Roy Glashan's Library
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Atalanta, Cover von Lieferung 42
Atalanta, Band 6
Verlag Dieter von Reeken, 2024
Portrait von Atalanta
Libelle - Die furchtbar sehr entsetzlichen Geheimnisse - Mein schwimmendes Heim
Die ersten Besuche - Eine indianische Hochzeit - Der Schuss am Sonntag
Der Bukanier - Im Untersuchungsgefängnis - Höhlenforschung, die Rutschbahn und ein Momentbild
Weshalb ich einschlafe und was ich beim Erwachen erlebe - Die Lumpers - Im Kampfe mit den Bukaniern - In der Eisregion
Die unterbrochene Ausräucherung - Die Ausräucherung wird fortgesetzt - Auf der Kriegsarche
Die erste Seeschlacht - Die Bestie erwacht - Um fünf Pfund Tabak
Das Ei des Kolumbus - Littlelu wird gehangen - Im Skaphander
In der Brunnenstube - Die Vergeltung - »Willst du in meinem Himmel mit mir leben — So oft du kommst, er soll dir offen sein.«
Wie Littlelu Spiritist wurde - Das Wunder der Lotosblume
Rettung aus Seenot - Das rätselhafte Schiff - Auf der Astralebene - Vom Nordpol zum Äquator - Die letzte Szene - Schwester Anna
Robert Kraft: Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees.
Lieferungs-Roman (60 Lieferungen). Dresden: Dresdner
Roman-Verlag (Druck und Verlag) 1911, Lfg. 1, Umschlag—S. 1
Die kleine Indianerin griff in die Mähne ihres Pferdes,
voltigierte neben demselben über den Baumstamm und
im nächsten Augenblick saß sie wieder hoch zu Ross.
Ich lag auf der Nase. Nicht auf meiner, sondern auf der des Menschenkopfes, und diesen Namen führte eine Insel. Siehe Karte. Wobei man immer bedenken wolle, dass ein Millimeter 300 Metern entspricht.
O Ihr himmlischen Tage, kehrt noch einmal zurück!
Seit einigen Tagen schon fuhr ich in meinem leichten Lederkanu in den Kanälen herum, und wo ein recht idyllisches, lauschiges Plätzchen war, da legte ich mich hin, um zu träumen. Und wenn ich müde war, schlief ich.
Ich hatte noch nicht die Eisbären aufgesucht, nicht die Elefanten, nicht die Pferdeinsel mit Zebras, Kamelen und Straußen, nicht die heilige Feuergrotte — noch gar nichts!
Zwei Schüsse hatte ich aus meiner Kugelbüchse abgefeuert. Mit dem einen hatte ich einen einsam am Ast hängenden Apfel auf 100 Schritt durchlöchert, mit dem anderen auf freiem Wasser ihre Tragfähigkeit geprüft.
Jetzt lag ich auf einem grasigen, blumigen Fleckchen. Die Blüten dufteten und die Bienen summten und einige Schritte von mir entfernt saß ein Häslein hochaufgerichtet und betrachtete mich mit neugierigem Staunen.
Es hatte allen Grund dazu. Die Hasen hatten hier überhaupt nie Schonzeit. Und ich war doch so ein zweibeiniges Ungeheuer, hatte eine Flinte und griff nicht danach, um tödliches Blei zu entsenden.
Da staunte der Hase! Dann holte er auch noch seine Kinder herbei, um ihnen dieses Monstrum von einem Menschen zu zeigen.
Gott sollte mich bewahren, das arme Häslein zu schießen!
Ich gestehe, habe es bereits getan, dass ich schon einige Menschen kalt gemacht hatte. Nicht nur aus direkter Notwehr, um mein eigenes Leben zu retten. Wenn mir auf so einem Novascotiasegler ein Kerl unbotmäßig kam und ich setzte ihm die Faust zwischen die Augen und der Flegel stand nicht wieder auf — kein Hahn krähte danach. Mein Gewissen auch nicht.
Aber warum ich dort das arme Häslein niederknallen sollte, dazu hätte ich keinen Grund gefunden.
Ein leises Knacken, ein prächtiger Hirsch mit achtzehn Enden trat aus dem Gebüsch und äugte, ohne mich zu bemerken.
Was für ein herrlicher Anblick!
Gott sollte mich ewig verdammen, hätte das Tier auch nur irgendwie meine Jagdlust erregt.
Gewiss, ich jagte gern. Und ich kenne da nicht etwa Sentimentalität.
Gewiss, die Zeit würde auch schon noch kommen.
Aber nicht jetzt, nur nicht jetzt!
Weshalb war ich denn zur See gegangen?
Um frei zu sein. Absolut frei! Der Traum meiner Jugend von frühester Kindheit an.
Ich hatte diese erträumte Freiheit auf der See nicht gefunden. Ganz das Gegenteil.
Da ich sie auch nicht an Land, in Amerika oder Afrika, als Jägersmann zu finden glaubte, versuchte ich es gar nicht erst.
Als ich damals auf der afrikanischen Sumpfinsel die Behausung des einsiedlerischen Grafen von Felsmark gesehen, da habe ich so eine Andeutung gemacht, wie ich beschaffen war.
Hier leben zu können, ohne jemals entdeckt zu werden!
Jetzt endlich hatte ich gefunden, was ich immer gesucht!
Ach, Ihr himmlischen Tage!
So im Walde herumschlendern zu können, sich ins blumige Gras legen, seine Pfeife schmauchen und träumen, träumen, träumen!
Ohne einen Menschen zu sehen.
Wohl bekam ich manchmal einen Menschen zu Gesicht, aber ich brauchte ja einfach nicht hinzublicken. Zu verstecken brauchte ich mich nicht, niemand kümmerte sich um mich.
Wenn ich Hunger hatte, suchte ich die nächste Präservestation auf, die ich nun schon zu finden verstand. Neben dem hohlen Baumstamm lag immer ein Stück Wild, abgehäutet und sauber ausgeweidet, manchmal Dutzende. Da schnitt ich mir das beste Lendenstück ab, schlug mich wieder seitwärts in die Büsche, machte mir ein Feuer an und briet es, gesalzen war es schon. Mehr brauchte ich nicht.
Am Nachmittage wurde ich manchmal ein bisschen melancholisch. Dann aber kam wieder der schöne Abend am Lagerfeuer. Die geheimnisvolle Nacht. Und dann die herrlichen Sonnenmorgen!
Ach, Ihr himmlischen Tage!
So friedvoll, so friedvoll!
In meinem Herzen sang und klang alles —
In dieser Stimmung lag ich wieder eines Morgens — ich hatte die Tage nicht gezählt, war vollständig aus dem Kalender gekommen — im Grase unter einem Baume mit duftenden Blüten.
Ich hatte so große Lust, das Häslein dort in die Arme zu schließen und es abzuküssen.
Und wie nun gar erst ein halbes Dutzend Hasenbabys kamen und mich verwundert betrachteten!
Da stob die Gesellschaft davon. Der Frieden wurde gestört.
Ich blickte in eine Waldlichtung. Da kam über diese ein Reiter gesprengt. Eine wundersame Erscheinung.
Auf einem schneeweißen Pony — und weiße Ponys sind selten — saß eine rote Gestalt. Ganz extra rot. Eine kupferrote Indianerin in einem knallroten Kleide. Es ist schwer zu beschreiben, ein wundersamer Anblick. Das feuerrote Kleid war ohne Ärmel und tief ausgeschnitten, dafür sehr lang, während die Reiterin natürlich nach Männerart auf dem Rücken saß, wodurch es aussah, als ob sie ganz enge, rote Hosen anhabe, die ihr nur bis an die Knie gingen.
Sie tummelte ihr Pony, ohne Sattel und Zügel, kein Halfter und gar nichts. Jetzt trieb sie es durch einfachen Handschlag und Schenkeldruck, was ich alles deutlich wahrnehmen konnte, einem gestürzten Baumstamm zu, setzte über das beträchtliche Hindernis weg, noch über die abgestorbenen Äste, wobei sie laut aufjauchzte und in die Hände klatschte — wieder zurück, diesmal aber sprang sie ab, griff in die Mähne, voltigierte neben dem Pferde über den Baumstamm, dass das rote Kleid wie eine Feuerwolke nachflatterte, ein helles Jauchzen, sie saß wieder auf dem Rücken.
Da hatte sie mich bemerkt. Mit einem Ruck stand das Pferdchen, dann galoppierte sie auf mich zu.
Es war ein junges Indianermädchen. Ich will gleich ihr Alter verraten: 13 Jahre. Bei uns aber hätte sie für 16 bis 18 gegolten. Eine derb entwickelte Jungfrau. Das knallrote Kleid, wozu noch eine grellgelbe Schärpe kam, verhüllte absolut nichts, es war aus dünnster Seide, und darunter trug sie sicher nichts weiter, auch kein Hemd, das hätte man bei dem tiefen Ausschnitt sehen müssen. Nicht einmal Mokassins hatte sie an.
Und nun dieses reizende kupferrote Gesicht! Im ersten Augenblick glaubte ich an irgend jemand erinnert zu werden, dachte gleich nicht mehr daran.
Sie hielt drei Schritte von mir, warf die langen schwarzen Haare zurück, blickte neugierig auf mich herab, dann lächelte sie etwas. Sie lächelte überhaupt immer, sobald sie sprach — ein reizendes Lächeln.
»Ich kenne Dich schon. Jaaa, ich weiß, wer Du bist.«
Ach, war das allerliebst herausgekommen! Diese naive Kindlichkeit! Und nun dies fremdakzentuierte Englisch!
»Na, wer bin ich denn?«, lachte ich.
»Du bist der große Büffelknochen.«
Hoho! Da hatte ich also schon meinen Ehrennamen bekommen. Den hatte ich nun freilich nicht erwartet. Aber passen tat er ja ganz gut auf mich.
Sie sprang mit der graziösesten Behändigkeit ab, gab dem Pony einen Schlag auf den Hals, es trottete wiehernd davon.
Jetzt fasste sie ihr langes rotes Kleid zierlich mit den Fingerspitzen an den Seiten, zog es wie eine Krinoline auseinander, und mit verschämtem Stolze erklang es hier in der Wildnis:
»Wie gefalle ich Dir denn in meinem neuen Kleide?«
Ach du heiliger Klabautermann!
Hier in dieser mexikanischen Wildnis von diesem indianischen Backfisch diese Frage, die auch bei uns alle Vertreterinnen des zarten Geschlechtes stellen, alle, alle, sobald sie ein neues Kleid oder einen neuen Hut oder ein neues Fähnchen zur Schau tragen, nur dass sie diese Frage nicht gleich so offen stellen.
Und nun diese entzückende kindliche Anmut, wie das herausgekommen war:
»Wie gefalle ich Dir denn in meinem neuen Kleide?«
Ich wusste nicht, ob ich schallend lachen oder ob ich aufspringen sollte, um dieses rote Kind in meine Arme zu schließen.
So blieb ich ernst und liegen.
»Wunderschön.«
»Wirklich?«, erklang es mit noch stolzerer Verschämtheit, wie so etwas eben nur ein junges Mädchen fertig bringt, ob weiß oder schwarz oder rot.
»Wunder-, wunder-, wunderschön!«
»Das habe ich mir selber gemacht. Jaaa, das habe ich mir selber gemacht!«
Das hatte ich mir schon gedacht. Jetzt hatte ich nämlich erkannt, dass die Säume mit Hirschsehnen genäht waren, wenn auch noch so fein.
»Ich brauche nicht zu heiraten!«, fuhr sie dann fort, immer mit ihrer Vermischung von Stolz und Schüchternheit und kindlicher Naivität.
»Nein, ich brauche nicht zu heiraten.«
Ich war gewappnet, mich ganz in den Ideenkreis dieses indianischen Backfisches zu versetzen. Schließlich sind die Mädels und Frauen doch überall dieselben. Nur dass hier immer gleich ganz offen ausgesprochen wurde, was bei uns nur gedacht wird.
»Weshalb brauchst Du denn nicht zu heiraten?«
»Weil mich niemand dazu zwingen kann.«
»Und weshalb kann Dich Glückliche niemand zum Heiraten zwingen?«
»Weil ich manitotuba bin.«
»Manitotuba? Was ist das?«
»Heilig, weißt Du? Sieh hier.«
Und sie kauerte sich dicht an meiner Seite nieder, beugte den Kopf, strich das Haar zurück, und da sah ich auf dem kupferroten Nacken einen weißen Fleck, ein Muttermal, fast genau wie eine Tabakspfeife mit langem Rohr geformt.
»Das ist wohl ein Zeichen Manitus, dem die Tabakspfeife heilig ist?«
Sie warf Kopf und Haar zurück, blieb aber neben mir kauern und schaute mich leuchtenden Blickes mit ihren braunen Rehaugen an.
»Du sagst es. Ich brauche aber auch nicht zu arbeiten.«
»Dann möchte ich, ich hätte auch so eine Tabakspfeife im Genick.«
Sie wollte sich ausschütten vor silbernem Lachen.
»Bist Du nicht auch manitotuba?«, fragte sie dann wieder ernst.
»Leider nicht. Ich habe meine Tabakspfeife entweder in der Tasche oder zwischen den Zähnen.«
»Aber Du arbeitest doch auch nicht?«
»Ausnahmsweise nicht.«
»Du jagst nicht?«
»Weil ich jetzt keine Lust dazu habe. wird schon noch kommen.«
Aufmerksam blickte sie mich an.
»Soll ich Dich manitotuba machen?«, fragte sie dann schnell.
»Wie machst Du das denn?«
»Indem ich Dich heirate.«
Das kam mir etwas unerwartet, war mir nicht recht angenehm, ich bin nun einmal nicht fürs Heiraten.
»Ich denke, Du brauchst nicht zu heiraten?«, suchte ich abzulenken.
»Nein, brauche ich auch nicht.«
»Die anderen Mädchen werden wohl gezwungen zum Heiraten?«
»Ja.«
»Von wem?«
»Vom Vater oder vom Familienoberhaupt. Wenn einem jungen Jäger die Erdbeere gefällt oder das Schilfrohr oder die Apfelblüte, und er sagt zum Vater, ich will die Erdbeere haben oder das Schilfrohr oder die Apfelblüte, und der junge Jäger gefällt dem Vater oder dem Familienoberhaupt, so muss sie ihn heiraten. Aber der Tochter Manitus darf niemand etwas befehlen.«
»Du bist eine Tochter des großes Geistes?«
»Du sagst es!«, nickte sie tiefernst, sogar feierlich.
»Und wer ist Dein — Dein —«
»Leiblicher Vater«, hatte ich fragen wollen, unterdrückte es aber lieber.
»Und wer ist Dein Großvater?«, kam es mir so heraus.
»Lookout«
Aha, das war der, der immer herumspionieren konnte, weil er eben nicht zu arbeiten brauchte, nicht jagen durfte.
»Der ist auch manitotuba.«
»Er hat auch so eine Tabakspfeife im Nacken?«
»Auf der Schulter. Es ist dasselbe. Wir beide sind heilig.«
»Und wer ist Deine Mutter?«
»Das schöne Wasser.«
»So ist ihr Name?«
»Ja, das schöne Wasser.«
»Und was für einen schönen Namen hast denn Du, mein liebes Kind?«
Seltsamerweise blieb die Antwort länger aus, verträumt blickte sie vor sich hin, aber dabei glücklich lächelnd, und dann glaubte ich doch meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, wie sie leise mit süßer Stimme zu singen begann:
Frei wie die Libell am Teiß,
Frei wie die Libell am Teiß,
Hab keine Sorgen, brauch nicht zu borgen,
Lebe von Sonn und Luft,
Lebe von Blumenduft...
»Kennst Du das Lied?«, setzte sie wieder auf Englisch hinzu, mit dem Gesange abbrechend.
Denn auf Deutsch hatte sie dieses Lied gesungen! In einem etwas merkwürdigen Deutsch. Statt »Teich« sagte sie »Teiß«. Aber gerade dadurch reizend klingend! Und nun auch diese liebliche Stimme — überhaupt dieses liebliche Kind!
»Mädel, woher kannst Du denn deutsch?«
»What do you say?«
Nein, sie konnte sonst kein Deutsch.
»Wer hat Dich dieses Lied gelehrt?«
»Mein Vater.«
»Der große Geist?«
»Das ist mein Vater in den ewigen Jagdgründen.«
»Du hast auch noch einen Vater hier auf der Erde?«, fragte ich vorsichtig, um ja kein Gefühl zu verletzen.
»Na gewiss doch!«, lachte sie aber ganz unbefangen.
»Und wer ist das?«
»Das ist auch ein Ewiger, aber noch nicht in den Jagdgründen.«
Ich starrte das schöne Mädchen an. Jetzt mit einem Male fiel mir die Ähnlichkeit ganz deutlich auf.
»Doch nicht der Ewige? Der Don Christoffero?«
»Du sagst es. Er ist mein Vater.«
Alle Wetter und Hochachtung!! Das heißt nämlich vor dem jetzt achtzigjährigen Greis! Und da gab es bei dieser Ähnlichkeit nicht etwa einen Irrtum! Wie aus den Augen geschnitten. Nur natürlich ins Weibliche übertragen.
Sie hatte mein starres Ansehen missverstanden, zeigte aber gerade dadurch ein sehr feines Verständnis.
»Ich bin eine Choktaw wie jede andere!«, sagte sie schnell, mir die Hand auf die Schulter legend, »Ich weiß, dass mein Vater ein reicher, mächtiger Mann ist, dass ihm dieses ganze Tal gehört, aber ich bin nur ein Indianermädchen, ich habe sonst keinen anderen Vorzug, als dass mich Manitu geheiligt hat, sodass ich nicht zu arbeiten brauche und mir den Mann selbst auswählen kann, in dessen Wigwam ich folgen will.«
Für mich wäre diese Erklärung gar nicht nötig gewesen, aber nett fand ich es doch, verstand es zu würdigen.
»Also ›Libelle‹ heißt Du?«
»Libelle. Ich bin frei wie eine Libelle. Die anderen Mädchen müssen des Abends im Wigwam der Mutter sein, ich aber habe keine solche Heimat, ich bin in jedem Wigwam und in jeder Blockhütte und an jedem Lagerfeuer zu Hause. Das ist sehr schön, nicht wahr? Ach, aber es ist manchmal auch sehr langweilig.«
Sie machte ein betrübtes Gesicht, was ihr aber ganz komisch stand.
»Aus dem Fellegerben mache ich mir ja nichts, aber wenn andere Mädchen schöne Sachen sticken, muss ich zusehen.«
»Du darfst keine Nadel in die Hand nehmen?«
»Niemals. Ich bin manitotuba.«
»Aber Du hast Dir doch dieses Kleid gemacht!«
»Ich?!«, rief sie mit komischem Schreck. »O nein! Das hat mir Manitu gemacht.«
Ich verstand sofort. Nur öffentlich durfte sie nicht arbeiten, ihr Heiligenschein musste gewahrt werden. Was sie für sich ungesehen fertigte, das, hieß es, habe der große Geist gemacht.
»Was hast Du denn da?«
Sie rutschte nach meinen Füßen und betrachtete diese aufmerksam.
Ja, in gewissem Sinne war das ja auch ganz interessant, was sie da erblickte. Noch ziemlich neue Stiefel, aus denen aber die großen Zehen hervorguckten, so weit sie hervorsehen konnten.
Man musste ja in diesem Reviere bei jeder Gelegenheit ins Wasser. Darauf waren meine Halbstiefel nicht geeicht, ich hatte sie auch lange nicht geschmiert. Wenn sie nass waren, dehnte sich das Leder aus, beim Trocknen schrumpelte es zusammen, und da sie immer mehr zusammenschrumpelten als sich ausdehnten, so waren mir die Futterale zu eng geworden, ich hatte den großen Zehen durch Messerschnitte genügend Freiheit verschafft.
»Soll Dir Manitu ein Paar neue Mokassins machen?«, fragte sie mit schalkhaftem Blick nach mir.
»O ja, wenn der große Gott schustern kann!«, lachte ich.
»Du glaubst wohl nicht, dass ich sticken kann?!«, fiel das Kind jetzt aus der Rolle. »O, ich kann schön sticken, wunderschön. — Ach, ich habe so ein großes, großes Geheimnis!«
Wie in kläglicher Verzweiflung, was aber immer etwas Urkomisches an sich hatte, hatte sie das letzte noch hinzugesetzt. Auch ihr Kopf musste immer Sprünge machen.
Also jetzt fing die auch schon mit Geheimnissen an! Aber bei der war das etwas ganz anderes, das wusste ich sofort, da konnte ich ruhig darauf eingehen.
»Ein Geheimnis hast Du?«
Sie kam wieder näher gerutscht, immer in kauernder Stellung.
»Furcht-, furcht-, furchtbar sehr große Geheimnisse!«, flüsterte sie mir bereits mit heißem Atem ins Ohr.
»Gleich mehrere Geheimnisse?«, musste ich immer wieder lachen.
»Furcht-, furcht-, furchtbar sehr viele Geheimnisse. Ist das nicht schön, wenn man Geheimnisse har?«
»Ja, das ist sehr schön.«
»Aber man muss sie nicht allein wissen.«
»Weshalb nicht?«
»Sonst macht's keinen Spaß!«, lautete die einfache und so treffliche Antwort.
Natürlich — die alte Geschichte vom geteilten Leide und geteilter Freude — und das gilt vor allen Dingen von Geheimnissen. Denn Geheimnisse sind für die meisten Menschen doch nur dazu da, um verraten zu werden.
Aber das brauchte ich der natürlich nicht zu sagen.
»Willst Du's wissen?«
»Ja.«
»Aber Du darfst nichts verraten!«, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger und hochgezogenen Augenbrauen.
Ein Glück nur, dass sie mein fortwährendes Lachen nicht übel nahm, es ganz selbstverständlich fand. So anhaltend hatte ich selten und lange, lange nicht mehr gelacht. Es war ein gar zu drolliges Kind, diese derbe Jungfrau, in jedem Worte und in jeder Bewegung, was man ja leider nicht wiedergeben kann.
»Aber Du darfst nichts verraten!«
»I Gott bewahre!«
»Weißt Du, wer mein Großvater ist?«
»Lookout.«
»Weißt Du, was der macht?«
»Nichts weiter, als dass er hier herumkriecht und alles auskundschaftet.«
»Du sagst es. Kein anderer kennt dieses Tal und alle seine Geheimnisse so gut wie mein Großvater Lookout. Nur mein Vater, der Ewige, kennt das ganze Tal noch besser.«
»Dein himmlischer Vater Manitu in den ewigen Jagdgefilden?«, fragte ich scherzhaft, was nicht ganz recht von mir war.
»Mein Vater Christoph. Der kennt das ganze Tal noch viel, viel besser als Lookout, der kennt alle Geheimnisse, alle, alle. Und Vater Christoph hat sie mir alle gezeigt, ich weiß sie auch wiederzufinden. Also —?«
»Kennst Du mehr Geheimnisse als Dein Großvater Lookout?«
»Richtig!«, wurde mein Scharfsinn belobt. »Ich aber habe Geheimnisse gefunden, von denen sogar Vater Christoph noch nichts weiß.«
»Wirklich?«
»Ich weiß es bestimmt.«
»Und Du zeigst sie ihm nicht?«
»Niemandem! Es ist so schön, seine eigenen Geheimnisse zu haben. Dir aber will ich sie zeigen.«
Das war unlogisch, aber begreiflich.
»Was gibst Du mir, wenn ich Dir diese Geheimnisse zeige?«
Jetzt fing die auch noch an zu handeln!
»Was Du verlangst.«
Sie schaute mich mit recht großen und merkwürdigen Augen an, was ich aber nicht weiter beachtete.
»Du gibst mir wirklich alles, was ich von Dir fordere?«
»Alles, was ich geben kann.«
»Natürlich, mehr als was Du hast, kannst Du mir nicht geben. Und das willst Du mir geben?«
»Sicher!«
»Gut, ich nehme Dich beim Wort. Kannst Du schreiben?«
»Ja.«
»Auch lesen?«, wurde recht zweifelnd gefragt.
»Sogar lesen!«, musste ich immer wieder lachen, denn es kam alles gar zu drollig hervor. »Das heißt — in welcher Sprache meinst Du?«
»Englisch.«
»Kann ich lesen und schreiben.«
»Welche Zeit ist es jetzt?«
Ich zog meine Taschenuhr.
»Ganz genau sechs Minuten vor neun.«
»Falsch«, sagte sie, nach den Schatten der Bäume um sich blickend, »es ist ganz genau zwei Minuten vor neun.«
Ich hatte meine Uhr in der Hauptstadt Mexiko gestellt, und wenn sie, wie es ja aus der Berechnung des Schattens nicht anders sein konnte, für dieses Tal die Ortszeit angab, so mochte das stimmen.
Wie sie es fertig brachte, ohne Uhr so genau die Zeit zu bestimmen, darüber wunderte ich mich nicht besonders. Wer immer im Freien an ein und demselben Orte weilt, die Bewegungen der Schatten beobachtet, der kann, wenn er überhaupt Sinn für so etwas hat, die Uhrzeit schließlich immer bis zur Minute bestimmen. Freilich musste diese Indianerin vorher auch eine richtig gehende Uhr gehabt haben, um ihre Beobachtungen zu kontrollieren.
»Geht Deine Uhr richtig, wenn Du sie stellst?«
»Viele Wochen lang bis auf die Minute.«
»So stelle sie jetzt auf eine Minute vor neun.«
Ich tat es.
»Hast Du heute früh schon gegessen?«
»Nein, ich habe ganz mächtigen Hunger, ich dachte gerade daran, als Du kamst, mir von einer Präservestation etwas zu holen und —«
»Tue es nicht! Wenn Du meine Geheimnisse schauen willst, so musst Du ganz nüchtern sein.«
»Das ist sehr schade, ich habe wirklich tüchtigen Hunger.«
»Es muss sein! Nicht wahr, Du wirst vorher nichts essen?«
»Hoffentlich dauert es nicht lange, bis Du mir dasjenige Geheimnis zeigst, für das ich hungern muss!«, lachte ich.
»Gar nicht lange. Weißt Du, wo Du hier bist?«
»Auf der Nase des Menschenkopfes.«
»Wo da? Wie heißt hier diese Lichtung?«
»So genau bin ich allerdings noch nicht orientiert.«
»Weißt Du, wo das Horn ist?«
»Nein.«
»Dort.«
Sie deutete nach Osten, wo in der Ferne die himmelhohen Felswände zu erblicken waren. Ich zog meine Karte hervor.
»Ah, Du hast so eine Karte? Dann ist es ja ganz einfach. Sieh, hier ist das Horn.«
Es war das Vorgebirge, welches die nördliche Grenze des gesperrten Gebietes Nummer sieben bildete, wo in meinem Kärtchen nur eine 18 eingetragen war, einen Aufzug bezeichnend.
»Dieser ganze Vorsprung heißt die Zunge, ganz vorn ist das Horn. Oben darauf ist ein kleiner Felsenkegel — die Hornspitze. Wo in einer Stunde, und zwar Punkt zehn, der Schatten dieser scharfen Hornspitze hinfällt, die äußerste Schattenspitze, da grabe nach, da wirst Du etwas finden, worüber Du furcht-, furcht-, furchtbar sehr staunen wirst.«
»Und wo ist das ungefähr?«, lächelte ich. »Hier noch auf dem Menschenkopf?«
»O nein, so weit reicht der Schatten dann nicht mehr. Dann liegt der Schatten auf der Eierinsel. Kennst Du die? Nein, das kann ich von Dir nicht verlangen. Zwischen dem Menschenkopf und der Zunge. Du wirst sie finden, Du brauchst ja erst nur ungefähr den Schatten zu berechnen. Nicht wahr, Du wirst sie finden?«
»Ich werde sie finden. Aber ich habe keinen Spaten —«
»Dein Jagdmesser genügt, schon Deine Hand.«
Ich blickte immer noch nach den Felsen, mir ungefähr berechnend, wohin dann der Schatten fallen würde.
Die Indianerin verlangte da gar nichts so Einfaches. Nur für sie selbst war es ganz einfach, weil sie sich mit solchen Schattenbestimmungen immer abgab.
»Ich kann doch immer mein Kanu benutzen?«
Als ich keine Antwort bekam, blickte ich mich um, sie war spurlos verschwunden.
Ich machte mich gleich auf den Weg. Es war mir ganz angenehm, dass meine Träumereien solch eine Unterbrechung gefunden hatten, denn ich hatte in letzter Zeit schon manchmal trübe geahnt, dass diese Träumereien doch einmal ein Ende nehmen müssten. Himmlisches Glück kann auf dieser Erde doch nicht ewig währen. Und schon dieser Gedanke griff störend ein.
So war also diese Unterbrechung gerade rechtzeitig gekommen. Ich bekam etwas zu tun. Und nun überhaupt dieses liebreizende Kind! Lieber freilich hätte ich ja mit ihm weiter geplaudert. Nun, ich würde Libelle ja bald wiedersehen! Wie ich mich darauf freute!
Dabei aber muss ich betonen — ganz besonders betonen — dass ich mich auf einen rein väterlichen Standpunkt stellte! Ich war nun schon 32 Jahre alt, und die Indianerin schätzte ich nach meinen Erfahrungen, die ich in der exotischen Weiblichkeit gesammelt hatte, auf höchstens 14, hatte mich auch nur um ein Jahr geirrt.
Ich durchquerte den ganzen Menschenkopf auf Kanälen, brauchte ja nur immer die Richtung einzuhalten, Kanäle zweigten allüberall ab, blind endende Gewässer gab es gar nicht. Dann wurden die Kanäle immer breiter, es gab mehr Wasser als Land, wonach ich konstatierte, dass ich den Menschenkopf, der als kompakte Insel betrachtet wurde, hinter mir hatte und jetzt zwischen eine Inselgruppe kam.
Hätte ich sie zu taufen gehabt, so würde ich sie Schilfinseln genannt haben, denn die meist sandigen Inseln waren an den Rändern mit mannshohem Schilf bestanden, in dem es von Wasservögeln aller Art wimmelte. Aber den Namen der Schilfinseln führte schon eine andere Gruppe, oben im Nordosten des Tales. Dort mochte es also wohl noch viel schilfiger aussehen.
Wie ich schon sagte, hatte mir die Indianerin da mit dem Aufsuchen einer Schattenspitze eine ganz komplizierte Aufgabe gestellt. Von tausend Menschen hätte sie nicht einer lösen können. Er wäre mindestens zu spät gekommen. Für diese Indianerin mochte das so einfach sein wie einem Mathematikprofessor die Differentialrechnung, aber die darf er doch nicht von jedem Kinde verlangen.
Es war der reine Zufall, dass die Indianerin in mir gerade den Richtigen gefunden hatte. Ich war Seemann, der von der höheren Astronomie doch auch etwas wissen muss, und ich war nicht bei den Anfangsgründen stehen geblieben.
Also es machte mir gerade Spaß, jetzt meine Kenntnisse zu verwerten. Wenn mich nur nicht so ein infamer Hunger geplagt hätte. Ich kam an einer Präservestation vorüber, an der ein abgehäutetes Hirschkalb lag, es hatte die Zunge weit heraushängen, kein schöner Anblick — aber ich hätte doch so gern diese Zunge ausgeschnitten und mir schnell geröstet. War denn das Geheimnis wirklich so heilig, dass man sich ihm nur mit knurrendem Magen nähern durfte? Sollte das Knurren nicht vielmehr stören?
Nun, ich wollte über solche Schwäche erhaben sein und war es. Ich war doch auch wirklich gespannt, was ich da ausgraben würde. Das hat doch mit Neugier nichts zu tun, oder ich wäre ja gar kein Mensch, sondern ein stumpfsinniges Tier gewesen.
Es war ungefähr zehn Minuten vor zehn, als ich das Inselchen betrat, auf dem nach meiner Berechnung der Schatten dort jener Felsenspitze, die sich scharf vom blauen Himmel abzeichnete, liegen musste. Vorher zu erkennen war das ja nicht, dazu war das Schilf zu hoch.
Auch dieses Inselchen war von solchem eingefasst, in der Mitte eine sandige Fläche. Und da war richtig der nadelspitze Schatten jenes Felsenkegels!
Die zehn Minuten vergingen. Die Schattenspitze war bedeutend nach Nordwesten gerutscht, ganz vorschriftsmäßig, wie ich schon berechnet hatte.
Als meine Uhr Punkt zehn zeigte, begann ich auf dieser Schattenspitze zu schaufeln, mit den Händen, es war feiner Sand.
Nur wenige Hände voll brauchte ich zu entfernen, so fühlte ich etwas Hartes, zog eine schwarze Büchse hervor, ungefähr wie ein Zweilitertopf. Sie sah recht modern aus, hatte so einen ganz modernen Verschluss, der Deckel war mit Schrauben luftdicht festzuziehen.
Ich wischte das Ding ab, schraubte auf. Wie der Deckel aufging, war ich äußerst erschrocken. Sollte ich auch nicht! Manch anderer hätte die Büchse vor Schreck gleich fallen lassen, denn der Deckel hatte sich zuletzt mit einem starken Ruck von selbst abgehoben, und ein siedend heißer Qualm stieg empor.
Zugleich aber auch ein köstlicher Bratenduft. Der Kessel war zur Hälfte mit einem Wildragout gefüllt, mit dem zugleich Kartoffeln gekocht waren.
Zunächst musste ich einmal herzlich lachen. Das also war das furcht-, furcht-, furchtbar sehr große Geheimnis! Denn dass ich hier noch etwas anderes vergraben finden würde, danach zu suchen gab ich mir gar nicht erst die Mühe. So scharfsinnig war ich, um alles zu begreifen. Die hatte mir nicht umsonst befohlen, vorher nichts zu essen — die hatte nicht umsonst solch schalkhafte Augen. Sie hatte dieses Gericht aus einer Ansiedlung geholt oder es vielmehr höchstwahrscheinlich in aller Schnelligkeit selbst gekocht, um mir ihre Kochkunst zu beweisen, Die Büchse war ein ganz modernes Thermaphorgefäß, das die Speisen viele Stunden lang siedend heiß erhält — oder eiskalt, je nachdem eingefüllt wird.
Das Wildragout mit den zusammengekochten Kartoffeln schmeckte furcht-, furcht-, furchtbar sehr schön. Und nicht nur, weil ich solch mächtigen Hunger hatte. Es war ein so ganz eigentümliches Gewürz dabei. Ich glaube — und später fand ich es bestätigt — es hätte den verwöhntesten Feinschmecker entzückt.
In dem Ragout fand ich einen einzigen Knochen, einen sehr großen. Aber es war gar kein Knochen, sondern nach dem Abwischen der roten Sauce erwies er sich als eine silberne Büchse, die nun wieder klein zu nennen war. Aber verschlucken hätte man sie unmöglich können.
Ihr Inhalt bestand aus einem wunderbar dünngeschabten Lederhäutchen, auf das linkisch, aber orthografisch richtig geschrieben war, wie mit Streichholz und Stiefelwichse:
Das hat Manitu gekocht. Ich darf nicht kochen. Wenn Du fertig bist, so vergrabe den Kessel wieder an derselben Stelle. Dieses Leder vernichte. Dann fahre
nach der Sägeinsel, die Du kennst. Auf dem äußersten Nordzipfel steht eine
einsame Eiche, nicht zu verkennen. Auf dem untersten Aste, der sich genau
nach Westen reckt, findest Du einen kleinen Biberschädel genagelt. Lasse durch
sein linkes Auge eine Schnur herab, bis sie den Boden berührt. Weiter findest
Du auf dem untersten Aste, der sich genau nach Süden reckt, einen Menschenschädel genagelt. Lasse aus seinem rechten Nasenloch eine Schnur herab, bis sie
den Boden berührt. Zwischen diesen beiden Schnurenden ziehst Du eine Linie,
teilst sie genau, dort in der Mitte grabe. Dort wirst Du ein furchtbar sehr entsetzliches Geheimnis finden.
Unterzeichnet war mit einem kräftigen Saucenfleck.
Na, mir ging schon eine Ahnung auf! Ich will aber nichts verraten.
Also ich löffelte den Kessel aus — zu meiner Ausrüstung, die mir Emil gegeben, gehörte ein Essbesteck —, vergrub ihn wieder, zerriss das dünne Leder, so groß wie ein Zeichenbogen, in kleine Fetzchen, verscharrte sie, machte mich auf die Weiterfahrt, fand die Sägeinsel, fand die einsame Eiche, fand den Biberkopf und den Menschenschädel, die hier einmal zu einer Erinnerung angenagelt worden sein mussten, denn lange hingen sie schon da, das konnte ich erkennen. Bindfaden hatte ich bei mir, erfüllte alle Vorschriften, grub in der Mitte der Verbindungslinie und brachte aus dem weichen Lehmboden eine Blechbüchse zum Vorschein, die eine kleine Torte enthielt, von den Engländern und Amerikanern Pie genannt, mit Orangenmarmelade gefüllt, noch halbwarm.
Das war das zweite »furchtbar sehr entsetzliche« Geheimnis. Meine Ahnung hatte sich bestätigt. Wenn ich auch nicht gerade an eine mit Orangenmarmelade gefüllte Pietorte gedacht hatte. Das furchtbar sehr entsetzliche Geheimnis, das ich hier ausgraben sollte, hätte zum Beispiel auch aus einem Paar Mokassins bestehen können.
»Komme doch, komme doch, kleiner Säker, komme doch, komme doch, ssspiel mit mir! «
So sang damals die Eva Becker, trotz ihres deutsch klingenden Namens eine echte Französin, die damals eine Gastreise durch Deutschland machte, und ganz Deutschland sang es mit, konnte plötzlich das »Sch« nicht mehr aussprechen.
Auch ich hatte schon immer diese Melodie vor mir hingesummt. »Komme doch, komme doch, spiel mit mir.« Denn etwas anderes war es doch nicht. Diese indianische Libelle wollte mit mir spielen.
So fand ich es auch ganz in der Ordnung, dass ich beim Verzehren der Pietorte, die übrigens ganz köstlich schmeckte, wieder auf einen Knochen biss, der sich wiederum als ein silbernes oder versilbertes oder vernickeltes Büchschen erwies, das wiederum auf einem ganz dünn geschabten Leder eine Mitteilung enthielt.
Das hat Manitu gebacken. Ich darf nicht backen. Wenn Du fertig bist, so vergrabe den Kessel wieder. Dieses Leder vernichte. Dann fahre nach dem Stiefel,
den Du doch kennst. Auf dem äußersten Südwestzipfel liegt ein einsamer Stein,
nicht zu verkennen. Grabe auf seiner Nordseite, Du wirst ein furchtbar sehr
schreckliches Geheimnis entdecken.
Ich mache es kurz, dies und alles Weitere. Auf dieser Insel, die wegen ihres Aussehens »der Stiefel« hieß, fand ich denn auch richtig ein Paar Stiefel, das heißt ein Paar wunderschön gestickte Mokassins, gerade für meinen ansehnlichen Fuß passend. Da sie diese doch nicht in solcher Schnelligkeit hergestellt haben konnte, musste sie Mokassins wohl schon in allen Größen fertig auf Lager liegen haben, sie arbeitete schon auf Vorrat. Doch nein —!
Von Manitu gestickt. Ich darf nicht sticken.
Dann wieder eine Schattenbestimmung, Punkt zwölf Uhr an der Bogeninsel an gewisser Stelle auszuführen, und diesmal bestand das furchtbar sehr schreckliche Geheimnis, das ich ausgrub, in einer gebratenen Gans.
Und diesmal war tatsächlich ein furchtbar sehr schreckliches Geheimnis dabei! Denn es war unverkennbar eine Wildgans, und sie war mit der knusprig gebratenen Haut bedeckt, ohne im Geringsten tranig oder fischig zu schmecken. Denn alle wilden Wasservögel, die sich von Fischen nähren, sind fast ungenießbar, wenn sie wie anderes Geflügel zubereitet, also nur gerupft werden. Aber man braucht sie nur abzubalgen, so ist nichts mehr von einem Trangeschmack zu merken, weil der allein in den Talgdrüsen der Haut steckt. Deshalb kann es ja aber ein Geheimnis der höheren Kochkunst geben, wie man diesen vermaledeiten Geschmack auch aus der Haut herausbringt. So wie man ab und zu einen alten Jäger findet, der einen Dachs sofort zuzubereiten versteht, also ohne ihn erst einige Tage in fließendes Wasser zu legen, der aber dieses sein Geheimnis um keinen Preis verrät.
Jedenfalls also wusste ich zu würdigen, wie sich diese junge Indianerin hier als geniale Kochkünstlerin legitimierte.
Und die Indianerin hinwiederum hatte auch mich genau zu taxieren verstanden, denn um 10 Uhr eine Portion Gulasch, für drei hungrige Menschen bestimmt, eine Stunde später einen Pie, den ich zwar als Törtchen bezeichnete, zu dessen Vertilgung aber ein tüchtiger Appetit gehört hatte, und jetzt um 12 Uhr eine ansehnliche Gans, deren letztes Knöchelchen ich rein abnagte — ja, diese Indianerin hatte mich ganz richtig taxiert.
Als ich aber wieder eine Stunde später auf der Kieferninsel ein Loch auswarf, bangte mir doch etwas. Ich war doch schließlich weder ein Eskimo noch ein Hottentotte, der auf einen Sitz einen ganzen —
Nein, diesmal war es ein prachtvoll gestickter Gürtel, mit dem mich Manitu beglückte.
Dann hatte ich wieder sechs Kilometer kräftig zu rudern, um ins kalte Loch zu kommen, wohin mich Manitus Befehl rief. Über dieses kalte Loch will ich vorläufig nichts weiter sagen, als dass es darin hundskalt war. Das Wasser hatte einen Grad über dem Gefrierpunkt. Und aus diesem Wasser fischte ich an bestimmter Stelle eine Eisbombe. Das heißt eine kugelförmige Büchse, die mit Eis gefüllt war, mit Speiseeis, oder doch so eine Art, Fürst Pückler nennt man das Zeug. Ich zog es mir wieder im warmen Sonnenschein zu Gemüte.
Und im Laufe der nächsten vier Stunden grub ich aus der Erde oder holte ich aus dem Wasser noch ein Beefsteak frisch von der Pfanne, eine wunderschön geschnitzte indianische Tabakspfeife, eine Kruke mit einem lieblich schmeckenden Getränk, das aber nicht zu Kopf stieg, ein prachtvolles Taschentuch, in das ich niemals meine Nase zu putzen gewagt hätte, eine Portion mit Honig gefüllter Zwiebeln, die ich gehorsam verschluckte, dann bedauernd, dass es nicht mehr waren, und hierauf einen herrlich gestickten Tabaksbeutel.
»Komme doch, komme doch, kleiner Säker, komme doch, komme doch, ssspiel mit mir.«
Ich langer Schlagetot muss gestehen, dass ich diese Spielerei durchaus nicht langweilig fand. Es hätte noch einige Tage so weiter gehen können, ich würde es schwerlich überdrüssig bekommen haben. Sollte man das nicht auch interessant finden? Immer eine neue Bestimmung, immer recht geheimnisvoll, man weiß wohl, dass man irgend etwas ausgraben oder auffischen wird, ahnt aber doch nicht, was es diesmal sein wird. Jedenfalls immer etwas höchst Überraschendes.
Und die Indianerin wusste es auch immer so hübsch einzurichten, dass es gerade etwas Essbares war, wenn ich wieder Appetit hatte.
Ob sie mich nicht vielleicht auch heimlich beobachtete? Ich war überzeugt davon. Einmal glaubte ich ein Kichern gehört zu haben, hatte mich aber vergebens umgesehen.
Die letzte Bestimmung rief mich für um sechs Uhr nach der Felseninsel, die ich zum ersten Male betrat. Ich will sie nicht beschreiben, es geht auch gar nicht. Die bizarrste Alpenszenerie, auf einer Insel von sechs Kilometer Durchmesser zusammengedrängt.
Diesmal sollte ich einen Baum erklettern, der ganz genau bezeichnet war. Ich fand ihn und erklomm ihn ohne Schwierigkeit, da seine Äste bis zum Boden herabgingen. Was es für ein Baum war, weiß ich nicht, eine Art Akazie und doch wieder etwas ganz anderes, habe auch nur den einheimischen Namen erfahren. Trakatl.
Jedenfalls aber wusste niemand in dem ganzen Tale, dass dieser nur dreiviertel Meter im Durchmesser haltende Baumstamm hohl war, nur noch aus Rinde bestand, obgleich er noch lustig grünte.
Ich selbst merkte es erst, als ich das Ende des wie abgesägten Stammes erreicht hatte und in eine Öffnung hineinblickte, eine hinabführende Strickleiter sah, an der wieder ein beschriebenes Leder befestigt war.
Steige hinab, hänge Dir die Feuerkugel um und wickele die Schnur auf.
Feuerkugel? Nun, nur erst einmal hinab! Nachträglich bemerke ich — mit solchen Nebensachen habe ich mich eben gar nicht aufgehalten — dass ich mein Kanu erst hatte verstecken müssen, und da ich keinen gestürzten hohlen Baumstamm gesehen, hatte ich es zwischen Schilf hineingefahren.
Ich stieg an der Strickleiter hinab, bekam bald festen Boden unter die Füße. Und da sah ich auch schon etwas liegen, etwas Rundes, von der Größe einer mittleren Kegelkugel, von der ein phosphoreszierender Schein ausging, sehr hell, aber sich nicht weit verbreitend, gerade genügend, um in dichter Nähe eine gewöhnliche Druckschrift lesen zu können.
Ich will gleich kurz sagen, worum es sich hierbei handelt.
Die moderne Technik hat bekanntlich Farben erfunden, die im Dunklen leuchten. Das Rezept für eine violettleuchtende ist zum Beispiel folgendes: 20 Gewichtsteile gebrannter Kalk, 6 Teile Schwefel, 2 Stärke, 0,5 schwefelsaures Kali und 0,5 schwefelsaures Natrium werden mit ein wenig Wismutnitrat gemengt, unter Hinzufügung von etwas Spiritus, nur zum Anfeuchten, und zwei Stunden lang intensiv geglüht, am besten im Gebläsefeuer. Die Masse wird dann zerpulvert, mit Wasser angerührt und ist zum Gebrauche fertig.
Weshalb sie im Finstern leuchtet, und zwar ganz intensiv, wissen wir nicht. Die frühere Theorie, dass sie am Tage Lichtstrahlen einfängt, die sie dann wieder ausstrahlt, hat sich als falsch erwiesen. Wohl verliert diese Substanz nach und nach ihre Leuchtkraft, wohl beginnt sie wieder zu leuchten, wenn man sie einige Zeit den Sonnenstrahlen aussetzt, aber dasselbe ist der Fall, wenn man sie wieder erhitzt, was aber unter Luftabschluss geschehen kann, sodass sie gar nicht glühend zu werden braucht.
Diese Strahlung ist jedenfalls das Resultat eines chemischen Vorganges und für uns noch ein ungelöstes Rätsel.
Das ist eine ganz moderne Erfindung unserer Technik und Chemie. Die alten Mexikaner aber haben solch einen Leuchtstoff schon immer gekannt. Und die Indianer Nordamerikas, die an der Westküste wohnen oder gewohnt haben, wissen ihn noch heute herzustellen, indem sie Austernschalen brennen, die gepulverte Masse mit Schwefel zusammenschmelzen. Das gibt eine weißleuchtende Masse, allerdings nicht so intensiv leuchtend wie die nach jenem Rezept hergestellte.
Austernschalen bestehen aus nichts weiter als aus kohlensaurem Kalk. Nimmt man aber gewöhnlichen kohlensauren Kalk, wie etwa Kreide, und schmilzt ihn mit Schwefel zusammen, so geht die Geschichte nicht. Es muss unbedingt frischer Muschelkalk sein, das heißt Muschelschale. Woran das liegt, wissen wir nicht.
Hierbei sei auch erwähnt, dass die Japaner von alters her jene Lichtstrahlen gekannt haben, die für uns von Professor Röntgen entdeckt worden sind. Wenn man eine Glasbirne mit Leuchtkäfern füllt, so kann man bei genügender Größe den menschlichen Körper durchleuchten, dass man jeden Knochen erkennt, Holzplatten und alles andere, was die X-Strahlen eben durchlässt.
Der Mensch kann eben gar nichts »entdecken«, was die Natur nicht schon offenkundig in Betrieb hätte. Und immer gibt es auch einige Menschen, die solche »Geheimnisse« kennen, sie benutzen, ohne zu wissen, was sie da für ein »Geheimnis« besitzen. Mit den sogenannten X-Strahlen, deren Entdeckung in der gelehrten und in der ganzen Kulturwelt die kolossalste Erregung hervorriefen, haben die japanischen Kinder schon seit uralten Zeiten gespielt —
Ich wusste zufällig, wie die Indianer an der Westküste noch heute solch eine Leuchtfarbe herstellen, wunderte mich also nicht weiter über die Leuchtkugel.
Sie war sehr leicht, jedenfalls eine hohle Holzkugel, wahrscheinlich eine besonders runde, junge Kokosnuss, mit der Leuchtmasse bestrichen.
Eine Schnur war daran befestigt, ich hing sie mir um den Hals.
In diesem genügenden Lichte sah ich ferner zu meinen Füßen ein kleines weißes Holzkreuz liegen, einen Garnwickler, will ich gleich sagen, und an diesem war denn auch ein roter Faden befestigt, den ich also aufwickeln sollte. Ich tat es und wickelte mich so selbst den Gang entlang. in dem ich trotz meiner Länge bequem aufrecht stehen, in dem sich aber kaum zwei Menschen ausweichen konnten.
Da die Schenkel des Kreuzes ziemlich lang waren, ging die Wickelei schnell vonstatten. Nach etwa dreißig Metern kam eine nach oben führende Treppe, ich erstieg die Steinstufen, wieder durch einen waagerechten Tunnel, wieder eine nach oben führende Treppe, wieder ein Gang, und dann schimmerte mir Licht entgegen.
Ehe ich dieses noch erreicht hatte, tauchte aus einer Nebengrotte schon die Indianerin auf, jetzt nicht mehr in dem knallroten Kleide, sondern in einem bunt und zierlich gestickten Lederkostüm, sie trug auch Leggins und Mokassins.
»Nicht böse sein!«, war ihr erstes Wort, in entsprechender Haltung demütig hervorgebracht, die Hände über der Brust gefaltet.
»Weshalb soll ich denn böse sein, Kind?«, lachte ich. »Weil Du mir immer solche freudige Überraschungen bereitet hast?«
»Sie haben Dich wirklich erfreut?«
»Sehr, sehr!«
»Dann bin ich glücklich! Und ich bin manchmal so unglücklich, weil niemand im Tale mit mir spielen, nicht einmal sprechen will, weil ich manitotuba bin. Nun will ich Dir aber wirklich ein großes Geheimnis zeigen, mein eigenes, denn nicht einmal Vater Christoph weiß etwas davon, und ich habe noch eine ganze Menge solcher Verstecke.«
Sie führte mich in eine Felsenkammer, und da bekam ich wirklich Überraschendes zu sehen.
Es war ein mit Pelzen, Felsen, Decken und Moos lauschig ausgestatteter Raum. Ja gerade kein Salon, aber es gibt doch auch lauschige Blockhüttenboudoirs, und ich bin gerade derjenige, der für so etwas Verständnis hat.
Die Hauptsache aber war, dass es im Gegensatz zu der feuchten, ganz empfindlichen Kühle, die in den Gängen geherrscht hatte, hier ganz behaglich warm war, was ein Feuer machte, das in der Mitte des Raumes am Boden brannte.
Dieses Feuer machte mich sofort stutzig. Es war kein hellbrennendes Feuer, sondern ein Haufen rotglühender Kohlen, die dort auf dem nackten Steinboden lagen, nur wenige weiße Flammenstrahlen zuckten daraus hervor.
Kohlen — was heißt Kohlen? Steinkohlen oder Holzkohlen waren es nicht. Die brennen ganz anders. Außerdem kann man nicht einmal die besten Holzkohlen in einem solch geschlossenen Raume wie diesem verbrennen, ohne dass sie den geringsten Geruch von sich geben.
»Was sind denn das für Kohlen? Asbestknochen?«
Ich hatte es gleich erraten. Die Erklärung, die mir Libelle gab, gebe ich hier viel kürzer wieder.
Asbest ist bekanntlich eine Gesteinsart, die eine eigentümlich faserige Beschaffenheit hat, man kann sie sogar verspinnen, unverbrennliche Gewebe daraus herstellen. Durch andere Behandlung werden daraus feste Stü-cke gefertigt, welche die faserige Struktur verloren haben und dazu dienen, um in Gas- oder elektrischen Öfen durch Erglühen eine größere Hitze ausstrahlende Fläche zu erzeugen. Da diese Stücke meist wie Knochen geformt sind, nennt man sie einfach Asbestknochen.
In dieser Höhle, schon beträchtlich tief im Felsen gelegen, entströmte, wie noch an manch anderen Orten dieses Tales, dem Boden ein Kohlenwasserstoffgas, das sich an der atmosphärischen Luft von selbst entzündete, also ohne zu brennen überhaupt gar nicht ausströmen konnte. Am Bekanntesten ist das Vorkommen von solchen »ewigen Feuern« am Kaspischen Meere, wo sie einst heilig gehalten wurden, aber auch jetzt noch zum Teil das Ziel von Wallfahrten bilden, wenn es dort jetzt auch nicht mehr die Sekte der heidnischen Feueranbeter gibt. Woher es kommt, dass diese Gasart sich an der Luft sofort von selbst entzündet, darauf wollen wir uns hier nicht weiter einlassen. Erinnert sei nur daran, dass sich auch unser gewöhnliches Kohlengas von selbst entzündet, wenn es auf Platinschwamm trifft, was nur daher kommt, weil sich auf diesem Platinschwamm der Sauerstoff der Luft ganz besonders verdichtet.
Als Libelle vor schon geraumer Zeit diese Höhle entdeckt hatte, war hier eine Flamme aus einem kleinen Loche des Bodens säulenartig emporgeschlagen, in einen an der Drecke befindlichen Schacht hinein.
Durch vorsichtiges Fragen hatte sie erfahren, dass selbst ihrem Vater Christoph von dieser Feuergrotte noch nichts bekannt war. So beschloss sie, dieses Geheimnis einmal für sich zu behalten, sich hier häuslich einzurichten. Es ist ja so schön, ein Geheimnis zu haben, von dem »niemand nichts weiß«.
Mit solch einer geraden Feuersäule, die mit Macht emporschlägt, lässt sich nicht viel anfangen. Wenn man einen Topf darüber setzt, so ist es nicht anders, als wenn man einen Tiegel über eine Wasserfontäne hält, nur viel gefährlicher. Die Flammen spritzen nach allen Seiten.
Libelle wusste sich zu helfen. Im Palaste ihres Vaters gab es elektrische Öfen mit Asbestknochen, solche verschaffte sie sich, legte sie über dieses Gasloch, schützte sie durch ein Asbestgitter vor dem Hineinfallen, und statt der weißen Flammensäule hatte sie ein behagliches, rotglühendes Herdfeuer.
So erklärte sie mir plaudernd, während sie für mich schon das schönste Biberfell und noch extra ein Kissen zurechtgelegt hatte.
»Soll ich Dir Tee kochen? Oder Kaffee? Oder Schokolade? Was soll ich Dir sonst kochen oder braten oder backen? Ich habe alles, alles da. Ich koche so gern und ich weiß ja nicht, für wen ich kochen soll.«
»Dann möchte ich einmal Kaffee trinken. Also Du hast Dich hier ganz häuslich eingerichtet?«
»Ich habe alles, alles da, alles ganz heimlich hereingeschafft.«
»Kannst Du nicht einmal dabei beobachtet werden, wenn Du Dich hierher zurückziehst?«
»Nein. Du hast doch gesehen, wie versteckt der hohle Baumstamm steht, von dichtem Gebüsch umgeben. Natürlich muss ich vorsichtig sein, mich erst überzeugen, dass niemand in der Nähe ist.«
»Aber diese Jäger sind doch so geübt im Verfolgen der Spuren. Sie können Dir doch einmal nachspionieren?«
»Das dürfen Sie nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Weißt Du noch nicht, dass es streng verboten ist, in diesem Tale die Spur irgend eines Menschen zu verfolgen?«
Nein, davon hatte mir Emil nichts gesagt, das war mir neu. Also wiederum ein Verbot, eine Freiheitsbeschränkung! Aber das war ein Verbot, das mir wieder höchst imponierte.
»Hier soll jeder frei sein, so weit jemand nur irgendwie frei sein kann!«, setzte Libelle noch hinzu. »Wenn der Ewige erfährt, dass jemand die Spur eines anderen mit den Knöcheln abmisst oder auch nur schief betrachtet — beim zweiten Male muss er sofort das Tal verlassen. Nichts hasst mein Vater so sehr wie das Nachspionieren.«
»Das gefällt mir, so würde auch ich es halten. Wenn nun aber jemand doch einmal zufällig hier Dein Versteck findet?«
»Nun, was ist da weiter dabei? Nur mein Geheimnis wäre dann verraten. Wohnen könnte ich deshalb hier bleiben, und jetzt dürfte mich erst recht niemand stören. Es sei denn, es braucht jemand etwas, was er hier zu finden glaubt. Diese hier geltenden Bedingungen kennst Du doch?«
»Ja, die kenne ich.«
»Aber das gilt nicht einmal für mich, denn ich bin manitotuba, und ebenso alles, was ich besitze.«
»Auch Dein Vater würde nichts sagen, wenn er es erfährt?«
»Was sollte er sagen?«
»Weil Du ihm die Kenntnis dieser Feuerhöhle vorenthalten hast.«
»Wenn man eine neue Entdeckung gemacht hat, so braucht man sie ihm gar nicht mitzuteilen, schon deshalb nicht, weil der Ewige glaubt, dass es gar nichts gibt, was er nicht kennte. Und ich habe doch noch so viele solcher Verstecke, hihihi, ach so viele!«
So plauderte und kicherte sie vergnügt, während sie um das Feuer einige Steine aufgebaut und einen Kessel mit Wasser aufgesetzt hatte.
»Soll ich Dir einen Eierkuchen backen? Ich habe auch Eier hier, ganz frische, und Milch, und alles, alles, was man nur braucht. Und ich backe so gern! Aber ich weiß ja nicht, für wen ich backen und kochen und sticken soll.«
Nicht oft genug konnte sie dies wiederholen, und kam das stets so melancholisch heraus, was aber nur einen drolligen Eindruck machte.
»Ja, soll ich Dir einen Eierkuchen backen? Soll ich?«
»Nein, ich muss wirklich danken, Du hast mich heute den ganzen Tag schon zu gut und reichlich gefüttert!«, lachte ich. »Eine Stunde wenigstens musst Du mir noch Zeit lassen.«
»Also es hat Dir wirklich geschmeckt?«
»Ganz ausgezeichnet. Wo bekommst Du das Wasser her? Das musst Du auch hier herein tragen?«
»Nein, dort in einer Nebenhöhle entspringt eine Quelle, und das ist eben das Schöne hier in diesem heimlichen Versteck. In den anderen habe ich es nicht so bequem.«
»Also noch andere solche heimliche Behausungen hast Du?«
»Ach, noch eine schreckliche Masse! Und niemand hat eine Ahnung davon.«
»Und da wohnst Du auch drin?«
»Wenigstens schlafe ich drin, jede Nacht in einer anderen.«
»Das fällt nicht auf?«
»Wieso?«
»Wirst Du denn nicht in der Nacht vermisst?«
»Ich sagte Dir doch schon, dass ich, weil ich manitotuba bin, keine Heimat habe. Das heißt, ich brauche nicht bei meinen Eltern zu wohnen, nicht in einem mir zugewiesenen Wigwam. Überall, wo ich eintrete, da bin ich zu Hause.«
»Aber das muss doch auffallen, wenn Du nirgendwo in der Nacht bleibst, darüber wird doch gesprochen.«
»Nein, es darf eben nicht darüber gesprochen werden«, kicherte sie, »das ist es ja eben! Wenn die Manitotuba in einem Wigwam oder in einer Blockhütte einkehrt oder sich an einem nächtlichen Lagerfeuer zum Schlafen niederlässt, dann ist das eine so hohe Ehre für den Betreffenden, etwas so Heiliges, dass darüber mit keinem Worte gesprochen werden darf. Verstehst Du denn nicht?«
Ja, nun verstand ich erst richtig, was das für ein kleines Teufelchen war, was die für einen Schalk hinter den Ohren sitzen hatte!
»Und da machen auch alle anderen mit, auch die weißen Jäger?«
»Alle, alle. Die haben sich schon ganz die Sitten der Choktaws angeeignet, oder sie müssen doch mitmachen, und bei jedem würde sich die heilige Manitotuba doch auch nicht zu Gaste laden. Aber das Nachspionieren ist ja überhaupt strengstens verboten.«
»Aber eigentlich müsstest Du doch jede Nacht in einem Wigwam oder doch an einem Lagerfeuer verbringen.«
»Eigentlich ja. Im Schutze eines Mannes. So fordert es streng das Gesetz der Choktaws für die heilige Manitotuba.«
»Wenn es aber nun doch einmal herauskommt, dass Du immer jede Nacht für Dich verbringst?«
»Na, was wäre denn da weiter dabei?«, kicherte sie. »Schließlich hat doch nur überhaupt der Ewige hier etwas zu sagen.«
»Und Dein Vater würde Dir nicht zürnen?«
»I wo, freuen würde er sich, dass ich die anderen so genasführt habe! Der hat doch auch lauter solche Geheimnisse, mit denen er die anderen nasführt.«
Ich dachte an die gesperrten Reviere, aber schlug mir diesen Gedanken gleich aus dem Kopf.
Sie hatte sich dicht an meiner Seite niedergekauert, mich immer lächelnd anblickend.
»Ist es nicht schön, solche Geheimnisse zu haben, von denen niemand anders auch nur etwas ahnt?«
»O ja, ich glaube schon, so etwas ist ganz hübsch.«
»Aber das Richtige ist es doch noch nicht!«, erklang es wieder in komischer Melancholie.
»Na, was willst Du denn sonst noch?«
»Weißt Du — ich möchte — ich möchte — siehst Du, ich fühle mich so sehr allein. Ich darf nicht mit den anderen Mädchen spielen, nicht kochen, nicht sticken, nicht nähen — gar nichts darf ich machen, Und was ich hier in meiner Heimlichkeit mache, das hat doch alles gar keinen Zweck, ich weiß ja nicht, für wen ich es tue. Ja, ich kann heiraten, sofort, sogar wen ich will. Aber niemand gefällt mir, weißt Du. Besonders darum nicht, weil jeder junge Jäger, ob er rot oder blass ist, nur darauf wartet, dass ich ihn heiraten soll. Weil er dann nicht mehr zu arbeiten braucht.«
»Dann darf er nicht mehr jagen?«
»O doch. Aber er hätte es nicht mehr nötig, wenn er nicht wollte. Er brauchte nicht mehr die vorschriftsmäßige Stückzahl Wild abzuliefern. Es ist doch überhaupt die höchste Ehre, eine Manitotuba zur Frau zu haben. Aber eben weil es dies ist, mag ich nicht heiraten. Es ist auch noch etwas Anderes. Sieh, dann müsste ich kochen und nähen und sticken, für meinen Mann, es wäre meine Pflicht, aber dann wäre das nichts mehr für mich —«
»Weil dann ein ›Muss‹ dahinter sitzt.«
»Ja, dann wäre es ein Zwang, und Zwang mag ich nicht. Weißt Du, was ich möchte?«
»Nun?«
Sie schmiegte sich noch enger an mich.
»Ich möchte heiraten, ohne dass jemand etwas davon weiß. Der Mann müsste am Tage der Jagd nachgehen, wenn wir uns sehen, kennten wir uns gar nicht. Und dann des Nachts käme er heimlich in mein Versteck geschlichen. Müsste das nicht herrlich sein?«
Siehe da, so eine kleine Romantikerin! Hatte diese Indianerin in dieser Wildnis denn nicht schon Romantik genug? Ja, mit unseren Augen betrachtet! Für die war dieses freie Leben ja aber etwas ganz Alltägliches. Sie wollte auch noch auf Liebesabenteuer ausgehen, Liebesromantik erleben. Ganz genau wie bei uns die jungen Mädchen.
Und hatte sie, haben sie denn nicht auch ganz recht?
Wie heißt doch der alte, schöne Vers?
Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß,
Als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.
»Sage, großer Bärenknochen, muss das nicht herrlich sein?«
»O ja, ich glaube schon, das muss ganz hübsch sein.«
»Wenn ich so des Abends für ihn koche — und schon immer gestickt habe — und dann — dann — kommt er zu mir geschlichen — Du — kommst — und — Du — Du —«
Sie hatte ihr Köpfchen an meine Brust gelegt, immer schwerer war ihre Zunge geworden — und mit einem Male war sie eingeschlafen.
Und da war nicht etwa eine berechnete Mache dabei.
Ich hatte schon längst gemerkt, wie sie müde geworden, wie ihre Augen immer mehr geblinzelt hatten.
Und da war sie eben an meiner Brust wie ein Vögelchen im Nu eingeschlafen.
Regungslos saß ich da.
Nur den Kessel, der jetzt zu kochen begann, nahm ich ab.
Ruhig atmete sie an meiner Brust, glücklich im Schlafe lächelnd.
Weil sie trotz meiner Regungslosigkeit von meiner Brust zu rutschen drohte, legte ich — mitleidig, aus keinem anderen Grunde — sanft meinen Arm um ihre vollen Hüften.
So sann und sann ich.
Doch gar nicht lange, da löste sich dort vom Hintergrunde der Höhle ein dunkler Schatten ab und kam lautlos auf mich zu.
Hallo, der Ewige!
Wenn ich erschrak, dann doch nicht so, dass ich den Arm zurückgezogen hätte.
Nein, nun legte ich ihn gerade noch fester um die Schläferin und blickte jenem entschlossen, vielleicht mit einem etwas trotzigen Ausdrucke entgegen.
War er zum ersten Male hier? Hatte er den geheimen Eingang jetzt erst gefunden?
Damals warf ich diese Frage nicht auf, und ich erkläre gleich jetzt: Nein, dieser Alte war schlauer und in seinem Tale vertrauter, als es seine eigene Tochter ahnte. Er kannte deren Verstecke und Treiben recht wohl, kannte sogar zu dieser Höhle, die nur eine einzige eines ganzen Labyrinthes war, noch einen anderen Eingang.
In jenem Augenblicke also warf ich eine solche Frage nicht auf, sondern wartete darauf, was nun kommen würde.
Eigentlich kam gar nichts. Als ob der Alte uns beide überhaupt gar nicht sehe, so schritt er auf das Feuer zu, ließ sich daran nieder, mir gegenüber, zog seine Pfeife aus dem Gürtel, stopfte sie, nahm mit den bloßen Fingern eine rotglühende Kohle heraus, legte sie auf den Pfeifenkopf, legte die Kohle ruhig zurück und begann schweigend zu rauchen.
Ich staunte nicht schlecht! Sollte man da auch nicht. Nahm der mit den bloßen Fingern so eine rotglühende Kohle!
Zehn Minuten vergingen. Er rauchte ruhig, ohne mich einmal anzusehen, immer mit seinen vergissmeinnichtblauen Augen unverwandt in die rote Glut blickend.
Und ich dachte zum ersten Male daran, dass nach dieser Ähnlichkeit er doch unbedingt wirklich ihr Vater war, dass sie dann aber doch eine Mestizin sein, nicht so ganz und gar einer Vollblutindianerin gleichen müsse.
Nun, dann war ihre Mutter vielleicht ein doppeltes Vollblut. Eine Annahme, die ich später auch bestätigt finden sollte.
Der kleine Pfeifenkopf war ausgeraucht, der Alte im schwarzen, schmierigen Ledergewand klopfte ihn aus, steckte das Rohr zurück — und hob zum ersten Male den Kopf, um mich zu erblicken.
Und da geschah etwas Seltsames.
Da hob er auch den rechten Arm, beugte sich vor, über das Feuer, legte seine Hand auf meine Stirn, fuhr mir sanft über den Kopf, von dem ich die Mütze abgenommen hatte, über das Haar.
»Mache sie glücklich!«, flüsterte er dabei. »Lass sie nicht wissen, dass ich es weiß. Mache meine Tochter glücklich, mein Sohn.«
So flüsterte er, erhob sich und verschwand wieder im Hintergrunde der Höhle.
Es war vier Tage später.
Unterdessen hatte ich mein faules Traumleben geführt, nur dass ich keine Nacht mehr am freien Lagerfeuer einsam verbracht hatte.
Mag diese Andeutung genügen.
Ich ruderte mit meinem kleinen Kanu am Ostufer der Kieferninsel entlang, als eine große Arche gerauscht kam, jedenfalls ein Räucherschiff, was ich aber noch nicht genau unterscheiden konnte.
Mir war es ganz recht, mit Leuten zusammenzukommen, die hier Bescheid wussten, ich hatte eine Frage zu stellen.
»Hallo!«, rief ich noch in weiter Entfernung.
»Hallo, Sir?«, erklang es zurück.
»Wisst Ihr, wo der Ewige zu finden ist?«
»Der ist heute Mittag in seinem Hause in Christoffera, es ist ein Zufall, dass wir das wissen und dass er einmal zu treffen ist. Wollt Ihr mit?«
»Ihr fahrt hin?«
»Ja, in die Hafenbucht, ganz direkt, ohne uns aufzuhalten. Wollt Ihr mit?«
»Ich komme mit.«
Die Arche stoppte, ich ruderte hin, stieg an Bord, mein Kanu wurde hinten angebunden, wo noch zwei andere, größere Boote im Schlepptau hingen.
Es war das erste Mal, dass ich solch ein Räucherschiff betrat, dass ich überhaupt in den 14 Tagen, wo ich mich nun schon hier herumtrieb, eines zu Gesicht bekam, obgleich ihrer sechs immer unterwegs waren, an manchen Tagen auch sieben.
Ja, ich hatte in diesen 14 Tagen sogar noch keinen einzigen Menschen gesehen! Außer jenen beiden, die so tief in mein Leben eingreifen sollten.
Emil hatte mir ja die Verhältnisse schon erklärt. Hinzufügen will ich noch, dass die menschenleerste Gegend der Erde, wenn man von Polarländern und direkten Wüsten absehen will, Westaustralien ist. Dort kommt auf fünf Quadratkilometer nur ein Mensch. Hier aber hatte jeder Mensch sieben Quadratkilometer für sich!
Da war es also begreiflich, wie ich in 14 Tagen keinen Menschen zu sehen brauchte, besonders wenn ich nicht danach suchte, und die Dutzend Archen und sonstigen Boote verschwanden ganz einfach in dem doch ungeheuer zu nennenden Gebiete.
Diese Arche war etwas anders gebaut als die der Vermessungsingenieure, die ich schon gesehen, bestand nicht nur aus einem einzigen Hause, sondern hatte auch ein größeres, freies Deck, eine Plattform.
Auf dieser rollten einige in blaue Leinwand gekleidete Männer Fässer. Außerdem stand da noch ein Mann, der fast ebenso dick wie groß oder eigentlich klein war, was noch dadurch verstärkt wurde, dass er einen Sombrero mit ungeheuer breiter Krempe auf dem Kopfe trug, stützte sich auf eine mächtige Büchse vom schwersten Kaliber, hatte über jeder Schulter noch eine Büchse hängen, den Gürtel mit Messern und Revolvern gespickt — eine Figur von ungemein drolliger Gefährlichkeit, wozu nun auch die gewaltigen Wasserstiefel passten.
Aber nicht etwa, dass mir dieser Mann fremd war, und was für einen anderen als einen urkomischen Eindruck hätte dieser Mann auch machen sollen!
»Littlelu!«, rief ich mit freudiger Überraschung, die Hand ausstreckend.
Er aber musste erst seine Kapriolen treiben, schüttelte tiefernst den dicken Schädel, der mit dem Hute wie ein Pilz aussah, oder der ganze Kerl glich überhaupt einem Pilze.
»Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!«, begann er mit einem bekannten Zitat aus Goethes »Faust«. »Ich habe vor vielen, vielen Jahren — vielleicht vor 14 Jahren — einmal einen Freund gehabt, der Ihnen verdammt ähnlich sah, wie ein Ei dem anderen — auch ganz genau dieselbe Stimme hatte jenes Ei —«
»Ach, machen Sie keine Faxen, Littlelu!«
»Nein, Sie sind es nicht — so glücklich sah jenes Ei nicht aus, wie dieses Ei.«
Ich weiß nicht — mir schoss plötzlich das Blut ins Gesicht. Vor Scham. Obgleich ich doch sonst gar nicht so bin.
Musste dieser infame Komödiant mir aber auch gleich ansehen, wie es in mir beschaffen war.
»Da haben Sie's! Sagen Sie nicht etwa, dass Sie der Kapitän Hagen wären, der konnte nicht so rot werden, das war ein braunes Osterei —«
»Ja, soll ich mich nicht freuen, wenn ich Sie endlich einmal wiedersehe —«
»Ach, gehen Sie doch weg! Sie und sich freuen, wenn Sie mich wiedersehen! Ja, Hagen, was ist Ihnen denn nur eigentlich passiert? Sie strahlen ja förmlich vor Seligkeit!«
Nun, da er aus der Rolle gefallen war, hörte der Kerl erst recht nicht zu fragen auf, warum ich so glücklich aussähe, gerade weil er merkte, wie fatal es mir war.
»Sie sehen gerade aus, als hätten Sie erst gestern geheiratet.«
Ahnte er etwas? Oder wusste er gar schon, dass —? Nein, einfach ein Zufall, er zog mich nur auf.
Dann zunächst durchzuckte mich ein Schreck. Wir beide begingen in Anwesenheit dieser Männer doch eine große Unvorsichtigkeit. Ich winkte ihm, er folgte seitwärts.
»Wir nennen uns ganz gemütlich bei unseren richtigen Namen«, begann ich flüsternd, »wo wir aufs Schärfste instruiert sind —«
»Hat nichts zu sagen, können wir!«, fiel er mir ins Wort, ohne seine Stimme zu dämpfen. »Diese Sache hat sich erledigt.«
»Auch für den Grafen und die Gräfin?«
»Die kommen doch überhaupt nur in Betracht, wir sind doch nur überflüssige Anhängsel. Die Gräfin Atalanta von Felsmark ist hier in diesem Tale sicher aufgehoben wie in Abrahams Schoß. Wie das möglich ist, das weiß ich selbst noch nicht.«
Dann war's gut, mehr wollte und brauchte ich nicht zu wissen.
»Ich glaube«, fuhr Littlelu fort, »Don Manuelo Christoffero hat an die Regierung der Vereinigten Staaten noch eine Forderung zu stellen, gegen welche die Auslieferung der steckbrieflich Verfolgten gar nicht in Betracht kommt, sodass man sich hüten wird —«
»Seien Sie still, das geht mich gar nichts an!«
»Grobsack! Aber ich kenne Sie. Ja, Hagen, wo haben Sie eigentlich die 14 langen Tage gesteckt?«
»Ich habe mich hier in der Wildnis der Einsamkeit hingegeben.«
»Bekommt man denn in der einsamen Wildnis so ein glückliches Gesicht?«
»Was wollen Sie denn nur immer mit Ihrem glücklichen Gesicht?!«, wurde ich grob.
»Mit meinem nicht — mit Ihrem. Na, weil Sie eben eines haben. Ein geradezu von himmlischer Seligkeit verklärtes Gesicht, und je zorniger und gröber Sie werden, desto mehr leuchtet — schon gut, schon gut, ich will aufhören, Sie brauchen nicht erst auszuholen. Schön aber wäre es, wenn die Einsamkeit der Wildnis auch etwas verbessernd auf die allgemeine Höflichkeit wirken wollte.«
»Sind Sie nun endlich fertig?«
»Ich bin's. Nun haben Sie das Wort.«
»Mensch, wie haben Sie sich denn aufgetakelt? Sie sind ja der reine wandelnde Waffenladen.«
»Ich bin ein wilder Jäger, so ein echter Hinterwäldler.«
»Und da schleppen Sie immer drei Gewehre, sechs Pistolen und zwölf Skalpiermesser mit sich herum?«
»Wozu noch ein Lasso und zwei Tomahawks kommen. Nein, nur jetzt bin ich in großer Paradeuniform. Ich wollte mich als wilder Hinterwäldler auf dem Kriegspfade fotografieren lassen. Ramford hatte seinen Knipskasten mitgenommen. Aber ich habe die beiden Australier unterwegs verloren. Haben Sie die beiden Kerls nicht gesehen?«
»Nein. Was machen der Graf und die Gräfin?«
»Die sind kreuzfidel und puppenlustig. Das heißt, die Gräfin ist wieder eine echte Indianerin geworden, und der Graf macht mit. Er sagt ›hugh‹ und sie sagt ›hau‹, weiter nichts, und so unterhalten sich die beiden ganz famos. Liegen immer mit der Nase am Boden, untersuchen Fährten, und dann sagt zur Abwechslung sie einmal ›hugh‹ und er sagt ›hau‹. — Kommen Sie mit?«
»Ich will nach der Hafenbucht.«
»Ich auch, dann aber noch weiter.«
»Nach der Stadt?«
»Nein, in anderer Richtung weiter, in senkrechter.«
»Wie das?«
»Herrgott, sind Sie in Ihrer Einsamkeit von Begriffen geworden! Oben auf die Felsen wollte ich, mir das Eskimolager und den Eisbärenzwinger besehen. Waren Sie schon oben?«
»Nein.«
»Soll großartig sein. Ganz wie am Nordpol. Man kann im Rentier- oder Hundeschlitten oder auf Schneeschuhen rings um das ganze Tal fahren, muss nur gut aufpassen, dass man nicht einmal die 4000 Meter hinabsegelt. Aber ich weiß nicht — ich muss immer an Stockfische und Seehundspeck denken. Dort oben gibt's auch Seehunde.«
»Auch Seehunde?«
»Und Walrosse und dergleichen. Sind in einen großen See eingesetzt, der an einigen Stellen nie zufriert, pflanzen sich vortrefflich fort. Die Eisbären brauchen nur noch wenig Futterzufuhr aus dem Tale. Und sonst wären doch auch die Eskimos nicht glücklich. Haben Sie schon im heißen Kessel ein Dampfbad genommen?«
»Nein.«
»Waren Sie auf der Pferdeinsel?«
»Auch noch nicht.«
»Das müssen Sie sich ansehen! Arabische Wüstenrosse, englische Rennpferde wie die dürren Windhunde, flandrische Biergäule wie die geschwollenen Riesenmöpse — alles in ungezügelter Freiheit, sich selbst überlassen. Da sieht man erst, was das Pferd für ein edles Tier ist. Waren Sie schon in der heiligen Feuergrotte?«
»Nein.«
»Ja, Mensch, was haben Sie denn nur in den ganzen 14 Tagen gemacht?!«
Ha, ich hatte noch ganz andere Feuergrotten kennen gelernt als jene bekannte Nummer 10 und wie sie sonst nummeriert waren. Aber davon brauchte der nichts zu wissen.
Ein kleiner Zwischenfall fesselte meine Aufmerksamkeit.
Immer noch wurden Fässer über Deck gerollt, leere. Dabei löste sich bei einem ein Reifen, ein zweiter ging ab.
»So, das hat nun gerade noch gefehlt!«, wetterte der Aufseher. »Jetzt können wir den Hirsch nicht mehr einsalzen, es ist kein überflüssiges Fass mehr vorhanden.«
»Na, der Schaden ist doch bald repariert«, meinte ich, »einen Hammer werdet Ihr doch haben, da braucht man doch kein gelernter Böttcher zu sein.«
»Ja, wenn wir nur hämmern dürften!«, lautete die verdrießliche Antwort.
»Ihr dürft nicht hämmern?«
Ich erfuhr es näher. Auf diesen Räucherschiffen wurde tüchtig gearbeitet, aber kein Fass durfte zugeschlagen werden, kein anderer Hammerschlag fallen.
»Weshalb denn nicht?«
»Weil das die Ruhe der Wildnis stört.«
»Aber es fallen doch genug Schüsse, Holz wird geschlagen.«
»Das ist etwas ganz anderes, das gehört mit in die Wildnis. Aber kein Fabriklärm, sagt der Ewige.«
Ich verstand. Dann war das hier ja ganz höllisch konsequent durchgeführt. Doch es machte mich auch nachdenklich, weil ich gerade etwas ganz Besonderes vorhatte. Aber darüber konnte ich hier diese Arbeiter nicht befragen.
Ich besichtigte die Fleischerei, die Räucher- und Salzkammern, die Ölsiederei und die sonstigen Einrichtungen, um das abgelieferte Wild und die Fische zu konservieren und in Fässer und Blechbüchsen zu verpacken.
Mir fiel die fast fieberhafte Hast auf, mit der gearbeitet wurde. Auch der Aufseher war nie müßig, und wenn jemand ein neues Stück Kautabak abbiss, so gebrauchte er dazu schnell nur eine Hand, die andere musste tätig sein.
Diese intensive Arbeit wird man in Nordamerika gewohnt. Denn dass dort drüben ganz anders gearbeitet wird als in Deutschland, das wird jeder bestätigen, der drüben gewesen ist. Wer da mitmachen will, muss sich erst eine ganz neue Art von Arbeitsenergie aneignen, oder er kann eben nicht mitmachen. Wir haben aber diese Unterschiede ja in Deutschland selbst, was sich sogar genau durch Zahlen ausdrücken lässt. Der Maurer in einer kleinen Provinzialstadt setzt täglich 300 Ziegelsteine, in Berlin werden 500 verlangt. Der englische Maurer hat einen Durchschnittslohn von 70 Mark, muss aber auch 800 Steine setzen. Überall in der Welt wird eben das genaue Arbeitsquantum bezahlt, von hohen Löhnen darf man sich da gar nicht verblüffen lassen.
Ich blickte in eine Schlafkammer von peinlicher Sauberkeit, die Überzüge der Betten schneeweiß, über dem einen hing ein Gewehr, ein kurzer Stutzen.
»Ihr dürft auf die Jagd gehen?«
»Dürfen wohl, wenn jemand nach Feierabend noch Lust dazu hat.«
»Nun warum denn nicht?«
»Arbeitet mal 16 Stunden ununterbrochen, kaum dass man Zeit hat, einen Bissen in den Mund zu bringen, wie Ihr dann abends gerädert seid!«
»Sechzehn Stunden?! Hier in Amerika, in Mexiko?!«
»Von früh um 4 bis abends um 8. Der Ewige verlangt es. Dafür werden wir ja bezahlt. Das stimmt, aber dann ist man froh, wenn man sich hinhauen kann. Bei uns brauchte der Sonntag auch nicht eingeschossen zu werden. Ohne absolute Sonntagsruhe hielten wir es gar nicht aus. Ja, beim Sepp ist es etwas anderes, der flucht, dass er Sonntags nicht schießen kann. So sitzt er manche Nacht auf dem Anstand, aber wohl auch mehr schlafend, bringt selten etwas mit. Na, wenn der nur seine Büchse in den Händen halten kann. Während der Arbeitszeit gibt's so was natürlich nicht.«
Der Aufseher hatte eine Handbewegung nach einem alten Manne gemacht, eine auffallende Erscheinung mit Hakennase und weißem Schnauzbart, dessen herkulische Arme mit vollen Fässern wie mit Gummibällen spielten.
Merkwürdig war auch, dass er die Hosen bis über die nackten Knie aufgekrempelt hatte und dass er statt des üblichen Gürtels gestickte Hosenträger trug, wozu noch ein uraltes Lodenhütchen kam, mit einer Feder geschmückt.
Eine ganz seltsame Erscheinung hier in Mexiko, überhaupt in Amerika, wie eine Märchenfigur tauchte es vor meinen geistigen Augen auf, dann kam aber noch anderes hinzu, nicht zum wenigsten die kurze Büchse, ein sogenannter Stutzen.
»Sepp heißt der Mann?«
»So nennt er sich. Ein kurioser Name, was?«
»Ein Deutscher?«
»Spricht wohl deutsch, will aber was anderes sein, weiß nicht den vertrackten Namen —«
»Wohl ein Tiroler?«
»Stimmt, aus Tirol ist er! Hat nichts weiter als solche Ziegen im Kopfe, die auf der Felseninsel herumklettern — Gamsen nennt er die Viecher. Der ist nicht freiwillig nach Amerika gegangen. In Tirol ist die Jagd wohl nicht jedem erlaubt, he? Hat einmal lange brummen müssen, weil er so eine Ziege geschossen hat, und dann beim zweiten Male, als er ins Loch gesperrt werden sollte, hat er sich lieber auf und davon gemacht. Darf man dort wirklich keine wilde Ziege schießen, die sonst niemandem gehört? Verrücktes Land das!«
Ich blickte nach dem Alten, der emsig aber verdrossen seine Arbeit tat, ich interessierte mich für ihn, wollte mich aber nicht persönlich mit ihm einlassen.
»Wenn er so ein passionierter Jäger ist, warum lässt er sich da nicht als solchen anstellen? Der Ewige scheint da doch nicht so zu sein.«
»Ist er auch gewesen. Aber er kann's nicht.«
»Was kann er nicht?«
»Die Bedingungen erfüllen. Jeder Jäger hat täglich zehn Stück Wild abzuliefern, Hirsche und dergleichen, wozu noch mindestens drei Schweine und eine ganze Menge Hasen und Kaninchen kommen, muss sie mit seinem Stempel zeichnen.«
»Ist denn das nur so schwierig?«
»Probiert's nur einmal!«, lachte der Aufseher, dabei immer Salz abwägend und seine Augen überall hin wandern lassend. »Hier ist schon mancher Hinterwäldler und Trapper und sonstige Jäger hergekommen, der sonst was von seiner Jagdkunst dachte, aber er konnte nicht mitmachen. Und das ist hier nun einmal so eingeführt, und wer die Schießbedingungen nicht erfüllt, der wird von diesen Taljägern nicht angesehen, wird maßlos verachtet. Er muss wieder hinaus oder er muss etwas anderes arbeiten. Diese Taljäger haben da ihre Ehre, und da lassen sie sich nicht dran tippen.«
Emil hatte mir ja hierüber schon etwas berichtet, aber dem hatte er gar nicht solche Bedeutung zugemessen. Auch Libelle hatte mir davon noch nichts erzählt, und ich selbst war mit diesen roten und weißen Jägern noch gar nicht in Berührung gekommen. Das mussten dann ja aber ganz kolossale Weidwerksmeister sein!
»Der Sepp prahlte auch Wunder wie mit seiner Jagdkunst«, fuhr der Aufseher fort, »aber ach, wo blieb der! Zuerst hatte er gar nicht nötig, abzuhäuten und zu präservieren. Und trotzdem brachte er am Tage kaum drei Geweihe zusammen. Die Tiere sind eben gar nicht so leicht zu schießen. Man sieht ja auch selten einmal eins, wenn auch alles wimmelt. Dann dachte Sepp, er brauche ja nur zwischen die Büffelherden zu schießen. Da waren die Büffel aber gleich hinter ihm her. Und der eine, den er angeschossen, verreckte im Wasser — da haben die Taljäger vor ihm ausgespuckt, und jedes Kind tat das gleiche!«
»Aber er ist hier geblieben?«
»Ja, er wurde Arbeiter auf einem Räucherschiffe. Denn fort konnte er nicht wieder. Er muss seine Ziegenböcke wenigstens aus der Ferne manchmal auf den Felsen herumklettern sehen. Na, und dann setzt er sich auf den Anstand, so hundemüde er auch ist. Jagen muss er, wenn er auch nichts schießt.«
Wir näherten uns der Hafenbucht. Ich würde diese lange Auseinandersetzung nicht gebracht haben, wenn sie nicht noch von besonderer Bedeutung werden sollte.
Don Christoffero sollte sich jetzt als Gentleman in seinem Palaste befinden, aber ich sah ihn dort als wilden Jäger auf der Holzgalerie stehen.
Er sprach mit einigen Arbeitern. Ich begab mich hin, wartete aber in respektvoller Entfernung.
»Suchen Sie mich, Sir?«, wandte er sich jedoch gleich an mich, obwohl ich dachte, er könnte mich noch gar nicht gesehen haben.
»Wenn Sie einige Minuten Zeit für mich haben, Herr Christoph.«
»Immer.«
Es war ein großes, sehr großes Anliegen, das ich vorbringen wollte. Wohl hatte mich Libelle instruiert, mir Hoffnung gemacht, aber dass der Herr dieses Tales ihr Vater war und mir zu unserer Heimlichkeit seinen Segen gegeben, das hatte dabei absolut nichts zu sagen. Trotzdem oder eben deswegen machte ich es ganz kurz.
»Haben Sie nicht eine alte, ausrangierte Arche?«
»Wozu?«, erklang es sofort.
»Ich möchte mich häuslich in so einer schwimmenden Wohnung einrichten.«
Er blickte mich mit seinen hellblauen, wunderbar scharfen Augen so erstaunt und überhaupt in einer Weise an, dass ich jetzt unbedingt ein kurzes »Nein« oder vielleicht erst ein »Sie sind wohl verrückt?« erwartete.
Denn so etwas gab es hier nicht! Auch der Ewige hatte nicht sein eigenes Hausboot, und als Emil um ein solches gebeten, war er kurz abgewiesen worden. Die Nivellierarchen müssten sein, um darin die Zeichentische aufzustellen und zu wohnen, und um von einer zur anderen zu kommen, dazu genüge ein Motorboot. Und für diese Arbeit würde er bezahlt, und nicht, dass er in seiner eigenen Wohnarche herumgondele.
So hatte mir Libelle berichtet, mich aber trotzdem ermutigt, einmal einen Versuch zu machen. Ich war also auf ein kurzes »Nein« gefasst und entschlossen, mich deshalb nicht im Geringsten gekränkt zu fühlen.
»Ja, können Sie bekommen!«, erklang es statt dessen kurz zurück. »Weshalb aber gerade eine alte, ausrangierte Arche?«
»Weil die mir genügte.«
»Nicht lieber eine neue?«
»Bleibt sich gleich.«
Wieder ein scharfer Blick ob dieser doch etwas seltsamen Antwort.
»Kommen Sie mit.«
In einer weiten Grotte, elektrisch erleuchtet, lagen eine ganze Menge von Archen der verschiedensten Größe, alte und ganz neue, noch unbemalte, es war eine Werft, es wurden neun von Grund auf gebaut, Arbeiter waren damit beschäftigt.
»Wie wäre es mit dieser hier?«
Er deutete auf eine Arche von 15 Meter Länge — ich werde immer genaue Maße angeben — und 7 Meter Breite, ganz neu, fix und fertig, die Fensterscheiben eingezogen, nur noch nicht angestrichen.
»Betrachten wir das Innere.«
Er öffnete die in der Mitte befindliche Schiebetür, mit Fensterscheiben, wir traten ein.
Vorn und hinten an den verjüngt zulausenden Enden je ein Steuerraum, 2 Meter breit. Diese Wände von Brusthöhe an ganz aus Glas, aber aus vielen kleinen in Blei gefassten Scheiben bestehend, sodass der Schaden nicht gleich zu groß wurde, wenn man einmal ins Gebüsch rannte.
Durch die Mitte lief ein 1 Meter breiter Korridor, von dem hinten und vorn je zwei Räume abgingen: zwei 3 mal 3 und zwei 3 mal 4 Meter. Diese waren durch Schiebetüren verschlossen. Nur durch den mittelsten Raum lief der Korridor ungehindert, sodass für diesen noch 4 mal 7 Meter übrig blieben. Die Höhe betrug 3 Meter.
In den spitzen Endräumen befanden sich eine Steuervorrichtung, einige Ventile und dergleichen, in der einen kleinen Kammer ein eiserner Herd mit Bratofen, sonst war alles leer, kein Regal war angebracht, die Beplankung noch unbekleidet.
»Alles in tadelloser Ordnung«, sagte Vater Christoph, »das Naphtabassin ist gefüllt — hier auf dem Korridor ist der Deckel dazu, auch der Schlauch liegt unten zum Nachfüllen — braucht nur das Ventil zu drehen und könnt mit Vollkraft abdampfen.«
»Wo ist der Motor?«, fragte ich. Denn auf der Nivellierarche war der in einem besonderen Raume gewesen.
»Hier ist die ganze Maschinerie unten eingebaut, ist viel praktischer, erspart Raum und dient gleich mit als Ballast, Ja, wie ist's nun mit den Möbeln? Wendet Euch ans Magazin, sucht Euch aus. Oder Bretter und eine Hobelbank wären Euch wohl lieber, he?«
Himmeldonnerwetter noch einmal!
War dieser Alte mit seinen blitzenden Augen hellsehend?
Denn dass ihm Libelle etwas von meinen Plänen gesagt haben konnte, war ausgeschlossen, einfach deshalb, weil ich ihr selbst kein Wörtchen davon gesagt hatte.
Meine Liebhaberei war nämlich das Tischlern. Jeder Seemann hat so sein Steckenpferd, seine »Bastelei« in der Freizeit. Ich zimmerte und tischlerte gern. Eigentlich war meine Spezialität noch eine andere — wovon später — jedenfalls aber wusste ich mit Säge, Hobel und Leimtopf umzugehen wie jeder Tischlermeister.
Meine Absicht war gewesen, meine Sehnsucht, mich in solch einem schwimmenden Hause ganz selbstständig einzurichten, mir von Grund auf alles selber zu machen. Die alte Einrichtung hätte ich so nach und nach beseitigt. Aber gesprochen hatte ich davon zu Libelle kein Wörtchen, zu keinem anderen, niemand kannte auch diese meine Liebhaberei. Dieser Alte hier musste mir geradezu im Herzen lesen können!
»Ja, wenn ich eine Hobelbank bekommen kann!«
»Sucht sie Euch aus, Werkzeug und alles, was Ihr braucht, im Magazin.«
»Auf der Magazin-Insel?«
»Nein, dort war früher einmal ein Magazin, jetzt nicht mehr, jetzt muss alles hierher. Vergesst nichts, wenn Ihr nicht bei jeder Kleinigkeit hierher wollt. Auch keine Glasscheiben. Könnt Ihr Scheiben einziehen? Auch in Blei fassen?«
»Ja, wenn ich einen Glaserdiamanten habe.«
»Verlangt ihn nur.«
»Und Farben?«
»Alles was Ihr braucht.«
»Und — und —«
Ich stockte, meine Augen erweiterten sich. Durch ein Fenster sah ich, wie zwei Arbeiter mit einem Tischchen beschäftigt waren, es furnierten. Was das ist, weiß wohl jeder. Dünne Holzplättchen werden aufgeleimt, mit verschiedenfarbigem Holze kann man die schönsten Muster bilden.
Die meisten Matrosen fertigen in ihrer Freizeit entweder Schiffsmodelle oder sie machen Kerbholzarbeiten. Die Sachen geben sie dann, wenn sie kein Geld mehr haben, dem Heuerbaas für einen Schnaps, der Heuerbaas verkauft sie an Liebhaber zu horrenden Preisen. Es sind manchmal prachtvolle Arbeiten dabei. An so einem kleinen Segelschiffchen in einer Flasche wird oft ein ganzes Jahr lang viele Sunden täglich gebastelt.
Meine Spezialität war das Furnieren. Da hatte ich wirklich etwas los, entwarf die Muster selbst, schnitt mit einem gewöhnlichen Schiffsmesser die kleinsten Sternchen und die dünnsten Blumenstängel aus, und doch war dann alles wie aus einem Guss. Für ein kleines Schränkchen von mir war auf einer Ausstellung 150 Mark gezahlt worden, ich selbst hatte freilich nur ein halbes Pfund Tabak dafür bekommen. Doch das war Nebensache, das Furnieren war bei mir geradezu zur Leidenschaft geworden, ich hätte jedes Schiff inwendig ganz ausfurnieren mögen. Wenn diese dünnen Holzplatten nur nicht so schwer zu bekommen gewesen wären.
»Ihr habt Furnierholz?!«
»Eine Furnierholzfabrik! Alle die seltenen Hölzer werden zu Furnieren geschnitten. Das lohnt sich viel besser und erspart die Transportkosten. Geht nur hin, sucht Euch aus. Sämtliche Farben sind vorhanden, alles naturecht, nur Gold und Silber wird gebeizt, nach meinem eigenen Patent.«
»Vater Christoph«, rief ich ganz gerührt, »ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll —«
»Schon gut, schon gut. Da kann ich wohl nun gehen? Und wenn Ihr mit der Maschinerie nicht fertig werdet, so nehmt nur erst einen Schlosser mit.«
Er ging, blieb aber noch einmal stehen und wandte sich um.
»Eh, mit was klebt Ihr denn die Furniere auf? Mit Leim oder Kitt?«
»Mit gewöhnlichem Leim.«
»Verlangt den Coeln Gloe, er ist dazu der beste. Weil's hier aber sehr feucht ist — wisst Ihr, womit man den Tischlerleim wasserfest macht?«
»Indem man etwas doppelchromsaures Kali zusetzt.«
Der Alte machte ein förmlich bestürztes Gesicht.
»Was, woher wisst Ihr denn das?!«
»Das wissen wir leimenden Seeleute alle!«, lachte ich.
»Und ich denke immer, das ist mein eigenes Geheimnis. Na, 's ist gut. Den bekommt Ihr in Christoffero in der Drogerie.«
Endlich rempelte Hagen die bräutliche Schildkröte an und
es war wirklich Libelle, die unter allgemeinem Hallo der
Umsitzenden zu ihm gekrochen kam und ihn losschnallte.
Bis zum späten Abend hatte ich zu tun, um meine Arche auszustatten, hatte dann aber auch nicht das Geringste vergessen. Ach, war das eine Freude! Nur schon das Werkzeug und die Utensilien für die späteren Arbeiten zusammenzutragen.
Mein erster Gang war in die Stadt, in die Furnierschneiderei gewesen. Dass in dem Tale die seltensten Farbhölzer wuchsen, hatte ich ja schon immer gesehen. Wer sich für so etwas interessiert, der hat für so etwas eben einen Blick. Tiefschwarzes Ebenholz, schneeweiße Esche, brasilianischer Palisander, ostindisches Königsholz, afrikanisches Rosenholz, helles und dunkles Blauholz, mexikanisches Mahagoni selbstverständlich, blutrotes Amarantholz aus Venezuela und noch vielerlei andere Arten von den verschiedensten Färbungen. Nicht zu vergessen japanischer Ahorn, an Musterung die Krone aller Hölzer.
Wer nun einmal ein Kenner und Liebhaber von so etwas war, dem musste ja das Herz übergehen! Aber was nützten mir die Baumstämme? Furniere dürfen höchstens anderthalb Millimeter stark sein, sonst ist nichts zu machen, und das ist mit Handsäge und Hobel nicht zu erreichen, will man nicht von 100 Brettern bei aller Geschicklichkeit 99 verpfuschen, das kann nur mit einer besonderen Maschine gemacht werden. Das Furnieren selbst hingegen kann nur Handarbeit sein. Weswegen eben die ganze Kunsttischlerei zum Teufel gegangen ist, weil so etwas niemand mehr bezahlt, weil man nur noch billigen Fabrikschund kauft.
Da fand ich in Christoffero eine vollkommen eingerichtete Furnierschneiderei. Und was für prachtvolle Hölzer! In 23 verschiedenen Farben! Außerdem wurde mit Gold und Silber gebeizt, also durch und durch nach einem geheimen Verfahren. Denn mit einem Anmalen ist da doch nichts. Diese Hölzer gingen, wie ich erfuhr, nach San Francisco in eine Furniertischlerei, in der aber nicht jeder einfache Millionär seine Möbel bestellen konnte. Was nicht Don Christoffero für sich selbst verbrauchte. Wir beide hatten die gleiche Liebhaberei, nur dass er sie nicht selbst praktisch ausübte.
Spät in der Nacht fuhr ich im Mondschein noch hinaus. Hätte sofort anfangen mögen, denn an Schlafen war bei mir doch nicht zu denken, aber —
»Verdammt«, dachte ich, »siehst Du, alter Junge, warum hast Du Dich fangen lassen, jetzt bist Du nicht mehr Dein eigener Herr!«
Denn ich hatte Verpflichtungen. Musste Libelle in einem ihrer Verstecke aufsuchen. Über dem Anrühren der Farbe hätte ich's schon beinahe vergessen. Nun ich aber daran dachte, musste das Versprechen auch gehalten werden, so schwer mir's fiel. Ich war sehr niedergeschlagen, ärgerlich über mich selbst. Ich war zum Ehemann eben durchaus nicht geschaffen.
Als ich aber vor dem Mädel stand, kam mir auch gleich eine Idee.
»Weißt Du, Libelle — so oder so — ich habe keine Zeit mehr zum Versteckspielen, und wenn Du Deine eigene Herrin bist, so kannst Du auch gleich bei mir an Bord wohnen, führst mir den Hausstand.«
Ich brauchte ihr gar nicht viel vorzumalen, was ich alles vorhatte — mit einem Freudenschrei, wie ihn der Vogel ausstößt, wenn er seinem Käfig entflieht, ging sie sofort auf alles ein.
Nach dann war's ja gut. So schliefen wir die erste Nacht in der guten Stube auf den nackten Planken. Am nächsten Morgen ging es los. Noch ehe die Sonne über den Felskämmen auftauchte, war die Farbe schon angerührt. Erst musste ich mein Haus doch außen anstreichen, so roh konnte es doch nicht herumschwimmen.
Grün mit Weiß und Schwarz und Gold abgesetzt. Aber nun wie!
Hat man so einen alten Seebären einmal malen sehen? Der malt anders als so ein Landanstreicher, der die Stunde ein paar Groschen bekommt und dafür so und so viel Quadratmeter anpinseln muss. Da darf nicht überstrichen werden, und dann, wenn die Farbe trocken ist, wird sie wieder mit Glaspapier abgerieben, wieder gestrichen, wieder abgeschmirgelt, und so das noch vier bis sechsmal. Dann sieht das aber auch nach was aus! Wir Segelschiffmatrosen verstehen uns eben auf Malerei! Freilich hat man ja auch genug Zeit.
Am Mittag war der erste grüne Anstrich fertig, der erst trocknen musste, und ich spannte das erste Brett in die Hobelbank, um den ersten Tisch zu fertigen.
Libelle war fortgerudert, um etwas Kochgeschirr und einige Felle und Decken zu holen, die wir gestern Abend vergessen hatten.
Ach, wie mein Herz jubelte, als ich so loshobelte! Wenn aber nun erst die Furniererei drankam! Denn das war eine Arbeit, deren ich nicht überdrüssig wurde, und wenn ich Methusalems Alter erreichte. Wenn ich meine ganze Arche in ein Schmuckkästchen verwandelt hatte, dann wurden einfach die Felswände furniert. Es brauchten ja gar nicht so kostbare Hölzer zu sein.
Wenn nur nicht irgend etwas dazwischen kam.
Denn einmal muss doch alles ein Ende nehmen.
Aber wozu sich solche Gedanken machen?
Weshalb nicht lieber jeden einzelnen Augenblick beim Schopfe fassen?
Also ich hobelte lustig los, dass sich von dem feinen Eschenholz die Späne zu langen Locken ringelten.
»Hallo«, erklang es da durchs offene Fenster, »wo ist denn hier der blutig verdammte Eingang?«
Es war noch ein ganz anderer Ausdruck, der gebraucht wurde, und so sah der Mensch auch aus, den ich in einem Kanu erblickte, ein struppiger, sommersprossiger Kerl, der mit dem linken Auge nach dem rechten Ende meiner Arche und mit dem rechten Auge nach dem linken Ende schielte, aber dennoch die Tür gleich fand.
Er befestigte sein Kanu an einem Ring, trat ein und spuckte zuerst den Tabakssaft auf den Boden.
»Ihr seid der große Bärenknochen, was? Habt Eure eigene Arche bekommen, was?«
Ich musste mich beherrschen, um den Kerl nicht sofort zur anderen Seite wieder zum Fenster hinauszubefördern.
»Na und?«
»Na und?«, wiederholte er hämisch. »Ist das eine Frage, wenn man als Gast eintritt? Ich bin der Siftly, Bill Siftly, genannt Bill Doppelauge, dass Ihr's wisst. Und ich will wissen, ob Ihr der Fremde seid, den wir Taljäger schon den großen Bärenknochen nennen, ohne ihn noch zu kennen, der seine eigene Arche bekommen hat — ich will's wissen, damit ich weiß, wen ich vor mir habe, wenn Ihr einmal an mein Lagerfeuer tretet, damit ich Euch das beste Stück Rostfleisch vorschneide!«
Herausfordernd stand der widerliche, hämisch grinsende Kerl vor mir, mit seinen schielenden Augen alles andere ansehend, nur mich nicht.
Und meiner Hand entsank plötzlich der Hobel.
Für mich stürzte plötzlich die ganze Welt zusammen.
Fahrt wohl, Ihr schönen Träume!
Hier herrschte unbegrenzte Gastfreundschaft.
Ja, noch viel mehr, noch etwas ganz anderes.
Gastfreundschaft kann man gewähren, kann man versagen.
Das gab's aber hier nicht.
Hier herrschte absolutes Gemeinwesen!
Also konnte hier jeder bei Tag und Nacht eintreten und konnte mir die Stube vollspucken, konnte meine Arche als seine eigene betrachten.
Da machte ich nun freilich nicht mit.
Kurz gesagt: Und wenn der Don Manuelo Christoffero kam und sein Besuch passte mir gerade nicht, so sagte ich ihm das, ganz höflich, aber kurz und offen — und wenn er dann nicht ging, so flog er sofort hinaus.
Die weiteren Folgen trug ich. Dann musste ich natürlich gehen. Nun gut, dann ging ich eben. Die junge Indianerin, die ich vor Gott und aller Welt bereits als mein Weib betrachtete, nahm ich natürlich mit. Und wenn mir der regelrechte Ausgang aus diesem Tale verschlossen war, so ging ich einfach mit dem Kopfe durch die Felswand. Und war die härter als mein Schädel, na, dann ging einfach dieser in Trümmer.
Wozu ich hier eine Viertelstunde schreiben muss, alles schoss mir damals in einem einzigen Moment durch den Kopf, stand aber auch ganz klipp und klar vor meinen Augen.
Und mein Gedankengang ging noch weiter.
War dieser Mann nicht ganz in seinem Rechte?
Er kannte es nicht anders, als dass er in jede Blockhütte, in jede Wohnung treten durfte, sie gleich als sein eigenes Heim betrachtend, in dem ihm alles zur Verfügung stand, und das musste ihm also auch für diese meine Arche gelten.
Hatte ich da ein Recht, ihn gleich hinauszuweisen, hinauszuwerfen, weil mir seine Person und sein Benehmen nicht gefiel?
Hatte ich an diesem seinem Benehmen etwas auszusetzen, so konnte ich ihm das ja sagen, und unterließ er das nicht, was mir an ihm missfiel, so konnte ich ihn ja noch immer fortweisen, musste es tun, oder ich war ein elender Waschlappen, und ging er dann nicht, so packte ich ihn beim Rockkragen und Hosenbund.
Und wie ich auch dieses Weitere ausgedacht hatte, alles in einem einzigen Moment, da legte ich den Hobel wirklich weg und hielt jenem die Tatze hin.
»Ja, ich bin Kapitän Hagen, den Ihr den großen Bärenknochen nennt. Seid auf meiner Arche willkommen, Bill Doppelauge.«
Der Mann stutzte. Das hatte er nach meinem ersten »na und?« und nach den Augen, die ich dabei gemacht haben mochte, nicht erwartet.
Dann plötzlich bekam er ein ganz anderes Gesicht, ein viel ehrlicheres, wie er meine Hand nahm und kräftig schüttelte, und nachdem er noch einmal herzhaft ausgespuckt hatte, begann er.
»Verdamm Eure blutigen Augen —«
»Hört, Freund«, unterbrach ich ihn sofort, »dass Ihr meine Augen blutig nennt und verdammt, das nehme ich Euch nicht übel, das meint Ihr nicht so, ich kann manchmal sogar selber so fluchen und denke mir nichts dabei — aber so ausspucken dürft Ihr hier nicht.«
Wieder begann er mich grimmig anzustarren, obgleich er ganz anderswohin schielte.
»Das passt Euch wohl nicht?«
»Nein, das passt mir nicht.«
»In meiner Blockhütte könnt Ihr so viel spucken wie Ihr wollt.«
»Dann seid versichert, dass ich Euch niemals besuchen werde. Also unterlasst es. Es ist überhaupt gar nicht nötig. Ich kaue auch Tabak, spucke aber nicht, und wenn Ihr das nicht fertig bringt, dann dürft Ihr eben nicht kauen. Das ist nur etwas für Männer, nicht für Kinder, die's nicht vertragen.«
Ich schob mit der Fußspitze Hobelspäne nach den betreffenden Stellen und griff wieder zur Arbeit.
»Ich kann Euch jetzt nichts vorsetzen, habe nichts, nicht einmal einen Topf«, fügte ich noch hinzu, »aber Ihr braucht nur ein bisschen zu warten, meine Frau muss bald kommen, die bringt alles mit, dann werde ich Euch als meinen Gast bewirten.«
Und wie ich das gesagt hatte, dabei lange abhobelnd, da überkam mich plötzlich eine Empfindung, ein Frieden, wie ich ihn noch nie gekannt hatte! Gegen diese friedvolle Empfindung war alles sogenannte Glück, das ich in den letzten 14 Tagen genossen, wie gar nichts.
Ich hatte mich selbst besiegt, das war es!
Denn den mir unliebsamen Kerl beim Kragen zu nehmen und ihn hinauszuwerfen, das wäre eine verflucht einfache Geschichte gewesen.
Aber ich hatte mich heroisch bezwungen — gewiss, heroisch! — Hatte als vernünftig und ehrlich denkender Mensch den Kerl nur als Menschen genommen, wie er war, nicht wie ich ihn gern gemalt haben wollte, und nun bekam ich auch gleich die Belohnung, jenen Frieden, der weit über jedes Glück —
»Hallo, großer Bärenknochen!«, erklang es da abermals vorm Fenster.
Diesmal aber war es eine mir bekannte Stimme, bei deren Klang ich freudig aufhorchte — und richtig, da stand sie am Ufer, von dem die Arche fünf Meter entfernt lag — die rote Gräfin, Atalanta, natürlich in ihrem kurzen Lederkostüm, das aber schon ganz bedeutend gelitten hatte.
»Hallo, Frau Gräfin —«
»Ach, hört auf mit Eurer Frau Gräfin!«, lachte sie, war also gar nicht wieder so zur Indianerin geworden, wie Littlelu es geschildert hatte. »Darf Atalanta einmal auf Eure Arche kommen?«
»Das steht doch jedem frei!«, entgegnete ich.
»Wieso steht das jedem frei?«
»Na, hier gibt es doch keine verschlossenen Türen und kein Verbot —«
»Mitnichten, Eure Arche ist manitotuba.«
»Was?!«, stutzte ich mit fröhlichem Staunen, es wohl gleich verstehend, es nur noch einmal hören wollend.
»Eure Arche ist heilig — oder doch gesperrt — so gesperrt für jeden fremden Fuß, wie die vier Manitotuba-Bezirke.«
»Aber wenn ich jemandem die Erlaubnis dazu gebe, dann darf er doch auf meine Arche kommen?«
»Na selbstverständlich!«, lachte sie. »Also darf ich kommen?«
»Gott segne Euren Eingang.«
»Achtung, ich komme durchs Fenster!«
Über das Wasser reckte sich ein Baumast, aber noch nicht die Arche erreichend — sie sprang daran, benutzte den Schwung. schnellte wie ein Gummiball oder richtiger wie ein Affe, durch das Fenster, über die Hobelbank weg und stand im Zimmer.
»Gott segne Euren Eingang!«, wiederholte ich lachend, und in diesem Augenblick dachte ich daran, dass über dieses Fenster wohl ein entsprechender Spruch angebracht werden musste, fein in Goldfurnier ausgeführt.
Jetzt erst bemerkte Atalanta den Jäger, bekam mit einem Male recht finstere Augen.
»Ihr hier? Ich kenne Euch, Bill Siftly Doppelauge. Wisst Ihr schon, dass diese Arche manitotuba ist?«
»Nauuu.«
Ekelhaft klingt es, dieses englische »nee«, so recht breit hervorgebracht, meist mit schiefem Munde.
Atalanta nahm aus einem am Gürtel hängenden Beutelchen — der unvermeidliche Medizinbeutel — ein Stück Leder und hielt es jenem hin.
»Stimmt es?«
Bill schnellte den rechten Zeigefinger nach seinem Ohre — ein Versuch zu salutieren.
»Teilt es jedem mit, der es noch nicht weiß. Die Arche des großen Bärenknochen ist manitotuba. Ein besonderes Zeichen wird daran nicht gemacht.«
»Well.«
Im Vorbeigehen wandte er sich noch einmal an mich.
»I beg your pardon, Sir, das habe ich nicht gewusst.«
»Halt, Freund«, vertrat ich ihm aber den Weg. »Ihr bleibt! Ihr seid mein Gast. Und so oft Ihr kommt, sollt Ihr mein Gast sein — so lange wir beide uns vertragen.«
In dem verwetterten, sommersprossigen Gesicht leuchtete es auf wie in den Augen, so entsetzlich diese auch schielten.
»Dank Euch, Sir, aber lasst mich jetzt gehen —«
»Nein, nicht eher, als bis meine Frau kommt, bis wir Euch bewirtet haben.«
»Bitte, lasst mich jetzt gehen, es ist mir — unbehaglich zumute. Aber unter vier Augen möchte ich Euch doch noch einmal sprechen, habe Euch was zu sagen.«
»Jetzt?«
»Gleich jetzt.«
»So kommt. Ich bitte um Entschuldigung, Frau Gräfin — Atalanta.«
Ich führte den Mann in eine andere Kammer. Hier griff er schweigend unter sein Jagdhemd, zog eine schmutzige Hundertdollarnote hervor und hielt sie mir hin.
»Was soll das?«
.,Gehört Euch.«
»Mir?«
»Ihr habt gewonnen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Kennt Ihr einen Jim Snyder?«
»Nicht dass ich mich entsinne.«
»Seid Ihr nicht einmal auf einem Schiffe gefahren, dass von Baltimore nach London Rinder brachte?«
»Ja.«
»Da war Jim Snyder als Viehtreiber darauf. Er ist ein Cowboy. Der ist jetzt hier.«
»So? Interessiert mich nicht.«
»Ihr wart zweiter Steuermann darauf?«
»Ja.«
»Der Kapitän wurde krank, übertrug Euch das Kommando, nicht dem ersten?«
»Stimmt.«
»Ein amerikanischer Matrose kam Euch grob, hob die Hand gegen Euch — da schlugt Ihr ihn auf der Stelle tot.«
»Ich schlug ihn nieder, und er stand nicht wieder auf. Ich war stellvertretender Kapitän. Bin vom Seegericht in den ersten fünf Minuten freigesprochen worden.«
»Und als alle die anderen Matrosen dann murrten, da habt Ihr sie alle zusammen ins untere Zwischendeck gerufen, habt die Jacke ausgezogen und die Hemdsärmel hochgekrempelt — ›So, jetzt bin ich nicht mehr Kapitän‹, habt Ihr gesagt, ›und nun mal ran, wer Lust hat.‹ — Und da habt Ihr einen nach dem anderen vertobakt. —«
»Ja. Und was soll's nun?«
»Da hab ich vorhin mit dem Jim Snyder eine Wette gemacht.«
»Was für eine Wette?«
»Um hundert Dollar. Jim Snyder hat gesagt, wenn ich auf Eure Arche käme und ich betrüge mich nicht so, wie es Euch gefällt, dann sagt Ihr, ich soll machen, dass ich hinauskomme, und wenn ich nicht augenblicklich ginge, dann werft Ihr mich sofort hinaus. Und ich habe etwas anderes behauptet.«
»Was?«
»Dass Ihr mich nicht hinauswerfen könnt.«
»Weshalb nicht?«
»Weil Ihr in demselben Moment, da Ihr mich berührt, mein Messer zwischen den Rippen stecken habt. Und nun nehmt Euer Geld, ich habe es verloren, an Euch, nicht an Jim Snyder.«
»Macht keinen Unsinn.«
»Well«, sagte der Mann, die Papiernote zurücksteckend, »Ihr seid ein Gentleman, ich weiß, dass Ihr es nie nehmen werdet. Ihr seid ein Gentleman. Und ich bin der blutig gottverdammteste Raufbold im ganzen Tale. Und wenn Ihr meinen Jagdruf hört, dann wisst, dass Ihr einen Freund in der Nähe habt. Tallyhoooh!«
Mit diesem gellenden Schrei hatte er das Fenster aufgewirbelt und sich hinausgeschwungen — natürlich ins Wasser hinein. Er schwamm nach seinem Kanu, band es los, stieß es vor sich her, kletterte ans Ufer, nahm es auf die Schulter und verschwand zwischen den Büschen.
Die standen hier mit dem Wasser auf verdammt kameradschaftlichem Fuße.
Mit den Fenstern aber auch.
Die eine kam zum Fenster herein, der andere ging zum Fenster hinaus.
Ich begab mich in den Hobelraum zurück.
Dort stand Atalanta mit vorgebeugtem Oberkörper da, als hätte sie immer so dagestanden, die Augen weit geöffnet.
»Wuaaas?!«, machte sie. »Eure Frau?!«
»Ja, meine Frau. Libelle heißt sie, eine Indianerin ist sie, mich lieben tut sie. Na? Der Graf Felsmark ist nicht etwa der einzige, der eine Indianerin zur Frau hat. Können wir auch.«
»Ja, wie kommt Ihr denn dazu?«
Sie schnitt sich selbst mit einer Handbewegung das Wort ab und gab ihre Haltung auf.
»Ich will mich nicht verstellen. Ich weiß alles. Vater Christoph sucht Euch, will Euch sprechen. Bleibt hier liegen, bis er kommt. Ich weiß ihn zu finden.«
»Halt, Atalanta, hier ist auch eine —«
Aber es war schon zu spät, sie brauchte keine Tür mehr, war bereits durchs Fenster wieder nach ihrem Baumast voltigiert.
Lustig hobelte ich weiter und pfiff dazu ein Liedchen. »Da streiten sich die Leute rum wohl um den Wert des Glücks.« Was für ein anderes als dieses bekannte Hobellied hätte ich pfeifen sollen? Singen wollte ich lieber nicht, es klingt gar zu schrecklich.
Dann fing ich zu nageln an. Hämmern war hier nicht erlaubt?
Nun, ich wusste von ganz allein den genauen Unterschied zu machen, da brauchte ich nicht erst um Erlaubnis zu fragen.
Das Zuschlagen der Fässer und Kisten auf den Räucherschiffen war Fabrikbetrieb und gehörte nicht in die Wildnis. Aber das Ticken der Axt und die Hammerschläge, welche die gefällten Baumstämme zur Blockhütte zusammennagelten, das passte hierher, und daher hier auch das Geräusch meiner Robinsonarbeiten.
Da kam Libelle wieder, in meinem Kanu, beladen mit den mannigfaltigsten Sachen und außerdem mit dem Ewigen.
Er kam ganz manierlich durch die Tür herein, sie blieb draußen.
»Moooin. Danke, ich finde schon Platz.«
Da kein Stuhl vorhanden war, konnte ich ihm ja keinen anbieten, das kleine Männchen hatte sich auch bereits auf die Hobelbank geschwungen, stopfte sich eine Pfeife, rauchte sie aber nicht erst schweigend aus.
»Ja, es ist am besten, wenn Ihr Euch heiratet. Auf wenigstens etwas Anstand muss man sogar in der Badewanne halten, also auch in meinem Tale. Ihr habt nun genug zusammen in der Heimlichkeit gespielt — das ist sehr hübsch, ich weiß es, ich hab's mit meiner Frau früher auch so gemacht — aber da Ihr nun zusammengezogen seid, müsst Ihr auch zusammen unters Büffelfell kriechen.«
Mir kam dieser letztere Ausdruck durchaus nicht seltsam vor, ich hatte mich vielmehr schon immer gewundert, dass sich Libelle niemals seiner bediente, sondern immer von einem Heiraten gesprochen hatte.
»Wollt Ihr Euch mit ihr regelrecht vorm Standesamt und in einer Kirche trauen lassen?«
»Das kommt ganz darauf an, wie —«
»Das könnt Ihr halten, wie Ihr wollt, geht mich nichts an. Libelle ist eine Indianerin, hat den Glauben ihres Volkes. Hier in diesem Tale muss die Hochzeit nach indianischer Sitte abgehalten werden. Ja, ich bin ihr Vater, und Ihr seid der Freiersmann. Was gebt Ihr mir nun fier sehn?«
Wir sprachen deutsch, und der Alte, der beinebaumelnd auf der Hobelbank saß, fiel manchmal in den Dialekt, den sein Vater gesprochen haben mochte.
»Ja, da gibt's gar nischt zu feixen. Wer eine Indianerin heiraten will, der muss berappen. Also was zahlt Ihr mir fier sehn?«
»Ich habe nichts —«
»Ham tut Ihr nischt? Das ist traurig, sehr traurig. Uff'n paar Hosenkneppe hab ich doch gehofft. Na, dann gebe ich sie Euch umsonst. Mir hat se ja och weiter nischt gekost. Aber das wisst: Mitgeben tu ich ihr auch nichts, jetzt nicht und niemals. Obgleich sie meine rechte Tochter und zwar mein einziges Kind ist. Aber über meine Hinterlassenschaft habe ich bereits verfügt. Und sie kann auch keinen Pflichtteil beanspruchen, denn die Ehe mit ihrer Mutter war wohl für mich bindend, nicht aber für das Gesetz —«
»O, Herr Cristoph, ich denke doch gar nicht —«
»Maul zu! Ich weiß alles, was Ihr sagen wollt. Wenn Ihr nicht der wärt, der Ihr seid, dann hättet Ihr doch meine Tochter gar nicht bekommen. Überhaupt gar nicht zu sehen bekommen. Und dann ist es sehr fraglich, ob Ihr zu meiner Hinterlassenschaft kämt. Wie alt seid Ihr?«
»32 Jahre.«
»Und wie alt werdet Ihr?«
»76 Jahre, 3 Monate und 8 Tage!«, antwortete ich prompt.
»Na, na, renommiert mal nicht so, als ob Ihr das so genau wüsstet. So genau weiß das kein Mensch. Also 76 Jahre werdet Ihr alt. Habt also noch 44 Jahre zu leben. Und ich bin jetzt erst 81 Jahre. Und ich werde 152 Jahre. Also habe ich noch 71 Jahre zu leben. Da faulen Sie Jüngling schon seit 27 Jahren im Grabe. Na, was wollen Sie denn dann noch mit meinem hinterlassenen Gelde machen, hä? Na, was gibt's denn da zu feixen?«
Ja, sollte man da nicht wenigstens lächeln!
»Und wenn ich Euch jetzt hier zehn Millionen bar auf die Hobelbank zahlen wollte — Ihr steckt die zehn Millionen einfach in die Hosentasche und geht in die erste Destille — — seid stille! Ich kenne Dich, mein Junge! Und nicht besser ist Libelle. Die geht in die Distelle. Jajaaa, mir genn ooch dichten! Nein, keinen blutigen Cent dürft Ihr beiden in die Hände bekommen. Aber für Eure Kinder werde ich sorgen, das ist etwas anderes! Und jetzt richte ich die Hochzeit an, da lässt sich doch der Vater Christoph nicht lumpen, und nun gestatte, lieber Schwiegersohn, dass ich Dich erst einmal als Leiter benutze —«
Mit diesen Worten war das alte Männchen von der Hobelbank herunter, lief an mir wie ein Wiesel in die Höhe, stand auf meinen Schultern und — fuhr mit dem Kopfe und dem ganzen Körper durch die Decke durch!
Ich staunte doch nicht schlecht!
Und nicht nur darüber, dass sich dort oben ein Lukendeckel befand, von dem ich noch nicht das Geringste bemerkt hatte, obgleich ich auch schon auf dem Dache meiner Arche gewesen war.
Auch vom anderen Ufer reckte sich ein Baumast herüber, den hatte sich Vater Christoph als Brücke erkoren, da aber dieser Ast bedeuteud höher war als jener, so hatte er erst aufs Dach müssen.
Also auch das einundachtzigjährige Männchen voltigierte hinauf und hinüber und verschwand in den Büschen, mein tolles Lachen schallte ihm nach.
So, nun aber wusste ich bestimmt, dass der nächste Besuch durch den Boden eintreten oder sich durch den Boden verabschieden würde!
Auf der Pferdeinsel waren alle die Jäger zusammengekommen, 102 Mann, mit ihren Frauen und Kindern.
Zum ersten Male bekam ich hier auch wieder den Grafen, die beiden Australier und Wilhelm Neumann zu sehen. Von den Ingenieuren und Arbeitern war niemand zugegen.
Drei Tage und drei Nächte lang würde im Tale kein Schuss fallen, denn drei Tage und drei Nächte lang würde ununterbrochen die Hochzeitsfestlichkeit währen, oder sagen wir gleich richtiger: die Fresserei.
Überall loderten mächtige Feuer, an denen unter der Aufsicht der Weiber noch mächtigere Fleischstücke schmorten, oder an eisernen Stöcken gleich dutzendweise aufgereihte Gänse, Enten und Hühner, Herzen, Lebern, Nieren und Magen zu Hunderten aufgereiht.
Leider habe ich die Tiere nicht gezählt, ihre Zahl nicht erfahren können, die in diesen drei Tagen und Nächten verspeist worden sind. Schon als ich die ersten Fleischberge sah, glaubte ich nicht, dass die 300 Menschen diese verzehren könnten. Und das war doch nur so der erste Gabelbissen, der wurde nur so im Anfang zur Erweckung des Appetits verzehrt — oder verschlungen, wollen wir lieber gleich sagen. Ich sah einen Neger, der von einem Bratstock zwei bis drei Dutzend großer Schweinsnieren abstreifte und sie zischend im Munde verschwinden ließ, so wie unsereiner eine Weintraube abpflückt. Und dieser Neger wurde von jedem Indianer noch weit übertroffen. Und die weißen Jäger ließen sich von ihren roten Kameraden doch nicht etwa lumpen.
Es ist mit dieser Gefräßigkeit, welche alle Jagdvölker zeigen, etwas Psychologisches verbunden. Das ist wirklich gar nicht so einfach! Nur an eines sei erinnert: Die alten Germanen, die in ihren Urwäldern bis auf wenigen Haferbau nur von der Jagd lebten, hatten gewiss keine rohen Sitten. Das bewiesen sie am besten durch die Hochachtung, die sie den Frauen entgegenbrachten! Aber das Fressen! Wenigstens bei Gelegenheit — bei Festlichkeiten. Das Wettfressen war ein Waffengang für sich. Wer am meisten fraß, wurde ebenso gefeiert und besungen wie der größte Waffenheld. Das zeigt sich auch in der Mythe, in der Religion. Als der Donnergott Thor einmal inkognito reiste, legitimierte er sich dadurch, dass er einen ganzen Eber verspeiste und dann zum Nachtisch auch noch die irdene Schüssel auffraß.
»Mein Vater ist ein Appenzeller, der frisst die Wurst mitsamt dem Teller.«
Ist es denn nicht heute noch so, wo sich germanische Kraft noch ungeschminkt erhalten hat? In der Schweiz, in Ostfriesland, in den märkischen Provinzen, in Pommern. Monatelang begnügen sich die Bauern mit den kärglichsten Speisen, aber der Hochzeitstisch, zu dem sie geladen sind, muss knacken. Und da gibt es keine »Stückchen« Butter, sondern die Butter muss gleich in Bergen aufgetürmt werden. So ein Stückchen Butter, ein halbes Pfund, wie bei uns auf den Familientisch kommt, steckt sich so ein geladener Hochzeitsgast als einen einzigen Bissen ins Maul.
»Geladen.« Zu dummes Wort unseres Amtsstiles! Kanonen werden geladen, Menschen werden eingeladen. Oder sollte es doch seine Berechtigung haben? Weil die Menschen bei Gelegenheit eben wie die Kanonen geladen werden? Dann ist's nur schade, dass man bei einer »Gerichtsladung« keine Butter vorgesetzt bekommt.
Und dann wird getanzt! (Nicht bei der Gerichtsverhandlung, sondern bei solchen germanischen Hochzeiten.) Aber nun, wie wird getanzt! In der ersten Etage darf es nicht geschehen. Der Keller muss fest überwölbt sein. Es ist auch noch anderes dabei. Die Gegend muss nur danach sein. So ein Burenjüngling in Südafrika reitet mit seinen Schwestern drei Tage lang täglich 16 Stunden, um in das Hochzeitshaus zu kommen, steigt aus dem Sattel, räumt den Tisch ab, dann tanzt er ununterbrochen 24 Stunden und noch länger, die Pausen benutzt er nur, um einige Quadratmeter fünfzölligen Kuchen zu vertilgen, den Kaffee dazu trinkt er aus einem neuen Pferdeeimer, dann zwei Stunden geschlafen, wieder in den Sattel und zurück zur Feldarbeit. Ich berichte Tatsachen, solch eine Burenhochzeit habe ich selbst mitgemacht.
Und so ist es bei allen Völkern der Erde, bei denen allein Kraft und Mut den Mann ausmachen. Das können niemals handeltreibende Völker sein, sondern Jäger und Fischer, Hirten und reine Ackerbauern. Im ständigen Anblick einer gewaltigen Natur muss bei ihnen selbst alles groß und gewaltig sein, besonders wenn sie sich einmal belustigen wollen. Da muss man auch auf Kleinigkeiten achten. Der fünfzöllige Kuchen bei der Burenhochzeit hätte doch auch auf den gewöhnlichen Blechen gebacken werden können. Nein, für diese Hochzeit musste erst ein besonderer Backofen gebaut werden, jeder Kuchen war fünf mal sechs Meter groß und wurde auf Tennen gelegt.
Schließlich noch eines, ein Charakterzug, der allen diesen Naturvölkern, ob weiß oder rot oder schwarz eigen ist:
Die Dithmarschen, eine Bauernrepublik bildend, sind in furchtbarem Kampfe niedergewürgt worden. Dann haben sie Ruhe gehalten, weil sie erkannten, dass sie unter dem neuen Regiment viel besser standen als früher, wenn sie auch nicht mehr so viele Rechte besaßen. Und sie hatten ihr Wort gegeben, den Eid geleistet!
Unsere Generation hat gesehen, wie in Südafrika die Buren niedergemacht wurden. Sie streckten die Waffen, leisteten den Engländern den Eid. Einer ihrer letzten Anführer, Louis Botha, zuletzt General-Kommandant, ist heute Ministerpräsident von Transvaal. Also — wohlverstanden — ein englischer Beamter!!
Deshalb wird häufig, und gerade in Deutschland, Botha ein Verräter genannt. Schwachsinnige Menschen! Botha und ein Verräter! Dieser Mann, der, als schon alles verloren war, sich mit einer Handvoll Leute immer wie ein Löwe gegen eine Legion Engländer verteidigte, ihnen sogar noch immer Schlappe auf Schlappe beibrachte!
Als freilich alle anderen Buren den Engländern den Eid der Treue geleistet hatten, da war es vorbei. Da bot sich Botha selbst als englischer Beamter an, aber doch nur aus Liebe zum Vaterlande, um seinen Buren noch immer so viel wie möglich zu nützen. Und dass nun England diesen letzten, verzweifeltsten, furchtbarsten Revolutionär zum Ministerpräsidenten des besagten Volkes gemacht hat, dass es seinem Ehrenwort so bedingungslos vertraut, das eben ist das Erhabene, das furchtbar Gewaltige bei der Sache!
Nun nehme man im Gegensatz dazu die romanische Rasse an.
Noch niemand hat den Franzosen die Wahrheit so schrecklich gesagt wie General Moltke in seiner Stegreifrede an den französischen Bevollmächtigten General von Wimpffen in Donchery vor Sedan.
»Dem französischen Ehrenwort ist nicht zu trauen!«
Das war der Kern der langen Rede!
Um nun zu den nordamerikanischen Indianern zurückzukehren — — die Verherrlichung, die ihnen in Jugendschriften und auch in Romanen, wie in denen von Fenimore Cooper, gezollt wird, entbehrt jeden Grundes. Es war und ist und bleibt ein rohes, verkommenes Gesindel. Von Edelmut gar keine Spur. Auch nicht von Dankbarkeit. Der Indianer beraubt und ermordet auch seinen Lebensretter, sobald er nur kann.
Es gibt auch genug streng wissenschaftliche Bücher, die den von der Jagd lebenden Indianer schildern, wie er war und heute noch ist. Sie sind manchmal schrecklich zu lesen. Wie die ihre Frauen behandeln! Und hierbei Sachen, so entsetzlich, dass man sie nicht einmal andeuten kann.
Aber das eine betonen auch alle diese wissenschaftlichen Bücher: dass der Indianer sein einmal gegebenes Wort unverbrüchlich hält!!
Und wie ein Hohn nun klingt dagegen die historische Tatsache, dass von all den zahllosen Verträgen, die von den nach Amerika gekommenen Europäern und deren Nachkommen mit den Indianern geschlossen wurden, nur ein einziger gehalten worden ist, und zwar gerade derjenige, der mit keiner Eidesformel bekräftigt wurde, von William Penn, der als Quäker nicht schwören durfte. So lange im heutigen Pennsylvanien Indianer saßen, haben sie ihre Apanagen bekommen, alle ihre Rechte wurden gewahrt. Alle, alle anderen Verträge, mit den Indianern abgeschlossen, bekräftigt mit den heiligsten Eiden, sind von den Weißen gebrochen worden! Das ist historisch nachgewiesen.
Zu trinken gab es nichts. Das heißt keine alkoholischen Getränke. Vater Christoph hatte seinen Jägern kein Temperenzgelübde abgenommen, aber in diesem Tale gab es einfach nichts Alkoholisches, wer sich besaufen wollte, musste nach Christoffero, wurde, sobald er sich übermütig zeigte, eingesperrt und erst in ganz nüchternem Zustande wieder ins Tal gelassen. Doch hatten die Leute so viel zu tun, dass solche Ausflüge sehr, sehr selten vorkamen, es lag überhaupt kein Bedürfnis vor, sie kamen gar nicht in Versuchung. Das muss betont werden, weil so ein Cowboy oder Trapper oder Indianer sich doch nicht mit einem Gläschen oder einer Literflasche Brandy begnügt, es muss immer gleich ein Fässchen sein.
Und doch, ein Festgetränk gab es: flüssige Butter.
Diese Leute hatten ja alles, was sie wollten, und Leckerei gab es freilich nicht. Vater Christoph war nicht etwa ein Verschwender. Sie hatten doch genug Talg und Fett, was brauchten sie denn da Butter.
Dennoch oder gerade deshalb war Butter die Leckerei. Und mein Schwiegervater hielt, was er versprochen, er ließ sich bei der Hochzeit seiner Tochter nicht lumpen. Ganze Boote voll der besten, wenn auch in Fässer geschlagenen Kuhbutter kamen an. Und die Männer stampften einen großen Blechbecher voll, zerließen die Butter am Feuer und gossen sie in den Schlund, und bald wieder ein Kilo der köstlichsten Butter draufgesetzt, und wenn es der Magen nicht mehr fassen konnte, so machten die es genau so, wie bei uns die jüngsten Repräsentanten der Wissenschaft und Kunst, also der höheren Kultur und Zivilisation, wenn sie beim Kommers nicht mehr trinken können und doch weitertrinken wollen und müssen: Sie spien das Zeug einfach wieder aus — und tranken weiter Butter.
Übrigens hatte hier diese Speierei wenigstens einen Zweck! Es war sogar ein religiöser Gedanke, ja etwas Hochheiliges dabei!
Sie spuckten die Butterei nicht irgendwohin, sondern in ein besonders großes Feuer, das dem Manitu geheiligt war. Dem stieg die verqualmende Butter in die Nase. Vielleicht machte er auch schmunzelnd den Mund auf. So hatte der große Geist doch auch etwas davon!
Ich muss bei der Butter noch etwas länger verweilen.
Unter den schwarzen Jägern sah ich eine besonders auffallende Erscheinung. Der Kerl hatte eine Haut wie schwarzer Samt, eine schlanke, kraftvolle Gestalt, überhaupt gewachsen wie ein Adonis, was man umso besser beurteilen konnte, weil er noch nackter war als so manch anderer nackter Geselle, kaum eine Andeutung von einem Schürzchen. Ein Mulatte, der auch allen Kleiderluxus verschmähte, hatte wenigstens noch Manschetten an, elfenbeinerne.
Obgleich sein Haar lang und weich war, hielt ich ihn für einen Neger. Es gibt auch afrikanische Stämme mit solchen Haaren. An einen Inder dachte ich gar nicht. Von solch kindlicher Ausgelassenheit ist kein Inder. Denn der Kerl benahm sich wie ein albernes Kind, wie es eben Neger mit Vorliebe tun, wenn sie lustig sind. Und dabei zeigte er ein so prachtvolles, blendend weißes Gebiss, dass man ordentlich Appetit bekam.
»Wer ist das?«, fragte ich einen Trapper, mit dem ich bekannt geworden.
»Das ist Butschiro!«, lautete die lachende Antwort. »Weil er fortwährend ›alles butschiro, alles butschiro‹ sagt, nennen wir ihn so. Er ist erst seit einigen Wochen im Tale, ist der beste Fährtensucher, es ist fast Zauberei, was der da leistet, er sucht die Spur, welche die Vögel in der Luft zurücklassen.«
Da hörte ich selbst, warum dieser Mann Butschiro genannt wurde.
»Alles butschiro, alles butschiro!«, rief er jetzt, griff in eine Buttertonne, knetete eine Kugel, schleuderte sie zu einer fabelhaften Höhe empor, trat einige Schritte seitwärts, den Kopf zurück, den Mund weit aufgesperrt, und sausend klatschte die Butterkugel direkt hinein.
»Alles butschiro, alles butschiro!«
Das gab ja ein Gelächter.
Alles butschiro?
Da wusste ich, wen ich vor mir hatte.
Plötzlich fühlte ich mich nach Australien versetzt.
Wer in Australien gewesen ist, aber nicht nur als Vergnügungsreisender unter Cook und Sohns Flagge mit dem roten Baedeker, sondern als Arbeiter oder als Kaufmann, als Kommis oder auch nur vorübergehend als Seemann, der aber doch immerhin in den Kneipen mit dem Volke wirklich in Berührung kommt, der weiß, was »butschiro« ist, man bekommt es fortwährend zu hören.
Wie geht's? Alles butschiro! Das ist ein Butschiro-Geschäft, Butschiro-Wetter, Butschiro-Tabak, das ist ein Butschiro-Junge usw. usw.
Die arbeitenden Klassen Australiens haben in ihrer englischen Sprache ganz besondere Ausdrücke. Diese stammen noch von den ersten Ansiedlern her, die zum guten Teil ja Deportierte und dann entlassene Sträflinge waren, die »im Busch« noch in engste Berührung mit den Eingeborenen kommen. Das ist ja alles noch gar nicht so lange her.
Die Australneger haben eine ungemein arme Sprache. Sie können nicht einmal bis drei zählen, nur bis zwei, müssen dann aneinander reihen. So bilden sie auch lauter rückbezügliche Wörter, besonders im Verkehr mit den Weißen, Das sind die Mehlsack-Männer. Alles, was weiß ist, ist Mehlsack. Mehlsack-Geld ist Silbergeld.
Ihre größte Leckerei ist Butter. Daraus haben sie »Butschiro« gemacht. Alles, was gut ist, ist Butter, Butschiro. Das ist den englischen Australiern durch den Verkehr mit den Eingeborenen noch bis heute hängen geblieben. Alles Butter, alles butschiro.
Übrigens haben wir Deutschen genau dasselbe. Man kann es oft genug hören: »Alles in Butter.«
Das soll also heißen: Alles in Ordnung.
Im Jahre 1891 ergab die amtliche Zählung in Australien 59 464 Eingeborene. Aber Australien ist ein Erdteil, von dem wir nur erst die Grenzen kennen. Immerhin, die Australneger gehen mit Riesenschritten ihrem Untergange entgegen. Der Australneger ist für Zivilisation noch viel unzugänglicher als der Indianer. Obgleich er ein sehr intelligenter Bursche ist, der sich gern anstellen lässt, allerdings nicht zu einer wirklichen Arbeit. Aber als Diener, als Laufbote, Aufpasser und dergleichen. Immer leistet er Vorzügliches, führt sich tadellos, doch immer nur kurze Zeit, dann reißt er die Kleider ab und verschwindet im Busch, alles mitgehen heißend, was er stehlen kann. Wenn er sich in seinen Kleidern unbehaglich zu fühlen beginnt, das ist das Zeichen, dass man alles verschließen muss. Die Kleiderscheu der Weiber ist noch größer als die der Männer. Mit schwarzen Dienstmädchen hat man die tollsten Sachen erlebt.
Einen glücklichen Gedanken glaubte man gehabt zu haben, als ums Jahr 1840 überall in den australischen Kolonien eine schwarze Polizei eingerichtet wurde. Die Burschen leisteten im Verfolgen und Ergreifen der weißen Buschrangers, Buschräuber, welche die einsamen Farmen plünderten, zur Geißel der Kolonien geworden waren, Fabelhaftes.
Der Australneger ist der beste Fährtensucher der Welt. Denn je wildärmer ein Gebiet, desto besser immer der Jäger, desto schärfer sein Auge. Rastlos muss der Australneger ungeheure Wanderungen machen, um seinen Hunger zu stillen. Für einen anderen Jäger käme fast nur das Känguru und das Opossum in Betracht, für den Australneger alles, was da kreucht und fleucht. Er verfolgt die Spur der winzigen Springmaus, er untersucht jeden Baum nach Spuren von Holzwürmern, verfolgt das Insekt in der Luft, ohne es zu sehen, indem er nachforscht, wo sich die fette Heuschrecke ab und zu niedergelassen hat. Seine ganze Gedankenwelt dreht sich um Spuren. Dies drückt sich auch schon in seiner Sprache aus. Er kann nur bis zwei zählen, hat kein Wort für morgen und gestern — aber während wir für den Abdruck eines Fußes wohl nur zwei Ausdrücke haben, Spur oder Fährte, hat der Australneger dafür viele Dutzende. So etwas wird von unseren Ethnologen und Sprachgelehrten doch alles erforscht. Der Stamm der Diggidiggis in Queensland hat allein für die Fährte eines Menschenfußes 76 ganz verschiedene Ausdrücke, womit Länge und Breite, Geschlecht, vermutliches Alter, Stellung der Zehen und andere Eigentümlichkeiten angegeben werden. Für den Abdruck einer Hand hat derselbe Stamm 27 verschiedene Worte, für den Abdruck des Hinterteils immer noch 13 usw. usw.
Diese Forschungen unserer Sprachgelehrten, die leicht nie ihre Studierstube verlassen, sagen uns mehr als alle Berichte von australischen Buschmännern.
Ja, die schwarze Polizei leistete Fabelhaftes. Man sah damals eine neue Ära im ganzen Kriminalwesen kommen. Man wollte diese schwarzen zweibeinigen Spürhunde, gegen die der bestnasige Jagdhund weit zurückbleibt, überall in den Städten, auch in den europäischen, als Detektivs anstellen. Die machten ja das ganze Verbrechertum unmöglich. Es hatte sich schon eine englische Gesellschaft zusammengefunden zur systematischen Ausbildung solcher schwarzen Spürhunde.
Aber der Enthusiasmus währte nicht lange. Immer wieder dasselbe. So schön die blaue Uniform mit den goldenen Knöpfen auch war, bald wurde sie wieder abgerissen, nackt ging es wieder in den Busch. Nur Karabiner, Revolver und Säbel wurden mitgenommen. Aber nicht, um Kängurus und Mäuse und Heuschrecken zu jagen, sondern die benutzten jetzt die gesammelten Kenntnisse dazu, um — den weißen Buschräubern Konkurrenz zu machen, sie überfielen Reisende und plünderten Farmen.
Es wurden keine solche Versuche mehr gemacht. Die Entrüstung war damals in gewissen Kreisen schon groß genug gewesen, nur deshalb, weil man Schwarze auf Weiße gehetzt hatte, mochten letztere auch Verbrecher sein.
Nur ab und zu versucht noch heute jemand, den wunderbaren Spürsinn der Australneger zu benutzen. So war es auch hier mit Njagallayolul gewesen. Das heißt: schwarze Schlange. Oder wörtlicher. Holzkohlen-Schlange. Noch richtiger. Verbranntes Holz-Schlange.
Ein Amerikaner hatte ihn in Australien als Jagdgehilfen benutzt, wollte ihn mit in seine Heimat nehmen.
An Bord brachte er ihn glücklich. Hier aber fing es an. Butschiro riss plötzlich die Kleider ab, sprang mitten im Meere über Bord, wollte an Land schwimmen. Er hatte von der Ausdehnung des Meeres ja keine Ahnung, Als er noch zweimal aufgefischt worden war, sperrte man ihn ein.
Bei der Landung in San Francisco fand man seine Zelle leer. Doch er selbst wurde wiedergefunden, er hatte ein kleines Köfferchen seines Herrn ausgeräumt und sich selbst hineingequetscht, was am besten für seine Schlauheit sprach und was man von ihm noch zu erwarten hatte. Sobald er einmal seine Kleider ausgezogen hatte, war mit ihm nichts mehr anzufangen. Don Christoffero befand sich gerade in Frisco, hörte davon, besichtigte den Burschen und nahm ihn mit. Ihn gefesselt zu transportieren, war nicht gut angängig. Er wurde in einer Kiste verpackt und hier im Tale in Freiheit gesetzt.
Hier machte er sich ganz gut, erfüllte seine Jagdbedingungen spielend, wurde als bester Spürhund verwendet, als letzte Hilfe gerufen, wenn ein angeschossenes Wild nicht aufzufinden war.
Wenn er nur nackt gehen konnte. Selbst das Schürzchen für diese drei Tage war nur einmal eine Ausnahme, das hielt er schon nicht länger aus.
Ich werde von seinem Spürsinn noch zu erzählen haben, aber auch, was der Schreckliches anrichtete, als der böse Geist der Nacht über ihn kam.
»He, Hagen«, wandte sich Littlelu an mich, »wissen Sie, was eine Hamburger Stulle ist?«
»Ja, das weiß ich.«
»Na, was ist das?«
»Eine Schnitte Brot, mit Butter bestrichen, verschiedene Art kaltes Fleisch darauf, Kalbsbraten und dergleichen, etwas Schweizerkäse, als Verzierung ein paar Radieschen, zwei zusammengerollte Sardellen, ein Klecks Kaviar darauf — das nennt man eine Hamburger Stulle. Die Ausstattung richtet sich danach, ob man beim Budiker dafür 30 Pfennige bezahlt oder im Hotel einen Taler.«
»Stimmt«, nickte Littlelu zufrieden, »Ihre Kenntnisse im Gebiete der Hamburger Stullen sind sehr gut. Sie können einen Platz heraufrutschen —«
»Was, das haben Sie schon selber gewusst und lassen mich hier —«
»Na, na, nur ruhig! Ich wollte Sie nur einmal prüfen. Es war nicht zwecklos. Wissen Sie aber, was eine Choktaw-Stulle ist?«
»Nein.«
»Dann drehen Sie sich gefälligst einmal um. Da sehen Sie, wie man eine Choktaw-Stulle bereitet. Der Häuptling schickt sich nämlich soeben an, sich die dritte zu fabrizieren, sonst wüsste ich's auch nicht. Auf einer Speisekarte habe ich's noch nicht gelesen.«
Ich tat ihm den Gefallen, drehte mich um. Ich stand gerade dort, wo die anderen »Fressalien« aufgebaut waren, denn mit dem geschossenen Wild war es noch lange nicht abgetan. Mein Schwiegervater ließ sich eben nicht lumpen.
Also ein würdevoller Choktaw-Indianer in vollem Federschmuck, noch auf beiden Backen kauend, langte in eine Kiste, holte eine Tafel Schokolade heraus, strich mit seinem Skalpiermesser fingerdick Butter drauf, schnitt von einem Schinken, der an einem Baumast an einem Stricke hing, eine starke Scheibe ab, klatschte sie darauf, schmierte aus einem Fässchen Honig darauf, das Wachs auch gleich mit, legte auf den Honig eine dicke Käsescheibe drauf, schmierte auf diese noch einmal fingerdick Butter, schmierte auf diese fingerdick englischen Senf —
Wenn ich aber dachte, jetzt wäre er fertig, da irrte ich mich!
Ja, mit dieser Stulle war er allerdings fertig. Erst aber nahm er aus einer Kiste noch eine große Knackwurst, strich Butter darauf, Honig darauf, Senf darauf — und nun fing er an zu essen, abwechselnd von der Schokoladenstulle und von der Wurst abbeißend. Und wie er dabei sein Maul aufreißen musste!
Ich erwähne das nur, um zu zeigen, wie hier gegessen wurde, was für einen Geschmack diese Leute entwickelten, wie sie sich die Speisen zusammenstellten; denn das ist nur ein einziges Beispiel von hundert anderen Merkwürdigkeiten. Wohin man blickte, überall gewahrte man die seltsamsten Szenen, immer mit dem Essen vereinigt. Manchmal auch recht eklige.
Hierbei erwähne ich unter zahllosen anderen Merkwürdigkeiten noch einen Indianer, der eine große Zervelatwurst nahm, sie mit einem Stock der Länge nach durchbohrte, vorn oben eine größere Höhlung ausschnitt, diese mit Tabak stopfte und nun aus der Zervelatwurst zu rauchen begann. Und das tat der nicht etwa, damit andere über ihn lachen sollten. O nein, ganz gravitätisch! Und warum sollte er nicht? Rauchen wir nicht auch aus Meerschaumpfeifen, welche zu allerhand möglichen und unmöglichen Formen geschnitzt sind? Na gut, dem machte es eben einmal Freude, aus einer Zervelatwurst zu rauchen. Indianer rauchen ja auch aus ihren Tomahawks. Eine Zervelatwurst aber ist doch noch besser. Die kann man hinterher auch noch aufessen, was jener denn auch prompt tat.
Auch mit der Choktaw-Stulle war es nicht so einfach gewesen, wie ich es geschildert habe. Eigentlich die Hauptsache fehlte bei meinem Bericht. So eine Schokoladenstulle kann schließlich jeder bereiten und verzehren. Aber die Schokoladentafel war in Stanniol gewickelt gewesen, und der Häuptling hielt es nicht der Mühe für wert, das erst abzumachen, solch eine Schwäche verachtete er — der aß das Stanniol mit.
Ich bekam aber auch noch anderes zu sehen, was ich mir immer weniger erklären konnte.
Warum verschluckten die Indianer so viele Steine? Bis zur Walnussgröße. Immer sah ich einmal einen, der solch einen Stein in den Mund nahm und ihn hinterschluckte. Dabei war auch das Gebaren so merkwürdig. Solch ein Steinschlucker blickte dabei stets nach mir, sah ich aber hin, dann wandte er sich schnell um, als geniere er sich oder als ob —
Ich wurde nicht klug daraus!
Bemerken will ich auch noch gleich, dass sich sonst niemand um mich kümmerte. Libelle war im Häuptlingszelt und wurde zur eigentlichen Trauung vorbereitet.
»Nun, Bärenknochen, wisst Ihr diese Ehre auch zu würdigen?«, wandte sich da Vater Christoph endlich einmal an mich. »Wisst Ihr auch, was sich die Hochzeitsgäste für aufopfernde Mühe geben, um Euer späteres Eheleben so angenehm wie möglich zu machen?«
»Sich für Mühe geben?«
»Ihr wisst's nicht? Kommt mal mit.«
Er führte mich etwas abseits, wir lagerten unter einem Baume, der Ewige erklärte.
Ja, nun erst erfuhr ich, was mir hier für eine Ehre zuteil wurde!
Was diese Fresserei und alles andere für eine tiefe, tiefe Bedeutung hatte!
Je mehr die Hochzeitsgäste aßen, desto weniger würde ich später in Nahrungssorgen geraten. Die aßen für mich gewissermaßen auf Vorrat. Natürlich mystisch-symbolisch zu verstehen. Auch alle Butter, die sie verschluckten und ins Feuer spuckten, stand später zu meiner Verfügung. Und dass sie Steine verschluckten und das Stanniol mitaßen, dadurch sorgten sie für meine immergute Verdauung. Sie nahmen meine späteren etwaigen Verdauungsstörungen gewissermaßen schon jetzt freiwillig auf sich, sodass ich selbst davon verschont blieb.
Denn was nützt es denn, wenn man Berge voll Fleisch hat und Fässer mit Butter und eine bare Million dazu, und man hat egal den Magenkrampf? Selbst der Säugling opferte sich für mich auf, indem er jetzt eine Gurke mit Honig und Senf nutschte. Und die alte Hexe, meine eigene Schwiegergroßmutter, salbte ihre Glieder mit Butter und Honig ein und leckte sie selbst wieder ab, auf dass auch mein Leib noch im höchsten Alter von Butter und Honig triefe und dass auch ich dann noch imstande sei, meine Glieder so zu verrenken, dass ich sie ablecken konnte!
Ooooh, jetzt erst begriff ich alles!
Ooooh, wessen Heirat ist so gefeiert worden wie damals die meinige?
Wem ist solche Ehre bei seiner Heirat zuteil geworden?
Es wurde aber nicht nur zu meinen Ehren geschluckt und gespuckt, sondern auch Wettkämpfe aller Art wurden veranstaltet. Hauptsächlich wurde um die Wette hoch und weit gesprungen und gerannt.
Es ist überhaupt merkwürdig, dass Cowboys und Vaqueros, die doch mehr Zentauren als richtige Menschen sind, sich zu Fuß so unbeholfen benehmen, bei jeder Gelegenheit Wettkämpfe im Springen und Laufen veranstalten, sich auch immer darin üben. Wenn die »Season« beendet ist, die weißen und roten Jäger mit ihren Fellen und Pelzen auf den Märkten zusammenkommen, nehmen auch diese daran teil.
Es lässt sich begründen. Weil die nordamerikanischen Indianer von Natur aus die herrlichsten Springer und Läufer sind und ihre weißen Konkurrenten sich auch in dieser Hinsicht nicht von ihnen »werfen« lassen wollen. Man widmet im sportliebenden Amerika diesen Kämpfen zwischen den roten und weißen Jägern oder Cowboys dieselbe Aufmerksamkeit, wie wenn ein schwarzer Champion gegen einen berühmten Weißen boxt, zu jenen gewissen Zeiten spricht ganz Amerika von dieser Springerei und Lauferei zwischen Rot und Weiß, überall werden Wettbüros aufgemacht, es erscheinen sogar zwei ständige Zeitungen, die sich nur hiermit beschäftigen, »Red and White« und »White contra Red«. Die Sache ist wirklich auch ganz interessant. Wenn die Indianer zusammen laufen, so gewinnen stets diese. Im Einzelnen aber sind immer Weiße die besten Springer und Läufer. Und sogar von physiologischer Bedeutung ist die Tatsache, dass Mestizen, Mischlinge zwischen Rot und Weiß, meist Glanzleistungen erzielen, dann aber plötzlich total versagen.
Dann natürlich wurde auch um die Wette geschossen, mit Büchse, Revolver und Bogen. Staunenswerte Leistungen. Doch übergehe ich das. Erwähnen will ich nur, dass sich Atalanta an alledem nicht beteiligte, auch nicht außer Konkurrenz.
Ferner Kraftkunststücke, meist ganz besonderer Art. Einen interessanten Fall muss ich schildern.
Da war ein Jäger, Rubberknout genannt. Rubber ist der englische Spezialausdruck für Kautschuk. Also Kautschukknute, Gummiknüppel. Der kleine Mann war sehr stark gebaut, hatte starke Knochen, diese schienen aber aus Gummi zu bestehen. Er wog, wie dann festgestellt wurde, 168 englische Pfund, genau 70 Kilogramm.
Der legte sich auf den Rücken.
»Ich bin eine tote Leiche. Wer nimmt mich auf den Rücken, meine Arme vorn über seine Brust, und trägt mich davon, ohne dass meine Füße den Boden berühren?«
Ich dachte gleich an etwas.
»Er hob den Toten auf und trug ihn davon.«
Wie oft liest man so etwas nicht.
Jawohl, probiert's mal!
Eine Leiche ist kein Mehlsack.
Wenn nach Goethe Blut ein ganz besonderer Saft ist, dann ist eine Leiche auch ein ganz besonderes Ding.
Ganz, ganz merkwürdig, wie schwer eine Leiche ist! Es ist ein Widersinn, Gewicht bleibt doch Gewicht, aber — es ist schon ein Unterschied dabei!
Und Rubberknout »machte sich schwer«. Er markierte nicht einen schlaffen Mehlsack, sondern eine »tote Leiche«. Es ist schon eine kleine Kunst, das zu können.
Einen ausgewachsenen Toten auf den Arm zu bringen und fortzutragen, das geht. Es ist eben nur nicht so leicht, wie man es sich vorstellt. Das brachte ich fertig und noch viele andere. Es waren starke Kerls dabei.
Aber wie der es verlangte, ihn Huckepack auf die Schulter zu nehmen — das ging nicht.
Ach, was haben sie den armen Kerl herumgebalgt!
»Das wäre doch gelacht!«, sagte Graf Felsmark, stellte sich breitbeinig über die auf dem Bauche liegende Leiche, packte sie bei den Oberarmen, schwang sie durch die Luft, über seinen Kopf weg — es gelang ihm nicht, sie auf seinen Rücken zu bekommen, dass sie festhing. So oder so, sie rutschte immer wieder herunter.
Ein Riese war dabei, gegen den noch der hünenhafte Graf verschwand. Er brachte es nicht fertig, benahm sich überhaupt viel ungeschickter. Mich dauerte nur manchmal die arme »Leiche«, wie die malträtiert wurde, Denn jeder wollte doch seine Kraft und Geschicklichkeit probieren, ich tat's auch — kein Gedanke daran, den Kerl auf den Rücken zu bekommen. Ihn erst aufzurichten und an einen Baum zu binden, das war ja nicht erlaubt. Überhaupt wäre auch schon das ein Kunststück gewesen.
»Und ich bring's doch fertig«, rief der Graf, »wenn ich mich auf zwei Kisten stellen darf.«
Es wurde ihm gestattet, Er nahm zwei Kisten, legte die »Leiche« dazwischen auf den Bauch, packte sie so wie vorhin, trat auf die beiden Kisten — so schleuderte er sie nochmals über seinen Kopf weg, auf diese Weise gelang's ihm, er trug den Mann davon.
Aber als voll konnte das nicht gelten. Vom Boden ohne jedes Hilfsmittel aufheben.
Da dies nicht möglich war, sollten die Versuche schon aufgegeben werden, anderthalb Stunden hatte man sich abgequält, jeder wollte doch einmal dran, als Atalanta vortrat.
Sie wälzte den Mann, der, noch immer eine tote Leiche, mit ganz verdrehten Beinen auf der Seite lag, auf den Rücken, legte sich selbst mit dem Rücken auf ihn, kreuzte seine Arme über ihre Brust, sie mit einer Hand festhaltend, legte sein rechtes Bein herüber, wollte sich herumwälzen, einige misslungene Versuche, dann geschah es, jetzt lag sie unten und er oben, und so stand sie auf und trug ihn auf dem Rücken davon, ohne dass seine Füße den Boden berührten.
Die rote Gräfin hatte das Problem gelöst.
Nun wusste man, wie's gemacht werden musste. Aber die Sache war die, dass es niemand nachmachen konnte, so einfach es auch ausgesehen hatte.
Wieder wurde die »Leiche« eine Stunde lang herumgebalgt, jeder wollte es doch versuchen, jeder legte sich mit dem Rücken darauf — aber es ging nicht. Es war schon äußerst schwer, so den Mann herumzuwälzen, und gelang das doch, so lag er nicht richtig auf dem Rücken, glitt beim Aufstehen wieder herab.
Es half alles nichts, niemand konnte es der roten Gräfin nachmachen. Der Versuch wurde aufgegeben, das Spiel war beendet —
Nun aber kommt das, weshalb ich dies eigentlich nur erzählt habe.
Ich weiß nicht, ob es schrecklich, entsetzlich, kaum menschlich zu nennen ist oder göttergewaltig.
Der Leser mag es selbst entscheiden.
Als Rubberknout aufstehen sollte, konnte er es nicht mehr.
Bei der furchtbaren Herumbalgerei und Herumschlenkerei war ihm nicht nur der linke Arm ausgekugelt, sondern auch der linke Schenkelknochen gebrochen worden.
Und das war gleich im Anfange geschehen.
Noch mindestens zwei Stunden lang hatte er sich mit dem ausgekugelten Arm und dem gebrochenen Beine herumbalgen lassen, ohne einen Mucks zu sagen.
Warum nicht?
Pah — never mind — solcher Schnickschnack! Rubberknout war ein Mann!
Genug!
Sieh, lieber Leser, so etwas kann man nur erzählen, wenn man es selbst erlebt hat. So etwas kann man nicht erfinden.
Dem Manne wurde der Arm eingekugelt und in die Schlinge gehängt, ihm das Bein geschient, dann ließ er sich ans Feuer tragen und holte mit der rechten Hand nach, was er während der drei Stunden im Essen und Buttertrinken versäumt hatte — mir zu Ehren. Und diese Ehre wusste ich jetzt wirklich zu würdigen, mir wurde ganz seltsam zumute.
Unterdessen war es Mittag geworden, die mächtigen Fleischstücke waren durchgeröstet.
Neue Feuer wurden angezündet, in einem Kreise um eine Sandfläche herum von etwa 25 Meter Durchmesser.
Mein Schwiegervater weihte mich mit wenigen Worten ein, in welcher Weise die eigentliche Trauung vollzogen wurde, was ich dabei zu tun hatte.
Es war eine Art von »Blindekuh«, von Versteckspielen. Ich musste mir meine Frau erst suchen, sie mir erobern.
Ich bin überhaupt auf die Vermutung gekommen, dass wir das sogenannte Blindekuhspiel erst von den Indianern bekommen haben, wenigstens dieses Wort. Auch die Engländer haben dieses Wort, aber ich habe nicht erforschen können, wann es zuerst gebraucht worden ist, für das Spiel, dass jemand mit verbundenen Augen andere suchen, haschen muss. Dass man gerade von einer blinden Kuh spricht, muss doch irgend eine Bedeutung haben. Ich vermute wirklich, dass es von dem indianischen Spiele stammt, das jede Trauung begleitet, die Hauptsache dabei bildet.
Ich musste unter ein Büffelfell kriechen, das besonders präpariert war. Es war wohl gegerbt, aber durch eine besondere Manipulation wieder ganz steif gemacht, wobei es die Form einer Schildkröte bekommen hatte. Die beiden verwendeten Felle — auch die Braut kriecht unter ein solches — müssen von jungen, aber ausgewachsenen Kühen stammen, die noch nicht gekalbt haben. Eigentlich wäre für den Bräutigam doch das eines Ochsen, eines Stieres angebrachter — ganz sachlich gesprochen — aber auch für ihn muss es das einer Kuh sein. Weshalb, habe ich nicht erfahren können. Eben uralte Tradition. Immer wieder aber muss man hierbei an »Blindekuh« denken.
Zuerst wurde das mächtige Lederschild, oben noch mit Haaren bedeckt, aufgerichtet, ich musste mich hineinstellen, dass ich festgeschnallt werden konnte. Im Inneren befanden sich nämlich Lederriemen, für die Brust und Oberarme. Es war so eingerichtet, dass ich mich nicht selbst befreien konnte.
Nun wurde ich umgestülpt, dass ich auf Hände und Knie zu liegen kam. Ich konnte mich auch ausstrecken, hing dann in den Brust- und Schulterriemen, ganz bequem, sodass man dies für jede Zeit aushalten konnte. Kniete ich, dann hob sich der Rand des Lederschildes vom Boden ab, sodass ich fortkriechen konnte, aber nicht hoch genug, um unten durchzusehen.
Unter ein gleiches, aber leichteres Fell musste die Braut kriechen. Auch konnte sie sich selbst befreien, steckte ihre Arme nur durch Schlingen. Ferner hatte sie vor sich Gucklöcher. Meine Aufgabe war es nun, die Braut zu suchen, zu fangen. Natürlich musste sie in jungfräulicher Scham vor mir entfliehen, was ihr ja bei den Gucklöchern auch sehr leicht möglich war. Während es bei mir ein blindes, planloses Suchen war. Berührte ich mit meinem Büffelschilde den ihren, so war sie gefangen, besiegt, sie musste unter mein Fell kriechen, befreite mich, und die Trauung war vollzogen, wir waren Frau und Mann.
Unterdessen saßen die Hochzeitsgäste, Männer und diesmal auch Weiber, im Kreise um die Feuer und sangen ununterbrochen, wenn sie die Mäuler nicht gerade zu sehr vollgepfropft hatten, das schöne Lied:
Büffel, Büffel gib ihm, großer Geist,
Dicke, dicke Büffel, großer Geist.
Nichts weiter, immer ein und denselben Vers. Wenn man diese wörtliche deutsche Übersetzung aus der Choktawsprache im richtigen Takte liest, so hat man auch gleich die Melodie dazu. Man kann sie gar nicht verfehlen. Nur dass nach jedem Vers noch mit überschnappender Stimme ein »hau!« eingeschaltet wird.
Das war der Segen. Das Wort »Büffel« hat für alle nordamerikanischen Indianer noch heute, auch wenn sie gar keine Büffel mehr kennen, dasselbe zu bedeuten, wie für den Australneger die Butter. Wenn man dicke, dicke Büffel hat, dann kann es einem doch nicht schlecht gehen. Dann hat man überhaupt alles, was sich das Herz nur wünschen kann.
Die Weiber und Kinder klatschten dabei ununterbrochen in die Hände, sich beim Feuerholen und Braten ablösend, während die Männer, rote wie weiße wie schwarze, sich nur im Brüllen möglichst laut hervortaten — mit Ausnahme also, wenn sie kauten und schluckten — und spuckten.
Wenn alles klappte, würde das 60 Stunden lang währen. Bis Freitag Nacht um zwölf. Und jetzt war es Mittwoch Mittag.
Hierbei bemerke ich nachträglich, dass der Ewige den Anfang der Hochzeit erst auf Donnerstag hatte verlegen wollen, damit die Hochzeitsgäste dann Sonntagsruhe hatten, denn geschlafen durfte während dieser drei Tage und Nächte natürlich nicht werden! Aber hiermit waren die Jäger nicht einverstanden gewesen. Solch eine Kinderei! Gleich nach diesen drei Tagen und Nächten wollten sie am Sonnabend auch noch ihre Jagdbedingungen erfüllen.
Also unter Umstanden konnte ich da 60 Stunden lang herumkriechen und den Gesang und das Händeklatschen hören, denn dass sich meine Braut freiwillig fangen ließ, das war ausgeschlossen. Das war überhaupt eine merkwürdige Sache, Libelle war, auch wenn sie einen weißen Vater gehabt, eine echte Indianerin, diese Hochzeit war ihr etwas Heiliges — über diese Büffelfellkriecherei hatte ich gar nicht mit ihr sprechen dürfen.
Da kam sie in den Kreis hereingekrochen, schon mit dem Büffelfell zugedeckt. Nun kippte auch ich mich um, finster ward es um mich her, nur ein klein wenig Tageslicht kam durch den schmalen Spalt an den Rändern, und alsbald fing es draußen zu brüllen an:
Büffel, Büffel, gib ihm, großer Geist,
Dicke, dicke Büffel, großer Geist, hau!!
Ach Du griene Neine! Wenn das noch meine gute Mutter erlebt hätte! Ich, der höhere Schulamtskandidat, hier unten im hochzeitlichen Büffelfell!!
Natürlich kroch ich gleich dahin, wo ich das bräutliche Büffelfell zuletzt gesehen hatte. Und ebenso natürlich war es dort schon weg. Als mein Lederschild an ein Hindernis stieß, wurde ihm sanft eine andere Richtung gegeben. Ich hatte eben den Rand des Kreises erreicht gehabt, die Einfassung wurde durch kauernde Männer und Weiber gebildet. Erst hinter diesen brannten die Feuer,
Also auf 60 Stunden konnte ich mich gefasst machen. Dazu hatte Kapitän Hagen aber nun weniger Lust. Und man hatte mir weder Ehrenwort noch Taschenmesser abgenommen. Und dieses konnte ich erreichen.
Also ich zog mein Taschenmesser, öffnete die Stechklinge, einen Pfriemen, und bohrte vor meinen Augen ein genügend großes Loch.
So, nun konnte ich doch sehen, wo ich war, und als ich mich herumdrehte, konnte ich auch meine Büffelbraut krauchen sehen.
Natürlich wollte ich meinen Hochzeitsgästen den Spaß nicht gleich so schnell verderben oder doch ihn beenden. Einige Stunden würde ich es wohl aushalten. Ich krauchte scheinbar planlos herum. Nun, da ich ebenso wie die Verfolgte beobachten konnte, machte es mir ja erst recht Spaß, wenn ich ihr »zufällig« nahe kam, wie die andere Schildkröte zurückwich, sie sich an der Seite herumdrücken musste, und ich ließ es nicht daran fehlen, sie manchmal in die Enge zu treiben.
Ebenso interessant war es, die zusehenden, brüllenden und klatschenden Hochzeitsgäste zu beobachten. Ferner bemerkte ich, dass sie manchmal Lederpakete in den Sandkreis warfen, an langen Schnüren befestigt, vor mir in meine Nähe, und es war der reine Zufall gewesen, dass ich noch über keines hinweggekrochen war, immer daran vorbei, worauf das Paket an der Schnur zurückgezogen und wie ein Köder an der Angelschnur von Neuem ausgeworfen wurde.
Jetzt, da ich sehen konnte, kroch ich über solch ein Paket weg, öffnete es natürlich. In das Leder war eine dicke Schinkenscheibe eingewickelt, mit Butter, Honig und Senf beschmiert. Na, das ließ ich mir gefallen, wenn man so auch an meinen Magen dachte. Nun wollte ich die Pakete weiter untersuchen, wenn ich sie auch nicht gar so schnell finden durfte.
Weniger erfreulich war es, dass mir aus dem zweiten Pakete eine mächtige Kröte entgegensprang. Ach, wie die jubelten, als sie merkten, dass ich hereingefallen war! Heute brauchte auch die sonst würdevollste Rothaut ihren Ernst nicht zu wahren, konnte zum ausgelassenen Kinde werden.
Na, diesen Gefallen wollte ich den guten Leutchen tun, ließ mich also durch die Kröte nicht entmutigen, öffnete das dritte Paket und fand darin eine Kruke mit Ahornwasser, ausgezeichnet schmeckend. Und dann ein Stück gebratenes Fleisch. Dann freilich stach ich mich wieder an einem Igel, und zwar an einem lebendigen. Dafür aber wurde mir auch gleich eine brennende Tabakspfeife zugesteckt.
Und so ging das weiter. Mit Essen und Trinken wurde ich reichlich versorgt, musste nur ab und zu eine Eidechse oder einen fetten Riesenregenwurm oder etwas Ähnliches mit in Kauf nehmen, oder in das Weizenbrot waren Disteln mit hineingebacken, oder ich biss in eine Knackwurst, die mit purem Cayennepfeffer gefüllt war, und die zweite Pfeife, die mir gereicht wurde, breitete unter meinem Büffelfelle einen mörderlichen Gestank.
Ist das nicht rechtes Blindekuhspiel? Sogar unter einer richtigen Kuhhaut — auch sonst hier noch viel »geistreicher« arrangiert als bei uns.
So mochten zwei Stunden vergangen sein, als ich die Zeit für gekommen hielt, das Spiel nun zu beenden. Mir taten die brüllenden Männer und klatschenden Weiber leid, und mehr noch meine Knie, denn so weich der Sand auch war, ich war doch keine Schildkröte, kein anderer Vierfüßler, sondern rechnete mich zur Gattung homo sapiens.
Also ich trieb die andere Lederschildkröte in die Enge, natürlich ohne jedes Zeichen der Absichtlichkeit, bis ich sie kräftig anstieß.
Sofort verstummte der Gesang und das Händeklatschen, um noch einem ganz anderen Geräusch, einem Höllenspektakel Platz zu machen.
Und alsbald lüftete sich der Rand meines Büffelfelles etwas, Libelle schlüpfte darunter, befreite mich nicht sofort, wohl aber überhäufte sie mich gleich mit Zärtlichkeiten, kicherte mir ins Ohr, schmiegte sich an mich, küsste mich wieder und wieder.
Das heißt — Libelle hatte doch nicht solche Krallenfinger, hatte doch keine Glatze, hatte doch nicht solche knöcherne Glieder, ohne ein Quäntchen Fleisch darauf?
Von einer schrecklichen Ahnung erfasst, sprang ich auf! Und die Sonne beleuchtete meine Ahnung als Tatsache.
War das eine steinalte Hexe — war das meine eigene Schwiegergroßmutter, der ich zwei Stunden lang nachgekrochen war, die ihre Knochen um die meinen geschlungen hatte?!
Ach, dieses Hallo, das jetzt im Kreise erklang! Ich mochte ja auch danach dastehen und ein Gesicht dazu machen.
Aber es half alles nichts, ich musste noch einmal niederknien und das Büffelfell über mich nehmen, das Spiel fing von Neuem an.
Was würden sie diesmal unter das andere Fell praktizieren, um mir eine »freudige Überraschung« zu bereiten? Ein totes Schwein, das durch Mechanismus getrieben wurde?
Doch nein, durch meine Gucklöcher sah ich, dass diesmal wirklich Libelle unter das Büffelfell kam, wenn es auch außerhalb des Kreises geschah.
Eine Stunde tat ich ihnen noch den Gefallen, ließ mir dicke, dicke Büffel wünschen und mich hänseln, dann rempelte ich die bräutliche Schildkröte an, und es war wirklich Libelle, die unter allgemeinem Hallo zu mir gekrochen kam und mich auch sofort abschnallte.
Aber weit davon gefehlt, dass die Sache hiermit beendigt gewesen wäre, dass ich nun hätte aufstehen können. Da musste ich meinen Schwiegervater vorher falsch verstanden haben. Libelle, meine nunmehrige ganz regelrechte Ehegattin, berichtete mir etwas anderes. Volle 24 Stunden hatten wir beide hier zusammen unter dem Büffelfelle zu liegen. Brauchten nicht mehr herumzukrauchen, sondern hatten mitten in dem Kreise still zu liegen. Konnten ja sonst treiben, was wir wollten, mussten aber unter dem Felle liegen bleiben, und volle 24 Stunden, bis morgen Nachmittag um drei, hatten die Männer das Büffellied zu brüllen und die Weiber dazu in die Hände zu klatschen.
Nun, jedenfalls waren wir beide viel besser dran als die Hochzeitsgäste, wir brauchten nicht zu brüllen, nicht zu klatschen, wurden mit allem versorgt, was wir brauchten. Und es kam noch viel besser. Nämlich für uns beide. Gegen Abend begann es zu regnen, zu gießen, und dann hagelte es Taubeneier. Aber die Hochzeitsgäste durften sich nicht etwa zurückziehen! Das aufgestapelte Feuerholz wurde durch Felle geschützt, aber kein Mensch durfte seinen nackten Oberkörper mit einer Decke verhüllen.
Büffel, Büffel gib ihm, großer Geist,
Dicke, dicke Büffel, großer Geist.
So grölten sie, klatschten in die Hände und ließen sich abschwemmen und kurz und klein hageln.
Am meisten Spaß machte mir Littlelu. Denn auch die anderen Gäste, die zu Atalantas Begleitung gehörten, die beiden Australier usw., durften sich nicht etwa entfernen. Sie hatten Lust dazu gezeigt, als es zu regnen begann, aber Vater Christoph hatte ihnen in aller Höflichkeit bedeutet, dass dies nicht angängig sei. Und überhaupt — pah, so ein bisschen Regen und Hagel!
Also auch Littlelu blieb. Jawohl, so ein bisschen Regen und Hagel! Ich sehe noch das Gesicht, das Littlelu machte, wie er seine Mundwinkel bis ans Kinn herabzog.
Ja, siehst Du, Kerl, Du warst derjenige, der mir die Knackwurst mit dem Cayennepfeffer präpariert hatte, ich hatte es gesehen, freilich nicht gewusst, dass es gerade solch höllischer Pfeffer war, mit dieser Wurst war ich wirklich hereingefallen, hatte ahnungslos hineingebissen und dann eine Stunde lang Feuerqualen im Munde gehabt — siehst Du, dafür musst Du wasserscheuer Kater jetzt dort draußen ungeschützt im gießenden Regen sitzen, Dich von Eisstücken zudecken lassen!
Wir beide aber, meine Frau und ich, lagen unterdessen im Himmelbette, unten Land und oben Leder, jedenfalls aber weich und geschützt.
So ging die Nacht vorüber, dann brach wieder ein sonniger Morgen an, mittags um drei wurden wir erlöst. Wir hätten es aber auch noch länger ausgehalten, hatten ja auch schlafen können. Das hatten die Schwächlinge unter den Gästen, die es nicht ohne Schlaf aushalten konnten, auch gedurft, aber zurückziehen hatten sie sich nicht dürfen! Erst jetzt war es ihnen gestattet, und sie machten auch Gebrauch von dieser Erlaubnis, wenigstens die beiden Australier, Wilhelm Neumann und Littlelu.
»Hagen«, sagte Letzterer zu mir, »wenn Sie das nächste Mal wieder Ihre Hochzeit feiern, vergessen Sie mich nicht einzuladen. Da können Sie sich ja auf ein Hochzeitsgeschenk gefasst machen! Da fülle ich in die Knackwurst nicht wieder Pfeffer, sondern Zyankali.«
Die anderen aber amüsierten sich weiter, schluckten und spuckten und schossen und sprangen und rannten, bis Freitag Mitternacht, dann gingen sie sofort auf die Jagd, machten immer noch ein Wettspiel, wer innerhalb der nächsten 24 Stunden die meiste Jagdbeute ablieferte.
Als dann am Sonnabend der Kanonenschuss die Sonntagsruhe einleitete, da freilich fiel alles in dem Tale in einen todesähnlichen Schlaf.
Seit drei Wochen war ich verheiratet und fühlte mich sehr, sehr glücklich als Ehemann.
Es war auch wirklich eine ganz ideale Ehe.
Nämlich, weil meine Frau niemals zu Hause war. Während ich im Schweiße meines Angesichts hobelte, nagelte und leimte, trieb sie sich irgendwo im Tale herum.
Ja, Du lieber Gott, sie hieß aber doch auch Libelle. Sperrt mal eine Libelle in einen Käfig ein.
Aber diese ihre Unsichtbarkeit galt nur für den Tag. Jeden Abend, sobald es zu dunkeln begann, stellte sie sich pünktlich ein, und wenn ich auch die Lage meiner Arche verändert, ohne ihr Wissen den entlegensten Winkel des Tales aufgesucht hatte, immer wusste sie mich rechtzeitig zu finden, noch ehe die Nacht angebrochen war.
Und stets brachte sie mir in einem Thermophortopfe warmes Abendessen mit — Frühstück und Mittag machte ich mir selbst — irgend ein wunderbares Spezialgericht, und ab und zu ein Kleidungsstück, eine Stickerei, eine Schnitzerei oder sonst etwas, was sie für mich gefertigt hatte.
Also nicht, wie ich erst sagte, dass sie sich herumtrieb. Gewiss, sie machte die weitesten Ausflüge, hatte auch dies und das zu erledigen, aber hauptsächlich saß sie doch immer auf einem ihrer versteckten Plätzchen, und wenn es auch nur ein unsichtbarer Baumast war, dort arbeitete sie für mich, und da musste sie doch wohl dabei an mich denken.
Dann, während ich aß, noch eine Stunde Unterricht in der Choktawsprache, ich schrieb mir Vokabeln auf, die ich während der Arbeit auswendig lernte, grammatikalische Erklärungen — und diese Indianersprachen sind wunderbar, fast mit dem Altgriechischen zu vergleichen! — und dann schlief sie ein, wie ein Vögelchen plötzlich das Köpfchen unter die Flügel steckt und auch gleich eingeschlafen ist.
Und wenn ich am Morgen einmal später aufwachte, die Sonne blickte schon über die Felsenkämme, dann war die Libelle auch schon wieder ausgeflogen.
Nun, gibt es denn eine idealere Ehe?
Oder glaubt man etwa, ich hätte eine Frau lieben mögen, die immer an meinen Rockschößen hing?
Das würde ich nicht aushalten, Ich kann's nicht. Ja, als Seemann, der alle Jahre, alle halben Jahre einmal nach Hause kommt, dann ein gemütliches Heim vorfindet, oder auch alle acht Tage einmal für einen Tag nach Hause kommt, wie zwischen Hamburg und London — da könnte ich ein guter Ehemann sein. Aber wenn ich mir vorstelle, den Tag über im Geschäft zu sein, am Abend müsste ich mich meiner Frau widmen, Tag für Tag und Abend für Abend dasselbe — ich könnte es nicht. Ich würde unglücklich werden und ich würde meine Frau unglücklich machen. Ich könnte mit meiner Frau nie ins Theater, in kein Konzert gehen. Sie würde mich stören, und das würde ich sie empfinden lassen, mir selbst unbewusst, denn ich bin doch nicht etwa ein Unmensch; ganz das Gegenteil.
Aber dieses Verhältnis hier war ein ganz anderes. Ich war glücklich und würde es unter denselben Verhältnissen auch immer bleiben. Und nun war die Sache die, dass sich die für heilig gehaltene Indianerin ja überhaupt gar keine andere Ehe vorgestellt hatte. Die Manitotuba musste sonst ihre völlige Freiheit behalten. Wie weit sie da gehen durfte, das wusste sie schon selbst. Ja, wir beide waren wie füreinander geschaffen!
Ich spreche hier ganz ernst von einer Ehe. Selbstverständlich! Oder ist es etwas anderes, wenn man evangelisch oder römisch-katholisch oder griechisch-katholisch oder irisch-deutsch-jüdisch getraut wird? An solch eine Frage dachte ich damals gar nicht. Gott sollte den bewahren. der mir damals auch nur solch eine Andeutung gemacht hätte, die Rechtmäßigkeit meiner Ehe anzweifelnd, der hätte ja von mir etwas zu hören bekommen!
Drei Wochen waren vergangen, der Kanonenschuss hatte um Mitternacht den Beginn der Sonntagsruhe verkündet.
Mein Hausboot lag neben einer Vermessungsarche, auf der sich 34 Ingenieure zusammengefunden hatten. Wir sangen Gaudeamus und andere Studentenlieder, deutsche, denn die meisten waren Akademiker und Deutsche dazu. Dafür hatte der wackere Emil gesorgt, als er sich seinen Generalstab erwählt, wobei er freie Hand gehabt.
Wir hätten nicht so singen können, wenn nicht zwischen uns eine mächtige Pfirsichbowle gestanden hätte, die sich nimmer leerte. Denn das Alkoholverbot in diesem Tale galt nicht für die Ingenieure. Nein, so war der Ewige nicht, er war kein Philister, kein Mucker, der lebte und ließ andere leben. Auch die Arbeiter auf den Räucherschiffen durften ruhig ihren Pulque trinken, bekamen diesen Agavenwein sogar geliefert. Dass die roten, schwarzen und weißen Jäger absolute Abstinenz einhalten mussten, das war wieder etwas ganz anderes, das hatte einen triftigen Grund. Doch es galt ja nur innerhalb dieses Tales. Und berechtigt war es auch, dass die Arbeiter keine Zechgelage abhalten durften, so viel Pulque bekamen sie auch gar nicht, durften nichts einführen. Sie konnten ja nach Christoffero gehen.
Ebenso, muss ich nochmals erwähnen, war es auch mit der Sonntagsruhe. Nur die Tiere, sonst Tag und Nacht verfolgt, sollten am Tage des Herrn ihre absolute Ruhe haben. Jedes Karnickelchen. Die Menschen konnten treiben, was sie wollten. Wenn sie nicht nach der Scheibe schießen durften, so nur deshalb nicht, weil die Schüsse das Wild beunruhigt hätten.
Für die Ingenieure gab es solch eine Vorschrift wegen des Trinkens überhaupt nicht. Jeden Abend fanden sie sich gesellig zusammen, wenigstens die von denjenigen Archen, die nicht gar zu entfernt von einander lagen, wenn da auch nicht etwa gezecht wurde. Am Abend zum Sonntag aber war Klub, da mussten sie sämtlich auf einer vorher abgemachten Arche oder sonst wo zusammenkommen, da wurde regelmäßig ein Geburtstag gefeiert, fiel auf die Woche keiner, so wurde er eben auf diesen Tag verlegt, und da es 37 Ingenieure waren, blieben nur noch 15 Sonnabende frei, an denen es eben etwas anderes zu feiern gab, und da freilich ging es hoch her. Der mexikanische Wein ist ja trotz seiner Güte auch so spottbillig. Wer fehlte, hatte fünf Dollars Strafe zu zahlen — meist war dann ein zartes Verhältnis in Christoffero daran schuld, und es war ganz richtig, wenn das nicht mit Groschen bewertet wurde — und fehlten nur zwei Herren, so deckte deren Strafe schon die ganzen Kosten.
Ach, es waren herrliche Abende und Nächte! In diesem Tale immer windstill, der Wald und die Prärie duftete, und die deutschen Lieder stiegen zum mexikanischen Himmel empor und die Witze schwirrten beim funkelnden Weine mit den Leuchtkäfern um die Wette.
Manchmal stellte sich auch der Ewige ein, brachte einen Korb oder ein Fass ganz besonderen Wein mit, und der achtzigjährige Mann war der feurigsten Jünglinge einer.
Heute war er nicht gekommen. Wir lagen an der Nordspitze der Bandinsel. Es war gegen zwei Uhr, noch niemand dachte an ein Schlafengehen, als unser Gesang, den wir gerade angestimmt hatten, durch einen Kanonenschuss unterbrochen wurde.
Alles lauschte atemlos. Nämlich, ob noch ein anderer oder mehrere Kanonenschüsse gelöst würden, auch in anderen, höheren Tonarten, mehr schmetternd. Denn da gab es die verschiedensten Signale. Auf diese Weise konnte man auch nach verschiedenen Bezirken beordert werden, denn das ganze Tal war in acht solche Bezirke geteilt. Auch eine Zeit konnte bestimmt werden. Ein einfacher Kanonenschuss, drei schmetternde Schläge und zwei nachfolgende Doppelschüsse hätten zum Beispiel bedeutet: Morgen früh um acht haben sich alle auf der Magazininsel zu versammeln.
Solche Signale sollen aber sehr, sehr selten vorkommen. Ich war darüber aber nicht instruiert worden, brauchte es auch nicht, denn sobald solche Signalschüsse fielen, hatte man mir gesagt, würde das ganze Tal so lebendig werden, dass ich überall Auskunft erhalten könnte.
Als es nun jetzt bei diesem einzigen Kanonenschusse blieb, bei einem ebensolchen, wie er vor zwei Stunden zur Einleitung der Sonntagsruhe gelöst werden war, so bedeutete dieses Signal: Alles sofort nach der Kanoneninsel.
Nun gab es aber auch keine Zeit mehr zu verlieren, die Ingenieure, die schon länger hier waren und daher den Ewigen besser kannten als ich, hatten es höllisch eilig. Doch es brauchte ja auch nur der Naphtamotor angedreht zu werden.
»Kommst Du mit uns oder folgst Du mit Deiner Arche nach?«, rief mir Emil zu.
Auch Libelle war durch den Schuss geweckt worden, ich sah sie bereits in dem Steuerraum hantieren.
»Libelle kann ja mit meiner Arche hier liegen bleiben —«
»Hier liegen bleiben? Die muss mit!«
»Muss mit?«
»Alles, alles, was sich im Tale befindet und sich Mensch nennt, muss nach der Signalinsel, jeder Säugling muss mitgebracht werden! Nur Todkranke sind entschuldigt.«
Das war mir etwas Neues. Ich hatte geglaubt, dieser eine Kanonenschuss riefe nur die Jäger alle zusammen.
Nun, ich rief Libelle auf das Ingenieurschiff herüber, wollte doch lieber mit diesem die nächtliche Fahrt machen. Eben weil mir die Sache doch etwas zu neu war. Wir waren von der Kanoneninsel 12 Kilometer entfernt, aber in direkter Luftlinie, überall ging es durch verschlungene Kanäle, und wie trotz der stockfinsteren Nacht gefahren wurde, das sah ich an einigen Motorbooten, deren Lichterchen wie die Sternschnuppen vorüberhuschten. Meine Arche lag gut vertäut und mochte hier nur ruhig bleiben.
»Was mag da passiert sein?«, fragte ich, als wir schon unterwegs waren.
»Das kann noch niemand wissen, der nicht gerade eingeweiht ist!«, entgegnete Emil. »In den zwei Jahren, seitdem ich hier bin, ist nur ein einziges Mal alles zusammengerufen worden, ebenfalls in der Sonntagnacht. Es war gleich am Anfange.«
»Und weshalb geschah es?«
»Weil während der Sonntagsruhe ein Schuss gefallen war, ein Gewehrschuss.«
»Und deshalb musste sofort alles zusammenkommen, auch die Frauen und Kinder?«
»Alle, alle, jeder Säugling musste mitgebracht werden, mitten in der Nacht, aus dem Schlafe gerissen. Und es war nicht einmal ein Jagdschuss gewesen. Indianische Jungen hatten sich aus Pulver Feuerwerkskörper gemacht, so ein Ding hatte sich selbst entzündet. Der Ewige hatte den Schuss selbst nicht gehört, erfuhr es aber schnell genug — sofort mitten in der Nacht alles zusammengetrommelt! Und Du wirst nun wissen und wirst es wohl auch merken, wie lange das dauert, bis alle zusammen sind. Manches Kanu hat doch länger als zwei Stunden bis zur Kanoneninsel zu fahren. Und dann kann immer noch jemand fehlen. Er hat im Schlafe den Kanonenschuss nicht gehört, der muss gesucht werden. Und bis der Letzte auf der Kanoneninsel ist, darf kein anderer sie verlassen. Und wenn's tagelang dauert. Da bleibt hier einmal das ganze Getriebe stehen. Nur wegen so eines dummen Jungen, der mit Feuerwerk gespielt hat. In dieser Hinsicht ist der Ewige sehr, sehr eigentümlich.«
Ja, es gefiel mir nicht recht, was ich da zu hören bekam. Ich dachte lebhaft an den Ausspruch eines Mannes, was wohl auch zum Sprichwort geworden ist: »Wer Tiere zu lieb hat, kann keine Menschen lieben.« — Die Betonung muss auf das Wörtchen »zu« gelegt werden. Bei alten Jungfern mit ihren Katzen oder Möpsen kann man die Wahrheit dieses Wortes manchmal recht deutlich erkennen. Oder auch an Friedrich den Großen mit seinen Windspielen mag man denken.
Es war ja recht schön, dass die Jagdtiere ihre Sonntagsruhe bekamen, aber — es wäre doch nicht nötig gewesen, wegen solch eines Schusses, der gar keinem Tiere gegolten zu haben brauchte, auch gleich alle Frauen und Kinder aus der nächtlichen Ruhe zu reißen, sie deshalb meilenweit fahren und dann stundenlang warten zu lassen. Und auch die Räucherschiffe mussten kommen, denn die hatten überhaupt keine Sonntagsruhe. Am Sonntage musste das erlegte Wild genau so von den Stationen abgeholt und präserviert werden wie an jedem anderen Tage, sonst konnte das am Sonnabend erbeutete Fleisch verderben. Allerdings bekamen die Arbeiter abwechselnd einen Tag in der Woche frei, aber ich wusste nun schon, wie todmüde sie des Abends waren, und weshalb da wegen eines einfachen Schusses ihre nächtliche Ruhe stören, die Untersuchung konnte auch später geschehen.
Doch ich wollte mich solcher krittelnder Gedanken entschlagen. Das hier war eine Wildnis, in der mehr ganz als halb wilde Jäger mit ihren Familien hausten, allein der Besitzer dieses Tales hatte hier zu bestimmen, wer sich hier aufhielt, der hatte sich diesen seinen Bestimmungen unterworfen, wem etwas nicht gefiel, der konnte ja gehen, und damit basta! Überhaupt konnte es sich auch um etwas ganz anderes handeln als um einen Schuss, der die Sonntagsruhe gestört hatte.
Wir machten in der Stunde sechs Knoten. Eine schnellere Fahrt war den Archen nicht erlaubt, überhaupt nicht möglich. Anderthalb Stunden würden wir brauchen, um die Kanoneninsel zu erreichen, und je mehr wir uns ihr näherten, desto lebendiger wurde es auf den Kanälen und Teichen, wie ich es sonst noch nie gesehen. Manches Motorboot überholte uns, und geruderte Kanus, in denen sich oft ganze Familien befanden, blieben kaum zurück.
Da sah ich auf einer kleinen Insel ein hell loderndes Feuer, an dem eine dunkle Gestalt kauerte.
»Wer ist denn das? Braucht der denn dem Signale keine Folge zu leisten?«
Die Erklärung, dass es Butschiro, der Australneger, sei, genügte eigentlich schon für mich.
Man hat behauptet, dass die Australneger keine Religion hätten. Aber sie glauben doch an Geister, und was ist denn das anderes als Religion. Über die Schöpfung und Unsterblichkeit der Seele und dergleichen zerbrechen sie sich freilich nicht den Kopf, über die Sonne wissen sie genau so viel wie unsere Gelehrten, nämlich, dass sie eine feurige Kugel ist — worüber nun wieder die Parsen, Buddhisten und Theosophen spotten — und sonst freilich kennen die Australneger keine guten Geister, sondern nur böse, die sich in der Nacht umhertreiben und alle Menschen, die sich außerhalb eines hellen Feuerscheins befinden, schädigen.
Das ist ein großes Glück für die einsamen Farmen und Schäfer und Reisenden in Australien. Bei Nacht haben sie von den raub- und mordlustigen Eingeborenen nichts zu fürchten. Diese verlassen bei Nacht ihr hell brennendes Feuer nicht, verraten sich vielmehr durch dieses selbst, lassen sich lieber fangen und töten, ehe sie in die unheimliche Nacht hineinfliehen, selbst wenn sie vom Vollmond erleuchtet ist.
»Und der Ewige gestattet bei Butschiro diese Ausnahme, dass er nicht zu kommen braucht?«, hatte ich nur noch zu fragen.
»Da ist gar nichts zu gestatten!«, entgegnete Emil. »Der schwarze Held würde sich totschreien, wenn man ihn mit Gewalt von seinem Feuer holen wollte. Auch die größte Lampe genügt noch nicht für seine Sicherheit, kein elektrisch erleuchtetes Zimmer. Nur an ein offenes Feuer wagen sich die bösen Geister nicht heran. Es ist nämlich schon so einmal mit ihm experimentiert worden, vom Ewigen selbst.«
Gegen halb vier Uhr erreichten wir die Kanoneninsel, ziemlich im Zentrum des Tales gelegen, fast kreisrund, ein Kilometer im Durchmesser, stark bewaldet, ebenfalls ganz wild gehalten, nur dass sich in der Mitte ein hoher Turm erhob, das einzige Gebäude im ganzen Tale. Das Böllergeschütz befand sich unten im Freien, im Turm war nur die Munition untergebracht, die aus einem halben Dutzend Leuten bestehende Mannschaft wohnte darin, sonst diente das schlanke Gebäude nur in der Nacht als Leuchtturm, zeigte immer ein helles, weißes Kalklicht, das man überall sehen konnte, wenn man sich nicht gerade in oder direkt hinter einem Walde befand, und außerdem war oben eine Station für Brieftauben, durch welche dieser Zentralpunkt mit den beiden äußersten in Verbindung stand, wo immer Wächter waren, nämlich mit den beiden Fahrstühlen, der eine bei zwei, also in der Hafenbucht, der andere, Nummer 18, am Horn, an dem Vorgebirge.
Heute Nacht aber bemerke ich zum ersten Male, dass auch mit farbigen Lichtern signalisiert wurde. Fortwährend blitzte es dort oben in allen Farben auf, und ich sah auch, dass oben von den beiden Fahrstuhlstationen geantwortet wurde. Den Schlüssel zu dieser Lichtsprache kannte keiner der Ingenieure, auch Libelle nicht, das war eine Geheimsprache, in die nur jene ständigen Wächter eingeweiht waren.
An der Kanoneninsel lag schon eine Arche und mehr noch ein Boot neben dem anderen, und immer neue kamen hinzu. Ich bemerkte gleich, dass ich umsonst gekrittelt hatte. Wer wie die roten und auch die meisten weißen Jäger nicht überhaupt über alles, was in der Welt passieren konnte, vollständig erhaben war, der freute sich über diese nächtliche Ruhestörung, wodurch sie einmal zusammenkamen. Alle die roten und schwarzen und weißen Weiber hatten sich etwas zu erzählen, sie zeigten einander ihre Kinder, und selbst den aus dem Schlafe gerissenen Arbeitern der Räucherschiffe war diese allgemeine Zusammenkunft nur angenehm. So kamen sie selten zusammen, alle hatten sie zu debattieren, und wer müde war, konnte ja auf seinem Schiffe weiterschlafen.
Dann drehte sich natürlich alles darum, weshalb man hierher beordert worden war, und wer den Schuss auf der Sägeinsel abgefeuert haben mochte. Denn das war der Grund des nächtlichen Appells. Heute Nacht zehn Minuten vor eins war auf der Sägeinsel ein Schuss gefallen.
Außer den Leuchtturmwärtern spielten einige weiße und auch farbige Jäger bei diesem Appell die Rolle von Unteroffizieren. Jeder, schien mir, der schreiben konnte. Denn die Meldungen wurden aufgeschrieben. Es ging dabei nicht gerade militärisch zu, aber doch sehr genau.
»Haben Sie sich schon gemeldet, Sir?«, fragte mich ein brauner Bursche, ein Mulatte.
»Nein. Muss man sich melden? Wo?«
»Sie sind schon befragt und aufgeschrieben worden?«
»Nein.«
»Kapitän Hagen, nicht wahr?«
»Bin ich.«
Meine Antworten wurden im Scheine einer an der Brust hängenden Lampe von dem Mulatten ganz fließend in ein Büchelchen notiert.
»Wissen Sie, weshalb alles hierher kommen muss?«
»Auf der Sägeinsel ist geschossen worden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe es erst hier gehört, es wird ja allgemein erzählt.«
»Auf der Sägeinsel ist zehn Minuten vor eins ein Schuss gefallen. Können Sie dazu irgend eine Aussage machen?«
»Gar nichts.«
»Wo befanden Sie sich zu jener Zeit?«
»Auf dem zweiten Vermessungsschiff, am Nordzipfel der Bandinsel.«
»Danke, Herr Kapitän.«
Sprach's und ging zu anderen, um sie zu vernehmen.
Das alles ging aber weit schneller, als ich es hier schildern kann, überhaupt sehr summarisch. Und ich würde das nicht so ausführlich schildern, wenn nicht noch etwas Besonderes herauskommen sollte.
Es fehlten ja noch viele, sie kamen noch, oder auch nicht, weil sie Urlaub hatten, sich in der Stadt befanden. Das war aber denen, die hier zu kontrollieren hatten, bekannt, nach solchen fragten diese gar nicht erst. Von anderen Seiten hörte man solche Fragen.
»Wo ist denn der große Biber?«
»All right.«
»Der ist doch im Tale, lagerte zuletzt auf der Bogeninsel, der müsste schon hier sein.«
»Er ist auf der Sägeinsel.«
Die Sache war die, dass dort bereits einige Jäger nach Fährten suchten, die waren aber dazu beordert, das wussten diese Fragenden hier schon.
»Wer hat denn den Schuss gehört? Wer hat es gemeldet?«
»Weiß nicht.«
Hierüber erfuhr man nichts.
»Bist Du auch da, Sepp?«
Der Tiroler hatte heute Urlaub, war aber in dem Tale geblieben.
»Wo bist Du gewesen, als der Signalschuss fiel?«
»Auf der Elchinsel.«
»Wie bist Du hergekommen?«
»Mit meinem Räucherschiff, das dort lag.«
»Well. Ist sonst noch jemand hier, den ich nicht aufgeschrieben habe?«
»Wo ist denn Erdbeere?«
»Die ist bei ihrer Schwester geblieben, sie lagern auf der Kastanie.«
»Ja, warum kommen die beiden denn nicht?«
»Weil die Fledermaus heute früh ein Kind bekommen hat, Erdbeere bleibt bei ihr, und das weiß der Ewige doch ganz gewiss.«
»Ach richtig, hier steht es ja auch, dass die beiden nicht kommen.«
So schwirrte es an den Ufern durcheinander, bis nach einer Stunde ein Hornsignal ertönte, das alles nach dem Mittelpunkt der Insel, nach dem Leuchtturm rief.
Hier stand der Ewige, und es waren mehr als 400 Menschen, die um ihn herum im Kreise antreten mussten.
Noch einige Zeit, bis ihm die General-Meldung gebracht wurde, dass niemand mehr unentschuldigt fehle, dann erhob er seine Stimme:
»Heute Nacht, fünfzig Minuten nachdem der Sonntag eingeschossen worden war, ist auf der Sägeinsel noch einmal ein Schuss gefallen. Ich selbst habe ihn gehört. Es ist auf der zweiten oder dritten Zacke gewesen. Doch das bleibt sich gleich. Wer hat diesen Schuss abgefeuert?«
Es erfolgte keine Antwort. Die tiefste Stille herrschte rings umher. Lampen und mehr noch Fackeln übergossen mit blutrotem Scheine die wilden, verwegenen Jägergestalten und alle Übrigen, die Frauen, die zum Teil mit ihren kleineren Kindern auf dem Arme dastanden, und nichts regte sich, alles stand unbeweglich, kein Muskel zuckte, alles blickte starr nach dem kleinen, weißhaarigen Manne in dem schwarzledernen Jagdkostüm.
Und da — ich wusste gar nicht warum — ward es mir plötzlich ganz unheimlich zumute.
Ein Gefühl stieg in mir empor, das ich gar nicht beschreiben kann.
Wie eine furchtbare Scham, gepaart mit einer furchtbaren Wut.
Plötzlich fühlte ich mich in die Kriegsmarine zurückversetzt, in meine Rekrutenzeit.
Abends gegen 10 Uhr sollte von der Kaserne zu einem nächtlichen Felddienst abgerückt werden. Platzpatronen wurden verteilt. die Unteroffiziere blickten durch die Gewehrläufe.
Da fand sich, dass in den Lauf eines Bootsmannsmaaten, der sehr missliebig war, jemand gespuckt hatte. Und es konnte gar nicht anders sein, als dass der Täter unter uns war.
»Wer hat das getan?«, fragte der Kompanieführer, ein Kapitänleutnant. »Vortreten.«
Natürlich trat niemand vor.
»Ich gebe Euch fünf Minuten Bedenkzeit. Wenn der Betreffende sich dann noch nicht gemeldet hat, dann ist unter Euch nicht nur ein Halunke, sondern auch ein elender Feigling.«
Die fünf Minuten vergingen. Ich kann gar nicht sagen, was ich in diesen fünf Minuten durchgemacht habe.
Es war ein so feiner, freundlicher Offizier, dieser Kapitän-Leutnant, und ich sehe noch, wie sein edles, frisches Gesicht plötzlich einen wahrhaft schmerzvollen Ausdruck annahm.
»Ich muss es wissen. Ich sichere dem Betreffenden Straflosigkeit zu, vollkommene Straflosigkeit, er soll sogar unbekannt bleiben. Aber wissen muss ich es! Geht auf Eure Stuben, jeder nimmt ein Stück Papier, faltet es zusammen, und wer es gewesen ist, der schreibt inwendig seinen Namen darauf. Ich verrate ihn nicht. Aber erfahren muss ich diesen Namen. In zehn Minuten wieder antreten.«
Die Zettel wurden abgegeben, der Kapitän-Leutnant ging mit ihnen allein ins Büro.
»Nichts«, sagte er dann, »das betrübt mich tief. Abrücken!«
Drei Tage später war dieser Kapitän-Leutnant nicht mehr unser Kompanieführer, er hatte sich versetzen lassen. Ohne Abschied war er von uns gegangen. Und er hatte recht gehabt, ein halbes Jahr später verplapperte sich ein Matrose, wurde halbtot geschlagen. Da war ich aber nicht mehr dabei.
Eine kleine Episode, und dennoch damals für mich von schier erdrückender Wichtigkeit. Es lag ja hier etwas ganz anderes vor, und dennoch musste ich so lebhaft an jene Episode denken, ganz genau dieselbe schreckliche Empfindung überkam mich.
»Wer hat den Schuss abgegeben? Der Betreffende muss unter Euch sein.«
Keine Antwort.
»Na, will sich der Betreffende nicht melden?«
Niemand rührte sich, alles starrte nur.
»Elende Feiglinge«, begann das alte Männchen da plötzlich zu donnern, »Ihr Halunken —«
Er kam nicht weiter.
Ich war hier kein Rekrut, kein Soldat, der stramm zu stehen und das Maul zu halten hatte.
Aber ich sollte nicht derjenige sein, der dem Herrn dieses Tales die Meinung sagte.
Ehe ich einen Schritt gemacht hatte, stand Emil schon mit vier Schritten vor dem Ewigen.
Und es war gut, dass er schneller gewesen als ich, denn von mir hätte das alte Männchen etwas ganz anderes zu hören bekommen. Emil blieb ganz ruhig, wenn er auch energisch genug sprach.
»Don Christoffero!! Rufen Sie Ihre Talbewohner zusammen und sagen Sie ihnen, was Sie wollen. Ich bin Vorgesetzter der Vermessungsingenieure, die sich nicht zu diesen Talbewohnern rechnen, und in deren Namen stehe und spreche ich hier, auch wenn Sie mich jetzt nicht dazu beauftragt haben. Wir verbitten uns ein für allemal, dass Sie uns beleidigen!«
Die beiden blitzten sich an. Und besonders wie der alte Mann mit seinen hellblauen Augen blitzen konnte!
Aber er war vernünftig — und gerecht dazu.
»Ich bitte um Entschuldigung!« sagte er alsbald ruhig, sogar höflich, aber ganz mannhaft. »Obgleich für mich die Tatsache bestehen bleibt, dass der, welcher den Schuss abgegeben hat, sich unter uns als elender Feigling befindet, gebe ich zu, dass ich mich habe hinreißen lassen. Ich bitte um Entschuldigung. Genügt Ihnen das?!«
»Vollkommen, Herr Christoph.«
»Gut. Dann ist diese Sache erledigt. Diese Sache. Die andere noch nicht. Wollen jetzt einmal alle Jäger, alle anderen Männer und alle Frauen und Kinder zusammentreten, jede Partei für sich.«
»Bukanier, Du hast sie ermordet und geschändet!«,
rief der Ewige, indem er auf die tote Indianerin zeigte.
Ehe es hierzu kam, wurde ich von hinten berührt. Es war Atalanta. »kommen Sie, Kapitän, das ist nichts für Sie. Das kann hier noch stundenlang dauern, und ich habe Ihnen schon etwas angemerkt. Ein Glück, dass Ihr Freund schneller war als Sie.«
»Wohin?«
»Nach der Sägeinsel, ich will mich an dem Suchen nach Spuren beteiligen, wenn sie nicht schon gefunden worden sind.«
»Kann ich mich hier auch ohne Weiteres entfernen?«
»Kommen Sie nur mit.«
Wir drangen wieder durch das Gehölz, das allerdings schon viele Wege bekommen hatte, ohne dass solche angelegt worden waren.
Im Osten begann es zu dämmern. In einem Motorboot, das aber auch recht gut gerudert werden konnte, saß schon der Graf. Wir stiegen ein, fuhren ab. Sobald der Tag anbrach, brauchte ich mich ja um meine Frau nicht mehr zu kümmern.
»Sind Ihnen die verschiedenen Schüsse und sonstigen Signale erklärt worden?«, fragte Atalanta bald.
»Nein. Ich habe ihre Bedeutung so nach und nach erfahren.«
»Sie haben selbst deswegen gefragt?«
»Ja. Meine Frau.«
»Sind Sie instruiert worden, dass Sie nach der Kanoneninsel kommen müssen, wenn ein einzelner Schuss gelöst wird?«
»Nein.«
»Na also! Für uns, das heißt für mich und meine Begleiter, gilt das alles ja gar nicht. Wir sind hier Gäste mit den größten Freiheiten. Mögen die schießen und signalisieren, wie sie wollen, wir brauchen nicht zu kommen. Darauf habe ich doch von vornherein gesehen, dass wir nicht in solche Abhängigkeit kommen.«
Ach soooo! Solch einen Gedanken hatte ich Dummkopf noch gar nicht gehabt.
Wir umfuhren die gesperrte Insel Nummer neun, überhaupt die einzige Insel, die gesperrt war. Durch ihre Bodenbeschaffenheit war sie nur mit Gras bedeckt, so flach, dass man sie selbst vom Boote aus überschauen konnte, wobei aber immer zu bedenken ist, dass dieses Eiland, wie es das Kärtchen zeigt, in Wirklichkeit drei Kilometer lang und zwei breit, außerdem ebenfalls von einer Unmenge von Wasserkanälen durchzogen war. Außerdem waren auch ihr Inseln und Inselchen vorgelagert. Inseln gab es hier ja überhaupt allüberall, und diese Umgebung war von derselben Beschaffenheit wie die gesperrte Insel. Aber man konnte doch sofort erkennen, was zu der kompakten Insel gehörte und was nicht. Das Letztere wurde eben nicht nur durch Kanäle, sondern durch viel breitere Wasserstreifen von ihr getrennt. Ein Irrtum konnte da gar nicht entstehen.
»Wissen Sie, was das für eine Insel ist?«, fragte mich Atalanta.
Ich sagte es ihr. Die gesperrte Insel Nummer neun.
»Haben Sie sich schon einmal einen Gedanken gemacht, weshalb diese Insel wohl nicht betreten werden darf?«
»Nein, und ich mag auch nicht mich in —«
»Ich weiß schon, ich weiß schon, ich kenne Sie schon!«, fiel sie mir lächelnd ins Wort. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass jetzt auch die Sägeinsel gesperrt ist. Bis sich der Fall mit dem Sonntagsschusse ausgeklärt hat. Das ist nur, um nach Spuren suchen zu können. Aber ich soll mich daran beteiligen, und wen ich mitbringe, der ist natürlich willkommen. Ich sage dies nur, damit Ihr zartes Gewissen beruhigt ist.«
»Weshalb aber«, begann der Graf, »mag diese Insel und mögen die drei Buchten gesperrt sein? Das soll doch schon seit —«
»Höre auf, höre auf!«, lachte seine Gattin. »Du siehst doch, der Kapitän bekommt schon einen ganz roten Kopf!«
In schneller Fahrt ging es durch die Kanäle, zwischen taufrischen Prärien und unter Urwaldriesen hindurch, alles, alles vergoldet vom ersten Morgensonnenstrahl.
Wie oft hatte ich nun nicht solche Sonnenaufgänge genossen, und dass es heute Sonntag war, hatte gar nichts zu sagen, so menschenleer war es hier immer, selten, selten einmal hörte man einen Schuss, und immer von neuem Entzücken wurde ich erfüllt.
Nur ein kleiner Unterschied war dabei. Alle die Tiere wussten ganz genau, dass heute Sonntag war, heute standen sie alle am Ufer und äugten vertrauensvoll unser Boot an, während man sonst selten einmal einen Hirsch, ein Reh, eine Antilope zu Gesicht bekam. Ein Hase, der in diesem Gebiet fast schon zum Wassertier geworden war, wäre von unserem Boote überfahren worden, wenn wir nicht ausgewichen wären. Auf einem Hügel saß eine große Karnickelfamilie und lachte uns in ihrer Sonntagssicherheit aus.
Ja, da mit einem Male begriff ich, weshalb Vater Christoph so energisch und mehr noch so umständlich die Untersuchung betrieb, wer den Schuss am Sonntag abgefeuert hatte. Nur um einmal mit allem Nachdruck zu konstatieren, wie ernst es ihm mit dieser Sonntagsruhe für das Wild sei, nur deshalb brachte er einmal bei nächtlicher Weile alle Menschen auf die Beine, hielt sie stundenlang wegen einer kleinen Frage hin. Ja, jetzt konnte ich diesen Mann verstehen!
Wir näherten uns der Sägeinsel.
»Der Schuss soll auf der zweiten oder dritten Zacke gefallen sein!«, meinte Atalanta.
Von diesen Zacken war von hier unten aus aber gar nichts zu bemerken. Abgesehen von den großen Entfernungen, immer Kilometer, waren ja auch überall wieder Inselchen vorgelagert. Das konnte man nur oben von den Felsen aus der Vogelperspektive beurteilen. Ich wusste nur nach meinem Kärtchen, wozu allerdings schon etwas Ortskenntnis kam, dass wir uns der Sägeinsel näherten.
»Dort tauchte aus dem Gebüsch ein Menschenkopf auf!«, sagte der Graf, »verschwand sofort wieder, versteckte sich offenbar vor uns.«
Atalanta bestätigte es, mir war es entgangen.
»Hagen, werden Sie auch so unfreundlich von den Jägern behandelt?«, fragte mich der Graf.
»Unfreundlich? Nicht dass ich wüsste. allerdings habe ich mit noch gar keinem richtig verkehrt. Meine Hochzeit war doch etwas ganz anderes. Sonst hat mich meine Heirat diesen Leuten nicht näher gebracht.«
»Mag sein. Wir kommen durch den Ewigen, der uns öfters seiner Gesellschaft würdigt, näher in Berührung mit den Jägern. Sie tragen unsere Missachtung offen zur Schau.«
»Weshalb Missachtung?«
»Atalantas wegen. Es ist einfach richtige Missgunst, Brotneid, könnte man fast sagen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Weil ich«, erklärte Atalanta selbst, »einmal an einem Tage mehr als die doppelte Stückzahl Wild erlegt und präserviert habe, was niemand für möglich gehalten hätte. Und ferner, weil ich einmal ein angeschossenes Wild suchte und fand, was den anderen entgangen war. Seitdem werde ich, wie man sagt, geschnitten.«
»Butschiro, der Australneger«, setzte der Graf hinzu, »ist ebenfalls ein Fährtensucher, der alle anderen weit in den Schatten stellt, aber das ist etwas anderes, der gehört mit zu der Gesellschaft, dessen Überlegenheit in dieser Hinsicht erkennen sie willig an. Wir aber sind Fremde, meine Frau scheinen sie gerade zu hassen, weil sie noch etwas mehr kann, und gerade deshalb, weil es eine Indianerin ist, die zur Gräfin geworden und hier solch eine Rolle spielt. Ihnen, Kapitän, kann ich das ja ruhig sagen.«
»So ist es«, bestätigte Atalanta, »und ich werde ihnen keine Konkurrenz mehr machen. Das heißt, wenn es nicht nötig ist. Wenn einmal ein Fall vorliegt, wie dieser, so werde ich mich nicht genieren, meine Fähigkeiten zu erproben.«
Wir landeten, brauchten nur wenige Schritte ins Gebüsch zu dringen, so sahen wir fünf Männer um ein Feuerchen sitzen und ihren Tee kochen, zwei Indianer, zwei Weiße und einen Neger.
»Habt Ihr schon Spuren gefunden?«, fragte Atalanta ohne Weiteres.
Ich musste aber gut aufpassen, um es zu verstehen, denn Atalanta sprach choktawisch, obgleich sie diese Sprache auch erst hier gelernt hatte.
Nur weil sie es noch langsam und sehr deutlich aussprach und ihr dann auch so geantwortet wurde, konnte ich es verstehen.
Für alle die 102 Jäger konnte die feindselige Stimmung doch nicht gelten, Ausnahmen müssen doch überall dabei sein. Die beiden Indianer blieben ja überhaupt ungerührt, die mussten mindestens ihre Pfeife ausrauchen, ehe sie eine Antwort gaben. Der Neger starrte neugierig und frech die Fragerin an, wie es eben Negerweise ist. Dass der eine weiße Jäger gleich einen Fluch in den Bart murmelte und finster zur Seite blickte, das verriet allerdings seine Gesinnung gegen unseren Besuch. Der andere Weiße aber, ein noch junger Mensch, gab sofort eine höfliche Antwort und später weitere Erklärungen.
Er unterschied sich auch sonst durch sein Äußeres angenehm von den übrigen weißen Jägern, nicht nur in diesem Tal. Der Indianer, solange er Jäger bleibt, hält immer auf sich, im Gegensatz dazu vernachlässigen die weißen amerikanischen Jäger ihr Äußeres mit Absicht so viel wie möglich. Wenn sie auf die Märkte kommen, so reiben sie sich erst noch einmal extra mit Blut und Dreck ein, zersetzen, was an ihrem Anzug einen neuen Eindruck machen könnte. Recht verwahrlost auszusehen, das ist ihr Stolz, sonst werden sie auch ausgelacht. Wir haben ja übrigens dasselbe bei uns. Ein echter Weidmann trägt keinen neuen Hut, er hängt ihn erst auf einen Baumgipfel, durchlöchert. ihn mit einem Schrotschuss, lässt ihn erst einige Wochen dort oben verwettern, ehe er ihn aufsetzt. Auch Bergkraxler machen es schon so.
Dieser junge Mann hier hielt etwas auf sich, alles passte und war sauber gehalten, er gab etwas auf Stickereien, rasierte sich sogar täglich.
Dafür musste er sich auch den Spitznamen »Beauswell« gefallen lassen. »Beau« ist »schön«, wird aber als Adjektiv gar nicht gebraucht, nur in Zusammensetzungen. »Swell« ist »geschwollen«. So nennen im englischen Amerika — und auch in Australien — die unteren Klassen alles, was etwas Besseres ist, den Klang einer Beleidigung oder eines Spottes hat es ganz verloren. Auch dieser junge Jäger war nur stolz auf seinen Spitznamen.
»Ja, wir haben eine Spur gefunden!«, entgegnete er jetzt sofort, auch gleich aufstehend, eine einladende Handbewegung machend, dass auch wir uns an dem Feuer niederlassen sollten.
»Wo ist die Spur? Kann ich sie sehen?«, fuhr Atalanta diesem Manne gegenüber auf Englisch fort.
Beauswell führte uns, gab einige Erklärungen. Die ganze Sache war ja sehr unsicher, wie er selbst gleich zugab. Wenn der Schuss auf der zweiten oder dritten Zacke der Insel gefallen war, so kamen mindestens vier Quadratkilometer Land in Betracht. Und der Betreffende brauchte ja sein Boot überhaupt gar nicht verlassen zu haben. Es konnten heute Nacht oder vorher schon noch viel mehr hier gewesen sein, das war sogar ganz sicher der Fall.
Diese fünf Jäger hier, die der Ewige, der beim Fallen des Schusses in der Nähe gewesen war, gerade bei der Hand gehabt, hatten im Laufe der Nacht die vier Quadratkilometer mit Lampen und Fackeln abgesucht, hatten eine Spur gefunden, die in Betracht kommen konnte.
Es war gar nicht weit von dem Lagerfeuer, wohin er uns führte.
»Das ist eine frische Spur, schwerlich vor Mitternacht entstanden. Hier hat er mit dem Kanu angelegt, ist mit dem Boote weiter hier durchs Schilf gerutscht, hier hat er es verlassen, ist dorthin gegangen, hat auf dem Baumstumpf gesessen, ist in einem kleinen Bogen hier zurückgegangen und hat wieder sein Kanu bestiegen.«
So erklärte Beauswell noch weiter, und Atalanta betrachtete aufmerksam den Boden.
Das taten der Graf und ich auch, aber der Graf konnte jedenfalls ebenso wenig etwas von einer Spur bemerken wie ich. Na ja, dass dort das Schilf etwas gebrochen war, das war aber auch alles. Und dort überall war das Schilf noch viel mehr zerbrochen und zerknittert, wo kein Boot angelegt haben sollte, wenigstens heute Nacht nicht.
»Das ist die frischeste Spur, die wir gefunden haben.«
»Und wem gehört sie an?«, fragte Atalanta.
»Ja, wenn wir das wüssten!«, lachte Beauswell.
»Ihr interessiert Euch doch für alle Spuren.«
»Nein, Madame, gerade das Gegenteil. Ja, für Wildspuren. Aber wenn der Ewige beobachtet, dass jemand auf einer menschlichen Fährte herumschnüffelt, dann ist allemal gleich der Teufel los.«
Da teilten sich die Büsche, der Ewige trat heraus, gefolgt von dem Australneger.
»Nun, etwas gefunden?«
Beauswell gab seine Erklärungen ab, und schon lag die schwarze Schlange am Boden, maß mit seinen Fingerknöcheln in eigentümlicher Weise dort, wo ich nicht die geringste Spur von einem Fußabdruck erkennen konnte.
»Kjaljamjamjanjabilibillibilli!«, sagte er dann, oder so etwas Ähnliches, als er sich wieder erhob.
»Was heißt das?«
»Butschiro, all butschiro — heute — zwei links — ein rechts — hinten butschiro — vorn no butschiro — mittel kjaljamja — zwei — billibilli, — butschiro, all butschiro.«
So ungefähr radebrechte der Schwarze unter lebhaften Gestikulationen, machte es noch viel länger. Er klassifizierte die Spur.
»Und weißt Du, wem diese Spur angehört?«
»Butschiro, all butschiro«, bejahte der Schwarze in seiner Weise grinsend.
»Nun?«
»Sepp!«, erklang es kurz und bestimmt.
»Alle Wetter, der Bukanier!!«
Ich muss hier eine Erklärung einschalten, besonders weil dieses Wort noch später eine Rolle spielen wird.
Am Anfange des 17. Jahrhunderts ließen sich französische Abenteurer, besonders auch viele Seeleute, die nach der Beendigung des Kaperkrieges mit Spanien keine lohnende Beschäftigung mehr fanden, auf der Insel Haiti nieder, damals San Domingo genannt. Dort waren früher einmal Hausrinder ausgesetzt worden, die verwildert waren und sich unterdessen ins Ungeheure vermehrt hatten. Diese Rinder jagten die Einsiedler, trockneten ihr Fleisch nach einer den dortigen Eingeborenen, den Kariben, eigentümlichen Weise, stampften es mit dem Balg in Ledersäcke, verkauften es so an Schiffe. Die Rostvorrichtung, an der die Fleischstreifen getrocknet wurden, hieß bei den Kariben »buccan«, die Franzosen machten »boucan« daraus, und so wurden diese Jäger auf Haiti »Boucaniers« genannt. Wir müssen jetzt »Bukanier« schreiben. Sie wurden von den Spaniern wieder vertrieben und bildeten von nun an die Seeräuberrepublik der bekannten Flibustier.
Die Jäger in diesem Tale hätten keinen treffenderen Namen haben können als Bukanier. Zumal sie das erlegte Wild selbst präservieren mussten. Die Übereinstimmung in der Lebensweise war umso mehr, weil die Bukanier ein absolutes Gemeinwesen bildeten, niemand durfte persönliches Eigentum haben; ebenso hätten die Räucherarchen richtiger Bukanierschiffe heißen sollen.
Aber das war in Amerika nicht angängig. In Amerika ist »Bukanier« ein Schimpfwort. Seeräuber, Wegelagerer, Strauchdieb, Mörder, Bandit, ja sogar der Mädchen- und Leichenschänder wird Bukanier genannt. Es muss hier gesagt werden, die späteren Flibustier mögen es ja auch arg getrieben haben.
So wurde auch jener alte Tiroler Bukanier genannt. Erstens, weil er früher einmal das Kapitalverbrechen begangen hatte, ein Stück Wild mit Schrot zu schießen — die Bukanier waren keine zünftigen Jäger gewesen, sie hatten die Rinder erbeutet, totgeschlagen, wie es am besten gegangen war — und zweitens, weil der alte Sünder noch ganz toll hinter den Frauenzimmern her war. Hier im Tale gab es ja freilich nichts. Aber in der Stadt. Sein ganzes Geld verjuchhete er mit Frauenzimmern. Und nun wusste man noch von ihm, dass er in seiner Heimat als Wildschütz gebrummt hatte, wahrscheinlich auch einen Förster erschossen oder mindestens angeschossen hatte — da war er hier der Bukanier geworden.
Das heißt — nur im Geheimen wurde er so genannt, öffentlich durfte es nicht geschehen, nicht in der vertrauten Unterhaltung. Der Ewige hatte deshalb einmal einen zur Rechenschaft gezogen. Es ist eben in Amerika ein fürchterliches Schimpfwort.
Jetzt war es ihm selbst entfahren.
Ich sah, wie unangenehm es ihm war, wie verlegen er wurde.
»Alle Wetter, der Tiroler Wildschütz!«, verbesserte er sich schnell.
Denn das war hier natürlich keine Beleidigung, und wenn er drüben auch einen Wildhüter niedergeknallt hätte, das galt hier nichts. Aber Bukanier — pfui Teufel! — Ein Mädchenschänder!
Der Sepp war übrigens sonst gar kein unrechter Mensch. Was er in der Stadt trieb, das ging niemanden etwas an, er konnte mit seinem Gelde tun, was er wollte.
»Bist Du Deiner Sache auch sicher?«
»Butschiro, all burschiro!«, versicherte der Schwarze, wieder am Boden liegend und messend.
Der Ewige schüttelte den Kopf. Ich glaube, der Alte verstand von der Fährtenkunde mehr als alle die anderen Jäger zusammen, und seine Augen waren noch so scharf, dass er sich nicht erst zu bücken brauchte. Aber wie dieser Australneger aus den paar geknickten Grashalmen sofort erkennen wollte, dass die Spur von dem Tiroler herrührte, das begriff er wohl ebenso wenig wie ich.
»Atalanta?«
Auch diese hatte sich einmal niedergelegt.
»Ich weiß nichts, kenne den Mann ja gar nicht!«, entgegnete diese, sich wieder aufrichtend und die Haare zurückstreichend.
»Da kommt sein Räucherschiff, Sepp ist darauf!«, erklang da der Ruf.
Wir konnten durch die Büsche einen breiten Wasserkanal sehen, auf demselben kam eine Arche angerauscht, ein Räucherschiff, an Deck stand Sepp, aber nicht im Arbeitsanzug, sonder sonntäglich gekleidet, einfach in einem Straßenkostüm, wie man es auch in Deutschland trägt, aus derbem Stoff. Nur seine Vorliebe für einen weichen, grünen Hut erinnerte noch an einen Tiroler. Und dann überhaupt sein Gesicht. Die braunen, hageren Züge mit dem weißen, herabhängenden Schnauzbart, die scharfen, stahlblauen Augen, die Hakennase — so ein echter, alter Wildschütz, a Gamsbockjaga, sonst vielleicht ein Holzfäller, der aber 's Wildern nicht lassen kann — auch jetzt in seinem modernen Sonntagsanzuge mit den fast ele-ganten Halbschuhen, auch wenn er jetzt die Hose, wie er sonst immer tat, nicht bis zu den Knien aufgestreifelt hatte.
Der Ewige trat ans Ufer, ein Wink, und die Arche hielt, legte bei. Sepp wollte schnell im Innern des Hauses verschwinden, ein Ruf hielt ihn zurück.
»He, Sepp!!«
Er hatte nur noch einen Fuß an Deck, den anderen schon im Hause, und so stand er auch sonst in der Tür, halb abgewendet, halb zurückgewendet, und schielte unter seinem herabgezogenen Hute misstrauisch nach uns herüber.
»Wo willst Du hin, Sepp?«
»I hob heit frei.«
Er sprach Englisch, aber in einem merkwürdigen Dialekt, man hörte immer den Tiroler oder auch den Oberbayern heraus, was ich hier nur andeuten kann.
»Komme mal her.«
»I hob heit frei!«, wurde nochmals widerspenstig geantwortet.
»Sepp ist beim Einpacken!«, ließ sich da der Aufseher vernehmen.
»Was, Einpacken?!«
»I will mein Abschied han!«, erklärte Sepp selbst.
»Weshalb denn?«
»Weil's mir halt nicht mehr passt allhier.«
»Weshalb passt's Dir denn nicht mehr hier?«
»Weil i die Plackerei halt satt hob allhier.«
»Komme einmal an Land.«
»I hob heit frei.«
»Willst Du nun gleich kommen?! Soll ich Dich erst holen?«
Sepp gab sein trotziges Zögern auf und sprang ans Ufer.
Er hatte einige Schritte durch das Gras zu machen, und sofort lag Butschiro hinter ihm wie eine schwarze Schlange am Boden und prüfte seine soeben entstandene Fährte.
»Butschiro, all butschiro!«, nickte er zufrieden, sich gleich wieder erhebend.
Was, alles sollte in Ordnung sein?!
Ich hatte unterdessen an einer weichen Bodenstelle des Ufers ebenfalls den deutlichen Fußabdruck des Betreffenden, der hier geweilt hatte, gesehen. Es war der breite Abdruck eines Mokassins, das heißt, eines hackenlosen Schuhes, haarscharf hatte er sich in dem zähen Schlamme abgedrückt.
Und dieser Mann hatte schmale, etwas spitze Hackenstiefel an. Das war ja das Wenigste, die Mokassins trug er jetzt eben nicht mehr. Jedenfalls aber waren diese Stiefel viel kleiner. Wie aber wollte denn jemand konstatieren, dass in den beiden verschiedenen Schuhen dieselben Füße gesteckt hätten! Das war ja einfach lächerlich! Übrigens machte mir der Mann gar keinen so üblen Eindruck. Sein zagendes Benehmen entsprang nur einem Trotz, der ihm gar nicht schlecht stand. Wie sich ungebildete Menschen, Arbeiter, die sich ihrer Freiheit und ihres Wertes bewusst sind, so manchmal vor Höhergestellten benehmen. Sie wollen wohl, aber sie tun, als hätten sie's nicht nötig.
So stand er auch jetzt da, als er weiter examiniert wurde, ohne zu wissen, dass hinter ihm seine neue Fährte besichtigt wurde, und zwar tat das auch Atalanta, deren Zügen man aber nichts entnehmen konnte, die auch nichts sagte.
»Du bist heute Nacht hier gewesen, Sepp.«
»Naa, i bin net hier gwese.«
»Wo willst Du sonst gewesen sein?«
»Auf der Elchinsel hob i gsesse.«
»Auf dem Anstand?«
»Ja.«
»Hast Du etwas geschossen?«
»Naa, i hob net g'schosse.«
»Wie lange warst Du dort?«
»Bis halber zwaa.«
»Es war ja schon Sonntag.«
»I hob aach net gschosse, i hob nur so dagsesse.«
»Und dann?«
»Dann bin i auf mei Schiff gange.«
»Wo lag das?«
»Bei der Elchinsel.«
»Die ist groß.«
»Am Schwanz.«
Der Ewige blickte nach dem Aufseher, der an Deck stand und alles gehört hatte, dieser nickte.
»Das stimmt, was Sepp da sagt, bis auf die Zeit.«
»Was stimmt da nicht?«
»Es war nicht halb zwei, sondern fünf Minuten vor zwei, als Sepp zurückkam, und gleich darauf fiel der Kanonenschuss.«
»Weshalb verschweigst Du das, Sepp? Weshalb gibst Du eine falsche Zeit an?«
»Dös weiß i halt net so gnau, i hob kaa Uhr. I hob glaubt, der Kanonschuss wär halber zwaa gfalle.«
Der Ewige ignorierte diesen Zeitunterschied.
»Nun, Butschiro?«, wandte er sich an den Australneger.
»Butschiro, all butschiro!«, musste dieser natürlich erst wieder sagen.
»Es ist dieselbe Fährte?«
Der Schwarze versicherte es aufs Bestimmteste, allerdings in einem schrecklichen Kauderwelsch.
»Dös is net wahr, dös is glogen!«, fuhr der Tiroler wild empor.
Ich sah, dass es auch der Ewige nicht glaubte, wie er die neue Fährte betrachtete, ohne sich dabei bücken zu müssen.
»Woraus willst Du denn das nur erkennen, Butschiro?!«
Noch einmal ein schreckliches Kauderwelsch. Die Sache war also die, dass es dem Schwarzen gar nicht darauf ankam, in welcher Bekleidung ein Menschenfuß steckte. Die linke Hacke oder vielmehr Ferse, nackt gedacht, etwas mehr eingedrückt als die rechte, die rechte Innenseite mehr als die linke, und so noch andere Unterschiede, an die ein anderer Mensch, selbst ein professioneller Fährtensucher, gar nicht denkt — das wollte er erkennen, daraus wollte er bestimmen, dass die beiden so gänzlich verschiedenen Fährten von ein und demselben Fuße herrührten.
»Dös is net wahr, dös is glogen. I bin net hier gwesen.«
»Ich aber muss Butschiro beistimmen, nach meiner festen Überzeugung!«, ließ sich da Atalanta vernehmen.
»Ach was, auch Sie?!«, fuhr der Ewige gegen die Sprecherin herum.
»Ja, ich kann nicht anders urteilen.«
»Auch Sie erkennen die gleichen Fährten?«
»Nicht erkennen. Nicht mit dem Auge. Was da Butschiro erklärt, ist mir überhaupt unklar, verstehe ich nicht. Ich aber urteile mit — — der Nase. Ich rieche es. Auch diese erste Fährte stammt von jenem Manne her.«
Der Ewige machte ein Gesicht, als finde er solche Riecherei durch eine Menschennase noch für viel unglaubhafter. Atalanta hatte auch so gar nichts angeschnobert, weder die Fährte, noch den Mann.
Etwas verdächtig aber kam mir vor, dass der alte Tiroler wiederum so heftig und unwirsch auffuhr.
»Dös is net wahr, dös is glogen!«
»Wo sind denn die Schuhe, die Du heute Nacht getragen hast?«, fragte der Ewige. »Hole Sie doch einmal.«
Da wurde der alte Wildschütz erst recht ganz unwirsch.
»Die — die — die — hob i net mehr.«
»Wo hast Du die denn gelassen?«
»Die — die — die hob i verbrannt.«
»Aha!! Wann denn?«
»Heut Nacht.«
»Wo denn?«
»Im Räucherofen.«
»Ahaaa!«
»Und 's ist doch net wahr, i bin net hier gwesen! I kann mit mei Schuhn machen, was i will, und sie warn alt un defekt gnug, da hob i sie verbrannt, und's is der reine Zufall, dass ich sie grad heut Nacht verbrannt hob, als i zrickkomma bin.«
»Schon gut, schon gut, mein Bursche, jetzt bist Du überführt. Du hast hier auf dem Anstand gesessen, hast in Deinem Jagdfieber den Kanonenschuss überhört, oder als Du eben ein Wild sahst, da war es Dir ganz egal, Du hast danach geschossen, dann erst fiel es Dir ein, dass Du das nicht durftest, bist schnell nach Deiner Arche gefahren, die Zeit stimmt ja ganz genau, in einer Stunde konntest Du am Schwanze der Elchinsel sein —«
»Un 's is net wahr, 's is glogen, i bin net hier gwesen!«
»Halts Maul, oder Du bekommst noch etwas anderes zu hören. Ich wollte hier nur — was wollt Ihr?«
Der andere weiße Jäger, ein älterer Mann als Beauswell, hatte sich eingemischt.
»Lasst ihn doch mal schwören, das ist ja so'n frommer Katholik, der jeden Sonntag in die Kirche muss.«
In diesem Augenblick sah ich, wie der alte Tiroler stark zusammenzuckte, seine Farbe veränderte.
Auch der Ewige hatte ihn gerade angesehen. Und sollte dessen scharfen Augen das entgangen sein? Sicherlich nicht, aber er wollte von so etwas nichts wissen, was mir sehr an ihm gefiel.
»Wegen so einer Lumperei schwören, weiter fehlte nichts! Geschworen wird nur vor Gericht, und auch nur, wenn es unbedingt sein muss. Und eine Lumperei ist das ja schließlich nur. Aber ich wollte nur wiederum einmal beweisen, dass ich eine Störung der Sonntagsruhe für meine Tiere nicht so hingehen lasse. Und ich habe den Übeltäter gefunden, denn Du bist für mich überführt! Leugne noch wie Du willst, aber tu's lieber nicht, sonst kannst Du noch was erleben. Bestrafen kann ich Dich sonst nicht, nur in mein Tal gehörst Du nicht mehr. Deine Entlassung willst Du haben? Du brauchst nicht mehr darum zu fragen. Hinaus mit Dir, hinaus sage ich —«
Es war gut, dass der Tiroler schleunigst auf seine Arche retirierte, sonst wäre der Ewige handgreiflich geworden, und dem alten Männchen war noch immer alles zuzutrauen.
Die Arche fuhr sofort wieder davon. Dass der Aufseher dafür sorgte, dass Sepp gleich zum Tale hinaus bugsiert wurde, das war ganz selbstverständlich.
»Und 's is net wahr, 's is glogen, i bin net hier gwesen und hab gschossen!«, erklang es noch einmal zurück.
Der Ewige kümmerte sich nicht darum. Ich auch nicht. Trotz des gar nicht so schlechten Eindruckes, den der Tiroler auf mich gemacht hatte, war ich doch jetzt der festen Überzeugung, dass er dennoch der Übeltäter war, dass er log. Aber ich hatte hierfür eine Erklärung, die ihn wenigstens in etwas entschuldigte, wovon ich später berichten werde. Falsch geschworen hatte er jedenfalls nicht, aber bei seinem Leugnen blieb er.
»Ja, wir hätten ihn wenigstens fragen sollen, ob er ein Wild angeschossen hat!«, meinte der Ewige jetzt. »Freilich — wenn er leugnet — weg mit dem Kerl, suchen wir selbst nach weiteren Spuren, dass wenigstens nicht so ein armes Tier sich herumquälen muss.«
Ach, nun fing es hiermit wieder an! Es war ja recht schön und gut, diese Fürsorge für die Tiere, aber — ich wollte nun nichts mehr damit zu tun haben, ich bereute schon, Atalanta hierher gefolgt zu sein.
So wandte ich mich dem Ufer zu, ging am Wasser entlang, um nach einem hohlen Baumstamm zu suchen, der vielleicht ein Kanu barg, das mich nach meiner Arche bringen sollte.
Nach einiger Zeit sagte ich mir, dass hier die Gegend gar nicht nach einem hohlen Baumstamme aussehe. Nun, einer der Jäger würde mir schon ein Kanu verschaffen, sonst nahm ich das Motorboot, mit dem wir gekommen, hier war ja alles vogelfrei.
Also ich ging wieder zurück, war aber noch ziemlich entfernt von jener Stelle, wo die Zusammenkunft stattgefunden hatte, als mich ein Anblick fesselte.
Mitten auf dem Kanal, an dem ich entlang ging, lag ein Kanu, und in diesem der Australneger, in recht auffallender Stellung, ganz vorn, hatte den Kopf weit über die Bordwand geneigt, so stierte er in das Wasser hinein.
»Hast Du was gefunden?«, hörte ich da die Stimme des Ewigen fragen, und er selbst erschien am Ufer.
»Butschiro, all butschiro!«, war die unvermeidliche Antwort. »Blase — puh — Butschiro-Blase — Blut — da — da — Butschiro-Blut —«
Und so butschirote der Schwarze weiter unter Gestikulationen, auf das Wasser deutend.
»Kerl, kannst Du denn gar nicht ordentlich sprechen?«, meinte der Ewige ärgerlich. »Soll der Teufel aus Dir klug werden! Blut hast Du gesehen? Was ist es mit der Blase?!«
»Wahrhaftig, dort schwimmt irisierendes Blut«, ließ sich da auch Atalanta vernehmen, »dort steigen Gasblasen auf, dort liegt im Wasser ein totes Tier!«
Der Australneger hatte wieder einen außerordentlichen Beweis seines Scharfblickes und Scharfsinnes gegeben. Gasblasen stiegen hier in dem träge oder gar nicht fließenden Wasser ja überall empor, man brauchte bloß zu beobachten, die stammten aber von verwesenden Pflanzenteilen her. Die Hauptsache war, dass Butschiro eine irisierende Blutschicht hatte schwimmen sehen. Blut steigt ja sonst nicht etwa empor, es mischt sich mit Wasser, wohl aber scheidet es seinen geringen Fettgehalt aus, dann schwimmt auf dem Wasser ein Häutchen von unmessbarer Dünnheit, das in allen Regenbogenfarben schillert, was man irisieren nennt.
Nun war die Sache aber die, dass man hier überall ebenfalls solche irisierende Häutchen schwimmen sah, man brauchte bei schrägstehender Sonne nur dicht über das Wasser hinzusehen, und diese schillernden Häutchen hatten nichts mit Blut zu tun, sondern das war Naphta oder Schmieröl, von den Motorbooten stammend.
Das meinte denn auch Vater Christoph und sprach es aus.
»Nein, das dort ist Blut, das schillert wieder ganz anders!«, versicherte Atalanta.
»Wie wollen Sie denn da einen Unterschied erkennen?«
Es kam zu keiner Erklärung, nicht jetzt. Butschiro war der erste gewesen, der diese Entdeckung gemacht hatte, er wollte sich diese Ehre mit Recht auch nicht nehmen lassen — nackt, wie er war, glitt er ohne Weiteres über Bord und verschwand in dem dunklen Wasser.
Größere Tiefen als vier Meter waren in diesem Seegebiet Ausnahmen, dann handelte es sich um Löcher oder Spalten in dem einst vulkanischen Boden. Nach einer Viertelminute tauchte der Schwarze auf, klammerte sich an sein Kanu und schüttelte den Kopf, dass die langen Haare um die Schläfen klatschten.
Ich kam plötzlich auf die seltsame Vermutung, dass dieser Australneger seine samtartige, tiefschwarze Hautfarbe nur künstlich erzeugt habe, da sie vom Wasser abgewaschen würde. Denn der Kerl hatte plötzlich ein ganz aschgraues Gesicht bekommen. Und warum rollte er so wild mit den Augen? Doch im nächsten Augenblick sagte ich mir, dass es ein Irrtum gewesen sein müsse, durch eine besondere Beleuchtung der Sonne, verbunden mit dem Wasserreflex, die tiefschwarze Färbung des Gesichts war wieder da.
»Nun, hast Du ein Tier gefunden? Was ist es für eins?«
»Nix butschiro — Zauber — Zauber!«, stieß der Schwarze hervor, und deutlich war sein Zähneklappern hörbar.
Zauber ist für den Australneger, was nicht recht geheuer, was er sich nicht erklären kann. Genau dasselbe, was dem nordamerikanischen Indianer »Medizin« ist.
»Du fürchtest Dich wohl da unten im Wasser vor dem toten Tiere?«, lachte der Ewige.
»Nix fürchten — Njagallayolul Mann — Riata!«
Mancher rote und weiße Jäger trug um die Hüften ein Lasso gewickelt, was auch in diesem Jagdgebiete oft von Vorteil war. Im spanischen Texas und Mexiko wird diese Wurfschlinge Riata genannt.
Beauswell wickelte seinen Lasso ab, warf das Ende mit der Schlinge dem Schwarzen zu, der nahm sie in die Hand, schöpfte tief Atem und tauchte unter.
Diesmal blieb er eine halbe Minute aus. Das ist bei der Taucherei für den Beobachtenden schon eine lange Zeit.
Er erschien wieder, schwamm hastig dem Ufer zu, und wieder fiel mir die aschgraue Farbe des Gesichts und sein starres Auge auf. Das war wohl kein besonderer Held.
Das Lasso wurde vom Ufer aus langsam angezogen. Bei solcher Gelegenheit, wenn etwas aus dem Wasser oder aus einer Grube gezogen wird, fragt sich wohl jeder unwillkürlich: Was wird man zuerst erblicken? Ich wenigstens muss es immer tun.
Ein Geweih, sagte ich mir. Nein, zuerst die äußersten Enden eines Geweihes. Es kann aber auch ein Reh ohne Gehörn sein. Ein Kalb. Vielleicht erst eine Schnauze, Nasenlöcher —
Etwas Schwarzes kam zum Vorschein. Etwas Schwarzes, das sich wellenförmig bewegte, als wären es Haare. Dann kam ein — —
Ich will es nicht beschreiben, kann es nicht beschreiben. Was sich in dieser einzigen Sekunde abspielte; im reellen Zeitmaß eine Sekunde, in meinem Menschengehirn eine Ewigkeit.
Aber sonderbar! In dieser eingebildeten Ewigkeit machte ich mir langsam und in logischer Gedankenfolge klar, dass ich nun den Grund wisse, weshalb der Australneger vorhin ein so aschgraues Gesicht, solche starre Augen gehabt und so mit den Zähnen geklappert habe.
Nix butschiro — Zauberei — — eine menschliche Leiche!!
»Erdbeere!!«, erklang es entsetzt.
Sie war es — die junge Indianerin, die heute Nacht gefehlt hatte, weil sie auf der Kastanieninsel am Kindbett der Schwester geblieben war.
Als ich aus meinem Traume der Ewigkeit erwachte, lag sie schon am Ufer.
Ein junges Mädchen, jünger noch als Libelle.
Das hübsche Lederkleidchen ganz zerrissen.
Auf den Leib ein großer, flacher Stein mit einer Wasserschlingpflanze gebunden.
Auf der zarten, braunen Brust, von der das Kleid abgerissen war, kleine, merkwürdige Flecke, große Punkte, ins Fleisch eindringend.
Während noch alles stand und starrte, beugte sich der Ewige herab, betastete kaltblütig diese Punkte und grub seine Fingerspitzen etwas in das Fleisch.
»Ein Schrotschuss!«, sagte er ebenso kalt mit vernehmlicher Stimme.
»Geschändet!«, flüsterte Atalanta an seiner Seite.
»Das war der Bukanier!«, murmelten die Umstehenden, aber mir kam es vor, als ob ferner Donner grolle. Wirklich, ganz genau so kam es mir vor, ich betone es nicht umsonst.
»Huipiiiihh!!!«, ließ da plötzlich der Alte seinen Jagdruf gellen — ein so entsetzliches, schrilles Gellen, dass mir noch heute das Ohr und das Mark in den Knochen schmerzt, wenn ich nur daran denke.
Gellende Signalpfiffe folgten nach, sie schrillten noch mehr, aber sie waren für das Ohr erträglicher.
Andere Jagdrufe und Pfiffe antworteten aus nah und fern, und auch das alte Männchen in dem schwarzen Leder pfiff auf seinen Fingern und pfiff, und dazwischen immer wieder einmal sein ohrenzerreißender Jagdschrei.
Es brauchte keine Kanonenschüsse, um das ganze Tal zu alarmieren, auch durch solche Pfiffe konnte er jeden Befehl ausdrücken.
Das zweite Räucherschiff, auf dem sich der »Bukanier« befand, sollte angehalten werden, sollte zurückkommen. Und wäre Sepp nicht mehr darauf gewesen — er wäre nicht aus dem Tale gekommen.
Da aber kam schon — ob nach einer Minute oder nach einer Stunde, das weiß ich nicht, ich will aber fünf Minuten sagen — da kam die Arche schon wieder angerauscht.
An Deck stand der Tiroler.
Und da plötzlich verwandelte sich der Morgen in finstere Nacht.
Niemand hatte beobachtet, dass die Sonne am letzten blauen Fleckchen des Himmels gestanden. Jetzt hatte sich eine schwarze Wolkenwand davorgeschoben.
Wohl hatte ich schon das ferne Donnergrollen vernommen, hatte es aber für das Murren der umstehenden Jäger gehalten.
»Das war der Bukanier!«
Und jetzt in der Nacht ein blendendes Zucklicht, ein schmetternder Donnerschlag — es war die Einleitung zur nachfolgenden Himmelsrhapsodie. Ein ununterbrochenes Schmettern und Rollen und Krachen und Grollen mit bengalischer Beleuchtung.
Es hatte nichts zu sagen. Und wenn sich auch hier auf der Erde selbst Feuerschlünde geöffnet hätten, wenn die Felswände herabgeprasselt wären — es hätte an der nachfolgenden Szene sicher nichts geändert.
Erst viel später, als alles schon vorüber war, merkte ich, dass es unterdessen vom Himmel gegossen hatte. Ich hatte keinen Tropfen gespürt.
Der alte Tiroler stand vor der Leiche. Wie er von der Arche dorthin gekommen war, weiß ich nicht. Ich wusste auch nicht, dass wir schon von einem schwarz-weiß-roten Kreise von einem halben Hundert Jägern umgeben waren.
»Bukanier — Du hast sie ermordet und geschändet.«
Ganz ruhig hatte es der Ewige gesagt, auf die Leiche deutend.
Ja, ganz ruhig hatte er es gesagt. Aber wie!
Der alte Tiroler stierte die Leiche an, dann stierte er den an, der diese fürchterliche Anklage ausgesprochen, und stierte wieder die Leiche an.
»Dös — dös — is doch das rote Denderl — die Erdbeere —«
»Erdbeere, der Du schon einmal in unsauberer Absicht nachgelaufen bist. Ich weiß es!! Du hast sie heute Nacht hier erschossen, geschändet und im Wasser versenkt!«
Da warf der Alte seine Arme empor.
»Bei der Jungfrau Maria und bei allen Heiligen — dös bin i net gwesen, dös hab i net tan — rein zufällig is mir der Stutzen losgange —«
Furchtbar erschrocken brach der Alte ab.
»Ahaaa! Jetzt also gestehst Du wenigstens, dass Du heute Nacht hier gewesen bist und geschossen hast!«
Immer noch, mit seinem furchtbaren Schreck ringend, versuchte es der Tiroler mit einer Ausrede.
»Naa, i hob net gschossen —«
»Was, auch das wagst Du Hund jetzt noch zu leugnen, nachdem Du es schon gestanden hast?!«
»Net mit Absicht — der Stutzen is von allein losgangen —«
»Also Du warst heute Nacht hier?!«
»Ich war hier — ich ließ den Hahn schnappen, da ging der Schrotschuss von allein los!«
»Schrotschuss?!«
»An alter Schuss, steckt schon seit vielen Jahren drin, noch von meinen Bergen her, i konnt ihn net rausbringen, wie i auch gebohrt hab.«
»Seine Büchse her! Sein ganzes Schießzeug!«
Bald wurde es gebracht, der doppelläufige Stutzen, Pulverhorn, Kugelbeutel, ein Säckchen mit Schrot, eine Schachtel Zündhütchen, Pulvermaß, Gießzange und dergleichen.
Mancher dieser Jäger führte noch einen Vorderlader, aber keine alte Feuerspritze, sondern ein ganz modernes Fabrikat. Vorderlader werden noch immer gefertigt, die ausgezeichnetsten Gewehre, für Jäger in Gegenden, wo keine Patronen zu haben sind. Zwar kann man sich diese selbst machen, aber der Vorderlader hat auch einen anderen großen Vorteil vor dem Hinterlader, wenn es nicht auf schnelles Schießen ankommt. Man macht sich den Pulversatz selbst, verändert die Menge, nimmt verschiedene Arten Pulver, je nach der Schussweite, je nach der Kugel, die man absenden will. Das weiß auch manch alter Schützenbruder, der deshalb von den Hinterladern nichts wissen will.
Es war ein doppelläufiger Perkussionsstutzen, den der Ewige mit kundigen Augen besichtigte, ein ausgezeichnetes Fabrikat der steyrischen Gewehrfabrikation. Der eine Lauf mit Haarzügen, vorn um den Bruchteil eines Millimeters konisch zulaufend, die Kugel aus Weichblei wurde eingekeilt, der andere Lauf für Schrot. Hahnabzug mit Piston für Zündhütchen. Beide Läufe waren jetzt ungeladen, gut ausgewischt, also hatte es wenig Zweck, dass der Ewige hineinroch.
»Worauf willst Du denn gezielt haben?«
»Gar net zielt hob i. Wie i so dagsessen hob auf dem Baumstumpf, hob i den Stutzen in die Höh ghalten, hob so spielend den Schrothahn gspannt und hob abdrückt, und da is der alte Schuss losgangen, an den i schon nimmer dacht hob.«
»Du musst doch ein Zündhütchen draufgesetzt haben!«
»Naa, kaa Zündhütl. Ohn Zündhütl is der Schuss losgange.«
Einige der umstehenden Jäger lachten.
Ganz mit Unrecht. Das kann passieren. Stahl auf Stahl geschlagen, gibt auch einen Funken. Und ist er kräftig genug, so dringt er durch das durchbohrte Piston, bringt das Pulver zur Explosion. Und wenn ein alter Pulversatz neunundneunzig Mal versagt, weil er vom Feuer des Zündhütchens nicht erreicht wird, so kann er beim hundertsten Male von dem kleinen Funken der zusammenschlagenden Stahlteile erreicht werden.
Der ewige Christoph hatte auch nicht mitgelacht, stellte keine verwunderte Frage — schnell lud er den Stutzen, als sei er durchaus mit ihm vertraut, nur mit Pulver, setzte aus dem Kugelbeutel einen eingefetteten Pfropfen darauf, richtete den Lauf nach oben, spannte den Hahn, drückte ab — einmal, zweimal, dreimal — beim vierten Male krachte der Schuss, ohne dass ein Zündhütchen benutzt worden war.
»Und da bin i halt so erschrocken«, fuhr der alte Tiroler von selbst fort, »weil's doch schon heiliger Sonntag war, dass ich halt aufgsprungen bin und in mei Boot nei und bin zu mein Räucherschiff grudert und —«
»Und hast Deine Mokassins verbrannt!«, fiel ihm der Ewige ins Wort. »Höre, Bursche! Es ist möglich, dass Dir der Schuss unabsichtlich losgegangen ist. Es ist möglich, dass Du nicht gerade auf die Indianerin gezielt, dass Du sie überhaupt gar nicht gesehen hast, aber in die Höhe hast Du den Lauf dabei nicht gehalten. Der Schuss krachte, Du hörtest wahrscheinlich einen Schrei, gingst ihm nach — und da sahst Du, was Du angerichtet hattest. Und da hast Du Dir in deiner wahnsinnigen Todesangst gesagt: So oder so, mit Dir ist es jetzt doch vorbei, Du bist geliefert — und da hast Du die Serbende oder schon Tote erst noch geschändet, ehe Du sie mit einem Stein versenktest — na, stimmt's?!«
Da hob der alte Tiroler wieder die Arme zu dem blitzenden und krachenden Himmel empor.
»Bei der Jungfrau Maria und bei allen Heiligen, dös is net wahr, dös is glogen —«
»Na, nun macht's kurz, Jungens!«, erklang da eine andere Stimme. »Hängt ihn!«
Bill Siftly, genannt Doppelauge, war es gewesen, der es gerufen hatte.
Und »Hängt ihn!«, echote es vielstimmig im Kreise nach. »Hängt das Scheusal, an den Baum mit ihm!«
Den Schluss dieser Szene an diesem Ort möchte ich fast gar nicht erzählen.
Und doch, es muss sein.
Der Himmel war ein donnerndes Feuermeer, aber er wurde übertönt durch den immer grimmiger werdenden Schrei:
»Hängt das Scheusal!!«
Und sie blieben nicht stehen, sie kamen heran, immer enger wurde der Kreis, und Bill Siftly war auch der erste gewesen, der sich in Bewegung gesetzt hatte, schon löste er das Lasso von den Hüften.
Das alte Männchen in dem schwarzen Leder streckte ihm die flache Hand entgegen.
»Zurück!«, sagte er ganz kalt, fast leise, und dennoch übertönte es das Donnern des Himmels. »Achtung vor dem Alkalden!!«
Was, auch Alkalde war mein Schwiegervater? Das hatte ich noch gar nicht gewusst! Aber das wusste ich, dass in der Republik Mexiko der Alkalde noch etwas ganz anderes zu bedeuten hat als in Spanien, ja sogar mehr noch als in den nordamerikanischen Staaten der Sheriff. Er ist Staatsanwalt und Richter zugleich, ist gegebenenfalls sofortiger Herr über Leben und Tod. In einer Hinsicht herrlich, in anderer Hinsicht schrecklich. Die höchste Ehre, das höchste Vertrauen, das man einem Manne schenken kann — anderseits ein Überbleibsel der spanischen Inquisition.
»Achtung vor dem Alkalden!«
Es brachte auf den schielenden Burschen keine Wirkung vor.
»Zum Teufel mit dem spanischen Alkalden!«, höhnte er. »Wir sind freie Nordamerikaner! Diesen verfluchten Bukanier bis an sein Lebensende im Gefängnis mästen, was? Weil hier die Todesstrafe abgeschafft ist, was? Damit hat der Kerl doch schon gerechnet! Los, Jungens an den nächsten Baum mit ihm —«
Da gellte wieder ein menschlicher Schrei dem himmlischen Donner nach.
»Jesus Maria, i bin's gwesen, i hab's getan!!«
Der alte Sünder hatte sich plötzlich besonnen, hatte es gestanden.
Ein vielstimmiger Wutschrei erscholl.
Er kam eigentlich zu spät.
Sie hatten ihn ja auch ohne Geständnis schon hängen wollen, lynchen.
Jetzt aber war es doch etwas anderes, jetzt hatte er gestanden, jetzt erst brach die Wut hervor.
»Hängt das Scheusal, hängt den Bukanier!«
Und sie drangen auf ihn ein, wenigstens alle weißen Jäger, auch einige Mestizen und sonstige Farbige. Nur die Indianer, die nicht zu den »coloured men« gerechnet werden, verhielten sich teilnahmslos.
»Achtung vor dem Alkalden!«, rief der Ewige immer noch einmal, »Wehe, wer ihn berührt, hier habe nur ich allein —«
Ein Hohnlachen des Schielenden, er wollte den Tiroler packen — da trat schnell der Ewige dazwischen, setzte ihm die Hand gegen die Brust, stieß ihn zurück, aber so kräftig, dass der starke Bursche zurückgeschleudert wurde, taumelte und stürzte.
Mit einem entsetzlichen Fluche schnellte er wieder empor.
»Hund, Du hast einen freien Amerikaner geschlagen, das sollst Du büßen!!«
Und der Mann, der sich rühmte, der blutigste Raufbold des ganzen Tales zu sein, sprang gegen den vor, der sich an ihm tätlich vergriffen hatte, riss das schwere Jagdmesser aus der Scheide und führte einen furchtbaren Hieb nach seinem Herrn und Gebieter.
Der Ewige wäre nicht mehr lebendig gewesen. Der schwere Stahl hätte ihm unfehlbar den Schädel gespalten, wenn er nicht die krümmende Bewegung einer Schlange gemacht hätte. Zur Seite springen hätte er nicht mehr können.
So traf die Messerspitze nur seine Schulter, schlitzte ihm den ganzen Ärmel auf, ohne ihm auch nur die Haut zu ritzen.
In diesem Moment aber hatte der mehr als achtzigjährige Greis ebenfalls ein Messer in der Hand, ich weiß noch heute nicht, wo er es plötzlich herbekommen hatte, und noch ein ganz anderes Jagdmesser, ein Bowie, der blitzende Stahl sauste durch die Luft und — — hatte Bill Shiftlys Kopf bis zum Kinn glatt in zwei Hälften gespalten!
»Achtung vor dem Alkalden!«, erklang es kalt wie zuvor.
Ja, wie soll ich es nun schildern?
Wie die Umstehenden nach ihrem zu Boden gestürzten Kameraden stürzten, dessen Schädel so sauber gespalten war, wie man mit einem scharfen Messer eine Apfelsine durchschneidet?
Oder wie sie nach dem verhutzelten Männchen starrten, welches das schwere Messer, so blitzend und sauber wie zuvor, in der Hand wog, sich im Kreise umblickend, die zweite Apfelsine erwartend, die zu spalten sei?
Denn ein verhutzeltes Männchen war es.
»Folgt mir! Im Namen des Gesetzes!«
Der Tiroler stieg ihm nach in das Motorboot.
Es fuhr davon.
Alle starrten ihm nach.
Ich auch.
Dann sprang auch ich in ein Boot, ruderte, als wären mir alle Teufel der Hölle auf den Fersen.
Ich wollte nichts mehr sehen und hören.
Ich musste allein sein, um das erst einmal zu verdauen.
Zwei Tage später lag ich mit meiner Arche in der Nähe der Tropeninsel, saß im »Salon« vor dem ersten selbstgefertigten Tisch auf dem ersten und einzigen selbstgefertigten Stuhle, entwarf mit Zirkel und Lineal das Muster zu der zukünftigen Wandverkleidung, tuschte auch schon, gab mich ganz dem Genusse dieser Steckenpferdreiterei hin.
Da steckte Emil seinen Schädel zum Fenster herein.
»Darf ich Deine heilige Arche betreten?«
»Wenn Du Deinen Leichnam schon zur Hälfte zum Fenster hereinhängst, kannst Du auch ganz hereinkommen. Aber zur Tür! Auf Backbord oder Steuerbord, das ist mir egal!«
Emil verschwand am Fenster und kam manierlich durch die Tür spaziert.
»Darf ich mich als zivilisierter Mensch zuerst nach dem Befinden Deiner werten Frau Gemahlin erkundigen?«
»Das darfst Du. Danke, es geht ihr sehr gut. All butschiro.«
»Darf ich ihr persönlich meine Aufwartung machen?«
»Du darfst es, aber Du kannst es schwerlich. Ich weiß nicht, wo sie sich herumtreibt. Nach Sonnenuntergang wirst Du sie hier finden. Solange die Sonne am Himmel steht, bin ich Strohwitwer.«
»Karl, Du hast in der Ehelotterie einen Treffer gezogen!«, lachte Emil.
»Habe ich auch, und da gibt's gar nichts zu lachen.«
»Du warst heute früh in der Stadt?«
»Ja.«
»Was sagt man in der Stadt?«
»Ich könnte die bestellten Furnierhölzer übermorgen früh Punkt acht Uhr abholen.«
Mein Freund kannte mich ja zur Genüge, so wunderte er sich nicht ob dieser Antwort, belehrte mich nicht erst, dass er etwas anderes hatte von mir wissen wollen.
»Joseph Wachtel hat gestern im ersten Verhör seine Untat gestanden.«
»Ich weiß es.«
»Wirklich? Das wundert mich fast.«
»Man müsste taub sein, um es nicht zu wissen, wenn man in der Stadt gewesen ist. Zwar hatte ich meine Ohren verstopft, aber nicht mit Wachs und keiner sonstigen Substanz.«
»Hast Du den Ewigen schon wieder gesprochen?«
»Nein.«
»Ich glaube, er sucht Dich.«
»Er wird mich schon zu finden wissen.«
»Ich habe sehr scharfe Instruktionen bekommen.«
»So.«
»Karl, sei nicht so gleichgültig! Es handelt sich darum, wie wir zusammenhalten, falls es hier einmal losgeht. Es könnte ja sein, dass Dir die Instruktionen, die Dir Dein Schwiegervater geben wird, nicht gefallen. Mir gefallen sie nämlich gar nicht. Ich habe keine Lust, wegen der gesetzlichen Ordnung hier in diesem Tale das Leben eines jeden Menschen als das einer Fliege zu betrachten.«
Nun, ein gefühlloser Holzbock war ich durchaus nicht. Ich wurde aufmerksam.
»Falle es hier einmal losgeht?«
»Hast Du noch nichts bemerkt?«
»Nein.«
»Libelle hat Dir nichts mitgeteilt?«
»Nein.«
»Es gärt im Tale. Die Jäger halten geheime Versammlungen ab.«
»Weil der Alte den Kerl in zwei Hälften gespalten hat?«
»O nein. Dieser Handlung, dass sie gegen ihren Brotherrn und Alkalden — oder Sheriff, wie sie ihn hier lieber nennen — gewalttätig vorgehen wollten, haben sie sich bereits geschämt. Sie verehren den Ewigen als einen gerechten Herrn über alles, außerdem natürlich als gewaltigen Jäger. Und er hat den Messerhieb mit einem Messerhieb beantwortet. Und wie er die Antwort gegeben hat, das imponiert diesen Kraftnaturen mächtig. Nein, Bill Siftly hat sein ehrliches Begräbnis gefunden, und damit ist diese Sache bereits vergessen.«
»Aber?«
»Aber der zischende Pfeil, der Bruder der unglücklichen Indianerin, war der erste, der sich das Kopfhaar abrasierte und nur die Skalplocke stehen ließ, sein Gesicht mit den Kriegsfarben bemalte, und viele andere Indianer sind seinem Beispiele schon gefolgt. Und viele weiße Jäger sind den Rothäuten durch Blutsverwandtschaft oder durch Bluttreue verbunden. Sie machen alle mit. Höre, Karl: Sobald das Urteil gesprochen wird, das doch jedenfalls den Kerl lebenslänglich ins Zuchthaus schickt, weil in der Republik Mexiko die Todesstrafe abgeschafft worden ist, werden einhundertundzwei Jäger das Stadtgefängnis von Christoffero stürmen — er wird gelyncht!!«
Zum ersten Male legte ich Lineal und Bleistift weg und blickte auf.
»Ja, sind diese Mexikaner denn nur wahnsinnig, dass sie die Todesstrafe abschaffen?! Das ist mir überhaupt ganz unbekannt.«
»Du sagst es. Wahnsinnig sind sie. Vom Größenwahnsinn werden sie geplagt. Es ist die alte Geschichte mit diesen süd- und zentralamerikanischen Republiken, die sich wohl auch niemals ändern wird. Es sind und bleiben Kinder, die alles haben wollen, was ihnen gefällt. Als man in den europäischen Hauptstädten, in London, Paris, Berlin, noch vorsichtig mit den ersten elektrischen Straßenbahnen experimentierte, die ersten Erfahrungen sammelte, ihre Rentabilität auskalkulierte — da musste in Südamerika jedes weltverlassene Städtchen gleich seine elektrische Straßenbahn haben. Sie wurde gebaut, und wenn auch alle Finanzen dabei zum Teufel gingen, keine Schuldzinsen mehr bezahlt werden konnten. Und so ist es auch in jeder anderen Hinsicht. Da hat man hier gehört, dass die Regierung der Schweiz die Todesstrafe abgeschafft hat, in der Senatssitzung werden die betreffenden Reden vorgelesen, die Begründungen — — ha, wie herrlich! Natürlich, die Todesstrafe ist unchristlich, unmoralisch, unedel! Schrumm, ist sie auch hier abgeschafft worden! Dass dies zu den hiesigen Verhältnissen passt, als wolle man einem Tiger in der Wildnis Kirschkuchen vorsetzen, damit er nicht in die Herden fällt, daran denkt hier niemand.«
»Wann ist denn die Todesstrafe hier abgeschafft worden?«
»Vor sechs Wochen.«
»Nu da!«, lachte ich. »Bis der Mann verurteilt ist, ist sie auch wieder eingeführt worden.«
»Nein, Karl, so schnell geht das denn doch nicht. Der Mörder und Leichenschänder muss schnellsten verurteilt werden, das verlangt hier die ganze Volksstimmung. Und lautet das Urteil einmal auf lebenslängliches Zuchthaus, so ist dann daran nichts mehr zu ändern, auch wenn schon am nächsten Tage die Todesstrafe wieder eingeführt wurde. So schnell geht aber das auch in diesem Lande denn doch nicht —«
Ein starkes Klopfen unterbrach uns. Es war an einer Bordtür geklopft worden, ich brauchte ja auch nur durchs Fenster zu sehen. Ein Arbeiter von der Werft brachte mir ein kuvertiertes Briefchen.
Der Untersuchungsgefangene Joseph Wachtel bittet Sie dringend um eine Unterredung. Ihre Zulassung ist von mir bereits zugeordnet.
Hochachtungsvoll
Don Christoffero
Eine Stunde später betrat ich die Zelle.
Jede Frage, wie ich dazu käme, was der von mir wolle, hatte ich mir aus dem Gehirn zu wischen verstanden.
Nach Don Christoffero hatte ich gefragt, ihn nicht gefunden, mich auch nicht damit aufgehalten.
Im Gefängnis hatte sich mir nur ein Geistlicher anschließen wollen, ich hatte ihn ebenso höflich wie energisch zurückgewiesen, nachdem mir der Direktor mitgeteilt, dass ich den Untersuchungefangenen allein sprechen dürfe, mit der Versicherung, dass wir auch nicht belauscht würden.
Der alte Tiroler, in einen Sackanzug gekleidet, saß auf seiner Pritsche mit Matratze, stand bei meinem Eintritt auf, ein abgehärmtes Gesicht blickte mir entgegen.
»I hob halt dacht«, begann er ohne Weiteres, »Sie sind der einzige, der mich verstehn wird, dem musst Du Di' anvertrauen.«
»Weshalb gerade ich?«
»Als all die Leut um mich rum gstanden hom, hob i sie all angschaut, und sie all wollten mi glei morden, oder 's war ihnen ganz egal, was aus mir wurd. Ihr Gsicht hat mir am besten gfalln.«
»Nun und? Was haben Sie mir zu sagen?«
»I hob halt a schweres, schweres Unrecht tan.«
»Ja, Mann, das habt Ihr!«, sagte ich und ärgerte mich gleich über mich selbst, dass ich so etwas sagte, dabei auch noch erschüttert war.
»Weil i an falsch Zeugnis abglegt hob, was a Sünd is.«
»Falsches Zeugnis abgelegt? Gegen wen denn?«
»Wider mi selber. 's is net wahr, i hob's net tan, 's ist glogen.«
»Was?! Ihr widerruft Euer Geständnis?!«
»Ja. 's is net wahr, 's is glogen.«
»Warum habt Ihr denn da gestern erst dieses Geständnis abgelegt? Den ganzen Hergang mit allen Details erzählt?«
»Worum, ja worum? Weil i halt varruckt war. Als sie alle auf mich einschrien, ich wär's gwesen, und als der Bill Doppelauge sagte, ich sollte wohl im Gefängnis totgefüttert werden, da fing mei Varrucktheit an. Da dacht i mit Schrecken dran, wie i schon in Innsbruck vier Jahrln im Zuchthaus gsessn hob, und dös halt i nimma aus, ka Wochen mehr, i net.«
Er sank auf die Pritsche zurück, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
Und ich starrte den Weinenden an.
Mit einem Male dämmerte mir eine Ahnung auf. Wenigstens ein Verständnis dafür, wie es in dem Manne aussah, was ihn dazu veranlasst haben könnte, sich selbst solch eines Verbrechens zu bezichtigen.
»Sepp, hört Ihr mich sprechen?«
Er konnte mich wieder anblicken. Und ich war ganz ruhig, eiskalt. Durchaus nicht etwa, dass ich nun etwa gleich an seine Unschuld geglaubt hätte!
»Ihr behauptet, unschuldig zu sein?«
»I bin unschuldig.«
»Weshalb habt Ihr gestern das Verbrechen eingestanden, es in allen Details, Einzelheiten geschildert und das Protokoll unterschrieben? Versucht den Grund hierzu einmal kurz und klar auszudrücken.«
Ein tiefer Atemzug, und dann sagte er:
»Weil i glaubt hob, i würd ghangen, weil i net gwusst hob, dass es hier kein Todesstrafen net mehr gibt!«
Aha! Das war es, was ich gleich geahnt hatte!
Der Leser wird verstehen, sonst kann ich es ihm nicht erklären.
Ich kann nur unsere Unterhaltung wiedergeben.
»Ihr möchtet lieber gehangen werden als lebend eingesperrt sein?«
»Dös halt i net aus, i net. Kein acht Tag, ohn Sonnschein und Luft.«
»Und da habt Ihr das Verbrechen eingestanden, in der Hoffnung, dass das Todesurteil gleich an Euch vollstreckt wird?!«
»So is es. Weil hier in Mexiko doch alles so fix geht. Seht, Ihr versteht mich, i hob mir doch gleich gsagt, dass Ihr dös richtige Gsicht hobt.«
»Lasst alle Redensarten, die mich betreffen. Wann habt Ihr erfahren, dass es in Mexiko keine Todesstrafe mehr gibt?«
»Heut früh.«
»Von wem?«
»Von dem Herrn, der mein Verteidiger werden soll.«
»Und da?«
»Da bin i halt ganz entsetzlich erschrocken.«
»Und da habt Ihr Eurem Verteidiger gegenüber Euer Geständnis widerrufen?«
»Noa.«
»Warum nicht?«
»Weil der mich doch nur ausglacht hätt.«
Es ist vielleicht schwer verständlich, aber — — ich konnte dem Gedankengang dieses Mannes folgen. Er hatte ja ganz recht, und gerade in seiner Ausdrucksweise verstand ich ihn am besten.
»Ja, Mann, wenn Euch am Leben so wenig gelegen ist, dann hängt Euch doch selbst auf.«
Es war ein starkes Wort, aber diesem Manne gegenüber sicher ganz angebracht. Ich hatte doch nicht umsonst viele Jahre lang mit Matrosen und ähnlichen Leuten verkehrt — nämlich nachdem ich vorher Philosophie studiert hatte.
»Dös darf i net.«
»Weshalb nicht?«
»Dann würd i doch der ewigen Seligkeit verlusti gehen.«
Diese Antwort genügte mir. Aber nicht etwa, dass ich wegen dieser seiner »Frömmigkeit« nun etwa von seiner Unschuld überzeugt war. Gott bewahre! Die alten Raubritter haben den Ablasszettel schon vorher gekauft, ehe sie die Kaufleute überfielen und massakrierten.
»Ihr habt Euch aber doch falsch beschuldigt, schnellstens vom Leben zum Tode befördert zu werden!«, sagte ich nur noch.
»Ja, und hab i net gsagt, dass i ein schweres, schweres Unrecht begangen hob?«
Das stimmte, so hatte er mich gleich im Anfang empfangen.
Ich setzte mich neben ihn auf die Pritsche.
»Nun erzählt mir noch einmal, wie das war auf der Sägeinsel.«
Er tat es. Ich bekam nicht viel Neues zu hören. Er hatte auf dem Anstand gesessen. Bis nachts um 12 Uhr hatte er schießen wollen, war aber nicht zum Schuss gekommen. Dann, als der Sonntag verkündet worden, hatte er nur noch so dagesessen, hatte mit seinem Gewehr gespielt — da war aus dem Schrotlauf der alte Schuss losgegangen.
Sonntagsruhe! Erschrocken war er aufgesprungen, in sein Boot, war nach seiner Arche gefahren und hatte dort seine Mokassins verbrannt.
»Weshalb tatet Ihr das?«
»Ja, Herrle, weshalb, weshalb?! Weil i net derwischt werden wollt. Und weshalb wollt i net derwischt wern? Weil i a dumma Teifi war. I hätt' doch zum Ewigen gehen und ihm alles gleich erzählen sollen. Dass das Gewehr losgeht, das kann doch jedem mal passieren. Naa, der Teifi hat mi plagt.«
Das war mir alles vollkommen plausibel.
»Und weshalb habt Ihr da zuerst geleugnet, auf der Sägeinsel gewesen zu sein?«
Auch diese Frage hätte ich mir ersparen können, weil ich sie mir selbst beantworten konnte.
Er hatte eben einmal zu leugnen angefangen, und da musste er dann auch fortfahren. So hatte er sich immer mehr — hineingeraddert. Aus Scham darüber hatte er gleich gehen wollen. Da war die Leiche gefunden worden.
Aber nicht etwa — ich wiederhole es — dass ich nun von seiner Unschuld überzeugt war! Durchaus nicht! Hinwiederum auch nicht von seiner Schuld. Ich prüfte die Sache eben ganz kalt und unparteiisch.
»Könnt Ihr das Mädchen nicht versehentlich getroffen haben?«
»Naa.«
»Weshalb nicht?«
»Ich hielt den Lauf nach oben.«
»Seid Ihr dessen so sicher?«
»Ganz, ganz sicher. Ich hielt den Kolben auf mein rechtes Knie gstemmt, als ich abdrückte, und ich saß, und auf ein Baumast kann das Derndl auch net gsessen haben, denn über mir war kein Baumast, und ich schoss kerzengrad in die Luft, das könnt i bei meiner Seligkeit beschwören.«
»Die Leiche ist seziert, oder doch die Schrotkörner sind ihr herausgeschnitten worden. Es sind dieselben Rehposten, wie Ihr sie in Eurem Schrotbeutel hattet.«
»Ach, Herrle, Rehposten sind doch halt Rehposten.«
Er hatte recht, brauchte sich da nicht weiter zu verteidigen. Diesen mordenden Schrotkugeln, ob sie nun mit denen im Schrotbeutel übereinstimmten oder nicht, auch der chemischen Analyse nach, hatte man gar keine Beachtung geschenkt. Es sollte ja ein alter Schuss gewesen sein, der viele Jahre lang im Lauf gesteckt hatte. Übrigens hatte Sepp ja schon gestanden, dass er den mordenden Schuss abgefeuert!
»Sepp, es wird Euch zur Last gelegt, dass Ihr dieses Indianermädchen schon einmal schwer beleidigt habt, dass Ihr ihr schon einmal unsittliche Anträge gemacht habt?«
»Naa, naaa, dös is nöt wahr, dös is erstunken un erlogen!«, rief da der Alte entrüstet.
»Es sind aber Zeugen vorhanden, die es gehört und gesehen haben.«
»Und's is net wahr, 's is glogen!!«
Er berichtete mir, wie es gewesen war.
Er war erst ein Jahr hier, und es war gleich im Anfang gewesen. Erdbeere, ein Kind noch und doch schon eine Jungfrau, besonders hier in diesem Indianertale als solche geltend, hatte einen Pack Felle tragen wollen, sie nicht auf den Rücken bekommen und hatte den untätig in der Nähe weilenden Sepp gebeten, ihr zu helfen.
»›Wenn D' mir a Busserl gibst‹, hob i da gsagt, und wie ich ihr das Pack aufgladen hob, hob ich sie beim Kopf genomma, aber weil sie so mörderisch geschrien hat, hob ich sie glei wieder losglassen. Und da hob ich mir gar nix weiter dabei dacht, als i dem Derndl a Busserl geben wollt.«
Ja, so war es gewesen! Ich wusste doch etwas mehr davon, als ich vorhin meinem Freunde Emil hatte glauben machen wollen.
Nein, für diesen Tiroler war da absolut nichts dabei gewesen. Aber wir befanden uns hier in Amerika. Das konnte ihm hier schon den Hals brechen, als Belastung.
»Nun ist aber das Mädchen mit einem Schrotschuss im Herzen tot aufgefunden worden. Von allem anderen einmal ganz abgesehen. Irgend jemand muss diesen Schuss doch abgefeuert haben. Habt Ihr in den zwei Tagen Euch da noch keine Erklärung zurecht gelegt?«
Tief hörte ich den alten Mann atmen. Und ich lauschte. Jetzt musste sein wahrer Charakter zum Vorschein kommen, so oder so.
»Jaaa. I hob ne Erklärung. Aber 's is ist z'dumm.«
»Was ist zu dumm?«
»Dass i iwerhaupt davon anfang.«
»Wieso?«
»Weil mir's doch niemand glaubt.«
»Sprecht!«
»Als mei Stutzen losging, da machte er ›puff puff‹ —«
»Ein Doppelschuss?!«, horchte ich hoch auf.
»Naaa, ka Doppelschuss. Mein Knie bekam nur einen kurzen Ruck, einen einzigen. Es war auch nicht ›puff, puff‹. Es war ›puuuff‹. Der Schuss war zu lang und hatte auch zuletzt einen anderen Klang.«
»Ihr meint, da hat gleichzeitig noch ein anderer geschossen?«
»Ja, dös mein i halt.«
Da war es!
Zeit genug hatte der Gefangene ja unterdessen gehabt, um sich so etwas auszugrübeln.
Oder aber — er sprach die Wahrheit, wenigstens seine ehrliche Überzeugung aus.
»Das ist Euch erst jetzt eingefallen, dass der Schuss aus Eurem Gewehr nicht wie ein normaler, einfacher Schuss geklungen hat?«
»Na, ich hab's immer gewusst. Und ich hab's auch net gewusst. Ich war ja die zwei Tag ganz verruckt. Sakra, hab ich immer gegrübelt, das war doch grad, als hätt ich einen doppelten Pulversatz im Schrotlauf gehabt? Aber gehen die denn so hintereinander los? Mit einem so langen Knall? Und es war doch nur ein einziger Stoß, den ich aufs Knie bekam, ein ganz kurzer? So hab ich immer gegrübelt. Ich war halt ganz verruckt. Heute Nacht aber überkam's mich wie der heilige Geist. ›Da hat noch ein anderer geschossen!‹, hat's in mir geschrien. Und da wurd ich mir auch bewusst, dass es a Sünd is, sich so selbst beschuldigen; dass man für sein Leben kämpfen muss. Da hab ich Sie heut rufen lassen, weil i glei an Sie dacht hob.«
Gut! Vorläufig wollte ich diese Sache auf sich beruhen lassen. Jetzt kam erst eine andere Frage daran, deren Beantwortung mir wiederum seinen Charakter offenbaren konnte.
»Habt Ihr nun jemanden im Verdachte, dass er diesen anderen Schuss abgefeuert und die sonstigen Untaten an dem Mädchen begangen haben könnte?«
Der Alte sah einige Zeit sinnend vor sich hin und schüttelte den Kopf.
»Die ganze Nacht hob i darüber nachgrübelt — — naa, im ganzen Tal halt i kaan aanzigen Menschen zu so ner Schand für fähig.«
Mir stieg etwas zum Herzen empor — ich rang es schnell wieder herunter. Jetzt war ich quasi Untersuchungsrichter, der so ein Ding wie ein Herz nicht besitzen darf.
Ja, jetzt wollte ich Unhold dem Alten eine Falle stellen, ihm etwas in den Mund schmieren, einen Namen nennen, auf den er die Schuld abwälzen konnte, zumal der Betreffende sich nicht mehr verteidigen konnte und den zu verdächtigen er noch einen ganz besonderen Grund haben musste.
»Bill Siftly Doppelauge? Habt Ihr auch an den schon gedacht? Der es so eilig hatte, Euch zu hängen?«
Aber der Alte schüttelte wiederum sinnend den Kopf.
»Naa, naaa. Dös war'n wilder Kerl, ja, aber so'n Haderlump war dös net, naa.«
Wieder bezwang ich mich. Dieser Alte konnte ja auch so kreuzdumm sein, dass er nicht einmal auf diesen vorgehaltenen Köder biss.
So sagte ich mir als Untersuchungsrichter.
Dann etwas anderes.
»Also Ihr habt schon in Deutschland oder Österreich vier Jahre Zuchthaus abgemacht?«
»Sechs Jahr hob i aufibrannt bekomma. Im vierten bin i außibrochen und nach Amerika durchgschlüpft.«
»Weshalb denn?«
»Weil's mir im Zuchthäusl nimma gfalln hat.«
»Nein, weshalb Ihr die sechs Jahre bekommen habt, meine ich!«, musste ich wahrhaftig lächeln.
»Weil i beim Wildern derwischt worden bin, und weil i den Forstwart in die Lungen gschossen hob, dass der Malefizkerl dran gstorben is.«
»Und da habt Ihr nur sechs Jahre Zuchthaus bekommen?«
»Weil der Mann so wie so ne ganz zerfressene Lungen ghobt hat, woran er bald gstorben wär. Un is dos net genug, sechs Jahr Zuchthäusl? Un i bin's gar net gwesen.«
»Was?! Da wollt Ihr auch wieder unschuldig sein?!«
»Bin i aach. Wenn i aach die Schuld gstanden unds Protokollen unterschrieben hob.«
»Ja weshalb denn?! Ich verstehe nicht.«
Der Alte rieb sich mit blödem Lächeln die Knie.
»Jaa, jaaa. Wer soll auch so was verstehen, i hob hier in Amerika einmal jemandem es erzählt — i tu's net wieder — ins Gsicht homs mir glacht —«
»Mann, so sprecht doch!«
»Der Alois war's.«
»Der Alois?«
»Der Alois, mei Freind. Gewildert hob i, ja. Mehr als an Jahr Gfängnis hätt i net bekomma. Aber auf an Menschen hob i nimma gschossen und würd's nimma tun. Der Alois hat den Forstwart gschossen. Und — und — — ja, nun werd Ihr mir halt aa ins Gsicht lachen — da hob i dacht, hob i dacht — der Alois hat a Frau un sechs Kinder — und Du kan Kind un kan Kegel — — da hob i halt die Schuld auf mi gnumma un hob's Protokollen unterschrieben — aauuntsch!!«
Der Alte heulte wie ein Kettenhund auf.
Ich war aufgestanden, hatte zum Abschied seine schwielige Hand genommen und gedrückt. Etwas zu derb.
Dann war ich draußen auf der Straße.
Obgleich ich mir sagte, dass ich nicht im Geringsten erregt sei, und obgleich die Straße gar nicht belebt war, rannte ich doch nacheinander zwei Menschen über den Haufen. Der dritte Mensch, den ich anrannte, der aber meinem Anprall stand hielt, war mein Schwiegervater.
»Herr Christoph, ich muss Sie unter vier Augen sprechen!«
»So! Gern! Aber Sie haben doch nicht etwa eine neue Taubstummensprache erfunden, wobei man sich gegenseitig immer anrempelt?«
Er führte mich in eine Anlage, in der Mitte eines freien Platzes waren wir ungestört.
»Meiner festen Überzeugung nach ist der Mann unschuldig!!«
»Weshalb?«, erklang es ganz kalt.
Ich sprach eine Viertelstunde lang, sprach wie ein Buch.
Als ich fertig war, reckte sich das kleine Männchen etwas, um meinen mittelsten Jackenknopf fassen zu können.
»Herr Kapitän Hagen! Ihre Gefühlsüberzeugung ist mir als Alkalden ganz piepe; als Menschen ist sie mir sehr wertvoll, fast maßgebend, denn ich bin Gemütsmensch. In vier Wochen ist Präsidentenwahl, der neue Präsident wird sofort die Todesstrafe wieder einführen. Ich weiß es bestimmt. So lange werde ich das Urteil aufzuschieben wissen. Lautet es auf ›schuldig‹, so wird er gehangen.«
So sprach der Gemütsmensch. ließ meinen Knopf los und mich stehen.
Am anderen Tage um dieselbe Zeit betrat ich wiederum die Zelle.
Sepp hatte mich nochmals rufen lassen.
Es war eine andere Zelle. Durch die Gitterstäbe schien die Morgensonne, durch ein zweites Fenster würde er auch die Abendsonne haben.
Aber in dieser Sonnenbeleuchtung hätte ich ihn kaum wiedererkannt, so hatte sich sein Gesicht verändert, so eingefallen war es.
»I hob gestern gflunkert und glogen.«
»Was?!«
»I hob's halt tan.«
Ich fragte nichts weiter, sagte nichts weiter — ich ging.
Im Staate Ohio bei Brush Creek, Bezirk Adams, zieht sich durch eine sandige Ebene in mehreren Windungen ein Wall hin, 230 Meter lang, in der Mitte 10 Meter breit und 6 Meter hoch. In dem einen, dickeren Ende steckt ein großer, runder Felsblock.
Die ersten Europäer, die an diesen Wall kamen, sagten sich gleich, dass das kein natürliches Gebilde sein könne, gruben nach und fanden, dass das Innere aus großen, zusammengefügten Steinen bestand, die von weit her geschleppt worden sein mussten. Darüber war eine Tonschicht, auf dieser wuchs Gras. So ist es noch heute.
Man hat nicht gewusst, was dieser künstlich aufgeführte Wall bedeuten sollte. Als eine Verteidigungsmauer konnte er nicht in Betracht kommen. Nachgrabungen förderten nichts zu Tage. Keine Begräbnisstätte. Und wer Schätze oder Heiligtümer verbergen will, der setzt nicht solch einen Wall darüber. Auch die Indianer der näheren und weiteren Umgebung konnten nichts darüber berichten. Dieser Wall war für sie schon immer gewesen.
Jahrhunderte vergingen. Im Anfange der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts strich über diese Gegend ein Luftballon. Da sahen die Insassen unter sich eine ungeheure Schlange liegen, die in ihrem weitaufgesperrten Rachen ein großes Ei hielt.
Jetzt war das Rätsel gelöst. Ein monumentales Bauwerk eines verschwundenen Menschengeschlechtes. Mit einem Kunstgeschmack, der sich sonst nirgends auf der Erde findet, nirgends auf diese Weise ausgedrückt wird.
Man hatte aber auch schon an anderen Stellen Nordamerikas solche Wälle gefunden, deren Zwecke man sich nicht erklären konnte. Als zweites Objekt wurde der Wall bei Licking, gleichfalls in Ohio, aus der Vogelperspektive betrachtet, indem man in einiger Entfernung einen hohen Holzturm errichtete. Dieser Wall ist nur 75 Meter lang, niedriger, aber verhältnismäßig breiter, außerdem gehen noch vier Seitenwälle ab.
Von diesem Turme aus erblickte man eine Eidechse, die Beine von sich streckend; trotz der Grasbewucherung von wunderbarer Naturtreue. Wie sie sich an den Boden drückt, den Leib aufpustend, um jeden Sonnenstrahl aufzufangen.
Das ist alles heute noch zu sehen. In berechneter Entfernung sind jetzt Steintürme von größerer Höhe aufgeführt. Unten sieht man gar nichts. Begraste Erdwälle.
Hiermit fing die Erforschung der nordamerikanischen Altertümer erst an. Solche Erdwälle finden sich allüberall. Sie ziehen sich fast ununterbrochen an den Ufern des Ohio, Missouri und Mississippi entlang, von Florida bis nach Texas. Da gewesen sind sie schon immer, aber erst jetzt erkennt man in ihnen riesenhafte Tiergestalten von schärfster Naturtreue, man muss sie nur aus genügender Höhe betrachten.
Seltsam, ganz seltsam!!
Solch einen merkwürdigen Kunstgeschmack fände man sonst bei keinem anderen Volke der Erde?
Doktor Kann erzählt im Tagebuche seiner Nordpolexpedition — 1853— 56 — wie die grönlandischen Eskimos, als der Schnee durch die Sonnenwärme weicher wurde, lange, lange Schneewälle aufführten, Hunderte von Metern lang, immer im Bogen und Zickzack herum. Aber sie verrieten ihm nicht, was das sein sollte; sie freuten sich, dass er's nicht erriet. Dann führten sie ihn auf den nächsten Berg. Und da sah Doktor Kann zu seinem Staunen einen Menschen liegen, der eine Harpune schwang. Und die Eskimos jubelten wie die Kinder, dass der gelehrte weiße Mann nicht gewusst hatte, was daraus werden sollte, und dass er jetzt so staunte.
Doktor Kann kann seiner Verwunderung auch nicht genug Ausdruck geben, wie die Eskimos es fertig brachten, den riesigen Schneemann durch Konturen zu bilden, ohne dass sie dabei den Fortschritt ihres Werkes aus der Ferne kontrollierten. Diese Kunstbetätigung der Eskimos ist unterdessen wiederholt bestätigt werden. Doch fängt man erst jetzt an, sich damit zu beschäftigen.
Für mich ist das ein Beweis, dass jene Gelehrten recht haben, welche — vielfach angefeindet — behaupten, dass die Eskimos einst ganz Nordamerika bis nach Mexiko bewohnt haben. Die sogenannten Indianer sind aus Asien herübergekommen und haben die Ureinwohner in jahrhundertlangem Kampfe bis zum höchsten Norden hinaufgedrängt. Genau so wie in Europa die Kelten die heutigen Lappländer.
Dafür sprechen auch noch andere Tatsachen. So der furchtbare Hass zwischen Eskimos und Indianern. Die Eskimos sind doch die harmlosesten, urgemütlichsten Menschen, so etwas wie »Krieg« kennen sie gar nicht, haben kein Wort dafür — aber wenn im Frühling Eskimos, die sich verfrüht, mit kanadischen Indianern, die sich verspätet haben, zusammentreffen, dann kommt es regelmäßig zum Kampfe auf Leben und Tod. Erst kürzlich wurde berichtet, wie ein Eskimostamm in einem Lager von Schwarzfuß-Indianern, in dem die Männer abwesend waren, alle Frauen und Kinder und Greise abgeschlachtet hat; wie von Wahnsinn erfasst.
Diesen Rassenhass zwischen Eskimos und Indianern, den unsere gelehrten Ethnologen erst jetzt zu konstatieren beginnen, habe ich am besten schon als Kind in einem Groschenschmöker geschildert gefunden.
Die Felswände am Sklavensee im Coloradogebirge bildeten mit ihren von Menschenhand gemeißelten Sälen, Kammern und Gängen nicht etwa eine große Merkwürdigkeit; nur für den, der sie zuerst entdeckte.
In dem angrenzenden Arizona sind überhaupt alle Gebirge siebartig durchlöchert, künstlich von Menschenhand, was zu erkennen ist.
Und solche gemeißelten Höhlen finden sich allüberall in den Gebirgen Nordamerikas. Man muss sie aber zu finden wissen. Die Zugänge zu den meist ungeheuren Höhlenlabyrinthen sind immer sehr versteckt.
Man hat sogar einst die Mammuthöhle in Kentucky für ein gemeißeltes Loch gehalten.
Die Mammuthöhle! Leser, kannst Du Dir eine Vorstellung davon machen?
Von ihren Gängen sind bis heute 430 Kilometer (vierhundertunddreißig Kilometer) ausgemessen worden. Damit ist es aber wahrscheinlich noch nicht zu Ende, weiter ist man noch nicht gekommen. Von diesen 430 Kilometern sind erst gegen zwanzig richtig erforscht. Vor mir liegt eine Karte. Und nun darunter Säle von 50 Metern Höhe!
Und ferner nun in der ganzen Umgebung die sogenannten »Punschbowlen«, Erdlöcher von unergründlicher Tiefe, wo es seitwärts immer wieder abgeht!
Aber die Mammuthöhle ist ein Naturerzeugnis. Das sagen die kolossalen Stalaktitenbildungen. Da hat der liebe Gott dem Menschen einmal einen Blick ins Innere der Erde gewährt, um zu zeigen, dass er auch verborgen vom Sonnenlicht Wunder geschaffen hat, die unsere Phantasie auch im kühnsten Traume nicht auszudenken vermag.
Und außerdem nun hat ein vergessenes Menschengeschlecht auch noch ringsherum künstliche Höhlen geschaffen. Nicht schon vorhandene erweitert, sondern von Grund auf gemeißelt. Das kann man bestimmen, weil Gesteinsmassen in Betracht kommen, bei denen natürliche Höhlen gar nicht möglich sind.
Ja, warum haben sich diese Ureinwohner Amerikas denn nur solcher Mühe unterzogen?
Um darin zu wohnen? Tempel?
Sie hatten doch natürliche Höhlen genug.
Ich war schon in dem Höhlenlabyrinth des Coloradogebirges auf den Gedanken gekommen, dass das nicht nur so einfache Säle, Kammern und Gänge sein konnten. Ich hatte manchmal so eine Ahnung, ohne weiter darüber nachzudenken.
Es ist in unserer Erzählung immer von Sälen, Kammern und Gängen gesprochen worden. Aber das stimmt nicht ganz. Es war nichts Rechtwinkliges vorhanden, wenigstens nicht im Ganzen. Auf der einen Seite eine glatte Wand, mit der Decke einen rechten Winkel bildend, und gegenüber die verschrobensten Winkel und Bogen und Rundungen. Überall die unregelmäßigsten Ecken und Vertiefungen, unverkennbar mit Absicht eingehauen. Überall blind endende Löcher, in die man bald nur einen Finger, bald eine Stange stecken konnte. Aber nicht etwa etwas Unvollendetes. Wozu eine ganz glatte Wand, an der man nur einen bizarren Vorsprung hatte stehen lassen? Wozu wieder die ungeheure Arbeit, die Stufen des Amphitheaters — wie wir es wenigstens nannten — mit peinlichster Genauigkeit zu bearbeiten?
Dieses Tal hier hieß in der mexikanischen Sprache Hulkopotltitetl, zu Deutsch Sklavenseetal.
Und auch hier waren die Felswände wieder allüberall siebartig durchlöchert. Mächtige Säle, enge Kammern, Gänge kreuz und quer, auf und ab, mit und ohne Stufen, dass man manchmal wie auf einer Rutschbahn hinabschusselte. Man konnte aber auch gleich, wenn die Fuhre unvermutet abging, sicher wissen, dass man unbeschadet landete.
Und auch hier allüberall die größte Verschrobenheit, gerade an den am saubersten bearbeiteten Wänden ein stehengelassener Vorsprung, überall kleine und große Löcher, offenkundig mit dem Meißel eingehauen.
Was sollte das nur?
Da kam mir eines Tages ein Gedanke.
Ich nahm mir solch eine unregelmäßige Felsenkammer vor, 6 Meter im Durchmesser und etwas niedriger, maß sie mit dem Zollstock aus. Und dazu ein knetbarer Tonklumpen, auf den ich die gefundenen Maße in verkleinertem Maßstabe übertrug.
Und was kam zuletzt heraus?
Ein Frosch!
Ein Frosch, der in ganz natürlicher Stellung auf seinen Hinterschenkeln saß, sich auf die Vorderfüße stützte und das Maul aufsperrte.
Und je sorgfältiger ich in der Höhle alle Vorsprünge und Vertiefungen ausmaß und die Maße auf mein kleines Tonmodell übertrug, desto lebensgetreuer wurde der Frosch, er bekam Augen, Zehen, die Knötchen daran, Hautfalten usw. usw.
Was sagt man zu solch einer Kunst?
Wie nennt man sie überhaupt?
Plastik?
Es ist ja gerade das Gegenteil davon.
Wir haben gar kein Wort dafür.
Hohle Plastik könnte man sie nennen.
Die alten Uramerikaner — vor denen, die Cortez vorfand, war schon ein anderes Volk hier, das wissen wir — meißelten also im Felsen ein großes Loch aus, gaben ihm die innere Form eines Tieres oder von sonst etwas, bildeten gewissermaßen den Abklatsch des betreffenden Körpers — und dann setzte sich so ein mexikanischer Kunstmäzen hinein und sagte: »Ah, ist das ein herrliches Kunstwerk! Welche Genialität der Auffassung!«
Über den Kunstgeschmack ist einfach nicht zu streiten. Ich muss gestehen, dass ich manchmal die ganze Malerei für eine kindliche Spielerei, für eine klägliche Stümperei halte, die Natur nachzuahmen, weil mich kein Gemälde erwärmen kann. Ich sehe immer nur Leinwand und Farben und aufgepinselte Farben.
Trotzdem glaube ich, dass der Enthusiasmus mancher Menschen vor einem Gemälde eine ganz echte Empfindung ist. Ich kann begreifen, wenn jemand, der es dazu hat, für die Landschaft eines alten Meisters hunderttausend Mark zahlt, sie in seine Stube hängt und sich immer wieder stundenlang davor setzt. Ich würde keine fünf Groschen dafür geben, obgleich mich ein Sonnenaufgang überwältigen kann.
Alle Felswände wimmelten hier von solchen negativ-plastischen Gebilden, meist Tiergestalten darstellend. — Meine Übung wuchs. sie zu erkennen, ohne dass ich erst ausmessen und verkleinert in Ton nachmodellieren musste, was übrigens eine äußerst mühsame Arbeit war.
Was ich alles entdeckte, kann ich gar nicht schildern. Nur noch ein einziges Beispiel.
Eine Höhle, die Decke gewölbt, in der Mitte nur zwei Meter hoch, gegen 30 Meter lang, etwas schmaler.
Das war eine Schildkröte, die Pista, wie sie in Mexiko heißt, deren Rücken wunderbar verziert ist, mit tausend einzelnen Schilderchen, mit Schnallen und Bückelchen. Und alle diese Verzierungen waren nun hier in die Decke eingemeißelt, als wäre diese Höhle der Abklatsch solch einer Schildkröte, aber in hundertfacher Vergrößerung, mit wunderbarer Genauigkeit gemeißelt.
Immer wieder musste ich staunen, nämlich darüber, auf was für Gedanken künstlerisch veranlagte Menschen kommen, wenn sie die Schöpfungen der Natur nachahmen wollen. Der eine schmiert dazu bunte Farben auf Leinwand, der andere behaut dazu den Stein außen herum, der dritte bohrt dazu in den Felsen hinein.
Ich hatte da nicht etwa eine neue Entdeckung gemacht. Den Talbewohnern war das alles bekannt. Sie schenkten dem gar keine Beachtung mehr.
Übrigens, das sagte ich mir von vornherein, musste man das Bewundern dieser Abklatschgebilde sehr bald überdrüssig bekommen. Das mag etwas für den altmexikanischen Kunstgeschmack gewesen sein, für uns ist das nichts mehr.
Vorläufig war es mir noch etwas Neues, brachte auch eine angenehme Abwechslung in meine Tischlerei, der ich noch immer emsig oblag.
So kroch ich eines Tages wieder in den Felsen herum. Es war auf der Nordseite. Näher will ich die Stelle jetzt mit Absicht nicht bezeichnen. Überhaupt konnte man ja die Kriecherei beliebig weit fortsetzen, vielleicht ohne Unterbrechung rings um das ganze Tal herum, denn ausgehöhlt war überhaupt alles, bis zu etwa einer Höhe von 30 Meter über dem Wasserspiegel, es ging aber auch noch tief unter diesen hinab, an anderen Stellen wieder viel höher hinauf.
So hatte mir Lookout berichtet, der geheiligte Vagabund, der ja auch mein Schwiegergroßvater geworden war. Er galt für einen echten Choktaw, ich vermute aber, dass er auch eine gute Portion anderes Blut in seinen Adern hatte. Dadurch, dass ihm das Muttermal in Gestalt einer Tabakspfeife, das er auf der Schulter hatte, keine Arbeit, vor allen Dingen aber auch keine Jagd erlaubte, hatte sich mindestens sein indianisches Wesen sehr verändert, mir kam er immer wie ein verschmitzter Zigeuner vor, konnte auch recht aufdringlich werden und wollte auch immer schachern. So bot er mir, sobald er erfuhr, dass ich sein Schwiegerenkel werden sollte, sofort das Geheimnis an, natürlich unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, wie man jedem Kinde solch eine Tabakspfeife oder irgend ein anderes Muttermal »anzaubern« könne; wenn ich ihm meine Uhr dafür geben wolle. Ich hatte dankend abgelehnt.
Ebenso seine Begleitung bei der Felsenkriecherei. Da war er sehr, sehr aufdringlich geworden. Ich hatte große Mühe gehabt, ohne gegen meinen Schwiegergroßvater handgreiflich zu werden. Als er sich in sein Schicksal ergab, erbat er sich nur noch einen einzigen Biss von meinem Kautabak, ließ aber gleich die ganze Platte in seiner Hosentasche verschwinden, erteilte mir dann aber auch ausführlich Auskunft über alles, was ich zu wissen wünschte, ohne noch etwas zu fordern.
Nein, gefährlich konnte diese Kriecherei niemals und nirgends werden. Ich hatte nicht nötig, wie ich es zuerst gemacht hatte, als ich überhaupt etwas von diesem Labyrinth erfahren, nämlich, dass ich einen Ariadnefaden aufwickelte, um mich wieder zurückzufinden. Wohl war es ein Labyrinth, das dem des Minotauros in Ägypten (1) sicher nicht nachstand, dieses hatte ja auch nur die Kleinigkeit von 3000 Kammern. Trotzdem war der, der es betrat, rettungslos verloren. Entweder der Minotauros, ein scheußliches Ungeheuer, fraß ihn auf oder er fand sich nicht wieder heraus. Theseus aber bekam von Ariadne, der Tochter des Königs, einen Garnknäuel mit, wickelte sich in das Labyrinth hinein, schlug das Ungeheuer einfach tot und wickelte sich wieder heraus; deshalb spricht man vom Faden der Ariadne. Das Mädchen hat er selbstverständlich geheiratet. Es ist ihr später aber noch sehr schlecht gegangen.
(1) Nach der griechischen Mythologie befand sich das Labyrinth mit dem Minotauros nicht in Ägypten, sondern auf Kreta.
Also ich brauchte keinen Ariadnefaden mitzunehmen. Tiefer als höchstens 50 Meter ging es nirgends hinein, dann endete jeder Gang blind. Das versicherte mein Schwiegergroßvater, der von zarten Kindesbeinen an hier herumgekrochen war, aufs Bestimmteste. Das ist ja allerdings auch schon eine ganz beträchtliche Tiefe — waagerecht gemeint — aber man brauchte sie ja auch nur wieder zurückzukriechen. Kein Kompass war nötig, man brauchte nicht einmal zu wissen, wo rechts und wo links war. Fand man den einen Gang versperrt, so fand man einen andern offen. Irgendwo sah man schon wieder Licht schimmern. Kam man zu hoch heraus, wollte man nicht haushoch ins Wasser hinabspringen, so musste man sich eben einige Etagen tiefer bemühen. Das Ganze glich eben einem Ameisenbau. Von dem ich wenigstens vermute, dass er so durchtunnelt ist; drin gewesen bin ich noch nicht. Nur in den allerobersten Etagen hausten Fledermäuse und Nachtvögel, sonst war alles von peinlicher Sauberkeit. Es konnte sich ja nicht einmal Staub bilden. Irgend etwas zu finden gab es freilich auch nicht.
»Und Rutschbahnen?«, fragte ich misstrauisch.
Mit einer solchen hatte ich nämlich schon eine böse Erfahrung gemacht, oder der Schreck hatte mir doch lange in den Gliedern gelegen. In einem schrägen Tunnel war ich einmal abgerutscht, immer schneller und schneller, freilich war ich bald wieder zum Stillstand gekommen, aber ich hatte mich doch schon in bodenlose Tiefe stürzen sehen und mich unten mit zerschmetterten Knochen liegen fühlen.
Ja, solcher Rutschbahnen sollte es viele geben, waren offenbar mit Absicht angelegt worden, um Neulingen einen Schabernack zu spielen, waren ganz glatt geschliffen, die Krümmung so heimtückisch beschaffen, dass man urplötzlich ins Rutschen kam, und dann gab es kein Halten mehr. Gerade deshalb aber war auch jede Gefahr ausgeschlossen. Man schusselte sich zuletzt eben in horizontaler Linie aus. Auch nirgends ein verstecktes Loch. Nur Treppen konnte man herabfallen. Man musste eben eine Lampe mitnehmen.
Also ich kroch auf der Nordseite wieder einmal als Felsenmaulwurf herum, planlos, besichtigte im Scheine meiner Naphtalampe die Kammern und Säle, ratend, von welchem Tiere sie wohl einen Abklatsch vorstellen sollten. Modellieren tat ich nicht mehr.
Ich war schon mehrere Treppen hinaufgestiegen, dann benutzte ich wieder einen Tunnel. Als er schräg zu werden begann und immer schräger wurde, setzte ich mich zur Vorsicht auf meinen ledernen Hosenboden und rutschte hinab, das heißt, dabei mit den Händen nachhelfen müssend. Und nicht etwa, dass ich gleich an eine wirkliche Rutschbahn dachte. Solcher schräger Tunnel mit rauem Boden gab es gar viele.
Da aber erlebte ich es zum zweiten Male, plötzlich fühlten meine Hände spiegelglatten Boden, und da war es auch schon zu spät, da war ich bereits ins Schusseln gekommen.
Never mind. Ich wusste ja, dass es ganz harmlos war und bald enden würde.
Als aber die Fahrt schneller und schneller wurde und kein Ende nehmen wollte, bekam ich es doch mit der Angst zu tun. Sollte ich auch nicht? Soll nur einmal jemand so auf seinem Hosenboden ins Ungewisse hinabsausen, mit der Geschwindigkeit eines Eilzugs oder wahrscheinlich noch viel schneller! Da kann man nicht etwa aufrecht sitzen bleiben, da legt man sich kraft eines physikalischen Gesetzes nach hinten über! Und ich hätte auch schon aus dem Grunde gar nicht mehr aufrecht sitzen können, weil sich die Decke des Tunnels jetzt nur noch spannenweit von meiner Nasenspitze entfernt befand. Und da bemerkte ich im Scheine meiner auf der Brust befindlichen Lampe, mit welch ungeheurer Schnelligkeit ich dahinschoss. Ich befand mich wie in einem Blaserohr, durch das ich als Pfeil geschossen wurde. Dann erlosch meine Lampe.
Wie lange ich so geschossen bin, weiß ich nicht. Da sieht man nicht nach der Uhr, denkt auch nicht daran, Sekunden zu zählen. Später aber konnte ich mir berechnen, dass diese Rutschbahn mindesten 300 Meter lang war und dass ich zu ihrer Durchmessung höchstens zehn Sekunden gebraucht hatte. Da darf man wohl wirklich von der Schnelligkeit eines Pfeiles sprechen.
Mit einem Male wurden meine Augen von einem blendenden Licht getroffen, im nächsten Moment war es wieder finster.
Nämlich weil ich mich unter Wasser befand.
Ich war ins Freie befördert worden. Die Mündung der Rutschbahn lag — was ich natürlich erst später konstatierte — sechs Meter über dem Wasserspiegel, und wie man einen Pfeil ins Wasser schießt, so schoss auch ich hinein, langausgestreckt mit den Füßen voran, und ich glaube kaum, dass viele Tropfen aufgespritzt sind.
Nun erst etwas anderes. Wir unterschätzen die Leistungsfähigkeit unseres Auges meist vollkommen.
Es ist heute bereits möglich, den Flügelschlag der Insekten zu fotografieren, das heißt: jede einzelne Flügelbewegung auf der Platte zu fixieren. Hierzu sind Momentaufnahmen von einzehntausendstel Sekunde nötig.
Glaubt man etwa, dass das menschliche Auge nicht dasselbe leisten kann, wie so ein zusammengeleimter Fotografenkasten?
Es muss dem Auge nur die Möglichkeit dazu gegeben werden, die nötige Kürze der Belichtung, dann leistet es noch etwas ganz anderes.
In den physikalischen Lehrsälen wird ein Experiment vorgeführt — nicht um die Leistungsfähigkeit des menschlichen Auges zu beweisen, sondern um die Geschwindigkeit des elektrischen Funkens zu berechnen, was aber auf dasselbe hinauslauft.
In einem finsteren Raume schwirrt mit kolossaler Geschwindigkeit ein Speichenrad um seine Achse. Ich weiß nicht mehr, wie viel hundert Umdrehungen es in der Sekunde macht, ein starker elektrischer Funke zuckt auf. In diesem Moment sieht man das Rad still stehen, jede Speiche ist deutlich erkennbar.
Dass man den elektrischen Funken für vielleicht eine Sekunde leuchten sieht, ist ein Irrtum, ist eine Reflexerscheinung.
Dass man die Speichen des Rades stillstehen oder sich nur ganz, ganz langsam bewegen sieht, das ist Wirklichkeit. Daraus kann man dann berechnen, dass der elektrische Funken nur den hunderttausendstel Teil einer Sekunde aufgeleuchtet hat.
Diesen hunderttausendstel Teil einer Sekunde hat das Auge deutlich wahrgenommen, das menschliche Gehirn hat den Eindruck verarbeitet.
Wer versteht, wobei es sich hierum handelt, der wird vor Staunen und Ehrfurcht ganz kleinlaut.
Als ich im Bogen durch die Luft sauste, hatte ich die Augen offen. Und da sah ich ein rohgezimmertes Blockhaus, vor dessen Tür ein Feuer brannte, um dieses herum saßen fünf Männer, und in der Tür des Blockhauses standen unser Mephistopheles und Miss Marwood Morgan.
Jede weitere Beschreibung vermeide ich jetzt absichtlich, denn wollte ich alles schildern, was ich in diesem Moment gesehen habe, so könnte ich nur gleich ein dickes Buch schreiben. Ich müsste bei dem Hute jeder einzelnen Person anfangen und bei den Stiefeln aufhören, und dann gäbe es noch viele Tausende von Kleinigkeiten zu schildern!
Jawohl, Tausende! Hierbei ist eben ein Wunder, ein Rätsel, mit dem man sich noch gar nicht beschäftigt hat. Wenn es nur möglich wäre, in einem finsteren Zimmer zu stehen, das heißt vor einem lichtdicht geschlossenen Fenster, und dieses nur für den Bruchteil einer Sekunde zu öffnen! Was man da alles erblicken würde! Was man bei normaler, längerer Beobachtung sonst gar nicht erblickt.
Ich hatte schon einmal solch einen Fall erlebt. Ich stand einst in finsterer Nacht auf einem Berge, plötzlich zuckte ein Blitz auf, und da sah ich unten im Tale ein Dorf liegen, sah jede einzelne Hütte und jeden Gegenstand. Am anderen Morgen — ich hatte in dem Gasthaus übernachtet — sah ich dasselbe Dorf zum ersten Male im Tageslicht. Und da staunte ich, dass ich schon heute Nacht dort jenen Baum und dort den abgebrochenen Schornstein gesehen hatte. Alles, alles kam mir ganz bekannt vor.
Es kommt eben auf die Momentbelichtung an, was aber durch Öffnen und schnelles Schließen nicht möglich ist. Durch den Luftzug war meine Lampe ausgeblasen worden, es war stockfinster gewesen, durch das helle Tageslicht gesaust, ins Wasser hinein — da hatte ich die Möglichkeit solch einer Momentaufnahme für mein Auge gehabt. Sollte mir niemand etwa sagen, ich hätte nur eine Vision gehabt!
Nein, ich hatte in der Tür des Blockhauses wirklich unseren Mephistopheles und die mir wohlbekannte Miss Marwood Morgan gesehen, die fünf Männer um das Feuer sitzen und dann noch alles, alles andere, was zu der ganzen Szenerie gehörte. Ich hätte alles hinmalen können.
In welcher Entfernung ich es gesehen, das freilich konnte ich dann nicht bestimmen.
Jedenfalls aber war es so nahe gewesen, dass ich ganz deutlich gesehen, wie sich unser Mephistopheles gerade eine Zigarette angebrannt hatte und der eine am Feuer, ein riesenhafter Neger, sich gerade den Wollschädel gekratzt hatte, dass er in seinen Ohren goldene Ringe trug, dass er — ich konnte überhaupt von jedem einzelnen die ganze Kleidung beschreiben, womit ich also nicht erst anfangen will, zumal ich dann später wiederholen müsste.
Ins Wasser geschossen, Schwimmbewegungen gemacht, wieder aufgetaucht und dem nahen Ufer zugestrebt.
Gefährlich war's nicht, aber diese alten Mexikaner müssen kleine Schäker gewesen sein, dass sie solche ins Wasser führende Rutschbahnen angelegt haben. Von dieser hat mein Schwiegergroßvater nichts gewusst oder er hat sie mir mit Absicht verheimlicht. Also auch unser Mephistopheles und die Miss Marwood Morgan sind hier in diesem Tale, soso!
So war es mir einmal durchs Gehirn geschossen, und dann war diese Sache für mich erledigt, die mich absolut nichts anging, und hätte ich noch einmal daran gedacht, so hätte ich den Gedanken sofort zurückgedrängt.
Ich kletterte ans Ufer, das hier im Norden des Tales mit tropischer Vegetation bedeckt war, an den Zweigen eines indischen Vanillenstrauches schwang ich mich zuletzt empor.
Da tauchte hinter einer Buschpalme der Ewige auf, und ich dachte doch nicht anders, als das alte Männchen wäre bei meinem Anblick plötzlich übergeschnappt.
»Bei Gottes Tod, Mann, wie kommt Ihr hierher!! Was habt Ihr hier zu suchen?!«
So donnerte er mich an und riss auch schon sein Gewehr hoch, als wolle er mich gleich über den Haufen schießen.
Was sollte ich davon denken? Was antworten?
»Na gehabt Euch mal, Mann!«, lautete meine gelassene Antwort. »Dass Ihr Euch aus Eurem Schwiegersohne verflucht wenig macht, das weiß ich schon, aber — wie kommt Ihr denn überhaupt dazu, mich so anzuschnauzen? Was habe ich Euch denn getan? Warum soll ich denn nicht hier sein!?«
»Ihr seid im gesperrten Revier!«
Hallo!! Jetzt ging mir eine Ahnung auf! Mit einem Male wusste ich alles.
Dort, wo ich in den Felsen hineingekrochen war, hatte sich rechts davon die gesperrte Bucht Nummer 6 befunden. Und ich war nach rechts gekrochen, ohne an dieses gesperrte Revier zu denken. Und während der Fahrt auf der Rutschbahn hatte ich noch weniger daran gedacht, dass ich in dieser geheiligten Bucht wieder das Licht der Sonne erblicken würde.
»Wenn das so ist, dann allerdings muss ich um Entschuldigung bitten. Oder ich tu's doch, ein ›Muss‹ ist nicht dabei. Oder Ihr müsst auch das Betreten der Felsengänge verbieten, mindestens solche Wasserrutschbahnen sperren, die einen in verbotenes Gebiet expedieren, ob man will oder nicht.«
»Wasserrutschbahn?!«, stieß der Alte noch immer grimmig hervor. »Was schwatzt Ihr da??! Wie Ihr hier hereinkommt, frage ich!«
Ich blieb gelassen, wenn auch in mir etwas aufzusteigen begann, drehte mich um und deutete nach der Felswand, in der sich eine ganze Menge Löcher zeigten, neben- und übereinander.
»Von dort komme ich. Welches Loch mich ausgespien hat, das allerdings kann ich nicht so ohne Weiteres sagen.«
»Ausgespien? Aus solch einem Loche kommt Ihr? Ja, da seid Ihr aber doch erst hineingekrochen!«
»Natürlich. Aber von der anderen Seite.«
»Von der anderen Seite?«
»Jawohl. Vom freien Tale aus, ungefähr 200 Meter westlich von der Ecke entfernt, wo die gesperrte Bucht Nummer 6 beginnt.«
»Und da wollt Ihr hier herausgekommen sein?«
»Na, habt Ihr‹s nun endlich erfasst?«, nahm ich mir vor meinem Schwiegervater, wenn er mir so kam, kein Blatt vor den Mund.
»Das ist ja gar nicht möglich!«
»Weshalb soll das denn nicht möglich sein?!«, blieb ich noch immer ganz ruhig.
»Zwischen dem freien Tale und den gesperrten Buchten gibt es in den Felsen keine Durchgangstunnel!«
»So, meint Ihr, ich aber versichere Euch, dass ich durch solch einen Durchgangstunnel hier hereingekommen bin, und zwar ohne mein Wissen!«
»Nicht möglich! Ich kenne doch mein Gebiet wie meine Hosentasche —«
»Aber den Kapitän Hagen kennt Ihr doch noch nicht zur Genüge.«
Doch das hatte nicht ich, sondern Atalanta gesagt, die plötzlich neben dem Alten stand.
»Wenn Kapitän Hagen es sagt, dann ist es auch so. Und solltet Ihr denn wirklich jeden einzelnen Gang in diesem ungeheuren Labyrinth so genau kennen?«
Es war sehr, sehr gut, dass Atalanta dazwischen getreten war, noch rechtzeitig — und die Hauptsache war natürlich, dass das alte Männchen auch gleich Vernunft annahm, doch ein vernünftiger Mensch war er ja überhaupt. Er musterte die Löcher, nach denen ich gedeutet hatte. Dass ich ganz nass war, darauf konnte man hier nicht viel geben, in diesem Inselgebiet ging es, wenn man nicht gerade ein Boot zur Hand hatte, immer einmal ins Wasser.
»Aus welchem Loche kommt Ihr heraus?«
»Das kann ich durchaus nicht bestimmen, auch nicht die Höhe, ich schoss wie aus einer Kanone heraus!«
»Ja weshalb denn wie aus einer Kanone?!«
»Weil es eine Rutschbahn war, die ich hinabglitt, zuletzt hinabschoss.«
»Eine Rutschbahn?«
Ich schilderte näher. Der Alte schüttelte den Kopf.
»Ja, ja, Herr Kapitän, ich glaube Euch. Ich muss mit meinen Behauptungen, dass ich mein Tal wie meine Hosentasche kenne, vorsichtiger sein. Habe mich schon früher einmal mächtig blamiert. Das ist aber nun schon so lange her, dass ich es bereits wieder vergessen hatte. Herr Kapitän, ich bitte Euch um Entschuldigung. Genügt Euch das?«
»Es genügt mir.«
Dann wäre es auch nicht mehr nötig gewesen, dass er mir noch die Hand gab.
»Das muss ich nun natürlich gleich näher untersuchen. Aus welchem Loche also kamt Ihr heraus?«
Ds konnte ich eben nicht bestimmen. Nur so ungefähr die Richtung, wo das Loch liegen musste. Indem ich den Platz, wo ich das Ufer erklettert, noch nicht verändert hatte.
Die Löcher waren dort aber so ziemlich alle von gleichem Durchmesser. Ein ausgestreckt liegender Mensch ging gerade bequem hinein. Ob ich seitwärts Wände gefühlt hatte, darauf konnte ich mich gar nicht mehr besinnen.
»Aus welcher Höhe seid Ihr denn herabgekommen?«
Auch das wagte ich nicht anzugeben. Es konnte ein Meter gewesen sein, es konnten —
»Nein, höher als diese Büsche und niedrigen Bäume hier muss es doch wohl gewesen sein.«
»Woraus schließt Ihr das?«
»Weil ich während des Sturzes darüber hinwegsehen konnte, weil ich da etwas erblickte, was ich von hier aus nicht sehen kann.«
»Was saht Ihr denn?«
»Ich sah — ich darf in Gegenwart der Frau Gräfin doch sprechen?«
»Selbstverständlich. Für die Frau Gräfin Atalanta existiert kein gesperrtes Revier. Ja, was wollt Ihr denn überhaupt hier gesehen haben, was nicht jeder andere sehen dürfte?«
Diese Frage wunderte mich, aber das war jetzt nicht angebracht.
»Ich sah ein Blockhaus —«
»Was?!«, unterbrach mich der Alte sofort. »Hier in diesem Revier wollt Ihr ein Blockhaus gesehen haben?!«
»Jawohl.«
»Hier steht kein Blockhaus«
»Ich habe es aber deutlich gesehen.«
»Dann habt Ihr vielleicht zur Bucht hinausgeblickt!«
Das wäre insofern möglich gewesen, als wir uns ja von der Grenze, wo die Sperrung begann, gar nicht so weit entfernt befanden.
Das hielt ich aber für ausgeschlossen, dass ich den Anblick noch außerhalb der Bucht gehabt hätte, hatte hierfür die verschiedensten Gründe.
»Vor dem Blockhaus befanden sich Menschen, von deren Anwesenheit in diesem Tale ich noch nichts erfahren habe.«
»Was für Menschen?«
»Vor allen Dingen zwei, welche die Frau Gräfin sehr gut kennt. Señor Juan alias Professor Dodd alias Mephistopheles — — und Miss Marwood Morgan.«
»Waas?!«, machte da Atalanta mit ganz großen Augen. »Wen wollt Ihr hier gesehen haben?«
»Wen wollt Ihr hier gesehen haben?!«, echote der Alte mit gleichem Staunen nach.
»Den Mephistopheles, wie wir ihn immer nannten, und Miss Marwood Morgan. Die beiden standen an der Tür des Blockhauses oder dicht davor. Er brannte sich gerade eine Zigarette an, hielt das Streichhölzchen dran und stieß ein Rauchwölkchen aus — sie blickte nach ihrer Taschenuhr.«
»Kapitän, Ihr habt eine Vision gehab!«
Wer das gerufen hatte, ist gleichgültig. Sie glaubten es zuerst alle beide.
»Ausgeschlossen. Ich leide nicht an Visionen.«
»Wenn man hoch herabsteigt, kann man einmal so etwas haben —«
»Ich bin einmal von der Oberbramrah herabgestürzt, ins Wasser geklatscht, habe einen blauen Buckel gehabt, aber keine Vision.«
»Sie kennen diese beiden Personen so gut —«
»Ich habe auch noch andere Menschen gesehen, die ich nicht kannte.«
»Noch andere Menschen?!«
»In einiger Entfernung vor der Tür des Blockhauses und etwas seitwärts davon brannte ein großes Feuer, um dieses lagerten fünf Männer. Nur der eine davon kniete, weil er gerade in einem großen Topfe rührte, der über dem Feuer hing, es war ein Neger oder doch ein Mensch mit sehr dunkler Haut, außerdem hatte er wolliges Haar — mit der rechten Hand rührte er in dem Topfe, mit einem Instrument, von dem ich nur den Griff sah, mit der linken Hand kratzte er sich in den Wollhaaren — in dieser knienden Stellung konnte ich auch beurteilen, dass es ein sehr, sehr großer Mann war, außerdem hatte er lange, herkulische Arme, einen mächtigen Oberkörper, war unbekleidet, in den Ohren trug er goldene Ringe, wenigstens im linken, das ich nur sehen konnte, und das Auffallendste an ihm war, dass ihm im Gesicht die Nase fehlte.«
»Sambo!«, rief da der Alte in grenzenlosem Staunen. »Allmächtiger Gott, das ist kein anderer als Sambo gewesen! Kennt Ihr diesen Mann schon? Habt Ihr ihn schon einmal gesehen?«
»Noch niemals.«
»Ja, dann kann das doch auch keine Vision gewesen sein!«
»Das habt doch auch nur Ihr behauptet, ich doch nicht. Und dann, im Gegensatz zu dem nackten Neger die auffallendste Gestalt, ein Mann, der ganz in Pelz gehüllt war oder doch in Häute, das stehen gelassene Haar nach außen gekehrt, aber auf dem Kopfe eine richtige Pelzmütze, außerdem offenbar ein sehr kleiner Mann —«
»David, das war kein anderer als David!«, schrie wieder der Alte.
»Und dann ein Mann, ein Weißer, der aus einer eigentümlichen Pfeife rauchte, der Kopf sah aus wie ein kleiner Pferdeschädel, und mir schien, als ob der rechten Hand, die das Pfeifenrohr hielt, der Mittelfinger fehle —«
»Horseboy, kein anderer als Horseboy!«
Die anderen beiden, die ich beschrieb, allerdings nicht mehr mit solchen besonderen Kennzeichen, kannte der Alte nicht; aber es hatte auch schon genügt.
»Es sind die drei Halunken, die ich vor zwei Jahren aus dem Tale pfefferte, weil sie Stänkerei machten! Und Ihr wollt die drei Kerls hier vor einer Blockhütte gesehen habe?!«
Ich mache es kurz.
Ich blieb natürlich bei meiner Behauptung.
An Atalanta hatte ich dabei eine kräftige Unterstützung, indem diese das Experiment mit dem schwirrenden Speichenrade kannte und was sich alles daraus schließen lässt. Also dass man im winzigen Bruchteile einer Sekunde wirklich ein Bild von wunderbarer Schärfe schauen kann.
Der Ewige ließ sich sehr schnell überzeugen, der schien überhaupt Bildung genug zu besitzen.
»Ja, aber hier in diesem Tale können die sich nicht aufhalten, in dieser gesperrten Bucht nicht und in keiner anderen.«
»Wisst Ihr das so ganz genau?«, frage ich.
»Na, das ist doch ganz selbstverständlich, das müsste doch jeder wissen —«
»So wie Ihr ganz, ganz genau wusstet, dass es nach dieser Bucht von draußen keinen Durchgangstunnel gibt?!«
Der Alte starrte mich an.
»Nein, das hier ist etwas ganz, ganz anderes!«, sagte er dann, »sieben Menschen können hier nicht vor einem Blockhause sitzen, und wir wissen nichts davon.«
Ich gab es zu, das war etwas anderes.
»Aber wo habt Ihr sie denn nur gesehen? In welcher Entfernung?«
Das freilich konnte ich nicht angeben, ob es zehn Meter oder hundert Meter Entfernung gewesen waren, so wenig wie man nach einer fertigen Fotografie bestimmen kann, aus welcher Entfernung sie aufgenommen wurde, wenigstens weiß ich nicht, ob dies der Fachmann oder der Physiker nachträglich zu bestimmen vermag. Ich glaube aber, da muss man wohl auch den Fotografenapparat kennen, mit dem das Lichtbild aufgenommen wurde, der kann total verschieden sein, und so dürfte es wohl auch bei solch einem Momentbild des menschlichen Auges ganz auf die individuelle Auffassungsgabe ankommen.
Wir hielten uns auch nicht mehr lange mit solchen Erwägungen auf. Ob hier etwa solch eine Blockhütte war, danach wurde nicht erst gesucht, das wäre, wie die Sache nun einmal lag, heller Wahnsinn gewesen. Hier galt es ein Rätsel zu lösen, dem nur durch praktische Experimente beizukommen war.
Der Ewige beorderte durch Pfiffe in dieses heilige Gebiet einmal eine Arche. Die nächste, die sich in der Nähe befunden, war ein Vermessungsschiff gewesen, in wenigen Minuten war es zur Stelle, es legte dort bei, wo die Löcher zu untersuchen waren, mit Hilfe einer Leiter, die auf das Dach der Arche gestellt wurde.
Sofort wurde konstatiert, dass nur ein einziges Loch in Betracht kommen konnte, nur eines hatte solch einen abgeschliffenen, spiegelglatten Boden und ebensolche Wände.
»Sapristi, das ist mir neu!«, sagte der Ewige einmal. »Kapitän, Ihre Verzeihung habe ich schon erhalten. Wie haben die alten Mexikaner das nur angefangen, den Stein so glatt zu schleifen? Sie müssen dazu doch immer auf dem Bauche gelegen haben.«
»Und müssen dabei befestigt worden sein!«, ergänzte ich.
Denn in den Tunnel zu kriechen, das war einfach unmöglich. Er bildete einen Winkel von mehr als 45 Grad, so musste ich also auch herausgeschleudert worden sein.
Nun, man brauchte ja nur den Kopf in die betreffende Lage zu bringen, konnte das auf der Erde auch noch weiter verfolgen, diese Bogenlinie, die ich im Sturze beschrieben hatte. Um das zu berechnen, brauchte man kein Mathematiker zu sein.
Ja, über die nächsten Gebüsche und niedrigen Bäume blickte man weg. Eine Blockhütte sah ich freilich nicht. Aber etwas anderes sah ich, was mir gleich die Ahnung gab, dass ich, wenn ich das Rätsel auch noch nicht gelöst hatte, so doch der richtigen Lösung auf der Spur sein konnte.
Hinter jenem tropischen Gebüsch, vor dem wir vorhin am Ufer gestanden, vielleicht in einer Entfernung von 40 Schritt, erblickte ich einen kleinen Teich, dadurch auffallend, dass seine Ufer nur ganz spärlich mit Gras bewachsen waren, mehr grau als grün aussehend, während in einiger Entfernung gleich wieder die ungemein üppige Vegetation begann, und dann ferner dadurch auffallend, dass das Wasser so rein und tiefschwarz war.
Denn sonst gab es ja hier in diesem Süßwasser, das kaum floss, überall Wasserpflanzen, Teichlinsen und dergleichen. Nur die größeren Wasserflächen waren davon frei. Und das schien mir überhaupt ein geschlossener Teich zu sein, wie ich hier einen solchen noch gar nicht gesehen hatte! Und nun diese tiefschwarze Färbung —
Kurz und gut, da kam mir plötzlich eine Idee wie eine Erkenntnis:
»In diesem Wasser habe ich ein Spiegelbild gesehen!«
Es war eigentlich eine kühne Vermutung. Aber diese Idee war nun einmal gekommen, und ich wurde sie nicht wieder los. Die Ursache davon mochte die sein, dass der Teich ganz einem waagerecht liegenden Spiegel glich — da war diese Idee gleich in mir entstanden. Ich hatte ein Spiegelbild gesehen!
Vorläufig sagte ich noch nichts, ich verließ die Arche und begab mich einmal hin.
Ja, ganz merkwürdig. Der Rand dieses Teiches duldete nur Disteln und Kletten und dergleichen Zeug, obgleich es Humusboden war.
Nun, dieses Rätsel hatte ich bald gelöst. Ich brauchte nur das Wasser zu kosten. Pfui Deibel! Meerwasser war Honig dagegen. Das reine Bitterkleesalz; das leckten auch die Hirsche nicht.
Da kam Atalanta.
»Störe ich?«
»Im Gegenteil, ich wollte Sie gerade holen. Ist mit diesem Teiche ein Geheimnis verknüpft, dem man nicht nachforschen darf?«
»Nicht dass ich wüsste. Es ist ein Loch von unerfindlicher Tiefe, gefüllt mit einer Salzlake. Jedenfalls steht es mit einem erloschenen Vulkan in Verbindung.«
»Frau Gräfin, ich habe eine Erklärung gefunden.«
Und ich bemerke, dass unterdessen noch etwas anderes in meinem Gehirn dazugekommen war.
»Nun?«
»Gestatten Sie mir erst einige Fragen. Ich möchte nämlich sehr gern, dass Sie alles Weitere mit Herrn Christoph besprechen, mich dabei dann aus dem Spiele lassen.«
»Wie Sie wünschen.«
»Kennt Herr Christoph den Mann, den wir Mephistopheles nennen?«
»Ja. Wenigstens dem Namen nach. Er weiß schon, wen wir meinen, wenn er auch noch nicht persönlich mit ihm zusammengekommen ist.«
»Weiß Herr Christoph, dass dieser Mann solche wunderliche Kinkerlitzchen fabriziert?«
»Ja, das ist ihm bekannt!«, lächelte die indianische Gräfin. »Auch Herr Christoph hat einmal jener geheimen Gesellschaft der Mahatmas angehört, ist aber wieder ausgetreten — also nicht etwa, dass er fahnenflüchtig geworden ist, das war bei dem etwas ganz, ganz anderes — er will jetzt von alledem nichts mehr wissen. In dieses Tal darf nicht etwa so eine drahtlose Telefonuhr kommen.«
»Das macht er recht, dass er lieber mit drahtlosen Kanonen schießt und auf seinen Fingern piept, wenn er was zu verkünden hat. Nun hören Sie, Frau Gräfin:
Ich habe vorhin gesagt, die Miss Morgan hätte gerade nach ihrer Uhr gesehen. Auf diesen Gedanken musste ich kommen, weil sie so ein rundes, flaches Ding in der Hand hatte und darauf blickte. Unterdessen aber bin ich zur Ansicht gekommen, dass dieses Ding für eine Taschenuhr viel zu groß war, selbst wenn es eine Herrenuhr gewesen wäre, oder es war eine von einem ganz unverschämten Kaliber.
Mein Glauben von der ganzen Geschichte ist nun folgender: Die Miss Morgan hatte ein Instrument, mit dem sie spiegelte. Von wo aus und wohin, das weiß ich nicht. Jedenfalls aber, vermute ich stark, war es ein Spiegel, aber kein einfacher, sondern irgend so eine Erfindung. In diesem Spiegel erschien ihre eigene Umgebung, also auch sie selbst, auch ihre Begleiter. Dieses Spiegelbild wurde hier nach diesem Teiche geworfen, dessen Wasserfläche doch ebenfalls ausgezeichnet spiegelt. So habe ich das ganze Bild hier in diesem Teiche gesehen, in dem Moment, als ich aus jenem Loche durch die Luft schoss.
Das ist meine Ansicht von der Sache. Fragen Sie mich nicht, ob die unser Tal beobachten wollen, wo sie sich befinden, ob das Spiegelbild absichtlich entstand oder zufällig. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich darüber zu sagen habe. Bitte, melden Sie das Herrn Christoph. Oder haben Sie sonst noch etwas zu fragen, was ich beantworten kann?«
Die Indianerin blickte mich mit ihren schönen Augen an.
»Nein. Vorläufig nicht.«
»Dann kann ich ja wohl gehen.«
Und ich ging davon, ohne mich um das Weitere zu kümmern.
Hagen kletterte auf die Mehlsäcke der Barri-
kade hinauf, fasste den nächsten der Wege-
lagerer am Kragen und zog ihn zu sich herüber.
Am nächsten Tage lag ich mit meiner Arche zwischen den Biberinseln, beobachtete das kunstfertige Treiben dieser vierbeinigen Zimmerleute und Deichbauer.
Ich will es hier nicht schildern. Man lese darüber in anderen Büchern nach, wie sie die Bäume fällen, sie in Knüppel schneiden und daraus ihre Wohnungen aufführen.
Wie ich so aus dem Fenster lehnte, kam in einem kleinen Motorboot der Ewige.
»Darf ich Euch besuchen?«
»Frage!«
»Auch mich könnt Ihr abweisen.«
»Euer Besuch ist mir angenehm.«
»Danke.«
Er befestigte sein Boot, trat in den Salon, in dem ich jetzt die Furnierhölzer schnitt, setzte sich auf den zweiten vorhandenen Stuhl, zog seine Pfeife aus dem Gürtel, stopfte sie und begann zu rauchen, während ich wieder schnitt, wobei er mir mit starren Augen zusah, bis er nach zehn Minuten den kleinen Pfeifenkopf ausgeraucht hatte.
»Seid Ihr abergläubisch?«, begann er dann.
»Nein.«
»Ich dachte, jeder Seemann wäre abergläubisch.«
»Das ist durchaus nicht der Fall.«
»Jeder Jäger ist abergläubisch.«
»Auch das möchte ich nicht unterschreiben.«
»Wenn ich von Hunden träume, darf ich am anderen Tage nicht schießen. Kein Wild bricht im Feuer zusammen.«
»Das wird dann wohl an Euch selbst liegen, mit dem Traume hat das nichts zu tun.«
»Ich weiß, was Ihr meint. Mag sein. Aber es ist so, und darauf kommt es an. Doch ich habe noch ein anderes Anzeichen, das nie, nie trügt, aber davon darf ich nicht sprechen, sonst verliert es sofort seine Kraft.«
»Ja, im Schweigen liegt eine große Kraft.«
»Weshalb?«
»Das ist ein Geheimnis, das nur der versteht, der es intuitiv erfasst hat.«
»Könnt Ihr das beweisen?«
»Nein.«
»Dann ist's ein Aberglaube.«
»Gut, nehmt es an.«
Glücklicherweise setzte er dieses philosophisch werden wollende Gespräch nicht fort, stopfte sich eine frische Pfeife und rauchte wieder zehn Minuten schweigend.
»Wisst Ihr's schon?«, begann er dann wieder.
»Was?«
»Was jetzt das ganze Tal beschäftigt, jedes Kind, das schon denken kann?«
Ich sah seinen Augen an, dass auch ihn etwas ganz Außerordentliches beschäftigte. So starr hatte ich sie noch nie gesehen. Er war auch sonst so niedergeschlagen.
»Ich weiß es nicht.«
»Heute Nacht ist wieder ein Schrotschuss abgefeuert worden.«
»Ach!!«
Überrascht ließ ich das Messer sinken.
Das war allerdings etwas sehr, sehr Wichtiges!
Das hing mit Schuld und Unschuld, mit Leben und Tod eines Menschen, eines des Mordes angeklagten Mannes zusammen.
»Heute früh hat man einen Büffel gefunden. Verendend. Ganz frisch angeschossen, die Wunden noch blutend; mit Schrot.«
»Und?«
»Keine Spur, kein Anhaltspunkt, kein Verdacht. Jetzt aber wird der Tiroler nicht eher verurteilt, als bis ich den Halunken herausbekommen habe. Ich hab's geschworen.«
Finster starrte der Alte vor sich hin.
»Er soll schon halb blödsinnig sein!«, sagte ich leise.
»Mehr schon ganz als halb. Ich werde dafür sorgen, dass er die möglichste Freiheit wiederbekommt. Ich bin entschlossen, für ihn zu bürgen.«
»Er bestätigt noch seine Schuld?«
»Das ist das Einzige, was er noch tut, weil er gehangen sein will. Aber jetzt halte ich einen Doppelschuss nicht mehr für unmöglich.«
Der Alte erhob sich.
»Ja, ich bin abergläubisch. Wenn man es nun einmal so ist. Für mich ist es Glauben, Wissen. Ich weiß, dass Ihr es sein werdet, der dieses Rätsel lösen wird. Ich habe mein Anzeichen dafür. Was das für eins ist, das darf ich nicht sagen, sonst verliert es die Kraft. Aber wissen könnt Ihr es, dass Ihr es sein sollt, damit Ihr Euch nicht wundert, wenn ich Euch öfter besuche, Euch irgendwohin mitnehme.«
Er nickte mir zu, ging hinaus und fuhr davon.
Es war Mittag geworden. Ich aß etwas Kaltes, fühlte mich schläfrig, wusste aber, dass ich nicht schlafen konnte. Die Gedanken jagten mir durch den Kopf, ich wusste, dass sie so zwecklos waren, und konnte sie nicht bezähmen. Ich hätte gern etwas gelesen, hätte mir an Bord meiner Arche eine ganze Bibliothek einrichten können, es war mir von dem Hausverwalter Christofferos schon gesagt worden, aber ich hatte noch nicht daran gedacht, besaß kein einziges Buch.
Da sah ich eine Vermessungsarche kommen und festgelegt werden. Ich ruderte die kurze Strecke hin.
»Haben Sie nicht ein Buch zu lesen?«
Die Ingenieure hatten in ihrem gemeinschaftlichen Wohnzimmer eine ganz hübsche Bibliothek.
»Was wollen Sie haben? Einen Roman? Etwas Humoristisches? Naturwissenschaftliches? Deutsch, Englisch, Spanisch — alles vorhanden.«
Ich nahm ohne Auswahl ein Buch heraus, warf gar keinen Blick hinein.
Wenn ich lesen will, um zu lesen, um an nichts anderes zu denken, so ist mir ganz gleichgültig, was es ist. Ich lese ein Wörterbuch, das nur Vokabeln enthält, mit demselben Interesse wie eine technische Abhandlung über die Fabrikation der Schmierseife.
Also ich ruderte zurück, spannte im Salon die Hängematte auf, legte mich hinein und öffnete zum ersten Male das Buch.
Deutsch! Ein Roman! »Irrwege der Liebe.« Das hatte ich nun allerdings nicht gewollt. Ich erlebe lieber selber Romane, als dass ich sie lese. Irrwege der Liebe gefallen mir nur, wenn ich selber drauf wandle.
Das heißt — meine Hochachtung vor der Freifrau, die diesen Roman geschrieben hatte! Eine wunderbare Erfindungskraft! Daher war das Buch auch schon so abgelesen, oder es hatte jemand seine Wut dran ausgelassen.
Diese glühende Phantasie! Man höre und staune:
Der Held ist ein Assessor und Reserveleutnant und hat nichts. Die Heldin ist ein wunderbar schönes Mädchen und kolossal reich. Die beiden lieben sich. Und wie! Aber die Eltern des Mädchens wollen nicht mitmachen. Da fällt Ella ins Wasser, der Assessor und Reserveleutnant springt ihr nach, holt sie unter Lebensgefahr wieder heraus, und Papa und Mama sprechen gerührt: »Kinder, da habt Ihr Euch!«
Aber ins Wasser fiel die Heldin erst auf Seite 327. Das hatte ich nur so im Durchblättern konstatiert. Im regelrechten Lesen war ich erst auf Seite 168. Jetzt wusste der Leser erst ganz bestimmt, dass Herr Theobald von Marheim Assessor und Reserveleutnant war und nichts hatte.
Also Herr Assessor und Reserveleutnant von Marheim versicherte zum achten und neunten Male, dass er nichts habe, Fräulein Ella Salten schwur ihm trotz alledem ihre unwandelbare Liebe zu, und Herr Kapitän Hagen war sanft eingeschlafen. Das Buch hatte seinen Zweck erfüllt.
Ein jämmerliches Quieken weckte mich.
Ich blicke nach der Richtung, von wo es kommt, durchs Fenster, neben dem ich hänge, und da sehe ich — sehe ich —
Ich traue doch meinen Augen nicht!
Da sehe ich dort eine große, gelbe, schwarzgefleckte Katze schleichen, einen Jaguar! Der trägt im Rachen einen Biber, der noch zappelt und so jämmerlich quiekt.
»Wache ich oder träume ich noch von den Irrwegen der Liebe?«
Da gleite ich aber auch schon aus der Hängematte und habe auch gleich die an der Wand hängende Büchse vom Nagel genommen.
Er drehte mir gerade den Kopf zu, das Gesicht, also zwischen die Augen gezielt. Puff! Den Biber fallen gelassen, sich hingelegt, noch einmal gezuckt, und dann lag er still.
Ich hinaus.
»Herrgott«, dachte ich unterwegs, »es wird doch nicht ein zahmer Jaguar gewesen sein, den Du geschossen hast?!«
Denn das war die einzig Erklärung für das Vorkommen irgend eines Raubtieres hier.
Hätte jemand behauptet, er habe hier einen Jaguar oder einen Schakal oder sonst ein Raubtier schleichen sehen, der wäre ja nicht schlecht ausgelacht worden.
Nicht einmal blutsaugende Mücken gab es in diesem Jägerparadiese. Die Moskitos können freilich nicht von Menschen ausgerottet werden. Da kam ein glücklicher Umstand zur Hilfe, der ihre Existenz unmöglich machte, weil nämlich die Larven aller Mückenarten im Wasser leben und sie durchaus kein Petroleum vertragen können. Und hier war allüberall auf dem Wasser eine Schicht Naphta, ganz geruchlos, unsagbar dünn, beim Baden und Trinken nicht bemerkbar, nur an gewissen Stellen, wo sich mehr Naphta ansammelte, konnte man ein Irisieren beobachten — und dennoch genügte das, um hier keine einzige Mücke aufkommen zu lassen. Über die hohen Felswände konnte keine gelangen. Solch eine intensive Desinfektion brachte aber auch nur die Natur fertig. Der Mensch ist da ganz ohnmächtig.
Früher hatte es hier einmal Raubtiere gegeben, gewiss, sonst hätte sich in dem eingemauerten Tale das andere Wild ja zuletzt selbst auffressen müssen, aber in den vielen, vielen Jahrzehnten war jeder Fleischfresser ausgerottet worden. Ich habe ja schon geschildert, wie selbst die Raubvögel dieses Tal scheuten. Sie kannten die Gefahr, die ihnen drohte, sobald sie in gewisser Höhe darüber schwebten. Auch keine Schlange gab es mehr, keine ungiftigen. Vor einigen Jahren war einmal eine junge Viper getötet worden. Sie war verwundet gewesen. Diese Jäger erkannten sofort, dass ein Raubvogel sie in seinen Fängen gehabt, sie hatte fallen lassen.
Schon das war ein Ereignis für dieses Tal gewesen. Und jetzt hatte ich hier einen Jaguar geschossen.
Ein zahmer? Ich wusste nichts davon. Der Ewige duldete in diesem Jagdrevier auch keinen einzigen Hund. Es konnte ja aber doch sein, dass er einen gezähmten Jaguar hielt, der einmal auf Irrwege der Liebe geraten war, sich aus eigener Kraft hatte frisches Fleisch verschaffen wollen. Ich fand im Augenblick keine andere Erklärung.
Na, wenn er auch zahm war — jetzt hatte er sein Leben ausgehaucht und wurde nicht wieder lebendig. Ein ganz stattlicher Bursche! Doch nein, es war kein Bursche, sondern es war eine Dame, der meine Kugel durchs Gehirn gefahren. Eine verheiratete Dame. Sie musste erst vor Kurzem das Wochenbett verlassen haben.
Da, wie ich noch so sinnend stand, mich gerade mit meinem Gewehr zu schaffen machte, tauchte neben mir über einem Busche meines Schwiegervater Kopf auf.
»Hallo, Käpten, auch mal was geschossen?«
Er stand so, dass er wohl mich, aber nicht das am Boden liegende Tier sehen konnte, und den dichten Busch hätte er umgehen müssen, was er noch nicht tat. Außerdem schien er im Gegensatz zu vorhin recht heiterer Laune zu sein.
»Ja, einen Jaguar.«
»Ach was, einen Jaguar habt Ihr hier geschossen?«, lachte er. »Und ich habe soeben eine Riesenschlange gefangen.«
Der glaubte also, ich erzähle ihm Jägerlatein, wollte mich überbieten.
»Wahrhaftig! Ein Jaguar! Da seht doch her! Ein Weibchen, das Junge hat.«
»Und meine Riesenschlange war ein zehn Meter langer Regenwurm, der seine Kinder spazieren führte.«
Ich führte den Überzeugungsbeweis kurz, packte das Tier beim Genick und hob es empor, musste dabei freilich beide Arme tüchtig anstrengen.
Es war schade, dass ich dabei nicht das Gesicht des Alten beobachtet hatte, da hätte ich wohl etwas zu sehen bekommen; so hörte ich nur einen unterdrückten Schrei, dann war er verschwunden und stand im nächsten Augenblick neben mir.
Erst glaubte ich, er wollte zusammenbrechen, aber er schlug nur die Hände über dem Kopf zusammen.
»Ein Jaguar!«, erklang es stöhnend. »Noch geschehen Zeichen und Wunder!«
Das gellte sein Jagdruf und schrillten seine Pfiffe.
Seit acht Tagen war in dem Tale kein Schuss mehr gefallen, kein Pfeil von der Sehne geschnellt worden. Die Arbeiter auf den Räucherschiffen brauchten kein Wild mehr abzuholen, aber zu tun hatten sie noch genug.
Alle, die sich in dem Tale befanden, auch die Frauen und die halbwüchsigen Kinder, mussten sich daran beteiligen, die Höhlen und Löcher zu untersuchen, die Gänge bis an ihr Ende zu verfolgen.
Denn aus solch einem Loche musste der Jaguar doch herausgekommen sein, es war ja nicht anders möglich.
Die Untersuchung seiner Fährte hatte keinen Erfolg gehabt. Das Tier war nur auf zwei der Biberinselchen gewesen. Es musste wohl der erste Biber die erste Beute gewesen sein, die er erhascht hatte. Ich hatte gerade hinter der zweiten Insel gelegen, nach welcher der Jaguar geschwommen war, und hatte ihn bei seinem ersten Jagdausflug erwischt und getötet.
Das Inselchen, das er, aus dem Wasser kommend, zuerst betreten hatte, lag ungefähr 150 Meter von dem Felsrande entfernt, dort, wo sich die Bucht Nummer 10 befand. Sie enthielt eine Höhle, in der gleich mehrere Feuer brannten, selbstentzündliche Gasarten, die aus Bodenspalten quollen.
Auch diese Bucht enthielt sehr viele Inseln und Inselchen, mindestens ebenso viel Land- wie Wasserfläche, aber hier wurde nirgends die Spur eines Jaguars bemerkt.
So musste er aus einem der jener Biberinsel gegenüberliegenden Löcher herausgekommen sein. Alle die Löcher, welche in Betracht kommen konnten, waren ja bald untersucht, in den verschiedensten Höhen, auch in solchen, wo es wohl ausgeschlossen war, dass der Tiger herabgesprungen sein konnte.
Nein, hier war kein Tunnel, der zuletzt nicht blind geendet hätte. Konnten Menschen nicht hineinkriechen, so wurde mit Stangen untersucht, aber solche enge Spalten gab es gar nicht, oder sie waren nur ganz kurz, sonst hätten die alten Mexikaner sie doch nicht ausmeißeln können. Es war schon staunenswert genug, wie weit sie mit den Armen hineingelangt hatten, dabei noch mit dem Meißel arbeitend, denn natürliche Felsspalten konnten bei dieser Gesteinsart hier gar nicht in Betracht kommen.
In immer weiterer Entfernung wurde gesucht. Der Ewige ließ überhaupt gleich das ganze Tal systematisch untersuchen, das heißt alle die durchlöcherten Felswände, wozu noch die Felseninsel kam, obgleich es auch hier ausgeschlossen war, dass sich der Jaguar etwa auf dieser schon seit längerer Zeit aufgehalten hätte. An diesem Durchforschen mussten sich also alle beteiligen, auch die Frauen und Kinder und die Arbeiter, die ihre Familien aber in der Stadt hatten.
Hatte sich das Raubtier etwa gar schon seit längerer Zeit hier aufgehalten?
Ja, da musste der Jaguar aber doch immer erst einmal hier hereingekommen sein! Und er hatte unbedingt Junge gehabt, hatte sie bis zuletzt noch gesäugt. Das konnten diese Jäger doch beurteilen; er hatte noch Milch gehabt.
Wo waren diese Jungen? Wo hatte der Jaguar sein Lager? Etwa hier in diesem Tale? Auf der Felseninsel?
Ach, gar kein Gedanke dran!
Wo war dann der Ort, wo er sich außerhalb dieses Tales sonst aufhielt?
Ich hatte schon einige Jäger gefragt, wie das Terrain jenseits dieser Felswände beschaffen sei. Sie konnten mir keine Auskunft geben.
Den Ewigen wollte ich lieber nicht mit solchen Fragen belästigen, der war jetzt in einer ganz besonderen Stimmung, so suchte ich meinen Freund Emil auf.
Viel war es aber auch nicht, was der mir hierüber sagen konnte.
»Ja, Du lieber Gott, Mexiko ist groß. Du denkst wohl an eine Generalstabskarte. Mexiko ist doch noch terra inkognita, unbekanntes Land, und das gilt besonders hier für dieses wilde Gebirge, für die Sierra Madre. Du siehst auf der Landkarte, und wir wollen gleich die allergrößte und daher allergenaueste annehmen, dunkle Schattierungen mit auslaufenden Strichelchen. Die bedeuten Gebirge, Gebirgszüge, die weißen Stellen sind Täler. Wie hat man diese Gebirge und Täler aufgenommen? Nur so nach dem Augenmaß. Das sind überhaupt alles nur Vermutungen. Das Tal, in dem Christoffera liegt, ist kartografisch ausgemessen. Dieses Tal hier habe ich aufgenommen, so weit es das Kärtchen zeigt, wozu es zwei Jahre intensiver Arbeit bedurfte. Was hinter diesen Felswänden liegt, das weiß kein Mensch.«
»Aber man kann doch hinauf.«
»Warst Du schon oben?«
Ich musste verneinen. Ich war noch nicht dazu gekommen. Ich hatte mir schon immer vorgenommen, mir wenigstens einmal den Eisbärenzwinger und das Eskimolager anzusehen, hatte aber immer wieder hier unten Interessantes genug gefunden.
»Ja, nun gehe einmal hinauf! Da wirst Du gleich erkennen, wie schwer es ist, dort oben Forschungsreisen zu veranstalten.«
»Ich denke, man kann im Schlitten oder auf Schneeschuhen rings um das ganze Tal fahren?«
»Ja, das kann man, wenn man einen Führer hat, sonst dürftest Du Dich bald rettungslos verirrt haben, bist wahrscheinlich sogar verloren.«
»Kann man in dieses Tal hinabblicken?«
»An einigen Stellen, ja. Die schon als sicher bekannt sind, sonst darf man sich dem scharfen Rande gar nicht so weit nähern.«
»Und wenn man nun das Plateau nach den anderen Seiten hin überquert?«
»Plateau? Ja, ein Plateau ist es, aber fürchterlich zerrissen. Und nun alles Schnee und Eis und Gletscherspalten. Besieh es Dir und dann versuche, es mir zu schildern, ob Du es kannst; ich kann es nicht.«
So sprach Emil, und ich glaubte ihm.
Nachbartäler mussten ja natürlich vorhanden sein. Aus einem solchen war der Jaguar durch einen Felsentunnel doch offenbar gekommen. Aber man wusste nicht, wo solche Nachbartäler waren, wie weit von hier entfernt, wie stark also die trennende Gebirgsmasse. Nur dass das Christoffera-Tal im Nordwesten so nahe herantrat, das war bekannt, nichts weiter.
Die Eskimos dort oben würden ja jetzt natürlich Forschungsexpeditionen machen, besonders in südöstlicher Richtung, das waren die einzelnen Leute, die dabei in Betracht kommen konnten, aber von einem Resultat hatte ich noch nichts gehört, obgleich also nun bald acht Tage vergangen waren, seit ich den Jaguar erlegt hatte.
Als Neues habe ich nur noch zu erwähnen, dass sich jetzt auch das gräfliche Ehepaar eine eigene Arche zugelegt hatte, auf ihr mit seiner Dienerin und dem Kinde wohnte.
Da sollte sich etwas ereignen, wovon sich in diesem Tale kein Mensch hätte etwas träumen lassen, anderswo freilich auch nicht.
Wir verlassen Hagens persönliche Erzählung, um unsere Blicke nach einer anderen Richtung zu lenken.
Es war gegen Mittag, als im Bahnhof der Stadt Christoffera fahrplanmäßig ein Zug einlief.
Ungewöhnlich viele Passagiere stiegen aus, aber auch fast nur solche, die wenig Vertrauen erwecken konnten.
Lauter wilde, verwegene Gestalten, meist nur mit Hemd, Hose und derben Nagelschuhen bekleidet, das Hemd von roter Baumwolle, die Hose von Leder, jeder bewaffnet mit einer Axt, am Gürtel den mächtigen Revolver, und wer überhaupt noch ein Bündelchen bei sich hatte, der führte in diesem alles mit sich, was er auf dieser Welt noch sein eigen nannte.
Gegen 80 Mann waren es, die sich auf dem Perron in Gruppen zusammendrängten, dann einem einzigen Führer lauschten.
Es waren keine unbekannten Gestalten. Das heißt, man wusste sofort, welchem Berufe sie angehörten.
»Lumpers!«, sagten die Englischsprechenden.
Die Spanier machten »Lumperos« daraus.
»Lump« heißt Stück, »to lump« also zerstückeln, nämlich Holzzerstückler, wie wir von »Kleinholz machen« sprechen.
Lumpers sind in Amerika professionelle Holzfäller. Entweder, wenn es in der betreffenden Gegend Kommunikationswege oder sonstige Gelegenheit zum Fortschaffen des Holzes gibt, Flüsse oder im Winter Schneebahnen, fällen sie die Bäume als Nutzholz oder sie roden auf Bestellung ganze Urwälder aus.
Von diesem Ausroden der Urwälder ist schon früher einmal gesprochen worden. Das ist in den heißen Gegenden ein Kunststück, von dessen Schwierigkeit derjenige, der so etwas nicht kennt, auch gar nichts ahnt. Alle Bäume zu fällen, das geht nicht. Nur die des äußeren Waldrandes werden angesägt — oder von den Lumpers vielmehr mit der Axt angehauen — dieser ganze Rand wird mit einem Strick umspannt, alle diese Bäume werden möglichst gleichzeitig zu Fall gebracht, diese müssen auch die anderen Bäume durch ihr Gewicht umreißen, der ganze Wald muss mit einem Schlage zusammenkrachen. Wo es versagt, da wird nachgeholfen.
Das muss zu einer Zeit geschehen, wenn alle Bäume am wenigsten Saft haben, dann müssen sie noch einige Tage oder Wochen in der Sonnenhitze liegen, dann wird angebrannt.
Regnet es nun einmal während dieser Zeit, so schlägt alles wieder aus. Jedes Ästchen wird zum Senker; alles, was den Boden berührt, gräbt sich ein, treibt Wurzel. Und dann ist nichts mehr zu machen. Dieses Land, wo der Urwald gestanden hat, ist für die Menschheit für immer verloren. Vielleicht dass man nach einigen hundert Jahren so etwas wieder versuchen kann, wenn die alten Holzstämme dem Zahne der Zeit, den Termiten und anderen Insekten, zum Opfer gefallen sind, wenn daraus Humus geworden ist und sich an dieser Stelle ein neuer Urwald erhebt, dass man es mit diesem wieder versucht. Vorläufig gibt es noch kein anderes Mittel, um Urwaldland der Kultur zu erschließen. Wenn ein Ansiedler ein paar Bäume fällt, zwischen deren Wurzeln er dann ackert, das ist wieder etwas ganz anderes. Hier ist vom Großbetrieb die Rede.
Das hat die Profession der Lumpers geschaffen. Es sind nur Nordamerikaner, besonders viele Kanadier, natürlich sind da auch Engländer, Deutsche, Skandinavier und dergleichen Rassen darunter, aber kein Spanier oder Italiener, die können da nicht mitmachen. Es kommt dabei eben außer großer Erfahrung auf die intensivste Arbeit an. Diese Kerls arbeiten vier Wochen lang täglich mindestens achtzehn Stunden. Dafür ruhen sie sich dann unter Umständen auch wieder elf Monate aus. Es ist auch fabelhaft, was sie mit ihren Äxten leisten. Man sollte doch meinen, mit der Säge müsste es schneller gehen, aber nein, selbst die mit Dampf oder meist mit komprimierter Luft getriebene Säge — wozu ja allerdings immer erst wieder Dampkraft nötig ist — kann nicht mit ihren Äxten konkurrieren. Dabei hauen sie den Stamm nicht einmal einseitig an — was sie eben nicht für vorteilhaft finden — sondern einige Männer marschieren immer um den Baum herum, jeder schlägt in die Spalte seines Vorgängers, und die Splitter fliegen.
Solche Lumpers sind gar gesuchte Leute. Sie machen wahre Kunstreisen. Heute beendet solch eine Gesellschaft ihre Arbeit in Kanada, morgen befinden sie sich auf dem Wege nach Paraguay, auf Bestellung, um dort einen Urwald zu fällen. Übrigens ist das gar nicht so schlimm. In Amerika scheint es gar keine Entfernungen mehr zu geben. Von New York nach Buenos Aires kommt man schon für 15 Dollars, inklusive Beköstigung. Freilich nicht erster Klasse. Es ist mehr eine Verfrachtung als eine Reise zu nennen.
Aber wehe, wenn die Lumpers keinen geschickten »Manager«, Geschäftsführer, haben, der immer schnellstens für eine andere Arbeit sorgt, denn das schwere Geld, das sie bei der Auszahlung bekommen, wird natürlich sofort durchgebracht. Dann werden diese Lumpers, die manchmal zu Hunderten so verfrachtet werden, zur Landplage. Arbeiten können sie wohl, das stimmt, aber es geht ihnen so wie den meisten Leuten, die sehr viel Geld verdienen: Sie nehmen keine andere Arbeit an, die weniger hoch bezahlt wird. Dann werden sie »Tramps«, das heißt Landstreicher. Und von dem bis zum Wegelagerer und Räuber ist nur ein kleiner Schritt.
Solch eine Bande Lumpers, aus mehr als achtzig Mann bestehend, war in Christoffera unangemeldet angekommen. Die Konstabler hatten gleich ein scharfes Auge auf die wilden Gesellen, der Polizeipräfekt wurde sofort benachrichtig, um Vorsichtsmaßregeln treffen zu können. Verwehren konnte man ihnen den Besuch nicht. In Mexiko herrscht wie in Nordamerika Freizügigkeit. Anders ist es in mehreren Südstaaten, zum Beispiel in Brasilien. Da muss der Manager solch einer Gesellschaft mit einer gro-ßen Summe dafür garantieren, dass er sie nach beendeter Arbeit wieder zum Lande hinaus bringt.
Der Zugführer wurde befragt, im Vertrauen, amtlich konnte er nicht vernommen werden. In Saltillo hatten sie den Zug bestiegen und waren zwei Stunden gefahren. Woher sie gekommen, wo sie zuletzt gearbeitet, das wusste man nicht. Sie hatten sich unterwegs ganz ordentlich betragen, keine Branntweinflasche war im Kreise gegangen. Das war ja sehr hübsch, verriet aber auch, wie heruntergekommen diese Leute schon waren. Sie hatten wohl gerade noch das Fahrgeld gehabt, keinen viertel Dollar mehr, sonst wäre der sicher für Branntwein ausgegeben worden.
Ein Polizeiwachtmeister machte sich mit der Freundlichkeit eines Fuchses heran.
»Na, Freunde, wohin wollt Ihr?«
Er erwartete ganz bestimmt als Antwort das übliche »Hängt Euch!«
Statt dessen wurde ihm ganz sachgemäß geantwortet:
»Don Christoffero sucht Lumpers.«
»Don Christoffero sucht Lumpers?!«, wiederholte der Wachtmeister erstaunt. »Nicht dass ich wüsste!«
»Sicher, er will sein Tal ausholzen lassen.«
Nun, es konnte sein, warum nicht? In dem Tale musste auch einmal geforstet werden.
Ehe es zu einer weiteren Erklärung kam, rückte die Bande ab, an der Spitze ein riesenhafter Kerl, vielleicht der Manager, wenn er sich im Äußeren auch durch nichts von den anderen unterschied. Das Fragment von Strohhut, den er auf seinen ziegelroten Kopf gestülpt hatte, ließ die einzelnen Halme wie Spieße nach allen Richtungen starren. Ein kleiner, krummbeiniger Mann schien der Koch zu sein, nach dem Manager immer die zweite Hauptperson; denn diese Lumpers wollen jeden Tag drei starke Mahlzeiten haben, jede mit mehreren Fleischgerichten, das muss ihnen garantiert werden, dass sie alles dazu geliefert bekommen, wenn sie sich das Fleisch nicht nebenbei durch Jagd selbst verschaffen können.
Sie zogen durch die Straßen, geschlossen, wenn auch nicht militärisch. Vorsichtig wich man ihnen aus.
Es war ja nicht weit nach Christofferos Haus. Während sonst vor demselben und in dem weiten Eingang immer das regeste Leben herrschte, lag jetzt alles wie ausgestorben da. Es war eben Mittagszeit. Auch der Portier hatte sich aus seiner Loge entfernt.
Weshalb hätten hier auch irgendwelche Vorsichtsmaßregeln getroffen werden sollen?
Nur ein einziger Mann stand in dem Eingange, ein Arbeiter, der erst vor wenigen Tagen angenommen worden war.
»All right«, empfing der Arbeiter den Führer der Anmarschierenden, »alles sitzt beim Mittagessen.«
Es brauchte nichts mehr ausgemacht zu werden. Unter der Bande befanden sich einige, die selbst schon hier gearbeitet hatten, hier ganz genau Bescheid wussten, alle Gewohnheiten des Personals kannten.
Es waren eben nicht nur professionelle Lumpers, die sich hier zusammengefunden hatten, um einen verwegenen Handstreich auszuführen, wie ihn Mexiko wohl noch nie gesehen hatte, obgleich dieses Land doch eigentlich an solche Handstreiche gewöhnt ist.
Sie marschierten den Schienen nach durch die breite Einfahrt und damit auch gleich durch das ganze Haus, soweit dieses am Felsen angebaut war, kamen in den Felsentunnel selbst.
Hier waren sie am Ziel. Diejenigen, welche über Gewehre verfügten, kaum der fünfte Teil, blieben hier zurück, schlossen die schweren, eisenbeschlagenen Türen. Einige leere Güterwagen, die auf der Strecke standen, bildeten die zweite Barrikade, und solche konnten noch in beliebiger Menge geschaffen werden.
Die anderen stürmten unterdessen weiter durch den elektrisch erleuchteten Tunnel. Beim Durchmarschieren durch das Haus hatten sie den Tritt ihrer schweren Schuhe und Stiefel nur wenig zu dämpfen gesucht, jetzt gaben sie vollends jede Vorsicht auf.
Es war einfach eine Bande von Verbrechern, von Mordbuben, die hier eingedrungen war, und sie waren sich ihrer Sache sicher.
Um eine Felsecke tauchte ein Mann auf, ein Herr, ein Kommis.
»Hallo, was ist —«
Diese drei Worte waren seine letzten gewesen. Weswegen sich erst damit aufhalten, ihn zu überwältigen und zu fesseln? Er wurde einfach mit der Axt niedergeschlagen, und er fand bald noch einige Begleiter auf seinem Wege ins Jenseits.
»Wo ist die Munitionskammer?!«
Der Arbeiter, der die Mordbuben empfangen, war bereits dabei, sie zu öffnen. Er war ein gelernter Schlosser, hatte sich bereits einen Nachschlüssel gefertigt.
Ein Druck auf einen Knopf, das elektrische Licht flammte auf, erhellte die große Felsenkammer. Es war das Waffenmagazin für dieses Tal, in dem gute Jagdgerätschaften ja die Hauptrolle spielten. In Reihen geordnet standen Hunderte von Gewehren und alles, was dazu gehörte, nebenan war die Munitionskammer, Kisten mit vielleicht hunderttausend Patronen enthaltend.
Schnell hatten sich die Räuber mit Gewehren bewaffnet, jeder nahm noch ein zweites mit, für diejenigen, welche unterdessen schon weitergestürmt waren, erst ohne Gewehre. Der ganze Überfall war bis ins Kleinste ausgearbeitet worden, eben weil welche darunter waren, die hier alle Verhältnisse kannten.
Sie erreichten die Stelle, wo der breite Wasserkanal begann, aber an den Seiten liefen auch Fußstege entlang. Um diese Mittagszeit befand sich niemand in dem künstlich erleuchteten, sehr kühlen Tunnel. Die Archen und Boote waren verlassen. Nur ganz Wenige waren aus irgend einem Grunde zurückgeblieben, anstatt sich draußen im Freien im Schatten zu lagern. Sie wurden einfach niedergeschlagen, niedergeschossen.
Dann hatte die Bande den Tunnelausgang in das Tal, zunächst in die Hafenbucht, besetzt. Türen gab es hier nicht, wohl aber lagen gleich am Ausgang einige Archen, die ja die vorzüglichste Deckung boten.
Hinter diesem Schutze hervor eröffneten die Unholde ohne vorherige Warnung ein mörderliches Schnellfeuer auf alles Lebendige, was sie in der Bucht erblickten.
Außerdem befanden sich noch über dem Tunnel Felsenkammern, durch Treppen zu erreichen, mit kleinen Fenstern, das heißt Öffnungen versehen, die als Schießscharten dienten.
Unbeschreiblich war die Verwirrung, das Entsetzen aller derer, die sich zurzeit innerhalb der Bucht befanden. Es waren nur Auflader, Arbeiter, Kommis und dergleichen Angestellte, die sich in den Archen, in Felsenkammern und auf der gezimmerten Galerie der Mittagsruhe hingegeben hatten.
Wer sich im Freien befand und nicht rechtzeitig noch eine Felsenkammer oder eine Arche erreichte oder sich mindestens in einem Boote niederschmiegte, der fiel eben einer Kugel zum Opfer.
Wohl war die Bucht einen Kilometer lang und wenig schmaler, aber so weit reichten die Spitzkugeln der modernen Gewehre, und die Banditen sparten keine Munition, gaben auf die Fliehenden und auf jeden Kopf, der sich zeigte, gleich Salvenfeuer ab.
»Hahahaha, diese aufgescheuchten Karnickel, wie sie sich verkriechen!«, hohnlachte der riesenhafte Anführer, den Gewehrkolben an der Wange.
Ein Feuerblitz, und wieder war ein Menschenkopf, der in einer Entfernung von wenigstens 400 Metern hinter einer Felsenecke hervorgeblickt hatte, mitten zwischen die Augen getroffen.
»Genug!«, kommandierte er dann. »Jetzt wollen wir sie erst einmal zur Besinnung kommen lassen und dann in Friedensunterhandlungen mit ihnen treten.«
Einige von den entsetzten Leuten hatten doch in Booten das Weite gesucht und waren glücklich entkommen, hinaus ins freie Tal. Die würden den anderen schon melden, was hier passiert war, falls man dort die Schüsse noch nicht gehört hatte.
Diejenigen, welche sich versteckt hielten, gaben wohl einige Schüsse auf den Tunneleingang und auf die Öffnungen ab, unterließen es aber bald. Von den rätselhaften Feinden war ja nichts zu sehen, beim Zielen musste man doch vortreten, mindestens den Kopf zeigen, und unter den Lumpers waren ausgezeichnete Schützen.
Jetzt wurde aus einer Fensteröffnung eine Stange gestecktt, an der ein weißer Lappen hing. Die Friedensflagge.
»Ich will mit Euch unterhandeln!«, schrie auch eine Stimme. »Wo ist der Ewige, der Don Christoffero?«
»Was für blutige Teufel seid Ihr denn, Ihr nichtswürdigen Mörder?!«, wurde geantwortet.
Erst jetzt war der Bann gebrochen, jetzt erscholl in der Bucht aus den Verstecken ein vielstimmiges Rachegeschrei.
Auf diese Weise konnte es hier zu keinen Verhandlungen kommen.
Doch nicht lange dauerte es, so tauchte vor der Bucht ein kleines Motorboot auf. Es steuerte herein.
In dem einzigen Manne, der darin saß, wurde Kapitän Hagen erkannt.
»Seht Euch vor, Kapitän«, erklang es ihm überall entgegen, »diesen Mordbuben ist keine weiße Flagge heilig!«
»Was sind denn das für Verbrecher?«
»Wahrscheinlich Miner, wir haben rote Hemden gesehen.«
»Wie viele sind es?«
Wer sollte das wissen, niemand hatte eine Ahnung.
»Wie viele von Euch sind tot?«
Wer sollte das jetzt zählen. Nur schreckliche Racheschwüre, gewürzt mit den furchtbarsten Flüchen, antworteten auf diese Frage.
Hagen hatte seine Fahrt nicht gestoppt. Ohne selbst eine weiße Flagge zu zeigen, fuhr er in den Kanal hinein.
Nach allem, was er schon gehört, wusste er, in was für eine furchtbare Gefahr er sich begab. Er war mit den uns bekannten Freunden auf der Arche des gräflichen Ehepaares zum Mittagessen eingeladen gewesen, zum Einweihungsschmaus, auch Don Christoffero hatte sich eingefunden, als man die Schüsse hatte krachen hören, als dann die ersten Flüchtlinge die furchtbare Kunde brachten, immer mehr, zuletzt mit der Meldung: »Sie zeigen eine weiße Flagge.«
Natürlich hatte Christoffero selbst hingehen wollen. Er war mit Gewalt zurückgehalten worden. Nein, wenn er hier der Oberstkommandierende war, dann musste er auch hier in Sicherheit bleiben. Die Zeiten sind vorbei, wo Schlachtenlenker vor die Front der Heereshaufen traten und sich Zweikämpfe lieferten.
Der alte Mann hatte sich auch schnell gefügt. Also einen Abgesandten! Wer sollte es sein? Graf Felsmark hatte sich angeboten, noch viele andere, die sich immer mehr einfanden.
Als darüber noch debattiert wurde, war Hagen in ein Motorboot gesprungen und abgefahren.
»Ich werde mit diesen Banditen sprechen!«
Gut, man ließ ihn fahren, da er nun einmal der erste gewesen war. Instruktionen brauchte er nicht. Worüber hätte er instruiert werden sollen?
Unterdessen hatten sich die Mörder gut verbarrikadiert, hatten eine Arche quer über den Kanal gelegt, noch andere dahinter, auch die Seitenstege mit Kisten und Mehlsäcken verrammelt.
»Hallo, wo ist hier ein Eingang?«, rief Hagen, als er schon ausgestiegen war.
»Kommt Ihr als Parlamentär?«, rief hinter dem Schutzwalle eine raue Stimme.
»Ja.«
»Als Abgesandter des Ewigen, des Don Christoffero?«
»Ja.«
»Ihr müsst drüberklettern, denn durch die Schießscharten, die wir überall gelassen haben, könnt Ihr nicht kriechen.«
Hagen tat es, kletterte über die Kisten und Säcke, sah sich im Scheine des elektrischen Lichtes einer wilden Gesellschaft gegenüber. Wo ein Schießloch gelassen worden war, da stand ein Mann mit angeschlagenem Gewehr, sonst saßen oder standen sie herum.
»Wer seid Ihr?«, begann jener riesenhafte Anführer.
»Kapitän Hagen.«
»So, das seid Ihr. Hm, kenne Euch.«
»Ihr kennt mich?«
»Dem Namen nach. Habe schon von Euch gehört. Ihr seid hier nur ein Gast.«
»Bin ich.«
»Und der Ewige schickt Euch als seinen Stellvertreter?«
»Tut er.«
»Habt Ihr das schriftlich mit?«
»Das allerdings nicht.«
»Never mind!«, machte der Mann mit verächtlicher Handbewegung. »Nun hört mir zu, was Ihr dem Ewigen berichten sollt.
Ich heiße John Bell, werde der rote John genannt. Bin der Anführer von 84 Männern, die nichts zu verlieren haben als ihr Leben, daher zu allem entschlossen sind.
Nur ein Teil davon sind Lumpers, wie ich, die anderen sind Wegelagerer, Banditen und dergleichen, für die alle sowieso schon der Strick gedreht ist.
Wir haben uns in besonderer Weise, die Euch nichts angeht, zusammengefunden, haben einen Putsch verabredet, haben ihn nunmehr bereits ausgeführt — es ist uns geglückt.
Wir haben uns dieses Durchgangstunnels bemächtigt, besitzen Munition und Proviant in Hülle und Fülle — es ist uns in keiner Weise beizukommen, auch ausgeräuchert können wir nicht werden.
Einen anderen Ausgang besitzt dieses Tal nicht. Ihr könnt wohl in die Schneeregion hinauf, aber von dort nirgends anders wohin als wieder in das Tal zurück, mit zwei Fahrstühlen.
Das ist mir alles ganz genau bekannt.
Also sitzt Ihr da drin wie in einer Mausefalle. Ganz und gar rettungslos eingesperrt.
Ich gewähre Euch freien Abzug, allen Männern, Weibern und Kindern. Ihr habt diesen Tunnel einzeln zu passieren, in Booten, in Abständen von je tausend Metern. Das heißt: Sobald hier ein Boot eingefahren ist, darf dort wieder eines in die Bucht hereinkommen.
In jedem Boote oder Kanu darf immer nur ein einziger Mann sein, Frauen und Kinder nach Belieben. Ob er Waffen bei sich führt oder nicht, ist mir gleichgültig. Er wird gar nicht untersucht, sofort ins Freie entlassen.
Wer sich aber als Weib verkleidet, mit der Absicht, ein Boot mit mehreren Frauen vorzutäuschen — also wer überhaupt etwas Verdächtiges gegen uns unternimmt — der ist des Todes!
Weiter habe ich Euch eigentlich gar nichts zu sagen.
Das verkündet dem Ewigen, dem Don Manuelo Christoffero.
Wen wir dann noch in dem Tale finden, der ist selbstverständlich gleichfalls des Todes, denn dann hält er sich versteckt, um uns zu schaden.
Na, habt Ihr sonst noch etwas zu fragen?«
»O ja, noch Einiges.«
»Das dachte ich mir. Ich glaube schon, dass das nicht gleich in Euren Kopf will, was Ihr da zu hören bekommen habt.«
»Was habt Ihr eigentlich vor?«
»Wir wollen uns einfach in den Besitz dieses Tales bringen.«
»Wozu?«
»Na, um da drin ein freies Jägerleben zu führen. Eine freie Jägerrepublik wollen wir gründen.«
»Und dazu werdet Ihr zu Mördern? Schießt wehrlose, ahnungslose Menschen einfach nieder?«
»Ja, wie sollten wir uns denn sonst den Eingang erzwingen? Uns nur erst einmal hier festsetzen, von wo wir Euch beherrschen? Oder wäre Don Christoffero etwa erbötig, uns sein Tal freiwillig und kostenlos abzutreten? Denn abkaufen können wir es ihm nicht.«
»Ja glaubt Ihr denn, Don Christoffero wird auf Euren Vorschlag eingehen? Nun sogleich mit allen seinen Leuten ausziehen, Euch das Tal überlassen?«
»Dann wird er dazu gezwungen!«
»Wie denn?«
»Das wird er schon selbst merken.«
»Ihr habt die Machtmittel dazu, ihn und uns alle zu zwingen, dass wir das Tal verlasen?«
»Jawohl, diese Machtmittel haben wir.«
»Dann nennt mir sie doch. Ist es wirklich so, könnt Ihr uns plausibel machen, dass jeder Widerstand vergeblich ist, so wird Don Christoffero ja doch freiwillig ausziehen. So vernünftig ist er.«
»Ihr habt recht. Ich brauche da auch gar nichts zu verheimlichen. Wir schießen einfach nach und nach in dem Tale alles Lebendige weg, wenigstens alle Männer, die Frauen werden wir schonen, die können dann gleich bei uns bleiben, obgleich wir da sehr vorsichtig sein werden, lieber schaffen wir uns doch ganz neue an. Es werden schon genug kommen, wenn die freie Jägerrepublik in ihrem uneinnehmbaren Tale einen Aufruf dazu erlässt, hähahä.«
»Hm, Ihr habt Euch das alles ja schon recht hübsch ausgemalt.«
»Alles schon zurechtgelegt, die ganze Zukunft geordnet, wollt Ihr sagen. Ja, wir sind weitschauende Strategen, mein lieber Käpten.«
»Von hier aus wollt Ihr alle die Jäger wegschießen?«
»Jawohl, von hier aus.«
»Wie wollt Ihr denn das nur machen?«
»Das werdet Ihr schon sehen.«
»Das ist mir unverständlich. Wir sind Euch gegenüber doch in kolossalem Vorteile. Wir sind frei, wenigstens ist das Tal doch groß genug, und wir können niemals ausgehungert werden. Ihr aber werdet schließlich doch einmal ausgehungert, einmal geht der Proviant, den Ihr vorgefunden habt, doch zu Ende, und wenn's viele Jahre lang dauert, denn dass Ihr Euch in der Stadt keinen neuen verschaffen könnt, dafür wird man dort wohl sorgen.«
Unter den Männern entstand ein Flüstern, sie nickten ihrem Anführer zu.
»Nun gut«, sagte dieser, »ich will Euch gleich einweihen, Ihr werdet's ja doch bald genug erfahren. Man wird Euch in dem Tale auch noch von einer anderen Seite aus auf den Pelz rücken.«
»Durch einen Tunnel?«, fragte Hagen schnell.
»Ahem, durch einen Tunnel. Es gibt noch einen anderen Eingang zum Tale als diesen hier, freilich nicht so bequem; aber wenn einer hinter dem anderen kriecht, so können ihn doch auch tausend Menschen passieren. Es dauert nur etwas länger.«
»Wo ist dieser Zugangstunnel?«
»Ja, da fragt mal!«, lachte der rote John. »Das werde ich Euch gerade auf die Nase binden. Aber das könnt Ihr versichert sein: Dort, wo Ihr ihn sucht, ist er gerade nicht.«
»Wo wir ihn suchen?«
»Na stellt Euch doch nicht so. Ihr sucht doch noch immer nach dem Loche, aus dem der Jaguar herausgekommen ist.«
Also auch das war diesen Menschen schon bekannt! Doch warum nicht? Das wusste man ja auch in ganz Christoffera.
»Hört, Sir, da habe ich erst eine andere Frage.«
»Was?«
»Ist hier schon vor zirka drei Wochen einmal ein Mann von Euch im Tale gewesen, in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag —«
»Ahem«, unterbrach der rote Bandit den Sprecher nickend, »ein Kerl, der sich vor Jagdbegierde nicht bezähmen konnte. Ich weiß schon, was Ihr wissen wollt. Ja, so ist's gewesen. Er hat in der finsteren Nacht leuchtende Augen gesehen, hat an ein Wild geglaubt, hat geschossen. Es war aber ein Indianermädel, dem er das Schrot in die Brust gejagt hat, hat dann auch noch andere Dummheiten mit ihr gemacht.«
Tief atmete Hagen auf.
»Bald wäre ein Unschuldiger dafür gehängt worden!«
»No, Sir. In Mexiko gibt's kein Hängen mehr. So weit hätten wir's auch nicht kommen lassen. Im Grunde genommen sind wir doch ehrliche Kerls.«
Wild wollte Hagen emporfahren, er hatte ein furchtbares Wort auf der Zunge, aber er beherrschte sich.
Was wollte er denn diesen Mordbuben sagen. Er befand sich ihnen gegenüber doch immer im Nachteil, in jedem Falle.
»Wir haben den Lump«, fuhr der rote John fort, »aber auch gleich gehangen. Der hätte uns ja alles verpfuschen können. Und dasselbe gilt für den zweiten, der auch schon voreilig dem Tale einen Besuch abstattete, um einmal zu jagen.«
»Der vor acht Tagen den Büffel anschoss?«
»Ahem. Wurde gleichfalls erwischt und sofort gelyncht. Bei uns herrscht Ordnung. Und dass so etwas nicht wieder vorkommt, dafür ist gesorgt. Übrigens ist jetzt schon die Entscheidung da.«
»Dass auch von der anderen Seite ins Tal gerückt wird?«
»Ahem, Also nun soll der Ewige wählen. Entweder er verlässt mit seinen Leuten dieses Tal freiwillig oder sie alle werden bis zum letzten Mann aufgerieben. Sollt schon sehen, wie schnell das geht.«
»Bis wann wollt Ihr Antwort haben?«
,Wo liegt der Ewige?«
»Ganz in der Nähe.«
»Ich denke, eine Stunde genügt vollkommen, bis Ihr wieder hier sein könnt.«
»Wenn nun aber nur ein Teil der Jäger darauf eingeht?«
»Na selbstverständlich, die können passieren. Jeder, wer will, zu jeder Zeit so, wie ich es vorgeschrieben habe, immer nur ein Boot hinter dem anderen in mindestens tausend Meter Abstand. Das ist alles so selbstverständlich, dass ich es gar nicht weiter erklärt habe. Das einzelne Boot, das in diese Bucht fährt, ist gesichert. Jeder zweite Mann darin aber wird niedergeschossen. Und zeigt sich gleichzeitig in dieser Bucht ein zweites Boot, so wird es beschossen. Das gilt für so lange, wie in dem Tale noch zwei Mann von Euch leben. Ich denke doch, die meisten Arbeiter —«
Plötzlich erlosch das elektrische Licht.
Es brachte auf die Banditen keine Wirkung hervor.
»Das Kabel abgeschnitten! Haben wir erwartet. Das ist das erste, was man gegen uns unternimmt, dass man uns in Finsternis setzen will, wird aber auch das Einzige bleiben. Diese Narren, als ob uns das etwas täte!«
Schon flammten mehrere Lampen auf, mit Naphta gespeist.
»Das Naphta kann uns nie ausgehen, hier drin ist ja sogar eine kleine Quelle, fein gefasst, dass man nur den Hahn aufzudrehen braucht. Ja, also was ich sagen wollte: Ich denke doch, dass die meisten Arbeiter so vernünftig sein werden, die freie Passage gleich zu benutzen. Von den anderen Jägern kann ich das freilich nicht verlangen, das weiß ich, aber sie werden schon was erleben.«
Schüsse dröhnten in dem Tunnel, immer mehr. »Das ist der erste Angriff von der Stadt aus!«, sagte der rote John ruhig, nachdem er kaum gelauscht hatte. »Macht nix. Wir sind in uneinnehmbarer Stellung. Wer sich von meinen Burschen von einer Kugel auch nur streifen lässt, der kann sich darauf gefasst machen, dass er auch noch bestraft wird —«
»Oho, John, solche Gesetze werden in unserer freien Republik nicht gemacht«, begannen da die anderen Männer schon zu murren, »wenigstens nicht von einem Einzelnen, da müssen wir alle mit dabei sein!«
»Na, ich meinte ja nur so!«, entschuldigte sich der Präsident dieser Mörderrepublik. »Da wird er auch noch tüchtig ausgelacht, meinte ich.«
»Weshalb?«, fragte Hagen.
»Weil er es nicht nötig hat, sich von einer Kugel auch nur streifen zu lassen. Dann ist's nur seine eigene Ungeschicklichkeit gewesen, so ausgezeichnet verschanzt sind wir. Da, die Angreifer geben den Versuch auch schon wieder auf, sehen die Zwecklosigkeit ein.«
»Ihr habt das ganze Haus besetzt?«
»Nein. Ihr könnt's erfahren, könnt's dem Ewigen erzählen. Denn dass er sich über die Felsen weg doch noch mit der Stadt in Verbindung zu setzen weiß, das glaube ich schon. Nein, das Haus haben wir nicht besetzt. Da sind gar zu viele Fenster; besonders die untersten könnten doch gestürmt werden, und wozu nur einen einzigen dieser wackeren Burschen unnötig opfern. Nur diesen Durchgangstunnel halten wir besetzt. Hier sind wir aber auch unangreifbar, und das genügt auch vollkommen, um denen da drin das Leben sauer zu machen. Übrigens hübsch von dem Alten, dass er die Waffen und Munition und die Unmenge von Fleischfässern gerade hier in dem Tunnel aufgespeichert hat. Das hat uns viel Arbeit erspart, sonst hätten wir uns doch erst des ganzen Hauses bemächtigen müssen, und da freilich wären wir nicht so ohne einen Hautriss davongekommen, das glaube ich schon. Sagt dem Ewigen unseren Dank dafür, hahaha.«
»Ich werde es Don Christoffero berichten!«, sagte Hagen kaltblütig.
»Tut es. Also ich erwarte Euch in spätestens einer Stunde zurück. Ein besonderes Abzeichen braucht Ihr nicht zu tragen. Wer einzeln in einem Boote kommt, ist ja vor unseren Kugeln geschützt. Aber die Karnickel könnt Ihr gleich noch mit hinausnehmen, sie dazu auffordern.«
»Was für Karnickel?«
»Die sich innerhalb der Hafenbucht in den Felslöchern und in den Archen verkrochen haben. Fahrt in die Mitte der Bucht und lasst Eure Stimme hören oder sprecht mit den Leuten. Ihr könntet nicht überall gehört werden, dazu gebe ich noch eine halbe Stunde Zeit.«
»Sie sollen die Bucht verlassen?«
»Das müssen sie auch, selbstverständlich, wenn sie nicht in ihren Schlupfwinkeln verhungern wollen. Aber noch nicht hier durch, erst sollen sie ins Tal hinein, der Ewige mag sie erst einmal vornehmen. Dann mögen sie einzeln in Booten passieren, Kanus habt Ihr ja genug, sonst kann einer auch einmal eine ganze Reihe wieder zurückziehen. Das lässt sich alles machen.«
»Und Ihr beschießt sie nicht, wenn sie ihre Schlupfwinkel verlassen und sich in das Tal begeben?«
»Selbstverständlich nicht.«
Hagen verschluckte seine Äußerung, dass dies gar nicht so selbstverständlich sei, denn diesen Mordbuben war doch nun alles zuzutrauen.
»Sonst noch was?«
»84 Mann seid Ihr?«
»84 Mann, die wir hier den Aus- und Eingang besetzt halten, und wir werden uns auch schwerlich vermindern.«
»Und wie viele sind es, die uns von einer anderen Seite angreifen werden?«
»Das braucht Ihr nicht zu wissen.«
»Es ist aber doch vielleicht besser. Don Christoffero könnte dadurch doch eher zur Nachgiebigkeit geneigt sein.«
»Hm, mögt recht haben. Sagt ihm, dass wir viele Tausende sind.«
»Viele Tausende? Woher sollen die denn kommen?!«
»Viele Zehntausende.«
»Mann, flunkert doch nicht so!«, brach es bei Hagen einmal hervor.
»Ich flunkere nicht, es ist so. Alles Gesindel, was es in Nord- und Südamerika gibt, wird sich nach und nach bei uns zusammenfinden, mit uns gemeinschaftliche Sache machen.«
»Alles Gesindel?«
»Jawohl, ich spreche gleich ganz ehrlich, alles verbrecherische Gesindel. Na, und einige zehntausend Männer, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen haben, werden sich da wohl zusammenfinden, hahaha.«
»Wo sollen die denn zusammenkommen?«
»In unserem Tale. Nun fragt aber nicht, wo das ist. Hier in der Nachbarschaft. Das lasst Euch genügen, das sagt dem Alten. Ihr werdet sie schon noch wie die Ameisen aus ihren Löchern herauskommen sehen. Ja, ja, wir haben auch unser eigenes Tal, noch viel, viel versteckter als dieses, ebenso schwer zugänglich, für den, der den Eingang nicht kennt.«
»So bleibt doch in diesem Eurem Tale, gründet dort Eure Republik.«
»Ist nicht so fein wie dieses. Im Sommer wird man gebraten, im Winter ist es hundekalt. Auch nicht so viel Wild. Überhaupt gefällt uns dieses Tal besser, wir annektieren es, kraft unserer Übermacht, und wer die Macht hat, hat auch das Recht — basta!«
»Dann kann ich ja gehen!«
Die Unterhaltung war beendet. Hagen kletterte über das Bollwerk zurück, die Banditen sahen ihn in seinem Boot abfahren, in der Mitte der Bucht hörten sie ihn laut rufen, ohne ihn richtig verstehen zu können, er ruderte ans Ufer, man sah Männer hervorkommen, mit denen er sprach, es wurde viel gewinkt — bald verließen Archen und Boote die Bucht, mit Menschen besetzt, verschwanden hinter der Felsenecke, hinter der westlichen, die das Tal begrenzte.
Einige Zeit verging. Da krachte aus dem Tunneleingang ein Schuss, und ein Mann, der aus seinem Versteck hervorgesehen hatte, so vorsichtig wie möglich, brach durch den Kopf geschossen zusammen.
Es hatten also doch nicht alle Arbeiter die Bucht verlassen. Sie waren zurückgeblieben, um hier auf der Lauer zu liegen, oder es konnten ja auch Jäger sein, die gerade hier gewesen waren.
Diese Zurückgebliebenen waren jetzt gewarnt. Die Banditen beobachteten scharf und wussten zu treffen. Wer sich jetzt noch hier befand, der konnte sich nur noch bei finsterer Nacht in das Tal hinaus begeben.
Aber auch ein vielstimmiger Racheschrei beantwortete diesen einzigen Schuss, bei dem es vorläufig blieb.
Die gräfliche Arche — lassen wir Kapitän Hagen jetzt wieder persönlich erzählen — auf der sich auch noch Don Christoffero befand, lag jetzt in der Bucht, die sich westlich von der Hafenbucht befand, wo auch der nach dem Eskimolager gehende Aufzug war, wovon ich noch sprechen werde.
Die Hafenbucht war ausnahmsweise ganz frei von Inseln, aber davor befanden sich wieder viele. Hinter diesen hatte die gräfliche Arche zuletzt gelegen. Jetzt hatte sie sich also hinter jene Felsenecke in die kleinere Bucht zurückgezogen, wie mir sofort zugerufen wurde, als ich mit den Arbeitern ankam.
Denn auf diesen Inselchen wimmelte natürlich alles von Menschen, die wie die Katzen vor dem Mausloch auf der Lauer lagen.
Ich berichtete dem Alten ganz ausführlich.
So ausführlich und gewissenhaft war ich, ihm sogar zu sagen, wie sich die Banditen freuten, dass er die Munition, die Waffen und die Fässer mit dem gesalzenen Fleisch gerade in dem Tunnel untergebracht habe.
Ich hielt es für meine Pflicht, ihm auch das mitzuteilen.
Nur ein einziges Mal hörte ich ein leises Zähneknirschen, sonst blieb er bei alledem eiskalt, lauschte bewegungslos mit über der Brust verschränkten Armen, sein Gesicht war wie von Stein.
»Sonst noch was?«
»Nein. Ich glaube nichts vergessen zu haben.«
Da mit einem Male wurde er erst lebendig. Und wie lebendig!
Plötzlich sprang das alte, kleine Männchen wie ein Affe an ein Seil, das man zu irgend einem Zwecke an einen Baumast gehangen hatte, riss, so in der Schwebe hängend, wie ein böser, wütender Affe daran, rüttelnd und schüttelnd.
»Haah«, schrie er dabei, »ich will Euch Bürschchen wohl kriegen! Euch nicht ausräuchern können, was, he, hi?! Wartet, Ihr sollt den alten Christoph noch als einen alten Stänkerfritzen kennen lernen!!«
So schrie er, sprang von dem Strick wieder herab und an Deck der Arche.
Einige der Umstehenden konnten sich das Lachen nicht verhalten.
Es hatte ja auch wirklich sehr possierlich ausgesehen.
Aber sonst wurde ganz mit Unrecht gelacht.
Weit entfernt, dass der Alte in seinem Zorne etwa Narrenspossen getrieben hätte!
Den hielten andere nur immer oder manchmal für einen Narren, der auch solche Possen trieb, in Wirklichkeit war der mit allen Hunden gehetzt, machte nie einen Handgriff umsonst.
Mir ging gleich eine Ahnung auf.
»Ihr wollt wohl ein Seil herstellen?«
»Ja.«
»Wozu?«
Er sah mich mit seinen an sich schon so eigentümlichen veilchenblauen Augen noch eigentümlicher an, wie er es manchmal tat.
»Wisst Ihr nicht selbst, wozu?«
»Um dort oben von dem Felsen herab eine Verbindung mit der Stadt herzustellen.«
»So ist's. Isolieren lasse ich mich nicht von der Außenwelt, das kann ich nicht vertragen. An einen Aufstieg von draußen habe ich noch nie gedacht, weil's bisher noch nicht nötig war. Recht so, so musste es mal kommen! Ich dummer Hund! Ich kann ja von oben telegrafieren, das heißt durch Lichter oder Signale, aber das genügt mir noch nicht. Ich muss Einiges hier ins Tal hereinschaffen. Na, und wie mache ich das?«
»An einem Seil.«
»An was für einem Seil?«
Ich musste lächeln. Ich durchschaute nämlich schon, wie mir der Alte auf die Zähne fühlen wollte.
»Wie hoch ist es denn von dort oben bis zur Stadt hinab?«
»Ziemlich 3000 Meter. Da knüpfen wir einfach Lassos zusammen und klettern hinab, nicht wahr?«
»Nein, Herr Christoph, das geht nicht!«, musste ich noch immer lächeln.
»Weshalb soll denn das nicht gehen?«
»Einfach deshalb nicht, weil ein solch langes Lederseil ja nicht einmal sein eigenes Gewicht trägt. Das könnte wohl nur ein Seil von bester Seide sein.«
Der Allte riss seine Augen noch weiter auf.
»Mensch, in was für eine Schule seid Ihr denn gegangen, dass Ihr das wisst? Oder wohl richtiger in gar keine Schule, dass Ihr's wisst?!«
Die Sache war nämlich die, dass vorhin schon einige Ingenieure darauf hereingefallen waren, auch schon ein Lederseil von 3000 Meter Länge hatten herstellen wollen.
Herstellen kann man es wohl, aber es trägt nicht sein eigenes Gewicht!
In gewissen Erzählungen liest man da manchmal einen horrenden Blödsinn.
Als ich dann später einen Meter eines dünnen Lederriemens, aus dem gewöhnlich die hier üblichen Lassos bestanden, auf die Briefwaage legte, zeigte es sich, dass dieses Stück 165 Gramm wog.
Mit 3000 multipliziert, ergibt das 495 000 Gramm oder ziemlich genau 10 Zentner. Ja sogar noch viel, viel mehr, denn es kommen ja noch die vielen Knoten hinzu, die doch auch etwas wiegen. Und 10 Zentner trägt solch ein Stückchen Lederriemen nicht.
Den Ingenieuren war das natürlich wohlbekannt, die hatten ja genug mit der Berechnung der Zugfestigkeit zu tun gehabt, mindesten auf der Schule. Die Sache ist nur die, dass man an so etwas immer nicht denkt, gerade wenn es einmal darauf ankommt.
Wir Seeleute aber haben mit der Zugfestigkeit von Seilen und Schnüren und Fäden fortwährend zu tun, praktisch; nicht nur, dass man es ganz intensiv auf der Steuermannsschule gelehrt bekommt. Wegen der Messung der Wassertiefe, das ist es! Da sammelt man Erfahrung!
Das Tragfähigste, was es in der Welt gibt, ist echte Seide. Ein roher Kokonfaden reißt im Mittel erst bei 32 000 Meter Länge. Ist er 3000 Meter lang, so kann er also noch immer die zehnfache Last tragen, ungefähr 10 Gramm. Durch Verdoppeln der Fäden lässt sich das natürlich beliebig verstärken.
Mit meinem Vorschlage, einen seidenen Strick zu benutzen, wäre ich aber zu spät gekommen. Jetzt erst bemerkte ich auf den Inselchen überall Weiber sitzen, auch genug Männer, die mit emsigem Fleiße aus seidenen Gewändern, möglichst neuen, Fäden zupften.
»Das ist der Anfang«, sagte mein Schwiegervater, »wenn wir nur erst ein einziges Fädchen mit einem winzigen Gewichtchen hinablassen können. An dem holen wir uns nach und nach immer stärkere Seile aus Seide herauf.«
»Dazu gehört aber eine gute Portion Seide!«, meinte ich.
»Na, wenn ich keine Seide habe, wer soll denn sonst Seide haben?!«, lachte der Alte wieder in bester Laune.
»Ich habe doch so viel Seide, dass ich sie verkaufen muss!«
Erst jetzt erfuhr ich, dass in dem Christoffera-Tale die Seidenraupenzucht ganz intensiv betrieben wurde, dass sich in der Stadt auch eine Seidenspinnerei und Weberei befand. Daher auch hier die vielen Seidengewänder und Seidentücher der roten und weißen Frauen!
»Und eine chemische Fabrik! Und eine Arsenikhütte! Hihihi!«, kicherte der Alte und gab mir einen Puff in die Rippen.
Ja, dass in dem weiteren Tale Scherbenkobalt gebrochen und auf Arsenpräparate verarbeitet wurden, wusste ich bereits.
»Na, Ihr Herren Ingenieure, was lässt sich denn mit Arsenik alles anfangen, hihihi?«
»Sie wollen die Räuber vergiften?!«, erklang es im Chor.
Das alte Männchen stellte sich ganz beleidigt oder war es wirklich.
»Ooooh, wofür halten Sie mich denn? Bin ich denn ein Giftmischer? Nein, lebendig will ich diese Schufte haben, lebendig und kerngesund, diese ungezogenen Jüngelchen, dass ich ihnen den Hosenboden ausklopfen kann! Na und Ihr, oller Seemann, ist für Euch Arsenik und Gift auch ein und dasselbe? Wart Ihr vielleicht einmal in China, was, he?«
Himmeldonnerwetter! Da plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen!
Aber ich kam nicht dazu, es auszusprechen. Bei allem, was der Alte tat, musste immer etwas Besonderes sein. Neben mir hatte sich gerade ein Mann gebückt, um die Schnürsenkel seiner Schuhe zu binden, und mit einem Satze stand der Alte auf dessen Rücken — zu keinem anderen Zwecke, als um seine Hand auf meinen Mund legen zu können.
»Sssst, still!! Ihr wisst's, ich seh's Euch gleich an. Huipiiiihh!!«
Sein schrecklicher Jagdschrei, den er mir gerade so hübsch direkt ins Ohr gebrüllt hatte, rief alle Männer zusammen.
So und so steht die Sache, wer will den freien Abzug benutzen.
Nicht ein einziger der Arbeiter und Kommis meldete sich, weshalb man freilich noch nicht an einen allgemeinen Heldenmut glauben durfte, oder es wäre voreilig gewesen, eine Enttäuschung wäre nachgefolgt.
»Geniert Euch nicht! Viele von Euch haben Frauen und Kinder. Die haben meine Jäger auch, aber die sind hier, die Euren sind in der Stadt. Und hier geht es um Leben und Tod. Auf mein Ehrenwort: Niemandem soll es nachgetragen werden, wenn er geht! Wehe aber einem andern, der jenem dann den Vorwurf der Feigheit macht, auch nur so eine Andeutung! Der soll dann fortgejagt werden!«
Ein Arbeiter trat vor, ein Auflader.
»Ich habe zu Hause ein sehr krankes Kind —«
»Na selbstverständlich!«, schnauzte ihn der Alte gleich an. »Das ist Deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dass Du Dich nach Hause scherst! Oder Du möchtest wohl lieber hier Räuber und Soldaten spielen, Dir das eiserne Kreuz mit Brillanten, Eichenlaub, Lorbeeren, Nelken und Muskatblüten verdienen, und zu Hause stirbt Dein Kind, was, he, hi? Lümmel!!!«
Ich weiß nicht — ich hätte das alte, kleine Männchen wieder einmal in meine Arme nehmen mögen!
Jetzt meldeten sich noch mehr. Aber von den wohl 200 Männern, die sich hier zusammengefunden, waren es doch sehr, sehr wenige, vielleicht ein Dutzend, die in Booten einzeln davonfuhren. Wir sahen sie in dem Wassertunnel verschwinden. Mehr war jetzt nicht zu beurteilen.
Mit zweien hatte der Alte zuvor in einem Zimmer der Arche gesprochen, die mussten mündliche Botschaften mitnehmen. Der eine ging wahrscheinlich sogar unfreiwillig, war dazu beordert worden.
Als der Alte wieder erschien, war er in noch ausgelassenerer Stimmung als zuvor. Kichernd rieb er sich immer die Hände.
»Famos, famos! So hat's einmal kommen müssen! Das ist doch einmal eine Abwechslung in dem ewigen Einerlei. Famos!«
Es wurde ihm gemeldet, dass soeben ein Mann seinen Qualen erlegen sei.
Es war ein blutjunger Mensch, vor dessen Leiche wir traten. Er hatte, als er unter dem Feuer der Mordbuben in einem Boot aus der Bucht floh, einen Schuss in den Unterleib bekommen. Er sollte furchtbar gelitten haben, ein wundkundiger Indianer hatte sich mit ihm beschäftigt, jetzt lag er mit ganz friedlichen Zügen da.
Einige Männer standen um ihn herum, schweigend, aber mit was für Gesichtern. Atalanta war es, die dem Toten soeben die Augen zudrückte. Sie flüsterte dabei, ich verstand es nicht — aber in ihren eigenen Augen las ich es.
Ganz anders der Ewige; der schmunzelte.
»Kiekt mal, was der Junge für ein vergnügtes Gesicht macht! Der weiß jetzt schon, dass er im nächsten Leben Zuckerbäcker wird und es noch einmal zum Senatspräsidenten bringt!«
Es war ein blutiger Witz. Oder aber —
Entweder war der Alte ein ausgemachter Narr oder der Weisesten einer. Extreme berühren sich.
Ich musste wieder einmal lebhaft an die Japaner denken, die Praktiker der indischen Philosophie, für die der Tod eine Kinderspielerei ist oder sogar ein freudiges Ereignis. Schluss der Tragödie! Nun wird nach den gesammelten Erfahrungen ein besseres Leben aufgebaut.
Ich bewundere diese Japaner — und hasse sie! Warum soll sich beides nicht vereinigen lassen? Ich bewundere auch die kraftvolle Geschmeidigkeit des Tigers und suche ihn doch zu töten. Ich möchte, dass die Japaner die Herren der Erde würden — oder ich wünschte, dass sich alle anderen Mächte vereinigten und dieses Gesindel vom Erdboden vertilgten, ehe es zu spät ist.
»Na, mein lieber Schwiegersohn, nun fahrt noch mal hin! Grüßt sie schön von mir, sonst könnt Ihr sagen, was Ihr wollt, da mache ich Euch keine Vorschriften. Grüßt sie nur recht herzlich von mir, sollen mich bald mal besuchen. Aber fein diplomatisch verhandeln, das bitte ich mir aus! Nicht gleich in den Bauch treten, das ist nicht diplomatisch. Wenn die Repräsentanten zweier Mächte zusammenkommen, um sich gegenseitig die warmen Freundschaftsgefühle der beiden benachbarten Staaten zu versichern, treten die sich etwa immer gleich in den Bauch? Na also! Das In-den-Bauch-treten kommt allemal erst hinterher, wenn der ewige Frieden abgeschlossen ist. — Ja, und wegen der Leichen und Verwundeten, die dort noch liegen, die müssen wir abholen, das macht aus. Etwaige Kränze und Blumenspenden könnt Ihr ja gleich mitbringen, falls die Herren verhindert sind, persönlich an dem Begräbnis teilzunehmen —«
Ich weiß nicht, was der Alte, der ganz aus dem Häuschen war, sonst noch alles geschwatzt hat.
Ich fuhr hin, überstieg die Barrikade, ohne mir noch irgendwie zurechtgelegt zu haben, was ich sagen würde.
»Nun?«, empfing mich der rote John.
»Können wir die Leichen und Verwundeten abholen, die noch in der Bucht sind?«
»Was sagt der Ewige?«
»Ob wir die Leichen und Verwundeten abholen können?«
Grimmig blickte mich der Kerl an. Erst hatte er wohl etwas anderes sagen wollen, als er dann tat.
»So. Hm. Ja. Das könnt Ihr.«
Ich fuhr wieder ab.
Erst hinterher wunderte ich mich, dass er mich hatte wieder abfahren lassen.
Eigentlich hatte ich sehr unklug gehandelt, aber ich hatte nicht anders handeln, nichts anderes sagen können.
Ich wurde mehrfach von Lebenden angerufen, die sich also noch auf der gezimmerten Galerie an den Seitenwänden der Bucht versteckt hielten, holte sie ab, überredete auch den letzten, der sich weigerte, mit mir zu kommen, weil er hier auf der Lauer liegen wollte, in der Hoffnung, doch noch einmal einen Schuss auf die vermaledeiten Mordbuben anbringen zu können.
Es waren acht lebende Männer, die ich in ein größeres Motorboot nahm, 13 Tote und 5 Schwerverletzte kamen dazu; so ausgezeichnet hatten die Burschen geschossen.
So ging die traurige Fuhre ab. Wir hatten noch nicht den Ausgang erreicht, als es an meinem Ohre, der ich am Steuer saß, vorbeipfiff, dann erst hörte ich den Schuss krachen, und vor mir griff sich ein Mann an die Brust und fiel von der Bank.
Gleich darauf wurde noch ein zweiter durch den Kopf geschossen, aber nur durch die Backen.
Kein Entsetzen, kein Schreck mehr, sondern nur noch ein allgemeines Wutgebrüll in meinem Boot.
»Schreit nicht, sondern deckt Euch!«, sagte ich.
Sie gehorchten. Noch zwei ganze Salven krachten, die Kugeln pfiffen, aber keine traf; auch mich nicht, der ich aufrecht am Steuer sitzen geblieben war. Doch ich war ja auch ein geheiligter Parlamentär, das heißt, das sage ich nur ironisch.
Stumm wurden wir empfangen. Nur wenige Arbeiter und Kommis machten ihrer Wut Luft. Sie verstummten bald, als sie das Verhalten der anderen bemerkten. Das sagte mehr als Flüche und Racheschwüre.
»He, wohin wollt Ihr?!«, rief der Ewige.
Denn ich war schon wieder in ein anderes Motorboot gesprungen und davongefahren, in der Richtung nach der Bucht zu.
»Noch einmal mit den Herren parlamentieren!«, rief ich zurück.
»Na, was gibt's noch?«, erklang es mir hinter der Barrikade entgegen.
»Ich bringe die Antwort des Don Christoffero.«
»Aha, also jetzt erst!«
Ich kletterte an den Kisten und Mehlsäcken hinauf, nicht hinüber.
Als ich mich oben befand, langte ich hinunter, griff über den nächsten Kopf hinweg, packte den Kerl beim Kragen, er hatte glücklicherweise eine feste Jacke an, schlenkerte ihn herüber und ins Boot hinein, sprang ihm nach, mich geduckt und den Hebel herumgeworfen. Dann erst, als wir schon in voller Fahrt waren, aber mit rückwärtsgehendem Boot, zog ich den Kerl, der sich gerade mit sehr verwundertem Gesicht aufrichten wollte, zu mir heran, klemmte ihn zwischen meine Knie, und als er noch zappeln wollte, gab ich ihm ein paar Ohrfeigen. Da war er still.
Na, die brüllten ja nicht schlecht hinter mir! Und die Kugeln prasselten nur so gegen die Bootswände, aber die waren von ziemlich starkem Eisen- oder gar Stahlblech. Und dieses zu durchschlagen, dazu waren die großkalibrigen Jagdgewehre doch nicht geeignet. Tüchtige Beulen, weiter nichts. Und auch sonst hatte ich mir für diese Spazierfahrt ein besonderes Boot ausgesucht, möglichst hochbordig, hinten etwas gedeckt. Dort lag ich. Also mochten die Kugeln hageln, wie sie wollten, ich saß im Trocknen.
Wenn der Bursche zwischen meinen Knien unruhig wurde, bekam er von mir allemal einen Klaps. Dann war das Kindchen wieder artig. Übrigens ein recht strammer Bengel für seine 30 Jahre oder so. Der Richtige war es freilich nicht, eigentlich hatte ich den roten John erwischen wollen. Aber zu einer sorgfältigen Auswahl hatte ich doch keine Zeit gehabt, so hatte ich nach dem nächsten gegriffen, und es war auch viel darauf angekommen, dass der eine Jacke getragen hatte, denn ein Hemd allein, wie es der rote John trug, wäre wahrscheinlich in die Brüche gegangen, und jemanden nur so beim Halse zu packen und ihn in die Höhe zu heben, das ist ein Kunststück, das ich nicht fertig bringe, dazu bin ich zu schwächlich gebaut.
Plötzlich tauchte vor oder eigentlich über mir eine himmelhohe Felswand auf. Ich hatte noch gar nicht gewusst, dass ich schon so weit war, und viel Ausguck hatte ich doch auch nicht halten können, wegen der dummen Schießerei.
Den Hebel herumgerissen — aber da war es bereits zu spät, da hatte es bereits gekracht und geprasselt, da lag ich bereits im Wasser, nur den ärgsten Anprall hatte ich noch abschwächen können.
Meine erste Sorge war mein Pflegebefohlener. Er hatte nach mir gegriffen, wie man nach dem bekannten Strohhalm greift, aber dieser Strohhalm war fixer gewesen, hatte zuerst zugegriffen. Ich packte ihn, gab ihm noch einen Klaps, drehte ihn herum, drückte ihn zärtlich an mein Vaterherz und schwamm mit dem anderen Arm.
Weit hatte ich nicht, der Schiffbruch war gerade an der westlichen Felsenecke erfolgt. Das Boot war so vernünftig gewesen, diese Richtung zu nehmen, ehe es Selbstmord beging.
Von den vorgelagerten Inselchen aus hatte man alles beobachtet, mit und ohne Fernrohr. Schon kamen mir Boote entgegen. Die Kerls ruderten um die Wette. Dort hinten wurde noch geschossen, von Kugeln war aber nichts mehr zu merken, nur eine sah ich über das Wasser tanzen. Ich stieg in kein Boot, hielt mich nur an dem einen an, ließ mich schleppen. So kletterte ich ans Ufer, mein anderthalbzentriges Baby im Arme.
Das war etwas anderes, als wie vorhin das Leichenboot ankam. Jetzt war man nicht mehr so stumm.
Ach, dieses Gejohle!
»Käpten, da macht doch Eure Spazierhölzer breit!«, sagte ein Jäger, der schon immer hinter mir in geduckter Stellung gestanden und an meinen Beinen herumgekrabbelt hatte.
Ich tat ihm den Gefallen. Da steckte er den Kopf durch, stöhnte und hob mich aus, dass ich auf seinen Schultern saß.
Mehr will ich nicht schildern. wie ich empfangen wurde.
Aber etwas anderes. Vom Ewigen.
Der Mann, den ich gebracht hatte, stand da, wurde an den Armen festgehalten, und vor ihm stand der Ewige.
»Lukas — — chchchchch — — Lukas.«
Ganz leise hatte es der Alte gesagt. In der Pause zwischen den beiden Worten einen ganz seltsamen Laut hören lassend, kein Zischen, nur wie ein Hauchen.
Es war ein Arbeiter von ihm. Derjenige, den er erst kürzlich angenommen, der die Banditen empfangen und geführt hatte.
Ja, ich hatte da vorhin doch einen ganz glücklichen Griff getan.
Einige kurze Worte, er wurde gebunden in ein Boot gelegt, der Alte stieg ein, zwei andere Jäger, ein weißer und ein roter, sie ruderten davon und verschwanden hinter der Insel.
Ich wollte von alledem nichts wissen.
Nach einiger Zeit gellte ein furchtbarer Schrei.
Dann suchte mich Emil auf.
»Du, Karl, das ist ja entsetzlich, was der Ewige mit dem angestellt hat, und auch Gräfin Atalanta ist dort und —«
»Ich mag nichts davon wissen!«
Bald kam der Alte wieder und rieb sich schmunzelnd die Hände.
»Nichts. Das ist übrigens ein vortreffliches Mittel, was mir da die Atalanta gezeigt hat, wie man jemanden an den Haaren in die Höhe hebt. Wie da mit einem Male die Zunge locker wird! Aber das, was ich wissen wollte, erfuhr ich nicht. Er wusste gar nichts von dem anderen Tale, noch weniger von einem Durchgangstunnel. Nun, desto besser. So können wir uns ja noch auf weitere Überraschungen gefasst machen. Famos, famos!«
Wahrhaft glückstrahlend sah er mich an.
»Mein lieber Schwiegersohn! Was wart Ihr zuletzt? Herzog von Buffalo, nicht wahr? Und im militärischen Range? Oberst? Ich ernenne Euch hiermit zum Generalfeldmarschall, weil Ihr so weitschauend in der Kriegstaktik seid, wenn Ihr auch ein bisschen zu spät damit gekommen seid. Hat bei mir nichts zu sagen. Nun kommt mal mit, meine Anordnungen hier habe ich schon getroffen. Damit Sie sich deswegen keine Sorgen machen, Herr Generalfeldmarschall.«
Wir fuhren zum Fahrstuhl, der sich in dieser Bucht vorn rechterhand befand.
Zum ersten Male benutzte ich ihn, war überhaupt noch gar nicht hinaufgekommen, was ja auch nur durch diesen oder durch den anderen Fahrstuhl auf der Ostseite des Tales möglich war. Hatte ich es einmal vorgehabt, so war immer etwas dazwischen gekommen, und da gab es ja überhaupt im Tale selbst noch Hunderterlei, das ich noch nicht in Augenschein genommen hatte, ganz abgesehen von dem, was jeder selbst als etwas ganz Neues entdecken konnte.
Es waren zwei nebeneinander liegende Schächte, die in dem Felsen kerzengrade hinaufgingen, jeder ungefähr vier Meter im Durchmesser. Die Außenwand war drei Meter dick, durch Öffnungen hier und da war für Licht gesorgt, auch zwischen den beiden Schächten gab es Verbindungsgänge.
Die beiden Fahrstühle, einfache Plattformen, liefen in Zahnradstangen, wurden durch Naphtamotoren getrieben, die auf der Plattform selbst standen. Ein Versagen der Bremsvorrichtung war ganz ausgeschlossen. Auch sehr wenig Kraft war nötig, denn ging der eine hoch, so senkte sich der andere bergab, und sollte einmal eine besonders große Last hinaufbefördert werden, so wurden auf den anderen oben entsprechend schwere Eisblöcke gelegt, die man unten einfach ins Wasser warf. Sie trieben von selbst nach dem heißen Loch, in dem eine kochende Quelle entsprang, wo sie schnellstens verschwanden.
»Ingenieuse Kerls gewesen, diese alten Mexikaner!«
»Diese Schächte stammen von ihnen?«
»Ja. So waren sie von Anfang an. Fahrstühle waren noch nicht drin, die Zahnradstangen und was sonst noch dazu gehört. Aber im Felsen selbst brauchte kein Meißelschlag mehr gemacht zu werden, als die Aufzüge hier angelegt wurden.«
Solche Schächte gab es also auch dort im Colorado-Gebirge, sie waren ebenfalls zu Liftzügen benutzt worden. Aber doch sicher nicht von ihren ersten Erbauern, wenigstens konnte man sich so etwas gar nicht vorstellen.
»Wozu mögen die alten Mexikaner denn nur diese vertikalen Schächte angelegt haben?«
»Weiß ich nicht. Alles, was darüber gerätselt worden ist, sind nur Hirngespinste. Wir wissen es nicht. Das ist wenigstens ein offenes Geständnis. Möglich, dass die alten Mexikaner ihren Kunstsinn auf diese Weise nur betätigen wollten. Solch einen ungeheuren Schacht senkrecht in den Felsen zu meißeln, das war ihr Stolz, ihr Triumph. ›Das haben wir für die Ewigkeit getan!‹, mögen sie gesagt haben.«
»Sonst zu gar keinem Zweck?«
»Zweck? Was haben denn die Pyramiden in Ägypten für einen Zweck? Nur um in dem Löchelchen in der Mitte die einbalsamierte Leiche eines Königs aufzubewahren?«
Er hatte recht. Wer vor den Pyramiden von Giseh gestanden hat und er ist durch den Anblick dieser Steinkolosse, von Menschenhand ausgeführt, nicht überwältigt worden, der — ist eben gar kein Mensch, sondern ein gefühlloses Tier. Er braucht gar nicht zu wissen, wie die mächtigen Steinplatten dazu vom roten Meer her durch die Wüste auf Baumstämmen gerollt worden sind, wie sie, da die Ägypter die Vorrichtung des Flaschenzugs noch nicht kannten, auf schiefen Ebenen hinaufgebracht wurden.
Wir hatten Zeit zur Unterhaltung Es waren mehr als 3000 Meter, die wir zu erklimmen hatten. Wir brauchten ziemlich eine Stunde. Das war auch so etwas, woran der nicht gleich dachte, der meinte, man brauche nur ein Seil hinabzulassen, dann könne man ja hinunter und wieder hinauf klettern.
Die Stunde verging. Der Fahrstuhl hielt in einem gemauerten Häuschen, Fensterscheiben waren vorhanden, aber — — zugefroren!
Warme Kleidungsstücke lagen bereit, auch solche, die für meinen langen Leib passten. Pelzkostüme brauchten es nicht gerade zu sein.
Dann wurde die Tür geöffnet. Und wie ward mir da! Eigentlich hätte ich es ja wissen können. Aber immerhin, die Überraschung war groß.
Als wir unten abgefahren waren, hatte es zu regnen begonnen, wie jetzt immer um diese Zeit. Dieses Rieseln hielt fast genau anderthalb Stunden an, dann klärte sich mit einem Schlage der Himmel wieder auf. Diese Regelmäßigkeit, die sich aber mit den Jahreszeiten fortschreitend ändert, hängt mit den Passatwinden zusammen.
Und nun dazu dort unten eine feuchte Hitze! Wie in einem Dampfbad.
Und hier oben ein lustiges Schneegestöber bei vier Grad Kälte!
Wegen dieses Schneegestöbers bekam ich nicht viel zu sehen. Vorläufig blieben wir aber auch noch hier. Mitgekommen war nur noch ein Jäger, der sich dann als perfekter Zimmermann erwies, er hatte Handwerkszeug mitgenommen, unser Fahrstuhl war auch mit einem Holzgerüst und anderen Sachen beladen gewesen.
In Pelz gehüllte Gestalten kamen. Eskimos. Wenn sie auch noch nicht ihre Winterkostüme trugen, sonst wären sie so ziemlich kugelrund gewesen. Der Ewige sprach mit ihnen, ich verstand es nicht, eben in ihrer Sprache, sie luden die Sachen auf und verschwanden in dem Schneeschleier.
Es dauerte noch immer einige Zeit, ehe wir nachfolgten. Das Schneien ließ nach, es hörte auf, es war sehr neblig, da ein starker Windstoß, gleich wieder nachlassend, und am blauen Himmel lachte die Sonne!
O, dieser Anblick! Der Alte hatte mich dicht an den bodenlosen Abgrund geführt, auf einen Vorsprung, durch ein vergletschertes Eisengitter geschützt.
Zum ersten Male überblickte ich von hier oben das ganze Tal. Es lässt sich nicht beschreiben. Nun aber wusste ich, weshalb die Hauptinseln ihre Namen bekommen hatten, inwiefern sie überhaupt als zusammenhängende Inseln gelten konnten, falls ich es nach dem Kärtchen nicht hatte glauben wollen.
»Nun dreht Euch herum.«
Da war ich nach dem Innern Grönlands versetzt. Das im Innern nämlich sehr gebirgig ist. Oder nach Spitzbergen, nach dem winterlichen Island, konnte man auch annehmen.
Hier war einst vulkanischer Boden gewesen, ein Krater am anderen, und das alles nun vereist. Ein unbeschreibliches Wirrsal von Eisblöcken und aufgetürmten Eisschollen und Gletscherspalten.
»Könnt Ihr auf Schneeschuhen laufen? Aber sagt nicht, Ihr könnt es, wenn Ihr es nicht geübt habt. Das sieht einfacher aus, als es ist.«
»Ich kann es nicht.«
So marschierten wir auf unseren Stiefeln auf dem hartgefrorenen Schnee, der nur eine ganz dünne, weichere Lage bekommen hatte, linkerhand an dem Abgrund dahin, in nur geringer Entfernung davon.
»Es ist ganz ungefährlich. Nur wenn der Sturm aus Osten oder Norden weht, muss man natürlich vorsichtig sein, dass man nicht hinabgeblasen wird. Hier auf diesen Strecken kenne ich jeden Fußbreit. Ich habe ja 71 Jahre Zeit zur Untersuchung gehabt. Einundsiebzig Jahre!«
Mit einem kleinen Seufzer hatte er es wiederholt.
Ja, wenn er seit seinem zehnten Jahre hier war? Ein langes Menschenalter! Schon möglich, dass man da einmal seufzen kann.
Jenseits des Abgrundes lag also der Felsenvorsprung, auf dem die Eisbären hausten, daher Eisbärenzwinger genannt. Dieser bildete also die Westgrenze derjenigen Bucht, in der wir jetzt lagen.
Aber diese Bucht ist auf dem Kärtchen viel zu breit gezeichnet. Das war ja überhaupt nur eine Skizze, welche nur markieren sollte. In Wirklichkeit war diese Bucht noch nicht 100 Meter breit, was man ja aber gar nicht hätte angeben können.
So konnte ich dort drüben alles ganz deutlich erkennen, konnte ja auch mein Fernglas zur Hilfe nehmen. Zwei Eisbären sah ich zwischen den Eismassen sich bewegen, aber sie verschwanden bald wieder.
»Es müssen nächstens ein paar Dutzend abgeschossen werden. Es ist schon lange her. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele es sind. Es können 100, es können auch 150 sein. Da macht Ihr mit. Die Komödie dort unten soll bald beendet sein. Und auch solange uns der Ausgang versperrt ist, wollen wir uns nicht aus unserer gewohnten Beschäftigung bringen lassen. Die Sache mit dem Panther hat sich ja nun auch erledigt. Es wird weiter gejagt und weiter gepökelt. Ich nehme Euch aus keinem anderen Grunde mit, als dass Ihr auch einmal hier herauf kommt. Oder — ich will ehrlich sein — um zu beweisen, dass wir wegen solcher lumpigen Banditen dort unten gar nicht nötig sind.«
»Können sich die Eisbären nicht nach überall hin verbreiten?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Weil dieser ganze Vorsprung ein wirklicher abgeschlossener Zwinger ist.«
»Sie sind also abgesperrt?«
»Ja.«
»Auf welche Weise?«
»Ihr werdet es gleich sehen.«
Nach 20 Minuten unseres schnellen Marschierens erreichten wir das Ende des Randes, wo dieser Felsenrücken also mit dem jenseitigen verbunden war.
Aber jener Felsenrücken, der Eisbärenzwinger, hing nicht direkt mit dem Plateau zusammen, nicht durch eine Ebene, sondern war mehr wie eine Insel im Luftraum isoliert, indem sich an seinem Anfange eine tiefe, tiefe Spalte durchzog, hier etwa 15 Meter breit.
»Sie zieht sich bis an den Westrand hin«, erklärte mein Schwiegervater, »wird noch breiter. Hier ist die schmalste Stelle.«
Er deutete auf einen vergletscherten Schneehügel, der sich dicht an der Spalte erhob, auf der Nordseite.
»Das dort ist ein Häuschen. Es braucht nicht künstlich verdeckt zu werden, damit es den Gesamteindruck der Eiswüste nicht stört, das besorgt die Natur schon allein. Auf der Südseite befindet sich die Tür, Ihr könnt sie von hier aus nicht sehen. Außerdem ist sie weiß angestrichen, gewöhnlich auch mit einer Eiskruste bedeckt. Sonst muss sie natürlich offen gehalten werden, das heißt, dass man sie in den Angeln bewegen kann. In diesem Häuschen befindet sich eine einfache Vorrichtung, die ein Laufbrett über die Spalte schiebt. Das ist der einzige Kommunikationsweg, der nach dem Eisbärenrevier hinüberführt.«
»Und diese Spalte genügt, um die Bären am Entweichen zu hindern?«
»Selbstverständlich. Wie wollen sie denn herüberkommen?«
»Bilden sich nicht Eiszacken, welche die vorzüglich kletternden Bären benutzen könnten?«
»Hm, Ihr habt recht, solch eine Frage aufzuwerfen. Nein, das ist nicht möglich. Die Natur erlaubt hier nicht solch eine Bildung. Es ist ein ganz eigentümliches Terrain. Andernfalls. wenn es nicht so wäre, müssten wir dort unten im Tale immer darauf gefasst sein, ab und zu eine abschusselnde Eisscholle oder gar einen mächtigen, spitzen Eiszapfen auf den Kopf zu bekommen. An den Felswänden steigt nämlich und überhaupt ganz naturgemäß immer eine warme Luftschicht aus dem Tale empor. Diese warme Luft bringt ja die vorgeschobene Eiskruste erst recht zum Schmelzen, aber viel zu schnell, als dass sich Eiszapfen und dergleichen bilden könnten. Außerdem nun ist das ganze Terrain so beschaffen, dass alles schmelzende Wasser nach der Mitte des Plateaus zu abfließt. Dort versickert es in Gletscherspalten und kommt erst unten im Tale aus dem Felsen wieder zum Vorschein.«
»Und kann da nicht einmal ein Eisbär hinabstürzen?«
»O nein, die denken gar nicht dran, die haben in ihrer Heimat noch ganz andere Eisgefährlichkeiten. und bei den hier Geborenen ist das Instinkt, die treten nie auf eine Schneedecke, die sich über eine Spalte wölbt und die sie nicht tragen würde.«
»Womit werden sie gefüttert?«
»Fast die Hälfte ihres Reviers, das ja mehr als drei Quadratkilometer umfasst, nimmt ein See ein, in den ich schon vor Jahrzehnten Seehunde einsetzen ließ. Fische waren schon genug drin. Die Seehunde gedeihen ausgezeichnet, Ganz decken sie die Nahrung der Eisbären ja nicht, zumal sie durch die ewige Verfolgung in dem begrenzen Gebiete überaus schlau geworden sind. Gerade dadurch aber werden die Eisbären immer lebendig gehalten, weil sie sich anstrengen müssen, einen Seehund zu erbeuten; sonst bekommen sie eben Fische und Fleisch unten aus dem Tal.«
Ich hörte Schellengeläut. Hinter einem Schneehügel stand ein Schlitten, mit fünf Rentieren bespannt. Ein Eskimo führte die Zügel. Nicht gerade in sausender, aber doch in sehr schneller Fahrt ging es fort, dem Norden zu.
Doch nur zehn Minuten, so hatten wir schon unser Ziel erreicht. Hier fielen die Felsen, oben ebenfalls bis dicht an den Rand schnee- und eisbedeckt, glatt wie eine Mauer in das Christoffera-Tal hinab. Ein Vorsprung war wieder mit einem Geländer umgeben. Auch das war ein entzückender Anblick, das Städtchen dort unten, die winzigen Häuserchen, die zum Teil Paläste waren, und in der Ferne die scharfabgegrenzten Felder von verschiedenen Farben.
»Auch hier kann nie ein Schneesturz erfolgen!«, erklärte der Alte, und er sprach über etwas, was wirklich mit Hauptsache war, sonst wäre das doch nur enge Tal ja ganz unbewohnbar gewesen. »Nur in unserem Tale gibt es eine einzige Stelle, wo manchmal Schollen und Eisblöcke herabkommen —«
»In der Eisbucht.«
»Ja. Aber es ist keine Gefahr vorhanden, denn es geschieht zu ganz regelmäßigen Zeiten, wir haben auch unsere Anzeichen, wenn es bald geschieht, dann wird gewarnt, die Bucht gesperrt. Ihr werdet's erleben. Es ist furchtbar, wenn die Eismassen, Blöcke so groß wie ganze Häuser, herabdonnern.«
Es sah schon jetzt schrecklich genug aus in jener Eisbucht.
Eskimos und der mitgekommene Zimmermann, der aber sonst als Jäger fungierte, hatten bereits das Holzgerüst aufgestellt. Es war eine Winde. Die soliden Füße standen im Eis, in das man mit einem Eisen, in einem Feuerchen glühend gemacht, Löcher geschmolzen hatte. Das nachgeschüttete oder noch darin stehende Wasser gefror schnell wieder, dann stand die Winde wie einzementiert.
Jetzt waren die Arbeiter dabei, über den Abgrund hinaus einen Balken zu schieben, der ebenso befestigt wurde. Am äußeren Ende trug er eine Rolle, über die das zukünftige Seil laufen sollte.
Ferner stand da auf drei Beinen ein kleiner Kasten, wie ein Fotografenapparat aussehend, an dem sich jetzt der Alte zu schaffen machte. Als ich es mehrmals aufblitzen sah, wusste ich, was es war. Ein Heliograf, zu deutsch ein Sonnenschreiber. Einer der ältesten Telegrafenapparate, noch heute vielfach gebraucht, besonders im Kriege, von Festungen aus, auch im Felde. Ein Spiegel reflektiert die Sonnenstrahlen, man kann sie lenken, wohin man will — durch mehrfache Brechung — durch kürzeres und längeres Verdecken werden die sogenannten Morsezeichen gegeben, aus Punkten und Strichen bestehend.
Bald sah ich es auch dort unten im Tale auf einem Hause oder in einem Garten aufblitzen, die Unterhaltung war schon in vollem Gange. Die erste Botschaft, was geschehen sollte, hatte der Ewige ja schon durch einen Mann hinausgelangen lassen, sonst konnte noch jetzt eine Geheimsprache verabredet werden.
Unterdessen ward schon der erste Seidenfaden, an dem eine durchlöcherte Münze hing, über der Rolle hinabgelassen.
Weiter kamen hinter uns Männer, welche lange Stangen in den Schnee und noch in die Eisschicht rammten, nachdem oben mit einigen Umschlingungen zwei grünumsponnene Drähte befestigt worden waren. Die Heliografenstation wurde telefonisch unten mit der Bucht verbunden. Denn dort unten war schon immer eine Telefonstation gewesen, die nach Don Christofferos Haus gegangen war. Reservedraht hatte man noch genügend gehabt.
Aber wenn auch noch 3000 Meter vorhanden gewesen wären, diese in das Tal hinabzulassen, um gleich eine direkte telefonische Verbindung mit der Stadt herzustellen, das wäre nicht möglich gewesen; da trug der Kupferdraht seine eigene Last nicht. Und dass er mit Seide umsponnen war, das hatte dabei nichts zu sagen, das war hierbei wieder etwas ganz anderes.
Ich erwähne dies alles hauptsächlich deshalb, um zu zeigen, mit welcher Schnelligkeit hier gearbeitet wurde.
»So«, nickte der Alte zufrieden, »dieses war der erste Streich. In drei Stunden werde ich mich auch mit den Bukaniern etwas unterhalten, aber nicht durch Sonnenstrahlen.«
Habe ich es schon erwähnt? Die Bezeichnung Bukanier für jene Mordbuben war schon eine allgemeine geworden. Hier war dieser Name ja auch ganz angebracht, auch in amerikanischer Bedeutung.
Jetzt nahm der Alte das Telefon, das an den beiden Drähten unterdessen bis hierher geführt worden war. Obgleich es nur ein ganz einfacher Apparat war, hörte ich dann die Antwort ganz deutlich. Die außerordentlich reine Luft hier oben mochte daran schuld sein.
»Mac O'Neil, seid Ihr dort?«
»Ja.«
»Zwei Kilo 30 Gramm.«
»Zwei Kilo 30 Gramm!«, wurde wiederholt.
»218 Millimeter Durchmesser.«
»218 Millimeter Durchmesser.«
»In zwei Stunden sind sie fertig, drei oder hoffentlich vier Stück, in vier Stunden sind sie unten.«
»All right.«
»Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Weshalb nicht, Mister Christoph?«
»Findet Ihr das Gewicht nicht zu gering?«
»Ja, besser wäre es allerdings, wenn die Dinger schwerer wären —«
»Es lässt sich machen, erfordert aber viel mehr Zeit.«
»Dann ist es nicht nötig. Bei anderthalb Kilometer geht es. Ich werde mich schon einrichten.«
»Gut. Wie Ihr meint. Wann beginnt Ihr mit den Versuchen?«
»In zehn Minuten.«
»So bald schon?«
»Ist schon alles fix und fertig, nur Gewicht und Form brauchen noch gegeben zu werden.«
»Nicht erst trocknen?«
»Ich nehme Zement.«
»Ah so! Mac O'Neil, Ihr seid ein patenter Kerl! Sonst noch etwas?«
»Nein.«
»Dann Schluss für mich.«
Der Alte legte das Telefon auf das aufgestellte Tischchen und rieb sich wieder schmunzelnd die Hände.
»So, Jim«, wandte er sich dann an den mitgekommenen Jäger, »nun übernehmt Ihr die Bedienung des Heliografen und Telefons. Das ist nämlich ein ausgebildeter Signaliseur!«, setzte er erklärend zu mir hinzu. »Wir beide können wieder in die Tiefe rutschen.«
Bei dem Kriegsruf Libelles, die mit Quirl und Kochtopf
in die Tür getreten war, plauzte Littlelu zu Boden
und streckte beide Beine in die Höhe, was zu einem
allgemeinen Heiterkeitsausbruch Veranlassung gab.
Es war kurz vor vier, wir waren erst wenige Minuten auf dem Fahrstuhle wieder unterwegs, als ein Schuss dröhnte. Es konnte, wenn es sich nicht sonst um eine Detonation handelte, nur ein Kanonenschuss gewesen sein, in sehr weiter Entfernung abgefeuert.
Mein Schwiegervater blickte mich an, wartete vergebens auf meine Frage.
Nach zehn Minuten abermals solch ein Kanonenschuss, und wiederum blickte mich der Alte vergeblich an.
»Ihr seid ein kurioser Kauz!«, meinte er dann. »Habt Ihr denn gar nichts zu fragen?«
»Herrjeeesens, was war denn das?!«, schrie ich da auf. »Da hat doch nicht etwa jemand geschossen? Nu, wer mag denn da nur geschossen haben?!«
Der Alte lachte aus vollem Halse ob dieses meines nachträglichen Staunens, wie ich es auszudrücken wusste, dass mich das ja gar nichts anging.
»Ich kalkulierte, wenn diese Schüsse von besonderer Bedeutung sind, so würdet Ihr es mir schon mitteilen!«, setzte ich noch hinzu.
»Da habt Ihr ganz recht, aber ein kurioser Kauz seid Ihr trotzdem.«
»Wenn ich etwas nicht begreifen kann, so ist es das, warum nicht alle Menschen so kuriose Käuze sind wie ich — in dieser Hinsicht.«
»Ihr konntet doch vorhin recht hübsch wegen der Eisbären fragen.«
»Da wollte ich mich belehren lassen.«
»Das gilt auch dafür, was diese Schüsse zu bedeuten haben.«
»Nein, das ist wieder etwas ganz anderes. Wäret Ihr aufgefahren, hättet Ihr sie auch nicht erklären können, dann vielleicht hätte ich mich in Erörterungen ergangen. So nicht.«
»Habt recht, es ist etwas ganz anderes. Nun sollt Ihr aber auch nicht erfahren, was diese Kanonenschüsse zu bedeuten haben.«
Im Laufe der nächsten Viertelstunde fielen noch zwei Kanonenschüsse, wir aber hatten noch kein Wort wieder gesprochen.
»Oder Ihr wisst wohl schon, weshalb da geschossen wird?«, brach dann der Alte wieder das Schweigen.
»Ja, ich weiß es!«, musste ich jetzt lachen.
»Nun?«
»Es sind Probeschüsse, man schießt sich mit einem Geschütz ein, mit Geschossen, die zwei Kilo dreißig Gramm schwer sind und 218 Millimeter Durchmesser haben, und diese Probegeschosse sind einstweilen aus Zement hergestellt.«
».Und sind gefüllt mit —«
»Diese Probebomben sind wahrscheinlich leer.«
»Und die anderen?«
»Die werden mit Kakodyl gefüllt.«
Der Alte winkte ab.
»Euch nehme ich ja nicht wieder mit!«, lachte er.
Um fünf Uhr waren wir unten. Es hatte sich unterdessen nichts geändert, so blieb es auch während der folgenden drei Stunden.
Nur dass wir selbst schon Vorbereitungen trafen.
Von der Kanoneninsel kam der Apparat, der einen Blendstrahl aussendete, mit einem großen Reflektor. Naphta wurde vergast, ein Kalkring glühend gemacht. Das erzeugt ein intensiv weißes Licht. Drummond'sches Kalklicht, nach seinem Erfinder so genannt, noch heute überall auf Leuchttürmen verwendet, wo man keine Elektrizität hat.
Ferner kamen von der Kanoneninsel zwei Geschütze an. Es waren nur Böller, Vorderlader, ohne Züge.
Nun, mit solchen ungezogenen Kanonen hat man früher auch ganz vortrefflich schießen können. Bei der Belagerung von Festungen und Städten wetteiferten früher die Kanoniere miteinander, zuerst einen Kunstschuss abzugeben. Das Kreuz von der Kirche herzuholen oder so etwas Ähnliches. Und den Feinden erst einmal Respekt beizubringen. Und diese Böller hier hatten dazu noch außergewöhnlich lange Rohre.
Mit modernen Geschützen ließen sie sich ja nicht vergleichen, das stimmt, aber für unsere Zwecke waren sie ganz brauchbar.
Doch der Alte änderte seinen Plan, den er ursprünglich entworfen, mit Einverständnis Mac O'Neils, des Kanonenmeisters, oder dieser war es sogar, der die Änderung vorschlug.
Zuerst hatten die Geschütze und der Scheinwerfer auf der Insel aufgestellt werden sollen, die am nächsten der Hafenbucht gegenüber lagen.
Aber aus ziemlich anderthalb Kilometer Entfernung, die da in Betracht kam, waren die Geschosse doch etwas zu leicht. Ja, es ging, das Probeschießen mit hohlen Zementkugeln hatte ganz gute Resultate ergeben, auch der Blendstrahl reichte so weit, aber — es war und blieb eine unsichere Geschichte. Die Kugeln waren zu leicht. Und von denjenigen Kugeln, die dann abgefeuert werden sollten, hatte man nur drei oder höchstens vier Stück, und sie ließen sich nicht so bald wieder ersetzen. Sie mussten erst präpariert werden.
Wohl rückte man den Schießstand näher, auf einer Arche. Verließ man den festen Boden, dann konnte man aber mit der Arche in der finsteren, mondlosen Nacht auch gleich bis auf 300 Meter und noch näher heranrücken.
»Ja, weshalb denn in der Nacht?«, konnte ich jetzt recht gut fragen. »Weshalb wird nicht bis morgen gewartet?«
Es war nicht etwa Ungeduld, dass der Ewige nicht erwarten konnte, die Bukanier aus ihrem Schlupfwinkel herauszutreiben.
Mir wurde erklärt, weshalb die Nacht am besten dazu geeignet sei, auch auf die Gefahr hin, dass einige oder auch viele Bukanier in der Finsternis entwischten. Diese Gründe waren aber so kompliziert, dass ich sie hier nicht ausführen will. Und wenn eine Arche in Betracht kam, die so nahe heranfuhr, so war überhaupt die finstere Nacht dazu am besten, unnötigerweise wollte der doch kein Leben aufs Spiel setzen, so wenig sich all diese Jäger auch aus ihrem Leben machten. Und wer entwischte, der konnte sich doch nur in diesem Tal verstecken, und den wollte man bald haben, dann gab es erst noch eine fidele Jagd. Auf der anderen Seite konnten sie nicht heraus, dafür war gesorgt.
Also eine am besten für das Vorhaben geeignete Arche wurde vorgerichtet. Hauptsächlich wurde sie mit Fellen gepolstert, mit ganzen Packen von Fellen und Pelzen, woran ja hier kein Mangel war. Die beiden Geschütze wurden in guter Position aufgestellt, schossen zu einem Fenster heraus, das aber bedeutend verkleinert wurde. Das eine diente nur zur Reserve.
Um sieben Uhr senkte sich die Nacht herab, eine Stunde später wurde die Hauptsache gebracht: die präparierten Bomben, vier Stück.
Nun muss ich erst erklären, worum es sich handelte.
Um eine Ausräucherung.
Der rote John hatte aber doch auch hieran gedacht und hatte behauptet, dass eine Ausräucherung nicht möglich sei.
Und da hatte er eigentlich auch ganz recht. Er war ganz genau orientiert.
Vor einigen Jahren hatten sich in dem Durchgangstunnel, in dem auch die Fleischkonserven aufgestapelt wurden, die nicht gleich mit der Bahn abgingen, Termiten eingestellt.
Diese ameisenähnlichen Insekten — es sind überhaupt Ameisen, dieser Unterschied, den die Gelehrten machen, ist nur eine Spielerei — hatten derart überhand genommen, dass man sich vor ihnen nicht retten konnte.
Die beiden Eingänge des Tunnels wurden luftdicht zugemauert, nachdem man überall Schwefel angebrannt hatte. Das Resultat war Null. Ob nun die Termiten den Schwefeldampf vertrugen oder nicht — jedenfalls konstatierte man erst nachträglich, dass es zu einer intensiven Dampfbildung überhaupt gar nicht kam. An der Decke des Tunnels befanden sich überall Spalten, die man bisher nicht weiter beachtet hatte. Jetzt erst bemerkte man, dass diese Spalten mächtige Abzüge bildeten, und ihrer waren so viele, dass sie gar nicht zu verstopfen waren.
Ich füge gleich noch hinzu, dass man sich von der Termitenplage auf eine andere Weise befreite. Einfach indem man überallhin Wasser spritzte, in dem Fische gekocht waren. Da wanderten die Termiten sofort aus. Fischgeruch ist allen Ameisen und Termiten ein Gräuel. Es ist ein so einfaches Mittel und doch so wenig bekannt; so wie eine Lauge von Lärchenholz, einfach mit kaltem Wasser hergestellt, sofort alle Wanzen vertreibt. Sie werden nicht getötet, aber sie wandern aus, und das zu wissen ist auch etwas wert.
»Wartet, Ihr sollt den alten Christoph noch als einen alten Stänkerfritzen kennen lernen!«
So hatte der Ewige wütend gebrüllt, als er sich wie ein wütender Affe an dem aus Seide hergestellten Seile geschaukelt hatte.
Weder das eine noch das andere war zwecklos gewesen. Der redete und tat überhaupt nichts Zweckloses.
Also er wollte die Bukanier hinausstänkern, ausräuchern.
Aber wenn der Rauch einen zu schnellen Abzug fand?
Dann hatte er darauf aufmerksam gemacht, dass er ja in seiner Stadt auch eine Arsenikhütte habe.
»Sie wollen die Räuber vergiften?«, hatten die Ingenieure gerufen.
»Oooh, wofür halten Sie mich denn?!«, war die gekränkte Antwort gewesen. »Bin ich denn etwa ein Giftmischer? Nein, lebendig will ich diese Jüngelchen haben, lebendig und kerngesund, um ihnen den Hosenboden auszuklopfen. Na und Ihr, oller Seemann«, hatte er sich dann an mich gewandt, »ist für Euch Arsenik und Gift auch ein und dasselbe? Wart Ihr vielleicht einmal in China?«
Diese Andeutung genügte mir, da wusste ich es sofort.
Chinesische Stinktöpfe!
Wenn chinesische Piraten, die es ja noch heute massenhaft gibt, in ihren Dschunken ein Segelschiff bei Windstille angreifen, so kommt es nur darauf an, die irdenen Töpfe, die sie zum Wurfe erheben, noch in ihren Händen zu zerschießen. Gelingt das, so ist der Angriff schon zurückgeschlagen, die Mannschaft der Dschunke springt über Bord.
Erreicht aber solch ein Topf das Deck des Schiffes und zerspringt, was dann auch regelmäßig geschieht, so ist dieses Schiff schon so gut wie verloren. An Deck kann es niemand mehr aushalten, alles kneift sofort die Nase zu und flüchtet mit angehaltenem Atem in die unteren Räume. Will man aber von dort aus schießen, so muss man doch wenigstens ein Bullauge — so ein rundes Fensterchen — öffnen, unterdessen sind die Piraten schon so weit herangekommen, durch jedes offene Bullauge werfen sie andere Stinktöpfe, und dann ist die Besatzung geliefert. An Gegenwehr denkt niemand mehr; nur Luft, Luft!
Wie der Inhalt dieser Töpfe stinkt, das weiß nur der, der es schon einmal gerochen hat. Es braucht nur ein kleines Düftchen gewesen zu sein, das ihm in die Nase geweht ist. Solch eine kolossal stinkige Erhabenheit ist mit Worten nicht zu beschreiben, da verstummt der Mensch in Ehrfurcht.
Jahrhundertelang, seit wir die Chinesen kennen, ist es ein Rätsel gewesen, was das für ein höllisches Luderzeug ist, woraus es die Piraten eigentlich bereiten.
Bis im Jahre 1837 der berühmte Chemiker Freiherr von Bunsen — mich freut es immer, wenn ich bei so etwas einen deutschen Namen nennen kann — das Kakodyl entdeckte, eine Verbindung des Arsens mit Methyl.
Das griechische »kakein« heißt stinken. Es schadet nichts, wenn man das weiß. Diese Entdeckung ist aber tatsächlich für die ganze Chemie umwälzend gewesen, weil hiermit bewiesen wurde, dass es überhaupt metall-oraganische Radikale gibt. Dadurch ist eine ganz neue chemische Industrie entstanden, sonst hätten wir zum Beispiel heute auch noch keine essigsaure Tonerde, die wohl jeder kennt. Die Chinesen haben das freilich schon seit Jahrtausenden gekannt. Der wirksame Bestandteil der Jauche, mit der ihre Stinktöpfe gefüllt sind, ist Kakodyl.
Hierbei möchte ich noch eines bemerken. Ich bin überzeugt, dass sich über kurz oder lang die Kriegswaffen sehr verändern werden. Der Anfang dazu ist nämlich schon gemacht worden; wiederum von jenen gelben Halunken, von den Japanern. Im Kriege mit Russland. Es ist merkwürdigerweise gar nicht so sehr bekannt geworden, dass sich da die Japaner eines besonderen Schießpulvers bedienten, wenigstens füllten sie die Sprengbomben und Granaten damit. Mit Shiumase-Pulver, nach seinem Erfinder, einem japanischen Nobel, so benannt. Nicht allein, dass es eine furchtbare Explosionskraft besaß, sondern der Pulverdampf betäubte auch. Durchschlug solch eine Granate das Deck und krepierte, dann war schon das ganze Schiff kampfunfähig. Die Matrosen und Heizer wurden betäubt. Es ist wirklich merkwürdig, dass dies so wenig bekannt ist. Mir hat es ein russischer Offizier erzählt, ich habe darüber aber auch erst neulich einen längeren Artikel in einer deutschen Zeitung gelesen.
Die Herstellung des Shiumase-Pulvers ist ein strenges Geheimnis der japanischen Regierung. Nun, hoffen wir, dass Japans Bundesfreund England dieses Geheimnis bald erlauscht hat. Dann wird also wohl England als erste europäische Macht zu stänkern anfangen. Das Stänkern geht nicht wider das Völkerrecht. Daraus macht sich England überhaupt sehr wenig, Explosivgeschosse sind im Kriege auch nicht erlaubt, durch internationale Abmachung verboten, und dennoch haben die Engländer im Burenkriege immer lustig mit Dums geschossen, bei denen das weiche Blei beim Aufschlagen aus dem vorn offenen Stahlmantel herausspritzt. Als ob das nicht genau dasselbe wäre wie eine Explosion! Sie reißen fürchterliche Wunden.
Aber das Stänkern und Betäuben ist nicht verboten, Ja, und wenn es nun einmal darauf ankommt, möglichst viele Feinde unschädlich zu machen, warum nicht? Ist es etwa besser, man zerreißt einem Menschen in christlicher Nächstenliebe die Eingeweide mit gehacktem Blei und Granatsplittern, als dass man ihn durch eine Chloroformbombe in schöne Träume versetzt? Allerdings, gerade sehr gentlemanlike und heldenhaft ist Stänkerei ja nicht, aber — wenn schon, denn schon — ich bin gerade kein Hasenherz, aber ich bin so ehrlich, ganz offen zu gestehen, dass es mir angenehmer ist, wenn mir jemand einen Eimer Jauche über den Kopf gießt als dass ich meine Eingeweide im Schnupftuch tragen muss. Also ich sehe schon die Zeit kommen — besonders da jetzt auch die prachtvolle Erfindung der Flugmaschinen in den Dienst der christlichen Nächstenliebe gestellt wird — wo die feindlichen Regimenter sich gegenseitig mit Chloroformbomben beschießen und sich gegenseitig mit Jauche begießen — —
Doch Don Christoffero wollte die Feinde, die sich sein Tal anmaßten, nicht betäuben, noch weniger durch Gift töten.
»Bin ich denn etwa ein Giftmischer?!«
Nein, Kakodyl ist kein Gift, obgleich es eine Verbindung des Arsens ist. Aber das metallische Arsen selbst ist ungiftig und ebenso die meisten seiner chemischen Verbindungen. Nur seine Oxidverbindungen sind sehr giftig, besonders die dreifache, arsenige Säure, eine weiße Substanz, die wir Arsenik nennen.
Kakodyl ist eine an der Luft rauchende Flüssigkeit. Man erstickt in ihr, in dem Dampf. So wie man in einer Atmosphäre von Ammoniak ersticken würde, in Kohlensäure, in Stickstoff, weil eben der Sauerstoff fehlt. Aber Gifte sind das nicht. Man stirbt auch unter Wasser. Und ist Wasser etwa Gift?
Man muss nur schnellstens machen, dass man aus der Kakodyl-Atmosphäre wieder herauskommt. Aber was man eingeatmet hat, das schadet nichts, hat keine nachteiligen Folgen für die Gesundheit. Höchstens dass es einem noch hinterher schlecht werden kann, wenn man nur daran denkt, was man früher einmal gerochen hat. So wie sich unser Chemie-Professor von seinem Assistenten vertreten lassen musste, als die Arsenverbindungen daran kamen. Er konnte das Wort »Kakodyl« nicht aussprechen, nicht daran denken, es wurde ihm übel, er musste sich erbrechen.
In dieser chemischen Fabrik wurden Arsenpräparate hergestellt. Zwar kein Kakodyl, aber das in dem Laboratorium zu erzeugen, war eine Kleinigkeit.
Die vier angefertigten Kugeln, die dann an einer stärkeren Seidenschnur in die Höhe gewunden worden waren, bestanden aus starkem Eisenblech, aus zwei Halbkugeln, fest zusammengehalten, sie konnten unversehrt den stärksten Explosionsstoß ertragen, mussten aber unbedingt beim leisesten Aufschlag auseinandergehen.
Es waren drei Dutzend ausgesuchte Jäger, die mit in die Arche kamen, ausgezeichnete Schützen, hauptsächlich aber die besten Lassowerfer.
»Nur im höchsten Notfalle wird geschossen!«, lautete die Parole.
Auch ich ging mit, wahrscheinlich nur als Zuschauer oder doch nur als Gelegenheitsarbeiter, während Atalanta schon ein Lasso von doppelter Länge in kunstvolle Windungen legte.
»Wie ist es auf der anderen Seite?«, hörte ich den Grafen Felsmark fragen. »Was haben Sie da für Vorbereitungen zum Empfang der Bukanier getroffen?«
»Da ist eine Mausefalle aufgestellt. Eine ganz richtige. Allerdings für Löwen bestimmt. Es gehen aber auch Elefanten hinein, auch alle die 84 Mordbuben; es ist ein solides Gitterwerk.«
»Werden Sie aber auch wirklich hineingehen?«
»Sie müssen, wenn sie nicht ersticken wollen. Uud dann geht es klapp — und die Falle ist zu! Vorwärts!«
Die Kriegsarche ging ab. Geräuschlos fuhr sie in die Hafenbucht hinein. Es war eine stockfinstere Nacht, man sah die Hand vor den Augen nicht, und wir zeigten natürlich kein Licht. Auch die Bukanier hüteten sich, die Lage des Tunneleinganges zu verraten. Der Feind hätte sich ja heranschleichen und doch einmal einen tüchtigen Schuss anbringen können.
Wohl aber erkannte man gegen den Himmel, obgleich dieser bedeckt war, die Umrisse der Felsenkanten dort oben, danach konnten sich diese Männer richten, sodass sie immer wussten, wo sie waren.
»Stopp!«, hörte ich da die Stimme des Ewigen flüstern.
Es war nichts davon zu bemerken, dass die Arche ihre Fahrt eingestellt hatte.
Einige Minuten vergingen.
Wie es ausgemacht worden war, wann der auf der ersten Insel aufgestellte Scheinwerfer in Tätigkeit treten sollte, weiß ich nicht. Jedenfalls zu einer bestimmten Uhrzeit.
Da mit einem Male huschte durch die Finsternis ein blendend weißer Strahl und blieb stehen.
Unsere Arche wurde natürlich von ihm nicht getroffen, dafür war gesorgt worden. Wir lagen etwas seitwärts.
Schnell hatte der suchende Blendstrahl den Tunneleingang gefunden, Wir lagen kaum 200 Meter davon entfernt. Deutlich sahen wir die aufgestapelten Kisten und Säcke. Darüber tauchten jetzt einige Gesichter auf, die gegen das Licht starrten.
»Fertig!«, flüsterte Mac O'Neil.
»Schont die Köpfe!«, sagte der Ewige.
Bum!! Ein Feuerstrom fuhr aus dem Fenster, unsere Arche legte sich stark auf die Seite über.
Es war eine Zementkugel, die erst zur Probe abgeschossen worden war. Fliegen sahen wir sie nicht, konnten aber gleich erkennen, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie musste über den Kisten in den Tunnel hineingeflogen sein.
Das hatte sich zwischen dem Moment, da der Blendstrahl den Tunneleingang gefunden, und zwischen dem Schuss viel zu schnell abgespielt.
Wenigstens viel zu schnell für mich.
Ich hätte gern erst noch eine Bemerkung getan und hätte sie nicht zurückgehalten.
Weshalb lag denn jetzt dort die Arche nicht mehr quer über dem Wassertunnel? Weshalb hatten die Bukanier sie denn verholt?
War denn das nicht auch den anderen aufgefallen?
Und da geschah es! Noch ehe wir die Folgen des Probeschusses beobachten konnten, da kam diese Arche auch schon aus dem Tunnel herausgefahren. schnell und immer schneller.
»Achtung, sie machen einen Ausfall!«, schrie der Alte. »Den Blendstrahl auf sie gerichtet!«
Das konnte leicht geschehen, indem wir unsere eigene Arche drehten. Eben durch die beiden Ausstoßröhren hatte man diese Archen ja wunderbar in der Gewalt, sie brauchten sich, um gesteuert zu werden, nicht in Fahrt zu befinden, man konnte sie auf der Stelle sich drehen lassen.
So drehte sich auch unsere Arche herum. Wohl war die feindliche schon in der Finsternis verschwunden, doch der Blendstrahl musste sie ja gleich wieder gefunden haben, und dann wurde eben die Verfolgung aufgenommen.
Aber nein, es sollte anders kommen.
Plötzlich erlosch der Blendstrahl, der Leuchtapparat versagte.
Zehn kundige Hände waren mit ihm beschäftigt, vermochten ihn aber nicht gleich wieder in Funktion zu bringen.
»Wir müssen unbedingt Licht haben!«
Es musste also eine Lampe angebrannt werden.
Deren Schein sahen aber auch die fliehenden Bukanier.
Wohl wurde gleich das Fenster verstopft, aber sie hatten doch schon den Schein gesehen, die Richtung, die unsere Arche einschlug, denn natürlich waren wir bereits auf zur Verfolgung, und so änderten die doch sicher ihre Richtung. Und die Hafenbucht war ebenso lang wie tief, also ein Kilometer, da war zum Versteckspiel Bewegungsfreiheit genug vorhanden.
Und die nächsten Inseln waren doch nicht so gar dicht vorgelagert, da gab es noch Spielraum genug, um in solch finsterer Nacht durchzuschlüpfen, und dort auf den Inseln hatte man ja keinen zweiten Scheinwerfer.
Wohl ließ der Alte seine schrecklichen Pfiffe gellen, aber um zu melden, dass die feindliche Arche entflohen war, was man tun solle, um sie aufzuhalten, dafür war kein besonderes Signal verabredet worden, diese Art von Sprache konnte doch nur beschränkt sein.
Kurz und gut, als nach fünf Minuten der Scheinwerfer wieder funktionierte, durchforschte der Blendstrahl vergeblich die ganze Bucht. Die Arche war nicht mehr darin. Und die auf den Inseln hatten sie nicht durchschlüpfen sehen.
Der Alte fasste diesen Zwischenfall ganz gelassen auf.
»Recht so! Jetzt haben wir sie hier drin im Tale. Nun gibt es wenigstens einen ehrlichen Kampf Mann gegen Mann.«
»Ob die sich jetzt nicht dorthin begeben, wo sie mit ihren Genossen in jenem anderen Tale in Verbindung kommen?«, meinte Graf Felsmark.
»Möglich, sehr wahrscheinlich sogar. Und da werden wir ja bald erfahren, wo dieser Durchgangstunnel ist, aber die ganze Arche kann doch jedenfalls nicht dort durch.«
Natürlich hatten sich schon sehr viele Motorboote und auch einige Archen zur Verfolgung aufgemacht, nur würde in dieser finsteren Nacht nicht viel zu machen sein, besonders da man annehmen musste, dass sich auf der geflohenen Arche Leute befanden, die hier durchaus Bescheid wussten, die sich auch in der Stockfinsternis zurechtfanden.
Weshalb waren sie eigentlich ausgebrochen? Waren sie gewarnt worden? Hatten sie gewusst, dass ihre Ausräucherung unvermeidlich gewesen wäre?
Nein, sie hatten überhaupt in dieser Nacht aufbrechen wollen, und dass es gerade in dem Augenblick geschah, als unsere erste Kugel einschlug, war einfach der reine Zufall.
»Ich vermute«, sagte der Alte, »dass sie ihre Bundesgenossen jenseits der Felswände mit Waffen, mit Gewehren und Munition versehen wollen. Denn daran hat es bei ihnen gehapert, sie brachten nur ein paar erbärmliche Flinten mit. Also werden wohl auch die anderen keine haben. Das wenigstens habe ich aus dem Halunken, dem Lukas, herausbringen können. Schlimm, dass es geschehen ist, aber das lässt sich nun nicht mehr ändern. Alle Schuld trifft natürlich nur mich. Wäre ein anderer dran schuld — ei, hätte ich dann geflucht! Der hätte ja von mir etwas zu hören bekommen! Aber mich selbst zu ohrfeigen, das fällt mir ja gar nicht ein.«
So sprach der Alte. Er war immer derselbe.
»Nun«, setzte er hinzu, »sehen wir doch erst einmal nach, ob überhaupt sämtliche den Tunnel verlassen haben.«
Der Blendstrahl wurde wieder nach dem Tunneleingang gerichtet, und da zeigte es sich, dass nur ein Teil der Bukanier geflohen sein konnte.
Denn schon war die Wasserfläche des Tunnels wieder durch eine oder mehrere Archen verbarrikadiert worden, die man aber jetzt wieder quergelegt hatte. Die Bukanier befanden sich noch bei der Arbeit, denn die Fahrzeuge bewegten sich noch, auch noch mehr Kisten und Säcke wurden aufgetürmt.
»Haaah, also doch nicht alle! Wartet, nun sollt ihr doch noch etwas zu riechen bekommen!«
Aber heute Nacht wurde das Ausräucherungswerk nicht wieder vorgenommen, der Alte hatte seinen Plan geändert, es sollte bis zum hellen Tage verschoben werden.
Viel mochte dazu mit beitragen, dass der Scheinwerfer auf dem Transport von der Kanoneninsel nach hier gelitten haben musste. Wohl funktionierte der Blendstrahl noch, aber an dem Vergaser war etwas nicht in Ordnung, ein Rad, das sonst von einer Feder mechanisch bewegt wurde, musste immer mit der Hand gedreht werden, und der Strahl schien auch immer schwächer zu werden.
Nun, er konnte ganz versagen. Jetzt sollten uns diese Burschen nicht wieder durchbrechen, dafür wollten diese Jäger wohl sorgen.
Ich wartete bis Mitternacht, und als da noch keine Meldung und kein ausgemachtes Signal gekommen war, dass man die geflohene Arche schon aufgespürt hätte, legte ich mich in einer Hängematte schlafen.
»Ich begreife nicht, wie Sie jetzt ans Schlafen denken können!«, meinte Graf Felsmark.
»Wenn Sie es nicht können, so wollen wir morgen früh sehen, wer von uns beiden frischer ist!«, entgegnete ich und war sanft entschlummert.
Als der neue Tag gegen fünf zu grauen begann, erwachte ich von selbst, gerade als mich Littlelu wecken wollte.
»Hochverehrtes Publikum, sperren Sie die Nase auf, gleich wird die Stänkerei beginnen!«, begrüßte er mich.
»Ist die Arche aufgespürt worden?«
»Nein. Sie ist spurlos verschwunden.«
»Ach, wie kann die denn in diesem Tale spurlos verschwinden?«
»Wenn sie sich aber mit Gas füllt und als Luftschiff gen Himmel segelt?«
»Ach, machen Sie keine Geschichten!«
»Dies ist auch nicht beobachtet worden, ich erwäge wie immer nur jede Möglichkeit. — Nein, die Sache ist einfach die, dass man sie eben noch nicht gefunden hat. Das lässt sich sehr leicht erklären, wenn man annimmt, dass sie in eine der gesperrten Buchten gefahren ist.«
»Sind die nicht untersucht worden?«
»Nein. Der Alte hat hierzu nicht die Erlaubnis gegeben. Er nimmt die Sache überhaupt verdammt kaltblütig, der hat noch ganz anders geschnarcht als wie Sie.«
»Haben die Bukanier in dem Tunnel etwas von sich hören lassen?«
»Kein einziges Tönchen.«
»Und jetzt wird ausgeräuchert?«
»Gleich wird die Vorstellung beginnen.«
Da krachten schon Schüsse. Gewehrschüsse, die in dem Tunnel auf unsere Arche abgefeuert wurden.
Die doch nur dünnen Planken mochten die Kugeln durchschlagen, den Lederpacken konnten sie nichts anhaben, und wir hüteten uns, unseren Leibern eine Blöße zu geben.
Jetzt donnerte aber auch wieder unser Böller.
»War das erst wieder ein Probeschuss mit einer Zementkugel?«, fragte ich.
Ich brauchte keine Antwort, oder sie wurde von dort gegeben.
Da kamen sie schon Hals über Kopf über die Barrikaden geklettert, wollten sich wahrscheinlich erst auf den engen Fußsteigen aufhalten, so weit diese außerhalb der Verrammelung noch vorhanden waren, zogen es aber schnell vor, weiter zu eilen, sprangen in die Boote, die dort lagen, sprangen direkt ins Wasser, begannen weiter zu schwimmen, wie sich auch die Boote schleunigst entfernten.
Unsere Lassowerfer hatten leichte Arbeit. Sehr weit durften wir uns mit der Arche ja nicht dem Tunneleingange nähern, sonst wären wir ja in dieselbe Lage gekommen, und schon begann auch hier im Freien der Gestank schier unerträglich zu werden. Aus demselben Grunde aber suchten auch die Bukanier sich so weit wie möglich zu entfernen.
Sie wurden mit Lassos eingefangen, mit den Händen aus dem Wasser gefischt und aus den Booten geholt.
»Alle anderen, die auf die Galerie klettern, sind vogelfrei!«, kommandierte der Alte. »Feuer!«
Keinem einzigen gelang es, sich in ein Felsenversteck zu flüchten, er wurde vorher von einer Kugel erreicht. Nur einige verbargen sich in oder hinter Booten und Archen, sie wurden im Laufe des Tages aufgefischt oder erschossen.
Ich fasse das Resultat gleich kurz zusammen, das sich am Nachmittag ergab, als ich aber schon nicht mehr an dieser Stelle war.
Von den 84 Bukaniern — die es nach Abzug jenes Lukas noch immer gewesen — hatten nur 15 den Tunnel mit der Arche verlassen, um richtig ihren Genossen in jenem unbekannten Jenseits Gewehre und Munition zu bringen. Leider war unter diesen auch der rote John.
10 hatten wir lebendig gefangen, 14 waren von unseren Kugeln getötet. Verwundete gab es gar nicht, dazu schossen diese Jäger zu gut, wenn das Wild auch nicht gerade immer im Feuer zusammengebrochen sein mochte.
So fehlten also genau noch drei Dutzend Mann. Diese fanden sich dann auf der anderen Seite in der Mausefalle vor, in die sie prompt gegangen waren. Erst später konnte ich deren geniale Konstruktion und Aufstellung bewundern.
Erstickt war also kein einziger. Das ist eben die treffliche Eigenschaft dieses Räuchermittels. Kakodyl stinkt nur so entsetzlich, aber es versetzt nicht so den Atem, wie es etwa Ammoniak tut, in wässriger Lösung Salmiakgeist genannt.
Was freilich aus dem Menschen wird, den man in einen mit Kakodyldüften erfüllten Raum einsperrt, das allerdings kann ich nicht sagen. Der dürfte wohl auch zuletzt seinen Tod finden.
Dann besitzt Kakodyl als Räuchermittel noch eine andere ausgezeichnete Eigenschaft.
Die Frage dürfte wohl überhaupt nahe liegen, ob wir diesen Tunnel dadurch nicht für uns selbst unbewohnbar, unbenutzbar machten, oder doch wie lange es dauerte, ehe wir ihn wieder betreten konnten, und ob alles das, was sich darin befunden hatte, durch den Geruch nicht für immer verdorben war.
Nein. Das ist eben das Vortreffliche bei dieser Höllensubstanz; dass die Flüssigkeit schnell bis zum letzten Tropfen verdunstet, dass der Geruch sich durch einen kräftigen Luftstrom bis zur letzten Spur wieder entfernen lässt und dass er dann keinem anderen Gegenstande mehr anhaftet, selbst solchen für Dünste so empfindlichen Sachen wie Samt, Pelzen und dergleichen. Auch an Butter, Milch und ähnlichen Nahrungsmitteln, die so leicht fremde Gerüche annehmen, ist dann nichts mehr zu schmecken. Nur die erste Intensivität ist es, die Kakodyl so schrecklich macht.
Vorläufig war das Auffischen und Totschießen noch in vollem Gange.
Als die ersten fünf nassen Männer mit gebundenen Händen in der Kajüte standen, hielt es Don Christoffero zunächst für genug, zog seinen Revolver und setzte die Mündung dem ersten besten vor die Stirn.
»Aus der Schusslinie dort hinten! Die Knallerbse könnte durch beide Schädelwände gehen. — Nun, mein Herzensjunge, wo befindet sich denn der andere Gang, durch den Ihr in dieses Tal kommen könnt. Sage nicht etwa, dass Du's nicht weißt. Ich zähle bis drei, Hast Du bis dahin nicht mindestens erklärt, auf alle meine Fragen freundliche Auskunft zu geben, so ist diese drei das letzte Wort gewesen, das Du in Deinem Leben gehört hast. Also eins — zwei —«
Ich hörte es schon knallen, sah den Mann mit durchlöchertem Schädel schon zusammenbrechen. Das alte Männchen zählte nach seiner längeren Einleitung auch so verteufelt schnell!
Aber wenn er doch nicht den ersten besten hergenommen, sondern sich seine Leute erst etwas angesehen hatte, so hatte er sich auch nicht geirrt.
»Ich will alles gestehen!«, schrie der Kerl, hatte sich freilich aber auch beeilen müssen, es war schon so ein kleines »drrr« geschnarrt gekommen, und dann hätte der Revolver ganz sicher gekracht, und das wusste dieser Mann eben auch.
»Nun?«
»In der Bucht.«
»In der Bucht befindet sich der geheime Gang? In welcher denn?«
»Sie liegt auf der östlichen Seite.«
»Da gibt es immer noch einige hundert Vertiefungen, die man als Buchten bezeichnen kann. Willst Du sie mir nicht etwas näher —«
»Elender Feigling blutiger Schuft!«, ließ sich da zunächst einer der zuhörenden Bukanier zähneknirschend vernehmen, machte auch eine Bewegung, als wollte er das Bein heben, um dem Verräter einen Tritt zu versetzen, stand aber dazu zu weit ab, und er wurde an einem Lasso gehalten.
»Maul gehalten da, oder ich lasse die Galerie räumen!«, sagte der Alte ganz freundlich, aber es lag doch ein ganz unheilvoller Klang in seiner Stimme. »Du wolltest doch nicht etwa gar treten? Na, Freundchen, dann hättest Du überhaupt nur noch ein Bein, auf dem Du fernerhin stehen könntest. Warte nur, Du kommst auch noch ins Examen, und wenn Deine Zunge nicht geläufig ist, dann sperre ich Dich in so eine Parfümflasche. Du weißt schon, in was für eine.«
Ja, der Mann verstand, was gemeint war, und diese Drohung, nochmals solchen Höllenstoff riechen zu müssen, musste wohl die fürchterlichste sein, der war er nicht gewachsen — sein braunes Gesicht wurde plötzlich ganz blass.
»Na also? Weißt Du nicht, wie wir hier jene Bucht nennen?«
»Nein, das weiß ich nicht —«
»Kannst Du sie nicht sonst etwas näher beschreiben? Ist sie sehr groß? Oder sehr klein. Wie sehen dort die Felsen aus?«
»Es ist eine sehr, sehr große Bucht. Wenn man durch den Tunnel blickt, so sieht man zuerst ein mächtiges Tier, wie so eins gar nicht —«
»Was?!«, unterbrach da der Alte den Sprecher schnell. »Das kann doch nur — hinaus mit den anderen! Mit den anderen Burschen, meine ich. Bitte, meine Herren, wollen Sie uns beide einmal allein lassen. Nur Sie können bleiben, Frau Gräfin, möchten bleiben, ich bitte Sie darum.«
Wir gingen. Die anderen vier Gefangenen wurden hinausgestoßen, denn sanft gingen die sie führenden Jäger mit den Mördern ihrer Kameraden natürlich nicht um. Mit den »Herren« konnten nur Emil, Littlelu und ich gemeint sein.
Es handelte sich also ohne Zweifel um die gesperrte Bucht Nummer 7. Aber immerhin, wenn der Alte das auch nicht geahnt haben mochte — er hätte das Verhör doch von vornherein unter vier Augen anstellen können.
Und ob er wohl auch den Grafen Felsmark hinausgesteckt hätte, wenn der anwesend gewesen wäre? Ich bezweifle es doch, dass der sich solch eine Bevorzugung seiner Frau hätte gefallen lassen.
Nach wenigen Minuten machte sich der Ewige wieder bemerkbar. Er stand auf dem Dache der Arche, seine Pfiffe versammelten alles, was sich in der Nähe befand, um ihn, teils auf den Inselchen, teils kamen sie in Booten heran.
Nur diejenigen Jäger, welche dazu beordert worden waren, die Schwimmenden aufzufischen und den anderen den Garaus zu machen, gingen nach wie vor dieser Beschäftigung nach.
»Leute! Ihr meine Jäger! Und alle Ihr anderen, die Ihr mir treu geblieben seid, die Ihr den Kampf mit den blutigen Bukaniern aufnehmen wollt, um Eure ermordeten Kameraden zu rächen!
Es sind gegen 200 Desperados, die sich in unser Tal geschlichen haben.
Sie haben sich jetzt, da sie nun mit unseren eigenen Gewehren bewaffnet sind und genug Patronen haben, bereit in der Hornbucht (Nummer 7) verbreitet, wollen von dort aus sich des ganzen Tales bemächtigen.
So, wie sie es ursprünglich geplant hatten, wäre es ihnen auch gelungen, über kurz oder lang, wenn wir sie nämlich nicht aus dem Verbindungstunnel hinauszuräuchern gewusst hätten.
Hätten sie diesen behaupten können, so hätten wir uns in kolossalem Nachteile befunden. Es wäre zu einem Schleichkriege von Deckung zu Deckung, Mann gegen Mann gekommen, wir hätten zuletzt doch einmal unsere letzte Patrone verschießen müssen, hätten auch über die Felswände aus der Stadt keine heraufholen können, weil es bei den Desperados ausgemachte Sache gewesen war, dass sie sich zuerst der beiden Aufzüge bemächtigen wollten. Eben aus diesem Grunde.
Es ist anders gekommen.
Uns werden die Patronen niemals ausgehen, aber Herren der Situation sind wir deshalb durchaus noch nicht.
Die Lage ist trotz alledem äußerst ernst.
Es ist eine arbeitslose Bande von Lumpers, diesen zugesellt hat sich eine Menge von Tramps, von Vagabunden, von Wegelagerern und Straßenräubern, von bestraften und unbestraften Verbrechern, deren es ja in diesem gesegneten Lande eine Unmasse gibt.
Sind alle diese Leute nun auch keine professionellen Jäger wie Ihr, so sind sie doch in Wald und Busch zu Hause, ihre vorzügliche Schießkunst haben sie schon bewiesen, und außerdem sind sie durch ewigen Kampf mit dem Gesetz, immer verfolgt, mit allen Hunden gehetzt, kennen alle Schliche und Lücken, die vielleicht Euch unbekannt sind.
Wohlan, meine Freunde, wir nehmen den Kampf mit ihnen auf!
Es sind Desperados, wie ich sie schon genannt habe.
Was Desperados sind, das wisst Ihr doch.
Und es sind Bukanier!
So bringt zuerst Eure Weiber und Kinder in Sicherheit. Sie mögen einstweilen in der Stadt wohnen, bis wir unser Tal von diesen menschlichen Ungeheuern wieder gesäubert haben.
Sonst mache ich Euch keine Vorschriften.
Kämpfe jeder auf eigene Faust oder tut Euch in kleinen Trupps zusammen, oder kämpft in geschlossener Reihe — ganz wie Ihr wollt.
Nur macht diese Ungeheuer so schnell wie möglich unschädlich, bis auf den letzten Mann.
Jetzt also halten sie zunächst die Hornbucht besetzt. Diese ist natürlich wie alle anderen bisher gesperrten Reviere für Euch nun freigegeben.
Wie sie in diese Hornbucht hineingekommen sind, weiß ich selbst noch nicht. Das heißt, ich kenne den Schleichweg nicht, den sie benutzt haben, so genau er mir auch geschildert wurde.
Ich habe wieder einmal eine Lehre bekommen, dass ich in den 70 Jahren dieses mein Tal doch noch nicht so genau kennen gelernt habe.
Das andere Tal, in dem die Desperados bisher ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, aus dem noch jetzt ihre Scharen kommen, soll sich ungefähr 800 Meter jenseits der Felswand befinden. So lang ist der Tunnel, durch den sie kriechen, einer hinter dem anderen, gebückt, oft auf dem Bauche rutschend.
Der Hornbucht und dieses Tunnels müssen wir uns also zuerst bemächtigen, um einen weiteren Zuzug zu stoppen, um den Bukaniern den Rückweg abzuschneiden. Um den Hafentunnel braucht Ihr Euch nicht weiter zu kümmern, zu dessen Verteidigung habe ich bereits Leute bestimmt, sie bekommen Unterstützung von Freiwilligen aus der Stadt.
Mit einem Gesamtangriff auf die Hornbucht wird aber wohl nicht viel zu machen sein.
Es muss ein Schleichkrieg von Deckung zu Deckung geführt werden.
Also kämpfe jeder für sich oder tut Euch nur in kleinen Trupps zusammen, wie Ihr Euch in Freundschaft oder Blutschwur zusammenfindet.
Und nun auf zum Kampf: huipiiihhh!!«
Mit diesem seinem Jagdschrei schwang der Alte seine Büchse um den Kopf und sprang von der beträchtlich hohen Arche herab aufs Land und verschwand zwischen den Büschen.
Andere alle möglichen und unmöglichen Jagdrufe antworteten, jeder Jäger hatte seine eigenen, sie alle schrillten und gellten entsetzlich, aber so schön und schrecklich wie der des Alten doch nicht — und die Männer fuhren in Booten davon oder schlugen sich an Land seitwärts in die Büsche, immer einsamer ward es um uns her, auch die fünf Gefangenen waren in Begleitung sämtlicher Jäger, die sich auf dieser Arche befunden, schon auf eine andere gebracht worden, die eben nur dazu bestimmt war, die anderen ausgeräucherten Bukanier aufzunehmen — nur der Kanonenmeister Mac O'Neil befand sich noch bei uns, worunter ich Emil, Littlelu und mich verstehe; dafür aber zeigte sich, dass jetzt auch Atalanta verschwunden war.
»Wo ist meine Frau?«, war des Grafen erste Frage.
»Ich glaube, die ist dem Ewigen gefolgt!«, entgegnete Mac O'Neil.
»Und wo ist der hin?
»Der geht seine eigenen Wege.«
»Was heißt das?«
»Nun, er wird sich wohl nach der Hornbucht begeben haben, um so viele wie möglich Bukanier wegzuknallen.«
»Und was sollen wir nun machen?«, fragte Graf Felsmark weiter.
»Na, ebenfalls möglichst viele Bukanier wegknallen!«, lachte der Kanonenmeister, kein junger Mann mehr, aber ein fröhlicher Bursche.
Es war ein echter Jäger, der den Wachtdienst auf der Kanoneninsel versah oder vielmehr als Erster dort alles unter sich hatte, musste aber wohl früher einmal etwas ganz anderes gewesen sein, er machte einen recht gebildeten Eindruck,
»Können wir hier mit dieser Arche nach der Hornbucht fahren?«, fragte jetzt Emil.
»Na selbstverständlich, es ist doch überhaupt Eure Arche.«
Es war nämlich eine Vermessungsarche, die der Ewige als Kanonenboot mit Leder gepanzert hatte, weil sie wegen ihrer besonderen Bauart, mit der man früher, als solche Archen zahlreich eingeführt werden sollten, viel experimentiert hatte, sich nach den Kanonenschüssen am schnellsten wieder ausbalanciert — es war sogar die Generalstabsarche, wie Emil sie nannte, weil er hier seine eigenen Zeichnungen und Berechnungen aufbewahrte, hier selbst arbeitete, weil auf diesem Schiffe überhaupt alle Fäden des großen Vermessungsapparates zusammenliefen.
Als diese Arche gestern Nachmittag als Kriegsschiff eingerichtet und mit auserlesenen Jägern besetzt worden war, hatten sie freilich alle Ingenieure und Hilfsarbeiter auf Befehl des Alten verlassen müssen. Nur Emil hatte bleiben dürfen oder vielleicht auch müssen. Er wusste mit dieser Arche wohl am besten Bescheid, er hatte sie unter dem Kommando des Alten auch gesteuert.
Jetzt hatte sich auch schon das ganze Korps der anderen Ingenieure und ihrer Gehilfen unsichtbar gemacht. Die Sache war eben die, dass alle die, die sich an dem Kampfe beteiligen wollten und durch Befehl des Alten hier nicht festgehalten wurden, jetzt der Hornbucht zuwanderten.
»Diese Arche wird nicht mehr als Kanonenboot gebraucht?«, vergewisserte sich Emil nochmals.
»Mir hat der Ewige keine Instruktionen gegeben!«, erwiderte Mac O'Neil, »Es ist Ihre Arche, Sie können mit ihr hinfahren, wohin Sie wollen. Die Ausräucherung, wozu die Arche bestimmt war, hat sich nun doch erledigt. Nur müssen Sie die beiden Kanonen wieder herabschaffen, müssen dazu selbst mit Hand anlegen, weil wir jetzt schwerlich Arbeiter dazu bekommen werden.«
»Weshalb müssen die Kanonen wieder herab?«
»Wenn Sie mich nicht mitnehmen wollen, meine ich!«, lachte der Kanonenmeister. »Wo meine beiden Brüller sind, da bin ich auch, wir gehören zusammen.«
»Müssen Sie die Böller nicht wieder nach der Kanoneninsel bringen?«
»Davon hat mir der Ewige nichts gesagt. Wenn er's vergessen hat, kann ich dafür? Aber der vergisst schon nichts. Es kämpfe jeder auf seine eigene Faust, hat er zu den Umstehenden gesagt, zu diesen zählte auch ich, also gilt das auch für mich. Sollte ich eine Ausnahme machen, so hätte er's mir sagen müssen. Hier muss alles buchstäblich genommen und befolgt werden, dann wird man beim Ewigen niemals ins Fettnäpfchen treten, ich kenne den Alten doch, und wenn dabei auch etwas noch so Verrücktes herauskommt. Aber hierbei ist ja gar nichts Verrücktes.«
»Wenn aber nun auf der Kanoneninsel ein Signal zu geben ist, durch des Ewigen Pfiffe beordert?«
»Dort sind noch drei andere Böller, noch andere Leute. Das geht mich ja überhaupt gar nichts an. Ich bin mit meinen Sachen nicht zurück beordert worden. Soll es sein, so mag er's noch tun.«
»Und der Scheinwerfer? Da ist doch nur einer vorhanden.«
»Wie ich sage: Das geht mich ja alles gar nichts an. Ich beteilige mich jetzt am Kampfe gegen die Bukanier, denn ich gehörte mit zu denen, die der Ewige dazu aufgefordert hat. Nur die mir anvertrauten Sachen darf ich nicht im Stiche lassen. Nur wenn Sie mich von Ihrer Arche weisen, wozu Sie meiner Ansicht nach jetzt wieder das Recht haben, bringe ich die Kanonen und Scheinwerfer wieder nach der Signalinsel zurück, sonst bleibt alles hier und Sie können hinfahren, wohin Sie wollen.
»Na da adje«, ließ ich mich jetzt vernehmen und schulterte meine Büchse, »wünsche noch recht angenehme Unterhaltung.«
Graf Felsmark hielt mich am Rockzipfel zurück.
»Sie bleiben hier, Kapitän!«
»Wozu?«
»Wir kämpfen zusammen! Wir, die wir hier als Gäste gelten und von den Jägern oft genug über die Achsel angesehen werden. Nach dem Stückchen, das Sie gestern geleistet haben, gilt das freilich nicht mehr von Ihnen. Immerhin — wir wollen zusammenhalten, da ist es wohl am besten, wenn wir zunächst hier hinter einer sicheren und doch beweglichen Deckung bleiben. Wir bemannen das Kriegsschiff in diesen Gewässern. Sie bleiben hier, Kapitän!«
»Na schön«, sagte ich, »aber da wollen wir einmal losmachen, sonst schießen die uns dort schon alle Köpfe weg.«
»Jawohl, vorwärts!«, rief Emil und sprang in den Steuerraum.
Die Arche setzte sich in Bewegung.
»Halt!«, rief der Kanonenmeister. »Sie nehmen mich also mit?«
»Natürlich kommen Sie mit, ein Kriegsschiff muss doch Kanonen haben, und den Scheinwerfer können wir vielleicht auch recht gut gebrauchen.«
»Well, da bleibe ich. Aber da sehe ich Lookout kommen, der Anschluss zu suchen scheint. Den sollten Sie mitnehmen, der kennt die Kanäle und alle Schlupfwinkel, wie kein anderer, weiß sich in finsterer Nacht zurechtzufinden, lässt auch dann noch das schnellste Motorboot in voller Fahrt sausen, was nicht einmal der Ewige wagt.«
»Gut, den wollen wir noch mitnehmen, aber sonst keinen anderen Jäger mehr«, sagte der Graf, »wir wollen eine Elite für uns bilden.«
Mein Schwiegergroßvater brauchte mich nur zu sehen, so kam er schon von selbst, erst einmal, um ein Stück Tabak zu betteln, und wenn er dann nicht mehr fortgeprügelt als fortgewiesen wurde, so ging er auch nicht wieder.
»Und dort kommt die Tochter des großen Geistes«, sagte Littlelu, »die man auch Kapitän Hagens Gattin nennt. Die werde ich mitnehmen.«
Alles lachte. Es war noch ganz anders herausgekommen, als es sich schriftlich wiedergeben lässt.
Libelle hatte, wie es sich für eine verheiratete Frau gehört, auch wenn der Mann einmal abwesend ist, die Nacht zu Hause verbracht, also auf unserer Arche, die aber ganz anderswo lag, und hatte mich erst heute früh vermisst und gesucht, natürlich gleich wissend, wo ich zu finden sei, sonst aber hatte der ganze Spektakel nicht ihre Hausordnung stören können.
Also sie kam mit, übernahm gleich die Küche, zuerst für ein ausgiebiges Frühstück sorgend, und so konnte ich mir meine Frau auch einmal bei Tage besehen, denn sonst war sie ja, so lange die Sonne am Himmel stand, immer unterwegs. Dafür hieß sie eben Libelle.
»Und wo ist Ihr kleiner Alfred, Graf?«
»Auf unserer Arche, unter Satinjes Obhut.«
»Und wo liegt Ihre Arche?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie sind ja ein zärtlicher Vater!«, wurde gelacht.
»Ja, soll ich mein Kind immer in der Westentasche mit herumschleppen? Überhaupt wird meine Frau den Kriegspfad nicht eher betreten, als bis sie das Kind in Sicherheit weiß.«
»Hören Sie, Kanonenmeister«, ließ sich Littlelu wieder vernehmen, »falls ich doch noch einmal heirate — ist hier nicht vielleicht noch so eine Indianerin unbesetzt?«
»Wollen auch Sie sich am Kampfe beteiligen, Littlelu?«, wurde gelacht.
»Nein. Ich komme nur als Zuschauer, als Kriegsberichterstatter mit. Ich habe früher gekämpft genug. Jetzt ist mir dabei mein Bauch zu sehr im Wege. Ich komme nur der Kanonen wegen mit. Ich halt's mit den Kanonen.«
»Und mit den Stinktöpfen!«, erklang es lachend.
»Sie, Kanonenmeister«, sagte Emil, »sind die noch vorhandenen Stinkbomben auch genügend gesichert? Dass so eine nicht etwa einmal aus dem Leime geht, hier auf unserem Kriegsschiffe! Das wäre ja eine nette Geschichte!«
»Mir wär's ganz egal«, gab Littlelu die Antwort, »ich habe den chronischen Stockschnupfen.«
So ging die Unterhaltung weiter, während wir uns schon in voller Fahrt befanden. Die Witze flogen hin und her, oder doch Littlelu bombardierte ausgiebig damit. Und gerade weil es keine sein sollten, weil er sie mit finsterem Gesicht, verdrießlich und brummig hervorbrachte, wirkten sie aus dem Munde dieses ehemaligen Zirkusclowns so urkomisch.
Wir hatten das ganze Tal der Länge nach zu durchqueren, von der Hafenbucht bis zur Hornspitze waren es genau 30 Kilometer. Aber in der Luftlinie gemessen!
Ich hätte mit meiner Arche, die bis zu acht Knoten machte, dazu mindestens vier Stunden gebraucht, wäre also auch nicht viel schneller als ein schneller Fußgänger vorwärts gekommen, wegen der furchtbaren Zickzacklinien der Kanäle, obgleich ich als alter Seemann mich doch zu orientieren wusste, größere Umwege vermied, und blind endende Kanäle gab es gar nicht.
Unser Kriegsschiff brauchte genau die Hälfte dieser Zeit, also nur zwei Stunden. Einmal machte diese Generalstabsvermessungsarche bis zu zehn Knoten in der Stunde, und dann vor allen Dingen steuerte mein Schwiegergroßvater, und dieser alte Land- und Wasserzigeuner wusste denn doch noch besseren Bescheid, er fand Wege, die auch dem Kanonenmeister ganz unbekannt waren, obgleich der doch auch schon seit 30 Jahren hier herumgekrochen war, von Kindheit an — ja, wir fuhren Wasserwege, die ich nicht einmal sah!
»Zum Teufel, Lookout, bist Du denn wahnsinnig?!«, rief der Kanonenmeister einmal erschrocken.
Denn der alte Indianer ließ soeben unseren Bretterkasten mit voller Fahrt mitten in eine Insel hineinsausen! Es war das Gebiet der tausend Inseln. Von solchen einzelnen Inselchen war aber gar nichts zu sehen, es schien eine kompakte Landmasse zu sein, weil sowohl das feste Land wie die Wasserkanäle gleichförmig mit hohem Schilfe bestanden waren.
Und durch dieses Schilf ließ Lookout unseren Bretterkasten mit voller Fahrt sausen. Und nicht etwa, dass dieses ganze Gebiet etwa nur seichtes Wasser war, in dem Schilf stand! Nein, das waren wirklich zahllose Inselchen mit ganz festem Boden, sonst hätte sich doch auch nicht so viel Wild hier aufhalten können, Hirsche und andere mächtige Tiere, die überall vor uns flohen.
Dieser alte Zigeuner wusste die Durchgangskanäle eben auch unter der Schilfverdeckung zu finden. Wie das möglich war, das konnte sich auch Mac O'Neil nicht erklären.
Und die Hauptsache war, dass er die große Bretterkiste glücklich durchbrachte, und dann ging es schnurstracks wieder in die Bandinsel hinein.
»Lookout, Du musst doch mit dem Teufel im Bunde stehen, wenn Du ihn nicht selbst im Leibe hast!«, staunte der Kanonenmeister.
Ja, ich konnte stolz sein auf meinen Schwiegergroßvater. Wenn er nur nicht so furchtbar bettelig gewesen wäre. Er war eben als Indianer schon zu sehr zivilisiert. Dann fangen die sonst so stolzen Rothäute gewöhnlich zu betteln an, werden amerikanische Zigeuner.
Oder es war überhaupt ein Mischblut. Bei seiner Enkelin, meiner nun-mehrigen Frau, obgleich sie so ganz einer Vollblut-Indianerin glich, zeigte sich diese Vermischung, die in einer glücklichen Stunde stattgefunden haben musste, in einem ewig heiteren, fröhlichen, neckischen Charakter, wie ein solcher den Indianerinnen ganz fremd ist.
Nach Passieren der Menschenkopfinsel näherten wir uns der Hornbucht.
Ihren Umfang hatte der Ewige selbst in das Kärtchen eingezeichnet, denn sie war ja bisher gesperrtes Revier gewesen, auch für die Vermessungsingenieure, oben auf den vergletscherten Felsen gab es keine Stelle, wie mir Emil sagte, an der man sich dem Rande ohne Lebensgefahr so weit nähern durfte, um hinabblicken zu können.
Sah man von der Säge-Insel oder einer der noch näher vorgelagerten Inselchen hinein, so erblickte man auch wieder ein Gemisch von Land und Wasser, ersteres mit der Vegetation einer heißen, wenn auch nicht gerade tropischen Zone bedeckt, im Allgemeinen dicht bewaldet.
Freilich oder eben aus diesem Grund sah man ja nur diese äußere Grenze des Waldes, nicht was dahinter lag, zumal es hier keinen Wasserkanal gab, der auf eine größere Strecke geradeaus geführt hätte. Immer Bogen und Zickzacklinien.
Die Eingangsweite der Bucht betrug — siehe Kärtchen — vier und einhalb Kilometer. Also für ein Tal eine ganz gewaltige Bucht; eigentlich schon wieder ein selbstständiges Felsental zu nennen.
Der Felsenvorsprung, von dem sie im Süden begrenzt wurde, auch wieder wie so eine Nase aussehend, hieß »der Rammer«. Im Norden wurde sie von dem langgestreckten Horn eingeschlossen.
An der Spitze dieses Horns befand sich also, als Nummer 18 eingetragen, ein zweiter Aufzug, der bis zum Plateau hinaufging, ganz jenem ersten an der Hafenbucht entsprechend.
Aber dieser Aufzug befand sich noch auf der nördlichen oder doch nordwestlichen Seite des Horns. Also von dort aus war die Hornbucht schon nicht mehr zu erblicken. Dann wolle man bedenken, dass dieser himmelhohe Felsenrücken, der sich langgestreckt ins Tal reckte, selbst an seinem Ende noch immer 3—400 Meter dick war, wie es auch das Kärtchen angibt. Ein Millimeter bedeutet immer 300 Meter.
Ich muss diese Situation beschreiben und die Maße anführen, damit man nicht auf den Gedanken kommt, wir hätten von diesem Fahrstuhl aus, der mit seiner ganzen Einrichtung doch einer Bergfestung glich, gegen den Feind in der Hornbucht operieren können. Durchaus nicht. Da hätte erst ein Tunnel von mindestens 300 Meter Länge durch den äußerst harten Stein gebrochen werden müssen, um die Hornbucht zu erreichen, und dann wäre man doch immer erst dicht hinter der Eingangslinie gewesen, Das hatte doch also gar keinen Zweck. Jedes andere Inselchen konnte uns ebenso gut als Operationsbasis dienen, oder jede andere Felsenhöhle, will ich sagen.
Nachdem wir aus den Kanälen des Menschenkopfes herausgekommen waren, befanden wir uns noch immer drei Kilometer von der Hornbucht entfernt, von ihrer freien Begrenzungslinie, die auf dem Kärtchen mit Strichelchen markiert ist.
Friedlich wie immer in solcher Frühe lag die tauperlende Natur im goldenen Morgensonnenscheine da.
Nichts, gar nichts verriet, dass sich hier zwei Heereshaufen wilder, verwegener Männer zum Kampf auf Leben und Tod rüsteten, dass sich hier alles schon im Kriege befand.
Diese Ruhe war ja auch leicht zu erklären. Es war die Ruhe vor dem alles vernichtenden Gewittersturm.
Denn wie wir unter Lookouts Führung gefahren waren, mussten wir ja alle anderen Boote und Archen, auch wenn wir noch eine Viertelstunde gezögert hatten, überholt haben.
Vorher hatte man ja gar nicht gewusst, wohin sich die entflohene Bukanierarche gewendet hatte. Erst nach dem Geständnis des Gefangenen und als der Ewige es verkündet hatte, war alles in wilder Eile aufgebrochen, hierher nach der Hornbucht, und nach unserem Zögern waren wir noch »wilder« gewesen.
Auf dem Wege hierher hatten wir wohl ab und zu ein Boot oder eine Arche erblickt, dem gemeinsamen Ziele zustrebend, aber nur ganz vereinzelt in weiter Entfernung.
Graf Felsmark hatte einmal den Gedanken ausgesprochen, den auch ich schon gehabt. Ich aber hatte es nicht getan, weil es mir zwecklos erschien.
»Wenn Lookout den kürzesten Weg kennt, weshalb lassen sich die anderen Boote und Archen da nicht ins Schlepptau nehmen, folgen unserer Arche im Kielwasser? Warum fordert er sie nicht auf, ihm zu folgen?«
Mac O'Neil gab die Antwort.
»Diese selbstständigen Burschen lassen sich von keinem anderen Menschen ins Schlepptau nehmen, am wenigsten hier in ihrem Tale. Da will jeder seinen eigenen Weg gehen.«
Aha! Sehr hübsch, aber — solch eine Selbstständigkeit ist manchmal recht fatal, kann sehr verhängnisvoll werden. Dieses trotzige Selbstbewusstsein ist der Grund, weshalb die nordamerikanische Miliz, aus lauter verwegenen Abenteurern bestehend, sich an den Grenzen der Indianerterritorien oftmals solche Schlappen holt, trotz ihres ausgezeichneten Könnens und ihrer besseren Waffen. Diese Rothäute haben, obgleich sie im Kampfe ganz unorganisiert erscheinen, doch viel mehr Disziplin gegen ihren Häuptling im Leibe als jene weißen Jäger gegen ihre militärischen Vorgesetzten.
Da ertönte in weiter Ferne langgedehnt ein wilder Schrei, den ich schriftlich nicht wiedergeben kann.
»Der Jagdruf der weißen Wolke!«, sagte der Kanonenmeister sofort, und mein Schwiegergroßvater nickte.
Wieder solch ein Schrei, aber doch ein ganz anderer.
»Der Jagdschrei von Sommervogel, des Sohnes der weißen Wolke!«
Und verdrießlich setzte der Kanonenmeister noch hinzu. »Verflucht, sind es wieder diese Rothäute, welche die Schufte in der Hornbucht zuerst ausspioniert haben!«
Also da sieht man, es war in diesem Tale ein ewiges Rivalisieren, ein Wettkampf zwischen Rot und Weiß.
Und dann ein langgedehntes »kuikuikuikui«. Gerade als wenn man ein Schwein, das natürlich nach hinten will, an den Ohren nach vorn zieht.
»Das war Butschiro, der schwarze Satan! Der muss natürlich auch gleich die Spur gefunden haben!«
»Aber erst erklangen die Jagdrufe der Choktaws!«, grinste Lookout nach diesen verdrießlichen Worten des Kanonenmeisters vergnügt.
Es waren also in diesem Tale, nach dem Tode von Bill Siftly Doppelauge, genau 101 Jäger, wirklich berufsmäßige Jäger über 14 oder 15 Jahren. Und jeder hatte seinen eigenen Jagdruf. Und nicht nur das, sondern auch alle die Frauen und Kinder hatten ihre eigenen Rufe. Und diese Schreie spielten hier in diesem Tale genau dieselbe Rolle wie bei uns die Visitenkarten, die man zur Vorstellung abgibt, nur dass man diese akustischen Visitenkarten hier auf Entfernungen von Kilometern mit den Ohren lesen konnte, und da war bei diesen Leuten hier ein Irrtum ganz ausgeschlossen.
Ich muss sagen, dass mir diese Art von Vorstellung auf weite Entfernung hin ganz gewaltig imponierte. Das sollten wir auch bei uns einführen; wir würden es aber wohl nicht fertig bringen. Man muss nur bedenken, was es heißt, aus mehr als 300 verschiedenen gellenden Schreien sofort herauszuhören, wem er gehört, wer ihn ausgestoßen hat. Und so sehr verschieden waren sie gar nicht. Es waren Ähnlichkeiten vorhanden, wie bei den Namen Müller und Miller. Wer kann das bei der Vorstellung gleich unterscheiden? Aber diese Jäger irrten sich niemals.
»Verdammt, will sich denn noch kein weißer Jäger melden?!«, knurrte Mac O'Neil verdrießlich.
»Es ist ja noch gar nicht gesagt, dass sie die Bukanier auch aufgespürt haben«, meinte der Graf, »sie können ihren Jagdruf ja auch aus einem anderen Grund ausstoßen.«
Da fielen ein paar Schüsse.
»Da — da — da geht es schon los!«, jubelte der Kanonenmeister auf. »Denn an Wild zu schießen denkt jetzt niemand mehr, Ach, dass Bill Doppelauge noch lebte! Das wäre jetzt für diesen blutigen Raufbold etwas! Dem sein Tallyhooo würde man jetzt gellen hören!«
Hierbei bemerke ich gleich, dass sich die Erregung unter der Bevölkerung des Tales wegen Erdbeeres Tod vollständig gelegt hatte. Man war schon zur Überzeugung gekommen, dass der Tiroler vielleicht — vielleicht! — unschuldig sein konnte, besonders jene Affäre mit dem Jaguar hatte alle auf andere Gedanken bringen müssen.
Nun aber ließen sich die Verwandten der jungen Indianerin erst recht ihre Skalplocke stehen. Es galt nun erst recht, ihren Tod aufzuklären und zu rächen.
Da wieder so ein Schrei, aber diesmal doch ein ganz anderer, viel, viel länger anhaltend, und es klang, als ob der Betreffende sich dabei immer vor den Mund schlüge, also so trommelartig,
»Was war denn das für ein Jagdruf?«, begann da auch der Kanonenmeister zu staunen.
Und was sollte das heißen, wenn der den Schrei nicht kannte und darüber staunte?!
Aber in den rotbraunen, markanten, verschmitzten und doch so starren Zügen meines Schwiegergroßvaters leuchtete es jetzt düster auf.
»Der Kriegsschrei der Choktaws!«
Den hatte also auch der Kanonenmeister in den 30 Jahren, seit er hier war, noch nicht in diesem Tale gehört!
Und da nochmals ein Schrei, immer näher kommend, furchtbar schrillend, wie mit einem Hundegebell schließend.
»Und was war das, Lookout?!«
Diesen Schrei aber konnte auch der alte Choktaw nicht erklären, auch er machte ein ganz bestürztes Gesicht ob seiner Unwissenheit.
»Aber ich weiß es«, sagte da der Graf, »das war der Kriegsruf der Mohawks, nur meine Frau kann ihn ausgestoßen haben.«
»Hören Sie, Herr Graf«, ließ sich jetzt Littlelu vernehmen, »da gratuliere ich Ihnen. Da muss ja Ihre Frau Gräfin geradezu eine Fiepe im Halse hab... — allmächtiger Gott, Jesus Christus und General Jackson!«
Und Littlelu hielt sich schnell beide Ohren zu und fiel um — fiel steif um, wie er dagestanden hatte, auf den Rücken, was dieser Zirkusclown eben fertig brachte — und wie er mit gewaltigem Plauz hingeschlagen war, reckte er seine dicken Bratwurstbeinchen gen Himmel und zappelte mit ihnen.
Er hatte auch wirklich einigen Grund, vor Schreck gleich umzufallen.
Noch ein Schrei war erklungen, und zwar in unserer allerdichtesten Nähe, ganz direkt vor Littlelus Ohren.
Libelle war es, die ihn ausgestoßen hatte. Meine Frau hatte also in der Küche hantiert, und durch diese verschiedenen Jagd- und Kriegsrufe, deren letzter aus einer weiblichen Kehle gekommen, hielt sie sich wohl verpflichtet, auch ihrerseits ihre akustische Visitenkarte abzugeben.
Also sie war in die Tür getreten, in der einen Hand einen rauchenden Kochtopf, in der anderen einen Quirl, und so schrillte sie los.
Und Himmeldonnerwetter ja, konnte die schrillen! Ich hatte es noch nie gehört.
Wie soll ich es beschreiben? Man setze eine Trillerpfeife auf eine Lokomotive und gebe Dampf. So ungefähr.
Und das nun direkt in Littlelus Ohr hinein.
Da war er natürlich gleich umgefallen.
Das war begreiflich.
Ja, befanden wir uns denn nur wirklich auf dem Wege zum Kampfe auf Leben und Tod?
Ach, dieses Gelächter, das in der Arche erscholl und nicht enden wollte!
Es hatte ja auch zu possierlich ausgesehen, wie das dicke Männchen so steif auf den Rücken geplauzt war und jetzt mit den Bratwurstbeinchen in der Luft zappelte!
Und das war noch nicht alles. Jetzt löste er den Verschluss seiner Ohren und winkte mit der Hand.
»Herr Kanonenmeister«, stöhnte er, »ich fragte Sie doch vorhin, ob Sie nicht noch so eine Indianerin für mich auf Lager hätten — ich bestelle wieder ab! Wenn die in der Nacht an meiner Seite träumt, sie befände sich auf dem Kriegspfade — und sie quiekt und brüllt und schrillt und fiept mir so ins Ohr — — und dann skalpiert sie mich womöglich aus Versehen noch gar — ich mache die Bestellung rückgängig!«
Ach, dieses Gelächter!
Neue Schüsse ließen es verstummen, machten uns wieder ernst und aufmerksam für unsere Umgebung.
Wir waren der Grenzlinie der Bucht bis fast auch hundert Meter nahe gekommen, ziemlich in der Mitte, fuhren gerade durch einen Kanal, zu beiden Seiten mit Bäumen bestanden, deren Zweige unsere Arche beschatteten.
Und da plötzlich plumpste es auf das Dach derselben herab, einmal und noch einmal.
Hallo! Der Feind attackierte uns, befand sich schon auf unserem Dache!
Wir hatten unentschuldbar leichtsinnig gehandelt. Auch der rote und weiße Jäger, die sich bei uns befanden, hatten die Kriegskunst, die Künste des Schleichkampfes schon wieder verlernt, wenn sie dieselben je besessen und geübt.
Es wäre ja freilich zu fragen gewesen, wie anders wir hätten vorgehen sollen, jedenfalls aber hatten wir uns von den Feinden überrumpeln lassen. Diese waren angeschlichen gekommen, und wir hatten Possen getrieben und gelacht. Das war unentschuldbar!
Nun, es sollte noch einmal gut gehen.
Gerade in dem Raume, in dem wir uns befanden, war die auf das Dach führende Wendeltreppe, die Luke wurde ausgeklappt, ein zerrissener Mokassin erschien, hier unten waren zwei Gewehre und einige Revolver bereit, um das Weitere zu begrüßen, was diesem Mokassin, aus dem einige Zehen sahen, noch folgen würde, zunächst war es eine lederbekleidete Wade —
»Die weiße Wolke!«, rief da Lookout.
Der zerrissene Mokassin und die lederbekleidete Wade hatte dem indianischen Zigeuner genügt, um sofort den Freund zu erkennen, ihn beim Namen zu nennen.
Eine sehr bemerkenswerte Tatsache, die deshalb auch konstatiert werden muss.
Und dass der rechte Mokassin klaffte, hatte dabei nicht etwa was zu sagen; für gewöhnlich trug der alte würdige Indianer ganze Schuhe, der Mokassin war ihm eben erst aufgeplatzt. Auch dies muss ich erwähnen, weil ich darüber dann noch etwas zu sagen habe, wenn es auch keine Bedeutung weiter für unsere Erzählung hat.
Also es war die weiße Wolke, die auf der Wendeltreppe herabgeschwebt kam. Nur in seinem hageren Gesicht von auffallend heller Farbe war sein hohes Alter zu lesen, die Gestalt strotzte noch von Kraft, und auf dem nackten Schädel glänzte die ölgetränkte Skalplocke im tiefsten Schwarz.
Er kam nicht allein, es war ja auch noch ein zweiter Plumps erfolgt.
Ihm folgte sein Sohn, Sommervogel, ein sechzehnjähriger Jüngling, einerseits ein Knabe noch, anderseits schon ein ganzer Mann. Eine prächtige Erscheinung. Ich wurde gleich an Unkas erinnert, an den Sohn von Coopers letztem Mohikaner.
Sein linker Arm hing schlaff herab, das lederne Jagdhemd war an der Schulter mit frischem Blut befleckt.
»Uff!«, hatte die weiße Wolke gesagt.
»Uff?«, wiederholte Lookout.
»Uff!«, wurde bestätigt.
»Uff?!«, wandte sich jetzt auch Libelle erschrocken an Sommervogel.
»Uff!«, gurgelte auch dieser melodiös.
Das nannten die nun eine Unterhaltung.
Aber warum nicht?
Ich dachte lebhaft an einen Scherz, an ein Rätsel, das wir uns als Kinder aufgaben.
»Moin.« — »Moin.« — »Moin.« — »Moin?« — »Moin.« — »Moin.« — »Moin.« (1)
(1) Das Wort ›Moin‹ (im Alltag meist als ›Moin Moin‹ verwendet) ist eine Kurzform für die niederländische und niederdeutsche Grußformel ›mooien dag‹ (›schönen Tag‹), hat also die Bedeutung von ›ich wünsche einen schönen Tag‹ (nicht nur Morgen).
Was ist das?
Das ist eine ganz vernünftige Unterhaltung, die bei uns jeden Tag vorkommen kann.
Ein Herr sieht zum Parterrefenster heraus. Unten geht der Barbier vorüber, der ihn rasieren will, wünscht einen guten Morgen, der Herr erwidert den Gruß und fügt hinzu, dass er erst morgen rasiert sein will. — »Morgen?«, vergewissert sich der Barbier noch einmal. »Morgen!«, bestätigt der Herr. Darauf wünschen sich die beiden noch einmal einen guten Morgen. So kommt das siebenfache »Moin« heraus, das man nur mit dem richtigen Tonfall aussprechen muss.
Ich habe schon einmal gesagt, dass die indianischen Dialekte Nordamerikas, die man erst jetzt, da die meisten schon ausgestorben sind, richtig zu studieren beginnt, wunderbar ausgebildete Sprachen sind, in Reichhaltigkeit und Feinheit fast dem Lateinischen, an Geschmeidigkeit fast dem Altgriechischen vergleichbar.
Der Sprachforscher steht vor einem Rätsel. Wie sind diese »Wilden« zu solchen Sprachen gekommen?
Es gibt nur eine Beantwortung dieser Frage: Die heute im Erlöschen begriffenen Indianer Nordamerikas sind die letzten Reste eines hochentwickelten Kulturvolks, das — wahrscheinlich mit Absicht — wieder in den Zustand der Barbarei zurückgesunken ist, oder in eine bedürfnislose Naturwüchsigkeit, wollen wir sagen.
Ganz dasselbe Streben, das sich auch schon bei uns hier und da bemerkbar macht. Nicht auf dem Lande, sondern gerade in den größten Städten. Ein Zeichen der Zeit. Eine Folge der Überkultur. Schon verschmähen viele Herrchen und Dämchen den Hut. Die Strümpfe werden immer durchbrochener, die Schuhe werden aus Lederstreifen geflochten. Sonntags und in den Ferien markiert man den Hinterwäldler, den Naturmenschen, kampiert in einer Hütte, in einem Zelt, kocht am freien Feuer ab, alles so primitiv wie möglich. Man geht am liebsten ganz nackt, springt in jedes Wasser und hängt sich am nächsten Baumstamm zum Trocknen auf.
Zurück zur Natur! Das ist heute das Losungswort. Das ist alles ganz schön und gut, aber — es ist ein bemerkenswertes Zeichen der Zeit!
Ganz seltsam ist es nun, dass die nordamerikanischen Indianer trotz ihrer reichen Sprachen so überaus wortkarg sind. Ja, sie brauchen überhaupt gar nicht zu sprechen. Da ist ein Geheimnis dabei, das man erst jetzt zu erforschen beginnt. Die Indianer besitzen auch noch eine Zeichensprache. Das hat man wohl schon immer gewusst, aber erst jetzt erkennt man, dass dies eine höchst entwickelte Universalzeichensprache ist, durch welche sich der kanadische Chippewai mit dem mexikanischen Apachen geläufig verständigen kann.
Das hat erst vor wenigen Jahren der Amerikaner George Sinnett, ein Spezialist in den Indianerdialekten, behauptet und bewiesen, seine Veröffentlichungen setzten die ganze gelehrte Sprachforscherwelt in Erstaunen, erst jetzt beginnt man diese Sache zu untersuchen. Und wenn wegen der angezweifelten Echtheit einer ägyptischen Mumie eine ganze Bibliothek von Büchern entstehen kann oder wenn ein internationaler Wettstreit entbrennt, wer am weitesten in nördliche oder südliche Eiswüsten vordringen kann, wo nichts weiter zu holen ist als erfrorene Gliedmaßen, wenn deswegen Millionen zur Verfügung gestellt werden, die besten Menschenkräfte, die größten Geister sich dafür opfern — nun, dann ist es auch begreiflich, dass wegen solch einer indianischen Universalzeichensprache, die man erst jetzt als solche erkennt, einige tausend Menschen in die größte Aufregung geraten können. Die Geschmäcker sind eben verschieden. Des einen Gedankenwelt dreht sich nur um Schweinsknochen und Sauerkraut, ein anderer schwärmt für tausendjährige Mumien oder für zerbrochene Scherben aus Babylon. Und wer so etwas für zwecklos findet, dessen geistiger Horizont ist eben beschränkt, der müsste erst einmal erklären, was überhaupt zweckdienlich ist, und dann vor allen Dingen vergisst er ganz, dass zum Beispiel die Streitfrage um so eine ägyptische Mumie viele Tausende von Menschen ernährt, ihnen Verdienst bringt, Setzern, Buchdruckern, Arbeitern in Papierfabriken, Buchhändlern und was sonst noch drum und dran hängt.
Nur allein der Müßiggänger ist auf dieser Erde unnütz. »Für jeden Menschen, der nichts tut«, sagt Thomas Carlyle, »muss irgendwo ein anderer Mensch hungern.«
Aber um Gottes willen fangt nicht an, irgend eine Beschäftigung auf ihren Nutzen oder ihre Zwecklosigkeit kritisieren zu wollen! Das Unrecht und die Blamage wird zuletzt stets auf Seiten des Kritikers sein.
Und nicht nur, dass die nordamerikanischen Indianer so wortreiche und grammatikalisch ausgebildete Sprachen haben, sondern sie besitzen auch ein Mittel, um den Wörterschatz noch zu verdoppeln und verdreifachen. Ein Mittel, das eigentlich so einfach ist, das aber bei unserer Sprachentwicklung gar nicht in Betracht gekommen ist. Indem sie nämlich ein und dasselbe Wort hoch oder tief aussprechen, rein oder schnalzend oder gurgelnd, gewinnt es immer eine andere Nebenbedeutung.
Bei den Choktaws heißt »Sesla« der Wald, tief ausgesprochen ist es ein hochstämmiger Wald, hoch ausgesprochen ein Buschwald. Gezischt ist er schwer zu passieren, und je mehr das Wort gezischt wird, desto undurchdringlicher ist er. Rau ausgesprochen: Es sind Feinde, Gefahren darin. Melodiös, keine Gefahr. Ganz hinten im Gaumen hervorgebracht: Der Wald ist sumpfig.
Mag dieses Beispiel an einem einzigen Worte genügen. Viel mehr weiß ich auch nicht. Jedenfalls ist es ganz wunderbar, wie die nordamerikanischen Indianer modulieren, obgleich sie es gar nicht nötig hätten, weil sie alles, was sie sagen wollen, auch durch Worte ausdrücken können. Aber sie ziehen eben die möglichste Kürze vor.
So war auch jetzt dieses fünfmalige »Uff« immer ganz verschieden erklungen, und diese Rothäute hatten eine vollkommene Unterhaltung gepflogen.
»Es hat keine Gefahr, wir sind noch nicht im Bereiche der Feinde!«, erklärte Mac O'Neil.
Das letztere freilich konnte er nur schließen, so weit war die Unterhaltung durch die »Uffs« denn doch nicht gegangen.
Die weiße Wolke hatte nur beruhigt — »keine Gefahr vorhanden« — und sein Sohn Sommervogel hatte durch ein melodiöses »Uff« die erschrockene Libelle über seine Verwundung beruhigt.
Er hatte eben von den Feinden eine Kugel in die Schulter bekommen. Das war doch so sonnenklar, dass man diese Indianer deswegen nicht erst fragen durfte, sie hätten wohl auch keine Antwort gegeben, und wenn sie sonst etwas zu sagen hatten, so würden sie schon von allein beginnen. Wir kannten diese Choktaws nun schon zur Genüge.
Natürlich hatte Lookout die Arche sofort gestoppt, und als die beiden Indianer sahen, dass wir anderen, jetzt vorsichtig geworden, mit schussbereiten Gewehren an den durch Lederpäcke verbarrikadierten Fenstern, die nur noch Schießscharten bildeten, standen, überließen sie uns diese Verteidigung und gingen zur eigenen Beschäftigung mit sich selbst über.
Der alte Indianer bewegte vorsichtig den blutigen Arm seines Sohnes.
»Uff!«, gurgelte dieser gemütlich, worauf der Vater sein erstes Vorhaben, jenem das lederne Jagdhemd auszuziehen, aufgab, dafür sein Jagdmesser zog das man aber von jetzt an wohl eher ein Skalpiermesser nennen durfte. Er schnitt das betreffende Stück Leder aus dem Hemd heraus und legte die Wunde bloß.
Schön sah es nicht aus, was man da erblickte. Doch konnte man überhaupt nichts deutlich erkennen.
Schon brachte Libelle aus der Küche ein Becken mit Wasser. Es dampfte etwas. Der alte Indianer griff, wie es ihm vorgehalten wurde, hinein.
»Uff!«, sagte er, und nochmals nachdrücklicher: »Uifff!!«
Libelle war belehrt worden, wollte das Becken wieder hinaustragen, aber der alte Indianer nahm es ihr ab, setzte es an den Boden, kauerte sich davor nieder, nahm aus dem Medizinbeutel einen kleinen Gegenstand, der unregelmäßig wie eine Wurzel aussah, und begann sich die Hände zu waschen. Es schäumte tüchtig.
Seifenwurzel! Eine natürliche Seife. Kommt in allen wärmeren Ländern vor, wenn sie auch von ganz verschiedenen Pflanzen stammt. Aber immer ist es die Wurzel, die den wirksamen Bestandteil enthält. In Ungarn ist es die Wurzel der heidekrautähnlichen Saponaria, mit der sich der Czikos — oder Tschikosch, wie es jetzt geschrieben werden muss — an den allerhöchsten Festtagen einmal die Hände und sogar das Gesicht wäscht, ja die Mädchen am Hochzeitstage sich sogar vom Scheitel bis zur Sohle, was dann aber auch niemals wieder vorkommt — mache also niemand in der Puszta ein Seifengeschäft auf, da kann man nicht reich werden — und in Afrika wird mit der Wurzel der Gypsophila als natürliche Seife ein schwunghafter Handel getrieben. So hat auch Amerika seine Seifenwurzel.
Das Wasser in dem Becken hatte sich in eine schwarze Tunke verwandelt. Jetzt wusste ich, warum dieser Indianer die weiße Wolke hieß. Seine erst ganz dunklen Hände waren jetzt noch heller als sein Gesicht.
Aber diese Reinigung war noch nicht genug. Libelle kam wieder aus der Küche, eine andere Schüssel mit Wasser bringend, das noch ganz anders dampfte.
Das erste Wasser vorhin war ihm noch nicht warm genug gewesen, daher sein »Uff«, aber für die erste Reinigung hatte es genügt. Jetzt wurde mit heißerem Wasser nachgespült, aber auch diese Seifenwurzel musste noch tüchtig schäumen.
Ich begann mich immer mehr zu interessieren. Ich entnahm meinem Taschenbesteck, das einige Instrumente barg, vor allen Dingen den nautischen Sextanten, ein kleines Thermometer.
»Arratani? Darf ich?«, fragte ich.
»Uff!«, wurde mir erlaubt, und ich steckte das Thermometer in das dampfende Wasser, in dem der mit den Händen herumrührte.
84 Grad Celsius! Meine Hochachtung! Mit solchem Wasser werden bei uns die Schweine gebrüht.
Und als er auch dieses Wasser wieder sehr dunkel, gefärbt hatte — fraß er die Seife. Er steckte sie in den Mund und begann zu kauen.
Libelle hatte die erste Schüssel hinausgenommen, brachte sie mit frischem, dampfendem Wasser wieder herein, und ich konstatierte, wie sauber das Waschbecken immer erst wieder gereinigt wurde.
Trotzdem spie jetzt der Alte den gekauten Wurzelbrei in dieses reine Wasser hinein, spuckte auch sonst noch mehrmals kräftig hinein, und meine Frau half mit spucken.
Mit diesem Gemisch von Wasser, Spucke und Seifenwurzelbrei begann der Vater jetzt dem Sohne die Wunde auszuwaschen, oder doch diese Stelle, sodass die Wunde erst richtig zum Vorschein kam.
»Uff!«, sagte er, nach eingehender Besichtigung zufrieden nickend.
»Uff!«, bestätigte meine Frau ebenso zufrieden gestellt mit dem, was sie da zu sehen bekam.
Unterdessen aber war sie schon wieder einmal draußen gewesen und hatte ein Pack weißer Oberhemden hereingebracht, mindestens ein halbes Dutzend.
Mein Freund Emil bekam mit einem Male recht große Augen.
»Das sind meine besten Oberhemden!«, flüsterte er mir zu. »Was wollen die denn damit?«
Nun, das würde er gleich sehen. Übrigens war es ja auch so einfach.
Hier auf der Generalstabsvermessungsarche hatte Emil seine Garderobe, seine Wäsche und seine sonstigen Habseligkeiten untergebracht, die barmherzige Schwester hatte nach Handtüchern gesucht, hatte solche in einer unverschlossenen Kommode gefunden. Eigentlich waren es ja Oberhemden. Aber was wusste die denn von Oberhemden. Dass es reines, weißes Linnen war, das war die Hauptsache. Die harten Platten dort oben, die gestärkte Brust, das wurde dann als unnütz und hinderlich einfach herausgeschnitten.
An dem einen Oberhemd trocknete sich die weiße Wolke die Hände ab, mit dem zweiten wusch und trocknete er die Wunde, unterdessen zerzupfte Libelle ein drittes Oberhemd schon zu Scharpie, zerlegte es in seine einzelnen Fädchen.
Nun wurden die Vorbereitungen zur eigentlichen Operation getroffen. Die Kugel steckte in der Schulter und musste heraus.
Der Alte griff wieder zum Skalpiermesser, entnahm seinem Medizinbeutel einen kleinen, flachen Stein, spuckte kräftig darauf und begann das Messer zu schleifen, nur vorn die Spitze. Als ich dann das Ding untersuchte, fand ich vorn die Schneide scharf wie ein ausgezeichnetes, vom Messerschmied frisch abgezogenes Rasiermesser, und später wurde ich belehrt, dass es nur zwei Fabriken gibt, welche den kanadischen und den anderen weißen und roten Jägern Amerikas ihre Messer liefern, eine bei New York und eine im englischen Sheffield — aber das sind keine Fabriken, sondern Manufakturen oder schon mehr Kunstwerkstätten, jedes Messer wird sozusagen individuell behandelt, immer und immer wieder ausgeglüht und gehämmert, alle möglichen Eisenarten werden zusammengeschweißt, weswegen dann auch so ein Messer, das unsereiner auf drei Mark schätzt, zehn Dollars und mehr kostet. Und dasselbe gilt von den Äxten der Lumpers, die ebenfalls in diesen beiden Fabriken gefertigt werden. Ich habe dort überhaupt Interessantes zu hören bekommen, wovon ich mir früher gar nichts träumen ließ. Was diese Leute für ihre Werkzeuge bezahlen und wie die Stahl von Stahl unterscheiden, was sie zur Prüfung erst für Experimente anstellen, und wie jene beiden Messerschmiedereien ihre Reisenden bis nach der Südspitze Patagoniens und bis nach dem höchsten Norden Sibiriens hinaufschicken.
Das Messer wurde erst sauber mit Seifenwasser abgewaschen und dann wieder recht kräftig vollgespuckt, ehe es in dem Schusskanal zu schneiden begann, nicht gerade sehr rücksichtsvoll, der Vater säbelte lustig darauf los, so schien es wenigstens mir, das Blut floss in Strömen, dabei wurde immer einmal draufgespuckt, auch noch einmal auf die Finger, ehe sie die Kugel einfach herausholten.
Der Speichel der warmblütigen vierfüßigen Tiere, zu denen ja auch wohl der Mensch gehört, ist nämlich das beste Antiseptikum. Das wissen alle Tiere, durch ihren Instinkt, deshalb lecken sie eine Wunde unaufhörlich bis zur völligen Heilung. Dasselbe befolgen alle Völker, die wir »wilde« nennen.
Nun leitet aber doch der Speichel auch eine Gärung ein. Er enthält Bakterien, die geradezu fäulnisbildend wirken. Wie reimt sich dieser Widerspruch zusammen? Ja, da gehen wieder einmal alle unsere medizinischen Kenntnisse in die Brüche. Ich weiß nur, dass wir uns als Kinder nach dem Baden nicht in die Sonne legen durften, weil wir sonst die Rückenmarksstarre bekamen, den Gehirnschwund, den Knochenfraß und — ich glaube auch die Trichinose.
Dann wurde dem Medizinbeutel ein weißes Pulver entnommen und auf die Wunde gestreut, und das Blut stand sofort. Unterdessen kauten der Alte und meine Frau schon eifrigst trockene Blätter, ebenfalls dem Medizinbeutel entnommen, die Wunde wurde noch mehrmals gewaschen und bespuckt, sie musste mit Absicht wieder bluten, die Blutung wurde wieder gestillt — bis dann der gekaute Brei draufgelegt und mit Scharpie und Bandagen ein kunstvoller Verband umgelegt wurde.
»Uff!«, sagte der Alte zufrieden.
Dass der rote Jüngling bei der ganzen Schlächterei mit keiner Wimper gezuckt hatte, brauche ich wohl nicht noch zu sagen.
Und vier Tage später merkte er nichts mehr davon, dass sich auf seinem Schulterknochen eine große Bleikugel plattgeschlagen hatte! Das Andenken daran war nur eine allerdings furchtbare Narbe, das war aber auch alles. Ich hätte an eine Heilung noch nicht in vierzehn Tagen geglaubt.
Ja, diese Indianer haben in der Wundbehandlung etwas los! Wenn wir nur von ihnen lernen wollten, solange es noch welche gibt.
Nachdem der rote Papa seinen Sohn geflickt hatte, flickte er seinen eigenen Mokassin. Amüsant war mir schon, dass er dazu Nadel und Zwirn dem gleichen Medizinbeutel entnahm. Und der Hauptbestandteil des Pulvers, mit dem er vorhin die Blutung seines Sohnes gestillt hatte, war Kolophonium gewesen, und den Faden für seinen verwundeten Schuh harzte er gleichfalls mit Kolophonium ein.
Also der Arzt verwandelte sich in einen Flickschuster.
Lieber Leser, verzeihe, wenn ich noch einmal etwas bringe, was gar nicht zur Sache gehört. Aber dies alles schreibe ich auch gar nicht für Dich, sondern für mich. Und ich glaube, so muss es auch sein, denn wenn man auf Bestellung etwas zur Unterhaltung des Publikums schreiben soll, dann kommt gewöhnlich etwas Nettes heraus. So wie die meisten Zeitungsromane, die nach zwei Seiten Mord- und Totschlagsberichten den Geist des Lesers durch sanftes Liebesgeflüster auf zwanzig Seiten Annoncen vorbereiten müssen. Dafür aber nennt sich ja auch die Zeitungspresse die fünfte Großmacht.
Also der Arzt verwandelte sich in einen Schuster.
Gerade wie ich dies als älterer Mann und Familienvater schreibe, kommt die monatliche Schusterrechnung, hauptsächlich für Vorschuhen und Besohlen von Kinderstiefeln.
Es ist doch zum Verzweifeln, was diese Kinder für Schuhe zerreißen und für Sohlen durchlatschen!
Können sich diese Kinder denn nur gar nicht ruhig hinsetzen und die Beine anziehen, um die Hacken zu schonen?
Die Schusterrechnung ist wieder einmal ganz beträchtlich und schmerzt meinen Geldbeutel tief.
Trotzdem ist diese Rechnung des Schusters diejenige, die ich am liebsten bezahle. Ja, ich freue mich sogar, wenn sie recht groß ist.
Denn wenn die Schusterrechnung einmal recht klein ist oder gar — was Gott verhüten möge — ganz ausbleibt, dann weiß ich ganz bestimmt, kommt immer bald die Rechnung des Arztes. Je kürzer die Rechnung des Schusters, desto länger immer die Rechnung des Arztes. Und der kann erst Rechnungen ausschreiben! Und dann diese Rezepte! Da schreibt er anstatt Wasser in lateinischen Buchstaben aqua destillata, und gewöhnliches Kochsalz, von dem ich eine Mäste voll habe, nennt er natrium chloratum. Natürlich kostet das dann auch in der Apotheke ein Heidengeld. Nein, da ist mir ehrliches Schusterpech lieber, das ist billiger.
Der Wetterstandszeiger für Glück und Unglück in meinem Hause besteht in einem Pendel, das zwischen Schuster und Arzt hin und her schlägt. Gott sei gelobt, es hat bisher immer bedeutend mehr nach der Seite des Schusters hingependelt —
Und ich bekam auch noch eine andere Flickerei zu sehen.
»Wolke, Du hast ja wieder Haare auf dem Kopfe bekommen?«, ließ sich Mac O'Neil in verwundertem Tone vernehmen.
Was wollte der? Der alte Indianer hatte sich zu seiner Schusterei niedergehockt, und ich brauchte nur auf seinen Schädel herabzusehen, da bemerkte ich es.
Nämlich die Nähte, die um die prachtvolle Skalplocke kreuz und quer herumliefen.
Die wurzelte nicht in der Kopfhaut.
Der alte Mann hatte überhaupt kein Härchen mehr auf dem Kopfe.
Wo sollte da die Skalplocke herkommen?
Da hatte er sich einfach eine auf die Glatze draufgenäht.
Kann allen denen zur Nachahmung empfohlen werden, die endlich einsehen, dass dort, wo nun einmal nichts wachsen will, kein Düngemittel hilft, und die sich auch nicht mit rutschenden Perücken befassen wollen. Man näht sich die Locken mit tüchtigem Schusterdraht einfach an.
Ein Faustschlag des Kanonenmeisters schmetterte den Australneger
zu Boden, und da war auch das schreckliche Lachen verstummt.
Es wurde Kriegsrat abgehalten. Jetzt, da die weiße Wolke Sohn und Schuh wieder in Ordnung hatte, konnte sie ganz geläufig berichten.
Die beiden hatten zu denjenigen gehört, die schon gestern Abend die fliehende Bukanierarche verfolgt hatten. Heute früh hatten sie vor der Hornbucht die ersten fremden Spuren gefunden, hatten mit den Bukaniern schon einen Kugelwechsel bestanden.
Sommervogel hatte dabei ein Stück Blei in die Schulter bekommen, dafür aber hatten zwei Bukanier ganz sicher ihr Leben lassen müssen.
»Die Leichen konnte ich nicht bekommen, uff!«, setzte der Alte bedauernd hinzu.
Ich wusste schon, was er so bedauerte.
Weshalb er die Leichen so gern gehabt hätte.
Nicht etwa, um ihnen ein christliches Begräbnis zu geben. Na meinetwegen. Mich ging es nichts an, wenn hier so ein alter Indianer, der noch vor 40 Jahren die heimatlichen Jagdgründe im fernen Arkansas gegen die Blassgesichter verteidigte, seinem wissbegierigen Sohne oder Enkel demonstrierte, wie es gemacht wird, nach Schiller:
Mit dem Messer scharf geschliffen,
Das vom Feindeskopf
Rasch mit drei geschickten Griffen
Schälte Haut und Schopf.
»Hast Du Atalanta gesehen?«
»Nein.«
»Butschiro?«
»Auch nicht. Nur ihre Jagdrufe und auch die von anderen hatte er gehört.
Nach seiner Ansicht bildeten die Bukanier an der gesperrten Grenzlinie eine lange Schützenlinie.
»Zu viele«, meinte er kopfschüttelnd, »woher so viele?!«
Er wusste noch nicht, was wir wussten. Dass es nicht nur diejenigen Bukanier waren, die mit der Arche durchgebrochen waren, sondern dass es sich um mindestens 200 Mann handelte, die von einer Seite her durch einen uns unbekannten Tunnel in die Hornbucht gedrungen waren.
Wir berichteten ihm, was der Ewige gesagt.
»Die Hornbucht nicht mehr totuba? Uff!«, erklang es freudig.
Dann natürlich sofort mit dieser Arche hineingefahren, um erst einmal in den Rücken dieser Schützenlinie zu kommen!
Dann aber musste Graf Felsmark auch seinen ehrgeizigen Plan aufgeben, dass wir fremden Gäste hier auf dieser Kriegsarche eine Elite bilden wollten. Das war ja durch Mac O'Neil, durch die Mitnahme Lookouts überhaupt schon gestört, nun waren auch noch die beiden Indianer gekommen, nun wollten wir die Arche auch lieber noch mit möglichst vielen weißen und roten Kunstschützen bemannen.
Denn zu einer Kunstschießerei mit Versteckspielen kam es hier doch. Wer am besten jede Deckung auszunutzen verstand und am weitesten und sichersten traf, der knallte eben die meisten Menschen weg, und das musste hier zuletzt den Sieg entscheiden.
Die Männer ließen ihre Jagdrufe ertönen und lockten diejenigen, die sie hörten, durch besondere Pfiffe zu sich heran. Aber ehe noch jemand kam oder nur antwortete, sollten wir Wenigen doch noch allein eine siegreiche Schlacht liefern.
Plötzlich tauchte in geringer Entfernung vor uns eine Arche auf, kam aus einem Kanal herausgefahren.
Ich will hierbei gleich gestehen, dass es sehr, sehr gut war, dass sich einige der Talmenschen bei uns befanden!
Es war die durchgebrannte Bukanierarche. Aber woher sollte man das wissen? Wir hatten sie ja nur wenige Sekunden im Scheinwerfer gesehen. Und sie kam auch gar nicht aus der Richtung der Hornbucht.
Kurz und gut, hätten uns jetzt die Bukanier mit dieser Arche eine Falle gestellt, Emil, Graf Felsmark und ich, wir wären darauf hineingefallen. Wir hätten uns durch irgend eine List, die gar nicht so geschickt zu sein brauchte, ins Freie locken und wie die Scheibenfiguren wegputzen lassen.
Von den anderen hatte nur Mac O'Neil die durchbrennende Arche für einige Sekunden im Lichte des Scheinwerfers gesehen, für den hatte das aber auch genügt.
»Die Bukanierarche!«, rief er und riss auch gleich das etwas zum Fenster hinaussehende, auf Rollen ruhende und mit einem Flaschenzug versehene Böllerrohr zurück.
Wir glaubten es ihm, zumal die Arche bei unserem Anblick sofort die Flucht ergriff.
Vielleicht wäre es ganz gut gewesen, wenn auch wir erst zu einer List gegriffen, nicht gleich unsere Kriegsalarmierung gezeigt hätten.
Aber die Sache war eben die, dass die Bukanier sofort das Geschützrohr erblickt hatten und nun auch gleich wussten, was für eine Arche sie vor sich hatten. Die hatten gestern Abend auf ihrer Flucht doch noch gehört und gesehen, wie wir unter bengalischer Beleuchtung mit Kanonen nach dem Tunneleingang geschossen hatten, wenn ihnen auch das Resultat noch nicht bekannt sein konnte. Und wenn sie ihre Arche auch genügend mit Mehlsäcken ausgepolstert hatten, die schützten wohl vor Flintenschüssen, aber bei Kanonenkugeln war das doch sehr unsicher.
Kanonenkugeln?
Jawohl, schon hatte Mac O'Neil eine schwarze Kegelkugel aus einem Kasten genommen.
»Vorwärts, Lookout, ihnen nach!«
Und schon waren wir unterwegs, jagten der fliehenden Arche nach, die sich in den Kanälen zu verkrümeln hoffte.
»Auch wieder so eine Zementkugel?«, fragte der Graf, als der Kanonenmeister die schwarze Kugel schnell mit Werg umwickelte, damit sie Reibung, also Führung bekam, und in das Rohr hineinpfropfte.
»Nee, das ist kein hohler Topf, das ist eine zwanzigpfündige Eisenvollkugel!«, lachte Mac O'Neil.
»Ja aber — aber — Pulver?«, brachte Emil mit recht dummem Gesicht hervor.
»Ach. Sie dachten wohl, das hätte ich vergessen?«, lachte der Kanonenmeister noch mehr. »Nein, so weit war mein Brüller schon geladen, nur die Kugel fehlte noch.«
Er hatte die wergumwickelte Kugel kräftig hineingestoßen.
»Sie erlauben doch gütigst —«
Und er nahm Littlelu, der sich vorhin, nachdem er sich von seiner Ohnmacht erholt, eine Zigarre angebrannt hatte, diese aus dem Munde.
»Sie, das ist eine echte Vorstenland mit Havannadeckblatt!«, sagte Littlelu noch, zog es dann aber doch vor, sich wie wir anderen schnell mit seinem Gewehr an eine Schießscharte zu stellen.
In der Arche hatte sich nur ein auf acht Schuss repetierendes Magazingewehr befunden, einem Ingenieur gehörend. Das hatte Sommervogel bekommen, der ja nur einen Arm gebrauchen, nicht gut wieder laden konnte. Wir anderen hatten Doppelbüchsen, wie hier für die Jagd allgemein üblich, aber beide Läufe gezogen, da Schrot ja nicht erlaubt war.
»Achtung, Maul aufsperren!!«
»Plauz«, ging es.
In dem engen, geschlossenen Raume krachte es scheußlich. Der zurückrollende Böller zog den Flaschenzug in die Länge.
Er musste mit einer Lunte abgebrannt werden. Als solche hatte Littlelus Vorstenland-Zigarre mit Havanna-Deckblatt dienen müssen.
Auch kein Visier war vorhanden. Aber das macht nichts, wenn der Schuss nur sitzt.
Und er saß. Die Kugel schmetterte in das Hinterteil ein, dass die Holzsplitter nur so flogen.
Zunerst glaubte ich, es sei etwas explodiert und die ganze Arche flöge in die Luft, weil sich sofort eine mächtige weiße Rauchwolke erhob. Aber das war gar kein Rauch, sondern das war Mehl, Weizenmehl bester Sorte, das sich da in der Luft verbreitete.
Sonst war ein Erfolg nicht zu merken. Die feindliche Arche fuhr mit unverminderter Schnelligkeit weiter.
Schon lud Mac O'Neil mit zauberhafter Schnelligkeit den zweiten Böller mit einer Kugel, er hatte dabei die Lunten-Zigarre einstweilen in den Mund genommen.
»Sie, Kanonenmeister«, rief Littlelu zurück, »schießen dürfen Sie mit meiner Zigarre, aber roochen dürfen Sie se nich. Koofen Se sich doch gefälligst selber welche.
»Achtung, Maul aufsperren!! Was kriege ich, wenn ich die zweite Kugel genau auf die erste setze?«
Aber er feuerte nicht ab. Es war nicht nötig. Jetzt sahen auch wir, wie schnell sich die Fahrt der fliehenden Arche verlangsamte.
Wie wir später konstatierten, hatte die Kanonenkugel den hinten an der Wand aufgestellten Mehlsack zwar nicht durchschlagen, ihn aber doch zum Platzen gebracht, dort hinten stand der Motor, das Mehl hatte sich darüber ausgeschüttet. Dazu nun das Schmieröl — solch eine Verkleisterung kann keine Maschinerie vertragen. Da stand die Karre still. Die Arche lief sich nur noch aus.
Die Bukanier hatten das natürlich eher bemerkt als wir. Und sie taten das Klügste, was sie tun konnten, nämlich dass sie nicht sehr lange warteten, um uns noch näher herankommen zu lassen, um dann mit uns Kugeln zu wechseln. Unsere Kanonen hätten in die Mehlsäcke bald Breschen und die ganze Arche in Trümmer gelegt.
Also mit einem Male sprangen sie links und rechts aus Türen und Fenstern, und der Kanal war so schmal, dass jeder mit einem Satze das Ufer erreichen konnte. Erst mochten sie doch vielleicht versucht haben, den Motor wieder in Betrieb zu setzen, dann hatte es noch einiger Minuten bedurft, um die Barrikadensäcke wegzuräumen.
Wie die Ratten so plötzlich das Schiff verließen, kam uns doch etwas überraschend. Wohl hatte jeder auf seinem Posten gestanden, aber nicht jeder von uns kam zum Schuss. Die weiße Wolke holte einen wie eine Ente mitten aus der Luft herab, seines Sohnes Repetiergewehr knallte zweimal, und zwei brachen am Ufer zusammen, nur der eine konnte sich noch fortschleppen, meine Kugel warf noch einen nieder, als nur noch einmal sein Kopf über den Büschen auftauchte. Die anderen hatten nicht losdrücken können, ganz abgesehen vom Kanonenmeister und dem steuernden Lookout.
Es mochten immer noch ein Dutzend Bukanier gewesen sein, die in den Wald mit dichtem Unterholz verschwunden waren.
Da krachte auch des Grafen Gewehr noch nachträglich, ein Todesschrei antwortete.
»Da — das war mein Pflichtteil!«
»Nun aber Vorsicht!«, warnte der Kanonenmeister. »Höchste Vorsicht! Die Burschen liegen natürlich auf der Lauer, und schießen können die! Jetzt sind wir auch hinter den Schießscharten nicht mehr sicher. Die zielen wie nach der Scheibe und wissen ins Zentrum zu treffen. Überlasst die Beobachtung lieber den beiden Rothäuten. Ich will Euch aber doch noch einmal Gelegenheit geben, dorthin zu schießen, wo es im Walde aufblitzt.«
Schnell nahm er einen Besen mit langem Stiel her, eine Jacke vom Nagel, sie über den Besen gehängt, einen Kochtopf darauf, um diesen einen Fetzen von bestem Oberhemd gewickelt, eine Mütze darauf gesetzt — diese Puppe schob er durch die Luke des Daches.
Sie hatte verdammt wenig Ähnlichkeit mit einem Menschen, aber es stimmte schon, die Feinde würden doch nicht erst lange prüfen.
Und richtig, kaum hatte sich der vermummte Topf so weit über das Dach erhoben, dass er vom Lande aus gesehen werden konnte, als auch schon eine ganze Salve krachte und der irdene Topf in tausend Scherben zersplitterte.
Nur Sommervogel drückte sein Gewehr ab, wir anderen hatten gar kein Ziel gehabt.
Littlelu hatte zu der offenen Luke emporgeblickt.
»Was schießen die denn nach dem Kochtopf? Ich habe neun Kugeln gezählt. Nur die eine ging anderthalb Millimeter dran vorbei. Und eine wollte erst durch den rechten Henkel, besann sich, drehte um und kroch durch den linken —«
»Da war auch ein Schrotschuss dabei«, sagte Mac O'Neil, »der nachknatternde Schuss war Schrot, das konnte ich gleich hören.«
»Jawohl, das war Schrot«, bestätigte Littlelu, »das hätte ich auch noch gesagt, hätten Sie mich nur aussprechen lassen. Es waren 78 Rehposten, die ich zählte, und 201 Körnchen Vogeldunst. Ganz auffallend war, dass dieses letzte Körnchen Vogeldunst — halt, halt, halt, haaaalt!«
So brüllend hielt sich der unverbesserliche Possenreißer schnell die Ohren zu.
Libelle war nämlich in der Küchentür erschienen, wiederum in der einen Hand einen dampfenden Topf, in der anderen einen Quirl, und da mochte Littlelu glauben, dass sie ihm auch wiederum so schrecklich ins Ohr schrillen möchte.
»Das Frühstück ist fertig!«, meldete sie aber nur.
Weiß der Teufel — war denn das nur wirklich danach, dass die ganze Arche von unserem unbändigen Gelächter wackelte?
Ja freilich, in unserer Situation passte diese Meldung, dass das Frühstück fertig sei, noch ganz anders, als wie die Faust aufs Auge — aber beschreiben lässt sich so etwas eben nicht, weshalb das von solch überwältigender Komik war, das lässt sich nur erleben.
Kurz, die Arche dröhnte vor Lachen ob dieser so anmutig hervorgebrachten Frühstücksmeldung meiner Frau, und da sah ich einmal, dass auch Littlelu lachen konnte — er lachte, dass ihm die Tränen über die Pausbacken kugelten.
»Das ist der famoseste Witz, den ich je gehört und erlebt habe«, schluchzte er noch viel später, als wir anderen uns schon wieder beruhigt hatten, »das Frühstück ist fertig — hahahaha — schade nur, dass man so einen Witz nicht wiedergeben kann!«
Nun, das Frühstück musste doch noch etwas warten. Unter solchen Verhältnissen durften wir uns aber auch nicht nach der anderen Arche hinüberbegeben, sonst hätten wir dann nicht mehr frühstücken können.
Aber ins Schlepptau konnten wir sie doch nehmen, ohne uns dabei eine Blöße zu geben. Es wurde einfach ein Bootshaken durch eine Schießscharte gesteckt, er fasste, und so zogen wir die Arche langsam nach.
Wohin? Nun, diese Jäger wussten doch ganz genau, wo sie sich befanden und wo der nächst größere freie Wasserraum war, in dessen Mitte wir von feindlichen Kugeln nicht mehr erreicht wurden.
Zunächst also in einen breiteren Kanal eingebogen, wo die nachgeschleppte Arche nicht so leicht an einem Aste hängen bleiben konnte, was bei der schwachen Verbindung ein schwer zu beseitigendes Hindernis gebildet hätte.
Noch einige Zickzacklinien, und vor uns lag eine freie Wasserfläche, mehr als einen Kilometer in Durchmesser haltend, denn solcher freien Wasserflächen gab es genug in diesem Tale. Auf dem Kärtchen wären das 3,3 Millimeter. Und ganz frei war sie auch noch nicht, es lagen einige flache, sandige Inseln darin — Sandbänke. Aber die konnten dem Feinde doch nicht als Deckung dienen, darauf kam es an.
Wir hatten uns schon mindestens 300 Meter von dem bewaldeten Ufer entfernt, als die weiße Wolke einen Blitz und Donner von sich gab.
Er hatte dort zwischen den Bäumen eben etwas Menschliches auftauchen sehen.
»Getroffen?«, fragte Mac O'Neil.
»Uff!«, erklang es bestätigend.
Dies alles hatte gezeigt, wie hier dieser Kampf gehandhabt werden würde. Ein hinterlistiger Schleichkrieg. Doch was heißt da hinterlistig? Ein verzweifelter Guerillakrieg; was zu sagen eine Dummheit ist.
Das spanische »guerra« heißt schon Krieg, »guerrilla« also Krieglein, Kleinkrieg, Und zwar mit zwei »r« geschrieben, nicht, wie es die deutsche Rechtschreibung jetzt befiehlt, mit nur einem! Danach wurden die spanischen Hirten und Bauern genannt, die sich, immer schon Schmuggler und Banditen gewesen, nach der französischen Invasion 1808 zusammentaten und unter der Führung des Pfarrers Merino den Franzosen unermesslichen Schaden zufügten; sich niemals in einen offenen Kampf einlassend, nur aus dem Hinterhalte schießend, Brücken ansägend, Stacheln für die Pferdehufe säend, Brunnen vergiftend. Sie sollen den Franzosen 80 000 Soldaten gekostet haben, innerhalb von 12 Jahren. Dann wurden die Guerrillas auch regelrecht organisiert. Und von wem? Vom englischen General Robert Wilson!
Über diese Guerrillas existiert in England eine ganze Literatur, Am prächtigsten und schrecklichsten aber sind die sachlichen Berichte des italienischen Arztes Filippi zu lesen, der während dieser ganzen Zeit als unparteiischer Beobachter unter ihnen lebte. Die alte Geschichte, dass Tatsachen alle Phantasie weit übertreffen. Besonders der Pfarrer Merino, ein frommer Gottesmann, muss ein furchtbarer Kerl gewesen sein.
Auf solch einen Guerillakampf konnten wir uns gefasst machen, so lange es noch einen Bukanier in diesem Tale gab.
Was in diesem Kampfe alles erlaubt sein würde, darauf machte uns dann noch Mac O'Neil aufmerksam, als wir in der Mitte des Wasserbeckens lagen und nach der anderen Arche hinüberblickten.
Es war nicht viel zu sehen. Überall an den Wänden aufgestapelte Mehlsäcke, der verkleisterte Motor.
»Das wird die erste und die letzte Arche gewesen sein, die wir genommen haben!«, meinte also der Kanonenmeister.
»Weshalb?«
»Verschaffen werden sich diese Bukanier wohl noch Archen oder andere Fahrzeuge. Gerade wegen dieses unseres ersten Erfolges werden sie verdeckte Fahrzeuge bemannen, uns zum Angriff locken. Wir werden die Fahrzeuge nehmen, wiederum werden die Bukanier fliehen, aber betreten dürfen wir solch ein Fahrzeug nicht wieder. Weshalb nicht? Weil es dann ganz sicher knallt, weil wir dann alle zusammen in die Luft fliegen würden, oder ich will gehangen werden.«
»Das wäre fürchterlich!«, sagte Emil.
Na — da war ich nun doch etwas anderer Ansicht. Warum nicht? Wenn schon, denn schon. So etwas ist auch im »zivilisiertesten Kriege« erlaubt; dass man den Feind erst in die Festung kommen oder das Schiff betreten lässt und dann alles in die Luft sprengt.
Nein, an solchen Knallexperimenten hätte ich nichts auszusetzen gehabt. Nur das Brunnenvergiften würde mir nicht gefallen. Das tut auch nicht einmal der Araber, weil er sonst nicht in den Himmel kommt. Nicht einmal in den ersten, geschweige denn in den siebenten. Brunnenvergiftung ist im Koran bei Höllenstrafe verboten.
Aber in diese Unmenge Wasser konnten sie schon einige Waggons Zyankali schütten, ehe man davon Bauchkneipen bekam. Darüber war ich beruhigt.
»Na da wollen wir frühstücken.«
Nur die weiße Wolke und sein Sohn gingen von Schießscharte zu Schießscharte.
»Was ist denn das für eine Suppe?«, knurrte Littlelu in seiner verdrießlichen Weise, nachdem er schon einige Zeit gelöffelt hatte.
»Das ist Fischsuppe mit Fleischklößchen.«
»So. Da muss der Fisch wohl ein Pulverfässchen verschluckt haben. Die Suppe schmeckt nach Kanone.«
Da hatte er auch recht! Sie schmeckte und roch nach Pulverschleim. Entweder der Pulverdampf hatte sich ins Essen gezogen oder meine Frau hatte sich vorm Klößchenmachen nicht ordentlich die Hände gewaschen.
Seit dieser Zeit aber hieß diese hier sehr beliebte Suppe nur noch Kanonensuppe.
Der zweite Gang kam.
»Und was sind denn das für verkrüppelte Missgeburten einer Küchenschöpfung?«, knurrte Littlelu wieder.
Es waren Mandelblüten, in Teig gebacken; solche Sachen liebt man in jenen Gegenden. Wir machen es ja übrigens auch mit den Rosen so.
»Mandelblüten! So! Kennen Sie die Geschichte, wie drrr Moses Mandelblüth nach Hause kommt?«
Nein, die kannten wir nicht. Und er erzählte. Nun muss man sich aber das finstere, mürrische Gesicht dabei vorstellen.
Drrr Moses Mandelblüth hat wegen eines ihm sehr vorteilhaften Bankrotts ein Jahr Zuchthaus erhalten.
Weil er sich in der Anstalt sehr gut geführt hat — eingesperrte Mandelblüten führen sich immer ausgezeichnet, versicherte Littlelu — wird ihm der letzte Monat geschenkt.
Spät am Winterabend betritt er das komfortable Haus, in dem er die erste Etage bewohnt.
Er hat sich nicht angemeldet.
Er will seiner Frau eine freudige Überraschung bereiten.
Die weiß noch nicht einmal, dass ihm der Monat geschenkt worden ist.
Ach, sein Sarahleben!
Drrr Moses Mandelblüth ist in der glücklichsten Stimmung.
So klingelt er an der Vorsaaltür, an der sein schöner Name prangt.
Ein großes, strammes Dienstmädel öffnet, das während seiner Abwesenheit erst engagiert worden ist.
Misstrauisch mustert sie den Mann, der sehr schäbig aussieht. Wenn man solch eine Reise tut, lässt man sich dazu nicht erst einen neuen Anzug bauen.
»Was wolln Se?«
»Nu was werd ich wolln? Su meine Frau will ich.«
»Zu Ihrer Frau?! Wer sind Sie denn?«
»Nu wer werd ich ssain? Ich bin drrr Moses Mandelblüth.«
Da packt die handfeste Maid den Moses Mandelblüth und schmeißt ihn kurzerhand die Treppe hinunter.
»Ein Bocher bist de! Meschugge bist de! Drrr Moses Mandelblüth ist soeben mit der gnäd'gen Frau zur Ruh gegangen.«
Littlelu stand auf und verneigte sich.
»Wünsche gesegnete Mahlzeit allerseits. Ich werde jetzt mein übliches Frühstücksvormittagsschläfchen halten. Falls wieder eine Seeschlacht bevorstehen sollte — vergessen Sie mich nicht zu wecken. Es ist nur Ihr eigener Vorteil. Ich werde wieder die Schlachtenlenkung übernehmen.«
In derselben Minute sollte ich noch einen anderen Witz erleben, einen praktischen, einen ganz handgreiflichen.
Noch saß ich lachend zurückgelehnt da, wollte mein Schweißtüchlein ziehen, griff in meine linke Rocktasche und fand darin die rechte Hand meines Schwiegergroßpapas.
»Nanu?! Was macht Ihr denn in meiner Tasche?«
Ohne jede Verlegenheit wusste er gleich eine ganz plausible Entschuldigung. Er saß neben mir, hatte sich eben vergriffen, hatte in seine Tasche greifen wollen.
Die Entfernung, um die er sich geirrt, betrug ja auch noch nicht einmal einen halben Meter.
»Ja, mein Großvater stiehlt wie ein Affe!«, erklärte Libelle ganz ruhig, und damit war die Sache erledigt.
Nachdem wir gefrühstückt hatten, wollten wir den Krieg fortsetzen. Unbedingt nötig war dieses Frühstück gewesen.
Na ja, man kann doch nicht mit leerem Magen fechten. Das tun nur jene anderen Fechtbrüder. Kunden, Klinkenputzer, Kohldampfschieber. Kenne ich alles. Ich habe doch acht Semester studiert. Bin cand. phil. gewesen, wäre beinahe Oberlehrer geworden.
Die Bukanierarche wurde hier liegen gelassen, nur etwas auf den Sand gesetzt.
»Die wagen sie auch nicht wieder zu betreten!«, meinte Mac O'Neil.
»Weshalb denn nicht?«, fragte Emil.
»Ganz aus dem gleichen Grunde, den ich schon vorhin offenbarte; weil es knallen könnte.«
»Was, auch die sollten uns eine solche Gemeinheit zutrauen?!«
»Die trauen uns noch etwas ganz anderes zu.«
Es war so trocken herausgekommen, und wir befanden uns überhaupt in lachlustiger Stimmung. Und so muss es wohl auch im Kriege sein, sonst ist es nicht das Richtige. Deshalb spricht man eben von einem frischen, fröhlichen Kriege. Es ist aber auch alles nur Mummenschanz. Selbst die Buren, die sonst für Humor ganz und gar nicht empfänglich sind, haben zu Weihnachten mit dem »langen Peter«, dem größten Geschütz, in das belagerte Ladysmith Bomben geworfen, die mit Bonbons gefüllt waren, und als die englischen Soldaten zum Geburtstage der Königin jeder eine Tafel Schokolade bekamen, als Geschenk der Königin, haben die Buren ins feindliche Lager hinüber einen großen Kessel voll Schlagsahne geschickt. Eine sehr feine Anspielung. Damals freilich ging es den Buren noch sehr gut. Uns ging es auch sehr gut.
Also wir wollten zurückfahren, um nun in das feindliche Revier einzudringen, in die Hornbucht.
Vorläufig aber lagen wir noch neben der festgesetzten Bukanierarche, denn es gab noch mancherlei zu bedenken, ehe wir uns dort den bewaldeten Ufern wieder näherten.
»Können Sie, Kanonenmeister«, fragte der Graf, »durch Ihren Jagdruf oder sonstige Signale andere Jäger hierher beordern?«
»O ja, das kann ich. Es gibt ein Zeichen, dass man Unterstützung braucht oder anderen, die sich in der Nähe befinden, etwas Wichtiges mitteilen will — und es gibt ein Zeichen der höchsten Not. Davor setzt man seinen Jagdruf, dann gibt man durch Pfiffe die Richtung an, wo man zu finden ist.«
»So tun Sie es. Beordern Sie andere Jäger, die doch unterdessen eingetroffen sein müssen, hierher.«
»Warum denn?«
»Wir haben unseren eitlen Vorsatz aufgegeben. Wir paar Männer können nicht alle Schießscharten besetzen, und an jeder muss mindestens einer mit schussbereitem Gewehr stehen.«
»Ja, weshalb aber soll ich die Jäger dann hierher beordern?«
»Weil sie hier unbehindert die Arche betreten können.«
»Das können sie doch auch dort vom Ufer aus. Wir rufen jeden der Unsrigen an, den wir erblicken, ob er uns Gesellschaft leisten will oder nicht.«
»Da kann er aber dabei weggeschossen werden. Die Bukanier werden unsere Arche doch nicht mehr aus den Augen lassen.«
»Nein, Herr Graf«, fing Mac O'Neil jetzt zu lachen an, »Sie verkennen die Verhältnisse vollkommen. Die entsprungenen Bukanier sind es, die jetz gehetzt werden. Was meinen Sie wohl, wie unsere Jungen, wenn sie schon hier eingetroffen, jetzt hinter denen her sind, sobald sie ihre Spur gefunden haben. Die werden schwerlich die Hornbucht erreichen. Die können sie halten, das stimmt. Wenn alle 200 Meter ein Mann liegt, so reichen ja gerade 200 aus, um die ganze Grenzlinie zu beherrschen, jeder braucht nur 100 Meter zu bestreichen. Aber unsere Jäger würden mich nicht schlecht auslachen, wenn ich sie erst hierher einladen wollte, damit sie ohne Gefahr diese Arche betreten könnten.«
»Ich habe es gut gemeint und glaubte nur vorsichtig zu sein!«, sagte der Graf etwas gekränkt, und ich konnte mich ebenso gekränkt fühlen, denn ich hatte denselben Vorschlag machen wollen. Jeder militärische Führer hätte überhaupt so gehandelt; aber mit diesen trotzigen Burschen war da doch nichts anzufangen.
»Ich glaube es Ihnen schon, Herr Graf«, beschwichtigte der Kanonenmeister, »aber es geht wirklich nicht. Die Jäger, die ich durch Pfiffe hierher gelockt hätte, würden gleich wieder abrücken, die weißen fluchend, die roten verächtlich, die schwarzen lachend. Und mit solchen Signalpfiffen muss man überhaupt sparsam sein, das ist strenger Befehl vom Ewigen.«
So fuhren wir wieder zurück, wendeten uns aber einem anderen Kanal zu als dem, aus dem wir gekommen.
Einige Schüsse fielen.
»Da sind unsere Jungen schon!«, sagte der Kanonenmeister.
»Es können auch die sein, die schon gestern Abend der fliehenden Arche folgten.«
»Auch möglich. Jedenfalls geht es wieder los. Wenn die Bukanier, die von der Arche sprangen, klug sind, dann haben sie schleunigst gemacht, dass sie in die Hornbucht kamen. Wir, die wir hier jeden Fußbreit kennen, sind diesen Fremden gegenüber doch in kolossalem Vorteil. Das werden Sie doch zugeben, Herr Graf.«
»Unter den Bukaniern müssen auch welche sein, die hier wie zu Hause sind, sonst hätten sie doch heute Nacht nicht so schnell fahren können!«, verteidigte sich der Graf, und ich musste ihm recht geben, wenn er sich nun einmal verteidigen wollte. Viel Zweck hatte es nicht.
»Aber wir sind hundert, die jeden Busch kennen, und die Arbeiter von den Räucherschiffen sind auch nicht zu verachten.«
Wir näherten uns dem waldigen Ufer, da musste die Unterhaltung verstummen, wir hatten gut aufzupassen.
Auch Littlelu stand schon wieder mit schussbereitem Gewehr an einem Guckloch, konnte also nicht lange geschlafen haben.
»Nicht lange, aber schnell, schnell — wie eben so ein Jüngling wie ich immer ist!«, sagte er auf eine diesbezügliche Bemerkung.
Wir fuhren durch die Kanäle. Niemand war zu sehen, nichts zu hören. Alles war so friedlich.
Doch, dort lag ein Mann, dicht am Ufer. Auch der lag ganz friedlich da, das Gesicht am Boden.
Aber es war ein sehr gewaltsam herbeigeführter Frieden.
»Und was hat denn der auf dem Kopfe?!«, wurde scheu geflüstert.
Eben nichts hatte er auf dem Kopfe; wenigstens nicht das, was darauf gehört.
Da war es schon, woran ich bereits gedacht hatte.
Skalpiert!
»Schrecklich!«, sagte der Kanonenmeister mit ganz erschütternder Stimme, obgleich ich das von dem nicht gerade so sehr erwartet hatte.
Aber ich habe auch schon gesagt, dass der wohl einmal eine andere Zeit gesehen hatte, er machte einen recht gebildeten Eindruck, obgleich er sonst hier ein ganz echter Jäger war, den ich auch schon schauerlich hatte fluchen hören.
»Nicht die andere Seite zu beobachten vergessen«, warnte er jetzt erst schnell, »wenn wir —«
Aber ein Blick zurück belehrte ihn, dass dort Sommervogel stand, und das genügte.
Die weiße Wolke hatte schon auf dieser Seite gestanden, und ich sah, wie die Augen des alten Indianers bei Anblick der skalpierten Leiche lüstern auffunkelten.
Auch der Kanonenmeister hatte die Rothaut einmal recht nachdrücklich angesehen, blickte gleich wieder weg.
»Meine Herren«, begann er dann leise zu sprechen, mehr wie zu sich selbst, obgleich er uns doch angeredet hatte, »ich bin in diesem Tale geboren. Mit meinem sechsten Jahre kam ich, wie alle weißen Kinder, in die Schule, in die Stadt, durfte das Tal nie wieder betreten. Die Erinnerung soll gelöscht werden, Nur einmal im Jahre, zur Obsternte, ist der Besuch erlaubt, dann sieht es hier auch ganz anders aus. Alles lacht und scherzt, bis nach vollendetem Schulbesuch oder sogar noch drei Jahre später, bis der Junge ein Handwerk oder sonst etwas gelernt hat. Ist dann noch die Sehnsucht nach diesem Tale vorhanden oder neu erwacht, dann wird man wieder als Jäger angenommen.
Ich war ein guter Rechner, hatte Begabung für Mathematik. Don Christoffero, dieser vortreffliche, hochedle Mann, ließ mich ausbilden. Ich bin Offizier gewesen, in der Union, Artillerie-Offizier. Habe keinen Feldzug mitgemacht, kaum Kasernendienst. Ich war immer beim Geniestabe. Im Büro. Ich war verheiratet. Kinderlos. Kam besonders durch meine Frau in die höchsten Kreise. Künstlerkreise.
Als meine geliebte Frau im zweiten Jahre starb, dachte ich wieder an dieses Tal. Ich hatte schon oft zurückgedacht. Jetzt packte mich noch eine ganz andere Sehnsucht. Ich ließ mich pensionieren. Jetzt bin ich hier Kanonenmeister und Signalwärter.
Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil ich endlich einmal wieder mit gebildeten Männern zusammenkomme, zu denen ich mich hingezogen fühle.
Weil mich bei Anblick dieses skalpierten Mannes ein Ekel packt, ein Entsetzen vor der ganzen Menschheit!
Weil ich fliehen möchte und doch nicht kann.
Weil mich eine furchtbare, dämonische Gewalt, so harmlos Sehnsucht genannt, immer wieder hierher in dieses mein Heimattal zurückziehen würde.
Genug!
Versuchen Sie den Ewigen doch einmal zu bewegen, dass er die hier geborenen weißen Kinder schon mit drei Jahren nach der Stadt bringt.
Das eigentlich war es, was ich Ihnen sagen wollte.
Hallo, Wolke!«
Lookout hatte die Arche angesichts des Toten angehalten, dem allgemeinen Wunsche entsprechend.
Und da sprang wirklich die weiße Wolke an Land, um den Toten näher zu besichtigen.
Der alte Indianer hatte auch ganz recht. Wir konnten doch nicht immer in diesen Bretterkasten gebannt sein wie die Schnecke in ihr Gehäuse. Feiglinge waren wir doch überhaupt alle nicht, die Vorsicht wegen des Betretens des Landes wurde zuerst nur etwas übertrieben, man musste sich erst an die ganzen Verhältnisse gewöhnen. War man einmal am Ufer, so befand man sich doch gerade im dichten Gebüsch in demselben Vorteil oder Nachteil wie jeder andere Bukanier, man musste nur gut Lugaus halten oder einen Begleiter haben, der das für einen besorgte. Wer einen dann beschleichen wollte, der riskierte sein eigenes Leben.
Der Indianer beugte nur etwas den Oberkörper vor, um den Skalpierten näher zu betrachten.
»Uff!«, sagte er dann, sich wieder aufrichtend. »Shorthand.«
»Was?!«, schrie da der Kanonenmeister auf. »Das wäre unser Shorthand?!«
Die weiße Wolke bückte sich nochmals hob die eine Hand des Toten empor, die im Grase verborgen gewesen war — an sämtlichen Fingern fehlten die ersten Glieder. Daher sein Name: Kurzhand.
Es war nicht notwendig dass der Indianer den Toten auch noch umkehrte. Überhaupt war das blutige Gesicht gar nicht zu erkennen.
Es war einer von unseren Jägern!
Ja, mit welcher Berechtigung hatten wir denn überhaupt von vornherein als ganz bestimmt annehmen dürfen, dass es unbedingt ein Bukanier sein müsse, der hier von einem der Unsrigen getötet und skalpiert worden war?
Es war einfach eine fixe Idee gewesen, in die wir uns verrannt hatten Aus der Kleidung hatte man ja nichts schließen können.
Zunächst tat der Kanonenmeister etwas, was mir sehr an ihm gefiel.
»Herr Graf, ich bitte Sie um Entschuldigung.«
»Weshalb denn?!«
»Sie fragen auch noch? Ich muss es Ihnen auch noch erklären? Weil ich mich vorhin überhebend gegen Sie benommen habe, als ob diese Bukanier gar nichts gegen unsere Jäger wären, wenigstens nicht außerhalb ihrer Bucht. Hier liegt der Gegenbeweis. Ich bitte Sie um Entschuldigung. Armer Shorthand, Du musstest es sein, der meiner Selbstüberschätzung eine Lektion erteilte.«
Dann stampfte der Kanonenmeister heftig mit dem Fuße auf.
»Recht so!! So musste es kommen!! Auch noch skalpiert! Hahahaha, und ich Narr hatte schon vor, den Ewigen zu bewegen, dass er unseren roten Jägern das Skalpieren verbietet, hatte sogar schon vor, im Falle seiner Weigerung mich nicht mehr an diesem Kampfe zu beteiligen, Hahaha, ich alter Esel! Nein, da ist unser Alter doch zu gerecht — und zu klug! Vorwärts, in die Hornbucht!«
»Soll denn der Tote hier liegen bleiben?«, war es bemerkenswerter Weise Littlelu, der dies als erster rief, als sich die Arche schon wieder in Bewegung setzte.
»Ja, er mag nur hier liegen bleiben. Es werden ihn schon andere finden, die mehr Zeit haben als wir, um ihn zu begraben. Tiere gibt es hier nicht, welche die Leiche angehen, mit Ausnahme Insekten; das geschieht aber unter der Erde auch. Lasst ihn nur andere finden, die erst noch eine kleine Trauerzeremonie mit ihm anstellen. Zwei Rothäute haben mit ihm ihr Blut getauscht, die würden es uns verübeln, wenn wir ihn auch nur von hier entfernten.
So setzten wir ohne weiteren Widerspruch die Fahrt fort.
»Also es sind auch Indianer dabei!«, sagte jemand.
»Weil der Mann skalpiert worden ist?«, erwiderte Mac O'Neil. »Das ist daraus noch nicht zu schließen. Wenigstens wäre es ein voreiliger Schluss. Unter den echten Rothäuten, also unter den Indios bravos, wie sie der Spanier sehr treffend nennt, leben immer auch weiße Jäger, werden als Stammesmitglieder anerkannt, müssen natürlich Indianerinnen heiraten. Die meisten Indianerstämme sehen sogar solche Mischehen sehr gern unter sich. Es ist das eine sehr eigentümliche Sache. Es handelt sich um die Erhaltung eines möglichst reinen Totems. Wissen Sie, was das Totem eigentlich ist? Nicht etwa so viel wie Wappen, wie man so oft hört. Das ist etwas ganz, ganz anderes. Bei sämtlichen Indianern gibt nämlich nur die Frau, die Mutter, dem Kinde Blut und Erbe. Doch das will ich Ihnen ein andermal erklären.
Diese weißen Stammesmitglieder müssen aber natürlich alles mitmachen. Müssen, wenn es nun einmal darauf ankommt, dem getöteten Feinde auch die Kopfhaut abziehen. Das ist gar nicht anders denkbar.
Und so etwas kann natürlich leicht zur Passion werden. Solche Jäger sind doch auch nicht etwa Ideale der Menschheit. Wenn einer den Stamm wieder verlässt, so skalpiert er eben weiter, wenn er nur Gelegenheit dazu hat. — Und da liegt schon wieder einer!«
Diesmal aber war es ein Bukanier, der dort am Ufer lag, das verrieten schon die nägelbeschlagenen Schuhe, wie es solche hier gar nicht gab.
Zuerst, als wir ihn erblickt, hatte er ganz still dagelegen, wie tot, jetzt begann er sich zu bewegen. Und wie! Er krümmte sich in furchtbaren Schmerzen, sein röchelndes Heulen war entsetzlich.
Diesmal war ich derjenige, der die mit dicken Lagen von Fellen austapezierte Tür öffnete und als erster ans Ufer sprang. Mir nach folgte Mac O'Neil.
Himmel, was erblickten wir! Es gibt ja auf Schlachtfeldern noch ganz anderes zu sehen, aber —
Der große, starke, etwas korpulente Mann, der auf dem Rücken lag, hatte vorn auf der Stirn eine mächtige blaue Brausche, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. So musste es ja auch wohl gewesen sein.
Ferner aber waren ihm beide Seiten des Leibes aufgeschlitzt, ganz genau in den Hüften links und rechts. Die Blutung war gar nicht so schlimm, aber es sah scheußlich aus, obgleich keine Eingeweide heraushingen.
»O Gott, wie hat der denn die schreckliche Verwundung bekommen?«, flüsterte O'Neil. »So ganz gleichmäßig auf beiden Seiten des Leibes?!«
Ich starrte auf den sich Krümmenden herab.
Ein erklärender Gedanke wollte in mir aufdämmern, und ich mochte es doch nicht glauben.
»Kuikuikuikuikuikui!«, erklang es da jauchzend in einiger Entfernung.
Und da plötzlich ward mir Gewissheit da fuhr ich empor.
»Der Australneger hat ihm die Nieren bei lebendigem Leibe herausgerissen!!«
Ich muss eine Erklärung einschalten.
Im Alten Testamente findet man wiederholt Ausdrücke wie: Das stärkt die Nieren, da freuen sich die Nieren — und Ähnliches.
Solch eine Redensart muss doch irgend einen Grund haben.
Die Erklärung dafür geben uns viele wilde oder halbzivilisierte Völker, welche die Nieren für den Sitz des Lebens halten wie wir Abendländer das Herz, wie die meisten Orientalen den Solarplexus, das Sonnengeflecht, ein Nervenbündel in der Bauchhöhle hinter dem Magen.
Weshalb sollen die Nieren der Sitz des Lebens sein?
Auch dafür gibt es leicht eine Erklärung.
Jene Menschen schlachten Tiere, zerwirken sie, dabei erkennen sie den Zweck der Nieren.
Als ich in der Kriegsmarine diente, hatten wir auch manchmal durch einen Sanitätsoffizier Instruktion im Samariterdienst, um Verwundeten die erste Hilfe geben zu können, auch etwas Anatomie kam daran. Einmal fragte er, wozu denn die Nieren dienten. Der erste Matrose wusste es nicht, mein Nebenmann nicht, dann kam ich daran — nun, so etwas weiß man doch wohl, man braucht nicht Medizin studiert zu haben; anderseits kann man es nicht von jedem Matrosen verlangen. Der Offizier sah auf meinem Drillichkittel nicht die kleinen, ausgewaschenen Abzeichen des Einjährigen.
»Woher wissen Sie denn das? Sie sind wohl Fleischergeselle?«
Also! So wissen solche Naturvölker auch recht gut, wozu die Nieren dienen. Weiter aber gehen ihre anatomischen Studien nicht. Und nun kommen sie durch die doppelte Funktion der Geschlechtsorgane zu dem irrtümlichen Glauben, dass die Nieren auch der Sitz der Zeugungskraft sind. Und wenn sie nun weiter die Nieren auch zum Sitz der Lebenskraft machen, so haben sie — in ihrem einmaligen Irrtum ja gar nicht so unrecht.
Diesen Glauben haben offenbar auch die ursprünglichen Bewohner Palästinas gehabt, und die ihr Land erobernden Juden, die ja oft genug mit den fremden Göttern buhlten, haben mindestens solche Redensarten mit herübergenommen: Das stärkt die Nieren, da freuen sich die Nieren.
Und daran glauben also auch die Eingeborenen Australiens. Wenn diese Schwarzen einmal eine ganze Schafherde forttreiben können, so schlachten sie eines nach dem anderen der Tiere, nur um die Nieren zu verzehren. Die nachsetzenden Verfolger finden den ganzen Weg, den die Räuber genommen, mit toten Schafen bedeckt, denen nichts als die Niere fehlt. Und den ermordeten Schäfern haben sie gleichfalls die Nieren herausgerissen, um sich mit dem Nierenfett, dem fettreichen Gewebe, das die Nieren umgibt, den ganzen Körper einzusalben. Das gibt ihnen dann nach ihrem Glauben die Kraft der Person, der diese Niere gehört hat. Und das Scheußlichste dabei ist, dass sie glauben, diese Einreibung sei umso wirksamer, wenn der betreffende Mensch bei der Prozedur noch lebendig gewesen ist. Sie versuchen ihrem Opfer die Nieren also lebendig aus dem Leibe zu reißen, schleichen sich an den einsamen Reisenden zerschmettern ihm durch einen Wurf mit dem Bumerang nur die Schienbeine, suchen ihn nur zu betäuben oder sonst wie wehrlos zu machen — dann schlitzen sie ihm die Seiten auf.
Das rechtfertigt auch den Hass, mit dem man diese Eingeborenen verfolgt hat und noch heute verfolgt, dass man zu ihrer Ausrottung jedes Mittel für erlaubt hält, dass sich auch der biederste Ansiedler kein Gewissen daraus macht, ein durch ein Unglück verendetes Schaf mit Strychnin einzureiben und dafür zu sorgen, dass es wie zufällig in die Hände der herumschleichenden Eingeborenen fällt.
Das Gesetz freilich verbietet die Verfolgung der Eingeborenen. Wer einen ohne Grund tötet, der kann als Mörder belangt werden; nur Notwehr ist erlaubt. Jawohl, wenn's zu spät ist! Die alte Geschichte vom Brunnen, der erst zugedeckt wird, wenn das Kind ertrunken ist. Gerade so wie bei uns, wenn einer etwa wegen Sittlichkeitsverbrechen zum zweiten Male bestraft wird, und nach so und so viel Jahren lässt man ihn wiederum auf die Menschheit los. Solch ein Mensch gehört doch nicht ins Zuchthaus — da gibt's nichts zu »erziehen« — sondern für immer ins Irrenhaus. Er soll gar nicht bestraft, muss nur unschädlich gemacht werden. Das dritte Mal kann's ja mein eigenes Kind sein, aber so egoistisch, um gerade diese Möglichkeit anzunehmen, bin ich gar nicht. Wenn ich an den Jammer denke, den solch ein anormaler Mensch in einer Familie anrichten kann, dann kann ich weinen.
»Der Australneger hat ihm die Nieren bei lebendigem Leibe herausgerissen!«
So also hatte ich gerufen, als ich das »Kuikuikui« vernommen.
Der Kanonenmeister starrte mich an.
»Darum frisst der Kerl auch immer nur die Nieren!«, flüsterte er.
Er wusste nämlich genau dasselbe, was ich wusste, und deshalb braucht man ja auch nicht in Australien gewesen zu sein, auch ich hatte es ganz anderswo gehört und gelesen.
Und plötzlich fing der Kanonenmeister herzlich zu lachen an!
Freilich wunderte ich mich nicht lange darüber, wie der jetzt lachen konnte. Ich hörte schnell, dass es ein ganz besonderes Lachen war. Es hatte etwas Krampfartiges an sich, und so waren auch die ganzen Züge. Es gibt ja genug solche Menschen, die vor Freude weinen können, und bei entgegengesetzter Gemütsbewegung, das heißt, wenn es einmal überschnappt, fangen sie zu lachen an.
Da erschien er selbst, Butschiro. Entsetzlich anzusehen.
Splitterfasernackt, wie ihn Gott in einer fatalen Stunde geschaffen, war sein ganzer Körper vom Scheitel bis zu den Fersen mit einer blutigen Schmiere bedeckt.
Sein Gewehr trug er am Riemen über der Schulter, am Laufe baumelte auch das Messer, in der Hand hatte er eine kleine Keule, die er sich erst vor kurzem geschnitzt haben musste.
Und der Kanonenmeister lachte noch immer.
»Butschiro, hallo Butschiro, was ist denn das, bist Du das gewesen?«, lachte er lustig, auf den sich krümmenden Mann deutend.
Da wurde der Schwarze, der das Schreckliche des Lachens nicht heraushörte, auch noch stolz, warf sich in die Brust und schlug sich triumphierend dagegen.
»Ich — ich — Butschiro — all butschiro — Niere butschiro — ich stark sein — kuikuiku...«
»Bestie!«
Ein Faustschlag des Kanonenmeisters schmetterte ihn zu Boden, und da war das schreckliche Lachen verstummt.
Der Faustschlag war doch nicht kräftig genug gewesen oder der Schwarze hatte eben einen Schädel von Eisen. Kaum hatte er wie ein geprellter Frosch dagelegen, als er auch schon wieder aufschnellte und wie ein Phantom in den Büschen verschwunden war; selbst seine Keule hatte er noch in der Hand.
»Lasst ihn laufen, der tut es nicht wieder!«, sagte Mac O'Neil.
Ich dachte etwas anderes, schwieg aber.
Der Unglückliche krümmte und krümmte sich, und jetzt konnte man in dem schrecklichen, heulenden Röcheln auch Worte verstehen.
»Tötet mich — um aller Barmherzigkeit willen — tötet mich —«
Er selbst hatte keine Waffe dazu. Sein Schlächter musste ihm die Waffen abgenommen und wohl versteckt haben.
»Dreht Euch mal um, Käpten, und dann gebt mir die Hand oder speit vor mir aus — mir egal.«
Ich drehte mich um.
Und gleich darauf erklangen hinter mir leise mit tiefer Stimme die lateinischen Worte:
»Ave, imperator, morituri te salutant.«
Und dann ein Knall wie ein Peitschenschlag, und das schreckliche Röcheln war verstummt. Der Kanonenmeister hatte etwas getan, was erlaubt ist. Dem unrettbar dem Tode Verfallenen, der sich in den furchtbarsten Qualen windet, ein ausgiebiges Beruhigungspülverchen zu reichen.
Es ist gegen das Gesetz. Das ist vorsätzlicher Mord!
Wo soll denn das auch hinführen, wenn so etwas erlaubt wäre?
Ob es aber nicht doch manchmal geschieht? Wer weiß es?
Aber dass es auf dem Schlachtfelde geschieht, das weiß ich!
Ich weiß, dass es unter den englischen Offizieren eine geheime Abmachung auf Ehrenwort gibt, dass ein Kamerad dem anderen gegebenenfalls den letzten Liebesdienst erweisen muss.
Und derselbe geheime Ehrenschwur wird auch in den holländischen Offizierskreisen geleistet, das weiß ich ebenfalls ganz bestimmt!
Ja Du lieber Gott, England und Holland mit ihren Kolonien!
Wenn dieser Schwur im geheimen Zirkel geleistet wird, sind auch die Frauen und Töchter dabei, ehe sie den Gatten und Bruder in die indische Garnison begleiten.
Wenn es zum Kampfe kommt, wenn die eingeborenen Rebellen das Fort stürmen, wenn die Patronen ausgehen, keine Aussicht auf Rettung mehr vorhanden ist, dann — wird mit den letzten Patronen dafür gesorgt, dass die Frauen und Töchter und Kinder nicht lebendig in die Hände der Chinesen oder Atschinesen oder Singhalesen fallen.
Das ist dann aber eine feierliche Zeremonie.
Wenn der Offizier den Revolver gegen die Gattin, der Bruder ihn gegen die Schwester erhebt, spricht er dazu eine feierliche Entsühnungsformel.
Allerdings keine christliche; überhaupt kein Gebet. Das würde auch schlecht passen, so oder so.
Es ist der Gruß, den die römischen Gladiatoren dem Imperator zuriefen, wenn sie in die Arena marschierten und ihre Schwerter gegen ihn neigten.
»Ave imperator, morituri te salutant! Heil Kaiser Dir, die dem Tode Geweihten begrüßen Dich!«
Und mit denselben Worten, die als Entsühnungsformel angenommen worden sind, erweisen sich die englischen und holländischen Offiziere gegenseitig auch auf dem Schlachtfeld den letzten Liebesdienst, wenn es eben gar nicht mehr geht.
Es ist etwas furchtbar Prächtiges dabei.
Dass es auch unter den U.S.A.-Offizieren so etwas gibt, hatte ich noch nicht gewusst.
Ich gab dem Kanonenmeister die Hand, wir stiegen wieder in die Arche.
Noch waren wir nicht weit gekommen, als das Huipiih des Ewigen gellte, von Pfiffen gefolgt.
»Er hat uns gesehen, wir sollen halten!«, wussten Mac O'Neil und Lookout diese Pfiffe gleich zu übersetzen.
Don Christoffero kam in Begleitung Atalantas und vierzehn Jägern, sieben roten, fünf weißen und zwei schwarzen.
»Wohin, meine Herren?«, fragte er, als begegnete er uns auf einem Spaziergange.
»Nach der Hornbucht.«
»Well. Dorthin wollte ich auch. Wollen Sie mich mitnehmen? Aber ich will den Gentlemen nicht etwa Konkurrenz machen. Ich lasse schon einige Archen auspolstern, eine sogar mit Metallplatten, aber das dauert doch noch einige Zeit. Ich darf mit? Meine Begleiter auch? Besten Dank.«
So war jetzt jede Schießscharte doppelt besetzt.
»Hört, Kanonenmeister«, wandte sich dann der Alte gleich an diesen, »der Butschiro hat sich über Euch beschwert.«
»Beschwert?«
»Ich habe soeben mit ihm gesprochen. Er lamentierte. Ihr hättet ihn zu Boden geknockt.«
»Beschwert?«, wiederholte der Kanonenmeister mit einem fast humoristischen Gesicht.
»Ich weiß schon, was vorliegt!«, fing da auch der Alte zu lachen an. »Ich ärgere mich, ich schäme mich, dass ich lachen muss! Aber solch eine unschuldvolle Dreistigkeit ist mir ja noch gar nicht vorgekommen! Fragt mich der Kerl, ob es denn nicht erlaubt wäre, dem Feinde die Nieren auszuschneiden. Will mir der Halunke in seinem Kauderwelsch auch noch plausibel machen, dass das doch nur zu meinem eigenen Vorteile sei, wenn er sich mit recht vielem menschlichen Nierenfett einsalbe, weil er dadurch doch immer kräftiger und weiser würde, also könne er doch immer mehr Bukanier wegputzen. Soll man da nicht lachen?«
»Hat er Euch auch berichtet, dass er dem Manne noch lebendig —«
»Still!«, unterbrach ihn da der Alte sehr ernst. »Die Sache ist erledigt. Auch für dieses Scheusal. Solch einer Naivität war ich nicht gewachsen. Das muss man verzeihen, das geht gar nicht anders. Aber wieder vorkommen wird es nicht. Still! Ich mag nichts mehr hören!«
Dann wandte sich der Alte an die weiße Wolke.
»Na, Wolke? Noch keinen Skalp am Gürtel?«
Der alte Indianer blickte nur nach einem roten Kameraden, an dessen Gürtel bereits eine noch blutige Perücke baumelte.
»Uff!«, erklang es bedauernd und lüstern zugleich.
Und dann wandte sich der Alte an uns.
»Meine Herren, die Sie noch nicht so ganz zu unserer Gemeinschaft gehören. Ich kann nicht anders handeln! Als ich die beiden Stämme der Choktaws aus ihren heimatlichen Jagdgründen nach hier verpflanzte, garantierte ich ihnen, dass sie und ihre Kinder hier ganz nach ihren heimatlichen Sitten leben sollten. Auch diese Indianer hatten mir Verschiedenes zu garantieren, und sie haben ihr Ehrenwort bisher immer unverbrüchlich gehalten. Ich kann nicht anders handeln! Verbieten Sie in Ihrer Heimat Ihren deutschen Kriegern, dass sie dem Feinde die Fahnen nehmen — bringen Sie dort den Befehl durch, dass die erbeuteten Kanonen dem Feinde sofort wieder zurückgeschickt werden — und ich will hier meinen roten Jägern das Skalpieren verbieten und sie veranlassen, dass sie dem Gegner bei jeder Begegnung anstatt eines Stück Bleies oder Stahles ein Veilchensträußchen überreichen. Ich kann nicht anders handeln!«
Dieses alte Männchen hatte eine wunderbare Art zu sprechen! Das kann man aber nicht wiedergeben. Es lag auch im Tone, vor allen Dingen in den Augen!
Ich glaube, wenn ihn hier der allerknifflichste Moralprofessor gehört hätte — er hätte ihm wegen dieses Skalpierens zustimmen müssen!
»Bei jenem Australdingo ist das natürlich etwas ganz anderes!«, fügte er fast überflüssigerweise noch hinzu. »Wenn der noch einmal solche Gelüste zeigt, dann setze ich ihm seine eigenen Nierchen gebraten vor, aux fines herbes in Madeirasauce mit Kartoffelsalat.«
Mein Freund Emil schnaubte mich wie ein Nilpferd an, gab mir eine Ladung ins Gesicht, dass ich mich abtrocknen musste.
Ja, sollte man da auch ernst bleiben!
Jetzt erst ließ sich der Alte über die Bukanierarche berichten, die er auch schon auf der Sandbank hatte liegen sehen, sagte uns ein lobendes Wort, nichts weiter.
So näherten wir uns der Grenzlinie der Hornbucht, der Alte hatte die Fahrt um die Hälfte mäßigen lassen.
Hier auf dem eigentlichen Kampfgebiete sahen wir ab und zu einen der Unsrigen durch die Büsche schleichen oder lauernd hinter einer Deckung liegen.
Dort aber lag auch ein roter Jäger, der sich nicht wieder erhob! Wir sahen die blutende Stelle auf der linken Brust und wir sahen sogar sein gebrochenes Auge.
Da fiel ein Schuss. Seit langer Zeit wieder einmal einer.
In demselben Augenblick sahen wir einen weißen Jäger von einem Baume zum anderen springen, er hatte nur drei Sprünge über eine schutzlose Blöße zu machen — und in demselben Augenblick ließ er auch mitten im Sprung sein Gewehr fallen, schlug die Hände vor den Kopf und schlug rücklings zu Boden.
»Verflucht!«, hörte ich da den Ewigen zwischen den Zähnen knirschen. »Sie sind sparsam mit ihren Kugeln, aber es sind auch nur Todesboten!«
»Seht Euch vor!«, rief da eine warnende Stimme hinter einem Baume. »Ihr seid keine hundert Schritt mehr von ihrer Schützenlinie entfernt, und die Hunde schießen wie die Teufel!«
»Puff, puff!«, ging es ganz kurz hintereinander.
Neben mir, der ich im Vorderteile stand, brach ein Indianer lautlos zusammen. Er hatte durch die Schießscharte hindurch eine Kugel ins Auge bekommen.
Einem anderen, der seitwärts stand, wäre sein Gewehr aus den Händen gerissen worden, hätte es nicht in der Schießscharte gelegen.
Die Bleikugel hatte dem Stahlrohr nichts anhaben können. So schien es. Ein Visieren ergab, dass die Büchse unbrauchbar geworden war. Schießen konnte man wohl noch, aber nicht treffen, oder man hätte mit Unterschieden von Metern rechnen müssen, und da half kein Verschieben des Visiers.
Der Alte war an die Steuerung gesprungen, nahm Lookout die Führung ab und ließ die Arche volle Fahrt machen.
Alle Wetter noch einmal! Das war eine Situation! Es hat doch keinen Zweck, einen Gewehrlauf nur durch eine faustgroße Schießscharte zu stecken, man muss zum Zielen doch auch durchblicken. Und nun immer der angenehme Gedanke, durch diese Schießscharte eine Kugel ins Auge zu bekommen! Denn unser Arche war eine Zielscheibe, jede Schießscharte einfach ein Zentrum — na und was ist es denn mit unseren heutigen Gewehren für ein besonderes Kunststück, auf hundert Schritt ins Zentrum zu treffen! Mit Auflegen. Und wir kamen immer näher heran. Und dass die Arche zehn Knoten in der Stunde machte, fünf Meter in der Sekunde, das hatte am allerwenigsten für die etwas zu sagen, die vorn auf dem Posten standen.
»Schaukeln, schaukeln!«
Ja, dieser unten ganz breite Kasten ließ sich schwer schaukeln. Immerhin, ein klein wenig mochte sich das Ziel doch stets ändern.
Dadurch aber verloren doch auch wir die Zielsicherheit. Allerdings sahen wir auch gar nichts, wonach wir hätten schießen können.
Nun, der Gefahr, totgeschossen zu werden, ist man in jeder Schlacht ausgesetzt, an ein Verlassen auch der vorderen Posten dachte natürlich niemand, und auch das Auge wurde nicht fortgezogen, sonst hätte es ja auch wenig Zweck gehabt, nur den Gewehrlauf durchzustecken.
Der Platz des getöteten Indianers war sofort von einem anderen besetzt worden.
»Puff!!«
Diesmal bekam ich es ab. Wenigstens mein Gewehrkolben schlug heftig gegen meine Brust. Eine Kugel war direkt gegen die Mündung des Laufes geschlagen, allerdings nicht hineingefahren.
»Bruch!«, donnerte da der eine unserer beiden Böller.
»Wonach?«, fragte der Alte zurück.
Der Kanonenmeister aber war ganz blass geworden.
Von uns hatte den Böller niemand gelöst. Er hatte eine Pulverladung gehabt, von draußen war eine Kugel eingeschlagen und hatte den Pulversatz entzündet.
»Bruch!«, fuhr auch der zweite Böller auf den Rollen im Flaschenzug zurück, diesmal aber noch ganz anders, unsere Arche legte sich stark auf die Seite.
Denn dieser Böller war mit einer Kugel geladen gewesen, die aber zu klein war für den weiten Lauf, deshalb in dicker Lage mit Werg umwickelt worden war, und die Bukanierkugel hatte sich an der Seite hinschlichen, hatte jedenfalls die Kanonenkugel umgangen, das Werg durchdrungen und das Pulver zur Entzündung gebracht.
Wenn nun statt der Eisenkugel ein Stinktopf drin gewesen wäre, der noch innerhalb dieses Raumes zerplatzen musste, ehe seine Trümmer hinausfuhren? Das wäre eine nette Geschichte gewesen! Wir hätten die Arche verlassen müssen, wären rettungslos bis zum letzten Mann verloren gewesen.
Und es sah schon jetzt verzweifelt genug für uns aus!
»Puff!«, knallte draußen wieder ein Gewehr.
Emil hatte sich seine Shagpfeife angebrannt — warum nicht, es raucht sich ganz gut bei so etwas — hatte sie zwischen den Zähnen — da griff er erst nach seiner Pfeife und dann nach seinem Bein!
Er hatte einen Schuss ins Bein bekommen, in den Oberschenkel. Es war mehr ein Streifschuss, aber so tief, dass man den Finger hineinlegen konnte. Auch bei Behandlung mit Seifenwurzel und Spucke war er für einige Tage nicht mehr als voll zu rechnen.
Und der nächste Schuss zerschmetterte einem Schwarzen das rechte Schienbein radikal.
Woher kamen diese Gewehrkugeln, die so tief durch die Arche gingen?
Nun, einfach durch die beiden für die Böllerrohre berechneten Löcher. Die beiden Geschütze waren doch zurückgerollt, die Schießlöcher waren frei, und das hatten sich diese Bukanier sofort zunutze gemacht.
Und wenn sich diese Ziele auch fünf Meter in der Sekunde fortbewegten, in so ein Loch von 30 Zentimeter Durchmesser hineinzuschießen, auf eine kurze Distanz hin, dazu braucht man doch heutzutage kein Kunstschütze mehr zu sein. Das Taubenschießen in Monte Carlo oder Ostende muss man sehen, da allerdings kann man staunen oder auch sich seiner Menschlichkeit schämen. Als ob es tönerne Wurfscheiben nicht auch täten. Aber nein, sieht nicht »so hübsch« aus, da fließt doch auch kein Blut.
Natürlich wurden diese beiden Öffnungen jetzt schnell gedeckt, aber — es war wieder einmal der bekannte Brunnen gewesen.
Und beim nächsten Schuss, der die Kugel wieder zu einer Schießscharte hereinbrachte, ging ein Nasenbein flöten. Aber wie! Ein Choktaw hatte die Kugel direkt auf die Nasenspitze gesetzt bekommen, von wo sie den Weg natürlich weiter nahm, die Speiseröhre durch Knochensplitter zerschneidend. Leider — möchte ich fast sagen — war nicht auch das Rückgrat, der Halswirbel, zerschmettert. Der arme Kerl lebte und blieb am Leben, konnte aber nur noch Suppen schlucken und erblindete.
»Pestilenz, o Pestilenz, Millionen Pestilenz!«, heulte der Alte verzweifelt auf.
Selbst in dieser seiner heulenden Verzweiflung hatte er noch etwas Komisches an sich.
Der Kanonenmeister lachte denn auch wie über einen guten Witz auf. Freilich wieder mit jenem sonderbaren Klang.
Aber auch ich hätte mitlachen können.
In den ersten fünf Minuten drei Mann verloren, die schossen unsere eigenen Kanonen ab, beschossen uns durch unsere eigenen Schießscharten und wir hatten noch gar keine Gelegenheit zu einem Schuss gehabt — es war wirklich zum Verzweifeln oder zum Totlachen.
Ich war nur froh, dass wir zuerst diese Partie nicht allein gemacht hatten, dass der Ewige selbst die weitere Leitung dieser Vergnügungsfahrt übernommen hatte. Es war egoistisch und vielleicht sogar feig, so zu denken, aber — ich war froh.
Nun freilich, da wir die Schützenkette genügend hinter uns hatten, konnten wir nach unserer Kalkulation nicht mehr viel beschossen werden und wurden es auch nicht.
Denn die 200 Mann, die der Feind zählen sollte, würden doch wohl so ziemlich alle an der Grenzlinie der Bucht liegen, folgen konnten sie bei unserer Schnelligkeit nicht, und wer sich sonst in der Bucht herumtrieb, der befand sich doch nicht gerade immer an den Ufern derjenigen Kanäle, die wir passierten.
Jedenfalls wollte der Alte die ihm von dem geständigen Bukanier näher bezeichnete Stelle aufsuchen, wo sich der bisher unbekannte Durchgangstunnel befand.
Wo dieser war, wo jenes andere Tal, wie die Lumpers und ihre Spießgesellen in dieses gelangt waren — von alledem hatte ich bisher weiter kein Wort erfahren. Nur das, was uns der Alte offenbart hatte.
Bei den vielen Zickzacklinien war eine Richtung schwer zu bestimmen, es schien aber, als ob der steuernde Alte nach Nordosten strebe, also in den Zipfel der Bucht hinein, von dem wir freilich noch weit entfernt waren. Dann hätte es sich um sieben Kilometer gehandelt, und trotz unserer zehnknotigen Fahrt kamen wir wegen der vielen Umwege doch nicht so schnell vorwärts.
Unterdessen hatte der Alte schon die beste Anordnung getroffen, die er hätte geben können. Einmal mussten wir doch wieder heraus, mussten die Schützenlinie doch nochmals passieren und wollten dabei doch womöglich gar keinen Menschenverlust mehr haben. Und so an den Schießscharten stehen, die als Zentrum der schwimmenden Zielscheibe dienten, immer in der Erwartung, eine Kugel durchs Auge oder ans Nasenbein zu bekommen, das war doch einfach scheußlich.
Also die Lederpäcke an einigen Stellen der Wände fortgeräumt und dort durch die gar nicht so starken Holzplanken kleine Löcher gebohrt. Ein Drillbohrer genügte schon. Durch diese an sich winzigen Löcherchen konnte man schon ein großes Terrain überschauen. Gewahrte man einen Gegner, dann sprang man eben schnell nach einer Schießscharte. Aber nur nicht immer vor diesen direkt stehen müssen!
Das alles aber zeigte auch schon, wie es mit der ganzen Archerei nichts war. Und das würde sich auch bei einer mit Stahlplatten gepanzerten Kriegsarche nicht ändern. Die Bukanier schossen immer wieder in die Schießscharten hinein, ehe wir dazu kamen, ein Gewehr abzudrücken. Das ganze Terrain machte den Gebrauch der Archen zwecklos. Die im Wald und Busch schleichenden oder ruhig auf dem Bauche liegenden Bukanier waren da in zu kolossalem Vorteile. Es musste eben beim Schleichkampfe von Deckung zu Deckung bleiben. Da waren ja auch diese unsere Jäger in ihrem Element.
Zunächst aber sollte hier alles ganz anders kommen.
Es waren höchstens erst zehn Minuten vergangen, wir befanden uns, wie der Alte dann konstatieren konnte, zwei Kilometer von der Grenzlinie der Bucht entfernt, hatten eben erst damit begonnen, die Lederpäcke fort zu räumen, als es plötzlich unter unseren Füßen knirschte, die Arche wurde mächtig gebremst und — wir saßen eben fest!
Als ich an eine Schießscharte sprang, sah ich zunächst etwas, was mich zuerst mit wahrhaftem Schreck, dann mit dem größten Staunen erfüllte.
Doch will ich die Ursache erst später schildern. Jetzt war die Hauptsache, dass wir festgefahren waren. Und zwar gerade auf einem für uns äußerst ungünstigen Terrain.
Es war ein mit Sandbänken durchsetztes Wassergebiet, vielleicht 250 Meter im Durchmesser, ringsherum von Wald und dichtem Gebüsch eingeschlossen, wir saßen gerade in der Mitte — und 120 Meter, das war gerade die richtige Entfernung, bei der man mit unseren Jagdbüchsen, die doch auch die Bukanier besaßen, so hübsch gestrichenes Korn nahm!
»Himmel und Hölle, hat sich denn alles gegen mich verschworen?!«, rief der Ewige jammernd.
Ja, wie konnte sich dieser Mann, der doch auch sicherlich dieses Gebiet durchaus kannte, so furchtbar festfahren?
Nun, einfach weil er nicht daran gedacht hatte, dass die Arche ausnahmsweise so stark belastet war, daher so tief ging. Denn schon die Lederpäcke, mit der die ganze Arche austapeziert war, wogen viele, viele Zentner.
Oder wenn er dies auch gewusst hatte, so konnte er doch nicht allüberall genau die Wassertiefe kennen. Bis auf den Grund sehen konnte man hier nirgends, das Wasser war sehr dunkel. Jede andere normal belastete Arche konnte ganz sicher hier über diese Stelle fahren, sonst hätte der Alte niemals diesen Kanal eingeschlagen — aber vielleicht nur drei Zentimeter mehr Tiefgang, das genügte schon, um unsere Arche festzuhalten.
Und wie sie aufgefahren war, mit dem ganzen flachen Boden festsitzend, das hatte man gleich hören können und fühlen dazu. Wir waren ganz mächtig gebremst worden.
»Himmel und Hölle, hat sich denn alles gegen mich verschworen?!«
So hatte der Alte gerufen, wirklich in jammerndem Tone, weil der eben gleich am besten erkannte, in welch schrecklich fatale Situation wir da geraten waren, gerade in diesem Terrain!
Da suchte er seine Verzweiflung nicht zu verbergen, er hatte gejammert.
Nun aber brach bei ihm die Wut hervor.
Drohend schüttelte er gegen uns die Fäuste.
»Jungens, Jungens«, brüllte er uns wütend an »dankt Eurem Schöpfer, dass das niemand von Euch verschuldet hat! Der könnte ja von mir etwas zu hören bekommen! Prügeln würde ich ihn! Na, wie kann sich denn nur jemand hier festfahren?! So ein Kamel, so ein Rindvieh, so ein nickelstahlgepanzertes Nilpferd, doppelkohlensaures Nashorn, dreifach gehörntes Rhinozeros, vorsündflutliches Megatherium scelidotherium maximum! So würde ich den titulieren, dem das passiert wäre! Und ihn dabei links und rechts ohrfeigen! — Bei mir ist das was anderes, ich kann's mir leisten.«
Ach, wie soll ich die Wirkung dieser Worte schildern!
Wie er zuletzt plötzlich in einen ganz anderen, stolzen, herablassenden Ton fiel. Und nun dieses Gesicht dazu, diese vornehme Geste!
Der angeschossene Emil befand sich bereits in der Behandlung meiner Frau und eines alten Indianers. Aber das war ein anderer als die weiße Wolke. Und wenn der alle die Wunden, deren Narben er im Gesicht, auf dem Schädel, am nackten Oberkörper über und über hatte, selbst geheilt hatte, dann musste der auch wirklich etwas von Wundbehandlung verstehen. Der ganze Kerl war nur ein einziger zusammengeflickter Fetzen.
Aber der hielt es nicht mit Seifenwurz und Spucke, sondern mit glühendem Eisen. Er brannte die Wunden aus, auch ein sehr gutes antiseptisches Mittel, nur nicht sehr angenehm.
Schon hatte er in dem Naphtaofen ein Schüreisen glühend gemacht, er kam gerade heran, und mein armer Emil wusste, was ihm bevorstand. »Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude.«
Da donnerte uns der Alte jene Worte entgegen, um dann, als er die Schuld für sich in Anspruch nahm, sanft abzuschwenken.
Und da hielt Emil noch einmal die rote Hand zurück, die ihm mit dem weißglühenden Eisen gerade durch die Wunde fahren wollte, und lachte und lachte, schüttelte sich vor Lachen, und es gab natürlich noch genug andere, die ihn dabei unterstützten. Zum zweiten Male heute sah ich auch Littlelu so aus vollem Halse lachen.
»Na was gibt's denn da zu lachen?«, wurde das alte Männchen wieder eklig. »Ist das hier etwa so eine lächerliche Situation?!«
Nein, die war es allerdings nicht. Was war zu tun? Wir mussten die Arche erleichtern. Zuerst die schweren Böllergeschütze hinaus, die konnten wir entbehren; dann die Lederpäcke, aber die konnten wir nicht entbehren. Die Wände der Arche bestanden aus nur zwei Zentimeter starken Brettern, da gingen die Büchsenkugeln glatt durch.
Nun, dann eben nur so viele Ledersäcke hinaus wie nötig waren, um die Arche wieder flott zu machen, wir drängten uns hinter zwei kleinen Lederwällen zusammen und dann mit Volldampf wieder hinaus ins freie Tal!
Ja, das war alles ganz schön und gut ausgedacht, die Sache war nur die, dass wir diesen Plan überhaupt gar nicht ausführen konnten! Wenigstens nicht, wenn wir dabei lebendig bleiben wollten.
Denn dazu musste doch mindestens ein Fenster geöffnet oder sonst wie ein Loch hergestellt werden, um die Päcke hinauszuwerfen. Und was wir dann zu erwarten hatten, das sagten uns die Bukanier sofort dadurch, dass in diesem Augenblicke ein Schuss krachte, der durch eine noch nicht faustgroße Schießscharte auf Backbordseite eine Kugel sandte, und gleich darauf wurde, wie wir deutlich hörten, in den auf Steuerbordseite stehenden Böller eine Kugel geschickt, falls da schon wieder eine Pulverladung drin war. Die Bukanier wollten uns die Mühe des Abfeuerns ersparen.
Doch das ließ sich schließlich machen, dass wir uns auf möglichst ungefährliche Weise des Ballastes entledigten. Es konnte ja alles in tüchtigem Schwunge oben zur Dachluke hinausgeworfen werden.
Aber da gab es vorher, ehe wir uns der Lederpanzerung entäußerten, noch etwas anderes zu überlegen.
»Herr Ingenieur«, wandte sich der Alte an Emil, der eben mit fest zusammengepressten Lippen auf seine gebrannte Wunde starrte, »Sie kennen doch diese Arche genau. Wie tief geht sie gewöhnlich unter Wasser?«
»Siebzig Zentimeter und tausend Schockschwerenot!«, brüllte Emil wütend.
»Was, siebzig Zentimeter?!«
»Na, dann lassen Sie's bleiben, wenn Sie's nicht glauben wollen!«, schnob der sonst so sanfte Emil seinen Brotherrn immer grimmiger an; denn wenn man so gebrannt wird, dann hört die Höflichkeit auf. »Und dazu kommt noch das Kielschwein!«
»Ach jeeh«, kratzte sich der Alte hinterm Ohr, »das ist ja noch so eine alte Arche mit einem Kielschwein!«
Als er diese Generalstabsvermessungsarche zum Kriegsschiff bestimmt hatte, das in der Hafenbucht gegen die feindliche Festung operieren sollte, hatte er eine sehr gute Wahl getroffen, indem sich gerade diese Arche ausgezeichnet steuern ließ. Daran war hauptsächlich ein Kielschwein schuld, ein unten am Boden befestigter starker Balken, keilförmig zulaufend. Aber für Gewässer, die man noch nicht durchaus kannte, war es gerade die unpraktischste. Diese Arche ging überhaupt von allen am tiefsten, und nun kam auch noch dieser Kielbalken dazu.
Die Wassertiefe musste untersucht werden, um zu bestimmen, ob es überhaupt Zweck habe, auch nur einen Böller über Bord zu werfen.
Ich will es nicht näher beschreiben, wie wir es machten, ein Lot hinabzulassen, ohne uns feindlichen Kugeln auszusetzen. Es geschah durch ein Loch, das nahe der Wasserlinie in die Wand gebohrt wurde. An verschiedenen Stellen wurde diese Messung vorgenommen.
Noch nicht 40 Zentimeter, dann traf man überall auf festen Sand; auf festen insofern, als das Lot sich schon in weichen Sand etwas eingesenkt haben musste.
Mehr als 30 Zentimeter tief lag unsere Arche in Sand gebettet! Und dann kam noch das Kielschwein hinzu! Na ja, wir waren doch mit zehn Knoten gefahren! Erst war der Boden wohl über den Sand geschusselt, aber sobald sie stand, hatte er sich hineingesenkt.
Da half es nichts, und wenn wir auch den letzten Zwieback über Bord warfen, dadurch kamen wir nicht wieder flott. Auch nicht, wenn wir alle selbst die Arche verließen; sie saß schon durch ihr Holzgewicht fest. Das konnte Emil auf dem Papier berechnen, ich konnte es auch, und diese Wassermenschen hier, die ihre Archen ganz genau kannten, wussten es aus praktischer Erfahrung.
Also rettungslos festgefahren!
Ja, wie sollten wir nun wieder von hier fortkommen?
Einen Spaziergang über diese Sandbänke machen?
Bis dort an den Waldrand kam niemand lebendig, das war ja nun ganz sicher.
Jetzt muss ich zunächst erwähnen, dass sich unter den Männern, die der Ewige mitgebracht hatte, die ich zuerst für lauter Jäger — für Hunter, wie sie sich hier nannten — gehalten hatte, auch ein Arbeiter von einem Räucherschiff befand.
Der Mann hieß Pape, war ein Plattdeutscher, erst vor kurzem hier angestellt worden, kannte also die Verhältnisse noch nicht so genau. Da er nun schon gehört hatte, wie ich mit dem Grafen und mit Emil manchmal deutsch sprach, so wandte er sich jetzt auf Plattdeutsch an mich.
»He mutt piepen, dat eene andere Arch kommt, dee uns affholt. He mutt piepen.«
Nicht weit davon stand der Alte, drehte uns halb den Rücken zu und nagte finster an seiner Unterlippe.
Er hatte diese Worte gehört und verstanden, wütend fuhr er plötzlich herum und auf mich los.
»Piepen, piepen! Wer sagt das? Pape? Pape? Was weiß denn Pape vom Piepen! Pape is mir ganz piepe, ich bube uff Pape!«
Die Bukanier mussten doch glauben, unsere Arche sei ein Narrenhaus!
Nun, mochten sie nur hören, wie hier gelacht wurde, es schadete nichts.
Aber mit dem Piepen war es hier wirklich nichts.
Gepiept konnte wohl werden, aber auf zwei Kilometer wird kein menschlicher Pfiff gehört.
»Wir warten einfach die Nacht ab, es ist Neumond, dann schleichen oder schlagen wir uns durch!«, entschied der Alte.
Die Männer verteilten sich an den Schießscharten, die man ja jetzt recht wohl als Gucklöcher benutzen konnte, das Gefährliche bestand nur darin, sein Auge zum Zielen direkt daran zu bringen. Viele legten sich schlafen. Fast alle hatten ja die ganze Nacht schlaflos verbracht, und das war hier denn doch etwas anderes als ein Hochzeitsfest, bei dem man es wohl einmal drei Tage und Nächte aushalten kann. Hier hieß es wieder mit klaren Augen und Sinnen auf dem Posten sein, sobald es gefordert wurde.
Nun, ich hatte ja in der Nacht einen ausgiebigen Schlaf gehalten. Jetzt betrachtete ich zunächst mit Muße dasjenige, was mich vorhin beim ersten Blick mit etwas Schreck und dann mit Staunen erfüllt hatte.
Vor uns, nur etwas seitwärts, sodass wir daran direkt vorbeigefahren waren, stand in einer Entfernung von kaum 50 Schritt auf einer Sandbank ein ungeheures Ungeheuer. Ich gebrauche diesen Ausdruck natürlich mit Absicht.
Eine langgeschwänzte Eidechse mit Schlangenhals und im Gegensatz zum mächtigen Körper winzigem Kopfe, im ganzen 30 Meter lang und fünf Meter hoch, auf sehr hohen Füßen stehend, darf man wohl so bezeichnen.
Es war ein Brontosaurus aus der Kreidezeit, also so ein vorsündflutliches Ungeheuer. Ob ich diese Namen, die ich noch nennen werde, schon damals so geläufig kannte oder nicht, bleibt sich gleichgültig.
Bewegen tat sich dieses Ungetüm freilich nicht. Es stand noch genau so da wie vorhin, war also aus Stein oder aus einer sonstigen Masse, eine Figur. Aber wenn man zufällig einmal aus dem Fenster guckt und man hat dicht vor seiner Nase solch ein Ungeheuer, da darf man wohl etwas erschrecken, auch wenn es sich nicht bewegt.
Doch dies war nicht das einzige Wesen einer früheren Erdperiode, das diese Sandbankgegend — belebte, hätte ich bald gesagt, und es wäre auch gar nicht so falsch ausgedrückt.
Auf einer anderen Sandbank lag ein großer Stein, ein Felsblock, und an diesem richtete sich ein anderes Ungeheuer empor, auch wieder eine Art Eidechse, aber doch wieder etwas ganz, ganz anderes. Ein Stegosaurus, ebenfalls hochbeinig, aber der Schwanz war nicht so lang, der Hals fehlte ganz, und dann vor allen Dingen lief den Rücken entlang bis zur Schwanzspitze ein mächtiger Kamm.
Und dort, halb im Wasser liegend, ein Geosaurus oder Masosaurus, eine Seeschlange von noch mehr als 30 Meter Länge, mit tüchtigen Flossen, auch viel dicker als sonst eine Schlange.
Und dort sperrte ein Plesiosaurus, eine Art Robbe mit Schlangenhals, seinen von schrecklichen Zähnen starrenden Rachen gegen einen Triceratrops auf, der zur Abwehr den furchtbaren Stachel senkte, den er auf dem Kopfe mit dem Geierschnabel trug, kein Horn, sondern ein Stachel, freilich meterlang, wie das ganze Vieh überhaupt mit Stacheln bedeckt war, obgleich es auch noch eine Panzerung hatte.
Und solcher Ungeheuer auf den Sandbänken und dazwischen halb im Wasser noch eine ganze Menge. Natürlich fehlte auch der bekannte Ichthyosaurus nicht, den Viktor von Scheffel so schön besungen hat, er war in mehreren Exemplaren vertreten, und sonst will ich nur noch einen Pareiosaurus erwähnen, ein drei Meter hohes Scheusal von einem Frosche, gegen den der Froschmensch, den wir auf der Lemureninsel gesehen hatten, noch ein Apollo zu nennen gewesen war.
Alles in ganz natürlicher Stellung, auch in verschiedenen Farben ausgeführt. Doch kam nur Grau, Braun und Schwarz in Betracht.
Der Alte tippte mich an.
»Na, Käpten, wie gefällt Ihnen diese Menagerie?«
»Da haben Sie etwas ganz Originelles geschaffen.«
»Originelles? Damals«, — jetzt klopfte er sich mit der Fingerspitze ganz energisch gegen seine eigene Stirn — »damals hat's bei mir gepiept.«
»Wieso denn?«, musste ich lachen. »Das ist doch eine prächtige Szenerie aus der Jurazeit unserer Erde, die Figuren sind doch künstlerisch modelliert, alles ist vortrefflich arrangiert.«
»Ja, wenn's nur das wäre, aber damals wollte ich diese Zementfiguren lebendig machen.«
»Lebendig machen?«
»Na lassen Sie's nur gut sein. Sie wissen doch ganz genau, was ich meine, oder ich brauche Ihnen nur zu sagen, dass ich auch einmal ein Schüler von den Mahahahahahatmas war. Ich muss nämlich immer lachen, wenn ich an diese indischen Kerlchen denke. Besonders über mich muss ich lachen. Ich hatte hier eine Schule eingerichtet, hier in diesem Tale. Das ist aber lange her, damals dachten Sie noch gar nicht an Ihre Geburt. Da schwabbelten Sie noch als Astrallampe in der vierten Dimension herum. Und das sage ich Ihnen, mein lieber Schwiegersohn: Wenn Sie sich einmal mit diesen Mahahahahatmas einlassen, dann — nehme ich Ihnen meine Tochter wieder weg. Verstanden?«
»Sie zeigen eine weiße Flagge!«, erlang da der Ruf und machte unserer Unterhaltung ein Ende.
Am Waldesrand wurde aus den grünen Zweigen ein weißer Lappen heftig geschwenkt. Durch das Fernglas sah man auch den Stock, woran er befestigt war, aber keinen Arm, keine Hand. So vorsichtig waren die Burschen.
»Erkennt Ihr die Unverletzlichkeit eines Parlamentärs an?«, wurde mit ganz diplomatischen Ausdrücken gerufen.
Es waren ja nur wenig mehr als hundert Meter, die uns überall von dem kreisförmigen Waldessaum trennten, diese Entfernung kann man leicht überschreien.
»Übernehmt Ihr die Beantwortung«, sagte der Alte zu mir, »Ihr habt eine gute Stentorstimme, und an der meinen könnte man mich erkennen.«
Er hatte recht! Wenn die Banditen noch nicht wussten, dass sich auf der Arche der Alte befand, dann war es gut, dass sie es nicht erfuhren.
»Mit ja oder nein?«
»Natürlich mit ja.«
»Natürlich? Es sind blutige Räuber und Mordbuben.«
»Auch mit solchen kann man in Unterhandlungen treten.«
»Und die Unverletzlichkeit gilt dann natürlich auch.«
Der Alte blitzte mich mit seinen veilchenblauen Augen an, blieb aber ganz ruhig.
»Hm, Ich verüble es Euch nicht, was Ihr da gesagt habt. Bei unkontrollierbaren Raubtieren kann man immer Ausnahmen machen, auch wenn sie nur zwei Beine haben. Ja, er soll als vollwertiger Parlamentär gelten. Das genügt.«
»Erkennt Ihr die Unverletzlichkeit eines Parlamentärs an?!«, wurde nochmals gerufen. »So antwortet in drei Teufels Namen doch!«
»Ja!«, rief ich zurück.
»Wer gibt diesen Bescheid?«
»Kapitän Hagen.«
Der weiße Lappen wurde zurückgezogen.
Und ich erschrak etwas.
Alle Wetter ja, ich hatte doch den heiligen Parlamentarismus selber gebrochen!
War doch gestern als Parlamentär hingefahren und hatte so einen Kerl ohne seine Einwilligung mitgenommen!
Doch nein, ich fühlte deshalb mein Gewissen nicht beunruhigt. Ich hatte keine weiße Flagge gezeigt, schon bei meinem ersten Besuche nicht — und überhaupt, ich fühlte mein Gewissen eben durchaus nicht belastet.
Aber ob die Banditen mich jetzt noch für vollwertig nehmen würden? Es ging ja meiner Ehre nicht zu nahe, wenn sie es nicht getan hätten, aber —
Da tauchte der weiße Lappen wieder auf.
»Kapitän Hagen!«
»Ja.«
»Ich nehme an, dass Ihr es wirklich seid.«
»Ich bin es wirklich.«
»Garantiert Ihr die Unverletzlichkeit unseres Parlamentärs?«
»Ja.«
»Zeigt eine weiße Flagge.«
Schnell hatte der Alte selbst eine fertig gemacht, wozu wieder ein Stück von Emils bestem Oberhemd dienen musste, ich zwängte sie an einem Stock durch eine Schießscharte.
Daraufhin kam aus dem Gebüsch ein leichtes Boot heraus, an dem vorn die weiße Flagge befestigt war, nur ein einziger Mann saß rudernd darin.
»Hm«, meinte der Alte, »ich habe es mir anders überlegt. Jetzt, da wir in persönlichen Verkehr treten, sollen sie auch wissen. dass ich persönlich hier bin, denn ich kann mich doch vor denen nicht verstecken. Dann möchte ich aber auch selbst mit dem Parlamentär sprechen. Ihr habt doch nichts dagegen?«
»Durchaus nicht.«
Das Kanu hatte die Arche erreicht, die ledergepolsterte Tür wurde geöffnet, der Mann trat in den Salon, das heißt in den größten Raum der Arche.
Es war ein alter Bekannter, den ich schon längst erkannt hatte — der rote John.
»Hört, Käpten, Ihr habt Euch gestern nicht schön betragen!«, begrüßte er mich gleich.
»Was habt Ihr jetzt zu sagen?«
»Na, wir nehmen's Euch nicht weiter übel. so sind wir nicht, wir verstehen schon zu unterscheiden. Großartig hattet Ihr das gemacht.«
»Was wollt Ihr?«, fragte da der Alte.
Der rote John drehte sich etwas um.
»Aaah, der Ewige selber!«
»Ja. Und?«
»Gut, machen wir's kurz. Ihr seid hier festgefahren.«
»Woher wisst Ihr das?«
»Weil wir's gesehen haben; sonst lägt Ihr doch auch hier nicht so still. Macht mir doch nichts vor.«
»Wir werden schon wieder flott kommen.«
»Nein.«
»Weshalb denn nicht?«
»Ihr müsst Euch hier ganz eklig festgefahren haben! Das war zu sehen. Wie die Arche bremste. Und sonst hättet Ihr auch schon längst alles über Bord geworfen. Es hat aber schon gar keinen Zweck.«
»Na und?«
»Ihr sitzt hier rettungslos fest.«
»Na und?«
»Denkt nicht etwa, dass Euch eine andere Arche zu Hilfe kommen kann.«
»Weshalb denn nicht?«
»Wir sprengen sie mit Bomben auseinander.«
»Mit Bomben? Wo wollt Ihr denn die herhaben?«
»Haben wir. Selbstverständlich. Können wir. Haben Pulver genug und auch Eisentöpfe. Auf Bomben verstehen wir uns. Verlasst Euch drauf. Bis hierher können wir sie allerdings nicht schleudern, das stimmt, oder da müssten wir uns erst so etwas wie ein Geschützrohr anfertigen. Geht ja auch zu machen. Haben's aber nicht nötig. Aber durch die Kanäle kommt keine andere Arche. Da stehen wir an den Ufern und werfen unsere Bomben.«
»Na und?«, erklang es nach wie vor.
»Ihr seid hier rettungslos festgenagelt.«
»So meint Ihr. Ich denke anders.«
»Denkt nicht etwa, dass Ihr in der Nacht durchschlüpfen könnt. Bis zum Abend haltet Ihr gar nicht mehr aus.«
»Warum denn nicht?«
»Nach zwei Stunden lebt von Euch kein Mann mehr.«
»Da bin ich gespannt.«
»Ihr müsst die Arche verlassen.«
»Wir denken gar nicht daran.«
»Ihr werdet dazu gezwungen.«
»Wie will man denn das machen?«
»Ihr werdet ausgeräuchert. Wir lassen Brander schwimmen. Die Arche liegt gerade recht hübsch, um sie aufzufangen.«
Da sah ich, wie das unbewegliche Gesicht des Alten sich vollends in Stein verwandelte. Das war ein schlimmes Zeichen.
Und ferner sah ich, wie gleichzeitig das rote Gesicht des Banditen einen Ausdruck wilder Gier annahm. Nicht nur, dass seine Augen so aufleuchteten, aufglühten.
Ein weißer Hunter hatte sich von seinem Kautabak ein Stück abgeschnitten.
Dorthin hatte der Bukanier geblickt. Und da ging mir gleich eine Ahnung auf, denn ich war Seemann.
»Nun und?«, fing wieder der Alte an. »Weshalb seid Ihr jetzt gekommen?«
»Wir wollen Euch vielleicht laufen lassen.«
»Unter welchen Bedingungen?«
»Ihr könnt Euch freikaufen.«
»Womit?«
»Mit Tabak.«
Tabak! Das große Wort war ausgesprochen!
Wer die wahrhaft gewaltige Bedeutung dieses Worten nicht kennt, der kennt das ganze Weltgetriebe nicht.
Erst kommt das Salz. Wo kein Salz ist, da gibt es auf dieser Erde kein menschliches Leben. Das Volk, das sich sein Kochsalz nicht selbst zu produzieren versteht, hat noch nie eine Rolle gespielt, wird immer unterjocht sein, wie zum Beispiel Finnland. Wer den Salzhandel in Händen hat, der beherrscht die Erde: England. Das wussten schon die alten Juden, sie hatten sogar Sprichwörter dafür. »Ihr seid das Salz der Erde.«
Nach dem Salz kommt heute gleich der Tabak. Er ist zum unumgänglichen Bedürfnis der Menschheit geworden. Leider. Aber das geht nun nicht mehr zu ändern. Hunderte von Millionen Menschen kämen für den Welthandel nicht mehr in Betracht, wenn sie keinen Tabak mehr erhielten.
Das Brot kommt dann noch lange nicht, wenn man darunter das Gebäck aus dem Mehl von Ceralien versteht. Dieses Brot beherrscht nur Europa und den nördlicheren und südlicheren Teil Amerikas. Im ganzen anderen Amerika regiert der Mais, der nicht verbacken werden kann, dessen Grieß gibt nur eine Grütze, als Polenta auch schon in Italien unentbehrlich geworden. In China, Indien und Umgebung spielt die Rolle unseres Brotes der Reis. In Afrika der Durra, eine Hirse. Dazu kommt noch Maniok, Arrowroot und Tapioka, das Mehl aus den Wurzeln verschiedener Pflanzen. Das spielt aber dann wirklich die Rolle unseres Brotes! Kartoffeln und Bataten sind wieder etwas ganz anderes.
Salz aber ist Salz, und Tabak ist Tabak, mag er gewachsen sein und aussehen und riechen oder stinken, wo und wie er will. Er lässt sich durch nichts ersetzen, obgleich man's immer einmal probiert.
Wenn an Bord bei langer Reise der Tabak ausgeht, dann steht's faul. Davon kann wohl jeder langerfahrene Seemann ein Geschichtchen erzählen. Wie elend es einem da in der trostlosen Wasserwüste zumute wird.
Der Mann an Land kann wenigstens trockene Kastanienblätter, Kartoffelkraut oder so etwas Ähnliches in die Pfeife stopfen. Aber was sollen wir qualmen lassen?
Kaffeesatz will durchaus nicht brennen; am besten lassen sich Teeblätter rauchen, natürlich schon einmal aufgebrüht gewesene, sie schmecken sogar ganz gut. Aber da ist etwas Eigentümliches und wohl auch Gefährliches dabei. Man verliert vollständig den Appetit, kann bald nichts mehr essen. Man wird davon nicht direkt krank, kommt aber ganz von Kräften, und es dauert nach Aufgabe der Ursache lange Zeit, ehe man wieder essen kann.
Aufgefranste Packleinwand hat sich nicht bewährt. Das probieren nur noch Neulinge. Das Beste ist und bleibt weichgeklopftes und aufgefasertes Tauwerk, Kabelgarn. Das raucht und kaut sich sehr schön. Es hat nur den einen kleinen Nachteil, dass man fortwährend nach der Gallion rennen muss, sonst tadellos. Merkwürdig ist es, dass dieser Tabak umso besser wird, aus je dickerem Tau man ihn bereitet hat. Es scheint mit der größeren Mühe des Weichklopfens zusammen zu hängen. Diese Mühe und Sorgfalt wird dann aber auch reich belohnt. Es gibt da die verschiedensten Tabaksorten, die jeder nach Belieben wählt: starkgeteertes Kabelgarn, mildgeteertes, ungeteertes, dick und dünn, in allen Nuancen vom tiefsten Schwarz bis zu schneeiger Weiße, mit einem leichten Geschmack nach Petroleum, nach Schmieröl und so weiter. Ich für meine Person ziehe zum Rauchen mildgeteertes Kabelgarn vor, grob geschnitten, gemischt mit ein wenig baumwollenem Strumpf oder Hemd Feinschnitt und einen ganz kleinen Schuss Kaffeesatz dazu; zum Kauen aber kommt bei mir nur fingerdickes, starkgeteertes Hanfseil von rein-naturellem Geschmack in Betracht. Auch einen Yokohama-Hut rauche ich ab und zu ganz gern, nur muss man ihn erst einige Stunden mit Seife und Soda kochen, um den fatalen Lackgeschmack zu beseitigen. So kann ich auch einen Filzhut präparieren, gleichgültig ob steif oder weich, was ich aber vorläufig mein Geheimnis bleiben lassen möchte.
Und wenn nun nach solch einer Prüfungszeit im Hafen die Bumbootsfrau angerudert kommt, wie die empfangen wird! Arme Landesmutter, wo bleibst Du da! Wohl mag das Städtchen, durch das Dich Deine Reise führt, mit Flaggen und Girlanden festlich geschmückt sein, die Kanonen mögen donnern und alle Kehlen Hurra brüllen — mit dem Empfang einer Bumbootsfrau kannst Du den Deinen nicht vergleichen! Denn der kommt vom Herzen! Wir kennen die Bumbootsfrau nicht — Dich aber kennt man auch nicht. Oder probier's doch einmal, gehe in gewöhnlicher Toilette auf der Straße, unverschleiert — ob man Dich erkennt —
»Tabak? Habt Ihr keinen mehr?«
»Gott soll mich«, — ich will den fürchterlichen Fluch nicht wiedergeben, — »wenn ich noch eine Tasche habe. So habe ich sie schon ausgekaut, weil sie noch etwas nach Tabak schmeckten.«
Die Sache war eben die, dass die Lumpers und ihre Spießgesellen, als sie gestern angekommen, wenig oder gar keinen Tabak mehr gehabt hatten. Sie hatten in den Proviantmagazinen des Tunnels welchen zu finden gehofft, aber dort war alles vorhanden, nur kein Tabak. Und die anderen, mit denen sie sich vereinigt, hatten auch keinen. Und wenn sie nur zwölf Stunden ohne Tabak gewesen, so dünkte ihnen das schon eine Ewigkeit, sie wurden von einem wahren Heißhunger, von der Blutgier eines Raubtieres danach erfüllt. Wie oft schon mag in solchen Gegenden ein einsamer Wanderer wegen eines kleinen Stückes Tabaks, das er mit einem anderen nicht teilen wollte, sein Leben haben lassen müssen.
»Wie viel?«
»Na — 's ist ja nur vorübergehend — alles ist ja schon in Hülle und Fülle eingetroffen, auch die besten Magazingewehre und Patronen dazu massenhaft — nur den Tabak haben diese verfluchten Hunde wieder vergessen, wir müssen nun wieder ein paar Tage warten, bis der nächste Transport kommt —«
»Wie viel Tabak?«, wiederholte der Alte.
Der Parlamentär mährte uns doch nicht umsonst so etwas vor!
»Na — einen Zentner werdet Ihr doch wohl haben.«
Der Alte hatte wohl gehofft, dass der Mann sagen würde: pro Kopf so und so viel, das reicht einstweilen. Zuletzt hätte er aber doch auch das ganze Gewicht nennen müssen, daraus hätte man sich die gesamte Kopfzahl berechnen können.
Er hatte es vergeblich gehofft. Und nun war es auch ganz richtig, wenn er deshalb keine weiteren Fragen stellte.
»O ja. Einen Zentner kann ich entbehren, sonst ist in Christoffera genug vorrätig. Was für welchen?«
»Natürlich Overwater!«, fing der Kerl im Vorgefühl des baldigen Genusses schon zu kauen und zu lecken an.
Das ist in Amerika und in den Kolonien die gangbarste Sorte. Wo der Tabak gewachsen ist, darauf kommt es gar nicht an. Der bessere wird mit Honig, der billigere mit Sirup angefeuchtet und zu steinharten Platten zusammengepresst. 448 Platten sind ein Zentner, weil auf einen Zentner 112 englische Pfund gehen. Er heißt allgemein Overwater, weil er viel »übers Wasser« geschickt wird.
»Also einen Zentner Overwater.«
»Na — so viel seid Ihr doch wert. Wie viele seid Ihr denn? Zwei Dutzend, he? Noch nicht einmal. Da gibt jeder für sein Leben noch nicht einmal fünf Pfund Tabak. Können wir billiger sein, he?«
So grinste der Kerl.
»Und dann haben wir freien Abzug?«
»Freien Abzug.«
»Aber erst muss Euch der Tabak geliefert werden?«
»Nauuu.«
»Was nein?«
»Ihr werdet doch nicht so dumm sein, uns den Tabak zu geben, solange noch ein Mann von Euch hier ist. Wer garantiert denn Euch dafür, dass wir Euch dann auch noch fortlassen. Unser Ehrenwort? Macht mir doch nichts weis. Dann lasst Euch von einer Katze das Ehrenwort geben, dass sie nicht mehr maust.«
Das war ein verflucht ehrliches Geständnis gewesen! Es imponierte mir wirklich! Dieser Bösewicht hatte auch seinen Charakter. Den ehrlichen Charakter der Hölle.
»Und sobald wir abmarschieren, pafft ihr uns bis zum letzten Manne weg.«
»Fällt uns doch gar nicht ein!«
»Weshalb denn nicht?«
»Na, dann bekommen wir doch keinen Tabak.«
»Richtig! Aber mir traut Ihr, dass Ihr, sobald wir in Sicherheit sind, den Tabak bekommt?«
»Na selbstverständlich! Da braucht Ihr gar nicht erst zu schwören oder Euer Ehrenwort zu geben, das glauben wir schon so, sonst wärt Ihr doch ein Schuft, der Ihr aber doch nicht seid.«
Das war wieder so etwas Höllisches! Diesmal aber etwas ganz Niederträchtiges. Nämlich dass dar Spitzbube und Schuft die unbedingte Ehrlichkeit des Feindes gegen diesen selbst als Waffe benutzt. Das ist sogar etwas Furchtbares. Und das gilt nicht nur für den Krieg, nicht nur für das Geschäftsleben, sondern für das allgemeine Gesellschaftsleben!
»Wir können also einfach abziehen?«
»Einfach abziehen. Und dann schickt Ihr sofort den Tabak. Dass Ihr mit dem nichts macht, wissen wir.«
»Was mit ihm machen?«
»Na, vielleicht erst so ein Giftchen hineinmischen, das ginge schon zu machen.«
»So etwas traut Ihr mir also nicht zu?«
»Nein, so etwas gibt's bei Don Christoffero nicht!«, lachte der Kerl.
Der wusste also noch gar nichts davon, dass die zurückgebliebenen Bukanier bereits ausgeräuchert worden waren durch Stinkbomben.
Oder doch? Dann hatte er ganz recht, diese Ausräucherung war etwas ganz, ganz anderes, mochte das Zeug auch noch so stinken. Einer Giftmischerei aber war der alte Mann jedenfalls niemals fähig.
»So. Hm. Ihr habt eine verdammt gute Meinung von mir. Und wie lange Bedenkzeit?«
»Gar keine Bedenkzeit!«, fuhr der andere empor »Wir wollen schnellstens unseren Tabak haben! Wozu auch Bedenkzeit? Entweder Ihr geht — oder Ihr bleibt hier und werdet ausgeräuchert. Die Brander liegen schon fix und fertig an der Abtriftstelle. Also rückt nur gleich ab. Jetzt sofort.«
»Ich muss mit meinen Leuten doch erst sprechen.«
»Wozu denn?«
»Wenn nun einer meiner Leute hier bleiben will?«
»Wozu denn hier bleiben?!«
»Weil ihm seine Person mehr als fünf Pfund Tabak wert ist, seine Ehre, weil er sein Leben nicht fünf Pfund Tabak erkaufen will.«
»Ach so. Ich verstehe. Der rote John ist nicht auf den Kopf gefallen. Ich machte ja da nicht mit, aber ich weiß schon, dass es solche Narren gibt. Well, dann bleibt der eben da. Seine fünf Pfund Tabak dürfen uns freilich nicht abgezogen werden. Wir wollen einen ganzen Zentner haben.«
»Und was geschieht mit denen, die hier bleiben?«
»Was soll mit denen geschehen?«
»Ihr lasst sie unbehelligt?«
Der Bandit sann einen Augenblick nach, dann wusste er die Antwort.
»Nein. So ein Versprechen kann ich nicht geben. Zum Teufel noch einmal, wir können die Burschen doch nicht etwa hier füttern!«
»Was geschieht sonst mit denen, die hier eventuell zurückbleiben?«
»Ja die — müssten hier in ihrer Arche verhungern. Heraus lassen wir sie natürlich nicht, dann werden sie abgeschossen. Wir können sie doch nicht hier in unserem Hauptquartier herumkriechen lassen. Ihr wollt Bedenkzeit? Gut, ich gebe Euch eine Viertelstunde. Bis die Schattenspitze dort den Kopf der Eidechse erreicht hat, bis dahin kann jeder frei abmarschieren. Ist es nur ein einziger, so seid Ihr schon verpflichtet, uns einen Zentner Overwater zu schicken. Geschieht es nicht, dann habt Ihr, Don Manuelo Christoffero, Euer Ehrenwort gebrochen. Also natürlich auch, wenn Ihr selbst hier bleibt. Und die Zurückbleibenden sind natürlich nach wie vor unsere Feinde. Sonst noch was?«
»Nein, das genügt. In spätestens einer Viertelstunde werde ich Euch die Antwort zurufen.«
»Dann gebt mir zum Abschlag gleich ein paar Platten Tabak mit, Ihr habt schon einige bei Euch.«
»Nein.«
»Nur eine.«
»Nein.«
»Na, dann nur einen Biss für mich!«, fing der Bandit immer mehr zu betteln an. »Ihr wisst gar nicht, wie es einem Menschen zumute ist, der schon seine Hosentaschen aufgekaut — aaah.«
Beauswell war es, der seinen Kautabak aus der Tasche geholt hatte, und geradezu unheimlich war der Ausdruck der Gier in Gesicht und Augen, wie der Bukanier danach griff.
Aber der junge Hunter zog seinen Tabak schnell zurück und blitzte jenen an.
»Wehe, wenn Du mit Deinen blutigen Fingern meinen Tabak berührst!«
Eine grenzenlose Enttäuschung, dann ein furchtbar gehässiger Blick, und der rote John sprang in sein Boot und ruderte zurück.
Während Littlelu schon oben am Baumast hing,
krachten plötzlich Schüsse, und zu Tode ge-
troffen sanken die Henker Littlelus zu Boden.
»Jungens — meine Herren — und auch meine Damen«, sagte der Alte nach kurzer Pause, »nun packt Eure Sachen zusammen, wenn Ihr was mitzunehmen habt, und wandert aus.«
Niemand sagte etwas, niemand bewegte sich. Alle blickten auf den Alten. Die weißen Hunter starrend, die roten gleichgültig, die schwarzen neugierig.
Doch — da erklang ein einziges Wort.
»Weshalb?«
Atalanta hatte es gesagt.
Ich habe mitgeteilt, dass sie sich in der Begleitung des Alten befand, als er mit seinen Jägern zu uns an Bord kam, habe sie aber sonst noch nicht wieder erwähnt, weil sie sich eben noch gar nicht bemerkbar gemacht hatte. Sie hatte immer an einer Schießscharte gestanden, einmal an dieser, einmal an jener, ohne zu einem Schuss zu kommen.
»Weil wir nur bei Nacht entweichen könnten, wenn wir nicht wie die Wahnsinnigen direkt in den Tod laufen wollen, und weil wir bis dahin die Arche nicht halten können.«
»Weshalb nicht?«
»Ich will es Ihnen zeigen.«
Er führte sie an eine vordere Schießscharte.
Was er erklärte, will ich anders fassen.
Es herrschte hier eine Strömung. So gering sie auch war — das Wasser floss von Nordosten nach Südwesten. Die Bucht hatte eben ihren eigenen Zufluss.
Wenn die Bukanier nun dort am nordöstlichen Waldesrand Reisigbündel ins Wasser warfen, so mussten diese unbedingt hier vorbeitreiben. Und unsere Arche lag gerade so, dass sie dieselben auffangen musste. Und was dennoch vorbeitrieb, was wir mit Stangen vorbeistießen, das musste sich dort in jener Bucht hinter uns ansammeln, dort musste sich der weitere
Weg verstopfen, und so kamen die Reisigbündel schließlich doch bis zu uns herauf, bis wir gänzlich von ihnen eingeschlossen waren.
Weshalb das so kommen musste, das kann ich nicht näher erklären. Dazu musste man das Terrain selbst überblicken, wie wir es taten.
Der Alte hatte gesprochen, und wir alle sahen die Richtigkeit sofort ein.
»Das haben sich auch die Bukanier auskalkuliert. Das wusste ich sofort, als der Kerl nur das Wort ›Brander‹ aussprach. Und nun fangen Sie nicht etwa mit einer Spritze an. Haben wir überhaupt eine Spritze? In der Küche ist nur eine kleine Pumpe. Wenn wir das Feuer ausgießen wollen, müssen wir dazu doch mindestens ein Fenster aufmachen. Darauf warten die Bukanier nur. Und was wollen wir denn überhaupt mit so ein paar Fingerhütchen voll Wasser machen. Wir können doch die Eimer nicht außenbords aufschlagen, wir wären doch die herrlichsten Zielscheiben. Und haben die Bukanier Glück, so haben sie auch schon den Naphtasee gefunden, den es in dieser Bucht gibt, mehrere solcher. Dort ist auch alles voll Pech. Da werden die Reisigbündel umso lustiger brennen.«
»Also rettungslos verloren!«, sagte Atalanta.
»Ja, wenn wir die Arche nicht verlassen, verbrennen wir wie die Kirchenlichter. Diesmal räuchern die Bukanier uns aus. Wurst wider Wurst.«
»Nur hier auf dem Wasser sind wir dem Feuertode verfallen.«
»Wie meinen Sie?«
»Ist es denn nicht möglich, dass wir uns dort auf der nächsten Sandbank verbarrikadieren, um dort die Nacht abzuwarten?«
Ich muss sagen, dass Atalanta da von unserer Geisteskraft sehr gering dachte, wenn sie glaubte, diese Möglichkeit hätte nicht schon ein jeder erwogen. Das hatte sogar Pape getan. Dabei spreche ich von dem nicht geringschätzend; es war sogar ein sehr intelligenter Bursche. Er kannte nur die hiesigen Verhältnisse am wenigsten, war kein solcher Wald-, Wiesen- und Wassermensch.
Nein, es war unmöglich, auf der nächsten Sandbank eine Barrikade zu errichten. Das waren hier keine Kanäle, welche festes Land durchzogen, sondern hier war einmal ein Wassergebiet, in dem sich nur einige Sandbänke befanden. Das ist ein Unterschied! Wir hatten uns in dem breiten Wasser in der Mitte halten müssen, waren von der nächsten Sandbank, die da nur in Betracht kommen konnte, noch immer 20 Meter entfernt, und wie sollten wir denn da die Lederpäcke, die als Barrikaden nur in Betracht kommen konnten, hinüberschaffen? Keiner von uns wäre lebendig an Land gekommen. Auch diejenigen nicht, welche zuletzt schnell nachspringen wollten. Während dieser 20 Meter schossen die auf der Lauer liegenden Bukanier jeden mit unfehlbarer Sicherheit weg.
Der Alte hatte dies der Gräfin mit nur wenigen Worten erklärt.
»Also unrettbar verloren!«, sagte die jetzt.
»Unrettbar dem Feuertode ausgeliefert, wenn wir nicht eine andere Todesart vorziehen.«
Dann wandte sich der Alte wieder an uns.
»Habt Ihr's gehört? Na, da nehmt Euer Bette und geht heim.«
Wieder verharrte alles schweigend und bewegungslos. Bis wieder Beauswell das Wort ergriff. Er war der Schwätzer in dieser Gesellschaft.
»Verdammt will ich sein, wenn ich's tue!«, stieß er grimmig hervor.
»Was tue?«
»Fragt doch nicht so! Verdammt will ich sein, wenn diese blutigen Schufte meinetwegen auch nur einen blutigen Bissen zwischen die Zähne bekommen oder das kleinste Stück sich in die Pfeife schneiden können. Und dass ich's gleich sage, Ewiger: Ich spreche hier im Namen aller dieser Hunter! Auch wenn sie mich nicht damit beauftragt haben. Und das ist mein letztes Wort und nun verschont uns.«
»Ich befehle Euch aber, dass Ihr —«
»A bah! Ihr habt uns gar nichts zu befehlen, wenigstens nicht in solch einem Falle. Das hier ist eine Gewissenssache. Ihr könnt uns doch nicht etwa befehlen, dass wir uns in feige Schakale verwandeln sollen.«
Der Alte zuckte die Schultern und wandte sich an uns, an den Grafen, Littlelu und mich, die wir drei zusammen standen, wozu vielleicht auch noch Pape kam.
Ehe er aber anfangen konnte, trat Atalanta dazwischen.
»Sparen Sie Ihre Worte! Oder erst eine Frage an Sie, Don Christoffero. Wollen Sie selbst denn von diesem Angebot Gebrauch machen?«
»Ich? Nee. Das können Sie nicht von mir verlangen.«
»Na also. Und übrigens sind wir bereits so gut wie gerettet.«
Wenn niemand etwas sagte, so fuhr doch alles auf oder zuckte zusammen.
»Schon so gut wie gerettet?!«, echote denn nur der Alte.
»Ja. Zunächst muss ich etwas anderes wissen. Können Sie sich nicht mit den anderen Jägern verständigen? Ihnen Signale geben?«
»Nein, kann ich nicht. Mein Pfeifen wird nicht gehört.«
»Durch Schüsse?«
»Solch ein Signal ist nicht verabredet, gibt es nicht. Je mehr wir hier schießen, auch mit den Kanonen, desto mehr freuen die sich dort jenseits der Grenze. Denn wir schießen doch nicht umsonst, denken die. Und was sollte ich auch signalisieren?«
»Dass uns eine andere Arche zu Hilfe kommt, uns abholt.«
»Sie haben doch gehört, was uns der rote Kerl sagte.«
»Was?«
»Jede Arche wird mit Bomben attackiert, und diese Möglichkeit leuchtet mir auch sehr ein.«
»Sie haben keine Bomben.«
»Hm, er kann ja nur renommiert haben, das stimmt, aber —«
»Er sprach mit Absicht eine Unwahrheit aus, eine Drohung, die sie nicht aufführen können, um uns eben einzuschüchtern.«
»Woher wissen Sie das, dass das eine Lüge gewesen ist?«
»Ich sah es ihm sofort an, als er davon begann — und da irre ich mich nie! Sie besitzen keine Bomben oder so etwas Ähnliches, um die Archen selbst zu zerstören, wenigstens jetzt noch nicht, Sie möchten sie gern haben, aber haben sie noch nicht.«
Sie hatte mit einer Überzeugungskraft gesprochen, dass an der Richtigkeit ihrer Behauptung niemand zweifeln konnte.
»Nun gut«, sagte der Alte«, »aber es gibt keine Möglichkeit, mich mit den anderen Hunters zu verständigen.«
»Doch, es gibt eine. Es begibt sich einfach jemand hin und macht die Meldung.«
»Ja, der kommt aber nicht lebendig hin!«, lachte der Alte.
»Doch.«
»Wie denn?«
Es schwimmt jemand unter Wasser hin.«
Ja, eine Idee war es!
Wir brauchten aber nur durch die Schießscharten zurückzublicken, so sahen wir die Unmöglichkeit ein — glaubten es.
»Würden Sie das fertig bringen, Frau Gräfin? Denn ich weiß ja, was Sie können.«
»Ich bringe es schon fertig!«, klang es einfach zurück. »Vierzig Meter kann ich unter Wasser schwimmen, das weiß ich. Da bin ich schon dort an der Ecke, wo die Bukanier sicher nicht gerade hinsehen. Oder ich brauche auch nur die Nase ein wenig über Wasser zu halten, das verstehe ich und das genügt. Und so komme ich dort bis zum Waldesrand, wo unter Büschen keine solche Vorsicht beim Atemholen mehr notwendig ist.«
»Ja, das ist alles ganz schön und gut«, sagte der Alte, »wenn die Sache nur nicht einen bösen Haken hätte.«
»Was für einen?«
»Den Anfang. Sie müssen sich doch erst von der Arche aus ins Wasser begeben. Das wird beobachtet Diese Spürhunde verwenden doch keinen Blick von uns. Und dann passt man natürlich auf, wo der Schwimmer wieder auftaucht, und da entgeht denen auch Ihre Nase nicht, so klein sie auch sein mag.«
»Wenn ich nur erst den Waldesrand erreicht habe —«
»Aber den erreichen Sie nicht einmal, dafür könnte ich garantieren.«
»Aber man sieht mich überhaupt gar nicht ins Wasser gehen.«
»Wie wäre das möglich? Irgend ein Loch müssen Sie dabei doch benutzen.«
»Jawohl, aber dieses Loch befindet sich schon unter Wasser.«
»Schon unter Wasser?«
»Gewiss. Diese Arche ist doch für Sie nun so wie so verloren. Also wir bohren sie unten an, schaffen ein größeres Loch, dass das Wasser herein fließt und ich hinausschlüpfen kann. Von vornherein unter Wasser.«
Alle Wetter ja! Jetzt rückte die Aussicht auf unsere Rettung allerdings näher!
»Hm«, brummte nur der Alte zweifelnd, »wie lange brauchen Sie, um über jene Grenze hinauszukommen?«
»Wie weit sind wir von dieser entfernt?«
»Fast genau zwei Kilometer. Freilich in der Luftlinie gerechnet.«
»Und mit den Zickzacklinien?«
»Wenn Sie den Weg nehmen, den wir gekommen sind, so will ich drei Kilometer rechnen.«
»So will ich eine Stunde annehmen; dann bin ich bestimmt draußen. Sobald ich im Walde bin, benutze ich ja das Wasser nur, wenn es unbedingt sein muss, und ich will mich schon durchschlagen.«
»Das glaube ich schon, aber —«
»Ob eine Arche bald zu finden sein wird?«
»Sicher. Alle die Archen, die ich für den Kampf bestimmt habe, also auch schon mit Leder gepanzert sind, müssen sich bereits an der Grenze befinden, aber in die Bucht selbst kommen sie noch nicht, so lange sie nicht meinen Befehl dazu erhalten haben, das habe ich den Hunters sogar direkt verboten, das ist eben die Sache.«
»Nun gut, so bringe ich also eine möglichst wenig tiefgehende Arche herein.«
»Ja, aber bis dahin sind wir schon ausgeräuchert. Da kommen die ersten Bündel schon geschwommen.«
So war es. Dort vom nordöstlichen Waldesrande lösten sich Büsche ab, die vorher aber noch nicht bemerkt worden waren, sich nämlich durch ihre braune oder schwarze Farbe auszeichnend. Es war vertrocknetes Gestrüpp, das zu einem Kanal heraustrieb.
»Angezündet wird es natürlich noch nicht!«, erklärte der Alte. »Bis hierher wäre es ja schon aufgebrannt. Die umgeben uns erst mit einer ganzen Hecke, dann erst wird es in Brand geschossen, mit Pfeilen, oder dann erst treiben brennende Büsche nach. Da — da — merkt Ihr schon, wie das nach Naphta riecht?«
So war es. Also sie hatten die Büsche mit Naphta begossen. Sehr schlimm für uns. Die Arche selbst konnten sie ja nicht durch Pfeile, die vorn ein schwer verlöschendes Feuer trugen, in Brand schießen. Das wäre bei einem Blockhaus möglich gewesen, aber nicht bei diesen Bretterwänden. So ausgetrocknet sie auch sein mochten, solches Feuer hätten wir von innen sofort zu löschen verstanden, gerade weil die Bretterwände nur dünn waren.
Aber was wollten wir machen, wenn wir von solch einem ganzen Flammenmeer umgeben waren, getränkt mit Naphta und vielleicht auch mit Pechstücken? Dann gab es kein Löschen mehr.
»In einer Stunde sind wir bereits geschmort oder erschossen!«, sagte der Alte.
»Das hat niemand nötig!«, entgegnete Atalanta.
»Nicht?! So nennen Sie mir doch das Mittel, wie wir diesem Schicksal entgehen können.«
»Sie selbst tragen einfach die ganze Arche an Land, dort auf eine Sandbank.«
»Die ganze Arche an Land tragen?!«, staunte der Alte.
»Oder verbleiben mit ihr lieber im Wasser, verändern nur ihre Lage, gehen den Reisigbündeln aus dem Wege.«
»Ja wie in aller Welt sollen wir denn das nur anfangen?!«, staunte der Alte immer mehr, und alle anderen mit ihm.
Es war vergebens, dass die rote Gräfin in ihrer Bescheidenheit so lange zögerte, das Mittel zu nennen, weil sie wollte, dass wir selbst es aussprechen sollten, sie wollte nicht die einzige sein, die den Rettungsplan gefasst hatte — von uns kam niemand darauf.
Da musste sie es endlich aussprechen, viel Zeit gab es ja nicht zu verlieren.
»Nun, Sie lösen den oberen Aufbau der Arche vom Schwimmboden ab. Das muss sich doch leicht machen lassen. Und zwanzig kräftige Männer werden diesen Bretterkasten doch tragen können. Natürlich immer innen stehend, hinter einem Lederschutz. Dann tragen Sie diesen oberen Teil der Arche als Barrikade hin, wohin Sie wollen —«
Genug, genug!!
Ja, nun brauchte sie nicht weiter zu sprechen. Kolumbus hatte wieder einmal ein Ei gelegt, die rote Gräfin hatte es auf die Spitze gestellt.
Viele Schmeicheleien bekam sie nicht zu hören, danach waren alle diese Männer hier nicht beschaffen.
Nur der Alte sagte etwas, aber auch nicht mit Worten, sondern nur durch eine Bewegung, die allerdings auch tönte — er holte mit der Hand aus, so weit er konnte, die Finger weit gespreizt — erst glaubte ich, er wollte der Gräfin eine hineinhauen, es sah gerade so aus, er blickte sie auch so starr an — aber er klatschte die Hand gegen seine eigene Stirn, dass es wie ein kräftiger Peitschenknall klang.
Und nun an die Arbeit! Äxte und sonstige Gerätschaften waren genügend vorhanden.
»Halt!«, kommandierte aber der Alte, noch ehe ein Schlag gefallen war. »Wir wollen den Waffenstillstand nicht dazu benutzen, um hier Vorbereitungen zu treffen. Erst muss der Krieg wieder erklärt werden.
Er trat an eine Schießscharte.
»Huipiiihhh!«, ließ er seinen Jagdruf gellen. »Meine Herren Bukanier!«
»Na, abgemacht?«, erklang die Stimme des roten John zurück. »Wollt Ihr Boote haben? Vier können wir Euch geben.«
»Danke sehr, meine Herren, wir brauchen keine Boote!«
»Gut, dann marschiert zu Fuß ab —«
»Nein, wir bleiben alle hier. Der Kampf ist eröffnet. Es gibt keinen Parlamentär mehr. Schluss.«
Die Antwort der Bukanier war ein Wutgeheul, weil sie um den sehnlichst erhofften Tabak gekommen waren. Das ließen sie uns in ihrer Phantasie ja nun schon büßen.
Sehr bemerkenswert war, dass der Ewige sie jetzt nicht blutige Schufte, Halunken und ähnlich tituliert hatte. Gerade jetzt nicht, da er die Rettung in ziemlich sicherer Aussicht hatte. Das »meine Herren« war ja freilich etwas höhnisch gewesen, aber — immerhin, es war sehr bemerkenswert, dass er keinen Schimpfnamen gebraucht hatte.
Also nun los!
Um den oberen Teil abzulösen, brauchten wir gar keine Axt und kein anderes zerstörendes Werkzeug. Die Arche bestand aus zwei Hauptteilen: aus dem schwimmenden, dem eigentlichen »Schiff«, und aus dem aufgesetzten, der eigentlichen Arche. Diese Verbindung, wenig über der Wasserlinie gelegen, wurde durch Schrauben bewirkt, und zwar befanden sich die Muttern zum Glück auf der Innenseite, oder wir hätten doch viel mehr Arbeit gehabt, hätten die Schraubenköpfe abmeißeln müssen oder die ganzen Schrauben durchschlagen. Dies alles war nicht nötig, es wurde einfach aufgeschraubt.
Während dies die einen taten, warfen andere alles, was sich innerhalb der Arche befand, durch die Luke an der Decke über Bord, denn das musste natürlich geschehen, sonst bekamen wir dann doch den Aufbau nicht vom schwimmenden Teil herab, oder wir hätten den sehr hoch heben müssen, und die Bukanier hätten uns mindestens in die dabei sichtbar werdenden Beine geschossen. Außerdem wäre da wohl der Bretterbau für uns zwanzig Mann doch zu schwer gewesen. Aber schieben konnten wir ihn, inklusive der Lederpolsterungen, das wussten wir schon jetzt.
Sehr gut war es auch, dass sich innen an den Wänden überall abstehende Metallstangen entlang zogen, zu den verschiedensten Zwecken dienend, wie zu Gewehrständern und dergleichen, sodass wir nicht erst solide Handhaben anzubringen brauchten.
Die Möbel, soweit sie nicht bequem durch die Luke gingen — wir konnten doch nicht etwa ein Fenster öffnen — mussten natürlich zertrümmert werden. Und die weißen und roten Hunter bewiesen darin eine außerordentliche Geschicklichkeit. Die schienen alle gelernte Möbeltischler zu sein — freilich in negativem Sinne. Emils soliden Schreibtisch zum Beispiel zerlegten sie mit fabelhafter Schnelligkeit in seine einzelnen Bestandteile. Und da hielten sie sich gar nicht viel mit Schraubenzieher und Stemmeisen auf.
»Bruch, bruch, bruch!«, sagte so ein roter Häuptling mit der Axt, und da war von dem Schreibtisch nicht mehr viel zu erkennen.
»Meine Zeichnungen, meine Rechnungen, meine Instrumente!«, schrie Emil.
Die wurden in Sicherheit gebracht. Gut eingepackt, in Wachstuch gewickelt und dann von einem Manne auf den Rücken genommen. Das war aber auch so ziemlich das Einzige, was nicht über Bord wanderte. Ein Glück war es, dass auf dieser Generalstabsvermessungsarche nur der Chefingenieur allein gewohnt hatte und auch nicht ganz richtig, eigentlich hauste er auf einer anderen Arche. Hier in dem schwimmenden Hauptbüro hatte er nur eine Schlafgelegenheit mit einiger Garderobe gehabt. Wenn hier mehrere Ingenieure und Arbeiter gewohnt hätten, das wäre ja freilich schlimm gewesen, wir hätten unter ihren Sachen nicht viel Auswahl treffen können, dazu war keine Zeit vorhanden.
Unterdessen war auch schon die Diele aufgerissen worden, unter der sich in dem schwimmenden Teile der Motor und die ganze Maschinerie befanden.
Einmal war es ganz gut, wenn wir den Bukaniern keine brauchbare Arche hinterließen, deren beide Teile sie doch leicht wieder zusammensetzen konnten, die Maschinerie musste unbrauchbar gemacht werden, sie wanderte einfach in einzelnen Stücken über Bord, und dann handelte es sich bei ihrer teilweisen Beseitigung auch darum, unten genügend Raum zu schaffen, dass man ein größeres Loch bohren konnte, durch welches dann Atalanta schlüpfte.
Denn dass sie die Schwimmtour unter Wasser machte, um eine andere Arche zu Hilfe zu holen, dabei blieb es, wenn zwischen ihr und dem Alten da auch noch einige Reden gewechselt werden mussten. Dass wir die ganze Archenkiste die drei Kilometer weit trugen, watend und noch viel mehr schwimmend, durch die engen Kanäle mit den bewaldeten Ufern hindurch, das ging denn doch nicht. Wir mussten hier in dem freien Sandbankgebiet bleiben, nur so war der ganze Rettungsplan ausführbar.
Ich hatte gar nichts davon bemerkt, wie Atalanta abgeschwommen war. Plötzlich war sie fort. Ich war gerade emsig mit dem Zerkleinern eines Kanapees beschäftigt gewesen.
»Es ist geglückt!«, hörte ich den Alten zum Kanonenmeister sagen. »Habt Ihr die Nasenspitze dort unten an dem Zipfel auftauchen sehen?«
»Nein.«
»Hätte ich es nicht gewusst, wo ich hinzusehen hätte und was es überhaupt war, ich hätte auch nichts davon gemerkt!«
Also die Bukanier hatten von Atalantas Abreise nichts bemerkt. Aber dass wir sonst hier etwas Besonderes vorhatten, das mussten sie natürlich merken. Wie alle die Möbeltrümmer, die Stühle im Ganzen, der auseinander genommene Naphtaofen, die Kochtöpfe und alles andere durch die Deckenluke schwungvoll über Bord wanderten.
Sie konnten wohl nichts anderes glauben, als dass wir versuchen wollten, durch Erleichterung die festgerannte Arche doch noch wieder frei zu bekommen.
Munition verschwendeten sie nicht gegen uns, hatten es aber umso eiliger, trockene Reisigbündel zu fabrizieren und sie schwimmen zu lassen.
Und wir mussten uns beeilen! Obgleich sich die Arche beim Festrennen etwas quer ins Fahrwasser gelegt hatte, genügte doch ihr sehr scharf zulaufendes Vorderteil, um die antreibenden Reisigbündel zu teilen, das heißt abzulenken, sodass kein einziges hängen blieb. Aber hinter uns hatte sich die Flutrinne bereits mit solchem Buschwerk verstopft, und nun rückte die gefährliche, nach Naphta stinkende Barrikade schnell gegen uns vor, von unten herauf, in einer Viertelstunde mussten wir von dem Gestrüpp vollkommen umgeben sein.
Die Viertelstunde verging, und wir waren noch nicht ganz so weit. Ausgeräumt war schon alles, aber die vielen, vielen Schraubenmuttern, alle eingerostet, machten uns mehr zu schaffen als wir erst geglaubt hatten.
Und die Büsche hatten uns von hinten erreicht, jetzt wurden wir eingeschlossen!
»Los doch, haut die Bolzen durch, so oder so!«, schrie der Alte. »Da kommen schon die brennenden Büsche!«
Ja, da kamen sie schon angetrieben, die schwimmenden Fackeln!
Und außerdem zischten aus dem Walde auch Pfeile heraus, eine feurige Linie in die Luft zeichnend. Brandpfeile.
»Fertig!«
Der letzte Schraubenbolzen war beseitigt.
Wir packten, gleichmäßig verteilt, die Handhaben an, über der Schulter die Gewehre, auf der Schulter für alle Fälle etwas Proviant.
An der Decke baumelte der tote Indianer, den wir doch nicht im Stich lassen wollten, der mit der zerschossenen Kniescheibe und der mit dem Nasenbein baumelte gleichfalls in Schlingen, ebenso auch Emil. Denn der konnte nicht etwa stehen, höchstens sich anlehnen, aber gleich sollte es nichts Festes mehr geben, an das man sich anlehnen konnte.
»Go ahead!«, kommandierte der Alte »Eins — zwei — drei!«
Da schusselte die obere Arche, nur ein ganz klein wenig angeliftet, über den unteren Teil hinweg, ins Wasser hinein, und wir natürlich mit.
Ob sich dabei die Arche hinten gehoben hat, weiß ich nicht. Falls einige Beine sichtbar geworden waren, so hatten die Bukanier doch nicht geschossen.
Denn in demselben Augenblick, da wir vorn ins Wasser gingen, züngelten dort hinten die ersten Flammen empor, was natürlich von den Bukaniern mit dem größten Interesse beobachtet wurde, und wenn sie dann nicht sofort, als sie uns abrutschen sahen, vor Wut brüllten, so nur deshalb nicht, weil sie nicht gleich begreifen konnten, wie wir fortkommen konnten, was überhaupt mit unserer Arche plötzlich los war.
Dann freilich, als sie unsere Kriegslist erkannten, erscholl ihr Wutgebrüll mit verdoppelter Kraft.
Aber wir waren noch nicht so ganz außer aller Gefahr.
»Durch!«, schrie der Alte. »Oder wir verbrennen doch noch!«
Dass uns einige brennende Reisigbündel entgegentrieben, hatte nichts zu sagen; sie blieben nicht hängen.
Aber hinter uns qualmte und schwelte und züngelte es, und uns so weit wie möglich von den Flammen zu entfernen, die jeden Augenblick hochschlagen mussten, im weiteren Umkreis die größte Glut verbreitend, darauf kam es an!
Und kaum hatten wir uns gegen 20 Meter weiter stromaufwärts entfernt, als hinter uns auch schon die feurige Lohe bis zum Himmel emporschlug, Die Flammen sanken ja schnell wieder zusammen, aber nur umso unerträglicher musste dort die Glut werden, von Naphta und Pechstücken verstärkt.
Doch jetzt waren wir außer Gefahr, brauchten uns gar nicht weiter zu entfernen.
Ich fasse den Schluss dieser Episode kurz zusammen.
Die Bukanier konnten uns nichts mehr anhaben, uns nur nach wie vor beschießen, was wir aber auch konnten. Wir brauchten die Arche ja nicht etwa immer zu tragen, wir stellten sie einfach in das seichte Wasser und beobachteten vorsichtig den Feind.
Einige Kugeln durchschlugen die Bretterwände dort, wo sie nicht durch dickes Leder geschützt waren, aber dort hielt sich auch niemand auf, von uns wurde keinem mehr die Haut geritzt, während von uns zwei Bukanier weggeputzt wurden, die sich unvorsichtig gezeigt hatten.
So verging noch nicht ganz eine Stunde, als eine Arche angerauscht kam. Wir wateten ihr in unserer Deckung entgegen, damit sie sich jener gefährlichen Untiefe nicht zu sehr zu nähern brauchte. Übrigens ging sie viel flacher.
Die Reisigbündel hatten sich schon längst aufgebrannt, und die Bukanier machten keinen solchen Versuch mehr, wir konnten den Brandern ja nach Belieben ausweichen.
Unterwegs aber, als wir der Arche entgegengingen, nahmen wir die beiden Böller mit, die ja leicht im Wasser zu finden und aufzufischen waren. Dieser Mühe wollten wir die Bukanier lieber entheben.
Dann legten wir unseren Kasten dicht an die andere Arche, die Schiebetüren brauchten ja nur geöffnet zu werden, und wir konnten durchschlüpfen, ohne uns einer Kugel auszusetzen. Schlüpfen oder kriechen mussten wir deshalb, weil unser Kasten ja, wenn er hingestellt wurde, nun viel tiefer stand, wir nur den oberen Teil der Tür als kleines Loch benutzen konnten.
Ungehindert erreichten wir wieder das freie Tal, ohne von Bomben, ja sogar ohne von Gewehrschüssen belästigt worden zu sein.
Wenn dann das erste des Alten war, dass er den Bukaniern einen ganzen Zentner Overwater zuschickte, so hatte dies sicher nichts mit Gutmütigkeit zu tun.
Acht Tage waren vergangen und für uns sah es traurig und beschämend aus.
Die Bukanier waren bereits in das Tal gedrungen, hatten sich bereits der der Hornbucht vorgelagerten Sägeinsel bemächtigt und hielten sie in ihrem ganzen Umfang besetzt.
Und wie sollte man den Feind auf diesem waldigen Terrain wieder verdrängen, einen Feind, der immer mehr bewies, dass er unseren Jägern in jeder Hinsicht gewachsen war?
Sie lagen ruhig in sicherer Deckung, hatten vor sich freies Terrain, und was sich darauf zeigte, wurde einfach abgeschossen.
Wir konnten ihnen auch nicht den Rückweg nach der Hornbucht abschneiden. Die dazwischen liegenden Inselchen hielten sie natürlich ebenfalls besetzt, und unsere Archen kamen als Kriegmittel nicht mehr in Betracht.
Denn jetzt besaßen die Bukanier wirklich Bomben! Eine Arche hatten sie schon bombardiert und mit achtzehn Menschenleben vernichtet, eine andere Arche war — auf eine Mine gelaufen! Zum Glück waren nur vier Mann darauf gewesen; aber ganz regelrecht in die Luft geflogen.
Da kamen die Archen nicht mehr in Betracht, auch ein stählernes Kanonenboot hätte uns nichts genützt. Es wurde nur noch von Baum zu Baum gesprungen, mehr noch von Busch zu Busch geschlichen, es wurde geschossen, gestochen und gewürgt — wenn einmal ein Gegner auf diese Weise überrascht worden war.
Aber dieses Schleichen, Schießen und Würgen verstanden die Bukanier genau so gut wie unsere Hunter.
Gestern war einmal eine Liste aufgesetzt oder vielmehr veröffentlicht worden, und da zeigte es sich, dass von den 102 Jägern bereits 39 fehlten. Als Tote, Verwundete gar nicht mitgerechnet. Die Bukanier schossen aber auch nur selten jemanden an, fast nur durch den Kopf.
Als ich diese Zahl vernahm, erstarrte mir vor Grauen das Blut in den Adern.
Innerhalb von acht Tagen fast 40 Prozent verloren! Ja mehr noch, denn es gab doch auch viele Verwundete.
Ich hatte von solch einer Verlustziffer gar nichts geahnt!
Und der Verlust des Feindes?
Der konnte nicht kontrolliert werden.
Besonders deshalb nicht, weil unsere noch vorhandenen Jäger immer finsterer und daher schweigsamer wurden.
Das aber war sicher, dass von einer Abnahme der Bukanier nichts zu bemerken war! Ganz im Gegenteil!
Ich musste manchmal lebhaft an Alfred den Großen denken, an jenen englischen König, der, wie schon einmal erwähnt, ein gewissenhaftes Tagebuch geführt hat, heute noch zu lesen, und wie er sich da nicht genug wundern kann, woher denn eigentlich die Seeräuberscharen kommen, die von Zeit zu Zeit wie die Heuschrecken in sein Land einfallen. Schlug man 10 000 tot, so kamen im nächsten Jahre 20 000 wieder.
Es waren Wikinger, sie kamen aus Skandinavien. Die durch das Recht der Erstgeburt besitzlos gewordenen nachgeborenen Söhne, die sich nach und nach aufgespeichert hatten und nun als Seeräuber auswanderten, um in ihrer Heimat nicht zu verhungern.
Aber das wusste man damals nicht. Alfred der Große, gründlich wie immer, schickte Kundschafter aus, richtige Forschungsreisende, um erst einmal zu ergründen, woher diese menschlichen Heuschreckenschwärme denn eigentlich kämen, um, ganz richtig, das Übel vielleicht gleich an der Wurzel angreifen zu können.
Ja, woher kamen denn diese modernen Bukanier?
Woher ergänzten sie sich immer in solchen Massen?
Denn das waren nicht nur 200 Mann, mit deren Anzahl sie sich früher gerühmt hatten.
Das mussten jetzt schon viel, viel mehr sein!
Was dazu gehörte, um die ausgezackte Sägeinsel mit all den vorgelagerten Eilanden so besetzt zu halten, wie sie das taten, dazu reichten nicht nur 200 Mann, das konnte auch ich schon beurteilen.
Und woher hatten sie die ganz modernen Bomben, von denen man einige unkrepiert gefunden?
Und sie schossen nicht mehr mit unseren Jagdbüchsen, sondern mit Magazingewehr, mit Winchester-Vetterli, dem Infanteriegewehr der Union, das erst kürzlich eingeführt worden war.
Und gleich zwei Tage später, nachdem wir dem Gebratenwerden entronnen waren, hatten sie das Tabaksgeschenk des Alten erwidert, aber statt des Zentners gewöhnlichen Overwaters hatten sie zwei Zentner besten Honeydew geschickt.
Es war dies eine sehr bemerkenswerte Revanche des Hohns. Das zeigte doch, wie sie Überfluss an allem hatten. Wo kamen sie nur her? Von wo und auf welchem Wege erhielten sie diesen Zufluss?
Ich wusste es nicht, und es war niemand da, der darüber Auskunft geben konnte oder wollte.
Ich besorgte auf der Kanoneninsel den Signaldienst, jetzt war ich der Kanonenmeister, nachdem Mac O'Neil mit in die Front gegangen war.
Er hatte mich innerhalb eines Tages in alles eingeweiht, so war ich jetzt das Oberhaupt von fünf anderen Signalgästen, die sich Tag und Nacht ablösten.
Das war der Posten, auf dem ich mich hier am nützlichsten machen konnte. Es waren nur intelligente Männer, die hier stationiert worden, allerdings nur Arbeiter, Mac O'Neil war der einzige Jäger gewesen — eigentlich ja überhaupt Artillerieoffizier — und wenn selbst auch der dümmste von diesen noch mehr davon verstand als ich, weil er eben in diesem Dienst Erfahrung hatte — immerhin, hier war ich an meinem Platze. Es kamen doch Fälle genug vor, wo sich die Signalgäste nicht zu raten wussten, eine Lichtdepesche nicht zu enträtseln vermochten, und ich musste da doch wohl etwas mehr Grütze im Kopfe haben. Außerdem war es den Arbeitern auch sonst sehr lieb, gerade mich als Vorgesetzen bekommen zu haben, denn mit dem Alten war gerade in diesem Signalwesen schlecht Kirschen essen, er machte manchmal einen Höllenspektakel, und ich hatte ein ungemein dickes Fell.
Welchen Posten hätte ich, wenn ich nun einmal mitmachen wollte, auch sonst bekleiden sollen? Wie eine Schlange auf dem Bauche durchs Gras rutschen, das konnte ich nicht, das hatte ich nicht gelernt, und eine andere Kampfesweise gab es hier nicht.
Es wurde nur nach den beiden Fahrstühlen signalisiert, von denen sich der eine also neben der Hafenbucht, der andere neben der Hornbucht befand. Denn die Signale mussten doch in größerer Höhe abgegeben und empfangen werden.
Am Tage geschah das durch den Heliografen, bei Nacht durch farbige Lichter. Wenn am Tage die Sonne nicht schien, konnte der Heliograf natürlich nicht gebraucht werden. Dann musste die Depesche, da Kanonenschüsse ja eine ganz andere Bedeutung hatten, durch einen Boten befördert werden.
»Weshalb legen Sie denn nur kein Telefon?«, fragte ich den Alten einmal. »Das ist mit einem Kabel doch so einfach —«
»Das geht Euch gar nichts an, das mache ich wie ich will!«, fuhr er mich grimmig an. »Nein, in mein Tal, so lange ich hier noch Herr bin, kommt keine solche Quasselleine!«
Er hatte ganz recht, das ging mich gar nichts an. Indem ich mir dies sagte, konnte ich mich doch auch nicht beleidigt fühlen. So etwas fragen oder ihm einen Vorschlag machen würde ich freilich auch nie wieder, und an diesem meinem Entschlusse wurde auch dadurch nichts geändert, dass er nur gekommen war, um mir eine Kiste feinster Zigarren zu bringen, die er mir mit liebenswürdigstem Lächeln überreichte, und meiner Frau ein allerliebstes Zwerghündchen, obwohl er sonst in seinem Jagdgebiet Hunde durchaus nicht duldete; der hier freilich konnte kaum einer Maus gefährlich werden.
Auch Littlelu hatte sich auf der Kanoneninsel stationieren lassen. Als Depeschenjunge. Wenn also wegen Sonnenmangels der Heliograf nicht funktionierte, so musste er eine Depesche, meist eine Order des Alten, nach der Hafenbucht bringen, im Motorboot auf dem kürzesten ihm nun schon bekannten Wege. Da dies aber doch nur selten vorkam, so hatte er niemals etwas zu tun, lungerte herum und räsonierte oder schwärmte von seinem nächsten freien Tage, den er sich nicht rauben lasse, und wenn sich hier in diesem Tale auch ein internationaler Weltkrieg entspänne, und wie er sich an diesem seinem freien Tage endlich einmal ordentlich erholen wolle.
Heute, also am achten oder neunten Tage nach dem Einfall der Bukanier, hatte er einmal eine Depesche nach der Hafenbucht bringen müssen, der Himmel war bedeckt. In der neunten Stunde war er abgefahren, und er hatte gleich in der Stadt bleiben wollen, denn heute Mittag begann endlich sein freier Tag.
Aber er kam doch gegen Mittag zurück.
»Wissen Sie schon das Allerneueste?«
»Nein.«
»Ich komme nur zurück, um es Ihnen mitzuteilen. Nur Ihretwegen opfere ich meine Freiheit und daher meine Gesundheit, reibe mich Ihretwegen auf.«
»Ich wollte, Sie wären schon aufgerieben, damit man endlich Ruhe vor Ihnen hat.«
»In Christoffera sind gegen 60 Jäger eingetroffen, durch einen Agenten überall aufgelesen, sie sollen gegen die Bukanier zu Felde.«
»So.«
»Da sind aber Gaunergesichter drunter! Wenn wir die nur nicht erst recht als Banditen auf den Hals bekommen. Und außerdem ist ein Bataillon mexikanische Infanterie und eine Schwadron Kavallerie angekommen, auf Befehl des Präsidenten zu Hilfe gesandt.«
»So.«
»Aber der Alte lässt sie gar nicht erst ins Tal.«
»Das macht er recht!«, wurde ich doch etwas mitteilsamer.
»Was sollen sie auch hier? Da gibt's nichts zu stürmen.«
»Freilich nicht.«
»Die werden doch beim offenen Vorwärtsgehen sämtlich weggeschossen.«
»Das ist sicher.«
»Und wissen Sie nun, wo die Bukanier herkommen? Wo jenes Tal ist?«
»Nein.«
Littlelu machte eine Kunstpause, setzte sich und sah mir zu, wie ich die letzten empfangenen Depeschen zusammenheftete.
»He, Käpten!«, ließ er sich dann wieder vernehmen.
»Sie wissen nicht, wo die Bukanier herkommen?«
»Nein.«
»Ich weiß es auch nicht. Ich wollte nur wissen, ob Sie es nicht wissen. Aber eines weiß ich: dass Sie der größte Holzkopf sind, der mir je vorgekommen ist, überhaupt ein ganzer Holzbock —«
Littlelu brach ab und bückte sich schnell, obgleich ich nur nach einer Aktenmappe über seinem Kopfe gegriffen hatte.
»Ich dachte schon, Sie wollten mir was tun.«
»Bei Ihnen nützt das ja nichts.«
»Ja, Käpten, lassen Sie doch einmal mit sich sprechen, auch wenn Sie sich gar nicht dafür interessieren, wo diese Bukanier herkommen und wo sie ihren Schlupfwinkel haben mögen. Ist es denn nicht ganz rätselhaft, dass man das nicht herausbekommen kann?«
»Ja, es ist merkwürdig, und ich interessiere mich auch sehr dafür. Aber es hat nur gar keinen Zweck, darüber zu sprechen, nur so zu raten, dadurch wird das Rätsel nicht gelöst, denn es ist eigentlich gar kein Rätsel, sondern ein Geheimnis, das erforscht werden muss.«
»Der Alte hat veranlasst, dass sich das ganze Bataillon auf die Suche nach diesem Tale macht.«
»Das hat er recht getan, dazu sind diese Soldaten ja auch ganz gut zu gebrauchen.«
»Außerdem hat er schon vor einigen Tagen eine Prämie von 10 000 Dollars ausgesetzt, demjenigen, der jenes Tal aufspürt.«
»Auch sehr gut.«
»Ja, wie kommen denn aber nur die Bukanier dort hinein? Dieses Tal muss sich doch hier ganz in der Nähe befinden.«
»Lassen Sie sich von dem Chefingenieur erzählen, wie es hier in der Umgebung aussieht, wie wenig überhaupt von ganz Mexiko bekannt ist, dann werden Sie es begreifen. Erwähnen will ich nur noch, dass in einem Lande wie Deutschland in der dichten Nähe einer großen Stadt manchmal noch eine riesige Höhle entdeckt werden kann. Und da soll es hier in Mexiko nicht solch ein ganzes Tal geben, von dem niemand etwas weiß?«
»Ja, aber wo kommen denn nur die Menschen her? Lauter Verbrecher! Wo bekommen sie den Proviant, die Munition, die Waffen her, wie bringen sie das alles unbemerkt dort hinein?«
»Ich weiß es nicht. Aber in alledem sehe ich gar kein so großes Rätsel. Was wird nicht zwischen Texas und Mexiko geschmuggelt! Trotz der schärfsten Kontrolle. Na, und hier sind wir in Mexiko selbst, da gibt es doch keine Zolluntersuchung, und außerdem gerade im wildesten Gebirgsteil.«
Unsere Unterhaltung, die jetzt auch meinerseits geläufiger werden sollte, wurde durch den Eintritt eines Arbeiters oder vielmehr Laboranten, wie sie hier auf der Kanoneninsel zum Unterschied der Arbeiter von Räucherschiffen genannt wurden, unterbrochen. Er brachte ein Telegramm, das soeben eingelaufen war, denn die Sonne war wieder zum Vorschein gekommen. Wir befanden uns in einem der unteren Turmzimmer, oben am Heliografen lösten sich zwei Assistenten gegenseitig im Dienst ab, ich führte nur die Oberaufsicht.
Die Depesche lautete:
Christ. Horn. Meister. Nach 13, aus. 3.
Diese Depeschen wurden an sich schon chiffriert gegeben, wir hatten eben unsere eigenen Morsezeichen, damit die Bukanier sie nicht etwa mitlesen konnten, weil sie das Aufblitzen in den Spiegeln doch sahen, und auch sonst wäre ihr Inhalt für einen anderen wohl ganz rätselhaft gewesen, während sie für uns ganz deutlich war.
Von Don Christoffero aufgegeben. An der Station auf dem Horn. An mich, den Kanonenmeister, persönlich gerichtet. Ich sollte nach der Bucht Nummer 13 kommen, in welcher der warme Hauptstrom mündete, und »aus« war die Abkürzung für die äußerste Insel, die dort in der Bucht lag, gerade der Mündung gegenüber, sodass man auch wohl »Ausflussinsel« deuten konnte.
Die 3 sagte, dass ich ohne Verzug kommen solle, wenn auch nicht gerade mit großer Eile. Eine 1 forderte zur größten Schnelligkeit auf, bei einer 2 musste man sich wenigstens noch beeilen.
Dieselbe Zahlenbezeichnung, um die Schnelligkeit auszudrücken, hat ja auch die deutsche Kavallerie, wenigstens im Adjutantendienst, nur in umgekehrter Reihenfolge, und dann kommt noch das Wort »Kreuz« hinzu. Der Adjutant reitet mit einem, zwei oder drei Kreuzen — in Trab, Galopp oder Karriere.
In der Mündungsbucht war ich schon gewesen, kannte auch die Aus-Insel, brauchte also keinen Führer.
Ich sagte Littlelu, dass ich fort müsse und wohin. Das musste ich auch hier hinterlassen, und wenn es nicht geschehen durfte, so wäre das auf der Depesche vermerkt worden.
»Ist Ihnen meine Begleitung angenehm?«
Ich hatte keinen Grund, ihn nicht mitzunehmen, und außerdem — ich konnte den albernen Kerl ja nur zu gut leiden.
»Meinetwegen, wenn's Ihnen Spaß macht — mir macht's ja eigentlich keinen!«, musste ich aber dem natürlich sagen.
»Gut, ich komme mit. Ich werde Ihnen die Überstunden, die ich Ihretwegen mache, billigst berechnen.«
Armer Littlelu! Wärest Du lieber nicht mitgegangen!
Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen — aber an Letzteres musste nur er allein glauben.
Wir nahmen ein Motorboot, hatten trotz seiner Schnelligkeit von 8 Knoten und obgleich ich jetzt die direktesten Hauptkanäle kannte, fast zwei Stunden Fahrt vor uns.
Wir traten die Reise an, denn eine Reise ist so etwas doch wohl zu nennen. Aber je mehr man sich an solche Entfernungen gewöhnte, desto kürzer schienen sie zu werden. Nur einem Fremden gegenüber hätte man niemals von einem »Tal« sprechen dürfen.
Wieder war alles so ungemein friedlich in der Natur. Und das Wild war so zutraulich geworden, selbst die scheuen Antilopen dachten gar nicht mehr an eine Flucht, obgleich jetzt ihre Schonzeit nicht war.
»Das glaube ich wohl, die haben jetzt Ferien!«, meinte Littlelu. »Die schauen jetzt zu, wie sich einmal die Jäger gegenseitig abschießen.«
Ja, wütete in diesem Tale, das es doch immerhin war, denn nur wirklich ein mörderlicher Kampf um Tod und Leben?
Wenn man so durch diese sonnige Stille fuhr, mochte man es kaum glauben.
Als wir den Menschenkopf passierten, fiel in der Ferne ein Schuss.
»Wieder ein Menschenleben futsch!«, sagte Littlelu.
»Ja, und welches? Es kann der Graf gewesen sein.«
»Freilich kann er's gewesen sein.«
»Was macht die Gräfin?«
»Was geht denn Sie das an, Käpten?!«
»Antworten Sie nur, wenn Sie etwas davon wissen.«
»Die befindet sich eben auf dem Kriegspfade, kraucht durch die Büsche. Ja, Käpten, wenn Sie nun heute einmal so gesprächig sind — können Sie denn nur die Handlungsweise des Alten billigen?«
»Was für eine Handlungsweise?«
»Er hätte die Macht, gegen diese Bukanier ganz anders vorzugehen. Aber nein — wir haben selbst die Telefonuhren abgeben müssen.«
Ja, auch ich hatte hieran schon oft genug gedacht.
»Er will mit diesen Mordbuben aus eigener Kraft fertig werden!«, sagte ich jetzt.
»Aus eigener Kraft? Was heißt das? Benutzt er nicht andere Menschen dazu? Hat er jetzt nicht neue, fremde Jäger kommen lassen? Fabriziert er die Gewehre selbst? Hat er etwa das Pulver erfunden? Und neulich hat er zwei Aeroplane bestellt, ich weiß es, Atalanta wird sie im Kampfe gegen die Bukanier benutzen.«
»Das ist immerhin etwas anderes als die Benutzung der Erfindungen, deren Wesen wir ja so ganz und gar nicht kennen — aus einer uns ganz fremden Welt stammend.«
»Ja, es ist etwas ganz anderes!«, gab Littlelu nach einer kleinen Pause zu, und dann wurde die Pause noch länger.
»Hat sich die Gräfin«, begann ich dann wieder, »Ihnen gegenüber schon geäußert, was es wohl mit dem Spiegelbilde für eine Bewandtnis haben könnte, das ich damals erblickte?«
»Als Sie die Miss Marwood Morgan und unseren Mephistopheles oder den Professor Dodd erblickt haben wollen?«
»Ja.«
»Noch kein Wort, obgleich ich schon mehrmals stark auf den Busch geklopft habe Die Atalanta ist genau so ein Stockfisch wie Sie.«
»Ich werde mich, wie Sie bereits bemerken, von nun an bessern, dank Ihrer wiederholten Ermahnungen dazu, und das erste Zeichen meiner Mitteilsamkeit wird sein, dass ich der Gräfin Ihre Äußerung über sie erzähle. Sie sei genau so ein Stockfisch wie ich.«
»Nee, Käpten, das machen Sie ja nicht!«, fing der erschrockene Littlelu gleich zu betteln an, natürlich immer humoristisch.
Gegen drei Uhr liefen wir in die betreffende Bucht ein, in den nordöstlichen Zipfel, in dessen äußerster Ecke der Strom, der das ganze Tal durchfloss, sich freilich mehr auf der nördlichen Seite haltend, herauskam.
Zu sehen war davon allerdings nichts, das heißt er kam nicht aus einer Schlucht, aus keiner Höhle heraus. Man bemerkte nur, dass das Wasser dort auf einem Gebiet von etwa 100 Meter Durchmesser immer in brodelnder Bewegung war, der Strom kam also direkt von unten herauf. So hätte man auch von einer Quelle sprechen können. Aber eine Quelle von solcher Mächtigkeit? Es war überhaupt ein Strom, der irgendwo unter der Erde oder im Felsen verschwand und hier unter Wasser, das heißt auf dem Grunde dieses Seebeckens, wieder zum Vorschein kam.
Auch hier war alles voll Inselchen, mit der Vegetation einer gemäßigten Zone bedeckt, die italienische Eiche mit süßen, essbaren Früchten herrschte vor, auch die Edelkastanie, und dies nun alles von einer ungemeinen Üppigkeit. Das machte die immer gleichmäßig warme, sehr feuchte Temperatur, durch den sehr warmen Strom erzeugt, während er für tropische Gewächse im Winter wiederum doch manchmal zu kalt war. Aber auch für Eichen und Kastanien war es schon nicht mehr ganz das Richtige, diese ewige Gleichmäßigkeit der feuchtwarmen Temperatur war unnatürlich, das zeigte sich dadurch, dass das Holz der mächtigen Bäume für Bauzwecke, Tischlerarbeiten und dergleichen ganz ungeeignet war, es war viel zu weich und schwammig. Es fehlte eben der kräftigende, abhärtende Winter, mag der Temperaturunterschied auch gering sein. Wenn das Tal nicht so geschützt gewesen wäre, alle diese mächtigen Baumriesen wären von jedem Windchen umgeknickt worden.
Es ist eben alles weislich eingerichtet in der Natur, große Freude macht es, sie mit solchen Augen aufmerksam zu betrachten, nur darf man nicht immer sagen, dass dies alles, wie die Abwechslung der Jahreszeiten, nur gerade für uns Menschen oder wie hier für die Pflanzenwelt so eingerichtet ist, was mir sogar geradezu wie ein Frevel, wie Größenwahnsinn oder mindestens als Beschränktheit vorkommt. Wir Geschöpfe sind es, die wir uns den gegebenen Verhältnissen anpassen, und diese Anpassungsfähigkeit, das ist es, was bewundert werden muss! Im Übrigen aber halte ich es mit dem philosophischen Beweis von Leibniz, wonach diese Welt, wie sie nun einmal ist, die denkbar beste ist, geschaffen in Allweisheit, Allgüte und Allmächtigkeit — trotz aller sichtbaren und fühlbaren Gegengründe, die für unsere kurzsichtigen Augen eben nur scheinbare sind.
Die Aus-Insel lag ganz dicht an diesem brodelnden Wassergebiet — wobei man freilich nicht an ein Sieden denken darf, das Wasser war noch keine 30 Grad warm — und noch näher an der östlichen Felsenwand, nur 20 Meter von ihr entfernt.
Hier musste sich in früheren Zeiten einmal ein Felsensturz ereignet haben, dort oben in himmelhoher Höhe konnte man an der sonst bis auf die vielen Löcher ganz glatten Wand auch so eine zerrissene Struktur erkennen, da hatten sich Felsblöcke losgelöst, waren zum Teil auch auf diese Insel gestürzt. Jetzt waren sie alle moosbewachsen, sogar schon ansehnliche Bäume hatten auf ihnen Fuß gefasst.
Wir machten das Motorboot fest, stiegen an Land, drangen tiefer in die Insel. Littlelu war noch nicht hier gewesen, wollte sie kennen lernen, und ich wusste am Ostufer ein gar lauschiges Plätzchen.
Von der Anwesenheit des Ewigen oder einem anderen Menschen war also noch nichts zu bemerken. Kam er hier an, dann musste er gleich unser Motorboot sehen, und dann würde er schon seinen Jagdruf erschallen lassen, der uns erreichte, so groß war die Insel nicht.
Also wir drangen ein. Es war eine herrliche Landschaft! So ungefähr, wie die alten Holzschnitte immer die antiken Waldidyllen darstellen, wo sich die Hirten mit den Göttern ein Rendezvous geben. Kein Unterholz, nur das saftigste, aber kurze Gras bedeckte den Boden, dafür reckten die Eichen ihre gewaltigen Äste bis zum Boden herab, und nun dazwischen hier und da ein bizarrer moosbedeckter Felsblock.
»Ja, das ist herrlich hier!«, rief auch Littlelu alsbald in ehrlicher Begeisterung. »Hier fehlt nur noch die Daphne zum Schäferspiel.«
Der wurde also auch gleich an Arkadien erinnert, das war überhaupt kein gewöhnlicher Zirkusclown.
Aber das herrlichste Fleckchen lag auf der Ostseite. Dorthin führte ich ihn. Weiter beschreiben kann ich es nicht. Wir lagerten uns zwischen den Felsblöcken im Schatten einer Eiche und gaben uns dem Genusse dieser Idylle hin. Erwähnen muss ich nur noch, dass man von hier aus auch die Felswand sehen konnte, nackt, nur mit vielen Höhlen und Löchern durchsetzt.
Ich träumte etwas, blinzelte mit den Augen — mit einem Male war ich eingeschlafen. Warum sollte ich auch nicht. Ich hatte gewusst, dass ich vielleicht einschlafen würde, und hatte es nicht zu unterdrücken gesucht. Littlelu hatte mich darin auch nicht gestört.
Lange konnte ich so, auf dem Bauche liegend, das Gesicht im gekrümmten Arm, nicht geschlafen haben, vielleicht nur wenige Minuten, als mich Littlelus Schrei oder schon mehr Brüllen weckte.
»Käpten, Käpten, Kapitaaaiiin!!«
In demselben Augenblick aber legte es sich schon mit Zentnerlast auf mich, meine Arme wurden gepackt, mit unwiderstehlicher Gewalt nach hinten gepresst, meine Hände mir auf den Rücken gebunden, und ehe ich viel zappeln konnte, war dasselbe auch mit meinen Füßen geschehen.
Dann wurde ich herumgewälzt und gleichzeitig etwas aufgerichtet, sodass ich mit dem Rücken gegen einen Felsen lehnte.
Wir wurden von einem Dutzend Männer umringt. Jäger waren es, aber — Bukanier!
Und da vor allen Dingen sah ich einen Neger, einen gewaltigen, herkulischen Kerl mit nacktem Oberleib, in den Ohren große goldene Ringe und — fehlte ihm an der einen Hand nicht der Mittelfinger? — Richtig, mein Spiegelbild wurde zur Wirklichkeit! Das war Sambo!
Und damit ich Gewissheit haben sollte, stand dort auch noch der kleine Kerl mit der Pelzkappe, auch sonst trotz der Hitze ganz in Pelze gehüllt.
Nun fehlten bloß noch unser Mephistopheles und die Miss Morgan! Aber die kamen nicht.
Und dort der rote John!
Ja, wie waren die Bukanier denn schon hierher gekommen? Nun, sie hatten sich eben hergeschlichen, hatten auch schon dieser Bucht sich bemächtigt. Die Annexion musste wohl eben erst geschehen sein.
»Hallo, Käpten, ausgeschlafen?«, begrüßte mich der rote John lachend.
Ich blieb den Gegengruß natürlich schuldig. Meine Wut, meine Scham lassen sich denken; aber merken ließ ich mir davon natürlich nichts.
»Na endlich einmal ein paar lebendig! Und wer ist denn das?«
Meinen Leidensgenossen hatte man anders gefesselt als mich, ihm nur die Arme mit einem Lasso an den Leib geschnürt, die Hände an die Schenkel, die Füße gar nicht, er stand auch aufrecht da.
»Na, wer bist Du denn?«, herrschte der rote John ihn an.
Littlelu gab keine Antwort, machte ein möglichst dummes Gesicht, überhaupt ein unbeschreibliches Gesicht, so blickte er den Frager an.
»Du weißt wohl selber nicht, wer Du bist?«, fing der rote John schon ob dieses Gesichtes zu lachen an.
»O ja, aber ich habe vor Schreck die Sprache verloren.«
Jetzt lachten auch die anderen Bukanier aus vollem Halse mit. Es war auch gar zu drollig herausgekommen, was man ja aber eben schriftlich nicht wiedergeben kann.
»Die Sprache hast Du verloren? Du kannst ja aber noch ganz gut — — ho hö höööhhh!!«
Littlelu war steif, wie er dastand, wie ein Grenadier mit den Händen an der Hosennaht, nur dass dies hier noch etwas anderes als die Disziplin verursachte, gegen den Bukanier gefallen, der ihn auffing und wieder emporrichtete, denn Littlelu tat es von selbst nicht.
»Entschuldigen Sie gütigst, alle meine anderen Glieder sind vor Schreck gelähmt, nur meine Zunge nicht, wie ich erst jetzt merke.«
Und wieder stürzte er gegen den roten John vor, der ihn abermals auffing und emporrichtete.
»Was sollen diese Narrenpossen!«, wollte er grimmig sein, musste aber doch lachen. »Na da falle um.«
Er hatte aber den steifen Mann etwas zu weit nach hinten geschoben, so kippte Littlelu diesmal nach rückwärts um, schlug kerzengerade rücklings zu Boden, wie es eben so ein Clown unbeschadet seiner Gesundheit kann, und blieb so liegen.
»So ein Hanswurst!«, lachten die Bukanier, richteten ihn wieder auf und ließen ihn immer wieder umfallen, vorwärts und seitwärts und rückwärts, teils ihn auffangend, teils ihn wirklich stürzen lassend, und sie brüllten vor Lachen.
Gedachte Lirtlelu durch solche Narrenpossen sein Leben zu retten oder sonstige Vorteile zu erzielen? Nun, es war gar nicht so dumm angefangen. Wer die Lacher auf seiner Seite hat, hat gewonnen, so sagt man.
Aber an dem armen Littlelu sollte dieses Wort zuschanden werden.
»Macht es kurz!«, erklang es alsbald. »Hängt ihn! Das dicke Kerlchen mit seinen Wurstbeinen muss zu schön aussehen, wenn es baumelt. Hängt ihn!«
Und »hängt ihn!« erklang es einstimmig im Chore.
Dieses »hängt ihn!« hat für alle diese amerikanischen Rowdies einen zu schönen Klang, sie spielen gar zu gern den Richter und Henker.
Und schon griffen die Fäuste zu.
Erst aber kam ein Mann gelaufen, welcher die Szene noch einmal unterbrach. Er sprach etwas, was ich nicht verstand, und der rote John, Sambo und der kleine Pelzmensch entfernten sich mit dem, der die Meldung gebracht hatte, nicht ohne erst einen bedauernden Blick nach dem Opfer zu werfen. Es schienen die Anführer zu sein, der rote John ja ganz bestimmt, aber zu befehlen, dass die Prozedur aufgeschoben wurde, dazu hatten sie wohl nicht die Macht. Auch schien es mir hierdurch, als ob diese Anführer noch einem anderen zu gehorchen hätten.
»Hängt ihn!«, johlten die Zurückgebliebenen, sieben Mann.
Und sie schleppten Littlelu nach dem nächsten Baume, der gerade einen Ast so schön vorreckte, schon wurde ein Lasso darüber geworfen.
Da merkte Littlelu, dass ihm seine Witze nichts geholfen hatten, dass die jetzt Ernst machten, und da verging auch ihm der Humor.
»Um aller Barmherzigkeit willen«, heulte er auf, »schenkt mir das Leben — ich bin ja noch so jung — so jung — ich bin noch nicht einmal fünfzig Jahre — und ich will ja erst noch heiraten —«
Ja, nennt man aber das nicht immer noch Humor?
Ich sah schon kommen, wie der noch bis zum letzten Atemzuge seine Witze riss.
Die Mordbuben lachten denn auch, aber helfen tat es ihm nichts; die wollten ihn mit seinem Bäuchlein und den Bratwurstbeinchen baumeln sehen, das war ihre Lust.
Vorher schnürten sie den Lasso ab. Der Hängende muss ganz frei sein. Es sieht so hübsch aus, wenn er ganz, ganz langsam hochgezogen, natürlich erst über seinem Kopf nach dem Stricke greift, um sich zu befreien, was er natürlich nicht mehr kann, wie er sich auf den Zehenspitzen emporreckt, wie er langsam in die Höhe geht, sich immer noch an dem Stricke festhaltend, was er aber bald nicht mehr kann.
Und nun stand Littlelu in dieser Stellung auf den Zehenspitzen.
Ich sagte nichts. Was hätte ich sagen sollen? Ich dachte mir mein Bestes; desto mehr sagte Littlelu, so lange er noch konnte.
»Meine Herren, meine Herren«, jammerte er. »lassen Sie mich doch noch ein bisschen leben! Nur noch hundert Jahre! Nur noch fünfzig! Meinetwegen nur noch bis an mein natürliches Lebensende! Ich will ja noch heiraten! Ich habe nächstens schon Kindtaufe! Bitte, bitte, meine liebsten Herren — nun hören Sie doch auf mit diesen Späßen — ich lade Sie auch alle zur Kindtaufe ein —«
Da verloren auch seine Zehenspitzen den Boden, er schwebte in die Höhe, immer höher.
Noch hielt er sich an dem dünnen Lederseile fest, was er aber unmöglich lange aushalten konnte, und so lange er das vermochte, ließ er sein Mundwerk auch nicht still stehen.
»Meine Herren, meine Herren — meine lieben Gevattern — es gibt selbstgebackenen Kuchen —«
Da rutschten seine Hände herab, damit auch der ganze Körper.
»Nun ess ich ihn selber!«, erklang es noch einmal röchelnd, dann krampfhafte Bewegungen, dann ein Zittern, dann traten die Augen furchtbar weit heraus, dann klappte die Kinnlade herab, die Zunge streckte sich weit heraus.
Es war vorbei mit ihm.
Ich hatte einen Freund verloren, wie ich selten einen gehabt, wenn wir auch niemals ein Freundschaftswort gewechselt hatten.
Da konnte ich mich doch nicht länger halten.
»Ihr Bluthunde!«, schrie ich. »Wenn es einen Himmel gibt, und ich wäre seiner würdig — ich würde darauf verzichten, nur um Euch in der Hölle wieder zu begegnen!«
Es wurde gar nicht gehört. So lachten die Menschen ob Littlelus Todesfahrt. Sie krümmten sich vor Lachen, konnten das Seil, an dem drei Männer gezogen, nicht mehr halten, schlangen es schnell um einen niedrigen Ast. Des Gehängten Füße befanden sich mindestens zwei Meter über dem Boden.
»Nein, ich habe schon viele gehangen, aber so eine Hängerei habe ich doch noch nicht erlebt, hahaha!«
»Wie der noch bis zuletzt gurgelte!«
»Was hatte der noch mit seinem Kuchen, den er nun selber essen wollte?«
»Schade nur, dass es immer so schnell geht!«
So und anders klang es lachend durcheinander.
Da aber klang plötzlich noch etwas anderes dazwischen.
Schüsse!!
Und mir am Ohre vorbei sauste ein Pfeil!
Dort nachte ein Bukanier einen Bocksprung, dort warf ein anderer nur die Arme hoch und stürzte lautlos zu Boden.
Sieben Bukanier waren es gewesen und sieben Tote lagen da.
Nein, alle lagen nicht da, einer wenigstens nicht.
Ich will, wenn es auch nicht gerade zur Beschreibung dieser Situation passt, eines ganz besonderen Schusses, wie er wohl selten vorkommt, eines Pfeilschusses, gedenken,
Einer der Bukanier hatte lachend an einem Baume gelehnt, die Füße ein wenig vorgestemmt, aber stehend, die Hände über der Brust gefaltet, wie man sich wohl einmal so hinstellt.
Zwei Pfeile waren abgeschnellt worden, und der eine hatte diesen Mann durchbohrt, vorn die Brust, durch und durch, ihn so an den Baumstamm heftend, zugleich aber auch die beiden Hände.
So stand der Mann dann noch da, tot, die Hände also noch auf der Brust gefaltet, ebenfalls angenagelt, nur den Kopf etwas vornüber — und so ließ man ihn dann auch stehen, als ewiges Andenken an diese Episode, als Skelett, und als die Knochen aus den Gelenken fallen wollten, wurden sie mit Draht befestigt —
Aber so weit sind wir noch nicht.
Die Schüsse und die Hopserei der angeschossenen Bukanier gefielen mir natürlich sehr gut.
»Huipiiihh!!«
Das klang mir auch sehr schön in den Ohren, der Alte hätte es diesmal direkt hineinbrüllen können.
Wenn nur nicht der arme Littlelu dort gehangen und die Zunge so weit herausgereckt hätte, das verdarb mir die ganze Freude.
Sie kamen dort aus den Löchern der Felswand hervor, wo sie auf der Lauer gelegen hatten, der Ewige, Atalanta und noch eine ganze Menge weißer und roter Jäger. Sie hatten die Bukanier in einem Boote ankommen sehen, hatten sich versteckt, um sie dann angenehm zu überraschen.
Nur jene vier waren ihnen entgangen, die waren in einem Boote schon wieder abgefahren, doch da waren schon andere Jäger hinterher.
Doch das erfuhr ich jetzt noch nicht, ich stellte auch keine solche Fragen, als die Jäger ins Wasser gesprungen und ans Land geschwommen waren.
»Weshalb konntet Ihr nicht eine halbe Minute eher kommen!«, schrie ich außer mir. »Schneidet ihn schnell ab, vielleicht ist er noch ins Leben zurückzurufen!«
»Littlelu!«, war Atalanta die erste, die es jammernd schrie und mit gezogenem Messer nach dem Gehängten stürzte.
»Ha — ha — hatschiehhh!«
Ich kann es nicht so erzählen, wie es vor sich ging.
Der Gehängte war es gewesen, der so geniest hatte.
Und nachdem Littlelu nochmals schallend genießt hatte, holte er aus der Hosentasche ein großes rotes Schnupftuch hervor, faltete es bedächtig auseinander, führte es an die Nase, trompetete mächtig hinein, putzte sich noch einmal fein säuberlich die Nase und steckte das Tuch bedächtig wieder in die Hosentasche zurück.
»Ei die Dunnerwetter«, sagte er dann, etwas röchelnd, aber doch ganz vernehmlich, natürlich nicht mehr mit herausgestreckter Zunge, und dabei zog er das eine Bein hoch und kratzte sich wie ein Affe an der Wade, »ei die Dunnerwetter, habe ich aber wieder den Schnupfen bekommen!«
Was soll ich weiter sagen?
Littlelu war eben nicht tot! Der konnte eben das Hängen vertragen, noch viel länger, vielleicht so lange, bis er verhungerte.
»Ach, lasst mich nur noch ein bisschen, ich hänge hier oben ganz gut!«, wehrte er ab, bevor er wieder herabgelassen wurde.
Wie oft Gehenkte oder Gehangene noch nach Stunden wieder ins Leben zurückgerufen worden sind, das ist ja bekannt genug. Es gibt auch genug Menschen, die das Hängen ganz einfach auf beliebige Zeit vertragen können. Es werden nur so wenig Menschen gehangen. Leider, sagt Thomas Carlyle.
Eben deshalb hat man, wo das gerichtliche Hängen noch Mode ist, überall das Fallbrett eingeführt. Der Delinquent muss aus beträchtlicher Höhe herabstürzen, damit die Halswirbel zerreißen. Dann ist es natürlich vorbei.
Aber es sind noch gar nicht so viele Jahre her, dass in Newgate zu London unter einem italienischen Mörder dreimal das Fallbrett herabklappen musste, erst beim dritten Male war er tot. Es war einer jener italienischen Schauerleute, Schiffslader, die alle Lasten mehr auf dem Kopfe als aus dem Rücken tragen, wenigstens direkt auf dem Nacken, weshalb alle diese Männer einen wahren Stiernacken haben. Und solch eine Muskulatur erstreckt sich dann auch auf die inneren Organe des Halses, die Luftröhre, an sich schon durch starke Bänder geschützt, wird so gekräftigt, dass ihr ein Strick nicht mehr viel anhaben kann, wenn die ganze Last des Körpers daran hängt, wird also nicht ganz zugeschnürt, der Betreffende kann noch immer atmen.
Und solch einen schier fabelhaft muskulösen Stiernacken besaß auch Littlelu. Ich hatte ihn schon oft genug bewundert. Dieser Zirkusclown hatte eben von Kindheit an mehr auf dem Kopfe als auf den Füßen gestanden und andere Kunststückchen mehr eingeübt, die von der Kraft des Halses abhängen.
Na, mein Littlelu lebte noch!
Aber immerhin, war er nicht ganz richtig gehangen worden?
»Schade«, musste ich dann natürlich zu ihm sagen, »nun hatte ich mich schon gefreut, man hätte endlich vor Ihnen Ruhe — nun ist's wieder nichts.«
»Wie sind die Bukanier eigentlich hierher gekommen?«
Diese Frage richtete ich leicht begreiflicher Weise an den Alten.
Ich sollte es gar nicht richtig erfahren.
»Nicht etwa von der Hornbucht her!«, lautete dessen Antwort. »O nee, da hätten sie meine Jungen nicht durchlassen dürfen, oder ich hätte ihnen nicht schlecht den Kopf gewaschen.«
»Ja, wo denn sonst?«
»Die haben hier noch einen anderen Durchgang durch den Felsen, hierher nach dieser Bucht. Der Rückweg ist ihnen nun freilich verlegt, wir haben sie nur herauskommen lassen. Drei sind freilich entschlüpft, darunter der Schuft von Sambo, und ich glaube kaum, dass meine Jungens die noch — doch das geht Euch überhaupt gar nichts an, das lasst nur hübsch meine Sache sein. Kanonenmeister, ich habe Euch hierher beordert, um eine Frage an Euch zu stellen, und der Donner soll Euch rühren, wenn Ihr sie nicht mit einem ›Ja‹ beantwortet! Könnt Ihr tauchen?«
»Unter Wasser?«
»Na, wo dachtet Ihr denn sonst drunter? Unter Bier wohl, was, he, hi?!«
»Mit einem Taucherapparat, wollte ich fragen?«, musste ich lachen. »Ja, das kann ich; denn ohne Apparat, sozusagen frei aus dem Handgelenk, da dürfte mir mancher Eurer Hunter über sein. So zum Beispiel der Butschiro, ganz abgesehen von der Frau Gräfin.«
»Ja, das weiß ich, aber das ist es eben auch. Schwimmen und tauchen können viele wie die Fische. Wie die Fische! Habt Ihr schon einmal einen Fisch gesehen, der so einen Glockenhelm auf dem Kopf hatte und dem durch einen Schlauch Luft zugepumpt werden musste?! Nicht? Na also! Und dieser Geschichte gegenüber sind eben auch meine Hunter zu misstrauisch. Da machen sie nicht mit. Ihr aber könnt mit so einem Apparat tauchen, die Gräfin hat mir davon erzählt.«
Ja, davon konnte sie berichten, Ich hatte dort an jenem Sklavensee im Coloradogebirge das gräfliche Ehepaar im Tauchen ausgebildet, hatte auch einmal an Bord des »Mohawk« nach einem verlorenen Anker getaucht. Ich selbst hatte es auf der Steuermannsschule in einem Sonderkursus gelernt. Es ist sehr hübsch, wenn man es kann! Da verdient man manchmal viel Geld. Damit man dann den kleinen Mädchen noch mehr Champagner in den Hals gießen kann.
Eigentlich ist bei der Taucherei ja gar nichts zu lernen. Man muss nur einen guten Brustkasten und dicke Trommelfelle haben. Aber es gehört doch noch etwas anderes dazu. Nicht nur Courage. Die ist ganz selbstverständlich. Ich habe Kerls kennen gelernt, die sich vor Gott und dem Teufel nicht fürchteten — und mit einem Male wollten sie nicht mehr tauchen. Nicht für alle Schätze der Welt. Weshalb nicht, das sagten sie nicht. Sie hatten wahrscheinlich auch gar nichts zu erzählen, hatten nichts Besonderes erlebt, aber — — sie grauten sich davor, noch einmal unter Wasser zu gehen. »Ich kann nicht, ich würde wahnsinnig werden.«
Zwischen Gott und Teufel gibt es nämlich noch etwas anderes. Gespenster. Man muss absolut gespensterfrei sein. Soll nur niemand, der sich daraufhin nicht geprüft, behaupten, er fürchte sich nicht vor Gespenstern. Er soll sich nur einmal so in einer Tiefe eines vierstöckigen Hauses mit seinem Lämpchen auf dem Meeresgrund hinsetzen. Was er da alles zu sehen bekommt. Freilich, richtige Gespenster sind's nicht, das stimmt, aber — probiert's nur einmal! Dabei will ich gar nicht von Wracks sprechen, die der Taucher untersuchen soll, wenn die Leichen in den Kammern oben an der Drecke schwimmen, mit aufgeblasenen Köpfen so groß wie die Riesenkürbisse, und das nun noch durch das Augenglas in sechsfacher Vergrößerung, diese hervorquellenden Augen, und durch die Bewegungen des Tauchers bewegen sich auch diese Leichen mit, angeln mit den Armen und Fingern herum, und das nun im Scheine des Lämpchens —
Im neuesten Konversationslexikon steht, dass man bis 60 Meter tief tauchen kann. Jawohl, das soll mir erst einmal jemand vormachen. Ich brachte es bis zur Hälfte, bis auf 30 Meter. Das wäre etwa ein Haus mit sechs Etagen, vier Atmosphären Druck, auf jeden Quadratzentimeter des menschlichen Körpers lasten drei Kilogramm Gewicht. Das gilt aber nicht etwa nur für Kopf und Schultern, sondern dieser Druck kommt auch seitwärts.
»Ich habe gesagt«, fuhr der Alte fort, »der Teufel soll Euch frikassieren, wenn Ihr auf meine Frage nicht mit einem lauten, vernehmlichen ›Ja‹ antwortet; nämlich ob Ihr tauchen könnt. Auf meine nächste Frage aber könnt und sollt Ihr mit einem ehrlichen ›Nein‹ antworten, wenn es Euch irgendwie nicht passt, das nehme ich Euch nicht übel, frage nicht nach dem Warum — dann ist die Sache erledigt. Wollt Ihr einmal dort hinabtauchen?«
Und er deutete auf das brodelnde Wasser.
»Ja warum denn nicht? Wie tief ist es denn?«
»Nur acht Meter.«
»Na dann — das ist ja gar keine Tiefe.«
»Nein, ist es auch nicht. Wenn Ihr noch sechs Meter wachst, braucht Ihr gar keinen Apparat, könnt mit der Nase oben drüber raus gucken. Bei Eurer Zwerghaftigkeit müsst Ihr aber doch wohl einen Apparat benutzen.«
»Nun ja.«
»Aber keinen Aerophor.«
»Was, keinen Aerophorapparat?!«, stutzte ich. »Was für einen denn sonst?«
»Einen Skaphander.«
»Einen Skaphander?!«, stutzte ich noch mehr, »Ohne Schlauch?!«
»Ohne Schlauch. Ihr nehmt die komprimierte Luft mit.«
Früher nannte man alle Taucherapparate Skaphander, heute nennt man die allgemein üblichen, bei denen also die Luft zugepumpt wird, Aerophore, beim Skaphander nimmt man die komprimierte Luft selbst mit. Diese Bezeichnung ist falsch, aber in Taucherkreisen nun einmal so eingeführt.
Die Bemühungen, den Taucher von dem schweren, hinderlichen Schlauch zu befreien, existieren von der Zeit an, da man gelernt hat, Luft zusammenzupressen. Man denke nur daran, wie schwierig und gefährlich es ist, im Innern eines gesunkenen Schiffes herumzukriechen, wie vorsichtig man da sein muss. So widerstandsfähig diese Schläuche auch sind, sie können doch einmal beim Nehmen einer Ecke umknicken, und in den Schiffen sind lauter Schiebetüren, wenn so eine einmal zuklappt, dann schneidet sie die Luft ab. Welche Vorteile hat da so ein Skaphander!
Die Skaphander sind heute schon von hoher Vollendung. Aber niemand will mit ihnen tauchen, Ich glaube, alle Erfinder sind dabei verunglückt.
Ja, Teufel noch einmal, da arbeiten im Tornister so ein paar winzige Ventilstiftchen! Wenn da irgend etwas versagt! Wenn nicht genau so viel Luft einströmt, wie man durch das Mundrohr ausstößt! Das geht alles automatisch, aber das ist gerade das Gefährliche dabei. Bei Luftzufuhr durch den Schlauch kann in dieser Hinsicht eigentlich gar nichts passieren, das kann nach dem Manometer ganz genau geregelt werden. Aber mit so einem Skaphander ist es eine verteufelte Sache.
Und nun glaube man nicht etwa, man könne ja noch durch ein Seil verbunden sein, man könne schnell heraufgeholt werden. Diese Leine dient überhaupt nur zum Signalisieren, zu nichts weiter. Telefondrähte machen sie jetzt überflüssig. Der Taucher, wenn er noch lebt und bei Besinnung ist, braucht niemals heraufgeholt zu werden, er kann von selbst emporsteigen. Aber die Sache ist die, dass man nicht mehr als zwei Meter in der Minute sinken und also auch nicht steigen kann. Wegen der Druckunterschiede. Bei einer Schnelligkeit von drei Metern in der Minute, was ja bei Gefahr vorkommen kann, muss man immer darauf gefasst sein, oben wie ein aufgepumpter Frosch auseinander zu platzen. Bei einer Tiefe von 30 Metern braucht man also eine Viertelstunde, um wieder nach oben zu kommen, zehn Minuten ist die denkbar kürzeste Zeit. Passiert dort unten also etwas, reißt der Schlauch, dringt sonst wie Wasser ein, dann ist man überhaupt rettungslos verloren. Man kann doch nicht zehn Minuten lang den Atem anhalten.
»Ei weih« hatte ich nicht gesagt, sondern nur gedacht. Aber der Alte und jeder andere musste mir gleich ansehen, was ich sonst noch alles dachte.
»Ich weiß, was Ihr denkt, wenn Ihr das Wort ›Skaphander‹ hört«, sagte auch noch der Alte, »Ihr braucht nicht erst den Mund so nach rechts und die Nasenspitze nach links zu schieben. Aber glaubt Ihr, ich würde Euch da hinunterschicken, wenn ich nicht wüsste, dass der Skaphander, in den ich Euch eventuell einwickeln werde, absolut sicher funktioniert? Ich will es Euch nicht erst sagen, dass ich Euch wie meinen eigenen Sohn liebe, ja noch mehr, wie mein Portemonnaie, denn Ihr glaubt es ja doch nicht, Ihr fangt schon jetzt zu lachen an. Aber die Versicherung kann ich Euch geben: Wenn Ihr da unten erstickt, unfreiwillig, durch die Schuld eines Skaphanders — dann will ich in meinem ganzen Leben nie wieder eine Flasche Rotspon trinken. Mehr kann ich nicht sagen, weil ich Rotwein überhaupt nicht gern trinke, er bekommt mir nicht.«
»Der Skaphander ist absolut sicher!«, lächelte Atalanta. Denn was sollte man zu solchen Worten anderes tun als lachen oder lächeln.
»Er ist eine ganz besondere Erfindung«, ergänzte der Alte, »die aber nicht patentiert worden ist, auch sonst nicht in die Öffentlichkeit gebracht wird. Der Erfinder hat seine Gründe dafür. Vielleicht ahnt Ihr schon etwas, von wem sie stammt, he? Dann behaltet es für Euch, ich mag's nicht hören. Jedenfalls besitze ich zwei solche Skaphander, sie sind in tadelloser Ordnung, sind bereits daraufhin geprüft worden, wenn auch nur in einem Wasserbassin, die Frau Gräfin selbst hat der Prüfung beigewohnt, hat einen selbst schon benutzt.«
»Nun gut«, sagte ich. »ich riskiere es gern, wenn es Euch solchen Spaß macht. Aber da erlaubt mir erst eine Frage. Weshalb denn nur gerade ein Skaphander? Weshalb nicht einen gewöhnlichen Aerophor mit Schlauch und Luftpumpe? Der muss sich doch leicht beschaffen lassen. Oder ist die Sache so eilig?«
»Nein und ja. Dass es aber gerade ein Skaphander sein muss, dafür ist ein anderer Grund vorhanden. Solltet Ihr den nicht selbst erkennen?«
»Ihr wollt den unterseeischen Strom in die Felsen hinein verfolgen lassen.«
»Ahem!«, nickte der Alte. »Ich habe schon früher einmal einen Taucher hinabgeschickt, mit Schlauch. Eben dieses Schlauches wegen konnte er aber nur ungefähr 25 Meter tief eindringen, vordringen. Es ist ein weiter Wassertunnel, ungefähr vier Meter breit und nur wenig niedriger, für einen Taucher ganz bequem zu begehen. Dann musste er natürlich umkehren. Ich will dieses Strombett einmal bis zu Ende verfolgen lassen oder doch so weit wie möglich. Übrigens würdet Ihr die unterirdische Reise nicht allein antreten, Ihr habt eine sehr angenehme Begleitung; die Frau Gräfin.«
»Aaah, auch die Frau Gräfin kommt mit?!«
»Jawohl. Zuerst wollte natürlich ihr Gatte mitkommen, aber der Graf ist gestern verwundet worden —«
»Was, der Graf verwundet?!«, rief ich erschrocken.
»Er ist angeschossen worden; aber nicht ins Herz, nur in die Haxe. Ein Bukanier wollte ihm, wie er über eine Waldblöße rannte, die Stiefelhacke abschießen, schoss ein bisschen daneben, lädierte ihm die Ferse. Es hat nichts zu sagen; aber so eine Taucherpartie kann er freilich nicht mitmachen —«
»Ich gehe ja auch allein!«, unterbrach Atalanta den Sprecher.
»Still!«, herrschte dieser sie grimmig an. »Ich habe Ihnen mindestens schon ein Dutzend mal gesagt, dass ich Sie auf keinen Fall allein gehen lasse. Und auch der Graf hat erklärt, dass er nur den Kapitän Hagen als Ersatzmann gelten lässt —«
»Dann genug der Worte!«, unterbrach diesmal ich. »Ich gehe mit.«
»Gut«, schmunzelte der Alte, »da brauche ich also nicht erst einen goldenen Becher da hinabzuwerfen? Na, dann verspreche ich Euch wenigstens meine einzige Tochter als Ehege... — ach so, die habt Ihr ja ooch schon. Was denn sonst für eine Belohnung, wenn Ihr lebendig wieder herauskommt? Was seid Ihr jetzt! Herzog von Buffalo, nicht wahr? So ernenne ich Euch hiermit zum — — nee, zum König seid Ihr mir doch noch ein bisschen zu jung. Also ich befördere Euch hiermit zum Erzherzog. Habt Ihr nun sonst noch etwas zu erledigen? Habt Ihr schon Euer Testament gemacht?«
»Ist alles nicht nötig. ich wäre sofort bereit.«
»Gut, dann mal her mit den Dingern.«
Ich hatte schon beobachtet, dass unterdessen aus einem Boote etwas ans Land gebracht worden war.
Es waren die beiden Skaphander, bestehend aus den üblichen Kautschukanzügen, den bleibeschwerten Stiefeln, den Helmen, Tornistern und was sonst noch dazu gehört, nur dass hier eben der Schlauch und die Luftpumpe fehlten.
Der eine Kautschukanzug war, wenn es da auch nicht auf einen eleganten Sitz ankommt und sich mancherlei verändern lässt, für einen kleinen Mann, der andere für einen sehr großen bestimmt, viele Ersatzmänner für den Grafen hätte es also gar nicht gegeben. So dachte ich wenigstens anfangs, musste aber bald anderer Ansicht werden.
Bemerken muss ich da erst noch, dass dieser Kautschukanzug nicht etwa dazu dient — wenigstens nicht der Hauptsache nach — um den Taucher vor dem Wasser zu schützen, dass er nicht nass wird, sondern der durch die Luftpumpe zugeführte Atmosphärendruck verbreitet sich doch auch innerhalb dieses Anzugs über den ganzen Körper.
Aufgehoben wird ja allerdings dadurch der immer zunehmende Druck nicht etwa, denn es ist gleichgültig, ob Wasser oder Luft drückt. Druck bleibt Druck. So müsste es wenigstens der Theorie nach sein. In der Praxis ist es aber durch das Gefühl doch etwas anders. Der Luftdruck scheint sich leichter zu ertragen als der des Wassers. Dann aber vor allen Dingen hat der Taucher ohne Kautschukanzug keine Möglichkeit, sich durch Ansammlung von Luft selbst in die Höhe zu heben, und das ist wohl die Hauptsache, weshalb kein Taucher ohne vollständiges Kostüm hinabgeht.
Hier war das etwas ganz anders. In dem geschlossenen Wassertunnel konnten wir doch so wie so nicht an eine Luftoberfläche gelangen. Kamen wir aber ins Freie, so hatte es die größten Vorteile, wenn wir nur den Helm abzuschrauben und die Bleisohlen zu entfernen brauchten, um völlige Bewegungsfreiheit zu haben. Besonders wenn wir mit — Menschen zusammentrafen, die uns etwa feindlich gesinnt waren!
Kurz und gut, nach einer kleinen Besprechung beschlossen wir, Atalanta und ich, auf den Kautschukanzug zu verzichten, wenigstens auf den unteren Teil, dass nur der Helm wasserdicht angelegt wird, das ist nicht gut angängig. Der Hals würde gar zu sehr eingeschnürt werden. Dann wird dieser Abschluss über Brust und Rücken unter den Armen hergestellt. Solch eine Vorrichtung war hier gleich vorhanden.
Einen zweiten Vorteil hatten wir somit auch dadurch, dass wir dann nicht so unter der Wärme des Wassers zu leiden hatten, oder vielmehr unter unserer eigenen Körperwärme. Die Temperatur des menschlichen Blutes beträgt 38 Grad Celsius, diese würde innerhalb des Kautschukanzugs immer herrschen, wenn das viel kältere Wasser nicht ständig abkühlte. Trotzdem befindet man sich in dem aufgeblähten Anzug selbst in eiskaltem Wasser immer wie in einem Backofen, man schwitzt mächtig, nur die ungeschützten Hände erstarren. Dieses sehr warme Wasser würde wenig abkühlen, während es anderseits mit seiner Temperatur von noch nicht 30 Grad ganz erträglich war, und da es doch mit dem größten Teile des Körpers in Berührung kam, kühlte es zugleich auch den bedeckten Teil.
Weiter wurde mir erklärt, dass der Tornister für mindestens acht Stunden Luft enthielt.
»Was, für acht Stunden?!«, durfte ich wohl mit Recht staunen. »Unter welchem Druck steht denn da die komprimierte Luft?!«
»Komprimiert ist sie wohl, aber Ihr denkt immer noch an gasförmige Luft. Nein, es ist flüssige Luft, wenn nicht gar feste.«
»Entwickelt die beim Ausströmen nicht eine furchtbare Kälte?!«, stutzte ich nochmals.
»Na, wenn das der Fall wäre, würde ich Euch doch nicht da einsperren. Ich will doch nicht, dass Ihr Euch in einen Eisklumpen verwandelt und den Wassertunnel in einen Gletscher. Und hier im Innern des Helms, seht, da ist ein kleines Telefon, braucht die Nase nur etwas seitwärts zu halten, dann könnt Ihr Euch mit Eurer schönen Begleiterin unterhalten — aber keine Liebesgeschichten, das bitte ich mir aus — mir könnt Ihr als Eurem Schwiegervater so was sagen. Verstanden, he?«
Was hatte der Alte dabei so listig mit den Augen zu zwinkern? Das musste diesmal doch wohl einen ganz besonderen Grund haben.
»Wir sind untereinander mit Drähten verbunden, bleiben es auch mit hier?«
»Keine Drähte. Merkt Ihr denn noch nichts? Merkt Ihr denn nicht, wie leicht dieser Tornister und der Helm sind? So leicht, dass ich ihn keinen anderen anfassen lassen will?«
Ja, da plötzlich wusste ich es.
Omnihilit! Ich hatte die Sachen nur noch nicht angefasst.
Und ein drahtloses Telefon!
Also alles aus jener geheimnisvollen Werkstatt hervorgegangen!
Doch aus der Werkstatt von unserem Mephistopheles?
Das war nicht gerade gesagt.
Wir hatten an Bord der Unterseeboote ebenfalls Skaphander gehabt, auch schon in der Felsenbehausung waren sie mir bei Gelegenheit, eben als wir einmal tauchen wollten, gezeigt worden, aber der Erfinder und Verfertiger selbst hatte uns vor einer Benutzung gewarnt, er hielt das Funktionieren der Ventilstiftchen und der sonstigen Mechanismen doch nicht für so ganz sicher. Außerdem hatten die Tornister eine ganz andere Form gehabt.
Nun, es war ja gleichgültig, woher diese Apparate stammten. Jedenfalls aber war es Omnihilit, schon das sagte alles! Also der Alte gab sich jetzt doch mit solchen Sachen ab! Das war das Einzige, was mich dabei etwas frappierte.
»Wisst Ihr nun«, sagte er dann auch noch leise zu mir, »weshalb ich damals nichts von einer Telefonleitung hören wollte? Ihr braucht bald nicht mehr den Signaldienst auf der Kanoneninsel zu versehen, mit Sonnenstrahlen und farbigen Blitzlichtern. Heute Abend schon ist alles geregelt. Ich bin doch nicht etwa so ein Stier, der bockbeinig durchaus mit seinem Schädel durch die Wand rennen will. Nein, wenn eine Sache angebracht ist, dann bin ich dafür immer zu haben. Da kann ich mich auch einmal demütigen, kann zu den Mahatmas ›bitte, bitte‹ sagen, Ich werde doch nicht meine braven Jungen sämtlich von diesen Bluthunden wegschießen lassen. Nein, gegen die werden wir demnächst mit anderen Mitteln vorgehen. Es ist alles schon unterwegs.
Ehe ich aber so ein Unterseeboot kommen lasse, sollen doch erst einmal Taucher den unterirdischen Zufluss erforschen, und ich weiß, dass für zwei solche Personen wie für Euch und die rote Gräfin gar keine Gefahr dabei vorhanden ist.«
Na, wenn der Alte selbst sich so nachgiebig zeigte, seinen Stolz, nur aus eigener Kraft handeln zu wollen, so weit bezähmte, dann hatte ich nichts weiter dazu zu sagen. Übrigens hätte ich schließlich auch nicht anders gehandelt.
»Also auch Ihr habt eine Telefonuhr?«
»Habe eine. Aber keine von denen, die ich Euch damals abgenommen habe. Meine eigene, wieder ganz anders, Lasst's gut sein, fragt nicht, woher ich sie habe.«
»Und was nehmen wir für Waffen mit?«
»Nun, Euren Revolver, den Ihr doch geliefert bekommen habt, als besonderes Schießeisen gefertigt, das Wasser sehr gut vertragen kann. Weil wir hier doch mehr Wasseramphibien sind. Und dasselbe gilt von den Patronen. Die können vielleicht jahrelang unter Wasser liegen, ehe sie gebrauchsunfähig werden. Ihr könnt ja auch zwei Revolver mitnehmen, die Gräfin tut's auch. Ach, Ihr dachtet wohl an solche elektrische Blasrohre? Die sind noch nicht da. Und wenn ich solche Waffen auch dann noch irgendwie vermeiden kann, ohne sie mit den Bukaniern fertig würde — ich möchte es gar zu gern. Also nun wappnet Euch, Herr Erzherzog. Am Gürtel hängt auch eine Uhr. Nach drei Stunden habt Ihr unbedingt den Rückweg anzutreten. Verstanden?«
»Verstanden habe ich's wohl, aber wenn wir nun dann schon im Freien sind —«
»Das ist etwas ganz anderes. Ihr versteht schon, was ich meine, braucht doch weiter keine Instruktionen. Außerdem sind wir doch immer in telefonischer Verbindung.«
Also wir wappneten uns. Ich mich gleich hier, während sich Atalanta dazu seitwärts in die Büsche schlug, gefolgt vom Alten, der ihr als Kammerzofe dienen sollte.
Denn wir mussten uns doch entkleiden, wenigstens den Oberkörper. Eben weil wir auf den unteren Teil des Kostüms verzichten wollten. Da durfte beim Abschluss kein anderes Kleidungsstück dazwischen sein. Dieser Abschluss fand also dicht unter den Armen statt, was sich als vorteilhafter erwiesen hat als der um die Taille. Der Mensch atmet mehr mit den Bauch- als mit den Brustmuskeln; wenigstens der Mann, bei dem Weibe ist es umgekehrt, woran nicht etwa nur das Korsett schuld ist. Doch konnte man auch ruhig mit der Brust atmen, das elastische Band, absolut wasserdicht schließend, machte jede Ausdehnung mit. Außerdem fand ein zweiter Verschluss noch um die Hüften statt, dieser Teil aber wurde nicht mehr mit Luft gefüllt.
Mir war dabei ein alter Herr behilflich, den ich schon einmal flüchtig in Don Christofferos Haus gesehen, wie er etwas an der elektrischen Leitung gemacht hatte.
Er benahm sich beim Anlegen des Kostüms so geschickt, als ob er schon öfters einen Taucher mit solch einem der anderen Menschheit noch unbekannten Skaphander gewappnet hätte, er konnte mir ja auch erklären, wie ich den Luftzufluss nach Belieben regeln konnte, wie die elektrische Lampe zu bedienen war, die aber wohl gar keine Elektrizitätsquelle hatte oder wenigstens eine ganz geheimnisvolle, und überhaupt — der alte Herr hatte mir ein so verdächtig melancholisches Geistersehergesicht, das mich gleich an die Sklaven des Mephistopheles und an die ganze indische Sippschaft erinnerte.
Aber hellsehend war er nicht, das sollte er alsbald verraten.
»Ihr Hemd können Sie anbehalten!«, sagte er nämlich, als ich erst meine Lederjacke auszog — sagte es vergeblich, denn ich hatte überhaupt gar kein Hemd an.
Was braucht denn so ein lederner Jägersmann ein Hemd! Das wird, wenn man ins Wasser geht, doch nur nass und muss dann auf dem Leibe wieder trocknen — ganz abgesehen von dem langweiligen Waschen.
Eben als mir der Helm aufgesetzt wurde, kam die Gräfin angelatscht. Denn wenn man an jedem Fuße eine viertelzentnerige Bleiplatte hängen hat, kann man nicht mehr tänzeln. Außerdem war sie eine Riesendame von reichlich zehn Meter Höhe geworden. Ihre ganze Umgebung hatte sich freilich ebenfalls entsprechend in die Höhe und Breite gezogen. Das Gesichtsfenster ist eben ein starkes Vergrößerungsglas.
Doch jetzt hob sie ihren Fuß empor, drei Meter hoch, griff mit den zehn Zervelatwürsten, die sie anstatt der Finger hatte, daran, auch an den anderen, und da hatte sie die Bleiplatten in der Hand, und nun konnte sie wirklich tänzeln.
Mir war natürlich auch schon gezeigt worden, wie man die Bleisohlen ablösen und wieder befestigen konnte, überaus einfach und doch absolut sicher, an den Mokassins, die wir anbehalten hatten.
Am Ufer beschwerte sie ihre Füße wieder.
»Fertig, Herr Kapitän?«, erklang es seitwärts aus dem Helm in mein Ohr.
»Ich bin bereit!«, brauchte ich nur einfach geradeaus gegen die große Glasscheibe zu sprechen, musste nicht erst den Kopf etwas seitwärts wenden, wie der Alte gesagt hatte. Wir wateten wenige Schritte ins Wasser, verloren plötzlich den Boden unter den Füßen, schwebten langsam hinab, und als wir in drei Minuten den kiesigen Grund hatten, schien das Gesetz der Schwere für uns aufgehoben zu sein.
Doch waren wir dadurch, dass nicht auch der untere Teil des Körpers in luftaufgeblasenen Kautschuk eingehüllt war, in großem Vorteil gegen die anderen Taucher. Nämlich das Gehen auf dem Grunde ist es, was besonders eingeübt werden muss, weil man sofort, wenn man den Fuß kräftig aufsetzt, mehrere Meter hoch emporschnellt. So muss dieses Gehen ein Schleichen werden, das Durchmessen einer größeren Strecke wird dem Taucher überhaupt zur Qual.
So schlimm war es also bei uns nicht, wir konnten wirklich vorwärts schreiten, wenn es auch immer noch mehr ein Schweben war. Über einen meterhohen Felsblock hüpften wir weg, als wäre es eine Fußbank, und an jeder Felswand hätten wir emporklettern oder vielmehr hinaufgehen können, wenn Hand oder Fuß nur irgendwie den geringsten Halt fand.
Vor uns gähnte ein finsteres Loch, wir drangen ein. Es herrschte eine sehr starke Strömung, wir mussten uns tüchtig stemmen, um nicht zurückgerissen zu werden, fassten uns an der Hand.
Doch nicht lange dauerte es, so wurde die Strömung immer schwächer, weil sich der Tunnel bedeutend verbreiterte.
»So weit ist damals der Taucher gekommen«, erklang Atalantas Stimme in mein Ohr, »hier musste er wegen seines Schlauches umkehren.«
»Wissen Frau Gräfin, wo wir ins Freie gelangen werden?«
»Nein, ich habe gar keine Ahnung. so wenig wie ein anderer in diesem Tale.«
Ich hatte geglaubt, ich würde erst hier unter Wasser eine Offenbarung erhalten. Also nicht! Auch gut. An der Wahrheit ihrer Worte gab es natürlich nichts zu zweifeln.
Schnell kamen wir jetzt vorwärts. Von einer Strömung war kaum noch etwas zu merken. Nur am Ausfluss wurde der unterirdische Strom so zusammengepresst, deshalb machte er sich dort auch auf einem so großen Gebiet bemerkbar.
Etwas Besonderes zu sehen gab es nicht. Die intensiven Scheinwerfer unserer Lampen beleuchteten schwarze, nackte Felswände, gegen zehn Meter voneinander gerückt. Die Gräfin hielt sich mit solcher Beleuchtung gar nicht auf, sie machte möglichst gleichmäßige Schritte, zählte sie.
»Wenn Sie mich etwas zu fragen haben, bitte genieren Sie sich nicht, das stört mich nicht beim Zählen.«
Ich hatte nichts zu fragen.
Ab und zu rief uns der Alte an. Wir hatten nichts zu melden.
Onkel Toni warf sich den durchgehenden Pferden entgegen
und brachte sie zum Stehen. Dabei kam er aber doch noch
zu Fall und wurde von dem nachrollenden Wagen überfahren.
So verging eine halbe Stunde, in der wir nach meiner Schätzung, die sich dann als ziemlich richtig erwies, ungefähr anderthalb Kilometer vorwärts gekommen waren.
Wie tief wir uns immer unter Wasser befunden, ob wir über uns einmal eine Luftschicht gehabt, darum hatten wir uns niemals gekümmert, das war auch nicht so leicht zu bestimmen, wenn man nur den Lichtstrahl nach oben richtete.
Wohl aber musste ich plötzlich bemerken, wie mein Helm aus dem Wasser herauskam.
Ich sagte es der Gräfin, die ja davon noch nichts merkte, da sie mir noch nicht einmal bis an die Schulter ging.
»Das wundert mich nicht!«, lautete ihre Antwort. »Wir sind immer etwas gestiegen.«
Davon hatte ich gar nichts gemerkt. Nur zuletzt waren einige Schwellen gewesen, die uns so schnell in die Höhe gebracht hatten.
Nur noch kurze Zeit, dann ging mir das Wasser nur bis an die Brust. jetzt war auch Atalantas Helm zum Vorschein gekommen.
Trotzdem hing die Decke hier so niedrig herab, dass ich sie mit der Hand erreichen konnte. Die Sache war nämlich die, dass sich hier der Tunnel zu einem Bassin erweitert hatte, dessen Grenzen unsere Blendstrahle nicht erreichten.
Plötzlich fiel mir mit ziemlicher Wucht etwas auf den Kopf.
Da kann man wohl erschrecken, in solch einem unterirdischen Wasserbassin, anderthalb Kilometer tief im Felsen drin abseits des Tageslichtes.
Wie ich mich noch erschrocken duckte, sah ich auch schon an meinem Augenfenster einen Eimer vorbeischweben, an einem Seile befestigt.
»Wahrhaftig. ein Brunneneimer!«, flüsterte Atalanta in ihrem Helm, was ich aber ganz deutlich hören musste.
»Vorsicht mit unseren Lampen!«, warnte sie dann schnell.
Sie wurden bis auf ein ganz kleines Lichtchen gedeckt. Doch das genügte noch, um das Loch zu erkennen, das sich direkt über uns an der Decke befand, kaum einen halben Meter im Durchmesser haltend, und aus diesem kam der Eimer herab.
Es war ein hölzerner, oben auf der einen Seite war er mit einem großen Stück Eisen beschwert; denn es ist ja gar nicht so einfach, in einem tieferen Brunnen mit einem Eimer auch wirklich Wasser einzuschöpfen. Kann man den Eimer nicht genügend zappeln lassen, so will er sich nicht füllen. Da gibt es verschiedene Vorrichtungen, das hier war die allerprimitivste.
Der Eimer wurde durch das Eisengewicht auf die Seite gedrückt, etwas Wasser lief hinein, dann sank er von selbst, füllte sich vollends, und beim Aufziehen kam er durch die Art der exzentrischen Befestigung erst richtig in die Balance. So verschwand er wieder in dem Schachte über uns.
In diesem herrschte absolute Finsternis, kein Lichtfünkchen war zu erkennen.
»Will man nicht annehmen, dass er himmelhoch hinaufgeht«, meinte ich, »so ist er im Dunklen herabgelassen worden.«
»Von wem?«
»Ja, Frau Gräfin, da verlangen Sie zu viel von mir!«, lachte ich.
»Was war es für ein Eimer?«
»Ein gewöhnlicher hölzerner.«
»Ein von mehr oder weniger geschickten Händen selbst gefertigter?«
»Nein, ein Fabrikat, das in New York einen Dollar kostet, in Deutschland einen Taler. Die Leutchen haben Geld, einen Blecheimer können sie schon für einen Vierteldollar bekommen, sogar emailliert.«
»War er schon stark abgenutzt?«
»Nein, aber auch nicht mehr ganz neu.«
»Und das Stück Eisen?«
»Das war ein Stück Eisenbahn — nein, von einer elektrischen Straßenbahn.«
»Und das Seil?«
»War Manilahanf, schon alt.«
»Können Sie hieraus auf die Leute dort oben etwas schließen?«
»Nein, ich nicht. Sie?«
»Jeder Schluss könnte voreilig sein. Wir müssen hinauf.«
In dem Lichtchen. das wir nach oben richteten, war nichts weiter zu erblicken als an der schwarzen Decke ein noch schwärzeres, kreisrundes Loch.
Ich streckte meinen Arm aus, griff hinein, befühlte die Wände und fühlte noch etwas ganz Besonderes.
»Sie wollen da hinaufklettern?«, fragte ich.
»Ja.«
»Wie denn?«
»Wie es die Essenkehrer in den alten Schornsteinen tun, indem ich mich mit Armen und Knien festklemme.«
»Das haben Sie gar nicht nötig.«
»Weshalb nicht?«
»Weil hier drin eine Leiter ist.«
So war es. An der Wand ging eine Stegleiter hinauf, aus Eisen, stark verkupfert, wie unten am abgeschnittenen Ende zu erkennen war.
»Ich muss es erst dem Ewigen mitteilen. Don Christoffero!«
Es kam keine Antwort, jetzt nicht und später nicht, und das erklärte auch, worüber ich mich schon etwas gewundert hatte: nämlich, dass der Alte, der doch sonst unser Gespräch mithören konnte, noch keine Frage gestellt hatte.
»Vielleicht muss der Helm unter Wasser sein!«, meinte ich.
»Das ist nicht nötig.«
»Probieren Sie's nur einmal.«
Gut, Atalanta setzte sich hin, dass sie wieder unter Wasser kam, dann auch ich mich — vergebens, die telefonische Verbindung mit unserer Abgangsstelle war unterbrochen. Nur wir beide konnten noch zusammen sprechen.
»Hoffentlich funktioniert unserer Skaphander absolut sicherer als dieses drahtlose Telefon!«, sagte ich etwas ironisch.
»Das tut er auch. Für das sichere Funktionieren des Telefons hatten wir keine Garantie. Doch freilich, wie kann denn der Mensch überhaupt für etwas garantieren. Für gar nichts darf er garantieren, höchstens für seinen einstigen Tod. Also ich steige hinauf. Würden Sie hier unten zurückbleiben?«
»Frau Gräfin —!«, begann ich etwas zögernd, wurde aber auch gleich unterbrochen.
»Nein, Sie kommen mit. Das Versagen der einen Telefonverbindung bestimmt mich vollends dazu. Hier unten allein zu sein, das ist gar zu schauerlich, dafür würde auch ich mich bedanken, wenn es nicht unbedingt sein müsste. Aber überhaupt — wir wollen uns lieber nicht trennen. Den Skaphander legen wir dazu natürlich ab.«
Wir nahmen den Helm, den Tornister und die Bleisohlen ab, konnten alles unbeschadet ins Wasser legen. Der Helm konnte dann ja ausgegossen werden. Nur die Kautschukjacke behielten wir an.
Dann wurden die Lampen verlöscht, und wir stiegen hinauf, Atalanta, die ich etwas in die Höhe gehoben hatte, obgleich sie wohl auch daran hätte springen können, voran.
Es waren 118 weitabstehende Sprossen oder ungefähr 35 Meter, die wir erklommen.
Schon vorher hatte es über uns etwas weißlich geschimmert, so spärlich, dass es nur gedämpftes Tageslicht sein konnte. Dann war die Welle mit dem aufgewickelten Seil zu erkennen.
Atalanta hatte einige Zeit vorsichtig über den Rand hinausgelugt, ehe sie vollends hinaufstieg, und ich hatte während dieser Zeit keine noch so leise geflüsterte Mitteilung erwartet.
Als sie sich hinaufgeschwungen hatte, konnte auch ich es tun.
Es war eine Brunnenstube, eine enge Felsenkammer, die das Tageslicht aus Wandöffnungen bekam, diese zwar sehr lang, aber so schmal, dass man nicht den Kopf hineinzwängen konnte. Diese Wand war wenigstens meterdick, und die Aussicht bestand wiederum in einer Felsenwand, die sich in etwa drei Meter Entfernung davon erhob.
Wenn es sich hier um eine natürliche Höhle handelte, so waren die Wände doch offenbar bemeißelt worden.
Außerdem war auch noch eine regelrechte Tür vorhanden, allerdings nicht zu verschließen. nur eine eckige Öffnung, und —
Und da duckte sich Atalanta zum Sprunge zusammen, denn in diesem Augenblick erschien in der Tür ein Mann, richtete sich aber gleich wieder auf, denn es war kein anderer als unser Mephistopheles!
Er trug noch genau denselben dunklen Sportanzug. wie ich ihn damals in dem Wasserspiegel gesehen hatte, nur dass der Anzug jetzt schon etwas mitgenommen war.
»Professor Dodd!«, flüsterte die Gräfin.
So, Professor Dodd? Ich hätte ihn für unseren Mephistopheles alias Don Juan gehalten. Aber die beiden sahen sich ja ähnlich wie ein Ei dem anderen. Doch woher wollte da die Gräfin gleich den Unterschied herausfinden?
So zuckte es mir einmal durch mein Hirn, sonst hatte ich jetzt ja anderes zu denken und zu beobachten.
Der Professor Dodd, der er nun einmal sein sollte, starrte ja nicht schlecht bei unserem Anblick.
Dann, uns erkennend, hob er schnell die Hand.
»Ssssst«, zischte er leise, »wir sind in Feindesland!«
»Auch Sie?!«, fragte die Gräfin sofort.
»Ich bin hier ein Gefangener.«
»Aaaah! Sind wir hier sicher? Können wir überrascht werden?«
Er warf schnell einen Blick durch die Tür zurück.
»Jetzt nicht. Für einige Zeit sind wir hier ungestört. Bleiben wir hier in der Brunnenstube?«
»Wir gehen in den Brunnen zurück, können uns aus diesem unterhalten —«
»Es ist nicht nötig. Die Haupttür ist weit entfernt, das Schloss rasselt und knirscht mächtig, wenn mein Gefängniswärter kommt, ich höre es ganz deutlich hier, und er muss erst um mehrere Ecken biegen.«
»Können wir nicht durch das Fenster beobachtet werden?«
»Nein. Dort geht es in eine tiefe Schlucht hinab. Wie kommen Sie beide denn hierher?«
»Das muss Ihnen doch sehr leicht erklärlich sein.«
»Durch den Brunnenschacht. Ja, darin ist eine Leiter, das wissen die Bukanier auch. Aber der Schacht mündet in ein geschlossenes Wasserbassin.«
»Und wie erklären Sie sich sonst diese Leiter?«
»Sie kennen ihren Zweck nicht. Vielleicht, dass früher einmal auf diese Weise Wasser geschöpft wurde.«
»Wer hat diesen Brunnen, diese Leiter angelegt?«
»Ich weiß es nicht, kein Bukanier weiß es.«
Er setzte sich auf den Brunnenrand und kreuzte die Arme über der Brust. Wohl war es noch das knebelbärtige Mephistophelesgesicht, aber die Hauptsache fehlte doch darin, das Höhnische, eben das Teuflische. Er machte mir einen recht niedergeschlagenen Eindruck.
»Ich erkenne an Ihrem Kostüm«, nahm er dann wieder das Wort, nachdem er einige Zeit an seinem Schnurrbarte gekaut hatte, »wie Sie hierher gekommen sind. Denn es ist der obere Teil eines Taucheranzuges, jedenfalls eines Skaphanders, das andere haben Sie irgendwo verborgen.
Nun, Frau Gräfin, unsere Rollen haben gewechselt. Es fehlte nur, dass anstatt des Kapitän Hagen hier Ihr Gatte stände. Diesmal sehen Sie mich als Gefangenen in einer wohlverschlossenen Felsenklause. Ich hoffe aber, dass Sie als unsere Befreier kommen.«
»Wie sind Sie hier gefangen worden? Wie kommen Sie überhaupt hierher?«
»Die Lady Marwood Morgan hat mich so in die Patsche gebracht.«
»Die Lady Marwood Morgan?!«, zuckte die Gräfin beim Namen ihrer Todfeindin etwas empor.
»Sie wissen noch gar nicht, dass die hier auf der Seite der Bukanier ist?«
»Nein.«
Die Gräfin sprach die Wahrheit. Sie wusste es noch nicht, meine Spiegelvision war noch immer ein ungelöstes Rätsel.
»Das heißt auf der Seite der Bukanier im Ortssinne gemeint, sonst ist gerade das Gegenteil der Fall, allerdings nicht von allem Anfange an.«
»Wie das?«
»Erst war die Lady mit den Bukaniern verbunden, jetzt ist sie ihre Gefangene.«
»Berichten Sie doch ausführlicher.«
Er tat es, war aber doch nicht so ausführlich, weil er sich beeilte, manchmal ängstlich lauschte, welche Ängstlichkeit mir bei diesem Manne ganz seltsam vorkam. Er hatte sich überhaupt sehr verändert, war außerordentlich nervös geworden.
Die Lady Morgan war im südlichen Mexiko gewesen, wohl nur zum Vergnügen, hatte sich auf der Rückreise nach den Vereinigten Staaten befunden. In Cossimbe musste sie den Zug wechseln.
Cossimbe lag sechs geografische Meilen östlich von hier entfernt, eine ansehnliche Bergwerksstadt, die durch ihre Rowdies berüchtigt ist. Alle entlassenen und ausgebrochenem Sträflinge und unbestrafte Verbrecher, die aber arbeiten wollen, scheinen sich hier ein Rendezvous zu geben. Sie verdienen in den Zinngruben ein Heidengeld, freilich bei furchtbarer, schwerer Arbeit, sodass romanisches Element kaum in Betracht kommt. Aus einem Grunde, der schon früher einmal angeführt wurde.
Hier hatte Lady Morgan einige Stunden Aufenthalt. Da stellte sich ihr in dem Hotel, in dem die Dollarfürstin abgestiegen war, ein schäbiger Gentleman vor, der sich ihr als echter Yankee legitimierte, ihr nach der nötigen Einleitung einen kühnen Plan offenbarte. Es handelte sich um einen politischen Putsch. Gar nicht so übel ausgedacht. Die meisten politischen Umwälzungen und Gebietserweiterungen und dergleichen werden durch solche »Putsche« arrangiert. Man denke nur an den Einfall des Doktor Jameson in Transvaal mit seinen paar hundert Reitern, woraus sich der englische Burenkrieg entwickelte. Und wie die »Maine« in die Luft flog, woraus der amerikanische Krieg mit Spanien kam, ist heute auch noch nicht aufgeklärt.
Der Krieg zwischen der Union und Mexiko war schon längst beendet. Er war so kurz gewesen und so harmlos verlaufen, dass die andere Welt, die sich nicht speziell dafür interessierte, gar nicht viel davon erfahren hatte. Der Friedensabschluss war für die Union ein höchst ungünstiger gewesen. Einmal diplomatisches Ungeschick, und dann hatte man wegen Japan durchaus keinen Krieg mit einem Nachbarlande haben wollen.
Jeder echte Yankee war empört ob dieses Friedensabschlusses. Doch was war da zu tun?
Der schäbige Gentleman offenbarte also seinen Plan.
Dort jenseits der unübersteigbaren Felswände lag das Jagdtal des Don Christoffero.
Hier im Bergwerk arbeiteten zwei Männer, die einst dort Hunter gewesen, wegen Ungebührlichkeiten aber entlassen worden waren. Sie hatten entdeckte Geheimnisse für sich behalten, darunter auch, dass sie Schleichwege kannten, die aus jenem Tal in dieses führten, was sie aber auch dann noch nicht verraten hatten.
»Es arbeiten hier sehr viele Yankees!«, erklärte der schäbige Gentleman.
»Die machen sofort mit, wenn wir uns jenes Tales bemächtigen wollen.
Dann kommen noch viele andere hinzu, die dazu passen, sodass wir wenigstens 500 Mann sind, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen haben — zum Tode entschlossene Männer, größtenteils in Wald und Busch zu Hause.
Das gilt besonders auch von einigen Dutzend Lumpers, die sich jetzt gerade hier aufhalten.
Mit diesen überrumpeln wir das Tal des Ewigen, gleich von vorn und hinten.
Es sind nur Waffen, die uns fehlen. Und selbst wenn wir Geld hätten, könnten wir uns die hier nicht so leicht verschaffen. Denn dieses Räubernest hier steht ständig unter Kriegsrecht, alles Waffentragen ist verboten, es dürfen keine verkauft werden.
Bei Ihnen, der Miss Lady Morgan, ist das etwas ganz anderes. Wenn man genug Geld hat, kann man alles haben.
Geben Sie uns genügend Geld, wir verschaffen uns Gewehre und Munition und vor allen Dingen auch Proviant, und wir bemächtigen uns des Tales.
Das ist zunächst ein ganz gemeines Räuberstückchen. Arbeiten wir dann unter dem amerikanischen Sternenbanner, so wird daraus Landfriedensbruch. Gelingt uns der verwegene Streich, woran gar kein Zweifel ist, heben wir das Sternenbanner noch höher und singen dazu den Yankee Doodle, so wird ein politischer Putsch daraus, jedes echten Yankees Herz wird uns zujubeln, es kommt wieder zum Kriege mit Mexiko, wir sitzen dort in einer uneinnehmbaren Festung — wir werden als Helden gefeiert — und Sie, Miss Morgan, die Sie das erst arrangiert haben, natürlich als allererste Heldin.«
»So sprach der schäbige Gentleman, und Miss Marwood Morgan fiel prompt und sofort darauf herein wie ein Dorfjunge aufs Kümmelblättchen. Sie war gleich Feuer und Flamme, sah sich schon ausgehauen in allen Städten auf dem Postamente stehen, gab genügend Geld her und ging gleich selbst mit.
Und als die Bukanier die Waffen und Munition und Proviant hatten, wollten sie von der Dollarprinzessin natürlich noch mehr haben, womöglich gleich alle ihre Millionen, und weil die Lady die nicht gleich hergeben wollte, setzten sie sie einstweilen gefangen — und mich natürlich mit.«
»Wie sind denn nun Sie mit dazwischen gekommen?«, fragte Atalanta, als jener schwieg.
»Auch ich befand mich gerade in Cossimbe, hatte an einem Bergwerksbesitzer eine Operation ausgeführt.
Die Lady Morgan, die mich ja zur Genüge kennt, lud mich zu einer Partie ins Gebirge ein.
Ich hatte eine Erholung und Abwechslung auch sehr nötig, denn ich habe, wie ich jetzt gestehe, in den Jahren viel Kokain zur Beruhigung meiner Nerven gespritzt, erst sogar Morphium, habe es mir nach und nach durch eine Entziehungskur wieder abgewöhnt, aber die alte Sünde rächt sich doch bitter — gerade jetzt, wo ich zur völligen Entsagung gezwungen bin. Früher, wo es noch freiwillig war, hatte ich nicht so darunter zu leiden.
Also ich folgte der Lady, die einige Jäger gemietet hatte — folgte ihr ganz ahnungslos hierher; denn sie hatte mich nicht etwa schon in alles eingeweiht. Wie diese sensationslüsterne Dame nun einmal ist — erst wenn der Erfolg gemeldet wurde, die Besetzung des Ausganges aus jenem Tale, wollte sie sich mir stolz als Banditenfürstin präsentieren.
Das tat sie denn auch, als es so weit war, da erst erfuhr ich den ganzen wahnsinnigen Plan — gleichzeitig aber auch drehten die Bukanier, wie sie sich jetzt nannten, den Spieß um und schenkten reinen Wein ein. Als erstes musste die Lady einen Scheck über hunderttausend Dollars unterschreiben. Da wussten wir aber auch gleich, dass das erst der Anfang zu weiteren Erpressungen war. Na, und da wurde sie natürlich gefangen gesetzt, hier in diesen Felsenkammern. Und ich natürlich auch mit.«
»Konnten Sie sich der Bukanier nicht erwehren? Sie verfügen doch immer über ganz besondere Waffen.«
»Ja, aber die Überrumpelung war eine derartige, dass ich sie nicht benutzen konnte. Man hat mir alles abgenommen.«
»Was sind es für Waffen?«
»Elektrizität spielt dabei die Hauptrolle. Sie wissen doch.«
»Nun bedienen sich ihrer diese Unholde?«
»Nein. Sie gingen so ungeschickt damit um, dass sie alles zerbrochen haben.«
»Hatten Sie auch ein Instrument, mit dem Sie nach dem Christofferatale hinüberblicken konnten?«
»Woher wissen Sie das?!«
»Ich — frage jetzt nur. Antworten Sie.«
»Ja. Von meinem Bruder verfertigt. Auch dieser Spiegel zerbrach in den Händen der Bukanier.«
Es war also so gewesen, wie wir es uns gleich gedacht hatten.
»Wie haben nun die Bukanier die Waffen und alles bekommen?«, fuhr Atalanta dann zu fragen fort.
»Nun, eben von Cossimbe. Allerdings nicht so direkt. Auf Schmuggelwegen.«
»Fünfhundert Mann sind es?«
»Ja, so ungefähr.«
»Und es können immer mehr hinzukommen?«
»Nein, jetzt nicht mehr, obgleich in Cossimbe ein Streik ausgebrochen ist.«
»Warum jetzt nicht mehr?«
»Weil man unterdessen Wind von der ganzen Sache bekommen hat, der Weg ist ihnen verlegt worden.«
»Was ist das für ein Weg?«
»Als Hauptsache eine schreckliche Schlucht von einigen Kilometern Länge.«
»Es gibt keinen anderen Weg?«
»Nein. Und dieser Weg ist ihnen nun verlegt.«
»Sie können nicht wieder heraus aus diesem Tale?«
»Nein. Sie können die Schlucht gegen jeden Feind verteidigen, können aber selbst nicht wieder heraus.«
»Wie lange können sich die Eingeschlossenen hier halten?«
»Bis sie verhungern.«
»Weshalb verhungern?«
»Weil ihr Proviant doch einmal zu Ende gehen muss, so reichlich sie auch mit solchem versehen sein mögen.«
»Sonst können sie sich hier nicht ernähren?«
»O nein. Das ist hier ein trostloses Tal, alles steinig, mit ganz dürftiger Vegetation. Gar nicht zu vergleichen mit jenem Paradiese dort drüben. Es gibt wohl Wild, aber mich wundert schon, dass hier einige Raubtierarten genügend Beute finden.«
»Gibt es auch Jaguare?«
»Ja, und ich weiß, dass sich ein solcher in das andere Tal eingeschlichen hat. Er ist aber erst den Spuren der Menschen gefolgt, denn schon vorher, ehe die Kriegsoperation begann, haben einige Jäger ungehorsamerweise einen Abstecher nach drüben gemacht, Sie sind dann dafür standrechtlich gehangen worden.«
»Sollte solch ein Raubtier derartige Schleichwege, die in ein wildreicheres Gebiet führen, nicht besser kennen als Menschen, dass diese ihnen erst den Weg zeigen müssen?«
»Diese Schleichwege waren früher durch Schuttmassen verschlossen, sind erst freigelegt worden.«
»Ach so. Nun ist aber doch jener Jaguar offenbar ganz in der südöstlichsten Ecke in das Tal hineingekommen, und die Hornbucht, in welche sich die Bukanier hauptsächlich konzentrierten, befindet sich hoch im Norden.«
»Nun ja, warum nicht?«
»So zieht sich dieses Tal hier ganz an jenem anderen entlang?«
»So ist es. Nur dass es viel, viel schmaler ist. Kaum eine englische Meile breit. Es ist nur eine Schlucht von sehr großer Ausdehnung.«
»Wie viele solche Durchgangstunnel kennen die Bukanier?«
»Drei. Einer mündet in die Hornbucht, einer nur etwas nördlicher in die Einflussbucht, als Nummer 13 bezeichnet, der ist hier ganz in der Nähe, und ein Tunnel kommt im Südosten bei den Biberinseln heraus. Der ist aber zur Kriegsoperation nicht gut zu gebrauchen.«
»Weshalb nicht?«
»Er mündet zu offen, der Feind kann beim Herauskommen zu leicht beschossen und ihm der Rückweg abgeschnitten werden.«
»Woher ist Ihnen das alles so genau bekannt?«
»Nun, einige der Bukanier waren doch früher drin in jenem Tale, als Jäger, die kennen doch alles, auch alle Namen.«
»Und Ihnen ist das alles mitgeteilt worden?«
»Ja, weil wir doch erst mitmachen sollten; wenigstens die Lady Morgan. Da wurde sie in alles eingeweiht. Ich war immer mehr der Zuhörer, bis sich die Schurken dann in Erpresser verwandelten.«
»Weshalb hält man Sie eigentlich hier gefangen?«
»Ja, man kann mich nun doch nicht wieder fortlassen. Allerdings ist ja gar nichts mehr zu verraten, aber ich bin doch eine wertvolle Geisel, überhaupt ein wertvolles Objekt. Natürlich habe auch ich Schecks ausschreiben müssen. Diese Menschen haben bereits mein ganzes Vermögen in Händen. Das heißt nur auf dem Papiere.«
»Das angewiesene Geld ist ihnen wohl nicht ausgezahlt worden?«
»Nein. Das ist es eben. Sie haben gleich im Anfange eine zu große Summe gefordert. Von der Miss Morgan als erstes gleich hunderttausend Dollars. Da ist die Bank in Mexiko denn doch misstrauisch geworden. Jetzt nimmt keine Bank einen Scheck von der Miss Morgan oder mir mehr an. Da hat man nach unserem Verbleib zu forschen begonnen. So ist die ganze Geschichte erst herausgekommen.«
»Dass wir hiervon aber noch gar nichts erfahren haben!«, wandte sich die Gräfin halb an mich.
»Nun«, meinte Professor Dodd, »das muss erst dieser Tage herausgekommen sein. Erst heute ist die Schlucht nach Cossimbe besetzt worden, von Militär, das weiß ich bestimmt.«
»So, dann wird es wohl auch erst heute nach Christoffera kommen. Und was werden die Bukanier nun tun?!«
»Was sollen sie tun? Sie müssen eben ihren Plan durchführen, sich dort drüben des Tales bemächtigen.«
»Dann sind sie dort drüben aber doch ebenfalls eingeschlossen.«
»Ja, aber dort drüben können sie sich ernähren, für immer. Sie würden wie in einer Welt für sich leben, bis an ihr seliges Ende. Hier drin aber wäre es der baldige Hungertod.«
»Wo befindet sich Miss Morgan?«
»Die wird anderswo in Gewahrsam gehalten.«
»Wo?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie werden Sie behandelt?«
»Ich habe eigentlich über nichts zu klagen.«
Sinnend blickte die rote Gräfin in den finsteren Schlund hinab.
»Was ist das hier für ein Wasser?« fragte sie dann. »Wo kommt es her? Wird dieses Tal von einem Strome durchflossen?«
»Ja, von einem ganz beträchtlichen Strome, der hier in der Nähe in einer tiefliegenden Höhle verschwindet, diese ganz ausfüllend.«
»Können Sie uns etwas mehr darüber sagen?«
»Ich kann Ihnen sogar einen Situationsplan geben, den ich entworfen habe, als ich mich noch frei bewegen durfte und meinen Spiegel hatte, den mein Bruder eben einen Situationsspiegel nannte, wodurch solch eine Aufnahme sehr leicht wird. Man hat mir die Zeichnung gelassen — oder sie bei meiner Visitation nicht gefunden. Für mich ist sie wertlos, für Sie wohl desto wertvoller.«
Er griff unter seine Jacke und brachte ein zusammengefaltetes Papier zum Vorschein.
In der Tat, das war eine außerordentlich wertvolle Skizze für uns! Dieses ganze Tal mit allen seinen Nebenschluchten war mit scharfen Linien umrissen, bis nach Cossimbe hin, ebenso aber waren auch noch die östlichen Hauptbuchten unseres eigenen Tales darauf angegeben.
»Diese geschlängelte Linie ist der Strom, der die größte Schlucht durchfließt!«, erklärte der Professor. »Er tritt auch schon hier unterirdisch zu Tage, aus einer Felswand heraus, unpassierbar, hier verschwindet er wieder, und hier ungefähr befinden wir uns jetzt, liegt mein Gefängnis.«
»Ja, ich sehe, Wie hoch liegt dieses Gefängnis über dem Erdboden?«
»Ungefähr 30 Meter. Das konnte ich aber nur durch Zählen der Stufen taxieren, zu keinem Fenster kann man hinausblicken, so eng sind sie überall.«
Ja, diese Höhe stimmte auch nach unserer Berechnung.
»Und was bedeuten diese drei punktierten Linien?«
»Das sind eben die drei Tunnels, die von hier aus durch die Felsen nach Ihrem Tale gehen. Sie sind nicht so geradlinig, wie ich sie angegeben habe. Aber die Ein- und Ausgangspunkte stimmen ganz genau.«
»Kann ich diese Zeichnung behalten?«
»Gewiss, mir nützt sie nichts.«
»Vortrefflich!«, sagte die Gräfin, das Papier zwischen Hals und Kautschukjacke verschwinden lassend. »Dieser Situationsplan ist unbezahlbar.«
»Ja, vortrefflich für Sie, aber noch nicht für mich!«, seufzte Professor Dodd, was diesem Manne so gar nicht stehen wollte, weil ich ihn eben bisher von einer anderen Seite kennen gelernt hatte; er hatte uns ja dort im Coloradogebirge oft genug besucht, und es war überhaupt ganz sein Bruder, der Mephistopheles.
»Es ist auch für Sie ganz vortrefflich«, entgegnete die Gräfin, »dadurch rückt Ihre Befreiung viel näher.«
»Ich hatte gehofft, dass Sie mich gleich mitnehmen könnten!«, wurde nochmals geseufzt.
»Das muss ich bedauern, es ist durchaus nicht möglich. Wir haben nur zwei solcher Skaphander zur Verfügung. auf die wir uns verlassen können. Wir können uns wohl andere schicken lassen, Skaphander gibt es wohl genug zu kaufen, in jeder größeren Seestadt, aber ich möchte niemanden hineinstecken.«
»Sie haben die beiden Skaphander von meinem Bruder?«
»Von Ihrem Bruder? Wissen Sie, wo der jetzt ist?!«
»Ja. Wieder bei den Mahatmas. Er ist wieder in den Geheimbund als vollwertiges Mitglied aufgenommen worden.«
»So ist es. Dieser Mephistopheles, der uns so viel zu schaffen machte, dann aber doch wieder uns so überaus nützlich war, kommt für uns nicht mehr in Betracht. Er ist in den Schoß der geheimen Gesellschaft zurückgekehrt.«
»Bis er wieder einmal auskneift!«, kam da das Höhnische dieses Professors doch wieder einmal zum Vorschein.
Es war etwas ganz Neues, was ich da zu hören bekam. Nun, ich nahm es nicht übel, dass man mir nichts davon gesagt hatte, was ging mich denn das an.
»Es wäre Ihnen mitgeteilt worden«, wandte sich da die Gräfin an mich, die so etwas wohl gleich fühlen mochte, »sobald es so weit war. Denn eigentlich ist es noch nicht so weit. Aber zu uns zurückkehren wird jener rätselhafte Mann jedenfalls nicht wieder.«
»Desto besser!«, meinte ich. »Höchstens interessiere ich mich noch für das Schicksal jener Japaner, die auf der Lemureninsel zurückgeblieben sind. Es waren doch wackere Burschen.«
»Die sind gleichfalls in jenes geheimnisvolle Reich gekommen, das im Himalajagebirge mehr geistig als irdisch gegründet worden ist.«
»Na, da gehören die doch hin! Denn arge Duckmäuser waren es schließlich doch.«
»Und auch wir werden uns sehr bald dorthin begeben.«
»Wir?!«
»Mein Gatte, ich und unser Kind.«
Jetzt allerdings erschrak ich.
»Nee, Gräfin, das machen Sie mal ja nicht!«
»Es ist schon beschlossen. Sobald unsere Zeit gekommen ist, sobald wir hier unsere letzte Pflicht auf Erden erfüllt haben.«
»Meine Herrschaften«, ließ sich da Professor Dodd wieder vernehmen, »vorläufig haben wir es hier noch mit ganz reellen Sachen zu tun, mit einem Feinde, der Sie festnimmt und vielleicht auch tötet, wenn Sie sich nicht dagegen zu wehren wissen!«
»Wir werden uns zu wehren wissen!«, entgegnete die Gräfin ruhig und sogar salbungsvoll, wie sie zuletzt immer gesprochen hatte.
»Können Sie mich denn nicht mit Ihren Mahatmakräften mit von hier fortnehmen?«
»Nein, noch nicht. Noch verfüge ich nur über die Mittel, die jeder andere Mensch besitzt oder sich erwerben kann.«
»Und die Ihnen die Mahatmas zur Verfügung stellen.«
»Ja, aber das sind nur erst zwei Skaphander und wenig anderes, was Ihnen jetzt nicht zur Rettung dienen kann. Sie müssen warten, bis wir mit einem Unterseeboote hier — oder halt! Sie können ja auch einen von unseren Skaphandern benutzen!«
Mich wunderte, dass die Gräfin hieran nicht gleich gedacht hatte. Ich hatte schon längst diese Idee gehabt, diesen Vorschlag nur erst von einer anderen Seite erwartet.
»Na ja natürlich!«, rief jetzt der Professor, wenn auch mit unterdrücktem Jauchzen.
Mir schien, dass auch er schon lebhaft daran dacht hatte, aber es war wohl ein gewisser Edelmut, dass er es nicht gleich gesagt; denn einer von uns musste dann doch hier zurückbleiben.
»Das bin selbstverständlich ich, die hier zurückbleibt!«, sagte die Gräfin, auch schon ihre Kautschukjacke aufschnallend.
»Das ist nicht so selbstverständlich«, warf ich ein, »ich kann gerade so gut —«
»Nein, nein, hier kann nur ich in Betracht kommen! Natürlich bleibe ich nicht hier oben. Ich werde unterdessen dort unten das Wasserbassin untersuchen, das ja auch schwimmend und sogar watend möglich ist, wir müssen erst eine tiefere Stelle finden, sonst ist auch das Vordringen eines Unterseebootes in Frage gestellt. Keine Widerrede!«
Sie hatte die Kautschukjacke, unter der sie noch ein dünnes Lederhemd trug, abgelegt, der Professor musste sie anziehen, sie war ihm behilflich dabei.
»Sie werden doch den Rückweg finden, Kapitän?«, fragte sie dabei.
»Das hoffe ich doch.«
»Der Tunnel hatte auch keine Abzweigungen. Ich bringe Sie schwimmend bis an seinen Eingang, dann kehre ich zurück und warte an der Leiter, bis Sie mich wieder abholen. Vorwärts, steigen Sie zuerst hinab, Kapitän, ich mache den Schluss. Halt!«
Sie zog aus ihrer Tasche eine Dose.
»Hier Atalanta!«, flüsterte sie dagegen.
Also eine Telefonuhr. Aber keine der unsrigen, die ich doch zur Genüge kannte, von ganz anderem Aussehen, Auch hatte ich kein Anrufsignal vernommen, ebenso wenig war zu hören, was gesprochen wurde.
Da machte die Gräfin ein höchst bestürztes Gesicht.
»Ooooh!«, erklang es bedauernd. »Das also war der Grund, weshalb nicht mehr mit uns gesprochen wurde! Meine Herren — vor allen Dingen Sie, Herr Kapitän Hagen — vernehmen Sie es. Don Christoffero — ist nicht mehr.«
»Tot?!«
»Ein kurzes Unwohlsein — dann hat ein Herzschlag seinem Leben ein Ende gemacht.«
Eine Pause der Erschütterung.
»Da ist er also nicht so alt geworden, wie er es zu werden hoffte!«, fiel es mir dann zu sagen ein.
»Er hat es nicht gehofft. Wohl ihm, er ist nach einem langen, nur selten getrübten Leben dahingefahren wie ein Jüngling in voller Lebenskraft. Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben — — das möchte man fast auch bei diesem zweiundachtzigjährigen Greise sagen. Und sein Tal, an dem sein ganzes Herz hing, hat er ja in gute Hände gegeben, das wird sicher sein letzter beruhigender Gedanke gewesen sein.«
»In wessen Hände?!«, fragte Professor Dodd schnell, »Don Christoffero war doch unverheiratet.«
»Nein, das war er nicht!«, entgegnete die Gräfin und wandte sich dann an mich, »Herr Kapitän Hagen, ich begrüße Sie als den neuen Herrn dieses Tales.«
»Mich?!«, rief ich mit begreiflichem Staunen.
»Das kann Ihnen doch nicht überraschend kommen. Sie sind der Gatte seiner Tochter, seines einzigen Kindes, das er als ganz legitimes betrachtet hat. Ich selbst habe sein Testament mit als Zeuge unterschrieben, das er erst vor wenigen Tagen aufsetzte, als hätte er schon so etwas geahnt, Universalerbe sind Sie allerdings nicht. Alles andere fällt wohltätigen Anstalten zu. Aber dass Sie dieses Jägerparadies in seinem Sinne weiterführen können, dafür hat er reichlich gesorgt.«
»Aber ich bin durchaus nicht gesonnen, hier für immer zu bleiben!«, sagte ich unwirsch.
»Dazu sind Sie auch gar nicht verpflichtet. Nur kolonisieren dürfen Sie dieses Tal nicht lassen.«
Ein seltenes Rasseln erklang.
»Dort kommt mein Gefängniswärter!«, flüsterte der Professor.
Eilig verschwanden wir in dem Brunnenschacht.
Hier unterbrechen wir wieder die persönliche Erzählung des Kapitäns Hagen, überspringen einige Tage und versetzen uns abermals in solch eine Felsenkammer mit engen Fenstern, denen eine andere Felsenwand gegenüber lag.
Einige zusammengestellte leere Proviantkisten, auf denen einige sehr schmutzige Pferdedecken lagen — das war das Bett der Dollarfürstin, der Milliardärin. Eine andere Proviantkiste, auf der ein Eimer stand, daneben ein alter Lappen zum Abtrocknen — das war ihre Toilette.
Die Tür, die ihr Gefängnis verschloss, bestand ebenfalls aus zusammengenagelten Kistenbrettern, aber auch furchtbar zusammengenagelt, in notdürftigen und doch soliden Angeln befestigt, draußen mit mächtigen Riegeln aus Eisenbändern versehen. Und das alles hatte sie mit ihrem eigenen Gelde bezahlt, hatte es selbst bestellt.
Jetzt saß sie auf ihrem Lager, die Hände im Schoß gefaltet, und stierte vor sich hin. Trotz ihrer Verzweiflung war es noch immer das schöne Weib.
Gleich am Beginne ihrer Gefangenschaft hatte sie mehrere Briefe geschrieben, an einen Onkel in New York, an ihren Geschäftsvertreter, an den Gesandten in Mexiko, an den mexikanischen Präsidenten selbst.
In dem einen Schreiben hatte sie von mehreren Millionen gesprochen, in dem anderen von der Hälfte ihres Vermögens. Eben jedes geforderte Lösegeld sollte für sie gezahlt werden, das war die Hauptsache in sämtlichen Briefen. Und überhaupt alles gewähren, was die Banditen sonst noch forderten, also auch ihre Amnestie.
Die Briefe waren befördert worden. Es war noch keine Antwort gekommen. Und jetzt wusste Miss Morgan, dass überhaupt nie eine Antwort kommen würde.
Es war ja Torheit, was sie da verlangte. Ja, wenn sie alle ihre Schätze mit hier drin gehabt hätte! Aber so — so war sie nur eine einzige lumpige Person, auf deren Leben oder Tod es gar nicht ankam. Und da gab es sogar genug Menschen, sie hatte doch Verwandte, die sich nur auf ihren Tod wegen der Erbschaft freuten.
Und wie sollte denn das überhaupt arrangiert werden? Amnestie, vollständige Verzeihung konnte man diesen Banditen wohl erteilen, aber die wussten doch ganz genau, dass man dies niemals halten würde. Da ist doch immer wieder ein anderer Grund gefunden, um jemanden festzunehmen, oder die Weltgeschichte müsste erst in ganz anderes Fahrwasser kommen. Und wenn die Banditen bekamen, was sie forderten, so gaben sie die Gefangene doch immer noch nicht heraus. Das war doch ganz klar.
Natürlich klammerte sich die Gefangene, obgleich sie dies alles ganz genau wusste, noch immer an diese Hoffnung wie an den letzten Strohhalm.
»Ich ertrage dieses Warten nicht länger, ich werde wahnsinnig!«, schrie sie jetzt jammernd auf, empor springend und ihre unterbrochene Wanderung in der engen Zelle wieder aufnehmend, und sie musste sich wundern, dass sich in den Stein trotz seiner Härte noch nicht ihre Fußspuren eingedrückt hatten.
Da rasselte es draußen an der Tür, die Riegel wurden zurückgeschoben.
Der Eintretende war ein noch junger Mensch, aber mit schrecklich verlebten Zügen, alle Leidenschaften hatten ihren Stempel eingezeichnet. Obgleich wie die anderen Bukanier gekleidet, sehr verwahrlost, wollte er doch etwas mehr aus sich machen. zeigte eine tombakene Uhrkette, an den schmutzigen Fingern mehrere wertlose aber auffallende Ringe.
Übrigens hätte auch Miss Morgan eine neue Toilette einmal sehr nötig gehabt, durch die letzten Strapazen begann sich ihr Kleid bereits in Lumpen zu wandeln.
»Bringen Sie mir meine Freiheit, Mister Arlin?«, rief sie ihm entgegen.
Er stand vor der Tür, die er hinter sich nur wieder zuziehen, nicht schließen konnte. Waffen zeigte er nicht, bei diesem Weibe musste man sich hüten, hatte aber die eine Hand verdächtig in der Hosentasche.
»Nicht so nahe heran, geehrte Miss, wenn ich bitten darf«, suchte er in seiner Weise höflich zu sein, »immer hübsch drei Schritte vom Leibe. Nein, der Termin ist verstrichen und wir haben keine Antwort bekommen.«
»Was für ein Termin? Ich habe keinen Termin gestellt.«
»Aber wir, Wir haben auch noch etwas anderes gefordert. Denken Sie doch nicht etwa, dass man für Sie uns auch nur einen Dollar schickt. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, wie das gegenseitige Verhältnis ist.«
Und er erklärte es noch einmal — genau dasselbe, wie wir es vorhin ausgeführt haben.
»Und was haben Sie gefordert?«, fragte Miss Morgan mit schon ausbrechendem Jammer.
»Nichts weiter als hundert Fässer Mehl, Salzfleisch und ähnlichen Proviant, und außerdem noch hunderttausend Patronen für unsere Gewehre. Wenn wir das geliefert bekommen, geben wir Sie frei. Der Termin ist verstrichen, man hat uns gar keiner Antwort gewürdigt, Da sehen Sie, was Sie wert sind.«
»Ja, Patronen zu fordern, sind Sie denn wahnsinnig?«, rief das Weib jetzt in heller Verzweiflung. »Wie kann denn eine Regierung oder sonst wer Räubern Patronen liefern?!«
»Es ist nicht so wahnsinnig wie Ihre Forderung, dass wir Amnestie bekommen sollen!«, lachte der schäbige Gentleman. »Und die Hauptsache dabei ist doch die, dass die ganz genau wissen, wie wir Sie ja doch nicht laufen lassen würden.«
»Sie würden es nicht tun, auch wenn Ihre Forderungen erfüllt würden?«
»I Gott bewahre, so dumm würden wir doch nicht sein!«, lachte jener wiederum. »Und das wissen die eben ganz genau.«
Jetzt brach ihre Verzweiflung vollends hervor.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Beispiel des Professors zu folgen!«
»Hier ist aber kein Brunnen, in dem Sie sich ersäufen können!«, grinste der Kerl. »Sie müssten denn gerade Ihren Kopf so lange dort in den Eimer halten.«
»Ich zerschmettere mir den Kopf an der Felswand!«
»Sagen Sie das nicht so laut, sonst werden Sie auch noch gebunden.«
Da merkte sie, wie sich sein Gesicht veränderte, und warnend hob er auch noch den Finger.
»Ja, sprechen Sie nicht so laut«, begann er jetzt zu flüstern, »ich bin meiner Sache nicht mehr sicher, verliere täglich mehr an Macht, es könnte sich jemand nachschleichen und uns belauschen. Ja, Miss Morgan, wenn man Ihnen nur trauen könnte!«
Da leuchtete es noch einmal hoffnungsvoll in ihren Augen auf!
Es lag ja auch so nahe, sie hatte sich ja schon einmal in ganz gleicher Lage befunden und hatte sich zu befreien gewusst, indem sie zur Verführerin geworden war.
Aber einmal hatte sich dieser schäbige Gentleman trotz seiner Höflichkeit immer so zurückhaltend gegen sie benommen, dann war er auch meist in Begleitung von anderen gekommen, und dann vor allen Dingen hatte sie bisher immer auf die Beantwortung ihrer Briefe, auf ein Lösegeld gewartet, sodass sie noch gar keinen anderen Fluchtplan entworfen hatte.
»Sie können mir trauen!«
»Ja, das sagen Sie jetzt. Ich kenne doch die Geschichte, wie Sie schon einmal gefangen waren, wie Sie dem japanischen Matrosen die Ehe versprachen, wenn er Sie befreite, und wie Sie dann den armen Kerl den Felsen hinabschmetterten.«
Wie, das wusste dieser Mann? Erzählt hatte sie es ja gleich, nur etwas anders. Dann aber hatte sie in vertrautem Kreise doch der Wahrheit die Ehre gegeben, hatte den Hergang nach Tatsachen geschildert.
Und das war diesem Manne zu Ohren gekommen? Das war freilich fatal, ließ sich aber nun nicht mehr ändern.
»Dieser überaus hässliche Japaner, ein Scheusal von einem Menschen, zwang mir das Versprechen ab —«
»Ich weiß schon, ich weiß schon. So dumm wie dieser Japaner bin ich natürlich nicht. Ihnen fällt es dann doch gar nicht ein, mich zu heiraten, hähähä. Aber es hat auch gar keinen Zweck, dass Sie mir etwas Schriftliches geben, mir so und so viel zahlen zu wollen. Ich muss mich da ganz auf Ihre Großmut verlassen.«
»Das können Sie auch!«
»Ja, und das glaube ich auch, das kann ich. Ich bringe Sie in Sicherheit. Also hier zum Tale hinaus nach dem mexikanischen Lager hinüber. Was ich dabei riskiere, können Sie sich wohl denken. Und ich riskiere umso mehr, als ich dazu auch die betreffenden Wachtposten für den Plan gewinnen muss. Denn sonst können wir unmöglich die Eingangsschlucht passieren. Und dann muss ich natürlich verschwinden. Denn dass die mich wegen Ihrer Befreiung als Held empfangen, davon ist doch gar keine Rede. Die nehmen mich sofort fest und hängen mich auf. Also ich darf mich nicht festnehmen lassen. Aber wenn ich nun später in Ihren Palast komme, werden Sie sich erkenntlich zeigen?«
»Mann, wie können Sie noch fragen —!«
»Ja, ich weiß schon, es hat gar keinen Zweck, dass ich da erst noch frage. Entweder Sie tun's oder Sie tun's nicht. Ich muss mich eben ganz auf Ihre Großmut verlassen.«
»Auf meinen Knien werde ich Ihnen hinterher noch danken —«
»Daran ist mir gar nichts gelegen!«, grinste der Kerl. »Wie viel würden Sie mir denn da geben?«
»Fordern Sie, so viel Sie wollen, die Hälfte meines Vermögens, alles —«
»Nenee, so weit wollen wir lieber nicht gehen, denn dieses Versprechen würden Sie ja doch nicht halten. Mit einer Million Dollars wäre ich auch vollkommen zufrieden, das genügt zu einem sorgenfreien Leben —«
»Hundert Millionen —«
»Neneneeee, bleiben wir nur bei einer Million. Sie sehen, wie bescheiden ich bin oder wie klug. Wenn Sie mir mehr geben wollen, so steht das dann ja ganz in Ihrem Belieben, Ich will nicht einmal eine Million fordern. Ich überlasse es ganz Ihrer Großmut. Also, soll ich?«
»Herr, Sie sind mein Engel —«
»Gut. Um elf Uhr geht der Mond unter. Dann komme ich, Sie zu holen. Mehr habe ich jetzt nicht zu sagen.«
Er ging und schob draußen die Riegel vor.
Das war nachmittags in der vierten Stunde gewesen.
Fürchterlich langsam flossen der Gefangenen die Stunden dahin. In der Qual der Sorge, ob sich ihre Hoffnung auch erfüllen würde, in der Furcht vor dem Entweder — Oder.
»Ich darf nicht mehr darüber grübeln, ob es ihm gelingen wird oder nicht oder ich werde wahnsinnig!«, flüsterte sie gar oft.
Und sie musste doch immer wieder grübeln, sich alles ausmalen, wie es kommen würde.
Als es zu dunkeln begann, brachte ihr der alte Bukanier, der sie gewöhnlich bediente, das Nachtessen, wie immer sehr reichlich aus den verschiedensten Konserven bestehend, aber sehr notdürftig zubereitet, das Brot ein schliffiger, halbverbrannter Teig.
Sonst bekam sie zum Abend auch immer ein Stearinlicht, das sie bis zum letzten Ende aufbrannte; heute nicht.
»Wir haben keine Lichter mehr!«, brummte der Alte auf ihre Frage verdrießlich und ging wieder.
Nun brachen die Stunden der Nacht an, in ihrer einsamen Finsternis doppelt fürchterlich.
Doch da begann es in der Felsenkammer wieder zu dämmern.
Der Mond war aufgegangen, das erste Viertel.
Durch die engen Fenster konnte er ja nicht scheinen, aber er fiel gerade in die enge Schlucht, sein Licht wurde von der gegenüberliegenden wie polierten Felswand reflektiert, so wurde die Kammer von einem Dämmerlicht erfüllt, in dem man jeden Gegenstand ganz deutlich sah, gerade nach der langen Finsternis, in der sich das Auge befunden hatte.
Die Gefangene begann die Sekunden zu zählen und machte sich dadurch die Qual nur noch fürchterlicher, zumal sie ja gar nicht wusste, wie spät es schon oder erst war.
Da rasselten draußen die Riegel.
Es war Mister Arlin.
Noch bei vollem Mondschein.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er vergnügt, »die vier Wachtposten, die an der Schlucht in Betracht kommen, sind auf meiner Seite.«
»Gelobt sei Gott, gelobt sei Gott!«, konnte dieses Weib jetzt auch einmal »fromm« werden.
»Derer müssen Sie dann natürlich auch gedenken.«
»Sie können fordern, was sie wollen — sie sollen alles, alles doppelt und dreifach erhalten!«
»Na, na, nur nicht immer gleich zu viel versprechen! Wenn wir dann so viel bekommen, dass wir unser gutes Leben machen können — das genügt vollkommen. Und bei mir eine kleine Extrazugabe.«
»Sie sollen staunen über meine Dankbarkeit!«
»Das lässt sich eher hören, das ist etwas anderes als so eine Versprechung. Ich bin doch nicht so ein dummer Kerl wie jener japanische Matrose, der gleich Unmögliches forderte. Und nun gar gleich heiraten, weiter fehlte nichts, hahaha! Ja, Sie sind ein ganz famoses Weib, aber wenn ich das genügende Geld habe, dann gibt es auch noch andere. Nichts für ungut, Miss. Aber da sehen Sie, was ich für ein ehrlicher Gentleman bin.«
»Das sind Sie.«
»Ja, es wäre mir nicht so leicht geglückt, wenn nicht ein Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Zwei von den vier Männern, die heute zur betreffenden Stunde dort an der Schlucht Wache haben, wo's gerade darauf ankommt, hätte ich mit meinem Vorschlage nicht angehen dürfen, und unbedingt müssen es doch alle vier sein. Aber da haben wir vorhin Gesellschaft bekommen. Von den amerikanischen Soldaten sind ein paar zu uns übergelaufen. Sie hatten wegen einer schweren Insubordination Strafe zu erwarten, und da haben sie es vorgezogen, sich zu uns zu schlagen. Sie haben auch noch ein paar andere mit hereingebracht, die schon immer gern herein wollten, weil sie noch glauben, unsere Sache stände ganz vortrefflich. Uns ist es ja nicht etwa angenehm, das sind nur ein paar Fresser mehr. Ich kann's Ihnen nicht näher schildern, wie es gekommen ist, weiß es selbst noch nicht genau, habe die Überläufer noch gar nicht gesprochen, sie sind erst auf dem Wege hierher. Aber die Hauptsache ist, dass zwei von den Wachtposten deshalb abgelöst sein möchten, weil sie Freunde dabei haben, und ich habe es so einrichten können, dass sie gerade durch die richtigen Burschen ersetzt werden.«
»Also jetzt sind die vier Posten auf Ihrer Seite?«
»Alles in Ordnung, alles in tadellser Ordnung!«, schmunzelte Alrlin händereibend.
»Die Flucht muss gelingen?«
»Kann gar nicht mehr fehlschlagen. Es hat nur noch an den beiden Wachtposten gelegen, und das ist jetzt arrangiert.«
»Und wann holen Sie mich?«
»Sobald der Mond untergeht. Spätestens um elf. Ich bringe schon einen Männeranzug für Sie mit.«
»Wie werden wir aber dann —«
»Das lassen Sie nur alles meine Sache sein. Das kann ich Ihnen gar nicht schildern. Jedenfalls aber werden Sie über meine Schlauheit staunen.«
»Also um elf!«
»Spätestens. Das heißt, dann brechen wir auf. Es kann aber sehr leicht sein, dass ich schon eine halbe Stunde eher komme, wenn auch der Mond noch scheint.«
»Welche Zeit ist es jetzt?«
Der schäbige Gentleman zog seine Uhr, die einst vergoldet gewesen war.
»Fünf Minuten vor neun.«
»Geben Sie mir Ihre Uhr, bitte.«
»Meine Uhr? Wozu?«
»Damit ich immer weiß, welch Zeit es ist, weil ich sonst — bis dahin wahnsinnig werden könnte. Bitte, geben Sie mir Ihre Uhr.«
»Hm. Ich kann Ihre Stimmung begreifen. Warum nicht, Hier —«
Er löste das Tombakding von der Kette und gab sie ihr.
»Danke. Ich werde sie wohl für immer behalten. Als Andenken, oder wenn Sie dereinst kommen, um sie zurückzufordern, werde ich Ihnen etwas anderes dafür geben, Ihnen diese Uhr abkaufen.«
»Hm. Das lässt sich eher hören. Das klingt anders als solche Versprechungen mit Millionen. Nun, Miss, ich muss wieder gehen. Ich komme also wohl schon vor elf. Gehe aber dann noch einmal, um Sie dann wirklich abzuholen. Nur erst Vorbereitungen.«
Er ging. Eine Flut von aufrichtigem Segen folgte ihm. Mit wahrhafter Zärtlichkeit betrachtete Miss Morgan die Tombakuhr, so dachte sie auch an diesen Mann, von aufrichtiger Dankbarkeit erfüllt, von überströmender Dankbarkeit, fast Zärtlichkeit.
Ja, das war etwas ganz anderes als damals mit dem japanischen Matrosen. Dass sie diesen Banditen hier dann zum reichen Manne machte, so reich, dass er niemals wieder als Erpresser mit ewigen Forderungen zu ihr kam, das war ganz zweifellos.
Jetzt hatte sie wenigstens eine Uhr, konnte immer nach der Zeit sehen. Dadurch verging ihr diese zwar noch langsamer, aber es war doch etwas ganz anderes. Der große Zeiger war die verwirklichte Hoffnung, die dem Ziele immer näher rückte.
So vergingen anderthalb Stunden. In der Felsenhöhle war es durch den Reflexschein des Mondes noch heller geworden.
30 Minuten vor elf — jetzt hätte er kommen können!
29 — 28 — 27 Minuten —
O Gott, o Gott, war denn nur jede Minute eine endlose Ewigkeit?!«
26 — 25 — 24 —
Da wurden die Riegel zurückgeschoben, aber nicht lärmend wie sonst, sondern leise, ganz, ganz leise!
Der Gefangenen stockte der Herzschlag.
Dort, wo sich die Tür befand, lag alles im Schatten, da war absolut nichts zu sehen.
Aber die Tür hatte sich geöffnet, das fühlte die Gefangene schon am Luftzug, und jetzt wurde die Tür wieder geschlossen.
»Sind Sie es?«, flüstere das Weib atemlos.
»Ich bin es!«, erklang es ebenso leise zurück.
»Kommen Sie, um mich schon zu holen?«
»Ich komme, um Sie zu holen.«
»Es ist alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung.«
»Wo sind Sie denn nur, so kommen Sie doch — allmächtiger Gott!!«
Das Gesicht des Eingetretenen war in den Mondschein gekommen.
Aber das war nicht das Gesicht des Mister Arlin.
Es war ein scheußliches Gesicht, das eines Pavians, eines Mandrills, mit großen, weitabstehenden Ohren und noch weiter abstehenden Backenknochen, die mächtigen Unterkiefer gewaltig hervortretend, aus dem furchtbaren Maule sahen lange Zähne hervor, die einem Kamele anzugehören schienen. kaum eine Andeutung von einer Nase, die Augen geschlitzt —
Und diese japanischen Schlitzaugen rückten mir einem furchtbaren Ausdruck näher, das gelbe Gesicht eines unförmlichen Kopfes, ein ebenso unförmlicher Körper folgte nach.
»Kamuri!«, schrie da Miss Morgan entsetzt auf. »Die Toten stehen auf, das ist der japanische —«
Es war ihr letzter Schrei, ihr letztes Wort gewesen.
Da schnellte die menschliche Affengestalt vor, eiserne Finger umkrallten ihren Hals.
»Komm, Liebchen, wir wollen unsere Hochzeitsnacht feiern, die Du mir versprochen hast — sie hat sich etwas verzögert —«
Da plötzlich verschwand das Mondlicht, absolute Finsternis herrschte in der Felsenkammer.
Und in der Finsternis ein Stöhnen und Gurgeln und Röcheln.
Und dann fiel draußen ein einzelner Schuss.
Und gleich darauf knatterte eine ganze Salve.
Und da ging dort draußen der Höllenspektakel erst richtig los.
Unaufhörliches Schießen und Schreien und Brüllen und Heulen von Menschenstimmen.
»Die Hunters haben uns überfallen, sind in unserem Tale!«, gellte es.
»Nach den Munitionskammern!«
»Zu spät, zu spät, sie sind schon genommen!«
»Drauf los, Jungens, hurra!«, hörte man des Grafen Felsmark Stimme donnern.
»Hip, hip, hip orrreeeh!«, heulten die amerikanischen Jäger das englische Hurra mit Fistelstimme.
Und dann in weiter, weiter Ferne das noch quiekende Hurra der Mexikaner.
»Vorwärts, wir müssen den letzten Bukanier haben, ehe die Mexikaner hier sind!«, dröhnte dazwischen wieder Hagens Bass.
Und hier in der finsteren Felsenkammer noch immer ein Stöhnen und Gurgeln und Röcheln.
»Vittoria, vittoria!«, schrien die Mexikaner.
»Was schreien die?«, lachte jetzt schon dicht unter den Fenstern Graf Felsmarks Stimme. »Die haben ja den Feind gar nicht zu sehen bekommen. Wo willst Du hin, Atalanta?«
»Hier oben ist sie!«
Ein flüchtiger Fuß, kaum hörbar, eilte die Steintreppe herauf, die Tür wurde aufgestoßen, ein Blendstrahl drang herein.
»Miss Marwood Morgan, ich bringe Ihnen die Freiheit und ich trage Ihnen nichts nach — allmächtiger Himmel!!«
Der Blendstrahl beleuchtete die Szene auf dem Kistenbett.
»Sehe ich denn recht? Kamuri!«
Zwei blutüberströmte Leichen.
Er hatte, nachdem er sich gerächt, sich die Pulsadern aufgebissen.
Da sank der Blendstrahl in zitternder Hand herab.
»Tot!«, erklang es flüsternd. »Miss Marwood Morgan tot! Meine Feindin, der ich Verzeihung bringen wollte, tot! Von Kamuri ermordet — wie mir prophezeit worden ist! Nun hat sich auch meine Zeit erfüllt. Nun kann ich in Frieden gehen!«
Ich lag (lassen wir zum Schluss Kapitän Hagen ein Jahr nach diesen Ereignissen noch einmal persönlich erzählen) in der kleinen Bibliothek meines Palastes — jawohl, meines Palastes — auf dem Sofa und amüsierte mich mit einem braunen Mädchen aus Havanna, nur bekleidet mit einer goldenen Bauchbinde. Aber meine Frau hätte ruhig hereinkommen können; es war eine Zigarre.
Ich muss mich ganz zwangsweise deshalb solch einer poetischen Umschreibung bedienen, weil ich soeben wieder einmal Schillers Gedichte vorgenommen hatte. Waren auch hier in der kleinen Bibliothek vertreten, Prachtausgabe, auf chinesischem Papier gedruckt, Buchschmuck von Vallaton, gebunden in Brüssel.
»Die Teilung der Erde« war es, die ich zuletzt gelesen hatte, sehr aufmerksam, wenn ich sie auch schon auswendig konnte.
Ich glaube, dass jeder dieses Gedicht kennt. Trotzdem, ich will es hier wiederholen. Es hat seinen Grund.
»Nehmt hin die Welt!« rief Zeus von seinen Höhen
Den Menschen zu. »Nehmt, sie soll euer sein.
Euch schenk ich sie zum Erb und ewgen Lehen;
Doch teilt euch brüderlich darein!«
Da eilt', was Hände hat, sich einzurichten,
Es regte sich geschäftig jung und alt.
Der Ackermann griff nach des Feldes Früchten,
Der Junker birschte durch den Wald.
Der Kaufmann nimmt, was seine Speicher fassen,
Der Abt wählt sich den edeln Firnewein,
Der König sperrt die Brücken und die Straßen
Und sprach: »Der Zehente ist mein!«
Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehen,
Naht der Poet, er kam aus weiter Fern —
Ach, da war überall nichts mehr zu sehen,
Und alles hatte seinen Herrn.
»Weh mir! So soll denn ich allein von allen
Vergessen sein, ich, dein getreuster Sohn?«
So ließ er laut der Klage Ruf erschallen
Und warf sich hin vor Jovis Thron.
»Wenn du im Land der Träume dich verweilet«,
Versetzt der Gott, »so hadre nicht mit mir.
Wo warst du denn, als man die Welt geteilet?«
»Ich war«, sprach der Poet, »bei dir.
Mein Auge hing an deinem Angesichte,
An deines Himmels Harmonie mein Ohr —
Verzeih dem Geiste, der, von deinem Lichte
Berauscht, das Irdische verlor!«
»Was tun?« spricht Zeus, »die Welt ist weggegeben,
Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein.
Willst du in meinem Himmel mit mir leben —
So oft du kommst, er soll dir offen sein.
So weit Schiller.
Hm.
Ich glaube, ich glaube — dass so ein Gedicht heutzutage gar nicht mehr gemacht werden kann.
Unsere Zeit ist nicht mehr danach. Heute will man tausendpferdige Elektromotoren und Automobile und Flugmaschinen und Unterseeboote und Explosivstoffe und ein neues Abführmittel zum Dünnwerden und zum Verhüten des Haarschwundes und zur Erlangung eines junonischen Busens — aber keine Gedichte.
Oder sie müssen mit Janitscharenmusik sein und mit »Hurra, hurra, hurra!« enden.
Oder sie müssen der Venus Vulvivaga gewidmet sein.
Oder so ein Gedicht wie dieses hier —
Ich darf behaupten, so ziemlich die ganze Literatur zu kennen, wenigstens alles Bedeutende. Und ich kenne keine 32 abgezählte Zeilen, die solch einen Inhalt haben.
So und ähnlich grübelte ich auf dem Sofa, während ich mit der langen, schneeweißen Asche meiner Havanna liebäugelte, mit etwas vor Schläfrigkeit zwinkernden Augen.
Gerade beobachtete ich, wie der glimmende Rand ein gelbes Pünktchen auf dem Deckblatt erreichen wollte, als sich hinter mir ein Geräusch bemerkbar machte, als ob die Tür geöffnet würde.
Wer konnte das sein? Unangemeldet? Meine Frau konnte ich jetzt nicht erwarten.
Also ich richtete mich auf, um den Kopf besser wenden zu können, gleichzeitig warf ich einen Blick auf die mir gegenüber hängende Wanduhr, elektrisch betrieben, und gerade sprang der Zeiger auf die achte Minute nach drei.
Ich wandte den Kopf — richtig, da war schon jemand eingetreten. Eine Dame. Meine Frau war's nicht, die ging nicht schwarz, noch weniger verschleiert.
Ich sprang auf — bums, fiel natürlich wegen dieser Dame meine schöne Asche ab.
»Aber bitte, wer sind Sie denn?«
»Verzeihung, Herr Kapitän, dass ich unangemeldet eintrete.«
Himmel, diese Stimme! Und jetzt schlug sie den Schleier zurück.
»Atalanta! Frau Gräfin von Felsmark!«
Es war noch ganz genau dasselbe Gesicht, hatte sich in dem Jahre, da ich es nicht gesehen, nicht im Geringsten verändert. Und dennoch war es ein anderes. Das Starre fehlte darin. Das freilich hatte sie schon in letzter Zeit nach und nach verloren, es war immer freundlicher geworden. Jetzt aber war es vollends eine ruhige Heiterkeit, die sich darin ausprägte. Sonst also noch ganz dieselbe, auch in der Figur.
»Ja, Frau Gräfin, wo kommen Sie denn nur her?«
»Von dort, wo ich damals hingegangen bin!«, lächelte sie, und sie konnte überhaupt nicht mehr anders sprechen als lächelnd.
Dann aber schnoberte sie erst mit dem feinen Näschen.
»Ich dächte, hier röche es recht brenzlig. Meinen Sie nicht?«
Ja, jetzt merkte ich es auch. Wie wir uns schon gesetzt hatten, sie sich auf das Sofa und ich mich auf einen Stuhl, wusste ich gar nichts. Jetzt aber sah ich dort auf dem Eisbärenfell meine noch glimmende Zigarre liegen, sie hatte in die weißen Haare schon ein großes schwarzes Loch gebrannt.
Never mind, hatte bei mir nichts zu sagen. Das ließ sich wieder reparieren. Ich legte die Zigarre auf den Aschenbecher.
»Von dorther, wo Sie damals hingegangen sind!«, wiederholte ich. »Also von Indien, vom Himalajagebirge!«
»Habe ich damals gesagt, dass ich nach Indien, nach dem Himalajagebirge gehen wollte?«
»Hm, eigentlich nicht. In das Reich der Mahatmas, sagten Sie nur.«
»Und dies wird nur symbolisch in das Himalajagebirge verlegt, auf den Gaurisankar, als auf die höchste Spitze der Erde. Das ist alles nur ein Symbol.«
»Hm. Na meinetwegen. Ich will es gar nicht wissen, wo dieses Mahatmareich in Wirklichkeit zu suchen ist —«
»Sie würden es auch gar nicht verstehen, es ist alles nur ein Symbol!«, lächelte sie noch mehr.
»Nein, nein, ich will eben auch gar nichts begreifen. Aber Sie sind doch kein Symbol —«
»Na, na, warum nicht?!«
»Ach, machen Sie keine Geschichten! Oder nun geben Sie mir erst einmal Ihre Hand.«
Sie hatte die schwarzen Handschuhe abgestreift, wir schüttelten uns die Hände herzlich.
»Nein, das freut mich doch riesig, dass Sie mich auch einmal aufgesucht haben! Woher und wie Sie gekommen sind, mit welchem Vehikel, ob mit der Eisenbahn oder mit einem Luftschiff oder mit Hilfe eines Zauberschleiers, das ist mir ganz egal. Da kennen Sie mich doch. Aber ist Ihr Gatte nicht mitgekommen?«
»Nein.«
»Schade. Wie geht es ihm?«
»Ausgezeichnet.«
»Das freut mich. Und dem kleinen Alfred?«
»O, der ist mächtig gewachsen!«, strahlte sie im ganzen kupferbraunen Gesicht. »Und wie geht es denn Ihrer Frau Gemahlin?«
»Danke, ganz vortrefflich. Ich will Libelle doch gleich —«
Ich wollte aufstehen, um nach der Klingel zu gehen, sie hielt mich zurück, und ich bemerkte dabei, dass sie von ihrer früheren Kraft noch nicht viel verloren haben konnte.
»Bitte nicht gleich, ich möchte mich erst etwas mit Ihnen allein unterhalten!«
»Bitte sehr. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
»Nicht gleich. Ich werde verlangen, nicht wahr?«
»Recht so.«
Eine kleine Pause entstand. Wir sahen uns an. Sie immer glücklicher lächelnd. Na ja, bei diesem Wiedersehen, und wie wir uns beide auch gestanden hatten!
»Beinahe hätte ich jetzt gefragt, ob Sie sich glücklich fühlen!«, begann ich dann wieder, nicht gerade sehr gewandt, aber ehrlich.
»Ja. Und Sie, Herr Kapitän?«
»Ich auch.«
»Wirklich glücklich?«
»Na, wenn Sie mich so scharf auf den Zahn fühlen — was heißt glücklich? Nach einem großen Teile der Menschheit, besonders des weiblichen, müsste mit dem Segen des Priesters am Traualtar das unbedingte, absolute, niemals mehr zu trübende Glück beginnen. Wenigstens nach deutschen Begriffen. Bei den Franzosen ist es gerade umgekehrt, da fängt der Roman und also des Lebens Kampf mit der Trauung an und hört als gutes Ende mit der Ehescheidung auf. Und nun jauchzt das geschiedene Paar ebenfalls aus seligstem Herzen: endlich allein! — Was lachen Sie? So ist es. Ich bin zufrieden. Manchmal sehr zufrieden. Ich habe auch wirklich glückliche Minuten und sogar Viertelstunden. Mehr kann man doch nicht verlangen. Ich bin vollkommen zufrieden.«
»Also Sie bleiben hier in dem Jägertale?«
»Vorläufig bin ich noch da. Mehr kann ich nicht sagen. Vorläufig gefällt es mir noch. Vielleicht morgen schon denke ich anders. Vielleicht morgen schon kaufe ich mir mein eigenes Schiff. Geld dazu habe ich ja genug. Haufenweise. Oder ich gehe als Kapitän eines anderen Schiffes. Oder als Matrose. Oder als armer Handwerksbursche. Da lernt man wieder, wie gut ein Teller warmer Kartoffelsuppe schmeckt. Variatio delectat vitam, sagen wir Lateiner.«
»Abwechslung ergötzt das Leben, ich weiß es.«
»Ja, das ist es — und das Richtige ist es dennoch nicht.«
Ich griff nach Schiller, der noch auf dem Sofa lag, aufgeschlagen mit der »geteilten Erde«, fragte, ob sie dieses Gedicht kenne. Deutsch sprach sie vollkommen.
»Ich kenne es. Und als ich eintrat, rezitierten Sie gerade die letzten beiden Strophen. ›Willst du in meinem Himmel mit mir leben — So oft du kommst, er soll dir offen sein.‹«
»Tat ich es? Mag sein. Sie bildeten gerade den Inhalt meiner Träume, ich dachte dabei auch noch an so verschiedenes andere. Frau Gräfin, ich möchte Ihnen einmal ein kleines Geschichtchen erzählen, kein erfundenes, sondern eine Tatsache. Denn ich kann gar nichts erfinden, und das ist es eben, was ich so bedauere, wovon ich später noch sprechen werde.
Von dem Geschlechte der Hagens, die wir nach uralter Familientradition alle Schullehrer werden mussten, habe ich Ihnen ja schon einmal ausführlich erzählt, damals, als wir uns in Buenos Aires zuerst kennen lernten, als wir zusammen auf der ungewaschenen Bank der Esplanada saßen.
Unter diesen Hagens war auch der Anton, genannt der verrückte Toni. Eigentlich war er, wenn ich die Verwandtschaft richtig berechne, mein Neffe. Aber ich nannte ihn Onkel, weil er reichlich zehn Jahre älter war als ich.
Seiner hatte sich nicht wie meiner ein reicher Onkel Christian angenommen — meine ganze Gönnerschaft scheint sich zu christen — er hatte nur die Volksschule besucht, ein Seminar, war zuerst Hilfslehrer auf einem Dorfe geworden.
Sein Beruf passte zu seiner Figur wie die Faust aufs Auge. Das arme Dorfschulmeisterlein war von Gestalt ein Hüne, ein Athlet, er übte sich auch fortwährend, balgte sich mit Zentnergewichten herum. Und dieser Kerl war nun Dorfschulmeisterlein geworden.
Trotzdem, hieß es allgemein, würde der schon seine Karriere machen. Der wurde ganz sicher einmal Schuldirektor, wenn nicht Schulinspektor. Denn auch geistig war er ein hochveranlagter Mensch, dabei von einem überaus einnehmenden Wesen, er bezauberte jeden geradezu, ein Bild von einem schönen Manne, und nun bescheiden und liebenswürdig — das Dorfschulmeisterlein hätte nur zu winken brauchen, und aus der ganzen Umgegend wären die reichsten Bauerntöchter geflogen gekommen, damit er unter ihnen seine Auswahl träfe. Und in jener Gegend gibt es schwerreiche Bauern.
Aber Toni winkte nicht. Dass dieser geniale Kerl nur Dorfschullehrer geworden, daran war die Blindheit der Eltern und der sonstigen Umgebung schuld gewesen. Der hätte doch mit Leichtigkeit seinen Gönner gefunden, ganz abgesehen von Freistellen. Nun war das schon etwas zu spät, nun waren aber auch schon Toni die Augen aufgegangen — er hatte seinen Wert erkannt — nun verkaufte er sich nicht nur für hundert- oder einige hunderttausend Mark, als Zugabe eine täppische Bauerndirne mitnehmen müssend. Der heiratete einmal in die höchsten Kreise hinein, er wartete ruhig die Gelegenheit dazu ab.
So wurde in der Verwandtschaft gesprochen; denn da führten doch hauptsächlich die Frauen das Wort, und die haben doch nichts anderes als das Heiraten im Kopfe.
Da starb Tonis Mutter. Der Vater war schon längere Zeit vorausgegangen. Und Toni, das einzige Kind, erbte, wovon die ganze Verwandtschaft gar nichts gewusst hatte, ein oder mehrere Sparkassenbücher mit zusammen genau 10 000 Mark, die genau 350 Mark jährliche Zinsen einbrachten.
Da hing mein Toni seinen Schulmeisterberuf sofort an den Nagel, zog in die nächste große Stadt. Etwa um die 10 000 Mark nun gleich durchzubringen, um für ein paar Wochen den Millionär zu spielen? So ungefähr wie ich es getan hätte? Gott bewahre! Er war von jeher ein solider Junge gewesen, war immer mit seinen paar Groschen ausgekommen.
Er mietete ein Dachzimmer, hielt mit einigen Möbeln seiner Mutter, mit seiner kleinen Bibliothek und seinen mächtigen Hanteln seinen Einzug. Und dieses Dachzimmer hat er innerhalb von sechs Jahren mit keinem Schritte mehr verlassen. Hat auch sonst von der Welt nichts mehr gesehen, nicht durch das Fenster das Straßenleben, denn es war ein Dachfenster, oben angebracht, zum Auf- und Zuschieben, allerdings sehr groß. Aber sehen konnte er nichts weiter als den Himmel. Und, wenn er sich auf den Stuhl stellte und den Kopf hinaus steckte, Schieferdächer und Schornsteine, Sperlinge, Tauben und Katzen.
Hier oben hat er sechs lange Jahre gehaust. Wie weiland Baruch Spinoza fast ausschließlich von Hafergrütze lebend, der, nebenbei bemerkt, die alten Germanen und noch heute die Gebirgsschotten ihre Muskelkraft und gewaltigen Knochenbau verdanken sollen. Viel mehr konnte er sich ja auch nicht leisten. Das geräumige Dachzimmer kostete ja schon wöchentlich zwei Mark. Und er hatte pro Tag noch nicht einmal ganz eine Mark zu verzehren, denn er verdiente sich nichts dazu, begnügte sich mit den 350 Mark Zinsen, und das Jahr hat 365 Tage.
Jeden Sonnabend holte die Frau, bei der er zur Miete wohnte, eine kinderreiche Witwe, für ihn von der Sparkasse 6 Mark, brachte ihm mit, was er brauchte, Hafergrütze, Petroleum, Seife und dergleichen. So waren also nach 51 Wochen immer 306 Mark abgehoben. In der Weihnachtswoche musste sie den Rest erheben, also 44 Mark, wovon seine 6 Mark abgingen, dafür aber bei der jährlichen Abrechnung noch einige Zinseszinsen hinzukamen, und was er dann noch übrig hatte, also ungefähr 50 Mark, damit veranstaltete er für die Kinder seiner Wirtin eine Weihnachtsbescherung — was haben Sie?!«
»Ach, das ist ja herrlich, herrlich!«, rief Atalanta mit ganz begeisterten Augen. »Was für ein herrlicher Mensch!«
»Herrlicher Mensch? Die anderen sprachen immer nur vom verrückten Toni. Also nicht etwa, dass er menschenscheu war. Er verkehrte ja mit seiner alten Wirtin, sehr viel mit deren Kindern, jeder Besuch war ihm angenehm. Besuch bekam er ja auch genug, zumal von seinen vielen Verwandten, die teils in der Stadt wohnten, teils in der Umgebung hausten. Diesem Besuch setzte er auch stets etwas vor, das ließ er sich nicht nehmen, fragte, ob sie ein Glas Bier haben wollten oder sonst etwas, das wurde geholt, und jedes mitgebrachte oder allein kommende Kind bekam eine Groschentafel Schokolade, wovon er immer Vorrat hatte, er, der von Hafergrütze lebte.
Zunächst muss ich erwähnen, was er da oben trieb. Er lernte Latein und Griechisch. Dazwischen stemmte er seine Zentnerhanteln. Etwas auffallend war — denn seine Wirtin wurde ja tüchtig ausgefragt und gab auch redselig Auskunft — dass er so außerordentlich viel Papier verbrauchte. Allerbilligstes Druckpapier, das er aber wohl beschrieb, denn seine Wirtin musste ihm auch so viel Tinte und Federn besorgen. Nun, er lernte die fremden Sprachen eben mehr im Schreiben. Sonst hatte er ja auch noch viele Schrullen. So zum Beispiel, dass er immer ganz nackt ging, nur in Gegenwart eines anderen einen Schlafrock anlegte. Dadurch ersparte er allerdings auch viel Garderobe und Wäsche.
Es fehlte nicht an Verwandten und anderen Leuten, die den jungen, geistig und körperlich so hochveranlagten Mann auf einen anderen Lebensweg bringen wollten. Allein es war nichts mit ihm zu machen. Er nahm keine irgendwelche Arbeit an, um sich noch etwas Einkommen zu verschaffen. Weder eine schriftliche Arbeit noch eine Stellung. Onkel Christian war es, der ihn ebenfalls aufgesucht und der ihm die Hauslehrerstelle auf einem Rittergut verschaffen wollte. Gab es nicht. Durch seinen früheren Seminardirektor lernte ihn ein reicher Mann kennen, ein Privatgelehrter, der eine mächtige Bibliothek besaß, er fand Gefallen an dem Sonderling, bot ihm die Stelle des Bibliothekars an, die reine Sinekure, ganz Herr seiner selbst in einem herrlichen Schlosse mit Park. Nein. Auch keine Unterstützung, kein lohnendes Abschreiben, noch so zart angeboten. ›Ich danke Ihnen. Ich bin schon sehr, sehr reich. Denn ich kann die 350 Mark gar nicht verbrauchen. Darf ich Ihnen ein Glas Bier anbieten? Soll ich Ihnen ein paar belegte Brötchen holen lassen?‹
Als ich in diese Stadt kam, um auf Kosten meines Onkels Christian das Gymnasium zu besuchen, hauste Onkel Toni schon zwei Jahre so, war 23 Jahre alt. Ich kam zu Onkel Oskar in Pension, der, da er Hagen hieß, selbstverständlich auch Lehrer war; an der Bürgerschule. ›Karl‹, sagte gleich in den ersten Tagen Tante Hedwig zu mir, ›Du musst einmal den verrückten Toni aufsuchen, da bekommst Du allemal eine Tafel Schokolade, Du kannst so oft kommen, wie Du willst. Die acht Jungen und Mädchen vom Onkel Fritz gehen jede Woche dreimal hin.‹
So sprach die gute Tante. Niederträchtig, was?
Nun, ich machte mich bald auf den Weg, eines Mittwoch nachmittags, erklomm vier Treppen und noch ein Treppchen. Da war aber gerade Zapfen ab. Da stand an der separaten Korridortür, die seinen Namen trug, unter dem Schild noch ein Vermerk: ›Sprechstunde nur früh von vier bis fünf‹. Der verrückte Toni hatte den vielen Besuch endlich doch überdrüssig bekommen, wollte aber auch nicht direkt absagen. Ich klopfte trotzdem, weil ich mich doch als Verwandten fühlte, ich hatte überhaupt etwas Besonderes vor, ich hörte drin auch ein Geräusch, ein ganz energisches, Zentnergewichte donnerten auf den Boden — darunter befand sich eine Niederlage — aber aufgemacht wurde mir nicht, ich bekam auch keine Antwort. Doch seine Wirtin kam zu einer anderen Tür heraus, sagte noch extra, dass Herr Anton Hagen nur früh zwischen vier und fünf Besuch empfänge. Möglich sei das, denn unten im Hause war eine Bäckerei, deshalb wurde die Haustür schon etwas vor vier geöffnet.
›Solch eine Unverschämtheit!‹, sagte meine Pensionsmutter, als sie das Neueste in der Lebensweise Tonis erfuhr. ›Na ja, es ist eben der verrückte Toni.‹
Ich sagte nichts weiter; aber am anderen Morgen stand ich halb vier Uhr auf, nahm den Hausschlüssel und machte mich auf den Weg.
Mir ist es, als wäre es gestern gewesen. Ein prächtiger Junimorgen, in dem ich durch die einsamen Straßen rannte. Die Haustür war richtig schon auf. Ich wieder hinauf. Drinnen hörte ich jemanden sprechen, anscheinend deklamieren, sehr laut, aber doch eigentümlich unverständlich.
Ich klopfte, immer energischer, begann gegen die Tür zu donnern. Nach meiner richtig gehenden Zwiebel war es schon drei Minuten nach vier, jetzt hatte Onkel Toni Empfangszeit, sonst hätte er das nicht an die Tür schreiben dürfen — ich bestand auf mein Recht. Ein kurioser Kauz war ich nämlich schon damals mit zehn Jahren.
›Herein!‹, erklang es da endlich.
Unvergesslich ist mir der Anblick, der sich mir bot.
Eine sehr geräumige Dachstube, altertümliche Möbel, peinlich sauber, in einer Ecke ein ganzes Arsenal von Hanteln und Gewichten, in der Mitte ein großer Schreibtisch — und über diesem baumelten ein Paar nackter Beine!
Onkel Toni befand sich nämlich auf dem Dache, wenigstens mit dem Oberkörper, saß in dem an der Decke angebrachten Lukenfenster, das sich gerade über dem Schreibtisch befand, und hing nur seine nackten Beine ins Zimmer herein.
Er deklamierte. Ließ sich durch den eingetretenen Besuch, den er nicht sehen konnte, auch gar nicht stören. Und was deklamierte er da oben auf dem Dache zwischen den Schornsteinen in die aufgehende Sonne hinein? ›Nehmt hin die Welt, rief Zeus von seinen Höhen‹ — und so musste ich die pathetische Deklamation, mit mächtiger Stimme gebrüllt, bis ans Ende vernehmen: ›Willst du in meinem Himmel mit mir leben — so oft du kommst, er soll dir offen sein.‹
Da erschien Onkel Toni in voller Lebensgröße. Erst, so lange er auf dem Schreibtisch stand, bis zur Brust, dann folgte auch diese nebst dem Kopfe nach. Er hatte nicht etwa nackt auf dem Dache gesessen. O nein. Da hätten sich die Dachnachbarn beschweren können. Erstens trug er eine rote Badehose, zweitens eine blaue Jacke. Hiermit hörte es aber auch auf.
›Na, wer bist Du denn?‹
›Ich bin der Karl Hagen und will meine Schokolade haben.‹
Sie verstehen wohl, Frau Gräfin. Ich war doch nicht etwa ein so frecher Junge. Ich war schon ein kurioser Kauz. Ich hätte doch wegen hundert Tafeln Schokolade keinen Fuß gerührt. Ich fing gleich mit höhnender Ironie an. Jene anderen verhöhnend. Ob der mich verstand, das war mir ja ganz egal.
Aber ich war gerade zum Richtigen gekommen. Er brauchte nur einige Fragen zu stellen, dann hatte er mich verstanden, meinen ganzen Charakter erkannt.
›Ich möchte den verrückten Onkel Toni einmal sehen, der nur von Hafergrütze lebt, weil er nicht mehr hat, der aber immer Schokolade verschenkt.‹
So durfte ich diesem Manne gegenüber gleich offen sagen.
Ich kann es nicht ausführlich schildern, wie alles kam, über was wir uns alles in den zwei Stunden, bis ich wieder abtraben musste, unterhalten haben.
›Was willst Du denn einmal werden, Karl?‹
›Seemann. Aber keine Hoffnung dazu, dass ich es jemals werden kann.‹
›Weshalb nicht?‹
›Weil ich es eben nicht darf.‹
›Das kann Dir niemand verbieten. Es gibt keine Gewalt auf Erden, Dich daran zu hindern, das zu werden, was Du werden willst. Baue Dir doch Dein eignes Schiff.‹
›Wie denn? Wo denn?‹
›Jetzt sofort. Wo Du bist. Und wenn man Dich auch einmal einkerkern würde, Du kannst auf Deinem Schiffe alle Meere befahren.‹
So sprach er. Sie, Frau Gräfin, verstehen sofort. Ich aber verstand es damals nicht sogleich. Ich hatte damals ebenso wenig Phantasie wie heute. Ich las und lese gern phantastische Schriften, das heißt Erzeugnisse der Phantasie, also der Dichtkunst, die doch nicht etwa zu reimen braucht, kann aber selbst nicht dichten, nichts erdichten.
Nun, dann muss man eben von anderer Hand in das Reich der Phantasie geführt werden. Und Onkel Toni nahm mich bei der Hand. Das neue Leben begann, ein Leben — ich glaube, jene vier Jahre waren die schönsten meines ganzes Lebens!
Ich hatte von zu Hause aus — meine Eltern waren sehr fromm — den strengen Befehl, den Feiertag zu heiligen. Hinwiederum brauchte ich nicht einmal die Kirche zu besuchen. Ich konnte auch spielen oder sonst was treiben. Nur nicht arbeiten. Das heißt keine Arbeit verrichten, die ich nicht mit voller Fröhlichkeit tat. Wurde ich am Sonnabend nicht mit meinen Schularbeiten fertig — mich lieber am Montag bestrafen lassen, als dass ich am Sonntag eine mir unangenehme Arbeit verrichtete. Da hatte mein Vater ganz eigentümliche und wohl gar nicht so dumme Ansichten. Das ist von den zehn Geboten auch das einzige, das ich immer treulich gehalten habe.
Also ich verbrachte jeden Sonntag beim Onkel Toni. Früh um vier war ich oben, abends um acht ging ich. Meine Pensionseltern waren angewiesen, den ganzen Sonntag mir zu überlassen, da durfte ich treiben, was ich wollte, und es war ihnen ja auch insofern ganz angenehm, weil sie da doch Frühstück und Abendbrot und besonders den Sonntagsbraten ersparten, wenigstens meine Portion, die mir immer sehr, sehr reichlich zugemessen werden musste. Auf Tonis Bude gab es natürlich nur Hafergrütze. Aber wie die mir schmeckte! Und dazu zechten wir humpenweise echtes Wasserleitungswasser!
Ich will es kurz machen. Wenigstens so kurz wie möglich, Wir waren dort oben in der Dachkammer auf einer einsamen Insel im Weltmeer, spielten eine Robinsonade durch, richteten uns immer besser ein, und als wir so weit waren, bauten wir uns ein eigenes Schiff, wenigstens ein gedecktes, seetüchtiges Fahrzeug. Alles nur auf dem Papiere, aber auch alles vollständig vom Kiel bis zum Flaggenknopf nach wissenschaftlichen Regeln. Mein Onkel selbst hatte erst keine Ahnung von so etwas. Er lernte es erst, um mich zu belehren, er konnte der Stadt- und Universitätsbibliothek Bücher entnehmen, waren die betreffenden nicht da, ließ er sie sich leihweise aus Hamburg kommen, was nicht einmal das vollständige Porto kostete, denn diese Bibliotheken tauschen fortwährend unter sich große Kisten aus.
Als das Schiff fertig war, war ich schon recht gut bewandert in Mathematik, Physik und Chemie. Denn das kam alles daran. Nun durften wir aber nicht gleich lossegeln. Erst nautische Instrumente. Ich schrieb meinem Onkel Christian, dem Kapitän, er schickte mir einen alten, aber noch brauchbaren Sextanten. Hoch oben auf dem Dache lehrte Toni mich Sextaner, wie man eine geografische Ortsbestimmung macht, als wäre er selbst Kapitän.
Dann ging die Fahrt los, rund um die Erde. Ach, was haben wir für Abenteuer erlebt. Alles nur auf dem Papiere, in der Phantasie. Aber alles wurde schriftlich bearbeitet. Nicht von mir, sondern von Onkel Toni. Ich will es gleich sagen: Er war ein gottbegnadeter Dichter. Er hatte schon immer Phantasien geschrieben. Das Latein und Griechisch trieb er nur zur Abwechslung. Was er sonst noch geschrieben hat, weiß ich nicht. Er hat später alles verbrannt. Jetzt arbeitete er unsere Reiseerlebnisse aus. Und er musste sicher die ganze Woche von früh bis abends fleißig dran schreiben. Denn es war immer ein dickes Buch, aus dem er mir mindestens drei Stunden vorzulesen hatte, und da lässt sich etwas vorlesen, ehe dann weiter gebaut und phantasiert wurde.
Diese Spielerei hatte aber auch noch eine kolossal praktische Seite, wenigstens für mich.
Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Frau Gräfin, dass ich auf dem Gymnasium zwei Klassen übersprungen habe. Das musste ich angeben, um zu rechtfertigen, wie ich schon mit 17 Jahren die Universität beziehen konnte.
Wir sprachen nämlich von vornherein lateinisch zusammen. Er lehrte es mich nach seiner eigenen Methode, wie er selbst als Autodidakt gelernt hatte, nach derselben, wie der Unterricht im Mittelalter gehandhabt wurde, als Lateinisch die wirkliche Umgangssprache der Gelehrten war. Keine Grammatik, sondern erst die allereinfachsten Redensarten. Nun ist das ja etwas ganz anderes als das Latein in den heutigen Schulen, aber es nützte mir doch kolossal. Dann später kam ebenso Französisch daran und dann Griechisch.
Frau Gräfin, ich bin nicht etwa ein Wunderkind gewesen, nicht einmal ein sehr begabtes Kind. Aber ich konnte ja schon alles. Nicht nur die Sprachen, sondern ich war auch in der Geografie so bewandert, ich war ja schon überall persönlich dort gewesen, und als in der Quarta das Quadratwurzelziehen dran kam — ach, ich berechnete doch schon mit Logarithmen die schweren trigonometrischen Aufgaben.
So haben wir es vier Jahre lang getrieben, Sonntag für Sonntag. Eine köstliche Zeit, dort oben im vierten Himmel unterm Dach. Dann starb er.«
»Wie?!«, fragte Atalanta bestürzt. »Woran denn?«
»Am Bier.«
»Was, er hatte sich dem Trunke ergeben?!«, rief die Gräfin noch bestürzter.
»Nee. Aber das Bier hat seinen Tod doch verschuldet. Eines Tages bekam er eine Vorladung von der Polizei. Nur vom Meldeamt. Es war überhaupt ein Irrtum. So ein Polizeigewaltiger wollte den Sonderling wahrscheinlich nur einmal herauslocken.
Gut, Onkel Toni zog seinen schwarzen Anzug an, und wenn er auch darin steckte wie eine Bratwurst in der aufgeplatzten Haut, das machte ihm nichts. Zum ersten Male nach sechs Jahren ging er wieder auf die Straße. Er sollte nicht sein Ziel erreichen. Es war gerade um elf, aus einer Schule kamen die Kinder heraus. Da kamen zwei durchgehende Pferde mit einem beladenen Bierwagen, wollten gerade in die Kinderschar hinein. Toni warf sich ihnen entgegen, brachte sie zum Stehen, zuletzt aber kam er doch noch zu Fall, die Räder über ihn weg, Brustkasten eingedrückt — sofort tot.«
Ich machte eine Pause und — weinte ein bisschen.
Als ich fertig war, was nicht lange dauerte, fing die Gräfin damit an.
»Na lassen wir«, sagte ich dann, »er hatte ein köstliches Leben gehabt und einen herrlichen Tod. Sein Testament hatte er schon früher gemacht. Die Hälfte von seinen 10 000 Mark bekam seine Logiswirtin, die andere Hälfte eine verwitwete Hagen, von der er nichts weiter wusste, als dass sie einen Haufen Kinder und manchmal nichts zu brechen und zu beißen habe.
Wissen Sie auch, Frau Gräfin, warum ich Ihnen das alles erzählt habe?«
»Ich weiß es!«, flüsterte sie mit noch tränenerstickter Stimme.
»Ja, Sie, Sie wissen es. Weil Sie eben auch aus besonderem Holze geschnitten sind. Ja, ich fühle mich hier für gewöhnlich recht zufrieden, manchmal sogar glücklich. Aber das Richtige ist es doch noch nicht. Ich sehne mich manchmal nach — nach — nach — — etwas anderem. Zweierlei ist es, was ich mir wünschte: entweder, dass es keinen Punkt der Erde gebe, der nicht mit dem Telegrafendraht zu erreichen wäre, und dass schon die Erfindung gemacht worden wäre, dass man sich selbst auf den Telegrafendraht setzt, ein Druck auf einen Knopf — schrumm, ist man dort, wo man sein will.
Noch lieber aber wäre es mir, wenn ein Gott einmal zu mir spräche: ›Willst du in meinem Himmel mit mir leben — so oft du kommst, er soll dir offen sein‹.«
Ein Dichter möchte ich sein! Das ist es! Aber ich habe auch nicht die geringste poetische Ader. Ich bin viel zu praktisch veranlagt, zu nüchtern. Sobald ich konnte, bin ich ja dann auch noch zur See gegangen. Was mir dort oben in der Dachkammer Onkel Toni vorgeträumt, was ich mit ihm geträumt hatte, das wollte ich nun alles in Wirklichkeit erleben. Und ich hab's erlebt. Aber immer war etwas dabei, was mir nicht gefiel. Hatte ich einmal so ein recht paradiesisches Fleckchen Erde gefunden und ich setzte mich hin, so setzte ich mich gewiss gerade auf einen stacheligen Kaktus, und war kein Kaktus vorhanden, dann stach mich ganz sicher ein Moskito in die Nase. Nein, ein wahres Paradies gibt es nur im Traum des Dichters.«
»So träumen Sie doch. Sie haben es doch gelernt, wie man es machen muss.«
»Ich habe es probiert. Ja, es geht. Man kann träumen, was man will. Aber es ist doch immer nur ein Traum, kann sich mit der Wirklichkeit nie vergleichen. Außerdem ist es doch nie mein Ich, das diesen Traum im letzten Grunde lenkt, sondern ein unbekanntes Etwas, was den Traum lenkt. Und das gefällt mir nicht. Da ist der Traum eines Dichters bei vollem Bewusstsein doch etwas ganz anderes.«
»Ich verstehe. Möchten Sie solch einen Kasten haben, durch den Sie eine Erzählung, eine Phantasie mit aller Wirklichkeit erleben können?«
»Erst recht nicht!«, lachte ich. »Wie komme ich denn dazu, irgend etwas erleben zu müssen, was sich irgend ein Hanswurst zurechtphantasiert hat? Und was man da alles erleben kann! Ich wollte einmal acht Tage als Mohammedaner im siebenten Himmel weilen. Ich vergriff mich in den Rollen, schaltete aus Versehen etwas anderes ein — da musste ich zwanzig Jahre lang beim Turmbau zu Babel Steine schleppen! Na, ich danke! Mir sträuben sich jetzt noch die Haare, wenn ich daran denke! Übrigens ist mir der Werkmeister noch meinen letzten Wochenlohn schuldig — nach unserem heutigen Gelde vier gute Groschen und zwei Bund Zwiebeln.«
Sie konnte wieder lachen.
»Ja was wollen Sie denn sonst?«, lachte sie.
»Zaubern möchte ich können, Nun wissen Sie es.«
Zu einer anderen Person hätte ich so etwas nicht gesagt. Aber die verstand mich doch.
»Ja, zaubern!«, wiederholte sie. »Ich weiß recht wohl, was Sie damit meinen. Zauberei, es ist das einfachste Wort dafür. Wenigstens für uns beide. Sie möchten übernatürliche Fähigkeiten besitzen, was aber ein ganz falscher Ausdruck ist, weil es etwas Übernatürliches doch nicht geben kann. Als wir, mein Gatte und ich, vor einem Jahre Abschied von Ihnen nahmen — allerdings einen sehr, sehr kurzen Abschied — forderte ich Sie auf, mit uns zu kommen.«
Ich schüttelte etwas trübsinnig den Kopf.
»Es ist nichts für mich.«
»Weshalb nicht?«
»Diese Fakire, wie sie so stumpfsinnig da hocken, so lange, bis Schlingpflanzen sie umwachsen haben, sich von Insekten und Würmern anfressen lassend — oder auch diese Übungen in abgesperrter Kammer, das Anhalten des Atems, das Schielen nach der Nasenspitze — es ist nichts für mich.«
»Woher wissen Sie von diesen Übungen?«
»Von Männern, die diesen Weg schon einmal betreten haben, um sich höhere Fähigkeiten anzueignen. Meist sind es Engländer, Offiziere, aber auch Kaufleute, Beamte.«
»Also doch Männer, die diesen Weg nicht zu Ende gegangen sind.«
»Nein, das stimmt allerdings.«
»Wissen Sie, weshalb so ein Yogi — oder Fakir, wie Sie sagen — so da hockt und stumpfsinnig vor sich hin stiert? Weshalb andere wieder die größten Selbstquälereien begehen?«
»Nun, zwecklos tun sie's nicht. Und wenn jeder Mensch nur das tut, was zu seinem Glücke gereicht, so tun sie's eben deshalb, weil sie darin ihre Befriedigung finden, und ferner in der Hoffnung, dadurch übernatürliche Kräfte zu entfalten.«
»Sie tun es als abschreckendes Beispiel, damit andere keine Lust bekommen, diesen Weg zu betreten.«
Überrascht blickte ich auf. Das war mir etwas ganz Neues, was ich da zu hören bekam!
»Ja, das ist alles ganz, ganz anders, als immer erzählt wird, auch von denjenigen, die etwas davon wissen wollen. Doch lassen wir das jetzt. Wissen Sie, was ein Guru ist?«
»Ein Führer auf diesem Wege.«
»Ja. Ich komme zu Ihnen als Guru.«
»So führen Sie mich.«
»Wollen Sie die erste Stufe betreten?«
»Ja.«
»Die erste Stufe ist die Erkenntnis, dass alles in der Welt eines ist.«
»Ich habe manchmal Augenblicke«, entgegnete ich nachdenklich, »da mich die Erkenntnis überkommt, dass es so ist. Da ich zu jedem Tiere, zu jedem Gegenstande mit vollster Überzeugung sagen könnte: Tat tvam asi — das bin ich selbst. Es sind aber nur Momente in seltenen Fällen, in welchen ich einmal in besonderer ruhiger, feierlicher Stimmung bin.«
»Ich weiß, dass es so bei Ihnen ist, und eben deshalb kann ich jetzt zu Ihnen kommen. Wenn dieses Bewusstsein, mit allen Dingen verschmolzen zu sein, sodass es außerhalb von Ihnen gar nichts anderes gibt, ein dauernd ständiges ist, dann haben Sie die erste Stufe erreicht. Dann müssen Sie die zweite Stufe zu erklimmen versuchen.«
»Und die ist?«
»Die Erkenntnis, dass es keine Zeit gibt. Also keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur eine Gegenwart, nur ein Jetzt — die Erkenntnis, dass sich in diesem einzigen Augenblicke jetzt alles abspielt, was im Weltall je geschehen und noch jemals geschehen wird.«
»Frau Gräfin, das ist etwas, was ich nicht verstehe, Wohl werde ich manchmal frappiert, wenn ich daran denke, wie auch der längste Traum nur einen einzigen Augenblick währen kann, aber so, wie Sie es meinen, von welcher indischen Lehre ich auch schon oft genug gehört habe, dass es auch in der Wirklichkeit überhaupt nur ein einziges Jetzt gibt — das begreife ich nicht.«
»Sie müssen bei jeder Gelegenheit über diese Möglichkeit nachdenken. Es kostet viel, viel Anstrengung. Die Belohnung für diese Anstrengungen ist, dass diese Erkenntnis plötzlich wie ein Blitz über Sie kommt. Ja, so ist es, es kann ja gar nicht anders sein!«
»Ich weiß nur gar nicht, wo ich da anfangen soll.«
»Bei einer Tatsache. Der Guru gibt dem Schüler einen Beweis, dass es so ist.«
»Sind Sie dazu etwa imstande?«
»Ich bin es.«
»So liefern Sie mir den Beweis! Aber einen reellen! Nicht nur, indem Sie mich einmal in einen Traumzustand versetzen.«
»Ich werde Ihnen solch einen Beweis dann bringen. Dann. Die dritte Stufe, die der Yogaschüler zu erklimmen hat, ist die Erkenntnis, dass es keinen Raum gibt.«
»Keinen Raum? Das verstehe ich nun erst recht nicht!«
»Auch dafür, dass es keinen Raum gibt, werde ich Ihnen dann einen Beweis liefern. Wenn der Schüler diese drei Stufen der Erkenntnis mühsam erklommen hat, so ersteigt er die vierte fast ganz mühelos. Denn aus diesen drei Erkenntnissen entsteht fast von allein die vierte, nämlich dass es eine Wirklichkeit gar nicht gibt, dass überhaupt alles nur Einbildung, Täuschung, Illusion ist.«
»Hm, Das ist ja überhaupt das A und das O der ganzen indischen Philosophie. Aber wozu nun das alles?«
»Nachdem der Schüler so seine höchste Denkfähigkeit erworben hat, muss er jetzt die Kunst lernen, an nichts mehr denken zu brauchen. Er muss sein Gehirn vollständig gedankenleer machen können, für jede beliebige Zeitdauer. Dazu dienen als Hilfsmittel Atemübungen, welche diejenigen Schüler, die nicht von vornherein in das Wesen der ganzen Sache eindringen, immer als die Hauptsache der ganzen Yogalehre annehmen, von Gurus nicht darüber aufzuklären sind, weshalb sie auch niemals etwas erreichen, oder aber, wenn sie solche Übungen ohne sorgfältige Leitung eines Gurus vornehmen, darüber irrsinnig werden. Man fängt mit dem Versuche an, bei einem Atemzuge nichts mehr zu denken. Dann bei zwei Atemzügen. Dann zieht man diese beiden Atemzüge zu einem zusammen. Und so fort und fort, bis man den Atem beliebige Zeit anhalten kann und dabei an nichts mehr zu denken braucht. Das will aber unter großen, großen Mühen erlernt sein. Ohne praktische Anleitung eines Gurus, der vieltausendjährige Erfahrung hat, ist es zu erlernen ganz unmöglich.«
»So«, spottete ich, »also ein Krokodil zu werden, das stundenlang stumpfsinnig vor sich hin starrt, das ist der Endzweck der ganzen Yogalehre!«
»Sie irren, mein lieber Kapitän!«, lächelte die Gräfin, denn lächeln tat sie jetzt immer wieder. »Erstens ist es sehr die Frage, ob solch ein Krokodil überhaupt an nichts denkt. Ich kann Ihnen sogar das Gegenteil versichern, vermag es aber jetzt nicht zu beweisen, höchstens will ich Sie daran erinnern, dass die Krokodile ständig und fürchterlich von Schmarotzern geplagt werden. Zweitens aber, wenn ein Krokodil wirklich an nichts dächte, so tut es dies doch nicht absichtlich, und auf die gewollte Absicht kommt es an. Ich will Ihnen ein anderes Beispiel anführen, wie ich das meine. Nehmen Sie einen sehr zum Zorn veranlagten Mann an. Von einem ererbten Temperament, wofür er nichts kann, ist ja freilich gar keine Rede, er hat sich diese unglückliche Neigung zum Zorn selbst angeeignet, schon im Laufe seiner früheren Lebensläufe. Doch davon ganz abgesehen. Wenn solch ein Mensch nun einmal seinen Wutausbruch hat, mit den Zähnen knirscht, die Fäuste ballt, mit den Füßen stampft, schimpft und flucht und schreit — ›Ich will es aber, ich will, ich will!!‹ — so bildet sich dieser Mann gewöhnlich ein, ein höchst energischer Mann zu sein. Besonders auch sagt er dies zu seiner eigenen Entschuldigung, zu seinem eigenen Troste, um nicht sich selbst gestehen zu müssen, wie tief, tief unglücklich ihn dieser unglückselige Zorn manchmal macht. Also dann glaubt er, er sei ein ganz energischer Mensch. In Wirklichkeit ist gerade das Gegenteil der Fall. Das ist ein ganz energieloser Waschlappen.
Sobald aber dieser zum Zorn veranlagte Mann durch Nachdenken in stillen Stunden zur Erkenntnis kommt, dass seine vermeintliche Energie eine furchtbare Schwäche ist, die er von jetzt an bei jeder Gelegenheit zu bemeistern versuchen will, wenn er sich darin fortgesetzt übt und übt, bis er jeden Zornausbruch, der über ihn kommen will, sofort bemeistern kann — dann entwickelt sich in diesem Manne eine kolossale Willenskraft, die ihn ebenso auch mit der denkbar höchsten Befriedigung, mit dem reinsten Glücke erfüllt. Dann hat er sich selbst besiegt — er kann, wenn er will, noch die ganze Welt besiegen.
So ist es überhaupt mit allen Leidenschaften. Leidenschaften sind dazu da, dass sie besiegt werden. Es ist sehr traurig. wenn ein junger Mensch ganz leidenschaftslos ist. Es ist aber seine eigene Schuld. Dann ist er das stumpfsinnige Krokodil, das keiner Höherentwicklung fähig ist. Es muss erst wieder lernen, feurig zu werden, sinnlich empfänglich. Und dann muss er sich wieder besiegen.
Leidenschaften sind edlen, feurigen Rossen vergleichbar. Fest im Zügel gehalten, tragen sie Wagen und Führer herrlich dahin. Verliert man den Zügel, dann schleifen sie Wagen und mich durch den Kot.«
Ich sagte nichts, wusste nichts zu sagen. Ich war etwas niedergedrückt, wenn ich die Sprecherin auch verwundert anblickte.
»Dasselbe«, fuhr sie fort. »ist auch mit dem, wie Sie es nannten, stumpfsinnigen Vorsichhinbrüten der Fall. Erst muss man die höchste Denkfähigkeit erworben haben, dann erst muss man sein Gehirn wieder gedankenleer machen können.«
»Und was ist das Resultat davon?«, fragte ich.
»Dann, wenn Sie hierin Meister sind«, lächelte sie, »dann haben Sie Ihren Telegrafendraht, auf den Sie sich nur zu setzen brauchen — ein Kommando, und Sie sind überall dort, wo Sie sein wollen. An jedem Punkte der Erde. Ein anderes Kommando, und Sie befinden sich in jeder Situation, die Sie sich wünschen. Sie sprechen: ›Es werde‹ — und im Moment ist es geschaffen.«
»Es ist aber alles nur Einbildung, keine Wirklichkeit, was man sich da erträumt.«
Lächelnd klopfte sie mir auf die Schulter.
»Mein lieber Kapitän, Sie werden unlogisch! Oder Sie vergessen doch, dass Sie da ja die ersten vier Stufen erklommen haben müssen, also zur Erkenntnis gekommen sind, dass es überhaupt gar keine Wirklichkeit gibt. Ist aber diese irdische Wirklichkeit nur eine Illusion, dann kann auch die Illusion solch eines Yogis zur Wirklichkeit werden. Oder ist es nicht so?«
»Ich verstehe es nicht recht.«
»Nein, das können Sie auch nicht. Nicht eher, als bis durch angestrengtes Nachdenken als Belohnung für Ihre Mühe die Erkenntnis der Wahrheit plötzlich wie ein Blitz über Sie kommt. Dann aber haben Sie doch keine Erklärung mehr von anderer Seite nötig, Also lassen wir das jetzt.«
»Ich möchte aber doch noch verschiedenes Andere fragen.«
»Bitte, fragen Sie. Dazu bin ich ja hier.«
»Kann man sich in solch einem Zustande auch in andere Weltenräume versetzen, auf andere Planeten?«
»Ja. Aber noch nicht auf dieser ersten Stufe des Überbewusstseins. Denn das ist hierbei wiederum die erste Stufe von zahllosen anderen, welche nach und nach zu erklimmen sind. Auf dieser ersten Stufe sind Sie an diese Erde gebunden. Wenn Ihr Blick auch schon noch etwas weiter reicht. Aber das ist erst ein Blick, Sie können sich noch nicht hin versetzen.«
»Wie erklimmt man diese anderen Stufen?«
»Das weiß ich selbst noch nicht. Dies würde auch ich noch gar nicht verstehen. So weit bin ich noch nicht.«
»Wie weit sind Sie?«
»Das — kann ich ebenfalls nicht ausdrücken. Lassen Sie sich damit begnügen, dass ich hier bin, um Ihnen die beiden Beweise zu bringen, dass es weder Raum noch Zeit gibt.«
»Wann erhalte ich diese Beweise?«
»Dann, wenn es Zeit dazu ist.«
»Es gibt ja gar keine Zeit.«
»Ich spreche jetzt in Ihrem Sinne.«
Eine Pause trat ein. Ich hatte ja schon genug nachzudenken.
»Herr Kapitän«, begann sie dann wieder, »finden Sie bei alledem, was ich da gesagt habe, nicht etwas wie Gottesfrevel?«
»Hm. Ich gerade nicht. Aber einem Pfaffen dürften Sie damit nicht kommen.«
»So. Wissen Sie, dass Christus selbst dazu eingeladen hat, jene erste Stufe zu betreten?«
»Mit welchen Worten?«
»›Du sollst Gott über alles lieben.‹ Und: ›Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst.‹ — Da haben Sie es! Das ist ja das indische Tat tvam asi. Eine allumfassende Liebe. Christus hat noch viel mehr gewusst, aber er war viel zu klug, als von diesen Menschen, wie sie nun einmal sind, noch mehr zu verlangen. Er drückt es ja auch deutlich genug aus. Wiederholt sagt er zu seinen Jüngern: ›Ich hätte Euch noch mehr zu sagen, aber Ihr würdet mich nicht verstehen.‹ Und das einzige, was er verlangt, die selbstlose Nächstenliebe, ist ja auch schon genug, um auf Erden das Reich Gottes zu bringen. Weshalb denn von der ganzen Menschheit noch etwas anderes verlangen. Von der Menschheit im Ganzen und Großen, meine ich. Einzelne Individuen, das ist etwas anderes, die mögen den schweren Weg betreten, wenn sie den Mut und die Kraft dazu in sich fühlen. Und wiederum spricht es Christus selbst aus: ›Nach mir werden welche kommen, die Größeres tun denn ich.‹ Und an anderer Stelle spricht er es ganz direkt aus: ›Ihr sollt vollkommen sein, wie mein Vater im Himmel.‹«
Die Gräfin erhob sich.
»Nun, mein lieber Kapitän, möchte ich noch einmal Ihr schönes Tal sehen!«, sagte sie in noch heiterer Weise, als wie sie bisher auch über die ernstesten Dinge gesprochen hatte.
Gleich darauf blickte sie sich wie suchend um.
»Welche Zeit ist es eigentlich? Ich habe keine Uhr bei mir.«
Sie drehte der Wanduhr gerade den Rücken zu. Ich würde dies alles doch nicht erwähnen, wenn es nicht einen besonderen Grund hätte.
Es war 20 Minuten nach 4 Uhr. Eine Stunde und 12 Minuten hatten wir schon oder erst zusammen geplaudert. Allerdings eine sehr ernste Plauderei.
»Darf ich Ihnen denn zuvor nichts anbieten?«
»Ich danke wirklich sehr. Ich werde mir unterwegs einige Früchte abpflücken. Sie kennen mich doch, wissen doch, was mir schmeckt. Ja, und was macht mein lieber Littlelu?«
»Na, der ist kreuzfidel und puppenlustig. Denn sonst würde er doch nicht immer so schimpfen und räsonieren. Wir werden ihn überraschen, ich weiß, wo er jetzt ist —«
»Nein, nein, mein lieber Kapitän. Ich möchte mit Ihnen allein sein. Es war doch nur eine Frage der Höflichkeit, als ich mich vorhin nach ihm erkundigte. Oder glauben Sie denn, es wäre sonst nicht eine meiner ersten Fragen gewesen, wie es meinem Littlelu ginge? Und habe ich mich denn etwa erkundigt, wie es Ihrem Kindchen geht?«
»Wie, Sie wissen —?«
»Na selbstverständlich doch!«, lachte sie, während wir schon durch die Korridore schritten.
»Es ist ein Mädchen geworden.«
»Na, na, nur nicht so bedauernd!«, lachte sie noch mehr. »Wie das überhaupt klingt! Wir sind glücklich, dass wir ein Mädel bekommen haben.«
»Was?!«, erstarrte mein Fuß.
»Na, warum denn nicht? Sie meinen, weil es Ihnen nicht mitgeteilt worden ist? Ja Du lieber Gott! Und Sie hätten doch daran auch nichts ändern können.«
»Das stimmt allerdings!«, musste auch ich jetzt lachen. »Wann denn?«
»Es ist l4 Tage jünger als Ihr Baby, das jetzt doch zwei Monate alt ist.«
»Na, da will ich nicht erst noch gratulieren. Was macht denn nun eigentlich der Graf den ganzen Tag?«
»Nun, der hockt den ganzen Tag mit untergeschlagenen Beinen auf einer Matte in einer finsteren Kammer, schielt nach der Nasenspitze und sagt langsam: aum — aum — aum — aum — aum —«
»Ach, wie ist das nur möglich!«, rief ich im bedauerndsten Tone. »So ein rüstiger, lebensfroher Mann!«
Jetzt fing sie erst recht aus vollem Halse zu lachen an.
»Ach, Sie dachten wohl, das wäre wirklich so? Nein, das ist ja alles ganz, ganz anders, als wie man es sich vorstellt. Merken Sie etwa, dass ich eine Kopfhängerin geworden bin?«
»Nein, das allerdings nicht.«
»Nun sollen Sie aber erst einmal meinen Mann sehen.«
»Ja, Frau Gräfin, und trotzdem haben Sie es doch gewiss schon weit in magischen Fähigkeiten gebracht.«
»Na, was meinen Sie wohl, und wie weit!«
»Da werden Sie mir doch einmal etwas vorgaukeln.«
»Gaukeln, gaukeln!«, lachte sie wieder. »Na gut, ich werde Ihnen einmal etwas vorgaukeln. Passen Sie auf — eins, zwei, drei — hokus pokus — na, was sagen Sie nun?«
Sie war einen Moment etwas hinter mir zurück geblieben, stand gleich wieder vor mir — und verschwunden war der Hut und das schwarze Kleid, sie stand da in ihrem kurzen Lederröckchen, das sie früher immer getragen, wenn dieses hier auch neu sein mochte.
Ich sperrte — mit Respekt zu sagen — Maul und Nase auf.
»Das ist ja fabelhaft!«, staunte ich. »Wie machen Sie denn das nur?«
»Magisch, mein lieber Kapitän, alles magisch — das ist eben die höhere Zauberei.«
Ich betastete ihr Kleid.
»Ich träume doch nicht nur.«
»Na, sind Sie dessen auch ganz sicher?«
»Ganz gewiss, ich bin bei vollem Bewusstsein.«
»Na — zupfen Sie sich einmal an der Nasenspitze.«
Und ich alter Esel griff wirklich an meine Nase.
Da lachte sie erst recht ganz unbändig.
»Na, da blicken Sie einmal dort hinter sich.«
Ich tat es und — da lag die ganze Magie! Ihr Hut und das schwarze Kleid. Sie hatte es einfach schnell abgestreift. Außerordentlich schnell war es ja gegangen, aber Magie ist das doch eigentlich nicht, das bringt so ziemlich jede Schauspielerin über der Versenkung bei einer Verwandlungsszene fertig.
»Da sehen Sie, was bei der Magie herauskommt, wenn man sich durchaus etwas vorgaukeln lassen will!«, lachte sie.
Na, nun lachte ich natürlich mit. Nachdem wir die Garderobe in eine Kammer geworfen, setzten wir lachend unseren Weg fort.
»Ich kann doch nicht in dem schwarzen Konfirmandenkleide rudern. Aber warten Sie nur, etwas vorgaukeln werde ich Ihnen doch noch, dass Ihnen sich die Haare sträuben sollen.«
Wir erreichten den Wassertunnel, nahmen ein einfaches Ruderboot, ein Kanu, und fuhren hinaus.
In der Hafenbucht waren um diese Zeit wenig Menschen. Da waren ja noch genug, welche diese weibliche Ledergestalt genau kannten, sie machten einander aufmerksam, Atalanta nickte ihnen freundlich zu, ein scherzhaftes Wort, einen Namen — nichts weiter.
Dann wurde es zwischen den Inseln einsam und immer einsamer.
Es war Spätsommer, noch hielt die Natur, auch die Pflanzenwelt, nach der Mittagshitze ihre Nachmittagsruhe, aus der sie erst etwas später erwachen würde, bis am Abend alles wieder einen herrlichen, intensiven Duft ausströmte.
Sie fragte mich einiges, wie ich es jetzt mit dem Betriebe hielte — ich gab Auskunft, es hatte sich fast gar nichts geändert — dann versank sie in Schweigen, blickte auch nicht mehr leuchtenden Auges um sich, wie sie es erst getan hatte.
So verging eine halbe Stunde.
»Willst du in meinem Himmel mit mir leben«, brach sie dann endlich das Schweigen, aber mehr wie mit sich selbst redend, »so oft du kommst, er soll Dir offen sein.«
Dann blickte sie auf.
»Ja, Herr Kapitän, da fällt mir etwas ein — weil ich gerade an Schiller denke, den ich ja oft gelesen habe, unter Arnos Führung — kennen Sie das Gedicht ›Das Mädchen aus der Fremde‹?«
»Ich kenne es.«
»Auswendig?«
»Auch das.«
»Bitte, deklamieren Sie es doch einmal.«
Ich tat es. Und ich konnte deklamieren.
In einem Tal bei armen Hirten
Erschien mit jedem jungen Jahr,
Sobald die ersten Lerchen schwirrten,
Ein Mädchen, schön und wunderbar.
Sie war nicht in dem Tal geboren,
Man wußte nicht, woher sie kam,
Doch schnell war ihre Spur verloren,
Sobald das Mädchen Abschied nahm.
Beseligend war ihre Nähe
Und alle Herzen wurden weit;
Doch eine Würde, eine Höhe
Entfernte die Vertraulichkeit.
Sie brachte Blumen mit und Früchte,
Gereift auf einer andern Flur,
In einem andern Sonnenlichte,
In einer glücklichern Natur.
Und teilte jedem eine Gabe,
Dem Früchte, jenem Blumen aus;
Der Jüngling und der Greis am Stabe,
Ein jeder ging beschenkt nach Haus.
Willkommen waren alle Gäste,
Doch nahte sich ein liebend Paar,
Dem reichte sie der Gaben beste,
Der Blumen allerschönste dar.
Ich hatte schon längst geendet, als sie mich noch immer anblickte.
»Was ist das eigentlich für ein fremdes Mädchen?«, fragte sie dann.
»Das wissen Sie doch selbst —«
»Ich möchte es von Ihnen hören.«
»Das ist einfach die Poesie. Oder richtiger vielleicht die Phantasie. Die armen Hirten sind die im nüchternen Tagewerke sich mühenden Menschen. Zu ihnen kommt hier und da vom Himmel herab die dichtende Phantasie, um sie zu erfreuen, für einige Stunden ihnen die Mühen vergessen zu machen. Das ›sobald die ersten Lerchen schwirrten‹ wird dann noch verständlicher, wenn man weiß, dass Schiller dieses Gedicht als Begleitwort dem Musenalmanach mitgab, der jedes Frühjahr erscheinen und die ideale, phantasievolle Dichtkunst pflegen sollte.«
Sie war wieder ganz in Sinnen versunken, vergaß auch das Ruder zu handhaben.
»Ja, die Phantasie!«, flüsterte sie, und dann noch einmal den Vers rezitierend:
Sie brachte Blumen mit und Früchte,
Gereift auf einer andern Flur,
In einem andern Sonnenlichte,
In einer glücklichern Natur.
»Wissen Sie«, fragte sie dann schnell, »dass es auf der Erde ziemlich viele Menschen gibt, die Adepten mit magischen Fähigkeiten sind, ohne dass ihnen dies bewusst ist?«
»Ich weiß es.«
»Es sind die Dichter.«
»Ich weiß es.«
»Die wahren Dichter, die etwas aus sich selbst heraus schöpfen.«
»Ich weiß es.«
»Es kann auch ein Komponist, ein Maler, ein Bildhauer sein.«
»Ich weiß es.«
»Auch ein Fotograf kann ein Künstler sein, niemals aber ist er ein Dichter.«
»Ich weiß es.«
»Wo hört der Komponist das, was kein Vogel singt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was ist Phantasie?«
»Das weiß ich noch weniger.«
»Das ist göttlich.«
»Ja, denn ›Gott‹ ist ein persisches Wort und heißt ›unfassbar‹.«
»Aber weil sie diese göttliche Gabe haben, müssen sie dafür anderes entbehren.«
»Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehen, naht der Poet —«
»So ist es! Und so muss es wohl auch sein. Meinen Sie nicht?«
»Ganz gewiss. Zu fett gefütterte Kanarienvögel singen nicht.«
Sie lächelte nicht. Und ich hatte auch nicht etwa einen Witz machen wollen.
Dann nahm sie Stellung und Gesichtsausdruck an, als ob sie lausche.
»Ich werde gerufen.«
»Von wem?«, wunderte ich mich, da ich nichts gehört hatte.
»Von Marianne. Von meinem jüngsten Kinde. Es begehrt die Mutter. Herr Kapitän, ich sollte Ihnen doch etwas vorgaukeln. Wollen Sie mich einmal in meine jetzige Heimat begleiten?«
Ich bejahte einfach, ohne mir den Kopf zu zerbrechen, wie sie das meinte. Sie beugte sich vor, legte ihre Hand auf die meine.
»Schließen Sie die Augen.«
Ich tat es.
»Öffnen Sie die Augen wieder.«
Ich schlug sie wieder auf. Da war die mir so wohlbekannte Szenerie meines Tales verschwunden. Wir saßen wohl noch in demselben Kanu, aber dieses lag jetzt auf einem mit roten Lotosblumen überwucherten Teiche, an einer marmornen Treppe, die nach einem Pavillon in altindischem Stile hinaufführte.
Ich wusste es, was hier vorlag, und ich sagte es.
»Dies träume ich nur. Sie haben mich in einen Traumzustand versetzt.«
»Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie nur träumen?«
»Nein, einen Unterschied kann ich nicht herausfinden, und dennoch ist es nichts weiter als ein Traum, der wahrscheinlich nur den Moment währt, da ich die Augen geschlossen hatte oder jetzt noch habe. An Zauberei glaube ich nicht.«
»O Sie Zweifler!«, lachte sie jetzt. »Nun, wollen Sie mir folgen.«
Wir stiegen die Marmorstufen hinauf und betraten den geschlossenen Pavillon, indisch-orientalisch eingerichtet.
»Wollen Sie hier einmal eine Stunde auf mich warten?«
»Eine ganze Stunde?«
»Ich muss mich etwas mit meinem Kinde beschäftigen — und auch einige Vorbereitungen treffen, Ihnen dann den schuldigen Beweis zu geben, dass so etwas wie Raum und Zeit gar nicht existiert.«
»Schön, ich werde eine Stunde warten. In Wirklichkeit ist es nur ein Augenblick, ich weiß es schon, aber — na gut, also eine Stunde.«
»Sie werden in dieser einen Stunde hier etwas Interessantes erleben —«
»Nein, nein, Frau Gräfin!«, wehrte ich sofort ab. »Ich will hier ruhig warten, aber erleben möchte ich nichts. Ich habe noch die Nase voll davon, wie ich beim Turmbau zu Babel zwanzig Jahre lang Steine geschleppt habe —«
»Es ist nur eine Stunde —«
»Ich danke auch für das Erlebnis dieser einen Stunde. Ich glaube ja, dass Sie mich nicht gerade von einem Tiger oder von Ameisen lebendig auffressen lassen würden, aber — ich bin überhaupt nicht mehr für diese Träumerei eingenommen.«
»Und ich möchte Ihnen diese Stunde dennoch angenehm vertreiben. Wollen Sie nicht der Erzählung lauschen, die in diesem Augenblicke Littlelu im Kreise Ihrer Ingenieure am Kaffeetisch zum Besten gibt?«
»O ja, das ist etwas anderes, das will ich wohl tun.«
»So ziehen Sie dort vor dem Fenster den Vorhang zurück. Sie werden sich doch nicht wundern, dass Sie plötzlich wieder ganz anderswo hin versetzt sind. Ich weiß auch, Herr Kapitän, dass Sie sich darüber später den Kopf nicht zerbrechen werden, wie es möglich ist, in einem einzigen Moment eine Erzählung anzuhören, die in Wirklichkeit erfolgt, die in Wirklichkeit ungefähr eine Stunde währt. Wenn Sie solch ein Grübler wären, dann würde ich Ihnen, Herr Kapitän, nicht einmal dieses Experiment vormachen. Aber das soll auch gar nicht der Beweis sein, dass es so etwas wie Raum und Zeit gar nicht gibt, dass diese Einteilung nur im Hirn des Menschen existiert. Diesen handgreiflichen Beweis werde ich Ihnen dann noch geben, wenn ich zurückkomme. Bis dahin leben Sie wohl.«
Sie winkte mir mit der Hand zu, verschwand hinter einer Portiere, und ich zog den bezeichneten Vorhang zurück.
Ich blickte durch ein offenes Fenster in den Salon einer Vermessungsarche, um den großen Tisch saßen ein Dutzend der Ingenieure, die ich noch immer beschäftigte, tranken Kaffee und rauchten, unter ihnen saß auch Littlelu.
Über jedes Staunen, dass ich hier nun dies wieder erblickte, war ich erhaben. Ich war mir bewusst, dass ich nur träumte, obgleich ich nichts an Wirklichkeit vermisste — never mind, ich nahm eben, was da war.
»Sie wollten uns doch erzählen, Mister Littlelu, wie Sie Spiritist geworden sind!«, sagte in diesem Augenblick lachend einer der Ingenieure.
»Wollte ich?«
»Sie hatten es uns versprochen.«
»Well, dann werde ich mein Versprechen einlösen.«
Und der ehemalige Zirkusclown begann, und zwar sich der deutschen Sprache bedienend.
Ich gebe hier seine Erzählung möglichst wortgetreu wieder.
Die geisterhafte Gestalt schwebte auf Littlelu zu, und
in der Tat — es war Pumpmeyer wie er leibte und lebte.
Ja, meine Herren, es gibt im Menschenleben Augenblicke, wo man dem sogenannten Erdgeiste näher ist als für gewöhnlich. Diesen Ausspruch habe ich schon früher einmal getan, ich habe ihn dann später öfters gedruckt gelesen, aber ursprünglich stammt er natürlich von mir. Ich will damit sagen, dass man alles Unglaubliche nicht einfach darum nicht glauben soll, weil es unglaublich ist. So war ich nämlich früher auch, aber ich habe eingesehen, dass es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, von welchen sich unsere allgemeine Schulweisheit nichts träumen lässt. Und das ging nämlich so zu.
Ich kam aus dem sogenannten wilden Westen, wo ich im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten den Aufstand der Sioux-Indianer niedergeworfen hatte, nach New York zurück und hatte eben das Patent, künstliche Hühnereier herzustellen, natürlich meine eigene Erfindung, einer hierzu gegründeten Aktiengesellschaft für 250 000 Dollars verkauft. Nun war ich von der Firma angefragt worden, ob man diese künstlichen Hühnereier nicht auch ausbrüten könnte, und diese Frage, ein sogenanntes Problem, beschäftigte damals meine ganzen Gedanken.
Eines Nachts komme ich aus dem Klub der Milliardäre, wo ich als Ehrenmitglied beständig aus- und einging, und steuere meiner Wohnung zu, wie immer über meinen Hühnereiern brütend — das heißt mit meinem Geiste. Es war sehr finster, nur durch den Schnee wurde die öde Gegend etwas erleuchtet — ganz frisch gefallener, etwa zwei Fuß hoher, lockerer, weicher, weißer Schnee. Beachten Sie das wohl, das wird nämlich gleich sehr wichtig: ganz frisch gefallener, lockerer Schnee. Kein Mensch war zu sehen, keine Fährte in der letzten Straße, welche ich noch bis zu meinem Hause zu durchschreiten hatte. Plötzlich, nicht weit von der Ecke, um die ich biegen muss — wie ich so aufblicke, da sehe ich eine Gestalt vor mir hergehen.
Meine Herren, Sie können es mir auf mein Ehrenwort glauben, und das sehen Sie mir wohl auch an: In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie gefürchtet! Ich bin vor eine scharf geladene Kanone gebunden worden und ich habe meine Feinde verlacht; ich bin in einem Luftballon gefahren, welcher 3000 Meter über dem brandenden Spiegel des Atlantischen Ozeans in Brand geriet, und ich habe kaltblütig überlegt, ob es besser sei, mit den Füßen oder mit dem Kopfe voran den Tauchersprung zu wagen; ja, ich habe sogar im Lande der Dahomeys 500 Frauen und fast ebenso viele Schwiegermütter gehabt, und ich habe niemals auch nur mit einer Wimper gezuckt.
Damals aber, wie ich die Gestalt vor mir her im Schnee gehen sah, da ist mir ein kalter Schauer den Rücken herabgerieselt vom Scheitel bis zur Sohle!
Warum? Ja, meine Herren, das verstehen Sie nicht, weil Sie eben nicht in der sogenannten Fährtenkunde bewandert sind. Bedenken Sie doch, ein Mensch geht vor mir, ich höre ihn stapfen, es liegt hoher, weicher Schnee — und der Kerl hinterlässt in diesem Schnee keine Spur, nicht eine Spur von einer Spur!
Das konnte natürlich nicht mit natürlichen Dingen zugehen. Aber ganz merkwürdig war es auch, dass dieser Mann dort vorn mein Spiegelbild war, mein sogenannter Doppelgänger, auch mein zweites Ich genannt. Der in malerischen Falten umgeworfene Poncho (auf deutsch Paletot) genau derselbe, die langschäftigen Wasserstiefel mit Jagdgamaschen genau dieselben, der breitrandige Sombrero genau derselbe. Aber nicht nur das, es war überhaupt derselbe wie ich! Dieselbe kleine, aber hünenhaft und herkulisch gebaute Gestalt mit den von Unternehmungsgeist schwellenden Muskeln, zugleich die schlangenartige Gewandtheit des brasilianischen Panthers verratend, derselbe mächtige Stiernacken, der sich noch niemals gebeugt hat, derselbe stolze, elastische, siegessichere Gang, dieselbe graziöse Taille, und schließlich auch noch ganz dasselbe ehrfurchtgebietende Embonpoint verbunden mit hoher Denkerstirn, so weit ich das von hinten beurteilen kann.
Und der Kerl hat die Unverschämtheit, in dem pflaumenweichen Schnee keine Fährte zu hinterlassen! Das war es, was mir den kalten Todesschauer durch alle meine sonst aus Erz und Stein zusammengeschweißten Glieder rieseln ließ. Doch um das ganz zu verstehen, was mir solchen Schrecken einflößte, dazu müssten Sie erst einmal wie ich jahrelang auf dem indianischen Kriegspfade gelebt haben, wo die Fährte des Menschen das ist, was in der Knackwurst das »n«, ohne welches sie doch nicht essbar wäre.
Was soll ich tun? Ein feiges Zurückgehen gibt's bei mir natürlich nicht. Also, mit dem ersten Griffe habe ich mir meinen furchtbaren Schlagriemen um die rechte Faust gewickelt, mit dem zweiten Griffe habe ich in jeder Hand einen achtschüssigen Sixshooter von dreizölligem Kaliber, mit dem dritten Griffe reiße ich mein Bowiemesser aus dem Stiefelschaft, nehme es zwischen die Zähne, und so donnere ich mit Löwenstimme:
»Steh, Schuft, oder Du bist ein totgeborenes Kind!«
Wer aber nicht stand, das war mein sogenannter Doppelgänger, auch mein zweites Ich genannt, und gerade bog er um die Ecke. Ich ihm mit dem furchterregenden Satze eines hinterindischen Königstigers nach, bin an der Ecke, will ihn mit meiner nervigen Faust, vor der es kein Entrinnen gibt, packen — allein sie greift ins ätherische Leere, der Kerl ist wie ein phantasieloser Schatten verschwunden, ist sozusagen spurlos verduftet. Und wieder ist keine Fährte zu bemerken, obgleich ich mich mit der großen Geistesgegenwart sofort nach Indianerart auf den Boden werfe und meine durch Überfälle jeglicher Art gewitzigten Späheraugen in den Schnee bohre.
Wie ich noch so daliege, mit Auge und Nase nach einer Spur witternd, höre ich eine Haustüre zuwerfen, und das kann nur die meinige sein, in deren dichtesten Nähe ich mich befinde, in weitem Umkreise gibt es keine andere Haustüre, und das werden Sie mir doch zutrauen, dass ich unterscheiden kann, ob das meine Haustür gewesen ist oder eine andere, die da zuknallte. Es ist die meine! Ich schnelle mit der Schnelligkeit eines zentral-australischen Riesenkängurus auf, bin an meiner Haustür, will sie aufstoßen — ist die von innen verschlossen!!
Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Sie wissen nicht, weswegen? Nee? Tut mir leid. Ich aber war sozusagen geistig deprimiert. Mich hat noch nichts aus dem Geleise gebracht, aber übernatürlichen Mächten war meine körperliche und geistige Konstitution nicht gewachsen, und mit übernatürlichen Gewalten hatte ich's hier natürlich zu tun.
Halb betäubt schließe ich die Haustüre mit meinem Schlüssel auf und wanke hinauf in mein luxuriös eingerichtetes Garçonlogis, für welches ich den Monat hundert Dollars zahlte — pränumerando, ohne Kaffee. In meinen Gemächern war nichts, keine Seele — halt, kein Mensch, will ich zur Vorsicht sagen — es kommt auch nichts hervor, obgleich ich mit meinem Revolver unter sämtliche Möbel schieße und mit meinem Haudegen alle Polster durchsteche, auch mehrmals durchs Klavier.
Von dieser geistigen Anstrengung natürlich sichtlich angegriffen, gehe ich zum nussbaumenen Büfettschrank, in dem ich immer einige Flaschen echt französischen Kognak aufbewahre, direkt aus der Champagne importiert, die Flasche 50 Franken. Ich setze also ein Gläschen auf den Tisch, ein sogenanntes Schnapsgläschen — Sie kennen es wohl, dass Sie mir die nähere Beschreibung solch eines Gläschens ersparen, aber es soll gleich die Hauptrolle spielen — ich fülle es aus einer Flasche, verstöpsele die Flasche wieder, drehe mich um und gehe mit der Flasche an den Schrank zurück.
Da mit einem Male geht es hinter mir, ganz leise, aber doch nicht leise genug für mein Hinterwäldlerohr — »Gulks«.
Blitzschnell mit der Schnelligkeit einer Abgottschlange drehe ich mich um — — da steht noch das Glas, aber leer!
Nanu, denke ich, werde ich heute Abend denn vom Genie oder vom Wahnsinn geplagt?! Aber es hilft alles nichts, das Glas ist und bleibt leer! Ich schenke wieder ein — und kaum habe ich den Rücken gedreht — — »Gulks«, sagt es da abermals hinter mir, und weg ist der Schnaps.
Über Staunen erhaben, wie ich nun einmal bin, will ich der Sache mit wissbegierigen Forscheraugen gleich gründlich auf den Grund gehen, und mein Kriegsplan ist auch gleich fertig. Ich schenke also nochmals ein und bleibe davor stehen, sehe hin, warte lange, aber diesmal bleibt der Kognak im Glase. Jetzt nehme ich aus dem Schranke ein zweites Glas, aber immer dabei scharf nach dem vollen sehend, fülle das meine und stoße mit einem kurzen, aber kräftigen »Prost« an das andere.
Und richtig, meine Kriegslist glückte! Nun will ich genau beschreiben, was geschah, wie sich das sogenannte Phänomen vollzog.
Ohne dass eine sichtbare Hand zu sehen war, wurde das Gläschen gefasst und senkrecht in die Höhe gehoben, nicht schnell, nicht langsam, eben so, wie man es gewöhnlich tut, wenn man einen Kognak trinken will, gleichgültig, was er kostet. Ganz auffallend aber war die zitternde Bewegung, in welcher sich das Glas dabei befand, ich glaubte ganz bestimmt, der Kognak müsse doch verschüttet werden, da dies aber nun nicht geschah, auf eine mir unbegreifliche Weise nicht, so kam ich sofort auf den Verdacht, es hier mit einem übersinnlichen Phänomen aus der sogenannten vierten Dimension zu tun zu haben, obgleich ich damals an solchen Humbug noch gar nicht glaubte.
In Kopfeshöhe blieb das zitternde Glas plötzlich frei in der Luft stehen, das eigentümliche, eigentlich sogar schauerliche Zittern nahm noch etwas zu, dann wurde das Glas von einer geheimnisvollen Gewalt mit einem raschen Ruck in einem Winkel von etwa 172 oder 173 Grad umgekippt — »Gulks«, ging es wieder ganz leise, das Glas war mit einem Male leer und wurde jetzt mit der Schnelligkeit einer fallenden Sternschnuppe auf den Tisch zurückgesetzt.
Dasselbe Experiment wiederholte sich noch mehrmals, immer mit dem gleichen Resultat. Nur beobachtete ich dabei, dass das gespensterhafte Zittern des erhobenen Glases von Fall zu Fall immer mehr nachließ.
Wem gehörte nun die unsichtbare Kehle an, durch welche der Kognak, ebenfalls nicht mehr zu sehen, in den unsichtbaren Magen rann? Nun, ich musste eben einmal an die sogenannte vierte Dimension glauben, da hatte ich es also ganz einfach mit einem Geiste zu tun, und da dieser gern Kognak trank, so war es sicherlich die abgeschiedene Seele eines toten Menschen.
Jetzt galt es meinem Scharfsinne, herauszubringen, unter welchem Pseudonym dieses Wesen auf Erden einst gewandelt hatte, was es gewesen, warum es zu mir komme, was es von mir wolle usw. usw. Dass es nicht zu sehen, nicht zu fühlen, nicht zu hören, nicht zu riechen und nicht zu schmecken sei, davon hatte ich mich mit meiner gewöhnlichen Gründlichkeit natürlich bereits überzeugt. Es fehlte nur noch die direkte Frage.
Also ich fragte ihn, nämlich den Geist, wie er hieße, wo er gelebt habe, welcher Nation, wann gestorben, wie gestorben, warum gestorben, ich fühlte ihm gewissermaßen auf seine unsichtbaren Zähne, um herauszukriegen, wes Geistes Kind dieser Geist sei — allein vergebens, ich erhielt keine Antwort, es herrschte das bekannte Grabesschweigen. Aber trinken tat er immer, wenn ich ihm noch einmal einschenkte, und von dem ersten so grausenerregenden Zittern war keine Spur mehr zu bemerken.
Meine Geisteskraft anstrengend, was die Ursache dieses beharrlichen Schweigens sein könne, fiel mir ein, dass er vielleicht einfach nicht Englisch verstände, weil doch Geister bekanntlich nicht an die Scholle gebunden sind, er konnte ja meinen Kognak in Kapstadt gerochen haben und schnell hierher entschwebt sein, und da ich mich zurzeit in New York befand, so hatte ich mich natürlich des Englischen bedient.
Nun stellte ich also dieselben Fragen in allen Sprachen, welche ich fließend beherrsche. Das war zunächst Deutsch, dann Französisch, Russisch, Polnisch, Skandinavisch, Schwedisch, norwegisch, Holländisch, Niederländisch, Belgisch, Schottisch, Irisch und schließlich auch Irisch-Römisch (denn es dürfte Ihnen doch bekannt sein, dass die Römer einmal in Großbritannien und den benachbarten Gebieten sozusagen ihre Geißel geschwungen haben).
Vergebens, keine Antwort. Es herrschte die Ruhe einer toten Ratte. Nun, dachte ich, sehen wir weiter. Denn meine Sprachkenntnisse waren durch diesen kleinen Anfang natürlich noch nicht erschöpft.
Jetzt probierte ich es einmal mit den sogenannten Mittelmeersprachen, also Portugiesisch, Spanisch, Italienisch, Neugriechisch, Türkisch, Dalmatinisch, Kleinasiatisch, Arabisch, Neuägyptisch, Montenegrinisch — das sind die sogenannten Mittelmeersprachen, dazu kommt noch: Maltesisch, Korsikanisch, Sizilianisch und die anderen Inselsprachen nicht zu vergessen, ferner Tunesisch, Algerisch und Marokkanisch.
Nichts war es, der Kerl schwieg beharrlich! Trotzdem verlor ich den Mut noch nicht. Die Welt ist groß, und wer wusste denn, wo die Wiege dieses Geistes gestanden hatte. Jetzt fing ich also erst einmal mit sämtlichen Indianersprachen an, machte alle Jargons durch (auf deutsch Dialekte), von den Feuerländern und Patagoniern an über die Apachen und Sioux bis hinauf zu den Krähenfüßlern und Eskimos aller Kategorien.
Gerade als ich so fließend Eskimoisch auf das unsichtbare Etwas einredete, und zwar im asiatischen, nicht im grönländischen Dialekte, hörte ich ganz deutlich einen Ton erschallen, ungefähr so wie ein grollendes Donnern am fernen Horizonte. Natürlich hielt ich dieses seltsame, geisterhafte Murren für ein überirdisches Signal aus der vierten Dimension, ich lauschte angestrengt, merkte aber bald, dass es nur mein Magen war, welcher da murrte. Solch ein Irrtum kann jedem Menschen einmal passieren, auch mir, und indem ich diesen meinen Irrtum mit anführe, daraus ersehen Sie doch, wie gänzlich frei ich von jeder Renommisterei bin.
Mit Amerika schien es also wieder nichts zu sein. Gut, so fing ich jetzt mit den afrikanischen Sprachen an, soweit ich die von der Nordküste noch nicht probiert hatte, ging sie sämtlich durch, Zulukafferisch, Hottentottisch, Waheheriaderisch — eben alle, und dann ließ ich die noch existierenden Idiome Asiens folgen, ohne Ausnahme.
Das war freilich eine zeitraubende Arbeit, doch schließlich machte es mir selbst Spaß, und zugleich frischte ich wieder etwas meine Sprachkenntnisse auf.
Diese letztere Übung begann ich mit Japanisch, dann folgte China mit etwa hundert verschiedenen Dialekten, hierauf Tatarisch, Mongolisch, Kosakisch, Kalmückisch, Koreanisch usw., usw., bis ich endlich an der Behringstraße mit Tungusisch aufhörte. Auch andere Sprachen probierte ich, die ich noch vergessen hatte, wie z. B. Ungarisch, Siebenbürgisch, Kroatisch und andere Dialekte, die abseits der großen Sprachenstraße liegen, wie z. B. das echte Grönländisch, Zanzibaritisch, Kaukasisch, Rotwelsch, Zigeunerisch, Volapükisch, Jüdisch-Deutsch und Deutsch-Jüdisch.
Na, kurz und gut, ich ging eben alles durch — mehr will ich nicht aufzählen, sonst könnten Sie glauben, ich wollte mit meinen Sprachkenntnissen renommieren, und nichts liegt mir ferner als das — es war eben nichts, der unsichtbare Geist schwieg wie ein ätherischer Stockfisch — aber trinken tat er immer, ich brauchte bloß einzuschenken und mit ihm anzustoßen.
Schon wollte ich den Kerl zur Türe hinauswerfen, als mir etwas einfiel. Halt, dachte ich, wer weiß denn, vor wie viel Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden der seine irdische Laufbahn beschlossen hat?! Also nun ging's noch einmal von vorne los: Natürlich zuerst auf Lateinisch, dann kam Griechisch daran, dann Hebräisch und Talmudinisch, Assyrisch und Phönizisch, Altpersisch, Babylonisch, Chaldäisch, Drusisch, Carteganisch, Trojanisch, sogar Centaurisch, bis mit den sämtlichen Abarten des Sanskrits meine bescheidenen Sprachkenntnisse endlich erschöpft waren. Sie müssen nämlich wissen, dass ich mir diese ausgestorbenen Sprachen in einem Lamakloster, auf den höchsten Spitzen des Himalajagebirges, wo ich zehn Jahre als Gefangener geschmachtet habe, angeeignet habe, aber ohne auf ihre gründliche Beherrschung Anspruch machen zu wollen. Ich kann mich nur in allen diesen alten Sprachen gut unterhalten, was man so parlieren nennt, weiter nichts. Aber eine Antwort bekam ich auch nicht. Was nun?
Das mit dem Hinauswerfen war vorhin nicht so ernsthaft gemeint. Ein Gentleman bin ich immer gewesen. Mich dauerte der arme Kerl, der entweder nicht sprechen konnte oder nicht durfte, der sich wahrscheinlich nicht einmal selber sehen konnte, und draußen hatte ein furchtbarer Schneesturm zu wüten begonnen, in den man nicht einmal einen Hund gejagt hätte, viel weniger die unsichtbare Seele eines Verschiedenen, der nicht einmal nach dem Wege fragen konnte.
Na, wir machten zusammen die Flasche Kognak leer, noch eine andere, ließen noch drei Flaschen Champagner nachfolgen, dabei immer feste zusammen anstoßend, freute ich mich doch, dass dieses Wesen aus der vierten Dimension eine so gute Nummer vertragen konnte, dazwischen verknabberten wir ein paar belegte Brötchen, die ich noch vom Morgen in meinem Schranke stehen hatte, ferner eine Gänseleberpastete und einen Spickaal, das alles verschwand so ohne sichtliches Kauen in dem ätherischen Bauche auf Nimmerwiedersehen.
An ein Fortlassen des geheimnisvollen Wesens war jetzt nicht mehr zu denken, der Schneesturm wütete, und ich hätte ihm nicht einmal einen Schirm anbieten können. Selbstverständlich blieb mein Zechkumpan auch bei mir über Nacht. Nun enthielt mein Schlafboudoir aber nur ein Bett, zu zweien zu schlafen liebe ich nicht, so stellte ich also dieses Bett meinem unsichtbaren Gaste zur Verfügung, machte es ihm noch etwas zurecht, setzte ihm die Pantoffeln davor, goss Wasser ins Waschbecken, hing ein reines Handtuch hin und sorgte sonst für Bequemlichkeit, falls der Geist ein Bedürfnis haben sollte, wünschte gute Nacht und zog mich selbst in das Nebenkabinett zurück, wo ich mich auf das Sofa bettete.
Indem ich teils über meinen Hühnereiern brütete, teils nachgrübelte, wer mein Gast wohl sei und aus welchem Grunde er mich aufgesucht haben möge, schlief ich ein.
Wie ich am andern Morgen das Schlafgemach meines ätherischen Freundes betrete — natürlich nach einem höflichen Anklopfen — richtig, am Bett ist zwar nichts Auffälliges zu bemerken, es ist nicht zerknutscht, weil Geister doch bekanntlich keine Eindrücke hinterlassen — aber das Waschwasser ist benutzt worden, das Handtuch, Zahnbürste und Zahnpulver, Kamm und Bürste — sogar Pomade muss er sich in seine unsichtbaren Haare geschmiert haben, die Pantoffeln hat er gebraucht, und wie ich mir das Bett näher besehe, da — heiliger Himmel — da weiß ich plötzlich, wer mir die Ehre seines Besuches gegeben hat!
Woher ich das weiß? Weil das Kopfkissen pitschnass ist, die auf dem Nachttisch stehende Wasserkaraffe ist nämlich darüber gegossen worden — und das sagt mir alles, alles!
»Pumpmeyer!«, jauchze ich wie eine vom Mutterglück beseelte Tigerin auf. »Mein lieber Gottlieb Pumpmeyer, bist Du's oder ist's nur sozusagen Dein verstorbener Geist?!«
»Bum!! Bruch!!«, geht es da, dass die Wände zittern und der Kalk hinter den kostbaren Tapeten rieselt, ganz genau wie etwa, wenn im irdischen Leben so ein Lumich unten die Haustüre zuknallt, und gleichzeitig fällt mir von der Decke ein Stück echter Gipsstuck auf den Kopf.
Dabei aber blieb es auch, mehr kam nicht, weder von unten, noch von oben, und alle meine Anstrengungen, noch weitere verständnisvolle Zeichen aus dem anderen Jenseits zu erhalten, waren erfolglos.
Na, gleichgültig — nun wusste ich wenigstens, wer mich geistig umschwebte. Mein alter, guter Freund Gottlieb Pumpmeyer war's!
Der arme, arme Pumpmeyer! Es war ein Prachtkerl, dabei ein Original von einem Menschen, wie's heutzutage gar keinen mehr gibt. Überhaupt alles, was er tat, war höchst originell! So z. B. hatte er die drollige Angewohnheit, jeden, der nur ein einziges Mal ein freundliches Wort mit ihm wechselte, sofort anzupumpen, d. h., das tat er natürlich nur aus Scherz, gewissermaßen, um seinen Namen zu rechtfertigen. Nun aber litt der arme Kerl ungemein an einem schwachen Gedächtnis, und die Folge von dieser unglückseligen Gabe einer gütigen Natur war, dass er immer vergaß, das aus Scherz Geborgte wieder zurückzugeben, was ihm natürlich die kurzsichtigen und böswilligen Menschen, die keinen Witz verstanden, übel nahmen und ihm dann Schlechtes nachredeten. Genau so verfolgte ihn ein unverschuldetes Unglück auch noch in einer anderen Weise. In seinem zartesten Kindesalter hatte er einmal zu stark in eine Trompete geblasen und sich dadurch ein Halsleiden zugezogen, das ihn noch in den spätesten Mannesjahren zwang, beständig größere Quanten von Getränken zu sich zu nehmen, was ihm natürlich in gehässiger Weise abermals verübelt wurde. Ein andermal hatte er sich beim Kegelschieben einen giftigen Holzsplitter unter den Nagel geschoben, der Finger wurde schlimmer und immer schlimmer, es entwickelte sich eine regelrechte Blutvergiftung daraus, das vergiftete Blut ging nach oben bis ins Gehirn, und ganz natürlich wurde zuletzt daraus Kleptomanie. Diese geistesumnachtete Tollwut prägte sich zuletzt so stark aus, dass der arme Pumpmeyer nichts mehr liegen sehen konnte, ohne es einzustecken, sogar Eisenbahnschienen, ja ganz fremden Leuten hat er Uhr und Portemonnaie aus der Tasche gelangt, und geradezu rührend war es, mit welchen ungeheuren Anstrengungen der arme Mensch diese unglückliche, aber an sich doch eigentlich ganz harmlose Leidenschaft zu bekämpfen suchte. Nicht nur, dass er die sich krankhaft angeeigneten Sachen, sobald er dabei beobachtet wurde, schnell beiseite warf, sondern er ist wahrhaftig einmal an einem Blitzableiter mit Gefahr seines eigenen Lebens vier Etagen hoch hinauf geklettert, noch dazu bei Nacht, und hat sich zehn geschlagene Stunden wie ein Herkules abgemüht, einen eisernen Geldschrank aufzubrechen. Und wozu? Nur um in den Besitz einer Handvoll alter, schmutziger Papierwische zu kommen. Dabei wurde er entdeckt, und anstatt nun den Unglücklichen mit christlicher Nächstenliebe in einer Irrenanstalt zu pflegen, umgeben von allem Komfort, haben sie ihn in eine nackte Stube gesperrt, mit einem vergitterten Fenster, abgeschlossen von aller Welt, ohne Theater, ohne Konzert, und hier ist er denn auch bald ohne Sang und Klang seinen entsetzlichen Leiden erlegen — sozusagen ein Opfer seines Berufes —
Woran ich nun meinen Freund Pumpmeyer erkannte? Einfach an dem nassen Kopfkissen. Der kuriose Kauz hatte nämlich unter anderem auch die drollige Angewohnheit, jedes Mal, wenn er infolge seines Halsleidens sehr viel hatte trinken müssen und er dann früh, gleichgültig wo, ob in seinem eigenen Bett, ob im Hotel, ob als Gast in einem fremden Hause, sich die volle Wasserflasche über den Kopf auszugießen. Es war eben ein Original. Und das hatte er nun bei mir auch noch als Geist gemacht, der kuriose Kauz.
Vor allen Dingen hieß es aber nun, ihn zum Sprechen zu bringen, und jetzt, da Tag war, sollte mir dies nicht schwer fallen, wenn ich dazu auch eine Vermittelung brauchte.
Damals war nämlich in Amerika der Spiritismus ganz frisch von der Pfanne aufgekommen, jeder Tisch und jeder Stuhl klopfte, Ohrfeigen regnete es in jedem finsteren Zimmer von allen Seiten, Gabeln und Messer flogen nur so in der Luft herum, dass man seines Lebens nirgends mehr sicher war, die lieben Geister spazierten auf der Promenade und fuhren in ihren unsichtbaren Equipagen, und Medien zum Geisterbeschwören gab es haufenweise. Die Zeitungsspalten wimmelten von ihren Anzeigen, ein Mädchen machte es immer billiger als das andere, an jeder Plakatsäule standen ellenlange Annoncen, in jedem zehnten Hause spukte es, in jedem fünften Hause wohnte ein Medium — kurz, wohin man spuckte, spuckte man entweder auf einen spukenden Geist oder auf ein hysterisches Medium.
Da war mir also bald geholfen. Meinen ätherischen Gast ließ ich einstweilen ganz beiseite, tat, als wenn er für mich gar nicht existiere.
Ich frühstückte einige Eier — aber nicht von meinen künstlichen Patenteiern, das hätte man als Reklame auffassen können, die ich als Ehrenmann stets verschmähte — warf mich in Toilette und machte mich auf die Geisterbeschwörersuche. Lange zu suchen hatte ich nicht, nur um die Ecke herum, da sah ich schon an der Tür eines Häuschens ein Messingschild mit folgender Aufschrift:
MISS EUPHROSINE PEAPUDDING
GEPRÜFTE MASSEUSE UND GEISTERBESCHWÖRERIN
AUCH WERDEN SCHMERZLOS ZÄHNE
GEZOGEN UND HÜHNERAUGEN OPERIERT.
Diese Miss Euphrosine Peapudding war gerade mein Fall, den ich suchte, Wenn sie aufs Geisterbeschwören geprüft, also doch jedenfalls auch vereidigt war, konnte ich mich ihr auch ruhig anvertrauen — denn, offen gestanden und wie schon im Anfang erwähnt, ich hatte bisher gegen alle Geisterbeschwörerei ein gewisses Misstrauen gehegt.
Ich klingelte an dem Häuschen, und die Bewohnerin musste wohl schon wissen, wer kam, denn sie schickte nicht erst ihr Dienstpersonal, sondern sie selbst öffnete mir.
Mit einem einzigen Blick hatte ich ihre charaktervolle Erscheinung voll und ganz erfasst und sie für immer in meinen Busen eingegraben. Es war eine junge Dame von vielleicht fünfunddreißig bis fünfundvierzig Jahren, sie konnte aber auch bedeutend älter sein, darin kann man sich bei einem Medium sehr irren, mit einfacher Eleganz, aber doch mit einer gewissen Koketterie gekleidet in Filzlatschen, Papierlockenwickeln, mit Fransen besetztem Stepprock und melangegelber Nachtjacke.
Der erste Eindruck, den sie auf mich machte, war der, dass sie ganz schrecklich am Tadderich litt. Ihre Finger zuckten und griffen immer durch die Luft, ihre Knie zitterten unter dem Stepprock wie vom Sturme gepeitschtes Espenlaub, ebenso wie der ganze Körper und hauptsächlich wie der stolz getragene Kopf, der beständig hin und her wackelte. Na, das störte mich weiter nicht, ich war ja in China gewesen und war daher das Kopfwackeln schon von den chinesischen Porzellannippfiguren gewohnt, und der übrige Tadderich war jedenfalls eine Folge des vielen Geisterbeschwörens, was gar nicht so leicht sein soll — sie war also gewissermaßen ein beklagenswertes Opfer ihres aufopfernden Berufes.
»Sie wünschen?«, flötete sie mit einnehmender Nachtigallenstimme, natürlich auf Englisch, nur mit einem leisen Anflug von Heiserkeit, was aber vortrefflich zu ihrer sonstigen Erscheinung harmonierte.
Ich hatte mein Haupt vor der Dame entblößt.
»Mein Name ist Littlelu!«, begann ich mit meiner gewöhnlichen weltmännischen Gewandtheit, natürlich ebenfalls in fließendem Englisch. »Habe ich die Ehre, Miss Euphrosine Peapudding eigenhändig vor mir begrüßen zu können?«
»Jawohl, die bin ich«, sagte sie nun weiter, natürlich immer auf Englisch, »wollen Sie von mir massiert sein? Die halbe Stunde fünfzig Cents, zwei Stunden einen Dollar, einen halben Tag lang zwei Dollars — weitere Dauer nach Vereinbarung.«
»Nein, danke sehr, massieren weniger, sondern ich möchte —«
»Sich einen Zahn ausreißen lassen?«, lächelte sie jetzt mit berückendem Zauber. »Bitte sehr, treten Sie näher, so viele Zähne Sie wollen, schmerzlos und sicher.«
»Auch das nicht, sondern ich möchte —«
»Ah, Sie haben Hühneraugen?! Freut mich sehr, ehrt mich sehr, treten Sie nur ein, mit dem größten Vergnügen.«
Nein, das wurde mir doch etwas zu viel, so etwas bin ich nicht gewohnt.
»Zum Himmeldonnerwetter noch einmal«, platzte ich jetzt heraus, natürlich immer auf Englisch und — wohlverstanden! — ohne dabei im Geringsten meine chevalereske Höflichkeit zu verlieren, »einen Geist aus der vierten Dimension sollen Sie mir beschwören!«
Da, gleich wie die Morgenröte die höchsten Gipfel des Popocatepetl unter ihrem schamerfüllten Kusse mit goldenem Scheine verklärt, während noch im finsteren Urwald der Orinokowildnis die giftige Anakonda friedlich neben dem zarten Kolibri schlummert — so ging ein sonniges Lächeln über ihre schönen, von geistiger Arbeit tief eingefallenen Züge, sie lächelte, dass ihr Mund mit den elegant ausgeschweiften Lippen von einem Ohre bis zum anderen reichte, und dabei wackelte sie plötzlich mit dem Kopfe, dass ich fürchtete, er könne jeden Augenblick von dem Schwanenhalse abknicken.
»Einen Geist, o, einen Geist!«, säuselte sie verklärt, natürlich immer auf Englisch. »Kommen Sie herein, mein Herr, Sie sollen den Geist bei mir sehen, ganz egal welchen — ich habe alle Nummern vorrätig.«
Sie schwebte mir mit zitterndem Gange voraus, ich folgte ihr in ein sehr einfach eingerichtetes, aber dennoch komfortables Empfangszimmer, welches besonders durch einen geschmackvoll ausgeführten Abreißkalender einen ganz besonderen Anstrich von Wohlhabenheit erhielt. Auch entsinne ich mich, dass in der einen Ecke eine ehemalige Blechbadewanne stand, jedenfalls ein heilig gehaltenes Erbstück, übrigens ganz vorzüglich zu der sonstigen Dekoration harmonierend. Kurz und gut, die ganze Einrichtung verriet einen ausgebildeten Geschmack und hohen Sinn für Kunst.
Nun, ich erzählte ihr mein nächtliches Abenteuer, sie wackelte dabei aufmerksam mit dem Kopfe und zitterte mitfühlend an sämtlichen Gliedern einschließlich des ganzen Körpers. Im Übrigen war sie eine sehr gebildete und klassisch belesene Lady, wie ich mich gleich orientierte, sie wusste sofort, dass es nur ein Bekannter gewesen sein könne, ich gab es offen zu, und jetzt erst, nachdem sie mir ihren Scharfsinn bewiesen hatte, begann ich von meinem Freunde Gottlieb Pumpmeyer zu erzählen — natürlich immer auf Englisch. Sie interessierte sich ganz außerordentlich für den alten, lieben Kerl, ich musste ihn und seine kuriosen Angewohnheiten in allen Details schildern.
»Das war er, jawohl, das war er!«, rief sie ein übers andere Mal und rieb sich dabei erfreut die durchgeistigten Hände. »Na, den alten Schweden wollen wir schon kriegen, und wenn er nicht will, dann muss er.«
Für jetzt war's nichts, Geister kann man bekanntlich nur bei Dunkelheit zitieren, bei Tage kommen sie eben nicht, dagegen kann man nichts machen. Miss Peapudding gab mir noch andere Erklärungen über das Geisterreich, in dem sie völlig zu Hause war, ich hörte sehr viel Interessantes, von dem ich mir bisher in meinen kühnsten Träumen noch nichts hatte träumen lassen, und dann zog sie in Bezug auf meinen eigenen Fall sehr scharfsinnige Schlüsse, gegen deren Logik ich nichts einwenden konnte.
Vor allen Dingen, erklärte sie mit durchschlagender Beweiskraft, da der selige Pumpmeyer mir den Kognak heimlich weggetrunken und dann mit mir auch weiter gezecht habe, so sei doch anzunehmen, dass er zu jener Nummer von verklärten Geistern gehöre, welche auch noch im Jenseits ihre irdischen Gewohnheiten pflegten. Also müsse ich heute Abend, da ich kommen sollte, zunächst für guten Kognak und Getränke sorgen, und zwar in ausgiebigstem Maßstabe, auch für ein kleines, aber gutes Souper, so nach seinem Geschmacke, und dann vor allen Dingen solle ich auch ja nicht vergessen, mir das nötige Geld einzustecken, denn die lieben Geister hätten manchmal so seltsame Wünsche und einem guten Freunde im Grabe schlage man doch nichts ab usw., usw.
»Wir können ja gleich einmal versuchen, ob er anwesend ist«, meinte sie dann, natürlich immer auf Englisch, »vielleicht wünscht er noch etwas ganz Besonderes. Nur sichtbar machen kann er sich bei Tage nicht, das können Sie partout nicht verlangen. Bei Tage genieren sich die Geister immer.«
Gut, ich bin's recht gern einverstanden, Miss Peapudding entfernt sich und schleppt einen alten Nähtisch herein.
Aha, denke ich, jetzt geht's Tischklopfen los, und richtig. so wird's auch. Miss Euphrosine gibt mir nähere Instruktionen, wir setzen uns gegenüber an den wackeligen Nähtisch, den die Geister mit ihrem Klopfen schon ganz wurmstichig gemacht haben, und schließen die sogenannte magnetische Kette, das heißt, wir spreizen auf der Tischplatte unsere Finger aus, sodass wir uns dabei gegenseitig berühren.
»Nun blicken Sie mir immer steif in die Augen, und dann dürfen Sie niemals unter den Tisch gucken — hören Sie? — niemals unter den Tisch gucken, das können die Geister nicht vertragen und ich falle allemal gleich in Ohnmacht oder kriege auch den Feixtanz.«
Das ist nur die kurze Inhaltswiedergabe einer längeren, wohlgesetzten Rede, die sie mir hielt, und ich erklärte auf Kavalierwort, nichts dergleichen zu tun, was ihr Leben in Gefahr bringen könne.
Jetzt geht die Geschichte also richtig los, wir haben die magnetische Kette gebildet, Miss Euphrosine Peapudding sitzt mir gegenüber, lächelt mich mit ihren dunkelblauen Heidelbeeraugen kokett an und wackelt dabei mit dem Kopfe, und es dauert gar nicht lange, als es mit einem Male unterm Tische zu klopfen anfängt, ungefähr so, um einen Vergleich herbeizuziehen, als wenn jemand mit einer abgelaufenen Schuhsohle auf den Boden trappst — ein ganz eigentümlicher Ton, wirklich etwas unheimlich.
»Jetzt kommt's!«, flüsterte Miss Peapudding, natürlich auf Englisch. »Verstehen Sie, was er sagt?«
Leider nicht, auf die Geistersprache war ich noch nicht geeicht.
»Was sagt er?«, fragte ich also.
»Buchstabieren Sie nur: L-I-T-T-L-E-L-U. — Littlelu. — Hören Sie? Sehen Sie, Mister Littlelu, er kennt noch Ihren Namen.«
Ich staunte ja nicht schlecht.
»Achtung, es geht weiter!«, fuhr Miss Peapudding fort und fing wieder zu buchstabieren an:
»K-E-N-N-S-T — kennst — D-U — du — M-I-C-H — mich — N-O-C-H — noch — A-L-T-E-R - alter — S-C-H-N-E-E-S-I-E-B-E-R — Kennst Du mich noch, alter Schneesieber?«
Ich war einfach gerührt! Alter Schneesieber nannte er mich, der liebe Kerl! Dabei klopfte es unterm Tische immer lustig weiter.
»Haben Sie verstanden, was er jetzt sagte?«, nahm Miss Peapudding wieder das Wort. »Ihr französischer Kognak hätte ihm gestern Abend ja ganz gut geschmeckt, aber seit einiger Zeit, so kurz nach seinem Tode, habe er sich an Irisch Whisky gewöhnt, er bekäme ihm besser, und wenn Sie ein Glas mit ihm schmettern täten, das wäre ihm sehr angenehm. Haben Sie vielleicht gerade eine Buttel Irisch Whisky bei sich?«
»Das gerade nicht, aber wir können ja —«
»Ah, da entsinne ich mich«, fiel mir Miss Euphrosine Peapudding mit züchtigem Augenniederschlag ins Wort, »ich habe ja eine Buttel Irisch Whisky zu Hause, zum äußerlichen Massieren, wissen Sie. Wenn Ihnen drei Dollars nicht zu viel ist? Es ist eigentlich Medizin, direkt aus der Apotheke bezogen.«
»Natürlich, natürlich, nur immer her damit!«, beeilte ich mich erfreut zu rufen, immer auf Englisch. »Ich werde meinen alten Freund doch nicht dursten lassen in der vierten Dimension. Wenn Sie die Güte haben wollten, die Bulle anzufahren.«
Wir lösten die sogenannte magnetische Kette einstweilen, Miss Euphrosine Peapudding zitterte hinaus und zitterte mit zwei Gläsern und einer grünen Flasche wieder herein.
»Ein Glas für Sie, Mister Littlelu — ein Glas für Mister Pumpmeyer selig«, sagte sie mit züchtig verschämtem Lächeln, wie sie die beiden Gläser auf den Nähtisch setzte, »ich trinke keine Spirituosen, höchstens äußerlich.«
Das konnte ich ihr auch nicht verdenken, nämlich, dass die Lady diesen Irisch Whisky nicht auch innerlich zur eigenen Massagekur gebrauchte, denn als ich ihn einmal probierte, fand ich einen Rachenputzer allerersten Ranges. Er war ja überhaupt nur zum Einreiben bestimmt.
Nun, wir begannen das Experiment, denselben Weg wie gestern Abend einschlagend. Aber wie ich auch mit meinem Glas an das andere gefüllte anstieß, wie ich auch prostete, toastete, und was Miss Peapudding auch für geheimnisvolle Anstrengungen machte, dass ihr Kopf bald in die Ecke geflogen wäre — das Glas wollte sich nicht an den unsichtbaren Mund erheben noch auf eine andere Weise leer werden.
Sollte mein in solchen Sachen gewiefter Freund vielleicht den infamen Rachenputzer riechen? Ehe ich dazu kam, hieraufhin eine zarte Andeutung zu machen, nahm schon wieder Miss Euphrosine Peapudding das Wort.
»So sind die Geister alle«, erklärte sie, »am Tage genieren sie sich, nur bei Nacht sind sie dreiste, wie die Affen. Wir müssen eine List versuchen, denn mit Speck fängt man nicht nur Mäuse, sondern auch Geister. Drehen Sie sich doch einmal herum, aber blinzeln Sie ja nicht — hören Sie? — nicht blinzeln, sonst könnte mir nämlich was an meiner Gesundheit passieren.«
Gut, ich drehe mich herum. »Aber nicht blinzeln!«, sagt das Medium noch einmal — und kaum habe ich dem Glase den Rücken zugewandt — wahrhaftig! — »Gulks«, geht es da hinter mir, so recht geisterhaft. — »Nun können Sie sich wieder rumdrehen!«, sagt Miss Peapudding — und wie ich mich umdrehe — weiß Gott, das Glas ist leer!
Dasselbe Experiment wiederholten wir noch ein drittes Mal, immer mit dem gleichen Erfolge, und das ging so fort, immer mit dem gleichen »Gulks«, bis wir beide, mein seliger Freund Pumpmeyer und ich, die ganze Flasche ausgegulkst hatten. Aber wenn ich hinsah, dann trank er niemals.
Das wäre immer so im Geisterreiche, sie ließen sich nicht gern auf die Finger sehen, erklärte Miss Peapudding.
Nun müssen Sie wissen, meine Herren, dass die Geister nichts durch ihre eigene Kraft vermögen. Die Geister können sich nur tätig zeigen, sichtbar machen, auf gut Deutsch materialisieren genannt, indem sie sich von einer anderen, lebenden Kraft etwas pumpen. Woher sich nun Pumpmeyer gestern Abend diese Kraft hergepumpt hat, um immer das Glas in die Höhe heben und austrinken zu können, das weiß ich allerdings nicht, aber bei seinen sonstigen Eigenschaften wird ihm das nicht schwer gefallen sein, er wird sich schon zu helfen gewusst haben, in einem Anfalle seiner bedauernswerten Kleptomanie hat er sich diese Kraft vielleicht auch auf unerlaubte Weise angeeignet, weshalb der arme Kerl gar noch mit dem Geisterstrafgesetzbuch in Konflikt gekommen ist. Wie dem nun auch sei, jedenfalls hatte er sich jetzt diese Kraft von der Miss Euphrosine Peapudding entliehen, denn ich sah es ihr zuletzt, als ich nach Leeren der Whiskyslasche meine Aufmerksamkeit wieder ihrer Persönlichkeit zuwandte, ganz deutlich an, wie sehr sie erschöpft war. Mit einem Male hatte sie ganz rote Flecke auf den Backen bekommen, ihre Augen stierten unnatürlich gläsern, ihre Zunge war schwer geworden, manchmal konnte sie nur noch lallen, und überhaupt, es zeigten sich noch andere, übernatürliche Erscheinungen an ihr. Dagegen hatte das Kopfwackeln und das Zittern ihres übrigen irdischen Leibes ganz bedeutend nachgelassen,
Meine Herren! Ich kann Ihnen nicht so alles erklären, welche Phänomene (auf Deutsch ungefähr Kuriositäten) der Spiritismus hervorzubringen imstande ist. Eine Merkwürdigkeit des Spiritismus ist es zum Beispiel, und dürfte dies bekannter sein, dass, wenn der Geist etwa den berußten Schlüssel einer Spieldose angreift, dieser Ruß dann auch an den Händen des Mediums zu sehen ist. Nicht wahr, von diesem Phänomen haben Sie doch auch schon gehört.
Wie kommt das? Ja, Du lieber Gott, um das zu verstehen, wie dieses Wunder eigentlich ein ganz selbstverständliches ist, dazu ist eben ein jahrelanges Sichvertiefen in das Studium des Spiritismus nötig, so wie ich es getan habe, womit ich Sie aber verschonen will. Ich führe das nur an, weil sich auch mir ähnliche Phänomene offenbarten. So z. B. hatte doch mein Freund Pumpmeyer als sozusagen körperloses Wesen den Irisch Whisky getrunken, das Medium keinen Tropfen — und dennoch roch mit einem Male Miss Peapudding ganz entsetzlich aus dem Halse nach Schnaps.
Erkläre sich dieses Wunder jeder, der kann: Ich will mich hier nicht darauf einlassen, eine spiritistisch-wissenschaftliche Vorlesung zu halten.
Na, 's ist gut, wir setzen uns von Neuem, stellen mit unseren Händen die magnetische Kette wieder her, und die Klopferei unterm Tisch geht von vorne los.
Pumpmeyer kennt und sieht mich ganz genau, so behauptet wenigstens das Medium, ich will der Sache auf den Zahn fühlen und verlange nähere Beschreibung meiner selbst.
Richtig, Miss Peapudding buchstabiert aus dem Klopfen die Antworten heraus, und alle stimmen ganz genau bis auf ein Härchen.
Der unsichtbare Geist beschreibt mir durch den Mund seines Mediums meine äußerliche Figur, die Farbe meiner Augen, meiner Haare usw., usw., dann fängt er von selbst von etwas anderem an, er prophezeit mir die Zukunft. so z. B. wie lange ich noch leben werde, nämlich gerade noch 42 Jahre, 7 Monate, 18 Tage, 2 Stunden und 59 Minuten, dass ich noch heiraten werde, dass ich eine sehr gute Frau bekomme, dass mich meine Frau sehr lieben wird, dass sie mir eine äußerst gemütliche Häuslichkeit bereiten wird, dass meine zukünftige Frau ausgezeichnet kochen kann, dass sie mich in Krankheit sehr gut zu pflegen versteht, alldieweil sie eine vereidigte Krankenpflegerin wäre —
»Soll ich Ihren seligen Freund nicht einmal fragen, wie Ihre zukünftige Frau Gemahlin eigentlich heißt?«, lächelt mich da Miss Euphrosine Peapudding auf Englisch an.
Nein, ich hatte die Geschichte mit meiner zukünftigen Frau aber nun gerade dicke, ein Weiberfeind bin ich nämlich immer gewesen, das musste Pumpmeyer doch auch wissen, dass es bei mir so etwas nicht gibt, und überhaupt, ich kannte meinen alten Freund gar nicht wieder im Jenseits. Bei Lebzeiten wenigstens hatte der nicht einmal die hübsche Bäckersfrau, wenn sie mit der Semmelrechnung persönlich kam, in seine Stube eingelassen.
»Mit Verlaub, nein, gnädige Miss!«, entgegnete ich also, natürlich immer auf Englisch. »Aber er soll mir doch einmal sagen, ob er sich noch erinnert, wann ich geboren bin. In seinem irdischen Erdenwandel vergaß er meinen Geburtstag nie, da brachte er mir allemal eine wilde Wiesenblume und pumpte mich an.«
,Sofort, mein Herr, selbstverständlich wird er Ihnen das Datum Ihres Geburtstages sagen können, wenn's weiter nichts —«
Bumberumbumbum, ging's da unterm Tisch, und gleichzeitig bekam ich einen Tritt auf meine linken Fußzehen, dass ich am allerliebsten die Miss Euphrosine Peapudding links und rechts abgeohrfeigt hätte, obgleich die doch gar nichts dafür konnte, und glücklicherweise beherrschte ich mich schnell wieder und war wie gewöhnlich der vollendete Kavalier, der schon mehrmals halb versengt und geschunden am Marterpfahl gestanden hat.
»Haben Sie's gehört?«, fragte Miss Peapudding. »Jetzt ist er fort, er hat keine Zeit mehr, er muss noch etwas besorgen, denn auch in der vierten und den anderen Dimensionen gibt es Pflichten, denen man sich nicht entziehen kann.«
»Gehört habe ich etwas, mehr noch aber gefühlt!«, entgegnete ich.
»Er hat Sie wohl auf den Fuß getreten? Ja, das machen die Geister immer so, wenn sie sich verabschiedend entschweben. Der Fußtritt ist gewissermaßen eine Entschuldigung.«
Die Sitzung war vorläufig geschlossen, wir erhoben uns. Miss Euphrosine bekam schon wieder den Tadderich vom Kopfe an bis in die äußersten Fingerspitzen.
»Also heute Abend um acht Uhr habe ich wieder das Vergnügen«, fuhr Miss Peapudding mit ihrem reizendsten Lächeln fort, als ich mich zum Aufbruch rüstete, »und vergessen Sie ja nicht mitzubringen — erstens genügendes Geld, zweitens den nötigen Whisky, denn Ihr Freund scheint einen Guten schmettern zu können; ferner ein gewähltes Abendessen; und drittens — das habe ich wohl noch nicht gesagt — genügend Geld. Für meine jetzigen Bemühungen berechne ich Ihnen das bescheidene Honorar von nur zehn Dollars, die Buttel Whisky zu drei Dollars begleichen Sie wohl auch jetzt schon.«
Ich berappte mit Vergnügen die dreizehn Dollars — damals für mich eine Bagatelle — und ging zunächst wie gewöhnlich in meinen Austernkeller, wo ich stets das zweite Frühstück einzunehmen die Gepflogenheit hatte —
Meine Herren, ich bemerke, wie Sie ein Ihre Mundwinkel umgaukelndes Lächeln krampfhaft zu verbeißen suchen. Natürlich denken Sie jetzt im innersten Busen: Nu, der ist aber hereingefallen! Nu, der hat sich aber von einer Schwindlerin übers Ohr hauen lassen! Das Medium hat einfach mit dem Fuße geklopft, hat einfach den Schnaps immer selbst getrunken, deshalb stank sie nachher auch so aus dem Rachen!
Meine Herren, können Sie mich wirklich für so leichtgläubig oder sogar gewissermaßen für so brettsnageldumm halten? Dann tun Sie mir leid.
Nein, ich bin vielmehr von Natur aus mit einem Panzer umgeben, der zusammengeschweißt ist aus Scharfsinn und Argwohn — diesen meinen Scharfsinn beweise ich Ihnen in diesem Augenblick doch schon dadurch, dass ich sofort Ihre geheimsten Gedanken erraten habe — ich hatte das Medium einmal nur gewähren lassen wollen, niemals hatte ich die Dame unterbrochen, ich stellte mich immer gläubig, und auch wie sie die Sitzung schnell abbrach, weil sie eine Frage nicht beantworten konnte, ohne meine intimsten Personalien zu kennen — ich ließ sie immer gewähren — aber freilich heute Abend, wenn wirklich ein Geist erschien, da wollte ich ihn schon prüfen, keine Vorsichtsmaßregel außer acht lassen, um der Wahrheit oder dem Wahnsinn auf den Grund zu kommen, und bestand er die Probe nicht, dann wollte ich dem Geiste sozusagen die ätherischen Würmer aus der Nase ziehen.
Aber er hat bestanden, also auch das jungfräuliche Medium, dessen er sich bediente — darauf können Sie sich verlassen, meine Herren, und Sie werden mir am Schlusse ausschließlich recht geben.
Überhaupt muss ich bekennen, dass Miss Peapudding mein Vertrauen von vornherein erworben hatte, und hierin täusche ich mich niemals, niemals! Es war etwas an ihr, was jedem sofort außerordentlich imponieren musste, das Zitterige, das Tadderiche, man roch ihr eben den Geisterberuf gewissermaßen gleich an. Denn mit solch einem furchtbaren Tadderich kann kein von einem irdischen Weibe normal geborener Mensch von einer gütigen Natur ausgestattet sein.
Hingegen begreife ich heute noch nicht, wie die junge Dame mit solch einem entsetzlichen Tadderich Zähne ziehen kann. Die musste doch geradezu immer den falschen herausruppen, wenn sie überhaupt mit der Zange in den offenen Mund hinein kam und nicht gar die Nase anpackte und auf gut Glück abzwickte. Und was das Hühneraugenoperieren anbetrifft, da hätte man seine Füße doch ebenso gut vertrauensvoll gleich in eine Wurstmaschine stecken können.
Na, lassen wir weitere Erörterungen. Hier liegt jedenfalls eben auch so ein wunderbares Geheimnis der Schöpfungsgeschichte vor —
Es wurde wie gewöhnlich nach und nach Mittag, dann kam natürlich nach und nach der Abend, und ich machte mich langsam auf den Weg —
Halt, dass ich's nicht vergesse! Es gehört eigentlich nicht mit zu dieser Erzählung, aber weil ich nun einmal von diesem Tage spreche, will ich's der Kuriosität wegen gleich mit anführen. An diesem gesegneten Tage ist mir nämlich etwas passiert, was mir in meinen Leben noch nicht widerfahren war und nicht widerfahren wird, eine Kränkung sondergleichen: Meine Hauswirtin kündigte mir — natürlich auf Englisch.
»Warum?!«, brauste ich im fragenden Tone eines in seinem Stolze tödlich getroffenen Löwen auf, und unwillkürlich fuhr meine rechte Faust an den Griff meines sarazenischen Dolchs, während meine linke Hand schon am Revolverkolben lag.
Da kam es denn aus angstbebendem Munde heraus. In der Nachbarschaft hatte sich heute seit der Mittagszeit ein verdächtig aussehendes Individuum herumgetrieben, hatte über mich gefragt und gehorcht, über meinen Lebenslauf, wer ich sei, wo geboren und wann geboren, was meine Eltern gewesen, mein ganzes Vorleben wollte er wissen — kurz und gut, man hatte das Subjekt für einen verkappten Kriminellen gehalten und mich für einen im Verdachte einer Untat stehenden Menschen, also sozusagen für einen steckbrieflich verfolgten Verbrecher.
Deswegen wollte mich die tödlich entsetzte Wirtin aus dem Hause haben. Ich hätte die gute Frau ja bald beruhigen können, indem ich ihr aus dem Schatze meiner Empfehlungsbriefe nur einige zeigte, Handschreiben von Fürsten und Königen aller heutzutage noch existierenden Menschenrassen — aber so etwas verschmäht meine Bescheidenheit, das hätte für Prahlerei ausgelegt werden können, und so nahm ich die Kündigung einfach an.
Notabene, ich glaube, es war damals auf einen Raubanfall auf mich abgesehen gewesen, denn ich führte immer einige Millionen bei mir, und ich traf Vorbereitungen zur Abwehr. Aber es kam nichts, die Spitzbuben hüteten sich natürlich, mich zu reizen, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass ich auch wirklich derjenige war, welcher, und davon hatte sich der Betreffende eben an jenem Tage überzeugt.
Dies also nur nebenbei, mit dieser Geschichte hat es sonst gar nichts zu tun.
Um acht Uhr fand ich mich bei Miss Euphrosine Peapudding abermals ein. Sie wackelte wieder wie Espenlaub, in geradezu angsterregender Weise, obgleich ich sonst gar nicht weiß, was Angst ist.
Die von mir hierher bestellten Weine und Schnäpse verschiedener Kategorien waren bereits eingetroffen, dergleichen ein kaltes Abendessen, natürlich die ausgesuchtesten Delikatessen der Saison.
Zunächst erteilte mir Miss Peapudding wieder einige sehr lehrreiche Aufschlüsse über das Geisterreich und über die Angewohnheiten seiner unsichtbaren Bewohner, ging aber diesmal noch tiefer auf die intimeren Angelegenheiten ein. So, erklärte sie mir unter anderem, ist eine unheilvolle Eigenschaft der seligen und auch der unseligen Geister, gewissermaßen ein unverschuldetes Unglück, dass sie immer gern irdische Speisen essen möchten, die ihnen aber stets ätherische Astralleibschmerzen bereiten, und so wäre es doch gewiss eine gute Tat der Vorsicht, wenn wir das Abendbrot selber äßen — nach welcher Erklärung sich Miss Euphrosine Peapudding sofort an den gedeckten Tisch niederließ und zulangte, und da ich meinen armen Freund doch nicht an Geist und Körper schädigen wollte, folgte ich ihrem Beispiele. Auch den Champagner tranken wir gleich dazu und noch mehreres andere, und das war auch kein Verlust für Pumpmeyer, denn, wie mir Miss Peapudding weiter erklärte, es kam ihm dennoch alles zugute — auf welche Weise, das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären, dazu gehört eben ein vertieftes Studium in das Reich der vierten Dimension.
Nach beendeter Tafel zogen wir uns in ein anders Zimmer zurück, in welchem die Geistersitzung stattfinden sollte. Gestatten Sie mir nun eine ausführliche Beschreibung diesem Zimmers.
Es war ein viereckiges Gemach, ein sogenannter Kubus, also oben eine Decke, unten ein Boden und an jeder der vier Seiten eine Wand. An der einen Wand befand sich ein Fenster, deren zwei Scheiben aus durchbrochenem Glase elegant mit Papierschmuck kreuzweise überklebt waren. Ferner erblickte mein beobachtendes Auge zwei Türen, meiner Ansicht nach altvenezianische Schnitzarbeit, mit sinniger Hand braun angestrichen. An Möbeln waren vorhanden: ein durch seine Einfachheit wohlgefällig ins Auge springender Waschtisch; ein solider Holzstuhl; ein Stück von einem alten Teppich, wahrscheinlich persischen Ursprungs; ein Ofenloch; und schließlich noch ein sehr geschickt an der Wand drapiertes Handtuch, auf welchem in weithin sichtbaren Buchstaben der Sinnspruch stand: »Gestohlen aus Sam Buttlers Herberge«.
Das war die ganze Einrichtung. Man sieht, es war nicht gerade ein durch Reichtum überladenes Meublement, aber dies alles war so arrangiert, den ästhetischen Kunstgeschmack der Besitzerin verratend, dass es einen wirklich gediegenen Eindruck machte, ohne das Auge durch unnötigen Luxus zu verletzen, und das Ganze ward nun auch noch durch eine an der Wand hängende Küchenlampe in das vorteilhafteste Licht einer geheimnisvoll-mystischen Dämmerung gesetzt.
Die Hauptsache der Zimmereinrichtung habe ich aber noch gar nicht erwähnt: das sogenannte Dunkelkabinett, ohne dessen Vorhandensein Geister überhaupt niemals erscheinen können.
Selbiges Dunkelkabinett bestand aus vier senkrechten Latten, mit vier Querleisten oben dran, die Seiten mit dunklem Tuche verhangen, in dessen einzelnen Bestandteilen ich nach und nach die wehmütigen Fragmente verschiedener ehemaliger Frauenunterröcke erkannte. Jedenfalls hatte das alles natürlich seinen bestimmten Zweck, um die Geister herbeizulocken, denn sicherlich hatte man doch nicht umsonst als Vorhang keine Seide oder dergleichen gewählt, sondern die Portieren gerade aus verschiedenfarbigen Unterröcken hergestellt.
Doch nur drei Seiten des Dunkelkabinetts waren auf diese Weise verhangen, nicht die hintere, denn mit dieser lehnte das Gestell an der Wand, weil es sonst, wie mir das Medium mit ganz richtiger Logik erläuterte, umfiele, und zwar lehnte es gerade dort an der Wand, wo die eine Tür war — und das war etwas, was mir natürlich gar nicht gefiel.
»Hm«, meinte ich nachdenklich, »warum steht denn das Dunkelkabinett aber gerade gegen eine Türe?«
Herrjeh, herrjeh, da hätten Sie aber einmal ein beleidigtes Gesicht zu sehen bekommen können!
»Sie denken wohl gar, hier kann jemand durchgehen?«, fragte Miss Peapudding im gekränktesten Englisch. »Immer schließen Sie nur ab und stecken Sie den Schlüssel ein. Von draußen ist übrigens auch zugeriegelt.«
Gut, ohne mich zu genieren, tat ich so, schloss ab und steckte den Schlüssel in die rechte Hosentasche. Nun war ich aber auch vor jedem Eingreifen von fremder Seite aus vollkommen geschützt.
In dem Kabinett stand noch ein Stuhl, auf diesen setzte sich die Miss und bat mich, falls ich zufälligerweise Stricke bei mir hätte, sie an dem Stuhle festzubinden.
Jawohl, meine liebe Miss Euphrosine Peapudding, Stricke hatte ich nun gerade zufälligerweise bei mir, und was für welche — Stricke habe ich nämlich zufälligerweise immer in der Tasche, bei mir ist der Mensch ohne Strick kein zurechnungsfähiger Mensch — und ich band die Miss Euphrosine Peapudding an ihr Stühlchen fest, mit echten Matrosenknoten, oben und unten, hinten und vorne, dass sie nicht einmal mit den Augäpfeln klappern konnte.
So, nun sollte sie sich einmal von diesen Stricken befreien — ganz und gar unmöglich! — und dass dies auch nicht von anderer Seite geschehen konnte, dafür hatte Mister Littlelu gleichfalls gesorgt — denn der hatte doch den Schlüssel zu der Tür in seiner rechten Hosentasche.
Dann wollte ich sie auch noch knebeln, ihr mein Taschentuch — natürlich hatte ich als Gentleman immer ein ganz reines bei mir — in den Mund pfropfen, da aber fühlte sie sich beleidigt, und schließlich unterließ ich das Knebeln, es hatte ja doch auch keinen Zweck.
Trotzdem müssen mir die Herren wohl zugeben, dass ich keine Vorsichtsmaßregel unterlassen hatte, mich gegen Betrug zu schützen, so weit es in irdischen Kräften steht, denn schließlich bin ich doch auch nur sozusagen ein irdischer Mensch, und die Hauptsache dabei ist und bleibt, Mister Littlelu hatte den Schlüssel zu jener verhängnisvollen Tür im Hintergrunde des Dunkelkabinetts in seiner rechten Hosentasche.
Im Übrigen handelte ich nach den mir vorher von dem Medium gegebenen Instruktionen. Ich zog also den Vorhang von Unterröcken zu, sodass von keiner Stelle des Zimmers aus noch etwas vom Inneren des Dunkelkabinetts zu sehen war, pustete die Lampe aus, setzte mich an den mit Flaschen und Gläsern dekorierten Waschtisch und wartete des Kommenden.
Aber lange wollte nichts kommen. Wohl zehn Minuten verstrichen und es war noch immer nichts zu sehen und zu hören, und zehn Minuten sind in solch einer Situation eine gar lange Zeit, zumal wenn's im Zimmer finster ist. Doch ich bin das Warten gewohnt, ich habe meine Geduld durch Übung gestählt. So z. B. habe ich einmal im Felsengebirge achtundvierzig geschlagene Stunden lang auf einem Baume gesessen, unter welchen sich ein Grizzlybär hingelegt hatte, und habe gewartet, nur um meine Energie zu stählen, wer es länger aushielt, der graue Bär oder ich — natürlich blieb ich Sieger.
Da — —
»Merken Sie etwas, Mister Littlelu?«, flötete es da endlich hinter der Gardine.
»Nein!«, entgegnete ich präzis, natürlich immer auf Englisch.
»Ich auch nicht. Singen Sie doch einmal ein geistliches Lied, das zieht die Geister immer an.«
Gut, konnte geschehen, und mit meiner vollen, sympathischen Bassstimme aus der innersten Brust heraus begann ich zu singen, dass die durchbrochenen Fensterscheiben klirrten: »Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gleich verschlingen« usw.
Als ich gerade die sechste Strophe beendet hatte, drang aus der Dunkelkammer ein Stöhnen hervor, so eine Art von Trompetenton, ungefähr so, als wenn ein Mensch gähnt und er muss zufällig dabei einmal herzhaft niesen.
»Kommt's?«, piepste es dann zaghaft hinter der Gardine.
»Ich merke nichts.«
»Ich auch noch nicht. Haben Sie nur Geduld, es wird schon noch kommen, ich muss erst richtig in Trance liegen, was vorläufig noch nicht der Fall ist, singen Sie nur einstweilen weiter.«
Aha, sie lag noch nicht in richtiger Trance! Dann freilich konnte ich auch noch nichts von ihr verlangen. (Trance ist auf gut Deutsch ungefähr Somnambulismus.)
Also ich sang weiter, immer Kirchenlieder, mit jener Ausdauer, welche mir eigen ist, im Ganzen einunddreißig Stück oder einhundertunsiebenundzwanzig Verse.
Ein Erfolg machte sich allerdings bemerkbar. Bald ertönte hinter den Gardinen ein ganz eigentümliches Geräusch, ungefähr so, als wenn jemand Holz säge und hin und wieder an einen Astknorren käme. So eigentümlich diese Töne nun auch waren, befriedigen tat mich dieser Erfolg nicht, etwas sehen wollte ich, nicht nur hören, und solche Töne kann ich schließlich auch hervorbringen, selbst im Schlafe.
Wie ich nun gerade den einhundertundsiebenundzwanzigsten Vers beendet hatte, hörte jenes eigenartige Sägen im Dunkelkabinett auf, dafür erfolgte ein anderes Geräusch, ungefähr so, als wenn ein irdischer Mensch recht laut gähne, dann aber erklang wieder die irdische Stimme Miss Peapuddings in schmelzendem Tonfall:
»Kommt's immer noch nicht?«
»Nein, keine Spur von Natur.«
»Waren das Mister Pumpmeyers Lieblingslieder, die Sie da singen taten?«
»Das weniger, es waren meine, das heißt, wenn ich zufälligerweise in der Kirche sitze.«
»Da singen Sie doch einmal sein Lieblingslied, es braucht ja gerade kein frommes zu sein, und dann passen Sie auf, dann muss er bestimmt kommen.«
Hätte sie mir das doch gleich gesagt! Nun also begann ich mit jubelndem Trompetengeschmetter aus voller Brust.
»So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage in der allerschönsten —«
Weiter brauchte ich gar nicht zu singen, das genügte schon. Dass Pumpmeyer nicht auf die Kirchenhymnen reagierte, hatte ich mir übrigens gleich gedacht, ich hatte nur nicht widersprechen wollen, um der Sache ganz und gar auf den Grund zu gehen.
Jetzt aber ging der Spuk los! In der Dunkelkammer stöhnte es, jammerte es, spukte es, als würden ein Dutzend Ferkel abgestochen, dann rasselte es wie ein rostiger Schlüssel im Schloss, es knarrte und quietschte, gerade als ob eine schlecht geschmierte Tür aufgemacht würde, und hätte ich nicht den Schlüssel in meiner Hosentasche gehabt, ich wäre auch leicht auf den Verdacht gekommen, jene Türe würde wirklich geöffnet, obgleich sie nach des Mediums Behauptung von draußen verriegelt sein sollte. So aber war das ganz und gar unmöglich, ich hatte den Schlüssel zu der von mir abgeschlossenen Tür in der Tasche, und das Knarren und Rasseln und Quietschen war einfach die Äußerung des sich anmeldenden Geistes.
Ob das nun gerade Pumpmeyer war, das zu entscheiden musste meinem Scharfsinn und meiner vorsichtigen Prüfung überlassen bleiben.
»Ritsch«, ging's dann, gerade so, als wenn man ein Streichholz anreißt, und plötzlich wurde es hinter den durchschimmerten Unterröcken helle, also eine Feuererscheinung aus der vierten Dimension, ich sah einen gelinden Rauch emporsteigen, ein brenzlicher Geruch nach Schwefel und Phosphor erfüllte das ganze Zimmer — es war eigentlich entsetzlich, grauenhaft, und hätte ich nicht stählerne Nerven besessen, ich hätte vor Schreck schon längst auf den Knien oder lieber gleich auf dem Bauche gelegen.
So aber, vollständig gespensterschreckfrei, blieb ich ruhig sitzen, beobachtete, kalkulierte und zog Schlüsse.
»Merken Sie was?«, ächzte es jetzt hinter dem Vorhange in einem ganz anderen Tone als bisher, in geradezu herzgepresster Weise.
Wahrhaftig! Mögen Sie es glauben oder nicht — da plötzlich erhoben sich über dem Dunkelkabinett zwei feurige Hände, und dann sah ich noch etwas unbestimmtes Weißes in die Höhe kommen, welches über der oberen Leiste immer hin und her rutschte!
Ja, meine Herren, wie ist so etwas nun möglich? Das Medium saß doch gefesselt auf dem Stuhle, und wie gefesselt! Betreten durfte ich das Dunkelkabinett natürlich nicht, auch nicht den Vorhang lüften, daraufhin hatte ich zuvor mein Männerwort abgeben müssen. Nicht etwa, weil es da etwas von Betrug zu sehen gäbe, sondern weil sonst ein frevelnder Eingriff ins Reich der Geister leicht auf die Nerven der Dame schlagen könnte, das ist doch ganz selbstverständlich, und mit so etwas hätte ich doch nimmermehr mein Gewissen belasten mögen.
Die feurigen Hände und das ungewisse Etwas hatten sich wieder nach unten zurückgezogen, waren sozusagen wieder verschwunden — als mit einem Male der Vorhang zurückgeschlagen wurde, und heraus trat eine weiße, etwas leuchtende Gestalt!
Was ich selbst dachte, wie mir zumute war, davon will ich hier schweigen. Ich will nur von dem sprechen, was ich sah, hörte und erlebte.
Zunächst hielt die in weite, wallende Gewänder gehüllte Gestalt den Vorhang einige Zeit, wenigstens eine halbe Minute, in die Höhe, mit offenbarer Absicht, damit ich das Medium in der Dunkelkammer sitzen sehen könne — und richtig, ich sah wirklich auf dem Stuhle einen dunklen Klumpen liegen.
Die geisterhafte Gestalt schwebte auf mich zu, und da — wahrhaftiger Gott! — es war der Pumpmeyer, wie er lebte und leibte und liebte — freilich total verändert, doch ich weiß ja nicht, wie er ausgesehen hat, als er das Zeitliche segnete.
Trotzdem, er war es, ich erkannte ihn sofort wieder! Zug für Zug ähnlich: ein Paar spindeldürre, elegant geschweifte Knochenbeine, welche ätherisch durch das weiße Gewand schimmerten, dann ein Körper, auf jeder Seite ein Arm mit einer Hand dran, oben auf dem Körper ein menschenähnlicher Kopf mit zwei Augen, in der Mitte eine Nase, unten drunter ein Mund, hüben und drüben immer ein Ohr — na, kurz und gut, Zug für Zug der ganze Gottlieb Pumpmeyer, auch nichts fehlte ihm, nicht ein Fingerglied.
Nur dass er jetzt einen langen, weißen Vollbart trug, den er früher nicht gehabt hatte. Aber den konnte er sich ja kurz vor seinem Tode haben stehen lassen, oder er war ihm erst in der vierten Dimension gewachsen.
Wenn ich nun weiter sage, dass die Gestalt ungeheuer stark mit dem Kopfe wackelte, wie sie auch mit den Knien und Händen und sogar mit dem ganzen übrigen Leibe fieberhaft fibrierte, so werden die superklugen Herren natürlich gleich rufen: Es war eben Miss Euphrosine Peapudding selber!
Nein, schreie ich aber, nein und abermals nein! Es war Gottlieb Pumpmeyer, und wenn er's nicht war — Miss Euphrosine Peapudding ist es auf keinen Fall gewesen, kann es gar nicht gewesen sein, denn:
1. Miss Euphrosine Peapudding trug ein dunkelbraunes Kleid, und dieser Geist trug ein weißes,
2. Miss Euphrosine Peapudding hatte keinen langen weißen Vollbart, sie hatte überhaupt gar keinen Bart.
3. Ich hatte doch auf dem Stuhle in der Dunkelkammer noch immer einen großen Klumpen liegen sehen, und wenn das nicht das Medium gewesen war, was soll denn das sonst gewesen sein? Heh? Wie? Was?
4. Und letztens: Miss Euphrosine war gebunden und ich hatte doch den Schlüssel zu der Türe in der rechten Hosentasche.
Und nun zum Schluss zum Allerletzten: Und wer nun immer noch daran zweifelt, dass dieser Geist mein Freund Gottlieb Pumpmeyer gewesen ist, dem haue ich ein paar runter!
So, nun mögen die geehrten Zuhörer noch sagen, was sie wollen — aber Vorsicht! — ich bin wegen meiner außergewöhnlichen Handschuhnummer Ehrenmitglied des geselligen Vereins der Steinetreiber geworden!
Und dennoch, ich kann nicht umhin — wem diese schlagenden Beweise immer noch nicht schlagend genug sind, dem will ich immer noch einen Grund angeben, warum es unmöglich Miss Euphrosine Peapudding gewesen sein kann. Miss Euphrosine Peapudding hatte ein viel zu ehrliches Gesicht, als dass man ihr solch einen groben Betrug zutrauen könnte, ganz abgesehen davon, dass sie schon zweimal den Eid der Offenbarung abgelegt hatte.
Und schließlich will ich der Erzählung vorgreifen und den unantastbaren Beweis liefern, dass diese weiße Figur die abgeschiedene Seele des toten Gottlieb Pumpmeyer war: Im Laufe des späteren Gespräches prüfte ich ihn nämlich darauf hin, examinierte ihn, was er von mir wisse, wer ich sei, wo und wann geboren, was meine Eltern gewesen, wie sie hießen, über mein ganzes Vorleben examinierte ich ihn, soweit meinem alten Freund selbiges von seinem Erdenwallen her bekannt sein konnte — und ich sage Ihnen auf mein Ehrenwort: Er hat das Examen glänzend bestanden!
Na? Und nun? Woher soll denn das alles die Miss Peapudding gewusst haben? Was denn sonst noch? — Meine Herren, nun halten Sie endlich die Luft an und horchen Sie lieber weiter zu, sonst kann ich nämlich auch einmal eklig werden! —
Es sei als Einleitung zu unseren Gespräch von vornherein bemerkt, dass sich Pumpmeyer ausschließlich der englischen Sprache bediente, obgleich er in seinem irdischen Lebenswandel außer »Mixpickel« und »Watercloset« kein einziges englisches Wort gesprochen hat, höchstens bediente er sich manchmal noch der geistvollen Zusammenziehung »Mixpickel of Watercloset«, diese beiden Worte sprach er allerdings mit sehr reinem Ausdruck aus, besonders die letztere Zusammenziehung.
Dass er jetzt mit einem Male völlig fließend Englisch sprach, das hat mich gar nicht gewundert, ich habe ihn deswegen gar nicht erst gefragt. Diese Sache ist doch sehr einfach. Entweder musste er sich der englischen Sprache bedienen, konnte gar nicht anders, weil ihm ein amerikanisches Medium doch erst die Kraft zum Sprechen verlieh, oder aber, warum soll er es denn nicht nachtäglich in der vierten Dimension noch gelernt haben? Jedoch neige ich für mein Teil eher der ersteren Ansicht zu, also dass der Geist mit dem Munde seines Mediums sprach, denn er bediente sich ganz derselben Ausdrücke wie die Miss Peapudding, hatte ganz genau denselben amerikanischen Jargon, hervorgebracht mit derselben flötenden Fistelstimme.
Schließlich will ich hierbei auch gleich bemerken, dass mein seliger Freund ganz entsetzlich aus dem Halse nach Whisky roch — also dasselbe Phänomen einer geistigen Harmonie, dessen Ursache ich schon oben ausführlich erklärte —
Unser Gespräch entspann sich ungefähr in folgender Weise:
»Gottlieb Pumpmeyer, bist Du's denn nur wirklich?«, fragte ich und machte einen Schritt nach vorwärts.
»Ich bin's — ich bin's — ich bin's!«, hauchte der geisterbleiche Mund mich im echten, unverfälschten Grabestone an, nur dass es ungefähr war, als wenn er aus einem Whiskyfasse herauskäme, und Pumpmeyer schwebte gleichfalls einen Geisterschritt nach vorn.
»Na, wie geht's Dir denn, Du altes Bierhuhn?«
»Bin gestorben — bin gestorben — bin gestorben!«, erklang es dumpf wie aus einer hohlen Biertonne zurück. »Ja, das merke ich, dass Du tot bist. Aber wie geht's Dir denn sonst da oben?«
»So lala — so lala — so lala.«
»Na, da wollen wir doch erst einen zusammen schmettern!«, sagte ich nun wieder.
»Ja, aber ich trinke nur Irisch Whisky — ja, aber ich trinke nur Irisch Whisky — ja, aber ich trinke nur Irisch Whisky. Denn mein Medium kann nichts anderes vertragen — denn mein Medium kann nichts anderes vertragen — denn mein Medium kann nichts anderes vertragen.«
In dieser gewiss nicht irdischen Weise ward das Gespräch fortgesetzt.
Der aufmerksame Zuhörer dürfte vielleicht schon von ganz alleine gemerkt haben, dass der Geist alles dreimal sagte. Das ist nun einmal so im Geisterreiche, darauf hatte mich Miss Peapudding schon vorbereitet, wiederum ein durchschlagender Beweis, dass es unmöglich die Miss in eigener Gestalt gewesen sein kann, denn die wiederholte niemals etwas. Das heißt, es ist durchaus nicht nötig, dass ein Geist alles gerade dreimal sagen muss. So zitierte ich später einmal einen Bewohner aus der vierten Dimension, der musste alles zweiunddreißigmal wiederholen, eher hatte er keine Ruhe. Na aber das war eine schöne Geschichte, an diese Unterhaltung werde ich mein ganzes Leben lang zurückdenken! Es war ein Physiker gewesen, er hatte sich bei Lebzeiten mit seinen von ihm neuerfundenen Lichtstrahlen beschäftigt, die er sich hatte patentieren lassen, und nun gebrauchte er einmal das Wort »mikroskopisch-kaleidoskopisch-fotografische Spektralanalyse«, aber das musste er nun natürlich zweiunddreißig Mal hintereinander wiederholen. Als er etwa beim zwanzigsten Male angelangt war, sagte ich gutmütig: »Na, 's ist schon gut, ich hab's ja nun schon verstanden.« Da aber wurde er böse, jetzt müsste er wieder ganz von vorne anfangen, also nun noch einmal los, von Nummer eins an, und wie er beim dreißigsten Male angelangt ist, da verspricht sich der Kerl, also nun noch einmal von vorne los: »mikroskopisch-kaleidoskopisch-fotografische Spektralanalyse« — und wie der Geist endlich sein zweiunddreißigstes Mal richtig hergebetet hatte, da bekommt der Kerl plötzlich den Feixtanz — und ich habe mit einem Male Gehörshalluzination, ich höre immer etwas knallen, ich denke, der Geist schießt nach mir, — und ich auf ihn los und haue mit einem abgebrochenen Stuhlbeine auf ihn ein — und wie ich endlich wieder zu mir komme, sitze ich im Irrenhause, in, der Gummizelle — —
Doch das nur nebenbei, das gehört gar nicht hierher. So schlimm war es ja mit meinem alten seligen Freunde auch nicht, der wiederholte alles nur dreimal, und da ließ sich schon ganz gut eine Unterhaltung pflegen.
Das Gespräch kam in Fluss, wir unterhielten uns über dies und jenes, über Diesseits und Jenseits, über Politik und Sonnensysteme, bekannte und unbekannte. Pumpmeyer zeigte sich wenigstens etwas besser beschlagen als früher. In der höheren Sphäre (auf Deutsch Region) war er nun endlich zur Erkenntnis gekommen, dass sich die Erde um die Sonne drehe, was er bei Lebzeiten aufs hartnäckigste bestritten hatte.
Trotzdem darf man ja nicht glauben, dass man nach seinem Tode mit einem Male allwissend ist. I, gar keine Spur! Es will alles gelernt sein, auch dort drüben im anderen Leben.
In der Politik z. B. war Pumpmeyer selig sehr schlecht beschlagen, eigentlich im direkten Gegensatze zu früher. Und in der Geografie war er noch die Unschuld selbst. Die Türkei, meinte er, sei nichts weiter als eine Lotterie, denn daher doch der Name Türkenlose. Das war das Ganze, was er von der geografischen und politischen Lage der Türkei wusste.
Doch was gingen ihn jetzt auch solche irdischen Verhältnisse an!
Da ich ihn laut Kontrakt berühren durfte, so erfasste ich zunächst einmal seine Hand. Sie war kalt wie ein soeben dem Wasser entstiegener Frosch. Und als ich nun diese Hand noch so in der meinen hielt und zur Probe leise drückte — da sitzt mir mein Pumpmeyer mit einemmal auf meinem Schoße, und ehe ich's mir versehe, habe ich auch schon einen Kuss weg.
Na, was sollte ich denn mit dem närrischen Kauz machen, er hatte sich eben in der vierten Dimension als ätherischer Geist sehr geändert, und auch die Geister muss man nur nehmen, wie sie sind, und nicht, wie man sie an die Wand malt — also ich erwiderte den brüderlichen Kuss, und nun fing es an, er schien gar nicht wieder davon lassen zu können, er küsste und knutschte mich in einem fort und stöhnte und seufzte und säuselte, dass mir ganz übel davon wurde, zumal da der Geist aus Ursache der erwähnten materialisierten Seelenharmonie so fürchterlich nach Whisky roch.
Endlich sprach ich zufällig einmal das Wort »Irisch Whisky« aus, und das wirkte wie ein Zauber, augenblicklich entließ er mich aus seinen Umstrickungen und wandte sich mit überirdischem Schmunzeln dem Waschtische mit den Schnapsbullen zu.
Ich hatte doch nun wirklich Gelegenheit gehabt, mir meinen alten Freund anzusehen, ihn auch zu betasten, und je länger ich ihn von vorne und von hinten betrachtete und befühlte, desto mehr kam ich zur Überzeugung, dass ich noch einen Geist von altem Schrot und Korn vor mir hatte. Zum Beispiel von Fleisch gar keine Spur, also das, was man im gewöhnlichen Leben »ätherisch« nennt, und dann vor allen Dingen — geschlechtslos! Denn das wissen Sie doch, dass alle Geister geschlechtslos sind. Und davon habe ich mich auch damals überzeugt. Das war kein Mann, und das war auch keine Frau, das war ein —
Doch hierüber will ich mich lieber nicht weiter auslassen, denn ich beabsichtige ja, diese Erzählung herauszugeben, sogar gedruckt, und wenn Sie hiervon mehr wissen wollen, so müssen Sie mich einmal zu Hause besuchen, wenn gerade kein Uniformierter zugegen ist. Sela! (auf Deutsch Basta oder auch punktum) —
Wir kamen auf die Zustände im Geisterreiche zu sprechen, und da freilich entwickelte Pumpmeyer eine grundlose Tiefe von Kenntnissen, nicht allein in dem, was er ja aus Erfahrung wissen musste, sondern ich erkannte in ihm auch den Diplomaten, der sich in die gewagtesten Spekulationen einließ, und er war nicht etwa mit allen sozialen Zuständen im Geisterreich zufrieden, durchaus nicht — ja, ich glaube sogar, ich glaube: Er hatte für demnächst nichts anderes als einen Staatsstreich gegen die ganze vierte Dimension vor.
O, es waren für mich genussreiche Stunden!
Auch auf meine eigenen Verhältnisse ließ er sich ein, der gute Kerl, fragte, ob ich jetzt schon verheiratet sei, und nachdem ich hatte schwören müssen, noch Junggeselle zu sein, lenkte er das Gespräch geschickt auf die Zustände der seligen Junggesellen im Reiche der Geister.
Unverheirateter Mann, der Du dies hörest! Verhülle Dein Antlitz und weine, schlage Dir mit Deinen eigenen Fäusten die Augen ein und wimmere dazu, ziehe Deine Kleider aus und zerreiße sie, krieche in einen Sack und bestreue Dich vom Kopf bis zu den Füßen mit Ofenasche — oder heirate! Und das schnellstens!
Denn sonst geht's Dir noch einmal überaus schlecht! Einfach grässlich, zwerchfellsträubend war es, was mir Pumpmeyer von den schrecklichen Foltern erzählte, denen die seligen Junggesellen ausgesetzt sind.
Verdammt zu ewigen Qualen, müssen sie ununterbrochen abgesprungene Hosenknöpfe annähen und bekommen sie doch niemals fest, immer springen die Ludersch wieder ab, ewig reißt der Zwirn, ewig bricht die Nadel, ewig können sie's richtige Loch nicht finden, stechen daneben und sich in die Finger. In alle Ewigkeit wollen sie den Kragen umbinden und bekommen ihn niemals fest, weil das Loch zu klein ist und der Knopf zu kurz, und das müssen sie mit steifgefrorenen Fingern machen. Ewig müssen sie zerrissene Hosenträger mit Bindfaden flicken, ewig sich mit patentiertem Fleckwasser die Flecken aus dem Frack machen, und die Flecken werden doch nur immer größer und immer größer, ewig müssen sie weiße Glacéhandschuhe waschen, ewig sich den Kaffee auf der Spiritusmaschine kochen und sich dabei die Finger verbrennen, ewig Petroleum in die Lampe gießen und immer feste daneben sich auf die gute Hose —
Und daran gewöhnt man sich nicht etwa! Nein, o nein! So, wie der erste Schreck ist, wenn man die Bescherung sieht, so währt derselbe Schreck fort bis in alle Ewigkeit und noch länger!
Ich bin ein Mann von starker Konstitution, mit gesundem Appetit und dito Herzen, das sich stets gewünscht hat, einmal kennen zu lernen, was eigentlich Furcht ist. Aber, aber — bei dieser Schilderung, da lernte ich das Gruseln mit Gänsehaut!
Und das war noch nicht einmal alles! Das waren erst diejenigen Junggesellen, welche entweder keine Frau bekommen hatten oder nur sozusagen leichtsinniger Weise das Heiraten verpasst hatten.
Aber höre, Du, Mann mit dem engherzigen Herzen, der sich in frevelndem Übermute gerühmt hat, nie heiraten zu wollen — nicht zu wollen! Verstehst Du? — Weil das Heiraten Torheit sei, die Du verschworen hast, weil Du keine Kinder leiden mögest, oder gar, Du, der Du das Junggesellenleben als das freieste und sorgenloseste gepriesen hast — weißt Du, was Deiner in jenem Reiche der vierten Dimension wartet?
Verflucht bis in alle Ewigkeit, musst Du kleine Kinder aufpäppeln, musst sie einlullen, ihnen Milch kochen, ihnen den Lutscher zurecht machen, sie trocken legen, ihre Windeln waschen —
Da sank auch mir das sonst so furchtlose Herz in die Pantalons und ich selbst gleich vom Stuhle, und das will gewiss etwas heißen!
»Erbarmen — Gnade!«, wimmerte ich, meiner Sinne nicht mehr mächtig.
»Wehe — wehe — wehe!!«, rollte es da hohl wie der Donner in der gewitterschwangeren Wolke an mein Ohr. »Du musst heiraten — heiraten — heiraten!!«
Das heißt, um Irrtümer zu vermeiden, mein geistiger Freund wiederholte eben alles dreimal, nicht etwa, dass man, um diesem entsetzlichen Schicksale zu entgehen, nun gleich Dreie heiraten muss, so ist das nicht gemeint, eine genügt vollständig, um jener Gefahr zu entgehen, weil man dann eben schon auf Erden genug von der ganzen Geschichte bekommen hat.
»Ich kann nicht«, wimmerte ich wie ein zusammengeknicktes Häufchen Unglück, »o ja, ich will ja recht gern — aber wen denn gleich — nein, ich mag nicht — es geht nicht, ich war schon einmal beim Sultan Eunuch — nein, 's ist nicht wahr — meinetwegen —«
So mürbe war ich geworden, ich war einfach und halb wahnsinnig.
Pumpmeyer kam mir tröstend zu Hilfe, auf der Stelle brauchte ich ja auch nicht gleich zu ehelichen, aber freilich, so etwas solle man lieber nicht bis nach dem Tode hinausschieben — und wenn ich keine wüsste — da wäre doch gleich z. B. die Miss Euphrosine Peapudding —
Und Pumpmeyer begann, alle ihre körperlichen Reize und sonstigen Vorzüge aufzuzählen, vor allen Dingen aber betonte er ihre keusche Jungfräulichkeit und ihre anderen geistigen Tugenden, ihre Kochkunst und ihren staatlich approbierten Krankenpflegerinnenkursus — — tut mir einmal ein Zahn weh — rupp, ist er raus! — Habe ich ein Hühnerauge — ruppt sie mir auch raus — und so konnte Pumpmeyer gar nicht genug des Lobenswerten von der Miss Peapudding erzählen.
Übrigens, das findet man meistenteils, dass die Geister für ihre Medien sehr eingenommen sind, sie sozusagen lieben, und da sie mit ihnen doch auch ein Geist und ein Leib sind, so ist das doch eigentlich ganz selbstverständlich.
Aber gerade hierin suchte ich meine Ausflucht — nee, is nich, gibt's nich — da wäre ich viel zu eifersüchtig, und wenn ich nun einmal heiratete, dann wollte ich auch eine Frau für mich alleine haben und sie nicht mit den sämtlichen Bewohnern des ganzen Geisterreiches teilen, dass da jeder Lumich kommen könnte.
Vergebens! Je mehr ich mich mit Händen und sämtlichen Füßen wehrte, desto mehr drängte Pumpmeyer, und jetzt forderte er gar noch, dass die Verlobung mit seinem Medium gleich noch heute Abend gefeiert würde, sobald sie aus ihrem Trancezustand erwachte.
»Nee, nee«, jammerte ich, für meine Freiheit wie eine angeschossene Löwin für die geistige Freiheit ihrer Jungen kämpfend, »nur jetzt nicht — nicht heute Nacht — das muss ich mir erst noch einmal ganz alleine beschlafen —«
»Na, warum denn nicht gleich heute Nacht, was hast Du denn an Miss Peapudding eigentlich auszusetzen?«, fragte mich Pumpmeyer im pikiertesten Grabestone.
Ich zog es vor, meinem Freunde gegenüber einmal ganz offen zu sein, bei Lebzeiten war er doch ein ganz gediegener Junge gewesen, der auch etwas vom Ewigweiblichen verstand, und das Medium lag in der Dunkelkammer im tiefsten Schlafe, und so flüsterte ich denn meinem Freunde in sein verklärtes Ohr:
»Sie hat mir zu viel Knochen — gar kein Fleisch — viel zu viel Knochen — das liebe ich nicht.«
Da — dem Himmel sei Dank! — da gab er plötzlich sein Drängen auf, das sah er ein, er war eben noch der Alte, und ich hörte ihn sogar betrübt murmeln:
»Er hat recht — viel zu viel Knochen!«
Dann allerdings sah ich auch einige ätherische Zähren über seine eingefallenen Geisterbacken rinnen — — er mochte an mein Schicksal denken, mich schon Hosenknöpfe anflicken und kleine Kinder trocken legen sehen —
Im Übrigen, meine Herren, ich habe jene Junggesellenqualen in der vierten Dimension nicht mehr zu fürchten. Während meines Aufenthaltes in Westafrika wurden mir vom König der Dohomeys wegen einer besonderen Waffenleistung 500 (geschrieben fünfhundert) Frauen auf einmal gleichzeitig am Altar angetraut, bei welchem Hochzeitsfeste nicht weniger als 2000 gemästete Menschen verspeist wurden, drei Jahre lang war ich dort glücklicher Familienvater, zuletzt umringt von eintausendeinhundertsechsundvierzig blühenden Kindern, und glaube ich daher, meiner Ehepflicht auf dieser Erde vollkommen genügt zu haben —
Jetzt sprang der materialisierte Geist von Pumpmeyer auf ein anderes Thema über, nämlich auf seine vielen Schulden, die er beim Tode auf Erden hinterlassen hatte. Die ließen ihm jetzt in der vierten Dimension keine Ruhe. Natürlich erbot ich mich sofort, für ihn sämtliche zu bezahlen, allein damit war Pumpmeyer nicht gedient, er wolle es selber tun, müsse es sogar selbst tun — und dann die Freude, wenn er den armen Witwen mit den vielen kleinen Würmchen heimlich das einst abgeborgte Geld unter das Kopfkissen stecke, wenn sie dann aufwachten und es fanden — ach nee, diese Freude! Und das wirke auch seelisch läuternd, da glaubten sie dann eher an gute Geister, kehrten zum kindlich-einfältigen Glauben zurück, usw., usw., seine lange Quasselei, immer dreifach wiederholt, war ja gar nicht nötig gewesen, ich gab ihm natürlich alles, was er forderte, das heißt ratenweise, denn ihm fielen immer wieder neue Schulden ein, er hatte in der vierten Dimension ein ganz vorzügliches Erinnerungsvermögen bekommen, bis ich in der Tasche keinen roten Cent mehr hatte. Es waren etwa siebenhundert Dollar gewesen — doch das hatte ja damals für mich nichts zu sagen.
»Hast Du denn nur wirklich nichts mehr, mein liebster, bester Littlelu?«, fragte er wohl hundertmal mit weinerlicher Fistelstimme, und als ich ebenso oft verneinte, war er sehr niedergeschlagen. Ich vertröstete ihn auf morgen.
Eigentlich hatte ich sozusagen gelogen, denn meine Geldtasche auf der Brust barg noch fünf Tausenddollarnoten. Aber was sollte Pumpmeyer mit solch einem Scheine anfangen? Wechseln konnte er ihn doch nicht.
Es ging an ein vorläufiges Abschiednehmen. In der vierten Dimension muss das Küssen und Abknutschen recht Mode sein, denn Pumpmeyer wollte mich gar nicht wieder loslassen; wie eine Schlange sich um einen starken Eichbaum windet, so schlang er seine dürren Glieder um die meinen, immer enger und enger, immer wieder drückte er seine froschkalten Geisterlippen auf meinen Mund, seufzte, stöhnte und piepste, gerade wie sozusagen eine Braut im letzten Augenblick vor dem Hochzeitstage, bis er endlich hinter den Unterröcken des Dunkelkabinetts verduftete.
Meiner Instruktion nach sollte ich nun zehn Minuten warten, dann konnte ich Licht anstecken und die Dunkelkammer betreten, die Fesseln des Mediums untersuchen. — Es kam gar nicht so weit.
Kaum war die weißschimmernde Gestalt des Geistes hinter dem Vorhang verschwunden, als da hinter den Unterröcken ein mordsmäßiges Schreien und Heulen und Brüllen losging, und zwar konnte es nur die Stimme der Miss Peapudding sein, sie war von dem Geiste aus ihrem Schlafe geweckt worden, und wenn ich alles vertragen kann, nur nicht, wenn ein Weibsbild auf derartig geradezu übernatürliche Weise quiekt und schreit, mir standen wahrhaftig sämtliche Haare zu Berge, und als eine wahre Erleichterung empfand ich es, als da auch schon aus der anderen Tür ein schlumpiges Frauenzimmer mit einer Lampe hereingestürzt kam. Angenehm war die Begrüßung freilich auch nicht.
»Unglückseliger, was machen Sie!«, fing die gleich an zu schreien, die Hand gegen mich ausstreckend. »Fort — um Gottes willen, machen Sie, dass Sie hinauskommen — sie liegt ja schon in Krämpfen — oder wollen Sie Miss Peapudding auch noch ganz und gar töten?!«
Nee, nee, nur das nicht — nur keine Frau in Krämpfen sehen müssen — dann doch noch lieber sie schreien hören — also mich herumgedreht — — die schlumpige Person setzte mir auch noch die Hand auf den Rücken und schob von hinten — — unterwegs stülpte sie mir den Hut über den Kopf — die Treppe mehr hinabgekugelt denn gegangen — die Haustüre aufgerissen und wieder zugeschmettert — —
Aaaaah! Oooooh! Uffff!
Die kühle Nachtluft umspülte mich.
Dass ich Miss Peapudding nicht mehr gesehen und ihre Fesseln untersucht hatte, das war für mich bedeutungslos. Die Knoten, die Mister Littlelu schürzt, die sitzen wie Kitt und Kleister — und außerdem hatte ich doch auch den dunklen Klumpen auf dem Stuhle liegen sehen.
Es war also eine Tatsache! Es war also doch kein leerer Wahnsinn! Ich hatte im Reiche der Geister geweilt! Ich hörte sozusagen Pumpmeyers ätherische Fittiche um mich rauschen. Ich — ooooh, was soll ich sagen. In meinem Leben hatte sich eine neue, ideale Perspektive eröffnet, ich fühlte mich wie neugeboren, wie ein Embryo.
In solch feierlich gehobener Stimmung schritt ich meiner Wohnung zu. Zu Hause angekommen, will ich mich, von der furchtbaren geistigen Überanstrengung doch etwas lädiert, gleich zu Bett legen. Wie gewöhnlich will ich meine Uhr aufziehen, eine goldene Remontoir-Uhr, ein Geschenk des Sultans von Marokko, sie ging auf dreihundertundachtundachtzig Diamanten, schlug Viertelstunden und spielte dabei jedes Mal den Priesterchor aus der Zauberflöte mit voller Pauken- und Posaunenbegleitung.
Aber wie wird mir da, wie ich diese Uhr aufziehen will und überhaupt gar keine Uhr mehr habe, die ich aufziehen kann! Die schwere Kette ist natürlich gleichfalls futsch! Instinktiv greife ich in die rechte Westentasche nach meinem goldenen Bleistift mit Kolibrigezwitscher — er ist futsch! Misstrauisch fühle ich nach meiner Diamantenschlipsnadel — futsch. Jetzt taste ich auch nach meiner geheimen Brusttasche mit den fünf Tausenddollar-Noten — — und da fange ich auch gleich zu singen an: Ei Du lieber Aujustin, Aujustin, Aujustin.
Alles ist futsch, absolut total futsch!
Ja, meine Herren, nun glauben Sie wohl, ich stand da wie der Ochse am Berge mit einem Schafsgesicht? Nein, meine Herren, mit solch einer Physiognomie (auf Deutsch einfach Visage) steht Herr Littlelu überhaupt niemals da, auch nicht hinter einem Berge.
Vielmehr brach ich in ein schallendes, herzliches Gelächter aus, ich lachte, dass mir die Tränen aus den Augen rannen.
Hatte der verfluchte Kerl von Pumpmeyer, während er mich zuletzt noch einmal so abküsste und abknutschte, meine Taschen visitiert und auch alles mit hinüber in die vierte Dimension genommen, was nur mitzunehmen war, ganz nach seinen alten Gewohnheiten, also selbst seine Kleptomanie hatte er mit ins Reich der unsterblichen Geister hinübergenommen!
Nein, meine Herren, ganz im Gegenteil — gerührt war ich, jubeln, himmelhoch jauchzen tat ich! Denn hiermit war mir der definitive Beweis erbracht, dass der Mensch auch nach seinem Tode seine ursprünglichen Gewohnheiten, Tugenden und Laster beibehält, und so werde also auch ich dereinst im Geisterreich alle meine ritterlichen Eigenschaften, meine Geisteskraft — doch ich will mich natürlich nicht selbst rühmen — kurz, auch als Geist werde ich derselbe sein, der ich jetzt bin, und das für alle Ewigkeit. O, das wirkt beruhigend, erhebend, göttlich! —
Vorläufig ließ ich die Sache auf sich beruhen. An der Uhr und dem Übrigen und vor allen Dingen an den lumpigen paar tausend Dollars war mir wenig gelegen. Welche Kenntnis war mir dafür nicht zuteil geworden!
Doch am anderen Morgen ging ich natürlich noch einmal zu Miss Peapudding, ich musste doch um meine Rechnung bitten, dann hatte ich auch noch den bewussten Schlüssel in der rechten Hosentasche, und schließlich wollte ich meinen alten Freund doch noch einmal vornehmen. Was brauchte der in der vierten Dimension eine goldene Uhr mit Pauken- und Trompetengeschmetter, und musste er durchaus eine haben, so konnte er eine andere bekommen, aber die hier war gerade ein teures Angedenken.
Eine halbe Stunde lang riss ich an der Klingel, niemand kam, bis mir eine Nachbarin sagte, Miss Euphrosine Peapudding habe nebst Dienerschaft und Koffern noch in dieser Nacht das Haus verlassen, wohin, das wusste kein Mensch.
Also verreist. Schade. Ein dummer Zufall.
Schon wollte ich mich an ein anderes Medium wenden, als ich ein Telegramm erhielt, welches mich sofort nach Brasilien rief. Dort war Revolution ausgebrochen, meine Diplomatie wie mein Schwert wurden gebraucht, ich folgte dem Hilfeschrei natürlich sofort.
Ein Jahr dauerte es, bis ich die blutigen Verwicklungen dort unten mit der Schärfe meines Schwertes gelöst und auf Brasiliens Thron wieder einen Kaiser gesetzt hatte, und in dieser Zeit hatte ich natürlich nicht an ein in der Luft schwebendes Geisterreich denken können.
Jetzt aber dachte ich wieder an meinen seligen Pumpmeyer. Ich wandte mich an verschiedene Medien, ich sah noch Geister die schwere Menge, was mich auch schweres Geld kostete, nur nicht mehr meinen lieben Pumpmeyer mit meiner Uhr und Kette und Bleistift und Busennadel. Auch die Adresse der Miss Peapudding konnte ich nicht erfahren, sonst hätte ich meinen lieben Freund schon wieder gefasst, daran zweifelte ich nicht.
Oder auch nicht! Dann fand ich nämlich ein berühmtes Medium, das sich in den allerhöchsten Trancezustand versetzen konnte, und dieses erklärte mir, dass mein Freund schon längst avanciert sei, sich jetzt in der fünften Dimension befände, und von dort aus gibt es keine Verbindung mehr mit der schnöden Erde.
Na, ich gönnte ihm die Beförderung von ganzem Herzen, und so hatte er doch wenigstens gleich etwas in Händen gehabt, um in der fünften Dimension standesgemäß auftreten zu können —
Sehen Sie, meine Herren, so wurde ich Spiritist und bin's noch heute.
Ja, schenken Sie mir noch einmal Kaffee ein.
Noch hörte ich das Lachen der Herren, als der Vorhang vor dem Fenster wieder zugezogen wurde, von der Hand Atalantas, die wieder neben mir stand, und auf dem anderen Arme hatte sie ein reizendes Baby, dem man gleich das halbindianische Blut ansah, wie ja auch meines beschaffen war, auch trug es so ein Kleidchen aus weichgegerbtem Leder, bunt bestickt und bemalt, wie es diese indianischen Mütter nun einmal liebten.
»Also das ist Ihr Jüngstes?«, fragte ich.
»Meines?!«, wiederholte sie ganz erstaunt.
Und dann brach sie in ein helles Lachen aus.
»Na, so ein Vater! Erkennt der nicht einmal sein eigenes Kind! Das ist doch Ihres!«
»Ach sooo!«, konnte ich nur machen. »Aber erlauben Sie mal, dass ich mich etwas wundere, mein Kind hier auf der höchsten Spitze des Himalajagebirges plötzlich auf Ihrem Arme zu sehen, obgleich ich mir ja bewusst bin, dass dies alles nur ein Traum ist.«
»Nur ein Traum? Büßte die Gesellschaft, die Sie soeben sahen, büßte die Erzählung, der Sie eine Stunde lang lauschten, irgend etwas an Wirklichkeit ein?«
»Na lassen wir das. Littlelus Erzählung war wieder einmal so verrückt wie der ganze Kerl immer selber ist, wie ich niemals auch nur eine Minute sein möchte, auch nicht im Traume. Also jetzt gaukeln Sie mir hier mein Kind vor.«
»Bitte, nehmen Sie es, ob das Gaukelei ist.«
»Nee, nee«, wehrte ich lachend ab, als sie mir das Kind hinhielt, »lieber nich, es könnte mich vollgaukeln, wie es schon mehrmals in Wirklichkeit getan hat, und das ist mir im Traume genau so unangenehm wie im wachen Zustande. Wo haben Sie denn das Kind hergenommen, wenn man da so fragen darf? Ich meine nämlich: An welchen Baumast hatte es denn Libelle, wie sie es mit Vorliebe tut, gerade wieder gehangen?«
»Libelle befand sich gerade auf dem Wege zu Ihnen, nach Ihrem Zimmer, auf dem Korridore, hatte das Kind auf dem Arme, als ich es ihr abnahm.«
»Und das hat sie wohl gar nicht gemerkt?«
»Nein, Wie soll sie es merken?«
»Na, das ist ja eine schöne Mutter, die nicht einmal merkt, wenn man ihr das Kind vom Arm nimmt!«, lachte ich.
»Es ist nur der Astralkörper des Kindes, den ich genommen habe, den irdischen Leib hat sie mit vollem Leben noch auf ihrem Arme.«
Ich dachte absolut nicht weiter über diese »Erklärung« nach, sie war mir eben ganz unverständlich, obgleich ich mit Interesse mein eigenes Kind betrachtete.
Ja, nun, da es mir gesagt worden war, erkannte ich es auch als mein eigenes Kind — aber wenn mir Atalanta gesagt hätte, es wäre das ihre, hätte ich es ebenfalls geglaubt, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und der Mutter gefunden — oder auf Wunsch auch mit dem Vater.
Marianne — sie war nach meiner Mutter benannt worden — blickte mich auch nicht gerade wie ihren Papa an, vielmehr sehr misstrauisch. Plötzlich aber begannen die dunkelblauen Augen zu strahlen, sie jauchzte auf und streckte die Händchen aus.
Eine rote Lotosblume, die auf besonders hohem Stängel aus dem Wasser ragte, neben dem wir ziemlich dicht standen, hatte ihr Entzücken erregt.
Altalanta bemerkte es ebenfalls, ging hin, brach die Blume ab und gab sie dem Kinde, das noch einmal einen Jauchzer ausstieß, so hell und jubelnd, wie ich es noch nie bei meiner Tochter gehört hatte. Für gewöhnlich war es ein rechter Schreihals.
»So, nun gebe ich das Kind der Mutter zurück!«, erklang es dann wie feierlich aus Atalantas Munde.
Sie nahm es in beide Hände, streckte die Arme aus, und sehr schnell, aber doch nach und nach, sah ich das Kind in ein Nichts zerfließen.
»Sehr hübsch gemacht, diese Gaukelei«, sagte ich ohne jedes Staunen, »nur schade, dass dies alles nur ein Traum ist.«
»Sind Sie davon wirklich überzeugt?«
»Voll und ganz. Muss ich das immer wiederholen?«
»So wollen wir den Rückweg antreten.«
»Schon? Kann ich denn nicht, da ich nun einmal hier bin, auch den Grafen sehen?«
»Leider nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Das — kann ich Ihnen nicht erklären. Sie würden mich gar nicht verstehen, denn —«
»Nein, nein, geben Sie sich keine Mühe, ich verzichte darauf, in diese Traumgeheimnisse einzudringen. Bringen Sie mich nur recht schnell in die Wirklichkeit zurück.
»Wenn Sie nun jetzt erwachen, wo werden Sie dann sein?«
»Natürlich wieder in dem Boote, in der Nähe der Kanoneninsel, wo Sie mich veranlassten, die Augen für einen Moment zu schließen.«
»Und das alles haben Sie in diesem einzigen Moment geträumt?«
»Sicher.«
»Und wenn Ihnen Littlelu nun berichtet, dass er zu seiner Erzählung, die er wirklich gehalten, eine ganze Stunde gebraucht hat?«
Nur einen Augenblick stutzte ich.
»Darüber werde ich mir sehr wenig Kopfschmerzen machen. Was ich mir nicht erklären kann, darüber grübele ich auch nicht weiter nach. Da müssen Sie mich doch kennen.«
»Ja, darin kenne ich Sie, sonst würde ich Ihnen auch so etwas gar nicht vormachen, worüber ein anderer Mensch den Verstand verlieren oder doch tiefsinnig werden könnte.«
»Haben Sie bei mir nicht zu fürchten.«
»Das weiß ich eben!«, lachte sie wieder. »Also werden Sie auch nicht außer sich geraten, wenn Sie anderswo erwachen als in dem Boote neben der Kanoneninsel.«
»Mir ganz gleichgültig, wo. Nur nicht in einer unangenehmen Situation, das muss ich mir ausbitten, sonst müssten Frau Gräfin erfahren, dass ich auch einmal sehr eklig werden kann, sogar im Traume.«
»Bitte, wollen Sie die Augen schließen.«
Ich tat es, konnte sie gleich wieder öffnen — und ich befand mich plötzlich wieder in dem kleinen Bibliothekszimmer, in dem meine Siesta durch den Besuch der Gräfin unterbrochen worden war.
Das hätte ich ja nun allerdings nicht erwartet, ich hatte doch unbedingt an das Boot gedacht — da es aber nun einmal so war, fügte ich mich auch ganz geduldig in die unvermeidliche Sachlage.
Auch die Gräfin war wieder bei mir — jetzt aber schon wieder in ihrem schwarzen Kostüm, auf dem Kopfe den Hut, den Schleier zurückgeschlagen.
»Sie haben sich ja höllisch fix wieder angezogen!«, sagte ich, nichts weiter.
»Weil ich jetzt Abschied nehmen muss.«
»Schon?«
»Sie werden mich wiedersehen, auch meinen Gatten.«
»Ah! Wann?«
»Wenn sich die Zeit dazu erfüllt hat.«
»Und wann ist das?«
»Bitte, fragen Sie nicht weiter darüber. Haben Sie nun schon den Beweis dafür bekommen, dass es so etwas wie Raum und Zeit gar nicht gibt?«
»Nee, ganz und gar nicht.«
»Bitte, geben Sie mir einen Bogen Papier.«
Sie trat mit an den Schreibtisch, auf den ich einen Briefbogen legte. Dann ließ sie mich etwas zurücktreten, während sie den linken Ärmel bis zum Ellenbogen zurückschob und aus dem Hut eine lange Nadel zog.
»Nun passen Sie auf. Noch ein kleines Experiment. Sie mögen es für eine Gaukelei halten. Ich steche mich hier etwas in den Arm, halte die gestochene Stelle über das Papier — nun kommandieren Sie, wie viele Blutstropfen daraus heraussickern sollen, und sie werden auf Ihr Kommando fallen. Aber bitte nicht mehr als sieben Tropfen.«
Sie hielt den angestochenen linken Arm über das Papier.
Dieses Experiment war mir nicht neu, ich hatte es schon einmal von einem Fakir gesehen — nicht in Indien, sondern auf dem Hamburger Dom, dem Hamburger Jahrmarkt. Der braune Kerl stach sich in den Arm und ließ die Blutstropfen fallen, wie die Zuschauer kommandierten, und dann war von einer Wunde absolut nichts zu sehen — — und ich hatte mir damals darüber absolut nicht den Kopf zerbrochen, wie so etwas möglich sein könne.
Ehe ich kommandierte, blickte ich unabsichtlich nach der Wanduhr. Sie zeigte dreiviertel fünf.
Als ich im Boote nach meiner Taschenuhr gesehen hatte, die mit dieser genau übereinstimmte, war es 20 Minuten nach vier gewesen, und so stimmte dieser Zeitunterschied ja gar nicht, zumal wenn Littlelus Erzählung eine ganze Stunde gewährt haben sollte — aber an alles das dachte ich jetzt gar nicht.
»Zwei Tropfen!«, sagte ich, wieder nach dem ausgestreckten Arm der Gräfin blickend.
Zwei rote Tropfen fielen von ihrem Arm herab, ich sah sie auf dem Papiere liegen, wenn auch undeutlich, da ich dazu zu entfernt stand, die Beleuchtung auch nicht günstig war.
»Nun zählen Sie einzeln, aber nicht mehr als fünf.«
»Eins — zwei — drei —«
Bei jeder Zahl war ein Blutstropfen auf das Papier gefallen.
»Nicht mehr?«
»Nein. Sie sollen sich meinetwegen nicht verbluten.«
»Sie können noch zwei Blutstropfen fordern.«
»Die schenke ich Ihnen, behalten Sie diese als ewiges Andenken von mir in Ihren Adern.«
»So gebe ich diese zwei Tropfen selbst hinzu!«, lächelte sie.
Auch diese zwei roten Tropfen fielen noch auf das Papier.
»So, das wäre geschehen. Nun noch eine Widmung darunter.«
Sie nahm einen Bleistift, schrieb etwas, legte den Bleistift wieder hin.
War dies schon sehr schnell geschehen, so vollzog sich viel schneller das Folgende, was ich überhaupt gar nicht zu schildern vermag.
Jetzt blickte sie wieder nach mir und streckte den Arm aus.
»Nun leben Sie wohl, mein lieber Kapitän, wir sehen uns wieder —«
Sie machte mit der Hand eine winkende Bewegung, plötzlich sah ich ihre Gestalt zerfließen, aber ehe ich mir irgendwie darüber Rechenschaft abgeben konnte, war es mir nicht anders, als ob ich plötzlich das Bewusstsein verlöre.
Doch wohl nur einen einzigen Moment, dann fühlte ich mich plötzlich wieder auf dem Sofa liegen, hatte zwischen den Fingern eine qualmende Havanna mit goldener Bauchbinde, die weiße Asche sehr lang, und aufmerksam betrachtete ich ein schwarzes Pünktchen an dem braunen Deckblatte, darauf wartend, wann der rotglühende Ring dieses Pünktchen erreicht haben würde.
Darauf wartend?
Hallo, was war denn das?!
Mein nächster Blick galt der Wanduhr.
Genau acht Minuten nach drei!
Jetzt ging mir eine Ahnung auf — aber wie mir dabei zumute war, mir, der ich sonst alles so gleichmütig auffasste, das kann ich unmöglich schildern.
Also überhaupt alles, alles nur geträumt, in dem einzigen Augenblicke, da der große Zeiger der elektrischen Uhr von der sieben auf die acht geschnellt war!
Mein nächstes war, dass ich mich aufrichtete, wobei die Asche von der Zigarre fiel — und in diesem Augenblicke ging die Tür auf.
Libelle war es, die eilig eintrat, das Kind auf dem Arme.
»Denke Dir nur, Charly — wie ist das nur zu erklären — wie ich jetzt durch den dunklen Korridor gehe, da jauchzt unsere Marianne so hell und so merkwürdig auf, wie ich es noch nie gehört habe — oder wohl zweimal hat sie so gejauchzt — und wie ich wieder ans Licht komme, da hat das Kind plötzlich eine rote Blume in der Hand, wie hier im ganzen Tale keine wächst — ja, Charly, und was machst denn Du für Augen?«
Ja, da soll man wohl keine großen Augen machen!
Hat das Kind eine indische rote Lotosblume — es gibt auch blaue — im Händchen, und hier gab es keine solche Lotosblumen!
Ich bin immer noch dabei, mich ganz langsam vom Sofa zu erheben — da springe ich plötzlich auf und nach dem Schreibtisch hin.
Denn auf diesem sehe ich ein Blatt Papier liegen, welches vorhin, wie ich ganz bestimmt wusste, noch nicht dort gelegen hatte.
Und da sehe ich auf dem weißen Briefbogen sieben rote Tropfen, die sich zu einer Blume ordnen, noch feucht glänzend und darunter mit Bleistift mit einer mir wohlbekannten Handschrift geschrieben:
Willst du in meinem Himmel mit mir leben —
So oft du kommst, er soll dir offen sein.
Weiter will ich darüber nichts berichten, keinen Versuch einer Erklärung machen. Für so etwas kann es keine Erklärung geben, die wir mit unserer menschlichen Vernunft erfassen.
Nur an das Wort Ferdinand Lasalles möchte ich hierbei erinnern: »Die Geschichte des sogenannten gesunden Menschenverstandes ist die Geschichte seiner Blamagen.«
Dass ich später konstatierte, wie Littlelu seine Erzählung den Ingenieuren auf einer Arche am Kaffeetisch wirklich vorgetragen hatte, und zwar zwischen zwei und drei Uhr, das macht den ganzen Fall ja nur noch rätselhafter.
Also lieber Schluss mit dieser Sache.
Während Kapitän Hagen bemüht war, das Boot vom Schiff zu halten,
sprangen die sieben Matrosen von der Bordwand herab ins Boot hinein.
Wir überspringen wiederum ein ganzes Jahr und lassen nun zum Schluss noch einmal einen anderen Mann persönlich erzählen, Paul Holland, Kapitän eines Bremer Seglers, eines dreimastigen Vollschiffes:
Am 12. November lichtete ich nach Order der Reederei in Bremerhaven die Anker, um mit Stückgut nach New York zu gehen.
Von Anfang an war es die ungünstigste Fahrt, die ich je gemacht habe. Auf der Höhe von Yarmouth setzte starker Westwind ein, bis nach Dover konnte ich noch kreuzen, dann war alle Segelkunst vergebens, und da aller menschlichen Berechnung nach dieser Westwind noch lange Zeit anhalten würde, zog ich es vor, um Schottland und die Orkney-Inseln zu fahren, um den Atlantik zu gewinnen.
Erreichen tat ich ihn wohl, aber weiter kamen wir nicht. Sechs Wochen lang sind wir ununterbrochen zwischen Grönland und Spanien hin und her gekreuzt, und wenn ich die tägliche Mittagsbestimmung machte, so waren wir kaum eine Meile weiter nach Westen gekommen.
In der Silvesternacht erblickten wir wieder einmal die eisige Küste Grönlands. Das neue Jahr ließ sich gut an. Gegen Abend war der Weststurm, der in letzter Zeit ununterbrochen geherrscht hatte, schnell abgeflaut, und als die Schiffsglocke das neue Jahr einglaste, war gänzliche Windstille. Auch sonst eine herrliche Nacht, erhellt durch ein prachtvolles Nordlicht, in der Ferne mächtige Eisberge, flimmernd in allen Farben des Regenbogens, dazwischen eine Schule spielender Walfische, ihre Wassersäulen aufblasend.
So leid mir meine braven Jungen taten, konnte ich sie kein Silvester feiern lassen. Nur ein einziges Glas Grog gab es für jeden, dann durfte sich die Freiwache nicht einmal zur Koje legen, alles wieder heran zur Arbeit, obgleich sie ihre Finger schon nicht mehr gerade machen konnten. Aber diese Windstille musste zur notwendigsten Reparatur in der Takelage benutzt werden, um dann, da jetzt doch sicher der Wind umsprang, jeden Leinwandlappen setzen zu können.
Ja, der Wind sollte denn auch umspringen, Aber noch ganz anders, als wir gehofft hatten. Eine halbe Stunde nach Mitternacht kam ein furchtbarer Stoß aus Norden. Windstille, und dann plötzlich wieder ein noch heftigerer Stoß aus Süden. Und so ging es fort und fort, aus allen Himmelsrichtungen. Böen!
Ich mache es kurz. Nachts gegen zwei knickte eine Wirbelböe, von deren Furchtbarkeit man sich keine Vorstellung machen kann, gleichzeitig alle drei Masten glatt ab. Ehe wir das Tauwerk des Kreuzmastes kappen konnten, hatte er uns leck gerammt.
»An die Pumpen!!«
Zwei Tage und zwei Nächte haben wir die Kurbeln gedreht, immer mehr unter als über Wasser stehend, von oben bis unten mit Eiszapfen behangen, Wäre ruhige See gewesen, so hätten wir beobachten können, wie wir alle Stunden um einige Millimeter sanken. Bei dieser tobenden See war der Unterschied nur von Tag zu Tag zu bemerken. Es floss eben mehr Wasser in den Schiffsleib, als wir herauspumpen konnten, und das ging schneller und schneller.
Unsere Lage war hoffnungslos. An ein Verstopfen des Lecks war so wenig zu denken wie an ein Aussetzen der Boote. In diese nördliche Gegend konnte sich nur ein Segler verirren, der uns aber nicht zu helfen vermochte. Wohl trieb uns der jetzt eingesprungene Nordwind, auch wieder gleich zum Sturm ausartend, immer mehr den Dampferlinien zu, aber ehe wir die erreicht hatten, vergingen noch viele Tage, da lagen wir schon längst auf dem Meeresgrunde, und bei dieser See konnte auch kein Dampfer, kein Kriegsschiff mir der geschultesten Mannschaft ein Boot aussetzen. Solch ein Rettungsboot muss erst noch erfunden werden. Das sieht in Wirklichkeit alles ganz anders aus, als man es in gewissen Büchern liest.
Am dritten Tage sichteten wir einen großen Dampfer mit englischer Flagge, einen Passagierdampfer. Er hatte vorher Schraubenbruch gehabt, war so weit nach Norden getrieben worden.
Er konnte uns nicht helfen, das wussten wir sofort. Aber, ach, da muss man selbst Seemann sein, um das sofort wissen zu können.
Den ganzen Tag und die ganze Nacht blieb er bei uns, umfuhr uns in weiten Bogen, auf einen Regenguss wartend, der die furchtbare See niederschlug. Der Regenguss kam nicht, und die Dutzend Fässer Petroleum übten absolut keine Wirkung aus.
Am anderen Morgen winkten sie uns Abschied, Kapitän und Mannschaft und gegen 500 Passagiere.
»Gott befohlen, wir können Euch nicht helfen, und — wir müssen weiter.«
Ja, natürlich konnten sie hier nicht unseren Untergang beobachten.
Ein amerikanischer Millionär oder Milliardär hätte Hunderttausende geboten, wenn man uns retten würde.
Sehr edel, aber —
Das wäre alles nicht nötig gewesen, diese Teerjacken hätten auch ohne einen roten Cent Belohnung hundertmal ihr Leben daran gesetzt, wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, nur ein Boot auszusetzen.
Und auf diesem Dampfer waren doch auch Passagiere, die durchaus nach New York wollten, vielleicht eine Mutter, die dort noch einmal ihr sterbendes Kind sehen wollte, und der Dampfer war so wie so schon fünf Tage überfällig.
Ach, das sind Episoden aus dem Seemannsleben, über die man eigentlich gar nicht sprechen dürfte.
Jedenfalls sahen wir den Dampfer ohne Vorwurf in der Ferne verschwinden. Wohl die bitterste Enttäuschung, aber keinen einzigen Vorwurf für Kapitän und Mannschaft.
Wieder brach die frühe Polarnacht an, eisiger denn je.
»Morgen wird's alle mit uns!«, raunten sich die Matrosen an der Pumpe zu. Morgen erst? Ach, Tod, erlöse uns doch früher von dieser schrecklichen Pein!
Um acht löste die Backbordwache zum Pumpen ab. Die Eiszapfen waren in der nassen Koje nicht ganz abgetaut, schwer nur ließen sich die steifen Finger um die Kurbelgriffe legen, und dann brachen die tiefen Risse in den Gelenken stets wieder auf und bluteten von Neuem.
»Enn Füer!!«, schrie da ein Matrose.
Ja, im Süden wieder die Toplaterne eines Dampfers, in weiter, weiter Ferne. Es gehörte das erfahrene Auge eines Seemanns dazu, um das gelbe Licht von einem Sterne zu unterscheiden, der bei tiefem Stand ab und zu unter dem Horizont verschwindet.
Viel Hoffnung hatten wir ja nicht, gar keine, aber natürlich musste gemacht werden, was irgend möglich war.
Die durchnässten Raketen funktionierten nicht mehr, so wurden Blaselichter geschwungen, Wergfackeln, mit Petroleum getränkt. »Höchste Seenot!«
Aber ob die unsere Notzeichen auch sahen? Schwerlich. Die Toplaterne ist doch ganz oben am Mast angebracht, wir konnten unsere Fackeln nur wenig über Deck erheben, auch ein Werfen hatte da wenig Zweck, und keine Rakete wollte sich abfeuern lassen, obgleich ich neuen Pulversatz machte.
Das gelbe Sternchen verschwand.
»Nicht gesehen worden!«
Doch da tauchte es wieder auf.
Verschwand, zeigte sich wieder.
Wir ließen nicht nach, die Blasefackeln zu schwingen. Es war ja die letzte Hoffnung, der letzte Strohhalm, an den wir uns klammerten. Unterdessen war nämlich immer Windstille gewesen, die See hatte sich doch ganz bedeutend beruhigt, jetzt wäre es doch vielleicht möglich gewesen, ein Boot auszusetzen.
Und da — da — da stieg dort am Horizonte ein feiner, gelber Strahl zum Himmel empor, eine Rakete, und dann plötzlich ein hellweißes Magnesiumlicht, eine platzende Leuchtkugel.
Ach, was solch eine Leuchtkugel in finsterer Nacht dem Schiffer alles erzählen kann!
Wir schwangen nur noch ab und zu die Fackeln, und jedes Mal antwortete uns eine Rakete. Aber näher heran, als dass wir das grüne Steuerbordlicht sehen konnten, durfte der Dampfer nicht kommen, jetzt bei Nacht, er musste unbedingt den Tag abwarten, durfte sich uns überhaupt nicht allzu sehr nähern, denn wir konnten, ohne dass wir es wussten, Tauwerk nachschleifen, und wenn sich die Schraube darin verwickelte, war auch dieser Dampfer in ganz hilfloser Lage.
Die Nacht verging, der Tag brach an, aber mit undurchdringlichem Nebel.
Doch mit einem Male hob sich dieser.
»Da steiht he!«
Ja, da stand er, ein Dampfer von 4 bis 5000 Tonnen, also ein Frachtdampfer mittlerer Größe, mit zwei vollgetakelten Masten, sodass er auch recht gut segeln konnte. Er wandte uns gerade den Bug zu.
»›Freya‹, Hamburg.«
Er drehte bei, dampfte näher, aber sich immer in respektvoller Entfernung haltend.
In welcher Entfernung? Da ist bei solch einem Seegange überhaupt gar kein Maßstab anzulegen. Jetzt waren die beiden Schiffsrümpfe nur noch hundert Meter voneinander entfernt, in der nächsten Minute schon wieder einen Kilometer, dann sausten sie wieder zusammen, die »Freya« gab mit voller Kraft Gegendampf, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.
Furchtbar, wenn sich zwei Schiffe auf hochgehender See einander nähern! Einfach gar nicht zu beschreiben. Das ist auch der Grund, warum man nicht etwa eine Verbindung mit einem Tau herstellen kann, an dem man sich herüberhangelt. Das stärkste Tau würde sofort reißen.
Trotzdem, die See hatte sich ganz bedeutend beruhigt, wenn sie auch noch immer furchtbar rollte und donnerte. Und jetzt kam es nur noch auf die Ansicht des Kapitäns und den Mut und die Geschicklichkeit der Besatzung an, ob sie es versuchten, ein Boot auszusetzen oder nicht.
Ja, sie versuchten es. Die erste Jolle hing noch in den Tauen, als sie am Schiffsrumpfe schon in Atome zersplitterte.
Bei der zweiten Jolle wurde viel, viel vorsichtiger vorgegangen — auch sie verschwand spurlos, die leeren Seile schnellten zurück.
»Klar die dritte Jolle!«, hörten wir das Kommando.
Vorher aber ereignete sich noch eine besondere Szene, ein feierlicher Akt.
Ein baumlanger Mann, sicher der Kapitän, als solcher aber doch nicht zu erkennen, ließ die Matrosen, sechzehn Mann, mehr zusammentreten, sprach auf sie ein; was, das konnten wir natürlich nicht verstehen, nur die gebrüllten Kommandos vernahmen wir ab und zu.
Nun, wir wussten schon, wozu diese Aussprache. Die Leute, die dann freiwillig ins Boot gehen wollten, mussten sich bereits gemeldet haben. Aber noch immer einmal hieß es: Ein Freiwilliger vor! Nämlich um das Boot erst einmal abzusetzen.
Und es trat ein Mann vor, der Matrose Wilm Roch aus Vegesack.
Und der baumlange Kapitän schüttelte ihm die Hand, der Mann schüttelte noch einigen Kameraden die Hand, dann stieg er ins Boot, das noch in den Davits hing, aber schon außen Bords, die Hakenstange in den Händen.
Neben ihm auf der Bordwand stand der Kapitän, zählte die Wogen, drei kurz und eine lang, mit ausgestrecktem Arm ihr Rollen mitmachend.
»Los!«
Und das Boot sauste herab, mit ihm der Matrose, die Hakenstange gegen den tobenden Schiffsrumpf stemmend, und auf der Bordwand standen noch sieben andere Matrosen, bereit nachzuspringen.
Es sollte nicht sein. Wieder brauste eine ungeheure Woge heran, der Matrose sah, dass das Boot verloren war, sprang hoch nach der Wante, aber das Boot war schneller, schlug gegen den Mann, es musste ihm die Beine zermalmt haben.
Ein Schrei, die Arme zurückgeworfen, verschwunden war er in der Flut.
Und wieder war in Walhalla ein Held eingezogen, dem auf Erden kein Denkmal gesetzt wird, von dem man vielleicht nicht einmal den Namen erfährt. Höchstens dass man seiner Mutter oder seiner Frau und den Kindern eine Summe zuschickt, nicht immer groß genug, um sie vor Sorge zu schützen. Das ist alles.
Drüben starrten sie. Zuerst kam wieder Leben in den baumlangen Kapitän, er schien einen Tobsuchtsanfall zu bekommen.
»Gott verdamm mich ewig, Gott ver...«
So fluchte er wohl ein Dutzend mal immer wilder heulend.
Und dann ein Kommando:
»Klar den ersten Kutter!«
Und dann setzte er sich auf eine Luke.
»Hein, treck mi mal de Stäbeln ut!«
Ein Matrose zog ihm die langen Seestiefel aus, und dann zog er selbst die Jacke aus, eine zweite Jacke, eine dritte Jacke — dann die Weste, eine zweite Weste, eine dritte Weste — dann zog er die Hose aus, eine zweite Hose, eine dritte Hose — und je dürrer der Mann wurde, desto länger schien er zu werden — bis er nur noch in Strümpfen, Hemd und Unterhose dastand — und über den Kopf eine Pelzmütze gestülpt.
So sprang er in den Kutter, der schon außenbords hing, nahm die Hakenstange, zählte mit ausgestrecktem Arm die rollenden Wogen.
»Los!!«
Und der Kutter schoss herab und verschwand in der Gischt.
Wohl uns, dass wir den Kampf nicht sahen, den dort das menschliche Zwerglein mit der ganzen Himmelsmacht ausfocht!
Aber das Zwerglein schien Sieger bleiben zu wollen, wie sich das Schiff zurücklegte, kam das Boot wieder zum Vorschein, aufrecht stand der Mann darin.
»Jumpt!«
Und die sieben Matrosen jumpten von der Bordwand herab, ins Boot hinein, sprangen sich gegenseitig auf die Köpfe, auf die Leiber, stürzten übereinander, bis sie in Ordnung kamen.
»Pullt, Boys, pullt für Euer Leben!«, heulte der Kapitän am Steuer.
Und sie kamen in Takt, sie kamen frei — zwar die meisten mit blutenden Nasen, der eine konnte sich nur mit einem Fuße feststemmen, das andere Schienbein war ihm zertreten, zerbrochen worden, einer hatte einen Unterleibsbruch bekommen — never mind, auch er zog mit Macht durch, und sie kamen frei!
»Singt, Boys, singt!«
Und sie begannen zu singen. Ein gotteslästerliches Matrosenlied zum Rudertakt. Jedes Wort ein furchtbarer Frevel, jedes zweite Wort die gemeinste Zote.
Und diese Brüder dachten vielleicht, noch in den Himmel zu kommen! Na, denen würde ja der alte Petrus etwas blasen!
So kamen sie brüllend über die Wogen getanzt.
Nun konnten wir uns bereits als gerettet betrachten. Zweimal durchs Wasser musste allerdings noch jeder.
Da, wie ich schon die Leine zum Wurfe erhoben hatte, erstarrte ich nochmals.
Himmel, dieser baumlange, knochendürre Kapitän, dieses Gesicht!
Jetzt erkannte ich es!
Das war ja der Kandidat der Philosophie, der noch einmal Schiffsjunge geworden war, auf dem Schiffe seines Onkels, wo ich ihn speziell in der Seemannschaft ausgebildet hatte! Und dann waren wir wieder in der Marine zusammengetroffen, da hatte er, als Obermatrose, als Gefreiter, wieder mich als Rekruten ausgebildet, hatte mich einmal bei einer Stunde Strafexerzieren Blut schwitzen lassen. Und dann hatte er in der Kantine drei Dutzend Paar Wiener Würstchen aufgefressen, und ich hatte sie bezahlen müssen, weil ich gewettet hatte, dass er das nicht fertig bringen würde, und er hatte es fertig gebracht, nur in der Frühstückspause!
Weiter ging unsere Freundschaft oder auch nur Bekanntschaft nicht, aber das genügte ja.
»Hagen — Karl Hagen!«, schrie ich.
»De Lien ut!«, heulte es zurück.
Ich warf sie, sie wurde gefangen, ein Seil folgte nach, an diesem ging die erste Partie hinüber, durchs Wasser. Zuerst die beiden Schiffsjungen, dann alle die, welche festgelascht werden mussten, weil sie sich mit ihren kaputten Händen nicht mehr halten konnten.
Mit diesen sieben Mann, genau die Hälfte, zurück nach dem Dampfer. An ein regelrechtes Ausladen natürlich nicht zu denken. Wieder ein fürchterlicher Kampf zwischen Boot und Schiff. Die Matrosen hielten vorsichtig auf Riemen, einer hatte das Steuer bekommen, der Kapitän selbst besorgte das Ausladen. Nahm jeden beim Kragen und Hosenbund, beobachtete die Wogen, wie sich das Boot hob und senkte, passte den Zeitpunkt ab, wenn es in die Höhe schoss und das Schiff sich einmal gleichzeitig senkte — — »jubb!!«, und da schleuderte er den Mann stets im Bogen von sich. Der Geschleuderte wurde von einem halben Dutzend Matrosenhänden aufgefangen, was aber immer wieder einige blutige Nasen gab. Dann wieder zurück nach dem Wrack, nun kamen wir anderen dran, zuletzt ich.
»Paul Volland — na, nun wird's ja gut — — mooin!«, lachte Karl, als er auch mich aus dem Wasser zog.
Ja, er lachte.
Aber was für ein Lachen!
Ein fürchterliches Lachen, aber nicht der Hölle, sondern — des Himmels.
Ein ganz unbeschreibliches Lachen in dem lederbraunen, glühenden, triefenden Gesicht.
So wurden auch wir von seiner Riesenkraft an Bord geschleudert, als letzter ich. Das heißt, dann kamen erst die sieben Matrosen daran, der Kapitän musste ohne Hilfe an Bord jonglieren, hinter ihm zerschmetterte der Kutter am Schiffsrumpf.
»Junge, Junge, dass ich Dich hier wiederfinden muss!«, sagte Hagen.
Wir saßen in der traulichen Kajüte, ich führte mir einige mächtige gebratene Schinkenscheiben mit Spiegeleiern zu Gemüte, zwei große Groggläser dampften, daneben saß Hagen, im Stuhle zurückgelehnt, die qualmende Shagpfeife zwischen den Zähnen, schaute mir mit blinzelnden Augen zu, ganz behagliches Glück.
»Seit wann fährst Du denn wieder zur See, Karl?«
»Seit ungefähr einem Jahre — genau seit zehn Monaten.«
»Doch nicht Dein eigenes Schiff?«
»Sicher. Bin von Liverpool nach Halifax unterwegs, mit Portwein und sonstigen Spirituosen, das ganze Schiff voll, und ebenfalls alles für eigene Rechnung.«
»Wie kommst Du denn in diese hohe Breite herauf?«
»Ja, da frage mal.«
Ich blickte ihn an, in sein von glücklicher Behaglichkeit verklärtes Gesicht.
War das eine Antwort auf meine Frage gewesen?
Na, ich hatte ihn ja schon zur Genüge kennen gelernt, diesen Mann, der ebenso grob wie ehrlich war, und wenn inzwischen auch schon viele Jahre vergangen waren — seinen Charakter würde er wohl nicht viel verändert haben.
»Du bist nicht mehr in dem mexikanischen Jägertale?«
»Wie Du siehst, bin ich hier. Was weißt Du denn überhaupt von diesem mexikanischen Jägertale? Was weißt Du überhaupt sonst über mich? Berichte erst einmal, damit ich mir dann überflüssige Worte ersparen kann.«
Nun, ich hatte genug von der Atalanta gehört, der nachmaligen und wohl noch jetzigen Frau Gräfin von Felsmark, wie sie zuerst an ihrem Sklavensee im Coloradogebirge gehaust hatte, dann auf ihrem Zauberschiffe, dann wieder am Sklavensee, was sie da alles durchgemacht hatte, wie sie fortwährend angefeindet worden war — dies alles war mir bekannt, soweit es in die Öffentlichkeit gekommen war, und ich wusste, dass mein Freund Karl in den letzten Jahren mit dem Schicksale dieser Indianerin sehr eng verknüpft gewesen war.
Dann war diese ganze Gesellschaft nach langer Abwesenheit wieder in jenem mexikanischen Jägertale aufgetaucht, wenn auch nicht für die Öffentlichkeit, Karl hatte die Tochter des Don Christoffero geheiratet, hatte ihn nach seinem Tode beerbt.
So hatte ich berichtet, freilich viel ausführlicher, als ich es hier tue.
Karl hatte mich mit keinem Worte unterbrochen.
»Well, das stimmt alles, wenigstens so ziemlich. Universalerbe meines Schwiegervaters bin ich nicht geworden, aber es hat gelangt, dass ich mir vor zehn Monaten dieses Schiff kaufen konnte und es auch für eigene Rechnung befrachten kann, wenn es nicht gerade 4500 Tonnen Brüsseler Spitzen sind. Außerdem ist das mexikanische Tal noch immer mein Eigentum, ich habe die Leitung nur einem anderen übergeben, fahre wieder zur See. Die Sehnsucht hatte mich wieder einmal gepackt. Werde dem Seemannsberufe wohl auch fernerhin treu bleiben.«
»Und Deine Gattin?«
In diesen Augenblick vernahm ich ein dünnes Kinderstimmchen schreien.
»Hörst Du?«, lächelte Karl. »Das ist mein Jüngster, der Fritzi, vor sechs Wochen an Bord geboren. Also muss mich wohl auch meine Frau begleiten. Und dann ist noch die Marianne da, anderthalb Jahre. Ist auch schon eine kleine Seeratte mit braunem Pelz geworden. Du wirst sie alle kennen lernen.
»Wo ist denn jetzt die Frau Gräfin Atalanta? Noch in jenem Tale?«
»Nein.«
»Sondern?«
Karl paffte erst einige Zeit vor sich hin, ehe er die Antwort gab, und diese war kurz genug.
»Weg.«
»Doch nicht tot?!«
»Tot!«, bestätigte er, aber auch erst wieder nach einer längeren Pause.
»Und der Graf Felsmark?«
»Auch.«
Ich hatte ja keinen Grund, besonders erschüttert zu sein, war aber doch sehr überrascht. Da ich merkte, wie unangenehm meinem Freunde dieses Gespräch war — so glaubte ich wenigstens — fing ich gleich etwas anderes an, wie es mir eben einfiel.
»Ihr Sklavenseetal im Coloradogebirge ist ja auch vor einem Jahre durch ein Erdbeben zerstört worden, wie ich hörte.«
»Nur die den See auf zwei Seiten eingrenzenden Felswände sind eingestürzt.«
»Da sind also wohl auch alle die Geheimnisse mit verschüttet worden, welche diese hohlen Felswände bargen?«
»Was für Geheimnisse?«
»Ich dächte, Karl, hierüber müsstest Du mir am besten berichten können.«
»Wenn ich nun aber dazu keine Lust habe?«
Er war noch ganz derselbe. Aber übel nehmen konnte man dem so etwas unmöglich.
»Ja, Paul.« fuhr er dann fort, »wie ist es nun mit Euch gegangen?«
Ich berichtete, so weit es unsere Fahrt und den Schiffbruch betraf.
»Das musst Du ja alles zu Protokoll geben, das ist das Geschäftliche. Ich möchte aber etwas anderes von Dir hören. Wie ist es Dir gegangen, seitdem wir uns in der Marine zuletzt gesehen haben?«
Ich erzählte von meinem Seemannsleben. Seit zwei Jahren fuhr ich als Kapitän, immer bei derselben Reederei.
»Bist noch unbeweibt? Nichts in Aussicht? Du kommst mir recht trübselig vor. Was hast Du?«
Er mochte es gemerkt haben, und ich schüttete ihm mein Herz aus.
Ja, das Schicksal hatte mir einen schweren Schlag versetzt. Ich war fünf Jahre verlobt gewesen — ach, was sage ich, fünf Jahre — meine Jugendgespielin war es gewesen, die ich hatte heimführen wollen, sobald ich als Kapitän angestellt worden war. Und als dies vor zwei Jahren geschehen war, da, von einer langen Reise nach Australien zurückkehrend, da — — war Lisbeth inzwischen das Weib eines anderen geworden. Ihren Brief, in dem sie mich um Verzeihung bat, in dem sie mir ihre Gründe offenbarte, und den zurückgeschickten Verlobungsring hatte ich noch gar nicht erhalten, der machte erst wieder die Rückreise von Melbourne nach Bremen.
»Es hat mich schwer herumgewürgt!«, schloss ich.
Die nachfolgende längere Pause war begreiflich.
»So, hm!«, brummte Karl dann. »Hast's überstanden?«
»Ich habe ihr verziehen!«, entgegnete ich leise.
»So, hm. Na, und was gedenkst Du nun zu tun?«
»Ich suche mir wieder eine Kapitänsstelle!«
»Kannst Du bei deiner jetzigen Reederei nicht wieder ankommen?«
»Vielleicht als erster Steuermann. Die Reederei hat nun nur noch vier Schiffe fahren, da sind alle Kapitänsposten besetzt, und es ist wenig Aussicht vorhanden, dass eine Stelle frei wird. Es ist mir überhaupt wenig daran gelegen, bei dieser Reederei hat man keine Pensionsberechtigung. Lieber möchte ich bei einer großen Reederei als Kapitän ankommen.«
»Die Kapitänsstellen sind heutzutage rar.«
»Weiß ich. Well, da fahre ich einstweilen als erster Steuermann, meinetwegen als zweiter oder gar als dritter.«
»Das könntest Du auch bei mir. Willst Du bei mir als Erster anmustern?«
Ohne Zögern sagte ich zu.
»Das heißt«, hatte ich nur noch einzuwenden, »wenn Du mit Deinem ersten Offizier zufrieden bist — ich will niemandem das Brot wegnehmen.«
Karl blickte mich einige Zeit scharf an, und ich wusste schon, warum. Mag sein, dass man heutzutage solch eine Zurückhaltung selten findet, im Konkurrenzkampfe des Lebens — aber ich kann nicht anders.
»Du bist immer noch der Alte, Paul!«, sagte er dann mit warmem Tone. »Nein, Du nimmst niemandem das Brot weg. Ich hätte den ersten Steuermann in Halifax sowieso entlassen. Lambrecht heißt er, und eine rechte Tranlampe ist er. Das würde ich Dir nicht sagen, wenn ich es ihm nicht schon mehrmals vor der ganzen Mannschaft ins Gesicht gesagt hätte, dass er eine Tranfunzel ist. Seifensieder hätte er werden sollen, aber nicht Seemann. Also willst Du in Halifax als mein Erster anmustern?«
»Ja, ich will.«
»Du sollst mit mir als Deinem Kapitän zufrieden sein.«
»Ich glaube Dir, Karl.«
»Du bist wohl müde?«
Ja, die Reaktion nach den Anstrengungen der letzten Tage trat jetzt erst ein.
»Gut, so gehe jetzt schlafen. Dann sprechen wir weiter darüber. Ich habe Dir noch viel zu sagen.«
Ein Steward wies mir eine Kabine an, in der er auch schon mir passende Kleidung in reicher Auswahl zurecht gelegt hatte, bald lag ich in tiefem Schlummer.
Als ich nach drei Stunden wie neugeboren erwachte, kleidete ich mich an, stieß auf dem Korridor mit einem kleinen, korpulenten Herrn zusammen, der sich mir als Mister Maxim vorstellte, mir äußerst durch seine ernste Würde imponierte, und niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, einen ehemaligen Zirkusclown vor mir zu haben.
Der Kapitän schliefe jetzt, auch seine Gattin sei nicht zu sprechen, aber wenn ich irgend etwas wünsche, er stände mir ganz zu Diensten.
»Überhaupt das ganze Schiff steht zu Ihrer Verfügung. Ich darf so sprechen, ich bin dazu ermächtigt, wenn ich auch sonst an Bord keine Rolle spiele.«
Ich dankte für die überaus freundliche Höflichkeit des kleinen Dicken, suchte in seiner Begleitung erst einmal die Segelkammer auf, wo meine Leute sehr gut untergebracht waren, aber sprechen konnte ich niemanden, alles lag noch in tiefem Schlaf, der eine Matrose hatte dabei noch eine Knackwurst halb zum Munde heraussehen — dann begab ich mich mit ihm ins Lazarett, in dem sich die drei Matrosen von der Rettungsmannschaft befanden, einer mit einem gebrochenen Schienbein, einer mit einem Unterleibsbruch, ich sprach den Wackeren meine Anerkennung aus, mehr durch einen Händedruck als durch Worte, ein junger, feiner Mann wurde mir als Doktor Heim vorgestellt, und ich musste mich wirklich wundern, dass dieser Dampfer sogar seinen eigenen Schiffsarzt hatte. So etwas gibt es sonst auf solch einem Frachtdampfer nicht.
Dann begab ich mich, in einen Ölrock gehüllt, denn es dammte tüchtig über, wieder an Deck. Von der Kommandobrücke winkte mir der wachehabende Offizier, hinter dem Schutzengel nur mit dem Kopfe vorblickend, ich stieg hinauf.
Littlelu, wie ich ihn gleich nennen will, war zurückgeblieben.
Es war der erste Steuermann Lambrecht, der mich begrüßte.
Ja, das glaubte ich, dass dessen Wesen dem Kapitän Hagen nicht gefiel. Er machte einen äußerst nervösen Eindruck, wenn er auch nicht etwa nervenkrank war. So hastig, alles so überstürzt. Gleich in der ersten Minute hatte er zehn Fragen gestellt, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Wie wurde Ihr Schiff wrackgeschlagen? Sie sind mit dem Kapitän näher befreundet? Das ist ja ein ganz, ganz rätselhaftes Schiff! Meinen Sie nicht?! Haben Sie nicht schon etwas gemerkt? Haben Sie denn drahtlose Telegrafie auf dem alten Segelkasten gehabt? Haben Sie ein drahtloses Telegramm aufgegeben? Wie denken Sie denn nur über diesen Fall?«
Er stellte in einem Atemzuge noch viel mehr Fragen.
Zunächst warf ich die Frage auf, was man denn von diesem Herrn denken solle.
So wie ich meinen Freund Hagen kannte, diesen grimmigen Seebären, ein wirklicher, grimmiger Hagen von Tronje — na, das musste ja etwas für den sein!
Schon allein diese wässrigen Augen, wie die mich neugierig anstarrten!
»Was meinen Sie denn nur mit der drahtlosen Telegrafie?«
»Ja, das ist doch ein ganz rätselhafter Fall gewesen!«
»Was denn für ein Fall?«
»Das mit Ihrer Rettung.«
»Wieso denn nur?«
»Wissen Sie es noch nicht? Na, wir steuern vor zwei Tagen auf dem 52. Breitengrade, direkt auf Halifax zu, plötzlich, gegen Mitternacht, kommt der Käpten auf die Brücke — ›Kurs nordnordwest zu nord!‹, — und wir jagen mit Volldampf plötzlich fast direkt nach dem Nordpol hinauf, zwei Nächte und einen Tag lang, müssen ununterbrochen nach Norden blicken, nach Notfeuern — und richtig, heute Nacht sehen wir geschwungene Blasefackeln —«
Das Brückentelefon klingelte, der Kapitän fragte, ob ich dort sei, und bat mich zu sich in die Kajüte.
Ich folgte sofort der Aufforderung.
»Passen Sie nur auf, Sie werden hier schon etwas erleben, mit diesem Schiffe ist etwas nicht in Ordnung!«, sagte der Steuermann noch.
Auf dem Wege zur Kajüte hatte ich viel zu denken. Ja, wenn das sich so verhielt, das war allerdings sehr merkwürdig. Sollte mein Freund Hagen durch den früheren Verkehr mit solchen indischen —
Ich schlug mir alle derartigen Gedanken aus dem Kopfe, wollte nicht in den Fehler dieses nervösen Menschen verfallen. Wenn ich Auskunft erhalten sollte, so hatte mir diese der Kapitän zu geben und kein anderer.
Der Kapitän saß allein beim zweiten Frühstück, lud mich dazu ein, und nichts war mir im Augenblick angenehmer.
»Du warst auf der Kommandobrücke?«, begann er dann die Unterhaltung.
»Ja.«
»Hast mit dem Ersten gesprochen?«
»Ja.«
»Erlaube, dass ich Dich so examiniere. Es hat seinen besonderen Grund. Du bist jetzt noch nicht mein Offizier, und ich möchte, dass wir auch später als Freunde verkehren, wenigstens außerhalb Deiner Dienstwache. Hat der Erste nicht von einem rätselhaften Schiffe gesprochen?«
»Das tat er allerdings.«
»Er hat auch Grund dazu. Hat einen solchen vor zwei Tagen bekommen, als ich den Kurs ändern ließ, um Dir zu Hilfe zu kommen.«
Erstaunt ließ ich Messer und Gabel sinken.
»Du wusstest also wirklich, dass wir uns in Seenot befanden?«
»Ich wusste es. Es wurde mir mitgeteilt. Frage jetzt nicht, von wem und auf welche Weise. Du musst ganz nach und nach in unsere Geheimnisse eingeführt werden, sonst würdest Du gar nichts verstehen. Du musst erst mein Tagebuch lesen, ich werde Dir viele andere Bücher zu lesen geben — dann erst kannst Du nach und nach alles begreifen. Es geht aber auch auf eine andere Weise. Ich werde Dich praktisch in unsere Mysterien einführen; denn Du bist vom Schicksal dazu bestimmt, einer der Unsrigen zu werden.«
»Einer der Eurigen?«
»Ja. Wir bilden eine geheime Gesellschaft oder eine okkulte, will ich lieber sagen, denn als geheimer Verband, was nicht erlaubt ist, kann der unsrige von der Polizei niemals verboten werden. Hast Du Dich schon mit Okkultismus beschäftigt?«
Nein, absolut noch nicht, und eben deshalb kann sich der Leser denken, wie mir zumute ward, als mir hier so etwas offenbart wurde, zumal noch aus dem Munde dieses Mannes, der die Tatkraft selbst war.
»Aber Du weißt doch, was Okkultismus ist.«
»Ja, so ungefähr.«
»Deine Kenntnis wird wohl vorläufig genügen. Sehe ich etwa so aus wie solch ein Geisterträumer?«
»Nein, so siehst Du nicht aus, und dass Du auch in Wirklichkeit keiner bist, das hast Du ja erst vor einigen Stunden praktisch bewiesen.«
»Dann erst einmal eine andere Frage. Du bist doch auch ein Binnenländer, bist doch auch nur aus Abenteuerlust zur See gegangen.«
Ja, das war bei mir wie bei einigen tausend Anderen der Fall.
»Als Junge war Deine Sehnsucht, zur See zu gehen, in die Welt hinaus, um Abenteuer zu erleben, und in der Erfüllung dieser Sehnsucht glaubtest Du Dein Glück zu finden.«
»So war es.«
»Und hast Du dieses Dein Glück gefunden?«
»Hmmm — nein — eigentlich nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Weil es immer anders kommt, als man sich träumt. Das Richtige ist es niemals. Anders kann ich mich nicht gleich ausdrücken.«
»So ist es, und das genügt vorläufig. Oder man kann es auch kurz in die Worte fassen: Man träumt von einem paradiesischen Eiland, und wenn man in Wirklichkeit hinkommt, dann wird man dort von Moskitos aufgefressen und bekommt den Durchfall. Na, was gibt's denn da zu lachen? So ist es doch. Immer und überall ist es ein Durchfall — oder ein Hineinfall, will ich sagen. Nur der echte, gottbegnadete Dichter kann sich so weit in das Reich der Phantasie hineinträumen, dass er nichts mehr an Wirklichkeit vermisst, und trotzdem schreibt er seinem Traume zugleich alle Details bis ins Kleinste vor. — Doch davon wollen wir jetzt nicht anfangen, wir gehen gleich zur Praxis über. Du sollst etwas erleben. Du bist der Mann dazu, der das Experiment verträgt, ohne den Verstand zu verlieren, sonst wärest Du eben nicht dazu bestimmt, einer der Unsrigen zu werden. Bist Du fertig? Dann erhebe Dich und folge mir die wenigen Schritte nach jener Türe dort.«
Auch ich stand auf, ohne eine Ahnung zu haben, was jener denn eigentlich wollte.
»Nun blicke erst noch einmal dort durch das Bullauge auf Steuerbordseite.«
Durch das runde Fensterchen waren noch immer einige Eisberge zu sehen.
»Und nun blicke nach der Uhr.«
Die Wanduhr zeigte 20 Minuten auf elf.
»So, nun tritt mit mir hier ein.«
Er öffnete die Tür, schloss sie wieder hinter sich. Es war eine nur enge Kabine, nichts weiter als einige Wandschränke enthaltend, und gegenüber befand sich wieder eine Tür.
Solch einem Schranke entnahm Hagen zwei Pelzkostüme, wie sie Eskimos oder doch Polarforscher tragen, einen für seinen langen Leib, einen für mich bestimmt, ich musste den Anzug anlegen, wie er es tat.
»Diese umständliche Prozedur wäre ja gar nicht nötig«, sagte er dabei, »es geschieht nur, um die Einbildung zu vervollkommnen.«
»Einbildung?«
»Lass nur, Du wirst schon sehen!«, lächelte er, und zwar recht verschmitzt.
Wir hatten uns in Eskimos verwandelt, eine lange Eispicke, eine Doppelbüchse und gespickter Patronengürtel vervollständigten die Ausrüstung.
»Wollen wir denn an Land?«
»Jawohl, wir wollen an Land, eine Expedition nach dem Nordpol hinauf machen. Tritt nur hier durch diese zweite Tür.«
Er hatte sie geöffnet und — mein Auge überschaute eine eisige Polarlandschaft, erhellt von einem Nordlicht, und zwar nach allen Seiten hin, wohin ich auch blickte, denn wir befanden uns bereits auf einem Berge.
Mein ungeheures Erstaunen lässt sich denken.
»Das ist doch nur eine Illusion!«, war mein erster Gedanke, den ich auch aussprach.
»Natürlich ist es nur eine Illusion. Aber kannst Du etwa diese Illusion von Wirklichkeit unterscheiden?«
Nein, das konnte ich durchaus nicht. Höchstens fiel mir auf, dass es bitterkalt war und dass ich dennoch nicht nötig hatte, den um den Hals hängenden Fuchsschwanz in den Mund zu nehmen.
»Solche kleine Abweichungen von der Wirklichkeit musst Du manchmal mit in Kauf nehmen. Der Fuchsschwanz würde uns zu sehr am Sprechen verhindern.
Also nun vernimm die erste Erklärung, wenn es für Dich vielleicht auch keine Erklärung ist. Aber nur auf diese Weise kannst Du nach und nach in alles eingeweiht werden.
Zur richtigen Erklärung musst Du dann durch Lesen der betreffenden Bücher und durch eigenes Nachdenken kommen.
Du befindest Dich auf der sogenannten Astralebene, welche die irdische Ebene, auf der wir uns für gewöhnlich befinden, durchdringt.
Diese beiden Ebenen oder Welten durchdringen sich genau so, ganz unabhängig voneinander, wie der Sonnenstrahl, durch Schwingungen des Äthers erzeugt, die Schallwellen der Luft durchdringt.
Leitest Du in ein dunkles Zimmer durch ein Löchelchen im Fensterladen einen Sonnenstrahl, so siehst Du in diesem die Sonnenstäubchen zittern, also Staubpartikelchen, und sie bewegen sich umso mehr, je mehr Du die Luft erregst. Aber der Sonnenstrahl selbst zittert nicht mit.
Das ist uns ja ganz selbstverständlich, weil wir es eben nicht anders kennen. Im Grunde genommen ist es ein eben solch unergründliches Geheimnis, wie dass eine zweite Welt unsere irdische durchdringt, ohne dass wir für gewöhnlich etwas davon merken. Oder aber in anderem Sinne: Die Existenz dieser zweiten, astralen Welt ist genau so einfach wie die Existenz der Ätherschwingungen neben denen der Luft.
Diese Astralebene ist die Welt der Gedanken.
Alles, was der Mensch jemals gedacht hat und jemals denken wird, ist in dieser Astralwelt immer schon vorhanden gewesen und wird es ewig sein.
Aus dieser astralen Gedankenwelt zieht der Dichter seine Phantasien, der Komponist seine Melodien, die ihm kein Vogel vorgesungen hat. Meist tut er dies unbewusst — er kann es aber auch, sobald er so weit ist, weil er den ganzen Taschenspielerkniff begriffen hat, auch bewusst tun, kann also seine Phantasien oder Melodien auch erzwingen.
Unbewusst betritt diese astrale Gedankenwelt jeder Mensch im Traume.
Bewusst, mit Absicht, vermag sie nur der Adept zu betreten, ein Mensch, der seine inneren Fähigkeiten so weit wie möglich ausgebildet hat, der durch asketische Übungen, hauptsächlich aber durch innere Erkenntnis seiner selbst in tiefster Einsamkeit die irdische Welt überwunden hat.
Und hierzu ist wiederum die Hauptsache, dass er keinen Hass und keine Rache mehr kennt, dass sein Herz in All-Liebe für jedes lebende Wesen überströmt.
Solch ein Adept kann die Gedanken in der astralen Welt nach Belieben in plastische Form bringen und festhalten.
Auf viel tieferer Stufe als diese Adepten stehen jene Menschen, welche wir Fakire oder Yogis nennen. Auch diese ziehen ihre Illusionen aus der Astralwelt heraus und gaukeln sie den Zuschauern als vermeintliche Wirklichkeit vor.
Das tun sie auf Geheiß ihrer Lehrer, der Adepten, um den Menschen einen Beweis von sogenannten übernatürlichen Kräften zu geben. Damit einige Menschen ermuntert werden, diese Laufbahn zu betreten, deren Ziel aber nur durch Ablegen aller Schwächen oder doch Untugenden erreicht werden kann.
Der Adept selbst befasst sich nicht mit den Menschen in der Gesamtheit, sondern nur mit seinen eigenen Schülern, eben mit diesen Yogis, die er wieder als Lehrer hinausschickt.
Auch ich bin ein Yogi. Brauchst dabei nicht an so einen verhungerten Fakir zu denken. Ich bin es geworden, obgleich ich mich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt habe. Es war meine Bestimmung. Darüber spreche ich ein andermal zu Dir.
Auch Du sollst ein Yogi werden. Du bist dazu bestimmt, Du kannst dem nicht entrinnen, obgleich Du Deine gänzliche Willensfreiheit behalten wirst.
An Bord meines Schiffes gibt es noch einige andere Yogis: Mein Freund Littlelu, Doktor Heim, auch einige Matrosen und Heizer sind dabei.
Die anderen aber haben gar keine Ahnung, dass wir uns hier manchmal auf der Astralebene treffen. Das geschieht auch ganz unauffällig.
Dass ich Dich erst in die Kammer führte, dass wir uns das Pelzkostüm anzogen, das war nur eine Komödie, wie Du später sehen wirst; wäre alles gar nicht nötig gewesen.
Wir brauchen nur für einen Moment die Augen zu schließen, und wir sind dort, wo wir sein wollen. Ganz gleichgültig, zu welcher Zeit das geschieht. Wir treffen immer zusammen. Denn so etwas wie Raum und Zeit gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Doch das verstehst Du jetzt noch nicht. Da musst Du erst alles durchmachen, was ich durchgemacht habe. Dann kommt Dir plötzlich die innere Erleuchtung.
So stehen also auch wir Yogis oder Schüler der Pranadivata unter der speziellen Führung eines Adepten.
Und zwar ist es ein weiblicher Adept. Ihr Name ist — — Atalanta.«
Der Sprecher machte eine Pause.
Es war mir gar nicht so unverständlich gewesen, was ich da zu hören bekommen hatte.
»Lebt sie denn also noch?«, fragte ich jetzt. »Oder ist sie tot?«
Lächelnd legte mir Hagen seine bepelzte Hand auf die Schulter.
»Mein lieber Freund. So etwas wie Tod gibt es überhaupt gar nicht. Es ist nur ein fortwährendes Hin- und Herpendeln der Seele zwischen der astralen und der irdischen Ebene.
Stirbt man in der irdischen Welt, so wacht man in der Astralwelt wieder auf, muss als kleines Kind, wenn auch nicht der Gestalt nach, erst wieder seine Erfahrungen sammeln, und so umgekehrt. Und wenn sich nach Millionen von Wiedergeburten die Seele zwischen diesen beiden Ebenen ausgependelt hat, so geht sie, wenn sie sich darauf genügend vorbereitet hat, in eine dritte Ebene über, welche wieder diese beiden Ebenen durchdringt, in die Devachanebene, über die aber auch ich mir noch gar keine Vorstellungen machen kann. Nur so viel weiß ich, dass dort der Mensch schon unser ganzes Planetensystem beherrscht, es ihm wenigstens offen steht. Es ist dies für uns vorläufig noch so unfassbar, als wenn man einer Ameise erzählen wollte, dass sie tausend Meilen weiter auch noch Land findet, wo sie sich ansiedeln kann. Und es sind ja auch noch gar nicht so viele Jahrhunderte verstrichen, als wir Europäer auch noch nichts von einem Amerika wussten, da hätte man damals vergebens davon gesprochen.
Bleiben wir also nur erst einmal hier auf der Astralebene, und nun wollen wir unsere Freunde aufsuchen.«
Wir wanderten im Scheine des Nordlichtes über Eis und hartgefrorenen Schnee den ziemlich ebenen Bergrücken entlang.
Ich glitt einmal aus, stürzte hin, und dann tat mir das Knie weh, was ich weder astral noch traumhaft fand. Doch ich sagte nichts, wollte ruhig beobachten,
Nur fünf Minuten waren wir so gegangen, als wir Stimmen vernahmen, hinter einer Felsenecke, die freilich ebenso gut ein Eisblock sein konnte, hervorkommend.
Wir waren am Ziel. Hinter dem Eisblocke lagerte ein Dutzend Eskimos. Es schien recht fidel auf der Astralebene zuzugehen, ein schallendes Gelächter begrüßte uns, das aber nicht uns galt, sondern dessen Ursache wohl ein guter Witz gewesen sein musste.
»Kapitän Volland!«, stellte mich Hagen vor. »Der kleine Eskimo hier ist die Frau Gräfin Atalanta, der große dort ihr Gatte, Graf Arno von Felsmark. Das ist Doktor Heim, diese unförmliche Kugel hier ist Mister Maxim, genannt Littlelu. Eine sonstige Vorstellung findet nicht statt. Die Matrosen bleiben auch im Reiche der Geister immer Matrosen, haben uns und speziell mir zu gehorchen, sonst pfeift's. Nun, Frau Gräfin, Sie können loslegen.«
Der weibliche Eskimo trat etwas vor, wir folgten, hatten wieder freien Blick nach allen Richtungen. Nichts als Eis und Schnee, dies hier war der einzige Gebirgszug.
»Also, meine lieben Freunde«, begann die Gräfin, »ich werde Ihnen diesmal vorführen, was schon immer Ihr Wunsch gewesen ist. Wir befinden uns hier in der Nähe des Nordpols, mitten im Winter. Bleiben wir nur beim Anfang Januar. Es findet eine Erdkatastrophe statt. Die Erdrinde verschiebt sich um den feuerflüssigen Kern, der seine ursprüngliche Achsendrehung beibehält, um 90 Grad, sodass der Nordpol genau auf den früheren Äquator zu liegen kommt. Wie sich nun die Verwandlung vollzieht, das werden Sie im Laufe von 20 Jahren beobachten können, oder in noch längerer Zeit, ganz wie Sie wünschen.
Die ganze Illusion ist von einem Mahatma ausgearbeitet, genau naturwissenschaftlich, alles entspricht genau den Tatsachen, wie sich diese Verwandlung in Wirklichkeit vollziehen würde, wenn sich solch eine Erdkatastrophe einmal ereignete. Nur um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, lasse ich den Moment der Verschiebung von einem kleinen Knalleffekt begleitet sein, aber Sie haben nichts zu fürchten, passen Sie auf —«
Sie streckte den Arm aus, gleichzeitig ein Blitz und ein Knall, überhaupt ein furchtbares Etwas in der Atmosphäre, was ich gar nicht beschreiben kann, ich wurde zu Boden geschleudert oder doch von einer unsichtbaren Macht niedergedrückt — wohl schon im nächsten Augenblick erhob ich mich wieder, wurde Zeuge, wie sich auch die anderen Eskimos wieder aufrichteten, hatte aber auf etwas ganz anderes zu achten.
Ich staunte ja nicht schlecht! Keine Nacht mehr, die vom Nordlicht erhellt wurde, sondern mitten am Zenit des azurblauen Himmels strahlte die Sonne.
»Wir befinden uns also jetzt direkt auf dem Äquator, es ist genau 12 Uhr mittags.«
Ja, das merkte man. Furchtbar heiß brannte die Sonne herab, uns auf den Pelz, obgleich die Eislandschaft doch noch Kälte ausstrahlte. Aber schon begann das Eis zu schmelzen, und wie!
Wir standen also auf einem Gebirgskamm, überall begann es herabzurieseln, aber schnell wurden aus den Bächlein Flüsse und mächtige Ströme, welche sich in die Tiefe stürzten. Ein wunderbares Schauspiel, das sich in aller Schnelligkeit vollzog.
»Immer ebener wird es auch dort unten«, fuhr die Erklärerin fort, »Sie sehen, wie die angehäuften Eisschollen schmelzen, und zwar ist es im meilenweiten Umkreise festes Land, auf welchem das Eis und der Schnee gelegen hat. Dieser Boden steigt etwas nach hier an, sodass das Wasser nach allen Richtungen abfließt. Aber wollen sich die Herren nicht Ihrer Pelzkostüme entledigen?«
Sie hatte es bereits getan, stand in einem kurzen Jagdkleid aus feingegerbtem, ganz dünnem Leder da, bunt bemalt, hatte ihr langes, schwarzes Haar offen, glich jetzt ganz einer Indianerin, die sie ja auch wirklich war.
Wir folgten ihrem Beispiel. Nur ein Eskimo nicht. Mister Maxim oder Littlelu, wie auch ich ihn fernerhin nennen will.
»Ja, ausziehen«, fing der jetzt in jammerndem Tone an, »hat sich was! Ich habe ja unter dem Pelze nicht einmal ein Hemd an.«
»Aber warum haben Sie denn nicht einen dünneren Anzug darunter anbehalten?«, wurde bereits gelacht.
»Warum nicht, warum nicht?! Sie wollten uns doch nach dem Nordpol versetzen, das wusste ich, weiter aber auch nichts. Konnten Sie denn nicht gleich sagen, dass Sie so etwas vorhatten, uns nach dem Äquator versetzen wollten? Faktisch, ich habe unter dem Pelze nicht einmal ein Hemd an. Da kann ich mich doch nicht aushosen! Teifel noch einmal, ich sehe es schon kommen, jetzt kann ich hier zwanzig Jahre lang unter dem Äquator im fünf Zoll dicken Pelze herumlaufen —«
Und so jammerte er weiter, unter dem Gelächter der anderen.
»Kommen Sie her, sehen Sie dort!«, rief da Atalanta, die etwas abseits gegangen war, um einen größeren Felsblock herum.
Wir folgten ihrem Rufe und sahen zu unserem Staunen in geringer Entfernung einen großen Dampfer zwischen den Felsen eingekeilt liegen, mit nur wenig eingedrückten Eisenplanken. Er bot einen ganz schauerlichen Anblick dar.
»Gehen wir hin, untersuchen wir den Inhalt des Wracks. Hoffentlich finden Sie dort den Anzug, den Sie brauchen, Mister Littlelu, und von dort können wir auch die Umwälzung, die doch längere Zeit braucht, bequem beobachten, ohne uns den heißen Sonnenstrahlen aussetzen zu müssen. Außerdem brauchen wir ja auch Proviant, den wir dort schon finden werden.«
Wir machten uns auf den Weg, der nicht allzu schwierig war.
»Alles ganz schön und gut«, meinte Hagen unterwegs, »dass Sie bei dieser Illusion auch an solch ein Wrack gedacht haben, das uns über alle Eventualitäten hinweghilft — nur etwas recht Unnatürliches ist bei der ganzen Sache.«
»Was denn für eine Unnatürlichkeit?«, stellte sich unsere Führerin erstaunt.
»Wie kommt denn dieser Dampfer hier auf das Gebirge herauf?«
»Der ist einfach durch die Gewalt der Katastrophe hier heraufgeschleudert worden.«
»Ach so, ach sooo, da haben Sie allerdings recht, das kann sein, und die Hauptsache ist doch immer, dass man sich zu helfen weiß!«, lachte Hagen. »Werden wir da aber nicht auch Leichen vorfinden?«
»Nein, ausgeschlossen.«
»Weshalb denn nicht?«
»Ich will es Ihnen verraten, Sie Neugieriger, obgleich solche Aufschlüsse eigentlich nicht erlaubt sind. Einfach weil dieser Dampfer schon vor vielen Wochen im Packeis von der darauf befindlichen Mannschaft verlassen worden ist.«
Wir hatten den Dampfer, bei dem man kaum von einem Wrack sprechen konnte, nur dass er auf dem Trockenen lag, erreicht, kletterten an einem Fallreep empor. Bei dieser Gelegenheit fragte ich mich noch einmal, ob denn das nicht alles Wirklichkeit sei. Ich tat dies noch mehrmals, will es aber nicht immer wiederholen. Jedenfalls ließ auch nicht das Geringste etwas an Wirklichkeit vermissen.
Wir durchwanderten die unteren Räume, kamen in die Kajüte des Kapitäns, auf dem Schreibtisch lag auffallend ein beschriebenes Papier, unsere Führerin nahm es schnell.
»Aaah, die letzte Mitteilung des Kapitäns Paulsen, ehe er das Schiff verließ. Alles ist angegeben, auch die Art der Fracht. Verhungern können wir jedenfalls während der 20 Jahre, die wir hier zu beobachten haben, nicht, zu essen haben wir reichlich. Hören Sie, meine Herren. Der norwegische Dampfer ›Swokal‹ aus Christiania, 5000 Tonnen, vollbeladen nach Stockholm mit Stockfisch und geräuchertem Seehundspeck —«
Ein gellender Schrei unterbrach die Vorleserin, und der einzige Eskimo, der sich noch unter uns befand, Littlelu, fiel platt auf den Rücken.
»Gnade, Erbarmen«, fing er zu winseln an, »kürzen Sie die 20 Jahre auf 20 Minuten ab — ich will zurück auf die allgemein menschliche Ebene —«
Er winselte weiter, mir ganz unverständlich, während die anderen aus vollem Halse lachten.
Erst später erfuhr ich, dass dieser kleine dicke Herr alles andere vertragen konnte, nur nicht Stockfisch und Seehundspeck — ich hörte, was er schon früher einmal mit diesem Zeuge erlebt hatte — und nun hatte er die angenehme Aussicht, zwanzig Jahre lang nichts als Stockfisch und Seehundspeck essen zu müssen, und zwar in einer reellen Wirklichkeit, wovon ich mir jetzt immer noch keine richtige Vorstellung machen konnte, das musste ich erst noch erfahren.
»Das ist ja nur astraler Stockfisch und astraler Seehundspeck«, wurde er lachend getröstet, »den essen Sie ja nur in Ihrer Einbildung.«
»Gehen S' mir weg mit Ihrer Einbildung, lassen S' mich außi, lassen S' mich außi«, fing der Kleine jetzt in österreichischem Dialekt zu jammern an, wirklich zu weinen, »ich will auf meine irdische Ebene zurück, an Bord der ›Freya‹ —«
»Na, warten Sie doch, hätten Sie mich doch aussprechen lassen!«, fiel ihm Atalanta ins Wort. »Gewesen ist der Dampfer, von Christiania nach Stockholm vollbeladen mit Stockfisch und Seehundspeck! Er befand sich bereits auf der Rückfahrt, und jetzt hat er besonders Mehl und Hülsenfrüchte und Salzfleisch und Konserven aller Art geladen. Na, klingt das nicht anders?«
Langsam hatte sich Littlelu wieder erhoben.
»Kein Stockfisch und Seehundspeck?«
»Den hatte er auf der Hinfahrt geladen, wie ich schon sagte!«
Mit einem unbeschreiblichen Gesicht machte der Komiker nach der Sprecherin eine Faust.
»Frau Gräfin — das war wieder so ein tückischer Streich von Ihnen — aber den Schreck, den Sie mir da eingejagt haben, den vergesse ich Ihnen nicht so bald —«
Nach diesem kleinen Intermezzo setzten wir die Untersuchung des Wracks weiter fort, die ja Interessantes genug bot, und es war schon dafür gesorgt worden, dass wir alles, alles das fanden, was wir nur irgendwie brauchen konnten.
So verging der ganze Nachmittag, bis Punkt sechs Uhr, wie es sich direkt auf dem Äquator nach astronomischem Gesetze gehört, die Sonne unter dem Horizont verschwand, ohne eine Dämmerung brach plötzlich die Nacht an, und an den Sternbildern über uns hätte kein Astronom etwas auszusetzen gehabt.
Der letzte Sonnenblick hatte uns nur eine unübersehbare Wasserfläche gezeigt, unter der aber sich noch Eis befand, wie sich auch hier oben nur an besonders der Sonne ausgesetzten Punkten schon schwarzer Stein zeigte.
Sonst war auch hier oben noch alles Eis oder vergletscherter Schnee, so schnell ging das Wegschmelzen doch nicht, sollte es möglichst natürlich vor sich gehen.
Wir aßen und tranken und verlebten in der Kajüte noch einige humorvolle Stunden, ehe wir unsere Kabinen aufsuchten.
»Also vergessen Sie nicht, meine Herren«, sagte Atalanta noch beim Gutenachtgruß, worüber wir aber schon vorher gesprochen hatten, »wenn Sie morgen früh aufwachen, so sind unterdessen schon drei Tage vergangen. Auf diese Weise wollen wir die Zeit doch etwas abkürzen.«
Als ich mich zur Koje gelegt hatte, wurde ich jetzt in der Einsamkeit etwas kopfscheu, gewöhnte mich aber doch immer mehr in die absonderlichen Verhältnisse. Wie mir dabei zumute war, wie ich immer wusste, dass dies alles ja nur eine Illusion sei, ohne dass ich doch irgendwie die Wirklichkeit vermisste, vermag ich unmöglich zu schildern.
Ich hatte einen traumlosen Schlaf, hörte aber doch immer die stürzenden Wasserfälle donnern, nur vielleicht gegen Morgen nicht mehr.
Der Sonnenaufgang weckte mich. Mein erster Blick war durch das runde Fensterchen, das nach Osten führte.
Von Eis und Schnee nichts mehr vorhanden, aber auch kein Wasser mehr. So weit das Auge reichte, dehnte sich eine Ebene von graugrüner Färbung aus, der ursprüngliche Meeresgrund, jedenfalls mit Algen bedeckt gewesen.
Von Deck aus, wo wir uns bald zusammenfanden, hatte man freie Umschau nach allen Richtungen. Überall dasselbe, eine graugrüne Fläche von endloser Ausdehnung. Das heißt dort unten in der Tiefe. Hier auf dem Gebirge starrte jetzt alles von schwarzen Basaltmassen. Gleich neben dem Wrack sprang aus einer Spalte ein klarer Quell mit eiskaltem Wasser hervor, der auch immer fließen sollte, und solcher Quellen gab es noch gar viele, die aber alle nach Osten hinabfielen.
»Drei Tage sind also vergangen«, erklärte Atalanta, »wenn Sie im Schlafe auch nichts davon gemerkt haben. Unterdessen ist der ehemalige Meeresgrund dort unten vollständig abgetrocknet, oder es ist doch alles Wasser abgeflossen.
Nun käme es in der weiteren Entwicklung darauf an, ob dieses von Norden nach Süden verlaufende Gebirge, dessen Kamm 250 Meter über der Ebene liegt, imstande ist, die atmosphärische Feuchtigkeit in Regen niederzuzwingen.
Tut es dies, so wird sich dort unten der ehemalige Meeresgrund nach und nach in fruchtbares Land verwandeln. Die verwesenden Algen geben schon die erste Düngung. Erst würde eine Steppe entstehen, dann Prärie, zuletzt Wald. Wenn es der Boden irgendwie zulässt. Für Herzutragen der Pflanzensamen würden schon die Vögel sorgen, die sich bald einstellen werden.
Zwingt aber das mit seiner Höhe kühlere Gebirge keinen Regen herab, so muss sich dort unten der ehemalige Meeresgrund in eine sterile Wüste verwandeln, die höchstens einige dornige Salzbüsche erzeugen kann, auch wenn diese Quellen aushalten würden. Diese würden dann nach kurzem Laufe im Wüstensande versickern.
Wir können hier auf der Astralebene alles nach Willkür gestalten. Diese Erklärung gilt hauptsächlich Ihnen, Herr Kapitän Volland, wenn es für Sie vielleicht auch keine richtige Erklärung ist. Das kommt dann schon später.
Also ich habe die weitere Gestaltung ganz nach Willkür in der Hand. So werde ich dieses Gebirge als Regenscheide einsetzen. Auf der Ostseite soll Regen fallen, auf der Ostseite soll daher dort unten auch Vegetation entstehen, Auf der Westseite aber soll niemals ein Tropfen Regen fallen, auf der Westseite wird sich der ehemalige Meeresboden daher in eine sterile Wüste verwandeln. Dieses Kammgebirge ist die Grenze zwischen diesen beiden Regionen, das zeigt sich dann auch schon an seinen verschiedenen Abhängen.
Unnatürlich ist dies durchaus nicht. Ganz dasselbe findet man wirklich in verschiedenen Erdteilen, zum Beispiel in Algerien, wo manches Kammgebirge eine scharfe Grenze zwischen einer Landschaft von üppigster Fruchtbarkeit und einer Sandwüste ist. Nach dem Frühstück wollen wir uns einmal hinab begeben.«
So geschah es. Nur eine halbe Stunde Abstieg war nötig, ohne besondere Schwierigkeit, so hatten wir die Talsohle erreicht, die östliche.
Angenehm war es hier unten durchaus nicht. Der mit einer dicken Schicht feuchter Algen bedeckte Boden, dazwischen zahllose noch lebende, aber bereits sterbende Muscheln hauchten schon einen penetranten Geruch aus. Wir machten, dass wir wieder hinauf kamen.
Jetzt wandte ich mich einmal an meinen Freund mit einer Frage, die mir schon seit längerer Zeit am Herzen gelegen hatte.
»Ich glaube ja, dass wir hier nicht schon drei Tage oder auch nur eine einzige Nacht sind, dieses Zeitmaß ist nur eine Täuschung — ganz abgesehen von den zwanzig Jahren, die wir hier zubringen sollen — aber immerhin, einige Zeit muss doch verstreichen. Wirst Du denn da gar nicht an Bord Deines Schiffes vermisst?«
»Da müsstest Du doch erst fragen, wo wir jetzt eigentlich in Wirklichkeit sind.«
»Hm, ja. Wir stecken doch in der Kammer, in die Du mich geführt hast. Was treiben wir nun eigentlich drin?«
»Nun, was meinst Du wohl?«, lächelte Hagen.
»Liegen wir schlafend da?«
»Ich will Dir diese Frage in anderer Weise beantworten. Welche Zeit ist es jetzt? Hast Du eine Uhr bei Dir?«
Die hatte ich, sie ging mit der Schiffsuhr der »Freya« überein, Es war jetzt gleich halb zehn.
»Und wann bist Du mit mir in die Kammer getreten?«
»Genau 20 Minuten vor elf.«
»So komm, tritt hier einmal durch diese Tür. Ist sie auch offen? Ja, sie lässt sich öffnen. Also komm.«
Dieses Gespräch hatte auf einem Korridore des Schiffes stattgefunden. Also Hagen selbst wusste gar nicht, wohin diese Tür führte.
Und in demselben Augenblick, da ich die hohe Schwelle überschritt, ging es mir wie ein Ruck durch alle Glieder und mehr noch durchs Gehirn, und zu meinem grenzenlosen Erstaunen sah ich mich wieder in der Kajüte der »Freya«, trat aus jener Kammer heraus, in die ich vorhin eingetreten war.
Hagen wies nach der Sanduhr.
»Welche Zeit?«
»Zwanzig Minuten vor elf!«, stammelte ich, riss meine eigene Uhr hervor und erkannte, dass auch auf ihr dieselbe Zeit war.
»Setze Dich, Paul, Du kannst so etwas vertragen, sonst hätte ich Dir kein solches Experiment vorgemacht, das heißt die anderen, unter deren Leitung auch ich stehe, hätten es nicht getan. Die aber kennen Dich weit besser als Du Dich selbst.
Lass Dir erklären, so weit es vorläufig bei Dir möglich ist.
Es gibt keinen Raum und keine Zeit. Das sind nur Begriffe, die wir Menschen uns gemacht haben, weil wir die Täuschung eben nicht verstehen.
Einer der wenigen Menschen, die diese Wahrheit, dass nämlich Raum und Zeit nur Täuschungen sind, intuitiv erkannt hatten, ohne Adept zu sein, ist zum Beispiel Immanuel Kant gewesen.
Aber vergebens hat er sich abgemüht, diese seine Erkenntnis in seiner Schrift ›Das Ding an sich‹ der anderen Menschheit klar zu machen. Eben, weil es ihm nicht gelungen ist, ist zur Erklärung dieser Schrift schon eine ganze Bibliothek entstanden.
Ich kann Dir wenigstens ein Gleichnis sagen, wie es zu verstehen ist, wie alles, was jemals passiert ist und in fernster Ewigkeit noch geschehen wird, sich im Grunde genommen jetzt in diesem einzigen Augenblick abspielt.
Nimm einen Gummistreifen an, von einer Art Gummi, der von höchster Elastizität ist, sich meilenweit ausdehnen lässt, dann wieder zu einem Streifen von einem Millimeter Breite sich zusammenzieht.
Auf diesen auseinander gezogenen Streifen male oder schreibe alle Geschehnisse der Weltgeschichte. Oder nimm nur einen kinematografischen Filmstreifen an, der eine längere Szene wiedergibt. Nun lass den Streifen zusammengehen, so hast Du das alles in einem Millimeter Breite zusammengedrängt.
Das ist das einzige Beispiel, wie man das erläutern kann. Anders ist es nicht möglich, und das Richtige ist es ja noch längst nicht.
Auf diese Weise aber ist es auch allein erklärbar, wie ein wahrer Hellseher in die Zukunft schauen kann, ohne dass dessen Willensfreiheit doch irgendwie beschränkt ist. Alles, was geschieht, geschieht eben in einem einzigen Augenblick, und das zu erkennen, das ist der Zweck der ganzen indischen Philosophie.
Schon das Anziehen der Pelzkostüme in jener Kammer war nur eine Komödie, nur eine Illusion. Du bist nur über die Schwelle getreten, sofort habe ich Dich wieder umdrehen lassen, und in diesen wenigen Sekunden hast Du dies alles erlebt oder geträumt — aber dieser Traum ist Wirklichkeit, wenn Du Dich nicht gegen diese Annahme sträubst.«
Der Sprecher nachte eine Pause. Es war nicht so ganz unverständlich für mich, was er da gesagt hatte, aber natürlich konnte ich nur staunen.
»Haben denn nun auch Mister Maxim und der Schiffsarzt und alle anderen dasselbe geträumt wie wir?«
»Ja, Genau dasselbe. Und die wissen auch, dass wir dasselbe geträumt haben. Aber wann die das geträumt haben, das ist ganz gleichgültig, ob schon vor zehn Jahren oder ob sie es erst nach zehn Jahren tun werden. Es gibt eben nur einen einzigen Augenblick im ganzen Zeitraum. Das verstehst Du nicht? Das kann ich Dir jetzt auch nicht begreiflich machen. Das musst Du später intuitiv erfassen.
Du bist dazu bestimmt, einer der Unsrigen zu werden. Weshalb Du dazu bestimmt bist, weiß ich nicht. Auch ich war von jenen, welche es wissen, von vornherein dazu bestimmt. Auch bei Atalanta war es der Fall. Schweres, sehr Schweres hat sie durchmachen müssen, ehe sie in jenes Reich eingeführt wurde, wo es kein Unglück, kein Leid mehr gibt.
Als sie dieses Land der Gedankenwelt erreicht hatte, konnte sie ihren Gatten einführen. Dann hat sie mich eingeführt. Und jetzt bin ich beauftragt, Dich einzuführen, und ich muss gehorchen.
Ich bin nicht etwa hellsehend. Keine Spur davon. Aber diejenigen, die mich führen, unter deren Führung auch noch Atalanta steht, sind es. Die sagten mir, dass der Mann, den ich unter meine spezielle Leitung nehmen soll, sich in höchster Seenot befände. Ich musste meinen Kurs nach Vorschrift ändern, habe Dich gerettet.
Dieses Ändern des Kurses ist das Einzige, was jene Tranlampe rätselhaft finden kann. Paul, bin ich etwa ein träumerischer Geisterseher geworden?«
Hagen hatte mir die Hand aufs Knie gelegt, blickte mich lächelnd an, der Mann, der heute früh unter fürchterlichem Schwören und Fluchen die herrlichsten Heldentaten verrichtet hatte, der gewaltigsten Willenskraft entspringend.
Also da brauchte ich gar keine Antwort zu geben.
Er schloss schnell einmal die Augen.
»O Paul«, sagte er, mich gleich wieder anblickend, »wenn Du wüsstest, was ich in diesem einzigen Momente, da ich schnell einmal die Augen schloss, alles geschaut und erlebt habe! Denn für uns, die wir schon mehr eingeweiht sind, ist es nicht mehr nötig, eine Schwelle zu überschreiten. Wir sind in einem Augenblicke überall, und jede Sekunde kann, wenn wir wollen, eine ganze Ewigkeit sein.
Sieh, Paul, ich habe das längst ersehnte Glück endlich, endlich gefunden! Auf dieser irdischen Ebene an Bord meines Schiffes zu leben, im Kreise meiner Familie, mich dabei mit Arbeit herumzuwürgen, mit den Elementen zu kämpfen, dem Tode die schon gefasste Beute noch aus dem Rachen zu reißen — — das ist meine Lust auf dieser irdischen Ebene. Und dann schließe ich für einen Moment die Augen und versetze mich im Geiste auf der Astralebene, wohin ich will, erlebe alles, was ich will, so lange ich will. Und nichts, gar nichts büßt an Realität ein. Und hierin wird mein einstiger Tod keine Unterbrechung bringen.
Doch das verstehst Du noch nicht, das kommt erst später.
Jetzt wollen wir zurückkehren nach dem tropisch gewordenen Nordpol. Aber wir wollen die Zeit schneller überspringen. Zwanzig Jahre sind auch noch nicht genug, da würdest Du erst kleineren Baumwuchs sehen. Überspringen wir doch gleich hundert Jahre. in dieser Zeit ist dort unten ein richtiger Urwald entstanden, und die Zeit hat auf dieser Astralebene ja gar nichts zu bedeuten. Du bleibst natürlich, der Du jetzt bist.
Und Du hast auch nicht mehr nötig, dort die Kammer zu betreten. Hier nimm diesen Talisman in die Hand, an den die Astralkraft gebunden ist, und schließe für einen Moment die Augen.«
Er gab mir einen roten, haselnussgroßen Stein, ich musste ihn in die linke Hand nehmen, schloss die Augen und —
Und ich befand mich wieder an Deck jenes Dampfers. Aber wie hatte sich alles verändert! Nach Westen hin erstreckte sich endlos eine gelbe Wüste, nach Osten erblickte ich ein grünes Laubmeer, das sich auch noch den Abhang heraufzog, aus zum Teil mächtigen Bäumen bestehend, hier und da durchzogen von blumigen Prärien, die sich dann ins Endlose fortsetzten, durchschlängelt von silbernen Wasserfäden.
Das Deck des Dampfers war wohl noch als solches zu erkennen, vor allen Dingen aber war der ganze Schiffsrumpf mit Schlingpflanzen umgeben, die über der Bordwand abgeschnitten worden waren, sonst wäre das ganze Schiff schon längst überwuchert, und an Deck befanden sich verschiedene Vorrichtungen und Werkplätze, welche verrieten, dass hier ein Jägervolk hauste, das auf sehr primitive Weise die Felle des erbeuteten Wildes gerbte und zu Kleidern verarbeitete und das Fleisch räucherte.
Aber auch Ackerbau wurde schon getrieben. Wenigstens war dort unten neben der Quelle ein größerer Garten angelegt, in dem verschiedene Gemüsearten gediehen.
Wie ich alles so noch erstaunt betrachtete, im Augenblick gerade eine in der Nähe stehende hohe Kokospalme mit reifen Früchten, hörte ich hinter mir ein Geräusch, und wie ich mich umblickte, sah ich aus einer Luke einen Mann klettern, den ich wohl für einen Indianer halten musste, auch wenn er sehr klein und dick war. Aber es gibt doch sicher auch kleine und dicke Indianer. Bekleidet war er nur mit ledernen Hosen und Mokassins, der schwarzbraune Oberkörper, trotz seiner Dicke sehr muskulös, war nackt, und das lange, straffe Haar umrahmte ein bartloses Gesicht von finsterem Ernst. Für einen anderen wäre es eine sehr gefährliche Erscheinung gewesen, denn einmal hatte der zum Wilden herabgesunkene Littlelu — denn kein anderer war es — in der einen Hand einen Bogen, viel größer als er selbst, die andere Hand umspannte ein Bündel meterlanger Pfeile mit gefährlichen Stahlspitzen, und jetzt begann er mit ganz unheimlichen Augen auf mich zuzuschleichen, dabei den Kopf oder vielmehr den Hals wie den einer Schildkröte hervorreckend, als bestände er aus Gummi elastikum.
»Kapitän Paul Volland!«, fing dieser tropische Wilde des ehemaligen Nordpols jetzt langgedehnt in einem merkwürdigen deutschen Dialekt an. »I sieh emal ahn! I wo haben Sie denn die ganzen hundert Jahre gesteckt?! Na, nun hört sich aber doch alles auf! Lässt der uns hier den ganzen Nordpol umkrempeln, und der treibt sich inzwischen mit Stiefeln und Krawatte in der Welt herum, ganze hundert Jahre lang! Aber hören Sie, mein Freund, sehen Sie sich mal dort unten den Gemüsegarten an — das ist mein Werk, den habe ich aufgehalst bekommen, weil ich auf der Jagd ja doch nur immer daneben schieße — den habe ich hundert Jahre lang jeden Tag zweimal begossen — jetzt aber kommen Sie an die Reihe —«
So schwatzte er noch weiter. Ich konnte natürlich nur lachen.
»Wo ist Kapitän Hagen?«
»Der ist mit Atalanta und dem Grafen auf der Elefantenjagd.«
»Was, Elefanten?!«
»Ja natürlich, wir haben hier schon längst Elefanten und Fliegen und Bienen —«
»Wie sind die denn hierher gekommen?!«
»Nu, die sind von Stürmen hergeweht worden.«
»Die Elefanten?!«
»Nee, die Elefanten nich, die Fliegen und Bienen. Die müssen wir hier doch haben, sonst befruchten sich doch die Pflanzen nicht.«
»Ja, aber wo kommen denn nur die Elefanten her?«
»Nu, die sind so nach und nach hierher spaziert. Wenn sich die Erde um 90 Grad gedreht hat, sodass es am Nordpol heiß geworden ist, dann muss es doch dort, wo es früher heiß gewesen ist, kalt geworden sein. Na, und wo es den Elefanten nun zu kalt geworden ist, da sind sie eben ausgewandert, nach dem ehemaligen Norden hinauf, wo's nun hübsch warm ist. Indische Elefanten waren mit die ersten Vierfüßler, die hier eintrafen. Ach, die sind schon lange, lange da, die ersten Ankömmlinge haben schon wieder Enkel. Dann folgten besonders Büffel nach und Antilopen, alles aus Indien stammend, oder auch aus den asiatischen Steppen jenseits des Himalajas, dann aber stellten sich auch gleich Tiger und andere Raubtiere ein. Zuerst waren natürlich die tropischen Vögel hier — da, sehen Sie mal —«
Kreischend flog über unsere Köpfe ein mächtiger Schwarm Papageien weg.
Littlelu legte schnell einen Pfeil auf den Bogen.
»Lieben Sie Papageienbraten, Herr Kapitän? Dann fangen Sie sich gefälligst selber einen. Oder Sie dachten wohl, ich würde einen schießen? Ich werde mich hüten! Der Schwarm mag noch so dicht sein, ein Loch ist doch immer dazwischen, und ich schieße ganz sicher durch dieses Loch. Und dann ist wieder ein Pfeil futsch, der einen ganzen Tag Arbeit gekostet hat. Denn so ein Luder findet man niemals wieder. Aber, Herr Kapitän, haben Sie nicht unterdessen das Pulver erfunden? Zeit genug haben Sie in den hundert Jahren doch gehabt, und das dazu nötige Gesicht haben Sie auch, um das Pulver erfinden zu können.«
»Haben Sie keine Gewehre mehr?«
»Gewehre wohl noch, wir putzen sie sogar noch ab und zu mit Papageienfett — aber das Pulver fehlt uns, lieber Kapitän, das Pulver! Oder können Sie mit einem Feuergewehr ohne Pulver schießen?«
»Das kann doch gar nicht so schlimm sein, Pulver herzustellen.«
»Na, da machen Sie's uns doch einmal vor. Sie werden dann hier das erste Denkmal am ehemaligen Nordpol errichtet bekommen. Holzkohle haben wir ja hier genug, auf Mistbeeten haben wir auch schon Salpeter wachsen lassen, aber der Schwefel, lieber Kapitän, der Schwefel! Ich glaubte schon einmal ein Pulver erfunden zu haben. Ich hatte die getrockneten Kapseln einer Art von Gänseblume zerstoßen, das Zeug gab auch ein ganz gutes Insektenpulver ab, sogar gänzlich rauchlos, aber schießen konnte man damit nicht. Na, nur den Mut nicht verlieren, mit unserer Intelligenz werden wir in den nächsten tausend bis dreitausend Jahren schon so eine Erfindung machen, bis dahin behelfen wir uns mit Fitschepfeilen.«
Ein rasselndes Sausen ertönte.
»Was ist das?«
»Das ist unser Rhinozeros. Das erste und einzige, was hier eingetroffen ist, erst vor zehn Jahren. Ein Männchen, das zu der kurzen Promenade von Indien nach hier ganze neunzig Jahre gebraucht hat. Vielleicht ist es auch unterwegs mehrmals gestorben und wiedergeboren worden. Das hat sich eben Zeit genommen. Jetzt girrt es immer nach einem Weibchen, will es aus Indien nachlocken. Wenn wir erst mehr hier haben, wollen wir eine Rhinozeroszucht anlegen. Na ja, Rhinozerosse sind doch nichts weiter als etwas große Schweine. Ich freue mich schon auf Rhinozerosschlackwurst und Nashorneisbeine, das Sauerkraut dazu wächst schon dort unten.«
Aber das rasselnde Sausen kam in unheimlicher Weise näher und näher, und zwar nicht von unten, von der Seite her, sondern von oben aus der Luft.
Und als Littlelu wie ich nach oben blickte, da behielt auch er erst einige Zeit den Mund offen.
»Nee«, sagte er dann, »das war ein Irrtum, das ist kein Rhinozeros, was da oben fliegt und solchen Spektakel macht, sondern das ist ein Luftschiff!«
Ja, es war ein mächtiges Luftschiff, welches da herangebraust kam, von Westen her, über die Wüste weg. Meiner Ansicht nach war es ein starres, nach Zeppelin'scher Bauart, nur dass die Gondel so lang wie der ganze Ballonkörper war.
»Haaaahh«, fing da Littlelu plötzlich zu schreien an, mit ganz verklärtem Gesicht, die Arme nach dem Luftschiffe ausbreitend, »jetzt weiß ich es — — dort kommt Kolumbus — na Gott sei Dank, endlich sind wir entdeckt!«
Das Luftschiff kam schnell heran, fuhr in etwa 300 Meter Höhe über unseren Köpfen hinweg.
»Hier, hier sind wir!«, brüllte Littlelu hinauf und schwenkte ein weißes Fell. »Hier, hier — wir wollen entdeckt sein — kommt nur herunter, braucht Euch nicht zu fürchten, wir sind ganz harmlose Wilde — wir wollen Eure Kultur haben — Kultur und Schnaps — die Seife könnt Ihr selber behalten!«
Aber wir wurden nicht beachtet, das Luftschiff flog über uns weg dem Osten zu, wurde kleiner und kleiner.
»Zu dumm — fliegt der Kerl vorüber — der will uns nicht entdecken — und wir brauchen so nötig Kultur, nur die allernötigste Zivilisation mit ihrem Segen — wir haben schon vor achtzig Jahren die letzte Buttel Rum ausgetrunken. Und da haben wir uns einschränken müssen. Es waren nur zweitausend Flaschen vorhanden.«
»Wo mag dieses Luftschiff herkommen?«, fragte ich.
Ob ich mir dabei bewusst war, dass ich dies alles nur träumte oder nicht, darauf will ich mich hier nicht einlassen. Das zu erörtern ist überhaupt unmöglich, oder es wäre lächerlich.
Es wäre ebenso lächerlich, als wenn man im Theater sitzt, ein klassisches Drama sieht, in früherer Zeit spielend, und man wollte sich immer sagen: Das ist ja alles nur bemalte Pappe, das sind ja gar keine wirklichen Ritter, das sind ja nur Schauspieler, die sich so kostümiert haben, und wenn das Stück aus ist, dann gehen Sie an den Stammtisch.
Keinem vernünftigen Menschen fallen im Theater doch solche Gedanken ein. Also jetzt auch mir nicht. Ich nahm alles, wie es eben kam.
Wer sich aber vielleicht daran stößt, dass diese Szene auf der Astralebene, im Reiche der Träume, zu einer Burleske ausartete, der sei zum Beispiel an Shakespeares göttlichen »Sommernachtstraum« erinnert, der jetzt nach mehr als 400 Jahren in Berlin wiederum eine Serienaufführung von mehr als hundert Vorstellungen erlebt hat, von allerersten Künstlern mit glänzendster Dekoration gespielt. Und dieser klassische »Sommernachtstraum« ist wohl das Tollste der Phantasie, was je auf die Bühne gebracht worden ist, die verwegenste Verschmelzung des edelsten, erhabensten Idealismus mit dem verrücktesten Zeug. Es sei nur einzig und allein daran erinnert, wie die Elfenkönigin Titania den Liebestrank bekommt, sich beim Erwachen in den Weber Zettel verliebt, der plötzlich einen Eselskopf hat und der Elfenkönigin die Blumen aus den Haaren frisst. Und nun dabei immer die edelste Sprache!
»Wo mag dieses Luftschiff herkommen?«, fragte ich also.
Littlelu wusste sofort eine ganz treffende Antwort.
»Ganz sicher von dort, wo es Menschen gibt, die in den hundert Jahren seit jener Erdkatastrophe nicht bis zu Fitschepfeilen herabgesunken sind.«
»Wissen Sie, wie es sonst nach dieser Katastrophe auf der Erde aussieht?«
»Ich nicht, Sie? Hierher hat sich noch kein Briefträger mit einer Zeitung verirrt. Da — da — das Luftschiff dreht um!«
Es kehrte zurück, Flaggen verschiedener Farbe wurden geschwenkt. Menschen waren noch nicht zu erkennen, obgleich es immer tiefer ging.
Offenbar suchte es einen Ankerplatz, und bald hatte es einen solchen gefunden, legte sich auf dem Gebirgskamm nieder, alles schien glatt vonstatten zu gehen. Es war undeutlich zwischen den Bäumen zu sehen.
»Und Atalanta nicht da, kein anderer! Da muss ich den Besuch wohl empfangen. Denn herkommen muss Kolumbus zu uns, wir gehen nicht hin. Warten Sie, ich werde mich in Gala werfen.«
Er verschwand in einer Luke, und als er bald wieder zum Vorschein kam, hatte er seinen braunschwarz gebrannten Oberkörper und auch sein Gesicht mit allerhand wunderlichen Figuren bunt bemalt, auf dem Kopfe eine Krone von bunten Papageienfedern.
»Und Sie mit Ihrem unmodernen europäischen Kostüm? Wissen Sie was, ziehen Sie sich mal in den Hintergrund zurück, Sie könnten sonst den ganzen Eindruck der unbeleckten Wildheit zerstören.«
Ich begab mich in das Kartenhaus auf die Kommandobrücke, von wo ich alles unbemerkt sehen und hören konnte.
»Da kommen sie schon! Chinesen, wahrhaftig, Chinesen! — Da hatten wir doch recht, wenn wir gegen andere so oft behaupteten, dass es die Chinesen sein würden, die einst die Erde beherrschen werden — na, die Brüder sollen ja aber hier noch etwas erleben, bei uns kommen sie doch noch etwas zu früh.«
Es waren Chinesen, meist Soldaten in alter, heimatlicher Tracht, wie sie mir bekannt war, nicht gerade einen sehr militärischen Eindruck machend, auch der Zopf, den sie sich schon einmal abgeschnitten haben sollten, musste wieder zu Ehren gekommen sein. Aber bewaffnet waren sie vorzüglich, mit Gewehren, deren Konstruktion ich gar nicht kannte, aber jedenfalls die besten Magazinhinterlader. Geführt wurden sie von einem Manne, der nun vollends ganz dem historischen Mandarin in langen, seidenen Gewändern und mit der Pfauenfeder auf dem Kopfe glich.
Sie erstiegen die bequeme Treppe, die unterdessen gezimmert worden war, und standen dem geschmückten »Wilden« gegenüber, der sich mit nachlässigem Stolze auf eine lange Bambuslanze lehnte, in der anderen Hand eine schwere Kriegskeule, die freilich sonst nur als Kartoffelstampfer diente.
Erst fremde Worte, und ich wunderte mich nicht, dass ich auch hier in dieser fremden Welt kein Chinesisch verstand.
»Sprichst Du Englisch?«, fragte der Mandarin.
»Yes!«, entgegnete der geschmückte Wilde, immer mit unnachahmlichem Stolze, ohne jede Befangenheit. »Englisch, Deutsch, Deitsch, Jiddisch, Jiddisch-Deitsch, Deitsch-Jiddisch, und durch de Nos. Bist Du Kolumbus?«
»Ich bin ein Sohn des himmlischen Reiches —«
»Das habe ich mir gleich gedacht, Also Du bist nicht Kolumbus? Never mind. Entdeckt sind wir nun doch, da ist nun gar nichts mehr dagegen zu machen. Bringst Du uns die Zivilisation? Her mit dem Schnaps!«
»Wer bist Du?«
»Ich bin Littlelu, der stellvertretende Vizekönig Ihrer Majestät Atalanta, Herrscherin dieses bisher noch unbekannt gewesenen Erdteils.«
»Weißt Du, was das ist, worauf Du hier stehst?«
»Das ist ein Schiff.«
»Du kennst noch diesen Namen?«
»Wie Du hörst. Ich bin zwar ein sogenannter Wilder, aber nicht so ungebildet, wie Du denkst.«
»Wie kommt dieses Schiff hierher?«
»Das ist vor hundert Jahren hierher geschleudert worden, als hier noch alles Schnee und Eis war.«
»Du weißt von jener Erdkatastrophe?«
»Mein Großvater hat mir noch oft genug davon erzählt, und ich erzähle es wieder meinen Söhnen und Enkeln.«
»Dein Großvater gehörte mit zur Besatzung dieses Schiffes?«
»Yes, er war — Du, der eine Soldat dort kratzt sich, solche Tierchen möchten wir nicht hier haben, wir sind noch ganz rein geblieben — er war erster Küchenjunge auf diesem Schiffe.«
»Es waren also auch Frauen an Bord dieses Schiffes?«
»Frauen? Nee, Keine einzige. Nur Männer.«
»Wo haben die Überlebenden da die Frauen herbekommen?«
»Frauen? Was denn für Frauen? Wozu denn?«
»Ihr habt Euch doch vermehrt.«
»Na ja, natürlich. Aber wozu braucht man denn die Frauen? Ach so, ich weiß, was Du meinst — ach, das haben wir längst überwunden, wir brauchen keine Frauen mehr, um uns fortzupflanzen. Diese Erfindung haben wir schon längst gemacht. Nur mit dem Pulver und mit dem Schnaps sieht es noch faul aus, das bringst Du uns doch hoffentlich mit.«
Der Mandarin verzog keine Miene, ebenso wenig die anderen. Es waren Chinesen.
»Wo sind Deine Landsleute?«
»Die sind im Walde und sammeln Gold.«
Da zuckte es im ledernen Gesichte dieses Chinesen aber doch auf.
Das rote Metall hatte durch die Erdkatastrophe also nicht am Werte verloren.
»Gold?!«
»Jawohl, Gold.«
»Gibt es hier viel Gold?«
»Überall liegt es herum.«
»Ganz offen?«
»Ganz offen.«
»Was macht Ihr denn mit dem Golde?«
»Nun, wir vergraben es in der Erde.«
»In der Erde vergraben? Weshalb denn?«
»Damit das Gemüse gut wächst.«
»Damit das Gemüse gut wächst? Das verstehe ich nicht.«
»Das wundert mich. Was macht Ihr denn in Eurer Heimat mit dem Golde?«
»Das gilt als Tauschmittel.«
»Als Tauschmittel? Nee, für solches Gold kann man hier nichts eintauschen«
»Oder wir hängen es unseren Frauen in die Ohren, schmücken sie sonst damit.«
»Mit Gold? Nee, das ist hier bei uns kein Schmuck.«
Littlelu bückte sich und hob etwas auf. Es schienen hier doch schon eine Art Ziegen oder Schafe als Haustiere gehaltenen zu werden, an Deck lagen einige solcher kleinen, runden Kugeln herum.
Eine solche kleine, schwarze Kugel hob Littlelu auf und präsentierte sie dem Chinesen.
»Das nennen wir Gold. Von solchem Zeuge liegt hier bei uns im Walde und in der Steppe alles voll. Aber sowas uns in die Ohren oder gar in die Nase zu hängen, wie in Deiner Heimat — — nee, das tun wir nicht.«
Unbeschreiblich war das furchtbar dumme Gesicht, das Littlelu bei diesen Worten machte, unbeschreiblich auch das Gesicht, welches der Chinese jetzt zog, wie er die kleine schwarze Kugel betrachtete. da konnte ich nicht mehr an mich halten, ich platzte los — —
In diesem Augenblick ging es mir wie ein Feuerstrom durchs Gehirn, ich verlor das Bewusstsein, aber wohl nur für einen einzigen Moment, und dann sah ich mich in einem mit tropischen Blumen geschmückten Raume, alles von orientalischer Pracht — doch ich kann es nicht schildern, ich habe mich nicht umgesehen — sah nur das junge Weib, das vor mir auf einem thronartigen Stuhle saß, in reiche indische Gewänder gekleidet, und ich erkannte den weiblichen Eskimo wieder, erkannte Atalanta.
Lächelnd bot sie mir die Hand, und es war eine lebenswarme Hand, die ich ergriff.
»Nun genug der tollen Komödie!«, sagte sie mit wunderbar melodischer Stimme. »Meine Freunde hatten so etwas einmal zu schauen begehrt, und ich erfüllte ihren Wunsch, Sie wurden Zeuge davon.
Sie werden ja noch oftmals solchen Erlebnissen auf der Astralebene beiwohnen, es werden auch oft genug ernstere Sachen sein, bis Sie selbst imstande sind, sich ganz nach Willkür solche Visionen zu erzeugen.
Denn Sie sind einer der Unsrigen. Mein Freund Hagen wird Sie weiter ausbilden.
Er wird Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen.
Auch von mir.
Nur über das, was ich jetzt treibe, was ich jetzt bin, wo ich mich jetzt auf der irdischen Ebene aufhalte, darf er nicht berichten.
Das sollen Sie von mir selbst erfahren.
Ich habe die Macht über die astrale Kraft der Phantasie bekommen, kann sie nach Willkür bemeistern, und zwar habe ich nicht nötig, meine Visionen niederzuschreiben, um mit ihnen andere Menschen zu erfreuen, sondern ich kann diese Visionen denen, die ich liebe, direkt als greifbare Wirklichkeit vorführen.
Aber glauben Sie nicht, dass dies meine eigentliche Beschäftigung ist, in der ich jetzt ganz aufgehe.
Das sind ja überhaupt nur Momente.
Auch ich habe einen Beruf, durch den ich der Menschheit nütze.
Sonst könnte ich mich auch nie so glücklich fühlen, wie ich jetzt bin.
Mein Beruf dünkt vielen als der schwerste oder doch als ein sehr, sehr schwerer und entsagungsvoller — in anderer Hinsicht ist er der herrlichste Beruf, den ein Mensch, eine Frau ergreifen kann.
Sie sollen ihn erfahren.
Kennen Sie das große Kinderhospital in Bombay?
Dort wirke ich schon seit einem irdischen Jahre unerkannt als christliche Inderin.
Als barmherzige Schwester.
Als Schwester Anna — —«
Sie brach plötzlich ab, schien zu lauschen
»Ich werde gerufen!«, flüsterte sie dann. »Die kleine Maud ruft nach der Schwester Anna. Das arme Kind, die Tochter einer englischen Offiziersfamilie, ist von einem Automobil überfahren worden, hat ein Beinchen verloren. Jetzt liegt sie in fieberwirrem Schlafe, wird von bösen Träumen gequält, wimmert nach ihrer Pflegerin —«
Sie streckte mir wieder die Hand entgegen.
»Nehmen Sie noch einmal meine Hand, Sie sollen mich nach Bombay begleiten, in das Kinderhospital, sollen mich wirken sehen, wie ich meine Macht gebrauche, auf der irdischen Ebene und auf der astralen zugleich —«
In demselben Augenblick, da ich ihre Hand ergriff, ging es wieder wie ein Zuckblitz durch meinen Kopf, plötzlich sah ich mich, ohne mich selbst zu fühlen, in einem komfortablen Krankenzimmer, schon der Geruch ließ gleich darauf schließen, obwohl durch das offene Fenster exotischer Blumenduft hereinströmte, ich sah im Scheine der gedämpften Ampel ein Bett, darin in weißen Kissen das todblasse Gesichtchen eines Kindes, es bewegte sich unruhig hin und her, die eingefallenen Züge wie in Angst etwas verzogen.
»Schwester Anna, Schwester, Schwester!«, wimmerte es leise.
Und aus dem neben dem Bettchen stehenden Lehnstuhl erhob sich eine graugekleidete Gestalt, in der Tracht der barmherzigen Schwestern — ich erkannte sie sofort wieder — Atalanta — und sie nahm ein Glas vom Tisch, hob das Köpfchen des Kindes etwas, ließ es trinken, bettete es zurück, sprach einige beruhigende Worte, und dann legte sie ihre Hand auf die Stirn des Kindes, streckte die andere Hand gegen die Wand aus, machte malende Bewegungen in der Luft und plötzlich war die Wand verschwunden, ich sah im endlosen Raume ein herrliches Blumenfeld im goldenen Sonnenstrahle, Kinderchen mit Flügeln spielten, Engelchen, prächtige Schmetterlinge gaukelten umher, spielten mit den Engelchen, allerhand possierliche Tiergestalten, wie sie ein kindliches Herz im Traume erfreuen mögen —
Ich weiß nicht, wie lange ich zugeschaut habe, selbst ganz verzückt über dieses paradiesische Bild.
Da holte die barmherzige Schwester, die ich dabei auch immer über das Kind gebeugt stehen sah, die Hand gegen mich, ein freundliches Winken, ein Hauchen — »Leben Sie wohl, wir sehen uns täglich wieder« — und wieder ein Feuerstrom durch mein Hirn, ich schlug die Augen auf — saß in der Kajüte der »Freya« ihrem Kapitän Hagen gegenüber.
Wieder war es nur ein einziger Moment gewesen, dass ich, den roten Stein in der Hand, die Augen geschlossen gehabt hatte. Und Kapitän Hagen nickte mir ernst zu.
»Es war Wirklichkeit, was Du jetzt gesehen hast — sie hat ihr Glück gefunden — als barmherzige Schwester im Kinderhospital zu Bombay — als Schwester Anna.«
Hat der Roman »Atalanta« so ziemlich das Extremste gebracht, was im Reiche der Phantasie möglich ist, so soll sich mein nächstes Werk, »Das Gauklerschiff oder die Irrfahrten der Argonauten«, soeben in gleichem Verlage erscheinend, mehr auf dem Boden der Wirklichkeit bewegen und soll dennoch den hiermit abgeschlossenen phantastischen Roman an Abenteuerlichkeit und tollem Humor weit übertreffen, weshalb ich bitte, mir die treue Leserschaft bewahren zu wollen.
Roy Glashan's Library
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