, hast Du mir ja selbst gesagt, und einen mit schwarzen Samt ausgeschlagenen Raum kannst Du auf unserem Schiff auch bekommen, in dem Du Deine Geister bannen, das heißt in dem Du Deine Einbildungskraft genügend konzentrieren kannst.«

»Und wenn ich mich weigere, Euch solche Gaukeleien, wie Du das nennst, vorzuführen?«

»Zwingen werden wir Dich nicht. Kein Mensch muss müssen, am wenigsten in solch einem Falle. Aber Du wirst schon wollen. Danach wirst Du eben behandelt. Du sollst unser Freund werden. Also was willst Du mitnehmen? Auch Deine Töchter und Dienerinnen wollen sich wohl ausstatten.«

»Ja, wenn ich mein Laboratorium mitnehmen könnte«, seufzte der Alte, obgleich er, so viel ich wusste, gar nicht mehr darin arbeitete. Aber es konnte ja doch sein, er hatte meinetwegen nur einmal eine längere Pause eintreten lassen.

»Kannst Du mitnehmen. Aber auch wir haben ein Laboratorium.«

»Auf Eurem Schiffe?«

»Jawohl. Und auch noch anderswo, an Land, in einem Schlupfwinkel, den wir manchmal aufsuchen. Da kannst Du nach Herzenslust experimentieren.«

»Na, und was für ein physikalisches und chemisches Laboratorium!«, mischte sich jetzt Doktor Isidor ein, da ich somit die Erlaubnis gegeben hatte, über unseren Schlupfwinkel zu sprechen. »Solch ein Laboratorium findest Du sonst nirgends in der Welt!«

Der Alte wurde neugierig, der Gelehrte und Forscher erwachte in ihm.

»Wo befindet sich dieser Schlupfwinkel mit dem Laboratorium?«

»Lass das jetzt, das erfährst Du erst, wenn Du dort bist. Jedenfalls sind wir bereit, Dein ganzes Laboratorium einzupacken und mitzunehmen, wenn es nicht gar zu groß ist.«

»Gar so groß ist es nicht.«

»Dann wird es eingepackt und mitgenommen. Was unser Boot nicht fasst, bleibt einstweilen unten liegen und wird später abgeholt. Aber in unsere Barkasse gehen schon einige Raum- und Gewichtstonnen hinein, und jede fast einen Kubikmeter oder 20 Zentner. Sonst noch etwas?«

»Meine Bibliothek. Wenigstens ein Teil davon.«

»Du sollst auswählen, meine Leute werden Dir dabei behilflich sein. Was sonst noch?«

»Kleider...«

»Das ist gar selbstverständlich, wie bei Deinen Töchtern und Dienerinnen. Ihr alle sollt Euch dann frei bewegen können, freilich immer unter Aufsicht meiner Leute. Und Deine Mäuschen?«

»Ach die wirst Du doch nicht mit auf Dein Schiff nehmen wollen!«, lächelte der Alte verschämt, denn er war sich der Kindlichkeit seiner Spielerei wohl bewusst.

»Doch. Wenn auch nicht gleich die ganze Menagerie. Ich werde einige schöne Exemplare aussuchen, je ein Fräulein und ein Männlein, das Luderzeug vermehrt sich ja schnell genug, Du wirst bald alle unsere Salons wieder mit Deinen lieben Tierchen gefüllt haben. Nun aber vorwärts!«

Die ganze Gesellschaft wurde wieder hinauf geleitet. Auch die sechs Weiber bekamen männliche Begleiter, sonst aber, wenn es sich um intime Angelegenheiten handelte, genügten die Patronin und Klothilde, welche ebenfalls mit bei der Expedition war. Besonders letztere würde schon ein wachsames Auge darauf haben, dass nicht etwa eine ein Hilfszeichen an die Außenwelt gelangen ließ. Es brauchte ja auch nur die Haustür und die nach dem flachen Dache führende Treppe besetzt zu werden.

Der Alte begab sich bald wieder in den Keller, ich fand ihn dann in seinem Laboratorium, wo Matrosen nach seiner Anweisung die zum Teil sehr kostbaren physikalischen Apparate einpackten. Noch mehr gab die Anleitung dazu Doktor Isidor, welcher sagte, was nicht nötig sei, da sich dies alles auch an Bord befinde. Das galt besonders von der ganzen Einrichtung des chemischen Laboratoriums.

Mit dieser Einpackerei und dem Hinabschaffen würden wohl einige Stunden vergehen, aber wir konnten wohl noch vor sechs Uhr fertig sein, sodass wir den Zuträgern gar nicht mehr zu öffnen brauchten.

»Was wird nun geschehen, wenn die Händler vergebens klopfen?«, fragte ich den Alten.

»Ja, was soll dann geschehen? Sie müssen eben wieder gehen.«

»Aber was denken die Leute, was denkt die ganze Stadt, wenn niemand mehr öffnet, auch in den nächsten Tagen nicht.«

»Wir sind alle gestorben.«

»Nun erbricht man die Tür, findet keinen Menschen mehr im Hause, merkt aber auch, dass Ihr Sachen mitgenommen habt.«

»Nein, niemand wird hier eindringen.«

»Nicht?!«

»Sicher nicht.«

»Weshalb denn nicht?«

Der Alte lächelte verschmitzt, er hatte schon seinen Humor wieder.

»Weil ich für einen Zauberer gelte, der seine Seele dem Teufel verschrieben hat. In ganz Maskat gibt es keinen Menschen, der dieses Haus zu betreten wagt, verlass Dich nur darauf.«

»Aber wie wird man sich erklären, dass Ihr alle plötzlich gestorben seid?«

»Wir können uns ja versehentlich vergiftet haben. Ich gelte, da man recht wohl weiß, dass ich ein Laboratorium habe — ich bekam erst neulich mit einer Karawane viele Chemikalien — für einen Giftmischer. Oder die Geister, die ich in die weißen Mäuse gebannt habe, haben sich entfesselt, wir sind einfach samt und sonders vom Teufel geholt worden.«

»Also Du bist ganz sicher, dass dieses Haus niemand betreten wird?«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Und wenn ich Dich nun nach einiger Zeit wieder hierher brächte, Dich und Deine Töchter und Dienerinnen, was dann?«

»Dann würden wir unser gewohntes Leben fortsetzen.«

»Ohne dass man Dich zur Rechenschaft zieht, wo Du inzwischen gewesen bist?«

»Wer dürfte wagen, mich zur Rechenschaft zu ziehen? Die Geister haben uns eben zurückgebracht, nachdem sie von mir wieder gebändigt worden sind.«

Nun desto besser. Es muss ganz hübsch sein, als Zauberer in solch einem abergläubischen Neste zu wohnen.

»Hast Du Geld im Hause? fragte ich weiter.

»Ja, ziemlich viel. Wenn ich es aber nicht bedarf, so kann es ruhig hier bleiben.«

»Hast Du Geld ausstehen?«

»Auch das, aber ich brauche mich nicht darum zu kümmern. Es wird mir nicht verloren gehen!«

Ich begab mich wieder hinauf, in die Mäusezimmer, tat ein Dutzend Exemplare verschiedenen Geschlechts in eine Schachtel, um sie mitzunehmen. Die anderen ließ, ich von Matrosen zusammenschaufeln und auf das Dach tragen.

Ich erwähne nachträglich, dass sich der Mäusekönig früher, als er den Weiterbau nicht mehr betreiben konnte, sich des überflüssigen Nachwuchses doch entledigen musste, und überhaupt immer von Zeit zu Zeit, denn ein einziges Mäusepaar kann, wenn alles klappt, innerhalb eines einzigen Jahres rund eine Million Nachkommen haben. Das ist eine Tatsache! Alfred Brehm rechnet in seinem »Tierleben« dieses Exempel für die Feldmaus ganz genau aus! Und die Hausmaus, von der die weiße nur eine Spielart ist, ist nicht minder fruchtbar.

Wenn sich diese Tiere selbst überlassen sind, so sieht es ja nun freilich anders aus. Die Natur sorgt schon dafür, dass sie sich nicht ins Ungeheure vermehren, was sollte denn sonst daraus werden, und gerade bei der Feldmaus kommt es doch manchmal vor.

Und auch hier in der Gefangenschaft, sorgsam gehegt und gepflegt, vor allen Gefahren geschützt wie durch reinliche Haltung auch vor Krankheiten, musste die Vermehrung eine ungeheure sein.

Vater Abdallah hatte schon immer den Überschuss ab und zu auf das flache Dach geschafft, von einer Mauer umgeben, wo sich keiner der Nager verbergen konnte, und die Geier und anderen Raubvögel, die zu jeder orientalischen Stadt gehören wie bei uns die Tauben und Sperlinge, die überhaupt den ganzen Sanitätsdienst verrichten, kannten diese Gelegenheit schon, kamen sofort geflogen und holten die Beute ab.

So geschah es auch jetzt. Kaum hatte ich das Betttuch in das ich das ganze Gewimmel eingesackt, auf dem Dache ausgeschüttet, als auch schon zahllose große und kleine Raubvögel angestürzt kamen, wie Steine aus der Luft herabstürzend, mir die weißen Tierchen noch vor den Füßen wegnehmend.

Beobachtet konnte ich dabei nicht werden, dieses Haus war das höchste in der weiteren Umgebung, dazu noch die hohe Brüstung, und es hätte ja auch nichts geschadet, ich fütterte eben wieder einmal die Raubvögel mit den »verzauberten Geistern«, wie ich schon öfters getan hatte.

So, das war das Letzte gewesen, wir waren bereit zum Rückzug.

*

71. Kapitel

Auf dem Rückweg

Originalseiten 1749 — 1757

Es war gegen fünf Uhr, als die letzten die schwere Platte über uns wieder einfügten, wir stiegen die breiten Steintreppen hinab. Vater Abdallah war immer wieder außer sich vor Staunen.

»Hier in meinem eigenen Hause, in dem ich geboren worden bin, in dem ich Jahrzehnte zugebracht habe, solche Kellereien, von denen ich nichts gewusst habe!«

So rief er immer wieder.

Ich hatte noch nicht mit ihm darüber gesprochen, es war bisher anderes zu tun gewesen.

Das geschah erst jetzt, und die Treppen und der Abstieg waren so bequem, dass man sich dabei gemütlich unterhalten konnte.

»Wer hat dieses Haus gebaut?«

»Das ist gar nicht mehr bekannt. Schohar ist eine uralte Stadt, deren Gründung sich in sagenhafte Zeit verliert, jedenfalls muss man mit Jahrtausenden rechnen.«

»Schon Deinem Vater hat dieses Haus gehört?«

»Schon meinem Großvater, den ich aber nicht mehr gekannt habe.«

»Und von wem bekam es dieser?«

»Von seinen Schwiegereltern. Die weitere Tradition geht verloren. Hier in diesem Hause haben einst die Scheichs von Schohar gewohnt, deren Familie ausstarb bis auf eine Tochter, welche mein Großvater heiratete. Mehr ist nicht bekannt.«

»Gibt es hier noch andere Häuser, von denen aus Treppen einige hundert Meter tief hinab bis an einen unterirdischen Wasserlauf führen?«

»O nein. Wohl hat fast jedes Haus tiefe Kellereien, aber was Du meinst, so wie hier, davon ist nichts bekannt.«

»Existiert keine Kunde, keine Sage, dass sich unter der Stadt ein unterirdischer Wasserlauf hinzieht?«

»Auch nicht.«

»Habt Ihr, Ihr arabischen Maskaten, wie Ihr Euch nennt, schon immer dieses Land bewohnt?«

»Nein. Jedes Volk hat seinen Anfang und sein Ende.«

»Wer wohnte vor Euch in diesem Lande?«

»Die Sabäer.«

Da war es! Also wir hatten hierüber noch nie gesprochen.

»Wie sind diese Sabäer verschwunden?«

»Wir jetzigen Maskaten bildeten früher den mächtigen Volksstamm der Namäer, die im Herzen Arabiens saßen, wahrscheinlich im heutigen Nedsched. Auch Arabien hat seine Völkerwanderungen mit Ausrottungskämpfen gehabt. Wir sind nach Süden gewandert, und haben die Sabäer, die andere Götter hatten als wir, mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Freilich wohl in jahrhundertelanger Befehdung.

»Wann ist das geschehen?«

»Der letzte Vernichtungskrieg mag vielleicht im Jahre 200 vor Christi Geburt stattgefunden haben. Da hatten wir uns aber schon längst hier festgesetzt, hatten schon den ganzen indischen Handel in Händen.«

»Dies also ist das Land, über welches einst jene Königin von Saba herrschte, die den König Salomo besuchte, um mit ihm Rätsel zu lösen?«

»Zweifellos.«

»Wann war das wohl?«

»Ums Jahr 1000 vor Christi Geburt.«

»Gehen denn hier nicht über diese Königin von Saba Sagen?«

»Nein. Es darf gar nicht sein.«

»Weshalb nicht?«

»Ich sagte Dir schon, dass die Sabäer mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden, weil sie andere Götter hatten. Auch der Säugling blieb nicht verschont. Das ist alles wohl noch bekannt, aber der Hass zwischen den Sabäern und den Namäern ging so weit, dass er noch heute existiert, nämlich insofern, als das Wort Saba und Sabäer noch heute von keinem Maskaten ausgesprochen werden darf. Es verunreinigt die Lippen, zieht die schwerste Strafe von Allah herab. Obgleich wir damals noch gar keinen Allah gehabt haben. Aber das ist nun einmal so, durch uralte Tradition. Einem anderen Maskaten gegenüber würde ich niemals über so etwas zu sprechen wagen. Bei Dir ist es ja etwas anderes. Für uns darf überhaupt das Land Saba mit den Sabäern gar nicht existiert haben, wir dürfen nicht einmal daran denken.«

Aha! Das erklärte schon vieles!

Das sind solche Ursachen, weshalb unsere Geschichtsforscher manchmal auch an Ort und Stelle auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen und ganz falsche Bilder erhalten. Oder es können auch andere Gründe vorliegen, Patriotismus und dergleichen.

Ich habe einmal ein französisches Schulbuch in Händen gehabt, in dem auch der letzte Krieg mit Deutschland behandelt wurde — geschichtlich behandelt.

Na, was da dieser »Geschichtsforscher« alles vergessen und anderseits hinzugedichtet hatte! Wenn nicht die bekannten Namen gewesen wären, man hätte den Krieg 70/71 überhaupt gar nicht wiedererkannt.

»Auch von so etwas ist nichts bekannt?«

Wir waren schon die Hälfte der Höhe hinabgestiegen, und mit diesen Worten ließ ich den Blendstrahl meiner Lampe heller aufleuchten.

»Alschallah!«, rief der alte Araber in grenzenlosem Staunen, wenn nicht mit Entsetzen.

Der Blendstrahl beleuchtete eine Reihe von menschlichen Gestalten, von Mumien, die in Felsennischen hockten. Und das war noch gar nichts. Ich hatte im Laufe der drei Tage diesen Felsengang schon mindestens einen Kilometer weit nach Westen verfolgt — Mumien, nichts als Mumien, eine neben der anderen mit untergeschlagenen Beinen hockend, jede in einer Nische für sich, mindestens aller zwei Meter eine, und so kämen bei einem Kilometer, da beide Seiten des Ganges so besetzt waren, schon tausend Stück heraus, aber da war dieser Gang noch immer nicht zu Ende.


Illustration

»Alschallah!«, rief der alte Araber in grenzenlosem Erstau-
nen, als er rings in den Felsennischen die Mumien erblickte.


Es waren Männer und Weiber und Kinder, offenbar einfach bekleidet gewesen, aber das war alles schon längst in Staub zerfallen. Die ganze Sache war nämlich umso wunderbarer, als hier eine sehr feuchte Luft herrschte, und trotzdem hatten sich die Mumien ganz ausgezeichnet gehalten, waren deswegen auch nicht zusammengedörrt, wie die ägyptischen Mumien, deren lange Konservierung ja auch hauptsächlich die ungemeine Trockenheit der Luft bedingt. Es musste sich also um eine ganz besondere Art von Konservierung handeln.

Es waren braune und auch schwarze Gestalten mit orientalischen, semitischen Gesichtszügen, weiter ist von ihnen nichts zu sagen.

Also die Gewänder waren verschwunden, nicht aber die goldenen Arm- und Fußspangen, die Halsketten, der Schmuck in den Haaren, die Fingerringe, mit denen sie samt und sonders überreichlich bedeckt waren, die kostbarsten Geschmeide mit herrlichen Steinen, mit Smaragden, Rubinen und Diamanten, aber alle Steine ungeschliffen, und dennoch schon prachtvolles Feuer ausstrahlend.

»Alschallah, Inschallah!«, staunte der Alte immer wieder, besonders als ich ihn noch weiter nahm und meinen Blendstrahl leuchten ließ.

»Mehr als tausend haben wir schon gezählt.«

»Inschallah — Allah wie groß bist Du!«

»Gar keine Ahnung von diesen Mumien?«

»Nein.«

»Sonst werden hier nirgends solche gefunden?«

»Nie.«

»Merkwürdig. Und Gold und Edelsteine müssen hier doch massenhaft vorhanden gewesen sein, dass man sie den Toten gelassen hat, wenn man nicht nur an Fürsten und Millionäre glauben will.«

»Das muss man annehmen.«

»Ist dieses Königreich Saba zugleich auch das sagenhafte Ophir gewesen, aus dem Salomo seine Schätze holte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wird jetzt in Maskat noch Gold gefunden?«

»Nicht viel.«

»Edelsteine?«

Der Alte war schon vorher etwas unruhig geworden.

»Mein Sohn, Du fragst mich da etwas, worauf Dir kein echter Maskate eine ehrliche Antwort geben darf, oder er speit vor sich selber aus.«

Es war seine Bejahung gewesen.

Nun, ich war der letzte, der deswegen den Alten oder sonst einen Menschen auf den Folterblock gespannt hätte.

Und es genügte auch schon, was wir hier fanden. Hätten wir die Leichenräuber spielen wollen, wir hätten nicht mehr um unsere Zukunft zu sorgen brauchen. Wenn wir es überhaupt noch nötig gehabt hatten. Und überdies hatte die Expedition noch ganz andere Entdeckungen in dieser Beziehung gemacht. Aber das hatte auch ich noch nicht geschaut.

Ehe wir den Weg fortsetzten, wollte ich bei dieser Gelegenheit gleich etwas anderes erledigen.

»Vater Abdallah, Dir sind dort oben in dem Keller wirklich Tote erschienen?«

Der Alte legte sofort die Hand an seinen weißen Bart.

»Beim Barte des Propheten, ich spreche die Wahrheit, wenn ich Dir auch sonst nichts weiter darüber erzählen darf.«

Dann zweifelte ich nicht daran. Wenn der Alte auch natürlich ein Opfer seiner Einbildungskraft geworden war.

Wir setzten unseren Abstieg fort, erreichten die Barkasse, die direkt an der Steintreppe lag.

Ein grunzendes Bellen begrüßte mich jauchzend. Soeben waren die beiden Seehunde zurückgekehrt, die nach dem Schiffe geschickt worden waren, hatten den weiten Weg auch im finsteren Wasser hin und her gefunden. Es war doch ein ziemlich gewagtes Experiment mit den Tieren gewesen, aber sie hatten die Prüfung bestanden.

Jeder trug ein Halsband mit einer wasserdichten Kapsel, jede enthielt die Antwort auf die Meldung, dass der Waffenmeister lebendig wieder aufgefunden worden war. Falls eines der Tiere doch verloren gegangen wäre.

Die Antwort auf diese sensationelle Meldung war kurz genug.

»All right. Martin.«

Nichts weiter. Aber es genügte auch vollkommen.

Wie wir bereits beschlossen hatten, wurde die Erforschung des unterirdischen Wasserweges jetzt nicht fortgesetzt, sondern erst einmal nach dem Schiffe zurückgekehrt. Einmal wollten wir dort doch erst unsere neuen Gäste absetzen, und dann überhaupt, ich wollte doch erst alle meine Argonauten wiedersehen!

Auch diese Rückfahrt mache ich kurz. Es war das reine Goldbergwerk, in dem wir uns befanden, durch das wir zwei Tage lang fuhren. Nicht in Blöcken war das Gold vorhanden, wohl aber zog es sich in dicken Adern durch das Gestein. Außerdem waren hier und da Rubinen eingesprengt, bis zur Größe einer Haselnuss.

Kein Zweifel, wir befanden uns in dem sagenhaften Ophir. Aber von diesen Schätzen wussten auch die heutigen Bewohner dieses Landes nichts mehr.

Am dritten Tage erblickten wir das Licht der Sonne wieder.

Ach, wie ich begrüßt wurde! Dieser Jubel!

Als ich meine alte, liebe Kabine betrat, klingelte auf dem Schreibtisch das Telefon.

»Hier Waffenmeister. Wer dort?«

»Schwester Anna.«

Ah! Ich hatte wirklich gedacht, ich würde im Schiffe selbst angerufen.

»Ich begrüße Dich wieder an Bord Deines Schiffes.«

»Danke. Und ich freue mich, Dich wieder einmal sprechen zu können.«

»Ich durfte vorher nicht mit Dir sprechen.«

»Ich glaube es. Ende gut, alles gut — das ist immer die Hauptsache.«

»Was habt Ihr jetzt vor?«

»Du weißt doch, was wir hier entdeckt und sonst inzwischen getan haben.«

»Ich weiß es.«

»Wir wollen jetzt den unterirdischen Wasserweg weiter verfolgen.«

»Tut es nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Keiner von Euch würde lebendig wieder herauskommen.«

»Hm, das ist sehr schade.«

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, da dieser unterirdische Weg der jetzigen Menschheit bekannt wird. Willst Du meiner Warnung Gehör schenken?«

»Gewiss doch. So sehr ich es auch bedauere. Hast Du sonst ein Ziel für uns?«

»Ihr wolltet nach dem Seelandsfelsen zurück?«

»Dann wahrscheinlich.«

»Fahrt erst nochmals nach dem Plateau am Nebenfluss des Amazonenstromes.

»Wie Du befiehlst.«

»Ich habe Dir nichts zu befehlen.«

»Wir tuen es auch sonst sehr gern.«

»Benutzt den Suezkanal.«

»Sind wir gesichert? Dass nicht diesmal passiert, wovor Du uns damals gewarnt hast? Dass man uns in Quarantäne behält oder sonst etwas am Zeuge zu flicken sucht?«

»Die türkische Behörde wird es tun wollen, aber sie wird zu spät kommen. Ihr passiert ungehindert den Suezkanal.«

»Dann ist es ja gut. Wie hat sich die Sache unterdessen auf jenem Plateau entwickelt?«

»Das wirst Du ja sehen.«

»Sehr richtig. Verzeihe mir meine törichte Frage.«

»Hast Du sonst noch etwas zu fragen?«

»Bist Du einverstanden, dass wir den alten Araber und seine weibliche Gesellschaft an Bord behalten?«

»Ich habe mit gar nichts einverstanden zu sein, was Du tust oder nicht tust, Du hast ganz Deinen freien Willen. Nur dass ich Dich ab und zu vor großen Gefahren warne.«

»Danke. Wer ist der Mann, der statt meiner in Wellington begraben liegt?«

»Du wirst es später erfahren und gerechte Vergeltung an seinen Mördern üben, wie auch an denen, welche Dich in die Sklaverei verkauften. Schluss.«

*

72. Kapitel

Auf der Fahrt nach Westen

Originalseiten 1757 — 1823

Nun will ich wieder einige Episoden aus unserem Schiffsleben erzählen, wohl der Reihenfolge nach, wie sie sich abspielten, aber ihrem Charakter nach bunt durcheinander.

Ich hatte mich eben erst wieder eingerichtet, wir hatten jene Bucht erst einige Stunden hinter uns, als mich in meiner Kabine Mister Tabak aufsuchte.

Während der unterirdischen Fahrt, die er mitgemacht, hatte er ein warmes Kostüm getragen, jetzt präsentierte er sich schon wieder nackt und mit der Badehose, was man in dieser Gegend, der heißesten der ganzen Erde, diesem Sohne des höchsten Nordens auch nicht verübeln konnte. Nur wäre nicht gerade nötig gewesen, dass er an dieses Badehöschen auch immer seine beiden Orden befestigt hatte. Die mächtige goldene Uhrkette war schon eher zu verzeihen.

»Ehem«, begann er, »ich störe doch nicht, Herr Waffenmeister?«

»Sie, mein lieber Mister Kabat, stören mich überhaupt nie.«

»Darf ich mich setzen?«

»Bitte sehr.«

Er setzte sich, faltete die Hände über dem Hängebauch, und formte mit seinen krummen Dachsbeinen ein vollkommenes Rad.

»Ich freue mich sehr, dass Sie noch am Leben sind.«

»Ich mich vielleicht noch mehr als Sie.«

»Tatsache!«

»Bei mir auch.«

»Sie haben mir immer sehr gefehlt.«

»Ihre Teilnahme rührt mich.«

»Ich hätte Sie gerade in der letzten Zeit sehr nötig gebraucht.«

»Also ist Ihre Teilnahme nur Egoismus?«

»Ja, meinetwegen. Ich wollte Ihnen schon unterwegs auf dem Flusse und da in dem Hause immer etwas sagen, aber da waren Sie ja niemals allein zu sprechen.«

»Jetzt sind wir allein.«

»Herr Waffenmeister, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun.«

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

»Eigentlich bedeutet es auch eine hohe Ehre für Sie.«

»Na, versuchen Sie den Grund der Dankbarkeit, die Sie mir dann nicht schuldig sind, nicht im voraus abzuschwächen. Das tut kein Gentleman.«

»Herr Waffenmeister«, reckte sich dieses Monstrum von einem Menschen stolz empor, »zweifeln Sie, dass ich ein Gentleman bin?«

»Durchaus nicht! Das war doch nicht so gemeint.«

»Also würden Sie mir eine große Gefälligkeit tun?«

»Na, Mister Tabak — nun schießen Sie aber gefälligst mal los!«

Aber Mister Tabak schoss immer noch nicht gleich los, sondern zunächst nahm er die qualmende Fuhrmannspfeife, die er ganz selbstverständlich im Munde hatte, aus den Zähnen, nahm bedachtsam den Stiefel vom Rohr, lehnte sich zurück, sperrte weit den Rachen auf und ließ sich die deliziöse Sauce hinein laufen.

Nach dieser Erfrischung war er klar zum Gefecht.

»Ich möchte nämlich heiraten.«

Ach Du großer Schreck! Das hatte ich nun freilich nicht erwartet.

»Wen denn?!«, platzte ich heraus.

»Ein Mädchen.«

»Das kann ich mir lebhaft denken.«

»Es könnte doch auch eine Witwe sein.«

»Allerdings, da haben Sie recht.«

»Nein, es ist ein Mädchen.«

»In Grönland?«

»In Grönland? Bei Ihnen piept's wohl?«, meinte er ganz gemütlich. »Sind wir denn hier in Grönland? Ich dachte, das wäre Arabien.«

»Ja wen denn nur?«

»Das Fräulein Hildgard Gerlach.«

Ich erstarrte. Ich hatte tatsächlich geglaubt, der Eskimo wolle uns verlassen, um in seiner eisigen Heimat eine Eskimoin zu heiraten, hatte mich gleich so in diesen Wahn verrannt, es war gleich vor meinen geistigen Augen so sein Bild entstanden, eine Eskimohochzeit in Grönland, in der Schneehütte.

Deshalb hatte ich mir auch gleich seine Verlegenheit zurechtgelegt. Weil er uns verlassen wolle.

Und jetzt will dieser menschliche Dachshund unsere Hildgard heiraten, dieses schöne, liebliche, anmutige Mädchen!

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ganz gewiss. In solchen Sachen treibt man doch keine Scherze. Ich wenigstens nicht, da bin ich zu ideal veranlagt.«

Die Sache war nämlich die, dass der mir meinen gewaltigen Schreck gar nicht anmerkte. Der hielt es nur für große Überraschung. Denn in gewisser Hinsicht war dieser Eskimo wie von Gott geschlagen. Und ich hatte mich auch schnell wieder erholt, wollte weiter drauf eingehen.

»Sie lieben Hildgard?«, fragte ich also ganz sachgemäß.

»Nu natürlich, sonst würde ich sie doch nicht heiraten wollen.«

»Und werden wieder geliebt?«

»Ja.«

Nochmals bekam ich einen Sturz eiskalten Wassers über den Kopf. Denn ich hätte doch alles andere erwartet als dieses »Ja«.

»Das — das — hat sie Ihnen selbst gesagt?«, suchte ich mich zu beherrschen. Ein Glück nur, dass jener nichts merkte.

»Nee.«

»Ausgesprochen hat sie sich noch nicht?«

»Nee. Ich merke aber ganz deutlich, dass sie mich liebt.«

»Woraus merken Sie das?«

»Weil sie immer so lüstern nach mir schielt.«

»Lüstern?«

»Wonach man immer schielt, das will man doch gern haben, also danach ist man lüstern.«

»Hm, ja, da haben Sie allerdings recht.«

»Und ich bin doch ein gutgewachsener Mensch mit hübschem Gesicht«, fing sich jetzt dieser menschliche Dackel mit der mongolischen Affenfratze selbst zu loben an, »und ich kann auch eine Frau ernähren. Wenn ich auch kein bares Vermögen besitze. Aber einmal habe ich doch hier eine sehr gute Stellung, zweitens kann ich doch auch jederzeit wieder als Walfischharpunier gehen, verdiene Geld wie Heu, und überhaupt, ich habe doch mit drei Majestäten freundschaftlich verkehrt, ja ich glaube sogar, dass die Wilhelmine von Holland auf mich... na kurz und gut, ich will mich nicht etwa rühmen, da kennen Sie mich doch... also wollen Sie bei Miss Gerlach für mich den Freiwerber machen, mein lieber Waffenmeister?«

»Weshalb denn gerade ich?«, fragte ich ganz kleinlaut. Denn dem war es Ernst, da gab es ja nun nichts mehr!

»Weil Sie der einzige Mensch an Bord sind, den ich hierzu gebrauchen kann. Oder soll ich etwa Fritz den Mondgucker für mich als Brautwerber auftreten lassen? Oder soll ich gar den schwarzen Küchenjungen hinschicken? Den Herrn Kapitän Martin kann ich dazu freilich auch nicht deswegen bitten, der — der — der...«

Der würde die Hände nur noch tiefer in den Hosentaschen vergraben und Dir einfach den Rücken zudrehen, ergänzte ich, freilich nur in Gedanken.

»Juba Riata, der doch Ihr spezieller Freund ist?«, sagte ich statt dessen.

»Der eignet sich aus gewissen Gründen ganz und gar nicht zum Brautwerber. Sie sind der einzige. Ja, Herr Waffenmeister, wissen Sie denn überhaupt die Ehre gar nicht zu schätzen, wenn Sie für einen Mann wie mich um die Hand einer Dame anhalten sollen?«

Ich war bereits entwaffnet. Juba Riata schien klüger gewesen zu sein als ich — ich wusste keinen Ausweg.

»Ja, weshalb machen Sie selbst nicht gleich direkt dem Fräulein Gerlach Ihren Antrag?«, konnte ich nur noch fragen.

»Weil ich ein geborener Eskimo bin. Wissen Sie, was ich damit meine? Nein? Das ist bedauerlich. Weil es bei meinem Volke Sitte ist, dass der Mann um die Hand derer, die er liebt und die er als sein Weib in seine Hütte führen will, durch einen anderen anhalten lässt. Zwar bin ich den Brüdern in meiner Heimat schon längst entfremdet, aber ich habe doch bis zu meinen Jünglingsjahren unter ihnen geweilt, und diese Sitte ist mir nun einmal in Fleisch und Blut übergegangen; ich kann es mir gar nicht anders vorstellen, als dass ein anderer für mich den Brautwerber macht. Also gehen Sie.«

Also gehen wir! Ja, ich musste wohl, mir blieb nichts anderes, ich wusste keinen Ausweg, mich diesem fatalen Auftrag zu entziehen. Dazu bin ich eben ein viel zu guter Kerl.

»Jetzt sofort?«

»Gewiss, jetzt sofort. Das heißt, die Zeile da, die Sie angefangen haben, können Sie ja noch fertig schreiben, so eilig ist die Sache ja nicht, als wenn man einen Walfisch harpuniert.«

»Aber sonst — wenn man nun einmal heiraten will, dann will man doch nicht noch tagelang warten.«

»Sie sind doch Christ?«, konnte ich nur noch fragen, weil er noch so auf die Sitten seiner Brüder in Grönland hielt, und dass er es so eilig mit dem Heiraten hatte, schon einige Tage für eine endlose Wartezeit hielt, von einer Brautzeit gar keine Ahnung zu haben schien, kam mir doch auch nicht ganz geheuer vor.

»Jawohl, ich bin Christ. Ich bin sogar viermal getauft worden.«

»Gleich viermal?«, brachte ich hervor, wahrscheinlich mit reicht dummen Gesicht.

»Jawohl, viermal. Dreimal in New York, und einmal in einem grönländischen Neste von einem dänischen Missionar.«

»Warum denn aber gleich viermal?!«

»Nu, weil ich eben nicht so bin. Diesen Geistlichen und Missionaren macht es doch ein ungeheures Vergnügen, seinen Heiden taufen zu können, und wenn sich nun so ein Missionar mir in dem Glauben näherte, ich sei noch ein Heide, dann hab ich mich auch immer für einen Heiden ausgegeben. Nur um dem Manne das Vergnügen zu gönnen. Habe mich immer noch einmal taufen lassen. Ich bin eben ein Gemütsmensch, für diese geldgierige Welt viel zu ideal veranlagt. Denn nicht etwa, dass ich mir die Tauferei hätte bezahlen lassen, wie es die meisten machen. Das gibts bei mir nicht! Im Gegenteil, ich habe immer die ganze Tauffestlichkeit bezahlt. Ich bin eben Idealist. Also das können Sie meiner Zukünftigen ruhig versichern, dass ich ein guter Christ bin und dass ich das mit Papieren belegen kann.«

»Haben Sie sich immer evangelisch taufen lassen?«, fragte ich noch diesen ideal veranlagten Christen.

»Evangelisch, sicher, immer evangelisch. Das erste Mal wurde ich evangelisch getauft, wenn ich damals auch nichts davon wusste, ich war bezecht wie ein Kanonenrohr, aber da es nun einmal evangelisch geschehen war, wie ich hinterher erfuhr, bin ich dann auch dabei geblieben. Ich bin doch nicht etwa so wie die Klothilde, die sich heute katholisch und morgen evangelisch taufen lässt, übermorgen jüdisch und am anderen Tage mohammedanisch wird, um irgend einen Vorteil davon zu haben. Nein, das gibt's bei mir nicht. Ich bin auch wirklich fromm. Das können Sie ruhig meiner Braut sagen. Wenn ich auch nie in die Kirche gehe. Weil man da drin nicht rauchen darf. Aber das in die Kirche gehen hat mit der wahren Frömmigkeit gar nichts zu tun. Und dann können Sie auch so wenigstens Anspielungen machen, wie gut es meine Frau bei mir haben wird. Prügeln tue ich sie nicht. Das ist ausgeschlossen. Natürlich vorausgesetzt, dass meine liebe Frau nicht einmal gegen mich handgreiflich vorgeht. In diesem Falle begnüge ich mich aber, sie nur zu überwältigen und...«

Ich machte lieber gleich, dass ich fortkam, um mich meines Auftrags zu entledigen.

»Ich mache mich unterdessen schon klar zur Hochzeit, der Trauakt durch den Segen eines Geistlichen wird dann später einmal bei Gelegenheit vollzogen!«, rief mir der grönländische Idealist noch nach.

Ich fand Hildgard im Atelier ihres Bruders, der malend vor einer Staffelei stand. Er vollendete gerade ein Gruppenbild sämtlicher Argonauten, bei der Arbeit an Deck und in der Takelage verteilt.

Also ich entledigte mich würdevoll meines Auftrages — wirklich ganz ohne Scherz, meine eigene Meinung zurückhaltend, war aber noch nicht ganz fertig, hatte noch nicht des Brautwerbers schriftliche Frömmigkeit, seinen Idealismus und sonstige geistige wie körperliche Vorzüge gepriesen, als Reinhold, der eben einen Rettungsgürtel pinseln wollte, August dem Starken rote Haare gab, plötzlich der Pinsel ausrutschte, und Hildgard die Balance verlor. Sie fiel auf einen Stuhl hin, obgleich das Schiff durchaus nicht schlingerte.

»Es — ist — doch — nicht — möglich.«

»Ganz gewiss ist es möglich. Mister Tabak will heiraten. Sofort. Hat's sehr eilig.«

»Mich? Mich?!«

»Jawohl, Sie und keine andere. Nur auf Sie ist seine heiße Liebe gefallen. Na, nun machen Sies kurz. Ja oder nein.«

»Aber wie kommt er nur dazu...«

»Er glaubt, dass auch er Ihnen nicht gleichgültig ist, weil Sie immer nach ihm schielen.«

»Weil er so eine urkomische Figur hat.«

Die Geschwister erholten sich von ihrem Schreck, gingen auch nicht zum Scherz über, sondern nahmen die Sache ernst, so wie sie gegeben worden war.

»Was soll ich tun, um ihn durch eine Absage nicht zu beleidigen?«

»Sagen Sie doch, Sie hätten ein Gelübde abgelegt, niemals zu heiraten.«

Das junge Mädchen bekam plötzlich einen ganz roten Kopf.

»Das — das — kann ich nicht, das wäre eine Unwahrheit...«

»Na, da sagen Sie doch, Sie wären schon vergeben, und wenn's auch wirklich nicht stimmte, das kommt in solch einem Falle doch gar nicht drauf an.«

»Meinetwegen, sagen Sie ihm das.«

»Wer der Erwählte ist, das darf er wohl nicht erfahren?«

»Nein, nein, das ist ja gar nicht wahr!«, rief Hildgard, noch mehr erglühend.

Ich ging, fand den Eskimo in seiner nach Tabaksschmant und Tran duftenden Kabine. Obgleich ich nur zehn Minuten ausgeblieben war, hatte er sich unterdessen doch schon in vollen Wichs geworfen, sich in seinen schwarzen Anzug hineingequetscht, die Füße in die mächtigen Lackquadranten, den Zylinder auf dem Kopfe, natürlich fehlten auch die beiden Orden nicht, diesmal hatte er auch nicht, wie seiner Zeit in Marseille, Vatermörder und Schlips vergessen, nur dass dieser rot mit grünen Tupfen war, und in seinen Händen hielt er eine große Schachtel, die sicher das Brautgeschenk barg.

»Mein armer Freund, Sie kommen zu spät, und mit der lüsternen Schielerei müssen Sie sich geirrt haben — Fräulein Hildgard hat die Wahl ihres Herzens bereits getroffen. Sie bedauert ungemein.«

Die Absage brachte auf den grönländischen Freiersmann so gut wie gar keine Wirkung hervor.

»So. Hm. Schade. Wer ist der andere?«

»Das allerdings hat sie mir nicht verraten, das ist noch ein süßes Geheimnis!«

»Na, das ist mir auch ganz schnuppe!«, lautete die Antwort, auf deutsch, der Eskimo hatte in den nunmehr drei Jahren ein ganz vortreffliches Deutsch gelernt. »Wissen Sie was, da gehen Sie mal zu der Fräulein Nora Pooteken, ob die mich haben will.«

Das heißt — jetzt wurde ich aber noch baffer als vorhin, da er mich mit der ersten Brautwerbung beauftragte.

»Sie wollen die Fräulein Nora heiraten?!«

»Jawohl. Die wird doch hoffentlich noch nicht vergeben sein.«

»Lieben Sie denn das Mädchen?«

»Ei gewiss. Sonst würde ich sie doch nicht heiraten wollen.«

»Ich denke, Ihre ganze Sehnsucht gilt dem Fräulein Hildgard!«

»Da haben Sie eben falsch gedacht. Da haben Sie mich einfach unterschätzt. Nein, so einseitig bin ich nicht. Also bitte, mein lieber Waffenmeister, gehen Sie zu Fräulein Nora, sagen Sie ihr mit passenden Worten, dass ich schon immer mit glühender Liebe zu ihr mich hingezogen fühle, machen Sie so ein paar Schmeicheleien, besonders ihr herrliches blondes Haar habe es mir angetan...«

»Das Fräulein Nora!«

»Die Nora.«

»Die hat aber schwarzes Haar.«

»Blondes.«

»Die hat schwarzes! Die Senta ist blond, Nora ist schwarz. Das ist auch das einzige, woran man die beiden Schwestern unterscheiden kann.«

Auch diese Mitteilung brachte auf Mister Tabak sehr wenig Wirkung hervor, höchstens, dass er noch etwas mächtiger qualmte, und außerdem biss er sich noch ein großes Stück Kautabak ab.

»Irren Sie sich nicht?«

»Ganz bestimmt nicht. Nora ist die schwarze, Senta die blonde, das liegt schon in dem Namen.«

»Dann ist der Irrtum auf meiner Seite. Aber blond muss meine Frau sein, schwarze Haare kann ich bei den Frauenzimmern nicht leiden. Also gehen Sie zur Senta, ob sie meine Frau werden will. Und wissen Sie was, mein lieber Waffenmeister, falls die auch schon vergeben ist, dann gehen Sie, damit Sie sich den Weg nicht zweimal machen, gleich zur Nora, machen Sie der meinen Antrag. Wenn sie auch schwarz ist — dann färbe ich sie blond. Also verstehen Sie? Erst zur blonden Senta und dann zur schwarzen Nora. Und natürlich dürfen die Schwestern nicht zusammen sein. Das sehe doch schlecht aus, wenn Sie sich von links gleich nach rechts drehten und dasselbe sagten. Das könnte die andere vielleicht doch kränken, und so bin ich nicht, ich will niemanden kränken. Wenn es später herauskommt — na, das ist mir egal.«

Ich ging. Was ich mir dabei dachte, will ich nicht schildern.

Aber gehorchen tat ich nicht, ich machte den Antrag gleich beiden Schwestern zusammen.

Auf diese Weise entsetzten sie sich nicht mehr wie vorhin die Hildgard, sie lachten nur.

»Dieser Eskimo ist verrückt!«

»Nein, sondern es ist eben ein Eskimo, der sich gleich viermal hat taufen lassen. Also, meine Damen, wer von Ihnen hat Lust?«

»Was sollen wir für eine Ausrede machen?«

»Diesmal wieder eine andere als Fräulein Hildgard. Ich weiß etwas. Sie, Fräulein Senta, wollen gern einwilligen, aber nur unter der Bedingung, dass er nicht mehr raucht. Und Sie, Fräulein Nora, nur unter der Bedingung, dass er nicht mehr priemt. Einverstanden?«

»Wenn er aber doch darauf eingeht?«, erklang es verzagt.

»Dann«, legte ich meine Hand auf's Herz, »versichere ich den Damen auf mein Ehrenwort, dass ich selbst diejenige, die er verschmäht, heiraten werde! Genügt dieser Schwur?«

Ja, er genügte, denn die Schwestern mussten ja, wie es mit mir stand.

»Zur Vorsicht können Sie beide ja auch noch verlangt haben, dass er auch sein Schnupfen aufgibt. Das schlägt dem Fasse den Boden aus!«

Mister Tabak befand sich in derselben Stellung noch in seiner Kabine, auch die große Schachtel noch in der Hand.

»Also erst war ich vorschriftsmäßig bei der blonden Senta. Ja, sie weiß die Ehre zu schätzen, sie ist sofort bereit...«

Da ging über das mongolische Affengesicht ein sonniges Lächeln.

»Habe ich mir's bei der doch gleich gedacht!«

»... aber nur unter der Bedingung, dass Sie nicht mehr rauchen.«

Da erlosch das sonnige Lächeln wieder.

»Die ist verrückt!«, war es diesmal der Eskimo, der das rief.

»Das habe ich mir ebenfalls gleich gesagt, bin deshalb auch gleich zu Fräulein Nora gegangen...«

»Nun und?«

»Ebenfalls sofort damit einverstanden. Aber nur unter der Bedingung, dass Sie keinen Tabak mehr kauen.«

»Die ist ja noch viel verrückter!«, erklang es in wachsender Entrüstung. »Verlangen diese Weiber etwa auch noch, dass ich nicht mehr esse und trinke? Mit solchen Gänsen mag ich gar nichts zu tun haben, ein Glück, dass ich sie jetzt noch richtig erkenne, ehe es zu spät ist.«

Also es genügte, das Verbot des Schnupfens war gar nicht nötig.

In Gedanken versunken öffnete Mister Tabak die Schachtel, griff vorsichtig hinein, brachte etwas zum Vorschein, das mich mit größtem Staunen erfüllte.

Ein Rosenzweig oder vielmehr zwei, einer mit roten, der andere mit weißen Rosen, prachtvolle Blumen, ganz und halb aufgeblüht und erst knospend und nicht etwa aus solchem Tuchzeug, das erkannten meine Augen doch sofort. Nein, das waren ganz natürliche, und jetzt merkte ich auch den herrlichen Rosenduft, den bisher nur der Tran- und Tabaksgeruch verdeckt hatte.

»Mensch wo haben Sie denn hier an Bord diese Rosen her?«

»Die habe ich selber gemacht.«

»Was?! Das sind doch natürliche!«

»Nee. Aus Elfenbein geschnitzt, aus Mammutzahn, den man ja manchmal bei uns oben im Eise findet. Die Stängel sind aus Fischbein.«

Ich musste die Zweige erst in die Hand nehmen, ehe ich es glauben konnte.

Wahrhaftig, alles aus Elfenbein! Aber ganz wunderbar geschnitzt! Jedes Staubfädchen darin deutlich erkennbar.

»Mensch, sind Sie denn so ein Künstler?!«, staunte ich nur immer mehr.

»Künstler? Da ist doch nichts weiter dabei. Solche wasserdichte Stiefeln zu machen, wie ich es kann, das ist wahre Kunst. Habe das Zeug einmal im New Yorker Krankenhause geschnitzt, als ich das Bein gebrochen hatte, in vier Wochen.«

»Womit sind die Rosen rot und die Blätter grün gefärbt, in allen Schattierungen?«

»Ja, das ist nun freilich ein Geheimnis diese farbige Elfenbeinätzung mit Pflanzensäften, das ich von einem Schamanen habe, von einem unserer heidnischen Priester, und das wird nicht verraten. Denn Sie wissen wohl, dass es noch ein Problem ist, wie man Elfenbein dauernd färben kann.«

Ich wunderte mich hauptsächlich über die abgetönten Farbennuancen, wie das dunkelste Rot nach und nach in das zarteste Rosa überging, und nun noch dann diese herrliche Schnitzarbeit, exakt und naturgetreu bis ins kleinste Detail! Dieser Eskimo war ein gottbegnadeter Künstler, ohne dass er es selbst wusste. Aber auch wir hatten ihn noch gar nicht als solchen geschätzt. Wir wussten wohl, welche erstaunliche Handfertigkeit dieser Eskimo besaß, dabei hatte er schon damals bei Ilses Geburtstag mit den wunderbaren Stiefelchen bewiesen, das zeigte er auch bei anderen Gelegenheiten, besonders seine Geschicklichkeit im Schnitzen war einfach fabelhaft, mit seinem mächtigen Messer spaltete er einen Kirschkern und schnitt innerhalb einer halben Stunde an den beiden Hälften je ein Gewinde daran, mit demselben Messer, sodass man die beiden winzigen Nusshälften wie eine Büchse zusammenschrauben konnte, dann hatte er Ilse für den Wintersport in Vancouver einen Schlitten gefertigt, aus lauter kleinen Knöchelchen. zusammengebunden, ein Wunder von einem eleganten und unverwüstlichen Schlitten, der übrigens später in unserer Erzählung noch eine Rolle spielen wird — aber erst hier bei Anblick dieser beiden aus Elfenbein und Fischbein geschnitzten Rosenzweige erkannte ich, dass dieser Eskimo ja ein tatsächlicher Künstler war!

Er legte die Rosen wieder in die Schachtel, die zur Hälfte mit einer Art Wolle, wohl fein geschabtes Fischbein, gefüllt war.

»Da ist es also mit den beiden Schwestern ooch nischt«, fing er dann wieder an. »Ja, aber heiraten will und muss ich, hab' mir nun einmal vorgenommen, und wenn ich mir so was vornehme, dann setze ich's auch durch. Was haben wir sonst noch von Weibern an Bord? Die Klothilde? Nee. Die ist so schwarz, dass man sie überhaupt gar nicht blond färben kann, und mir auch sonst viel zu haarig. Wenn man der den Schnauzbart wegrasiert, hat sie in einer halben Stunde ja nur noch einen längeren wieder. Da könnte ich ja bloß egal färben. Die sechs arabischen Weiber kenne ich noch nicht, die sind ja erst ein paar Stunden an Bord, und da müsste man doch überhaupt die Katze im Sack kaufen. Bliebe nur noch die — die — — ja, mein lieber Waffenmeister, was meinen Sie? Wollen Sie noch mal zur Patronin gehen und für mich bei der um ihre Hand werben? Ob die mich wohl nimmt?«

Wie er das gesagt hatte, und wie er mich dabei still von der Seite zweifelhaft anschielte, da war es vorbei mit meiner Selbstbeherrschung.

Da fiel ich auf das Sofa und lachte, dass mir die Tränen über die Backen rannen.


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Er tat, als würde er sehr böse, ich merkte aber gleich, dass es nur Verstellung zwar.

»Na, was gibt's denn da zu lachen? Oder Sie denken wohl, ich bin so ein Esel? Sie glauben wohl, ich wüsste nicht, wie es zwischen Ihnen und der Patronin steht? Machen Sie, dass Sie hinauskommen, wenn Sie mich für so dumm halten!«

»Die Mama Bombe«, lachte ich noch immer aus vollem Halse, »die Mama Bombe fehlt noch, und die wird Ihre Werbung ganz sicher annehmen!«

»Machen Sie, dass Sie hinauskommen, sage ich!«, stellte er sich immer wütender. »Sonst gebrauche ich Hausrecht, denn das ist hier meine Kabine, in der Sie gar nichts zu suchen haben! Jawohl, gehen Sie zur Frau Patronin, nehmen Sie hier das Gelumpe mit, ich schenke es ihr, als Verehrung, aber ich denke ja gar nicht ans Heiraten, weiter fehlte ja nichts. Naus!«

Ich nahm den Kasten und verschwand.

Auf diese Weise also blieb Mister Tabak unbeweibt, und Helene, so sehr sie auch lachte, als ich ihr berichtete, war doch entzückt über das herrliche Geschenk.

*

Wir hatten den Suezkanal anstandslos passiert.

»Fertig!«, sagte Vater Abdallah, als wir in das Mittelländische Meer steuerten.

Nach seinen Angaben war eine größere Kabine mit schwarzem Tuch austapeziert worden, der alte Araber hatte sich ab und zu darin eingeschlossen, immer längere Perioden machend, bis er zuletzt tagelang darin verweilt hatte, tatsächlich ohne etwas zu essen, und nicht nur einmal, sondern wiederholt, die letzte Hungerperiode hatte vier Tage und vier Nächte gewährt, und dem Alten schien das Fasten ganz gut zu bekommen.

»Jetzt habe ich meine Geister in diesen Raum gebannt, sie gehorchen mir. Oder ich will mich so ausdrücken, wie Ihr realistischen Abendländer, die Ihr an nichts glaubt, was Ihr nicht mit Fäusten packen könnt, sagen würdet: Jetzt bin ich imstande, in diesem Raume jede nur denkbare Illusion vorzugaukeln. Allerdings zunächst nur immer einer einzigen Person. Dann später, wenn ich — wie ungefähr Ihr Euch ausdrücken würdet — mehr Energie in mir aufgestapelt habe, können es auch zwei Zuschauer sein, zuletzt hoffe ich, dass der ganze Raum besetzt sein kann, und die Illusionen werden mir gelingen. Für mich freilich ist es etwas anderes als Illusion und Gaukelei.«

Einer nach dem andern betrat die schwarze Kabine, der »Magier« gaukelte ihm etwas vor, meist jedem etwas ganz anderes.

Was er vorführte, dabei will ich mich jetzt nicht weiter aufhalten, da ich schon einmal davon erzählt habe. In diesem schwarzen Zimmer war dem Alten einfach gar nichts unmöglich. Später werde ich noch einiges schildern, wenn sich der alte Araber noch mehr vervollkommnet hat, obgleich man jetzt schon glauben musste, dass er seine Phantasiegebilde gar nicht mehr übertreffen könne.

Etwas anderes will ich hier erwähnen.

Die wunderbaren Gaukeleien, welche die indischen Fakire mitten auf der Straße wie auf Bestellung im Salon aufführen, beruhen auf Tatsache.

Ich meine: früher, und es ist noch gar nicht so lange her, hat man die Wahrheit solcher Erzählungen überhaupt angezweifelt.

Na, da geht doch hin nach Indien! Da tritt ein zerlumpter oder mehr ganz, als halbnackter brauner Kerl mitten auf die wenig belebte Straße, entlockt, um sich bemerkbar zu machen, einer Pfeife mit schrillen Tönen eine schreckliche Melodie, dann, wenn das Publikum kommt, zieht er mit weißem Sand oder Farbe um sich einen weiten Kreis, nimmt eine Mangonuss, kratzt die Erde zwischen den Pflastersteinen etwas auf, dort steckt er die Nuss hinein, macht seine Beschwörungsformeln, und aus dem Pflaster kommt ein grüner Halm heraus, er wird zum Bäumchen, und innerhalb einer Viertelstunde oder noch kürzerer Zeit steht ein gewaltiger Mangobaum da, die Blätter rauschen im Winde, er wirft regelrechten Schatten, er treibt Knospen, die sich zu großen Früchten entwickeln.

Dabei kann es vorkommen, und kommt oft genug vor, dass ein Fuhrwerk oder Radfahrer oder Straßenpassant mitten durch diesen Baumstamm hindurchgeht. Denn das alles ist »natürlich« nur eine Illusion. Man sieht sie nur innerhalb des Kreises, den der Gaukler vorher gezogen hat. Tritt man außerhalb dieses Kreises, so verschwindet der Baum sofort. Auch innerhalb des Kreises lässt er sich nicht fotografieren.

Ein zweites Kunststückchen, das man in den indischen Städten und Flecken tagtäglich sehen kann, ist das Verwandeln eines Tieres in andere Gestalten. Gewöhnlich wird irgend ein Hund hergenommen, ein eigentümlicher Griff in den Nacken, das Tier scheint plötzlich den Starrkrampf zu bekommen, es steht wie ein Holzbock da, ein Korb wird über ihn gedeckt, wieder herabgenommen — da hat sich der Hund in ein Schwein verwandelt. Beim nächsten Abnehmen des Korbes hat das Schwein einige kleine Ferkel, die quiekend herumlaufen. Ehe man aber zugreifen könnte, ist der Korb schon wieder darüber gedeckt, dann liegt das Schwein mit durchschnittener Kehle blutend am Boden. Und sofort, bis wieder der Hund da ist und davonläuft.

Man wird gegen derartige Gaukeleien bald derartig abgestumpft, dass man gar nicht mehr hinblickt, zumal man so ziemlich immer genau dasselbe sieht.

Wenn man die Sache nämlich genauer beobachtet und verfolgt, so wird man finden, dass jeder Fakir — richtiger aber Yogi, — der Fakir ist eigentlich etwas ganz anderes — immer nur ein und dasselbe Kunststückchen macht. Der kann nur einen Mangobaum wachsen lassen, der zweite nur ein Orangenbäumchen, jener macht immer nur das Experiment mit dem Hunde, der vierte wirft immer nur einen Strick in die Luft, lässt ihn frei stehen und klettert hinauf, und so fort. Jeder Gaukler ist immer nur auf eine einzige Illusion geeicht.

Aber nicht nur das, sondern man wird auch finden, dass es immer ganz genau derselbe Mangobaum ist, den er hundertmal wachsen lässt, jeder Ast hat genau dieselbe Lage, der Schatten fällt auch oft falsch, unnatürlich ja, verschiedene Gaukler bringen auch immer nur ein und denselben Mangobaum hervor.

Die Sache ist eben die, dass dann alle diese Yogis ein und denselben »Guru« gehabt haben, Führer oder Lehrer, durch den sie geschult worden sind, sie lassen in ihrem Gehirn ein und dasselbe Bild entstehen, das sie durch Gedankenübertragung den Zuschauern imaginieren.

Das sind die gewöhnlichsten Kunststücke, die man tagtäglich auf den Straßen der indischen Städte zu sehen bekommt, und der armselige Fakir ist froh, wenn er dafür eine kleine Kupfermünze zugeworfen bekommt. Anders ist es mit den Vorstellungen in geschlossenen Räumen, die nur auf einer höheren Stufe stehende Yogis geben, welche entweder danach bezahlt sein wollen — aber das Geld fließt in die Tempelkasse — oder solch eine Vorstellung ist überhaupt nur durch Machtspruch einer hohen Persönlichkeit möglich.

Bevor ich nun solch einen Bericht wiedergebe, will ich noch erwähnen, dass diese indischen Yogis oder Fakire, die öffentlich auftreten, durchweg keine Brahmaisten oder Buddhisten sind, wie man fälschlicherweise immer annimmt, sondern es sind Mohammedaner. Brahmaisten und Buddhisten gibt es ja in Vorderindien überhaupt nur noch ganz spärlich, der Mohammedismus ist die herrschende Religion. Wohl gibt es auch unter jenen verschiedene Priesterkasten, die solchen Hokuspokus betreiben, aber das ist bei denen eine heilige Sache, die sie nicht so ohne weiteres der Öffentlichkeit preisgeben. Diese Yogis, die wir immer sehen, sind keine Fakire, sondern indische Derwische, gehören entweder der Sekte Ruffais oder der Aissawas an. Auch unser Vater Abdallah war ein Aissawai, war in einem ihrer Klöster ausgebildet worden.

Nun gebe ich die Übersetzung eines Berichtes wieder, von dem englischen Obersten Harry Goddard, erschienen in der Zeitschrift »The United Service Journal for Naval and Military Magazine«, London 1883, Nummer 116. Oberst Goddard hat später noch auf Verlangen die buchstäbliche Wahrheit seines Berichtes vor einer wissenschaftlichen Kommission der »Psychic Research Company« durch sein Ehrenwort erhärtet.


Ich hatte — im Jahre 1881 — von einem Missionar gehört, dass die der Sekte des Scheiks Ruffai angehörigen Fakire sich schadlos Dolche und Schwerter in den Leib stießen, die Zunge abschnitten und wieder ansetzten, die Augen ausrissen und so weiter. Ich lachte darüber und äußerte zugleich: sobald einer dieser Ruffai beim Regiment, Scheik Kurim genannt, vom Urlaub zurückkehre, wolle ich mir die Sache ansehen.

Die Rückkehr erfolgte, und es wurden die nötigen Anstalten gemacht, um meinem Wunsche zu entsprechen. Ein breites Zelt wurde an dem zum Versuche bestimmten Tage aufgeschlagen, fünfzig Lampen wurden herbeigebracht, dazu Schüsseln mit Arsenik und Pflanzen einer Kaktusart, deren Milchsaft, wenn nur ein Tröpfchen auf die Haut fällt, sofort Blasen zieht. Weiter wurden alte, schon getragene, eiserne Ohrgehänge, Armbänder, Dolche, Schwerter, eine Art breiter Stahlspieße, sowie anderes furchtbar aussehendes Gerät herbeigeschafft. Zugleich fanden sich etwa zwanzig jener Ruffai ein, die alle Arten von Trommeln schlugen.

Als alles bereit war, verließen fünf Offiziere (sie werden mit Namen aufgezählt) die Speisetafel, und mit uns drangen etwa hundert Sepoys (eingeborene Soldaten) in das Zelt. Als wir niedergesessen und alles still geworden, begann die Zeremonie mit einer Art Gesang aus ihren heiligen Büchern, und die Trommler fielen im Takte ein. Der Sang und Klang wuchs mehr und mehr in Stärke und Schnelligkeit an, bis sie sich alle in Ekstase gebracht hatten. Nun griffen sie, während sie fort und fort den Körper in schwingender Bewegung hielten (für den Okkultisten sei bemerkt, dass hierbei also ausgesprochener Korybsantismus respektive Schamanismus vorliegt), nach den aufgestellten Instrumenten und dem sonstigen Hinzugebrachten. Einige durchbohrten sich die Wangen mit einem Spieß, andere die Zunge, ein dritter die Kehle, worauf sie sich mit Schwertern und Dolchen und anderen schneidenden Instrumenten durchstachen. Noch andere schnitten sich ihre Zunge ab und brachten sie wieder zurück in den Mund, wo sie sofort wieder anwuchs. Arsenik und eine Giftpflanze wurden herbeigebracht und von einem in Masse und ohne Schaden zu sich genommen, während die anderen die Ohrgehänge wie Leckerbissen verschlangen.

Das geschah alles eine halbe Elle vor meinen Knien, denn sie kamen mit ihren Lanzen dicht an mich heran, damit ich mich durch den Augenschein überzeugen könne, dass kein Betrug dabei sei, und ich gestehe, dass mir dabei übel wurde und es mir überhaupt einen widrigen Eindruck machte. Auch weiß ich bis heute nicht, was ich davon halten soll. Ich bin nicht abergläubisch und obgleich viele achtungswerte Eingeborene mir sagten, diese Dinge begaben sich in der Wirklichkeit und dass, wenn ein Betrug dabei unterliefe, sie ihn längst entdeckt haben würden, wollte ich doch nicht glauben, was meine Augen sahen.

Als ich das Zelt verließ, sagte ich wie zufällig: ich würde mehr auf diese Kunst halten, wenn ich ihre Leistungen einmal bei offenem Tageslicht ohne Lärm, Bewegung und umständliche Vorbereitung sähe. Als ich nun am anderen Nachmittag um zwei Uhr, meine Zeitung lesend, ganz allein auf meinem Bette lag, kam ihr Kazuf zu mir herein, unter den Armen allerlei Instrumente tragend, die er auf den Boden warf. Er nahm nun eines derselben und stach es sich in die linke Wange, dann ein anderes in die rechte, dann ein drittes durch die Zunge, welches, weil nach oben gerichtet, durch die Nase drang, während er mit einem vierten seine Kehle durchbohrte. Dann schnitt er sich mit einem scharfen, hellpolierten Messer also, dass es ihm drei Zoll tief in den Leib drang, ohne dass ein Tropfen Blut aus der Wunde, die wirklich entstand, floss. Nun wollte er daran gehen, sich auch die Zunge abzuschneiden, aber ich bat ihn, davon abzulassen, weil mich ein Ekel überkommen hatte. Der Mann war wie rasend und blickte furchtbar, das Gesicht mit dem Instrumenten bespickt und mit aller Macht stechend und hauend. Ich beteuere, dass ich die Instrumente aus dem Fleisch ziehen sah ohne eine Spur von Blut und Narbe, und dass die Quantität des verschluckten Arseniks an die drei Unzen (ca. 85 Gramm) betrug. Ich kann kaum sagen, dass ich es glauben kann, was ich sah, und bin doch bereit, die Wahrheit vor Gericht zu beschwören, sodass man mich gegebenen Falles als Meineidigen belangen könnte.


So weit der Bericht des Colonel Goddard, der die Wahrheit dann also auf Verlangen auch wenigstens mit seinem öffentlichen Ehrenwort bekräftigt hat.

Es wäre nicht nötig gewesen, denn es gibt noch tausend andere Europäer, die dasselbe erzählen können.

Weshalb nun, kann man da fragen, kommen nicht solche indische und arabische Fakire und Derwische nach Europa um mit ihren phänomenalen Gaukeleien goldene Berge zu ernten?

Erstens, lautet die Antwort, weil es ihnen verboten ist, denn dies hängt alles mit dem Kastenwesen und ihrer Religion zusammen, zweitens, weil sie die Phänomene nur innerhalb eines gewissen Gedankenkreises den sie um sich ziehen, erzeugen können, außerhalb ihrer Heimat würde es ihnen wohl gar nicht möglich sein; und drittens und letztens kommt es überhaupt wohl einmal vor, dass solch ein Fakir oder Derwisch die Gesetze seiner Kaste und Religion bricht und sich in Europa produziert. Dann aber versagt ihm entweder aus dem zweiten Grunde seine Kraft, er wird als Betrüger »entlarvt«, oder aber, er wird von denen, welche die Sache wissenschaftlich erklären wollen, einfach totgeschwiegen.

Es ist noch gar nicht so lange her — im Jahre 1912 — als ein indisches Geschwisterpaar, aber ebenfalls Mohammedaner, zur Sekte der Aissawas gehörend, alle Hauptstädte Europas bereiste und auch in Deutschland sich öffentlich produzierte.

Sie durchstachen sich an den verschiedensten Körperstellen, oder das konnte auch irgend ein Fremder aus dem Publikum besorgen, sie brachten sich mitten über dem Leib diese Schnittwunden bei, begaben sich unter das Publikum, man sah die Wunden, konnte sie befühlen, jeder Arzt hatte das Recht, die Wunden näher zu untersuchen, ja, die Wunden wurden sogar fotografiert — dann fuhren sie mit der flachen Hand darüber, und die Wunde war verschwunden.

Hier kommt also noch etwas anderes hinzu als nur einfache Gedankenübertragung, etwas, wofür wir noch gar keinen Ausdruck haben, wenn man nicht gleich von Zauberei sprechen will. Denn die Wunden ließen sich von der fotografischen Platte fixieren, der von einem Dolche durchbohrte Kehlkopf wurde mit Röntgenstrahlen durchleuchtet und ebenfalls fotografiert.

Was sagen denn nun die aufgeklärten Männer der Wissenschaft zu dieser Sache?

Keinen Mucks sagen sie!

Kolumbus wurde verhöhnt; Savonarola wurde verbrannt; den Galilei warf man in den Kerker. Und so ist es noch Tausenden ergangen, welche ihre Erkenntnis einer Wahrheit gepredigt haben.

Weshalb? Weil diese erkannte Wahrheit, die sie predigten, der anderen gelehrten Welt nicht in ihren Kram passte.

Heute wird alles, was der gelehrten Welt nicht in den Kram passt, einfach totgeschwiegen. Man ist viel schlauer geworden. Man tötet nicht mehr die böse Person, sondern man tötet die böse Sache.

So ist zum Beispiel Schopenhauer bei Lebzeiten konsequent totgeschwiegen worden, so wird noch heute Kants Lehre von der persönlichen Wiedergeburt totgeschwiegen. Dieses Werk ist in keiner öffentlichen Bibliothek Deutschlands zu haben, und dennoch existiert es, seine Echtheit kann nicht angezweifelt werden, und dennoch weiß niemand, dessen Sache dies nicht ist, etwas davon. Es wird totgeschwiegen. Das ist auch so ein Kunststück, das man schier gar nicht begreifen kann.

»Die »Psychic Research Company«, ein Verein gelehrter Okkultisten, die ihren Sitz in London und Chikago haben, befasst sich mit der wissenschaftlichen Erklärung solcher Phänomene.

Es gibt auch deutsche Schriften dieser Art, die kürzeste und dennoch beste ist wohl die von einem Inder verfasste »Hindu-Hypnotismus«, übersetzt von W. Bondegger, Preis 1 Mark, in jeder Buchhandlung zu haben.

Da wird also gesagt, dass es eine ganz besondere Art von Hypnotismus ist, deren sich die Fakire und Derwische bedienen.

Dabei wolle man bedenken, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass überhaupt der ganze Hypnotismus als ein Aberglaube betrachtet wurde, gerade von den Männern der Wissenschaft, die gar nichts davon wissen wollten. Heute ist das nun schon wieder überwunden, heute spielt der Hypnotismus in ärztlichen Kreisen bereits eine große Rolle.

Nun aber gibt es noch eine ganz andere Art von Hypnotismus seit Jahrtausenden schon den Indern bekannt und von ihnen ausgeübt, dann auch von den Arabern, aber immer streng als religiöses Kastengeheimnis behütet.

In jener Schrift wird auch gesagt, wie man sich diese magische Kraft aneignen kann.

Da freilich wird es, schon bei der ersten Bedingung, den meisten so gehen wie dem Jüngling, der zu Jesus tritt: »Meister, was soll ich tun, um in das Himmelreich zu kommen?« — »Halte die zehn Gebote.« — »Die habe ich gehalten von Jugend auf.« — »So verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen.«

Da ging der Jüngling betrübt von dannen, denn er hatte viele Güter.

Es handelt sich darum, sein Gehirn, sobald man will, vollständig gedankenleer machen zu können, um dann nur den einzigen Gedanken, den man haben will, voll und ganz zu erfassen. Das ist aber leichter gesagt als getan. Da muss man gar nicht mehr wissen, was Zorn und Ärger ist — und auch nicht mehr, was Freude. Da muss man erst gänzlich für die Welt absterben. So etwas wie Sorge darf es nicht geben.

Und das ist nur der erste Teil. Dann kommt der zweite Teil, der in asketischen Übungen zur Stählung der Willenskraft dient. Der ist in jener Schrift weggelassen, und das ist recht. Es gibt Bücher, welche solche asketische Übungen lehren wollen, aber das ist Frevel. Hierzu gehört unbedingt die persönliche Anleitung eines »Gurus«, eine Führung. Wer diese asketischen Übungen durch eigene Kraft ausführen will, verfällt unrettbar dem Wahnsinn.

*

Einer nach dem andern von der Besatzung ging in die schwarze Kammer und ließ sich von dem alten Araber etwas vorgaukeln. Vater Abdallah war unermüdlich.

»Wunderbar, ganz erstaunlich, fabelhaft!«, erklang es dann regelmäßig, wenn der Betreffende nach etwa einer Viertelstunde wieder herauskam. »Wie ist so etwas nur möglich? Habe ich denn das nur geträumt?! Ich war aber doch immer bei vollem Bewusstsein!«

Nun will ich eine ganz merkwürdige Episode schildern, die auch nicht des Humors entbehrt. Nämlich wie dieser arabische Magier seinen Meister fand. Und zwar in niemand anders als in unserem Segelmacher.

Zuerst kamen ja die Hauptpersonen des Schiffes daran, dann aber wusste sich Oskar, frech wie immer, gleich vorzudrängen, noch vor die Offiziere. Also er verschwand in der Kammer, in der eine elektrische Glühbirne hing, die Tür wurde immer verschlossen.

Ich bin ja nicht dabei gewesen, aber Oskar erzählte es uns später ausführlich.

Was der alte Araber ihm alles vorgaukelte, dabei will ich mich nicht weiter aufhalten. An Phantasie fehlte es ihm jedenfalls nicht, und er war so gefällig, jedem immer wieder etwas anderes vorzuzaubern. Wahrscheinlich amüsierte es ihn selbst, oder er wollte sich überhaupt in dieser Kunst üben und weiter ausbilden.

Also Oskar hatte schon die verschiedensten Wunder gesehen, und er staunte tatsächlich, machte daraus auch kein Hehl. Sein dreister Schalk schien ihn einmal ganz verlassen zu haben.

»Willst Du sonst, noch etwas sehen, mein Sohn?«, fragte Vater Abdallah gütig wie immer, als er die Figur, die aus einer Fotografie herausgetreten war, sich ganz lebendig bewegend, wieder erstarren ließ.

»Ich darf nach Belieben wählen?«

»Ja, jetzt sollst Du noch ein Phänomen auf Deine Bestellung haben. Jeder kann ja auch beliebig viele ganz nach eigenem Wunsche wählen, nur jetzt nicht, die anderen wollen doch auch drankommen. Später mehr. Was also willst Du sehen? Was soll ich Dir vormachen?«

»Ich möchte Petern hier haben.«

»Peter, wer ist das?«

»Das müssen Sie als Magier doch gleich wissen was ich meine.«

»Wie soll ich das wissen?«

»Na mal los! Ich will Petern hier haben.«

»Gut, wollen mal sehen.«

Und verschmitzt lächelnd griff Vater Abdallah hinter sich und brachte vorsichtig den Peter zum Vorschein, unseren Igel.

Der Leser versteht doch nun. Das war alles nur Imagination durch Gedankenübertragung. Es war gar nichts vorhanden, der Betreffende glaubte dies alles nur zu sehen und zu fühlen und zu erleben. Im übrigen lässt sich das nicht weiter erklären, das ist nun auch erledigt.

»Wahrhaftig, unser Peter!«, staunte Oskar. »Wo haben Sie den plötzlich her? Der schläft doch jetzt gewiss in seiner Strohkiste. Wie kommt der plötzlich durch die verschlossene Tür?«

So staunte Oskar, während er den Igel hin und her drehte und sich mit Absicht an seinen Stacheln blutig ritzte.

Der Alte lächelte verschmitzt und vergnügt wie immer.

»Sonst noch etwas? Einige Minuten gebe ich Dir noch Zeit, aber Du musst Dich beeilen.«

»Lassen Sie Petern einmal auf den Hinterbeinen tanzen und über den Stock springen!«, kam der Matrosenwitz jetzt zum Vorschein.

»Einen Igel auf den Hinterbeinen tanzen und ihn über den Stock springen lassen?«, lächelte der Alte. »Mein Sohn, Du verlangst viel. Aber Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen.«

Und der Igel machte erst »schön«, erhob sich noch höher auf den Hinterpfoten und begann possierlich zu tanzen.

Hat man das schon einmal von einem Igel gesehen? Ich könnte Bücher über die Dressur der allerverschiedensten Tiere schreiben. Denn ich habe da Erfahrungen gesammelt. Ich weiß, wie man es einem Pudel innerhalb einer Stunde lehrt, dass er einen Stock auf der Nase balanciert, dass jede Katze innerhalb eines halben Tages über den Stock springt und apportiert; ich weiß, wie Zirkusdirektor Busch einem Pferde das Schlagen von Salti mortali beibrachte, was aber beim öffentlichen Auftreten verboten wurde; ich weiß, wie man Gänse abrichtet, dass sie einen Wagen ziehen; aber einen Igel kann man nicht auf den Hinterbeinen tanzen lassen.

»Peter, Peter, was Du alles kannst!«, staunte Oskar. »Na, nun lassen Sie ihn auch noch über den Stock springen.«

Der Alte griff hinter sich, hatte einen Stock in der Hand, hielt ihn vor sich hin, einen halben Meter hoch und der Igel sprang gehorsam darüber.

Das ist also eine Unmöglichkeit, die man nur im Traume erleben kann.

»Nun durch einen Reifen!«

Weshalb sollte der Igel nicht auch durch einen Reifen springen? Der Alte musste einen solchen nur in seine Hand zaubern, und Peter sprang, auch auf Oskars Kommando.

»Nun soll er die Wand hinaufklettern.«

Schön, der Igel kletterte wie ein Eichhörnchen die Tuchwand hinauf, daran herum und wieder herab. Das gibt‹s also bei einem Igel nicht etwa! Der kann nicht einmal eine Böschung von 45 Grad erklimmen, dazu ist er viel zu plump, dazu sind seine Füße nicht eingerichtet.

»Nun ist's aber genug«, sagte der Alte, »es ist Kaffeezeit.«

Noch befand sich der Igel zwischen den beiden, die am Boden hockten, und schnell griff Oskar danach, nahm Petern zwischen die flachen Hände.

»Kann ich den Igel mitnehmen?«

»Gewiss, das kannst Du!«, lächelte der Alte.

Gut. Oskar pfropfte das stachlige Tier in die weite Tasche seiner Teerjacke.

Was daraus wurde, musste er wissen. Solche Wünsche, etwas mitzunehmen, wurden ja oft geäußert.

Sobald man die doppelte Tür passiert hatte, verschwand jeder mitgenommene Gegenstand aus der Tasche wie in den Händen. Allerdings konnten Ausnahmen stattfinden. Diese »Magier« sind doch zugleich ganz geschickte Taschenspieler, die auch so ziemlich die Gedanken erraten können. Es konnte also sein, dass der Alte schon vorher seine Vorbereitungen traf, schon etwas mit in die Kammer nahm, welche man dann zu sehen und mitzunehmen wünschte, wahrscheinlich suggerierte er auch diesen Wunsch erst.

Aber bei dem Igel war das natürlich etwas anderes, der würde dann spurlos verschwinden.

Die beiden erhoben sich, verließen die schwarze Kammer. Es war ein günstiger Zufall, dass der Alte von selbst mitging, um den Kaffee einzunehmen, sonst hätte ihn wohl Oskar aus irgend einem Grunde dazu aufgefordert, oder er hatte eben mit Absicht gerade diese Sitzung vor der Kaffeezeit gewählt.

Aus der schwarzen Kammer trat man erst noch in einen kleinen Vorraum, der nicht erhellt war, dann kam man auf den Korridor des Kajütenaufbaues, bis auf Deck waren es nur noch wenige Schritte.

So traten die beiden zusammen, ziemlich gleichzeitig, an Deck, in den hellen Sonnenschein.

»Wahrhaftig, ich habe mich wirklich an dem Igel blutig gestochen!«, stutzte Oskar, seine linke Hand betrachtend.

Denn dort zeigten sich die blutigen Male, die er sich an dem Igel mit Absicht geholt hatte.

Aber zu staunen brauchte er darüber eigentlich nicht. An Bord wurde ja jetzt über nichts weiter gesprochen als über diese Gaukeleien des arabischen Magiers, wir wussten doch schon recht gut, wie der die Sache machte, so weit es sich überhaupt erklären ließ.

Solche Merkmale, die man zu haben wünschte, brachte der Gaukler eben dem im Halbschlafe befindlichen bei, ohne dass jener etwas davon ahnte, wenigstens nicht von der Art und Weise, wie dies geschah. Man konnte ja auch verlangen, dass einem die Hand abgeschnitten wurde. Die war dann nach dem Verlassen des Raumes sofort wieder angewachsen. Wenn man aber etwa einen plötzlich erglühenden Gegenstand angriff und sich verbrannte, und man forderte direkt, so wie es zum Beispiel Juba Riata getan hatte, man wolle dieses Brandmal auch behalten — nun, dann zog der Gaukler einfach sein Feuerzeug und drückte dem Schlafwachenden etwas brennenden Zunder auf die betreffende Stelle.

Das war an Bord schon genügend erörtert worden, auch im Mannschaftslogis, über die blutenden Stichwunden hätte der Segelmacher also nicht so zu stutzen brauchen.

»Da siehst Du, dass es eben doch nicht so einfache Gaukelei ist, was ich Dir da drin vorgemacht habe!«, lächelte der Alte.

»Ja, dann muss ich doch auch den Igel... wahrhaftig, da ist er!«

Und Oskar brachte vorsichtig aus seiner weiten Tasche den Igel zum Vorschein.

Jetzt war es Vater Abdallah, der ein ganz verdutztes Gesicht machte, freilich nicht lange, dann lächelte er verschmitzt.

Der Segelmacher hatte eben diese Sache vorbereitet, hatte von vornherein die Absicht gehabt, sich unseren Igel vorgaukeln zu lassen, hatte in dem dunklen Korridor einen Kameraden postiert, der ihm dann beim Verlassen der schwarzen Kabine den Igel heimlich zugesteckt hatte.

So kalkulierte der überaus schlaue Alte, und so war es auch in der Tat gewesen.

Aber Vater Abdallah ging weiter auf den Scherz ein, wusste ihn gleich für sich selbst auszunützen.

»Da siehst Du, mein lieber Sohn, dass ich Dir nicht nur Illusionen vorgegaukelt habe, wie Du wohl meinst, sondern ich habe Euren Igel durch meine Geister wirklich in das Zauberzimmer tragen lassen.«

»Hm, dann muss er doch auch hier schön machen und auf den Hinterbeinen und die Wände hinauflaufen können!«, meinte Oskar nachdenklich.

»Nein, mein Sohn, da verlangst Du zu viel von Eurem Igel.«

»Weshalb denn? Weshalb soll er denn das nicht auch hier draußen können?«

»Nur drinnen in dem Zauberzimmer haben meine Geister dem Tiere solche überigelhafte Fähigkeiten verliehen.«

»Na, ich will's doch mal probieren.«

Und Oskar setzte den Igel an Deck hin.

»Schön, Peter, schön!«, kommandierte er mit erhobenem Zeigefinger.

Und Peter erhob sich auf seinen Hinterbeinen

»Tanze, Peter, immer tanze!«

Und der Igel begann in ganz possierlicher Weise aus den Hinterpfoten zu tanzen.

»Allo hopp, Peter!«

Oskar hatte einen Besen genommen, hielt den Stiel einen halben Meter über den Boden, und der Igel sprang mit einem zwar possierlich aussehenden, aber doch eleganten Satz darüber hinweg.

Das tat er mehrmals auf Kommando, ebenso sprang er durch einen Reifen, und zwar noch viel höher, als nur einen halben Meter.

»Hopp, Peter, hopp!«

Dabei klopfte sich Oskar auf die linke Schulter, der Igel lief an seinem Körper hinauf und setzte sich ihm auf die Schulter, lief auf Kommando wieder herab.

»Hoch, Peter, hoch!«

Oskar klopfte gegen die Kajütenwand, und der Igel klomm diese mit der Geschwindigkeit eines Eichhörnchens hinauf, bis oben aufs Dach, kletterte wieder herab, und zwar kopfüber mit der größten Geschwindigkeit, und dann kletterte er nicht mehr, sondern er sprang gleich die Wand hinauf, sprang ebenso mit einem einzigen Satze auf Oskars Schulter.

Was sonst noch während dieser erstaunlichen Vorstellung geschah, das ist kaum zu beschreiben.

Nämlich was der alte Vater Abdallah für ein Gesicht dazu machte.

Denn wenn er auch sonst mit Igeln nicht sehr vertraut war, das musste er doch unbedingt wissen, dass ein Igel unmöglich auf den Hinterbeinen tanzen und Wände hinaufklettern kann. Ebenso gut könnte man das Letztere auch von einem Schweine verlangen.

Und hinter dem alten Araber nun stand Oskar, den Finger im Munde, ebenfalls ein unbeschreibliches Gesicht machend, aber kein verdutztes, sondern ein überaus pfiffiges und spöttisches, und fast die ganze Mannschaft stand herum, mit ganz ähnlichen Gesichtern.

Es war eben eine abgekartete Sache, die freilich noch der Erklärung bedarf.

»Inschallah, Alschallah!«, staunte der Alte immer wieder, als der Igel jetzt nochmals flink wie ein Wiesel die holzbeschalte Kajütenwand hinauflief. »Das ist — das ist... ja gar nicht möööglich! Ein Igel, beim Barte des Propheten ein Igel!«

Da legte ihm Oskar von hinten die Hand auf die Schulter und blickte ihm seitwärts ins Gesicht

»Ja, ja, Väterchen Abdallah, wir können Dir auch etwas vorgaukeln.«

»Vorgaukeln? Ich bin — ich bin... doch nicht hypnotisiert?!«

Und der Alte zupfte sich zur Vorsicht auch noch an Nase und Ohr.

»Nein, das ist — das ist... Zauberei!«

»Jawohl, ganz echte Zauberei, die aber dem Licht der Sonne stand hält!«

»Ein Igel, ein Igel!«, staunte der Alte immer weiter. »Du glaubst wohl nicht, dass es ein Igel ist? Hoppla, Peter!«

Ein Klopfen auf seine Schulter, und der Zauberigel saß mit einem mächtigen Satze drauf, Oskar nahm ihn zwischen die flachen Hände, hielt ihn dem Alten hin.

»Ist das etwa kein Igel?«

Vater Abdallah der etwas kurzsichtig war, aber keine Brille trug, brachte seine Nase dicht über das Stacheltier, betastete es.

»Natürlich, ein ganz richtiger Igel — ein Igel, der auf den Hinterbeinen tanzt, über den Stock springt, meterhoch und die Wände hinaufläuft! O Allah, wie bist Du groß!«

Die Sache ging noch weiter. Ich will sie aber abkürzen, gleich die Erklärung geben.

Es war nämlich gar kein Igel!

Unser Peter hatte in der Hafenhöhle des Seelandsfelsens das Zeitliche gesegnet, und gerade, als man seinen Leichnam fand, hatte sich in einer aufgestellten Falle wieder einmal eine Ratte gefangen. Denn ein Schiff ohne Ratten gibt es gar nicht, nicht einmal unsere vielen Katzen konnten das Schiff davon freihalten.

Bei diesem gleichzeitigen Zusammentreffen war unserem Segelmacher wieder einmal ein genialer Gedanke gekommen, den er natürlich zu einem lustigen Streiche verarbeiten musste.

Er nahm sich sowohl des toten Igels wie der lebendigen Ratte an. Ersteren häutete er ab und gerbte das Fell fein säuberlich, letztere dressierte er.

Die Ratte ist ein sehr kluges Tier, lässt sich ganz leicht zu den verschiedensten Kunststückchen abrichten. Wie gesagt, ich könnte über die Dressur aller möglichen Tiere Bücher schreiben. Der ehemalige Cowboy hatte dabei ursprünglich seine Geheimnisse gehabt, die er aber dann nicht mehr hütete, und wir alle haben ihn seiner Zeit beobachtet, und man wusste nicht, ob man mehr über seine Genialität oder über die Einfachheit staunen sollte, mit der er den verschiedensten Tieren alle möglichen Kunststückchen beibrachte.

Ich will hier nur eine ganz kurze Ausführung machen. Zunächst ist natürlich nötig, dass man Tiere scharf beobachtet, den Charakter und die Lebensweise desjenigen, dass man abrichten will, genau kennt. Ein Affe muss natürlich ganz anders behandelt werden als ein Hund oder Pferd oder Katze oder Ratte.

Schläge gibt es dabei gar nicht, der Hauptfaktor, die Triebfeder ist einzig und allein der Hunger.

Eines der selbständigsten Tiere, das zwar zum Hause gehört, sich aber am wenigsten vom Menschen sagen lässt, ist wohl die Katze, unsere gewöhnliche Hauskatze.

Zu meiner Kinderzeit wusste man überhaupt noch gar nichts von zu Kunststücken abgerichteten Katzen, hielt es wohl für ganz unmöglich, und was ich dann in Varietees von dressierten Katzen gesehen habe, das war wenig genug, während es doch ein leichtes ist, dieser Hauskatze die höchste Dressur beizubringen.

Man nimmt eine gewöhnliche Katze her, lässt sie einen Tag hungern, stellt vor ihr ein Brett auf, zeigt ihr ein Stückchen Fleisch, wirft es ihr sichtbar hinter das Brett — natürlich springt die Katze über das Brett, wenn man dafür sorgt, dass sie nicht herumlaufen kann. Man klemmt sie einstweilen einfach zwischen die Knie.

Das tut man noch dreimal, dann braucht man kein Stück Fleisch mehr sichtbar zu werfen, die hungrige Katze springt von allein, in der Hoffnung, jenseits des Brettes ein Stück Fleisch zu finden. Das muss sie nun natürlich auch nachträglich bekommen.

Von jetzt an springt die Katze sofort, wenn man ihr nur das Brett vorsetzt. Zur Belohnung bekommt sie natürlich immer ein Stückchen Fleisch. Es ist ganz erstaunlich wie schnell das die Katze kapiert hat. Ich habe es auch einst nicht geglaubt, habe es aber bei Dutzenden von Katzen probiert. Es gelingt immer. Das Alter des Tieres spielt dabei gar keine Rolle.

Dann setzt man mehrere Bretter in einigem Abstand hintereinander, legt hinter jedes ein Stückchen Fleisch oder sonst einen Leckerbissen. Die Katze überspringt eine Barriere nach der anderen. Später springt sie erst recht, wenn sie nicht hinter jedem Brett ein Stück Fleisch findet. Zuletzt, das heiße schon nach einer Stunde Dressur, springt sie überhaupt über die Bretter, sobald sie dieselben nur ausgebaut sieht. Das scheint bei ihr ganz mechanisch zu werden. Natürlich hinterher immer ihre Belohnung.

Dann hält man ihr einen Stock vor, sorgt dafür, dass sie nicht durchkriechen kann, um nach dem Fleisch zu gelangen. Oder man kann den Stock auch gleich über ein Brett halten. Es muss eine sehr beschränkte Katze sein, die nicht nach ganz kurzer Zeit über jeden Stock springt, meterhoch. Sie sieht kein Fleisch mehr liegen, aber sie weiß, dass sie hinterher ein Stück bekommt.

Ganz rätselhaft ist es — mir wenigstens dünkte es so seiner Zeit — wie man einer Katze das Apportieren beibringen soll, das Zurückbringen eines weggeworfenen Gegenstandes.

Nichts einfacher als das. Wenn man das Rezept dazu kennt.

Man nimmt eine hölzerne, hohle Kugel, die sich öffnen lässt, oder eine einfache Schachtel tut es auch, durchlöchert sie an einigen Stellen, befestigt, damit die Katze sie bequem tragen kann, ein paar Lappen daran, dann einen Haken, um eine Schnur einzuhängen, zeigt der hungrigen Katze, wie man ein Stück Fleisch hineintut, und wirft die Schachtel etwas fort.

Die Katze hin, sie riecht durch die Löcher das Fleisch, versucht die Schachtel zu öffnen, kann es nicht. An der Leine zieht man die Schachtel zu sich, dabei die Katze immer lockend, und gibt ihr jetzt das Fleisch.

Es dauert gar nicht lange, dann bringt die Katze die Schachtel ihrem Herrn von selbst. Und bald bringt sie auch jeden anderen weggeworfenen Gegenstand, den sie tragen kann, in der Hoffnung, einen Leckerbissen zu bekommen.

Hunger muss die Katze natürlich haben! Anders ist es nicht zu machen.

Aber von einer Tierquälerei ist dabei gar keine Rede. Nach der Dressurstunde kann und soll sie sich satt fressen. Eine des Hungertodes gestorbene Katze ist nicht mehr zu dressieren. Aber für die Dressur musst sie hungrig sein. Doch auch nur während der ersten Periode. Dann macht sie das alles ganz von selbst, auch mit gesättigtem Gemüt; sie arbeitet rein mechanisch, sogar ohne Belohnung. Nur wenn man ihr ein neues Kunststück beibringen will, muss sie auch wieder hungrig sein.

Es ist ganz erstaunlich, wie man auf diese Weise eine gewöhnliche Katze abrichten kann.

Noch viel erstaunlicher aber ist, wie sich der Charakter solch einer Katze, mit der man sich auf diese Weise viel abgibt, sie nicht nur streichelt und hätschelt, verändert, wie sie ein wirklicher Freund des Menschen wird, in ihrem Wesen sich immer mehr dem Hunde nähert. Es ist eine Umwandlung, die man gar nicht beschreiben kann, die man beobachten muss.

Und so lässt sich jedes Tier, so weit es auf genügend geistiger Höhe steht, abrichten. Natürlich muss jedes Tier individuell behandelt werden. Mir scheint manchmal, als ob die geistige Beschränkung an uns Menschen liegt. Es gilt immer gewissermaßen nur ein Problem zu lösen, wie ist dieses Tier zu behandeln und wie ist ihm dieses oder jenes Kunststück beizubringen, und ist die Aufgabe richtig gelöst, dann inkliniert das Tier sofort und hat ohne Zweifel seine Freude daran, sich vom Menschen anlernen zu lassen.

Ich würde mich dabei gar nicht so lange aufhalten, wenn diese ganze Sache nicht einen sehr ernsten Hintergrund hätte. —

Also Oskar hatte die Ratte dressiert. Ich will ihm seine Versicherung glauben, dass ihr nur versehentlich der Schwanz in der Tür abgequetscht worden war. Obgleich er sich des Geständnisses, sie mit Absicht verstümmelt zu haben, eigentlich gar nicht zu schämen gebraucht hätte, denn die Hunde, denen der Schwanz abgehackt wird, sind zahllos und was ist es denn anderes mit den meisten Pferden, die ursprünglich männlichen Geschlechts waren, und was ist es denn anderes mit all den Ochsen und Schweinen, die wir verzehren, mit den Kapaunen und Poularden usw. Der Mensch ist und bleibt eben nicht nur das größte Raubtier, sondern überhaupt das größte Ungeheuer der Erde, und wenn es eine gerechte Vergeltung gibt — wehe uns!

Dann wurde die schwanzlose Ratte in das Igelfell eingenäht, sie musste sich an diese Umhüllung gewöhnen, alle ihre Kunststückchen nochmals durchmachen und... so war eben der dressierte Igel fertig, der auf den Hinterbeinen tanzen, meterhoch über den Stock springen und hölzerne Wände und Taue hinaufklettern konnte.

Mir war es genau so gegangen wie dem alten Araber. Ich hatte an ein schier übernatürliches Wunder geglaubt, als mir Oskar die neueste Attraktion unseres Gauklerschiffes vorgeführt hatte, einen Igel, der springen und klettern konnte. Und ich war nicht kurzsichtig wie Vater Abdallah. Aber wie ich auch meine Nase über das Tier gebracht, ich hatte nichts gemerkt. So geschickt war die künstliche Umhüllung angebracht worden. Der Kopf war frei, aber nun vergleiche man den Kopf einer Ratte mit dem eines Igels man wird sofort die überraschende Ähnlichkeit herausfinden, besonders die schwarzen, funkelnden Äuglein sind ganz genau dieselben, und wer denkt denn daran, solch einem Tiere gleich ins Maul zu sehen, um die Zähne zu untersuchen, und was weiß denn unsereins von dem Unterschiede der Pfoten und Krallen.

Nur zusammenrollen konnte sich dieser Igel nicht, aber das tat unser Peter, der nichts zu fürchten brauchte, überhaupt nie mehr.

Kurz, auch ich hatte erst eine Erklärung bekommen müssen, von allein hatte ich dieses Rätsel nicht gelöst.

Nur hatte ich sie eher erhalten, als Vater Abdallah. Denn der musste ja noch tüchtig zappeln.

Der alte Araber blieb bei uns, er war bereit, seine magischen Fähigkeiten — denn von solchen muss man unbedingt sprechen, selbst wenn er nur Illusionen vorgaukelte — auch anderen zu zeigen, und so wurde, wenn wir in einem Hafen Vorstellungen gaben, auch die schwarze Zauberkammer dem Publikum geöffnet. Dann später, als sich der Alte mehr eingerichtet hatte, konnte er Dutzende von Personen gleichzeitig faszinieren. Freilich wurde dafür ein Extrapreis verlangt, und es kamen nur solche hinein, die ihn bezahlen konnten — alles für die Armen!

Da bekamen wir ja manchmal etwas zu hören! Unsere »Argos« war nicht mehr das Gauklerschiff, sondern das Zauberschiff. Und es nützte nicht viel, dass sich der alte Araber verpflichtet hatte, um in abergläubischen Gemütern kein Unheil anzurichten, immer eine Erklärung zu geben, so weit es sich erklären ließ, jedenfalls seine Geister dabei aus dem Spiele zu lassen. Ach was haben wir für Anträge, für Briefe bekommen! Wie viele, und nicht nur hysterische Damen, wollten ihr ganzes Vermögen opfern und außerdem noch ihre Seele dem Teufel verschreiben, um diese »Zauberei« zu erlernen!

Aber ich glaube fast: ein noch größeres Furore machte unser dressierter Igel. Da sperrten sie alle Maul und Nase auf, gerade die einfachsten Leute, wenn das ihnen so gut bekannte Stachelvieh tanzte und sprang und kletterte. Ich sehe aber auch noch um den Tisch, auf dem sich unser umgewandelter Peter produzierte, die fünf alten Herren stehen, sämtlich mit mächtigen Glatzen, Naturwissenschaftler, Zoologen und Physiologen, geistige Kapazitäten Frankreichs, Mitglieder der Akademie — von der schwarzen Zauberkammer wollten sie nichts wissen, das war Unsinn, so etwas gab es für sie überhaupt gar nicht — aber dieser Igel, dieser Igel, dass war etwas für sie!


Illustration

Staunend und sich die Köpfe zerbrechend um-
standen fünf glatzköpfige Professoren den Tisch,
um den Produktionen des Wunderigels zuzusehen.


Und ich höre noch den einen alten Professor der Akademie, wie der einen langen Vortrag über die Anpassung der Tiere in veränderte Verhältnisse, hält — weil der Igel jahrelang an Bord eines Schiffes gelebt, sollte er das Klettern erlernt haben, dadurch auch zum Springen befähigt worden sein — und erst wie die Herren das wissenschaftliche Protokoll unterschreiben wollen, zeigen wir, dass in der Igelhaut eine Ratte steckt...

Ach, diese Gesichter! Ach, haben wir manchmal gelacht!

Und zu derselben Zeit gab sich Juba Riata im Zwischendeck mit einem Dressurakt ab, der tatsächlich von größter wissenschaftlicher Bedeutung war.

Wir sind von Rätseln und Geheimnissen umgeben, haben uns aber so an sie gewöhnt, dass wir sie gar nicht mehr als solche erkennen.

Jedes vierfüßige Tier, das man ins Wasser wirft, kann sofort schwimmen, auch wenn es noch nie im Wasser gewesen ist, sogar die so überaus wasserscheue Katze.

Der Mensch muss das Schwimmen erst erlernen, sonst ersäuft er. Schon das wäre einer Betrachtung wert. Nämlich weil das Nicht-Schwimmen-Können einzig und allein eine psychologische Schwäche ist. Jeder Mensch könnte sofort schwimmen, wenn er nur wollte. Das heißt: wenn er nur wüsste, dass er es ganz von selbst kann. Wenn nicht durch die Schwimmbewegungen des Frosches; so doch durch das Paddeln aller vierfüßigen Tiere. Aber er weiß es nicht, was jedes andere vierfüßige Tier weiß? Hier hapert's! Dem Menschen ist mit seiner geistigen Höherentwicklung eben ein tierischer Instinkt verloren gegangen. Ganz merkwürdig ist nun, dass man das einmal gelernte Schwimmen nie wieder verlernen kann. Alles, alles kann man wieder verlernen, in langer Einsamkeit auch die Sprache, nur das Schwimmen nicht. Wenn ein siebenjähriges Kind regelrecht das Schwimmen erlernt hat, es kommt nie wieder in tiefes Wasser, als siebzigjähriger Greis fällt dieses ehemalige Kind einmal hinein — der Mensch macht sofort wieder regelrechte Schwimmbewegungen, mindestens kann er sich auf jeden Fall über Wasser halten. Das ist als Tatsache konstatiert worden, für kürzere Perioden in zahllosen Fällen. Beim Schwimmen handelt es sich nicht um etwas Physiologisches, sondern etwas Psychologisches. In dem Kinde ist ein Bewusstseinsfehler korrigiert worden, das hält nun für die ganze Lebenszeit.

Kann denn aber wirklich jedes vierfüßige Tier sofort schwimmen?

Nein. Dann wäre das ja einmal eine Regel ohne Ausnahme. Das Kamel kann es nicht. Das sinkt unter wie ein Stein. Dabei hat es nichts zu sagen, dass es ein Wüstentier ist. Was heißt überhaupt Wüstentier. Es gibt Kamele und Dromedare und Trampeltiere genug, die nie ein Fleckchen Wüste sehen. Eine alte Hauskatze hat nie die Stube verlassen, und wenn man sie in den Fluss, mitten in einen Teich wirft, schwimmt sie doch geschickt und sehr schnell ans Ufer. Es gibt andere Vierfüßler, die lieber verhungern, ehe sie den Fluss durchschwimmen, an dessen jenseitigem Ufer Nahrung für sie liegt, und wenn der Fluss auch nur so schmal ist, dass sie ihn fast überspringen könnten. Aber sie wissen, dass sie doch ins Wasser stürzen würden, und sie gehen prinzipiell nicht ins Wasser. Obgleich sie, unfreiwillig hineinfallend oder hineingeworfen, ganz vortrefflich schwimmen können. Aber sie verhungern lieber. Das ist ausprobiert worden, das haben wir selbst ausprobiert.

Aber das Kamel kann tatsächlich nicht schwimmen. Das wissen alle Araber und Sudanesen und Kirgisen und sonstige Züchter dieser Tiere, ob diese nun einen oder zwei Höcker haben. Sie müssen oft genug durch tiefes Wasser bugsiert werden. Man hat manchmal Gelegenheit, so etwas von Bord aus zu beobachten, im Suezkanal, bei Kantara, wo die Karawanen von Afrika nach Kleinasien hinübersetzen. Es ist eine Fähre vorhanden, sie wird aber gar nicht häufig benützt, ist auch zu klein für die manchmal ungeheuren Karawanen, wie lange soll denn das dauern. Und die Kamele müssen anderswo auch durchs Wasser.

Es ist schrecklich anzusehen! Wie die Kamele sich gebärden, was für eine furchtbare Arbeit die Führer mit ihnen haben. Bis sich das Kamel endlich in sein Schicksal ergibt, sich hilflos durchs Wasser ziehen lässt, wobei gesorgt wird, dass nur eben der Kopf oben bleibt. Das Kamel kann nicht schwimmen.

Und das Kamel ist die einzige Tierart, die nicht mehr in wilder Freiheit vorkommt! Es gibt noch wilde Hunde genug, aber kein wildes Kamel. Zwar will der schwedische Forschungsreisende Sven Hedin in Tibet wilde Kamele gesehen haben, aber er gibt an anderer Stelle zu, dass er sich auch geirrt haben kann, es mag auch eine Kamelherde gewesen sein, die ihre menschlichen Führer verloren hatte, schon vor einigen Jahren, ohne neue Herren gefunden zu haben, denn es waren keine Jungen dabei.

Denn das Kamel ist das einzige Tier, das sich nicht allein fortpflanzen kann. Es bedarf dazu unbedingt der Hilfe des Menschen. Genau so, wie das ägyptische Haushuhn nicht brütet. Während vieltausendjähriger Kultur sind seine Eier künstlich in Öfen ausgebrütet worden, dadurch hat es diesen Instinkt ganz verloren. Man kann es ihm auch nicht so ohne weiteres wieder beibringen. Noch heute hat jedes Fellachendorf seinen Brutofen. Und schließlich — da die Natur keine Lücke kennt, überall etwas Korrespondierendes hat — so kann sich auch die Dattelpalme, der älteste unter der Kultur des Menschen stehende Fruchtbaum, nicht mehr allein fortpflanzen, jede einzelne weibliche Blüte muss von Menschenhand mit einer männlichen Blüte betupft werden. Und die Edelfeige, jedenfalls die zweitälteste Kulturfrucht, bringt keine reifen Früchte hervor, auch im besten Klima nicht, der sich entwickelnde Fruchtboden muss von einer besonderen Mückenart angestochen werden, aber das ist nicht so einfach, der Mensch muss diese Mücke erst überlisten, betrügen, denn sie legt ihre Eier nur in wilden Feigen ab, in den Edelfeigen geht die Brut zugrunde. Wie dieser ganz knifflige Betrug, Kaprifikation genannt, worüber schon Plutarch berichtet, ausgeführt wird, darüber lese man im Konversationslexikon nach.

Also unter den Tieren ist einzig und allein das Kamel vollständig vom Menschen abhängig geworden, hat sich ganz und gar unter die Herrschaft des Menschen begeben — und ersäuft auch im Wasser genau so wie der Mensch.

Fürwahr, dabei kann man seine Gedanken haben! Und dann gibt es noch ein anderes vierfüßiges Tier, das nicht schwimmen kann, das dem Menschen ähnlichste Tier: der Affe.

Der Affe geht nicht ins Wasser, und wenn er hineinfällt, dann benimmt er sich genau so drinnen wie der Mensch, zappelt so lange herum, bis er sich glücklich unters Wasser gezappelt hat.

Was soll man zu dieser Menschenähnlichkeit des Affen sagen? Ich für meinen Teil erblicke darin ein großes Geheimnis. Habe manche Stunde darüber nachgedacht. Unsereins, wenn man so einsam auf nächtlichem Ausguck steht — so einsam, ach, so einsam — mitten im brandenden Ozean — da hat man ja Zeit zu solchen Gedanken.

Im Matrosenlogis wird vielleicht mehr philosophiert als auf mancher Universität! Die Herren Professoren würden nicht schlecht staunen, wenn die einmal plötzlich, mitten auf dem Meere, unter die Back kämen, angefüllt mit Teergestank und Tabaksqualm, worüber sich diese blutig verdammten Matrosen unterhalten... über das, was ihnen der brandende Ozean erzählt hat...

Juba Riata war an das Problem gegangen, einem Affen das Schwimmen beizubringen. Gleich zweien. Dem Herrn Nebukadnezar und der Frau Fips. Ein glückliches Ehepaar, das auch sehr auf eheliche Treue hielt.

Ja, ein glückliches Ehepaar war es. Aber glücklich fühlten sich die beiden Affen jetzt bei diesem Schwimmunterricht wohl nicht. So wenig wie jetzt die »vornehmen« Hunde in Paris. Die alle, wie es nun einmal die neueste Mode verlangt, auf der Straße richtig angekleidet herum spazieren, die Herren mit Jacken und Hosen, die Hundedamen mit eleganten Röckchen, an den Füßen Lackstiefel, und bei Regenwasser bekommen sie noch Gummischuhe an. Ja, nasse Füße bekommen diese vornehmen Hunde nicht mehr, sie sind auch sonst vor Nässe und Kälte aufs Sorgsamste geschützt, sie strotzen alle vor Fett, aber... ich habe sie gesehen — diese vornehmen Hundeviecher hatten alle so unglückliche Gesichter!

Wie Juba Riata die Sache anfing, wussten wir nicht. Der tägliche Schwimmunterricht erfolgte in einem besonderen Raume des Zwischendecks, wo er ein großes Bassin hatte einbauen lassen, und während der Lektionen durfte kein anderer dabei sein. Nicht, dass Peitschenmüller die Dressurmethode als sein Geheimnis behüten wollte.

Auch darin war er ein ganzer Mann. Erst ein Resultat zeigen können! Vorher durfte man gar nicht mit ihm darüber sprechen.

Aber so viel wussten wir doch schon, dass es mit dem Erfolge, einem Affen die Schwimmkunst beigebracht zu haben, noch nicht abgetan sein soll.

Nein, hierbei handelte es sich nicht nur um einen Dressurakt, so erstaunlich er bei Erfolg auch sein mochte, sondern es handelte sich um ein wissenschaftliches Problem.

Die Frau Fips beglückte die kleine Welt, welche doch unser Schiff bedeutete, alljährlich mit mindestens zwei Zwillingspaaren, die sie auch immer glücklich größer brachte. Wir ließen sie die Mutterfreuden bis zur Neige genießen, bis sich wieder der Futterneid einstellte — dann beglückten wir mit den kleinen Äffchen unsere Julie, unsere Riesenschlange. Das ist nun einmal der Lauf der Welt, es ging auch in unserer kleinen Welt nicht anders. Wir konnten doch nicht unser Schiff mit lauter Affen bevölkern. Es war so wie so manchmal ein einziges großer Affenhaus. Wir konnten diese in Gefangenschaft und gar an Bord geborenen Affen auch nicht in einer Wildnis aussetzen. Da wären sie elend zugrunde gegangen. Sie in andere Gefangenschaft zu geben, daran dachten wir noch weniger. Also fort damit!

Beim nächsten frohen Ereignis sollte das nun anders werden. Gesetzt den Fall, es war wirklich gelungen, den Affeneltern das Schwimmen beizubringen. Dann aber schwammen sie nicht nur auf Kommando, oder wenn sie ins Wasser geworfen wurden, sondern auch hier war so eine Einrichtung angebracht, das Wasserbassin war dermaßen eingebaut, dass sie unbedingt durch das Wasser schwimmen mussten, um am anderen Ufer ihren Hunger stillen zu können. Also auch die ihnen angeborene Wasserscheu musste ihnen genommen werden.

Würden nun die Affeneltern auch ihre Kinderchen dazu anhalten, dass sie das Schwimmen erlernten?

Das war es, worauf es hierbei hauptsächlich ankam. Und da durfte man wohl von einem wissenschaftlichen Problem sprechen, das es zu lösen galt.

Es wurde an Bord hierüber gar viel gesprochen. Besonders Oskar interessierte sich sehr für dieses Experiment. Der hatte sich nämlich ebenfalls speziell eines Affen angenommen, eines Mitteldings zwischen Pavian und Mandrill, eines Monstrums von Hässlichkeit, dem er den schönen Namen Schisstekabuste gegeben hatte. Das ist nicht etwa ein unanständiger Name, sondern das ist ein polnisches Wort und bedeutet Sauerkraut. An Sauerkraut hatte Oskar nun freilich nicht gedacht, als er seinen Lieblingsaffen so getauft hatte. Wir wollen ihn nur Kabuste nennen. Es war ein höchst gelehriges Tier, schade nur, dass ihm sein Herr nichts weiter als Dummheiten beibrachte. Von Oskar war ja freilich auch nichts anderes zu verlangen.

»Wenn Peitschenmüller seinen beiden Affen das Schwimmen beibringt, dann verpflichte ich mich, aus meinem Kabuste einen Klaviervirtuosen zu machen!«

So sprach Oskar, und er wartete nicht erst Juba Riatas Erfolg oder Nichterfolg ab, sondern er ging gleich ans Werk, er brachte das abgedroschene Mannschaftsklavier, besonders von Oskars Fäusten abgedroschen, in einen unteren Raum, den er mit Seegrasmatratzen auspolsterte, und verschwand darin jeden Tag für einige Stunden mit seinem Affen. Später musste auch noch ein zweiter Affe an dem Klavierunterricht teilnehmen.

Und warum soll man denn nicht einem Affen das Klavierspielens beibringen können? Hat er nicht die gelenkigen Finger dazu? Es gilt immer wieder nur das Problem zu lösen, auf welche Weise man das Tier veranlasst, die Finger so auf den Tasten spielen zu lassen, dass eben ein wirkliches Spiel entsteht. Und dann natürlich darf man von solch einem Affen nicht gleich eine Liszt'sche Rhapsodie verlangen. Aber dass man ihn soweit bringen kann, ein einfaches Liedchen zu spielen, davon waren wir von vornherein überzeugt.

Immerhin, wir waren äußerst gespannt, was uns Oskar später vorführen würde.

Bei dieser Gelegenheit, da wir nun einmal von musikalischen Tieren sprechen, will ich eine kleine Erzählung einflechten, einen von mir verübten Streich aus meiner Kinderzeit.

Sie kann übrigens als hierher gehörig betrachtet werden, wir saßen ja oft genug in der Kajüte zusammen und erzählten uns Schnurren, Selbsterlebtes und Gehörtes und Erdichtetes, auch Matrosen wurden manchmal herbeigezogen, ich habe ja schon einige Erzählungen aus Klothildes Munde zum Besten gegeben, und so will ich auch einmal eine von mir auftischen.

Ich würde sie betiteln:

Fräulein Seutbeers Geist

Ich war acht Jahre alt, als mein Vater die akademischen Ferien zu einer weiten Reise benutzen wollte, wozu er mich nicht mitnehmen konnte, auch das Hausgesinde sollte einmal Urlaub bekommen, und so kam ich zur Tante Klara in Pension, die mich überhaupt reklamiert hatte.

Es war eine weitläufige Verwandte meiner früh verstorbenen Mutter, war unverheiratet geblieben, also eine alte Jungfer geworden, besaß bei Kiel eine stattliche Gutswirtschaft, die sie verpachtet hatte, sich aber im herrschaftlichen Wohnhause einen Flügel reservierend, mit Benutzung des Wagens, sogar einer Equipage und mit anderen Vorrechten.

Tante Klara kam auch manchmal zu uns, mein Vater achtete die alte Dame sehr hoch, plauderte gern mit ihr, und ich war ihr ausgesprochener Liebling, den sie immer reich beschenkte.

Aber besuchen durfte ich sie nicht. Wenigstens nicht für längere Zeit. Nicht dass ich die Schulferien bei ihr verbringen durfte, keinen Sonntag. Der Gutshof wäre doch etwas für mich gewesen. Aber die alte Dame war ungemein ängstlich. Ich konnte in die Häckselmaschine kommen, von einer Mistgabel angestochen werden, ein wilder Ochse konnte mich auf die Hörner nehmen.

Diesmal trug Tante Klara selbst an, dass ich die Ferien bei ihr verbringen solle. Ich sei mit meinen acht Jahren doch nun vernünftig genug, und sie wolle schon Sorge tragen, dass mir nichts passieren könne.

Also ich hinaus mit ihr. Unterwegs kaufte sie mir noch ein Paar hohe Schaftstiefel, die ich nicht besaß. Denn so vernünftig war sie ebenfalls, um einzusehen, dass ich nicht immer bei ihr in der Stube hocken konnte, nicht an ihren zahmen Spaziergängen teilnehmen, ich wollte doch auch einmal meine Freiheit haben, sonst braucht man doch nicht auf einen Gutshof zu gehen, und mein damaliges Ideal bestand darin, Mist ausladen zu dürfen, von diesem Ideal hatte ich ihr gleich vorgeschwärmt — »Hurra, da lade ich Mist auf!«, — und da kaufte mir die gute alte Dame denn auch gleich ein Paar zweckentsprechende Stiefel.

Wir kamen an. Tante Klara zog sich gleich zur Nachmittagsruhe zurück, vorher aber wurde ein alter, besonnener Knecht, der dort sein Gnadenbrot genoss, angestellt, dass er mich nicht aus den Augen, nicht einmal von der Hand ließ.

Nun, ich wusste mir schon zu helfen. Das allererste war, noch in der ersten Stunde, dass ich in das mächtige Kühlbassin fiel, mehr als 300 Liter Vollmilch enthaltend. Und vorher war ich schon mit meinen neuen Schaftstiefeln auf dem Misthaufen herumgestampft.

Na, da war die Tante Klara nicht so, Geiz kannte die nicht, wenn mir nur sonst nichts weiter passiert war — nur der Knecht bekam seine Vorwürfe, dann bezahlte sie dem Pächter ganz ruhig den Schaden, ganz verloren war die Milch ja auch nicht, sie wurde eben dem Vieh verfüttert.

Und ich hatte das Vergnügen gehabt, einmal in einem Bassin voll Milch zu schwimmen, wirklich zu schwimmen, und sie hatte sogar herzlich darüber gelacht.


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Und noch an demselben Tage erfuhr ich, weshalb mich Tante Klara eigentlich zu sich genommen hatte. Gegen Abend, als sie den Wagen anspannen ließe nahm sie mich vor, äußerst geheimnisvoll.

»Georg, Du bist trotz Deiner acht Jahre doch schon ein ganzer Mann, dessen Wort man trauen kann, wie Du auch schon bewiesen hast.«

Ja, das hatte ich.

Erst vor einem halben Jahre war es gewesen, da hatte ein Mitschüler von mir einen Streich ausgeführt, den man nicht mehr nur einen dummen nennen konnte. Er hatte, bei Gelegenheit allein in der Klasse, den Ausguss verstopft und den Wasserhahn aufgedreht, war davon gegangen, und als es gemerkt wurde, hatte schon das ganze Klassenzimmer fußhoch unter Wasser gestanden.

Durch Zufall erkannte ich das benutzte Tuch und sagte es dem Übeltäter auf den Kopf zu, dass nur er es gewesen sein könne, aber unter vier Augen. Da flehte er mich an, ihn nicht zu verraten. Und ich, der ich die Tragweite dieses bösen Streiches noch nicht überschaute, versprach es ihm.

Die Sache wurde bös, sehr bös, auch für mich. Durch Zufall brachte man heraus, dass ich an dem Verbrechen zwar nicht direkt beteiligt gewesen sein konnte, dass ich aber unbedingt den Bösewicht kennen müsse. Und hierbei handelte es sich nicht allein um so ein Schulvergehen, sondern um Schadenersatz, der Boden des ganzen Zimmers musste aufgerissen und neu gedielt werden, auch die Wände waren arg beschädigt worden. Vorkehrungen gegen den Schwamm und dergleichen mehr, und da musste doch der Vater oder Vormund des Übeltäters zur Bezahlung herangezogen werden.

Kurz, ich wurde sogar polizeilich vernommen, vor Gericht geführt! Und ich gab zu, den Verbrecher zu kennen, das konnte ich gar nicht mehr leugnen, aber ich hatte ihm, ganz leichtsinnigerweise, versprochen, ihn nicht zu verraten, und nun verriet ich ihn auch nicht, da gab es bei mir nichts!

Es war wirklich eine ganz böse Zeit für mich, ich wurde zwei Wochen lang als ein verstockter Verbrecher betrachtet, der in die Korrektionsanstalt gehörte. Allerdings nicht von meinem Vater, der überhaupt absolut nichts dazu sagte. Aber sonst immer zwischen dem Direktor und der Polizei hin und her, immer von einem Verhör zum andern.

Bis sich der Übeltäter endlich selbst meldete. Ohne von mir dazu aufgefordert worden zu sein. Das verbot mir wiederum mein Stolz. Er kam in eine andere Schule, gleich in eine andere Stadt. Dann war die Sache erledigt, auch für mich. Der Schuldirektor verzieh mir, in recht eigentümlicher Weise — er drückte mir die Hand, dass er sie fast zerquetscht hätte. Es war ein gediegener Mensch, der alte Herr. Und besonders die Studenten, die viel in unserem Hause verkehrten, feierten mich geradezu als Helden.

Dies also meinte Tante Klara.

Und nachdem ich ihr mein achtjähriges Ehrenwort gegeben hatte, weihte sie mich in ihr tiefes, tiefes Geheimnis ein.

Wenn ich es jetzt verrate, so ist das natürlich etwas ganz anderes; die sind schon alle tot, und überhaupt ist das Ganze nur ein dummer Schnickschnack.

Was mir Tante Klara nun damals offenbarte, das verstand ich ganz und gar nicht, das musste erst so nach und nach kommen, und dann sah es ja noch bunt genug aus in meinem Kindergehirn.

Die Sache war folgende:

Damals war aus Amerika der Spiritismus ganz frisch auch nach Deutschland importiert worden, man sprach viel über die Experimente des bekannten Professor Zöllner in Leipzig, auch in Kiel bildeten sich schon Gesellschaften, die es wenigstens zuerst mit dem Tischrücken und Geisterklopfen versuchten.

Von dieser geistigen Epidemie war auch das »Kränzchen« ergriffen worden, dem meine Tante angehörte.

Es waren sechs begüterte Damen, lauter alte Jungfern, die sich Abend für Abend zum Kränzchen zusammenfanden, von sieben bis zehn, um Karte zu spielen und zu klatschen, und das Kränzchen ging immer reihum.

Jetzt also waren sie auf den Spiritismus gekommen. Erst probierten sie es einmal mit dem Tischrücken und Tischklopfen. Aber wie gewissenhaft sie auch mit den Händen die sogenannte magnetische Kette bildeten und

obgleich sie stundenlang geduldig ausharrten, dazu heilige Lieder sangen oder Hokuspokus trieben, das Tischchen wollte sich nicht drehen, nicht ein bisschen wackeln, noch viel weniger eine Geisterkunde aus der vierten Dimension klopfen, oder wenn es sich doch einmal etwas gedreht hatte, so musste die eine oder die andere Jungfer zuletzt zugeben, ein bisschen nachgeholfen zu haben. Ebenso entstanden manchmal auch ganz irdische Klopftöne.

Kurz und gut, das trieben die alten Damen nun schon seit einigen Wochen Abend für Abend, und die Geschichte wollte nicht gehen. Aber deswegen verloren sie den Mut nicht, in anderen spiritistischen Zirkeln sollte der Tisch doch wie wahnsinnig tanzen und trommeln, auch wenn kein Medium anwesend war.

Sie machten es eben noch nicht richtig, es fehlte noch irgend etwas dabei. Andere Spiritisten deswegen um Rat zu, fragen, da schämten sie sich, wie sie den Hokuspokus überhaupt ganz, ganz geheim betrieben. Es gab schon damals solche spiritistische Rezeptbücher genug, wie noch heute, die konnte man sich postlagernd schicken lassen, aber es nützte nichts, die Sache ging nicht.

Nun hatten sie wieder solch eine Schrift direkt von einem Berliner Medium bezogen, gegen einen fabelhaften Preis. In diesem spiritistischen Rezeptbuch standen aber auch ganz fabelhafte Sachen. Man müsse gewisse Zauberformeln hersagen, dann würde sich der Tisch ganz gewiss, drehen und klopfen, und nicht nur das, sondern es würden wahrscheinlich auch Tote sichtbar erscheinen, mindestens die wunderbarsten Spukvorgänge vor sich gehen. Am besten gelänge es, wenn man einen ganz »frischen« Toten zitiere, das heißt einen Menschen, der erst vor ganz kurzem ins Jenseits gefahren sei, nicht länger als drei Tage. Der mache sich nach jenen Zauberformeln ganz gewiss bemerkbar.

Aber man müsse bei alledem auch sehr, sehr vorsichtig sein! Sehr leicht könnten durch die Beschwörungsformeln auch unsaubere Geister und böse Dämonen angezogen werden, welche die Anwesenden schwer an Leib und Seele zu schädigen vermögen.

Doch hiergegen gibt es ein untrügliches Schutzmittel. Der Sitzung braucht nur ein unschuldiges Kind beizuwohnen, braucht sich nur in dem betreffenden, von vier Wänden eingeschlossenen Raume aufzuhalten, dann wagen sich die »Schemot schel schedim«, das sind eben die unsauberen Geister und bösen Dämonen, nicht einzumischen. Ja, dieses unschuldige Kind, vorausgesetzt dass es wirklich noch ganz unschuldig ist, vermag die Anwesenheit dieser bösen Geister, wenn sie sich unberufen einstellen, sofort zu fühlen, dann braucht es nur die Zauberformel »Adon olam jigdal« mehrmals auszusprechen, und die bösen Geister verschwinden sofort. Vorausgesetzt aber ist, dass die anderen Anwesenden, welche Geister zitieren wollen, vorher das Zimmer verlassen. Also durch Aufforderung des Kindes, welches die bösen Dämonen instinktiv merkt. Dann, wenn die Luft rein ist, ruft das Kind die Zirkelmitglieder wieder herein, die Sitzung kann fortgesetzt werden, mit bestem Erfolge, ohne dass noch böse Dämonen zu fürchten sind.

So sagte die hektografierte Rezeptschrift des Berliner Mediums.

Ich bemerke hierzu — was ich freilich erst viel, viel später erfuhr, eben erst durch unseren Doktor Isidor, als ich diese ganze Sache erzählte — dass dies alles aus der Kabbala stammt, jüdische Geheimbücher, die sich mit »Kischuph«, mit Zauberei, Geisterbeschwörungen und dergleichen beschäftigen. Alle die Namen und Zauberformeln waren hebräische. Adon olam jigdal zum Beispiel heißt: der Herr der Welt sei erhöhet.

Ja, die alten Damen hatten die größte Lust, die Sache zu probieren, sie brannten danach — hatten aber auch ganz höllische Angst vor den unsauberen Geistern, die sie womöglich gar um ihre ewige Seligkeit bringen könnten.

Nun, da musste man sich eben ein schützendes Kind beschaffen. Am besten, sagte die Schrift, eigne sich darin ein solches zwischen sechs und zehn Jahren, gleichgültig ob Junge oder Mädchen. Solche Kinder gab es ja massenhaft. Ob sie aber auch alle unschuldig waren? Wie das zu verstehen sei, das drückte jene Schrift nicht genauer aus. Unschuldig und sündenrein. Wenn aber ein Kind einmal lügt und ab und zu in Nachbars Garten einsteigt, so kann man es doch eigentlich nicht mehr als ganz sündenrein bezeichnen. Und dann vor allen Dingen war die Hauptsache die, dass sich die alten Jungfern ob ihrer spiritistischen Bemühungen schämten, sich genierten. Sie tagten aber ganz im geheimen, niemand durfte davon erfahren. Sie wären doch nur ausgelacht und verhöhnt worden. Und so ein Kind plaudert doch natürlich aus.

Da, als man die Hoffnung schon aufgeben wollte, hatte man sich endlich auch meiner erinnert. Ja, ich war wie geschaffen dazu! Acht Jahre alt, von meiner Verschwiegenheit, wie man meinem Wort trauen konnte, davon hatte ich erst vor kurzem wieder einen großartigen Beweis gegeben, und ich war in den Augen dieser alten Damen wie der meisten Menschen, die mich näher kannten, der unschuldigste, sündenreinste Engel.

Eigentlich stand es ja anders mit mir. Aber die alten Damen ahnten eben gar nicht, wie faustdick ich es hinter den Ohren hatte, wie viel Zentner Äpfel ich schon gemaust und was ich sonst noch für Streiche schon auf meinem Kerbholz hatte. Die Sache war nur die, dass ich so schlau war, um mich niemals dabei erwischen zu lassen, und dazu hatte mir eine gütige Natur, nach dem Grundsatze, dass dem, der sich selber zu helfen weiß, auch der liebe Gott hilft, auch noch das unschuldigste Kindergesichtchen gegeben.

Kurz und gut, so war die Wahl des Kränzchens auf mich gefallen, deshalb hatte mich Tante Klara für die Ferien zu sich auf ihren Gutshof genommen. Dass die alten Jungfern mit meiner unschuldigen Kinderseele einen groben Missbrauch treiben wollten, das will ich hier übergehen. Wenn ich selbst so etwas auch nie tun würde, so sehe ich doch nichts weiter dabei, kann es wenigstens leicht verzeihen, denn die alten, abergläubischen, aber im Grunde herzensguten Damen wurden sich der moralischen und ethischen Verwerflichkeit ihrer Handlungsweise gar nicht bewuss, dazu waren sie viel zu beschränkt, und da sie alles im Namen Gottes taten, dazu beteten und Kirchenlieder sangen, so fanden sie nichts Sündhaftes dabei. Nur ausgelacht wollten sie nicht werden!

Also Tante Klara hatte mich eingeweiht, natürlich nicht so, wie ich es hier schildere, und ich hatte Schweigen gelobt. Wir stiegen in die Equipage und fuhren zu der Dame, bei der heute Kränzchen war. Erst ein opulentes Abendbrot, dann wurden die Vorbereitungen zur Geistersitzung getroffen. Es waren fünf Damen — die sechste fehlte seit einiger Zeit — die um ein Tischchen Platz nahmen und mit aufgelegten Händen die magnetische Kette bildeten, die einfach darin besteht, dass sich die Finger der Nachbarn berühren müssen, vorher war das Gaslicht bis auf ein ganz kleines Flämmchen ausgedreht worden, sodass fast vollständige Finsternis herrschte, und nun wurde ein frommes Lied gesungen und dann jene Zauberformel immer wieder feierlich hergesagt. Ich saß dabei in einiger Entfernung in einem Lehnstuhl.

Aber wie nun auch gesungen und die hebräische Zauberformel geflüstert wurde, der Tisch wollte nicht tanzen und nicht klopfen, und von Geistern meldete sich nicht einmal ein toter Hund.

Also wieder war es nichts gewesen! Trotzdem verloren die Damen den Mut noch nicht, am anderen Abend ging dieselbe Geschichte in einer anderen Wohnung los, und das noch an vier weiteren Abenden, immer ohne Erfolg.

Die Ausdauer der alten Damen war wirklich bewundernswert, sie wäre einer besseren Sache würdig gewesen.

Was mich anbetraf, der ich immer dabei sein musste, so kann ich nur sagen, dass ich nach und nach zu begreifen begann, was die Damen eigentlich wollten, dass ich aber deswegen auch immer ängstlicher wurde. Nicht etwa wegen der Geister, sondern wegen des Misserfolges. Ich dachte nämlich, die Geister kämen deshalb nicht, weil ich doch nicht so unschuldig und sündenrein war, wie die Damen meinten, ich musste, wenn ich so im Finstern saß, immer an die gemausten Äpfel und an andere Sünden denken, und schließlich könnten die Damen auch zu dieser Erkenntnis kommen. Das war es, was mir die größte Sorge machte.

Da sollte der Umschwung eintreten. Ich hatte schon gesagt, dass es in der letzten Zeit immer nur fünf Damen waren, die sechste fehlte im Kränzchen. Das war Fräulein Amalie Seutbeer. In Norddeutschland sind ja solche realistische Namen, die sich aufs Essen und Trinken beziehen, sehr häufig. Ich bin einmal auf einem Danziger Schiffe gefahren, dessen Kapitän Frettwurst hieß, der erste Steuermann Sörop, und der Bootsmann Wienfatt. Bei uns kamen die Namen Bohnsack vor — Albert der Sänger — Pieplack, was eine gelackte Portweinflasche bedeutet, und Laubskausch (1), was ein Norddeutsches Essen aus Stampfkartoffeln mit Salzfleisch ist.

(1) Bekannter unter der Bezeichnung »Labskaus«.

Also Fräulein Amalie Süßbier oder Seutbeer war schon seit längerer Zeit krank, hatte schon immer die galoppierende Schwindsucht gehabt, ohne es gewusst zu haben, jetzt war die Krankheit ins letzte Stadium getreten, schon seit einigen Tagen lag die alte Jungfer in den letzten Zügen, verbunden mit einem hitzigen Fieber.

Da wurde ja in dem Kränzchen vorher während des Abendessens viel darüber gesprochen, die anderen fürchteten immer, das sterbende Mitglied könnte im Fieber über die spiritistischen Sitzungen phantasieren, aber das geschah nicht, die Fiebernde gab sich mit ganz anderen Gedanken ab. Fräulein Seutbeer war, wie solche alte, begüterte Jungfern, die nichts weiter zu tun haben, nun einmal sind, in ihren letzten Tagen auf den Gedanken gekommen, noch Klavierspielen zu lernen, hatte Unterricht genommen, ihr Lehrer, eine besondere Methode befolgend, hatte sie gleich mit der Tonleiter anfangen lassen, was ja sonst nicht üblich ist, dazu noch als erste ermunternde Stücke, damit man vom Klavierspielen gleich etwas hat, die schönen Lieder »Mädchen, warum weinest Du« und »Hänschen klein, ging allein, in den tiefen Wald hinein.«

Weiter war Fräulein Seutbeer nicht gekommen, da war sie auf das Kranken- und Sterbebett geworfen worden, nun spielte sie im Fieberdelirium noch immer die Tonleiter über das ganze Klavier weg und das weinende Mädchen und das kleine Hänschen, und unter diesen Melodien, die sie in die Luft hinein fingerte, war sie auch ins Jenseits gesegelt.

Das war am Dienstagnachmittag geschehen, an diesem Abend fiel das Kränzchen aus, alle die Kränzchenschwestern waren am Sterbebett gewesen, schon am anderen Tage wurde sie begraben, und am Abend fand das Kränzchen bei meiner Tante statt.

So, da hatte man ja nun, wonach man sich schon immer gesehnt: eine ganz »frische« Tote, die man zitieren konnte. Meine Sorge, dass meine Sündhaftigkeit an den Misserfolgen schuld sein könne, war also immer ganz unnütz gewesen. Jenes Rezept sagte doch, die Zauberformeln wirkten nur bei Seelen, die erst vor höchstens drei Tagen abgefahren seien. Solche Seelen hatte das Kränzchen aber bisher nicht auf Lager gehabt. In Kiel und Umgegend starben zwar jeden Tag einige Menschen, es mussten aber abgeschiedene Seelen sein, die sich zu ihnen hingezogen fühlten, sonst kamen sie nicht. Das ist doch immer die alte Geschichte. Ich begriff dies alles aber doch erst so nach und nach.

Also heute Abend versammelte sich das Kränzchen auf dem Gutshofe bei meiner Tante. Dabei bemerke ich nachträglich, dass dieses Kränzchen den Namen »Demut« führte und die christliche Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft ausdrückten sollte. Die betreffende Hausfrau musste an ihrem Abend das Abendessen selbst herrichten, ihre Gäste ganz allein bedienen, weswegen das Hausgesinde an diesem Abend immer Urlaub bekam. Auf diese Weise konnten die spiritistischen Sitzungen auch so geheim gehalten werden. Meine Tante hatte gar keine eigene Bedienung, das wurde alles vom Gutshof aus besorgt, wenn sie jemanden brauchte, so rief sie durch Klingeln eine Magd.

Heute wurde das Abendessen sehr schnell eingenommen.

»Ob sie wohl kommen wird?«

Das war die große Frage, um die sich alles drehte und so zur Eile antrieb.

Dann begab man sich in das Sitzungszimmer, die Damen setzten sich um den runden Tisch, ich musste in einiger Entfernung auf dem Sofa Platz nehmen. Gas gab es hier nicht, die auf dem Büfett stehende Petroleumlampe musste ganz gelöscht werden, kleingedreht stank sie, dann aber stand auf dem runden Tische noch ein Nachtlämpchen, mit Benzin gespeist, für gewöhnlich mit ganz winziger Flamme brennend, die aber, wenn man das Ding hob, sofort hell brannte, weil sich dann unten ein Hebel auslöste. Denn im Dunkeln musste wenigstens die Einleitung geschehen, dann wenn sich Spukvorgänge bemerkbar machten, durfte Licht gemacht werden, das verjagte die Geister dann nicht mehr.

Es ging wie gewöhnlich, erst ein frommes Gebet und ein Kirchenlied, und dann wurde die Zauberformel gesprochen: adon olam jigdal, adon olam jigdal, adon olam jig...

Klapp klapp klapp klapp ging es da in dem finsteren Zimmer.

Ein allgemeines Erschrecken und mäuschenstill ward es.

»Georg, warst Du das?«, wurde ängstlich geflüstert.

»Ich? O nee, wie soll ich denn!«

Klapp klapp klapp klapp ging es wiederum.

»Fräulein Seutbeer, sind Sie das?«, erklang es immer ängstlicher.

Klapp klapp klapp klapp.

Die magnetische Kette wurde gelöst, die Benzinlampe flammte auf, verbreitete ein geisterhaftes Licht.

»Fräulein Seutbeer?«

Klapp klapp klapp klapp.

Alle guten Geister!

Meinem Sofa gegenüber, auf der anderen Seite des Zimmers, stand ein Klavier, darüber hingen an der Wand einige Bilder, darunter auch eine Fotografie des Fräulein Seutbeer, und dieses Bild wackelte ganz mächtig!

»Fräulein Amalie Seutbeer, ist das Ihr Geist?«

Klapp klapp klapp wackelte das Bild.

Nun wird der Leser sicher meinen, dass ich es gewesen bin, der die Fotografie wackeln ließ, wenn sie auch vier Meter von mir entfernt war. Ich hätte einfach einen Zwirnsfaden dran gebunden und zog.

Unter den fünf Damen war eine, Fräulein Asch, die zwar alles mitmachte und wohl selbst daran glaubte, aber doch sehr resolut war und misstrauisch obendrein, und die dachte dasselbe.

»Das ist der Junge, der hat einen Zwirnsfaden dran gebunden!«

Klapp klapp.

Fräulein Asch auf und hin, mit höchst anerkennenswerter Courage.

Nur schade, dass sie keinen Zwirnsfaden fand, wie sie auch das kleine Bild abnahm und es betrachtete.

»Was, ich soll an einem Zwirnsfaden gezogen haben?!«

Und wie ich das gekränkt sage, und wie das alte Fräulein noch die Fotografie in Händen hat, da fängt plötzlich das Klavier, vor dem sie steht, zu spielen an.

La la la la la la la la.

Spielt von oben nach unten eine Tonleiter!

Da freilich war es auch mit dieser resoluten alten Dame vorbei, da sackte auch die vor Schreck gleich in die Knie zusammen.

Amalie, Amalie — bist Du es?!«

La la la la la la la, wurde die Tonleiter wieder von unten nach oben gespielt.

»Es sind böse Geister im Zimmer!«

»Hinaus, hinaus!«, schreit meine Tante und eilt hinaus, und ihr nach die drei anderen.

Leider eben zusammen nur vier. Das Fräulein Asch lässt sich nicht einschüchtern, die bleibt, wie ich auch immer wieder vor unsauberen Geistern und bösen Dämonen warne, deren Anwesenheit ich instinktiv fühle.

»Amalie, Amalie — bist Du das?!«

La la la la la la, spielt der Geist von Fräulein Seutbeer. »Musst Du denn auch noch im Tode Klavier spielen?!«, La la la la la la la la.

»Aber wie machst Du denn das nur?!«

La la la la la la la la.

Da klappt Fräulein Asch den Klavierdeckel auf, der bisher über den Tasten gelegen hat. So wissbegierig und heroisch ist sie.

Und hiermit ist die Gespenstergeschichte aus, wenigstens will ich mich ganz kurz fassen

Tatsächlich war ich es gewesen, der das Klavier spielen ließ, in einer Entfernung von mehr als vier Metern von mir.

Freilich nicht mit meinen eigenen Händen.

Unter dem hohen Deckel lief auf den Tasten ein Meerschweinchen herum.

Nur anfangs wurde dieses Meerschweinchen noch etwas geisterhaft genommen, dann war es vorbei, das Tier war doch gar zu reell, und ich musste gestehen, das half nun alles nichts. Denn wer anders als ich hätte der Übeltäter sein können.

Ja, ich hatte den alten Damen oder auch den lieben Geistern, besonders der Fräulein Amalie Seutbeer, von der ich so viel gehört, etwas behilflich sein wollen. Hatte mir den Plan zurechtgelegt, hatte unter den Klavierdeckel rechtzeitig, wie es sehr leicht möglich gewesen, eines der Meerschweinchen gesteckt, die es auf dem Gutshofe massenhaft gab, und an Fräulein Seutbeers Fotografie einen schwarzen Zwirnsfaden befestigt, aber nicht eigentlich gebunden, sondern ihn in doppelter Länge durch die Öse gezogen. So brauchte ich nur an dem einen Ende zu ziehen, dann zog ich den ganzen Faden durch, er war dann nicht zu finden,

Das war mir gelungen, aber nicht die zweite List, die Damen aus Furcht vor »unsauberen Geistern« hinauszubringen, um dann mein Meerschweinchen schnell wieder unter dem Sofa in einer Schachtel verschwinden zu lassen. Wenigstens Fräulein Asch war zurückgeblieben, die hatte alles verdorben.

Was sonst noch daraus geworden wäre, kann man sich nicht ausmalen.

Mit meiner »Unschuld und Sündenlosigkeit« war es zwar nun vorbei, aber ich hatte auch einen großen Vorteil davon. Die alten Damen, natürlich tief beschämt, verpflichteten mich nochmals zum Schweigen, ich legte ja auch wiederum das Gelübde ab, diesmal aber unter Vorbehalt. Mehr Freiheit wollte ich haben! Und so kam es, dass ich jetzt nicht mehr mit ins Kränzchen brauchte, ob dort nun weiter Geister zitiert wurden oder nicht, und mich nach Herzenslust im Gutshof und in den Ställen und auf den Feldern herumtreiben konnte.

Das also war es, was ich ursprünglich gemeint hatte — nämlich wie auch ich schon einmal ein Tier zum Klavierspielen abgerichtet habe, freilich ohne jede weitere Dressur, das Meerschweinchen lief nur auf den Tasten hin und her, und dass es »Mädchen warum weinest Du« oder »Hänschen klein« gespielt haben sollte, das kann man von einem Meerschweinchen doch auch wirklich nicht verlangen.

*

73. Kapitel

Das Schwert des Cid

Originalseiten 1823 — 1852

Zum dritten Male legten wir in Para an, um auf dem Amazonenstrome und seinen Nebenflüssen und Bifurkationen in den brasilianischen Urwald zu dringen.

Einzunehmen brauchten wir nichts. Proviant hatten wir noch genug, und die Ballasttanks, früher nur mit Wasser gefüllt, enthielten jetzt Petroleum, der Ölquelle des Seelandsfelsens entnommen, und trotz der langen Reise war erst die Hälfte davon verbraucht worden.

Aber wenn der Amazonenstrom auch jetzt frei für alle Schiffe ist, was vor 20 Jahren noch nicht der Fall war, so muss jedes Schiff doch in Para anlegen, um sich eine Zollrevision gefallen zu lassen. Denn Brasilien besteuert natürlich die fremden Waren. Wir hatten nichts zu versteuern, wollten nichts verkaufen, und wenn wir etwa einem anderen Schiffe auf dem Amazonenstrome oder in einem Hafen etwas von unserem überreichlichen Proviante abtraten, um ihm aus der Verlegenheit zu helfen, so musste das später gesagt werden, das wurde dann auf der Rückfahrt in Para versteuert. Deshalb brauchte also nichts unter Plombe genommen zu werden, da genügte die einfache Aussage des Kapitäns. Wenn der etwa betrog, und es stellte sich später heraus, so musste eben die Reederei die Steuer bezahlen, eine gehörige Strafe dazu, und der Kapitän verlor natürlich sein Patent.

Aber als Kargokapitän war das jetzt meine Sache. Kapitän Martin hatte nur noch die nautische Sache, für die Fracht, und alles, was damit zusammenhängt, war jetzt ich verantwortlich, weil ich nun einmal als Kargador registriert worden war.

Es ging einfach genug zu. Ich unterschrieb die Erklärung, dass wir alles, was wir an Bord hatten, nur für eigene Zwecke verwenden wollten, dass wurde noch im Schiffsjournal protokolliert und vom Kapitän Martin unterschrieben, und die Sache war erledigt.

»Sie haben jetzt Petroleumfeuerung?«, fragte da noch der Steuerbeamte.

»Ja.«

»Wo haben Sie das Petroleum her?«

Groß blickte ich den Frager an.

»Was geht denn das Sie an?!«, fuhr es mir da auch schon heraus.

Und der Beamte entschuldigte sich denn auch gleich und ging, das Schiff war freigegeben.

So einfach war die Sache denn freilich doch nicht.

Ich hatte schon oft daran gedacht, wir hatten auch öfters zusammen darüber gesprochen.

Die Zeiten sind vorüber, da ein armer Schlucker plötzlich über Reichtümer gebietet, und seine Nachbarn mögen glauben, er habe seine Seele dem Teufel verschrieben. Heute muss in solch einem Falle der Betreffende behördlicherseits Rechenschaft geben, wo er das viele Geld plötzlich her hat. Das gilt an Land, und das gilt vielleicht noch viel mehr zur See, im Schiffshandel. Da muss man bis ins Kleinste nachweisen können, wo man die Fracht und den Proviant und die Kohlen her hat.

Darüber, wegen unseres Petroleums, hatten wir also schon gesprochen. Nun, deshalb brauchten wir das Geheimnis unseres Seelandsfelsens noch nicht zu verraten. Wir wussten eben irgendwo eine Ölquelle, auf einer herrenlosen Insel oder mitten im Meere. Diese Antwort musste genügen. Zu weiterer Auskunft waren wir nicht verpflichtet. Fahrt uns doch nach und seht selber zu, wo wir unser Heizungsmaterial herholen.

Und dieser Steuerbeamte hatte nun ganz und gar kein Recht, solch eine Frage zu stellen, da hatte ich ihm gleich die richtige Antwort gegeben.

Immerhin, die Sache gab doch etwas zu denken.

Und so dachte ich noch, als ich in meiner Kabine wieder die mir anvertrauten Papiere ordnete.

Da trat Siddy ein.

»Herr Waffenmeister, wir haben Besuch bekommen, er ist in der Kajüte, Sie müssen dabei sein.«

»Wer denn?«

»Raten Sie mal.«

Diese Einleitung hatte Siddy schon einmal gemacht.

»Doch nicht wieder unser Prospektador?!«

»Er ist schon wieder da.«

Jawohl, da stand er schon in der Kajüte, noch ganz genau derselbe! Schäbiger und fettiger konnte sein Mantel und Filzhut ja auch gar nicht werden, und zwischen denen ragte auch noch dieselbe mächtige, schiefe Habichtsnase hervor, und zwischen den Krallenfingern der linken Hand hielt er noch immer das qualmende Zigarettchen.

Außer ihm waren in der Kajüte noch die Hauptpersonen anwesend oder ich will sie gleich namentlich anführen: die Patronin, Kapitän Martin, Juba Riata, Doktor Isidor und Klothilde.

»Hier, Herr Waffenmeister«, sagte zunächst die Patronin, »ein alter Bekannter von uns. Will aber den Zweck seines hohen Besuchs nicht eher offenbaren, als bis Sie zur Stelle sind.«

»Buenas dias, Señor Capitano«, begrüßte der mich jetzt, ließ den Stummel unter seinem Mantel verschwinden und hatte im nächsten Augenblick eine neue Zigarette in der Hand, schon brennend.

»Guten Tag, Señor Montezuma della Estrada! Ich bin zur Stelle. Was verschafft uns die hohe Ehre Ihres werten Besuches?«

»Können wir hier unbelauscht sprechen?«

»Ganz gewiss.«

»Sie sind schon zweimal von mir getäuscht worden.«

»Das stimmt.«

»Das erste Mal versprach ich Ihnen für vierzig Millionen Chinarinde, gab Ihnen dann statt dessen einen Diamanten von demselben Werte...«

»Es ist gar nicht nötig, dass Sie all diese Täuschungen nochmals aufzählen.«

»Es waren nur zwei. Einmal mit dem Diamanten, das andre Mal mit dem Golde von Eldorado.«

»Diese zwei Täuschungen genügen grade.«

»Glauben Sie etwa, dass ich Sie mit Absicht betrügen wollte?!«

»Das allerdings nicht, aber... wohin sind Sie denn damals so plötzlich verschwunden?«

»Als ich erkannte, dass das vermeintliche Gold nur gelber Glimmerschiefer war, war mein Schreck natürlich groß. Aber hier gab es nur eines, Ihnen Ersatz dafür bieten. Und ich ging sofort, ihn zu holen. Ich wurde länger abgehalten, als ich dachte. Als ich zurückkam, waren Sie bereits fort, und ich wusste nicht, wohin.«

»Und was war das für ein Ersatz?«

»Mi sabe.«

»Hören Sie, mein guter Freund, mit dieser Redensart kommen Sie diesmal nicht weit!«

»Es hat gar keinen Zweck, über diesen gleichwertigen Ersatz zu sprechen.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich das, was ich Ihnen dafür bieten wollte, gar nicht gefunden habe.«

»Aaah so!«, musste ich lachen, und die anderen mit mir. Nur der Spanier ließ sich nicht beirren, blieb immer ganz Würde.

»Jetzt aber bin ich hier, um Ihnen einen vollen Ersatz dafür zu bieten.«

»Und das wäre?«

»Wäre Ihnen daran gelegen, nach jenem Plateau des Eldorados zu kommen, vom Meere aus, ohne erst den Amazonenstrom hinauffahren zu müssen?«

»Wie, Sie kennen solch einen Wasserweg?!«, stutzte ich.

»Ob Ihnen daran gelegen wäre, frage ich.«

Die Gedanken schlossen mir durch den Kopf. Ich will sie nicht weiter schildern. Na und ob uns an so etwas gelegen wäre!

»Ja.«

»Nehmen Sie dass als Ersatz dafür an, dass Sie mit dem Diamanten und mit dem versprochenen Golde getäuscht worden sind?«

»Hierüber hat nur die Patronin zu bestimmen.«

»Ich nehme es als Ersatz an!«, rief diese sofort mit leuchtenden Augen, eben den Wert solch eines Geheimnisses sofort erkennend.

»Wo ist diese Durchfahrt vom Meere aus?«, fragte ich wieder.

»Mi sabe.«

»Nein, Herr, da müssen Sie sich erst näher erklären.«

»Ich spreche aber nicht vorher darüber. Sie müssen sich mir anvertrauen. Aber ich garantiere dafür, dass ich Sie auf einem aller Welt unbekannten Wasserwege nach jenem Eldoradogebirge bringe und auch wieder zurück, und außerdem sollen Sie den Weg ganz genau aufzeichnen können, sodass Sie selbst den Rückweg finden.«

»Well, womit garantieren Sie?«, ließ sich Kapitän Martin vernehmen.

»Mit dem Kostbarsten, was es auf dieser Erde gibt — hiermit!«

Und mit diesen Worten brachte die rechte Krallenhand unter dem Mantel einen Spazierstock zum Vorschein.

Allerdings einen ganz merkwürdigen Spazierstock. Wohl mehr als fünf Zentimeter breit und dabei ganz flach, überhaupt ganz wie eine Johannesbrotschote aussehend, nur eben von der Größe eines Spazierstockes, oben mit einer Krücke.

Ich kannte diese Art von Spazierstöcken, hatte wenigstens schon vier gesehen. Zwei in einem Museum, einen in der Hand eines spanischen Granden und einen in der Hand des Fürsten Bismarck, als ich das Glück hatte, ihm einmal im Sachsenwald zu begegnen. Er hatte ihn, wie ich später erfuhr, von der spanischer Königsmutter als Zeichen ihrer Verehrung geschenkt bekommen, woraus man also wohl auf die Kostbarkeit solcher Spazierstöcke schließen darf.

Das so schotenförmig geformte Stück Holz, sehr leicht und dabei äußerst hart, ist eine Wurzel des Drachenbaumes, aber nur eine Ausläuferwurzel. Der subtropische Drachenbaum ist zwar nicht der Riese unter den Bäumen, erreicht aber den größten Stammesumfang und das höchste Alter. Die berühmtester Drachenbäume, die wirklich Reisende aus allen Weltteilen anlocken, stehen auf Teneriffa, und derjenige, der im Jahre 1868 bei Orotova durch einen Sturm gefällt wurde, konnte zweifellos auf 6000 Jahre geschätzt werden.

Und nur die allerältesten Drachenbäume, die keine Früchte mehr ansetzen, treiben solche Wurzeln, aus denen sich dann Ausläufer entwickeln. Da darf man also wirklich von einer kostbaren Seltenheit sprechen. Wenn auch nicht gerade vom Kostbarsten, was es auf dieser Erde gibt.

»Mit diesem Schwerte garantiere ich!«, sagte der Spanier nochmals mit aller Feierlichkeit.

Er sprach zwar Englisch, hatte jetzt aber das spanische Wort Ladarma gebrauchst. Lado ist die Seite und arma die Waffe, also Seitenwaffe, womit man allgemein auch das Schwert bezeichnet. Ungefähr oder vielmehr ganz genau so, wie wir das Seitenmesser des Soldaten Seitengewehr nennen, obgleich wir jetzt unter Gewehr doch etwas ganz anderes verstehen.


Illustration

Ja, wie ein Schwert sah dieser Spazierstock auch aus, und ich wusste schon, dass man solche Dinger einfach auch Ladarmas nennt.

»Mit diesem Schwerte«, fuhr der Spanier fort, immer noch mit größter Feierlichkeit, hat der größte Held aller Zeiten, hat der edle Cid Don Rodrigo der Campeador von Castilien den furchtbaren Sancho von Navarra überwunden, mit diesem Schwerte hat er alle seine Waffentaten vollbracht, mit diesem Schwerte hat er mehr als hunderttausend Mauren vom Scheitel bis zum Nabel in zwei Hälften gespalten!«

»Oho, nanu, nanu!«, musste ich da doch lachen. »Mit diesem hölzernen Knüppel? Wie hat er denn das gemacht?«

»So!«

Mit diesem Worte zog der Spanier an dem Griff, wie ein gleißender Blitz zuckte es durch die Luft, und er hielt mir einen breiten, glänzenden Stahl hin.

Die Wurzel war hohl, war ein Degenstock, barg aber mehr ein breites Schwert als einen Degen, nur eben mit einem einfachen Holzgriffe.

Ich griff danach, schon mit ganz großen Augen.

Alle Wetter! Eine echte Damaszenerklinge!

Das erkannte ich sofort!

Ich hatte schon einige in Waffenmuseen gesehen, die ich niemals zu besuchen vergesse.

Über diese Damaszenerklingen wird viel Törichtes geschwatzt.

Wer kann sich rühmen, einen echten Damaszener zu besitzen?

Eine Toledoklinge mag es sein, aber schwerlich eine Damaszener, oder ihr Besitzer könnte sich auch einen echten Rembrandt oder Tizian oder Raffael leisten, also im Zimmer ein Bild hängen haben, dessen Wert Millionen repräsentiert.

Mit der alten Damaszener Schmiedekunst ist der Menschheit wieder einmal ein Geheimnis verloren gegangen, welches unsere heutigen Techniker und Gelehrten vergeblich zu enträtseln suchen. Unsere moderne Industrie, die Fabrikarbeit, die alles so schnell und billig als möglich herstellen will, hat diese Kunst vernichtet.

Stahldrähte werden zusammengeflochten, zur Klinge geschmiedet, gehärtet — und der Damaszener ist fertig.

So, nun macht das mal nach.

Wir können es nicht mehr.

Die besten Klingen werden heute noch in der königlichen Waffenfabrik zu Toledo hergestellt. Jeder Offizier, der ritterlich etwas auf seinen Degen hält, nicht nur auf so eine gewöhnliche Eigentumswaffe, lässt die Klinge dazu in Toledo schmieden. Das ist aber auch wohl das einzige, worin das einst allmächtige Spanien, auch geistig und industriell die ganze Welt beherrschend — man denke etwa an die Universität von Salamanca — noch immer unerreicht dasteht. Obgleich auch schon Fabrik genannt, wird dort doch noch jede bestellte Klinge individuell behandelt, nur ein einziger Schwertfegermeister beschäftigt sich einzig und allein mit dieser Arbeit, bis sie fertig ist — was freilich auch danach bezahlt werden muss.

Dort will man das streng behütete Geheimnis der orientalischen Schmiede, die Timur-Leng ums Jahr 1400 aus Damaskus entführte und dann spurlos verschwinden ließ, noch kennen — aber das Richtige ist es noch längst nicht.

Auch in Toledo werden Stahldrähte der verschiedensten Sorten zusammengeflochten. Aber dann, beim Schmieden im glühenden Zustande, schweißt dies alles zusammen, die Struktur geht verloren. Das Damaszieren, das Hervorbringen des Damastmusters, wird dann künstlich mit Säuren auf den Stahl geätzt, lässt sich also auch wieder mit Säuren wegätzen. Was bei den echten Damaszenern nicht der Fall ist: Gerade das Gegenteil. Je mehr man bei diesen mit Säuren ätzt, desto schärfer tritt das Muster hervor.

Wir wissen nur, dass es eine uralte indische Kunst war, als religiöses Geheimnis streng behütet, die bis nach Damaskus kam, um dort zu verschwinden. Wir wissen, dass die Schwertfeger von Damaskus ihre Stahlsorten zur Hälfte aus dem Tale von Golkanda, zur anderen Hälfte aus Persien bezogen, andere Stahlsorten konnten nicht in Betracht kommen, diese beiden mussten gemischt werden. Also die Schwertfeger von Damaskus konnten schon nicht mehr selbst den dazu nötigen Stahl herstellen. Dann wurden die geflochtenen Klingen nicht nur tage-, sondern wochenlang ununterbrochen in ganz schwacher Rotglut gehalten und immer ganz schwach gehämmert, und das Abkühlen musste wiederum in tagelanger Verzögerung erfolgen. Aber die Hauptsache sollte dabei das Feuer sein, womit dieses genährt wurde, nur mit Kuhdünger, wozu noch andere Bestandteile kamen.

Die Sache ist also wohl die, dass diese Klingen überhaupt gar nicht gehärtet wurden, wenigstens nicht so, wie wir heute härten, durch Abschrecken des glühenden Stahls in Wasser und späterem »Anlassen«. Wer nun etwas von der Verwandlung des Eisens in Stahl weiß, der wird merken, dass es tatsächlich dabei am meisten auf das Feuer angekommen ist, genährt von sehr stickstoffreichem Brennmaterial.

Aber wir wissen nicht mehr, wie das gemacht wurde. Bei uns schweißt das Drahtgeflecht zusammen, verschmilzt zu einem Ganzen, und dann fehlten die Haupteigenschaften der Damaszener Klinge: dass ein Schleier, der auf sie nieder schwebt, zerschnitten wird, so rasiermesserscharf ist die Schneide, und dass man mit derselben Klinge einen starken Hufeisennagel durchschlagen kann, ohne dass die Schneide die geringste Verletzung zeigt.

Wer nun daran zweifelt, dass unsere moderne Technik nicht mehr so etwas fertig bringen sollte, was vor Jahrhunderten geleistet worden ist, der frage — um nur noch ein einziges Beispiel anzuführen, es gibt aber deren eine ganze Menge — einen Kunstmaler oder Kunstsachverständigen über unsere heutigen Ölfarben. Die sind wunderschön, aber halten tun sie nicht. Wir können nicht mehr, wie es die italienischen, niederländischen und spanischen und auch deutschen alten Meister für Jahrhunderte malen. Was heute gemalt wird, existiert schon in hundert Jahren als farbenprächtiges Gemälde nicht mehr. Schon die Werke von noch heute lebenden Meistern beginnen sich ganz bedenklich zu verändern, verbleichen, es werden ganz andere Farbentöne daraus. Das macht: in alten Zeiten stellten sich die Maler ihre Farben selbst her, und jeder hatte da sein Geheimnis. Wenn ein genialer Jüngling Maler werden wollte, so musste er bei einem Meister als regelrechter Lehrling antreten, musste erst Ölpressen lernen, wie das an der Sonne destilliert wird, musste Farbe reiben, und das Jahre lang, nebenbei in der Malkunst selbst nur Handlangerdienste verrichten, ehe ihn der Meister für würdig fand, in das eigentliche Geheimnis der Zubereitung eingeweiht zu werden. Heute gibt's doch so etwas nicht mehr. Die Farben werden aus

der Fabrik bezogen — und sind dem baldigen Untergange geweiht. —

Es war eine echte Damaszener Klinge, die ich in meiner Hand hielt!

Ich brauchte mir nicht erst vom Schiffsarzt verdünnte Schwefelsäure geben zu lassen, am oberen Teile war schon an verschiedenen Stellen geätzt worden, und je tiefer, desto schöner und schärfer trat die Damastmusterung hervor.

Man muss wohl ein Altertumskenner sein oder so ein alter Fechtbruder wie ich, der auch sonst etwas von Klingen versteht, sehr viel sogar, der auf Klingen förmlich studiert hat, um meine Aufregung begreifen zu können.

»Mensch, wo haben Sie diesen Damaszener her?!«

»Mi sabe.«

»Er stammt wirklich von dem spanischen Nationalhelden her, von dem Cid Campeador?!«

Zwischen Hutkrempe und Mantelschlitz wurden zwei der Krallenfinger etwas in die Höhe gereckt.

»Bei meiner Schutzpatronin, der heiligen Veronika von Camonna — ich schwöre es. Nur der ehemalige Knauf ist durch einen Holzgriff ersetzt worden, der von dem Drachenbaum bei Oglata stammt, der Madonna geheiligt, wie die ganze Wurzel, die jetzt die Scheide bildet.«

»Wie ist die Klinge in Ihren Besitz gekommen?«

»Mi sabe.«

»Mann, sprechen Sie doch!«

»Rechtmäßig. Schon mein Urgroßvater war rechtmäßiger Besitzer dieses Schwertes, mein Vater gab es mir auf seinem Sterbebette, und ich habe es nie aus meinen Händen gelassen.«

Da stellte die Patronin eine Frage, an die ich jetzt nicht gleich gedacht hätte.

»Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, dass Sie diesen Stockdegen ständig unter Ihrem Mantel getragen hätten?«

»Si si, Señora.«

»Schon damals, als wir Sie zuerst kennen lernten? Während Sie bei uns an Bord waren? Auf der ganzen Fahrt von Kapstadt bis hierher?«

»Si si, Señora. Dieses Schwert ist noch nie von meiner Seite gekommen.«

Jetzt erst begriff ich, was hier eigentlich vorlag, und ich blickte den rätselhaften Mann an. Was mochte der sonst außer Zwiebeln noch alles unter dem schmierigen Mantel haben, den er nie ablegte, nie auch nur auseinander schlug? Jedenfalls ein ganz, ganz merkwürdiger Kauz!

»Also wenn Sie uns auf einem Wasserwege von der Küste aus nicht nach jenem Eldoradogebirge führen können, dann gehört dieses Schwert der Patronin?«, fragte ich dann wieder.

»No, Señor Capitano!«, erklang es zurück.

»Nein?! Nicht?! Ja was denn sonst?!«

»Nur Ihnen biete ich diese Garantie. Nur Ihnen würde dieses Schwert dann gehören.«

»Nur mir?!«

»Si si, Señor.«

Im Augenblick dachte ich nur daran, hoffte ich, dass der Spanier sein Versprechen nicht einlösen könne, damit diese Klinge mir zufiele, so verbrannt war ich darauf.

Die anderen aber dachten an etwas anderes.

»Señor«, begann da die Patronin, »nun sagen Sie doch endlich einmal, weshalb Sie sich eigentlich ständig so um uns bemühen!«

»Mi sabe!«, wurde ausgewichen.

»Sie sagten einst, Sie wollten uns Schätze zuweisen, weil Sie von uns wüssten, dass wir davon den besten Gebrauch machen würden.«

»Si si, Señora.«

»Wenn Sie uns aber diesen geheimen Wasserweg zeigen, so handelt es sich dabei doch um eine ganz andere Gefälligkeit.«

»Si si, Señora.«

»Haben Sie uns hier erwartet?«

»Si si, Señora.«

»Woher wussten Sie, dass wir wieder hierher kommen würden?«

»Mi sabe.«

»Señor«, nahm jetzt Kapitän Martin das Wort, »kennen Sie vielleicht eine Schwester Anna?«

Hoch horchten wir alle auf!

Wie kam Kapitän Martin plötzlich auf diese Idee?!

Ja und doch, wenn man sich alles recht überlegte... Gespannt blickten wir alle in das ausgemergelte Gesicht des Spaniers, so weit etwas davon außer der schiefen Nase und den funkelnden Augen zu sehen war.

»Mi sabe!«, erklang es wiederum.

»Sie kennen die Schwester Anna?! Sie stehen wohl gar in ihren Diensten, sind von ihr zu uns geschickt, um uns ab und zu behilflich zu sein?«

Der Spanier machte eine Bewegung wie eine Katze, die aus der warmen Stube in den Schnee tritt.

»Wollen Sie von mir geführt werden oder nicht.«

Er gab's also keine Auskunft darüber, und da war bei diesem Manne auch jede weitere Frage zwecklos.

Ja, wir wollten uns seiner Führung nochmals anvertrauen

*

Wenn man eine sehr große, genaue Karte von Brasilien betrachtet, so sieht man nördlich von der Mündung des Amazonenstromes auf einer Küstenlänge von 60 geografischen Meilen, bis Kap Orange, also so weit Brasilien nach Norden reicht, einige Flüsschen eingetragen.

Ist es ein gewissenhafter Geograf gewesen, der die Karte entworfen hat, so sind diese Flüsse nur punktiert angegeben. Also man kennt ihren Lauf nicht, eigentlich vermutet man sie überhaupt nur.

Bloß der südlichste, also der erste von der Amazonasmündung an, ist richtig eingezeichnet, aber auch nur in der letzten Strecke, vorher verliert er sich ebenfalls in Punkten. Dieser Fluss führt auch einmal einen Namen: Araguar!

Dieser Fluss ist daher etwas näher bekannt, weil an seiner Mündung einmal eine Ansiedlung gelegen hat, Destacamto. Aber auch nur bis etwa zum Jahre 1870, dann wurde sie aus irgend einem Grunde verlassen. Wahrscheinlich einfach deshalb weil die Kolonisten nicht die weltverlassenen Einsiedler spielen wollten. Auf den heutigen Karten ist dieser Flecken gar nicht mehr angegeben.

Also auf mehr als 60 Meilen geografische Länge eine vollständig unbekannte Küste, und was dahinter liegt, bis nach Peru, also durch den ganzen Erdteil hindurch, das ist noch viel unbekannter!

Seit fünf Stunden dampften wir diese Küste entlang, nach Norden hinauf. Nichts als Mangrovenwald.

Der Mangrovebaum wächst in den Tropen überall da, wo Süßwasser sich mit salzigem Salzwasser mischt. Ohne dieses Brackwasser kann er nicht gedeihen. Dann aber duldet er keine anderen Bäume, umklammert und erstickt sie mit seinen Luftwurzeln.

Dabei braucht er so massenhaft nicht nur an Flussmündungen vorzukommen. Hier machte sich noch immer die Strömung des Amazonas bemerkbar, sie wird von der steigenden Meeresflut bis nach dem Golf von Mexiko hinaufgedrückt. Daher auch an der Küste allüberall der Mangrovewald.

Auf der anderen Seite, nach dem freien Meere hin, sahen wir ab und zu ein Schiff höchstens als kleinen Punkt.

Denn welches Schiff sollte es wagen, dieses noch unausgepeilte, also gänzlich unbekannte Küstengewässer aufzusuchen? Ebenso wenig kommen Fischerfahrzeuge hierher. Die halten sich doch lieber in der Nähe volkreicher Städte auf, wenigstens in diesen heißen Breiten, wo sie für ihren so leicht verderblichen Fang schnellen Absatz haben. In den tropischen Gewässern ist man ja auch gar nicht auf Fischbänke angewiesen wie im Norden.

Auch wir hätten nicht so leicht gewagt, uns ohne Grund so weit der Küste zu nähern. Mindestens wären wir, hätten wir eine Forschungsexpedition beabsichtigt, nur Viertelkraft gefahren und hätten ständig die Lotleine ausgeworfen. Aber wir trauten unserem Piloten, der die »Argos« immer volle Kraft gehen ließ.

»Haben Sie diese Küste schon wiederholt befahren, dass Sie das Wasser so genau kennen?«

»Mi sabe.«

Es hatte keinen Zweck den rätselhaften Mann zu fragen. Er hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen wie in seinen schmierigen Mantel, und wenn die glühende Tropensonne auch alles Fett ausschmorte.

So waren also fünf Stunden vergangen, seitdem wir Para wieder verlassen hatten, auch die Mündung des Araguary hatten wir schon hinter uns, was wir nach Breitenlotberechnungen, die wir ständig machten, ja bestimmen konnten.

Da streckte unser Prospektador, der die Kommando-Brücke nicht verließ, die Hand nach Westen aus.

»Dort!«

»Dort ist die Einfahrt?«

»Si si, Señor Capitano. Noch volle Kraft, dann halbe, dann viertel, wie ich angeben werde — bitte.«

Es geschah, wir schwenkten direkt gegen die Küste ab, fuhren zuletzt mit viertel Kraft in eine kleine Bucht ein, die man noch in einem Kilometer Entfernung vom Ufer überhaupt gar nicht bemerkt hätte. So täuschte der eintönige Mangrovenwald.

»Stopp!«

Die Schraube machte einige Schläge rückwärts, und die »Argos« lag regungslos in der Bucht, war aber dabei, immer von dem Spanier dirigiert, schon um einen waldigen Vorsprung herumgekommen, sodass sie vom Meer aus gar nicht mehr zu erblicken war.

»Machen Sie eine geografische Bestimmung.«

Wir taten es.

»Werden Sie diese Bucht wiederfinden können?«

»Sicher.«

»Die Einfahrt ist von allen Seiten her dieselbe, das Wasser ist ringsum frei von Klippen und Untiefen. Nun dort hinein. Mit voller Kraft.«

Er bezeichnete die Richtung, die wir nehmen sollten, aber Kapitän Martin zögerte, den Signalapparat zu drehen, um vollen Dampf geben zu lassen, und das mit Recht.

Die Bucht war ringsum mit Mangrovenbäumen eingesäumt, die mit ihren Luftwurzeln wie auf Spinnenbeinen im Wasser standen. Nur dort, wohin der Spanier deutete, sah es anders aus, dort war ein schmaler Streifen Schilfregion, Schwertgras, drei Meter hoch, das eine sumpfige Flussmündung verriet.

»Dort hinein?«

»Si si, Señor Capitano.«

»Mit voller Kraft?«

»Mit voller Kraft.«

»Dort ist Sumpf!«

»Eben deshalb muss volle Kraft gefahren werden, um durch die Sumpfbarriere zu kommen. Denn als eine Barriere kann die Strecke bezeichnet werden, sie ist kaum hundert Meter breit, dahinter ist wieder freies, tiefes Wasser.«

»Trotzdem — Mann, wissen Sie, was Sie von uns verlangen?!«

In der Tat, das war hier nichts anderes als so eine Einfahrt in das brandende Loch eines Felsens hinein, vielleicht noch viel schlimmer. Dort, wie zwischen den steinernen Schwestern oder am Seelandsfelsen, konnte man nur zerschellen, fand augenblicklich seinen Tod; hier aber rannte man rettungslos im Schlamm fest und konnte langsam verschmachten.

»Mi sabe!«, lautete die Antwort auf des Kapitäns Ausruf wie immer.

»Sind Sie hier schon durchgefahren?«

»No, Señor.«

»Was, nein?!«

»No, Señor Capitano.«

»Wie können Sie uns denn da zu solch einem Wagnis veranlassen wollen, wie können Sie überhaupt wissen, dass der Sumpf nur...«

»Ich garantiere mit meinem Einsatze, mit dem Schwert des Cid, dass wir ohne jede Gefahr hindurchkommen.«

»Ach zum Teufel mit Ihrer Stockplembe! Wenn wir hier in den Schlamm rutschen...«

»Los Kapitän!«, ließ sich da die Patronin vernehmen, deren Nüstern sich wieder einmal vor Aufregung blähten. »Ich für mein Teil traue diesem Herrn. Es sei denn, Sie halten es für nötig, erst alle Mann um ihr Urteil zu fragen, ob sie das Wagnis unternehmen wollen oder nicht.«

»Volldampf voraus!«

Der Signalapparat hatte es geklingelt, und wir schossen los.

»Achtung vor dem Schwertgras, weg von der Bordwand!«, rief der Spanier noch warnend, und wir befanden uns mitten drin in dem grüngelben Graswald.

Unser Schiff schnitt glatt hindurch. Das heißt, der scharfe Bug schob das Schilf einfach zur Seite. Infolgedessen, da das Heck sehr breit war, konnte auch die Schraube nichts niedermähen. Immerhin war es merkwürdig, wie sich die Schilfwand hinter uns sofort wieder lückenlos schloss.

Übrigens war da nicht viel zu beobachten, es ging viel zu schnell. Unser Schiff machte doch in der Stunde 12 Knoten, das sind drei geografische Meilen, da sauste in solcher Nähe das Schilf nur so an uns vorüber. Von der Gefährlichkeit dieses Schwertgrases habe ich ja schon gesprochen. Es trägt seinen Namen mit Recht. Man kann sich daran lebensgefährliche Wunden holen, sich die Pulsadern und die Kehle durchschneiden. Unser Tauwerk freilich konnte es nicht zerschneiden, so weit geht die Sache denn doch nicht.

Sonst war nur noch zu konstatieren, dass wir keinen Widerstand am Kiel bemerkten, obwohl wir sicher durch Schlamm rutschten, spritzte er doch auch am Bug hoch auf, und nur zwei Minuten, dann hatten wir die Schilfregion hinter uns, vor uns lag freies Flusswasser mit ganz anderem Baumbestand an den Ufern, kein Mangrovewald mehr.

»Stopp! Rückwärts! Stopp!«

Wir lagen still.

»Es ist nur, dass Sie sich die hintere Seite der Einfahrt einmal in Ruhe ansehen. Sonst können wir von hier aus ununterbrochen mit voller Kraft bis nachdem Eldoradogebirge fahren.«

Ja, wir blickten uns um — und blickten uns einander an.

Muss man gerade Seemann sein, um die kolossale Wichtigkeit des Geheimnisses begreifen zu können, in welches uns dieser rätselhafte Spanier hier eingeweiht hatte?

So gab es also noch einen anderen Wasserweg als den Amazonenstrom, um direkt vom Meere aus in das ungeheure Gebiet des nördlichen Brasiliens einzudringen! Denn einmal drin in dem Wasserlabyrinth, standen einem ja auch alle anderen Nebenflüsse und Bifurkationen offen, man konnte bis nach Bolivia, Peru, Ecuador und Columbien hinein, ohne den Amazonenstrom benutzen zu müssen, ihn höchstens, wenn man nach seiner südlichen Seite wollte, schnell einmal kreuzend, und die Regierung von Brasilien brauchte gar nicht zu wissen, dass sich ein fremdes Schiff in ihrem Reiche befand, man brauchte ja Para gar nicht zu passieren!

Versteht der geneigte Leser, worum es sich hierbei handelt? Von politischen und kriegerischen Vorgängen ganz abgesehen — wir wollen nur einmal an den einträglichen Schmuggelhandel denken. Wer dieses Geheimnis kannte, der drang einfach mit einem reichbeladenen Schiffe ein, ohne in Para den schweren Zoll bezahlt zu haben — und wie versteuert Brasilien den Import! — die Ware wird man sofort los, da finden sich Zwischenhändler massenhaft, denn ist die Ware einmal drin im Lande, dann ist nichts mehr zu machen, die wird gleich umgeladen, und der Schmuggler kann an einer einzigen solchen Fahrt Millionen verdient haben!

»Wer diese Einfahrt kennt, dem gehört der Amazonenstrom und seine Gebiete, der ist der Herr von ganz Brasilien und damit von ganz Südamerika!«, setzte der Spanier noch hinzu, und es klang geradezu feierlich aus seinem schiefen Munde.

Der dachte also schon an kriegerische Unternehmungen! Daran aber dachten wir nicht, uns mit weltumstürzenden Kriegen zu befassen, wir wollten nur ruhig die planlosen Seegaukler bleiben, dabei fühlten wir uns am allerwohlsten.

Trotzdem — auch Kapitän Martin blickte sich ganz ehrfürchtig um, nahm sogar die Hand aus der Hosentasche und die Mütze vom Kopfe, wenn auch nur, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocknen.

»Sonst kennt diese Einfahrt niemand?«

»Kein einziger Mensch. Nur die Besatzung dieses Schiffes.«

»Wie sind denn aber nun Sie zu diesem Geheimnis gekommen?«

»Mi sabe.«

Also sogar Kapitän Martin konnte solche Fragen stellen, musste sich aber auch diese stereotype Antwort gefallen lassen.

Trotzdem war der Prospektador nicht gerade einsilbig, er sprach manchmal von selbst, gab Erklärungen, wie er jetzt wieder bewies.

»Und gesetzt auch den Fall«, fuhr er also unaufgefordert fort, »ein Schiff hätte beobachtet, wie wir in die Bucht steuerten, so würde doch kein anderes Schiff so leicht wagen, in das Schwertschilf hineinzufahren.«

Da hatte er allerdings recht, brauchte keine näheren Erklärungen zu geben. Ein uns nachfolgendes Schiff würde nur staunen, wo wir plötzlich geblieben waren. Eben wie durch Zauberei verschwunden. Denn dass wir mit unserem doch ansehnlichen Schiffe in die sumpfige Schilfregion gefahren wären, um das glauben zu können, dazu gehörte sehr, sehr viel Phantasie. Ein anderes Schiff hätte diesen Versuch höchstens mit halber Kraft gemacht — und wäre, wie gesagt, rettungslos in dem Sumpfe stecken geblieben. Und noch weniger ließ sich dieser Sumpf mit kleineren Booten untersuchen, schon wegen des furchtbaren Schwertgrases nicht.

»Und wenn Ihr Geheimnis dort einmal bekannt werden sollte«, setzte der Spanier noch hinzu, »so können Sie es doch immer noch schützen, die Einfahrt eines anderen Schiffes hindern.«

»Auf welche Weise?«

»Einfach, indem Sie hier einige große Küstengeschütze aufstellen. Die Bastionen sind dazu schon vorhanden, die Natur selbst hat sie geliefert.«

In der Tat! Die Ufer waren hier ziemlich hoch, aber man brauchte nur ein Stück in die Wanten hinauf zu klettern, um zu erkennen, dass es nur Wälle waren, zusammenhängende Hügel, welche die Ufer begleiteten, da konnte man mit Leichtigkeit Bastionen und Batterien schaffen.

Auch Kapitän Martin war die Wante hinauf geklettert, um über die nächsten Bäume wegblicken zu können.

»So, hm, ja!«, brummte er dann, wie er wieder an Deck war und die Beine schlenkerte. »Well, und einen zweiten solchen Wassereingang von der Küste aus gibt es nicht?«

»No, Señor.«

»Nicht hier in der Nähe, meinen Sie.«

»An der ganzen brasilianischen Küste nicht, so weit nicht Flussmündungen in Betracht kommen, die aber alle bekannt sind.«

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Mi sabe.«

»Sie sind noch niemals hier gewesen?«

»O doch, häufig.«

»Sie sagten doch vorhin, Sie wären noch niemals hier eingefahren!«

»Stimmt. Von dem Meere aus noch nicht in die Bucht hinein.«

»Ah so! Sie sind vom Binnenlande aus hierher gekommen?«

»Si si, Señor Capitano. Häufig schon als Kind unter der Führung meines Vaters.«

»Aha! Sie sind wohl hier geboren?«

»Nicht geboren, aber ganz wie zu Hause. Ich kenne das ganze Wassergebiet des Amazonenstromes wie die Innenseite meines Mantels.«

»Aha, so so, hm, well.«

Kapitän Martin begann sich für diese Sache ganz ausnahmsweise zu interessieren. Denn sonst interessierte sich der alte Seebär für gar nichts. So mächtig wie jetzt hatte er auch noch nie mit den Beinen geschlenkert.

»Well, die Innenseite Ihres Mantels hat wohl noch niemand gesehen, eh?«

Über das mumienhafte Gesicht, so weit etwas davon zu sehen war, huschte ein verständnisvolles Lächeln.

»No, Señor, und ich weiß recht wohl, was Señor Capitano damit meinen.«

»Nur Sie besitzen die Kenntnis aller dieser Wasserstraßen.«

»Si si, Señor.«

»Hatten Sie nicht auch Mitwisser?«

»Einst ja.«

»Nicht mehr?«

»No, Señor.«

»Alle tot?«

»Mi sabe.«

Wieder blickte der Kapitän, der seine ganz besonderen Gedanken haben musste, nach den erhöhten Ufern.

»Well — und diese Batterien wären auch nicht zu Lande zu stürmen?«

»Unmöglich.«

»Weshalb?«

»Ringsum meilenweit alles undurchdringlicher Sumpf.«

»Aha! Well, und wie lange braucht man von hier bis zum Eldoradogebirge?«

»Vierundzwanzig Stunden.«

Überrascht fuhr der Kapitän, der noch immer nach den Ufern geblickt hatte, gegen den Sprecher herum.

»Wie lange?!«

»Vierundzwanzig Stunden.«

»Mit was denn für einem Fahrzeuge?«

»Mit diesem Schiffe hier, das doch 12 Knoten in der Stunde macht.«

»Wie ist denn das möglich, dass wir denselben Weg, zu dem wir damals und auch beim zweiten Male ohne Ihre Führung eine ganze Woche gebraucht haben, jetzt in vierundzwanzig Stunden machen sollen?!«

»Einfach weil wir damals einen kolossalen Umweg gemacht haben, auch nur bei Tage gefahren sind und das nur mit halber und oft sogar nur mit viertel Kraft. Von hier aus sind wir aber doch nur 70 Meilen von Eldorado entfernt.«

Das stimmte. Wir hatten die Karte im Kopf und sie lag auch vor uns.

»Well, das ist Luftlinie. Von Para aus bis nach jener Gegend sind es auch nur 15 Meilen mehr, also 85 geografische Meilen.«

»Ja, aber jetzt fahren wir wirklich Luftlinie.«

»Was, Luftlinie?!«

»Dieser Fluss oder diese Bifurkation — wenn es nicht ein künstlicher Kanal ist — läuft schnurgerade bis an unser Ziel, und hier ist keine solche Vorsicht nötig, wie ich sie bei jenem Wege beobachten musste, weil auch ich mich verirren konnte, wegen der unaufhörlicher Zickzacklinien und Bogen. Hier aber können wir auch bei Nacht dampfen, hätten nicht einmal einen Scheinwerfer nötig, und immer mit voller Kraft. Dreimal 24 ist 72. Es sind aber nur 70 Meilen. Wenn wir nicht innerhalb von 24 Stunden an unserer alten Stelle liegen, vorausgesetzt, dass wir sonst durch nichts aufgehalten werden, will ich mein Schwert verspielt haben!«

Starr blickte Kapitän Martin den Sprecher an.

»Wie lange waren wir schon fort, als Sie damals zurückkehrten?«, fragte er dann plötzlich, doch scheinbar ganz außer dem Zusammenhang.

»Zwei Tage.«

»Waren Sie nochmals auf dem Plateau?«

»Ja.«

»Was machten die Indianer?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie müssen sie doch gesehen haben!«

»Nur einige, die um ein Feuer saßen und Fleisch brieten.«

»Wie lange waren Sie oben?«

»Vielleicht zehn Minuten.«

»Dann traten Sie gleich den Rückweg an?«

»Ja.«

»Haben Sie den Mister — Mister... na, wie hieß der Engländer gleich?«

»Harry Sandow.«

»Richtig. Haben Sie den gesprochen?«

»Ja.«

»Was haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ich fragte ihn, ob er wisse, wohin die »Argos« gefahren sei.«

»Und was sagte er?«

»Er wusste es nicht. Nicht einmal, ob Sie den Amazonenstrom hinab oder hinauffahren wollten. Dann ging ich sofort wieder.«

»Hat Ihnen dieser Harry Sandow über seine sonstigen Pläne etwas gesagt?«

»Nein. Kein Wort. Ich ging sofort wieder.«

»Kennen Sie den Weg, den Sandow von Norden her zu dem Plateau hinauf genommen hat?«

»Nein, der ist mir unbekannt.«

Dies alles hatten wir bereits den Spanier befragt, er hatte dieselbe Auskunft gegeben.

Also dies alles hätte auch Kapitän Martin wissen können — wenn er zugehört hatte.

Er hatte es nicht getan, nie Interesse für diese ganze Sache gezeigt.

Ganz merkwürdig war es, was er jetzt plötzlich für ein großes Interesse daran hatte! Der musste sich überhaupt mit ganz besonderen Gedanken tragen.

»Dann vorwärts, Volldampf voraus!«, rief er jetzt. »In 24 Stunden will ich an unserem alten Landungsplatze liegen, oder ich nehme Sie beim Wort, Sie haben Ihr Schwert verspielt!«

*

Ich habe über unsere Fahrt nichts weiter zu sagen. Man musste wirklich an einen künstlichen Kanal glauben, so schnurgerade lief der Wasserweg, den wir benutzten, von Osten nach Westen, überall breit genug, dass ein noch bedeutend größeres Schiff bequem wenden konnte.

Und warum sollte es denn nicht ein künstlicher, von Menschen geschaffener Kanal sein?

Auch in Brasilien hat einmal ebenso wie in Peru und Mexiko eine hohe Kultur geblüht. Das beweisen die vielen Ruinen mit kolossalen Gebäuden, die man auch in Brasilien überall findet — wenn man sie zu finden versteht! Denn bei dieser fabelhaften Vegetation überwuchert doch alles schnell. Solch ein Urwald, den man uralt nennt, braucht hier nur hundert Jahre zur vollkommenen Entwicklung.

Dass es sich hier um einen künstlichen Kanal handelte, auf diesen Gedanken konnte man auch durch die Wälle kommen, die ihn ständig auf beiden Seiten begleiteten. Das waren ganz sicher aufgeführte Dämme, um diese Wasserstraße vor Überschwemmungen zu sichern, wenn sie auch von zahllosen anderen Flüssen und Bifurkationen gekreuzt wurden.

Es musste interessant sein, das Innere dieser Dämme, auf denen jetzt riesige Urwaldbäume standen, zu untersuchen, doch hielten wir uns jetzt nicht damit auf.

Früh um elf hatten wir Para verlassen, um 4 Uhr waren wir in die Bucht gefahren und durch den Sumpf gebrochen, und noch nicht einmal 23 Stunden später legten wir wieder an unserem alten Landungsplatze fest.

»Habe ich mein Versprechen gelöst?«, fragte der Spanier sofort, als die Taue um Bäume geschlungen waren.

»Sie haben es.«

»Dann bitte ich mein Schwert zurück.«

Ich ging, um es zu holen. Fast wünschte ich, er hätte sein Versprechen nicht gelöst, um diese wunderbare Damaszenerklinge behalten zu können.

»Bitte hier. Sie bleiben doch bei uns?«

»Nein, ich verlasse Sie jetzt sofort wieder.«

Er nahm den schotenförmigen Degenstock, betrachtete ihn, wog ihn in der Krallenhand, und dann richtete er seine schiefe Nase wieder auf mich.

»Wissen Sie, wann der Cid Campeador gelebt hat?«

»Im elften Jahrhundert.«

»Ja. Halten Sie es für möglich, dass schon damals über dieses Schwert, dem man nach dem Tode seines ersten Besitzers den Namen Campeadore gab, die Sage ging, mit diesem Schwert würde Amerika erobert werden?«

»Damals hatte man ja noch gar keine Ahnung von Amerika!«

»Von Amerika allerdings nicht, wohl aber ahnte man, dass im fernen Westen noch ein anderer Erdteil läge.«

»Das mag sein!«, gab ich zu. »Kolumbus hatte eigentlich nur eine Sage aufgegriffen, die, wie mir wohlbekannt, tief im spanischen Volke wurzelt. Die Spanier hatten sie von den Mauren, also von Arabern, diese von den Ägyptern, welche von einem Erdteil Atlantis fabelten, im fernen Westen liegend, zum Teile vom Meere verschlungen.«

»So ist es. Sie sind sehr gut unterrichtet. Und die Sage ist in Erfüllung gegangen. Mit diesem Schwert hat Pizarro Peru erobert.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Und weiter geht die Sage, dass mit diesem Schwert einst ganz Amerika unter einem Szepter vereinigt wird — dass der rechtmäßige Besitzer dieses Schwertes den Titel eines Kaisers von ganz Amerika führen wird.«

»So so«, lächelte ich, »wer hat denn das prophezeit?«, »Ein Seher, dessen Prophezeiungen noch immer in Erfüllung gegangen sind — Nostradamus.«

»Von diesem Astrologen, der im 16. Jahrhundert lebte und in den Ruinen von Salon hauste, habe ich schon genug gehört, er gab seine Prophezeiungen in gereimten Versen heraus, und dass er den Tod des französischen Königs Heinrichs II. vorhergesagt hat, auch die Art und Weise, nämlich im friedlichen Turnier durch einen Lanzensplitter, den er ins Auge bekam, das ist historisch nachgewiesen. Und wann soll denn nun dieses Ereignis mit dem Kaiserreich Amerika eintreten?«

»Jetzt ist die Zeit fällig geworden!«, erklang es feierlich zwischen Mantelkragen und Hutkrempe.

»Nun«, stichelte ich noch heiterer, »da Sie der rechtmäßige Besitzer dieses Schwertes sind, so gratuliere ich Ihnen herzlichst als dem Kaiser des vereinigten Nord- und Südamerika.«

»Ja, ich bin sein rechtmäßiger Besitzer. Aber kann man nicht auf alles verzichten? Kann man nicht alles verschenken? Nehmen Sie!«

Und er hielt mir die lange Schote hin. Fast mit Gier griff ich danach.

»Wie, Sie wollen mir diese Damaszenerklinge schenken?«, rief ich, eben nur an diese wunderbare Klinge denkend, bereit, jede Summe, die ich irgendwie auftreiben konnte, dafür zu zahlen, mich mit jedem Gegengeschenk zu revanchieren.

Der Spanier ließ das andere Ende der Schote los, wohl zum ersten Male sah man seinen ganzen Arm, den er emporhob.

»Heil dem König von Brasilien! Heil dem Kaiser von Amerika!«

So rief er mit schallender Stimme und hatte sich im nächsten Augenblick über die Bordwand geschwungen, war in dem dichten Busch verschwunden.

*

74. Kapitel

Der Untergang der »Argos«

Originalseiten 1852 — 1862

Ganz bestürzt stand ich da. Zunächst nur ganz bestürzt über dieses Geschenk, dessen Kostbarkeit eben gerade ich zu würdigen wusste.

»Señor Estrella«, rief ich dann, »kommen Sie noch mal her, wie komme ich denn dazu... ihm nach, Jungens, bringt ihn zurück!«

Fast die ganze Mannschaft hatte uns umstanden, unser Gespräch mit angehört, einige Matrosen sprangen denn auch an Land und setzten ihm nach, an der Spitze Juba Riata.

Schon nach wenigen Minuten kehrten sie resultatlos zurück.

»Seine Spur verlor sich im Wasser. Er muss dort ein Boot versteckt gehalten haben. Den erwischen wir nicht mehr, wenn er nicht will, der weiß in diesem Wasserlabyrinth zu gut Bescheid. Ja, was schwatzte der eigentlich da? Sie, Waffenmeister, sollen durch diese Schwertschote König von Brasilien und Kaiser von Amerika werden?«

Ich empfand es als ein wahres Glück, dass dieser Sache gar keine weitere Bedeutung beigemessen wurde. Denn ich genierte mich ganz mächtig. Und wer mich damit aufgezogen hätte, mit dem wäre ich ja auch nicht schlecht längs gefahren, da hätte auch der Kapitän und die Patronin etwas von mir zu hören bekommen. Verhohnepipeln lasse ich mich nicht. Aber niemand dachte daran. Der verrückte Kerl hatte eben etwas geschwatzt, was er nicht verantworten konnte.

»Vorwärts, die erste und dritte Wache macht sich klar zum Marsche nach dem Plateau. Es wird gleich alles mitgenommen, was wir oben zum Sport und Spiel und sonst gebrauchen!«

So rief ich, und es kam Leben ins Schiff, alles rannte, um sich mit den nötigen Utensilien zu beladen.

»Nicht wahr, die erste und dritte Wache würde heute frei sein?«, wandte ich mich erst noch an Kapitän Martin, bereit, mein Kommando zu »belegen«, eine Änderung eintreten zu lassen.

»Ja, lassen wir heute die zweite Wache an Bord!«, entgegnete der Kapitän. »Wenn sich nun die Indianer unterdessen dort oben eingerichtet haben und den Eingang besetzt halten, uns nicht auf das Plateau lassen wollen?«

Schon über diese Frage wunderte ich mich sehr. Denn Kapitän Martin hatte sich damals absolut nicht um dieses Plateau gekümmert und was wir darauf trieben. Für den existierte überhaupt nur sein Schiff, für dessen Sicherheit er verantwortlich war, nichts weiter.

»Na, dann jagen wir die Indianer einfach zum Teufel!«, lachte ich dann.

»Well, ich werde mitkommen.«

»Was, Sie wollen mit hinauf aufs Plateau kommen?«, staunte ich jetzt noch mehr.

»Ja, ich will mir die Geschichte doch einmal ansehen.«

Und Kapitän Martin ging, um sich für die Expedition etwas vorzubereiten. Ich musste dieses Wunder wohl glaubten.

Der Zug ordnete sich zum Durchmarsch durch den Tunnel, alle schwerbepackt, auch die kleinen Blaugelben, die gleich sämtlich mitkamen, mit Turngerätschaften aller Art, auch mit vielen Hanteln, einer ganz besonderen Art, von mir selbst erfunden, worüber ich später noch sprechen werde, auch Sattel und Zaumzeug wurden schon mitgenommen, ebenso aber hatte auch jeder, ob nun zwei Meter lang oder nur einen kurz, sein Gewehr über dem Rücken hängen und vorn die gefüllte Patronentasche, und die Avantgarde, aus den ausgesuchtesten Leuten bestehend, trug außer ihren eigenen Waffen nur noch die Keulen, die aber ebenso im Nahkampf als mörderliche Waffen zu benutzen waren.

Nur Juba Riata und Mister Tabak waren schon vorausgegangen. Denen hatte ich ja gar nichts zu sagen, und es war auch ganz gut, wenn gerade diese beiden die ersten Kundschafter spielten. Vorher hatte mir Peitschenmüller, der auch gleich die Landungsstelle untersucht, noch mitgeteilt, dass keine Spuren vorhanden seien, dieser Tunnelausgang wäre während unserer Abwesenheit, die ziemlich ein Jahr gedauert, von anderen Menschen benützt worden.

Der lange Zug setzte sich in Bewegung, ich an der Spitze, vorn auf der Brust wie noch manch anderer eine Lampe mit gutem Scheinwerfer, auf dem Rücken ein englisches Infanteriegewehr und in der Hand den Spazierstock, über den ich mich wie ein Kind freute und den ich an Land wohl auch niemals aus der Hand lassen würde, wobei ich unter Seeleuten auch gar keine Ausnahme machte.

Denn jeder Handelsmatrose, den man sich freilich niemals in Uniform vorstellen darf, sondern so gekleidet, wie sich jeder Mensch auf der Straße trägt, nur immer blau mit Trichterhosen, statt des Kragens meist ein weißes Halstuch, weicher oder noch lieber steifer Filzhut — jede andere Kostümierung existiert nur in der Phantasie derjenigen, die noch nie in einer Hafenstadt gewesen sind, oder die da glauben, die Uniformierung der Hamburger Paketfahrtgesellschaft und des Bremer Lloyd, der Kriegsmarine nachgeäfft, bezöge sich nun auch auf alle die hunderttausend Seeleute, welche die Handelsflotte bemannen, während die an Land doch gerade den Stadtmenschen markieren wollen und an Bord mehr Zigeunern als Arbeitern gleichen — also jeder echte Handelsmatrose, jeder echte »Jan Maat«, kauft sich, sobald er das Land betritt und Geld dazu hat, einen Regenschirm. Den er in der ersten Kneipe stehen lässt, worauf er sich einen andern kauft. Den er in der zweiten Kneipe stehen lässt. Worauf er sich einen dritten Regenschirm kauft. Und so immer weiter, so lange sein Geld reicht. Denn nach alter Seemannstradition gehört nun einmal zum Stadtmenschen der Regenschirm, und jetzt will er sein wie die »anderen Menschen«. Nur mit dem Kragen kann er sich durchaus nicht befreunden.

Den Regenschirm schafft er sich nur dann nicht an, wenn er schon mit einem Spazierstock kokettiert, in fernen Ländern erstanden. Besonders in Indien werden von den Eingeborenen Spazierstöcke hergestellt, von deren Kostbarkeit und Wunderlichkeit die europäischen Binnenländer gar keine Ahnung haben. Die Spazierstocksammlung welche König Edward VII. als Prinz von Wales in einer bei ihm chronischen Geldverlegenheit für dreimalhunderttausend Dollars an einen amerikanischen Rechtsanwalt verkaufte, an James Brown, derselbe, der alle alten Burgen und Schlösser an der Riviera aufkauft, also auch gewissermaßen Ruinen sammelt — diese Spazierstöcke sind auch zum größten Teil Matrosen abgeluchst worden. Denn diese seltenen Stöcke teilen natürlich das Los alles dessen, was der Matrose besitzt, sie werden so vertrödelt, den bettelnden Mädels geschenkt oder... versoffen.

Neben mir her kraxelte Kapitän Martin. Nicht aber als Kriegsmarineoffizier oder als solch ein Kapitän von der unter Regierungsaufsicht stehenden Aktienpaketfahrtgesellschaft, sondern als ein Kapitän der freien deutschen Handelsflotte, ohne Goldstreifen an den Ärmeln und goldumränderter Mütze, gekleidet wie ein Bankdirektor im Salon, nur dass die Hosen aus feinstem blauen Tuche unten fast noch die Fußspitzen verdeckten, den steifen Hut etwas ins Genick geschoben, den blauen Schößenrock natürlich ohne goldene Knöpfe, vorn auf der weißen Weste die für jeden Kapitän unvermeidliche goldene Uhrkette, an der man einen Ochsen spazieren führen kann, dann natürlich die Hände bis an die Ellbogen in den Hosentaschen vergraben, und wenn er unter den Arm keinen Regenschirm geklemmt hatte, so nur deshalb nicht, weil er seinen letzten in Para hatte stehen lassen.

Was die anderen anbetrifft, die ganze Mannschaft, so waren wir alle, ich nicht ausgenommen, nur mit Hemd und Hose bekleidet, und dennoch alle verschieden, er trug eine weiße Hose und rotes Hemd, jener eine blaue Leinwandhose und ein buntkariertes Hemd, wie das Zeug eben in der Kleiderkiste gerade aufgeschichtet lag, dazu meist die so beliebte und praktische Schärpe — praktisch, weil sie als Gürtel und zugleich als Leibbinde dient, vor Baucherkältung und daher in den Tropen vor Dysenterie schützt — an den Füßen selbstgefertigte Segeltuchschuhe mit starken Ledersohlen, und als Kopfbedeckung nun gar die verschiedensten Formen, von der Igelmütze an bis zum Panama mit ungeheurer Krempe, und unseren Napoleon, den ersten Bootsmann, konnte ich mir überhaupt ohne seine fuchsrote Pelzkappe gar nicht vorstellen.

So gingen wir an Bord, so gingen wir an Land ins feinste Hotel. In den Tropen! Die Kleidung passte sich eben immer den Breitengraden, dem Klima an. Aber immer jeder ganz nach seinem eigenen Geschmack. Nur wenn die See zu sehr überdammte oder es vom Himmel goss, wurden wir an Deck alle einander gleich — Ölzeug und Südwester — dann glich auch die Patronin uns ganz, während sie sonst an zigeunerhafter Tracht uns zu überbieten suchte, wenn man da auch nicht etwa an Maskenkostüme denken darf.

Seezigeuner! Anders lässt sich der Name »Jan Maat«, auf den der freie Handelsmatrose so stolz ist, gar nicht übersetzen.

Schließlich wolle der geneigte Leser, wenn er im Geiste den Zug an sich vorbei marschieren lässt, noch daran denken, dass wir alle, wie auch das Hemd auf der Brust weit offen war, einfach zurückgeschlagen, gewohnheitsmäßig auch die Hemdsärmel hoch hinauf gekrempelt hatten, ich als deutscher Kauffahrteioffizier nicht etwa ausgeschlossen und da waren samt und sonders Arme zu sehen, deren sich auch der farnesische Herkules nicht geschämt hätte, und schon die Muskulatur der kleinsten unserer Blaugelben, der Kinder, jetzt sechsjährig, hätten wir als eine Sehenswürdigkeit für Geld zeigen können.

*

Also eine halbe Stunde nahm der Aufstieg in dem Tunnel bei mittlerer Marschgeschwindigkeit in Anspruch.

»Well«, begann Kapitän Martin einmal unterwegs, »könnte man oben nicht einen Ausgang anbringen, der gerade nach dem Schiffe geht?«

»O ja, das wird wohl gehen, der Felsen scheint ja überall ganz steil abzufallen.«

»Noch nicht daran gedacht?«

»Wir halben solch einen Aufzug noch nicht nötig gehabt. Was wir oben brauchten, konnte auf dem Rücken hinaufgeschafft werden, es war nur ein einmaliger tüchtiger Transport nötig, dann nicht wieder. So war es das vorige Mal, so wird es wohl auch dieses Mal wieder werden.«

Kapitän Martin wollte wohl noch etwas sagen, tat es aber nicht, öffnete nur noch einmal den Mund, um sich ein neues Stück Kautabak hineinzustecken.

Die halbe Stunde war fast vergangen, schon sahen wir vor uns einen helleren Schein schimmern, und noch hatten die unweit voraus schwärmenden Hunde nichts gemeldet.

Dafür ließ sich jetzt Juba Riatas Stentorstimme vernehmen.

»Alles klar!«

Wiederum mussten wir uns durch das dichte Gebüsch des ehemaligen Flussbetts arbeiten, um ins Freie zu gelungen, was schon zu denken gab.

Juba Riata berichtete uns. Von der Anwesenheit der Indianer war hier in der Nähe keine Spur mehr zu bemerken. Freilich konnten sie sich ja anderswo aufhalten, der Eskimo hatte mit einigen Hunden schon eine weitere Exkursion angetreten, auch Peitschenmüller wollte ihm gleich folgen, uns nur erst einmal empfangen — immerhin, es war doch schon sehr merkwürdig, gerade hier von den Indianern gar keine Spur zu finden.

Denn selbst wenn wir Harry Sandow nicht den geheimen Aus- und Eingang gezeigt hätten, so müssten die fährtenkundigen Indianer doch gleich unsere Spuren gefunden haben, und war es ihnen darum zu tun, hier ein weltverlassenes Dasein zu führen, so hätten sie diesen Schleichweg doch mindestens bewachen müssen.

»Well, die Hauptsache ist, dass wir wieder hier oben sind!«, sagte Kapitän Martin und sprach damit die Meinung aller aus.

Wenn ich nur gewusst hätte, was eigentlich Kapitän Martin vorhatte, dass er einmal sein Schiff verließ und uns hier herauf begleitete.

Wir ordneten uns zu einem neuen Zuge, um nach dem See zu marschieren, wo wir gleich wieder unsere Geräte aufbauen wollten. Zwar brach in zwei Stunden die Nacht an, dann aber ging bald der Vollmond auf, der sollte ausgenützt werden, morgen früh schon, wenn die erste Wache von der zweiten abgelöst wurde, musste schon alles in Ordnung sein.

Aber es sollte alles ganz, ganz anders kommen. Mit dem zweiten Betreten dieses Plateaus sollte für uns wieder eine neue Ära beginnen.

Noch hatten wir uns nicht in Bewegung gesetzt, als eine furchtbare Detonation die Luft erschütterte.

Entsetzt blickten wir uns an.

»Das war eine Explosion, die nur auf unserem Schiffe stattgefunden haben kann!«, erklang es dann.

Alles Gepäck fortgeworfen und wieder in den schrägen Schacht hinabgestürzt, ich voran, immer mehr geschusselt als gerannt, und so brauchte ich nur zehn Minuten, dann war ich als erster unten.

Mit einem einzigen Blicke überschaute ich alles. Unser Schiff lag plötzlich ganz tief, und immer tiefer sank es, gleich musste das Wasser in die offenstehenden Bullaugen strömen, und dann konnten den angefüllten Stahlkoloss auch die um die Bäume geschlungenen Taue nicht mehr hatten.

»Die Explosion muss in der Munitionskammer geschehen sein, eine Selbstentzündung!«, riefen die Leute der zurückgebliebenen Wache, als sie mich erblickten, und dann waren sie weiter fieberhaft beschäftigt, die Tiere von Bord zu bringen, welchen Anstrengungen sich besonders Lulu, mit seinen nunmehr vier Jahren immer noch ein Elefantenbaby, krampfhaft widersetzte, während Leo und die Marchesse, der Löwe und die Königstigerin, zwar schon an Land waren, dort aber ein ganz schauerliches Duett anstimmten.

Und da, als auch der Elefant glücklich an Land gebracht worden war, sackte das mächtige Schiff auch schon wie ein Stein weg, ließ nur die Masten bis zu den Marsrahen über Wasser ragen.

»Meine Orgel, meine Orgel!«, jammerte Meister Hämmerlein, neben mir mit gerungenen Händen auf den Knien liegend.


Illustration

»Meine Orgel, meine Orgel!«, jammerte Meister Hämmerlein, ne-
ben Stevenbrock mit gerungenen Händen auf den Knien liegend.


»Mein Schiff, mein Schiff, meine Argos!«, erklang es hinter mir aus der Patronin Munde noch jammernder. »Meine Argos ist weg!«

Da raffte ich mich auf aus der Erstarrung, die mich befallen, in der ich aber die zurückgebliebenen Männer und Weiber zählend überflogen hatte.

»Aber die Argonauten sind noch vorhanden«, sagte ich ganz ruhig, »wir werden uns eine neue Argos anschaffen.«

*

75. Kapitel

Der Fürst des Feuers

Originalseiten 1862 — 1878

Wir verlassen nun Georg Stevenbrocks persönliche Erzählung, überspringen dreiviertel Jahr und versetzen uns an die französische Nordküste des Mittelländischen Meeres, an die Riviera.

Zwischen Nizza und Monaco — um zwei bekannte Namen zu nennen — liegt Beaulieu.

Es ist im Grunde genommen ein ganz unbedeutendes Dorf, dessen wenige Bewohner sich nur vom Sardinenfang und dem Ertrag ihrer Oliven-, Orangen- und Zitronenhaine ernähren. Diese sind aber auch die herrlichsten von der ganzen Riviera, denn Beaulieu hat durch seine kulissenartig vorgeschobenen Berge in dieser Gegend die geschützteste Lage, besonders vor dem gefürchteten Mistral, einem eisigkalten Nordwestwind, der, von den Cevennen kommend, in bösen Jahren manchmal schon die ganze Vegetation an der sonnigen Riviera vernichtet hat.

Infolgedessen ist Beaulieu der schönste und gesündeste Winteraufenthalt für sonnenbedürftige Menschen. Infolgedessen gibt es dort außer einigen Dutzend Hütten ein ganzes Dutzend prächtiger Hotels und Pensionen, etwa 4200 eigentliche Einwohner und in der Wintersaison immer mehr als tausend ständige Badegäste.

Der weiteren Entwicklung des Ortes sind Schranken gesetzt, einmal eben durch die Grenzen des Windschutzes, und dann dominiert hier England und Amerika, wohl der größte Reichtum, aber auch die größte Bigotterie. Beaulieu ist berühmt und berüchtigt wegen seiner Frömmigkeit und Sündenlosigkeit. Die hier herrschende Partei duldet in dem Orte kein Vergnügen irgendwelcher Art. Durchreisende werden gar nicht aufgenommen. Bis vor wenigen Jahren ging es so weit, dass der Hotelgast, ehe er für einen fabelhaften Preis ein Zimmer bekam, sein Ehrenwort ablegen musste, eventuell auch eine große Bürgschaft hinterlegen musste, dass er nie nach dem nahen Monte Carlo fahren wolle, um dort zu spielen.

Das ist zwar aufgehoben worden, aber Beaulieu ist noch immer das gelobte Land der frommen Geldaristokratie. Zwar langweilen sich dort die guten Leute fast zu Tode, haben aber dafür die Ehre, innerhalb dieser paradiesischen Hölle in einem engelreinen Himmel zu wohnen. —

Es war eine Februarnacht oder eigentlich erst Abend. Erst um neun Uhr. Da fängt das Leben in den anderen Badeorten doch erst richtig an, von Nizza und Monte Carlo gar nicht zu sprechen. — Hier war alles schon wie ausgestorben alle Fenster waren finster. Bis um acht hatten die mehr als tausend Gäste, wenn nicht schon lauter Millionäre und Multimillionäre, so doch angehende, mit ihren Familien im Kasino oder im Restaurant ihres Hotels gesessen, aber nur bei Tee und Limonade, sie hatten sich gegenseitig die Bibel ausgelegt, hatten das Familienleben aller abwesenden Bekannten durchgehechelt, hatten beraten, wie man am besten Dollars und Pfunds und Franken machen könne, ohne mit der Staatsanwaltschaft in Konflikt zu kommen, und dann waren sie zu Bett gegangen.

Dasselbe galt von den eigentlichen Einwohnern des Dorfes, von den Hüttenbewohnern. Sie hatten es gut jetzt, diese ehemaligen Fischer. Brauchten nicht mehr dem nächtlichen Sardinenfange obzuliegen, konnten sich auf weichem Pfühl in den Decken vergraben. Aber ob sie glücklich waren? Die Schläfer träumten sich in die schönen Zeiten zurück, da sie in solch herrlichen Nächten vor ihren Hütten gesessen und auf der Mandoline geklimpert hatten. Das war nun vorbei. Sie hatten sich von der reichen Frömmigkeit knechten lassen. Na, dafür nahmen sie diese Badegäste ja auch tüchtig aus, hauten sie übers Ohr, wo und wie sie nur konnten, und wenn sie dann genug hatten, dann zogen sie in einen anderen Ort, wo es lustiger zuging.

Also es war um neun Uhr. Ganz genau Punkt neun. Gerade hielt mit ausnahmsweiser Pünktlichkeit nach dem Fahrplan der von Nizza kommende Lokalzug auf dem kleinen Bahnhofe. Niemand stieg ein. Wer hatte denn auch in der Nacht zu fahren? Von acht an hat man zu schlafen. Nur ein Passagier stieg aus, ein Köfferchen in der Hand. War es ein Fremder, der hier übernachten wollte? Es würde sich ihm schwerlich noch ein Hotel öffnen. Er musste bis Tagesanbruch im Wartesaal bleiben. Der Zug fuhr wieder davon.

»Feuer! Feuer!«, erklang da der Ruf.

Auch einen Nachtwächter gibt es in Beaulieu, und der hatte es zuerst gesehen. Wer hätte es auch sonst sehen sollen. Da freilich schlugen die Flammen schon lichterloh heraus, aus dem Dache des palastähnlichen Hotels Anglais. Die Glut musste schon den ganzen Nachmittag im Bodenraum geschwelt haben, anders war diese Urplötzlichkeit gar nicht zu erklären.

»Feuer! Feuer!«, schrien und gellten immer mehr Stimmen.

Hei, da waren sie gar schnell aus ihren Betten! Erst an die Fenster, dann etwas übergeworfen und hinausgeeilt nach dem Brandherde.

Na, endlich einmal eine Abwechslung in diesem langweiligen Leben, endlich einmal ein Vergnügen! Oder ist es etwa kein Vergnügen, zuzusehen, wie so ein vierstöckiger Palast brennt, sich die Angst der Eingeschlossenen auszumalen und zu kalkulieren, ob sie gerettet werden oder nicht?

Sie schienen alle gerettet zu werden. Es brannte ja nur der Dachstuhl. Sie drangen in Scharen aus dem Portal heraus, die meisten nur ganz notdürftig bekleidet, obgleich sie Zeit genug gehabt hatten, sich vollkommen anzuziehen. Dafür schleppten sie, was sie schleppen konnten.

»Die Feuerwehr, wo bleibt denn die Feuerwehr?!«

Die Dörfler bildeten eine wohlorganisierte Feuerwehr, hatten sie bilden müssen, auch eine ganz moderne Dampfspritze mit Motorbetrieb war vorhanden, aber sie funktionierte nicht.

»Dringt ein, schafft heraus, was noch herauszuschaffen ist!«

Feigheit durfte man diesen Fischern ja nicht vorwerfen. Sie wollten eindringen — prallten aber entsetzt zurück, prallten auseinander.

Da sah man, dass es doch nicht nur so ein einfacher Dachstuhlbrand war. Schon drangen aus dem Portal und aus allen anderen unteren Eingängen mächtige Rauchwolken hervor, mit Funken vermischt, jetzt auch aus allen offenstehenden Fenstern der vier Etagen!

Die Sache war nämlich die, dass der Hotelpalast der Hauptsache nach mit Fahrstühlen ausgestattet war, die versteckten Treppen, als Nebensache nur für das Hotelpersonal und Dienerschaft bestimmt, der Billigkeit halber statt aus Stein aus Holz bestanden, aber sie waren mit Teppichläufern belegt, die erst kürzlich alle chemisch gereinigt worden waren, mit einer Substanz, die nicht so stinkt wie Benzin, aber ebenso gut brennt und dabei nicht so schnell verdunstet.

Diese Teppichläufer brannten jetzt wie Zunder, hatten bereits alle die hölzernen Treppen in Flammen gesetzt, und an eine Benutzung der Fahrstuhle war natürlich nicht zu denken.

Na, da ließ man das Haus eben brennen. Es war ja alles versichert.

»Ein Mensch — dort oben ist noch ein Mensch!«, erklang es da entsetzt.

An einem Fenster der vierten Etage, in der das Hotelpersonal wohnte, zeigte sich etwa Weißes, bewegte sich hin und her.

»Mein Kind, mein Kind!«, gellte ein Weib.

Es war eine Aufwaschfrau des Hotels, die dort oben mit ihrem zehnjährigen Jungen, etwas verwachsen und bucklig, wohnte. Sie hatte schon immer nach ihrem Kinde gefragt, hatte der Versicherung von anderen Angestellten geglaubt, man habe ihren Jean schon hier unten herauslaufen sehen.

Jetzt war der Junge noch dort oben, die scharfen Mutteraugen erkannten ihn sofort.

»Mein Kind, mein Kind!«

Sie wurde mit Gewalt zurückgehalten, es wäre Wahnsinn gewesen, in das rauch- und funkenerfüllte Portal zu laufen.

»Die Spritze, die Dampfspritze!«

Die funktionierte noch immer nicht, und was hätte die auch zur Rettung des Kindes beitragen sollen!

»Die Leitern, die Leitern!«

Die wurden schon auseinandergeschoben, gingen aber nur bis zur zweiten Etage hinauf, da versagte der Mechanismus und bis zur vierten reichten sie überhaupt nicht.

Die kleine weiße Gestalt hatte das Fenster aufgewirbelt, stand halb darin.

»Das Sprungtuch, das Sprungtuch!«

Das war noch nicht zur Stelle.

»Mein Kind, mein Kind!«

»Tausend Franken, wer das Kind rettet!«, rief zuerst ein Pariser Schokoladenfabrikant.

»Tausend Dollars!«, überbot ein Amerikaner.

»Tausend Pfund Sterling!«, ergänzte ein steinreicher Engländer.

Und das war erst der Anfang, es wurde weiter geboten.

»Es ist unmöglich!«

»Nichts ist unmöglich — wer wagt es!«

»Vorsicht, der Dachstuhl bricht zusammen!«

Entsetzt prallte alles zurück, furchtbar war das Gedränge, auch die Mutter wurde mitgerissen, sie fiel in eine glückliche Ohnmacht.

Nur ein einzelner Mann drängte nach der entgegengesetzten Richtung, drängte sich durch, die vor ihm Stehenden rücksichtslos zur Seite schleudernd, war mit drei Sätzen in dem Qualm und Funkenwirbel verschwunden, der das Portal erfüllte.

Neues Starren der Menge.

»Wer war das?!«

Niemand konnte Antwort geben. Wie ein Phantom war die Männergestalt in den Feuerregen hineingesprungen.

»Gott sei ihm gnädig!«

»Da kann kein Gott mehr helfen, er ist verloren wie das Kind!«

Minuten vergingen.

Dort oben am Fenster zappelte noch die weiße Gestalt. Wieder drängte die Menge furchtbar zurück — prasselnd war der Dachstuhl zusammengestürzt.

Das Kind war vom Fenster verschwunden, die stürzenden Balken mussten die Decke der vierten Etage durchschlagen haben, es war unter brennenden Trümmern begraben worden.

Keine Ausrufe mehr, kein Gebet. Der Druck auf dem Herzen war zu furchtbar!

»Gott, nimm das Kind und den, der es retten wollte, in Dein Paradies!«, murmelte dann nur dumpf ein schwarzgekleideter Mann.

»Da — da sind sie! Er hat das Kind gerettet!«

An einem Fenster der dritten Etage zeigten sie sich wieder, der Mann, das Kind auf dem Arm. Aber gerettet waren sie deshalb noch lange nicht.

Er wirbelte das Fenster auf, stieg hinauf, stellte sich in den Rahmen.

Jetzt sah man ihn deutlich im blutigen Scheine des Feuers, eine hohe Männergestalt, der Vollbart bis zur Brust herabwallend. Auf dem linken Arme hatte er das Kind im Hemd.

»Weg dort unten, weg das Sprungtuch!«, hörte man seine mächtige Stimme rufen.

Das Sprungtuch war jetzt zur Stelle, konnte aber nicht ausgewickelt werden, und der Retter mochte mit solchen Sprungtüchern, wenn sie sich nicht in ganz geübten Händen befinden, schon böse Erfahrungen gemacht haben, wenn auch nur durch Zuschauen, nur durch Hören.

»Er will doch nicht springen?! Gerechter Gott, er kann doch nicht aus der dritten...«

Da sauste er schon herab!

Furchtbar schmetterte der Mann auf den Boden nieder, der nur mit einer schwachen Sandschicht bedeckt war.

Alles starrte auf den dunklen Haufen menschlicher Gliedmaßen, der sich dort von dem gelben Sande abhob, niemand war eines Lautes und noch weniger einer Bewegung fähig, der Todesschreck hatte sie alle gelähmt.

Nur die Mutter, die wieder zu sich gekommen und den Sprung der Verzweiflung aus der dritten Etage mit angesehen, eilte darauf zu.

»Mein Kind, mein armes Kind...«

Da richtete sich der Mann auf, legte ihr das unverletzte Kind in die Arme und... war verschwunden. Wenigstens wusste niemand in dem Ansturm, der nun von allen Seiten erfolgte, wo er plötzlich geblieben war.

»Ein Wunder, es war ein Wunder! Ja wer war dieser Fremde denn nur? Wer kennt ihn? Wo ist er geblieben?!«

Hier erfuhr man es nicht. Sie kannten sich ja alle gegenseitig, aber einen Mann mit solch einem langen, bis auf die Brust wallenden Vollbart kannte niemand.

Mit dem Schlafen war es natürlich vorbei. Das Kasino und die Hotelsäle füllten sich wieder, und jetzt wurde nicht nur bloß Limonade und Selters und Tee begehrt.

»Diese Gnade Gottes muss würdig gefeiert werden!«, sagte zuerst ein Amerikaner, der ausgesprochenste Temperenzler, als er eine Pfirsichbowle bestellte, und sie alle feierten die Gnade Gottes mit ihm auf diese Weise.

Ja, aber wer war nur dieser heldenhafte Engel?

Es dauerte gar nicht lange, so wurde es bekannt.

Mit dem Neunuhrzuge war er von Nizza gekommen, gerade als die Flammen zum Dache herausgeschlagen, er musste direkt hierher geeilt sein, um in das brennende Haus hinein und aus der dritten Etage mit dem Kinde herabzuspringen. Vielleicht schon fünf Minuten später war er mit einem Köfferchen im Hotel Bristol erschienen, hatte ein Zimmer begehrt, hatte sich gleich ins Fremdenbuch eingetragen: Price O'Fire, Ohio, U. S. A., Privatus.

»War er denn unverletzt?«

»So unverletzt wie das Kind.«

»Kein Bein gebrochen?«

»Er konnte ja allein die Treppe hinaufgehen.«

»Hinkte nicht einmal?«

»Er nahm immer gleich drei Stufen auf einmal.«

»Nicht verbrannt?«

»Gar nicht. Nur etwas sengrig roch er.«

Nach dem Hotel Bristol fand eine wahre Völkerwanderung statt, wenigstens für Beaulieu. Man wollte den Helden sehen, ihm Ovationen bringen.

Aber der Oberkellner erklärte ganz energisch, der Herr habe ausdrücklich gesagt, er wolle nicht gestört sein, und noch war man vernünftig genug, dies einzusehen und wieder abzumarschieren. Nach solch einem Sprunge ins Feuer hinein und zum Fenster der dritten Etage wieder heraus muss der Mensch doch seine wohlverdiente Ruhe haben!

Also es ging wieder zurück ins Kasino und in die Restaurationssäle, und erst jetzt kam man richtig zur Besinnung, erst jetzt wurde der ganze Fall richtig besprochen.

Eigentlich lag hier doch ein dreifaches Wunder vor. Erstens war überhaupt die ganze Rettung ein Wunder, wie der in das brennende, verqualmte Haus hinein und lebendig wieder heraus gekommen war.

Zweitens — wer springt denn aus der dritten Etage herab, mindestens 16 Meter tief, auf ziemlich harten Boden, ohne sich alle Gliedmaßen zu zerschmettern. Und der war herabgesprungen, nicht viel anders, wie ein anderer vom Stuhle aufsteht, nur einige Augenblicke hatte er etwas betäubt da gehockt, dann war er aufgestanden und war davongelaufen, hatte sich nicht einmal einen Knöchel verstaucht, und dabei hatte er einen zehnjährigen Jungen im Arme gehabt, doch ziemlich einen halben Zentner, den er doch auch noch im Sprunge und Aufschlagen geschützt haben musste, sonst wäre das bucklige Kind doch nicht ebenfalls so ohne jeden Schaden davongekommen.

Und das dritte Wunder — sein Name!

Also ein Amerikaner. Kennen tat diesen Namen niemand, der Staat Ohio ist sehr groß und außerdem ein ganz gewöhnlicher Name. Price O'Fire, so gewöhnlich und häufig wie bei uns Gottlieb Schulze.

Nur gerade in diesem Falle nicht. Ein wundersames Zusammentreffen!

Price heißt Preis, auch so ausgesprochen. In England und noch mehr in Irland so häufig wie unser Karl, was man auch so ausspricht, ohne zu bedenken oder gar zu wissen, was es eigentlich bedeutet. Karl ist Kerl, und ein Kerl ist ein Held! Das irländische O' vor dem Namen bedeutet »of«, hat aber nichts mit Adel zu tun, es ist ein arabisches »ben«, heißt Sohn des..., was man aber jetzt gar nicht mehr in Erwägung zieht.

Fire heißt Feuer. Price O'Fire — also Preis des Feuers. Vielleicht waren seine Vorahnen Schmiedemeister gewesen, der erste oder der tüchtigste Sohn am Feuer hatte immer den Vornamen Price bekommen.

Das heißt, mit solchen Erwägungen gibt man sich sonst nicht etwa ab, wenn man den Namen Price O'Fire hört. So wenig, wie man bei uns erörtert, ob Gottlieb Schulzens Ahnen wohl Dorfschulzen gewesen sind und ob er Gott wirklich so liebt.

Aber hier — hier war es etwas anderes!

Ins Feuer gesprungen, unverletzt wieder heraus, nur etwas sengrig riechend — Preis des Feuers!

»Nein«, sagte da ein Franzose, geistreicher als seine Vettern überm Kanal und überm großen Heringsteich, »dem fehlt noch ein ›n', Prince O'Fire müsste er heißen, Prince du Feu, der Fürst des Feuers!«

Dieses Wort wirkte wie eine platzende Bombe, wo man die animierte Stimmung der Temperenzler bedenken muss.

»Richtig so, der Fürst des Feuers — er soll leben — heil dem Fürsten des Feuers!«

So und ähnlich erklang es auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Russisch — um die Nationalitäten der tausend Badegäste nach ihrer Anzahl zu bezeichnen — nicht etwa nur hier, sondern dieser Name pflanzte sich sofort durch ganz Beaulieu weiter, und die Bowlengläser wurden geschwungen und dann Sekt bestellt, um den Fürsten des Feuers noch höher leben zu lassen, und dann wurde beraten, was man ihm morgen für Ovationen bringen wolle. Des geretteten Kindes wurde weniger gedacht.

Unterdessen saß der »Fürst des Feuers« in seinem Hotelzimmer. Er hatte ein Bad genommen, jede Mahlzeit abgelehnt, sein Reisekostüm mit einem schwarzen Anzug vertauscht, den er seinem Koffer entnommen, außerdem hatte er sich während des Bades in seinem Zimmer ein tüchtiges Feuer anmachen lassen, ohne welches man auch in dieser Gegend im Winter doch nicht auskommt.

Nun also saß er im Lehnstuhl neben dem offenen Kamin, in dem die üblichen Holzscheite loderten und sprühten.

Es war ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, eine hohe, athletisch gebaute Gestalt mit einem edlen, klassischschönen Gesicht, das aber von einer ganz auffallenden Weiße war, jedoch ohne dass man etwa an eine krankhafte Blässe dachte, wie aus schneeweißem Marmor gemeißelt, ebenso wie die feine und dennoch große, äußerst muskulöse Hand, die den rötlich-blonden, bis fast auf den Leib herabwallenden Vollbart strich.

So saß er da, meist die Augen geschlossen, nur manchmal sie öffnend und ins Feuer blickend, mit großen, blauen Augen, wie sie bei diesem rot-blonden Barte auch gar nicht anders möglich waren, dann sie wieder für Minuten schließend.

»Wieder eine Mission erfüllt!«, flüsterte er jetzt, als er sich gegen die Wand beugte, um den elektrischen Klingelknopf zu drücken.

Der Zimmerkellner kam.

»Sie wünschen, mein Fürst?«

»Wie nennen Sie mich Fürst? Dann müssten Sie mich mindestens mit Durchlaucht anreden. Ich bin kein Fürst.«

Ohne jede Verwunderung hatte er es mit sonorer Stimme gesagt, hatte keine weitere Frage deswegen.

»Wann trifft hier der nächste Zug von Genua ein?«

»Elf Uhr zwanzig.«

»Einige Minuten später, nachdem der Zug hier gehalten hat, wird ein Herr nach mir fragen. Diesen Herrn empfange ich. Keine andere Person. Verstanden?«

Kurz, aber ganz freundlich hatte er es gesagt.

»Sehr wohl, mein Herr.«

»Gut. Und die Rechnung. Ich will sofort bezahlen.«

Die Rechnung kam, nur für Zimmer und ein Bad. Der Fremde gab ein Goldstück, ließ sich nicht wechseln.

»Danke verbindlichst, mein Herr.«

»Bitte.«

Unten, wo ja auch alle Säle voll waren, wurde der Kellner mit Fragen bestürmt.

»Was ist das für ein Herr? Wen erwartet er?«

Wie sollte denn das der Kellner wissen.

»Hat er sich denn gar nicht nach dem geretteten Kinde erkundigt?«

»Nein.«

»Nicht gefragt, ob es auch unverletzt sei, was er doch vorher gar nicht wissen konnte?«

»Mit keinem Worte.«

»Merkwürdig, ganz merkwürdig!«

Man passte auf, wen der Genua-Zug bringen würde. Wieder stieg nur ein einziger Fahrgast aus, aus einem Coupé erster Klasse, ohne Gepäck, und das war nun allerdings wieder eine ganz merkwürdige Gestalt, die doch allein den Besuch für den »Fürsten des Feuers« abgeben konnte.

Von seinem Gesicht war so gut wie nichts zu sehen. Dazu war der Kragen des Wettermantels zu hochgeschlagen und die breite Krempe des Filzhutes zu tief herab gezogen. Nun aber diese Figur! Sehr, sehr klein, und dabei fast ebenso breit und dick. Fast wie eine Kugel. Und dieser seltsame Gang! Wie der dabei in den Hüften wiegte! Und welch maßlosen Stolz dabei dieser wiegende Gang ausdrückte!

So wiegte sich die Kugel durch die Reihen der gaffenden Menge nach dem Hotel.

»Monsieur Price O'Fire?«, fragte es unter dem Schlapphut an der Portiersloge mit auffallend hoher, fast quäkender Stimme.

»Bitte, wollen Sie dem Garçon folgen.«

Merkwürdig auch, wie die menschliche Kugel die Treppe hinaufkam, nicht etwa kugelnd, nicht unbehilflich, sondern im Gegenteil, als hätte er unter dem Mantel statt Wurstbeine elastische Sprungfedern.

Hinter ihm schloss sich die Tür, und der kleine Dicke nahm sofort den Mantel ab, hing ihn über die Klinke, wahrscheinlich damit man nicht durchs Schlüsselloch sehen könne.

Himmel, was war das für eine Gestalt! Durch die Abnahme des Mantels wurde daran nichts geändert. Es war und blieb eine Kugel, eingehüllt in einen Anzug aus feinem, blauem Tuche nach Seemannsschnitt, aber dieser Fleischkoloss bestand nicht etwa aus Fett, sondern nur aus Muskel, das konnte man schon allein an den mächtigen Schultern erkennen, die sich unter dem Tuche wie große Kegelkugeln rundeten, und genau solche Kegelkugeln hatte der Mann an den Oberarmen, auch wenn er sie nicht anspannte.

Und das gelbe Gesicht mit den Schlitzaugen war unverkennbar das eines Japaners — einer jener Japaner von der achten, der untersten Kaste, aus Fischern und Seeleuten bestehend, von denen die andere Welt so lange nichts wusste, bis sie zwei russische Flotten in Stücke zerhackten. Das sind solche Gestalten, andere lässt die Kaste gar nicht aufkommen.

Finster, mit einem furchtbar wilden Trotze blickte das bissige Bulldoggengesicht, in dem auch die Oberzähne fletschend hervortraten, nach dem im Lehnstuhl Sitzenden.

Der stand jetzt gemächlich auf.

Sie bedienten sich keiner europäischen Sprache, aber wenn es Japanisch war, so können wir das hier doch nicht wiedergeben.

»Kapitän Katamoni?«

»Ich bin es«, entgegnete die quäkende Stimme.

»Price O'Fire.«

Und der germanische Hüne streckte die rechte Hand aus, die japanische Kugel trat einen Schritt näher, ergriff sie.

Beide hielten die Hände längere Zeit zusammen, gaben sich wahrscheinlich heimliche Erkennungszeichen.

»Genügt Ihnen das?«, fragte O'Fire.

»Nein. Ich kenne Sie nicht.«

»Was sonst?«

»Das Lumassawatani.«

Da streifte der Hüne den Ärmel zurück, auch den Hemdsärmel, zeigte seinen rechten Arm, ebenfalls wie aus schneeweißem Marmor gemeißelt, starrend von Sehnen und Muskeln, bückte sich etwas und... hielt diesen Arm nicht nur über das Kaminfeuer, sondern bohrte ihn auch noch in die rote Glut hinein, bis zum Ellenbogen!

Vielleicht eine halbe Minute, dann zog er ihn zurück, hielt ihn dem Japaner hin, und der Arm und die Hand zeigten keine Brandwunde, waren weiß wie zuvor.

»Genügt Ihnen das?«

Da kreuzte der Japaner die Arme über der mächtigen Brust, verbeugte sich tief, tief, welche Geschwindigkeit man dieser unförmlichen Gestalt gar nicht zugetraut hätte, und jetzt war plötzlich auch seine Stimme ganz tief geworden:

»Mein Herr und Gebieter!«

*

Unten die Gäste warteten vergebens, dass der Besuch wieder zum Vorschein kommen würde.

Als sich die Fenster des betreffenden Zimmers verfinsterten, musste man annehmen, dass auch der zweite Fremde schlafen gegangen war, in demselben Zimmer, zwei Betten waren ja vorhanden. Da bemerkte ein Kellner, dass die Zimmertür nur angelehnt war. Die beiden Vögel waren unter Mitnahme des Koffers ausgeflogen.

Wunderbar war bei diesem Verschwinden nichts, da kam schon die Meldung vom Bahnhof, dass sie den Mitternachtszug nach Nizza benutzt hatten, sie hatten eben das Hotel durch eine Hintertür unbemerkt verlassen.

Ebenso wenig dachte jemand auch nur mit einem Gedanken daran, dass man es etwa mit Hochstaplern zu tun gehabt hätte. Man hatte doch schon genug beraten, wie man dem edlen Helden die ausgesetzten Prämien in bar oder in einem Geschenk überreichen sollte. Der brave Mann hatte sich eben jedem Danke entzogen.

Man sprach noch lange von dem »Fürsten des Feuers«, der er noch immer blieb.

Aber wie sehr man dem unbekannten Fremdling diesen Namen mit Recht gab, das ahnte niemand.

*

76. Kapitel

An Bord der »Schwester Anna«

Originalseiten 1878 — 1906

Zurück nach Brasilien! Auf dem breiten Wasser, das sich in schnurgerader Linie durch den tropischen Urwald zog, wurde ein Boot von vier Männern gerudert.

Es war ein Kanu, ein aus Leder gefertigtes langes, schmales Boot, einer saß hinter dem andern, das Gesicht nach vorwärts, jeder handhabte nur ein Schaufelruder. Schon stundenlang waren sie schweigend mit aller Kraft gerudert. Jetzt legte der dritte Mann sein Schaufelruder ins Boot, drehte sich um, blickte seinen Hintermann an.

»Was hast Du, Oskar?«, fragte dieser.

»Ja, mir fällt was ein — ich, habe sogar schon lange darüber nachgedacht — sagen Sie mal, Herr König von Brasilien und Kaiser von Amerika — wo lassen Sie denn eigentlich Ihre Hemden waschen?«

Die Sache war nämlich die, dass keiner von den vieren ein Hemd besaß. Bekleidet waren sie nur mit Hose und hohen Schaftstiefeln, beides aus rohem Leder gefertigt, und ihr sonstiges Eigentum ließ sich in dem offenen Boote doch sofort überblicken. Neben jedem lag ein Gewehr, ferner ein Lederbeutelchen, ferner noch eine Jacke, gleichfalls aus Leder — aber so etwas wie ein Hemd war nicht vorhanden, nicht einmal ein ledernes Jagdhemd.

Die nackten Oberkörper hatten sie sich mit einem grünlich schimmernden Fett eingesalbt, wohl Lorbeerfett zum Schutze gegen die Moskitos.

Die Folgen dieser Frage, wo der König von Brasilien und Kaiser von Amerika seine Hemden waschen lasse, waren nicht so leicht zu begreifen. Da musste man wohl schon länger bei ihnen gewesen sein.

Der erste, der mit den langen Locken, sonst sicher ein sehr ernster Mann, warf gleichfalls schnell sein Ruder ein, beugte sich zurück, und lachte und lachte! Und der zweite Mann griff schleunigst nach seiner qualmenden Fuhrmannspfeife, um sein von einem Ohre bis zum anderen reichendes Maul beim Lachen aufsperren zu können, und auch der letzte, an den diese Frage gerichtet worden, Georg Stevenbrock, wollen wir gleich sagen, brach in ein unbändiges Gelächter aus.

»Na, Oskar, bist Du ein Kerl!«, konnte er endlich hervorbringen. »Vier ganze Tage rudern wir hier zusammen, immer nur in Hose und Stiefeln, und jetzt endlich dicht vor dem Ziele, fragt dieser Mensch mich, wo ich... ach, es ist ja überhaupt zu dumm, darüber zu lachen — hahahaha — da ist doch absolut gar kein Witz dabei — hahahaha...«

»Ja«, stöhnte auch der sonst so ernste Juba Riata vor Lachen, »schade, dass man so etwas keinem Witzblatt einsenden kann — es wäre für jeden anderen ganz unverständliche — es gibt eben zweierlei Arten von Witzen, von Humor — ich wundere mich nur, dass auch unser Mister Tabak diesen Witz verstanden hat — hahaha...«

»Na, nun bändigt nur wieder Eure Lachmuskeln«, fing Oskar wieder an. »Ich habe gar keinen Witz machen wollen. Also, Herr König von Brasilien und Kaiser nun Amerika, was ich fragen wollte...«

Plötzlich wurde Stevenbock sehr ernst, als er ihn unterbrach.

»Ich verbitte mir solche Titulaturen! Ich kann doch nichts dafür, wenn der infame Spanier mir solchen Wahnsinn an den Kopf wirft. Ich vertrage eine gute Nummer Spaß, aber veralbern lasse ich mich nicht! Sonst kann ich auch auf solch einer Fahrt gegen meinen besten Freund den Kapitän herausstecken!«

Aber Oskar ließ sich nicht einschüchtern.

»Was Kapitän! Sie sind gar kein Kapitän. Mit dem Untergang der ›Argos‹ hat Ihre Kargo-Kapitänschaft aufgehört. Und selbst wenn Sie mein Kapitän wären — zu sagen haben Sie mir gar nichts mehr. Der Untergang eines Schiffes löst jeden Heuerkontrakt.«

»Na lass es gut sein, Oskar. Oder betrachte mich lieber noch als Deinen Kapitän. Denn sonst — wenn Du etwa mit mir hängen willst — wir können ans Ufer fahren...«

Das Wort »hängen« ist ein Ausdruck in der Studentensprache. Wenn sich zwei »angerempelt« haben, aber noch nicht duelliert, noch nicht einmal gefordert, dann »hängen« sie. Ganz denselben Ausdruck mit derselben Bedeutung aber gibt es auch unter den Seeleuten.

Aber Oskar wusste in seiner Weise der Sache gleich wieder eine andere Wendung zu geben.

»Ach fahren Sie doch alleene ans Ufer! Hängen Se sich doch alleene uff!«, sagte er, gleich wieder zum Ruder greifend, und er hatte wiederum die Lacher auf seiner Seite. Wobei freilich nicht wiederzugeben ist, wie er das hervorbrachte.

»Achtung, wir sind am Ziele!«, rief Juba Riata, und das Lachen verstummte.

Vor ihnen lag die sumpfige Schilfregion, die ihr Schiff vor nun einem Jahre mit Volldampf passiert hatte, und jetzt wollten sie mit dem Boote hindurch. Das war wohl kaum möglich. Sie mussten es sicher an Land um den Sumpf herumtragen, aber wie das bei dem undurchdringlichen Mangrovenwald geschehen sollte, das war ein Problem, das gelöst sein wollte.

Zunächst fuhren sie einmal so weit als möglich an das scharf begrenzte Schilf heran. Dabei aber konnte Oskar, der nun einmal ins Schwatzen gekommen war, den Mund nicht halten.

»Sie, Waffenmeister, Sie nannten doch vorhin den Spanier, unseren Prospektador, einen infamen Kerl. Das will ich dahingestellt sein lassen. Eine viel größere Hundsgemeinheit finde ich das von dieser Schwester Anna, dass die uns... Jesus Christ und General Jackson!«

Sie hatten, sich nahe am Ufer haltend, der Schilfgrenze bis auf wenige Meter genähert.


Illustration

Da plötzlich rauschte es in dem Schilfe, aus der Mitte brach etwas Schwarzes, Mächtiges, Kolossales hervor, ein furchtbares Ungetüm — das nur deshalb im nächsten Augenblick jeden Schreck rauben musste, weil es vorn an der Seite in großen, weißen Buchstaben den Namen »Schwester Anna« trug!

Es war der scharfe Bug eines Dampfers dem also natürlich der ganze Dampfer nachfolgen musste.

»Festgehalten, oder wir kentern!«, hatte Stevenbrock noch rechtzeitig geschrien.

Denn es war eine ganz gefährliche Situation für das leichte Boot gewesen. Das stille Wasser verwandelte sich doch plötzlich in einen kochenden Strudel. Ein Glück, dass das Boot schon unter den Bäumen am Uferrand gelegen hatte, so konnten sich die Insassen in den Zweigen festklammern. Sonst wäre es unbedingt gekentert. Dann aber beruhigte sich das aufgeregte Wasser in dieser sumpfigen Umgebung auch äußerst schnell wieder.

Jetzt konnten sie den Dampfer näher betrachten.

Es war einer von jenem Typ, den der Seemann einen »Norweger« nennt, wobei er aber nicht unter norwegischer Flagge zu fahren, gar nichts mit Norwegen zu tun zu haben braucht. Unter »Norweger« versteht man sehr stark gebaute Dampfer, für Eisverhältnisse gebaut, um durch Eisschollen und womöglich auch durch Packeis brechen zu können. Das ist die ganze Sache. Alle Dampfer, welche die nördlichen Gegenden befahren, sind »Norweger«. Anderseits ist es aber doch nicht einfach, dass man nur stärkere Eisenplatten verwendet. Wegen der größeren Last, was doch die Quantität der Fracht sehr vermindert, ist eine ganz besondere Konstruktion dafür nötig. Man versucht alles Gewicht ins Wasser zu legen.

Ein eiförmiger Bau, ganz niedriges Deck, niemals Takelage. Weiter ist es hier nicht zu beschreiben, jedenfalls aber wird auch der Laie, wenn er einmal solch ein Schiff gesehen hat, immer gleich den »Norweger« erkennen. Früher wurden solche Schiffe nur in Christiania und auf anderen norwegischen Werften gebaut, daher eben der Name, dann legte sich Philadelphia und besonders Halifax auf diese Spezialität, jetzt werden die vorzüglichsten »Norweger« von den Japanern gebaut, wegen ihrer Fischerei in den nördlichen Gewässern, wie bei Sachalin, dessen Küste ja niemals eisfrei ist.

Und Japaner waren es auch, die an Deck des Dampfers standen. Man brauchte gar nicht ihre mongolischen Affengesichter zu sehen. Es waren japanische Matrosen, denn solche gleichförmige Gestalten, alle so klein und so dick und so vierschrötig, förmliche Rechtecke bildend, dabei von solch kolossaler Muskulatur, so etwas kann nur ein streng geregeltes Kastenwesen im menschlichen Geschlecht hervorbringen. Hätten sie etwa zur vierten Kaste gehört, zu der der Yakonins, der Soldaten, die allerdings nur Offiziere stellen, so wären sie samt und sonders groß und schlank gewesen, im Gegensatz zur sechsten Klasse der Kaufleute, die klein und kreplig sind.

Diese dicken Rechtecke mit den kolossalen Schultern aber konnten nur japanische Matrosen sein, die letzte Kaste und dennoch den Stolz ihrer Heimat bildend.

Merkwürdig war es, dass alle diese Matrosen, nur wenige mit baumwollenen Hosen und Hemd bekleidet, die meisten nackt bis auf den Schurz, das Boot mit den vier Insassen dort am Waldesrand wohl sofort erblickt hatten, dann ihm aber gleich den Rücken wandten oder doch nicht mehr hinsahen, sich gar nicht mehr darum kümmerten, sobald sie nicht das Kommando dazu bekamen. Auch so echt japanisch!

Auch dieser Dampfer hatte wie damals die »Argos« nach dem Passieren des Schilfsumpfes mit rückwärts gehender Schraube sofort gestoppt, und jetzt erschien unter den zu Zwergen zusammengequetschten Riesen ein wirklicher Hüne im weißen Tropenanzug, mit bis auf den Leib herabwallendem rotblonden Vollbart.

»Herr Kapitän Georg Stevenbrock!«, rief er nach dem Boote hinüber, gleich mit dem ersten Worte anzeigend, dass er Deutsch sprechen wolle.

»Ay?«, erklang es ganz gemütlich zurück.

»Darf ich Sie und Ihre Gefährten bitten, als meine Gastfreunde an Bord meines Schiffes zu kommen.«

»Können wir machen.«

Und das Boot fuhr hin, legte an dem schnell herabgelassenen Fallreep bei, die vier stiegen hinauf.

»Price O'Fire ist mein Name.«

»Sehr angenehm.«

Ein einladender Wink seitens des blonden Riesen, und eine menschliche Kugel mit mongolischem Bullenbeißergesicht wiegte sich heran, ebenfalls in ein schneeweißes Tropenkostüm gekleidet.

»Kapitän Katamoni, der Führer meines Schiffes — Kapitän Georg Stevenbrock!«, stellte der »Fürst des Feuers« vor.

Das furchtbar grimmige Bulldoggengesicht fletschte die Zähne, was wohl ein Lächeln bedeuten sollte, und Stevenbock machte eine kleine Verbeugung.

»Sehr angenehm — aber ich mache darauf aufmerksam, dass ich nur Steuermann, kein Kapitän bin.«

»Sie sind doch Kargokapitän von der ›Argos‹, in diesem Range berechtigt, den Titel eines Kapitäns zu führen.«

»Die ›Argos‹ ist nicht mehr.«

»Doch. Sie ist noch nicht aus der Registerliste gestrichen.«

»Das bleibt sich gleich. Sie ist gesunken.«

»Aber sie wird wieder gehoben. Mein Dampfer ist ein spezielles Taucherschiff.«

»Aaaaahhhh!«, kam es mit freudigem Staunen aus Stevenbrocks Munde, in einer Weise, dass auch der ernste Mann lächeln musste.

»Bitte, wollen Sie mir in meine Kajüte folgen«, sagte er dann, »Ihre Gefährten werden vom Kapitän versorgt.«

Sie gingen nach hinten über das Deck, das ganz glatt war, keine Kommandobrücke besaß, den Kajüteneingang bildete eine ganz niedrige »Haube«, stiegen die steile Treppe hinab.

»Sie werden wohl Appetit haben!«, sagte O'Fire, nach im Vorraum.

»Appetit? Das ist für meine Verfassung ein unpassendes Wort. Zu essen haben wir in den vier Tagen allerdings immer gehabt, aber keinen warmen Bissen über die Zähne bekommen, und auch mit kalten Delikatessen sind wir nicht gerade verwöhnt worden.«

»Bitte treten Sie ein.«

Die Kajüte war mehr praktisch als komfortabel eingerichtet, wenn man nämlich weiß, was auf solchen Privatschiffen in den Kajüten immer für ein Luxus herrscht.

Auf dem Tische standen schon dampfende Schüsseln.

»Aaaahhh«, schmunzelte Stevenbrock wieder, »das habe ich mir gleich gedacht!«

»Bitte, was haben Sie sich gleich gedacht?«, musste der germanische Riese wieder lächeln, weil dieser Nachsatz doch eigentlich so gar nicht gepasst hatte.

»Dass hier schon für mich dampfende Schüsseln bereit standen.«

»Inwiefern konnten Sie sich denn das gleich denken?!«

»Sobald ich den Namen Ihres Schiffes gelesen hatte — Schwester Anna.«

Diese Erklärung war vielleicht nicht so leicht zu verstehen — O'Fire verstand sie sicher sofort.

»Sie haben Recht. Ich wusste, dass ich Sie hier hinter dem Schilfe in einem Lederboote finden würde,

»Aber allwissend sind Sie doch nicht.«

»Nein!«, musste jener immer wieder lächeln.

»Sonst würden Sie wissen, dass ich mich hier in dieser Kajüte als Kargo-Kapitän dem Schiffspatron gegenüber nur in Stiefeln und Hosen höchst ungemütlich fühle. Denn leider habe ich im Drange der Gefühle vorhin meine Lederjacke anzuziehen vergessen, sie liegt noch im Boote.«

Da brachte schon ein Steward, auch so ein vierschrötiger Japaner, einen Kimono, eine Art Schlafrock, Stevensbrock schlüpfte hinein und ließ sich nieder.

»Aaaahhh! Jetzt glaube ich schon wieder mehr an Ihre Allwissenheit. Nämlich weil den Inhalt der größten Schüssel Reis mit Curry und Hammelfleisch bildet. Schon seit einem Jahre habe ich von diesem meinem Leibgericht immer nur geträumt. Das Luderzeug ist etwas heiß, aber mum mum mum mum mum.«

»Wie meinten Sie?«, lächelte der Schiffspatron, sich ein lautes Lachen verbeißend.

»Mum au mum au mum au!«, machte Stevenbrock, nämlich dermaßen hatte er sich den Mund vollgepfropft, wobei das Zeug eben auch noch heiß war, bis er die Ladung glücklich hintergeschluckt hatte. »Sie haben mich immer noch nicht verstanden? Sehen Sie, Sie sind eben nicht allwissend. Ich wollte sagen: es kommt mir vor, als wollten Sie mich verlassen, weil Sie immer so auf dem Sprunge stehen, sich nicht setzen.«

»Ich möchte Sie beim Speisen nicht stören.«

»Das nennen Sie speisen? Na da gute Nacht! Sie sind Optimist, mein geehrter Herr. Das nennt man, noch ganz zart ausgedrückt, schlingen. Nein, mich kann bei dieser Magenverfassung überhaupt niemand stören, mir ist noch anders zumute als damals, wie ich an Bord der ›Argos‹ kam. Das werden Sie doch selbst wissen bei Ihrer Allwissenheit. Also bitte bleiben Sie, Sie können sich doch denken, wie ich darauf brenne, mehr von Ihnen zu erfahren. Wenn ich kaue, sprechen Sie, und wenn ich hinuntergeschluckt habe, spreche ich. Auf diese Weise werden wir uns schon verständigen können.«

Price O'Fire setzte sich.

»Los!«, kommandierte Stevenbrock in einer Zwischenpause des Kauens, als jener nicht gleich anfing.

»Gut! Ich weiß, dass Sie ein durchaus gebildeter Mann sind, auch wenn Sie keine Universität besucht haben. Sie kennen alle Klassiker.«

»Möglich.«

»Sie sind manchmal auch sehr nützlich, diese Klassiker.«

»Weshalb?«

»Sie ersparen einem manchmal sehr viel Worte. Wozu ich sonst einige Stunden gebrauchen müsste, kann ich einem Manne wie Ihnen gegenüber in einem einzigen Zitate zusammenfassen. Es ist Mephistopheles in Goethes ›Faust‹, welcher spricht: Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewusst. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe. Weiter!«

»Dann werden Sie auch begreiflich finden, wenn ich oftmals etwas frage, was ich schon weiß. Ich möchte es als Antwort eben nochmals aus Ihrem Munde hören.«

»Finde ich ebenfalls begreiflich. Sie wollen die sogenannte Sokratische Methode anwenden.«

»Recht so! Das erspart mir schon wieder eine langatmige Erklärung. Also nun beginne ich ohne weitere Umschweife. Was haben Sie auf dem Eldoradoplateau diesmal gefunden?«

»Genau dasselbe, was bei unserem ersten Besuche vorhanden war. Nur noch einige Dutzend Indianergräber sind hinzugekommen.«

»Haben Sie noch lebende Indianer vorgefunden?«

»Nein.«

»Wie viele Rothäute sind es gewesen, die damals Harry Sandow dorthin geführt hat?«

»Ich entsinne mich der Zahl noch — genau 413 Köpfe, darunter 142 Krieger, die anderen also Frauen, Kinder und Greise.«

»Wo sind die alle geblieben?«

»Hm«, brummte Stevenbrock, »ich verstehe schon, weshalb Sie fragen, weshalb Sie das alles noch einmal aus meinem eigenen Munde hören wollen, was Sie schon wissen, viel besser als ich. Als wir die Gegend wieder verließen, waren die früher befreundeten Komantschen und Apachen in blutigen Streit geraten. Sie meinen, ob ich nun glaube, die beiden Stämme hätten sich nun gegenseitig bis zum letzten Mann abgemurkst, auch die Frauen und Kinder nicht verschonend? Nein, das kann ich nicht glauben. Wir haben in dem ganzen Jahre, da wir auf dem Plateau so halb und halb als unfreiwillige Robinsons lebten, dasselbe doch ganz gründlich erforscht. Ja, wir haben viele Indianergräber gefunden, Massengräber und auch einzelne, aber auf mehr als drei Dutzend Tote können wir nicht schließen. Unbeerdigte Skelette haben wir nirgends gefunden. Nein, wir glauben nicht, dass sich die sämtlichen Rothäute gegenseitig abgemurkst haben.«

»Wo mögen die Lebenden dann geblieben sein?«

»Wir wissen es nicht. Wir können nur annehmen, dass sie das Plateau wieder verlassen haben, noch bevor sie sämtliche Pferde und Büffel ausrotteten.«

»Ist Ihnen der Weg bekannt, den Harry Sandow damals genommen, den er die Indianer geführt hat?«

»Nein, eben nicht! Wir haben diesen zweiten geheimen Aufstieg zum Plateau nicht finden können, wie wir auch gesucht haben, und da versagt auch unseres Juba Riatas Scharfsinn. Ist er denn Ihnen bekannt?«

»Ich werde Ihnen diesen zweiten Aufstieg dann zeigen.«

»Da bin ich gespannt. Und wissen Sie, wo diese anderen Indianer mit dem kleinen Engländer geblieben sind, was aus Ihnen geworden ist?«

»Ich weiß es.«

»Nun?«

»Sie werden es später durch eigene Anschauung erfahren. Bitte, stellen Sie jetzt keine solche Fragen, die Ihre Zukunft betreffen.«

»Wie Sie wünschen. Ich blicke auch gar nicht so gern in die Zukunft. Ich bin zufrieden mit dem, was mir jeder Augenblick bringt.«

»Recht so!«, erklang es wiederum im bestätigenden Tone des geschulten Seemannes. »Weshalb nun haben Sie dieses Plateau zum zweiten Male aufgesucht?«

»Eigentlich sind wir doch nur einer Aufforderung jener geheimnisvollen Person gefolgt, die sich Schwester Anna nennt.«

»Ja, aber was hatten Sie sonst diesmal auf dem Plateau vor?«

»Hm. Wir anderen eigentlich nichts Besonderes. Wir wollten nur sehen, wie sich die Indianer entwickelt hätten und dann nach wie vor dort oben unseren Sportspielen nachgehen. Nur einer von uns hatte etwas Besonderes vor. Da muss ich erst von unserem Kapitän Martin anfangen. Kennen Sie den?«

»Sehr gut. Wenn auch er mich nicht.«

»Dieser Kapitän ist im Grunde nicht Seemann und Geschäftsmann, für den man ihn halten mag, selbst wenn man ihn durch jahrelange Beobachtung ganz genau zu kennen glaubt.«

»Ich weiß es.«

»Die Wiege dieses Mannes stand im schlesischen Riesengebirge, er ist als Junge nur aus Lust an Abenteuern zur See gegangen.«

»Ich weiß es.«

»Und ein so praktischer, total nüchterner Handelsmann er auch geworden ist, der alles nur nach Mark und Pfennig berechnet — im Grunde genommen ist er doch der abenteuerlich veranlagte Jüngling geblieben.«

»Ich weiß es!«, erklang es immer wieder. »Das hat er schon einmal offenbart.«

»Wann?«

»Das wissen Sie doch selbst am besten!«, ließ sich aber der »Fürst des Feuers« seinerseits nicht ausfragen.

»Nun ja — damals in Kapstadt, als er selbst vorschlug, wir sollten aus unserer ›Argos‹ ein Komödianten- und Gauklerschiff machten.«

»Recht so! Und was schlug er nun diesmal vor?«

»Uns auf diesem Eldoradogebirge tatsächlich festzusetzen. Eine großartige Kolonie anzulegen. Geeignete Arbeiter herbeizuschaffen, auch für Weiber zu sorgen. Und so weiter und so weiter. Sie verstehen wohl.«

»Sie wollten dort eine ideale Republik gründen.«

»Ahem, das war's!«, bestätigte der noch immer wacker kauende Georg.

»Gleichgültig, ob dieses Gebirgsplateau zu Brasilien oder zu Frankreich gehört.«

»Ganz gleichgültig. Die Hauptsache ist, dass wir eine geheime Wasserstraße direkt von der Küste aus nach dort wissen.«

»Sie wollten Ihre kleine Republik, wenn nicht ein Königreich daraus wurde, unter Umständen auch mit Waffengewalt gegen das Eingreifen fremder Mächte verteidigen.«

»Wir wollten es nicht nur, sondern wir wollen es noch jetzt.«

»Sich die nötigen Geschütze dazu anschaffen.«

»Gewiss.«

»Auch den Zugang zu der Wasserstraße an der Meeresküste befestigen?«

»Muss ebenfalls sein. Wenn schon, denn schon.«

»Solch eine uneinnehmbare Felsenburg mitten im Meere ist Ihnen schon angewiesen worden — jener Seelandsfelsen.«

»Herr, wir lassen uns nicht gern etwas schenken, und meinen Jungen hat es dort überhaupt niemals gefallen. Wir wollen uns lieber ganz von vorn einrichten, alles durch eigene Kraft schaffen.«

Es war ausgesprochen, hiermit diese Sache aber auch gleich erledigt.

»Aus alledem ist nun nichts geworden!«, fuhr Price O'Fire fort.

»Die Sache ist nur aufgeschoben, nicht etwa aufgehoben worden.«

»Ihr Schiff ist gesunken.«

»Es wird wieder gehoben werden. Wenn wir uns nicht eine neue ›Argos‹ anschaffen.«

»Was haben Sie unterdessen auf dem Plateau getrieben? Sie gestatten mir doch solche Fragen.«

»Gewiss doch. Nun, wir haben nach wie vor geturnt und gespielt und gejagt und uns ganz köstlich amüsiert.«

»Sie haben es nicht sehr eilig gehabt, das Plateau zu verlassen, um wieder in Verkehr mit der Außenwelt zu treten.«

»Nein, wir haben es niemals eilig. Wir haben einfach Robinsons gespielt, mussten uns gar vieles selbst anfertigen, wollten wir nicht zuletzt ganz nackt herumlaufen, überhaupt zu völligen Wilden herabsinken. Gespinste konnten wir uns allerdings nicht herstellen, aber sonst werden Sie sehen, wie schön wir uns dort eingerichtet haben. Nur das, was wir für unsere Turnerei und unsere Wettkämpfe brauchten, hatten wir schon mitgenommen, außerdem Gewehre und einige Munition, die wir bei der Jagd zu sparen wussten, haben die Tiere mit Fitschepfeilen erlegt. Nun aber wollen wir unsere Pläne endlich verwirklichen.«

»Wie das? Bitte wollen Sie ausführlich schildern. Und glauben Sie nicht, dass meine Fragen zwecklos sind. Ich werde mich Ihnen dann offenbaren.«

»Nun, wir vier Mann wollten uns erst einmal nach Para begeben, um dort ein größeres Fahrzeug, das heißt größer als so ein Lederboot, zu kaufen, wohl einen kleinen Dampfer, der aber alle fassen muss. Wir sind mehr als hundert Personen. Selbst bauen konnten wir uns ein größeres Fahrzeug nicht, wir können keine Planken herstellen, wir haben nur einige Äxte, keine einzige Säge. Überhaupt wäre das viel zu umständlich und auch die Herstellung von lauter solchen Lederbooten, um gleich alle nach Para zu befördern, wäre ja die reine Zeitverschwendung.

Mit dem kleinen Dampfer bringen wir gleich Tauchapparate mit, mit denen wir erst einmal unser Schiff untersuchen, ob es überhaupt zu heben geht. Wenn ja, dann versuchen wir das, schaffen dazu auch noch die weiteren Utensilien herbei. Dann haben wir eben unsere ›Argos‹ wieder. Erweist sich das Schiff als ein hoffnungsloses Wrack, so begeben wir uns alle zusammen nach Para, müssen eben eine neue ›Argos‹ kaufen, mit der wir dann unsere Pläne ausführen.

So war beschlossen worden, das hätten wir ausgeführt, Ihre Dazwischenkunft wird ja nun wohl vielerlei daran ändern.«

»Haben Sie denn Geld, um ein neues Schiff oder in Para nur erst einmal einen kleinen Hilfsdampfer und die Taucherapparate zu kaufen?«, fragte O'Fire.

»Missis Neubert, die Freifrau von der See, hat mir Vollmacht ausgestellt.«

»Über ihr Vermögen zu disponieren?«

»Ja. Ich kann erheben, so viel ich will.«

»Hat denn Missis Neubert Kapitalien?«

»Sie fragen noch? Das wissen Sie doch ganz genau.«

»Bitte, antworten Sie mir.«

»Die Patronin hat zwei Millionen Dollars auf der New Yorker Bodenkreditbank liegen.«

»Nicht mehr.«

Es lässt sich begreifen, dass Georg bei diesem trockenen »nicht mehr« plötzlich Gabel und Messer sinken ließ, und ganz große Augen bekam.

»Was?! Hat die New Yorker Bodenkreditbank etwa schon wieder einmal bankrott gemacht? Herr, das ist gar nicht möglich bei dieser Bank!«

»Das Geld ist ihr gesetzlich abgenommen worden.«

»Was?!«, stieß Georg nur noch bestürzter hervor.

»Nicht wahr, der Gatte Ihrer Patronin hieß: Eduard Paul Neubert, nannte sich in Amerika Edward Powell?«

»Ja.«

»Und hinterließ bei seinem Tode?«

»Sechs Millionen Dollars.«

»Wie viel bekam davon seine Gattin?«

»Vier Millionen. Die anderen zwei hatte er wohltätigen Zwecken vermacht.«

»Es war ein rechtskräftiges Testament.«

»Gewiss. Es ist von anderen Verwandten vergebens angefochten worden.«

»Von anderen Verwandten. Hat Mister Edward Powell damals der Missis Helene Hartung gesagt, dass er schon einmal verheiratet gewesen ist?«

»Was?!«

»Er hat es also nicht gesagt.«

»Nein.«

»Es ist so. Mister Edward Powell alias Paul Neubert ist in seinen jungen Jahren schon einmal verheiratet gewesen, der Ehe war ein Kind entsprungen, ein Mädchen, auf den Namen Alice getauft. Mutter und Kind machten von San Francisco aus eine Reise nach Australien, das Schiff scheiterte bei den Fidschi-Inseln. Zu denen, welche dabei ihr Leben verloren, gehörten auch Missis Maud Powell und ihre zweijährige Tochter. Davon ist Ihnen also nichts bekannt?«

»Nicht das Geringste, und ganz sicher auch der Patronin nicht, sonst hätte sie mir doch etwas davon erzählt.«

»Weshalb Mister Edward Powell dies seiner zweiten Frau verschwiegen hat, weiß ich nicht. Die beiden galten ihm also für tot. Nach fünf Jahren erfolgte auch die Toterklärung, die aber in Amerika sehr beschränkt ist. Wenn der Totgesagte wieder auftaucht, auch nach fünfzig Jahren, so tritt er eben in alle seine früheren Rechte wieder ein.

Bei Alice Powell hat es nur etwa 20 Jahre gedauert. Das Kind ist nämlich damals von eingeborenen Insulanern gerettet worden, wurde als eine Stammestochter unter ihnen aufgezogen, bis sich dann ein französischer Missionar des weißen Mädchens annahm.

Das Kind hatte an einer Halskette ein goldenes Büchschen hängen gehabt. Darin war ein beschriebenes Pergament enthalten gewesen. Die abergläubischen Fidschi-Insulaner hatten es als Zaubermittel betrachtet, als Talisman, hatten es sorgfältig aufbewahrt, und so war die Büchse mit Inhalt auch in die Hände des Missionars gekommen.

Aber es war eine Geheimschrift, die er nicht enträtseln konnte. Anfangs nicht. Und als es ihm endlich gelungen war, da war das weiße Mädchen auf einem englischen Schiffe, das an der Insel beigelegt, entflohen, hatte sich darauf heimlich versteckt.

Nach diesem Pergament nun war das weiße Mädchen Alice Powell. Im übrigen mache ich es kurz. Der Missionar hat seitdem alles daran gesetzt, das geflohene Mädchen wiederzufinden, hat viele Jahre dazu gebraucht, ohne sonst jemandem davon zu sagen, indem er sich seiner Sache doch nicht ganz sicher war, weil er sich erst überzeugen musste, ob das Mädchen auch wirklich das beschriebene, auffallende Muttermal am Körper hatte.

Vor nicht ganz einem Jahre ist es ihm gelungen. Er fand das Mädchen im Staate Ohio als Kunstreiterin und Seiltänzerin in einem kleinen Zirkus wieder. Er hat dem Mädchen zu seinem Rechte verholfen, das Gericht hat bereits entschieden, während der Abwesenheit der zweiten Gattin des Edward Powell alias Paul Neubert, und ihre Anwesenheit hätte daran auch durchaus nichts ändern können.«

»Und wie hat das Gericht nun entschieden?«, fragte Georg mit eiserner Ruhe, obgleich er sicher nun schon alles Weitere ahnte.

»Indem Mister Powell in seinem Testamente seine erste Ehe verschwiegen hat, ist dieses Testament nun nichtig. Wenigstens insofern, als seine zweite Frau nicht als Universalerbin betrachtet werden kann. Jetzt erhält sie nur ihren Pflichtteil.«

»Und der beträgt?«

»Als der zweiten Gattin, die kinderlos geblieben ist, nach dem amerikanischen Rechte den vierten Teil.«

»Also das wäre?«

»So hätte Missis Neubert nur eine Million Dollars zu beanspruchen gehabt.«

»Und weiter?«

»Sie hat aber vier Millionen Dollars erhalten.«

»Und weiter?«, fragte Georg nochmals.

»Zwei Millionen sind davon noch vorhanden, die sind sofort für Miss Alice Powell mit Beschlag belegt, sind ihr auch schon ausgezahlt worden. Drei Millionen hat sie aber von der Erbschaft zu beanspruchen. Also schuldet ihr Missis Neubert jetzt noch eine Million Dollars.«

Mit einem Male fing Georg wieder ganz energisch mit Messer und Gabel zu arbeiten an.

»Na, da prost Mahlzeit! Ich lasse es mir weiter schmecken, und hoffentlich lässt sich auch die Patronin deswegen nicht den Appetit verderben.«

Doch dann blickte er wieder aufmerksam den Fremden an, nur dass er jetzt weiterkaute.

»Kennen Sie den Fall genau?«

»Ganz genau.«

»An dieser Sache lässt sich nichts mehr ändern?«

»Nein. Das Erbschaftsgericht hat definitiv entschieden.«

»Könnte man es nicht trotzdem mit Schwindlern zu tun haben?«

»Nein. Die Miss Alice Powell befindet sich in ihrem vollkommenen Rechte.«

»Das wissen Sie durch Ihre Allwissenheit?«

»Ich bin nicht allwissend. Aber das weiß ich. Ich selbst könnte ihre Rechte durch Beweise unterstützen.«

»Nun, unsere Patronin wird ihr die Million Dollars auszahlen.«

»Wie das, wenn ich fragen darf?«

»Wenn sich unser Schiff nicht wieder heben lässt, so können doch Taucher eindringen.«

»Was hat das zu sagen?«

»Wir besitzen eine ganze Kiste von echten Perlen, deren Wert wir noch gar nicht haben abschätzen lassen, aber eine Million Dollars bekommen wir sicher dafür.«

»Wo hat sich diese Kiste zuletzt befunden?«

»In der Kabine des ersten Maschinisten.«

»Weshalb sind die Perlen nicht in dem Panzerschrank aufbewahrt worden?«

»Der erste Maschinist, ein genialer Juwelier, obgleich gelernter Hufschmied, fasste in seiner Freizeit die schönsten Exemplare in Gold, machte Schmuckgegenstände aller Art daraus. Zuletzt hatte er einmal die ganze Kiste ausgehändigt bekommen, er wollte den ganzen Kram einmal sortieren.«

»Und die Stichflamme aus der Munitionskammer, wo die Explosion erfolgte, hat gerade die Wand dieser Kabine des ersten Maschinisten durchschlagen, im ganzen Schiffe ist nur dieser eine Raum ausgebrannt, aber auch vollkommen — die sämtlichen Perlen haben sich in gebrannten Kalk verwandelt.«

Nochmals ließ Georg Messer und Gabel sinken.

»Herr, sind Sie allwissend?!«

»Nein, aber zu gewissen Zeiten hellsehend. Oder wenn auch selbst es nicht bin, so haben wir doch Mittel, um das beobachten zu können, was wir beobachten wollen, ohne an Ort und Zeit gebunden zu sein. Verlassen Sie sich darauf: ich werde Ihr Schiff heben, es ist noch vollkommen brauchbar, nur das Leck braucht gedichtet zu werden — aber von den Perlenschätzen werden Sie keine Spur mehr vorfinden.«

»Nun wir wissen noch mehr solche Perlen liegen!«, sagte Georg mit eiserner Ruhe.

»Auf jener Bank bei Halmahera oder Maladekka, von der diese Perlen herstammen? Bemühen Sie sich nicht erst hin. Diese Bank ist bald nach Ihnen von einem holländischen Kriegsschiffe entdeckt worden und wird jetzt von einer holländischen Gesellschaft ausgebeutet.«

»So, ooch noch! Haben Sie sonst noch etwas Erfreuliches zu melden?«

»Rechnen Sie nicht, dass Herr Kapitän Martin irgendwie für die Patronin wieder gut sagt. Er kann es nicht mehr.«

»Was?!«

»Er war ein doppelter Millionär in Mark, hatte sein Geld ausschließlich in Aktien der englischen Salzkompanie angelegt. Diese Gesellschaft hat ihren Konkurs angemeldet, und ich kann schon jetzt sagen, dass für die zahlreichen Gläubiger keine fünf Prozent herausspringen werden.«

Jetzt schlug Georg die Hände über dem Kopfe zusammen.

»Ach jeh, ach jeeeeh! Mensch, haben Sie noch Hiobsbotschaften in der Tasche?«

»Leider ja.«

»Heraus damit!«

»Ihre letzte Hoffnung als Geldquelle wäre Lord Eugen Harlin. Wissen Sie, dass gegen den ehemaligen englischen Kolonialminister einstmals ein Prozess wegen Hochverrat geschwebt hat?«

Georg wusste es. Eine politische Angelegenheit, der Kolonialminister sollte einmal auf eigene Faust mit den noch selbstständigen indischen Fürsten in Unterhandlungen getreten sein, nach seiner Meinung zum Besten seines Vaterlandes, aber das war ihm im englischen Parlament sehr übel genommen worden. Zwar war er aus dem Prozess glänzend gerechtfertigt hervorgegangen, aber gestürzt war der Kolonialminister doch worden.

»Dieser Prozess wegen Hochverrats ist wieder aufgenommen worden, es sind neue Belastungen hinzugekommen. Wiederum wird — so weit darf ich einmal die Zukunft enthüllen — Lord Harlin gerechtfertigt daraus hervorgehen, unschuldiger und glänzender denn zuvor, aber das geschieht erst nach vielen Jahren, und so lange ist all sein bewegliches und unbewegliches Gut von der Regierung natürlich mit Beschlag belegt.«

»Na, da wird sich der Lord ja ebenso freuen wie der arme Kapitän! Sonst noch etwas?«

»Seine Nichte, die kleine Herzogin von Suffolk, kommt nicht in Betracht, sie ist noch unmündig.«

»An die habe ich gar nicht gedacht.«

»Alle Ihre Hilfsmittel sind erschöpft.«

»Das merke ich. Vielleicht noch Vater Abdallah...«

»Auf den dürfen Sie ebenfalls nicht rechnen.«

»Und wir Argonauten alle zusammen bringen wahrscheinlich keine tausend Taler zusammen. Sonst noch so eine Hiobsbotschaft?«

»Nein, nun kommen die angenehmen Mitteilungen.«

»Ahaaaa! Na, da schießen Sie mal los.«

»Die Explosion in der Pulverkammer hat nur den Doppelboden durchschlagen, das Wasser ist nur in den Kielraum gedrungen, was aber genügte, um das Schiff auf den Grund zu setzen. In tieferem Wasser wäre es nicht tiefer gesunken, als es jetzt steht. Sonst ist also nur noch die Kabine des ersten Maschinisten ausgebrannt, allerdings auch vollkommen.«

»Das sagten Sie bereits, und da finde ich nicht gerade etwas Erfreuliches dabei.«

»Doch. Sonst nichts weiter. Im Augenblick der Katastrophe waren zufällig alle Schotten und sämtliche Türen wasserdicht geschlossen...«

»Ahhh!«

»Sie werden nach Hebung des Schiffes die ganze Einrichtung vollkommen unversehrt finden.«

»Alle Wetter, das ist allerdings eine angenehme Nachricht, wenn sie sich bewahrheitet!«, rief Georg erfreut.

»Verlassen Sie sich darauf. Nur diejenigen Orgelpfeifen, die in die obersten Ventilationsröhren eingebaut sind, sind etwas verschlammt, lassen sich aber leicht wieder reinigen.«

»Na, da wird sich unser Meister Hämmerlein aber freuen, wenn er seine Orgel wieder hat!«, jubelte Georg immer mehr auf.

»Der gefährdetste Raum war die Bibliothek, dort standen die Bullaugen offen...«

»Ja allerdings!«

»Aber die Verbindungstür war ausnahmsweise geschlossen, kein Blatt ist nass geworden.«

»Es wird immer besser!«

»Sie können also ruhig weiter gaukeln!«, lächelte Price O'Fire.

»Wird auch gemacht!«

»Nur bitte ich Sie, sich dabei unter meine Führung zu stellen.«

Georg stutzte doch etwas.

»Hm. Herr, wer sind Sie eigentlich?«

»Ich hin ein Mitglied jener geheimen Gesellschaft, der auch die Schwester Anna angehört.«

»Diese Schwester Anna hat uns mörderisch im Stich gelassen.«

»So glauben Sie! Es war nicht anders angängig, sie durfte sich in Ihre Angelegenheiten zuletzt nicht mehr mischen.«

»Hm. Ich hatte die Dame sogar einmal in Verdacht, dass sie die Explosion erst veranlasst haben könnte, um uns hier festzunageln.«

»O, wo denken Sie hin...«

»Bitte um Entschuldigung, es war auch nur einmal so ein Gedanke, den ich zur Sühne jetzt offen ausspreche. Nein, für so schlecht halte ich diese Dame nicht.«

»Jetzt bin ich von unserem Meister Ihnen, das heißt den Argonauten persönlich zur Verfügung gestellt worden.«

»Und wohin werden Sie uns führen?«

»Zu Ihrem Rechte.«

»Das ist ein weiter Begriff. Bitte, drücken Sie sich deutlicher aus.«

»Ihre Patronin ist nicht so arm, wie sie nach Verkünden jener Botschaft wähnen wird.«

»Nicht?!«

»Sie verfügt noch über unermessliche Schätze, an denen aber auch alle Argonauten partizipieren.«

»Was denn für Schätze?«

»Ahnen Sie nichts?«

»Hm. Sie meinen den unterirdischen Wasserlauf in Arabien mit den Goldadern und den eingesprengten Rubinen?«

»Nein, der Zugang zu diesem Schatzlager des ehemaligen Ophir soll der Menschheit vorläufig noch verschlossen sein, so ist in einer Beratung unserer Meister beschlossen worden.«

»Wo sollen diese Schätze sonst liegen?«

»Es handelt sich um mehr als 25 Tonnen Gold und um schier unermessliche Schätze an Edelsteinen aller Art.«

»Was?!«, schnellte Georg von seinem Sitze halb empor. »Ahnen Sie nun etwas?«, lächelte der germanische Hüne.

»Doch nicht etwa... die Schätze der ›Desolation‹... des Flibustierkapitäns van Horn?!«

»Sie sagen es: Die sich jener Kapitän Satin, genannt Satan, unrechtmäßiger Weise angeeignet hat. Denn er hat das Geheimnis einfach gestohlen, der rechtmäßige Besitzer war der Bruder Ihrer Patronin, diese ist seine Erbin oder eigentlich natürlich seine Tochter, aber die sämtlichen Argonauten partizipieren doch daran, und was Recht ist, soll Recht bleiben.«

»Aber diese Schätze sind doch mit dem Untergange des ›Seeteufels‹ in die Meerestiefe gesunken!«

»Vorausgesetzt, dass Kapitän Satin sie an Bord gehabt hätte.«

»Er hatte sie nicht?!«

»Nein, er hatte sie gleich nach Abholung in Sicherheit gebracht.«

»Wo?«

»Dort, wohin ich Ihr Schiff führen werde. Bitte, lassen Sie sich das vorläufig genügen. Hingegen mache ich Sie von vornherein darauf aufmerksam, dass Ihre Argonauten wegen dieser Schätze noch einen harten Kampf zu bestehen haben werden.«

»Mit wem?«

»Mit demjenigen, der diese Schätze jetzt als sein Eigentum betrachtet.«

»Und wer ist das?«

»Kapitän Satan.«

»Was?! Der hat doch damals seinen Tod gefunden!«

»Nein, er ist der Explosion und den Fluten unversehrt entkommen, er hat bereits neue Proslewiten um sich versammelt, führt schon wieder ein anderes Seeräuberleben. Sie und Ihre Argonauten sind dazu bestimmt, dieser Mördersekte ein für allemal ein Ende zu bereiten.«

»Well«, sagte Georg einfach und schob jetzt endlich gesättigt die geleerten Teller zurück. »So, Mister O'Fire, wenn Sie nur ein klein wenig allwissend sind, dann müssen Sie ganz genau wissen, was mir jetzt zu meinem Glücke noch fehlt.«

Lächelnd erhob sich der germanische Riese, brachte aus einem Wandschranke eine Zigarrenkiste herbei, jeder der Einwohner mit einer goldenen Bauchbinde bekleidet.

»Aaah, echte Havannas«, schmunzelte Georg, als er nach einer griff, »sogar Vegueros. Sehen Sie, Mister O'Fire, Sie sind doch noch allwissender, als Sie in Ihrer Bescheidenheit zugestehen wollen. Was ich mich während dieses ganzen Jahres nach einer Havanna, überhaupt nach einer Zigarre, nach einem rauchbaren Tabak gesehnt habe, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Für diese Zigarre werde ich mich später, wenn es so weit ist, mit einer Kiste Diamanten revanchieren.«

»Sie haben aber doch immer genug Tabak gehabt, haben ihn auf dem Plateau selbst gebaut.«

»Allerdings, wir fanden eine ganze Tabaksplantage, wilde Pflanzen massenhaft, aber jetzt bemerke ich, dass Sie doch nicht so ganz allwissend sind, oder nur hellsehend, nicht hellriechend. Ja, geraucht haben wir diesen Tabak — aber selbst für den Geschmack und Geruch unseres Eskimos war es ein ganz infames Luderzeug. Und schließlich doch besser als Kabelgarn und ausgefranstes Tauwerk, nach dessen Genuss man immer mit zehn Knoten laufen muss. Ja, wo ist aber nun — ich habe mein Feuerzeug im Boot in meinem Ledersäckchen...«

Suchend blickte sich Georg nach Streichhölzern oder etwas ähnlichem um.

»Bitte hier.«

Price O'Fire hatte in die Westentasche gegriffen, eine schwarze Kugel von etwa Walnussgröße zum Vorschein gebracht und hielt ihm diese hin.

»Was ist denn das?«

»Ein Feuerzeug. Wollen Sie sich bedienen. Nur muss ich es selbst halten.«

In dem Augenblick, wie Georg das Ende seiner Zigarre der schwarzen Kugel näherte, begann sich diese zwischen den Fingern des Mannes rot zu färben, und es war wirkliche Glut, Georg konnte daran seine Zigarre anbrennen.


Illustration

»Hm«, brummte er, behaglich die blauen Wölkchen von sich blasend, während jener die Kugel, die sich wieder schwarz gefärbt hatte, wieder in der Westentasche verschwinden ließ, »ein sehr merkwürdiges Feuerzeug.«

»Eine Erfindung von mir.«

»Sehr praktisch. Nur über eines wundere ich mich.«

»Worüber?«

»Die ganze Kugel erglühte doch.«

»Ja.«

»Und Sie haben sich dabei nicht die Finger verbrannt?«

»Herr Kapitän, Sie und Ihre Gefährten werden an mir noch verschiedenes Merkwürdiges beobachten. Jetzt nur eines. Sprechen Sie japanisch?«

»Wenig mehr als bantschai, was wohl Hurra bedeutet, und vielleicht irre ich mich noch hierbei.

»Sonst würden Sie hier an Bord öfters vernehmen, dass mich die japanische Besatzung meist den »Fürst des Feuers« nennt.«

*

77. Kapitel

Ein unbegreiflicher Handstreich

Originalseiten 1906 — 1926

Wir überspringen einige Wochen. Die Stadt Para prangte in festlichem Gewande, alles ein einziger Flaggenschmuck.

Denn in ihren Mauern weilte Juan Lopez, der Präsident der Republik Brasilien.

Juan Lopez war einer von den achtzehn Plantagenbesitzern, denen einfach ganz Brasilien gehört. Die anderen 14 Millionen, die Brasilien bevölkern, Weiße, Neger, Indianer und Mischlinge, kann man einfach als deren Sklaven betrachten, wenn es in Brasilien auch dem Namen nach keine Sklaverei mehr gibt. Höchstens die etwa 600 000 Indianer, wie man sie ungefähr schätzt, die in den Pampas und Wäldern noch in ungebundenster Freiheit herumschwärmen, kann man davon ausschließen.

Plantagenbesitzer ist dort ein gar weiter Begriff. Auf diesen achtzehn Plantagen liegen auch alle industriellen Unternehmungen und alle Bergwerke und Minen. Selbst Großkaufleute kann man dort nur als Beamte dieser aus achtzehn Mann bestehenden Feudalherrschaft betrachten. Gebieten diese Kaufleute über Reichtümer, über großes Einkommen, so ist das doch nur immer als ein enormes Gehalt aufzufassen, das ihnen diese Plantagenbesitzer gewähren. Ein Wink von ihnen, und so ein reicher Großkaufmann ist eben gleich seiner Stellung enthoben, ist ein Bettler.

Seitdem aus dem einstigen Kaiserreiche Brasilien eine Republik geworden ist — und schon früher — hat dort das Klassenwahlsystem nach der Höhe des Einkommens geherrscht. Da nun diese achtzehn feudalen Plantagenbesitzer mehr Einkommen haben als alle die anderen 14 Millionen Brasilianer zusammen, so haben sie auch immer den Präsidenten nach ihrem Geschmack gewählt, haben überhaupt immer die absolute Herrschaft in Händen gehabt, und das umso mehr, weil sie auch alle Mannschaften des Heeres und der Marine aus ihrer eigenen Tasche besolden, und zwar für südamerikanische Verhältnisse außerordentlich reichlich, wofür sie natürlich ebenfalls ihre Leute aussuchen, ihre Soldaten, sodass durch eine Volksrevolution gar nichts gegen sie zu machen ist.

So war es wenigstens bis vor einem halben Jahre gewesen. Da war nach dem Tode des bisherigen Juan Lopez, Plantagenbesitzer von Santa Leopoldina, der reichsten einer, zum neuen Präsidenten gewählt worden, wie immer in Brasilien auf Lebenszeit, natürlich wie immer durch die Stimmen seiner feudalen Genossen und ihrer Sippschaft.

Aber Señor Lopez hatte ihr Vertrauen auf die gemeinste Weise getäuscht, hatte infamen Hochverrat begangen. Jetzt als allmächtiger Präsident erklärte er sogar ganz offen, dass er ein Heuchler, dass er in seinem Herzen schon immer Demokrat gewesen sei, und sein erstes war, dass er das allgemeine Wahlrecht mit gleicher Stimmenzahl vorschlug und durchführte.

Die Folgen lassen sich denken. Ganz Brasilien jubelte ihm als Befreier von der Knechtschaft zu. Natürlich nur jene 17 Plantagenbesitzer nicht. Die nannten ihn einen ganz gemeinen Schuft. Aber deren Macht war nun gebrochen. Auch Heer und Marine hatte Juan Lopez sofort auf seiner Seite. Und was er für ein Charakter war, wie ehrlich er es als Demokrat meinte, das bewies er dadurch, dass er sofort seine unermesslichen Besitzungen für freie Kolonisation hergab und außerdem nordamerikanische Werften mit dem Bau von zwei Linienschiffen, zwei Küstenpanzern, drei Panzerkanonenbooten und fünf Torpedobooten beauftragte, mit denen er die Flotte beschenken wollte, alles auf seine eigenen Kosten.

Gebrauchen konnte die armselige brasilianische Marine diesen Zuwachs allerdings auch sehr gut. Da sieht man aber auch, was es in Brasilien für Geldmänner gibt. Eben diese achtzehn Plantagenbesitzer. Unermesslich reich! Wirklich unermesslich. Der Wert ihres Grund und Bodens ist ja gar nicht zu taxieren. Da sieht man aber auch, was dieser Juan Lopez für ein Mann war!

Jetzt hatte der neue Präsident seine erste Inspektionsreise angetreten, um sich dem Volke vorzustellen, gewissermaßen seine Krönungsreise, hatte mit seinem Kriegsschiffe alle brasilianischen Küstenstädte angelaufen, selbst kleine Ortschaften, und es war eine einzige Triumphfahrt gewesen. Gleich im Anfange seiner Präsidentschaft waren kurz hintereinander zwei Attentate auf ihn erfolgt, ganz sicher waren die Anstifter dazu jene 17 Plantagenbesitzer gewesen, wenn ihnen auch nichts zu beweisen war, und der eine Attentäter, ein zer- und verlumptes Individuum, hatte dann gleich sein Stilett, das an einem Knopfe des Waffenrockes abgeglitten, in sein eigenes Herz gegraben, und der zweite Attentäter, noch zerlumpter, dessen Schrotschuss noch jetzt in der rechten Schulter des Präsidenten saß, war sofort von der wütenden Menge in Brei verwandelt worden — aber ganz sicher würde auch kein dritter Anschlag auf sein Leben vorkommen.

Denn gerade die Ärmsten des Volkes drängten sich allüberall herbei, um für den geliebten Präsidenten eine Leibwache zu bilden, einer bewachte eifersüchtig den anderen, und dasselbe galt für die ihn begleitenden Offiziere und sonstigen Würdenträger.

Jetzt also befand er sich in Para als auf der letzten Station seiner Huldigungsreise. Vorausgesetzt, dass es dann nicht weiter den Amazonenstrom hinaufging. Und die Stadt hatte noch einen ganz besonderen Grund, sich so festlich zu schmücken, wie auch ein besonderer Grund vorlag, dass der Präsident für seine Reise mit Familie und großem Gefolge statt eines ansehnlichen Kriegsschiffes nur einen kleinen Kreuzer benutzt hatte.

Auf den nordamerikanischen Werften waren die bestellten Schiffe mit gewöhnlicher Schnelligkeit gebaut worden, sie sämtlich hatten bereits ihre Probefahrt bestanden, ganz ausgezeichnet. Denn trotz dieser Fixigkeit kann man den Yankees im Schiffsbau keine Schundfabrikation nachsagen. Und nun war die ganze brasilianische Kriegsflotte, aus 48 Schiffen und Fahrzeugen bestehend, unterwegs, um die zwölf neuerbauten abzuholen, sie befanden sich sogar schon wieder auf dem Rückweg. Und hier in Para sollte der feierliche Empfang dieser ganzen brasilianischen Flotte durch den Präsidenten und die sonstigen ersten Würdenträger des Landes stattfinden, und das umso mehr, weil Para wahrscheinlich der neue und erste Kriegshafen dieser Flotte werden sollte, weil der neue Präsident das bisher total vernachlässigte Gebiet des Amazonenstromes für den Handel eröffnen wollte.

*

Wieder hatte der neue Präsident den Geist des einfachen Volkes zu treffen gewusst, indem er für seinen längeren Aufenthalt in Para mit seiner Familie nicht die Prunkzimmer des Regierungspalastes bezogen, sondern sich in das ziemlich schlichte Haus des Bürgermeisters, hier merkwürdigerweise Major domo, Hausmeister genannt, einquartiert hatte. Jene Prunkzimmer hatte er seinen Ministern und Generalen und dem sonstigen Gefolge überlassen.

Die Familie des Präsidenten saß beim Frühstück, das wir Mittagsmahl genannt hätten. Juan Lopez war ein Mann mittleren Alters, eine äußerst sympathische Erscheinung, sein Gesicht drückte ebenso viel Energie aus wie echte Herzensgüte und dasselbe konnte man von seiner noch so jugendlich aussehenden Gattin sagen, die ihm aber schon zwei Mädchen und drei Knaben geschenkt hatte, zwischen sechs und dreizehn Jahren, alle mit hier am Tisch versammelt, reizende Kinder.

Am Tische präsidierte der Bürgermeister als einfacher Hausherr. Es war ein echter Portugiese, nur darf man sich einen solchen nicht immer klein und dürr vorstellen, wie in der Kaffeetrommel geröstet. Auch König Karl I. von Portugal ist oder war gewiss ein echter Portugiese, aber der wog bekanntlich fast drei Zentner und sein Vollmondgesicht glänzte wie Milch und Blut, und dieser Major domo von Para hier sollte die größte Ähnlichkeit mit diesem damals noch nicht ermordeten König haben.

Jetzt räusperte er sich mächtig, wälzte sich vom Stuhle empor, erhob sein Glas und machte es kurz und bündig.

»Ich erhebe mein Glas auf das Wohl des zukünftigen Kaisers von Brasilien...«

Weiter kam er nicht, er wurde durch etwas unterbrochen, und das war sehr gut. Denn entweder musste der biedere Bürgermeister, dessen Verstandesschärfe sonst so gerühmt wurde, heute früh schon tief ins Glas gesehen haben, noch vor diesem Frühstück, oder er war eben heute einmal ganz und gar von Gott verlassen, dass er hier den Präsidenten der Republik Brasilien als zukünftigen Kaiser hochleben ließ in Gegenwart von Dienern, dabei auch noch wie ein Ochse brüllend.

Noch lauter aber hatte ein Kanonenschuss ganz in der Nähe gebrüllt. Hatte gebrüllt, dass beinahe die klirrenden Fensterscheiben geplatzt wären.

Alles war aufgesprungen. Aber nicht etwa vor Schreck.

»Das Geschwader kommt!«

Nur der Major domo hatte sich gleich wieder gesetzt und legte sich eine neue Portion Ragout vor.

»Das ist gar nicht möglich«, erklärte er, »das muss erst San Movo passieren, von dort wird es telegrafisch gemeldet, und das würde nach dem Hafenadmiral erst ich erfahren, und außerdem stehen die Salutgeschütze auf der Kaibatterie und nicht in meinem Hause, ganz abgesehen davon, dass zum Empfang der Flotte 30 Salutschüsse gelöst werden und dass diesem ersten kein zweiter folgt.«

Nein, der folgte nicht, dafür aber trat alsbald der persönliche Adjutant des Präsidenten ein, machte seine Meldung ganz unbefangen, mehr in erzählendem Tone, wie er auch keine Stellung nahm.

»Auf dem Hofe ist versehentlich ein Böllerschuss gelöst worden, ein Kanonenschlag, nur ein Feuerwerkskörper. Ich bitte für den armen Sünder um Verzeihung. Es ist ein Hausknecht, der dadurch seiner Freude Ausdruck geben wollte, dass er Eurer Exzellenz, seinem geliebten Präsidenten, täglich die Stiefel putzen darf. Aber ich habe auch noch eine andere Meldung zu machen. Ein ganz merkwürdiges Ereignis. Man kann den Kanonenschlag tatsächlich als Salutschuss für ein Schiff auffassen, das soeben in den Hafen läuft. Es ist die wohlbekannte ›Argos‹, das Gauklerschiff.«

»Das ist ja gar nicht möglich!«, erklang es wiederum, jetzt aber vielstimmig im Chore. »Die ›Argos‹ ist doch schon seit einem Jahre verschollen, hat irgendwo ihren Untergang gefunden!«

»Verschollen war sie wohl, aber von einem Untergange ist nichts bekannt geworden. Es ist die ›Argos‹, die soeben in den Hafen dampft. Das Schiff ist bekannt genug, und die Mannschaft eines anderen Schiffes müsste ja geradezu wahnsinnig geworden sein, dass sie diesen Namen auch signalisiert — Argos, Hamburg — und außerdem auch noch die Standarte der Freifrau von der See gehisst hat.«

»Das Gauklerschiff, das Gauklerschiff!«, jubelten schon die fünf Kinder. »Papa, die müssen uns eine Vorstellung geben!«

Die Familie von Juan Lopez hatte damals, als die »Argos« in Rio de Janeiro gelegen, auf ihrer Plantage geweilt, und von dort war es doch zu weit gewesen.

Aber von dem Gauklerschiff hatten sie hinterher doch genug gehört, von den wunderbaren Vorstellungen und dem Siege der Argonauten im Wettrudern über alle Kriegsschiffe.

»Ob sie hier eine Vorstellung geben werden?«, fragte auch die Frau Präsidentin ganz erregt.

»Ich werde anfragen lassen, und wenn nicht, dann werde ich sehen, was sich machen lässt!«, entgegnete Papa Präsident und begab sich in das als sein Büro eingerichtete Zimmer, wo ihn bereits einige Minister erwarteten.

Die Kinder mussten sich gedulden. Von diesem Hause aus war der Hafen nicht zu sehen, und dass sie nun gleich hinliefen, um das märchenhafte Schiff anzustaunen, das war nicht angängig, weil es eben die Kinder des Präsidenten dieses Landes waren.

Aber Juan Lopez hatte wie immer sein Wort gehalten, hatte noch vor der wichtigen Besprechung mit seinen Ministern einen Boten, das heißt eine uniformierte Ordonnanz, und zwar als Major uniformiert, nach dem Hafen und dem betreffenden Schiffe gesandt.

Und schon eine halbe Stunde später betrat das Haus des Bürgermeisters ein junger Mann.

Wir wollen gleich verraten, dass es Georg Stevenbrock war.

Aber nicht etwa als Kriegs- oder Postschiffsoffizier gekleidet, überall mit goldenen Borten und Klunkern besetzt, sondern in einem ganz schlichten blauen Anzug nach Seemannsschnitt, die an den Knien schon etwas abgeschabten Hosen so trichterförmig wie möglich, das blaue Jackett über der mächtig breit gewordenen Brust nicht mehr zugehend, um den Hals statt des Kragens ein schneeweißes Seidentuch zu einem äußerst kunstvollen Schifferknoten geschlungen, darin eine Nadel mit einem Kapdiamanten, an einem rohen Goldklümpchen hängend, ein Schmuck, den er schon als Matrose getragen, über dem halb kaffeebraunen, halb ziegelroten Gesicht mit dem fast unsichtbaren, weil weißblonden Bärtchen den steifen Filzhut etwas in den Nacken gerückt, und nun natürlich, da er ja nichts zu tragen hatte, die Hände gentlemanlike in den Hosentaschen.

So baute er sich vor der Portiersloge auf.

»Stevenbrock, Kargokapitän und Waffenmeister von der Hamburger ›Argos‹.«

»Sie wünschen Seine Excellenz den Präsidenten zu sprechen?«

»Ich? Nee. Aber der wünscht mich zu sprechen.«

Das hatte er auf Spanisch gesagt, das wir hier aber doch nicht wiedergeben können. Jedenfalls wusste er auch auf Spanisch ganz diese Ausdrücke zu gebrauchen.

Er spazierte einige Male in der teppichbelegten Hausflur hin und her, spuckte seinen Kautabak auf die Straße, nahm einen neuen Prim »mang dee Kusen«, spazierte wieder hin und her. Bis er wieder vor der Portiersloge stehen blieb.

»Haben Sie mich gemeldet?«

»Nein.«

»Weshalb denn nicht?«

»Der Herr Präsident gibt jetzt seinen Ministern Audienz.«

»Na, aber nun ein bisschen holla! Der Herr Präsident hat unsere Patronin oder einen Stellvertreter zu sprechen gewünscht! Und der bin ich! Nun aber ein bisschen fitsche-fitsche! Oder Ihr Sandsäcke glaubt wohl, wir kommen nach diesem Neste, damit ich hier eine Hausflur mit Schritten ausmessen soll, eh?«

Jetzt merkte der Portier, dass mit dem jungen Manne nicht gut Kirschenessen war, dessen Auftreten war überhaupt ganz dazu angetan, um auch den rabiatesten Menschen einzuschüchtern — er benutzte schleunigst das Telefon.

»Der Herr Kapitän werden von Seiner Exzellenz im Garten erwartet!«, meldete er alsbald. »Bitte, hier hinten hinaus. Ich werde Sie führen.«

Eine Minute später stand Georg in einer Laube des herrlichen Gartens vor dem Präsidenten, vor dem Herrscher der Republik Brasilien. Womit doch gar nicht zu spaßen ist. Wenn aber der deutsche Seemann seinen Hut nicht abnahm, nicht einmal die Hände aus den Hosentaschen, so ist das auch nicht etwa als eine Unhöflichkeit zu betrachten. Das ist eben der deutsche Seemann. Der Bürger der freien Handelsstadt Hamburg behält auch in jedem Lokal den Hut auf dem Kopfe. Und als Cecil Rhodes vor dem deutschen Kaiser stand, behielt er auch die Hände in den Hosentaschen.

»Ich habe die Ehre, Herr Präsident!«, sagte Georg dann sogar sehr höflich. »Stevenbrock ist mein Name, Kargokapitän der Hamburger ›Argos‹ und Waffenmeister ihrer Mannschaft. Sie wünschten die Patronin des Schiffes, die Freifrau von der See Missis Helene Neubert zu sprechen. Diese ist leider am Kommen verhindert. Ich bin ihr Stellvertreter. Habe auch eine Beglaubigung bei mir, wenn Sie sie sehen wollen.«

»Aaah, der berühmte Waffenmeister der berühmten Argonauten, das freut mich, Sie persönlich kennen zu lernen!«, strahlte der gediegene Mann tatsächlich im ganzen Gesicht, als er ihm die Hand hinhielt, und Georg nahm die seine aus der Tasche, um jene kräftig zu drücken.

»Ja, wo hat denn nur Ihr Schiff das ganze Jahr lang gesteckt?! Wo sind Sie immer gewesen?«

»Weit, o weit.«

Man ist nicht umsonst Jahre lang mit einer charakteristischen Person in engster Gemeinschaft zusammen, da braucht man sonst kein Affe zu sein, um sich Gewohnheiten des anderen anzueignen.

Auch Georg hatte, wie es Kapitän Martin mit Vorliebe tat, bei seiner Antwort für eine Geste das eine Bein zu Hilfe genommen, hatte es etwas nach Norden geschlenkert.

Der Präsident lächelte. Der war ja nicht umsonst Präsident eines Reiches geworden, das so groß wie ganz Europa ist.

»Aber sonst ist es Ihnen und dem ganzen Schiffe immer gut gegangen?«

»Fein — fein mit Ei.«

»Alles wohl an Bord?«

»Alles wohl för und achtern Mast.«

»Wie ist das Befinden der gnädigen Freifrau von der See?«

»Fein sein. Kann aber manchmal auch sehr ungnädig sein, hat manchmal den Teufel im Leibe.«

»Bitte nehmen Sie Platz, Herr Kapitän.«

Ein Diener hatte Erfrischungen gebracht, Georg langte zu.

»Werden Sie hier Vorstellungen geben?«

»Nee.«

»Weshalb denn nicht?«

»Weil wir nicht wollen. Die Anchovis sind gut.«

»Sie wollen überhaupt niemals wieder Vorstellungen geben?«

»O doch. Aber nicht hier in Para. Das heißt, Ausnahmen gibt's immer. Wenn Sie, Herr Präsident, uns einmal gaukeln sehen wollen — jut, kann gemacht werden.«

»Herr Kapitän, Sie kommen mir wunderbar entgegen...«

»Da ist doch gar nichts Wunderbares dabei. Ich weiß doch ganz genau, weshalb Sie mich haben rufen lassen.«

»Herr Kapitän«, lachte jetzt der biedere Lopez aus vollem Halse, »ich wollte, ich würde mit meinen neuen Ministern ebenso schnell fertig wie mit Ihnen! Also Sie sind bereit, mir eine Vorstellung zu geben?«

»Well.«

»Und meinen Kindern, meiner Familie.«

»Na selbstverständlich.«

»Aber zu meiner Familie rechne ich mein ganzes Gefolge, das heißt alle meine mir treu ergebenen Begleiter, sogar meine Diener, — und das nicht nur so dem Namen nach.«

Georg hatte gerade nach einer Kaviarsemmel gegriffen, hielt in der Bewegung inne, blickte nach dem Sprecher, zog die Hand zurück, leckte einmal an den Fingerspitzen und klatschte dann jenem auf das weißbehoste Bein, dass es knallte.

»Schön gesprochen, Herr Präsident! Na selbstverständlich. Überhaupt bringen Sie nur mit, wen Sie wollen.«

Der Präsident lächelte — lächelte immer mehr.

»Sie sind doch Leutnant in der deutschen Marine, Herr Kapitän, wie ich gehört habe, nicht wahr?«

»Bin ich.«

»Ich hatte viel mit deutschen Offizieren verkehrt, aber... bei Ihnen werde ich immer an einen Hamburger Kapitän erinnert, mit dem ich einmal noch viel intimer verkehrt habe — in Hamburg!«

Wieder hatte der Sprecher dabei im ganzen Gesicht gelacht, und ein rascher Blick traf ihn.

»Hm«, brummte Georg, »ich weiß recht wohl, was Herr Präsident meinen. Jetzt bin ich aber kein Leutnant der Kriegs-Marine — da wäre ich nun freilich ein etwas anderer, das stimmt — jetzt bin ich Kapitän von einem deutschen Handelsschiffe überhaupt ein deutscher Seemann. Und es braucht nicht gerade ein Hamburger zu sein.«

Die beiden hatten sich verstanden, brauchten nichts weiter darüber zu sprechen.

Aber dieser portugiesisch-brasilianische Landesvater hatte recht. Mit so einem echten, rechten Hamburger Kapitän zu verkehren, mit ihm etwa eine Reise durch Hamburg zu machen — das ist einfach eine Wonne! Weshalb, das ist ja nicht so leicht zu sagen. Das muss man eben selbst erleben. Wie der überall auftritt, wie der überall empfangen wird, immer so ganz familiär, in der gemeinsten Schifferspelunke wie im Spiegelsaal des vornehmsten Hotels, immer jovial und in seinem ihm heiligen Platt immer frisch von der Leber weg sprechend, immer gemütlich und immer Spektakel machend — man muss es erleben. Und eine gepichte Kehle muss man haben.

»Ich darf mitbringen, wen ich will?«

»Wen Sie wollen. Bringen Sie nur alle Ihre Minister und Generale und den ganzen Schwamm mit. Also auch Ihre Diener, und wer Ihnen sonst vertraut ist. Wenn Ihre Gattin Freundinnen hat — bringt se mit. Sonst natürlich... es soll eine intime Vorstellung sein.«

»Ich verstehe.«

»Natürlich kostet die ganze Geschichte nix...«

»O, das kann ich doch nicht annehmen.«

»Na!«, wurde einfach in entsprechendem Tone gesagt.

»Danke verbindlichst«, verbeugte sich der Präsident.

»Da haben Sie mir gar nichts zu danken. Natürlich ist es die Patronin, die Sie einlädt, und wen Sie mitbringen, die sind auch ihre Gäste. Trotzdem muss ich immer ›wir‹ und ›uns‹ sagen, weil wir doch nicht etwa verpflichtet sind, den Gästen unserer Patronin was vorzugaukeln, wir bekommen doch auch nichts dafür bezahlt, nehmen auch nichts dafür geschenkt dann, und doch tun wir's so gern, wenn's ihr Spaß macht. Ja, und wann?«

»Wann Sie bestimmen.«

»So fix wie möglich. Wir wollten eigentlich in drei Stunden schon wieder abdampfen, haben nur einige Kleinigkeiten einzunehmen.«

»Ja, dann gleich jetzt während der Siestazeit.«

»Recht so! Können Sie in einer halben Stunde mit Ihrer Gesellschaft an Bord sein?«

»Jawohl, das ist möglich, es bedarf nur einer telefonischen Bestellung.«

»Gut, dann lasse ich sofort die Vorbereitungen treffen, wir erwarten Sie in einer halben Stunde an Bord. Mehr als tausend bringen Sie doch nicht mit. Mehr haben nämlich in der Batterie nicht Platz. Also törn tau.«

Georg erhob sich, griff aber erst noch einmal nach der Schüssel mit den belegten Brötchen.

»Warten Sie mal, so'n Rundstück will ich mir doch erst noch zu Gemüte führen. Was ist denn das für ein Zeug drauf? Schmeckt ganz delikat.«

»Es wird eine gewürzte Fischpaste sein!«, lächelte Lopez, so wie auch der ernste Price O'Fire bei der Unterhaltung mit diesem jungen Seemanne so oft gelächelt hatte.

»Nee, Fischpaste ist das nicht. Das ist irgend ein Käse mit einem ganz merkwürdigen Gewürz, schmeckt wunderbar.«

»Ich werde den Koch fragen lassen.«

Der Diener war gerade zur Stelle, er lief, kam gleich wieder zurück.

»Der Koch bedauert, das wäre sein Geheimnis, das er nicht verrät.«

»Dann soll sich dieser edle Koch samt seinem Käse begraben lassen. Sie erlauben wohl, dass ich so ein Brötchen mitnehme — oder gleich zwei, wegen's Zusammenklappen. Unser Doktor Isidor braucht nur seine krumme Nase hineinzustecken, unser chinesischer Koch nur einmal zu kosten, dann ist das Geheimnis heraus.«

Georg zog aus der Brusttasche ein zweites weißseidenes Halstuch, zur Reserve mitgenommen, wickelte die beiden zusammengeklappten Brötchen hinein, hielt dem Präsidenten die Hand hin.

»Na da adjüs, Herr Präsident. Also in einer halben Stunde können Sie mit Ihrer ganzen Gesellschaft kommen.«

Der Präsident, ihn bis zur hinteren Haustür begleitend, blickte ihm nach und sah noch, wie Georg dem Portier ein Goldstück zuwarf.

»Ich wollte«, murmelte er, »alle meine Minister und Sekretäre wären so, dann würde ich eher mit ihnen fertig!«

*

Eine halbe Stunde später traf die Gesellschaft am Kai sein, wo die »Argos« vertaut lag. Fast 200 Menschen, Männer und Frauen und Kinder bunt durcheinander gemischt. Oder vielmehr Herren und Damen. Eine ganz glänzende Gesellschaft! Wenn auch viele der Herren wie der Präsident Zivil trugen. Dafür andere goldstrotzende Uniformen in Menge, und die brasilianischen Damen halten auf Pariser Toiletten. Auch einige von Geburt schwarze und braune Gesichter gab es; Neger und Mulatten. Gerade der kommandierende Divisionsgeneral der Nordprovinzen, Manuelo Ladessa, war ein Vollblutafrikaner mit kohlschwarzer Visage, ein riesenhafter Kerl mit herkulischen Schultern, hatte dabei ein ganz kleines Frauchen mit schneeweißer Haut, und die Eltern des Kultusministers waren noch als menschliche Affen, nur bei Festlichkeiten mit dem Lendenschurz bekleidet, im Urwald auf den Bäumen herumgeklettert, ihr Herr Sohn aber, der kleine Indianerbengel, war von einem Missionar eingefangen worden und hatte dann auf verschiedenen europäischen Universitäten studiert.

Georg Stevenbrock, noch ganz derselbe, empfing sie auf der Laufbrücke.

»Meine Herrschaften, ich heiße Sie als unsere Gäste herzlichst willkommen. Die Freifrau von der See lässt sich entschuldigen. Dort oben auf der Kommandobrücke steht der nautische Kapitän, und der bleibt dort oben stehen. Eine andere Vorstellung gibt es nicht. Oder nur insofern, als Ihnen jetzt unsere Jungens, die neuen Argonauten, etwas vormimen werden. Also herein spaziert in die Batterie! Die Kinder brauchen nicht nach vorn, alle Plätze sind gleich gut. Nur die Kurzsichtigen und Schwerhörigen können sich mehr nach vorn setzen. Obgleich wir Spektakel genug machen werden. Und wer was zu essen oder zu trinken haben will, der braucht nur zu piepen. Alles gratis, Trinkgelder werden nicht angenommen, alles Schmeißen mit Goldklumpen und faulen Eiern und dergleichen, ist strikte verboten. Also nur rein, meine Herrschaften, immer rein, immer rrein, immer rrrrrein...«

Es wurde schon genug gelacht, als sie in den breiten Eingang strömten und dann auf einer Treppe zum Zwischendeck hinab.

Solch einen Empfang waren diese Herrschaften nun freilich nicht gewöhnt, sie kamen überhaupt plötzlich wie in eine andere Welt, aber das wars ja gerade!

»Immer rrrein, immer rrrein, immer... bitte, Herr Präsident, ein Wort mit Ihnen erst, ich will Ihnen etwas Besonderes zeigen.«

Mit diesen Worten hatte Georg seine Einladung unterbrochen und den Präsidenten angehalten.

»Bitte, ich stehe zu Diensten.«

»Wollen Sie mir folgen.«

Georg führte ihn über das Deck nach dem Kabineneingang, ebenfalls eine Treppe hinab, sie betraten eine Kabine, die nichts weiter als die üblichen zwei Kojen und einen Waschtisch enthielt.

Georg hatte die Tür hinter sich geschlossen, wandte sich um.

»Herr Präsident, Sie sind mein Gefangener.«

In diesem Augenblick machte der Herr Präsident, der sonst sehr geistreiche Züge hatte, ein etwas dummes Gesicht, und das lässt sich begreifen.

»Ihr — Ihr... was? Was sagten Sie da?«

»Sie und Ihre Familie und alle Ihre Begleiter sind unseres Gefangenen! Lassen Sie ruhig mit sich sprechen... bitte keinen Widerstand...«

Es war kein dummes Gesicht mehr, als jetzt der Präsident eine blitzschnelle Bewegung machte, die mit der Hand jedenfalls in einer Tasche enden sollte, bei einer Waffe.

Aber wenn man überhaupt schneller als der Blitz sein kann, so war es der Waffenmeister der Argonauten.

Noch ehe die Hand ihr Ziel erreicht, hatte Georg gleich beide Handgelenke des Präsidenten gepackt.

»Bitte, Herr Präsident, keinen Widerstand, bitte nicht!«

Trotzdem er zugepackt hatte, dass sich der Brasilianer krümmte, also wohl vor Schmerz, hatte er es im bittendsten Tone gesagt.

»Bitte, keinen Widerstand, bitte nicht! Er nützt Ihnen nichts, ich bin Ihnen über, und es hat auch keinen Zweck, dass Sie schreien, wir sind schon unterwegs!«

»Verrat, Verrat, wir werden entführt«, schrie Lopez dennoch, noch immer sich zwischen den beiden Schraubstöcken wie ein Wurm krümmend, mit seinem Gegner ringend. Freilich ganz einseitig. Es waren eben einfach zwei eiserne Schraubstöcke, die ihn festhielten.

Lopez hatte einen Blick durch das Bullauge geworfen und sofort gemerkt, dass sich das Schiff drehte, also abgetaut worden war und das Ufer verließ.

»Ja, Sie werden entführt, denn...«

»Mann, was wollen Sie denn nur, sind Sie denn wahnsinnig?!«

»Nein, das bin ich nicht, so lassen Sie sich doch nur ruhig erklären...«

Da donnerte ein Kanonenschuss, ein zweiter, ein dritter — immer mehr.

»Die Kriegsflotte — das Geschwader kommt!«

Ja, da kam es! Wie jetzt das Schiff lag und noch einige Zeit liegen blieb, konnte man durch das Bullauge gerade die große Insel sehen, welche dem Hafen von Para vorgelagert ist, und hinter dieser Insel rauschte es majestätisch hervor — — ein dreigedecktes, gepanzertes Linienschiff, also ein Schlachtschiff erster Klasse — im Kielwasser folgend ein zweites, dann ein drittes — dann drei kleinere Panzer, sogenannte Küstenpanzer, aber immer noch ganz mächtige Dinger — dann sieben Panzerkanonenboote — dann neun Kreuzer von zusammen 22 000 Tonnen — dann elf Kanonenboote zweiter Klasse, — dann fünfzehn große Torpedoboote, von denen sechs als Torpedobootsjäger zu gebrauchen — dann sieben Torpedoboote zweiter Klasse — dann acht zweigedeckte Schulschiffe — und schließlich noch sechs armierte Raddampfer.

Das ist die ganze brasilianische Kriegsflotte, wie sie damals war und wie sie noch heute ist. Nur ein Schlachtschiff ist unterdessen verloren gegangen.

Es klingt großartiger, als es in Wirklichkeit ist.

Wenn die italienische oder die französische oder die deutsche oder gar die englische Kriegsflotte so wie hier in ihrer Gesamtheit aufmarschiert, da bekommt man ja nun freilich ein bisschen was anderes zu sehen! Wenn der brasilianische Großadmiral so etwas noch nicht gesehen hätte, da würde auch der, mit Respekt zu sagen, Maul und Nase aufsperren. Während ein deutscher oder englischer Matrose nach dieser brasilianischen Kriegsflotte gar nicht hinblickt, mit Absicht nicht, ihr den Rücken zukehrt, um ihr eben seine Verachtung auszudrücken.

Doch immerhin, es war ein imposanter, ein grandioser Anblick, wie diese sechzig Kriegsschiffe jetzt hinter der Insel hervorgerauscht kamen, dass sie hintereinander fahren, war nur eine perspektivische Täuschung, denn jetzt nur eine kleine Schwenkung und sie bildeten plötzlich eine Frontreihe, und da gab das erste Linienschiff, das Flaggschiff mit der Standarte des Großadmirals den ersten Salut ab, wieder eine kleine Schwenkung, und mit furchtbarem Krachen und lang nachrollendem Donner feuerte jedes Zweideckschiff eine ganze Breitseite ab, und dann wieder eine Schwenkung, jetzt erst ordneten sich die sechzig Schiffe mit ganz vorzüglichem Manöver hintereinander und so nahmen sie Kurs auf den Hafen zu.

Dies alles hatte sich in noch nicht fünf Minuten abgespielt, und so lange hatten die beiden unverwandt durch das Bullauge geblickt, alles beobachtend, der Präsident freilich dabei immer von den beiden Schraubstöcken festgehalten.

»Die Kriegsflotte — unser Geschwader!«, schrie dieser jetzt nochmals.

Dann wieder ein vergebliches Ringen mit dem menschlichen Schraubstock.

»Mann, Mann, sind Sie denn wahnsinnig, was haben Sie denn nur mit mir vor?«

»Präsident Juan Lopez! Ergeben Sie sich in ihr Schicksal! Das ganze Geschwader dort, die ganze brasilianische Kriegsflotte, sie hat gemeutert! Großadmiral Macedo Almeida hat sich zum Kaiser von Brasilien proklamiert!«


ENDE VON BAND 2


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