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ROBERT KRAFT

DAS GAUKLERSCHIFF

DIE IRRFAHRTEN DER ARGONAUTEN

BAND 1

Cover Image

RGL e-Book Cover
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Ex Libris

Erstveröffentlichung als Kolportageroman unter dem Titel
Das Gauklershiff. Die Irrfahrten der Argonauten,
Dresdner Roman-Verlag, 1912

Überarbeitete Neuauflage
4 Bände in neuer deutschen Rechtschreibung
Verlag Dieter von Reeken, Lüneburg, 2022

Quellenangabe
Das Gauklerschiff. Die Irrfahrten der Argonauten.
Lieferungs-Roman von Robert Kraft. Dresden:
Dresdner Roman-Verlag 1912, Kapitel 1—38
(Lieferungen 1 bis 15 teilweise = S. 1—955)

Abbildungsnachweis:
Braatz, Thomas (Archiv): Einbandvorder- und -rückseite
Hertting, Georg: Einbandillustration und sämtliche
Illustrationen im Text Dresdner Roman-Verlag: S. 2

Einbandvorderseite:
Das Gauklerschiff. Die Irrfahrten der Argonauten.
Lieferungs-Roman von Robert Kraft. Dresden:
Dresdner Roman-Verlag 1912, Lieferung 1

Texterfassung und -aufbereitung:
Ralf Schönbach und Helmut Prodinger

Korrektur:
Ellen Radszat und Dieter von Reeken

Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe:
Dieter von Reeken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg
www.dieter-von-reeken.de

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2024
Fassung vom: 2024-12-DD

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle: Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlegers)

Alle von RGL hinzugefügte Inhalte sind urheberrechtlich geschützt

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Das Gauklershiff, Cover von Lieferung 1


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Das Gauklershiff, Titelblatt von Lieferung 1


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Das Gauklerschiff, Band I
Verlag Dieter von Reeken, 2022


INHALTSVERZEICHNIS

Editorische Hinweise

1. Kapitel:
Die Arche Noah

2. Kapitel:
Ein Säbelduell und seine Folgen

3. Kapitel:
Mister Tabak und der Peitschenmülle

4. Kapitel:
Die Grünen und die Roten

5. Kapitel:
Im Lande der Verzweiflung

6. Kapitel:
Was mir die Patrona erzählt

7. Kapitel:
»Ist das nicht herrlich?«

8. Kapitel:
Die Gaukelei beginnt

9. Kapitel:
»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht!«

10. Kapitel:
Ilses Geburtstag

11. Kapitel:
In Marseille

12. Kapitel:
In Paris, meines Vaters Brief und eine Rose

13. Kapitel:
Der Atlantik-India-Atlantik-Marsch

14. Kapitel:
Im Atlantik-India-Theater

15. Kapitel:
Am anderen Morgen

16. Kapitel:
»Zu diesem Augenblicke möcht' ich sagen —«

17. Kapitel:
Geld und Chinin

18. Kapitel:
Ein lebendes Rätsel

19. Kapitel:
Brot auf dem Meere

20. Kapitel:
Ein kaum glaublicher Vorfall

21. Kapitel:
Die Seezigeunerin

22. Kapitel:
Triumphe in Rio

23. Kapitel:
Auf dem Amazonenstrome

24. Kapitel:
Angenehme Überraschungen

25. Kapitel:
Getäuscht!

26. Kapitel:
Sieben Wochen im Urwalde

27. Kapitel:
Der phönizische Diamant

28. Kapitel:
Wir lassen uns chartern!

29. Kapitel:
Der Sternkieker

30. Kapitel:
Das erste Menschenleben, das ich mit Absicht vernichte

31. Kapitel:
Hundegebell und Mondeszauber

32. Kapitel:
Ein Wrack besonderer Art

33. Kapitel:
Kapitän Satan vom »Seeteufel«

34. Kapitel:
Im Kampfe mit Piraten

35. Kapitel:
Was wir in dem Schlupfwinkel fanden

36. Kapitel:
Auf Vancouver

37. Kapitel:
Wie wir unsere Konkurrenten retten

38. Kapitel:
Wir sichten unsere Konkurrenten
und was wirsonst noch erleben

*

Editorische Hinweise

Der vorliegende erste Band (1) dieser Neuausgabe enthält den ungekürzten Text der Kapitel 1—38 (Lieferungen 1 bis 15 teilweise) des von Robert Kraft (1869—1916) verfassten Kolportageromans

Das Gauklerschiff. Die Irrfahrten der Argonauten. Lieferungs-Roman von Robert Kraft. Dresden: Dresdner Roman-Verlag 1912, 60 Lieferungen mit je 64 fortlaufend paginierten Seiten, Format ca. 12,7 x 18,8 cm, illustriert, in 6 Bänden gebunden. Die 60 Frontispize und 121 weiteren Illustrationen sowie die Umschlagzeichnungen der Lieferungshefte wurden von Georg Hertting (1882—1951) gezeichnet.

(1) Band 2 wird die Kapitel 39—77 (Lieferungen 15 teilweise bis 31 teilweise) enthalten, Band 3 die Kapitel 78—111 (Lieferungen 31 teilweise bis 45 teilweise), Band 4 die Kapitel 112—153 (Lieferungen 45 teilweise bis 60).


Wegen der Daten zu weiteren Auflagen und Ausgaben verweise ich auf die umfassende Bibliografie von Thomas Braatz.(2)

(2) Thomas Braatz: Robert Kraft — Farbig illustrierte Bibliographie zum 100. Todestag. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 3., erweiterte Aufl. 2016. — 1032 S. mit über 1000 farbigen Abb.


Ausführliche Informationen über Robert Kraft und sein Werk enthält die farbig illustrierte Biografie von Walter Henle und Peter Richter.(3)

(3) Walter Henle, Peter Richter: Unter den Augen der Sphinx. Leben und Werk Robert Krafts zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Leipzig, Wien: Edition Braatz & Mayrhofer, 2005. — Das Buch ist vergriffen; eine Neuausgabe ist für 2024 geplant.


Mit diesem Romane betritt der bekannte Verfasser wieder sein ureigenstes Gebiet: das des Seeromans. Der Inhalt ist kurz folgender:

Eine junge Hamburgerin, vielfache Millionärin, höchst exzentrisch, hat während ihrer mehrfachen Weltreisen lauter Originale um sich versammelt, meist aus Zirkuskreisen, ebenso aber auch die besten Seeleute aller Nationen. Mit diesen bemannt sie ein Schiff, die »Argos«, nimmt eine ganze Menagerie an Bord, fährt von Hafen zu Hafen und gibt Vorstellungen, den Gewinn wohltätigen Anstalten überweisend; außerdem fordern die Argonauten alle Welt zu Wettkämpfen jeder Art heraus, jeder einzelne von ihnen ist ein Held in seiner Art, darunter herrliche Gestalten wie der Waffenmeister Georg Stevenbrock, der diese Irrfahrten nach seinem Tagebuch erzählt, der Cowboy und Tierbändiger Juba Riata, der grönländische Walfischharpunier Kabat. So umsegelt das Gauklerschiff die ganze Erde, ein Abenteuer jagt das andere, die Argonauten befreien die chinesischen und malaiischen Küsten von Seeräubern, sie ergänzen ihre Menagerie durch Tierfang in Wildnissen — und dabei ist das Ganze durchwürzt vom köstlichsten Humor, wie ihn nur der Mutterwitz deutscher Matrosen zeitigen kann, und verherrlicht von germanischer Treue der Argonauten gegen ihre junge, schöne Herrin, die »Freifrau von der See«.(4)

(4) Das Gauklerschiff. Die Irrfahrten der Argonauten. Lieferungs-Roman von Robert Kraft. Dresden: Dresdner Roman-Verlag 1912, Lieferung 1, hintere Umschlagseite.


Der im Original in Fraktur gesetzte Text ist in Antiqua (Garamond Standard) umgewandelt und an die seit 1996 geltenden neuen Rechtschreibregeln angepasst worden. Aus »Neuyork« wurde also »New York«, aus »Bureau« »Büro«, aus »Telephon« »Telefon«, aus »Tyrol« »Tirol« usw. Offensichtliche Rechtschreibfehler und Schreibweisen sind stillschweigend berichtigt worden, z. B. »Handsome« in »Hansom« »Mynherr« in »Mijnheer«, »Sidney« in »Sydney«, »Sennor/Sennora/Sennorita« in (spanisch) »Señor/ Señora/Señorita« bzw. (portugiesisch-brasilianisch) »Senhor/Senhora/Senhorita«.

Als Herausgeber möchte ich darauf hinweisen, dass ich mehrere Textteile wegen der vielen menschenverachtenden rassistischen (auch nicht durch einen Hinweis auf den »Zeitgeist« zu rechtfertigenden), ja sadistischen Schilderungen Robert Krafts in diesem Roman ungekürzt wiedergebe (z. B. auf S. 521), um eine Auseinandersetzung mit dem Text zu ermöglichen. Bei der Kraft-Rezeption sollten diese abstoßend wirkenden Darstellungen nicht ausgeblendet werden. Im Originaltext wird an einigen Stellen das Wort »Nigger« verwendet. Diese Bezeichnung, die auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als bewusst herabsetzend galt, ist hier durch das seinerzeit nicht durchweg als herabsetzend verwendete Wort »Neger« ersetzt worden.

Fußnoten mit Sternchen (*) stehen so auch im Originaltext, solche mit hochgestellten Zahlen () sind vom Herausgeber eingefügt worden.

Da die 64-seitigen Original-Lieferungen oft mitten in einem Absatz enden, der dann in der Folgelieferung unmittelbar fortgesetzt wird, wird in der vorliegenden Ausgabe der Text im Wege der »Ab- oder Aufrundung« kapitelweise gegliedert. Auf die Seitenzahlen des Originals wird bei den Kapitel-Überschriften jeweils hingewiesen.

Die Wiedergabequalität der Abbildungen war abhängig von der sehr unterschiedlichen Papier- und Druckqualität der Vorlage.

Für freundliche Unterstützung durch den Originaltext der Erstausgabe, für Bilder, Informationen und Hinweise bedanke ich mich bei Thomas Braatz, für die Umwandlung der Frakturschrift in Antiqua und die Textaufbereitung bei Ralf Schönbach und Helmut Prodinger sowie für die Korrektur bei Ellen Radszat.

*

1. Kapitel

Die Arche Noah

Originalseiten 3 — 18

Ich hatte in Bremerhaven auf dem Dreimastschoner »Therese« als zweiter Steuermann angemustert. Wir gingen mit Ballast nach Cardiff in England, nahmen Kohlen für Valparaiso und wollten als Rückfracht in Iquique Chilisalpeter laden.

Nach sechs Wochen denkbar günstigster Fahrt waren wir schon auf der Höhe von Kap Virgins, dem Südostzipfel Patagoniens und wenn alles gut ging, konnten wir morgen um dieselbe Zeit schon Kap Hoorn hinter uns haben.

»Stürmann, dorten aus der Luke roocht's«, sagte da im Vorübergehen zu mir ein Schiffsjunge, der aus der Kombüse das Mittagsessen holen wollte.

Ein Blick, und ich wusste alles.

»Feuer im Schiff, klar die Boote!!!«

Die Kohlen hatten sich selbst entzündet, und da war gar nichts mehr zu wollen. Ja, wir konnten Wasser hineingießen, an Salzwasser fehlte es uns ja nicht, aber dazu mussten doch erst die Luken geöffnet werden, und das ist es ja, woran das schwelende Glimmen nur wartet, auf die nötige frische Luft, um als helles Feuer herauszuschlagen. Wenn es erst einmal qualmt, dann ist es vorbei.

Ade Therese! Wir packten unsere Kleiderkisten und setzten die Boote aus, alle drei. Dann mussten wir noch so tun, als wollten wir löschen. Als nur das erste Brett abgehoben wurde, schlug schon eine rote Lohe heraus, und der erste Steuermann, der sich zu weit vorgewagt, wäre bald in das Flammenmeer gestürzt, die Gase hatten ihn schon betäubt.

Nun aber schleunigst fort! In wenigen Minuten würde der Eisenkasten ein glühender Kanonenofen sein.

Ade, Therese! Wir scheiden ohne Kummer. In Valparaiso hätten wir Dich sowieso sämtlich verlassen.

Ja, wir hatten eine herrliche Fahrt gehabt, und es war ein neues Schiff mit neuer Takelage, noch keine Hand hatte sich wund gearbeitet, und der Kapitän Jürgens war ein prächtiger Mensch — aber bei der Einnahme des Proviants hatte er nichts zu sagen gehabt. Und die Reederei gehörte zu jenen Aktiengesellschaften, welche es sogar den Matrosen vom Leibe abknapsen, um ein paar Groschen mehr Dividende zahlen zu können. Das Hartbrot war voll Würmer, mit den Erbsen hätte man keine Schweine gefüttert, der Speck war blau angelaufen, das Salzrindfleisch stank bereits. Gegen solche Kost rebellierte sogar mein Magen, der, von ewigem Heißhunger geplagt, sonst alles vertrug. Einige Matrosen zeigten schon deutliche Spuren von Unterernährung, wollten immer schlafen und klappten nach jeder größeren Anstrengung zusammen. Ehe wir Valparaiso erreicht, hätte der Hungertyphus ausbrechen können. Der brave Kapitän hatte seine Würste und Schinken und Konserven mit uns geteilt, aber was war das für achtzehn Mann. Ein Tropfen auf einen heißen Stein. In Valparaiso hätten wir anderen Proviant gefordert, und da wir doch keinen bekommen hätten, wären wir alle desertiert.

Wir stießen ab, als Schiffbrüchige auf hoher See im offenen Boot. Denn auch das Aufbrennen zählt zum Schiffbruch. Ein schreckliches Wort. Für uns war's ein Vergnügen. Ich war schon zweimal um Kap Hoorn gesegelt, kannte diese Gegend nicht anders als wie die meisten Schiffer davon erzählen, als den Schrecken des Seemanns. Eine tobende Wasserwüste, von ewigem Schneesturm aufgepeitscht, ehe man die Segel setzen kann, muss man mit der Marlspieke das Eis abklopfen, umlauert von Klippen und tausend anderen Gefahren.

Diesmal war es anders. Es war Mitte Januar, hier unten also Hochsommer! Kein Wölkchen am blauen Himmel, die Hitze aber durch ein kühles Lüftchen gemildert, das die smaragdgrüne See ganz leicht kräuselte. Und aller menschlichen Berechnung nach, würde dieses Wetter noch lange Zeit anhalten.

Was gab es da also auszustehen? Es war eine angenehme Spazierfahrt, eine Gondelpartie. Wir ruderten nach der Küste, die wir, wenn keine Strömung dazwischenkam, in acht Stunden erreichen würden. Hatten wir bis dahin noch kein Schiff gesichtet, das wir unserer Aufnahme für würdig hielten, so fuhren wir noch einige Stunden weiter, in die Magellanstraße hinein. Dort hatten wir unter den Dampfern die Auswahl. Denn vom ersten besten Schiffe ließen wir uns nicht etwa »retten«. Sonst kamen wir schließlich wieder auf so einen Hungerkasten. Nein, ein Passagierdampfer, ein möglichst großer, musste es sein, auf dem es schon zum ersten Frühstück Bratwurst mit Rosenkohl gibt. Zwar nur für die erstklassigen Passagiere, aber gegen unglückliche Schiffbrüchige ist man doch nicht so. Und wir wollten denen schon etwas vormachen, was wir ausgestanden hätten. Ach, wie wir uns freuten!

Ich steuerte die kleine Jolle, bemannt mit drei Matrosen, einem Schiffsjungen und dem Segelmacher. Gleich in der zweiten Stunde kreuzte uns eine Bark mit norwegischer Flagge entgegen. Sie änderte den Kurs, hielt auf uns zu, obgleich wir uns gar nicht um sie kümmerten. Denn die uralte Schmak sah gar nicht nach Bratwurst und Rosenkohl aus, auf der war das Hartbrot sicher ebenfalls lebendig.

In Rufweite gekommen, brüllte Kapitän Jürgens hinüber, dass die »Therese« aufgebrannt sei, machte sonst seine Meldung. Drüben der Kapitän fragte zurück, ob wir aufgenommen sein wollten. Wir winkten gnädig ab, sahen, wie der Kapitän die Achseln zuckte. Nun, wenn wir nicht wollten — das kann ja jeder machen wie er will.

Dann kam von Süden her ein Dampfer. Na, wie der aussah! Wenn der mit einem anderen Schiffe zusammengeriet, blieben die beiden aneinander kleben. Förmlich mit Fett überzogen, alles eine Schmiere. Und dieser Gestank von verbranntem Tran, auch bei Windstille drei Seemeilen weit zu riechen. Ob wir aufgenommen werden wollten? Gott sei uns gnädig! Ein nordamerikanischer Walfischjäger, zwei Jahre unterwegs!

»Aller guten Dinge sind drei,« sagte der Segelmacher, ein Rheinländer, ein dufter Bruder, sein Vater hatte bei Köln eine große Stahlwarenfabrik, sang mit Vorliebe Studentenlieder, wenn er auch nur bis zur Obertertia gekommen, wonach er einen Griff in des Vaters Kasse gemacht hatte und zur See gegangen war, »aller guten Dinge sind drei — das nächste Schiff, das uns einlädt, ist ganz sicher ein Guanokasten.«

Aber an diesem Tage sollten wir überhaupt kein Schiff mehr in Sicht bekommen. Von den Dampferlinien befanden wir uns noch weit ab, und die Segler sind doch rar.

Als die Sonne sank, stellte sich, wie in letzter Zeit immer, starker Nebel ein, der die ganze Nacht anhielt — eine sichere Garantie, dass morgen wieder ein prächtiger Tag würde.

Bald sahen wir die Hand nicht mehr vor den Augen, auch die Bootslaterne hatte gar keinen Zweck, leuchtete wie ein Glühwürmchen. Ich hatte meine Instruktionen. Ab und zu ein Tuten auf dem Nebelhorn. Es dauerte nicht lange, so bekamen wir keine Antwort mehr. Auch einige Signalschüsse wurden nicht erwidert. Wir hatten die beiden anderen Boote verloren. Nun, mochte es sein.

Ich ließ die Riemen einnehmen. Wir hatten ja Zeit, wozu sich abhetzen. Unser Magen knurrte mächtig. Wir waren ja um das Mittagsessen gekommen. Hatten uns freilich auch davor gegraut. Geräucherte Fleischwaren hatte uns der Kapitän nicht mehr geben können, wohl aber jedem Boote einige Flaschen Rum und Genever.

So machten wir uns auf dem Spiritusapparat einen tüchtigen Grog, in den wir den lebendigen Zwieback tauchten. Das war doch einmal etwas anderes. Sogar die Butter war vollständig ungenießbar. Wir fr..., speisten wie die Wölfe.

Dann konnten sich die fünf in die Segel wickeln und schlafen. Ich wachte bis Mitternacht, dann weckte ich den Segelmacher, einen Unteroffizier, der musste bis Tagesanbruch wachen. Und er tat's gern. Der missratene Sohn war ein tüchtiger Kerl geworden, verstand seine Sache, das Segelnähen, so gut wie jede andere seemännische Arbeit, ein treuer Kamerad, von unverwüstlicher Heiterkeit, eben ein echter »Kölner Jong«.

Auch ich legte mich schlafen. Träumte von Bratwürsten und Rosenkohl.

Ich hatte mich nun einmal in dieses Gericht verrannt. Es war eine Reminiszenz aus meiner Schiffsjungenzeit, wo ich einmal gehört hatte, dass es auf den großen Passagierdampfern für die Salongäste schon beim ersten Frühstück Bratwurst mit Rosenkohl geben sollte. Natürlich konnte das nur ein Märchen sein. Solch einen fabelhaften Luxus gibt es doch gar nicht auf der Erde. Dann später hatte ich nie darüber nachgeforscht, ob es vielleicht doch Wahrheit sein könne — jetzt nach zehn Jahren fing plötzlich wieder die Bratwurst mit Rosenkohl in meinem Gehirn zu spuken an.

Eben hatte ich im Traume die zwanzigste verzehrt, ohne die geringste Sättigung zu merken, als ich gerüttelt wurde.

Es war vier Uhr, der Tag graute. Das heißt, es war um uns herum wie etwas durchsichtige Milch.

Zu melden hatte der Segelmacher nichts, hatte unterdessen aber schon den Kaffee gebraut, hatte auch schon wieder die Rumbuttel in der Hand, die ich ihm aber abnahm.

Die anderen räkelten sich unter den Segeln hervor. Dabei warf der eine den Kaffeetopf um. Es sollte zu keinen Auseinandersetzungen deswegen kommen.

»Da steht ein Kasten!«


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Jetzt sahen wir alle die schattenhaften Umrisse eines Schiffes. Gleich darauf wurde der Nebel von der Sonne wie ein Schleier gehoben, und da stand im Osten ein majestätischer Dreimaster mit voller Takelage, wenn auch alle Segel festgemacht. Der Schornstein in der Mitte verriet, dass er auch eine Maschine im Bauche hatte.

»Ein Kriegsschiff! ein Kreuzer!!«

Darüber waren wir uns sofort klar. Nur Kreuzer der Kriegsmarine verbinden noch eine wirklich brauchbare Bemastung und Takelage, mit der man auch wirklich segeln kann, mit einer Maschine. Bei Handelsschiffen kommt das gar nicht mehr vor. Die ganz verschiedene Bauart, die für ein Segelschiff und für einen Dampfer nötig ist, lässt sich bei einem Kauffahrer, bei dem Zeit Geld ist, nicht vereinen. Entweder nur Segel, oder nur Dampf. Höchstens die Winden werden durch eine kleine Hilfsmaschine getrieben. Bei einem Kriegsschiff ist das ja etwas ganz anderes.

Überhaupt erkannten wir auf den ersten Blick, dass es nur ein Kriegsschiff sein konnte.

Nur eines hätte uns irre machen können. Dass am Heck keine Flagge wehte, hatte nichts zu sagen. Die Kriegsflagge ist nicht immer gehisst. Aber der lange Kriegswimpel muss am Großtopp unbedingt wehen. Und der fehlte hier.

Das Schiff drehte uns etwas das Heck zu, aber die Entfernung war zu groß, als dass man den Namen mit bloßem Auge hätte erkennen können. Nur für den äußerst weitsichtigen Matrosen Moritz nicht. Ehe ich das Fernrohr aus dem Futteral gezogen, hatte der schon die Namen buchstabiert.

»Arche Noah.«

»Was, Arche Noah?«, lachte ich.

Dann klärte mein Fernrohr den Irrtum auf.

Der Name des Schiffes war »Argos«, darunter stand der des Heimathafens — Noald.

Der Matrose hatte aus »Argos Noald« mit seinen weitsichtigen Augen »Arche Noah« gemacht.

Noald ist ein kleines Hafenstädtchen bei Liverpool, mit kleiner Werft, sehr tüchtig im Schiffsbau, berühmt wegen seiner Rennjachten, noch mehr wegen seiner Modelle, die es der englischen Kriegsmarine liefert. Große Schiffe können auf der kleinen Werft freilich nicht hergestellt werden. Sie ist nur für feinste Präzisionsarbeit. Aber immerhin, solch einen Kreuzer wie diesen kann sie schon liefern.

Nun aber konnte es auch nicht mehr ein Kriegsschiff sein. Einen Kriegshafen Noald gibt es nicht. Und dennoch war es dem Baue nach ein Kriegsschiff, was wir uns nun aber gleich zusammenreimen konnten.

Wir hatten vorhin etwas vergessen. Es gibt wohl Privatschiffe, die mit voller Takelage eine starke Maschine verbinden: Expeditionsschiffe. Dazu werden ja überhaupt gern ausrangierte, aber noch seetüchtige Kreuzer der Marine genommen. Wir hatten sicher das Schiff einer englischen Südpolarexpedition vor uns.

»Stürmann«, sagte der Segelmacher, »da frühstücken wir wenigstens drauf, und so ein Polarschiff ist am Anfange der Reise so gut verproviantiert, dass es auf ein paar Würste und Schinken und Butterbüchsen gar nicht ankommt.«

Das war bei mir bereits beschlossen gewesen. Diesmal winkten wir nicht ab, warteten auch auf keine Einladung, sondern ruderten gleich hin.

An der Bordwand zeigten sich einige Männer, sonst aber brachte das offene Boot auf hoher See sehr wenig Aufregung hervor. Es war bei diesem herrlichen Wetter alles viel zu gemütlich.

»Sachte, Jungens, nicht so pullen!«, ermahnte der Segelmacher. »Lasst die Zunge ein bisschen zum Halse heraushängen, wir müssen einen total erschöpften Eindruck machen, sonst kriegen wir dort auch wieder nur Tee mit Zwieback und Butter.«

Ein Fallreep wurde herabgelassen, wir machten das Boot fest und kletterten hinauf.

Zuerst wurden wir von einer ganzen Menge oder sogar Unmenge von Hunden begrüßt. Aber Eskimohunde, die den Schlitten ziehen sollten, waren das nicht. Doggen, Pinscher, Bullenbeißer, Windspiele, riesige Bernhardiner und winzige Schoßhündchen und was weiß ich. Anfeinden taten sie uns ja nicht gerade, aber sie machten einen Heidenspektakel.

Ein baumlanger Mann mittleren Alters — ich will ihn gleich als Kapitän Gustav Martin aus Blankenese vorstellen — beide Backentaschen voll Kautabak und die Hände bis an die Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben, sprach uns an, aber es war kein Wort zu verstehen, so bellten und quietschten die Köter, bis der Mann, ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, mit seinen endlos langen Beinen Fußtritte nach allen Richtungen verteilte, worauf das Viehzeug endlich Ruhe gab und sich zurückzog.

»Schiff verloren?«

Ich erstattete Bericht.

»So. Hm. He, Schmidt, habt Ihr's gehört? Meldet es der Patronin. Was da werden soll.«

Ich hatte Englisch gesprochen, der Kapitän hatte diese letzten Worte auf Deutsch zu einem anderen, noch jungen Manne gesagt.

Ohne sich noch weiter um uns zu kümmern, ging der Kapitän nach der Treppe, die zur Kommandobrücke hinaufführte, brauchte zu den zehn oder zwölf Stufen nur zwei Schritte, setzte sich oben, immer ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, auf einen festgeschraubten Feldstuhl und hing seine Beine vor sich über das Geländer.

Der junge Mann, Offizier oder Matrose — das ist ja auf einem Handelsschiff gar nicht zu unterscheiden, auch der Kapitän trägt seine alten Anzüge auf — zögerte noch etwas, blickte mich an, und ich blickte ihn an.

Herr Gott, kannte ich dieses Gesicht nicht schon? Schmidt hieß er? Aber die Schiffskameraden, so weit sie Matrosen sind, kennen sich ja alle nur bei Vornamen.

»Georg — bist Du's oder bist Du's nicht?«, fragte der. »Ja, Georg Stevenbrock —«

»Natürlich, Georg! Kennst Du mich denn nicht mehr?

Ich bin der Ernst — vom Bollriger ›Mozart‹ — von Hamburg nach Port Natal und zurück.«

Ach, der Ernst! Wir hatten eine Reise zusammen als Matrosen gemacht. Vor sechs Jahren. Eine Freundschaft war es nicht geworden, wir hatten uns dann gleich wieder vergessen, ich wusste nicht, dass er unterdessen ebenfalls Steuermann geworden. Aber ein guter Kamerad war er gewesen, und man freut sich doch, so einen wieder zu sehen.

Wir schüttelten uns die Hände, dann ging er, der Patronin zu berichten.

Also eine Patronin gab es an Bord. Der mitfahrende Schiffsbesitzer wird Patron genannt, ist es eine Dame, dann ist's eben die Patronin oder Patrona. Aber nicht etwa, wenn er nur der Vertreter der Reedereigesellschaft ist, mag er auch noch so viele Aktien haben. Dann ist er nur der »Agent«, auch auf deutschen Schiffen englisch ausgesprochen — Ehdschent. Das sind solche Titel, die das Seemannsleben so mit der Zeit geschaffen hat. Patron ist ein ganz exklusiver Ehrentitel. Eigener Besitzer eines Schiffes, ein freier Seekönig, obgleich Handel treibend. Ein Jachtbesitzer ist immer wieder etwas anderes, kann sich nicht mit einem Patron messen. Eine Jacht kann jeder haben, der Geld genug hat, der fährt nur ab und zu aus Liebhaberei zur See. Der Patron ist der freie Fürst im zunftmäßigen Seemannsberufe.

»Hier sind wir aber wirklich in eine Arche Noahs geraten!«, meinte der Segelmacher.

Ja, da hatte er recht. Die Hundemeute war noch das wenigste Viehzeug. Überall sonnten sich Katzen, gewöhnliche Hauskatzen, aber auch einige Angoras und sonstige exotische waren darunter. Über Deck kam eine Elster gehüpft, hackte mir schnell einmal in die Stiefel und sprang dann auf einen Bernhardiner, suchte ihm Flöhe ab. Auf dem Ruderhäuschen stand ein großer Käfig, in dem Lachtauben gurrten, und sie waren nicht etwa eingesperrt, jetzt machten einige ihren Morgenflug. Hinter einem Taubündel amüsierte sich ein junger Waschbär mit einer großen Kugel. Jetzt erst bemerkten wir, dass in der Takelage mehrere Affen herumturnten —

Wohin man blickte, man musste nur suchen — überall entdeckte man neues Viehzeug anderer Art.

»Reeehhhh!!!«, rief der Kapitän, die Einleitung zum nachfolgenden Kommando, ohne seine Beine vom Geländer zu nehmen. »Hol an Steuerbordbrassen Kreuzmast!!«

Aus dem Matrosenlogis unter der Back stürmten acht Mann hervor, ihnen voran aber noch ein Schwein, reichlich groß und dick, wenn auch nicht gerade gar so fett gemästet. Und wunderte ich mich schon, dass es gleich dorthin galoppierte, wohin das Kommando rief, so sollte es noch viel besser kommen.

Eine Rahe wurde nach der anderen angeholt. Das geschieht immer in taktmäßigem Laufschritt, die Matrosen rennen immer hin und her. Und das Schwein galoppierte immer nebenher. Und nicht nur das, sondern wenn es zum nächsten Mast und zur nächsten Brasse ging, dann rannte das Schwein sogar voraus, als wollte es die Leute zur Arbeit anführen, und führte sie auch wirklich stets zur richtigen Brasse, welche Reihenordnung gar nicht so einfach ist — und beim Anholen galoppierte es wieder nebenher. Dann rückte es auch wieder mit den Matrosen ins Logis ab.

Wir staunten nicht schlecht. Doch ich entsann mich, das ein Schweinekenner, der aber dieses Borstentier nicht nur als zukünftige Wurst betrachtete, mir einmal versichert hatte, dass das Schwein das klügste von allen Tieren sei.

Über Deck kam ein brauner Kerl in weißem Anzug und roten Pantoffeln, wohl ein Inder, ein Steward, und trug in beiden Händen eine dampfende Terrine. Hinter ihm her trabte ein schwarzer Baribalbär, ein stattliches Vieh. Wäre es ein weißer Elefant gewesen, wir hätten uns gar nicht mehr gewundert.

Bei unserem Anblick stutzte der Mann, blieb stehen, betrachtete uns nachdenklich, und diesem seinem Nachdenken musste er auch noch in anderer Weise zu Hilfe kommen.

Er nahm die Terrine in den rechten Arm, griff mit der linken Hand in die Jackentasche, brachte eine silberne Dose zum Vorschein. Der Inder wollte eine Prise nehmen. Dazu aber braucht man zwei Hände. Und er musste mit der anderen Hand die Terrine gegen die Brust drücken.

Der Mann wusste sich zu helfen. Sein rechter Fuß schlürfte aus dem Pantoffel, die nackten Zehen hoben sich, öffneten den Deckel der Dose, griffen hinein, nahmen zierlich ein Prischen heraus, führten es zur Nase, links und rechts. Hierauf machte der Fuß die Dose wieder zu, dann aber ging er noch einmal hoch, jetzt schnäuzte er sich mit den Zehen die Nase, und jetzt wischte er, uns immer nachdenklich betrachtend, die unsauber gewordenen Zehen an den Kopfhaaren ab, und als dies geschehen war, setzte er auf zwei Beinen seinen Weg fort, der Bär hinter ihm drein.

Ich blickte den Segelmacher an und der mich.

»Wir sind hier wohl auf ein Gauklerschiff geraten?«, meinte ich.

»Bleiben wir nur bei der Arche Noah«, entgegnete jener. »Hier ist nicht nur das ganze Tierreich immer durch eine Spezies vertreten, sondern auch jede Menschenrasse. Habt Ihr den Kerl dort schon gesehen?«

Erst jetzt fiel mein Blick auf ihn, obgleich er schon immer herumspaziert war. Aber wir waren ja erst zwei Minuten an Bord, und man wusste ja gar nicht, wohin man hier zuerst blicken sollte, überall sah man etwas Neues.

»Ja, wie soll ich diesen Mann nun beschreiben? Wo mit der Beschreibung anfangen? Mit seiner Bekleidung. Das ist das einfachste.

Diese bestand nämlich aus einem ganz bescheidenen Badehöschen. Sonst war er nackt vom Scheitel bis zur Sohle. Und dabei hatte der Mann durchaus keine Ursache, mit seinen nackten Körperformen zu renommieren. Die waren alles andere als schön.

Es war eine Art von Dachshund in menschlicher Ausgabe von gelbbrauner Farbe. Obschon der gedrungene Oberkörper sehr kurz war, erschien er doch länger, weil die mageren, krummen Beinchen noch viel kürzer waren, und obgleich die Knochen aus dem Leibe traten, verfügte er doch über einen kleinen Hängebauch. Und nun zwischen den hohen, eckigen Schultern ein großer, eckiger Kopf mit mongolischem Affengesicht, in dem die Hauptsache die große Öffnung war, Mund genannt, mit dem er sich bequem in die weitabstehenden Elefantenohren beißen konnte.

Und um nun das Kuriosum voll zu machen, hatte der nackte Kerl an seinem Badehöschen eine dicke goldene Uhrkette hängen und daneben zwei Orden. Außerdem rauchte er aus einer Fuhrmannspfeife. So spazierte er, wie ein Schornstein qualmend, gravitätisch hin und her, uns keines Blickes würdigend.

»Ja, was ist denn das nur für ein Mensch?«, machte der Segelmacher erst jetzt seinem Staunen Luft. »I, das ist ja überhaupt gar kein Mensch! Das ist eine Promenadenmischung zwischen Pavian und Dackel.«

Ich musste mich schnell nach der Bordwand herumwenden, um nicht gleich so herauszuplatzen.

Ein lieblicher Duft ließ mich wieder ernst werden und mich umdrehen.

Ein Neger und ein Chinese trugen zwischen sich an Henkeln eine große Platte vorüber, auf der pyramidenförmig Teller aufgebaut waren, und auf jedem lagen zwei große, gebratene Schinkenscheiben und darüber vier Spiegeleier.

Ha, dieser Anblick! Und dieser Duft! Das war mir noch lieber als Bratwurst mit Rosenkohl. Zunächst aber wurde die Platte an mir vorüber getragen. Und wohin? Unter die Back. Wo nach allen Schiffsregeln nur Matrosen und Heizer einquartiert sein können, oder es gibt keine Bordroutine mehr.

»Hört, Segelmacher, hier werden doch nicht etwa die Matrosen zum ersten Frühstück schon gebratenen Schinken mit Spiegeleier bekommen?!«

»Jawohl, und zum zweiten Frühstück Lendenbeefsteak mit Schlagsahne«, spottete der.

Ernst kam zurück.

»Die Patrona will Dich sprechen. Du, Georg, Du kannst als dritter Steuermann ankommen. Unserm dritten ist vor ein paar Tagen von oben eine Marlspieke durch den Kopf gegangen, sofort tot.«

Er brachte mich bis an den Kajüteneingang, ich trat allein ein.

Prachtvoll eingerichtet! Vor allen Dingen aber hatte ich gleich einen Anblick, der mir unvergesslich ist. Ich sehe alles noch nach vielen, vielen Jahren, als wäre es erst gestern gewesen.

Mitten in der Kajüte lag auf dem weichen Perserteppiche ein mächtiger Königstiger, lang ausgestreckt auf der Seite, und neben ihm lag ein Kind, ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, in einem weißen Spitzenkleidchen, hold wie ein Engel, das blasse Gesichtchen von blonden Locken umrahmt — und so lag es schlafend neben dem furchtbaren Raubtiere, das Köpfchen auf der buntgefleckten Brust gebettet, das eine Ärmchen halb um den Nacken des Ungeheuers geschlungen im anderen ein Püppchen, und der Tiger wieder seine Pranke über den Leib des Kindes gelegt, sicher nicht schwer.

So lagen die beiden da.

Das furchtbare Raubtier mit dem grimmigen Gesichtsausdruck — und daneben an seiner Brust das kleine Mädchen, sanft schlummernd, im Traume glücklich lächelnd, das Püppchen im Arme —

Ich weiß nicht — mir stieg plötzlich etwas siedend heiß zum Herzen empor, bis in die Augen hinein. Ich war damals ein gar wilder Gesell, wer mir irgendwie unbotmäßig kam, dem setzte ich sofort die Faust zwischen die Augen. Und anderseits war ich wieder etwas rührselig.

Der Tiger hob etwas den Kopf, blickte mich grimmig an, knurrte leise, und streckte sich wieder. Dem hätte ich ja das Kind nicht stehlen mögen, diesem das Püppchen nicht.

»Bitte, Herr Steuermann, kommen Sie herein«, erklang aus einer Nebenkabine eine feine Stimme. Ich trat ein, wäre mit dem einen Fuß bald auf einen Raben und mit dem anderen auf eine Schildkröte getreten. Nun fehlten bloß noch Schlangen.

An dem Schreibtisch saß eine weißgekleidete Dame, ganz genau dieselben feinen, blassen Züge wie das Kind, das ganz sicher eben solche große, blaue, träumerische Augen hatte. Überhaupt das ganze Gesicht war so eigentümlich verträumt. Aber dabei ungemein freundlich.

»Bitte nehmen Sie Platz.«

Sie hatte auf einen Stuhl gedeutet, der neben dem Schreibtisch im Schatten stand. Solch eine Einladung in der Kajüte war ich gar nicht gewöhnt. Und wäre ich ihr nur lieber nicht gefolgt. Mit einem kleinen Schmerzensschrei fuhr ich sofort wieder empor. Ich hatte mich gerade auf einen Igel gesetzt, der sich, das Unglück schon kommen sehend, bereits mit emporgesträubten Stacheln zu einer Kugel zusammengerollt hatte.


Illustration

Der Steuermann hatte kaum Platz genommen, als er mit einem Schmerzensschrei
wieder in die Höhe fuhr. »Was haben Sie denn?«, fragte die Schiffsherrin, indem
sie lachend nach dem Stuhle sah, auf dem sich ein Igel breit machte. »Ach richtig,
ich habe vorhin Peter auf den Stuhl gehoben, nehmen Sie ihn ruhig weg!«


»Was haben Sie denn? Ach, richtig, ich hatte ja vorhin Peter auf den Stuhl gehoben! Sie haben sich doch nicht wehe getan? Er zeigt niemals die Stacheln. Bitte, heben Sie ihn herunter, recht vorsichtig.«

Also ich hob Herrn Peter zwischen den flachen Händen herunter. Ehe ich mich aber setzte, überzeugte ich mich, dass nicht etwa noch ein Stachelschwein drauf war. Denn das hat noch ganz andere Borsten und meine Hosen waren so dünn.

Nein, jetzt war der Sitz tierfrei. Nur hinten an der Lehne klebte ein Laubfrosch, der dann an meinem Halse herumturnte.

Ich musste berichten.

Die junge Dame sah mich dabei unverwandt an. »Haben Sie Ihre Seefahrtspapiere?«

Ich präsentierte sie. Aber sie warf nur einen einzigen Blick hinein.

»Wollen Sie als dritter Steuermann bei mir bleiben?«

»Wohin geht die Reise?«

»Ganz unbestimmt. Ich mustere auf Zeit, von Monat zu Monat.«

»Was ist die Heuer?«

»Wie viel fordern Sie?«

»Englische Flagge? Die Normalheuer eines zweiten Offiziers — sechs Pfund Sterling.«

»Ich gebe Ihnen sieben.«

Das findet man selten, dass man mehr bekommt als man fordert, am seltensten auf einem Schiffe. Na, ich war's zufrieden, da bin ich nicht so.

»Werden auch die anderen Leute bleiben? Ich kann noch Matrosen brauchen.«

»Sicher.«

»Schicken Sie sie dann einmal zu mir. Melden Sie sich bei Herrn Kapitän Martin, dann lassen Sie sich von einem Steward Ihre Kabinen anweisen. Ihr Vorgänger hat durch einen Unglücksfall seinen Tod gefunden, Sie bekommen andere Kabinen —«

»O, das ist mir gleich, ich bin doch nicht etwa abergläubisch!«

»Nein, nein, es ist nicht nötig, wir haben Platz genug. Treten Sie nicht auf Lottchen.«

Lottchen? Nicht drauftreten? Natürlich blickte ich unwillkürlich nach meinen Füßen. Und da schlängelt sich weiß Gott eine Ringelnatter am Boden! Und was für ein Exemplar!

Nun, Ringelnattern werden so zahm, dass sie auf den Pfiff kommen und aus der Hand fressen. Und Brehm empfiehlt in seinem »Tierleben« Ringelnattern als lebendiges Spielzeug für Kinder. Das sind Ansichten.

Also ich nahm von meinem Halse den Laubfrosch und klebte ihn gegen die Wand, stieg über Fräulein Lottchen, stolperte über einen Hund, trat einer Katze auf den Schwanz, kroch unter einem Affen weg, der oben an der Tür hing und nach meinen Haaren haschte, prallte mit einem braunen Bären zusammen und gewann so nach und nach das Freie.

Ja, ich war in die Arche Noah geraten.

*

2. Kapitel

Ein Säbelduell und seine Folgen

Originalseiten 19 — 57

Ich ging auf die Kommandobrücke und meldete mich als dritter Offizier dem Kapitän, der noch immer so dasaß, die Hände in den Hosentaschen und die langen Beine über das Geländer gehängt, überreichte ihm meine Papiere, wollte es tun. Aber dazu hätte er doch die Hände herausnehmen müssen.

»Well, legen Sie sie dorthin. Sind Sie erschöpft, müde?«

»Nein, gar nicht.«

»Well, Sie treten heute Mittag die dritte Wache an, ich gehe mit Ihnen.«

»Wir gehen drei Wachen?«, wunderte ich mich.

»Drei Wachen.«

Ich ging.

»Eeeh«, wurde ich da zurückgerufen. »Wofür halten Sie das dort?«

Ich blickte hin, wohin er blickte, sah aber nichts. »Was meinen Herr Kapitän?«

»Dort, das Ding auf dem Wasser.«

Er nickte nach der Richtung, dann hob er sein langes Bein und deutete mit langgestreckter Fußspitze. Ich visierte das Bein entlang, musste mir dabei ein Lächeln verkneifen.

Ja, jetzt sah ich es. Wohl nur ein Brett.

»Meine ich auch. Well.«

Ich ging unter die Back, wo ich meine Leute vermutete, steckte wenigstens den Kopf durch die Tür. Dass ein Offizier das Mannschaftslogis betritt, verbietet die Bordroutine, ein ehernes Anstandsgesetz, wenn es auch ungeschrieben ist.

Es waren mehr als 40 Mann, die an zwei langen Tafeln richtig bei gebratenem Schinken und Spiegeleiern saßen, früh um fünf.

Kann man verstehen, weshalb ich so staunte, meinen Augen kaum traute? Man glaube nur nicht, dass es so etwas auf anderen Schiffen gibt. Nicht auf der reichsten Privatjacht. Ganz im Gegenteil. Je reicher der Jachtbesitzer, desto mehr wird geknausert.

Na, ich musste meinen Augen wohl trauen. Es waren unterdessen, seitdem die Tafel vorübergetragen worden, ja erst wenige Minuten vergangen, die Leute waren noch beim besten Schaffen, darunter auch meine, die nicht schlecht stopften und kauten. Schon das frische Weißbrot war ihnen ja die größte Leckerei.

»Hört, Jungens, Segelmacher — Ihr sollt achteraus zur Patrona kommen. Ihr könnt anmustern. Geht sofort. Lasst Euch etwas aufheben.«

Alle fünf standen denn auch sofort auf. Die drei Matrosen und der Junge pfropften sich nur noch einmal den Mund tüchtig voll, mein Segelmacher hingegen, frech wie immer, und Oskar hieß er auch, langte erst noch einmal zu, nahm in jede Hand noch eine große Schinkenscheibe, auf jeder zwei Spiegeleier.

Er musste sie wohl unterwegs schnell essen, auf dem Gange nach der Kajüte. Da nun aber die Dotter noch sehr weich waren, so musste er gleich zu balancieren anfangen. Und denn besann er sich eines anderen, er schob die beiden Schinkenscheiben samt den Eiern in die Hosentaschen, in jede eine.

Wie der dann die weichen Eier wieder aus den Hosentaschen herausbringen wollte, da hätte ich auch dabei sein mögen.

Ich begegnete dem Inder, der seine Füße als Hände gebrauchen konnte, hielt ihn an — jawohl, er war Steward, sogar der erste, sprach Englisch, wusste schon, dass er mir meine Kabinen zeigen sollte, führte mich durch einen anderen Eingang ins Zwischendeck.

Kabinen? Auch der sprach in der Mehrzahl? Wahrhaftig, sogar der dritte Steuermann bekam hier eine Schlaf- und eine Wohnkabine, und wie eingerichtet, die reinen Salons!

Nun allerdings war dieses Schiff ja für Aufnahme von 400 Mann berechnet, und 70 waren, wie ich dann erfuhr, nur darauf, Platz war also genug vorhanden — aber immerhin, zwei Kabinen erhält auch auf einem Salondampfer der erste Offizier nicht.

»Wollen Sie hier oder in der Offiziersmesse frühstücken?«

»Ist es denn hier nicht Zwang, gemeinsam an der Tafel zu essen?«

»Zwang? Hier gibt es überhaupt keinen Zwang. Hier macht außer Dienst jeder, was er will. Wenn Sie wünschen, serviere ich Ihnen den Tee oben auf der Royalrahe.«

So lautete die etwas freie und ebenso sehr merkwürdiger Antwort des Stewards. Denn auf anderen Schiffen gibt es so etwas nicht. Auch in der Kauffahrtei darf nicht einmal ein Matrose essen, wo er will, nur an der Back, am gemeinschaftlichen Tische.

Vor allen Dingen aber hatte ich jetzt das Wort »Tee« gehört.

»Gut, so werde ich diesmal hier essen — also essen — Tee kann man bekanntlich nur trinken.«

Der braunschwarze Fußkünstler verstand mich sofort, der hatte nicht umsonst ein so verschmitztes Gesicht.

»Sehr wohl, Master Governor — ich weiß schon — die Schüsseln sind für Sie bereits heiß gesetzt, ich bringe sie sofort.«

Er ging, ich sah mich in meiner nunmehrigen Behausung etwas näher um.

Donnerwetter, hier war's aber fein! Diese Koje! Seidene Decken! Überall der Name »Argos« mit Gold hineingestickt. Da konnte ich nicht mit meinen Seestiefeln drunterkriechen, wie ich's manchmal liebte. Und dieser Waschtisch!

Übrigens hatte ich es sehr nötig, dass ich mich wieder einmal wusch. Ich klappte die Mahagonieplatte hoch. Da musste ich aber erst Seife — —

Nein, da lag sie schon. Erst aber glaubte ich, es wäre Schokolade. Erstens in Silberpapier eingewickelt, zweitens sah das Stück braun aus, drittens roch es nach Zimt und Vanille. Außerdem aber auch noch nach Rose, Veilchen, Reseda und anderen Blumen des Morgen- und Abendlandes.

»Madame Pompadour« war daran gepresst, und auf einem beigepackten Zettelchen war außer der Versicherung, dass sich mit dieser Seife ständig, wenn sie nicht gerade etwas anderes zu tun hatte, die Madame Pompadour gewaschen habe, auch der Preis solch eines Stückes draufgedrückt: un Franc.

Heuheuh!! Dafür bekommt man ja in Hamburg ein Beefsteak frisch von der Pfanne mit Bratkartoffeln oder vier Pfund allerfeinste Schmierseife! Greunseep.

Wasser war vorhanden. Also ich zog meinen Flausrock aus, krempelte die Hemdärmel hoch, Kragen und Schlips hatte ich nicht abzulegen, und pompadourte mich für einen Franken.

Ich war noch nicht weit über die Handgelenke hinausgekommen, als in der Korridortür des Nebenzimmers, die der Steward offen gelassen hatte, die Patrona auftauchte. Der Waschtisch stand so, dass ich sie gleich sehen konnte, sie also auch mich.

»Darf ich eintreten?«

»Bitte sehr.«

»Ich dachte, weil die Tür offen war — Sie brauchen sich nicht zu genieren.«

Dabei war sie durch die Wohnkabine gegangen, auch in diese Tür getreten.

Nein, ich geniere mich durchaus nicht, da war ich nicht so. Mit einem Male aber fing ich mich doch ein bisschen zu genieren an. Nämlich weil die so meinen Arm anstarrte.

»Herr Gott, haben Sie Arme!!«

Ja, die hatte ich. Man sah es sonst meiner Gestalt nicht an, was ich für Muskeln hatte. Aber ich dachte, die meinte, weil von meinen Armen so eine schwarze Sauce herunterlief.

»Wir mussten doch löschen, und überhaupt, es war doch ein Kohlenschiff, und auf Segelkasten ist das Waschwasser rar«, suchte ich mich zu entschuldigen.

Nur ein leises Zucken um ihren Mund.

»Ich wollte nur sehen, ob Sie alles finden. Dort in der Schublade liegt Kamm und Zahnbürste und alles. Natürlich alles neu. Ich habe soeben alles selbst gebracht. Lieben Sie Gardinen vor den Fensterchen? Ich will Ihnen welche aufstecken.«

Gardinen vor den Fensterchen? Ich muss wohl ein wenig geistreiches Gesicht gemacht haben. Und weil ich mich genierte, weiter zu zeigen, dass ich eigentlich einen ziemlich weißen Arm hatte, fingerte ich dabei immer in dem Wasser herum.

Jetzt wurde auch sie etwas verlegen. Weil sie von »Fensterchen« gesprochen hatte.

»Ich meine die Bullaugen natürlich. Ja, ich weiß, es ist nicht seemännisch. Aber mein Bruder war der tüchtigste Seemann, und vor der Abreise musste ich immer Gardinen vor den Bullaugen seiner Kabine anbringen, sie auch sonst so traulich wie möglich machen. Und ich will hier auf meinem Schiffe wirklich eine Patrona sein, eine Schutzherrin, eine Hausmutter, eine Schiffsmutter. Ich will, dass sich mein Volk — dass sich meine Leute, Offiziere wie Matrosen und Heizer, hier wirklich wie zu Hause fühlen.«

Es war merkwürdig, dass sie sich unter Zeichen einer neuen Verlegenheit schnell korrigiert hatte. Das wäre nämlich gar nicht nötig gewesen. Sie konnte ganz ruhig »mein Volk« sagen. Man spricht bekanntlich vom Schiffsvolk. Dabei wird das erste Wort häufig weggelassen. Jeder Kapitän spricht oft genug von seiner Mannschaft als von »seinem Volke«, ohne etwa von Größenwahnsinn geplagt zu werden.

Doch das war mir jetzt gar nicht aufgefallen.

Im Augenblicke ging mir etwas ganz anderes durch den Kopf.

Vorhin hatte ich sie nur sitzen sehen.

Jetzt stand sie in der Tür, wie in einem Bilderrahmen. Es war eine kleine, zierliche Gestalt

Aber nun dieses Gesicht, dieser Kopf mit dem blonden, einfach gescheitelten Haar!

Herr Gott, wo hatte ich dieses Gesicht nur schon einmal gesehen? Dieses — dieses — wunderbare Etwas darin, was man gar nicht beschreiben kann!

Ach richtig! Raffaels Sixtinische Madonna mit dem Jesusknaben auf dem Arm.

Diese Verschmelzung von Jungfräulichkeit mit Mütterlichkeit, und dann wieder diese Verschmelzung von seligstem Glück mit tiefstem Schmerz, weil all das kommende Unglück schon ahnend — so etwas hat eben nur ein Raffael fertig gebracht.

Und hier schuf es der liebe Gott in natura.

Ich vermag es eben nicht zu schildern.

Und gleichzeitig gingen in meinem Kopfe noch viele andere Dinge herum: Gardinen und Pompadourseife und Kämme und Zahnbürsten, und das alles hatte sie mir selbst gebracht, weil sie wollte, dass —

Und mit einem Male stieg es mir unbändigem Gesellen, der seine Mutter gar nicht gekannt hat, der sich nun schon seit zehn Jahren in der Welt herumschlug, ohne einmal in eine anständige Gesellschaft gekommen zu sein, wieder so siedend heiß zum Herzen empor.

Mit einem Male hatte ich die größte Lust, meine Hände aus dem Waschbecken zu nehmen, dort nach der weißen Gestalt zu greifen und sie an mein Herz zu drücken.

Ich tat's nicht.

»Nee, ich brauche keene Gardinen.«

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe«, sagte sie und ging.

Aber in einem Tone hatte sie es gesagt und mit einem Lächeln, dass ich gar nicht auf den Gedanken kam, ich könnte sie beleidigt oder gekränkt haben.

Statt ihrer trat drüben wieder der Inder ein mit seinem großen Brette, ich hörte ihn klappern.

Da unterbrach ich meine Wascherei. Die Arme konnten ein andermal darankommen. Man soll sich die Arbeit immer einteilen.

Ich trocknete die Hände ab — das erst schneeweiße Handtuch sah ja nett aus — und ging hinüber. Auf dem Tische stand ein großes Servierbrett, auf diesem ein Teeservice und eine ganze Menge schwarzer Töpfe, flache Terrinen aus Steingut, mehr als ein Dutzend. Außerdem ein Weißbrot, ungefähr anderthalb Pfund.

Ehe ich daran ging, den Inhalt der Terrinen zu untersuchen, musste ich mir von dem Inder noch eine kleine Ansprache gefallen lassen.

»Sie einen Deitsland sein? Ick sprecken auch Deitsland. Perfekt, als wäre ick geborener Deitsland.«

Ich gratulierte ihm zu seinen Sprachkenntnissen. Nun ließ ich mich aber nicht länger aufhalten, mein Magen rebellierte.

Doch es sollte immer noch nicht sein. Ein helles Lachen erklang, es kam den Korridor herauf, ein ganz unbändiges Frauenlachen, es war die Patrona, sie wollte an meiner offenen Tür vorbei, konnte vor Lachen nicht weiter, taumelte herein, warf sich auf das kleine Sofa, hielt sich lachend die Schläfen.

Ach Gott, ach Gott — mein Kopf, mein Kopf!! — ich kann nicht mehr — was müssen Sie nur von mir denken — aber Ihr Mann — der Segelmacher — hat der Kerl Spiegeleier in den Hosentaschen!!«

Sie wollte sich an das Seitenpolster lehnen — und purzelte herunter. Es war so ein Schlafsofa, die Seitenlehnen konnten heruntergeklappt werden, und diese hier war nicht richtig befestigt gewesen.

»O Gott, o Gott, wie ich mich schäme, was müssen Sie nur von mir denken!«

Sie hatte sich aufgerafft und war lachend hinausgerannt

Mit des Segelmachers Spiegeleiern hatte es also in der Kajüte irgend etwas gegeben. Ich erfuhr es später. Der Segelmacher hatte stramm gestanden und der Patrona seine Papiere präsentiert. Da war ein Äffchen angeschlichen gekommen, hatte von hinten heimlich in eine seiner Hosentaschen gegriffen, etwas Weiches, Nasses gefühlt, der kleine Affe hatte seine Pfote wieder herausgezogen, mit misstrauischem Blick und verdutztem Gesicht die gelbe Sauce an seinen Fingern betrachtet, hatte die Pfote geschlenkert, daran gerochen und wieder geschlenkert, immer misstrauischer wurde das Affengesicht — na und da war die Patrona eben losgeplatzt. Nein, die brauchte sich nicht zu schämen. Das musste ja eine gottvolle Szene gewesen sein!

»Ja, Patrona sehr gern lachen tun. Abberr auch serr viel weinen. Manchmal serr viel lachen, manchmal serr viel weinen. Patrona ist serr hartleibig.«

»Hartleibig?«

»Serr, serr hartleibig — hier«

Und der Inder legte die Hand auf sein Herz.

Ich hatte ihn schon vorher verstanden. So schwer von Begriffen bin ich nicht. Hartliebig, wollte er sagen. Die Liebe im Herzen bereitete ihr harte Schmerzen. Manchmal aber auch großes Glück. Sie hatte eben hart mit der Liebe herumzuwürgen. Wie jedes Weib. Denn jedes Weib liebt, oder es ist kein Weib, und entweder liebt es glücklich oder unglücklich. Ich bin bloß froh, dass ich kein Mädchen geworden bin. Dann wäre ich jetzt sicher auch hartleibig gewesen.

»Bon appetit, Monsieur, wünse wohl zu speißen, lassen Sie sick gut smecken.«

Ich setzte mich in Positur, klar zum Gefecht. Es waren vier Reihen Terrinen, in jeder Reihe drei. Macht zusammen gerade ein Dutzend. Dann aber hinten als Arrieregarde der Armee noch eine dreizehnte. Hatte nichts zu sagen, ich bin nicht abergläubisch

Natürlich fing ich mit der ersten vorn links an. Sie enthielt Pflaumenkompott. Wurde ausgelöffelt. Dann kam Selleriesalat. Verschwand. In der dritten war Butter. Die aß ich, wie sich's gehört, zusammen mit dem Anderthalbpfundbrot. Brauchte nicht sehr lange Zeit dazu. In der vierten Terrine waren verschiedene Sorten Käse.

Nun aber begann in mir leise die Ahnung zu dämmern, dass ich doch wohl von der falschen Seite aus angefangen hatte. Ich hätte oben rechts anfangen müssen and nicht links unten. Aber ordnungsliebend, wie ich nun einmal bin, setzte ich die nun einmal eingeschlagene Richtung fort. Den Terrinen war das ja auch ganz egal.

Also ich verschluckte — verspeiste die verschiedenen Käsesorten. Dann kamen Steinpilze. Den ersten Löffel spuckte ich wieder aus. Sie waren so heiß. Und dabei war der Terrinendeckel ganz kalt gewesen. Das waren nämlich solche neue Gefäße, in denen sich alles einen ganzen Tag lang kochend heiß oder eiskalt erhält, je nachdem es hineingefüllt wird. Aber so heiß waren die Pilze gar nicht, es war nur die erste Überraschung gewesen, ich konnte sie dann ganz gut mit drei Drucken hinabbringen.

Hierauf kam so ein Mischgemüse, das man wohl Leipziger Allerlei nennt. Fort damit an den Ort seiner Bestimmung! Dann kam Rosenkohl.

Das heißt, jetzt wurde mir die Sache verdächtig! Ich bin nicht sehr für Vegetarismus. Zwar liebe ich ab und zu ein Bündel Heu, aber nur, wenn es erst von einem Ochsen verspeist worden ist. Dann verspeise ich den Ochsen. Und der Rosenkohl löste in mir den Gedanken an Bratwürstchen aus.

Na, in der achten Terrine war Krebsragout. In der neunten eine gebackene Seezunge. Aha, es wurde schon immer fleischähnlicher! Freilich hatte ich nur noch vier Terrinen vor mir. In der zehnten lag eine gebratene Turteltaube, so zart, dass ich vergaß, die Knöchelchen beiseite zu legen. Nummer elf bestand in Hammelfleisch und Reis mit Curry, meine Lieblingsspeise; das heißt eine etwas platonische Liebe. Und nun kam Nummer zwölf daran, die letzte. Hinten die plumpe Arrieregarde zählte nicht ganz voll mit, die stand außerhalb der Reihe.

Es war mir ganz feierlich zumute, als ich den zwölften Deckel lüftete. Und da — und da — was erblickten da meine Augen?

Lagen da drin zwei stattliche Bratwürste!

Nun soll niemand mehr sagen, es gebe keine prophetischen Vorahnungen! Oder aber, die modernen amerikanischen Philosophen haben recht, man soll nur immer wünschen, immer mit aller Kraft das herbeisehnen, was man gern möchte, dann kommt es auch. Freilich meist etwas anders, als man denkt. Wie hier in meinem Falle. Ich hatte immer Bratwurst mit Rosenkohl herbeigesehnt, und statt dessen war Rosenkohl mit Bratwurst herbeigekommen, in umgekehrter Reihenfolge, in einiger Distanz von einander.

Wie aber kamen diese Bratwürste hierher nach Patagoniens Küste?

Nun, heutzutage kann man ja alles präservieren und konservieren. Hätten die alten Ägypter unsere Kunst verstanden, sie hätten uns ihre Mumien ganz anders überliefert; eingekocht in Glasbüchsen. Auch die Hammelwürfel mit Curryreis stammten aus der Büchse, das hatte ich gleich gewusst. Und so werden auch die zukünftigen Bratwürste erst luftdicht gekocht.

Jedenfalls aber lebte man hier unten an Patagoniens Küste nicht schlecht. Früh um fünfe zum ersten Frühstück.

Die dreizehnte, größere Terrine enthielt richtig die Bouillonsuppe, mit der ich die Bratwürste begoss.

Als ich mir den Mund abwischte, klopfte es. Ernst trat ein.

»Du, der Siddy schickt mich, der erste Steward, er geniert sich, selber zu kommen — weil er die Kartoffeln vergessen hat. Ob Du sie noch haben willst. Oder er will Dir als Ersatz auch noch eine große Portion frische Blut- und Leberwurst bringen. Obgleich es sonst nichts mehr davon gibt, nur noch für die Kajüte.«

»Frische Blut und Leberwurst? Konservierte?«

Ernst sah mich groß an.

»Konservierte frische Blut- und Leberwurst? Junge, bei Dir piept's wohl? Wir haben gestern Schweineschlachten gehabt. Es war ein sehr fideles Schlachtfest. Die Sau hieß auch Fidelio.«

»Ach so«, lachte ich, »Ihr esst hier wohl so nach und nach die ganze Menagerie auf? Da gibt's hier wohl auch manchmal Hundeklein und Katzenragout, marinierte Ringelnatter und Laubfrosch in Gelee?«

»Nein, so wie Du denkst, ist es nicht. All das Viehzeug gehört mit zum Volke. Aber Fidelio war in die Winde gekommen, hatte sich ein Bein abgequetscht und wäre eingegangen. Da haben wir es lieber aufgefressen. Eigentlich schade um das Tier. Es war ein sehr gebildetes Schwein, klüger als mancher Mensch. Konnte auf den Hinterbeinen tanzen und die Harmonika blasen, und wenn es gefressen hatte, wischte es sich das Maul mit der Serviette. Du zum Beispiel nimmst dazu, wie ich bemerke, den Handrücken. Ja, es war schade um das Tier. Aber ein fideles Schlachtfest war es doch. Bei 70 Köpfen kommt freilich nicht viel auf den Mann. Unser Schiffsarzt ist ein Jude, ein ganz waschechter, hat eine krumme Nase, krumme Beine, Plattfüße und heißt Isidor Cohn. Und der Igel hat gerade das allermeiste von dem Schweine vertilgt.«

Ernst hatte sich gesetzt, griff in die Brusttasche — hatte der Kerl ein Zigarrenetui bei sich!! Er machte denn auch ein Gesicht danach, als er es mir präsentierte.

»Äääääh — Havanna gefällig? Oder diese hier kann ich Ihnen sehr empfehlen. Santa Rosa Estramadura Felix Brasil mit Sankt Domingo Honolulu-Deckblatt. Bitte, hier ist der Zigarrenabschneider — hier ist Feuer, bitte — äääääh —«

Er ließ ein silbernes Feuerzeug schnipsen.

»Ja, Maat, da staunst Du wohl, was?«

»Junge, Junge, Junge, Junge, was bist Du für ein feiner Bengel geworden!«, staunte ich denn auch wirklich. »Was ist denn das nur für ein Schiff?«

Ernst berichtete. So weit er konnte. Viel war es nicht. Vor fünf Wochen hatte er in Liverpool von einem deutschen Segler abgemustert. Noch vorher war an Bord ein »Seelenverkooper« gekommen, ein Heuerbaas. »Wollt Ihr eine Heuer haben, Boys? Könnt sofort anmustern.« Hin nach dem Seemannsamt. Ein Kapitän Martin hatte gemustert. Für den Dampfer »Argos« aus Noald, in Liverpool liegend, wilde Fahrt. Das heißt, da ist nichts Abenteuerliches dabei. Man wird entweder auf Ziel angeworben, also für einen bestimmten Hafen und zurück, oder für wilde Fahrt, das heißt einfach auf Zeit, der Hafen ist vielleicht noch gar nicht bestimmt, die Heuer geht von Monat zu Monat.

Auch noch die ganze Besatzung eines deutschen Dampfers wurde angenommen, der ebenfalls gerade abgemustert hatte. Mit Ausnahme des Kapitäns und einiger Offiziere. Die Kleiderkisten und Zeugstücke auf den Buckel genommen und nach dem »Argos« abmarschiert. Dreißig Matrosen, zehn Heizer, acht Maate, das sind die Unteroffiziere, zu denen zum Beispiel auch der Koch gehört, und sechs Offiziere und Ingenieure.

Diese kamen neu an Bord, als eigentliche Mannschaft. Und das waren schon sehr viel Hände. Vorgeschrieben waren für dieses Schiff 16 Matrosen, für jede Wache acht Mann. Hier aber wurde die Mannschaft in drei Wachen geteilt, und auf jede kamen zehn! Das war eine enorme Verschwendung! Natürlich als Handelsschiff betrachtet.

Die »Argos« war von der Noalder Werft auf eigenes Risiko, ohne Bestellung, als ungepanzerter Kreuzer für die englische Marine gebaut worden, diese hatte ihn nicht abgenommen Weshalb nicht, wusste Ernst nicht, ich später auch nicht. Ein wunderbarer Segler, mit der Hilfsmaschine dampfte er 12 Knoten, alles tadellos, Präzisionsarbeit durch und durch. Ich glaube, die neueste Theorie über die Geschützaufstellung hätte einen gänzlichen Umbau erfordert. Nun, das kam ja bei einem Kauffahrer oder Luxusfahrzeug nicht in Betracht.

Eine Frau Helene Neubert, hier unsere Patrona, hatte das fix und fertige Schiff, als Schaustück auch schon vollkommen für Offiziere und Mannschaft eingerichtet, gekauft. Mochte ja etliche Millionen dafür bezahlt haben.

Wer war die Frau Helene Neubert? Ernst wusste es nicht. Eben eine Freundin des Seesports, die sich so etwas leisten konnte.

Sie hatte schon eine Besatzung an Bord gehabt. Oder einen Teil davon. Oder eine Gesellschaft. Vierzehn Mann. Eine recht merkwürdige Gesellschaft. Allerdings nicht für ein Schiff, nicht für einen Weltfahrer oder eine Weltfahrerin. So ziemlich alle Rassen der Erde waren vertreten. Ich werde von jedem einzelnen und von seinen Tugenden und Lastern später noch genug zu erzählen haben.

Jetzt will ich nur erwähnen, dass die meisten von diesen vierzehn Mann wohl mit zur Besatzung gehörten, wie der indische Steward und der chinesische Koch und der arabische Zimmermann und der jüdische Arzt, dass aber zwischen diesen und der anderen, neu angemusterten Besatzung eine unsichtbare und dennoch undurchdringliche Scheidewand gezogen war. Und dabei trotzdem die beste Freundschaft, das harmonischste Zusammenleben. Und dennoch vollständig getrennt.

Ernst sagte mir, dass er dieses merkwürdige Verhältnis gar nicht schildern könne, das müsste ich mit der Zeit selber herausfühlen.

Diese anderen, die schon an Bord gewesen, nannte Ernst die »Exklikusen«. Er meinte Exklusiven. Aber nicht, dass nur er hier einmal ein Fremdwort falsch aussprach. Wohl hatte das einmal jemand gemacht, und nun blieb es auch allgemein bei den »Exklikusen« übrigens war diese Wortverdrehung gar nicht so ohne Bedeutung. Im Plattdeutschen sind Kusen die Backzähne. Man kaut auf den Kusen und haut jemandem eine mang die Kusen. Und jene Exklikusen aßen meistens für sich, kauten für sich, konnten also recht wohl »Exklikusen« genannt werden.

Wenn jemand zu diesen Exklusiven gehörte, so war es doch offenbar der Kapitän, der unbedingt allein essen muss. Das war aber eben nicht der Fall! Der wurde mit zur Besatzung gerechnet. Der indische Telleraufwäscher dagegen gehörte mit zu den Exklusiven, verkehrte mit der Patrona in ganz anderer Weise. Doch davon also später mehr.

Diese gemischte Gesellschaft war nebst der ganzen Menagerie, vom Königstiger an bis zum Laubfrosch, unter Frau Neuberts Führung mit dem Londoner Schnellzug nach Liverpool gekommen, das Schiff gekauft, die noch fehlende Einrichtung ergänzt, noch tausend anderlei Dinge angeschafft, verproviantiert, Kohlen eingenommen, ein Heuerbüro schickte den Kapitän Martin, vier Tage später musterte der die eigentliche Besatzung an, am anderen Tage Dampf auf und fort!

Und jetzt fing Ernst von der Patrona an zu schwärmen. Nein, so ein Weib! Die reine Mutter zu jedem einzelnen.

»Leute! Ich bin die Patronin dieses Schiffes. Und ich will Euch eine wirkliche Patronin sein. Ihr sollt Euch auf meinem Schiffe wie zu Hause fühlen, es als Eure Heimat, als Euer Heim betrachten. Ich bin für Euch jederzeit zu sprechen. Wer etwas braucht oder sich über etwas zu beschweren hat, kommt sofort direkt zu mir. Seid Ihr gut ausgerüstet? Kommt mal alle mit.«

Sofort ins nächste große Ausrüstungsgeschäft, alle die Neuangekommenen. Hier sucht Euch aus. Was Ihr braucht. Was Euer Herz begehrt. Ganz egal, was es kostet. Und die Patrona suchte selbst mit aus, um jeden noch extra zu erfreuen. Jedem eine Meerschaumpfeife und dergleichen, was ein Matrosenherz in Verzücken versetzt, nun aber die Meerschaumpfeife gleich mit einem langen Bernsteinstück, silberbeschlagen. Es konnte nichts teuer genug sein.

»Müsst Ihr nicht Uniformen tragen?«, unterbrach ich den Erzähler einmal.

»Nein, Du siehst doch —«

»Aber im Hafen.«

»Auch nicht. Sie sagte es gleich, dass sie solche Livreen bei freien Seeleuten nicht liebe.«

A la bonheur! Das imponierte mir vorläufig am meisten. Ja, mir fiel ein Stein vom Herzen.

Ich würde niemals auf einer Jacht fahren. Nur wegen der Phantasieuniform nicht, in die man da meist gesteckt wird, mit goldenen Knöpfen und Fahnen und Bänderchen. Als Soldat trägt man Uniform als Beamter — auch auf den großen Post- und Passagierdampfern, das ist wieder etwas ganz anderes, dagegen habe ich gar nichts, da muss militärische Zucht sein — aber von einem ix-beliebigen Fatzken, nur weil er einen großen Geldsack hat, lasse ich mich in keine Lakaienlivree stecken!

Am Abend hatte die Patronin sie alle zusammen mit ins Theater genommen. Parkett! Sie mitten dazwischen.

»Ihr sollt Euch anständig amüsieren, und ich bin Eure Patronin.«

Am anderen Morgen hatte hoch Schnee gelegen. Sie hatte ein Dutzend Schlitten bestellt und nun wurde mit Schellengeläut und Peitschenknall weit nach einem Dorfe hinausgefahren.

»Ihr Matrosen denkt immer, man kann sich nicht anders amüsieren, als dass man sein schwer verdientes Geld geschminkten Frauenzimmern in den Hals gießt«, hatte sie gesagt, und sie konnte nicht viel anders sprechen, denn sie sprach eben mit Matrosen. »Ich will Euch einmal zeigen, dass es auch anders geht.«

Und sie hatte es gezeigt. Es war ein Sonntag gewesen. Um zehn Uhr waren sie angekommen, hatten von dem Gasthofe Beschlag genommen. Eine Stunde später, als die Tafel gedeckt wurde, nach Schluss der Kirche, kamen die Mädels in hellen Scharen angerückt. Die Patronin hatte eine allgemeine Einladung ergehen lassen, erst jetzt. Getafelt, Saal ausgeräumt, die Fenster verhangen, Gas angebrannt — da war's nicht Mittag, sondern Mitternacht, und es wurde losgetanzt mit voller Kapelle.

Der Pfarrer und der Gemeindevorstand hatten Einwendungen zu machen gehabt. Das war am Sonntag in England nicht erlaubt. Und nun gar am hellen Tage!

Ach was, nicht erlaubt! Was macht der Seemann einen Unterschied zwischen einem Sonntag und einer Mondnacht! Die Patronin zahlte die Strafe doppelt gleich im voraus, schrieb einen Scheck für die Kirchenkasse aus, und Pfarrer und Gemeindevorstand rückten wieder ab. Oder sie hatten wohl mitgemacht.

»Ach, Georg, haben wir uns amüsiert! Was sind wir doch für dumme Kerls, dass wir unser sauer verdientes Geld sogleich in der ersten Hafenspelunke verlumpen, gleich in der ersten Nacht! Nein, haben wir uns mit diesen Dorfmädels amüsiert!«

»Ja, ja, ich glaub's schon. Na und weiter?«

»Um fünf wurde zurückgefahren, klar Schiff, Dampf auf und zum Hafen hinaus. Na, und so ist das bis heute gegangen. Natürlich keine Schlittenpartien und Mädels. Das gibt's eben an Bord nicht. Aber sonst — wir leben hier wie die Ratten im Käse. Merkst Du nicht, dass ich mir schon ein Bäuchlein angemästet habe? Das ganze Schiff steckt voll Proviant, als Ballast sind Konservendosen geladen. Und was wir nun sonst noch alles haben! Eine große Bibliothek, einen Turnsaal —«

»Eine große Bibliothek?«, fragte ich aufmerksam. »Und was für eine! Ungefähr 2000 Bände. Romane und alles, in aller Schnelligkeit zusammengekauft und dennoch mit aller Sorgfalt ausgewählt. Wenn's einem aufs Geld nicht ankommt, kann man ja alles haben —«

Ernst schilderte noch weiter, was es hier an Bord alles gab. Ich will es hier nicht erzählen, sonst müsste ich später wiederholen. Außerdem kam Ernst von den Büchern doch lieber wieder auf die Konservendosen zurück, was die alles enthielten.

Mir aber stieg vor den Augen etwas auf. Ein Ideal. Mein Ideal, das ich von Kindesbeinen an gehabt, das mich zur See getrieben hatte. So ein Schiff zu haben, mein eigenes Schiff, mein Königreich, über das ich als freier Seekönig herrsche, über mein Schiffsvolk, über mein Volk, m e i n Volk — und wie wollte ich für dieses mein Volk sorgen, was für Kerls daraus machen —

Dabei aber verfiel ich in denselben Fehler wie mein Freund Ernst. Während ich so von einem hohen Ideal träumte, mischte sich dazwischen die Blut- und Leberwurst, die ich doch eigentlich noch als Ersatz für die entgangenen Kartoffeln zu beanspruchen hatte.

»Ja, wenn man das nötige Geld hat!«, seufzte ich.

Mit einem Male machte Ernst ein ganz besonderes Gesicht.

»Du, höre mal, Georg«, fing er mit leiserer Stimme an. »Ich will Dir etwas im Vertrauen sagen. Es war schon nicht hübsch von mir, dass ich's gelesen habe, und noch weniger, dass ich es einem anderen sage. Einem anderen würde ich ja auch niemals was davon erzählen, aber Du bist doch ein anderer —«

»Na, nun heraus damit, sag's oder sag's nicht!«

»An jenem Sonntagmorgen musste ich für die Patronin die Post besorgen. Es waren ein paar Briefe für sie da, zwei aus Ägypten, die anderen aus Deutschland. Das sah ich doch an den Marken. Sonst ging's mich ja gar nichts an. Adressiert an Frau oder Missis Helene Neubert. Nur wegen einer Postkarte fragte mich der Beamte. Weil da eine andere Adresse draufstand, ebenfalls deutsch. An die Freifrau von der See Helene Neubert. Ob das stimmte. Natürlich stimmte es. Das war eben nur so eine Juxadresse. Nun aber drehte ich die Karte auch herum. Es war eine Ansichtspostkarte. Keine hübsche. An einem Baumast hing ein Mann, nobel gekleidet, aber die leeren Taschen umgedreht, die Zunge weit aus dem Halse. Und darunter war geschrieben: Sind die neuen Millionen noch nicht bald wieder verpulvert? — Verstehst Du, Georg?«

Und fragend blickte mich Ernst an.

Zunächst aber muss ich erklären, weshalb Ernst dieser Sache eine so lange Entschuldigung vorausschickte. Es ist für diese ganze Erzählung wichtig.

An Bord des Schiffes gibt es keine Klatscherei! Ich will gleich ein Beispiel anführen. Gesetzt den Fall, der Kapitän des Schiffes lebt in unglücklicher Ehe, seine Frau zu Hause ist eine böse Xanthippe oder macht während der Abwesenheit ihres Mannes Dummheiten.

Die ganze Besatzung weiß darum. Vielleicht ist die ganze Besatzung aus demselben Neste wie der Kapitän. Da wäre es begreiflich, wenn im Matrosenlogis und in der Offiziersmesse darüber gesprochen würde, jeder gäbe sein Geschichtchen zum besten.

Ausgeschlossen!!! Nie wird im Matrosenlogis und in der Offiziersmesse auch nur ein einziges Wörtchen über diese Familienangelegenheiten des Kapitäns fallen! Man kann sich Anekdoten vom Kaiser erzählen, oder vom Schornsteinfegermeister August Schulze, oder auch die Familienangelegenheiten von früheren Kapitänen besprechen, unter denen man gefahren ist — aber nicht die des gegenwärtigen Kapitäns, keines anderen Schiffskameraden.

Ja, zwei gute Freunde einmal unter vier Augen, das ist etwas anderes. Aber öffentlich so etwas besprechen — vollkommen ausgeschlossen! Das ist unanständig. Das ist niederträchtig. Es geht gegen die Bordroutine.

Ich musste dies ausführlich erklären, weil ich bald darauf wegen einer Verletzung dieses ungeschriebenen und dennoch ehernen Bordgesetzes des Anstandes ein blutiges Renkontre haben sollte.

»Verstehst Du, Georg? Nicht die neun Millionen, sondern die neuen Millionen. Ob sie die noch nicht bald wieder verpulvert hätte. Die hat schon einmal Millionen durchgebracht. Wie lange diesmal die Herrlichkeit währen würde.«

»Na, warum soll sie denn ihr Geld nicht verpulvern, wenn's ihr Spaß macht«, sagte ich und stand auf, »das macht doch jeder, wie er will, ich würde's gerade so machen — und Du machst jetzt, dass Du hinauskommst. Ich will mich noch ein paar Stunden aufs Ohr legen.«

So brach ich diese Unterhaltung ab. Doch nicht etwa, dass ich meinem Freunde seine Indiskretion übel genommen hätte. Durchaus nicht. Ich war wirklich sehr müde.

Ehe ich in meine Schlafkabine ging, wollte ich einmal nachsehen, was das für eine andere Tür im Salon war. Sie war unverschlossen, führte in eine Badekabine. Pikfein! Eine Marmorwanne. Oder aus doppeltem Blech und so angepinselt. Oder Emaille. Jedenfalls alles pikfein.

Wie ich noch in der Tür stand, kam Siddy wieder herein, dessen Klopfen ich wohl überhört hatte, in den Händen eine Schüssel.

Aaaaahh!! Wie mich das große Stück Leberwurst anlachte! Und das noch größere Stück Blutwurst! Ich wurde gleich wieder ganz munter.

»Verzeihen nur der Herr Steuermann, ich hatte vorhin ganz die Salzkartoffeln vergessen —«

»Schon gut, schon gut, ich verzeihe Ihnen, setzen Sie die Wurst nur dorthin. Kann man hier ein Bad nehmen?«

»Zu jeder Zeit.«

»Warmes Wasser?«

»Läuft immer heiß — Frischwasser.«

»Was, Frischwasser?!«

Ich war nur auf Seglern gefahren, da bekommt man alle Tage eine Kaffeetasse voll Frischwasser ins Waschbecken.

»Das ist Kondenswasser, geht immer wieder in den Kessel zurück, die Seife ist nur gut gegen den Kesselstein.«

Ich ließ ein, pompadourte mich. Verbrauchte die ganze Madame Pompadour für einen Franken. Sehr gut gegen den Kesselstein. Dann zog ich mir das Stück Blut- und das Stück Leberwurst zu Gemüte, in jeder Hand eines und abwechselnd abbeißend, noch in der Wanne sitzend. Dabei hatte ich so meine Gedanken, setzte sie auch noch fort, als die Wurst samt der Schale verschwunden war.

Frau Helene Neubert — ein sehr einfacher Name. Freifrau von der See — ein herrlicher Adelstitel! Gibt's auch noch gar nicht.

Wie wird man denn eigentlich adlig, wenn man's noch nicht ist? Na ja, man kann den Adel verliehen bekommen. Aber das ist doch nicht das Richtige.

Wie sind denn eigentlich alle die vielen Grafen und Freiherren und Barone entstanden?

Die haben sich ganz einfach selbst dazu ernannt. Früher. Da hat sich so ein tüchtiger Kerl, der sein Schwert zu schwingen verstand, einfach mit einigen Kumpanen auf einem steilen Felsen festgesetzt — »hier, ich bin der freie Herr vom, auf und zum Adlerhorst, wer hier vorbeizieht, muss mir Tribut zahlen, oder ich poche Euch Pfeffersäcke aus« — und da war der Freiherr von, auf und zu Adlerhorst fertig.

Weshalb soll denn so etwas heute nicht mehr gehen? Wenn ich mein eigenes Schiff — —

Mit einem Male verließ mich die Besinnung.

Ein Schüttelfrost weckte mich wieder.

Hallo, wie lange hatte ich denn geschlafen, bis am Halse im Wasser sitzend?!

Das Wasser war kalt geworden; ja nicht gerade eiskalt, aber jedenfalls fror und zitterte ich wie ein junger Hund im Schnee.

Da glaste draußen die Schiffsglocke einen Doppelschlag Neun Uhr.

Na, da guten Morgen!

Drei Stunden hatte ich im Wasser gesessen oder sogar darin geschlafen! Da musste es freilich kalt geworden ein.

Lachend sprang ich aus der Wanne, ich fühlte mich beim Anziehen wie neugeboren. Nun brauchte ich mich aber acht Tage lang nicht wieder zu waschen.

Siddy kam, meldete das zweite Frühstück. Jawohl, ich war schon wieder gefechtsbereit. Diesmal aber wollte ich es mit in der Offiziersmesse einnehmen.

Es waren der erste, zweite und dritte Maschinist, ferner Dr. Cohn, der Schiffsarzt, die sich mir vorstellten. Den zweiten Steuermann kannte ich ja schon zur Genüge, der erste ging jetzt Wache. Die Maschinisten hatten nichts zu tun.

Ich will jetzt nur zwei der Herren erwähnen und auch nur oberflächlich: Dr. Isidor Cohn war ein noch junger Mann, ein echter Jude, balancierte auf seiner krummen Nase einen Klemmer, hatte trotz seiner abstehenden Ohren ein sehr geistreiches Gesicht. Sprach nicht viel, machte nur bei jeder Gelegenheit einen faulen Witz, am liebsten über sich selbst. Obgleich er gestern das meiste von dem Schwein vertilgt haben sollte — oder vielleicht eben deswegen — aß er heute nicht viel, sprach desto mehr der Rotweinflasche zu und pfiff außerdem dazwischen ab und zu einen Kognak.

Mir gegenüber saß der erste Maschinist, Herr Ingenieur Kalthoff, eine Simsongestalt, der mächtige Kopf von schwarzen Locken umrahmt, mit bis weit auf die Brust herabwallendem Vollbart, selbst das Gesicht mit den Pausbacken war muskulös zu nennen, und nun gar diese Hände! Strotzend von Muskeln.

Er gefiel mir von vornherein nicht, hatte so einen polternden, in jeder Hinsicht anmaßenden Ton, auch das Auge war nicht das richtige.

Natürlich musste ich zuerst erzählen, wie wir das brennende Schiff verlassen hatten.

Dabei merkte ich, wie der erste Maschinist gar nicht erwarten konnte, dass ich fertig war; er hatte schon ein Stückchen Zeitung bereit, räusperte sich immer und sah mich ungeduldig an. Nun, ich machte es kurz genug, wenn auch nicht gerade dem zuliebe.

»Hören Sie, meine Herren«, fing er dann gleich an, mit gedämpfter Stimme und sich einmal umblickend, dass auch kein Steward anwesend sei, »jetzt habe ich es endlich herausbekommen, wer diese Frau Helene Neubert ist. Hören Sie, meine Herren, mit der ihrer Herrlichkeit und mit unserem Schlaraffenleben wird es wohl bald ein Ende haben. Die spielt va banque. Das ist eine notorische Verschwenderin. Die hat schon einmal ein ererbtes Vermögen von Millionen totgeschlagen, hat wieder geerbt, kam unter Kuratel, hat sich durch einen langen Prozess freigemacht, und nun geht es wieder mit den Millionen los, diesmal als Schiffseigentümerin. Na, wir haben ja schon gesehen, wie die's treibt. Den Matrosen und Heizern silberbeschlagene Meerschaumpfeifen geschenkt! Und hier, wie die uns auftafelt, die Flasche Kognak zu zehn Mark — das ist doch gar keine Sache. Und wissen Sie, wie ich hinter die Wahrheit gekommen bin? Wie ich vorhin in einem Koffer krame, fällt mir eine alte Zeitung in die Hand — oder auch noch nicht so alt — 14 Tage vor unserer Abreise herausgekommen. Hier ist der Ausschnitt. Hören Sie, meine Herren: ›Die Freifrau von der See. Jeder Reisende, der in diesem und im vergangenen Jahre Kairo besuchte, hat sicher einmal oder öfters einen seltsamen Aufzug gesehen. Eine junge Dame mit aschblondem Haar, hoch zu Roß, meist in Beduinengewänder gehüllt, immer von einer Meute Hunde begleitet, dazwischen aber auch andere Raubtiere aller Art —‹«

»Bitte, unterlassen Sie das Vorlesen des Zeitungsartikels«, wurde da der Vorlesende von einer Stimme unterbrochen, höflich aber auf das Bestimmteste.

Diese Stimme gehörte mir an.

Ich war gleich am Anfange der Einleitung auf meinem Stuhle herumgerutscht.

Ich bin weiß Gott kein streitsüchtiger Mensch. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Und das hier war mir zu viel, mehr als zuviel.

Der Leser brach ab, sah mich erstaunt an.

»Wie meinten Sie?«

»Ich bitte Sie, diesen Artikel nicht vorzulesen.«

Nur noch erstauntere Augen.

»Ja, warum denn nicht?«

Na, wenn er's durchaus wissen wollte, dann musste ich's ihm sagen.

»Weil sich das nicht gehört.«

Jetzt aber fingen die großen, schwarzen Augen zu funkeln an, und wie das Blut hoch kam!

»Meinen — Sie — mich?!«

»Jawohl, Sie! Verstehen Sie mich denn immer noch nicht? Es ist eine Ungehörigkeit von Ihnen, dass Sie hier am Tische überhaupt schon über unsere Patronin sprechen! Schon das verstößt gegen den Anstand, gegen die Bordroutine. Das könnte ich Ihnen schließlich noch verzeihen. Weil Sie Maschinist sind. Aber dass Sie hier über unsere Schiffsherrin, in deren Lohn und Brot wir alle stehen, solche höhnische Bemerkungen machen, sich so über sie äußern, das ist einfach eine Gemeinheit von Ihnen! Verstanden?«

Der Simson richtete sich halb auf, legte sich halb über den Tisch, sich auf seine Fäuste stemmend. Ich war bereit, einen Schlag zu parieren und einen zurückzugeben. Aber er konnte nicht, er musste sich stützen, sonst wäre er umgefallen. So zitterte er.

»Mensch, plagt Sie denn der Wahnsinn?! Wissen Sie denn, wen Sie vor sich haben? Ich bin Offizier!«

»Ich auch. Genau so gut wie Sie.«

»A bah! Machen Sie junger Fant sich doch nicht lächerlich! Steuermann sind Sie!«

»Na, und was sind Sie denn?«, fragte ich gleichmütig zurück, »Sie sind Maschinenschmierer.«

»Ja, hier auf dem Schiffe. Aber ich bin wirklicher Offizier!«

»Ich auch.«

»Ich bin Leutnant der Reserve!«

»Ich auch.«

Er stutzte, machte ein etwas dummes Gesicht.

»Ich bin Artillerieleutnant der Reserve.«

»Und ich bin in der kaiserlichen Marine Leutnant zur See der Reserve.«

Ja, das war ich. Ich hatte die Realschule besucht, war erst mit sechzehn Jahren zur See gegangen, hatte mein Jahr in der Marine gedient, war Offiziersaspirant gewesen, noch sechs Wochen als Vice-Seekadett, war als Leutnant zur Reserve beurlaubt worden.

Der musste es wohl glauben. Ich brauchte ihm meine Karriere nicht erst zu erzählen.

Mit einem Ruck hatte er seine zitternden Glieder wieder in der Gewalt, er richtete sich vollends auf »Dann wissen Sie, was Sie jetzt zu tun haben.«

Sehr richtig. Wir konnten alle weiteren Formalitäten überspringen, hatten uns schon genug an den Kopf geworfen.

»Bestimmen Sie die Waffen.«

»Säbel.«

»Zeit und Ort?«

»Hier sofort.«

Er warf seine zusammengeballte Serviette unter den Tisch, ich faltete meine zusammen und stand auf.

In dem Raume herrschte Totenstille. Die anderen saßen wie gelähmt da. Nur Dr. Cohn nahm jetzt seinen Klemmer von der krummen Nase, blickte durch die Gläser, setzte ihn wieder auf und räusperte sich.

»Meine Herren — ich bin kein Soldat gewesen — ich habe Plattfüße — ich habe auch noch kein Duell gehabt — ich werde mich schön hüten — aber das eine weiß ich: Sie dürfen sich hier nicht so ohne Weiteres duellieren! Sie stehen im Dienst! Im Schiffsdienst! Im aktivsten, den man sich denken kann! Haben Sie sich auch schon die Folgen überlegt? Sie werden auf lange Zeit hinaus disqualifiziert, wenn Sie nicht Ihr Patent als Schiffsoffizier für immer verlieren! Und außerdem — das ist ein englisches Schiff! Segelt unter englischer Flagge! Das ist hier englischer Boden! Und nach englischem Gesetz wird schon die einfache Herausforderung auf tödliche Waffen vom Staatsanwalt als vorsätzlich geplanter Mordversuch verfolgt! Die kleinste Verwundung dabei wird als vorsätzliche Körperverletzung bestraft, die Tötung des Gegners als vorsätzlicher Mord mit eventuell lebenslänglichem Zuchthause! Sogar gehangen kann man dafür werden! Ist das den Herren auch bekannt?«

Der jüdische Arzt, der erst in so nachlässigem Tone mit leichtfertigen Worten begonnen, hatte mit immer größerem Nachdruck gesprochen. Der konnte großartig sprechen. Das war ein geborener Parlamentsredner!

Nur auf uns beide machte es gar keinen Eindruck. Jawohl, das wusste ich alles, und der andere natürlich auch. Wir hätten den Zweikampf im nächsten Hafen ausfechten und vorher auch von dem englischen Schiffe formell abmustern müssen!

Aber daran dachten wir beide doch gar nicht. Wir waren eben als streitbare Kampfhähne aufeinander geprallt, und nun ging es auch los mit dem Sporn.

»Jetzt sofort«, wiederholte der Ingenieur.

»Ich stehe zur Verfügung.«

»Darf ich die Herren bitten, uns als Sekundanten zu dienen?«

Alle erhoben sich, alle in ebenso aufgeregter wie feierlicher Stimmung. Es war ihnen etwas Neues, als Sekundanten bei einem Zweikampf auf Leben und Tod zu dienen, und sie wussten diese Ehre zu würdigen. Der zweite Maschinist war ein alter, grauköpfiger Mann, ursprünglich ein Schlossergeselle, ein Heizer, ich lernte in ihm später einen höchst besonnenen, in gewisser Hinsicht fast ängstlichen Mann kennen — aber auch der dachte jetzt gar nicht daran, dass dies für ihn später vielleicht böse Folgen haben könnte.

Das Frühstück war sowieso beendet gewesen. Dr. Cohn schob sich schnell noch eine große Kaviarschnitte in den Mund.

»Wo scholl denn geschäbelt wern?«, mummelte er mit vollem Munde.

Gerade auf einem Kriegsschiffe, wo mit jedem Kubikzoll gegeizt wird, sieht es schlecht aus mit hohen Räumen, in denen man mit erhobener Säbelspitze nicht gegen die Decke stößt. Wenn man an Wohnräume und dergleichen denkt. So hohe Speisesäle wie auf Passagierdampfern gibt es da nicht.

»Im Maschinenraum, neben der Dynamo, da ist Platz genug und gute Beleuchtung«, meinte der erste Ingenieur.

Der dritte Maschinist wurde hinabgeschickt, um für reine Luft zu sorgen.

»Ja, aber sind denn auch Säbel vorhanden?«, fragte ich. Hatte ich eine Ahnung! Wir begaben uns in die Waffenkammer, in den Waffensaal.

An den Wänden standen in Reih und Glied an die hundert Doppelbüchsen und eben so viel englische Infanterie-Magazingewehre, über jedem ein Marinerevolver und ein Entersäbel.

Es sind gewaltige Dinger, diese Entersäbel. Wenig kürzer als ein Kürassierpallasch. Besonders die englische Marine hält noch sehr viel auf die Ausbildung mit dieser Waffe, der russisch-japanische Krieg hat gezeigt, dass der Entersäbel noch lange nicht ins alte Eisen geworfen werden darf. In der deutschen führen ihn nur noch die Torpedomatrosen, müssen aber auch tüchtig fechten.

Eine kleine Reihe, wahrscheinlich für die Offiziere bestimmt, zeigte besonders schön gearbeitete Körbe und Griffe. Ich nahm einen, zog den Säbel aus der schwarzbrünnierten Scheide.

Ein ausgezeichneter Stahl, schön ziseliert, haarscharf geschliffen, spitz wie ein Wespenstachel.

»Bitte, wählen Sie.«

»Ich habe gewählt.«

Wir steckten die Dinger in die Hosenbeine, storchten hinaus und gelangten auf Umwegen in die Maschinenräume hinab.

Unterwegs glaubte mich Ernst noch einmal belehren zu müssen.

»Du, Georg«, raunte er mir zu, »ich weiß ja, dass Du boxen kannst — die beiden Amerikaner damals auf dem ›Mozart‹ hast Du ja nicht schlecht vertobakt — aber fechten — das ist ein Offizier von der reitenden Artillerie — und er ist Fechtlehrer gewesen, ich hab's selbst in seinen Papieren gelesen —«

»Halt's Maul!«

Der Leser muss verzeihen. Ich lasse die Menschen reden, wie sie im Leben wirklich sprechen, ohne dabei unflätig zu werden, was ich nie gewesen bin. Ich schreibe einen solchen Seeroman, wo das Rettungsboot durch die Brandung gondelt — »das Schiff streicht durch die Wellen, Fridolin« — um die Schiffbrüchigen abzuholen — »bitte, belieben die Herrschaften einzusteigen, Sie sind gerettet« — da geht es anders zu, da wird nicht gebeten und nicht gebetet, sondern das Blaue vom Himmel herunter geflucht — Prometheustrotz!

Ich konnte hier zu meinem Freunde Ernst nicht anders sagen als »Halt's Maul«. Übrigens sagte ich »holt Dien Mul«, was schon anders klingen mag, aber ich will nicht mit Plattdeutsch anfangen.

Neben der kleinen Dynamomaschine hatten wir Platz genug, um uns auszutoben.

»Ohne Binden und Bandagen?«, fragte ich.

»Sicher.«

Dr. Cohn kam nachträglich mit seinem Verbandkasten. »Kinder, gebt mir nur nicht gar zu viel zu flicken. Ihr wisst doch, ich mache nicht gern was.«

Wir zogen Jacke und Weste aus, krempelten die Hemdsärmel bis an die Schultern hoch. Es war doch gut gewesen, dass ich mich vorher gründlich pompadourt hatte.

Der zweite Maschinist hatte noch einen Einfall. Er hatte sowieso eine etwas weinerliche Stimme, jetzt war sie noch weinerlicher.

»So eine Kampelei — ahem — mit so spitzen Dingern — ahem — kann doch einmal lätsch gehn. Haben Sie Ihr Testament gemacht?«

Er hatte sich dabei an den ersten Ingenieur gewendet. Der deutete auf mich.

»Fragen Sie den Herrn dort.«

Ich hatte eine spöttische Entgegnung auf der Zunge unterdrückte sie aber.

Es ging nicht eben kommentmäßig zu.

»Auf Hieb und Stich?«, fragte ich erst jetzt.

»Sicher auf Hieb und Stich.«

Wir nahmen die Säbel zur Hand.

Da hatte auch Dr. Cohn erst noch einen Einfall.

»Sie, Herr Kalthoff — ich sollte Ihnen doch nach dem Frühstück den Bart stutzen — könnten wir das nicht erst machen? Ich habe die fünf Groschen sehr nötig.«

Jetzt hatte ich eine noch bessere Gelegenheit, jene höhnische Bemerkung von vorhin zurückzugeben, aber wieder unterdrückte ich sie. Er sollte es erst zu hören bekommen, wenn es so weit war.

Wir nahmen Distanz, legten uns in Parade.

Der zweite Maschinist als der älteste sollte das Kommando übernehmen, er war instruiert worden, hatte ja nichts weiter als »Los!«, zu rufen.

Mit einem Male konnte der alte Herr vor Aufregung nicht mehr sprechen.

»Lololololololololo —«

Mein Gegner wartete den Schluss des Kommandos nicht ab, ganz mit Recht nicht, er hatte schon lolololosgelegt, mit einer Prim, seinen zwei Meter langen Körper hoch aufrichtend, bis auf die Fußspitzen, wollte mir die Parade durchhauen. Als es ihm nicht gelungen war, mir gleich beim ersten Schlage den Schädel bis auf die Schultern zu spalten, ließ er blitzschnell eine Prim nach der anderen herabregnen.

Als auch die keinen Erfolg hatten, schlug er einige sehr geschickte Finten und stach eine Terz nach.

Ich sah ihm im Auge die Bestürzung an, dass seine Klinge so gut pariert wurde.

So, nun war die Zeit für mich gekommen.

»Ich werde Ihnen den Bart stutzen, decken Sie ihn —

bei drei ist er ab — eins — so decken Sie doch Ihren Bart!

— zwei — drei —«

Ich schlug eine Quartfinte, und im nächsten Augenblick hatte ich ihm den langen Bart dicht am Kinn glatt abgeschnitten.

Er merkte es recht wohl, was passiert war, in ein und demselben Moment wurde sein Gesicht käseweiß und purpurrot, und dann fing er wie ein Wilder auf mich einzuhauen, ohne Sinn und Verstand.

Ich wollte das Spiel beenden, nicht mit ihm spielen wie die Katze mit der Maus, prellte seine Klinge ab, dass mich wunderte, dass er sie nicht gleich fahren ließ, stach nach und durchbohrte ihm den Oberarm.


Illustration

Er ließ den Säbel fallen, sackte im ersten Nervenschmerz zusammen.

Dr. Cohn waltete seines Amtes. Es war ganz still in dem weiten Raume. Nur der halb oder ganz Ohnmächtige stöhnte leise. Eine tüchtige Fleischwunde, weiter nichts, keine Sehne durchschnitten. Ein paar Tage Wundfieber, dann konnte er wieder Dienst tun, schon vorher. Diese Maschinisten haben für gewöhnlich ja gar nichts zu tun, bummeln nur um ihre Maschine herum.

Ich zog mich schnell an, trat in den großen Maschinenraum hinaus, besichtigte die Kurbeln und Stangen. Gedanken über die Folgen machte ich mir nicht etwa. Bah! Dann darf man so etwas nicht erst anfangen. Bei mir kommt die Aufregung immer erst hinterher. Ich bekämpfte sie durch ruhiges Atmen, studierte eingehend die Maschine, meine Aufmerksamkeit nur darauf konzentrierend.

Weiß nicht, wie viel Zeit so vergangen war. Dann stieg ich hinaus, trat an Deck.

Ein Mann kam auf mich zu, der erste Steuermann, den ich noch nicht gesehen hatte. Er gefiel mir nicht. Weshalb nicht, das werde ich gleich sagen.

»Sind Sie der neue Dritte?«

»Ja.«

»Zum Kapitän auf die Brücke.«

Ich hinauf. Der Kapitän wusste schon alles, das sah ich ihm gleich an. Wie ich vor ihm stand, wollte er die Hände aus den Hosentaschen ziehen. Zwar tat er's nicht, er hatte nur so geruckt, aber es war schon ein böses Zeichen gewesen.

»Sie haben mit dem ersten Maschinisten ein Säbelduell gehabt!«, herrschte er mich an.

»Ja.«

»Unfug verdammter!! Haben Sie denn gar keinen Begriff von Ihrer Pflicht als Schiffsoffizier?!«

»Ich war nicht im Dienst und —«

»Halten Sie's Maul! Sie sind —«

»Herr Kapitän, — — —«

»Ihr ungewaschenes Maul sollen Sie halten!!! Sie denken wohl, weil Sie Reserveleutnant sind? Und wenn Sie sonst auch Großadmiral und kommandierender General der Infanterie und Kavallerie wären, hier sind Sie der dritte Steuermann und ich bin der Kapitän, und wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, lasse ich Sie in Eisen legen!! Sofort! Und wenn Sie sonst noch etwas von mir wollen, dann fahre ich mit Ihnen längs, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht!! — Well«, mit einem Male wurde er ganz ruhig, »ich muss die Sache ins Logbuch eintragen. Es ist meine Pflicht. Machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie von allen Flaggen auf mindestens ein Jahr disqualifiziert werden. Und außerdem, da es auf einem englischen Schiffe passiert ist, mindestens ein Jahr Tretmühle. Well.«

Ich war entlassen.

Dunnerwetter, hatte der eine Art und Weise, einem den Mund zu stopfen! So kleinlaut war ich noch nie gewesen. Und spricht der bei mir von einem ungewaschenen Maule! Wo ich erst drei Stunden in der Badewanne gesessen hatte!

»He, Steuermann, kommen Sie noch mal her!«

Ich wieder zurück. Er hatte schon wieder seine endlosen Spazierstangen über das Geländer gelegt.

»Ich habe eben einen Einfall bekommen. Ich brauche die dumme Geschichte doch nicht ins Logbuch einzutragen. Es geht zu machen. Ohne dass ich meine Pflicht verletze. Well.«

Ich war wieder verabschiedet.

Ach!! Hätte ich doch eine Million gehabt, und der Kapitän hätte zu mir gesagt: Steuermann Georg Stevenbrock, pumpen Sie mir doch einmal Ihre Million, wiederbekommen Sie sie freilich nicht.

Oder wäre doch da ein großes Feuer gewesen, und dieser Kapitän hätte gesagt, Steuermann, setzen Sie sich doch einmal dort in das Feuer hinein, lassen Sie sich braten, es macht mir Spaß.

Mir hätte es auch Spaß gemacht.

Aber ich hatte es dem ja gleich angesehen, was das für ein Mensch war! An den Augen. Ich kann nämlich jedem Menschen an den Augen ansehen, was mit ihm los ist. Das ist meine Spezialität. Ich prahle nicht, wenn ich behaupte, dass mich kein Mensch betrügen, täuschen kann, dass ich in den Augen eines jeden Menschen ganz deutlich seinen innersten Charakter lese. Ich werde noch oft von Augen sprechen müssen. Deshalb hatte mir auch vorhin der erste Steuermann gleich nicht gefallen.

Ein kleiner Neger lief mich an.

Achteraus zur Patronin.

Nun ging's bei der wieder los.

Sie stand am Tisch, stützte sich mit einer Hand darauf, blickte mich erst groß und lange an, ehe sie anfing.

»Sie haben mit dem ersten Maschinist ein Säbelduell gehabt!«

»Ja.«

Das war also genau derselbe Anfang wie beim Kapitän gewesen. Nun aber änderte sich die Sache.

»Weshalb?«

»Weil er mich beleidigt hat.«

»Wodurch?«

»Das ist meine Sache.«

Jäh zuckte sie empor, groß flammten ihre blauen Augen auf.

»Was sagten Sie da?«

»Ich sagte Ihnen kurz und bündig meine Meinung. Und wenn ich auch die zierlichsten Redensarten drechselte, Sie würden doch immer nur dasselbe heraushören: das ist meine Sache.«

»Sie wollen mir nicht sagen, inwiefern er Sie beleidigt hat?«

»Nein.«

»Und ich will es wissen!!!«

Und dabei stampfte sie heftig mit dem Fuße auf. Das war nicht schön von ihr.

»Nein.«

Mit einem Male veränderte sie sich total, mit einem Schlage blickte sie mich mit den freundlichsten Augen an.

»Das ist hübsch von Ihnen — das ist sehr schön von Ihnen!«

So, nun wusste ich's. Das war eine kleine Schauspielerin. Spielte aber ganz famos.

»Ich war gerade unten im Maschinenraum.«

»Waren Sie?«

»Ich habe das Duell beobachtet.«

»Haben Sie?«

»Woher können Sie so ausgezeichnet fechten?«

Ich musste lächeln.

»Weil ich zwischen Säbeln, Floretts und Rapieren geboren worden bin. Weil ich schon als Kind mit nichts anderem gespielt habe. Mein Vater ist noch heute der Universitätsfechtmeister von Kiel, und die Kieler Teutonen halten schon seit vielen Jahren die Weltmeisterschaft auf Stoß und Hieb. Dort wird mehr gefochten als studiert.«

Nun weiß der Leser, weshalb ich mich so viel mit den Augen beschäftige. Die ganze Fechterei liegt doch nur in den Augen. Alles andere ist doch nur mechanischer Drill des Handgelenks. Jeden Hieb und Stoß, den der Gegner führen will, muss man schon vorher in seinem Auge lesen. Und schon mein Urgroßvater war freier Fechtmeister gewesen. Da muss einem so etwas wohl angeboren werden.

»Sie sind entlassen.«

Das hatte ich nun freilich nicht erwartet; das hatte ich nicht in ihren Augen gelesen, dass so etwas kommen würde.

Sie ging nach einem Ungetüm von Geldschrank, so groß wie ein Kleiderschrank, entnahm einem offenen Fache ein dünnes Buch, die Musterliste, kehrte zurück, nahm einen Federhalter, schrieb, ohne sich zu setzen, hinter meinem Namen die Bemerkung ein, dass ich an Bord auf hoher See abgemustert worden sei, 10 Uhr 12 Minuten vormittags.

Und angemustert worden war ich heute Vormittag 4 Uhr 53 Minuten.

So, dann war ich hier also genau 5 Stunden und 17 Minuten dritter Steuermann gewesen.

Na, das ist ja für unsere schnelllebige Zeit schon eine ganz hübsche Dienstperiode. Es gibt heutzutage viele Arbeiter, die so lange nicht auf ein und demselben Platze aufhalten. Und wie hatte ich gearbeitet! Soll ich die Terrinen alle noch einmal aufzählen? Und das zweite Frühstück kommt auch noch dazu! Und dabei drei Stunden in der Badewanne gewesen!

O ja, ich hatte mir die sieben Pfund Sterling, die ich nun zu bekommen hatte, ganz redlich verdient.

Aber ich wusste schon, dass ich sie nicht bekommen würde. So dumm war ich doch nicht. Die hatte mich vorhin doch nicht umsonst so freundlich angeblickt und mich belobigt ob meiner Verschwiegenheit in Ehrensachen.

»Ich ernenne Sie zu meinem Waffenmeister.«

Na, da war's schon!

Aber Waffenmeister? Den gibt's auf keinem Schiffe.

Nur die französische Armee hat diesen Titel. Maître des armes. Das ist nichts weiter als Wachtmeister, Feldwebel. An diesem Posten war mir ja nun nicht gerade viel gelegen.

»Welche Heuer oder vielmehr welchen Gehalt beanspruchen Sie?«

»Als Waffenmeister? Da muss ich erst wissen, was —«

»Sind Sie mit 25 Pfund Sterling zufrieden?«

»Monatlich?«

»Monatlich.«

»Ja, ach ja, damit bin ich zufrieden«, nickte ich.

»Der Kapitän erhält nur 20 Pfund.«

»Das ist ja sogar sehr viel auch für den Kapitän solch eines Schiffes, aber ich kann doch nicht mehr bekommen als der Kapitän.«

»Doch. Sie sollen noch über dem Kapitän stehen. Freilich nur in besonderer Hinsicht. In seine nautische Führung können Sie natürlich nicht einsprechen. Sie gehören überhaupt nicht mehr zu der Besatzung. Von jetzt an sollen Sie zu den — zu den —« sie begann etwas zu lächeln, »zu den Exklikusen gehören.«

Sie musste wohl glauben, dass ich dieses Wort noch nicht kenne, hatte es nur für sich selbst lächelnd so hingesprochen.

Dann wendete sie sich mit einem Ruck herum, ging, die Hände auf dem Rücken, mehrmals in der Kajüte hin und her, blieb mit einem Ruck wieder vor mir stehen.

»Kann man mit Ihnen sprechen?«

»Ja, mit mir kann man sprechen.«

»Werden Sie mich verstehen?«

»Ja, ich werde Sie verstehen.«

»Wirklich?«

»Madame, wenn es in unserer Schule eine Zensur für schnelle Auffassungsgabe gegeben hätte, was man so das Verstehstemich nennt — hierfür hätte ich in meinem Zensurenbuche regelmäßig noch eine zweite Eins gehabt.«

»Und in welchem Fache hatten Sie immer diese einzige Eins?«

»Im Turnen.«

»Können Sie so gut turnen?«

»Wenn ich nicht auf der Schulbank oder am Esstisch saß, hing ich an der Reckstange. Schularbeiten habe ich prinzipiell niemals gemacht.«

»Was hatten Sie denn da immer für Zensuren?«

»Nun, über die drei kam ich in keinem Fache. Ich bin immer nur gerade so durchgerutscht.«

»Was hatten Sie denn zum Beispiel im sittlichen Verhalten?«

»Da gab es keine Nummern, sondern Bemerkungen. In mein Abgangszeugnis hatte unser guter Rektor eine etwas seltsame Bemerkung eingeschrieben: rüpelhaft, aber sonst harmlos und brav.«

Sie hatte manchmal lachen oder doch lächeln wollen, war aber nicht dazugekommen, hatte mich mit tiefstem Interesse befragt und angehört, mich immer mit ihren großen, blauen Augen fest ansehend.

Dann drehte sie sich wieder mit einem Ruck herum, begann wieder auf und ab zu wandern, die Hände auf dem Rücken, begann zu sprechen. In abgerissenen Sätzen, sich oft wiederholend, mich nicht beachtend.

»Ich hatte einen Traum — einen schönen Traum — einen herrlichen Traum — ich träumte von einem Schiffe — von einem Schiffe, wie es die Welt noch nie gesehen — mit Männern darauf, wie es in solcher Vereinigung noch nie gegeben — die schönsten und stärksten und kühnsten Männer — jeder Mann ein ganzer Mann — jeder Mann ein ganzer Held — und ich die Führerin dieser Heldenschar — und jeder einzelne war bereit, sich für mich zu opfern — und ich war bereit, mich für jeden einzelnen zu opfern — und jeder einzelne war bereit, sich für den anderen zu opfern — — — — wir lebten einander zuliebe —«

Mit einem Ruck stand sie wieder vor mir.

»Verstehen Sie mich?«

»Ja, ich verstehe Sie.«

Und ob ich sie verstand! Ach, mein Traum — das war ja mein eigener Traum, den ich von Kindheit an geträumt!!

»Ja, ich sehe es Ihnen an, dass Sie mich verstanden haben.«

Das hielt ich für möglich. Das musste sie gleich meinen Augen ansehen. Mir war es plötzlich wieder einmal so siedend heiß zum Herzen emporgestiegen, diesmal gleich bis in die Augen hinein — ich großer Bengel hätte beinahe zu heulen angefangen. Weiß selbst nicht warum.

»Ich glaube, wir beide passen zusammen, haben ganz die gleichen Charaktere.«

Ich blieb die Antwort schuldig.

»Das habe ich auf den ersten Blick erkannt, gleich vorhin, als Sie sich auf den Igel setzten.«

Es war nur gut, dass ich nicht zu antworten brauchte. Ich machte eine Reflexionsbewegung, griff mir hinten an den Hosenboden.

»Nur in einer Hinsicht haben wir einen großen. Charakterunterschied. Meinen Sie nicht?«

»Wieso, Madame?«

»Wissen Sie es nicht gleich?«

»Nein.«

Zum Glück nahm sie ihren Spaziergang wieder auf, sprach wie zuvor.

»Ich habe die Mittel, um meinen Traum zu verwirklichen. Oder ich habe ihn ja schon verwirklicht. Wenigstens den Anfang dazu gemacht. Aber nun die Fortsetzung, die Fortsetzung! Die Bearbeitung des rohen Materials bis zur plastischen Vollkommenheit! Das ist es, was ich nicht kann.

Sehen Sie, Herr Steuermann — Herr Waffenmeister, wollte ich sagen. Ich habe dieser Besatzung alles gegeben, was ich den Leuten bieten konnte. Und ist die Anmusterung auch sehr schnell geschehen, so war das alles von mir doch schon in langen Jahren reiflich überlegt. Ich habe ihnen Bücher in sorgfältigster Auswahl gegeben, ich habe Spiele aller Art angeschafft, das ganze Deck kann mit einem Netz umgeben werden, sie können Fußball und Lawntennis und Cricket spielen; unten im Zwischendeck habe ich einen Tunnel einrichten lassen, wie ihn manche große Stadt nicht besitzt. — Nichts ist es! Alles vergebens! Diese Leute verstehen nicht, was ich will. Sie begreifen nicht, warum ich nur vier Stunden Dienst verlange und dann acht Stunden Freizeit gebe. Ja, die Leute haben gelesen und gespielt und geturnt — im Anfange. Weil's etwas Neues war. Dann hatte es den Reiz verloren. Dann legten sie sich hin und rauchten ihre Pfeifen und erzählten sich Geschichten. Und so manchen sie es jetzt noch, und so werden sie es weiter machen, und zuletzt wird es so weit kommen, dass sie an den größten Leckerbissen etwas zu tadeln haben.

Ja, ich könnte diese Spiele und körperlichen Übungen mit im Schiffsdienste aufnehmen. Es ist Zwang, sich daran zu beteiligen. Es ist einfach Dienst. Aber das ist doch nichts. Wo bleibt da mein Ideal, mein Traum —«

»Frau Patrona, das will ich wohl fertig bringen«, unterbrach ich die Sprecherin und streifte schon meine Ärmel hoch. Sie trat wieder an den Tisch, blieb dort stehen.

»Können Sie das?«

»Jawohl, da haben Sie in mir wirklich den Richtigen gefunden. Da will ich wohl Feuer dahinter bringen.«

»Aber nur kein Zwang —«

»Nein, nein, ich verstehe Sie vollkommen, vollkommen!! Alles muss mit Lust und Liebe geschehen. Zwischen den Jungens muss ein ständiger Wettkampf herrschen. Aber nicht etwa um eine Prämie. Es geht nur um die Ehre. O, Madame, das überlassen Sie nur mir, Sie sollen sehen, was ich in kürzester Zeit für ein ritterliches Volk zusammenfixe!«

Mit einem Male blickte sie mich ganz verklärt an. Und ich mochte ja auch so aussehen — ganz verklärt — denn das war wirklich etwas für mich. Hier brachte mich das Schicksal endlich auf meinen eigentlichen Beruf, zu dem ich mich geboren fühlte.

»Nun gut, fangen Sie an. Ich lasse Ihnen vollkommen freie Hand. Und wenn Sie irgend etwas brauchen — kommen Sie zu mir. Es ist aber auch noch etwas anderes dabei. Eigentlich die Hauptsache. Jetzt spreche ich von jenem Unterschied zwischen unserem Charakter.

Ich habe nämlich einen großen Fehler. Oder ist es eine große Tugend? Ist es edel von mir oder eine kleinliche Schwäche? Ich ich ich — ja, wie soll ich mich nun gleich ausdrücken — ich kann einen Menschen, der sonst seine Pflicht tut, der mir aber sonst nicht gefällt, nicht fortschicken —«

Aha!! Ich verstand sofort! Ja, es ist ganz hübsch, ein gutes Herz zu haben. Aber für den Betreffenden hat es manchmal böse Folgen, kann ihn mindestens in die schwersten Unannehmlichkeiten bringen.

Ich habe ein gutes Herz. Ich kann nicht nein sagen. Wenn mich jemand anpumpen will, und ich habe nichts, dann pumpe ich für ihn. Aber Dienst ist Dienst und keine Gefälligkeit. Wenn ich etwa Werkmeister in einer Fabrik bin, und ein Arbeiter tut nicht gut, oder er paßt mir sonst nicht — der fliegt sofort hinaus. Und wenn's mein bester Freund ist, mein eigener Bruder.

Das erzählte ich nicht erst.

»Wenn Sie das nicht können — ich kann's.«

»Sie verstehen mich?«

»Vollkommen.«

»Die Anmusterung ist ja viel zu schnell geschehen.

Aber ich musste sie doch haben, ich konnte sie doch nicht erst an Land auf ihren Charakter und ihr Können prüfen. Und dann wäre es doch immer noch dasselbe. Nun sind aber doch viele Männer dazwischen gekommen, die zu uns durchaus nicht passen. Obgleich es sonst vielleicht die tüchtigsten Seeleute sind. Und gerade das ist wieder der Grund, weshalb Kapitän Martin sie niemals entlassen wird. Für den kommt nur die Seemannschaft in Betracht. Dieser Kapitän, so klug und ausgezeichnet er auch ist, versteht mich überhaupt nicht —«

»Aber ich verstehe Sie. Ich werde in jedem Hafen alle Elemente, die nicht in unseren ritterlichen Kreis passen, ausmerzen und sie durch neue ergänzen, und so fort und fort.«

»Das ist es! Gut, dann ist die Sache ja erledigt. Sie sind also der Waffenmeister dieses Schiffes. Wenn es diesen Titel bisher noch nicht gegeben hat, so habe ich ihn hiermit eben geschaffen. Als Waffenmeister sind Sie der Höchste auf dem ganzen Schiffe, haben meine absolute Vollmacht.«

»Ich stehe auch über dem Kapitän?«

»Natürlich. Nur in die nautische Führung des Schiffes darf sich niemand einmischen.«

»Aber auch den Kapitän darf ich fortjagen?«

Sie sah mich groß an.

»Sie wollen Kapitän Martin entlassen?«

»Nee, den nich.«

Ich wusste gar nicht, weshalb sie plötzlich so lachte.

Schnell wurde sie wieder ernst.

»Sie können jeden entlassen, jeden. Ohne mich erst zu fragen, Sie brauchen keine Bestätigung von mir zu haben. Nur bei einem besonderen Teile der Schiffsbesatzung möchte ich immer erst befragt werden, Ihren Grund hören.«

»Bei den Exklikusen.«

»Sie wissen schon davon?«

»Mein Freund Ernst erzählte mir etwas davon.«

»Das ist der zweite Steuermann?«

»Ja.«

»Hat er Ihnen sonst etwas erzählt?«

Schade, dass sie wieder so zu fragen anfing. Ich lasse mich nicht auf diese Weise ausfragen.

Da merkte ich, wie sie etwas sagen wollte und nicht gleich konnte, bis sie es endlich hervorbrachte.

»Herr Stevenbrock! Herr Waffenmeister! Es gehen über mich Gerüchte. Es ist nicht an dem. Genügt Ihnen diese meine Erklärung?«

»Ja.«

»Ich verfüge über unermessliche, unerschöpfliche Schätze.«

»Das ist sehr schön, wenn man so etwas hat.«

Immer ernster wurde sie, auch wie unsicher, zögerte, bis sie mit einem entschlossenen Schritte dicht vor mich hintrat. Dafür aber zitterte jetzt ihre Stimme.

»Herr Stevenbrock! Ich weiß, wodurch der erste Maschinist Sie beleidigt hat. Weshalb Sie ihn gefordert haben. Ich danke Ihnen.«

Und sie streckte mir ihre weiße, schlanke, feine Hand hin. Ich drückte sie.

Sie zog sie zurück, streifte einen der blitzenden Ringe vom Finger, hielt ihn mir hin.

»Nehmen Sie das zum Andenken. Zum Zeichen, dass ich Ihnen auch fernerhin dankbar sein werde. Es ist das Heiligste, was ich besitze. Wir leben einander zuliebe.«

Sie hielt die Hand, die mir den Ring reichen wollte, etwas hoch, auffallend hoch.

Einen Handkuss? Ich bin kein Freund von »küss d' Hand, gnä Frau«. Schauderhaft! Eklig! Unmännlich! Und wenn's eine Prinzessin wäre, die mir gnädig die Hand zum Kusse hinhielte — die könnte ja lange warten.

Jetzt aber beugte ich mich, und als ich den Ring nahm, küsste ich den Handrücken, küsste sogar recht herzhaft.

Ich weiß nicht, wer von uns beiden dabei ein röteres Gesicht bekam.

Dann ging ich.

*

3. Kapitel

Mister Tabak und der Peitschenmüller

Originalseiten 57 — 79

Draußen betrachtete ich den Ring. Ein breiter, dünner Goldreif, oben drauf ein großer roter Klecks. Siegellack war's nicht. Glas oder Granat oder Rubin — mir ganz egal. Auf der Innenseite waren die Worte eingraviert: »Wir leben einander zuliebe.« Das fand ich sehr schön. Aber ich sollte ihn doch nicht etwa tragen? Da hätte ich mich geniert. Überhaupt ging er nicht einmal auf die Spitze meines kleinen Fingers. Ich steckte ihn in die Hosentasche.

Dort im Sonnenschein spazierte noch immer oder schon wieder der Badehosenpaviandackel mit Ordenssternen und Fuhrmannspfeife herum, dampfte mächtig. Jetzt zog er an der goldenen Ochsenkette eine mächtige goldene Uhr hervor, ließ den Deckel aufspringen, ließ sie »bimbim« repetieren, steckte sie wieder ein, zog aus einer anderen Tasche der Badehose eine goldene Dose hervor, nahm umständlich zwei Prisen, für jedes Nasenloch eine, dabei wie ein Walfisch schnaufend, steckte sie wieder ein, brachte dafür eine Platte Kautabak zum Vorschein, biss aber nichts davon ab, sondern steckte sie gleich ganz in den Schlitz, den er vorn im Gesicht zwischen den beiden Ohren hatte, für gewöhnlich Mund genannt, und hierauf nahm er den Abgussstiefel vom Pfeifenrohr, beugte sich zurück, sperrte den Rachen — pardon, den Mund, auf und ließ sich den braunen Tabakschmant in hohem Bogen hineinlaufen, ihn mit Wohlbehagen verschluckend.

Na da guten Appetit! Die Geschmäcker sind eben verschieden. Das ist auch sehr gut so, denn wenn alle Menschen wie die Australneger mit Vorliebe Raupen verschluckten, dann hätten wir ja gar keine Schmetterlinge mehr, und das wäre doch schade. Übrigens hatten wir in der kaiserlichen Marine einen Wachtmeister, von der Infanterie übergetreten, der ebenfalls solche Stiefelpfeifen rauchte und ebenfalls die angesammelte Tabakssauce soff — trank, das für die größte Delikatesse erklärte, der er nur noch Kirsch mit Rum vorzog.

Ernst kam.

»Wie ist's gegangen?«

»Gut.«

»Was sagte der Kapitän und die Patronin?«

»Das erzähle ich Dir ein andermal, und auch Deine Komplimente, wie Du nicht gedacht hättest, dass ich den Riesen Goliath so abführen würde, kannst Du ein andermal anbringen. — Was ist das dort eigentlich für ein menschliches Individuum?«

Ernst machte ein geheimnisvolles Gesicht.

»Du, Georg, das ist ein gar berühmter Mann! Das ist ein Eskimo.«

Dass ich einen Eskimo vor mir hatte, zu der Ansicht war ich schon lange gekommen. Solch eine Gestalt hat nur ein nackter Eskimo. Aber ein berühmter Eskimo?

Ernst berichtete. Hauptsächlich, wie der Kerl zu den wahrhaftigen Orden an seiner Badehose gekommen war, ihm wegen seiner Verdienste von europäischen Königen verliehen. Alle Hochachtung! Ich gebe es in anderer Weise wieder.

Mister Kabat, genannt Tabak, weil er, wenn er nicht aß, die Pfeife nur aus dem Munde nahm, um Kautabak hineinzustecken, dazwischen ab und zu eine Prise nehmend. Er rauchte auch im Schlafe. Eine Kunst, die aber so ziemlich jeder Seemann versteht. Wenn man zur Koje geht, wird noch eine Shagpfeife angebrannt, man pafft sie im Schlafe zu Ende. Und Edison steckt sich auch erst, ehe er einschlafen will, noch eine frisch angebrannte Zigarre in die Spitze. Freilich, die Tages- und Arbeitszeit ist auch gar so kurz, um das Kraut des großen Geistes in Rauch aufgehen zu lassen. Jeder pflichtgetreue Mensch müsste sich angewöhnen, auch noch im Schlafe zu rauchen.

Dieser Eskimo hier aber wachte auf, wenn seine Pfeife ausging oder vielmehr, wenn der Tabak aufgebrannt war. Denn aus ging sie ihm niemals, am Ziehen ließ er es nicht fehlen. Dann wachte er auf, so wie der Müller aufwacht, wenn seine klappernde Mühle stehen bleibt, stopfte den großen Kopf wieder — so, nun hatte er für eine Stunde wieder Ruhe.

Es war doch schon ein merkwürdiger Zufall, dass dieser Mann Kabat hieß. Was aber in der Sprache seiner Heimat so viel wie »Werfer« bedeutet. Umgekehrt ist es aber eben Tabak. Und nun kam noch hinzu, dass dieser Eskimo die Zigarren von hinten rauchte. Das heißt, er steckte beim Rauchen immer das glühende Ende in den Mund. Was übrigens auch sehr viele Neger machen, wenn sie eine Zigarre bekommen. Wie sie dabei einen Genuss haben, wie sie überhaupt so die Zigarre rauchen können, mit dem Feuer im Munde, sie müssen doch immer blasen — das verstehe ich nicht. Ich zerbreche mir darüber auch nicht weiter den Kopf, probiere es nicht — ich könnte es mir angewöhnen.

Mister Tabak hielt sich für einen vollendet schönen Mann. Besonders betreffs seiner Körperformen. So einen eckigen Oberkörper, so dürr und dabei dennoch mit solch einem Hängebauch, auf kurzen, elegant geschweiften Beinchen ruhend, die wieder in ungeheuren, quadratischen Füßen endeten — so eine Männerschönheit gab's sonst nirgends auf der Erde. Ganz abgesehen von seinem klassisch-schönen Paviangesicht.

Aber nicht etwa, dass Mister Tabak sich selbst verspottete, sondern das war sein heiliger Ernst! Er hielt sich für einen wunderbar schönen Mann! Das hatten ihm nämlich schon viele, viele Eskimomädchen gesagt, und auch schon manche Eskimofrau mochte seinetwegen die Ehe gebrochen haben.

Nun, das konnte ja sein, dass Mister Tabak in seiner grönländischen Heimat ein Adonis von unwiderstehlicher Schönheit war. Über den Geschmack ist eben nicht zu streiten.

Aber das hatten ihm auch europäische Damen gesagt und zwar die Damen in der New Yorker Waterstreet. Nämlich wenn Meister Tabak dort mit Goldstücken um sich warf. Und da er keine andere Damengesellschaft kannte, so musste er's wohl glauben, dass er auch für europäische Damen ein bildschöner Kerl war.

Wie dieser Eskimo dazu kam, in der New Yorker Waterstreet manchmal mit Goldstücken um sich zu werfen? Weil er ein professioneller Harpunier war, der sich in New York verauktionieren ließ. Denn die Walfischharpuniere lassen, wenn die Saison beginnt, in New York, dem Zentrum der Walfischjägerei, von den Tranmenschen, von den Unternehmern, öffentlich auf sich bieten. Es geht ganz wie bei einer Auktion zu. Und so ein bekannter Harpunier bekommt eine fabelhafte Heuer. Mehr als der Kapitän regelmäßig, da ist er noch lange keine Berühmtheit. Außerdem hohen Anteil am Gewinn. Denn vom Harpunier hängt doch das ganze Geschäft ab. Und die Harpunengeschütze können keinen Arm verdrängen. Die Jagd vom Dampfer aus mit Harpunengeschossen wird überhaupt noch einmal durch internationales Fischereigesetz verboten werden. Nicht etwa, weil dadurch zu viel Walfische erbeutet werden — das kann man niemandem verwehren — sondern im Gegenteil, weil zu wenig, weil der Wal nur angeschossen wird und dann entkommt, an unzugänglicher Stelle verendet.

Dann hatte sich Mister Tabak der Nordpolforschung gewidmet, er hatte Polarexpeditionen als Jäger begleitet, hatte sie geführt. Und wie hatte er sie geführt! Nur ihm war es zu verdanken gewesen, dass die schon seit zwei Jahren verschollene amerikanische Expedition des Dr. Follard wiedergefunden wurde, dass wenigstens noch die Hälfte der Mannschaft gerettet werden konnte. Und die von der dänischen Regierung ausgesandte Expedition, der die Munition ausgegangen, hatte er einen ganzen Winter hindurch, neun Monate, vor dem sonst unvermeidlichen Hungertod bewahrt, nur durch seinen Wurfspeer. Auch mit Nansen war er gewesen, auf Schneeschuhen quer durch Grönland, und dann auf der »Fram«.

Ein tüchtiger Kerl!!! Der hatte sich verdient, was er da an der Badehose baumeln hatte, konnte wirklich stolz drauf sein!

Die goldene Uhr mit Kette hatte er von der Königin Wilhelmine von Holland bekommen, mit ihren Initialen. Den einen Orden hatte er vom König von Schweden, den anderen vom König von Dänemark. Mit dem hatte er auch an einem Tische gespeist, an Bord der »Fram«.

»Hören Sie mal, Herr Professor«, soll dann nach aufgehobener Tafel der König zu Nansen gesagt haben, »riecht der eigentlich mehr nach angebranntem Fett oder nach Tabaksschmant. Und was der Kerl schlingen kann! Ich weiß ja, was ein Eskimo im Essen leistet, fünf Pfund Speck auf einen Sitz ist für so einen eine Kleinigkeit — aber so eine Gefräßigkeit habe ich denn doch nicht für möglich gehalten!«, —

Wie dieser berühmte Mann dann zu der Frau Helene Neubert gekommen war, wusste Ernst nicht, ich fragte auch nicht danach.

»Aber Du musst ihn einmal werfen sehen! Es ist fabelhaft!«

»Die Harpune schleudern?«

»Ganz egal, was er in die Hand nimmt. Mit einem Stück Kohle holt er jede Möve im Fluge aus der Luft herab. Dort in der hölzernen Verschalung steckt noch eine kleine Eisenkugel ziemlich tief, und es ist hartes Holz. Die hat er hineingeschossen. Aber nur mit der Hand hat sie nur geworfen. Und er hat doch gar keinen starken Arm. Aber er wirft auch ganz anders. Es sieht immer aus, als ob er sich dabei den Arm auskugelte, so schleudert er ihn von hinten herum. Aber ich glaub's nicht, dass er es vormacht. Ich will ihn — halt, da kommt der Peitschenmüller! Der kann etwas ganz Ähnliches und doch wieder etwas ganz anderes. Vielleicht ist's noch viel fabelhafter. Der gibt Dir gleich eine ganze Vorstellung. He, Señor Juba Riata, kommen Sie doch mal her!«

Es war eine prächtige Erscheinung, die da hinter dem Ruderhaus auftauchte. Vor meinen geistigen Augen tauchte plötzlich noch viel mehr auf: der wilde Westen Nordamerikas, pferdebändigende Cowboys und büffeljagende Indianer, Buffalo Bill mit seiner ganzen Bande.

Er war ganz in Leder gekleidet mit vielen Fransen und bunten Stickereien, die weichen Stiefelschäfte gingen bis zum Leibe hinauf, an dem der gewaltige Sixshooter im Futteral hing, außerdem noch eine Menge anderer Sachen, darüber war ein Lasso aufgewickelt.

Und nun ein Bild von einem Manne, der Gestalt wie den Gesichtszügen nach! Ein Buffalo Bill in verjüngter Ausgabe. Denn ich habe den Colonel Cody noch mit kastanienbraunen Locken gekannt und nie wieder einen so schönen Mann gesehen. Bis auf diesen hier. Das heißt wahre Männerschönheit!

Auch diesem hier fielen die Locken unter dem breitrandigen Sombrero bis auf die Schultern herab. Aber hellblonde. Und nun nicht etwa so ein klassisch-griechisch-römisch-irisch-katholisches Apollogesicht. Nein, ein freies, offenes Germanengesicht mit kräftiger Nase und darin zwei mächtige, blaue, strahlende Augen. Alles an dem ganzen Manne Kraft und Kühnheit, zugleich aber auch freundliche Bescheidenheit.


Illustration

Er wurde mir als Señor Juba Riata vorgestellt.

Ich berichte gleich jetzt, was ich erst später über ihn erfuhr.

Sein eigentlicher Name war Alfred Juba von Müller. Sein Vater war ein deutscher Offizier gewesen, verkrachte, ging nach Amerika, kam in Texas auf einer großen Rinderfarm an, hatte eine Spanierin geheiratet. Der erste Sohn wurde, wie dort im spanischen Amerika sehr üblich, außer nach dem

Vater auch nach der Mutter genannt, erhielt direkt deren Vornamen: Juba. Übrigens kommt dasselbe auch bei uns vor, ein Beispiel ist auch sonst sehr zutreffend: Karl Maria von Weber.

Alfred Juba wuchs zwischen Pferden, Rindern und Cowboys auf, die dort unten aber Vaqueros heißen, noch weiter im Süden Gauchos. Das Lasso heißt auf Spanisch Riata, und weil schon der Junge eine ganz besondere Meisterschaft im Gebrauch der Wurfschlinge zeigte, erhielt er den Ehrennamen Juba Riata.

Später kam er ins Wandern, schloss sich einem Zirkus an, bändigte erst junge Pferde, dann Löwen und Tiger, wurde einer der berühmtesten Dompteure des amerikanischen Kontinents. Bis ihn die Weltreisende Frau Helene Neubert an sich fesselte. Wohl aus keinem anderen Grunde, weil die exzentrische junge Dame eben lauter solche Helden der Wildnis und des Zirkus um sich versammelte, an solcher Begleitung ihre Freude hatte. Aber dieselbe Gage, die er bisher gehabt, würde sie ihm wohl nicht zahlen, denn der Raubtierbändiger war nicht unter 200 Dollars pro Abend aufgetreten.

Jedenfalls gefiel es ihm in dieser Stellung, jetzt an Bord des Schiffes. Obgleich ein Mann, mit dem man sich über alles unterhalten konnte, war er doch noch immer der echte Cowboy geblieben, kleidete sich auch als solcher, was man ihm nicht verdenken konnte. — Wie jeder der »Exklikusen«, hatte auch er sein Amt. Er war der Herr über alles, was da kreucht und fleucht, vom Königstiger an über die Lachtauben hinweg bis herab zum dressierten Mehlwurm — na, sagen wir: bis zum Laubfrosch.

Ich hatte in dieser Arche Noah ja erst den kleinsten Teil der ganzen Menagerie gesehen. Wohin ich blickte, überall tauchten neue Repräsentanten der Tierwelt von der ganzen Erde auf, vom Nordpol bis zum Südpol. So auch jetzt wieder.

Hinter dem langsam ankommenden Cowboy trabte ein Bär her. Ich hatte bisher zwei Bären an Bord gesehen: einen amerikanischen schwarzen Baribal und einen europäischen oder asiatischen braunen Landbären. Und dann noch den kleinen Waschbären.

Hier kam eine neue Spezies: ein Eisbär. Doch nein, schnell erkannte ich meinen Irrtum. Es war eine sehr seltene schneeweiße Spielart des braunen Landbären.

Noch ein anderes Raubtier folgte nach, das hier nicht fehlen durfte. Der Cowboy hatte in der Hand einen dicken Peitschenstiel von etwa dreiviertel Meter Länge, aus, wie ich dann bemerkte, mehreren Streifen dünngeschabter Rhinozeroshaut geflochten, an dem eine endlose Lederschnur nachschleifte. Als er schon acht Schritte hinter der Wand hervorgekommen, war das Ende noch immer nicht zu sehen, schließlich kam es, und es war ein junger Löwe, ein Baby, männlichen Geschlechtes, aber noch ohne Mähne, welches glaubte, der Cowboy schleife die Peitsche nur seinetwegen über Deck, damit es nach der Schmitze haschen könne. Ein reizendes Bild!

Señor Juba Riata wurde mir also vorgestellt. Ein liebenswürdiger Mensch!

Unterdessen beschnüffelte mich eingehend der weiße Bär, ich merkte gleich, dass er mit seinen roten Augen im hellen Tageslichte sehr schlecht sehen konnte.

»Du wirst schon einmal sehen«, sagte Ernst, »wie Señor Riata mit seinem Revolver schießt und das Lasso schleudert. Aber das ist alles nichts dagegen, was er mit seiner Peitsche leisten kann! Das ist einfach fabelhaft, grenzt an Zauberei! Würden Sie meinem Freunde nicht einmal eine kleine Probe Ihrer Kunst geben?«

»Gewiss, sehr gern. He, Jimmy, gib mir mal ein paar von den Dingern her.«

Ein Negerjunge ging vorüber, trug einen Korb mit Kartoffeln. Juba nahm einige heraus, legte sie auf die Bordwand. Das Schiff lag wie festgenagelt.

»So, nun stellen Sie sich so hin, halten Sie den ausgestreckten Finger so vor sich — so —«

Unsere Unterhaltung wurde unterbrochen, ein jäher Schreck durchzuckte mich, denn plötzlich tauchte dicht vor mir aus einer Luke ein ungeheurer Kopf auf, ein Menschenkopf, aber noch größer als ein Riesenkürbis, fürchterlich anzuschauen, mit herabhängenden Elefantenohren, das von Zähnen starrende Maul ging von einem Ohr zum anderen, die Augen waren wie die Untertassen, und dieser Kopf war lebendig, die Zähne fletschten und die Augen rollten.

Ehe ich mir das Ungetüm näher angeschaut hatte, war es schon wieder untergetaucht.

»Bengel, was soll der Mummenschanz!«, rief ihm Juba Riata nach, und von unten erklang ein Kichern.

»Never mind«, wandte er sich dann wieder an mich, »so ein Bursche, der mir manchmal bei meinen Dressuren behilflich ist, ist über meine Masken gekommen, hat sich einen Scherz erlaubt. Wenn nämlich ein ungebändigtes Raubtier irgend etwas fürchtet, so ist es solch eine unnatürliche Maske, vor der kriecht auch der rabiatste Tiger zitternd und winselnd in eine Ecke.«

Nach diesem kleinen Intermezzo wurde unsere Unterhaltung wieder aufgenommen.

Juba Riata ging von mir weg, ich zählte zehn Schritte. Die Peitschenschnur war, wie ich später maß, genau zehn Meter lang, reichte also doch noch etwas weiter als die zehn Schritte.

Dann drehte er sich um, knallte einmal mit der Peitsche, und es klang wie ein Pistolenknall.

»Ich will Ihnen zuerst zeigen, dass Sie nichts zu fürchten haben — selbst wenn ich Sie treffen sollte, tut es doch nicht weh — dabei ist es ganz gleichgültig, ob ich laut knalle oder nur schwippe —«

Er schlug mehrmals nach mir, bald mit einem Pistolenknall, bald hörte man kaum ein leises Pfeifen in der Luft.

Also ich hielt meinen rechten Zeigefinger emporgereckt vor mich hin. Jedes Mal, wenn es knallte oder leise pfiff, fühlte ich etwas Kühles sich um meinen Finger schlängeln. Aber zu sehen war absolut nichts.

»Fühlen Sie, wie sich die Peitschenschmitze immer um Ihren Finger wickelt?«

»Ja, fühlen tue ich's wohl, aber es ist nur ein kühler Lufthauch.«

»Ich zeige Ihnen, dass es wirklich die Peitschenschnur ist —«

Ein Pistolenknall, und mein Finger war dick von der dünnen Peitschenschnur umwickelt, wohl zwanzigmal, wie ich dann bei dem langsamen Zurückziehen beobachtete.

»Nicht wahr, das ist doch ganz harmlos.«

»Ganz harmlos«, bestätigte ich.

»Senken Sie den Finger etwas, ich will Ihren Hals treffen — so —«

Pistolenknalle und Pfeifen, auch um meinen Hals legte sich mehrmals etwas Kühles, dann blieb er einmal von der Peitschenschnur umwickelt, bis sie zurückgezogen wurde.

»Ganz harmlos, nicht wahr?«

»Ganz harmlos«, bestätigte ich nochmals, noch nicht wissend, was jener eigentlich wollte. Denn das glaubte auch ich fertig bringen zu können. Freilich hätte ich dem anderen vielleicht auch eine tüchtige rote Strieme beibringen können. Doch so eine großartige Kunst war das wohl nicht, mit der Peitsche jemanden zu schlagen, ohne ihm wehe zu tun.

Und dann verstand ich nicht, weshalb Ernst so höhnisch grinste.

»Nun nehmen Sie eine Kartoffel zwischen Daumen und Zeigefinger.«

Ich tat es, hielt sie vor mir hin. Der Peitschenmann knallte wie mit der Pistole.

»Haben Sie etwas bemerkt?«

Nein, gar nichts hatte ich bemerkt.

»Besehen Sie sich die Kartoffel.«

Eine ganze hatte ich zwischen den Fingern gehabt, jetzt bestand sie aus zwei Hälften. Mitten durchgeschnitten! Aber vor allen Dingen: wie ich hiervon so absolut nichts hatte bemerken können, wie der das mit seiner Peitschenschnur fertig brachte, das ging mir über die Hutschnur.

Er machte es noch mehrmals. Jetzt sah ich doch hin, gab genau Acht — nicht das geringste merkte ich, dass der immer die Kartoffel zwischen meinen Fingern halbierte. Nur dass plötzlich um die braungelbe Schale herum ein etwas dunklerer Strich entstand. Da war es eben schon geschehen. Aber auch nicht den kleinsten Ruck hatte ich dabei bemerkt.

Dann musste ich einige Kartoffeln in die Luft werfen. Der Cowboy knallte oder ließ seine Peitsche pfeifen, und jede Kartoffel war mit einer Regelmäßigkeit halbiert, dass man glaubte, auf einer feinen Waage hätte jede Hälfte das gleiche Gewicht zeigen müssen.

Schon jetzt sperrte ich Maul und Nase auf.

Der Cowboy blickte sich suchend um. Auf der Nock, dem Ende der Großrahe, der untersten des Mittelmastes, saß einsam eine Taube, recht trübsinnig.

»Der Täuberich dort muss fort, muss geschlachtet werden. Er ist von seiner Gesellschaft ausgestoßen worden. Sobald er Land wittert, geht er ab. Ich scheuche ihn erst auf.«

Er schlug mit der Peitsche nach dem Tiere, ich hörte die Schwippe gegen die Leinwand klatschen, die Taube flog auf und davon.

Das hatte der Cowboy nur gewollt. Die Peitsche pfiff durch die Luft, ein Pistolenknall, und herab fiel der Kopf der Taube. Diese selbst, obschon sich aus dem Halsstumpfe bereits ein Blutstrom ergoss, flog noch weiter, weil sie eben reflexiv noch Flügelbewegungen machte, dann senkte sie sich, war schon über die Bordwand hinaus, wäre ins Wasser gestürzt — da knallte die Peitsche noch einmal nach, mit einem Ruck lag das kopflose Tier in der Hand des Cowboys. Weil sich jetzt die Peitschenschwippe nur um den Körper geschlungen hatte.

»Wie ist so etwas möglich?«, konnte ich nur staunen. »Diese Sicherheit im Schlagen? O, das ist nur Übung Sehen Sie, ich bin jetzt 33 Jahre alt. Von meinem dritten Lebensjahre an habe ich die Peitsche in der Hand gehabt, mich im Knallen und Schlagen geübt. Nun machen Sie das einmal 30 Jahre lang. Dann können Sie das auch. Eine angeborene Begabung dazu muss freilich wohl vorhanden sein. Oder doch Lust dazu. Und das ist es ja eben.

Wer keine Lust an so etwas hat, dem fällt es gar nicht ein, 30 Jahre lang mit der Peitsche zu knallen. Das ist die einfache Erklärung.«

Diese hatte ich eigentlich nicht gewollt, ich hatte an etwas anderes gedacht.

»Ja, aber wie kommt es, dass Sie mit der Peitschenschwippe der Taube gleich den Kopf glatt abschneiden können?«

Er zeigte mir die Schwippe. Sie war mehr als einen Meter lang, dünn wie Flaschendraht, aber vollständig biegsam, mit haarscharfen Zäckchen besetzt wie ein feines Laubsägeblatt.

»Das ist ein Streifen von der Innenhaut eines Geiermagens, kreisförmig herausgeschnitten. An sich schon scharf wie die allerfeinste Säge, äußerst widerstandsfähig, besitze ich ein Mittel, um die Zacken fast glashart zu machen. Mit der Zeit nutzt es sich ab, dann aber brauche ich den Streifen nur aufzukochen, wieder zu trocknen, und die Schärfe ist wieder da. Oder ich habe ja auch noch eine ganze Menge Ersatzstücke, Geiermägen sind billig. Also ich lasse die Schwippe sich um den Gegenstand, den ich durchschneiden will, herumwickeln, ziehe schnell durch, und auf ein und denselben Punkt wirken in einem Moment viele Tausende von haarscharfen Zähnchen — außer Stein und gehärteten Stahl schneide ich wohl alles durch. Natürlich hat alles seine Grenzen. Dort so eine dicke Rahe kann ich nicht durchhauen, wenigstens nicht mit einem Male. Aber sonst — passen Sie auf.«

Er nahm einen Schrubber, einen Besen, der da lag, der Stiel mindestens zwei Zoll dick, klemmte ihn fest zwischen die Räder einer Winde, ging wieder zehn Schritte zurück.

»Dort, wo die Öse mit dem Bindfaden ist, schneide ich ihn ab —«

Ein Knall, ein Pfeifen, und das Stück Besenstiel fiel herab. Glatt durchgesägt, durchgeschnitten!

Und mit einem Male war es mir doch nicht anders, als wäre mir mein Genick durchgesägt worden, einen solchen Schmerz fühlte ich am Halswirbel. Freilich nur Einbildung; aber jedenfalls griff ich doch unwillkürlich an mein Genick. Und da sah ich meinen Freund Ernst wieder so heimtückisch grinsen.

»Ja, Teufel noch einmal!«, stieß ich hervor. »Wie machen Sie denn das, dass die Schwippe einmal alles zersägt und das andere Mal sich ganz harmlos um meinen Finger und Hals wickelt?!«

»Ebenfalls nur Übung. Nur ein besonderer Trick. Das liegt in der Drehung des Handgelenks. Sie sehen, dass die Schwippe doch nur auf der einen Seite mit Zähnchen besetzt ist. Drehe ich beim Schlagen das Handgelenk nach links, so legt sich die Schwippe mit der glatten Seite um den getroffenen Gegenstand, ich kann schnell zurückziehen, nicht der geringste Riss wird entstehen. Drehe ich das Gelenk nach rechts, so greifen die Zähne ein, beim Durchziehen wird der Gegenstand durchsägt.«

»Dann hätten Sie mir wohl vorhin auch gleich den ganzen Kopf absägen können?«

»Gewiss. Solche Knochen wie den Halswirbel schneidet meine Peitsche glatt durch.«

So lächelte der blondlockige Barbar ganz gemütlich. Mich aber, muss ich gestehen, überlief es plötzlich eiskalt.

Wenn der aus Versehen sein Handgelenk nach der falschen Seite gedreht hätte, dann hätte ich jetzt meinen Kopf untern Arm nehmen können.

Nein, ich danke für solche Handgelenkdreherei! »Dort mein Freund Mister Tabak — Mister Kabat, wollte ich sagen — kann wieder etwas ganz anderes, was ich nicht kann. Der hat sich wieder von Kindesbeinen an nur im Werfen geübt.«

Juba Riata nahm aus einem der Beutelchen, die er am Gürtel hängen hatte, eine kleine, runde Bleikugel oder ein großes Schrotkorn — ein Rehposten.

»Mister Kabat, bitte, geben Sie diesem Herrn hier doch einmal eine Probe Ihrer Werfkunst!«, rief er dem Eskimo zu, ihm auch gleich das Kügelchen zuwerfend.

Es sah schon merkwürdig aus, wie der menschliche Dackelhund so phlegmatisch in die Luft griff. Das schwarze Kügelchen konnte man doch gar nicht fliegen sehen — ich wenigstens konnte es nicht.

Ich musste wieder eine Kartoffel zwischen die Finger nehmen, der Cowboy nahm eine leere Pütze, einen Holzeimer, und hielt sie dahinter.

»All right!«

Der Eskimo stand, wie ich dann ausmaß, 14 Meter von mir entfernt. Er schlenkerte, ohne die qualmende Pfeife aus den Zähnen zu nehmen, den rechten Arm in eigentümlicher Weise von hinten um die Schulter herum nach vorn, in diesem Moment war von dem Arm gar nichts zu sehen gewesen, ich fühlte einen ganz kleinen Ruck in der Hand, gleich darauf klatschte es. Die Kartoffel war genau in der Mitte durchbohrt, in dem Holzeimer lag die kleine Bleikugel, ganz plattgedrückt, hatte auch im Boden einen tiefen Eindruck hinterlassen.

»Mit einer Eisenkugel durchschlägt er den Holzboden. Dieses Blei ist überhaupt sehr weich, und ein richtiger Schuss mit Pulverkraft ist es natürlich nicht. — Hallo, Mister Kännchen! Haben Sie Zeit? Kommen Sie doch einmal her.«

Es war ein älterer Chinese, der über Deck ging, trug weiße Hosen und einen weißen Kittel, der ihm viel zu lang war, unter der weißen Ballonmütze hing ein langer Zopf herab.

»Das ist unser Koch, Mister Kien-Chen. Die Mastrosen nennen ihn immer Kännchen, und er nimmt's nicht übel. Der kann wieder etwas anderes, was wir anderen alle nicht können. Wieder ein Beweis, was der Mensch fertig bringt, wenn er nur eine einzige Fähigkeit ausbildet.«

Der Chinese musste mir seine linke Hand zeigen. Da war nichts Auffallendes daran. Magere Finger mit sehr langen, aber wohlgepflegten Nägeln. Dagegen die rechte Hand — aber auch nur Daumen und Zeigefinger — ungemein groß und stark, starrend von Muskeln. Die anderen drei Finger verschwanden gegen diese beiden ganz.

Juba Riata nahm wieder eine kleine Bleikugel aus dem Beutel, der Chinese wusste gleich, was von ihm verlangt wurde, nahm die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte sie spielend, scheinbar ohne jede Anstrengung, zu einer dünnen Platte zusammen.

»Ach, das ist wohl ein chinesischer Zahnarzt?!«, rief ich. »Jawohl. Kennen Sie diese Leute schon?«

Ja. Sie sind überall zu finden, wo es chinesische Quartiere gibt, in jedem indischen Hafenstädtchen, in San Francisco, auch in New York. Hier hatte auch ich schon einmal die Hilfe solch eines chinesischen Zahnkünstlers in Anspruch genommen. Es ist sehr interessant. Noch amüsanter freilich ist es, wenn man zusieht, wie ein anderer die Zahnschmerzen hat und sich im Rachen herumfingern lässt.

Ich hatte einen alten Stumpf weit hinten in der Kinnlade, er machte mir Höllenschmerzen, ich war zu einem amerikanischen Dentisten gegangen, der zerrte eine halbe Stunde lang mit den verschiedensten Zangen daran herum, ich hätte den Kerl backpfeifen mögen — nützte nichts — dann ging ich zu einem chinesischen Zahnzieher, setzte mich in einen Stuhl, der Mongole guckte mir in den Mund, hineingegriffen, mit den Fingerspitzen den Stumpf angepackt, die linke Hand mir gegen die Stirn gepresst, ein Ruck — raus war der Kerl.

Das macht die Übung. In China zählen die Zahnzieher zu der Klasse der Gaukler, der auch die Bettler und Diebe angehören. Aber das ist immer wieder eine Spezialzunft.

Der Sohn des Zahnziehers muss wieder den Beruf des Vaters ergreifen. Sobald das Kindchen nur zu denken, zu spielen anfängt, wird dieser Trieb schon zur Erziehung benutzt. Man schnallt das Baby auf ein Stühlchen, es bekommt vor sich ein Brett, in dem Löcher eingebohrt sind, in jedem steckt ein Zäpfchen. Dieses muss das Kind immer herausziehen, die Mutter oder eine Schwester steckt sie immer wieder hinein. Sehr bald merkt das Kind, was man von ihm verlangt, sonst bekommt es nichts zu essen. Und immer fester werden die Zäpfchen hineingesteckt, immer kürzer werden sie — bis sie so nach etwa zehn Jahren mit dem Hammer in die Löcher gekeilt werden!

Und das nun von früh bis abends, täglich 14 und noch mehr Stunden lang, nichts und nichts anderes! Und zehn Jahre reichen noch nicht. Ich habe mich darüber genau erkundigt. Vor dem achtzehnten Jahre wird selten ein Jüngling zur Meisterprüfung zugelassen. Besteht er sie nicht, vermag er den mit dem Hammer festgekeilten Zapfen, den er eben noch mit den Fingerspitzen fassen kann, nicht herauszuziehen, so werden ihm die beiden nutzlosen Finger abgehackt, wenn nicht gleich beide Hände, er rangiert als Krüppel unter die Bettler.

Im anderen Fall, wenn er die Prüfung besteht — na, dann ruppt so ein Kerl eben jeden Backzahn heraus, mag er auch noch so fest sitzen, wenn er auch nur einen winzigen Stumpf fassen kann. —

»Was hat nur Fips da oben?«, meinte Juba Riata, aufmerksam in die Takelage des Großmastes blickend.

Fips war jedenfalls der Affe, der dort oben auf der Unterbramrahe saß, sich kratzte und etwas Blinkendes betrachtete, das er in der anderen Hand hielt.

»Es blitzt manchmal so, das scheint ein Ring zu sein. Der hat wieder etwas gestohlen. Ja, wie den Kerl nun aber bekommen?«

»Gehorcht er nicht dem Rufe?«

»Ja, aber nur, wenn er was bekommen soll. Der ist vom Stamme Nimm. Mir gehorcht er wohl, aber nur, wenn ich ihn im geschlossenen Raume habe. Es ist ganz unmöglich, ihn hier in der Takelage zu fangen. Ich könnte ihn wohl mit dem Lasso fangen, aber dann möchte er den Ring, oder was es sonst ist, erst fallen lassen, vielleicht über Bord. Ich muss es einmal mit der Peitsche versuchen. Freilich ohne Garantie, dass es gelingt. Meine Treffsicherheit hat auch ihre Grenzen.«

Und Peitschenmüller, wie er hier genannt wurde, führte das erstaunlichste seiner erstaunlichen Kunststücke aus. Etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte.

Er ging gemächlich nach der anderen Seite, stieg auf die Bordwand, begann langsam die Takelage zu erklettern. Der immer um sich blickende Affe bemerkte ihn, wurde misstrauisch, wollte die Flucht ergreifen — da war es schon zu spät.

Eine Bewegung des Peitschenstiels von unten nach oben, die Schnur pfiff durch die Luft, und Fips machte einen Heidenradau — nämlich weil er plötzlich das blanke Ding nicht mehr zwischen den Fingern hatte.

Juba kam zu mir zurück. Es war wirklich ein Fingerring, um den sich die Schwippe gefitzt hatte. Staunte ich schon, wie so etwas möglich war, so stutzte ich noch mehr bei Anblick des Ringes überhaupt.

Ein breiter Goldreif, oben drauf ein großer roter Klecks —.

Hatte der Affe genau so einen Ring wie ich!

Und waren da drin nicht Worte eingraviert? Natürlich. — Wir leben einander zuliebe.

Das heißt, nun aber ging mir eine Ahnung auf! Ich dachte an die Spiegeleier des Segelmachers.

Ich hätte gar nicht in meine rechte Hosentasche zu greifen brauchen

Aber ich tat's doch.

Natürlich, mein Ring, mir zum ewigen Andenken verehrt, war weg!

Der Affe hatte ihn mir geklaut.

Der Cowboy sah mein Gesicht und meine Bewegung nach der Hosentasche und wieder mein Gesicht.

»Das ist wohl Ihr Ring?«

Ich musste gestehen, dass ich ihn erst vor zehn Minuten, länger hatte die ganze Vorstellung ja nicht gedauert, von der Patrona geschenkt bekommen hatte.

»Ja, da müssen Sie vorsichtig sein«, lachte der Cowboy, »hier an Bord gibt es eine ganze Masse Taschendiebe.«

Ich lachte nicht mit. Es war mir doch äußerst fatal. Sollte es auch nicht. Verehrt mir da eine junge Dame das Heiligste, was sie besitzt, zum ewigen Andenken — »wir leben einander zuliebe« — und zehn Minuten später sitzt da oben ein Affe und lässt durch den Reifen seine Flöhe springen!

Na, das sollte mir ja nicht wieder passieren. Jetzt steckte ich den Ring in die rechte Westentasche zum Priemtabak. Da war er sicher.

Ich war noch mit dieser Bergung beschäftigt, als ich in meiner linken Jackentasche etwas krabbeln fühlte.

Ahaaa!! Na warte! Ich drehte mich nicht erst um, sondern griff schnell zu.

Und hatte in meiner linken Jackentasche eine große, dicke Wurst gepackt, und zwar eine lebendige. Sie zappelte und kniff mich wie mit einer Zange, wenn auch nicht derb.

Ich erschrak etwas. Soll man auch nicht erschrecken, wenn man in seiner Tasche plötzlich eine lebendige Wurst fühlt, die einen kneipt! Also erschrocken drehte ich mich um. Und da steht vor mir ein — —.

Ich hatte gleich im Anfange gesagt, als wir uns bewusst wurden, in eine Arche Noah gekommen zu sein, wenn nun auch noch ein Elefant aufgetaucht wäre, wir wären nicht mehr sonderlich erstaunt gewesen.


Illustration

Und jetzt stand da vor mir ein Elefant!

Und was für ein Exemplar!

Das heißt, nicht durch seine Größe imponierend, sondern im Gegenteil, durch seine Kleinheit.

Noch nicht ganz einen Meter hoch. Ein Elefantenbaby! Ein reizendes Tierchen!

Dieses untersucht mit seinem kurzen Rüsselchen meine Rocktasche.

Wie das Kerlchen merkte, dass es ertappt worden war, warf es sich herum, das Rüsselchen hoch, das Mäulchen aufgesperrt, freilich schon groß genug, dass man seinen Kopf hineinstecken konnte, und trabte davon, dabei unbeschreibliche Töne ausstoßend. Wirklich unbeschreiblich! Es schrie wie ein kleines, ungezogenes Kind — natürlich wie ein kleines Elefantenkind — aber so quäkend — wie ein Kindertrompetchen — unbeschreiblich — von urkomischer Wirkung.

Nur wegen dieses Schreiens lachte ich, dass mir die Tränen über die Backen liefen.

»Ja, das ist unser Lulu, der kann das Mausen auch nicht lassen!«, lachte der Cowboy ebenfalls.

»Wo haben Sie denn den her?!«

»Von einer Karawane die aus Nubien kam und durch unsere Oase zog. Ein wild eingefangener Elefant oder vielmehr Elefantin, aber schon ganz zahm, hatte ihr Junges bei sich. Vor einem Vierteljahre saugte das Kleine noch kräftig. Dann ging die Mutter ein. Aber Lulu nahm gleich trockenes Futter an. Ich schätze ihn jetzt auf ein Jahr. Wenn er so weiter gedeiht, wird er einmal ein prachtvolles Tier. Der Ansatz zu den Stoßzähnen ist ausgezeichnet.«

In unserer Oase?

Es ging mich nichts an. Oder deswegen weiter zu fragen, dazu fühlte ich mich noch nicht heimisch genug.

Die Patronin kam von der Kommandobrücke herab. Hinaufgehen hatte ich sie nicht sehen. Einfach deshalb nicht, weil man auch vom Zwischendeck durch das Kartenhaus hinaufgelangen konnte.

Sie suchte mich.

»Herr Waffenmeister, ich wollte Ihnen nur noch sagen, dass Sie dann keine Wache mitgehen. Überhaupt nicht. Kapitän Martin ist gewöhnt, die dritte Wache mitzugehen und übernimmt sie fernerhin allein. Ich sage es Ihnen, damit Sie sich dann nicht erst mit dem Kapitän auseinander zu setzen brauchen.«

Ich dankte, sie ging nach der Kajüte.

»Alle Hände an Deck, alle drei Wachen antreten vor dem Mast!«, rief der Kapitän und kam herab.

Die Bootsmannpfeife schrillte, auch in die Luken hinein, um das Heizer- und Maschinenpersonal heraufzurufen.

In fünf Minuten stand alles angetreten, nur der erste Maschinist und die Exklusiven fehlten. Wenn diese nicht die Neugier herbeitrieb, aber anstellen taten die sich nicht mit.

Es ging sehr militärisch her, vielmehr als auf einem anderen Handelsschiffe. Nur dass der Höchstkommandierende dabei immer die Hände in den Hosentaschen behielt und sich auch sonst nicht gerade militärisch benahm.

»Herr Georg Stevenbrock da«, er schlenkerte mit dem Fuße nach meiner Richtung, »ist bevollmächtigter Stellvertreter der Patronin und mit Herr Waffenmeister anzureden. Well!«

Die Leute gingen wieder auseinander.

*

4. Kapitel

Die Grünen und die Roten

Originalseiten 79 — 96

Nachdem ich so meinen neuen Posten definitiv angetreten hatte, will ich gleich noch eines erwähnen. Bei wilder Fahrt wird also nicht nach einem bestimmten Ziele gemustert. Nur wenn das Schiff etwas Besonderes vorhat, muss das vorher mitgeteilt werden. Das ist in der Schifferordnung alles einzeln aufgeführt, ich gebe hier nur einiges an: Walfischjagd, Robbenschlag, überhaupt wenn es in die Polarregion geht — das muss der Mannschaft besonders gesagt werden. Ferner wenn Kapitän oder Patron sich in kriegerische Unternehmungen einlassen will: Kaperei, Schmuggeln von Kriegskonterbande, Blockadebrechen. Das darf die Mannschaft nicht erst hinterher erfahren, weder Offizier, noch Schiffsjunge. Solch ein Vorhaben, vorher nicht mitgeteilt, löst sofort den Kontrakt, jeder, der nicht mitmachen will, muss im nächsten Hafen abgesetzt werden.

Aber sonst erfährt man kein Ziel, oder braucht es doch nicht zu erfahren. Hat man es nicht erfahren, so ist es ausgeschlossen, dass man danach fragt, dass man darüber im Mannschaftslogis oder in der Offiziersmesse disputiert, obgleich es nicht etwa durch ein geschriebenes Gesetz verboten ist. Es ist nicht anständig, es geht gegen die Bordroutine.

Ernst hatte mir vorhin mitgeteilt, dass die »Argos« hier schon seit zwei Tagen mit festgemachten Segeln und ohne volle Dampfspannung lag, sich von Strömung und Wind treiben ließ.

»Wo geht die Fahrt hin?«, hatte ich gefragt, wozu ich auch berechtigt war.

»Das weiß ich nicht.«

Gut, dann war diese Sache für mich nun auch erledigt.

Und so etwas geht einem zuletzt ja so in Fleisch und Blut über, dass ich auch in Gedanken für mich solch eine Frage nicht mehr aufwarf.

Dagegen war jetzt meine erste Frage, wo sich die Turnhalle befände. Im Zwischendeck, der ehemaligen Batterie des ursprünglichen Kriegsschiffes.

Es war alles vorhanden, was zur Benutzung keine größere Höhe als drei Meter erforderte. Barren und Pferde und Böcke und Springapparate und dergleichen, alles zum Festschrauben. Trapeze und ähnliches konnten natürlich nicht angebracht werden. Auch die beiden Recke gebrauchten eine besondere Vorrichtung, um sie zu jeder Schwungübung benützen zu können. Durch die Batterie gingen die beiden großen Luken, fünf Meter lang und mir wenig schmäler, nach oben also aufs Deck, nach unten ins zweite Zwischendeck. Neben diesen Luken waren eiserne Schienen errichtet, zwischen diesen die Reckstangen eingespannt. Bei großen Schwungübungen mussten sie natürlich tief stehen, dann turnte man also in der Luke herum, halb in der Batterie, halb im zweiten Zwischendeck. Bei schönem Wetter wurde oben die Luke abgedeckt.

Ich zog meine Jacke aus und probierte es wieder einmal am Reck. Die Knochen waren doch ein bisschen eingerostet. Aber das gab sich schnell.

Mein Poltern lockte einige Matrosen und Heizer herab. Die wollten doch sehen, was es mit dem sogenannten Waffenmeister für eine Bewandtnis hatte, und sie konnten hier gerade so gut sein wie ich. Auch die Wache hatte nichts zu tun, konnte sich überall aufhalten, wo der Bootsmannspfiff sie erreichte.

Verwunderte, wenn nicht erstaunte Gesichter. Ich konnte wirklich sehr gut turnen, mir machte mancher professionelle Reckturner im Zirkus nichts vor.

»Wer von Euch kann turnen, Jungens?«

Die erst erstaunten Gesichter wurden gleich misstrauisch und verdrießlich.

»Dat is nix för uns, wi sin Seelüt.«

Nur einer trat vor, ein hübscher, schlanker Bursche, noch nicht 20 Jahre, sprang an die Stange und machte einige ganz hübsche Übungen.

»Wie heißt Du?«

»Hans Leichtfuß.«

Nanu! Es wurde mir unter Matrosenwitzen erklärt.

Hier war einmal der Ausnahmefall, dass man einen Matrosen außer mit seinem Vornamen noch mit seinen Vatersnamen anredete. Aber nicht so einfach, man hatte noch etwas dazwischen geschoben.

Er hieß Hans Fuß und war Leichtmatrose. Da war er natürlich der Hans Leichtfuß geworden. Und ein richtiger Hans Leichtfuß war er auch, immer heiter und sorglos, immer Dummheiten im Kopfe, und außerdem ein ganz schneidiger Bengel.

Dies alles sah ich ihm gleich an, in den Augen und sogar an der Nasenspitze. Ich nahm ihn beiseite, erklärte, was ich von ihm verlangte.

Er sollte die ganze Besatzung, die »Exklikusen« und vorläufig die Offiziere ausgenommen, in einer Liste zusammenstellen und diese in zwei möglichst gleichmäßige Parteien teilen. So gleichmäßig, dass er dann eine schwere Wahl hätte, welcher Partei er angehören solle.

Der helle Kopf verstand mich sofort.

»Von wegen der besten Seemannschaft?«

»Auch mit. Aber das gibt nicht den Ausschlag. Auf jede Wache die fixesten Jungen, und jede Wache soll die fixeste sein. Du erfährst vorher nicht, welcher Du angehören wirst. Matrosen und Heizer.«

»Schön, Herr Waffenmeister, wird gemacht.«

Ich suchte Siddy auf, fragte, ob ich ein Stück grünes und ein Stück rotes Zeug oder Tuch bekommen könnte. Zeug und Tuch wusste er nicht gleich, aber die feinste indische Seide war in solchen Farben da. War mir auch recht. Ich nahm metergroße Stücke, zerschnitt die beiden Farben in lauter kleine Streifen.

Wie ich hiermit noch beschäftigt war, sah ich Hans Leichtfuß herumspazieren, Bleistift und ein Stück Papier in der Hand, manchmal gen Himmel blickend, sich in den Haaren kratzend und dann schreibend und dann wieder himmelnd — gerade wie ein lyrischer Dichter.

Als ich meine Stücke zerschnitten hatte, war auch er fertig. Ich sah das Konzept, wo er die Einzelnen immer hin und her rangiert hatte, bis sie jetzt in zwei Reihen sauber untereinander standen.

»Zu welcher Reihe aber ich gehören möchte, das wüsste ich wirklich nicht. Hier ist der Bruno und dort ist der Franz. Und dort ist der Jochen — dafür ist aber hier nun wieder der Paul. Der is ja ein bisschen dämlich aber was der Jochen is, der hat's Pulver ooch nich erfunden. Dafür kann der Paul mit einer Hand einen doppelten Palstegknoten schlingen, un der Jochen wieder kann ebenso ein zölliges Tau durchbeißen, wie nen Porzellanteller upfräten —«

»Schon gut, schon gut. So hast Du sie eben ganz richtig verteilt, und wegen der Wahl sollst Du gar keine Qual haben.«

Ich nahm einen grünen Streifen, legte die Hände auf den Rücken.

»Links oder rechts?

»Rechts.«

Er hatte die Faust mit dem Streifen getroffen.

»Dann gehört Dir die grüne Steuerbordwache, mir die rote Backbordwache.«

Ich ging hin, wo über das Geländer der Kommandobrücke die langen Beine herabhingen.

»Herr Kapitän«, frug ich höflich, »darf ich die Brücke betreten?«

»Ja.«

Ich stieg hinauf zum Allerheiligsten des Schiffes, das zu betreten der Kapitän sogar dem Schiffseigentümer verbieten kann. Wenn er es vorher ausmacht.

Kapitän Martin änderte zwar seine Lage nicht, empfing mich aber doch in besonderer Weise.

»Die Kommandobrücke steht Ihnen jederzeit frei, Herr Waffenmeister.«

»Danke, Herr Kapitän. Nun wollte ich Sie bitten, dass Sie noch einmal die ganze Mannschaft antreten lassen —«

»Das können Sie selbst tun. Sie selbst haben das Kommando über die ganze Besatzung, auch über die Wache. Bis wie weit, das wissen Sie als Schiffsoffizier selbst am besten. Und zur Besatzung gehöre auch ich.«

Ich dankte nochmals und stieg wieder herab. Wir beide verstanden uns, eine weitere Auseinandersetzung wegen unseres gegenseitigen Verhältnisses war nicht nötig.

Ich ließ durch den Bootsmann wieder alles antreten, mit, Ausnahme der Offiziere, die zuerst Vorgelesenen auf Steuerbord-, die anderen auf Backbordseite, verteilte an jene die grünen, an diese die roten Streifen, jeder bekam mehrere.

»Auf jedes Bekleidungsstück, das Ihr tragt, wird solch ein Streifen am linken Oberarm angenäht. Die ganze Besatzung ist fernerhin in die grüne und in die rote Partei geteilt. In Parteien! Nicht in Wachen! Näht es sofort an.«

Das war der einzige Befehl, den ich in dieser Beziehung gab.

Der Kapitän, ließ mich rufen, zu sich bitten.

»Sie wollen die Mannschaft in zwei Wachen teilen?«

»Nein, mit dem Schiffsdienst hat meine Einteilung gar nichts zu tun.«

»Dann ist's gut.«

Nur gegen eine Änderung der ursprünglichen Einteilung in drei Wachen hätte er Einspruch erhoben, hätte mindestens deswegen befragt werden müssen.

Ich selbst nähte mir einen roten Streifen an, Hans musste das mit seinem grünen tun. Eine Erklärung gab ich nicht. Die ganze Mannschaft mochte sich jetzt ja nicht schlecht den Kopf zerbrechen was ich mit dieser Einteilung beabsichtigte.

»So, nun wollen wir einmal sehen, wer von uns beiden am höchsten springen kann, ob Du Deinen Namen mit Recht trägst.«

In die Batterie, wir stellten die Sprunggestelle auf, begannen zu springen, erst ganz niedrig.

Es fanden sich Neugierige ein.

»Na los, Jungens, zeigt mal, wie Ihr springen könnt.«

Von einem Dutzend machten zwei mit, die anderen schauten verächtlich zu. Das verächtliche Gesicht gehört überhaupt zur charakteristischen Physiognomie des deutschen, des germanischen Seemannes. Um das zu begründen, dazu müsste man eine psychologische Abhandlung schreiben. Ebenso wird man auch nie einen germanischen Seemann finden, der über seine Lippen auch nur eine Andeutung von Schmeichelei bringt, und wenn man ihn Feuersgluten aussetzte.

Ich ging einmal in meine Kabine. In der inzwischen dort untergebrachten Kleiderkiste hatte ich einen Spazierstock, aus dem Rückgrat eines Haifisches, die jahrelange Arbeit eines Matrosen, jeder Wirbelknochen mit der Hand gedreht und poliert, dann auf einem Stahlstock aufgereiht und zusammengeschraubt, oben mit einer Krücke aus dem kleinen Horne eines Rhinozeros' versehen. Das Ding war unter Brüdern hundert Taler wert. Mein Freund Hein Paulsen war in Bombay am gelben Fieber gestorben und hatte ihn mir vermacht.

Zurück in den Turnsaal. Jetzt sprangen sechs Mann. Dass sie schon die Stiefel ausgezogen hatten, war mir ein sehr gutes Zeichen. Tatsächlich von größter Wichtigkeit. Auch der Zuschauer waren mehr geworden, die jetzt aber blutige Witze über solche Hopserei rissen. Bei meinem Wiedererscheinen freilich verstummten sie. Man wusste eben nicht, was man aus mir machen sollte.

»Hier, was meint Ihr zu diesem Stock?«

Er ging von Hand zu Hand, die verächtlichen Gesichter verwandelten sich in bewundernde und ehrfürchtige. Denn diese Arbeit versteht jeder Matrose zu beurteilen. Jeder gefangene Hai von ansehnlicher Größe wird auf Rückgrat verarbeitet, zum Spazierstock, nur mit der Hand. Drehbankarbeit, was die sofort erkennen, gilt nicht für voll, es lässt sich auch gar nicht mit der Drehbank machen. Die ganze Mannschaft arbeitet während der Reise daran, dann wird der Stock verkauft, das Geld gemeinschaftlich — — versoffen.

»Hochfeine Arbeit, todsaubere Arbeit!«

»Welche Farbe am höchsten springt, der gehört dieser Stock.«

»Welche Farbe?«

Ich gab die Erklärung. Es war ja ganz einfach. Die gesprungenen Zentimeter wurden eben zusammengerechnet, bei jeder Farbe. Jeder konnte so oft springen, wie er wollte. Der beste Sprung galt.

Sofort begriffen. Alle sofort die Stiefeln aus und losgehopst. Ja, bei einigen sah es gottvoll aus. Man meint, jeder Mensch müsse doch über einen Strick springen können. Durchaus nicht. Gerade einige dieser Matrosen, die nicht beim Kommis gewesen, benahmen sich ungeschickter als die kleinen Mädchen, sprangen mit dem rechten Fuße ab, wollten aber auch mit dem rechten Fuße zuerst drüber kommen, tanzten in der Luft so eine Art Polka. Schallendes Gelächter erfüllte immer wieder die Batterie.

Ich hatte eine Tabelle angelegt.

»Ist alles durch? Machen wir erst einmal Schluss. Grün hat zusammen 368 Punkte, Rot 474. Rot hat gewonnen, dieser Farbe gehört der Spazierstock.«

»Ja, wir sind aber nur sieben, die Roten sind neun!«, sagten die Grünen.

»Das ist dabei egal. So holt doch noch mehr von Eurer Farbe. Die Farben sind ganz gleich, es gibt 26 Grüne und 26 Rote.«

Alles wurde sofort herangeholt. Alle mussten in die Batterie. Wer nicht gleich wollte, wurde geschleift. Aber der Widerspenstige brauchte nur erklärt zu bekommen, worum es sich handelte, brauchte nur eine Minute zuzusehen, und er machte freiwillig mit, sprang oder hopste.

Sogar August der Starke kam. Der zweite Bootsmann. Erstens wirklich stark wie weiland der Kurfürst von Sachsen und König von Polen, und zweitens auch in anderer Hinsicht stark, rund wie ein Kloß. Auch, dieser Kloß kugelte sich über das Sprungseil, die ganze Batterie brüllte.

»Was ist denn hier nur los?«, fragte die Patronin.

Sie war mit dem kleinen Mädchen an der Hand gekommen. Ilse Hartung, die Tochter ihres Bruders.

Erst musste sich die Patrona einmal auslachen.

»Ich bin baff!«, sagte sie dann mit ihrer gewöhnlichen Offenheit, etwas burschikos. »Wie haben Sie denn das nur fertig gebracht?!«

Ich zeigte ihr den Spazierstock, erklärte.

Da musste sie mir erst einen kleinen Hieb versetzen. »Ja dann freilich — Sie sagten aber doch, es sollten keine Prämien ausgesetzt werden.«

Wenn sie so sprach, dann verstand sie mich nicht. Nicht der Ehrgeiz des einzelnen, sondern der Parteigeist musste geweckt werden. Und sie verstand denn auch diesen totalen Unterschied gleich.

Es ging weiter. Wir hatten vier Sprungständer zur Verfügung, die verschiedenen Klassen fanden sich zusammen, so dass die besten Springer nicht zu warten brauchten, bis sie ganz zuletzt ihre ganze Kraft entwickeln mussten.

Ich hatte mit 128 Zentimeter den höchsten Sprung gemacht. Bis Peter kam. Der übersprang mich mit vier Punkten. Nicht Peter der Igel, auf den ich mich gesetzt hatte, sondern Peter der Heizer. Der kleine Kerl, auch sonst ein ausgezeichneter Turner, hopste wie ein Floh. Hans Leichtfuß war weit zurückgeblieben, aber der würde sich schon noch entwickeln.

Hierbei bemerke ich, dass den höchsten Sprung bisher der Kalifornier George Horine gemacht hat, 198 Zentimeter. Den deutschen Rekord hält ein Landsmann von mir, der Kieler Pasemann, mit 192. Man messe sich diese Höhe einmal aus. Und bei solchen internationalen Wettspielen wird ohne Sprungbrett gesprungen. Freilich liegt bei solch einem Springer dasselbe vor, wie bei so einem chinesischen Zahnkünstler, er macht nichts weiter als Springen, und zwar nur Hochsprung, danach hat er sein ganzes Leben eingerichtet. Trotzdem wird er nicht als professioneller Athlet, sondern als Amateur betrachtet, weil er sich nicht dafür bezahlen lässt, nur Ehrenpreise nimmt. Und trotzdem wird so einer, wenn er nicht selbst vermögend ist, von fremden Geldern unterhalten. Die englischen Fußball-, Tennis- und Kricketmannschaften, die immer in der ganzen Welt herumziehen, erhalten alle Leibrenten, von Sportsfreunden oder Vereinen ausgesetzt. Ein angenehmes Leben ist dies übrigens nicht, die leben alle wie die Asketen.

Wieder einmal Schluss gemacht. Diesmal hatte die grüne Farbe mit 16 Punkten über die rote gesiegt. Der Spazierstock ging also in den Besitz der Grünen über.

»Kann das nicht weitergehen, Herr Waffenmeister?«, Zuerst hatten sie das ihnen noch unbekannte Wort gar nicht von der Zunge gebracht, hatten sich geniert.

»Gewiss immer weiter, bis Euch die Knochen lahm sind.«

»Oho, Ihr Grünen, Euch wollen wir den Stock schon wieder abnehmen!«, riefen die Roten.

Und weiter ging es mit heller Begeisterung.

»Herr Waffenmeister, Sie sind ein Hexenmeister!«, sagte die Patronin zu mir mit ganz strahlenden Augen.

»Ich möchte mir einmal die Räume ansehen, die der Mannschaft zur Verfügung gestellt worden sind, die Bibliothek und so weiter. Darf ich Sie um Ihre Begleitung bitten?«

Sie kam mit. Es handelte sich um die Bibliothek, die unter der Back, also unter dem Mannschaftslogis, im Zwischendeck lag, von der Batterie durch eine Scheidewand getrennt. Die Patronin hatte hier für ihr Volk ein richtiges Klubzimmer schaffen wollen. Es fehlte wohl nur das Billard, sonst war alles zur Unterhaltung vorhanden, auch ein schönes Piano. Und nun rings an den Wänden herum die Regale voll Bücher.

Aber man sah es gleich, es lag gewissermaßen in der Atmosphäre, wie wenig dies alles benützt wurde. Diese Matrosen und Heizer waren so etwas eben nicht gewohnt, die fühlten sich nur neben ihrer Koje auf der Kleiderkiste wohl.

»Ja hier könnten sie stehen. Haben Madame nicht zwei Schränke übrig? Womöglich ganz gleiche, womöglich mit Glastüren; sonst müssen wir sie selber machen.«

»Zwei Glasschränke? Ungefähr so groß? O ja, die habe ich zufällig in meinem Salon, kann sie entbehren. Wozu?«

»Na, da kommen eben die Prämien hinein, die Ehrenpreise. Jede Farbe hat ihren eigenen Schrank. Als erstes kommt mein Spazierstock hinein, als Ehrenpreis für den besten Hochsprung gemeinsam von einer Farbe ausgeführt.«

»Ach, Sie wollen noch mehr solche Preise aussetzen?!«

»Selbstverständlich. Für jeden einzelnen Turnapparat und jeden Sport einen besonderen, um den die beiden Farben ständig kämpfen müssen. Weitsprung, Reck, Barren, Hantelstemmen, Fußball, Schlagball, Tauziehen, Bootsrudern, Schwimmen, Fechten und so weiter, und so weiter. Sie werden doch so ein paar Sachen haben, sie brauchen ja gar nicht kostbar zu sein, es muss nur ein sichtbarer Gegenstand sein, um den täglich gerungen wird, der immer aus einem Schrank in den andern wandern muss —«

»Ach, da habe ich eine ganze Menge Silbersachen —«

Sie wollte gleich fortrennen, ich packte sie einfach beim Arm und hielt sie fest.

»Und dann hier in der Mitte zwischen den beiden kleineren Schränken ein größerer, recht fein geschnitzt.«

»Wozu der?«

»Da kommen die fremden Ehrenpreise hinein, die wir gemeinsam erringen, Grün und Rot zusammen, also eben wir Argonauten.«

»Fremde Ehrenpreise?«

»Nun ja, die wir uns in den Häfen holen. Wenn dort nicht gerade olympische Wettspiele stattfinden, so schreiben Sie selbst ein solches aus. »Hier, welcher Sportverein will sich mit uns Argonauten im Kampfe messen?« Und wo Engländer sind, da werden auch sofort von anderer Seite solche Ehrenpreise gestiftet oder es gibt kein Old England mehr. Oder wir segeln eben hin, wo solche Wettkämpfe stattfinden, wir können dazu doch auch einmal eine Fahrt ins Land hinein machen, Sie scheinen sich so etwas doch leisten zu können. Und wenn wir erscheinen, muss der Ruf erklingen: »Achtung, die Argonauten kommen, jetzt wird's für uns ein heißes Ringen geben!« Und ich versichere Ihnen, kann Ihnen die Versicherung auf mein Ehrenwort geben, dass sich unser Schrank bald mit solchen Ehrenpreisen füllen wird!«

Die junge Frau schaute mich mit Augen an, die immer begeisterter wurden.

Dann dachte ich, sie wollte mir um den Hals fallen. Sie tat's nicht — noch nicht, das sollte erst später kommen. —

Ich fasse die nächsten Tage, während welcher wir still auf der spiegelglatt gewordenen See lagen, in Summa zusammen.

Mein Programm wurde ausgeführt. Alle Arten der Turnerei und des Sportes kamen daran. Für die verschiedenen Ballspiele konnte das ganze Deck von den Rahennocken aus mit einem Netz umspannt werden. Die Masten und Winden und andere Sachen waren ja im Wege, aber daran gewöhnte man sich, und dann würde es umso besser gehen, wenn wir solche Hindernisse einmal nicht hatten.

Und die Begeisterung nahm immer zu. Der Grund hierfür ist ja nicht so leicht zu definieren. Eben Parteigeist. Grün gegen Rot. Jede Partei übte den ganzen Tag für sich allein, nur zu einer bestimmten Stunde, gewöhnlich vor dem Mittagsessen, kamen beide Farben zu irgend einem Wettkampfe zusammen, und dann wanderte sehr oft ein silbernes Schaustück aus einem Schrank in den anderen.

Dann hastig das Essen hinuntergeschlungen — und es brauchte nur noch Erbsen mit Würfelspeck zu geben, das konnte man am schnellsten auslöffeln — und die Grünen, die das letzte Mal recht schlecht beim Bootsrudern abgeschnitten hatten, gingen wieder in die Boote, und die Kerls pullten, dass ihnen die Zunge aus dem Halse hing — während die Roten mit vollgepfropftem Magen die Bauchwelle und den Riesenschwung machten.

Und diese Begeisterung würde anhalten. Das wusste ich bestimmt! Grün gegen Rot! Darin lag der Zauber.

Wenn ich mich verspekuliert hatte, so war es nur in einem: ich hatte mir erst einige notiert, die wegen ihres Benehmens, weil sie eben doch nicht so recht mitmachen wollten, nur immer verächtliche Bemerkungen hatten, im nächsten Hafen ausrangiert werden sollten. Ich hatte sie nämlich wieder von dieser Liste gestrichen. Es musste nur das, was in ihnen schlummerte, geweckt werden. Dann waren sie mit Feuer und Flamme dabei.

Der Hartnäckigste war ein englischer Matrose gewesen.

»Shut up, shut up!«, sagte Sam immer nur verächtlich wenn er von seiner Partei geholt werden sollte.

Ich hatte einige Entersäbel zu Rapieren umschmieden lassen, das sonstige Paukzeug wurde gefertigt, die Schutzmasken und die gepolsterten Hüllen, die Fechtlektionen begannen. Sobald jeder einigermaßen eingeweiht war, schied sich wieder Grün von Rot, jede Farbe übte für sich und focht gegen die andere. Wer in so etwas schon Meister war, machte dabei den unparteiischen Lehrer, in diesem Falle ich. Jetzt führte ich meinen Titel eher mit Recht.

»Na, Sam, los, die Plembe in die Hand genommen.« »Shut up, shut up! Ja, wenn es Keulen wären.« »Könnt Ihr denn Keulen schwingen?«

»Und wie! Da sollt Ihr mich mal sehen. Wenn wir nur welche hätten.«

O, wenn's weiter nichts war! Aus zwei alten Ruderstangen machte Hammid, der arabische Zimmermann das erste Keulenpaar. Ja, es sah recht hübsch aus, was uns Sam da vormachte. Man muss es nur einmal gesehen haben, was man mit diesen einfachen Holzdingern für eine verzwickte Quirlerei machen kann. Es sieht aber leichter aus, als es ist. Ich kannte es auch noch nicht, und mir juckten die Handgelenke nicht schlecht.

Gut, das wollten wir ebenfalls einführen. Ein Auslegebaum wurde geopfert, Hammid fertigte daraus 20 weitere Keulen, immer mehr kamen hinzu.

Und jetzt brachte Sam die Keulen gar nicht mehr aus den Fäusten, ersann immer neue Übungen und Tricks, um diese wieder seinen Schülern beizubringen.

Und als ich dann die 50 Mann zur ersten gemeinsamen Übung angetreten sah, wie die 100 Keulen in gleichmäßigem Schwunge durch die Luft sausten und wirbelnde Räder beschrieben, da konnte ich mir vorstellen, wie das später aussehen musste, wenn die es hierin zur Virtuosität gebracht hatten.

Die Exklusiven hatten sich schon längst einreihen lassen. Sogar Meister Tabak trug an seiner Badehose einen roten Streifen und weihte die Leute in die Geheimnisse des Gerwerfens ein, ja, er legte sogar einmal seine Pfeife weg, um seiner Partei dazu zu verhelfen, die meisten Klimmzüge zu machen.

»Das hätte ich nicht für möglich gehalten, nun aber halte ich nichts mehr für unmöglich!«, sagte da die Patronin, welche immer die Schiedsrichterin machte, alle Leistungen nach Punkten wertete, wie ich es ihr schnell beigebracht hatte.

Auch alle Offiziere machten mit. Mit Ausnahme des ersten Ingenieurs, der seine Kajbine nicht mehr verließ. Er laborierte ja auch noch an seinem Arm.

Ja, es kam mir sogar manchmal vor, als ob auch der Kapitän gern mitgemacht hätte. Er zuckte, wenn er zusah, öfters so eigentümlich mit den Ellenbogen, gerade als ob er seine Hände aus den Hosentaschen nehmen wollte. Und das wäre doch schade gewesen. Es war überhaupt ganz gut, wenn der Kapitän nicht mitmachte. Und sehr lieb wäre es mir gewesen, wenn auch Doktor Cohn sich ausgeschlossen hätte. Wenigstens vom Keulenschwingen. Denn der Kerl gab mir einmal mit seiner Keule eins auf den Schädel, dass ich sehr leicht mit zertrümmertem Hirnkasten ins Jenseits hätte fahren können. Und dann forderte er auch noch, nachdem er mir einen kalten Umschlag gemacht hatte, von mir für seine Bemühungen eine Mark fünfundzwanzig.

Auch geschwommen wurde. Daran wollten die meisten ja nicht recht gehen. Die echten zweibeinigen Seeratten sind bekanntlich fast alle wasserscheu, können nicht schwimmen. Weil sie, wenn sie schwimmen können, die Todesnot nur unnötig zu verlängern: So heißt es. Ich will darüber nicht weiter sprechen. Das hat sich seit der allgemeinen Dienstpflicht auch sehr geändert. Es waren unter der Mannschaft auch genug Binnenländer, es brauchte überhaupt nur der Anfang gemacht zu werden, dann machten alle mit, und wer noch nicht schwimmen konnte, ließ sich an die Angel nehmen.

Ein Boot wurde 100 Meter weit ausgerudert, das galt als Ziel, und wieder ging es los, Grün gegen Rot. Dann wurde die Bordwand niedergelegt und ein elastisches Brett ausgeschoben. Es wurde gesprungen. Besonders Oskar, der Segelmacher aus Köln, war ein vorzüglicher Springer und Schwimmer. Aber auch alle anderen, die schwimmen konnten, machten mit, es ging eben um die Parteiehre, jeder plumpste, so gut er plumpsen konnte.

Nur dieses wollte ich noch erwähnen. Nämlich wie dann auch August der Starke an die Reihe kam. Wie sich dieser kolossale Fleischkloß in seiner prallen Badehose auf das Brett stellte und einen Anlauf nahm. Sein Vorgänger hatte einen eleganten Kopfsprung mit Aufsatz gemacht. Und den wollte August nun nachmachen, ohne eine Ahnung davon zu haben. Aber der Kloß platzte mit dem Bauche aufs Wasser, mindestens fünf Meter herab, dass ich wirklich dachte, der ganze Kerl könnte auseinandergeplatzt sein.

Aber frisch und munter kletterte er wieder das Fallreep herauf, unverzagt noch einmal aufs Brett, wieder aufgesetzt — — da knackt er das ganze Sprungbrett ab und plautzt in noch ganz anderer Weise ins Wasser, auf die dem Bauche abgekehrte Seite, die Beine etwas nach oben —.

Ach, dieses Gelächter!

»Guck mal, Tante«, sagte die kleine Ilse, »dem Onkel Kapitän sind Hände gewachsen.«

Ja, der Kapitän hatte die Hände aus den Hosentaschen genommen, um sich vor Lachen am Geländer festzuhalten.

Und die Patronin wollte sich vor Lachen auf einen Poller setzen und setzte sich daneben.

Und Mister Tabak ließ vor Lachen seine Pfeife aus den Zähnen über Bord fallen.

Nein, so brüllend und so anhaltend war noch auf keinem Schiffe gelacht worden, wie damals auf der »Argos«.

Und solche Szenen ereigneten sich täglich, stündlich.

Ach, war das ein Leben auf diesem Schiffe! Wir lebten einander zuliebe.

*

5. Kapitel

Im Lande der Verzweiflung

Originalseiten 96 — 136

Reeeeehhh!!«, leitete Kapitän Martin die Kommandos zum Segelmanöver ein, und Juno, das Schwein, führte die Matrosen im Galopp an. Sie enterten im Laufschritt auf, in noch nicht einer Viertelstunde war der letzte Lappen gesetzt, wie ein weißer Schwan flog unsere Fregatte vor dem steifen Nordostwinde dahin.

»Dunnerslag«, meinte der Kapitän zu mir, »das klappte! Das könnte fixer keine Kriegskorvette machen, die für jeden Mast hundert Mann hat.«

Ja die Folgen machten sich schon bemerkbar! Die Knochen waren nicht umsonst geschmiert worden. Es steckte überhaupt schon etwas ganz Besonderes dahinter.

Die Küste tauchte auf, wir steuerten mit 16 Knoten Fahrt in die Magellanstraße, sausten hinein.

Welches von Osten kommende Segelschiff macht das nach?

Nun, wir hatten eben Glück! Dort unten weht nämlich sonst fast ständig der Wind, der Sturm von Westen her. Aber warum soll er sich denn nicht einmal drehen. Die Sonnenglut nach langer Windstille hatte einmal andere atmosphärische Strömungen erzeugt. Der Westwind würde schon wieder kommen.

Aber immerhin, es war Tatsache, dass wir jetzt mit geschwellten Segeln von Osten her in die Magellanstraße einsteuerten. Wir rutschten an einem mächtig qualmenden Kohlendampfer vorüber, als wär's eine Schnecke. Wir grüßten, auch der Dampfer holte die Heckflagge zum Salut nieder — und vergaß sie wieder emporzuziehen, ließ sie versehentlich auf Halbstock wehen, das Zeichen der Trauer.

Ach, wo sind die herrlichen Zeiten geblieben, da solch ein weißer Schwan direkt in den Hafen rauschte, ein Kommando, wie durch Zauberei rollten sich an die 35 ungeheuere Segel gleichzeitig zusammen, und fest lag das Schiff an der Hafenmauer!

Und wenn man die nötige Mannschaft dazu hätte, sie wäre auf solch ein Massenmanöver einexerziert — man darf es gar nicht mehr. Die Hafenpolizei verbietet es, noch mehr die Gesellschaft, die das Schiff versichert hat. Das Segelschiff muss zur Einfahrt einen Schleppdampfer nehmen, es ist Zwang, und ist der Wind auch noch so günstig.

Neben mir stand die Patronin.

Was hatte das junge Weib mit den sonst so blassen Zügen plötzlich für ein rotes Gesicht? Und diese Augen, wie die strahlten!

Nun, ich wusste schon —.

Auch mir wurde das Herz so weit, so weit.

Ach, solch ein vollgesetztes Segelschiff vor dem Winde! Wo bleibst Du armselige Qualmkiste!

»Kapitän Martin meint, mit 80 Matrosen könnten wir alle Rahen gleichzeitig bedienen!«, sagte die Patronin jetzt zu mir.

»Ich will dem nicht widersprechen, glaube aber, dass der Kapitän jetzt selbst der Überzeugung ist, auch 70 würden schon genügen.«

»Dann fehlten uns noch 35.«

»Ja, genau die Hälfte.«

»Sie werden mir diese Matrosen noch beschaffen, Herr Waffenmeister.«

Aaah, welche Aussicht! Da hatte ich ja Gelegenheit, mich in meinem eigentlichen Berufe, auf den mich der liebe Gott durch dieses junge Weib endlich gebracht hatte, noch weiter zu betätigen.

Was die vorhatte, das wusste ich ja nun schon längst. Herrlich!

»Ich will nur erst einmal —«

Beinahe hätte ich etwas über unser Ziel oder ihre sonstige Absicht zu hören bekommen. Der Kapitän machte einen Strich durch die Rechnung.

»Was macht der Bengel da oben?!«, schrie der Kapitän ärgerlich mit gen Himmel gewendetem Antlitz.

Es war Fritz, der Mondgucker, der ihn ärgerte. Fockmast, Großmast, Kreuzmast. Von vorn nach hinten.

Die sieben Rahen — mehr gibt es nicht — des Großmastes sind: Großrahe Untermars-, Obermars-, Unterbram-, Oberbram-, Royal- und Skyrahe.

Nach diesen Rahen werden die Segel benannt, einige haben aber auch einen besonderen Namen.

Das oberste Segel am Großmast, also an der Skyrahe, heißt der Mondgucker, offiziell.

Sind Schiffsjungen vorhanden, so wird der Mondgucker von einem solchen bedient, der dann gleichfalls Mondgucker heißt. Es ist ein Ehrentitel. Schiffsjungen gab es hier nicht, aber ich hatte doch einen solchen mitgebracht, den Fritz, ein kleiner, dicker Knirps, aber ein tüchtiges Kerlchen. Der hatte natürlich den Mondgucker bekommen, und nun war er eben Fritz, der Mondgucker.

Und jetzt machte der Bengel dort oben an der Skystange die Fahne! Ganz oben am letzten Endchen, am Flaggentopp. Er reckt den Leib seitlich in die Luft hinaus und zappelte mit den Beinen!

Der Bootsmann pfiff und drohte mit der Faust.

Der Junge sah es recht wohl — oder er war eben fertig mit seiner Fahne — rutschte an der Stange herab, lief ein Stück freihändig über die Skyrahe, sprang wie ein Affe an das nächste Gitau und schoss wie ein Blitz an diesem herab, bis auf Deck, kam gerade vor uns zu stehen.

Im Augenblick bemerkte ich nur eines.

Dass das sonst so blasse Gesicht der Patronin gerötet war, hatte ich schon gesagt.

Und jetzt bekam die doch mit einem Male einen Kopf so rot wie eine Klatschrose! Und so starrte sie den Jungen, der etwas verlegen vor uns stand, mit ganz entgeisterten Augen an.

Zunächst kam der Bootsmann, der zweite, August der Starke.

»Himmelhund!«, schnauzte er den Jungen an und hielt ihm die Faust, so groß wie eine ansehnliche Kegelkugel, unter die Nase.

Der Junge wurde noch verlegener, zugleich aber auch etwas trotzig.

»Na wat denn? Ick bin doch'n Paapenbooorjer.«

Im Augenblick war ich wohl der einzige, der gleich wusste, was der Junge hiermit meinte.

Papenburg ist eine kleine Hafenstadt im Bezirk Osnabrück, die von dort stammenden Matrosen sind geradezu berühmt wegen ihrer Verwegenheit und wegen ihres »Supens«. Was ein richtiger Paapenbooorger ist, der muss einen Eimer Grog ohne Absetzen austrinken und dann noch einen Aal auf der Nase balancieren können. Außerdem haben sich unter ihnen noch am besten uralte Seemannsgebräuche erhalten.

»Ach richtig, Du bist ja aus Papenburg!«, rief ich also. »Und wer von Euch zum ersten Male um Kap Hoorn segelt, der muss am Großtopp die Fahne machen, nicht wahr?«

»Ja freilich, muss ick doch, sonst muss ick doch enn ganze Pütze Saltwater utsupen.«

»Wir sind hier aber gar nicht bei Kap Hoorn.«

Der Junge blickte sich verwundert um nach Norden, wo ein Küstenstreifen zu sehen war.

»Neeee??«

»Wir sind in der Magellanstraße!«

»Tjoooo?? Ich dacht, dat wär Kap Hoorn.«

Ich kam nicht zum Lachen.

Plötzlich zieht die Patronin vom Finger einen Ring, von dem ein wahres Feuermeer in allen Regenbogenfarben ausgeht, ein erbsengroßer Brillant, von vielen kleinen umgeben, und gibt ihn dem Jungen.

»Da nimm — zum Andenken, dass Du zum ersten Male in die Magellanstraße kommst!«

Ich war ein Esel, dass ich ob dieses Geschenkes, ob dieser ganzen Handlungsweise so bestürzt wurde.

Ich hätte dieses junge Weib nun schon besser kennen müssen.

Was waren der denn diese blitzenden Steinchen! Vielmehr wundern hätte ich mich müssen, dass sie nicht sofort Befehl gab, die Segel zu reffen, Dampf aufzumachen und zurückzufahren, zum Kap Hoorn herum, nur dieses Jungen wegen, damit der dort seine Fahne machen konnte.

Dass der Junge verlegen wurde, war begreiflich. Schüchtern drehte er den funkelnden Ring zwischen seinen kulbigen Fingern.

Hast Du, Leser, schon einmal die Hand von so einem Schiffsjungen gesehen, auch wenn er nur seine erste Reise gemacht hat? Du würdest wahrscheinlich erschrecken. Denke daran, wenn Du eine Tasse Kaffee trinkst, ohne diese Schiffsjungenhand hättest Du keinen Kaffee.

Und dann geschah etwas, was die Situation wieder total veränderte.

Der Junge dachte wohl, dass er doch irgend etwas sagen müsse, und so blickte er die Patronin von unten mit verdrehten Augen misstrauisch an, und noch misstrauischer erklang es:

»Ist dat ook echtes Gold?«

Ach, wie soll man so etwas denn beschreiben! Ich platzte los, glaube, ich habe der Patronin ins Gesicht gesprudelt. Und die gab einen unbeschreiblichen Ton von sich, drehte sich schnell um und musste das Taschentuch gebrauchen.

Der Junge trollte sich.

»Lass ihn Dir von keinem Affen und von keinem Elefanten mausen!«, rief ich ihm lachend nach.

»Nee, nee, ick schenk emm mien Brut.«

Hatte der fünfzehnjährige Knirps auch schon eine Braut! Natürlich, als Paapenbooorger!

Ich, immer noch aus vollem Halse lachend, wollte mich wieder der Patronin beigesellen, die an der Bordwand stand, das Taschentuch vorm Gesicht, der ganze Körper von Lachen erschüttert.

Da aber merke ich, dass sie gar nicht lacht.

Sie weint! Ein konvulsivisches Schluchzen!

Jetzt wäre eine maßlose Bestürzung meinerseits angebracht gewesen. Ich war es aber nicht.

Ich ahnte etwas, wusste etwas.

Nein, der galten die blitzenden Steinchen nichts.

Die suchte etwas viel Echteres als echtes Gold — etwas, was man für alles Gold der Welt nicht erkaufen konnte. Ganz vorn der Knirps, der Mondgucker, der mit seiner Fahne am Großtopp die Sitten seiner Ururururahnen geehrt hatte — der hatte so etwas Unverkäufliches in seiner Brust!

Ooooh, ich konnte mir recht wohl den Zusammenhang zwischen dieser wagehalsigen Turnerei und dem blutroten Kopfe der Patronin, zwischen dem Ringe und ihrem Weinen erklären!

Aber mit Worten ausdrücken lässt sich so etwas nicht. Also genug davon! —

Das heißt aber — wenn die ihre Ringe so weiter verschenkte, dann hatte sie bald keinen mehr auf den Fingern oder sie musste sich andere anstecken.

Nun, hatte sie nicht gesagt, sie gebiete über unermessliche, unerschöpfliche Schätze?

Ein etwas merkwürdiger Ausdruck.

Hm!

Ich schlenderte zum Kapitän, stellte einmal eine Frage, die mir als ganz exklusivem Waffenmeister wohl erlaubt war.

»Herr Kapitän, wissen Sie, wie hoch dieses Schiff versichert ist?«

»Es ist unversichert.«

Ahaaa!!

O, es ist etwas Herrliches um ein unversichertes Schiff.

Wenn ich es mir leisten könnte, ich würde mein Schiff auch nicht versichern. Die Versicherung frisst doch mehr als dreiviertel des ganzen Verdienstes, den ein Schiff einbringen kann. Ein Schiff ist kein Haus. Mit einem Hause kann man nicht so leicht »anecken«. Eckt man aber mit einem Schiffe an, dann kann es sehr leicht futsch sein. Und mit einem unversicherten Schiffe kann man auch, wenn's einem Spaß macht, in jeden Hafen segeln. Das kostet dann nur eine Polizeistrafe.

»Ja, es ist etwas Herrliches um ein unversichertes Schiff!«

In anderer Hinsicht aber kann es auch etwas sehr, sehr Böses sein!

*

Der erste, östliche Teil der Magellanstraße ist 320 Kilometer lang. Man verlange keine Beschreibung. Ich will nur sagen, dass man durch enge Straßen, Narrows, aus einem Becken ins andere kommt, und jedes solche Becken ist einfach ein Meer, und die engen Straßen sind so breit, dass man, wenn man in der Mitte fährt, keine Ufer sieht. Aber äußerst gefährlich wegen der vielen Inselchen und Riffe.

Früh um acht hatten wir die Grenze passiert, von welcher an man die Magellanstraße rechnet, nachmittags gegen vier näherten wir uns dem Punkte, wo sie einen scharfen Bogen nach Südwesten macht.

Während der letzten Stunde hatte der Kapitän ein Segel nach dem anderen festmachen lassen, dafür mussten die Heizer hinab, der Schornstein begann zu qualmen, ohne dass schon die Maschine arbeitete. Immer mehr verlangsamte sich die Fahrt.

Auf der Kommandobrücke stand Doktor Cohn und machte ununterbrochen nach der Sonne geografische Ortsbestimmungen.

Doktor Isidor Cohn. Er hatte den doppelten Doktorhut, sogar den dreifachen. War Doktor der Medizin und Doktor der Philosophie, hatte speziell Mathematik und Astronomie studiert, außerdem Philosophie, wegen einer vergleichenden Abhandlung des Sanskrits mit anderen Sprachen war er von der Universität Oxford zum Ehrendoktor ernannt worden.

Der ungefähr dreißigjährige Mann beherrschte vollkommen in Schrift und Wort 23 verschiedene Sprachen, waren die Dialekte nicht mitgezählt.

Man wolle hierüber nicht staunen. Wer so etwas unglaublich findet, der weiß nicht, was es für Sprachgenies gibt, weiß nicht, dass jeder Kaufmann in der Levante alle Mittelmeersprachen spricht, und das sind acht.

Über die Fähigkeit sich eine fremde Sprache anzueignen, ist überhaupt nicht zu disputieren. Wir wissen auch nicht, wie es in dem Gehirne solch eines Wunderkindes aussieht, das mehrstellige Zahlen sofort im Kopfe multipliziert. Oder im Kopfe solch eines Mannes, der blindlings Schach spielt, mit einem Dutzend Gegnern zugleich, er sieht die Bretter gar nicht, und dennoch lenkt er seine Figuren zum Siege.

Man schlage im Konversationslexikon einmal das Wort »Mezzofanti« auf. Da wird man lesen, dass der Mann dieses Namens, ein Kardinal, 58 Sprachen schrieb und sprach, mit den Dialekten mehr als hundert. Oder Elihu Burritt, auch sehr interessant. Ums Jahr 1825 wurde in dem amerikanischen Städtchen New-Britain, Staat Connecticut, in einer Hufschmiede ein Lehrjunge entdeckt, der perfekt Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Arabisch und Suahelisch konnte. In dem Hause hatte ein akademischer Theologie gewohnt, der dann als Missionar unter die Suahelis nach Afrika gegangen war, sich hierauf vorbereitet hatte, seine Grammatiken und Wörterbücher zurückgelassen hatte. Die waren dem Jungen in die Hände gefallen, er hatte sich diese Sprachen angeeignet, während er den Blasebalg zog. Der später als Prediger für den Weltfrieden berühmt gewordene Grobschmied starb 1879 zu New York, seiner Liebhaberei ist er bis zu seinem Tode treu geblieben.

Auf dem Londoner Hauptpostamt steht noch heute ein junger Neger als Auskunftsdolmetscher, der achtzehn Sprachen spricht. Sie sind auf einer Blechtafel, die auf seiner Brust hängt, angegeben. Der wird oft genug geprüft. Er spricht sie perfekt, Deutsch ebenso gut wie Bulgarisch. Und der Dolmetscher auf dem New Yorker Hauptpostamt, ein Armenier, spricht gar 27 Sprachen.

Sollte da dieser jüdische Gelehrte, dem alle Mittel zur Verfügung standen, von dessen alles durchdringendem Scharfsinn und fabelhaftem Gedächtnis ich noch Proben genug bekommen sollte — sollte der, wenn er nun einmal ein ganz besonderes Sprachentalent besaß, sich nicht 23 Sprachen angeeignet haben können?

»Haben Sie schon als Kind angefangen, die Sprachen zu erlernen?«, fragte ich ihn einmal.

»Ich konnte schon als dreijähriges Kind geläufig fünf Sprachen.«

»Ist nicht möglich!«

»Jawohl! Deitsch, Jiddisch, Deitschjiddisch, Jiddischdeitsch — und durch de Nos.«

»Nein«, fuhr er dann fort nach diesem Witze, wie er sie so liebte, »ich war bis zu meinem vierzehnten Jahre ein kreuzdummes Luder. Mir war es immer, als hätte ich ein Brett vorm Kopfe. Eines Morgens, wie ich erwachte, war das Brett weg. Dann habe ich in einem Vierteljahre alles das nachgeholt, was ich in acht Schuljahren versäumt hatte. Und das ging dann so weiter. Wie ich eine fremde Sprache lerne? Ich lerne sie überhaupt gar nicht. Ich nehme ein Buch, in der betreffenden Sprache geschrieben, lese es einmal, lese es zweimal, dreimal — — dann kann ich diese Sprache.«

»Das verstehe ich nicht recht. Sie schlagen zuerst fortwährend im Wörterbuch nach?«

»Nein. Habe ich nicht nötig. Es ist immer dasselbe Buch, welches ich lese. Das kann ich auswendig. Es ist das Neue Testament. Weshalb ich gerade dieses gewählt habe? Weil das Neue Testament von der Londoner Bibelgesellschaft in mehr als 300 Sprachen übersetzt ist. Da hat man die Auswahl. Hat die eigene Sprache eine eigene Schrift, dann muss ich diese freilich zuerst lernen. Aber sonst geht es gleich los. Nur dass ich mit dem Evangelium Johannis anfange. Im Anfange war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Und da ist mir keine Zeile fremd, jedes einzelne Wort kenne ich, und diese Übersetzungen sind möglichst wortgetreu. So erlerne ich die Sprachen vollständig. Die zur Konversation nötigen Redensarten eigne ich mir bei der ersten Gelegenheit im Handumdrehen an. Und will ich die betreffende Sprache von grundauf beherrschen, kennen lernen, dann treibe ich die Grammatik erst hinterher. Das ist das ganze Geheimnis.«

Jawohl, wenn man es nur nachmachen könnte!

»Ach, das können Sie auch. Aber sehen Sie hier, machen Sie mir das mal nach, das ist wahre Kunst!«

Und er wackelte mit seinen großen, weitabstehenden Ohren, konnte sie sogar unabhängig voneinander bewegen, jedes für sich, was nun zum Schießen aussah!

Ja, das war unser Doktor Isidor, wie er nur genannt wurde.

Auch noch in anderer Hinsicht war er ein Genie: ein Sumpfgenie. Ein Glück war es für ihn, dass er immer ein armer Teufel gewesen, immer von der Hand in den Mund gelebt hatte. Ja sogar ein großes Glück, dass er, wenn er einmal Geld in die Finger bekommen, dieses sofort in sinnloser Weise verschleudert hatte, einfach weggeschmissen. Denn das steht fest: wenn einmal ein Jude leichtsinnig ist, dann kennt er auch keine Grenzen!

Zuletzt hatte er zwanzigtausend Mark geerbt. Wie lange er nicht nüchtern geworden war, wusste er nicht. Als er wieder zur Besinnung kann, befand er sich in einer Kaltwasserheilanstalt. Wo das Geld geblieben war, wusste er nicht. Einfach weg. Er kümmerte sich auch nicht weiter darum.

Aus dieser Nervenklinik hatte ihn Frau Helene Neubert geholt. Immer noch als ein Häufchen Unglück. In den ersten Tagen an Bord hatte er noch so den Taddrich gehabt, dass man ihm keine Gabel in die Hand zu geben wagte, er stach sich mit ihr beim Essen in die Augen. Aber jetzt war er wieder ganz perfekt. Nur musste er wohl immer den nötigen Alkohol im Leibe haben.

Also jetzt nahm Doktor Isidor mit dem Sextanten ständig die Sonne auf und führte die Berechnungen aus, pfiff dazwischen ab und zu einen Kognak. Ich blickte einmal in sein Buch. Ach, diese Formeln! Ja, wir machen auch solche geografische Bestimmungen, müssen auch astronomische Kenntnisse besitzen — aber wo bleiben wir armen Steuermännel gegen einen richtigen Astronomen!

Die letzten Segel waren geborgen.

»Halbe Kraft voraus!«, klingelte der Signalapparat nach dem Maschinenraum.

Wir näherten uns offenbar irgend einem Ziele, und wenn dieses auch nur in der Luft lag. Der Kapitän hatte schon seine Instruktionen!

In südlicher Ferne tauchten die Umrisse von Gebirgen auf.

»Herr Waffenmeister, bitte!«

Die Patronin stand am Kajütenaufbau und spähte durch ein Fernrohr nach diesen Gebirgen. Ich ging hin.

»Sind Sie schon einmal hier gewesen?«

»Ich bin zweimal um Kap Hoorn gekommen, aber nicht hier durch.«

»Kennen Sie sonst diese Gegend?«

»Nun, was jeder gebildete Mensch und speziell jeder Seemann kennen muss.«

»Das ist also das Feuerland!«

»Ja, was man so das Feuerland nennt. Was wir dort sehen, dürfte noch das spezielle Feuerland sein, die Tierra del Fuego, eine sehr große Insel, halb zu Chile, halb zu Argentinien gehörend. Der zweite Teil der Magellanstraße wird von einem Gewirr zahlloser kleinerer Inseln begrenzt, die man zusammen als Desolation-Land bezeichnet.«

»Desolation-Land!«, wiederholte das junge Weib sinnend. »Wissen Sie, was das heißt, Desolation?«

Der nahm ich es einmal nicht übel, dass sie mich so ausfragte.

»Traurigkeit, Trostlosigkeit, Verzweiflung.«

»Ja, das Land der Verzweiflung. Warum mag das so heißen?«

»Na, weil es dort eben ganz verzweifelt traurig und trostlos aussehen soll.«

»Hm. Ich habe auch schon einen anderen Grund für diesen Namen gehört.«

»Haben Sie? Was für einen?«

»Haben Sie das Wort Desolation vielleicht schon sonst einmal gehört?«

Ich sann einen Augenblick nach und fuhr empor.

»Alle Wetter ja! So hieß doch die Fregatte von dem van Hoorn, der als Anführer der französischen Flibustier in den Jahren 1603 und 1604 alle die Hafenstädte von Chile, Peru and Mexiko ausplünderte! Ja, dem seine Fregatte hieß Desolation. Er hatte ihr diesen Namen nicht selbst gegeben, sondern die armen Spanier tauften sie so, was er dann akzeptierte. Weil überall, wo das Schiff mit dem gehissten Signal des furchtbaren Räubers erschien, die trostloseste Verzweiflung herrschte. Ja, und dieser van Hoorn ist dann verschollen, im Jahre 1605, als er mit seiner Fregatte, die ganz mit Schätzen vollgepfropft war, auf dem Rückweg begriffen war, um Kap Hoorn segeln wollte. Oder, von Westen her, wahrscheinlich durch diese Straße. Sie meinen, dass das Desolation-Land nach dieser Fregatte genannt worden ist? Das glaube ich nicht. Diese Übereinstimmung ist nur ein Zufall.«

Überrascht hatte die Patronin den Kopf gehoben und mich angeblickt.

»Woher wissen Sie denn das?!«

»Nanu! Das weiß doch jeder Mensch, der nur einiges Interesse für so etwas hat! Bukanier und Flibustier! Und der van Hoorn kam doch gleich nach dem Morgan. Ei, das war ein feiner Mann, dieser van Hoorn aus Ostende, ein humaner Mann! Wenn sich neue Leute für seine Räuberdienste meldeten, dann mussten sie sich anstellen, und urplötzlich wurde ganz unvermutet hinter ihrem Rücken eine Kanone abgefeuert. Hoorn beobachtete sie dabei, und wer bei dem Donnerknall auch nur im leisesten zusammenzuckte, den schoss er auf der Stelle nieder. Unbrauchbar — weg! Ei, das war ein Patentmännel, dieser van Hoorn!«

»Ja, aber woher wissen Sie denn auch so genau die Jahreszahlen?«, lachte die Patronin, obgleich es da doch gar nichts zu lachen gab, das war doch vielmehr sehr traurig.

»Ach so!«, musste aber auch ich jetzt lachen. »Ja, sehen Sie, Madame — ich habe nämlich nur lesen gelernt, um Seeräubergeschichte zu studieren. Schon in meinem zehnten Jahre hätte ich auf jeder Universität den Professorenstuhl für Seeräuberuniversalweltgeschichte einnehmen können. Ich kannte die genaue Biografie von sämtlichen Seeräubern der Welt, vom grauesten Altertume an bis in die Zukunft, sogar von solchen, die überhaupt gar nicht existiert haben. Ei, ich habe auch ein Seeräuberdrama geschrieben, gedichtet, in Versen. Als ich bei der Marine diente. Kling-Klang-Klung, der Schrecken des gelben Meeres, oder der blutige Popanz in der Kleiderkiste. Es ist auch aufgeführt worden. In Wilhelmshaven. Zu Kaisers Geburtstag. Die Frau des Divisionskommandeurs bekam vor Lachen die Schreikrämpfe. Faktisch.«

Die Patronin wand sich jetzt schon vor Lachen. Sie lachte gar zu gern.

»Von Matrosen aufgeführt?«, brachte sie dann hervor. »Jawohl. Sie denken wohl, die können nicht schauspielern? Nu, Sie hätten die blauen Jungen nur einmal sehen sollen!«

»Könnten Sie so etwas nicht einmal hier aufführen?«

»Ja, Madam, das ist ein Gedanke«, fuhr ich empor. »Ich habe auch schon daran gedacht, dass zwischen die Turnerei und Sportspiele auch einmal eine geistige Anregung kommen muss. Richtig, ich werde meinen Kling-Klang-Klung noch einmal bearbeiten! — Ja, also Sie meinten, dass dieses Insellabyrinth nach jener Fregatte Desolation genannt worden ist? Nein, jetzt entsinne ich mich, dass schon Magellan dieses Land so getauft hat, und der ist im Jahre 1520 hier durchgekommen.«

Unterdessen hatte die »Argos« immer direkt auf die Küste zugehalten mit halber Kraft, Matrosen mussten ständig loten.

Jetzt war die Küste schon mit bloßen Augen als Landschaft zu erkennen, man konnte die einzelnen Bäume unterscheiden.

Ein herrlicher Anblick! Die Berge bis oben hinauf mit frischem Grün bekleidet, vorher die flache Küste ein einziger Buchenwald!

Und das nennt man nun das Land der trostlosen Verzweiflung! Welche Ironie!

Ja, wir befanden uns eben im Hochsommer, auf dem 52. Breitengrade. Auf diesem liegt auf der nördlichen Halbkugel Berlin, und das wäre dort jetzt Juli gewesen. Und wirken tat hier die Sonne ebenso. Wo nur irgendwie ein Grashalm gedeihen konnte, da musste sie wohl Grün hervorzaubern.

Aber wie ungünstig die südliche Erdhälfte durch atmosphärische Verhältnisse gegen die nördliche gestellt ist, das zeigten dort schon die Bäume. Es waren fast nur Buchen, dieselbe Art, die im Norden gedeihen. Dort aber ist die Buche doch ein sehr stattlicher Baum, hier dagegen blieb sie zwerghaft klein.

Und drei Monate später, wenn hier im Verhältnis zum nördlichen Breitengrad erst der Herbst anbrach, würde hier bereits alles von Schnee und Eis starren, dann mussten diese Bäume alle Kraft zusammennehmen, um einem acht Monate langen Winter trotzen zu können, und sie durften nicht hoch sein, sonst hätten sie den hier fast unausgesetzt brausenden Weststürmen nicht widerstanden.

Wir hatten es eben auch sonst ganz wunderbar getroffen. Von solch einer Wasserstille in der Magellanstraße können wenig Seeleute erzählen. Wie mochte sonst dort an den Felsen für gewöhnlich die Brandung wüten, umsonst waren doch dort nicht solche Löcher ausgehöhlt, während man jetzt hätte hineinschwimmen können.

»Recht so, Frau Patronin!«, rief der Kapitän.

»Können wir ankern?«

»Ja. In elf Meter guter Muschelgrund.«

»Es ist Ebbe?«

»Tiefste Ebbe.«

»So gehen wir zunächst vor Anker.«

Der Steuerbordanker rasselte herab und fasste. Wir lagen kaum einen Kilometer vom Ufer entfernt. Die Küste war sehr ungleichmäßig, lauter Landzungen und Buchten, welche die Ausläufer der Taleinschnitte zu sein schienen. Doch konnten es ebenso gut durchgehende Wasserstraßen sein, wir hatten also vielleicht auch lauter kleine Inseln vor uns. Das war ja nicht zu unterscheiden.

Da kam aus solch einer Bucht, von einer höheren Felsformation eingefasst, ein Boot hervor, mehrere andere folgten. Eingeborene statteten uns einen Besuch ab, Feuerländer, in ihrer Sprache Pescheräs.

Es sind auf dieser südlichen Seite der Straße verschiedene große Buchten bekannt, in welche auch die größten Schiffe sicher einlaufen können, in denen man bei schweren Stürmen Schutz sucht. Hier kommen diese Pescheräs mit den Schiffern in Berührung, betteln sie an.

Ob auch hier solch eine bekannte Bucht war, wusste ich nicht. Jedenfalls aber wussten diese Eingeborenen, dass sie von uns nichts zu fürchten hatten, dass sie von diesem Schiffe etwas geschenkt bekamen.

Die Boote waren einfache Baumstämme, ganz roh behauen, durch Feuer ausgehöhlt. In jedem saßen drei oder vier Männer von schmutzig brauner Farbe, nur um die Hüften ein Fell geschlungen, eine andere Bekleidung hatten sie ja auch bei dieser Sommerwärme nicht nötig, während sie sich sonst in Pelze hüllen, kleine, plumpe Gestalten, jetzt wohlgenährt, während sie, wenn man sie am Ende des Winters zu sehen bekommt, sämtlich klapperdürr sind.

Diese Veränderung ihrer Körperbeschaffenheit zeigt schon, auf welch tierischer Stufe sie stehen. Sie leben von der Hand in den Mund, und selbst wenn sie sich einen Vorrat von Lebensmitteln für die kurze Zeit anlegen könnten, so tun sie es doch nicht, sind zu faul dazu, kennen überhaupt kein Morgen. Für den Sommer bauen sie sich primitive Hütten aus Zweigen, sonst hausen sie in Höhlen und Erdlöchern. Als Jagdtiere gibt es Guanakos und eine Art Wolf, vielleicht aber ist es ein verwilderter Haushund, erst später eingeführt, den sie mit Pfeil und Wurfhammer erlegen; noch mehr leben sie von Schaltieren und Fischen. Den hier sehr häufigen Seehund können sie nur im Winter erlegen, lauern ihm an seinem Eisloche auf. Weiter hinaus auf das Meer dürfen sie sich in ihren elenden Booten nicht wagen. Ein Freudenfest ist es, wenn ein Walfisch strandet. Dann die Eier der zahllosen Seevögel. Jetzt hatten sie sich gemästet.

Auch zwei Weiber waren dabei, die Gesichter noch hässlicher als die der Männer. Der unförmliche Mund an den Winkeln weit herabgezogen, so dass es immer aussah, als ob sie zu weinen anfangen wollten. Alles an ihnen starrend vor Fett und Dreck, alles eine Schmiere. Das straffe schwarze Haar ganz verwildert, sogar über das Gesicht hängend, wodurch sie erst recht ein wildes Aussehen bekamen, obgleich es die harmlosesten Menschen sind.

Die Boote legten sich an dem Schiffsrumpf zusammen, ein allgemeines Schnattern und Gestikulieren sehr deutlich, sie rissen die Mäuler auf, deuteten darauf und kauten.

Ein Sack Schiffszwieback wurde ihnen hingeworfen. Gleich darüber her gemacht, die Wolfsgebisse malmten. Das zuletzt aufgeschlagene Fass Salzfleisch war sehr fettig, talgig. Wir warfen die Stücke einzeln hinab; sie wurden sofort verschlungen, ohne erst gekaut zu werden, die Zähne rissen nur ab. Als sie aber nun sahen, dass sie immer mehr bekamen, fraßen sie — pardon, verzehrten sie nur noch den Talg, das Fleisch warfen sie über Bord. Sie hätten sich das Fleisch, wenn sie es auch weniger gern aßen, doch für später aufheben können. Aber nein, es wurde gleich ins Wasser geworfen.

Der zweite Maschinist brachte ein großes Paket Talglichter. Das sah nun sehr hübsch aus, wie sie die aufknabberten, nur den Docht übrig lassend, den sie aber zuletzt ebenfalls verschluckten. Ich wurde lebhaft an meine Knabenzeit erinnert, wo ich erst den Apfel schälte und dann hinterher auch die Schale aß, nur dass es hier umgekehrt ging: erst das Äußere, dann das Innere.

Doktor Isidor rief wiederholt etwas zu ihnen hinab, hielt ganze Reden. In ihrer Sprache? Sicher. Er hatte sie auch erlernen können. Die Londoner Bibelgesellschaft hat das neue Testament auch in Pescherä übersetzt. Freilich ganz verlorene Liebesmüh. Die wollen alte Talglichter haben, aber keine neuen Testamente. Und dann mussten sie doch auch erst lesen können. Es gibt allerdings einige Missionen mit Schulen dort, aber die hier wussten davon nichts.

Doktor Isidor sagte es mir später. Ja, er hatte sich vorbereitet, um sich mit den Pescheräs unterhalten zu können. Auf Antrag der Patronin. Er hatte in seiner eigenen Bibliothek diese sämtlichen Bibelübersetzungen. Aber nicht etwa, dass er das Pescherä zu jenen 23 Sprachen zählte, die er beherrschte. Er hatte sich nur einige Fragen und Reden zurechtgelegt. Auf Veranlassung der Patronin. Aber die Kerls dort unten reagierten nicht auf des Doktors Parlamentsreden, sie wollten noch mehr Talglichter haben.

»Wie können wir sie denn nur an Bord locken?«, meinte die Patronin.

»Es ist schade, dass wir ihnen schon soviel gegeben haben, nun sind sie schon satt, nun kommen sie nicht mehr.«

Verschiedene Gegenstände wurden ihnen gezeigt, die das Herz dieser Leute doch reizen mussten, Spiegel, Messer und dergleichen — ja, sie wollten sie haben, aber nicht heraufkommen, so dicht man ihnen auch das Fallreep vor die Nase hing und winkte, wie Isidor auch parlamentierte.

»Soll ich mal einen heraufholen?«, meinte Juba Riata, schon das Lasso von den Hüften wickelnd.

Lachend wehrte die Patronin ab. Es wurde überhaupt viel gelacht.

»Tante, was nehmen die sich denn immer vom Kopfe aus den Haaren und stecken es in den Mund?«, fragte die kleine Ilse.

Noch ein Boot kam aus der Bucht gerudert, mit drei Männern und einem Weibe. Und da machten wir eine hochinteressante Beobachtung.

Das noch junge, derb entwickelte Weib war über und über mit Knochen behangen, mit menschlichen. Es war das ganze Gerippe eines Mannes, die einzelnen Knochen mit Sehnen zusammengeheftet, aber bunt durcheinander. Den Totenschädel trug sie vorn auf der Brust, einen Schenkelknochen an der Seite, den anderen auf dem Rücken, und so weiter. Aber auch das letzte Fingerknöchelchen war vorhanden.

Hiermit war eine von den Ethnologen heiß umstrittene Frage bejahend beantwortet. Es handelt sich um eine besondere Art von Totenverehrung, die man bestimmt sonst nur bei den Bewohnern der Andaman-Inseln kennt, zwischen Vorder- und Hinterindien gelegen.

Die Frau, welche dort Witwe wird, muss die Skelettknochen ihres verstorbenen Mannes Zeit ihres Lebens an ihrem Körper mit sich herumtragen. Nun ist schon immer behauptet worden, dass auch die Pescheräs dieselbe Sitte haben, wenigstens einzelne Stämme; andere Ethnologen bestreiten das.

Gewiss, es war so! Hier war der Beweis.

Die Andamanfrau, um sich möglichst bald mit den Knochen ihres geliebten Gatten, der sie täglich verdroschen hat, schmücken zu können, vergräbt die Leiche im oder bei einem Ameisenhaufen. Die Insekten liefern sehr bald ein sauberes Skelett. Hier kam ich auf die Vermutung, dass die verwitwete Frau Pescherä den geliebten Toten am Feuer brät — nicht um das Fleisch zu verspeisen, sondern um es recht schnell von den Knochen loslösen zu können. Einige Knochen sahen nämlich so angebrenzelt aus.


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Ich hatte den an der Bordwand stehenden Leuten erzählt, was es mit diesen Knochen für eine Bewandtnis habe.

»Hm«, meinte da Oskar der Segelmacher nachdenklich, »das muss aber fatal sein — wenn so eine mehrmals Witwe wird — immer wieder heiratet — wenn die dann so'n halbes Dutzend Knochenkerle mit sich herumschleppt. Nee, die möcht'ch nicht heiraten. Oder legt sie denn die wenigstens ab, wenn se ins Bett steigt?«

Doktor Isidor sprach mit dem neuen Boote, und da kam ein Mann das Fallreep herauf. Die Frau mit den Knochen folgte ihm. Es war seine Gattin. Wie sich später erfuhr, muss bei den Feuerländern die Witwe das Skelett des Mannes nur tragen, wenn sie nochmals heiratet, was sehr selten vorkommt. Da muss sie sehr, sehr schön sein. So schön wie diese hier. Die hier hatte ein noch viel größeres Maul als Mister Tabak, und so ein großes hatte ich früher noch nie gesehen.

Die Ankömmlinge waren natürlich etwas furchtsam. Dass sie nicht vor fremden Tieren erschraken, dafür war gesorgt worden.

Die Patronin und Doktor Isidor nahmen den Mann in Beschlag, brachten ihn soweit, dass er Rede und Antwort stand, während die Matrosen die Frau umringten, sie mit Talglichtern und anderen Leckereien fütterten.

So verging einige Zeit. Da wollte sich Oskar, der sich hauptsächlich bei der Unterhaltung hervorgetan, den liebenswürdigen Schwerenöter gespielt hatte, von dieser unvergesslichen Stunde ein Andenken verschaffen. Er trat unbemerkt hinter sie, zog sein Messer und schnitt ihr den an dem Rücken hängenden Schenkelknochen ab.

Ich wurde erst durch das Kichern der Matrosen stutzig, da war es schon geschehen, und da wandte sich auch der Pescherä wieder dem Fallreep zu, ein grunzender Laut, und die Frau folgte ihm, ohne ihren Verlust bemerkt zu haben. Oskar hielt den großen Knochen hinter seinem Rücken verborgen.

Das ging natürlich auf keinen Fall, und kein anderer erhob Einspruch. So tat ich es.

»Was soll der Unfug! Oskar, gebt dem Weibe sofort den Knochen zurück!«

Er wollte nicht. Da trat ich als Bevollmächtigter der Patronin auf.

»Gebt ihr den Knochen zurück, sofort, ich befehle es!«

Da lief er ihr nach, hielt ihr von der Seite den Knochen hin, so recht höflich.

»He — Sie da — Fräulein — junge Frau — Gnädige — Sie haben das linke Bein von Ihrem seligen Gatten liegen lassen.«

Das gab ja schon genug Grund zum Lachen. Aber es kam noch besser. Die Frau war nicht sonderlich überrascht, nahm den Knochen einfach hin, griff sich allerdings einmal auf den Rücken. Nun musste sie das steile Fallreep hinab, wollte sich dabei mit beiden Händen festhalten. Und so nahm sie den Schenkelknochen einstweilen zwischen die Zähne.

»Guten Appetit, wünsche wohl zu speisen!«, rief ihr Oskar nach...

Da brach das Gelächter natürlich erst recht los.

*

Ich glaube, wenn ich noch nautischer Steuermann gewesen wäre, so hätte ich auch nichts weiter erfahren, weshalb wir hier lagen, was die Patronin beabsichtigte. Nur der Kapitän wusste wohl etwas mehr davon. Ganz sicher aber Doktor Isidor. Die beiden, die Patronin und der Schiffsarzt, steckten jetzt mehr denn je zusammen, unterhielten sich leise.

»Sie kommen doch mit, Herr Waffenmeister?«, sagte die Patronin zu mir.

»An Land? Herzlich gern!«

»Nehmen Sie ein Jagdgewehr mit.«

O, das war etwas für mich! Ich war ein leidenschaftlicher Jäger! Das heißt, das war nur eine platonische Liebhaberei von mir. Ich war überhaupt noch nie auf der Jagd gewesen. Als Junge hatte ich Sperlinge geschossen, auch einmal eine Taube, wofür ich den Hosenboden geklopft bekommen hatte — sonst noch nichts weiter. Ja, ich war in Ländern gewesen, wo Löwen und Tiger und Antilopen sind, aber doch immer nur im Hafen, und das ist doch ganz anders, als sich mancher denkt, als es manche Jugendschriftsteller schildern. Da kommt unsereiner doch gar nicht hin. Nach Möwen hatte ich einmal geschossen. Da hatte mir der Kapitän das Tesching weggenommen. »Hier hat nur einer eine Waffe zu führen, und das bin ich!«

»Auch die Matrosen, die uns an Land rudern, sollen Waffen mitnehmen. Diese auszuteilen, das wäre Ihre Sache, Herr Waffenmeister. Aber ich weiß noch nicht, wer mitkommt und wie viel. Wahrscheinlich dampft auch gleich das ganze Schiff in die Bucht, die Einfahrt muss noch einmal ausgepeilt werden. Der Kapitän hält es doch für besser. Die Waffenkammer steht ja immer offen.«

So hatte die Patronin noch hinzugefügt. Also ich suchte mir in der Waffenkammer eine Doppelbüchse aus, sie waren alle gleich, ganz neu, schnallte einen Gürtel mit Revolver um, nahm aber den Entersäbel ab, füllte die Munitionstaschen aus den Eisenkisten mit Patronen, dann ging ich in meine Kabine und bereitete mich sonst noch etwas auf die Expedition vor, zum Beispiel indem ich als Hauptsache meine Fischblase mit Tabak füllte.

Als ich wieder an Deck kam, waren die beiden Boote schon ausgesetzt. Also eine Jolle und, wie wenigstens der Kapitän gesagt hatte, die Dampfbarkasse. Es war aber ein Motorboot mit Petroleumbetrieb, ein großes Ding, lag unter einem Verdeck mittschiffs zwischen Groß- und Kreuzmast, wurde durch eine Winde aufgehoben und ausgeschwenkt.

Die Patronin kam aus der Kajüte. Ich kannte sie nicht anders als in einem weißen Kleide mit weißen Segeltuchschuhen. Jetzt trug sie ein dunkles Lodenkostüm, nicht allzu kurz. Man konnte eben noch sehen, dass sie Schaftstiefel anhatte. Na, das ging noch. Ich hatte nämlich schon so einen Kostümwechsel erwartet und gedacht, gefürchtet, sie könnte in Hosen kommen. Und das kann ich bei einem Weibe nicht leiden, obgleich ich sonst gar nicht so bin. Über die Schulter hatte sie eine zierliche Doppelbüchse gehängt, und am Gürtel durften natürlich Revolver und Jagdmesser nicht fehlen. Sonst wär's doch keine Jagdexpedition im amerikanischen Feuerlande gewesen.

Sie hatte das Motorboot benutzen wollen, aber da funktionierte etwas nicht, wie der Motor auch knatterte und stank. Die Maschinisten suchten und debattierten. Nur der erste fehlte, der verließ seine Kabine nicht.

Auch der Doktor kam mit, Ernst sollte steuern. Er wusste noch gar nicht wohin. Die sechs zum Rudern kommandierten Matrosen erschienen mit Doppelbüchsen.

»Du, Max«, musste ich zu dem einen sagen, der sein Gewehr verächtlich am Riemen nachschleifte, »das ist eine Flinte und keine Mistgabel!«

»Wat schall ick denn mit dem Kohfott?«, lautete die mich verächtlichere Antwort.

»Hast Du denn nicht in der Marine gedient?«

»Ich? Neee.«

»Warum haben sie Dich denn nicht genommen?«

»Weil ick keen groten Zeh hävv an den rechten Foot.«

»Wo hast Du denn Deine große Zehe gelassen?«, musste ich lachen.

»Mien Mutting seggte, dee hädd mi der Adebar (Klapperstorch) afbäten.«

Er schleifte seinen »Kuhfuß« weiter.

Bis zum Erzieren mit dem Gewehr und zu Schießübungen war es noch nicht gekommen, das würde aber auch noch geschehen. Ich will überhaupt gleich sagen, dass ich dieses Schiff und seine Mannschaft noch zu Waffentaten, zu Kriegstaten anführen wollte. Aber so weit, um der Patronin meinen Plan zu offenbaren, war es noch nicht.

Man soll niemals vorher von etwas sprechen, ehe man richtig loslegen kann! Sonst ist die Hälfte dies Erfolges schon dahin!

Wir stießen ab. Die Pescheräboote waren schon wieder in der Bucht verschwunden, die auch unser Ziel war.

Aus einer sachgemäßen Erforschung der Einfahrt, ob das große Schiff auch überall genug tiefes Wasser habe, was die Patronin doch beabsichtigte, sollte nichts werden, das musste dann der Motorbarkasse oder einem anderen Boote überlassen bleiben, denn wir selbst sollten noch ein sehr hübsches Erlebnis haben, was aber unsere Absicht vereitelte.

Wegen der Pescheräs war also das ganze Viehzeug, soweit es gefährlich aussah, einmal eingesperrt worden. Wir hatten uns ungefähr 200 Meter vom Schiffe entfernt, als vielstimmiges Hundegebell in allen Tonarten erscholl. Juba Riata, der Herr und Meister dieses Viehzeuges, hatte es wieder in Freiheit gesetzt. Über der Bordwand tauchten zuerst Hundeköpfe auf, Lulu, das Elefantenbaby, schwenkte seinen Rüssel und quäkte, Löwen- und Tiger- und Bärenköpfe kamen hinzu, alle diese Tiere richteten sich auf und blickten dem Boote, das die Herrin entführte, nach — ein famoser Anblick, wie alle diese Tiere in Reih und Glied aufgerichtet an der Bordwand standen!

»Ob die wohl nachkämen«, meinte die Patronin, »wenn ich —«

Da war es schon geschehen. Plauz, plauz, plauz ging es, und immer wieder spritzte das Wasser.

Die ersten waren Thor und Odin gewesen, zwei prächtige Neufundländer, welche die abgehende Herrin erblickt und sie nicht im Stiche lassen wollten — ihnen nach folgte Frau Holle, der beiden gemeinschaftliche Ehegattin. Diese drei waren ja geborene Wasserratten, und zwar von der Salzwasserkante, aber —.

»Was die können, können wir auch!«, sagten sich Kastor und Pollux, zwei riesige Boxer, mehr Bullenbeißer, und jumpten hinab.

»Nun aber schleunigst nach!«, sagten sich Max und Moritz, zwei Bernhardiner, und verschwanden in den Fluten.

Und dann gab es einen Plauz und Klatsch, wie ihn eigentlich nur August der Starke fertig brachte. Diesmal aber war es Willy gewesen, der braune Bär, der sich die fünf Meter hatte herabplatschen lassen.

Und dann sauste durch die Luft ein gelber Bogen und verschwand ziemlich geräuschlos im Wasser — die Marchesse, die Herzogin, die gewaltige Königstigerin.

Dass der Tiger meilenbreite Meeresarme überschwimmt, um von einer Insel zur anderen zu gelangen, ist ja bekannt.

Es gab ja noch andere Hunde und sonstige Tiere genug, die uns hätten folgen können, auch sicher bereit dazu waren — die aber wurden wohl von Juba Riatas Peitsche zurückgehalten.

Und was wir hier gesehen hatten, das genügte ja auch schon.

O, war das ein Anblick gewesen!

So etwas lässt sich ja gar nicht beschreiben!

Auch nicht das Großartige andeuten, was dem Ganzen zugrunde lag. Diese Treue! Rinn ins Wasser und der geliebten Herrin nachgeschwommen!

Und wie die verschiedenen Köpfe nun angerückt kamen, diese glühenden Augen, wie jetzt der Wettkampf im Schwimmen losging! So etwas müsste man fotografieren, kinematografieren — und es gäbe doch nur ein totes, seelenloses Bild.

Kurz und gut, mir stieg es wieder einmal ganz siedend heiß zum Herzen empor.

Und die Patronin sprang auf und klatschte in die Hände und jubelte und jauchzte — gebärdete sich wie ein vor Weihnachtsfreude närrisch gewordenes Kind. Und ich konnte es begreifen.

»Los, Kastor, Pollux — lasst Euch nicht von der Marchesse überholen — Max; der Max kommt vor! Der Willy, guckt mal den Dickwanst an —«

So und anders klang es durcheinander. Eben ein Anblick, dass selbst der faule Max, das heißt der Matrose ohne große Zehe, ganz enthusiasmiert wurde.

Ich hätte auf einen der Neufundländer gewettet, alle drei waren ja auch weit voraus gewesen — und hätte verloren. Mit einem Male legte Willy los, der braune Bär, der Fettwanst schoss plötzlich wie ein Fischotter durchs Wasser und hatte schnell die drei Neufundländer überholt.

Wir hatten natürlich mit Rudern aufgehört. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit kam der Bär heran. Und wollte zu uns ins Boot. Er legte die Pranken auf den Bordrand suchte sich zu heben.

Wir kamen in die größte Gefahr, das Boot wollte kentern. Und der Bär war durch nichts abzuwehren, wie wir auch auf ihn losschlugen. Wir hätten ihm die Pranken abhacken müssen. Und jetzt kamen die Hunde und glaubten, nichts wäre uns erfreulicher, als wenn sie ebenfalls ins Boot kletterten. Und zwar kamen sie alle von derselben Seite. Es hätte tatsächlich eine Katastrophe geben können, mit dem einfachen Kentern war es noch gar nicht abgetan.

Bis ein Matrose auf die geniale Idee kam, seinen Tabaksaft Willy in die Augen zu spucken. Es war ja nicht gerade sehr hübsch, auch keine ritterliche Fechtweise, aber im Augenblick wirklich das einzige Mittel, das uns vor der Katastrophe bewahrte. Der Bär ließ sich zurück ins Wasser plumpsen, um sich erst einmal die deliziöse Sauce, die ihn halb oder ganz blind machte, abzuwaschen, wobei es ganz possierlich aussah, wie er dabei wirklich seine Tatzen zu Hilfe nahm.

Freilich hielten wir uns nicht lange mit dieser Beobachtung auf, die Hunde ließen sich noch einmal zurücktreiben, schnell wurden die Riemen gebraucht, wir kamen heraus aus dieser gefährlichen Situation.

In langsamerer Fahrt ging es weiter, die ganze Menagerie hinter uns her. Willy machte wohl noch den Führer, hatte aber keine Lust mehr, für die anderen die Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Nach noch nicht zehn Minuten steuerten wir in die Bucht ein. Zuerst ein langer Wassertunnel, so breit, dass drei große Schiffe bequem nebeneinander hätten fahren können, hüben und drüben begrenzt von hier geradelinigen Landzungen mehrere Meter hoch, mit Gras bewachsen. Dann kam die eigentliche Bucht, ein weites Bassin, in dem eine ganze Kriegsflotte hätte ankern können — wenn sie wegen der Wassertiefe einlaufen durfte.

»Sie kann es«, erklärte die Patronin, »mein Bruder hat hier alles ausgepeilt. Dort an der niedrigen Felswand kann auch das tiefstgehende Schiff wie an einem Kai anlegen.«

Wir selbst legten noch etwas vor dieser Felswand an, auf die wir vom Boote aus nur mit einer Leiter gekommen wären, während vorher das Boot einen idealen Platz hatte. Wir konnten gleich an das Ufer springen, mit feinem, weißem Sande bedeckt, und taten es.

Und fast gleichzeitig erreichten auch die Tiere das Ufer, etwas hinter uns. Der erste, der aus dem Wasser stieg, war Willy, er trabte in kurzem Galopp auf uns zu, wurde aber im Laufen von Moritz, dem weißen Bernhardiner, überholt — und im nächsten Augenblick lag Frau Helene Neubert am Boden und Moritz patschte ihr mit seinen Pfoten auf dem Körper und im Gesicht herum, dann wurde er hierbei von zwei anderen Kötern unterstützt, und wie ich ob des unerwarteten Anblicks noch etwas fassungslos dastand, erhielt ich einen Stoß, der mich ebenfalls an den Boden legte, auch ich wurde von liebevollen Hunde- und Bären- und Tigerpfoten bearbeitet, und dann war die allgemeine Balgerei fertig, neun Männer und eine Dame wälzten sich mit Hunden und Bären und Tigern in dem Sande herum.

Na, dieses Schimpfen und Lachen und Brüllen im Lande der trostlosen Verzweiflung!

Die Tiere, überhaupt schon außer sich vor Freude, wieder einmal festes Land unter den Füßen zu haben, glaubten nicht anders, als wir seien extra hierher gekommen, um mit ihnen zu spielen.


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Während die Patronin von den Hunden vor Freude zu Boden gerissen
wurde, tatschte der Bär dem Steuermann auf die Schultern und legte ihn
ebenfalls in den Sand, worauf eine lustige allgemeine Balgerei erfolgte.


Endlich gelang es uns, sie abzuwehren und wieder zur Raison zu bringen. Oder sie balgten sich nur noch untereinander. Aber wie wir aussahen! Wie aus dem Wasser gezogen und nun in dem feinen, trockenen Sande herumgewälzt. Besonders Doktor Isidor, der immer einen schwarzen Gehrockanzug trug, auch jetzt. Wie das Männchen aussah! Wie ein mit Mehl panierter Schornsteinfeger! Ja, dieser jüdische Gelehrte liebte so als Gentleman aufzutreten, dass er entweder ohne Kopfbedeckung ging oder mit einem blankgewichsten Zylinder, auch für diese Expedition hatte er ihn aufgehabt, hatte ihn jetzt noch auf, aber nun in welchem Zustande — und dieser Witzbold wusste die Komik noch zu vermehren, indem er sich jetzt danach hinstellte, die Hände über der Brust gefaltet, den total verbeulten, eingetriebenen, sandigen Zylinder ganz schief auf dem Kopfe, wie der uns nun durch seine Klemmergläser, die er glücklich gerettet, wehmütig von der Seite anschielte. — »Kinder, was sagt Ihr nun dazu.«

Ach, es dauerte noch lange, lange Zeit, ehe wir uns wieder beruhigt hatten, im Lande der Verzweiflung und weitere Umschau halten konnten.

Umgrenzt wurde die Bucht von einem breiten Streifen weißer Sandfläche, wo Ebbe und Flut spülte, dann kam eine noch viel breitere Rasenfläche, ich sah schon, wenn wir uns hier länger aufhielten, unseren zukünftigen Sport- und Exerzierplatz, dann begann der Buchenwald, ohne Unterholz, parkähnlich, dahinter erhoben sich grüne Hügel, ferner im Hintergrunde schneebedeckte Bergrücken...

»O, hier ist es schön, herrlich — hier lasst uns Hütten bauen!«, ließ ich meiner Begeisterung freien Lauf.

»Ja, hier möchte ich einmal begraben sein!«, erklang es neben mir.

Betroffen wandte ich mich um. Die Patronin. Mit einem verträumteren Auge denn je.

Hatte das arme Weib eine visionäre Ahnung?

Ich sollte nicht dazu kommen, darüber nachzugrübeln, und sie auch nicht, und es war gut so. Es war eben nur so eine Redensart gewesen, wie man sie so wohl manchmal von sentimentalen Personen hören kann: »Hier möchte ich einmal begraben sein.«

Plötzlich kam die Marchesse hinter dem Damm, den die schmale Landzunge bildete, hervorgetanzt, drehte sich so blitzschnell im Kreise, dass der Tigerleib einem gelben Reifen glich, wir bemerkten nur, dass sie irgend etwa Schwarzes, Großes am Schwanzende hängen hatte, und erst als sie dann davon rannte, sahen wir es: an ihrem Schwanze hing ein großer Hummer.

Sie wusste sich übrigens schnell zu helfen, rannte nur nach dem nächsten Felsen, dort schlenkerte sie den Schwanz tüchtig dagegen, zerschmetterte den Hummer — und verspeiste ihn mit Wohlbehagen!

Diese kleine Szene hatte unsere Lachlust von Neuem angeregt.

Woher hatte der Tiger den Hummer bekommen? Das wäre ja schön gewesen, wenn es hier mehr gab. Frischer Hummer ist doch etwas ganz anderes als eingebüchster.

Nun, wir brauchten nur in das klare Wasser zu blicken, dort unten zwischen den Steinen krebsten genug herum, und was für Exemplare!

Aber wie ward uns, als wir den Damm erstiegen. Was erblickten wir da!

Vor uns lag eine andere Bucht, noch viel, viel größer als diese, und vollständig anders beschaffen. Hier musste einmal ein Felsen gestanden haben, der im Laufe der Jahrtausende ganz unterwaschen worden und dann zusammengebrochen war. Durch Ebbe und Flut waren dann die Trümmer abgerundet worden. Soweit das Auge reichte, war der Boden mit runden Steinen bedeckt, von den kleinsten an bis zu solchen wie große Kegelkugeln, und dazwischen stand noch das letzte Wasser der Ebbe.

Und in diesem Gemisch von Wasser und Steinen nun ein einziges Gewimmel von Hummern, die sich an toten und sterbenden Fischen delektierten.

Diese ganz Bucht war nämlich die reine Fischfalle. Indem der nur schmale Eingang mit einem Wall von solchen losen, runden Steinen verbarrikadiert war. Bei Flut ging das Meerwasser noch hoch darüber, die Fische kamen herein, das Wasser trat wieder zurück, zuletzt floss es zwischen den Steinen ab, durch welche die größeren Fische nicht konnten, sie blieben auf dem Trockenen liegen oder hatten nur noch ganz kleine Tümpel, in denen sich die Hummer ihrer bemächtigten. Und so ging das bei jeder Ebbe und Flut. Verwesende Fische konnten keinen Gestank erzeugen, indem sich dann auch jedes Mal Seevögel in Legionen einstellten, die alles verzehrten und forttragen, was nicht schon die Hummer in den Scheren hatten.

Ich will gleich erwähnen, dass dies nicht die einzige so beschaffene Bucht war, die ganze Küste meilenweit hinauf wimmelte es ebenso von Hummern, und fast überall waren sie ebenso leicht zu fangen, einfach zu greifen — wobei man sich freilich vorsehen musste, dass die Hummer nicht eher zugriffen.

Auch will ich gleich noch erwähnen, dass wir mit diesen Hummern noch etwas Schönes erleben sollten! Aber nicht etwa was Lustiges. Die sollten uns diese Gegend noch wirklich zum Lande der Verzweiflung machen.

»Himmel, hier kann man ja Millionär werden!«, rief ich ideal veranlagter Mensch, der aber doch so prosaisch sein kann.

»Millionär?«, wiederholte die Patronin verwundert. »Nun ja, wenn man die Hummer gut verpackt einsackt oder gleich hier eine Konservenfabrik anlegt.«

»Ach so meinten Sie! Ist es denn nicht bekannt, dass es hier in der Magellanstraße so viele Hummer gibt?«

Ich hatte noch nichts davon gehört.

Ja, welches Schiff wagt sich denn auch hier so nahe an diese gefährliche, gänzlich unbekannte Küste? Wer hat hier etwas zu suchen?

»Merkwürdig, dass mein Bruder gar nichts von den Hummern berichtet hat, das ist doch auffallend genug.«

»Ihr Bruder war hier?«

»Voriges Jahr.«

»In welchem Monat?«

»Im November — vorvoriges Jahr.«

»Dann haben die Hummer vielleicht Laichzeit gehabt oder hielten sich aus anderem Grunde anderswo auf.«

»Ja, das ist möglich. Also Sie meinen, hier könnte man Millionen herausholen?«

»Na wenigstens von einer Million sprach ich!«, lachte ich. »Aber ich glaube wirklich, dass dies hier eine unermessliche, unerschöpfliche Goldquelle ist.«

Die Patronin sah mich groß an,

»Sehen Sie, sagte ich Ihnen nicht, dass —«

Sie brach kurz ab.

»Herr Waffenmeister, ich will nachher einmal mit Ihnen allein reden.«

Unterdessen durchkreuzte drüben die tiefe Bucht schon das Motorboot, immer lotend, hinterher dampfte langsam die »Argos«. Das in dieser Bucht riesenhaft aussehende Schiff legte glatt an jener niedrigen Felswand an, es wurde an festgewachsenen Steinen vertaut, nur die Bordwand brauchte an der betreffenden Stelle geöffnet zu werden, die Laufbrücke nicht erst hinausgeschoben, man konnte gleich an Land treten.

»Herr Kapitän!«, rief die Patrona hinüber. »Alles hat frei, was Sie nicht unbedingt brauchen!«

Und sie kamen an Land. Zuerst aber die ganze Menagerie. Mit Ausnahme der Haus- oder hier vielmehr Schiffskatzen. Die gehen eben nicht von Bord. Dagegen waren die Tauben, und was sonst noch Flügel hatte, schon vorher dem nahen Walde zugeflogen. Aber sie alle stellten sich dann am Abend wieder ein, keine einzige fehlte.

Ach, dieses Leben, das sich jetzt hier am Strande entwickelte, im Lande der trostlosen Verzweiflung! Wie die Tiere sich freuten, nach sechswöchiger Seefahrt wieder einmal festen Boden, Sand, Erde, Gras unter die Füße zu bekommen! Besonders die Hunde, wie die sich balgten, wie sie tobten! Und was nun sonst noch alles passierte!

Das erste war, dass Lulu in eines der großen, tiefen Löcher fiel, deren es hinter dem Sandgürtel auf der Rasenfläche sehr viele gab, als wären Bäume mit den Wurzeln herausgehoben worden. So war es auch sicher, sie waren vom Sturme entwurzelt.

Das jämmerlich quäkende Elefantenbaby wog mindestens schon seine drei Zentner, es musste mit Seilen unter großen Anstrengungen wieder herausgeholt werden. Und kaum war es in Freiheit gesetzt, da plumpste es schon wieder in ein anderes Loch und schrie mit seinem Elefantenkinderstimmchen Zeter und Mordio. Und so ging das weiter. Für Lulu schienen diese Erdlöcher nur dazu vorhanden zu sein, um hineinfallen zu können. Bis er auf ein löcherfreies Revier kam.

Am meisten Spaß — wenn nicht jeder Anblick immer wieder übertroffen wurde — machte mir der Rabe, der selbstverständlich Huckebein hieß.

Er konnte sprechen, sein Sprachlehrer musste ein Sachse gewesen sein, der ihm nur ein einziges Wort oder nur eine einzige Redensart beigebracht hatte: ach herrjeeehses! Er war aber nicht redselig, man bekam es sehr, sehr selten einmal zu hören.

Jetzt holte Huckebein nach, was er so lange versäumt hatte. Krummbeinig oder doch mit seitwärts eingesetzten Füßen watschelte er in dem Sande, immer eine bestimmte Strecke hin und her marschierend, und dazu erklang es ununterbrochen: ach herrjeeehses, ach herrjeeehses, ach herrjeeehses —.

Es war zum Totschießen!

Aber es sollte noch besser kommen.

Wie wir noch so um ihn standen und lachten, hielt er plötzlich an, senkte in eigentümlicher Weise den Kopf mit dem mächtigen Schnabel, als denke er über etwas nach, dann wieder aufgerichtet, den Weg fortgesetzt und —.

»Nu wees Knebbchen, ach herrjeeehses, ach herrjeeehses, nu wees Knebbchen —«

»Ich habe ihn schon ein Jahr, und ich weiß noch gar nicht, dass er auch das kann!«, wollte die Patronin wohl sagen, es war ja aber vor ihrem Lachen gar nichts zu verstehen.

In einiger Entfernung davon stand an einem Wassertümpel, den der letzte Regen zurückgelassen hatte, Fritz, der Mondgucker, stützte sich auf einen mächtigen Entersäbel, blickte mit furchtbar finsterem Gesicht in das Wasserloch — stand gerade da wie der grimme Hagen von Tronje, der als letzter Kämpe auf der Hunnenburg Wache hält.

Nun will ich hier gleich etwas bemerken, ein für allemal, es erspart mir viel weitere Erklärungen.

Es ist eine Tatsache: Dumme, beschränkte Menschen gibt es unter den Seeleuten, unter den Matrosen, nicht! Wenigstens nicht unter den deutschen! Man findet auf solch einem Schiffe einen Mutterwitz zusammengedrängt, wie er sonst auf solch einem engen Raume nirgends wieder in der Welt vorkommt. Da ist ein Schatz vorhanden, der für die Literatur erst noch gehoben werden muss.

Aber überhaupt, einen beschränkten deutschen Matrosen gibt es gar nicht. Nicht nur, weil solch ein Seemann doch viel in der Welt herumkommt — nein, es ist ganz etwas anderes dabei. Das Salzwasser macht es, sagt man. Es ist gar nicht so unrecht. Salz gebraucht man doch für Witz, Geist. Das Salzwasser soll keine Dämlichkeit dulden. Auch nicht so unrecht. Nämlich ein beschränkter Matrose würde sich so unglücklich fühlen, dass er bald einen anderen Beruf ergreifen würde.

Es fängt gleich mit der Erziehung des Schiffsjungen an. Er wird von den Matrosen scharf gemacht, salzig sagen die aber — »soltig«, oder richtiger »soldich« geschrieben.

Ach, was muss so ein armer Junge durchmachen! Zuerst wird er regelmäßig zum Kapitän geschickt, er soll etwas verlangen, was es gar nicht gibt, einen Butterquast oder eine Teerzange oder dergleichen, wofür er vom Käpten natürlich prompt ein paar Backpfeifen bekommt. Und so geht das fort und fort, und da gibt es ja noch tausenderlei »Witze«, bis der Junge »soldich« ist, auf nichts mehr hereinfällt.

Das ist auch der Grund, weshalb alle deutschen Matrosen so misstrauisch sind, bei all ihrer sonstigen Ehrlichkeit und Biederkeit und Offenherzigkeit. Von jedem Fremden denken sie zuerst, er will sie veralbern. Und da sind sie auf ihrer Hut.

Ähnlich ging es ja früher bei allen Handwerkerzünften zu. Aber die Zunft der Seemannschaft ist die einzige, die sich bis heute noch seit vielen, vielen Jahrhunderten mit all ihren Eigentümlichkeiten noch ganz genau so erhalten hat, die Dampfer haben daran noch gar nichts geändert.

Und was das deutsche Seevolk schon in alten, alten Zeilen für einen Witz und Humor besessen hat, sogar in Sachen, die man eigentlich ernster nehmen sollte, das zeigt am besten das uralte Hamburger Stadtwappen, heute noch zu sehen im Johanneum, im Erdgeschoss.

Es ist eine Tafel, da sieht man auf einem Grabsteine einen Esel sitzen, der Dudelsack spielt, und darunter stehen die Worte:

»De Werlt heft zick ummeckert, darumme zo hebbe ick arme eezel pipen gheleert.«

Solch ein Stadtwappen ist heute wohl nicht mehr möglich. Das brachten damals nur die Ratsherren von solch einer freien Seestadt fertig! —

Also Fritz, der Mondgucker, stand breitbeinig an der Wasserpfütze und stützte sich finster auf sein mächtiges Schwert, wie weiland der grimme Hagen von Tronje als Wächter auf der Hunnenburg.

Ich ging hin.

»Was machst Du denn da, Junge?«

»Dee Bootsmann hädd mi hersteellt.«

»Wozu denn?«

»Ick mött Hampelmann bewacken, dat he nich utkniept.«

»Was? Hampelmann? Den Laubfrosch?«

Wahrhaftig, schwamm da in der Wasserpfütze unser Hampelmann herum, der letzte Mohikaner, nämlich der letzte Laubfrosch, den Lottchen, unsere Ringelnatter, noch nicht verschluckt hatte, und die Patrona versicherte, dass sie sich diese Untugend jetzt überhaupt ganz abgewöhnt habe.

Auch dieser Laubfrosch hatte einmal seine Freiheit an Land bekommen sollen, der erste Bootsmann hatte den Schiffsjungen daneben als Wächter angestellt mit einem mächtigen Schwerte!

Ich weiß nicht, ob dieser Witz durch Erzählen so wirkt, wie damals auf uns in Wirklichkeit.

Na, ich erlöste den armen Jungen natürlich gleich. Übrigens hätte auch der Bootsmann ihn nicht lange seiner Freiheit beraubt, er war schon unterwegs.

Und so ging es weiter im Lande der trostlosen Verzweiflung.

*

6. Kapitel

Was mir die Patrona erzählt

Originalseiten 136 — 158

Herr Waffenmeister«, sagte die Patrona zu mir, »ich wollte Sie doch einmal allein sprechen.« »Bitte.«

»Nicht hier. Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen, dort den nächsten Hügel besteigen?«

Wir brachen sofort auf. Ich bemerke dabei ausdrücklich, dass uns kein Hund begleitete. Hätte die Patrona gerufen, so wäre ja jeder mitgekommen. So aber fühlten sie sich hier ganz frei.

Wenn wir einen wachsamen Hund mit guter Nase mitgenommen hätten, uns wäre später viel, viel Verdruss, ja sogar Verzweiflung erspart geblieben! Das Schicksal wollte es nicht.

Wir durchschritten den parkähnlichen Buchenwald, freilich mit sehr niedrigen Bäumen, erstiegen einen Hügel, ganz bequem, nur dass die Bäume immer niedriger wurden, wie Büsche, durch die man sich zuletzt drängen musste, aber ganz eigentümliche Büsche. Immer noch Bäume, mit starken Stämmen, einen halben Meter im Durchmesser, aber so niedrig, dass man über sie hinwegsehen konnte, und oben auf dem Hügel, wo sie am meisten dem Sturme zu trotzen hatten, konnte man sich gleich auf sie setzen.

Das taten wir denn auch, den Blick nach Westen gerichtet, wo sich die Sonne dem Horizonte näherte.

Ach, dort sah es ganz anders aus als hier. Wirklich trostlos. Alles ein Gewirr von schrecklich zerrissenen Felsen und größeren Plateaus, alles mit Wasserkanälen durchzogen, und dort vermochte nichts zu grünen.

Sinnend blickte die Patrona dorthin, noch sinnender als ich, sie hatte bisher kein Wort gesprochen.

»Ja, Waffenmeister«, begann sie dann, »ich muss mit Ihnen sprechen. Ich habe Ihnen gegenüber eine Äußerung getan, die mich bedrückt, deren ich mich schäme, so oft ich daran denke.«

»Was denn für eine Äußerung?«, fragte ich erstaunt. »Sie wissen es wirklich nicht?«

»Nein. Sonst würde ich nicht erst fragen.«

»Ich verfüge über unermessliche, unerschöpfliche Schätze. Sagte ich nicht damals in der Kajüte so zu Ihnen?«

»Ach sooo!«

»Haben Sie das nicht sehr merkwürdig gefunden?«

»Ja. Allerdings.«

»Das freut mich, dass Sie das gleich so zugeben. Dadurch beweisen Sie, dass ich mich auch sonst Ihnen rückhaltlos anvertrauen darf —«

»Bitte, Frau Neubert —«

»Nein, Sie müssen mich anhören. Ich brauche jemanden, dem ich mich einmal offenbare, ich muss es unbedingt. Darf ich?«

»Ja. Dann haben Sie allerdings auch in mir den richtigen Mann gefunden.«

»Ich weiß, weshalb Sie mit dem ersten Maschinisten das Duell gehabt haben. Ich weiß was er vorlesen wollte.

Er hätte es ruhig können. Ich weiß auch, was man sonst über mich spricht, über mich denkt. Es ist mir gleichgültig, oder vielleicht doch nicht so. Jedenfalls aber ist es mir gleichgültig, ob Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, den anderen mitteilen: ich habe auf der New Yorker Bodenkreditbank zwei Millionen Dollars stehen, mit vier Prozent, mir zur freien Verfügung. Genügt das, um solch ein Schiff wie dieses zu unterhalten?«

»Mit jährlich rund 350 000 Mark? Na sicher!«, lachte ich, und ich muss gestehen, dass es wirklich ein überaus erleichterndes Lachen war, denn ich hatte mir doch schon manchmal etwas Sorge gemacht.

»Wissen Sie, weshalb ich Ihnen dies mitteile?«

»Ja.«

»Mein Volk — meine Leute sollen wissen, dass das nicht nur einmal so ein schöner Traum ist, sondern dass die ganze Sache festen, sicheren Bestand hat. Die Bodenkreditbank ist totsicher, eben deshalb zahlt sie auch nur für Amerika so außerordentlich niedrige Zinsen.«

»Wünschen Sie, dass ich es Ihrem Volke mitteile? Bitte, sprechen Sie nur immer von Ihrem Volke, zu dem auch ich mich zähle.«

»Ja. Es ist mir doch nicht so gleichgültig. Aber tun Sie es natürlich in anderer, angebrachterer Weise, als wie ich es Ihnen sagte. Jeder Mann, der zu mir hält, soll wissen, dass ich auch für später für ihn sorgen werde. Wenn ich darüber auch noch nichts Näheres bestimmt habe.«

»Ich werde es tun, Frau Patrona.«

»Ich danke Ihnen, Herr Waffenmeister. So will ich nun gleich weiter über mich berichten, dies allerdings nur Ihnen.«

Und ehe sie mir irgend ein Versprechen abgenommen hatte, fuhr sie fort:

»Helene Hartung. Eine Hamburgerin. Meinen Vater, einen kleinen Kaufmann habe ich als Kind kaum kennen gelernt. Wir waren zwei Geschwister, Richard und ich. Wir lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen. Richard war zuletzt — das heißt, bis sich die Verhältnisse total änderten — Steuermann, ohne seinen Zuschuss hätten wir gar nicht auskommen können; trotzdem musste meine Mutter noch vermieten, Zimmerherren nehmen.

So kam einmal — es ist nun sechs Jahre her, — ich war damals siebzehn — ein älterer Herr zu uns, aber noch rüstig. Edward Powell aus St. Louis. Sprach perfekt Deutsch, nur mit amerikanischem Akzent. Hatte, wie wir dann erfuhren, ein Kapital von 50 000 Mark, von dessen Zinsen er in Hamburg recht gut leben konnte, nicht aber in Amerika.

Unser Gartenhäuschen gefiel ihm und er blieb bei uns in voller Pension. Es war ein feiner, freundlicher, nobler, alter Herr, wenn er auch seine — Schrullen hatte. Er ging fast nie aus. Am liebsten hatte er mich um sich. Das Verhältnis wurde immer inniger. Das heißt wie zwischen Vater und Tochter. Sonst brachte er keine Änderung in unsere bescheidenen Verhältnisse, meine Mutter ließ sich die Pension nach den üblichen Preisen bezahlen, sonst durfte nichts angenommen werden, da gab es bei meiner Mutter nichts. Ich durfte kein Tüchelchen annehmen, kein Täfelchen Schokolade, für das ich mich nicht durch Früchte aus dem Garten revanchieren konnte.

So verging ein Jahr. Ich war achtzehn geworden. Da machte mir ein junger Mann, sehr gut situiert, eifrig den Hof. Das konnte der alte Herr nicht vertragen. Er war schon immer schrecklich eifersüchtig auf mich gewesen, wir hatten es bisher nur nicht so gemerkt, zumal da ja auch gar kein Grund vorlag.

Kurz, als er merkte, dass mir jener andere ganz gleichgültig war, dass ich aber wahrscheinlich eingewilligt hätte — denn in dieser Hinsicht war ich trotz meinen achtzehn Jahre noch ein vollkommenes Kind — machte er mir ohne weiteres einen Heiratsantrag.

Bei meiner Mutter nicht daran zu denken. Wegen der 50 000 Mark? Nicht für 50 Millionen. Der sechzigjährige Mann!

Da aber sagte ich, dass ich da doch auch ein Wort mitzusprechen habe. Ja, ich wollte ihn heiraten. Ich liebte ihn. Freilich wie eine Tochter den Vater, aber das müsste so sein beim Heiraten, dachte ich. Und ich bestand darauf! Den Onkel Edward oder keinen andern!

Na, da gab meine Mutter auch sehr schnell nach. Wie Du's treibst, so hast Du's. Wenn Du es durchaus willst, das ist etwas ganz anderes.

Also Hochzeit gemacht. Eine ganz stille. Überhaupt ging es nur bis zum Standesamt bis zur Kirche und zurück. Auf der Heimfahrt wurde mein nunmehriger Gatte im Wagen unwohl, er wurde als Leiche herausgetragen. Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ziel gesetzt!«

Die Erzählerin machte eine Pause.

Und nun konnte ich mir in ihren Zügen, in ihren Augen etwas erklären. Eine jungfräuliche Frau!

»Beamte kamen«, fuhr sie dann fort, »seine versiegelten Papiere wurden geöffnet, gleich stellte sich auch ein Hamburger Notar ein. Da erfuhren wir es sofort. Edward Powell hieß eigentlich Eduard Paul Neubert, ein geborener Deutscher, aber amerikanischer Bürger, ansässig in New York, und — — ein sechsfacher Millionär! In Dollars! Dass er hier einen anderen Namen geführt, hatte nichts zu sagen. Ich war seine rechtmäßige Gattin. Außerdem war sein Testament regelrecht gemacht, bei jenem Notar, schon für mich als seine Frau. Zwei Millionen für wohltätige Zwecke und Legate, die anderen vier Millionen für mich.

Und nun begann es. Aber nicht etwa das Glück, das die Menschen sonst immer mit dem Gelde in Verbindung bringen. Ganz das Gegenteil.

Mit einem Male hatte der Tote, der mehr als 30 Jahre als einsamer Sonderling gelebt, eine ganze Menge Verwandte. Hatte sie ja auch wirklich, besonders in Deutschland — alle gar nicht so schlecht gestellt, die jetzt das Testament und meine Erbberechtigung anfochten.

Ich will es nicht des Längeren schildern, wie es uns ergangen ist. Die Ehe überhaupt ungültig, da er mich ja unter einem anderen Namen geheiratet hatte. Der alte Herr sollte unzurechnungsfähig gewesen sein. Erbschleicherei. Meine Mutter eine Kupplerin, ich eine Dirne. Erdrosselt, vergiftet sollte ich ihn im Hochzeitswagen haben. Es wurde tatsächlich Anklage gegen mich bei der Staatsanwaltschaft erhoben!

Genug! Nur eines noch: meine Mutter, kerngesund, frank und frei, eine echte Hamburgerin ist aus Gram darüber gestorben! So wussten uns jene lieben Verwandten fernerhin jeden Bissen zu verbittern und zu vergiften!«

Wieder eine kleine Pause, und sie war begreiflich. »Aber es war nichts dagegen zu machen!«, fuhr sie fort.

»Ich war seine rechtmäßige Gattin, jetzt Witwe, und für den normalen Geisteszustand des Erblassers sprach am besten sein erst vorgestern aufgesetztes Testament. Doch immerhin, der Anfechtungsprozess schwebte nun einmal, deshalb erhielt ich zunächst nur den Pflichtteil, den dritten Teil, aber von den sechs Millionen, indem nun auch die Legate zurückbehalten werden mussten, also zwei Millionen Dollars.

Nun endlich konnte ich meinen Traum verwirklichen! Was das für ein Traum war, das wissen Sie ja. Ein Schiff haben, ach, mein eigenes Schiff, als freie Seekönigin über mein Seevolk herrschen, ein Volk von Seehelden — na Sie wissen ja, ich habe es Ihnen schon einmal vorgeschwärmt.

Denn diesen Traum hatte ich schon als Kind geträumt. Ich war von jeher ein sehr, sehr phantastisches Kind gewesen. So ganz unerfüllbar war meine Sehnsucht ja auch nicht. Einmal würde mein Bruder doch Kapitän werden, dann nahm er mich natürlich mit. Freilich wäre das ja etwas ganz anderes gewesen, kein eigenes Schiff, keine freie Seekönigin — aber immerhin für mich hätte das schon genügt, so immer an Bord leben zu können.

Und dabei war ich für das Seeleben ganz und gar ungeeignet! Ich konnte nicht bis nach Cuxhaven fahren, ohne fürchterlich seekrank zu werden. Und das wollte sich auch nicht ändern. Ich habe dann später ja weite Seereisen gemacht, war aber immer und ununterbrochen seekrank gewesen, fürchterlich! Das ging so bis vor einem halben Jahre. Halten Sie so etwas für möglich?«

»Ja warum denn nicht?«, entgegnete ich. »Der Erdumsegler Cook ist bekanntlich ebenfalls fortwährend seekrank gewesen — seetoll, sagen wir.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Gewiss, das ist bekannt genug. Sobald das Schiff stampfte, wurde er seetoll. Immer wieder. Umso mehr ist seine Energie zu bewundern. Übrigens gibt es alte Seebären genug, wetterfeste Kapitäne, die, sobald der Wind umspringt, das Schiff in einem anderen Takte zu stampfen und zu schlingern beginnt, seetoll werden, nach allen Regeln der Kunst — ihren Magen umkrempeln, wollen wir uns zart ausdrücken.«

»Ja, sehen Sie, so war es bei mir. Na, dachte ich, wenn ich erst mein eigenes Schiff habe, das ist doch etwas ganz anderes. Ich werde doch nicht auf meinem eigenen Schiffe seekrank werden.

Also zuerst mein eigenes Schiff gekauft. Das heißt für meinen Bruder. Denn der machte doch selbstverständlich mit. Wenn der auch durchaus nicht so phantastisch veranlagt ist wie ich. Aber wir beide hingen in innigster Liebe zusammen, es war doch ganz selbstverständlich, dass der nun gleich sein eigenes Schiff bekam, auf dem verwirklichte ich dann meine Pläne.

Ich bemerke nachträglich, dass mein Bruder schon vor einem halben Jahre geheiratet hatte, eine Jugendgespielin, also auch eine Freundin von mir. Sie wohnte bei uns im Hause, in einem Zimmerchen. Weiter reichte es doch bei dem Steuermann nicht, der sogar manchmal, wenn er keine Heuer bekam, als Matrose fahren musste. Doch sie gehörte ja überhaupt mit zu uns.

Zuerst musste ich wegen der Erbschaftsangelegenheit einmal nach New York. Das war ja gleich der Prüfstein. Ach, fürchterlich! Das herrlichste Wetter, zehn Tage lang die See glatt wie ein Spiegel, und ich zehn Tage lang im Sterben liegend! Sobald ich festen Boden unter den Boden hatte, war es vorbei.

Mein Bruder rüstete das Schiff aus, machte unterdessen sein Kapitänsexamen, kam nach, um mich abzuholen. Seine Frau war mit an Bord, sollte darauf bleiben. Also auf meinem eigenen Schiffe probiert. Vielleicht war es nur das Zittern durch die Schraube, was ich nicht vertragen konnte. Es wurde gesegelt. Fürchterlich, fürchterlich! Gleich wieder umkehren! Ich wäre wirklich gestorben.

Da gab ich die Hoffnung auf, ich konnte nicht einmal mehr ein Schiff sehen, ohne gleich seekrank zu werden.

Ich ging auf Reisen. In Amerika. Ich konnte doch nicht wieder fort von Amerika. Ich habe Amerika bereist von Kanada bis nach Patagonien und wieder zurück, mehr zu Pferd, als per Eisenbahn. Dann riskierte ich es doch, nach einem anderen Erdteil zu fahren, nach Asien, nach China hinüber, per Schiff, der Landweg über Alaska und Sibirien war mir doch etwas zu umständlich, ich wartete das schönste Wetter ab, kam ja auch glücklich hinüber, aber wie!

Ich bereiste China, Indien, kam bis nach Konstantinopel. Immer zu Land. Ich wurde seekrank, wenn wir nur über einen Strom setzten. Meine Sehnsucht blieb freilich. Dann wollte ich mir wenigstens eine Insel zulegen, eine Inselkönigin werden. Allein ich konnte nicht einmal den Anblick des Meeres, nicht der stillsten See vertragen. Mir wurde sofort übel.

Na, dann blieb nur noch eine Art von Inseln übrig, eine Wüsteninsel, eine Oase. Dort wollte ich endlich mein Ideal verwirklichen. Ich setzte von Konstantinopel nach Skutari über, ließ mich für diese kleine Gondelfahrt chloroformieren. Dann weiter durch Kleinasien und Palästina nach Ägypten. Ich ging gleich bis zum Khediven, bis zum Vizekönig, offenbarte ihm meinen Wunsch. Ein liebenswürdiger Mann. Er wies mir die Oase el Dragga an, nur drei Stunden von Kairo entfernt, vier Quadratkilometer, ein paradiesisches Fleckchen Erde. Natürlich musste ich sie den dort wohnenden Beduinen abkaufen, hatte schwer zu bezahlen.

Dort habe ich ein Jahr gehaust. Ich will nicht schildern, was wir da alles getrieben haben. Wir — nämlich ich mit meinen Getreuen, die ich während meiner Weltreisen nach und nach um mich versammelt hatte. Sie haben sie ja vor sich. Lauter Originale, die tüchtigsten Männer, und außerdem — ich bin schwer, schwer betrogen worden — nämlich in Geldsachen — als Entschädigung dafür hat Gott mich immer die treuesten Herzen finden lassen!

Außerdem sammelte ich noch Tiere. Hiervon möchte ich noch sprechen. Ich bin von Kind an die größte Tiernärrin gewesen. Viel durfte ich mir ja zu Hause bei unseren bescheidenen Verhältnissen nicht leisten. Wenigstens musste das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden werden. Hühner, Tauben, Kaninchen — die waren angebracht. Auch ein paar Truthühner, einige Enten und Gänse zum Mästen. Von einem Schweine wollte zu meinem Bedauern meine Mutter durchaus nichts wissen. Und ich hatte die kleinen, süßen Ferkelchen doch so gern, ach so gern! Als Luxus waren nur weiße Mäuse erlaubt. Und einige Eidechsen und kleine Schildkröten. Und immer ein paar Dutzend Laubfrösche. Na und natürlich ein paar Katzen. Die Steuern für mein Hündchen sparte ich mir von der Butter ab. Ach, es war eine glückliche Zeit!«

Traumverloren blickte sie vor sich hin, glückselig lächelnd.

Und mir stieg es wieder einmal siedend heiß zum Herzen empor.

»Können Sie denn nun begreifen, wie man solch eine Tiernärrin sein kann?«, fragte sie mich dann.

Ja, das konnte ich. Und wenn alle Menschen nur ein klein wenig von dieser Tierliebe besäßen, dann sähe es auf der Erde schon ganz bedeutend besser aus!

Dabei aber war sie ganz frei von Sentimentalität. Ihre Liebhaberei artete nicht etwa zur Manie aus. Denn Tiere vergöttern, so wie es besonders alte Jungfern machen, das kann ich nicht leiden, obgleich ich solchen alten Jungfern daraus keinen Vorwurf machen will. Aber leiden kann ich es nicht. Und so etwas gab es bei unserer Patronin nicht! Nicht etwa, dass sie Katzen und Hunde mit ins Bett nahm, sie von ihrem Teller essen ließ und so weiter und so weiter. Hier war der Mensch, und dort war das Tier! Wenn die Köter uns bei der Arbeit im Wege waren, und sie wollten nicht weichen, und wir hatten die Hände voll, dann bekamen sie einen Tritt, und die Patronin sah es und sagte kein Wort. Ich kam einmal gerade dazu, wie ein Windspiel sie böswillig in die Hand gebissen hatte und wie sie selbst das Tierchen nach allen Regeln der Kunst eigenhändig verkarbatschte, dass die Haare flogen.

»Ich hatte schon während meiner Reisen meiner Tierleidenschaft gefrönt!«, fuhr die Patronin fort. »Jedes besonders schöne Tier musste ich haben. Denn wenn ich solch ein Tier sehe, dann — nein, ich will gar nicht erst davon anfangen. Also ich richtete in meiner Oase eine Menagerie ein.

Unterdessen fuhr mein Bruder Richard als Kapitän und Patron seinen eigenen Dampfer. Wohl hatte er darauf seine Frau, die kleine Ilse war an Bord geboren — aber sonst gab er sich nicht mit solcher Phantasterei ab. Er fuhr als Handelskapitän, nahm zum Teil Fracht auf eigene Rechnung, ich stellte ihm natürlich jedes gewünschte Kapital zur Verfügung, er machte Bombengeschäfte — hat zuletzt allerdings auch schwere Verluste gehabt.

Vor anderthalb Jahren kam er nach Alexandrien, suchte mich in meiner Oase auf, denn er hatte mir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Wissen Sie, Herr Waffenmeister, was ein Gaukler ist? Einen Seegaukler meine ich. Ein Mann, ein Seemann. Wissen Sie, was man da unter Gaukler verstehst?«

Na und ob ich das wusste!

Wer das Handwerksburschenleben kennt, das sogenannte Kundenwesen, der weiß, dass es auf den Herbergen ewige »Pennbrüder« gibt, von denen jeder sein Patentchen hat. Oder vielmehr seine Erfindung, zu deren Patentierung er nur 60 Mark braucht, und er sucht den, der die ihm leiht, mit dem will er dann die zukünftigen Millionen teilen, und so lange er die nicht hat, lebt er vom Fechten und Bettelbriefschreiben.

Genau dasselbe findet man im Seemannswesen, nur noch in viel großartigerem Maßstabe. Da sind es aber nicht Erfindungen, sondern Wracks, gesunkene Goldschiffe, die in den Köpfen von verlotterten Matrosen spuken, die sich am Hafen und bei den Heuerbaasen herumtreiben. Oder an einsamer Küste und auf weltverlassenen Inseln mächtige Lager von Elfenbein oder Schildkröt oder Perlmutter oder Ambra und dergleichen. Hauptsächlich aber doch immer gesunkene Schiffe mit unermesslichen Schätzen, deren Lage sie kennen. Aber die brauchen nicht nur 60 Mark zum Patentieren, sondern gleich ein ganzes Schiff.

Diese Schatzgräber des Meeres werden Seegaukler genannt oder einfach Gaukler. Es hat ja viel damit zu tun, dass Gaukler doch überhaupt unsichere, fahrende Leute sind, die alles andere lieber tun als arbeiten — eben Gaukler! — Es kann auch von etwas anderem abgeleitet werden.

Also ich wusste recht gut, was ein Gaukler, ein Seegaukler ist.

»Mein Bruder hatte solch einen Seegaukler kennen gelernt, der auf dem Meeresgrunde unermessliche Schätze liegen wusste. Aber, Herr Waffenmeister, nun sagen Sie nicht etwa gleich wie mein Huckebein: »Ach herrjeeesens, ach herrjeeesens!«, Mein Bruder hatte doch von der Pike auf gedient, hatte doch seine Erfahrung. Wie jeder sein eigenes Schiff fahrende Kapitän und jede Privatjacht mit geheimnisvollen Angeboten von solchen Gauklern überschwemmt wird, das wissen Sie doch. Ach, was hatte mein Bruder für Briefe und Besuche bekommen, sobald es bekannt wurde, dass er sein eigenes Schiff fahren würde! Was sind die Schätze Salomos gegen die, welche ihm solche zerlumpte Individuen anboten, einer immer mehr als der andere nach Branntwein duftend!

Nein, diese Gauklerei kannte mein Bruder. Er ist im Gegensatz zu mir ein ganz nüchterner, überaus praktisch denkender Mensch. Aber was ihm da angeboten wurde, das war etwas ganz anderes, obgleich es auch von so einem zerlumpten und verlumpten Subjekt kam.

Cornelius Grant, ein Holländer, ehemaliger Kapitän. Er behauptete, zu wissen, wo vor 300 Jahren die ›Desolation‹ des Flibustierkapitäns van Hoorn in der Magellanstraße gescheitert sei, oder wahrscheinlich von dem Seeräuber mit Absicht versenkt. Wissen Sie, was dieses Seeräuberschiff damals für Schätze an Bord führte?«

»Na, so genau weiß ich das nicht«, entgegnete ich, »ich habe nur Geschichten darüber gelesen und auch einmal eine glaubwürdige Chronik. Der van Hoorn soll ja in den Küstenstädten von Chile, Peru und Mexiko unermessliche Beute gemacht haben. Denn damals war das in den Tempeln vorgefundene Gold noch in Unmenge vorhanden, die spanischen Goldschiffe waren ja immer unterwegs, um es abzuholen, und nun dazu Edelsteine aller Art. Damals waren ja die schönsten Edelsteine in Spanien gar nichts mehr wert. Jetzt haben sie die Klöster und Kirchen. Dort strotzt ja alles von Diamanten und Rubinen und Smaragden. Und das Volk verhungert.«

»Die ›Desolation‹ hatte mehr als 20 Tonnen Gold an Bord, nach heutiger Berechnung, die Tonne zu 20 Zentner. Wissen Sie, wie viel das in Geld ist?«

»Nun, das lässt sich leicht berechnen. Das Pfund Feingold kostet heute wohl ungefähr 1050 Mark. 20 Tonnen? Das wären also rund 40 Millionen Mark.«

»Und dazu noch Edelsteinschätze in untaxierbarer Menge. Dort liegen sie.«

Die Patrona deutete mit der Hand in die tiefstehende Sonne, in das öde, wilde Felsenland hinein.

»So, da liegen sie!«, wiederholte ich. »Wo denn da?!«

»Cornelius Grant besaß einen Situationsplan, auf Pergament gezeichnet, wahrscheinlich von dem Seeräuber-Kapitän selbst.«

»Wie ist er dazu gekommen?«

»Das verriet er nicht.«

»So, hm. Hat Ihr Herr Bruder die Zeichnung gesehen?«

»Ja. Flüchtig. Der alte Holländer gab sie nicht aus der Hand.«

»Und?«

»Aber Grant hat auch die Schätze selbst gesehen. In einer Bucht, in einer Tiefe von vielleicht 25 Metern unter Wasser, alles starrend von Goldbarren, und dazwischen flimmern die Edelsteine.«

»Warum hat er sie denn da nicht mitgenommen?«

»Weil Grant als Schiffbrüchiger hingekommen war, er hatte keine Mittel, sie zu heben. Und mein Bruder hat sie ebenfalls gesehen.«

»Ja?!!«

»Ja. Auch mein Bruder hat sie gesehen. Er war dort oder vielmehr hier. Hier in dieser Bucht hat auch er geankert, zwei Tage hat ihn Grant von hier geführt, nach jener Richtung dort. Ein fürchterlicher Weg. Im November vorvorigen Jahres. Also vor 14 Monaten. Da hat auch mein Bruder die Schätze auf dem Grund liegen sehen. Gold und Edelsteine.«

»Nun und?«

»Der alte Holländer gab die Karte nicht aus den Händen. Als sie dort an Ort und Stelle waren, beugte er sich weit über den Rand, hatte auch der mitgenommenen Rumflasche zu reichlich mitgesprochen — er stürzte in die Tiefe und zerschmetterte sich den Kopf. Jetzt war mein Bruder der Besitzer des Pergamentes.«

»Nun und?«

»Er machte sich auf den Rückweg. Ohne die genaue Zeichnung hätte er ihn niemals gefunden. Er hatte zwei Taucherapparate mitgenommen, aber sie wollten nicht funktionieren. Außerdem war das Schiff hoch versichert, außergewöhnlich hoch beladen — das wollte er erst in Sicherheit bringen, nach New York. Der Sperling in der Hand war ihm lieber, als die Taube auf dem Dache.«

»Sehr richtig! Die Lage der Bucht hat er doch geografisch bestimmt?«

»Diese hier, ja. Auf den Weg durfte er keine Instrumente mitnehmen, der Holländer war zu misstrauisch. Der Situationsplan genügt auch, um die Goldbucht zu finden, aber ohne sie ist es auch rein unmöglich. Es soll ein fürchterlicher Weg in dem Felsenlabyrinth sein.«

»Nun und?«

»Mein Bruder fuhr also nach New York, beabsichtigte ein kleineres Schiff zu kaufen oder zu chartern.«

»Nun und?«, musste ich immer wieder aufmuntern, denn immer längere Pausen machte die Erzählerin, sie begann recht trübselig vor sich hinzublicken.

»Es sollte nicht dazu kommen.«

»Warum nicht?«

»Mein Bruder — ist — heute noch in — — New York.«

»Krank?!«

»Nein. Er ist — in — Sing-Sing.«

»Waaas!?«, stieß ich erschrocken hervor. »Im — im — im —«

»Sprechen Sie es nur aus. Im Zuchthaus.«

»Ja warum denn nur?«

»Wegen Mordes!«, erklang es von immer bebenderen Lippen.

»Wegen jenes Holländers?«

»O nein. Am zweiten Tage in New York — er wohnte in einem Hotel — am Abend hörte er im benachbarten Zimmer einen heftigen Wortwechsel — dann ein Röcheln und Stöhnen — mein Bruder hinüber — da lag ein Mann am Boden — daneben ein blutiges Schiffsmesser. — Wie mein Bruder noch entsetzt dastand, vielleicht geschrien hat, kamen andere Leute herein — da richtete sich der Sterbende noch einmal auf — — ›Richard Hartung, Richard Hartung, er hat mich ermordet!‹, rief er aus, dann war er tot!«

»Ja, wer war denn der Ermordete, wie kam er zu der schweren Beschuldigung?«

»Er kannte meinen Bruder — mein Bruder ihn — ein Kapitän, unter dem mein Bruder früher einmal als Steuermann gefahren ist, der ihn niederträchtig behandelt hat, ihn schlug — gegen den mein Bruder eine schwere Drohung ausstieß, natürlich ohne an eine Ausführung zu denken — und jetzt erkannte ihn der Sterbende mit dem letzten Blick — nannte seinen Namen und beschuldigte ihn des Mordes!«

»O weh, o weh!!«

»Und die Waffe, mit welcher der Mord begangen wurde, war das Messer meines Bruders, er hatte es tags zuvor verloren, wusste aber nicht mehr wo?«

»O weh, o weh!!«

»Fünf Jahre schwere Arbeit auf Sing-Sing. Unvorsätzlicher Totschlag, begangen im heftigen Gemütsaffekt. Die mildernsten Umstände angenommen, die mildeste Strafe.«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch, weinte. Dann war sie wieder gefasst.

»Als ich es erfuhr, reiste ich sofort nach New York. Ich hatte keine Zeit mehr, seekrank zu werden. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um den Fall aufzuklären, um den wahren Mörder zu finden. Ich habe fast die Hälfte meines Geldes geopfert. Denn dabei wird man das Geld so schnell los. Alles vergebens. Alice, seine Frau, hat es nicht überleben können.«

Wieder eine lange Pause. Sie wurde gefasster.

»Vor drei Monaten habe ich meinen armen Bruder zum zweiten Male auf Sing-Sing besucht, habe ihn längere Zeit unter vier Augen sprechen können. Es ist nicht so fürchterlich schlimm. Er hat sich gottergeben in sein Schicksal gefügt. Er wird ganz anständig behandelt, mit einer ihm zusagenden Arbeit beschäftigt. Er wird die vier Jahre ruhig aushalten. Ein Jahr wird er sicher geschenkt bekommen. Also nur drei Jahre noch. Was sind drei Jahre? Sie werden vergehen. — Ja, Herr Waffenmeister, und nun werden Sie wegen des Situationsplanes fragen, wegen des Schatzes, nicht wahr?«

Eigentlich nicht. Ich hätte es nicht getan. Es war mir peinlich, jetzt von Gold und Edelsteinen zu sprechen. Na, wenn sie es wollte, dann war das ja etwas anderes.

»Nun, wie ist es da mit der Zeichnung?«

»Die ist vorläufig für uns unerreichbar. Mein Bruder hatte sie in das Geheimfach seiner oder vielmehr einer Brieftasche gesteckt, einer roten, die er an jenem Schreckenstage gerade bei sich hatte, mit wenig anderen, unwichtigen Papieren darin.

Die Brieftasche wurde dem Verhafteten natürlich abgenommen, für den Verurteilten erst recht unter Siegel genommen. Mein Bruder hat versäumt, eine Kopie zu nehmen. Zu beschreiben ist gar nichts. Der Sträfling kann verlangen, dass das ihm Abgenommene dieser oder jener Person ausgeliefert wird. Also etwa mir. Dann aber werden die betreffenden Sachen noch einmal genau untersucht. In diesem Falle zum Beispiel auch die Brieftasche an den Nähten aufgetrennt, weil man doch schon an eine geheime Tasche denkt. Ich habe das Protokoll der abgenommenen Sachen gesehen, jedes einzelne Papier in der Brieftasche ist aufgeführt, nicht aber das Geheimfach mit dem Pergament. Es würde aber entdeckt werden, sobald man die Brieftasche fordert. Und nun hat der Holländer so viele englische Bemerkungen darauf geschrieben, dass man sofort weiß, worum es sich handelt. Es braucht nur eine Kopie, eine schnelle Fotografie davon genommen zu werden, und der Betreffende könnte das Geheimnis für sich ausbeuten. Dieses Feuerland hier ist noch chilenisches Gebiet, nur der östliche Zipfel gehört zu Argentinien. Aber es handelt sich nicht um Strandgut. Die betreffende Bucht ist mit dem Meere direkt verbunden, es ist überhaupt Seegebiet, der Schatz liegt tiefer als drei englische Yards unter Wasser — also er ist vollkommen frei, er gehört dem, der ihn findet und ihn hebt. Ohne jede Steuerabgabe. Wir könnten die Brieftasche stehlen lassen, für Geld ist doch alles zu machen, aber so etwas werden wir doch nicht tun.«

»Gott bewahre!«

»Also warten wir, wie es mein Bruder auch gesagt hat, ganz ruhig die drei Jahre ab. Die Brieftasche liegt dort einstweilen ganz sicher.

So, mein lieber Herr Waffenmeister, nun wissen Sie alles. Und Sie sind der einzige, der davon zu wissen bekommen hat, werden auch der einzige bleiben.«

»Auch Doktor Isidor weiß nichts davon?!«, entfuhr es mir.

»Der? Wie kommt denn der dazu?! Kein Mensch weiß darum! Nur mein Bruder, ich und jetzt Sie.«

»Ja wie komme denn ich dazu?«

»Na, nun hören Sie auf mit solch dummer Fragerei!«, wurde sie wieder immer heiterer und daher auch burschikos. »Oder soll ich Ihnen auch noch einen furchtbaren Eid abnehmen, dass Sie nichts verraten? Na dann denken Sie mal, Sie wären mein Huckebein — nu wees Knebbchen, nu wees Knebbchen! — Hahahaha, wäre das nicht gottvoll? Ja, nun muss ich Ihnen aber doch erst erzählen, wie ich überhaupt hierher gekommen bin.

Ja, ich habe schmählich viel Geld verpulvert, das stimmt. Erstens meine kostspieligen Reisen, meine sonstigen Liebhabereien — aber was man mir nun sonst noch alles abgeknöppt hat! Erstens meiner Gutmütigkeit, und zweitens, weil ich einmal spekulieren wollte. Au weh! Eine Goldmine in Yukatan, ein chinesisches Unternehmen, garantiert 50 Prozent Dividende — na, diese Herren Chinesen haben mir ihre Zöpfe nicht schlecht um die Ohren geschlagen! Ich will gar nicht sagen, wie viel ich da verloren habe, ich schäme mich. Und zuletzt hatte mein Bruder sich verspekuliert, ich musste alle Verbindlichkeiten einlösen. Wenn man acht Millionen gehabt hat, und man hat nach vier Jahren nur noch drei, dann sieht's doch schon etwas faul aus im Staate Dänemark —«

»Ja was ist denn nun aus den anderen beiden Millionen Dollars geworden?«

»Na warten Sie nur! Der Erbschaftsprozess ging unterdessen immer lustig weiter. Na, diese amerikanischen Advokaten — gegen die sind ja unsere deutschen die reinen Waisenknaben! Achtzehn Parteien prozessierten gegen mich, fast nur aus Deutschland. Eigentlich war die Sache für sie ganz hoffnungslos. Die Sache wurde nur in die Länge gezogen. Meine Gegenpartei hatte einen Advokaten gefunden, der dafür bürgte, dass sie den Prozess gewinnen würde. Also er bürgte für die Prozesskosten.

Vor einem halben Jahre habe ich den Prozess in letzter Instanz gewonnen. Meine Gegner hatten mehr als hunderttausend Dollars, rund eine halbe Million Mark, Kosten zu zahlen. Na, die hatten ja ihren Bürgen. Jawohl!! Da war das Kerlchen plötzlich verschwunden! Achtzehn Familien, bisher in ganz guten Verhältnissen lebend, waren plötzlich ruiniert. Was sollte ich da machen? Na da habe ich einfach die halbe Million bezahlt.«

»Für Ihre Gegner?! Das ist sehr, sehr edel von Ihnen!«

»Edel bin ich? Eine dumme Gans bin ich! Na lassen Sie nur. Wenn's einem Spaß macht, warum denn nicht. Die Hauptsache aber ist, dass ich jetzt gegen die Seekrankheit gefeit war. Also mein Wüstenkönigreich aufgelöst, ein Schiff gekauft. In Noald war gerade ein passendes zu haben. Und da habe ich mal einen feinen Kauf gemacht, sage ich Ihnen! Das aller-, allererste Mal, dass ich bei einem Geschäft nicht übers Ohr gehauen worden bin. Ein Agent, der dann doch noch viel daran verdienen wollte, hat mir dann gleich noch 20 000 Pfund Sterling mehr dafür geboten. Also jetzt endlich habe ich mein Ideal verwirklicht. Nun helfen Sie mir, es immer weiter auszubauen, mein lieber Waffenmeister. Nach drei Jahren holen wir uns hier das Gold und die Edelsteine ab, teilen alles in drei Teile und knobeln sie aus. Bis dahin fahren wir in der Welt herum, immer dorthin, wo der Himmel am blausten und die Sonne am goldensten ist. Jetzt aber vor allen Dingen an Bord zurück, ich habe einen riesigen Hunger!«


Illustration

In heiterster Stimmung promenierten wir zurück. Als ich mich einmal umwandte, sah ich in einiger Entfernung von jenem Hügel den ersten Ingenieur, den Arm noch in der Schlinge, zwischen den Bäumen herumkriechen. Er suchte sich zu verbergen, was mir aber nicht weiter auffiel.

Der Leser aber weiß nun schon etwas, was ich damals gar nicht ahnte.

Ja, hätten wir einen guten Hund mitgenommen, der keinen Lauscher in der Nähe duldete, uns wäre viel Leid und Verdruss erspart worden.

*

7. Kapitel

»Ist das nicht herrlich?«

Originalseiten 158 — 192

Lieber Leser, nun will ich Dir etwas Herrliches erzählen, was wir dort unten im Lande der trostlosen Verzweiflung erlebten! Der Anfang, die Einleitung dazu, ist freilich weniger herrlich.

Am nächsten Morgen, das prächtige Wetter hielt an, ließ ich meine Jungens einmal schießen, nach einer an Land aufgebauten Scheibe.

Na, was diese Matrosen, wenn sie nicht in der Kriegsmarine gedient haben, zusammenschießen!

Was die armen zur Ausbildung der Rekruten kommandierten Bootsmannsmaate und die Exerziermeister von der Infanterie dann mit diesen Matrosen durchzumachen haben, sobald es ans Schießen geht!

Das macht nämlich: alle Seeleute sind überreichlich weitsichtig, ebenso wie alle Wüsten- und Gebirgsbewohner.

Die unübertreffliche Schießkunst der Schweizer und Tiroler in der Gesamtheit ist bekannt. Die stellen ihr weitsichtiges Auge nach und nach durch die Erfahrung ein, die haben doch immer noch Berge zum Abmessen. Der Beduine lehrt es den Sohn. Aber wer lehrt es den Matrosen? Das kann nur der Unteroffizier machen oder bei Gelegenheit so einer wie ich.

Dann übernahm einer, der das englische Marinegewehr kannte, die Instruktion über die Waffe, zeigte, wie alles auseinandergenommen wird, dann war Gewehrputzen.

»Könnt Ihr nicht singen, Jungens?«, fragte die Patrona. »Beim Gewehrputzen muss doch gesungen werden. Singt mal ein Seemannslied.«

Die Matrosen flüsterten zusammen, und dann begannen sie, so recht schön gedehnt, dabei nach der Patronin schielend:

Schieflein, Schieflein, Schieflein auf hooohem Meer,

Schaukle, schaukle, schaukle egal mehr —.

Jetzt fingen die schon mit ihrem Matrosenhohn an! »Kinder, das ist aber doch kein echtes Seemannslied!«, merkte das auch die Patrona sofort. »Das singen vielleicht Süßwasserkarpfen, die sich einmal nach etwas Salz sehnen, aber doch keine Salzheringe. Könnt Ihr denn nichts anderes?«

Erst verdrossene Gesichter, dann begann einer ein richtiges Seemannslied, da stimmten sie auch alle freudig ein:

Un wenn ick dann nach Hamborg komm,

Da weet ick wat ick dau,

For fief Penn da koop ick mi een

An dee Eck von de Davidstraat

Oreh, oreh, oreh, oreh, oreh, oreh,

For fief Penn da koop ick mi een

An dee Eck von de Davidstraat.

In Hamborg in St Pauli

Da geiht dat lustik dau —.

»Na nun hört mal auf damit!«, lachte die Patronin, und dann wandte sie sich an mich.

»War das ein sogenannter Shanty?«

»Nein, das war keiner.«

»Was ist denn das nur eigentlich, ein Shanty?«

»Ja, ein Shanty ist, was — was — was eben nur Matrosen singen können. Bei ihrer Arbeit, beim Segelreffen.«

»Kapitän Martin hat den Matrosen streng verboten, Shantys zu singen.«

»Das glaube ich schon!«, musste ich lachen. »Ja warum denn nur?«

»Weil — weil — weil —«

»Aber ich habe die Matrosen im Hamburger Hafen so oft ihre Shantys singen hören, beim Ankerheben.«

»Das glaube ich schon. Aber haben Sie auch die Worte verstanden?«

»Nein, das allerdings nicht. Ist es denn nur gar so schlimm?«

Ja, wie sollte ich da eine Auskunft geben.

Was ist überhaupt ein Shanty?

Ich weiß es nicht. Es sind Matrosengesänge, allen germanischen Seeleuten eigentümlich, gleichgültig, ob sie deutsch, englisch, schwedisch, dänisch oder holländisch gesungen werden. Das Eigentümliche liegt in der Melodie. Unbeschreiblich. Auch nicht durch Noten wiederzugeben.

Ich will hier einmal einen Shanty in Hochdeutsch anführen, den aber kein Seemann kennt. Es war ein Versuch, den fürchterlichen Shanty in andere Bahnen zu lenken, ihm doch wenigstens etwas Sinn zu geben.


Stolz weht Schwarz-Weiß-Rot an unserem Heck,
Sing vallera ho, ho, ho, ho.
Drum segeln wir selbst übern Teufel hinweg,
Sing vallera ho, ho, ho, ho, ho, ho.
Sing vallera ho, sing vallera ho,
Sing vallera ho, ho, ho, ho.

Drum lieb'n den Matrosen die Mädchen so heiß,
Sing vallera ho, ho, ho, ho.
Ob schwarz ihre Haut, ob rot oder weiß —.


Und so weiter.

Das Ding ist ganz hübsch gemacht.

Nur schade, dass es kein Matrose singen will.

Denn dieser Shanty ist nicht echt, der ist künstlich gemacht worden, obgleich es die Melodie eines echten Shantys ist.

Aber die kann man ja hier nicht wiedergeben, und das geht überhaupt auch durch Noten nicht, auf keinem Instrument.

Der Tiroler hat sein Jodeln, und das muss man von Tirolern hören.

Auch der Seemann hat sein Jodeln, aber wieder ein ganz, ganz anderes. Er lässt die Stimme ebenfalls fortwährend überschnappen, aber wieder in ganz anderer Weise, es kommt immer ein Jauchzen dazwischen.

Es klingt fürchterlich!

Furchtbar scheußlich in geschlossenem Raume, und furchtbar prächtig dann, wenn der Shanty gesungen wird, wenn es darauf ankommt, wozu er eben dient.

Das muss man hören, wenn die Kerls oben auf den Rahen stehen, im Sturm, wenn sie die Segel bändigen, und die wollen sich nicht bändigen lassen, und dann brüllt der Kapitän unten: »All Shanty, Boys!!«, — und dann geht es dort oben taktmäßig los, brüllend, donnernd, jauchzend — und unten steckt alles die Finger in den Mund und pfeift dazu den Takt — so etwas kann man nur erleben!

Ich weiß woher der Shanty stammt. Ich ahne es wenigstens. Das ist noch ein altgermanischer Barritt!

Der Schlachtgesang, den die alten Germanen in ihre Schilde brüllten, wenn sie auf den Feind losgingen — der Barritt, den Tacitus nicht schrecklich genug beschreiben kann. —

»Lassen Sie sich doch einmal einen Shanty singen!«, bat mich die Patronin. »Es kann doch nicht so furchtbar sein. Ich gehöre doch mit zum Schiffe, ich kann schon etwas vertragen. Ich will einmal einen echten Shanty hören.«

»Na da singt mal einen, Boys. Aber nicht gerade einen so granatjen.«

»Schäll wi?«, wurde geschmunzelt.

»Na ja, los!«

Und da mit einem Male verwandelten sich die bisher verdrießlichen oder spöttischen oder listigen Gesichter, da mit einem Male wurden sie alle ernst, sogar finster, drohend, die Augen nahmen einen ganz anderen Ausdruck an — und dann ging es los!

Die erste Strophe von jedem Verse wird vom Vorsänger gesungen. Wer das ist, das ist — höhere Inspiration, möchte man fast sagen. Irgend einer fängt plötzlich an, die anderen wissen es, ohne es ausgemacht zu haben. Dann fällt der Chor jauchzend ein. Jeder Shanty beginnt mit einem »Und« — wie in der Bibel — lang, lang ausgedehnt. Also da hieb einer an:

Uuuuund häst Du dee Lübecker Anna nich seeehn —. Und brüllend und jauchzend fiel der aus 40 Mann bestehende Chor ein:


Sing vallera ho, ho, ho, ho.
Deeeeeee hädd 'n gewaltig — — — —


»Hö, hö, hö, hö!!«, fing aber jetzt ich zu brüllen an, tödlich erschrocken, mit entsprechenden Armbewegungen herbeispringend. »Stopp, stopp, stopp, stopp!! Kerls, seid Ihr denn wahnsinnig?!«

Da brachen sie ab, selbst erschrocken. So blickten sie nach der Dame, nach der Patronin.

Verstehst Du denn, lieber Leser, was hier vorliegt? Das lässt sich mit Worten gar nicht erklären.

Hier liegt ein psychologisches Geheimnis vor!

Man sage nur nicht etwa, dass die Matrosen rohe, gotteslästerliche, unflätige Menschen wären.

Ich kenne sie besser. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Aber verlange nur nicht, dass der Matrose, wenn er sich in schwindelnder Höhe mit wilden Segeln herumbalgt, Kirchenhymnen dazu singt. Und die Sache ist nämlich die, dass jeder in der Welt, der singen kann, das besingt, was er nicht hat, wonach er sich sehnt.

Das macht überhaupt die ganze Dichtkunst aus. Nur die Geliebte inspiriert den Dichter — hat er nichts mehr zu ersehnen, dann ist mit der Singerei vorbei. Deshalb schließen auch fast alle die Romane mit der Heirat. Dann ist Zapfen ab. Und so ist's allüberall in der Welt. Gebt dem Kanarienvogel ein Weibchen in den Käfig und er hört auf zu singen.

»Ja was war denn?«, fragte die Patronin verwundert. »Warum lassen Sie die Matrosen denn nicht weiter singen?!«

Ach Gott, die hatte in ihrer Unschuld noch nicht verstanden, jetzt wollte die auch noch Aufklärung haben!

Mit einem Male wandte sie sich jäh um, schlenkerte mit den Fingern, dass es knallte, und ging schnell davon.

Der kleine Zwischenfall war beendet. Ich ließ meine Matrosen aber keine Shantys mehr singen, nicht an Land, nicht beim Gewehrputzen.

Das war natürlich nicht das Herrliche, worauf ich in der Kapitelüberschrift vorbereitete. Aber die Einleitung dazu war es doch gewesen. —

Gleich darauf marschierten wir ab: die Patrona, ich, Peitschenmüller, Mister Tabak und Simson. Wir wollten eine Expedition ins Innere machen, würden wahrscheinlich einige Tage ausbleiben.

Simson war ein Neger, einer von den »Exklikusen«, der deshalb so hieß, weil er eben ein Simson war, ein riesenhafter Herkules. Dafür musste er aber auch das zusammengelegte Boot aus Segeltuch tragen, doch ein ziemliches Gewicht, und sogar noch anderes mehr, was für den aber gar nichts zu sagen hatte. Es war ein professioneller, sogar geborener Lastträger.

Wir anderen hatten die übliche Jagdausrüstung, in der Jagdtasche kompakte Nahrungsmittel für vier Tage, auf dem Rücken einen kleinen Schlauch — aber aus Leder — mit je sechs Liter Inhalt. Mit Ausnahme Mister Tabaks. Der Eskimo hatte heute einmal seine Badehose mit einem Sportkostüm vertauscht, in dem er mir erst recht merkwürdig vorkam, sonst aber hatte er nichts weiter bei sich als zwischen den Zähnen die qualmende Fuhrmannspfeife. Allerdings hatte auch er sich verproviantiert, aber gleich im Magen, hatte zum Frühstück seine fünf Pfund Speck verzehrt.

»Hier ist Ihr Wasserschlauch.«

»Ach, ich nehme kein Wasser mit. Was Sie mitschleppen, das wird auch schon für mich reichen.«

So hing er sich an den Gürtel nur noch eine Fischblase, zwei Pfund Tabak enthaltend, wie eine Bombe aussehend. Aber das wurde ihm auch noch zuviel.

»Seht mal, wie sich Simson freut, dass er wieder mal was tragen kann, wie der tänzelt!«, sagte er gleich nach den ersten Schritten. »Na, die Freude will ich Dir machen — hier, mein lieber Simson, Du darfst meinen Tabaksbeutel tragen — da bin ich nicht so.«

»Na, Jungens«, rief die Patronin, als wir abrückten, »wenn wir wiederkommen, dann könnt Ihr mir vielleicht was anderes vorsingen.«

»Ay, ay, Capitana!«, lachte Oskar der Segelmacher zurück.

Ich habe über unsere Expedition, die nach Südwesten führte, nicht viel zu berichten.

Eben ein nacktes, fürchterlich zerrissenes Felsengebiet, durchzogen von zahllosen Wasserkanälen, manchmal so schmal, dass wir darüber springen konnten; manchmal breit genug, um einige große Dampfer nebeneinander durchzulassen.

Langsam, ganz langsam kamen wir vorwärts. Fortwährend musste das Segeltuchboot benutzt werden.

Ich will nur eine einzige Unterhaltung wiedergeben, und zwar eine, die Mister Tabak mit mir begann. Der Eskimo konnte überhaupt bei Gelegenheit sehr redselig werden.

»Gibt es hier Pferde?«, wandte er sich also an mich. »Nein. Wie sollen die denn hier fortkommen?«

»Es gibt hier aber doch auch Weideland.«

»Ja, das ist hier aber im Winter viel zu kalt, auch für wilde Pferde, so abgehärtet die auch sein mögen!«

»Ich habe aber gehört, dass es in Patagonien sehr schöne Pferde geben soll.«

»In Patagonien, ja. Das ist aber jenseits der Straße. Und dann doch mehr nach dem Norden hinaus, also wo es schon wieder etwas wärmer ist im Winter.«

»Es sollen sehr, sehr schöne Pferde sein.«

»Ja, die patagonischen Pferde sind berühmt. Wunderbare Schweife und Mähnen, auch sonst eine sehr dichte, prächtige Behaarung. Es ist eben schon mehr ein Pelz für den Winter. Aber sie sollen sich sehr schwer zähmen lassen. So schwer wie das afrikanische Zebra, wenn da auch einmal Ausnahmen vorkommen.«

»Sind es sehr große Tiere?«

»Das allerdings weiß ich nicht.«

»Haben Sie in Deutschland schöne Pferde?«

»O gewiss.«

»Große, starke Tiere?«

»Alle Sorten.«

»Auch solche dicke Holländer?«

»Jawohl, auch.«

»Die sind mir die liebsten. Wenn ich solch einen mächtigen, dicken Holländer sehe, da kann ich mich begeistern.«

»Sind Sie so ein großer Pferdeliebhaber, Mister Kabat?«

»Na und ob! Wenn ich einmal träume, dann träume ich nur von Pferden.«

»Reiten Sie gern?«

»Ich? Nee. Ich habe noch nie auf einem Pferde gesessen.«

»Wie kommt es denn da, dass Sie so ein großer Pferdeliebhaber sind?«

»Ja, ich weiß selbst nicht — wenn ich so ein recht schönes, edles Pferd sehe, da — da — da wird mir immer gleich ganz anders.«

Da wandte die vor uns gehende Patronin sich lachend um.

»Irren Sie sich nur nicht, Herr Waffenmeister — der interessiert sich und schwärmt nur für Pferde, weil er sie so gern isst! Das ist ein Liebhaber von Pferdefleisch!«

Ach soo!!

»Ja«, setzte dieser Pferdeliebhaber auch noch erklärend hinzu, »wenn ich so ein recht schönes, edles, dickes, gutdurchwachsenes Pferd sehe, dann, dann, dann — läuft mir immer gleich das Wasser im Maule zusammen. Rippenstück ist mir beim Pferde das liebste. Das esse ich fast so gern wie Froschkeulchen. Und dann hinten der Steert und vorn die Schnauze. Wenn die Patrona vielleicht auch nüber nach Patagonien geht, will ich sehen, ob ich so einen Gaul totschmeißen kann. Dann will ich Ihnen mal einen Pferdemaulsalat vorsetzen — einen Pferdemaulsalat, sage ich Ihnen —«

Und Mister Tabak schnalzte und leckte mit der Zunge. Am Abend wurde zwischen Felsblöcken gelagert. Als über uns weg eine Wildente flog, vielleicht in einer Höhe von 40 Metern, bückte sich der Eskimo, nahm einen walnussgroßen Stein, warf — und die Ente kam herab, mit zerschmettertem Brustkasten.

Es war mir nichts Neues. Ich hatte nun schon oft genug gesehen, wie er Möwen im schnellsten Fluge traf. Aber immer wieder musste ich staunen. Wie er so nachlässig den Stein aufhob, wie er warf, dabei mit der linken Hand seine Pfeife nachstopfend — es war nicht anders, als wenn unsereiner so die Zigarrenasche abschnippst.

Es war ein großes, schweres, überaus fettes Tier. Wir hatten einen Apparat und genügend Spiritus mit uns. Aber mit dem Braten, mit dem Rösten über der Flamme war es doch nichts. Und außerdem war das Tier so fett und von furchtbar tranigem Geschmack!

Nun, desto besser für Mister Tabak. Der verdrückte die ganze Ente sozusagen im Handumdrehen.

Am nächsten Morgen, sobald die Sonne aufging, gegen fünf Uhr, wurde die Wanderung fortgesetzt, immer noch in der Hauptrichtung nach Südwesten.

Dass wir die Goldbucht etwa so zufällig finden würden, daran glaubte die Patronin ja nicht, sie sagte es mir auch einmal bei Gelegenheit. Aber es war ganz gut, wenn wir uns hier schon etwas umsahen.

Immer noch ein prächtiger Tag. Wir hatten es hier einmal gut getroffen.

Es war gegen acht Uhr, wir dachten an das zweite Frühstück, als der vorausgehende Peitschenmüller, der gerade durch zwei hohe, nahe zusammengerückte Felsblöcke getreten war, plötzlich stehen blieb und die Hände erhob.

»Allmächtiger Gott!!«


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Mit dem Ausruf »Allmächtiger Gott!« blieb der Peitschenmüller
plötzlich stehen. Zwischen zackigen Steinen gebettet lag vor den
Wanderern ein mächtiger Dampfer als hilfloses Wrack.


Wenn dieser Mann erschrak oder nur so staunte, dann musste es gewiss einen ganz besonderen Grund haben!

Erblickte er etwa unter sich in einer Wasserbucht den Schatz des Bukaniers?

Die Patrona sprang vor, ich ihr nach — und da standen auch wir vor Staunen, nein vor Schreck ganz gelähmt da!

Nein, kein Goldschatz war es, den wir erblickten.

Ein Schatz allerdings war es vielleicht dennoch, den wir da gefunden hatten. Vielleicht auch nicht.

Da lag zwischen zackigen Steinen gebettet, nur von wenig Wasser umspült, ein mächtiger Dampfer!

Ein Wrack! Aber kaum als solches gekennzeichnet. Ganz aufrecht gebettet, wie im Dock. Dass auf Steuerbordseite die Eisenplanken eingedrückt waren, das war von hier aus nicht zu sehen.

Nur die beiden Masten waren am Fuße abgesplittert. Aber überhaupt ein Wrack schon dadurch, dass er zwischen Steinen lag, nur noch mit dem Kiel im Wasser. Wenn man bei solchen Eisenkasten, die mehr die Form eines Backtroges haben, um möglichst viel Ladung nehmen zu können, überhaupt noch von einem Kiele sprechen darf.

Es sieht scheußlich aus, solch ein großer Dampfer auf dem Trockenen. Ja, nicht nur traurig, sondern scheußlich!

Wer so etwas noch nicht gesehen hat, dem kann man es auch nicht beschreiben, weshalb.

Ein gestrandeter großer Walfisch sieht traurig aus. Ein vollkommen aufs Trockene gesetztes großes Schiff, womöglich so aufrecht wie hier, macht einen noch viel, viel niederschlagenderen Eindruck auf den, der für so etwas Empfindung hat.

Es war ein Dampfer von wenigstens 4000 Tonnen. Das ist so die normale Größe der Ozeanfrachtdampfer. Und wie sich hinten die gewaltige, scheinbar ganz unbeschädigte Schraube herausreckte! Tot! Noch vielmehr als tot! Der gestrandete Walfisch erfüllt noch immer seinen Zweck. Aber dieser Dampfer hier hatte seinen Zweck so total verfehlt, auch dieses Wrack brachte noch immer Jammer über Jammer in die Welt, vielleicht weinende Witwen und Waisen, mindestens furchtbare Enttäuschungen.

Genug! Wir hatten überhaupt jetzt keine Zeit, solche Reflexionen anzustellen.

»Arkadia — Aberdeen!«, las ich am Heck. Also ein Engländer.

Er lag dicht hinter den Felsen, hinter denen wir hervorgekommen waren, kaum 20 Schritt. Von uns entfernt, wir brauchten nur über die Steine zu balancieren. Wie hatte sich denn dieser Riesenkasten hier hereingequetscht?! Er konnte doch nicht meilenweit über Land geschusselt sein.

Na, davon erst mal abgesehen, da kann in solchen Gebieten, die weder Land noch Wasser sind, noch etwas anderes passieren, diese Frage wollen wir später aufwerfen.

Nichts Lebendiges. Von den sechs Booten fehlten vier, sie waren mit den Davits offenbar regelrecht ausgeschwungen worden.

Alles so schrecklich und doch so friedlich im goldenen Morgensonnenscheine.

Und da — da plötzlich erschollen Töne!

Töne, wie ich sie nie wieder gehört habe. Wenigstens nicht in solch einer Situation, in solch einer Stimmung.

Bald glaubte ich ein Harmonium zu hören, dann war es unbedingt wieder ein Klavier, dann schwoll es mächtig wie eine Orgel an, dann klagte es wieder wie ein Violoncello, und dann hörte ich wieder ganz deutlich eine Harfe.

Und das rauschte und sang und klagte und donnerte und weinte — jetzt mit mächtigem Klange, jetzt wieder leis und süß.

Ich bin nicht musikalisch. Empfänglich wohl für Musik, sehr sogar, aber nicht selbst musikalisch. Ich pfeife sogar immer daneben.

Ich will es gleich sagen: es war eine Bach'sche Fuge, gespielt von Meisterhand auf einem Clavicembalo — einem Instrument, das man jetzt wieder aus der Rumpelkammer hervorholt und sich staunend fragt, wie man solch eine Schönheit jemals vergessen konnte. Doch davon später mehr.

»Waffenmeister«, flüsterte da die Patrona ganz entgeistert, »was ist denn das?!«

Ich konnte keine Auskunft geben, ich war nicht weniger entgeistert. Ich gehörte nicht mehr dieser Erde an. Ich war plötzlich in den siebenten Himmel entrückt. Und sogar Mister Tabak — der hatte sogar seine Pfeife aus den Zähnen genommen, um dafür sein Maul recht weit aufsperren zu können, als höre er mit diesem — obgleich seine Elefantenohren groß genug waren.

Er war aber auch der einzige, der uns Auskunft geben konnte.

»Da macht jemand Musike.«

Na, nun wussten wir's endlich.

Also vorwärts, über die Steine balanciert!

Die »Musike« kam offenbar aus den offenen Bullaugen des Kajütenaufbaues heraus. Da konnten wir nicht hineinblicken das war zu hoch. Ein Fallreep hing herab, wir kletterten hinauf. Die Töne währten fort. Leise öffneten wir die Kajütentür.


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Ach, dieser Anblick, verstärkt noch durch den Sonnenschein der von oben durch das Skylight hereinfiel. Die Sonnenstrahlen gaben wie die goldene Umrahmung ab.

In der Ecke stand ein Klavier, langgestreckt wie ein Flügel, aber doch wieder ganz anders, und davor saß, vom Sonnenlichte umflossen, uns die Seite zukehrend, ein kleines, buckliges Männchen in einem hartmitgenommenen Schlafrock, elegant mit Fetträndern garniert, die Füße in Fragmenten von Filzpantoffeln, die Strümpfe hackenlos — und spielte.

Und es rauschte und jubelte und klagte und jauchzte und weinte unter seinen geläufigen Fingern, und dann kam der Schluss noch einmal mächtig anschwellend und dann süß, und leise endend, und dann drehte der kleine Bucklige sein Gesicht zu uns herum, die wir schon mitten in der Kajüte standen, ein blasses, hageres, elendes Gesicht mit großen, braunen, schönen, herrlichen, mächtigen Augen, und mit einem sanften Lächeln sagte er zu uns:

»Ist das nicht herrlich? So etwas hat doch nur ein Johann Sebastian Bach schaffen können.«

Leser, kannst Du Dich in diese Situation versetzen? Hier im Südzipfel Amerikas, im trostlosen Feuerlande, im Lande der Verzweiflung, dessen Bewohner ihr höchstes Ideal in Talglichtern sehen — finden wir ein verlassenes Wrack, da drin wird eine Bach'sche Fuge gespielt, von einem buckligen Männchen im Schlafrock und Pantoffeln, es dreht sich um und fragt uns ganz gemütlich: »Ist das nicht herrlich?«

Dann freilich kam die Reaktion. Aber immer noch nicht so, wie sie hätte eigentlich kommen müssen.

Er stand auf, griff sich erst an den Hals, versuchte sein offenes Hemd zu schließen, was ihm nicht gelang, weil kein Knopf dran war, versuchte mit der anderen Hand gleichzeitig seinen Schlafrock zu schließen, an dem aber ebenfalls weder Knopf noch Heftel noch Band war, so hielt er wenigstens alles krampfhaft fest, außerdem versuchte er noch abwechselnd seine Füße einen hinter dem anderen zu verstecken, wegen der Löcher in den Strümpfen, und so sagte er mit errötender Verschämtheit, sagte es wie vorhin deutsch:

»Ach entschuldigen Sie nur, ich bin noch nicht angezogen.«

Aber nicht etwa, dass wir darüber lachten oder doch eine Komik empfunden hätten! Durchaus nicht. Wir waren noch in ganz, ganz anderer Stimmung.

»Ja wer sind Sie denn?!«, fand zuerst die Patrona die Sprache.

»Hämmerlein ist mein Name — Reinhold Hämmerlein — Emil Gustav Reinhold Hämmerlein aus Amsterdam.«

Ich will es nicht ausführlich schildern, wie sich die Sache weiter entwickelte, bis er seine Verlegenheit überwunden hatte. Dann konnte er auch ganz fließend sprechen und sachlich berichten, der kleine bucklige Mann, dessen Alter gar nicht zu taxieren war. Entweder war es das faltige Gesicht eines kranken Kindes, oder das jugendliche Antlitz eines Greises. Aber nun diese Augen! Das waren echte Kinderaugen. Und sie erzählten noch viel, viel mehr. Ihr Besitzer gehörte nicht dieser Erde an, der lebte in seiner Welt für sich, schon hier im Himmel.

Vor elf Wochen hatte die »Arkadia« in London als Hauptsache Bleirohre geladen, hatte noch einmal Amsterdam angelaufen und einige Fracht genommen, hatte die Fahrt nach Guayaquil angetreten, dem Haupthafen des Staates Ecuador.

Vor sieben Wochen hatte der Dampfer die Magellanstraße passiert. Am Nachmittag war Springflut gewesen, die sich aber in dieser Meeresstraße erst einige Stunden später bemerkbar macht, und zwar kommt die gewaltige Strömung dann von beiden Seiten hereingeschossen. Am Abend undurchdringlicher Nebel bei furchtbarer See.

Ja, was soll man da machen bei solchem Nebel in einem Gebiet, von dem man nur eine schmale Fahrstraße kennt? Stilliegen kann der Dampfer nicht, sonst ist er ja nicht zu steuern. Kapitän Scammy ließ Viertelkraft fahren und ununterbrochen loten. Es war seine Pflicht, aber Zweck hatte es nicht. Bei solcher See, wenn die Wogen so toben, da ist schwer zu loten, die wahre Tiefe zu ergründen, da kann man sich gleich einmal um hundert Meter täuschen, und der mit dem eingetalgten Lote heraufgeholte Meeresgrund sagte nichts, den kennt man hier nicht außerhalb der Fahrstraße. Rechts voraus donnerte eine Brandung. Stimmte, das waren die Kaskkassia-Riffe. Also mehr nach Backbord gehalten.

Aber dabei befand sich der Dampfer schon ganz am Südrande der Straße, das war die Brandung in einem südlichen Kanal! Der Kapitän konnte es nicht wissen. Also immer weiter in die südlichen Straßen hinein, mitten hinein zwischen die Klippen und Riffe!

Da ein Knirschen des Kiels, noch einmal freigekommen, die Brandung, furchtbar verstärkt von der Springflut, schleuderte den Dampfer noch einmal vorwärts — dann saß man fest für immer.

Am nächsten Morgen war das schönste Wetter, da konnte man sich alles beschauen. O weh, wo war man hingekommen!

Als wir uns dann die Umgebung besahen, fanden wir das alles erklärlich. Wir hatten wohl meist festen Boden unter den Füßen gehabt, nur immer über Kanäle setzen müssen — hinter diesen Felsen aber lag ein offenes Wasserbassin, unübersehbar, einfach das freie Meer. Und zur Zeit der Springflut hatte auch diese Bucht dazu gehört, in der jetzt der Dampfer so gut wie auf dem Trockenen lag.

Hoffnungslos festgerannt! Ach, wie kann man da überhaupt noch von »hoffnungslos« sprechen. Wenn ein Schloß am Meere durch einen Bergrutsch ins Wasser plumpst, dann liegt es eben drin, da kann man doch auch nicht »hoffnungslos« sagen.

Also die nötigen Boote zu Wasser gebracht und davongerudert, um sich als Schiffbrüchige aufnehmen zu lassen. —

So hatte Emil Gustav Reinhold Hämmerlein berichtet, nur ausführlicher, sachlicher, viele Einzelheiten schildernd.

»Ja und Sie?«, fragte die Patronin.

»Ich bin hier zurückgeblieben.«

»Weshalb denn?!«

Wieder wurde das Männchen etwas verlegen oder sogar sehr, es errötete wie ein kleines Mädchen.

»Ich — ich — wollte nicht mit — der Kapitän redete mir immer zu, aber ich wollte nicht — die Leute wollten mich mit Gewalt mitnehmen — da versteckte ich mich — man fand mich — ich sagte dem Kapitän, dass ich nicht mitkönnte — und da — da — gab er es auf. Da bin ich hier zurückgeblieben.«

»Ja weshalb denn nur?«

»Weil — weil — ich bin Orgelbauer — die ›Arkadia‹ hatte in Amsterdam eine Orgel mitgenommen — für Guayaquil — oder vielmehr für Quito — ich sollte sie dort montieren —«

Die Patronin blickte nach dem Instrument, dem er solch wunderbare, mächtige Töne entlockt hatte.

»Dort die Orgel?«

»O nein. Das ist ein Clavicembalo. Nein, unten liegt eine Orgel verpackt — mit — mit 5000 Pfeifen und 64 Registern — sie ist für Quito bestimmt, für die neue Kirche — und — und — ich habe sie selber gebaut — mit meinem Vater — schon — schon mein Großvater hat daran gebaut — und — und — ich kann doch meine Orgel nicht im Stiche lassen —«

Schüchtern und verlegen hatte es das Männchen, das erst so fließend sprechen konnte, hervorgestammelt, mit demütigem Lächeln immer wie um Entschuldigung bittend, dass es überhaupt geboren war.

Und da plötzlich ging mir eine Ahnung auf!

Da aber musste ich erst einmal das Examen übernehmen.

»Was kostet die Orgel?«

»10 000 Pesos.«

»Das sind rund 40 000 Mark. Ist das schon bezahlt?«

»Ei freilich, das musste im voraus bezahlt werden.«

»Ist die Orgel Ihr Eigentum?«

»O nein«, erklang es noch verschämter, »ich — ich bin doch nur Angestellter bei Godfroys, sollte die Orgel doch nur in Quito montieren.«

»Sie haben keinen Anteil daran?«

»Was denn für einen Anteil? Ich — werde doch für diese Arbeit sehr gut bezahlt —«

»Sie sind nun schon sieben Wochen hier auf dem Wrack?«

»Ja, sieben Wochen werden's nun schon sein.«

»Ganz allein?«

»Ja, aber — aber —«

»Aber was?«

»Ich habe doch genug zu essen —«

»Werden Sie abgeholt?«

»Abgeholt? Nei— — nein — ich glaube nicht —«

»Hat Ihnen der Kapitän vielleicht gesagt, dass Sie abgeholt werden — Sie und natürlich erst recht die Orgel.«

»Nei— — nein — der Kapitän hat mir gleich gesagt, dass hier niemand wieder herkommt — weil — weil — doch alles versichert ist die Orgel doch natürlich auch — und — und — wenn ich wollte, dann könnte ich ja hier bleiben — aber — aber — für mich tun könnte er nichts mehr —«

Ich will hier gleich etwas erledigen, was doch einmal erwähnt werden muss, zumal es für uns noch eine so große Rolle spielen sollte: das Bergen von herrenlosem Seegut und das Versichern von Schiff und Ladung.

Was herrenloses Seegut anbetrifft, so sieht es in der Welt noch viel romantischer aus, als ich es jemals in einer phantastischen Erzählung gelesen habe. Ungeheure Schätze harren überall nur des Abholens.

Nach der letzten Statistik gehen jährlich von europäischen und amerikanischen Seeschiffen durchschnittlich 246 Dampfer und 772 Segler verloren, meist durch Strandung. Der Wert der Ladung beträgt rund zwei Milliarden Mark. Also jährlich! Das häuft sich doch immer mehr an! Und die meisten Schiffe liegen als Wrack irgendwo am Strand.

Na nun fahrt mal hin und holt die Milliarden ab! In Gestalt von Waren der verschiedensten Art, die doch nur zum kleinsten Teil ganz unbrauchbar werden.

Wenn ein Dampfer von 3000 Tonnen seinen Bauch mit brasilianischem Kaffee gefüllt hat — Good Average Santos, die billigste Sorte — so entspricht das nach heutigem Marktpreis einem Werte von genau zwei Millionen Mark, indem 100 Kilo im Speicher von Santos 66 Mark 50 Pfennig kosten. Das Pfund 33 Pfennige. Bei uns ist er beim Kaufen freilich teurer.

Der Dampfer liegt als Wrack an der Küste Argentiniens fest und sicher zwischen den Klippen, er wird noch nach Jahrzehnten so daliegen, jeder kann hinfahren und sich die Kaffeesäcke abholen.

Ich fahre mein eigenes Schiff, bin in Sydney, will nach San Francisco. Die Versicherung für Schiff und Ladung wird immer von Fall zu Fall, von Hafen zu Hafen abgeschlossen. Über die Höhe der Versicherungsprämie ist absolut nichts zu sagen. Weshalb nicht, werde ich später erklären.

Ich habe mein Schiff in möglichst kürzester Zeit — ich gebrauche diesen doppelten Superlativ mit Absicht — von Sydney nach San Francisco zu bringen. Unterwegs sehe ich an einer Koralleninsel ein großes Wrack. Was geht mich das Wrack an? Ich habe mein Schiff nach San Francisco zu bringen. Aber es reizt mich, ich untersuche es. Es ist nichts des Mitnehmens wert, oder das Ausladen ist zu beschwerlich. Ich fahre weiter. Mein Aufenthalt dort hat nur zwei Stunden gewährt. Natürlich muss das ins Logbuch, ins Schiffsjournal eingetragen werden. Da steht jedes Wörtchen unter Eid. Vertusche ich nur eine Minute und es wird mir nachgewiesen, dann komm ich ins Zuchthaus.

Vor San Francisco wird mein Schiff gerammt, es geht unter.

Ich bekomme keinen Pfennig Versicherung ausgezahlt! Weshalb nicht?

»Ja, siehst Du, wenn Du Dich dort unten nicht zwei Stunden bei dem Wrack aufgehalten hättest, dann wärest Du zwei Stunden eher hier gewesen, wärest also nicht gerammt worden. Was hattest Du Dich denn bei dem Wrack aufzuhalten?«

So ist es!

Man wirft mit der Wurst nach dem Schinken.

Nun könnte man ja sagen, wenn mir später nichts passiert wäre, hätte ich mich nicht dort zwei Stunden aufgehalten, dann wäre ich vor San Francisco gerammt worden. Ganz schön und gut, solch eine starke Glaubensfrömmigkeit, solch ein Glauben an das Walten einer göttlichen Vorsehung — aber mit so etwas lässt sich die Geschäftswelt nicht ein. Nur das Resultat entscheidet. Ich habe mich zwei Stunden unnütz dort aufgehalten

— Schiff und Ladung und bezahlte Versicherungsprämie sind futsch!

So, nun fahrt einmal hin und nehmt Wracks aus! Das kann man nur mit unversichertem Schiffe. Dann wirft man aber doch erst recht mit der Wurst nach dem Schinken!

Etwas anderes ist der Beistand in Seenot. Aber hinwiederum ist das auch ganz, ganz anders, als man sich das gewöhnlich vorstellt. Man glaube nur nicht etwa, dass das allein so aus christlicher Nächstenliebe geschieht. Wohl geschehen auf See jeden Tag Heldentaten, von denen die übrige Welt nichts erfährt — aber berappt muss alles werden! Das heißt der Reederei, der das helfende Schiff gehört. Zeit ist Geld, jede Stunde, die man bei der Rettungsarbeit versäumt hat, muss bezahlt werden. Und bei den großen Passagierdampfern geht das in die Tausende pro Stunde! Das wird genau auskalkuliert und einem Schiedsgericht vorgelegt.

Es gibt Seeversicherungsgesellschaften, aber der Hauptsache nach versichern die Reeder unter sich auf Gegenseitigkeit national und auch international. Der Verlust wird also gemeinschaftlich getragen, es wird jährlich abgerechnet. Das geht prozentual nach den Tonnen. War der verlorene Kaffeedampfer mit drei Millionen Mark versichert gewesen, mein Schiff hätte tausend Tonnen, so wäre ich, wenn Deutschland drei Millionen Tonnen auf hoher See schwimmen hätte, was auch so ziemlich stimmt, mit tausend Mark an jenem Verluste beteiligt. Ginge also einmal ein Jahr gar kein Schiff unter, käme keine Havarie vor, so hätte auch niemand etwas zu bezahlen, und Schiff und Ladung wäre dennoch versichert.

Außerdem nun: herrenlos ist Strand- und sogenanntes freies Seegut überhaupt nicht. Es gehört immer noch dem Besitzer, mag es auf einsamer Klippe auch so lange liegen wie es will. Dem bergenden Schiffe gehört nur der dritte Teil des Wertes, es kann diesen behalten oder weiter verkaufen, der Besitzer hat das Recht des Verkaufs.

Von diesem Drittel, also vom ganzen Bergegeld, erhält die Hälfte der Reeder, ein Viertel der Kapitän, das letzte Viertel wird unter die Mannschaft prozentual nach der Höhe ihrer Heuer verteilt.

Über diese Art der Verteilung wird in Seemannskreisen, das heißt in den unteren, viel geschimpft. Es wäre die größte Ungerechtigkeit. Wie kommt die Reederei dazu, die ganze Hälfte einzustecken? Die Matrosen sind es doch, die ihr Leben riskieren und sich beim Umladen plagen müssen.

Ich habe eine stark demokratische Ader, aber ich kann da kein Unrecht erblicken. Die Reederei riskiert bei so etwas ihr ganzes Schiff, denn misslingt es, dann erhält sie nicht die Versicherung. Und der Kapitän riskiert sein Patent, deshalb ist ihm ein ganzes Viertel recht wohl zu gönnen. Steuerleute und Matrosen aber riskieren nichts, nur ihre Knochen, die haben sie so wie so jeden Tag einzusetzen, dafür werden sie bezahlt, sonst müssen sie eben zu Hause hinterm Ofen bleiben, und wenn dann jeder tausend oder auch nur hundert Mark bekommt, so kann er recht wohl damit zufrieden sein. —

Also dieser Dampfer hier war samt seiner Ladung — einfach hops!

Wegen der Bleirohre kam kein anderes Schiff in diese Klippengegend. Oder dann hätte man auch den Eisenkasten in Trümmern schlagen können, um die Eisenspalten mitzunehmen und sie anderswo wieder zusammenzuleimen. Und dasselbe galt von der Orgel. Die war mit 2000 Pfund Sterling versichert, die Kirchengemeinde von Quito erhielt sie ausbezahlt, und damit basta!

Und was hatte denn das alles in der Versicherung des Welthandels zu bedeuten? Genau soviel, als wenn ich hundert Mark in der Tasche habe, und ich verliere davon einen Groschen. Aufheben tue ich ihn ja, das stimmt. Aber ist er in eine Schlucht gefallen, so klettere ich deshalb doch nicht etwa hinab, riskiere meinen Hals, und hat er sich in einer Dielenritze verkrümelt, so reiße ich deswegen doch nicht den Fußboden auf. Genau dasselbe Verhältnis lag hier vor.

Das war es, was ich hier des längeren habe ausführen müssen, wofür ich um Entschuldigung bitte. Viel lieber hätte ich ja einfach gesagt, wir hätten ein Wrack gefunden und alles eingesackt, und dann wären wir so weiter auf die Wracksuche gegangen. So wäre es vielleicht auch von anderer Seite erzählt worden. Ich aber kann das nicht, weil ich mich sonst in Unmöglichkeiten bewegen würde, jeder Seemann oder sonstige Sachverständige, der es liest, würde mich ja auslachen.

Und das alles wusste auch die Patrona ganz genau. Sie konnte einmal Fensterchen anstatt Bullaugen sagen, aber gerade in solchen Seeverhältnissen wusste sie, wie ich schon einmal gemerkt hatte, vielleicht noch besser Bescheid wie ich, das hatte die theoretisch studiert. Die internationalen Bestimmungen über das Bergen, und was damit zusammenhängt, umfassen eine recht stattliche Bibliothek.

»Der Kapitän hat Ihnen nicht gesagt, dass Sie von hier abgeholt würden?«, wiederholte auch die Patronin noch einmal meine Frage.

»Nein. Melden wollte er es ja, das musste doch auch ins Journal geschrieben werden, dass ich hier allein zurückbliebe, aber — aber — Hoffnung könnte er mir nicht machen.«

»Ja wie lange wollten Sie denn da hier bleiben?«, »Nun bis — bis — ach, ich habe ja so viel zu essen hier — und auch Trinkwasser — und dann regnet's doch auch einmal, da fange ich Wasser auf —«

»Sie wären wegen Ihrer Orgel einfach bis an Ihr Lebensende hier geblieben.«

»Ja — ja — ich kann doch meine Orgel nicht im Stiche lassen —«

Hilfeflehend wanderten die schönen, braunen Kinderaugen im Kreise herum.

Der glaubte nämlich, wir verständen ihn nicht, und es uns begreiflich zu machen, darauf verzichtete er von vornherein.

Und wir verstanden ihn doch so gut, so gut! Wenigstens die Patronin und ich. Wahrscheinlich auch der Peitschenmüller, der blickte auch mit so eigentümlichen Augen auf das kleine bucklige Männchen. Von Simson war das ja nicht zu verlangen, noch weniger von Mister Tabak.

Hut ab! Wir standen hier vor einem Helden!

Es gibt Helden des Schlachtfeldes, es gibt Helden und noch mehr Heldinnen am Krankenbett. Es gibt Helden der Kunst, der Wissenschaft, der Arbeit. Es gibt aber auch Helden, deren Heldentum sich überhaupt gar nicht klassifizieren lässt. Helden irgend eines Ideals.

Solch einen Helden hatten wir hier vor uns, einen ganzen Helden vom Scheitel bis zur Sohle.

Wir sagten ihm aber keine Komplimente, wir fingen von etwas anderem an, ließen uns noch Näheres berichten.

Dann besichtigten wir das Schiff, stiegen in den Laderaum.

»Hier ist die Orgel.«

Alles in handlichen Kisten verpackt, gut verstaut, nichts beschädigt.

Sinnend stand die Patronin davor.

»Ist da auch wirklich alles vorhanden, was dazu gehört, Herr Hämmerlein?«

Alles, alles vorhanden, bis zum letzten Stiftchen, konnte dieser versichern.

»Der Blasebalg?«

»Das ist jetzt eine Rotationspumpe, ein Gebläse. Dort ist es verpackt. Für Motor- oder auch für Handbetrieb.«

»Waffenmeister, ich habe eine Idee!«, wandte sie sich dann hastig an mich.

»Ich weiß, schon, was für eine!«, lächelte ich.

»Was wäre das für eine?«

»Sie lassen sich die Orgel in Ihr Schiff einbauen.«

»Himmel noch einmal — Herr Hämmerlein, wäre das möglich?!«

Da plötzlich begannen die großen, braunen Augen noch mehr zu leuchten, als sie es schon immer taten.

»Sie haben ein Schiff?«

»Mein eigenes Schiff.«

»Wie groß?«

»Noch größer als dieses.«

»Ach, so groß brauchte es gar nicht zu sein und ich habe schon einmal daran gedacht — wenn ich meine Orgel in solch ein Schiff einbauen könnte — und dann weit draußen auf dem einsamen Meere spielen — wie das klingen müsste —«

»Könnte? Es ist nicht möglich?«

»Sicher, warum denn nicht? Soviel Platz wird doch dazu gefunden werden, und das ist dann ja etwas ganz anderes als in der Kirche, da käme es gar nicht so auf die Berechnung der Akustik an, ich würde die Pfeifen sogar mit Absicht auf die verschiedensten, weit entfernten Räume verteilen, die langen Grundbässe würde ich in die Ventilationsröhren einbauen —«

»Halt, halt, halt!«, unterbrach ich. »Frau Neubert, Sie können diese Orgel mitnehmen und können, wenn sie 40 000 Mark kostet, von dem Besitzer oder von dem Versicherer 13 333 Mark 35 Pfennige dafür verlangen. Wird Ihnen das nicht für die Rückgabe bezahlt, so können Sie die Orgel verkaufen oder verauktionieren lassen und von dem Erlös die Ihnen zufallende Summe abziehen. Aber Sie können die Orgel nicht annektieren, der rechtmäßige Besitzer kann sie natürlich zurückfordern —«

»Aber das tun die Quitaner nicht!«, fiel mir das Männchen ins Wort.

»Nein?!«, rief die Patronin.

»Nein, die sind froh, wenn sie die Orgel wieder los sind. Diese Quitaner haben sich wie — wie — wie die kleinen Kinder benommen, die Weihnachten nicht erwarten können. Erst haben sie jeden Tag telegrafiert, ob die Orgel denn noch nicht fertig wäre, als sie kaum den Auftrag gegeben hatten, und zuletzt, wie sie schon eingepackt wurde, wollten sie die Bestellung rückgängig machen, sie hätten sich nun schon für ihre Kirche eine fertige Orgel gekauft, sie würde schon montiert. Aber bei dem alten Godfroy gibt es so etwas nicht, der schickte seine Orgel ruhig hin, mich zum Aufbauen mit —«

»Genug, genug!«, jauchzte da die Patronin auf. »Die Orgel ist mir! Ja, Herr Hämmerlein — ich brauche doch nicht erst zu fragen, ob Sie auch Orgel spielen können — würden Sie die Orgel in mein Schiff bauen und mit mir kommen?«

»Auf Ihr Schiff?«, bekam das Männchen noch einmal immer größere Augen.

»Es liegt nicht weit von hier. Eine Privatjacht, — wenn auch größer als dieser Dampfer hier. Ursprünglich eine Kriegsfregatte. Wir fahren in der ganzen Welt herum, nur zu unserem Vergnügen, und wo es uns auf dem einsamen Meere am besten gefällt, da bleiben wir liegen, so lange es uns beliebt. Wollen Sie mitkommen? Können Sie es oder sind Sie gebunden?«

»Ich bin ganz frei. Ach ja — ja — wenn ich das dürfte — mit meiner Orgel auf solch einem Schiffe —«

»Vorwärts, die Orgel wird abgeholt!«, —

Nur noch eine kurze Besprechung, und es war entschieden, wie es gemacht wurde.

Juba Riata blieb mit Hämmerlein hier, wir anderen begaben uns nach dem Schiffe zurück, mit uns die Patronin — die zwar lieber hier geblieben wäre — hauptsächlich deshalb, um mit dem Kapitän zu sprechen, ob das Schiff nicht vielleicht noch näher herangeholt werden könnte. Ich hielt dies nicht für gut, wir wollten Gott danken, dass wir das unversicherte Schiff glücklich in einer geschützten Bucht liegen hatten, wollte aber da kein Wort dazwischen reden.

So rückten wir im Eilmarsch wieder ab. Und wenn nun jetzt ein anderes Schiff kam und von dem Wrack Besitz ergriff? Für diesen Fall hatte die Patronin erst ein Schriftstück ausgesetzt, von uns als Zeugen unterschrieben; Juba Riata behielt es. Gegenwärtig war sie Besitzerin dieses Wracks, nur dass auch der einzige noch an Bord vorhandene Passagier einiges Anrecht darauf hatte. Kamen jetzt andere Menschen und wollten Besitz von dem Wrack ergreifen, so begingen sie Hausfriedensbruch, konnten mit Waffengewalt zurückgetrieben werden.

Und wie lange währte dieses Recht für uns oder vielmehr für den Besitzer des Schiffes, zu dem wir gehörten, in dessen Brot und Lohn wir standen? Dafür gibt es eine ganz verzwickte mathematische Formel.

Ich habe schon gesagt, dass die Paragrafen über das Bergungsrecht eine stattliche Bibliothek ausfüllen. Für den, der nichts damit zu tun hat, erscheint das als eine schauderhafte Umständlichkeit. In Wirklichkeit ist nichts so klar und präzis als dieses internationale Bergungsrecht. Da kann keine Streitfrage mehr aufgeworfen werden. Es ist bedacht worden, dass auf dem Wrack noch ein Kind geboren werden kann, als Kind des Kapitäns, eines Matrosen, eines Passagiers, eines Schiffbrüchigen, der erst unterwegs an Bord genommen worden ist — nach Paragraf soundsoviel hat dieses Kind soundsoviel Eigentumsrecht an dem Wrack. Man macht manchmal Wetten, dass in dem Bergungsrecht dies und jenes vergessen sein müsste, an solch eine Kleinigkeit könne man doch nicht gedacht haben. Aber es ist nichts zu wollen.

Wieder zeigte sich Mister Tabak von einer anderen, staunenswerten Seite. Den Rückweg hätte ich schließlich auch gefunden. Aber nicht in fünf Stunden, wie der es fertig brachte. Wir waren ja bei dem Herweg viel im Zickzack gewandert, um immer die besten Übergänge über die Kanäle zu finden. Jetzt ging es immer direkt gerade aus, und doch war es immer die denkbar günstigste Stelle, wo einmal das Segeltuchboot benutzt werden musste. Gerade als ob dieser Eskimo hier zu Hause wäre.

Es war der Instinkt, den der Eskimo in den Schnee- und Eiswüsten seiner Heimat erworben hatte, und der ehemalige Harpunier hatte diesen Instinkt in der Waterstreet zu New York nicht verloren. Ja, es war staunenswert, wie der uns führte, aber eben deshalb nicht zu schildern.

Wie wir die Matrosen unseres Schiffes erblickten, war es aber auch die höchste Zeit.

Schon längst war es von Nordwesten hier pechschwarz mit schwefelgelbem Saume heraufgezogen, in der Atmosphäre lag ein furchtbares Etwas, die Luft glich geschmolzenem Blei, war kaum noch zu atmen.

Trotzdem konnte die Patronin bei Anblick der Mastspitzen, denen sich bald auch der Rumpf zugesellte, noch jauchzen.

»Mein Schiff — ach, mein Schiff — und mein Volk!«, jauchzte sie auf.

Wir kamen näher. Die Umgebung des Schiffes hatte sich insofern etwas geändert, als dort am Strande ein mächtiger Holzstoß aufgebaut war. Es hatte uns schon immer an Brennholz gemangelt, um wenigstens das Kombüsenfeuer immer anzuzünden (Kombüse gleich Küche), die Leute hatten unterdessen Bäume gefällt, sie zersägt und gespalten, eine recht schöne Pyramide aufgestapelt.

Jetzt begann es in der Ferne zu murren, gewetterleuchtet hatte es schon immer, ununterbrochen stand der Horizont, noch ohne dass ein richtiger Donner zu hören war, in Flammen, und das war gut für uns, denn wir hatten immer noch einige hundert Meter zu marschieren, und immer finsterer wurde es, es wurde pechfinstere Nacht, jetzt nachmittags um drei, ohne das Wetterleuchten hätten wir auf dem schwierigen Terrain den Weg nicht finden können.

Und was hatten denn diese Matrosen?!

Sie hatten am Ufer gestanden, nicht nur Matrosen, denn es waren wenigstens 50 Mann, also auch Heizer und andere, sämtlich — schon auf den Regenguss vorbereitet — in ihren wasserdichten Ölanzügen, den Südwester auf dem Kopfe — und wie sie uns kommen sahen, da stoben sie auseinander, aber doch alle mit ein und demselben Ziele, von allen Seiten das Schiff erklettert, das heißt sich über die Bordwand geschwungen, die Wanten erklommen, einige blieben in diesen hängen, andere kletterten wie die Eichkatzen noch höher, verteilten sich auf den untersten Rahen, aber immer nach dem Lande zu, uns zugekehrt, sie gruppierten sich — und da streckte Oskar, den ich an seinem roten Südwester erkannte, den Arm aus.

»Eins — zwei —«

Ich will es gleich erklären, ich muss es, wenn ich auch die Pointe vorweg nehme, aber es geht nicht anders, ich kann die Erklärung nicht erst hinterher bringen, dann bin ich nicht mehr fähig dazu.

»Na, Jungens«, hatte die Patrona gesagt, als wir gestern früh abgerückt waren, »wenn wir zurückkommen, dann könnt Ihr mir vielleicht etwas anderes vorsingen.«

Sie hatte es gesagt, ohne sich irgend etwas dabei zu denken.

»Ay, ay, Patrona!«, hatte Oskar der Segelmacher zurückgelacht.

Der aber hatte sich etwas dabei gedacht, oder doch gleich, als wir fort gewesen, war ihm die Idee gekommen.

Der Bengel war musikalisch bis auf die Knochen, wenn auch ohne jede Ausbildung. Klavierspielen zum Beispiel konnte er ganz vortrefflich, ohne irgend eine Note zu kennen, und außerdem musste ich bei seinem Spiel immer an einen wahnsinnigen Bären denken. So paukte er drauf los.

»Jungens, die soll uns nicht wieder verhohniebeln, der wollen wir mal zeigen, was wir Salzwasserratten alles können, der wollen wir mal was vorsingen. Vorwärts, jetzt fresst mal jeder ein Stück Kreide und dann ein paar Schluck Schmieröl draufgesetzt, so kann nämlich jeder Mensch ein Hofopernsänger werden, das ist meine eigene Erfindung.«

Und sie aßen Kreide und tranken Öl, nicht zu wenig, und dann nahm sie Oskar in die Dressur.

Was sollte gesungen werden? Etwas ganz Extraes musste es sein.

Er hatte in seiner Kleiderkiste einen alten Lappen, ein in die Brüche gehendes Stück Papier, da drauf stand ein Gedicht, kein Name, von wem es war, keine Überschrift, das war schon abgefallen — aber Oskar hatte dieses Lied einmal von einem Männerchor singen hören — ein nordisches Heerfahrtslied, aus uralter Germanenzeit, Wikinger ziehen aus, um sich eine neue Heimat zu suchen, auf tobendem Meere spähen sie nach Land und die Melodie hatte Oskar noch im Ohr.

Jeder musste es auswendig lernen, Oskar sang es vor und sang es immer wieder vor, spielte und spielte die Melodie auf einer Harmonika.

»Na los doch, Jungens, brüllt doch — brülle, Aujust, brülle — wenn Du den Text nicht kannst, Horitz, dann denkst Du einfach, Du hast eine Dynamitpatrone mit brennender Zündschnur in der Tasche stecken und brüllst vor Angst, das klingt auch ganz gut, so machen's die Hofopernsänger alle —«

Und sie brüllten. Anderthalb Tag und vielleicht auch die halbe Nacht hatten sie es sich eingeübt, immer auf Ausguck stehend, dass wir nicht etwa kämen, und es wurde etwas daraus, es waren ja auch einige ganz gute Sänger darunter, die auch eine zweite Stimme konnten.

Und jetzt hingen sie im Ölrock und Südwester in den Wanten und standen auf den Reihen, jeder auf seinem Platze wie es einstudiert worden war.

Und da plötzlich sauste es heran in der Atmosphäre, noch finsterer wurde es, noch mächtiger flammte es am Horizonte auf, die bleierne Glut aber verwandelte sich plötzlich in eine schier eisige Kälte.

Und da begannen dort oben mehr als 50 raue Seemannskehlen donnernd zu brüllen, und dennoch war es eine jauchzende Musik:


Und das war Olaf Trikvason,
Fuhr übers Nordmeer hin,
Zu suchen sich ein Königreich —.


Und wie sie soweit sind, da plötzlich kracht und prasselt es vom Himmel herab, aus der schwarzen Wolke eine schneeweiße Wolke, haselnussgroße und noch größere Eisstücke — die dort oben lassen sich nicht beirren, die singen und brüllen weiter vom Olaf Trikvason und seiner germanischen Heldenschar — und da ein fürchterlich schmetternder Krach, eine Feuerschlange vom Himmel — und da plötzlich steht der große Holzhaufen in hellen Flammen — und ich stehe und starre und sehe plötzlich eine winterliche Eislandschaft, das ganze Schiff schon mit Eis überzogen, und dort oben in den Wanten und auf den Rahen die Wikinger, ihren Schlachtengesang brüllend.


Bis einer rief aus dem Volke:
Was erglänzt dort in schwarzer Wolke?


Schwer lehnte sich die Patronin auf meinen Arm, und sie presste ihn mit ihren feinen Fingerchen, dass es mich schmerzte.

»Georg — Georg — ist das nicht herrlich?!«

*

8. Kapitel

Die Gaukelei beginnt

Originalseiten 192 — 214

Der beste Weg nach dem Wrack war ausgekundschaftet worden, nicht der kürzeste, sondern es kam darauf an, die schmälsten Stellen der Kanäle zu finden, die mit Brettern überbrückt werden konnten — die Orgel befand sich an Bord der »Argos«, die 5000 Pfeifen wurden unter Hämmerleins Leitung von geschickten Händen montiert, in einer Weise, wie noch nie eine Orgel aufgebaut worden ist.

Die 5000 Pfeifen wurden allüberall im ganzen Schiffe verteilt, oben und unten in den drei Decks, hinten und vorn, die fast zehn Meter langen Bässe kamen richtig in die Ventilationsröhren hinein, von uns »Windtuten« genannt, aber auch überall wieder verteilt. Die Tastatur mit dem Registerwerk kam in die Kajüte, konnte auch beliebig anderswo aufgestellt werden, das Rotationsgebläse stand im Maschinenraum, die Windkästen wieder ganz anderswo, und das alles wurde durch Bleirohre, von denen wir ja genügend hatten, miteinander verbunden.

Was da noch herauskommen würde, wie da ein harmonischer Zusammenklang erzielt werden sollte, darauf war ich doch gespannt! Aber das kleine bucklige Männchen wusste schon, was es tat. Das kroch mit seiner Fiepe nicht umsonst im ganzen Schiffe herum, fiepte in jedes Loch und in jede Ecke hinein und lauschte dem Klange, dann die Pfeifen wieder anders verteilend.

Auch sein Clavicembalo war an Bord gebracht worden, das er mitgenommen, um sich auf der langen Seereise die Zeit zu vertreiben, um den Genuss der Meeresfahrt zu verdoppeln. Da, wie es ankam, wurde das Männchen einmal etwas mitteilsam, überhaupt zugänglich. Denn sonst hatte es absolut nichts weiter im Kopfe als seine Orgel und im Munde seine Fiepe, und wenn man ihm zum zehnten Male sagte, er möchte zum Essen kommen, dann lächelte er einen glückstrahlend und traumverloren an und flüsterte: »Ja, ja, ich weiß schon die Labialpfeifen des Salicionals müssen mehr nach dem Schnarrwerk kommen und mehr auf Quinte gestimmt werden.«

Das Clavicembalo hat genau dieselbe Mechanik wie das alte Spinett, von dem ich aber nicht erst anfangen will, nur hat es mehr Oktaven und für jeden Ton mehrere Saiten, die mit Rabenkielen gerissen werden. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde es völlig vom Pianoforte, wie es noch heute ist, verdrängt, hat ein Jahrhundert vergessen in der Rumpelkammer gestanden, jetzt beginnt man es wieder hervorzuholen und steht staunend vor dem Wunder, was diesem Instrumente von Meisterhand für Töne zu entlocken sind. Einbürgern wird es sich freilich nicht wieder, für den Familiengebrauch ist es nichts. Wie bei der Violine muss das Instrument jeden Tag gestimmt werden, nach jedem Stücke, aber da kommen einige hundert Saiten in Betracht, und wer soll denn das machen. Das bringt nur einer fertig, der das musikalische Gehör in den Fingerspitzen hat. In der königlichen Instrumentensammlung zu Berlin steht noch das Clavicembalo von Sebastian Bach, von — so haben mir Sachverständige berichtet — einer orchestralen Wirkung, von der man sich keine Vorstellung machen kann, wenn man es nicht gehört hat. Es ist ein so kostbares Instrument, dass man es fast glauben möchte, dass der ehemalige Kantor der Leipziger Thomasschule an kalten Tagen im Bett liegen blieb, weil er keine Kohlen zur Feuerung hatte. Nun, er hat eben gedarbt, um sich dieses Instrument anschaffen zu können.

»Zeigen Sie uns doch einmal Ihre ganze Technik!«, bat die Patrona Meister Hämmerlein, als er uns ein besonderes Stück auf dem Clavicembalo mit wunderbarer Geläufigkeit vorgespielt hatte. Was der nur überhaupt für Fingerchen hatte — wie aus Draht geflochten.

»Das kann ich nicht auf diesem Instrument. Aber auf dem Klavier.«

Im Salon der Patrona stand ein Stutzflügel. Das Klavier im Klubraum der Mannschaft war von Oskars Fäusten schon ganz abgetrommelt worden, der Stutzflügel dagegen war — meiner Ansicht nach, und ich habe ein sehr feines Ohr, obgleich ich keinen Ton richtig wiedergeben kann — ganz rein gestimmt.

Aber das kleine Männchen holte erst aus seiner Rocktasche einen Klavierstimmer, wie unsereins aus der Westentasche den Zigarrenabschneider, stimmte erst das ganze Klavier um, und dann spielte er uns etwas vor.

Himmeldonnerwetter noch einmal!! Von Händen war überhaupt nichts mehr zu sehen. Von uns verstand ja kein einziger etwas Richtiges vom Klavierspiel, von der Musik; von der Kunst, auch die Patrona nicht, mochte sie sich auch von Rubinstein eine Stunde für tausend Mark etwas haben vorspielen lassen — wir waren mehr Zuschauer als Zuhörer. Für uns genügte schon zur Bewunderung, dass der entweder gar keine Hände mehr oder gleich drei Dutzend auf den Tasten hatte.

»Solch eine fabelhafte Technik!«, rief die Patrona, als jener geendet hatte. »Sie müssen doch als Klaviervirtuose in jedem Konzertsaal auftreten können, anders habe ich es doch nicht von Anton Rubinstein gehört!«

»Wegen meiner Technik?«, lächelte er bescheiden, ich bemerkte aber in seinen Augen etwas wie gutmütigen Spott. »Die vollendetste Technik, für die es überhaupt gar keine Schwierigkeit mehr gibt, ist heute ganz selbstverständlich, ist Voraussetzung. Allein auf das Innere kommt es an, auf die Seele des Spiels.«

»Aber die haben Sie doch gewiss auch!«

Traumverloren blickte er vor sich hin auf die Tasten. »Ich hätte gar nicht die Kraft dazu, um öffentlich spielen zu können!«, entgegnete er dann ausweichend, mit leiser Stimme.

Ja, man soll nur einmal den Arm von solch einem Klaviervirtuosen anfassen! Und statt Finger haben sie Nervenbündel, eben wie aus Draht zusammengeflochten. So ist aber der ganze Arm.

Und unser Schiff sollte noch viel musikalischer werden, wir alle selbst mit.

Die Firma Godfroy in Amsterdam baut nicht nur Orgeln, auch alle anderen Instrumente, hatte gleichzeitig eine große Sendung nach Quito gemacht, hauptsächlich Blech- und sonstige Blasinstrumente, aber auch Violinen und dergleichen, auch einige Leierkästen waren dabei.

Hämmerlein wusste natürlich darum, hatte uns aber noch gar nichts davon gesagt, eine geöffnete Kiste enthielt keine Orgelbestandteile, sondern Blechinstrumente, oben drauf lag eine Posaune.

»Aaaah, eine Saupone!«, frohlockte Oskar, gleich danach greifend, machte schnell ein Bändsel dran, hing sie sich um, kletterte die Wante hinauf, von einer Rahe zur anderen, höher und immer höher, bis zur Skyrahe hinauf, setzte sich und fing dort oben im Himmel zu blasen an: Im tiefen Keller sitz ich hier —.

»Ach«, sagte die Patrona zu Hämmerlein als sie von der Instrumentensendung hörte, »wenn wir hier ein Orchester zusammenbringen könnten!«

»Warum denn nicht?«, meinte Hämmerlein. »Instrumente sind genug da.«

»Ja das will aber doch gelernt sein, dazu gehört doch musikalische Begabung —«

»Ach wo! Jeder bläst so gut wie er kann. Das muss nur arrangiert werden. In einer Woche will ich ein Blasorchester geschaffen haben, das sich überall hören lassen kann. Natürlich nicht in einem Konzertsaal; aber sonst soll das tadellos klingen. Nur müssen sie auf meinen Takt passen, weiter ist nichts nötig.«

Und wieder ging's los!

Die zweite herbeigeschaffte Kiste enthielt eine große Pauke. Wie die August der Starke erblickte, geriet er ganz aus dem Häuschen.

»Mir die große Pauke, die große Pauke gehört mir!«

Aber die bekam er nicht. Der hätte sie doch nur kaputt gemacht, sie gleich eingehauen. Nachdem er sich in diese Abweisung gefügt hatte, wenn auch blutenden Herzens, begehrte er die Pikkoloflöte. Zwischen der großen Pauke und der Pikkoloflöte ist ja nun allerdings ein kleiner Unterschied, aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich, er bekam das winzige Pfeifchen in seine ungeheuren Pfoten gedrückt. Doch wiederum war es nichts, er konnte sie unmöglich spielen — weil er mit jedem seiner unförmlichen Bratwurstfinger immer gleich drei Löcher auf einmal bedeckte.

Dann wählte sich August unter den anderen Instrumenten das mächtigste aus, das Helikon — die runde Posaune, kreisförmig gebogen, die man sich über Brust und Rücken hängt. Schade nur, dass er wiederum eine falsche Wahl getroffen hatte, weil er das Ding gar nicht über seine Schultern brachte, und wie er mit den Füßen anfangen wollte, brachte er es erst recht nicht über den Bauch.

Nun, so blieb August der Starke eben bei der einfachen Posaune, die passte auch am besten für ihn.

Die große Pauke war überhaupt ein heiß umstrittenes Instrument, jeder wollte sie haben. Da aber trat ich einmal als Waffenmeister mit unumschränkter Vollmacht auf: die große Pauke gehörte mir!! Die Leierkasten und die Pauke, das waren nämlich die beiden einzigen Instrumente denen ich reine Töne zu entlocken vermochte. Aber ich konnte bei dem Blasorchester doch nicht den Leierkasten drehen. Also hielt ich's mit der Pauke.

Es wurde dann noch eine zweite große Pauke gefunden. Nach der griff schnell Mister Tabak, ehe ein anderer danach greifen konnte. Für ihn hatte die Pauke nämlich den Vorzug, dass er dabei die Tabakspfeife zwischen den Zähnen halten konnte, was bei einem Blasinstrumente doch nicht gut angängig war.

Und die musikalische Ausbildung begann unter Hämmerleins Leitung.

O weh, war das ein Getute!

Es war sehr, sehr gut, dass wir uns im Feuerlande befanden, wo auf die Quadratmeile noch kein ganzer Einwohner kommt.

In unsere Bucht kam eine Herde Walrosse herein. Alle diese Robben haben zweifellos ein wirklich musikalisches Gehör, sie lieben Musik. Wenn auf den Dampfern, die Vergnügungsreisen nach dem Norden machen, die Bordkapelle spielt, und es sind Seehunde in der Nähe, dann kommen die sicher heran und lauschen mit leuchtenden Augen. Die Robbenschläger locken sie mit melodischem Glockengeläute heran.

Aber diese Walrosse hier, als die uns blasen hörten, die machten schleunigst wieder kehrt, machten dass sie wieder ins einsame Meer hinauskamen.

Ja und doch es wurde etwas daraus! Von Tag zu Tag merkte man mehr, dass das 60 Mann starke Orchester sich bemühte, eine Melodie zu spielen, dass nicht nur jeder blies, wie es ihm gerade so zu blasen beliebte.

Und da merkte ich erst, was der Kapellmeister überhaupt zu bedeuten hat! Bisher hatte ich immer geglaubt, der Kapellmeister haue mit dem Taktstock nur so zu seinem Vergnügen in der Luft herum. Nein, dem ist durchaus nicht so! Das war ja ganz wunderbar, wie das kleine bucklige Männchen das alles zu arrangieren verstand, wie es in das schreckliche Tohuwabohu immer mehr eine taktmäßige Melodie zu bringen wusste!

Und was hatte er für einen schweren Stand! Hans Leichtfuß zum Beispiel, sonst doch ein ganz intelligenter Bengel — aber wenn's ans Konzertieren ging — der ging drauf wie Vater Blücher! Wenn wir beim zehnten Takte waren, war der mit seiner Klarinette schon drei Takte voraus, und wenn wir erst in der Mitte des Volksliedes waren, war der schon längst fertig.

Hingegen wiederum Max, der Matrose, dem der Klapperstorch die rechte große Zehe abgebissen hatte, der war mit seiner Trompete immer gleich von Anfang an ein paar Takte hinterher, und dieser Abstand wurde immer größer.

Also zum Beispiel, wir spielten das schöne Lied: Guter Mond, Du gehst so stille, durch die Abendwolken hin. Jetzt bliesen wir alle mit heiliger Andacht: so sti— i—ille. Da merkte Max, dass wir schon angefangen hatten, und nun legte auch er mit seiner Trompete los: Guuuuter Moooond — — Hans hingegen schwabbelte mit seiner Klarinette bereits in den Abendwolken herum.

Überhaupt, der einzige, der wirklich richtig und schön spielen konnte, das war Ich! Weiter als bis vier braucht man ja bei der ganzen Geschichte gar nicht zu zählen, ich passte gut auf, und wenn es soweit war, dann gab ich meiner Pauke allemal einen Klaps.

Nur durfte ich dabei August den Starken nicht ansehen, sonst konnte ich vor Lachen nicht zählen. Himmel, wie der beim Blasen seine Pausbacken aufblähte, was der für einen Kehlsack bekam — überhaupt, mit welcher Inbrunst der seine Posaune blies! Und wie der Fettkloß dabei schwitzte! Und aller fünf Minuten fing seine Posaune ganz seltsam zu gurgeln und zu glucksen an, dann musste er sie ausgießen, und — Himmel Herrgott, was da allemal für ein Wasserschwall herauskam!

Auch Mister Tabak hatte ja eine große Pauke, bis vier zählen konnte der doch auch, also hätte er doch auch so gut spielen können wie ich.

Aber Gott bewahre, nicht dran zu denken! Der ließ sich doch von keinem Menschen Vorschriften machen. Der paukte los, wann es ihm gerade passte. Immerhin, ordnungsliebend war er. Wenn er zum Beispiel einmal seine Pfeife frisch gestopft hatte, wodurch er viele Paukenschläge versäumt, das holte er dann schnell wieder nach.

Auch gesungen wurde, ein Männerchor gebildet. Und wieder merkte ich, dass der Kapellmeister doch die Hauptsache ist. Wenn nur die Stimmbänder nicht defekt sind, wenn nur die Stimmritze genügend fiebt. Wunderbar war es, wie das Männchen uns zu dressieren verstand! Ich hatte noch gar nicht gewusst, dass ich überhaupt singen konnte. Über ein Blöken war ich bisher noch nie hinausgekommen. Mit einem Male ging es ganz famos. Nur durfte ich dabei den Doktor Isidor nicht anblicken, denn wie der beim Singen mit seinen großen Ohren wackelte, wie er sie lauschend nach den verschiedensten Richtungen herumklappte, das sah ganz merkwürdig aus.

Zwischen Blasen und Singen aber wurde fleißig geturnt und sonstiger Sport getrieben.

Doch da muss ich erst noch etwas anderes erwähnen. Nach jener schönen, windstillen Zeit hatte damals der Hagelsturm draußen die stille See in eine tobende Wasserwüste verwandelt, und starker Westwind herrschte jetzt immer, auch bei Sonnenschein, ließ die See sich nicht wieder beruhigen.

Hier in unserer Bucht freilich war das Wasser fast ganz glatt, nur ein wenig gekräuselt. Diese Bucht war zu gut geschützt, und wir konnten auch jederzeit hinaus, aber nicht wieder herein hätten wir können.

Der Unterschied war nämlich ungefähr der, als wenn man bequem auf dem Bauche liegt und nach einem galoppierenden Pferde zielt. Dessen Reiter wird man wohl schnell weggeputzt haben. Nun soll aber einmal der Reiter vom galoppierenden Pferde herab den liegenden Gegner treffen!

Ja, hinaus konnten wir mit dem Schiff. Innerhalb der Bucht einen Anlauf genommen, durch den Kanal gerutscht und draußen waren wir. Dann konnte das Schiff tanzen wie es wollte. Aber herein konnten wir nicht. Da konnte das tanzende Schiff das Loch nicht finden. Da wäre es unfehlbar in Trümmer gegangen, auch jedes Boot.

Andere Schiffe bekamen wir nicht zu sehen, die Fahrstraße lag weit, weit nördlich, hierher auf dieses gänzlich unbekannte Gebiet wagte sich ohne Grund niemand! Doch, da tauchte einmal ein Dampfer auf, kam näher, zeigte Flaggen, signalisierte.

Ob wir mit gebackenen Pflaumen oder sonstigem Dörrobst aushelfen könnten. O, das war eine schlimme Frage!

Auf dem englischen Dampfer war der Skorbut ausgebrochen, jene Krankheit, die mit der Entzündung dies Zahnfleisches anfängt, dann fault es, dann fallen die Zähne aus, dann geht es über den ganzen Körper her. Es ist eine Folge des ununterbrochenen Genusses von Salzfleisch und anderen Konserven. Die Natur lässt ihrer nicht spotten. Die will nicht, dass wir Tiere töten und deren Fleisch pökeln und einsalzen, Gemüse in Büchsen kochen. Das Trocknen von Fleisch und Gemüse erlaubt sie, das ist etwas anderes, so schützt sie unter Umständen selbst ihre Erzeugnisse vor dem Verderben. Aber Einpökeln und Einsalzen und Einkochen tut die Natur nicht.

Sobald man wieder frisches Fleisch und Gemüse hat, vor allen Dingen frisches Obst, ist der Skorbut, der sonst fast immer tödlich verläuft, behoben. Sonst ist das beste Mittel dagegen getrocknetes Obst, das gekocht wird. Wunderbar, wie das hilft. Am allerbesten ist Zitronensaft, aber von frischen Früchten muss er stammen. Ist er sterilisiert oder mit Salizyl vermischt oder sonst wie präpariert und präserviert, dann verschlimmert er nur das Übel. Da sieht man eben, was man von solchem Zeuge zu halten hat. Wir lassen uns täuschen, aber die Natur ist empfindlicher. Kartoffeln führen das Übel weder herbei, noch verhindern sie es, was wiederum für den Wert oder vielmehr den Unwert der Kartoffel spricht.

Gewiss, mit getrockneten Pflaumen und Äpfeln und Birnen konnten wir massenhaft aushelfen. Einige wasserdichte Säcke wurden gefüllt, vor allen Dingen aber noch mehr mit lebenden Hummern. Deren frisches Fleisch würde den Kranken schnell wieder auf die Strümpfe helfen. Wer aber nun glaubt, man brauche ja nur Fische zu fangen, um mit deren frischem Fleische den Skorbut zu bekämpfen, der soll nur einmal auf hoher See die Angel auswerfen. Da kann er aber lange warten, ehe er einen Fisch dran bekommt. Die Fischer gehen doch nur dorthin, wo es wirklich Fische gibt, so haufenweise, dass sie heiß-hungrig nach jedem Köder beißen. Von der Netzfischerei wollen wir gar nicht erst sprechen.

Die Jolle mit sechs Ruderern war klar. Als Waffenmeister konnte ich mir die Führung nicht nehmen lassen, hier lag etwas Besonderes vor. Ich sagte aber auch gleich, dass ich das Boot nicht heil zurückbringen könnte, und das wussten alle anderen auch. Das musste der englische Dampfer später bezahlen, wenn es gefordert wurde.

Ehe wir abgingen, kam der erste Maschinist mit Zeugsack und Kleiderkiste. Er hatte mit der Patrona gesprochen, war auf seinen Wunsch abgemustert worden, wollte auf den Dampfer, der direkt nach London ging.

Gut, wir nahmen ihn mit. In die Riemen gelegt und durch den Kanal geschossen. Dann ging der Tanz los. Nun, wir kämpften uns durch, stoppten in vorsichtiger Entfernung vor dem wütend um sich schlagenden Dampfer ab.

Dabei aber darf man nicht etwa an Sturm und Graus denken. Es war das sonnigste Sommerwetter, heute wieder einmal ganz windstill. Aber es gehörte eine ganze windstille Woche dazu, um die einmal aufgewühlte See in dieser Gegend wieder zu beruhigen.

Noch ehe sich die anschickten, uns eine Leine zuzuwerfen, flog schon von uns eine stumpfe Harpune hinüber, die eine Leine aufrollte, mit unfehlbarer Sicherheit geschleudert. Denn auch Mister Tabak war mitgekommen, eben für diesen Zweck, damit wir nicht ein halbes Dutzend Mal zu werfen hatten, was gewöhnlich der Fall ist.

An dieser unserer dünnen Leine zogen wir ein stärkeres Seil vom Schiffe herüber, an diesem wurde ein Sack nach dem anderen hinüber befördert, natürlich immer durchs Wasser, dann des Maschinisten Zeugsack, dann seine Kiste, die zwar knackte, aber glücklich hinaufkam, dann bekam er selbst eine Schlinge unter den Armen umgelegt.

Ich hielt ihm die Hand hin.

»Na da machen Sie's gut, Herr Ingenieur.«

Er nahm meine Hand, sagte freundliche, biedere Worte, zwischen uns sei doch alles kavaliersmäßig erledigt worden, es läge doch gar nichts vor, nannte mich Kamerad.

Aber es wäre mir lieber gewesen, er hätte meine Hand nicht genommen, hätte mir gleich den Rücken gedreht; denn ich las in seinen Augen, dass es ihm nicht von Herzen kam, dass er mit falscher Zunge sprach.

Na meinetwegen.

Er wurde durchs Wasser geholt. Es sieht gefährlicher aus als es ist. Wer es noch nicht gesehen hat, dem freilich würden ja die Haare zu Berge stehen, besonders wenn er selbst diese Prozedur durchmachen soll. Der Lotse geht unter Umständen täglich mehrmals so an Bord, zwischen Schiff und Lotsenschoner hin und her, und das ist gewöhnlich ein Greis, und als Seemann von altem Schrot und Korn kann er nie schwimmen. Es hat ja hierbei auch keinen Zweck, das stimmt. Aber zu sagen, dass die geborenen Seeleute wasserscheu wären, das ist natürlich ein Unsinn.


Illustration

Kalthoff, der an der Leine befestigt war, wurde vom Dampfer
aus durch das Wasser gezogen und kam glücklich an Bord an.


Kalthoff kam glücklich an Bord, wir pullten zurück.

Zu versuchen, durch den Kanal wieder in die Bucht zu kommen, oder vielmehr in diesem das Boot zu opfern, darauf verzichtete ich von vornherein, und ich ärgerte mich, dass mich der Eskimo erst hierüber belehren wollte. Das Boot war so wie so futsch, meine Aufgabe konnte nur darin bestehen, möglichst wenig oder womöglich gar keine Menschenknochen zu zerbrechen, und am Eingange des Kanals starrte es von Klippen und Riffen, da wären wir alle zerschmettert worden.

Also ich steuerte um die Landzunge herum, erspähte die günstigste Stelle, ließ das Boot von einer Woge an Land tragen. Es zerschmetterte in seinen einzelnen Planken, ein Matrose verlor zwei Backzähne, einer verstauchte sich die Hand, sonst nur ein paar Hautabschürfungen, nichts weiter.

Das war geschehen in der Magellanstraße an einem schönen, windstillen Sommertage, und Kapitän Martin verstieg sich dazu, seine Hand aus der Hosentasche zu nehmen, um die meine zu schütteln und mir ein Kompliment zu sagen. Nun kann man sich ungefähr denken, wie es sonst dort aussieht. Dass unser ganzes Schiff in solch eine Bucht hatte einlaufen können, das war einmal die allergrößte Ausnahme gewesen. Aber das hätte ich doch nicht vorher erklären können. Und nun spreche man nicht etwa von einem Motorboot. Das hat man doch längst nicht so in der Gewalt, wie ein Ruderboot. —

Also zwischen Blaserei und Singerei wurde eifrig geturnt. Immer noch übte jede Farbe für sich, täglich aber kämpfte einmal Grün gegen Rot, in jedem Zweige des Sportes.

Die Silbersachen wanderten aus einem Schrank in den anderen, immer hin und her. Nur mein Haifischspazierstock, die Prämie für den Hochsprung, war für die rote Partei, der ich angehörte, ein für allemal verloren, das war ganz klar.

Ich war unterdessen von 123 Zentimeter auf 143 gekommen, Peter, der Heizer, übersprang mich noch weit — aber mit den Grünen war im Hochsprung überhaupt nicht mehr zu konkurrieren.

Dass Hans Leichtfuß seinen Namen noch bewahrheiten würde, das hatte ich ja gleich prophezeit. Aber dass er jetzt schon 170 sprang und sich täglich immer noch verbesserte, das hätte ich nicht erwartet. Und nicht nur der, sondern überhaupt alle Grünen sprangen so ausgezeichnet. Selbst August der Starke, dieser Fettklumpen, schien Federn in seine Elefantenbeine bekommen zu haben.

Kurz und gut, es war ein Rätsel dabei. Mit rechten Dingen konnte das nämlich nicht zugehen. Die Überflügelung war so plötzlich gekommen. Bis vor kurzem noch hatten wir Roten genau so gut gesprungen wie die Grünen, plötzlich aber, gleich nach dem Termin, nachdem wir das Wrack gefunden hatten, sprangen sie uns über die Köpfe weg. Und dann verbesserten sie sich mit einem Male auch so mächtig im Weitsprung. Am auffallendsten aber war es beim Hochsprung Die hatten ihr Geheimnis. Das war schon daraus ersichtlich, dass sie ihren Übungsplatz hinter die Hügel verlegt hatten, dem sich keiner der Gegenpartei nähern durfte, sie stellten Wachen aus. An Bord übten sie niemals mehr, wenigstens nicht Springen, bei schlechtem Wetter setzten sie diese Übungen ganz aus. Die hatten dort hinten ihre Heimlichkeiten.

Ja aber was denn nur für welche? Was kann es denn beim Springen für ein Geheimnis geben? Zauberei? Die ganze Zauberei kann doch nur darin bestehen, dass man durch Übung die Springmuskeln stählt, die Beine möglichst hoch anzieht.

Nein, es gibt auch noch etwas anderes dabei. Für jede Sache scheint es ein Ei des Kolumbus zu geben, für jede! Es muss nur gefunden werden.

Ich will erst etwas anderes erwähnen, ein Beispiel, dessen sich viele Leser, die sich für so etwas interessieren, entsinnen werden.

Es muss Anfang der neunziger Jahre gewesen sein, als die Boote des Leipziger Rudervereins in Hamburg bei der Frühjahrsregatta sämtliche Preise gewannen. Sämtliche! Es war nichts gegen sie zu machen. Ob Zwölfer oder Einskuller — er sauste dem Gegner an der Nase vorbei.

Man stand vor einem Rätsel. Wie kommen denn die Leipziger dazu! Die auf ihrer Pleiße und Elster!

Das Geheimnis wurde verraten. Die Leipziger hatten den ganzen Winter hindurch im Sophienbad, einer geschlossenen Schwimmhalle, jeden Abend stundenlang trainiert. Das betreffende Boot wurde in dem Wasserbassin festgeschraubt, man ruderte mit durchbrochenen Riemenblättern. Also ohne vorwärts zu kommen, das Wasser ging durch die Riemenblätter hindurch. Aber der Widerstand war doch noch immer viel stärker als beim wirklichen Pullen. Infolgedessen rissen dann im Frühjahr die Boote der Leipziger allen anderen aus.

Höchst einfach, nicht wahr? Ja, es ist eben die alte Geschichte mit dem Ei des Kolumbus. Trainierapparate hatte es ja schon immer gegeben, hauptsächlich mit Gummizügen, die das Rudern ersetzen sollen, aber das ist kein richtiger Ersatz. Die Leipziger hatten den ganzen Winter hindurch wirklich gerudert, unter erschwerten Umständen Heute wird das von jedem Ruderverein so gehandhabt, nun ist der Unterschied wieder ausgeglichen, bis jemand wieder auf eine andere Idee kommt.

Fritz, der Mondgucker, spekulierte es endlich aus.

»Sie springen mit Bleisohlen in den Schuhen.«

Da war das Geheimnis enträtselt. Hans war auf die Idee gekommen. Sie hämmerten Bleirohre zu Platten aus, legten diese in ihre Segeltuchschuhe, so wurde geübt, und immer schwerer und schwerer machten sie ihre Füße. Im Wettkampfe gegen uns sprangen sie natürlich unbeschwert. Und da schienen sie Flügel an den Füßen zu haben.

Nun wurde dieses Rezept natürlich auch von uns Roten gebraucht. Man probiere es einmal, was das für einen Erfolg hat! Natürlich darf es nicht übertrieben werden, die Vernunft muss immer dirigieren. Nun aber blieb es nicht nur beim Springen mit Bleigewichten. Wir turnten mit Bleichgewichten. Wir schwammen mit Bleigewichten. Wir legten um die Bootsriemen Bleiringe, immer mehr und immer dickere.

Es sind an sich schon gewaltige Dinger, diese fünf Meter langen Kutterriemen, es gehört ein starker Arm dazu, um sie zu dirigieren, besonders so, wie es in der Kriegsmarine verlangt wird. Wenn da ein Dutzend Mal hintereinander das Kommando kommt »hoch die Riemen!«, da ist schon manchem riesenstarken Kerl vor Verzweiflung das Wasser in die Augen getreten. Da fühlt man nämlich, dass es nicht allein auf die Körperkraft ankommt. Der Bootsmann ist vielleicht nur ein kleiner, hagerer, unscheinbarer Mann, und der drückt den Riemen spielend mit einer Hand hoch, hundertmal hintereinander. Aber da jucken einem dann die Handgelenke!

So machten wir uns das Leben so schwer als möglich. Wenn wir aber nun einmal die Bleiringe abnahmen, dann verwandelten sich die mächtigen Riemen in unseren Händen in leichte Gerten.

Aber es blieb nicht allein bei Bleigewichten. Von jetzt an grübelte jeder darüber nach, wie wir uns das Leben möglichst versauern könnten. An den scharf zugeschnittenen Booten wurden vorn Platten befestigt, eben damit das Boot möglichst viel Widerstand fand. Und so bei allem und jedem, was ich nur noch durch ein Beispiel erläutern will.

Natürlich wurde auch kräftig Tau gezogen. Wenn zwei fremde Kriegsschiffe in einem fernen Hafen zusammenkommen, dann wird gewiss Tau gezogen, Mannschaft gegen Mannschaft, Nation gegen Nation, Flagge gegen Flagge. Aber auch die Mannschaft eines Handelsschiffes braucht nur die Herausforderung ergehen zu lassen, und alle anderen Besatzungen stellen sich, am Ufer tobt der lustige Kampf hin und her.

Erst begossen wir für das Tauziehen das Deck mit Wasser, dann schmierten wir es mit Seife ein, zuletzt auch das Tau. So, nun wollten wir Argonauten nach einigen Wochen einmal mit einer anderen Schiffsmannschaft Tau ziehen! Die Gegner konnten sich von uns ruhig die unscheinbarsten Gestalten aussuchen. Wir waren unserer Sache sicher.

So wurde auch das Fußballspiel gehandhabt, oder vielmehr gefußhabt, das, nachdem ich es einmal eingeführt, mit Leidenschaft betrieben wurde. Auch dazu wurde das Deck nach und nach immer mehr schlüpfrig gemacht, Masten und Winden genügten uns noch nicht als Hindernisse, immer raffiniertere wurden ausgedacht. —

Ja, wir versuchten uns das Leben so sauer als möglich zu machen.

Aber dabei schallte die Bucht von unserem Lachen und Jubeln wider.

Ach, war das damals ein Leben im Lande der trostlosen Verzweiflung!

Und immer und immer wieder etwas Neues ausgeheckt, alles Vorausgegangene noch weit überbietend.

Ich kann nur einige wenige Beispiele anführen. Ich tue es auch nur deshalb, um zu zeigen, wie sich der Charakter dies ganzen Schiffes nach und nach entwickelte.

Wir hatten also auch einige Leierkästen.

»Ich habe einmal einen Elefanten gesehen, der den Leierkasten drehte!«, sagte jemand.

»Señor Riata«, sagte darauf sofort die Patrona zum Peitschenmüller, »können Sie das nicht dem Lulu beibringen?«

»Na gewiss doch, warum denn nicht.«

Die Patronin wollte sonst ihre Tiere nicht dressiert haben, nicht zu Kunststückchen abgerichtet. Juba Riata musste sie nur sonst in Zucht halten.

Aber das hier war doch einmal eine Ausnahme.

Das war früh um zehn gewesen, als die Patronin an den ehemaligen Dompteur die Forderung gestellt hatte, Peitschenmüller begab sich mit dem Elefantenbaby sofort ins Zwischendeck — es führte ein Liftzug hinab in einen besonderen Raum, nach noch nicht dreiviertel Stunden kam er wieder zum Vorschein — Lulu drehte mit seinem Rüsselchen den Leierkasten.


Illustration

Das war nichts Besonderes. Eigentümlich aber war es, mit welcher Leidenschaft das Elefantenkind die Kurbel drehte, Lulu hörte gar nicht wieder auf, und wenn er entfernt werden sollte, fing er unglücklich zu quäken an. Und wenn er von jetzt an den Leierkasten erblickte, dann stürmte er voller Freude drauf zu und leierte mit unglaublicher Vehemenz los. Und dazu kam nun noch, dass Huckebein mit Lulu ganz besondere Freundschaft geschlossen hatte, gern auf seinem Rücken saß und sobald nun Lulu den Leierkasten zu drehen anfing, dann war auch mit unfehlbarer Sicherheit Huckebein zur Stelle, hopste auf den Rücken seines Freundes und begann auf diesem einwärts hin und her zu marschieren. »Ach herrjeeehses, nu wees Knebbchen, ach herrjeeehses.« Hörte Lulu einmal zu drehen auf, blieb auch der Rabe stumm sitzen. Sobald die Leierei wieder losging, begann auch der Rabe wieder schwatzend hin und her zu marschieren.

Nun war aber einmal das Eis gebrochen, nun kamen auch die Affen dran, von denen wir fünf Stück hatten, und wenn der Himmel wollte, so würden es demnächst sieben sein.

Es war ein großes Glockenspiel vorhanden, an dem sich mehrere Personen gleichzeitig betätigen konnten, und schon zwei Tage später produzierten sich die fünf Affen als Virtuosen auf dem Glockenspiel, klimperten einen ganz hübschen Marsch. Dass Siddy dazu durch Zeichen die Kommandos gab, merkte man gar nicht, höchstens dadurch, weil sie den Inder immer so aufmerksam anschauten, und was sie für Prügel bekommen hatten — denn ohne Prügel geht es doch bei Affen nicht ab — das verrieten sie dadurch, wie sie immer erschraken, wenn sie sich einmal unbedingt hatten kratzen müssen, wie sie dann die verloren gegangenen Takte schnell wieder nachholen. Denn Siddy war es, der sie vorführte. Dazu abgerichtet hatte sie allerdings Juba Riata, aber unter Assistenz des Inders. Mir war es auch sehr lieb, dass der edle Vaquero nicht den Kapellmeister der Affen spielte, das hätte ihm schlecht gestanden, und das fühlte er sicher selbst. Er hatte nur einen Wunsch der Patronin erfüllt, hatte gezeigt, dass er es könne.

Nun stelle man sich diese einzelnen Szenen in der Verteilung vor, mit dem sie begleitenden Spektakel im Lande der trostlosen Verzweiflung.

Dort am Waldessaum, aber noch in hörbarer Nähe, übten die Blechbläser unter Oskars Leitung: »Muss i denn, muss i denn zum Städtle hinaus.«

Dort an der Küste übten die Flötisten, spielten den Pariser Einzugsmarsch.

Und dort an der Bucht studierten vom Männerchor die zweiten Tenöre ihre Stimmen ein. »Ännchen von Tharau ist's, die mir gefällt.«

Nicht weit davon dirigierte Siddy das Glockenspiel der fünf Affen. »Zum tingeling, zum tingeling, zum tingelingelingeling.«

Und genau in der Mitte dieses Dreiecks stand Lulu und drehte mit seinem Rüsselchen mit unglaublicher Schnelligkeit den Leierkasten, das schnarrte nur so herab: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage.« — »Nu wees Knebbchen, ach herrjeeehses, nu wees Knebbchen!«, schwadronierte der auf dem Elefantenrücken hin und her marschierende Rabe.

Und schließlich rauschte über alles dieses hinweg unter Hämmerleins Händen gewaltig die Orgel.

Na, ein Jahrmarkt war nichts dagegen!

Und ich sah es schon kommen!

Ein Gauklerschiff war unsere »Argos« ja bereits. Das heißt insofern, als wir unversichert auf Abenteuer ausgingen, was dann eben der norddeutsche Kaufmann »Gaukelei« nennt, und das Schiff, das so etwas tut, ist ein Gauklerschiff.

Aber ich sah es schon kommen, dass unser Schiff diesen Namen bald auch noch in anderem Sinne verdienen würde!

Wir waren auf dem besten Wege, alle zusammen Gaukler zu werden, Seiltänzer!

Und wie ich das noch so denke, da bemerke ich, dass es nur vier Affen sind, die sich an dem Glockenspiel betätigen, und dass es nicht Siddy ist, der sie dirigiert, sondern Meister Kännchen, der Chinese, unser Koch, früher Zahnkünstler, überhaupt ein Gaukler von Profession — und wie ich noch darüber nachsinne, weshalb das Meister Kännchen ist und weshalb das nur vier Affen sind, da höre ich hinter mir eine ganz seltsame Musik, und wie ich mich umdrehe, da kommt Simson anmarschiert, der schwarze Riese, schlägt die große Pauke, und auf seinen Schultern sitzt Siddy, bläst eine endlos lange, Flöte, spielt sie vierhändig, nimmt nämlich auch seine Füße zur Hilfe — und auf Siddys Schultern wiederum sitzt ein Affe und schlägt dazu das Becken, dessen einer Teil auf Siddys Kopf befestigt ist.

Und wie dieses zusammengewachsene Trio noch stolz und freudestrahlend und frohlockend vorbeimarschiert, da kommen die Patronin und Señor Juba Riata anspaziert, und ich höre sie zu ihm sagen:

Können Sie auch einem großen Hunde beibringen, dass er vorwärts und rückwärts Saltomortales schlägt?«

»O gewiss. Das kann man sogar einem Bären beibringen.«

Na da gute Nacht!

Ich begab mich in meine Kabine und suchte meine Befriedigung in einem geistigen, edlen Genusse.

Ich dichtete.

Und was dichtete ich?

»Kling-Klang-Klung, der Schrecken des gelben Meeres, oder der blutige Popanz in der Kleiderkiste.«

*

9. Kapitel

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht!«

Originalseiten 215 — 223

Nur ein ganz kleines Kapitelchen, nur eine ganz kleine Episode, die aber für uns später noch von höchster Bedeutung werden sollte. Hämmerlein hatte, wie täglich, wieder den ganzen Männerchor vorgenommen, paukte ihnen »Ännchen von Tharau« ein.

Es war geradezu rührend, mit welcher Geduld und Sanftmut dieses Männchen alle die falschen Töne einschluckte.

Nur in einem einzigen Falle konnte unser Dirigent die Geduld verlieren, sogar böse werden. Wenn jemand zu tremulieren anfing, so hinten in der Kehle zu trillern.

So war es auch heute. Diesmal war Albert der Sünder. Der Matrose Albert war ein junger, stiller, besonnener Mensch. Ein tüchtiger Matrose, kein Spielverderber, aber sonst auszeichnen tat er sich durch nichts, höchstens dadurch, dass er absolut kein Hochdeutsch sprechen konnte. Nicht einmal nachsprechen konnte er es, er musste es sich erst in sein Platt übersetzen. Und zwar in sein eigenes Platt. Er war ein geborener Bremerhavener oder vielmehr Geestemünder, hatte sich aber sein eigenes Platt zugelegt. Zwischen Emden und Memel werden doch eine ganze Masse platte Mundarten gesprochen. Sie ähneln sich wohl, sind aber doch wieder grundverschieden. Albert sagte wie der Memeler »dü« anstatt »du«, oder vielmehr »ei dü«, sch sprach er wie der Ostfriese wie sk aus — Mensk, skon, skwimmen, friske Fiske« — und ch konnte er überhaupt nicht aussprechen, er schaltete dafür stets ein k ein.

Dass er besonders gut singen konnte, davon hatten wir noch nichts bemerkt. Erst jetzt. Immer mehr machte er sich mit seinem Tenor heraus.

Wie Albert nun jetzt solo einen hohen Ton zu singen hatte, da legte er so einmal seine ganze Kraft und seine ganze Seele hinein, schmetterte wie ein Kanarienvogel los, hörte gar nicht wieder damit aus, trillerte weiter und weiter, ganz in Seligkeit versunken.

Und wahrhaftig, es klang schön! Für mein Ohr und für das der anderen, gar kein Zweifel!

Nur für das Ohr unseres Dirigenten nicht.

Hämmerlein brauste einmal auf, wie er es noch nie getan, machte eine Bewegung, als wolle er den Taktstock hinwerfen und darauf herumtrampeln.

»Zum Kuckuck noch einmal, so tremulieren Sie doch nur nicht!! Es kann jeder so falsch singen, wie er will, das schadet nichts, das will ich schon noch verdecken! Aber um Gottes willen nur nicht tremulieren, nicht trillern, nicht zittern! Sie verderben mir ja den ganzen Chor! Sobald das Tremulieren einmal eingerissen ist, kann ich aus dem ganzen Chor nichts mehr machen. Dann können Sie sich, meine Herren, als rollende Kanarienvögel hören lassen oder in einem Café chantant, aber nicht als — nicht als das, wozu ich Sie machen möchte. Also bitte, meine Herren, noch einmal von vorn.«

Sein Unmut war gleich wieder vorüber.

Seit dieser Zeit weiß ich und beobachte ich, dass mancher Sänger, der die prächtigste Stimme hat, von wirklichen Kunstkennern als hoffnungslos aufgegeben wird, weil er tremuliert. Es hat ihm an einem guten Lehrer gefehlt, er hat sich's angewöhnt und kann sich's niemals wieder abgewöhnen. Ich finde nichts dabei, aber es mag schon sein, dass das für ein feines Ohr entsetzlich ist. Bei einer Koloratursängerin ist das wieder etwas ganz anderes, die kann und muss tremulieren.

Die Übungsstunde war beendet, Hämmerlein trat auf Albert zu.

»Bitte, wie war Ihr werter Name?«, fragte er schüchtern oder doch sehr bescheiden wie immer den Matrosen.

»Wie ik heete? Nu wie skall ik denn anners heeten? Albert dau ik heeten.«

»Darf ich Sie bitten, mir zu folgen? Ich möchte Sie gern einmal unter vier Augen sprechen.«

Äußerst misstrauisch blickte der hohe, schlanke Bursche, übrigens ein schöner Kerl, auf das kleine, verwachsene Männchen herab.

»Unner vär Oogen? O tjoo!«, lautete dann sein Bescheid, und er ging mit an Bord.

Das kleine Männchen wollte Albert wegen seines Tremulierens doch nicht etwa vertobacken?

Das heißt, da kam er bei Albert an den Unrechten. Der schlug eine gute Nummer, so still er auch sonst war. So scherzten wir hin und her; denn es war doch natürlich nur Scherz.

Die Patronin suchte mich auf.

»Herr Waffenmeister, ich möchte Sie einmal unter vier Augen sprechen.«

Die mich auch unter vier Augen!

Na, ich hatte ein reines Gewissen, ich hatte nicht getrillert. Falsch gesungen, ja, massenhaft — aber das war ja erlaubt. Getrillert hatte ich nicht, weil ich's nicht konnte.

Ich folgte ihr. Sie führte mich in ihre Privatkajüte. Aber noch ehe sie die Tür geöffnet hatte, erschollen da drin Klavier- und auch Gesangstöne.

»Wer ist denn da drin?!«, staunte die Patronin.

Sie öffnete die Tür leise. Da sitzt an dem Stutzflügel Meister Hämmerlein und schlägt Töne an. Albert steht daneben und singt »laaaa«.

Es war ein starkes Stückchen! Das war hier nämlich das Heiligtum der Patronin! Und dieser schüchterne Mensch geht ohne zu fragen hinein und setzt sich ans Klavier.

Nun, wir beide waren doch nicht auf den Kopf gefallen, gerade wir waren diejenigen, die sofort begriffen, was hier vorlag.

Das schüchterne, bescheidene Männlein, das nichts als seine Kunst im Kopfe hatte, hatte auf dem Klavier Töne anschlagen wollen, das Klavier in unserem Klubhaus war dank Oskars Fäusten kaum noch zu gebrauchen, also nur der Stutzflügel kam in Betracht, der stand in der Patronin Heiligtum, das wusste Hämmerlein auch recht wohl — aber in diesem Augenblick sah er in seinem Geiste doch nur dieses Klavier, und da war er eben hierher — genachtwandelt, möchte man sagen. Und hätte das Klavier in der Patronin Schlafzimmer gestanden, so wäre er auch ohne Anklopfen hineingegangen, und die Patronin hätte ruhig im Bette liegen oder sich ankleiden können, der hätte gar nichts davon gemerkt.

Also Hämmerlein schlug verschiedene Töne an, Albert musste dazu »laaaa« singen.

Dann eine Pause. Wir wurden nicht bemerkt.

»Hm. Können Sie pfeifen?«

»Pf — pei— piepen? O tjoo!«

»Bitte, pfeifen Sie doch einmal die Töne die ich anschlage.«

Es geschah. Albert pfiff wie eine Lokomotive.

Wieder eine längere Pause. Gedankenvoll schaute das Meisterlein auf die Tasten herab.

»Hm. Ich möchte einmal einige Worte von Ihnen hören. Passen Sie auf, ich werde Ihnen einen kleinen Vers vorsingen. Ohne Klavierbegleitung. Sie singen mir die Worte sofort nach. Also passen Sie auf: Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam, wie die Nacht.«

Mit grenzenlosem Staunen blickten wir uns beide an, die Patronin und ich.

Bombenelement, hatte dieses kleine, bucklige Männchen eine Stimme!!

Nicht etwa gewaltig.

Im Gegenteil, ganz zart und leise hatte er es gesungen. Aber auch wie silbernes Glockengeläute anzuhören! Wirklich, es hatte genau geklungen, als wenn silberne Glöckchen angeschlagen würden.

Und gleich dahinter her erklang Alberts kräftiger Tenor:

»Düüü büüüühst mien Leif, so scheun un skwiegsam, wie deee Nackt!«

Er hatte es sehr schön gesungen. Aber nun nach den glockenreinen Worten dieses Platt — es war einfach von überwältigender Komik!

Doch wir platzten nicht heraus. Wir brauchten nur auf das kleine Männchen zu sehen, wie das so ernsthaft vor dem Klavier saß, und uns verging das Lachen. Weshalb, das ist nicht zu erklären. Sein tiefer, heiliger Ernst war es, der ansteckte, stärker wirkend, als die Komik, so etwas wie Komik nicht in seiner Nähe duldend!

»Hm. Ja Ich möchte Sie ausbilden. Ich kann Sie zum ersten Tenor bringen. Ich glaube, ich kann aus Ihnen etwas machen. Sie dürfen aber nicht mehr Bruststimme singen, nur noch mit dem Kehlkopf. Das müssen Sie erst lernen. Dann drücke ich die Stimme wieder aus dem Kehlkopf in die Brust hinab. Soll ich?«

Albert war durchaus kein dämlicher Junge, aber wenn er jetzt ein überaus dämliches Gesicht machte, und ein misstrauisches dazu, das war begreiflich. Der dachte doch, der kleine Mann wolle ihn vivisezieren.

»Soll ich Sie ausbilden? Wollen Sie?«

Nein, fürchten tat sich Albert nicht.

»O tjoo, minetswagen. Mutt ik da väl Kreid fräten und Oil supen?«

Jetzt dachten wir, würde sich das kleine Männchen wenigstens ein Lächeln verbeißen. Aber es geschah nicht.

»Nein, solche Mittel gibt es gar nicht. Ich gebe Ihnen täglich einige Stunden Unterricht. Sonst dürfen Sie gar nicht mehr singen, nicht schreien, nicht einmal mehr laut sprechen. Und auch keine schwere Arbeit möchte ich Sie verrichten lassen. Sie müssen sich überhaupt ganz unter meine Kontrolle stellen. Dann, glaube ich, wie Sie veranlagt sind — in einem halben Jahre schon — doch das sind Zukunftsträume, denen man sich nicht hingeben darf.«

Die beiden verließen die Kajüte, ohne uns bemerkt zu haben.

Das war am späten Nachmittag gewesen.

Am Abend saß ich in meiner Kabine und dichtete am »Kling-Klang-Klung«. Ich musste ihn ja ganz neu bearbeiten, sozusagen noch einmal schöpfen. Dafür aber wurde er diesmal auch ganz fein, ganz genial! Und die Rollen schrieb ich jedem einzelnen Schauspieler direkt auf den Leib. Besonders August dem Starken. Auf dessen Bauch war ja auch genug Platz dazu vorhanden.

Aber heute wollte es mit meiner Arbeit gar nicht recht gehen.

Mir kam das silberne Glockengeläute nicht aus den Ohren.

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht!«

Fort und fort wiederholte ich diese Worte, diese bezaubernde Melodie, und was ich mit der Kehle nimmermehr gekonnt, das vermochte ich im Geiste vollkommen, da kam kein falscher Ton dazwischen.

Merkwürdig auch, dass ich gar nicht mehr an die komische plattdeutsche Wiederholung dachte.

Nur immer die silbernen Glockentöne, wunder-, wunderbar gesungen.

Aber ein anderes Bild wollte mir dabei immer auftauchen.

Ich wusste es mit Gewalt niederzudrücken.

Und wie ich noch so sinne und sinne und sinne, da erklingt es durch das offene Bullauge in einiger Entfernung draußen in der stillen Nacht:

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Eine Frauenstimme! Die Patronin!

Na ja, die brachte diese Melodie und diese Worte eben auch nicht wieder aus den Ohren heraus!

*

Seit dieser Zeit gehörte Albert nur noch halb zu uns Argonauten, oder gar nicht mehr.

Hämmerlein gab ihm täglich zwei Unterrichtsstunden, eine vormittags und eine nachmittags, sonst war Albert nur noch zu sehen, wenn er am Strande oder an Deck spazieren ging. Ein sehr stiller Mensch war er ja immer gewesen, jetzt änderte er sich aber noch mehr in recht eigentümlicher Weise, wurde geradezu menschenscheu.

So glaubten wenigstens die im Mannschaftslogis. Es war ja ganz anders. Es hatte nicht ausbleiben können, dass er gehänselt wurde, da half kein Verbot und keine Aufklärung und da war es am besten, wenn er sich gänzlich zu seinem Lehrer gesellte, der sich nun einmal ganz ihm gewidmet hatte. Die beiden bewohnten jetzt zusammen auch eine Kabine, aßen zusammen, die beiden allein.

Von der Singerei bekam man nicht viel zu hören. Die beiden hatten dazu ihren eigenen Raum im Zwischendeck, der dick ausgepolstert worden war, der Patronin Stutzflügel war hineingekommen.

Erlauschte man einmal etwas, dann war es nicht besonders schön, was man da zu hören bekam. Tonleitern und dann merkwürdige Töne, die geradezu unschön klangen.

»Jetzt habe ich's heraus, wie der dressiert wird!«, sagte Oskar einmal. »Hämmerlein macht's genau so wie wir. Der steckt Albert ein Bleirohr in die Luftröhre, damit er dann, wenn er kein Blei mehr im Halse hat, recht gut singen kann.«

Also wir hatten Albert als Kameraden durch die Singerei verloren. Schade um den braven Jungen!

So dachten wir! Aber gerade der sollte als ganzer Argonaut noch manchmal unser Retter werden! —

Noch eins will ich hier gleich erwähnen.

Ich fragte Hämmerlein einmal, aus welchem Liede denn jene Worte seien, die wir damals zufällig gehört hatten. Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.

»Aus gar keinem Liede!«, lautete die Antwort. »Ich weiß nicht, ob sie schon existieren. Ich kenne sie nicht. Ich brauchte einige Worte und eine Melodie, und da habe ich das so gemacht, wie es mir gerade einfiel.«

Merkwürdig! Wenigstens merkwürdig für mich! Dann hatte ich nur eine Frage.

»Komponieren Sie eigentlich?«

»Nein. Oder eigentlich ja.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich komponiere viel, aber ich vernichte alles sofort wieder.«

»Weshalb denn?«

»Wenn ich einmal etwas schaffen könnte, was kein Bach und kein Mozart und kein Beethoven hätte schaffen können, oder doch wenigstens etwas Ebenbürtiges — das würde ich bestehen lassen, sonst nichts.«

So sprach das Männchen.

O, wenn jeder so dächte — dann würde manches nicht komponiert und gedichtet und geschrieben worden sein.

*

10. Kapitel

Ilses Geburtstag

Originalseiten 223 — 245

Wir konnten doch nicht immer in dieser Bucht liegen bleiben. Sonst hätten wir doch kein Schiff gebraucht, die Patronin hätte es verkaufen können, wenn sie sich für immer hier ansiedeln wollte. Und so paradiesisch war diese Gegend auch gar nicht, noch viel öder als die Lüneburger Heide. Wenn man freilich nach sechswöchiger Seefahrt in die Lüneburger Heide segelt, da findet man sie ja paradiesisch, und so mag es auch jedem Städter gehen, jedem Naturhungrigen.

Dazu kam jetzt nun noch ein ewiger Weststurm, der einen den Aufenthalt im Freien ganz verleidete. Wenn man in die Höhe sprang, wurde man einige Schritte zurückgeschleudert.

Am 16. Januar war ich als Schiffbrüchiger an Bord der »Argos« gekommen, am 19. Februar schlüpften wir wieder durch den Kanal.

Wohin nun? Nun, immer dahin, wohin uns der Wind trieb. Nicht die schönsten Punkte der Erde mit Absicht aufsuchen, sondern sie zufällig finden. Und da findet man gewiss immer noch schönere, von denen niemand nichts weiß, als alle schon bekannten Wunder der Erde. Denn, ach, die Erde ist so unermesslich groß; und wir kennen noch so herzlich wenig davon!

So hätte ich's gehalten, wenn ich mein eigenes Schiff besaß und nicht auf Verdienst durch Fracht angewiesen war, und so dachte auch die Patronin, sie stimmte mir bei, als wir einmal darüber sprachen.

»Ist es denn aber recht«, sagte sie ferner bei dieser Gelegenheit, »so ganz zwecklos in der Welt herumzufahren? Sollte ich nicht mein Schiff zum Nutzen der Menschheit arbeiten lassen?«

»Ach larifari!«, war meine Antwort, nicht gerade sehr höflich, aber deutlich. »Ist es denn der Menschheit von so großem Nutzen, wenn sie ihr Kaffee und Tee zuführen, damit sie ihre Nerven ruinieren? Oder Tabak, damit sie die Luft verstänkern? Oder vielleicht Rum und Arrak? Oder gar Opium? Ja, Sie können der Menschheit auch Reis und Mais und Kohlen zuführen, gewiss, das ist sehr nützlich. Aber passen Sie auf, wie dann die anderen Reedereien über Sie schimpfen, weil Sie ihnen den Verdienst wegnehmen, wo Sie's gar nicht nötig haben. Es ist jetzt überhaupt eine faule Zeit, viele Schiffe liegen im Hafen ohne Fracht, viele Seemannsfamilien müssen darben. Nehmen Sie den armen Leuten doch nicht das Brot weg. Und soll sich denn kein reicher Mann mehr seinen Palast bauen können? Ist er etwa verpflichtet, für dieses Geld ein Kranken- und Waisenhaus zu bauen? Nein, Frau Neubert, solche Gedanken schlagen Sie sich ein für allemal aus dem Kopf! Wenn Sie der Menschheit einen Nutzen erweisen wollen, dann fangen Sie Haifische. Weil die andere Fische, die uns gut schmecken, ganz zwecklos fressen. Das heißt zwecklos nach unseren Ansichten! Der liebe Gott könnte Ihnen die Haifischjagd doch vielleicht sehr übel nehmen, Sie könnten der Natur doch einen großen Strich durch die Rechnung machen, wofür sie sich schon rächen wird. Denn ganz zwecklos sind die Haifische sicher nicht da.«

So sprach ich.

Und es war gut, dass es einmal so gekommen, dass dieses Thema einmal angeschnitten worden war, und dass ich so hatte sprechen können. Ich hatte diese Ansichten über die Welteinrichtung, über die Pflichten, die man der Menschheit schuldig ist, und so weiter, und so weiter, von meinem Vater von Kindesbeinen an eingebläut bekommen.

Und gut war es, dass die Patronin mir glaubte. Nun war diese Sache ein für allemal erledigt, sie kam nie wieder auf solche dumme Gedanken.

Denn wer sentimental veranlagt ist und auf solche Gedanken gerät, der bekommt vor lauter Sentimentalität die Schöpsdrehe. Jawohl, er dreht sich immer im Kreise, findet keinen Ausweg mehr aus seinem Dilemma.

Und doch hätte ich ihr einen Rat erteilen können, wie sie sich der Menschheit sehr, sehr nützlich machen konnte, und zwar durch eine höchst ritterliche Beschäftigung. Die mythischen Helden des klassischen Altertums, ein Herkules oder Achilles, befreiten die Welt von Ungeheuern, nur deshalb wurden sie später unter die Götter versetzt. Nicht, weil sie Wüsten in blühende Gefilde verwandelt hatten. Ungeheuer gibt es noch heute. Die Männer, meist Engländer, die sich ganz der Tiger- oder Löwenjagd gewidmet haben, das sind sehr, sehr nützliche Menschen. Denn ein Tiger oder Löwe, der bei einem Dorfe oder zwischen Nomaden haust, richtet jährlich für mindestens 6000 Mark Schaden an, das lässt sich genau berechnen, und zwar nach dortigen Fleischpreisen. Solche Sportsmen werden denn auch von den Eingeborenen wie die Götter verehrt.

Aber es gibt auch noch andere Ungeheuer. Zweibeinige. Von diesen konnten wir die Welt befreien, wir hatten die Mittel dazu.

Doch soweit waren wir noch nicht. Jetzt hatten wir erst einmal etwas anderes vor. Deshalb behielt ich meinen Plan noch ruhig für mich. Ich bin nicht so voreilig, ich kann warten.

Was wir wollten? Nun, ein Eliteschiff mit einer Elitemannschaft schaffen. Ein Schiff, von dem jeder einzelne Matrose zum Athleten ausgebildet ist. Oder, wollen wir sagen: Jede körperliche Fähigkeit, die er zum Schiffsdienst braucht, ist soweit wie möglich entwickelt. Und das war auch etwas sehr, sehr Nützliches, was wir da vorhatten. Es musste nur erst einmal ein Beispiel gegeben werden, dann würden wir schnell Nachahmer bekommen, Schule machen. Jawohl, Schule! Damals gab es wohl schon Schulschiffe der Kriegsmarine, aber noch kein Schulschiff für Seekadetten, die als Offiziere für die Handelsmarine ausgebildet werden, das ist erst vor ganz kurzem eingeführt, und die Lehrer für diese Offiziersaspiranten, die nur besseren Familien entstammen, oder begüterten, wollen wir sagen, müssen natürlich die allerbesten Matrosen sein. Und was tüchtige Matrosen zu bedeuten haben, das zeigt sich am besten dadurch, dass ein griechisches Schiff mit griechischer Besatzung für seine Versicherung und für die der Fracht eine fast dreimal so hohe Prämie zu zahlen hat, als ein deutsches Schiff mit deutscher Mannschaft.

Ja, ich hätte die schönste mir gebotene Karriere aufgegeben, um mich in den Dienst dieser Sache zu stellen, so phantastisch sie auch auf den ersten Blick erscheinen mochte. Es war ein Ideal — aber ein Ideal, das Hand und Fuß hatte.

Nur mussten wir, ehe wir Schule machen konnten, etwas leisten, mussten mit einem Male hervortreten und etwas zeigen, was die Welt noch nie gesehen hatte, denn die Welt will geblendet, will verblüfft werden, sonst geht es nicht!

Aber soweit waren wir noch lange nicht. Man kann doch nicht aus gewöhnlichen, das heißt normalen Menschen, aus Arbeitern, mögen es auch noch so kräftige und gewandte Burschen sein, in vier Wochen Athleten machen, die zu den olympischen Wettkämpfen antreten können. Auch in einem halben Jahre ist das noch nicht möglich. Dass Hans Leichtfuß schon über einen mittelgroßen Mann hopsen konnte, das hatte doch nichts zu sagen, das bringt jeder Zirkusclown fertig. Nein, die Argonauten in der Gesamtheit mussten es sein, welche die ganze Welt in Staunen setzten, sonst war nichts zu machen. —

Mit Westwind segelten wir zur Magellanstraße hinaus, und wenn wir dann nach Nordwesten hielten, so war das ganz richtig, durch das Parallelogramm der Kräfte wird der Wind von der Seite her besser ausgenützt, als wenn man direkt mit dem Winde segelt.

Ich überspringe fast 14 Tage. Die nötige Schiffsarbeit wurde verrichtet, es wurde geturnt und sonstiger Sport getrieben, die Leute begannen sich auch immer mehr für die Bibliothek zu interessieren. Auch von den vielen humoristischen Zwischenfällen will ich keinen einzigen erwähnen; denn an solchen fehlte es ja nicht, unabsichtlich passiert oder mit Absicht herbeigeführt. Die Stimmung, in der wir uns befanden — wie wir gebaut waren, möchte ich fast sagen — es konnte ja gar nicht anders sein. Ein dickes Witzbuch könnte ich über diese 14 Tage schreiben. Aber daran übersättigt man sich zu leicht, das heißt beim Lesen. Also lieber nicht.

Dann aber kam das große Ereignis, das ich ausführlich schildern muss. Ein Nichts für andere — für uns von allerhöchster Wichtigkeit.

»Ja, Ilse, da musst Du eben Segeltuchschuhe tragen!«, hörte ich die Patronin sagen.

»Weshalb denn?«, fragte ich.

»Alle ihre Stiefel und Lederschuhe sind ihr zu klein geworden, mit einem Zuwachs habe ich nicht gerechnet, zumal nicht mit so einem schnellen. Das Kind wächst ja sichtlich.«

»Na dann — mag sie Segeltuchschuhe tragen!«, sagte ich höchst geistreich.

Na dann machen wir ihr ein Paar Lederstiefel, hatte ich aber sagen wollen, es noch rechtzeitig unterdrückt.

Wir leben einander zuliebe! Und sie ist doch so schön, die heimliche Überraschung.

Ein Matrose muss viel können, mindestens alles das, was er braucht, muss er sich selbst machen, soweit es irgendwie möglich ist. Tabak kann er sich natürlich nicht selber machen. Ein Matrose, der bei der Anmusterung barfuß an Bord kommt, weil er seine Stiefel versoffen hat, na das will ich verzeihen; aber wenn er im nächsten Hafen noch keine Stiefel hat, dann habe ich keinen Respekt mehr vor ihm. Die muss er sich selbst machen können, mögen sie auch noch so unförmlich ausfallen, und hat er kein Leder, dann macht er sich selbst eine Lederimitation, teert Segeltuch, streut Kolophonium oder Eisenfeilspäne oder Kohlenstaub oder sonst was darauf, was trocknet und hart wird und sich polieren lässt, dann braucht er im Sommer nicht barfuß und im Winter nicht in Segeltuchschuhen an Land zu gehen.

War Leder an Bord? Ja, Leder für Ventildichtungen, zum Putzen und dergleichen. Das war nicht das richtige. Na ja, wenn es nicht anders gegangen wäre. Aber zum Beispiel der Bezug von meinem Sofa, das feinste Rindleder, vielleicht schon mehr Kalb, das war genau das richtige, was man für gutes Schuhwerk braucht.

Und wie ich noch sinnend mein Sofa betrachte, das ich zum Teil in ein Paar Kinderstiefel verwandeln wollte, ob ich nur ein Stück herausschneiden sollte oder gleich alles, durch was ich den Bezug dann ersetzen würde, da kam mir eine Idee.

Ein besonderer Schusterheld war ich nicht. Es würde Matrosen geben, die es viel besser verstanden. Welche? Welcher am besten? Das wusste vorläufig nur der allwissende Gott. Hatte ein jeder Matrose ein Paar Schuhe oder Stiefel gemacht, dann wusste auch ich es, ohne ein Gott zu sein.

Und es war ein so liebes, liebes Kind! Würde sich die kleine Ilse nicht mächtig freuen, würde sie vor Überraschung nicht auf den Rücken fallen, wenn sie —.

Vorwärts, den ganzen Lederbezug vom guten Sofa geruppt!

»Alles antreten zur Musterung in der Batterie!«

Sie traten an, die Grünen und die Roten, kauten gerade noch.

»Wer von Euch kann Lederstiefel machen?«

Nicht weniger als 25 Matrosen meldeten sich, wozu ich hierbei auch die Unteroffiziere rechne, also 25 von der Deckmannschaft, wozu noch zwei Heizer kamen, und der eine von diesen musste es auch können, weil es nämlich ein gelernter Fußbekleidungskünstler war.

»Wat for Stäbeln?«

»Für Ilse. Wasserstiefel oder Halbschuhe mit Knöpfen oder Schnüren oder Gummizug oder Tanzlackschuhe — — ganz egal, es fertige jeder seine Sorte, auf die er am besten geeicht ist, Verstanden?«

Verstanden hatten sie mich wohl, aber für 27 Paar Stiefel langte mein Sofabezug nicht. Na, erstens hatte ich noch ein zweites Kanapee mit ebensolchem Lederbezug, und dasselbe galt von den Kabinen der Steuerleute rund Maschinisten.

Her damit!

Ehe ich es verhindern konnte, lagen schon nicht weniger als acht Sofabezüge da. Na, hatte nichts zu sagen, wir verstanden doch so ein Ding wieder aufzupolstern. Aber ein Tapezierer und Möbelpolsterer oder auch ein Maurer und Zimmermann soll einmal auf einem glatten Deck einen 30 Meter hohen Mast aufrichten und einsetzen! Das will erst theoretisch auf der Schule studiert sein — und nachher geht's noch lange nicht. Aber das Wort »unmöglich« steht nicht im Schiffswörterbuch. Mit einer wahren Begeisterung, nein, mit einer wahren Berserkerwut gingen die 27 Mann an ihre Schusterei. »Für die Ilse! Für unsere Ilse! Für unser Kind!«, Denn »unser Kind« war die kleine Waise schon längst. Und nun außerdem konnte auch der Phantasieloseste, so zum Beispiel ich, sich vorstellen, was das für eine Überraschung geben würde, wenn das Kind plötzlich ganz unvermutet siebenundzwanzig Paar Stiefel in die Hand gedrückt bekam.

Natürlich musste erst Maß genommen werden. Es waren ja Segeltuchschuhe vorhanden, die noch passten, aber das war für diese Matrosen nichts, die mussten erst einmal den Fuß sehen, ihn wirklich messen, ehe sie ihn in Leder wickeln konnten, sonst waren sie sich ihrer Sache nicht sicher.

Nun, das konnte geschehen, als Ilse wieder einmal schlafend auf ihrem Lieblingsplätzchen, auf dem Bauche der Marchesse, der Königstigerin, lag. Und wie dieses Maßnehmen geschah, das war schon merkwürdig genug. Jeder musste es selbst tun, da traute keiner dem andern. Selbst ist der Mann! Der gelernte Schusterheizer war der einzige, der sich dabei eines Zollstockes bediente, die anderen maßen mit den Fingern, oder mit den Knöcheln, der wieder mit seiner Mütze, einer brauchte dazu unbedingt seinen eigenen Wasserstiefel, und einer musste sich dazu auf den Rücken legen und seinen Fuß an den des schlafenden Kindes halten.

Nun aber war sich auch jeder seiner Sache sicher, und nun ging es los.

Die Patronin musste ja etwas merken, tat aber, als merke sie nichts.

Dann jedoch besann sie sich, kam zu mir.

»Hören Sie, Herr Waffenmeister — Sie lassen wohl für Ilse ein Paar Schuhe machen, gleich einige Paar — ich will die Überraschung nicht etwa stören, sondern möchte sie noch verdoppeln — am 7. März hat Ilse ihren Geburtstag —«

Was, ihren Geburtstag? Und bis dahin noch fünf Tage Zeit!

Jetzt änderte sich die Sache noch. Wenn ich keine Phantasie habe, so weiß ich doch, was man da sonst noch machen kann. Zuerst muss ich mit Hammid sprechen, dem arabischen Zimmermann, der soviel auf seinen Beruf hielt, dass er sich sogar eines seiner Beine selbst aus Holz gezimmert hatte, vom Schenkel an.

Jawohl, der wollte für die 28 Paar Schuhe — denn ich selbst beteiligte mich an der Schusterei — ein feines Schränkchen liefern, mit feinen Glastüren.

»So sehr fein braucht es gar nicht zu sein«, sagte ich, »die Schnitzereien machen wir anderen, die nageln wir dann mit Goldstiftchen drauf.«

Jeder Matrose kann doch Kerbholz schnitzen.

Also am zweiten Tage schon begannen die meisten zu schnipseln, einige hatten zu ihrer Schusterei auch nur einen Tag gebraucht.

Was nun das gelieferte Schuhwerk anbetraf, von Kinderwasserstiefel an bis zum zierlichen Lackschuh, wirklich gelackt — na, da waren ja tüchtige Pflaumen darunter! Auch meine Halbschuhe, die ich geliefert hatte, die sahen auch nicht besonders elegant aus. Dagegen waren vier Paar vorhanden, mit denen sich die Arbeit des professionellen Schusters nicht im entferntesten messen konnte!

Aber alles wurde in den Schatten gestellt von dem Paar Halbstiefeln, die dann noch Mister Tabak brachte. Die denkbar feinste Arbeit, gelb gewichst, unten mit roten Knöpfchen besetzt, die sich dann aber als Muschelchen erwiesen, weiter oben mit blauen Schnürsenkeln, aber aus Seehunddarm, überhaupt das Ganze aus Seehundfell, wunderbar dünn geschabt, innen die Haare.

Wir hatten gar nicht gewusst, dass sich der Eskimo an der Konkurrenz beteiligt hatte. Aber wir sahen dann seine Werkstatt, die Abfälle.

Jedenfalls waren es ein Paar Stiefel, die — es sonst gar nicht in der Welt gibt. So ein Paar Stiefelchen bekommt keine Prinzessin vom Schuster geschenkt, der vom Papa König den Titel Hofschuhmachermeister ergattern möchte.

Nur einen kleinen Fehler hatten diese herrlichen Stiefelchen: sie stanken ganz entsetzlich nach angebranntem Fett und mehr noch nach Tabaksschmant.

Ja, sogar Doktor Isidor hatte ein Paar Schuhe gefertigt! Hatte sie allerdings nicht genäht, sondern gegossen. Nämlich Gummischuhe. Sehr hübsch.

Nun konnte es aber bald aufhören mit den Schuhen. Mehr als 30 Paar gingen in das Schränkchen nicht hinein; wenigstens wenn sie hübsch in Reih und Glied auf den Regalen stehen sollten.

»Braucht Ilse sonst noch etwas?«, fragte ich Siddy, der als Chefsteward ja gewissermaßen die Rolle der Kammerzofe spielte, und einen Weiberrock hatte der Inder ja auch gewöhnlich an.

Ob die sonst noch was brauchte? Ach, eine ganze Masse!

Erst jetzt erfuhr ich es, wie es so schlimm mit des Kindes Garderobe bestellt war. Die Ausrüstung musste sehr schnell geschehen sein, die Erfahrung hatte gefehlt, und das Kind war eben sehr gewachsen.

Nun, das hatte ich ja nicht wissen können. Aber erst jetzt erfuhr ich, dass die Patronin fortwährend für das Kind flickte und stopfte, Strümpfe waren überhaupt kaum noch vorhanden.

»Ja weshalb ist sie denn da nicht zu uns gekommen zu den Matrosen?!«

Ja weshalb nicht! Wenn sie vielleicht auch wusste, dass Matrosen doch all das können, so hatte sie ihnen eben solche Weiberarbeit nicht übergeben wollen, gerade deshalb nicht, weil es ihre eigenen Matrosen waren — ihre Argonauten, ihre Helden!

Jawohl, das können wir Matrosen, flicken, stricken, sticken. Aber nicht etwa, dass wir solche »Bastler« nur aus Langeweile sind. Wir können keine solche lumpigen Strümpfe tragen, mit der Maschine gestrickt, mag die Wolle auch noch so gut sein. Wir müssen darauf gefasst sein, dass wir die Seestiefel wochenlang nicht von den Füßen bekommen, und dann nach solch einer Periode soll man einmal das Resultat untersuchen. Dieser Unterschied zwischen Maschinenarbeit und Handstrickerei! Und so ist es mit allen Kleidungssachen. Wir können uns auf See doch nichts wieder anschaffen, auf Segelschiffreisen, die ein Jahr und länger dauern, will man im fremden Hafen nicht fabelhafte Preise zahlen. Und wir wissen am allerbesten, dass das Teuerste eigentlich das Billigste ist. So ein blaues Hemd kostet mindestens zehn Mark. Dadurch aber, weil man immer aufpasst, weil eben die Unterkleidung bei uns so eine überaus wichtige Rolle spielt, bekommt man auch eine ganz besondere Erfahrung. So ein Matrose will in einem Geschäft Hemden kaufen, es sollen garantiert reinwollene sein, der Matrose befühlt den Stoff zwischen den Fingern und sagt dem Verkäufer auf den Kopf zu, dass er entweder lügt oder sich selbst übers Ohr hat hauen lassen. Da ist so und so viel Prozent Baumwolle dazwischen. Deshalb kauft man sich lieber gutes Wollentuch und macht sich die Sachen selbst. Zeit genug hat man ja dazu.

Also losgeflickt und -gestrickt. Alles war vorhanden, Leinwand und verschiedene Stoffe und Seidenzeug. Das konnte uns Siddy aus dem Magazinraum verschaffen, so viel wir haben wollten, ohne dass die Patronin etwas wusste. Nur an Strickwolle hatte sie nicht gedacht. Nun, die hat jeder Matrose in seiner Kiste, wenn er nicht auch an Bord ein Lump ist. Und wie konnten die Jungens Strümpfe stricken, wenigstens einige von ihnen! Gleichzeitig drei verschiedene Garne auf acht Nadeln, bunte Muster hineingestrickt! Und die anderen machten Hemdchen und Höschen und Röckchen und Kleidchen. Und wir waren mehr als 60 Mann, lagen in Windstille, und bei täglich sechzehnstündiger Arbeitszeit lässt sich etwas fertig bringen, wenn dabei nicht zu viel geschlawwert wird. Man muss dabei die Luft anhalten, den komprimierten Dampf nicht zu viel oben zum Loche herauspfeifen lassen, sondern ihn in die Fingerspitzen dirigieren, dann fleckt's. Wenn man Brot schneidet, und man denkt daran, dass man Brot schneidet, dann wird man sich auch nie in den Finger schneiden.

Während dieser fünf Tage wurden die Musikübungen und Sportspiele ausgesetzt. Nur eines durfte nicht unterbrochen werden.

Ab und zu stand ein Mann unter der Back oder im Klubraum, wo geschneidert wurde, auf.

»Ich werde jetzt meinen Törn abmachen.«

Er begab sich in die Batterie, in den Turnsaal.

Wir wollen ihm einmal folgen, und er soll ausnahmsweise der einzige sein, der »seinen Törn« abmacht.

Die Batterie — die aber nicht etwa durch das ganze Schiff geht, sie nimmt noch nicht ganz die Hälfte ein — ist 42 Meter lang und ziemlich 12 Meter breit. Die Turngeräte sind weggestaut. An der einen Wand stehen in einer Stellage Bleirohre wie die Gewehre, daneben See- oder andere derbe Stiefel, darüber hängt ein Rucksack, immer über jedem Bleirohr. Ferner ist noch eine Dezimalwaage vorhanden, eine Federwaage für kleineres Gewicht, ein großer Holzkasten, ein Polyphone aus dem Orgelwrack stammend, darüber tickt eine Uhr.

Der Mann zieht seine leichten Schuhe aus — das Barfußgehen liebt die Patronin nicht, sie hat mir einmal einen Wink deswegen gegeben — zieht dafür die großen Stiefel an, die man jetzt nicht braucht. Wie ihm einer aus der Hand fällt, gibt es einen gewaltigen Plauz. Es sind Bleisohlen eingelegt. Dann nimmt der Mann das Bleirohr, über dem ein Täfelchen mit seinem Namen hängt, auch mit einem Register, in das schon viel eingetragen ist. Das Bleirohr ist an einem Ende zugequetscht, am anderen mit einem Holzpfropfen verschlossen, den zieht er heraus. Dann greift er in die Kiste, die kleingehacktes Blei enthält, wiegt davon auf der kleinen Waage hundert Gramm ab, die er in das Rohr füllt, es wieder verschließend.

Mit diesem Bleirohr macht er einige Minuten Übungen. Es ist nicht gerade ein Hantelstemmen. Mehr Gewehrübungen, aber doch auch wieder anders. Man merkt gleich, dass er genau nach Vorschrift übt, jeder Körperteil wird angestrengt, die Takte werden gezählt

Hierauf nimmt der Matrose den Rucksack vom Nagel. Man merkt gleich, wie sehr gewichtig der ist. Aber das ist noch nicht genug, der Mann wägt wieder gehacktes Blei ab, diesmal 250 Gramm, also ein halbes Pfund, füllt es in den Sack, hebt ihn sich auf den Rücken, schnallt ihn fest. Alles sehr praktisch eingerichtet.

Dann zieht er das Polyphon auf, Glöckchen erklingen, er wirft einen Blick nach der Uhr, beginnt, das Bleirohr wie ein Gewehr über der Schulter, an den Wänden entlang zu marschieren, immer im Kreise.

Es ist der Pariser Einzugsmarsch, den die stark klingenden Glocken spielen. Kann man denn nach diesem wirklich marschieren? Ja, im Geschwindschritt, aber in einem noch wahnsinnigeren, als der bei der englischen Armee eingeführte.

Und in diesem Eiltakte, wie jemand rennt, der es verschlafen hat, aber doch nicht wirklich rennen will, marschiert der Mann eine Stunde im Kreise herum, mit Bleisohlen an den Füßen, einem Bleirohr auf der Schulter, einen Bleisack auf dem Rücken.

Ganz genau eine Stunde. Sie wird lang, diese Stunde. Ich weiß es, denn ich selbst mache jeden Tag meinen »Törn«, immer mit zunehmendem Gewicht, das sich in größeren Perioden auch auf die Belastung der Füße erstreckt. Aber man hat immer Gesellschaft. Dass, wie jetzt nur ein Mann marschiert, kommt eigentlich gar nicht vor. Der Pariser Einzugsmarsch klingt ununterbrochen Tag und Nacht. Ist die Feder kaputt, wird eine neue eingesetzt. Ist die Platte zu abgenützt, stanzen wir eine neue. Können wir doch alles machen. Also man hat immer Gesellschaft, da geht es schon besser, auch wenn natürlich an eine Unterhaltung nicht zu denken ist. Und außerdem: was man aus Liebe tut —

Ist die Stunde beendet, dann jagt der Mann noch immer dreimal im Laufschritt in der Batterie herum, dann schnallt er ab, stellt sich auf die Dezimalwaage, konstatiert sein heutiges Gewicht. Letzteres tut er nur dem Doktor Isidor zu Liebe, der dabei seine wissenschaftlichen Beobachtungen macht. Dicker wird man davon nicht. Nur August dem Starken scheint das ausgezeichnet zu bekommen, der nimmt dabei zu.

Nachdem der Mann sein Gewicht auf das Täfelchen geschrieben hat, geht er zu seinen Kameraden zurück und näht wieder Kinderhemdchen oder strickt Kinderstrümpfchen.

Und wozu nun dies alles.

Der stärkste Mann, von dem nicht die Sage, sondern die Historie berichtet, war der Athlet Milo von Croton, um 500 vor Christi, von dem man bestimmt weiß, dass er sechs olympische, sieben pythische, zehn isthmische und neun nemeische Siegeskränze gewann. Solche siegreiche Athleten genossen damals ein ganz anderes Ansehen als heute, der olympische Sieger wurde Ehrenbürger seiner Stadt, war steuerfrei und hatte andere Vorzüge, überall wurden ihm Denkmäler errichtet. Daher wissen wir noch so viel von diesen griechischen Athleten.

Dieser Milo machte zuerst dadurch von sich reden, dass er einen großen Stier, der doch wohl seine zehn Zentner wiegt, durch die ganze Arena trug.

Dabei soll Milo anfangs gar kein so besonders starker Kerl gewesen sein. Er hatte seine besondere Methode zur Ausbildung. Für dieses Kunststück fing er erst mit einem kleinen Kalbe an, das er täglich auf den Schultern eine gewisse Strecke weit trug. Das Kalb nahm an Gewicht zu, diese tägliche Zunahme merkte der Träger nicht besonders, und so trug er eben zuletzt einen ausgewachsenen Stier auf seinen Schultern!

So heißt es.

Das Rezept ist wenigstens gegeben, wie es zu machen ist.

Wenn Du, lieber Leser, noch ein gelockter Jüngling bist und noch nicht das Zipperlein hast, und Du willst ein Milo werden, dann schaffe Dir eine Hantel von 50 Pfund an. Die wirst Du doch wohl stemmen können, oder Du hast eben schon das Zipperlein, oder Du eignest Dich sonst nicht dafür, und dann hast Du doch auch keine Lust, ein Milo zu werden.

Die beiden Kugeln auf dem Stabe sind hohl, haben eine verschließbare Öffnung, lassen sich von dem Stabe abnehmen, andere Eisenscheiben lassen sich aufsetzen. Das Pfund Hantel kostet etwa 40 Pfennige.

Diese 50 Pfund stemmst Du jeden Morgen nach dem Aufstehen zehnmal, dann noch einmal so oft nach dem Anziehen. Dann gehst Du Deinem Berufe nach. Kannst Du diese Übung täglich mehrmals wiederholen, desto besser, aber nötig ist es nicht.

Am nächsten Morgen füllst Du in jede der beiden Kugeln 25 Gramm Schrotkörner, und so fährst Du fort und fort, das tägliche Gewicht der Hantel um 50 Gramm zu vermehren. Hast Du einmal gerade keine Schrotkörner, dann steckst Du einstweilen in jede Kugel zwei alte Liebesbriefe, die zusammen auch ungefähr 25 Gramm wiegen. Ab und zu ersetzt Du die Schrotkörner durch Eisenscheiben, die zwischen den Kugeln eingeschaltet werden.

Wie Du Dir nun berechnen kannst, beträgt die Gewichtszunahme im Jahre 36 Pfund. In zehn Jahren sind das 860 Pfund. Dazu kommen die 50 schon vorhanden gewesenen. Macht zusammen 410 Pfund, die Du nach zehn Jahren jeden Morgen zehnmal stemmst. Das übertrifft schon etwas den bisher aufgestellten Weltrekord im Hantelstemmen.

Nun probier's. Es ist ein billiges Vergnügen. Nur darfst Du Deine Übung keinen einzigen Morgen vergessen, sonst vergisst Du es öfters, und dann — wirst Du nach zehn bis hundert Jahren vielleicht das Zipperlein haben, aber kein Milo sein.

Bist Du aber ein Mädchen, vielleicht etwas schwach auf der Brust, dann fange mit 20 oder nur 10 Pfund an, beschwere den Stab täglich auf jeder Seite mit einem Mehr von zwei Liebesbriefen — und ich garantiere Dir, dass Du Dir keine Pilalus Pilles orientales zu kaufen brauchst, um Deine Brust zu runden.

*

Während dieser fünftägigen weiblichen Handarbeitsperiode ereignete sich ein humoristischer Zwischenfall, den ich erwähnen will, weil er sehr traurig für uns endete, wenigstens verging zuletzt sehr vielen das Lachen, besonders auch mir.

Es war Mittagszeit, die Matrosen machten bei dem herrlichen, windstillen Wetter »backen und banken« im Freien, das heißt, sie hatten den Mittagstisch und Sitzgelegenheit an Deck aufgestellt, vor dem Fockmast.

Die Suppe wurde aufgetragen, eine mächtige Terrine, Kartoffelsuppe, oben darauf eine dicke Schicht ausgelassenes Ochsenmark aus der Konservenbüchse. Seeluft zehrt sehr, selbst in heißen Gegenden verlangt der Körper viel Fett, aber jeder mag es doch nicht, wogegen gutes Rindermark immer gern gegessen wird.

Ich stand an dem Tisch, hatte mit den Leuten etwas zu sprechen. Noch war es nicht zum Ausschöpfen gekommen, als wir auf eine komische Szene aufmerksam wurden. Wir hatten uns in jener Bucht reichlich mit lebenden Hummern verproviantiert. Die Tiere waren in einer Kiste untergebracht, die zwischen Kombüse und Kommandobrücke stand, sie lagen zwischen Steinen und Moos, wurden täglich mit frischem Seewasser begossen und blie-ben so ganz munter.

Eines Tages hatten sie ein Brett beseitigt, hatten das Freie gewonnen. Die meisten wurden ja schnell wieder eingefangen, einige blieben aber doch ver-schwunden. Hin und wider fand man einen Hummer unter einem Taubündel oder sonst wo, einen sogar tief unten im Raum, bis jetzt fehlten noch immer vier.

Da sahen wir unseren Nebukadnezar, der sich mit einem großen Hummer, der an Deck wieder zum Vorschein gekommen, amüsierte. Nebukadnezar war ein langgeschwänzter Affe. Wer ihn so getauft hatte, weiß ich nicht.

Es sah äußerst drollig aus, wie sich der Affe benahm. Er saß vor dem Hummer, betrachtete ihn tiefsinnig und tippte ihm ab und zu mit der Fingerspitze auf den Kopf.

Mit einem Male aber schrie mein Nebukadnezar Zeter und Mordio, voltigierte die Wante hinauf, während ihm hinten am Schwanze der Hummer hing. Höher und höher ging es hinauf unter fürchterlichem Zetergeschrei, der Hummer wurde an dem langen Schwanze hin und her geschleudert, wollte aber nicht loslassen, sich auch nirgends festklemmen.


Illustration

So kam Nebukadnezar auf die Obermarsrahe, auf dem Fockmaste. Mit einem Male ließ der Hummer los, sauste herab und — — gerade in die kochend heiße Kartoffelsuppe mit der Fettschicht hinein.

Da verging den meisten das Lachen, besonders auch mir, es verwandelte sich in Fluchen und Schmerzgeheul, denn das heiße Fett spritzte doch nach allen Seiten. Ich hatte ein paar böse Brandblasen im Gesicht abbekommen. Es war ein Glück, dass sonst nichts passiert war, manches Auge hätte flöten gehen können.

Seit dieser Zeit blicke ich, auch im Zimmer, wenn Kartoffelsuppe auf den Tisch kommt, immer unwillkürlich und misstrauisch in die Höhe, ob von der Decke nicht etwa ein Hummer in die Suppenschüssel fallen könnte.

*

Dann kam der große Tag.

Wir bauten in der großen Kajüte auf, die auch den Offizieren zur Verfügung stand, in die sie wohl auch einmal einen Mann rufen konnten. Es war ja überhaupt ein besonderer Fall. Früh um vier fingen wir schon an, alles zu arrangieren, um sechs Uhr, sobald der Tag anbrach, würde Ilse erwachen, das wussten wir bestimmt, dann kam sie mit der Tante zum Vorschein. Die Patronin wusste ja überhaupt, um was für eine Überraschung es sich handelte, im Grunde genommen aber wusste sie gar nichts, und im übrigen war Siddy instruiert, die beiden rechtzeitig eintreten zu lassen.

Wir schleppten herbei und bauten auf. Abgezählte drei Dutzend Hemdchen, ebensoviel Höschen, gestärkt und fein geplättet, mit gesticktem Monogramm, aber jedes Stück anders. Zwei Dutzend Paar Strümpfe, jedes mit einem anderen Muster und anderem Monogramm, ein Dutzend Röckchen und ebensoviel Kleidchen, aus Leinwand und Stoff und Tuch und Seide, mit und ohne Besatz, jedes ganz anders.

Ich selbst staunte, wie ich jetzt alles zusammen sah. Ja, in fünf Tagen können 62 Paar geschickte Hände schon etwas leisten, wenn man dabei die Luft anhält!

Die Wäsche wurde natürlich nicht übereinander geschichtet, so wenig wie die Kleider, sondern jedes Stück einzeln gelegt, was schon die Verschiedenheit der Monogramme rechtfertigte, und jedes Stück mit einem roten oder blauen Seidenbändchen umschlungen.

Na, wie das in der Kajüte aussah — großartig!

Was aber nun sonst noch alles dazukam. Ich kann nur Einiges noch erwähnen. Auch der sonst unsichtbar gewordene Albert hatte sich daran beteiligt. Das Kunststicken wird von den Matrosen überhaupt viel ausgeübt, und besonders dieser stille Mensch konnte großartig sticken! Er hatte ein Paar Strumpfbänder und einen Gürtel gefertigt, mit verschiedenfarbiger Seide gestickt, mit dem Namen unseres Schiffes und sonst noch mit Verzierungen — prachtvoll! Dann hatte der beste Kerbholzschnitzer noch ein besonderes Kästchen geliefert. Nun denke man sich den Kerbschnitt aber nicht so einfach, dass man links und rechts immer einen Schnitt macht, dass eine Ecke herauskommt. Da lassen sich Effekte erzielen, von dem der, der so etwas noch nicht gesehen hat, eben gar keine Ahnung hat. Der Deckel war ein ganzer Blumenstrauß und jedes Staubfädchen war eingeschnitten! Und in dieses Kästchen legte Meister Kännchen sein Geburtstagsgeschenk, einen hohlen Backzahn, den er einmal einem wimmernden Menschen herausgeruppt hatte — ein Monstrum von einem Backzahn, wie ich ihn so kolossal gar nicht für möglich gehalten hätte. Wenn der unter amerikanischen Raritätensammlern verauktioniert wurde, der brachte sicher ein beträchtliches Vermögen ein. Und so noch andere Überraschungen.

Den Mittelpunkt aber bildete der Schrank mit den 30 Paar Kinderstiefeln. Schon der Glasschrank war ein Glanzstück. Über und über mit Sternchen und Arabesken und Seeschlangen und Schiffchen bedeckt, die Stiftchen mit goldenen Köpfchen, und diese selbst bildeten wieder Arabesken und andere Figuren. Die Hauptsache aber war doch der Inhalt. Diese 30 Paar Stiefel und Stiefelchen, Schuhe und Schuhchen, diese Eleganz und diese Unförmlichkeit, wie die auf den Regalen, alles Kerbschnitt in Reih und Glied standen — das war einfach von überwältigender Erhabenheit!

»Sie kommen!«, meldete Siddy.

Wir stellten uns im Hintergrunde der großen Kajüte auf. Hämmerlein spielte die Orgel.

Ich habe noch nicht wieder von der Orgel gesprochen, werde es auch nie; nämlich wie das klang, wenn die Orgel spielte. 64 Register, 90 Stimmen mit 5000 Pfeifen. Auf dem einsamen Meere gespielt! Nie werde ich versuchen, da einen Eindruck schildern zu wollen. Das war nur zu erleben.

So traten die beiden ein.

Auch das Weitere vermag ich nicht zu schildern. Jedenfalls kam, wie gewöhnlich, alles ganz anders, als wie es sich irgend jemand vorgestellt hatte.

Ja, die Patronin hatte etwas gewusst, natürlich. Anderseits hatte sie gar keine Ahnung gehabt.

Da stand sie und starrte und starrte, minutenlang. »Tante, was ist denn das nur?«, staunte Ilse mit glückstrahlenden Augen des Unglaubens.

Und mit einem Male bekommt die Patronin einen purpurroten Kopf, dann wird das Gesicht wieder ganz weiß, und dann fängt sie an zu weinen und zu weinen, schreit vor Jammer laut auf.

Es störte nicht die Feststimmung, es war schnell wieder vorüber, und dann ging es anders los.

Jedenfalls aber hat noch keine Prinzessin und noch keine Milliardärstochter solch einen Geburtstag gefeiert, wie damals unsere Ilse, »unser« Kind!

Und ich ahnte damals noch nicht, dass dieser Schrank mit den 30 Paar Stiefelchen und Schuhchen, dann zum Teil schon stark abgenützt, dereinst noch einmal als erstes Schaustück im Salon meines eigenen Hauses stehen würde, dass ich selbst — doch ich will nicht vorgreifen.

*

11. Kapitel

In Marseille

Originalseiten 245 — 296

Wir lagen in Marseille, der Wind hatte uns dorthin getrieben. Na, ganz so zufällig war es ja nicht gekommen. Aber einen Hafen hatten wir doch einmal aufsuchen müssen, und da war es ganz gut, dass es so ein großer wie Marseille war, wo alles zu haben ist, ohne dass man dafür Phantasiepreise bezahlen muss. Schon Kohlen kosten in Kapstadt genau das Doppelte wie in Marseille. Kohlen brauchten wir zwar nicht, aber manches andere desto mehr. Wenn das Schiff auch unter Kapitän Martins Erfahrung ausgerüstet worden war, es war doch außerordentlich schnell gegangen, es hatte manches von Anfang an gefehlt, und das Schiff war bereits seit vier Monaten unterwegs!

Da war den Leuten einmal ein längerer Aufenthalt in einem Hafen, in dem das Leben alles bietet, was der Mensch nun einmal braucht, zu gönnen. Sie hatten doch nicht auf ein Segelschiff gemustert, das von Europa nach Australien geht, wobei man sich von vornherein mit dem Gedanken, monatelang von der anderen Welt nichts mehr zu sehen, abfinden muss, obgleich da doch manchmal ein Hafen angelaufen werden kann — noch weniger waren sie auf einem Walfischfahrer, der gleich einmal drei Jahre draußen bleibt — und diese meist jungen Kerls waren doch auch keine Asketen, hatten kein Gelübde abgelegt.

Die Patronin machte mir als dem Waffenmeister, der nun einmal gewissermaßen die Rolle eines Aufsehers von Fürsorgezöglingen spielte, einige zarte Andeutungen, von wegen, dass die Matrosen nicht gar so sehr in den Straßen herumtorkelten, nicht immer gerade in den allerschlimmsten Löchern vor Anker gingen, wo sie dann nicht wieder flott zu bekommen waren, nur mit Polizeigewalt — dass sie freilich mit den Leuten, mit ihrem Volke, nicht gleich ins Theater und in die Gemäldegalerie gehen könne, das wisse sie ja selbst — aber das alles war gar nicht nötig, auch nicht, dass ich den Leuten erst Instruktionen erteilte — ich wusste schon, wie es kommen würde, und hatte mich auch nicht geirrt.

Über unser Schiff war ein ganz besonderer Geist gekommen. Der Korpsgeist! Was das für ein Geist ist, das lässt sich nicht so leicht erklären. Wer ihn hat, der weiß es, kein anderer. Ich schlage im Wörterbuch nach und finde: Korpsgeist nennt man in Korporationen die tätigste Teilnahme jedes einzelnen an dem gemeinschaftlichen Wohle aller, unter Beiseitesetzung aller persönlichen Rücksichten.

Ja, diese Definition ist ganz richtig, aber — — das macht noch lange keinen Korpsgeist aus, da fehlt gerade die Hauptsache; denn sonst müsste in der Gesellschaft Jesu, unter den Jesuiten, der allerstärkste Korpsgeist herrschen, und gerade das Gegenteil ist der Fall.

Das Ritterliche ist es dabei, was den Ausschlag gibt! Und es brauchen nicht gerade Offiziere und Studentenverbindungen zu sein, unter denen dieser ritterliche Korpsgeist herrscht. Es können auch Arbeiter sein, Sangesbrüder oder eine Turnerriege. Aber mit dem heiligen Geiste hängt es etwas zusammen. Nur über Auserwählte kommt er, kann nicht erzwungen werden, kommt ganz plötzlich, man kann ihn festhalten und ihn auch sehr leicht wieder verlieren.

Bei uns kam aber auch noch etwas anderes hinzu, eine Macht, die vor allen schlimmen Abwegen behütet. Das ist der Sport. Das ständige Bewusstsein der Absicht, in einem ritterlichen Spiele die Meisterschaft erreichen zu wollen, wobei jede Sumpferei und Lumperei das größte Hindernis ist. Hierin liegt die ethische Bedeutung des Sports! Deshalb auch wird der Sport jeder Art auf den englischen Universitäten so eifrig gepflegt, am stärksten ausgedrückt durch das jährliche Wettrudern zwischen Oxford und Cambridge, zu welcher Stunde man nicht telegrafieren kann, weil alle Telegrafenlinien der ganzen Erde besetzt sind, um diesen Wettkampf der beiden Universitäten zu beobachten. Deshalb auch haben die deutschen Studenten von jeher das Fechten gepflegt, was allerdings ganz seinen ursprünglichen Zweck verloren hat. Nicht wer die wenigsten, sondern wer die meisten Schmisse hat, das ist heute der Held, also der ungeschickteste Raufbold. Deshalb aber ruft auch der deutsche Kaiser den Studenten bei jeder Gelegenheit zu: »Treibt Sport!« —

Die Mannschaft der »Argos« marschierte nicht etwa in geschlossenem Trupp durch die Straßen, sie setzten sich nicht wie die Rekruten, die zum ersten Male ausgeführt werden, in einem Lokal an bestimmte Tische, wie der Herr Unteroffizier befiehlt. Gott bewahre! Sie gingen, wie und wohin sie wollten, gute Freunde zusammen oder auch allein. Aber es war doch etwas so ganz anderes, als wenn sonst ein Schiff abmustert oder wenn die Leute im fremden Hafen Vorschuss bekommen.

»Wir sind etwas anderes als Ihr, wir haben etwas Großes vor, aber verraten wird nichts, Ihr sollt schon noch staunen, und dazu müssen wir uns halten!«

Das war es!

Nur unser guter Doktor Isidor kam einmal vorgefahren, musste eingeladen werden, hatte tausend Franken einstecken gehabt und jetzt nach einigen Stunden auch seine Uhr nicht mehr, nicht einmal seinen silbernen Bleistift, und dann glaubte er drei Tage lang, er wäre in Frankfurt am Main in der Kaltwasserheilanstalt, die Patronin redete er immer mit »Herr Professor« an. Dann aber, als er wieder hergestellt war, mit den nötigen kalten Duschen, als er sich beim Essen nicht mehr mit der Gabel in die Augen stach, als er wieder gehen konnte, ohne immer zusammenzuknicken, als die Lebenslust wieder neu erwachte, da ließ er sich willig ins Schlepptau nehmen. —

Eines Mittags, wie ich von der Hauptpost kam, wurde mir auf der Straße ein Zettel zugesteckt, von einem Zettelverteiler.

Wo speist man in Marseille am besten und billigsten für nur einen Franc? In Maison Oliganda, Rue Bergère 34.

1. Gang: Suppe.
2. Gang: Fisch.
3. Gang: Braten mit Kartoffeln und Gemüse.
4. Gang: Geflügel.
Nachtisch: Brot, Butter und vier verschiedene Sorten Käse. — Früchte. — Eis.
Dazu eine halbe Flasche guten Rotwein. —


Hallo!!

Das alles für einen einzigen Franc?

Hatte ich auch richtig gelesen?

Jawohl, da stand es gedruckt. Alles für einen einzigen Franc, für 80 Pfennig.

Na, da musste ich hin. Ich erkundigte mich nach der Straße — die Rue Bergère war gar nicht so weit.

Zwar erwartete mich die Patronin mit einer höchst wichtigen Post, aber sie konnte nicht anders glauben, als dass ich erst eine Stunde später käme. Und überhaupt — das war ich einfach der Wissenschaft schuldig.

Nun will ich gleich etwas bemerken, wodurch der ganzen Sache auch kein Abbruch geschieht.

Das war hier nicht etwa das einzige Restaurant in Frankreich, in dem man so billig und reichlich speist. Schon hier hatte dieses Restaurant, wie ich später erfuhr, mehrere Konkurrenten, ich habe dasselbe später auch in Nizza und in Paris gefunden, auch in italienischen Städten, für einen Franken oder Lire dasselbe Menü mit vielen Gängen und Nachtisch und Wein.

Damals aber wusste ich dies noch nicht. Nur eines war mir schon bekannt. Die halbe Flasche Wein konnte mich nicht weiter irritieren. Man las es hier ja überall, in jeder Weinhandlung und jedem Büdchen wurde guter Wein angepriesen, der ganze Liter zu vier Sous gleich 17 Pfennige. So ist das noch heute. Ein feiner Wein ist das natürlich nicht. Aber trinken lässt er sich schon. Und das ist nun der Detailpreis. Da kann ein großes Speisehaus, das starken Umsatz hat, im Großen einkauft, schon eine halbe Flasche geben, es braucht nicht der schlechteste zu sein, und sie kostet ihm höchstens einen Groschen.

Aber Suppe, Fisch, Braten mit Beilage, Geflügel, verschiedene Käse, Früchte, Eis — das alles für einen Franken.

Man sieht, wie ich meinen Denkapparat anstrengte, um dieses Rätsel durch eigenen Scharfsinn im voraus zu lösen.

Dabei kam ich, wie es, dann manchmal so geht, auf ganz merkwürdige Gedanken.

Sollte man da vielleicht erst ein gewisses Quantum Arbeit verrichten, ehe man dieses Genusses für einen Franken teilhaftig wurde? Erst einen Stapel Holz hacken?

Ich dachte nämlich an die Handwerksburschen an die armen Reisenden, die durch die vorsichtig geöffnete Vorsaaltür — »Mitglied des Vereins gegen Hausbettelei« — eine Anweisung auf 20 Pfennig zugesteckt bekommen, dort und dort gegen Nachtlager und einer kräftigen Mahlzeit einzutauschen, und wenn sie hinkommen, dann müssen sie erst einige Stunden Holz hacken.

Na, Holz zu hacken, das würde man doch von unsereinem nicht verlangen. Adressen schreiben? Auch nicht. Wollten die einem vielleicht mittels dieser Lockspeisen die Würmer aus der Nase ziehen, um Geschäftsgeheimnisse zu ergründen?

Ich kam nicht auf den Trichter. Aber jedenfalls sieht man doch, wie ich mich für diesen Fall interessierte.

Nun, ich hatte Maison Oliganda erreicht. Jetzt würde ja gleich des Rätsels Lösung kommen.

Es war ein gutbürgerliches Speisehaus. Da denke ich aber schon an französische Verhältnisse. In Deutschland wäre es eine hochfeine Aufmachung gewesen. Die Tische blendendweiß gedeckt, auf jedem schöne Blumen, Wasserkarraffen, verschiedene Arten Gläser.

Das Lokal war gut besucht, wenn auch nicht voll. Der Kleidung und auch dem Benehmen nach nur Herren und Damen besseren Standes. Essen tat noch niemand. Es wurde jedenfalls gleichzeitig serviert, wenn auch an einzelnen Tischen, und soweit war es noch nicht.

Ich nahm Platz. Etwas schüchtern, verlegen, gedrückt. Ich nehme nicht gern etwas geschenkt an. Und mich hier für acht Groschen mästen zu lassen — es war mir peinlich! Na, der Wissenschaft wegen.

Ein Kellner brachte unaufgefordert eine halbe Flasche Rotwein. Ein tadellos schwarzbefrackter Geist. Dass er auf dem Vorhemdchen einen großen Saucenfleck hatte, das machte für dieses Speisehaus nur Reklame. Hier wurde mit Sauce nicht gegeizt.

Ich kostete den Wein. Der war ganz gut. Ich verstehe ja allerdings nicht viel von Wein, mehr von Rum und dergleichen, aber — kratzen und beißen tat der Wein nicht, zog einem nicht die Strümpfe aus, gar nichts.

Wollte ich also diese halbe Flasche nur einen einzigen Groschen rechnen. Nun aber lag schon neben jedem Teller eine lange Stange Weißbrot. Die kostete im Laden anderthalb Sou, das wusste ich. Ich wollte nur 5 Pfennig annehmen. Da waren aber doch bereits 15 Pfennig weg, blieben nur noch 65 für das ganze Menü.

Ach Du mein armer Hirnkasten!

Ein Klingeln erscholl. Durch alle Gäste ging es wie ein Ruck, plötzlich verstummte alles, wie im Theater, wenn der Vorhang hochgeht.

Und richtig, alsbald kamen die Kellner angerannt, brachten die Suppe.

Einen großen Teller voll, es ging gar nicht mehr hinein, eine ausgezeichnete Kohlsuppe, eine ausgezeichnete Bouillon!

Ich wurde ganz kopfscheu.

Na, Kohl ist ja billig, und es war ja nur die Brühe von gekochtem Fleisch. Aber immerhin, sollte dieser Teller Suppe auch nur 5 Pfennig kosten, dann blieben doch nur noch 60 Pfennig für Fisch, Braten mit Beilage, Geflügel, Butterbrot mit vier verschiedenen Sorten Käse, Früchte und Eis!

Ach Du mein armer Hirnkasten! Wäre ich doch nur nicht hier hereingegangen. Meine verfluchte Wissbegierde! Ich genierte mich fürchterlich. Mich hier in einer fremden Stadt für sechs Groschen mästen zu lassen.

Der Fisch kam. Ich nahm die Gabel in die rechte Hand, in die linke ein Stück Semmel.

Au!!!

Wie der Fisch vor mir stand, da freilich ging mir eine Ahnung auf!

Ja, Fisch war es. Sogar ein ganzer. Es war eine gebratene Sardine, nicht größer als mein kleiner Finger, aber längst, längst nicht so dick! Wie ein breitgequetschter Regenwurm, der eine Hungerkur durchgemacht hat.

Na, ich will mich kurz fassen; denn diese Schilderung hier ist erst die Einleitung für einen zweiten Besuch, den ich diesem Speisehaus abstattete, da ging der Witz erst richtig los.

So ging es weiter. Der Braten bestand in einem Hammelkotelett mit einer kleinen Kartoffel und sechs oder sieben Schnitt Bohnen. Nicht Schnittbohnen, sondern Schnittchen, die von einer Bohne recht sein abgeschnipselt worden waren.

Über das Hammelkotelett selbst will ich nichts weiter sagen als: Wenn ich nicht gerade ein mittelloser Hungerleider bin, und ich habe einen Hund — so einen abgenagten Knochen gebe ich ihm nicht. Da tut mir der Hund zu leid. Dass er nichts weiter als Knochen hat. Etwas Fleisch lasse ich denn doch dran.

Dann wurde das Geflügel serviert. Da aber musste ich mir einmal kräftig auf die Lippen beißen. Ein kleines Taubenbeinchen! Und wie ich meine Blicke umherschweifen ließt da musste ich zu dem Schlusse kommen, dass es in Marseille Tausendfüßler mit Taubenschenkeln gab, oder dass jede Taube tausend Füße hatte; denn alle anderen Gäste hatten auch nur Taubenbeinchen, jeder eins.

Und dann ein einziges Stückchen Butter mit tatsächlich viererlei verschiedenem Käse, freilich nur soviel als unsereiner für gewöhnlich an der Rinde dran lässt, dann eine Birne, eine Feige, drei Kirschen und vier Oliven, dann ein Stückchen Eis. Es rutschte mir vom Löffel, fiel auf den Boden, und wie ich hinblickte war's bereits ein Wassertropfen geworden.

Das also war dies Rätsels Lösung.

Wenn ich es mir jetzt berechnete, so hatte der Wirt an alledem noch vier Groschen verdient.

Doch davon abgesehen. Von etwas anderem möchte ich jetzt sprechen. Ich stellte Beobachtungen an, die mir morgen, wenn ich zum zweiten Male hier speiste, nicht möglich waren. Denn da sollte ich hier etwas anderes erleben; nämlich mit Mister Tabak! Denn den mit seinem Riesenappetit brachte ich morgen mit hierher, das war von vornherein mein felsenfester Entschluss!

Es war nämlich höchst interessant, die anderen Gäste zu beobachten. Wie diese französischen und zum Teil auch italienischen Herrchen und Dämchen speisten. Mit welchem Genusse die sich dem Essen hingaben! Wie graziös die das elende Sardinchen mit der Gabel tranchierten. Wie die von dem Hammelknochen noch immer etwas Fleisch abzuschneiden wussten, wie zierlich sie die unsichtbaren Stückchen auf die Gabel schoben und zum Munde führten, wie fein sie das Taubenknöchelchen bearbeiteten. Überhaupt, mit welcher Behaglichkeit sie sich dem Ganzen hingaben

Nachträglich sei noch erwähnt, was aber eigentlich bei dem Charakter des Ganzen fast selbstverständlich ist, dass nicht nur jeder Gang auf einem frischen Teller serviert wurde, man nichts etwa von einer Platte nahm, sondern dass man auch immer ein frisches Besteck dazu bekam, Gabel und Messer, und zum Nachtisch wurde sogar eine neue Serviette gereicht, sauber und blendend weiß!

Und nun diese Unterhaltung! Immer über das Essen.

»Der Fisch ist heute vorzüglich.«

»In der Tat, bei Levosier speist man längst nicht so gut.«

»Lassen Sie denn das Schwanzstück liegen?«

»Ja, auch das Kopfstück. Ich esse vom Fisch immer nur das Mittelstück!«

Ach Du allmächtiger Gott!! Ich sah schon morgen den gefräßigen Eskimo hier sitzen, vor dem winzigen Fischchen!

Dies alles aber charakterisiert so ganz den Franzosen, den Südfranzosen, und das geht weiter die Riviera entlang nach Italien hinüber.

Es sind glückliche Leutchen dort unten! Aber tauschen möchte ich mit ihnen nicht. —

Ich fragte nach der Rechnung — nur einen Franc. Als ich mir auf ein Fünffrancstück nur drei Franken zurückgeben ließ, bekam der Kellner vor freudiger Überraschung einen Hexenschuss.

Ich hatte die drei einzelnen Francstücke in die Westentasche gesteckt, und wie ich sie mir dann bei Gelegenheit noch einmal besah, da waren zwei davon falsch oder doch wertlos, außer Kurs. Der Napoleonskopf hatte keinen Lorbeerzweig.

Na warte, alter Freund mit dem Saucenfleck!

Ich begab mich an Bord. Die Patronin hatte mich noch gar nicht erwartet. Sie las den postlagernden Brief, den ich mitgebracht hatte.

»Ja. Auch das ist nun in Ordnung. Ebenso wie die Sache mit der Orgel. Sie kostet also — es ist alles nach englischem Gelde berechnet worden — inklusive Versand und Versicherung genau 2100 Pfund Sterling. Auch schon die Instrumente sind dabei. Da nun der dritte Teil als Bergelohn abgeht, so habe ich noch 1400 Pfund nachzuzahlen. Das ist bereits alles erledigt, die Orgel ist mein Eigentum. Nun aber hat die Reederei, also ich, nur die Hälfte des Bergelohns zu beanspruchen. Ein Viertel fällt dem Kapitän zu, das letzte Viertel der Mannschaft. Also hat die Mannschaft von mir 175 Pfund Sterling ausgezahlt zu bekommen. Stimmt das so?«

Aufmerksam blickte ich die Sprecherin an. Ja, ich hatte mich schon vorhin nicht getäuscht. Sie war halb finster, halb trübselig, in ihrer Stimme lag auch ein Zittern, und jetzt, wie sie sich umwandte, um nach dem Panzerschrank zu gehen, sah ich es noch einmal verdächtig um ihre Mundwinkel zucken.

Sie machte sich an dem Geldschrank zu schaffen hinter der Panzertür, die sie ganz verdeckte.

»Nicht wahr, Herr Waffenmeister?«, erklang es hinter dem gepanzerten Schutzwalle.

»Frau Neubert!«, sagte ich leise.

»Ja.«

»Haben Sie schon mit Kapitän Martin darüber gesprochen?«

»Gewiss.«

»Der Kapitän hat sich seinen Anteil wohl schon auszahlen lassen?«

»Selbstverständlich.«

»Selbstverständlich, jawohl, selbstverständlich. Oder Sie dachten wohl, der Kapitän würde Ihnen die 175 Pfund schenken? Nein, dazu ist, Kapitän Martin ein viel zu lauterer, ehrlicher Charakter.«

Hinter der Panzertür verstummte das Rasseln mit den Geldkassetten plötzlich:

»Was sagten Sie da?!«, erklang es leise.

»Frau Neubert«, bat ich, »kommen Sie doch mal vor, blicken Sie sich doch mal an, wir sind doch hier unter uns.«

Sie kam hervor, mit starren Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten.

»Sie werden«, fuhr ich fort, »der Mannschaft die ihr zukommenden 175 Pfund Sterling auszahlen wollen. Ja, glauben Sie etwa, die Leute werden das annehmen?«

Sie begann mich noch mehr anzustarren, denn jetzt verstand sie mich noch weniger.

»Wie meinen Sie?«

»Nein, keiner von den Matrosen und Heizern wird das Geld annehmen wollen. Sie werden schon das Angebot als eine große Beleidigung empfinden. »Verflucht soll der Schuft sein, der auch nur einen Penny von der Patronin annimmt!«, So ungefähr werden sie sprechen. Sie, Frau Patronin, sind doch so gut zu ihnen gewesen. Sie haben ihnen silberbeschlagene Meerschaumpfeifen und vieles, vieles andere geschenkt. Ja, so denken diese Leute, und das ist ganz wunderbar, höchst achtungswert. Aber keiner von ihnen ist ein Kapitän Martin. Der verbindet mit seiner Ehrlichkeit soviel weitsichtige Klugheit, dass er seinen Anteil ruhig in die Tasche steckt, jedenfalls ohne ein »Danke« zu sagen. Ja, Frau Neubert, verstehen Sie denn nicht, was hier vorliegt? Die Leute müssen gezwungen werden, dass sie das, was ihnen gesetzlich zukommt, annehmen. Tun sie es nicht, dann werden sie unbarmherzig fortgejagt! Weshalb? Ja, Frau Neubert, halten Sie es denn nicht möglich, dass einmal ein Riss in die Freundschaft kommt? Nun nehmen Sie einmal an, so ein Matrose geht in Unfrieden fort, oder es kann auch in Frieden sein, und er sieht einmal Ihr Schiff im Hafen liegen, oder die »Argos« fährt an seinem Schiff vorüber, und die Orgel spielt gerade — und da kann dieser Mann nun mit vollem Rechte zu seinen Kameraden sagen: das ist die »Argos« der Frau Helene Neubert, die Orgel haben wir aus einem Wrack genommen, haben uns schrecklich abrackern müssen, aber den Bergelohn haben wir nicht angenommen, wir haben ihr die Orgel geschenkt, von dieser Orgel gehört mir auch etwas —«

Ich brauchte nicht weiter zu sprechen. Sie verstand mich noch schneller, als ich es erwartet hatte, das sah ich gleich ihren Augen an, die immer größer geworden waren.

Während meiner letzten Worte hatte sie langsam die Hand erhoben, um sie sich kräftig gegen die Stirn zu klatschen.

»Waffenmeister — Sie haben recht! Hundertmal, tausendmal recht! Ach, ich Närrin —«

»Das alles weiß Kapitän Martin auch«, unterbrach ich sie, »aber der hält nicht erst so eine lange Rede wie ich, der müsste dazu am Ende die Hände aus den Hosentaschen nehmen —«

»Genug, genug! Ich verstehe, ich verstehe!«

»Na dann geben Sie mir gleich die 175 Pfund, ich will sie unter den Leuten gleich zur Verteilung bringen.«

Sie gab mir das Geld.

»Das wird prozentual nach der Höhe der Heuer verteilt, nicht wahr?«, fragte sie.

»Jawohl.«

»Ja — verzeihen Sie, dass ich von so etwas beginne — nun bekommen Sie aber doch noch mehr Heuer als der Kapitän, also müssten Sie doch auch —«

»Nein, ich bekomme keine Heuer, sondern nur Gehalt. Ich habe überhaupt nichts von den Bergelohn zu beanspruchen. Ich stehe doch nicht mit in der Musterrolle.«

»Da — bekommen Sie gar nichts —?«

»Ich habe nichts zu beanspruchen. Ebenso wenig die sogenannten Exklusiven oder Exklikusen. Die gehören gesetzlich nicht zur Schiffsmannschaft.«

»Aber — aber —« wurde die Patronin wieder ganz kleinlaut, »da ist zum Beispiel der Simson, der hat doch gerade am allermeisten geschleppt —«

»Na lassen Sie mich nur machen!«, fing ich jetzt zu lachen an. »Das kommt alles ganz anders, als Sie sich jetzt denken. Sie werden schon zufrieden mit mir sein. Die Hauptsache ist, dass Sie Ihre heiteren Augen wiederbekommen. Na, die haben Sie ja jetzt schon.«

Ich ging, stellte eine kleine Berechnung auf, begab mich zuerst zum ersten Steuermann; denn die Offiziere musste ich einzeln vornehmen.

Ich hatte gleich im Anfange gesagt, dass mir der erste Steuermann nicht gefiel.

Nein, das tat er auch nicht, auch jetzt noch nicht ganz. Er hatte ein scheues Auge, konnte einen nicht ansehen, mich wenigstens nicht.

In anderer Hinsicht aber hatte ich nichts an ihm auszusetzen. Er war der tüchtigste Steuermann, kujonierte nicht, passte ganz vortrefflich zu uns. Die Übungen machte er freilich nicht mit. Dazu war er mit seinen 40 Jahren auch schon zu alt. Er sang und blies auch nicht mit. Aber zum Beispiel hatte er sich eifrigst an Ilses Geburtstag beteiligt, hatte in seiner Kabine viele Monogramme gestickt. Aber auch sonst hatte er schon wiederholt bewiesen, dass er ganz vortrefflich zu uns Argonauten passte.

Ich ahnte schon, wusste, was mit dem los war. Der hatte etwas auf dem Gewissen, was ihn zugleich als tiefer Kummer bedrückte.

Nun, da bin ich der letzte, der auf so etwas ein Seil dreht. Wenn ich etwa weiß, dass jemand schon einmal im Zuchthaus gesessen hat, und mag es auch wegen eines noch so gemeinen Verbrechens gewesen sein — dem zeige ich gerade meine Teilnahme. Solange er ihrer würdig ist, Daran kommt es eben an. Ich finde das nachträgliche Bestrafen mit Verlust der Ehrenrechte ganz abscheulich. Der Mann kann sich doch in seiner einsamen Zelle gebessert, total umgewandelt haben. Warum soll er denn dann noch hinterher an so einer fürchterlichen Last schleppen. Gebt ihm doch statt dessen ein paar Jahre mehr. Aber wenn die Freiheitsstrafe vorbei ist, dann muss es auch wirklich vorbei sein, dann muss er wieder gerechtfertigt dastehen; denn er hat gesühnt.

Also wenn der Steuermann hier auf unserem Schiff ein Asyl gefunden hatte, dann wäre ich der letzte gewesen, der es ihm entzogen hätte. Er hätte mich einmal noch so beleidigen können, da hätte es bei mir kein persönliches Interesse gegeben. Aber leiden konnte ich ihn nicht. Lieber wäre es mir gewesen, er wäre im Pfefferlande.

Diese Angelegenheit hier sollte der Prüfstein sein. Forderte er seinen gesetzlichen Teil, dann passte er nicht zu uns, dann musste er fort. Mit mir hatte das gar nichts zu tun.

»So und so, Herr Steuermann, Sie bekommen von der geborgenen Orgel auf Ihren prozentualen Anteil 4 Pfund 8 Schilling 5 Pence.«

I Gott bewahre! Nicht einen Penny! Und er sagte, warum nicht. Er würde sich doch schämen, etwas anzunehmen.

Gut, nun konnte er bleiben. Und wenn er einmal der Schwester den Gatten freien wollte, und er brauchte einen Bürgen, der eventuell statt seiner erblassen musste, so konnte er sich an mich wenden. Was ich ihm natürlich nicht sagte.

»Aber der Bergelohn muss angenommen werden. Die Patronin will es. Also, schlage ich vor, er wird gleichmäßig unter alle verteilt. Auch unter die, die nicht in der Musterrolle stehen.«

Recht so!

Die anderen Offiziere nahm ich zusammen vor. Das waren ja nur Ernst, der zweite und dritte Maschinist. Übrigens, dass ich es nicht vergesse: der Anteil des ersten Maschinisten war bereits reserviert, der wurde an seine Adresse geschickt.

Na, bei diesen dreien hatte ich noch weniger Arbeit, oder eigentlich mehr. Aber die armen Kerls sahen ein, dass sie das Geld doch annehmen mussten. Natürlich ebenfalls gleichmäßige Teilung.

Dann trommelte ich in der Batterie die Mannschaft zusammen. Da hatte ich den schwersten Stand.

»Ihr müsst es annehmen!«

Da hielt der Matrose Knut, ein wahrer Cicero von der ostfriesischen Waterkant, eine lange Rede, holte wenigstens dazu aus.

»Jau! Dann legen wir zusammen und machen der Patronin ein Geschenk —«

»Nein, es wird eben kein Geschenk gemacht! Schenkt Euren Mädels etwas, aber nicht der Patronin —«

»Ihr seid wohl der Vormund der Patronin?«, musste sich erst einmal Sam der Engländer spöttisch vernehmen lassen.

»Nein, das bin ich nicht«, entgegnete ich ganz ruhig, »aber ich weiß, was ich hier zu sprechen habe. Jungens, nun nehmt mal Euren Verstand zusammen. Ihr wollt also der Patronin ein Geschenk machen. Schön von Euch sehr schön! Aber wisst Ihr, womit Ihr der Patronin das schönste Geschenk machen könnt? Ihr wisst doch ganz genau, was die will, was die von Euch hofft. Dass Ihr sobald als möglich mit diesem Schiffe allen anderen Schiffen über die Nase rutscht, und das liegt nur an Euch —«

So sprach ich noch etwas weiter, und befriedigt gingen die Leute von dannen.

»Der Waffenmeister hat recht.«

Es war eine sehr, sehr verzwickte Geschichte gewesen, und ich hatte sie sehr geschickt gelöst: dessen rühme ich mich ganz offen. Ich atmete nämlich erleichtert auf, gratulierte mir selber.

Ja, eine ganz verteufelte Geschichte war es gewesen! Wegen so ein paar lumpigen Pfund Sterling wäre bald die ganze Freundschaft in die Brüche gegangen! Es war schon sehr nahe dran gewesen. Die Patronin hatte ja schon vor Kummer an zu weinen gefangen.

Nun könnte man ja allerdings sagen, dass ich das alles — mit Ausnahme des Falles des Kapitäns — ja erst provoziert hätte. Die Matrosen wollten doch verzichten, da hätte sich die Patronin ob solchen Edelmuts doch höchst glücklich gefühlt.

Nein, nein, nein, nein!! Hier lag etwas ganz, ganz anderes vor! Nur kein Edelmut in so etwas! Wenn nun nur ein einziger darunter gewesen wäre, der nicht gern und freiwillig verzichtet hätte?

Die Patronin hatte zu zahlen, was sie zu zahlen hatte und damit basta!

Dass wir dann untereinander gleichmäßige Teilung ausmachten, das war unsere Sache!

Ich würde mich ja bei alledem nicht so lange aufhalten, wenn das nicht die größte Bedeutung für später gehabt hätte.

Wir sollten nämlich noch einmal in andere Lagen kommen. Da — da kam es drauf an, ob die Matrosen edelmütig und opferwillig waren — aber nicht bei lumpigen 175 Pfund Sterling.

So brauche ich das dann später nicht mehr ausführlich zu behandeln, das ist nun erledigt. Wenn wir fernerhin ein Wrack ausnahmen oder sonstwie eine Beute machten, so gehörte die Hälfte des Gewinnes der Patronin, ein Viertel dem Kapitän, das letzte Viertel wurde unter der ganzen Mannschaft gleichmäßig verteilt, der Küchenjunge Jimmy bekam ebensoviel wie der erste Steuermann und wie ich, und damit basta! —

Nun will ich gleich noch etwas im voraus erwähnen. Am letzten Tage, bevor wir Marseille verließer wurde für den Kapitän eine große Kiste gebracht.

»Erster! Jimmy!«

Der erste Steuermann und der schwarze Küchenjunge mussten in die Kapitänskajüte kommen.

Ich habe die Szene ja nicht selbst gesehen, aber so etwas erfährt man doch ganz genau.

Der erste Steuermann musste warten, Jimmy kam erst fünf Minuten später.

Dass sich der Kapitän gar nicht um den ersten Offizier, der an der Tür stand, kümmerte, das war selbstverständlich. Das wird man als Schiffsoffizier schnell gewöhnt. Da wird nicht einstweilen über das Wetter gesprochen. Wenn den Steuermann seine Beine nicht mehr trugen, dann konnte er sich auch ohne Erlaubnis setzen.

Der schwarze Küchenjunge kam.

»Well!«

Und der Kapitän hatte sein langes Bein nach dem Tische geschlenkert.

Auf diesem Tische stand eine prachtvolle silberne Bowle, eine Galeere darstellend, ein mächtiges Ding. Hinten der Name »Argos«. Und an anderer angebrachter Stelle eingraviert: »Kapitän Gustav Martin den Argonauten.« Und außerdem, um ja keinen Zweifel zu lassen, wozu diese Galeerenbowle dienen sollte, war sie mit grünen und roten Steinen oder einer sonstigen Masse ausgelegt. Zum friedlichen Kampfspiel Grün gegen Rot!

Der Steuermann und Jimmy trugen sie hinaus.

Kein Wort weiter, keinen Dank!

Dieser Kapitän Martin war eine wirkliche, echte, unnahbare Majestät! Nur in Bordausgabe. Aber diese Majestät war auch in seiner Nähe direkt zu fühlen!

Und wie er nun die Übergabe des Geschenkes arrangiert hatte, so merkwürdig und doch so richtig! Ja, dieses Zartgefühl dabei! Man muss es nur richtig erfassen!

Der erste Steuermann war nach ihm eben der erste von der Schiffsbesatzung. Der musste kommen. Von den »Exklusiven«, die aber doch mit zu den Argonauten gehörten, war ich der erste. Aber es war ganz richtig, wenn er mich nicht kommen ließ. Es war fast ausgeschlossen. Also ließ er von dieser Partei den letzten kommen, den Küchenjungen Jimmy. Der erste und der letzte vom registrierten Schiffe — also Argonauten ganz gleichberechtigt! Es war großartig ausgedacht gewesen!

Und wie ich dies alles erfuhr, da sah ich mich noch einmal an der Kommandobrücke stehen, damals gleich nach den ersten Stunden, und ich hörte ihn noch einmal:

»Ihr ungewaschenes Maul sollen Sie halten! Sie denken wohl, weil Sie Reserveoffizier sind? Und wenn Sie Großadmiral sind und kommandierender General —«

Ein prachtvoller Mensch! Es gibt wirklich Menschen, die man anbeten kann, ohne sich richtig Rechenschaft geben zu können, weshalb eigentlich.

Und was dieser Kapitän Martin auch sonst für ein Gentleman war, dafür sollte er noch später viele Beweise geben. —

Also diese Sache war nun erledigt.

Nur für mich noch nicht so ganz.

Als die Leute auseinander traten, ging ich dem einen schnell nach und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Eh, Sam.«

»Wat?«

»Ihr fragtet mich doch vorhin, ob ich denn des Vormund der Patronin sei. Diese Frage passte mir nicht. Verstanden? Das passt mir nicht!«

Steif blickte mich der englische Matrose an.

»Will you fight with me?«

»Das ist es! Kommt mal mit mir hinunter in den Knock him down.«

Wir stiegen hinab nach dem Heizraum. Es war nicht etwa das erste Mal, dass so etwas vorkam.

Doktor Isidor bekam immer einmal etwas zu flicken und eine Schlinge an- oder eine Kompresse aufzulegen.

So etwas kann ja auch an Bord solch eines Schiffes gar nicht ausbleiben. Es ist so selbstverständlich, dass ich bisher gar nichts weiter davon erwähnt habe, weil eben noch kein besonders interessanter Fall vorgelegen hatte.

Nun darf man sich aber bei so einem Boxgang nicht etwas Besonderes denken, ihm eine große Bedeutung zulegen. Das ist nicht anders, als wenn sich zwei zu einer Partie Sechsundsechzig gegenübersetzen und um die Ehre spielen.

Wenn's fertig ist, dann ist es eben vorbei. Manchmal sind's die besten Freunde, die sich gegenseitig die Augen blau hauen, und sie bleiben die besten Freunde. Und ist es denn etwa bei den Studenten anders?

Ja, es kann vorkommen, dass daraus Feindschaft wird. Aber da passte ich doch gut auf. Dann hätten beide Parteien gehen müssen.

Also wir stiegen hinab. Neben dem Heizraum war ein kleinerer, mit Waschvorrichtungen für die Heizer, auch eine Matratze lag da — alles wie geschaffen für einen kleinen Boxgang. Dieser Raum hieß schon allgemein der »Knock him down«. Schlag ihn nieder.

Das elektrische Licht angedreht, die Jacken ausgezogen, und wir legten los.

Ich gab ihm ein blaues Auge, ließ ihn ein bisschen Blut spucken, brachte den Bewusstlosen mit kaltem Wasser wieder zu sich, wusch ihn auch sonst ab — das war dort alles so hübsch vorhanden — führte ihn, falls er noch einmal schwach wurde, selbst zum Schiffsarzt.

Denn das musste gemeldet werden, dass der Matrose Sam in die Ketterkammer gestürzt war.

Doktor Isidor lag in der Koje und stierte uns mit käseweißem Gesicht an.

»Frankfurt!«, schrie er uns entgegen. »Frankfuuuuhrt! Alles aussteigen!«

Ach so, der hatte ja noch seine drei Tage!

»Kellner — Bier her — schnell ein Glas Bier! Ich verdurste!«

Neben der Koje stand ein Krug mit Limonade, und der verwundete Sam war es, der dem Arzte zu trinken gab. Bewegen konnte er sich nämlich nicht, er war, damit er keinen Unsinn machte, in der Koje festgeschnallt.

Als ich am nächsten Morgen die Batterie betrat, da machte Sam schon unter den Klängen des Pariser Einzugsmarsches seinen Törn ab, auf dem Buckel einen Bleisack, auf der Schulter ein Bleirohr, über dem einen Auge eine Binde. Ich erwähne, dass wir auch das vom Wrack genommene Blei bezahlen mussten, abzüglich des Bergelohns, ebenso wie acht Sack Roggenmehl und sonstigen Proviant, aber mit solchen Kleinigkeiten will ich mich nicht aufhalten!«

»Waffenmeister«, frohlockte Sam mir entgegen, »heute fällt's mir so leicht — ich weiß selbst nicht wie — es muss doch was dran gewesen sein, dass man früher manchmal Blut ohne sonstigen Grund abzapfte.«

Na, da wird wohl niemand glauben, dass der mir etwas übel genommen hatte.

*

»Kommen Sie mit, Mister Kabat?«

»Wohin?«

»Ich habe etwas auf dem Seemannsamt zu tun, dann will ich speisen gehen.«

»Speisen?!«

Seine Schlitzaugen erweiterten sich gleich, neben der Pfeifenspitze kam die Zunge zum Vorschein. Er war noch gar nicht an Land gegangen, hatte kein Bedürfnis danach.

»Ja, ich habe ein Restaurant empfohlen bekommen, in dem man vorzüglich speisen soll. Suppe, Fisch, Braten, Geflügel, als Nachtisch viererlei Käse, Früchte, Eis. Kommen Sie mit?«

Dass dies alles nur einen Franc kosten sollte, das sagte ich ihm aber natürlich nicht, und noch weniger flunkerte ich ihm vor, dass man etwa für diesen Franc einen armlangen Fisch bekam.

Aber der Köder genügte schon, er biss sofort an.

»Ja, ich komme mit.«

Er hätte das ja alles an Bord haben können, wenn er nicht an Land gehen wollte. Aber ich wusste schon, was hier vorlag. Er wäre nur gar zu gern an Land gegangen, aber nicht allein, sondern — er wollte dazu aufgefordert, eingeladen sein. Und mit Matrosen ging der nicht etwa. Er war etwas eingebildet eitel — sehr sogar. Freilich, sonst ja ein urgemütlicher Kerl. Ein Offizier hatte ihn zum Mitgehen noch nicht aufgefordert. Nun kam ich. Ei, da kam er gleich mit!

»Ja, ich komme mit. Ich ziehe mich gleich an —«

»Ich muss aber sofort auf das Seemannsamt.«

»Da holen Sie mich wieder ab.«

»Kommen Sie doch nach dem Seemannsamt. Ich erwarte Sie punkt halb zwölf vor dem Hauptportal.«

»All right. Wo ist das Seemannsamt?«

Ich beschrieb es ihm. Doch es genügte ihm schon, zu wissen, dass es nur ein Seemannsamt gab. Dann fand er es schon. Dieser Eskimo hatte seine Zivilisation doch in New York erlangt.

Also ich erledigte meine Sache und erwartete ihn vor dem Portal.

Punkt halb zwölf erschien er auf der Bildfläche.

Ach Du großer Schreck!

Hier in Marseille trug der Eskimo an Bord immer einen blauen Maschinistenanzug. Ich hatte ihn mir im Geiste vorgestellt, wie er jetzt in einem Sportkostüm kommen würde, wie er eins damals bei dem Ausflug im Feuerland getragen hatte.

Und jetzt kommt hier dieser Kerl an — in einen schwarzen Gehrockanzug eingeklemmt, mit Zylinder, mit Lackschuhen — aber mit was für Quadranten! — gelbe Glacehandschuhe, unterm Arme einen roten Regen oder Sonnenschirm, aber einen Damenschirm, mit weißen Spitzen dran — und natürlich seine qualmende Fuhrmannspfeife im Maule — und vorn neben der goldenen Ochsenkette baumelt wie eine Bombe eine Fischblase, mit Tabak gefüllt — und die beiden strahlenden Orden nicht zu vergessen. Dafür hatte er Kragen und Schlips vergessen.

So kommt der Kerl auf mich zugelatscht! Wie ein krummbeiniger Dachshund, der seine Pfoten in ungeheure Futterale gesteckt hat, ganz einwärts.

Die Straßenpassanten gafften so, dass sie vor Staunen ob dieser seltsamen Erscheinung gar nicht lachen konnten.

Ach, wie ich mich genierte, wie ich mich schämte! Aber ich konnte mir den Harlekin doch auch nicht wieder vom Halse schaffen. Selbst hierzu war ich zu feig!

Nur einen einzigen Ausweg wusste ich.

»Kommen Sie, wir fahren natürlich.«

Und hilfeflehend spähte ich die Straße entlang nach einer Droschke, womöglich nach einer geschlossenen. Aber da wollte keine kommen.

Doch dort drüben war ja ein Droschkenstand. Aber da musste ich mit diesem Harlekin erst über den freien, weiten Platz gehen, von vielen Menschen belebt.

Ach wie ich mich schämte! Wie in meiner fürchterlichen Verlegenheit mein Kopf immer mehr zu glühen begann.

»Nun, wohin, meine Herren?«, erklang da eine weibliche Stimme.

Es war die Patrona.

»Wir wollen — wir wollen — wollen —«

Mehr brachte ich nicht heraus. Was die denken musste; wo wir hinwollten, auf welchen Abwegen wir uns befanden.

Der Eskimo freilich hatte keinen Grund zur Verlegenheit, der konnte Auskunft geben, und er tat es ganz gründlich.

»Wir wollen speisen gehen. Suppe, Fisch, Braten, Geflügel, als Nachtisch viererlei Käse, Früchte und Eis.«

Man sieht, welchen Eindruck dieses Menu auf Mister Tabak gemacht hatte. Das hatte er sich offenbar bis jetzt immer hergesagt, es klang ganz so.

»Sooo!«, lachte die Patrona. »Also schlemmen wollen Sie gehen! Na da nehmen Sie mich doch mit. Ich habe überhaupt immer erwartet, Herr Waffenmeister, dass Sie mich einmal einladen würden. Ich gehe auch gern einmal ins Tingeltangel. Aber ich kann mich doch nicht den Matrosen anschließen. Ich habe immer stark auf Sie gehofft, Herr Waffenmeister.«

Ja, hatte ich das wissen sollen! Ich kann doch nicht zu meiner Schiffspatronin und überhaupt zu keiner anständigen Dame, mit der ich nicht durchaus vertraut bin, sagen: »Ziehen Sie sich an und gehen Sie mit mir ins Tingeltangel!«

Aber an so etwas dachte ich jetzt gar nicht. Ich dachte nur daran, diesen menschlichen Dackel im schwarzen Gehrock mit der Fuhrmannspfeife ohne Kragen und Schlips in einer geschlossenen Droschke verschwinden zu lassen.

»Wir wollen einen Wagen nehmen —«

»Wo ist denn das, wo es Suppe mit viererlei Käse gibt?«

»In der Rue Bergère —«

»Rue Bergère? Da bin ich doch gerade durchgekommen. Die ist doch ganz hier in der Nähe.«

»Ja es ist gar nicht weit —«

»Na, da promenieren wir doch zu Fuß hin.«

Und sie trat zwischen uns, brachte uns in Bewegung. Und da geschah etwas.

Dort in Marseille ist damals eine große Umwandlung mit mir geschehen, ist eine große Erkenntnis über mich gekommen!

»Mensch, erkenne Dich selbst!«

So stand im alten Griechenland über der Tür eines Tempels, und die griechischen Weisen hielten diesen Ausspruch für so bedeutungsvoll, dass sie ihn einem Gotte zuschrieben. Es soll das A und O aller Weisheit sein. Mit dieser Selbsterkenntnis fängt der Mensch überhaupt erst an, ein wirklicher Mensch zu sein.

Und damals dort in Marseille wurde ich solch ein wirklicher Mensch.

Indem mir nämlich die Erkenntnis kam, dass ich ein Affe war. Ein ganz großer Affe! Ein elender, feiger Affe!

Ach, wie ich mich schämte! Jetzt aber aus einem ganz anderen Grunde. Ob meiner Affenhaftigkeit. Mein einziger Trost war, dass ich auch gleich daran dachte, wie ich in der Welt ja nicht der einzige menschliche Affe sei. Dass ich noch so viele, viele Kollegen hatte!

Oder ist es nicht so? Na, Hand aufs Herz! Wir Herren der Schöpfung wollen uns in Sachen der Modetorheiten nur ja nicht über die Damen lustig machen. Wir Männer sind noch viel, viel größere Affen.

Wenn es heute dem König von England einfällt, auf der Straße ohne Kragen und Schlips zu gehen, die lange Studentenpfeife im Munde, so wette ich 100 gegen 1, dass einige Wochen später in Berlin Unter den Linden alle Männer, die Herren sein wollen, Gentlemen, ohne Kragen und Schlips mit der langen Pfeife herumlaufen, und wenn der Schusterjunge am Sonntag den Kavalier spielt, dann legt er dazu Kragen und Schlips ab und nimmt statt der Zigarre oder Zigarette die lange Pfeife.

Ich wette 100 gegen 1 und ich weiß, dass ich gewinne. Denn dass es so ist, das lehren hundert ähnliche Beispiele.

Ich will gar nicht von all den Herrenmoden anfangen, die England kommandiert, gehorsam von aller Welt nachgeahmt. Von dem Stehkragen, heute ganz niedrig, morgen bis an die Ohren; von den Handgelenkröllchen, womöglich aus Papier, heute rund, morgen flach geknöpft; Hose oben eng und unten weit — unten eng und oben weit; nur vorn eine Bügelfalte — vorn und hinten eine Bügelfalte — vorn und hinten und links und rechts eine Bügelfalte — nein, ich will nicht erst damit anfangen, da wird man nie fertig.

Nur eines will ich erwähnen, auch wie es gekommen ist: es war ums Jahr 1880, als der damalige Prinz von Wales, der nachmalige König Eduard VII. — the first gentleman of the world — die ganze Herrenmode der Welt kommandierend — als der einmal in einer Gesellschaft versehentlich seine Schlipsnadel schief trug, sie nicht genau in die Mitte gesteckt hatte.

Niemand wagte, den kronprinzlichen ersten Gentleman der Welt auf diese Inkorrektheit, auf diese furchtbare Entsetzlichkeit aufmerksam zu machen. Aber eine kleine Verabredung, und sämtliche Herren der Gesellschaft steckten ihre Nadeln ebenfalls schief in den Schlips.

Und einige Monate später trug die ganze Männerwelt, alle Männer der ganzen Welt, soweit sie auf dieser Erde einen Schlips tragen, die damals unentbehrliche Nadel schief im Schlipse! Hatte man keine Nadel an, so war »man« einfach unmöglich, halbnackt. Hatte man sie aus Versehen in die Mitte gesteckt, so wurde man zart oder spöttisch darauf aufmerksam gemacht, verwirrt verbesserte man den schrecklichen Fehler.

Oder ist es nicht so gewesen?

Na also!

Und wie nennt man so etwas? —

Ich bin nie eitel gewesen.

Meine Affenhaftigkeit bestand darin, dass ich mich genierte, schämte, mit einem Menschen auf der Straße zu gehen, der anders gekleidet war, als es die Mode vorschrieb, der überhaupt auffiel.

Gewiss, der Patrona fiel der kuriose Kauz auch auf, die amüsierte sich ebenfalls über ihn. Aber die genierte sich nicht, mit ihm zu gehen, das war der Unterschied!

Dieses junge Weib hatte darin eben einen viel stärkeren Charakter als ich, viel freiere, reellere Ansichten!

Indem ich aber damals dies alles erkannte, vor allen Dingen mich selbst, da kam es plötzlich wie eine Offenbarung über mich, da habe ich diese Schwäche wie mit einem Ruck für immer abgelegt.

Ich sehe wohl noch alles, aber eine Kleidung kann mich nicht mehr beeinflussen. Ob der, der neben mir hergeht, ein stutzerhaftes Gigerl ist oder ob er einen Arbeitskittel trägt oder ob er ein Naturmensch ist, barfuß und im Hemd, das ist mir ganz gleichgültig. Erst neulich wurden einem Freunde von mir, mit dem ich in einem freien Flussbade gewesen war, die Stiefel gestohlen, er musste einen weiten Weg in Strümpfen machen, wir kamen zuletzt auch durch belebte Straßen. Der machte sich auch nichts daraus. Das Straßenpublikum aber lachte und lachte über den eleganten Herrn, der da in Strümpfen lief. Weshalb das Publikum eigentlich lachte, das kann ich mir jetzt gar nicht mehr richtig erklären. Mir ist damals in meinem Gehirn eben etwas wie ausgelöscht worden.

Also wir marschierten los, Mister Tabak links, ich rechts, die Patronin in der Mitte. Ich plötzlich ein ganz anderer Mensch.

Übrigens zeigte es sich bald, dass wir auf den menschlichen Dackel sogar sehr stolz sein konnten! Denn ein Dackel im schwarzen Gehrock war und blieb er ja.

Das erste war, was ich bemerkte, dass ein Polizist vor uns Stellung nahm und salutierte.

Ich dachte erst, er begrüße die ihm irgendwoher bekannte Patronin.

Aber nein, Mister Tabak war es, der nachlässig einen Glacehandschuhfinger an die Krempe seines Zylinders legte!

Die Orden, die beiden Orden!

Eine Abteilung Rothosen marschierte unter Führung eines Unteroffiziers durch die Straße

Es gibt ausländische Orden genug, die gegrüßt werden müssen. Man erhält ja darüber Instruktion, wir wenigstens in der Marine erhielten sie.

Ja Du lieber Gott, soll man all diese Orden kennen, auf der Straße erkennen! Das Beste und Einfachste ist immer, wenn man zum Beispiel auf Posten steht, man präsentiert vor jedem Jahrmarktsorden. Da kommt man nie in Verlegenheit, und dem anderen macht's Freude. Ich habe immer auch vor jedem Zollbeamten und jedem Gerichtsvollzieher präsentiert. »Das haben Sie nicht nötig, vor mir zu präsentieren!«, sagte mir zwar so einer einmal — aber ich tat's, ich war eben ein höflicher Soldat.

So mochte auch der führende Unteroffizier denken, also die Rothosen nahmen Tritt und marschierten mit »Augen links« an uns vorüber, und dankend legte Mister Tabak den Finger an die Krempe.


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Ein Offizier kam uns entgegen. Ich bemerkte, wie er bei Anblick der beiden Orden unsicher wurde, wie er scharf und immer schärfer blickte und dann grüßte er höflich, sich im Gehen mehrmals verbeugend.

Vielleicht musste er es auch. Ich weiß es nicht. Jedenfalls aber war das eine glänzende Ding der Danebrog-Orden. Bei der eingeschneiten Nordpolexpedition, die der Eskimo herausgeschippt und zurückgeführt hatte, war ein Mitglied des dänischen Königshauses gewesen, und das ist doch etwas anderes, als wenn der Schornsteinfegergeselle August Schulze herausgeschippt wird, der Eskimo hatte doch auch mit dem König an einer Tafel gespeist, hatte ihm alles weggefressen — na und da hatte er doch auch nicht so einen kleinen Schruz-Orden bekommen können, sondern gleich den Danebrog-Orden.

Nun, kann man auf solch eine Begleitung nicht wirklich stolz sein? Auch wenn sie krumme Beine hat, über die große Zehe latscht, keinen Kragen anhat und Fuhrmannspfeife raucht, ab und zu den Schmant austrinkt?

Und das Straßenpublikum hatte einfach deshalb kein Lachen, weil es eben ganz Bewunderung war! Man muss diese Franzosen nur kennen, wie die für alles Exotische schwärmen, noch vielmehr als wir Deutschen.

Jetzt, nachdem der Offizier gegrüßt und unser Begleiter mit der ganzen Hand am Zylinder gedankt hatte, wurde er auch erkannt.

»Ist das nicht ein Japaner?!«

»Gewiss, das ist der Generalfeldmarschall Baron Noki, der Held vom Jalu.«

»O ciel!«, hörte ich eine elegante Dame flöten. »Was der für einen herrlichen Sonnenschirm hat! Ach so ein echter japanischer Sonnenschirm!«

Da hatte ich's! Ich wäre bald vor Entsetzen ob dieses roten Schirms mit den weißen Spitzen umgefallen — die hier wurde vor Entzücken darüber in den Himmel entrückt.

»Warten Sie mal hier, ich will mir ein paar Zigarren herausholen!«, sagte jetzt Baron Noki und trat in einen Tabaksladen.

Es war nicht gerade sehr rücksichtsvoll, aber als japanischer Generalfeldmarschall, der die Russen in die Pfanne gehauen hat, kann man sich so etwas schon leisten.

Diese Gelegenheit benutzte ich, um die Patronin über mein Vorhaben mit Mister Tabak einzuweihen. Ich hielt es für besser, wenn sie gleich darum wusste wie der sich mit der Sardine und dem Taubenbeinchen herumbalgen sollte.

»Ach, das wird ja köstlich!«

»Ja, hoffentlich wiederholt sich das alles auch so, dass die uns diesmal für den Franken nicht etwa jedem einen ganzen Hecht und einen ganzen Truthahn vorsetzen.«

Der Generalfeldmarschall Noki kam wieder heraus, mir einer Hundertkiste Zigarren, uneinpapiert.

»Halten Sie mal, Waffenmeister.«

Ich musste die Kiste halten. Importierte, achtzig Franken. Er nahm eine heraus, zermürbelte sie zwischen den Händen und stopfte sie in seine Pfeife. Er rauchte nur zerkleinerte Zigarren in der Pfeife, das wusste ich schon. Richtiger Pfeifenknaster ist ja auch fast nur in Deutschland, Österreich und Holland zu haben. Selbst in Amerika, von wo er meist kommen soll, ist er kaum aufzutreiben, man muss die Quellen kennen.

Dann, wie es wieder qualmte, schien er Lust zu haben, mir die Kiste aufzuhängen. Aber da gab es nichts, er musste sie selber unter den anderen Arm nehmen.

Wir waren erst einige Schritte weiter gegangen, als Oskar einherkam. Er zog den Hut und marschierte vorbei.

Erstaunt blickte ihm die Patronin nach.

»War denn das nicht unser Segelmacher?!«

»Gewiss, das war Oskar.«

»Was geht denn der so vorüber?!«

Ja warum! Weil Oskar eben wusste, was sich schickte.

Und überhaupt, ein Soldat kann doch auf der Straße keinen Offizier ansprechen. »Wo wollen Sie denn hin? Darf ich Sie ein bisschen begleiten?«

»Ach, der sollte mitkommen!«

»So rufen Sie ihn doch!«

Ich rief ihn, er kam zurück — jawohl, der hatte nichts weiter vor. Nun wir ihn aber einmal eingeladen hatten, taute er auch gleich auf, war eben Oskar, der »Kölner Jong«.

Das erste war, dass er mich um zehn Franken anpumpte. Obgleich er erst vorgestern, wie ich wusste, 300 Franken Vorschuss genommen, und vielmehr hatte er wohl auch nicht zu fordern.

»Sie bekommen es schon wieder, Waffenmeister. Von zu Hause habe ich zwar nichts mehr zu erwarten, aber ich beerbe einmal meinen Onkel, der hat erst neulich einen vorteilhaften Bankrott gemacht, und meine Tante hat — ach, meine Herrschaften, kennen Sie die famose Geschichte, wie der österreichische Seekadett in Peking mit dem russischen Offizier »meine Tante, Deine Tante« gespielt hat?«

So ging es gleich los.

Ja, ich kannte sie. Aber ich ließ Oskar erzählen. Es ist eine Tatsache, dieser famose Witz. Er war damals in aller Munde, die dort in den chinesischen Gewässern lagen, ich bekam ihn brühwarm erzählt, und der alte Kaiser Franz Joseph soll herzlich gelacht haben.

Der damalige Seekadett ist heute Kapitänleutnant in der österreichischen Marine.

Es war im Jahre 1900, damals bei dem Boxeraufstande, als die Truppen der verbündeten Mächte unter Graf Waldersees Oberkommando die in Peking belagerten Gesandtschaften befreit hatten.

Peking war eingenommen, es brannte an allen Ecken. Es wurde etwas mehr fouragiert, als erlaubt ist, jeder Soldat wollte ein Andenken mitnehmen. Besonders die Russen trieben's arg. Noch einmal wurde der strengste Befehl erlassen, dass auch keine Stecknadel genommen werden dürfte!

Durch die Straße marschiert ein Trupp österreichische Marinematrosen, geführt von einem Seekadetten. Der steht im Range eines Unteroffiziers, in solch einem Falle aber ist er voller Offizier, wie auch im Boot, wenn er es steuert.

Sie sehen im Fenster eines brennenden Hauses einen Vogelkäfig hängen, mit einem flatternden Kanarienvogel drin. »Den retten wir!«, Und die Rettung gelingt. Ein Matrose hängt den Käfig an die Mündung seines Gewehrs, es geht weiter.

Da kommt ein Trupp russischer Soldaten entgegen, geführt von einem jungen, aber hohen Offizier.

Der sieht den Käfig mit dem Vogel, hält die Österreicher an und stellt den Seekadetten zur Rede.

»Sie haben geplündert!!«

Der Seekadett, ein sechzehnjähriges Bürschchen, nimmt vor dem hohen Offizier Stellung und berichtet sachgemäß. Man hat dem armen Kanarienvogel nur das Leben gerettet.

Aber der russische Offizier lässt sich nicht darauf ein. »Ach was, Sie haben einfach geplündert!«, fährt er den Kadetten an.

Da gibt das Knäblein die Stellung als Untergebener auf, aber nur, um sich stolz mit blitzenden Augen emporzurichten.

»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?! Ich bin jetzt genau so gut Offizier wie Sie, österreichischer Offizier, und als Russe haben Sie mir gar nichts zu sagen.«

»Was?!«, braust da der Russe aus. »Wissen Sie, wer ich bin?! Ich bin der Prinz Stanislaus, meine Tante ist die Großherzogin Pedrowitsch!«

»Und ich bin der Seekadett Müller, und meine Tante hat bei Graz eine Streichholzfabrik!«, — —

So haben damals im brennenden Peking der österreichische Seekadett und der russische Offizier zusammen »meine Taute, Deine Tante« gespielt.

Und so erreichten wir das Speisehaus, befanden uns schon in der fidelsten Stimmung. Mit Ausnahme Mister Tabaks. Bei so einem transchluckenden Eskimo kann man doch auch keine humoristische Ader erwarten.

Wir setzten uns an einen Vierertisch. Es war wieder gerade so die richtige Zeit, gleich würde die Vorstellung beginnen. Den Wein brachte auch richtig wieder der Kellner mit dem Saucenfleck auf dem Vorhemdchen, das er noch gegen kein anderes vertauscht hatte.

Oskar schaute sich aufmerksam um. Der Bengel sprach ganz ausgezeichnet Französisch, besser als ich, war auch sonst schon in französischen Verhältnissen bewandert.

»Ach, jetzt weiß ich — das ist so ein Bums, wo man für einen Franken — auuuu!! Na hören Sie, Waffenmeister, Sie haben doch Platz genug, wenn Sie herumtrampeln wollen, die Erde ist doch so groß — weshalb denn gerade auf meinen Hiehneroogen?«

Aber mein gelinder Fußtritt unter dem Tisch war auch von einem Augenblinzeln nach Mister Tabak hin begleitet gewesen, und das genügte, Oskar verstand mich sofort.

Das Glockensignal zur Abfahrt des Zuges wurde gegeben, die Suppe kam. Es war dieselbe Kohlsuppe wie gestern, und nun beunruhigte ich mich auch nicht mehr, dass man heute jedem einen ganzen Hecht und einen ganzen Truthahn vorsetzen könnte. Vielleicht war's diesmal zur Abwechslung ein Stint und ein Sperlingsflügel.

»Ganz ausgezeichnet!«, lobte Mister Tabak, der sein Weißbrot bereits verschlungen hatte und jetzt wie versehentlich nach meiner Semmel griff.

Während wir die Suppe verzehren, will ich etwas anderes erörtern. Es war doch trotz seiner Billigkeit ein hochanständiges Lokal, und wir betrugen uns sehr auffallend, sehr frei, und das wurde immer schlimmer, wir trieben an unserem Tische immer mehr Allotria.

Aber die anderen Gäste sahen doch gleich, dass wir Seeleute waren, und Seeleuten muss man etwas nachsehen, das ist in Hafenstädten auch ganz selbstverständlich. Das beruht nämlich auf Gegenseitigkeit. Wenn die Landratten zu uns an Bord kommen, eine Seereise machen, dann betragen die sich auch etwas auffallend und sehr frei, die spucken uns immer das ganze Schiff voll, es ist ihnen vollständig gleichgültig, wohin sie den Inhalt ihres Magens entleeren, und wir sagen nichts, wir sind behilflich, wo und wie wir können — also müssen die auch nachsehen, wenn wir Seeleute nach langer, öder Reise wieder einmal an Land kommen und uns nur ein bisschen amüsieren wollen. Und sie tuns auch wirklich, in den Hafenstädten! Das sieht man am besten in Hamburg, wo sich das Seeleben der ganzen Welt am meisten konzentriert, was da für Szenen auf der Straße passieren, und die Schutzleute sehen gar nicht hin, die sind eben von oben angewiesen, und müssen sie einschreiten, so tun sie es nicht als Rächer, sondern als Helfer, als Beschützer, und ebenso verhält sich auch das feinste Publikum, soweit es ein echt Hamburger ist, den Seeleuten gegenüber. Denn dass eine Bande Matrosen in das vornehmste Hotel eindringt, den Champagner batterieweise anfahren lässt und ihn aus Eimern trinkt, das kommt in Hamburg täglich etliche Male vor. Und der echte Hamburger, der feine Kaufmann, der Handelsherr, der Patrizier, der amüsiert sich nur darüber, der freut sich, das gehört mit zu seiner Welthandelsstadt. Diese jungen, tollen, überschäumenden Kerls sind es doch, durch die er hier vom Herzen aus das Blut durch alle Adern dieser Erde pumpt. Und wirkliche Ausschreitungen kommen dabei gar nicht vor, das ist die Hauptsache! Nie wird eine Dame von Matrosen, von echten Teerjacken, belästigt werden! Sie kann die obskurste Matrosenkneipe betreten, sie kann allein das Schiff besichtigen, in alle Winkel kriechen — immer wird man sie mit Respekt behandeln.

Genau dasselbe findet man in Amerika und in Australien unter all den Männern, die man für gewöhnlich zum Abschaum der Menschheit rechnet. Unter Goldgräbern, Cowboys und dergleichen wildem Gesindel. Einerseits das ungenierteste Benehmen, bei jeder Gelegenheit hauen sie furchtbar übern Strang — anderseits wieder das artige, feine gentlemanlike, ritterliche Auftreten, besonders dem Weibe gegenüber, sobald sie merken, dass es nicht zu ihrer Gesellschaft gehört.

Es ist hiermit ein tiefes psychologisches Geheimnis verbunden. Die Hauptursache dabei ist wohl das Gefühl und das Bewusstsein der eigenen Kraftfülle. Der amerikanische Novellist Bret Harte hat diese Doppelnatur solcher Männer in unübertrefflicher Weise geschildert.

Hier in diesem Lokal wurden wir auch erkannt.

»Das sind welche von der »Argos«, wurde geflüstert, »von dem Menagerieschiffe.«

Unser Schiff hatte vom Hafenmeister einen sehr schönen Platz an einem einsamen Kai zugewiesen bekommen. Aber jetzt war dieser Kai nicht mehr einsam. Fortwährend staute sich darauf die Menge und gaffte unser Schiff an. Es konnte ja auch nicht anders sein. Schon das Aussehen des ganzen Schiffes, was man hier in solch einer großen Hafenstadt doch sofort beurteilen konnte — eine Kreuzerfregatte, ein Kriegsschiff, als Handelsschiff, als Lustjacht.

Unversichert! Das gab es in Marseille wohl wenige, die nicht wussten, was das zu bedeuten hatte, sonst hatten doch schon längst die Zeitungen dafür gesorgt. Und nun konnten die vielen Tiere doch nicht immer unten im Raume eingesperrt bleiben, und hätten wir auch in der Mitte des Hafens gelegen, selbst die Katzenraubtiere hätten jedenfalls einen Abstecher nach dem Lande gemacht. So war das ganze Vordeck, wozu schon alles vorhanden gewesen, mit einem Gitter umgeben, die Polizei hatte sich veranlasst gesehen, die Sicherheit zu prüfen, hatte die Erlaubnis gegeben, und so trieb sich nun die ganze Menagerie doch noch auf dem freien Deck herum. Da hatte das Publikum natürlich etwas zu gaffen.

»Das sind Argonauten!«, wurde geflüstert.

Also auch dieser Name war schon bekannt. Wir selbst brauchten ihn an Land gar nicht in den Mund genommen zu haben. Er kam jedem, der etwas von jener mythischen Erzählung wusste, ja von selbst, auf die Zunge.

»Das ist sie, la baronne de la mer!«, hörten wir flüstern.

Die Freifrau von der See! Da war es schon! Ja, konnte man denn der Eigentümerin solch eines Schiffes — eines unversicherten, daher fast absolut freien Schiffes — einen passenderen Namen geben?

La baronne de la mer bekam einen ganz roten Kopf, sicher mehr vor Vergnügen, als vor Ärger.

Und dann wurde hier auch der japanische Generalfeldmarschall Baron Noki demaskiert, man erkannte seine wirkliche Gestalt. Das ging doch alles schon von Liverpool aus, wo alle Namen registriert worden waren, und solche große Hafenstädte hängen durch gemeinsame Interessen so eng miteinander zusammen, und die Zeitungen tragen alles in die Öffentlichkeit.

»Das ist der Eskimo, der berühmte Nordpolfahrer, früher ein Walfischjäger — der hat von der Königin Wilhemine der Niederlande —«

Und so weiter, und so weiter. Sie wussten alles! Und die guten Bürger dieser Republik, deren Wahlspruch »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« heißt — sie sind so überaus devot! Ach, wie die für Titel und für Orden und für dergleichen schwärmen! Wie die sich so gern bücken! So gern, so gern und so tief! Die Amerikaner sind aber da nämlich nicht viel anders.

Und ich habe so feine Ohren! Daher bin ich auch so musikalisch. Aber ich bin weithörig. Meine eigenen Töne höre ich nicht.

Nun aber, da wir erkannt worden, konnten wir uns auch mancherlei erlauben, das fand man jetzt nur noch »höchst interessant«, was sonst vielleicht für rüpelhaft gegolten hätte. »Quod licet Jovi, non licet bovi.« Was dem Jupiter erlaubt ist, ist noch lange nicht jedem Ochsen erlaubt.

Von diesem Gesichtspunkte aus musste man auch das betrachten, was jetzt der ordensbesternte menschliche Dackel im schwarzen Gehrock tat, der den Zylinder auf dem Kopf behalten hatte.

»Kommt denn der Fisch nicht bald?«, fragte er.

»Da kommt er schon.«

Mister Tabak hatte bereits mehrmals kopfschüttelnd das silberne oder versilberte Tafelmesser betrachtet, mit dem er speisen sollte, hatte die abgeschliffene Klinge schnellen lassen — jetzt legte er es hin, griff unter die Weste, brachte einen breiten Stahl zum Vorschein, der immer länger und länger wurde, bis es ein Schlachtmesser war, schon mehr ein Schlachtschwert.

Mit diesem ungeheuren Messer mochte er früher im hohen Norden so manchen Walfisch abgespeckt haben. Jetzt gebrauchte er es nur noch dazu, um den Schweinespeck, den er mit Vorliebe aß, in mundgerechte Viertelpfundbissen zu zerschneiden. Er kaute nicht gern, obgleich er ein wahres Wolfsgebiss hatte, und solche kleine Bissen, nur von einem Viertelpfunde, brauchte er nicht erst zu kauen.

Und nun stemmte er dieses ungeheure Messer in der rechten Faust aufrecht auf den Tisch, auch die linke Faust lag auf dem Tische. »Klar zum Gefecht! Nun kommt mal her, Ihr gebratenen Fische, ich forcht mi net, ich will mit Euch schon fertig werden!«

Das sagte er nicht etwa. Gar nichts. Aber alles drückte es aus. Ach, war dies allein schon ein Anblick! Wie der da saß, mit dem Zylinder auf dem Kopfe, mit dem ungeheuren Messer, so kampfbereit —.

Der Fisch wurde serviert.

Richtig für jeden wieder eine gebratene Sardine.

Und heute waren die Fischchen vielleicht noch dürftiger ausgefallen.

Ja, wie soll ich es nun beschreiben.

Wie der Eskimo dasaß mit seinem Schlachtschwert, ohne sich zu rühren, und vor sich das Fischchen anblickte.

Lange Zeit wortlos, bewegungslos, tiefsinnig.

Wie er mir dann schnell einen misstrauischen Seitenblick zuwarf.

Wie er dann langsam sein Schwert hob und die Spitze senkte, das Sardinchen anspießte, es vor seine Augen brachte und es wieder lange Zeit ganz tiefsinnig betrachtete.

Wie er mir dazwischen wieder einen schielenden Blick des Misstrauens zuwarf.

Wie er dann seine linke Faust hob und öffnete, zugriff, das Fischchen vorsichtig mit zwei Fingern von der Messerspitze nahm, wie er seinen ungeheuren Rachen aufklappte, das Fischchen langsam hineinsteckte, wie er seinen Rachen wieder zuklappte — nur ein Druck, nicht eigentlich ein Schluck, und das Fischchen war begraben.

Und dann saß er wieder wie vorhin da, das Messer aufgestemmt, ernst, feierlich, tiefsinnig, auf das Weitere wartend.

So etwas geht eben gar nicht zu beschreiben; wenigstens die Wirkung bleibt aus.

Ich wundere mich noch heute, dass ich damals so ernst bleiben konnte.

Auch die Patronin blieb ernst; nur dass sie ab und zu ein ganz seltsames Grunzen von sich gab.

Und als sie dann herzlich lachte und ich auch, da hatten wir hierfür auch schon einen anderen Grund gefunden.

Die Ursache dazu war nämlich Oskar. Der hatte die Situation doch sofort erfasst, er wusste jetzt, dass die Schiffsherrin mit uns gegangen war, um sich mit uns zu amüsieren, und da ließ nun der »Kölner Jong« seinem Mutterwitz die Zügel schießen.

Ach, wie der seine Sardine tranchierte! Natürlich nur mit der Gabel in der Rechten, in der Linken ein Stückchen Semmel — noch viel zierlicher und eleganter als dort drüben das schickste Dämchen — aber wie er nun dann die Bissen in den Mund schob, wie er auf beiden Backen kaute! Und nun dieses Schwadronieren dazu!

Ich will es nicht wiedergeben. Nur das, was er zuletzt machte, als er aber noch die Hälfte seiner Sardine auf dem Teller liegen hatte.

»Aaaaah, ich kann nicht mehr! Entschuldigen die Herrschaften, es ist nicht sehr fein, aber — bitte, Herr Oberkellner — Garçon! — einen Bogen Zeitungspapier! Einen recht großen. So, danke. Ich werde mir die andere Hälfte mit nach Hause nehmen, gerade Bratsardine esse ich sehr gern kalt — vielleicht noch etwas in Essig eingelegt — sie muss erst ein paar Tage ziehen —«

Und er packte den Rest der Sardine ein, machte ein recht großes Paket davon.

Nicht nur wir lachten. Das ganze Lokal lachte mit. Auch die Kellner und die hinterm Büfett.


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Oskar packte sich unter dem Gelächter aller Anwesenden
den Rest seiner Sardine in einen großen Zeitungsbogen,
der Eskimo aber saß noch immer mit aufgepflanztem
Schlachtmesser schweigend und erwartungsvoll am Tisch.


Dann kam der Braten. Das war diesmal aber doch etwas anderes. Kalbskotelett. Aber an dem Knochen war heute noch weniger dran als gestern. Kalb ist teurer als Hammel. Und wieder fing Oskar zu tranchieren und mächtig zu kauen an, konnte nicht alles aufessen — »beim besten Willen nicht! Weshalb nur immer so große Portionen? Garçon! Bitte! Einen Zeitungsbogen.«

»Um Gottes willen, Mister Kabat, was machen Sie denn?«, rief die Patronin erschrocken.

Der hatte, nachdem er den »Braten« genügend lange angestarrt, es mit ihm genau so gemacht wie mit der Sardine, hatte gleich den ganzen Knochen verschluckt.

Ja, da war nichts mehr zu machen, der war weg! Dann kam für jeden richtig wieder ein Täubchenbein, und wie der Eskimo dieses längere Zeit tiefsinnig betrachtet hatte, es am Knöchelchen vor sich hin haltend, kopfschüttelnd, da fand er endlich auch einmal Worte.

»Geflügel. Hm. Also das ist Geflügel. Herr Waffenmeister, was heißt das auf Französisch, Geflügel?«

»Volaille. La volaille.«

»Volaille. So. La volaille. Das hier scheint aber nur volaille zu sein, da fehlt das la dran.«

Und er verschluckte das Taubenbein.

Hatte er diesen Witz mit Absicht gemacht? Wusste er überhaupt, was für einen ausgezeichneten Witz er da gemacht hatte?

Aber so etwas lässt sich ja gar nicht schildern, das lässt sich nur miterleben.

Er hatte Englisch gesprochen. Es mochte hier doch Herren und Damen geben, die Englisch verstanden. In unserer Nähe saß ein älterer, würdevoller Herr, der sich gar nicht um uns kümmerte, noch keine Miene verzogen hatte.

Der trinkt gerade aus seinem Glase, wie der Eskimo die Bemerkung macht, dass diesem »volaille« wohl das »la« zu fehlen scheine — und plötzlich bekommt der alte Herr einen Hustenanfall, sprudelt den ganzen Rotwein wieder heraus, macht, dass er hinauskommt, kann aber vor Lachen kaum noch das Freie gewinnen.

»Aaaaah!«, machte da Oskar mit ganz verklärtem Gesicht, plötzlich einen Hundertfrankenschein in der Hand haltend.

Er hatte seine Rocktaschen untersucht, um darin Platz für die drei Pakete zu schaffen, und hatte einen Hundertfrankenschein gefunden.

»War es mir doch immer, als ob ich drei Hundertfrankenscheine noch gar nicht hätte ausgeben können! Nee, meine Herrschaften, wenn ich noch hundert Franken habe, dann bleibe ich nicht hier!«

Und er stürzte hinaus. Kam allerdings bald wieder, schon beim viererlei Käse, aus dem er wie aus den Früchten und sogar aus dem Eise, wozu er sich eine Butterbüchse geben ließ, immer mehr Pakete machte, um sie »mit nach Hause« zu nehmen.

»Der Wagen ist vorgefahren!«, meldete der Kellner. Was denn für ein Wagen?

Ja, da war allerdings einer vorgefahren, ein leerer Lastwagen, bespannt mit zwei mächtigen Gäulen.

Auch der Kutscher trat ein, der Fuhrknecht, ein Herkules mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, blickte sich suchend um.

»Hier, hier, mein Lieber!«, sagte Oskar. »Fassen Sie an, aber sehen Sie sich vor, heben Sie sich keinen Bruch, ich helfe mit.«

Und er half mit, die sechs Paketchen hinauszutragen und auf den Lastwagen zu laden, der Fuhrknecht schmunzelte nicht schlecht, besonders als Oskar gleich bezahlte, er hatte den Hundertfrankenschein schon gewechselt, 15 Franken kostete die Fuhre bis nach der »Argos«, natürlich gab Oskar einen Louisdor.

»Höööh!!«, stöhnte er dann, wie er sich hinten gegen den Wagen stemmte, um ihn in Fahrt zu bringen, mit den sechs Paketchen.

Das sind eben solche Matrosenwitze. Das muss man aber selbst mit ansehen. Und nicht eigentlich, dass die Matrosen dabei andere belustigen wollen. Nein, das tun sie zu ihrem eigenen Gaudium.

Die Patronin lachte, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen. Und das ganze Lokal mit ihr.

Wir waren fertig, hätten gehen können.

Da nahm erst noch einmal der heute so schweigsame Mister Tabak das Wort.

»Suppe —« sagte er bedächtig vor sich hin, »Fisch — Braten — Geflügel — viererlei Käse — Früchte — Eis —«

Dann hob er langsam sein gewaltiges Messer, das er noch in der Faust hielt und schüttelte es gegen mich.

»Waffenmeister — mit Ihnen gehe ich ja gleich wieder speisen!«

»Na was denn?«, übernahm Oskar da meine Verteidigung. »Das war doch der erste Gang.«

Der Eskimo stutzte, wenn er sonst auch nicht viel fürs Stutzen war.

»Wie? Der erste Gang?«

»Na freilich doch. Haben Sie noch nie in einem französischen Restaurant gespeist?«

»Nein.«

»Dann werden Sie jetzt merken, wie das in Frankreich gehandhabt wird. Das ist eben in Frankreich ganz anders. Diese fünf oder sechs Gänge bildeten nur den ersten Teil des Ganzen, das sechs solche große Abteilungen hat. Nun wird dasselbe noch einmal serviert, aber meist fängt man dabei von hinten an. Und überhaupt mit Variationen. Und zwischen den einzelnen Hauptgängen gibt es auch immer eine Zwischenpause. Da kommt sie ja schon —«

Gleich vier Kellner kamen schmunzelnd anmarschiert, jeder eine große Platte tragend, und auf jeder lag majestätisch ein mächtiger Schweinskopf, lorbeer- und olivenbekränzt, eine Zitrone im Maule.

So bekam jeder von uns vier seinen Schweinskopf vor sich hingesetzt!

Oskar hatte sie schnell besorgen lassen, wo und wie, das habe ich nicht gefragt, jedenfalls aber hatte er sie bezahlt.

Und nun vor allen Dingen wundere man sich nicht mehr, wo die Matrosen immer ihr Geld lassen.

Und niemand wolle sagen: solch ein Unsinn, solch eine Zwecklosigkeit!

Da müsste man doch erst einmal ergründen, was beim Geldausgeben Sinn und Zweck hat.

Wenn ein Matrose für ein Jahr furchtbar schwere, gefährliche Schiffsarbeit tausend Mark ausbezahlt bekommt und es macht ihm Vergnügen, sich einen Kutschwagen zu mieten, eine Spazierfahrt aufs Land zu machen, vor einem Kolonialwarengeschäft zu halten, drei Pfund Astrachaner Kaviar zu kaufen und mit diesem die quietschenden Wagenachsen einzuschmieren — wie wir es nämlich einmal in Bremerhaven gemacht haben — so geht das keinen einzigen Menschen etwas an!

Wenn es nur bezahlt wird!

Dem Kaufmann ist es ganz egal, ob man mit seinem Kaviar die Wagenachsen einschmiert oder ob man ihn verschlingt, der freut sich über den großen Verdienst, da kann er sich ein Paar neue Hosen machen lassen, die er vielleicht sehr nötig hat, und da freut sich wieder sein Schneider.

Und wenn jemand sagt: das sollte man doch lieber den Armen und Waisen zuwenden — gut, Ihr braven Leute, dann macht's vor, dann wollen wir's Euch nachmachen!

Dann aber, geehrte gnädige Madam, dürfen Sie auch nicht mehr für einen Hut hundert Mark oder zwanzig Mark oder fünf Mark ausgeben, man bekommt schon einen Hut für eine Mark, das, was Sie ersparen, geben Sie also den Armen und Waisen — wir machen's nach!

Und so fort, und so fort! —

Ich mache hier Schluss mit dieser Essereigeschichte. Wir drei räumten das Schlachtfeld, überließen es dem Eskimo, mit den vier Schweinsköpfen fertig zu werden.

Als wir am Fenster vorbeigingen, sahen wir ihn, wie er den einen schon beim Wickel hatte und ihm mit ganz verklärtem Gesicht einen Kuss auf die Schnauze gab, wobei freilich viel zwischen seinen Wolfszähnen hängen blieb.

Halt! Ich musste doch noch einmal zurück. Ich hatte ja ganz meinen Saucenfleckonkel vergessen, die Sache mit den zwei Napoleonsköpfen ohne Lorbeerkranz.

Ich traf ihn in der Hausflur und nahm ihn vor.

»Non, non, non, non, non, monsieur!«

»Oui, oui, oui, out, oui, monsieur! Alter Junge, Du hast mir gestern hier die beiden falschen Frankenstücke gegeben. Parole d'honneur — auf mein Ehrenwort!«

Ich brauchte ihn nur scharf anzublicken, da gab er sein Zögern auf, und nicht etwa, dass er nun so tat, als wolle er mir zwei Franken schenken, was ich mir nicht hätte gefallen lassen.

Ohne weiteres griff er in die Tasche, fand aber nur ein Fünffrankenstück. So gab ich ihm noch drei Franken zu, die Sache war in Ordnung.

Es war spät am Abend, schon in der Nacht. Draußen am Belle de Mai war Volksfest, wir fuhren Karussell. Nicht nur wir drei, es hatten sich noch andere Argonauten zusammengefunden, und selbstverständlich gehörte dieses Karussell überhaupt uns, alles hatte freie Fahrt.

Die Patronin ritt gerade auf einem Zebra. August der Starke neben ihr auf einem Schwan, oben über ihnen machte Oskar an einer Eisenstange die Bauchwelle, als ich wieder einmal bezahlen wollte.

»No good, no good, Mister — Papa no good!«, sagte der internationale Karussellbesitzer, mir das Fünffrankenstück zurückgebend.

Ich besah es mir. Ich hatte nur ein einziges Fünffrankenstück bei mir gehabt, das von dem Saucenfleckonkel.

Himmelbombenelement noch einmal, tausend mit Granaten, Klüverbaum und Katzenschwänze!

Hat mir der Kerl ein Fünflirestück vom alten Kirchenstaate gegeben, mit dem Papste darauf!

Italienische Fünflirestücke werden in ganz Frankreich als voll genommen, aber — — »Papa no good«.

Das heißt, nun ging ich aber nicht noch einmal hin. Der knöpfte mir sonst noch mein ganzes Vermögen ab. Gewiss er würde das wertlose Fünflirestück wieder zurücknehmen, hatte aber nur einen Louisdor bei sich, ich gab gutes Geld heraus — und dann hatte er mir wieder einen falschen Louisdor aufgehalst! Und so ging das immer weiter, bis ich zuletzt eine Million falsche Tausendfrankenscheine hatte! Nein, ich ging nicht mehr hin! Diese Erfahrung genügte mir, wenn ich auch ein paar Franken dabei verloren hatte.

Diese Sache hat aber auch noch eine sehr ernste Seite. Es gibt doch auch in Deutschland falsches Geld. Direkt falsches, und dann wertloses, außer Kurs gesetztes, alte Taler, alte Fünfgroschenstücke und dergleichen. Jeder Ladeninhaber hat solche Münzen in einer besonderen Schublade, er bekommt doch immer einmal eine aufgehängt.

Nun nehme man an, ein Franzose, ein Arbeiter, nur ein paar Brocken Deutsch sprechend, betritt in Deutschland einen kleinen Laden, kauft etwas, ein Stück Wurst, ein paar Zigarren, gibt ein gutes Fünfmarkstück hin. Hier wäre Gelegenheit, dem Manne falsches Geld aufzuhängen. Hat er's genommen, ist er einige Zeit weg, dann kann er gar nicht mehr viel machen.

Glaubt man, dass solch ein deutscher Ladeninhaber — oder eine Fleischersfrau, wollen wir einmal annehmen — diesem Franzosen nun mit Absicht falsches Geld aufhängen würde, um sich zu bereichern?

Nein, der Deutsche, der wirklich ein echter Deutscher ist, der ist zu so etwas gar nicht fähig! Und ich bin nicht etwa ein so großer Patriot, so ein Chauvinist, meine ich, so ein Hurraschreier. Aber was man als feste Überzeugung bekommen hat, das muss man auch aussprechen, sonst ist's eine Sünde wider den heiligen Geist, die allein nie verziehen werden kann. Der Deutsche ist zu so etwas viel zu ehrlich. Aber »ehrlich« ist hierfür nicht das richtige Wort. Solch eine Niederträchtigkeit, einen armen Kerl, der nicht deutsch kann und das Geld nicht kennt, so übers Ohr zu hauen, das kommt einem Deutschen überhaupt gar nicht in den Sinn! Einem germanischen Deutschen, meine ich! Und dasselbe gilt für den Holländer, für den Dänen, für den Skandinavier, für den Engländer! Aber der Geschäftsinhaber muss auch wirklich ein germanischer Engländer sein! Es gibt auch noch viele andere Engländer.

Und nun gehe man nach Frankreich und Italien. Allerdings nicht als Vergnügungsreisender, der nur in besseren Hotels wohnt, sich einen Führer nimmt. Nein, man frage einen Deutschen, der in Frankreich und Italien gearbeitet hat, was der für Erfahrungen gemacht hat, ehe er Sprache und Geld und alle Verhältnisse kannte. Oder wir Seeleute, die wir in eine kleine Bude treten, weil wir ein paar Nähnadeln brauchen.

Was man da für falsches und wertloses Geld aufgehängt bekommt, wie man da in jeder und jeder Weise betrogen wird!

O diese romanischen Völker!

Äußerlich Kavaliere, jeder Straßenkehrer von liebenswürdigster Höflichkeit — innerlich alles durch und durch verrottet!

Diese romanischen Völker sind nicht durch Schicksalsbestimmung dem Untergang geweiht.

Die graben sich ihr eigenes Grab.

Eine faule Frucht kann nicht mehr lange am Baume hängen.

*

12. Kapitel

In Paris, meines Vaters Brief und eine Rose

Originalseiten 296 — 325

Die Patronin ließ mich zu sich in ihre Kajüte bitten. »Würden Sie mich einmal nach Paris begleiten, Herr Waffenmeister?« »Sie brauchen doch nur zu befehlen.«

»Nein, es hat nichts mit dem Schiffsdienst zu tun. Es ist eine ganz private Angelegenheit. Wollen Sie mich als mein Beschützer nach Paris begleiten?«

»Bis ans Ende der Welt — würde ich sagen, wenn das nicht eine schon zu abgedroschene Redensart wäre.«

»Aber wir halten uns gar nicht auf. Nicht, dass wir Paris besichtigen. Mir ist es höchst unangenehm, dass ich mich nur für eine Stunde von meinem Schiffe, von meinen Argonauten trennen muss, und hier muss ich doch wohl mit 36 Stunden rechnen. Wir kehren mit dem nächsten Schnellzuge zurück.«

»Wie Sie bestimmen.«

»Ich nehme nichts weiter mit als eine Hundepeitsche.«

»Eine Hundepeitsche?«, stutzte ich.

»Lesen Sie mal hier diese Broschüre.«

Es war ein dünnes Heftchen, das sie mir gab, nur 16 Druckseiten, das meiste daran war der dicke Umschlag. Kostete aber einen ganzen Frank.

Der Titel lautete: »Madame Helene Neubert et les Argonautes.«

Hallooohhh!!

Ich las die erste Seite und bekam schon einen ganz roten Kopf — es wurde auf die Ungeheuerlichkeiten vorbereitet, die auf der »Argos« an der Tagesordnung waren. Ich blätterte herum und las nur noch eine einzige Stelle — einfach die größte Schweinerei — und ich schleuderte das Heft zu Boden.

»Genug!«

»Lesen Sie nur.«

»Genug, genug!!«

»Diese Broschüre ist noch nicht im Buchhandel erschienen!«, fuhr die Patronin gemächlich fort. »Die Sache ist folgende: so ein Berufsschriftsteller, der übrigens schon durch verschiedene Schandpamphlete bekannt ist, schon mehrmals deshalb bestraft worden ist, hat von mir gehört, kommt plötzlich auf den Gedanken, wie er an mir ein paar tausend Franken verdienen kann. Er schmiert hier einfach so etwas zusammen, alles aus der Luft gegriffen, nur recht skandalös. Einen Verleger dafür findet er schon. Die beiden machen halbpart. Verklage ich sie — na, das ist sogar gut für die, dann werden sie erst recht berühmt und ihr Schäfchen bringen die erst ins Trockene. Aber ich bin ja auf hoher See, ich weiß ja gar nichts davon. 100 000 Exemplare werden die schon absetzen. Nun ist das aber erst eine Einleitung. Hinten steht, dass alles, was hier erst angedeutet ist, wenn auch schon deutlich genug ist, demnächst in einem Buche ausführlich behandelt wird, von einem Augenzeugen geschildert. Preis sechs Franken. Es kann schon jetzt darauf subskribiert werden. Also jedenfalls wird's ein Bombengeschäft.

Nun aber bin ich mit einem Male mit meinem Schiffe in Marseille. Der Verleger in Paris erfährt es und — da wird es ihm doch etwas schwummrig zumute, sagt man wohl. Jetzt ist es noch Zeit, den Unschuldigen zu spielen. Noch ist kein Risiko vorhanden. Da schickt er mir also jetzt diese Broschüre, ein Probeexemplar, das andere ist noch nicht im Druck — ob das stimme, ob das den Tatsachen entspreche, ob er das mit meiner Erlaubnis veröffentlichen dürfe —«

Die Patronin musste erst einmal lachen, und es klang gar nicht gezwungen, ehe sie fortfuhr:

»Nein, es entspricht nicht den Tatsachen, und ich gebe meine Erlaubnis nicht dazu! Und wenn er auch nur ein einziges Heft in die Öffentlichkeit kommen lässt, dann könnte er ja was erleben. Das habe ich ihm telegrafiert. Aber auch noch etwas anderes habe ich ihm telegrafiert. Der edle Mann hielt es nicht mit seiner Ehre für vereinbarlich, mir den Namen des anonymen Verfassers zu nennen. Jetzt hat er es aber doch getan. Alfonso Leblanc heißt der Gute, Paris, Montmartre, Rue de la Victoire Nummer 117 —«

Da kam Doktor Isidor eiligst herein, ein Kursbuch in der Hand.

»Verzeihen Sie — Ihr Schnellzug fährt schon um acht — ich habe mich vorhin geirrt!«

Die Patronin warf einen Blick nach der Uhr.

»Und jetzt ist es halb. Hinkommen tun wir noch! Herr Waffenmeister, sind Sie fertig?«

»Wenn ich nichts mitzunehmen brauche — ich bin fertig.«

Wir gingen, wie wir standen, nahmen erst unterwegs einen Wagen nach dem Bahnhof, punkt acht entführte uns der Schnellzug. Acht Uhr abends!

Die Patronin, die schon im Reisekleid gewesen, hatte nur eine Handtasche bei sich, ich hatte mir noch vier Taschentücher und zwei Kragen eingesteckt.

Natürlich fuhren wir erster. Natürlich — denn wenn die Besitzerin eines schuldenfreien Schiffes von 5000 Tonnen nicht erster Klasse fahren soll, wer soll es denn sonst tun?

Bis Lyon war in unserem Coupé noch eine Dame, die sich dann zufällig als Kellnerin entpuppte.

Während der ganzen Fahrt sprachen wir nur einmal noch über unser Vorhaben.

»Sie wollen den Monsieur mit der Hundepeitsche traktieren?«, fragte ich.

»Nein. Eine Hundepeitsche habe ich allerdings mit, die werde ich aber nur auf den Tisch legen. Ich werde mir keine Blöße geben, dass er mich wegen Hausfriedensbruch und wegen Misshandlung verklagen kann.«

»Ja, was wollen Sie denn sonst mit ihm machen?«, Da fing die Patronin zu lachen an.

»Passen Sie nur auf, ich habe eine famose Idee bekommen. Es wird etwas ganz Köstliches! Nur ich ganz allein könnte es nicht ausführen. Haben Sie eine Waffe bei sich?«

»Einen Revolver.«

»Das genügt. Sie werden schon selbst gleich merken, was Sie zu tun haben, ich brauche Ihnen nicht die geringste Instruktion zu geben. Sie sind eben mein Beschützer, nichts weiter. Sie werden sich hinterher totlachen. Sie werden wohl auch schon lachen wollen, während ich ihn bestrafe. Da aber müssen Sie ernst bleiben; sonst verrate ich nichts.«

Na, da war ich gespannt.

Es gibt ja verschiedene Schnellzüge, dieser hier war ein sehr guter, brauchte nur 13 Stunden nach Paris, hatte in Lyon nur eine Viertelstunde Aufenthalt, die anderen Aufenthalte in größeren Städten zählten nur nach wenigen Minuten.

Wir unterhielten uns hauptsächlich über das Gauklerwesen. Wir hatten nämlich in Marseille schon eine Unmenge von schriftlichen und mündlichen Angeboten erhalten, von Seegauklern, die überall auf dem Meeresgrunde und an der Küste Schätze liegen wussten, die nur des Abholens warteten.

Da wir uns auf keines einließen, will ich hier auch nicht weiter darüber sprechen. Ich muss es später desto mehr.

Interessant war jedenfalls unsere Unterhaltung. Ein Schlafwagen war vorhanden, aber wir benützten ihn nicht, desto mehr den Speisewagen, und von Mitternacht an machten wir ein Nickchen, jedes in seiner Ecke.

Früh um neun kamen wir in Paris an. Was hier zuerst geschah, das hatte mir die Patronin schon gesagt. Es war zur Ausführung ihres Vorhabens noch zu früh, und sie hatte überhaupt etwas zu tun, was sie zwei Stunden beschäftigen würde, und was sie allein erledigen wollte. Ich möchte einstweilen in ein Hotel gehen, von wo sie mich abholen würde. Sie könne aber erst mit hinfahren.

Also wir nahmen einen Wagen, eine Droschke — na, in Paris, dieser eleganten Weltstadt, haben sie aber Droschken, und diese elenden Gäule, was ja auch bekannt genug ist! — Wir sagten dem Kutscher, er solle uns nach einem besseren Hotel in der Nähe bringen.

»Nach dem Hôtel des Anglais?«

»Ganz egal, wenn es nur gut und nicht zu weit ist.«

Wir fuhren los, und der Kerl fuhr uns genau eine halbe Stunde lang. Erst später habe ich es konstatiert, nämlich, dass uns der Halunke im Kreise herum gefahren hat. Wir waren auf dem Lyoner Bahnhof angekommen, und das Hôtel des Anglais befand sich gleich nebenan in einer Seitenstraße.

Das war schon die erste Prellerei gewesen, und als ich es merkte, war der Kutscher schon längst fort. Was hätte man denn tun sollen? Ihn etwa verprügeln?

Die Patronin benutzte diese selbe Droschke noch weiter, kam gar nicht erst mit herein.

»Also hier warten Sie auf mich. Aber Sie brauchen nicht immer hier zu sitzen. Jetzt ist es halb zehn. Ich bin Punkt elf wieder hier. Keine Minute früher und keine später. Ich halte etwas auf Pünktlichkeit. Auf Wiedersehen.«

Der Wirt selbst komplimentierte mich hinein, Monsieur Alfonse Gueit, ein echter Franzose, Pariser. Es war ein sehr kleines Hotel, unten war nur ein einziges Lokal, allerdings alles sehr schön aussehend. Jedenfalls, das fiel mir aber erst später ein, war der vor dem Bahnhof haltende Kutscher gespickt, dass er Fremde hierher brachte, erhielt seine Provision. Mit Engländern hatte dieses Hotel des Anglais gar nichts zu tun, und weder der Wirt, noch der einzige Kellner, den ich zu sehen bekam, sprach Englisch.

»Wünschen Sie zu frühstücken, mein Herr?«

Jawohl, frühstücken! Erst aber wollte ich mich einmal waschen. Und noch vorher meinen Durst löschen. Ich hatte einen schmählichen Durst. So trank ich erst zwei kleine Flaschen Sodawasser, dann wurde ich auf ein Zimmer geführt, ganz hübsch, aber auch ganz einfach, nicht etwa luxuriös, wusch mir Gesicht und Hände, wozu ich aber erst klingeln musste, um mir ein Stück Seife geben zu lassen, dann nochmals für einen Kamm, für eine Kleiderbürste, dann begab ich mich wieder hinab.

Das Frühstück wurde serviert. Zuerst ein Spiegelei. Als zweiter Gang ein gebratenes Scheibchen Schinken, wieder mit einem Spiegelei darauf.

»Na nun hören Sie auf mit der Eierei.«

»Der dritte Gang ist Filet de boeuf.«

»Ja, schon gut, ich mag nichts mehr, ich bin satt.«

Hierzu hatte ich noch eine dritte Flasche Sodawasser getrunken.

Dann gesellte sich wieder der Wirt zu mir und versuchte eine Unterhaltung mit mir anzuknüpfen. Ich war sehr einsilbig.

»Ist der Herr schon in Paris gewesen?«

»Nein.«

»Wie lange bleiben der Herr hier?«

»Hier in diesem Hotel nur eine Stunde.«

»Darf ich den Herrn inzwischen etwas in Paris herumführen?«

»Während dieser einen Stunde?«

»Nur hier in der näheren Umgebung. O, wir haben hier wunderbare Sehenswürdigkeiten.«

Nun, das ließ sich machen. Das war doch überhaupt sehr liebenswürdig von dem Herrn, dass er mir so die eine Stunde vertreiben wollte.

Gut, ich ging mit. Der Gang um die nächste Ecke führte uns in eine dürftige Allee. Monsieur Gueit machte mich auf eine Pappel aufmerksam, in die vor vier Jahren der Blitz geschlagen hatte, und der Riss war so gut wieder zugeheilt, dass keine Spur mehr davon zu sehen war.

Mit den nächsten drei Schritten hatte er mich vor ein kleines Schaufenster geführt, in dem Hosen hingen, nichts weiter als Hosen.

»Ach, ich habe hier drin ein paar Worte zu sprechen. Wollen Sie mit eintreten? Es ist sehr sehenswert, dies ist das größte Spezialgeschäft in Paris für Pantalons.«

Gut, ich ging mit hinein. Nur der Wissenschaft halber. Es schien mir mehr eine Ramschbude zu sein. In die erste Etage hinauf, vollgepfropft mit Hosen, auf Stangen aufgereiht. Ein Stuhl wurde mir angeboten, und ich sah zu, wie sich Monsieur Alfonse Gueit den Stoff zu einer Hose aussuchte, wozu er ausgerechnet — ich kontrollierte mit meiner Uhr — 28 Minuten brauchte und dann ging das Anmessen los, was 34 Minuten währte, so dass ich dort auf meinem Stuhle eine Stunde und zwei Minuten gesessen habe.

Der Leser wird meinen, ich sei verrückt gewesen. Nein, das war ich nicht.

Mir imponierte mächtig, dass ich jetzt in Paris herumgeführt wurde. Eine Stunde hatte ich Zeit, und diese benutzte ich, um Paris zu besichtigen. Andere haben in Paris den Eiffelturm und den Louvre und andere Sehenswürdigkeiten besucht. Ich aber bin mit dem Schnellzug von Marseille nach Paris gejagt, habe eine Pappel gesehen, in die vor vier Jahren einmal der Blitz geschlagen hat, habe eine Stunde in einer Hosenramschbude gesessen und bin dann gleich wieder nach Marseille zurückgejagt.

Ja, mir machte es das größte Vergnügen, hier zu sitzen und zuzusehen, wie der sich Stoff aussuchte und eine Hose anmessen ließ. Lieber hätte ich ihn ja beim Hosenboden genommen, aber das war keine besondere Kunst. Kunst war dagegen, hier ruhig dazusitzen. Ruhe, Georg, nur immer Ruhe. »Mut zieret auch den Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck!«

Also ich schaute zu, eine Stunde und zwei Minuten.

»Sie langweilen sich doch nicht etwa?«

»Nein, o nein, durchaus nicht!«

Es war ja auch gar nicht langweilig. Da waren soviel Hosen, ach so viele, die ich studieren konnte. Lange Hosen, kurze Hosen, enge Hosen, weite Hosen, braune Hosen, grüne Hosen, karierte Hosen, längsgestreifte Hosen, quergestreifte Hosen — — und auf einer weißen Flanellhose lief eine große Wanze.

»Ich muss aber jetzt fort!«, sagte ich endlich.

»Nur einen Augenblick noch, mein Herr.«

Der Augenblick währte noch zehn Minuten, die ich auch noch zugab, dann ging es nach dem Hotel zurück, in zwei Minuten zu erreichen. Unterwegs brannte ich mir eine Zigarre an, Monsieur Alfonse Gueit winkte ob des guten Geruches dermaßen mit dem Zaunpfahle, dass ich ihm eine präsentierte. Er wollte sich revanchieren, hat es aber wohl vergessen.

»Die Rechnung, bitte.«

Sie wurde ausgeschrieben, ich habe sie noch jetzt hier vorliegen.


Vom Hôtel des Anglais, Paris, beim Gare Lyonais
Besitzer Alfonse Gueit.

1 Frühstück ................  5 Franken
3 Mineralwasser ............  3    "
1 Frontzimmer ..............  5    "
1 Zimmerbedienung ..........  1    "
1 Stück Seife ..............  1    "
1 Stück Kamm ...............  1    "
1 Stück Kleiderbürste ......  1    "
Für Führung durch Paris ....  5    "
----------------------------------------
Summa ...................... 22 Franken

Ich bezahlte, ohne ein Wort zu verlieren, gab dem Kellner noch ein reichliches Trinkgeld. Dass ich den Kamm und die Bürste nicht mitgenommen hatte, brauchte ich wohl nicht erst zu sagen.

Als mir dann aber beim Abschied der Monsieur Alfonse Gueit auch noch ein Dutzend Geschäftskarten mitgab — »Bitte, empfehlen Sie mein Hotel« — da überwältigte mich die Rührung. Da hätte ich diesen unschuldsvollen Engel beinahe an meine Brust geschlossen.

Leute, denen ich das dann später erzählt habe, sagten: »So etwas darf man sich doch nicht gefallen lassen.«

Das sind einfach Klugschnacker, die so sprechen!

Ich habe später in Paris selbst den deutschen Generalkonsul gesprochen, erzählte ihm den Fall.

»Da ist hier gar nichts dagegen zu machen. Hat der Mann Sie gefragt, ob Sie geführt werden wollen? Ja. Und Sie haben bejaht. Er berechnet die Stunde mit 5 Franc. Sie haben auf alle Fälle zu zahlen, und wenn er klagen muss, haben Sie die Kosten zu tragen. Wer nach Paris fährt, muss schon in seiner Heimat genau wissen, wo er sich dort hinzuwenden hat. Gewiss, es ist eine nichtswürdige Übervorteilung, es ist eine Gaunerei — aber es ist gar nichts dagegen zu machen.« —

So sprach zu mir einige Jahre später der deutsche Generalkonsul in Paris.

Damals aber hat auch das Schicksal mir etwas ins Ohr geflüstert.

Etwas davon, dass die ewige Gerechtigkeit doch kein so leerer Wahn ist.

Der Weg führte mich, also nach vielen Jahren, an dem Hotel des Anglais vorüber. Ich trat einmal ein. Es war ein anderer Besitzer drin. Aber den Monsieur Alfonse Gueit kannte man noch recht wohl.

Leben tat der freilich nicht mehr. Hatte ein klägliches Ende genommen. Er hatte sich in Monte Carlo aufgehängt. Vorher hatte er seinen Revolver verkauft, um sich noch einmal sattessen zu können, ehe er zum Stricke griff.

Der kleine Bandit war einem größeren Räuber in die Hände gefallen. —

Punkt elf holte mich die Patronin mit einem Automobil ab.

»Alles in Ordnung Monsieur Leblanc ist zu Hause, erwartet uns. In solch einem Falle ist doch eine Kriegslist erlaubt. Ich konnte ihm doch nicht telefonieren, dass die Madame Helene Neubert mit einem ihrer Argonauten kommt. Dann würde er uns schwerlich empfangen. Ich habe uns als einen Monsieur Foulard und Gattin angemeldet. Die empfängt er sehr gern, weil sie ihm wahrscheinlich einige hundert Franken bringen. Das ist nämlich so ein Revolverjournalist, Sie wissen schon, so ein Lump, der eine Skandalgeschichte ausspioniert und mit Veröffentlichung droht, wenn ihm nicht so und so viel Schweigegeld gezahlt wird. Jetzt erwartet er also das Ehepaar Foulard, dem er die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Woher ich das weiß, tut nichts zur Sache. Er wird seinen Irrtum schon bald merken.«

»Und wie werden Sie ihn nun züchtigen?«

Wieder fing die Patronin zu lachen an.

»Nein, nein, ich verrate nichts — sonst verderbe ich Ihnen den ganzen Spaß.«

Na, das musste ja eine sehr lustige Bestrafung werden. Da war ich doch wirklich gespannt.«

»Wird der Monsieur ebenfalls lachen?«, fragte ich nur noch.

»Wenn er klug ist — ja. Denn ich will ihm nichts tun. Er kann dabei tatsächlich lustig lachen.«

Das Wohnhaus, vor dem wir in der Rue de la Victoire ausstiegen, war ebenfalls ein sogenanntes Hotel — ein Garçon-Hotel. Eigentlich wird in Paris überhaupt jedes gemeinsame Wohnhaus Hotel genannt.

Wir fragten unten den Portier nach Monsieur Leblanc, mussten uns sogar anmelden, der Portier weiß aber auch bestimmt, wer das Haus verlassen hat und wer nicht.

Wir stiegen drei Treppen hinauf, die Patronin klopfte an eine der vielen Türen, alle mit Nummern versehen, auch mit Schild oder Visitenkarten.

»Entrez!«

Es war ein Junggesellenzimmer, das Bett hinter einer Gardine, ein wüster Schreibtisch, darauf auch noch die Überreste eines Frühstücks.

Monsieur Alfonso Leblanc, ein kleiner Franzose mit schwarzem Spitzbart, den pomadisierten Poposcheitel bis ins Genick gezogen.

Dass er das Ehepaar Foulard persönlich gar nicht kannte, hatte mir die Patronin bereits gesagt, und Monsieur Foulard schien nicht viel zu sagen haben, denn es war die Gattin, an die sich jener gleich wandte.

»Madame Foulard? Es ist mir sehr angenehm. Bitte, wollen Sie Platz nehmen.«

Aber wir nahmen noch keinen Platz.

»Nicht Madame Cecile Foulard — sondern ich bin Madame Helene Neubert — und dieser Herr ist einer meiner Argonauten, der Waffenmeister.«

Ein Starren, und dann ein kleiner Hexenschuss. Und dann bekam ich etwas sehr Merkwürdiges zu hören, was ich aber noch öfters zu hören bekommen sollte.

»Ma—Ma—Madame Helene Neubert — es ist mir sehr angenehm.«

Na, das glaubte ich ja nun nicht, dass das dem gerade sehr angenehm war!

»Und — und — Sie wünschen? Womit darf ich Ihnen dienen?«


Illustration

Die Patronin hatte das Heft aus der Tasche gezogen und hielt es ihm hin.

»Haben Sie diese Broschüre geschrieben?«

Wieder ein kleiner Hexenschuss. Dann wollte er sich sammeln, was ihm aber doch nicht recht gelang.

»Und — und — wenn ich sie nun geschrieben hätte?«

»Ja oder nein! Doch Ihre Antwort ist gar nicht nötig. Ich weiß, dass Sie sie geschrieben haben. Sie werden jetzt diese Broschüre aufessen. Jetzt hier sofort! Ohne Widerrede! Setzen Sie sich dorthin und essen Sie diese Broschüre auf!«

Und die Patronin zog aus ihrer Kleidertasche, die aber wohl ein Loch dafür haben musste, eine schwere, steife Hundepeitsche und legte sie wuchtig neben die Broschüre auf den Tisch.

Hallo!

Jetzt allerdings wusste ich es!

Ja, das war wirklich eine originelle, eine geniale Idee! Und das sollte allgemein eingeführt werden! Dass so ein Skribifax, der etwas geschrieben hat, was er nicht verantworten kann, das auffressen muss! Eigentlich sollte es ja das Manuskript sein, aber das ist nicht immer zu haben. Dann also das, was gedruckt worden ist. Nicht immer gleich die ganze Auflage, nur ein Exemplar, Buch oder Zeitung, das genügt schon. Außerdem könnte beim Manuskript die Tinte schädlich sein. In der Buchdruckerschwärze hingegen ist Öl, die macht also sogar fett! Ei, das wäre vortrefflich, wenn das allgemein eingeführt würde, dann würde manches Unheilvolle ungeschrieben bleiben!

»Vorwärts, essen Sie!«

»Los!«, musste ich doch auch mich einmal vernehmen lassen. »Mangez, mangez!«

Ich zog dabei nicht meinen Revolver, um ihn ihm auf die Brust zu setzen, im Gegenteil, ich kreuzte dabei die Arme. Hatte aber Mühe, dabei meinen Ernst zu wahren. Diese Idee war doch wirklich zu nett!

Der Monsieur Leblanc merkte, dass ihm nicht viel anderes übrig blieb, als zu gehorchen, hatte sich bereits gesetzt, auch schon nach der Broschüre gegriffen und befühlte zunächst mit zitternden Händen den dicken Umschlag aus Pappe.

»Den — den — den Umschlag auch?«, fragte er ganz kleinlaut, und das war begreiflich.

»Nein, den will ich Ihnen schenken!«, entgegnete die Patronin.

»Den können Sie sich sauer einlegen und für später aufheben!«, musste ich hinzusetzen.

»Das — das — ist mir sehr angenehm. Und — und — wenn ich das Papier nun aufgegessen habe —?«

»Dann ist die Sache zwischen uns ein- für allemal erledigt.«

»Sie — Sie — tun mir nichts weiter?«, erklang es immer kläglicher.

O, das war ja ein Held!

»Nein doch. Natürlich dürfen Sie nicht wieder so etwas über uns schreiben. Wenigstens nichts, was nicht der Wahrheit entspricht, was Sie nicht als Tatsache beweisen können. Die Wahrheit zu schreiben, das kann man ja niemandem verbieten. Aber das nächste Mal, wenn Sie solche aus der Luft gegriffene Behauptungen aufstellen, dann müssen Sie die ganze Auflage aufessen. Diesmal nur hier dieses Probeexemplar.«

»Das — das — ist mir sehr angenehm.«

Diese stereotype Redensart klang um so drolliger, weil er dabei die Betonung dabei immer stark auf das »sehr« legte.

»Nun aber vorwärts, essen Sie!«

Und Monsieur Alfonso Leblanc begann zu essen, das Papier zu kauen und zu verschlucken. Er hatte nicht einmal den Mut, eine Seite erst herauszureißen, er ließ die anderen einstweilen daran hängen.

Ach, dieses Bild, wie der das Buch auffraß! Dieses wehmütige Gesicht dabei!

Da fiel mir etwas ein. Warum ihm nicht die Sache erleichtern, ihm die Kost schmackhafter machen, wenn es möglich war? Auf dem Schreibtisch neben den Frühstücksüberresten stand eine Menage.

»Wünschen Sie vielleicht etwas Salz und Pfeffer und Senf?«

Ich setzte ihm die Menage hin.

»Ja — ja — danke sehr — das — das — ist mir sehr angenehm.«

Und er schmierte sich auf das Papier Senf, streute Pfeffer und Salz darauf.

»Vielleicht auch etwas Essig und Öl?«

Denn auch das war in zwei Fläschchen vorhanden. »Ja — ja — das — das — wäre mir sehr angenehm.«

»Bitte sehr, hier.«

»Sie — Sie — sind sehr liebenswürdig.«

Und er machte sich eine Art Mayonnaise aus Senf, Öl und Essig zusammen, tauchte das Papier hinein, das herauszureißen er jetzt auch den Mut hatte, und kaute die delikaten Bissen.

»Wenn ich — wenn ich — um ein Glas Wein bitten dürfte —«

»Nein, geehrter Herr, den müssten wir erst holen —«

»Das — das — ist nicht nötig, ich habe in meiner Kommode eine Flasche Wein —«

»Halt, sitzen geblieben!«

Denn der hätte doch mit einem Sprunge zur Tür hinaus sein können. Aber er beschrieb mir, wo die Flasche Rotwein zu finden sei, ich holte sie, entkorkte sie, schenkte ihm ein, und er speiste weiter, nun die Bissen ab und zu mit einem Schluck Wein würzend.

»Wenn ich — wenn ich — etwas Brot dazu nehmen dürfte — es wäre mir sehr angenehm — dort in dem Wandschrank —«

Ich fand das Weißbrot, auch eine Butterbüchse.

»Soll ich Ihnen vielleicht ein belegtes Brötchen machen?«

»Sie — Sie — sind sehr liebenswürdig — es — es — wäre mir sehr angenehm!«

Gut, ich bemutterte ihn, schnitt eine Scheibe Brot ab, schmierte Butter darauf, nicht zu knapp, da bin ich nicht so, legte selbst eine halbe Druckseite darauf.

Senf, Salz und Pfeffer, eventuell auch Essig und Öl, konnte er sich selbst nach Belieben darauf tun, was er denn auch tat. Wenn noch verschiedene andere Fleischsorten und Käse und Radieschen und Sardellen hinzugekommen wären, dann wär's eine Hamburger Stulle gewesen. So war's nur ein einfaches, belegtes Bahnhofsbrötchen. Er biss denn auch hinein, kaute emsig — aber bald schmeckte ihm das Brot nicht mehr, er hatte doch eben erst gefrühstückt — und da machte er es bald so, wie es verwöhnte Kinder tun: er fraß von dem Brote den Belag ab, nur das Papier.

Ach, und dabei sollte man nun ernst bleiben! Denn Mitleid empfand ich nicht etwa.

So verschwand eines der acht Blätter nach dem anderen. In noch nicht einer Viertelstunde war es geschehen.

Die Patronin, die sich gesetzt hatte, erhob sich.

»So, Monsieur Leblanc, es ist zwischen uns erledigt.

Sie haben mir Genugtuung gewährt — es ist erledigt. Ob diese Sache an die Öffentlichkeit kommt, das hängt ganz von Ihnen ab. Von meiner und dieses Herrn Seite aus geschieht es nicht. Allerdings wäre es mir sehr lieb, wenn Sie Ihre Herren Kollegen von der Feder warnten. Wer über mich und über meine Argonauten etwas schreibt, was nicht den Tatsachen entspricht, was er nicht verantworten kann, das — muss er aufessen! Und ich werde den betreffenden Herrn zu finden wissen. Und wenn er sich auf dem Meeresgrunde versteckt oder auf dem Himalaja. Ich hole ihn herauf, respektive herab! Und wenn er über uns ein zwanzigbändiges Lexikon geschrieben hat — er muss alle zwanzig Bände aufessen! Adieu.«

»Es — es — — es war mir s e h r angenehm!«, klang es uns nach.

Ich will hier gleich bemerken, dass über uns nichts Unvorteilhaftes mehr geschrieben wurde. Monsieur Leblanc hatte doch wohl den Mund nicht halten können, oder die Wände hatten Ohren und Augen gehabt. Mit uns sollte man sich überhaupt bald in ganz anderer Weise beschäftigen.

Dass uns aber sonst der Bestrafte nicht verklagte, das war ja ganz selbstverständlich, der wollte doch nicht auch noch den Spott dazu haben.

Ferner schicke ich gleich jetzt voraus, dass über diese Sache noch einmal einer unserer Heizer, ein gelernter Buchdrucker oder Schriftsetzer, einen ganz famosen Witz vom Stapel ließ. Aber das geschah viel später, bei einer ganz besonderen Gelegenheit, und so kann ich davon erst berichten, wenn es soweit ist. Ich möchte nur schon jetzt darauf aufmerksam machen, damit sich der Leser dann später erinnert. Ein köstlicher Witz, den der Heizer dann noch nachträglich lieferte!

Wie ich die drei Treppen hinabgekommen bin, weiß ich nicht, ich hatte zu sehr mit mir selbst zu kämpfen, denn ich konnte doch nicht das ganze Haus mit meinem Gelächter erfüllen. Auf der Straße konnte ich's erst recht nicht.

Die Patronin blickte nach der Uhr.

»Halb eins geht ein Schnellzug nach Marseille, den erreichen wir noch. Nicht wahr, wir fahren doch gleich wieder zurück? Ach, ich sehne mich so nach meinem Schiffe, nach meinen Argonauten, nach meinem Volke! Mir ist, als wäre ich schon eine Ewigkeit fort. Nicht wahr, wir fahren gleich wieder zurück?«

»Es — ist — mir — s e h r angenehm!«, platzte ich los. Denn diese stereotype Redensart war immer von unbeschreiblicher Wirkung gewesen, besonders das letzte Mal.

Da aber, als ich losplatzte, saßen wir schon im geschlossenen Automobil, und 20 Minuten später wieder in einem Coupé erster Klasse.

Jetzt lachte aber auch die Patronin mit.

Und ich hatte ihr noch etwas Besonderes zu sagen. »Wissen Sie, Frau Neubert, dass Sie da etwas geliefert haben, was überhaupt nur ein Seemann fertig bringt, so eine echte Salzwasserratte?«

»Wieso denn?«

»Kennen Sie den Kapitän Marryat, der viele Seemannsromane geschrieben hat? Kennen Sie von ihm den Peter Simpel?«

Nein, sie kannte ihn nicht.

Und ich erzählte ihr die betreffende Geschichte, die hier als Pendant in Betracht kam.

Vorausschicken will ich noch, dass der englische Kapitän Marryat in diesem seinen »Peter Simpel« die köstlichsten Seemannsgestalten geschildert hat, wie man so etwas nicht wieder in der Literatur findet! Aber man muss es englisch lesen, auch in der besten Übersetzung will es nicht so wirken. Diese Kapitäne, diese Matrosen, diese Midshipmen, Seekadetten, diese Bumbootsfrau — köstlich! Das ist alles wirkliches Fleisch und Blut!

Die Erzählung spielt im 18. Jahrhundert, als es also noch keine Dampfschiffe und Eisenbahnen gab.

Peter Simpel, der kleine Held, ein Seekadett, fährt mit der Postskutsche von London nach Liverpool. Fünf Tage Fahrt! Auch ein Kriegsschiffsmatrose steigt noch ein, salutiert vor seinem kleinen Vorgesetzten, wird vertraulich, erzählt, dass er erst heute von Liverpool nach London zurückgekommen ist, sich sofort noch einmal zehn Tage Urlaub hat geben lassen, um nochmals nach Liverpool zu fahren, dann sofort wieder zurück.

»Weshalb denn?«

Der Matrose berichtet. Er hat sich in Liverpool bei einem Juden ein silbernes Petschaft gekauft, für drei Schilling. Und jetzt ist ihm in London gesagt worden, dass das nur versilbertes Blech ist, kaum einen Schilling wert.

»Ja«, schließt der Matrose gemütlich, »und da habe ich mir nun noch einmal zehn Tage Urlaub geben lassen, fahre noch einmal nach Liverpool, um dem Juden das Jackstück auszuklopfen.« —

Das ist so ganz, ganz echte Matrosenart! Auf solch einen Gedanken kommt ja überhaupt gar kein anderer Mensch. Fährt der noch einmal fünf Tage lang mit der Postkutsche nach Liverpool, um dem Juden, der ihn um zwei Schilling betrogen hat, das Jackstück auszuklopfen!

Und hatten wir hier nicht ein ganz ähnliches Stückchen geleistet?

Und bei mir kam noch die Pappel hinzu, in die vor vier Jahren einmal der Blitz geschlagen hatte, und dann das Hosenmuseum. Deshalb fährt man von Marseille nach Paris!

*

Ach, geht mir doch weg mit Paris! Ich bin später noch mehrmals in Paris gewesen, habe mir alles, alles besehen, damals war noch das Tanzhaus Moulin rouge, ich habe selber mit Cancan getanzt — aber so amüsiert habe ich mich nie wieder!

Die Patronin lachte denn auch herzlich, als ich ihr jetzt erzählte, wie ich in der einen Stunde die Sehenswürdigkeiten von Paris besichtigt hatte.

*

An Bord fand ich einen Brief meines Vaters vor, schon die Antwort auf meinen.

Ich hatte ihm sofort geschrieben, schon unterwegs, hatte den Brief sofort in Marseille zur Post gegeben. Ich hatte ihm alles ausführlich berichtet. Freilich nicht von glockenspielenden Affen und Posaunen und Orgeln und dergleichen. Nur die Hauptsache, worauf es hier zwischen uns ankam, aber auch ganz ausführlich.

Mein Vater, Universitätsfechtmeister, eng mit der ganzen Akademie verwachsen, nicht nur so aus Scherz, der Vater der akademischen Jugend genannt, mit allen Professoren intim verkehrend, selbst ein Akademiker — er hätte mich, seinen einzigen Sohn, so gern studieren sehen. Ich aber hatte so gern zur See gehen wollen; und er hatte sein einziges Kind gehen lassen.

Ich hatte ihm immer Freude gemacht. Ich war Reserveoffizier geworden. Ich würde dereinst, wenn nichts dazwischen kam, als Kapitän einen großen Passagierdampfer führen.

Und jetzt war ich auf einem Gauklerschiffe, auf einem unversicherten Abenteurerschiffe. Was das im Seehandel und im Seemannsberuf zu bedeuten hat, das hatte ich ihm ausführlich berichtet. In Kiel konnte er sich aber noch viel ausführlicher darüber berichten lassen. Und auf diesem Gauklerschiffe war ich Waffenmeister, nahm eine Stellung ein, die es überhaupt gar nicht gibt. Nur in der französischen Armee — Wachtmeister. Zirkusdirektor ist wenigstens ein anerkannter Titel. Ich war nicht einmal Zirkusdirektor. Ich war Vortänzer auf einem Gauklerschiffe

Das alles hatte ich meinem Vater geschrieben.

»Nun weißt Du es. Nun entscheide. Ich gehorche.« Mit welchen Empfindungen ich dies geschrieben hatte, das war dabei ganz Nebensache.

Und jetzt kam die Antwort.

Es war ein großer, großer Briefbogen. Und genau in der Mitte standen zwei Zeilen.

Was ich hier in drei oder vier Zeilen wiedergeben muss, das war dort in zwei Zeilen zusammengequetscht, obgleich noch mit dem Gänsekiel geschrieben.

Mein lieber Georg! Tue immer, was Du vor Gott und Dir selbst verantworten kannst. Um die anderen brauchst Du Dich nicht zu kümmern. Also auch um mich nicht. Ich bin stets Dein treuer Vater.

Ei, ei, ei, so ein Vater!

Ich schreibe ihm einen Brief von acht Seiten, und der antwortet mit zwei Zeilen!

Nur ja kein Wort zu viel!

Und die Anrede schreibt er nicht einmal groß! Schreibt mir nicht einmal, was in Kiel jetzt für Wetter ist!

Schreibt mir nicht, wie's ihm geht!

Wünscht mir nicht, dass mich dieser Brief bei recht guter Gesundheit antrifft!

Na, so ein Vater aus der alten Zeit!

Nun aber wusste ich auch, was ich zu tun hatte.

Wir waren nachts um drei angekommen, die Patronin schlief bis um zehn. Dann ließ ich mich ihr melden.

»Frau Patronin!« — »Ja?«

»Gleich bei unserer Ankunft in Marseille habe ich meinem Vater geschrieben, habe ihm alles mitgeteilt, was das hier für ein Schiff ist, auf dem ich als Waffenmeister bin — na, Sie wissen ja, ein unversichertes Gauklerschiff, wir haben uns doch oft genug darüber unterhalten — ob mein Vater damit einverstanden ist, dass ich diese Stellung weiter bekleide.«

»Ja?« — »Hier ist seine Antwort.«

Ich gab ihr den Brief, sie las die zwei Zeilen.

»Ja?«, erklang es nach wie vor, ganz ungerührt.

»Ich bitte um meine Entlassung.«

Da wurde sie kreideweiß, es sah erst aus, als wolle sie sich auf den Teppich hinsetzen, aber sie tat es nicht, drehte sich ruhig um und ging nach dem Panzerschrank.

»Wie Sie wünschen.«

Sie kam mit zwei Büchern an den Tisch zurück.

»Also Sie möchten abmustern.«

»Abmustern? Nein. Entlassen möchte ich werden. Ich kann doch gar nicht abgemustert werden, denn ich bin ja gar nicht angemustert worden. Aber jetzt möchte ich Sie bitten, mich regelrecht auf Ihrem Schiffe anzumustern.«

Sie blickte mich an.

»Aber Sie sind ein schlechter Mensch!«

Ach, wie sie das hervorgebracht hatte!

Und ich musste lachen!

»Nein, sind Sie aber ein schlechter Mensch!«, wiederholte sie noch einmal in demselben Tonfall.

»Na was denn?«, lachte ich. »Das war nur eine kleine Revanche. Ich komme doch aus Paris. Revanche, Revanche! Sie haben mich doch auch einmal so entlassen. Aber damals konnten Sie mich gar nicht entlassen, denn ich war gar nicht angestellt, sondern ich war als dritter Steuermann angemustert. Nun habe ich einmal den Spießt herumgedreht.«

Na, wir beruhigten uns wieder. Eine kleine Weile ging ja das allerdings noch so weiter.

»Also angemustert möchten Sie werden? Als was denn?«

»Als Kargo-Kapitän.«

»Kargo-Kapitän? Was ist denn das?«

»Das wissen Sie nicht? Auf größeren Schiffen, die Fracht für eigene Rechnung nehmen, gibt es einen Mann, der diese Fracht unter sich hat. Ist es ein Vertreter der Reederei, aber kein Seemann, so heißt er Kargador oder Superkargo. Ist er zugleich ein berufsmäßiger Seemann, so heißt er Kargo-Kapitän. Ohne dass er wirklicher Kapitän zu sein braucht. Ein patentierter Steuermann muss er allerdings unbedingt sein. Er nimmt mit dem eigentlichen Kapitän ganz gleichen Rang ein, wenn sich die beiden auch einander gar nichts angehen. Hie Schiff, hie Fracht! Würden Sie mich als Kargo-Kapitän anmustern?«

»Ja selbstverständlich wenn Sie es wünschen!«

»Famos! Mir ist das nämlich auch deshalb so lieb, weil ich dann mit Kapitän Martin gleichgestellt bin; denn der arme Mann weiß ja gar nicht, was er mit mir anfangen soll. Als Waffenmeister bin ich ein Nichts in seinen Augen, anderseits habe ich mehr Heuer als er, habe mehr zu sagen — ich bin für ihn bisher ein wesenloses Gespenst gewesen. Nun aber kann ich als Kargo-Kapitän unmöglich mehr bekommen als der nautische Kapitän —«

»Kapitän Martin hat mir hier in Marseille bereits ganz offen erklärt, dass er fünf Pfund Zulage haben möchte, es ist bereits geregelt. Er hat jetzt 25 Pfund, im Monat.«

»Na, dann ist es ja gut!«, lachte ich. »Dann beziehe ich jetzt also meine 25 Pfund als Kargo-Kapitän.«

»Und als Waffenmeister? Das Amt wollen Sie niederlegen?«

»O nein! Das ist und bleibt mein Hauptamt. Als Kargo-Kapitän habe ich hier auf diesem Schiffe doch gar nichts zu tun. Desto mehr als Waffenmeister. Aber das ist von jetzt an ein unbezahlter Ehrenposten. Und das darf nun auch nicht mehr anders sein.«

»Gut, abgemacht! Aber nun sagen Sie mal: ist denn das nun auch mit Ihrer Seemanns- und Offiziersehre vereinbar, dass Sie auf diesem Gauklerschiff den Rang eines Kapitäns einnehmen?«

»Nu allemal, erst recht!«, lachte ich wieder. »Es handelte sich nur um meinen Vater, der alte Herr hätte doch seine eigenen Ansichten haben können, und ich bin nun einmal ein gehorsamer Sohn — aber wenn der nichts dagegen einzuwenden hat — mir ist es sehr, sehr lieb, auf einem Gauklerschiffe als Seemann zu dienen, und nun gar als Kargo-Kapitän, was genau so gut wie voller Kapitän ist.«

»Weshalb ist es Ihnen denn so lieb?«

»Frau Neubert! Ich will Ihnen einmal reinen Wein einschenken. Sie nehmen es doch nicht übel. I wo, werden Sie's übel nehmen! Solch ein unversichertes Gauklerschiff ist nämlich ungefähr mit einer Balletteuse oder einer gefeierten Soubrette oder sonstigen Schauspielerin zu vergleichen. So eine hat doch keinen Zugang in bessere Kreise. Anderseits aber wird sie geradezu vergöttert. Fast genau so ist's mit solch einem unversicherten Schiffe. Nicht einen Groschen bekommt man darauf gepumpt. Selbstverständlich nicht. Keine solide Seehandlung gibt ihm Fracht, weil's — nicht reputierlich ist, obgleich es der größte Unsinn ist; denn mit einem unversicherten Schiffe ist man doch viel, viel vorsichtiger als mit einem versicherten. Aber es gilt nun einmal für einen Leichtsinn. Was ja auch wirklich der Fall ist. Deshalb also steht auch der Kapitän eines unversicherten Schiffes, eines Gauklerschiffes, außerhalb der berufsmäßigen Seemannskreise. Zum Beispiel ist es ganz ausgeschlossen, dass er etwa in das Schiedsgericht einer Seemannskommission gewählt wird.

Nun wollen wir aber einmal die Kehrseite der Medaille betrachten. Oder ich kann mich ganz kurz fassen. Es ist heute nicht mehr so leicht, als Kapitän ein Schiff zu bekommen. Ich kenne viele, viele Männer, die schon längst ihr Kapitänsexamen bestanden, und die manchmal sogar noch als Matrose fahren, weil sie nicht einmal als letzter Steuermann ankommen können!

Und ich sage Ihnen nur noch das eine: wenn ich einige Zeit auf solch einem Gauklerschiff als Kargo-Kapitän gefahren bin, und ich sehe mich nach einer anderen Heuer um — ich sage Ihnen, ich brauche nur die zehn Finger auszustrecken — und an jedem einzelnen Finger hängt eine Reederei, die mich mit Kusshänden als Kapitän annimmt!

Weshalb? Nu weil auf solch unversicherten Gauklerschiffen eben nur die tüchtigsten Kerls zu finden sind! Der hat ein Gauklerschiff gefahren — Dunnerslag der muss was können! Und das ist auch wirklich so! Also es ist der reine Eigennutz von mir, wenn ich hier bei Ihnen bleibe. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

»Ich hoffe aber«, lächelte die Patronin, »dass Sie recht lange bei mir bleiben.«

»Jawohl, das hoffe ich auch stark. Und nun gehe ich gleich zum Kapitän Martin, um ihn als meinen Kollegen zu begrüßen — um ihm zu sagen, dass ich auch so schlau gewesen wie er.«

Und ich wandte mich denn auch gleich der Tür zu. »Herr Waffenmeister!«, wurde ich da mit recht seltsamer Stimme noch einmal gerufen.

Ich blieb stehen, ging zurück. Und nun ereignete sich die gewaltige Szene. Wenigstens gewaltig für mich.

Was sie zuerst sagte, sprach sie wohl nur zu sich selbst, ganz in Träumen versunken, obgleich sie mich dabei anblickte.

»Ich — möchte Ihnen etwas zum Andenken an diese Stunde schenken. Ich schenke so gern. Aber das Teuerste, was ich besessen, haben Sie schon. Den Ring meiner Mutter. Und — es müsste auch etwas ganz anderes sein. Etwas, was ein Mensch gar nicht schaffen kann, nur Gott —«

Plötzlich erwachte sie aus dem Traume, ihr Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an, sie trat an den Tisch, nahm aus einer Vase eine rote Rose, eben erst entfaltet, trat einen Schritt näher auf mich zu, und ernst und feierlich erklang es:

»Georg!

Wir beide sind keine Kinder mehr.

Obgleich wir in anderem Sinne noch die reinen Kinder sind.

Wir beide wollen uns nicht herumzerren wie in einem Romane.

Du hast mich vorhin tödlich erschrecken sehen, als ich glaubte, Du wolltest mich verlassen; weil es so unvermutet kam, nur deshalb konnte ich so erschrecken, denn ich weiß es besser, sonst würde ich doch jetzt nicht so zu Dir sprechen.

Ich liebe Dich, Georg!

Ich gehöre Dir.

Du hast über mich zu befehlen.

Nur eines möchte ich Dich bitten, Georg — bitte, lass mir meine Freiheit!

Lass mir mein Schiff, mein Volk und — meinen Waffenmeister!

Lass mir meinen schönen Traum.

Bleiben Sie mein Waffenmeister, mein Vasall, mein Ritter.

Und dennoch — ich gehöre hiermit Dir —«

Sie führte die Rose an ihre Lippen, küsste sie, mit einem langen, langen Kusse, und reichte sie mir.

Und ich nahm sie, auch ich küsste sie — und ging! Aber zum Kapitän konnte ich jetzt nicht mehr gehen.

*

13. Kapitel

Der Atlantik-India-Atlantik-Marsch

Originalseiten 325 — 349

Es war an einem Freitag Vormittag, als ein Mann, seemännisch gekleidet, im Batterie-Büro des vierten Forts von Kapstadt fragte, ob er den Festungskommandanten sprechen könne.

»Wozu?«

»Ob sechzig Mann, die morgen den Atlantik-India-Atlantik-Marsch machen wollen, dazu die Gewehre und Tornister bekommen können.« —

Diese Frage bedarf der Erklärung.

Das Wettgehen wurde in England schon eifrigst gepflegt, als man in Deutschland Fußball und Lawn-Tennis und dergleichen Sportspiele noch gar nicht kannte. Das ist ja auch so etwas, worüber sich jedes deutsche Herz kränken muss, dass wir dies alles erst von unseren englischen Vettern importieren, alles so nach und nach. Wenn es dort schon bald abgekleppert ist, dann fängt es bei uns erst an.

So lässt sich auch der Anfang des Wettgeh-Sportes in England gar nicht mehr ergründen. So lange die Bank von England existiert, ist der Wettmarsch der sämtlichen Angestellten dieser Bank über eine Strecke von 20 englischen Meilen, ausgeführt am zweiten Pfingstfeiertage, einem sogenannten Bank Holiday, von nationaler Bedeutung.

Schon viele, viele Wochen vorher trainieren alle die Hunderte von Buchhaltern und Kommis täglich für diesen Wettmarsch. Da sieht man mitten in den Geschäftsstraßen Londons Szenen, Gestalten, die anderswo einfach gar nicht möglich sind.

Ich wohnte in jenen Pfingstwochen einmal in der Commercial Road, der Hauptgeschäftsstraße des östlichen Londons, und jeden Nachmittag um fünf sah ich durch diese Straße einen alten Herrn rennen — oder vielmehr gehen, aber nun wie, mit welchen Schritten, mit welcher Körperhaltung! — Nur bekleidet mit einem leichten Badekostüm, die Hosen gingen nicht bis zur Hälfte der Schenkel, mit leichten Schuhen und einem Strohhut. Er war einer der ersten Kassierer der englischen Bank, 68 Jahre alt. So rannte dieser alte Herr täglich nach Barking und zurück, halbnackt, noch nackter, eben nur mit einer Badehose bekleidet — die Fäuste geballt, die Ellenbogen in die Seiten gestemmt, so marschierte er weitausgreifenden Schrittes, mit weit vorgelegtem Oberkörper durch die belebtesten Geschäftsstraßen.

Kann man sich so etwas in Berlin, Wien oder Paris vorstellen? Nein! So etwas ist nur in London möglich! Nämlich wie man dort so etwas auffasst! Nur Bewunderung, nur Respekt vor diesem alten Herrn!

Das war damals noch das Wettgehen.

Anfang des 20. Jahrhunderts kam dann das Wettmarschieren daran, der Armee-Gepäckmarsch mit feldmarschmäßiger Ausrüstung, sehr bezeichnend, aber nicht eingeführt von den Organisationen der Armee, sondern von einfachen Sportsleuten.

Glaubt man etwa, solch ein Sport sei ganz zwecklos, sei nur eine athletische Spielerei?

Leser, hüte Dich, irgend etwas in der Welt als zwecklos zu bezeichnen, sonst dürfte vielleicht auch einmal Deine jetzige Tätigkeit, die Du für sehr, sehr nützlich hältst, als ganz zwecklos verurteilt werden!

Ich befand mich gerade in Hamburg, am 10. Juni 1900, ich stand gerade auf einer elektrischen Straßenbahn, wir fuhren am Zirkus Busch vorbei, mittags halb eins.

»Extrablatt, Extrablatt!! Die Gesandtschaften in Peking von den Boxern genommen, alles ermordet!!«

Man musste in Hamburg sein, wo man den Pulsschlag der ganzen Welt am deutlichsten fühlt, um verstehen zu können, was das zu bedeuten hatte!

Ich will gar nicht von der Börse sprechen. Dieser Eindruck der Meldung im allgemeinen in solch einer Seestadt!

Ich sehe noch einen alten, feinen Herrn, wie er auf der Straße seinen Zylinder vom Kopfe nimmt, ihn zu Boden schleudert und darauf herumtrampelt.

»O Jammer, o Jammer — o Schmach über Schmach! Wozu haben wir denn unsere Kriegsschiffe?!«

Und ich sehe noch eine elegante junge Dame über die Straße rennen, weinend, schreiend, die Verzweiflung selbst.

»Mama, Mama — die Gesandtschaften sind gefallen — alles tot, alles tot — unser Fritz — unser Gretchen!«

Denn nun diese Einzelheiten, die man in den Extrablättern und dann in den weiteren Berichten las!

Sie hatten erst ihre Frauen und Kinder erschossen, mit eigener Hand, ehe sie sich zum letzten Verzweiflungskampfe rüsteten.

Ja, was sollten sie denn anderes tun? Die Belagerten konnten doch nicht ihre Frauen und Kinder lebendig in die Hände dieser chinesischen Boxer fallen lassen.

Diese Meldung war verfrüht und übereilt.

Nur die italienische und österreichische Gesandtschaft war schon geräumt worden, die anderen, einen geschlossenen Komplex bildend, hielten sich noch.

Aber das wusste ja niemand.

In Taku lagen einige Kriegsschiffe, nur von Matrosen besetzt. Also es waren keine Seesoldaten mit vollständiger infanteristischer Ausbildung dabei, meine ich. Die Nationalität dieser Schiffe nenne ich später.

Am 10. Juni traf aus dem in Aufruhr befindlichen Peking die Botschaft in Taku ein, datiert schon vom 4. Juni.

Hilfe! Allerhöchste Not! Wir können uns keinen Tag mehr halten! Wir müssen unsere Frauen und Kinder töten. Das wurde dann in die Welt telegrafiert, als wäre es bereits geschehen.

Die in Taku liegenden Kriegsschiffe setzten sofort eine Expedition zusammen, nur aus Matrosen bestehend. 915 Engländer, 509 Deutsche, 312 Russen, 150 Franzosen, 112 Amerikaner, 54 Japaner, 40 Italiener, 25 Österreicher. Den Oberbefehl übernahm der englische Admiral Seymour.

Man muss einen gesprochen haben, der diesen dreitägigen Gewaltmarsch mitgemacht hat! Der kann etwas erzählen!

Aber wir wollen hier nicht von Kilometern sprechen. Dieser Gewaltmarsch von Taku nach Peking ist ein dunkler Punkt in der Kriegsgeschichte. Nicht ehrenvoll für Europa! Auch nicht für uns Deutsche, obgleich die sich am besten hielten. Gleichzeitig marschierten die 2000 Mann ab, es war ein internationales Wettmarschieren, immer länger dehnte sich der Zug aus, und die deutschen Matrosen marschierten immer an der Spitze. Die schlappsten waren die Amerikaner. Die blieben gleich am ersten Tage liegen. Sie hatten eben die wenigste Übung, die wenigste Ausbildung in solchen Parforcemärschen.

Aber auch den Deutschen weit, weit voran waren immer die japanischen Matrosen! Die hätten Peking auch erreicht, aber sie mussten auf Befehl Seymours immer auf die Nachzügler warten. Und am 12. Juni, nach zwei Tagen, wurde der ganze Marsch überhaupt als hoffnungslos aufgegeben, man kam auf den grundlosen Wegen nicht weiter, und alle die europäischen Krieger lagen wie die Fliegen da.

Es sollte dann ja noch ganz anders kommen, die Gesandtschaften in Peking konnten sich eben noch halten, dann traf von der Peiho-Mündung auf die nötige Hilfe ein und räumte in Peking auf. —

Seit dieser Zeit sind die Armee-Gepäckmärsche als Sport eingeführt worden.

Und nun sage man nicht mehr, dass solch ein Sport zwecklos sei.

Dass man bei so etwas nun gleich ins Extreme fällt, gleich über den Strang haut, das ist beim menschlichen Charakter, wie er nun einmal ist, selbstverständlich. Jedenfalls aber ist es besser, ein Kommis kann drei Tage nicht ins Büro kommen, weil er vor Überanstrengung das Fieber hat, als weil er gewettet hat, in einer Stunde zehn Liter Bier auszusaufen. Ganz merkwürdig ist es auch — merkwürdig für uns! — was die englischen Prinzipale in Sachen solchen Sports ihren Angestellten für Konzessionen machen, wie viel sie da Urlaub geben, ein Auge zudrücken, wenn einer einmal ausbleibt. Nicht nur, dass es sich hier um eine nationale Ehrensache handelt, sondern die haben eben ihre Erfahrung! Der Büroarbeiter, der in England nicht irgend einen körperlichen Sport treibt, nicht solch einem Klub angehört, dem er außerhalb der Geschäftszeit sein ganzes Interesse widmet, dem traut man nicht recht, der wandelt auf Abwegen. Ja, es ist schon etwas daran!

Und wollen wir doch nur nicht vergessen, dass jedes Volk — jedes! — als es aus der Höhe der Kultur und seiner Macht stand, am meisten den athletischen Sport pflegte. Als das alte Hellas die damalige Welt beherrschte, errichtete es seinen olympischen Siegern Denkmäler, gab ihnen Triumphzüge, ernannte sie zu Ehrenbürgern, machte sie steuerfrei. Das heutige Griechenland kennt keinen Sport mehr. Die Türken in ihrer alten Macht waren die eifrigsten Sportjünger — heute ist es ihr liebstes Vergnügen, auf dem Hosenboden zu hocken. Spanien kennt nur noch das erbärmliche Stiergefecht. Heute hat England die Weltmacht.

Das ist ein Thema, über das man sich einmal mit einem gelehrten, wissenschaftlich gebildeten Sportsmann unterhalten muss. Da kann man etwas zu hören bekommen!

Also natürlich waren es wieder zuerst die Engländer, die sich mit Leidenschaft, aber auch mit der größten Energie auf diesen neuen Sport des feldmarschmäßigen Marschierens mit Gewehr und Gepäck warfen. Es ist auch wirklich großartig, wie in England so etwas gleich gehandhabt wird. So großzügig! Gleich von oben herab! Jede englische Garnison in der ganzen Welt erhielt von oben herab den Befehl, dass jeder Mann — also jeder Zivilist — der sich für einen Gepäckmarsch trainieren wollte, um sich an einem ausgeschriebenen Wettmarsch zu beteiligen, oder um außerhalb der Zeit einen neuen Rekord aufstellen zu wollen, alles dazu erhielt, was er brauchte, ein Gewehr, den beschwerten Tornister und so weiter.

Natürlich nicht jeder Neger und jeder Stromer! Alles mit Unterschied. Man darf nicht alles gleich buchstäblich nehmen. Aber immerhin, das Entgegenkommen der englischen Garnisonen in dieser Sache ist heute noch großartig. Und da macht der Engländer auch keinen Unterschied in der Nationalität. Der Sport ist international. So wie es die Wissenschaft ist — oder sein sollte.

So war es auch in Kapstadt.

Dort handelte es sich um den Atlantik-India-Atlantik-Marsch. Der wurde schon damals umstritten und wird es noch heute.

Kapstadt liegt an der Westküste an einer Bucht, die vom Kap der guten Hoffnung noch 30 Kilometer nördlich entfernt ist. Wenn man die Karte betrachtet, wird man gleich erkennen, dass dieses Kap nicht eigentlich den Atlantischen Ozean vom Indischen trennt. Diese Grenze bleibt richtiger das Kap Agulhas oder das Nadelkap. Anderseits ist es wieder ganz richtig, wenn man das mächtig vorspringende Kap der guten Hoffnung als die Scheidegrenze annimmt. Die Geografen sind so ehrlich gewesen, die östlich davon liegende Meeresbucht »die falsche« zu nennen — ich hätte es nicht getan.

Von Kapstadt, direkt am Atlantischen Ozean liegend, nach Muizenberg, an der falschen Bucht, also am Indischen Ozean, und wieder zurück, das war die Route für den »Atlantik-India-Atlantik-Marsch«, heiß umstritten mit feldmarschmäßiger Ausrüstung.

Nun muss ich zunächst etwas bekennen. Ich weiß, dass das englische Infanteriegewehr 4,2 Kilogramm wog, mit aufgepflanztem Bajonett 4,904 — aber ich kann nicht einmal sagen, wie lang diese Strecke war. In der Luftlinie betrug sie nicht ganz 30 Kilometer. Sie ging erst südwestlich nach der Küste, von Brighton ab direkt südlich, durch die Schluchten der »Zwölf Apostel«, immer noch mehr Gebirgsschluchten, dann direkt auf Muizenberg zu und auf ebener Straße am Bahndamm entlang nach Kapstadt zurück.

Aber nun diese Drehungen und Schleifen! Die Sache war nämlich die, dass damals die Länge dieses Weges überhaupt nicht bekannt war. Die Strecke war topografisch noch nicht vermessen worden. Mit Schrittzählern und Fahrrädern und Automobilen, die Umdrehungszähler hatten, war sie wohl gemessen worden — ja Du lieber Gott, da kamen Unterschiede von Kilometern heraus!

Und heute existiert diese Straße über die Zwölf Apostel gar nicht mehr. So ausgezeichnet die Straßen auch beschaffen waren, wurden sie doch aufgegeben, als man durch Tunnel und Überbrückungen einen kürzeren Weg geschaffen hatte.

Die Länge ist ja auch ganz Nebensache, Hauptsache ist die Zeit, wie der Rekord immer mehr herabgedrückt wurde.

Von der englischen Armee hatte bisher die beste Zeit ein Sergeant mit 5 Stunden 24 Minuten aufgestellt. Die Sekunden brauche ich hierbei nicht zu nennen. Der beste Zivilist war ein junger Franzose, Aufseher in einem Lagerhause. Doch bekleidete er diese Stellung nur noch dem Namen nach, eben um nicht als Berufsläufer zu gelten, in Wirklichkeit tat er überhaupt nichts weiter mehr als marschieren. Der hatte 5 Stunden 11 Minuten gebraucht, das war bisher seine Höchstleistung. Den Rekord hatte der australische Meisterschaftsgeher Frank Green mit 5 Stunden 4 Minuten 31 Sekunden geschaffen.

Aber nicht etwa, dass solche Wettmärsche und Rekordversuche nur zeitweilig stattfanden. Der Atlantik-India-Atlantik-Marsch war für Kapstadt ein Tagesereignis geworden. Einige Läufer befanden sich immer auf dieser Strecke, bei Tag und bei Nacht, wenn sie Mondschein dazu hatten, und nicht einmal der war nötig, und wer sich den glühendsten Sonnenbrand dazu auswählte, der trainierte sich eben, um in kühleren Stunden dann Besseres leisten zu können. Sollte solch ein Marsch ein wirkliches Resultat haben, so musste der Betreffende mindestens von einem unparteiischen Radfahrer begleitet werden, der ihn kontrollierte, der fand sich auch immer, oder selbst dieser wurde vom vierten Fort — eigentlich vierte Batterie — zur Verfügung gestellt, oder sogar Kavalleristen begleiteten solch einen Mann, nur einen einzigen, der sonst vielleicht die Nadel schwang. Es war eben ein Befehl von oben herab, es waren zugleich militärische Übungen. Nur die absolute englische Sonntagsruhe wurde eingehalten, da wurden auch keine Gewehre und Tornister geliefert.

Zu einem wahren Volksfeste aber wurde diese Sache an jedem Sonnabend nachmittag ohne Ausnahme. Das kam besonders daher, weil der Abmarsch von der Pferderennbahn aus begann, die am vierten Fjord liegt, hier auch wieder endete. Kapstadt hat eine sehr traurige Umgebung. Es wird Busch genannt, ist aber die reine Heide. Seitdem der prachtvolle botanische Garten freigegeben worden ist, hat Kapstadt wenigstens einen Park, sonst würde man dort gar keine Bäume kennen. Und dann ist mit der Rennbahn, sehr günstig gelegen, wieder ein Stück Wildnis geschaffen worden.

Die englischen Fabriken, Werkstätten und Büros schließen sonnabends schon um eins. Und da wanderte nun alles, was frei hatte, mit Kind und Kegel nach der Rennbahn hinaus. Hier wurde einmal Hinterwäldlers gespielt, man kochte im Freien ab, wozu schwarze Hausierer Brennholz und Holzkohlen verkauften, es wurde aber überhaupt alles feilgeboten, was man irgendwie brauchte, an anderen Stellen standen Jahrmarktsbuden aller Art, und außerdem lag in der Mitte der Pferderennbahn die Radrennbahn, auf der die verschiedenen Sportklubs ihre Kämpfe ausfochten, aber nicht nur Radrennen, sondern auch Fußball, Kricket, Traberrennen, Polospiele zu Fuß und zu Pferde und dergleichen. Da diese Klubs im Auslande politische Bedeutung haben, für die nächsten Wahlen ihre Anhänger suchen, so war dies alles frei, außerdem versuchte jeder Klub den anderen noch zu überbieten, das Volk durch Belustigungen zu unterhalten.

Kurz und gut: so herrschte auf der Rennbahn jeden Sonnabend das bunteste Jahrmarktstreiben, das um zwei begann und bis Mitternacht währte.

Nun kam also auch noch der Atlantik-India-Atlantik-Marsch hinzu. Nicht gerade, dass man ihm besonderes Interesse entgegenbrachte. Mit Ausnahme, ein bekannter Läufer wurde zurückerwartet, auf den gewettet worden war. Denn gewettet wurde natürlich. Nicht etwa, dass er den Rekord brechen konnte — aber wie viel Minuten er mehr oder weniger als sechs Stunden dazu brauchen würde. Denn wer diese Strecke in sechs Stunden zurücklegte, das war schon ein tüchtiger Kerl! Aber auch sonst wurde jedes einzelne Resultat verkündet. Eine Viertelstunde vorher, ehe der Zurückkehrende, von Radfahrern gemeldet, zu erwarten war, fiel ein Kanonenschuss, oder ein Kanonenschlag knallte, dann eilte alles, was sich dafür interessierte, nach der Radrennbahn, denn auf dieser, 500 Meter lang, musste der Zurückgekehrte erst noch eine Runde im Laufschritt machen. Das sollte gewissermaßen zeigen, dass der Mann als Soldat nach dem langen Parforcemarsch auch noch kriegsfähig war. Trotzdem wurde schon vorher, sobald der Mann das Band als Endziel überschritt, überall auf schwarzen Tafeln das Resultat der Zeit verkündet. Wenn die letzte Runde Dauerlauf dieses Resultat auch erst wirklich gültig machte.

Noch muss ich bemerken, dass die feldmarschmäßige Ausrüstung nur in Gewehr, mit Sand beschwertem Tornister — 35 englische Pfund — Seitengewehr und zwei Patronentaschen mit zwei Pfund Eisengewicht bestand; sonst konnte sich jeder kleiden wir er wollte, er brauchte nur eine Badehose anzuhaben.

Das ist ja nun nicht gerade sehr »feldmarschmäßig«. Aber das hängt auch wieder mit dem zusammen, was wir von den Japanern aus ihrem letzten Kriege gelernt haben; denn da haben diese Mongolen uns Europäern doch Verschiedenes vorgemacht. Schon ihre gewaltige Überlegenheit auf dem Marsche von Taku nach Peking beruhte wohl hauptsächlich darauf, dass die europäischen Matrosen vorschriftsmäßig ihre Seestiefel anhatten, während die japanischen Matrosen leichte Segeltuchschuhe trugen, ein Reservepaar auf dem Rücken. Sonst trugen sie überhaupt nur ihre Waffen. Alles andere ließen sie sich von besonderen Trägern, die wieder von Waffen befreit waren, nachtragen. Und so haben es die Japaner ja auch im Kriege gegen die Russen gehandhabt. Nichts weiter als Gewehr, Patronen und eine Lederflasche mit Wasser; alles andere wird ihnen nachgetragen, ihnen mitten im Gefecht zugeführt. Läuft sich der japanische Soldat einen Wolf, so zieht er die Hose aus, wirft sie weg, marschiert im Hemde weiter. Es ist ganz richtig so. Vorwärts, nur vorwärts! Dem Feinde ist es doch ganz egal, ob der, welcher ihn totschießt, vorschriftsmäßig gebügelte Hosen anhat oder nur im Hemde herumläuft.

Aber den 35 Pfund schweren Tornister hatte man hier doch beibehalten.

*

Am 26. März hatten wir Marseille verlassen, am 2. Mai — an einem Donnerstag — trafen wir in Kapstadt ein.

Was wir hier wollten? Es lag uns eben gerade am Wege. Wir wollten wieder einmal an Land, der Wind hatte uns hergetrieben.

Nicht etwa, dass ich gerade an diesen Atlantik-India-Atlantik-Marsch gedacht hätte. Gehört hatte ich schon von ihm, kannte auch sonst die Verhältnisse, aber deshalb waren wir nicht nach Kapstadt gekommen, auch nicht, um sonst eine Herausforderung ergehen zu lassen.

Das musste überhaupt alles ganz anders kommen. Ganz von selbst. Das durfte auf keinen Fall forciert werden. Wir waren auch noch gar nicht soweit. Ja, wir hätten ein paar Schiffsmannschaften mit dem Taue über den Haufen ziehen können. Uns hätte einmal die Mannschaft eines Kriegsschiffes im Bootsrudern besiegen sollen! Auch im Fußball wollten wir unseren Mann stellen.

Wenn wir aber nun doch besiegt würden?

Nein. Wir durften uns keinem Risiko aussetzen. Das musste einmal wie ein Schlag vom Himmel kommen — und der kommt eben von selbst. Nur ruhig abwarten! Wir hatten Zeit.

Aber hier einmal den Atlantik-India-Atlantik-Marsch mitmachen — das war etwas anderes. Dabei wurde nichts riskiert. Das geschah ja außer Konkurrenz. Wir forderten doch niemanden heraus. Die Mannschaft eines Handelsschiffes wollte einmal versuchen, wie lange sie zu der Strecke brauchte. In aller Gemütlichkeit. Von solchen Handelsmatrosen und Heizern kann man doch überhaupt nicht viel verlangen. Und es war etwas ganz Neues.

So hatten wir beraten, und am anderen Vormittag ging ich hin nach der vierten Batterie an der Rennbahn. Die Sache musste 24 Stunden vorher angemeldet werden, wegen der Gewehre und so weiter. Denn, wie gesagt, jeder Stromer bekam natürlich keine Ausrüstung. Dass der mit dem Gewehr, mochte es auch ein ausrangiertes sein, und mit dem Sandsack auf dem Rücken etwa über die Schweiz ging! Unbekannte Personen mussten in Kapstadt mindestens einen sicheren Bürgen nennen.


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»Wozu?«, fragte der martialische Wachtmeister auf meine Bitte, ob ich den Herrn Festungskommandanten sprechen dürfe.

»Ob sechzig Mann, die morgen den Atlantik-India-Atlantik-Marsch machen wollen, dazu die Gewehre und Tornister bekommen können?«

Von einem Schreibtisch erhob sich ein jüngerer Offizier.

»Dazu brauchen Sie nicht erst den Kommandanten zu sprechen, das könnte ich gleich erledigen. Für sechzig Mann? Wer sind denn die?«

»Die Mannschaft der »Argos«, die heute früh in den Hafen gelaufen ist.«

»Was, das ist doch das als Kriegsfregatte getakelte Handelsschiff aus Noald?!«, rief der Offizier überrascht.

»Jawohl.«

»Das am zweiten Kai liegt?«

»Jawohl.«

»Wo die Löwen und Tiger und Bären darauf herumspazieren?«

»Jawohl.«

Weiter wollte sich der Offizier nicht neugierig zeigen, er ging zur Sache zurück.

»Sechzig Mann?«

»Sechzig Mann.«

»Alle zur registrierten Besatzung gehörend?«, »Jawohl. Einige sind allerdings nur Angestellte, stehen nicht in der Musterrolle —«

»O, das tut nichts zur Sache. Wenn sie nur zum Schiff selbst gehören. Verzeihen Sie, ich muss so fragen, es ist meine Pflicht. Gewiss, die Mannschaft des englischen Schiffes kann alles bekommen. Es brauchte auch nicht gerade ein englisches zu sein. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Georg Stevenbrock, Kargo-Kapitän der Argos.«

»Ist nicht auch ein erster Kapitän vorhanden? Nicht auch die Schiffsbesitzerin selbst?«

»Jawohl, Missis Neubert.«

»Ja, ja, ich weiß. In diesem Falle brauche ich nämlich die Bestätigung des Schiffsbesitzers, also hier der Patronin, dass die mit alledem einverstanden ist —«

Ich hatte mir schon von der Patronin solch eine Vollmacht ausstellen lassen und präsentierte sie nebst einem Schiffspapier.

»So, danke, das genügt vollkommen. Ich musste es nur einmal sehen, nichts weiter. Danke, Herr Kapitän. Also morgen, sechzig Mann. Wann wollen Sie da abmarschieren?«

»Wir hatten an um 12 gedacht.«

»O, warum denn gerade in der heißesten Mittagsstunde?!«

Ja, die Zeit des Abmarsches schien schlecht gewählt zu sein. Aber wir hatten schon unsere Gründe dafür. Das war beraten genug worden. Mittags war nicht die heißeste Zeit, die fing erst um eins an, da wollten wir schon im Gebirge sein, und außerdem — wir hatten einige ausgezeichnete Wetterpropheten an Bord — es gab auch noch andere Gründe, dass wir die Nachmittagsstunden dem kühleren Vormittag vorzogen.

Das alles sagte ich dem Offizier aber natürlich nicht. »Wir hätten gern den Marsch mittags um zwölf angetreten.«

»Nun, wie Sie wollen. Das stehst ganz in Ihrem Belieben. Marschieren Sie selbst mit, Herr Kapitän, wenn ich fragen darf?«

»Jawohl. Es sind sehr wenige, die sich von der Mannschaft davon ausschließen. Wir sind genau sechzig Mann, und wir möchten, dass unser Marsch außer Konkurrenz geschieht, wir wollen auch als geschlossene Truppe gelten, gewissermaßen als einzelne Person —«

»Ach so! Ja, aber darüber müssen Sie morgen die Schiedsrichter sprechen, die das alles arrangieren. Meine Sache ist nur, die Ausrüstung zu geben. Nun, da seien Sie also morgen um elf — nein, bei so vielen Leuten lieber schon zwei Stunden eher. Also morgen früh um zehn sind Sie hier mit den Leuten, nicht wahr?«

»Jawohl. Ich danke Ihnen sehr, Herr Leutnant.«

»Haben Sie schon für kontrollierende Begleitung — doch da werden Sie schon genug bekommen, die brauche ich nicht erst zu stellen. Nun, Herr Kapitän, da wünsche ich Ihnen, dass Sie oder einer Ihrer Matrosen den Atlantik-India-Atlantik-Preis gewinnt.«

»Was ist das für ein Preis?«

»Den der Capetowner Athletik-Klub gestiftet hat. Ein feldmarschmäßig ausgerüsteter Soldat, mit Gewehr und Tornister, fast eine Elle hoch, alles aus Silber. Prachtvoll! Wer den Marsch in fünf Stunden macht, also des Australiers Frank Green aufgestellten Rekord noch um 4 Minuten und 31 Sekunden herabdrückt, der hat ihn. Ohne weitere Verteidigung. Er gehört ihm für immer. Na da wünsche ich Ihnen oder einem Ihrer Matrosen also, dass Sie diesen Preis gewinnen.«

Lächelnd, mit etwas gutmütigem Spott hatte es der junge Offizier gesagt. —

Am anderen Morgen um neun Uhr rückten wir ab, nach der Rennbahn, nach dem Fort.

Der erste Steuermann hatte wahrhaftig richtig prophezeit!

Man befand sich ja hier auf der südlichen Halbkugel der Erde mitten im Winter. Aber da kann es in der Kapkolonie auch noch sehr heiß sein, Kapstadt liegt genau auf dem 34. Breitengrade, was genau der Lage von Fez in Marokko entspricht.

Und es waren gerade in letzter Zeit immer wolkenlose, sehr heiße Tage gewesen. Heute Nacht aber hatte es tüchtig geregnet, und noch immer rieselte es vom grauen Himmel herab.

Das war ganz vorzüglich! Denn der entsetzliche rote Tonstaub, der im ganzen Kaplande zur Plage wird, den hatte ich am meisten gefürchtet, den waren wir an Bord des Schiffes nicht gewöhnt worden. Jetzt aber war der niedergeschlagen, und zwar bildete er keinen Schlamm, sondern, vorläufig mit so wenig Wasser gemengt, eine harte, zementähnliche Kruste. Besser hätten wir es gar nicht treffen können!

Wir waren alle gleichmäßig bekleidet. Einfach mit Hemd und Hose aus grauem, leichtem Drillich. Darunter trugen wir leichtes Flanellunterzeug. Breitrandige Strohhüte, an den Füßen leichte Segeltuchschuhe mit starken Ledersohlen. Dazu kam noch eine umgehängte Zweiliterflasche mit Tee und Zitrone.

Die hatten wir eigentlich gar nicht nötig. Ganz so wie im Kriege ging es bei diesem Sportmarsch doch nicht zu. Die Radfahrer und Automobilisten führten immer alles mit, um die Marschierenden unterwegs zu stärken. Es gab sogar einige Abspritzstationen. Da bekam man kalte Duschen. Man konnte sich ja auch einmal hinsetzen. Warum nicht? Dann freilich hatte man keine Aussicht, den Rekord herabzudrücken. Wir wollten aber lieber unser Trinkwasser selbst mitnehmen.

Wir marschierten schon so durch die Straßen, wie wir dann auch vom Start abmarschieren würden und hoffentlich auch wieder ankamen: in 15 Sektionen zu je 4 Köpfen, der Größe nach geordnet. Das war ja eigentlich ganz falsch. Die besten Geher, die ich nun schon beurteilen konnte, hätten als Schrittmacher fungieren müssen. Aber wir wollten ja gar nichts Besonderes leisten. Wir wollten diesen Atlantik-India-Atlantik-Marsch nur auch einmal machen, eine ganze Schiffsbesatzung, nur zum Spaß. Na, wir würden ja etliche Stunden über die Rekordzeit brauchen, wenn wir wirklich so geschlossen bleiben wollten.

So war der Flügelmann der ersten Sektion der lange Heinrich, den man sich als Matrosen kaum länger und dürrer vorstellen konnte, der kleinste Soldat im letzten Glied war natürlich Fritz, der Mondgucker, obwohl ihn Peter, der Heizer, wenig an Größe übertraf. Ich marschierte ziemlich in der Mitte, direkt vor mir August, der nur wegen seiner unförmlichen Dicke kleiner aussah, als er wirklich war.

Wir hatten zu unserem Unternehmen, ohne Beabsichtigung, uns auch nicht gerade sehr angenehm, auch noch einen ganz besonderen Tag getroffen. Kapstadt hatte Bank Holiday, Bankfeiertag. Das heißt nichts anderes, als dass in den Banken einmal gründlich gescheuert wird. Großes Reinemachen. Das englische Geschäftsleben, wo auch der kleinste Geschäftsmann sein Scheckbuch hat, ist aber so eng mit den Banken verknüpft, dass bei deren Schluss gleich alles still steht. Bis auf die Detailläden wird auch alles andere gleich geschlossen.

Also es war so gut wie Feiertag. In den Straßen wimmelte es. Gerade wegen dieses leichten, herrlichen Regens, der die ganze Natur wieder aufleben ließ, in dem man wieder einmal atmen konnte, ohne den schrecklichen Staub schlucken zu müssen. Überdies würde der Regen bald aufhören, heute wurde noch das herrlichste Wetter.

»Da kommen sie, die Argonauten!«

Überall erklang es so. Es war schon alles bekannt. Es konnte ja auch gar nicht anders sein.

Nun marschierte aber auch alles mit nach der Rennbahn.

Halb zehn trafen wir dort ein. Neben der Tribüne, die sich bereits zu füllen begann, wurden die Vorbereitungen getroffen, wir wurden »gesattelt«. Die Herren, die bei diesem Marsche als Schiedsrichter fungierten, waren äußerst liebenswürdig, aber auf meine Erklärung, dass unser ganzer Trupp als Gesamtheit betrachtet werden sollte, ließen sie sich nicht ein. Das hätte erst eine Umänderung der Statuten und Bedingungen erfordert. Gut, die beiden Zeitpunkte sollten genommen werden, wann die erste und die letzte Sektion über das Band marschierte, und wieder die Zeitpunkte, wann der erste Mann und der letzte wieder über das Band schritt. Mehr konnte dabei nicht kontrolliert werden. Ja, mehr hatte ich ja aber auch gar nicht verlangt!

Wir wurden viel fotografiert, einige Herren, wahrscheinlich Ärzte, die Waagen aufgestellt hatten, baten uns um Feststellung des Gewichtes. Doch das war rein wissenschaftliches Interesse.

Während dieser Zeit kamen kurz hintereinander zwei Mann zurück, die den Marsch nachts gegen vier angetreten hatten, von den Laternen der Radfahrer und auch eines Automobils begleitet.

Herrgott, wie die beiden Kerls aussahen!

Inwiefern, das ist nicht so einfach zu sagen.

Nicht etwa kotbedeckt, nicht wie in der Kaffeetrommel geröstet. Sie hatten die günstigsten Bedingungen gehabt, der Regen hatte nichts zu sagen. Aber in den Zügen, in den Augen stand es geschrieben, in was für einer Verfassung die sich befanden! Wie die Sterbenden, wenn sie auch noch marschierten.

Beide kamen über das Band, der eine setzte noch zum Laufschritt an, verlor aber dabei sein Gewehr, bückte sich und konnte sich nicht wieder aufrichten — und der zweite brach mit dem ersten Schritte über das Band wie ein Toter zusammen. Nur bis hierher noch hatte ihn seine letzte Energie getragen, keinen Schritt weiter.

Und die beiden hatten fast sechs Stunden zu der Strecke gebraucht! Und beide waren als die tüchtigsten Läufer bekannt!

Aber freilich, mit jenem Australier und jenem Franzosen konnten sie nicht konkurrieren, auch nicht mit dem englischen Sergeanten. Das waren eben gottbegnadete Genies auf dem Gebiete des Marschierens.

Und wie dieses Publikum hier schon diese Leistung von sechs Stunden zu würdigen wusste, das zeigte es durch sein Verhalten.

Ach, dieses Gejohle und Gepfeife, womit die beiden empfangen wurden! Wobei man wissen muss, dass das Pfeifen bei den Engländern ein Zeichen des Beifalls ist. Sonst kann es einem so gehen, wie erst kürzlich einer berühmten deutschen Opernsängerin, die in London gastierte und im zweiten Akt nicht wieder auftreten wollte, weil sie beim Fallen des Vorhanges so schrecklich ausgepfiffen worden war. Es war eben der höchste Beifall gewesen. Wenn nicht nur auf der Galerie, wenn auch im Parkett und in den Logen gepfiffen wird — dieser Beifall kann in England nicht mehr übertroffen werden.


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Die beiden Wettläufer wurden im Triumph durch die Renn bahn
getragen, die sie selbst nicht mehr hatten passieren können.


Die beiden wurden im Triumphe auf den Schultern durch die Rennbahn getragen, die sie selbst nicht mehr hatten passieren können. Auch der Tote oder doch Halbtote.

Und sehr, sehr bemerkenswert dabei war, dass der eine ein Bure und der andere ein Deutscher war, und Engländer bereiteten ihnen diese Ovationen!

In Sachen des Sports ist der Engländer durchaus unparteiisch! Das muss man ihm hoch anerkennen!

Es waren früh um vier noch mehr abgerückt, sie kamen viel, viel später an — aber auch sie wurden begeistert empfangen. Ja, marschiert nur einmal diese Strecke mit Tornister und Gewehr, ohne einmal Rast zu machen, fast immer im Geschwindschritt! Die hier wussten schon, warum sie jenen Ovationen bereiteten!

Unsere Ausrüstung ging schneller, als der Offizier gemeint hatte. Halb elf waren wir schon fix und fertig. Und wir hatten uns nicht gerade auf punkt zwölf versteift.

Zehn Minuten nach halb elf Uhr überschritt die erste Sektion das Band, 50 Sekunden später die letzte.

Noch einmal hob die Patronin grüßend die Hand, dann war sie hinter uns.

Der Regen hatte aufgehört, der Himmel aber war noch bedeckt und würde es voraussichtlich auch bleiben. Ganz windstill.

Im Geschwindschritt ging es durch die Heide, auf vorzüglich chaussierter Straße, wie zementiert, gänzlich staubfrei.

Gegen fünfzig Radfahrer waren um uns herum, mindestens zehn Automobile, die aber hinter uns bleiben mussten, oder sehr weit voraus; wegen des Staubes, wenn es den jetzt auch nicht gab. Es war Vorschrift.

»Stopp, stopp, stopp!«, erklang es von allen Seiten und immer wieder. »Diesen Schritt haltet Ihr doch keine Viertelstunde aus!«

Ach, wenn die gewusst hätten! Nämlich wie uns der schwere Tornister auf dem Rücken ein Federkissen dünkte, und das Gewehr war einfach ein Bleistift. Wir waren an Zentnergewichte gewöhnt! Und dieser Geschwindschritt, den wir jetzt angeschlagen hatten, das war noch lange nicht der Takt des Pariser Einzugsmarsches! —

Lang, lang war die Einleitung.

Desto kürzer soll nun der Schluss werden.

Und so muss es wohl auch sein, wenn dabei eine Pointe herauskommen soll.

Als wir in Muizenberg nach Norden herumschwenkten, da war es bereits längst entschieden!

Da wusste man es aber auch bereits auf der Rennbahn, in ganz Kapstadt.

Denn Muizenberg ist telegrafisch verbunden, jetzt marschierten wir ja den Bahndamm entlang.

Ungefähr fünf Minuten vor halb vier hörten wir den Kanonenschuss donnern, der unsere Ankunft anmeldete.

»Nun los, Jungens!«

Und leise pfeifend wurde der Pariser Einzugsmarsch angestimmt, jetzt in dem Takte, wie ihn der Komponist vorgeschrieben hat, und so wurde jetzt losgelegt!

Als die erste Sektion das Band überschritt, gingen überall an den schwarzen Tafeln die weißen Zahlen hoch.

4 Stunden 56 Minuten 13 Sekunden!

40 Sekunden später überschritt die letzte Sektion das Band.

»Gewehr zum Laufschritt — marsch, marsch!«

Und wir absolvierten unsere Runde, im elastischen Laufschritt.

Und die Ovationen, die uns gebracht wurden, die wir alle zusammen den Rekord des australischen Champions um mehr als sieben Minuten gebrochen hatten?

Ja, das eben ist die Pointe!

Keine Hand rührte sich zum Klatschen, kein Pfiff, kein anderer Laut.

Über der vieltausendköpfigen Menge lagerte eine wahre Todesstille. Auch so eine seltsame Bewegungslosigkeit. Auch wieder die reine Todesstarre.

Dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen wäre, dass wir etwa gefahren wären, daran dachte natürlich gar niemand.

Wir hatten doch immer die Kontrolleure bei uns gehabt.

Und doch, mit rechten Dingen konnte es nicht zugegangen sein.

Also Hexerei! Oder eben etwas ganz Unbegreifliches, etwas, was in das Hirn keines Menschen hinein wollte.

In dieser Totenstille absolvierten wir auf der Radrennbahn unsere Laufschrittrunde.

Ich hatte schon während des ganzen Marsches meine Freude daran gehabt, wie vor mir August der Starke bei jedem Schritte mit seinem Hinterteile wackelte. Wie es immer so wie ein Pendel hin und her schwenkte. Wirklich, ich hatte mich nicht satt dran sehen können. Aber das war noch nichts dagegen gewesen, wie dieses Hinterteil jetzt bei dem Laufschritt hin und her pendelte. Wie bei einem Hunderttalergaule.

»Abteilung — halt! Gewehr — ab!«

Dort stand die Patronin, blickte uns an, lautlos und regungslos wie alle anderen.

Aber sie sah aus, als wäre sie mit uns marschiert und wäre den Anstrengungen nicht gewachsen gewesen.

Wahrhaft leidend sah sie aus.

Und in diesem Augenblicke, wie wir das Gewehr abnahmen, hörte ich auch ein Wort, zwei Worte.

»Damned Germans!«

Verdammte Deutsche! Ein alter Herr hatte es leise hervorgestoßen. Mit finsteren Augen unter buschigen, zusammengezogenen Brauen stierte er uns an.

Dass die Besatzung der »Argos«, auch wenn sie unter englischer Flagge segelte, fast nur aus Deutschen bestand, das wusste man ja nun schon.

»Damned Germans!«

Wir schnallten den Tornister ab, legten das Gewehr daneben hin, marschierten geschlossen, wie wir gekommen, nach dem Hafen zurück und begaben uns an Bord, ohne uns um etwas zu kümmern.

*

14. Kapitel

Im Atlantik-India-Theater

Originalseiten 349 — 376

Der Sonntag war angebrochen. Schon in aller Frühe drängte sich das Publikum auf dem Kai, begaffte unser Schiff.

»Das sind sie, die —«

Na lassen wir!

Wir bedurften der Sonntagsruhe.

Denn ganz so einfach war die Sache nicht etwa gewesen. Wir hätten heute nicht etwa zu Tanze gehen können.

Nur Fritz, der Mondgucker, stolzierte an Deck herum, besonders auch deshalb, weil dem Jungen heute erlaubt war, eine Pfeife zu rauchen; er fütterte die Tiere und tat, als ob das ganze Schiff sein wäre. Aber Auskunft gab der nicht etwa.

Die Morgenpost kam, die einzige des Sonntags, und unter den Briefen war — mir nicht so merkwürdig — nur ein einziger, der auf unseren gestrigen Triumph Bezug nahm. Er war von dem Kapstädter Athletikklub.

Wir haben für den Atlantik-India-Atlantik-Marsch, wenn er in weniger als fünf Stunden ausgeführt wird, eine Prämie gestiftet. Diese Prämie ist gestern gewonnen worden. Wir wissen aber nicht recht, wem sie zuzusprechen ist. So erlauben wir uns höflichst, Sie, hochgeehrte Missis, und die in Frage kommende Mannschaft morgen Abend acht Uhr in unser Klubhaus einzuladen.

Das war kurz wiedergegeben der Inhalt des längeren Briefes. Also eine Festlichkeit mit Überreichung des Preises. Die Patronin machte ein missmutiges Gesicht.

»Das passt mir eigentlich gar nicht.«

»Was passt Ihnen nicht?«

»Diese Einladung. Ich möchte nicht eingeladen werden —«

»Da haben Sie sehr recht! Bleiben Sie die Freifrau von der See. Eine freie Seekönigin. Einen König kann man nicht einladen, wenigstens kann es nicht jede x-beliebige Person, nicht so ein Klub. Und wenn seine Mitglieder auch lauter Fürstensöhne wären. Nur ein König kann einen König einladen. Der kann auch jede andere Person einladen. Bleiben Sie die unnahbare Majestät.«

Ich hatte mit kurzen Worten ganz genau das zusammengefasst, was die Patronin gedacht hatte, es aber nicht gleich in Worte kleiden konnte.

»Ja, wie soll ich aber diese so überaus höflich gehaltene Einladung ablehnen, ohne zu beleidigen, ohne zu kränken?«

»Sprechen Sie einfach von einem Gelübde. Solche Gelübde sind heute nicht mehr modern, unsere nüchterne Zeit ist nicht mehr danach — well, führen Sie als freie Seekönigin so etwas wieder ein. Oder Sie brauchen deshalb auch keine Königin zu sein. Denken Sie an Walter Scotts angelsächsischen Than, an diesen alten, prächtigen Haudegen, der das Gelübde abgelegt hatte, keinen Menschen vor seinem Hause zu begrüßen, und er ging auch seinem Könige nicht entgegen, auch der musste zu ihm hereinkommen, und Richard Löwenherz wusste dieses Gelübde zu würdigen. Sie müssen dann aber solch ein Gelübde auch wirklich ablegen, es erst recht natürlich halten. Und wenn der König von Großbritannien und Kaiser von Indien Sie einlädt — Sie kommen nicht. Er muss zu Ihnen auf Ihr Schiff kommen, wenn er Sie persönlich sprechen will.«

So sprach ich. Und, ach, das war ja nun so etwas für dieses romantische Persönchen!

»Waffenmeister«, jauchzte sie mit ganz verklärten Augen aus, »Sie haben doch immer die besten Einfälle — ja, wir lassen die alten Ritterzeiten wieder aufleben! Wenn dazu auf dem Lande kein Platz mehr vorhanden ist, so werden wir ihn auf dem freien Meere schaffen!«

Sie schrieb sofort, ohne mich noch einmal um Rat zu fragen.

Der Brief, den sie mir dann zeigte, hatte aber gar nichts Romantisches an sich. Sie bedauerte einfach, der Einladung nicht Folge leisten zu können, sie nehme prinzipiell keine Einladung an. In der Hoffnung, dass der hochgeehrte Athletik-Klub dies nicht verüble — und so weiter.

»Na, die Prämie bekommen wir nun natürlich nicht!«, meinte ich.

»Haben wir deshalb etwa den Marsch gemacht?«

Ich hatte nichts weiter einzuwenden.

Der Sonntag verging. Wir hatten viel, gar viel zu beraten.

Am nächsten Morgen führte ich gleich aus, was wir beraten hatten.

Kapstadt hat mit Vororten 80 000 Einwohner und trotzdem mehrere Theater und andere Vergnügungslokale. Dort unten sitzt Geld; Gehälter und Arbeitslöhne sind sehr hoch, und wie es nun überhaupt in solchen Kolonien ist — ein unverheirateter Europäer kann des Abends gar nicht zu Hause bleiben, er ist förmlich gezwungen, in einen Klub zu gehen oder den Abend sonst wo zuzubringen, oder er würde sich einfach unmöglich machen, seine schwarzen Boys würden ihn des Abends gar nicht im Hause dulden oder er bekam keine Diener mehr, und dann könnte er dort unten auch nicht mehr existieren.

Das größte Theater, mit 2000 Sitzplätzen, führte wiederum den Namen Atlantik-India, und dorthin lenkte ich zuerst meine Schritte, darauf gefasst, noch anderswo anfragen zu müssen. Aber es war nicht nötig. Der Direktor war zu sprechen, und er erklärte sich mit allem einverstanden.

Für 200 Pfund stellte er mir das ganze Theater von morgen früh bis Mitternacht zur Verfügung, inklusive Beleuchtung und allem, allem, was wir dazu brauchten, also auch mit dem nötigen Hilfspersonal. Auch den Billettvertrieb wollte er besorgen; sogar die Ankündigung auf seine Kosten.

Ich war erstaunt. Auf 300 Pfund hatte ich mich nach einer Kalkulation mindestens gefasst gemacht.

Freilich, als ich bezahlt hatte, da erst teilte der Schlauberger mir mit, dass das Theater morgen überhaupt geschlossen war! Seine Schauspielertruppe trat morgen früh ihren kontraktmäßigen achttägigen Winterurlaub an. Nur das andere Personal musste noch drei Tage bleiben, um das ganze Theater einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.

Na, das hatte ja nichts zu sagen. Jedenfalls hatte ich es sehr gut getroffen.

Also eine Vorstellung der Argonauten. Nichts weiter sollten Zeitungen und Theaterzettel melden. Natürlich musste ich dem Direktor etwas Ausführliches darüber berichten, schon wegen der polizeilichen Anmeldung und Erlaubnis. Aber was ich ihm berichtete, das genügte, er übernahm gleich die Garantie, dass wir gar keine Scherereien hätten, das würde er alles selbst erledigen.

Und dann erhöhte Preise der Plätze! Denn nur nicht billig sein! Davon hatte ich die Patronin, die erst anders dachte, zu überzeugen gewusst. Oder sonst alles ganz frei! Aber das war nicht gut angängig, weil wir ja gar nicht wussten, wen wir hätten einladen sollen.

Also um die Hälfte erhöhte Preise. Dass wir dann den Reingewinn nach Abzug unserer Unkosten oder einfach dieser Theatermiete, einer wohltätigen Anstalt überweisen wollten, das brauchte jetzt auch der Direktor noch nicht zu erfahren.

Es war alles erledigt. Es hatte aber doch ziemliche Zeit gedauert, ich kam erst gegen Mittag an Bord zurück.

In der Kajüte räumte Siddy gerade einige leere Champagner- und Portweinflaschen vom Tische, ferner Schüsseln mit Resten von Kaviar, Lachs und dergleichen Delikatessen.

»Einige Herren vom Athletik-Klub waren hier, sie haben in aller Form die Prämie gebracht!«, rief mir die Patronin glückstrahlend entgegen.

Sie stand bereits in unserem Klubzimmer in dem großen Glasschranke, der den Grünen wie den Roten gemeinschaftlich gehörte, als erstes Siegeszeichen.

Alle Wetter noch einmal! Ein englischer Infanterist, kriegsmäßig ausgerüstet, fast einen Meter hoch, von Silber. Und nicht etwa getriebenes Silberblech. Alles massiv! Schon das silberne Gewehr, das man abnehmen konnte, imponierte mir mächtig. Alles bis aufs kleinste naturgetreu. Ja, so ein Klub lässt sich nicht lumpen, wenn er nun einmal etwas stiftet!

Und überhaupt, das war sehr, sehr fein von diesen Herren gewesen, dass sie selbst gekommen waren, um den Preis zu bringen. Kein Wort wegen der zurückgewiesenen Einladung.

»Na, da wollen wir ihnen auch Freibilletts — aber nein, nun gerade nicht! Nun sollen sie auch noch den Eintritt bezahlen!«

Und ich war so unverschämt, an diesen Klub auch noch 50 Billetts für die teuersten Plätze zu schicken, die aber erst gegen bares Geld eingelöst werden mussten, ehe man sie benutzen konnte.

Mit anderen Augen betrachtet, war es natürlich keine Unverschämtheit. Diese Herren hätten sich doch nichts schenken lassen, hätten sich höchstens beleidigt gefühlt.

Am Abend desselben Tages passierte eine dumme Geschichte. Unser Hahn war in einer Spelunke von Matrosen eines englischen Kriegsschiffes, das erst am Nachmittag in den Hafen gelaufen war, verprügelt worden. Dieser Matrose wurde einmal mit seinem Vatersnamen gerufen, weil er Hahn hieß, und weil's auch ein richtiger Hahn war.

Er war in der deutschen Marine Zwölfjähriger gewesen, hatte seine zwölf Jahre auch abgedient, hatte es aber nie über den Obermatrosen hinausgebracht, und auch der Winkel war ihm immer wieder gekappt worden. Nichts weiter als dumme Streiche im Kopfe. Dumme, nicht böse. Und dabei hatte gerade der Aussichten für eine Karriere gehabt. Auch dieser Matrose hatte zwei Orden. Einen für seine Bravour im Gefecht bei Bagamojo in Ostafrika, und dann eine Lebensrettungsmedaille. Er hatte im Roten Meere einen Offizier zwischen den Haifischen herausgeholt. Diese beiden Orden hatte man ihm ja nicht nehmen können. Aber er trug sie nie; konnte sie nicht tragen, er hatte sie beide versetzt. Die silberne Medaille lag im Leihamte von Hull, mit dem Verdienstorden hatte er zwei Glas Bier bezahlt. Aber er wusste nicht mehr genau, ob das in Sydney oder New York gewesen war.

Im Übrigen ein tüchtiger Matrose! Überhaupt ein tüchtiger Hahn! Besonders im Abtakeln hatte er etwas los. Auf der letzten Reise hatte Kapitän Martin einmal den Großmast bis zum Mars abtakeln lassen, also Mars- und Bramstänge ab und alles was dazu gehört, vier Mann hatte er dazu hinauf geschickt — aber da war bereits unser Hahn oben, und ehe der zweite den Mars erreicht, hatte er schon mit einer wahren Berserkerwut, mit einer fabelhaften Schnelligkeit alles kurz und klein geschlagen. Aber regelrecht! Doch es war wirklich staunenswert wie der die Bolzen und Zapfen herausschmetterte.

Als Kuriosum erwähne ich noch, dass gleichzeitig, als der Matrose Hahn dort oben im Himmel sein Zerstörungswerk verrichtete, unten im Schiffsbauche Meister Hämmerlein auf seiner Orgel gerade Haydns »Schöpfung« spielte.

Also Hahn hatte am Montag Abend mit englischen Kriegsschiffmatrosen in einer Spelunke Streit bekommen, er war allein gewesen, war von der Übermacht verprügelt worden. Mitleidige Zivilisten brachten ihn blutüberströmt an Bord. Es war nicht so schlimm, er konnte dann am nächsten Abend schon wieder mitmimen.

Immerhin — meine Jungens wollten doch sofort los! Aber mein Veto hielt sie fest, ich ließ sie nicht von Bord, mochten sie brummen, wie sie wollten.

Am nächsten Morgen, also am Dienstag, schickten wir in aller Frühe dem englischen Kriegsschiffe eine Herausforderung zu. Auf Tauziehen! Das hört sich sehr harmlos an. Ist es ja auch. Ganz unblutig. Im Grunde genommen aber ist es doch nicht so harmlos, als wenn sich Studenten gegenseitig das Bäckchen etwas aufschlitzen.

Es kommen da uralte Seemannsbräuche in Betracht, vielleicht schon von den Wikingern ausgeübt, ganz sicher aber von den Vitalienbrüdern, dieser räuberischen Seemannszunft des 14. Jahrhunderts. Von denen haben wir noch schriftliche Überlieferungen.

Ich kann nur einiges Wenige anführen, wie dieser »Komment« gehandhabt wird. Ungemein umständlich, es geht aber trotzdem alles sehr schnell.

Auf ein möglichst großes Segel wurde die Herausforderung ganz klein geschrieben. Dreißig Mann gegen dreißig!

Dabei ist auch Hohn erlaubt. Unser Hohn bestand darin, dass wir 60 Mann stellen wollten, und der Gegner sollte sich davon die 30 schwächsten selbst aussuchen.

Dieses Segel wurde zusammengerollt, von sechs Mann hingetragen. Soviel Mann waren zum Tragen der Last auch wirklich nötig.

Angenommen! Die Eingländer waren gerade beim Deckwaschen, die ausgesuchten 30 Mann bekamen sofort frei. Wir lagen nicht weit auseinander, trafen in der Mitte an Land zusammen. Wir 60 Mann. Zuerst aber musste bestimmt werden, wer die Waffe zu liefern hatte, das Tau, worauf doch sehr viel ankommt.

Jede Partei brachte eine Pfütze, einen Holzeimer mit, und ein Pint, dreiviertel Liter, irgend eines Getränkes. Es kann Bier oder Rum oder Zuckerwasser sein. Die Hauptsache ist, dass dieses Getränk nun noch mit einem Pint Seewasser vermischt wird. Welcher Führer von jeder Partei diese deliziöse Mischung am schnellsten hintergießt, dessen Partei hat dann das Tau zu liefern, ist also im Vorteil.

Die Engländer wurden von einem rotnäsigen Bootsmann geführt. Das Kommando erscholl, und der soff pardon, trank die anderthalb Liter mit einem einzigen Ruck aus, sich dann schnell den Eimer über den Kopf stülpend. Die Nagelprobe. Unser erster Bootsmann setzte seinen Eimer nur an die Lippen und goss ihn dann aus, was erlaubt ist.

»Gaukler, Gaukler!«, erklang es drüben höhnend. »Nicht einmal Seegaukler, nur Landgaukler! Haben sich als Fußlatscher ausgebildet. Können kein Salzwasser vertragen!«

Solcher Hohn ist also erlaubt. Vorher. Nicht mehr hinterher. Wir blieben ihn schuldig.

Das Tau wurde gebracht, ziemlich stark, sechs Zentimeter im Durchmesser. Desto besser für uns, denn wir waren ganz andere Taue gewöhnt, viel, viel dünner. Aber eben darum sehr günstig für uns. Und wie wir uns nun sonst noch für einen Taukampf präpariert hatten! Mit Seife eingeschmiert, mit — doch davon will ich jetzt nicht noch einmal sprechen.

Das Tau wurde in der Mitte durchschnitten, wieder zusammengesplisst, die Stelle mit grüner Farbe gestrichen.

Jetzt wählte der englische Bootsmann sorgfältig die 30 Mann unter uns 60 Angetretenen aus, hielt auch mit den anderen manchmal Besprechungen ab.

Ganz englisch war es ja nun, aber menschlich gerechtfertigt, dass der von uns die unansehnlichsten Figuren aussuchte.

Na ja — wenn schon, denn schon. Er konnte doch nicht die stärksten Kerls von uns wählen. Dann wäre er doch ein Narr gewesen.

Ich hätte es ja freilich nicht machen können. Ich hätte eben diese Bedingung überhaupt gar nicht angenommen. Da aber die Engländer das nun einmal akzeptiert hatten, musste ihr Führer doch auch jede günstige Chance benützen.

Geradezu possierlich freilich war es, dass der Bootsmann als ersten »Mann« von uns den Schiffsjungen erkor, Fritz, den Mondgucker!

Und als zweiten erkürte er Napoleon, unseren ersten Bootsmann.

Da hatte er aber nun gerade eine falsche Wahl getroffen, war gerade an den Unrechten gekommen!

Ich habe über diesen unsern ersten Bootsmann noch gar nicht gesprochen. Das kann ich auch immer nur, wenn einmal eine besondere Gelegenheit vorliegt.

Napoleon wurde er genannt, weil er eben einen Napoleonskopf hatte. Napoleon III. Es war ein Finne, eine kleine, magere, unansehnliche Gestalt mit ganz schräg herabfallenden Schultern und furchtbar krummen Beinen. Aber wieder eine ganz andere Krümmung als die bei Mister Tabak. Diese Krümmung hier des Bootsmannes war doch etwas mehr eleganter. Wir hatten ja noch ein drittes Krummbein an Bord: unseren Doktor Isidor. Bei dem aber war es wiederum etwas ganz, ganz anderes. Der hatte dabei so einen wehmütigen Zug »um die Beine«.

Den Atlantik-India-Atlantik-Marsch hatte Napoleon nicht mitgemacht. Das konnte man von solchen Beinen nicht verlangen. Dagegen trat er jetzt als Ersatzmann für unseren Hahn ein, der in seiner Koje lag, eine Eiskompresse auf der Nase. Der Bootsmann konnte mitziehen, auch wenn er zuerst den Schiedsrichter gespielt hatte.

Also er wurde von den Gegnern als zweiter Mann gewählt. Da aber hatte man also gerade eine falsche Wahl getroffen. Denn das kleine, unansehnliche Männchen hatte eine wahre Bärenkraft, was man ihm aber eben nicht ansehen konnte; nur musste er seine Hände in den Hosentaschen verstecken, wenn er das nicht verraten wollte. Unverschämte Pfoten! Eben Bärentatzen. Und dazu entsprechende Handgelenke.

Und so ging die Wahl weiter. August der Starke wurde natürlich nicht erkürt, dagegen ich, mir sah man auch nicht viel an.

Die Wahl war beendet, wir traten an. Die grüne Marke am Tau über der Marke im Sande. Es war grober Kies, der den Boden bedeckte, sehr hoch aufgeschüttet.

Die dort drüben hatten ja natürlich ihre Leute ausgesucht! Es waren bannige Pflaumenschmeißer dazwischen. Den ersten, den Vorzieher, machte ein Riese, an dessen Herkulesarmen die Stränge wie die Saucischen hervortraten.

Nun aber machte ich mir auch den Spaß diesem Riesen als unseren Vorzieher unseren Fritz, den Mondgucker, gegenüberzustellen.

Ach, wie das aussah, wie diese beiden sich in fünf Schritt Entfernung kampfbereit gegenüberstanden, der herkulische Riese und der dagegen zwerghafte Schiffsjunge!


Illustration

Ich weiß nicht — dass diese Engländer sich nur gar nicht genierten! Man wird wohl schon gemerkt haben, dass ich im allgemeinen sehr gut auf die Engländer zu sprechen bin; aber in gewissen Hinsichten sind sie wie — wie — wie von Gott verlassen.

»Turn —!«, leitete der englische Bootsmann das Kommando ein.

»To!«, gab ich das letzte Wort.

Ein Ruck und wir gingen mit den 30 Engländern ab! Denn wie todessicher wir unserer Sache von vornherein gewesen waren, davon habe ich doch vorher gar nichts zu sagen brauchen.

Aber das war mir doch etwas gar zu schnell gekommen.

Die hätten dann sagen können, sie wären überrumpelt worden,

Ein leises Kommando, und sofort gehorchten die Jungen, gaben nach.

Wir ließen uns wieder bis zur Marke zurückziehen. Aber vorsichtig, vorsichtig!

»Zu — gleich!!«

Ein Ruck, und nun aber ging es mit Hurra davon, bis das Kai uns Halt gebot!

Es war nichts gegen uns ausgesuchte Schwächlinge zu machen! Der Riese zog mit seinem vorgestemmten Seestiefel eine wahre Ackerfurche in den Kiesboden hinein — wohl, wir zogen diese Ackerfurche, soweit wir konnten!

Alle war's.

Die 30 englischen Matrosen schlichen mit ihrem Bootsmann wie die begossenen Pudel davon.

Wir splissten das Tau auf, nahmen unsere Hälfte als Trophäe mit, die im Mannschaftslogis angebracht wird, aber fernerhin dem Schiffe gehört, auch wenn die Besatzung wechselt, und keine Inschrift darf melden, wo und wann und durch wen und von wem sie gewonnen worden ist.

Alle war's!

Ja, aber nun der Effekt?

Das ist eben wiederum so etwas, was ich gar nicht schildern kann, weil der Effekt nämlich ganz ausblieb.

Eigentlich hätten uns die Besiegten in die nächste Kneipe führen und uns traktieren müssen, die Sieger müssen sich dann tüchtig revanchieren.

Aber ich habe schon gesagt, dass die englischen Matrosen wie die begossenen Pudel davongeschlichen waren. Einfach Kehrt gemacht und an Bord ihres Schiffes zurückmarschiert, aber nicht in Schritt und Tritt, ihr rotnäsiger Bootsmann voran.

Aber wir Tauzieher waren doch nicht die einzigen auf dem Plane. Hunderte und Aberhunderte standen da, von allen Seiten waren sie herbeigeströmt, sobald bekannt geworden war, dass hier zwei Schiffsmannschaften Tauziehen wollten, Seeleute und Hafenarbeiter, und aus den Straßen waren die Passanten in hellen Scharen gelaufen gekommen.

Ach, und wie geht das sonst zu, wenn zwei solche Schiffsmannschaften an der Hafenmauer Tauziehen! — Dieses Johlen und Brüllen! Jeder nimmt natürlich sofort eine Partei, noch natürlicher wird sofort gewettet, sonst wäre man doch nicht in einer englischen Kolonie.

Da müssen aber die beiden Parteien erst einmal angezogen haben, damit man sich ein Bild machen kann. Und dann, wenn der Kampf hin und her wogt, einmal dorthin, einmal dahin, dann wird gejohlt und gebrüllt.

Wir hatten angezogen — und wir waren davongelaufen. Und nun stand das vielhundertköpfige Publikum da, stand und starrte, lautlos und regungslos. Und so war es noch, als wir schon wieder an Bord gegangen waren.

Dann verlief es sich, langsam und schweigsam.

Mehr vermag ich nicht zu schildern.

Es war eben der zweite Blitz gewesen, den die Argonauten vom heiteren Himmel herabgelockt hatten.

In Wirklichkeit lässt sich aber solch ein Blitz gar nicht herablocken, er muss von allein kommen.

Jedenfalls konnten wir mit dem Erfolge zufrieden sein. Und die Patronin fing wieder einmal zu weinen an.

Man konnte leicht auf den Verdacht kommen, dass sie etwas hysterisch veranlagt sei, was aber durchaus nicht der Fall war.

Sie hatte nur — »viel z'viel G'fiehl!«, sagt der Bayer.

*

Der Abend war gekommen, das Atlantik-India-Theater war bis auf den letzten der 2000 Plätze gefüllt.

Der billigste kostete 2 Schilling, der teuerste 20, und so hatten wir rund tausend Pfund Sterling in der Kasse, 20 000 Mark.

Das muss ich erwähnen, sonst vergesse ich die Hauptsache jeder Vorstellung, die irgendwo in der Welt stattfindet, wenn dabei Eintrittsgeld erhoben wird.

Wenn Menschen so tun, als wäre die Einnahme dabei ganz Nebensache, so sind's gewöhnlich gerade die verhungertsten Köter.

Das Theater hätte wohl dreimal soviel Plätze haben können, es wäre sicher gefüllt worden, die Preise hätten auch noch höher sein können. Tausende hatten kein Billett bekommen können. Dabei war für ein gewisses Publikum gerade eine recht schlechte Zeit. Der letzte Arbeitstag war doch ausgefallen, das hat für solche Leute viel zu bedeuten. Die vielen Leihhäuser waren stark frequentiert worden, nur unseretwegen, und nun hatten sie nicht einmal einen Platz bekommen. Das war bedauerlich, das konnten wir aber nicht ändern.

»Eine Vorstellung der Argonauten.«

Mehr hatten Zeitungen und Anschlagzettel nicht gemeldet.

Preise der Plätze, Anfang um acht, Ende gegen elf. Drei Stunden wollten wir dem Publikum etwas vormimen. Was eigentlich, davon hatten die noch keine Ahnung.

Nun, wir wollten ihnen etwas vorblasen und vorsingen.

Jawohl, blasen und singen!

Wir hätten uns doch gehütet, hier im Theater ein Instrumentalkonzert zu geben, dann im dreistimmigen Männerchor ein Lied zu grölen!

Denn weiter als Grölerei wäre es doch nichts geworden. Und ebenso jämmerlich hätte unsere Tuterei geklungen.

Ja, draußen auf dem Meere, wenn wir auf den Rahen standen und brüllten, da wäre es etwas gewesen! Da hätten sie etwas zu hören bekommen, was sie noch nie gehört hatten, keiner von diesen allen!

Aber doch nicht hier im geschlossenen Theater!

Dort unten saß kunstverständiges Publikum genug, mancher Journalist mit gar feinen musikalischen Ohren. Die hätten uns ja morgen in den Zeitungen nicht schlecht abgetoffelt!

Dann waren die ersten beiden Blitze aus heiterem Himmel vergeblich gewesen, dann hätten wir alles wieder verspielt, was wir schon gewonnen.

Und trotzdem wollten wir diesem Publikum hier im Theater etwas vorblasen und vorsingen, und wir waren unseres Erfolges so todsicher wie heute früh, da die »Schwächlinge« der Argonauten den englischen Herkulessen zum Tauziehen gegenübergetreten waren.

Ja aber, was wollten wir denn da nun blasen und singen?

Nun, vor uns unter der Souffleurmuschel kauerte bereits Meister Hämmerlein, den Taktstock in der Hand.

Dieses kleine, bucklige, elende Männlein hatte seinen Beruf verfehlt.

Doch nein — gerade das Gegenteil — das bewies er ja eben jetzt. Dass er sonst nichts von sich reden machte, das war seine Sache.

Jedenfalls aber wären wir ohne dieses Männlein hier im Theater nichts gewesen. Von ihm stammte die geniale Idee, er hatte alles arrangiert und uns dressiert.

Ein Klingelzeichen und der Vorhang ging hoch.

Die Bühne war sehr breit und tief, für ein hundertköpfiges Ballett mit zweihundert Schlenkerbeinen berechnet.

Aber wir wollten kein Ballett tanzen, wenigstens jetzt noch nicht.

Vorläufig standen wir alle angetreten, 22 Mann im Hintergrunde erhöht auf ganz simplen Stellagen, vorn 40 Mann in vierfach durchsichtigen Reihen. Alle gleichmäßig gekleidet, ganz, ganz einfach, so wie bei dem Wettmarsch, in grauen Arbeitsanzügen, nur der Strohhut fehlte, dafür die Hemdsärmel möglichst hochgekrempelt, vorn das kragenlose Hemd weit offen, und Meister Hämmerlein hatte uns noch einmal inspiziert, dass sich nicht etwa einer gekämmt hatte. Nur so wild und struppig als möglich.

Die 22 dort oben hatten Posaunen in den Händen, 22 Stück, und unten die 40 in jeder Hand eine Keule.

Und als der Vorhang hochging, da fingen wir 40 Mann unten, zu denen auch ich gehörte, zu brüllen an:


Festgeschmiedet sind wir — hei!!!


Nichts weiter. Nur ein einziges Mal diese vier Worte. Dann hoben die 22 Mann dort oben ihre Posaunen und schmetterten mächtig los, und gleichzeitig hoben wir 40 unsere Keulen und machten eine Übung, nur wenige Sekunden.

Dann senkten die dort oben wieder ihre Posaunen, wir ließen unsere Keulen herabhängen und brüllten dreistimmig die zweite Strophe:


Festgenietet sind wir — hei!!!


Und dann wieder unter Posaunengeschmetter eine kurze Keulenübung, dann wieder Bewegungslosigkeit, während wir den Schlussvers des Liedes brüllten:


Thor und Odin!


Es war ein germanischer Barrit, gedichtet und komponiert von Meister Hämmerlein.

Ja, gedichtet! Obgleich es immer ein und derselbe Vers war.

Sollte es etwa anders sein?

Wenn die alten Teutonen in die Schlacht gingen — in die Schlacht, die für sie sehr zweifelhaft aussah — mit Ketten aneinandergeschweißt, um vereint entweder zu siegen oder zu sterben, und auch die Leichen mussten noch mit vorwärts — dann haben sie sicher nicht das Lied vom guten Monde oder von der Loreley gesungen.


Festgeschmiedet sind wir — hei!!!
Festgenietet sind wir — hei!!!
Thor und Odin!


So posaunten und brüllten die 62 Mann und schwangen ihre Keulen dazu.

Und der Erfolg dieser Bläserei und Singerei und Schwingerei?

Die dort unten, 2000 Menschen, sperrten einfach Maul und Nase auf.

Mehr kann ich nicht sagen, finde auch keinen anderen Ausdruck, um deren Stimmung anzudeuten.

So ging es etwa zehn Minuten lang, nur die Keulenübungen wurden immer komplizierter, Posaunengeschmetter und Barrit blieb der gleiche, dann fiel der Vorhang.

Und unten saßen lautlos und regungslos die 2000 Menschen.

Dann freilich legten sie los.

Ach, dieses Gebrüll und Gejohle und Gepfeife und donnernde Getrampel!

Wir wollten keine Zugabe machen, es war ein für allemal beschlossen, aber wir mussten es, sonst hätten die sich noch in den Keller hineingetrampelt.

Also noch einmal diesen Barrit mit der nötigen Begleitung — dann aber ließen wir uns nicht wieder hervorlocken, wie die auch toben mochten.

So haben wir Argonauten damals in Kapstadt dem Publikum etwas vorgeblasen und vorgesungen, und die Zeitungen mochten ja recht haben, wenn sie am nächsten Morgen behaupteten, so etwas Gewaltiges und Überwältigendes habe man noch nicht gehört — und zugleich gesehen — so lange die Welt existiere:

Und ich muss offen bekennen, dass besonders der letzte dreistimmige Schlusssatz »Thor und Odin« wirklich von einfach überwältigender, überirdischer Wirkung war. In diese drei Worte hatte Hämmerlein eine Harmonie und eine Kraft und eine Wucht gelegt — doch wie soll man denn so etwas beschreiben. —

Dann kam mein Theaterstück daran. »Kling-Klang-Klung, der Schrecken des gelben Meeres oder der blutige Popanz in der Kleiderkiste«.

Aber dieser Titel wurde nicht etwa auf dem Programm angegeben. Gar nichts. Es gab ja überhaupt gar kein Programm.

Den künstlerischen Wert dieses von mir verfassten Dramas, gänzlich neu bearbeitet, will ich nur mit folgenden Worten charakterisieren: nur immer so unmöglich als möglich! Nur immer der horrendeste Blödsinn!

Aber einen großen Vorzug besaß mein Geisteskind vor anderen Dramen: jeder Schauspieler konnte in irgend einer Sprache reden, ganz wie ihm beliebte. Darauf kam's gar nicht an. Das Publikum verstand ihn schon.

Es war eben mehr eine Pantomime, wenn dabei auch gesprochen wurde. Und wie gesprochen! Aber der Hauptsache nach handelte es sich doch nur um den szenischen Effekt.

Ein deutscher Geschäftsreisender, in Dynamit, sauren Gurken und Nähmaschinen machend, kommt nach China, um hier seine Artikel anzupreisen, verirrt sich an den Hof des Kaisers, und nun geht die Geschichte los. Er wird für den furchtbaren Seeräuber Kling-Klang-Klung gehalten, der selbst sonst gar keine Rolle spielte, weshalb auch ich ihn mimte.

Mehr brauchte der Leser eigentlich gar nicht zu wissen. Höchstens noch, dass die Kaiserin-Mutter eine höchst exzentrische Dame war, besonders für europäisches Ballett schwärmte, selbst Ballettunterricht nahm, ab und zu einmal durchbrannte und in den deutschen Geschäftsreisenden alias Kling-Klang-Klung bis über die Ohren verliebt war.

Den deutschen Geschäftsreisenden spielte Siddy. Na ja, so ein Kommis voyageur muss doch alles können! Als Schlangenmensch mit den Füßen Violine spielen und dabei eine brennende Lampe auf der Nase balancieren! Zumal wenn er in Dynamit, sauren Gurken und Nähmaschinen reist!

Und die Kaiserin-Mutter wurde von August dem Starken gegeben!

Ach, diese Liebesszene zwischen den beiden! Erst singt Kling-Klang-Klung alias Balduin Lehmann eine Arie — und Siddy sang sie gar fein! — schwärmt von seiner Geliebten, von dem süßen, kleinen Veilchen — und — jetzt kommt sie hereinspaziert, die Kaiserin-Mutter — August der Starke, dieser dreizentrige Fettkoloss, als Balletteuse im kurzen Flitterröckchen — setzt sich und nimmt den kleinen, mageren Hering auf die Knie — und jetzt fangen die beiden an ein Duett zu singen.

Im Zuschauerraum kamen tatsächlich Krampfanfälle vor. Einige mussten hinausgebracht werden. Sie konnten nicht mehr vor Lachen. Es mochte ja auch manche prüde Engländerin dabei sein — aber gerade von denen entfernte sich keine. Lieber wälzten sie sich.

Und wie nun erst der Ballettunterricht anfing! Und wie zierlich dieser Fettkoloss tanzte! Und der Ballettmeister war Napoleon! Der mit seinen Säbelbeinen!

»Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!«, So und ähnlich erklang es fortwährend dort unten.

Auch die Szene, wie die Kaiserin-Mutter mit ihrem Geliebten flieht, war sehr hübsch.

Wie sie den mageren Hering auf den Tisch legt, wie sie den Oberkörper des Kautschuckmännleins vornüber klappt, dann die Arme und Beine einklappt, den Geliebten in Zeitungspapier einwickelt, ihn in eine gar nicht so große Handtasche steckt und so mit ihm abmarschiert.

Ich hatte nämlich aus der Kleiderkiste eine Handtasche gemacht, Siddy wurde immer einmal hineingesteckt, kam dadurch in die unmöglichsten Situationen.

Aber überhaupt, wie die Kaiserin-Mutter den Geliebten immer einmal so einpackte und wieder auspackte.

Und was nun sonst noch alles für Szenen vorkamen! Festlichkeiten am Hofe des Kaisers von China! Unsere ganze Menagerie trat mit auf!

Die fünf Affen produzierten sich als Virtuosen auf dem Glockenspiel, Lulu drehte dazu den Leierkasten, auf seinem Rücken spazierte Huckebein herum und schwadronierte dazu.

Aber auch die Raubtiere hatten wir mit.

Davon hatte ich dem Direktor allerdings nichts gesagt, das wäre uns polizeilich nicht erlaubt worden. Aber nun waren sie einmal da, und wer hätte sich denn noch einmischen sollen, da war doch niemand mehr fähig dazu. Und Peitschenmüller war seiner Sache doch ganz sicher.

Tiere spielten überhaupt eine große Rolle. Kling-Klang-Klung wollte seiner Geliebten, die ihm fürchterlich zu werden begann, immer entwischen, aber die hatte einen gezähmten Königstiger, der apportierte ihn immer wieder!

Und so weiter, und so weiter.

Zwei Stunden währte das Stück, dann fiel der Vorhang nach dem Schlussakt, und es war gut. Zu großem Beifall waren die dort unten gar nicht mehr fähig.

Nun möchte ich an dieser Stelle noch etwas sagen.

Ich will eine gute Idee verraten, wie ein tüchtiger Geschäftsmann, der etwas wagt — mit dem Theater braucht er sonst gar nichts zu tun zu haben — schweres Geld verdienen kann, vielleicht goldene Berge.

Und ich bin da nicht so, mir so etwas patentieren zu lassen.

Wir haben schon Bauerntheater genug. Nicht nur die Oberammergauer.

Aber wir haben noch kein Matrosentheater.

In England werden wohl viel Seemannsstücke gegeben, aber von professionellen Schauspielern, nicht von Seeleuten. Nun mustert einmal die Schiffe durch und in der Kriegsmarine die Kasernen, was Ihr da für gottbegnadete Schauspieler unter diesen Matrosen finden werdet. Bei Gelegenheit kann man das ja auch merken. So bei Kaisers Geburtstag, wenn einmal gemimt wird.

Aber die Sache ist nur die, dass dann irgend ein Lustspielchen aufgeführt wird.

Nein, Szenen aus dem Seemannsleben müssen es sein, an Bord und im Hafen, in fremden Kolonien!

Die Rollen müssen den Kerls auf den Leib geschrieben werden!

So etwas gibt's aber noch gar nicht.

Da wird man sehen, was in diesen Matrosen, besonders in den deutschen, für ein Mutterwitz steckt! Und wie die ihn auf der Bühne herausbringen können!

Da lässt sich als Theaterdirektor, als Impresario und Manager noch etwas verdienen!

Mit solch einer echten Matrosen-Schauspielerbande im Lande herumreisen! —

Und was kam jetzt daran?

Denn es war noch nicht ganz halb elf.

Ich wusste es selbst noch nicht.

Ich wusste nur, dass Hämmerlein den Stutzflügel von Bord ins Theater hatte bringen lassen, dass Albert singen sollte.

Aber was er singen sollte, das wusste ich nicht. Ich hatte ihn überhaupt noch gar nicht singen hören, noch kein anderer. Manchmal hatten wir in der ausgepolsterten Kammer im unteren Deck ein paar Tönchen erlauscht, weiter nichts, und die hatten gar nicht schön geklungen »De— hüüüh — de — hüüüh!«

Der Vorhang ging hoch.

Ich saß in der reservierten Loge bei der Patronin. Seitwärts auf der Bühne stand der Stutzflügel, daran saß Hämmerlein im schwarzen Anzug und intonierte leise.

Vorn an der Rampe stand Albert.

Ach, sah der Kerl unglücklich aus!

In seinem blauen Landanzug, der aber nicht mehr ganz neu war, ein weißes Halstuch umgewürgt, das linke Hosenbein war ganz heraufgerutscht, so dass man den Seestiefel zur Hälfte sehen konnte — so stand er da, mit seinen großen Pfoten an der Hosennaht herumfingernd.

Ach, hatte der das Lampenfieber!

Und jetzt, wie das Klavier etwas lauter wurde, sperrte er den Mund auf, griff sich noch einmal recht kräftig an die Hosennähte, und begann zu singen.

Und was sang er?

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Dass er es jetzt hochdeutsch hervorbringen konnte, das war aber auch alles.

Aber nun wie!

Wie der die Stimme in seiner fürchterlichen Verlegenheit quetschte!

Ach, wie ich mich genierte!

Und so ging es auch der Hälfte des Publikums dort unten. Die genierte und schämte sich, weil sie mitfühlte. Die andere Hälfte war noch nicht ganz soweit auf dieser menschlichen Stufe — die fing also bereits zu lachen an.

Ja, war denn Hämmerlein nur plötzlich verrückt geworden, dass er uns zuletzt so alles noch verpfuschte?!

»Das begreife ich nicht, das begreife ich nicht!«, flüsterte auch die Patronin mit ganz entsetzten Augen.

Und der quetschte seine Töne weiter aus der Kehle heraus.

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Immer dasselbe. Wenn auch immer mit anderer Melodie.

Ja aber was war denn das?!

Das plötzlich geschah etwas!

Da vollzog sich dort unten in Kapstadt ein übersinnliches Wunder! —

Ganz gewiss gibt es Zauberei. Übersinnliche Wunder. Wenn zum Beispiel in einer spiritistischen Gesellschaft ein Geist im ätherischen Leichenhemd erscheint, die eine Hand in eine Schüssel mit Mehl, die andere Hand in eine Schüssel mit Ruß taucht, und er schmiert damit die Gesichter der Anwesenden voll — und dann nimmt der Geist aus der vierten Dimension etwa eine Ofengabel und haut sie den Gläubigen um die Ohren und dazu spielt in dem finsteren Zimmer eine Klimperdose das schöne Lied: wir sitzen so fröhlich beisammen, und haben einander so lie— ie—ie—ieb — — na, ist das etwa keine Zauberei? Das sind ganz einfach übersinnliche, ganz und gar unerklärliche Wunder aus der vierten Dimension.

Oder nicht? Na da probier's mal. Mach's mal nach. Nimm als gewöhnlicher, irdischer Mensch eine Ofengabel und hau sie einer um den Tisch mit gefalteten Händen sitzenden Gesellschaft um die Ohren. Polstere aber vorher Deinen Rücken gut aus, nimm auch in jede Backentasche einen Bausch Watte. Denn pass auf, wie schnell die ihre Hände entfalten und Dich backpfeifen. Dem Geiste aber tun sie nichts, eben weil's ein Geist aus der vierten Dimension ist mit einem ätherischen Leichenhemde Na also! Also es gibt ganz echte Zauberei und Wunder.

Dort unten aber im Atlantik-India-Theater zu Kapstadt vollzog sich damals noch eine ganz andere Zauberei!

Inwiefern — ja das vermag ich nicht zu sagen. Denn ich wurde selbst angezaubert, dass mir die Sinne schwanden.

Nur eine kleine Andeutung kann ich machen.

Die Drahtsaiten des Klaviers schienen sich zu verlängern, bis sie den Sänger erreichten, mit diesem eine unsichtbare Verbindung herstellend.

Das war der Hauptzauber dabei.

Wer begleitete eigentlich?

Hämmerlein auf dem Klavier den Sänger oder der Sänger den Klavierspieler?

Nein, die beiden waren eine Seele geworden.

Das Klavier konnte spielen, was es wollte — Albert sang immer dieselben Worte dazu. Und er konnte singen, was für eine Melodie er wollte — das Klavier begleitete ihn dazu.

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Nichts weiter und nichts weiter.

Aber nun wie, wie!

Wann sich der Gesang plötzlich so verändert hatte — plötzlich oder nach und nach — das weiß ich nicht zu sagen.

Mächtig und immer mächtiger erklang die Tenorstimme, herrlich und immer herrlicher!

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Der Vorhang fiel.

Hinter ihm brach Albert wie ein Toter zusammen.

Er brauchte aber nur ein Glas Soda mit Kognak, dann hatte er sich wieder erholt. Und vor dem Vorhang saßen 2000 Menschen wie gelähmt da.

Sie waren einfach verzaubert.

Die erst schadenfroh gelacht hatten, die hatten dieses Lachen noch in den Zügen, waren nicht fähig gewesen, diesen Ausdruck zu verwischen.

Dann freilich brach der Tumult los. Ein Tumult, wie ihn wohl selten ein Theater, ein Konzertsaal gehört und gesehen hat.

Aber es gab keine Zugabe mehr, wenn auch die Bühne gestürmt wurde.

*

Und zu derselben Stunde feierten die Argonauten durch einen Vertreter noch einen anderen ungeheuren Triumph.

Ein Capetowner Klub hatte keines seiner Mitglieder in das Theater schicken können. Der Schachklub. Wahrscheinlich wäre auch so wie so gar niemand von ihnen gekommen. Man weißt doch, wie solche »Geistesheroen« über alles denken, was nicht direkt mit dem Gehirn zusammenhängt, obgleich Ochsen ja auch mit dem Gehirnkasten ziehen. Man weiß doch, wie so ein Kunstenthusiast täglich in der Bildergalerie und in der Skulpturensammlung schwärmen kann, aber die herrlichsten menschlichen Körper im Zirkus in Fleisch und Blut zu bewundern, das fällt ihm gar nicht ein. Das ist für ihn verächtlicher Schnickschnack. Seine Figuren müssen aus Stein sein, mindestens tausend Jahre unter der Erde gelegen haben, oder ein berühmter Maler muss sie auf die Leinwand geklitscht haben, aber auch noch nicht im vorigen oder gar diesen Jahrhundert.

Also diese Schachspieler kamen nicht zu uns ins Theater.

Außerdem weilte nun jetzt in Kapstadt der gegenwärtige Weltschachmeister, ein Amerikaner.

Heute Abend war er in den Schachklub eingeladen, zeigte den Herren einige Probleme und ihre Lösungen, machte ein Blindlingsspielchen mit ihnen.

Doktor Isidor Cohn hatte schon vorgestern Bekanntschaft mit einigen von diesen Mitgliedern gemacht, war auch heute Abend dort.

Dass unser Isidor ein sehr starker Spieler war, das wussten wir, er hatte es uns selbst erzählt.

Wie er sich bei jedem Schachturnier beteiligen könne, keinen Gegner fürchte.

Aber er konnte niemals mitmachen.

»Weshalb nicht?

Weil er immer besoffen war.

Daran war aber mehr eine Nervosität schuld, und zwar eine ganz eingebildete Nervosität.

Er glaubte, nicht spielen zu können, wenn er nicht sein gewisses Quantum Alkohol im Leibe hatte. Und war dies der Fall, dann konnte er natürlich erst recht nicht spielen.

So war es bisher gewesen. Das hatte sich durch die Seereisen sehr geändert, wenn er auch noch bei jeder Gelegenheit einen pfiff. Die nervöse Einbildung war es, die ihm das Salzwasser abgespült hatte.

So war er heute Abend in den Schachklub gegangen, außerdem begleitet von Kapitän Martin, der immer bereit war, eine Hand aus der Hosentasche zu ziehen und dem Doktor das Schnapsglas wegzunehmen.

Und während wir im Theater die wahnsinnige Burleske aufführten, besiegte der Schiffsarzt der Argonauten in zwei Spielen den Weltschachmeister!

*

15. Kapitel

Am anderen Morgen

Originalseiten 377 — 391

»Also«, sagte Mister Ritchie, der Direktor des Atlantik-India-Theaters, der uns einen frühen Morgenbesuch abgestattet hatte, »ich fasse meinen Vorschlag noch einmal kurz zusammen.

Ich trage sämtliche Unkosten dieses Schiffes, sämtliche!

Wir fahren von Hafen zu Hafen, machen ab und zu mit der Mannschaft auch einen Abstecher nach einer Binnenstadt.

Die Bestimmung dieser Häfen und Städte, in denen wir auftreten, muss, natürlich ganz mir überlassen bleiben, ebenso die Zeit, die wir darin verweilen.

Für jede Vorstellung zahle ich Ihnen, Frau Patronin, tausend Pfund Sterling, und garantiere monatlich drei Vorstellungen, also dreitausend Pfund Sterling.

Außerdem gestatte ich Ihnen noch, ja, ich möchte Sie vielleicht noch dazu verpflichten, dass Sie von Hafen zu Hafen Fracht mitnehmen. Der Verdienst dabei gehört vollständig Ihnen, nur muss mir natürlich diese Frachtmitnahme von Hafen zu Hafen zu erlauben oder zu verbieten vorbehalten bleiben. Weshalb natürlich? Weil die Hauptsache dabei doch mein eigenes Unternehmen ist. Das Schiff kann nicht zu lange auf eine Fracht warten; sonst aber werde ich Ihnen darin das größte Entgegenkommen zeigen. Das lässt sich ja auch noch genau formulieren. Bitte, nun fassen Sie Ihren Entschluss kurz. Die Sache kann sofort beginnen, heute schon! Ich kann mich sofort freimachen. Und ein besseres Angebot wird Ihnen von keiner Seite offeriert, dessen seien Sie versichert.«

So sprach Mister Ritchie.

Und dabei schielte er ängstlich nach dem Stapel Briefe, den die Morgenpost gebracht hatte, und von denen die Patronin schon einige zu öffnen begann.

Dass er ängstlich war, in Sorge, in solch einem Briefe könne uns schon ein noch besseres Angebot gemacht werden, das erkannte wenigstens ich, nämlich in seinen Augen.

Sonst war es ein eisernes, unbewegliches Gesicht, das wir vor uns hatten, durch seine Bartlosigkeit jünger erscheinend, als der Mann wohl in Wirklichkeit war. Ich hielt ihn mehr für einen Amerikaner, als einen Engländer, er sprach ja auch etwas durch die Nase. Dann war er der Typ eines echten, smarten Yankees, der nichts weiter kennt als »Dollars machen«, der bereit ist, deshalb über Leichen zu schreiten, wenn er dabei nicht mit Polizei und Schwurgericht in Konflikt kommt. Dem man aber gerade deshalb in Geldsachen absolut vertrauen darf, bis auf einen gewissen Punkt, der sich nicht so leicht definieren lässt, bis auf den Punkt, wo solch ein Yankee auch seinen besten Freund oder seinen eigenen Bruder oder Vater bei der Kehle packt und ihn langsam abwürgt, wenn dabei Dollars zu machen sind.

Außer der Patronin und mir befand sich auch Kapitän Martin in der Kajüte. Und es war sehr, sehr gut, dass die Patronin auch den als Beirat gerufen hatte. Eigentlich wäre diese Angelegenheit, wenn die Patronin nun einmal einen Beirat haben wollte, nur meine, des Kargo-Kapitäns Sache gewesen; denn mit der Fracht, mit dem Geldverdienen des Schiffes hatte es doch zu tun. Aber ich fühlte schon, wie ich diesem Yankee gegenüber in solch einer Sache geradezu ein Kind war, und weiter fühlte ich, dass hingegen unser Kapitän Martin, wenn ihm auch nur die nautische Leitung des Schiffes oblag, diesem smarten Yankee in jeder Hinsicht gewachsen war.

Kapitän Martin saß auf einem Wandstuhl, betrachtete aufmerksam seine Füße, die er so ziemlich in der Mitte der Kajüte liegen hatte, die Hände natürlich bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben, und schob seinen Kautabak von einer Backentasche in die andere.

»Well«, nahm er jetzt zum ersten Male das Wort, »Sie garantieren monatlich dreitausend Pfund, sagten Sie. Womit garantieren Sie denn?«

»Ich habe gegenwärtig achttausend Pfund zur Verfügung. Die deponiere ich noch heute, wo Sie bestimmen, außerdem habe ich eine große Gesellschaft hinter mir. In vier Wochen deponiere ich eine weitere Summe.«

»Wie viel?«

»Bestimmen Sie die Höhe.«

»Wie lange soll der Kontrakt gelten?«

»Nun machen wir doch erst einmal drei Monate aus.

Ich bin aber auch sofort mit einem ganzen Jahre einverstanden, nur muss ich mir das Recht vorbehalten, den Kontrakt erneuern zu können. Ich meine, dass ich das Vorrecht dazu habe. Dass dann nicht ein anderer kommt und das Fett erst richtig abschöpft; denn ich werde doch zuerst ungemein große Ausgaben haben. Ist das nicht recht und billig, diese meine Forderung?«

»Well. Sind Ihnen denn die Unkosten dieses Schiffes bekannt?«

»Nun, wie hoch sind sie?«

»Monatlich dreizehnhundert Pfund Sterling.«

Der Yankee machte wenigstens einen Ansatz dazu, die Augenbrauen hochzuziehen.

»Das ist ja ganz außerordentlich viel!«

»Das ist die Durchschnittsberechnung eines halben Jahres. Die Frau Patronin hat mir Einblick in ihre Bücher gewährt. Es stimmt. Dabei sind alle Nebenausgaben nicht mit eingerechnet. Nur die Unterhaltung des Schiffes. Und dabei haben wir sehr, sehr wenig Kohlen verbraucht, sind fast immer gesegelt.«

»Ja wie kommt denn da diese enorme Summe zusammen? Ich verstehe nämlich auch etwas vom Schiff.«

»Einfach, weil die Heuern und Gehälter so hoch sind.«

»Ach so! Nun ja, das muss man ja auch bei solch einem Schiffe und solch einer Mannschaft erwarten. Dann also deponiere ich zuerst für drei Monate sechzehntausend Pfund Sterling; die eine Hälfte sofort, die andere Hälfte in vier Wochen. Später, wenn Sie sehen, wie vortrefflich unser Geschäft geht, werden Sie mich doch wohl davon entlasten, damit dieses Kapital besser arbeiten kann. Einverstanden, Frau Patronin?«

»Herr Kapitän Martin hat noch das Wort!«, entgegnete diese, einen Brief nach dem anderen öffnend und überfliegend.

»Well!«, begann Kapitän Martin denn auch gleich wieder. »Wir können also auch von Hafen zu Hafen, wenn es Ihren Geschäften nicht zuwiderläuft, Fracht mitnehmen.«

»Das können Sie. Auf eigene oder fremde Rechnung, wie Sie wollen! Der Verdienst gehört Ihnen.«

»Sie würden uns sogar zur Mitnahme solcher Fracht verpflichten, sagten Sie.«

»Ja, das möchte ich allerdings«

»Weshalb?«

»Weil es mir darauf ankommt, dass Ihre Mannschaft nicht etwa als eine Schauspielertruppe gilt. Es muss ein Handelsschiff bleiben, es müssen echte Matrosen sein, die ich in den Städten vorführe.«

Wahrhaftig, dieser Mann hatte sich alles, alles reiflich überlegt! Das hatte alles Hand und Fuß!

Gleichzeitig aber sah ich, wie die Patronin die Oberlippe hochzog. »Die ich in den Städten vorführe.« Jawohl, hatte der eine Ahnung! Ich sah doch schon alles kommen. Wir verhandelten hier doch ganz zwecklos.

Aber es war ja ganz interessant, solche Vorschläge einmal anzuhören. Da merkten wir, wie viel wert wir waren.

»Sie versichern das Schiff?«

»Selbstverständlich. Das heißt, wenn es Fracht nimmt, dann werden Sie diese versichern, auch das Schiff, von Hafen zu Hafen. Das ist doch recht und billig.«

»Well.«

»Außerdem werde ich natürlich auch die ganze Mannschaft versichern, jeden einzeln.«

Kapitän Martin sagte diesmal kein »Well«, dafür aber verschob die Patronin die Oberlippe nochmals und noch höher nach oben.

Ihre Leute von einem Fremden so versichern zu lassen, nicht einmal richtig als Menschen, sondern ungefähr so, wie man Mastvieh und Missgeburten als Schauobjekt versichert, das war doch nichts für die!

»Well, und was sollen wir denn nun da für Vorstellungen geben?«

»Nun, dieselbe, die Sie gestern Abend in meinem Theater aufführten. Zuerst das Keulenschwingen mit Posaunenbegleitung und Gesang, dann die Burleske, an der ich allerdings Verschiedenes ändern würde, und dann —«

Er wurde durch Siddys Eintritt unterbrochen.

Sonst hätte ich den Herrn unterbrochen.

Wollte der an meinem Theaterstück, an meiner Geistesschöpfung etwas ändern!

I drrr Deiwel noch einmal!!

»Mister Bull bittet um Empfang!«, meldete Siddy, hatte es sofort beim Eintritt gesagt, als Mister Ritchie noch sprach, und besonders dieser Name »Bull« schien es zu sein, der ihm gleich das Wort in der Kehle ersticken ließ, er machte auch gleich ein so eigentümliches Gesicht.

»Du weißt doch, dass ich niemanden empfange, er habe denn meinen schriftlichen Bescheid erhalten!«, sagte die Patronin.

»Er behauptet, er habe sich bereits angemeldet.«

»Das mag sein, aber ich habe ihm doch nicht — Halt!«, die Patronin suchte zwischen den Briefen, nahm eine Karte. »Mister Bull? Ach so, der kommt wegen — ja, den möchte ich doch einmal sprechen, das interessiert mich. Ich lasse ihn bitten.«

»Gnädigste Frau«, nahm da der Theaterdirektor hastig das Wort, mit allen Zeichen der größten Unruhe, so eisern dieser Yankee auch sonst sein mochte, nehmen Sie kein Angebot dieses Mister Bull an, er kann das meine unmöglich überbieten —«

Da trat Mister Bull schon ein.

Ja, der führte seinen Namen mit Recht. Das war ein richtiger Bulle!

Oder doch eine Bulldogge in menschlicher Ausgabe. Oder auch ein richtiger John Bull, womit man den Engländer vom alten Schrot und Korn bezeichnet, wie er in Witzblättern karikiert wird, in seinen eigenen, womit also der Engländer sehr wohl einverstanden ist.

Also eine dicke Bulldogge in menschlicher Ausgabe, wozu aber auch noch wirklich etwas Ochsenähnliches kommt, und unbedingt muss diese Figur Kniehosen und Wadenstrümpfe tragen, was hier denn auch der Fall war.

»Bull!«, fing der Eingetretene ohne weiteres zu bullern an. »Ephraim C. W. H. G. Bull. Sie kennen mich doch schon als den erfolgreichsten Impresario und Mennedscher (ich schreibe es hier einmal, wie es gesprochen wird), der je die Welt bereist hat. Ich habe vierzehn Monate den Zwerg General Timtomtum gemennedscht und habe ihm dreimalhunderttausend Dollars ausgezahlt. Ich habe den indischen Riesen Radschah Ramaparadra von Radschhure vier Monate gemennedscht und habe ihm hundertzwanzigtausend Dollars auszahlen können. Ich habe ein halbes Jahr das größte Wunder der Welt gemennedscht, das sechsbeinige Kalb mit zwei Köpfen, und habe an ihm nachweislich eine Viertelmillion Dollars verdient. Ich habe die größte menschliche Missgeburt der Erde gemennedscht, drei zusammengewachsene Kinder mit nur vier Beinen, fünf Händen und zwei Köpfen und habe —«

»Aber bitte, bitte«, unterbrach die Patronin den Redeschwall mit erhobenen Händen, »ich habe hier an Bord keine einzige Missgeburt, was wollen Sie denn eigentlich —«

»Ich will den Matrosen Albert Bohnsack mennedschen, ich zahle —«

»Halt!«, fuhr da Mister Ritchie, von seiner Kaltblütigkeit vollständig verlassen, plötzlich wie ein Wilder auf die Patronin los. »Dieser Bohnsack gehört mir, dieser Bohnsack muss natürlich für mich singen —«

»— zahle Ihnen ein monatliches Fixum von zehntausend Dollars —«

»Der Matrose Bohnsack gehört mit zu meinem Kontrakt«, fing Mister Ritchie jetzt zu brüllen an, weil auch schon der andere schrie, »der darf nur für mich singen —«

»— und die Hälfte vom Reingewinn!«, konnte der menschliche Bulle aber noch ganz anders brüllen.

Einen Augenblick verstummte die Brüllerei, die beiden konnten nicht mehr.

Aber ich stand schon bereit, falls sie die Patronin jetzt auch handgreiflich attackieren wollten, denn so sah es bereits aus.

»Aber meine Herren, meine Herren!«, lachte die Patronin, halb ärgerlich, halb wirklich belustigt. »Wofür halten Sie mich denn eigentlich? Bin ich denn etwa eine Sklavenhälterin?«

Und dann machte sie es äußerst kurz.

»Nein!«, wandte sie sich an den Theaterdirektor. »Ich bedaure, Ihr Angebot ablehnen zu müssen.«

»Aber ich zahle Ihnen eventuell auch —«

»Nein! Geben Sie sich keine Mühe mehr. Jedes weitere Wort ist zwecklos. Nein, sage ich, nein!!«

Dieses energische »Nein!«, imponierte mir äußerst.

Sie hatte mir doch einmal gesagt, damals gleich im Anfange, sie sei in gewissem Sinne so energielos, könne zum Beispiel niemanden, der sich sonst gut führe, entlassen. Nun gut, eben nur in gewissem Sinne war sie schwach, eine Folge ihrer Herzensgüte. Jetzt bewies sie genau das Gegenteil.

Mister Ritchie sah denn auch gleich ein, dass gegen ein solches »Nein!«, nichts zu machen war.

»Sie werden es sich noch überlegen, ich werde Ihnen noch einmal schreiben!«, sagte er nur noch, als er nach seinem Hute griff.

»Es ist zwecklos.«

Der Theaterdirektor war gegangen, Mister Bull war noch vorhanden.

»Also ich zahle Ihnen für Ihren Matrosen Bohnsack monatlich ein Fixum von zehntausend Dollars —«

»Ja, geehrter Herr, Sie verkennen die Verhältnisse doch vollkommen!«, fiel ihm die Patronin ins Wort.

»Wieso denn?«

»Sie tun ja gerade, als wäre dieser Matrose mein Sklave, über dessen Leib und Seele ich zu befehlen hätte!«

»Solch eine Sklaverei gibt es heutzutage allerdings nicht mehr. Aber Sie haben ihn doch gemennedscht.«

»Gemanaged? Was wollen Sie denn nur damit sagen?«

»Nun, Sie haben doch mit ihm einen Kontrakt gemacht —«

»Dass er für mich singen muss? I Gott bewahre! Dieser Matrose ist eben ein Matrose auf meinem Schiffe. Und es besteht nicht einmal ein Musterkontrakt! Die ganze Mannschaft ist für wilde Fahrt geheuert. Also auch dieser Matrose könnte hier in Kapstadt sofort das Schiff verlassen —«

»Wie, er ist, ganz frei?!«, horchte die menschliche Bulldogge mit ihren Knorpelohren hoch auf.

»Wie ich sage. Sprechen Sie doch mit dem Matrosen selbst. Machen Sie ihm Ihren Vorschlag selbst. Er ist jetzt an Bord. Fragen Sie nach ihm. Fragen Sie aber nach dem Matrosen Albert, nicht nach dem Matrosen Bohnsack.«

Das ließ sich Mister Bull nicht zweimal sagen, er galoppierte sofort hinaus.

»Nun, meine Herren, was sagen Sie denn zu alledem?«, wandte sich die Patronin jetzt an uns.

»Well«, nahm zuerst Kapitän Martin das Wort, »das war sehr interessant und besonders auch sehr lehrreich.«

»Wie viel bot uns der Theatermensch?«

»Wollte alle Unkosten des Schiffes bestreiten und garantierte monatlich dreitausend Pfund.«

»Ja, richtig, so war es! Nun, dieses Angebot kann ich begreifen. Wir haben gestern Abend mit einer Vorstellung tausend Pfund eingenommen. Dieser gerissene Theaterdirektor würde noch ganz andere Einnahmen erzielen. Und der würde die Mannschaft in jedem Hafen doch nicht nur einmal auftreten lassen. Aber nun unseren Albert? Ein monatliches Fixum von zehntausend Dollars oder zweitausend Pfund Sterling und die Hälfte des Verdienstes? Kann denn das so ein einzelner Mann mit seiner Singerei wirklich verdienen?!«

»Well«, zeigte sich Kapitän Martin, dieser alte Seebär, auch hierin durchaus bewandert, »da ist jetzt ein italienischer Tenorist aufgetaucht; Caruso heißt er, der singt den Abend nicht unter zehntausend Franken, ich weiß es —«

»Jaaa, Caruso! Mit dem kann sich aber doch nicht unser Albert vergleichen, so herrlich er auch gestern Abend —«

»Well«, ließ aber Kapitän Martin diesen Einwand nicht gelten, »was heißt Caruso, was heißt singen! Da ist so eine spanische Tänzerin, die Otero, die bekommt für ihre Beinstrampelei und Bauchwackelei ebenfalls pro Vorstellung zehntausend Franken. Ich weiß es. Ich selbst habe sie in Lissabon gesehen, Ein Schiffsmakler nahm mich mit hinein, pro Platz 20 Milreis, das sind rund hundert Franken. Und dabei konnten wir uns nicht einmal setzen. Aber ein anderer hat sich auf meinen Hut gesetzt. Und ebenso viel bekommt die australische Tänzerin, die Saharet, zehntausend Franken für eine Viertelstunde Hopserei. Manchmal noch mehr. Die habe ich ebenfalls gesehen. In San Francisco. Die hopst wieder ganz anders als die spanische Otero. Ich will ja nicht etwa sagen, dass Caruso nicht wirklich der größte Sänger wäre, der seine zehntausend Franken auch wirklich verdient — aber der Hauptsache nach kommt es doch immer auf den Manager und Impresario an, der eine geschickte Reklame zu machen weiß. Hier ein Matrose — der Matrose Bohnsack — vollkommen ungeschult — ein Traum- und Trance-Sänger — die Plätze werden verauktioniert, und der Bullenbeißer schleppt das Geld in Säcken nach Hauses! Natürlich nicht in der Hundetürkei, aber in Amerika!«

So hatte unser Kapitän Martin gesprochen.

Und dieser alte Seebär hatte sofort das Richtige getroffen, obgleich er gestern Abend gar nicht im Theater gewesen war, vorher nichts davon gewusst hatte, nur davon nachträglich gehört hatte.

Ein Traum- und Trance-Sänger.

Ja, das war es!

Damals kamen die Traumtänzerinnen auf.

Man weiß doch, was das ist. Ich möchte mich darüber nicht weiter verbreiten.

Nur eines will ich dazu bemerken: das hat nichts mit Zauberei zu tun, nicht einmal etwas mit Hypnotismus. Oder wir sind überall von solcher Zauberei umgeben, werden bezaubert und bezaubern andere, täglich und stündlich.

Dann wäre jeder Feldherr, der seine Truppen gegen den übermächtigen Feind anführt und diese seine vielleicht schon ganz erschöpften Soldaten wissen doch ganz, ganz bestimmt, dass sie siegen werden, solch ein Zauberer.

Und eine gewisse Art von Zauberei ist ja auch dabei! Einer der größten Zauberer war Napoleon der Erste.

Diese Art von Zauberei findet aber fortwährend im täglichen Leben statt. Einer verfügt über die größten Kapitalien, ist wirklich der tüchtigste, erfahrenste Geschäftsmann, und er bringt's zu nichts. Ein anderer hat nichts weiter als Schulden, und er bringt für sein Unternehmen im Handumdrehen eine Aktiengesellschaft zusammen, hat Erfolge über Erfolge. Das ist auch ein Zauberer!

Unser Albert war ganz und gar von der Klavierbegleitung seines Meisters abhängig, der ihn ausgebildet hatte. Wahrscheinlich sogar von dessen Person. Ohne Hämmerlein war er ein Nichts!

Vorläufig!

Das konnte sich ja noch ändern. Er konnte sich an einen anderen Klavierbegleiter gewöhnen, der einen ebenso starken Einfluss auf ihn gewann, er konnte sich später aber auch ganz von dieser Beeinflussung freimachen.

Vorläufig konnte er als ein Traum- und Trance-Sänger gelten, das hätte sein Impresario doch natürlich in die Welt posaunt und hätte dafür gesorgt, dass es bei diesem Verhältnis auch blieb. Selbst wenn daraus zuletzt Betrug oder Vorspiegelung falscher Tatsachen wurde. —

Hierüber hatten wir uns etwas unterhalten und kamen dann wieder auf das Hauptthema zu sprechen.

»Nein«, sagte die Patronin, »uns zu einem Theaterschiff herabwürdigen, das wollen wir nicht tun! Wir wollen wenigstens kein Geld damit verdienen. Freilich kann ich es ja den Leuten nicht verbieten, dass sie nun öffentlich gegen Geld, gegen Honorar auftreten, dazu aber müssen sie mich erst verlassen —«

»Frau Patronin«, war diesmal ich es, der sie unterbrach, »was Sie da eben sagten, ist geradezu eine Beleidigung für mich!«

»Wie?!«, stellte sie sich erstaunt.

»Ja, eine Beleidigung für mich. Sie wissen, dass ich sonst sehr bescheiden bin. Aber dessen darf ich mich rühmen: ich bin es, der alle diese Männer soweit gebracht hat, dass sie jetzt so etwas ausführen können. Und ich kenne alle diese meine Jungens auch sonst, dem Charakter nach. Ja, ich glaube sogar, dass ich es erst gewesen bin, der diesen Charakter gebildet hat! Und ich versichere und garantiere Ihnen, dass wir keinen solchen Hundsfott unter uns haben!«

Sie wollte mich nicht verstehen, stellte sich sogar etwas beleidigt, und ich hatte ja auch sehr derb gesprochen.

»Ich weiß nicht, was Sie da für Ausdrücke gebrauchen, Herr Waffenmeister —«

»Ach, Frau Patronin, Sie wissen ganz genau, was ich meine! Und da brauchen Sie sich gar nicht beleidigt zu fühlen, es muss vielmehr Ihr eigener Stolz sein, und den fühlen Sie auch recht wohl —«

»Da geht der Mister Bull wieder von Bord«, sagte Kapitän Martin, »er muss den Albert doch wohl gesprochen haben, rufen wir ihn doch einmal.«

Albert kam, ein stiller Mensch wie immer, und dass er die Mütze zwischen den Händen drehte, war das einzige Zeichen von Verlegenheit.

Er konnte noch immer nicht Hochdeutsch sprechen, obgleich er sich sichtlich abmühte, ab und zu auch solche Brocken und ganze Sätze hervorbrachte.

»Hat Dir der dicke Engländer einen Vorschlag gemacht?«

»Tjau, tjau —«

»Was denn?«

»Ick schäll im Theater singen, un he will mi twöldtusend Dollars im Monat geben —«

»Wie viel?!«

»Twölfdusend Dollars.«

Mister Bull war also schon zweitausend Dollars höher gegangen.

»Na und Du?«

»Ick hämm mien Seestäbel an'n Kopp smäten.«

»Was?«

»Ick treckte grad mien Seestäbel an, un weil dee nich uphörte to quasseln und to quattern, dö häww ick em een Seestäbel an'n Kopp worfen, nur een, do is he ook glieks freewillik gahn, sonst hädd ick emm noch rutsmätn.«

»Ja aber Albert!«, sagte die Patronin: »Warum denn nur?! Warum hast Du das nicht angenommen?«

Mit einem Male richtete sich der Matrose hoch auf, bekam einen ganz roten Kopf.

»Nu weil ick doch keen Hundsfott bin!«

Nichts weiter.

Die Augen der Patronin aber wanderten zu mir und blieben an meinem Blick hängen.

Albert wurde entlassen, bekam nichts weiter zu hören. »Ich danke Ihnen, meine Herren«, sagte dann die Patronin mit leiser, etwas zitternder Stimme, und sie wandte ihre Augen wieder ab, ich sah aber noch, wie es darin leuchtete und glänzte, »ich danke Ihnen, Herr Kapitän Martin, ich danke Ihnen, Herr Waffenmeister, ich — bin sehr erschöpft.«

*

16. Kapitel

»Zu diesem Augenblicke möchte' ich sagen —«

Originalseiten 392 — 411

Ich machte mich sofort auf den Weg, um die Geldangelegenheit zu erledigen, die mit unserer Theatervorstellung zusammenhing. Es waren genau 1021 Pfund und 7 Pence eingenommen worden. Davon gingen 200 Pfund Theatermiete ab.

21 Pfund und 7 Pence erhielt das Theaterpersonal, das uns gestern geholfen hatte, als besondere Gratifikation, und die einzige Vorschrift war, dass es ganz gleichmäßig verteilt wurde. Na, die würden sich ja nicht schlecht freuen.

Von den übrigbleibenden 800 Pfund erhielt ein Drittel das Seemannsheim in Kapstadt, ein Drittel das Seemanns-Witwen- und Waisenhaus hierselbst, das letzte Drittel wurde für dasselbe Institut nach Hamburg geschickt.

Das wollte ich gleich persönlich abmachen, wozu da erst schreiben — einfach das Geld abgeliefert, Quittung dafür, fertig!

Dass die ganze Mannschaft hiermit vollständig einverstanden war, brauche ich wohl nicht extra noch zu sagen. Wie man im allgemeinen hierüber dachte, hatte am besten Albert mit seinen Worten ausgedrückt: »Ich bin doch kein Hundsfott!«

Was er hiermit gemeint hatte, wie er dazu tat, so etwas zu sagen, das weiß der Leser ganz genau, sonst könnte ich es ihm auch nicht weiter erklären.

Nein, wir spielten nicht gegen Geld! Wir hatten das Theaterstück und alles andere zu unserer eigenen Belustigung einstudiert und eingeübt, und das machten wir den anderen auch zu unserer eigenen Belustigung vor!

Aber heute Nachmittag wurde eine Partie auf den Tafelberg gemacht! Und dann später ein Ausflug in die weitere Umgebung, da wurde getanzt, wieder so etwas arrangiert wie damals in Liverpool! Und das alles bezahlte natürlich die Patronin, das war ganz selbstverständlich, aber doch nicht etwa mit dem Gelde, das die Matrosen durchs ihre Mimerei eingenommen hatten!


Illustration

Also ich ging nach der Post, zahlte für Hamburg ein, besuchte jene Institute, zählte das Geld bar auf den Tisch und ließ mir Quittung geben.

»Auf wessen Namen?«

»Ganz egal — schreiben Sie: erhalten von den Argonauten.«

»Der Segen Gottes wird es Ihnen vergelten!«, sagte salbungsvoll und wirklich gerührt der alte Herr, der das für das Seemanns-Witwen- und Waisenhaus besorgte.

»Das wollen wir stark hoffen!«, entgegnete ich und ging.

Einige Stunden hatte mich diese Geschichte aber doch aufgehalten. Mittag war schon etwas vorüber, als ich den Rückweg antrat.

Als der Hafen vor mir lag, ich aber noch nicht unser Schiff sehen konnte, fuhr an mir ein Depeschenbote auf dem Zweirad vorüber.

Und als ich das Deck betrat, lehnte sein Rad an unserem Großmaste. Gerade kam der Postjunge wieder aus der Kajüte, radelte über das Laufbrett und davon.

Ahnungslos betrat ich die Kajüte, um der Patronin die Quittungen zu geben. Gott, so ein Schiff bekommt im Hafen doch fortwährend Telegramme.

Als ich aber die Patronin da drin auf dem Sofa sitzen sah, in dieser Haltung und mit diesem Gesicht, da wurde mir gleich recht ungemütlich zumute.

»Georg — Waffenmeister — ich bin — — — ruiniert!«

»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?!«, rief ich erschrocken.

»Die New Yorker BodenKreditbank ist zusammengebrochen — nicht 5 Prozent werden ausgezahlt!«

»Ach sooo! Jagen Sie mir da einen Schreck ein! Weiter nischt? Ich denke doch, Sie haben eine Tasse Kaffee getrunken und statt Zucker ein Stück Zyankali hineingetan.«

Da musste sie mich wohl groß anblicken.

»Ich bin vollkommen ruiniert!«

»Ja wieso denn nur?«

»Ich habe kein Geld mehr.«

»Aber sonst sind Sie doch gesund?«

Da fing sie zu lachen an.

»Sie nehmen ja die Sache verdammt kaltblütig — o, verzeihen Sie — aber weiß, Gott, da muss auch ich einmal so ein Wort gebrauchen, und angewöhnen kann man es sich hier allerdings leicht, es ist verzeihlich — also, Herr Waffenmeister, Sie finden gar nichts weiter dabei, dass ich alles verloren habe? Meine zwei Millionen Dollars sind futsch. Mein Rechtsanwalt in New York erklärt es mir klipp und klar, sagt auch gleich, dass ich wohl nicht mit zu denen gehören werde, die höchstens 5 Prozent erwarten dürfen. Nur dass ich auch nichts zuzuzahlen habe. Ich habe nichts mehr.«

Ich hatte mich gesetzt.

»Sie haben doch noch dieses Schiff.«

»Das allerdings —«

»Schuldenfrei, es gehört ganz und gar Ihnen?«

»Ja.«

»Was haben Sie dafür bezahlt?«

»Hunderttausend Pfund Sterling.«

»Bar bezahlt, alles in Ordnung?«

»Alles.«

»Na also. Da können Sie doch nicht etwa sagen, dass Sie ruiniert sind. Das ist ja geradezu sündhaft gesprochen.«

Sie starrte erst etwas vor sich hin.

»Ja aber — ich habe gar kein Betriebskapital mehr. Ich kann die nötigsten Ausgaben nicht mehr bestreiten. Ich wollte gerade eine größere Summe von der Bank holen lassen. Ich habe mich vollständig ausgegeben. Ich habe gerade noch fünf Pence in der Kasse. Anderswo habe ich gar kein Geld.«

Und sie stand auf, ging nach dem ungeheuren Panzergeldschrank, öffnete die nur angelehnte Tür, kramte dahinter, es klimperte, dann kam sie wieder zum Vorschein.

»Hier — und noch einen alten silbernen Zwanzigpfenniger habe ich gefunden, der mir einmal als Dreipencestück aufgehangen worden ist.«

Und sie hielt mir die Hand hin, in der die fünf einzelnen Kupferpennies und der alte deutsche Zwanziger lagen, auch noch ein Loch durchgeschlagen!

Wollte sie einen Witz machen?

Ganz sicher nicht.

Aber wie nun das aussah, wie die mir jetzt die paar Kupfermünzen und den durchlochten Zwanziger hinhielt, sie, die bisherige zehnfache Millionärin, die davon acht Millionen verloren hatte, aber noch immer ein schuldenfreies Schiff im Werte von zwei Millionen Mark besaß — kurz und gut, ich lehnte mich zurück, und lachte lachte, lachte!

»Verzeihen Sie — aber das ist zu gottvoll — wir haben gerade mehr als sechzehntausend Mark an die Armen verschenkt —«

Doch ich brauchte nicht um Verzeihung zu bitten. Jetzt empfand sie selbst die Komik dieser Situation, sie lachte selbst aus voller Kehle mit.

Freilich verging ihr das Lachen sehr schnell, sie wurde desto ernster.

»Herr Waffenmeister — ich spreche jetzt zu Ihnen, als den Anführer der ganzen Besatzung als zu ihrer Seele — ich muss das Schiff verkaufen.«

Da wurde auch ich sehr ernst. Aber das, was ich eigentlich sagen wollte, sprach ich nicht aus, als ich fragte:

»Weshalb müssen Sie das Schiff verkaufen?«

»Weil mir gar nichts anderes übrig bleibt.«

»Weshalb nicht? Bitte, wollen Sie sich näher erklären.«

»Einfach weil ich kein Betriebskapital mehr habe. Ich kann die Leute nicht mehr bezahlen, muss ihnen die Heuern schuldig bleiben —«

Weiter ließ ich sie nicht sprechen, jetzt konnte ich mich nicht mehr beherrschen.

»Nun hören Sie aber auf!!«, brach ich los. »Was Sie da sagen, das ist noch viel mehr als eine Beleidigung der ganzen Mannschaft, deren Vertreter, deren Seele ich bin, wie Sie selbst sagten — das ist eine Missachtung, eine direkte Verhöhnung ein Vorwurf der Unehrenhaftigkeit! Wissen Sie denn nicht, was Sie an diesen Männern haben?!«

Ich war tatsächlich so erregt, dass ich nicht weiter sprechen konnte, dass ich aufspringen musste, um einige Gänge durch die Kajüte zu machen.

Ganz niedergeschmettert saß sie auf dem Sofa. Und ich hatte mich schnell wieder beruhigt.

»Na, Helene, das glaubst Du doch — Frau Patronin, das glauben Sie doch selbst nicht, dass diese Männer Sie treulos verlassen werden, weil Sie ihnen vielleicht einmal nicht die Heuer bezahlen können.«

»Nein, das glaube ich nicht!«, flüsterte sie, Tränen im Auge.

»Das haben Sie doch nur gesagt, um sich selbst Schmerz zu bereiten, oder so wie manche Frauen am liebsten von ihrem Begräbnis sprechen.«

Sie schwieg, und es war auch ein dummes Gleichnis von mir gewesen, obwohl vielleicht ganz richtig.

»Ja was soll ich nun tun?«, flüsterte sie dann. »Einfach den Kopf oben behalten, das ist die allererste Aufgabe. Wir wollen einmal nicht an die Schätze denken, die dort im Feuerlande liegen sollen, die Sie in drei Jahren heben können. Weiß es eigentlich schon Kapitän Martin? Von dem Zusammenbruche der Bank?«

»Nein.«

»Teilen Sie es ihm mit. Jetzt gleich. Ich möchte erst dessen Ansichten und eventuelle Vorschläge hören, ehe ich die meinen zum besten gebe.«

Kapitän Martin wurde gerufen.

Bis dieser kommt, will ich eine kleine Erklärung einflechten.

Unsere Lage war natürlich durchaus nicht so traurig. Wenn man ein Schiff hat, das zwei Millionen wert ist, für das ein Schiffhändler schon mehr geboten hatte, braucht man sich doch nicht arm zu fühlen.

Anderseits aber war auch die erste furchtbare Niedergeschlagenheit der Patronin, dass sie gleich ganz verzweifeln wollte, begreiflich, menschlich gerechtfertigt.

Wenn jemand zehn Millionen Mark besitzt, und er verliert davon mit einem Schlage acht, es bleiben ihm nur noch zwei Millionen, die in einem Schiffe stecken, sonst ist gar kein bares Geld mehr vorhanden, so kann sich der Betreffende plötzlich wohl als ein Bettler fühlen. Das ist menschlich begreiflich, man muss sich nur in die Sachlage hineindenken. Solch ein Schiff hat ja auch immer große Ausgaben. Ganz abgesehen von der Beköstigung und Bezahlung der Mannschaft und vom Kohlenverbrauch eines Dampfers. In jedem Hafen sind Abgaben zu entrichten: Ankergeld, Steuern für Unterhaltung der Leuchtfeuer, der Bojen, eventuell Lotsengebühren und noch vieles andere mehr.

Wie hoch diese Gebühren sind, das kann ich hier nicht erörtern. Es wird pro Tonne berechnet, aber das ist in jedem Hafen total verschieden. Manchmal pro Tonne nur ein paar Pfennige, manchmal ein paar Groschen. Es handelt sich dabei weniger um die Größe des Hafens, als darum, ob die Anlagen des betreffenden Hafens schon bezahlt sind, wie viel Schulden noch darauf ruhen, ob die Unterhaltung hohe Kosten erfordern, und so weiter, und so weiter. Mancher winzige Hafen an der Westküste Südamerikas fordert mehr Ankergeld und sonstige Gebühren als Hamburg, London und New York.

Ferner kommt es ganz darauf an, aus welchem Grunde man den Hafen anläuft. Will man dabei Geschäfte machen, so sind die Gebühren natürlich am höchsten. Seenot befreit meist von allen Abgaben. Sucht man einen Hafen auf, weil etwa der Skorbut ausgebrochen ist, der durch frisches Fleisch und Gemüse schnell wieder beseitigt wird, so wird es schon viel, viel billiger. Natürlich auch, wenn man Trinkwasser und Proviant braucht. Ja, es ist sogar vorgesehen, dass die Mannschaft keinen Tabak mehr hat und der Kapitän deshalb einmal einen Hafen anläuft; denn ohne Tabak hört die Gemütlichkeit zur See auf. Da mag sich dann noch auf der öden Wasserwüste herumtreiben lassen, wer Lust hat. Dann eröffnet sich wieder ein neuer Frauenberuf.

Alle diese zum Teil internationalen Hafenbestimmungen sind nämlich nicht von Juristen am grünen Tische gemacht worden, sondern von alten erfahrenen Seeleuten! Das ist der Unterschied! Die wissen, was es heißt, wenn der Mannschaft unterwegs der Tabak ausgeht. Es gibt einige Häfen, welche bei Tabaksnot alle Gebühren weglassen.

Unser Schiff hatte hier in Kapstadt für sieben Tage 600 Mark Hafengelder zu zahlen. Blieben wir länger liegen, so wurde das ja bedeutend billiger. Einen Lotsen hatten wir bei der vorzüglichen Einfahrt nicht nötig gehabt.

Ich hatte einmal gesagt, dass man auf ein unversichertes Schiff keinen Groschen gepumpt bekommt. Das ist ja auch ganz richtig. Nämlich wenn man dabei an eine Beleihung denkt, die registriert wird, so wie man auf ein Haus eine Hypothek nimmt. So etwas ist bei einem unversicherten Schiffe ganz ausgeschlossen. Es braucht ja nur aus dem Hafen hinauszufahren, eckt an, sinkt in nur 20 Meter Tiefe, die Hebungskosten würden seinen Wert übersteigen — alle ist es! Beim abgebrannten Hause ist wenigstens noch der Grund und Boden vorhanden; aber Meeresgrund kostet nichts.

Anderseits darf man aber alles nicht gleich buchstäblich nehmen. Wenn wir 30 Pfund Sterling Gebühren zu zahlen hatten, und wir besaßen sie nicht, und wir hätten die nicht auftreiben können, für ein Schiff, das zwei Millionen Mark wert war — das wäre nichts anderes gewesen, als wenn ein Zigarrengeschäft, mag es auch noch so ein kleines Büdchen sein, keine Streichholzschachtel mehr hinlegen kann, um dem Kunden Feuer zu geben. Dieser Vergleich ist ganz richtig.

Wir hatten doch noch Wertvolles genug an Bord. Von den Schmucksachen der Patronin will ich gar nicht sprechen, das war wieder etwas ganz anderes. Aber wir hatten zum Beispiel in den Bunkers noch 400 Tonnen Steinkohlen! In Liverpool hatten sie 300 Pfund Sterling gekostet, hier in Kapstadt waren sie das dreifache wert, man bekam sofort 900 Pfund dafür bezahlt. Jeder Kohlenhändler nahm sie mit Kusshänden. Kohle ist im Seehandel ein feines, sicheres Geschäft! Schon in Gibraltar kostet Steinkohle das doppelte als in Cardiff, in Valparaiso das vierfache! Denn amerikanische Kohle kann dort nicht viel in Betracht kommen, sie muss; zuerst zu weit mit der Eisenbahn befördert werden, das macht sie zu teuer. In der Steinkohle kann mit England höchstens noch Deutschland konkurrieren

Aber die 600 Mark Hafengebühren hätten wir auch gepumpt bekommen. Irgendwo. Wenn wir die nicht aufzutreiben wussten, dann waren wir — einfach dumme Luders. Anders kann ich mich nicht ausdrücken. Mit einem Schiffe von zwei Millionen Mark! Wenn ein gutsituierter, anständig gekleideter Mann eine kleine Reise macht, eine Fahrt mit der Elektrischen in einen Vorort, den Groschen dazu hat er in der Westentasche gehabt, beim Aussteigen merkt er, dass er sein Portemonnaie zu Hause hat liegen lassen — hängt der sich etwa vor Verzweiflung gleich auf? Fast ein ganz gleicher Fall lag hier bei uns vor.

»Dass freilich die Patronin zuerst den Kopf verloren hatte, das war begreiflich. —

Kapitän Martin kam. Beim Eintreten nahm er die Mütze vom Kopfe, wozu er doch die eine Hand aus der Hosentasche hatte ziehen müssen, und da der Bann nun einmal gebrochen war, nahm er auch noch die andere heraus — als er aber die Mütze auf den Tisch gelegt hatte, vergrub er schleunigst beide Hände wieder bis an die Ellenbogen in den geliebten Hosentaschen.

Die Patronin berichtete ihm die Sachlage.

»Well.«

Vorläufig nichts weiter. Auf mich aber wirkte dieses »Well« geradezu humoristisch.

Dann begann Kapitän Martin in der Kajüte auf und ab zu gehen, was er ja nicht getan, wenn hier nicht ein ganz besonderer Fall vorgelegen hätte, der die gesellschaftlichen Verhältnisse etwas lockerte. Wenn es brennt, springt bekanntlich sogar die Frau Bürgermeisterin im Hemde zum Fenster heraus. Also konnte jetzt auch der Kapitän hin und her marschieren, wenn das seinem Gehirn förderlich war. Und dabei knickte er ab und zu mit einem seiner endlos langen Beine etwas zusammen und schlenkerte es dann wieder von sich, immer die Hände tief, tief in den Hosentaschen vergraben, und man merkte ihm an, wie er sich abmühte, sie noch tiefer hineinzubringen.

»Sie haben sonst nichts weiter?«

»Nein. Allerdings habe ich ja wertvollen Schmuck.«

»Äh!«, erklang es verächtlich. Und dann weiter nach einer mit Beineschlenkern ausgefüllten Pause.

»Well, Sie nehmen einfach Fracht. Natürlich muss das Schiff versichert werden. Aber das will ich wohl alles fixen. Ich will hier sofort lohnende Fracht bekommen.«

Wieder eine marschierende Pause mit Knicken und Schlenkern. Dann, als keine Antwort kam, blieb der Kapitän in einiger Entfernung stehen und schielte zurück nach der Patronin.

»Das wollen Sie wohl nicht, Fracht nehmen, he?«

Stumm stand die Patronin da, zu Boden blickend.

»Da haben Sie auch ganz recht. Ich würde es an Ihrer Stelle ooch nich tun.«

Ach, wie das herausgekommen war! Aber mit vollem Ernste. Der alte Kapitän mit dem graumelierten Haar und Bart setzte seine Wanderung fort: Ich will es versuchen, wiederzugeben, wie er sprach:

»Well.

Ich bin keiner von der Waterkant.

Bin tief, tief von binnen her.

's sind Berge dort.

Abenteuerlust hat mich wie manchen anderen Jungen zur See getrieben.

Bei Nacht und Nebel durchgebrannt bin ich. Verstoßen hat mich mein Vater.

Hat mir aber nix geschadet.

Gefunden habe ich das freilich nicht, was ich zur See suchte.

Wollte Seeräuber werden, und ganz simpler Kapitän, wurde ich.

Habe verdammt wenig Abenteuer erlebt. Kein Zeitungsmensch würde mir Sixpence dafür geben, was ich erlebt habe. Habe Kohlen gefahren und Reis und Kopra (Fleisch der Kokosnuss) und anderes Teufelszeug.

Habe auch acht ganze Jahre lang aus Konstantinopel Knochen und Hadern und Lumpen abgeholt für eigene Rechnung.

Habe schweres Geld dabei verdient, well.

Bin verheiratet gewesen.

Well.

Habe vierzehn lebendige Kinder. Neun Jungen und fünf Mädels.

Sind alle groß und fein ab, die Rackers.

Mein erster ist Landgerichtsdirektor und hat schon eine Glatze.

Meine jüngste hat einen Rittergutsbesitzer in Pommern und ist eine auf, zu und von.

Ich soll zu meinen Kindern kommen, zu meinen Enkeln. Einmal zu dem, einmal zu dem.

Verdammt, ich kann nicht.

Ja, mal zum Besuch.

Aber dann wieder — ahoi!!

Kann nicht lassen von dem verdammten Salzwasser, das man nicht einmal gurgeln kann.«

Eine längere Pause. Aber immer ausgefüllt von Hin- und Hermarschieren, Beinknicken und Beineschlenkern, Tabakkauen und dem Bemühen, die Hände noch tiefer als bis zu den Ellenbogen in die Hosentaschen zu pfropfen.

»Kohle, Reis, Kopra, Knochen und Lumpen!«, erklang es dann weiter. »Auch einmal Kirschkerne für eigene Rechnung. Kirschkerne ist ein feines Geschäft. Und mein dritter hat eine ätherische Ölfabrik.

Da, Frau Patronin, lernte ich Sie kennen.

Well, ich fuhr Ihr Schiff.

Unversichert, well.

Gauklerschiff, well.

Verdammt noch einmal, ich — ich — habe noch kein altes Herz bekommen, die Sehnsucht, ach, die Sehnsucht meiner Kinderjahre —«

Mit einem Rucke blieb er plötzlich vor der Patronin stehen.

»Na, Madam, da gaukeln Sie doch mal los!!«

Ach, wusste dieser Mann zu sprechen!

Wenn ich es nur wiedergeben könnte!

Aber der Leser wird's schon verstehen.

Wird verstehen, weshalb die grauen Augen dieses alten Kapitäns plötzlich so zu sprühen begannen!

Es war begreiflich, dass die Patronin nicht gleich eine Antwort wusste. Und er nahm seine Wanderung wieder auf, beineknickend und beineschlenkernd, aber elastisch wie ein Jüngling.

»Kein Kapital mehr — Unsinn.«

Auch kein solches Schiff braucht man zu haben.

Lass die breitgetretnen Plätze,

Steig nach unten, steig nach oben —

Reiche Nibelungenschätze

Liegen rings noch ungehoben.

Von wem ist das?

Weiß nicht.

Never mind.

Aber recht hat der Kerl.

Wir haben schon solche Schätze liegen sehen.

Haben schon einmal darüber gesprochen, ohne noch an eine Ausführung zu denken.

Mein Kollege, der Kargo-Kapitän, hatte damals eine feine Idee.

Dort mit den Hummern in der Feuerlandbucht. Hummern — mit Hummern muss sich ein feines Geschäft machen lassen.

Habe es mir schon einmal auskalkuliert. Wir nehmen eine Million Pfunddosen mit, auch Zweipfund- und Dreipfunddosen, leere Blechbüchsen, halten ein bisschen Umschau in so einer Konservenfabrik, engagieren einen tüchtigen Sieder, fahren nach dem Feuerland, errichten dort eine Kocherei, erst werden die Krebse im Dampfkessel abgesotten, dann an Land weiter präserviert, Steine gibt's dort ja genug für einen geeigneten Feuerherd, zugelötet — habe mir auskalkuliert, dass wir in einem halben Jahre tüchtiger Arbeit netto eine halbe Million Franken verdienen können. Habe mich schon in Marseille recht genau erkundigt. Abnehmer sofort!«

Ja, daran hatte auch ich schon gedacht. Nicht nur schon früher, sondern gerade jetzt! Diesen Vorschlag hätte ich jetzt auch noch gemacht. Da es mein Kollege getan, war es ja gut. Ich bin doch nicht so einer: »Das haben Sie erst von mir, Sie haben es mir nur weggenommen.«

»Well«, fuhr mein Kollege fort, »das Hummerprojekt lässt sich aber jetzt im Winter, den wir hier haben, nicht ausführen. Da ist dort im Feuerland nichts zu wollen. Da müssen wir bis zum Sommer, mindestens bis zum Oktober warten, ehe wir uns da näher heranmachen können. Immerhin können wir uns ja schon gelegentlich nach den Blechdosen und sonstigen Vorbereitungen umsehen.«

Also ein halbes Jahr haben wir noch Zeit. Wie füllen wir die nun aus.

Geld verdienen! Geld ist Pulver, und ohne Pulver kann man keine Schlacht gewinnen. Nur mit dem Bajonett — da ist's heutzutage faul.

Geld verdienen!

Frau Patronin, Herr Kollege!

So praktisch und nüchtern spricht ein Mann, der Ihnen in demselben Atemzuge gleich einen ganz anderen Vorschlag machen wird.

Einen höchst romantischen Vorschlag

Was ist Romantik?

Never mind.

Es ist meiner ehrlichen Überzeugung nach ein großer Fehler, dass man den Vorschlägen dieser Gaukler so gar keine Beachtung schenkt.

Was heißt Gaukler? Seegaukler?

Kolumbus war in den Augen der damaligen sachverständigen Welt nichts weiter als ein verrückter Seegaukler.

Auf dem Seewege nach Westen herum nach Indien zu kommen — wahnsinniger Blödsinn!

Eine wissenschaftliche Kommission wurde zusammenberufen, und sie bewies nach allen Regeln der logischen Wissenschaft, dass es nicht möglich sei, nach Westen hin um die Erde zu segeln.

Weil doch die Erde rund sei, also weil man dort und dort doch mit dem Schiffe hinabrutschen müsse, ins bodenlose Weltall hinein.

Never mind.

Jedenfalls aber, wenn alles richtig gänge, hätten wir ohne diesen Gaukler Kolumbus heute noch kein Amerika und daher auch keinen Tabak.

Kapitän Martin benutzte diese Gelegenheit, um sich schnell ein neues Stück abzuschneiden und im Munde verschwinden zu lassen, ohne das bisherige Päckchen zu entfernen.

»Eine weitere Einleitung erspare ich mir!«, fuhr er dann fort, noch mit seinem Tabak beschäftigt. »Frau Patronin, geben Sie mir doch einmal alle die Briefe der Gaukler her, die Sie hier und auch schon in Marseille erhalten haben. Ich habe mich noch gar nicht darum gekümmert. Jetzt will ich sie doch einmal prüfen. Vielleicht ist doch ein ganz vernünftiger Vorschlag dazwischen.«

Aha, aha, aha!!

In dem alten Knaben erwachten wieder die Seeräubergelüste oder doch die Abenteuerlust, wollen wir sagen.

Na, und war das etwa so etwas Wunderbares?

Wir, die wir nicht zur See gegangen sind, weil wir mussten, weil schon unsere Urururväter zur See fuhren, wir sind doch alle aus ein und demselben Holze geschnitzt. Wenn man nur Gelegenheit hätte, seinen romantischen Gelüsten nachzugehen! Dabei kann man noch immer praktisch und sogar nüchtern sein, nämlich immer dabei das Geldverdienen im Auge behalten.

Die Patronin, schon wieder lächelnd, auch mit recht strahlenden Augen, brachte aus ihrem Panzerschranke zwei große Stöße meist sehr schmieriger Briefe angeschleppt.

»So, danke, ich werde sie dann mitnehmen —«

»Es sind merkwürdige Sachen dazwischen, und einige scheinen wirklich gar nicht so ohne —«

»Ja, ja, glaube ich schon. Das will ich eben prüfen und glauben Sie mir nur, dass ich wenigstens mein möglichstes tun werde, um eine spätere Blamage zu vermeiden. Nun aber brauchen wir immer noch erst einmal Geld. Wie wir uns überhaupt erst einmal weiterhelfen wollen, bis wir die goldenen Schätze auch wirklich in der Tasche haben. Well, Frau Patronin, Ihnen kann es doch niemals an Geld gebrechen. Sie haben doch eine wahre Goldquelle. Eh?«

Und, die Hände wieder vergraben, blickte er seitwärts nach der Patronin.

»Sie meinen unsere Vorstellungen!«, lächelte sie, und dass sie dabei lächelte, war mir höchst angenehm.

»Ahem!«, nickte jener. »Na und das Weitere wissen Sie ja, was ich meine. Dass Sie Ihre Leute nicht für Geld schauspielern lassen wollten, so lange Sie zwei Millionen Dollars hatten, das kann ich begreifen. Aber nun, denke ich, ist es doch etwas anderes. Oder ist das etwa eine Schande? Meine zweite Tochter is och enne Schauspielerin. In England. Kennen Sie die Sinclaire?«

»Was, die Sinclaire?!«, echote die Patronin mit ganz entgeisterten Augen. »Die berühmte Shakespeare-Darstellerin? Die unvergleichliche Ophelia?!«

»Jawohl, das ist meine Tochter. Miss Sinclaire. Aber das ist ihr Künstlername. Die ist verheiratet. Mit einem Baronet. Glücklich verheiratet. Das ist nicht so ein Luftikus und Habenichts. Der macht Seefe. Mit 800 Arbeitern. Also, was ich sagen wollte, ich dächte, Sie lassen unsere Jungens ruhig schauspielern, wenn wir Geld brauchen. Und damit Sie sich keine Sorge machen — nichts für ungut, Herr Kollege, wollen Sie uns mal — nee, bleiben Sie nur, Sie können's hören — und dass Sie sich also keine Sorge machen, Frau Patronin — ich habe Ihnen ja schon einige Andeutungen gemacht, dass ich's mir leisten kann, habe es natürlich mit Absicht getan — ich stelle erst mal dreitausend Pfund zu Ihrer Verfügung — well.«

Und hinaus war er.

Wir blickten uns an, die Patronin und ich.

»Das — das — kann ich doch gar nicht annehmen!«, flüsterte sie.

»Um Gottes willen«, rief ich erschrocken, schon wieder Verwicklungen fürchtend, »weshalb denn nicht?!«

Da trat Siddy ein.

»Ich soll für den Herrn Kapitän die Briefe holen, Sie wüssten schon welche.«

»Dort liegen sie.«

»Und draußen steht der Matrose Albert, er möchte die Patronin sprechen.«

»Herein mit ihm.«

Albert kann, und jetzt drehte er nicht mehr die Mütze verlegen in den Händen.

»Ick hävv hört, See hämm keen Geld mehr!«, platzte er gleich los.

»Woher weißt Du denn das schon?!«, fragte die Patronin überrascht, gleich ein ganz rotes Gesicht bekommend.

»Der Siddy hädd's uns verzählt.«

Siddy machte schleunigst, dass er mit seinen Briefen hinauskam.

»Ja und?«

»Der Mister Bull is all wedder da.«

»So?«

»Jetzt bietet er mir schon dörtiendusend Dollars, wenn ick for emm singen dau.«

»Dreizehntausend Dollars im Monat? Ja und?«

»Ick häww schon mit Hämmerlein sproken.«

»Ja und?«, wiederholte die Patronin, aber recht unsicher werdend.

»He will mi beglieten.«

Eine Pause. Die Patronin rang mit sich. Dann ward sie ganz ruhig.

»Du willst das Angebot annehmen?«


Illustration

»Ich danke Dir, Albert, für Dein Anerbieten!«, sagte die
Patronin gerührt. »Ich nehme es für geschehen an, aber
es ist nicht nötig, Du brauchst uns nicht zu verlassen!«

»Tjau. Ick weet, dass dat Schipp monatlich dusenddriehundert Pund kostet. Un ick schall monatlich mehr als tweedusend Pund bekommen. Also brukt Ihr Euch keen Sorge mehr to maken.«

Wieder eine Pause. Regungslos stand die Patronin da; nur in ihren Augen las ich etwas Besonderes.

»Die willst Du mir wohl geben, Albert?«, fragte sie dann leise.

»Tjau!«, erklang es einfach zurück.

»Also Du willst uns verlassen?«

»Dat geiht doch nich anners.«

Wieder eine Pause.

Dann ging es durch den Körper der Patronin wie ein Ruck, sie hob dabei auch etwas die Arme.

Ich glaubte erst, sie wolle auf den Matrosen zustürzen um ihn in ihre Arme zu schließen.

Sie hatte es ja tun wollen, aber sie tat es nicht. Und es war gut so. Nicht etwa, dass ich eifersüchtig geworden wäre.

Aber was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Dann hätte sie nämlich auch alle anderen Matrosen, alle Leute umarmen müssen: denn Opfer bleibt Opfer, die Größe tut dabei nichts zur Sache.

»Ich danke Dir, Albert«, sagte sie dann ganz ruhig, »ich nehme es für geschehen an, aber es ist nicht nötig, Du brauchst uns nicht zu verlassen, es ist alles wieder in Ordnung.«

»Ihr hebbt all wedder Geld?«, erklang es treuherzig. »Ja, der Kapitän hilft aus, falls wir wirklich welches brauchen.«

»Desto better. Nix for ungaut, Madam, 's war nich beus mient.«

Und der Matrose ging, einfach wie er gekommen.

In der Mitte der Kajüte stand die Patronin, sie blickte zu dem Skylight empor, durch das ein Strahl der Nachmittagssonne hereinfiel, jetzt hob sie auch noch langsam die Arme, und feierlich und jauchzend zugleich erklangen aus ihrem Munde Fausts letzte Worte, die er spricht, als ihm auf dieser Welt nichts mehr zu wünschen übrig bleibt:


Zu diesem Augenblicke möchte' ich sagen:
Verweile doch, Du bist so schön —.


Aber nach diesen Worten brach sie nicht wie Goethes Faust tot zusammen, sondern fiel mir um den Hals, weinend wohl, aber sonst ganz lebendig.

*

17. Kapitel

Geld und Chinin

Originalseiten 412 — 426

Ach, war das ein Leben, eine fröhliche Aufregung an Bord der »Argos«, als die ganze Mannschaft jetzt alles erfuhr. Kein Geld mehr vorhanden, der Kapitän nur als letzte Sicherheit dahinterstehend, sonst von jetzt an ganz auf die eigene Schlauheit und Tatkraft angewiesen, wahrscheinlich immer nur so von der Hand in den Mund lebend. Es ist nicht so leicht zu definieren, weshalb da die fröhliche Aufregung, die sich bis zur enthusiastischen Begeisterung steigerte

Hier kommt ein menschlicher Charakterzug in Betracht, ohne den die Menschheit niemals die Stufe erreicht hätte, auf der sie jetzt steht, ohne den sich der Mensch überhaupt nie über das Niveau des Tieres erheben würde

Es ist, könnte man sagen, die Lust am wagemutigen Spekulieren. Denn der kaufmännische Spekulationsgeist, der erst wägt und dann wagt, der ist es, der die Menschheit in Schwung bringt und erhält, ohne den die Menschheit erstarren und wieder zum Tierleben herabsinken würde.

Der kaufmännische Spekulationsgeist, sagte ich. Aber mit »Kaufmannschaft« braucht es gar nichts zu tun zu haben. Es ist genau derselbe Geist, der den Kolumbus nach Westen hat segeln lassen, der den Goldgräber in wasserlose Einöden führt, der einen jungen Kaufmann seine sichere Stellung aufgeben lässt, um sich selbständig zu machen, derselbe Geist, der in Wolle spekuliert, oder in fernen Ländern Handelsbeziehungen anknüpft oder einen deutschen Bauern nach Amerika auswandern lässt. Alles dasselbe, alles dasselbe.

Mag diese Andeutung genügen.

Es ist immer ein Werfen mit der Wurst nach dem Schinken.

Jedenfalls aber wäre ohne diesen Charakterzug, dem man nach Belieben nachgeben kann, den meisten Menschen das ganze Leben keinen Schuss Pulver wert. —

Dieser Geist war es, der unser ganzes Schiff erfasst hatte.

Ja, das Schiff selbst kam dabei stark mit in Betracht. Es wurde alles gleich schriftlich formuliert, ich selbst tat das, schrieb auf, was die Beratungen der Mannschaft zu Tage förderte, legte es dann der Patronin vor, die es gut hieß oder Änderungen vorschlug, und so kamen nach und nach regelrechte Statuten zustande, welche den Wert eines Kontraktes hatten, wenn dies anfangs auch nicht beabsichtigt gewesen war.

Eine professionsmäßige Schauspielertruppe und Gauklerbande wollten wir natürlich nicht werden, dem Seemannsberuf wollten wir treu bleiben.

Die erste Verpflichtung war, dass wir in keinem gemieteten Theater auftraten, sondern nur in unserem eigenen. Und das konnte nur unser Schiff sein.

Also wir würden solche Vorstellungen fernerhin nur noch auf oder in unserem Schiffe geben. Hierzu fehlten bei dem ursprünglichen Kriegsschiffe allerdings die Räumlichkeiten. Aber die waren leicht zu schaffen, ein Theatersaal, der mindestens tausend Zuschauer fasste. Wie wir das machten, werde ich später schildern.

Es waren gerade einige der simpelsten Matrosen, die sofort argwöhnten, dass wir dadurch unserem Seemannsberufe untreu werden könnten. Schauspielern und schauspielern, um Geld zu verdienen — na, und je mehr man Geld in die Kasse bekommt, auf die Bank bringt, desto mehr will man doch haben. Das ist doch die alte Geschichte.

»Das machen wir ganz einfach so!«, schlug sofort ein Matrose vor. »Es darf nur geschauspielert werden, wenn sich in der Schiffskasse weniger als — na sagen wir tausend Mark, 50 Pfund befinden. Dann dürfen wir eine Vorstellung geben, um wieder Geld zu verdienen. Mit dem Gelde werden die Heuern bezahlt, wird alles angeschafft, was wir brauchen, und dann darf so lange nicht mehr gespielt werden, bis wieder weniger als 50 Pfund in der Kasse sind.«

Wohl, ich ging mit diesem Vorschläge zur Patronin. Und die gab fröhlich lachend ihre Bestätigung. Und auch Kapitän Martin lächelte, als er, sein »Well« sagte.

Hiermit war die Hauptsache der ganzen Geschichte, des neuen Verhältnisses, erledigt. Denn wenn die Reederei kein Betriebskapital hat, nur noch eine Pumpstation, dann darf man in Bezug der Mannschaft wirklich von einem neuen, besonderen Verhältnis reden.

Und wenn wir nun einmal ein lohnendes Wrack ausnahmen? Nun, dann wurde eben nach den Gesetzen gehandelt. Sich nur ja nicht außerhalb der Gesetze stellen!

Wer das getan hat, der ist noch immer zugrunde gegangen! Alle Gesetze sind von Menschen geschaffen worden, die sich dazu für befähigt hielten und dabei nach bestem Wissen und Willen gehandelt zu haben glaubten. So muss man wenigstens annehmen. Irren ist freilich menschlich. Und Ausnahmen bestätigen die Regel. Also muss man auch solchen Gesetzen sich unterordnen, sonst gerät man schnell auf die schiefe Bahn. Ich glaube, da denke ich ganz vernünftig, und so dachten wir alle, weil wir alle Seeleute waren, die da ihre eigenen Ansichten haben.

Also die Hälfte des Bergelohns der Patronin, die ihr Schiff riskierte, ein Viertel dem Kapitän, der seinen Ruf riskierte, das letzte Viertel der Mannschaft, zu der als Kargo-Kapitän in diesem Falle auch ich gehörte. Wenn wir unser Teil gleichmäßig verteilten, so war das unsere Sache. Und wenn wir nun ein Wrack oder sonst etwas fanden, was keinen Besitzer oder Erben mehr hatte? Denn so etwas gibt es doch auch. Oder uns auf eine Spekulation einließen, wie etwa auf die Hummern? Nun, dann kam der Verdienst eben in die gemeinschaftliche Kasse. Wie da der Anspruch war, das konnte ja später noch erörtert werden.

Hierbei erwähne ich gleich einmal, dass der erste Maschinist noch nicht ersetzt war. Der zweite und dritte waren eben höher gerückt, einen dritten brauchten wir gar nicht, ebenso wenig wie einen dritten Steuermann.

Matrosen, Heizer und auch Offiziere hatten sich ja schon massenhaft angeboten, besonders hier in Kapstadt nach unseren verschiedenen Triumphen. Sie wollten so gern an Bord der »Argos«. Gut, wenn wir einen uns passenden Mann fanden, wollten wir ihn gern in unseren Kreis reihen. Aber wir hatten noch keinen gefunden. Fremde nahmen wir natürlich nicht so leicht auf. Das musste überhaupt von ganz allein die Gelegenheit mit sich bringen. —

Am Abend desselben Tages, da sich diese letzten Szenen abgespielt hatten, wurde ich in die Kajüte zur Patronin gerufen.

Auch Kapitän Martin war da, hatte die Gauklerbriefe gesichtet, der Patronin einen zu lesen gegeben, so schmutzig und schwierig aussehend wie die meisten anderen.

»Hm«, brummte die Patronin, die letzte Seite lesend, »also nach dem Amazonenstrome.«

»Well, ich halte diesen Vorschlag für den solidesten.«

»Hm. Ja. Darf ich den Brief dem Waffenmeister geben?«

»Well, deshalb ist er ja da.«

Ich nahm den Brief und las. Er war englisch geschrieben, aber sehr fehlerhaft, ich merkte gleich an verschiedenen Ausdrücken und Interpunktion und dergleichen — zum Beispiel wurde das Fragezeichen sowohl hinter als vor den Satz gestellt — dass der Schreiber ein Spanier sein musste, was die Unterschrift auch bestätigte, und überhaupt der ganze Brief war spanisch!

Der Schreiber, Señor Adamita Lopez, kannte das Eldorado mit seinen unermesslichen Goldschätzen, offerierte sie uns.

Ich sage »das Eldorado«. Das ist an sich ein Unsinn. Das spanische el ist schon ein Artikel. Also sagt der Gebildete« das Dorado, ohne zu wissen, dass das auch wiederum falsch ist. »Dann müsste es im Spanischen Lodorado heißen. El ist der.

Also bleiben wir, um aus dieser Drehe herauszukommen, nur ruhig bei »das Eldorado«, wie es unsere Großväter gesagt haben, ohne sich um den Ursprung des Wortes zu kümmern und doch genau wissend, was sie damit meinten.

El dorato heißt »der vergoldete«, wozu also etwas zu ergänzen ist. Nämlich das Wort »Mann«. Der vergoldete Mann. Wir haben im Laufe der Zeit »das goldene Land« daraus gemacht.

Ich werde hier einfach eine Lesung wiedergeben, wie sie in einem neuen Konversationslexikon steht.


Eldorado, der Vergoldete, nannte man in Europa den Beherrscher eines angeblich an Gold und Edelsteinen überreichen Landes in Südamerika, der mit Goldstaub belegt sein sollte. Die Erzählung hat, wie es scheint, ihren Grund in einem Brauch, der unter den Chibche geübt ward und der darin bestand, dass an einem bestimmten Tage der Kazike von Guatavita mit Goldstaub überzogen sich auf einem Floß, auf den heiligen See von Guatavita hinaus begab, dort Opfergaben brachte und dann den Goldstaub im Wasser des Sees abwusch. Später wurde der Name auf das Goldland selbst übertragen, dessen Dasein seit dem 16. Jahrhundert für eine ausgemachte Sache galt, und dasselbe in die Gebirge im spanischen Guayana, an den Parimesee, bei den Quellen des Oyapoc, verlegt.

Glücksritter und unternehmende Männer, wie Georg von Speyer (1536), Philipp von Hutten (1541), Walter Raleigh (Ende des 16. Jahrh.), Lorenz Keimis (1596), Nikolas Horsmann (1740) usw. bemühten sich, die Stadt Manoa del Dorado mit ihren Dächern aus Gold, in die sich die Reste der Inkafamilie zurückgezogen haben sollten, aufzufinden. Wiewohl aber ein Engländer gegen das Ende des 16. Jahrhunderts selbst eine Beschreibung und eine Karte des Landes erscheinen ließ, musste es doch, gleich dem Parimesee, endlich in das Reich der Dichtung verwiesen werden. Indessen ließ sich der Spanier Antonio Santos nicht abhalten, noch 1780 auf eine Entdeckung des Goldlandes auszugehen.


So weit das Konversationslexikon.

Erwähnen will ich noch, dass jener Engländer, der Beschreibung und Karte veröffentlichte, George Malvalle hieß. Ich habe später einmal dieses Buch mit der Karte in der Bibliothek des Britischen Museums selbst in der Hand gehabt. Jedenfalls höchst interessant, wenn man auch gleich merkt, dass alles nur Phantasie ist. Vor allen Dingen bleibt jener Engländer, der selbst dort gewesen sein will, die Erklärung schuldig, weshalb er kein Gold eingesackt hat.

Nun also wollte hier der Señor Adamita Lopez wissen, wo dieses Goldland lag. Es wurde von einem Nebenflusse des Amazonenstromes durchflossen, auch mit unserem Schiffe zu erreichen. Näher bezeichnete er die Lage natürlich nicht. Er selbst war nicht dort gewesen, wohl aber sein Freund. Der hatte auch die Goldklumpen und Edelsteine schaufelweise eingesackt, hatte aber bei einer Verfolgung durch Indianer alles im Stiche lassen müssen, um sein nacktes Leben zu retten. Auf dem Hinwege hatte er eine genaue Karte über das in Frage kommende Flussgebiet entworfen, hatte sie bei seinem Tode seinem Freunde vermacht, hier dem Briefschreiber. Und nun bot der uns diese Schätze an, gegen Teilung des Gewinnes. Er die Hälfte, wir die Hälfte. —

Als ich dies gelesen hatte, da war ich — einfach paff! Das hielt Kapitän Martin für den solidesten Vorschlag! Ich hatte auch schon einige solcher Gauklerbriefe gelesen. Da war mancher darunter, dem man hätte trauen können.

Warum sollte denn solch ein Matrose nicht wissen, wo in erreichbarer Tiefe das Wrack eines Schiffes lag, das einige Goldbarren an Bord gehabt hatte? Er selbst war auf diesem Schiffe gewesen, war der einzige Überlebende, kannte die Lage des Wracks ganz genau.

Da waren uns aber auch noch ganz, ganz andere Vorschläge gemacht worden. Einer immer verrückter als der andere.

Als Kuriosum erwähne ich nur, dass solch ein Seegaukler wissen wollte, wo die Juden anno dazumal durch das Rote Meer trockenen Fußes gezogen waren, und da hätten sie, behauptete der Kerl, die Hälfte der goldenen Tempelschätze verloren, die sie aus Ägypten hatten mitgehen heißen — und wo die nun im Roten Meere lagen, das wollte der wissen!

Na, und da war mir dieser Vorschlag denn doch noch solider, als der mit dem Eldorado.

Ach, wir Seeleute, die wir nach Südamerika gekommen sind, wir können ja von diesem Eldorado etwas erzählen!

Jedes Schiff, besonders jeder Passagierdampfer, der nach Para oder einem Hafen von Guayana oder Venezuela kommt, wird immer gleich von verlumpten Individuen, Spaniern und Portugiesen, geradezu überschwemmt, die einen direkt nach diesem märchenhaften Goldlande führen wollen. Man wird sie nicht eher wieder los, bis man ihnen eine Kupfermünze oder wenigstens eine Zigarette geschenkt hat.

Und da nannte Kapitän Martin dies hier den Vorschlag, den er für den solidesten hielt?

Merkwürdig, ganz merkwürdig! Der musste gerade mit dem Eldorado gar keine Erfahrungen haben.

»Hm«, brummte jetzt auch ich, wie vorhin schon die Patronin gebrummt hatte, »also um das Eldorado handelt es sich —«

»Um was?«, fragte Kapitän Martin.

»Um Eldorado, um das sagenhafte Goldland —«

»Wuoat?!«, machte der Kapitän jetzt in noch ganz anderer Weise.

»Na, hier steht doch, dass —«

»Geben Sie mal den Brief her.«

Er nahm ihn und blickte nur auf die erste Seite. »Nanuu! Ich habe den Brief verwechselt. Der hier muss gerade so aussehen. Warten Sie, ich hole den richtigen, jetzt weiß ich, wo er liegt. Nee, mit dem Eldorado wollen wir lieber nischt zu tun haben.«

Er entfernte sich schnell.

Ach so! Der hatte uns aus Versehen einen falschen Brief zu lesen gegeben!

Jetzt fing auch die Patronin zu lachen an — »drum, ich denke doch!«, — die kannte eben auch schon etwas von diesem Goldlande.

Der Leser aber wird später merken, dass diese Einleitung doch nicht umsonst gewesen war. Kapitän Martin kehrte sehr schnell zurück, mit einem anderen Briefe, der jenem tatsächlich sehr ähnlich sah. Besonders war er ebenso schmutzig und schmierig und fettig. Aber der Inhalt bestand nur aus wenigen Zeilen. Gerichtet an Señora Helene Neubert, Patrona der »Argos«. Die englisch und orthografisch, aber wie mit einem Besen geschriebenen Zeilen lauteten:


Ich offeriere Ihnen eine wilde Chinarindenkultur, die ich am Amazonas kenne.

Eine vollständige Ausbeutung derselben schätze ich auf mindestens vier Millionen Milreis. Für die Sicherheit meines Projektes garantiere ich mit einem vollwertigen Einsatz.

Montezuma della Estrada.

Prospektador.

Q.B.S.M.


»Aaah, ein Prospektador!«, rief ich zunächst.

Im englischen Amerika heißen Prospektors die Goldgräber oder richtiger die Goldsucher. Sie selbst nennen sich mit Stolz so, bilden eine eigene Zunft. Sie kundschaften also erst aus, wo Gold vorhanden sein könnte, wozu ja allerdings eine große Erfahrung nötig ist, dann leiten sie gewöhnlich eine Expedition dorthin und nehmen nur Prozente von dem Gewinn, unterscheiden sich insofern von den eigentlichen Goldgräbern.

Im spanischen Amerika sind dasselbe die Prospektadores. Das ist aber noch ein weiterer Begriff geworden, diesem Worte haftet ein Makel an. Nicht nur Schatzsucher, sondern auch Schatzschwindler. Vielleicht hat auch schon ein deutscher Leser mit ihnen Bekanntschaft gemacht. Es gibt Perioden, wo auch Deutschland mit den Prospekten solcher spanischen Schatzschwindler geradezu überschwemmt wird. »In Ihrer Nähe ist ein Schatz vergraben, eine französische Kriegskasse, ich habe das Geheimnis von meinem Großvater, schießen Sie mir die Unkosten der Reise vor, dann komme ich hin, wir teilen den Schatz zusammen.« Oder auf dem Bahnhofe liegt ein Koffer, er enthält wertvolle Sachen, womöglich gestohlene Pretiosen, er muss mit einigen hundert Mark eingelöst werden.

Das ist der Geschäftsbetrieb der spanischen Prospektadores. Also Schatzschwindler. Ursprünglich aber war es eine ganz ehrliche Zunft, wenn auch noch so abenteuerliche Glücksritter.

»Well«, meinte Kapitän Martin auf meinen Ausruf, »es ist gar kein schlechtes Charakterzeichen, dass er sich gleich selbst einen Prospektador nennt.«

»Was bedeuten die vier Buchstaben darunter? Q. B. S. M.?«

»Que besan sus maños!«, erklärte der Kapitän. »Welcher Ihre Hände küsst. Das spanische »Hochachtungsvoll«, der Unterschrift nachgesetzt.«

Ich konnte etwas Spanisch, das lernt man schon, wenn man einige Reisen nach Südamerika macht — mein Kollege schien aber doch noch mehr zu können als ich.

»Well, wir wollen doch mal den Mann kommen lassen. Dort am Amazonenstrome wächst der Chinabaum, und diese ungeheuren Wälder, ein Gebiet fast so groß wie ganz Europa einnehmend, sind uns ja fast noch gänzlich unbekannt, man kann gar nicht eindringen, nur auf Wasserstraßen, die man aber auch erst finden muss. Weshalb soll der nicht einmal eine wilde Chinarindenkultur entdeckt haben. Wilde Kultur? Das ist zwar ein Paradoxon, aber doch nicht so unlogisch. Auch die Natur kann doch eine Kultur anlegen. Er will damit ausdrücken, dass dort nichts weiter als Chinabäume wachsen, wie in einer von Menschenhänden gepflegten Kultur.«

»Und wie hoch schätzt er die Ausbeutung?«, fragte die Patronin, obgleich sie den Brief selbst gelesen hatte.

»Auf vier Millionen Milreis. Das wären noch etwas mehr als sechzehn Millionen Mark.«

»Wie ist denn das möglich?«

Nun, da war gar nichts so Unmögliches dabei. Kapitän Martin hatte bereits in Handbüchern nachgelesen, konnte uns Auskunft geben, auch jetzt noch zogen wir einige Bücher zu Rate.

Chinin, ein weißes, ungemein bitter schmeckendes Pulver, ist das einzig sichere Mittel gegen Wechselfieber, welches es vollständig neutralisiert, aber auch von unschätzbarem Werte bei allen anderen Arten von Fiebern, wie Sumpffieber, Malaria, Kindbettfieber usw., usw.

Alle Fieberzustände beruhen auf einer Zersetzung des Blutes, die Eiweißbestandteile des Blutes werden vernichtet. Durch geordneten Genuss von Chinin aber wird der Eiweißbedarf des Körpers auf ein Minimum reduziert, die Fieberbakterien haben keinen Angriffspunkt mehr.

Ohne Chinin können wir Nordländer in den tropischen Gegenden gar nicht existieren, nicht einmal die Rolle von ganz passiven Aufsehern über die gegen Fieber immunen Eingeborenen spielen. Und man braucht nur einmal eine Reise nach den Tropen gemacht zu haben, nur ein einziger Tag Aufenthalt im Hafen, so ist man schon mit Fieberbazillen infiziert, man siecht auch im kalten Norden am immerwiederkehrenden Wechselfieber — ohne Chinin!

Gegenwärtig wird der Chininverbrauch auf der ganzen Erde auf jährlich 250 000 Kilogramm im Werte von elf Millionen Mark (Engros-Preis) geschätzt, wobei aber zu bedenken ist, dass es noch eine Unmasse, eine Legion von ähnlichen Fiebermitteln gibt, welche wohl auch ähnlich wirken, aber das echte Chinin, den Auszug aus der Rinde des Chinabaumes, nicht im entferntesten ersetzen können.

Die Nachfrage ist also viel größer als das Angebot. Man legt wohl überall Chinakulturen an, aber man kann den Bedarf noch immer nicht decken. Die Rinde dieser künstlichen Kulturen hat auch nicht die intensive Wirkung, wie die der wildwachsenden Bäume.

Ja, unsere moderne Chemie kann sogar das Chinin in der Retorte darstellen, auch im Großen, ganz billig. Nach der chemischen Zusammensetzung ist es genau dasselbe Chinin, hat auch denselben Geschmack. Da zeigt aber wieder einmal die Natur, dass sie sich nicht so leicht ins Handwerk pfuschen lässt. Dieses künstliche Chinin hilft nicht gegen Fieber. Weshalb nicht, das wissen wir nicht. Nur den Magen kann man sich damit ruinieren, was allerdings auch beim natürlichen Chinin der Fall ist, wenn man die Sache übertreibt; denn so ganz ungestraft lässt die Natur doch niemals ihrer spotten.

Die Heimat des echten Chinabaumes — weshalb dieser Baum kurzerhand »China« genannt wird, das habe ich nicht ergründen können — sind die Gebirgsabhänge der Anden vom westlichen Venezuela bis zum nördlichen Bolivia. Das heißt, dort kommt er in Masse vor. Man findet ihn aber im ganzen nördlichen Südamerika, an Stellen, wo man ihn gar nicht vermutet, und gerade an Flussniederungen enthält die Rinde außerordentlich viel Prozent Chinin von bester Wirkung.

Ja, wenn man solche Bäume nur finden könnte! Heute gibt es besonders auf Ceylon, Java und Jamaika riesige Kulturen. Aber dort ist man schon zufrieden, wenn man nur ein einziges Prozent Chinin in der Rinde hat! Die wildwachsenden Bäume haben bis zu zehn Prozent! Und noch von ganz anderer Wirkung! Was man schon im voraus durch Bestimmung eines Alkaloides erkennen kann.

Der wilde China ist ein Baum bis zu 40 Meter Höhe und 3 Meter Stammdurchmesser. Die Rinde wird abgeschält, wobei es gleichgültig ist, ob er erst gefällt wird oder nicht. Die Rinde nur teilweise abzuschälen, um den Baum am Leben zu erhalten, dass er die verlorene Rinde womöglich wieder ergänzt, das ist bisher nicht gelungen. Der Baum geht durch Saftverlust unter allen Umständen zugrunde. Also zieht man ihn gleich ganz ab.

Ein mittlerer Baum von 20 Meter Höhe und anderthalb Meter Stammdurchmesser liefert im Durchschnitt 10 Zentner getrocknete Rinde, die als solche in den Handel kommt. Der Wert wird bestimmt nach dem »Unit«, was ein Prozent Chiningehalt bedeutet. Das englische Pfund-Unit kostet heute anderthalb Pence, gleich 12 Pfennig. Da nun die wilde Rinde mindestens fünf Units hat, kostet das englische Pfund Rinde mindestens 50 Pfennig, also liefert solch ein Baum für mindestens 500 Mark Rinde. Das ist aber ganz bescheiden gerechnet.

Wo die wilden Chinabäume vorkommen, da stehen sie trotz ihrer Höhe eng zusammen, dulden keine anderen Bäume zwischen sich. Man rechnet auf 100 Quadratmeter mindestens einen ausgewachsenen Baum.

Der Prospektador schätzte die Ausbeutung auf sechzehn Millionen Mark. Dazu wären bei 500 Mark pro Baum 32 000 Bäume nötig gewesen. Die konnten also unter Umständen auf drei Quadratkilometer stehen. —

So hatte uns Kapitän Martin vorgerechnet, gleich mit Bleistift auf Papier.

Ich horchte nicht schlecht, und die Patronin bekam immer größere Augen.

»Frau Patronin, da könnten Sie ja gleich das Doppelte Ihres verlorenen Geldes wieder verdienen!«, sagte ich.

»Ja, spotten Sie nur!«

»Well, da gibt es gar nichts zu spotten!«, nahm mein Kollege für mich Partei. »Ich habe einmal im Amazonenstrom ein Inselchen besucht, und da standen vier große Chinas drauf. Mehr hatten gar nicht Platz drauf. Und das war gar nicht weit von Manaos entfernt, dieser großen Stadt mit 45 000 Einwohnern. Und niemand ahnte etwas von diesen kostbaren Bäumen. Dort wimmelt es ja freilich von solchen Inselchen, und niemand hat ein Interesse daran, sie zu besuchen. Es ist auch wegen der Stromschnellen sehr gefährlich. Ich ließ die vier Bäume abrinden, erhielt in Manaos sofort 540 Milreis dafür bezahlt, ungefähr 2400 Mark. Und was haben denn dort drei Quadratkilometer zu bedeuten? Ich halte es schon für möglich, dass jemand so eine wilde Kultur kennt.«

»Warum beutet der Mann das da nicht selbst aus?«, musste dann wohl unsere nächste Frage sein.

»Ja, warum nicht?! Weshalb führt auch der solideste Prospektor lieber eine Expedition nach dem von ihm gefundenen Geldgebiet, als dass er selbst zur Hacke und Schaufel greift? Der weiß schon, warum er es tut. Vielleicht ist dort ein Indianergebiet. Die schießen mit vergifteten Pfeilen. Auf solche Möglichkeiten muss man sich bei so etwas natürlich gefasst machen. Die gebratenen Tauben fliegen einem nicht in den Mund.«

»Womit will er denn für die Sicherheit des Unternehmens garantieren?«

»Das mag er uns selbst sagen. Also wollen wir den Mann kommen lassen?«

Na gewiss doch wollten wir!

*

18. Kapitel

Ein lebendes Rätsel

Originalseiten 426 — 445

Seine Adresse stand am Kopfe des Briefes. Es war ein »Hotel«, in Wirklichkeit in der ältesten Hafenstraße die größte Räuberspelunke von Kapstadt, das Hotel zur Schildkröte.

»Wer dort logiert, der sieht aber gar nicht danach aus, als ob er für alle Unkosten solch einer Expedition garantieren könne!«, meinte ich.

»Well, wir werden ja sehen.«

Kapitän Martin schrieb den Brief, die Patronin unterzeichnete ihn nur. Ein Matrose wurde hingeschickt.

Nach 20 Minuten kam er zurück, allein.

»Der Mann wohnt gar nicht dort, hat dort nur seine Adresse. Na, das ist ja eine Spelunke! Und der Wirt war gar nicht gut zu sprechen auf den Hidalgo, wie er ihn nannte. Einen größeren Hungerleider gebe es nicht.«

»Holt er denn den Brief ab?«

»Ja, es wäre möglich, dass der Hidalgo heute Abend noch einmal käme. Ihm geben wollte der Wirt den Brief, mehr könnte er nicht sagen.«

Es verging nur eine halbe Stunde, als Señor Montezuma della Estrada gemeldet wurde. Ich befand mich noch in der Kajüte bei der Patronin, der Kapitän wurde schnell gerufen.

Na, das war ja eine Gestalt, die da eintrat!

Ich hatte schon manches merkwürdige Individuum gesehen, aber so eines noch nicht!

Die Hauptsache an ihm war ein weiter, schmieriger Mantel von unbestimmter Farbe, der ihn vom Kinn bis zu den Füßen einhüllte. Diese letzteren hatte er wie die Slowaken — aber auch wie die spanischen Basken — mit Lederstreifen umwickelt, was gerade noch zu sehen war.

Dann auf dem Kopfe ein Sombrero, ein schäbiger Filzhut mit mächtiger Krempe, tief, tief in die Stirn gedrückt, so dass man von dem mumienhaft eingetrockneten, bartlosen Gesicht nicht viel mehr als die lange, schmale Adlernase und die scharfen Adleraugen sah.

Die linke Hand hatte er unter dem Mantel, hielt diesen zusammen, und vorn aus einem Schlitze — Ärmel — hatte der Überwurf, ein Poncho, gar nicht — sah die rechte Hand hervor, die ausgedörrte Hand einer Mumie, nur aus Knochen und gelber Haut bestehend, schmutzig, an den Spinnenfingern reichlich zolllange Nägel, ganz spitz, wie bei einem Raubvogel, und zwischen diesen Krallen hielt er eine brennende Zigarette, die er ab und an die blutleeren Lippen führte, wobei aber, da er sich hierzu stets bückte, sein Gesicht immer vollends verschwand.

Ich bemerke gleich, dass er ständig Zigaretten rauchte. Konnte er das Stummelchen nicht mehr halten, so verschwand die rechte Hand unter dem Mantel und kam gleich mit einer neuen, schon brennenden Zigarette zum Vorschein. Das besorgte er alles unter dem Mantel. Den glimmenden Stummel musste er ausdrücken und einstecken.

So stand er vor uns. Unbeschreiblich! Diese Krallenhand, diese Nase, diese Raubvogelaugen — ganz unheimlich!

Wirklich, ich hätte mit diesem Manne nicht allein sein mögen!

»Montezuma della Estrada, Prospektador!«, stellte er sich vor und ließ das Fragment seines Mumiengesichtes vollends verschwinden, weil er den Kopf beugte um aus der Zigarette in seiner Hand, deren Lage er nicht veränderte, einen Zug zu inhalieren.

Und diese Stimme! Nicht nur total heiser, sondern wie ein zischendes Krächzen klingend.

»Well!«, übernahm Kapitän Martin, wie ausgemacht, das Verhör. »Sprechen Sie Englisch?«

»Si, si, Señor!«, wurde gekrächzt.

»Sie wissen am Amazonenstrome eine Stelle, wo wilde Chinabäume stehen?«

»Si, si, Señor.«

»Wo?«

»Ich weiß es.«

Das hatte er aber immer noch auf Spanisch gesagt.

Oder doch: Ich weiß.

Das Verbum wissen heißt auf Spanisch saber. Es wird unregelmäßig konjugiert. Ich weiß heißt yo se. Aber das Fürwort lässt der Spanier für gewöhnlich weg. Er sagt nur: se, gleich ich weiß.

Aber der Spanier konjugiert dieses Verbum unter Umständen auch regelmäßig, obgleich es grammatikalisch nicht erlaubt ist, Dann sagt er anstatt »ich« auch noch »mein«, also »mi« anstatt »yo«. Also sagt er »mi sabe.« So wie es jetzt auch dieser Mann getan hatte.

Ich muss dies anführen, falls einer meiner Leser Spanisch kann und dann sagt: Mi sabe — das gibt's ja gar nicht!

Nein, in Grammatiken und Schulbüchern steht es allerdings nicht. Aber man soll nur nach Spanien und nach Südamerika kommen, wie oft man es dort hört: mi sabe! Allerdings auch nur bei besonderer Gelegenheit. Es ist die stärkste Bejahung, oder vielmehr die größte Betonung einer Behauptung, deren der stolze Spanier fähig ist. Mi sabe — — Halt's Maul, ich weiß es, nun aber keine Widerrede mehr!«

»Mi sabe.«

»Nebenfluss des Amazonenstromes?«

»Nebenfluss.«

»Auf welchem?«

»Mi sabe.«

»Vor oder hinter Manaos?«

»Mi sabe.«

Nun weiß der Leser, was dieses »mi sabe.« unter Umständen bedeutet. Ich weiß es — Du brauchst es nicht zu wissen.

»Können wir mit diesem Schiffe bis dahin fahren?«

»Si, si, Señor.«

»Wissen Sie, wie tief dieses Schiff geht?«

»Mi sabe.«

»Nun, wie tief?«, ließ diesmal Martin aber nicht nach.

»Das Wasser ist tief genug, um mit diesem Schiffe bis in die Mitte des Gebietes zu fahren. Mi sabe.«

»Wie lange braucht man von Para aus?«

»Mi sabe.«

Es war nichts zu machen.

»Ist es gefährlich dort?«

»No, Señor.«

»Fieber?«

»No, Señor.«

»Kriegerische Indianerstämme?«

»No, Señor.«

»Wie groß ist das Gebiet?«

»Mi sabe.«

Also auch so etwas wollte er nicht einmal andeuten. »Sie schätzen den Wert auf vier Millionen Milreis?«

»Si, si, Señor.«

»Waren Sie selbst schon dort?«

»Si, si, Señor.«

»Wie viel Prozent Chinin?«

»Sieben bis zehn Units.«

»Well. Weshalb beuten Sie denn das nicht selbst aus?«

»Mi sabe.«

»Sie selbst führen uns hin?«

»Si, si, Señor.«

»Ohne weitere Begleitung?«

»Ich allein.«

»Die Arbeit des Abrindens soll auch unsere Mannschaft ausführen?«

»Si, si, Señor.«

»Welchen Anteil wollen Sie am Gewinn haben?«

»Nichts.«

Es war sofort ausgesprochen worden, heiser hervorgezischt.


Illustration

»Sie wollen gar nichts davon haben?«

»Nichts.«

Wir blickten uns an.

»Ja aber warum denn nur nicht?!«, fragte die Patronin.

»Mi sabe.«

Es war wiederum ausgesprochen worden, wie es eben nur ein Spanier aussprechen kann, und wenn er auch noch in ganz andere Lumpen gehüllt ist.

»Well!«, nahm wieder Martin das Wort. »Also keinen Anteil am Gewinn. Was fordern Sie sonst?«

»Nichts.«

»Auch kein Gehalt?«

»Nichts. Nur Brot, Zwiebeln und Wasser.«

Wir blickten uns wieder an. Wenigstens die Patronin und ich. Der Kapitän hob nur etwas die Schultern.

»Well. Nun schrieben Sie doch davon, dass Sie für die Sicherheit des Unternehmens garantieren könnten. Einen vollwertigen Einsatz für unsere Unkosten geben wollten.«

»Si, si, Señor.«

»Womit garantieren Sie?«

»Con eso — hiermit!«

Auch seine linke Hand schlüpfte einmal hervor und warf etwas auf den Tisch.

Alle Wetter noch einmal!

Es war ein runder Diamant von der Größe einer welschen Nuss in Brillantschliff, gefasst in einen goldenen Ring. Aber nicht etwa als Fingerring! Um den ganzen Diamanten zog sich eine breite Goldscheibe herum, in der saß er drin.

Ich habe später im Louvre zu Paris den »Regent« gesehen, auch »Pitt« genannt. 136 Karat. Es ist nicht der größte, wohl aber der schönste aller bisher bekannten Diamanten, daher auch der kostbarste. Sein Wert wird heute auf 15 Millionen Franken geschätzt.

Dieser Diamant, den ich hier sah, der war noch größer und noch viel, viel schöner als der Regent.

Fabelhaft war das Feuer, das im Scheine des elektrischen Lichtes von dem Dinge ausstrahlte! Ein Feuermeer in allen Farben des Regenbogens!

Nur Kapitän Martin blieb ganz gelassen, so nahm er den Diamanten vom Tisch.

»Sie gestatten mir wohl die Frage«, konnte auch dieser kalte Seebär sehr höflich sein, »ob dieser Diamant Ihnen gehört?«

»Si, si, Señor.«

»Wo haben Sie denn den her?!«, staunte jetzt die Patronin, viel weniger höflich als der Kapitän, welche Frage aber verzeihlich war.

»Mi sabe.«

»Ist denn der auch wirklich echt?!«

»Si, si, Señora.«

Heute nachmittag war in der Kajüte die undichte Glasscheibe eines Bullauges nachgezogen worden, sie war dabei gesprungen, die beiden Hälften lagen noch auf dem Nebentisch. Solch eine Glasplatte ist zolldick.

Der Kapitän nahm eine Hälfte.

»Gestatten Sie, dass ich das Glas ritze?«

»Si, si, Señor.«

Erst ritzte der Kapitän allerdings nur, dann drückte er bedeutend stärker auf, nahm die Scheibe in beide Hände — sie brach sofort durch. Zollstarkes Glas!

Ein Zeichen des echten Diamanten ist das ja allerdings noch nicht. Es gibt noch andere Steine und auch Metalle — Iridium — die Glas schneiden.

Kapitän Martin führte den Diamanten an den Mund und hielt längere Zeit die Zunge daran.

So sollen es die Diamantenhändler machen, wenn sie sonst kein Mittel bei der Hand haben, um die Echtheit eines Steines zu prüfen. Was sie dabei mit der Zunge herausfühlen, weiß ich nicht.

»Natürlich, das ist ein echter Diamant da, ist gar kein Zweifel dran, und zwar einer vom reinsten Wasser.«

»Si, si, Señor.«

»Wie hoch schätzen Sie den Wert dieses Diamanten?«

»Mi sabe.«

»Sie wollen mit ihm dafür bürgen, dass wir dort für vier Millionen Milreis Chinarinde erbeuten?«

»Si, si, Señor.«

»Dann schätzen Sie also doch auch diesen Diamanten auf vier Millionen Milreis?«

»Si, si, Señor.«

Der Kapitän wog das schimmernde Ding in seiner Hand.

»Well, dann dürfte er nicht zu hoch taxiert sein. Also Sie deponieren diesen Diamanten bei der Señora Patrona?«

»Si, si, Señor.«

»Wollen wir das schriftlich machen?«

»No, Señor.«

»Erbeuten wir dort, wohin Sie uns führen, nicht für vier Millionen Milreis Chinarinde, dann gehört dieser Diamant der Señora Helene Neubert?«

»Si, si, Señor — si, si, Señora.«

»Well, Frau Neubert, nehmen Sie diesen Diamanten unter Verschluss.«

Mit etwas zitternder Hand nahm die Patronin den funkelnden Stein, verschwand hinter der Panzertür, kam wieder zum Vorschein.

Ja, mir wurde auch immer seltsamer zumute. Nur Kapitän Martin blieb ganz ungerührt.

»Wann können wir die Expedition antreten?«

»Ahora — jetzt.«

»Jetzt sofort Kapstadt verlassen?«

»Si, si, Señor Capitano.«

»Well, wir wären dazu imstande. Wir könnten in spätestens drei Wochen in Para sein. Ist jetzt die Zeit zu der Expedition auch günstig?«

»Si, si, Señor.«

»Wegen der Wasserverhältnisse?«

»Si, si, Señor.«

»Die Regenzeiten sind im Amazonasgebiete auf den verschiedenen Flussgebieten total verschieden.«

»Mi sabe.«

»Also mit der Regenzeit hat es gar nichts zu tun?«

»No, Señor.«

»Wie viel Bäume sind wohl abzurinden?«

»Mi sabe.«

»Nein, Señor, hierüber möchte ich doch eine nähere Auskunft haben. Gezählt werden Sie sie ja nicht haben, aber ungefähr taxieren werden Sie doch können, sonst könnten Sie nicht auch so bestimmt von vier Millionen Dollars sprechen.«

»Ungefähr 30 000 Bäume.«

Da — unsere Berechnung hatte gestimmt!

»In welcher Zeit könnten wir die entrinden?«

»Wie viel Leute haben Sie für diese Arbeit zur Verfügung?«, fragte der Spanier erst ganz richtig.

»Well — sechzig Mann könnten sich daran beteiligen.«

»In vierzig Wochen!«, erklang es jetzt sofort.

»Wie berechnen Sie das?«

»Jeder Mann pro Tag zwei Bäume. Macht in der Woche mit Ausschluss des Sonntags 720 Bäume. In vierzig Wochen wäre es geschehen.«

»Well, diese Berechnung stimmt. Ich weiß, dass zwei Cascarilleros ganz bequem täglich sechs große Bäume abziehen, auf vier würden es zwei unserer Jungens wohl auch bringen, gleich im Anfang, und ich kalkuliere, dass die bald noch viel schneller arbeiten würden; denn was ich von den Cascarilleros gesehen habe, das hat mir nicht besonders imponieren können. Wohl sind sie gewandt wie die Affen, und sehr gefährlich sieht es aus, wenn sie die Rinde oben anschneiden und sich an dem abschälenden Streifen herablassen, aber das ist auch so unpraktisch wie möglich, da würden wir wohl bald anders arbeiten.«

»Si, si, Señor!«, stimmte die Mumie denn auch bei.

»Also wollen wir uns auf ein Jahr gefasst machen.«

»Si, si, Señor.«

»Wir sind aber nur für ein halbes Jahr mit Proviant versehen.«

»Mi sabe.«

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

»Mi sabe.«

»Well. So müssen wir uns erst noch für ein weiteres halbes Jahr verproviantieren.«

»Si, si, Señor.«

»Sind Sie Seemann?«

»No, Señor Capitano.«

»Sie kennen aber doch sicher die hier in Betracht kommenden Verhältnisse?«

»Si, si, Señor.«

»Würden Sie vorschlagen, dass wir den Proviant hier in Kapstadt nehmen?«

Jetzt fühlte der Kapitän dem Manne einmal auf den Zahn.

»No, Señor.«

»Sondern?«

»Erst in Para, besser vorher in Rio.«

Der Mann hatte die Prüfung bestanden. Es ist ja manchmal ein kolossaler Unterschied dabei, in welchem Lande man sich verproviantiert. In Rio de Janeiro kostet der Zentner bestes Salzfleisch 20 Mark, hier in Kapstadt war er nicht unter 50 Mark zu haben; ebenso Hülsenfrüchte, Mehl und dergleichen. Und nun gar Spezialitäten wie Kisteneier! In Kapstadt das Schock nicht unter sechs Mark — man weiß gar nicht, woher die Eier dort unten so furchtbar teuer sind — in Rio bekommt man für dasselbe Geld fünf Schock Eier!

Noch billiger aber verproviantiert man sich in Buenos Aires oder Montevideo. Dort bekommt man unter Umständen das Fleisch umsonst, muss nur Fass und Salzlake bezahlen, nicht einmal die Arbeit wird gerechnet.

»Sie meinen also, wir sollen uns in Rio verproviantieren?«

»Si, si, Señor.«

»Ist das Flusswasser in jener Gegend gut trinkbar?«

»Si, si, Señor.«

»Es gibt dort auch Flüsse mit verdammt schlechtem Wasser. Der Tintorello führt seinen Namen mit Recht, der verpestet den Amazonas noch auf eine weite Strecke, das soll noch nicht der schlechteste sein.«

»Mi sabe.«

»Also das Trinkwasser dort ist gut?«

»Si, si, Señor.«

»Haben wir sonst noch etwas Besonderes mitzunehmen?«

»No, Señor.«

»Wir müssen doch wohl besonderes Handwerkszeug haben?«

»Messer, Äxte und Seile.«

»Die sind allerdings genug an Bord vorhanden. Also wir könnten jetzt sofort den Hafen verlassen?«

»Si, si, Señor Capitano.«

»Bleiben Sie gleich hier?«

»Si, si, Señor.«

»Gehen aber doch erst noch einmal an Land?«

»No, Señor.«

»Ihr Gepäck?«

»Habe keins, Señor.«

Dieses Geständnis machte unserem Kapitän Martin absolut nichts aus.

»Well. Frau Patronin, soll ich aufs Seemannsamt gehen, uns abmelden? Dampf aufmachen lassen? In zwei Stunden können wir auf hoher See sein und Segel setzen. Der Wind ist günstig. Soll ich?«

»Wie Sie wollen!«, flüsterte die Patronin, und ihre Erregung war begreiflich. Mir ging es nicht viel anders.

»Nein, wie Sie wollen, Sie haben zu bestimmen. Wollen Sie die Fahrt sofort antreten?«

»Ja.«

»Well.«

Und der Kapitän ging sofort hinaus, fünf Minuten später überschritt er das Laufbrett.

Wir blickten uns an und dann wieder auf das eingewickelte Mumienskelett, das eine Zigarette nach der anderen rauchte.

Himmel, wie in diesem Totenschädel die Raubvogelaugen über der mächtigen Adlernase, die übrigens, wie ich jetzt bemerkte, etwas schief war, funkeln konnten!

»Mann — Señor!«, begann die Patronin leise. »Wer sind Sie denn nur?!«

»Ein Prospektador!«, erklang es heiser, mehr krächzend, und man hörte den Stolz heraus.

»Wie kommen Sie denn dazu, mir so etwas anzubieten?!«

»Mi sabe!«, blieb der Kerl auch uns beiden gegenüber derselbe.

»Haben Sie denn dieses Angebot schon einmal einem anderen gemacht?«

»No, Señora Patrona.«

»Noch keiner anderen Person?«

»No, Señora.«

»Sie haben das mit den Chinabäumen erst jetzt erfahren?«

»No, Señora.«

»Sie wissen es schon seit längerer Zeit?«

»Si, si, Señora.«

»Schon seit Jahren?«, examinierte die Patronin weiter, was auch ich getan hätte.

»Si, si, Señora.«

»Und haben noch nicht daran gedacht, diese Schätze auszubeuten?«

»No, Señora.«

»Ja, warum denn nun gerade mir?!«

»Mi sabe.«

»Sie haben sicher einen besonderen Grund dazu?«

»Si, si, Señora.«

»Kennen Sie mich denn?«

»Si, si, Señora.«

»Was wissen Sie denn von mir?«

Durchbohrend ruhten die glühenden Adleraugen auf der Patronin.

»Sie haben«, erklang es dann heiser wie immer, »heute früh achthundert Pfund Sterling den Armen überwiesen — alles, was Sie gestern Abend im Theater verdient haben.«

Alle Wetter noch einmal!!

Auch die Patronin verstand natürlich sofort, war mächtig erschüttert und brauchte längere Zeit, ehe sie fortfahren konnte, und dann stellte sie gleich eine sehr richtige Frage, woran ich nicht gleich gedacht hätte.

»Das können Sie aber doch höchstens erst heute Mittag erfahren haben.«

»Si, si, Señora Patrona.«

»Und wann haben Sie denn diesen Brief geschrieben?«

»Heute mittag.«

Ach so! Der Brief war erst mit der Nachmittagspost gekommen. Das hatten wir nicht gewusst. Jetzt aber stimmte es auch.

»Und weil ich diese Theatereinnahme abzüglich unserer Unkosten wohltätigen Anstalten überwiesen habe, das hat auf Sie solchen Eindruck gemacht, dass Sie mir solch ein Millionen einbringendes Geheimnis übergeben?«

»Mi sabe!«, erklang diesmal diese Redensart ausweichend. Es war aber doch angebrachter gewesen als ein »si, si, Señora«.

»Bestimmen Sie nun, wie ich den Erlös der Chinarinde verwenden soll?«

»No, Señora.«

»Dass ich einen Teil den Armen vermachen soll?«

»Ich habe keine Bedingungen, Señora!«, erklang es mit Nachdruck.

»Auch nicht, wie ich es unter meine Mannschaft verteile?«

»Señora, ich stelle gar keine Bedingungen!«, erklang es immer noch einmal.

Dann war diese Sache aber auch erledigt.

»Und Sie wollen also gar nichts davon haben?«, begann die Patronin doch noch einmal.

»No, Señora.«

»Sie fordern nur Brot, Zwiebeln und Wasser.«

»Si, si, Señora.«

Dann war es gut, dass wir gestern eine gute Portion Zwiebeln eingenommen hatten.

»Sie sind ganz bedürfnislos.«

»No, Señora.«

»Nicht?!«

»Ich bedarf Brot, Zwiebeln und Wasser.«

Da durfte man wohl wenigstens lächeln, obgleich dieser Mann sicher keinen Witz hatte machen wollen. Aber er hatte ja auch ganz recht.

»Und Tabak«, ergänzte ich.

»No, Señor.«

»Sie rauchen doch.«

»Ich bedarf ihn wohl wie Papier, aber ich habe selbst genügend bei mir.«

»Ach so! Sein ganzes Gepäck bestand also in Tabak und Zigarettenpapier.«

Und Seife? hätte ich jetzt gern noch gefragt, unterdrückte es aber lieber.

»Sie bleiben also gleich hier an Bord?«, begann wieder die Patronin.

»Si, si, Señora.«

»So begrüße ich Sie herzlichst als meinen Gast.«

Die eingewickelte Mumie machte mit Grandezza eine Verbeugung.

»Herrgott, ich habe Ihnen noch nicht einmal einen Stuhl angeboten!«

»Gracias, Señora.«

Aber er setzte sich nicht, wie auch wir immer gestanden hatten.

»Ich werde Ihnen sofort eine Kabine anweisen lassen.«

»Gracias, Señora — danke, nein.«

»Was nein?«

»Ich brauche keine Kabine.«

»Sie brauchen keine Kabine?«

»No, Señora.«

»Ja wo schlafen Sie denn?«

»Wo ich mich hinlege.«

A la bonheur! Ein bedürfnisloser Diogenes, Wohnraum und Bett verachtend, sich mit einem Fasse zum Schutze gegen Regen und Sonne begnügend. Meine Hochachtung! »Wenn ich nicht Alexander wäre, dann möchte ich Diogenes sein.«

Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein guter Witz ein. Den Stoiker oder Zyniker Diogenes kennt wohl jeder. Ein Philosoph, der in möglichster Bedürfnislosigkeit das höchste dem Menschen erreichbare Glück zu finden wähnte. Als er nur noch eine hölzerne Trinkschale besaß, und er sah einmal ein Kind aus der hohlen Hand trinken, warf er auch noch diese Schale fort. Aber eine Wohnung hatte er doch noch — ein Fass, wobei man jedoch an kein hölzernes denken darf, das man damals noch gar nicht kannte, sondern ein mächtiges, irdenes Gefäß ein Tank, ein Bassin aus gebranntem Ton, in dem damals der Wein aufgehoben wurde oder in dem man ihn doch gären ließ; sonst gab es ja Weinschläuche, vielleicht auch ein Wassertank.

Auch König Alexander von Mazedonien, den wir jetzt den Großen nennen, besuchte einmal den merkwürdigen Sonderling. Diogenes sonnte sich gerade vor seinem Fasse. Alexander unterhielt sich mit ihm, der Mann gefiel ihm, obgleich Diogenes natürlich nicht etwa aufstand. Das gab's bei dem nicht.

»Ich gewähre Dir eine Bitte.«

»Dann, bitte, gehe mir aus der Sonne.«

Und der König ging davon mit den Worten: »Wenn ich nicht Alexander wäre, dann möchte ich Diogenes sein.«

Diese Geschichte darf historisch für verbürgt gelten, Plutarch erzählt sie mit allen Einzelheiten, und dem königlichen Schüler des Aristoteles sieht solch eine Äußerung auch ganz ähnlich.

Nun kam mir einmal ein Buch in die Hände, in dem dieses Geschichtchen erzählt wurde. Nicht gerade ein Schulbuch, aber doch immerhin ein belehrendes Buch für die Jugend. Und da, wie der König ging, sollte er gesagt haben: »Wenn ich nicht Alexander der Große wäre, dann möchte ich Diogenes sein!«

Ich war noch ein Kind, als ich das las, empfand es aber schon damals als einen guten Witz, dass der sich gleich selbst Alexander den Großen nannte. Und vielleicht habe ich Unrecht, vielleicht ist es gar kein Witz, denn so etwas kann heute auch noch vorkommen.

Übrigens habe ich später einmal selbst solch einen Diogenes kennen gelernt, am Bodensee, in der Nähe von Konstanz. Der alte Mann hauste in einer Bretterbude am See, war ganz bedürfnislos, und wenn er doch einmal Geld brauchte, so ging er als Hausschlächter.

Dabei ist nichts weiter. Solch ein faules Leben kann jeder Zigeuner und Tagedieb führen. Erst eine gewisse Philosophie und noch ein gewisses Etwas macht den Diogenes aus.

Ich habe mich mit dem alten Manne oft köstlich unterhalten, und von den vielen Geschichtchen, die über ihn zirkulierten, will ich hier nur eine anführen.

Der Bürgermeister des nächsten Ortes war Holzhändler, hatte dem Einsiedler einmal Bretter geliefert, schickte vergebens Rechnungen, zuletzt auch eine energische Mahnung, jener solle doch endlich seine Schulden bezahlen; worauf der moderne Diogenes ganz einfach zurückschrieb:

Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Bezahlen Sie Ihre eigenen Schulden, aber kümmern Sie sich nicht um die Schulden von anderen Leuten.

Ich selbst wurde einmal Zeuge solch eines originellen Ausspruchs, begleitet von einer entsprechenden Handlung.

Der Alte schlachtete wieder einmal ein Schwein, was im Monat höchstens einmal geschah, dafür bekam er drei Mark, mehr brauchte er nicht monatlich für seinen Lebensunterhalt.

Die Prozedur des Schweineabstechens geschah in dem Städtchen in einem Hofe mit öffentlichem Durchgang, und, wie das nun so ist, es hatte sich ein zahlreiches Publikum versammelt, um mit anzuhören und anzusehen, wie die noch lebendige Zukunftswurst quiekt und sich verblutet.

Als nun das Schwein seine Seele ausgehaucht hatte, da nahm der Alte sein Käppchen ab, faltete die Hände und sagte salbungsvoll, so wie es der Pfarrer oder Kantor nach beendetem Begräbnis tut:

»Die lieben Anverwandten und Leidtragenden können nun nach Hause gehen.«

*

19. Kapitel

Brot auf dem Meere!

Originalseiten 445 — 465

Wir waren mit günstigem Winde nach Rio de Janeiro unterwegs, nur um uns dort für ein weiteres halbes Jahr zu verproviantieren. Die ganze Mannschaft hatte natürlich erfahren, um was es sich dann später handelte. Ja, die freudige Erregung war natürlich groß in einem Jahre durch Abrinden von Bäumen so runde sechzehn Millionen Mark verdienen zu können. Wie die dann geteilt wurden, darüber wurde noch nicht gesprochen Jedenfalls waren wir dann fein heraus, dann konnten wir schon einmal »anecken«. Dann wurde einfach eine neue »Argos« gekauft, wir ließen eine neue nach eigenen Plänen bauen, und wir hätten viele Verbesserungen vorzuschlagen gehabt. Obgleich das Schiff für das Herz eines Seemannes nicht so ein toter Gegenstand ist. Lieber behielten wir diese »Argos« hier. Immerhin, unsere Zukunft war sicher gestellt.

Aber ich glaube, ich glaube fast — meine Jungens hätten lieber Zigeuners gespielt. Hätten lieber, wie wir uns es schon ausgemalt hatten, von der Hand in den Mund gelebt.

Ich dachte nämlich auch so.

Und die Patronin sicher auch. Die machte manchmal solche Andeutungen, ohne sich weiter auszusprechen.

Doch immerhin, die sechzehn Millionen wurden mitgenommen.

Eine Gaukelei war es ja doch auch, ebenso wie es das Geschäft mit den Hummern gewesen wäre, nur noch viel einträglicher. Und überhaupt hatten wir sie ja noch gar nicht in der Tasche! Vorläufig hatte die Patronin beim Kapitän gegen tausend Mark Schulden, und an Heuern standen auch schon wieder gegen 4000 Mark; denn die 70 Mann erforderten täglich gegen 400 Mark an Heuer und Gehalt, wobei ich nicht den von Juba Riata und Mister Tabak mitrechne, worüber ich nicht fragte und die Patronin mir noch nichts gesagt hatte, die aber, glaube ich, noch ein ganz anderes Gehalt bekamen.

Ja, war das überhaupt nicht nur ein märchenhafter Traum, das mit den sechzehn Millionen Mark, die wir innerhalb eines Jahres von den Bäumen schälen können sollten?!

So hätten wir uns wohl manchmal gefragt, hätten wir Kajütsgäste nicht ab und zu den riesenhaften Diamanten bewundert und seinen Besitzer immer vor Augen gehabt.

Señor Montezuma della Estrada, von der Mannschaft kurz der Prospektador genannt, war und blieb ein lebendiges Rätsel, mindestens ein ganz merkwürdiger und auch unheimlicher Gesell.

Er hielt sich ganz zurückgezogen, lebte nur von Brot und Zwiebeln, aber man musste aufpassen, wollte man ihn einmal essen sehen, das machte er in aller Heimlichkeit nur so nebenbei, schlenderte den ganzen Tag an Deck oder im Schiffe herum, kein Lieblingsplätzchen habend — wo er sich einmal anlehnte, da blieb er stundenlang lehnen, immer dicht in seinen Mantel gehüllt, den alten Filz tief über die Augen gezogen, eine Zigarette nach der anderen rauchend. Wenn er müde war, legte er sich in einen Winkel, in dem er sicher war, dass ihn niemand auf die Beine trat, wusste sich überhaupt wie eine Katze zu verkriechen, die manchmal spurlos verschwindet, bei Tage oder Nacht irgendwo zum Vorschein kommt.

Man wurde auch sonst recht an eine Katze erinnert, schon durch sein Schleichen. Waschen tat er sich nie, war wasserscheu wie eine Katze. Wenn das Deck nass war, hielt er sich in den unteren Räumen auf. War das Deck trocken, und es wurden Vorbereitungen zum Deckscheuern getroffen, so verschwand er schleunigst. Nur ja kein Wasser! Nun konnte es aber doch einmal passieren, dass er auch bei schönstem Wetter von einem überdammenden Spritzer getroffen wurde, dann schüttelte er sich genau wie eine Katze, schlenkerte auch in so eigentümlicher Weise einen Fuß nach dem anderen, genau wie es eine Katze tut, die nasse Pfoten bekommen hat, und machte schleunigst, dass er unter Deck kam.

»Si, si, Señor, — No, Señor. — Mi sabe.«

Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Da wurde er natürlich bald in Ruhe gelassen.

Unterdessen richteten wir den Raum ein, in dem wir unsere Theatervorstellungen geben wollten; denn das wollten wir nicht vergessen, dieser Gedanke machte meinen Jungens viel größeren Spaß, als der an die vier Millionen Milreis, wenn sie sich auch daran freuten, in dem brasilianischen Urwald einmal den Hinterwäldler spielen zu können.

Wenn ich sage, dass wir aus der Batterie den Boden herausnahmen, so drücke ich mich zwar nicht seemännisch aus — denn im Schiffe gibt es nur Decks und Decken — aber für den Leser ist es viel verständlicher.

Also wir entfernten auf dem Zwischendeck, das wir Batterie nannten, den Boden, so dass dieser Raum mit dem darunter liegenden Mitteldeck vereint wurde. Den Raum unter diesen nenne ich das Unterdeck, unter diesem befand sich der Doppelboden des Schiffes, auch noch ein Raum, aber nicht mehr verwendbar.

Jetzt verfügten wir über einen Raum von sechs Meter Höhe, der immer noch 42 Meter lang und 12 Meter breit war. Das war erst der Zuschauerraum des Theaters, der bei 500 Quadratmeter leicht 1000 Menschen fassen konnte. Hinten abgeschlossen wurde er durch den Mittelschacht, durch den der Schornstein und anderes ging, was für die Maschinen- und Kesselräume in die Höhe geführt werden muss, wie die Ventilationsröhren, durch welche auch die Asche entfernt wird. Aber noch immer blieben an den Seiten geräumige Zu- und Ausgänge für das Publikum, womit man rechnen musste, dass die Polizei uns nicht etwa Schwierigkeiten in den Weg legte, uns solche Vorstellungen in einem Schiffe einfach verbot.

Vor der Entfernung des Bodens waren ja überhaupt erst viele Beratungen und prüfende Erwägungen aller Sachverständigen nötig gewesen. Aber es ging. Und als die Sache erst einmal eingeleitet war, dann konnten alle Mann in noch nicht ganz zwei Stunden den ganzen Boden entfernen und ihn in derselben Zeit wieder einsetzen, wozu eben verschiedene Vorrichtungen getroffen werden mussten, so zum Beispiel, dass jedes Deckbrett noch ein besonderes Loch am äußeren Ende bekommen musste.

Mit diesen Decksbrettern errichteten wir in derselben Zeit, gleichzeitig beim Abnehmen, aber auch schon die tausend Sitzplätze, von vorn nach hinten etwas ansteigend, so dass die Bühne von jedem Platze aus gut zu sehen war, und jeder Platz war leicht zu erreichen und mit einer deutlich sichtbaren Nummer versehen, welche Nummern wiederum dann das Zurückversetzen der Bretter zum Deck erleichterten.

Es war wirklich eine ganz geniale Einrichtung, wie wir das alles arrangiert hatten, mit welcher Schnelligkeit wir aus Batterie und Mitteldeck einen großen Theatersaal schufen, diesen wieder in zwei Schiffsräume zurückverwandeln konnten, und der geniale Gedanke, der dies alles überhaupt erst möglich machte, stammte aus dem Kopfe des Kapitäns Martin, woraus man schon ersieht, wie sehr der sich dafür interessierte.

Vorn unter der Back, mit der Batterie in gleicher Linie, lag unser Klubraum. Der musste, wenn das Theater hergestellt wurde, fallen. Unter diesem lag die Segelkammer. Das heißt, ein ganz beträchtlicher Raum, solch eine Bühne hat manches Theater nicht! Der wurde dann also zur Bühne, etwas erhöht angebracht. Und nun von dieser Bühne nach oben in die Back und nach unten in das Unterdeck ein Liftzug.

Mag diese Beschreibung genügen. Ich kann nur sagen, dass wir eine Bühne schufen, die mit solchen technischen Einrichtungen wohl wenige Theater besitzen.

Während dieser Arbeiten wurde der Schiffsdienst nicht vernachlässigt, wozu auch die höchste Sauberkeit des ganzen Schiffes gehört, und unsere »Argos« glich immer einem Schmuckkästchen. Ebenso wenig aber wurde der Sport vergessen, noch immer kämpfte täglich zu gewissen Zeiten Grün gegen Rot, noch immer wanderten die Silbersachen aus einem Schrank in den anderen.

Gerade vier Monate war ich nun an Bord, seit vier Monaten führten wir nun dieses Leben von sich trainierenden Athleten, und nicht an einem einzigen Tage waren diese Übungen unterbrochen worden.

Wie wir uns noch entwickeln würden, darauf war ich wirklich gespannt! Es waren ja von Anfang am starke, muskulöse Kerls unter uns gewesen — aber nun dieses tägliche Hantelstemmen mit fortgesetzt gesteigertem Mehrgewicht, ganz regelmäßig eingehalten, immer nach der Tabelle kontrolliert, niemals eine Überanstrengung — nur das nicht — und das ganze sonstige Sportleben, alle die anderen Übungen, bei denen keine Muskel unberücksichtigt blieb — und nun überhaupt auch sonst unsere ganze Lebensweise, ständig in frischer Seeluft, das beste, kräftigste Essen, reichlich Schlaf, nicht die geringste Aufregung, also niemals etwa ein Zechgelage, dem sonst auch nur zu gern unsere Turnvereine huldigen — ja, ich war wirklich gespannt, wie wir uns nach einem Jahre entwickelt haben würden!

Wenn man sich vorzustellen vermochte, wie es vor vier Monaten gewesen war, und wenn man die Gestalten mit den damaligen verglich — da konnte man Wunder konstatieren.

Da war zum Beispiel der Matrose Max, dem der Klapperstorch die große Zehe abgebissen hatte — gewiss, ein kräftiger Kerl war er immer gewesen, Schwächlinge kann man an Bord doch nicht gebrauchen — aber von besonderen Muskeln hatte er nichts gezeigt, und nun ein langsamer, phlegmatischer Stockfisch! Und jetzt war dieser selbe Max schnell und gewandt wie eine Katze und zeigte außerdem Muskeln wie ein kleiner Herkules! Und so war es auch bei allen anderen der Fall. Sie bekamen einen ganz anderen Fleischansatz, der sich aber nur in festen Muskeln äußerte.

Doktor Isidor sprach oftmals darüber. Er selbst beteiligte sich immer mehr an unseren Übungen, griff sich fortwährend an seine Armmuskeln, von denen früher keine Spur zu bemerken gewesen war — ach, hatte der dünne Ärmchen gehabt! — und eine Folge davon war, dass er immer weniger Kognak pfiff.

»Waffenmeister«, sagte er also oftmals, »wir machen der Welt etwas vor, was sie noch nicht gesehen hat. Dass einzelne Menschen, die sich sonst nicht durch Körperkräfte auszeichnen, durch systematische Übungen zu Athleten trainiert werden, das ist ja schon da gewesen, aber eine ganze Schiffsbesatzung aus 70 Mann bestehend, deren Körperbeschaffenheit sich so sichtlich verändert — das ist wohl noch nicht da gewesen, das ist auch ein wissenschaftliches Ereignis — hätte ich's nur von Anfang an sorgfältig verfolgt!«

So tat er es wenigstens noch jetzt, wog und maß täglich jeden einzelnen, prüfte besonders auch den Herzschlag, hatte dadurch viel zu tun. Und da wunderte sich und staunte dieser Doktor der Medizin, bei dem die »Medizin« aber doch nur ganz Nebensache war, besonders über die Gleichmäßigkeit des Herzschlags jedes einzelnen. Ja, da staunte er wirklich, machte kein Hehl daraus, sprach es bei jeder Gelegenheit aus.

Das Herz des erwachsenen, gesunden normalen Menschen macht in der Minute 70 bis 80 Schläge. Die Anzahl ist aber bei jedem gleich. Meines macht zum Beispiel 76 Schläge. Das bleibt sich immer gleich, mit Ausnahme natürlich, wenn man aufgeregt ist, seelisch oder wenn man sich überanstrengt hat. Normal, meine ich immer.

Aber man braucht ja nur die Fingerspitzen auf den Puls zu legen, so fühlt man, dass der Pulsschlag kein gleichmäßiger ist; bald geht er schneller, bald langsamer, wenn auch in jeder Minute die gleiche Anzahl herauskommt. Die langsamen Pulsschläge werden dann immer durch schnellere wieder eingeholt. So ungefähr, wie Mister Tabak auf seiner Pauke die ausgefallenen Takte schnell wieder einholte.

Und nun staunte Doktor Isidor, wie gleichmäßig jetzt bei uns allen der Puls ging. Er hatte dazu einen besonderen Apparat konstruiert, durch den er die Schläge auf einem Papier registrierte.

»Wunderbar, wunderbar, diese Regelmäßigkeit! So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten!«

Mehr will ich davon nicht sagen, ich selbst verstehe nichts weiter davon. Es genügt, dass dieser Arzt diese Regelmäßigkeit so staunenswert fand.

Und aus dieser Herztätigkeit darf man wohl auch auf die Gemütsstimmung schließen. Ich kann nur sagen, dass ich mich selbst damals in einer ständigen Arbeitsfreudigkeit befand, wie ich sie bisher nie gekannt hatte, obgleich ich nie ein arbeitsscheuer Mensch gewesen bin. Es war etwas so ganz Besonderes in mir. Und dasselbe musste bei allen anderen der Fall sein. Ins Herz sehen konnte ich ihnen ja nicht, aber ich las es doch in ihren strahlenden Augen. Wirklich, sie hatten jetzt alle solche strahlende Augen bekommen. Und wenn es einmal eine schwere Arbeit gab, so gingen sie alle mit einer wahren Wut daran. Uns wäre nichts angenehmer gewesen, als wenn wir jetzt ein Wrack gefunden hätten, auch wenn es nur mit Salz beladen gewesen wäre, in Doppelzentnersäcken. Uns mit diesen Säcken herumbalgen zu können, es wäre uns die reine Lust gewesen! Da wir nun aber keine solche Gelegenheit hatten, so mussten wir eben dem Überschuss von Kraft, den wir in uns fühlten, in Sportübungen Luft machen. —

Am 8. Mai hatten wir Kapstadt verlassen, und am 17. — wir hatten gerade den Wendekreis passiert — trat völlige Windstille ein, bald wurde die See glatt wie ein Spiegel.

Nun, wir konnten ja dampfen. Aber weshalb sollten wir? Keiner von uns hatte es mit den Millionen so eilig, jeder hatte es lieber, diese Ruhe des Schiffes einmal zum Bootspullen und zum Schwimmen zu benützen.

Höchstens hatte da der Prospektador ein Wort mitzusprechen.

»Wir möchten gern hier liegen bleiben, bis wir wieder günstigen Wind haben, oder so lange die See so ruhig ist!«, sagte der Kapitän zu ihm.

»Si, si, Señor Capitano.«

»Die Leute wollen bootspullen und schwimmen.«

»Si, si, Señor.«

»Sie haben es nicht so eilig, nach Brasilien zu kommen?«

»No, Señor.«

»Kann denn die Chinakultur nicht unterdessen schon von anderen gefunden und ausgebeutet worden sein?«

»No, Señor.«

»Weshalb denn nicht?«

»Mi sabe.«

»Sie wissen bestimmt, dass die Bäume dort noch unangetastet stehen und bis zu unserer Ankunft dort unangetastet stehen bleiben werden?«

»Si, si, Señor.«

»Woher wollen Sie denn das so genau wissen?«

»Mi sabe.«

»Sie sind wohl allwissend?«

»Mi sabe.«

»Well.«

Die Vorbereitungen wurden getroffen. Die einen wollten Bootsrudern, die anderen unterdessen nach einem ausgesteckten Ziele schwimmen

»Haifische!«, erklang da der Ruf.

Sie statteten uns einen Besuch ab, Blauhaie, Menschenhaie, Menschenfresser, mindestens zwei Dutzend, stattliche Burschen darunter, bis vier Meter lang.

Da sie uns nun einmal ausgekundschaftet hatten, würden wir sie nun auch nicht wieder los werden, sie würden uns bis nach Rio begleiten.

Da war es nun natürlich nichts mehr mit dem Schwimmen im offenen Meere.

I Gott bewahre! Haifische — Schnickschnack!

Was man von der furchtbaren Gefährlichkeit der Haifische fabeln hört, das wird einem zuletzt zum Ekel.

Da es aber nun einmal so ist, die Landbewohner so etwas gern hören, so flunkern wir nur noch mehr dazu.

Ja, natürlich — wenn das Schiff langsam versinkt, man hängt in den obersten Wanken — oder man klammert sich am gekenterten Boote fest, umringt von Haifischen — dann hört der Spaß auf.

Oder man fällt über Bord, wird beim Wasseraufschlagen von der Pütze herabgerissen zwischen die Haifische — dann heißt es tüchtig strampeln! So lange man sich heftig bewegt, beißt der Hai nicht. Er muss sich dazu erst auf den Rücken wälzen, das Fassen der Beute in dieser Lage macht ihm Schwierigkeiten, das weiß er, deshalb schnappt er überhaupt nicht, so lange man sich tüchtig bewegt, so lange man schwimmt. Er liegt auf der Lauer, bis sich die Beute einmal nicht mehr bewegt. Dann freilich hat er sich mit Blitzesschnelle umgewälzt und sein Opfer auch schon beim Beine oder beim Arme oder mitten um den Leib gepackt und verschwindet mit ihm. Ob ein Hai von vier Meter Länge wirklich einen erwachsenen Menschen auf einmal verschlingen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ich möchte es nicht bezweifeln. Ich selbst habe im Magen solch eines Haies einen Tunfisch von zwei Meter Länge gefunden. Am gefährlichsten ist daher, wenn man über Bord zwischen Haifische gefallen ist, der Moment, da man sich schon gerettet glaubt. Wenn man das Fallreep ergreift oder das zugeworfene Tau, an dem man in die Höhe gezogen wird. Der Hai schnellt noch hoch und packt sicher zu, wenn man schon ein Meter über Wasser ist; denn da kann er eben von unten noch zuschnappen.

Sonst aber, so lange man das feste Deck unter den Füßen hat, ist der Mensch Beherrscher des Meeres und über alles, was darin schwimmt, da lässt er sich nicht von Haifischen irritieren.

Wer schwimmen wollte, der schwamm, die Strecke wurde von einigen Booten bewacht, der Hai taucht niemals plötzlich von unten auf, er zeigt seine Rückenflosse schon von weitem, besinnt sich lange, ehe er sich nähert — und dann bekam er einfach eine Gewehrkugel, worauf der Hai wie ein geölter Blitz auf Nimmerwiedersehen von dannen schießt.

Auf diese Weise konnten wir uns also schon zuvor von den Haifischen befreien. Wir beschossen sie einfach. Alle trifft man dabei nicht. Mit den ersten Getroffenen geht die ganze »Schule« ab.

Aber auch das wollten wir nicht tun. Wir hatten schon immer ein Experiment ausführen wollen, wozu wir Windstille abgewartet, oder wir hätten alle Segel festmachen müssen. Jetzt war die Gelegenheit dazu gerade günstig.

An Haifische hatten wir dabei gar nicht gedacht, aber desto besser, dass welche vorhanden waren.

Bemerken will ich noch, dass man den Haifisch nicht anders fangen kann, als mit dem Köder an der Angel. Geschossen kann er also nicht werden. Auch wenn er ganz bestimmt eine große Kugel durch das Gehirn bekommen hat, schießt er doch noch pfeilschnell davon und verschwindet. Von der Harpune reißt er sich unter allen Umständen los, lässt nur einen Fetzen Fleisch daran zurück. Dagegen beißt er auf jeden Köder, es braucht gar kein Fisch zu sein.

Wenn er am Haken hängt, so beginnt er sich mit rapider Schnelligkeit zu wälzen, in der Längsrichtung des Seiles, würgt dieses regelmäßig ab, selbst eine Stahltrosse. Also muss eine Vorrichtung vorhanden sein, dass das Seil die Drehungen mitmacht. Dann kann es der Hai natürlich nicht abwürgen.

Man hat soviel Gelegenheit dazu, aber es wird selten gemacht. Ab und zu fordert der Kapitän dazu auf, macht sich die Mannschaft im Hafen oder auf einem Segler bei Windstille oder flauem Winde dieses Vergnügen. Es ist überhaupt gar kein Vergnügen. Liegt der Hai an Deck, dann ist es nur noch eine scheußliche Schlächterei. Man kann auch mit dem Tiere gar nichts anfangen. Die Haut wird von Drechslern wie Glaspapier benutzt. Aber Glaspapier ist doch billig genug. Die Leber, bei großen Tieren meterlang, gibt einen sehr guten Tran. Das ist aber auch alles. Das Fleisch ist nur von jungen Tieren genießbar, ist aber auch eine besondere Liebhaberei. Ich kann es nicht essen. Aus dem Rückgrat wird ein Spazierstock gefertigt. Das macht aber jeder Seemann in seinem Leben nur einmal. Die Abdreherei ist eine einsame Arbeit. So lässt man den Haifisch ungeschoren, meiner Ansicht nach viel zu viel oder man vertreibt ihn durch Schüsse.

Also wir hatten schon immer etwas Besonderes vorgehabt, nur eine günstige Zeit dazu abgewartet — eine besondere Art von Fischfang, obgleich wir dabei nicht an Haie gedacht hatten. Nun aber konnten auch gleich die drankommen.

Doktor Isidor präparierte schnell ein Medizinfläschchen, füllte Pulver hinein, leitete durch den durchbohrten Kork zwei übersponnene Kupferdrähte mit blanken Enden, der Kork wurde noch durch Teer gedichtet.

Jetzt um das Fläschchen eine dünne, aber große Scheibe Salzfleisch gewickelt, etwas befestigt, und so diesen Köder über Bord geworfen.

Sofort drehte sich ein Hai herum, das Stück Fleisch verschwand im zähnestarrenden Rachen; dass er untertauchte, erlaubten wir noch, dann ein Druck auf einen Knopf, der elektrische Strom war geschlossen, — pardauz, eine Explosion, und weg war der Kopf!

Furchtbar arbeitete noch der Leib. Aber dass der ohne Kopf davonschoss, soweit ging es denn doch nicht. Und da sauste auch schon des Eskimos Harpune herab und um den Leib, der sich schnell ausgetobt hatte, wurden Schlingen angebracht, so wurde er dann an Deck gezogen.

Für uns war dieser Haifisch ja nicht so nutzlos. Wir hatten Raubtiere genug an Bord, die das für Menschen ungenießbare Fleisch mit Wollust fraßen.

Allerdings hatten wir es nicht nötig, brauchten auch sonst nicht auf Fischfang auszugehen, wegen Fütterung der Raubtiere. Bei der Ausrüstung in Liverpool hatte die Patronin oder Kapitän Martin in einer Zwangsauktion 150 Tonnen, gleich 3000 Zentner Stockfische erstanden, für 70 Pfund Sterling. Das ganze Kilogramm kostete also noch nicht einmal einen Pfennig. Solche Gelegenheiten hat man manchmal in Seestädten. Vorn das Unterdeck war noch ganz vollgepfropft von Stockfischen, ohne dass sich ein Geruch bemerkbar machte. Und alle die Raubtiere und Hunde fraßen das Zeug noch mit derselben Gier wie am ersten Tage, gleich steinhart wie es war, amüsierten sich damit als mit kaubaren Knochen, es bekam ihnen ausgezeichnet.

Noch waren wir damit beschäftigt, um den kopflosen Haifischkörper die Schlingen zu legen. Die anderen waren bei der Explosion davongeschossen. Da begann sich die Oberfläche des Meeres mit Fischen zu bedecken, bis zu einem halben Meter groß, alle auf der Seite schwimmend. Lauter Makrelen. Ein köstlicher Fisch!

In einiger Tiefe hatte sich gerade ein Zug Makrelen bewegt, sie waren durch den Wasserdruck, von der Explosion erzeugt, betäubt worden, sie kamen an die Oberfläche, immer mehr und mehr, bis alles davon wimmelte.

Aber auch viele andere Fischarten waren darunter, besonders größere Raubfische, die auf die Makrelen Jagd gemacht hatten. Ich will keine Arten aufzählen.

Das war es gewesen, was wir beabsichtigt hatten. Einmal auf diese Weise zu fischen. Durch Explosion. Indem wir daran gedacht hatten, dass wir einmal kein Geld hatten, uns Proviant zu kaufen. Dass wir dann wenigstens Fische hatten.

Wie schwer es ist, auf hoher See Fische zu fangen, das habe ich ja schon einmal erwähnt. Fische gibt es im Meere sicher allüberall in den verschiedensten Tiefen. Aber sie wollen nicht beißen, das ist es! Sie haben dort unten andere Nahrung genug, als dass sie gleich nach jedem Köder schnappen. Ein Fisch frisst doch immer den anderen auf.


Illustration

Etwas anderes ist es dort, wo sie in kolossalen Massen vorkommen, wie auf den Neufundlandsbänken, auf der Doggerbank, überhaupt an jenen untiefen Stellen, die man Fischbänke nennt, welche die Tiere regelmäßig zu gewissen Zeiten in ungeheuren Schwärmen aufsuchen, wohl wegen des Laichens, sich überhaupt immer dort aufhalten, oder eine Art verdrängt immer die andere. Dort lohnt sich sogar die Angelfischerei, weil die Fische alles Genießbare sofort erschnappen.

Es war nicht etwas Neues, was wir da erfunden hatten. Besonders auf Kriegsschiffen, die in fischreichen Buchten liegen, machen es sich die Matrosen oft zum Spaß, sich auf diese Weise ein Gericht Fische zu verschaffen. Allerdings nicht durch Pulver und elektrischen Funken.

Sie nehmen eine alte Selterswasserflasche mit Patentverschluss, lassen sich vom Lazarettgehilfen etwas doppeltchlorsaures Kali und Schwefelsäure geben oder besorgen sich diese Chemikalien von Land; es wird in die Flasche geschüttet, diese schnell verschlossen und ins Wasser geworfen. Es muss aber sehr fix gehen, sonst explodiert sie in der Hand, und dann wird's bös!

Bald brodelt eine mächtige Luftblase empor, dann kommen die betäubten Fische, die sich im Umkreise befunden haben, nach oben, man liest die besten Sorten heraus.

Diese Art von Fischerei ist streng verboten, soweit es sich verbieten lässt. Bis auf drei oder in einigen Ländern auch vier Seemeilen von der Küste entfernt, und in Binnenmeeren, wie in Nord- und Ostsee.

Meiner Ansicht nach ist es ganz mit Unrecht verboten. Es ist durchaus keine Aasfischerei, wie man sagt. Wohl mögen die Fische, die sich in allernächster Nahe der direkten Explosion befunden haben, getötet werden — alle anderen werden nur betäubt, erholen sich bald wieder und schwimmen davon. Ich habe mich später zahllose Male davon überzeugt, dass es dem betäubten Fische nichts geschadet hat. Ich weiß nicht, weshalb diese Art von Fischerei nicht erlaubt ist. In süßen Binnengewässern ist es freilich etwas ganz anderes, da dürfte man wohl zuviel junge Brut dabei vernichten. Aber im Meere? Und im offenen Meere kann man es ja überhaupt gar nicht verbieten.

Wir schöpften in handlichen Netzen, setzten auch schnell die Boote aus. Wir mussten uns beeilen, denn die Fische kamen bald wieder zu sich. Jetzt kehrten auch die entflohenen Haifische zurück, um sich an der bequemen Beute zu mästen. Sie wurden mit Gewehrkugeln empfangen, und da gingen sie davon, um nicht wieder zurückzukehren.

Wir zählten dann 627 große Makrelen, im Durchschnitt ein Kilogramm schwer, die wir geschlachtet und ausgeweidet hatten. Wenn alle Mann anfassten, so war das eine Kleinigkeit. Sie wurden sofort gebückelt oder auch gebökelt, nicht etwa aber gepökelt. Der Pökling hat gar nichts mit pökeln zu tun, wie das Pökelfleisch, man kann höchstens Bökling sagen, was auch richtiger wäre als das Bückling. Diese Art von Konservierung ist nämlich eine Erfindung des flandrischen Fischers Christian Boekel! Es ist ein unglücklicher Zufall, dass der gerade so heißen musste, dadurch kommt nun die fortwährende Verwechslung zwischen pökeln und bökeln. Deshalb sagt man eben bückeln.

Wir hatten schon vorher alle Vorbereitungen zum Bückeln getroffen oder doch alles erwogen, indem wir eben schon an solch eine Fischerei gedacht hatten, wenn auch nicht gleich solch eine Beute erhoffend.

Die Fische wurden mit den durchbohrten Köper an eisernen Stangen aufgereiht und diese in einer der beiden Ventilationsröhren befestigt, die nach dem Heizraum hinabgingen. Mit dem 500. Fisch machten wir erst einmal Schluss, mehr hätten wir auch nicht gut hineinbringen können.

Und das war überhaupt nicht so einfach, wie ich hier erzähle. Wir hätten in dieser Blechröhre nicht so einfach mehr als zehn Zentner Gewicht befestigen können. Dazu wurde erst ein Kran aufgebaut, an dem das Ganze hing. Das war es eben, was wir schon vorbereitet hatten, sonst wären wir nicht so schnell damit fertig geworden.

Es war noch eine kleinere Dampfmaschine von einigen Pferdekräften vorhanden, der Donkey, der Esel. So genannt, weil sie zu allerhand Hilfsleistungen verwendet wird, wenn die große Maschine steht; wie zum Treiben der Winden im Hafen. Jedes größere Segelschiff hat jetzt seinen Donkey.

Dazu gehört natürlich auch ein besonderer Kessel. Die Feuerung geht auf Dampfern in einen großen Schornstein, muss aber auch isoliert werden können.

Unter diesem Kessel wurde ein Holzfeuer angemacht. Holz hatten wir jetzt genug an Bord. Vorher wurde das Feuerrohr in die Windtute mit den Fischen geleitet. Ein zweites Rohr wurde mit dem Orgelgebläse in Verbindung gebracht und gleichfalls in die Windtute geleitet, und nun ging die Geschichte los. Zuerst wurde das Gebläse mit der Hand gedreht, wozu ein Mann genügte, er erzeugte einen ganz intensiven Luftstrom, dann später, als im Kessel der nötige Atmosphärendruck war, konnte ja auch die kleine Maschine laufen.

Na, wir waren ja gespannt, was da herauskommen würde! Wir konnten uns ja auch tüchtig verspekuliert haben mit unserer ingeniösen Idee!

Unter den Matrosen befanden sich einige Sachverständige, welche immer einmal prüften, Beratungen abhielten und Wärme und Luftstrom regulierten. Zu diesen gehörte Mister Tabak nicht. Dieser Eskimo verstand sich nur auf die verschiedene Präservierung des Kabeljaus, auf Stockfisch, Klippfisch und Laberdan, womit er aber nun auch schon große Pläne im Kopfe hatte, schon davon zu schwärmen begann, wie er aus dem ganzen Schiffe eine Fischdörrerei und -Salzerei machen wolle.

Nach vier Stunden wurde die Räucherei für beendet erklärt, aus der Windtute kamen 500 prachtvolle Makrelen-Bücklinge zum Vorschein, wie Gold glänzend! So, nun konnte Meister Hämmerlein wieder Orgel spielen, sein Blasebalg war wieder frei.

Aber nein! Wir hätten diese Räucherei ins Endlose fortsetzen können.

Doktor Isidor hatte eine zweite Flasche präpariert, eine viel größere, und brachte sie in einer Tiefe von genau 100 Metern zur Explosion.

Ach, was hatten wir da gemacht! Bald bedeckte sich die Meeresoberfläche in einem Umkreise von einigen hundert Metern mit Tausenden und aber Tausenden von betäubten Makrelen! Überhaupt gar nicht zu taxieren. Es war einfach eine dicke Schicht von Fischleibern, welche alles Wasser verdrängten.

Auch der Magen dieser Tiere war ebenso wie bei den ersten strotzend mit kleinen Fischchen gefüllt. Mehrere Matrosen behaupteten, dass das ebenfalls Makrelen seien, junge Brut, und sie würden schon recht haben. Alle Raubfische fressen ihre eigene Brut. Die Fruchtbarkeit der Makrele kenne ich nicht. Ein rogener Kabeljau hat vier bis sechs Millionen Eier im Leibe, Leeuwenhoeck, seinerzeit der beste Fischkenner will neun Millionen Eier gezählt, respektive gewogen haben. Und die Makrele wird dem Kabeljau nicht an Fruchtbarkeit nachstehen. Da dürfen schon solche Fische ihre eigenen Kinder fressen. Was soll denn sonst daraus werden.

Merkwürdig war, dass diese kleinen Fischchen nicht in die Höhe kamen; deren Luftblase war eben noch anders beschaffen.

Wir hatten sechzehn große, leere Fässer zur Verfügung, die salzten wir unter fachkundiger Leitung mit Makrelen voll. Der Überschuss an geschlachteten Fischen wurde sofort verspeist, die Tiere damit gefüttert.

Da aber waren die anderen Makrelen schon längst verschwunden. Eine Viertelstunde später, nachdem die ersten erschienen waren, schwammen die letzten schon wieder davon. Man konnte es deutlich beobachten, wie sie nach und nach wieder lebendig wurden. Leichen waren nicht zu bemerken.

Unter uns bewegte sich ja wahrscheinlich gerade ein Makrelenzug hin, vielleicht nach Milliarden zählend. Von der Massigkeit dieser Fischzüge können wir uns ja gar keine Vorstellung machen.

Wie dem aber auch sei, das wussten wir jetzt bestimmt: wenn wir auch kein Geld mehr hatten, verhungern würden wir nicht auf dem Meere. Und wenn wir wollten, konnten wir aus unserem Schiffe eine Fischräucherei machen. Geld lässt sich damit verdienen.

*

20. Kapitel

Ein kaum glaublicher Vorfall

Originalseiten 465 — 477

Am 27. Mai früh in der neunten Stunde nahmen wir Peilung auf Rio, machten Dampf auf, nahmen einen Lotsen an Bord. Die Einfahrt in die Bucht ist wegen vieler Inselchen sehr schwierig. Dafür aber gibt es auch nur ein Rio de Janeiro. Nur der Hafen von Sydney übertrifft es noch an Schönheit. Was will denn der Hafen oder die Bucht von Neapel dagegen sagen! Na ja, durch seinen Vesuv.

»Die Argos von Noald, los Argonautes von Kapstadt!«, rief der Lotse sofort.

Es war alles schon bekannt. Der »New York Herald« war natürlich die erste Zeitung auf dem amerikanischen Kontinent gewesen, die von unseren Triumphen in Kapstadt in einem Berichte von 200 Zeilen erzählt hatte — ein telegrafischer Bericht! — der mindestens tausend Dollars Depeschengebühren gekostet hatte. Aber so etwas leistet sich ja so eine Zeitung jeden Tag.

Das hatten die Zeitungen in Rio nachgedruckt, eine Menge portugiesische, englische, spanische, französische und italienische Blätter — eine deutsche Zeitung gibt es in Rio noch immer nicht, so viel Deutsche dort auch leben, so viele Vereine sie auch bilden — dann aber hatten uns bereits auch schon zwei Dampfer überholt, aus Kapstadt kommend, welche wussten, dass die »Argos« nach Rio wollte, so dass gerade jetzt alles wieder brühwarm war.

Auf Reede liegend, ließen wir über uns das Chor der Rache ergehen, alle die Beamten des Zolles, der Hafenpolizei, der Sicherheitspolizei, der Gesundheitspolizei und sonst noch verschiedener Polizeien, wir fütterten und tränkten sie ab und logen ihnen etwas vor, bekamen dann aber auch, wie wir wünschten, vom Hafenmeister einen möglichst einsamen Platz angewiesen, ganz am Ende der Häuserreihen, am Kai St. Christavao, hatten, falls ein Bedürfnis vorlag, den Friedhof ganz in der Nähe, auf der Halbinsel Caju. Noch näher lag dem Friedhof ein spanischer Dampfer, der auch schon sehr nach Sterben aussah, er erstickte bald vor Dreck, dann kam ein Italiener, dann zwei Franzosen, dann wir, dann weiter viele Engländer und Deutsche und noch mehr Franzosen.

Einsam blieben wir freilich nicht lange. Bald sammelte sich das Publikum an, um uns anzustarren, auch Menschen genug, die uns einen Besuch abstatten wollten, besonders Zeitungsmenschen.

Das Betreten eines jeden Schiffes ist immer erlaubt, kann vom Kapitän nicht verboten werden. So lange es bemannt ist. Denn das Schiff gilt als Wohnung der Besatzung und jeder Mensch muss doch in seiner Wohnung besucht werden können.

Aber das ist es eben! Man braucht doch nicht jeden Besuch zu empfangen. Also das Laufbrett ausgeschoben, um der allgemeinen Höflichkeit nachzukommen, ein paar handfeste Matrosen als Portiers davor gestellt, und dann war Zapfen ab. Wenn sich ein guter Freund meldete, der uns besuchen wollte, so hätten wir es schon erfahren, der wurde empfangen, sonst niemand. Nur Beamte in Uniform oder mit Legitimation mussten freien Zutritt haben.

Als alles soweit geregelt war, ging ich zur Patronin, um mit ihr zu besprechen, wie wir es wegen der Eintrittskarten halten wollten. Heute Abend schon?

Ich war noch nicht weit mit meinen Auseinandersetzungen gekommen, als sie plötzlich vor mir auf die Knie fiel.

»Georg, Georg — ich bitte Dich um alles in der Welt — habe Erbarmen mit mir!«, jammerte sie mit gerungenen Händen.

»Ja um Gottes willen, was ist denn los?«, rief ich tödlich erschrocken.

»Ich kann nicht, ich kann nicht — ich kann nicht auf meinem Schiffe solche Theatervorstellungen geben und das Geld dafür nehmen!«

Da war es!

Hatte ich es doch fast geahnt!

Sie war auf der ganzen Reise nicht mehr die Richtige gewesen.

Und ich konnte es ja ganz gut begreifen. Die Freifrau von der See, die freie Seekönigin — die war sie nun nicht mehr. Sobald sie auf solche Theatervorstellungen angewiesen war, daraus ein Geschäft machte. Da hatte sie vollkommen recht, das konnte ich ihr ganz deutlich nachempfinden.

»Na dann also nicht!«, sagte ich einfach.

Aber sie blieb liegen und jammerte weiter.

»Nehmt mein Schiff — tut damit, was Ihr wollt — aber ich kann dann nicht länger darauf bleiben — ich verstecke mich einstweilen irgendwo an Land —«

»Ach dummes Zeug, Helene!«, stellte ich mich ärgerlich. »Was hast Du denn nur zu jammern? Wir machen's eben nicht und damit basta! Wir nehmen nur Proviant ein, dann segeln wir weiter und holen uns die vier Millionen Milreis, dann ist ja die ganze Sache wieder im Lote —«

So sprach ich noch weiter, jetzt freilich wieder als Waffenmeister zur Patronin. Es gelang mir, sie wenigstens wieder zu beruhigen. Das Richtige war es ja noch längst nicht.

»Ich will den Kapitän rufen —«

»Nein, nein — sprechen Sie mit ihm — ich kann jetzt nicht — ich will allein sein, nur allein sein —«

Ich ging zum Kapitän Martin und berichtete ihm. »Well.«

Dann musste er aber doch erst einige Gänge durch die Kajüte machen, ehe er seine Gedanken gesammelt hatte.

»Auf diese Theatereinnahmen hier in Rio hatte ich freilich stark gerechnet, sonst hätte ich gar nicht vorgeschlagen, erst nach Rio zu gehen, um uns zu verproviantieren.

Ich habe schon die Produktenbörse gelesen und meine Kalkulation aufgestellt 15 000 Mark brauchen wir für ein halbes Jahr Proviant. Ich würde sie gern verlegen, aber — wozu denn eigentlich? Nach der Berechnung des Prospektadors handelt es sich doch um dreimalhunderttausend Zentner Chinarinde, das sind 15 000 Tonnen, dazu müssen wir doch überhaupt mindestens vier Fahrten machen. Was sollen wir da gleich soviel Proviant mitnehmen? Da behalte ich mein Geld doch lieber in der Tasche. Also sagen Sie der Patronin, dass wir —«

Er brach ab, um einmal ganz energisch mit den Beinen zu schlenkern.

»Nein, sagen Sie, dass alles in Ordnung ist. Ich kaufe den Proviant. Solchen Schmerz will ich ihr nicht machen, als hätte die Aufgabe der Theatervorstellungen etwas an meinem Entschlusse geändert.«

Ich holte ihm seine Hand aus der Tasche, um sie zu schütteln und zu drücken.

»Well, da ist gar nichts weiter dabei. Ich werde den nötigen Proviant schon ohne Zwischenhandel direkt vom Schiff bekommen, dann können wir unter Umständen noch ein feines Geschäft dabei machen. Ich gehe gleich jetzt.«

»Wollen Sie nicht einmal den Diamanten mitnehmen und Erkundigungen einziehen, was er wert sein mag? Gerade hier in der brasilianischen Hauptstadt muss es da doch Sachverständige genug geben.«

»Ja, das will ich. Aber nicht jetzt, sonst könnte sie denken, ich wollte erst eine Sicherheit haben. Nein, ich brauche keine Sicherheit. Die Sache des Prospektadors scheint mir schon sicher genug.«

Kapitän Martin ging.

Ich begab mich in die Batterie, in der gerade alle Mann beschäftigt waren, sie in einen Zuschauerraum mit tausend Plätzen zu verwandeln.

»Stoppt mal Eure Arbeit. Kommt mal alle her. So und so.«

Ruhig nahmen sie meine Erklärung hin.

Aber ihre Niedergeschlagenheit war groß, sehr groß. »Sie kann es natürlich recht gut mit ihrer Ehre vereinigen, aber nicht mit ihrer Würde, nicht mit ihren Idealen. Versteht Ihr, was ich meine?«

»Freilich, ja freilich, Waffenmeister.«

»Wenn wir mit der Chinarinde wieder genügend Geld verdient haben, dann wird es wieder anders, dann geben wir wieder Vorstellungen, aber nur, um das Geld wieder den Armen zu geben.«

»Freilich, ja freilich, Waffenmeister.«

Und schweigend trugen sie die Sitzplätze wieder ab, um aus den Brettern wieder die Decke herzustellen.

Ich ging in meine Kabine, zerriss den langen Brief, den ich während der letzten Tage an meinen Vater geschrieben hatte. Nur eine Vergesslichkeit war es gewesen, dass ich ihn noch nicht zur Post gegeben hatte. Jetzt empfand ich es als ein Glück. Es stand manches darin, was jetzt ganz haltlos geworden war. So schrieb ich einen neuen. Eine Stunde verging.

»Die Patronin lässt den Herrn Waffenmeister bitten!«, meldete Siddy.

Ich begab mich hin. Sie hatte die funkensprühende Walnuss in der Hand.

»Wir wollen uns hier doch einmal erkundigen, was dieser Diamant wohl —«

»Der Herr Kapitän!«, meldete Siddy, die Tür aufreißend.

Kapitän Martin trat nicht, sondern er stürmte herein.

»Dunnersslag!! Hält denn der Mensch so etwas für möglich?!«

Zunächst musste ich den Kapitän für betrunken halten. Erstens diese Worte bei dem stürmischen Eintritt, zweitens dieses dunkelrote, glühende Gesicht, und drittens — und das war das allerschlimmste Zeichen! — hatte er seine Hände nicht in den Hosentaschen.

»Frau Patronin, zeigen Sie mir doch noch einmal die Depesche von Ihrem New Yorker Rechtsanwalt.«

Sie hatte sie gleich zur Hand, er nahm und las sie. Bodenkredit bankrott, alles verloren!

Das las er laut, das andere für sich.

Und dann warf er das Papier auf den Tisch, steckte die Hände in die Hosentaschen, warf sich auf einen Stuhl und streckte die Beine weit von sich.

»Nein, hält man denn so etwas für möglich, hahahaha!!«

Und er brach in ein unauslöschliches Gelächter aus, wozu ich diesen Mann gar nicht für fähig gehalten hätte. Oder ich musste ihn mir am Grogtisch zwischen anderen alten Kapitänen vorstellen, wenn so die besten in aller Welt selbsterlebten Witze durchgenommen werden.

Wie wir ihn noch verständnislos anstarrten, sprang er wieder auf.

»Frau Patronin, ich will meine Botschaft nicht lange hinhalten — ich gehe vorhin auf meine Bank — frage so nebenbei, ob denn bei dem Bankrott der New Yorker Bodenkreditbank noch etwas herauszuholen wäre. — ›Wuat‹, brüllt mich der Kerl an, ›die New Yorker Bodenkreditbank bankrott?! Sie sind wohl ein bisschen verrückt geworden.‹ —«

»Was?!«, schrien auch wir beide jetzt auf. »Die New Yorker Bodenkreditbank nicht bankrott?!«

Der Kapitän holte seine Hand hervor, um sie, vorgebeugt da stehend, gegen seine Stirn zu klatschen.

»Na Menschenkinder — wie könnt Ihr denn nur glauben, dass die New Yorker Bodenkreditbank überhaupt krachen gehen kann? Das ist doch die solideste Bank, die's überhaupt in der Welt gibt, die beleiht doch nur Grund und Boden im Staate New York — ins Gesicht haben sie mir gelacht — und jetzt lache ich Euch ins Gesicht — Menschenkinder, wie könnt Ihr denn nur glauben, dass die New Yorker Bodenkreditbank zahlungsunfähig werden könnte — seid Ihr denn nur ganz und gar von Gott verlassen — hahahaha!!«

Und der alte Kapitän blickte sich und klatschte aus seine Knie.

Ich will gleich vorgreifen, es etwas anders erzählen, als wie es kam.

Wie war denn so etwas nur möglich?!

Nun, gegen zwei Uhr war ich damals in Kapstadt an Bord zurückgekommen, gerade wie der Depeschenbote das Telegramm abgeliefert hatte.

Bodenkredit bankrott, alles verloren!

Und so weiter. Gegen zehn Zeilen. Die Aktionäre haben höchstens 5 Prozent zu erwarten.

Aus New York, unterzeichnet oder vielmehr aufgegeben von Steffenson, dem früheren Rechtsanwalt und noch jetzigen Geschäftsvertreter der Mistress Helene Neubert, an die das Telegramm gerichtet war. Dass sie sich mit ihrem Schiffe in Kapstadt befand, hatte sie ihm sofort bei ihrer Ankunft telegrafiert.

Wer von uns dachte daran, nun gleich in die Stadt zu laufen, um nähere Erkundigungen einzuziehen? Das war doch hier Tatsache, da brauchte doch nicht weiter gefragt zu werden.

Kapitän Martin kam, las das Telegramm. Der kannte diese Bank nur so dem Namen nach. Der hatte, wenn er in Amerika, in New York war, mit anderen Banken zu tun, die sich mehr mit dem Seehandel beschäftigen.

Kennt denn etwa in Deutschland jeder Kaufmann, der nicht gerade im Bankfach ist, die Kredit Lyonnais, die größte Bank Frankreichs? Wer kennt denn aber nun erst die New Yorker Bodenkreditbank? Der New Yorker, der Amerikaner, Bankleute, Börsenleute, Bodenspekulanten; anderen geht die ja gar nichts an.

Auch Kapitän Martin hatte keinen Zweifel in die Tatsache gesetzt, die dieses Telegramm verkündete.

Dann hatte er seine lange Rede gehalten, dann hatte er die Gauklerbriefe studiert. Dann war der Prospektador gekommen. Da war es schon Abend gewesen.

»Soll ich das Schiff abmelden?«, hatte Kapitän Martin gefragt. »Soll ich Dampf aufmachen lassen? Well.«

Und er war nur auf dem Seemannsamt gewesen, hatte dort keine Erkundigungen über diese New Yorker Bank eingezogen. Und zwei Stunden später waren wir auf hoher See gewesen. —

Ja, wie kam denn nun überhaupt diese falsche Meldung?

Das ist überhaupt nie aufgeklärt worden.

Der Rechtsanwalt Harris Steffenson in New York hatte kein solches Telegramm aufgegeben; der wusste von nichts.

Hatte da jemand einen Putsch für die Börse vorbereitet?

War es ein Streich einer jener lieben Verwandten? Und sei es auch nur, um der lieben Helene einen grimmigen Schrecken einzujagen? Oder vielleicht, um sie zum Verkauf ihres Schiffes zu veranlassen?

Wir haben es nie erfahren.

Ja, wir konnten später, als wir uns darum bemühten, nicht einmal mehr konstatieren, ob dieses Telegramm überhaupt in New York aufgegeben worden war!

Das stammte vielleicht aus Kapstadt! War gefälscht! Dem Depeschenboten in die Hände geschmuggelt worden!

Denn möglich ist so etwas. Da sind schon ganz andere Sachen gemacht worden.

»Kinder«, sagte dann später Kapitän Martin, als er sich nochmals ausgelacht hatte, »es erscheint als ein schier unglaublicher Fall! Dass wir an so etwas draufgehuppt sind! Aber, wenn man es richtig bedenkt, da sind in der Weltgeschichte schon ganz andere Fälle passiert! Nehmt nur einmal an, wie anno 70 die Franzosen schon auf der ganzen Linie geschlagen waren, und in Paris feierte man noch immer einen französischen Sieg nach dem anderen! Wie ist denn so etwas zu erklären?«

Ja, da hatte der Kapitän allerdings recht.

Aber da lassen sich auch noch andere Fälle herbeiziehen, die wir selbst mit erlebt haben.

Da war einmal — es ist noch gar nicht so lange her, ums Jahr 1900 muss es gewesen sein — in Paris eine Madame Humbert. Eine Bauerndirne, eignet sich als Dienstmädchen bei einer Herrschaft etwas Schliff und eine gewisse Bildung an. Kommt auf einen genialen Gedanken. Schafft sich einen mächtigen Panzergeldschrank an und behauptet, in diesem befänden sich hundert Millionen Franken, die hat sie von einem geheimnisvollen Unbekannten bekommen — es war wohl ein brasilianischer Minenbesitzer — sie dürfe aber den Geldschrank erst nach einer gewissen Zeit öffnen.

Und auf diesen leeren Geldschrank hin bekommt sie nach und nach vierzig Millionen Franken gepumpt!

Vierzig Millionen Franken!

Von den größten, solidesten, gewieftesten Bankhäusern!

Alle fallen sie darauf herein!

So weiß diese Bauerndirne ihr Märchen zu erzählen! Was soll man denn dazu sagen?

Nun soll das nicht passiert sein, ein Schriftsteller erfindet das als Sujet, schreibt darüber einen Roman.

Na, der könnte ja sein Manuskript lange herumschicken!

Hat er Glück, findet er unter den Redakteuren oder Verlegern eine mitleidige Seele, so bekommt er freie Kost und Logis in einer Tobzelle.

Und in Wirklichkeit passiert es!

Die Wirklichkeit lässt eben alles, alles weit hinter sich, was ein Mensch auch in seinen verwegensten Träumen jemals erfinden kann! —

Die Patronin sah natürlich etwa wie ein Geist aus der vierten Dimension aus, oder auch wie einer aus der fünften bis sechsten Dimension.

»Nein, ist es denn nur möööglich?!«

»Na, gehen Sie mal mit Ihrem Kreditbrief hin nach der Bank, holen Sie sich den goldenen Mammon ab!«

»Georg — Georg —«

Es sah ganz so aus, als ob sie mit ihrem verklärten Gesicht mir um den Hals fallen wollte.

Das ließ ich mir aber nicht gefallen.

Jetzt beugte ich mich vor und klatschte mit meiner Hand gegen meine Stirn.

»Aber Frau Patronin — wie können Sie auch nur auf so einen Gedanken kommen, dass so ein Bankhaus wie die New Yorker Bodenkreditbank pleite gehen kann —«

Weiter hielt ich meine Vorlesung nicht, ich stürmte hinaus, in die Batterie hinein, wo die Leute gerade die letzten Planken in die Decke oder in den Boden einfügten.

»Jungens, Jungens, was macht Ihr denn da?! Seid Ihr denn verrückt?! Ihr sollt doch den Zuschauerraum aufbauen! Vorwärts, vorwärts, die tausend Sitzplätze geschaffen, heute Abend wird Theater gespielt!«

Die Jungens starrten mich natürlich nicht schlecht an. Auch der Matrose Albert war dabei, und der stille Bengel musste doch wohl der Gescheiteste sein, der traf gleich den Nagel auf den Kopf.

»See hädd woll all wedder Geld?«

»Wieder Geld?«, schrie ich. »Hat sie denn jemals keins gehabt?«

Und dann klatschte ich mir wiederum die Hand vor die Stirn.

»Jungens, Jungens, seid Ihr denn nur ganz und gar von Gott verlassen, dass Ihr glauben könnt, so ein Haus wie die New Yorker Bodenkreditbank könnte zusammenkrachen?! Jungens, Jungens, Ihr werdet doch mit jedem Tage dämlicher!«

Ich wieder hinaus. Mochten die von mir denken, was sie wollten.

Am Ufer drängten sich die Massen, man machte Anstalten, die Laufbrücke zu stürmen, die drei Matrosenportiers standen in Boxerstellung, schrien nach Sukkurs.

»Ist hier noch der Redakteur von der Gazeta de Noticias?!«, überschrie ich das Toben.

Denn ich hatte ja schon eine Unmenge von Karten in der Tasche, noch mehr lagen auf meinem Tische.

»Hier, hier!«

Der Herr durfte passieren, ich nahm ihn mit in meine Salonkabine.

»Also wir werden heute Abend wieder so eine Vorstellung geben. Aber diesmal bei uns an Bord. Sie schrieben mir, dass Sie ganz und gar zu meiner Verfügung ständen. Nun, ich würde Ihnen eventuell die Ehre geben, dass Sie den Billettverkauf besorgen dürfen.«

Mit vor Freude zitternden Händen zog der Zeitungsmensch sein Notizbuch.

»Wie viel — viel — Plätze?«

»Genau tausend Plätze, einer so gut wie der andere.«

»Und — und — der Preis?«

»Nun, ich dächte, drei Milreis pro Platz ist gerade ein hübscher, runder Preis.«

»Und — und — werden Sie die Einnahme wieder einer wohltätigen Anstalt überweisen?«

Ich drehte mich halb zur Seite, um jenem einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

»Na, dachten Sie etwa, wir spielten in unsere eigene Tasche?! Alles für die Armen, alles für die Armen!«

*

21. Kapitel

Die Seezigeunerin

Originalseiten 477 — 496

Früh um sechs ging die Sonne auf. Wie gewöhnlich so ungefähr im Osten. Ich drehte ihr aber den Rücken zu.

Lehnte an der Bordwand, rauchte eine Zigarre und schaute unseren Matrosen zu, die schon wieder bei der Arbeit waren, die Rahen richteten, in besonderer Weise, was am besten von der Straße aus geschah, die in dieser Gegend um diese Zeit noch ganz menschenleer war. Wir lagen direkt an einer Straße, drüben mit Häusern besetzt.

Die Jungens waren schon wieder bei der Arbeit, obgleich sie bis Mitternacht gemimt hatten.

Ach, war das ein Getöse gewesen!

Genau 3000 Milreis hatten wir in der Theaterkasse, was nach damaligem Kurse genau 12 750 Mark entsprach.

Wobei ich nämlich — wie immer bisher — den portugiesischen Milreis meine! Denn wenn ein Leser nachschlägt, so wird er finden, dass der brasilianische Milreis ja nur 2,25 Mark hat.

Dort unten herrschen ganz unklare Geldverhältnisse, in die man sich erst hineinfitzen muss. Wir aber wussten schon, was wir meinten, wenn wir von einem Milreis sprachen. Den brasilianischen Doppelreis. Ich werde von jetzt an lieber Dollar sagen, wie auch dort unten sehr üblich, da weiß jeder, wie viel das ist.

Genau 3000 Dollars in der Kasse!

Nicht einmal der Redakteur hatte ein Freibillett bekommen, obgleich er sich, wie noch andere Angestellte seiner Zeitung die Beine abgelaufen hatte.

Sie mussten alle vollen Eintrittspreis berappen! Na ja, wenn man alles den Armen geben will!

Aber die würden schon noch eine Anerkennung von uns bekommen, die sich gewaschen hatte. Da brauchten sie keine Angst zu haben. Da ließen »WIR« uns doch nicht lumpen.

So simulierte ich, wie ich an der Bordwand lehnte, eine Zigarre rauchte und zusah, wie sich meine Jungens mit den vertrackten Rahen abquälten.

Ach, ist das eine Wonne, dieses Bewusstsein, auf der bombensicheren New Yorker Bodenkreditbank zwei Millionen Dollars zu vier Prozent liegen zu haben! Und mit diesem Bewusstsein bei Sonnenaufgang eine echte Havanna zu rauchen!

»Chachachettaaas!«, erklang der Ruf, das ch wie bei »rauchen« ganz hinten in der Kehle hervorgebracht.

Das spanische Wort für Krabben, Taschenkrebse.

Es war eine Krabbenverkäuferin, die gerade an dem spanischen Schiffe langsam vorüberging und ihre Ware aussang.

Ja, da kam sie!

Holde Erinnerung aus meiner Jugendzeit, kehre noch einmal zurück!

Da kam sie!

Klothilde, Du holder Engel mit dem Teufel im Leibe! Klothilde, Du scheußliche Teufelsfratze mit dem Engelsherzen!

Lieber Leser!

Es ist keine erfundene Figur; die ich Dir hier vorzeichne.

Sie lebt noch heute, die Klothilde Gracco, Du kannst sie besuchen, wie auch ich es vor noch gar nicht so langer Zeit getan habe.

Sie lebt noch heute in Monaco, in der unteren Stadt Condamine, hat die Pension Maison Bellando.

Dort kannst Du Dir von ihr einer ihrer tausend und einen Geschichten erzählen lassen, in aller Welt alles selbst erlebt.

Und es ist gleichgültig, ob Du ein Deutscher oder ein Franzose oder ein Engländer oder ein Schwede oder ein Holländer oder ein Italiener oder ein Spanier oder ein Portugiese bist — sie erzählt immer in Deiner Muttersprache.

Und wenn Du bei ihr wohnst oder Du hast sonst ihr Wohlgefallen errungen, und Du bist einmal in Geldverlegenheit oder hast kein Hemd mehr anzuziehen, brauchst es ihr bloß zu sagen, die zieht sofort ihr Hemd aus und gibt es Dir.

Dabei kommt sie als Pensionswirtin freilich auf keinen grünen Zweig. Aber die weiß sich schon durchzuhelfen, die pumpt dann wieder einen reichen Kauz an, der von vornherein weiß, dass er nichts wiederbekommt. Ich sah sie kommen, ein barfüßiges Weib, mit einem kurzen Kittel, oben ein Hemd, in der Hand einen großen Bastkorb.

»Chachachettaaas!«

Das war eine schlechte Zeit zum Krabbenverkaufen, früh um sechs.

Von dem spanischen Schiffe wurde ihr ein Wort zugerufen.

»Caracho di bognetti!«, gab sie zurück.

Na ich danke!

Was das heißt, das steht in keinem Wörterbuche. Jetzt kam sie an das italienische Schiff.

»Granchiiios — granchiiios di mareee!«

Auch nichts. Auch das italienische Schiff war wie ausgestorben.

Jetzt kam sie an dem französischen Dampfer vorüber. »Crevetts — crevetteees!«

Auf dem französischen Schiffe schlief erst recht noch alles.

Nun kam sie zu uns.


Illustration

»Kerrreeebs!!«

Ganz genau wie in London die Krabbenhändler auf der Straße!

Jetzt sah ich sie nun deutlich, zumal sie zu mir emporblickte

Eine schlanke, kräftige Gestalt. Kleine, schöngeformte Füße. Aber nun dieses Gesicht! Ja, wie soll ich es beschreiben.

Es war nichts weniger als schön. Hagere, strenge, männliche Züge. Eine gerade, scharfe Nase. Unter dieser ein Bärtchen, um das sie mancher Husarenleutnant beneidet hätte. Aber nun diese Augen, die in dem schwarzbraunen Gesicht funkelten!

»Krabben gefällig?«, fragte sie jetzt auf deutsch zu mir herauf. »Taschenkrebse, mein Herr?«

Ich antwortete nicht, war noch ganz in dieses eigentümliche Gesicht versunken, mochte aber doch den Kopf geschüttelt haben.

»Na da nich!«, sagte sie und wollte gehen.

Aber sie ging nicht, schaute den an einem Tau ziehenden Matrosen zu.

Dann wandte sie sich wieder mir zu und rief:

»Eh, Stürmann, häbbt Jü nich ehn Zigahr for mi?«, Lachend warf ich ihr eine Zigarre hinab, der Kreolin, die mich im schönsten Schiffsplatt anbettelte.

»Häbbt Jü nich en bäten Für? Oder Jü dacht wohl, ick schäll mi dat Für ut'n Ooogn slagn?«

Lachends warf ich ihr meine Streichholzbüchse zu, sie brannte sich die Zigarre an, warf mir die Schachtel mit einem kurzen »danke« zurück, setzte sich auf einen eisernen Poller und gab sich ganz dem Genusse der Zigarre hin, paffte wie ein Schornstein, den Rauch durch die Nase blasend.

Dann schaute sie aufmerksam nach den Matrosen, die mit einer Rahe nicht fertig werden wollten, vergebens an einem Tau rissen.

»Na da pullt doch, Jungens«, ermunterte sie, »pullt doch — zu — gleich! Zu — gleich!«

Die Rahe wollte sich nicht hiven lassen.

»Na da singt doch, Jungens«, ermunterte sie wieder, »singt ein Shanty —«

Und sie fing an zu singen:

Uuund dr Käpten hädd enn beuses Wief,

O ho, ho!

See hädd'n Düwel in den Lief

Und tanzt mit emm Jim Cro.

Und wie sie so weit war, steckte sie Daumen und Zeigefinger einer Hand in den Mund und pfiff das »zu — gleich«, pfiff, wie nur ein alter, ausgeteerter Bootsmann pfeifen kann.

Die Matrosen stutzten, blickten nach der Sängerin und Pfeiferin, und dann konnten sie vor Lachen nicht mehr ziehen.

»Na da pullt doch, Boys, pullt —«

Uuuund bin ick mal mit ihr allien,

O ho, ho!

Dann slag ick ihr den Schädel in

Und tanz dazu Jim Cro.

Und dann pfiff sie wieder.

Und dann sang sie weiter, das Shanty, das auch ich noch gar nicht kannte.

Uuuund wat schiert mi Fru, was schiert mi Kind,

O ho, ho!

Ick ersup see in dee Waterpin

Und tanz: dazu Jim — —.

Mit einem Male brach sie ab, sprang auf und jumpte von der ziemlich hohen Ufermauer ins Wasser.

War das ein verrücktes Frauenzimmer!

Ja aber weshalb sprang sie denn plötzlich ins Wasser?!

Weil sie gesungen hatte, dass sie, als Seemann gedacht, Frau und Kinder im Wasserfass ersäufen wollte, hinterher Jim Cro tanzend?

Nein, irgend einen Grund musste dieser plötzliche Wassersprung doch haben!

So, wie ich stand, konnte ich sie nicht sehen. Sie war im Wasser unter dem übergebauten Heck, unter dem sich Steuer und Schraube befindet, verschwunden

Also ich springe schnell nach achtern und blicke über das Heck.

Da sehe ich unter mir gerade wieder ihre Gestalt aus dem Wasser emportauchen, sie hat ein weißes Bündel in den Armen.

Allmächtiger Gott!

Unsere Ilse!

Ich will es gleich erzählen, wie es gekommen war.

Ilse, wie immer aufstehend, sobald der Morgen graute, hatte schon gespielt, hinten im Heckraum, noch hinter der Kajüte, ihrer Kinderstube.

Dort befand sich die Heckluke, hinten an der Wand angebracht. Wir hatten sie gestern benutzt, um einiges einzunehmen. Sie war zuzuschließen vergessen worden, nicht einmal zugeriegelt.

Das Kind hatte sich angelehnt, war ins Wasser gepurzelt, war verschwunden gewesen, ohne einen Laut von sich zu geben.

Ich hatte nichts plumpsen hören.

Aber jenes Krabbenweib hatte es gesehen. Sofort war sie ins Wasser gesprungen, mit drei Stößen hingeschwommen, nachgetaucht, das Kind zu fassen bekommen. Es wäre rettungslos ertrunken.

Plötzlich hatte ich ein Seil in der Hand und warf es ihr zu, dass sie nur wenigstens erst einmal einen Halt bekam. Übrigens hätte sie gar nicht ans Ufer kommen können, hier war keine Treppe.

Unvergesslich ist mir, was in den nächsten Sekunden geschah. Wenn ich überhaupt etwas dachte, so hatte ich ja jetzt an etwas ganz anderes zu denken, und dennoch musste ich darüber staunen, grenzenlos staunen, was die dort unten im Wasser ausführte.

Wasser tretend, im linken Arm das Kind, fing sie mit der rechten Hand das Seilende auf, zog nach, schleuderte es von sich, griff nach, schlang sich das Seil am das Handgelenk, schlug einen Steg, schleuderte das Seil nochmals von sich, zog es durch die Luft im Bogen zurück — und die regelrechte Schlinge war fertig, die sie sich sofort um den Oberkörper legte, unter den Armen durch.


Illustration

Wasser tretend und im linken Arm das Kind haltend,
fing das sonderbare Weib mit der Rechten das Seilende
auf, das ihr vom Deck des Schiffes zugeworfen wurde.


Die Matrosen üben sich viel in Knotenkunststückchen, einen Knoten nur mit einer Hand zu schürzen, zu werfen, zu schleudern. Da sieht man manchmal Virtuosen, die Fabelhaftes fertig bringen. Ich kann so etwas nicht.

Aber was dieses Weib dort unten leistete, das habe ich niemals wieder gesehen, das hat ihr auch kein anderer nachmachen können! Und nun dabei schwimmend, beim Wassertreten! Über ihren Kopf weg! Im anderen Arme ein Kind, das über Wasser zu halten war!

Im Augenblicke meinte ich eine Hexerei gesehen zu haben. Ich war wirklich wie verhext. Grübelte nur darüber nach, wie die denn das fertig gebracht hatte!

Das währte freilich nur einen Moment, dann dachte ich an etwas anderes.

Da aber fing die dort unten wieder zu singen an; sie hatte ihren Shanty doch nicht zu Ende gesungen.

Ick ersup see in de Waterpint

Und tanz dazu Jim Cro — hiv up!

Wir zogen sie herauf. Noch andere waren herbeigesprungen, keines Wortes fähig. Sie starrten nur nach dem blonden Lockenköpfchen unseres Kindchens.

»Wo ist denn nur Ilse?«, erklang es da hinter uns.

Die Patronin war es, die fragte.

Da kamen die beiden gerade über die Bordwand, von zwanzig ausgestreckten Armen empfangen.

Na, ich brauche wohl nicht zu sagen, wie die auch sonst empfangen wurde.

Ich könnte es übrigens gar nicht schildern. Ich weiß nicht, was sich in den nächsten Minuten alles abspielte, was in der Kajüte alles gesagt wurde, wie sich die Patronin benahm. —

Sie blieb bei uns an Bord, wurde eine Argonautin. Obgleich sie dadurch einen heiligen Schwur brach, denn sie hatte erst kürzlich das Gelübde abgelegt, sogar in die Hand eines Priesters nie, nie wieder an Bord eines Schiffes zu gehen.

Aber diesen Schwur brach sie nun gerade zum dreizehnten Male.

»Na, Kinders, diese Geschichte kostet mich ja mindestens wieder drei Dutzend Vaterunser!«

»Sie sind katholisch?«

»Tjo, all wedder mal.«

Sie hatte nämlich schon alle Religionen durchgemacht. Jetzt war sie 34 Jahre.

Ich hätte sie viel jünger gehalten, zumal als ich sie für eine Kreolin gehalten hatte; höchstens für zwanzig.

Klothilde konnte sofort Bescheid geben, woher das kam.

»Das macht einfach die viele Liebe. Wer viel geliebt hat, dem wird auch viel verziehen. Auch in Anrechnung der Jahre.«

Klothilde Gracco aus Genua. Beruf: Stewardess (Schiffskellnerin).

Dass sie aus Genua war, das stand wenigstens in ihrem Seefahrtsbuche, das jetzt aber in Rio auf dem deutschen Konsulate lag. Um es wieder zu bekommen, musste sie entweder 40 Mark Strafe zahlen oder 14 Tage brummen, weil sie zuletzt von einem deutschen Passagierdampfer desertiert war. Und zwar schon zum — — ixten Male.

»Wenn ich mir durch meinen Krabbenfang die 40 Mark zusammengespart habe, dann brumme ich die 14 Tage ab dann also habe ich doch 80 Mark zusammen. Na dann aber geht Klothilde los!«

Also aus Genua.

Doch was hieß bei der aus Genua?

Man entscheide:

Ihre Mutter war eine Deutsch-Schweizerin, ihr Vater ein Kapitän aus Genua. Das war der einzige Anhaltspunkt, dass sie aus Genua sein sollte. Ihr Vater fuhr ein Triestiner Schiff, das aber unter französischer Flagge segelte, an Bord dieses Schiffes wurde Klothilde geboren, im Hafen von Gibraltar, also in Spanien, aber Gibraltar ist englisch.

Nun soll einmal jemand entscheiden, welcher Nation die eigentlich angehörte!

»Ach, mich hat ja überhaupt eine Möwe im Fluge ausgebrütet.«

Der Esel hat mich im Galopp verloren — sagt man entsprechend wohl am Lande.

Sie blieb bei der Mutter an Bord.

Als sie dreizehn Jahre alt war, starb die Mutter, und Klothilde kam nach Genua in eine feine Pension.

Nicht ganz eine Woche hielt sie es drin aus, dann verschwand sie und tauchte auf einem englischen Schiffe aus dem Kohlenbunker wieder auf. Als Junge. Und als Schiffsjunge blieb sie auch auf diesem Schiffe.

Dann musterte sie auch auf anderen Schiffen an, auch auf Seglern — als Leichtmatrose und Matrose.

Bis in ihrem achtzehnten Jahre durch Zufall einmal ihr zartes Geschlecht entdeckt wurde.

Nun war es aus mit der Seefahrerei. Das heißt als Matrose. Nun ging sie als Stewardess. Kam sie aber nicht einmal gleich als Schiffskellnerin an, dann ging sie wohl auch wieder einmal als Matrose, sogar als Bootsmann war sie schon einmal gefahren.

Vorher aber, noch ehe ihre zweite Periode richtig begann, in ihrem zwanzigsten Jahre, als sie nach italienischen Gesetzen mündig wurde, bekam sie die Erbschaft ausgezahlt, die ihr der unterdessen verstorbene Vater hinterlassen hatte, rund hunderttausend Lires, also achtzigtausend Mark.

Nun ging sie erst mal nach Paris. Sie brauchte noch nicht ganz 14 Tage, um die 100 000 Lires totzuschlagen.

Das musste man aber von ihr selbst erzählen hören. »Ei, Kinders, da hättet Ihr mich mal sehen sollen! Eine russische Prinzessin, die Tochter von einer Großfürstin, wollte mit mir konkurrieren! Aber die konnte doch nicht mit der Klothilde antreten! Wenn die vierspännig fuhr, dann fuhr ich sechsspännig und hatte hinten dran noch extra zwei Gäule, die mussten schieben. Ei, Kinder, war ich da angesehen! Jedem Konstabler, der vor mir salutierte, haute ich einen Hundertfrankenschein um die Ohren. Und nun von oben bis unten und hinten und vorn mit Diamanten gepanzert! Natürlich mit falschen, mit Similis. Na ja, für hunderttausend Franken kann man sich doch nicht mit echten Diamanten panzern. Aber das konnte man doch nicht unterscheiden. So wurde ich geehrt, dass ich zuletzt auf Regierungsunkosten freie Fahrt nach Havre bekam. Mit zwei Gendarmen, die gut aufpassen mussten, dass mir unterwegs nichts passierte. Per Schub mit der Polizei.«

Und nun ging es wieder los, die christliche Seefahrerei. Als Stewardess oder was sich sonst gerade bot. Noch 14 Jahre lang. Bis heute. Dabei aber nun auch immer einmal an Land sich betätigt, in allen Weltteilen. Meist war sie als Kellnerin gegangen. Aber auch als Goldgräber hatte sie sich versucht, mehrmals, Pferde hatte sie gestohlen — ach, was die alles gewesen war!

»Ob ich in Kapstadt gewesen bin? Ei, da hatte ich doch eine Strohhutfabrik! Aber das Geschäft ging nicht. Und da war gerade so ein neues Patent aufgekommen, Kaffeesäcke aus Strohgeflecht. Also ich krempelte alle meine Strohhüte zu Kaffeesäcken um. Nun machte ich Konkurs, es kam alles unter den Hammer. Nun glaubte aber der Auktionator, ich hätte noch eine Strohhutfabrik, also der verauktionierte alle die Kaffeesäcke als Hüte —«

Ach, konnte die Geschichten erzählen!

Und es waren Tatsachen, was sie erzählte, das konnte man und kann man noch heute nachprüfen.

Eine ihrer Geschichten möchte ich hier doch einmal wörtlich wiedergeben. Wie sie in Melbourne gekellnert, was sie da Seltsames erlebt hatte.

Nun muss ich aber den Leser von vornherein um Entschuldigung bitten. Ich muss sie so sprechen lassen, wie sie selbst erzählte, sonst hat es gar keinen Zweck.

Und sie ließ den australischen Spelunkenwirt so sprechen, wie solch ein australischer Spelunkenwirt eben wirklich im Leben spricht.

Sollte ich der Geschichte einen Namen geben, so würde ich sie »Diana mit dem Goldregen« betiteln.

Wobei ich an das bekannte Bild denke — obgleich ich jetzt nicht gleich weiß, von welchem Meister es ist — wie die Göttin Diana von Jupiter besucht wird, der sich ihr in Gestalt eines Goldregens naht, auf sie herabfällt. Also ich beginne:

D i a n a   m i t   d e m   G o l d r e g e n .

Hatte mich mal in Melbourne festgerannt. War wieder mal von Bord gelaufen — hatte was ausgefressen — hielt mich in einer Spelunke versteckt, bis das Schiff fort war. Dann wurde ich in der Spelunke Kellnerin.

Weil drin Wein verschenkt wurde und weil's drin richtige Tische und Stühle gab, hieß man's eine französische Weinstube.

Ebenso gut konnte man mich die Jungfrau von Orleans nennen.

»Klothilde«, sagte der Baas zu mir, wie er mich einrichtete, »you bloody damned nice girl — jeden Morgen um zehn kommt ein old Gentleman zu mir, Mister Hailgig, ein bloody damned reicher Boy, trinkt immer eine bloody damned halbe Rotwein für nen bloody damned Schilling — der bezahlt nur mit Farthings*), stopft jedesmal fünfzig einzelne Farthings in Ihren bloody damned Hals hinein. You understand, ay?«

»Er stopft sie mir in den Mund nein?«

»No, Miss Hinten, nein.«

»Hinten nein?«

»Yes, Miss. Hinten in den Hals hinein, zwischen Haut und Hemd. Der alte Krauter macht's nicht anders. Hat'n Spleen. Aber sonst ein Gentleman. Well, dann gehen Sie hinauf in Ihre Kammer und schütteln Ihre bloody damned Kittel aus, bringen mir die fünfzig Farthings(*). You understand, ay?«

(*) Die kleinste englische Kupfermünze, 2 Pfennige.

Ja, nun hatte ich's verstanden.

Früh um neun musste ich schon unten sein — und bis um drei ging's immer — hatte die Stube zu fegen und die Tische zu scheuern. Punkt zehn kam Mister Hailgig, ein alter Knasterbart im schäbigen Rock, trank eine halbe Flasche vom billigsten Rotspon, sprach kein Wort, gab auch keine Antwort auf eine Frage. Wie ich ihm in der Nähe seines Tisches einmal den Rücken zudrehte, erwischte er mich von hinten oben bei der Halskrause und ließ mir zwischen Hals und Hemd eine Handvoll Münzen den Buckel hinunterrutschen, ohne dabei etwas zu sagen. Na, wenn's dem Spaß machte — mir war's egal, wo er das Geld hinsteckte, da ist Klothilde nicht so. Und ich musste mich sowieso dann gleich umziehen.

Also ich ging nach oben in meine Kammer, heftelte meine bloody damned Kittel auf — da fielen die Farthings herunter, kollerten am Boden herum. Erst fehlten ein Dutzend oder noch mehr am Schilling. Aber ich musste nur ordentlich suchen, unterm Bette und unterm Schranke krebsen, mit einer Haarnadel in den Dielenritzen stochern, in die man eine Pudelmütze werfen konnte — da brachte ich die fünfzig zusammen; freilich auch keinen mehr, Trinkgeld gab's bei dem nicht.

Am andern Morgen wieder dieselbe Geschichte. Diesmal aber machte ich's praktischer, als ich mich des Mammons entleerte — ich breitete am Boden mein Bettuch aus und stellte mich darauf. Da rollten die kleinen Dinger nicht so. Und weil ich sie nun einmal so hübsch beisammen hatte, nahm ich dann gleich das ganze Betttuch wie einen Sack auf den Rücken und brachte die fünfzig Farthings so dem Baas. Der lachte unbändig. »You bloody damned rascal!«

Und so ging das Morgen für Morgen. Ich wunderte mich nur, wo dieser Mister Hailgig die vielen Farthings herbekam! Die kleinen Dinger sind in Australien noch seltener als in England.

In dieser Spelunke hatte noch kein Mädchen länger als drei Tage ausgehalten. Das kommt dort in Australien überhaupt nicht vor. Immer hin und her. Hier aber hatten es die Mädels immer auf den verrückten Kerl geschoben, hatten es ihm auch gesagt, er solle seine fünfzig Farthings an seinem eigenen Leibe sonstwo hinstecken, aber nicht in ihren Hals. Und trotzdem machte er's bei jeder neuen Kellnerin immer wieder.

Es war am siebenten Morgen. Am Mittwoch war ich angetreten, und am Dienstag war's. Old Hailgig hatte mir wieder, wortlos wie immer, die fünfzig Farthings den Buckel herunterrutschen lassen. Ich machte meine Arbeit fertig, dann ging ich hinauf, trat aufs Bettuch band meine Kittel auf.

Ein Korsett trug ich früh noch nicht. Der kupferne Mammon rasselte herab.

Kupfern? Wie das heute klang! Und dann traue ich doch meinen Augen nicht — — da sehe ich auf dem Bettuch lauter Goldstücke liegen! Englische Pfund, funkelnagelneue Sovereigns!

Ich träumte nicht nur, es waren und blieben echte Sovereigns, fünfzig Stück.

Konnte das ein Versehen sein? Es wäre möglich gewesen. Der reiche Knacks, der zu Hause so viele Farthings im Kasten hatte, würde wohl auch noch andere Münzen aufgespeichert haben, und er griff, wenn er bezahlte, nur immer so in die Hosentasche, hatte sofort die abgezählten fünfzig Farthings in der Hand, steckte sie mir sofort in den Hals, ohne sie noch einmal angesehen zu haben. Konnte er da zu Hause nicht einmal aus Versehen in den falscher Geldkasten gegriffen haben? Hatte die fünfzig Stück vielleicht im finstern abgezählt? Die Farthings sind doch genau so groß und so dick wie die Sovereigns. Ja, diese sind allerdings viel schwerer — aber immerhin, so ein Irrtum wäre doch möglich gewesen. Auch ich hatte nicht das geringste davon gemerkt, was ich auf den Hüften für eine Goldlast eine halbe Stunde lang mit mir herumgeschleppt hatte.

Ich hätte mit den fünfzig Goldfüchsen einfach verschwinden können. Ich habe auch schon genug gemaust, auch Geld — was der Mensch braucht, muss er haben — aber in gewisser Beziehung ist die Klothilde ehrlich. Das musste aufgeklärt werden.

Jetzt war er schon fort. Die Goldstücke brachte ich dem Baas natürlich nicht, sagte ihm auch nichts davon.

Er war überhaupt einmal fortgegangen, ich steckte einen Schilling in den Kassenschlitz.

Als dann seine Tochter kam, die manchmal mit half, ging ich in die Horsestreet, wo der Alte wohnte. Das ganze Haus gehörte ihm. Er selbst aber hauste nur in einer Dachkammer. Er war ein alter Geizknüppel, der sich früh den Wein nur als Lebenselexier gönnte.

Ich klopfte an. Er öffnete. So und so, erklärte ich. Was es mit den fünfzig Sovereigns wäre.

Ich denke doch, der will mich auffressen!

»Die gehören Ihnen, weil Sie sich das von mir altem Esel eine ganze Woche lang haben gefallen lassen!«, brüllte er mich wütend an und schmetterte die Tür zu, dass er mir bald die Nase eingeklemmt hätte.

Ich will nicht renommieren — aber ich hatte so etwas schon geahnt. Klothilde ist nicht so dumm. Der hatte mir nach gewisser Zeit die Goldstücke statt der Farthings mit Absicht hineingesteckt. Der hatte gewissermaßen eine Wette mit sich selber abgeschlossen, dass das kein Mädel sieben Tage mitmachen würde.

Am anderen Morgen kam er wieder. Kein Wort von ihm, ansprechen durfte man ihn gar nicht. Ich hielt ihm wieder meinen Hals so recht gefällig hin, obgleich ich nicht etwa dachte, dass der mir nun wieder fünfzig Goldstücke hineinpfropfen würde. Aber jetzt war es auch mit den Farthings vorbei. Jetzt legte er wie jeder andere Mensch einen Schilling auf den Tisch. Der Baas wunderte sich. Mochte er. Von mir erfuhr er nichts.

Dann ging ich. Die fünfzig Goldfüchse brannten mir gar zu fürchterlich in der Tasche. Sie wurden in Melbourne schleunigst verjuckt. Dann zog ich lange Stiefeln an, pfropfte Männerhosen hinein und ging mit in die Barribarriberge, wo man Gold gefunden hatte.

Ob ich welches gefunden habe? Nicht die Bohne.

Zwei Stiche und einen Revolverschuss habe ich mitgebracht, aber kein Gold.

Dann wurde ich in Sydney Gouvernante und Anstandsdame bei einer Familie mit dreizehn lebendigen Kindern. Aber es waren Juden, es musste eine Israelitin sein. Und ich war damals gerade evangelisch-reformiert. Schön, da wurde ich einmal hebräisch. Na, wie ich da umgekrempelt worden bin, und Klothilde als Anstandsdame.

Aber das muss ich Euch ein andermal erzählen. Prost, Maate — auf Ihr Wohl, Frau Patronin — hoch lebe Back- und Steuerbord!

*

Das war so eine Erzählung der Klothilde Gracco. Nun musste man aber das von ihr selbst erzählen hören, wenn sie in der Kajüte hinter der dampfenden Punschterrine saß mit einer qualmenden Zigarre, so lang und so dick und so schwarz als möglich.

Und was für Grimassen und Fratzen die nun dabei schnitt! Aber dass war nicht etwa Angewohnheit, noch viel weniger Nervosität. Ihre Seele spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider, und diese ihre Seele war ganz Feuer. Eine geborene Schauspielerin! Wenn sie den australischen Spelunkenwirt sprechen ließ, so war sie im Moment dieser selbst, und wie sie nun den breiten, australisch-englischen Dialekt hervorbrachte, mit ganz schiefem Munde — »Klothilde, you bloody damned rascal« — einfach zum Totschießen!

Vor drei Wochen war sie also hier in Rio von einem deutschen Passagierdampfer gelaufen, als Stewardess, hatte zum dreizehnten Male den Schwur abgelegt, nie wieder das Deck eines Schiffes zu betreten. Weshalb eigentlich, das wusste sie wohl selbst nicht recht. Sie wollte der Seefahrt eben endlich entsagen, weil sie das Gefühl hatte, dass es für ein Weib auf die Dauer doch nichts sei. Jetzt hatte sie von Krabbenfang und Krabbenverkauf gelebt und recht hübsch dabei verdient. Wenn sie genug Geld zusammen hatte, wollte sie in Rio eine Seemannsherberge aufmachen.

Nun hatte sie doch wieder das Deck eines Schiffes betreten müssen, war aus dem Wasser heraufgeleiert worden — sie ergriff diese Gelegenheit nur gar zu begierig, um ihr Gelübde zum dreizehnten Male zu brechen. Sie war ja ganz unschuldig daran, hatte das Deck ja nicht freiwillig betreten.

Nun aber blieb sie bei uns, selbstverständlich!

Sie wusste sich sehr, sehr nützlich zu machen. Sie hätte ja auch jede seemännische Arbeit verrichten, sogar die Funktion eines Steuermannes übernehmen können — aber es fand sich bald etwas Geeigneteres für sie, wodurch sie uns eine große Sorge abnahm.

Unsere Ilse brauchte nun ernstlich Schulunterricht. Ihre Tante eignete sich nicht dazu, keiner von uns. Am besten Meister Hämmerlein, der hatte ihn auch übernommen, aber der vergaß, manchmal mitten im Satze das Sprechen, konnte dann, wenn er nicht geweckt wurde, stundenlang vor sich hinträumen, mit den Fingern auf dem Tische trommelnd.

Jetzt übernahm Klothilde den Schulunterricht, und diese internationale Seezigeunerin, Matrose, Stewardess und sogar Bootsmann gewesen, von der man doch nicht viel Ewig-Weibliches, das uns hinanzieht, erwarten durfte, die manchmal haarsträubend fluchte — sie war die beste, gewissenhafteste, aufmerksamste, geduldigste Lehrerin — dem Kinde die zarteste Pflegerin.

Unter den Matrosen war sie dann wieder deren Kamerad.

Und was die nun sonst noch alles aufstellte, davon werde ich noch gar viel zu erzählen haben.

*

22. Kapitel

Triumphe in Rio

Originalseiten 496 — 522

Am Freitag waren wir gekommen, am Sonnabend gaben wir die zweite Vorstellung. Wir hätten es nicht getan, wenn wir klar zum Auslaufen gewesen wären. Aber so weit würden wir erst am Montag sein, und so lange wurde auch im Weinberge der Kunst gearbeitet.

Unsere Statuten, dass wir in der Theater- oder sogar Schiffskasse immer nur 50 Pfund Sterling haben durften, sonst war die Mimerei verboten, hatte jetzt natürlich keine Gültigkeit mehr. Jetzt waren »Wir« ja wieder vermögende Leute, Bankkapitalisten, die ihre »Kunst« nur zu wohltätigen Zwecken betrieben. Aber Spaß hatte es doch gemacht, als wir damals diese Statuten ausgesetzt. Und die Patronin hätte ihren vermeintlichen Bankrott auch nicht in ihrem Leben vermissen mögen. Dabei hatte sie doch einmal recht tief in das Herz ihrer Leute, »ihres Volkes« blicken können.

Ach, es war herrlich gewesen, was sich dabei offenbart hatte! Albert hatte ja damals nur für alle gesprochen.

Die verschiedenen Theater und sonstigen Vergnügungslokale Rios wollten sich auf die Hinterbeine setzen, gegen die polizeiliche Erlaubnis für das fremde Theaterschiff ankämpfen, gaben es aber sofort auf, als sie erfuhren, dass wir die ganze gestrige Einnahme, tausend Dollars, bereits dem Seemannshospital überwiesen hatten; sonst hätten sie einmal vollends boykottiert werden können.

Wir konnten an ihrem Verlust nichts ändern. Was dem einen seine Nachtigall, ist dem anderen eben seine Eule. Die mussten unfreiwillig mit wohltätig sein. Übrigens hat Rio de Janeiro mehr als eine halbe Million Einwohner, wir nahmen ihnen nur tausend Menschen weg, und auch nur solche, die für einen Platz drei Dollars zahlen können.

Diesmal aber wurde der Billettverkauf anders gehandhabt. Die Plätze wurden verauktioniert. Das geschah in 25 Hotels und größeren Lokalen, übernommen wurde das Ganze wieder von der Zeitung »Gazeta de Noticias«, die sich uns überhaupt in liebenswürdigster Weise zur Verfügung stellte, ohne einen direkten Vorteil davon zu haben.

Gegen sechs Uhr abends liefen die letzten Resultate der Billettauktion ein, gleich in Masse, und als die eine Summe von fast neuntausend Dollars ergaben, da wurde uns doch etwas schwummrig zumute.

So etwas hätte niemand erwartet. Der Platz im Durchschnitt 36 Mark!

Allerdings kam hinzu, dass jeden Sonnabend Nachmittag, oder schon am Mittag, aus der ganzen Umgebung, gut mit Eisenbahnen durchzogen, die steinreichen Hacienderos mit ihren Familien nach der Hauptstadt kommen.

Senhor Traquez, jener gefällige Redakteur, war mit diesem Resultate nicht einmal im entferntesten zufrieden. Es sei zu viel Zwischenhandel vorgekommen, schon erstandene Plätze seien bis zum sechsfachen Preise weiterverkauft worden. Auch habe die telefonische und telegrafische Bestellung nicht richtig funktioniert. Morgen könne er für mindestens 20 000 Dollars Einnahme garantieren.

Wir selbst mussten uns erst an solche Erfahrungen gewöhnen, wenn wir doch auch die Welt schon so ziemlich kannten.

Da kommen eben die Verhältnisse in Betracht. Das ist Amerika. In Europa ist so etwas gar nicht denkbar. Das ist ja auch der Grund — von dem Goldbeutezug europäischer Künstler nach Amerika ganz abgesehen — weshalb in Amerika selbst große Theater, Zirkusse, Menagerien und dergleichen Unternehmungen die weitesten, kostspieligsten, beschwerlichsten Reisen unternehmen, per Achse mit Pferden, in vielen, vielen Planwagen durch Prärie und Urwald, um irgend ein winziges Nest zu erreichen, das auf keiner Karte angegeben ist. Was in solch einem Neste manchmal für Geld steckt, Gold, gemünzt und ungemünzt! Die alten Goldgräberzeiten sind noch immer nicht vorüber. Es gibt aber auch noch andere Beschäftigungen. Ein riesiger Wald wird in Bretter verwandelt. Die Arbeiter kommen nicht fort, haben keine Gelegenheit zum Geldausgeben, aber jeden Sonnabend wollen sie ihren Lohn in bar haben, da gibt es nichts! Und sie wissen wirklich nicht, was sie mit dem Gelde anfangen wollen. Ja, es sich im Spiele gegenseitig abnehmen. Da wechselt es aber doch immer hin und her. Professionelle Falschspieler, wie sie Gerstäcker geschildert hat, gibt es heute gar nicht mehr in Amerika, diese Pest ist glücklich ausgerottet. Und diese Leute warten nur auf eine Gelegenheit, um einmal Geld ausgeben zu können. Natürlich möchten sie auch etwas dafür haben, etwas sehen und hören, Oder wie aus den Rinder- und Pferdefarmen die Cowboys. Es braucht gar nicht nach Schluss der Season zu sein, wenn er sein Jahresgeld ausgezahlt bekommt. Solch ein Cowboy schnallt einen Silbersporen ab und wirft ihn auf den Kassentisch, und der Sängerin auf der Bühne, mag sie auch noch so grölen, wirft er den anderen pfundschweren Sporen an den Kopf.

Aber sehr bemerkenswert ist dabei, dass nun nicht etwa jede zusammengelaufene Schauspielerbande kommen darf. Auch diese Hinterwäldler wollen etwas »Berühmtes« sehen. Sie wollen für ihr Geld eben dasselbe haben, wie die »Swells« in den großen Städten. Dann aber bezahlen sie auch. Ganz egal, was es kostet. »Was die ›Swells‹ sich leisten können, das bezahlen wir mit einer Hand.«

Die Hauptsache freilich liegt ja auch im Aplomb, im pomphaften Auftreten, schon im Ein- und Aufzug solch einer Truppe, sonst ist nichts zu machen. Und da sieht man ja auch manchmal in solch einer Bretterbude mitten im Urwalde oder in einem vergessenen Neste fabelhafte Toiletten! Und die Diamanten, die solch eine Chansonette zeigt, müssen echt sein! Schöpft man Misstrauen, so wird die Sache untersucht, und sind es Similis, dann werden die Wagen der Gesellschaft mit Johlen zum Tempel hinausgeschoben, die Schauspieler mit Eiern und Pech und Federn beworfen! Das ist eben amerikanisch.

*

Nun kann ich gleich wieder mit der Klothilde anfangen.

Sie hatte noch nichts von unserem Schiffe und seiner »künstlerischen« Bedeutung gewusst. Am vorhergehenden Tage hatte sie draußen am einsamen Meeresstrande gekrebst, wohnte auch dort draußen bei einer Fischerfamilie. Auch vorher hatte sie sich doch nicht um die Zeitungsberichte gekümmert.

In der sechsten Morgenstunde war sie an Bord gekommen, nun erfuhr sie doch bald alles.

»Eine Vorstellung gebt Ihr? Was denn für eine Vorstellung? Kann ich da nicht mitmachen?«

Nun natürlich machte Klothilde doch gleich mit!

Am Abend trat sie schon auf.

Und wie!

Was die in aller Schnelligkeit ausgeheckt und sich auch schon eingeübt hatte, nämlich mit einem Partner zusammen, den sie dazu brauchte!

Nun muss ich erst Verschiedenes erwähnen, um die ganze Sache plausibel zu machen.

Klothilde hielt Musterung unter ihren nunmehrigen Schiffskameraden, mit Wohlgefallen ruhte ihr künstlerisch entwickeltes Auge besonders auf dem dreizentrigen Fett- und Fleischkloß, August der Starke genannt, sie hörte ihn sprechen.

»Ei dü, Du bist doch ein Bayer! Noch hinter München her. »Von Kemp-ten Du bist ein Allgäuer, nicht?«

August der Starke sperrte vor Überraschung seinen Rachen auf.

Klothilde sprach nämlich sämtliche deutsche Dialekte — sämtliche, glaube ich! Das kam von den vielen Fahrten auf deutschen Auswandererdampfern her. Nun hatte sie ein sehr feines Ohr und außerdem eine wahre — Zündnadelschnauze! Man konnte von ihr irgendwelchen Dialekt verlangen, sie machte ihn sofort nach, gleich mit einer Charakterfigur. Am ergötzlichsten war es, wenn sie einen deutschsprechenden Ungarn markierte, es brauchte nicht gerade der Baron Mikosch zu sein, noch ergötzlicher aber wohl war es, wenn sie als deutschsprechende Tschechin schimpfte. Na, diese Ausdrücke! Das waren ja nur so kleine Privatunterhaltungen, aber wir wälzten uns immer wieder vor Lachen.

Jawohl, unser zweiter Bootsmann, August Bringmayr, war ein Bayer, noch hinter Kempten her, ein echter Allgäuer.

Hierin muss ich immer noch etwas anderes bemerken. Die besten Matrosen stellt das Binnenland.

Das mag manchem Leser merkwürdig klingen. Aber das ist unter uns Seeleuten allgemein bekannt, das weiß jeder Kapitän.

Es ist auch sehr einfach zu erklären, dass es sogar gar nicht anders sein kann.

Die von der Waterkant, von der Küste, die ergreifen den Seemannsberuf aus Tradition. Der Vater, der Großvater, alle Ahnen waren Seeleute, also muss der Junge auch Matrose werden. Ob er will oder nicht. In seinen Gedankenkreis schleicht sich überhaupt gar kein anderer Beruf ein. Und dabei ist es also auch ganz gleichgültig, ob sich der Junge überhaupt dafür eignet oder nicht; wenn er nur nicht gerade ein Krüppel ist, aber sonst kann er direkt wasserscheu sein, er geht zur See.

Aus dem Binnenlande aber gehen doch natürlich nur die Jungen zur See, die aus Neigung und Sehnsucht dazu getrieben werden. Und dass die gute Turner und Kletterer und Schwimmer sind, das ist doch ganz selbstverständlich. Da wird doch niemals ein Muttersöhnchen dabei sein, das im Winter Ohrenklappen trägt.

Nun allerdings versagen ja auch viele solche Binnenländer. Na, dann geht so ein Junge, der die Nase vollbekommen hat, eben wieder nach Hause zurück! Bleibt er aber dabei, dann ist er auch gut! Während der Junge von der Küste gar keine Wahl hat, ob es ihm gefällt oder nicht. Das ist eben der gewaltige Unterschied dabei!

Gerade die Matrosen aus Bayern haben einen ganz besonderen Ruf als die tüchtigsten Schiffsleute. —

August Bringmayr war schon zwei Jahre lang Lehrling in einer Dorfbäckerei bei Kempten gewesen. Da hatte er sich frei gemacht, um seiner Neigung folgen zu können, war nach Hamburg und zur See gegangen.

Kein Mensch hörte ihm mehr den Bayer und gar den Allgäuer an, wenigstens meiner Meinung nach nicht. Er sprach Platt oder Hochdeutsch wie jeder andere Hamburger.

Klothilde aber hatte seine Heimat bis zum engsten Bezirk sofort herausgehört! Mir unbegreiflich!

»Du bist ein Allgäuer? Da musst Du doch auch — können.«

»Ei gewiss das kann ich noch!«

Es hatte niemand gehört, oder die es doch gehört hatten, verrieten nichts.

Aber so musste es doch wohl gekommen sein.

Nein, verraten wurde nichts.

Das war nämlich mit die Hauptsache bei unserer Theaterspielerei.

Wir spielten nämlich auch für uns selbst, nicht nur für das Publikum. Wir überraschten uns gegenseitig

Muss den Schauspielern ihre »Kunst« nicht zum Halse heraushängen, wenn sie ein und dasselbe Stück hundert oder auch nur fünfzigmal hintereinander spielen müssen, müssen, müssen!? Ich habe Schauspieler darüber gesprochen. Da kann man ja etwas zu hören bekommen.

Wir konnten nicht in solch eine Verlegenheit des verzweifelten Lachens und des lachenden Jammers kommen.

Wer eine gute Idee hatte, der ging zu Meister Hämmerlein, trug sie ihm vor, machte ihm seine Sache vor, oder einige zusammen. Aber sie brauchte gar nicht so gut zu sein, Hämmerlein wusste dann schon etwas daraus zu machen.

Da wurde dann heimlich einstudiert. Dazu geeignete Räume hatten wir ja genug. Und dann wurde das als Zwischenspiel in meinen »Kling-Klang-Klung« eingeschoben, bei der Festlichkeit am Hofe oder bei sonst einer Gelegenheit.

Davon wussten wir anderen aber noch gar nichts. Das bekamen die Unbeteiligten erst auf der Bühne zu sehen, wenn es eben so weit war. Wurde dadurch das ganze Stück zu lang, so wurden eben andere Szenen gestrichen, aber ohne Verabredung, alles frei aus dem Handgelenk heraus, und es klappte vorzüglich, ohne vorherige Generalprobe.

Das heißt, das war gestern Abend das erste Mal gewesen, dass das so gehandhabt worden war. Wir hatten ja noch gar nicht wieder zusammen gespielt.

Aber so war es gestern Abend gewesen. Eine ganze Menge neuer Zwischenspiele, von denen wir selbst, die wir nicht direkt daran beteiligt waren, zum Teil gar keine Ahnung gehabt hatten. Und das eben war das Amüsante dabei, auch für uns! —

Also nun hatte Klothilde wieder etwas Neues ausgeheckt und im zweiten Bootsmann einen Partner gefunden. Noch einige andere mussten ins Vertrauen gezogen werden, die bekamen schnell etwas zu nähen und zu schnitzen. Die beiden übten im Geheimen unter Hämmerleins Klavierbegleitung im Verborgenen. Aber nicht so still wie die kleinen Veilchen. Es war ein Heidenspektakel, den man manchmal zu hören bekam. Aber was sie übten — keine Ahnung!

Als Hämmerlein dann einmal herauskam und an mir vorüberging, schlenkerte er die Finger und schüttelte sich vor geräuschlosem Lachen, was man bei dem kleinen, buckligen Männchen selten sah.

»Das ist ja ein Teufelsweib! Ich habe manchmal vor Lachen nicht begleiten können! Na, das wird ja etwas heute Abend!«

Der Abend kam, die Vorstellung begann. Zuerst wieder das Keulenschwingen. Das sich aber nun ganz bedeutend verbessert hatte, wenn es auch, derselbe Barritgesang und dieselbe Posaunenbegleitung geblieben war.

Der Effekt war derselbe wie gestern Abend, wie vor drei Wochen in Kapstadt — grenzenlos!

Nur dass hier noch ein ganz anderes Publikum in Betracht kam, eines mit spanisch-portugiesisch-brasilianischem Blute.

Es war gut, dass die Mitteldecke oder der Batterieboden dafür berechnet war, noch ein ganz anderes Gewicht zu tragen, als nur das von lumpigen tausend Menschen. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen, der Leser mag sich das im Geiste selbst ausmalen.

Dann »Kling-Klang-Klung«. Von den neuen Einlagen, die wir schon gestern Abend gespielt hatten, erwähne ich nur einen Fanfarenmarsch von zwanzig Mann auf sogenannten Engelsposaunen oder Heroldstrompeten geblasen, wozu Hämmerlein unter Mitwirkung einiger Heizer, die kunstfertige Schlosser waren, gewöhnliche Posaunen und selbst Trompeten umgebaut hatte, zu zwei Meter langen Rohren. An jedem hing eine gold- und silbergestickte Flagge, mit unserem Schiffsnamen. Es waren eben die Argonauten, die am Hofe des Kaisers von China ihren Einzug hielten, mit Fanfarengeschmetter, unter den Klängen des Argonautenmarsches natürlich vom Hämmerlein komponiert.

Kennt man den bekannten Kreuzritter-Fanfaren-Marsch von Henrion? So ungefähr. Aber noch viel, viel imposanter. Und der ist für sechs Trompeten gesetzt, — wir verfügten über zwanzig Heroldsposaunenl

Musikdirigent war August der Starke. Der sollte ja eigentlich am chinesischen Hofe die Kaiserin-Mutter sein, aber das war ja ganz egal. Jetzt war er einmal der Bootsmann der nach Peking gekommene Argonauten. Seine Gestalt war unersetzlich, auch seine Kraft. Er spielte nämlich gleichzeitig zwei Pauken, und was für Dinger, die Felle doppelt und dreifach verstärkt, bearbeitete sie mit zwei mächtigen Keulen. So gab er den Takt an.

Großartig! Fabelhaft! Unbeschreiblich! Einfach überwältigend!

»Mit diesem Stücke könnten wir auch im besten europäischen Konzertsaale paradieren!«, hatte sogar der Komponist gesagt, der sonst so überaus bescheidene Hämmerlein. »An die Beurteilung dieses Marsches wagt sich auch der bissigste Kritiker nicht heran — er verliert ja gleich die Besinnung.«

Aber wirklich — einfach großartig!

Außerdem wurde jetzt die Menagerie noch viel mehr ausgenützt.

Und dann kamen die beiden, wieder August der Starke — und Klothilde

In Tiroler oder oberbayerischen Kostümen. Schuhplatteln!

Und wie die beiden schuhplatteln konnten!

Wie der ungeheure Fettkloß seine Beine schlenkerte, wie er gegen die an den mächtigen Schenkeln prall ansitzenden Lederhosen klatschte, wie er fingerschnalzend um sein Dearndl herumtanzte, dazwischen immer einmal ein »Holdrio juhuuu« — und wie Klothilde tanzte — wie er sie dann nahm und herumschwenkte, bis zu der sechs Meter hohen Decke emporschleuderte und sie wieder auffing, dass die weißen Unterröcke flogen, und dann wieder losgestampft und losgeklatscht — »Holdrio juhuuu!«, — »Uiiiii!«, quiekte dann wieder das Dearndl dazwischen.

Ich kann nur eines sagen: es konnte nicht weiter gespielt werden. Das Theaterstück musste abgebrochen werden. Die tausend Menschen tobten und rasten und wollten die Bühne stürmen. Die beiden sollten weiter tanzen. Wir standen hinter dem gefallenen Vorhang wirklich schon mit dem Wasserschlauch bereit, die Dampfpumpe war angestellt, um den Brasilianern eine kalte Dusche zu geben.

Da ging der Vorhang wieder hoch. Ich selbst befand mich übrigens im Zuschauerraum neben der Patronin.

Also auch wir beiden wussten nicht, was jetzt kommen würde. Weiter gespielt konnte das Stück nicht werden.

Wieder kamen die beiden, August und Klothilde. Jetzt aber als holländische Bauern. Er im Flausrock mit großen Silberknöpfen, mit Pumphosen und der Zipfelmütze auf dem Kopfe, sie im kurzen, schwarzen Rock, blumengestickt, mit roten Strümpfen, im Haar einen merkwürdigen Aufputz — und vor allen Dingen beide an den Füßen ungeheure, unförmliche Holzschuhe. Also Schuhe, keine Holzpantoffeln.

Und jetzt begannen die beiden einen holländischen Bauerntanz, wobei es nur darauf ankommt, mit den Holzschuhen möglichst aufzustampfen, möglichst viel Spektakel zu machen.

Ach, wie soll ich es schildern!

Wie die beiden sich an den Händen fassten und im Kreise hopsten, wie die angeschossenen Frösche, tiefer und tiefer in die Kniebeuge gehend und immer höher springend, um immer kräftiger aufstampfen zu können, und wie sie dabei lachten!

Denn das ist mit die Hauptsache bei diesem holländischen Bauerntanz, das Lachen!

Bei unserer Tanzerei, beim Walzer und dergleichen, wird doch nicht etwa gelacht. Im Gegenteil, wenn man scharf beobachtet — bei uns schleicht sich in die Gesichter der Tanzenden, wenn sie sich so eng umschlungen hinwälzen, immer ein Zug, der dem wirklichen Menschen gar nicht recht gefallen will. Es wird immer so etwas Tierisch-Sinnliches.

Bei natürlicheren Tänzen, welche der Freude und Ausgelassenheit Ausdruck geben sollen, wie eben beim Schuhplatteln, kommt der Jubel auch nur ab und zu zum Durchbruch, das Richtige ist es noch längst nicht.

Aber das holländische Holzschuhstampfen, das ist ein richtiger Tanz! Man muss es nur einmal gesehen haben, wie die sonst so ernsten, phlegmatischen Holländer da zu ausgelassenen Kindern werden. Wie sie sich totlachen wollen, weil sie solchen Unsinn machen, sich gegenseitig bei den Händen zu fassen und im Kreise herumzuhüpfen, nichts weiter als mit den Holzschuhen möglichst viel Spektakel machend.

Und so tanzten diese beiden, nur im Kreise herumhopsend, in der Kniebeuge stehend, möglichst stampfend und sich ausschüttend vor Lachen.

Man sieht aber wohl, dass man so etwas nicht beschreiben kann.

Ich sehe noch seitwärts von mir einen brasilianischen Hüter der Ordnung stehen, wie er sich krampfhaft an einen eisernen Stützpfeiler klammert, wie er vornüber neigt und den Helm vom Kopfe verliert. Und in derselben Verfassung befand sich das ganze Publikum. Ein einziges brüllendes Lachen aus tausend Kehlen.

Nein, das Theaterstück konnte nun nicht mehr fortgesetzt werden.

Diese beiden durften wir überhaupt nicht mehr im Zwischenspiel auftreten lassen. Die machten doch mein ganzes Stück wirkungslos. Hinterher wirkte doch gar kein Witz mehr.

Albert trat auf.

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Nichts weiter.

Aber es genügte.

Wiederum erlag das gesamte Publikum dem seltsamen, unbeschreiblichen Zauber, eine ganz echte Zauberei!

Wohl wurden noch Beifallsstürme des Wahnsinns entfesselt, dann aber leerte sich der Theatersaal in ziemlicher Ordnung.

*

Wir waren in der Kajüte, die Patronin und ich. Auch Kapitän Martin kam.

»Frau Patronin, hier ist ein Herr draußen. Er wollte mich sprechen. Habe ihn gesprochen. Ehe Sie ihn empfangen, können Sie ja schon erfahren, um was es sich handelt.«

»Nun?«

»Es ist nämlich der Direktor und Besitzer vom Olympia-Theater. Dem größten hier. Auch mit Zirkus 3000 Sitzplätze. Er will Ihnen für jeden Abend 25 000 Dollars zahlen. Und das eine Woche lang. Sieben Vorstellungen. Er garantiert also 175 000 Dollars. Garantiert wirklich. Und seine Garantie ist gut. So viel hat er selbst auf dem Theater als Hypothek stehen.«

Die Patronin faltete die Hände, sah ganz kläglich aus.

»Ach, nun wieder das!«

»Well«, fuhr der Kapitän fort, »ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie nur drei solcher Wochen brauchen — und die werden wir schon zusammenbekommen, wenn auch nicht gerade in Rio allein — Und Sie haben einen Fond, mit dem Sie sich ein neues solches Schiff kaufen können, falls Sie dieses einmal verlieren sollten.«

Hilfesuchend blickte die Patronin nach mir.

»Georg —?«

»Nein!«, sagte ich einfach.

»Nein! Nein!«, fing sie da zu schreien an. »Verschonen Sie mich doch nur mit solchen Vorschlägen!«

»Well, ich hielt es nur für meine Pflicht. Also ich soll den Herrn fortschicken?«

»Ja! Ja!«

»Well, ich würde es an Ihrer Stelle auch nicht tun!«

sagte Kapitän Martin und ging. Und die Sache war erledigt.

Nein, wir durften so etwas nicht tun, sonst war unsere Freiherrlichkeit futsch!

Wer es versteht, der weiß eben, um was es sich hierbei handelte, und wer es nicht versteht, dem wird man es auch niemals begreiflich machen können.

Ich will hierbei gleich noch eines bemerken.

Wir haben sehr bald viele Konkurrenten bekommen.

Es hat bald nach uns noch viele Theaterschiffe gegeben, die von Hafen zu Hafen fuhren.

Nicht eines hat bestehen können! Sie kamen nie auf die Kosten. Hatte sich der Unternehmer eine Kalkulation gemacht, dass er so etwas wagte, dann war diese Kalkulation eben stets falsch gewesen.

Bei uns war das ja etwas ganz, ganz anderes! Solch eine Mannschaft, wirkliche Matrosen und Heizer, die selbst schauspielerten, hat man nie wieder zusammentrommeln können. So etwas lässt sich doch überhaupt nicht »zusammentrommeln«. Wir hatten doch auch nicht getrommelt. In Liverpool kommen die beiden Mannschaften zweier Schiffe auf einem einzigen zusammen und — ja Du lieber Gott, was soll man da weiter sagen!

Zusammentrommeln lässt sich so etwas jedenfalls nicht, niemals!

Das kommt, wie's eben kommt! Ist ein Geheimnis dabei, so lässt sich solch ein Geheimnis doch niemals mit Worten definieren.

Unser ganzes Schiff besaß nur zwei menschliche Arme, und an jedem Arme befanden sich 36 Paar Hände, und alle diese Hände wurden nur von einem einzigen Kopfe dirigiert.

Aber es war immer ein verschiedener Kopf. Einmal war es Kapitän Martins Kopf, einmal war es Hämmerleins Kopf, einmal war es mein Kopf.

Und diese menschliche Maschinerie besaß auch nur ein einziges Herz. Aber dieses blieb immer ein und dasselbe Herz.

Es war das Herz unserer Patronin

Das war das ganze Geheimnis! Anders weiß ich es nicht auszudrücken.

Auf dem Mississippi fahren einige Theater- und Zirkusschiffe. Dort rentiert es sich. Aber ein Seeschiff, von Hafen zu Hafen fahrend, um Vorstellungen zu geben — wer es gewagt hat, der hat dabei sein und anderer Leute Kapital verspekuliert.

Oder noch eine andere Lösung des Geheimnisses, weshalb es gerade uns glückte, will ich geben.

Das Rezept dazu stand in dem Ringe, den mir die Patronin gegeben hatte.

»Wir leben einander zuliebe.«

*

Am anderen Vormittag — Sonntag — war in der Bucht von Rio internationales Bootsracen der im Hafen liegenden Kriegsschiffe, Wettrudern im zehnriemigen Kutter. Zwischen zwei brasilianischen Kriegsschiffen, zwei englischen, einem nordamerikanischen, einem französischen und einem argentinischen.

Ein deutsches Kriegsschiff war nicht da; sonst wäre dieses Bootsracen nämlich auch nicht arrangiert worden.

Der geneigte Leser wird wohl schon gemerkt haben, dass ich in Sachen der Nationalitäten sehr gerecht bin. Ich bin deutscher Patriot. Aber alles hat seine Grenzen. Mir gefällt vieles, vieles nicht. Und nun gar in Sachen des Sports können wir vorläufig den Engländern nicht das Wasser reichen.

Aber das ist eine Tatsache: wenn Kriegsschiffe verschiedener Nationen ein Wettrudern ausschreiben, und ein deutsches Boot ist dabei, dann siegt aber auch ganz gewiss dieses deutsche Boot!

Ich weiß nämlich selbst nicht, woher das kommt! Die Engländer haben doch genau dieselben Boote, genau dieselben stämmigen Kerls, genau dieselbe Disziplin, sie werden genau so eingepullt — aber mit den deutschen Kriegsschiffmatrosen können sie nie antreten! Ich bin doch selbst mit in der Marine eingepullt worden. Aber ich weiß nicht, worin das Geheimnis liegt. Der erste Bootsmann bestimmt zum Bootsracen die Ruderer, wählt den Kuttersteuerer, meist nur einen Obermatrosen, dann noch eine kleine Rede —. »Jungens, Gnade Euch Gott, wenn Ihr nicht — unter meine Augen dürft Ihr ja nicht wieder treten!«, — und das Boot geht ganz sicher als erstes durchs Ziel. —

Die sieben Kapitäne der verschiedenen Schiffe hatten zusammen für die Offiziersmesse des siegenden Schiffes einen sehr schönen silbernen Pokal gestiftet, für die Deckoffiziersmesse einen silbernen Aschenbecher, die Mannschaft des ersten Bootes erhielt hundert Dollars, des zweiten fünfzig, des dritten fünfundzwanzig Dollars. Recht annehmbare Preise. Außerdem stiftete ein Privatmann aus Rio für die ganze Mannschaft des siegenden Schiffes noch für den Nachmittag Schokolade mit Kuchen.

Auch jedes Handelsschiff konnte sich mit einem Kutter beteiligen, ohne Einsatz. Es meldete sich keines. Da hätten auch höchstens die großen Passagierdampfer in Betracht kommen können, von denen ja genug im Hafen lagen, besonders deutsche, deren Mannschaft wird ja richtig eingepullt. Aber mit Kriegsschiffen können sie da denn doch nicht konkurrieren, da fehlt die fortwährende Übung. Ein Handelsmatrose lässt sich doch nicht drillen, bis er nicht mehr weiß, ob er nur so schwitzt oder ob ihm etwas anderes Fatales passiert ist. Denn man soll nur einmal sehen, wie die »Men of wars«, die Kriegsschiffmatrosen, gezwiebelt werden! Das Publikum bekommt es aber gar nicht zu sehen. Das würde wahrscheinlich solch eine Tierquälerei gar nicht dulden.

Nur eine Privatjacht meldete sich, einem Londoner Multimillionär gehörend, so einem Pillendreher, der die hartleibige Menschheit beglückt.

Aber das Boot wurde von den Schiedsrichtern nicht angenommen. Wohl war es ein zehnriemiger Kutter, seetüchtig, konnte aber nicht als großes Rettungsboot gelten, dazu war es zu leicht und zu schmal. Es war ein Rennboot für See.

Und dann schließlich die »Argos«, ein Mittelding zwischen Kauffahrteischiff und Jacht bildend.

Halb zehn ging es zum Start, nach der Ilha das Cobras — Schlangeninsel, es sind aber keine Schlangen mehr darauf, alles befestigt. Von hier nach Ilha Caquaradas, ungefähr sechs Kilometer, dort herum und zurück. Das heißt, so war die Strecke! Erst wurde gestartet. Die Bucht wimmelte von Lustdampfern und anderen Fahrzeugen, aber die Strecke wurde gut freigehalten. Das Wasser war leicht gekräuselt.

Während des Startes kollidierte das nordamerikanische Boot mit einem kleinen Dampfer, eine Planke wurde ihm eingedrückt. Mir hatte es recht ausgesehen, als ob etwas Absicht dabei gewesen wäre. Und richtig, die Yankees machten nicht mehr mit, obgleich sie ja noch andere Kutter an Bord hatten. Nein, sie wollten nicht mehr. Na, die wussten schon, warum nicht.

Wir lagen in einer Reihe. Unser Boot allein mit einer Handelsflagge. Natürlich mit der englischen.

Punkt zehn fiel der Kanonenschuss wir pullten an.

Es ging, wie es immer geht. Bei dieser Sorte Mischung ist es immer dieselbe Geschichte. Zuerst schossen die Brasilianer und Argentinier weit voraus. Diesen Südländern wird man nie, nie angewöhnen können, dass sie Kräfte für später sparen.

Allerdings darf dieses Kräfteaufsparen beim Bootsrudern nicht übertrieben werden. Es ist doch etwas ganz, ganz anderes als beim Pferde- und Radrennen. Bleibt man einmal beträchtlich zurück, dann lässt es sich nicht wieder einholen. Aber sich gleich mit solcher Wut in die Riemen zu legen, das ist natürlich Unsinn.

Dann kamen die Franzosen, dann wir, und in unserem Kielwasser folgten die beiden englischen Boote, deren Steuerleute geduckt wie die Katzen vorm Mäuseloche saßen.

Schon nach fünf Minuten hatten die Brasilianer und Argentinier ihre Lungen vollkommen ausgepumpt, und sofort schossen die beiden Engländer an uns und an dem Franzosen vorüber. Nun aber los! In der nächsten halben Minute hatten auch wir den Franzosen hinter uns, lagen dicht hinter dem letzten Engländer.

Nun war also die Sache betreffs der Nationalität bereits entschieden. Die englische Flagge siegte unter allen Umständen. Wenn nicht die englische Kriegsflagge, dann eben die englische Handelsflagge.

Und da kam auch noch, um das Kraut vollends fett zu machen, eine zweite englische Handelsflagge auf! Das Rennboot dies englischen Pillendrehers.

Eine unerhörte Dreistigkeit! Machte einfach mit!

Na, da es nun einmal mitlief, mochte es laufen. Zu sagen hatte es natürlich nichts. Es überholte uns schnell, war schon längst hinter der Insel verschwunden, als wir erst eine Landzunge erreicht hatten. Kunststück, solch ein leichtes Rennboot!

Herum um die Insel!

»Nun aber mal los, Jungens! Zu — gleich!!«

Und meine zehn Jungens legten los, jetzt erst richtig! Sie zogen durch, dass ich gefürchtet hätte, sie könnten die Eschenstangen durchbrechen — wenn es möglich gewesen wäre. Aber biegen taten sie sich wie die Reitgerten; denn jetzt waren sie nicht mehr mit schweren Bleirohren umgeben.

Es ist etwas Seltsames, ganz Seltsames mit dem Bootsrudern.

Mir gegenüber saß als erster der Matrose Erich, ein kleiner Blondkopf von Rügen, er gab den Schlag an. Seine blauen Augen bohrten sich in die meinen und diesen Blick reflektierte ich auf alle die anderen Augenpaare, und so wurde nur ein einziges Augenpaar daraus.

Weiß der Leser, was ich hiermit sagen will?

Pferd und Reiter können eins werden. Das ist gewiss.

Beim Bootsrudern aber können zehn Menschen und noch mehr plötzlich eine einzige Seele bekommen, und das Boot selbst wird lebendig, das ist kein totes Holz mehr, und jeder Riemen wird lebendig, und das alles hat nur eine einzige Seele.

Und so gingen wir an den beiden Engländern glatt vorüber, und ich konnte nur noch sehen, dass der Steuermann im vordersten Boot plötzlich die Maulsperre bekam.

Ach, dieses Toben an Land, dem wir uns jetzt immer mehr näherten, und ringsherum auf den Fahrzeugen, dieses Brüllen und Heulen und Pfeifen!

Vor uns lag das Rennboot ruhig auf Riemen. Es wollte mit uns noch ein bisschen spielen. Uns gleichgültig; es rannte ja nicht mit, aber eine Gemeinheit war's doch.

Jetzt brauchte ich nicht mehr den suggerierenden Blick, unser Sieg war bereits entschieden, und so blickte ich nach unserem Schiffe am Kai, deutlich zu sehen, ihm immer näher kommend.

An Deck mochten unsere Kameraden stehen, sie mochten jubeln — ich sah sie nicht. Ich sah nur dort oben in halber Höhe der Mittelwanten die Patronin hängen, in der einen Hand ein Doppelglas, das sie aber schon nicht mehr brauchte, in der anderen Hand ein weißes Tuch, um uns zu winken — aber sie winkte nicht.

Und dann blickte ich anders wohin.

Nach dem Heck unseres Schiffes, an dem die englische Flagge wehte.

Und dann fing ich an zu beten.

»Lieber Gott, lass doch schon die Depesche gekommen sein, lass doch gerade jetzt —«

Und in demselben Augenblick ward mein Gebet erhört.

Und in demselben Augenblick fing vor uns das Rennboot wieder zu pullen an, aber es klappte nicht, die Ruderer spielten Sechsundsechzig, das heißt, die Riemenblätter klapperten zusammen.

Und in demselben Augenblick erfasste ich die Situation.

»Durch, zieht durch, Jungens!«, heulte ich auf. »Die Depesche ist da, wir sind registriert!«

Und in demselben Augenblick schossen wir am Friedhof von Caju und an dem englischen Rennboote vorbei, und das konnte uns nun nicht mehr einholen auf dieser kurzen Strecke!

Und da bückte ich mich und holte aus dem Bootskasten etwas hervor, was ich für alle Fälle mitgenommen, wenn ich auch nicht darauf zu hoffen gewagt hatte — und dann griff ich hinter mir, zog die Flaggenstange heraus und riss mit den Zähnen die englischen Farben ab, knüpfte mit einer Hand und mit den Zähnen andere Farben daran und setzte die Stange wieder ein.

So gingen wir noch weit vor dem englischen Rennboot als erste durch das Ziel, aber nicht mehr als englisches Boot — jetzt knatterten hinter mir die schwarzweißroten Farben, so wie auch schon dort auf unserem Schiffe die deutsche Flagge wehte, und Kapitän Martin stand daneben und salutierte.

Das längst und sehnsüchtig erwartete Kabeltelegramm von Hamburg war endlich eingelaufen — die »Argos« war von Noald nach Hamburg überschrieben worden!

*

Noch eines muss ich erzählen, ehe wir Rio verlassen. Ein Stückchen, das August der Starke ausführte, noch an demselben Tage, überhaupt gleich nach unserer gewonnenen Wettfahrt.

Doch muss ich erst etwas vorausschicken

August der Starke hieß er, nicht wegen seiner Dicke, sondern weil er so stark war wie weiland der Kurfürst von Sachsen.

Der Mensch besaß eine geradezu unheimliche Kraft! Nicht nur eine gewöhnliche Bärenkraft. Der quetschte in seinen Armen jeden Bären zusammen.

Doch was heißt Kraft? Ich glaube, dass man Körperkraft niemals wird messen können. Ich habe einen schmächtigen Kerl gesehen, der zehnmal hintereinander eine Dreizentnerhantel stemmen konnte, aber auf der Schulter nicht einmal eine Fünfzigpfundkiste tragen.

Unser August war kein besonderer Held im Hantelstemmen. Er wog ziemlich drei Zentner, brachte nur mit Mühe und mit unsäglichem Schnaufen einen Klimmzug fertig, konnte also auch keine drei Zentner stemmen, brachte sie nicht über Brusthöhe, brachte die Arme nicht darunter.

Anderseits bewies er manchmal eine geradezu übermenschliche Kraft! Es musste nur einmal die Gelegenheit kommen. Da bekam er plötzlich einen roten Kopf, packte zu und führte etwas aus, was — man überhaupt gar nicht begreifen konnte. Leistungen, die man nur einem göttergleichen Herkules zuschreibt. Aber das ließ sich nicht kommandieren.

Das erste Mal hatte ich so etwas von ihm gesehen, als wir damals vor der Bucht in der Magellanstraße vor Anker gingen. Gerade als der Anker fiel, schlippte die Kette von dem Zahnrad der Winde ab, sie war nicht ordentlich aufgelegt worden. Die herabrasselnde Kette konnte sofort gebremst werden, es hatte auch sonst nichts weiter zu sagen, es ging auch so, wurde dann aber eine überaus langweilige Geschichte.

Als die Kette abschlippte, sprangen sofort vier Matrosen hinzu, gaben aber auch gleich den lächerlichen Versuch auf, die Kette noch über die Winde werfen zu wollen.

Da sprang auch der zweite Bootsmann herbei, packte die Kette und warf sie über die Winde.

»Let go!«

Was hierzu für eine Kraft gehört hatte, das lässt sich nicht mit Zahlen ausdrücken. Da muss man die Verhältnisse kennen, um so etwas beurteilen zu können. Und nur mit der einen Hand, nur mit der linken Hand hatte er das ausführen können! Denn mit der rechten Hand hatte er gleichzeitig die Kettenglieder über dem Zahnrad geordnet! Es war eine Kraftleistung gewesen, die man keinem Menschen zutraut, einfach menschenunmöglich, wenn man sie nicht selbst gesehen hat. —

Ich will nicht weiter schildern, wie unser siegendes Boot an Bord empfangen wurde, jetzt unter deutscher Flagge.

Wir hatten übrigens noch gar nicht die Berechtigung die zu hissen, vorläufig hatte die Depesche aus Hamburg erst Kapitän Martin bekommen, das musste erst angemeldet werden.

»Frau Patronin, da gehen Sie gleich selbst auf Seemannsamt, dann geht's am schnellsten. Sie sind die Reederei, ich komme als stellvertretender Kapitän mit.«

Gut, wir beide gingen sofort; nahmen aber einen Wagen, einen zweirädrigen, ein Hansom, elegant und schnell.

Wir fuhren nach dem Seemannsamt, in einer Viertelstunde war alles erledigt; den Wagen hatten wir draußen warten lassen.

Als wir einstiegen, wurden wir erkannt. Die von der »Argos«, die Sieger im heutigen Bootsrennen, welche dem Waisenhaus wiederum die gestrige Theatereinnahme überwiesen haben, 8000 Dollars.

Oder wahrscheinlich hatte der Portier oder sonst wer gesagt, dass wir da drin wären und bald wieder herauskommen müssten, das Publikum, sich immer mehr anstauend, wartete schon darauf, um uns eine Ovation zu bringen.

Also sie brüllten und schwenkten Hüte und Tücher. Und dann, als wir glücklich eingestiegen waren, schirrten sie das Pferd ab, um selbst den Wagen zu ziehen und zu schieben. Der Kutscher sprang schnell ab, um das Pferd unter seine Obhut zu nehmen, um seinen Wagen kümmerte er sich nicht, da hätte ihm ja jeder Schaden ersetzt werden müssen.

Die Fuhre ging unter dem nötigen Brüllen und Johlen ab, bis der Hafen und unser Schiff in Sicht kam.

Da kam ein Trupp unserer Jungens die Straße entlang. Sie wollten an diesem schönen Sonntagnachmittag in Rio noch ein bisschen poussieren; denn heute Abend ging's in See, da konnten sie nur noch mit Fischen poussieren.

Die sahen uns und auf welche Weise wir vorwärts befördert wurden.

Und da wurden die Jungens eifersüchtig.

Einmal eine sehr schöne Eifersucht.

»Hallo, zurück da, dat is unser Sach!«

Also auch die menschlichen Pferde wurden ausgespannt, ob sie wollten oder nicht.

Aber auch die drei Dutzend Argonauten kamen nicht dazu, uns zu ziehen.

»Dat is allien mien Sach!«, sagte der zweite Bootsmann, der mit dabei war.

Was nun weiter geschah, konnte ich ja nicht sehen, denn ich saß mit in dem Wagen.

August kroch unter den Wagen, bückte sich noch tiefer, stemmte Kopf und Hände fest an und — hob den ganzen Wagen aus!

Noch etwas ausbalanciert, und nun Paradeschritt angenommen.

Und so im elastischer Paradeschritt marschierte er die noch wenigstens 400 Meter, marschierte über die Laufbrücke und setzte den Wagen fein säuberlich an Deck nieder.


Illustration

Im elastischen Paradeschritt marschierte August
mit dem besetzten Wagen den etwa 400 Meter be-
tragenden Weg bis auf das Deck der »Argos«, ge-
folgt von einer staunenden und johlenden Menge.


Und wie er wieder hervorkroch, da verwandelte sich das Ungetüm in einen österreichischen Hausdiener, so elegant öffnete er mit, einer zierlichen Verbeugung den Schlag.

»Bitte, gnä Frau, wollen's gefälligst herausspazieren!«, Kapitän Martin schüttelte dann den Kopf.

»Man hält es nicht für menschenmöglich!«

*

23. Kapitel

Auf dem Amazonenstrome

Originalseiten 523 — 536

Einem Segelschiffe, in der Nähe der brasilianischen Küste, das die Orientierung verloren hatte, war schon seit einiger Zeit das Trinkwasser ausgegangen.

Immer drohender wurde das Schreckgespenst des Verschmachtungstodes!

Da tauchte ein Dampfer auf, kam näher, kam in Rufweite.

»Wasser, Wasser, wir verdursten!«

»Na da schlagt doch eine Pütze auf«, wurde zurückgelacht, »Ihr seid doch schon hundert Meilen drin im Amazonenstrome!« —

Solche und ähnliche Geschichten werden erzählt, um die Mächtigkeit des Amazonenstromes zu charakterisieren. Mögen ja auch wirklich passiert sein.

Schon hundert Meilen den Amazonenstrom hinauf? Also Seemeilen. Das sind 25 geografische Meilen. Das ist gar nichts.

Dort ist man noch auf dem Meere

Dass das Süßwasser ist, das sieht man ihm nicht an. Der Amazonenstrom, Rio das Amazonas, hieß früher Maranon, mit welchem Namen die Engländer ganz fälschlicherweise jetzt nur noch den Oberlauf bezeichnen, und alle Welt plappert gehorsam nach.

Mar a non? So müsste es im fragenden Tone heißen. Meer oder nicht? Diese Frage gebührt aber doch dem Unterlaufe, doch nicht dem Oberlaufe!

Was man über diesen Strom auch für Schilderungen lesen mag — von diesen Wassermengen kann man sich gar keine Vorstellungen machen. Bis man den Strom selbst einmal befahren hat, wenigstens bis nach Manaos.

Wenn man eine gewöhnliche Karte von Südamerika hat, womöglich Nordamerika auch noch gleich darauf, so sieht man Manaos sehr nahe der Küste liegen, an der Einmündung des Rio Negro.

's ist nur ein Katzensprung.

In Wirklichkeit beträgt die Entfernung von Para, dem Mündungshafen des Amazonas, bis nach Manaos in der Luftlinie 180 geografische Meilen!

Das ist genau dieselbe Entfernung, wie von Hamburg über die Alpen weg bis nach Neapel. Das ist genau die Länge der Donau von der Quelle bis zur Mündung, in der Luftlinie.

Die Hamburg-Amerika-Linie lässt — in Verbindung mit der Südamerikanischen Linie — fünf Dampfer nach Manaos gehen, aller 14 Tage einen. Darunter ist zum Beispiel die »Rhaetia«, 6600 Tonnen, die geht vollbeladen bis nach Manaos hinauf!

Die braucht dazu von Para an fünf Tage und fünf Nächte ununterbrochene Fahrt, legt des Nachts nicht etwa an. Sie dampft allerdings nicht volle Kraft, sondern nur acht Knoten.

Und wenn man nun so 800 Seemeilen in fünf Tagen und Nächten gedampft ist, dann kann man sich dort oben bei Manaos noch immer fragen: mar a non? Ist das ein Meer oder ist das ein Strom?

Mit den bloßen Augen sind die Urwälder an den Ufern noch nicht zu erkennen.

Allerdings gibt es viele bewaldete Inseln.

Der Rio Negro gilt als der größte Nebenfluss. Nur weil er der längste ist und am weitesten befahren werden kann. Er hat die größte Bedeutung; trotzdem ist er bei seiner Mündung bei Manaos ja nur zwei Kilometer breit.

Vorher der Tapajos zum Beispiel hat gar keine Bedeutung, er kann wegen Stromschnellen nur lumpige 340 Kilometer befahren werden, und mündet trotzdem mit einer Breite von dreizehn Kilometern! Fast zwei geografische Meilen breit!

Der Amazonas selbst ist an seiner Mündung 250 Kilometer breit, das ist ungefähr so wie von Berlin nach Hamburg; er drängt, obgleich man von einer Strömung kaum etwas merkt, bei Ebbe das Meer 200 Kilometer zurück, so weit also macht sich sein Wasser bemerkbar.

Die ankommende Meeresflut muss nun wieder den Strom zurückdrängen, das will sich der Strom erst nicht gefallen lassen, und daraus entsteht aller 12 Stunden und einigen Minuten das Phänomen der sogenannten Pororoca. Die Meeresflut wälzt sich als eine drei bis vier Meter hohe Mauer mit unheimlicher Geschwindigkeit heran, ihr Donnern ist mehr als 10 Kilometer weit hörbar. Dieses Phänomen würde an der Mündung alle Schifffahrt unmöglich machen, jedes kleinere Fahrzeug wenigstens, das in den Bereich dieser Welle kommt, ist verloren, wenn der liebe Gott nicht dafür gesorgt hätte, dass auch in dieser Hinsicht kein Baum in den Himmel wachsen kann. An jeder tieferen Stelle der Mündung sinkt nämlich diese Flutwelle in sich zusammen, und ganz, ganz merkwürdig ist es nun, dass an diesen Stellen das Wasser ganz ruhig bleibt. Die Wassermauer verschwindet plötzlich, schnellt erst auf der nächsten Untiefe wieder empor, wälzt sich weiter, und die übersprungene Stelle bleibt ganz glatt. Der Physiker kann erklären, woher das kommt, das ist aber sehr umständlich.

Diese Untiefen sind genau bekannt, ebenso die Zeit, wann die Pororoca kommt, und so ist es nur eine Unvorsichtigkeit, wenn einmal ein Unglück geschieht.

Bei Obidos, in der Luftlinie hundert geografische Meilen von Para, also von der Mündung entfernt, lässt sich die Wassermasse des Amazonenstromes einmal berechnen, weil er hier zwischen Felswänden auf zwei Kilometer zusammengedrängt wird bei einer Tiefe von 80 bis 100 Meter. Dabei ist aber zu bedenken, dass der Unterschied der Wasserstandshöhe zwischen trockener und Regenzeit 12 bis 14 Meter beträgt. Es wird also das Mittel angenommen. Demnach bewegt der Strom bei Obidos in der Sekunde 120 000 Kubikmeter Wasser.

Das ist aber noch nicht das ganze Wasser des Amazonenstromes. Abgesehen davon, dass sich ja auch noch hinter Obidos einige ungeheure Nebenflüsse in den Hauptstrom ergießen.

Ungefähr 200 Nebenflüsse sind bekannt, von denen keiner kleiner ist als der Rhein. Die anderen Nebenflüsse sind ganz unbekannt.

Die professionellen Lotsen sprechen von 700 Nebenflüssen, und es ist recht glaublich.

Nun aber kommen noch die sogenannten Bifurkationen in Betracht, ein Wort, das ich noch öfters gebrauchen werden muss.

Das sind die natürlichen Wasserverbindungen wieder zwischen den Nebenflüssen. Die großartigste Bifurkation, die es überhaupt in der Welt gibt, ist die zwischen dem Rio Negro und dem Orinoko, so dass dieser ungeheure Strom von Venezuela also überhaupt direkt mit dem Amazonas verbunden ist! Man kann von Paras aus durch ganz Brasilien fahren und kommt oben am Karibischen Meere wieder heraus! Mit Dampfern! Allerdings Umladestellen wegen Stromschnellen, tagelange Märsche.

Und ebenso kann man von Para aus bis nach den Anden am Stillen Ozean fahren, eben auf diesen Bifurkationen, ohne überhaupt den Amazonenstrom zu berühren! Immer von einem Nebenflusse zum andern!

Von diesen Bifurkationen wissen wir freilich herzlich wenig. Jeder Indianerstamm kennt doch nur die, an der er wohnt. Und wir kennen doch nicht einmal diese Indianerstämme. Es wird eben eine Gegend so groß wie ganz Europa, bedeckt mit undurchdringlichem Urwald, von zahllosen Wasseradern durchzogen, welche das Wasser der Regenzeiten, total verschieden, auffangen und es zum Teil nach dem Atlantischen Ozean abführen, ohne dass es den Hauptstrom, den Amazonas, erreicht. Erst an der Mündung, ein Gebiet umfassend so groß wie ganz Deutschland, 10 000 Quadratmeilen, trifft alles wieder zusammen. —

Noch will ich erwähnen, dass eine Reise von Hamburg nach Manaos, vier Wochen dauernd, 160 Mark kostet. Natürlich Zwischendeck. Aber inklusive Beköstigung. Und so eine Beköstigung wie auf solch einem Hansa-Dampfer bekommt man in keinem Sanatorium für wöchentlich 60 Mark. Hier kostet sie nur 40 Mark, und man hat dafür noch freie Fahrt. Auch unsereiner kann sich gar nicht ausrechnen, wie die das so billig machen können. In Madeira und Para einige Tage Aufenthalt — alles mit eingeschlossen, nicht etwa noch extra Bezahlung für Aufenthalt an Land. In Manaos bleibt der Dampfer fünf Tage liegen, nimmt neue Fracht, und fährt man mit ihm gleich wieder zurück, so kann man auch noch diese fünf Tage frei an Bord wohnen. Fleisch so viel wie man verschlingen kann.

Der billigste Preis für eine Fahrt 1. Klasse — eine 2. Klasse gibt es an diesen Dampfern nicht — beträgt 600 Mark. Das kommt auf die Kabine an. Man kann in der Kapitänskajüte, dem Staatszimmer der Salondampfer entsprechend, für 4500 Mark fahren, aber die Beköstigung ist ganz die gleiche.

Ich habe hier einen Speisezettel von der »Rio Grande«, von Hamburg aus auch diese Linie befahrend, nach Manaos, an Bord gedruckt am 16. Februar 1910, und es dürfte den Leser doch vielleicht interessieren, zu erfahren, was so ein Kajütreisender für seine 600 Mark für die vier Wochen bekommt.

Ich schreibe die Tages-Speisekarte wörtlich ab.

Erstes Frühstück von 7 bis 9: Kaffee, Tee, Kakao Weiß und Feinbrot, Zwieback, Semmel, geröstetes Brot, verschiedenes Gebäck. Marmelade, Ingwer, Honig. Früchte, Hafergrütze, Milchreis. Gekochte und verlorene Eier, Rühreier, Spiegeleier mit Schinken oder Speck. Omelettes mit jungen Erbsen, mit Spargel, mit Champignons und mit feinen Kräutern. Pfannkuchen, Apfelkuchen Kalbskotelettes, Beefsteak, Hammelkotelettes, Frankfurter Wurst vom Rost. Rauchheringe. Gekochte, gebratene und gebackene Kartoffeln. Verschiedene Sorten Aufschnitte. Käse. —

Nun bemerke ich aber dazwischen, dass dies nicht etwa so serviert wird, wie dort in dem Speisehaus von Marseille! Jeder langt zu und bestellt, so viel er will. —

Gabel-Frühstück um 12: Schwedische Vorspeise. Olla Podrida. Geeiste Kraftbrühe. Kalbszunge nach Mailänder Art mit Erbsen. Entrecote mit Strohkartoffeln, Salat, Apfelkompott, Baba mit Früchten. Frikadellen mit Kartoffelsalat.

Gleichzeitig auf dem Nebenbüfett: Geräucherter Lachs, Bratheringe, Sardinen in Öl, Rollmops, Anchovis, Bismarck-Heringe. Geräucherter Schinken. Frische Wurst. Kalter Braten. Geflügel. Mikado-Salat. Russischer Salat. Kartoffelsalat Radieschen.

Nachmittags Kaffee, Tee, Kakao mit Gebäck, in den Tropen Limonade und Eis mit Waffeln.

Hauptmahlzeit abends 7: Russische Platte. Fasanensuppe nach Dubarry. Kraftbrühe. Steinbutt mit geschlagener Butter. Hammelrücken garniert. Chaudfroid nach Villeroi. Kapaunen. Kompott und Salat. Stangenspargel. Gefrorene Speise von Ananas. Nachtisch.

Dann wird an Deck oder im Salon noch ein Büfett aufgeschlagen. —

Solch eine Seereise ist eine einzige große — — Fresserei! Nun muss man aber auch gesehen haben, was diese Passagiere, besonders nach Überstehung der Seekrankheit verschlingen!

Denn von einem »essen« oder gar »speisen« darf man da nicht mehr sprechen. Das wäre Frevel.

Wer so etwas nicht miterlebt hat, der kann sich gar keine Vorstellung davon machen.

*

Seit drei Tagen segelten wir den Amazonenstrom hinauf.

Nach der englischen Seemannssprache, die doch auch die deutsche beeinflusst, segelt auch jeder Dampfer, wenn er auch überhaupt gar keinen Mast hat.

Wir aber segelten wirklich, hatten alle Leinwand gesetzt! Denn in dieser Breite, fast direkt auf dem Äquator, weht fast ununterbrochen das ganze Jahre hindurch der Passat. Bis nach Tabatinga kann man hinaufsegeln bis an die brasilianische Grenze, von Para aus 3650 Kilometer Wasserstrecke, was einer Entfernung von London bis nach Konstantinopel entspricht. Ich gebe solche Vergleiche, weil man sich ja sonst gar kein Bild machen kann. So wird man übrigens auch auf der Seemannsschule instruiert.

Natürlich alles mit Ausnahme. Bei großen Krümmungen hört die Segelei auf. Auch durch die Enge von Obidos muss, man unter allen Umständen dampfen oder sich schleppen lassen.

Bis dorthin sollten wir aber überhaupt gar nicht kommen.

In Para war kein Lotse an Bord genommen worden. »Mi sabe.«

Gut, wenn der Prospektador uns führen konnte. »Sie haben den Amazonenstrom oder doch die betreffende Strecke öfters befahren?«, fragte Kapitän Martin nur noch.

»Si, si, Señor Capitano.«

»Sie kennen die Strecke auch wirklich ganz genau?«

»Si, si, Señor.«

»Wenn uns ohne Lotsen ein Unfall passiert, wenn wir ein anderes Schiff rammen, sind wir dafür voll und ganz verantwortlich?!«

»Mi sabe.«

»Sind Sie denn ein verantwortlicher Lotse?«

»No, Señor.«

»Ja, wenn uns nun etwas passiert? Können Sie denn eine Verantwortung auf sich nehmen?«

Dieses Gespräch fand in der Kajüte statt, und der Spanier deutete einfach auf den mächtigen Panzerschrank.

Ja, da hatte er allerdings recht! Dort lag doch sein Riesendiamant drin. Gewiss, das war Garantie genug. Da konnten wir schon einmal einen Dampfer über den Haufen rennen.

Also wir segelten mit voller Leinwand hinauf, machten in der Stunde im Durchschnitt sechs Knoten, hielten freilich immer auf Dampf.

Ich will diese dreitägige Partie auf dem Unterlaufe nicht weiter schildern. Es war später interessanter, und sonst müsste ich später wiederholen, wenn ich jetzt schon von Krokodilen und dergleichen erzählen wollte.

Während der ganzen drei Tage waren von der Mitte aus die waldigen Ufer nur durch das Fernrohr zu erkennen. Freilich näherten wir uns manchmal einem Ufer ganz beträchtlich und dann gab es eine Unmasse von Inseln.

Und das war es ja eben! Wir mussten ja nicht, zwischen welchen Inseln man durch musste. Mancher tiefgehende Dampfer vermied die freie, kilometerbreite Wasserstraße, fuhr ganz dicht an einer Insel vorbei, was wir nie gewagt hätten. Wir hätten die freie Straße benutzt und — wären festgerannt. Der Dampfer hatte eben einen Lotsen an Bord. Aber solch einem Dampfer kann man doch nicht immer folgen.

Nun, der Prospektador führte uns eben, und der kannte das Wasser, das merkte man an allem und jedem. Unablässig stand er Tag und Nacht auf der Kommandobrücke, die Richtung angebend. Dann kamen ja auch stundenlange freie Strecken, die bezeichnete er, während dieser Stunden schlief er. Mit den entgegenkommenden Jankandas, den riesenhaften Flößen, auf denen die eingeborenen Schiffer mit ihren Familien ganze Dörfer errichten, wusste der Kapitän allein fertig zu werden. In der Nacht wurde gedampft, da hat man das Schiff denn doch anders in der Gewalt.

Am Morgen des vierten Tages streckte der Spanier seine Krallenhand nach Nordwesten aus.

»Aca — dort!«

»Was ist dort?«, fragte Kapitän Martin.

»Maycuru.«

»Das ist ein See.«

Wir studierten doch unaufhörlich die Karten. Was darauf zu sehen war, werde ich gleich sagen, nämlich herzlich wenig.

»Si, si, Señor.«

»Durch einen Nebenfluss mit dem Amazonas verbunden?«

»Si, si, Señor.«

»Von diesem See geht ein Strom weiter nach Norden oder kommt vielmehr von dort oben her, der ebenfalls Maycuru heißt?«

»Si, si, Señor.«

»Da wollen wir hinein?«

»Si, si, Señor.«

»Mensch! — Señor Montezuma della Estrada! — Nun lassen Sie doch endlich einmal mit sich sprechen!«

»Si, si, Señor Capitano.«

»Wie weit ist es dann noch bis nach jener Stelle?«

»Mit dieser Fahrt, sechs Knoten in der Stunde, noch vier Tage, nur Tagesfahrt.«

Na endlich! Denn bisher hatte der Spanier auf solche Fragen immer nur ein »Mi sabe« gehabt.

»Also nur Tagesfahrt?«

»Si, si, Señor. In der Nacht machen wir fest oder gehen vor Anker oder bleiben einfach liegen.«

»Und wir kommen mit diesem großen Schiffe überall durch?«

»Es todas partes — überall.«

»Brauchen die Rahen nicht abzunehmen?«

»No, Señor.«

»Sie nicht einmal längs zu richten?«

»No, Señor.«

»Aber segeln können wir nicht mehr?«

»No, Señor. Dampfen.«

»Wir haben aber doch nur 350 Tonnen Kohlen an Bord.«

»Mi sabe!«, fing es jetzt wieder an.

»Ich glaube ja, dass es reicht. Aber warum waren Sie denn nur so dagegen, dass wir in Rio oder in Para noch mehr Kohlen einnahmen?«

»Mi sabe.«

»Das Schiff kann den Weg mit voller Ladung machen?«

»Muss es doch können.«

Natürlich, wir wollten doch gleich bei der ersten Rückfahrt 4500 Tonnen Chinarinde mitnehmen. So viel konnte unser Schiff dann noch fassen.

Dann will ich hier gleich erledigen, weshalb wir keine anderen Arbeiter mitnehmen konnten.

Einfach deshalb nicht, weil der wilde Chinabaum frei ist.

Wer ihn findet, der kann ihn abschälen, dem gehört die Rinde.

Und dagegen hilft kein Arbeitskontrakt und gar nichts. Wir konnten wohl Hunderte von Arbeitern engagieren, wir brachten sie hierher — und dann schälen sie für sich die Rinde ab.

Oder wir mussten den ganzen Distrikt kaufen. Dann hatte der Arbeitskontrakt natürlich Gültigkeit. Was auf dem Lande wächst, das gehört doch dem Besitzer.

Da mussten wir aber erst wissen, wo sich der Distrikt befand, also seine geografische Lage kennen. Oder das war auch gar nicht nötig, auf jeden Fall kamen dann Regierungsbeamte und Vermesser mit. Das sind die hauptsächlichsten Unkosten. Sonst bekommt man ja dort das Land für ein Butterbrot oder wirklich geschenkt, allerdings unter sehr scharfen Bedingungen. Man muss es auch wirklich urbar machen.

Das wollten wir nicht? Was wollten wir denn sonst dort mit dem Lande machen?

Schon deshalb kamen Regierungsbeamte mit.

Nun fanden die dort die Chinabäume.

Dann fingen die selber zu schälen an, oder, wenn sie so patriotisch gesinnt waren, dann benachrichtigten sie die Regierung, dann registrierte die das Land für den Fiskus, beutete die wilde Chinakultur für eigene Rechnung aus.

Kurz und gut, bei solch einem Geschäft konnte nur ein Schiff wie das unsere in Betracht kommen, mit solch einer Mannschaft! Auf jedem anderen Schiffe hätte leicht Mord und Totschlag ausbrechen können. Wenn sechzehn Millionen Mark an den Bäumen wachsen, man brauchst sie nur abzuschälen, dann hört die Gemütlichkeit und die Freundschaft auf, oder die Menschheit müsste sich plötzlich sehr verändern.

Natürlich gibt es gute Kameradschaft. Aber die erst einmal finden! Hier bei uns war sie vorhanden.

Ja, wie war denn dieser Spanier in Kapstadt gerade zu uns gekommen?! Er kannte uns doch noch gar nicht!

»Mi sabe.«

Na schön. Und wenn er von alledem auch nicht den geringsten Anteil haben wollte — war uns auch recht.

Jetzt, da wir uns dem Ziele näherten, da die Sache greifbare Wirklichkeit bekam, freuten wir uns ja nicht schlecht auf die sechzehn Millionen.

An warnenden Stimmen fehlte es freilich immer noch nicht, wenn einmal gar zu große Zukunftspläne gemacht wurden.

»Täuv man, täuv man, wir haben sie noch nicht in der Tasche, die Chinarinde noch nicht im Laderaum, noch nicht einmal für die erste Rückfahrt!«

Diese Warner oder Zweifler hatten auch ganz recht. Nur das konnte schon besprochen werden, dass wir uns dann für einige Zeit trennen mussten. Das beste war wohl, wir schälten erst alle Rinde ab — anders war es überhaupt gar nicht möglich — dann wurde die erste Rückfahrt angetreten. Vielleicht die Hälfte der Mannschaft blieb als Bewachung zurück. Die einmal abgeschälte Rinde gehörte dann natürlich uns, die wurde in weiteren Fahrten abgeholt, oder dann konnten wir ja auch andere Fahrzeuge mieten. —

Eine Stunde später dampften wir mit festgemachten Segeln in den Maycuru ein.

Wir besaßen drei Spezialkarten von diesem nordöstlichen Teil Brasiliens, eine deutsche, eine englische und eine französische. Dabei bemerke ich, dass es bis heute noch keine bessere Spezialkarte gibt.

Auf allen dreien war dort, vom Amazonenstrom durch eine schmale Landzunge getrennt, ein blauer Klecks angegeben, ungefähr 50 Kilometer im Durchmesser. Das war der See Maycuru.

Auf der englischen und deutschen Karte floss in diesen See von Norden her ein Fluss oder ein Strom, wollen wir gleich, sagen. Für Flüsse war auch auf dieser Spezialkarte gar kein Platz. Die englische Karte nannte diesen Strom ebenfalls Maycuru, die deutsche gab ihm — immer gewissenhaft — lieber gar keinen Namen. Und noch gewissenhafter waren diesmal die Franzosen, die hatten überhaupt gar keinen Strom eingezeichnet. Und da taten sie sicher recht, denn auf der englischen und deutschen Karte hatte dieser Strom einen total anderen Lauf bekommen!

Nun kann man sich wohl ungefähr ein Bild machen! So unbekannt ist dort alles noch, gleich nahe der Mündung des Amazonenstromes! Mächtige Dampfer fahren dicht vorüber, man weiß, dass dort, nur durch eine schmale Landzunge getrennt, die natürlich ebenfalls durchflossen wird, ein großer See liegt, 2500 Quadratkilometer, aber man weiß noch nicht einmal, ob dieser See einen Zufluss hat, wahrscheinlich ein mächtiger Strom, so lang und breit wie der Rhein!

Und im übrigen ist dort ein Gebiet von 800 Kilometer Breite und 600 Kilometer Länge, nämlich bis nach Guayana hinaufreichend, also 10 000 geografische Quadratmeilen, so groß wie Deutschland, wo auch auf den genauesten Spezialkarten einfach ein weißer Fleck gelassen ist, nur durchzogen von dem »vermutlichen« Maycuru!

So sieht es dort aus! So viel wissen wir von Brasilien. Und das nahe der Küste! Vom Innern darf man gar nicht erst sprechen.

*

24. Kapitel

Angenehme Überraschungen

Originalseiten 536 — 553

In dieses völlig unbekannte Urwaldgebiet, so groß wie ganz Deutschland, drangen wir jetzt ein. Das heißt, der Prospektador sagte es uns, dass wir den Amazonenstrom verlassen hätten und uns jetzt auf einem Nebenstrome befanden, auf dem Maycuru.

Wir konnten das doch nicht riechen, wir konnten doch auch wieder einmal um eine Insel herumfahren.

Bald freilich merkten wir doch, dass wir nicht mehr auf dem Hauptstrome waren. Die Schiffe, die Boote, die Flöße fehlten. Kein Mensch mehr war zu erblicken.

Ja, wer hat denn auch abseits des Amazonenstromes etwas zu suchen? Höchstens noch auf denjenigen Nebenflüssen, an denen Ansiedlungen oder doch wenigstens Indianerdörfer liegen, mit denen etwas zu feilschen ist; oder noch eine Forschungsexpedition könnte in Betracht kommen.

Wir sahen keine Forschungsexpedition und kein Indianerdorf, nicht einmal einen einzelnen Indianer.

Aber desto mehr Krokodile. Und die Burschen wurden hier immer dreister. Wir konnten dicht an einer Sandbank vorüberfahren, auf der sie sich in Masse sonnten, die rührten sich gar nicht mehr. Wir konnten schießen — der Angeschossene schleppte sich dem Wasser zu, die anderen nicht.

Die kannten die Feuerwaffe noch gar nicht, noch nicht einmal den Menschen! Das war es!

Und so ging es weiter und weiter dem Nordwesten zu — vier Tage lang!

Uns ward ganz unheimlich und immer unheimlicher zumute!

Weshalb?

Weil wir Seeleute waren!

Weil wir hier mit unserem Seeschiffe von 5000 Tonnen mit dreißig Meter hohen Masten im Urwalde herumgondelten!

Wenn hier nun einmal unserem Prospektador etwas passierte?

Wenn dem jetzt plötzlich beliebte, mit dem letzten Atemzuge seine edle Seele auszuhauchen?

Wir fanden uns nicht wieder zurück.

Weshalb nicht — das lässt sich nicht so leicht erklären, da muss man solch eine Wald- und Wassergegend gesehen haben.

Wo war denn eigentlich der berühmte See Maycuru geblieben?

Wir hatten nichts davon bemerkt, obgleich wir wirklich durchgefahren waren. Der war eben gleichfalls mit zahllosen Inseln und Inselchen durchsetzt.

Und so gingen hier allüberall zahllose Wasserstraßen ab, wenn man um sich blickte, so sah man immer mindestens ein Dutzend Einbuchtungen die ebenso gut weiter gehen, wie blind enden konnten.

Wie dieser Spanier sich in diesem Labyrinth zurechtfand, das wussten wir nicht; aber das wussten wir, dass wir uns nicht wieder zurückfinden würden.

Dass wir aller Stunden eine geografische Ortsbestimmung machten, das hatte eigentlich gar keinen Zweck, so genau kann die im Handumdrehen nicht gemacht werden, außerdem war ja der Himmel manchmal bedeckt, bei der nächsten Bestimmung waren wir schon wieder einige zehn Meilen vom letzten Punkte entfernt.

Und mochte Juba Riata, dieser ehemalige Cowboy, auch einen noch so guten Orientierungssinn besitzen, ebenso der Eskimo — in diesem Urwaldslabyrinthe hörte es auf. Die beiden gestanden gleich ganz offen, dass sie sich nicht wieder zurückfinden könnten.

Naja, zurückfinden! Das wollten wir schon. Aber nicht in vier Tagen; in vier Wochen oder in vier Monaten, oder in vier Jahren wollten wir den Amazonenstrom schon wieder erreichen, denn dann musste doch vor dem Schiffe Schritt für Schritt gelotet werden, damit es nicht aufrannte.

Doch es hatte ja gar keinen Zweck, sich solchen Grübeleien hinzugeben. Der Prospektador war ja bei uns. Wir mussten nur aufpassen, dass er nicht einmal über Bord rutschte, einem Alligator in den Rachen hinein. Überessen tat der sich mit seinen Zwiebeln und Brot schon nicht. Überarbeiten ebenfalls nicht. Und auch sonst schien er ganz gesund zu sein, sonst hätte er doch nicht so mörderlich Zigaretten rauchen können. —

Die vierte Nacht brach an.

Wir waren auf einer größeren Wasserfläche vor Anker gegangen, umringt vom Urwald, durch den sich die Wasserstraßen zogen. Guter Ankergrund fand sich überall in einer Tiefe von fünfzehn bis zwanzig Meter.

Sobald die Dunkelheit anbrach erwachte der Urwald zum eigentlichen Leben. Die Jaguare brüllten, die Wasserschweine grunzten, die Tapire quiekten und die Affen machten einen noch größeren Spektakel als am Tage. Nur das Geschrei der Papageien war verstummt. Die hielten ihren nächtlichen Schlummer auf dünnen Zweigen, wo ihnen die Raubtiere nicht beikommen konnten.

Ich werde von diesen Tieren später noch viel zu erzählen haben; nur die Moskitos will ich gleich erledigen.

Die wurden ebenfalls bei Nacht erst richtig lebendig. In Myriaden stellten sie sich ein. Sie sind nicht größer als unsere Mücken. Es sind überhaupt ganz genau dieselben lieben Tierchen, nur wirkt in der tropischen Hitze ihr Stich noch ganz anders, jeder Stich wird zu einer Beule, wozu auch kommen mag, dass sie dort am Rüssel mehr Verwesungsstoff haben. Und nun eben Myriaden!

Doch man kann sich leicht gegen sie schützen. Man reibt einfach alle Körperstellen, die ihren Angriffen ausgesetzt sind, mit Lorbeerfett ein, vermischt mit etwas Nelkenöl. Da beißt einen keine Mücke. Noch besser ist Nelkenöl allein, aber das greift zu sehr die Haut an. Und auch vor dem grünen Lorbeerfett scheinen alle Insekten einen Widerwillen zu haben.

Weshalb dieses Mittel in jenen von Moskitos verseuchten Gegenden nicht allgemein angewandt wird?

Ja Du lieber Gott, weshalb nicht!

Das sogenannte persische Insektenpulver kommt aus Dalmatien, wird durch Mahlen der getrockneten Köpfe einer Art von Gänseblume gewonnen, und gerade bei jenen Landleuten, die es bereiten, wird man von Flöhen aufgefressen.

Überdies ist es auch nicht gerade angenehm, Hände und Gesicht immer mit solch einer Fettschicht bedeckt zu haben. Die Leute dort in den Städten und Dörfern wissen sich schon anders zu helfen, und wir wussten es auch.

Vor der Koje ein Moskitonetz auszuspannen, wie man es zu kaufen bekommt, eine Art Gardine, das hat gar keinen Zweck. Einige Mücken wissen sich immer durch eine Spalte einzuschleichen, und es reicht schon eine einzige aus, um die Koje zur Hölle zu machen. Und das ist sie so wie so, auch ohne Moskitos, man hält es darin vor Hitze gar nicht aus.

Wir hatten schon in Rio an diese Qual gedacht und uns gewappnet, uns reichlich mit Lorbeerfett und Nelkenöl versehen, außerdem mit Holzplatten und dünner Drahtgaze.

Jeder baute sich seinen eigenen Sarg, ein Lattengestell, dessen Wände aus Drahtgaze gebildet wurden, eng vernagelt. Unter diesem Kasten schlief jeder an Deck, auf einer Matratze. Da konnte keine Mücke hinein.

Hiermit verbanden wir aber auch noch ein zweites Mittel, um auch die gerade bei Nacht unerträgliche Hitze oder vielmehr Schwüle zu lindern.

Bekanntlich wird durch schnelle Verdunstung von Wasser Kälte erzeugt. Also wir legten über den Kasten auch noch angefeuchtetes dünnes Segeltuch, Leinwand. Wie deren Feuchtigkeit austrocknete, so entstand unter ihr eine angenehme Kühle. Noch intensiver wirkt es, wenn die Sonne darauf brennt, weil dann das Wasser noch schneller verdunstet. Auf diese Weise kann man sich auch im Garten einen ganz einfachen Kühlapparat bauen, in den man sich hineinsetzt. Unter uns Seeleuten ist das allgemein bekannt.

Natürlich muss die Leinwand, wenn sie ausgetrocknet ist, wieder angefeuchtet werden. Das besorgte bei uns einfach die Nachtwache, die verstärkt ging. Die gingen ab und zu mit der Gießkanne die Reihe entlang und besprengten das Tuch wieder. Natürlich nicht gleich so, dass es durchregnete. Das kam ja auch einmal vor, aber das machte ja gerade Spaß.

Auf diese Weise lagen wir jede Nacht wie im kühlen Grabe, nur kerngesund, hielten einen tiefen Schlaf, der eben die Hauptsache zur Gesundheit ist. Zwar nahm jeder täglich zur Vorsicht eine kleine Dosis Chinin, aber ich glaube gar nicht, dass es nötig war. Wenn man schlafen kann, dann ist alles in Ordnung, dann kann man auch essen, und dann kriegt man kein Fieber. Etwas anderes ist es ja, wenn man sich gerade in einen Fiebersumpf hineinsetzt.

Die Wachegänger waren inzwischen tüchtig mit Lorbeerfett eingeschmiert. Nach zwei Stunden wuschen sie sich und krochen in ihren Sarg, andere kamen an die Reihe.

So verbrachten wir also auch die vierte Nacht.

Es war eine stockfinstere Nacht.

Wenige Sekunden Dämmerung, und dann plötzlich war es heller Tag. Der Schatten des Urwaldes konnte uns nicht erreichen.

»Törn to! Ankerlichten!«

Dann erst, wenn wir schön wieder in Fahrt waren, wurde gefrühstückt.

»He, wo ist denn das Dingi hin?«

Das Dingi ist das kleinste Boot. Es gehen knapp vier Menschen hinein. So eine Art Teichgondel. Fast nur Kriegsschiffe führen es, um schnell einmal ein Seil auszufahren. Wir schleppten es bei dieser Fahrt immer nach. Es konnte doch einmal gebraucht werden. Wir hatten schon einige Tiere des Fleisches wegen geschossen, wenn sie in Schussweite durchs Wasser setzten, besonders Wasserschweine, auch schon einen Tapir, das brasilianische Flusspferd wenn es auch etwas anders aussieht, ganz schrill pfeift — da war das Dinghy immer von Nutzen.

Es musste bei der Ankerkette liegen.

Da lag es aber nicht mehr. Es war samt der Leine, mit der es befestigt gewesen, verschwunden.

»Wo ist denn das Dingi hin?«

»Na zum Donnerwetter, wo ist denn das Dingi?«, ließ sich jetzt auch Kapitän Martin vernehmen. »Wer hat Wache gehabt?«

Die wussten von nichts.

Ob ein Indianer, der es uns gestohlen hatte, herangeschwommen war? Oder in einem anderen Boot?

Da konnte man nur raten, Erklärung brachte es nicht. »Klar zum Ankerhieven!«

Der Anker ging hoch.

»Wo ist denn der Señor?«

Der stand sonst, wenn es so weit war, schon immer auf der Kommandobrücke.

»Na wo ist denn nur der Señor Estrella?!«

Wir riefen und suchten in allen Winkeln, wo er zu schlafen pflegte.

Ob die anderen auch schon so eine dunkle Ahnung hatten wie ich, weiß ich nicht.

Da kam die Patronin aus der Kajüte gerannt. »Kapitän — Kapitän —«

»Na was denn?!«

»Ich will mein Tagebuch in den Geldschrank legen, da steht die Schublade auf — und da — und da — da ist der Diamant fort!«

»Na da guten Morgen!«, sagte Kapitän Martin ganz gemütlich und drehte um, als wolle er nach seiner Kajüte gehen.

Er kam freilich gleich wieder zurück.

»Wissen Sie, dass das Dingi fort ist?«

»Ja!«, flüsterte die Patronin.

»Dass der Spanier nicht zu finden ist?«

»Ja.«

»Wie hat er denn den Geldschrank aufbekommen? Gewalt angewendet?«

»Ich — ich — hatte — habe — die Tür aufstehen lassen.«

Natürlich. Die machte in ihrer Sorglosigkeit die Panzertür überhaupt niemals zu.

»Well. Never mind. Das heißt, meine ich: es ist allein meine Schuld.«

Und dann zog Kapitän Martin die rechte Hand aus der Hosentasche, um sie als Faust gar nicht so sanft gegen seine Stirn zu schlagen.

»Dass mir altem Manne so etwas noch passieren muss! Aber Alter schützt eben nicht vor Torheit. Hat mich doch noch einmal so ein Gaukler hineingelegt! Na, nun müssen wir eben sehen, wie wir hier wieder herauskommen. Anker klar? Halbe Kraft rückwärts! Ruder hart steuerbord!«

Der Wenst begann, das Schiff wendete.

Ei, ei, ei, ei, ei!!

Das war ja eine nette Überraschung!

Der Herr Prospektador futsch, der Riesendiamant futsch, die vier Millionen Milreis futsch, überhaupt gar keinen Chinabaum zu sehen bekommen — und wir hier mit unserem Fünftausendtonnenschiffe mitten im brasilianischen Urwalde, nicht wissend, »wo bin«!

Weshalb hatte uns der Kerl denn in diese Wildnis gelockt?

Denn dass dies alles von vornherein arrangiert war, daran war doch gar kein Zweifel, und darüber wurde doch natürlich gesprochen.

»Der will uns überfallen!«

»Womit denn?«

»Nun mit Piraten. Auf dem Amazonenstrome wimmelt es von Piraten.«

»Wirklich?«

»Ich habe einmal so eine Erzählung gelesen: Die Strompiraten des Amazonas.«

Ja, so etwas hatte ich auch gelesen, sogar eine ganze Menge solcher Geschichten, vom dünnleibigen Groschenheft an bis zum zehnbändigen Bandwurm. Der Leser weiß doch: Ich hatte doch Seeräuberuniversalgeschichte studiert!

Na schön, sie sollten nur kommen! Wir erwarteten sie sehnsüchtig.

»Bleakfast is leady!«, sang der chinesische Koch aus seiner Kombüse mit quäkender Stimme.

»Hallo, Meister Kännchen!«, lachte ich. »Wir segeln unter deutscher Flagge!«

Er gab sich seit Rio alle Mühe, sich im Deutschen zu vervollkommnen, war nur in der Verwirrung durch dieses große Ereignis ins Englische zurückgefallen.

»Flühstück is feltick!«, verbesserte er sich also.

Als waschechter Chinese konnte er nämlich das r nicht aussprechen, schaltete dafür immer ein l ein.

Bald war alles wieder an Deck.

»Von dort sind wir hergekommen.«

»Nein, aus diesem Kanal!«

»Ach wo, ganz von dort her!«

Es wurden noch andere Richtungen angegeben, jeder behauptete, ganz bestimmt recht zu haben.

Kapitän Martin folgte natürlich der Partei, von deren Meinung er selbst überzeugt war.

Nach einer Viertelstunde Fahrt mussten wir erfahren, dass wir in eine Sackgasse geraten waren, der betreffende Wasserkanal endete blind.

Na, das konnte ja gut werden!

Und da knirschte auch schon der Kiel auf Sand!

Also ein Boot ausgesetzt, ein zweites, als Piloten voraus, immer lotend. Sechs Knoten konnten wir nun natürlich nicht mehr machen, kaum noch zwei.

Und der zweite Kanal erwies sich wiederum als eine Sackgasse, diesmal aber erst nach einer halben Stunde!

»Señor Riata«, wandte ich mich an Peitschenmüller, »können Sie nicht die Richtung angeben?«

Der zuckte die Achseln.

»Ich habe mich bereits zweimal geirrt.«

»Dann brauchten Sie also nicht unbedingt hier als Lotse zu stehen?«

»Nein, ich verzichte, Ratschläge zu geben.«

»Dann mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es gleich um acht ist.«

»Wohl, ich bin bereit.«

Und wir begaben uns in die Batterie, die aber jetzt immer sechs Meter hoch blieb, um unsere gewöhnliche Fechtstunde von acht bis neun abzuhalten.

Peitschenmüller war der einzige, der es im Fechten mit mir aufnehmen konnte, er hatte es überraschend schnell gelernt, es bereits zur Meisterschaft darin gebracht, im Säbel sowohl wie mit Florett, er bot mir schon einmal die Spitze, und so konnte ich mich allein an ihm auch weiter ausbilden.

Die Jungens hörten, dass wir fochten. Und die von der Freiwache kamen, und es dauerte gar nicht lange, so begannen auch sie mit ihren verschiedentlichen Übungen, turnten und sprangen und rannten und balgten sich mit Bleigewichten herum.

Auch die Patronin kam in die Batterie, machte ein erstauntes Gesicht und sah eine Weile schweigend zu.

»Das ist ja großartig!«, sagte sie dann.

Ich fragte nicht, was sie denn so großartig fand. Denn ich wusste es. Eben deshalb aber durfte ich nicht sagen; oder nur etwas anderes, dessen konnte ich mich nicht enthalten.

»Dem Koch dem Meister Kännchen müssen Sie Ihr Kompliment machen, Frau Patronin.«

Sie verstand mich sicher nicht, und ich gab ihr keine Erklärung.

Was ich damit meinte?

Ja, es ist für den, der kein Seemann ist schwer zu sagen. Der Seemann weiß, es sofort, was ich meine.

Weil uns der Koch zum Frühstück gerufen hatte.

O, diese Schiffsköche sind Helden!

Die Gelegenheit muss nur kommen.

Sie müssen Helden sein, sonst können sie eben nicht als Schiffskoch fahren.

Schiffskoch, was ist Schiffskoch! Smeerkock! Das Schiff ist verloren.

Jeden Augenblick muss es von Sturm und Brandung zwischen die Klippen geschleudert werden.

Die ganze Mannschaft ringt und ringt mit letzter verzweifelter Kraft um ihr Leben, um das Schiff vielleicht doch noch frei zu bekommen. Die Masten werden gekappt, alles über Bord!

Nur der Koch beteiligt sich nicht an diesem Kampfe gegen den Tod.

Der stehst mit weißer Schürze und weißer Mütze in seiner Kombüse, schürt das Feuer und rührt in den Töpfen.

Jetzt blickt er nach der Uhr an der Wand. Es ist die vorschriftsmäßige Zeit. Und er öffnet vorsichtig die obere Hälfte der geschlossenen Tür auf der Leeseite, um nicht einen gar zu großen Schwall des eisigen Salzwassers abzubekommen.

»Mittag ist fertig!!«, brüllt er in das Heulen des Sturmes, in das Donnern der Brandung hinaus.

Der alte Schiffskoch weiß, dass ihm niemand das Essen abholen wird; seit gestern mittag hat er schon viermal vergebens gerufen.

Aber wenn nun das Schiff jetzt freikommt?

Dann wollen die Matrosen erst essen. »Schaffen!« heißt es an Bord deutscher Segelschiffe.

Und wenn sie dann nichts haben?

Überhaupt ganz gleich — der Schiffskoch weiß, was er zu tun hat.

»Mittag ist fertig!!«

Bruch!! Ein Splittern und Bersten und, den Rührlöffel in der Hand, von seinen Töpfen begraben, verbrüht und verbrannt, so sinkt der Schiffskoch mit den anderen hinab in die eisige Tiefe!

Schrumm — wieder mal einer, der kein Denkmal bekommt.

Und wir hätten wegen dieses spanischen Halunken, weil er uns hier im brasilianischen Urwalde versetzt hatte, nicht unsere täglichen Übungen abhalten sollen?

Pah! —

Bös war es freilich dennoch.

Wir kamen nicht vorwärts und nicht rückwärts; wenn wir auch immer wieder eine ganz andere Umgebung sahen, aber immer wieder in Sackgassen hinein.

Und so verging der ganze Tag!

Gegen fünf Uhr ankerten wir, in sechs Meter Tiefe, auf Sand. Sehr viel flacher durften wir auch nicht gehen. Etwa hundert Meter von Backbord war der Urwald entfernt, auf der anderen Seite war eine größere Wasserstrecke, dann kam wieder Urwald mit abzweigenden Wasserstraßen.

In der großen Kajüte fand eine Beratung statt, an dem auch diejenigen Matrosen und Heizer teilnehmen sollten, die ich als die intelligentesten Köpfe und erfahrensten Männer vorschlagen musste.

Zu Tage zeitigte diese Beratung nichts.

Das Einzige war, unsere Versuche, eine Durchfahrt zu gewinnen, ruhig fortzusetzen. Wir mussten uns an den Urwald, an diese Verhältnisse gewöhnen. Dann bekamen wir sicher mit der Zeit ganz andere Augen, andere Erfahrungen, andere Instinkte. Die bisherigen vier oder fünf Tage hatten noch nichts zu bedeuten gehabt, da hatten wir uns immer auf den Führer verlassen. Wir befanden uns in der Lage des in Gefangenschaft geborenen oder lange gefangen gehaltenen Vogels, der in Freiheit gesetzt wird. Der ist draußen zwischen den Bäumen zuerst ganz hilflos, weiß keinen Wurm und kein Korn und kein Wasser zu finden. Oder auch umgekehrt ist es ganz richtig. Selbst ein Vogel, der immer in der Stube ist, aber im Käfig, er wird hinausgelassen — für den bedeutet die Stube, so klein sie auch sein mag, plötzlich eine weite, fremde, rätselhafte Welt, in der er irrend herumflattert, sich den Kopf an den Scheiben stoßend. Aber er untersucht immer mehr, er wird ein ganz anderer Vogel — nach einigen Tagen schon fühlt er sich in der Stube heimisch. Es war gar kein so unpassender Vergleich mit unserer Lage.

»Wann ist hier die Regenzeit?«

Niemand wusste es. Die Bücher gaben für diese Gegend keine Auskunft. Die Regenzeiten sind auf der ungeheuren Länge des Amazonenstromes selbstverständlich ganz verschiedene, aber auch in der näheren Umgebung wechseln sie scheinbar ganz ohne System ab. Dort hingegen, wo man sie kennt, kann man das Steigen und Fallen des Wassers bis zum bestimmten Tage voraus verkünden.

Von einer Flutmarke war nirgends etwas zu bemerken. Also kein Zeichen, dass das Wasser früher schon einen höheren Stand gehabt habe, was doch an den Bäumen deutlich zu sehen gewesen wäre. Das war eigentlich schlimm für uns. Danach hatten wir jetzt also doch den höchsten Wasserstand. Demnach also mussten wir uns auf ein Fallen des Wassers gefasst machen, ob nun früher oder später.

Es hatte keinen Zweck, hierüber weiter zu sprechen, sich in Befürchtungen zu ergehen.

»Ob der Spanier denn wirklich einen Angriff auf uns mit Komplicen plant?«

»Well, wir tun, was wir können. Die Lichter sollen lieber gelöscht werden. Sonst kein unnötiger Wachtdienst. Aber die Nachtwache möchten besonders dazu geeignete Leute übernehmen. Das besorgen Sie wohl, Herr Waffenmeister.«

Gut, ich sorgte dafür. Anderseits war ich ohne jede Sorge, wie alle die anderen.

Gegen elf Uhr kroch auch ich in meinen Sarg und lauschte noch ein wenig dem Höllenspektakel der Tiere des Waldes, welchen die unseren glücklicherweise nicht beantworteten — in den ersten Tagen hatten sie Lust dazu gehabt, diese musikalische Neigung hatte ihnen aber Peitschenmüller bald ausgetrieben — dann schlummerte ich sanft ein.

Als ich erwachte, war das Konzert verstummt, wonach es schon nach vier Uhr sein musste, denn um diese Zeit hört das Konzert auf, die letzten Nachtstunden verschlafen auch diese Tiere.

Die tiefste Stille herrschte. Einen Schritt der Wache hörte ich nicht, sonst hätte ich sie angerufen, um nach der Zeit zu fragen, lauter rufen wollte ich nicht; so riss ich ein Streichholz an und leuchtete auf die Taschenuhr.

Schon halb sechs! Ich kroch heraus und dehnte die Glieder; ich fühlte mich wie neugeboren.

Absolute Stille! Bis auf einiges Schnarchen. Der so sägte, das war Knut, und das Pusten dazwischen, wie eine den Berg hinaufkeuchende Lokomotive, das erzeugte August der Starke. Und dazu stockfinster! Der Himmel hatte sich wieder überzogen, um diese Zeit gibt es auch nicht mehr die prachtvollen Glühkäfer, die nur bis gegen zwei ihren Fackelglanz machen, von unbeschreiblicher Pracht, manche so groß wie die Hühnereier.

Ein Matrose ging auf Segeltuchschuhen lautlos vorüber, ich bemerkte ihn nur durchs ein Rascheln.

»Nichts Neues?!«

»Nichts.«

Ich ging an meine Toilette. Als zivilisierter Seemann spülte ich mir natürlich zuerst den Mund aus. Warm, aber trocken. Das heißt nämlich, ich brannte mir zuerst eine Pfeife an. Das machte ich im Durchgang unter der Kommandobrücke. Es sollte ja kein Licht gezeigt werden.

Dann lehnte ich mich über die Bordwand und blickte ins Wasser hinab. Zu sehen war allerdings nichts davon.

Ach, schmeckt so eine Pfeife gut, früh halb sechs im brasilianischen Urwald! Aus dem Urwald duftete es köstlich heraus, aber meine Pfeife duftete noch viel köstlicher.

Einige wenige Sekunden Dämmerung und plötzlich war es heller Tag.

Und da —! — Allmächtiger Gott!

Was erblicken da meine Augen unter sich! — Nicht etwa Wasser.

Nur Sand! — Sitzt unser ganzes Schiff mitten drin im Sand!

Gar keine Spur mehr von Wasser!

Bis zum Urwald hin alles Sand, auf Steuerbordseite hin auch wieder alles Sand, auch wieder ungefähr hundert Meter weit, dann erst fängt wieder das Wasser an — und mitten auf dieser Sandbank liegt unser Schiff wie ein Walfisch im Sandbade!

Hat sich ziemlich bis zur Wasserlinie eingegraben, die Schraubenwelle ragt gerade noch heraus, die unteren Schraubenflügel stecken auch schon drin im Sand!

Das Wasser war in der Nacht ganz sachte abgelaufen, ganz sachte hatte sich das Schiff, ursprünglich eine Kreuzerfregatte, mit seinem scharfen Kiel in den weichen Sand eingegraben!

Niemand hatte auch nur das geringste davon gemerkt, gehört, verspürt!

Kein Hund hatte angeschlagen!

Denn Bordhunde werden da bald sehr scharf, wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist, die merken es sofort und machen Lärm. Sie können kein Segel mehr schlagen hören, weil sie wissen, dass dann die Mannschaft aufentern muss und tut es die Mannschaft nicht, dann melden sie eben diese Unordnung.

Nicht einmal die Glieder der Ankerkette konnten geklirrt haben, wenigstens nicht übertrieben, so sachte musste sich das Schiff eingebettet haben.

Fassungslos wie ich standen alle die anderen da.

Jetzt kam Kapitän Martin an Deck.

Ich sehe noch, wie er den Kopf vorreckt.

Jetzt hätte er wiederum sagen können: Na da guten Morgen!

Aber diesmal sagte er es nicht.

»Damn —«

Auch diesen Fluch vollendete er nicht. Es wurde etwas anderes daraus, nachdem er sich erst einmal über die Bordwand gebeugt hatte.

»Kinder, flucht nicht, sondern betet lieber!«, erklang es feierlich. »Nicht, dass wir hier aus dieser Lage erlöst werden. Das kommt schon von allein — oder es kommt eben nicht. Aber wir wollen dem Schöpfer danken, dass er hier solchen weichen Sand geschaffen hat, der uns wie Wasser aufgenommen hat und trägt, sonst lägen wir hier bereits wrack für immer auf der Seite!«

Wir alle verstanden, was er meinte.

Wir hätten doch umkippen können!

Dann war's für immer vorbei!

Das kann so ein Schiff, so ein hohles Ei aus doch nur dünnen Eisenplanken nicht aushalten!

So aber, wie es jetzt war, hatte es im Grunde genommen wenig zu sagen.

So wie wir jetzt lagen, lagen wir fest und sicher.

Freilich festgenagelt. Aber das Hochwasser musste doch einmal wiederkommen, und dann wurden wir auch wieder gehoben.

»Der Prospektador!«, erklang da der Ruf, langgedehnt und staunend hervorgebracht.

*

25. Kapitel

Getäuscht!

Originalseiten 553 — 566

Wahrhaftig, da kam er! Kam angerudert in unserem Dinghy! Ruderte vorwärts, noch ein kräftiger Schlag mit beiden Riemen, das leichte Boot schusselte etwas die schräge Sandfläche hinauf. Er stieg aus, schritt auf unser Schiff zu, fest in seinen Ponchomantel gewickelt, den Sombrero tief in der Stirn, eine qualmende Zigarette zwischen den Krallenfingern.


Illustration

»Well, Jungens, da lasst man das Fallreep zum Wasser hinab, das sich in Sand verwandelt hat oder lieber gleich die Falltreppe. Solch ein Besuch muss seinem Werte entsprechend empfangen werden.«

Die Treppe senkte sich hinab, der Spanier erstieg sie. Die Patronin, die sich ob des Sandes schon ausgestaunt hatte, war mit zur Stelle. Frage und Antwort übernahm aber nur Kapitän Martin, erst an Deck und später in der Kajüte.

»Buenos dias, Señora y Señores.«

»Schönen guten Morgen, Herr Prospektador.«

»Dispense usted — ich bitte Sie um Entschuldigung.«

»Bitte, bitte. Haben Sie gut geschlafen?«

»Danke, Señor Capitano. Nein.«

»I warum denn nicht?«

»Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.«

»Nu, das ist, nicht gerade nötig. Was denn für eine Erklärung?«

»Weshalb ich mich vorige Nacht von Bord entfernt habe.«

»Haben Sie? Das haben wir noch gar nicht gewusst! Ist uns gar nicht aufgefallen. Na ja, bei den Mahlzeiten werden Sie ja niemals vermisst.«

Der Spanier ließ sich durch den Spott nicht irritieren. Er blieb immer derselbe.

»Es war etwas nach Mitternacht, als ich im Walde einen Laut vernahm, einen Tierlaut, einen imitierten Tierlaut, aber nur für das Ohr desjenigen als solcher erkennbar, der das Geheimnis kennt. Kurz, es konnte nur ein Kamerad von mir sein, den ich allerdings nicht hier vermutete, so wenig wie er mich. Er gab einem anderen dieses auch mir bekannte Zeichen. Auch ich gab das Zeichen. Es wurde beantwortet. Nun musste ich Gewissheit haben.

Es war ein unverzeihlicher Fehler von mir, dass ich das Boot nahm und davon ruderte, ohne wenigstens einer Wache nur ein Wort zu sagen, aber ich hab's nun einmal getan.

So ruderte ich nach dem Walde, dachte sofort zurückzukommen. Ja, ich stieß auf Kameraden. Aber aus den Minuten wurden Stunden. Sie verleiteten mich, mit ihnen zu kommen. Ich dachte vor Sonnenaufgang zurück zu sein. Auch dieses versäumte ich.

Es war schon gegen halb acht, als ich an die Ankerstelle zurück kam. Das Schiff war fort. Weshalb, das konnte ich mir ja leicht denken.

Bis jetzt habe ich ununterbrochen nach Ihnen gesucht, mit Ausnahme dreier Stunden, die ich unbedingt zum Schlafe bedurfte, sonst habe ich ununterbrochen nach Ihnen ausgespäht. Besonders nach Lichtern. Ich sah keine. Eine Schusswaffe habe ich nicht bei mir. Ich habe gerufen und gepfiffen. Meine Kameraden zu alarmieren, das hatte aus besonderem Grunde keinen Zweck. Ich habe ununterbrochen nach Ihnen gesucht. Jetzt habe ich Sie endlich gefunden. In einer höchst unangenehmen Lage.«

Der Spanier machte eine Pause, ließ wieder einmal auch feine linke Krallenhand hervorschlüpfen, die musste die Zigarette übernehmen, denn mit der rechten Hand lüftete er jetzt seinen Filz. Zum ersten Male bekamen wir seinen Schädel zu sehen, mit schwarzen Haaren bewachsen, kurz geschnitten, aber noch immer struppig genug.

So den Filz in die Höhe haltend, blickte er im Kreise herum. Die ganze Mannschaft hielt sich ja doch in der Nähe auf.

»Señores«, redete er so die Matrosen an, »durch mich sind Sie in diese höchst unangenehme Lage gekommen. Durch mich haben Sie sicher auch sonst einen höchst sorgenvollen Tag und eine ebensolche Nacht gehabt. Es gibt für mich eigentlich keine Entschuldigung, trotzdem wage ich es, Sie um Entschuldigung zu bitten.«

Er setzte seinen Filz wieder auf und blickte wieder uns an, die Hauptpersonen.

»Diese Erklärung war ich auch Ihren Leuten schuldig, auch diese hatte ich um Entschuldigung zu bitten. Dies habe ich hier öffentlich an Deck getan. Jetzt bitte ich Sie, mit Ihnen weiter in der Kajüte sprechen zu dürfen.«

Caramba! Das war doch eigentlich höchst nett gesprochen und gehandelt.

Ich wurde überhaupt etwas kopfscheu.

Der hatte den Diamanten doch schon gemaust!

Der hatte ihn doch schon in Sicherheit gebracht! Hatte doch schon seinen Zweck erreicht!

Weshalb kam der überhaupt noch einmal hierher? War da nicht ein Rätsel vorhanden?

So grübelte ich!

Kapitän Martin war vernünftiger als ich, der grübelte nicht erst.

»Well. Kommen Sie mit in die Kajüte.«

Wir gingen in die Kajüte, auch der Spanier setzte sich diesmal, ohne Aufforderung.

»Well?«

»Sprechen Sie im Namen der Señora Patrona?«

»Well. — Ja.«

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«

»Well?«

»Bitte entbinden Sie mich meines Versprechens.«

»Was für eines Versprechens?«

»Das ich Ihnen gegeben habe.«

Eine kleine Pause, Kapitän Martin war nicht anders, als ob er überlege, was für eine Farbe er jetzt aus seinen unschuldigen Karten ausspielen solle.

»Na nun mal los!«, sagte er dann aber doch in etwas schroffem Tone, wie er aber vielleicht auch beim Kartenspiele gesprochen hätte. »Was wollen Sie eigentlich, he?«

»Ich habe Ihnen doch versprochen, für vier Millionen Milreis Chinarinde zu liefern.«

»Na sicher haben Sie das versprochen.«

»Ich werde mein Versprechen halten.«

»Na sicher müssen Sie Ihr Versprechen halten.«

»Jeder Mensch kann aber doch einmal in die Lage kommen, sein Versprechen nicht halten zu können.«

Wieder eine kleine Pause.

»So. Hm. Well. Na also?«

»Ich bitte Sie, mich meines Versprechens zu entbinden.«

Zum Kuckuck, wo wollte der Mensch denn nur hinaus?!

Was baute der uns hier für eine Falle?!

»Was heißt entbinden?«

»Ich habe eben meine Wette verloren, denn eine Wette war es doch schließlich.

»Wette?«

»Wenn Sie allerdings darauf bestehen, so werde ich Ihnen dennoch die Chinarinde im Werte von mindestens vier Millionen Doppelreis liefern. Zum größten Teil sogar schon abgeschält. Und auch für diese Arbeit hätten Sie nichts zu zahlen.«

»So. Hm. Sehr liebenswürdig. Und wenn wir darauf nicht eingehen?«

»Dann habe ich eben meinen Einsatz verspielt.«

»Einsatz?«

»Meinen Diamanten.«

»Ihren Diamanten?«

»Dort.«

Und der Spanier deutete mit seinem Krallenfinger nach dem Panzerschranke.

Nun, allerdings hätte ich gesagt: Den haben Sie doch bereits gemaust!

Kapitän Martin sagte es nicht.

»Der ist nicht mehr da drin.«

»Nicht? Wo sonst?«

»Den haben wir nicht mehr.«

»Den — haben — Sie — nicht — mehr?!«, erklang es lang gedehnt.

Kapitän Martin lehnte sich zurück und betrachtete den Mann.

Ich wusste, was der Kapitän dachte.

Ja, was sollte man denn nun mit diesem Schufte anfangen? Was half es denn, ihm ins Gesicht zu sagen: Du hast den Diamanten entwendet und mitgenommen! Er leugnete einfach. Wie sollte er denn überführt werden? Mochte seine Schuld auch noch so krass zu Tage liegen, der bezichtigte einfach uns, den Diamanten beiseite gebracht zu haben!

Nein, Kapitän Martin hatte ganz recht: es musste vorsichtig sondiert werden, was der Spanier mit seiner Wiederkunft überhaupt bezweckte.

Aber es sollte alles ganz anders kommen.

Plötzlich kam der Matrose Klaus herein, unangemeldet, er stürmte herein.

»Die is he!!«

In seiner Hand, die er uns hinhielt, lagen einige Glassplitter, ein Streifen blankes Kupferblech, ein blanker Schilling, ein blankgescheuerter Zinnlöffel — — und unser Diamant!

Hat der Leser bereits erraten, was hier vorlag?

Wir wussten es sofort, wie wir auch nach der hingehaltenen Hand starrten

»Wo?«, flüsterte der Kapitän, einen Kopf wie eine Klatschrose bekommend, mit ganz entgeisterten Augen.

»In der neuen Segelkammer, ganz vorn in der Ecke.«

»Ach herrjeehses, ach herrjeehses!«, schnarrte da im Hintergrunde der Kajüte Huckebeins Stimme.

»O Gott, o Gott, dass wir nicht an diese Möglichkeit gedacht haben!«, flüsterte die Patronin mit gerungenen Händen.

Ja, an diese Möglichkeit hätten wir denken können! Huckebein stahl, wie eben ein Rabe stiehlt, alles was glänzte, was er forttragen konnte, das schleppte er nach einem Versteck, ohne dieses besonders heimlich zu verbergen. Wir fanden immer einmal ein Räubernest mit solchen Sachen

Und niemand hatte mit einem Gedanken an solch eine Möglichkeit gedacht!

Ja freilich, wir denken doch, die Patronin hat mindestens die Schublade in dem Panzerschrank zugemacht, die den kostbaren Diamanten enthält!

Aber das war eben nicht der Fall gewesen, nur ein Spalt, der Rabe hatte das glänzende Ding herausgeholt!

Und der Leser versteht doch auch, weshalb uns so fürchterlich zumute war! Vierundzwanzig Stunden lang haben wir diesen Mann in allen Tonarten verflucht und beschimpft, den Gauner, den Schuft, der uns hierher gelockt, uns treulos verraten hat, den Einbrecher, der den Diamanten im Werte von vier Millionen Milreis gestohlen hat.

Eigentlich ist es ja ganz gleichgültig, ob man eine Stecknadel oder solch einen Diamanten von Walnussgröße stiehlt.

Ja, eigentlich ist es ganz gleichgültig. Vor Gott. Aber den menschlichen Richter möchte ich einmal sehen, der da keinen Unterschied macht. Lässt er sich durch diesen Unterschied der Objekte nicht beeinflussen, so wäre er ja gar kein Mensch.

Kurz und gut — mir wäre es im Augenblicke angenehm gewesen, wenn ich im Boden versunken wäre, um nie wieder aufzutauchen.

Kapitän Martin war aufgestanden, um einen Gang durch die Kajüte zu machen.

»O ist das fatal, ist mir das fatal! So eine Affenschande! Tja, da gibt es nur eines —«

Und er trat vor den Spanier, holte die Hand aus der Hosentasche und hielt sie ihm hin.

»Señor della Estrada! Ich bitte Sie um Verzeihung. Sie sollen Ihre Revanche öffentlich haben. Jetzt nehmen Sie erst einmal meine Hand als die des Kapitäns dieses Schiffes.«

»Weshalb?«, fragte der Spanier ungerührt, wie er bei dieser ganzen Szene geblieben war, nur dass seine Raubvogelaugen noch mehr funkelten.

»Wir haben geglaubt, Sie hätten gestern Nacht den Diamanten mitgenommen, ihn dort aus dem Geldschrank entwendet —«

Und Kapitän Martin berichtete ganz ausführlich. Ungerührt hörte der Spanier zu, bis der Kapitän geendet hatte, wobei er aber auch schon wieder die Hand in die Tasche gesteckt hatte.

»Sie haben sich eben geirrt!«, erklang es dann gelassen wie immer. »Also ich biete Ihnen den Diamanten als Ersatz für die Chinarinde an.«

Wenn der Spanier die Sache so auffasste, dann war die Sache erledigt — vorläufig Kapitän Martin ging sofort darauf ein.

»Well. Die 30 000 Chinabäume sind vorhanden?«

»Sind vorhanden.«

»Noch weit von hier?«

»Mi sabe!«, wurde ausgewichen.

»Sie werden schon abgerindet?«

»Si Señor.«

»Von wem?«

»Mi sabe. Aber die Rinde gehört mir. Sie steht Ihnen zur Verfügung. Sie haben gar keine Schwierigkeit dabei. Nur das Einladen. Aber ich bitte Sie, auf die Chinarinde zu verzichten und dafür meinen Einsatz anzunehmen.«

»Den Diamanten?«

»Ja. Sind Sie überzeugt, dass er echt ist?«

Kapitän Martin hatte ihn nicht, wie er erst beabsichtigt, in Rio prüfen lassen. Er hatte keinen Vertrauensmann gefunden, das war in Brasilien überhaupt nicht so einfach, da muss man sehr vorsichtig sein — weshalb, davon werde ich später berichten.

»Ja, ich bin überzeugt, dass der Diamant echt ist!«, entgegnete Martin.

»Glauben Sie, dass dieser Diamant einen Wert von vier Millionen Doppelreis hat?«

»Hm. Wenn man einen Liebhaber dafür findet —«

»Ja oder nein, Sind Sie von diesem Werte überzeugt oder nicht?«

»Ja.«

»Auch Sie, Señora Patrona?«, wandte er sich jetzt an diese.

»Ja.«

»Wollen Sie diesen Diamanten für die versprochene Chinarinde annehmen?«

»Wir erweisen Ihnen also eine Gefälligkeit«, nahm wieder Kapitän Martin das Wort, »wenn wir statt der Chinarinde den Diamanten nehmen?«

»Ja, eine sehr große Gefälligkeit, und ich werde Ihnen auch dankbar dafür sein.«

»Well, Frau Patronin, da müssen Sie die letzte Entscheidung treffen.«

»Aber das können wir doch unmöglich annehmen«, sagte diese ganz verwirrt, »wie kommen wir denn dazu, uns von Ihnen so etwas schenken zu lassen —«

Sie kam nicht weiter. Jetzt taute der Spaniole zum ersten Male auf, jetzt wurde er eklig.

Wenigstens stand er langsam auf, hüllte sich noch fester in seinen schäbigen Mantel, um uns mit einem unsagbar verächtlichen Blicke zu messen.

»Für wen halten Sie mich denn, Señora?«, erklang es schneidend. »Señor Montezuma della Estrada ist von jeher ein Ehrenmann gewesen und wird es immer bleiben! Ich habe Ihnen damals in Kapstadt das Angebot gemacht, Sie haben es angenommen. Weshalb ich keinen Anteil an dem Gewinn der Chinarinde haben will, geht Sie nichts an, oder Sie hätten schon damals fragen müssen, hätten es allerdings auch damals nicht erfahren. Ich versprach einen gleichwertigen Einsatz, habe mein Wort gehalten, und Sie nahmen den Diamanten an. Jetzt sind Sie damit einverstanden, auf die Chinarinde zu verzichten, also habe ich meinen Einsatz verloren. Der Diamant gehört Ihnen, basta! Nun möchte ich deswegen kein Wort mehr hören!«

Ganz energisch hatte er gesprochen.

Dann war freilich gar nichts mehr dagegen zu machen. Also der Diamant gehörte uns, der Patronin. Sie musste ihn nur unter besseren Verschluss nehmen. Einen Liebhaber, der den vollen Wert bezahlte, wenn ihn die Patronin zu verkaufen wünschte, wollten wir schon finden. Da braucht man nur nach New York in die fünfte Avenue zu gehen, wo die Milliardäre alle zusammenhocken. Aber da gibt es auch noch andere.

Wo der diesen Diamanten her hatte, danach durften ihn wir natürlich nicht fragen. Nun, uns konnte das auch gleichgültig sein, jetzt waren wir seine rechtmäßigen Besitzer. Übrigens konnten wir ihn ja auch spalten lassen, kleinere Steine daraus machen, wodurch der Gesamtwert allerdings sehr verringert wurde.

»Well, nun sitzen wir aber hier fest!«, nahm Kapitän Martin wieder das Wort.

»Am 2. August trifft hier das Regenwasser aus dem Gebirge ein, am anderen Tage sind Sie wieder frei.«

Wir durften dieser Prophezeiung ohne weiteres glauben. Ich habe ja schon einmal gesagt, wie genau man den Eintritt der Regenzeit bestimmen kann, eben weil die Termine so regelmäßig sind, was mit den Kalmen und Passaten zusammenhängt. Das heißt, es ist immer nur für eine gewisse Gegend gültig. Ein untrügliches Zeichen zum Bestimmen des Termins, wann das Wasser fällt und wieder steigt, ist auch das Verhalten einer besonderen Art von Schildkröten, worüber ich später noch sprechen werde.

Heute hatten wir den 16. Juni. Demnach also mussten wir 47 Tage hier liegen bleiben. Nun, die Zeit wollten wir uns schon vertreiben.

»Wie ist es denn nur möglich«, fragte Kapitän Martin, »dass das Wasser in einer einzigen Nacht sechs Meter fallen kann?«

»Sieben Meter.«

»Ja, wo fließt denn das nur so plötzlich hin?«

»In die Bifurkationen; diese sind bei Hochwasserstand ausgetrocknet —«

»Bei Hochwasserstand ausgetrocknet?!«

»Si, si, Señor. Die Bifurkationen füllen sich beim Steigen des Wassers, des eigentlichen Stromes. Dabei werden Dämme aufgeschlämmt, welche zuletzt die Kanäle absperren; nämlich wenn das Wasser etwas sinkt, um dann lange Zeit seinen Höchststand zu behalten. Während dieser Zeit nun trocknen die Bifurkationen wieder aus, sie haben ja keinen Zufluss mehr. Also ist der Damm auf der einen Seite ganz trocken, auf der anderen von Wasser bespült. Sinkt nun das Wasser wieder, so bearbeitet es den Damm, er bricht, in einem Moment viele tausend Dämme, und das Stromwasser ergießt sich in die Tausende von Kanäle. Daher die Schnelligkeit des Sinkens. In einer Nacht ist es geschehen, nun aber sinkt das Wasser auch nicht weiter. Am 2. August kommt es wieder, am 3. erreicht es schon seinen Höchststand.«

Die ausgetrocknete Mumie sprach plötzlich wie ein Gelehrter auf dem Katheder, und es war wirklich höchst interessant!

»Wäre aber das Wasser auf dem Strome auch jetzt noch tief genug für unser Schiff?«

»Si, si, Señor. Dass Sie in einen Nebenarm und gerade auf eine Sandbank geraten sind, ist sehr bedauerlich.«

»Sie werden uns dann zurückführen?«

»Si, si, Señor.«

»Sie begeben sich inzwischen zu Ihren Kameraden, welche die Chinabäume abschälen?«

»No, Señor.«

»Sondern?«

»Ich bleibe bei Ihnen, werde das Schiff mit keinem Schritte mehr verlassen. Das bin ich Ihnen jetzt schuldig.«

So sprach der Spanier, und die Sache war erledigt. Ein ganz vortrefflicher Mensch, dieser Spanier!

Was für ein bitteres Unrecht hatten wir ihm zugefügt! Nicht er hatte uns getäuscht, sondern wir uns in ihm! So dachten wir damals!

Die Sache sollte aber doch noch etwas anders kommen.

*

26. Kapitel

Sieben Wochen im Urwalde

Originalseiten 566 — 644

Es war eine schöne Zeit gewesen, damals die drei Wochen in jener Bucht im Feuerlande, in der Argonautenbucht, wie wir sagten — aber die sieben Wochen, die wir auf dieser Sandbank im brasilianischen Urwalde verbrachten, waren noch viel, viel schöner!

Spiel, Sport, Jagd — und jeden Tag tausend Dummheiten! Wir bedauerten nur, dass jeder Tag bloß 24 Stunden hatte, sonst hätten wir doch noch mehr Dummheiten machen können. Wir bedauerten, dass der Mensch doch ab und zu schlafen muss. Wir machten die Nacht zum Tage, hielten lieber in den heißen Mittagsstunden in unseren kühlen Särgen ein ausgiebiges Schläfchen.

Eine ingeniöse Idee jagte die andere, aber etwas »Dummheit« war doch immer dabei.

Die Nacht wurde durch den elektrischen Scheinwerfer erhellt, der intensiv weiße Lichtstrahl zog alle Moskitos der ganzen Umgebung hier bei uns zusammen, in Myriaden und Abermyriaden — und trotzdem blieben wir selbst jetzt ganz verschont von ihnen, eben weil sie alle in das Licht wollten.

Nun noch eine elektrische Falle gebaut, schwachglühende Kupferdrähte, an denen sie sich die Flügel verbrannten, und sie stürzten in dazu schon aufgestellte Kästen.

Hundert Liter Mückenleiber brachten wir auf die Weise jede Nacht mindestens zusammen. Nun sollte der Liter eine Mark kosten — das war schon ein ganz hübsches Geschäft, wenn es auch die Kosten unseres Schiffes nicht deckte. Immerhin, wir schaufelten Säcke voll, fühlten uns als Nachtigallenfutterfabrikanten.

Und während die armen Mücken sich ihre Flügel verbrannten, ließ die Orgel mit ihren 5000 Pfeifen unter Hämmerleins Händen eine Sinfonie erbrausen.

Ach, waren das Nächte dort im brasilianischen Urwalde!

Bereits am zweiten Tage fand die Durchstechung und feierliche Einweihung des Argonauten-Kanals statt.

Wir hatten die Sandbank von einem Wasserkanal zum anderen durchstochen, in einer Länge von 140 Meter, zwei Meter breit und etwas über einen Meter tief, vollkommen zum Schwimmen geeignet, und dann gab es noch ein tieferes Bassin mit zwei elastischen Sprung-Brettern.

Denn mit dem Baden und Schwimmen draußen im Flusse war es ja nichts, der Krokodile wegen, oder wir hätten eine größere Strecke mit einem Netz schützen müssen, aber doch immer eine unsichere Sache.

So brauchte nur dieser Kanal durch solide Schutzvorrichtungen abgesperrt zu werden.

In anderthalb Tagen hatten wir diesen Kanal hergestellt, mehr als 400 Kubikmeter Sand bewältigt.

Ja, wenn 70 Paar Hände feste zugreifen, wie an einem Arme gewachsen, da lässt sich etwas schaffen! Selbst Doktor Isidor hatte geschaufelt, dass er triefte, aber immer nobel, im schwarzen Gehrock und Zylinder, auf der krummen Nase den Kneifer, bei jedem Spatenstich mit den Ohren wackelnd.

Doch wir hatten die Schaufelei überhaupt gar nicht nötig. Ach, wir waren ja so ingeniöse Köpfe! Wir waren mit genialen Gedanken vollgepfropft wie das Ei mit Dotter.

Das Orgelgebläse musste wieder einmal herhalten. Erst hatten wir mit ihm die Makrelen geräuchert, jetzt musste es als Saugwerk den Sand heben. Das Schaufeln mit 70 Paar Menschenarmen ging freilich bedeutend schneller, aber immerhin, zum Herausschaffen des Sandes aus dem tieferen Bassin war es doch recht brauchbar und dann war es eben die geniale Idee, die uns den Hauptspaß dabei machte.

Bei der Einweihung des Argonauten-Kanals bliesen zehn Mann den brasilianischen Moskito-Marsch auf einer einzigen Riesenuniversaltrompete, gefertigt aus einer Windtute und dem Schornstein des Donkeys, und der dreistimmige Argonautenmännerchor sang die Jubelhymne des Königs Mwambanjululelangalaclick von Ulolombalaleclicjajalaloclick, von Seiner schwarzen Majestät selbst gedichtet und komponiert: Radau, Radau, Radaudaudau.

»Nee, wissen Sie, Waffenmeister«, sagte Kapitän Martin dann kopfschüttelnd zu mir, »ich glaube, die Jungens doch nun genau zu kennen — aber immer wieder muss ich sagen: nee, so eine verrückte Bande habe ich noch nicht gesehen!«

Und als Kapitän Martin dies sagte, da hatte noch gar nicht das große Wasserfest begonnen! Von diesem will ich nichts weiter erwähnen, als dass Klothilde eine Seejungfrau mimte, die von einem tollen Seehund gebissen und infolgedessen wasserscheu wird, von den anderen Wassergöttern an die Kreuzleine genommen werden muss.

Mit dieser Wasserpantomime sollten wir später in Hafenstädten noch oftmals paradieren, dass die Zuschauer vor Lachen umfielen.

Sehr schön war auch der Argonautenberg. Der ausgehobene Sand, 400 Kubikmeter, war zu einem recht ansehnlichen Hügel aufgeschüttet worden, von dort oben ging auf spiegelglatt polierten Brettern eine Rutschbahn direkt in das Wasserbassin hinab. Auch ein geistreiches Spielchen war dafür schnell erfunden. Der Kampf um die Wurst. Es galt, in halber Höhe die Fahrt möglichst zu bremsen und nach einer seitwärts aufgehängten Wurst zu haschen, wozu man sich seitwärts biegen musste, zur Balance die Beine nach der anderen Seite ausstreckend — da aber nun das Bremsen und der Griff nur in den seltensten Fällen gelang, so sauste der Betreffende immer in der urkomischsten Stellung ins Wasser hinein.

Ach, dieses Gelächter!

Na, was von uns Menschen die Affen denken mussten, die dort oben in den Bäumen ihr Wesen trieben und unserem Treiben neugierig zuschauten!

Und ach, was wir mit diesen Affen der Freiheit alles angestellt haben, um sie in unsere Gewalt zu bekommen, nur um sie dann gleich wieder laufen zu lassen. Diese Fallen, die wir denen bauten, diese Schliche und Kniffe, die wir ersonnen, um sie zu überlisten! Ich will es nicht weiter ausführen.

Dagegen will ich hierbei erwähnen, dass wir keine Affen fingen oder schossen, um sie zu verspeisen. In Brasilien werden nämlich die Affen allgemein verzehrt. Ich hätte es nie fertig bringen können, und alle anderen teilten meine Ansicht, als wir uns einmal darüber unterhielten. Einen Affen schießen, um ihn auszustopfen — ja, warum nicht, aber ihn am Spieße oder in der Pfanne zu braten — nee! Es hat doch eine verdammte Ähnlichkeit mit Menschenfresserei. So eine Affenhand, die man abschneiden muss, mit diesen Fingern — nee!

Ich habe mich später über diesen brasilianischen Geschmack näher orientiert, und da habe ich die doch sehr eigentümliche Entdeckung gemacht, dass wie die Eingeborenen nur die Portugiesen, die Spanier, die Italiener und die Franzosen den Affen, auch den menschenähnlichsten, unbekümmert mit dem größten Behagen verzehren. Bei allen Yankees, Engländern und Deutschen, die dort dominieren, ist der Genuss von Affenfleisch durchaus verpönt. Ich will daraus nicht gerade einen Schluss auf den Nationalcharakter oder vielmehr auf die Rasse ziehen, aber — es ist doch sehr merkwürdig.

Sehr auffallend ist es auch, dass auf den brasilianischen Märkten kein Affenfleisch tot oder lebendig feilgeboten wird. Die Affen werden nur so unter der Hand bezogen. Auch in den Hotels und in den Restaurationen gibt es kein Affenfleischgericht. Also — so ganz richtig ist die Sache doch nicht, ein kleines Bewusstsein, dass etwas nicht in Ordnung ist, ist schon dabei! — — —

Dann weiter bauten wir eine Riesenschaukel, oder nur eine Trapezvorrichtung mit 15 Meter langen Seiten zum Abspringen ins Wasser.

Zwei schlanke Baumstämme wurden gefällt, oben durch Querbalken verbunden, unten im Sande gut verankert, mit noch besser verankerten Seilen, die durch Doppelgewinde angespannt werden konnten, absolut festgehalten. So etwas verstehen wir Seeleute doch. Und nun zwischen diesen Balken an 15 Meter langen Seilen das Trapez, über dem Kanal schwingend, und wenn man beim starken Schaukeln den höchstmöglichen Punkt erreicht hatte, so musste man beim Abspringen gerade in die Mitte des tiefen Bassins kommen.

O, mit solch einer langen Springschaukel kann man etwas machen! Ich habe sie nur noch im Leipziger Elsterbad gesehen. Und einige von uns wurden bald Meister. Prachtvolle Sprünge! Aber sie alle waren bereits halbe oder sogar schon ganze Akrobaten. Doppelsaltos mit nachfolgendem Hechtsprung waren gar keine Seltenheit mehr.

Wenn wir einmal in einem Wettschwimmen ein Kunstspringen bestritten, da würde man ja mit den Argonauten etwas erleben!

Und wenn ich mir nun diese Kerls noch vor fünf Monaten vorstellte, wie sie damals über das niedrige Sprungseil hopsten! Und jetzt, wenn sie aus der Höhe einer dritten Etage mit ausgebreiteten Armen, stolz den Kopf zurückgeworfen, von dem Trapez abgingen!

Ach was wir alles bauten!

Das Auffinden eines hohlen Baumes, in dem ein Volk Bienen hauste, das uns seinen reichen Vorrat an Honig lassen musste, gab Veranlassung zur Errichtung eines Backofens.


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Honig und Backofen reimt sich ja nicht so ohne weiteres zusammen. August der Starke war es, der dieses Zusammenreimen sofort fertig brachte, obgleich er sonst durchaus keine poetische Ader hatte.

»Kinders, jetzt werde ich Euch beweisen, dass ich nicht umsonst zwei Jahre als Bäcker und Konditor gelernt habe, jetzt werde ich Euch einmal einen Honigkuchen backen!«

Ein Backofen war ja an Bord vorhanden, für das ursprüngliche Kriegsschiff, dessen Offiziere doch immer Frischbrot haben wollen, sogar ein sehr großer, neben der Kombüse in einem besonderen Raume.

Aber es ist mit diesen Schiffsbacköfen immer eine dumme Sache. Sie müssen von Eisen sein, direkte Feuerung haben, es geht doch nicht anders. Ja, das Frischbrot, das wir ab und zu bekamen, oder überhaupt so oft wir Appetit darauf hatten, stellte Meister Kännchen tadellos her. Aber es konnten nur kleine Brötchen sein oder Dreipfundbrote, andere Dimensionen waren wie Kunstbäckereien darin nicht möglich, und der zweite Bootsmann hatte etwas ganz, ganz anderes vor.

Also wir bauten erst einen richtigen Backofen in den Sand hinein, nämlich mit Zement, der in ziemlicher Quantität mit zur vorschriftsmäßigen Schiffsausrüstung gehört, um etwa mit Zement und Werg ein Leck zu verstopfen. Man braucht ihn aber auch noch für andere Zwecke.

Also erst wurde mit Zement und Sand ein Fundament gegossen, auf der Sandbank darüber mit Holzbrettern ein Gerüst gebaut, gewölbt, fünf Meter lang und vier Meter breit, mit kleineren Dimensionen wollte sich August der Starke nicht einlassen, und da musste auch noch Spielraum vorhanden sein, um ein solches Kuchenblech bequem aufzunehmen, und über diesen Holzbau wurde nun die Decke gegossen, wieder mit einer Mischung von Sand und Zement. Zu unterst aber, die eigentliche Decke bildend, kam erst noch reiner Sand.

Wozu?

O, wir waren geniale Kerls! Wie wir uns das alles ausgediftelt hatten! Und wie das dann alles auch wirklich klappte!

Wir wollten nämlich die Sanddecke durch stärkere Hitze erst etwas schmelzen, damit später nichts auf den Kuchen herabbröckelte, mussten aber auch verhüten, dass der Zement wieder ausgebrannt wurde.

Doch mit solchen Kleinigkeiten will ich mich nicht einlassen, es waren noch andere Vorsichtsmaßegeln nötig.

Also jetzt den fertigen Ofen mit kleinem Holz beschickt, und wiederum musste, um zuerst eine stärkere Hitze zu erzeugen, der Orgelblasebalg herhalten. Es klappte alles famos! Natürlich verbrannte auch das Holzgerüst mit.

Unterdessen wirkte August schon den Pfefferkuchenteig aus. Und wie der wirkte! Wie der mit dem kolossalen Teigbatzen herumfuhrwerkte, ihn in die Lust warf und wieder auffing! Und wie der Kerl dabei schwitzte!

»Aujust, Du hast nen Troppen an der Nase hängen.« »Stimmt, der muss rin, der gibt dem Nürnberger Lebkuchen erst den richtigen Leb, sonst geiht he nich up!«

Dann den Ofen sich wieder etwas abkühlen lassen, wie August bestimmte, und auf einem Blech den Kuchen hineingeschoben, genau fünf Meter lang und vier Meter breit, so ungefähr ein Teppich, der ein ansehnliches Zimmer ganz ausfüllt.

Und wie das Ding nach einigen Stunden herauskam — Dunnerwetter, da erst staunten wir richtig! Jetzt erst sah man richtig, was das für ein Pfefferkuchen war bei einem Viertelmeter Dicke! Und wie famos der gelungen war! Wie fein braun lackiert!

Besonders die Patronin war einfach ganz weg vor Staunen.

Und dann hatte sie eine Idee. Der Kapitän war nämlich der einzige, der den Kuchen noch gar nicht gesehen hatte, auch nicht wie er als ausgerollter Teig hineingeschoben worden war.

Also die Patronin zog mich beiseite.

»Waffenmeister — ich begehe eine große Indiskretion — einen Verstoß gegen die Bordroutine — aber ich kann nicht anders — morgens hat Kapitän Martin seinen Geburtstag, es steht doch in seinen Papieren — könnte der nicht den Riesenpfefferkuchen überreicht bekommen?«

Ei jawohl, ei gewiss das wurde gemacht!

Allerdings nicht als Geburtstagsgeschenk. Dass dies nicht angängig war, das hatte ja schon die Patronin gesagt. Weshalb das nicht angängig war, das lässt sich nicht so leicht erklären, dazu muss man Seemann sein. Es geht eben gegen die Bordroutine, gegen den Schiffsanstand, dem Kapitän zu seinem Geburtstang zu gratulieren und ihm ein Geschenk zu überreichen. Es wird wohl überhaupt jeder einsehen, dass so etwas gar nicht möglich ist. Die Mannschaft kann doch nicht dem Kapitän, dieser unnahbaren Majestät, zum Geburtstage gratulieren. Wenn der erste Steuermann sein Neffe ist, so kann er seinem Onkel gratulieren, aber doch nicht dem Kapitän!

Aber zu machen war es — nur in anderer Weise. Der Koch oder sonstwer konnte für den Kapitän doch einmal etwas Besonderes backen. Es ließ sich auch noch etwas mehr daraus machen.

August wurde ganz Feuer und Flamme, als er das vom Geburtstag des Kapitäns erfuhr.

»Ei, da spritze ich was drauf, Jungens, Ihr sollt mal sehen, wie Euer Bootsmann spritzen kann, und zwar nicht nur zum Deckscheuern mit der Dampfspritze!«

Also er traf seine Vorbereitungen und spritzte, wie der Kuchen erkaltet war. Spritzte mit einem weißen Zuckerschaum. Spritzte auf den braunen Kuchen eine ganze Landschaft mit Sonne, Mond und Sternen. Aber die Hauptsache war eine Kommandobrücke. Und auf dieser Kommandobrücke war die Hauptsache ein Mann, in voller Lebensgröße, nur auf einem Beine stehend, das andere endlos lange Bein über das Geländer gehängt, beide Hände bis an die Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben.

Na — großartig, kann ich nur sagen!

Unser Käpten, wie er leibte und lebte!

Man sah ihn förmlich seinen Tobak kleinkauen!

Und darunter die Widmung: Die Argonauten ihrem Kapitän.

So etwas war ja nun erlaubt. Da wäre sogar noch viel mehr erlaubt gewesen. Aber nur nicht so etwas wie vom Geburtstage anfangen! Das ist etwas rein Persönliches, das gehört nicht aufs Schiff. Wir hätten auch nicht seinen Namen darauf nennen dürfen. Mit dieser Unpersönlichkeit der Schiffsbesatzung hängt sogar das zusammen, dass es bei den Matrosen, wie ich schon einmal ausführte, nur den Vornamen gibt. Man fährt ein ganzes Jahr lang mit einem guten Kameraden zusammen, schließt innige Freundschaft, und man erfährt gar nicht seinen richtigen Namen. Ausnahmen gibt es natürlich immer, wie bei »unserem Hahn«.

Und nun bekam dieses Pfefferkuchengemälde noch einen mächtigen Rahmen aus Brezelgeflecht, mit Saffian und Ei fein goldgelb anlackiert!

Der Morgen des andern, des großen Tages brach an. Die Jungens standen auf der Lauer. Hoffentlich wurde der Käpten heute nicht seiner Gewohnheit untreu. Aber er wurde es nicht. Kapitän Martin betrat des Morgens nie das Deck von seiner Kajüte aus, sondern erschien zuerst immer auf der Kommandobrücke, aus dem Kartenhaus herauftretend, nach welchem, wie schon einmal erwähnt, ein Gang und eine Treppe von den Kajüten aus führte.

So geschah es also auch heute bei Aufgang der Sonne. Kapitän Martin trat aus dem Kartenhaus, natürlich die Unterarme bis zu den Ellenbogen in den Hosentaschen, ging nach vorn an das Geländer — und richtig, auch heute hob er das linke Bein, legte es über das Geländer, bei der Länge dieser Beine nicht viel anders, als wenn ein anderer den Fuß auf einen Stuhl stemmt, um in dieser Stellung erst einmal Takelage und Himmel zu mustern.

In diesem Augenblick kamen zwölf Matrosen anmarschiert, auf jeder Seite sechs, zwischen sich auf Stangen den riesigen Kuchen tragend, auf der Blechtafel ruhend, und so richteten sie ihn vor der Kommandobrücke aufrecht hin, die Vorbereitungen dazu waren schon vorher getroffen worden, stellten den Kuchen etwas schräge auf, wie man ein Bild auf eine Staffelei setzt. Dann gingen sie wieder.

Die Kommandobrücke war nicht allzu hoch, der Kapitän stand direkt seinem Ebenbild oder schon mehr Spiegelbilde gegenüber, nur dass es aus weißem Zucker war, sah sich in eben derselben Stellung, die er jetzt einnahm.

Wohl eine Minute blickte er regungslos sein weißgezuckertes Konterfei auf dem Riesenkuchen an, jetzt las er offenbar die Widmung, da nahm er die rechte Hand aus der Hosentasche um sich kopfschüttelnd den Vollbart zu streichen, in Wirklichkeit aber wohl mehr, um sein lautloses Lachen auch nicht sehen zu lassen.


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Wohl eine Minute blickte der Kapitän sein weiß-
gezuckertes Konterfei auf dem Riesenkuchen an
und ein fröhliches Lächeln umspielte seine Lippen.


»Well. Bootsmann! Lasst das Ding mal in meine Kajüte tragen.«

Er ordnete selbst an, wo es aufgestellt werden sollte, aufrecht gegen die Wand. Seine Kajüte war der einzige Wohnraum, der den fünf Meter hohen Kuchen, durch den Rahmen noch etwas höher, in dieser Stellung aufnehmen konnte. Er hatte eben die Kapitänskajüte bekommen, die für den Kommandanten des ursprünglichen Kriegsschiffes bestimmt gewesen, der doch manchmal repräsentieren muss. Es war sehr schön von der Patronin gewesen, dass sie diesen besten Raum auch wirklich dem Kapitän überlassen hatte. Aber so war sie ja immer.

Die Patronin, Ilse und ich, wir drei waren die einzigen, die ihm dann zum Geburtstage gratulierten. Ich war ja als Kargo-Kapitän sein gleichgestellter Kollege, da war es etwas anderes.

»So freudig bin ich an meinem Geburtstage noch nie überrascht worden!«, konnte er dann als ganz gewöhnlicher Mensch zu uns sagen. »Und ich glaube, wenn ich König und Kaiser wäre, ein imposanteres Geschenk könnte mir kein Fürst machen. Es sind doch Teufelsjungen!«

Er war wirklich ganz gerührt.

Heute dinierten wir drei bei ihm in seiner Kajüte, das Essen ging ja auf Rechnung des Schiffes, hierüber hatte er überhaupt frei zu verfügen, aber das Getränk dazu, Johannisberger Cabinet und Sillery, entnahm er seinem eigenen Proviantmagazine.

Und von der Mannschaft erhielt heute zum Mittagsessen jeder eine Flasche Rüdesheimer, der erste Offizier sowohl wie der Schiffsjunge, ohne Erklärung wurden sie aufgestellt, respektive in der Offiziersmesse vor den Platz eines jeden hingesetzt, nicht etwa »das ist vom Kapitän, weil er heute seinen Geburtstag hat, für den Pfefferkuchen« — um Gottes willen nicht! — und nicht etwa, dass ein Hoch ausgebracht werden durfte, auch nicht im engen Kreise der Offiziere. Es geht gegen die Bordroutine, dieses eherne Gesetz, obgleich es ungeschrieben ist.

Dieser Wein ging zwar aus der großen Schiffsproviantkammer, aus der speziellen Weinkammer, in der Batterie über Batterie lagerte, aber es war ganz selbstverständlich, dass ihn der Kapitän dann später bezahlte, ebenso wie am Abend den eisgekühlten Schwedenpunsch in beliebiger Menge.

Den Riesenpfefferkuchen verspeiste dann natürlich ebenfalls die Mannschaft, aber erst war er doch zwei Tage in der Kapitänskajüte aufgestellt gewesen, und sein Eigentümer hatte sich ein gutes Stück reserviert und ein anderes noch größeres nach der Patronatskajüte geschickt.

Während wir vier in der Kapitänskajüte speisten, kam das Gespräch auf die Backerei im Besonderen und auf die Kocherei im Allgemeinen an Bord der Schiffe.

Da konnte ich auch ein Wort mitsprechen.

Ich kann nämlich auch kochen.

Und wie!

Ich bin einmal als Schiffskoch gefahren! Wenn auch nur 14 Tage lang.

Was ich damals erlebt habe, das erzählte ich und gebe es hier wieder.

Unser Hamburger Dampfer, 42 Mann Besatzung hatte in Singapore Reis geladen. Ich war als Matrose darauf.

Wie wir früh abfuhren wollen, fehlt der Koch. Ist vom Nachturlaub nicht zurückgekommen. In der letzten Stunde wurde er gesucht, nicht gefunden — wir hatten keine Zeit mehr, ein anderer war nicht aufzutreiben — wir fuhren ohne Koch los. Einen Kochmaat, einen Küchengehilfen, hatte er nicht gehabt, war ohne den fertig geworden, auch ein solcher war nicht aufzutreiben gewesen, und das ist auch noch lange kein Schiffskoch.

»Wer von Euch kann kochen?«, fragte der Kapitän.

Na, welcher Matrose kann denn nicht kochen!

Aber keiner trat mutig aus den Reihen.

Es ist eben eine eigentümliche Sache mit der Kocherei an Bord. Umsonst ist doch nicht der Schiffskoch derjenige Unteroffizier, der die höchste Heuer bekommt, so viel wie der zweite Steuermann, also wie ein voller Offizier.

Aus was für Verlegenheiten muss sich so ein Schiffskoch manchmal zu helfen wissen! Was bekommt der manchmal für Proviant und Zutaten geliefert, von der Reederei, die nichts weiter in den Augen hat, als den Aktionären möglichst viel Dividende zahlen zu können. Salzfleisch und Speck, dem man erst die blaue Farbe und den Geruch nehmen muss, wofür jeder Schiffskoch sein eigenes Geheimnis hat. Erbsen, die man eine ganze Woche lang ununterbrochen kochen kann, und die doch nicht weich werden. Dazu ist doppelkohlensaures Natron da. Aber das ist schon in den ersten Tagen verbraucht. Also wird tüchtig mit Soda nachgeholfen; denn weich müssen die Erbsen werden, es geht um die Ehre des Kochs. Der Sodageschmack muss aber wieder weggeschafft werden. Und so weiter, und so weiter.

Allerdings gilt das nur für Segelschiffe, die lange Reisen machen. Bei der Übernahme des Proviantes muss er ja tadellos sein, aber die faule Sache ist die, dass es noch kein Gesetz gibt, welches bestimmt, dass auch das bisherige Alter des Proviantes angegeben werden muss. Man weiß, also nicht, wie lange sich das Fleisch, die Butter und alles andere halten wird.

Bei Dampfern ist das ja etwas ganz anderes. Die müssen alle 14 Tage einen Hafen anlaufen, wegen der Kohlen, und hat sich bis dahin schon eine Unreellität gezeigt, so wandert der schlechte Proviant über Bord, der Kapitän kauft neuen, dazu hat er das Recht. Oder ist er mit Aktienteilhaber und auch so ein Dividendenbruder, dann läuft ihm die Mannschaft davon und dieses Schiff bekommt so leicht keine andere!

Wir waren ganz ausgezeichnet verproviantiert. Trotzdem meldete sich kein Matrose und kein Heizer, mochte er auch noch so gut kochen können.

Es ist und bleibt etwas Merkwürdiges bei der Schiffskocherei. Schon dass der Mann, der ja deshalb nicht gleich Unteroffizier wird, nur eine Zulage bekommt, von seinen bisherigen Kameraden nun fortwährend gehänselt wird. Nichts kann er recht machen, nur aus Scherz schikaniert man ihn in jeder Weise.

Ich kannte diese Verhältnisse — und kannte sie doch noch nicht so richtig.

Na, Georg, wenn sich niemand meldet — kannst Du denn nicht kochen?

Ich hatte allerdings noch nie gekocht.

Aber — bah! — was ist denn bei der ganzen Kocherei! Ich hatte doch die Realschule absolviert, hatte ganz gute chemische Kenntnisse, auch in Bezug auf die Kocherei.

Und ich war doch überhaupt ein pfiffiger Junge.

Ich wusste, weshalb Soda, kohlensaures Natron, die Erbsen weich macht, weshalb es doppelkohlensaures Natron noch besser tut.

Ich wusste, dass man Fleisch, das man eben des Fleisches wegen verzehren will, gleich in kochendes Wasser bringt, weil da sofort das Eiweiß gerinnt, so eine undurchdringliche Kruste bildet, wodurch das innere Fleisch saftig bleibt, während man, wenn es sich um Fleischbrühe handelt, das Fleisch kalt ansetzt, es möglichst langsam erhitzt.

Ich wusste auch, worauf das Brotbacken beruht, weshalb durch Zusatz von Bierhefe der Teig aufgeht. Ich kannte auch die dazu nötige Temperatur. Und wenn ich einmal etwas nicht wusste, so brauchte ich ja nur in der Offiziersmesse in Meyers großem Konservationslexikon nachzuschlagen. Da stand alles, alles drin. Also konnte ich auch kochen und backen.

Denn einen anderen durfte ich deswegen nicht fragen, die hätten mir ja schöne Rezepte gegeben! Das wusste ich ebenfalls.

Kurz und gut, Rittersmann oder Knapp, Georg war es, der keck und verwegen aus den Reihen trat.

»Ick!«

Schön, das Heiligtum der Kombüse wurde mir überwiesen.

Es war in der achten Stunde, ich hatte gleich ans Mittagsessen zu gehen.

Den Küchenzettel macht der Kapitän selbst. Ist er faul, dann macht er ihn gleich für die ganze Reise, jeder Wochentag wiederholt sich immer wieder: sonst schreibt er ihn für jede Woche einzeln vor.

Wie dem auch sei — für heute lautete der Speisezettel, wobei man bedenken muss, dass man im Hafen doch frisches Fleisch mitnimmt, wenigstens für einige Tage.

Mannschaft: Rindfleisch mit Bouillonkartoffeln. Unteroffiziere: Und Eierkuchen mit Preiselbeeren. Offiziersmesse: Bouillonsuppe, Rinderbraten mit Salzkartoffeln, Eierkuchen mit Preiselbeeren.

Kajüte: Dasselbe. Dazu Schöpsenkeule gebraten. Und Mischgemüse und Stangenspargel.

Ich ging an die Arbeit. Mit dem Abschneiden des Fleisches von den großen Stücken hatte ich gar nichts zu tun, das hatte der Steward zu besorgen, es mir zu liefern.

Vorher bewies ich noch, dass ich Kaffee kochen konnte. Ein feiner Kaffee! Auch für die Mannschaft. Ich hatte nämlich dem Steward, als er einmal nicht hinsah, zwei Pfund extra gemaust

Das Essen war tadellos! Ha, ich und nicht kochen können! Bei meiner Intelligenz! Es ist doch auch so einfach, ein paar Konservendosen aufzuknipsen und den Inhalt zu wärmen, für den Spargel Butter zu zerlassen und dergleichen, und nicht mehr Beschwerde hatte mir das Kochen und Braten des Fleisches gemacht.

Nur das Anrühren des Eierkuchenteiges hatte mir nicht recht gelingen wollen. Da waren Mehlklünkerchen und Mehlklumpen drin gewesen, die sich durchaus nicht herausquirlen lassen wollten, erst hatte ich sie alle einzeln zerdrücken wollen, erst mit einem Löffel, dann mit den Fingern, es schienen aber nur immer mehr zu werden,

hieraus erkennt die kochkünstlerisch ausgebildete Leserin also ganz genau, dass ich nicht etwa nur ein Märchen erzähle — na, da goss ich das dünne Zeug ganz einfach durch ein Haarsieb und ließ die Klünkerchen und Klumpen über Bord verschwinden.

Dann aber sprachen mir die Offiziere auch ob der Eierkuchen ihre Bewunderung aus, wozu sie auch wirklich allen Grund hatten — nämlich weil ich statt der vorgeschriebenen Salzkochbutter zum Backen die feinste Kapitänskajütenspeisebutter verwendet hatte — das war mir doch ganz egal! — und ebenso hatte die Mannschaft noch nie solche Bouillonkartoffeln gehabt, nämlich weil ich aus der Proviantkammer außer des Kaffees auch noch eine Pfunddose Liebigs Fleischextrakt gemaust und sie zur Verbesserung der Fleischbrühe verwandt hatte.

Am nächsten Mittag gab es für die Mannschaft wiederum Rindfleisch — der mitgenommene halbe Ochse musste unter diesen Breiten doch möglichst schnell aufgegessen werden — diesmal aber mit Reis.

Ich schicke voraus, dass der Koch alles, was er braucht, vom Steward in beliebiger Menge fordern kann. Nur das Fleisch und die Luxussachen wie Kaffee und dergleichen werden ihm zugewogen. Von den Hauptnahrungsmitteln, wie Kartoffeln, Hülsenfrüchten und Mehl, kann der Koch, wenn sie ihm nicht gleich offen stehen, vom Steward so viel fordern wie er will, der Steward hat es ihm einfach herauszugeben.

Wie viel ich für die 42 Mann Reis brauchte, das auszukalkulieren war jetzt also meine Sache. Da durfte ich auch niemanden fragen, sonst hätte ich mich doch blamiert.

Na, wie viel Reis brauchte ich wohl für die 42 Mann? Wie viel kann der einzelne Mann essen? Von Kartoffeln hatte ich gestern pro Kopf zwei Pfund genommen. Und da war gar nicht so viel übrig geblieben. Auf dem Schiffe wird ja tüchtig »geschafft«. Reis ist natürlich etwas ganz anderes als Kartoffel. Sagen wir also: pro Kopf ein und einviertel Pfund Reis. 42 mal 1,25 ist 52,50. Aber Kapitän und Offiziere essen weniger Reis, weil sie noch anderes bekommen. Also sagen wir rund 50 Pfund, einen halben Zentner.

Und ich gehe hin zum Steward und verlange einen halben Zentner Reis.

»Wozu?«

»Na wozu!«, schnauze ich den dämlichen Kerl an. »Weil es heute Reis gibt! Oder 50 Pfund sind wohl für 42 Mann zu viel, was?! Ich soll die Leute wohl hungern lassen, wie?!«

Der Steward sagte nichts mehr.

Misst mir dieses infame Biest von Steward in aller Seelenruhe 25 Liter Reis zu, zeigt mir auf der Waage, dass es sogar noch mehr als 50 Pfund sind. Grinst nicht einmal dabei!

Ich rücke mit meinem halben Zentner Reis ab, und wie es so weit ist, nehme ich einen Dreißiglitertopf, schütte den Reis hinein und fülle Wasser nach. Es stand noch eine gute Schicht Wasser darüber. Die See war glatt wie ein Spiegel, unser Dampfer gondelte wie auf einem Teiche. Dass der Reis etwas quoll, konnte ich mir denken, ich hatte doch die Realschule besucht und war überhaupt ein intelligenter Bursche. Deshalb eben ließ ich noch eine gute Wasserschicht darüber stehen, damit der Reis sich ausdehnen konnte.

Der Topf steht überm Feuer.

Und jetzt beginnt die Tragödie.

Ja, der Reis dehnt sich aus; denn das war kein Quellen mehr.

Ich fange an, mit dem großen Löffel zu schöpfen, fülle einen anderen Topf voll.

Und wie ich den dritten Topf voll Reis fülle, da bekomme ich es aber doch mit der Angst zu tun.

Je schneller ich schöpfe, desto schneller quillt das Teufelszeug in die Höhe.

Ich habe schon sämtliche Töpfe meiner Kombüse mit Reis angefüllt und sehe noch kein Ende dieser Quellerei.

Und, weiß der Teufel, ich habe auch gar keine Gelegenheit, den Reis über Bord zu schütten! Gerade haben die Matrosen auf beiden Seiten meiner Kombüse an Deck zu tun. Nicht etwa, dass sie mir in die Kombüse geguckt hätten. So etwas gibt's ja an Bord nicht! Aber — ich hatte eben keine Gelegenheit, den Reis über Bord verschwinden zu lassen; denn gesehen durfte das nicht werden.

Und in dem Kochtopf überm Feuer mehrt sich's und mehrt sich's!

»Und will sich nimmer erschöpfen und leeren, als wollte das Meer noch ein Meer gebären.«

Denn ich musste doch auch immer noch Wasser nachgießen! Dabei aber musste ich mich aber beeilen, um nur gleich wieder zu schöpfen, schöpfen, schöpfen!

Ich schwitzte Todesangst. Jetzt war auch schon der Backtrog mit Reis angefüllt. Die Aufwaschbalje schon längst. Und ich brauchte doch noch andere Töpfe für die sonstige Kocherei.

»Doch endlich, da legt sich die wilde Gewalt —«

Der Reis quoll nicht mehr. Ich will hierbei bemerken, falls ein Leser die Sache noch nicht kennt, dass der Soldat im Manöver, wenn er selbst abkocht, eine kleine Kaffeetasse voll Reis zugemessen bekommt, das gibt eine gar ansehnliche Portion, so ein Manöversoldat hat doch Hunger! Und ich hier mit meinem halben Zentner, pro, Kopf mehr als einen halben Liter!

Ja, nun hatte ich aber keine Töpfe mehr. Und noch immer keine Gelegenheit, den Reis über Bord zu schütten. Doch ich musste mir zu helfen, und das ist immer die Hauptsache.

Ich hatte meine langen Seestiefeln an, die zog ich aus, füllte sie bis an den Rand mit dem Luderzeug, setzte sie in den Verschlag. So, nun hatte ich die nötigen zwei Töpfe frei. Solche Seestiefel fassen doch etwas.

Das Mittagsessen ging gut vorüber. Nur meine Angst und Sorge nicht. Ich musste mich doch des überflüssigen Reises entledigen, und jetzt stand gerade der Käpten auf der Brücke. Ach, was mir die vielen Reistöpfe, die ich natürlich versteckt hielt, für Sorge machten.

Da kam ein Matrose, wie es so manchmal geschieht, mit seiner Kumme an, seinem Essnapf.

»Du, Georg, häst nich noch en bäten Reis?«

Ja, konnte er kriegen.

Da kam ein zweiter Matrose an.

»Du, Georg, häst nich noch en bäten Reis for mi?«

Mir wollte eine kleine Ahnung aufgehen — aber ich ließ sie nicht aufkommen. Der Kerl war ja auch ganz ernst. Ja, er konnte noch Reis bekommen, es war noch etwas vorhanden.

Und kaum ist der Matrose fort, da sehe ich einen Schiffsjungen angewatschelt kommen, trägt vor sich am Bauche eine mächtige Waschbalje, so eine kleine Badewanne.

Das heißt — jetzt blieb es aber nicht nur bei der Ahnung — ich spuckte schon in die Hand.

So kam der Junge heran. Es war ein Binnenländer. »Sie möchten doch so freundlich sein«, begann er in seiner höflichen Weise, freilich etwas ängstlich, »und den Matrosen noch diese Balje voll Reis füll—«

Quatsch hatte der liebenswürdige Jüngling eine von mir drin!

Will mich der verfluchte Bengel veralbern!

Der arme Junge!

Der konnte doch gar nichts dafür, der war doch geschickt worden, musste ja gehorchen.

So ist es aber nun einmal in der Welt. Gewöhnlich muss es ein Unschuldiger ausbaden.

Und wir sind alle einmal Schiffsjunge gewesen.

Dann wurde ich meine Sintflut von Reis in anständiger Weise los.

Das war die schwierigste Situation in meiner vierzehntägigen Kombüsenkunst gewesen. Wie ich in einem Dreißigliterkessel 25 Liter Reis kochen wollte!

Ich richtete mich immer mehr ein. Nur die Erbsen habe ich noch einmal angebrannt, was aber jedem Koche passieren kann, zumal wenn man die Töpfe nur ein Viertel voll füllen darf, mit ihnen herumbalancieren muss, weil das Schiff wie ein toller Ziegenbock tanzt.

Bei dieser Gelegenheit machte ich noch einen guten Witz, wenigstens einen für ein Schiff, der auch vom Kapitän stark belacht wurde.

Also ich hatte die Erbsen anbrennen lassen. Nicht sehr, aber es war doch zu schmecken. Nun ging ich aber gerade einmal ins Mannschaftslogis. Da gab es bei mir keine Feigheit.

»Na, Jungens, schmecken die Erbsen?«

Natürlich schmeckten sie nicht. Aber mir zu sagen, dass sie angebrannt wären, das tat keiner, dazu waren diese Matrosen zu anständig, weil es eben jedem passieren kann, dass er die Erbsen einmal anbrennt.

Anderes freilich bekam ich genug zu hören. Denn dass sie mit dem Essen zufrieden sind, das ist unmöglich, gerade wenn's ein Kamerad bereitet hat, der sich als Koch hervorgedrängt hat. Sie schimpften auf etwas, was gar nicht vorhanden war.

»Die Suppe ist ja viel zu heiß! Wie kannst Du uns nur so eine glühende Suppe schicken, Georg!«

»Und so versalzen! Total versalzen!«

Aber es waren auch einige darunter, die mich lobten, ausnahmsweise — eben gerade deshalb, weil die Suppe angebrannt war.

»Nee, die Erbsensuppe schmeckt ganz gut.«

In diesem Augenblick, wie ich dieses dreierlei Urteil hörte, bekam ich eine Idee.

Schnell ergriff ich eine Pütze, einen Holzeimer, füllte ihn an der Frischwasserpumpe, war sofort wieder zurück, goss die ganze Pütze in die mächtige Schüssel hinein.

»So, Jungens. Wem die Suppe vorhin zu heiß gewesen ist, dem ist sie nun nicht mehr zu heiß; wem sie zu salzig gewesen ist, dem ist sie nun nicht mehr zu salzig; und wem dieser angebrannte Fraß vorhin geschmeckt hat, der wird auch jetzt nichts daran auszusetzen haben.«

Da hatte ich die Lacher auf meiner Seite.

In Suez bekamen wir einen zünftigen Schiffskoch an Bord.

*

In der sechsten Nacht, in der wir auf der Sandbank lagen, gleich nach Sonnenuntergang hörten wir ein merkwürdiges Geräusch, ein Klappern und Rasseln, das sich immer mehr verstärkte, ganz unheimlich wurde.

»Die Arraus kommen, um ihre Eier zu legen!«, erklärte Señor Estrada sofort. »Da sehen Sie auch, dass wir in 40 oder ganz genau in 41 Tagen wieder Hochwasser haben werden.«

Wir hatten uns über diese Schildkrötenart, die im Amazonenstrome und seinen Nebenflüssen, die zahlreichste und für den Menschen wichtigste ist, in Büchern schon zur Genüge orientiert, zumal in Alfred Brehms unvergleichlichem »Tierleben«, diesem erhabenen Denkmal in der zoologischen Literatur, welches alle anderen Nationen viel mehr anstaunen als die deutsche.

Die Arrau, die wir in einzelnen Exemplaren schon oft genug gesehen und gefangen und verzehrt hatten, hat im ausgewachsenen Zustande eine Panzerlänge von 50 Zentimeter bei einem Gewicht von 50 Pfund, wobei aber zu bedenken ist, dass Schildkröten sehr alt werden, also auch sehr langsam wachsen. Immerhin, wir hatten solche große Tiere schon oft genug gesehen.

Sonst einzeln lebend, vereinigen sie sich zum Eierlegen zu massenhaften Scharen. Wann dies geschieht, ist nach der Gegend ganz verschieden, hängt mit der Regenzeit zusammen, die aber eben in dem ungeheuren Amazonasgebiete, wozu noch das des Orinokos kommt, ganz verschieden ist. Jedoch wird der Termin in jeder einzelnen Gegend ganz genau eingehalten, eben wieder wegen der Regelmäßigkeit der Regenzeit. In Essequibo am unteren Orinoko legen sie ihre Eier in der Nacht vom 28. zum 29. Januar, am oberen Orinoko am 28. März, in den Gegenden des Amazonenstromes fallen die Legezeiten in die Monate Oktober und November.

Wir befanden uns in der Mitte, daher fingen sie hier im Juni an. Dabei werden immer wieder dieselben Sandbänke oder Sandinseln aufgesucht.

Nun allerdings kann sich die Regenzeit oder das Kommen des Hochwassers verschieben, sich auf viele Tage verzögern.

Das kann der Mensch vorher nicht wissen. Aber die Arrauschildkröte irrt sich niemals. Vierzig Tage nachdem Eierlegen setzt ganz bestimmt die Regenzeit ein!

Woher sie das so ganz genau berechnen kann? Das wissen wir nicht. Wir sprechen etwas von einem »Instinkt«, ohne zu wissen, was Instinkt ist.

Es ist die Sorge um ihre Brut, welche die Mutter genau instruiert, wann sie die Eier abzusetzen hat, auf dass so wenig als möglich vernichtet werden, anderen Tieren zur Beute fallen.

Dieses mächtige Tier, wenn auch nicht gerade eine Riesenschildkröte, hat außer den Menschen wenig Feinde zu fürchten. Ab und zu wendet einmal ein Jaguar eine um, reißt ihr durch Tatzenschläge das untere Schild ab, frisst sie. Das muss aber ein sehr starker Jaguar sein, und der findet in diesen Wäldern andere Beute genug, als dass er sich öfters solche Arbeit macht.

Anders ist, wenn nach genau 40 Tagen — alle Vögel haben doch auch so eine regelmäßige Ausbrütezeit — aus dem heißen Sande die kleinen Schildkrötchen hervorkriechen, der zukünftige Panzer nur erst aus einer gallertartigen Masse besteht. Auch die anderen Tiere kennen diesen Termin genau, sie lauern schon einige Tage vorher auf diesen Leckerbissen, alle Raubtiere der weitesten Umgebung versammeln sich an der Brutstelle, Tausende von Wasserschweinen, und nun gar die zahllosen Vögel, und alle wollen sich mästen.

Es sind Millionen und aber Millionen von kleinen Schildkrötchen, die innerhalb von etwa sechs Stunden gleichzeitig ausschlüpfen, sie würden dennoch sämtlich vertilgt werden, wenn nicht während dieser Zeit das Hochwasser käme, das sie schützend aufnimmt.

Es ist wunderbar! Unerklärlich! Da kann eben der Mensch nur staunen.

Allerdings wenden sich die kleinen Tierchen ja sofort dem Wasser zu. Aber bei Trockenheit ist der Weg doch manchmal weit. Nur durch die Hochflut entgehen die meisten dem Tode.

Und wie sich die ausgeschlüpften Schildkrötchen sofort dem Wasser zuwenden, das ist überhaupt auch so eine ganz rätselhafte Sache!

Wir haben mehrmals das Experiment wiederholt, das Humboldt und Schomburgk gemacht haben.

Als es bald zum Auskriechen war, nahmen wir Eier und vergraben sie anderswo. Nach der einen Seite war es 28 Meter vom Wasser entfernt, nach der anderen 33 Meter, also nur 5 Meter Unterschied, und der Wind kam von der weiteren Strecke her. Außerdem war es so eingerichtet, dass die kürzere Strecke nach der anderen Richtung lag, als die der Haupttrupp auf dem großen Brutplatze nehmen musste, so dass also kein suggestiver Muttergedanke in Betracht kommen konnte.

Als nun die Tierchen auskrochen, eilten sie sofort auf der kürzeren Strecke nach dem Wasser!

Wer sagte ihnen denn, dass es dort nur 28 Meter weit war? Wittern konnten sie das nicht. Dort strich der Wind hin! Da hätten sie viel eher das Wasser aus 33 Meter Entfernung wittern müssen.

Nun ging der Haupttrupp aber nach Westen diese Tierchen hier gerade entgegengesetzt nach Osten!

Man soll doch ja nicht von »Instinkt« sprechen! Hier liegt etwas vor, was der Mensch mit aller philosophischen Spekulation nicht enträtseln kann und niemals enträtseln wird!

Das Gelb der Eier, über die ich nachher noch sprechen werde, besteht der Hauptsache nach aus einem Öl, das einen wichtigen Handelsartikel bildet. Nach der Menge Öl, die ein Brutplatz ergibt, kann man nun berechnen, wie viel Schildkröten auf solch einer Sandbank in einer einzigen Nacht zusammenkommen, wobei man freilich auch wissen muss, wie viel Eier die Arrau legt.

Im Durchschnitt 100 Stück. Junge Tiere 50, ältere bis 150. Noch genauer hat es Schomburgk durch zahllose Untersuchungen berechnet. Im Durchschnitt 116 Stück.

Die Berechnungen der ganzen Eiermenge nach dem gelieferten Öle sind während vieler Jahre an drei verschiedenen Brutplätzen vorgenommen worden, auf den drei Inseln Cucurapuru, Uruanu und Pararuma.

Wir nehmen die Insel Uruanu am Orinoko heraus als diejenige, welche das wenigste Öl liefert. Diese Insel ergibt im jährlichen Durchschnitt rund tausend Krüge Öl.

In der sandigen Umgegend, also nur Uferstrecken, werden weitere 4000 Krüge zusammengebracht. 200 Eier geben eine Weinflasche voll Öl, auf einen Krug gehen 25 gewöhnliche Weinflaschen. Also kommen auch wieder 5000 Eier heraus, die zu einem Kruge, wie er im Handel üblich ist, nötig sind. Also müssen dort 250 000 Schildkröten zusammenkommen, keine unter 35 Zentimeter groß, in einer einzigen Nacht! Denn mit Sonnenaufgang ist keine mehr zu sehen.

Diese Art von Berechnung ergibt aber ein Resultat, das noch weit, weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt! Vor allen Dingen kommen die »närrischen« Schildkröten in Betracht, die noch jungen, unerfahrenen Mütter, welche zuletzt drankommen und sich dann so ungeschickt benehmen, es besonders mit dem Eierlegen dann so eilig haben, weil sie sich durchaus nicht vom Tage überraschen lassen wollen, dass sie mindestens ein Drittel der in den schon vorhandenen Löchern befindlichen Eier, auf diese ihre Schicht legend, zerbrechen, dann auch noch beim Wiederzuscharren der Löcher, was diesen »närrischen« Arraus überlassen bleibt; während das kunstvolle Aufgraben die alten Mütter besorgen.

Und was nun während dieser Zeit von den herbeigeströmten Indianern an Eiern verzehrt wird! Und wie die während des Ölauskochens mit den Eiern verfahren, was da noch nutzlos zerbrochen wird!

Schomburgk schätzt wohl richtiger die Zahl der Arraus, die bei Uruanu jährlich zum Eierlegen zusammenkommen, in einer einzigen Nacht auf mindestens 430 000 Stück.

Dabei sind die Brutplätze gar nicht so groß. Zu 100 Krügen Öl gehören in normaler Weise eine Ausbeute von 400 Quadratmetern. Die müssen also 500 000 nein, mindestens 800 000 Eier enthalten, wozu also 8000 Schildkröten nötig sind. Die quetschen sich also auf diesem Raume zusammen. Das heißt, die kommen innerhalb der 12 Nachtstunden hier angerückt. Da müssen aber doch nun erst die tiefen Löcher gegraben und dann auch wieder zugescharrt werden! Von dieser Wimmelei kann man sich gar keine Vorstellung machen. Da hüten sich auch die Jaguare, wie die Menschen. Wer unter dieses Gewimmel kommt, der wird selbst in dem weichen Sande zermalmt oder einfach erstickt.

Die Löcher haben oben einen Durchmesser von einem Meter und sind, von der ursprünglichen Oberfläche der Sandbank an gerechnet, 60 Zentimeter tief. Mehrere Schildkröten graben zusammen ein Loch, mit den Hinterfüßen schaufelnd, sich dabei immer im Kreise drehend, und dabei benetzen sie den Sand mit ihrem klebrigen Harn, wodurch es kommt, dass die Löcher auch unten breiter sind, als es sonst das Gefälle des trockenen oder etwas feuchten Sandes erlaubt. Die Eier werden mit den Hinterfüßen abgestrichen und ein Ei neben das andere geordnet. Durch das Zuscharren muss sich ja die ganze Stelle erhöhen, so dass jetzt die unterste Schicht einen Meter unter der Oberfläche liegt.

Dann ist die ganze Sandbank wieder völlig glatt. Weshalb die Tiere der Nachbarschaft, die das Eierlegen beobachtet haben, die Eier nicht ausgraben, um sie zu fressen, das ist wiederum so ein unergründliches Rätsel in der Natur. Diese Eier der Arrau schmecken köstlicher als Kibitzeier. Für den Menschen. Für die Raubtiere wohl nicht. Aber warum nicht? Die fressen doch sonst alles, was nur zu fressen ist. Und nun gar die Wasserschweine! Nein, sie gehen nicht an diese Eier, sonst würden die ja auch alles, alles vernichten! Erst wenn die Brut auskriecht, dann geht die allgemeine Jagd lustig los. Dass die »närrischen« Schildkröten in ihrer Unerfahrenheit so viel Eier zerbrechen, das dürfte wohl auch von der Schöpfungskraft Berechnung sein, die Suppe, die von oben nach unten dringt, ist zum Gedeihen der unversehrten Eier eben nötig.

Unser Prospektador war in dieser Gegend wie zu Hause, aber dass die Arraus hier ihre Eier ablegten, das hatte er noch nicht gewusst!

Denn dass die Schildkröten nur zufällig dieses Jahr einmal hierher kamen, das war ausgeschlossen. Sie halten immer dieselben Brutplätze ein und werden es so lange tun, so lange es noch eine Arrau gibt. Wo sie geboren worden ist, dahin kehrt auch die Arrau zum Brutgeschäft zurück, und ist das aus irgend einem Grunde nicht mehr möglich, so geht sie eben selbst zugrunde.

Nun, der Spanier kannte eben nur die fahrbaren Wasserstraßen, die Chinakulturen und dergleichen Hauptplätze, die ihn interessierten, sonst auch weiter nichts. Das war aber hieraus nun auch gleich zu bestimmen, dass es hier in der Umgebung gar keine Indianerstämme gab oder dass diese ebenfalls nichts von diesem Brutplatz wussten, sonst wären die schon hier gewesen und hätten auf die Schildkröten gelauert.

Also es klapperte und rasselte und krachte, und der Spanier hatte uns die Erklärung gegeben.

»Können wir die Tiere in der Nähe beobachten?«, war unsere erste Frage.

»Gewiss. Die lassen sich durch nichts verscheuchen oder beirren. Sie können sie beleuchten. Nur die Sonne darf sie nicht überraschen.«

Die erste Sichel des Mondes und die Sterne verbreiteten doch nur ein schwaches Licht, wir nahmen Lampen mit, auch den elektrischen Scheinwerfer durften wir einstellen und taten es.

Die Strecke, auf welcher sich die Arraus beim Eierlegen vom Ufer entfernen, beträgt immer 40 Meter. Also diese ganze Strecke vom Wasserrande an wird in Angriff genommen.

Oben am Oberlaufe des Madeira, der noch in Bolivia entspringt oder oben am Orinoko, es sind immer 40 Meter, die sich die Arraus vom Wasser entfernen. Weiter gehen sie nicht. Als hätten sie ein Messband bei sich. Wenn man auch nicht gerade mit einem halben Meter rechnen darf.

Wir sahen die Schildkröten schaufeln und Eier legen, wie ich es schon beschrieben habe; wenigstens bei den äußersten konnten wir es beobachten. Aber auch die wurden schon fortwährend verdrängt, richtig zu beobachten war nichts. Und alles andere nun vollends ein unentwirrbares Gewimmel. So war es auf unserer Sandbank, so war es allüberall auf den anderen sandigen Uferstrecken, so weit der Blendstrahl reichte, so weit wir die Ufer abschreiten konnten. Das Wasser zu gewinnen, um es etwa mit dem Boote zu befahren, das war jetzt rein unmöglich. Über die Panzer wegzuschreiten, das war leichter gesagt, als getan. Wer unter diese Tiere, von denen gar viele einen halben Zentner wogen, geriet, der war einfach verloren.

Wir sahen die ganze Nacht zu. Deutlicher konnten wir beobachten, wie kurz vor Tagesanbruch die »närrischen« Arraus als die letzten, kleinere Exemplare, eben jüngere Schildkröten, auch ihre Eier ablegten, mit ungemeiner Hast die unteren Eierschichten und ihre eigenen zerbrechend, und dann die Löcher zuschaufelnd, diesmal mit den Vorderpfoten, wobei sie sich nun wieder ungemein geschickt benahmen. Sie harkten und harkten, bis der aufgewühlte Sand wieder völlig eben war, als wenn soeben erst das Wasser abgelaufen wäre.

Als die Sonne aufging, war auch die letzte wieder in den trüben Fluten verschwunden.

Wir Menschen bewiesen uns als die größten Raubtiere dieser Erde, indem wir uns sofort über die Eier hermachten, sie wieder ausgruben. Na, wir wollten sie doch wenigstens kosten. Und da muss man sich beeilen; denn schon am dritten Tage ist es vorbei, da hat sich der Embryo bereits zu entwickeln begonnen.

Die kugelrunden Eier sind kleiner, als man sie so einem großen Reptil zutraut, nur etwas größer als Taubeneier. Das Eiweiß ist grünlich, das Dotter orangegelb. Sie schmecken ungekocht wie gekocht ganz vorzüglich, deliziös. Übrigens bringt das Kochen keinen Unterschied hervor. Beide Dotter bleiben flüssig. Sie gerinnen erst bei höheren Temperaturen, wie beim Braten in Butter, und dann will es nicht mehr so gut schmecken. Trotzdem werden die Eier allgemein gekocht, nämlich um sie länger aufbewahren zu können, weil dadurch natürlich die Lebenskraft getötet wird.

Mit diesen gekochten, aber auch mit den rohen Arrau-Eiern spielen die Kinder in Brasilien allgemein Ball. Es sind richtige Gummibälle. Wenn man sie auf die Erde haut, springen sie hoch empor. Es ist eine Kalkschale, aber eine ganz andere als bei Vogeleiern, äußerst elastisch.

Nun aber zerbrechen die letzten Schildkröten doch so viel Eier. Wie kommt das bei solcher Härte und Elastizität? Nun, zuerst sind die Schalen eben viel weicher, sie erhärten erst mit der Zeit, oder aber, glaube ich, eben die Suppe der zerbrochenen Eier ist nötig, den anderen diese Härte zu geben, da kommt eine neue chemische Verbindung zustande.

Dass man diese Eier als Gummibälle benutzen kann, das hat freilich eine Zeitgrenze. Bald springen sie beim Aufschlagen, und dann verbreiten sie regelmäßig einen fürchterlichen Gestank, der Geruch eines faulen Hühnereies ist dagegen noch Odeur zu nennen, wie wir zu unserem Leidwesen — oder aber Belustigung — noch oft genug erfuhren.

Nun bereiteten wir uns aber auch Schildkrötenöl, dem besten Olivenöl gleichkommend, nur zu eigenem Bedarf, ein Geschäft ließ sich daraus nicht machen, denn für den ganzen Krug allerbesten Öls, zwischen das keine verdorbenen Eier gekommen sind, werden von den Händlern nur zehn Franken gezahlt — hierbei wird wieder einmal nach französischem Gelde gerechnet — wozu also ungefähr 5000 Eier nötig sind. Nein, da konnten wir bei unseren Arbeitslöhnen nicht auf die Kosten kommen. Gemacht wurde es natürlich dennoch, eben für den eigenen Verbrauch. Wir machten es so, wie es in den Büchern geschildert wird, welche Fabrikationsmethode von Señor Estrada auch bestätigt wurde.

Eine höchst einfache Manipulation. Die ausgegrabenen Eier wurden in irgendwelche Bottiche geworfen, die Eingeborenen nehmen dazu gleich ihre Boote, und mit Keulen zerstampft. Es schadet nichts, wenn auch Sand dazwischen kommt. Nur vor faulen Eiern muss man sich hüten, die es jetzt ja aber noch gar nicht geben konnte. Das Öl, aus dem also fast das ganze Eigelb besteht, sammelt sich oben, wird abgeschöpft und in eisernen oder tönernen Gefäßen gekocht. Je länger man es kocht, desto haltbarer wird es, doch hat ein längeres Kochen als sechs Stunden keinen Zweck mehr. Dann ist es fast wasserklar, nur mit dem Anfluge eines gelben Scheines, der von dem eigentlichen Dotter kommt, vollkommen geruchlos und von einem höchst angenehmen Geschmack. Besonders zum Braten ist es vorzüglich geeignet, kann da wie Butter verwendet werden, während Olivenöl da doch nicht etwa ein Ersatz ist.

Da wir hier nun einmal von Öl und Butterersatz sprechen, will ich gleich ein chinesisches Rezept angeben, wie man sich auf eine höchst merkwürdige Weise ein vortreffliches Salatöl bereiten kann, das beste Olivenöl an Wohlgeschmack übertreffend. Unser chinesischer Schiffskoch hat es uns später noch oft genug vorgemacht. Manche Hausfrau dürfte mir dafür dankbar sein, aber auch der Chemiker sollte das Experiment einmal nachprüfen, denn es ist ein chemisches Rätsel dabei.

Man schmilzt über hellem Feuer Gänsefett und gießt unter ständigem Umrühren eine gleiche Menge gewöhnliche, frische Kuhmilch hinzu. Auf zwei Pfund Fett ein Liter Milch. Dieses trübe Gemisch lässt man mehrmals aufwallen, es immer einmal vom Feuer nehmend. Plötzlich, nach dem vierten bis sechsten Aufwallen, verwandelt sich die trübe Emulsion von Fett und Wasser, wird klar wie gelber Wein. Nun auf weiße Flaschen abziehen und diese einige Tage der Sonne aussetzen. Je länger dies geschieht, desto haltbarer wird das Öl. Es muss überhaupt immer wieder einmal den Sonnenstrahlen ausgesetzt werden, dann scheint die Haltbarkeit unbegrenzt zu sein. Zum Braten ist es weniger geeignet, gibt aber das feinste, wohlschmeckendste Salatöl.

Wie kommt es, dass die trübe Emulsion plötzlich weinklar wird? Dass sich das Fett mit dem Wasser der Milch verbindet? Dass sich die Milchsäure nicht mehr bemerkbar macht? Dass sich die Eiweißstoffe der Milch nicht mehr zersetzen? Dass die Haltbarkeit gerade durch die Sonnenstrahlen befördert wird, die doch sonst die Zersetzung der Milch und das Ranzigwerden des Fettes erst einleiten? Hier ist eben eine neue chemische Verbindung entstanden, mit der sich unsere Chemiker wohl noch gar nicht beschäftigt haben. —

»Würden Sie«, fragte Señor Estrada gleich am ersten Tage dieser Eierausbeute, »den Cascarillos nicht einige Tausend Eier hinbringen? Sie können Ihnen ein höchst angenehmes Gegengeschenk machen.«

Gut, auch ohne Hoffnung auf dieses Gegengeschenk waren wir gern bereit, den Wunsch zu erfüllen. Der Prospektador erklärte weiter, dass die Chinakultur nur zwei Stunden Bootsfahrt entfernt sei, was aber in diesem Wald- und Wasserlabyrinth eine entlegene Welt zu bedeuten habe, nur durch einen wundersamen Zufall könnten sich die beiden Parteien finden, und er möchte nicht, dass die Rindenschäler von ihrer Arbeit abgehalten würden, übrigens sollte diese Brutstelle unser Geheimnis bleiben.

»Unser Geheimnis?«, wiederholte Kapitän Martin. »Wir sind doch später gar nicht imstande, diese Brutstelle wieder aufzufinden, wenn Sie uns erst wieder hinausgebracht und dann verlassen haben.«

»Doch, ich werde Ihnen auf der Rückfahrt die Mittel angeben, wie Sie den Weg immer wieder zurückfinden können, dann erst werden Sie auch begreifen, weshalb ich Ihnen nicht schon auf der Herfahrt diese Merkzeichen angeben konnte. Erst auf der Rückfahrt ist es möglich.«

»Ach, das wäre ja herrlich, wenn wir ab und zu wieder herkommen könnten!«, jubelte die Patronin sofort, und so dachten auch wir.

Ja, wir hatten diese Sandbank im Urwald bereits über alles lieb gewonnen, und es ist doch auch so schön, in der Welt hier und da ein Plätzchen zu kennen, »von dem sonst niemand nichts weiß«. Gerade durch diese Heimlichkeit ist es ja so schön.

Zuerst gingen wir sofort an die Eierkocherei für die Rindensammler, gegen 200 Mann, die dann ja auch eine gute Portion Eier verzehren konnten.

Als Kochgefäß benützten wir gleich den Kessel des Donkeys, der etwas über einen Kubikmeter Wasser fasste, und so konnten wir uns leicht berechnen, dass dann ungefähr 30 000 solche taubeneigroße Eier hineingingen.

Das war ja eine tüchtige Arbeit, die auszugraben, herbeizubringen und aufzuschlichten, aber es waren eben wiederum 70 Paar Hände, die von einem Kopfe gelenkt wurden. Schon nach wenigen Stunden konnte der Kubikmeter Eier mit kaltem Wasser gekühlt und nach dem großen Kutter geschafft werden, der unterdessen schon zu Wasser gebracht worden war.

Ehe ich die Expedition schildere, will ich etwas über den Urwald sagen. Das ist freilich eine sehr schwierige Sache. Gewisse Schriftsteller, besonders solche, die Jugenderzählungen schreiben, machen es sehr klug, wenn sie immer einfach nur vom »Urwald« sprechen, dann haben sie es auch sehr leicht, einige nähere Schilderungen zu geben, wenn sie noch gar keinen gesehen haben, so dass ihre Phantasie durch keinerlei Sachkenntnis getrübt wird.

An unsere Sandbank grenzte diejenige Art des Urwaldes, die von den Brasilianern Igapo genannt wird. Diese Art Urwald, hauptsächlich aus riesigen Wollbäumen gebildet, wird dadurch bedingt, dass der Boden selbst bei mäßigem Wasserstande unter Wasser steht, nur bei tiefstem Wasserstande wie jetzt trockenen Fußes begangen werden kann.

Schön war es in diesem Igapo nicht etwa. Duster, ganz duster! Nicht der feinste Sonnenstrahl konnte durch das dichte Laubdach dringen, das sich in einer Höhe von vierzig bis sechzig Metern über den Hinaufblickenden wölbt. Das Wasser hatte sich sofort verlaufen, kein Pfützchen stand mehr, aber vollkommen austrocknen würde der modrige Humusboden nie. Und nun dieses Gewirr von riesigen Wurzeln! Von einem »Begehen« darf man da überhaupt nicht sprechen. Ein ununterbrochenes Klettern, eine halsbrecherische Gebirgspartie. Wenn sich dann auch wieder Wurzeln wölben, dass man unter ihnen durchreiten kann, wenn es auch freie Bodenstrecken gibt. Wegen dieser Wurzeln kann man auch beim höchsten Wasserstande nur mit einem ganz flachen Boote eindringen, sonst bleibt man überall hängen, klemmt sich fest, dass man gar nicht freikommt.

Und an den dicken Riesenstämmen nun, die sich schnurgerade emporrecken, armstarke und noch stärkere Adern und Sehnen, die sich spiralförmig hinaufwinden. Das sind die »Stängel« der Schlingpflanzen. Sie gleichen umso mehr Adern und Sehnen eines Körpers, weil sie mit dem Hauptstamme des Wollbaumes, an dem sie schmarotzen, wirklich durch Wurzelfäserchen verwachsen sind, obgleich sie ihre Hauptnahrung aus dem Erdboden holen. Auch drücken sie sich im Laufe der Zeit in den Stamm ein.

Dort oben nun, in der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses, entwickelt sich erst die wahre farbenreiche Pracht des Urwaldes und sein Leben. Hier im Scheine der Sonne entfalten die Schlingpflanzen ihre wunderbaren, riesigen Blüten, bringen Früchte hervor, hier oben hausen die Affen und zahllose Vogelarten, hauptsächlich aber doch Papageien, hier stellt ihnen der Jaguar nach, desgleichen die Baumschlange. Alle diese Tiere leben hier in einer luftigen Welt für sich, kommen nie auf den Boden.

Wir waren oben. Hatten einen günstigen Baum am Rande mit eisernen Steigeisen in eine leicht erklimmbare Leiter verwandelt. Hat man sich oben erst einmal durchgeschnitten, so ist ein unvorsichtiges Herunterfallen gar nicht mehr möglich. Entweder man steht auf Ästen und Zweigen oder auf einem unentwirrbaren Geflecht von Schlingpflanzen. Man merkt überhaupt gar nicht, dass man sich vierzig Meter hoch über dem Erdboden befindet. Ja, hier oben ist selbst schon wieder Erdboden. Hier hat sich auch schon wieder Humus gebildet, in dem Büsche und kleinere Bäume gedeihen.

Hier oben hausen bei den Überflutungen auch die Indianer, bauen sich ihre Hütten und braten erlegte Affen und Vögel. Trinkwasser liefert ihnen eine massenhaft vorkommende Pflanze, ein Mittelding zwischen Agave und Kaktus, deren große Früchte und vielleicht noch mehr fleischigen Blätter so saftreich sind, dass beim Anschneiden eine förmliche Quelle hervorsprudelt. Es gibt aber auch Indianerstämme, die überhaupt nie auf den richtigen Erdboden kommen. Die müssen allerdings auf anderes Wild verzichten. Hirsche und Schweine und dergleichen können da natürlich nicht hinaufkommen, nur Klettertiere.

Der Boden steigt von den Flüssen aus naturgemäß an, den Übergang bildet die Region des Kautschukbaumes, verschiedener Palmenarten und des Bambus, hier ist der Wald passierbar, hier hausen in zahllosen Scharen verschiedene Hirscharten, Tapire, Akutis, Wickelbär und Ameisenfresser und andere, und dann, wo auch das höchste Hochwasser nicht mehr hinkommt, beginnt die Hyläa, wie der Brasilianer diese Art des Urwaldes nennt. Wieder sind es meist Palmen, aber keine Kokos, Dattel- und Ölpalmen, wenn sie auch meist essbare Früchte tragen, und dann hauptsächlich auch die Castanheira, welche in kolossaler Menge die Paranuss liefert, bei uns auch Wasser- oder amerikanische Walnuss genannt, von der bei uns auf dem Markte das Pfund 80 Pfennige kostet, in Para noch nicht zwei Pfennige, und in Manaos gar bekommt man sie geschenkt. Gott weiß, wie viel Zwischenhändler da sich erst die Finger versilbern, ehe die Paranüsse zu uns kommen. Freilich ist bei uns auch keine Nachfrage vorhanden, das ist es eben.

In die Hyläa kann man nicht eindringen. Hier geht das Gewirr von dünneren Schlingpflanzen bis zum Boden herab, dazwischen Wälle von übermanneshohem Schwertgras, die einzelnen Blätter wirklich wie Schwerter zu gebrauchen, man kann sich daran den ganzen Leib in zwei Teile halbieren, und dann Dornen von Armeslänge, spitz wie die Wespenstacheln, und mikroskopisch kleine wie die Bienenstacheln, die wird man gar nicht wieder los.

Na ja, eindringen kann man. Wir dringen doch auch in den Felsen ein. Mit dem schweren Saumesser und einer besonderen Sense, die auch dünnere Baumstämme durchhaut, kommt man in der Stunde zwei Meter vorwärts. Dringt man auf diese Weise tiefer ein, braucht man Tage dazu, so muss man sich aber auch wieder zurückhauen, so schnell verfilzt sich das Zeug wieder! Und dann die infamen Stacheln!

Wo der Boden noch höher ansteigt und sich nicht für Bäume eignet, ist die Region der Campos. Die entspricht den Prärien oder Savannen, sehr hohes Gras, das aber passierbar ist, sich nur in der größten Trockenheit niederlegt. Doch haben auch diese Campos immer ihre Waldinseln, Catingas genannt, wenn man eindringen kann, Capoes, wenn sie wie die Hyläa unpassierbar sind. Diese Campos nun sind die eigentlichen Tummelplätze alle der brasilianischen Wildarten.

Doch können diese drei oder sogar vier verschiedenen Regionen — es kommt ja noch die des Kautschukbaumes hinzu — natürlich nach und nach ineinander übergehen, können dicht nebeneinander bestehen. Unsere Sandbank hatte in dieser Hinsicht eine überaus glückliche Zeit. Uns freilich in den ersten Tagen ganz unbekannt.

Unsere Sandbank wurde also direkt vom Igapo begrenzt, in dem auch bei Tage so gut wie Nacht geherrscht hätte, wenn nicht gleich überall aus dem modrigen Boden ungeheure Pilze emporgeschossen wären, die sämtlich stark phosphoreszierten, ein Dämmerlicht verbreiteten. Was uns da wieder für eine geniale Idee kam oder doch unserem Doktor Isidor, die wir dann verwirklichten, das werde ich später noch schildern.

Jenseits des Flusses, wenn man da überhaupt eine Ufergrenze ziehen konnte, erhob sich auf höherem Boden die undurchdringliche Hyläa. So meinten wir wenigstens anfangs. Aus der luftigen Höhe unseres Steigebaums konnten wir erkennen, dass die Hyläa nur einen schmalen Gürtel bildete, den Flusslauf begleitend, dahinter erstreckte sich die grasige Campos.

Dorthin mussten wir, dort fing erst das richtige Jagdgebiet an. Freilich hatten wir uns wenigstens zwei Kilometer weit durchzuhauen, und bald sahen wir ein, was für ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Beginnen dies war.

Doch woher kamen denn die massenhaften Pekaris und Wasserschweine, auch Tapire und selbst Hirsche, die sich manchmal im Wasser zeigten? Señor Estrada machte uns gleich aufmerksam, dass hier irgendwo ein natürlicher Durchgang sein müsse.

Und richtig, wir fanden ihn, durch die Hyläa zog sich eine Catinga, eine passierbare Waldstrecke, die dann direkt in die Campos überging, und das war gar nicht weit von unserer Sandbank entfernt. Nun hatten wir alles in der Nähe, was unser Herz begehrte. Auf der Grenze der Catinga und der Hyläa wuchsen auch massenhaft die herrlichsten Baum-, Busch- und Bodenfrüchte. Ich will aber gleich sagen, dass sich diese alle mit unseren Äpfeln, Birnen, Kirschen und Pflaumen nicht vergleichen lassen. Wenn ein Brasilianer in Deutschland gewesen ist, und er kommt in seine Heimat zurück, so kann er seinen Landsleuten nicht genug von der Köstlichkeit der deutschen Früchte vorschwärmen. Und da hat er ja auch ganz recht. Mit den Äpfeln, Birnen, Kirschen, Pfirsichen und Weintrauben, die innerhalb der deutschen Grenzen gedeihen, lässt sich überhaupt nichts in der Welt vergleichen! Und nun unsere Walderdbeere! Das weiß der Deutsche, der nicht aus seiner Heimat herauskommt, nur nicht zu würdigen. Was will denn dagegen die Banane bedeuten, diese süße Mehlgurke. Und das gilt von allen diesen tropischen Früchten, nur süßes oder sauersüßes, wässeriges oder mehliges Zeug, nichts weiter. Ebenso ist es ja auch schon in Südeuropa. Eine Apfelsine bleibt doch immer eine Apfelsine. Wir aber haben Hunderte von verschiedenen Äpfelsorten, alle an Geschmack und Aroma ganz verschieden.

Als Ausnahme will ich in den Tropen die Ananas gelten lassen, die auch wir am Rande der Hyläa massenhaft fanden. Aber da muss man, wenn die Frucht reif wird, aufpassen wie ein Heftelmacher, mehr schon wie die Katze vorm Mauseloche. Eine Stunde später, nachdem die Frucht ihre Reife vollendet, wird sie schon holzig, am anderen Tage ist sie gar nicht mehr zu kauen. Die Ananasfrüchte, die auf unseren Märkten als westindische angeboten werden, sind sämtlich in englischen Treibhäusern gezogen, oder jetzt fängt man auch in deutschen Treibhäusern mit dieser Kultur an. —


Illustration

Wir traten die Expedition im Kutter an. Als Waffenmeister und Bootssteuerer war ich der Hauptmann, hatte dazu 18 Mann ausgesucht, die sich für solch eine Fahrt am meisten interessierten, daher wohl auch sich am meisten eigneten, die sich schon als die besten Jäger bewiesen hatten, darunter natürlich auch Juba Riata und Mister Tabak. Señor Estrada diente nur als Lotse, die Patronin konnte jetzt einmal als Passagier gelten, wenn ihr auch das Boot gehörte, wir in ihren Diensten standen.

Drei Stunden lang ging es in flotter Fahrt durch den Urwald, ohne uns durch irgend etwas aufhalten zu lassen, nicht einmal durch den Anblick einer schillernden Riesenschlange. Sie war nämlich zu schnell in dem Dornendickicht der Hyläa verschwunden, sonst hätten wir uns doch zur Verfolgung aufgemacht.

Nach diesen drei Stunden hörten wir Menschenstimmen, und da waren wir schon am Ziele. Wir sahen einen parkähnlichen Bestand von zahllosen Chinabäumen, welche von den Cascarilleros entrindet wurden. Die meisten der 200 Mann waren oben in den Wipfeln, konnten von Baum zu Baum klettern, schnitten oben ringsum die Rinde an, packten das losgelöste Ende und ließen sich herabgleiten, durch ihr Gewicht einen Streifen von einem Viertelmeter Breite losschälend, bis sie am Boden waren.

Es sah ganz gefährlich aus. Unser Prospektador versicherte uns aber, dass Unglücksfälle zu den seltensten Ausnahmen gehörten.

Wir ließen uns nicht weiter mit diesen portugiesischen und spanischen Individuen ein, die noch viel mehr banditenähnlich als abenteuerlich aussahen. Wir sollten bewirtet werden, schlugen aber dankend ab, denn das uns vorgesetzte Fleisch stammte offenbar von Affen, ich sah eine knusprig gebratene Kinderhand, und das fade, süßsaure Zeug, von dem man uns zum Trinken nötigte, konnten wir selbst einer Palmenart abzapfen, wenn wir danach begehrt hätten.

So gaben wir nur die Säcke voll Eier ab, beobachteten noch einige Zeit das Entrinden und fuhren wieder davon, nachdem Señor Estrada unsere leeren Säcke zurückerhalten hatte, einen davon aber mit etwas vollgestopft.

»Was ist da drin?«

»Samen von Liprolla.«

»Was ist das?«

»Eine Art Salat, den die Cascarilleros immer bei sich haben, um immer frisches Gemüse essen zu können. Bekannt ist dieser Salat überall, aber sehr schwer zu haben. Die Liprolla gedeiht nur unter den Chinabäumen, aber auch nur unter den wilden. Anderswo wächst sie wohl auch, bringt aber keinen Samen hervor. Wir werden jetzt jeden Tag frisches Gemüse haben, das ausgezeichnet schmeckt und gegen Fieber noch sicherer wirkt als die Chinarinde, als Chinin.«

Na, das tägliche frische Gemüse ließ ich mir gefallen, das waren die 30 000 gekochten Eier wert!

»Teilen sich die zweihundert Mann den Gewinn?«, fragte die Patronin.

»Mi sabe!«, war die Antwort

Also ein Weiterfragen war nicht erlaubt oder hatte doch keinen Zweck.

Nun, mir war es gleichgültig, was die mit den vier Millionen Dollars machten. Nur das glaubte ich nicht, dass die das Geld einer wohltätigen Anstalt vermachten; eher verwendeten sie es für anarchistische Propaganda. Danach hatten diese zerlumpten Individuen mit den Galgenphysiognomien sämtlich ausgesehen. Teilten sie es redlich, so kamen auf jeden 20 000 Dollars, jeder von ihnen wurde im Laufe eines halben Jahres ein vermögender Mann, was ja auch unter Goldgräbern noch heute vorkommen kann.

Wir traten sofort die Rückfahrt an, um noch vor Anbruch der Nacht unsere Heimat auf der Sandbank wieder zu erreichen. Zwar hatten wir ein großes Zelt mitgenommen, waren auch sonst mit allem versehen, um eine Nacht im Urwald möglichst bequem zu verbringen, aber wenn irgend möglich, sollte solch eine Übernachtung im Walde doch vermieden werden. Ist das Blut einmal zur Aufnahme von Fieberbazillen geeignet geworden, so bringt man diese, wie bereits erwähnt, gar nicht wieder heraus. Mitten im Urwald übernachteten wir ja freilich immer, aber auf unserem Schiffe war das doch etwas ganz anderes, das bot jede mögliche sanitäre Einrichtung.

So sehr wir uns auch beeilten, brach doch plötzlich die Nacht an, noch ehe wir unser Schiff in Sicht bekommen hatten. Aber der Mond stand schon am sternenklaren Himmel, und wir hatten auch nur noch um zwei Ecken zu biegen.

Und was für ein Anblick erwartete uns, als wir um die letzte Ecke bogen!

Wir hätten ja darauf gefasst sein können, wir hatten ja selbst mit an den Vorbereitungen geholfen, und dennoch waren wir außer uns vor Staunen.

Das ganze Schiff war mit Lämpchen illuminiert, die sich in doppelter Reihe an der Bordwand und weiter unten hinzogen, dann an den drei Masten hinauf und wieder an den Rahen entlang, und das strahlte und funkelte und flimmerte in einem unbeschreiblichen Lichte, das nichts mit Elektrizität oder einem Brennstoffe zu tun haben konnte; eher war es, als ob überall geriebener Phosphor aufleuchte.

Nun, wir wussten also, was hier vorlag. Das, was wir alle zusammen in den letzten Tagen vorbereitet, hatten die Zurückgebliebenen jetzt zur letzten Vollendung gebracht, sie überraschten uns damit, auch insofern, als jetzt unter Meister Hämmerleins Händen die Orgel zu rauschen begann.

Ich hatte schon der phosphoreszierenden Pilze gedacht, die in der auch am Tage herrschenden Nacht des Igapo-Urwaldes, sobald sich das Wasser verlaufen hatte oder bis auf die immerbleibende Feuchtigkeit des Bodens verdunstet war, überall massenhaft und zum Teil in riesenhaften Exemplaren, wie die ausgespannten Regenschirme, emporschossen.

Unser Doktor Isidor hatte sich gleich mit diesen Pilzen beschäftigt. Er besaß an Bord ein Laboratorium, um das ihn mancher private Chemiker und Physiker beneidet hätte. Was er Chemisches an den Pilzen entdeckte, weiß ich nicht — jedenfalls war keiner essbar — er überraschte uns nur mit einem physikalischen Experimente, das dann gleich im Großen mit praktischem Werte ausgeführt wurde.

Nur die Sporenfächer auf der unteren Seite des Hutes waren es, die so intensiv phosphoreszierten. Also nicht, dass diese Pilze wie die Laternen die Nacht dies Urwaldes erhellt hätten. Das Leuchten war ihnen Selbstzweck, sie erhellten nur den Boden unter sich, wozu die Natur wohl schon einen Grund haben würde. Immerhin, das Phosphoreszieren war so stark, die Pilze wuchsen so massenhaft, wenn auch in noch so winzigen Exemplaren, dass der ganze Boden einer matten Glasscheibe glich, hinter der Licht brennt, alle Wurzeln wie die erleuchteten Milchglasröhren, und da verbreitete sich auch sonst Helligkeit genug. Unter großen Pilzen konnte man auch in der finstersten Nacht ganz bequem lesen.

Abgebrochen, leuchteten die Pilze noch lange, ebenso die herausgeschnittene Fächermaterie allein, doch wurde das Phosphoreszieren natürlich bald immer schwächer, nicht aber, wenn man für stärkere Zufuhr von atmosphärischer Luft sorgte, was am besten in einer Flasche geschah, mit doppelten Glasröhren. Dann phosphoreszierte diese Materie noch viel stärker als im Freien, und immer mehr, je stärker man blies, und immer und immer wieder, wenn die Leuchtkraft auch schon einmal erloschen schien. Freilich durfte man nicht den schon verbrauchtem kohlensäurehaltigen Atem einblasen. Pilze weichen ja bekanntlich insofern von den anderen Pflanzen ab, als sie nicht imstande sind, die Kohlensäure zu zersetzen, sie müssen das, was sie zum Zellenaufbau ihres Körpers brauchen, als Parasiten anderen Pflanzen oder überhaupt organischen Körpern entnehmen, woraus man an sich schon schließen kann, dass bei ihnen auch der Sauerstoff eine ganz andere Rolle spielen muss, als sonst bei den Pflanzen.

Hierauf gründete sich also das Experiment, das wir dann im Großen ausführten.

Leere Wein- und Bierflaschen waren genug vorhanden. So etwas wird ja an Bord des Schiffes nicht zwecklos weggeworfen. Weiße wurden bevorzugt, aber auch rote und grüne konnten gebraucht werden, die brachten dann schöne Farbeneffekte.

Also diese Flaschen wurden mit solcher Fächermaterie der Pilze gefüllt, die Korke doppelt durchbohrt, Glasröhren von verschiedener Länge hineingeschoben, wenn die Glasröhren ausgingen, wussten wir uns mit Bambusröhrchen zu helfen, diese miteinander durch dünne Gummischläuche verbunden oder gleich direkt. Wenn nur alles luftdicht war, wenigstens so ziemlich, das war die Hauptsache. Größere Entfernungen wurden durch Bleirohre überwunden. So drapierten wir das ganze Schiff wie mit Illuminationslämpchen.

Dann später haben wir auch die Räume unter Deck mit solchen Lampen erleuchtet. Für kleinen Bedarf genügten sie vollkommen. Immer neue Einrichtungen wurden erfunden, so dass man zum Beispiel den Luftstrom für die einzelnen Lampen an- und abstellen konnte.

Mit der Zeit nahm die Leuchtkraft ja ab, aber wir konnten die Materie ja immer wieder ersetzen.

Gerade als wir zurückkamen, wurde das Ganze zum ersten Male in Betrieb gesetzt, wenn auch schon eine Probe abgehalten worden war. Das Orgelgebläse trieb die Luft durch alle Illuminationsflaschen, nachdem sie aber doch erst durch die Orgelpfeifen gegangen war. Auch konnte nur ein Teil des Luftstromes verwendet werden, sonst war er zu stark.

Es funktionierte tadellos. Der Effekt war unbeschreiblich. Und nun dazu dieses Orgelspiel im nächtlichen Urwald!

Ich will nur einen Eindruck erwähnen, den dies alles auf mich hervorbrachte. In diesem Augenblick dachte ich daran, wie gut es doch war, dass wir nichts mit den Chinabäumen zu tun bekommen hatten. Na, das wäre ja eine schöne Plackerei geworden, ein ganzes Jahr lang! Da hätten wir solche hübsche Spielereien, die aber doch auch ihren idealen Wert haben, nicht machen können.

Freilich, wenn 75 Mann in einem Jahre sechzehn Millionen Dollars verdienen können, das ist ja recht schön. Aber — es war doch besser so! Sonst hätten wir auf dieser Sandbank nicht solch ein lustiges Sport- und Jägerleben führen können. Wie Herkules anno dazumal den Stall des Augias ausgemistet hat, das hat mir in seinem Heldenleben am allerwenigsten gefallen.

Und wir hatten doch unseren Diamanten! Und außerdem — noch viel, viel schöner als dieser Diamant — zwei Millionen Dollars auf der bombensicheren New Yorker Bodenkreditbank!

Hiermit wollten wir uns ja, ja genügen lassen, uns nicht mit geschäftlichen Spekulationen beschweren und mit Arbeit abplacken — es wäre solcher Argonauten, die wir nun einmal waren und sein wollten, gar nicht würdig gewesen. —

Nun will ich zum Schlusse dieses langen Kapitels noch einen einzelnen Tag herausgreifen, ihn vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein schildern, um zu zeigen, wie wir auf unserer Sandbank im brasilianischen Urwald lebten, wie wir uns die Zeit zu vertreiben wussten, und wie alles das nicht möglich gewesen wäre, wenn wir jetzt Chinarinde hätten abschälen müssen.

Ich wähle dazu nach meinem sorgfältig wie ein Schiffsjournal geführten Tagebuch den 13. Juli, nachdem wir also schon vier Wochen hier lagen. Dieser Tag verlief genau so wie alle anderen, nur dass wir an ihm das aufregendste Jagdabenteuer der ganzen Zeit erlebten und dass auch sonst einige interessante Zwischenfälle vorkamen.

Sobald der neue Tag aufflammte — fast punkt sechs Uhr, denn wir lagen ja fast direkt auf dem Äquator, wo die Sonne eben immer um sechs Uhr auf- und untergeht — kroch ich aus meinem kühlen Drahtsarge hervor, in dem ich sieben Stunden wie ein Toter geschlafen hatte, mich nun aber auch wirklich wie ein neugeborener Mensch fühlend.

Sofort nach dem Argonautenkanal, der aber unterdessen verdoppelt worden war, so dass man jetzt im Kreise schwimmen konnte. Hier warteten schon einige Bade- und Schwimmlustige auf mich, bis ich das Wasser freigab.

»Wasser gefahrenfrei!«, stattete Juba Riata mir die Meldung ab, und jetzt erst, nachdem auch ich dies wusste, durfte das Spiel im Wasser beginnen.

Denn wenn auch die Zuflüsse der Kanäle durch starke und dichte Drahtgeflechte, die auch die dünnste Wasserschlange nicht durchließen, geschützt waren, so konnte doch über Nacht ein Krokodil oder eine Schlange über die Sandbank in unser Baderevier gekrochen sein, und die Verantwortung hierfür hatte ich als Waffenmeister freiwillig übernommen, wenn die Sicherheit selbst auch Peitschenmüller zu kontrollieren hatte. Solch eine Verantwortung für meine Jungens aber ließ ich mir nicht nehmen, ich erst gab das Wasser wirklich frei.

Wir hatten ein einfaches Mittel erfunden, um uns gegen solche Reptilien zu sichern. Jeden Abend wurde die Umgebung der Kanäle sorgfältig geharkt und gewalzt, und auf das Auge dieses ehemaligen Wildwestmannes durfte man sich verlassen, dass er am anderen Morgen in dem Sande den Eindruck auch der kleinsten Schlange oder eines Zitteraals sofort bemerkt hätte.

Außerdem waren während der Nacht die Hunde im Freien, wenigstens einige, und deren Anführer in dieser Sache war Moritz, einer der beiden Bernhardiner. Der hatte nämlich schon einmal eine böse Erfahrung mit einem Zitteraale gemacht, war lange Zeit gelähmt gewesen, dass wir an seinem Wiederaufkommen schon gezweifelt hatten, und sein furchtbarer Hass erstreckte sich nun auf alles Schlangenähnliche, sogar auf jeden größeren Regenwurm, und der hatte nun auch alle die anderen Hunde scharf gemacht. Auf unsere Sandbank durfte ja kein Zitteraal und keine Schlange kommen, dann ging der Spektakel los! Von einem Krokodil oder Alligator gar nicht zu sprechen.

Der aufmerksame Leser wird nun sofort daran denken, dass diese Hunde ja während der Nacht den gewalzten Sand zertrampeln konnten. Nein, das taten sie nicht. Nur eine festbegrenzte Strecke von einigen Metern Breite an den Rändern der Kanäle wurde geharkt und gewälzt, diese Strecken waren für die Füße der Hunde geheiligt. Dies ihnen beizubringen, war für ihren Herrn und Meister eine Kleinigkeit gewesen. So wie jeder gute Jagdhund nur diejenigen Felder durchstöbert, die ihm sein Herr freigibt, und sehr bald lernt ein intelligenter Hund durch eigene Intelligenz unterscheiden, welche Felder er betreten darf und welche nicht. Einige Hunde, besonders die kleineren, deren Intelligenz nicht so weit reichte — von einem Mops und einem Windspiel kann man so etwas nicht verlangen — wurden während der Nacht an Bord gehalten.

»Wasser gefahrenfrei!«

Zuerst wurde das Wettschwimmen über hundert Meter zwischen Grün und Rot ausgetragen oder doch beendet. Es handelte sich bei allen diesen Wettkämpfen ja immer um die Gesamtleistung einer Farbe, was nicht hintereinander stattzufinden brauchte. Nur immer kontrolliert musste es werden. O, ich hatte gar viel zu tun! Als Kargo-Kapitän war ich ein Tagedieb, der seine monatlichen 25 Pfund Sterling ganz umsonst bekam; als unbesoldeter Waffenmeister aber verdiente ich dieses Geld redlich! Wenn die anderen schon längst schliefen, saß ich gar oftmals noch über meinen Registerbüchern, stellte die Resultate zusammen, was gar nicht so einfach war.

Von den Grünen hatten fünf Mann die Hundertmeterstrecke abzuschwimmen, von den Roten vier Mann, dann waren wir wieder einmal durch. Die Zeiten wurden mit einer Kontrolluhr gemessen, die auf eine fünftel Sekunde arretiert werden konnte.

Die neun Mann hatten ihre Tour absolviert. Die Roten hatten wieder einmal mit der Durchschnittszeit von einer Minute 27,3 Sekunden gewonnen, mit 2,5 Sekunden Vorsprung. Bei solch einer Masse muss es sich ja sehr aufheben. Wir hatten aber Schwimmer dabei, die nur wenige Sekunden über einer Minute brauchten! Der beste Schwimmer war der rheinländische Segelmacher, Oskar, der hatte es schon auf eine Minute fünf Sekunden gebracht. Freilich lag der jetzt auch immer im Wasser. Der Weltrekord im Hundertmeterschwimmen wird gegenwärtig von dem Pawnee-Indianer Kajanomoku mit einer Minute 2,3 Sekunden gehalten, eben jetzt bei den olympischen Spielen in Stockholm aufgestellt.

Dieser neue Sieg der roten Farbe, wodurch sie den silbernen Fisch in ihrem Schranke behielt, war etwas so Wichtiges, besonders durch eine gute Zeitverbesserung, dass es sofort der Patronin gemeldet wurde, obgleich sie noch schlief. Sie verlangte es, es musste gegen die Tür gepocht werden, bis sie Antwort gab.

Dann wurde das Wasser freigegeben für das allgemeine Baden, Schwimmen und Springen. Aber von einem Baden konnte man eigentlich nicht sprechen. Lauter Übungen, nichts als Trainieren, wenn es dabei auch einmal zu einer lustigen Spritzerei und dabei zu einer regelrechten Wasserschlacht kam.

Und wenn ich nun meine Jungen so sah, wie der liebe Gott sie geschaffen hatte, da musste ich immer wieder meine Betrachtungen anstellen, musste immer und immer wieder staunen! Wie die sich in den nun sechs Monaten in ihrem Körperbau verändert hatten! Da war zum Beispiel der lange Heinrich, der jetzt gerade die Riesenschaukel in Schwung brachte. Was war der vor sechs Monaten, da ich ihn zum ersten Male nackt gesehen, für eine Jammergestalt gewesen! Eine lange, krumme Latte. Nichts als fleischlose Pferdeknochen, unordentlich, schlottrig zusammengenäht. Die linke Schulter ganz herabhängend. Und was hatte der jetzt für eine Figur bekommen! Der reine göttergleiche Achilles! Und der Fleischansatz konnte doch nicht von dem Essen herkommen. Der hatte doch schon vor meiner Zeit immer wie ein dreifacher Scheunendrescher gefuttert. Und nun was für ein Fleischansatz, was für ein Muskelbau! Diese prachtvoll ausgebildeten Arme, diese Schenkel, diese Brust! Ein Modell für jeden Bildhauer, der einen olympischen Athleten darstellen will.

Ich musste manchmal an mich halten, dass ich nicht stolz wurde, mich als kleinen Herrgott fühlend.

Und jetzt ging der lange Heinrich, dieses ehemalige steife Knochengerippe, mit einem Salto mortale von der Schaukel ab, mit der Grazie einer zwei Meter langen Balletteuse.

Auch ich absolvierte mein Training im Wasser — mit beschwerenden Gewichten! — dann musste ich unsere Ilse an die Angel nehmen. Sie hing schon vier Wochen dran, ohne das Tempo zu begreifen; aber das schadete nichts — was lange währt, wird gut.

Vom Schiffe her schrillte die Bootsmannspfeife. »Deckwaschen!«

Man glaubte nicht, dass das Deck noch schneeweißer werden könnte, als es schon war. Aber gescheuert musste es jeden Morgen werden. Dazu kam noch Messingputzen und es gab gar viel zu putzen. Aber das ist eine Kleinigkeit, wenn, wie auf einem Kriegsschiffe, wie auch wir es hielten, jeder Mann seine Putzstation hat. Die hält er auch am Tage immer im Auge, hat immer etwas Putzwolle in der Tasche, mit der er bei jeder Gelegenheit einmal liebevoll über die blanken Teile wischt. Am leichtesten hatte es der Matrose, dem das Geländer auf der Kommandobrücke anvertraut worden war. Da wischten schon genug des Kapitäns Hosenbeine, das war immer spiegelblank.

Als die Sonne sich über den Urwaldbäumen erhob, war unser Schiff wieder wie aus dem Ei geschält, obgleich es schon vorher gar nicht hätte sauberer sein können.

Dann war das erste »Backen und Banken«. Frühstück. Den beliebtesten Anteil dazu lieferte immer unser Garten, auf der Sandbank hergestellt mit aufgeschüttetem Humus aus dem Urwald, wegen der Ameisen umgeben mit einer auszementierten Rinne, gefüllt mit Wasser, in dem Fische abgekocht worden waren. Das kann keine Ameise vertragen.

Bestellt wurde dieser Garten nur mit jenem Samen aus dem unerschöpflichen Sacke. Jeden Tag wurde gesät, jeden Tag hatten wir neues, frisches Gemüse, wenn auch nicht gerade dieser Samen über Nacht aufgegangen war. Es waren kleine Krautköpfe, die aus der Erde kamen, sie schmeckten ganz köstlich, wenn auch sehr bitter. Sie wurden stark gezuckert, aber nicht nur deshalb, um diesen bitteren Geschmack zu decken. Zucker spielte bei uns überhaupt eine große Rolle.

In meiner Jugendzeit noch war Zucker nur etwas für Kinder. Na ja, zum Kaffee Zucker. Sonst war Zucker nur Kindern zugänglich, und zuckeressende Jungen waren verweichlichte Muttersöhnchen, fürsorgliche Eltern beschränkten den Genuss von Bonbons und dergleichen auf ein Minimum. Süßer Kuchen schon eher, aber nur keinen blanken Zucker! Davon bekommt man einen versauerten Magen, schlechte Zähne.

Und heute?

In der neuesten Auflage von Brockhaus' großem Konversationslexikon ist wörtlich zu lesen:


Der Zucker ist nicht nur, wie noch vielfach geglaubt wird, bloß ein Genussmittel wegen seines süßen Geschmackes, sondern auch ein billiges und vorzügliches Nahrungsmittel, besonders eine Quelle der Muskelkraft, weshalb er auch im deutschen Heere als Extraration bei starken Anstrengungen eingeführt ist.


Meine geehrten Zucker-Physiologen des 20. Jahrhunderts!

Was Sie da unter ungeheurer Gehirnarbeit endlich entdeckt haben, das haben die amerikanischen Bauern schon vor vierhundert Jahren gewusst. Die Negersklaven haben zur Erntezeit immer Zucker erhalten, bis zu zwei Pfund pro Kopf, und zwar nicht etwa nur auf den Zuckerplantagen, sondern besonders auf den Baumwollpflanzungen! Weil da während einiger Tage eine ganz intensive Arbeit geleistet werden muss. Der Zucker baut nicht, wie Eiweiß, die Muskel nach und nach auf, sondern er erlaubt durch beschleunigte Verbrennungstätigkeit die höchste Leistung der schon vorhandenen Muskeln!

Zucker soll schlechte Zähne erzeugen? Nirgends wird mehr Zucker verkonsumiert als in Amerika, nirgends sieht man schönere Zähne als in Amerika. Aber wenn man einem Säugling, der nach Milch brüllt, in den Mund einen Schnuller stopft, angefüllt mit aufgeweichter Semmelpappe und Rohrzucker, dann bekommt dieser Säugling hiervon einen schlechten Magen und davon auch schlechte Zähne, das stimmt allerdings!

Ach, was hat sich überhaupt in den letzten drei Jahrzehnten nicht alles auf dem Gebiete der Therapie, der Krankheitsbehandlung, geändert! Ich will gar nicht erst davon anfangen, wie wir sonst nach Gutachten der Ärzte und aller sonstigen vernünftigen Menschen die Rückenmarksdarre und den Gehirnschwund bekamen.

Aber von der Bleichsucht will ich noch einmal beginnen. Zu meiner Zeit durften bleichsüchtige Kinder und Jungfrauen keinen marinierten Hering essen, überhaupt nichts Saures und Scharfes.

Heute sollen Bleichsüchtige soviel Saures und Scharfes essen, als sie nur Appetit haben!

Und darum handelt es sich doch auch nur, um den Appetit! Es ist doch so einfach. Die Natur weiß sich immer von allein zu helfen, oder sie selbst gibt die besten Ratschläge. Dazu hat sie in der Ernährungsfrage eben den Hunger und den Appetit geschaffen. Nun muss man ihr aber auch gehorchen. Wenn eine blasse oder knallrote Jungfrau eine wahre Manie nach Essig hat, so soll sie eben Essig trinken, so viel sie mag. Merkwürdig — für unsere sogenannte Vernunft! — ist es ja, dass die allerverdorbensten Magen so leidenschaftlich gern die allerschwerstverdaulichen Sachen essen, wie etwa Hummermayonnaise. Und wenn man dem Verlangen nachgibt, dann fängt die Würgerei mit Magenkrämpfen an. Recht so! Immer esst nur Hummermayonnaise! Diese Würgerei braucht der Magen, um zu gesunden! Und wer kein Geld für Hummermayonnaise hat, der mag Kieselsteine mit Essig und Öl schlucken, wenn er Appetit danach hat, sonst nicht.

Traurig ist es nur, dass der Mensch, als Gesamtheit, niemals Maß halten, keinen Unterschied machen kann, alles gleich über einen Leisten schlagen muss. Heute gibt es schon viele, viele Menschen, die sich bei jeder Gelegenheit in die Sonne legen, ohne ein Bedürfnis danach zu haben, nur weil sie Heilung von irgend einer Krankheit oder Schwäche erhoffen, und sie werden immer schwächer, und sie legen sich klagend doch immer wieder in die Sonne. Auf diese wirken die Sonnenstrahlen eben wie Gift. Da brauchen sie aber doch nicht erst einen Arzt zu fragen, nicht erst zu experimentieren. Es kommt doch ganz einfach darauf an, ob es einem Spaß macht oder nicht. —

Nach dem Frühstück begann wieder Spiel und Arbeit, aber ohne Kommando, ganz wie jeder wollte. Der hob Zentnergewichte, jener stopfte seine Strümpfe, ein dritter gerbte im Schweiße seines Angesichts Krokodilleder, um sich ein Paar Stiefel und ein Portemonnaie daraus zu fertigen, in welches er dann seinen Anteil an den sechzehn Millionen Mark stecken wollte, wenn wir den Diamanten verkauften.

Das heißt, viele Krokodile für Portemonnaies waren in unserer Nachbarschaft nicht mehr vorhanden. Wir hatten in den vier Wochen bis heute schon 54 Stück geschossen oder harpuniert oder gefangen. Da wollten die Übriggebliebenen nicht mehr mitmachen, besuchten uns nicht mehr. Na, diese 54 Häute langten ja auch als Portemonnaie für die sechzehn Millionen, da konnte jeder auch noch ein Paar Stiefel und eine Panzerkappe abbekommen. Oskar stolzierte sogar schon manchmal mit einer Alligatorenpanzerweste herum.

Von acht bis neun hielt ich mit Peitschenmüller meine gewöhnliche Fechtstunde ab. Bei dieser Gelegenheit fand auch immer gleich das Mannschaftsfechten statt, das ich in unseren Zwischenpausen beaufsichtigte. Heute wurde mit Säbeln gepaukt, Grün gegen Rot.

O, wie ich mich darauf freute, wenn ich erst einmal meine Jungens auch hierin öffentlich auftreten ließ! Da konnte ich einmal eitlen Träumereien nachhängen.

Als ich ins Freie kam, wurde gerade auf der Rennbahn, auf der Sandbank in einer Länge von 500 Meter elliptisch abgesteckt, eifrig trainiert.

Auch der Matrose Knut, der verpfuschte Cicero, der Parlamentsredner, unser bester Läufer, absolvierte einen 5000-Meter-Lauf, beendete ihn gerade, ich erfuhr das Resultat.

Ziemlich zwanzig Minuten.

Eine ganz, ganz traurige Leistung!

Der Weltrekord über 5000 Meter wird von dem Amerikaner Bonhag mit 15 Minuten und einigen Sekunden gehalten.

Und unser bester Läufer brauchte fünf Minuten länger! Ja, der rannte aber in dem weichen Sande auch mit verschiedenen Bleigewichten!

Ohne Gewichte sprang heute einmal Peter, der Heizer, der kleine Peter, der sich vom Hochsprung ganz dem Weitsprung zugewendet hatte. Es sollte ein Entscheidungssprung sein, deshalb musste ich kommen, um ihn zu kontrollieren und zu registrieren.

Sechs Meter 43 Zentimeter!

Nun messe man sich diese Länge einmal aus!

Aber der Weltrekord im ebenen Weitsprung steht auf sieben Meter 62! Gesprungen vom Amerikaner Gutterson.

Ja, ich kann es nicht helfen: es sind fast nur Nordamerikaner, welche solche Höchstleistungen der menschlichen Kraft und Körpergewandtheit aufstellen! Dann kommt England, dann Schweden, dann Deutschland. Und dann erst in weitem, weitem Abstande alle anderen Nationen.

Nun messe man sich diese sieben Meter 62 einmal aus. Und von nun an wolle man nicht mehr solche Redensarten und Vergleiche gebrauchen wie: mit dem Sprunge eines Panthers stürzte er sich — — —

Denn so wie der Mensch kann kein Panther und kein Tiger und kein anderes Tier springen!

O, es ist etwas Herrliches!!

Wenn Geistesarbeiter geringschätzend und verächtlich über allen Sport sprechen, über die Ausbildung der körperlichen Kraft und Gewandtheit, so beweisen sie nur, dass sie geistig noch nicht reif genug sind, um den Kern der ganzen Sache zu verstehen.

Der Mensch ist der Herr der Erde!

Wohl ist er es im letzten Grunde durch die Kraft seines Geistes geworden — aber der musste erst die Ausbildung seiner körperlichen Fähigkeiten bis zur möglichsten Vollkommenheit vorausgehen, sonst hätte die Gehirnkraft niemals sich zur letzten Herrschaft aufschwingen können. Wer das nicht begreift, der versteht überhaupt die ganze Entwickelungsgeschichte der Menschheit nicht!

Wohl ist der Geist des Menschen eine furchtbarere Waffe, als die Klaue des Löwen. Durch die Erfindung des Gewehres und des Schießpulvers. Aber es gehörten auch Männer dazu, welche den Mut und die körperlichen Fähigkeiten hatten, um mit diesen Waffen gegen den Löwen den Kampf zu eröffnen! Sonst würde dieser noch immer seine ehemaligen Gebiete beherrschen!

Ja, im letzten Grunde ist es der Geist des Menschen, der jedes Tier in jeder Hinsicht immer mehr besiegt und dadurch sich immer mehr die Welt unterjocht. Nur noch die Rauchschwalbe übertrifft den Menschen in der Luft an Schnelligkeit, die gewöhnliche Schwalbe mit ihrer Höchstleistung von 35 Metern in der Sekunde wird bereits von den schnellsten Aeroplanen übertroffen!

Mit solchen Augen muss man einmal alle diese Erfindungen betrachten, dann bekommen sie noch einen ganz anderen, ethischen Wert!

Um aber mit solch einer Flugmaschine eine Schwalbe überholen zu können, dazu gehören erst Sportsleute, Seiltänzer der Luft, die erst durch jahrelange Übung und asketisches Training ihre Nerven und ihren ganzen Körper dazu stählen mussten, um so etwas ausführen zu können!

Und überhaupt — wer hat denn das erste brauchbare Luftschiff und den ersten Aeroplan konstruiert?! War es ein Gelehrter, der den Plan zum ersten Luftschiff am Schreibtisch entworfen hat oder war es nicht ein verwegener Reiteroffizier? Erinnert man sich noch, mit was für Hohn und Spott Graf Zeppelin seinerzeit übergossen worden ist, gerade von wissenschaftlicher Seite aus? Und wer waren denn alle jene Männer, welche als erste mit einer Drachenmaschine als Vögel in die Luft flogen? Waren es etwa berufsmäßige Ingenieure? Nein, es waren nichts weiter als abenteuerliche Ritter des Sportes, die diese Maschinen entwarfen und bauten, erst im Probieren studierend, dann zahllose Male ihr Leben riskierend, sich nach und nach jeden Knochen im Leibe zerbrechend — und die deutschen Zeitungsausschnitte sind noch vorhanden, in denen die Gebrüder Wright, als sie die ersten Resultate ihrer Leistungen auf einer Flugmaschine veröffentlichten, als eitle, phantastische Prahler, als amerikanische Humbugmacher hingestellt wurden!

Genug! —

Nach dem Mittagsessen wurde Siesta in den kühlen Särgen gehalten. So wurden die Drahtkästen nun einmal genannt.

Heute sollte unsere Siesta einmal in ungeahnter Weise gestört werden.

Plötzlich schlugen wütend die Hunde an, die sich als einzige Wächter auf der Sandbank herumtrieben.

Aber was war das? Weshalb verwandelte sich das grimmige Hundegebell plötzlich in ein klägliches Heulen und Winseln?!

Hei, wie da die Toten in ihren Särgen schnell wieder lebendig wurden und zum Vorschein kamen!

Ja, was war denn das für ein Tier, das dort am Rande der Sandbank dem Wasser entstiegen war?


Illustration

Eine Schildkröte. Das war leicht zu erkennen. Aber was für eine riesenhafte! Doch wegen der Größe der Schildkröte sollten unsere Hunde feige geflohen sein?

Wir eilten hin. Es war eine der sehr seltsamen Matamatas, der größten Schildkröte Brasiliens, überhaupt eine der größten der Erde. Die Länge ihres Schildes musste fast zwei und ein halb Meter betragen.

Wir hatten ja die zoologischen Bücher über Brasilien studiert, wir hatten über sie gelesen, ihre Abbildung gesehen, wir erkannten sie sofort, wir waren also überhaupt vorbereitet.

Aber ein furchtbarer Ekel packte mich, packte uns alle. Nie wieder habe ich ein Tier von solch abschreckender Hässlichkeit erblickt. Hässlich nach unserem menschlichen Geschmack. War das ein Weibchen, so mochte es ja für ein Männchen derselben Art die herrlichste Juno sein. Die Schildkrötenjungs hatte gleich zwei Rüssel, nämlich beide Nasenlöcher waren wurmähnlich verlängert und nun auch der ganze Kopf mit dicken, langen Würmern besetzt. Das heißt mit wurmähnlichen Hautlappen, die aber umso mehr lebenden Würmern glichen, die auf dem Kopfe als Parasiten lebten, weil sich alles bewegte.

Und nun vor allen Dingen ein entsetzlicher Gestank, der von diesem Tiere ausging! Wie nach verwestem Fleische. Nein, wie nach — — ich will gar nicht mehr daran denken! Dieser Gestank war es, vor dem unsere Hunde heulend und winselnd die Flucht ergriffen hatten und wir hätten jetzt dasselbe getan, wenn das Ungeheuer sich nicht gleich wieder ins Wasser zurückgezogen hätte.

Befreit atmeten wir auf. Glücklicherweise verschwand auch gleich wieder der entsetzliche Gestank. Wir hatten eine Matamata gesehen und gerochen — wir hatten genug!

Mit unserer Siesta aber war es vorüber. Die Sportübungen und häuslichen Beschäftigungen wurden wieder aufgenommen, viele gingen jetzt aber auch auf die Jagd, in größeren Trupps oder zu zweit, ganz wie sie wollten. Das erbeutete Fleisch wurde, so weit es nicht verspeist werden konnte, eingesalzen oder geräuchert.

Eine abgeteilte Mannschaft der Grünen brachte die sechzehnriemige Pinasse, unser größtes Ruderboot, das natürlich auch segeln konnte, sogar mit zwei Masten und Bugspriet, zu Wasser. Eine gar schwierige Arbeit! Dieses Boot, zehn Meter lang und zwei breit, lag mittschiffs an Deck in Klumpen und Barrings, musste in besonderen Davits, Bootskränen, geliftet und über Bord geschwungen werden, dann natürlich auch noch die 120 Meter über Land getragen.

Es handelte sich hierbei wiederum um eine Übung, die täglich vorgenommen wurde, im Wettkampfe zwischen Grün und Rot, wer die Pinasse am schnellsten zu Wasser bringen, mit ihr eine Insel umrudern und wieder an Deck vorschriftsmäßig befestigen konnte.

Diese Übung hatte eine Vorgeschichte gehabt. Zu der Fahrt nach den Cascarilleros hatten wir doch den großen Kutter benutzt, der zwar in Davits hing, nur ausgeschwungen zu werden brauchte — aber die Matrosen waren doch nur mit dem Wasser vertraut, nicht mit solchen Sandbänken — kurz und gut, die Geschichte war sehr langsam vor sich gegangen, Kapitän Martin hatte zwar nichts gesagt, aber wiederholt missbilligend den Kopf geschüttelt.

Das sollte er ja nicht zum zweiten Male tun! Es war schon höllisch gegen meine Ehre als Waffenmeister gegangen! Ebenso aber auch allen anderen, nicht nur den beiden Bootsleuten, welche eigentlich dieses Manöver zu leiten hatten.

Es wurde jetzt also täglich geübt, und nun zwar gleich mit dem größten Boote, der Pinasse, im Konkurrenzkampfe Grün gegen Rot, nach Bestimmung der Zeit.

O, was hätte wohl so ein alter Seebär von echtem Schrot und Korn, wie Admiral Schröter, von der Pike auf gedient, selbst Matrose gewesen, der auch von seinem ältesten Offizier verlangte, dass er noch selbst die Flagge auf dem Mastknopf befestigen konnte, der seinem Burschen zeigte, wie man die Seestiefeln mit der Hand einschmiert — was hätte der wohl gesagt, wie hätte dem das Herz im Leibe gelacht, wenn der dieses Manöver hätte beobachten können! Nun, vielleicht tat er's vom Himmel aus.

Wie diese sechzehn Kerls das schwere Boot herunterbrachten, dass es sofort auf die Ruderstangen zu liegen kam, die sie aber auch schon auf den Schultern hatten, wie da jeder einzelne Handgriff bis ins kleinste berechnet war, wie sie abmarschierten, das Boot zu Wasser brachten, mit einem Satze auf den Duchten saßen — »Riemen — hoch! Setzt — ab! Lasst — fallen! Rudert — an!«

Und fort ging das mächtige Boot, das 80 Mann aufnehmen konnte, in sausender Fahrt, um die Insel zu umkreisen, eine Strecke von fünf Kilometern! Hei, wie die Kerls durchzogen, bei jedem Rucke unter der Bordwand verschwindend!

Und das um zwei Uhr, in der besten Mittagshitze, direkt unter dem Äquator, 40 Grad Celsius im Schatten!

Konnten die denn nicht einen Hitzschlag bekommen? Hitzschlag, bah!

Die jetzt immer mehr zunehmenden Hitzschläge sind nur eine Folge unserer Narrheit. Jawohl, wir zivilisierten Europäer sind ganz einfach Narren, müssen dafür bestraft werden!

Die Natur hat diejenigen Organe, bei deren Erschaffung sie sich die größte Mühe gab, in den Kopf verlegt: das Gehirn, die Augen, die Ohren usw. Diese Organe bedürfen einer besonders reichlichen, geordneten, regelmäßigen Blutzufuhr. Deshalb hat die Natur oder sagen wir einfach der liebe Gott, diesen Kopf extra auf eine schlanke Säule gesetzt, Hals genannt, auf dass die Adern, welche durch den Hals gehen, immer von frischer Luft umspült werden.

Und was tun nun wir Menschen? Wir panzern diese schlanke Säule, Hals genannt, mit vier- bis sechsfach verstärkter und gestärkter Leinwand!

Und die Folge? Wenn's mal bei uns ein bisschen heiß ist, dann bekommen die Menschen Ohrensausen und fallen gleich um.

Recht so! Wir müssen so lange von der Sonne Stiche und von der Hitze Schläge bekommen, bis wir unsere Narrheit endlich einsehen und aufgeben! Bis wir den von der Natur schlank geschaffenen Hals wieder entblößen!

Du lieber Gott, wenn man in den Ländern, wo es wirklich heiß ist, solche Kragen tragen wollte! Und was man auch dort manchmal für Anstrengungen verlangt, von Soldaten, Matrosen, Arbeitern, auch weißen! Da würden ja an einem einzigen Tage sämtliche Menschen von der Hitze totgeschlagen werden, also am Hitzschlag sterben.

Aber so etwas gibt's ja gar nicht, man braucht nur den Hals so zu tragen, wie ihn die Natur haben will, also dass das Blut in den Adern frei zirkulieren kann, ohne die geringste Hemmung eines Kragenrandes. —

Nach einer halben Stunde kehrte die Pinasse in derselben sausenden Fahrt zurück, mit der sie abgegangen. Die sechzehn Kerls natürlich pitschnass, wie aus dem Wasser gezogen; aber einen Hitzschlag hatten sie nicht bekommen. Aufs Ufer geschossen, herausgesprungen, die Ruderstangen unters Boot geschoben.

»Haaalt die Pinass, haaalt die Pinass!«, erklang da brüllend der Ruf.

Drei Matrosen kamen eiligst in der kleinen Jolle angerudert.

Ich erschrak.

Mit diesen drei Matrosen in der Jolle war Juba Riata gleich nach dem Essen auf die Jagd gegangen. Er hatte schon heute früh eine Unze gesehen, die schwarze Spielart des Jaguars, ein Weibchen, das offenbar Junge säugte, hoffte deren Lager zu finden, wollte die wertvollen Jungen ausheben, um sie unserer Menagerie einzuverleiben, hatte dazu also diese drei Matrosen in der Jolle mitgenommen.

Jetzt kehrten die allein zurück, schrien nach der Pinasse.

»Was ist geschehen?! Wo ist Juba Riata?!«

»Peitschenmüller hat eine Riesenschlange gefangen, wir sollen mit einem großen Boote hinkommen!«

Eine nähere Erklärung erfolgte, wenn auch so eilig als möglich. Juba Riata hatte eine Anaconda erblickt, nach der Beschreibung der Matrosen ein riesiges Tier, die von einem Baumaste herabgehangen hatte, den Kopf überm Wasser. Schnell hatte Peitschenmüller nach seinem Lasso gegriffen, die Schlinge aber mit dem Stachelband vertauschend, dessen Wirksamkeit ich schon einmal kennen gelernt hatte.

Er hatte schon einmal auf diese Weise einen Tapir gefangen. Das eselgroße Tier mit dem einfachen Lasso fortzuziehen, wäre die einfache Unmöglichkeit gewesen. Aber dem Zuge des schmerzenden Stachelhalsbandes hatte es folgen müssen. Gezähmt konnte das Tier allerdings nicht werden, wie es Peitschenmüller ursprünglich geplant, da muss man wohl den Berichten aller derer glauben, die so etwas schon probiert haben, der Tapir hatte sich vor Menschenangst den Schädel eingerannt, er musste geschlachtet werden.

Mit dem Stachelhalsband hatte Juba Riata also auch die Anaconda gefangen, ihr die Schlinge über den Kopf geworfen. Sie war sofort im Gebüsch verschwunden. Jetzt saß Peitschenmüller an ihrer Stelle auf dem Aste, das Lasso straff gespannt, erbat sich ein größeres Boot, mit dem er die Riesenschlange nachschleifen wollte. Die Jolle mit den drei Ruderern wäre der Kraft des Ungeheuers vielleicht doch nicht gewachsen gewesen.

So sicher war sich Peitschenmüller seiner Sache, dass er auch den Auftrag gegeben hatte, sofort einen Käfig herzustellen, der die Riesenschlange aufnehmen solle, mindestens sechs Meter lang, denn so groß schätze er das Ungeheuer, wenn nicht noch länger.

Wir hatten einige eiserne Raubtierkäfige an Bord, aber für solch eine Riesenschlange war keiner geeignet. Doch konnten wir uns schnell einen herstellen, das eben wusste Peitschenmüller schon.

Wir hatten am Rande der Hyläa Bambusstangen geschnitten, durchschnittlich zehn Meter lang, die man ja immer verwenden kann, hatten schon eine Unmenge aufgestapelt.

Sofort gingen die zurückbleibenden Matrosen daran, aus den Stangen solch einen Käfig zusammenzubinden, das verstanden sie doch, da kam weder eine Riesenschlange noch ein Löwe wieder heraus.

Ich hatte diese Anordnung nur getroffen, da war die Pinasse auch schon wieder zu Wasser.

»Ich komme mit!«, rief die Patronin, die gehört hatte, um was es sich handelte.

Nun, das konnte ich ihr nicht verbieten, und warum sollte sie auch nicht.

»Wisst Ihr die Stelle auch wiederzufinden?«

Jawohl, es war gar nicht weit von hier, und meine Jungen waren ja unterdessen in der ganzen Umgebung wie zu Hause geworden, Peitschenmüller hatte doch auch gerade die richtigen mitgenommen.

»Ist er denn auf dem Baumast nicht einem Angriff der Riesenschlange ausgesetzt?«

»Er meinte nicht, dass die Schlange auf ihn losgehen würde, es wäre auch schade, dann bekäme er sie nicht lebendig, er müsste sie töten, denn der hat seinen Sägeknüppel bei sich.«

Ich kannte dieses fürchterliche Instrument des ehemaligen oder ja eigentlich noch jetzigen Raubtierbändigers. Es war ein aus Rhinozeroshaut geflochtener Knüppel, und ich hatte gesehen, wie er mit diesem ein drei Zoll starkes Eichenbrett wie dünnes Papier durchschlagen hatte. Einen Löwenschädel hätte er wie ein hohles Ei zertrümmert. Ferner aber war dieser Knüppel auf der einen Seite mit jener Magenhaut eines Geiers besetzt, lauter kleine Zähnchen, winzig klein, eigentlich kaum zu fühlen, und dennoch als Säge von einer furchtbaren Wirkung. Wenn er zuschlug und schnell durchzog, sägte er einfach alles ab, was nicht gerade aus Metall oder Stein war. Aber ist der Knochen nicht eigentlich auch aus Stein? Kalkverbindungen? Nun, den stärksten Schenkelknochen eines Ochsen sägte er mit einem scheinbar ganz geringen Schlage glatt durch! Also wenn ihm die Riesenschlange irgend etwas wollte — einfach Kopf ab!

Da sahen wir ihn schon sitzen, auf einem niedrig sich über das Wasser reckenden Aste, ganz gemütlich, rauchte eine Zigarre und baumelte mit den Beinen, in der einen Hand das straffgespannte Lasso.

Schnell hatten wir uns verständigt. Als er ins Boot sprang, wäre er aber doch bald über Bord gezogen worden.

»Heu, heu, mein Tierchen! Das Halsband ist Dir wohl wieder zu weit geworden? Na da komm!«

Er zog, wir ruderten, wie er immer angab, ganz, ganz langsam an.

Da kam der Kopf aus dem Dickicht zum Vorschein. Dicht hinter ihm lag die mit Stacheln besetzte Schlinge um den Hals, wenn man da von einem Halse sprechen darf.

Der Schlangenkopf war nicht eben groß, was aber für ein Leib folgte nach! Wir maßen dann später an der stärksten Stelle einen Leibesumfang von ein Meter 14 Zentimeter, die ganze Länge betrug sechs Meter 43. Es mögen schon größere Riesenschlangen erlegt und gefangen worden sein, einigen solcher Berichte ist unbedingt zu glauben, aber gezeigt ist noch keine worden, weder lebendig, noch tot, noch ihre Haut.

Ob die Riesenschlange, speziell die Anaconda, wirklich Menschen verschlingt, darüber will ich mich hier nicht auslassen. Ich habe es niemals gesehen. Dass solch ein Ungeheuer einen ganzen Menschen samt Stiefeln und Schlips verschlingen kann, das ist ganz selbstverständlich.

Sie schien sich mit dem Schwanze oder dem hinteren Leibe an Baumstämmen festzuklammern, musste aber durch den Zug des schmerzenden Stachelbandes wohl oder übel nachgeben — und dann plötzlich schoss sie in ihrer ganzen Länge hervor, durch oder über den Schlamm hin, der sich ziemlich breit am Ufer hin erstreckte, und in das freie Wasser hinein. Man kann die Anaconda ja fast eine Wasserschlange nennen.

Erst war sie verschwunden, sie mochte glauben, in Freiheit zu sein, da tauchte sie wieder auf, und nun ging der Tanz los.

Himmelherrgott, war das ein Tanz! Ich kann es nicht beschreiben, wie die im Wasser tobte! Zu sehen war überhaupt nichts, von solch einem Wasserschwall wurden wir überschüttet.

Ich kann nur sagen, dass sich auch mein Haar zuerst vor Entsetzen sträubte, und da war es begreiflich, dass sich Helene angstvoll an ihren Ritter Georg klammerte, der jetzt aber eben freilich kein furchtloser Drachentöter war.

»Ruhig, ruhig«, ermahnte Peitschenmüller, mit Lasso und Knüppel hinten neben mir stehend, »immer langsam rudern — die hat sich bald ausgetobt, und angreifen tut sie uns auf keinen Fall — oder ich würde sie schon empfangen!«

Das Wasserspritzen ließ denn auch bald nach.

Nun aber geschah etwas, gegen das die Wasserspritzerei noch eine Kleinigkeit gewesen war.

Die Anaconda sah bald ein, dass sie im Wasser doch nicht ihre Freiheit wieder gewann, dass sie hier erst recht keine Gelegenheit hatte, sich festzuklammern, und so wollte sie wieder ans Ufer, kam aber nur bis in den sumpfigen Teil hinein.

Hier, durch die schmerzende Halsschlinge festgehalten, wiederholte sie ihr fürchterliches Schlagen und Peitschen, und die Folge war, dass wir von einem Schlammregen übergossen wurden.

Wohl wurde sie durch das weiterrudernde Boot bald wieder ins freie Wasser gezogen, jetzt sorgte Juba Riata dafür, dass sie nicht mehr den Sumpf erreichen konnte, aber schon glichen wir alle Möhren, waren mindestens über und über mit Schlamm besprenkelt.

Es kam wohl noch zu einigen Befreiungsversuchen, doch immer mehr gab die Schlange ihren Widerstand auf, ließ sich unter Wasser fortziehen, nur ab und zu mit dem Kopfe auftauchend, dann einige furchtbare Schläge mit dem Hinterleibe aufs Wasser führend. An einen tätlichen Angriff auf die Menschen dachte sie nicht.

Nach einer halben Stunde hatten wir die Sandbank wieder erreicht. Der Käfig war bereits fertig, neun Meter lang und ebenso breit, die Höhe hatte, wie ich angeordnet, nur einen halben Meter zu sein brauchen. An den Ecken kreuzten sich die Stangen, so dass dadurch also die Zwischenräume entstanden waren.

Juba Riata betrat mit dem Ende des gegen 20 Meter langen Lassos das Ufer, keine weitere Hilfe verlangend, zog die Schlange hinter sich her. Auf dem Sande folgte sie ziemlich willig, das Stachelhalsband musste doch sehr schmerzhaft sein, wenn man auch kein Blut fließen sah.

Nur noch ein Zwischenfall ereignete sich, freilich einer, der auch dem Kaltblütigsten einen Schreckensschrei entlockte. Plötzlich schoss das Ungeheuer wie ein Pfeil über den Sandboden, hatte sich im Augenblick vor seinem Peiniger in Manneshöhe aufgerichtet, den Rachen weit aufgerissen, so dass man die ganz respektablen, hakenförmigen Fangzähne deutlich sah, und so zuckte sie vor Juba Riatas Kopfe hin und her, vor und zurück schießend, aber immer steil aufgerichtet

Peitschenmüller selbst glaubte wohl, dass sein Kopf im nächsten Augenblick im Rachen der Schlange verschwunden sein würde, schon holte er zum Schlage aus, um jener den Kopf abzusägen — da sank die Schlange wieder blitzschnell zusammen und suchte seitwärts das Weite zu gewinnen.

Da war sie geliefert, dadurch brachte sie sich selbst in die Nähe des Käfigs. Für eine Tür war selbstverständlich gesorgt. Der erste Bootsmann war aber auch so intelligent, um gleich zu erkennen, was sonst hier noch fehlte, ohne eine Aufforderung dazu zu bekommen

Schnell steckte er von hinten durch den ganzen Käfig eine solch längere Bambusstange, dass sie zur Tür wieder herauskam, Juba Riata verstand es sofort, er konnte dieses Stangenende schon mit dem Lasso erreichen, dieses daran festgebunden, wieder durch den Käfig gezogen, bis er es hinten wieder hatte — nun war es eine Kleinigkeit, die Anaconda zu zwingen, dass sie auch noch in ihre zukünftige Wohnung kroch. Dem Zuge dies schmerzenden Halsbandes konnte sie eben nicht widerstehen.

So wurde jetzt auch noch ihr Kopf an das Gitter gezogen, mochte der Leib auch toben, wie er wollte, diesen Bambusstäben, die meine Jungens mit geteertem Kabelgarn zusammengebunden hatten, vermochte sie nichts anzuhaben; Peitschenmüller hätte das Lederband einfach zerschneiden können, aber er brachte es sogar fertig, es zu lockern und der Schlange über den Kopf zu ziehen.

Die tiefen Eindrücke, welche die Stahlstacheln hinterlassen hatten, waren zu sehen, aber sie schienen die Haut gar nicht durchbohrt zu haben, Blut floß wenigstens nicht.

Auf diese Weise haben wir eine Anaconda gefangen, wie wohl noch niemals eine Riesenschlange gefangen wurde, von einer Größe, wie noch keine in einem zoologischen Garten gezeigt worden ist.

Ich will gleich noch hinzufügen, dass sich die Anaconda sofort ganz ruhig in ihre Gefangenschaft fügte, die ersten beiden Wochen Nahrungsaufnahme verweigerte, dann aber in einer Nacht gleich ein halbes Dutzend Waldhühner und ebenso viel brasilianische Eichhörnchen verschlang, von da an regelmäßig fraß, später sogar Salzfleisch. Auch ein reichlich einen Zentner wiegendes Wasserschwein wurde von ihr mit Leichtigkeit verschlungen, was ihr freilich für einige Tage genügte.

Ehe sie an Bord kam, wurde für sie ein soliderer Käfig gebaut, der aber nicht mehr so groß zu sein brauchte. Er wurde in dem Farbenraum im Mitteldeck aufgestellt.

So wurde die »Argonautenriesenschlange« ein eherner Bestand unseres Schiffes, wir sollten noch mancherlei mit ihr erleben. Das war ein einzelner Tag aus dem Leben auf unserer Sandbank im brasilianischen Urwald gewesen.

Die Nacht war angebrochen, die Glühkäfer funkelten, und unser Schiff leuchtete im Scheine von Hunderten von phosphoreszierenden Lämpchen.

O, wie soll ich es schildern, was sich nun ereignete! Nicht nur in dieser Nacht, sondern Abend für Abend, dort auf der Sandbank im brasilianischen Urwalde!

»Herr Waffenmeister, ich hätte eine Bitte an Sie.«

So hatte Meister Hämmerlein gleich in den ersten Tagen unseres Hierseins zu mir gesagt, verlegen oder doch mit seiner schüchternen Bescheidenheit wie immer.

»Aber bitte!«

»Ich — ich — habe ein Oratorium komponiert — die neuen Seligpreisungen — mit einem Schlusssatze — Sie wissen, den Anfang der Bergpredigt aus dem Matthäi-Evangelium — es ist ein Solo mit Chor — Albert singt den Messias — er ist schon gut eingeübt — und nun — nun — dachte ich — wenn unser Männerchor einfällt — mit dem Posaunenchor —«

»Ja warum nicht?! Darüber haben doch überhaupt nur Sie zu bestimmen, Sie haben uns doch erst ausgebildet.«

»Es ist — ist — der Chor der Gläubigen —«

Na ich verstand. Gewissermaßen hatte er ja auch ganz recht. Matrosen als Kirchensänger, die in einem Oratorium den Chor der Gläubigen markieren, die den Inhalt jeder Seligpreisung bestätigen, freundlich dazu einladen, an den Heiland zu glauben — 's ist eine dumme Geschichte!

Aber ich glaube, ich glaube — dass unter den professionellen Kirchensängern und sonstigen Künstlern, die in der Kirche zeitweilig mitwirken, manchmal Personen sind, die in moralischer Hinsicht doch noch unter uns Matrosen stehen!

»Na warum denn nur nicht?!«

Also es wurde gemacht.

Abend für Abend übten wir.

So auch heute Abend, heute Nacht.

Ach, wie soll ich es schildern!

Wenn Albert mit seinem wunderwunder-wunderbaren Tenor begann, der immer und immer schöner wurde!

Wie das in dieser Urwaldsnacht erklang!

Wenn unter leiser, süßer Orgelbegleitung die erste Seligpreisung verklungen war, so glaubte man nichts Schöneres mehr hören zu können, und nun erklang es doch immer noch viel, viel herrlicher!

»Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden!«

Nein, das konnte nun nicht mehr übertroffen werden! Wie der nur das Wort »suffering« hervorbrachte!

Es wurde nämlich Englisch gesungen. Hämmerlein hatte es nun einmal nach dem englischen Bibeltext komponiert, hatte etwas Englisches dazu gedichtet, hatte wahrscheinlich schon lange Zeit daran gearbeitet, vielleicht schon viele Jahre, das konnte oder mochte er nun nicht mehr ändern. Das war ja auch ganz gleichgültig. Wir Deutschen, die Englisch vollkommen beherrschten, hörten schließlich im Geiste doch nur das Wort »Leid«.

Wie der nun dieses Wort »Leid« hervorbrachte! Und diesen Ton, den in diesem Augenblick die Orgel erklingen ließ!

Das Herz krampfte sich einem im Busen vor unsagbarem Schmerz zusammen, um sich dann gleich wieder in süßer Wehmut aufzulösen.

Und dann nun — selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«

Und so ging es weiter, immer herrlicher und immer herrlicher!

Wie dieser Kerl sang!

Und wie der dabei aussah!

Albert, der sich einen Vollbart stehen ließ bekam überhaupt immer mehr einen Christuskopf.

Gewiss, das war der Heiland selbst, der dort oben auf der Bank stand und dem Volke seine Seligpreisungen sang. »Siehe, ich habe die Welt überwunden —«

Und nun nach jeder einzelnen Seligpreisung immer der Chor der Gläubigen. Zwanzig Posaunen mit mehr als vierzig Männerstimmen, noch unterstützt durch die plötzlich gewaltig erbrausende Orgel:

Gracious savior, king of glory

Hasten now, his word obey.

Swing your heartdoor widely open.

Enter in while you may!

Wörtlich übersetzt: Gnädiger Heiland, glorreicher König! Eile, sein Wort zu hören. Schwinge weit auf Deines Herzens Tür, lass, ihn herein, so lange Du noch kannst.

Aber so etwas lässt sich ja gar nicht übersetzen.

Und nun besonders das »king of glory«, wie das herauskam, diese überirdische Majestät, die in diesen Worten lag.

Der letzte Satz war verstummt — »seid fröhlich und getrost, es wird Euch im Himmel wohl belohnet werden« — der Chor der Gläubigen hatte es bestätigt.

Kapitän Martin, die Hände bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen, den Oberkörper weit vorgebeugt, schüttelte sich wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt.

»Das ist überwältigend — das ist einfach überwältigend!!«

Wir hatten das nun schon zum zweiundzwanzigsten Male geübt, und zum zweiundzwanzigsten Male hatte Kapitän Martin diese selben Worte so herausgeschüttelt.

Heute Abend aber fügte er noch etwas anderes hinzu, denkwürdige Worte, welche es verdienen, der Nachwelt überliefert zu werden — dazu aber nahm er erst die rechte Hand aus der Hosentasche und schüttelte den astähnlichen Zeigefinger vor meiner Nase, nicht um mir zu drohen, sondern gewissermaßen um jedes Wort zu unterstreichen.

»Und heute Abend habe ich es ganz genau konstatiert! Allemal, wenn die Stelle kommt »king of glory« — dann hören allemal im Walde die Affen zu schnattern auf!«

So sprach Kapitän Martin.

Na, dann war es ja gut, dieses Urteil ließ ich mir gefallen!

Wenn sogar die Affen ob unseres Gesanges verstummten, die Luft anhielten — dann durften wir hoffen, mit unserem Oratorium auch vor anderen Menschen gnädige Ohren zu finden.

Aber wir dachten gar nicht daran, dieses Oratorium anderen Menschen vorzusingen. Gerade dieses Oratorium nicht. Das sangen wir nur für uns.

Oder wenn wir es jemandem vorsangen, Abend für Abend, wenn sich jeder bemühte, sein Bestes zu leisten — dann war dies alles nur für unsere Patronin bestimmt!

»Wir leben einander zuliebe.«

Das war schon längst unser aller Wahlspruch geworden. Es war die Zauberformel der Argonauten.

*

27. Kapitel

Der phönizische Diamant

Originalseiten 644 — 668

Am 2. August krochen vorschriftsmäßig die kleinen Schildkröten aus, in ungezählten Legionen, wir stellten mit einigen jene schon früher erwähnten Experimente an, machten andere interessante Beobachtungen, gleich darauf begann das Wasser zu steigen, und am anderen Tage in der neunten Morgenstunde wurde unser Schiff von der Flut gehoben, die freilich jetzt auch über uns vom Himmel in Strömen herabgoss.

Unsere Sandbank hatte für zehn Monate zu existieren aufgehört. Dass sie aber nach dieser Zeit wieder uns gehörte, dafür hatten wir gesorgt. Hierüber hatte uns Señor Estrada belehrt. Einfach einen abgerindeten Baumstamm im Sande aufrecht eingegraben, so dass er jetzt vom Wasser umspült wurde, und oben darauf ein Zeichen gemacht. Wir hatten das Wort »Argos« eingeschnitten.

Wer eine von Menschen noch unbenutzte Brutinsel oder Brutbank findet und er hinterlässt solch ein Zeichen, kann beweisen, dass er es selbst eingeschnitten hat, dem gehört auch fernerhin diese Brutstelle der Schildkröten, so weit sie sich auch erstreckt.

Allerdings kann ein einzelner nicht gleich das ganze Gebiet beanspruchen, er hat nur ein Vorrecht darauf. Ihm selbst als einzelne Person gehört nur ein Terrain von 400 Quadratmetern, das er auszubeuten vermag, nämlich ein Streifen von zehn Metern Breite, und die Schildkröten legen also ihre Eier immer 40 Meter am Ufer hinauf.

Aber er kann dann zur Brutzeit mitbringen, wen er will, alle seine Begleiter müssen als Besitzer der Brutstelle anerkannt werden. Also kann er schon vorher durch Preisgabe seines Geheimnisses Kapital daraus schlagen.

Haben auch andere die Brutstelle gefunden, sie respektieren das Zeichen nicht, sie wollen nicht weichen, dann kommt es zum Kampfe auf Leben und Tod, und das brasilianische Gesetz spricht den Besitzer und seine Begleiter frei von Mord, sie haben eben überhaupt in ihrem Rechte gehandelt, dürfen gegen jene anderen mit Waffengewalt vorgehen, sie eventuell töten. Dieses Gesetz besteht, seitdem die Portugiesen in Brasilien herrschen, obgleich es niemals geschrieben worden ist. Es ist überhaupt erst von den Indianern übernommen worden.

Sucht der erste Finder und Besitzer die Brutstelle einmal nicht auf, dann allerdings verliert er sein Eigentumsrecht daran.

Für uns sollte alles dies noch von größter Bedeutung werden, deshalb habe ich es hier so ausführlich wiedergegeben. Denn dass wir diese Sandbank später wieder einmal besuchten, das war ja, wenn es das Schicksal nicht anders wollte, ganz zweifellos, obgleich es uns ganz angenehm war, als wir jetzt den Anker aus dem Sand hiven konnten. Schön, herrlich, köstlich waren ja diese sieben Wochen gewesen, aber — schließlich waren wir doch Seeleute und keine Sandauguste

So traten wir die Rückfahrt an. Diesmal machte uns Señor Estrada bei jeder Biegung auf einen besonders merkwürdig gestalteten Baum aufmerksam, der einen Namen bekam und mit einer Kennzeichnung auf einem Papier vermerkt wurde, dazu die Kompassbestimmung — auf diese Weise entstand eine Karte, nach der wir uns später immer zurückfinden konnten.

Señor Estrada hatte gesagt, dass er uns diese Kennzeichen erst auf der Rückfahrt geben könne. Da hatte er auch ganz recht. Aber weshalb, das vermag ich hier nicht zu definieren, höchstens kann ich daran erinnern, dass man, wenn man durch eine fremde Gegend kommt, und man will sich zurückfinden, sich immer einmal umdrehen muss, sonst findet man dann den Rückweg nicht.

Am Abend des vierten Tages erreichten wir wieder den Amazonenstrom, und 74 Stunden später lagen wir wieder im Hafen von Para am Kai.

»Buenas noches, Señora y Señores — wenn ich wieder etwas prospektiert habe, werde ich mir erlauben, Ihnen wieder mein Angebot zu machen.«

So sagte Señor Montezuma della Estrada in der Kajüte, in der sich die Patronin, Kapitän Martin und meine Wenigkeit befanden, gleich in den ersten Minuten, nachdem das Schiff am Kai vertaut worden war, hüllte sich noch fester in seinen schäbigen Poncho, führte eine frische Zigarette zwischen die Lippen und verließ die Kajüte.

Fort war er!

So war der Abschied gewesen.

Da gab es nun nichts mehr dran zu ändern.

»So ein kurioser Kauz!«, staunte die Patronin, als sie endlich glaubte, dass er wirklich gegangen war.

Na inwiefern denn kurios? Im Gegenteil, dieser Abschied imponierte mir. Was sollte er denn erst noch viel quasseln? Er hatte sein Versprechen eingelöst! Basta, nun war er mit höflichem Gruße davongegangen, der stolze Spanier, mit dem wir länger als vier Monate zusammen gewesen waren, ohne auch nur die Innenseite seines Mantels gesehen zu haben. Ob er unter diesem Hosen oder was sonst trug, das war für uns immer noch ein Rätsel. Übrigens hatte ich auch gar kein Verlangen danach, diese unteren Kleidungsstücke zu sehen, am wenigsten sein Hemd, falls er wirklich ein solches an hatte; denn das musste dann wohl dasjenige der Königin Isabella, die ja auch seine Landsmännin war, weit übertreffen.

Der geneigte Leser weiß doch, was ich hiermit meine? Nicht?

Jedenfalls aber weiß er doch, was Isabellenpferde sind. Eine gelbe Spielart mit weißen Hufen und roten Augen. Es sind die Albinos, die Kakerlaks unter den Pferden, den weißen Mäusen entsprechend. Isabellenfarbe nennt man aber überhaupt eine bräunlich- bis weißlichgelbe Farbe, etwa dem Milchkaffee entsprechend.

Wie kommt diese Farbe zu dem Namen? Ich habe von einer Königin Isabella gesprochen. Das stimmt nicht ganz. Es war die spanische Prinzessin Isabella, die Tochter Philipps II. die Gemahlin des Erzherzogs Albrecht von Österreich, welcher im Jahre 1601 Ostende belagerte, wobei seine Gattin feste mitmachte, sogar das Oberkommando dabei führte.

Als nun Ostende nicht so schnell fallen wollte, da tat die energische Isabella einen fürchterlichen Schwur: »Ich ziehe mein Hemd nicht eher aus, als bis Ostende erobert worden ist!«

Die Belagerung von Ostende dauerte aber noch drei ganze Jahre.

Und Isabella, eine sehr fromme Dame, musste doch natürlich ihren Schwur halten. Also behielt sie ihr Hemd drei ganze Jahre lang an.

Und seitdem nennt man Isabellenfarbe eine braungelbe Färbung.

Diese Sache ist historisch! —

Dass wir einige Tage in Para liegen blieben, das war von vornherein ausgemacht worden. Das waren wir schon den Leuten schuldig. Sie waren zehn Wochen im Urwald gewesen, waren sogar schon fast vier Monate unterwegs, denn in Para hatten wir uns auf der Herfahrt gar nicht aufgehalten — na, und unsere Jungens waren doch keine Mönche, welche die drei bekannten Gelübde abgelegt hatten.

Nun, in Para brauchten sie auch unfreiwillig kein Mönchsleben zu führen. Para ist eine Stadt mit 70 000 Einwohnern und wie alle diese südamerikanischen Städte, mögen sie auch bis über die Ohren verschuldet sein, mit einem Komfort und Luxus ausgestattet, wovon manche europäische Residenzstadt nichts weiß.

Also unsere Jungens amüsierten sich.

Ja, sie sollten sich auch nach Herzenslust amüsieren. Da war doch unsere Patronin nicht so.

Wenn einer um zehn Dollars Vorschuss bat, dann sagte sie, damit könne er sich in so einer großen Stadt doch unmöglich amüsieren — und gab ihm dreißig.

Doch sie betrugen sich ganz anständig. Vor allen Dingen meine ich, dass die übliche Sauferei ganz fortfiel. Das hing eben alles mit unserem Sport zusammen, womit ich aber nicht noch einmal anfangen will.

Nur zwei Leute hauten einmal mächtig übern Strang. Dass der eine von diesen beiden Oskar, der Segelmacher war, das war ja nicht weiter verwunderlich.

Dass aber der zweite von ihnen August der Starke hieß, das hätten wir nicht erwartet. Der ehemalige Bäckerjunge war sonst ein so solider Mann geworden, hielt sogar sein Geld zusammen, sparte für die Zukunft! Und hier in Para betrug er sich so — saumäßig, dass ihn die Polizei einsperren musste! Aber freilich war Oskar der Verführer gewesen, das mag als Entschuldigung gelten.

Ich will die Geschichte erzählen, als ob ich dabei gewesen wäre.

Am Abend des zweiten Tages gehen bis auf die unumgänglich notwendige Wache alle Mann an Land.

Nach und nach verlieren sie sich in der weitläufig gebauten Stadt, Oskar und August bleiben zusammen, wenn sie auch keine intimere Freundschaft geschlossen hatten. Kameradschaft selbstverständlich. Oskar hat sich drei Monate Heuer auszahlen lassen, hat also rund hundert Dollars in der Tasche, der Bootsmann trägt sein ganzes Erspartes in verschiedenem Papiergeld bei sich, wie viel weiß ich nicht. Dem brennt aber das Geld nicht so furchtbar in der Tasche, wie dem Segelmacher aus Köln.

»Na, Bootsen, was machen wir denn nun? Halt, dort stehen Reitesel! Reiten wir einmal!«

»Ach, was soll ich reiten! Mich trägt doch nicht so ein Tierchen.«

Aber Oskar geht hin, August begleitet ihn.

Die Esel sind aber gar nicht zu vermieten, sondern nur zu verkaufen.

»Was kostet der hier?«

»Zehn Dollars.«

Schön, Oskar greift in die Tasche und wirft dem Manne zehn Dollars an den Kopf, das Eselchen gehört also ihm.

»Nun kauft Euch nur auch einen, Bootsen.«

»Dummes Zeug! Der hat doch überhaupt gar keinen Sattel und keinen Zügel.«

»Hat er nicht? Nee, faktisch, nur einen Strick um den Hals! Wisst, Bootsen, dann lassen wir die Esel auf uns reiten, nehmen sie auf den Rücken, was?!«

August will nicht mitmachen, und Oskar bekommt den seinen nicht auf den Rücken oder kann ihn nicht tragen, was doch nicht so einfach ist.

»Das könnt Ihr auch nicht, Bootsen.«

»Was, ich könnte nicht so ein Eselchen tragen?«, fällt August richtig sofort darauf ein, nimmt den Esel auf den Buckel und trägt ihn davon.

Aber nicht weiter als bis zur nächsten Kneipe. Nun nimmt Oskar aber seinen Esel auch mit hinein ins Gastzimmer. Es ist zugleich ein Café.

»Aber, meine Herren, das geht doch nicht!«

»Was geht nicht? Mein Esel hat Durst. Wenn er bezahlt? Eine Flasche Wein mit drei Gläsern. Kuchen her! Schlagsahne! Das ist nämlich eine Dame, die liebt so was.«

Nun es aber einmal so weit ist, der Esel als voller Gast gelten soll, wird er auch auf ein Sofa gesetzt, hüben und drüben setzen sich Oskar und August, halten ihn unter den Vorderbeinen fest, brauchen sich aber gar nicht so anzustrengen, das Eselchen hält ganz still, frisst mit Wohlbehagen den vorgesetzten Kuchen und schleckert Schlagsahne.

»Hört, Bootsen, haltet ihn mal allein, ich habe eine Idee, komme gleich wieder.«

Oskar kommt denn auch schnell zurück, hat ein Damenkleid gekauft, ein hochelegantes Kostüm für fünfzehn Dollars und einen mächtigen Federhut, hat auch den Schleier nicht vergessen.

Also das Eselchen wird als Dame kostümiert. Die muss jetzt aber doch erst recht Torte und Schlagsahne bekommen. Und ihre beiden Kavaliere trinken eine Flasche Wein nach der anderen und probieren außerdem alle Liköre durch.


Illustration

Und jetzt ziehen die beiden weiter, immer aus einem Café ins andere, zwischen sich unter den Vorderbeinen oder vielmehr unter den Armen den als Dame kostümierten Esel.

Die ganze Straße brüllt und läuft mit, auch das gemiedenste Café füllt sich im Nu, alles will doch sehen, wie die beiden Rivalen auf dem Sofa mit der langgeschnäuzten Dame poussieren, wie sie ihr Torte ins Maul schieben und ihr Schlagsahne hineinhauen.

Zuletzt aber werden sie dieser Sache doch überdrüssig, sie versetzen ihre Dame. Wo sie den Esel samt Kostüm und Hut eigentlich gelassen hatten, das wussten sie später gar nicht mehr.

An dieser Umwälzung in der Situation war besonders auch eine Unterhaltung und eine sehr nützliche Beschäftigung schuld, welche die beiden vornahmen.

In die kleine Kneipe waren zwei Maurer mit ihrem Handwerkszeug gekommen.

»Ich kann auch mäuern!«, sagt Oskar. »Ich bin einmal in Philadelphia ausgekniffen, da habe ich drei Wochen an Land gemäuert.«

»Und ich fünf Wochen in Adelaide!«, sagt August.

»Ach nee!! Ihr auch? Ich habe aber nicht etwa nur Steine getragen. Ich habe geputzt.«

»Geputzt? Ich habe auch geputzt!«

»Wände mit Kalk abgeputzt, meine ich.«

»Jawohl, ich auch.«

»Hört mal, Bootsmann, Ihr wollt mich doch nicht etwa veralbern?«

»Nenee, 's ist so, das ist eben ein merkwürdiges Zusammentreffen.«

»Na, das müsstet Ihr mir doch erst einmal vormachen.«

»Sofort, wenn ich nur etwas hätte —«

»Die Kerls dort haben ja Kellen.«

»Ja, aber wo nehmen wir den Kalk her?«

»Kalk? Nu — nu — dort auf dem Büfett steht Kartoffelsalat —«

Jawohl, auf dem Büfett stand eine mächtige Schüssel mit frischgemachtem Kartoffelsalat, und kurz und gut, meine beiden Kerls, durch Wein und Likör schon in der richtigen Stimmung, nehmen die Maurerkellen und putzen in der Kneipe um die Wette mit Kartoffelsalat die Wände ab! Wer am schnellsten mit seiner Wand fertig ist.

Schön war das ja gerade nicht. Aber — ich hätte mit dabei sein mögen! Wie die beiden mit Kartoffelsalat die Wände abputzten!

Na, dem Kartoffelsalat war es ja auch ganz egal, und es wurde alles bezahlt.

Hiermit aber waren die beiden in dieser Kneipe noch nicht fertig.

Sie waren wieder in Unterhaltung gekommen. Übers Geschützexerzieren. August hatte bei der Matrosen-Artillerie gedient, Oskar bei der Matrosen-Division und wenn auch bei beiden ganz gleich am Geschütz exerziert wird, so waren die zwei doch über das »Kanonen los!«, in Meinungsverschiedenheiten gekommen.

»Nein, das Geschütz wird erst ausgerannt!«

»Nein, erst werden die Taillen gespannt!«

»Aber, Junge — das ist doch so einfach — wenn ich Dir's nur einmal vormachen könnte — wenn wir nur so was wie ein Geschütz hier hätten —«

Und suchend blickten sich die beiden um.

Jawohl, so etwas Ähnliches wie ein Geschütz war im Gastzimmer vorhanden.

Wenn auch nicht gerade zum Schießen bestimmt.

Ein Klavier! Ein Piano, auch Pianoforte genannt.

Und jetzt fingen die beiden an, mit dem Pianoforte »Kanonen los!«, zu machen, spannten es an Seilen, fuhrwerkten mit dem Klavier immer in der Gaststube hin und her!

Na, die Hauptsache war, dass sie durch diese praktische Demonstration ihre Meinungsverschiedenheit beseitigten. Sie hatten beide dasselbe gemeint, sich nur falsch ausgedrückt.

Ja, nun gerieten sie aber wieder über das Abreißen in Differenzen. Die Stellung, welche Nummer eins beim Abfeuern, beim Abreißen der Zündschnur, annimmt.

Oskar machte es vor, August machte es vor, aber etwas anders. Eine großartige Stellung, die man dabei einnehmen musste! Bücken durfte man sich dabei nicht, wenn man visierte, sondern man musste in die Kniebeuge gehen, aber nur mit dem rechten Beine, das linke streckte man weit, weit aus. Aber da jucken einem manchmal die Kniekehlen!

Diesmal wollten sich die beiden doch nicht so leicht einig werden.

Jetzt machte es wieder einmal August vor.

»Nein, so stellt sich Nummer eins hin!«

Und der Fleischkoloss nahm die entsprechende Stellung ein, rechts tief in die Kniebeuge, das linke Wurstbein weit von sich gestreckt, und jetzt griff er über die Reißleine.

»Feuer!!«

Pardauz! ging es da, und aus dem Klavier schlug eine mächtige Feuergarbe empor, der Deckel klatschte oben gegen die Decke, und dann war alles in Pulverqualm gehüllt!

Oskar war nämlich einmal draußen gewesen, war schnell über die Straße zu einem Waffenhändler gelaufen — in jenen Gegenden hat alles bis Mitternacht auf — hatte ein Pfund Schießpulver gekauft und eine Zündpille zum Abreißen, hatte das heimlich ins Klavier praktiziert und alles arrangiert.

August denkt, er hat eine gewöhnliche Leine in der Hand, reißt vorschriftsmäßig ab — da explodiert dort drin in dem Klavier das Pfund Pulver, der ganze Oberteil des Pianofortes kracht gegen die Decke!

Als ich das dann später von meinem Augenzeugen habe erzählen hören — habe ich mich gekugelt!

Ein norwegischer Steuermann war dabei gewesen, ein ganz phlegmatischer Mensch — aber auch der konnte vor Lachen kaum erzählen.

Besonders wie der dicke August dastand, in der vorschriftsmäßigen Stellung, wie der abriss, wie das harmlose Klavier plötzlich schoss, wie August das Maul aufsperrte und nach der Decke blickte, und dann wieder nach dem schießenden Klavier.

Es war ja freilich ein derber Spaß gewesen!

Aber von Matrosen kann man doch auch keine zarten Pfänderspiele verlangen.

Und die Hauptsache war, dass alles gut abgelaufen. Das hatte Oskar überhaupt schon gewusst, dass gar nicht viel passieren konnte. Das einfache Jagdpulver konnte nur nach oben explodieren, den Klavierdeckel heraushauen, ihn nach oben schleudern, weiter nichts.

Als Konzertinstrument war das Klavier freilich nicht mehr zu gebrauchen, wenn es auch noch Töne von sich gab, wie Oskar sofort durch Spielen des Dessauer mit anschließenden Walzer konstatierte.

»Herrlich, herrlich! Na endlich habe ich einmal ein Klavier gefunden, das mich befriedigt! Herr Wirt, was kostet dieses entzückende Instrument?«

Sechzig Dollars wurden dafür verlangt.

Aber die wollte Oskar nicht bezahlen.

Einfach deshalb nicht, weil er die gar nicht mehr hatte. Aber da griff schon August in die Tasche.

»Das Klavier musst Du überhaupt bezahlen!«, wurde Oskar jetzt auch noch unverschämt. »Ich habe doch gar nicht geschossen, Du hast doch abgefeuert!«

Na, August bezahlte doch überhaupt mit Vergnügen. Bei dem wurde das Geld jetzt doch auch immer lockerer in der Tasche.

Jetzt aber gehörte das Klavier natürlich ihnen. Sie nagelten und banden es wieder zusammen, durch das Binden kamen sie auf Bandagen, sie machten dem kranken Klavier mit nassen Bettüchern Umschläge, legten Eiskompressen auf, gaben auch innerlich verschiedene Einflößungen.

Zuletzt nahm August das kranke Kanonenklavier auf den Rücken, das heißt nur, um weiter aus einer Kneipe in die andere zu ziehen und musikalische und ärztliche Vorstellungen zu geben, wozu dann auch noch eine Klistierspritze kam, durch deren eifrige Benutzung das Instrument ja nicht eben wohltönender wurde; denn so krank es auch sein mochte, herhalten musste es unter Oskars Fäusten noch immer tüchtig. Es war auch schnell eine Einrichtung ersonnen worden, dass Oskar auch unterwegs spielen konnte, während August es auf dem Rücken trug.

So zogen die beiden armen fahrenden Musikanten mit ihrem im Sterben liegenden, auf dem letzten Loche pfeifenden Pianoforte noch stundenlang in dem nächtlichen Para herum, bis sie kein Restaurant und kein Café mehr offen fanden. Das heißt, sie mussten doch erst suchen, ob sie wirklich keines mehr offen fanden.

So kamen sie in das alte Viertel von Legut, wo bei den letzten Häusern und Hütten gleich der Urwald beginnt.

Man kommt in Para aus den Straßen wahrhaftig direkt in den Urwald.

Da sahen sie vor einem Tore eine rote Laterne brennen. »Dort ist noch etwas offen!«, jauchzte August, und Oskar intonierte auf seinem Rücken eine Jubelouvertüre.

Das Tor ließ sich öffnen, sie kamen in einen Hof, sahen wieder vor einer Tür eine Laterne brennen, die in einen geräumigen Stall führte, und in diesem Stalle stand ein großer Elefant, mit einem Fuße angekettet.

Man hat schon öfters versucht, in den tropischen Gegenden Amerikas den Elefanten, besonders den indischen, als Arbeits- und Reittier einzuführen. Es ist gar keine schlechte Spekulation. Der Elefant leistet dasselbe wie zehn Pferde, seine Unterhaltung kostet dort ja gar nichts, er geht auch zur Fortpflanzung. Die faulen Südamerikaner haben das nur noch nicht energisch betrieben, nach jeder schlechten Erfahrung, die doch erst gemacht werden muss, geben sie den Versuch immer gleich wieder auf. Die Engländer haben in Australien das nützliche Kamel schon vollkommen eingeführt.

Ein Mensch war nicht zu sehen.

»Das ist ein Reitelefant«, sagte August, »ich weiß, wie man so einen reitet. Du, Oskar, wollen wir mal einen Spazierritt machen?«

Na und ob Oskar wollte!

Also dem Elefanten, der sich alles willig gefallen ließ, die nur mit einem Karabinerhaken befestigte Kette abgenommen und ihn hinausgeführt, und an seiner Stelle — das war eigentlich der beste Witz dabei — wurde vor der Krippe das kranke Klavier hingestellt, die Kette um einen Fuß geschlungen.

Willig hob der Elefant das Bein, um die Reiter aufsteigen zu lassen, August, der auch einen regelrechten Hakenstock gefunden hatte, als erster hinauf, der übernahm die Leitung, hinter ihm saß Oskar, und hinaus ging es.

Als zehn Minuten später der neue Tag aufflammte, befanden sich die Elefantenreiter schon auf der Landstraße nach Tahira, mitten im Urwald.

Aber die beiden, die dem Alkohol ja tüchtig zugesprochen hatten, zuletzt auch dem höllischen Absinth, waren auf dem Rücken des Elefanten bereits eingeschlafen.

Mit einem Male bekam August einen Stoß gegen den Bauch, er klammerte sich an etwas fest, ebenso aber klammerte sich auch etwas auf seinem Rücken fest.


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Mit einem Male bekam August einen Stoß gegen den
Bauch, er klammerte sich an etwas fest, ebenso aber
klammerte sich auch etwas auf seinem Rücken fest.


Wie die beiden wieder zur Besinnung kamen, sahen sie dort schon in einiger Entfernung den Elefanten traben, August klebte an einem Baumast, der sich über den Weg reckte, er war von dem Elefanten abgestrichen worden, und auf seinem Rücken klammerte sich Oskar fest, drei Meter über dem Erdboden.

So klebten die beiden dort oben noch wie die Laubfrösche im Wonnemonat zusammen, als sie hinter sich Menschen schreien hörten. Polizisten und andere Männer kamen angerannt.

Die einen fingen den Elefanten wieder ein, die anderen hatten es auf die beiden dort oben abgesehen, die sich jetzt auf dem Aste häuslich einrichteten.

»Herunter da mit Euch!«

»Nee. Weshalb denn? Uns gefällt es hier oben ganz gut.«

»Ihr habt den Elefanten gestohlen!«

»Pass, up, wenn Du das noch einmal sagst, fall ich Dir auf den Kopf, und Du bist eine tote Leiche! Wir den Elefanten gestohlen? Wir haben doch unser kostbares Klavier dafür angebunden.«

Aber der Humor hielt nicht lange an. Der höllische Absinth machte sich erst jetzt richtig bemerkbar. Oskar wollte nur schlafen, nichts weiter, und August bekam einen moralischen Jammer.

»Wenn ich mich gegen das Gesetz vergangen habe, so will ich auch dafür sühnen, ich verlange die volle Strenge der Gerechtigkeit.«

So deklamierte er, nachdem er sich schon ebenso wie Oskar hatte herabfallen lassen. Sie wurden nach der Stadt zurückgeführt, auf beiden Seiten Polizisten. Viel anhaben konnte man ihnen ja nicht — jetzt nicht! Das heißt, so ohne weiteres durften diese Matrosen, deren Schiff unter einer fremden Flagge im Hafen lag, nicht eingesperrt werden. Dazu musste erst ein Verhaftungsbefehl vorliegen, oder sie hätten sinnlos betrunken oder sich obstinat benehmen müssen; sonst, wenn sie sich legitimierten, konnten sie nur an Bord des Schiffes gebracht werden, das Weitere erfolgte dann später. Und wenn das Schiff den Hafen verließ konnte nur der Staatsanwalt sie zurückbehalten.

Die Sache aber war eben die, dass Oskar bereits im Gehen schlief, und dass August in seinem moralischen Jammer, überhaupt gar nicht richtig bei Besinnung, durchaus ins Gefängnis wollte, um »seine Schuld zu sühnen«.

Gut, seinen Willen konnte er haben. Die beiden kamen in das alte Gefängnis von Legut, eine elende, einstöckige Baracke, als Arresthaus dienend. Es ist übrigens gar nicht weit vom eigentlichen Hafen von Para entfernt, wir konnten die Baracke von unserem Schiffe aus sehen.

Die beiden wurden isoliert, jeder kam in eine Zelle im unteren Stockwerk, auch August fiel auf der Pritsche jetzt sofort in tiefen Schlaf. Dass die beiden jetzt nicht vernommen werden konnten, das hatte man ihnen doch gleich angemerkt, und überhaupt wusste man ja auf der Polizei schon alles, was die beiden Kerls während der ganzen Nacht für Unfug getrieben hatten, aber schließlich doch ganz, harmlos, die Polizei hatte nicht einzuschreiten brauchen. Schon ging nach unserem Schiffe eine Meldung ab.

Man kann nicht eben sagen, dass sich unser zweiter Bootsmann am Schlusse besonders heldenhaft benommen hatte. Das sollte aber anders werden, sobald er aus seinem todesähnlichen Schlafe erwachte.

Das geschah bereits nach einer Stunde, als wir eben erst die Meldung bekommen hatten.

Erstaunt blickte er sich in der Zelle um. Wo er sich befand, das musste er doch gleich erkennen.

»Wuoat?! Eingesperrt hat man mich? Ohne meine Erlaubnis?! Mich, August den Starken, Bootsmann von der »Argos«?! I drrr Deiwel noch einmal —«

Und August nahm einen Anlauf gegen die Tür, brach durch die Tür, brach mit demselben Anlauf gleich noch durch eine zweite Tür — und da befand er sich auch schon im Freien. Allerdings erst in einem ummauerten Hofe. Aber gerade war das Tor geöffnet, um einen Wagen durchzulassen, und August sah unser, sah sein Schiff liegen.

Aber da spazierte im Hofe auch eine Schildwache herum, ein Soldat mit Gewehr, der wusste doch gleich, was passiert war, es wurde doch auch schon geschrien — also der sprang mit gefälltem Gewehr, Bajonett aufgepflanzt, an den Flüchtling zu.

Aber bei unserem August kam er da gerade an den Unrechten. Der nahm den brasilianischen Soldaten samt Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett ganz einfach unterm Arm und setzte seinen Weg fort, freilich im Laufschritt, rannte durch das Tor und nach dem Hafen, auf sein Schiff zu.

Wir hatten den polizeilichen Bericht unterdessen schon bekommen, ich wollte mich gerade auf den Weg machen, um die beiden Vagabunden erst, einmal wieder auf freien Fuß zu bringen — kommt da unser August angerannt, die brasilianische Schildwache in voller Waffenausrüstung unterm Arm!


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Nun war die Sache ja erst gut!

Na, vor allen Dingen bekam der Soldat, der noch gar nicht recht wusste, was mit ihm eigentlich los war, ein opulentes Frühstück vorgesetzt, dann ließ ich mir von August berichten, er konnte die Polizeimeldung nur bestätigen, dass bis auf die Entführung des Elefanten sonst gar nichts weiter vorgekommen war, und ich machte mich sofort auf den Weg nach der Polizeizentrale, um dort erst einmal den höchsten Polizeigewaltigen zu sprechen, um dort auch die Adresse des Elefantenbesitzers zu erfahren, damit dieser womöglich keine Meldung machte.

Der Polizeihauptmann, der gerade Dienst hatte, war ein höchst netter Mensch, und ein ebenso netter Mensch, konnte er mir versichern, sei der Elefantenbesitzer, ein Inder, ein reicher Kaufmann, der sich in Para als Kautschukhändler niedergelassen hatte.

»Sie werden sich mit diesem Herrn schon auseinandersetzen können, und dann ist alles in Ordnung. Der Bootsmann hat die Tat ganz einfach im Traumzustand begangen. Wenn der Inder nur keine Meldung macht. Fragen Sie doch gleich telefonisch an, ob er schon zu sprechen ist.«

Ich wurde mit ihm verbunden, der Inder selbst kam ans Telefon, ich stellte mich als Kargo-Kapitän der »Argos« vor, ob ich ihm meine Aufwartung machen dürfe.

In welcher Angelegenheit, wenn ich fragen darf?«

»Ihnen ist heute früh von zweien unserer Leute ein Reitelefant entführt worden —«

Ich brauchte nicht weiter zu sprechen, er wusste schon alles. Und dann kam der echte buddhistische Inder zum Vorschein, dem Toleranz und immergewährte Verzeihung die höchste Tugend ist, durch welche Sanftmut diese jetzt scheinbar so geknechteten Inder schließlich doch noch einmal das ganze Erdreich besitzen werden.

»O nein, ich habe noch keine Meldung gemacht und werde es auch nicht tun. Es ist ja überhaupt ganz meine Schuld, weil ich Wächter angestellt hatte, von deren Zuverlässigkeit ich mich vorher nicht genügend überzeugt habe. Es ist alles in Ordnung. Bitte sehr!«

Mehr konnte man wahrhaftig nicht verlangen! Ich will gleich im voraus erwähnen, dass auch der Fall mit der entführten Schildwache einfach mit dem Mantel der christlichen Liebe zugedeckt wurde. Wir waren ja auch in Brasilien, wo noch eine ganz andere als eine portugiesische Wirtschaft herrscht, und diese Beamten wussten doch, wen sie vor sich hatten, und unsere Patronin ließ sich da doch nicht lumpen, die griff dann noch tief in den Beutel, um der ganzen Polizei von Para und einer Abteilung Soldaten einen Festtag zu machen.

So waren die beiden Vagabunden noch mit einem blauen Auge oder sogar gänzlich unbeschädigt aus dieser Affäre herausgekommen.

Eine Stunde später erschien auch Oskar an Bord, so lange hatte man gebraucht, um ihn wach zu bekommen, und er legte sich gleich wieder schlafen, mit dem besten Gewissen der Welt.

Nicht so einfach fasste August die Sache auf, auch nicht, als wir schon im Vertrauen den Bescheid erhalten hatten, dass absolut nichts nachkommen würde.

Während er mit verdoppeltem Eifer seiner Arbeit nachging, machte er nicht gerade ein niedergeschlagenes Gesicht — das hätte einem Bootsmanne doch gar nicht gestanden — aber doch ein recht finsteres, und es war auch schon auffallend, wie furchtbar er beim Deckwaschen mit dem Schlauche herumwürgte — und dann beobachtete ich ihn zufällig durch die offene Tür, wie er sich in seiner Kammer rasierte.

Er stand vor dem Spiegel, betrachtete sein Gesicht, das ihm grimmig entgegenblickte, und dann erscholl in seiner Kehle ein unbeschreiblicher Ton, kräftig spuckte er in den Spiegel, also in sein eigenes Antlitz.

»Sauhacksch!!«

Mehr sah und hörte ich nicht, ich machte schnell, dass ich weiter kam.

Ebenso dachte auch Klothilde über die beiden Übeltäter, sagte es ihnen dann auch — freilich mit einem Nachsatze.

»Kinders, Kinders«, sagte sie kopfschüttelnd, »geniert Ihr Euch denn nur gar nicht, Euch so in einem fremden Hafen zu betragen?! Das ist doch skandalös! Ich wollte ja gar nichts dagegen sagen, wenn Ihr mich wenigstens mitgenommen hättet, da hätte ich Euch noch etwas ganz anderes vorgemacht —«

Na, Klothilde sollte uns auch noch genug vormachen.

Hinzufügen will ich noch, dass der Inder uns dann auch noch das bandagierte Klavier zuschickte. Wir machten einen Karnickelstall daraus, wegen der Anaconda, die doch immer ab und zu einiger lebendigen Nahrung bedurfte. Am anderen Morgen stellte uns Kapitän Martin einen ihm gutbekannten Diamantenhändler vor.

Man muss in Brasilien einfach deshalb sehr vorsichtig mit Diamanten sein, weil die ganze Diamantensucherei, und was damit zusammenhängt, ein Regal der Regierung ist, man hat eigentlich gar nicht das Recht, einen besitzlosen Diamanten, den man findet, aufzuheben, man muss den Fund anzeigen, erhält nur eine Prämie. Man muss sich eigentlich über den rechtmäßigen Erwerb auch des kleinsten Diamanten am Fingerringe ausweisen können, und so kann man sich denken, in was für Verlegenheiten man wegen solch eines Monstrums kommen kann.

Auf die Verschwiegenheit des Mijnheer van Hoolen durften wir uns verlassen, so hatte uns Kapitän Martin versichert, ehe er ihn an Bord brachte und die Patronin ihren Schatz aus dem Panzerschranke hervorholte.

Der alte Holländer verzog keine Miene in seinem gelben Ledergesicht, als er das funkelnde Taubenei mit dem breiten Goldring nahm und es von allen Seiten betrachtete. Auch er hielt den Diamanten an die Zunge, dann aufmerksam die befeuchtete Stelle besehend.

»Ja«, sagte er dann, »ein phönizischer Diamant, wie ich ihn von solcher Größe und solcher Schönheit noch nie gesehen habe.«

Wir atmeten erleichtert auf. Wenn so etwas dieser alte, gewiefte Diamantenhändler sagte, dann war es ja gut!

»Ein phönizischer Diamant?«, wiederholten wir dann natürlich erst.

»Ein phönizischer Diamant!«, bestätigte jener. »Ist er Ihnen feil, Frau Patronin?«

»Was ist er wohl wert?«, flüsterte die ganz erregt. »Nun, fünfhundert Dollars würde ich Ihnen sofort zahlen.«

Natürlich glaubten wir nicht recht gehört zu haben. »Fünf — — hundert — — Dollars?!«

»Fünfhundert Dollars. Das ist aber schon ein Liebhaberpreis. Mehr zahlt Ihnen kein anderer Mensch für das Ding. Ich kenne einen Herrn, der phönizische Diamanten aus Liebhaberei sammelt. Ich glaube, dass ich bei dem noch ein kleines Geschäft damit machen werde, sonst zahlt Ihnen niemand fünfhundert Dollars dafür.«

Jetzt mussten wir wohl unseren Ohren trauen, aber man kann sich denken, wie wir aus allen Wolken gefallen waren.

»Ja — um Gottes willen — ein phönizischer Diamant — was ist denn das nur?!«

»Das wissen Sie nicht? Ja, sie sind selten, das stimmt, können wohl gar nicht mehr gemacht werden, das Geheimnis der Herstellung scheint auch in Indien verloren gegangen zu sein, aber es ist und bleibt doch nichts weiter als wertloses Glas —«

»Glas?! Dieser Diamant schneidet aber doch selbst das stärkste Glas wie Butter?!«

»Stimmt. Das ist eben das Geheimnis der Herstellung dieses Glases. In Indien weiß man oder wusste man dem Glasflusse einen besonderen Zusatz zu geben, der das Glas dann so diamanthart machte. Weil die Phönizier doch das Glas erfunden haben sollen, hat man diese Imitationen phönizische Diamanten genannt. Es ist noch nicht gelungen, das Geheimnis zu ergründen. Wertvoll sind ja diese Dinger, das stimmt. Fünfhundert Dollars sind aber auch ein recht hoher Preis für so eine Glasimitation. Sie haben dieses Ding für einen echten Diamanten gehalten? Haben Sie denn nicht gleich die Wasserprobe gemacht?«

»Wasserprobe?«

Der Holländer verlangte eine Schüssel mit Wasser, nahm aus einem Lederbeutelchen einen erbsengroßen Diamanten und warf ihn hinein.

»Das ist ein Diamant. Der bleibt auch unter Wasser ein Diamant, wenn er natürlich auch nicht dasselbe Feuer hat. Ich nehme ihn heraus — sofort brilliert er wieder, ich brauche ihn nicht erst abzutrocknen. Jetzt lege ich den Phönizier ins Wasser —«

Da war er eine glanzlose Glaskugel mit abgeschliffenen Flächen! Und diese Glanzlosigkeit blieb auch nach dem Herausnehmen, die Flächen mussten sorgfältig abgerieben werden, ehe das Funkeln wieder begann.

Wie uns zumute war, lässt sich denken, nicht beschreiben.

»Ich versichere Ihnen auf Ehrenwort, dass fünfhundert Dollars der höchste Preis ist, den ich zahlen kann. Überhaupt ist mir gar nicht so viel daran gelegen, das Ding zu kaufen, es ist ein großes Risiko, vielleicht werde ich es nicht für denselben Preis wieder los.«

»Aber erlauben Sie«, nahm ich das Wort, »da ist doch schon der breite, dicke Goldreif, eine ganze Platte, dieses Gold muss doch schon allein —«

»Gold? Das ist kein Gold.«

»Was?!«

»Das merke ich sofort an der Schwere. Das habe ich überhaupt gleich in den Fingerspitzen. Das ist — erlauben Sie einmal, dass ich etwas mit dem Federmesser ritze?«

Er tat es.

»Natürlich — das ist nur eine Bleischeibe — ganz schwach vergoldet. Jawohl, das Vergolden des Bleis, das ist auch so etwas Indisches.«

Mijnheer van Hoolen war gegangen, ohne sein Angebot erneuert zu haben.

Wir drei blickten uns noch immer an.

»Nun schlägt's aber dreizehn«, sagte Kapitän Martin endlich, »so ein spanischer Schuft!«

Da Kapitän Martin dies gesagt hatte, brauchten wir beiden anderen, die Patronin und ich, kein Wort mehr hinzuzufügen; wenn wir klug waren.

Ja, was sollten wir denn tun? Diesen Spaniolen nun etwa suchen? Unsere Ansprüche auf die Chinarinde jetzt noch geltend machen?

Bah, es hatte gar keinen Zweck, über so etwas noch zu sprechen. Wir hatten sieben herrliche Wochen auf der Sandbank im brasilianischen Urwald verlebt, hiermit konnten wir zufrieden sein, diese Fahrt war also doch nicht so ganz zwecklos gewesen.

Helene tat das Klügste, was jemand jetzt tun konnte — indem sie nämlich in ein herzliches Lachen ausbrach, an dem auch nicht etwa was Erkünsteltes war.

»Hahahaha, das ist ja köstlich, hat uns dieser spanische Prospektador mit einem Glasdiamanten angeschmiert! Nein, den verkaufe ich jetzt auch nicht mehr für tausend oder zehntausend Dollars, der soll mir eine liebe Erinnerung sein!«

*

28. Kapitel

Wir lassen uns chartern!

Originalseiten 668 — 689

So lachte Helene noch, und wir anderen beiden lachten jetzt auch mit, als der als Ordonnanz gehende Matrose eintrat und ein Briefchen für die Patronin brachte.

»Es ist ein Herr, der Sie durchaus sprechen will, wie noch viele andere, und als wir ihn nicht über das Laufbrett ließen, hat er schnell eine Karte geschrieben.«

Die Patronin erbrach das Kuvert und nahm eine Visitenkarte heraus.

Reginald J. Carlistle, St. Louis. Möchte Ihr Schiff chartern. Zu den annehmbarsten Bedingungen. Stelle volle Sicherheit. Bitte um Empfang.

So hatte Helene vorgelesen. Die Worte waren mit Bleistift gekritzelt.

»Unser Schiff chartern? Das ist wieder so ein Unternehmer, der mit uns Geschäfte machen will. Wie sieht er aus, Franz?«

»Nee, der sieht gar nicht wie so'n Manager aus!«, entgegnete der Matrose.

»Sondern?«

»Gerade wie'n Geisterkieker.«

»Geisterkieker?!«, lachte die Patronin

»Ja, gerade wie'n Geisterkieker.«

»Na da wollen wir mal den Geisterkieker empfangen.

Ich bin gerade in der Stimmung. Vielleicht bringt er uns als Sicherheit gleich ein paar phönizische Diamanten aus dem Geisterreiche mit.«

Zwei Minuten später trat der »Geisterkieker« ein. Ja, Franz hatte ganz recht gehabt, so sah er auch aus. »Abgezehrte, blasse Mienen, die den Tod zu rufen schienen!«, wie Wilhelm Busch singt.

Doch ich will ihn anders und näher beschreiben, den Mann, der einer der Unsrigen werden sollte, wenigstens so halb und halb.

Es war ein noch junger, schlanker, wohlgebauter Mann, das blasse, bartlose Gesicht durch und durch vergeistigt, etwas Schwermütiges darin — »wie das Leiden Christi!«, sagte einmal sehr richtig ein Matrose — blaue, ganz verträumte Augen, noch viel, viel Verträumter als die unseres Hämmerlein, und nun noch dazu die blonden Haare bis auf die Schultern fallend.

Bekleidet war er mit einem weißen Tropenanzug, statt der Uhrkette trug er um den Hals eine einfache schwarze Schnur, die im schwarzen Schärpengürtel endete, ganz einfache schwarze Lederstiefel, das heißt ohne Kappen und dergleichen, aber dennoch das feinste Schuhzeug, und da er doch sicher ein Nordamerikaner, ein Yankee war, so war sehr bemerkenswert, dass er keinen Diamantring trug; denn in Nordamerika muss jedes Dienstmädchen ihren Diamantring haben, in Amerika, fängt der Mensch überhaupt erst mit dem Diamantring an, ein wirklicher Mensch zu sein. Der hier trug gar keinen Ring, hatte dafür wunderbar schöne Hände, wirklich auffallend schöne Hände, die Fingernägel peinlich gepflegt. Es fiel auf.

Ein einfacher Mann! Nicht nur ein einfacher Gentleman. Machte einen ungemein sympathischen Eindruck. Den hätten wir sofort empfangen, wir brauchten ihn nur zu sehen.

»Carlistle!«, stellte er sich vor, in der Hand den waschlappigen Panama, den ich für so einen für tausend Dollars hielt. Wenn ich auch sonst nichts von Panamahüten verstand. Wenn aber der einen trug, dann hatte der auch einen wirklichen Panama, aus einem einzigen Palmenblatte, das an sich schon eine Kostbarkeit ist, innerhalb von vier Wochen nur des Nachts im Keller geflochten, der Boden unter Wasser stehend.

Die Patronin stellte uns vor.

»Bitte nehmen Sie Platz. Herr Kapitän Martin spricht für mich.«

Wir hatten uns gesetzt, der Herr steckte seinen Hut in die Rocktasche.

»Sie wollen uns mennedschen?«, begann der Wortführer sofort.

Der uns managen? Als Theaterdirektor? Als Impresario? Nee, da bewies Kapitän Martin keine besondere Menschenkenntnis, wenn er dem so was zutraute. Ebenso gut hätte ich mich als Lucinde von der Heilsarmee geeignet.

»Ich möchte dieses Schiff chartern.«

Chartern ist in der Seemannssprache ganz einfach mieten. Aber ein Schiff mieten oder pachten, das könnte ich niemals aussprechen.

»Chartern. So. Hm. Well. Wozu?«

»Gestatten Sie, dass ich Ihnen erst mitteile, wie ich hierher komme.«

»Well, bitte.«

»Schon vor einem Vierteljahre hörte ich in New York von Ihren Triumphen in Kapstadt. Ich las die Berichte wohl mit großem Interesse, dachte mir aber nichts weiter dabei. Dann hörte ich von Ihren Vorstellungen und Ihrem Siege im Wettrudern in Rio. Und da hatte ich plötzlich — plötzlich — eine — eine — Offenbarung.«

Das heißt, ohne jede Verlegenheit hatte er es gesagt. Er hatte nur den richtigen Ausdruck nicht gleich finden können. Von Schüchternheit war bei dem nichts zu merken. Ein vollendeter Weltmann, trotz der durchgeistigten Züge und der verträumten Augen.

»Was für eine Offenbarung?«

»Dass ich mich an Bord dieses Schiffes begeben soll.

Sofort führte ich meinen Entschluss aus. Ich erfuhr, dass Sie von Rio nach Para gegangen waren. Ich sofort nach Para. Die »Argos« war schon den Amazonenstrom hinaufgefahren. Ich trat mit Manaos in telegrafische Verbindung. Nach Manaos kamen Sie nicht. So habe ich Sie hier in Para zurückerwartet. Fast sieht es aus, als ob ich Sie leicht hätte verpassen können; denn ich hatte einen Abstecher ins Innere gemacht. Aber ich war meiner Sache sicher, und — ich habe Sie ja nun auch noch angetroffen.«

Es war etwas undeutlich, was der da berichtete.

»Well, und Sie wollen unser Schiff chartern?!«, blieb Kapitän Martin bei der Sache.

»Ja.« — »Wozu?«

»Um — das lässt sich nun freilich schwer erklären —«

»Zu kriegerischen Unternehmungen?«

War denn unser Kapitän heute ganz verrückt geworden? Der und kriegerische Unternehmungen! Na ja — ich musste wieder einmal an die Heilsarmee denken.

Aber im Grunde genommen fragte Kapitän Martin ganz sachlich.

»Ich möchte an Bord dieses Schiffes leben — nichts weiter.«

»So, nichts weiter. Hm. Wozu, muss ich aber da immer wieder fragen?«

»Weil — es ist schwer zu definieren — doch ich glaube, ich bin Personen gegenüber, die mich sofort verstehen werden — weil — wissen Sie, was jeder Mensch im Leben sucht? Jeder Mensch! Weshalb er lebt, weshalb er arbeitet, weshalb er strebt, weshalb er atmet?«

»Um sein Glück zu finden!«, sagte diesmal die Patronin.

»Um sein Glück zu finden!«, wiederholte Mister Carlistle bedachtsam. »Sie sagen es. Deshalb möchte ich an Bord dieses Schiffes leben.«

Es war bereits eine bedeutsame Unterhaltung geworden, mir auch nicht so ganz unverständlich.

»Kennen Sie uns denn schon näher?«, fragte jetzt die Patronin auch weiter.

»Näher? Nein.«

»Haben Sie von uns sonst noch nichts weiter gehört?«

»Nein; nur dass Sie alles, was Sie durch Ihre Vorstellungen einnehmen, den Armen überweisen.«

»Daraus schließen Sie auch sonst auf unseren Charakter?«

»Gewiss. Darf ich das nicht?«

Da hatte er ja auch ganz recht oder auch nicht. Die Patronin war einfach eine sehr reiche Dame, die sich so etwas leisten konnte, wie es ja auch in Wirklichkeit war.

»Sie sprachen doch vorhin von einer Offenbarung!«, fuhr sie fort.

»Ja.«

»Gestatten Sie mir eine offene Frage, Mister Carlistle?«

»Bitte, fragen Sie ganz offen, ich werde ebenso offen antworten.«

»Sie sind wohl Okkultist?« — »Ja.«

»Theosoph?« — »Ja.«

Na, so sah er ja auch aus. Was ein Okkultist und ein Theosoph ist, weiß, wohl jeder. So nennen sich die Anhänger einer christlich-buddhistischen Geheimwissenschaft, von der aber die andere Wissenschaft nichts wissen will. Mehr weiß ich davon selber nicht. In Amerika zählen diese Theosophen nach vielen Millionen, und die schlechtesten Menschen sind es nicht, das weiß ich auch. Vielleicht sind es kuriose Käuze, anderseits aber sind unter ihnen die reichsten und praktischsten Geschäftsleute. Dann weiß ich auch noch, dass alle diese Theosophen wohl an den Spiritismus als an eine Tatsache glauben, aber mit solchen Geistererscheinungen absolut nichts zu tun haben wollen! Das ist höchst bemerkenswert!

»Well«, fing da wieder Kapitän Martin an, der sich verdammt wenig um Geister und Theosophen kümmerte, »also Sie wollen unser Schiff chartern, um darauf zu leben. Well, was zahlen Sie?«

So schnell ging es aber doch nicht mit dem Geschäft, da mischte sich erst noch einmal die Patronin ein, und sie hatte auch ganz recht.

»Dazu brauchen Sie doch nicht gleich das ganze Schiff zu chartern!«, sagte sie. »Wenn ich Sie nun als meinen Gast einlade?«

Der junge Mann verneigte sich.

»Ich danke Ihnen herzlichst, Frau Patronin. Aber — ich möchte mit dieser Charterung des ganzen Schiffes gleich noch einen anderen Zweck verbinden.«

»Was für einen Zweck, wenn ich fragen darf?«

Das hatte natürlich die Patronin gesagt. Kapitän Martin hätte da nicht erst gefragt, ob er so etwas auch fragen dürfe.

»Ich möchte — etwas ergründen.«

»Was denn ergründen, wenn ich fragen darf?«

»Die Richtigkeit einer Theorie.«

»Wohl einer okkulten Theorie?«

»So ist es.«

»Well, was zahlen Sie dafür?«, fing Kapitän Martin wieder an, und dass er sich erst ein frisches Stück Kautabak abgebissen hatte, war ein gutes Zeichen.

»Ja, was kostet dieses Schiff pro Tag?«

»Well, da müssen wir erst wissen, was Sie eigentlich vorhaben. Eine okkulte Theorie ist für uns für mich eine Seifenblase, mit der ich verdammt wenig anzufangen weiß. Well, Mister Carlistle, nun sagen Sie mir, was Sie beabsichtigen. Dann sage ich Ihnen den Charterungspreis pro Tag, pro Woche und pro Monat — oder von Hafen zu Hafen; ohne Verbindlichkeit, dass wir darauf eingehen.«

»Gut, ich fasse mich kurz. Ich werde Ihnen sagen: fahren Sie dahin, fahren Sie dorthin — dann fahren Sie hin —«

»Nach dem Nordpol — nach dem Südpol. Nee, das ist gar zu kurz und bündig ausgedrückt. Da machen wir nicht mit.«

Der Spott hatte nicht im Tone, aber doch schon in den Worten gelegen. Der junge Mann blieb ungerührt.

»Und doch können Sie auf diese Bedingung eingehen. Indem ich diese Bestimmung immer nur für 24 Stunden gebe. Sie sollen das Recht haben, mir den Kontrakt jeden Tag kündigen zu können. Jeden Mittag, wollen wir sagen. Dann ist der Kontrakt sofort erloschen. Ich aber bin Ihnen auf 14 Tage verpflichtet. Auf 14 Tage sage ich, weil man doch in dieser Zeit mit einem Dampfer von überall aus einen Hafen erreicht. Ich verpflichte mich aber auch gern auf noch viel längere Zeit. Auf einen Monat, auf einige Monate. Ganz wie Sie bestimmen. Sie dagegen sollen ganz frei sein. Sobald Sie mir kündigen, ist der Kontrakt erloschen. Sie brauchen auch nicht einmal innerhalb der 24 Stunden dorthin zu segeln oder zu dampfen, wohin ich angebe. Nicht dort still zu liegen, wie ich gern möchte, wenn es Ihnen irgendwie nicht passt. Kann ich Ihnen annehmbarere Bedingungen stellen?«

Nein, das konnte er wirklich nicht!

Gut aber war es, dass sich jetzt die Patronin nicht weiter einmischte, sondern den Kapitän das Wort führen ließ.

»Well, hiermit wäre ich einverstanden. Und was zahlen Sie?«

»Bitte machen Sie die Berechnung.«

Solch eine Berechnung kann jeder machen, der ungefähr den Frachtpreis pro Tonne kennt. Der beträgt zum Beispiel von Liverpool nach New York pro Tonne ein Pfund Sterling. Ich nehme normale Verhältnisse an. Solch ein mittlerer Frachtdampfer braucht zur Reise zehn Tage, wollen wir annehmen. Also würde der Charterpreis pro Tag und pro Tonne zwei Mark betragen. Das würde bei unserem Schiffe von 5000 Tonnen Ladefähigkeit also pro Tag 10 000 Mark ausmachen.

So muss man rechnen, um sich wenigstens ein ungefähres Bild machen zu können.

Freilich ist da ja die Versicherung des Schiffes mit einbegriffen! Das ist es ja eben, was die Geschichte so teuer macht — scheinbar so teuer!

»Unser Schiff ist unversichert.«

»Das weiß ich, und darauf eben kommt es mir an.«

»Worauf kommt es Ihnen an?«

»Dass Ihr Schiff auch unter meiner Charterung unversichert bleibt.«

»Well, wie Sie wollen!«, ging Martin ohne weiteres hierauf ein. »Dann würde der Preis also pro Tag 2500 Dollars betragen. Dann aber mache ich Sie darauf aufmerksam, dass wir uns nicht auf große Risikos einlassen können.«

»Auf was für Risikos?«

»Dass wir etwa unbekannte Küsten aufsuchen oder unser Schiff sonstwie in irgendwelche Gefahr bringen. Das ist bei einem unversicherten Schiffe natürlich nicht möglich.«

»Das wäre zu umgehen.«

»Inwiefern?«

»Ich selbst versichere Ihr Schiff.«

»Ich denke, Sie wollen ein unversichertes Schiff haben?«

»Ich versichere es nicht bei einer Gesellschaft.«

»Sondern?«

»Wie hoch ist der Wert dieses Schiffes?«

»Frau Patronin?«

»Fünfmalhunderttausend Dollars!«, entgegnete diese ohne Zögern.

»Für diesen Preis könnte ich es kaufen?«

»Ja, wenn es verkäuflich wäre.«

»Mit allem, was sich darin befindet?«

»Wie es steht und liegt!«, drückte sich die Patronin nicht gerade seemännisch aus.

»So deponiere ich fünfmalhunderttausend Dollars für den Fall, dass das Schiff ganz verloren geht. Alle Reparaturkosten durch Havarie oder Bergungskosten oder sonstige Unkosten werden von dieser deponierten Summe abgezogen. Ist das nicht ganz einfach?«

»Well, das wäre ganz einfach!«, bestätigte wieder Kapitän Martin. »In diesem Falle würde der Charterungspreis natürlich viel geringer.«

»Wie hoch ist er dann?«

Nur wenige Augenblicke bedurfte der Kapitän der Überlegung.

Pro Tag 300 Dollars. Frau Patronin«, wären Sie hiermit einverstanden?«

Ei gewiss! Das konnte die sich auch schnell berechnen.

Unser Schiff erforderte nach der Durchschnittsberechnung also 26 000 Mark monatliche Unterhaltungskosten. 9000 Dollars sollten wir monatlich erhalten, das sind rund — da der Dollar doch etwas mehr als 4 Mark hat — 38 000 Mark. Blieben 13 000 Mark Überschuss. Da nun Millionen zu verzinsen waren, so war das ein Zinsfuß von 7,5 Prozent. Das ist im Seehandel eine nicht übermäßige Verzinsung des Kapitals, allerdings sehr reichlich, wenn es sich um ein so sicheres, risikoloses Geschäft handelt wie hier.

Kapitän Martin hatte also sofort das Richtige getroffen. Er hatte durchaus keine unverschämte Forderung gestellt, hatte aber auch das Interesse seiner Reederei, der Patronin, sehr gut gewahrt.

»Ja, damit bin ich einverstanden!«, entgegnete also Helene sofort, wenn die sich das wohl auch nicht so schnell berechnet hatte.

»Well, also 300 Dollars pro Tag, dann steht das ganze Schiff zu Ihrer Verfügung, wenn Sie als Sicherheit für Verlust, und Unfall 500 000 Dollars deponieren.«

»Einverstanden!«

»Ja, Sie, aber wir noch nicht. Ich sagte Ihnen doch, dass das erst Vorschläge sind ohne jede Verbindlichkeit. Die Entscheidung bleibt natürlich der Patronin überlassen.«

»Ich bin damit einverstanden!«, rief diese sofort.

»Sie wollen doch Bedenkzeit haben —«

»Ich brauche keine Bedenkzeit.«

»Well, dann wollen wir den Charterkontrakt gleich schriftlich formulieren.«

Und Kapitän Martin ging an den Schreibtisch, nahm einen großen Bogen mit dem Schiffsnamen her und begann flüchtig zu schreiben, die Worte dabei laut sprechend.

Es war wirklich ganz wunderbar, wie dieser Mann den Kontrakt aufsetzte, gleich in der Reinschrift, kurz und bündig, und dabei dennoch auch nicht das geringste vergessend. In zehn Minuten war es geschehen.

Ich gebe nur nochmals die Hauptsache wieder.

Also Mister Reginald J. Carlistle charterte die Hamburger »Argos« für täglich 300 Dollars, versicherte das Schiff gegen Verlust und Unfall mit 500 000 Dollars, die er an einer von der Reederei gewünschten Stelle bar zu deponieren hatte. Der Zinsgenuss gehörte natürlich ihm, sonst aber war das Geld bis zur Aufhebung des Kontaktes gesperrt. Der Charterer hatte über das Schiff gänzlich frei zu verfügen, sein Ziel zu bestimmen. Aber immer nur von Mittag zu Mittag. »Nach Greenwicher Zeit gerechnet, nicht wahr? Well, nach Greenwicher Mittag.« — Das galt für 14 Tage. Den Charterpreis für diese 14 Tage, also 4200 Dollars, hatte der Charterer im voraus zu zahlen. Der Reeder oder sein Stellvertreter hingegen konnte den Kontrakt jeden Mittag kündigen, war dann nur noch an 24 Stunden verpflichtet. Aber wenn dem Reeder eine Bestimmung in Bezug auf das Schiff nicht gefiel, so brauchte sie überhaupt gar nicht ausgeführt zu werden.

»Stimmt alles?«

»Ich bin mit allem einverstanden!«, entgegnete der junge Mann.

»Well, dann fehlt nur noch die Unterschrift, die auf dem Seemannsamt zu erfolgen hat.«

Ich merkte, wie verlegen die Patronin wurde, und ich wusste den Grund.

Es war ein höchst einseitiger Kontrakt. Alles zum Vorteil für den Reeder, für den Charterer gar nichts.

Aber es war sehr gut, dass die Patronin nicht mehr einsprach, alles ihrem Kapitän überließ, und das war ein tadelloser Ehrenmann.

Nicht etwa, dass er diesen jungen Mann mit den verträumten Augen übers Ohr gehauen hätte. Der Kapitän musste die Interessen seiner Reederei nach allen Kräften wahren, und solch eine Charterung ist doch überhaupt eine höchst eigentümliche Sache. Ein Schiff ist eben ein Schiff und kein Haus auf festem Boden. Und man kann sein Schiff doch nicht irgend einem wildfremden Menschen bedingungslos in die Hände geben. Wenn der nun Dynamit und Streichhölzer laden wollte! Oder ein Pilgerschiff daraus machen oder den Nordpol entdecken!

Nein, Kapitän Martin war ganz im Recht. Und der junge Mann musste uns eben vertrauen.

Noch will ich darauf aufmerksam machen, dass zu dieser Sache, wenn sie auf die Dauer durchgeführt werden sollte, wenn es sich nicht nur um eine Spekulation handelte, ein zehnfacher Mark-Millionär gehörte, der sein Geld mit vier Prozent angelegt hat. Solche gibt es in Amerika genug, die gehören noch lange nicht zur exklusiven Gesellschaft, da fängt der richtige Mensch erst mit hundert Millionen an.

Also, meine ich, etwas so Großartiges war es nicht etwa, was wir da arrangieren wollten, da kommen im Schiffswesen noch ganz andere Geldgeschäfte vor. Auf der See erblasst überhaupt alles, was man an Land großartig finden mag. Man denke nur daran, dass zum Beispiel auf einem großen Luxusdampfer zwischen Hamburg und New York eine einzige Staatskabine, allerdings aus mehreren Räumen bestehend, 16 000 Mark kostet! Wenn der Mieter sie erst in Southampton bezieht, was keine Preisverringerung mit sich bringt, so hat er nur noch fünf Tage Seefahrt, bezahlt also pro Tag 3000 Mark. Zwar kann er noch eine Person für diesen Preis mitnehmen, aber tut er es nicht, so verringert sich der Preis auch nicht, und er muss sich verpflichten, die zweite Person nicht gegen Bezahlung mitzunehmen. Und einen Diener hat er nicht einmal frei, nicht einen einzigen.

Also das sind Preise, die im Hotelleben an Land überhaupt ganz unmöglich sind; denn an Bord sind nicht einmal Getränke dabei.

»Ja, wenn Sie und die Frau Patronin damit einverstanden sind, so wollen wir zur Unterschrift aufs Seemannsamt gehen!«, sagte Mister Carlistle, schon wieder seinen zusammengewurstelten Panama aus der Rocktasche ziehend.

»Nein, so schnell geht das nicht!«, entgegnete Kapitän Martin, ein Bein übers andere schlagend. »Ich sagte nur, dass dieser Kontrakt nur noch unterschrieben zu werden brauchst, um gültig zu werden, was auf dem Seemannsamte zu erfolgen hat, mit notarieller Beglaubigung. Da ist vorher doch noch verschiedenes andere zu bedenken, was nur nicht in diesen formellen Kontrakt aufgenommen zu werden braucht, weil es mehr privater Natur ist, obgleich für uns wichtig genug, alles noch in Frage stellen könnend.«

»Bitte, sprechen Sie.«

»Bringen Sie Begleitung mit?«

»Nein.«

»Sie sind ganz allein?«

»Ganz allein.«

»Also auch keinen Diener?«

»Nein.«

»So müssen die Bedienung wir Ihnen stellen?«

»Ich bitte nur um eine Aufwartung, die täglich meine Kleider sauber hält.«

»Nichts weiter?«

»Nichts weiter. Rasieren tue ich mich selbst.«

»Wie ist es mit der Beköstigung? Die ist im Charterpreis eigentlich nicht mit eingeschlossen; wenigstens nicht, wenn sie ganz besonders sein muss zumal wenn es sich um kostspielige Getränke handelt.«

»Ich trinke nur Wasser; höchstens einmal Limonade.«

»Und die Speisen?«

Ich dachte schon, jetzt würde kommen: Ich lebe nur von Brot und Zwiebeln. Dann hätten wir ja unseren Prospektador wiedergehabt, nur in etwas verbesserter Auflage, gut gebunden mit Goldschnitt. Oder nein, ohne Goldschnitt, aber sauber und solid eingebunden.

»Ich bin Vegetarier, esse nur Gemüse und Brot, mache überhaupt gar keine Ansprüche.«

Na, etwas mehr als Zwiebeln war es doch geworden. Aber so ganz unrecht hatte ich doch nicht gehabt. Wie ein Vegetarier sah der ja auch ganz aus. Den konnte ich mir mit einem englisch gebratenen Beefsteak gar nicht vorstellen.

»Also Konservengemüse?

»Ja.«

»Mit diesen können wir Ihnen aufwarten, das darf ich hier im Namen der Patronin gleich sagen, mit solchen Kleinigkeiten wollen wir uns nicht weiter aufhalten. Hingegen wegen Ihrer Kabinen.«

»Ich bedarf nur einer einzigen, ich bin ganz anspruchslos.«

»O«, schaltete die Patronin ein, »wir haben Kabinen massenhaft zur Verfügung!«

»Dann ist es ja etwas anderes. Ich meine nur, dass Sie meinetwegen nicht etwa Umstände machen, und vor allen Dingen nicht etwa sich selbst beschränken. Das muss ich ernstlich bitten, sonst würde ich mich wirklich beschränkt fühlen.«

»Well«, nahm Kapitän Martin wieder das Wort, »die Kabinenfrage ist erledigt. Wen Sie vor sich haben, das wissen Sie doch, sonst wären Sie doch nicht erst zu uns gekommen, um — Ihr Glück zu finden.«

»Sehr richtig gesprochen!«

»Wollen Sie von hier Fracht mitnehmen?«

»Nein.«

»Gepäck?«

»Natürlich.«

»Sehr umfangreich?«

Ich musste lächeln. Hatte aber unrecht. Der Kapitän dachte an alles. Es konnte sich ja um Schmuggelwaren handeln, die der als Gepäck deklarierte, das ganze Schiff voll.

»Normal.«

»Well. Doch keine Explosivstoffe?«

»Nein.«

»Säuren?«

»Nur Wäsche und Kleider und was man sonst für eine Seereise braucht.«

»Well. Sie erkennen doch die Berechtigung dieser Fragen an?«

»Sehr wohl, Herr Kapitän.«

»Danke. Haben Sie sonst noch spezielle Wünsche?«

»Ja.«

»Bitte sprechen Sie.«

»Ich bin gewohnt, täglich drei Wannenbäder zu nehmen; früh, mittags und abends.«

Da hatte sich der Prospektador in germanischer Auflage allerdings ganz bedeutend verbessert. Doch das ist für Nordamerika nichts Neues. Die New Yorker Damen, die nicht wissen, wie sie Geld und Zeit totschlagen sollen, baden sich täglich bereits fünfmal vor jeder Mahlzeit.

»Das sind Nebensachen, die wir gar nicht — und doch! Frischwasser?«

»Nein, Seewasser. Höchstens, dass es, wenn es sehr kalt ist, etwas gewärmt wird.«

»Well, Sie würden Ihre eigene Badeeinrichtung haben, heißes Seewasser immer zu Ihrer Verfügung stehen, das Sie nach Belieben mischen. Sonst noch spezielle Wünsche?«

»Ja, Herr Kapitän, Frau Patronin — ich kenne das Bordleben — ich darf doch ganz offen sprechen?«

»Ganz offen und ungeniert.«

»Ich bitte, mir die Mahlzeiten in meiner Kabine zu servieren.«

»Wie Sie wünschen.«

»Aber nicht zu regelmäßigen Zeiten, sondern nur, wenn ich sie bestelle. Dann warte ich, bis man sie mir bringt.«

»Wie Sie wünschen.«

»Nun aber etwas, was ich nicht so leicht aussprechen würde, wenn es nicht gerade an Bord dieses Schiffes wäre, auf dem ich mich glücklich fühlen möchte, und Sie haben mir die Erlaubnis gegeben, ganz offen zu sein.«

»Bitte sprechen Sie.«

»So bitte ich, sich gar nicht um mich zu kümmern.« »Well. Niemand.«

»Ich bitte, mich nicht anzusprechen.«

»Niemand.«

»Frau Patronin, Sie verzeihen doch, es handelt sich dabei um —«

»Sicher, sicher — selbstverständlich, selbstverständlich!«

»Wenn ich es vielleicht einmal vergesse, Ihnen guten Morgen zu wünschen —«

»Haben Sie gar nicht nötig, ich verbitte mir sogar Ihren Guten-Morgen-Gruß!«, lächelte die Patronin.

»Dagegen möchte ich die Erlaubnis haben, andere anzusprechen, um etwa Fragen zu stellen.«

»Dürfen Sie!«, sagte diesmal wieder der Kapitän.

»In welchen Grenzen sich das zu bewegen hat, weiß ich.«

»Selbstverständlich.«

»Darf ich die Kommandobrücke betreten?«

Durch diese Frage verriet der junge Mann, dass er das Bordleben, und mehr noch, dass er die Bordroutine kannte!

Und ehe der Kapitän diese Frage beantwortete, überlegte er fast eine halbe Minute lang, was bei so etwas eine gar lange Zeit bedeutet. Und hierüber hatte auch er allein als Kapitän zu entscheiden, da hatte die Patronin gar nichts einzureden, er hätte auch ihr das Betreten der Kommandobrücke verbieten können, und wenn sie auch Königin und Kaiserin gewesen wäre, oder er hätte sofort oder an See im nächsten Hafen sein Kommando niedergelegt. Andernfalls wäre es von allen anderen Kapitänen, an deren Hochachtung ihm gelegen, fernerhin als verächtlicher Mensch gemieden worden.

»Ja, Sie dürfen die Kommandobrücke betreten«, entgegnete nach dieser halben Minute Kapitän Martin, »aber mit Ausnahmen. Sie dürfen die Brücke betreten und sich darauf aufhalten, wenn ich nicht auf der Brücke bin oder wenn ich eine gewöhnliche Mütze trage. Sie dürfen die Brücke nicht betreten oder müssen sie sofort verlassen, sobald ich die Kapitänsmütze mit einem Goldstreifen aufhabe oder aufsetze. Verstehen Sie, Mister Carlistle?«

»Sehr wohl, Herr Kapitän.«

»Und da gibt es in diesem Falle nicht ein Sich-beleidigt-fühlen?«

»O nein, Herr Kapitän.«

»Denn ich will nicht etwa einen Menschen kränken.

Ich mag keinen Hund kränken. Wenn ich einmal eine gewöhnliche Kopfbedeckung mit der Schiffermütze vertausche, Sie dadurch also von der Kommandobrücke fortweise, so hat das schon einen bestimmten Grund.«

»Ganz sicher, Herr Kapitän. Ich danke Ihnen.«

»Sonst noch etwas, Sir?«

»Haben Sie Taucher an Bord?«

»Zwei Taucherapparate.«

»Vollständig funktionierend?«

»Selbstverständlich, sonst gehörten sie doch ins alte Eisen.«

»Auch Leute, welche tauchen können?«

»Ich glaube, es sind vier vorhanden, in deren Militärpass steht, dass sie als Taucher ausgebildet sind. Nicht wahr, Frau Patronin?«

»Sogar fünf. Sie wollen tauchen lassen, Sir?«

Der Kapitän hätte diese Frage sicher niemals gestellt, bei der Patronin war das etwas anderes.

»Ja — vielleicht —« erklang es einmal etwas zögernd.

Helene wollte wohl noch weiter fragen, verschluckte es aber.

»Die Gebühren für das Tauchen haben nach internationalem Reglement natürlich Sie zu zahlen!«, sagte der Kapitän nur noch, und dazu war er allerdings berechtigt.

»Selbstverständlich.«

»Sonst noch etwas, Sir?«

»Nicht dass ich jetzt wüsste.«

»Well, dann handelte es sich, ehe wir den Kontrakt unterschreiben, wenn wir es überhaupt tun, nur noch um die 500 000 Dollars, die Sie zu deponieren haben, und um die 4200 Dollars, die sofort für die ersten 14 Tage zu zahlen sind.«

»Ich bin sofort bereit dazu. Wollen wir gleich nach der Bank gehen?«

»Nach welcher Bank?«

»Nach der brasilianischen Zentralbank.«

»Hm. Dort möchte ich das Geld eigentlich nicht deponiert haben.«

»Ganz wie Sie bestimmen.«

»Sie können es von dort aus überweisen?«

»Jawohl. Sofort, telegrafisch.«

»Frau Patronin! Wollen Sie die halbe Million nach Ihrer Bank haben?«

»Es wäre mir das Liebste.«

»Also nach der New Yorker Bodenkredit-Bank.«

»Ganz wie Sie wünschen.«

»Hm. Mister Carlistle — jetzt gestatten Sie mir eine Frage — ich bin doch nicht etwa neugierig — aber man möchte doch ungefähr wissen, wer so ein Schiff chartert —«

»Kennen oder kannten Sie den amerikanischen Zeitungsverleger Josua Carlistle?«, fiel ihm der junge Mann ins Wort, und es war nur Höflichkeit.

Unser Kapitän bekam etwas große Augen.

»Der Gründer und Besitzer von fünf der größten amerikanischen Zeitungen?«

»Ja.«

»Der vor einem Jahre gestorben ist?«

»Leider.«

»Mit Hinterlassung von hundert Millionen Dollars?«

»So ungefähr.«

»Sie sind sein Sohn, als einziges Kind Universalerbe?«

»Bin ich. Reginald Carlistle.«

Also wir hatten einen hundertfachen Millionär vor uns, in Dollars, was man bei uns auch einen halben Milliardär nennt. Denn vergeudet hatte der von seiner Erbschaft noch nichts, wir sollten es später erfahren, es war sogar noch etwas mehr als eine halbe Milliarde, über welche der grasessende Jüngling verfügte.

»Well — Frau Patronin — nun haben Sie die letzte Entscheidung zu treffen, ob Sie zustimmen oder nicht.«

»Ja, ich stimme zu.«

Ich hatte schon ein »Halt!«, rufen wollen, um die Patronin erst noch einmal unter vier Augen vorzunehmen, tat es aber nicht, besann mich noch im letzten Augenblick.

Wir riskierten ja absolut nichts. Innerhalb von 24 Stunden konnten wir das Männchen, wenn uns irgend etwas nicht gefiel, ja gleich wieder fortschicken, und wenn er jetzt auch wie als Besitzer über das ganze Schiff verfügen und bestimmen konnte, so brauchten wir seinen Befehlen oder Wünschen ja nicht einmal nachzukommen. Das stand ja alles im Kontrakt.

Ich wäre als Charterer auf solche Bedingungen nun freilich nicht eingegangen. Aber wenn der damit zufrieden war — des Menschen Wille ist sein Himmelreich.

*

29. Kapitel

Der Sternkieker

Originalseiten 689 — 706

Jetzt begaben wir uns sofort an Land, als Kargo-Kapitän hatte auch ich den Charterkontrakt zu unterschreiben, in einer Stunde war alles abgemacht, auf dem Seemannsamt sowohl, wie auf der Bank. Wir drei gingen gleich wieder an Bord zurück, Mister Carlistle in sein Hotel, um mit seinem Gepäck nachzukommen.

Ich nahm die Leute vor, instruierte sie hauptsächlich darüber, dass sie sich um den Herrn gar nicht kümmern sollten, womöglich gar nicht nach ihm hinsehen. Die darüber verdutzten oder sogar schon finsteren Gesichter, dass wir uns von einem fremden Menschen hatten chartern lassen, klärten sich schnell wieder auf, als ich ihnen sagte, dass dieses neue Verhältnis an unserer bisherigen Lebensweise nicht das geringste ändere.

Eine halbe Stunde später kam Mister Carlistle in Begleitung dreier Dienstmänner, die sein ziemlich umfangreiches Gepäck trugen. Mit dem ersten Schritt an Deck war er Herr dieses Schiffes. Gerade deshalb aber kümmerte sich niemand weiter um ihn als Siddy, der als Chefsteward ihm seine Kabinen anwies, möglichst einsam gelegen, Salon, Schlafkabine und angrenzende Toilette mit eigener Badeeinrichtung, dann konnte er aber noch, wenn er wollte, alle angrenzenden Kabinen benutzen.

Wir drei Hauptpersonen saßen auf der Kommandobrücke, ohne uns weiter über das neue Verhältnis zu unterhalten, als Mister Carlistle wieder an Deck erschien und sofort zu uns heraufkam, was er durfte, da der Kapitän eine gewöhnliche Mütze trug, einen sogenannten Wolkenschieber, wie ich diese Kopfbedeckung zum Unterschiede zur Kapitänsmütze fernerhin nennen werde.

Der neue Herr trat gleich so auf, wie er es uns gesagt, indem er sich um uns beiden anderen gar nicht kümmerte, sich nur an den Kapitän wendete.

»Herr Kapitän?«

»Sir?«

Der halbe Milliardär zog an der schwarzen Schnur eine silberne Uhr aus dem Gürtel.

»Es ist jetzt zehn Minuten vor zwölf.«

»Der Kapitän warf einen Blick nach der Wanduhr im Kartenhaus, die immer nach der Ortszeit reguliert wurde.

»Well, nach amerikanischer Zonenzeit für Para.«

»Können Sie 12 Uhr 47 Minuten den Hafen verlassen?«

Das klang schon ganz, ganz merkwürdig!

»Nein, das kann ich nicht.«

»Bitte weshalb nicht?«

»Erstens kann man innerhalb einer Minute keinen Hafen verlassen —«

»Bitte, ich meine, ob Sie 12 Uhr 47 Minuten den ersten Befehl, das erste Kommando dazu geben können, das vertaute Schiff freizumachen?«

»Ja, das könnte ich wohl. Sie wollen in See?«

»Die Ebbe setzt erst halb drei ein, gegen Mittag ist die stärkste Flut mit Pororoca.«

»Können Sie gegen die Pororoca nicht angehen?«

»Bah, das werde ich mit diesem Schiffe wohl können.«

»Haben Sie noch etwas einzunehmen?«

»Nichts. Wir sind klar.«

»Wollen Sie also 12 Uhr 47 Minuten das erste Kommando dazu geben, das Schiff abzusetzen und dann in See zu stechen?«

»Well, wenn Sie es wollen.«

»Was wäre dieses erste Kommando, das Sie für dieses Manöver geben?«

»Klar bei den Trossen.«

»Wollen Sie also 12 Uhr 47 Minuten, möglichst pünktlich bis zur Sekunde, das Kommando geben: klar bei den Trossen?«

»Well, kann geschehen. Und wohin dann?«

»Das teile ich Ihnen erst mit, sobald wir den Äquator passieren, an den Sie also zuhalten wollen, in kürzester Linie, und dessen Passieren Sie mir rechtzeitig mitteilen wollen.«

»Well, Sir.«

»Danke, Herr Kapitän.«

Mister Carlistle verließ die Kommandobrücke, verschwand wieder im Kajüteneingang.

Wir blickten uns an.

»Was sollte das?«, meinte die Patronin.

Ja, da war gar nichts dazu zu meinen.

»Das ist eben so ein Okkultist«, sagte Kapitän Martin, »von dem ist nichts anderes zu erwarten. Durch und durch von Aberglauben verseucht.«

Der Kapitän hatte wohl das Richtige getroffen. Der Geisterseher, wie ich ihn gleich jetzt nennen will, hatte vielleicht so ein prophetisches Punktierbuch befragt, wann er den Anker lichten oder überhaupt aufbrechen solle — 12 Uhr 47 Minuten, hatte er herauspunktiert — und nun musste diese Zeit eingehalten werden, sonst konnte er sein Glück nicht finden, sonst ging's verkehrt.«

»Na, mag der kuriose Kauz seinen Willen haben!«, sagten wir alle drei, wenn auch jeder mit anderen Worten.

Es wurde Dampf aufgemacht, Feuer war unter den Kesseln immer gewesen, und bemerke ich noch, dass wir schon gestern noch 800 Tonnen Kohlen eingenommen hatten. Die Mannschaft aß schon eher zu Mittag, da es dann viel zu tun gab. Die Abmeldung bei der Hafenbehörde war bereits geschehen.

»Klar bei den Trossen!«, erscholl des Kapitäns Kommando, sobald der große Zeiger der Ortsuhr die 47. Minute nach 12 vollgemacht hatte.

Das Schiff wurde abgesetzt, mit Volldampf ging es zum Hafen und zur Bucht hinaus, der donnernden Pororoca direkt entgegen, die aber solch einem großen Kielschiffe wie dem unseren, nicht viel anhaben konnte, und Kapitän Martin wusste auch ohne Lotsen die gefährlichsten Stellen zu vermeiden, er brauchte sich auch nur nach den kleineren auf Reede verankerten Fahrzeugen zu richten.

Mister Carlistle ließ sich nicht an Deck blicken. Gegen vier Uhr beorderte er eine Mahlzeit, nahm ein kaltes Bad und sprach dann sehr mäßig den vorgesetzten vegetarischen Delikatessen zu. So ließ sich die Patronin in meiner Gegenwart von Siddy dann berichten, fragte den indischen Steward direkt darüber aus.

»Da wir ihn nicht über so etwas fragen dürfen«, sagte sie zu mir, »wie es ihm schmeckt, ob er nach etwas Besonderem Appetit hat, ob er sich wohl befindet, ob er etwas wünscht, so müssen wir ihn beobachten, um seinen Wünschen entgegenzukommen.«

Als um sechs Uhr die Nacht anbrach, erschien Mister Carlistle an Deck, hatte einen schwarzen, flachen Kasten unterm Arm, man vermutete einen Fotografenapparat.

Wir hatten unterdessen, da wir nach Nordosten gehalten, die Strömung des Amazonas schon hinter uns, die See war glatt wie ein Spiegel, und auch sonst eine windstille, herrliche Nacht mit vollem Sternenglanze.

Siddy brachte Mister Carlistle ein Tischchen und einen Stuhl nach.

»Wohin soll ich den Tisch setzen, Sir?«

»Irgend wohin, wo ich nicht im Wege bin.«

Das Tischchen kam vor dem Mittelmast zu stehen, so dass wir es von der Kommandobrücke aus sehen konnten.

Mister Carlistle zog aus der Brusttasche ein zusammengebrochenes, umfangreiches Schreibheft, und dem Kasten entnahm er einen Gegenstand, der einem Spiegel glich. Ich will überhaupt gleich sagen, dass es ein Hohlspiegel war von etwa 30 Zentimeter Durchmesser, wie man ihm zum Rasieren benutzte.

Aber der junge Mann wollte sich nicht rasieren, sondern der »Geisterkieker« verwandelte sich in einen »Sternkieker«. Er beobachtete darin die etwas vergrößert wiedergegebenen Sterne, über sich und an den verschiedensten Stellen des Horizontes, maß mit einem Zirkel ihre Abstände, und dann begann er in dem Hefte mit langen Zahlenreihen zu rechnen, wobei er auch wunderliche Figuren zog, die Felder mit Zahlen ausfüllend.

Also einfach ein Astrolog, der von den Sternen etwas erfahren wollte, aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Nachdem er sich schon als Okkultist und Theosoph zu erkennen gegeben hatte, war da auch gar nichts mehr Wunderliches dabei.

Die Astrologie, die Sterndeutekunst zu abergläubischen Zwecken, ist die Mutter unserer heutigen wissenschaftlichen Astronomie. Die heutigen Astronomen wären noch nicht so weit, wenn es nicht einst Astrologen gegeben hätte. Und die Entwicklung der Menschheit scheint sich in einem ewigen Kreislaufe zu drehen. Nachdem man die Astrologie einige Jahrhunderte als Aberglaube verlacht hat, beginnt man sie jetzt wieder ernst zu behandeln. Man soll in den Sternen wirklich das Geschick des Menschen und alle zukünftigen Ereignisse der ganzen Weltgeschichte lesen können, wenn man eben darin zu lesen versteht. So behaupten alle die, welche eben daran glauben. Solcher müssen schon gar viele sein, denn in England erscheinen bereits zwei astrologische Wochenblätter, von tüchtigen, sogar berühmten Astronomen, also Männern der wissenschaftlichen Himmelskunde, herausgegeben, und in Amerika zählen solche astronomische Blätter nach Tugenden, auch eine ganz neue astrologische Bibliothek ist schon wieder entstanden, und wie die Astrologie auch in anderen Ländern schon wieder Fuß fasst, das zeigen die Zeitungsannoncen, worin sich Astrologen empfehlen, sie wollen den Menschen aus den Sternen ihr Geschick offenbaren, Vergangenheit und noch mehr Zukunft, und das würden sie doch nicht tun, in immer größerem Maßstabe annoncieren, wenn sie nicht großen Zuspruch hätten.

Hiermit ist das Kapitel über Astrologie schon abgeschlossen. Der Leser wird davon nichts mehr zu hören bekommen. Ich selbst glaube nicht daran, hüte mich aber auch, darüber zu spotten. Ich habe kein Interesse daran, es kümmert mich nicht.

Nun will ich hier auch gleich erledigen, was es mit der Astrologie unseres Chartermeisters, des Mister Reginald Carlistle, für eine Bewandtnis hatte. Es ist auch nur Negatives was ich darüber zu berichten habe.

Der junge Mann ist gar lange Zeit bei uns an Bord gewesen, wenn auch mit Zwischenpausen. Die Argonauten durften ihn als einen der Ihrigen bezeichnen. Aber vertraut wurde er niemals mit uns. Am nahesten kam ich ihm. Die Sterne beobachtete er in seinem ganz primitiven Rasierspiegel jede Nacht, wenn es Sterne zu sehen gab, später schaffte er sich eine Gelegenheit, dass er sie bei schlechtem Wetter auch unter Deck beobachten konnte, durch ein Oberlicht. Er maß also mit einem Zirkel die Abstände verschiedener Sterne, trug Zahlen in die Felder von Figuren ein, rechnete Exempel aus. Er war kein besonderer Mathematiker, konnte nicht einmal mit Logarithmen rechnen, wollte es nicht lernen. Ich habe ihn bei seinen Rechnereien, die sich nur auf die vier Grundspezies erstreckten, vielfach unterstützt, dann später bat er um meine Hilfe. Eingeweiht hat er mich niemals in seine Geheimniskrämerei, und ich habe ihn auch niemals darüber befragt. Mit dem, was er da ausdiftelte, hatte er ja allerdings manchmal ganz wunderbare Erfolge, die an Zauberei zu grenzen schienen. Dann aber hatte er manchmal und ebenso oft gänzliche Misserfolge, so dass es also doch wohl nur auf einen Zufall hinauslief.

Ich habe am Spieltisch zu Monte Carlo einen Mann gesehen, der ein untrügliches System erfunden haben wollte, wie man unbedingt immer gewinnen musst. Ich habe gesehen, wie achtundzwanzigmal hintereinander die betreffende Farbe, die er gesetzt hatte, herauskam. Dann setzte er die Null und sie gewann. Dann nach einer längeren Pause besetzte er die Siebzehn, und die Siebzehn kam heraus. Dann setzte er sofort die Sechsunddreißig und sie gewann.

Dieser Mann hatte unbedingt das untrügliche System entdeckt!

Alles staunte, war außer sich!

Nur die Spielbankbeamten lächelten.

Und sie lächelten mit Recht.

Am Abend desselben Tages noch hatte der Herr alles verspielt!

Das Glück hatte ihn verlassen. Es war eben nur einmal ein ganz besonderes Glück gewesen. Zufall, weiter nichts!

Seitdem lasse ich mir nicht mehr durch so etwas imponieren. Und wenn hundert Prophezeiungen hintereinander eintreffen — es ist ein Zufall, nichts weiter! Ich wenigstens denke nicht anders, grübele überhaupt nicht weiter darüber nach.

Seit dieser Zeit, gleich vom ersten Abend an, hieß der junge Herr, und das konnte gar nicht anders sein, bei der plattdeutschen Mannschaft natürlich nur noch der Sternkieker, die anderen nannten ihn hochdeutsch den Sternseher, und werde auch ich mich dieser Bezeichnung fernerhin bedienen.

Acht geschlagene Stunden, nämlich von sechs bis zwei Uhr nachts, kiekte der Sternseher in seinen Rasierspiegel, maß mit dem Zirkel und rechnete. Wir waren uns sofort darüber klar, dass wir einen Astrologen vor uns hatten, und, wie die Damen nun einmal sind, besonders die Patronin war natürlich gleich ganz weg, wollte sich mit mir durchaus in ein Gespräch über Astrologie einlassen, ob oder ob nicht.

Aber ich war dafür absolut nicht zu haben. Mochte sie auch deswegen etwas mit mir schmollen, das war mir in diesem Fall ganz egal. Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß. Bei Kapitän Martin hatte sie natürlich ebenfalls kein Glück. An Doktor Isidor fand sie einen Unterhalter, aber nicht lange, denn dieser Astronom hatte für eine derartige Sternenkunde nur blutige Witze. Dagegen kam sie dann bei Meister Hämmerlein an den Richtigen, der glaubte auch etwas daran. So unterhielten sich die beiden lang und breit über diese Geschichte, ich hörte es mit an, gebe aber davon kein Wörtchen wieder, kann es auch gar nicht, es ging bei mir zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, ohne dass ein Wörtchen davon bei mir im Gehirn verblieb.

»Bitte, Herr Kapitän, wie weit sind wir noch vom Äquator entfernt?«, rief der Sternenseher punkt Mitternacht zur Kommandobrücke hinauf.

Aller vollen Stunde wurde eine geografische Ortsbestimmung bis zur Sekunde gemacht. Ich bemerke hierzu kurz für diejenigen Leser, denen so etwas außerhalb ihrer Interessensphäre liegt oder die es von der Schule her vergessen haben, dass ein Breitengrad vom anderen 15 geografische Meilen oder rund 111300 Meter entfernt liegt. Der Grad wird in 60 Minuten, die Minute in 60 Sekunden geteilt. Dasselbe gilt für die Längengrade oder Meridiane, nur dass die nach den Polen hin natürlich immer enger zusammenrücken. Nur direkt auf dem Äquator beträgt sein Ortsgrad 1,3 Quadratmeilen, eine Ortssekunde, indem man durchs 3600 dividiert, würde also ein Quadrat von 31 Meter Seitenlänge oder Durchmesser sein. Nach den Polen zu wird natürlich ein immer schmäleres Rechteck daraus, nur die Breite von 31 Meter bleibt immer.

Die geografische Ortsbestimmung nach der Sonne oder noch besser nach verschiedenen Sternbildern unter gleichzeitiger Zuhilfenahme des Mondes bietet auf dem Schiffe bei ruhiger See keine besondere Schwierigkeit, vorausgesetzt freilich, dass die vorzüglichsten astronomischen oder doch nautischen Instrumente in den Händen solcher geschulten Seeoffiziere sind, wie es bei uns der Fall war. Großes Übung gehört dazu. Besonders mein Freund Ernst hatte darin etwas los.

Man kann diese Bestimmung auch bis zur zehntel Sekunde machen, so dass also ein Quadrat oder doch Rechteck von drei Meter größter Breite herauskommt. Das ist aber nur an Land möglich, oder bei ganz, ganz still liegendem Schiffe, und das vermag überhaupt nur der wirkliche Astronom auszuführen.

Denn die Hauptsache bei diesen Ortsbestimmungen ist ja der Chronometer, der dann auch bis zur zehntel Sekunde genau mit der Greenwicher Sternwartenuhr übereinstimmen muss, die täglich bis zur hundertstel Sekunde justiert wird. So genau geht aber kein Schiffschronometer und keine andere durch Feder oder Gewicht getriebene Uhr. Aber der wirkliche Astronom brauchst gar keine Uhr. Unser Doktor Isidor bestimmte die Zeit bis zur zehntel Sekunde ganz genau nach dem Stande der Sterne durch das sogenannte Meridianfernrohr.

Mehr brauche ich hierüber nicht zu sagen, will nur noch erwähnen, dass ich mich in der Astronomie bedeutend weiter ausgebildet hatte, als es für einen Seeoffizier nötig ist, dass ich aber den Beobachtungen und Berechnungen, die Doktor Isidor mit seinem Meridianfernrohr ausführte, wie ein unwissendes Kind gegenüberstand. Sie sind schauerlich, diese Formeln, welche solche exakte Astronomen aufstellen und berechnen.

»Wir haben bei 12 Knoten noch zwei Stunden zu dampfen«, entgegnete Kapitän Martin zurück, »ich werde Sie rechtzeitig darauf aufmerksam machen, wenn wir uns der Linie nähern.«

»Ich werde sie Ihnen bis zu ein fünftel Sekunde oder bis zu sechs Meter genau mit Kreide über Deck ziehen!«, setzte Doktor Isidor noch hinzu, und nicht etwa spöttisch.

Halb zwei waren wir noch drei Seemeilen vom Äquator entfernt, die in einer Viertelstunde gemacht werden konnten.

»Der Längengrad spielt keine Rolle?«, fragte Kapitän Martin, nachdem er dies dem Sternseher, der nur zehn Schritt von der Kommandobrücke entfernt saß, zugerufen hatte.

»Nein, auf den Längengrad kommt es gar nicht an.« Die Minuten vergingen, das Schiff fuhr langsamer und langsamer, bis die Schraube ganz stoppte, bis sich das Schiff ganz ausgelaufen hatte, auch noch einen kleinen Schlag rückwärts ging.

Auf der Brücke wurden ununterbrochen Ortsbestimmungen gemacht, Doktor Isidor bewies sich wieder einmal als unübertrefflicher Meister — musste freilich auch ab und zu seinen Kognak hinter die Binde gießen.

»Jetzt — jetzt —« rief er da, »in diesem Augenblick geht die Äquatorlinie in einer Breite von sechs Metern über Ihren Tisch!«

Der Sterngucker rechnete eifrig noch eine Minute, dann erhob er sich.

»24 Grad 8 Minuten 35 Sekunden nördlicher Breite, 17 Grad 29 Minuten 11 Sekunden östlicher Länge!«, sagte er, während er die Treppe zur Kommandobrücke erstieg.

»Dort werden Sie etwas finden?«, fing die Patronin gleich an, obgleich ihr das Fragen verboten worden war.

»Ja, ein Wrack in einer von Tauchern leicht erreichbaren Tiefe!«, wurde aber Mister Carlistle jetzt gleich mitteilsam.

»Ah! Und was birgt dieses Wrack?«

»Das allerdings weiß ich noch nicht. Aber jedenfalls soll ich in dem Wrack etwas höchst Interessantes, etwas höchst Überraschendes finden.«

»Und das haben Sie in den Sternen gelesen?«, wurde die Patronin als Weib natürlich immer gespannter, ganz atemlos.

»Ja und nein. Ursprünglich habe ich es von einem Medium.«

»Von einem spiritistischen Medium?«

»Jawohl, von einem hellsehenden Mädchen, mit dem ich jahrelang experimentiert habe, von dessen Zuverlässigkeit betreffs des Hellsehens ich zahllose Beweise erhalten habe. Leider ist die junge Dame vor einem halben Jahre gestorben.«

»Ah, wie interessant!«, begann Helene immer mehr zu himmeln.

»Ja, und dass ich dieses Schiff chartern werde, dass auf diesem Schiffe meine zweite Lebensperiode beginnt, in der ich Wunderbares erleben soll, das hat dieses Medium ebenfalls vorausgesagt, und zwar schon vor zwei Jahren.«

»Ist nicht möglich! Aber da hat die ›Argos‹ doch noch gar nicht existiert!«

So rief die Patronin, aber in einem Tone, der sagte, dass sie gar nicht daran zweifelte, es also für recht wohl möglich hielte.

»So präzis bis zum Schiffsnamen hat sich das Medium allerdings nicht ausgedrückt, immer nur in Andeutungen, in Symbolen, Sie verstehen doch?«

»Jawohl, in Symbolen!«, wiederholte Doktor Isidor, wackelte mit den Ohren und schenkte sich ein Glas von der Pfirsichbowle ein, die wir uns hatten bereiten lassen. »Prosit, meine Herrschaften, es leben Sym, Pfirsich- und alle anderen Bowlen.«

»Jedenfalls«, fuhr der Sternseher unbeirrt und ungerührt fort, habe ich mit diesem Schiffe das Richtige gefunden; heute ist der 15. August, an diesem Tage sollte ich direkt auf dem Äquator die astrologische Berechnung machen, selbst das deutete das Medium stark an, dass diese Berechnung in der zweiten Nachtstunde des 15. August stattfinden würde, das ist denn auch geschehen, doch eigentlich ganz ohne mein Zutun, und nun bin ich fest überzeugt, dass ich am 10. September in der zweiten Nachmittagsstunde an der bezeichneten Stelle ein Schiffswrack mit geheimnisvollem Inhalte finden werde.«

»No, Sir«, ließ sich da Kapitän Martin vernehmen, der sich während dieser Zeit mit dem Federmesser ein Stück Kautabak abgeschnitten hatte und es jetzt behaglich in den Mund schob, »Sie werden am 10. September dieses Jahres dort kein Schiffswrack finden.

»Weshalb denn nicht?!«, wandte sich Mister Carlistle erstaunt an den Kapitän, und wir anderen staunten ob dieser sicheren Verneinung nicht minder.

»Mit diesem Schiffe wenigstens werden Sie bis zum 10. nächsten Monats nicht hinkommen.«

»Ja warum denn nur nicht?!«, sprachen auch wir anderen es jetzt erstaunt aus.

Wir befanden uns jetzt ungefähr auf dem 50. Grad westlicher Länge, auf dem 17. Grad östlicher Länge sollte jener Punkt liegen, das waren etwa tausend geografische Meilen, die kleine Abweichung nach Norden kam dabei gar nicht in Betracht — na, und die machten wir doch in den drei Wochen, selbst wenn unser Schiff als Dampfer wie eine Schnecke kroch.

»Sie rechnen doch nach Greenwich?«

»Selbstverständlich, nach Greenwicher Länge.«

»Und auf welchem Längengrade soll der Punkt liegen?«

»Auf dem 17. Grade östlicher Länge.«

»Na, dann kommen Sie ganz einfach deshalb nicht bis zum 10. September und auch nicht in vier Wochen hin, weil der 17. Grad östlicher Länge mitten durch Afrika geht, beim 24. Grad nördlicher Breite dürfte das Zentrum der Sahara in Betracht kommen. Wir können ja gleich einmal nachsehen.«

Ich schlug mich gleich direkt vor die Stirn, und Doktor Isidor wackelte diesmal wirklich wie ein Esel mit seinen großen Ohren.

Unsereiner hat doch so viel mit Längen- und Breitengraden zu tun, hat daher das ganze über die Erde gespannte Liniennetz im Kopfe, immer vor Augen. Aber so geht's! Musste uns das passieren!

Ja selbstverständlich der 17. Grad östlicher Länge tritt bei Tripolis ein und kommt bei Kapstadt wieder heraus, wenigstens so ungefähr, halbiert jedenfalls ganz Afrika der Länge nach in zwei Teile!

Nur Kapitän Martin hatte es sofort erfasst, wir anderen »Klugen« waren wieder mal hineingefallen.

Der Kapitän war ins Kartenhaus gegangen, wir folgten ihm nach, er beugte sich schon über eine große Karte von Afrika.

»Hier ist der in Frage kommende Punkt!«, deutete er mit der Fingerspitze. »Gar so tief liegt er doch nicht, wie ich erst annahm. Der 24. Breitengrad geht noch durch das Reich Tripolis, durch Fessan. Aber immerhin, bis zum 10. September kommen Sie nicht hin. In 14 Tagen schnellster Fahrt will ich Sie bis nach Tripolis bringen, bis zum Hafen Tripolis. Dann aber müssen Sie sich einer Karawane anschließen, oder wenn Sie selbst auch noch so eilen, in weiteren 14 Tagen machen Sie diese Landtour nicht oder Sie müssen sich eines Luftschiffes oder einer Flugmaschine bedienen.«

Der Herr Sternkieker war natürlich ganz fassungslos, wie er auf die Karte blickte.

»Aber — aber — das Medium sprach doch ganz bestimmt von einem Schiffswrack, das ich dort finden soll?!«, brachte er mühsam hervor.

»Well, es ist gerade ein Gebirge, das in Betracht kommt, das Dschofragebirge — da mag es ja einen Gebirgssee geben, der mit Schiffen befahren wird, da mag also auch ein Wrack drinliegen.«

Der Kapitän hatte es ohne jeden Spott gesagt, solcher hatte aber doch in den Worten gelegen.

»Nur bis zum 10. September sind Sie nicht dort«, setzte er noch hinzu, »dafür könnte ich garantieren; denn ich glaube auch nicht, dass Sie mit einem Luftschiff oder einem Aeroplane dorthin gelangen.«

Der Sternkieker blickte auf sein Heft mit den Rechnereien.

»Halt, ich hab's!«, jubelte er da plötzlich auf, wie er noch nie gejubelt hatte. »Aaah, da ist mir ein Irrtum untergelaufen — ich habe die Venus als gerade Zahl behandelt — natürlich, natürlich, hier in dieses linke Feld muss sie gesetzt werden — also handelt es sich auch um den 17. Längengrad westlich von Greenwich.«

»Westlich von Greenwich?«, wiederholte der Kapitän. »Ja, Herr, das ist allerdings etwas anderes. Aber — warten Sie mal — ja, dort könnte allerdings eher das Wrack eines Seeschiffes liegen — aber tauchen können Sie auch nicht hinab.«

»Weshalb nicht?«

»Na sehen Sie doch her. Der bezeichnete Punkt liegt direkt hinter Kap Bojador. Also immer noch auf dem Lande, aber dort ist schon Düne, die mächtigste Düne der Erde. In diesem Dünensande kann ein altes Wrack vergraben liegen, das stimmt allerdings, und dort können Sie auch am 10. September sein.«

Der Irrtum war also beseitigt, und es kam auch kein anderer vor.

Hierbei sieht man aber auch, wie es mit solchen astrologischen Berechnungen beschaffen ist. Der junge Mann hatte einen Stern in ein verkehrtes Figurenfeld eingetragen, das brachte gleich einen Unterschied von zirka 600 geografischen Meilen hervor.

Freilich sollte man darüber nicht spotten. Einem wissenschaftlichen Astronomen kann doch dasselbe durch die falsche Stellung eines Kommas passieren.

»Frau Patronin«, wandte sich der Sternseher wieder an diese, »werden Sie mich auf Ihrem Schiffe nach Kap Bojador bringen?«

Na und ob Helene wollte!

»Es kann ja nicht weit von dort nach dem betreffenden Punkte sein, vielleicht nur ein Tagesmarsch — werden Sie Ihre Leute an der Ausgrabung des Wracks aus dem Sande teilnehmen lassen?«

Na und ob Helene wollte!

Allerdings hatte sie da nicht allein zu bestimmen, nichts zu befehlen.

Matrosen und Heizer sind durchaus nicht verpflichtet, einen Tagesmarsch von der Küste entfernt im Sande zu paddeln.

Aber selbstverständlich machten wir da alle mit. Und das Sandschaufeln hatten wir ja nun schon gelernt, hatten auch genug Schaufeln an Bord, im brasilianischen Urwald selbst gefertigt.

»Ja, wie ist es nur möglich, dass ein Medium so etwas bestimmen kann?!«

Der Sternkieker war bereit, nähere Auskunft zu geben, und jetzt fing zwischen dem und der Patronin die Geisterseherei erst richtig an, während ich es vorzog, mich in meine Klappe zu legen, an Bord Koje genannt.

*

30. Kapitel

Das erste Menschenleben, das ich mit Absicht vernichte

Originalseiten 706 — 730

Am 28. August sichteten wir die Küste Afrikas. Dreizehn Tage hatten wir gebraucht, weil wir meistenteils gesegelt waren. Während dieser Zeit hatten wir einen viertägigen, sehr schweren Sturm durchgemacht den jeder brave Kapitän eines Passagierdampfers ganz sicher seinen Kajütsgästen als den »fürchterlichsten Sturm, den ich je erlebt habe«, bezeichnet hätte. Denn zu dieser Behauptung ist jeder Passagierkapitän geradezu verpflichtet.

Aber tatsächlich, es war ein sehr schwerer Sturm gewesen, den wir überstanden hatten. Der erste in den nunmehr acht Monaten war es freilich nicht gewesen. Wir hatten doch nicht etwa immer schönes Wetter gehabt. Aber ich habe von solch einem Sturme noch nie gesprochen, werde es auch nie tun, es sei denn, es passiere etwas Besonderes dabei. Solch einen Sturm auf dem Meere kann man überhaupt gar nicht beschreiben, ich wenigstens verzichte darauf. Häuserhohe Wellen, von denen immer gefabelt wird, gibt es gar nicht — oder es sind dabei einstöckige Häuserchen gemeint — hingegen kann man sich von der furchtbaren Gewalt der Wogen gar keine Vorstellung machen, nicht, wie furchtbar so ein Schiff bockt — das kann man alles nur erleben.

Der Sternkieker war uns während dieser dreizehn Tage durchaus nicht näher gekommen.

Als ein wahres Glück empfand ich, dass die Patronin gleich am zweiten Tage von seinen theosophischen und spiritistischen Theorien die Nase voll bekommen hatte.

»Mir tut der Kopf weh, ich mag gar nichts mehr davon hören!«, sagte sie im Vertrauen zu mir. »Und wenn er dort auch im Sande das Wrack findet, und wenn er noch ein Dutzend solcher Bestimmungen macht, die sich als Prophezeiungen bewahrheiten — ich will es höchst interessant finden, ich will immer mitmachen, so lange es mir gefällt — aber an solches Geisterzeug glaube ich nicht, meinen Kopf lasse ich mir nicht verwirren, dass ich so schrecklich davon träume, wie es vorige Nacht der Fall war.«

Na Gott sei Dank! Helene hatte eben eine viel zu gesunde Natur, als dass sie sich auf so etwas einließ. Sie hatte andere Ideale. Aber ich atmete doch erleichtert auf.

Hingegen musste man dem Stern- und Geisterkieker auch die Ehre geben, dass er seine Theorien durchaus niemandem aufdrängte, was ja sonst bei solchen Geistern, wozu auch die Vegetarier und Temperenzler gehören, gewöhnlich der Fall ist. Wenn er nicht gefragt wurde, fing er von allein auch nicht davon an, und gefragt durfte er ja auch eigentlich gar nicht werden.

Dagegen durfte er selbst fragen, und das tat er denn auch reichlich, hatte dazu besonders mich ausersehen. Aber das waren nur Fragen betreffs unseres Schiffes und der Mannschaft.

Ich gab ihm willig über alles Auskunft, ließ ihn unseren Übungen zuschauen, auch wenn diese mit Bleigewichten ausgeführt wurden, ohne ihm sein Ehrenwort abzunehmen, nichts davon zu verraten, wenn ich ihm auch sagte, dass dies unser Geheimnis sei, und vorläufig bleiben möchte. Genau so hatte ich es auch mit dem Prospektador gehalten. Ich gebe in solchen Sachen nicht viel auf Schwüre und Ehrenworte. Wer da etwas verraten will, der tut es doch — und weiß sich hinterher auszureden, den Unschuldigen zu spielen.

Es kamen einige Zwischenfälle vor, die ich erwähnen muss.

Ganz außer sich wurde Mister Carlistle, als er zum ersten Male auf hoher See die Orgel spielen hörte. Er hatte sich doch schon vorher genug um unser Schiff gekümmert, hatte aber gar keine Ahnung von dieser Orgel gehabt. Und vollends überwältigt wurde er dann von unserem Oratorium.

Die nächste Folge war, dass er zur Patronin ging und ihr das ganze Schiff gleich abkaufen wollte.

»Fordern Sie dafür, was Sie wollen! Dieses Schiff muss unbedingt mir gehören!«

Helene wusste ihm eine sehr hübsche, originelle Antwort zu geben.

Sie fragte telefonisch die Kommandobrücke an, auf welchem Längengrade sich das Schiff gegenwärtig befände.

Ungefähr auf dem 40.

»Wohl, und jetzt ist es nach Ortszeit zwei Uhr nachmittags. In Greenwich ist es aber erst 40 Minuten vor 12 Uhr mittags. Mister Carlistle — zwei Uhr 40 Minuten, sobald es in Greenwich Mittag ist, kündige ich Ihnen den Charterkontrakt — wenn Sie noch ein einziges Mal mir solch einen Vorschlag machen!«

Da war er stumm.

»Nein, das Schiff ist mir unverkäuflich«, fuhr Helene dann sanfter fort, »unverkäuflich, auch für hundert Millionen Dollars. Und was wollen Sie denn überhaupt? Kann ich Ihnen denn etwa auch die Mannschaft mitverkaufen? Sind denn das etwa meine Sklaven, selbst der Seele nach? Sie würden doch nur ein totes Schiff kaufen, doch niemals die ›Argos‹ mit den Argonauten.«

Er stellte niemals wieder solch einen Antrag.

Bald daran kam Ernst zu mir, suchte mich als Freund auf.

»Sieh mal, Georg, hier hat mir der Geisterkieker einen Scheck ausgeschrieben, nur die Summe nicht ausgefüllt, das soll ich selber tun, und dann das Geld unter die Leute verteilen. Wenn wir nun jetzt ein paar Millionen hineinschreiben?«

Ich nahm den Scheck und ließ sofort alle Mann antreten.

»So und so. Nehmt Ihr das an? Haltet eine Beratung ab, der ich nicht beiwohnen will.«

Schon nach fünf Minuten wurde ich wieder gerufen. »Nein, wir lassen uns nicht kaufen, wollen von dem und von keinem anderen etwas geschenkt haben, keinen Cent.«

Diesen Bescheid brachte ich ihm mit dem Scheck.

»Machen Sie so etwas nicht wieder, bitte.«

»Verzeihen Sie, es war nicht böse gemeint!«, murmelte er gedrückt. —

Am 28. August also sichteten wir die Küste von Afrika, und zwar die Strecke zwischen Kap Bojador und Kap Blanco, die allerdings 700 Kilometer lang ist.

Diese ganze Küstenstrecke zeigt die gewaltigste Dünenbildung der Erde. Hier tobt sich die Kraft des Atlantischen Ozeans am stärksten aus, bei Ebbe tritt das Meer auf dem ganz ebenen Strande meilenweit zurück, der feine Sand trocknet schnell, der meist herrschende Westwind, oft genug zum Sturm ausartend, treibt den Sand vor sich her, häuft ihn zur Düne an, bis zu einer Höhe von 200 Metern!

Freilich ist davon vom Meere aus nichts zu bemerken. Man sieht nur eine ebene Sandfläche, bei Ebbe also meilenlang, bei Flut immer noch kilometerbreit, die Küste erscheint immer noch ganz niedrig, weil das Aufsteigen eben ganz, ganz sanft erfolgt. Die Dünenbildung bemerkt man erst von der Landseite aus. Da erhebt sich die Sandkette plötzlich 200 Meter hoch und noch höher, indem dort hinten der Boden zum Teil noch tiefer liegt als das Meeresniveau.

O, was mögen in diesem Sande, ob er nun noch von Wasser bedeckt ist oder zeitweilig wird oder nicht, für Wracks vergraben liegen!

Denn jedes Schiff, das zwischen dem 2. und 20. nördlichen Breitengrade bei dem meist herrschenden Westwinde ruderlos wird, muss hier antreiben, und wie viele Segelschiffe mögen bei voller Manövrierfähigkeit nicht gegen den Weststurm ankommen können! Sie geraten auf Sand, an ein Wiederfreikommen ist gar nicht zu denken — und wenige Tage später ist von dem ganzen Schiffe keine Spur mehr zu sehen. Nur ein kleiner Leichenhügel wölbt sich darüber.

Denn nicht etwa dass das Wrack einsinkt, sondern der trockene Flugsand deckt es zu, das Hindernis gibt Veranlassung zur Bildung einer neuen Düne, deren Höhe aber auf der unendlichen Fläche gar nicht ins Auge fällt.

Nun lässt sich denken, wie diese Küste von den Schiffern gemieden wird. Es ist ja dort auch absolut nichts zu holen.

Das Gebiet zwischen Kap Bojador und Blanco, sich noch 500 Kilometer ins Innere erstreckend, bildet die spanische Kolonie Rio de Oro. Das heißt Goldfluss. Aber weder von einem Flusse, noch von Gold ist etwas zu bemerken. Dieser Name kommt auch von so einer Sage, wie das Dorado in Südamerika.

Spanien machte früher Ansprüche auf die ganze Sahara. Im Jahre 1887 trat es seine vermeintlichen Rechte gegen ein Butterbrot an Frankreich ab, wollte aber doch noch ein Stück Land als Eigentum wahren.

Es erhielt das Gebiet von Rio de Oro, 185 000 Quadratkilometer, mit dem einzigen Hafen an dieser Küste.

Das arme Spanien muss ganz und gar von Gott verlassen gewesen sein, dass es sich von Frankreich so schmählich übers Ohr hat hauen lassen!

Die dahinter liegenden Gebiete von Adrar, Tmarr und Igidi sind gar nicht so schlecht. Wohl ist auch dort alles Wüste, aber mit großen, herrlichen Oasen darin! Mit blühenden Städten von mehr als 10 000 Einwohnern Fleisch, Getreide und Früchte in Hülle und Fülle. Während im ganzen Gebiete von Rio de Oro vielleicht nicht ein einziger Grashalm gedeiht.

Nur dass es an der Küste einen Hafen hat. Das heißt eine Bucht, die einzige an der ganzen Küste, in die auch größere Schiffe ohne besondere Gefahr einlaufen können.

So legten die Spanier hier eine Kolonie an, bauten ein Fort, steckten 80 Soldaten hinein, wozu noch 50 eingeborene Arbeiter und Diener kamen. Also zusammen 130 Mann. Wir zählten genau 132. Nur Männer.

Diese »Stadt« heißt ebenfalls Rio de Oro. Ich werde sie fernerhin zum Unterschied zum ganzen Lande nur Oro nennen.

Nun liegen die 130 Mann hier im Sonnenbrande, brauchen Kohlen wie das tägliche Brot, um aus Seewasser trinkbares zu destillieren, und spinnen Trübsal. Ihr einziger Dienst besteht darin, dass sie das Feuer eines Leuchtturms unterhalten, welche Verpflichtung die Franzosen ihnen auch noch aufgehalst haben.

Wahrscheinlich oder sogar ganz sicher, haben die Spanier gehofft, den Handel aus den benachbarten Oasen über diesen Hafen zu leiten. Die Franzosen haben ihnen natürlich ein Schnippchen geschlagen. Die Waren gehen nach wie vor auf den alten Karawanenwegen durch französisches Gebiet nach Algier, jetzt wird bereits eine Eisenbahn durch die Wüste gebaut.

Wir hatten direkt auf Oro zugehalten. Schon befanden wir uns in einer weiten Bucht, ringsum von Sandwällen umgeben, vor uns erstreckte sich, obgleich Hochflut war, noch eine Sandstrecke von vier Kilometer Breite, dann sahen wir an der eigentlichen Küste einen Häuserbau, und bis dorthin war die Sandfläche kreuz und quer mit Wasserkanälen durchzogen.

Jedenfalls — oder es kann überhaupt gar nicht anders sein — ist der ursprünglich felsige Meeresgrund hier mit tiefen Spalten durchzogen, in die der Sand hineinpurzelt, so dass also immer freies Wasser bleibt. Bis sich auch diese unterseeischen Gebirgsschluchten und -Spalten einmal mit Sand ausgefüllt haben. Vielleicht aber gibt es dann schon keine Menschen mehr auf diesem Planeten.

An ein selbständiges Befahren dieser Wasserpassagen war nicht zu denken. Es war früh gegen neun Uhr, als wir die Lotsenflagge hissten. Sofort löste sich dort von dem Häusergerümpel ein kleines Dampfboot ab, näherte sich uns im Zickzack, manchmal auch die weitesten Bogen beschreibend, hatte uns erst in einer Stunde erreicht.

Es war ein arabischer Lotse mit arabischer Mannschaft zur Bedienung des kleinen Dampfers, die vier spanischen Offiziere gingen nur als Passagiere mit.

Der Hafen von Oro ist frei, also jedes Schiff kann ihn anlaufen, ohne besondere Erlaubnis, die Herren durften höchstens im Vertrauen fragen, was wir hier wollten. Nun eben eine Privatjacht, die einmal dieses weltverlassene Nest an der Westküste Afrikas besuchen wollte.

Also die vier Offiziere waren nur mitgekommen, um wieder einmal andere Menschen zu sehen; denn es war ja noch gar nicht gesagt, dass wir auch wirklich in den Hafen einlaufen wollten. Ach, wie die sich freuten, dass es Tatsache sein sollte! Aller zwei Monate kam ein spanisches Kriegsschiff an, so elend als möglich, das der Garnison Lebensmittel und Kohlen brachte — letztere also zur Destillation des Trinkwassers — und was sie sonst noch in ihrer Einsamkeit brauchten. Andere Schiffe waren hier ganz unbekannt. Und das Kriegsschiff war vor einem Monat hier gewesen, so dass man sich jetzt gerade in der Mitte dieser Periode befand.

Die Garnison bestand aus dem Kommandanten, sechs Offizieren, 14 Unteroffizieren und 59 Soldaten, von denen einer eine Fahne zu tragen hatte, sieben andere Flöten, Trompeten und Trommeln spielen mussten. Am liebsten wäre ja auch der Kommandant gleich mitgekommen, aber das verbot ihm doch seine Ehre, seine Würde, seine Verantwortung, und die zwei anderen Offiziere waren durch Dienst gebunden, wenn der auch nur im Reglement stand. Die vier freien Offiziere hatten also das Lotsenboot benutzt, nur um einmal andere Menschen zu sehen, falls wir doch nicht den Hafen angelaufen hätten. Zur Feier dieses Besuchs und Empfangs hatten sie sämtliche Orden und Ehrenzeichen angelegt, und nicht zu knapp, selbst der jüngste Leutnant, den ich stark im Verdacht hatte, dass er seinen Degen nicht mehr aus der Scheide ziehen konnte, weil er eingerostet war, denn es starrte alles vor Rost, hatte seine Heldenbrust mit wenigstens zwei Dutzend Orden gepanzert, und obgleich sie weiße, aber sehr schmutzige Tropenuniformen trugen, hatten sie doch vorn und hinten goldene oder vergoldete oder blankgeputzte Messingknöpfe reichlich daraufgenäht.

Das ist nun einmal spanisch. Der Gehalt, den sie bekommen, ist ja furchtbar kläglich — so werden sie mit Titeln und Orden entschädigt. Es braucht ja nicht alles Gold zu sein, was glänzt, und geschliffenes Glas funkelt auch.

Bei dieser Gelegenheit, bei der ersten Begrüßung, ereignete sich ein sehr trauriger Fall, der aber an Bord unseres Schiffes schon eine längere Einleitung gehabt hatte, jetzt machte er sich in seiner ganzen Schwere fühlbar, und ich bedaure fast, dass er trotzdem einer guten Portion Humors nicht entbehrte.

Der Matrose Albrecht — nicht zu verwechseln mit dem sangeskundigen Albert — hatte schon während dieser ganzen Reise Spuren von Geistesstörung gezeigt. Vielleicht hatte es auch schon auf der Sandbank im brasilianischen Urwald angefangen, wir hatten nur nicht darauf geachtet, uns damals nichts weiter dabei gedacht.

Dass Matrosen, besonders auf Kriegsschiffen, immer ein Stück Putzwolle in der Tasche haben und mit diesem bei jeder Gelegenheit über das Messing auf ihrer Putzstation fahren, habe ich ja schon erwähnt. Das kann leicht zur Leidenschaft werden, besonders in den Tropen. Es hängt mit dem bekannten und doch so rätselhaften Tropenkoller zusammen. Wenn in diesen heißen Gegenden besonders infolge von Überanstrengung im Gehirn solch eines Matrosen eine Schraube locker wird, so kann man sicher sein, dass er zuerst von der Putzmanie befallen wird. Er will immer putzen, putzen, putzen. In den gemäßigten Breiten, wenn es wieder kühler wird, verschwindet das fast immer wieder von selbst.

So war es auch mit unserem Albrecht. Der fing mit einem Male zu putzen an, auch was er nicht nötig hatte, konnte sich von dem Messing gar nicht wieder trennen, musste zehnmal zum Essen gerufen werden, von den gemeinschaftlichen Sportübungen schlich er sich fort, um sein geliebtes Messing mit Putzpomade einzusalben und darauf herumzureiben.

Na, schlimm war es nicht. Sonst ging er seiner Arbeit nach, stand ganz vernünftig Rede und Antwort. Er durfte sich an keinen anstrengenden Arbeiten und Übungen mehr beteiligen, musste vor allen Dingen der heißen Sonne aus dem Wege gehen, bekam eine besondere, leichte Diät. Dem allen fügte er sich ganz willig, wenn er nur sonst nach Herzenslust Messing putzen durfte.

Aber Doktor Isidor hatte sicher ganz recht, wenn er gerade diese Willigkeit, mit der er sich den ärztlichen Vorschriften fügte, für ein sehr böses Zeichen hielt. Der Mann war sich eben bewusst, dass bei ihm etwas im Kopfe nicht in Ordnung war, wollte geheilt sein, und er putzte dennoch weiter. Infolgedessen wurde er immer melancholischer.

Als nun die vier spanischen Offiziere noch an Deck standen, die erste zeremonielle Begrüßung erfolgte, putzte Albrecht gerade wieder das Messinggeländer der Kommandotreppe.

Mit einem Male kommt er herangeschlichen — schleicht wirklich auf den Zehenspitzen — in der linken Hand die offene Schachtel mit Putzpomade, in der rechten Hand den Lederlappen, taucht ihn in die Pomade und — — fängt der Kerl an, dem einen Offizier hinten am Rocke die goldenen Knöpfe zu putzen! Ganz heimlich, ganz vorsichtig, und dabei mit einem überaus zufriedenen und doch so pfiffigen Gesicht!

Noch stehe und starre ich — denn jetzt sehe ich doch den hellen Wahnsinn hervorbrechen — der Offizier merkt natürlich die Putzerei hinten an seinem Waffenrocke, er dreht sich schnell um — recht so, das kommt meinem Albrecht gerade gelegen, er spuckt kräftig auf einen der blitzenden Orden an der Heldenbrust, schmiert einen tüchtigen Flatschen Pomade nach und fängt an zu putzen.

Da merkten auch alle anderen, was mit dem armen Kerl los war.

»Albrecht ist toll geworden!«

Einige Matrosen sprangen herbei und wollten ihn fortziehen.

Da aber brach der Wahnsinn völlig los.

»Lasst mich, ich muss doch die Orden putzen —«

Mit diesen Worten riss er sich los, stürzte auf einen andern Offizier zu, klatschte dem gleich die ganze Pomadenschachtel gegen die Heldenbrust und begann sämtliche Orden gleichzeitig abzureiben.

Vier starke Matrosen gehörten dazu, um ihn zu überwältigen. So wurde er fortgeschleppt, unter Deck.

Und nun dieses schreckliche, jammernde Zetergeschrei!

»Lasst mich doch putzen, lasst mich doch putzen!«


Illustration

»Lasst mich, ich muss doch die Orden putzen!«,
schrie Albrecht erregt, und nur mit Aufwendung
aller Kraft vermochten ihn vier Matrosen von
den spanischen Offizieren hinwegzuzerren.


Er wurde in eine leere Kammer gesperrt, sollte erst festgebunden werden, da er doch offenbar einen Tobsuchtsanfall hatte, aber es war nicht nötig, er brauchte nur eine blinde Messingstange zu bekommen, so putzte er leidenschaftlich mit zufriedenem Gesicht.

Ich will gleich erledigen, was noch daraus geworden ist. Unheilbar geistesgestört, die Putzmanie blieb für immer, auch wenn wir später die Polargegenden aufsuchten. Zweimal versuchten wir, ihn in einer Irrenanstalt und in einer Privatklinik unterzubringen, das waren wir unserem Gewissen schuldig, aber sobald er von Bord kam oder nur merkte, dass er das Schiff verlassen sollte, fing er wie ein Kind zu weinen an.

Nun gut, so blieb er eben an Bord. Da konnte er Putzen nach Herzenslust. Und er tat nichts weiter mehr als Messing und Kupfer putzen. Das war sein Lebensglück, und was kann denn der Mensch mehr verlangen, als sein Glück zu finden. Und den anderen konnte es nur recht sein. Die brauchten an und unter Deck nichts mehr zu putzen. Und trotzdem glänzte und gleißte auf unserem Schiffe immer alles, was nur irgendwie blank zu putzen war. Die Offiziere wurden aufgeklärt und um Entschuldigung gebeten. Der eine freilich sah ja schön aus, die ganze Brust voll brauner Putzpomade. Es hatte nicht viel zu sagen. Er musste seinen Waffenrock ausziehen, meine Jungen nahmen ihn in Arbeit, trennten die Knöpfe und Litzen ab, wuschen ihn, und als wir nach einer Stunde in dem kleinen, aber vortrefflichen Hafen einliefen, stolzierte der Offizier wieder in einem schneeweißen Kittel herum, der sogar von den schmutziggrauen Hosen recht seltsam abstach, und seine Orden funkelten und strahlten großartiger denn zuvor, was auch seinen besonderen Grund hatte.

»Albrecht hädd see doch noch putzt!«, flüsterte mir ein Matrose im Vorbeigehen listig zu.

*

Ich schildere das Fort nicht weiter, und wie wir darin empfangen wurden. Jedenfalls mit spanischer Gastfreiheit und überhaupt wie von Leuten, die in ihrer Einsamkeit glücklich sind, einmal andere Menschen bewirten zu können.

Über das kärgliche Mittagsessen will ich nicht spotten, sie setzten uns das Beste vor, was sie hatten. Wir würden uns mit einer Abendmahlzeit an Bord revanchieren, die ganze Besatzung und Einwohnerschaft sollte von unserer Hülle und Fülle genießen, so lange wir hier lagen.

Auch in diese verlassene Station hatte sich schon die Kunde von dem Argonautenschiffe verirrt — es kamen doch Zeitungen her, wenn auch nur aller zwei Monate — das gab ja Stoff zur Unterhaltung genug, aber wegen des Zweckes unseres Hierseins wurden wir weder von dem liebenswürdigen Kommandanten, noch von den Offizieren mit einem Wörtchen befragt, das verbot der spanische Anstand.

Leider ließ ich mich nach dem Mittagsessen verleiten, das freundliche Angebot des Kommandanten anzunehmen, meine Siesta in einem seiner Zimmer auf dem Sofa abzuhalten.

Legionen von heißhungrigen Flöhen stürzten sich über mich her.

Und da hatte dieser Kerl, dieser liebenswürdige spanische Festungskommandant, auch noch die Unverschämtheit gehabt, mich einmal im Vertrauen zu fragen, ob wir denn bei den vielen Tieren an Bord nicht recht unter Flöhen zu leiden hätten!

Nein, das hatten wir ganz und gar nicht. Unser Schiff war immer gänzlich flohrein.

Das ist ja auch so ein Ideal, was überhaupt nur an Bord eines Schiffes zu erreichen ist. Säugetiere sind doch an Land niemals ganz flohrein zu halten, nicht der ästhetische Mops im Damenboudoir, einmal muss er doch auf die Straße, da erwischt er schon seinen Floh, auch im Garten, da sorgen wieder die Vögel dafür, bei Nacht die Fledermäuse, und auch auf der einsamsten Insel würde das Hausgeflügel das Ungeziefer wieder von anderen Vögeln bekommen.

Nur auf einem Schiffe ist solch eine Reinhaltung möglich. Das muss einmal erwähnt werden, und ich tu es mit Vorliebe, weil das Schiff eben mein Ideal ist, das ich verherrlichen möchte.

Wenn wir einen Hafen verließen, die Tiere brauchten gar nicht an Land gewesen zu sein, die Tauben waren eingesperrt gehalten worden, so zeigten sich ja stets einige Flöhe. Alle diese Hunde und Katzen und sonstigen Kreaturen waren dafür schon so empfindlich geworden, dass man es durch ihr Kratzen sofort merkte. Dann ging sofort die allgemeine Jagd los, unter der Leitung des jagdkundigen Juba Riata, der als ehemaliger Tierbändiger darin doch schon große Erfahrung hatte, und Doktor Isidor hatte diese Sache von jeher schon wissenschaftlich studiert und praktisch betrieben. Nach 24 Stunden war an Bord unseres Schiffes kein Floh mehr vorhanden, und kein fremder konnte mehr herankommen.

Hier aber durfte unsere Menagerie nicht an Land, so große Sehnsucht alle Tiere auch hatten. Das hätte ja sonst einen schönen Kampf gegeben. Ganz frei blieben sie ja doch nicht, dafür sorgten schon wir Menschen als Zwischenträger.

Ich musste dies einmal erwähnen. Wer nicht in den Tropen gewesen ist, der hat ja gar keine Ahnung von dieser schrecklichen Schmarotzerplage. In den besseren Hotels jener Gegenden bezahlt man nicht umsonst solche enorme Zimmerpreis. Die Konkurrenz würde bald billigere Preise schaffen; aber es ist gar nicht möglich, nur wegen der Flöhe und Wanzen nicht. Alle Polstermöbel müssen ständig mit scharfen Pulvern und Laugen behandelt werden, Teppiche werden gleich ausgekocht, da hält das Zeug natürlich nicht lange, es muss immer wieder durch neue Sachen ersetzt werden, und das ist es, was diese Hotelzimmer so furchtbar teuer macht! Das wissen nämlich die wenigsten der Hotelgäste. Sie sollen aber nur einmal etwa in Kairo in einem Zimmer schlafen, dessen Einrichtung seit drei Tagen nicht mit scharfer Lauge behandelt worden ist. Es ist im Bett gar nicht auszuhalten.

Es war gegen vier Uhr, als ich mich von dem beißenden Sofa verabschiedete. Ich befand mich in der zweiten Etage, und wie ich zum Fenster hinabblickte, sah ich unten im Forthof die Patronin mit Doktor Isidor im Gespräch mit einem Offizier stehen.

Die beiden waren klüger gewesen als ich, sie hatten wie der Kapitän ihre Siesta an Bord abgehalten; nur ich hatte mich von dem Kommandanten verleiten lassen, im Fort zu bleiben.

So war die Patronin also schon wieder zurück. Ich verließ mein Zimmer, fand auf dem Korridor nicht gleich die Treppe. Eine Tür führte mich auf einen Balkon, einen Altan mit hoher Brustwehr.

Auch hier war ein kleiner Hof, nur ein Winkel die Mauern hatten hier heraus keine Fenster, wohl nur dieser Altan war vorhanden.

»Tante, Tante!«, erklang es da im jammerndsten Tone. Unsere Ilse!

Ich beuge mich erschrocken über die Brüstung, da sehe ich dort unten unsere Ilse, die sich gegen einen Mann in arabischer Kleidung wehrt, aber sich natürlich nicht viel wehren kann.

Das Kind hatte auf eigene Faust eine Entdeckungsexkursion in der Umgebung des Forts gemacht, war von einem arabischen Diener oder Arbeiter — einem noch jungen Burschen — hier in diesen Winkel gelockt worden.

Im nächsten Moment stand ich auf der Brustwehr und jumpte hinab, ohne mir erst Rechenschaft darüber zu geben, ob ich mich parterre oder in der dritten Etage befand.

Es war also das zweite Stockwerk, ein höheres gab es überhaupt gar nicht, die Höhe von der Brustwehr bis zum Boden betrug — wie dann später gemessen wurde — genau neun Meter.

Glücklicherweise war es feiner, tiefer Sand, in den sich meine Füße gruben, sonst hätte mir ja etwas anderes passieren können.

Freilich sackte ich tüchtig zusammen, sonst aber auch weiter nichts.

In solchen Momenten funktioniert das Gehirn ganz anders, als bei normalen Verhältnissen, vor allen Dingen scheint sich die Zeit viel länger auszudehnen.

Vielleicht drei Sekunden nur mag ich zusammengebrochen am Boden gelegen haben, aber in diesen drei Sekunden sah ich ganz deutlich, wie Helene aus einer kleinen Tür trat, verwundert, das Kind hier zu finden, und mich daneben am Boden liegend. Gleichzeitig aber, und das war mir die Hauptsache, sah ich auch den Araber auf der anderen Seite durch einen Durchgang schlüpfen.

Und da war ich auch schon hinter ihm her.

Jenseits des Durchgangstunnels war die Fortmauer, umgeben vom Wüstensand.

Erst wollte er um die Mauer herum, besann sich, schlug einen Haken, setzte seine Flucht nach Osten fort, ich ihm nach, etwa fünfzig Meter hinter ihm.

Er trug kurze weiße Jacke und Pumphose und war barfuß. Ich trug Tropenanzug und Segeltuchschuhe. Den weißen Helm hatte ich verloren. Als einzige Waffe hatte ich einen schweren Nickfänger mit fünfzölliger Klinge bei mir.

Er blickte sich zum zweiten Male um und verdoppelte dann seinen Lauf.

Und da bemerkte ich, dass mir alles Training mit Bleigewichten nichts genützt hatte, nicht für diesen Fall. Der Araber war schneller als ich, die Entfernung zwischen uns vergrößerte sich, obgleich ich in dieser ersten Minute meine ganze Schnelligkeit aufgeboten hatte.

Da aber überkam mich etwas.

»Dich muss ich haben!«

Nur mit diesen vier Worten kann ich ausdrücken, was mich überkam. Ich bin nicht sehr für Rache.

Ich kann einem Feinde verzeihen. Lieben kann ich ihn nicht, aber verzeihen kann ich ihm.

Wenn ich bei passender Gelegenheit jemanden, der mich anrempelt oder anrüpelt, eine hineinhaue, so ist das etwas ganz anderes.

Aber das Gefühl des Hasses, der Rachsucht ist mir fremd.

Mich hat einmal ein Mann sehr beleidigt, fürchterlich beleidigt, gekränkt, mir das bitterste Weh zugefügt, mit dem ich jahrelang ringen musste. Ich hätte den Mann vernichten können, durch richterlichen Spruch, aber ich tat es nicht, weil mir seine Familie leid tat. Als dieser Mann dann ins Elend kam, da habe ich seiner Familie geholfen, obgleich ich sonst gar keinen Grund dazu hatte. Ich tat's, eben weil es mein Feind gewesen war, der mir unschuldig das bitterste Weh zugefügt hatte!

Das darf ich hier berichten; denn von einem besonderen Edelmut ist da gar keine Rede. Wäre das der Fall, dann allerdings dürfte ich's nicht erzählen oder ich wäre ein heuchlerischer Lump. Ich tat's, weil ich nicht anders konnte; ich bin eben ein guter Kerl. Das darf ich ungeniert sagen: aber von einer besonderen Tugend ist da gar keine Rede, ebenso wenig aber darf man auch an eine Schwäche glauben.

Nein, Rache kenne ich nicht.

Aber hier lag etwas ganz anderes vor.

»Warte nur, mein Junge, Dich kriege ich — Dich Buben soll die Sonne nicht lange mehr bescheinen!«

Es brauchte kein Ausrufungszeichen dahinter.

Ganz gelassen sprach ich es zu mir, und sprach es fort und fort.

Und so ballte ich die Fäuste, stemmte die Ellenbogen in die Hüften und fiel aus dem schnellsten Rennen in einen gemäßigten, aber immer noch schnell fördernden Dauerlauf.

Schnell vergrößerte sich die Entfernung zwischen uns. Zum vierten Male blickte der vor mir dahinrasende Araber, dem ich nicht folgen konnte, und fiel ebenfalls in einen Hundetrab.

Ha, ich ihm nicht folgen können!

Aber immer, glaube es nur.

Du oder ich!

Doch nein, gar kein oder.

Nur Du, nur Du!!

Ich will ihn kurz schildern, diesen Dauerlauf um Leben und Tod durch die Wüste, welcher — vier Stunden währte!

Vier ganze Stunden und vielleicht noch zehn Minuten dazu!

Ziemlich genau um vier Uhr muss es gewesen sein, als ich von der Brüstung herabsprang.

Als die Sonne unter dem Horizont verschwand, nach kurzer Dämmerung sternfunkelnd die Nacht anbrach, hatten wir einen kleinen See erreicht.

Die Sonne sank in dieser Gegend am heutigen Datum nach Ortszeit 6 Uhr 42 Minuten unter den Horizont, bis zur letzten Scheibe.

Dieser Wüstensand war vom Fort Rio de Oro aus, wie später berechnet wurde, genau 62,57 Kilometer entfernt, in der Luftlinie.

Der Weltrekord des sogenannten Marathon betrug 40 Kilometer, steht heute auf 2 Stunden 36 Sekunden, aufgestellt in Stockholm von dem englischen Südafrikaner Mac Arthur.

Ich habe damals an der Westküste der Sahara diesen Weltrekord noch weit, weit übertroffen; denn wir werden doch nicht immer die direkte Luftlinie gerannt sein.

Und jenem arabischen Jüngling gebührt ebenfalls die Ehre, diesen Weltrekord schon früher übertroffen zu haben.

Aber wir haben damals keine Zeugen und keine Schiedsrichter mit Stechuhren gehabt, unser Marathon-Lauf ist in keinem Sportkalender registriert worden.

Nur die Sonne und die Sterne haben uns kontrolliert! O, was waren das für vier Stunden!

Was habe ich in diesen vier Stunden alles gedacht und gedacht und gedacht!

Und in welch seltsamer Verfassung ich mich überhaupt befand.

Schon die ersten beiden Stunden, als die afrikanische Wüstensonne noch mit versengenden Strahlen brannte.

Mein Gaumen war Feuer und mein Hirn war Glut, und in meinen Adern rollte siedendes Blei — — aber mein Herz war kalt wie Eis.

Und mein glühendes Hirn fing zu phantasieren an: Ich bin der rächende Todesengel, und ich will Dein Blut schlürfen, schlürfen, schlürfen!! Und mag es auch glühendes Blei, wie das meine sein, es soll mir dennoch ein kühlender Labetrunk dünken.

So sprach mein glühendes Hirn. Aber gleichzeitig auch sprach mein eiskaltes Herz:

Bube, Ruhe, Georg, nur immer Ruhe — lass Dich nicht aus diesem Hundetrab bringen — auf diese Weise entgeht er Dir nimmer.

So führten Hirn und Herz ein Wechselgespräch, fort und fort.

Und was ich in dieser Zeit nun sonst noch alles erlebt habe!

O, wie wir beide zusammen gespielt haben!

Oder ich nur mit ihm.

Ein amüsantes Spiel.

Das Spiel der Katze mit der Maus?

Nein, das wäre noch lange kein Vergleich.

Ich habe einmal eine Schlange beobachtet, eine ägyptische Aeskulapviper, die im geschlossenen Raume auf glattem Boden eine Maus verfolgte, nicht hungrig, aber noch beutelustig. Wie die mit der Maus spielte! Wenn sich das arme Mäuslein ergebungsvoll in sein Schicksal ergab, sich duckte, dann blieb auch die Schlange ruhig liegen, und schoss das Mäuslein wieder davon, dann war auch die Schlange wieder hinter ihm her, immer im Kreise herum, und kürzer und kürzer ward die Entfernung zwischen den beiden.

So war es auch hier. Kürzer und kürzer wurde die Entfernung zwischen uns. Aber nicht nach und nach, immer ruckweise. Meiner Maus begann nicht der Atem, sondern nur die Kraft langsam zu versagen. Manchmal raffte sie diese Kraft wieder zusammen, schoss davon. Ich blieb in meinem gleichmäßigen Laufschritt. Und wenn der Maus die Kraft wieder ausging, dann war ihr die Schlange wieder einige Meter näher. So waren aus dem ursprünglichen Abstand von 50 Metern jetzt nur noch 30 geworden.

Da also, als die Sonne sank, die Nacht anbrach erreichten wir den kleinen See.

Was sage ich? Ein kleiner See? Nur eine Wasserlache im Sande war es. Ihr Umfang oder der Weg, den wir dann immer um sie herum machten, betrug genau, wie später gemessen wurde, 64 Meter. Nur die perspektivische Täuschung der Wüste, die untergehende Sonne hinter mir, hatte die Wasserlache erst so groß erscheinen lassen.

Die Maus rannte um das Wasser herum. Also hatten wir es genau zwischen uns. Die Maus auf der einen Seite, die Schlange auf der anderen Seite. Und so rannte der Araber immer wieder um den kleinen Teich herum.

Wohl, mir war es recht! Als ich zum dritten Male den Teich umrannt hatte, begann ich zu zählen.

Es war eine fürchterliche Höllenpein für mein glühendes Hirn, dieses Zählen, aber eine wahre Himmelsfreude für mein kaltes Herz.

Bis 337 habe ich gezählt.

Dreihundertundsiebenunddreißig Mal habe ich den Jüngling um den Teich gejagt, innerhalb von anderthalb Stunden!

Da aber hatten wir längst nicht mehr das Wasser direkt zwischen uns, da war ich keine zehn Meter von ihm entfernt!

Immer wieder raffte er noch einmal seine letzte Kraft zusammen, schoss schnell vorwärts — ich im gleichmäßigen Laufschritt, die Ellenbogen in die Hüften gestemmt, hinter ihm her — und in der nächsten Minute, wenn er seine Kraft erschöpft, war ich ihm wiederum einen Meter näher gerückt!

So ging es fort und fort um den Teich herum, und über uns funkelten die Sterne.

»Ruhe, Georg, nur immer Ruhe — falle nicht in schnelleren Lauf — auf diese Weise entgeht er Dir nimmer!«

Da wendete er wieder einmal den Kopf, um mir sein verzweifeltes Gesicht zu zeigen.

Jawohl, ich wusste schon.

Der probierte es nicht erst, stehen zu bleiben, sich auf die Knie zu werfen und um Erbarmen zu flehen.

Der wusste, wie zwecklos das gewesen wäre.

Wenn er zurück blickte, musste er doch auch mein Gesicht sehen, musste darin lesen können, so schwach der Sternenschein auch sein mochte.

Dort war es die furchtbare Todesangst, die solch eine Leistung der Kraft und Ausdauer entwickelte — und hinter der Todesangst her die gebändigte Wut!

Da plötzlich, wie ich ihn zum dreihundertundsiebenunddreißigsten Male um den Teich jagte, vielleicht noch sechs Meter von ihm entfernt, stieß er einen Schrei aus, den ersten, den er hören ließ und stürzte sich kopfüber ins Wasser.

Er wollte schwimmend das andere Ufer gewinnen, um so womöglich den ganzen Teich wieder zwischen uns zu bringen.

So dachte er.

Gut so, dass er so gedacht und es probiert hatte!

Nun war er mein! Ich wusste es sofort!

Ich mit einem flachen Hechtsprung ihm nach, und in der Mitte des Teiches hatte ich ihn, warf mich über ihn! Umklammerte von hinten seine Kehle und drückte ihn unter Wasser.

Da zeigte es sich, dass das Wasser uns nur bis an den Leib ging, wir beide kamen zu stehen

Aber da hatte ich doch schon seinen Kopf unter Wasser, und ich hielt ihn fest unter Wasser!

Er kämpfte, wie eben ein Ertrinkender um sein Leben kämpft, krallte seine Hände in meine Beine — fürchterlich.

Und wie ich noch so gebückt stehe und den Mann ersäufe, da spritzt Wasser an meine Lippen, und da merke ich, dass es süßes Wasser ist, trinkbares Wasser!

Und wie der dort unten zwischen meinen Knien mit dem Tode kämpft, da schlürfe ich über ihm das köstliche Wasser mit vollen Zügen, ich trinke und trinke und trinke!

Ich trinke und schlürfe und schlucke noch, wie jener zwischen meinen Knien, die Kehle von meinen Fäusten umspannt, plötzlich ganz still wird.

Ich trinke weiter.

Und es war gut so.

Denn plötzlich wurde der noch einmal furchtbar lebendig, furchtbar krallten sich seine Finger noch einmal in meine Schenkel ein.

Das aber war auch der letzte Todeskampf gewesen. Eine große Blase quoll empor, ich schlürfte seine Seele mit dem köstlichen Wasser ein.

Dann war er tot — und ich war gesättigt.

Ich ließ die Leiche im Wasser, watete ans Ufer.

Als Mörder?

O nein.

Ich fühlte mich nicht als Mörder, habe mich deswegen nie als solcher gefühlt.

Ich fühlte mich tief befriedigt.

Ich hatte die Welt von einem Scheusal befreit.

*

31. Kapitel

Hundegebell und Mondeszauber

Originalseiten 730 — 758

Ich watete ans Ufer, blickte zum ersten Male nach meiner Uhr, einer Schlüsseluhr, der kein Wasser etwas anhaben kann. Remontoiruhren können wir Seeleute nicht gebrauchen.

Zehn Minuten nach acht.

Dann stimmte es auch, dass jetzt gerade der Vollmond sich über den Horizont erhob.

Also vier Stunden und einige Minuten waren wir gerannt. Die zurückgelegte Strecke wagte ich nicht abzuschätzen. Zumal ich glaubte — obgleich es gar nicht der Fall war — dass der Verfolgte oftmals große Bogen beschrieben habe.

Na, vielleicht 20 Kilometer war ich vom Fort entfernt. Man sieht, wie total ich mich irrte. Es waren ziemlich genau 62 Kilometer. Aber mit einer Schätzung hielt ich mich überhaupt gar nicht auf, sagte nur so leichthin: vielleicht 20 Kilometer.

Mehr dachte ich im Augenblick an die Beantwortung der Frage, wie denn hier mitten in der Wüste ein Süßwasserteich sein könne.

Nun, es war eben ein Brunnen oder eine Quelle, die nicht hervorsprudeln konnte, weil der darüber liegende Wasserdruck ihrer Austriebskraft die Balance hielt.

Wäre die Umgegend mit grüner Vegetation bedeckt gewesen, so hätte man das eine Oase genannt. Musste denn das nicht eigentlich der Fall sein? Musste das Frischwasser das Salz des Sandes, dem ehemaligen Meeresboden entstammend, nicht nach und nach ausgelaugt und ihn vegetationsfähig gemacht haben? Nein, kein Grashälmchen gedieh.

Weshalb nicht, das wusste ich nicht, hielt mich auch nicht länger mit der Beantwortung dieser Frage auf. Ich bemerke nur, dass man auch in der libyschen Wüste viele Süßwasserteiche findet, die an den Rändern keine Spur von Vegetation zeigen. Woher das kommt, kann erklärt werden, ist hier aber nicht am Platze.

Ich war nicht besonders müde; eigentlich überhaupt gar nicht. Nach dem Bade und nach Löschung meines furchtbaren Durstes fühlte ich mich wie neugeboren, hätte sofort den Rückweg wieder im Dauerlauf antreten können.

Aber so vernünftig war ich auch, um mir zu sagen, dass dies eine Täuschung sein müsse. Es war auf jeden Fall eine Überanstrengung gewesen, dieser vierstündige, sehr schnelle Dauerlauf, bei fortwährend fürchterlichem Durst, die Reaktion würde schon noch kommen.

Übrigens hatte ich plötzlich wieder das größte Bedürfnis nach Wasser, dem ich natürlich nachgab, und ich wusste, dass dies noch öfters kommen würde.

Also mein Entschluss war gefasst. Ich blieb einige Stunden hier, versuchte zu schlafen, und wenn mir das nicht gelang, so löschte ich doch meinen sicher immer wieder hervorbrechenden Durst, bis die reichlich verbrauchte Feuchtigkeit im Körper wieder ersetzt war; denn darauf beruht ja nur das Gefühl des Durstes und seine Stillung. Aber das ist nicht mit einem Male zu erreichen.

Dann, als mein Durst zum zweiten Male gelöscht war, dachte ich daran, dass in diesem Wasser ja noch die Leiche läge, dachte ohne besonderen Ekel daran, von diesem Wasser getrunken zu haben. Aber länger sollte der Tote auch nicht drin liegen bleiben.


Illustration

So watete ich noch einmal durch die Mitte, der Zufall ließ mich auch gleich auf die am Grunde liegende Leiche stoßen, ich zog sie ans Ufer und vergrub sie in einiger Entfernung im Lande, was schnell geschehen war. Ein Grausen empfand ich nicht dabei, ich bin an das Hantieren mit Leichen gewöhnt worden, auf einer Fahrt von Kalkutta nach Schanghai, wo innerhalb von acht Tagen von 400 eingeborenen Deckpassagieren fast die Hälfte an der Cholera starb, und mein Gewissen war also durchaus nicht belastet worden.

Viel angesehen habe ich den Toten allerdings auch nicht, ihm nicht erst die Taschen visitiert, wenn er überhaupt Taschen hatte.

Dann legte ich mich auf der anderen Seite des Teiches hin, mir aus Sand ein erhöhtes Kopfkissen machend, um einige Stunden zu schlafen oder zu ruhen.

Nein, müde war ich absolut nicht, weder schläfrig, noch fühlte ich Gliedererschöpfung, und gerade deshalb sagte mir ein dunkles Bewusstsein, dass mit mir irgend etwas nicht in Ordnung sein könne, dass noch irgend etwas nachfolgen müsse, nach diesem vierstündigen Dauerlaufe; denn ganz ungestraft macht man so etwas nicht, zumal unter solch seelischer Erregung.

Ich hatte schon früher einmal die Folgen einer Überanstrengung kennen gelernt. Hatte bei einer Schiffshavarie, die dann noch ganz gut abgegangen war, etwas länger als 36 Stunden ununterbrochen das Schwungrad der Pumpe gedreht, also ohne Schlaf. Als ich dann abgelöst wurde, wir überhaupt schon im sicheren Hafen lagen, legte ich mich todmüde in meine Koje. Ach, war das ein herrliches Gefühl, wie ich mich so im Bewusstsein der Sicherheit ausstrecken konnte, um nun einen tiefen, tiefen Schlaf zu tun! Und diese köstliche Todmüdigkeit!

Jawohl, nichts war es mit dem Schlafen! Mit einem Male merke ich, dass ich deswegen nicht gleich einschlafen konnte, weil ich nicht ruhig liegen konnte. Ich musste mich fortwährend bewegen. Keine drei Sekunden konnte ich ein Glied ruhig liegen lassen. Und dann merkte ich, wie sämtliche Glieder zu zucken anfingen.

Na, ich ging zum Schiffsarzt, der gab mir eine Morphiumeinspritzung und ich musste sie noch an zwei Tagen bekommen, dann war die Sache wieder in Ordnung. Da erkennt man erst, was solch ein Höllenstoff wie Morphium, von dem man sonst nur den entsetzlichsten Missbrauch und seine Folgen hört, in ärztlicher Hand für ein Segen sein kann.

Aber die Viertelstunde, wo ich so todmüde in meiner Koje lag, ohne einen Augenblick einen Finger ruhig halten zu können, immer hin und her zuckend, die werde ich ja nicht vergessen!

Mit einiger Angst dachte ich daran, dass dieses Muskel- oder Nervenzucken auch jetzt wieder eintreten könnte, wo ich hier hilflos an der Küste lag.

Aber so ein seelischer Schwächling bin ich denn doch nicht. Ich merkte nichts von solch einem Zustand, ich sagte mir, dass ich dann auch nicht so an etwas denken dürfe, und hätte es dennoch angefangen — na, dann trat ich einfach sofort den Rückweg an, marschieren kann man dann immer noch, nur nicht still liegen.

Aber ich hatte nicht nötig, wieder aufzustehen, ich fühlte mich ganz wohl, und meiner Energie gelang es, jeglichen Gedanken an solch eine Möglichkeit, von einer Nervenschwäche befallen zu werden, zu unterdrücken.

Da aber trat etwas anderes ein, die Folgen der Überanstrengung sollten doch nicht ausbleiben.

Freilich ist es sehr schwer zu schildern, was mit mir vorging.

Wie ich so daliege, noch mit offenen Augen, der prachtvollen Sternenhimmel betrachte, überkommt mich plötzlich ein Gefühl der grenzenlosen Verlassenheit.

Ich muss an meinen alten Vater denken — ich werde vom Heimweh erfasst.

Wer das Heimweh nicht kennt, nicht disponiert dazu ist, der hat ja gar keine Ahnung, was Heimweh überhaupt ist. Der wird nie begreifen, wie Menschen an Heimweh sterben können, und zwar gerade sonst sehr kräftige, robuste Männer. Es ist ja bekannt, dass besonders Schweizer so furchtbar vom Heimweh gepackt werden können. Ich habe später an Bord einen Schweizer gehabt, der in Amerika vor Heimweh irrsinnig geworden war, d. h. geisteskrank, der ganz im Banne der Sehnsucht nach seinen Bergen lag. Es war schrecklich anzuhören, wie der junge, starke Mann Tag und Nacht winselte. So etwas begreift man ja aber gar nicht, wenn man es nicht selbst einmal durchgemacht hat. So wenig wie man einem eisernen Kerl mit Nerven von Klavierdrähten begreiflich machen kann, was Hysterie ist.

Ich hatte Zeit meines Lebens noch kein Heimweh gehabt, konnte mir gar nicht vorstellen, was so etwas ist, und jetzt kriege ich großer Bengel plötzlich das Heimweh!

Das heißt, ohne mir Rechenschaft geben zu, können, dass es Heimweh ist.

Ein allgemeiner Weltschmerz erfasst mich.

Jawohl, der Menschheit ganzer Jammer packt mich an. Ich fange plötzlich wie ein Kind zu weinen an.

Ohne zu wissen warum.

Ich will es gleich sagen: es war eben die Reaktion auf die Überanstrengung, wobei weniger der vierstündige Dauerlauf, als vielmehr die vierstündsige Seelenverfassung in Betracht kam, die furchtbare Wut, die ich immer hinuntergefressen hatte.

Für mich wäre damals eine furchtbare Krisis eingetreten, ich wäre seelisch sehr erkrankt, wahrscheinlich von unheilbarer Melancholie befallen worden — wenn ich eben nicht gerettet worden wäre.

Also ich liege da im Wüstensande. Und weine und jammere und winsele und weiß nicht warum.

»Ich wollte, ich wäre tot.«

Und wie ich das noch so sehnsuchtsvoll denke, da höre ich plötzlich in weiter Ferne einen Ton.

Hundegeläut!

Und da gibt es einen Ruck in mir, wie ein Feuerstrom schießt es mir plötzlich durch Kopf und Herz und durch alle Adern, und ich schnelle empor.

»Pluto!«, jauchze ich auf.

Und noch einmal erschallt das eigentümliche, hohe Bellen, das der Jagdhund — aber zum Beispiel auch der Spitz — ausstößt, wenn er das Wild, auf dessen Fährte er liegt, erblickt oder seine Nähe nun richtig wittert. Läuten nennt der Jäger diese Art Bellen, und es ist auch ein wirkliches Läuten.

Und dieses Läuten hier kannte ich, das konnte nur unser Pluto sein.

Ich habe noch nicht von diesem Hunde gesprochen. Ich kann nicht jeden Hund und jedes Mitglied unserer Menagerie dem Leser einzeln vorstellen, sondern das muss geschehen, wenn es eben die Gelegenheit mit sich bringt.

Die Schwimmtour damals in der Magellanstraße hinter unserem Boote her hatte Pluto nicht mitgemacht, obgleich er der erste aller Hunde war, der vierbeinige Hundehauptmann, oder eben deshalb, weil er der erste war, war er dem Boote der Herrin nicht gefolgt. Dazu war er zu gut erzogen, viel zu vernünftig, da hätte er erst den Befehl dazu bekommen müssen. Das war doch die größte Undisziplin gewesen, was die anderen großen Hunde da begangen hatten, und über so etwas war Pluto erhaben. Es war ein englischer Bluthund reinster Rasse, also ein großer, starker, kurzhaariger Jagdhund, als Bluthund, wie er früher in Amerika zur Verfolgung der entflohenen Sklaven benutzt wurde, vor allen Dingen durch die äußerst langen Schlappohren gekennzeichnet, die auch bei gesenktem Kopfe noch weit über die Schnauze herabhängen, und dann die Stirn mit tiefen Runzeln durchzogen, überhaupt ein furchtbar sorgenvolles Gesicht.

Zwischen den Mitgliedern unserer Menagerie ging es ja manchmal hahnebüchen zu! Ach, da flogen ja manchmal die Haare, und da gab es hinterher hinkende Beine!

Zumal noch so viele kleinere und auch immer junge Hunde vorhanden waren. Ich habe solche Szenen noch nie erwähnt. Das war manchmal ein einziger Hundeknäuel, alles zusammen verbissen; denn gegen Futterneid ist noch keine Peitsche geflochten worden.

Besser als Juba Riatas Peitsche bewährte sich dieser Bluthund; denn Pluto war als der intelligenteste und zuverlässigste Hund von Peitschenmüller zum vierbeinigen König des ganzen Tierreiches eingesetzt worden. Und Pluto wusste die ihm anvertraute Würde zu schätzen und wusste Ordnung zu halten, so weit es irgend möglich war. Es war ein edler Charakter, er sah vieles nach, drückte manchmal beide Augen zu, denn als Hundephilosoph wusste er eben, was ein saftiger Knochen zu bedeuten hat, obgleich er selbst ganz frei von Egoismus war, eben deshalb sah er vieles nach — aber wehe, wenn es ihm einmal zu viel wurde und er fuhr dazwischen! Es war nicht der stärkste Hund. Die großen Doggen und die Bernhardiner und Neufundländer waren ihm ja an Körperkraft weit überlegen, und nun gar die beiden Dioskuren Kastor und Pollux, die beiden Bullenbeißer, die waren herkulische Riesen gegen diesen Bluthund. Aber Pluto war eben der bessere Kämpe. Der hatte im Nu so einen Hundeherkules beim Genick gepackt und schüttelte ihn ab, dass dem Bullenbeißer Hören und Sehen verging und er sich winselnd in einer Ecke verkroch.

So hatte Peitschenmüller diesen Bluthund, der nach einem deutschen Vorsteher überhaupt die beste Nase besaß, auch als Stöberer ausgebildet, als Führer der Meute auf der Jagd. Schon damals in der ägyptischen Oase. Ich hatte solche Übungen in der Argonautenbucht auf dem Feuerlande gesehen, praktisch auf der Jagd auf den brasilianischen Campos.

Da war Pluto also der Stöberer, der Fährtensucher. Es gab ja weit schnellere Hunde, aber mit der Schnelligkeit ist es da allein nicht getan, unbesonnene Schnelligkeit kann da sogar alles zuschanden machen. Solche eilfertige Hunde nehmen eine kreuzende Spur auf, locken die ganze Meute in der Hitze des Gefechtes hinter sich her, die Jagd ist verdorben. Die Meute hat dem Stöberer, der prüfend die Fährte untersucht, unbedingt zu folgen, keiner darf ihn überholen, und wenn er sich auch minutenlang bei einer Kreuzung aufhält. Und Pluto wusste die Meute in Ordnung zu halten. Wehe, wenn ihn ein anderer Hund überholen wollte. Der war im Nu lahmgebissen, bei seiner Gegenwehr auch kaputt gebissen. So war es wenigstens früher gewesen, jetzt kam so etwas gar nicht mehr vor. Die anderen Hunde und selbst die größeren Raubtiere hatten einen maßlosen Respekt vor ihm. Und trotzdem war Plato eines Seele von einem Hunde! Er ließ sich von einem anderen Hunde, ob größer oder kleiner als er, aus seinem eigenen Fressnapfe den größten Leckerbissen, den saftigsten Knochen wegnehmen, duldete es ruhig, er war eben sehr gutmütig. Mit diesen Bluthunden ist es ja überhaupt eine eigene Sache. Sie scheinen ihren Namen gänzlich mit Unrecht zu führen, und dennoch sind es die furchtbarsten Menschenjäger. Die Sache ist nämlich die, dass diese künstlich gezüchtete Hunderasse, eine Kreuzung der besten Jagdhunde mit Pariser Fleischerhunden, die treueste Anhänglichkeit gegen ihren Herrn besitzen, die so weit geht, dass sie die Autorität eines anderen Menschen gar nicht anerkennen. Sobald ihnen ihr Herr befiehlt, ist jeder andere Mensch für sie auch nur ein Stück Wild. Gerade den entgegengesetzten Charakter hat der Pudel. Der begrüßt, wenn er zu Hause eingesperrt ist, mit freudigem Schwanzwedeln den durchs Fenster steigenden Einbrecher, sobald der nur freundlich zu ihm spricht.

Ich war bisher kein besonderer Tierliebhaber gewesen, bin es erst an Bord dieses Schiffes geworden.

Und dass ich jetzt so ausführlich über diesen Bluthund berichtet habe, das hat einen besonderen Grund.

Ich will es sagen: durch diesen Hund bin ich vor einer schweren seelischen oder geistigen Krankheit bewahrt worden, die mich natürlich auch körperlich ruiniert hätte. Ich weiß es ganz bestimmt.

Also wie ein Feuerstrom schoss es mir plötzlich durch Kopf und Herz und durch alle Adern, als ich dieses mir wohlbekannte Hundegeläut vernahm.

»Pluto!!«, jauchzte ich auf.

Noch konnte ich im Mondlicht in der weißgelben Wüste nichts unterscheiden. Da aber verwandelte sich das eigentümliche Läuten in ein dröhnendes und dennoch jauchzendes Bellen, und da plötzlich stimmten auch noch viele andere Hundestimmen mit ein.

Und da plötzlich gingen mir die Augen auf, da plötzlich sah ich sie in langgestrecktem Galopp angejagt kommen, an der Spitze Pluto, die Nase am Boden, dass die langen Ohren noch im Sande schleiften, dann wieder mit einem jauchzenden Bellen den Kopf hoch werfend, dass die Ohren wie die Fahnen flogen, und hinter ihm die ganze Meute unserer größten Hunde, Max und Moritz, die beiden Bernhardiner, Kastor und Pollux, die beiden Boxerdoggen, Thor und Odin, die beiden Neufundländer. Nur Frau Holle fehlte, die Neufundländerin, weil die jetzt außer zwei eigenen Kinderchen, auch die zwei kleinen Unzen, die schwarzen Jaguare, säugen musste, welche Peitschenmüller damals richtig aus dem Neste genommen hatte.


Illustration

Sie hatten mich erreicht, begrüßten mich jauchzend, wenn auch nicht gar zu stürmisch, weil ihr vierbeiniger Meister dabei war, der immer auf Ordnung hielt.

Ach, wie soll ich es schildern!

Wie ich niederkniete, Plutos durchrunzeltes sorgenschweres Haupt hernahm und meine brennenden Lippen auf seine kalte Hundeschnauze drückte.

Wie ich einen Hund nach dem andern abküsste, obgleich ich sonst nicht etwa für Hundeküsserei bin.

Aber damals — damals!

Diese selbe Hundemeute sollte mir später noch einmal zu Hilfe kommen, wie ich es schildern werde, in einer viel, viel gefährlicheren Situation, sollten mein Leben retten, als ich schon Abschied davon genommen hatte — das war grandios, wie sie über meine Peiniger herfielen, — aber viel, viel schöner war es gewesen, als ich hier in meinem undefinierbaren, unsagbaren Seelenschmerze ihr Bellen in weiter Ferne gehört hatte!

Ja, diese Hunde hatten mich vor etwas Furchtbarem bewahrt, gegen welches der leibliche Tod noch nichts war.

Das wusste ich ganz bestimmt, noch ehe ich merkte, wie mich plötzlich eine Müdigkeit befiel, dass ich mich kaum noch aufrecht halten konnte. Jetzt war eben die Reaktion eingetreten, eine gesunde Krisis, die Gefährdung der Seele oder des Geistes war durch die hervorbrechende Körpererschöpfung plötzlich aufgehoben.

Erst als ich einen nach dem andern abgeküsst hatte, bemerkte ich, dass jeder von ihnen auf dem Rücken, kurz hinter dem Nacken, ein Paket trug, auf dem des Bluthundes, ebenso wie die Pakete der anderen mit schwarzem Segeltuch umwickelt, war noch ein kleineres von weißem Tuch befestigt, dieses löste ich zuerst ab, dabei gleich an dem besonderen Knoten und überhaupt an der kunstreichen Verstrickung, Klothildens Hand erkennend, denn in der Schürzung von Knoten war dieses seegeborene Weib unerreichbar, beschämte den besten Matrosen.

Noch eine Gummiumhüllung, eine kleine Blechbüchse und ich entnahm dieser einen Brief.


Wo bist Du? Lebst Du noch? Wenn ja, so gib Pluto zu fressen und zu saufen und schicke ihn sofort mit Deiner Botschaft wieder zurück. 16 der besten Geher sind bereits unter Wassermanns Führung unterwegs.

In tausend Ängsten um Dich

Deine Helene.


Dann folgten noch einige Postskripten, welche verrieten, in welcher Hast und Angst diese Zeilen geschrieben worden waren.


Schreibe auf, wann Du Pluto abschickst, die Nachkommenden fangen ihn ab und können daraus vielleicht bestimmen, wo Du bist, wie weit entfernt, wenn Du es nicht selbst angeben kannst.

Der Inhalt von Plutos Paket ist nur für Dich bestimmt. Über Ilse hat ihr Schutzengel gewacht.

Georg, befreie Deine Helene von tausend Ängsten, ich kann unterdessen nur beten.


Dann folgte nichts mehr. Zunächst musste ich einmal über das »wenn ja« herzlich auslachen. So glaubte ich, dass dies der Grund meines Heiterkeitsausbruchs sei. Es war natürlich ein ganz anderer Grund — die Hunde nun bei mir zu haben, mit meinen Freunden in Verbindung zu stehen.

Weiter enthielt die Blechbüchse ein unbeschriebenes Stück Papier und einen Bleistift, ehe ich aber schrieb, löste ich sämtliche Pakete ab, und erst jetzt dachten die Tiere daran, ihren Durst zu löschen, auch gleich ein Bad zu nehmen.

Ich will bei dieser Gelegenheit gleich erwähnen, was in Fort Oro vor sich gegangen war, wie ich es später erfuhr.

Man hatte mich hinter dem Flüchtling her durch die Wüste rennen sehen, bis wir am Horizont verschwunden waren.

Noch eine Viertelstunde hatte man gewartet.

Dann, als die Sorge wuchs, war Juba Riata mit einigen unserer besten Geher und Läufer unseren Spuren gefolgt, der Kommandant hatte auch eine Abteilung Soldaten mitgegeben, die aber gleich in den ersten zehn Minuten weit zurückgeblieben waren.

Fast eine halbe Stunde war Juba Riata den Spuren gefolgt, der anfängliche Eilmarsch hatte sich schon längst in Laufschritt verwandelt, bis auf einem steinigen Plateau, von dessen Passieren ich aber gar nichts wusste, die Spuren aufhörten und auch von dem vorzüglichen Fährtensucher, der dieser ehemalige Cowboy war, nicht wieder gefunden werden konnten.

Nun zurück, schnellstens zurück, um den Fehler gutzumachen, den Juba Riata zu spät einsah! Nämlich, dass er nicht gleich die Hunde mitgenommen hatte. Aber wer hatte auch gedacht, dass ich mich so weit entfernen würde, dass die Spuren plötzlich aufhörten.

Und die Zurückbleibenden dachten jetzt auch nicht an die Hunde oder sie erwarteten eben wieder erst die Hilfsexpedition zurück.

Erst gegen halb sieben traf Peitschenmüller wieder ein, den anderen weit, weit voraus, dieser Wildwestmann war überhaupt unser bester Läufer, mochte er auch mit dem Matrosen Knut nicht auf der Rennbahn konkurrieren können. Wenn es aber einmal in Gottes freier Natur darauf ankam, dann machte dieser ganz aus Eisen bestehende ehemalige Vaquero doch alle aufgestellten Sportrekords zuschanden.

Jetzt also schnell die Hunde vorbereitet, die man für diesen Fall am zweckdienlichsten hielt. Man durfte ja den Versicherungen des Kommandanten und aller anderen glauben, dass es in ganz Rio de Oro keine räuberische Beduinen, keinen einzigen Menschen gebe, ebenso aber musste man auch glauben, dass in dem ganzen Gebiet von fast 200 000 Quadratkilometer, wobei auch nur der spanische Besitz in Betracht kommt, kein Tropfen Wasser zu finden sei.

Das mag merkwürdig klingen, aber die hatten von diesem Wüstenbrunnen, der sich als ein ansehnlicher Teich ausbreitete, eben gar keine Ahnung! Übrigens kam er für das Fort auch nicht in Betracht, die Entfernung war viel zu weit, auch ein Röhrensystem war unmöglich, der Brunnen lag 60 Meter tiefer als das Fort oder vielmehr als der Meeresspiegel.

Also jeder der Hunde erhielt in dichtem Lederschlauch drei Liter Wasser und zwei Pfund gepressten Fleischkuchen für sich selbst aufgepackt, dass ich sie dann füttern und tränken konnte, Pluto für mich statt des Hundekuchens ein Pfund Zwieback, ein Pfund Cornedbeef, eine Dose Fleischextrakt, ein Fläschchen Kognak und einen Revolver mit 24 Patronen, dafür weniger Wasser, und die Hunde wurden unter Plutos Führung laufen gelassen. Diese Last von 10 Pfund inklusive Verpackung hatte für die starken Tiere nicht viel zu bedeuten.

Kurz nach sieben waren sie abgelassen worden, gegen neun Uhr hatten sie mich erreicht. So hatten sie zu den 42 Kilometern zwei Stunden gebraucht.

Das war keine besondere Leistung für einen Hund. Ganz abgesehen davon, dass ich selbst ja diese Strecke in zwei Stunden 42 Minuten durchrannt habe, und ein Hund kann denn doch noch etwas anders rennen als ein Mensch, und sei es Achilles selbst.

Wir wissen noch gar nicht, was ein Hund im Laufen leisten kann. Die Wettrennen auf der Sportbahn sagen gar nichts. Nur ab und zu durch einen besonderen Fall gewinnt man ein Urteil, und da kann man immer nur staunen.

Es ist noch gar nicht so lange her, da fährt eine bekannte Schauspielerin von Leipzig nach Chemnitz, an einem heißen Junitag, in der heißesten Mittagszeit. Sie benutzt einen gewöhnlichen Personenzug, einen Bummelzug, der 11 Uhr 35 Leipzig verlässt, 1 Uhr 58 in Chemnitz ankommt, unterwegs fünfzehn mal haltend. Die Strecke beträgt 82 Kilometer.

Sie lässt sich von ihrer Zofe zur Bahn bringen, die ihren Bernhardiner an der Leine hat, ein sehr großes, schweres, langzottiges sechsjähriges Tier, stark überfüttert.

Die Dame streichelt den Hund noch einmal, steigt ein, fährt ab. Wie sie in Chemnitz aussteigt, springt Tyras ihr freudestrahlend entgegen, freilich auch die Zunge eine halbe Elle aus dem Maule heraushängend.

Der Hund hat sich von seiner Führerin losgerissen, ist zwischen den Schienen dem Eisenbahnzuge nachgerannt, zwar nicht mitkommend, ihn aber auf jeder Zwischenstation wieder einholend — kurz und gut, er war gleichzeitig in Chemnitz, hat die 82 Kilometer in zwei Stunden 23 Minuten zurückgelegt. Nicht etwa ein Windspiel, sondern ein mächtiger, schwerer, fettgefütterter Bernhardiner!

Und es hat dem Tiere absolut nichts geschadet, es war nur eine gute Entfettungskur.

Wir wissen, wie gesagt noch nicht, was ein Hund leisten kann. Vom Pferde wissen wir es so ziemlich, aber vom Hunde haben wir da noch gar keine Ahnung. Und das gereicht der Menschheit nicht zur Ehre; denn der Hund ist schon viele tausend Jahre früher ein treuer Freund und Gehilfe des Menschen gewesen. Und noch weniger gereicht es uns superklugen Menschen, die wir auf unseren Scharfsinn, auf unsere Erfindungen so stolz sind, zur Ehre, dass wir erst jetzt im 20. Jahrhundert anfangen, den wunderbaren Geruchssinn des Hundes im Dienste der Polizei und des Kriminalwesens zu benutzen. Ha, ist das großartig, wovon die Zeitungen jetzt immer berichten, von den Erfolgen dieser Polizeihunde! Viel tausend Jahre hat der Hund auf diesen genialen Einfall der scharfsinnigen Menschen warten müssen! Und anstatt die Sache nun, da sie einmal angefangen hat, wenigstens gleich mit Energie zu betreiben, jedem nächtlichen Schutzmann und jedem Feldgendarmen einen guten Hund auf Staatsunkosten zu geben, begnügt man sich noch immer mit kleinlichen Versuchen, verplempert das Geld lieber mit anderen Experimenten, um dem Diebes- und Verbrecherwesen Einhalt zu tun. Während der Hund doch schon seit Jahrtausenden der treue Hüter des Hauses und Hofes gewesen ist und nur darauf wartet, dass ihn der Mensch auch endlich in der Öffentlichkeit beschäftigt, was ja eben seine Lust ist. Nicht an der Kette zu liegen, nicht eingesperrt zu werden, nicht spazieren geführt zu werden, sondern stöbernd, ganz auf die eigene Intelligenz angewiesen, durch Feld und Busch und durch die nächtlichen Straßen zu laufen. —

Also das mitgeschickte Wasser wäre nicht nötig gewesen.

Die Hunde hatten gar keine Lust zu fressen, wenigstens Pluto nicht, dem ich den Fleischkuchen zerbrach. Nun, so konnte er gleich wieder abgehen. Ich schrieb:


Bin wohlauf. Liege an einem Brunnen mit trinkbarem Wasser. Schicke Pluto punkt 9 Uhr ab. Um Mitternacht trete ich Rückmarsch an.

Waffenmeister.


So, das genügte vollkommen. Das Schreiben war ja nicht für Helene bestimmt, es wurde von der Hilfsexpedition abgefangen.

Ich schickte Pluto auf die Heimreise, fütterte die anderen Hunde, die mehr Appetit hatten, als ihr verantwortlicher Führer, aß selbst nur einen kleinen Zwieback mit etwas Fleischextrakt bestrichen, mehr konnte ich nicht hinunterbringen, desto besser schmeckten mir einige Schluck Kognak, dann streckte ich mich wieder in dem Sand aus.

Ach, war mir jetzt wohl, selig zu Mute, wie ich so dalag, von den sechs Hunden umlagert! Jetzt fühlte ich die Müdigkeit in meinen Gliedern, ich war wie zerschlagen, im Nu würde ich einschlafen.

Ich nahm mir vor, um zwölf Uhr aufzuwachen, und ich würde unfehlbar aufwachen, das wusste ich beistimmt. Das kann jeder Mensch bestimmen, wenn er sich darin nur etwas übt, nur ein einziges Mal ernstlich will. Wie es möglich ist, dass der Mensch während des Schlafes die Uhr im Kopfe hat, zur bestimmten Stunde und Minute aufwachen kann, das freilich kann kein Mensch erklären; wenigstens nicht mit den Erklärungen unserer modernen Wissenschaften. Doktor Carl du Prel hat ein ganzes Buch über dieses Phänomen geschrieben.

Als ich wie mit einem Ruck aufwachte, mir von einer fremden, geheimnisvollen Macht gegeben, war mein erster Griff nach der Uhr, und deren beide Zeiger standen direkt an der zwölf.

Wie neugeboren sprang ich empor.

Autsch! Nein, so ganz neugeboren war ich nicht. Oder ich hoffe doch nicht, dass jedem neugeborenen Kindlein die Dickbeine und die Waden so weh tun, wie mir die meinen!

Mir war in den Beinen und besonders in den Waden gerade so zu Mute wie damals, das heißt am anderen Tage, nachdem ich am Tage zuvor in Hamburg für die freiwillige Seemannsmission Traktätchen verteilt hatte, in die Briefkasten der Wohnungen gesteckt, und ich hatte so gegen hundert Häuser abgekleppert, immer bis hinauf unters Dach, vier Etagen hoch. Na, dieses anderen Tages werde ich ja gedenken! Meine Waden, meine sonstigen Beine! So etwas mache ich ja nicht wieder, wenn ich nicht berufsmäßiger Briefträger werden will. Ich danke für solche freiwillige Seemannsmissionstätigkeit. Da klebe ich doch lieber auf jedes Traktätchen eine Dreiermarke und bleibe hübsch in der Kneipe sitzen. Aber es war ein so verflixt hübsches Dämchen gewesen, das mich zu dieser Kolportiererei verleitet hatte. Na, da habe ich ja am anderen, Morgen nicht schlecht geflucht!

Also genau so war mir's auch jetzt in den Beinen und zumal in den Waden zu Mute.

Nun, deshalb wurde dennoch aufgebrochen, diese lahmen Glieder wollten wir schon wieder schmieren. Zunächst einmal innerlich mit einem Schluck Kognak Dazu muss man bekanntlich die Flasche heben und den Kopf etwas zurückneigen, sonst geht's nicht oder bereitet doch Schwierigkeiten, also ich neigte den Kopf zurück, dabei guckte ich in den Vollmond, der regelrecht jetzt den höchsten Punkt seiner Laufbahn am Horizont erreicht hatte.

Und da ließ, ich die Flasche wieder sinken, ohne ein Schlückchen genehmigt zu haben.

Na, Himmelbombenelement noch einmal, Klüverbaum und Katzenschwänze, bin ich denn wahnsinnig oder kratzt mich der Affe?!

Wolle der geneigte Leser mir solche Ausdrücke verzeihen. Ich lasse in der Wiedergabe die Menschen immer so sprechen, wie sie im Leben wirklich sprechen, und so sprach ich oder dachte ich, als ich, ein Seemann, der weit mehr Decksplanken als Salonparkett unter den Füßen gehabt, damals in der Wüste plötzlich eine große Burg erblickte, eine ganze Festung mit Mauern, Türmen und Zinnen!

Ich reibe mir mit der einen Hand die Augen — nein, die sind ganz regelrecht offen — mit der andern Hand führe ich die unterbrochene Bewegung aus, nehme aus der Flasche ein gutes Schlückchen — nein, so wohltuend rinnt einem im Traume kein Kognak durch den Hals — und dass diese Festung schon gestern Abend hier gewesen wäre und ich sie nicht gesehen hätte, das ist ebenfalls ganz ausgeschlossen.

Nun, die Erklärung blieb nicht lange aus.

Eine Fata Morgana.

Was das ist, weiß doch jeder. Eine Luftspiegelung Wenn zwei Luftschichten von sehr verschiedenen Temperaturen die sich nicht so schnell vermischen, zusammenstoßen so kann diese scharfbegrenzte Luftfläche als Spiegel wirken, durch das Licht der Sonne oder des Mondes wird das Bild eines Gegenstandes nach einem anderen Punkte zurückgeworfen.

Mehr brauche ich darüber hier nicht zu sagen. Durch einfache oder doppelte Spiegelung entsteht ein umgekehrtes oder aufrechtes Bild des betreffenden Gegenstandes — ich hatte hier eine aufrechte Spiegelung. Durch die Sonne werden Fata Morganas häufiger erzeugt, als durch den Mond, weil deren Leuchtkraft eben viel stärker ist, obgleich solche Luftspiegelungen in der Nacht viel öfters vorkommen müssten, weil durch die Ausstrahlung des heißen Wüstensandes in die kalte Nacht solche Luftzonen eher entstehen als bei Nacht; aber das Mondlicht ist eben gewöhnlich zu schwach. Hat man aber einmal eine nächtliche Fata Morgana, dann ist sie auch von vollendeter Klarheit, so wie es hier bei mir der Fall war.

Absolut nichts ließ die Wirklichkeit vermissen. Mit greifbarer Deutlichkeit stiegen die Mauern direkt aus der flachen Wüste empor, jedes Türmchen hob sich scharf vom sternenbesäten Horizont ab. Nur über die Entfernung durfte ich kein Urteil abgeben; da kann man sich in der Wüste überhaupt sehr täuschen, zumal in solch einer Vollmondnacht. Manchmal glaubte ich, die Burg sei viele Kilometer oder gar Meilen entfernt, dann dachte ich wieder, mit hundert Schritten müsste ich sie erreichen können,

Erwähnen muss ich noch, dass die Erscheinung, die aber für das Auge doch vollkommene Wirklichkeit war, auf die Hunde so gar keinen Eindruck machte. Sehen taten sie sie auch, das bemerkte ich sofort, aber sie kümmerten sich gar nicht darum. Diese Hunde wussten eben sofort, dass es nur eine wesenlose Erscheinung war, nichts Reelles dahinter. Nur der Affe wird vom Spiegelbild getäuscht, will das Spiegelbild untersuchen, greift dahinter, eben weil der Affe das menschenähnlichste Tier ist. Die Katze springt höchstens in ihren ersten Kindertagen einmal in den Spiegel, dann fällt sie nicht mehr darauf herein. Noch viel ausgeprägter ist dieser Unterscheidungssinn für Wirklichkeit und Spiegelung oder Nachahmung beim Hunde. Da hat man ja schon gar viel experimentiert. Da gibt auch nicht die Witterung den Ausschlag, das ist ein ganz besonderer Instinkt. Man mag eine Hundefigur noch so getreu malen oder modellieren und sie mit natürlichem Hundegeruch imprägnieren, der lebendige Hund mag einmal stutzen — dann hat er das Nachgemachte sofort erkannt, kümmert sich nicht mehr darum.

Ich hatte also einmal das Glück, eine nächtliche Fata Morgana in herrlichster Vollkommenheit zu beobachten.

Das musste aber doch die Spiegelung von einer Wirklichkeit sein; in der Richtung, in die ich blickte, musste auch eine wirkliche Burg oder ganze Festung liegen!

Solch eine Festung mit Türmen und Zinnen hier mitten in der Wüste?

Nun, das konnte möglich sein, die Welt brauchte davon nichts zu wissen. Ich hatte mich ja schon zur Genüge aus Büchern über diese spanische Kolonie Rio de Oro orientiert, ehe ich das Land betreten hatte. Da hatte nichts von solch einer ummauerten Stadt, die man keine Ruine nennen durfte, dringestanden. Außer über politische Verhältnisse war da überhaupt sehr wenig zu lesen gewesen. Eine menschenleere Wüste, in der sich jedenfalls auch keine Maus ernähren konnte — terra incognita — gänzlich unbekanntes Land.

Da konnte es also auch recht wohl solch eine alte Festungsstadt drin geben. Überhaupt musste es ja unbedingt das Spiegelbild einer wirklich vorhandenen Festung sein.

So überlegte ich noch, als in der Ferne wiederum ein Hundeläuten erklang, mit jauchzendem Bellen beantworteten es meine sechs Tiere, ich gab ihnen die Erlaubnis, den Ankommenden entgegenzulaufen, und bald sah ich sie selbst.

Es waren also sechzehn Mann, unsere besten Geher, geführt von Wassermann, einem deutschen Vorstehhund, der früher Waldmann geheißen hatte, aber tatsächlich mehr ein Wasserjagdhund war, ein vorzüglicher Taucher.

Feldmarschmäßige Ausrüstung, aber nicht zum Sportzweck, der Ballast auf dem Rücken bestand hauptsächlich in Wasser, und die Bewaffnung nur in Revolvern obwohl sie mit »Gewehr über« anmarschiert kamen. Aber das war kein Schießgewehr, sondern jeder trug über der Schulter eine hohle Bambusstange, wie unser Zimmermann auf der brasilianischen Sandbank hundert Stück gefertigt hatte, auf beiden Seiten mit gutem Verschluss eben für solche Zwecke, für Expeditionen, wobei kein Gewehr nötig war, aber unsere Leute waren nun einmal gewöhnt, mit Gewehr zu marschieren, der Hohlraum diente zur Aufnahme von Proviant, zum Beispiel von Hülsenfrüchten, jeder Mann konnte sich mit diesem Inhalte vier bis fünf Tage lang beköstigen und außerdem konnte auf diese Bambusstange das kurze englische Bajonett, das zu dem Infanteriegewehr gehörte, aufgepflanzt werden, eine furchtbare Waffe im Nahkampfe abgebend.

Wenn ich sage, dass dies meine Erfindung war, so rühme ich mich nicht etwa, sondern so etwas zu erfinden, das war eben meine Sache, als die des Waffenmeisters, dazu hatte ich meinen Kopf anzustrengen, dafür wurde ich bezahlt.

Unter diesen sechzehn besten Gehern befand sich August der Starke, in dessen Fettleibigkeit man sich eben vollständig irrte. Dieser Koloss bestand nur aus Kautschuk, durchsetzt mit Knochen und Muskeln.

Die Führung hatte ja wohl Ernst als Offizier oder vielleicht Juba Riata — aber wie sie jetzt ankamen, da musste unbedingt August der Starke das Kommando übernehmen.

»Abteilung —«, fing er mit total heiserer Stimme zu brüllen an, obgleich er gar nicht heiser war, er ahmte eben die bierheisere Stimme eines Unteroffiziers nach, und die vier Sektionen nahmen Tritt, auf Verabredung gleich Paradeschritt an, »halt!! Sektiooon — schwenkt ein!! Geweeehr — ab!! Richt Euch! Vorletzter Mann etwas weiter raus! Wilhelm zieh den Bauch ein! Augen geraaade — aus!!«

Und dann trat er vor und machte mir Meldung.

Es war nur eine Spielerei, aber — dennoch von großer Bedeutung, ich wusste es voll und ganz zu würdigen, obgleich die Zeit damals bei mir noch nicht vorbei war, da ich den deutschen Parademarsch und den ganzen sonstigen Gamaschendrill lächerlich fand.

Heute denke ich darüber anders, und damals wusste ich diese Spielerei ebenfalls zu würdigen.

Diese sechzehn Mann hatten zu den 42 Kilometern fünf Stunden gebraucht. Man mache es nur einmal nach! Die erste Hälfte des Weges hatten sie meist im Dauerlauf zurückgelegt, dann allerdings, als ihnen Pluto mit der beruhigenden Meldung begegnet war, hatten sie sich bedeutend mehr Zeit genommen, aber des schweren Wassergewichts hatten sie sich zur Vorsicht doch noch nicht entledigt, und immerhin, nach fünf Stunden kamen sie hier an, in Paradeschritt, bei vollem Humor! Da musste man Hochachtung bekommen!

Die erste wirkliche Meldung hatte mir Ernst zu machen, eine ihn sehr beschämende, es war ihm etwas ganz Fatales passiert. Er hatte alles mitgenommen, was man zu einer geografischen Ortsbestimmung braucht, Tabellen und Quecksilberdose, hatte sich von der Patronin den Taschenchronometer geben lassen, eine gewöhnliche Uhr, welche aber die Kleinigkeit von 4000 Mark gekostet hatte — nur den Sextanten nicht. Statt dessen Etui hatte er in seiner dunklen Kabine eine Schachtel mit Patronenhülsen eingesteckt. Hatte es erst gemerkt, als ihnen Pluto begegnete, als er diesen Punkt bestimmen wollte; hatte es aber nun auch gleich durch Pluto nach dem Schiffe gemeldet, dass man ihm seinen Sextanten durch Hundepost nachschickte.

Na, Ernst brauchte nicht so niedergeschlagen zu sein, ich machte ihm keine Vorwürfe, und jetzt gab es anderes zu besprechen. Dort stand die Burg. Die Ankommenden hatten sie schon vor einer halben Stunde vor sich gesehen, aber nicht so wie ich, mit einem Male fix und fertig dastehend, für sie war sie nach und nach aus dem Boden gewachsen, und nicht etwa so, dass sie sich durch Näherkommen vergrößert hätte. Dazu wuchs sie viel zu schnell. Die meisten dieser Männer hatten gleich gewusst, dass es nur eine nächtliche Fata Morgana sein könne.

»Die Wirklichkeit dieser Spiegelung müssen wir natürlich untersuchen. Ihr seid aber wohl nicht mehr fähig, jetzt noch dorthin zu marschieren?«

Fähig, Kunststück! Es wurde mir sehr übel genommen, was ich da gesagt hatte.

Nur erst einmal sich den Magen voll Wasser pumpen und ein paar Bissen essen, dabei sich lieber gar nicht erst hinsetzen, dann gleich weiter. Oder ein Bad genommen, das war auch ein Gedanke, das erfrischte die Glieder und brachte sie nicht in hinterher ermüdende Ruhe.

»Wo ist denn nun der Araber geblieben?«, fragte Peitschenmüller, als sich alle schon auszogen.

Ich erzählte ihm alles. Nur was ich sonst dabei durchgemacht hatte, das konnte ich ihm nicht schildern.

»Dort habe ich ihn verpaddelt. Was wird es für Folgen haben?«

»Gar keine. Nur ein Protokoll, nichts weiter. Es war ein Diener, nicht eigentlich zur Garnison gehörend, aber mit unter dem Standrecht stehend, das über dieses einsame Fort immer verhängt ist, und der Kommandant sagte bereits, dass der Kerl, wenn er zurück käme, sofort kriegsgerichtlich gehängt würde. Sie haben ihn der ehrlosen Todesstrafe nur entzogen.«

Na, dann war es ja gut. Übrigens hätte ich mir verdammt wenig aus sonstigen Folgen gemacht. Wir paddelten ihn noch einmal aus, untersuchten ihn näher, fanden nichts weiter als im Gürtel einen ziemlich langen Dolch, an dessen Benutzung er gar nicht gedacht hatte. Ich nahm den Dolch an mich und wir scharrten den Toten tiefer wieder ein.

Während sich die anderen im Wasser tummelten, schrieb ich einen ausführlichen Bericht, teilte auch von der Fata Morgana mit, deren Ursache wir sofort untersuchen wollten, schickte mit dem Paketchen Thor auf die Reise, ihm aber auch den anderen Neufundländer mitgebend. Die beiden hatten sich ja unterdessen genügend ausgeruht.

Als wir wieder marschbereit dastanden, nach einer halben Stunde, war die turmgekrönte Festung unterdessen ganz bedeutend zusammengeschrumpft. Dass wir nicht solch ein hohes Gebäude in der Wüste finden würden, dessen waren wir uns überhaupt bewusst. Schon mancher von uns hatte eine Fata Morgana gesehen, die es ja auch zur See gibt, ich eine an der portugiesischen Küste, allerdings eine umgekehrte Luftspiegelung, wie es überhaupt meistens der Fall ist. Da hatte in der Luft ein ungeheures Haus mit einem Fabrikschornstein gehangen, alles also umgekehrt, der Schornstein nach unten, und darüber noch ein Schiff mit himmelhohen Masten. Als wir näher kamen, war es ein kleines Häuschen mit einem Rauchfang gewesen, davor hatte im Hafen ein kleiner Segelkutter gelegen. Die Spiegelung zieht sich eben immer in die Länge.

Wie weit die reelle Festung sich von uns befand, mochte sie sich auch noch so wenig über den Sand erheben, das vermochte von uns niemand zu sagen, wir kannten diese Berechnung nicht. Später habe ich überhaupt gehört, dass solch eine Berechnung bei der Fata Morgana gar nicht möglich ist. Theoretisch wohl, aber nicht praktisch. Man weiß ja niemals, wo sich der aus verdichteter Luft bestehende Spiegel befindet.

Wir nahmen genauen Kurs nach dem Kompass und marschierten los, Ostsüdost dreiviertel Ost.

Jetzt schrumpften die hohen Mauern ganz rapid zusammen.

Und als wir genau 35 Minuten im Geschwindschritt marschiert waren, da erkannten wir, dass die niedrigen Mauern, die wir jetzt vor uns hatten, Wirklichkeiten waren, und in einer weiteren Viertelstunde hatten wir sie erreicht.

Es war ein ziemlich umfangreiches Gebiet, vielleicht zwei Quadratkilometer, aus dessen Sand zerbröckelte Mauern aus Quadersteinen hervorsahen, nirgends höher als einen halben Meter, nur dass ab und zu noch ein Stein darauf lag.

Das hatte uns eine Festung mit Zinnen und Türmen vorgetäuscht.

Natürlich auch wirklich ein höchst interessanter Fund! Wir hatten eine alte Ruinenstadt entdeckt, im Sande vergraben. Aber wir durften dieser Entdeckung auch nicht gar zu große Wichtigkeit beimessen.

Besonders in den Wüsten Kleinasiens und Nordafrikas sind die Ruinenstädte einfach zahllos. Wo man eine größere Sanderhöhung sieht, und man gräbt nach, da kann man fast sicher sein, auf eine alte Ruinenstadt zu stoßen, deren einstigen Namen man nicht mehr erforschen kann.

Niemand nimmt sich die Mühe, solche Ruinen auszugraben, auch kein Forscher.

Man findet doch nichts weiter als zusammengestürztes Mauerwerk.

Denn diese alten Städte, einst in blühenden Gegenden liegend, sind doch nicht so plötzlich durch eine Katastrophe verschüttet worden, wie etwa Herculaneum und Pompeji, sondern sie sind ganz nach und nach, im Laufe von Jahrhunderten, vom Flugsande der nahen Wüste zugedeckt worden, die Einwohner wanderten ganz nach und nach aus, wie die Brunnen versiegten, der Sand eben ein Bewohnen unmöglich machte, und da nahmen sie doch natürlich alles mit, was irgendwie des Mitnehmens wert war. Und als die Stadt ganz verlassen war, dann kamen schließlich immer noch einmal beutelustige Wüstenbewohner und suchten noch einmal nach.

Ja, man kann ja noch etwas finden, unbrauchbare Hausgerätschaften und dergleichen. Aber das findet man doch auch in denjenigen Ruinenstädten, deren Namen wir noch kennen, die für uns ein historisches Interesse haben. Deshalb also gräbt man nicht in solchen unbekannten Ruinen nach. Das ist eine heillose Arbeit, wie wir noch erfahren sollten, die sich absolut nicht lohnt.

Dies alles war mir schon damals so ziemlich bekannt, wir hatten einmal eine deutsche Ruinenforschungsexpedition nach Smyrna befördert, da war ich etwas in die Verhältnisse eingeweiht worden, und ich erzählte jetzt davon.

Nun, etwas nachgraben taten wir morgen natürlich doch, wenn auch nur mit den Händen, eine Mauer musste doch einmal bis zum Grunde verfolgt, ganz freigelegt werden, interessant war es ja doch, so eine Paddelei (1) in einer Wüstenruine, die wahrscheinlich ein vieltausendjähriges Alter hatte, wenn man auch sonst nichts weiter dabei fand.

(1) Eine andere volkstümliche Bezeichnung für »Buddelei«, also Ausgrabung.

Vor allen Dingen legten wir uns jetzt zwischen den niedrigen Mauern schlafen, auch ich fiel noch einmal gleich wieder in Schlummer.

*

32. Kapitel

Ein Wrack besonderer Art

Originalseiten 758 — 773

Als unsere Hunde, die beiden Bulldoggen und die beiden Bernhardiner, anschlugen, zeigte meine Uhr ein Viertel sechs; bald musste die Sonne aufgehen.

Sie hatten ein Gebell in weiter Ferne beantwortet; das auch wir jetzt vernahmen, begrüßten den ankommenden Kameraden.

»Das ist Chloe!«, sagte Juba Riata nach kurzem Lauschen.

Sie kam, die Heldin aus dem berühmten Schäferspiele »Daphnis und Chloe«, nämlich unsere Schäferhündin. Ich werde sie aber fernerhin als Hund bezeichnen. Mit Unrecht, mir sind die Hündinnen lieber geworden als Hunde, sie sind weit zuverlässiger, was ja auch jeder Jäger weiß.

Wer etwas Näheres über den Charakter des Schäferhundes erfahren will, der lese in Brehms »Tierleben« nach. Dort stehen viele Seiten über ihn, geschrieben zu einer Zeit, da man diesen Hund nur dazu für brauchbar fand, um einen halb blödsinnigen Schäfer beim Hüten zu unterstützen. Wieder so etwas, was nicht sehr für den Scharfsinn und die Beobachtungsgabe des Menschen spricht. Von seiner Dankbarkeit ist überhaupt nicht zu sprechen.

Der Schäferhund ist der Zigeuner unter den Hunden. Das stimmt allerdings. Heute evangelisch, morgen katholisch, übermorgen ist er Jude — ganz wies verlangt wird, wies Geschäft erfordert.

Was aber beim Menschen Charakterlosigkeit ist, das gereicht diesem Hunde zur höchsten Ehre.

»Ist sein Herr ein Stutzer — er findet keinen stolzeren Renommierhund. Muss sein Herr zu Hause die Kinder warten — er kann sie ruhig ganz seinem Schäferhund überlassen. Ist sein Herr ein Wilddieb — sein Schäferhund verwandelt sich in einen unübertrefflichen Stöberer und Vorsteher, der nichts mehr hasst als Förster und Waldhüter, seinen Hass aber listig verdeckend.«

Nein, ein größeres Lob kann man dem einst so verachteten Schäferhunde nicht aussprechen, und jetzt endlich fängt man ja auch an, ihn als Polizeihund zu verwenden.

Und dass ich hier überhaupt so viel von Hunden spreche, dafür rechtfertige ich mich durch Arthur Schopenhauers Worte: »Die größte Errungenschaft, die der Mensch gemacht hat, ist die Zähmung des Wolfs zum Hunde!«

Chloe kam angestürmt, auf dem Nacken wohleingewickelt den Sextanten und ein Schreiben der Patronin an mich, ohne weiteren Belang. Nur Antwort sollte sie gleich haben. Arme Hunde! Ihr musstet hier ja noch etwas hin und her rennen! Aber sie taten es ja auch so gern, es war ihnen ja die reine Lust.

Die Sonne erhob sich über den Horizont, wir machten die Bestimmung.

24 Grad 8 Minuten 36 Sekunden nördliche Breite.

17 Grad 29 Minuten 11 Grad westliche Länge.

Hallo!! Überrascht sahen wir uns an.

Die astrologische Bestimmung unseres Sternkiekers! Nur um 30 Meter waren wir nördlicher gerutscht, die Längenbestimmung war sogar ganz genau.

Zufall oder — irgend etwas, wovon unsere Schulweisheit nichts träumt?

Never mind, da wollten wir uns den Kopf darüber nicht zerbrechen, ich wenigstens tat es nicht, gab auf solche Fragen keine Antwort, hörte auf solche Gespräche gar nicht hin.

Also wir befanden uns da, wo Mister Carlistle nach einem Schiffe tauchen wollte, brauchten nur 30 Meter südlicher zu rutschen. Eine nochmalige Berechnung ergab, dass wir uns nicht geirrt hatten, der Chronometer war durchaus zuverlässig.

Tauchen? Nun, warum soll man denn nicht auch in Sand untertauchen können. Auf die Beschaffenheit der Substanz kommt es doch nicht an. Man taucht in einer Versenkung oder im Meere der Vergessenheit unter.

Ein Schiff sollte hier gefunden werden?

Nun, warum denn nicht?

Dass diese Stadt hier einst dicht an der Meeresküste gestanden hatte, das war ganz zweifellos.

Die Düne von Kap Bojador rückt jährlich acht Meter weiter nach Westen vor, ins Meer hinein. So hat man berechnet.

Wir befanden uns, wie wir nun bestimmen konnten, 47 Kilometer von der Küste entfernt. Durch den letzten Marsch waren noch fünf Kilometer dazu gekommen, von dem Brunnen an, ziemlich direkt nach Osten.

Also hatte diese Stadt vor 6000 Jahren am Ufer des Meeres stehen müssen.

So ergibt die Berechnung. Aber ich traue solchen Berechnungen nicht, besonders auch nicht denen der Geologen, wenn sie etwa Zeiträume nach dem Heben und Senken des Festlandes bestimmen wollen.

Wir begehen immer den Fehler, das heutige Maß als unabänderlich feststehendes zu betrachten. Die Dünen an der Westküste Nordafrikas können ja früher viel schneller oder viel langsamer gewandert sein. Wie kommen wir denn dazu, immer gerade mit acht Metern zu rechnen! Und so ist es mit allen solchen Berechnungen!

Immerhin — wie dem auch sein mochte — einmal hatte hier diese Stadt unbedingt an der Meeresküste gelegen, ob nun vor 1000 oder vor 10 000 Jahren, das war dabei ganz gleichgültig.

Also konnte man hier auch recht wohl das Wrack eines hölzernen Schiffes finden. Holz ist in trockenem Sande unverwüstlich.

Also die Jucken ausgezogen und losgepaddelt. Zum Schaufeln konnten uns nur die kleinen Kochtöpfe dienen. Aber mit den bloßen Händen ging es doch noch schneller.

Dabei stand das Mundwerk nicht still. Hier war das auch nicht nötig, hier brauchte nicht in fünf Tagen eine ganze Prinzessinnenausstattung gefertigt zu werden.

Ich bereicherte die Leute mit meinen eigenen Kenntnissen, die ich aber nicht etwa über diese Sache schon immer gehabt, sondern ich hatte mich eben, ehe ich nach Rio de Oro kam, gut in Büchern orientiert, mehr als die anderen.

Den alten Griechen und Römern galt Kap Bojador als die letzte Grenze, wie weit man bei der Fahrt längst der Westküste Afrikas gelangen konnte. Nämlich weils dort eine außerordentlich starke Strömung nach Norden herrscht, welche die Rudergaleeren nicht überwinden konnten. Hätten sich die Galeeren weiter in die offene See gewagt, so hätte man gefunden, dass sich diese Strömung leicht vermeiden lässt. Das geschah aber nicht.

Trotzdem, die Phönizier müssen schon viel früher viel weiter nach Süden gedrungen sein. Herodot versichert, dass verwegene Phönizier zu Zeiten des Königs Necho von Ägypten, 600 vor Christi, vom roten Meere aus ganz Afrika umschifft haben und auch an der Westküste Afrikas sehr viele phönizische Kolonien besucht haben.

Hierüber sollten auch Urkunden bestehen, Herodot hat sie selbst gelesen, die man aber bisher noch nicht gefunden hat.

Gleichgültig — hier war eine alte Stadt, die einst am Meere gelegen, und wenn ihre Einwohner nicht einem jetzt unbekannten Volke angehört hatten, so waren es wohl Phönizier gewesen.

So erzählte ich den paddelnden Matrosen; auch die Karthager nicht vergessend, die ja ebenfalls zur Erforschung der westafrikanischen Küste mit beigetragen haben, vor allen Dingen der Admiral Hanno, aber doch später als die Phönizier.

Das Wort »Phönizier« genügte schon, das musste bei meinen Jungen gleich Erinnerungen wecken.

»Hier ist allwedder en phönizischer Diamant!!«, schrie als erster Moritz, einen etwas glänzenden Kieselstein von Kopfesgröße in die Höhe hebend.

»Hurra, und hier ist ein phönizischer Hosenknopf! jauchzte bald danach ein anderer, den Hosenknopf präsentierend, der aber erst seinem Nachbar abgeplatzt war.

Und so ging es bei der Ausgrabung der viel tausendjährigen Stadt weiter, an Witz fehlt es den Matrosen ja nicht, die merkwürdigsten Gegenstände wurden ausgegraben.

Unterdessen hatte ich schon wieder Wassermann nach Hause geschickt, mit dem Bericht, als was sich die Fata Morgana entpuppt hatte, auf welcher Breite und Länge gefunden, und wenn vielleicht noch Leute nachkämen, so sollten sie möglichst viele Blecheimer und ein Bassin aus wasserdichtem Segeltuch mitbringen. Mit der Erklärung wozu. Unbedingt nötig war es ja nicht, aber doch bequemer, falls wir hier länger blieben. Dann hatte jeder von uns, eine Bambusstange mit zwei Eimern auf dem Nacken, täglich nur einmal die fünf Kilometer nach dem Süßwasserteich hin und zurück zu machen, was in zwei Stunden geschehen war, und wir hatten Wasser in Hülle und Fülle. Außerdem natürlich noch Holzschaufeln, wie wir sie auf der brasilianischen Sandbank verwendet hatten. Aber, wie gesagt, unbedingt notwendig war dies alles nicht.

Wir paddelten den ganzen Tag an einer Mauer hinab in einer Breite von etwa zehn Metern, und zwar auf beiden Seiten, damit nicht etwa der enorme Sanddruck von der einen Seite her die Mauer umwarf, und am Abend hatten wir sie bis zu einer Tiefe von sechs Metern freigelegt. Eine recht ansehnliche Arbeit, die wir da geleistet hatten; denn es ist dabei doch das starke Gefälle des losen, feinen Sandes in Betracht zu ziehen.

Die Mauersohle hatten wir noch nicht erreicht, dagegen schon große Blöcke zu Tage gefördert, die offenbar von eingestürzten Decken herrührten. Auf unterirdische Kammern zu stoßen, die aber früher noch über der Erde gelegen hatten, damit durften wir überhaupt nicht rechnen. Die Last des sich aufhäufenden Flugsandes musste doch alle Mauerung eingedrückt haben, nur senkrechte Mauern waren stehen geblieben, oder vielleicht, dass massive Platten diese Last ausgehalten hatten. Auf eine solche aber waren wir hier nicht gestoßen.

Für heute Abend langte das mitgebrachte Wasser noch, morgen früh mussten wir uns aber auf den Weg nach dem Brunnen machen, womöglich noch vor Sonnenaufgang, am besten gleich alle zusammen, um uns satt zu trinken und die Wasserschläuche wieder zu füllen.

Es war ein ganz fideles Tagewerk gewesen, und die humoristische Unterhaltung währte noch lange in die Nacht hinein.

»Wir werden ein phönizisches Wrack finden, aber erst am 10. September, nachmittags Punkt zwei.«

So hieß es allgemein, denn ich hatte ja von Mister Carlistles Behauptung erzählt, das war ich den brav schippenden Leuten geradezu schuldig gewesen, und so wurde nicht nur ironisch gesprochen, denn mehr oder wenig abergläubisch sind doch alle Teerjacken, wohl überhaupt alle Menschen — ich nicht ausgeschlossen — wenn ich's auch nicht gestehen mag.

Gut, dann hatten wir noch zwölf Tage Zeit, denn heute war erst der 29. August. Bis dahin aber wurde trotzdem brav weiter geschippt oder mit den Händen gepaddelt, bis dahin wurde so viel Mauerwerk als möglich freigelegt, mochten wir auch absolut nichts finden.

Am nächsten Morgen um vier Uhr wurden wir wieder durch Hundegebell geweckt, eine neue Expedition kam anmarschiert, aus nicht weniger als 35 Köpfen bestehend, darunter die Patronin, Mister Carlistle, Doktor Isidor und von Fremden zwei spanische Offiziere und drei Soldaten vom Fort.

Sie waren bei Sonnenuntergang aufgebrochen, waren mäßig marschiert, hatten über Mitternacht drei Stunden gemacht. Die Leute waren schwer mit Proviant bepackt, statt der Bambusstange mit zwei Holzschaufeln oder Hacken, außerdem trug jeder drei zusammengesteckte Blecheimer, von denen jeder zwei zuletzt am Teiche gefüllt hatte, uns sogleich Wasser bringend.

Die beiden Offiziere waren mit den drei Soldaten als Gepäckträger aus Neugierde mitgekommen, ich erfuhr gleich, dass sie nicht etwa was mit Beschlag belegen könnten für das Fort oder für die spanische Regierung, und wenn wir hier auch goldene Berge und Kisten voll Diamanten ausgraben sollten. Da kommt ein spanisches Gesetz über das Schatzfinden in Betracht, so weit es nicht auf privatem Boden ist, sonst ist alles freies Eigentum des Finders.

Mister Carlistles Aufregung, so sehr er sie auch zu bemeistern suchte, war begreiflich. Erst hier an Ort und Stelle befiel sie ihn richtig.

Ich mache es kurz. Zwölf Tage lang haben wir geschaufelt, der 10. September war angebrochen.

»Heute Nachmittag um zwei Uhr werden wir das Wrack finden!«, versicherte unser Sternkieker zum hundertsten Male.

»Nach hiesiger Ortszeit?«

»Ja. Zwei Stunden, nachdem die Sonne den Zenit überschritten hat, werden wir das Wrack erblicken. So hat mir das Medium versichert, und es hat sich nie, nie getäuscht.«

Es war verdammt wenig Aussicht dazu vorhanden, dass die Prophezeiung auch diesmal in Erfüllung gehen würde.

Wir hatten in den zwölf Tagen das in Betracht kommende Geviert von ungefähr 1000 Quadratmetern vollständig ausgegraben. Ein Irrtum wegen der Lage war ausgeschlossen, Doktor Isidor hatte mit dem Meridianfernrohr zwei Zeitbestimmungen gemacht, die Kontrolle dazu — alles stimmte bis aufs Pünktchen oder die Erdachse hatte sich unterdessen anders geneigt. Aber dieser Astronom konnte sogar berechnen, dass auch dies nicht der Fall war. Mister Carlistle hätte die geografische Bestimmung bis zur zehntel Sekunde geben können, wir hatten ein Loch genau an diesem Punkte von drei Metern Durchmesser aufgeworfen. Aber er konnte die Bestimmung nur bis zur einfachen Gradsekunde geben.

Dann war aber auch gar keine Aussicht vorhanden, hier ein Schiffswrack zu finden; denn hier befanden wir uns so ziemlich im Zentrum der uralten Stadt. Nackt reckten sich die dicken Mauern empor, zehn Meter hoch und noch höher, die Straßen waren gepflastert gewesen, mit Steinplatten belegt, wir hatten sie aufgerissen, wir hatten Keller gefunden, aber kein Schiff, überhaupt absolut nichts.

Wie sollte denn auch mitten in die Stadt ein Schiff hereinkommen?

Wir hatten anderswo graben wollen, außerhalb der Stadt, wo eher der ehemalige Hafen zu vermuten war — Mister Carlistle hatte es nicht für nötig, als zwecklos befunden.

Er war von der Richtigkeit der astronomischen Berechnungen des Doktors überzeugt, er zweifelte nicht an seinem spiritistischen Medium — also musste das Wrack mit seinem geheimnisvollem höchst kostbaren Inhalt hier, gerade hier in diesem Geviert gefunden werden.

Aber erst am 10. September, nachmittags um zwei. Also hatte es eigentlich überhaupt gar keinen Zweck gehabt, schon immer hier zu paddeln.

Nun, wir hatten getan, was wir hatten tun können, nur um unseren Charterpatron unseren guten Willen zu zeigen — ob es Zweck hatte oder nicht, ob er es anerkannte oder nicht.

So war der 10. September gekommen. Heute Mittag wurde keine Siesta gehalten. Nur etwas kaltes Corned-Beef mit Reis, auf Petroleum gekocht; alles auf Menschenrücken nachgebracht, und es wurde weiter geschaufelt und gehackt.

»Punkt zwei finden wir das Wrack!«, sagte Mister Carlistle, die Uhr in der Hand, die wenige Minuten vor zwei wies.

Solch eine Vertrauensseligkeit hatte ich noch nicht gesehen. Ich war eben mit solchen Okkultisten und ähnlichen irdischen Geistern noch gar nicht zusammen gekommen.

Es wurde um zwei, der große Zeiger lief ruhig weiter, und von einem Wrack oder so etwas Ähnlichem gar keine Spur.

Mister Carlistle war furchtbar niedergeschlagen, murmelte immer etwas vor sich hin, wich jedem aus, kroch allein zwischen den Mauern und Trümmern herum.

Und mit uns allen trat nun auch ein gewaltiger Umschlag ein.

Die ganzen zwölf Tage hatten wir kein Wörtchen gesagt. Nun aber hatten wir diese Paddelei und Schlepperei satt! Mir taten schon die armen Hunde leid, die fortwährend zwischen unserem Schiffe und hier unterwegs gewesen waren.

»Ich dächte, Frau Patronin, wir rückten sofort ab. Nun ist's genug des grausamen Spieles.«

»Bis heute Abend noch.«

Gut, so lange wollten wir noch schaufeln und hacken. Von Sonnenuntergang bis Mitternacht sollte geruht werden, dann wurde abgerückt; morgen früh waren wir wieder an Bord unseres Schiffes. Ach, was wir uns darauf freuten!

Also wir arbeiteten weiter, legten noch einige Keller frei, ohne auch nur ein Spänchen versteinertes Holz zu finden. Dabei gefiel es mir gar nicht, dass die meisten der Matrosen und einige Heizer jetzt über den »Sternkieker« blutige Witze rissen. Gerade die waren zuerst ganz Vertrauensseligkeit gewesen; aber so ist eben der Mensch.

Außerdem war es eine ganz gefährliche Arbeit, die immer gefährlicher wurde. Es waren schon mehrere Mauern eingestürzt, nur unserer Vorsicht war es zu danken, dass noch kein Unglück geschehen war.

Es waren lauter mächtige Mauern, aus meterdicken Quadern, aus dem Steinboden gebrochen und bearbeitet, aufgetürmt, mit einer Art Mörtel miteinander verbunden. Mochte dieser Mörtel auch schon verwittert sein, die Quader lagen noch fest. Nun aber hatten sämtliche Mauern noch eine Verkleidung auf beiden Seiten, das waren aber auch schon wieder dicke Mauern, und diese lösten sich oft ab, krachten zusammen. Wie gesagt, wir mussten äußerst vorsichtig sein, zumal jetzt bei den Kellerarbeiten.

Die Nacht brach an, wir bereiteten unser spärliches, wenn auch sehr nahrhaftes Abendessen, außerhalb dieses gefährlichen Sandloches lagernd. Nur Mister Carlistle war nicht bei uns, der kroch noch mit seiner Petroleumlaterne in den Ruinen herum.

Es wurde um acht, die meisten Leute schwatzten noch zusammen, Carlistle war noch nicht zurück.

»Na nun haltet endlich die Luft an!«, wurde ich einmal grob, als einige noch immer über den Geister- und Sternkieker spotteten oder auch über ihn schimpften. »Ihr seid ja selbst die reinen Kinder gewesen, die sich vor Gespenster fürchten. Macht's Maul zu und schlaft, damit ihr nachher unterwegs nicht liegen bleibt.«

Da krachte und donnerte es dort unten in dem ausgepaddelten Tale, von aufgeworfenen Sandbergen eingeschlossen

Wieder war die Verkleidung solch einer Mauer abgefallen, was aber immer ebenso gut war, als wenn eine ganze Mauer, ein ganzes Haus einstürzte.

»Ssst — ruft da der Yankee nicht um Hilfe?!«

Wahrhaftig — »To help! To help!«, erklang es dort unten in ziemlicher Entfernung.

Na, nun war's ja gut, jetzt verunglückte der auch noch! Wir noch mehr Lampen angebrannt und hinab, natürlich blieb keiner zurück.

Carlistle rief noch immer, aber nicht mehr um Hilfe, sondern nur um uns die Richtung anzugeben, was uns freilich nicht über seinen Zustand beruhigen konnte.

Bald sahen wir ihm liegen. Es war richtig wieder so eine Wandverkleidung eingestürzt, der Yankee lag unter den Trümmern, und zwar ganz gewaltige Steinplatten, war wenigstens mit den Beinen eingequetscht!

Zuerst aber, wie er uns erblickte, streckte er den Arm aus.

»Das Schiff — da ist das Schiff!« — Alle Wetter ja!

Das Schiff war doch noch gefunden worden! Allerdings nicht solch ein Schiff, an das wir immer gedacht hatten.

Die abgestürzte Wandverkleidung hatte in der eigentlichen Mauer in Brusthöhe eine Nische freigelegt, in dieser stand ein Schiffsmodell, ungefähr einen halben Meter lang.

Ehe wir es näher betrachteten, musste natürlich dem Verunglückten zu Hilfe gekommen werden, eher wagte gar niemand hinzusehen, so anständig war jeder. Aber er war gar nicht verunglückt, war nur mit den Beinen eingeklemmt gewesen, nicht ein einziger Hautriss.

Nun erst wurde das Modell untersucht. Es war das Modell einer Rudergaleere, aus Bronze getrieben oder gegossen, vorn als Galionsfigur der Kopf eines menschlichen Ungeheuers, jedenfalls der Kinderopfer liebende Moloch oder Malik oder Melkart, und dieses gefundene Schiffsmodell konnte insofern als Wrack gelten, als die einst vorhanden gewesenen Ruderstangen abgebrochen waren, desgleichen der Mast, und auch sonst war das Ding ziemlich verbeult.

Es mochte fünf Pfund wiegen, beim Schütteln klapperte es darin.

»Vorsicht, Vorsicht!«

Wir waren schon vorsichtig genug. Gleich hier an Ort und Stelle wurde untersucht und die Planke bald gefunden, die sich aufschieben ließ. Aus dem Hohlraum kam eine Rolle zum Vorschein, offenbar eine Papyrusrolle.

Wir waren mit ihr noch vorsichtiger, solche uralte Dinger zerbrechen doch sehr leicht, diese hier aber tat es nicht, ließ sich ganz leicht aufrollen — auf grauem Grunde waren mit tiefschwarzer Schrift, die sich wunderbar erhalten hatte — als Farbe, meine ich — Hieroglyphen gemalt. Es war ein ganz beträchtliches Schriftstück, einen Meter lang und ein Drittel Meter breit, sehr eng geschrieben.

Hierbei erwähne ich noch, was ich bisher vergessen hatte, dass wir in den Ruinen sonst keine Schrift gefunden hatten, etwa eingemeißelte, keine Figur, gar nichts.

»Doktor, was ist das für eine Schrift?«

»Nicht assyrisch, nicht phönizisch, nicht die der Karthager — ich kenne sie nicht.«

Mit diesem Funde begnügten wir uns, brachen aber nun schon um neun auf, denn mit der Ruhe war es jetzt doch vorbei.

»Georg, was sagst Du zu alledem?!«, fing Helene bei der ersten Gelegenheit mit ganz entgeisterten Augen zu mir an.

»Gar nischt!«, war meine Antwort, und hätte sie mich als Waffenmeister behandelt, so wäre ich nicht höflicher gewesen.

Nein, ich wollte von alledem nichts wissen, das heißt, mich nicht in Spekulationen ergehen, und wer das nicht merkte, dass ich dies nicht wollte, dem konnte ich auf Wunsch auch noch gröber kommen.

So gerecht war ich aber nun auch wieder, den Betreffenden nicht daran aufmerksam zu machen, dass der Sternkieker das Schiffsmodell ja nicht nachmittags punkt zwei gefunden habe, wie ihm das Medium prophezeit. Das wäre dann auch nur eine Wortklauberei gewesen, so bin ich nicht. Ich pfiff überhaupt auf die ganze Sache, freute mich nur, nun nach dieser verdammten Paddelei wieder an Bord zu kommen.

Früh um acht trafen wir in Oro wieder ein, nach einem mäßigen Marsche mit zweistündiger Nachtruhe.

Doktor Isidor nahm die Papyrusrolle sofort in Angriff, Mister Carlistle war immer nur ein untätiger Zuschauer, wenn er einmal mit dabei war, aber es sollte gar lange dauern, ehe die Schrift enträtselt werden konnte.

*

33. Kapitel

Kapitän Satan vom »Seeteufel«

Originalseiten 773 — 813

Wohin nun, Mister Carlistle?«, fragte noch an demselben Tage die Patronin den Chartermeister in meiner Gegenwart. »Haben Sie nicht ein Ziel vor?«, war die Gegenfrage.

»Nein.«

»Bitte, Sie können es ruhig sagen.«

»Nein, ich habe nichts vor.«

»Dann bitte ich Sie, Ihr Schiff nach China zu dirigieren.«

»Wie Sie wünschen. Durch den Suez-Kanal? Das ist der nächste Weg von hier aus.«

»Die Route überlasse ich ganz Ihnen.«

»Sie wissen aber, wohl, dass die Passage durch den Suez-Kanal pro Tonne fünf Franken kostet, das machte bei meinem Schiffe 25 000 Franken, wozu noch Lotsengebühren und andere, allerdings keine beträchtlichen mehr, kommen.«

»O, diese 25 000 Franken hätten ja gar nichts zu bedeuten!«, konnte der halbe Milliardär, wenn er nicht geizig war, mit Recht entgegnen. »Aber es ist sogar Bestimmung — ich will es Ihnen offenbaren — dass ich mich unbedingt ganz Ihnen fügen muss, auf welchem Wege Sie mich nach China bringen werden.«

»Also wieder eine Bestimmung, natürlich wieder so eine spiritistische oder astrologische, und nun konnte sich die Patronin nicht enthalten, noch weiter zu fragen, leider ohne mich vorher hinauszuschicken, und ich war doch zu schwach, um gleich von selbst zu gehen.

»Ihnen auch wieder von jenem Medium gegeben?«

»Nein, diese Bestimmung habe ich mir selbst aus den Sternen berechnet.«

»Dass Sie sich nach China begeben sollen?«

»Ja, es ist unbedingt für mein Schicksal notwendig, dort wird etwas tief, tief in mein Leben eingreifen.«

»Hoffentlich ist es etwas Gutes.«

»Ja, es ist etwas Günstiges für mich.«

»China ist groß, die chinesische Küste lang.«

»Zunächst ist mir im allgemeinen China offenbart worden, die nähere Bestimmung des Ortes findet später statt, wenn sich die Zeit erfüllt hat. Nur ist es unbedingt nötig, dass ich an Bord dieses Schiffes nach China komme.«

»Wann, bleibt gleichgültig?«

»Gänzlich.«

»Ich könnte mich unterwegs auch einmal längere Zeit aufhalten?«

»Ganz wie Sie wollen. Wenn Ihr im Auge behaltenes Ziel nur China ist.«

»Herr Waffenmeister«, wandte sich die Patronin jetzt an mich, »ob von hier aus um Afrika oder um Amerika herum nach China, dabei ist in der Entfernung kein großer Unterschied, das weiß ich gleich aus dem Kopfe, ohne erst auf eine Karte sehen zu müssen. Aber sind jetzt auch die Wind- und Wetterverhältnisse günstig, um durchs die Magellanstraße zu fahren?«

»Wind- und Wetterverhältnisse dürfen bei einem Schiffe wie dem unsrigen, einem ursprünglichen Kriegsschiffe, überhaupt gar nicht in Frage kommen!«, entgegnete ich.

»Gut. So segeln oder dampfen wir durch die Magellanstraße, statten noch einmal unserer Argonautenbucht einen Besuch ab. Nur noch eins, Mister Carlistle. Doktor Cohn sagte mir vorhin, dass er vor der Papyrusrolle als vor einem ihm vorläufig unlösbaren Rätsel stände.

Es sei offenbar eine Geheimschrift, also eine ganz künstlich gemachte Schrift, und auf die Enträtselung solch einer Geheimschrift sei er nicht geeicht — so drückte er sich aus — da müsse er sich erst einrichten, was erst ein langes Studium erfordere. Weiter sagte er mir, dass es da Kapazitäten gebe, die sich die Enträtselung solcher Geheimschriften zur Spezialität gemacht haben, das sei vor allen Dingen in Buenos Aires der Professor Salvatore, für so etwas weltberühmt, und Doktor Cohn kennt ihn, er hat wenigstens viel mit ihm über Schachprobleme korrespondiert — wollen wir da nicht erst einmal nach Buenos Aires?«

»Nein, gnädige Frau Patrona. Es steht in den Sternen geschrieben, dass die Entzifferung dieser Papyrusrolle unbedingt an Bord dieses Schiffes durch unsere eigene Bemühungen zu erfolgen hat, sonst würde der Inhalt dieser Schrift für mich ganz bedeutungslos werden. Das habe ich heute Nacht schon, als wir in der Wüste Rast auf dem Marsche hielten, mit absoluter Zuverlässigkeit aus den Sternen mit dem Zirkel gestochen.«

So sprach der junge Mann.

Und ich musste mir schnell auf die Lippen beißen.

Na da! Arme Sterne, wenn Ihr wüsstet, wozu Ihr für eine gewisse Art von Mikroben, die auf diesem Planeten schmarotzen, vorhanden seid, wie die Euch mit spitzen Zirkeln im Leibe herumstochern!

Und, Gott, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie dieser da! Dass Du meinen Schädelinhalt für solchen Aberglauben unempfänglich gemacht hast!

Die Unterredung war beendet, die Leute erfuhren gleich unser nächstes Ziel, und sie alle freuten sich, wieder die Argonautenbucht zu besuchen, wo wir doch alle erst richtig zusammengeschweißt worden waren, so wie auch ich mich darauf freute.

Am Abend gaben wir der ganzen Garnison eine Vorstellung, natürlich ohne Entree, das waren wir ihnen schuldig, wenn sie auch wenig Gelegenheit gehabt hatten, uns ihre Gastfreundschaft zu beweisen, diese armen hier in die Wüsteneinsamkeit verbannten Leute würden ein ganzes Jahr an »Kling-Klang-Klung« und an Klothildes und Augusts Schuhplattler und allen den anderen Krimskrams zu zehren haben, und am nächsten Morgen brachte uns der Lotse durch die Sandkanäle ins offene Meer.

Die Fahrt über den ganzen Atlantik von Nordost nach Südwest erfolgte in 26 Tagen so abwechslungsreich wie immer. Das heißt, an Bord wohl jedes anderen Schiffes, auch des mit allen Spielvorrichtungen und Schwimmbad und Musikkapellen ausgestatteten Luxusdampfers wäre es wohl eine überaus langweilige Seereise gewesen. Denn die schreckliche Langeweile bleibt auf einer so langen Reise durch die Wasserwüste nie aus. Nur an Bord unserer »Argos« konnte so etwas wie Langeweile gar nicht aufkommen. Weil wir eben die waren, die wir waren. Anders kann ich mich nicht ausdrücken. Jedenfalls aber: wenn ich erzählen wollte, was sich allein in diesen 26 Tagen an Bord unseres Schiffes ereignete, was jede Tag- und Nachtstunde für einen neuen tollen Witz oder eine humoristische Szene brachte — es würde allein schon ein dickes Werk entstehen wie dieses hier, das ich über die ganze Argonautenzeit schreiben will.

Deshalb will ich über diese 26 Tage lieber überhaupt gar nichts erwähnen.

Nur das will ich sagen, dass der Sternkieker noch immer jede Nacht, wenn der Himmel klar war, in seinem Rasierspiegel brav mit dem Zirkel maß, glücklicherweise aber ohne etwas zu äußern, was er da aus den Sternen herausgestochert hatte. Er verschonte uns mit seinem Aberglauben gänzlich.

Anders aber wurde es, als wir in der Magellanstraße wieder vor unserer Bucht lagen und berieten, ob wir die Fahrt durch den schmalen Kanal wagen sollten oder nicht. Da trat der Sternkieker einmal aus seiner Reserve heraus.

Es war am 9. Oktober in der Mittagsstunde, als wir in der Magellanstraße an derselben Stelle lagen, wo damals Doktor Isidor seine astronomischen Berechnungen beendet und wir mit dem schwimmenden Hundegefolge die Bootsfahrt in die Bucht angetreten hatten.

Vor Einfahrt in die Magellanstraße, noch im Atlantik selbst, hatten wir ziemlich ruhige See gehabt, dann war der Wind umgesprungen, jetzt brandete es dort an der Küste ganz mächtig, wenn auch noch nicht so schlimm wie es hier manchmal toben kann, überhaupt die meiste Zeit tobt. Auf den Bergen bis herab in die Ebenen lag noch dicker Schnee, hier setzte ja erst der Frühling ein.

Sollten wir die Einfahrt riskieren oder nicht?

Zunächst musste da ja Mister Carlistle als Charterpatron befragt werden, der hatte doch das Schiff mit eigenem Gelde versichert.

»Machen Sie es ganz, wie Sie es für gut befinden, Herr Kapitän. Halten Sie die Einfahrt für möglich, so bleibt meine Versicherung bestehen, daran ist nicht zu rütteln.«

Das war eine äußerst nette Antwort gewesen. Aber dann kam ein böser, böser Nachsatz.

»Übrigens werde ich mein ägyptisches Punktierbuch befragen, da werden wir ja gleich sehen, ob wir die Durch- und Einfahrt wagen dürfen oder nicht.«

Und Meister Carlistle begab sich in seine Kabine, um zu »punktieren«. Wer da weiß, was das ist, dem schadet es ja nichts weiter — und wohl dem, der es nicht weiß. Ich kannte es von einem Dienstmädchen, das wir einmal hatten, die punktierte immer hieraus, was es zu bedeuten habe, wenn sie einmal von Läusen geträumt hatte, ob ihr Bräutigam ihr treu bleibe oder nicht. Ja, er war und blieb ihr treu — und dabei wurde der Schneidergeselle jede Woche gepfändet, obgleich er hohen Lohn bekam, so viel Alimente hatte der Kerl zu zahlen.

Na, das war ein Dienstmädchen gewesen, aus Memel, noch weiter von dort hier, wo sich die Füchse gute Nacht sagen.

Aber nun hier dieser junge, gebildete halbe Milliardär. Zum Teufel noch einmal, wenn man so einen Haufen Geld hat, muss man doch auch einen ganzen Haufen Bildung haben! Was man so Bildung nennt. Oder nicht?

Und geht der jetzt, um das ägyptische Punktierbuch zu befragen, ob wir mit unserem Kriegsschiffe dort durch die Brandung in die Bucht einfahren sollen oder nicht!

Heiliges Bombenelement noch einmal, das war eigentlich der beste Witz gewesen, den wir während dieser ganzen Fahrt erlebt hatten!

Gleichzeitig aber erfasste mich etwas wie eine grenzenlose Scham — über die ganze Menschheit, zu der ich doch auch gehöre.

Ein unbeschreiblicher Blick war es denn auch, den Kapitän Martin dem Davongehenden nachschickte, und dann beorderte er sämtliche Offiziere, auch die Maschinisten, ferner die beiden Bootsleute und vier Matrosen, an deren Erfahrung er etwas gab, auf die Kommandobrücke.

»Haltet Ihr die Einfahrt in die Bucht ohne Gefährdung des Schiffes für möglich? Wägt ab, und dann offenes Urteil! Auch Ihr, Matrosen!«

Sie blickten lange nach dem Kanal, in dem es furchtbar schäumte, und niemand wollte sprechen, sein Urteil abgeben. Und ich konnte es ihnen auch nicht verdenken.

Nur ein einziger hatte den Mut dazu, der alte Larsen, der erste Bootsmann, der Finne mit den entsetzlich krummen Beinen und den herabhängenden Schultern, genannt Napoleon.

Die haarigen Affenarme über der geöffneten, zottigen Brust verschränkt, sah er mit seinen Napoleonsaugen scharf nach der brandenden Küste.

»Nee, Käpten, 's ist, too riskant!«, sagte er dann.

»Well. Und Ihr anderen? Stimmt Ihr dem Bootsmann bei oder dagegen? Offen hieraus!«

»Wir stimmen ihm bei — 's ist zu riskant!«

»Well, es ist entschieden. Wir fahren nicht ein.«

»Und Ihre eigene Meinung, Herr Kapitän?«, fragte die Patronin.

»Käme nicht in Betracht, wäre überstochen.«

»Und wenn Mister Carlistle nun nach seinem Buche versichert, dass wir glücklich durchkämen?«

»Er soll mit seinem ägyptischen Traumbuche zur Hölle gehen und dies Teufels Großmutter punktieren!«, konnte Kapitän Martin auch seiner Reederin gegenüber einmal reichlich grob werden.

»Wenn er aber nun darauf besteht, nun gerade, wegen seiner prophetischen Überzeugung, und er hat für das ganze Schiff doch vollen Einsatz gegeben?«

»Dann, Frau Patronin, wenn auch Sie dem beistimmen, was ich nicht verhindern kann — dann übergeben Sie das Kommando über dieses Schiff einem anderen, ich lege es sofort nieder.«

Alle Wetter noch einmal. Aber recht so, recht so! Aber es sollte immer noch ganz, ganz anders kommen.

Eine großartige Szene sollte noch folgen. Wenn der Leser diese Großartigkeit nicht richtig erfasst, so ist das meine Schuld, dann habe ich die ganze Szene nicht richtig geschildert, habe die richtige Pointe verpasst. Für mich war es eine der großartigsten Szenen, die ich jemals erlebt habe. Wenn es dabei auch ohne jeden großartigen Kampf abging.

Mister Carlistle kam wieder aus der Kajüte, erstieg die Kommandobrücke.

»Nein, das Schiff würde unfehlbar scheitern, wenn wir in die Bucht fahren wollten, ich habe es mit untrüglicher Gewissheit aus den Sternen punktiert.«

So sprach Mister Carlistle. Und da plötzlich sah ich, wie sich das verwetterte, an sich schon rote Gesicht des Kapitäns noch dunkler färbte, wie aus seinen blauen Augen ein wahres Wetterleuchten schoss, und er reckte seine hohe Gestalt noch höher empor.

»Alle Mann auf die Stationen!«, donnerte sein Baß. »Voller Dampf auf! Klar zum Ramm!«

Da gab es nichts misszuverstehen, die Leute rannten, machten hauptsächlich die Korkfänder klar, die Maschinisten eilten unter Deck.

»Sie wollen es dennoch wagen?«, sagte Mister Carlistle. »Und ich versichere Ihnen, ich garantiere Ihnen, dass dieses Schiff unfehlbar...«

Er sprach nicht weiter. Mit einer schnellen Bewegung hatte der Kapitän seine Tuchkappe vom Kopfe genommen, griff mit seinem langen Arm ins Kartenhaus hinein, nahm dort die Kapitänsmütze vom Tische, setzte sie auf, blickte den Amerikaner an...

Dieser verstand sofort, neigte den Kopf, verließ die Kommandobrücke, ohne noch ein Wort gesagt zu haben.

»Frau Patronin«, wandte sich Martin jetzt ganz gelassen an diese, »ich weiß, was ich tue. Ich halte die Einfahrt für möglich, mag es auch ein gefährliches Wagnis sein. Aber ich halte es für möglich. Ich wollte dem Urteil jener erfahrenen Männer nur nicht widersprechen, diesem Gesamturteil hätte ich mich gefügt — aber wie die Sache nun gekommen ist... verdammt, nein, solch einem Schicksalsspruche füge ich mich nimmermehr! Jetzt wird's gewagt! Und wenn dem Schiffe doch etwas passiert — ich, Kapitän Gustav Martin, bin gut für die zwei Millionen!«


Illustration

Mehr brauchte nicht gesprochen zu werden. Schon qualmte der Schornstein mächtig, nach drei Minuten meldete der klingelnde Signalapparat aus dem Maschinenraum volle Dampfspannung und Kapitän Martin griff selbst in die Speichen des Steuerrades.

Ich will das Resultat dieser Auflehnung gegen einen menschlichen Schicksalsspruch gleich im voraus verkünden.

Wir kamen unversehrt hinein, wir kamen auch unversehrt wieder heraus.

Seit dieser Zeit verschonte uns Mister Carlistle mit seiner Sternseherei und Punktiererei. Wohl trieb er noch für sich seinen Hokuspokus — was dieses negative Resultat seiner Prophezeiung auf ihn für einen Eindruck machte, wie er es für sich zu rechtfertigen wusste, das weiß ich zwar nicht — danach bestimmte er noch seine Ziele und Termine, wir taten ihm seinen Willen, wenn es nicht gegen unsere direkte Überzeugung war — aber mit seiner eigentlichen mystischen Praxis verschonte er uns von jetzt an gänzlich.

Also wir fuhren auf den Kanal zu. Das heißt, das Schiff tanzte wie ein toller Ziegenbock, und tanzte umso mehr, je mehr wir uns der Küste näherten. Ich selbst hätte die Durchfahrt nicht gewagt, hätte ein glückliches Durchkommen eigentlich auch nicht für möglich gehalten.

Wie wir durchkamen, das kann ich unmöglich schildern. Kurz und gut, wir kamen durch, ohne irgendwie einmal angeeckt zu sein.

Dann waren wir in der Bucht, glatt wie ein Spiegel. Und wenn ich sagte, dass Kapitän Martin, als er jetzt die Speichen losließ, sie dem Matrosen wieder übergebend, sich den Schweiß vom Gesicht wischte, der urplötzlich ihm aus allen Poren perlte, so kann der Leser vielleicht begreifen, was das für fünf Minuten gewesen waren, die wir durchgemacht hatten — nur fünf Minuten, aber eben was für welche!

Und da überkam mich etwas, da beging ich einmal einen schweren Verstoß gegen die Bordroutine.

Ich schwenkte meine Mütze.

»Ein hip hip hurra für unseren Käpten. Hip hip hip...«

»Hurra!«, donnerte es nach.

Es hätte aber nicht viel gefehlt, so wäre uns allen dieses Hurra in der Kehle stecken geblieben. Ich habe die Bucht schon früher beschrieben. Also wenn die Küste auch im allgemeinen flach war, so gab es doch auch viele Felsmassen, auch schon vorgelagerte. Über diese konnten wir von Deck aus nicht blicken, nur wenn man erst ein gut Stück die Wante hinauf geklettert war, aber daran hatte diesmal niemand gedacht.

Und wie wir nun das ruhige Wasser der Bucht erreicht haben, da sehen wir dort an dem niedrigen Felsenrand, gar nicht weit von unserer ehemaligen, bedeutend höheren Anlegestelle ein langgestrecktes Fahrzeug liegen, welches das kundige Auge sofort als ein großes Torpedoboot oder gleich als einen Torpedojäger von etwa tausend Tonnen erkennen muss.

Aber ein Kriegsschiff kann es nicht sein, denn am Heck weht eine Handelsflagge die Novascotia-Flagge, rot mit blauen Querstreifen.

Ich will hier gleich erledigen, was über Novascotia in Bezug auf die Schifffahrt zu sagen ist — über die Novoascotiamen, also Neuschottland, die Küstenprovinz Kanadas, von der die Hauptstadt Halifax ist. Aber das ist eine deutsche Übersetzung, die in Wirklichkeit niemand gebraucht; es heißt Novascotia.

Halifax und die anderen Häfen dieser kanadischen Provinz haben eine ganz bedeutende Schifffahrt, lassen prozentual von allen Seestaaten noch die meisten Segelschiffe gehen, hauptsächlich nach China und anderen teebauenden Ländern, versorgen das ganze östliche Amerika mit Tee. Dazu müssen die Schiffe um Kap Hoorn gehen, bei dieser langen Reise kann kein Dampfer mit einem Segler konkurrieren, wegen der Kohlenunkosten, daran wird auch der Panamakanal nichts ändern, von einer Bahnbeförderung des Tees über San Francisco nach dem Osten erst gar nicht zu sprechen.

Die »Novascotiamen«, wie schon diese Schiffe allgemein genannt werden, zahlen die höchsten Heuern. Der Matrose bekommt monatlich 120 Mark. Während Nordamerika sonst nur 100 Mark zahlt. England 80, Deutschland 60. Am wenigsten Heuer zahlt Griechenland, 20 Mark. Die griechischen Matrosen sind eben auch danach, obgleich die Höhe der Heuer eigentlich nicht die seemännische Tüchtigkeit ausdrückt.

Die Novascotiamen sind in der ganzen seefahrenden Welt ohne Konkurrenz wegen ihrer Verwegenheit, wegen ihrer Tollheit. Es gibt wohl ein Reffen, aber kein Festmachen der Segel wegen eines Sturmes. Lieber lässt der Kapitän alle Masten abknacken, ehe er deswegen ein Segel birgt. Oder sonst wäre er eben kein Novascotiaman. Und kein Novascotiaman lässt sich von einem anderen Segelschiffe überholen, lieber wirft er die halbe Ladung über Bord, und sie haben nur hölzerne Masten, weil man diese schwippend machen kann, was bei eisernen nicht möglich ist, wiederum auf die Gefahr hin, dass sie abknacken. Aber nur nicht sich von einem anderen Handelssegler überholen lassen!

Ferner sind die Novascotiamen konkurrenzlos in ihrer Roheit. Es ist die roheste Bande, die auf Gottes Erde existiert. Was früher die Steinetreiber zu Lande gewesen sind, zum Teil auch jetzt noch, das sind die Novascotiamen zur See, nur dass sie die Steinetreiber noch weit, weit hinter sich lassen.

Und diese Novascotiamen, jetzt als Matrosen, als Seeleute so genannt, sind fast ausschließlich Deutsche. Wenn sie natürlich auch keine deutsche Heimat mehr kennen — es sind doch Deutsche! Nur Norweger kommen noch in Betracht. Schweden schon nicht mehr. Engländer und Amerikaner sind ganz selten.

Dass es hauptsächlich Deutsche sind, das hat einen tiefen psychologisch-historischen Grund. Das hängt noch mit der deutschen Landsknechtschaft des Mittelalters zusammen, sogar noch mit den germanischen Völkerwanderungen, die doch am meisten der Eroberungslust, der Kriegslust entsprangen. Die deutscher Landsknechte, die sich und ihre Waffen dem Feldherrn verkauften, der sie am höchsten bezahlte, gleichgültig, ob es ein Deutscher oder ein Italiener oder ein Spanier war, mit dem sie dann durch Dick und Dünn gingen, dem sie dann auch treu wie Gold waren — vorausgesetzt allerdings, dass er sie immer regelmäßig bezahlte — diese deutschen Landsknechte sind ausgestorben — zur See leben sie noch heute, als Seeknechte, als amerikanische Novascotiamen.

Und Krieger sind diese deutschen Seeknechte, wohl in amerikanischen Diensten stehend, aber regelmäßig unter dem direkten Befehl eines deutschen Kapitäns, ja auch noch heute. Der Teehandel ist nur seine Beschäftigung für die Friedenszeit, wenn sie nichts anderes zu tun haben. Sie warten nur darauf, dass irgendwo Krieg ausbricht, zwischen Seemächten, was ja auch fortwährend der Fall ist. Dann verwandeln sich alle diese Novascotiaschiffe in Kaper, oder sie stellen sich als Blockadebrecher zur Verfügung, oder schmuggeln Waffen und Proviant. Schmuggelei betreiben sie überhaupt immer, auch bei der friedlichen Kauffahrtei. —

Solch einen Novascotiaman hatten wir hier vor uns, unter denen es natürlich auch genug Dampfer gibt, sicher aber keinen gewöhnlichen Frachtdampfer mit 10 bis 16 Knoten, das lässt der Novascotiastolz nicht zu, dann würde er wenigstens nicht unter der roten Flagge mit blauem Strich fahren, und dieser hier war denn gleich ein Torpedojäger, der in der Stunde vielleicht seine 30 Knoten machte.

Den Namen konnten wir am Heck nicht sehen, aber an dem kurzen Signalmast, nur ein Stumpf, flatterte im leichten Winde noch eine zweite Flagge, die sogenannte Comptoirflagge, im weißen Felde blaue Wogen, in diesen ein rotes Ungetüm schwimmend halb Delfin, halb phantastischer Drache, und auf diesem reitend ein schwarzer Teufel mit Dreizack, die Zunge herausstreckend und gegen den Beschauer noch extra eine höchst unanständige Bewegung machend, ihm sein Wappen zeigend, den Körperteil, den zwar jeder Mensch hat, auf dem er sitzt, der aber speziell als das Wappen des Teufels gilt.

»Alle Heiligen! Das ist ja die Flagge des Kapitäns Satan!«, war die untenstehende Klothilde die erste, die das rief.

»Wahrhaftig, Kapitän Satan!«, bestätigten einige Matrosen ebenso staunend. »Hat sich einen Torpedojäger zugelegt, den er nun natürlich auch wieder den Seeteufel getauft hat!«

»Kchchchchch!«, erklang es da neben mir.

Dieser schriftlich nicht wiederzugebende Laut kam aus der Kehle des Kapitän Martin, und ich bemerkte, wie seine blauen, für gewöhnlich so gutmütigen Augen einen ganz finsteren drohenden Ausdruck angenommen hatten, wie sie nach dem schwarzen Schiffe blickten.

»Kennen Sie den Kapitän Satin vom Seeteufel?«, wandte er sich dann an mich und die Patronin. »Satin, heißt er, Jonas Satin, nicht Satan. Er wird aber allgemein Satan genannt, er selbst nennt sich sogar mit Stolz so.«

Nein, weder die Patronin noch ich kannten diese Seeberühmtheit, wenn es eine solche war. Die Welt ist groß, und der Schiffe und Kapitäne gibt es gar zu viele, und in dem dickleibigen Schiffsregister fällt einem so ein Name wie »Seeteufel« gar nicht auf, da gibt es noch ganz andere wunderliche Namen. Es waren von den 75 Mann unserer Besatzung auch nur Klothilde, drei Matrosen und ein Heizer, die diesen Kapitän Satan kannten oder doch schon von ihm gehört hatten.

Kapitän Martin winkte uns ins Kartenhaus, wir, die Patronin und ich, folgten ihm, er schloss die Tür.

Nach dem Passieren des Kanals hätte die Schraube sofort gestoppt, jetzt lief sich das Schiff aus, Raum genug hatte es dazu in der weiten Bucht.

»Frau Patronin, Herr Kollege!«, begann Kapitän Martin. »Der Mann am Ruder braucht nicht zu hören, was ich Ihnen jetzt sagen will, obgleich ich dies alles jenem Kapitän auch direkt ins Gesicht sage, oder ich würde es überhaupt gar nicht zu einem dritten aussprechen, darauf dürfen Sie sich bei mir wohl verlassen.

Auch dieser Kapitän Jonas Satin ist ein Gaukler zur See — aber ein Gaukler, gegen den jene anderen, die diese Bezeichnung führen, harmlose Kinder sind.

Dieser Kapitän Satin ist das niederträchtigste Scheusal, das ich in Menschengestalt kenne — ist wahrscheinlich der allergrößte Schurke, über den Gott seine Sonne in mir unbegreiflicher Langmut noch scheinen lässt. Dieser Teufel in Menschengestalt ist zu jedem Verbrechen fähig, zu jedem!

Nur eines will ich Ihnen offenbaren, was ich von diesem Scheusale weiß.

Ich weiß bestimmt, dass dieser Kapitän Satin einmal einem Konkurrenzschiffe mit mehr als 40 Mann Besatzung und drei Dutzend Passagieren eine Seemine gelegt hat, um es in die Luft zu sprengen, nur um einen Auftrag von kaum 2000 Dollars eher zu erhalten, als jener andere Kapitän, deshalb hat er jenem anderen ihm folgenden Schiffe eine unterseeische Mine gelegt, in einer engen Hafeneinfahrt, auf die Gefahr hin, dass auch andere Schiffe in die Luft fliegen konnten...«

»Allmächtiger Gott«, flüsterte Helene erschrocken, »ist denn so etwas möglich?«

»Bei Gott ist kein Ding unmöglich — und beim Teufel keine Niederträchtigkeit — und dieser von einem irdischen Weibe geborene Mensch verdreht selbst seinen Namen Satin in Satan, stellt sich selbst hohnlächelnd so vor, selbst seine Unterschrift ist so zu lesen. Dass er sein Schiff, das er ab und zu verliert, natürlich nur, wenn es mit Ladung hoch versichert ist, immer den Seeteufel nennt, sagt ja auch schon genug.

Ja, er hat die unterseeische Mine wirklich gelegt, um ein großes Schiff mit sieben Dutzend Menschenleben zu vernichten, wegen eines Geschäftes von 2000 Dollars! Ich weiß es bestimmt! Ich habe es damals sofort aus bester Quelle erfahren! Aber zu beweisen war ihm nichts. Mit jenem Schiffe war Gott, ließ vorher die Schraube brechen, und dann hat Kapitän Satin die Seemine rechtzeitig wieder aufgefischt, und jener Zeuge, von dem ich es erfuhr, schwerverwundet, starb zu früh. Es wäre dem verfluchten Hunde absolut nichts zu beweisen gewesen, so habe ich die Anklage gar nicht erst erhoben.

Herr Kollege, Frau Patronin!

Ich kann es nicht beweisen, aber es ist meine feste, ehrliche Überzeugung was ich Ihnen jetzt sage.

Auch dieser Kapitän Satin ist ein Gaukler, der es besonders auf Wracks abgesehen hat, die er aufsucht, um sie auszunehmen, und er hat im Auffinden solcher gestrandeten oder treibenden Wracks ein fabelhaftes Glück, er hat schon Dutzende eingebracht oder ausgenommen.

Und ich bin der festen Überzeugung, dass dieses Scheusal solche unglückliche Schiffe erst durchs falsche Leuchtfeuer oder sonstige Listen auf den Strand und zwischen Klippen lockt — dass er sie auf hoher See manövrierunfähig macht, die ganze Besatzung aus der Welt schafft, ermordet — und die Schiffe dann entweder als verlassene Wracks einbringt oder sie erst ausnimmt, wenigstens alles, was unauffällig mitgenommen werden kann, und die Schiffe dann einfach auf den Meeresgrund versenkt!«

Die Arme bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben, hatte der Kapitän mit hochgezogenen Augenbrauen zu uns gesprochen, mit leiser Stimme.

Helene war entsetzt — ich fasste es kaltblütiger auf.

»Haben Sie denn Beweise für solche ungeheuerlichen Anschuldigungen?«

»Nein. Nicht den geringsten. Und dennoch: ich weiß es!«

Ich zweifelte nicht daran, dass dieser Mann aus ehrlichster Überzeugung sprach.

»Ich weiß es so bestimmt, wie ich ganz bestimmt weiß, dass er damals jenem Schiffe eine Seemine gelegt hat. Obgleich ich das ebenfalls nicht beweisen kann!«, setzte er noch hinzu.

»Bringt er denn wirklich sehr viele Wracks ein?«, fragte ich.

»In den letzten zwei Jahren sind es sieben gewesen.«

»Fällt das denn nicht auf?«

»Er betreibt das Aufsuchen von Wracks als Spezialität, er will darin etwas los haben, er rühmt sich seines Glückes. Nein, bewiesen konnte ihm bisher noch niemals etwas werden. Und solch eine furchtbare Anklage kann doch nicht ohne triftigen Grund erhoben werden. Und dieser Mensch ist mit allen Hunden gehetzt, ist mit dem Teufel im Bunde, er rühmt sich ja direkt, blasphemiert damit, dass er selbst ein Teufel sei. Nicht nur, dass er seinen Namen Satin in Satan verkehrt, sondern er treibt es zum Beispiel so weit, dass er sich auch hinkend stellt. Er schleift sein rechtes Bein nach. Und das ist nur Verstellung denn bei anderer Gelegenheit habe ich ihn ganz schnell laufen sehen. Und trotzdem wiederum spielt er sich als unantastbaren Ehrenmann auf!«

»Hat er immer dieselbe Mannschaft an Bord?«

»Immer. So gegen fünfzig Mann. Viel zu viel für sein Schiff. Aber das kann ja jeder halten wie er will. Und der kann es sich leisten. Bei wiederholten Gelegenheiten hat er gezeigt, dass er über Millionen verfügt. Obgleich man nicht weiß, wo er sie hat. Angelegt hat er sie nicht.«

»Kann denn da nicht einmal einer von der Mannschaft zum Verräter werden?«

»O, diese Höllenbande ist ja mit Pech und Schwefel zusammengeschweißt. Er füttert die Bestien mit rohen Beefsteaks, da sind sie ihm treu. Wenn er einmal einen Abgang hat, was oft genug vorkommt, — es wird Schreckliches geflüstert, wie es an Bord seines jeweiligen Schiffes zugehen soll, der mordet seine Leute mit eigener Hand — so ergänzt er die Mannschaft mit Vorliebe aus Zuchthäusern, nimmt entlassene Verbrecher als Matrosen und Heizer an. Aber kann man ihm etwa einen Vorwurf daraus machen? Dieser Teufel ist so gerissen, dass er mit dieser seiner Menschenfreundlichkeit auch noch ganz offen renommiert. Er nimmt sich eben solcher entlassenen Sträflinge, die sonst wieder auf Abwege geraten, an, will sie wieder zu ehrlichen Menschen erziehen. Damit protzt er auch noch. Verstehen Sie, was da Ungeheuerliches dabei ist?«

O ja, ich verstand recht wohl.

»Hat er denn da aber nicht zu fürchten, dass solch ein Mann einmal in der Trunkenheit etwas ausplaudert?«

»In der Trunkenheit? Seine Leute müssen alle Temperenzler sein. Das ist auch wieder so etwas, womit er sich als heiliger Engel brüstete. Natürlich gilt das nur an Land. Was die an Bord für Orgien feiern, das weiß doch niemand.«

»Ist noch niemals eine Anklage gegen ihn erhoben worden?«

»Ich kenne zwei Fälle. Das ganze Schiff wurde sorgfältig untersucht. Und das Resultat? Die Ankläger sind als verleumderische Denunzianten durch Gegenanklage schwer bestraft worden.«

Au! Dann war es freilich faul, mit diesem Kerl anzubinden.

»Ja, Herr Kapitän Martin, und warum teilen Sie uns das alles jetzt mit?«, fragte ich dann ganz offen.

»Damit Sie wissen, wen Sie vor sich haben, wen Sie hier finden, falls Sie sich länger in der Bucht aufhalten wollen. Ich hielte es gerade für meine Pflicht, Sie vor diesem Menschen zu warnen, habe auch noch einen ganz besonderen Grund dazu.

Auch ich habe nämlich einmal mit Kapitän Satin einen geschäftlichen Konkurrenzkampf ausgefochten, in dem ich Sieger blieb. Ich kam ihm zuvor, erhielt einen Jahresauftrag, der mir rund eine halbe Million Reinverdienst einbrachte. Natürlich ein total ehrliches Geschäft, ich war eben der Schnellere gewesen und... ich wurde eben bevorzugt. Kapitän Satin selbst gratulierte mir, ganz unnötigerweise, darin hat er eben was los, mit feinem gewöhnlichen hämischen Grinsen. Dabei aber vernahm ich auch ein heimliches Zähneknirschen, — und einen Blick fing ich dabei auf — einen so furchtbar gehässigen Blick, sage ich Ihnen... ich habe von diesem Menschen alles zu erwarten. Es ist der einzige Feind, den ich, so viel ich weiß, auf der Erde habe. Aber auch mein Todfeind. Schon zweimal hat er mir etwas am Zeuge zu flicken gesucht, es ist ihm aber nicht gelungen, ich habe es auch nur unter der Hand erfahren, sonst hätte ich ihn doch zur Rechenschaft gezogen. Wenn der aber eine Gelegenheit hat, mir zu schaden — der lässt sie sich sicher nicht entgehen. Das ist es, was ich Ihnen sagen musste. Und dieser Teufel in Menschengestalt ist zu allem fähig, zu allem!«

»Sie fürchten ihn?«, war es die Patronin, die das fragte, denn ich hätte es nicht getan.

»Fürchten!«, wiederholte denn auch Martin mit geringschätzendem Achselzucken. »›Ich fürchte Gott und sonst nichts auf der Welt.‹ Diesen von Bismarck für das ganze deutsche Volk geprägten Wahlspruch darf ich mit vollem Rechte für meine Person in Anspruch nehmen. Nein, ich fürchte keinen Teufel, weder einen wirklichen aus der Hölle, noch solch einen irdischen. Ich hielt es nur für meine Pflicht, Ihnen meine offene Meinung über diesen Kapitän Satin mitzuteilen, falls die Frau Patronin hier länger liegen bleiben will, und ich bitte Sie, Herr Kollege, unsere Leute etwas zu instruieren, damit sie auf der Hut sind. Das ist Ihr Amt als Kargo-Kapitän, derartig für die Sicherheit des Schiffes zu sorgen, während ich nur die nautische Leitung habe, und als Waffenmeister wohl obendrein.«

»Ich werde die Leute instruieren, Herr Kapitän!«, entgegnete ich.

»Natürlich dass Sie ihnen nicht alles das erzählen, was ich Ihnen jetzt über diesen Mann mitgeteilt habe. Das war nur im Vertrauen unter vier oder sechs Augen gesagt.«

»O nein, ich verstehe vollkommen.«

»Ja, was will der eigentlich hier?«, fragte jetzt die Patronin mit begreiflicher Unruhe.

Begreiflich für mich. Wenn sich schon immer beim Anblick dieses Schiffes, das ebenfalls ein auf wagehalsige Spekulationen ausgehendes Gauklerschiff war, an die Flibustierschätze der »Desolation« des van Horn gedacht hatte, so die Patronin natürlich erst recht. Wenn wir auch gar keinen Grund dazu hatten.

Wir lagen jetzt still in der Mitte der Bucht, ja immer noch weit ab von der Küste, konnten aber schon jeden Mann mit bloßen Augen deutlich unterscheiden, jede Bewegung erkennen.

Einige Dutzend Männer waren damit beschäftigt, auf dem Lande nicht weit von dem Schiffe einen Bau zu errichten, der etwa einen halben Meter Höhe erreicht hatte und sich jetzt mehr in die Länge erstrecken sollte, danach sah es wenigstens ganz aus, wozu die Leute aus der angrenzenden Hummerbucht die dort liegenden Steine herbeischleppten.

Seitdem wir in der Bucht erschienen waren, hatte die Arbeitsfreudigkeit natürlich bedeutend nachgelassen, das fremde Schiff, das noch keine Flaggen zeigte, wurde angegafft und besprochen.

»Mir scheint«, sagte Kapitän Martin, »die sind wegen der Hummern hierher gekommen, die haben auch so einen Gedanken wie wir gehabt, die errichten bereits einen Kochofen.«

Natürlich, so war es! Wie hatten wir denn auch, oder ich wenigstens, die Anwesenheit dieses Gauklerschiffes gleich mit dem Schatze des Flibustiers in Verbindung bringen können.

»Woher mag er von den Hummern wissen?«

»Da fragen Sie mich zu viel, Frau Patronin. Er wird es uns schon selbst erzählen. Glauben dürfen wir es ihm freilich nicht, was er da sagen wird! Der Kerl lügt aus Prinzip. So wie er als ein echter Teufel auch aus Prinzip alle Ehrlichkeit hasst, überhaupt alles, was gut ist und recht und schön.«

»Sie meinen, wenn wir beilegen, er wird zu uns an Bord kommen?«

»Ganz sicher wird er seine Visite abstatten. Schon deshalb, weil er weiß, dass er mich dadurch ärgert.«

»Und Sie werden ihn empfangen?«

»Das muss ich, den Kapitän eines anderen Schiffes nach allen Regeln der Höflichkeit empfangen, das schreibt die Bordroutine vor, auch wenn sie ungeschrieben ist. Er kann mir ja aber auch eine wichtige dienstliche Meldung zu machen haben! Und wenn das auch nicht der Fall ist, so muss ich doch seinen Besuch unbedingt erwidern. Ja, wollen Sie denn nun anlegen?«

»Meinen Sie denn, dass es gefährlich ist, dass er uns etwas anhaben kann?«

»Ah bah, gefährlich, uns etwas anhaben können!«, erklang es verächtlich zurück, wodurch sich aber die Patronin unmöglich beleidigt fühlen konnte, so war es gegeben. »Dass wir die Augen offen halten müssen, weil von diesem Kapitän jeder böse Streich zu erwarten ist — das habe ich mit der Schilderung seines Charakters nur sagen wollen. Zurückgewichen wird natürlich keinen Zoll, und wenn es auch eine Legion von wirklichen Teufeln aus der Hölle wäre.«

»Die Anwesenheit dieses Menschen und überhaupt eines fremden Schiffes verleidet mir ja überhaupt hier den Aufenthalt, aber ich wollte wenigstens die Tiere gern wieder einmal an Land lassen. In Rio de Janeiro war es doch nicht das Richtige für sie.«

»Well, legen wir an.«

Wir verließen das Kartenhaus, die Kommandos zum Manöver wurden gegeben.

»Hat er denn schon immer solch einen Torpedojäger gehabt?«, fragte ich inzwischen noch einmal.

»Nein, noch vor einem halben Jahre fuhr er einen Segler, er hat aber auch schon oft Dampfer gehabt. Schon in Rio de Janeiro las ich in der Zeitung, dass er auch seinen letzten Segler wieder verloren und sich einen Torpedojäger angeschafft hat, der in New York für die Kriegsmarine gebaut worden war und von der Regierung nicht abgenommen wurde, weil er statt der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 34 Knoten in der Stunde bei der Probefahrt nur 32 entwickelt hatte. Da hat er als Privatmann das Kriegsschiff natürlich für ein Spottgeld bekommen.«

»Was will denn der mit so einem Torpedojäger machen?«

»Na, gaukeln will er damit!«, konnte Kapitän Martin schon wieder sorglos lachen. »Doch Spaß beiseite — der weiß schon, weshalb er einen gepanzerten Torpedojäger mit voller Armierung, sogar mit Lancierrohren für Torpedos kauft — wer weiß, was der damit wieder für eine Teufelei vorhat, von der aber die Welt wohl niemals etwas erfahren wird.«

Wir hatten an unserem alten Platze vertaut, der Bugspriet lag kaum dreißig Meter von dem Achtersteven des schwarzen Fahrzeuges entfernt.

Die Leute standen noch immer da und begafften uns, steckten die Köpfe zusammen, und das war begreiflich. Auch unsere »Argos« war ein Kriegsschiff, das erkannten die doch sofort, außerdem hatten auch wir jetzt schon anstandshalber unsere Flaggen zeigen müssen, und wenn der »Seeteufel«, welchen Namen wir jetzt neben dem Heimathafen »Halifax« wirklich hinten am Heck lasen, nicht seit einem Jahre oder dreiviertel unterwegs war, irgend einen Hafen angelaufen hatte, wo es eine Zeitung gab, so mussten sie sicher schon von der Argos und den Argonauten gehört haben, und da war es eben begreiflich, dass sie die Köpfe zusammensteckten.

Wir nahmen absolut keine Notiz von ihnen, und das war nicht etwa auffällig oder eine Missachtung. In bekannteren, weil leichter zugänglichen Buchten des Feuerlandes oder sonst wo in der Welt kommen oft genug Schiffe zusammen, besonders Walfischjäger und Robbenschläger, um am Lande Tran auszukochen und Felle zu präparieren, sie bleiben unter Umständen viele Wochen lang dicht nebeneinander liegen, und zwischen Kapitänen und Mannschaft wird nicht ein einziges Wort gewechselt. Es ist sogar ganz gut so — da können keine Streitigkeiten entstehen.

Mustern taten wir die Novascotsmen natürlich dennoch. Himmel, waren das lauter ausgesuchte Exemplare der christlichen Seefahrt — nämlich was die Galgenphysiognomien anbetraf! Soviel zerfetzte Galgengesichter hatte ich wirklich noch nie beisammen gesehen! Übrigens waren auch recht viele Neger und Mulatten unter ihnen vertreten, was man sonst eigentlich auf Novascotia-Schiffen nicht findet.

Wir ließen die Tiere an Land, und wieder begann das tolle Treiben der ganzen Menagerie. Lulu, immer noch ein Baby, für einen Elefanten haben ja so ein paar Monate nicht viel zu sagen, fiel sofort wieder in seine alten Löcher, musste immerwährend herausgeholt werden, sonst quäkte er sich tot — und jene Rüpels dort wollten sich bereits totlachen. Gefährlich konnten die Hunde und Raubtiere ihnen nicht werden, das wussten wir natürlich und das merkten jene auch sofort.

»Da kommt er schon, der Kapitän Satan!«, sagte Klothilde zu mir, der ich noch an Deck geblieben war.

Ich will den Mann, der noch so tief und fürchterlich in unser Schicksal eingreifen sollte, bis wir dieses Scheusal endlich zur Strecke gebracht hatten, gleich ausführlich beschreiben.

Eine kleine, untersetzte Gestalt, vierschrötig mit mächtigen Schultern, eine Bärenkraft verratend, auf dem Stiernacken ein gewaltiger Kopf mit schwarzen Borstenhaaren. Den Knebelbart trug er offenbar deshalb, um sich noch extra etwas Teuflisches zu geben, was ihm aber nicht gelang, wenigstens wenn man an so einen schönen Mephistopheles denkt, denn das Gesicht war von Pockennarben und Messerhieben entstellt, außerdem schielte er auf beiden Augen, sodass man nie wusste, wohin er blickte. Den rechten Fuß zog er ziemlich stark nach, was mir aber keine Verstellung schien, wohl eine Schwäche des ganzen Beines, und es war recht wohl möglich, dass diese Schwäche bei großer Erregung schwand.

Gekleidet war er mit auffallender Sorgfalt, wenn er sich natürlich auch erst für diesen Besuch so herausstaffiert hatte. Der blaue Anzug war von feinstem, seidenartig glänzendem Tuche, natürlich auch Seemannsschnitt, die trichterförmigen Hosen sich sogar ganz unmäßig erweiternd, schneeweißer Stehkragen und Manschetten, roter Schlips, Kapitänsmütze mit goldenen Streifen, Lackschuhe, die kulbigen Finger der Bärentatzen mit blitzenden, äußerst kostbaren Ringen gepanzert — ein Seemannsgigerl in fratzenhafter Ausgabe. Sein Alter war bei diesem verwetterten, zerfetzten Gesicht gar nicht zu taxieren. Jedenfalls aber zwischen vierzig und fünfzig.

So kam er angehinkt.

»Na, da lasst nur unter uns das Los ziehen, Waffenmeister!«, setzte Klothilde noch hinzu.

»Ein Los ziehen? Wozu denn?«

»Wer von uns geschlachtet werden soll.« »Geschlachtet werden soll? Was faseln Sie da, Klothilde?«

»Ich fasele gar nicht. Der will doch ein gutes Stück Menschenfleisch vorgesetzt haben, gehackt, roh, a la tartar, mit Zwiebeln und Essig und Öl und ein Ei drauf — Menschenfleisch ist dem doch die größte Delikatesse, überhaupt dieser ganzen Teufelsbande — das ist ja bekannt genug — die haben auch immer lebendiges Schlachtvieh mit zwei Beinen und einer Nase im Gesicht mit sich an Bord — das ist doch auch das gemeinsame Geheimnis, das diese ganze Teufelsbande wie Pech und Schwefel zusammenkittet. Wer auf diesem Höllenschiff angemustert wird, der muss erst eine Portion Menschenfleisch verzehren, dann gehört er erst richtig mit zum Bunde, dann haben sie ihn natürlich feste, da ist seine Zunge doch versiegelt.«

So sprach Klothilde, gar nicht so leise, wenn auch niemand in der Nähe war, der uns hören konnte.

Ich war starr.

Das war denn doch ein starkes Stückchen!

Klothilde konnte schreckliche Mordgeschichten erzählen. Auch in Gespenstergeschichten war sie groß, mit dem Klabautermann und dem fliegenden Holländer stand sie auf Du und Du, mit dem letzteren war sie schon einmal verheiratet gewesen, wusste ganz genau, wie es an Bord dieses Geisterschiffes zuging. Das heißt, sie selbst glaubte nicht etwa an Gespenster. Sie veralberte nur ihre Zuhörer.

Was sie aber jetzt da aus dem Stegreif über diesen Kapitän und seine Mannschaft berichtete, das war ja unerhört!

»Klothilde, wie kommen Sie dazu, etwas zu behaupten, was Sie gar nicht verantworten können, etwas so Ungeheuerliches...«

»Ungeheuerlich ist es wohl, aber unglaublich gar nicht. Das ist bei uns, die wir den Kapitän Satan näher kennen, allgemein bekannt, dass der und seine Leute sich bei jeder Gelegenheit Menschen verschaffen, die sie mästen und dann auffressen. Wenn die Schiffbrüchige auffischen, die verschwinden an Bord des Seeteufels für immer die werden... ay? Jawohl, ich komme.«

Sie war von der Patronin in die Kajüte gerufen worden. Ich starrte ihr nach, ich starrte dem Kommenden entgegen — und dann schlug ich mir alle Gedanken über das soeben Gehörte aus dem Kopfe.

»Eh, die Bestien tun mir doch nichts?«, rief jetzt Kapitän Satin noch in beträchtlicher Entfernung, mit merkwürdig hoher Stimme.

Er wurde von einigen Matrosen beruhigt, die einen ihn besonders beschnobernden Bären zurücktrieben.

»Dann ist gut, ich bin nämlich ein bisschen ängstlich, hähähähä!! lachte er schrill, wie seine unangenehme Stimme war. »Hallo, was hat denn das Vieh?«

Ja, da passierte etwas ganz ganz Seltsames, etwas ganz Schauerliches, das man mit der Feder nur nicht so beschreiben kann.

Die Hunde hatten sich um den Fremden also wenig oder überhaupt gar nicht gekümmert, nur Willy der braune Bär hatte ihn näher in Augenschein genommen, mit der Nase, und dann war auch Harras angeschlichen gekommen, um von dem Ankommenden einmal Witterung zu nehmen, zumal ihm das Augenlicht fast schon fehlte.

Harras war ein Wolfshund, dem Wolfe näher als dem Hunde, nur dass er schon bellte, was der Wolf ja nicht kann — es war das einzige Tier an Bord, das nicht der Patronin gehörte. Juba Riata hatte ihn mitgebracht, Harras war schon sein treuer Begleiter gewesen, als jener noch Cowboy gewesen, hatte sein ganzes Artistenleben mitgemacht, ungefähr zehn Jahre lang, und als ihn Peitschenmüller damals in der Prärie halbverschmachtet auf der Leiche eines Reiters, seines früheren Herrn gefunden hatte, da musste er auch schon einige Jahre alt gewesen sein.

Also ein schon sehr alter Hund, räudig aussehend, wenn er auch noch gesund war, aber fast erblindet, pfiff auf dem letzten Loche. Peitschenmüller hielt natürlich die größten Stücke auf seinen vierbeinigen treuen Freund, erzählte Wunder von der wahren Menschenklugheit des Tieres, und die sollte Harras jetzt noch besitzen. Ich hatte aber absolut noch nichts von dieser Menschenklugheit bemerkt. Harras war überhaupt nie zu bemerken. Wenn er sich in die Sonne legte, dann dahin, wo ihn niemand trat, ihn gar niemand sah, das schien wohl noch seine einzige Klugheit zu sein.

Also auch Harras hatte sich an Land begeben, torkelte unsicher herum, sich nur mit der Nase orientieren könnend, und so hatte er auch den Fremden gewittert.

Und plötzlich kneift der alte Wolfshund seinen räudigen, spärlich beharrten Schwanz zwischen die Beine und fängt zu heulen an, so entsetzlich wie ich es nie wieder von einem Hunde gehört habe, und da mit einem Male stimmen auch alle anderen Hunde mit in dieses schreckliche Geheul ein.

Bei dieser Gelegenheit bemerke ich, dass Peitschenmüller schon in jener ägyptischen Oase alle diese Hunde »leichenfest« gemacht hatte. Das heißt, sie heulten nicht mehr, wenn sie eine menschliche Leiche witterten, was ja sonst der Hund mit Vorliebe tut. Ein guter, kluger Hund. Der kennt den Herrn der Schöpfung eben nur lebendig, ein toter Mensch ist ihm etwas Rätselhaftes, vielleicht auch etwas Grausiges, da fängt er zu heulen und zu winseln an. Das hatte ihnen Peitschenmüller also abgewöhnt. Als ich damals an dem Wüstenteiche die Leiche vergraben hatte, und die Hunde kamen, so hatten sie diese Leiche wohl sofort gewittert, sie hatten es mir angezeigt, dass sie es wussten, das hatte ich sofort gemerkt — und dann hatten sie sich scheu um den Grabhügel herumgedrückt. Ein Heulen gab es nicht mehr.

Und jetzt fangen alle diese Hunde, von Harras dazu angestimmt, auf solch eine schauderhafte, unbeschreibliche Weise zu heulen an!

»Was — ist — das?«, höre ich da sagen, und neben mir steht Juba Riata, hat es in ganz seltsamem Tone gesagt, und sein Gesicht mit den weit geöffneten Augen drückt das grenzenloseste Staunen aus, aber auch noch etwas ganz anderes, etwas wie furchtbarer Schreck, was mir bei diesem eisernen Manne ganz fremd ist.

Er brauchte nur mit seiner Peitsche, die er nie aus den Fingern ließ, wie mit einer Pistole zu knallen, und das entsetzliche Heulen verstummte mit einem Schlage. Aber das alte Spielen wollte nicht wieder beginnen. Alle die Hunde waren und blieben gedrückt, schlichen herum, wenigstens lange Zeit noch.

»Hallo, das war wohl die Ouvertüre zu dem berühmten Argonautenkonzert, hähähä? lachte wieder die schrille Stimme des immer Näherkommenden, und jetzt hörte ich, dass diese Stimme neben der Höhe auch einen eigentümlich fetten Klang hatte, was gar nicht zusammen passen wollte, so wenig wie zu der ganzen Gestalt.

Er hatte das Laufbrett erreicht, dort empfing ihn der erste Steuermann. — »Kapitän Satan vom Seeteufel, Halifax, ist Kapitän Martin zu sprechen?« — Der erste Offizier salutierte, und Kapitän Satan, wie er sich selbst genannt hatte, nicht Satin, wurde von Kurt, des Kapitäns speziellem Steward, über den ich bisher noch nichts weiter zu berichten hatte, in die Kapitänskajüte bugsiert, wo bereits neben einigen Delikatessen der obligate Champagner und Portwein auf dem Tische stand. Denn ohne Champagner und Portwein geht es nicht ab, wenn sich gegenseitig zwei Kapitäne an Bord besuchen, die einesteils, wenn sie nicht ihr eigenes Schiff fahren, auch nichts weiter als geknechtete Dividendensklaven sind, anderseits aber Fürsten des Meeres mit einer unumschränkten Gewalt, über die kein absoluter Monarch verfügt. Denn einen Menschen, sogar seinen ersten Offizier, der nur einen Finger gegen ihn hebt, auf der Stelle niederschießen, das kann auch der russische Zar sich nicht leisten, darf es wenigstens nicht zum zweiten Male tun, sonst dürfte er wohl eingesperrt werden. So ein struppiger Kapitän mit Volksschulbildung, wenn er überhaupt eine regelrechte Schule besucht hat, trägt ins Logbuch ein, weshalb er den Mann niedergeschossen hat, das Seegericht spricht ihn nach kurzem Verhör frei, wenn auch die ganze Mannschaft anders aussagt. Gegen den Diensteid des Kapitäns ist gar nicht aufzukommen. Oder da muss es schon ganz anders kommen. Und er erhält von der Reederei für diesen Zweck, um einen anderen Kapitän bewirten zu können, extra eine Kiste besten Champagner und Portwein mit, als wäre es ein ehernes Gesetz, obgleich es gar keine solche Vorschrift gibt, und wenn die Reederei auch sonst die Mannschaft ihres Schiffes verhungern lässt.

Der hinkende Teufel im stutzerhaften Seemannskostüm war in der Kajüte verschwunden. Wir hatten über diese Begrüßung vorhin gar nicht gesprochen. In diesem Augenblick sah ich im Geiste die beiden Kapitäne in der Kajüte zusammen kommen. Und ich warf die Frage auf, ob Kapitän Satan wohl dem bestgehassten Kollegen die Hand zum Gruß hinhalten und ob Kapitän Martin wohl seine Hand aus der Hosentasche nehmen würde, um jene zu schütteln. Oder wie der diese Sache sonst umging. Und ferner schossen mir im Augenblick allerlei Mord- und Verbrechergeschichten durch den Kopf. Ich dachte daran, ob diese schielenden Augen den Kapitän Martin wohl hypnotisieren könnten. Ich sah im Geiste, wie sich die beiden Männer gegenübersaßen, wie Martin einmal wegsah und wie der hinkende Teufel ihm schnell ein Tränklein in den Portwein goss, das unseren Kapitän besinnungslos machte, eine willenlose Maschine in der Hand dieses Teufels.

Und wie ich das noch so dachte, alles in einem Augenblick, da musste ich plötzlich herzlich lachen. Nämlich wie ich mir vorstellte, wie sich Kapitän Martin hypnotisieren ließ. Wie der andere das wohl anfangen wollte. Oder wenn der unseren Käpten, immer die Hände bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen, mit einem Tränklein besoffen machen wollte...

Kurz und gut, ich musste plötzlich laut auflachen.

»Was lachen Sie denn?«, fragte Peitschenmüller, noch neben mir stehend, immer noch mit dem halb erstaunten, halb bestürzten Gesicht.

»Ach, ich dachte gerade etwas!«

»Mir ist durchaus nicht lächerlich zumute.«

»Ja, so sehen Sie auch aus. Was haben Sie denn? Was hatten denn nur vorhin die Hunde, dass sie so schrecklich heulten?«

Peitschenmüller blickte sich erst vorsichtig um, sogar scheu, was diesem Manne gar nicht stand.

»Waffenmeister — Sie können's mir glauben, ich habe schon viel in meinem Leben durchgemacht — manchmal Schauderhaftes — aber Sie wissen doch ich erzähle nicht gern davon...«

Ja, das wusste ich. Er war selten einmal über seine Erlebnisse zum Sprechen zu bringen, und dann erzählte er immer nur ganz harmlose Geschichten.

»Na und?«

»Ich habe den kubanischen Krieg mitgemacht, auf Seiten der Yankees — immer begleitet von meinem Harras — da bin ich mit einer Abteilung Soldaten einmal im Boote auf See, bei einer Landung, abgetrieben, wir wurden verschlagen, nach den karibischen Inseln, landeten auf einer — und Sie wissen wohl, die Kariben huldigen noch heute dem Kannibalismus, der Menschenfresserei, wenn sie nur können — und wir wurden gefangen, vier meiner Kameraden sind gebraten worden...«

»Was Sie nicht sagen!«

»Jawohl. Sie können's mir glauben, dass ich nicht gern davon erzähle. Wenn nicht rechtzeitig ein Kanonenboot erschienen wäre, alle, wir achtzehn Mann, wären aufgefressen worden!

Auch mein Harras war gebunden worden. Als zukünftiger Braten. Wie nun der erste Soldat über dem Feuer schmorte, da fängt doch der Hund auf eine schreckliche Weise an zu heulen, wie er noch nie geheult hatte. Auch nicht bei einer Leiche. So wie er vorhin heulte. Und so heult er weiter, wie ein Soldat nach dem anderen geschlachtet und gebraten wird. Bis er einen Schlag auf die Schnauze bekam, der ihn betäubte.

Zwei Jahre später bin ich wieder in Mexiko. Apachen haben ein Blockhaus überfallen, wir kommen zu spät, können aus der brennenden Hütte nur noch die Leichen der Farmer ziehen, schon angesengt.

Wie das mein Harras wittert, das verbrannte Menschenfleisch, da fängt er wieder so grässlich zu heulen an.

Und das dritte und letzte Mal passierte es erst vor anderthalb Jahren, kurz bevor ich die Patronin kennen lernte. Da fängt auf freiem Gelände mein Harras auch wieder so schrecklich zu heulen an. Wir graben nach, wo er anzeigt, finden eine frische Leiche, furchtbar verbrannt. Ein Mord, der Leichnam sollte verbrannt werden, wurde aber dann doch vergraben.


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Beim Näherkommen des Kapitäns Satan begann Harras ein
klägliches Heulen, in das die anderen Hunde alsbald einstimmten.


»Wissen Sie, was ich damit sagen will?«

Starr blickte ich den Sprecher an.

»Dass der Kapitän nach verbranntem Menschenfleisch gerochen hat?«

»Ja, bei Gott, ich kann auf keinen anderen Gedanken kommen. Harras hat noch ein sehr gutes Gedächtnis, eine äußerst feine Nase. Alles andere gebratene Fleisch macht ihm nur Appetit. Eine menschliche Leiche zeigt er an, sonst aber lässt sie ihn kalt. Nur den Geruch von angebranntem Menschenfleisch kann er nicht vertragen. Da heult er so entsetzlich. Selbst die anderen Hunde finden es schrecklich. Die heulen dann zur Gesellschaft mit, ohne zu wissen warum. Aber Harras weiß warum, und der irrt sich nicht.«

»Und Sie meinen«, flüsterte ich, »dass dieser Kapitän Satan...«

»Nach gebratenem oder angebranntem Menschenfleisch riecht, mehr meine ich nicht. Bitte, sprechen Sie nicht weiter darüber, vorläufig nicht. Ich musste Ihnen nur den Grund mitteilen, warum Sie mich so erstaunt und bestürzt gesehen haben.«

Juba Riata ging einfach davon, wie es seine Weise war. Dafür trat wieder Klothilde zu mir.

»Sie, Waffenmeister — was ich vorhin zu Ihnen sagte — sprechen Sie nicht darüber. Nicht wahr?«

»Klothilde, wie kommen Sie denn nur auf solch einen entsetzlichen Verdacht?«

»Ja, dieser schreckliche Verdacht besteht bei allen denen, die diesen Kapitän und seine Mannschaft näher kennen und etwas mehr davon wissen. Wissen Sie, was ich meine?«

»Nein.«

»Haben Sie noch nicht gehört, dass alle die, welche Menschenfleisch essen, dauernd essen, mit der Zeit eine ganz hohe, fettige Stimme bekommen?«

Nein, das war mir etwas ganz Neues, was ich da zu hören bekam.

Ich will diese Sache gleich hier erledigen, in anderer Weise, als damals mein Gedankengang war.

Seeleute sind doch zuerst mit fremden, der anderen Welt früher unbekannten Völkern zusammengekommen, auch mit Kannibalen, haben manche böse Erfahrung mit ihnen gemacht.

Im Mannschaftslogis wird mancherlei »Garn gesponnen«, werden schauerliche Geschichten erzählt. Wenn man sie nicht selbst erlebt haben will, dann der Großvater, der Urgroßvater.

Da wird manchmal nicht nur von wilden Kannibalen berichtet, sondern auch von weißen Matrosen, von Schiffbrüchigen, die im offenen Boot oder auf eine Klippe verschlagen sich gegenseitig aufgefressen haben.

Und wer einmal Menschenfleisch gekostet hat, der soll dann nicht wieder davon lassen können, mindestens öfters eine unheimliche Sehnsucht danach bekommen. Und wer Gelegenheit hat, dieser unnatürlichen Lust zu frönen, der soll mit der Zeit eine ganz hohe Fistelstimme mit fettigem Klang bekommen. Nicht der wilde Insulaner, dem der Kannibalismus etwas ganz Natürliches, etwas Erlaubtes ist, sondern der Europäer, der diese furchtbare Sünde begeht. Am Klange seiner Stimme soll er seinen Frevel verraten.

So wird im Mannschaftslogis erzählt. Bisher hatte ich noch nicht gehört. Das ist doch kein Alltagsgespräch. Später habe ich gefunden, dass unter den Seeleuten wirklich so erzählt wird.

Ich habe Anthropologen und andere Gelehrte darüber gesprochen. Die wussten von so etwas nichts, fanden es auch ganz unglaubwürdig. Weshalb soll sich denn die Stimme durch den Genuss von Menschenfleisch so verändern?

Nun, da will ich einmal den Herren Gelehrten ein anderes Rätsel aufgeben.

Es ist eine Tatsache, die ich berichte.

Ich habe einmal in einem Buche — ich weiß nicht mehr in welchem — die Behauptung gelesen, dass alle Menschen, die fortwährend Fische essen, mit der Zeit abstehende Ohren bekommen. Als Beweis wurden ganze Völker angeführt, die fast nur von Fischen leben, wie die Eskimos, die japanischen Küstenbewohner und andere. Die haben ja nun allerdings abstehende Ohren, aber es ist doch ein schwacher Beweis, von ganzen Völkerschaften darauf zu schließen, dass alle Menschen, die dauernd Fisch essen, mit der Zeit abstehende Ohren bekommen.

Da sollte ich einmal eine eigentümliche Beobachtung machen.

Ich habe einmal in Frankreich ein Kartäuserkloster besucht, bei Bruxvill. Die Kartäuser sind diejenigen, die den famosen Schnaps machen, den Chartreuse. Jetzt allerdings nur noch in Spanien, in Frankreich sind sie neuerdings ausgewiesen. Früher war die Ordensregel der Kartäuser sehr streng, nur Brot und einfachstes Gemüse, Fleisch und Fisch gar nicht. Jetzt fehlt nur noch Fleisch, Fisch gilt desto mehr. In der Nähe des Klosters waren viele große Teiche, in denen Karpfen und Barsche und ähnliche Arten gezüchtet wurden, dazu noch großer Import. Die Brüder aßen tagtäglich zu jeder Mahlzeit sechserlei verschieden zubereitete Fischgerichte, als Gemüse Spargel und Artischocken und tranken den Wein aus Literhumpen.

Da fiel mir auf, dass die meisten dieser Brüder, die älteren sämtlich, so weit abstehende Ohren hatten.

Und auf meine bei Gelegenheit angebrachte Frage sagte mir der Prior, der sich durch ganz besondere Horchlöffel auszeichnete, ohne Weiteres direkt, dass dies von dem dauernden Fischgenuss herkäme. Der Mönch, möchte er auch als Novize noch so kleine, enganliegende Ohren haben, bekäme mit der Zeit durch die fortgesetzte Fischfresserei abstehende Löffel.

Das ist eine Tatsache!

Nun löse dieses Rätsel, wer da kann.

Deshalb aber braucht man nicht etwa auf Fischgerichte zu verzichten. — —

»Haben denn alle Mann an Bord dieses Schiffes solch eine Fistelstimme?«

»Na, nicht gerade alle, bei allen schlägt das eben nicht an, aber doch die meisten.«

»Das haben Sie selbst gehört?«

»Habe ich selbst gehört.«

»Wo hatten Sie denn Gelegenheit hierzu?«

»In Kingstown, wo die ganze Mannschaft des Seeteufels wegen Einbringung eines Wracks einmal protokollarisch vernommen wurde.«

Unsere Unterhaltung wurde durch Siddy unterbrochen, die Patronin ließ mich zu sich bitten.

Der Kapitän hatte ihr soeben durch seinen Steward ein Billett zugeschickt. Das wäre nicht nötig gewesen, wenn wir vorher mündlich alles ausgemacht hätten. Aber der Teufel war uns eben gar zu schnell mit seinem Besuche über den Hals gekommen.

Das Billett lautete:

»Kapitän Satin bittet Sie durch mich, als Patron seines Schiffes Ihnen als der Patronin dieses Schiffes seine Aufwartung machen zu dürfen. Sie als Patronin haben nicht nötig, ihn zu empfangen, können ihm durch den Steward eine einfache Absage zugehen lassen. Wollen Sie ihn aber empfangen, so haben Sie Zeugen bei sich! Er wird Sie bitten, ihm und seinen Leuten eine Vorstellung zu geben, wird die höchsten Preise bieten. Darauf gehen Sie doch auf keinen Fall ein. Diese Bande verpestet doch unser ganzes Schiff. G. Martin.«

Das hatte mir Helene zu lesen gegeben.

»Ich wollte nur Dich noch fragen, Georg, ob Du es wünschest, dass ich ihn empfangen soll.«

»Du willst es nicht?«

»Ich habe kein Verlangen danach, diesen Menschen kennen zu lernen, und von einer Vorstellung ist natürlich gar keine Rede, nicht um Millionen, nicht für alle Schätze der Welt.«

»Dann fort mit ihm!«

Siddy wurde instruiert, bekam ganz höfliche Worte herzusagen.

Fünf Minuten später überschritt Kapitän Satin wieder das Laufbrett.

Die Patronin befand sich schon wieder an Deck, dazu hatte sie das Recht, es war ganz unmöglich, dass sie jetzt noch von ihm angeredet wurde, es war auch durchaus kein Anstandsverstoß.

Auch Kapitän Martin kam gleich wieder heraus.

»Nun, was wollte er?«, empfing ihn die Patronin, als jener an Land kaum außer Hörweite war. »Hat er gesagt, weshalb er hierher gekommen ist?«

»Richtig wegen der Hummer. Er hat mir ganz umständlich erzählt, von wem er erfahren hat, dass hier so viel Hummern sind, will nun hier eine Konservenfabrik anlegen. Aber die Büchsen hat er noch nicht dazu. Jetzt baut er zur Probe erst einen Ofen, dann will er Arbeiter holen, wahrscheinlich deutsche oder russische Auswanderer, die er in New York abfängt. Dann macht der hier eine Konservenfabrik mit Sklavenbetrieb auf. Wollte Sie fragen, ob Sie daran partizipieren wollten.«

»Davon kann doch gar keine Rede sein!«

»Na, dann brauchen wir ja auch nicht weiter darüber zu sprechen. Was war denn das, was Ihnen da entflog?«

Die Patronin hatte in der Hand noch des Kapitäns Billett gehabt, nur ein dünnes Papierchen, ein von See her kommender Windstoß hatte es ihr entführt, es aufs Land geweht, wehte es weiter.

»Ihr Billett!«, flüsterte Helene, das Weitere wohl ahnungsvoll schon kommen sehend.

Und es kam wirklich!

Das Papier flatterte weiter, dem davongehendem Kapitän rasch, überholte ihn, blieb an einem Steine hängen, er hob es auf, las es im Weitergehen, steckte es ein.

Und Kapitän Martin machte mit dem Leibe eine krümmende Bewegung, als wolle er ein Lachen ersticken.

»Na, nun wirds gut! Na, nun weiß der ja, wie ich über ihn denke. Wirklich ein Glück aber, dass ich nicht, wie mir erst die Feder fließen wollte, Verbrecherbande geschrieben habe, die unser ganzes Schiff verpesten würde. Der würde mir sofort einen Prozess anhängen. Aber dass er dies gelesen hat, das schadet nix. Ja, nun muss ich ihm aber unbedingt einen Gegenbesuch abstatten, zwischen Kapitänen ist das nicht anders möglich, wenn sie nicht gerade ihre Feindschaft gegenseitig ausgesprochen haben.«

»Sie sind dazu verpflichtet?«, fragte die Patronin. »Wie ich sage.«

»Wenn ich aber nun jetzt sofort die Bucht wieder verlassen will?«

»Das ist etwas anderes. Dann kann ich eben nicht. Diese Dienstpflicht geht über jede Höflichkeitspflicht. Dann muss ich mich durch ein Schreiben entschuldigen, eventuell auch nur durch Flaggensignale.«

»Vorwärts, abgetaut, wieder auf die See hinaus!«

In zehn Minuten war die ganze Menagerie wieder an Bord, nur die Tauben, die den Wald aufgesucht hatten, fehlten noch, die aber alsbald, als sie das Schiff sich entfernen sahen, vollzählig nachgeflogen kamen, und in weiteren zehn Minuten hatten wir den Kanal wieder hinter uns.

Dass die Ausfahrt selbst bei stürmischster See keine beträchtliche Schwierigkeit bot, indem man in der geschützten, immer ruhigen Bucht einen tüchtigen Anlauf nehmen konnte, habe ich schon früher erwähnt, und auch sonst passierte nichts, obgleich Mister Carlistle nur darauf zu warten schien.

Vorher hatte Kapitän Martin einen Matrosen mit einem Entschuldigungsschreiben nach dem »Seeteufel« geschickt, weshalb er den Besuch nicht erwidern könne. Befehl seiner Patronin, die Bucht sofort wieder zu verlassen.

Kapitän Satan hatte das Schreiben mit einem hämischen Grinsen gelesen, das eingesteckte Billett nicht zurückgeschickt.

Ich suchte diese ganze Angelegenheit mit der Menschenfresserei zu vergessen, was mir auch gelang.

Aber dieser Kapitän Satan sollte sich uns noch einmal selbst in böse Erinnerung bringen.

*

34. Kapitel

Im Kampfe mit Piraten

Originalseiten 813 — 847

Vier Wochen später. Die Morgendämmerung vertrieb die finstere Nacht, die aufgehende Novembersonne beleuchtete ein stilles Meer, im Nordwesten eine wildzerklüftete Küste mit zahllosen vorgelagerten Felseninselchen und eine zweimastige chinesische Dschunke, die mit niedergelassenen Bastsegeln in einer Entfernung von einem halben Kilometer vor den äußersten dieser Inselchen mit einer geringen Strömung die Küste entlang nach Südwesten trieb.


Illustration

An Deck der Dschunke befanden sich anderthalb Dutzend Chinesen, die alle schnatternd und eifrig gestikulierend nach der nahen Küste blickten, und der Kapitän der Dschunke, der über einen ganz besonders schönen Hängebart und Zopf verfügte, hieß Georg Stevenbrock, wie überhaupt die sämtlichen Chinesen germanische Argonauten waren, mit Ausnahme von Kien Chen, genannt Mister Kännchen, unserm Schiffskoch.

Dass ich mit meinen Argonauten auch kriegerische Unternehmungen vorhatte, habe ich ja schon früher einmal erwähnt, angedeutet, und jetzt, da uns unser Sternkieker nach China dirigiert hatte, noch immer ohne ein bestimmtes Ziel anzugeben, war die erste Gelegenheit dazu gekommen.

Die Seeräuberei steht an der ganzen chinesischen Küste wie im ganzen malaiischen Archipel noch heute in vollster Blüte. Wir bleiben bei China.

Die Zeiten, da jedes europäische oder amerikanische Segelschiff, das sich bei Windstille in der Nähe der Küste befand, ganz sicher sein durfte, von chinesischen Piraten in ihren Ruderprauen angegriffen zu werden, sind allerdings vorbei. Das hat die Erfindung der Dampfmaschine mit sich gebracht. Die bezopften Piraten sind sich niemals sicher, ob solch ein Segelschiff nicht doch eine Hilfsmaschine im Bauche hat, plötzlich Dampf aufmacht und wie ein Würgengel zwischen die Ruderprauen fährt. Es genügt auch schon der Donkey, der die Winden treibt, oder vielmehr nur dessen Kessel, oder überhaupt irgend ein großer Wasserkessel, unter dem Feuer gehalten wird, um den Angriff der Langzöpfe abzuschlagen, dem kochenden Wasser, in weitem Bogen ausgespritzt, hält niemand stand, und dann unsere modernen Magazingewehre, die selbst in unkundigster Hand zur furchtbaren Waffe werden. Mag die Besatzung eines kleinen Schoners auch nur aus zehn Mann bestehen, ehe zehn Prauen mit je 40 Mann herangekommen sind, haben die Matrosen, mögen sie auch noch so schlechte Schützen sein, unter den Piraten doch schon schrecklich aufgeräumt.

Anders bei der Dschunke, dem einheimischen Fahrzeug.

Nach einem uralten chinesischen Gesetz durfte der Seehandel nur mit nach Vorschrift gebauten Schiffen betrieben werden, nur aus Brettern zusammengenagelten Kästen, mit Teer wasserdicht gemacht, die von jeder hohen See sofort kaputt geschlagen werden, sodass sie nur an der Küste entlang fahren können, bei jedem Sturme oder nur höher gehenden See in der nächsten Bucht Schutz suchend.

Der Grund dieses Gesetzes war der, um den Einwohnern des Landes ein Verlassen ihrer Heimat unmöglich zu machen, sodass sich nur eine Küstenschifffahrt entwickeln konnte. Es war die chinesische Mauer übertragen auf das Meer.

Dieses Gesetz ist schon längst abgeschafft worden. Heute könnte sich jeder chinesische Handelsherr die modernsten Schiffe bauen lassen. Aber niemand denkt daran. Jenes Gesetz hat Jahrtausende lang bestanden und ist strikte befolgt worden, und solch ein alter Zopf ist nicht so bald abgeschnitten. Vorläufig gibt es noch keine einzige Werft in dem ungeheuren Reiche die selbstständig ein modernes Schiff bauen kann, nicht den kleinsten hölzernen Segler moderner Konstruktion. Man müsste ihn auf einer ausländischen Werft bauen lassen. Dann fehlen aber chinesische Matrosen. Der Chinese eignet sich nicht zum wirklichen Seemann, diese Fähigkeit ist in den vielen tausend Jahren gar nicht entwickelt worden. Den Schiffskessel heizen kann er vorzüglich, aber zur Bedienung der Segel und überhaupt zur Arbeit an Deck fehlt ihm alles und jedes. Japanische Matrosen fahren auf europäischen Schiffen in Hülle und Fülle, es sind die tüchtigsten Seeleute, aber wer hat schon einen chinesischen Matrosen gesehen? Zwar gibt es jetzt schon chinesische Kriegsschiffe, bemannt mit Chinesen, aber von deren Jämmerlichkeit will ich gar nicht erst beginnen, ich bleibe bei der Kauffahrtei.

Also müssten die auf fremden Werften erbauten Handelsschiffe auch mit fremden Matrosen bemannt werden. Nun, da kann man den ganzen Seehandel nach auswärts doch lieber gleich ganz den fremden Nationen überlassen, man begnügt sich mit dem Zwischenhandel, der ist viel sicherer, hat nicht so viel Risiko.

Bleibt nur noch die Küstenfahrt, die in China umso bedeutsamer ist, weil im Lande gute Kommunikationswege fehlen. Da kommen als Hauptsache nur die großen Flüsse in Betracht. Also die Waren werden von Flussmündung zu Mündung gebracht, die Flüsse hinauf oder hinab gefahren und dann erst auf schlechten Landstraßen in dem ungeheuren Reiche verteilt.

Bei dieser ausgedehnten Küstenschifffahrt nun ist man bei den alten Dschunken geblieben, und wie die Sache nun einmal liegt, ist es auch ganz richtig so. Die Hauptsache ist nämlich, dass mit der Billigkeit dieser elenden Bretterkisten und ihrer Arbeit kein anderes Schiff konkurrieren kann. Wäre das möglich, so hätte ja schon längst England diesen enormen Küstenhandel Chinas an sich gerissen, so wie es zum Beispiel an den levantinischen Küsten getan hat; hier würde sich wahrscheinlich auch Frankreich daran beteiligen. Aber mit dem Frachtsatze, den diese chinesischen Dschunken nehmen, kann nicht einmal ein verhungerter Grieche konkurrieren.

Diese zahllosen Dschunken — sie sind wirklich noch nicht gezählt — welche den ganzen, immensen Küstenhandel betreiben, bedingen die Existenz der nicht minder zahllosen Küstenpiratenbanden. Die Dschunke, die angesichts der chinesischen Küste außerhalb eines Hafengebietes in Windstille kommt oder nur nicht schneller segeln kann, als solch eine Prau rudert, die ist unrettbar verloren. Mit absoluter Sicherheit tauchen Piratenboote auf, und wenn die Mannschaft der Dschunke sieht, dass sie nicht entkommen kann, kein europäisches Schiff in der Nähe ist, das noch zu Hilfe eilen kann, so denkt sie an gar keinen Widerstand, die Zopfträger kauern sich hin und lassen sich einfach abschlachten. Denn jeder Widerstand gegen die Übermacht ist nutzlos, Gnade gibt es nicht, auch Gefangene werden nicht gemacht, die etwa selbst Seeräuber werden sollen. Diese Piraten bilden auch wieder eine Kaste, die keine Fremden aufnimmt.

Auf diese Weise gehen dem chinesischen Handel — das lässt sich berechnen — noch heute jährlich mindestens 60 Millionen Mark verloren. Andere, welche die Sache genau kennen wollen, haben auch schon 200 Millionen Mark ausgerechnet. Aber die chinesischen Kaufleute fassen diesen Verlust ganz kaltblütig auf. Der chinesische Küstenhandel ist so außerordentlich, dass dieser Verlust gar nicht weiter in Betracht kommt. Die Piraten sind die Raubvögel, Füchse und Marder für den Hühnerstall, der muss nur gut beaufsichtigt und in der Nacht verschlossen werden, dann lohnt sich die Hühnerzucht immer noch. Die Dschunken dürfen bei eintretender Windstille oder bei mäßigem Winde eben nicht so nahe an der Küste sein, dass sie von den Piraten gesichtet werden können, nur darauf kommt es an. Und die chinesischen Händler und Schiffsbesitzer haben sich gegenseitig für den Verlust durch Piraterei versichert, das ist eine hochentwickelte Organisation.

Wo bleibt denn nun die Beute?

Da muss zunächst gesagt werden, dass den Piraten in ihren Schlupfwinkeln gar nicht beizukommen ist. Diese liegen stets auf Inseln, von denen es ja an der ganzen chinesischen Küste wimmelt, wenn sie auch so klein sind, dass sie selbst auf der größten Spezialkarte nicht einmal durch Punkte angegeben sind, weil man sie eben überhaupt noch gar nicht kennt. Die zerrissene Küste, die man allüberall sieht, das sind lauter Inselchen.

Also auch vom Lande her sind diese Schlupfwinkel nur auf Wasserwegen zu erreichen, diese kennen nur die Mitglieder der Bande, kein fremdes Boot findet sich in den Kanälen zurecht, und wenn diese auch vielleicht früher passierbar waren, so haben die Piraten in den Jahrhunderten oder vielleicht auch Jahrtausenden Zeit genug gehabt, alle anderen durch Steinmassen zu verbarrikadieren, nur eine einzige im Zickzack laufende Labyrinthstraße offen haltend, die schon von einem Kinde mit seinem Gewehr oder mit Fitschepfeilen beherrscht werden kann.

In diesen unangreifbaren und überhaupt unauffindbaren Schlupfwinkeln wird die Beute aufgehäuft, bis der Hehler sie abholt. Aber der ist von der Regierung konzessioniert. An der Küste ziehen zu gewissen Zeiten Handelskarawanen entlang, an den bestimmten Stationen werden Signale gegeben, die Piraten hören sie, ein Boot kommt gerudert, bringt den Kaufmann mit verbundenen Augen nach dem Schlupfwinkel, wo er die ihm angebotenen Waren besichtigt, es wird gefeilscht, und dann muss er den Preis sofort in bar bezahlen. Dafür aber wird er auch mit einer den Chinesen sonst ganz unbekannten Ehrlichkeit bedient. Der Kaufmann wird mit verbundenen Augen wieder zurückgebracht, vorläufig ist er sein Geld los. Nun bringen die Piraten die Ware nach einer einsamen Insel, die von Land aus nicht beschossen werden kann, von dort holt der Kaufmann sie ab. Dafür hat der konzessionierte Diebeshehler 20 Prozent vom gezahlten Preise an die Regierung abzugeben, also macht die Regierung durch diese Seeräuber noch ein ausgezeichnetes Geschäft, es kann ihr gar nicht so viel daran gelegen sein, diesem Unfug zu steuern.

Die chinesische Regierung hat gegen die Piraten überhaupt niemals etwas unternommen, wohl eben aus diesem Grunde. Engländer waren es, die zuerst gegen sie energisch vorgingen, weil sie so viel Segelschiffe durch die Piraten verloren. In den vierziger Jahren, als die Dampfmaschine das Seewesen zu beherrschen begann, kamen Engländer auf den schon erwähnten Gedanken. Segelschiffe wurden mit einer Hilfsmaschine ausgestattet, sie blieben mit Ansicht bei Windstille an den verrufensten Stellen der Küste liegen, die Piraten wurden angelockt und von einer militärisch geschulten Mannschaft nach Gebühr empfangen.

Auf diese Weise sollen innerhalb von drei Jahren mindestens 20 000 Piraten ihr Leben haben lassen müssen. Dann gingen sie nicht mehr in die Falle, seitdem bleiben europäische Segelschiffe von ihnen unbelästigt.

Das ist das einzige, was dadurch erreicht wurde. Sonst war eine Abnahme der Piraten gar nicht zu merken, und ihren Hauptzweck hatten die Engländer doch nicht erreicht.

Es waren abenteuerliche Unternehmer gewesen, Ritter zur See, die diesen Plan ausgeheckt hatten. Aber denen war dabei doch nicht so viel daran gelegen, die Menschheit und speziell China von den bezopften Bluthunden zu befreien. Sondern vor allen Dingen hatten es diese englischen Abenteurer auf die aufgestapelte Piratenbeute abgesehen. Hierbei brauchten sie erst die Mitwirkung ihrer Regierung, der englischen. Bisher hatte die Piratenbeute, wenn doch einmal ein Nest ausgehoben wurde, der chinesischen Regierung gehört, oder dem Kaiser, so lautete wenigstens das Gesetz. Damals konnte England auf China gerade einen großen Druck ausüben, und jene Abenteurer regten an und die englische Regierung setzte durch, dass dieses Gesetz abgeschafft wurde. Fernerhin gehörte, wie es noch heute ist, die den Piraten abgenommene Beute voll und ganz demjenigen, der ihnen diese Beute eben abnimmt.

Hierin aber hatten sich jene englischen Seeritter total verspekuliert. Sie hätten es wissen können, das hatte ihnen in China doch jedes Kind erzählt. Aber sie hatten es nicht geglaubt. Sie hatten gehofft, Piraten lebendig zu fangen und sie zu zwingen, dass sie ihnen den Weg nach dem Schlupfwinkel zeigten, unter Anwendung der Tortur.

Hiermit also war es nichts. Man kann keinen chinesischen Piraten zu einem Geständnis zwingen, ihn nicht einmal lebendig fangen. Sobald sich solch ein Pirat gefangen sieht, begeht er Selbstmord. Daran ist er durch nichts zu hindern, er verschluckt seine Zunge, erstickt.

Und hierin gibt es keine Ausnahme. Das ist eben das furchtbare Kastenwesen. Das ist auch der Grund, weshalb die Piraten keine anderen unter sich aufnehmen. Das Geheimnis ihres Schlupfwinkels ist wohl gehütet. Schon die kleinsten Kinder werden dazu erzogen, sie kennen es nicht anders, das ist ihnen während Jahrtausenden in Fleisch und Blut übergegangen: der Pirat, der gefangen wird, begeht sofort Selbstmord. — —

Ich hatte, wie schon wiederholt erwähnt, schon als Kind Seeräuberuniversalweltgeschichte studiert. Was gar nicht so humoristisch aufzufassen ist. Mir waren alle diese Verhältnisse durchaus bekannt. Und ich war zur See gegangen, um entweder Seeräuber zu werden oder Anti-Seeräuber. Mein guter Engel hatte mich veranlasst, den letzteren Beruf zu ergreifen. Was ebenfalls nicht so ganz humoristisch zu nehmen ist.

Ja, ich hatte schon als zehnjähriger Junge ernsthaft darüber nachgegrübelt, wie man den Piraten, speziell diesen chinesischen, zu Leibe rücken könne. Nicht nur um sie zu vernichten, sondern um ihnen ihre blutige Beute abzunehmen. Im Geiste sah ich immer in ihren Felsverstecken die aufgestapelten Fässer und Ballen, darunter kostbare Seidengewebe und noch kostbareres Opium und das im Orient unentbehrliche Ambra, viermal so teuer als Gold, die Moschusbeutelchen nicht zu vergessen, und alle diese aufgehäuften Schätze gehörten dem, der den Mut dazu hatte und die List dazu erfand, wie sie den chinesischen Piraten abzunehmen waren, wie man den Weg in ihren Schlupfwinkel erfuhr.

Ich erfand das Mittel dazu nicht. Der bezopfte Pirat verrät den geheimen Wasserweg nicht, er kann es nicht, denn gefangen begeht er Selbstmord.

Bis ich eines Abends mit meinem Vater in einem Varieteetheater saß.

Da sah ich etwas, da kam mir plötzlich die grandiose Idee.

Und es war tatsächlich eine großartige Idee. Zwanzig Jahre lang habe ich diese Idee mit mir herumgetragen, keinem Menschen etwas davon erzählt, sie eifersüchtig als meine Erfindung gehütet, die sich nicht patentieren lässt.

Ich wollte sie dereinst selbst ausführen, den chinesischen Piraten ihre Schätze abzunehmen, um dadurch ein reicher Mann zu werden. Aber zur Ausführung gehörte Geld, Betriebskapital. Mit anderen wollte ich nicht teilen. So wartete ich ruhig, bis schon einmal die Gelegenheit kommen würde.

Da führte mich mein Schicksal an Bord der »Argos«. Hier fand ich alles zusammen, was ich für mein Vorhaben brauchte. Ein ganz freies Schiff, unter dem Befehl einer Person stehend, die für meinen abenteuerlichen Vorschlag Verständnis hatte, eine tüchtige Mannschaft, die ich immer tüchtiger machen konnte, in treuer Kameradschaft zusammenhaltend frei von Beutegier — und hier vor allen Dingen fand ich Juba Riata.

Mit Juba Riata hauptsächlich habe ich meinen Plan besprochen, mit ihm habe ich länger als sechs Monate die Vorbereitungen dazu getroffen.

Länger als sechs Monate!

Und ich habe dem Leser kein Sterbenswörtchen davon mitgeteilt!

Dafür soll der Leser dann aber auch höchst überrascht sein, was dabei herausgekommen ist. — —

In den letzten vier Wochen, als es nun wirklich nach China ging, waren die letzten Vorbereitungen zu dem abenteuerlichen Unternehmen getroffen worden.

Eine Dschunke wurde gebaut. Alles, was dazu nötig, war vorhanden, in der Hauptsache Bretter. Kien Chien, wenn auch Zahnkünstler, war doch immerhin Sachverständiger, aber dem seine theoretischen Anleitungen brauchte ich nicht, ich hatte zwanzig Jahre lang auf Dschunkenbau studiert.

An Deck unseres Schiffes erstand eine ganz regelrechte Dschunke von 18 Meter Länge und ziemlich 5 Metern Breite, an der auch nicht das geringste fehlte. Ich erwähne nur die beiden großen, menschlichen Augen, die ich vorn an den Bug malte, auf jede Seite eines, ohne welche Menschenaugen nach Ansicht der Chinesen keine Dschunke ihren Weg über das Meer finden kann. Hätten diese Augen gefehlt, oder wären sie nicht genau gemalt worden, wie ich sie mit kunstfertiger Hand malte, im Winkel gelbe Streifen und auch unten bewimpert — kein chinesischer Pirat wäre doch auf diese imitierte Dschunke gehuppt!

Ja, imitiert war sie. Überhaupt gar keine regelrechte Dschunke. Nur ein Aufbau, der dann auf unsere Dampfbarkasse gesetzt wurde.

Nun will ich aber gleich bemerken, dass dies nicht etwa die geniale Idee war, die ich als zwölfjähriger Junge im Varieteetheater gefasst, nachdem ich schon zwei Jahre lang über dieses Problem vergebens gebrütet hatte. Das mit der imitierten Dschunke, das war nichts Neues. Als es mit den großen Segelschiffen nicht mehr ging, lockte man die Piraten mit chinesischen Dschunken an, teils mit, teils ohne Maschine ausgestattet, innen gepanzert oder ungepanzert — auf alle Fälle aber mit einer europäischen Mannschaft besetzt, die das Schnellfeuergewehr zu gebrauchen verstand.

Doch weiter, als dass man einigen Dutzend oder hundert Piraten den Garaus machte, erreichte man dadurch ja nichts. Der Weg nach dem Schlupfwinkel wurde dadurch nicht gefunden. Das war nur eine Art Sport, eine Menschenjägerei, der besonders reiche Engländer und Amerikaner huldigten. Nützlich insofern, als sie dadurch ja die Welt von menschlichen Bestien befreiten. Übrigens hörte man sehr wenig von derartigen Piratenjägern, die Küste Chinas ist gar zu groß, da verteilen sich solche Dschunken, und es ist auch eine überaus kostspielige Jagd, da sie gar nichts einbringt, und sehr bemerkenswert ist, dass die chinesische Regierung diese Vertilgung der Piraten nicht unterstützt, weder durch Geldzuschuss oder Prämien oder auf sonst eine Weise, wie man zu diesen Unternehmungen auch keine Chinesen werben kann. Mir war damals nur der Engländer Robert Russell bekannt, der in einer mit Dampfkraft ausgestatteten Dschunke, die er immer wieder anders ausstaffierte, die Südwestküste Chinas abfuhr, die der Provinz Fukuan, so die Piraten anlockte und die Insassen der Prauen zusammenknatterte, und der Leser weiß, wie gut ich in diesen Verhältnissen beschlagen war. Dieser Russell hat über seine Abenteuer auch ein Buch geschrieben, das damals aber noch nicht veröffentlicht war.

Nein, meine Idee ruhte der Hauptsache nach auf einer ganz anderen Grundlage. Ich glaubte das Mittel gefunden zu haben, den Piraten auch in ihre Schlupfwinkel folgen zu können, dazu die mehr als halbjährlichen Vorbereitungen, die hier mit der imitierten Dschunke war davon nur die letzte gewesen.

Am Abend des 6. November sichteten wir die Küste. Ich hatte als Ziel die des gelben Meeres gewählt, die der Provinz Schantung, an welcher Küste ein lebhafter Handel zu Wasser zwischen Nanking und Yengtschen stattfindet, von wo er weiter nach Korea hinübergeht, hauptsächlich Seidenzeuge, Cocons und Opium, sodass dort also auch stark die Piraterie blüht.

Wo wir an der Küste direkt unser Unternehmen begannen, das war ziemlich gleichgültig, wenn es nur nicht in der Nähe eines größeren Hafens war. Dem halten sich die Piraten natürlich fern, ein kleinerer Hafen geniert sie weniger, wenn sie nicht gar mit dessen Bevölkerung unter einer Decke stecken.

Als wir die geografische Lage bestimmten, ergab es sich, dass wir uns etwas südwestlich des Flusses Tschao befanden, total versandet, dass dort kein Hafen in Betracht kommen kann, und auch sonst war auf der besten Spezialkarte für dort meilenweit keine Ortschaft eingetragen.

Freilich hat es mit solchen »Spezialkarten« seine eigene Bewandtnis. So erblickten wir dort zwei hohe, isolierte Berge, ohne weiteres Gebirge, eingetragen als Kutunselt und Taolotsi. Aber Punkte auf der Karte gaben ehrlich an, dass man noch nicht einmal wisse, ob diese beiden ganz mächtigen Berge auf dem Festlande oder noch auf vorgelagerten Inseln lägen. Da, muss man meinen, braucht man doch nur die umwohnenden Eingeborenen zu fragen. Ja, wenn aber nun die einen sagen, sie lägen aus dem Festlande, und die anderen behaupten, es wären noch Inseln, dann weiß man doch gerade so viel wie zuvor.

Nun, jedenfalls hatten wir eine ganz gute Küstengegend getroffen, und auch sonst war uns das Glück günstig. Eine finstere, windstille Nacht, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde es auch morgen schön und windstill sein.

So geschah es denn auch. Und als der Morgen anbrach, lag unsere Dampf- oder vielmehr Petroleumbarkasse, über sich das Gerüst einer regelrechten Dschunke mit zwei Masten, nur noch 200 Meter von den ersten Inseln, einfach als Küste bezeichnet, entfernt, so weit hatten wir uns ihr im Schatten der Nacht mit Schraubenkraft genähert, und die »Argos« war unterdessen wieder außer Gesichtsweite der Küste seewärts zurückgegangen!

Wie der hölzerne Dschunkenaufbau über der eisernen Barkasse angebracht war, das kann ich unmöglich auseinandersetzen. Jedenfalls als mit wunderbarer Genialität ausgedacht. Das darf ich sagen, weil da jeder seinen Senf dazu gegeben hatte, da war an alledem, was ich mir schon in zwanzig Jahren ausgegrübelt hatte, noch vielerlei geändert worden, nicht zum wenigsten von Kapitän Martin, der dabei seinen Gehirnkasten ganz gehörig angestrengt hatte. Erwähnen will ich nur, dass die Barkasse nicht den ganzen Bau zu tragen hatte, das wäre, wenn wir uns aus Deck aufhielten, zu viel gewesen, die unteren Kanten schwammen auf großen Korkstücken und besonders auch auf aufgeblasenen Luftschläuchen, und das war nun allerdings meine ursprüngliche Erfindung, wozu aber auch nicht viel gehörte.

Die Besatzung bestand aus 26 Köpfen, und bei deren Zusammensetzung hatte es nun allerdings an Bord des Argonautenschiffes einmal Uneinigkeit gegeben. Meine Jungen waren doch, als sie endlich erfuhren, um was es sich handelte, ganz Feuer und Flamme, da hatte doch jeder mitmachen wollen. Aber das war doch nicht angängig gewesen, und da hatte ich auch nicht das Los entscheiden lassen, sondern da hatte ganz einfach die beste Schießkunst mit Gewehr und Revolver den Ausschlag gegeben.

Also die besten Schützen wurden unter den Matrosen und Heizern ausgesucht. Zu diesen gehörten auch Ernst und Oskar. Ferner auch Fritz der Mondgucker. Das Kerlchen schoss wie ein Kunstschütze. Aber es war ein Schiffsjunge, bei dem das Mitkommen einen Haken hatte. Doch er hatte mich gar nicht lange zu betteln brauchen, und auch Kapitän Martin hatte gleich seine Zustimmung gegeben, selbst auf die Gefahr hin, sich dereinst vor dem Hamburger Seegericht oder in einem fremden Hafen vor dem deutschen Konsulat verantworten zu müssen, dass er den unmündigen Jungen in unnötiger Weise in den Tod geschickt hatte. Na, wir wollten uns schon verantworten.

Ja, dass einer und der andere von uns eine Kugel abbekam, dass die »Argos« vielleicht gerade den besten Springer oder Läufer oder sonst eine Kraft verlor, für immer, durch den Tod, damit musste ja gerechnet werden. Aber wer nichts wagt, hat auch keine Aussicht, etwas zu gewinnen. Und...

Und außerdem will ich hierüber gar nicht weiter sprechen, denn von uns dachte kein einziger mit einem Gedanken an so etwas. Beten taten wir allerdings alle. Wir waren mit einem Male alle fromm geworden. Nämlich wir flehten zum Himmel empor, dass jetzt nicht etwa noch ein größeres Schiff auftauchte, das die Piraten, wenn sie uns schon erblickt, von einem Angriff auf uns abgehalten hätte. Bisher hatte alles so famos geklappt, weit und breit war kein Segel und kein Rauchwölkchen zu sehen — und so ein Schiff als Retter in der Not hätte uns doch den ganzen Spaß verdorben. Dass dies nicht geschah, deshalb also stiegen unsere frommen Gebete zum Himmel empor.

Von der Kriegsmannschaft der Dschunke muss ich doch noch etwas mehr sagen. Auch die Patronin war mitgekommen. Natürlich, die wollte das Abenteuerchen doch persönlich miterleben, und ich hatte sie nicht etwa gewarnt.

Klothilde hätte nur den Wunsch zu äußern brauchen, und wir hätten doch unsere Klothilde mitgenommen. Aber sie hatte es nicht getan. Weshalb nicht? Ich ahnte es. Die Patronin schien es nicht zu ahnen. Das brave Mädel wollte die kleine Ilse nicht allein lassen, falls doch etwas passierte.

Dagegen hatte August der Starke mitkommen müssen, ob er wollte oder nicht. Nicht etwa, weil er so trefflich schoss. Im Gegenteil, er schien prinzipiell immer daneben zu schießen. Obgleich er behauptete ein wahrer Kunstschütze zu sein. Aber nur mit der Fünfunddreißigzentimeterkanone, an der er in der Matrosenartillerie ausgebildet war. Mit solch einer sechszentrigen Granate, behauptete er, hole er jede Schwalbe aus der Luft herab. Aber so ein Riesending besaßen wir nicht. Nur einige Revolvergeschütze, von denen zwei überhaupt zur Armierung der Barkasse gehörten. Das eine wurde, wenn es so weit war, von unserem Hahn bedient — es heißt niemals »der« Hahn, sondern immer »unser« Hahn, weil dieser Matrose eben ein richtiger Hahn war — das andere von Oskar.

Also August der Starke war dennoch mitgenommen worden. Nämlich wegen seiner Dicke. Der musste den chinesischen Handelsherrn markieren, der seine Fracht selbst begleitete. Bei den Chinesen gilt bekanntlich weibliche Dicke als Schönheit und männliche Dicke als Vornehmheit und nicht ohne Grund als Zeichen des Reichtums, und wenn sich die Piraten nicht durch solch einen Fettkoloss anlocken ließen, dann gab es überhaupt kein Mittel mehr.

Meister Kännchen war der Sachverständige und mehr noch Sprachkundige, falls es doch vielleicht zu einer Unterhaltung kam, als zweiter Dolmetscher war Doktor Isidor mitgekommen, der sogar noch mehr Dialekte konnte als der echte Chinese.

Neben Juba Riata ist Mister Tabak nicht zu vergessen. Mister Carlistle hatte meine Einladung abgelehnt, dem mochten die Sterne und sein ägyptisches Punktierbuch nichts Günstiges für seine Person bei dieser Expedition prophezeit haben.

Dann hatten wir noch verschiedene Mitglieder unserer Menagerie an Bord, von denen ich später sprechen werde, wenn sie in Funktion treten müssen.

»Da kommen sie!«

Na, Gott sei Dank, unsere Gebete waren erhört worden, kein anderes Schiff hatte sich dazwischen gemengt.

Zwischen den Felseninselchen tauchte eine Prau auf, eine zweite folgte, eine dritte... bis wir elf zählten, die auf uns zustrebten, jede mit 15 bis 20 und noch mehr Mann besetzt, alle bis auf den Steuermann rudernd.

Ich hatte also schon viele Geschichten gelesen, Abenteuer mit chinesischen Piraten behandelnd, mit Bildern geschmückt, und da war regelmäßig zu sehen, wie die bezopften oder unbezopften Seeräuber in chinesischen Kostümen auf den Duchten sitzen und sich mächtig in die Riemen legen, wie es nur die eingepullte Bootsmannschaft eines Kriegsschiffes kann.

Sehr schön, diese Bilder, aber so etwas gibt's in Wirklichkeit gar nicht. Alle diese chinesischen Piraten rudern im Stehen nach vorwärts.

Ihre Prauen sind Klinkerboote, die Planken also übereinandergelegt, sehr geschickt selbstgefertigt aus den Planken der erbeuteten Dschunken, sodass ein Verlust einiger Prauen nicht viel für sie zu bedeuten hat.

Es kommen stets sämtliche Prauen mit allen waffenfähigen Männern — so darf man wenigstens vermuten, die internen Angelegenheiten sind ja gänzlich unbekannt — einmal um durch die erdrückende Übermacht gar keinen Widerstand aufkommen zu lassen, und dann um die Fracht der Dschunke sofort in die Boote laden zu können, falls ein größeres Schiff dazwischen kommt. Eine beladene Dschunke wird wohl in die schmalen, flachen Wasserstraßen nicht einfahren können, sie muss erst geleichtert werden, wenn sie wegen der wertvollen Planken zum Bootsbau oder als Feuerholz nicht gleich zusammengeschlagen und so mitgenommen wird.

Es waren die wildesten Gestalten, die wir hastig und höchst unregelmäßig die plumpen Ruder bewegen sahen, meist in braune Kittel gehüllt, hässliche Mongolengesichter. Dass sie bei jahrtausendelanger Übung immer noch nicht imstande waren, die Riemen taktmäßig zu bewegen, mochte daher kommen, weil es noch nicht gelungen war, ihnen dabei das Schwatzen abzugewöhnen. Ein unaufhörliches Geschnatter, es klang wirklich gerade, als wenn sich eine große Gänseherde nähere, und dabei wurden auch einmal die Riemen losgelassen, um gleich mit beiden Händen nach unserer Dschunke zu deuten.

Nun, da wir Chinesen waren, mussten auch wir schnattern und mit den Fingern deuten. Aber nicht lange, dann verschwanden wir hinter der Bordwand. Die tapferen Chinesen hatten sich eben an Deck hingeworfen, um geduldig das unerbittliche Schicksal zu erwarten. Natürlich nicht ohne einige Verzweiflungsausbrüche, da hatte ich mit meinen seemännischen Schauspielern vorher doch erst einige Proben abgehalten.

Aber wir achtzehn imitierten Chinesen, die wir uns an Deck befunden hatten, blieben nicht ruhig liegen. Wir krochen im Schutze der Bordwand in den Raum hinab, in die eigentliche Barkasse, durch die Schießlöcher, noch mit Eisenplatten umgeben, betrachteten wir erst richtig die ankommenden Prauen, jeder schon sein Gewehr zur Hand, und hier erst gab ich meine Instruktionen, die noch nötig waren.

»Das letzte Boot, in dem der Steuermann den roten Turban trägt!«

»Ay, ay, Waffenmeister!«

»Es wird geschont!«

»Ay, ay, Waffenmeister!«

»Feuer!«

Und die Salve krachte und krachte noch einmal.

Den Erfolg kann ich nicht beschreiben. Jedenfalls war es mit dem Rudern sofort vorbei.

Gleichzeitig hatten auch die beiden Revolverkanonen gekracht, von Oskar und Hahn bedient, in vier Sekunden elf Mal, meist gleichzeitig.

Alle die Matrosen und Unteroffiziere, die früher in der Marine an der Hotchkiss-Revolverkanone, 37 Millimeter, ausgebildet worden sind, bedauern ungemein, können es gar nicht begreifen, dass diese kleine Revolverkanone in der deutschen Marine von dem Schnellfeuergeschütz verdrängt worden, überhaupt ganz abgeschafft worden ist.

Gegen gepanzerte Torpedoboote kann die Revolverkanone freilich nicht dasselbe leisten wie das Schnellfeuergeschütz mit seiner furchtbaren Durchschlagskraft, das stimmt. Aber kann denn im Seekriege ein Geschütz nicht auch einmal gegen hölzerne Boote oder gegen ein Schiff mit dünnen Eisenplatten gerichtet werden? Und für diesen Zweck waren die kleinen Revolverkanonen ganz unvergleichlich. Den Bügel an die Schulter gestemmt, die Hand an der Kurbel, das Auge über das Korn visierend, hatte die doch immerhin große Kanone für den hierin ausgebildeten Mann, wozu freilich auch seine besondere Art von Genie gehört, dasselbe zu bedeuten wie der Revolver in der Hand des Cowboys, der sich niemals an die Browningpistole gewöhnen wird, weil er bei der das Handgelenk nicht drehen kann. Es ist fabelhaft gewesen, was die Matrosen mit der Revolverkanone, bei der die Patronen mit Hartguss oder Granaten durch einen Trichter selbsttätig nachfallen, geleistet haben! Sie haben auf 500 Meter Figuren in die Scheibe geschossen, so schnell, wie man solch eine Figur anmalen kann. Was mit dem Schnellfeuergeschütz nicht etwa mehr möglich ist. Aber diese einfachen Männer haben da ja nichts mitzusagen, obgleich sie gerade als Männer der Praxis darüber gefragt werden sollten.

Mit elf Schüssen hatten die beiden innerhalb von vier Sekunden zehn Boote zum Sinken gebracht. Sie hatten sich, nebeneinander stehend, in die Boote geteilt, wozu weiter keine Unterhaltung nötig gewesen war. Fünfmal hatte jeder geschossen, mit Hartgusskugeln, und nur Unterwasserschüsse sollten es sein. Nur Oskar hatte einmal gefehlt, das heißt das eine Boot oberhalb des Wassers getroffen. Da hatte Hahn schnell noch seinen sechsten Schuss drauf gesetzt, auch diesem Boote ein Loch unterhalb der Wasserlinie beigebracht. Auch noch in diesen vier Sekunden. Richard Hahn aus Chemnitz, eines Strumpfwirkers Sohn, der schon längst Feuerwerksoffizier hätte sein können, wenn er eben nicht... ein Hahn gewesen wäre. Eben ein verlumptes Genie. Mindestens im Schießen ein Genie.

Sofort sanken die zehn Prauen ja nicht, aber durch die Löcher von 37 Millimeter Durchmesser strömte das Wasser doch mit Macht ein, und dass sie nicht verstopft werden konnten, dafür sorgten wir mit unseren Magazinengewehren.

Die Chinesen dachten überhaupt gar nicht an ein Verstopfen. Wie es zuging, kann ich überhaupt gar nicht beschreiben. Für uns war es nur ein Spielchen gewesen, für jene ein unerklärliches furchtbares Etwas.

Mit der ersten Gewehrsalve waren die Insassen eines jeden Bootes schon dezimiert, und da schaukelten ihnen auch schon die Planken unter den Füßen weg. Das sprangen sie lieber gleich über Bord ins Wasser.

Das letzte Boot sah die schreckliche Katastrophe, von dem es allein verschont geblieben war, und die Kerls drehten sich einfach um und ruderten zurück, ohne erst das Boot zu wenden, flohen mit dem nötigen Geschrei wieder der Küste zu.

Wir hatten jetzt keine Zeit, die im Wasser Schwimmenden und sich an die vollgesackten Boote Klammernden zu beobachten.

Jetzt — jetzt kam es darauf an, ob sich meine Erfindung, verwirklicht von Juba Riata, bewähren würde!

Jetzt erst soll der Leser erfahren, was wir während mehr als sechs Monaten schon vorbereitet hatten, ohne dass ich ein Wörtchen darüber gesagt habe.

Schon war oberhalb der Barkassenwand in der Dschunke eine Klappe aufgemacht worden.

»Vorwärts, Neptun, Kasper, Nauke — dem Boote nach!«, kommandierte Peitschenmüller.

Und durch die Luke, die aber dem fliehenden Boote abgekehrt war, schlüpften zwei Seehunde und ein Walross. Nur die Tante, ein weibliches Walross, blieb zurück, um zu unserer weiteren Verfügung zu stehen.

Ich fasse mich so kurz wie möglich.

Damals als zwölfjähriger Junge hatte ich in dem Varietee einige dressierte Seehunde und Walrosse gesehen. Die ersten, die in Europa vorgeführt wurden.

Sie hatten Harmonika geblasen, Pistolen abgefeuert, brennende Petroleumlampen auf der Nase balanciert, weggeworfene Gegenstände auf dem Teppich humpelnd apportiert.

Damals war mir zwölfjährigem Jungen der Gedanke gekommen, ob sich solch ein Seehund nicht noch zu etwas anderem abrichten ließe, als nur Petroleumlampen auf der Nase zu balancieren und einen Stock zu apportieren.

Da habe ich gleich an die Schlupfwinkel der chinesischen Piraten gedacht.

Fast zwanzig Jahre lang habe ich über diesen Plan gegrübelt, habe auch nähere Erkundigungen über Seehunde und Walrosse eingezogen — allein zur praktischen Ausführung kam ich nicht, zu keinem einzigen Experiment. Es fehlte mir die Gelegenheit dazu. Außerdem füllte dieser Plan ja nicht etwa meine ganze Gedankenwelt aus. Es war nur nebenbei so ein Lieblingsgedanke, dessen Ausführung ich immer in die Zukunft hinausschob.

Ich kam an Bord der »Argos«, lernte Juba Riata als Herrn der ganzen Menagerie kennen. Ich habe erzählt, wie uns damals in der Argonautenbucht am Feuerlande eine Herde Walrosse besuchte, als gerade unser Orchester übte, wie sie gleich wieder Reißaus nahmen, eben weil es so musikalische Tiere sind.

Aber ich habe nicht erzählt, dass wir damals drei Stück von diesen Walrossen lebendig gefangen haben.

Ich habe es nicht getan, um den Leser vollkommen zu überraschen.

Juba Riata, dem ich meinen Plan nun offenbarte, der von ihm gebilligt wurde, nahm die Tiere sofort in Dressur. Ein Walross, das eine Wunde davon getragen, ging ein.

Dann, als wir in Marseille lagen, haben wir von der zoologischen Handlung der Gebrüder Levintoins, die auch Tiere abrichten und ausstellen, die französischen Hagenbecks, fünf schon dressierte Seehunde gekauft, für 12 000 Franken. Sie konnten auch nur solche Kunststückchen ausführen, ihr Witz aber war doch schon geschärft, jetzt nahm sie Peitschenmüller in eine ganz andere Dressur. Einer dieser Seehunde starb.

Von alledem habe ich nichts erwähnt. Sonst hätte ich auch von der Dressur anfangen müssen, und das wäre eine gar lange Geschichte geworden. Denn ich weiß schon, wenn ich von so etwas anfange, von Tieren, wozu man die alles abrichten kann, von ihrem Verstande und so weiter und so weiter, dann höre ich niemals wieder auf. Also lieber nicht.

Nur das eine will ich hier noch als Resultat unserer Erfahrungen sagen:

Heute ist der Mensch endlich, endlich auf den Gedanken gekommen, den vierfüßigen Hund im Dienste des Krieges und der Polizei zu verwenden. Es muss doch furchtbar schwer gewesen sein, die geniale Idee auszuhecken, einen Hund durch die Vorpostenkette der Feinde schleichen zu lassen, ihn Verwundete aufsuchen und Diebe und Verbrecher mit seiner feinen Nase verfolgen zu lassen!

Mit dem beflossten Hunde des Meeres ist der scharfsinnige Mensch heute so weit gekommen, dass er ihm eine brennende Petroleumlampe auf die Nase setzt, ihn einen Leierkasten drehen, eine Harmonika blasen und einen Spazierstock apportieren lässt, wozu dieses beflosste Säugetier des Meeres auf einem Teppich oder in der Zirkusloge humpeln muss.

Ich aber sehe schon die Zeit kommen, da man den Seehund dazu benutzen wird, dass er geschriebene Depeschen von Schiff zu Schiff und von Küste zu Küste befördert! Und leider wird er wohl auch Dynamitbomben an Schiffsrümpfe heften und zur Explosion bringen müssen, oder es wäre nicht der Mensch, der ihn abrichtet, derselbe Mensch, der kein Luftschiff und keine Flugmaschine erfinden kann, ohne gleich daran zu denken, wie man da so schön Bomben und Granaten auf seine Mitmenschen hinabwerfen kann...

Genug davon!

Wir bleiben bei dem, was unsere vier Seehunde und zwei Walrosse leisten konnten und geleistet haben.

Jetzt, da ich sie dem Leser nun einmal hergestellt habe, werde ich auch noch öfters von ihnen erzählen.

Bemerken will ich gleich noch, dass ich den sechs Tieren ursprünglich schöne, klassische Namen gegeben hatte. Aber es kam, wie es so oft geschieht, besonders wenn Matrosenwitz dabei im Spiele ist. Nur das männliche Walross hatte meinen ihm gegebenen Namen Neptun behalten, das Weibchen hatte ich nach der Seenixe Dandea getauft, meine Jungens hatten alsbald Tante draus gemacht. Es war allgemein die Tante. So waren auch die französischen Namen der vier Seehunde geändert worden. Die hießen jetzt Kasper, Nauke, Pimberle und Knipperdolling. Wie diese Namen entstanden waren, das wusste jetzt niemand mehr.

Pimberle und Knipperdolling waren an Bord der »Argos« zurückgeblieben, falls uns von dort eine Depesche zugeschickt werden sollte — und dass uns etwa so ein Seehund nicht fand, weil wir außer Gesichtsweite waren, solch ein Gedanke konnte in unserem Kopfe gar nicht mehr entstehen, dazu musste man aber eben die Leistungsfähigkeit dieser Seehunde in ihrem Elemente erst näher kennen gelernt haben! — Neptun, Nauke, Kasper und die Tante waren mit uns gekommen, und nur letztere, das weibliche Walross, mit einem mächtigen Schnauzbarte, blieb auch jetzt noch bei uns.

»Vorwärts, Neptun, Kasper, Nauke — dem Boote nach!«, kommandierte also Juba Riata.

Die vier beflossten Tiere hatten schon immer durch die Schießscharten nach den Prauen gespäht, die ganze Szene beobachtet — ach, was soll ich von der Klugheit dieser Seehunde und Walrosse erzählen, ich kann es nicht;

von Menschenklugheit darf man da nicht viel sprechen, da gibt es viel, viel dümmere Menschen genug! — Jetzt rutschten die drei Genannten sofort nach der anderen Seite, wo schon die Luke geöffnet worden war, rutschten mit fabelhafter Gewandtheit, schoben sich mit unglaublicher Schnelligkeit durch das Loch, waren im Wasser verschwunden, ohne dass auch nur das leiseste Plätschern zu hören gewesen wäre.

So, das war besorgt, um das Weitere brauchten wir uns nun gar nicht mehr zu kümmern. Nun mussten wir nur ihre Rückkehr abwarten. Dann zeigten sie uns den Weg, den das Boot genommen hatte, bis zu dem Schlupfwinkel der Piraten hin. Oder doch bis dahin, wo diese das Boot verlassen hatten. Aber sie führten unsere Barkasse auch noch weiter durch fahrbare Wasserstraßen. Wir hätten vielleicht gar nicht nötig gehabt, erst die Prauen oder auch nur eine einzige herauszulocken. Diese Seehunde hätten den fahrbaren Weg auch so aufgespürt. Sie zeigten an, ob vor uns nur ein Meter oder fünf Meter Wassertiefe war, oder zehn oder zwanzig oder fünfzig. Die beiden Walrosse tauchten sogar bis achtzig Meter hinab und zeigten uns diese Tiefe dann durch ein gewisses Bellen bis zu einer Genauigkeit von fünf Metern an!

Wie gesagt, ich kann unmöglich schildern, wie Juba Riata den Tieren dies alles beigebracht hatte! Noch viel erstaunlicher eigentlich aber war die Klugheit dieser Tiere selbst, die man dabei beobachten konnte!

Die fliehenden Piraten würden die ihnen folgenden Seehunde nicht bemerken, keine Ahnung von ihnen haben und bekommen. Die Tiere schwammen immer unter Wasser. Und wenn sie aller drei bis fünf Minuten einmal Luft schöpfen mussten, so gehörte das Auge eines Eskimos oder sonstigen seehundkundigen Jägers dazu, um die auftauchende Nase mit einigen Schnauzhaaren über dem Wasser überhaupt zu bemerken. Diese chinesischen Piraten sahen sie sicher nicht.

Jetzt mussten wir also die Rückkehr der beflossten Wasserhunde abwarten.

Ganz untätig warteten wir natürlich nicht.

Die Piraten der mit Wasser gefüllten Prauen wendeten sich schwimmend der Küste zu, und dass sie diese erreichten, das warteten wir nicht ab.

Es ist nicht gerade etwas Schönes, was ich jetzt zu berichten habe.

Aber unsere Handlungsweise verdient keinen Tadel, war durchaus gerechtfertigt.

Wir waren ehrliche Seeleute, und das dort waren blutige Seeräuber.

Rasch internationalem Seegesetz kann man den Seeräuber, den man auf frischer Tat mit der Waffe in der Hand ertappt, auch wenn diese Waffe nicht direkt gegen den Beobachter selbst gerichtet ist, ohne Weiteres niederschießen oder ihn, um der Handlung ein gerichtliches Gepräge zu geben, am Maste des eigenen Schiffes aufhängen.

Will man das nicht, so ist es die unbedingte Pflicht, den Piraten gefangen zu nehmen und ihn im nächsten Hafen der Behörde auszuliefern. Bei Piraterie, die ohne Anwendung irgendwelcher Waffengewalt ausgeübt worden ist, gibt es fünf bis fünfzehn Jahre Zuchthaus respektive die schwerste Strafe des betreffenden Landes; wenn dabei eine Waffe erhoben wurde, auch wenn kein Tropfen Blut floss, gibt es nur den Tod.

Diese hier hatten nach internationalem Gesetz den Tod verdient, in den vollgesackten Booten lagen noch Gewehre und andere Waffen — und überhaupt, es waren doch chinesische Piraten.

Sollten wir die fast 200 Mann etwa auffischen und sie gebunden der nächsten Hafenbehörde ausliefern, dass sie gehangen oder geköpft werden mussten, auf die Gefahr hin, dass man sie mit behördlicher Erlaubnis wie-der entwischen ließ?

Fiel uns ja gar nicht ein!

Und überhaupt, das waren ja gar keine Menschen, das waren zweibeinige Bestien.

Wir haben die schwimmenden Köpfe als Zielscheiben benutzt.(1)

(1) Ich verweise an dieser Stelle auf meine Bemerkungen im Abschnitt "Editorische Hinweise". D.v.R.

Noch 187 Patronen haben wir verschossen, dann gab es keinen Schwimmer mehr, keine Leiche trieb. Der menschliche Körper sinkt zuerst unter.

Außerdem hatten sich gar schnell Haifische eingestellt, die uns behilflich waren.

Erwähnen will ich dabei, dass unsere Seehunde nicht etwa diese Haifische zu fürchten hatten. Die konnten, wenn sie wollten, mit diesen Bestien des Meeres, die sich beim Erfassen der Beute erst umdrehen müssen, Blindekuh spielen. Der Seehund hat überhaupt nur den Eisbären zu fürchten, und auch nur dann, wenn dieser ihm an seinem Luftloche im Eise auflauert. Und dann natürlich das größte Raubtier der Erde, den Menschen. Aber diese chinesischen Piraten also nicht.

Den Petroleummotor der Barkasse in Betrieb zu setzen hatten wir nicht nötig gehabt. Außer Schussweite kam kein Schwimmer, das heißt er erreichte nicht die erste Insel, die ja nur 200 Meter von uns entfernt war. Zwei von ihnen hatte Peitschenmüller mit seinem Lasso lebendig gefangen, aber wir brachten keinen lebendig an Deck. Der eine, ein Knabe fast noch, stieß sich, sobald er merkte, dass er aus dem Wasser gezogen wurde, einen Dolch ins Herz, der zweite, ein älterer Mann hatte ein so aufgedunsenes Gesicht und hervorquellende Augen, dass wir gleich wussten, welchen Todes er gestorben.

Er war erstickt, indem er seine eigene Zunge verschluckt hatte. Doktor Isidor brach ihm die fest zusammengepressten Zähne aus, untersuchte mit dem Operationsmesser, wie das dann aussieht, wenn jemand seine Zunge verschluckt hat, was übrigens gar nicht so einfach ist. Das muss unter sachkundiger Leitung erst eingeübt werden. Ich habe dieser Untersuchung nicht beigewohnt, und einige Matrosen sagten mir dann, sie hätten's lieber auch nicht mit ansehen sollen. Schauderhaft!

Ich selbst beteiligte mich anfangs nicht an der allgemeinen Kopfschießerei, dann später holte ich das Versäumte nach, nur deshalb, damit man mir später nichts nachsagen konnte, ich habe meine Hände rein halten wollen. Wie dies gemeint ist, wird der Leser noch später erfahren. Es ist dies überhaupt das dunkelste Kapitel in meiner ganzen Argonautenzeit. So einfach mit der Menschenschießerei war die Sache eben doch nicht.

Dass Helene sich an der Schießerei beteiligte, das hätte ich gar nicht zugelassen, aber sie war Weib genug, um lieber gar nicht hinzusehen.

Zuerst, als die drei Seehunde abgelassen worden waren, ließ ich weiter von den mitgenommenen Tauben zwei Stück aufsteigen, jede mit einer Mitteilung in einem Büchschen am Halse. Es waren zwar keine speziellen Brieftauben, sondern gewöhnliche Haustauben, aber das bleibt sich schließlich ganz gleich, und außerdem waren es auch keine Haustauben mehr, sondern Schiffstauben, eine neue Spezies, die wir gezüchtet hatten. Sie waren an Bord der »Argos« ausgebrütet worden, sie kannten keine andere Heimat mehr als dieses Schiff. Darüber hatten wir schon viele Versuche angestellt. In jedem Hafen wurden am Lande bleibende Personen ersucht, einige unserer Tauben erst nach mehreren Stunden fliegen zu lassen, wenn wir schon abgefahren waren, und immer fanden sie unser Schiff wieder. Ich habe von solchen Experimenten, die wir fortwährend anstellten, der allerverschiedensten Art, weiter gar nicht erzählt, werde es auch nicht tun, sondern immer nur das Resultat schildern, wenn es einmal die Gelegenheit mit sich bringt.

Die beiden Tauben stiegen hoch empor und schossen sofort dem Nordosten zu, wo sich die »Argos« aufhalten musste. Dann also beteiligte auch ich mich an der Kopfschießerei.

Als der letzte Kopf verschwunden war, tauchten schon die Masten unseres Schiffes auf, und als es uns nach einer halben Stunde erreicht hatte, kehrten auch die drei Seehunde — zu denen ich fernerhin auch die Walrosse rechne, — zurück, sich durch ein Bellen anmeldend. Sie hatten also doch zu dem Hin- und Herweg fast dreiviertel Stunde gebraucht.

Jetzt brauchte die Barkasse nicht, wie es sonst geschehen wäre, wenn die Argos nicht so schnell gekommen, unter dem Dschunkenaufbau hervorzuschlüpfen, diesen bis zur Rückkehr auf den Luftschläuchen schwimmen lassend, sondern das Brettergerüst wurde gleich mit zwei Winden wieder an Deck gehoben und dort auseinandergenommen, und nun konnten auch die andern in Booten mit an der Expedition teilnehmen, so weit sie nicht zur notwendigsten Bedienung des Schiffes zurückbleiben mussten, was einfach dadurch entschieden wurde, wer jetzt gerade Wache hatte. Diese Boote hätten wir ja so wie so gebraucht, um die den Piraten abgenommene Beute an Bord zu schaffen, nur hätten wir sonst nicht erst die Argos erwartet.

Ich schildere dies umständlicher, als es in Wirklichkeit vor sich ging. Nur wenige Worte der Verständigung, und von den fünf Booten, welche das ursprüngliche Kriegsschiff besaß wozu aber noch die Dampfbarkasse kam, die ebenso wie die große Pinasse bequem 100 Mann fassen konnte, außerdem noch das kleine Dinghy und das lange Walfischboot, wurden vier ausgesetzt, noch 32 Mann nahmen darin Platz, und sie folgten der Barkasse nach, die wieder von den drei Seehunden geführt wurde.

Die Barkasse hatte sich bereits in kriegsbereitem Zustande befunden, das heißt ihre Bordwände waren schon vorher durch angeschraubte Stahlplatten erhöht gewesen, stark genug, um wenigstens jeder modernen Gewehrkugel zu trotzen, so hoch, dass man aufrecht hinter ihnen stehen konnte, mit kleinen Schießscharten versehen, für die beiden Revolverkanonen mit größeren Öffnungen, die aber auch sofort wieder geschlossen werden konnten.

Wir mussten ja noch immer auf einen warmen Empfang rechnen, fünfzehn Piraten hatten wir mit Absicht entkommen lassen, und in dem Schlupfwinkel würden sich doch wohl außer Frauen, Kindern und Greisen auch noch andere waffenfähige Männer aufhalten. Wenn sie ihren Schlupfwinkel bei unserer unerwarteten Annäherung verließen, so konnten sie sich doch zwischen den Klippen in den Hinterhalt legen und uns Kugeln zusenden.

Uns in der Barkasse hinter den Stahlplatten war da nichts anzuhaben. Höchstens von oben her hätten wir eine ganz besondere Art von Bomben zu fürchten gehabt.

Der in den chinesischen Piratenverhältnissen bewanderte Leser dürfte sich schon gewundert haben, dass ich noch nichts von den Stinktöpfen berichtete. Das sind irdene Gefäße, welche, wenn sie beim Aufschlagen zerbrechen, eine Jauche ausgießen, die einen entsetzlichen Gestank verbreitet. Wer nicht schleunigst aus dieser Atmosphäre flieht, so lange er noch den Atem anhalten kann, der erstickt, und da helfen auch keine Nasenquetschen. Diese Stinktöpfe waren es auch, die früher jedes europäische Segelschiff bei Windstille den chinesischen Piraten rettungslos auslieferten, wenn es nicht rechtzeitig gelang, sämtliche Töpfe noch zwischen den Händen der Piraten zu zerschießen, sodass diese selbst schleunigst über Bord springen mussten, um nicht selbst zu ersticken. Platzt solch eine Tonbombe innerhalb des Schiffes, durch eine Luke oder ein Bullauge hineingeworfen so ist ein Aufenthalt darin nicht mehr möglich, auch die siegreichen Piraten müssen bei guter Lüftung mehrere Stunden warten, bis sie sich hinabbegeben können, wenn ihnen dadurch nicht die ganze Beute entgeht.

Die Fabrikation dieser Stinktöpfe ist ein Geheimnis der Piraten. Auch in China weiß sonst niemand, wie die wirksame Flüssigkeit hergestellt wird. Unsere Chemiker wissen wohl, dass der wirksame Bestandteil Kakodyl ist, eine Verbindung des Arsens — jedoch nicht eigentlich giftig, nur so entsetzlich stinkend — aber ach! sie können nicht enträtseln, wie die chinesischen Piraten diese Substanz herstellen, was nämlich gar nicht so einfach ist, für uns im Laboratorium, während die Piraten diese Bomben massenhaft werfen.

Aber es ist von jeher auch nur das Geheimnis von einzelnen Piratenbanden gewesen. Stinktöpfe sind immer nur auf Schiffe geworfen worden, die zwischen den beiden Küstenprovinzen Kantung und Fukian und der Insel Formosa angegriffen wurden. In anderen Küstengegenden sind sie nie gebraucht worden, so auch nicht hier an der Küste des gelben Meeres.

Übrigens hört man jetzt gar nichts mehr von den Stinktöpfen, auch nicht in jenen früher von ihnen verpesteten Meeresgegenden. Auch jene Piraten haben sie eben gar nicht mehr nötig, weil sie europäische Schiffe überhaupt nicht mehr angreifen, chinesische Dschunken sich ihnen gleich ohne jeden Widerstand ergeben. Und durch Anwendung der Stinktöpfe entgeht ihnen selbst zu oft die schon gesicherte Beute, das heißt, sie können mit dem verpesteten Schiffe dann gar nichts mehr anfangen.

Also Stinktöpfe hatten wir hier nicht zu fürchten. Nur Gewehrkugeln und Pfeile. Nun, da musste unsere gepanzerte Barkasse den ungeschützten Ruderbooten eben ein gutes Stück vorausfahren, wir mussten gut aufpassen, um einen Hinterhalt rechtzeitig zu entdecken, und im übrigen befanden wir uns eben im Kriege.

Aber es sollte leichter gehen, als wir uns gedacht hatten. Eine halbe Stunde sind wir zwischen Klippen und Riffen den drei Seehunden gefolgt, die mehr durch aufsteigende Luftblasen den Weg angaben, als dass sie ihre Köpfe über Wasser zeigten. Wenn sie zu dem Hin- und Rückweg nur dreiviertel Stunden gebraucht hatten, wir jetzt zur Hintour eine halbe Stunde, so waren sie eben auf dem Rückweg bedeutend schneller geschwommen, als da sie dem Piratenboote gefolgt waren.

Von diesem Wege kann ich nur sagen, dass es durch ein Wasser- und Klippenlabyrinth ging, und niemand hätte diesen Weg zurückgefunden, der ihn nicht von Jugend auf kannte. Merkmale hätte man da niemals ins Auge fassen können. Oftmals machten die Seehunde solche Bogen, gingen direkt zurück, dass wir glaubten, sie hätten sich verirrt, führten uns falsch. Doch da kannten wir unsere Tiere doch wieder zu gut. Jedenfalls hätten wir uns ohne diese Tiere, wenn sie uns etwa verloren gegangen wären, nicht wieder zurückgefunden, das heißt nicht in den Booten, wir hätten sie nur unter ungeheuren Anstrengungen über die Klippen tragen können, wobei wir mit Leichtigkeit alle abgeschossen worden wären. Was wir dann später auch noch zu hören bekommen sollten. Jedenfalls habe ich schon damals auf dem Hinweg von selbst eingesehen, wie es ganz unmöglich ist, solch ein wie dieses angelegtes Piratennest zu Wasser oder zu Lande zu erreichen. Wenn man eben nicht darauf abgerichtete Hunde der See zu seiner Verfügung hat.

*

35. Kapitel

Was wir in dem Schlupfwinkel fanden

Originalseiten 847 — 860

Also eine halbe Stunde war vergangen. Die Fahrt wurde besonders dadurch verzögert, dass die Ruderboote oftmals die Riemen nicht auslegen konnten, fortgestoßen werden mussten, so eng wurde die Wasserstraße, jedoch niemals so eng, dass unsere breitere Barkasse nicht hätte durchkommen können. Auch fand sie überall tiefes Wasser genug. Aber wir wollten die Ruderboote auch nicht zu weit hinter uns lassen. Beschossen waren wir noch nicht worden, kein Mensch war bisher zu sehen gewesen.

»Da laufen sie!«, erklang da der Ruf.

Wir hatten uns einer mehr zusammenhängenden Klippenformation genähert, hinter der größere Felsen sich erhoben, festes Land verratend, und zwischen diesen Felsen, noch in Büchsenschussweite, sahen wir sie hastig laufen, Männer und Frauen und Kinder, manchmal verschwindend und wieder zum Vorschein kommend.


Illustration

»Da laufen sie!«, erklang plötzlich der Ruf im Boote der Argo-
nauten, und zwischen den Felsen sahen sie die Piraten mit
ihren Weibern und Kindern in wilder Flucht dahinrasen.


»Nicht schießen, lasst sie laufen!«, kommandierte ich, als besonders die in den Booten schon die Gewehre anschlugen.

Ich hatte schon genug von der Menschenabschießerei im Wasser gehabt, und so ging es auch den meisten in meiner Barkasse. Wir eigneten uns alle nicht zur Menschenjagd, und wenn ich gewusst hätte, wie alles kommen würde, so hätte ich mich in dieses Abenteuer gar nicht eingelassen. Wovon ich später noch sprechen werde.

Die Chinesen waren gen Norden zwischen den Felsen verschwunden, und wir hatten zwischen den letzten Riffen das feste Land erreicht, eine felsige Küste, alles furchtbar zerrissen. In der kleinen Ausbuchtung lagen nur einige unbrauchbare Prauen, zertrümmert oder voll Wasser.

Zuerst schickten wir die drei vierbeinigen Hunde, die wir ebenfalls schon in der Barkasse gehabt hatten, voraus. Es war nicht eben heldenmütig von uns, dass wir die treuen Tiere erst einer Kugel aus dem Hinterhalte aussetzen wollten, aber schließlich war Vorsicht die Manier der Weisheit schon bei den alten Argonauten, und wenn die Piraten, sobald sie sich gefangen sahen, Selbstmord begingen, so war ihnen auch zuzutrauen, dass sie hier blieben, um noch möglichst viel Schüsse abzufeuern, ehe sie in den Tod gingen, und das Leben meiner Jungen war mir denn doch kostbarer als das der Hunde.

Aber es sollte von alledem nichts geschehen.

Die Hunde, die zwischen den Felsen verschwunden waren, schlugen an.

»Sie haben etwas gefunden, aber keinen Feind, keinen Menschen!«, erklärte Juba Riata sofort, der doch die Stimme seiner Zöglinige kannte, falls wir es nicht schon gelernt hatten. Freilich waren wir ja auch noch gar nicht mit Feinden zusammengeraten.

»Sie werden den fliehenden Chinesen, wobei auch Frauen und Kinder sind, doch nicht folgen?«, fragte ich.

»Nein, nicht eher, als bis ich ihnen den Befehl dazu gebe.«

»Ich denke, Sie geben ihnen den Befehl hierzu nicht.« »Recht so, wollen wir die, denen die Flucht gelungen ist, nun auch laufen lassen.«

Die Boote wurden unter der nötigen Bewachung zurückgelassen, wir anderen drangen in das Felsenlabyrinth ein. Unterwegs kam uns Chloe entgegen, der Schäferhund, um die weitere Führung zu übernehmen, er leitete uns in einen Felsenkessel, dessen Wände von Höhlen siebartig durchlöchert waren.

Wir waren am Ziele, im eigentlichen Schlupfwinkel der Piraten. Ich mache es kurz, was wir alles fanden — viel war es nicht, und das — weswegen wir hierher gekommem sollten wir überhaupt nicht finden.

Im Freien Feuerstellen, aufgestapeltes Holz, zerhackte Planken ehemaliger Dschunken, Kochkessel, zum Teil ganz primitive, zum Teil höchst kostbare Erzeugnisse der Kupfertreibarbeit, die verschiedensten Hausgerätschaften — in den Höhlen massenhaft Lumpen, wenn auch viele seidene, einige Säcke mit Reis und Bohnen — das war so ziemlich alles, was wir im Laufe einer Stunde fanden. Von alten Gewehren und sonstigen Waffen aus chinesischer Vorzeit will ich gar nicht erst sprechen.

»Die Piraten scheinen alles, was sie hier aufgestapelt hatten, erst vor kurzem an eine Handelskarawane verkauft zu haben!«, meinte Meister Kännchen.

Ja, das schien uns allen so, dazu brauchten wir nicht erst das Urteil eines chinesischen Sachverständigen zu vernehmen. Denn dass hier noch vor kurzem große Mengen von Sachen, Kisten und Kasten aufgespeichert gewesen waren, die man fortgetragen hatte, das war an verschiedenen Spuren ganz deutlich zu erkennen.

Aber wir waren nicht etwa niedergeschlagen, dass wir um die erhoffte Beute gekommen waren.

Ich will mich kurz zu fassen versuchen: Ja, es war einmal mein Knaben- und Jünglingstraum gewesen, den chinesischen Piraten ihre Beute abzunehmen und dadurch ein reicher Mann zu werden, Schätze aufzuhäufen. Aber das war schon lange her. Jetzt war ich gar nicht mehr so lüstern nach Schätzen. Und überhaupt — wie alles gekommen war — was wir hier vorfanden — alle meine Jungen dachten genau so wie ich. Sie freuten sich, dass sie hier nichts mitzunehmen hatten.

Denn unbeschreiblich war der Gestank, der in diesen Höhlen und in der ganzen Umgebung herrschte. Von hier eng zusammenlebenden Menschen herrührend, denen die größtmöglichste Unreinlichkeit geradezu ein Bedürfnis war. Nur wenn wir dem Hungertode ins Auge gesehen, hätten wir von dem Reis und den Bohnen genießen können, die schon diesen Gestank angenommen hatten, wenigstens unserer Meinung nach, und wenn wir auch unter den Kleiderlumpen goldene und diamantene Schätze vermutet hatten, wir hätten sie sicher nicht angerührt. Es war einfach schrecklich, was unsere Augen erblickten und unsere Nasen rochen — obgleich die eigentlichen Stinktöpfe fehlten.

Und wenn wir hier wirklich Kisten voll Opium und Ambra und hunderte von Säcken voll kostbarster Seidenstoffe gefunden hatten, war es nicht Piratenbeute, mit der wir uns bereichern wollten, klebte nicht an allem unschuldig vergossenes Blut?

Ich will ja nicht etwa sagen, dass unter uns nicht genug waren, die sich umso etwas verdammt wenig gekümmert hatten. Aber... wir alle hatten so etwas gar nicht nötig, wir waren viel zu gut gestellt, uns gefiel das Leben an Bord dieses Schiffes viel zu sehr, als dass wir jetzt solche Gelüste nach Reichtümern gehabt hätten.

Kurz und gut, wir alle waren wirklich froh, dass wir keine Kisten und Säcke in die Boote zu laden hatten, die dann womöglich unser ganzes Schiff verpestet hatten, uns vielleicht wirklich die Pest an Bord gebracht hätte!

»Georg, das machen wir nicht wieder!«, flüsterte Helene.

Nein, das machten wir nicht wieder. Ich hatte meine Idee mit den Seehunden verwirklicht, sie hatte sich bewährt, das wollte ich an passender Stelle veröffentlichen, aber damit auch genug! Mich gelüstete nicht nach den blutigen Waren, die wir dann erst verschachern mussten, allen uns Argonauten nicht, und ebenso wenig hielten wir uns verpflichtet, die Welt oder doch China von solchen menschlichen Bestien zu befreien. Bei diesem Experimente hatten wir mindestens 150 ins Jenseits befördert, darüber fühlten wir Kopfschützen nicht die geringsten Gewissensbisse, im Gegenteil, das war ein sehr gutes Werk gewesen — aber, wie gesagt, zu mehr hielten wir uns nun nicht verpflichtet. Mochte diese Jagd auf zweibeinige Raubtiere und Abnahme ihrer Beute nach unserem Rezept nun betreiben wer da wollte, wir wünschen ihm viel Glück — wir taten's nicht mehr — ab!

»In die Boote!«, kommandierte ich.

»Die Hunde suchen aber noch die Umgegend ab, sie können doch noch etwas finden!«, sagte Juba Riata.

»Mögen sie noch etwas finden, wir nehmen es nicht mit — kein Gold und keine Edelsteine — ich wenigstens rühre sie nicht an, will auch nichts davon haben.«

»Da — da... jetzt haben sie einen Menschen aufgestöbert!«

In der Tat, die drei Hunde hatten in eigentümlicher Weise angeschlagen. Aber nur Peitschenmüller konnte diese verschiedenen Stimmen unterscheiden und deuten, wir anderen hatten noch nicht viel Gelegenheit zu solcher Unterscheidung gehabt.

»Und zwar einen lebendigen Menschen«, setzte der Hundemeister noch hinzu, »bei einem Toten würden sie wieder anders anschlagen.«

Ja, einen lebendigen Menschen mussten wir uns doch erst einmal ansehen, mehr noch als einen toten.

Da kam auch schon wieder Chloe, um uns dorthin zu führen, wo seine beiden Kameraden noch den aufgestöberten Chinesen ankläfften — oder den Menschen, es konnte ja auch eine zurückgelassene Frau oder ein Kind sein.

Wir kamen noch an vielen Höhlen vorüber, und es war ganz deutlich zu erkennen, dass die meisten noch vor kurzem mit Säcken und Kisten angefüllt gewesen waren. Ich will nur die Spuren in dem lockeren Boden erwähnen, wie die Kisten gewälzt und die Säcke geschleift worden waren. Jetzt waren sie alle leer bis auf abgesprungene Kistenbretter und aufgeplatzte Säcke und dergleichen.

In der Höhle, in die uns der Schäferhund geführt hatte, befand sich zwar kein lebendiger Mensch, das konnte man gleich sehen, es war hell genug und da konnte sich niemand verstecken — wohl aber sah die am Boden stehende Kiste ganz verdächtig aus, zumal durch ihre sargähnliche Länge, und diese wurde von den beiden Hunden so eigentümlich angebellt, wobei ihnen jetzt auch wieder Chloe half.

»Da steckt ein lebendiger Mensch drin, das sagen mir die Hunde ganz deutlich!«, erklärte Juba Riata.

Es war eine einfache Bretterkiste der Deckel mit starken Drahtstiften zugenagelt.

»Wenn der nicht die Kunst versteht, sich selber in eine Kiste einzunageln, so müssen das wohl seine Kollegen getan haben!«, sagte Oskar, der in der Hoffnung überhaupt auf zu öffnende Kisten gleich Stemmeisen und Hammer im Gürtel mitgenommen hatte, und er machte sich gleich an die Arbeit.

»Vorsicht, Vorsicht«, wurde von anderer Seite gewarnt, »wer weiß was die hier für ein Teufelszeug hinterlassen haben.«

»Etwas Stinkigeres als die stinkigen Lumpen kann es unmöglich sein!«, lachte Oskar, den Hammer schwingend.

»Es ist unbedingt ein lebendiger Mensch, die Hunde irren sich nicht, sie zeigen einen lebendigen Menschen an!«, erklärte Juba Riata nochmals.

»Ja, warum sollen die Piraten den denn nur hier eingenagelt und zurückgelassen haben?«

Oskar unterbrach einmal seine Arbeit, die Kiste wurde hin und hier bewegt, daran gepocht — keine Antwort erfolgte.

»Er soll es uns selber sagen.«

Der Deckel war entfernt.

Ein überraschender Anblick erwartete uns!

In der Kiste lag, auf Sägespäne und einer Decke, gebettet, ein braunes Weib, ein junges Mädchen, in bunte, baumwollene Gewänder gehüllt. Ein Mädchen von wunderbarer Schönheit, mit den lieblichsten, sanftesten Zügen.

Es dauerte eine Weile, ehe wir Umstehenden uns von unserer Überraschung erholt hatten.

»Eine Inderin mit malaiischem Typus!«, war Doktor Isidor dann der erste, der Worte fand, und dann griff er auch als Arzt zuerst zur Untersuchung zu.

»Tot.«

»Nein, sie ist nicht tot, sonst würden meine Hunde ganz anders bellen oder mit meiner Erlaubnis auch heulen«, sagte Juba Riata nochmals, »und der Geruch dieser Tiere lässt sich nicht von einem Scheintot täuschen.«

Wir untersuchten näher auf Leben und Tod. Wir hätten für Tod stimmen müssen. Von Atem und Puls keine Spur, ganz kalt, die Glieder steif. Allerdings nicht so ganz wie in der Todesstarre, die doch überhaupt bald wieder verschwindet. Es war, als ob in den Gliedern und in jedem der zierlichen Fingerchen eine Feder stecke. Die Finger waren halb zur Faust geschlossen, sie ließen sich strecken, schnellten aber sofort zurück.

»Ja, es mag ein Starrkrampf sein, in den gewisse Inder Menschen und Tiere ganz gewiss zu versetzen wissen, durch Hypnose oder innerlich angewandte Mittel!«, entschied Doktor Isidor, sagte aber nichts anderes, als wir alle dachten. Gerade Seeleute können doch viel von den Gaukeleien der indischen Fakire erzählen.

»Vorwärts, Juba Riata«, sagte ich, »jetzt müssen wir doch noch versuchen, einen der Piraten zu bekommen, oder eine Frau, die uns Auskunft geben kann, wer das ist.«

Ich selbst schloss mich nicht der abgehenden Expedition an. Nach einer halben Stunde kam Juba Riata zurück. Er hatte mit den Hunden die Spur der zuletzt geflüchteten Bande bis an eine andere Stelle der Küste verfolgt, wo eingerammte Pfähle und Stricke verrieten, dass hier noch mehr Prauen gelegen hatten — mehr konnte nicht konstatiert werden. Eine Spur durch das Wasser zu verfolgen, das war auch von den beflossten Hunden des Meeres zu viel verlangt.

Unterdessen hatte Doktor Isidor das braune Weib weiter untersucht, wenn auch mit schonendster Hand, hätte seine Prognose doch immer wieder auf Tod stellen müssen, wenn er nicht von vornherein anderer Ansicht gewesen wäre. Er glaubte eben dem Unterscheidungsvermögen der Hunde in solchen Sachen — mit dem man sich überhaupt bei Annahme eines Scheintodes viel mehr befassen sollte — er dachte wie wir alle von vornherein an indischen Hokuspokus. Die verschiedensten Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Bei einem Schnitt in eine Ader des Armes floss kein Blut, wohl aber ließ sich solches herausdrücken, sah dunkel aus und war ganz dick. Kurz entschlossen sagte Doktor Isidor:

»Das muss ich mikroskopisch in meinem Laboratorium untersuchen, wir nehmen sie doch gleich mit.«


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Selbstverständlich nahmen wir sie mit. Die gehörte doch nicht zu der Piratenbande, die hatte sich jedenfalls schon in dieser Kiste in diesem Zustande an Bord einer Dschunke befunden; war mit erbeutet worden, war aber nicht mit verschachert worden. Die Piraten wussten wohl selbst nicht, was sie damit anfangen sollten.

Auf ihren Stand konnte man aus nichts schließen. Weder aus ihren sehr feinen Händen und zierlichen Füßchen noch aus der sehr einfachen Kleidung. Schmuck war nicht zu bemerken, noch sonst etwas Außergewöhnliches. Allerdings hatte noch keine nähere Körperuntersuchung stattgefunden, das ließ vorläufig die Gegenwart der Patronin nicht zu.

Nach einer weiteren halben Stunde waren wir wieder an Bord, in der Kajüte wurde der leicht zugeschlagene Deckel wieder abgenommen. Und da ereignete sich die seltsame Szene.

Jetzt war natürlich auch Mister Carlistle dabei, und kaum erblickte der das braune Gesicht mit den bezaubernden Zügen, da stößt er einen Schrei aus, fällt auf die Knie und fängt weinend zu jauchzen an:

»O, Ihr wunderbaren Sterne, Ihr habt mich nicht vergebens mit diesem Schiffe nach Chinas unermesslichen Küste geführt, ohne mir irgend ein bestimmtes Ziel anzugeben — meine Königin, mein Weib — hier habe ich Dich endlich gefunden!«

So jauchzte er unter Tränen, und dann warf er sich über die Todesstarre und bedecktes ihr Antlitz mit Küssen und küsste sie immer wieder.

Na, was sollte man denn nun dazu sagen?

Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, war es Kapitän Martin, der das Verhör übernahm.

»Well, das ist Ihr Weib?«

»Mein Weib — meine Königin — mein Weib!«, stammelte jener noch ganz fassungslos, aber glückstrahlend.

»Well, Ihr ehelich angetrautes Weib?«

»Nicht so, wie Sie es sich prosaisch denken — meine Königin, die mich allnächtlich im Traume besucht.«

Oho!

Nun ahnten wir doch gleich etwas!

Und es war sehr gut, dass Kapitän Martin mit den Händen in den Hosentaschen das Examen gleich begonnen hatte und auch damit fortfuhr.

»Im Traume besucht?«, ließ er nur seine Augenbrauen etwas höher rutschen.

»Ja, jede Nacht.«

»Well, wissen Sie denn sonst, wer das ist?«

»Nein.«

»Nee? Hat sie Ihnen denn das nicht im Traume gesagt, wer sie ist?«

»Nein, so etwas gibt es nicht, wenn man sich auf der Astralebene befindet.«

»Auf der Astralebene? Hm, well, weiß schon, wenn ich auch nicht an den Mumpitz glaube. Ja, da haben Sie also immer von der da geträumt?«

»Jede, jede Nacht. Und im Traume war sie mein Weib. Nein, wer sie im Leben ist, meine Königin der Nacht, das hat sie mir nicht gesagt. Aber das hast sie mir gesagt, dass ich sie an der Küste Chinas finden würde, an Bord dieses Schiffes, und an Bord dieses Schiffes würde sie für mich auch zum wirklichen Leben erwachen!«

»Ach, Mumpitz.«

Es war nicht gerade sehr höflich vom Kapitän, aber auch begreiflich, dass er an solche Träumerei nicht glaubte und auch nicht viel davon hören wollte.

Da aber richtete sich der junge Mann plötzlich mit flammenden Augen hoch empor.

»Sie glauben nicht meinen Worten?!«

»Well, das ist ja alles recht schön und gut, aber...«

»Soll ich Ihnen den Beweis erbringen, dass dies wirklich mein Weib ist, das mich jede Nacht im Traume besucht?«

»Well, bringen Sie den Beweis.«

»Glauben Sie meinem Ehrenwort, dass ich dieses Mädchen noch niemals im Leben, noch niemals im wachen Bewusstsein gesehen habe?«

»Ja, Mister Carlistle, Ihrem Ehrenworte glaube ich.«

»Dass ich auch sonst von diesem Mädchen noch niemals etwas gehört habe?«

»Ja, Mister Carlistle! darin glaube ich Ihnen.«

»Wohlan, so heben Sie ihren Kopf, wenden Sie sie um — — und wenn dieses Mädchen nicht am Nacken, mehr nach dem linken Schulterblatt zu, ein Muttermal hat, weiß gefärbt auf der braunen Haut, in ungefährer Gestalt eines Eichenblattes, dann... will ich ein Narr sein, der auf dieses Mädchen kein Anrecht hat!«

Es geschah, die Todesstarre wurde umgewendet, ihr Nacken entblößt.

Uns allen war bei dieser einleitenden Prozedur schon ganz unheimlich zumute. Wenigstens mir, und ich glaube da doch, auch auf die Stimmung der anderen schließen zu dürfen.

Und wahrhaftig, da sehen wir auf dem braunen, sammetartig glänzenden Nacken von den edelsten Formen, mehr nach dem linken Schulterblatt zu, ein weißes Muttermal, das nicht nur ungefähr, sondern ganz genau die Form eines Blattes der Stieleiche hat, etwa vier Zentimeter lang und wenig schmaler.

»Nun?!«

Jetzt machten die anderen aus ihrer Bestürzung kein Hehl mehr, während ich nun wieder ganz eiskalt wurde, und Kapitän Martin blieb der alte, nur dass er seine Hände noch etwas tiefer in die Hosentaschen zwängte.

»Well, das ist sehr, sehr merkwürdig. Na, da kann ich Ihnen nur wünschen, dass sie recht bald erwacht, dass sie auch dann noch mit allem einverstanden ist, was sie mit Ihnen im Traume ausgemacht hat, dass dann die reelle Hochzeit stattfindet und dass sie Ihnen eine gute Mitgift einbringt. Aber die haben Sie ja wohl nicht nötig. Was sie sonst im Leben ist, das hat sie Ihnen nicht gesagt?«

»Nein.«

»Weil Sie immer von einer Königin sprachen.«

»So nenne ich sie nur immer — meine Königin — sie ist die Königin meines Lebens — meiner nächtlichen Träume — meines Herzens.«

»Na, da wünsche ich Ihnen, dass sie sich nicht etwa auch noch als richtige Königin entpuppt, von so einem indischen Reiche, damit Sie nicht etwa noch in politische Unannehmlichkeiten kommen. Und Sie wollen Ihre Fräulein Braut oder Frau Gemahlin nun hier an Bord behalten?«

»Das muss unbedingt geschehen.«

»Weshalb unbedingt?«

»Nur hier an Bord dieses Schiffes wird sie das Bewusstsein wieder erlangen, zum richtigen Leben wieder erwachen.«

»Sie hat Ihnen im Traume gesagt, dass Sie sie hier bewusstlos oder gar mehr ganz als halbtot finden werden?«

»Nein, nur, dass ich sie an Chinas Küste finden würde, wenn ich mich der ›Argos‹ bediene, und dass wir an Bord dieses Schiffes vereint werden würden.«

»Sie hat direkt von der ›Argos‹ gesprochen?«

»Ganz direkt.«

»So, so. Sehr merkwürdig, wirklich sehr merkwürdig.

Was doch nicht alles in der Welt passiert, sogar im Traume, und unsereins weiß gar nichts davon. Well, sehr merkwürdig. Und Sie dürfen die Scheintote auch nicht von anderen untersuchen lassen, ob es gelingt, sie ins Leben zurückzurufen...«

»Auf keinen Fall! Nur hier muss ihr Wiedererwachen ruhig erwartet werden!«

»Well, well, dann geschieht's eben so, da brauchen Sie sich doch nicht gleich so aufzuregen.«

»Und nicht wahr, Frau Patronin«, wandte sich Mister Carlistle bittend an diese, »nun bleibt unser Charterverhältnis auch bestehen?«

»Dieses muss bestehen bleiben, wenn Sie...?«

»Ich muss der Herr des Schiffes sein, von dessen Mannschaft sie gefunden wird, so hat sie mir im Traume ganz direkt vorgeschrieben. Das heißt — der Herr dieses Schiffes, sage ich — Sie verstehen das doch richtig...«

»Selbstverständlich Mister Carlistle — selbstverständlich es ist alles in Ordnung, unser altes Verhältnis bleibt bestehen, so lange Sie wünschen!«

*

36. Kapitel

Auf Vancouver

Originalseiten 860 — 895

Was sagst Du nun zu alledem, Georg?« »Gar nischt.« Helene hatte in ihrer Kajüte wieder einmal vergeblich bei mir angepocht.

Diesmal aber setzte ich freiwillig doch noch etwas hinzu.

»Ich kann nur eines sagen: dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt. Ja, an solche Dinge glaube ich. Nach diesem offenen Geständnis aber, Helene, bitte ich Dich, mich mit weiteren solchen Fragen verschonen zu wollen.«

Das tat sie denn auch. Aber über den Sternkieker wurde nun doch noch etwas weiter gesprochen, es war gerade einmal die Gelegenheit dazu.

Es war ja ein eigentümliches Verhältnis, das mit dieser ganzen Charterei. Ja, wir hatten uns durchaus nicht gebunden, waren eigentlich noch ganz frei, wir konnten ja den Kontrakt innerhalb von 24 Stunden kündigen und brauchten die Anweisungen des Charterers schon vorher nicht zu befolgen, wenn wir nicht wollten. Aber... es war keine richtige, würdige Sache für uns Argonauten, die wir absolut freie Herren der See sein wollten, oder nur unserer selbsterwählten Herrin dienend, der Freifrau von der See.

Hierüber hatten wir unter uns schon mehrmals gesprochen, daraufhin hatte ich dem Sternkieker auch den Vorschlag gemacht, den Kontrakt aufzugeben, er könne ja unser Gast bleiben, wir würden ihn noch immer dorthin bringen, wohin er beliebe.

»Bitte, nein, nein, ich muss dieses Schiff unbedingt für mein eigenes Geld gechartert haben — so steht es in den Sternen geschrieben — sonst finde ich mein Glück nicht!«

Na, wenn es so stand — ganz wie der kuriose Kauz wollte, seinem Glück wollten wir nicht hinderlich im Wege stehen.

Und nun war nochmals solch eine Gelegenheit gekommen, diesmal schnitt er die Sache selbst an.

»Gut, das alte Verhältnis soll bestehen bleiben, wir sind ja in unserer Freiheit durchaus nicht beschränkt, ich habe auch innerlich kein solches Gefühl, das mich etwa demütigen könnte!«, sagte Helene noch, als wir uns einige Zeit hierüber unterhalten hatten, und die Sache war wiederum erledigt.

»Hat er schon wieder ein neues Ziel angegeben?«, fragte ich.

»Nein, und er sagt, dass er dies auch nie wieder tun würde, denn nun hatte er sein Glück gefunden.«

»Desto besser für ihn, und dass er alle unsere Kosten trägt, wir dabei auch noch extra eine gute Summe jeden Monat einstecken, kann uns ja auch nur sehr angenehm sein. Und wohin gedenkst Du nun zu segeln, Helene?«

Sie blickte einige Zeit sinnend vor sich hin, wobei aber ihre Augen immer freudiger aufleuchteten.

»Weißt Du, Georg«, sagte sie dann, »ich habe schon seit vier Jahren keinen richtigen Winter mehr erlebt. Entweder ich bin zwischen Oktober und März auf der südlichen Hälfte der Erdkugel gewesen oder doch in einer nördlichen Breite, wo man Schnee und Eis nicht kennt. Ja, ich möchte wieder einmal Schnee und Eis sehen.«

»Ich auch!«, frohlockte ich auf. »Ich möchte mich wieder einmal im Schnee wälzen, Schlittschuh fahren und dann mit richtigem Genusse dampfenden Punsch trinken!«

»Also fahren wir nach Norden!«

»Fahren wir!«

»Hast Du eine bestimmte Gegend im Auge?«

»Ich? Nee. Wenn's nur kalt genug ist, dass man Schlittschuh fahren kann.«

»Kennst Du Vancouver?«

»Die große Insel an der Westküste Nordamerikas, zu Britisch-Columbia gehörend? Nicht viel mehr als dem Namen nach.«

Helene berichtete mir näher darüber, sie hatte sich schon mehr darüber orientiert, weil sie sich eben schon öfters mit dieser Insel beschäftigt hatte.

Also an der Westküste Kanadas gelegen, das hier aber Britisch-Columbia heißt, eine Provinz für sich, auf dem 50. Breitengrad, 33 100 Quadratkilometer umfassend, das ist — um immer ein Verhältnis zu haben — mehr als doppelt so groß als das Königreich Sachsen.

Nach Monte Baber hinüber, auf dem Festlande gelegen, wo gleich zwei Pacific-Bahnen enden, ist es nur ein Katzensprung — wenigstens auf der Karte.

Durchweg gebirgig, herrlich bewaldet, ungeheuer reich an Eisen, Kupfer, Nickel und Kohlen. Aber zum Abbau kommt nur der östliche Küstenstreifen in Betracht, also dem Festlande gegenüber, wo auch die Hauptstadt Victoria liegt, mit 20 000 Einwohnern, darunter 3000 Chinesen.

Dort lohnt sich eben nur der Bergbau. Aus dem Inneren der Insel fehlen die Kommunikationswege, sie wären zu schwierig anzulegen, ihre Herstellung würde ein größeres Kapital beanspruchen, als der Bergbau an Zinsen einbringt, was immer den Ausschlag bei so etwas gibt, weshalb auch zum Beispiel in Schweden so viele Magnetberge, aus fast reinem Eisen bestehend, nicht ausgebeutet werden können. Die Gewinnung des Eisens würde immer noch zu teuer zu stehen kommen.

Deshalb kann auch an der Westküste der langgestreckten Insel kein Bergbau betrieben werden. Hier fehlen die Häfen, die Gelegenheit zum Abholen der Erze, sie kann also an Billigkeit der Erzeugnisse nicht mit der Ostküste konkurrieren.

So kommt es, dass diese große Insel bis auf einen schmalen Küstenstrich auf der Ostseite noch in gänzlicher Wildnis daliegt. Von den Laub- und Nadelhölzern wollen wir gar nicht erst sprechen, von deren Abholzung, meine ich. Es wird doch immer zuerst da Holz gefällt, wo man es am besten abholen kann, was hier eben nicht der Fall ist. Und da gibt es in Amerika noch andere Gelegenheit. Sobald der Klafter nur um einen Groschen teurer durch den Transport wird als die Konkurrenz, lohnt sich die Sache doch nicht, der Unternehmer kommt doch nicht auf seine Kosten.

Nun bliebe nur noch die Landwirtschaft übrig, von Leuten betrieben, die nicht gleich an den Verkauf ihrer Erzeugnisse denken, die sich und ihre Familien nur erst einmal selbst ernähren wollen, und in dem Gebirge gibt es ja auch genug Ebenen, mit äußerst fruchtbarem Boden, sonst würde doch nicht so viel Wald dort wachsen, besonders auch Laubwald, Eichenwald.

Aber da ist ebenfalls nichts zu machen. Alle uns bekannten Getreidearten gedeihen dort nicht, obgleich die Winter auf der ganzen Insel, weil dort der warme japanische Golfstrom auftrifft, viel wärmer sind, als man ihrer hohen Breitenlage nach erwarten müsste, und die Sommer sehr feucht.

Aber das ist es eben! Ob eine Getreideart in einer gewissen Gegend gedeiht oder nicht, dazu braucht man heutzutage nicht mehr erst Versuche anzustellen, das kann man heute nach dem Thermometer berechnen, den man ein ganzes Jahr lang beobachtet. Denn jede Getreideart braucht, um reif zu werden, jährlich so und so viele Stunden einer gewissen Wärme. Kommen diese nicht heraus, dann reift das Getreide nicht. Und so ist es auf ganz Vancouver. Alle uns bekannten Getreidearten und sonstigen Nahrungspflanzen wachsen im Winter unter dem Schnee zu schnell oder behalten zu viel Triebkraft und werden dann im kühlen, feuchten Sommer niemals reif.

So ist also fast die ganze Insel noch ein jungfräulicher Urwald. Dabei ein wahres Paradies für Jäger. Alles wimmelt von Wild, besonders von den verschiedensten Hirscharten.

Aber auch da, um der Jagdlust zu frönen, ist wieder ein böser Haken dabei. Die eingeborene Bevölkerung besteht aus Indianern, die man auf 10 000 Köpfe schätzt — sie lassen sich überhaupt ganz ruhig zählen — zum großen Wakale-Stamme gehörend, natürlich wieder in viele Unterabteilungen mit eigenen Häuptlingen zerfallend.

Es sind noch heute ganz echte Rothäute, ausschließlich von der Jagd lebend, dabei friedliebend, sogar unter sich, und wenn fremde Jäger kommen, Blassgesichter, dann freuen sie sich, nehmen gern Geschenke an, sie aber stolz erwidernd, und führen die Blassgesichter mit größtem Vergnügen auf die Jagd.

Aber schießen tut man dabei nichts, das ist die Sache! Diese schlauen Burschen führen den fremden Jäger nur dorthin, wo es kein Wild gibt, lassen ihn in einer trockenen Regenrinne übernachten, wo er am Morgen fortgeschwemmt wird, oder verekeln ihm sonst auf alle mögliche Weise den Jagdgenuss — aber immer in vollster Höflichkeit — und kommt man doch einmal in ein gutes Jagdrevier, dann »verbellen« sie das Wild. Man kommt nicht zum Schuss. Das ist in ganz Nordamerika in alten Jägerkreisen allgemein bekannt. Auf Vancouver ist mit der Weidmannslust nichts zu wollen.

Ja, wenn es dort wertvolle Pelztiere gäbe! Dann hätte der Yankee ja dort schon Fuß gefasst, da wäre es mit den naturwüchsigen Rothäuten dort schon längst vorbei. Aber wegen der mäßigen Winterkälte gibt es dort eben keine Pelztiere, wenigstens keine mit einem wertvollen Pelz, wobei sich die anstrengende Jägerei lohnt.

Das alles ist noch heute so. Nur von der Natur selbst sind diese Rothäute auf den Aussterbeetat gesetzt worden. Das heißt: der Kindersegen ist sehr gering, es sterben mehr alte, als neue dazu geboren werden. Die Schöpfung scheint eben die Urbevölkerung Amerikas nicht mehr zu leiden. Sonst aber, wer in Amerika noch echten Urwald und echte Indianer kennen lernen will, der muss nach Vancouver gehen. Er selbst kann sich ja mit der Zeit zu einem Jägerleben einrichten, mit keiner anderen Gefahr, als dass er selbst von einem Grizzlybären gejagt und gefressen wird. —

So hatte mir Helene berichtet, auch an der Hand der Karte.

»Hat Ihnen Juba Riata schon von seinem ehemaligen Freunde, dem weißen Biber erzählt?«

»Nein, mir noch nicht.«

So tat es jetzt zunächst die Patronin, für mich jetzt Helene.

Franz Naumann war mit den Eltern, schlesischen Bauern, schon als Junge nach Nordamerika gekommen, hatte das ganze Farmer- und noch mehr Hinterwälderleben durchgemacht, war immer weiter nach Westen gewandert, war immer mehr Jäger geworden, bis er nach Vancouver gekommen war, um sich hier gänzlich als Jäger niederzulassen. Hatte auch in ein Indianerwigwam hineingeheiratet. Weil er so gern tranige Biberschwänze aß — denn Biber gibt es dort massenhaft, nur ihre Pelze taugen nichts — und weil er auch sonst so ein Wassermensch war, wurde er von den Indianern der weiße Biber getauft.

So hatte er jahrelang als Jäger auf Vancouver gehaust. Wie viele Jahre, das wusste er wohl selber nicht, bis ihn wieder die Sehnsucht nach der Kultur gepackt hatte. Er war nach San Francisco gegangen. Hier lernte er den Juba Riata kennen, der damals gerade im Artistenberuf tätig war, in einem Zirkus auftrat, und der weiße Biber wirkte einige Zeit mit in einer Indianerpantomime.

Lange hielt er es nicht aus, er wollte zurück in seinen einsamen Wald, und nun wusste er ganz bestimmt, dass er ihn nie wieder verlassen würde. Er wollte auch Juba Riata, mit dem er engere Freundschaft geschlossen bewegen, für immer mit ihm zu gehen.

Na, wenigstens begleiten tat ihn Peitschenmüller, der gerade ein neues Engagement suchte, sich einmal Urlaub nehmen wollte.

Die beiden gingen nach Vancouver, jagten einige Wochen zusammen, dann nahm Peitschenmüller wieder Abschied.

»Juba Riata ist im Winter dort gewesen!«, schloss Helene ihren Bericht. »Ende Dezember und Anfang Januar, und er konnte mir nicht genug von der Winterpracht der dortigen Wälder vorschwärmen. Schon zweimal war ich im Begriff, mit ihm dorthin zu gehen, als ich dieses Schiff noch nicht hatte, aber immer ist nichts daraus geworden — und Du weißt ja auch von meiner früheren Abneigung gegen alle Seefahrt. Nun aber ist mein Entschluss gefasst: wir gehen nach Vancouver, verleben dort einen Winter. Meinst Du nicht?«

»Nu allemal! Wird es aber nicht jetzt schon zu spät dazu sein?«

»Weshalb zu spät?«

»Wollen wir direkt mit unserem Schiffe hin?«, »Gewiss, und das ist es eben. Der weiße Biber hatte seine Jagdgründe an der Westküste, wohin er dann auch zurückkehrte, Riata mitnehmend. Wo das ist, das kann ich Dir nicht genauer bezeichnen — hier ungefähr, wo meine Fingerspitze ist — die Hauptsache aber ist, dass Juba dort einen weiten Hafen gesehen hat, wie geschaffen zur Aufnahme unseres Schiffes, tief genug, das hat er mit der Lachsharpune oft genug sondiert, auch beim größten Sturme ganz ruhig darin, sicher einzufahren, und er weiß bestimmt, dass er diesen Hafen auch wiederfindet.«

»Ja aber nun wegen der Eisverhältnisse im Winter, das meine ich eben!«

»Ach so. Ja, wir können immer hinein. Um diese Zeit ist dort oben allerdings schon Eis, aber dieses wird niemals so stark, dass wir mit unserem Kriegsschiffe, auch wenn es ungepanzert ist, nicht durchbrechen könnten. Es war damals im Januar ein ausnahmsweise strenger Winter für Vancouver, aber Juba behauptet, auch damals hätten wir mit der ›Argos‹ das Eis mit Leichtigkeit auframmen können, und wegen des Fischfanges, den er hauptsächlich betrieb, hatte er ganz genaue Bekanntschaft mit den Eisverhältnissen gemacht. Ich habe ihn schon vorhin nochmals darüber gesprochen, er ist Feuer und Flamme, seinen alten Freund, den weißen Biber wieder zu besuchen. Ach, Georg, dort oben im verschneiten Walde wieder einen Winter verleben!«

»Da bin ich mit dabei, also mal los!«

Und eine Stunde später schon waren wir bereits mit Volldampf nach Osten unterwegs.

Aber erst ging es nach San Francisco. Wir mussten unseren Proviant ergänzen, brauchten sonstige Sache und meine Jungens wollten doch auch wieder einmal an Land, und nicht in so einer chinesischen Hafenstadt.

Achtzehn Tage brauchten wir zu der Fahrt über den Stillen Ozean, der aber durchaus nicht still war, jetzt zur Winterszeit. Das Leben an Bord ging in seiner frischen, fröhlichen Weise weiter.

Über unsere »Königin«, welchen Namen sie nun einmal bekommen hatte, habe ich nichts weiter zu sagen, als dass sie todesstarr in einem kleinen Salon aufgebahrt lag.

Sehr merkwürdig — aber ich habe eben nichts weiter über sie zu sagen.

Doktor Isidor hatte Verschiedenes mit ihr versucht — nichts half, — die lag mit geschlossenen Augen da, wie sie lag, ohne zu atmen, ohne zu verwesen, ohne zu verfallen. Auch ihr Blut blieb in demselben dicken, eigentümlichen Zustande. Doktor Isidor fand keinen Unterschied zwischen frischem Menschenblute, nur dass es eben ganz dick war, nicht von selbst aus einer Wunde fließen wollte.

Mister Carlistle verbrachte täglich längere Zeit bei ihr, meist kniend im Gebet, streichelte sie wohl auch, küsste sie aber nicht mehr und... war glücklich in der Hoffnung an ihr Erwachen. Na, und wenn ein Mensch glücklich ist, mehr kann man doch nicht von diesem Leben verlangen.

Dann weiter habe ich noch zu bemerken, dass unser Isidor noch immer an der Geheimschrift herumrätselte, ohne zu einem Resultat zu kommen, dass aber der Sternkieker nichts davon wissen wollte, in San Francisco so einen gelehrten Diftelbruder zu Rate zu ziehen. Hier an Bord würde die Lösung der Geheimschrift erfolgen, oder nie.

Auch jut — immer ganz wie der Mensch will — besonders wenn er eine halbe Milliarde hat. Bei dieser Gelegenheit mache ich darauf aufmerksam, dass für den halben Milliardär in Mark die Charterung dieses Schiffes dasselbe zu bedeuten hatte, als wenn ein vierprozentiges Millionär für seine Wohnung 400 Mark jährliche Miete zahlt, und das wird er sich doch wohl leisten können. Und uns war es ebenfalls sehr angenehm »Wir lebten einander zuliebe«... unser Sternkieker mit eingeschlossen.

Sonst habe ich über diese achtzehn Tage sehr stürmischer Fahrt nach meinem Tagebuche noch Folgendes zu erzählen:

Am 11. November kam an Bord unseres Schiffes der erste größere Unglücksfall vor, der des Erwähnens wert ist: dem Matrosen Walter wurde von einer herabkommenden Spiere der linke Oberarm gebrochen. Doch würde voraussichtlich alles wieder gut heilen.

An demselben Tage machte Napoleon, der erste Bootsmann, einen famosen Witz, allerdings ganz unfreiwillig.

Fritz der Mondgucker hatte beim Anholen der Rahen eine falsche Brasse von der Nagelbank geworfen, und Napoleon machte ihn liebevoll auf den Irrtum aufmerksam: »Du Kalb — Du Ochse — Du Büffel — Du Nashorn — Du Rhinozeros — Du Du Du Du Du... Rhododendron!«

Die Patronin hatte es wie ich mit angehört, musste sich schnell abwenden.

»Hört, Napoleon, wisst Ihr denn, was ein Rhododendron ist?«, fragte ich.

»Das ist ein Rhinozeros mit drei Hörnern, das noch vor der Sündflut auf der Erde herumgelaufen ist.«

»Nein, das ist eine Blume, eine sehr schöne Blume.«

»Das Rhododendron? Nee, Waffenmeister, das ist ein, vorsündflutliches Vieh gewesen.«

»Ich versichere Euch, es ist eine Pflanze mit sehr schönen Blumen. Kommt, ich will sie Euch im Konversationslexikon zeigen, mit Abbildung.«

Na, dann glaubte ers endlich, konnte sich nur noch hinter den Ohren kratzen.

Seitdem war Fritz der Mondgucker nur noch das Rhododendron, wenigstens so lange, bis gemerkt wurde, wie furchtbar fatal es dem biederen Bootsmann aus Finnland war, da hörte es sofort auf.

Ich kann nicht etwa die zahllosen Witze und humoristischen Episoden erzählen, die tagtäglich passierten, aber das habe ich anführen müssen. Wie Napoleon seine Titulaturen steigerte, mit dem Kalbe anfing und dann über das Rhinozeros weg bis zum Rhododendron — es war zu urkomisch gewesen! Freilich musste man es wohl selbst mit angehört haben.

Ebenso wenig erzähle ich solche Kleinigkeiten, wie der Matrose Karl seinem besten Freunde dem Gottlieb während dieser Überfahrt wegen einer kleinen Meinungsdifferenz im Knock-him-down-Salon zwei Schneidezähne ausschlug.

Erwähnenswerter ist da schon, dass nach meinem Tagebuche am 17. November der geistesgestörte Albrecht die goldene Uhr erwischte, die sich der sparsame, aber etwas eitle Matrose Klaus in Kapstadt für sieben Pfund Sterling gekauft hatte, und sie so lange mit dem Putzlappen bearbeitete, bis der dünne Goldüberzug verschwunden war und der Tombak zum Vorschein kam.

Na, Gnade Gott dem Juden, wenn wir wieder nach Kapstadt kamen! Da erlebte jene schon erwähnte Erzählung des Kapitän Marryat, der einen Matrosen wegen eines Petschafts noch einmal von London nach Liverpool fahren lässt, noch einmal eine neue Auflage. Und unsere Fahrt von Marseille nach Paris ebenfalls.

Am 25. in aller Frühe liefen wir im herrlichen Hafen von San Francisco ein, allgemein einfach nur Frisco genannt. Hierbei erwähne ich einmal das, was die Patronin in jedem Hafen, wo es möglich war, sofort tat: nämlich, dass sie sofort nach New York an ihren Rechtsanwalt telegrafierte, hauptsächlich wegen des Befindens ihres Bruders. Dass dieser von der Schwester nicht mehr besucht sein wollte, habe ich wohl schon früher berichtet, und ich hätte es an seiner Stelle nicht anders gemacht.

Trotz der vielen Umschaltungen, die der elektrische Funke auf seinem Wege durch den ganzen amerikanischem Kontinent nötig hatte, kam die Antwort von der Küste des Atlantischen Ozeans schon in drei Stunden zurück, welche Schnelligkeit am besten der begreift, der einmal auf eine Stadtdepesche gelauert hat — dem Bruder ging es in Sing-Sing ganz famos!

Der amerikanische Rechtsanwalt hatte sich wirklich sehr drastisch ausgedrückt — kreuzfidel und puppenlustig, hätten die entsprechenden englischen Worte in freier Übersetzung gelautet.

Noch an demselben Vormittag nahmen wir Kohlen und Proviant in nötiger Menge ein und versorgten uns sonst mit allem, was wir bei einem mehrmonatlichen Winteraufenthalt auf Vancouver zu gebrauchen gedachte, nicht zu vergessen Schlittschuhe und Schneeschuhe, pro Kopf je ein Paar.

Uns alle hatte überhaupt plötzlich eine Begeisterung ganz besonderer Art gepackt. Während der ganzen Reise über den Stillen Ozean, seitdem an der chinesischen Küste das mit Vancouver herausgekommen war, war nur noch von Wintersport jeglicher Art gesprochen worden. Besonders schwärmten alle meine Jungen fürs Skilaufen. Ganz besonders deshalb, weil außer Kabat, dem norwegischen Matrosen Olaf und Juba Riata, der es auch erst damals auf Vancouver gelernt hatte, überhaupt noch keiner Schneeschuhe an den Füßen gehabt hatte. Ich auch noch nicht. So waren wir alle für die Sache mit einem Male eingenommen, dass wir schon auf dem Wendekreis des Krebses an Bord des Schiffes hatten Schneeschuhe laufen wollen. Und wir hatten es wirklich getan. Die drei Sachkundigen hatten welche gefertigt, jeder ein Paar, der Eskimo die in Grönland üblichen, wieder ganz verschieden von den langen skandinavischen Skis, und Juba Riata hatte ein Paar kanadische gefertigt, mit Lederriemen überflochtene Holzrahmen, wie die Tennisschläger aussehend. Und da waren wir abwechselnd auf dem nassen, glatten Deck herumgerutscht. Gerade wie die Kinder, die zu Weihnachten die ersten Schlittschuhe bekommen, es ist noch kein Eis, und da humpeln sie einstweilen in der Stube herum.

Ja, auch mit Schlittschuhen war es gleich versucht worden. Da aber nur in einer einzigen Kleiderkiste ein Paar verrostete Dinger vorhanden gewesen waren — an so etwas hatte die Patronin bei der Ausrüstung des Schiffes denn doch nicht gedacht, wir alle später auch nicht — so wurden Rollschuhe daraus gemacht. Fast jeder der jungen Leute hatte sich ein Paar gefertigt, die Rädchen aus irgend etwas rundem herstellend, die verwegensten Kombinationen waren zum Vorschein gekommen.

Natürlich war das alles nur halber Kram gewesen. Nur so eine Idee mit humoristischer Ausführung. Schon die langen Ski, so einfach sie auch aussehen, sind gar nicht so leicht zu machen, ganz abgesehen davon, dass uns das nötige Eschen- oder Buchenholz fehlte.

Nun, in Frisco war alles vorhanden. Wenn man in dieser paradiesischen Gegend mit ewigem Frühling auch gar keinen Schnee kennt. Aber ganz in der Nähe ist ja die himmelhohe Sierra Nevada mit ewigem Eis und Schnee. Da wird von Frisco aus eifrigst dem Wintersport gehuldigt, also ist hier auch alles zu haben.

Ach, war das eine Lust, wie wir noch am Vormittage einkauften! Und Frau Helene Neubert war wieder einmal diejenige, der nichts teuer genug sein konnte. Sie strahlte vor Seligkeit, wenn sie bezahlte. Pelzgefütterte Sportstiefeln, extra nur zur Aufnahme von den neuesten Patent-Halifax-Schlittschuhen bestimmt. Da aber nun einmal das Rollschuhfahren angeschnitten worden war, mussten auch Rollschuhe gekauft werden. Für jeden gleich zwei Paar. Das eine Paar mit einfachen vier Rädern, das andere zum Kunstlaufen bestimmt, sieben Gummiräder in einer Reihe geordnet. Und hierzu waren nun wieder besondere Kunstrollschuhläuferstiefel nötig. Wenigstens absolut nötig nach Ansicht der Frau Helene Neubert. Und dies alles bekam jeder, jeder, ob er wollte oder nicht, auch Hammid mit seinem hölzernen Bein und Kapitän Martin. Obgleich der gar nicht daran dachte, solche Dinger an die Füße zu schnallen, zumal wenn er dabei etwa gar die Hände aus den Hosentaschen nehmen sollte!

Das erste Resultat dieses Einkaufes war, dass August der Starke mit seinen siebenrädrigen Kunstläuferrollschuhen, als er sie eben erst anprobiert hatte, sofort in das Schaufenster des Ladens hineinsauste, außerdem auch noch mit seinem Hinterteil einen eigentlich ganz soliden Polsterstuhl in Trümmern legend, wofür die Patronin wieder 30 Dollars zu bezahlen hatte — und sie bezahlte stets freudestrahlend.


Illustration

Na, sie hatte es ja jetzt dazu, noch viel mehr als früher! Wie wir jetzt durch den Charterungskontrakt gestellt waren!

Ach, ich sehe noch die Szenen, die da passierten, wie die ganze Bande in dem Laden die Rollschuhe anprobiert! Ich sehe noch den kleinen Knut, wie er mit dem rechten berollten Fuß unter den Ladentisch fährt und mit dem linken der Verkäuferin unter die Röcke, während er sich mit beiden Fäusten krampfhaft an den prächtigen Vollbart eines fremden Herrn anklammert — und ich sehe noch den baumlangen Heinrich, wie dem die Füße abgehen, wie er nach oben greift und eine Portiere erwischt, wie er das ganze Gelumpe herunterholt und sich damit zudeckt — und kaum hat sich August der Starke aus den Trümmern der großen Spiegelfensterscheibe und des Stuhles hervorgearbeitet, da kracht er auch schon wieder mit einem Sofa zusammen, auf dem aber auch schon die Patronin sitzt...

Genug!

Und doch, ich muss es betonen, wie wir den Einkauf der Ausrüstung zum Wintersport betrieben, wenn zu diesem auch nicht gerade Rollschuhe gehören.

Wir wollten frühestens erst morgen fort, die Jungens sollten sich diese Nacht einmal amüsieren. Sie wollten nicht. Sie wollten nach dem winterlichen Vancouver, sich im verschneiten Gebirgswald vergraben. Wäre es möglich gewesen, wir wären schon zu Mittag wieder in See gegangen — auf Wunsch der Leute. Einiges konnte aber erst am Abend geliefert werden. Na, und da allerdings machten sie einen lustigen Nachmittag, und so groß Frisco auch ist, in der Altstadt merkte man es ganz deutlich, dass gegen siebzig Menschen die Taschen voll Geld hatten.

Und dann ist die Hauptsache auch die, dass wir eben deswegen in Frisco keine Vorstellung gaben. Am Abend in der achten Stunde ging es wieder in See!

*

Genau 70 Stunden später, nachdem die Sonne schon seit zwei Stunden verschwunden war, wenn wir sie auch überhaupt in den drei Tagen nie zu Gesicht bekommen hatten, nahmen wir Peilung auf die Südwestküste von Vancouver. Wir peilten aber nicht etwa nach Leuchtfeuern, sondern mit dem eingefetteten Lot nach Wassertiefe und Beschaffenheit des Meeresgrundes. Hier gibt es keine Leuchtfeuer. Man kann doch nicht etwa die ganze Küste von Amerika mit Leuchttürmen spicken. Der Schiffer muss eben den Küsten fern bleiben, muss, wenn er die Küste nahe glaubt, bei sternenloser Nacht ständig loten und kann nach der Erde, die er mit dem eingefetteten Blei heraufholt, sich auch ungefähr über die Gegend orientieren, wo er sich befindet.

Das ist alles auf den Seekarten verzeichnet, und was die Engländer in diesen Seekarten im Laufe der Jahrhunderte geleistet haben, das ist einfach fabelhaft!

70 bis 80 Meter Tiefe, ungefähr 30 Prozent weißgelber Sand Nummer 6, 50 Prozent Pinasmuscheln Nummer 13, 20 Prozent sonstiger Dreck, den wir nicht näher zu untersuchen brauchten — gewiss, etwa 10 Seemeilen vor uns war der Barclay Sound mit Kap Reale.

Nun aber schleunigst wieder seewärts ahoi!

Es war eine schauderhafte Nacht! Seit zwei Tagen schon wütete der Nordsturm, der Stille Ozean tobte, wie nicht der Atlantik in der Bucht von Biscaya tobt, bittere Kälte, dass man sich nicht die Nase putzen konnte, alles gefroren, und dazu ein Schneetreiben, dass im Lampenschein nicht die Hand vor den Augen zu sehen war. Erst gegen Mitternacht ließ dieses furchtbare Schneetreiben nach, der Himmel begann sich sichtlich aufzuhellen, und gegen acht Uhr hatten wir den herrlichsten Sonnenaufgang, wenn auch der Nordsturm noch brauste, dass man nicht gegen ihn atmen konnte.

Im Nordosten erblickten wir eine Küste von furchtbarer Zerrissenheit, mächtige Vorgebirge reckten sich weit ins Meer hinaus.

Auf der Kommandobrücke stand Juba Riata, hatte seine blauen Adleraugen auf diese Küste gerichtet, und jetzt streckte er die Hand aus.

»Dort jenes Vorgebirge ist es, zwischen diesem und dem Kuppelbau müssen wir hinein.«

Die Spezialkarte von Vancouver wurde befragt. Namen haben diese Vorgebirge und Buchten ja alle bekommen, wenn man sie sonst auch noch gar nicht kennt.

Port Sunny hieß die Bucht, welche Juba Riata bezeichnete, an deren waldiger Küste er damals einige Wochen verlebt. Er hatte sie aber mit dem weißer Biber von Victoria zu Fuß erreicht, meist auf Schneeschuhen, in viertägigem Marsche, und diese beiden Kerls hatten marschieren können!

Port Sunny — sonnige Bucht — wir hatten es gerade gut getroffen, dass sie ihren Namen bewahrheitete.

»Noch unvermessen!«, setzte die Patronin hinzu, nachdem sie eine andere Karte befragt hatte, die aber wieder ganz anders aussah als jene geografische Küstenkarte.

Was dies für eine Bedeutung für uns hatte, dass diese Bucht innerhalb des letzten Vierteljahres noch nicht vermessen worden war, das wird der Leser später erfahren. Oder eine Andeutung kann ich schon machen: die Küsten dieser Bucht hatte noch keinen Besitzer, es war vorläufig noch freies Regierungsland.

»Und Sie halten eine Einfahrt auch bei diesem Sturme und diesem Seegang für möglich?«, fragte Kapitän Martin.

Ja, Juba Riata hält die Einfahrt für möglich und sieht keine Gefahr vorhanden. Denn er hatte das Meer hier während einiger Wochen beobachtet. Hier trifft also der japanische Golfstrom auf, der an der Küste einen Höhenunterschied zwischen Ebbe und Flut von sechs Metern erzeugt. Und Juba Riata hatte auch bei tiefster Ebbe und auch bei stärkstem Seegang, wodurch das Meer doch noch tiefere Einblicke gestattet, keine einzige Klippe gesehen. Das musste den Ausschlag geben, wenn wir es nun einmal wagen wollten.

»Well, in einer Stunde haben wir Hochflut — Frau Patronin?«

»Na, sicher wird's riskiert!«, gab die ihre Erlaubnis zu der Sache, obgleich die eigentlich von dem Chartermeister hätte eingeholt werden müssen. Aber wie das Verhältnis bei uns nun einmal lag, brauchte Mister Carlistle gar nicht erst gefragt zu werden.

Und wir gingen mit Volldampf gegen die felsige Küste los. Jedes andere Schiff, das uns beobachtet, hätte uns für verrückt gehalten. Wirklich verrückt wurde auch unser Schiff, als es sich nach einer Stunde zwischen den beiden Vorgebirgen befand. Dermaßen tanzte es hier, in einem tollen Wogengang, der gleichzeitig von allen Seiten zu kommen schien.

Aber wir rangen uns durch, kamen immer weiter hinter das Vorgebirge, das sich als Landzunge von Norden nach Süden zu erstreckte, und hinter dieser natürlichen Kaimauer musste ja das Wasser immer ruhiger werden. Nur dass jetzt noch Eisschollen hinzukamen, die furchtbar gegen den Schiffsrumpf donnerten.

Ich will die weitere Passage nicht ausführlicher beschreiben, könnte sie auch gar nicht anschaulich machen.

Wieder eine Stunde später schwammen wir in einer kleinen Bucht, die aber noch ein Dutzend solcher Schiffe bequem hätte aufnehmen können, glatt wie ein Spiegel, obgleich über uns die Wolken noch immer vom Sturm gejagt wurden, das Wasser durchsichtig wie blauer Kristall, sodass man bei etwa zehn Meter Tiefe die kleinste Muschel am Boden erkennen konnte.

Auf der Nordseite wurde diese Bucht von einem niedrigen Damm begrenzt, hinter dem sich eine kilometerweite, spiegelglatte Eisfläche erstreckte. Nach Osten hin stieg die bewaldete Küste wohl steil, aber doch erklimmbar empor, während sich auf der Südseite die schwarzen Felsen jäh bis zum Himmel emporreckten, aber von vielen Schluchten durchbrochen, die noch von dem blauen Wasser erfüllt waren.

Über die ganze Szenerie kann ich nur eines sagen: »Ach, ist das herrlich hier, ist das herrlich hier!«

So hatte die Patronin begeistert gerufen, als sie damals in jener Bucht des Feuerlandes das Land betreten hatte.

Hier wäre dieser Ausruf viel eher angebracht gewesen. Hier tat sie ihn nicht.

Keiner von uns war eines Wortes fähig.

So furchtbar überwältigend war die Szenerie in ihrer schrecklich wilden Schönheit. Unbeschreiblich. Ich wage gar keinen Versuch einer näheren Schilderung.

Nur ein Beispiel kann ich heranziehen.

Ich habe gesagt, dass die Bucht auf der Südkette von schwarzen Felsen eingerahmt war, sich steil aus dem Wasser emporreckend. Von Schluchten unterbrochen. Das sagt im Grunde genommen gar nichts, da kann man sich kein Bild in seiner Phantasie machen.

Wir haben eine gleiche Szenerie in Deutschland.

In der sächsischen Schweiz, wenn man auf der Brücke des Basteifelsens steht und nach der Ostseite in die Schlucht hinabblickt, wie sich da die Sandsteinfelsen wie die Säulen emporrecken.

Die sächsische Schweiz, bah, was ist das für sein lausiges Miniaturgebirge! Es gibt viele, viele Dresdener, die noch nicht auf den Basteifelsen gekommen sind. Wenn sie es sich leisten können... ja, die Alpen!

Da muss man einmal solche Engländer hören, die noch mehr als die Alpen gesehen haben, alle zugänglichen Gebirge der Erde.

Da wird man die einstimmige Versicherung hören, dass es eine Szenerie von solch wilder, überwältigender Romantik, wie man sie hier von der Basteibrücke der sächsischen Schweiz erblickt, nur noch im indischen Hindukusch und im Libanon gibt!

Wenn man das von solchen Weltbummlern hört, da fängt man anders über die sächsische Schweiz zu denken an.

Endlich fanden wir wieder Worte.

»Wie kommt es«, fragte ich, »dass diese Bucht nicht zufriert?«

»Weil sie«, entgegnete Juba Riata, einen warmen Zufluss hat.«

Das Wasser hatte eine Temperatur von 18 Grad Celsius, kam einem daher bei den 6 Grad Kälte der Luft lauwarm vor.

»Wo ist der warme Zufluss?«

»Das weiß auch ich nicht. Jedenfalls unterirdisch, vielleicht dort in der Nähe jener natürlichen Felsenbrücke, dort ist das Wasser am wärmsten. Dann ist gar nicht weit von hier, in zehn Minuten Bootsfahrt zu erreichten, eine Höhle, eine Tuffsteingrotte, in der eine mächtige heiße Quelle entspringt, die sich im Boden verliert. Es ist drin vor Hitze kaum auszuhalten.«

»Und was ist das dort für ein Eisfeld? Seine Spiegelglätte füllt auf. Es hat doch auch hier tüchtig geschneit, die Fichten können die Schneelast ja kaum noch tragen. Wo ist der Schnee auf dem Eisfeld geblieben?«

»Das ist eine Lagune. Sie sehen, dass der abgrenzende Damm kaum einen halben Meter hoch ist, und höher ist hier auch nicht der Unterschied zwischen Ebbe und Flut. Bei der höchsten Flut nun geht das warme Wasser der Bucht eben über den Damm hinweg, überschwemmt die Lagune, bringt im Winter die oberste Eisschicht und den Schnee zum Schmelzen, gefriert natürlich bei genügender Kälte schnell wieder, und so ist eben immer eine spiegelglatte Eisfläche vorhanden.«

Dann war das ja die idealste Eisbahn, die man sich nur denken konnte!

»Nun müssen Sie aber erst einmal«, fuhr Juba Riata fort, »in diese Felsenschluchten eindringen! Das ist das grandioseste, was ich je gesehen habe. Es ist ein ganzes Labyrinth, mit einer bizarren Architektur, wie sie kein menschlicher Architekt im Fieberdelirium zusammenträumen könnte. Wir können die Wasserwege mit diesem Schiff befahren.«

»Mit diesem Schiffe?! Dort zwischen die Felsen dringen?!«, rief ich erstaunt.

»Auf den Hauptwegen, ja. Wenigstens bis nach jener heißen Grotte kann ich Sie bringen, mit dem Schiffe. Dann zweigen ja auch noch viel schmalere Schluchten ab, die wohl nur im Boote zu befahren sind. Es ist eben ein ganzes Labyrinth, dessen Ausdehnung ich gar nicht kenne, ich bin ja nur vier Wochen hier gewesen, und wie ich es auch mit dem Boote befahren habe — ich glaube, da langt ein Menschenleben nicht aus, um dieses Labyrinth kennen zu lernen. Wollen Sie erst einmal die heiße Tuffsteingrotte besichtigen? Das ist wohl das Interessanteste. Fabelhaft, dieser Anblick!«

»Wollen wir?«, wandte ich mich an die Patronin. Diese starrte noch immer die schneebedeckten Tannen und Fichten and Eichen an, ließ ihr Auge über die blinkende Eisfläche schweifen und blickte dann wieder hinein in die kolossalen Felsentore, oben wirklich sehr oft durch einen Bogen, eine natürliche Brücke verbunden — erst bei meiner Anrede schrak sie aus ihren Träumen empor.

»Nein, nein!«, fing sie plötzlich zu schreien an. »Fort! Fort! Nach Victoria!«

Sie hatte wirklich geschrien, dass ich ganz zusammengeschrocken war.

Nun, ich musste sehen, was sie für einen Grund dazu hatte.

Dieses Land hier konnte ja schon seinen Besitzer haben.

Die neueste Vermessungskarte von ganz Kanada erscheint aller Vierteljahr. Die letzte war Anfang Oktober herausgekommen. Auf dieser, die wir in Frisco hatten kaufen können, war Port Sunny und Umgebung allerdings noch nicht rot umgrenzt. Herrenloses Gebiet, Regierungsland. Aber Juba Riata hatte ja gar nicht gewusst, dass es sich um Port Sunny handele. Also hatte auch eine telegrafische Anfrage in Victoria nicht viel genützt. Und unterdessen konnte ja dieses Land gekauft worden sein, ein Gebiet von vielen Quadratmeilen.

Zwar hätten wir hier immer dem Wintersport heiligen können, auch dem Sommersport, so lange es uns beliebte. Der etwaige Besitzer hätte uns nicht fortweisen können. Das ist in Amerika an solch einer einsamen Küste nicht so leicht. Da muss schon ein Regierungsbefehl hinzukommen, der aber auch erst zu begründen ist.

Aber wie unsere Patronin nun einmal war, die Frau Helene Neubert, die Freifrau von der See, und überhaupt, was wir hier alles vorhatten, wenn sich das bewahrheiten sollte, was uns Juba Riata schon alles von dieser Gegend vorgeschwärmt hatte und was wir nun mit eigenen Augen als Tatsache erblickten — nein, wenn wir uns hier niederlassen wollten, dann musste dieser Grund und Boden und dieses Wasser auch uns gehören, oder... wir fuhren gleich wieder ab, ohne uns erst weiter umzusehen, um niemals wieder herzukommen.

Der Leser weiß ja schon, was wir hier vorhatten. Wir wollten unseren eigenen Hafen haben, von dem... niemand nichts wusste. Das drückt es wohl am besten aus. So einen verborgenen Schlupfwinkel irgendwo auf der Erde. Und zum Hafen gehört doch auch eine Küste.

Ach, wir hatten schon viel hierüber gesprochen! Aber wo solch einen heimlichen Schlupfwinkel finden? Das ist heutzutage doch nicht mehr ganz so einfach. Die Bucht im Feuerlande hatten wir ja schon Argonantenbucht getauft gehabt. Aber der Wind hatte nur einmal zu blasen brauchen, da wussten wir, dass das dort nichts war, hatten es ja auch schon vorher gewusst. In diese Bucht konnte man doch nur einlaufen wenn viele Tage lang Windstille gewesen war, was dort so selten passiert, bei dem geringsten Seegang war immer Gefahr vorhanden, dass das Schiff bei der Einfahrt zerschellte. Nein, dort war es nicht. Jene Bucht war ja überhaupt gar nicht so wunderschön.

Aber diese hier, das war etwas für uns! So etwas Herrliches hätten wir uns überhaupt gar nicht träumen lassen.

Also zuerst einmal nach Victoria, ehe wir uns hier weiter umsahen. Das Land wurde mit keinem Fuße betreten.

Die Hauptstadt von Vancouver war von hier 120 Seemeilen entfernt, abends um zehn lagen wir im Hafen.

Das Landamt war natürlich geschlossen. Aber da war bald ein Beamter gefunden, der uns Auskunft geben konnte. Und wir durften aufjubeln. Nein, dort an der Südwestküste war alles noch herrenlos.

Nun muss ich etwas über den Erwerb von Regierungsland in Kanada mitteilen. Jede mündige, unbescholtene, männliche Person — bei Frauen bedarf es einiger Erweiterung — bekommt in Kanada auf Antrag 60 Acker Regierungsland. Der englische Acre hat 5000 Quadratyards gleich 4000 Quadratmeter. Dieses schon vermessene Regierungsland bekommt er umsonst und vollständig gebührenfrei, kann es sich auf der Karte aussuchen, wo er will. Ein Vater mit sechs erwachsenen Söhnen bekäme also 420 Acker zusammenhängendes Land. Das lässt sich bei gemeinschaftlichem Familienbesitz auch noch auf Frau und Töchter und selbst noch auf die kleinen Kinder erweitern. Mit Genossenschaften lässt sich die Regierung nicht ein, das können die Mitglieder machen, wie sie wollen.

Nur muss man sich verpflichten, dieses Land selbst zu bebauen, darauf zu »dominieren«. Das muss fünf Jahre lang geschehen, dann erst wird der Grundbesitz mein wirkliches Eigentum. Doch mit dem Bebauen wird es gar nicht ernst genommen. Wohl kommt ab und zu ein Regierungsbeamter, aber dem ist es ganz schnuppe, was jemand auf seinen Äckern treibt. Dagegen wird es mit dem »Dominieren« sehr streng genommen. Man muss darauf ständig wohnten. Werden einem größere Reisen nachgewiesen, dann ist man das Land wieder los.

Nun glaube aber niemand, er könne nach Kanada gehen, sich da 60 Acker Urwald aussuchen und darin ein Jägerleben führen. Das hält niemand ein halbes Jahr aus. Das haben schon Tausende versucht, und Tausende haben sich hinterher selbst ausgelacht. Das ist alles nicht so einfach.

Dann kann man in Kanada auch noch unvermessenes Regierungsland bekommen, so viel man haben will, ohne Verpflichtung darauf zu wohnen und es zu bebauen.

Auch dieses Land gibt die Regierung vollständig umsonst, gleich quadratmeilenweise. Aber einmal sind die eventuellen Indianer, die noch Anspruch auf dieses Land machen, zu entschädigen, die haben pro Acker zwei Schilling zu bekommen, müssen diesen Preis annehmen, ob sie wollen oder nicht, und dann vor allen Dingen hat man dieses Gebiet auf seine eigene Kosten vermessen zu lassen.

Und das ist eine gar teure Geschichte! Es sind gewöhnlich zwei Geometer mit einigen Hilfsarbeitern, die zusammen pro Tag ungefähr 100 Mark bekommen. Man muss pro Acker 10 Schilling deponieren. Für einen Quadratkilometer also 2500 Mark. Zwar wird einem vorgerechnet, dass die Vermessung nicht die Hälfte, nicht den vierten Teil kosten wird — aber die beiden Herren sorgen schon dafür, dass die deponierte Summe ganz genau aufgebraucht wird. Die nehmen sich Zeit.

Doch darf man hierin keine Übervorteilung erblicken. Das ist eine ganz eigentümliche Sache.

An der Spitze der Vermessungsabteilung für Kanada stand damals und steht noch heute Sir Mac Hovell, Professor und vielfacher Ehrendoktor, einer der bedeutendsten Geologen und sonstigen Naturwissenschaften der beste Kenner Kanadas, außerdem, wie er bei mehrfacher Gelegenheit gezeigt hat, ein hochehrenwerter Mensch.

Und der stellt alle Geometer als Regierungsbeamte persönlich an, prüft sie persönlich, und mit der Vermessungskunst ist es bei dem noch nicht abgetan, er nimmt nur geschulte Geologen, Zoologen und Botaniker, prüft auch besonders auf den Charakter.

Zeit nehmen sich diese Herren, das stimmt. Aber faulenzen dürfen sie nicht etwa. Dieser Sir Howell soll vielmehr wie ein Teufel hinter ihnen sitzen, überall in Kanada da auftauchen, wo man ihn am wenigsten vermutet, um seine Herren Beamten zu kontrollieren.

Diese müssen zugleich auch das ganze Land, das sie vermessen sollen, auf Gesteinskarten, Fauna und Flora untersuchen, wissenschaftlich, das ist es! Auf diese Weise wird das deponierte Geld verbraucht. Solche reiche Leute, die den Wunsch hegen, gleich einige Quadratmeilen zu besitzen, um Riesenfarmen anzulegen oder dem Sport zu huldigen, müssen mit ihrem Gelde der Wissenschaft dienen, um das noch so wenig erforschte Kanada aufzuschließen.

Es wird ja viel von solchen Leuten über dieses System geschimpft, ich aber finde es ganz vortrefflich. Außerdem muss man doch auch bedenken, dass die kleinen Bauern, die doch die eigentliche Kraft des Landes bilden, auch in Sachen des Steuerbezahlens das schon vermessene Land ganz umsonst und gebührenfrei bekommen, und das muss doch irgendwo wieder herausspringen.

Am nächsten Morgen um 10 begaben wir uns auf das Landamt. Die Sache war höchst einfach, dauerte keine Viertelstunde. Allerdings konnte die Patronin jetzt nur tausend Acker für sich registrieren lassen, vier Quadratkilometer. Für mehr Land muss ein besonderer Antrag gestellt werden, welcher einer höheren Entscheidung bedarf. Aber bei Zusprechung dieser vier Quadratkilometer war es nicht viel anders, als wenn jemand eine Schnitte Brot abschneidet. Die Patronin deutete auf der Karte das Küstengebiet, das sie zu besitzen wünsche, mit dem Bleistift an, ein bartloser Jüngling maß mit dem Zirkel, und zog mit roter Tinte ein Viereck — so, dieses Viereck, vier Quadratkilometer, gehörte der Frau Helene Neubert aus Hamburg.

Freilich die Hauptsache, erst hatte sie 500 Pfund Sterling für die späteren Vermessungsarbeiten deponieren müssen! Oder man war bei der doch ganz sicher, dass es geschah! Die Schiffsbesitzerin hatte nur erklären müssen, dass sie dieses Geld sofort hinterlegen könne und wolle!

Dann kam noch das Registrieren.

Frau Helene Neubert unterschrieb.

»Und Titel?«, fragte der Beamte.

»Titel?«

»Freifrau von der See?«

Der englische Beamte hatte dies deutsch ausgesprochen, hatte sich dabei beinahe die Zunge abgebrochen. Jedenfalls kannte er gar nicht die Bedeutung dieser Worte.

Aber immerhin, er hatte es gesagt. Musste also schon so etwas gehört haben.

Die Patronin bekam einen Kopf wie eine Klatschrose.

»Missis Helene Neubert — ich habe keinen Titel. Nun ja — Schiffsbesitzerin.«

Die Sache war erledigt.

Noch will ich erwähnen — falls ein Leser auf diesen klugen Gedanken kommen sollte — dass ja auch wir anderen noch jeder vier Quadratkilometer dazu nehmen konnten, nebeneinander gelegen, die traten wir dann der Patronin ab. Oder auch nicht. Ganz wie sie wollte.

Ja, das wäre gegangen. Das ist doch auch nicht gerade eine unehrliche Schiebung.

Aber mit solchen gegenseitigen Abtretungen von ausgewirktem Regierungsland kann man in Kanada und überhaupt in Nordamerika mörderlich hineinfallen! Inwiefern, das kann ich hier nicht auseinandersetzen, das würde viel zu weit führen.

Nur eines will ich sagen: England hat es wunderbar verstanden, allem Landwucher in seinen Kolonien einen Riegel vorzuschieben, weil es da früher mit Australien so böse Erfahrungen gemacht hat, noch heute nach Jahrhunderten fürchterlich daran zu kauen hat.

Wir begnügten uns vorläufig mit den vier Quadratkilometern.

Die Geometer würden erst nächstes Frühjahr kommen. Dagegen kam sofort ein Major mit, ein Indianeragent, um mit den roten Besitzern dieses Gebietes in Verhandlung zu treten. Denn die bekamen nun von uns noch 100 Pfund Sterling, gleich 2000 Mark, pro Acker zwei Schilling, sofort in bar oder in gewünschten Waren zum Marktpreis von Victoria, frei ins Wigwam geliefert.

In diesen Kauf mussten die Indianer also willigen, ob sie wollten oder nicht.

Wer hierbei eine Ungerechtigkeit findet, eine Vergewaltigung, dem sei nur gezeigt, wie es diese Indianeragenten machen, wenn sich die Rothhäute etwa auf die Hinterbeine setzen wollen.

»Wo habt Ihr denn dieses Land her?«, lautet dann die Frage.

Alle Indianer Nordamerikas wissen nämlich noch heute ganz genau, dass sie nicht die Ureinwohner dieses Landes sind. Vor ihnen war hier ein anderes Volk, dessen letzte Reste jedenfalls die nach dem höchsten Norden verdrängten Eskimos sind. Die fremde Rasse, die wir die indianische nennen, ist von Nordwesten hier vorgedrungen, jedenfalls aus Asien über die Behringstraße, und hat diese Ureinwohner vollständig ausgerottet. Dieser furchtbare Vernichtungskampf muss eben erst beendet gewesen sein, als die Europäer in Nordamerika von Osten her vordrangen. Die heutigen Indianer wissen das noch ganz genau, sie rühmen sich dessen.

»Was habt Ihr denn damals diesen Ureinwohnern für eine Entschädigung gegeben?«, lautet dann die zweite Frage.

Da wissen die Indianer nichts zu antworten.

Nein, es ist höchst anständig, dass England heute diesen kanadischen Indianern zwei Schilling für den Acker Land zahlt. Die Union hat es nicht so gemacht.

Außerdem ist ja in Kanada wie in ganz Nordamerika die Jagd frei, also auch die Indianer können nach wie vor auf den von ihnen abgetretenen Gebieten jagen. Nur nicht auf bebautem Felde, das in Frucht stehst, das heißt der Ernte wartet. Und dann nicht auf umzäuntem Gebiete, so hoch eingefenzt, dass kein vierfüßiges Tier in freiem Sprunge darübersetzen kann, wobei es zwischen Grundbesitzern und Jagdliebhabern manchmal zu interessanten Prozessen kommt.

Major Deware wurde von einem Wachtmeister und zwei Soldaten als Diener begleitet, alle in Zivil. Die begleiteten uns kostenlos, wenn sie natürlich auch unsere Gäste waren. Kostenlos wurde uns auch weitere militärische Hilfe zugeschickt, falls es nötig werden sollte. Aber das war auf Vancouver noch nie vorgekommen. Die »Argos« ging wieder ab.

Nur zwei schlossen sich von der Rückfahrt aus: Jubas Riata und ich.

Wir beide hatten verabredet, den Rückweg über Land per Schneeschuh zu machen. Hatten es öffentlich so verabredet, dass sich uns kein anderer als Begleiter anbot.

Besonders Helene schmollte ein bisschen mit mir, aber das war mir ganz egal. Da ließ ich mir doch keine Vorschriften machen. Oder sie hätte mich ja als Kargo-Kapitän abmustern und als Waffenmeister entlassen könnten. Ich hänge mich niemandem an die Rockschöße, will aber auch niemanden an den meinigen hängen haben.

Wir legten die Strecke, die in der Luftlinie 150 Kilometer beträgt, in sechs Tagen zurück, immer auf Schneeschuhen, auf kanadischen, deren Gebrauch gar nicht weiter zu erlernen ist, sie beabsichtigen auch gerade das Gegenteil der norwegischen, sollen durch ihr Lederflechtwerk das Gleiten verhindern.

Hätte Juba Riata diesen Weg unter kundiger Führung nicht schon einmal gemacht und hätte er nicht jeden Gebirgspass wieder zu finden gewusst, so wäre diese Tour im Winter überhaupt gar nicht möglich gewesen.

Wir haben unterwegs manches Abenteuer erlebt, doch finde ich es nicht weiter erwähnenswert. Einmal saß Peitschenmüller unten in einer Schneespalte, in die er gestürzt war, und ich saß oben auf einem Baume, und zwischen uns beiden saß ein mächtiger Grizzlybär und ging nicht eher, als bis er unseren für zwei Tage berechneten Proviant verzehrt hatte. Dann freilich, als wir unsere Waffen wieder hatten, musste er dafür sein Leben lassen.

Nur ein einziges Mal fanden wir die Schneeschuhspuren eines andern Menschen, doch wurden sie bald verweht.

Es waren sechs herrliche Tage und Nächte gewesen, die ich in den einsamen, verschneiten Wäldern verlebt hatte, aber noch herrlicher war es, als ich am siebenten Tage in der elften Morgenstunde auf dem letzten Bergrücken stand, in weiter Ferne das glitzernde Meer erblickte und gerade unter mir die Bucht mit unserem Schiffe.

Ach, war das ein Anblick! Nämlich besonders unsere Jungen zu beobachten, was die gerade trieben! Gut die Hälfte von ihnen tummelte sich auf der Eisbahn, fuhr Schlittschuh, da gab es ja schon amüsante Szenen genug, aber interessanter war es doch, die Rodler zu beobachten.

Na, die hatten da ja wieder einmal etwas Nettes ausgeheckt!

Rodeln kann ja schließlich jeder, wenn er einen Schlitten, einen Abhang und genügend Schnee hat, aber so wie die rodelten, das brachten eben nur die neuen Argonauten fertig!

Dort, wo der Abhang etwas sanfter war, aber immer noch auf der Eisbahn endend, ging es hinab, auf den regelrechten Sportschlitten, die in Frisco gekauft worden waren, und sie schienen sich auch schon welche nach eigenen Ideen gebaut zu haben, es waren merkwürdige Formen dazwischen.

Schon die auf der Bahn hier und da stehenden Bäume boten Schwierigkeiten genug, die gewandt umgangen werden mussten. Dann war auch noch eine künstliche, sehr scharfe Kurve geschaffen worden, und nicht genug mit dieser Gefahr, sondern hier hatten sie auch noch ein Gestell aufgebaut, an dem Beutelchen hingen, und beim Vorbeisausen kam es darauf an, solch ein Beutelchen zu erhaschen, wobei man beim Biegen nach der Außenseite der Kurve noch viel leichter umkippen konnte. Und sie rollten denn auch nicht schlecht im Schnee.

Und was war in den Beutelchen? Ich erfuhr es ja erst später.

Da hatte jeder Mitspielende als Einsatz sein Goldstück hineinzutun, ein englisches Pfund oder den gleichen Wert. Meine solid gewordenen Jungen hatten doch massenhaft Geld.

Na, solch eine Rodelei ließ ich mir wenigstens gefallen!

Ich bin nämlich sonst nicht fürs Rodeln. Ich finde es etwas dämlich, einen Berg hinaufzukraxeln, in wenigen Sekunden herunterzurutschen und dann den Schlitten wieder hinaufzuschleppen, und so immer weiter. Ja, als Kinder haben wir das auch gemacht. Aber eigentlich nur deshalb, weil es auf dem Stadtberge verboten war. Um den Schutzmann zu kujonieren. Und wenn der Sandaugust kam und streute, dann schnell den Sand wieder mit den Pudelmützen fortgefegt und wieder dem Hüter der Ordnung an der Nase vorbeigesaust! Das war unsere Lust, aber doch nicht etwa da den Hügel hinabzurutschen.

Und das möchte ich hierbei auch einmal sagen: so wie wir Jungen vor 25 Jahren Schlittschuh fuhren, das kann die heutige Jugend nicht mehr! Ich habe viele deutsche Städte im Winter gesehen, habe stundenlang an Eisbahnen meine Beobachtungen gemacht — unsere heutige Jugend kann nicht mehr Schlittschuh fahren! Das scheint man über das fade Rodeln ganz verlernt zu haben. Freilich fiel uns halbwüchsigen Jungen, zwölf- bis sechzehnjährig, auch gar nicht ein, den Mädels — oder jetzt sind es wohl schon Damen — die Schlittschuhe anzuschnallen, vor ihnen die Mütze abzunehmen und mit ihnen ein bisschen auf dem Eise herumzukraxeln. Na, so ein Süßholzraspler hätte uns ja nicht mehr kommen dürfen! Wir jagten um die Wette, übten uns im Kunstlauf und suchten auf freier Bahn die Stellen, wo man am leichtesten einbrechen konnte.

Also dieses Rodeln hier ließ ich mir schon eher gefallen. Ich habe dann selber von früh bis abends mitgemacht. Wem es gelang, ein Beutelchen zu erhaschen, der hatte jedes Mal 20 Mark verdient, und griff er noch weiter hinten zu, wobei er freilich auch noch viel leichter kentern konnte, dann auch noch mehr Goldstücke, die Zahl vermehrte sich immer. Wer aber daneben griff oder dabei umwarf, der musste wieder seinen Einsatz zahlen.

Und nicht genug hiermit, das Beste kam erst noch. Dann einfach einige hundert Meter über die glatte Eisfläche sausen, bis der Schlitten sich ausgelaufen hatte, das war nichts für meine Jungen, da hatten sie schnell ihre Erfindung gemacht.

Sie hatten unten aus der Lagune das Eis ausgehackt und die Eisschollen herausgenommen hatten. Über dem freien Wasser nur eine schmale Eisbrücke stehen lassen, dass eben die Schlittenkufen darin Platz hatten, und über diese Eisbrücke musste nun der vom Hügel herabsausende Schlitten. Erst wenn dies gelang, erst dann war die Beute richtig gewonnen. Sonst musste sie wieder zurückgegeben werden.

Gerade als ich hinsah, kam ein Rodel den Hügel herabgesaust, es war der englische Matrose Sam, er hatte richtig ein Beutelchen erwischt, nun aber schnell wieder den Schlitten dirigiert, auf die Lagune, auf die Eisbrücke...

Bruch, Kladderadatsch! Hochauf spritzt das Wasser, verschwunden ist der Schlitten samt Rodler, da taucht er pustend wieder aus, schwimmt ans Ufer, den Schlitten nachziehend...

Und da kommt schon wieder einer herabgesaust... bruch, kladderadatsch... genau dasselbe... nur dass der nach der anderen Seite ins Wasser schießt...

Na da guten Morgen!

Rodeln diese Kerls ins Wasser hinein, bei sieben Grad Kälte!

Na, gesundheitsschädlich ist so etwas ja nicht. Wenn man nicht bereits die Lungenschwindsucht hat. In diesem Falle soll man's lieber bleiben lassen.

Aber sonst... ach, Du lieber Gott, wenn man sich durch so etwas den Tod holen könnte — dann gäbe es doch überhaupt gar keine lebendigen Matrosen mehr! Was wir manchmal in Wasser stehen müssen, an Deck, aber doch immer im Wasser, lange Eiszapfen im der Nase.

Die Rodler hatten ihr Ölzeug an, unten und oben gut zugebunden. Ganz schützen tut es ja nie, etwas Wasser dringt immer ein... aber die Hauptsache war, dass es ihnen Spaß machte. Und was es ihnen für Spaß machte, das hatte uns schon vorher ihr furchtbares Brüllen und Johlen gesagt, das wir schon in drei Knoten Entfernung gehört hatten.

Wir hatten erst geglaubt, sie lägen bereits mit Indianern im Kampfe.

Dann traten wir den Abstieg an und ließen uns unten von Menschen und Tieren nach Gebühr begrüßen.

*

37. Kapitel

Wie wir unsere Konkurrenten retten

Originalseiten 895 — 932

Vierzehn Tage waren vergangen. Mit Sport aller Art und reicher Jagd dazu. Es war ein herrliches Leben, und wir glaubten, hier für immer bleiben zu können. Wenn wir einmal Abwechslung bedürften — bis nach Victoria waren es ja nur zehn Stunden, bis nach Frisco drei Tage. Aber jetzt dachten wir noch nicht an so etwas.

Indianer hatten sich noch nicht gezeigt. Die hatten schon längst ihre festen Winterquartiere bezogen, von denen sie sich nicht weit entfernten, und es war eben ein Zufall, dass diesen Winter kein Stamm hier in der Nähe lagerte. Sonst wären die schon gekommen, die mussten dieses Gejohle und Posaunengetute und Orgelspielen doch vernehmen. Aber niemand kam.

Nun, Major Deware hatte Zeit. Der konnte ein halbes Jahr warten. Es wäre ja gut gewesen, wenn man in Victoria über seinen längeren Verbleib gewusst hätte, aber etwa deshalb hinfahren — kein Gedanke dran! Wie dort überhaupt die Verhältnisse liegen.

Der schon ältere Offizier war einst ein echter Hinterwäldler gewesen und war es eigentlich noch immer, nur dass er sich unterdessen eine ganz respektable Bildung angeeignet hatte. Im Übrigen ein prächtiger Mensch.

Und eben so gut vertragen wir uns mit dem bärbeißigen Wachtmeister und mit den beiden Soldaten. Sie alle machten mit.

Besonders der alte Major wurde ganz Begeisterung, nachdem er uns näher kennen gelernt und unser Treiben beobachtet hatte.

»Haben Sie denn noch nicht daran gedacht«, sagte er eines Tages, als wir Hauptpersonen in der Kajüte bei der Punschterrine zusammensaßen, »mit Ihrem Schiffe Schule zu machen? Und zwar im wörtlichen Sinne dieses Ausdrucks. Ein Schulschiff einzurichten? Wenn Sie etwa zum Schiffsdienst geeignete Waisenknaben...«

Weiter kam er nicht.

Kaum ist ihm das letzte Wort entfahren — »orphans« auf englisch, eigentlich ja orphan boys, aber wir dachten doch nicht etwa an Waisenmädchen — also kaum ist ihm dieses letzte Wort entfahren, da springt Mister Carlistle auf und breitet die Arme aus.

»Endlich, endlich!«, jauchzt er ganz verklärt zum Himmel empor, respektive zur Kajütendecke.

Wir denken doch schon, seine Traumkönigin ist endlich aus ihrer Todesstarre erwacht. Aber woher soll er das hier plötzlich wissen?

Nein, sein »endlich« hatte auch einen ganz anderen Grund.

»Endlich darf ich Ihnen meinen Vorschlag machen! Ja, nehmen Sie Waisenknaben auf und bilden Sie sie zu tüchtigen Seeleuten aus, nach Ihrer eigenen Methode! Schon immer wollte ich Ihnen diesen Vorschlag machen, aber ich musste warten, bis er erst von anderer Seite kam, so hatten es mir die Sterne befohlen!«

Ahaaaa!

Nur schade, dass Major Deware mit seinem Vorschlag zu spät kam und Mister Carlistle mit dem seinigen schon viel früher zu spät gekommen wäre.

Diesen Fall hatten wir unter uns ja schon längst sehr häufig besprochen.

Ich hatte ja schon früher einmal gesagt, dass wir ein Schulschiff machen wollten. Auf ein Kadettenschiff, also auf Söhne »besserer« Eltern, verzichteten wir lieber von vornherein. Das muss unter staatlicher Kontrolle stehen, und... lieber nicht.

Also Söhne armer Leute, am liebsten gleich Waisenknaben.

Und dabei hatten wir natürlich an deutsche Jungen gedacht.

Da aber hatte der erfahrene Kapitän Martin eine Warnung ausgesprochen

Die deutsche Kauffahrtei kann massenhaft Schiffsjungen gebrauchen. Es melden sich ja auch genug, aber die meisten halten nur eine Reise aus, dann haben sie die Nase voll von der christlichen Seefahrt, gehen wieder nach Hause zur Mutter oder zur Mama oder zum Muddchen, werden lieber Zuckerbäcker oder irgend etwas anderes weniger Gefährliches, wobei man nicht so egal nass wird, keine so krummen, aufgerissenen Finger davon bekommt.

Da, müsste man meinen, könnten doch die deutschen Waisenhäuser genug Material liefern. Oder auch solche Anstalten für verwahrloste Knaben. Das täte nichts. Die kommen später an Land doch auch in eine Lehre. Da können solche Stromer auch an Bord kommen. Da ist an ihnen entweder nichts mehr zu verderben, oder... sie sollen sich wundern, was für eine gute Zucht ihnen beigebracht wird!

Aber da haben Kapitäne und andere Männer, die so etwas in die Wege leiten wollten, schon die schlimmsten Erfahrungen gemacht. Das hängt mit dem deutschen Vormundschaftswesen zusammen. Dann besonders mit der hirnverbrannten, aber in Deutschland schier unausrottbaren Ansicht, dass die Seeleute zum Abschaum der Menschheit gehören. Und solche Jungen sollen doch im Gegenteil zu »nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft« erzogen werden. Kurz und gut, während sonst so ein Junge in seinem »Heim« meistenteils mehr Prügel als zu essen bekommt, wird er jetzt plötzlich, wenn er aufs Schiff soll, als Ebenbild Gottes betrachtet, als die wertvollste Perle der Schöpfung — fortwährend steckt das Vormundschaftsgericht seine Nase dazwischen.

»Lasst um Gotteswillen bloß Eure Hände ab von deutschen Waisenhäusern und Fürsorgeanstalten!«, hatte Kapitän Martin gesagt, erzählte einige Beispiele aus seinen Erfahrungen, und es genügte für uns.

»Aber aus englischen oder amerikanischen Anstalten können Sie solche Bengels nehmen, da werden sie Ihnen mit Haut und Haaren und Seele überlassen, und kein Mensch kümmert sich mehr um sie.«

Gut, uns war das recht. Es brauchten nicht gerade Deutsche zu sein. Wir waren auch nur zu dreiviertel deutsch Und wenn wir die Jungens ausgebildet hatten und konnten sie der Welt vorführen, nicht nur als tüchtige Seeleute, sondern auch als wirkliche Menschen und dazu wollte ich sie schon dressieren, in aller Liebe, da hatte ich meine Pläne schon bis ins kleinste gemacht — dann würde man uns wohl auch deutsche Stromer und Vagabunden anvertrauen.

Aber so eilig hatten wir es mit der Ausführung dieses Planes nicht. Das Argonautenschiff existierte erst ein Jahr, und was hat denn ein Jahr zu bedeuten! Die Gelegenheit würde schon noch kommen.

Immerhin war dies der hauptsächlichste Grund, dass wir noch keine anderen Leute angenommen hatten. Den Leser entsinnt sich ja, dass die Patronin bis zu hundert Mann haben wollte, um gleichzeitig sämtliche Rahen bedienen zu können. Dies war der Grund unserer bisherigen Zurückhaltung. Wir dachten immer an eine ganzes Bande von Schiffsjungen. Aber nur nichts übereilen. Und gerade auf dem Schiffe lernt man warten.

So unterhielten wir uns eines Morgens beim gemeinsamen Frühstück, zu dem es aber schon Punsch gab, was man in dieser Gegend auch ganz gut vertragen kann.

»Ich verpflichte mich«, sagte unser Sternkieker noch, »nein, ich bitte um die Gunst, die Kosten dieser Erziehung tragen zu dürfen.«

Weiter konnte jetzt nicht darüber gesprochen werden. Der erste Steuermann kam herein gestürzt.

»Auf den Riffen sitzt ein Dampfer!«

Wir hinaus.

»Ludwig hat ihn gesehen, von dort oben.«

Der Matrose hatte zur Frühpartie den steilen Berg erklommen, auf der Hälfte des Weges hatte er im Nordwesten zwischen den Riffen einen großen Dampfer liegen sehen, weit, weit von hier.

Mehr konnte er nicht berichten, und es genügte. Hinaufgeklettert war niemand, jetzt stand alles im Schiffsdienst, musste der Kommandos warten.

Jetzt ich mit einigen der schnellsten Kletterer hinauf, Ludwigs Spuren folgend, die besten Fernrohre mitgenommen.

Wir hatten eine Viertelstunde zu klettern, ehe wir über den nördlichen und nordwestlichen Bergrücken blicken konnten, der uns die Aussicht nach dem Meere verdeckte.

Wahrhaftig dort lag zwischen den dem Küstengebirge vorgelagerten Riffen und Klippen ein Dampfer. Oder überhaupt ein mastenloses Wrack. Die Entfernung wagte niemand zu taxieren. In einer Entfernung von einer bis fünf geografischen Meilen. Also lieber gar keine Abschätzung. Durch das beste Fernrohr konnten wir an dem ganz schräg liegenden Deck eben noch Menschen kriebeln sehen, und zwar eine sehr große Menge, und da man doch die Tragweite oder Heranziehung solch eines Glases genau kennt, müsste man danach doch die Entfernung sogar ganz richtig berechnen können — aber das geht alles nur in der Theorie, in der Praxis kommt es ganz auf die Beschaffenheit der Atmosphäre an, und nicht nur auf ihren Feuchtigkeitsgehalt.

Jedenfalls aber waren das viel mehr Menschen, als zur Besatzung des Dampfers gehörten, also Passagiere, und jedenfalls sahen sie ihrem unvermeidlichen Tode ins Auge, wenn nicht noch rechtzeitig eine Rettung kam. Denn wie furchtbar es dort brandete, wie sich die Sturzseen immer über den ganzen Rumpf ergossen, das war ebenfalls deutlich zu erkennen.

Wir jagten wieder hinab. Unterdessen hatte es Kapitän Martin schon fertig gebracht — oder wir wollen die Ehre allein den Heizern geben — vollen Dampf aufzumachen. Feuer unter den Kesseln war ja immer, aber in einer halben Stunde volle Dampfspannung zu bekommen, dazu hatte doch etwas gehört. Mit Kohle freilich war das nicht möglich gewesen. Mit Holz, drei Ballons Petroleum und einigen Fässern Schweineschmalz.

Schnell war der Plan entworfen. Juba Riata getraute sich den Weg nach dort über Land zu finden. Also der mit der Hälfte der Mannschaft ab, mit soviel Tauen und besonders mit Brettern bedacht, als sie nur tragen konnten. Wurde es ihnen zu viel, so mochten sie es einstweilen unterwegs liegen lassen. Denn dass dem Wrack nur vom Lande her beizukommen war, indem über die Riffe eine Brücke geschlagen wurde, das ahnten wir gleich.

Wir dampften hinaus. Zwei Stunden brauchten wir ja schon, um nur das offene Meer zu gewinnen, welches jetzt bei fast völliger Windstille noch vom letzten Sturme tobte, und dann brauchten wir noch eine weitere halbe Stunde, um ein kleineres Vorgebirge, das sich nach Westen reckte, herumzukommen.

Dann sahen wir es liegen, gar nicht mehr weit von uns entfernt. Ein schrecklicher Anblick. Die ganze hintere Hälfte war schon total geborsten, überhaupt verschwunden, nur das Vorderteil reckte sich zwischen den Klippen festgeklemmt, schräg empor, und dort an Deck, auf wenige Quadratmeter zusammengedrängt, klammerte sich ein Knäuel Menschen aneinander fest, wir schätzten sie auf hundert, es war aber fast die doppelte Anzahl, und dazwischen sehr, sehr viele Kinder.

O Jammer über Jammer!

Wie kam denn nur dieses Schiff mit so vielen Kindern hierher?! Was hatte denn nur hier ein Passagierdampfer zu suchen?

Na, solch eine Frage warfen wir jetzt doch gar nicht auf. Wie sie zu retten waren, um diese Frage drehte sich jetzt alles. Von unserem Schiffe aus nicht. Ausgeschlossen! Diesen Klippen und Riffen, zwischen denen es fürchterlich kochte, konnte sich kein Boot nähern.

Oder wir mussten warten, bis die See einmal ganz still wurde. Das geschah aber in diesem Winter nicht mehr.

Und denen dort hingen die Eiszapfen von den notdürftigen Kleidern herab, jetzt sahen wir es deutlich.

Zwar war es gar nicht so sehr kalt. Das selbst registrierende Thermometer hatte als höchste Kälte für die Nacht sechs Grad angezeigt, jetzt waren es nur noch drei Grad.

Aber das genügte gerade, um Eiszapfen entstehen zu lassen. Das Meerwasser mit drei Prozent Salzgehalt friert erst bei vier Grad Celsius. Wenn es nicht sehr bewegt ist. Dabei scheidet es den Salzgehalt aus. Also bleibt das einmalige Eis auch bei weniger Grad bestehen. Daher noch jetzt dort die Eiszapfen und Eiskrusten. Und sehr viele Personen und vor allen Dingen die meisten Kinder waren nur im Hemd! Die Katastrophe musste mitten in der Nacht erfolgt sein, als alles in der Koje lag, und wie sie gelegen, so waren sie eben an Deck gestürzt!

Ach, diese Winkerei!

Alle diese Hände und Händchen schlugen mir schmerzhaft gegen mein Herz.

»Betet, betet!«, jammerte die Patronin. »Hämmerlein — die Orgel — die Orgel!«

Sie war vor Verzweiflung einfach von Sinnen.

Und doch — beten konnten wir, dass Juba Riata den Weg nach der Küste fand und genug Bretter bei sich hatte.

Von dort war eine Rettung vielleicht möglich.

Ein Mann, wahrscheinlich der Kapitän oder ein Offizier, ließ sich von zwei anderen mehr vorschieben und festhalten, um nicht von den Sturzseen über Bord gewaschen zu werden, hatte in jeder Hand einen weißen Lappen, er semaphorierte.

Das ist die Art der Verständigung durch Signale, wobei zwei Flügel um eine aufrecht stehende Stange gedreht werden, dieser Signalapparat heißt Semaphor. Durch verschiedene Stellung eines oder beider Flügel kann man alle Buchstaben des Alphabetes wiedergeben, und dasselbe kann man ja auch mit den Armen ausführen. Das Semaphorieren muss jetzt in der Marine von jedem Manne erlernt werden.

»Golden City — Frisco — Kapitän Swift.«

So, das war die erste, die dienstliche Vorstellung. Golden City — die goldene Stadt — was für ein dummer Name, was für eine Blasphemie!

Nun ahnte ich aber auch schon etwas.

Und da kam es auch schon.

»Am 15. von Skagway nach Frisco.«

Richtig! Ein Goldschiff! Wenn es auch kein Gold an Bord zu haben brauchte. Aber Goldgräber! Skagway ist der Haupthafen für Alaska, für Klondyke.

Dort drüben fuhr es fort:

»Mit elf Mann Besatzung...«

Hallo! War das kein Irrtum, keine falsche Zahl gewesen?

Dieser Dampfer, dessen ganze Größe man doch noch ungefähr erkennen konnte, musste mindestens 40 Mann Besatzung haben, und erst hatte der Kapitän die volle Besatzung zu melden, mit der er abgegangen war, ohne Abzug des Verlustes.

Ich, der ich das Semaphorieren übernommen hatte, aber an unserem Apparat, machte das Nichtverstanden-Zeichen.

»Elf Mann Besatzung«, wurde wiederholt, »in Skagway alles desertiert, keine Leute zu haben gewesen...«

Nun wusste ich es. O, Du verfluchtes Gold!

Und dieser amerikanische Kapitän geht mit elf Mann — mit vier Heizern, fünf Matrosen, einem Steward und einem Steuermann, wie ich gleich verraten will — in hohe See! Um nicht in Skagway einen ganzen Winter lang eingefroren liegen zu bleiben.

O Du Amerika!

O Du armer Dividendensklave!

Denn hättest Du nicht riskiert, was nur irgendwie zu riskieren ist — dann hätte Dich die Reederei als Kapitän entlassen. Mit den Seegesetzen wollte man schon fertig werden. Denn wenns glückt, dann kräht kein Hahn danach. Im Gegenteil, dann hat der Kapitän ja ein Bravourstückchen gemacht.

Die fünf Matrosen hatten natürlich mit heizen müssen. Also überhaupt gar keine Deckmannschaft!

»186 Passagiere!«, fuhr es drüben fort.

Hierbei bemerke ich gleich, was mir der Kapitän jetzt nicht zu melden brauchte, dass noch kein einziger durch den Tod abgegangen war. Wohl standen die zusammengedrängten Menschen fortwährend unter Wasser, aber es waren doch zwischen den Riffen keine eigentlichen Sturzseen, nur die überdammende Brandung, die keine so große Gewalt mehr hatte.

Der Kapitän wollte mir weiter melden, wann der Schiffbruch erfolgt war, da aber hatte ich erst etwas zu semaphorieren.

Denn was haben denn in Alaska so viel Kinder zu suchen? Die Goldgräber nehmen ihre Familien nicht mit, das ist ganz ausgeschlossen.

»Woher die Kinder?«, semaphorierte ich also.

Die Antwort kam:

»Zirkus Smetani, mit 120 Personen, darunter Ballett von 52 Kindern.«

Plötzlich sanken mir die Hände wie gelähmt von den Drehkurbeln herab.

O Du verfluchtes Gold und Geld!

Ich hätte es wissen können.

Ich hatte in San Francisco die Riesenplakate an allen Straßenecken gelesen. Ein Zettel kündigte an, dass demnächst der weltberühmte Zirkus Smetani in Frisco auftreten würde, gegenwärtig noch in Alaska, in Klondyke gastierend, mit hundert Pferden, mit zehn Elefanten, mit einer ganzen Menagerie, mit 150 Artisten, darunter die »flying angels«, die fliegenden Engel, ein Ballett von mehr als 50 Kindern, kleinen Kindern, keines über zehn Jahre alt. Es war extra betont.

Ich will gleich alles erklären, was ich erst später erfuhr. Wie solche Artistentruppen, auch die größten Zirkusse durch ganz Amerika die weitesten Kunstreisen machen, mit den Planwagen durch Wildnisse und Prärien,

um ein weltverlassenes Nest zu erreichen, in dem sich aber das Geld der Arbeiter aufgehäuft hat, das habe ich wohl schon früher erwähnt. Es lohnt sich also.

Solch eine Reise nach dem Goldlande Alaska würde sich für den großen Zirkus wohl gelohnt haben.

Sie hatten den ganzen Sommer dort gastiert, von Ansiedlung zu Ansiedlung ziehend, aus denen aber zum Teil schon ganz ansehnliche Städte geworden sind, und Direktor Smetani hatte denn auch wirklich das Gold in Säcken eingeheimst.

Der Haupthafen für Alaska ist also Skagway. Die Seefahrt ist dort wegen der Eisverhältnisse schon im Anfang September beendet. Wenigstens muss man darauf gefasst sein. Der Zirkus war rechtzeitig zur Stelle. Da kam diesmal das Treibeis schon Ende August an, sackte sich fest, auch der stärkste Dampfer konnte nicht mehr durchbrechen.

Ach, dieser Zeit, und Geldverlust! Nun den ganzen Winter — nein, dreiviertel Jahr hier festgebannt liegen müssen, bis in den Mai hinein!

Die Natur spottet aller Berechnung. So etwas kommt dort oben überhaupt häufig vor. Nämlich Anfang Dezember trieb alles Packeis wieder ab, noch einige Tage, und die Wasserstraße war wieder frei.

Nun schnellstens diese Gelegenheit benutzen, denn lange hielt das nicht an!

Der Zirkus hatte den ganzen Dampfer gechartert, wenn er auch noch andere Passagiere mitnehmen durfte.

Keine Heizer? Keine Matrosen? Ach was, wir selbst heizen mit! Nur fort von hier, aus diesem Eisloche nach San Francisco, wir sind schon wieder engagiert!

Und der Kapitän hatte es riskiert.

Dort saßen sie nun zwischen den Klippen.

Heute Nacht um elf war die Katastrophe erfolgt. Wie der Dampfer so tief zwischen die Riffe gekommen war, das konnte niemand sagen. Eben im dichten Nebel. —

»Dort, dort!«, heulte ich auf.

Da kamen sie aus einer Schlucht hervor, Juba Riata mit seiner Mannschaft, im Laufschritt, obgleich schwer, schwer bepackt, mit langen Brettern von Schulter zu Schulter.

Sie erreichten das feste Ufer, vor dem die Klippenformation begann, wo es nur wenig brandete.

Ja, von dort aus hielt ich die Rettung für möglich, von dort aus waren es nur noch 500 bis 600 Meter nach dem Wrack.

Das semaphorierte uns auch Juba Riata zu.

»Brücke möglich. Aber mehr Bretter, Pfosten und Seile.«

Die Hauptmasse der Bretter, die wir in Frisco eingenommen hatten, falls wir in Vancouver viel zu bauen hatten, uns auch am Lande häuslich einrichten wollten, befand sich noch an Bord.

»Wir gehen sofort zurück und bringen sie Euch nach.«

»Ich komme zur Führung zurück.«

Nun setzte ich mich erst noch einmal mit dem Wrack in Verbindung.

»Kann sich das Wrack halten?«

»All right!«, lautete die etwas seltsame Antwort.

»Mut, wir retten Euch!«, war es das letzte, was ich semaphorierte, und dann ging es mit Volldampf zurück, und da wir jetzt auch in den schmalen Wasserstraßen, die wir aber nun doch schon kannten, mit voller Kraft fuhren, wurde es diesmal in zwei Stunden gemacht.

Trotzdem war Juba Riata schon zur Stelle. Es war sehr gut, dass er als Führer gekommen war, denn es wäre nicht so einfach gewesen, den Spuren unserer Vorgänger zu folgen, so deutlich sie in dem Schnee auch sein mochten. Juba Riata hatte doch erst einen Weg suchen müssen, sie hatten große Umwege gemacht, waren große Strecken zurückmarschiert, so wären wir irre geführt worden, was jetzt vermieden wurde.

Jubas Bericht brauche ich nicht wiederzugeben und er wurde auch nicht untätig angehört. Bretter und Pfosten und Taue und Seile ausgeladen und sonst alles, was wir zu gebrauchen gedachten, aufgepackt und im Dauerlaufe davon!

Zurück blieben nur Kapitän Martin, Hämmerlein, Carlistle und natürlich Ilse. Sonst ging alles mit. Hammid mit seinem hölzernen Bein, der aber als Zimmermann und überhaupt als Genie in allen Holzsachen uns doch recht praktische Winke geben konnte, wurde abwechselnd auf dem Rücken getragen, immer im Dauerlauf, auf kanadischen Schneeschuhen.

Doktor Isidor, der in dem letzten Jahre ein ganz anderer Mensch geworden war, schleppte seinen beträchtlichen Verbandskasten, die Patronin hatte sich mit den Utensilien zum Kaffeekochen beladen, und Klothilde vollends stellte im Buckeln einen ganzen Mann.

Schlitten konnten auf diesem Wege nicht gebraucht werden, das hatte Juba Riata schon vorher gewusst, dagegen hatte er sich gleich von einigen Hunden begleiten lassen, falls eine Botschaft zu übermitteln war.

Also immer im Dauerlaufe, wenn nicht geklettert werden musste, was oft genug der Fall war. Die steilsten Abhänge hinan und hinab, an schauerlichen Abgründen vorbei, wo jeder Fehltritt den Tod brachte. Und nun dabei so schwer bepackt, mit zum Teil sechs Meter langen Brettern auf den Schultern, von zwei Mann getragen, und nicht nur je eines!

Unsere Vorgänger hatten zu der Strecke zwei und eine halbe Stunde gebraucht, wir machten sie in anderthalb. Da hatte aber Juba Riata eben erst einen Weg gesucht, war oftmals zurückgegangen, und außerdem hatten sie erst Schluchten mit Brettern überbrückt, uns also so schon einen bequemeren Weg geschaffen.

Um zwei waren wir aufgebrochen, also erreichten wir halb vier die Küste, da aber verschwand auch schon die Sonne unter dem Horizonte.

Doch währte die Dämmerung in dieser hohen Breite noch eine Stunde, auch dann herrschte, obgleich der Himmel bedeckt und kein Mond war, noch immer nur ein Halbdunkel. Einmal kam das durch die Brandung, denn obgleich das Meer in dieser nördlichen Breite nicht phosphoresziert, so muss durch die heftige Bewegung des Salzwassers, mit Algen und sonstigen mikroskopischen Lebewesen erfüllt, doch eine elektrische Fluoreszenz erzeugt werden, es geht von der Brandung immer wie ein leuchtender Schein aus, und hinter uns die schneebedeckten Felsen und Abhänge trugen ebenfalls mit zur Erleuchtung bei, mochte sie auch noch so schwach sein. Jedenfalls konnten wir arbeiten. Außerdem hatten wir noch genug Lampen mitgenommen, einer musste dem andern bei besonderen Arbeiten vor die Hände leuchten.

Wie es dort zwischen den Riffen aussah und wie wir die Brücke darüber schlugen, das kann ich unmöglich schildern. Es spottet wirklich jeder Beschreibung. Erwähnen will ich nur, dass das Legen und Befestigen der Laufbretter Nebensache war. Hauptsache und die schwerste Arbeit war das Herstellen der Barriere! Denn diese war unbedingt nötig, um sich daran festzuhalten. Ach, da ging es ja manchmal in Winkeln von 45 Grad hinauf, von Felsen zu Felsen, und nun immer von der Brandung bespült, und da nützten auch noch nichts, um ein Ausgleiten zu verhindern, aufgenagelte Querleisten, da musste in Leibeshöhe darüber unbedingt ein starkes Seil gespannt werden, an das man sich ganz sicher klammern konnte, befähigt, Zentnerlasten zu tragen, denn ohne Zweifel mussten wir doch die Schiffbrüchigen auf dem Rücken an Land tragen, die armen Menschen konnten doch solch einen gefährlichen Weg nicht mehr beschreiten!

Dieses Seil musste von Felsen zu Felsen gespannt werden. Aber das war nicht so einfach, wie sich das hier sagen lässt. Da mussten meistenteils erst Pfosten eingeklemmt werden. Und die wir besaßen, erwiesen sich meistenteils zu kurz. Erst Pfosten, ganze Balken fertigen, aus langen Brettern, die übereinander befestigt wurden, Löcher gebohrt und zusammengeschraubt, wozu wir alles mitgenommen hatten, oder auch nur zusammengebunden, wie es nur Seeleute verstehen.

Ich habe es dennoch zu beschreiben versucht, finde es ist doch nicht möglich, ein Bild von unserer Arbeit zu machen.

Solche Vorbereitungen hatten die Vorausgegangenen in den vier Stunden, da sie schon hier waren, bereits getroffen, sie hatten die Brücke mit dem Barrierenseil auch schon gegen 50 Meter weit vorgeschoben.

Wie diese bisher geschaffene Brücke nun aussah, das ist es eben, was jeder Beschreibung spottet.

Jetzt liefen die Fußbretter einmal gerade hin, dann ging es direkt in den kochenden Strudel hinab und dann wieder haushoch hinauf nach einem spitzen Felsen, fünf sechsmeterlange Bretter mussten zusammengebunden werden, um eine Strecke von 25 Metern zu überbrücken, ohne Unterstützung!

Und das war erst der Anfang gewesen, der allerleichteste Teil! Immer furchtbarer wurde die Klippenformation, daher auch immer schwieriger die Arbeit und dazu wurde es nun jetzt dunkel!

Kabat war es, der diese Arbeit leitete. Ich sah diesen Eskimo eigentlich zum allerersten Male arbeiten, etwas Nützliches tun. Wie dieser Kerl jetzt aber auch arbeitete! Was der alles fertig brachte! Das Unmöglichste, das Fabelhafteste! Wenn wir anderen alle ratlos dastanden, hier musste unbedingt das Ende der Brücke sein, jetzt war kein anderer Felsen mehr zu erreichen — dieser Eskimo wusste doch noch einen Rat, fand immer wieder eine Fortsetzung!

Juba Riata musste einen Felsen, an den wir gar nicht gedacht hätten, weil wir ihn gar nicht dazu für geeignet hielten, mit seinem Lasso einsaugen, oder Kabat selbst warf das Seil mit der Schlinge, arbeitete sich durch die Brandung hinüber, Bretter nachgezogen, die er erst provisorisch festband, dann Pfosten nach, seine Axt geschwungen, dass die Späne nur so flogen, irgendwie wusste er die Pfosten sicher einzuklemmen, auf diesen wurden die Laufbretter erst richtig befestigt, dann das Seil gespannt — und da war es meist Klothilde, welche als zweite Person hinüberkam um die erste Sicherung für die nachkommenden Arbeiter herzustellen. Denn immer wieder mussten wir Männer zu unserer Beschämung gestehen, dass dieses Weib mit den widerspenstigen Seilen und Tauen umzugehen verstand wie kein anderer von uns!

Aber die Hauptsache war doch der Eskimo — im Auffinden des Weges.

Dieser Eskimo, der ehemalige Führer von Polarexpeditionen, war hier eben in seinem Element. Zwar waren es hier keine Eisblöcke, von deren Zerrissenheit man sich gar keine Vorstellung machen kann, die er zu überwinden hatte, sondern nackte Steinfelsen, aber im Grunde genommen war es doch dasselbe.

Jedenfalls hätten wir ohne diesen Eskimo die Brücke niemals fertig gebracht, und er war es auch gewesen, der durch Juba Riata uns hatte zusemaphorieren lassen, dass er die Brücke für möglich hielt. Hier an Ort und Stelle bei Besichtigung hätten wir es nicht für möglich gehalten. Keiner von uns. Kabat musste es uns erst zeigen, dass es dennoch möglich war.

Und dabei war und blieb er immer der Mister Tabak. Immer die qualmende Fuhrmannspfeife zwischen den Zähnen, auch wenn es direkt durch das brandende Wasser ging, der Pfeifenkopf war durch eine besondere Vorrichtung geschützt, und erlosch sie doch einmal, dann konnte die Arbeit ruhig warten, erst musste die Pfeife mit Stahl und Zunder wieder in Brand gesetzt werden, und wenn's eine Viertelstunde lang dauerte — dann aber flogen die Späne auch wieder in doppelter Anzahl!

Nur noch eines will ich hierzu sagen: die verschiedensten Sachverständigen haben später diese Gegend besichtigt, und sie hätten es nimmermehr geglaubt, dass wir über diese Klippenformation in einer Länge von mehr als 250 Metern innerhalb von 23 Stunden eine begehbare Brücke schlagen konnten, auch beim stillsten Wetter nicht, mit allen modernsten Hilfsmitteln nicht, wenn wir nicht 200 Zeugen dafür gehabt hätten, eben die, die wir dadurch retteten. —

Gegen sechs Uhr, als der letzte Schein der atmosphärischen Dämmerung geschwunden war, wurde es plötzlich so finster, dass man die Hand nicht vor den Augen nicht mehr erblicken konnte. Das heißt, wir mussten uns erst daran gewöhnen, dann wurde es schon besser. Aber erst war es doch so.

Die Arbeit wurde deswegen nicht eingestellt. Nur dass Kabat nicht mehr die nächsten Felsenriffe attackieren konnte, da wäre auch nicht viel mit Magnesiumfackeln zu machen gewesen. So wurden einstweilen Vorbereitungen zum weiteren Bau getroffen, Pfosten hergestellt, Löcher gebohrt, indem man mit den Lampen vor die Hände leuchtete.

Da, kaum eine halbe Stunde später, flammte am Horizonte plötzlich ein prachtvolles Nordlicht empor, die Nacht fast tageshell erleuchtend, wenigstens für unsere Augen.

Und noch prachtvoller war der Anblick, den dieses nächtliche Licht uns zeigte.

Der Eskimo hatte sofort seine Pionierarbeit wieder aufgenommen, unterstützt von Klothilde.

Und so sahen wir denn die beiden jetzt dort oben stehen, auf einem spitzen Felsen, der sich als Säule fast so hoch wie ein vierstöckiges Haus aus der Brandung emporreckte, dort hinauf lief schon die Brücke, noch aber fehlte eine letzte Verbindung von einigen Metern, die stellten die beiden her, und nun sahen wir die zwei Gestalten, sich wie schwarze Silhouetten mit den denkbar schärfsten Umrissen von dem blendendweißen Horizonte abhebend — der Eskimo, wie er mit seiner Axt gewaltig einhieb, und hoch oben auf einem schon errichteten Pfosten Klothilde, natürlich nicht in Weiberröcken, aber dass es ein Weib war, dort oben gewissermaßen auf der Fahnenstange eines vierstöckigen Hauses arbeitete, das konnte man an dem langen, vom starken Winde gepeitschten Haare erkennen, denn wenn Klothilde auch Knoten gut schlingen verstand, ihr Haar hatte sie nicht richtig zu befestigen verstanden...

Ein herrlicher, ein unbeschreiblicher Anblick! Wie die beiden dort oben arbeiteten, mit den Pfosten und Seilen herumwürgten, gegen die alles Gebilde von Menschenhand hassenden Elemente ankämpften!

Und dann blickte ich nach dem Wrack hinüber. Ich hatte es ja in solcher Nähe nur gesehen, als schon die Dämmerung angebrochen war, nun sah ich es in voller Beleuchtung.

Dass die genau 198 Menschen, die sich an dem Vorderdeck zusammendrängten, von einem starken, doppelten Seile umspannt waren, wusste ich bereits, jetzt aber sah ich es erst richtig. Und jetzt sah ich die jammervollen Gestalten, die meistens nur ganz notdürftig bekleidet, viele tatsächlich nur im Hemd, von der überkommenden Brandung ständig durchnässt werdend und dennoch mit Eis bedeckt, und ich sah deutlich die verzweifelten Gesichter, die meist geschlossenen Augen...

Gestern Nacht um elf war die Katastrophe erfolgt. Seit nun schon 20 Stunden standen sie so da, und es sollten noch immer 16 Stunden vergehen, ehe sie diese Stellung verlassen konnten!

Nun, mit den der Situation entsprechenden Augen betrachtet, war ihr Schicksal erträglich. Da kommen bei Schiffbrüchigen noch ganz andere Notlagen vor. So, wie sie standen, wie die Schafe dicht zusammengepfercht, konnten sie schlafen. 36 Stunden kann der Mensch Hunger und Durst aushalten. Denn aus den Räumen war nicht etwa noch etwas zu holen, die 100 Pferde und die 10 Elefanten wie die Tiere der ganzen Menagerie waren im Hinterteil untergebracht, natürlich gleich ersoffen, überhaupt bis zur Höhe des Decks stand alles unter Wasser. Und die Kälte war schließlich nicht so schlimm. Sechs und noch mehr Grad kann der Mensch vertragen, ohne zu erfrieren, auch wenn er im Hemd ist. Gerade, wenn er die meiste Zeit unter Wasser steht, kann er diese Temperatur aushalten. Da wissen wir Seeleute doch etwas zu erzählen. Es kommt auch noch die ganze seelische Stimmung hinzu.

Ja, wir würden sie, wenn sonst alles glückte, als noch gebrauchsfähige Menschen retten, das heißt ohne erfrorene Gliedmaßen.

Freilich sonst — fragt mich nicht, wie es denen zumute sein mochte!

Und darauf konnten wir uns auch gefasst machen, dass wir mit etlichen Irrsinnigen zu rechnen hatten, die gar nicht gerettet sein wollten.

Nun will ich an dieser Stelle gleich noch etwas erledigen, um später den Gang der Handlung nicht mehr unterbrechen zu brauchen.

Wir wussten von vornherein, dass die 120 Artisten, auch wenn sie einem amerikanischen Zirkus angehörten, meist Deutsche waren und ganz bestimmt sämtlich deutsch sprachen.

Sämtliche reisende Handwerksburschen und sämtliche Bäckergesellen in der Welt sind Deutsche. Wenn sie auch einmal aus Österreich oder Ungarn stammen. Deutsch sprechen sie mindestens, sind also deutscher Abstammung. Andere reisende Handwerksburschen und Bäckergesellen findet man gar nicht in der Welt. Worüber schon Goethe in seiner »Italienischen Reise« als eine Merkwürdigkeit spricht.

Ebenso sind fast sämtliche Artisten, welche die Welt bereisen, Deutsche. Woher das kommt, das kann man sich kaum erklären. Aber es ist nun einmal so.

Nur dass sie immer einen englischen oder französischen oder italienischen Namen annehmen, weil... Michel das nun einmal so liebt. In Deutschland darf ein berühmter Seiltänzer nicht seinen ehrlichen Namen August Schulze beibehalten, sondern er muss Señor Raphaelo Estramadura heißen, dann kann er etwas.

Aber unter sich selbst bleiben die deutschen Zirkus- und Varieteekünstler immer deutsch, so international sie sonst auch sein mögen, vor allen Dingen ist Deutsch die internationale Artistensprache, auch die englischen, französischen, italienischen und sonstigen anderen Artisten, deren es natürlich auch genug gibt, können alle Deutsch. Ebenso wie jeder deutsche weitbefahrene Seemann Englisch kann, weil Englisch die internationale Seemannssprache ist.

Als nun das Nordlicht aufflammte, sah ich die zusammengedrängte Menschenherde teilnahmslos dastehen, wie ein regungsloser Klumpen.

Dann tauchten dort oben aus der Felsenkuppel der Eskimo und Klothilde auf.

Die Schiffbrüchigen mussten sie sehen, unser ganzes Werk, alle konnten doch nicht schlafen, aber es vermochte keinen Eindruck auf sie hervorzubringen, dazu hatte der zwanzigstündige Jammer schon zu stark gewirkt.

»Kinder«, schrie da Klothilde aus ihrer Höhe hinüber, »in vier Tagen haben wir Weihnachten!«

Das stimmte allerdings. Heute war der 20. Dezember. Trotzdem, es war etwas merkwürdig, dass dies Klothilde hinübergerufen hatte.

Doch wirklich, da kam eine Bewegung in die zusammengepferchte Masse.

Und da erscholl dort drüben auf dem Wrack eine sehr schöne Männerstimme, ein Lied angebend. Und dann fiel es hundertstimmig ein, am meisten klangen die hohen Kinderstimmen durch.

Klothilde hatte es auf englisch gerufen — Christmas — jetzt aber erklang dort drüben auf Deutsch ein Weihnachtslied, von Martin Luther, bei uns weniger bekannt, wenn es auch im Gesangbuch steht, in deutschamerikanischen Kirchen und Gemeinden zu Weihnachten dagegen sehr viel gesungen:


Vom Himmel kam der Engel Schar,
Erschien den Hirten offenbar,
Sie sagten ihm: Ein Kindlein zart,
Das liegt dort in der Krippen hart...


Da sank das Polarlicht in sich zusammen, erlosch so plötzlich wieder, wie es aufgeflammt war, undurchdringliche Finsternis umgab uns, und da verstummte auch plötzlich der Gesang. Aber es hatte genügt.

Ach, wie es da in meinem Herzen aufstieg, und wohl in unser aller!

Und hatten sie wirklich »Krippen« gesungen, nicht »Klippen«?

»Na, da fang doch nicht zu flennen an, Döskopp!«, erklang neben mir eine ärgerliche Stimme. »Ach wat, nun wollen wir mal singen.«


In Hamborg in Sankt Pauli,
Do geiht dat lustig tau...


Und sie sangen weiter, meine Jungen. Matrosenlieder, weil es eben Matrosen waren.

Und überhaupt, was ist in dieser gesegneten Nacht zusammengeflucht worden!

Dafür aber war der Himmel uns auch nicht günstig. Das Nordlicht hätte uns doch eigentlich die ganze Nacht leuchten können. Statt dessen fing's sofort auch noch zu schneien an.

Na, dann wurde eben weiter geflucht... und weiter gearbeitet! Auch ohne Nordlicht. Wenns eben nicht leuchten wollte, na, dann pfiffen wir einfach auf alle Nord- und sonstigen Lichter. Wir wurden auch ohne sie fertig. Prometheustrotz!

Und meine Jungen hatten ja auch allen Grund zum Fluchen. Doktor Isidor bekam immer einmal etwas zu tun. Mehr aber als gequetschte Finger und aufgeplatzte Zehen, auf die ein Brett gefallen war, und zerschundenen Knien gab es glücklicherweise nicht. Nur dem Matrosen Gottlieb musste der linke Zeigefinger abgeschnitten werden. Na, da half er nun mit Kaffee kochen, von dem wir, wenn wir an Land kamen, immer einmal naschten, dazu ein paar Bissen Schiffszwieback.

Aber gegen acht Uhr erscholl ein gellender Schrei, dem andere Rufe nachfolgten.

»Ludwig, Ludwig, wo bist Du?!«

Keine Antwort. Und wir fanden ihn auch nicht.

Der Matrose Ludwig, derjenige, der das Wrack gesichtet, ohne den wir vielleicht überhaupt gar nichts davon erfahren hätten — gerade der war von den nassen, jetzt auch noch verschneiten Brettern abgeglitten, war zwischen die Riffe gestürzt — verschwunden!

Wir hielten uns nicht lange mit Suchen auf. An eine Rettung wäre überhaupt gar nicht zu denken gewesen.

Weiter geschuftet!

Nun aber konnten bald immer weniger Hände beschäftigt werden, auch alle Vorbereitungen waren schon getroffen. Dagegen fehlte es uns noch an dünnerem Tauwerk, auch mussten wir schon an den Empfang der Schiffbrüchigen denken, an Proviant und besonders auch an Decken.

Gleich 30 Mann gingen ab, wieder unter Führung von Juba Riata, der sie alle zusammen an die Leine nahm. So rückten sie ab im Schneegestöber.

Fünf Stunden später, gegen zwei, kamen sie zurück, besseres Wetter mitbringend und alles, was wir sonst noch brauchten. Und außerdem noch etwas Besonderes, womit wir sie nicht beauftragt hatten.

Aber unter ihnen war auch Oskar gewesen, der eine verbundene Hand hatte, und der musste doch natürlich wieder etwas ganz Besonderes ausgeheckt haben, sonst wäre es doch nicht der Oskar gewesen.

Posaunen und Trompeten und Klarinetten brachten die Kerls mit.

Und nun ging es auch gleich los, Märsche und Walzer und Gassenhauer, geblasen von einem aus 20 Mann bestehenden Orchester!

Übrigens war es nicht etwas so ganz und gar Neues, was wir da aufführten.

Hast Du, lieber Leser, schon einmal gesehen, wenn in Kiel oder Wilhelmshaven oder in einem fremden Hafen ein deutsches Kriegsschiff Kohlen einnimmt?

Dies darf, wenn es die Verhältnisse irgendwie erlauben, nur in der Nacht geschehen. Wenn die Sonne aufgeht, muss das Kriegsschiff wieder wie aus dem Ei geschält daliegen.

Jedes größere Kriegsschiff hat eine Musikkapelle an Bord, und diese muss nun während der ganzen Nacht spielen, um den blauen Jungens die schmutzige, heillose Arbeit wenigstens in etwas zu erleichtern.

Es ist etwas Großartiges dabei. Aber man muss es selbst mitgemacht oder es wenigstens einmal in der Nähe beobachtet haben, um das Großartige zu begreifen. Solch eine nächtliche Kohlenübernahme eines deutschen Kriegsschiffes bei voller Musik!

Ich habe, auch wenn ich Einjähriger war — da muss alles ran! — mit geschippt und gekarrt und getrimmt, dass mir der Schweiß wie eine Dusche zum Buckel heruntergelaufen ist und ich an den hornigen Händen doch immer noch Blasen bekam.

Ja, da muss alles mit ran! Auch die Musiker!

Ach, diese armen Musikanten!

So weh mir der Buckel auch tat — ich habe die Musikanten nicht beneidet.

Die ganze Nacht ununterbrochen blasen!

Wir können doch ab und zu eine kleine Pause machen — die nicht!

Die müssen blasen und tuten und blasen, bis ihnen die Lunge zum Halse heraus kommt!

Bis dann endlich »rein Schiff« kommandiert wird. Die Matrosen und Heizer sind noch fähig, das ganze Schiff zu säubern — die Musiker könnten es nicht mehr, die knicken zusammen.

Und wenn dann die Sonne aufgeht, und sie spiegelt sich in dem blitzenden Messing, und das Deck glänzt und gleißt, und die Sonne weiß nichts davon, was hier während ihrer Abwesenheit für eine furchtbare Arbeit geleistet worden ist, eine kriegsmäßige Übung, deren Zeit bis zur Minute auch, aus dem fernsten Hafen der Welt sofort nach Berlin gemeldet werden muss, und die Hafenbewohner glauben, das deutsche Kriegsschiff hat sich nur so während der ganzen Nacht mit Musik amüsiert, die Matrosen hätten getanzt... o, es ist etwas Herrliches dabei! —

Und so arbeiteten wir unter den Klängen der Posaunen, Trompeten und Klarinetten die zweite Hälfte der Nacht durch, so rückten wir Schritt um Schritt und Fuß um Fuß und Zoll für Zoll über die Klippen vor, auf das Wrack los, dann freilich auch wieder einmal gleich eine zehnmeterweite Kluft mit zusammengebundenen Brettern überspringend.

Als es gegen acht zu dämmern begann, waren wir vielleicht noch 50 Meter von dem Racker entfernt, aber die schwerste Arbeit war nun auch hinter uns.

Es war gerade um elf, als wir endlich nach dreiundzwanzig Stunden ununterbrochener Arbeit das letzte Brett legten, das uns mit dem Wrack verband, und da gerade brach hinter die Wolken die strahlende Sonne hervor, küsste mit warmem Hauch die blassen Gesichter der frostzitternden Schiffbrüchigen und küsste ihre schweißtriefenden Retter.

»Die Kinder, zuerst die Kinder!«

Die Ausladung ging in aller Ordnung vor sich.

Nur ein einziger Mann, ein amerikanischer Goldgräber, konnte es nicht erwarten, drängte sich rücksichtslos vor, einige Kinder beiseite schleudernd... der Matrose Theodor, der die Sache schon kannte und dem er gerade entgegenlief, setzte ihm sofort die Faust zwischen die Augen, schmetterte ihn zu Boden.

Das war die einzige Ausnahme gewesen, aber dieses Exempel genügte. Irrsinnige gab es nicht.

Das Hinübertragen der 52 Kinder bot gar keine Schwierigkeiten. Getragen wurden sie, auch wenn sie zum Selbstgehen fähig waren und selbst gehen wollten. Es hätte doch noch ein Unglück geben können. Jedes Ausgleiten, wenn man sich nicht an dem Seil festhielt, bedeutete den Tod.

Es waren die 52 Kinder des Balletts, zur Hälfte aus Jungen und Mädels bestehend. Wirklich keines über zwölf Jahre alt, einige aber auch erst vier Jahres alt! Eine Sünd und Schande!

Woher diese Kinder, sämtlich deutsch sprechend, stammten, davon werde ich später berichten, so weit sich dies überhaupt ermitteln ließ.

Es waren aber auch noch andere Kinder vorhanden, teils eben als Artisten auftretend, teils... Missgeburten.

Denn mit dem amerikanischen Zirkus war, wie dort üblich, gleich eine Abnormitätenschau verbunden gewesen.

Die tierischen Missgeburten waren unten im Zwischendeck sämtlich ersoffen, nur die menschlichen lebten noch, eine ganze Menge, die ich aber jetzt nicht etwa zu beschreiben gedenke. Wenn es nicht gerade mit dem Rettungswerke zusammenhängt.

So war da zum Beispiel ein zehnjähriger Junge, der etwas über zwei Zentner wog. Der hätte ja eigentlich zu den Männern gerechnet werden müssen, aber im anderen Sinne war er noch mehr als ein Kind... etwas blödsinnig, konnte nichts weiter sagen als »schu dick. Da wir das gleich merkten, wurde auch er gleich an Land getragen.

Jawohl, den zweizentrigen Jungen an Land tragen, über die schwankende Brücke weg, aus schmalen Brettern bestehend, die sich schon durch das Gewicht eines einzelnen normalen Mannes manchmal wie die Gerten bogen, überschwindelnde Tiefen, in denen es von Felsenspitzen starrte, aus so schrägen Brettern, dass man sich überhaupt nur an dem Barrierenseil Hand über Hand fortziehen konnte!


Illustration

Auf einem haushohen Felsen, der sich aus der Brandung
erhob und zu dem schon die Brücke führte, arbeiteten
der Eskimo und Klothilde krampfhaft, um die letzte
Verbindung mit den Schiffbrüchigen herzustellen.


Der Matrose Albrecht war es, der das kleine oder vielmehr sehr stattliche Mastschwein auf den Rücken nahm. Der geistesgestörte Albrecht, der immer nur putzen wollte!

Aber jetzt war er nicht mehr geistesgestört. Sobald er gehört, um was es sich handelte, da hatte er mitgewollt, und es hatte nichts genützt, dass wir ihm die schönsten Sachen, mit Grünspan überzogen, zum Putzen gegeben.

Er war mitgegangen. Und er war der tüchtigsten Arbeiter einer gewesen.

Aber wenn wir geglaubt, das wäre eine Krisis gewesen, jetzt wäre er wieder normal, so hatten wir uns geirrt. An Bord fing er gleich wieder zu putzen an,

Doch jetzt huckte er den zweizentrigen Jungen auf. Und dazu war auch Albrecht am geeignetsten. Er war erst nach seiner vierjährig-freiwilligen Marinezeit für immer zur See gegangen, zur Kauffahrtei, früher war er Müllerbursche gewesen, na, und da musste er wohl so einen Zweizentnersack schleppen können.

»Schu dick!«, sagte der Bengel, als er die Arme um Albrechts Hals schlingen sollte,

Er musste festgebunden werden.

»Nun schlinge Deine Beine um seinen Leib!«

»Schu dick.«

»Verstehst Du uns?«

»Schu dick!«, war die stereotype Antwort, und dabei steckte der Blödsinnige sein Zünglein immer heraus.

Es war noch mehr ein Wage- als ein Kraftstückchen, den jugendlichen Koloss hinüberzutragen, aber es gelang.

Hier auf dem Wrack blieb ja alle Heiterkeit aus, aber an Land, sobald wieder so ein Häufchen Unglück in Sicherheit war, da musste sich der Matrosenwitz unbedingt Luft machen, oder es wären eben keine deutschen Matrosen gewesen, wovon freilich sehr bald auch die Heizer und Kohlentrimmer angesteckt werden.

Wie ich am Lande drei Kinder ablud, die mir auf den Rücken gebunden worden, kam wieder ein Matrose an, Wilhelm, mit zwei Kindern bepackt.

Bedächtig lud er sie ab, und wie er sie betrachtete, machte er ein überaus dämliches Gesicht.

»He, wat is denn dat? Wer hat denn die beiden zusammengelascht?!«

Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, waren mit dem Hinterteil zusammengewachsen.

Wilhelm tat, als könne er das durchaus nicht begreifen, obwohl er es recht gut konnte.

»Wat, Gaukler?!«, rief er dann, als man ihm davon gesagt. »Dat sind Gaukler wie wir? Dann sind das doch Konkurrenten von uns! Na, da smeet see nur wedder int Water!«

Noch muss ich einen halbwüchsigen Jungen erwähnen, der nur ein Bein hatte, aber gleich so geboren, es war auch fast in die Mitte gerückt, als eine Missgeburt, und an diesem sonst ganz normal entwickelten Beine hatte er keinen Fuß, es war eine Gummiplatte daran gesetzt.

»Jim Snyder aus Melbourne, genannt das einbeinige Känguru.«

So meldete das Zirkusprogramm.

Das erste stimmte nicht. Er war in Nordamerika von deutschen Eltern geboren und gegen eine horrende Summe an so einen Unternehmer verkauft oder vermietet worden, was in solchen Artistenkreisen ja alles möglich ist. Aber die letztes Bezeichnung stimmte.

Der Bengel wollte sich nicht auf den Rücken nehmen lassen, und ehe wir es uns versahen, war er schon davongesprungen, setzte mit seinem einen Gummifuße die ganze Brücke entlang, sprang den ihm begegnenden Männern über die Köpfe weg, wozu sie sich allerdings etwas bücken mussten, ganz genau wie ein richtiges Känguru, vorausgesetzt, dass ein Känguru auf seinen zwei Beinen wirklich so springen kann, mit solcher Kraft und Gewandtheit und Grazie, die steilsten und glättesten Strecken hinauf, mit fabelhafter Sicherheit!

Dann kamen die Weiber daran. Unter diesen waren auch sechzehn englische Mädchen, solche verrückte »Girls«, die Taratabumdeay singen und dazu tanzen, mit den Beinen Buttermilch in der Luft quirlen.


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Das heißt aber, jetzt sangen und tanzten sie nicht. Die Hälfte von ihnen war nur im Hemdchen. Nicht einmal Lockenwickel hatten sie an.

Als die durchweg sehr, sehr schlanken Dämchen von meinen Matrosen auf den Rücken genommen worden, da brach auch noch einmal so ein Witzfunke hervor, gleich hier noch auf dem Wrack, es kam ja doch manchmal vor, so wie auch die Sonne sich manchmal versteckte und wiedererschien.

»Gucke mal, Garl, was die für dürre Beene hat«, sagte der Heizer Schorschl, dessen Wiege am Strande der sächsischen Elbe gestanden, als er sich ein Taratabumdeay-Girl im Hemdchen auflud, wobei er doch auch ihre Beine unter seine Arme nehmen musste, und wenn's eine Frau Bürgermeisterin gewesen wäre.

»Na, da baß nur uff, Schorschl«, entgegnete Garl, ebenfalls von da unten her, »dass Du unterwegs geene Knochen verlierscht.«

Unter den Frauen aber war eine, die wir bis zuletzt lassen mussten.

Eine Riesendame. Oder nein, keine Riesendame, so groß war sie gar nicht, wog aber noch etwas mehr als vier Zentner.

Sie war noch gar nicht so alt, hatte ein wirklich hübsches Gesicht, einen Mund so klein, dass sie kaum eine Walnuss hineinbrachte, dagegen wahre Elefantenbeine, schon die Waden waren wie die eines Elefanten, und dementsprechend dick war alles an ihr.

»Madame Pompadour, die schwerste Dame der Welt!«, meldete der Zirkuszettel.

Ich bemerke gleich, dass sie noch länger bei uns an Bord bleiben sollte, und aus Madame Pompadour machten meine Jungen natürlich sofort »Mama Bombe«.

Also die konnten wir nicht so ohne weiteres hinübertragen. Dieses Gewicht hätte auch nur August der Starke tragen können, das hätte zusammen sieben Zentner ergeben, und darauf war unsere Brücke nicht geeicht.

Den Prüfstein für ihre Tragfähigkeit hatte schon immer August abgeben müssen, deshalb hatten wir auch Albrecht ohne besondere Sorgen mit dem zweizentrigen Jungen abgehen lassen, aber dieses vierzentrige Maststück auf dem Rücken eines anderen, es brauchte gar nicht August zu sein — nein, das durften wir nicht wagen, und da half nun auch keine Verstärkung mehr, die war überhaupt gar nicht mehr anzubringen.

Nun, zuerst einmal alle Männer hinüber. Wer von diesen selbst geben wollte, durfte es, aber wer getragen werden wollte, wurde gebuckelt, es waren genug dabei, und wir konnten es ihnen nicht verdenken 36 Stunden lang und jetzt schon länger so regungslos stehen, immer von eisigem Wasser umspült, und nun dazu diese Seelenverfassung!

Unterdessen hatte ich meinen Plan überlegt, auch schon die Vorbereitungen dazu getroffen.

Das Gewicht musste auf möglichst lange Strecken verteilt werden. Also die Riesendame wurde an eine lange Stange gebunden.

Ach Gott, ach Gott!

Und so wimmerte auch fortwährend die Madame Pompadour.

Aber in echt berlinerischem Dialekt.

»Ach Jotte ooch, ach Jotte ooch!«

Und zu diesem Wimmern hatte sie ja auch allen Grund.

Wir banden das arme Weib wie eine abgebrühte Sau in der Mitte der Stange an, banden ihr auch, damit sie sich nicht etwa anklammern konnte, die Hände zusammen, fesselten sie regelrecht. Und dabei hatte das arme Weib ebenfalls nur ein Hemd an, dazu noch ein sehr kurzes. So hatte sie in der Koje gelegen, so war sie nach der Katastrophe an Deck gestürzt.

Das heißt, uns war nicht etwa lächerlich zumute, und auch sonst hatten wir alles andere im Kopfe!

Wie diese vier Zentner nun über diese schwankende Brücke bringen... in solch einer Situation ist es einem verdammt egal, ob dieses lebende Gewicht nun eine Freifrau von, auf und zu oder eine Hökenfrau ist, ob sie ein Ballkleid anhat oder überhaupt gar nischt.

Zwei Träger durften es nur sein. Den einen machte ich, das war von vornherein bei mir beschlossen. Ich fühlte mich befähigt dazu, und überhaupt, das ließ ich mir hier als Anführer der Bande nicht nehmen — wenn schon, denn schon — wenn hier jemand den Todessturz machte, dann hatte ich ihn zu machen.

Als zweiten Träger wählte ich Albert. Den Sänger. Denn der war nicht etwa zurückgeblieben, in der Befürchtung, er könne bei der Geschichte durch einen Halskatarrh seine Stimme verlieren. Das gab's bei dem nicht!

Und einmal war Albert ein baumstarker Kerl, wenn man es ihm auch nicht ansah, ebenso wenig wie mir magerem Hering, und dann vor allen Dingen war Albert die phlegmatische Ruhe selbst, und das war dabei die Hauptsache.

Und wir beide fuhrwerkten los, die acht Meter lange Stange mit der aufgebaumelten Riesendame zwischen uns. Ich wage gar nicht mehr daran zu denken. Einmal hatte ich die allergrößte Lust, die Stange von der Schulter gleiten zu lassen und mich kopfüber in die Tiefe nachzustürzen, denn überleben hätte ich das ja nicht können.

»Ach Jotte ooch, ach Jotte ooch!«, fing in diesem Augenblicke wieder die Madame Pompadour zu wimmern an.

»Wat seggt see?«, fragte da vorn Albert! »Hürt, Waffenmeister — ick mutt immer dran denken — ob der wohl ook schuhplatteln kann?«

Ich blieb die Auskunft schuldig.

Aber mit einem Male war meine Schwäche vorüber. Und wir brachten sie ans Ufer.

Als die letzte Person vom Wrack, nachmittags gegen drei.

Am Ufer warteten wohl noch einige Leute von uns, aber von den anderen Schiffbrüchigen war niemand mehr da. Sie hatten nur etwas Kaffee und Zwieback mit Fleischextrakt und Cornedbeef bekommen, dann mussten sie weiter, und wer nicht selbst gehen konnte, der wurde getragen oder gezogen oder geschleift, aber jedenfalls fort, fort an Bord unseres Schiffes! Eine Nacht wollten wir nicht mehr hier zubringen.

Dass dieses Riesenweib gehen konnte, daran war gar kein Gedanke. Nun ließen wir sie aber auch gleich an der Stange hängen, wie sie einmal hing. Nur dass wir ihr die Hände aufschnürten und ihr zu trinken und zu essen gaben. Na, wie die schlang! Und dann natürlich wickelten wir sie in Decken.

Dann weiter mit ihr, trotz der großen Last im Geschwindschritt, jetzt freilich immer auf jeder Seite drei Mann unter der Stange. Nur beim Passieren der mit schmalen Brettern überbrückten Schluchten wurde der schnelle Schritt gemäßigt. Halb fünf wurde es stockfinster, und wir waren noch mindestens eine Stunde vom Schiffe entfernt und hatten zufällig keine einzige Laterne bei uns!

Da aber begrüßte uns schon Hundegebell, ein Lichtchen tauchte auf — es war der unverwüstliche Jubai Riata, der uns als Führer entgegenkam.

Eine Stunde später legten wir Madame Pompadour an Deck unseres Schiffes nieder.

Ach, wie wohl mir da zumute war!

Mister Carlistle stürzte auf mich zu.

»Waffenmeister — Mister Stevenbrock — denken Sie sich... meine Königin ist erwacht!«

»Ach, Quark, hängt Euch beide auf!«, war meine Antwort.

Na, zum Teufel noch einmal — kommt der spleenige Kerl jetzt mit seiner Traumkönigin angerückt, wo ich mich hier seit drei geschlagenen Stunden mit einer menschlichen Bombe von vier Zentnern netto herumbalge!

Übrigens hatte der Sternkieker seine Traumkönigin schon öfters lebendig gesehen, aber es war immer nur so eine Vision in seinem verschrobenen Gehirn gewesen, und diesmal war es auch nicht anders. Die Inderin lag noch kalt und starr in ihrem Salon.

Ich wusste schon, wo ich die Patronin zu finden hatte. Dort, wo einstweilen die Kinder untergebracht waren, in der großen Kajüte.

Ja, da lagen sie, die 52 fliegenden Engel, und einige kleine Missgeburten dazwischen, gut gebettet und in Decken gewickelt. Alles in tiefem Schlafe. Einige aber hatten vorher noch gegessen — oder gefuttert, wollen wir lieber sagen, sie hatten als erste Füllung des malträtierten Magens Hafergrütze mit Sirup bekommen. Die Schüsseln standen noch am Boden herum, es sah wirklich nicht viel anders aus, als hätten kleine Schweinchen ihre Mahlzeit gehalten, was sie nicht bewältigen konnten, das hatten sie sich ins Gesicht und in die Haare geschmiert — und so lagen sie da, in süßem Schlummer und bedeckt mit durch Sirup versüßter Hafergrütze.

Klothilde war eben dabei, diese Schüsseln und Teller beiseite zu räumen, und die Patronin saß in einem Lehnstuhl, die Hände im Schloss gefaltet, und ließ ihre verklärten Blicke über die verkleisterten Engelchen schweifen.

Bei meinem Eintritt erhob sie sich, kam mir entgegen, hatte es aber nicht eben eilig, mir ihre Arme um den Hals zu legen, und ebenso langsam — oder feierlich, will ich sagen — kam es heraus aus ihrem Munde:

»Heute ist mein Geburtstag!«

Na, dann war das große Geheimnis endlich heraus!

Ich hatte ihren Geburtstag schon immer zu erfahren versucht. Der Geburtstag unserer Patronin musste doch gefeiert werden. Die Patronin war etwas ganz anderes als der Kapitän. Aber vergebens, der war nicht zu erfahren gewesen.

»Ach, der ist schon lange vorbei!«, hatte sie das eine Mal gesagt, und das andere Mal: »Ach, bis dahin ist noch lange Zeit.«

Nun aber war es heraus, und ich zweifelte nicht, dass sie die Wahrheit sprach.

»Georg, heute ist mein Geburtstag!«, wiederholte sie noch einmal an meiner Brust, aber mehr jauchzender als vorhin, und dabei patschte sie mir mit ihren ebenfalls mit Syrup und Hafergrütze bekleisterten Händen im Gesicht herum. Und wie sie das gejauchzt und das getan hatte, da war diesmal ich derjenige, der plötzlich einen Weinkrampf bekam. Den ersten in meinem Leben und hoffentlich den letzten.

*

38. Kapitel

Wir sichten unsere Konkurrenten
und was wir sonst noch erleben

Originalseiten 933 — 955

Die Sonne ging auf und ging wieder unter, und wir dachten gar nicht daran, die Schiffbrüchigen nach einem Hafen zu bringen. Dieser ganze Tag wurde mit Schlafen und Essen und Essen und Schlafen hingebracht und nur ab und zu eine Meinung ausgetauscht.

Gut wäre es ja gewesen, wenn die Kunde von dem Schiffbruch der »Golden City«, und der Rettung ihrer Mannschaft und der Passagiere schnellstens nach San Francisco kam. Das konnte auf telegrafischem Wege auch von Victoria aus geschehen.

Aber jetzt Dampf aufmachen — ich hätte mir doch lieber die Hände abgehackt, ehe ich meinen Jungen so etwas zugemutet hätte, auch nicht für die Barkasse, die überhaupt bei diesem Seegange gar nicht hinausgehen konnte.

Da in aller Frühe dieses ersten Tages erbot sich der unverwüstliche Juba Riata, die Meldung nach Victoria zu bringen, über Land, in drei Tagen wollte ers schon schaffen. Mister Tabak wolle ihn begleiten, sie hätten schon zusammen gesprochen.

Na, wenn die beiden wollten — des Menschen Wille ist sein Himmelreich.

Mit Mühe und Not brachte ich Kapitän Swift wach, er setzte einen Bericht auf, der von seinem Steuermann und einigen von uns als Zeugen unterschrieben wurde.

Auch Major Deware gab ein Schreiben mit. Über den und seine drei Leute habe ich bei dieser Affäre nichts weiter gesagt. Na, die hatten eben mitgemacht, waren mitgekommen und hatten geholfen, was sie hatten helfen können. Die Brücke freilich hatten sie ja mit keinem Schritte betreten. Und was der alte Major und der noch ältere, bärbeißige Wachtmeister so ab und zu äußerte, das mag ich nicht wiederholen. Der alte Wachtmeister jedenfalls hatte seine Bärbeißigkeit meinen Jungen gegenüber plötzlich total verloren, war förmlich schüchtern wie ein kleines Mädchen geworden.

»Wenn die ›Argos‹ wieder nach Victoria kommt, sollen Sie und Ihre Leute ja nach Gebühr empfangen werden, und wenn es nach mir ginge, dann würde ein Denkmal errichtet werden, wie es kein zweites in der Welt gibt. So, das will ich nur erwähnen«, sagte der Major, als er sein Schreiben brachte.

»Na, Herr Major, damit ist uns nicht gerade gedient, mit so einem Empfang, für den ich mir am Ende gar erst einen Frack bauen lassen muss!«, entgegnete ich.

»Würde der Bote nicht auch diesen Brief von mir an das englische Konsulat mitnehmen?«

Der dies fragte, war ein Herr im warmen Sportanzug, mit eisgrauem Haar, aber noch mit ziemlich jugendlichem Gesicht, im übrigen eine höchst sympathische Erscheinung, freundlich und bescheiden und dennoch einen ganz exklusiven Eindruck machend.

»Wer sind Sie, bitte?«

»Ich heiße Mac Miller, bin ein Engländer, hatte eine Reise nach Alaska gemacht, nur zum Vergnügen, oder auch aus wissenschaftlichem Interesse. Ich möchte doch so bald als möglich meine Angehörigen benachrichtigen, was dann das englische Konsulat in Victoria auf telegrafischem Wege besorgt.«

»Selbstverständlich kann der Brief mitgenommen werden.«

Diese Sache war erledigt. Weiter kam aber niemand mit Briefen, alle anderen lagen in tiefem Schlafe.

Juba Riata und Mister Tabak rückten auf Schneeschuhen ab, letzterer gab Volldampf, und auch ich legte mich, nachdem ich noch einmal den Magen vollgepfropft, gleich wieder schlafen, um im Traume allen transtinkenden und schmanttrinkenden Eskimos eine Liebeserklärung zu machen, und Klothilde gab ihren Segen dazu, wozu sie aber erst auf einer Felsenspitze einen noch höheren Balken hinaufkletterte.

So also wurde dieser ganze Tag verdämmert, erst am nächsten befanden wir uns wieder in richtiger Verfassung, außerdem aber noch viel mehr in seligster Stimmung.

Erst jetzt hielten wir nähere Umschau unter den Geretteten. Die meisten meiner Jungen hatten ja eine lebendige Bürde auf dem Rücken gehabt, ohne zu wissen, ob weiblichen oder männlichen Geschlechts, ob nur mit einem Beine ausgestattet oder gleich mit dreien.

Ja, da erblickten wir nun freilich seltsame Gestalten. Aber ich will sie nicht etwa alle einzeln schildern. Die meisten verließen uns ja überhaupt bald wieder, derer will ich gar nicht erst gedenken, und die anderen, die bei uns blieben, bekommt der Leser so nach und nach vorgestellt, wenn eben gerade die Gelegenheit zur Vorstellung ist.

Das kann auch sofort beginnen.

»Wenn der sich hinlegt, dann ist's ein Bandlwurm.«

So sprach Joseph ein Matrose, wie unser zweiter Bootsmann gleichfalls ein Bayer.

So hatte ich ihn sagen hören, als ich am zweiten Tage wieder das Deck betrat.

Er hatte einen Riesen von 2,35 Meter Länge gemeint. Aber auch ausschließlich in die Länge gewachsen. Dürr wie eine Hopfenstange, von Schultern gar keine Spur, hingegen war ein gut Teil seiner Länge auf den Hals zu rechnen.

Der Matrose oder Heizer, der ihn getragen, hatte ihn wie ein Tau über dem Nacken hängen gehabt.

Bandlwurm hatte der bayrische Joseph gesagt, nicht Bandwurm.

Na, da war »General Tim Tom, der größte Mensch der Welt«, natürlich unser »Bandlwurm« geworden.

Ich hatte mich auf dem Wege zur Patronin befunden, setzte ihn fort, fand sie im großen Badezimmer, auch für Massendusche eingerichtet, mit hochgekrempelten Ärmeln im Kostüm einer Scheuerfrau, und scheuern tat sie auch, schrubbte ein Dutzend der kleinsten fliegenden Engel ab, Klothilde schmierte sie mit grüner Seife ein. Besonders die Haare, die aber auch noch eine andere Salbe nötig hatten, weil sich darin kleine Gäste angesiedelt hatten. So etwas bleibt ja auf solch einem Passagierdampfer selten aus, und diese Tierchen machen sich verdammt wenig aus eiskaltem Seewasser.


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»Du, Georg, denke Dir mal... die haben alle Läuse!«, begrüßte mich die Patronin seelenvergnügt.

Na, dann hätte ich nicht erst so zarte Andeutungen zu machen brauchen.

Dann betrachtete sie, mit der Schrubbarbeit einhaltend, tiefsinnig und zärtlich zugleich den kleinen verlausten Engel, den sie gerade unter der Bürste hatte, einen vielleicht fünfjährigen Jungen, der aber auch wirklich einem Engel glich! Außer dem herrlichsten blonden Lockenkopf mit klassischen Zügen die harmonischsten Körperlinien, alles wie gemeißelt, zart und ungemein kräftig zugleich.

Na ja, zu solchen Kindern, die Ballett tanzen müssen und an Drähten durch die Luft fliegen, sucht man sich doch überhaupt die schönsten aus, besonders wird auf volle, schöne Körperformen geachtet, und das Weitere tut die fortwährende Übung, verbunden mit gutem kräftigem Essen, wie es doch bei solch einem großen Zirkus verabreicht wird.

Ich bemerke von vornherein, ehe wir sie so sortierten, dass von den 52 Kindern dieses Ballette 32 Knaben und 20 Mädchen waren, also nicht genau halb und halb, wie wir erst annahmen.

Man müsste eigentlich annehmen, dass sich für irdische Engel, die in Trikots an Drähten aufgebaumelt werden. Mädchen mehr eignen als Jungen. Wegen der Körperlinien.

Nein, gerade das Gegenteil ist der Fall. Wenigstens wenn es sich um kleine Engelchen handelt.

Ich möchte den Leser einmal auf etwas aufmerksam machen.

Wenn man in einer Gemäldegalerie alle die Bilder betrachtet, besonders Heiligenbilder, auf denen Engel vorkommen, so wird man durchweg finden, dass alle kleineren Engel Buben sind. Aber wenn sie größer werden, mehr in die Jahre kommen, dann werden Mädchen draus. Aber im zarten Engelsalter sind es durchweg Jungen.

Na, diese Maler haben eben gewusst, weshalb diese Metamorphose. Und der Mann, der dieses Kinderballett zusammengestellt hatte, das war doch schließlich auch ein Künstler, wusste wenigstens, worauf es ankam. Kurz, bis zum sechsten oder siebenten Jahre, und das waren die meisten, waren es lauter Knaben, erst dann kamen in der Mehrheit Mädchen, nur einige wenige ältere, dicke Buben dazwischen.

»Georg, was meinst Du dazu — ich habe eine Idee — wir wollten doch Schiffsjungen annehmen — wenn wir diese Kinder erzögen...«

Ich weiß gar nicht, weshalb mich plötzlich so ein Schreck durchzuckte.

Wie ich den fünfjährigen Engel anstarrte und mich dabei impulsiv in den Haaren kratzte.

»Ab... aber — Helene — die... die Mädchen auch?«, konnte ich nur stammelnd hervorbringen.

»Nein, die Mädchen nicht, mit solchen Experimenten, durch Schiffsmädchen einen neuen weiblichen Beruf zu eröffnen, wollen wir uns lieber nicht befassen!«, lachte sie zurück. »Natürlich nur die Jungen. Was meinst Du dazu?«

»Ab... aber«, hatte ich immer noch nicht die Sprache ganz wieder, »die sind doch noch so winzig klein...«

»Nun, dieser Fehler würde sich mit jedem Tage verbessern. Und ob wir überhaupt nicht ein gutes Werk tun, wenn wir diese Kinder dem Zirkusleben entführen? Erst handelt es sich doch nur um eine Erziehung, und die könnten wir ihnen doch an Bord ganz gut geben.«

Ich hatte mich wieder zusammengerafft.

»Nein, Helene, das ist nicht so einfach, wie Du Dir es denkst. Diese Kinder sind doch gar wertvolle Objekte, die sind durch irgend einen Kontrakt ihrem Manager mit Leib und Seele verpflichtet...«

»Dieser Manager ist aber tot!«

»Tot?!«

»Jawohl, Mister Ephraim Snatscher, wie er hieß, ist bei dem Schiffbruch verunglückt, ertrunken, über Bord gewaschen worden.«

»Verunglückt?!«

Ja, so war es. Diese Kinder hatten es gesehen, auch noch andere, wie der alte Herr noch in der ersten Nacht über Bord gewaschen worden war.

Aber der Kapitän hatte es nicht gesehen, nicht sein Offizier, nicht die meisten anderen — na, und die hatten sich über solche Kleinigkeiten nicht unterhalten.

Also war es ein falscher Bericht gewesen, den wir abgeschickt hatten, ein Passagier hatte dabei seinen Tod gefunden. Na, das hatte ja nichts weiter zu sagen.

»Aber dieser verunglückte Manager wird doch Rechtsnachfolger haben, die nun in den Kontrakt eintreten können.«

»Ja, darüber können mir diese Kinder nichts sagen, da müssen wir uns an eine andere Quelle wenden.«

Dann wurde sofort Gelegenheit. Siddy meldete, dass der Herr Direktor Smetani der Frau Patronin seine Aufwartung zu machen wünsche.

Ja, das konnte geschehen. Die Patronin überließ die Kinder der Klothilde, warf sich ein Morgenkostüm über, und wir empfingen den Herrn.

Es war ein italienischer Zirkusdirektor, wie er im Buche steht, das hagere, verlebte, aber nicht unsympathische Gesicht mit einem mächtigen schwarzen Knebelbart verziert. Nur dass es eigentlich ein Österreicher war.

»Erlaubens, dass i hereinspazier — kiss d'Hand, gnä Frau — i hob die Ehr...«

Und so weiter. Und dabei purzelten ihm schon die Tränen über die faltigen Wangen herab.

Einmal, weil er noch unter dem Eindruck der Todesnot und der Rettung stand, und zweitens, weil er, wie er uns gleich offenbarte, durch den Schiffbruch die schwersten pekuniären Verluste erlitten habe. Zwar war alles, was er dabei verloren hatte, versichert gewesen, das bekam er bezahlt, — aber als Zirkusdirektor konnte er für lange Zeit nicht mehr arbeiten, er musste überhaupt sein ganzes Personal entlassen, drei Engagements für große Städte gingen ihm verloren.

»Wissen Sie, dass Mister Snatcher verunglückt ist?«

Ja, der wusste es.

»Verheiratet war er nicht?«

»Aber nein, gnä Frau!«, erklang es, als wäre es eine beleidigende Frage gewesen.

»Ist es denn so ausgeschlossen, dass der verheiratet gewesen ist?«

»Abber jaaa gnä Frau!«

»Weshalb denn?«

Ich fasse es kurz zusammen, was wir so nach und nach erfuhren.

Dieser Ephraim Snatcher, ein echter Yankee, war ein Geizknüppel ersten Ranges gewesen. Den Kindern hatte er ja bei ihrer anstrengenden Arbeit kräftiges Essen verabreichen müssen, aber sonst... nur keinen roten Cent ausgeben! Es war ein alleinstehender Mann gewesen, er hatte auch alles, alles allein gemacht. Nur dass er für die Kinder von Gesetzes wegen einen Privatlehrer halten musste, den er aber auch danach bezahlte.

Übrigens hatte er nicht allein dieses Kinderballett »gemanaget«, sondern auch noch einige andere Kinderspezialitäten. So zum Beispiel waren auch der zweizentrige »Schudick« und das menschliche, einbeinige Känguru sein »Eigentum«.

»Wo hat er denn diese Kinder her?«

Das konnte Direktor Smetani alias Schmidt nicht sagen, auch kein anderer. Wie solche Kinder eben verkauft werden. Von ihren Eltern oder von Kindesräubern oder von sonst wem, ganz wie richtige Ware. Dann lässt solch ein Unternehmer die Kinder bei anderen Truppen ausbilden, oder er tut es selbst, aber immer in aller Heimlichkeit, bis er mit ihnen in der Öffentlichkeit erscheint. Dann weiß niemand mehr die Abstammung dieser Kinder.

Zum ersten Male hörte ich damals von solchem Kinderhandel für Zirkus- und Varieteebetriebe und sonstige Schaustellungen, und der erstreckt sich nicht etwa nur auf Amerika, sondern umspannt die ganze Welt.

O, man sollte nicht nur allein, wie es jetzt geschieht, den »Mädchenhandel« verfolgen. Es gibt zahllose Kinder, die des Schutzes noch viel mehr bedürftig sind.

»Was wird denn nun aus diesen Kindern?«

Ja, das war eine fatale Sache. Mister Snatcher war in Artistenkreisen eine weltbekannte Persönlichkeit gewesen, aber von seinen Verhältnissen wusste niemand etwas. Und seine Papiere befanden sich in seinem Koffer dort im Wrack, waren verloren.

Überhaupt ist solch ein Kinderhandel doch nicht etwa gesetzlich geregelt, anerkannte Kontrakte gibt es da gar nicht, also kann auch kein Erbe eintreten.

Diese namenlosen, ortsunansässigen Kinder waren jetzt wie die herrenlosen Hunde. Wer sich ihrer annahm, dem gehörten sie, bis sie ihm wieder davonliefen. Die Kunst besteht eben darin, in solchen Kindern den Gedanken an ein Fortlaufen gar nicht aufkommen zu lassen. Also kann von einer schlechten Behandlung nicht viel die Rede sein. Oder aber... gerade das Gegenteil! Die schmählichsten Prügel! Das sind dann aber Stümper in ihrem Fache. Die hier hatten nichts zu klagen gehabt.

Sonst, wenn sie einmal davon laufen, kann man natürlich nicht etwa die Hilfe der Polizei anrufen. Dann werden sie eben in eine Fürsorgeanstalt gesteckt.

So hatte uns Direktor Smetani erklärt.

»Ich nehme sie nicht. Ich habe jetzt anderes vor. Und nun überhaupt — diese Rasselbande! Mister Snatcher verstand sie im Zaume zu halten — ich könnte es nicht. Der Pepi, einer meiner Clowns, will sich ihrer annehmen, mit ihnen reisen. Ich habe wenigstens schon so etwas munkeln hören.«

»Könnten wir sie hier an Bord behalten?«

»Abberrr jaaa! Sie sind doch auch so ein Zirkusunternehmen, ich habe doch schon genug von Ihnen gehört, von dem schwimmenden Zirkus des Argonautes, nehmen Sie das fliegende Kinderballett mit in Ihr Programm auf...«

»Nein, nein, das ist es nicht!«, wehrte die Patronin mit leisem Lächeln ab, während ich den Kerl schon bald beim Kragen genommen hätte, um ihn hinauszuschmeißen. »Wir möchsten nur einige Knaben an Bord behalten, um sie zu Seeleuten auszubilden...«

»Abberrr jaaa! Suchen Sie sich doch die besten Exemplare aus!«

»Wohin dann aber mit den anderen? In eine Erziehungsanstalt bringen?«

»Abberrr nein!«, schlug der Zappelmann — denn ein solcher war es — gleich die Hände über dem Kopfe zusammen. »Bedenken Sie doch die arrrmen Kinderrrchennn, die haben nun getanzt von früh bis abends, was sollen die nun in einer Erziehungsanstalt...«

Er sprach noch weiter, und der Mann hatte ganz, ganz recht! Mir gefiel es sogar sehr an ihm, dass er gleich auf diese Weise für die Freiheit der Kinder eintrat. Etwas eigentümlich, aber er gehörte doch selbst zu den fahrenden Leuten, jetzt sprach er in echtem Mitleid für diese Kinder.

Die Sache war erledigt. Wir würden uns die brauchbarsten Jungen aussuchen und die übrigen nebst sämtlichen fliegenden Mädchen großmütig einem anderen überlassen.

O, ich freute mich wirklich schon riesig darauf, solche sechs- bis zehnjährige Jungen — jüngere konnten wohl schwerlich in Betracht kommen — die schon halb und halb zu kleinen Akrobaten ausgebildet worden waren, in meine weitere Dressur zu nehmen, ich wollte schon aus ihnen etwas machen! Und auch in moralische Erziehung wollte ich sie nehmen! Denn dass da böse Pflanzen dazwischen waren, das war ja zu erwarten. Jedenfalls aber hätte ich bei Jungen, die mir aus Waisenhäusern und Fürsorge, also Besserungsanstalten übergeben worden wären, alle schon über 14 Jahre alt, der Moral nach ein noch viel ungesünderes Material erhalten.

Wie ich durch den etwas dunklen Korridor ging, kam mir etwas zwischen die Beine, ein dünnes Stimmchen kreischte auf.

»O, mein Kind, ich habe Dich doch nicht getreten?!«

»Nicht sehr, mein Herr, nicht sehr!«, winselte das zarte Stimmchen.

Ich hob das Geschöpfchen auf, fühlte kaum ein Gewicht, setzte es auf meinen Arm.

Jetzt musste man verdammt vorsichtig sein, überall wiebelte und kriebelte es von Kindern. Meine Jungen saßen schon wieder feste bei der Schneiderarbeit, die meisten hatten doch nur ein Hemdchen angehabt, nur notdürftig bekleidet waren sie alle gewesen, und mindestens wollte ich diesen Kindern hier erst etwas Wintervergnügen bereiten.

Ich trat in helles Licht. Es war ein kleines Mädchen, das ich auf dem Arm hatte, trug, wie ich gleich bemerkte, es trug ein Kleidchen von unserer Ilse. Na, für unsere Ilse war ja das überhaupt etwas!

Ein kleines Mädchen? Gewiss das war sie. Aber wie alt? Vier Jahre? Nein, war das nicht eine — eine Puppe?

Ja, zum Teufel, hatte dieses kleine, überaus zarte Geschöpfchen nicht schon einen ganz regelrechten Busen?!

Kurz und gut, ich wurde nicht klug aus dem Dinge, was ich da auf dem Arme hatte, und ehe ich selbst auf den Trichter geriet, kam da ein Junge anspaziert, einer von den wenigen, der bei dem nächtlichen Schiffbruche Pumphosen angehabt hatte, auch so ein vierjähriger Knirps.

»Herr Waffenmeister?«, fragte er.

Hallo! Ich starrte den Knirps nicht schlecht an. Hatte der eine Bassstimme für seine Wenigkeit!

»Wie alt bist Du denn, mein Kleiner?«

»Zweiundvierzig Jahre!«, entgegnete die Bassstimme.

Ja, nun merkte ich es. Es war ein Zwerg, noch nicht ganz einen Meter hoch.

Das heißt, dass die Patronin den nicht etwa aus Versehen mit abseifte!

Der glich nur im Äußeren einem vierjährigen Kinde, hatte auch ein Kindergesicht, aber nur, wenn man nicht genauer hinsah — sonst gerade das Gegenteil davon, wie es auch schon seine Stimme verriet.

»Ja, der Waffenmeister dieses Schiffes bin ich. Sie wünschen?«

»Wenzel ist mein Name!«, fuhr die tiefe Stimme fort, und jetzt ward sein Gesicht für mich auch immer älter. »Alois Wenzel — genannt Attila — Sie wissen vielleicht — Attila, das war nämlich der König der Hunnen, die damals die Goten...«

»Ja, ja, ich kenne schon den Attila, wenn auch nicht persönlich.«

»Ich bin nämlich professioneller Hundereiter — trete als Hunne auf, schieße mit Pfeil und Bogen, werfe die Lanze und führe die verwegensten Reiterkunststückchen aus, aber nicht zu Pferd, sondern zu Hund — meine beiden Doggen sind nun freilich ersoffen, aber Sie haben ja genug Hunde, die reite ich zu — und was meine Frau ist, die reitet die hohe Schule auf dem Ziegenbock...«

»Ihre Frau?!«, musste ich zunächst einschalten.

»Sie hat das Vergnügen, auf Ihrem Arme zu sitzen.«

Au weh! Nun freilich wusste ich es! Daher die puppenhafte Figur mit ziemlich voller Entwicklung, und daher auch hatte sie zimperlich den Finger an den Mund gelegt und blickte errötend seitwärts, wie sie so auf meinem Arme saß.

»Entschuldigen Sie gütigst, Frau... Frau... Attila Wenzel!«, sagte ich und setzte sie, wirklich von Verlegenheit befallen, sacht auf den Boden.

»Ach, ich bin durchaus nicht eifersüchtig«, tröstete mich der Gatte, meine Verlegenheit bemerkend, »und Rosamunde is ooch nich so, wenn se sich ooch so stellt. Ja, also was ich sagen wollte — meine Frau da reitet die hohe Schule auf dem Ziegenbocke, eine Attraktion ersten Ranges — nun sind allerdings unsere beiden Ziegenböcke ersoffen — aber da bekommen wir schon andere wieder — oder ich möchte auch einmal ein Schwein zureiten — also wenn Sie uns beide engagieren wollen...«

»Na ja, darüber sprechen wir noch!«, sagte ich und machte, dass ich fortkam. Sonst ritt der zuletzt auch noch unseren Igel zu.

Aber den ganzen Tag noch wurde ich von Artisten aller Art angelaufen, überhaupt von sämtlichen, auch von den Dienern, Pferdewärtern und sonstigen Arbeitern. Sie waren ja alle stellenlos und glaubten eben, das sei ein schwimmender Zirkus, der noch mehr Personal brauchen könne.

Wen wir von ihnen behielten, darüber werde ich später berichten.

Die Tage vergingen. Ach, das war ja etwas für diese Kinder, besonders unsere Menagerie. Zwar hatten sie ja selber eine in dem Zirkus gehabt, noch eine ganz andere als unsere, aber mit diesen Löwen, Tigern und Bären

hatten sie doch nicht etwa spielen dürfen. Wenn diese Raubtiere nicht mehr genügend wild waren, dann wurden sie künstlich wild gemacht, damit sie einmal den sie in voller Freiheit vorführenden Dompteur anbrüllten, und nach ihm schlugen. Und überhaupt, das war doch etwas ganz anderes gewesen, die Kinder hatten gar nicht an diese Tiere herandürfen.

Mit den Raubtieren unserer Menagerie aber konnten sie nach Herzenslust spielen, an Bord wie an Land, sich mit ihnen im Schnee wälzen und Rutschbahn fahren, Unser Leo war jetzt mit seinen anderthalb Jahren ein unleserlich neugierig wie ein junger Hund. Freilich mussten wir es ihm erst erlauben, ein Fremder hätte ihn nicht so ohne weiteres angreifen dürfen. Und das galt von allem Raubzeug unserer Menagerie.

Dann musste die Brücke abgebrochen werden, wenn wir nicht auf die Bretter und auf das viele Tauwerk verzichten wollten. Einmal wäre sie doch dem Sturme und der Brandung zum Opfer gefallen, jetzt hielt alles noch zusammen.

Auch Kapitän Martin bekam sie noch in voller Struktur zu sehen, und da sah ich auch diesen Mann einmal staunen.

»Das ist fabelhaft! Ich hätte diese Brücke nicht für möglich gehalten, hätte es überhaupt gar nicht gewagt. Und in 23 Stunden?! Das ist einfach fabelhaft!«

So sprach Kapitän Martin. Und dabei herrschte jetzt nicht mehr so eine Brandung wie damals.

Da sieht man also, dass ich diese Arbeit gar nicht richtig beschreiben konnte. Das Abbrechen ging viel schneller als das Aufbauen, wenn wir uns dabei auch Zeit nahmen, vier Tage.

Ludwigs Leichnam wurde nicht gefunden. Wir setzten ihm kein anderes Denkmal als in unserem Herzen.

Von dem Wrack war absolut nichts zu holen. Das Vorderteil saß fest und würde so lange sitzen bleiben, bis der Rost alles in Trümmer brach.

Das Weihnachtsfest war nach Gebühr gefeiert worden. Am achten Tage nach ihrer Abreise kamen Juba Riata und Kabat zurück, in Begleitung einiger Dutzend Indianer, die sie auf dem Rückweg getroffen hatten, die Männer des ganzen Stammes, dem dieses Gebiet gehörte. Juba Riata war ihnen ja schon von damals bekannt, aber den weißen Biber fand er nicht mehr unter ihnen, der war tot.

Es waren einesteils noch ganz waschechte Indianer, anderseits konnte man mit ihnen geschäftlich unterhandeln wie mit einem Yankee.

Die Gebietsabtretung bot nicht die geringste Schwierigkeit. Diese Indianer wussten eben, dass da gar nichts zu machen war. Wenn sie sich im Kampfe gegen die »langen Messer« nicht bis zum letzten Mann aufreiben wollten.

Major Delaware stellte den Verkaufsvertrag aus, der Häuptling setzte nebst einigen anderen Kriegern das Totem darunter, erhielt seine 100 Pfund Sterling in Gold, und die Sache war erledigt. Er hatte sogar gesagt, dass er auch einen Scheck auf Victoria annehme. Aber Gold war ihm doch lieber.

Die drei Dutzend Indianer wurden zwei Tage lang bewirtet, dann schieden wir als die besten Freunde.

So, nun waren wir die Besitzer dieses Grund und Bodens, nun konnten wir uns hier häuslich einrichten, Blockhäuser erbauen, die heiße Grotte in ein regelrechtes Dampfbad verwandeln und andere bleibende Arbeiten ausführen, die uns niemand wieder wegreißen durfte, wie wir uns alles schon so schön ausgemalt hatten, alle Pläne dazu schon fix und fertig entworfen.

Statt dessen packten wir die Bretter und Zementfässer jetzt wieder ein und dampften davon, nach San Francisco zurück, um überhaupt ein anderes Ziel zu suchen.

Ich hatte es kommen sehen.

Wir hatten hier nun schon vier Wochen lang Wintersport aller Art getrieben, und diese Zeit genügte vollkommen, nun sehnte man sich wieder einmal nach einer Abwechslung. Außerdem wollten doch die Goldgräber, die das, was sie in Klondyke gefunden, bei sich hatten, endlich nach einem Hafen gebracht werden, auch die anderen Schiffbrüchigen sollten und wollten nicht immer bei uns bleiben — also sie wurden nach San Francisco gebracht, und bei uns stand es fest, dass wir nicht sofort zurückkehrten. Später einmal wieder, ja, aber nicht sogleich.

Unterdessen war die Sache geregelt worden, wen wir behalten wollten und wen nicht. Wir behielten gleich alle 32 Jungen des Balletts bei uns, es ließ sich auch kaum anders machen, wenn wir sie nicht rücksichtslos einem ungewissen Schicksal ausliefern wollten.

Der Clown Pepi war der einzige der Artisten, der, auch über einiges Geld verfügend, das Kinderballett weiterführen, mit ihm reisen wollte. Aber nur mit Mädchen. Weshalb nur mit solchen, weshalb er durchaus keine Jungen haben wollte, das sagte er nicht, dass war sein Geschäftsgeheimnis, und gerade bei derartigen Unternehmern kommt es ja darauf an, mit einer neuen Spezialität, einem neuen Trick urplötzlich herauszukommen, sonst ist die ganze Sache nichts.

Jedenfalls aber hatte ich diesen Clown unterdessen näher kennen gelernt, es war ein Ehrenmann, dem nicht zuzutrauen war, dass er etwa einen Handel mit kleinen Mädchen anfangen wollte, und dass er sich nicht mit Jungen als überflüssige Esser beladen mochte, das war ihm bei seinem kleinen Kapital nicht zu verdenken. Übrigens pumpte er die Patronin auch um tausend Pfund an, die er aber später zum bestimmten Termin, den er selbst angegeben, pünktlich zurückzahlte.

So behielten wir also gleich alle 32 Jungen. Es war ja, wie ich nun schon erfahren, unter diesen kleinen und halbwüchsigen Engeln mancher darunter, bei dem es nicht genügte, nur ein B vorzusetzen, der eine stahl alles, was er sah und fortbringen konnte, nur aus Lust am Stehlen, er warf es fort, ins Wasser, und ließ sich eher totschlagen, als dass er dann, wenn er überführt worden, den Ort angab, aber das war der schlimmste noch nicht, es waren auch schadenfrohe Charaktere darunter — und Schadenfreude ist die einzige Untugend, die ich beim Kinde und überhaupt beim Menschen nicht verzeihen kann, einen Menschen, der sich über das Unglück eines anderen freut, halte ich zu allem, zu allem fähig, und das halte ich auch für unausrottbar, wenn es ihm das Schicksal nicht selbst austreibt — aber was sollten wir mit solchen Bengeln machen. Sie einer Anstalt übergeben, auch wenn wir dafür zahlen mussten, das war immer mehr ausgeschlossen, je mehr wir uns die Sache überlegt hatten, da hatte der Zirkusdirektor vollkommen recht gehabt.

Also sie blieben sämtlich an Bord. Ja, es reizte mich immer mehr, den Kampf mit solchen noch unentwickelten Charakteren, die man aber schon jetzt direkt als verbrecherisch veranlagte bezeichnen konnte, aufzunehmen. Wenn nur erst die anderen von Bord waren, die nicht zu uns gehörten, dann wollte ich diese kleinen Teufel schon unter meine Fuchtel nehmen, geführt in aller Liebe.

Ich verweile deshalb so lange bei dieser Sache, weil sie damals für mich wirklich von höchster Bedeutung war. Ich sah ein neues Lebensideal vor meinen Augen auftauchen. Aus diesen zum größten Teil nichtswürdigen kleinen Stromern brave, tüchtige Menschen zu machen, durch eine besondere Erziehungsmethode durch eine spartanische Lebensweise, bei der sie vor Erschöpfung gar nicht auf böse Gedanken kommen konnten, aber dabei immer behandelt mit der allergrößten Liebe, immer angeführt durch aufmunterndes Beispiel.

In solchen Gedanken ging ich damals ganz auf, begann schon jetzt die Stundenpläne dazu bis ins Kleinste auszuarbeiten

Nur ein einziger Junge der ganzen Bande machte eine Ausnahme in seiner Abstammung, indem er diese nämlich kannte, wenigstens seine Mutter — den Vater allerdings auch nicht.

Es war dies die Nummer acht. Die Jungen hatten alle pompöse Namen bekommen, meist klassische Götter und Heldennamen, Apollo und Achilles und dergleichen, außerdem aber waren sie bei den Tanzübungen, wie es da am praktischsten war, mit Nummern gerufen worden, und bei diesen Nummern blieb es auch bei uns. Es war das allereinfachste. So waren sie alle gleich der Größe nach geordnet. Sollte der Teufel alle die Götter- und Heldennamen im Kopfe behalten, mit den Zahlennummern aber ging es gleich am zweiten Tage, weil sie sich dementsprechend in Reih und Glied aufstellten. Und es ist vielleicht auch besser, man nennt ein Kind acht oder dreizehn, als Ernst, und dann ist's ein kreuzfideler Bruder, oder Felix, das ist der Glückliche, und dann ist's in seinem ganzen Leben ein ewiger Pechvogel, der sich zuletzt vor Gram aufhängt.

Die zehnjährige Nummer acht war nämlich der Sohn der Madame Pompadour, für seine Jahre ein äußerst kräftiger Bengel, würde aber wohl niemals so ein Fettwanst werden und vor allen Dingen war er, wie ich nun schon beobachtet hatte, der tüchtigste Junge von allen, auch der beste Charakter, er hatte mich schon angefleht, an Bord bleiben zu dürfen, als Schiffsjunge, aber die vierzentrige Mama liebte den Jungen wirklich, kein Gedanke dran, dass sie sich von ihm trennen würde...

»Na, da bleiben auch Sie bei uns. Wollen Sie?«

»Ach Jotte ooch, ja!«

Also auch Mama Bombe blieb bei uns an Bord. Als gar nicht so unnützes Mitglied dieser Schiffsgesellschaft. Wenigstens meine Jungen hatten sofort ihren bedeutsamen Zweck erkannt. Wenn wir einmal eine Fünfunddreißigzentimeterhartkugel in den Schiffsbauch bekamen, die setzte sich einfach auf das Leck drauf, da kam kein Wasser mehr herein!

Außerdem hatte Mister Ephraim Snatcher, so weit noch unmündige Kinder in Betracht kamen, auch noch das einbeinige Känguru und den zweizentrigen »Schudick« gemanaget. Diese beiden waren nun auch herrenlos geworden, kein anderer Artist wollte sie haben, — gut, behielten wir die auch.

Froh war ich bloß, dass die zusammengewachsenen Zwillinge noch ihren Herrn und Besitzer hatten, sonst hätten wir die auch noch an Bord behalten müssen!

Das Kinderballett hatte, wie schon erwähnt, von Gesetzes wegen einen Lehrer haben müssen, der den schulpflichtigen Kindern wenigstens Lesen und Schreiben beibrachte. Natürlich war es ein Deutscher. Auch solche Haus- und Privatlehrer sind in aller Welt Deutsche. Ein noch junger, schüchterner, ungelenker, halbverhungerter Mann. Wenigstens sah er so aus. Obgleich er immer kaute, sobald er sich unbeobachtet fühlte. Die 52 Kinder, und nicht zum wenigsten die Mädels, hatten ihm so auf der Nase herumgespielt, dass er überhaupt gar keine Nase mehr hatte. So behaupteten wenigstens meine Jungen. Er hatte eine winzige Stulpnase, auf welcher der Brillensteg eben noch Halt fand. Und überhaupt ein Gesicht wie ein böser Affe. Und heißen tat er Balduin Fabian. Natürlich hatten meine Jungen diesen Namen sofort in Pavian verdreht. Das heißt, zu hören bekam er das nicht. Der Matrosenwitz ist wohl derb, kann furchtbar derb werden, roh — aber beleidigend wird er nie. Die Kinder nannten ihn nur Fabs und das allerdings musste er sich gefallen lassen.

Im Übrigen ein seelenguter Kerl, ein Pädagoge vom Scheitel bis zur Sohle, hatte nichts weiter im Kopfe — na, der blieb natürlich auch als Lehrer.

Ferner blieb bei uns auch General Tim Tom, der größte Mensch der Welt, der Bandlwurm. Er hatte so lange gebettelt, bis er bleiben durfte. Er hatte das Artistenleben satt, sich vom Publikum anstaunen zu lassen, er wollte irgendwelche Arbeit verrichten, wir konnten noch einen Tellerwäscher gebrauchen — er wurde es. Zwar ging er in den Aufwaschraum nicht hinein, der war nur 2 Meter 20 hoch, — na, da kroch er eben hinein und setzte oder kauerte sich bei seiner Arbeit hin.

Schließlich blieben auch noch Attila, König der Hunnen, und Frau Gemahlin Rosamunde bei uns. Auf unseren eigenen Antrag. Ilse hatte sich in die winzige Puppendame verliebt. Helene vielleicht nicht minder, und sie war es auch wirklich wert. Aber auch der Wenzel-Attila gefiel mir immer besser. Sie hatten unsere Einladung angenommen, denn Gage gab es nicht, sie sollten nur unsere Gäste sein, und sie wollten sich denn auch einige Zeit Ferien nehmen. Das konnten sie sich auch leisten, der Knirps hatte Geld — eine seltene Ausnahme unter den Artisten.

So, nun war es aber genug, nun konnte losgegaukelt werden. Nun waren wir ein wirkliches Gauklerschiff, aber in noch einem ganz anderen Sinne als in dem des Seehandels. Wenn uns überhaupt hieran noch etwas gefehlt hatte.

Der Anfang des neuen Jahres wurde noch auf Vancouver gefeiert, wurde ganz mächtig gefeiert, und am 4. Januar lagen wir beim schönsten Frühlingswetter in der Bucht von Frisco auf Reede.

Weiter ging es auch nicht, nicht in den Hafen hinein. Ein Fährdampfer wurde signalisiert, der die ganze Bande an Bord nahm, und nur Kapitän Martin ging mit, um alles Geschäftliche zu erledigen.

Überschwängliche Dankesworte hatte es ja zahllose gegeben, aber keiner der Geretteten dachte daran, zu fragen, ob denn nun irgend etwas zu bezahlen sei. Denn das ist ja nicht so einfach, das muss alles bezahlt werden. Na, wir dachten ja ebenso wenig daran, ihnen eine Rechnung zu präsentieren, aber immerhin, es ist interessant, dass sich kein einziger muckste, am allerwenigsten der Herr Zirkusdirektor Smetani.

Doch einer machte sich deswegen noch bemerkbar.

Der Sportsman mit dem jugendlichen Gesicht und den weißen Haaren, der sich Mac Miller nannte. Während der ganzen zwei Wochen hatte der sich am allerwenigsten bemerkbar gemacht, jetzt aber tat er es.

»Darf ich Sie einmal unter vier Augen sprechen, Herr Waffenmeister?«, fragte er, als wir erst nach dem Fährdampfer signalisiert hatten.

Ich führte ihn in meinen eigenen kleinen Salon.

»Sie, Herr Waffenmeister, sind wohl die richtige Person, an die ich mich jetzt wende.«

»Es kommt ja ganz darauf an, was Sie wollen.«

»Um meine Kostenrechnung darf ich wohl nicht bitten?«

»Nein. Sie waren wie alle übrigen unsere Gäste — oder die unserer Patronin.«

»Ich verzichte auf alle Dankesworte — auch Ihre Hand will ich nicht drücken, ich hätte zu viele Hände zu schütteln. Hingegen... kann ich für die Frau Patronin und für Sie selbst und für die ganze Mannschaft dieses Schiffes etwas tun?«

»Was wollen Sie denn für uns tun?«

»Jeder Wunsch, den der mächtigste Herrscher auf dieser Erde erfüllen kann — er soll Ihnen erfüllt werden.«

Groß blickte ich den Sprecher an.

»Der mächtigste Herrscher dieser Erde?!«

»Der König von Großbritannien und Irland, Kaiser von Indien — er ist mein intimster Freund.«

Mein Stutzen lässt sich denken.

»Ja, Herr, wer sind Sie denn?!«

»Ich bin englischer Peer und Earl — ich bin der Herzog von Westmoreland.«

Da nahm ich die Hände aus den Hosentaschen und die Mütze vom Kopf. Ich weiß, was sich schickt. Wenn mir auch eine Prinzessin vergebens die Hand zum Kusse hinhalten würde.

Freilich biss ich mir auch erst ein neues Stück Kautabak ab, um recht klar denken zu können.

Ja, da hatte ich einen Wunsch vorzutragen.

Aber hiermit breche ich die Wiedergabe unserer Unterhaltung ab.


ENDE VON BAND 1


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