Roy Glashan's Library
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Atalanta, Cover von Lieferung 42
Atalanta, Band 5
Verlag Dieter von Reeken, 2024
Portrait von Atalanta
Im Reiche der ewigen Nacht - Ein Geschenk der Lemuren - Die wunderbaren Folgen
Die Erscheinungen bekommen Fleisch und Blut - Das schlafende Mädchen - Eine gute Bekannte, die man noch nie gesehen hat - Kapitän Nowhere
Auf dem »Aeolus« - Die Träume der Nippfiguren
Eine Erklärung von anderer Seite - Der Tyrann - Wie Du Dich bettest, so wachst Du auf! - Die lebenden Totenschädel
Die Bischofslady, die Heidiedeldeimädchen und die Witwenkolonie - Die Amerikanerin - Der Fluch des Paradieses
Der Überfall des Pacificzuges - Der Prinz von Siam - In und nach der Hypnose
Dragobars Rache - Das Wikingerschiff
Der rätselhafte Eisbär - Festgelegt! - Seltsame Funde
In der Höhle des Löwen - Die Dame ohne Erinnerung
Eine Einleitung - Mein Freund Emil - Beim »Ewigen« - Ich werde eingeweiht
Als die drei Höhlenforscher den rettenden Aus-
gang wieder erreichen wollten, kam ihnen gerade
von dorther ein scheußliches Ungeheuer entgegen.
Am nächsten Morgen ließ Littlelu von Wilhelm in seiner Ansiedlung am Ufer des Sees ein tiefes Loch in den Boden graben. Er selbst saß daneben, schaute wie gewöhnlich zu, nur geistig arbeitend, leitend, und hatte neben sich eine große Kokosnuss liegen.
Er wollte hier ziemlich in der Mitte der Insel eine Kokosnussplantage anlegen, wenigstens einmal einen Versuch machen, ein Experiment, hatte davon etwas gelesen oder gehört. Von einer »Elefantenzahnplantage«, wie man solche künstliche Kokospalmenpflanzungen wirklich nennt. Weshalb, das werden wir gleich sehen.
Die Kokospalme gedeiht nur in der dichten Nähe des Meeres. Sie braucht unbedingt Salz. Ist der Boden nicht selbst salzhaltig, so muss wenigstens die Luft immer salzgeschwängert sein, durch den Wasserstaub der nahen Brandung.
Aber das kann man auch künstlich machen, fernab vom Meere. Es wird ein anderthalb bis zwei Meter tiefes Loch gegraben — sechs Fuß, rechnet der Engländer — einige Hände voll Kochsalz hinein, die reife Nuss schräg mit dem Keimende nach oben hineingelegt, zugeschüttet und mit fünfprozentiger Salzlösung stark begossen. Schon nach drei Wochen bricht der Keim hervor, hat schon die zwei Meter Erde durchwandert.
Hierbei ist ein großes Rätsel. Die Kokosnuss kann ein halbes Jahr im Meerwasser liegen, sie keimt nicht. Weshalb tut sie es jetzt so schnell? Nun ja, weil sie mit der Erde in Berührung kommt. Aber bei allen anderen Sämereien und auch Nüssen ist doch gerade das Gegenteil der Fall, die keimen in reinem Wasser viel schneller als in feuchter Erde. Nur die Kokosnuss macht das nicht. Das ist aber ebenso eine weise Einrichtung der Natur, nur auf diese Weise können sich Koralleninseln, auf denen sich Humus gebildet hat, mit Kokospalmen besiedeln, weil die angeschwemmte Nuss eben nicht im Meerwasser keimt, sie muss erst durch Zufall in eine Erdspalte geraten.
Der hervorbrechende Keim sieht genau aus wie ein Elefantenzahn, nur von gelbgrüner Farbe, wird auch so groß, bis nach weiteren vierzehn Tagen das erste Blättchen hervorbricht.
Nur wegen dieses »Elefantenzahnes« werden besonders in Indien große Kokosplantagen unterhalten, auch im Binnenlande, denn dieser Keim, auch wenn er schon metergroß ist, schmeckt süß wie die feinsten Zuckererbsen, hat zugleich einen Spargelgeschmack. Dieser Leckerbissen wird schon in seiner Heimat so hoch bezahlt, dass niemand daran denkt, ihn konserviert in den Handel bringen. Auch ist der Keim so schwer zu ziehen, d. h. zu erhalten. In der Freiheit wird die erste Spitze gleich von Tieren, von Vögeln weggefressen, dann entwickelt sich gleich das Blatt daraus.
Solch ein Experiment wollte Littlelu also machen, seine Freunde mit einem essbaren Elefantenzahn überraschen, wenn er ihn nicht allein aufaß, doch da ist ja viel daran. Dort an den Küsten wuchsen überall Kokospalmen genug, auch junger Nachwuchs war vorhanden, aber Keime konnte man nicht sehen. Sobald sich ein gelbes Spitzchen über der Erde zeigte, bissen es die Papageien ab, was aber wohl auch zum Gedeihen des Baumes gehört. Aus den großen Keimen wird nichts Gescheites mehr. Hier musste der Elefantenzahn durch ein Korbgeflecht oder etwas Ähnliches geschützt werden.
Wilhelm stand bereits bis an die Brust in dem Loche. Was dazu also für eine Arbeit gehört, um da noch schaufeln zu können, wenn es nicht fabrikmäßig mit dem Erdbohrer betrieben wird.
»Na, nun ein bisschen fix, Wilhelm!«, ermunterte Littlelu. »Nicht immer denken und difteln, sondern schaufeln, schaufeln! Diese schwerere Arbeit des Denkens und Diftelns überlasse nur ruhig mir, solche Plackerei bin ich schon gewohnt, aber Du hättest mich einmal früher sehen sollen, als ich noch schaufelte, w i e ich da schaufelte! — Wie da der Dreck flog! — Ich brauchte den Spaten gar nicht anzufassen, brauchte nur in die Hände zu spucken.«
Also der arme Wilhelm schaufelte weiter, aber er amüsierte sich dabei.
Dann begann er mit dem Spaten zu stampfen.
»Na, was gibt's denn da schon wieder? Du hast doch nicht etwa einen Goldklumpen gefunden?«
»Nein, aber auf den Felsen bin ich gestoßen.«
Littlelu schnellte wie eine Feder, in noch ganz anderer Weise empor, der alte Zirkusclown hatte noch nichts von seiner Gelenkigkeit eingebüßt.
»Ei die Donnerwetter! Und das sind erst vier Fuß! Und nach dem Rezept müssen es sechs Fuß sein. Dann wird's ein Schweinehauer, aber kein Elefantenzahn!«
»Halt, hier scheint der Felsen schon wieder aufzuhören.«
»Dann rücke das Loch ein bisschen zur Seite.«
»Hier auf dieser Seite wird aber der Stein auch wieder frei —«
»Dann rücke das Loch nach dieser Seite!«
br>»Das ist eine scharfe Ecke, das ist überhaupt eine Platte!«
»Eine Platte?!«
Aufrecht, wie er dagestanden, ließ sich Littlelu vornüber platt auf den Bauch fallen, dass er gerade in das Loch blickte.
»Ja, das sieht eher wie eine künstliche Platte aus. Kannst Du nicht mit dem Spaten darunterfahren?«
Mit der Hacke ging es besser, aber emporwuchten ließ sich die Platte nicht, da lag noch zu viel Erde darauf.
»Das müssen wir untersuchen! Schaufle, Wilhelm, immer schaufle, lege den ganzen Stein frei, ich helfe Dir, sobald ich nur dazu kann.«
Wilhelm hackte und schaufelte denn auch aus Leibeskräften, während sich Littlelu vorläufig nur auf den Spaten stützte, und dabei würde es wahrscheinlich auch bleiben.
Da tauchten aus dem nahen Walde zwei Männer auf. Der eine war Hagen und der andere...
»Mephistopheles!!«, rief Littlelu mit freudigem Staunen. »Sie schon wieder hier?!«
»Heute in aller Frühe bin ich wieder mit dem Walfisch eingetroffen!«, entgegnete der Mephisto, den herzlichen Händedruck erwidernd.
Er erzählte, was er alles mitgebracht habe, dass er soeben von dem gräflichen Ehepaare käme.
»Ja, wenn ich nur wüsste, wo wir jetzt das mechanische Theater und alles andere aufschlagen könnten, denn es wäre doch schade, wenn das so unbenutzt da läge. Aber die Bauerei mit den Omnihilitplatten, das wird nichts. Nun, kommt Zeit, kommt Rat. Was graben Sie denn da für ein Loch? Doch nicht Ihr eigenes Grab?«
Littlelu berichtete ihm und zeigte ihm die Steinplatte, die Wilhelm unterdessen bedeutend weiter freigelegt hatte.
»Was mag das sein? Ob die etwas verschließt? Eben wollte ich die Gräfin durch die Telefonuhr anrufen, sie herbeiholen —«
Ein warnendes Zischen unterbrach ihn, jetzt hob der Mephisto auch den Finger.
»Nein, nicht die Gräfin rufen, nicht den Grafen! Alle Wetter, wenn das etwas wäre! Wenn wir da zufällig einen Zugang zu dem unterirdischen Reiche der Lemuren gefunden hätten, denn Sie wissen doch, was uns die Priester damals ausdrücklich gesagt haben. Jeder Raum, in den wir dringen können, gehört uns! Und das ist ein höherer Befehl, dem sie unbedingt zu gehorchen haben, ich kenne das am allerbesten. Zugänge zu diesem unterirdischen Reiche muss es doch geben, auch die Lemuren haben sie doch damals benutzt. Aber wie die finden, nur ein Zufall kann uns darauf bringen. Diese Steinplatte verschließt vielleicht solch einen Zugang.«
»Aber weshalb die Gräfin nicht rufen?«, fragte Hagen.
»Weil die uns das Eindringen verbieten würde?«
»Weshalb denn? Wenn dann der betreffende Raum uns gehört?«
»Eben gerade deswegen würde sie es uns verbieten. Sie begnügt sich mit der Oberfläche der Insel, will mit den Zwergen in gutem Einvernehmen bleiben. Ich kenne die Gräfin doch am allerbesten. Jawohl, auch besser als Sie, Mister Maxim. Hat sie schon etwas Derartiges verboten?«
»Mit keinem Worte.«
»Weil diese Lemuren eben gar nicht mehr für sie existieren sollen. Dann dringen wir natürlich auch ein. Ist der Eingang einmal offen, dann ist für uns auch gar keine Gefahr mehr vorhanden. Ob es aber auch wirklich einer ist?«
Auch Hagen war in die Grube gesprungen, mit Wilhelms vereinter Kraft war bald die nur dünne Steinplatte, etwa anderthalb Meter im Geviert, auf einer Seite hochgewuchtet.
Ja, man blickte in ein Loch, dessen Wände ausgemauert waren, oben war noch eine kupferne Leiter zu sehen, sonst alles schwarze Finsternis.
Mephistopheles sandte den intensiven Blendstrahl seiner Taschenlampe hinab, der sicher dreißig Meter weit reichte, Er beleuchtete die kupferne Leiter, die Mauerung, aber einen Grund sah man nicht.
»Ich könnte die Lampe hinablassen, aber es ist nicht nötig, wir steigen gleich hinunter. Wer kommt mit? Nur einer möchte oben bleiben.«
Dazu erbot sich Wilhelm. Er war sicher kein Feigling, hatte aber das wenigste Interesse für diese unterirdische Tiefe.
»Gut, so bleiben Sie als Wächter hier oben, aber nicht etwa als Wächter für unsere Sicherheit. Ich garantiere den Herren, dass wir nicht das Geringste zu fürchten haben. Das heißt, nicht von den Lemuren, von den menschlichen Bewohnern dieses unterirdischen Reiches. Ich kenne ihre Vorschriften ganz genau. Wo wir eindringen, müssen sie anstandslos vor uns zurückweichen, dürfen weitere Eingänge verrammeln, nicht aber etwa uns den Rückweg, und der begrenzte Raum, den wir einmal betreten haben, gehört uns für immer. Etwas anderes ist es ja, wenn wir etwa in eine Spalte fallen oder wenn uns vielleicht ein Tier angreift. Dafür sind sie dann nicht verantwortlich.«
»Würden sie uns in diesem Falle zu Hilfe eilen?«, fragte Littlelu.
»Schwerlich, denn sie müssen ja, sobald sie uns bemerken, zurückweichen, und das werden diese Jesuiten schon ganz buchstäblich nehmen. Aber sie dürfen uns keine Fallen bauen, weder durch mechanische noch lebende Mittel feindselig gegen uns vorgehen, das weiß ich bestimmt, und das ist die Hauptsache. Mister Neumann soll nur deshalb hier oben bleiben, damit er gleich wieder die Steinplatte über uns deckt, auch etwas Erde darüber schaufelt.«
»Wozu denn das?«, fragte diesmal Hagen.
»Falls die Gräfin kommt; dann weiß Mister Neumann von nichts. Wir sind zusammen dort in den Wald gegangen. Verstanden, Wilhelm? Und wenn die Gräfin fragt, weshalb Sie nicht weiter schaufeln —«
»Halt, halt, halt!!«, unterbrach Hagen den Sprecher. »Mephistopheles, wie Sie ganz mit Recht genannt sein wollen — Sie sind ein ganz guter Teufel, ich mag Sie recht gern leiden, aber ein sauberer Charakter sind Sie nicht. Es ist Ihnen nicht weiter zu verargen, Sie haben geistig etwas zu viel und sind dafür moralisch etwas defekt geworden. Ich lüge zwar manchmal selber, nicht nur Notlügen — aber in diesem Falle — nein! Wilhelm, wenn die Gräfin kommt und fragt, dann sagst Du, dass ich da hinabgekrochen bin! Also lass das Loch nur gleich auf.«
»Aber die Gräfin will nicht«, wandte Mephisto noch einmal ein, »dass wir in das unterirdische Reich der Zwerge —«
»Hat Sie es Ihnen verboten? Mir nicht.«
»Mir allerdings auch nicht direkt, aber ich weiß, dass sie —«
»Schnickschnack! Dann bleiben Sie oben, ich gehe.«
Und Hagen verschwand als erster in der viereckigen Öffnung, nun folgte auch der Mephistopheles ohne Weiteres, Littlelu bildete den Schluss.
Vierzig Meter waren es sicher, die hinabzuklettern waren, dann hatten Hagens Füße festen Boden erreicht. Auch er hatte wie Littlelu eine elektrische Taschenlampe bei sich, die zu den Geheimnissen des Sklavensees gehörte. Ihre Leuchtkraft wurde nie verbraucht, die Glühbirne war für gewöhnlich undurchsichtig, und wenn sie leuchtete, sah man darin keinen Faden. Durch den Druck auf einen Knopf, der festgestellt wurde, verwandelte sie sich eben in eine glühende, intensiv weißes Licht ausstrahlende Kugel.
Merkwürdigerweise war es gerade der Mephistopheles, der beim Anblick dessen, was ihnen die flammenden Lampen zeigten, einen leisen Ruf der Überraschung ausstieß.
»Solche Gauner!«
Dass hier am Ende des vertikalen Schachtes ein horizontaler kommen würde, war zu erwarten gewesen. Aber man hatte eben an einen nackten Tunnel gedacht, entweder, wenn er sich noch im losen Erdreich befand, roh gemauert, wie es der senkrechte Schacht war, oder roh in den Felsen gemeißelt. Jedenfalls also hatte man nackte Wände zu sehen geglaubt.
Statt dessen waren hier in dem drei Meter hohen und ebenso breiten Gange, dessen Ende noch nicht abzusehen war, Decke und Wände mit schönen, bunten Fliesen belegt, ein künstlerisches, orientalisches Ornamentmuster, neben allen Farben herrschte Grün und Gold vor, und der Boden war mit einem dicken Läuferteppich bedeckt, der dasselbe Muster in brillanten Farben zeigte.
»Solche Gauner!«, hatte Mephistopheles also überrascht hervorgestoßen.
»Was ist da Gaunerhaftes dabei?«, fragte Hagen.
»Mir ist versichert worden, dass die Lemuren alles verschmähen, was Technik und Kunst irgendwie bietet. Wohl haben sie das alles einmal besessen, in einer Vollendung, von der unsere heutige abendländische Kultur nicht einmal etwas ahnt, aber das alles haben sie seinerzeit, als die große Sinneswandlung stattfand, aufgegeben, vernichtet. Jetzt beschäftigen sie sich nur noch mit der Erforschung des Lebensprinzips, züchten Lebewesen, Tiere und sicher auch Menschen, versuchen selbst Geschöpfe zu schaffen. Eben aus diesem Grunde, weil man, wie es auch die christliche Religion sagt, nicht zweien Herren zugleich dienen kann, haben sie alles Materielle gänzlich aufgegeben, nur dass die Priester noch ein Gewand und einen Turban tragen dürfen, das ist das Allereinzigste, sonst müssen auch die Priester auf dem nackten Boden schlafen, sie haben überhaupt nicht so etwas wie eine Decke. Und nun hier dieser prachtvolle Teppich!«
»Wer hat Ihnen denn das erzählt?«
»Ein Brahmane, ein Mahatma, als ich damals noch direkt zu jener geheimen Gesellschaft gehörte und über das lemurische Zeitalter belehrt wurde.«
»Wann trat diese Sinneswandlung ein?«
»Ach, schon vor 20 000 Jahren«
»Dann hat Ihnen dieser Mahatma eben etwas vorgeflunkert.«
»Ausgeschlossen! Solch ein Brahmane darf nicht das geringste Wort der Unwahrheit aussprechen.«
»Dann eignen Sie sich nicht sehr zum Brahmanen.«
»Nein, ich bin's ja auch nicht geworden, man hat mich ja rausgeschmissen!«, gab der Mephistopheles in demselben trockenen Tone zurück, wie Hagen es gesagt hatte und immer sprach.
»Und andere Mahatmas, oder wie die Kerls nun heißen mögen, haben Ihnen dasselbe bestätigt?«
»Ich durfte mich wegen Belehrung über das lemurische Zeitalter nur immer an diesen einen wenden.«
»Na, dann hat es der gute Mann eben selber nicht besser gewusst. Und in 20 000 Jahren kann der Mensch oder ein ganzes Geschlecht doch auch seine Ansichten nochmals ändern. Die Lemuren haben sich eben hier unten wieder hübsch eingerichtet.«
»Es musste damals alles verbrannt werden, alles, jedes Messer —«
»Ach, Schnickschnack! Das ist doch alles ganz egal. Was wir hier sehen, ist Tatsache.«
Hagen patschte mit der flachen Hand gegen die Fliesen, gewahrte gleichzeitig in einer kleinen Vertiefung einen Hebel, wollte probieren, ob er sich drehen ließ.
»Sehen Sie sich vor!«, warnte der Mann der Hölle.
»Na was denn?«
»Wer weiß, was dieser Hebel in Funktion setzt! Vielleicht —«
»Fliegen wir in die Luft? Sie wissen nicht, wozu dieser Hebel dient? Dann will ich es Ihnen gleich sagen.«
Nur eine kleine Drehung, ein leises Knacken, und der lange Gang war von einem grünen Lichte erfüllt.
Woher es kam, war nicht zu erkennen. Von bestimmten Lichtquellen wurde es jedenfalls nicht ausgestrahlt. Es schien aus den Wänden zu kommen oder sich vielmehr in der Luft selbst zu erzeugen, warf nicht den geringsten Schatten, eben weil die gleiche, sanfte Helligkeit überall war. Dabei war es von einer wunderbar magischen, geheimnisvollen Wirkung, ohne dass man den Grund hierfür angeben konnte. Das mochte aber allein durch die grüne Farbe kommen. Der Brillantheit des bunten Wandschmuckes tat es keinen Abbruch.
»So, Herr Mephistopheles, nun wissen Sie, was dieser Hebel in Funktion setzt. Also es wird nicht geflogen — vorläufig noch nicht. Und, Herr Mephistopheles, wenn Sie immer so vorsichtig sein wollen, mich immer warnen wollen, irgend etwas anzugreifen, dann schlage ich vor, begeben Sie sich lieber an die Oberfläche der Erde zurück. Ich glaube, der Hebel lässt sich noch weiter drehen — jawohl — knicks, sagt er nochmals — hallo!!«
Auch Hagen wurde jetzt von Staunen ergriffen.
Die weitere Drehung des Hebels hatte den Erfolg. dass der bunte Ornamentschmuck an Wänden und Decke plötzlich lebendig wurde, Die Striche, die Zacken, die Sterne, die Ringe, die Schnörkel, die Arabesken — alles lief durcheinander, bildete neue Figuren, immer im rhythmischen Spiele — dabei von wunderbarer Farbenpracht.
»Das ist ja märchenhaft prächtig!«, staunte Mephistopheles. »Wie wird das gemacht? Wie ist das nur möglich?«
Man durfte sich eher darüber wundern, dass der sich darüber wunderte. Also so etwas hatte auch der nicht in seiner geheimnisvollen Werkstatt am Sklavensee gehabt, wusste nicht, wie es zustande kam?
»Das ist doch ganz einfach!«, meinte hingegen Hagen. »Kennen Sie denn kein Kaleidoskop? So eine Büchse, der Boden wird von lauter kleinen Spiegelchen gebildet, und wenn nun ein paar bunte Federchen oder ähnliche Dinger drinliegen, so werden sie vielmals gespiegelt, immer wird ein geschlossenes Ornament gebildet, das sich immer verändert, wenn man die Büchse dreht. Das ist hier doch ganz dieselbe Geschichte, oder so etwas Ähnliches ist es doch sicher, da braucht man nicht etwa kopfscheu zu werden.«
»Aber prachtvoll ist dieses Farbenspiel doch!«, staunte auch Littlelu.
»Ja, es ist herrlich!«, bestätigte jetzt auch Hagen, und er setzte noch etwas anderes hinzu, was zeigte, dass er doch nicht so ein blasierter »Never mind Man« war, der sich für nichts mehr interessieren kann.
»Wenn wir anderen Menschen erst so etwas haben, stellt Euch mal eine ganze Wohnung vor — mit lauter solchen lebendigen Tapeten — o, was hat die Menschheit alles noch zu ersinnen!«
In den letzten Worten lag die Bedeutung!
Denn so ist es.
Es gibt sehr viele Menschen, und es sind eigentlich nicht immer die phantasieärmsten, welche den gegenwärtigen Stand der Dinge immer für den Höhepunkt der Entwicklung halten.
Aber ach, wie wird man in hundert Jahren im »Altertumsmuseum« oder im Eisenbahnmuseum, wollen wir sagen, eine unserer heutigen Schnellzugslokomotiven belächeln, oder eines unserer heutigen Telefone, wenn man das einmal probiert.
»Nee, müssen das damals dumme Menschen gewesen sein!«, wird dann der Bauer zu seiner Frau sagen.
Aber es gibt in dieser Hinsicht noch etwas ganz, ganz anderes, worüber man aus gewissen Gründen nur vorsichtige Andeutungen machen darf.
Viele Jahrtausende hat jenes Weltsystem, welches nach Ptolemäus genannt wird, weil er die aufgestellten Theorien zum ersten Male zusammenfasste, als das einzig richtige gegolten. Danach war die Erde der Mittelpunkt des Weltalls, alles drehte sich, auch die Sonne, um die Erde. Wer hat an der Richtigkeit dieser Spekulation gezweifelt? Nur Geister wie Aristoteles und Plato, die aber gerade in dieser Beziehung ignoriert wurden.
Die Sonne dreht sich um die Erde, und damit basta! Das sieht doch überhaupt jedes Kind. Wer daran zweifelte, war mehr als ein Kind, war ein wahnsinniger Narr.
Dann kamen Kopernikus und Galilei daran. Gerade umgekehrt ist es richtig. Na selbstverständlich! Wer zweifelt heute noch daran, dass sich die Erde um die Sonne dreht?
Vermag man sich nun vorzustellen, dass wieder einmal eine andere Welttheorie drankommen kann?
Eine Bewegung dazu ist schon stark im Gange.
Die bisherige Astronomie soll alles, was mit dem Monde zusammenhängt, ganz falsch berechnet haben.
Der Mond soll um die Sonne eine gradlinige Ellipse beschreiben, und die Erde soll es sein, die sich um den Mond dreht. So!!
Weiter ließ sich der Hebel nicht drehen, brachte also nichts Neues.
Sie schritten den Gang entlang, zwischen den tanzenden Figuren hindurch, die man lebendig gelassen hatte.
Jetzt machte der Gang eine scharfe Ecke. Als sie um dieselbe gebogen waren, wartete ihrer wieder eine große Überraschung.
Sie blickten in eine weite Grotte, in eine wilde Felsenschlucht. Auf allen Seiten türmten sich die Felsblöcke in den pittoreskesten Formen auf, mit Löchern und größeren Höhlen durchsetzt, während der Boden, etwa 15 Meter im kreisförmigen Durchmesser haltend, ganz eben war, von schwarzem Basalt wie hier alles.
Man musste von einer Grotte oder Höhle sprechen, da ja kein Himmel zu sehen war. Auch oben hingen spitze Felsen in ganz gefährlicher Weise herab, auch hier herrschte jenes magischgrüne Licht, dessen Quelle nicht zu sehen war.
Sonst nichts weiter. Alles ganz nackter Stein, aber eben dadurch einen ganz schauerlichen Eindruck machend.
»Auch diese Grotte muss doch irgend einen Zweck haben!«, meinte Mephistopheles.
»Oder es ist eine natürliche Höhle, die man noch nicht weiter verwendet hat!«, versetzte Hagen.
»Jedenfalls gehört die jetzt uns, in der könnten wir gleich das mechanische Theater einrichten.«
»Ich hoffe doch, dass uns die Lemuren hier noch eine andere Theatervorstellung geben. Ist hier nicht auch so ein Hebelchen vorhanden?«
Nein, davon war nichts zu erblicken, ebenso wenig ein anderer Ausgang. Und man brauchte nur einige Schritte hineinzumachen, so war auch von dem teppichbelegten Gange nichts mehr zu bemerken, eben weil man um eine scharfe Ecke gebogen war, die hier drinnen als eine natürliche Felsenkante abschloss.
»Untersuchen wir, ob sich in solch einer unteren Höhle der Weg fortsetzt.«
Sie schritten über den zementartigen Boden nach der anderen Seite.
Ein heiseres Zischen über ihnen lenkte ihr Blicke nach oben.
»Alle guten Geister!!«, erklang es erschrocken. Aus einer Felsenöffnung in mittlerer Höhe blickte mit glühenden Augen ein Schlangenkopf, aus dessen Größe man auf die des ganzen Leibes schließen konnte.
Es »soll« Riesenschlangen von acht Meter Länge geben, größere als sechs Meter sind aber noch nicht gemessen worden. Dem Kopfe nach musste diese hier ein ganz fabelhaftes Ungetüm sein.
Und es blieb nicht bei diesem einen Kopf.
Überall aus den Löchern und Höhlen kamen solche zischende Schlangenköpfe zum Vorschein, zum Teil kleinere, zum Teil noch viel größere.
Ganz oben an der Decke tauchten sie auf und unten am Boden, die rotfunkelnden Augen nach den drei Menschen gerichtet.
Und den züngelnden Köpfen folgten die riesenhaften Leiber nach, die ganz den Erwartungen entsprachen, in dem grünen Lichte in allen Farben schillernd, und sie glitten die Felsen herab, wie eben nur Schlangen gleiten können, mögen sie auch noch so riesenhaft sein.
Es war begreiflich, dass die drei Menschen einige Sekunden vor Schreck wie erstarrt dastanden.
Hagen war der erste, dem die Besinnung wiederkam, und der deutsche Seemann konnte auch in dieser Situation seinen trockenen Humor nicht ganz verbergen.
»Ganze Abteilung — kehrt!!«, kommandierte er. »Gewehr zum Laufschritt — marsch, marsch!!«
Ja, hier konnte nur schnellster Rückzug retten.
Aber wie ward den dreien, als sie sich nun umdrehten!
Da kam gerade von dort her, wo sie hinwollten, von dem rettenden Ausgang her auf tausend Füßen ein scheußliches Ungeheuer gekrochen — ein Ungeheuer, wie man es nur in illustrierten Märchenbüchern und auf der Theaterbühne zu sehen bekommt, in einer Wagner'schen Oper.
Ein Drache, ein Lindwurm! Ein fabelhafter Drachenkopf, dessen Fürchterlichkeit nicht zu beschreiben ist, meterhoch, sich auf zwei kurze Beine stützend, und hinterher ein ungeheurer Schlangenleib, auf tausend unsichtbaren Füßen kriechend.
Und dieses furchtbare, farbenschillernde Ungetüm schleppte sich heran, gerade auf die drei zu, und jetzt öffnete das mähnenumwallte Haupt den ungeheuren, von Zähnen starrenden Rachen, in dem ein Mensch mit Leichtigkeit verschwinden konnte.
»Jesus Christus — allergnädigster Gott — jetzt könnte man beten lernen!«, schrie Hagen.
Jener Ausgang war nicht zu gewinnen.
Nach der anderen Seite gerannt, dabei sprangen sie schon über den Leib einer Riesenschlange von wenigstens 20 Meter Länge, die in diesem Kessel gar keinen Platz hatte und sich deshalb zusammenkrümmen musste.
»Hagen, Hagen, das ist ja nur ein schrecklicher Traum!«, schrie Littlelu.
Sie wollten auf einen Felsen retirieren, in ein Loch hinein, in das jenes furchtbare Ungetüm wegen seiner Größe nicht folgen konnte.
Da tauchte aus dieser kleinen Höhle schon wieder ein mächtiges Schlangenhaupt auf.
»Biest!«, heulte Hagen und schoss seinen Revolver direkt in den geöffneten Rachen ab.
Der Schuss krachte zwischen den Felsen furchtbar, aber ein Erfolg von der fast zölligen Kugel war nicht zu bemerken, die Riesenschlange sperrte ihren mächtigen Rachen nur noch weiter auf, auch schon groß genug, um einen Menschen darin verschwinden zu lassen.
Und hinter ihnen rutschte der Lindwurm nach!
Auch der Mephisto hatte eine Waffe in der Hand, ein kleines Instrument, aus dem er gegen den Lindwurm elektrische Funken spielen ließ. Ohne jeden Erfolg.
»Er muss tot sein, er muss!! Das kann kein lebendiges Wesen aushallen!«
Aber der Lindwurm musste eben nicht, der konnte die elektrischen Schläge von höchster Spannung aushalten, er rückte weiter vor.
Unterdessen beschäftigte sich Hagen mit der Schlange, vor der er auch schon zurückweichen musste. Da die Revolverkugel nichts genützt hatte, riss er sein großes Schiffsmesser aus der Scheide, die er nach Seemannsart hinten am Gürtel hatte, und führte einen furchtbaren Hieb nach dem Schlangenkopf.
Das gewichtige, scharfe Messer hätte den Kopf unbedingt spalten müssen, und wenn er auch ganz aus dem härtesten Knochen bestanden hätte.
Aber es war nichts.
Überhaupt gar nichts.
Das Messer traf nur den Stein.
War durch den Schlangenkopf einfach hindurch gegangen.
Hagen stutzte, dann griff er ohne Zögern mit der Hand nach.
Er griff den Schlangenkopf an oder griff vielmehr hinein.
Zu fühlen war nichts. Luft, Nebel, trotz der schärfsten Umrisse.
Da brach Hagen in ein schallendes Gelächter aus.
»Wir sind gerettet, wir sind gerettet — da friss mich auf!«, lachte er und sprang direkt in den geöffneten Rachen des Lindwurms hinein, verschwand wohl, kam aber gleich wieder seitwärts aus dem Leibe zum Vorschein.
Das Rätsel war gelöst. Lichtbilder — lebende Lichterscheinungen. Eine Erklärung freilich war das nicht, das Rätsel wurde vielleicht nur noch größer.
Nur Mephistopheles hatte gleich eine andere Theorie zur Hand, machte gleich ein ganz ängstliches Gesicht.
»Meine Herren, irren Sie sich nicht — wir sind auf der Astralebene! — Das sind dennoch wirkliche Tiere, denen nur der materielle Stoff fehlt — sonst aber existieren sie wirklich, die fressen uns wirklich auf, obschon nur in ihrer Einbildung — wir sind auf der Astralebene —«
»Ach, machen Sie doch keine Faxen!«, lachte aber Hagen immer noch aus vollem Halse. »So etwas wie eine Astralebene gibt's ja gar nicht, oder wenn's doch wäre, so könnten wir Menschen uns gar keine Vorstellung davon machen. Nein, das sind ganz einfach Lichtbilder — Nebelbilder, wollen wir sagen. Es ist eine Art von plastischer Kinematografie — die Zukunft unserer heutigen Kinematografie, die aber eben erst zweidimensional ist. Hier ist schon das Problem der dreidimensionalen gelöst. Übrigens, Herr Mephisto, mich wundert nur, dass Sie sich darüber wundern können, hat es denn nicht solche plastische Nebelbilder schon immer gegeben? Haben Sie selbst uns beide, mich und Littlelu, auf der Insel Chilos nicht mit solchen Lichtbildern zu schrecken gesucht?«
»Ja, aber das war doch etwas ganz anderes, da musste immer beobachtet werden, dass so ein Geist nicht plötzlich durch die Mauer ging, aber hier, hier, das ist doch alles ganz natürlich!«
Das stimmte nun allerdings.
Diese Schlangen krochen auf den Steinen wie Schlangen eben auf Steinen kriechen. Nicht etwa, dass sie einmal aus Versehen durch einen Stein durchkrochen. Stießen sie mit dem Kopf gegen den Felsen, so zogen sie ihn schnell zurück, allerdings gab es auch keine Pflanzen, keine kleineren Steine, die sich unter der Last ihres Körpers bogen oder zur Seite gerückt wurden.
Hagen hatte natürlich das Richtige getroffen.
Hat es die Laterna magica nicht schon vor hundert Jahren gegeben?
Was aber würde ein damaliger Mensch, wenn er wieder käme, zu unserer heutigen Kinematografie, d. h. zu deren Wiedergabe durch die Laterna magica sagen?
Und was wird man wohl mit der Laterne magica in hundert Jahren vorführen oder gar in tausend Jahren?
Man hört sehr oft die Äußerung. die weitere Entwicklung all dieser technischen Erfindungen müsste einmal ein Ende nehmen.
Damit stellt sich die menschliche Phantasie aber nur selbst ein Armutszeugnis aus.
Otto Lilienthal, als er in Friedrichshagen (1) bei Berlin mit seinem Gleitdrachen herumzappelte, sich ab und zu einen Knochen brach, galt als ein großes Kind.
(1) Richtig muss es wohl ›Lichterfelde‹ heißen.
Die Gebrüder Wright, die auf ihrer amerikanischen Farm im Geheimen mit ihrer Flugmaschine übten, wurden, als sie sich einmal verleiten ließen, etwas von ihren Erfolgen zu veröffentlichen, Schwindler genannt.
Man lese die Zeitungen vor zehn Jahren, wie da Zeppelin verspottet worden ist. Ein unverbesserlicher Phantast!
Als Edison vor zwanzig Jahren sein Mutoskop erfand, den ersten Anfang zur Kinematografie und deren Wiedergabe, ein Kasten, in den man blickt, die Bilder werden schnell herumgeklappt — er führte seine Erfindung einem amerikanischen Journalisten vor, dieser schrieb darüber einen Bericht — da war in allen deutschen Zeitungen zu lesen, lebende Fotografien! Wieder einmal so ein amerikanischer Humbug!
Das ist erst zwanzig Jahre her. Wie es damit in hundert Jahren aussieht, das kann kein Mensch ahnen, denn die Wirklichkeit übertrifft die ahnende Phantasie stets bei Weitem!
Diesen scharfbegrenzten Nebelgebilden, oder wie man sie nun nennen mag, fehlte an Natürlichkeit absolut nichts, solange man vor ihnen floh.
Sobald man ihnen standhielt, war es mit der Natürlichkeit vorbei, dann fingen sie an, den Menschen zu fressen, ihn zu verschlugen, hinunterzuwürgen, immer und immer wieder, ohne zu einem Resultat zu kommen.
Genau so, wie man im Traume trinkt und trinkt, oder isst und isst, ohne satt zu werden, worüber man sich auch gar nicht wundert. Das ist der beste Vergleich.
Wo war der Mechanismus, wie wurden diese Licht- oder Nebelgestalten dirigiert, dass sie es gerade immer so auf die in der Grotte befindlichen Menschen abgesehen hatten, ihnen immer wieder folgten, wohin sich diese auch zurückzogen, ihnen auf jeden Felsen nachkletterten?
Vergebliche Frage. Das war eben das Geheimnis des Erfinders.
Aber was ist denn da Erstaunliches dabei?
Wenn ein Kinematografentheater mit Zuschauern gefüllt ist, wer weiß denn, wie diese realistischen Szenen und mehr noch die Illusionen zustande gebracht werden?
Ja, vor die Fotografenplatte muss erst alles, aber wie dann? Wie arrangiert man das?
Da muss man erst einige Taler opfern, ehe man von den Angestellten etwas erfährt. Und die Hauptsache wissen die auch nicht, das ist ein Geheimnis der Filmfabrikanten. Und wenn man es wirklich beschrieben bekommt, so versteht man es gar nicht, begreift es nicht, nämlich weil es so lächerlich einfach ist.
Jetzt konnte man die Ungeheuer näher untersuchen, soweit wesenlose Gestalten, Phantome, zu untersuchen sind.
Wesenlos? Was ist wesenhaft und was wesenlos? Die Schärfe der Konturen ließ nicht das Geringste zu wünschen übrig. Steckte man die Hand in solch einen Schlangenleib hinein, so war die Hand verschwunden. Anders freilich war es, wenn man sich ganz und gar in den Drachenleib begab oder nur den Kopf in einen Schlangenleib steckte, da sah man nichts mehr von den Umrissen des Tieres.
»Lassen wir das«, sagte Hagen, »den Kernpunkt des Ganzen verstehen wir doch nicht. Nehmen wir es nur, wie es ist: als eine hübsche Spielerei!«
Sie begaben sich nach dem Aus- oder vielmehr Eingang zurück, durch den sie gekommen. Alle Schlangen folgten zischend nach, auch der Lindwurm wandte sich schwerfällig um, nur das Zischen war etwas unnatürlich, es kam nicht direkt aus dem offenen Rachen, erklang anderswo.
Bis in den Gang folgten die Ungeheuer den Menschen nach, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, unsichtbar in der Luft errichtet. An dieser verschwand der Kopf, der übrige Leib, die Tiere lösten sich in nichts auf.
Als aber nun die drei wieder in die Grotte traten, da war überhaupt alles verschwunden, jetzt kamen die Schlangen von Neuem aus den Löchern hervor, obgleich sie doch gar nicht zurückgekrochen waren.
Eben alles Illusion, die auch ihre Grenze hatte, von einem gewissen Punkte immer wieder anfing. Aber die Bewegungen schienen ganz willkürliche zu sein, es waren immer andere, die Tiere folgten ja immer den Menschen, allen dreien oder nur einem. Das war eben ein Mechanismus, der irgendwo eine Laterna magica leitete.
Außerdem entdeckte man jetzt auch noch am Ende des Ganges einen Hebel an der Wand. Eine Drehung und die Phantome erschienen nicht mehr beim Betreten der Grotte. Nach einer weiteren Drehung kamen sie wieder, dieselben, nichts anderes.
»Das ist sehr einseitig, das hätte ich ganz anders arrangiert, da müsste nun etwas anderes kommen!«, kritisierte der unzufriedene Hagen und Littlelu stimmte ihm bei.
»Die Gräfin! Und der Graf!«, rief dieser letztere jetzt.
»Da können wir uns ja auf etwas gefasst machen!«, setzte Mephistopheles mit etwas bestürztem Gesicht hinzu.
Atalanta und Arno kamen, erstere im Arm ein Hündchen, das Mephisto wie noch andere Tiere mitgebracht hatte, um die Insel zu bevölkern.
Aber gar keine Spur von Verdruss, dass die drei ohne ihre Einwilligung hier eingedrungen waren. Ganz im Gegenteil, Mephistopheles hatte eben gar nichts gewusst.
»Was für ein Zauberreich ist denn das?«, rief Atalanta in ehrlichem Staunen. »Was ist das für ein beweglicher Wandschmuck?! Wie wird das gemacht? Das wissen auch Sie nicht, Herr Mephistopheles? Sehen Sie, nun ist Ihre Weisheit zu Ende, nun befinden Sie sich in derselben Lage wie damals wir, als wir an meinem Sklavensee in Ihre geheimnisvollen Werkstätten eindrangen. Ja, mich freut wirklich, dass Sie hier Ihren Meister gefunden haben, vor dessen Schaffungen Sie in ratlosem Staunen stehen. Und was gibt es hier in dieser Grotte?«
Die Freunde hatten sich unterdessen schnell verständigt, die neuen Ankömmlinge sollten die ganze Komödie mit allem Schreck nur selbst richtig durchmachen.
»Nichts, gar nichts.«
Aber das scharfe Auge der Indianerin hatte schon den Hebel bemerkt.
»Kommt nichts, wenn man da dreht?«
»Nein, auch nicht. Es ist eben eine nackte Felsengrotte, scheint eine natürliche zu sein, wir müssen erst einen anderen Ausgang suchen.«
»Tun wir das. Und hier in dieser Grotte können wir ja gleich das mechanische Theater einrichten, das Sie schon mitgebracht haben. Meinen Sie nicht, Herr Mephistopheles?«
»So wollen Sie es hier aufbauen?«
»Ja, selbstverständlich, sonst hätten Sie es doch nicht erst mitzubringen brauchen. Ich gedenke diese Insel doch ganz energisch mit Kolonisten zu besiedeln, werde mir dazu die Menschen natürlich aussuchen. Und dann wollen wir doch auch unser Vergnügen haben. Was wir besitzen, wird natürlich auch benutzt.«
»Ich meinte: Hier in dieser Höhle wollen Sie das mechanische Theater aufschlagen? Im Reiche der Lemuren?«
»Jeder Raum, in den wir eindringen können, gehört uns für immer, so haben die Priester damals gesagt, und das bleibt bestehen! Wir wollen nur recht viele unterirdische Räume auf diese Weise annektieren.«
Also gerade das Gegenteil von dem, was sich der Mephistopheles wohl nur gedacht hatte, war der Fall.
Unterdessen waren sie bis nach der entgegengesetzten Seite gekommen. So lange dauerte es stets, bis das erste Zischen erklang.
Und nun also mussten auch Arno und Atalanta noch einmal die ganze Komödie, allerdings eine furchtbare Komödie, durchmachen, die drei schon Eingeweihten verdarben das Spiel nicht.
Dann, nachdem auch Atalanta genügend geschossen und gestochen hatte, als die Erkenntnis sie überkam, gab sie ganz dieselbe Erklärung wie vorhin Hagen.
Natürlich wurde hierüber noch längere Zeit gesprochen.
Außerdem aber machte man jetzt noch eine besondere Beobachtung.
Das mitgebrachte Hündchen, ein scharfer Zwergpinscher, sah die Nebelgestalten ebenfalls, hatte sich wohl anfangs vor den Schlangen und sonstigen Ungeheuern gefürchtet, aber durchaus nicht so, als wenn das wirkliche Reptilien gewesen wären, hatte die Gestalten wütend angekläfft, doch nicht lange, so kümmerte es sich nicht mehr darum.
Nun hätten das aber wirkliche Schlangen sein sollen! Es brauchten gar keine Riesen zu sein, wie da der Hund den Schwanz eingeklemmt hätte!
»Ach, wir törichten Menschen!«, lachte Hagen. »Wie hat dieses Hündchen mit seinem Instinkt wieder einmal den gesunden Menschenverstand beschämt! Natürlich, wo bleibt denn der penetrante Geruch, der jeder Schlange anhaftet? Hätten wir das uns nicht auch gleich sagen können? Wenn das wirkliche Riesenschlangen wären, die hier so massenhaft hausen, dann müsste es ja in dieser Grotte ganz fürchterlich stinken!«
»Auf der Astralebene stinkt es nicht!«, versetzte Mephistopheles.
»Was, Sie glauben doch nicht etwa immer noch, dass wir uns auf der Astralebene befänden, dass das Astrallampenviecher wären?«
»Jawohl, ich bin zu meiner ersten Theorie zurückgekehrt, sie klingt mir plausibler, einfacher, als das mit Ihrer Laterna magica. Und auf der Astralebene gibt es keinen Geruch, wenigstens keinen solchen, wie wir ihn mit unserer irdischen Nase wahrnehmen können.«
Da trat Littlelu auf den Sprecher zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:
»Ja, ich glaube auch, wir sind auf der Astralebene. Aber in einem irren Sie, Herr Mephistopheles. Wenn Sie das nächste Mal hierher kommen, dann wird es hier auf dieser Astralebene ganz mörderlich stinken — dafür werde ich sorgen!« —
Ein anderer Ausgang wurde nicht gefunden.
Wieder war es vier Wochen später.
Eben tauchte der äußerste Rand der Sonne über dem Horizonte auf, fast in einem Moment war die finstere Nacht dem Tage gewichen, und schon stand Atalanta vor ihrer Höhle, der sie mit ihrem Gatten treu geblieben war.
An Bord des Schiffes lockten weiche Betten mit seidenen Decken, aber für unsere Kolonisten hatte dieses romantische Robinsonleben noch nichts an Reiz verloren, würde es auch nicht bei steter Weiterentwicklung. Wenn sie sich an Bord Nahrungsmittel und Nähnadeln und Zwirn und Seife und dergleichen holten, so war das etwas ganz anderes, aber Aufenthalt an Bord wurde nicht genommen.
Nur Kapitän Hagen machte eine Ausnahme. Endlich hatte man herausgebracht, wo der jede Nacht blieb.
Er ging des Abends einfach an Bord, wärmte sich ein präserviertes Schnitzel mit Leipziger Allerlei, aß zum Nachtisch einige Scheiben Schinken und Zungenwurst, und dann legte er sich in den seidenen Pfühl.
Atalanta musterte ihren Gemüsegarten.
Wie das alles wucherte! Nicht nur der Tabak, auch das wirkliche Gemüse. Es wucherte viel zu sehr.
Die Petersilie entwickelte sich zu Büschen, der Kohl lieferte palmenartige Bäume.
Mit diesem Gemüsebau war es nichts, wenigstens soweit es europäische, selbst im südlichen Italien gedeihende Gemüse anbetraf.
Und man hatte es erwartet, hatte es nur prüfen wollen, das hier war nur eine Versuchsstation.
Diese Insel lag ungefähr auf dem zehnten südlichen Breitengrade, also doch noch sehr nahe dem Äquator, und hatte ein herrliches Klima. Die tropische Hitze wurde immer durch frische Seewinde gemäßigt, der Regen fiel reichlich, ohne in Wolkenbrüche auszuarten.
Dieses herrliche Klima aber war es eben, was diese darin wenig verwöhnten Pflanzen einer gemäßigten Zone nicht vertragen konnten.
Der Kohl war nur genießbar, wenn die ersten Blättchen eben erst aus dem Boden kamen, am nächsten Tage waren die Blätter schon verholzt. Und so verholzte alles, was nicht in diese heiße Zone gehörte. Dort das Kirschbäumchen hatte schon massenhafte Knospen angesetzt, würde riesige Blüten entwickeln, aber keine einzige Frucht. Die Entwicklung ging viel zu schnell.
Doch in dem Schiffe waren ja auch genug Sämereien und Stecklinge von echt tropischen Pflanzen gewesen. Und außerdem war es gar nicht ausgeschlossen, dass man die Gemüse und sonstigen Pflanzen einer kälteren Zone hier nicht doch noch akklimatisierte. Der asiatische Kirschbaum hat früher nicht einmal im südlichen Italien Früchte tragen wollen, nicht der Pflaumenbaum, und vor den Europäern hat es in Kalifornien noch keinen Apfel gegeben, es musste erst eine ganz neue Äpfelsorte gezüchtet werden, die das ewige Frühlingswetter vertrug.
Solche Versuche erfordern jahrelange Geduld, sind aber vom höchsten Interesse und krönen schließlich immer mit Erfolg.
Am wichtigsten war die Frage wegen der Ernährung mit Brot oder einem Brotersatz. Schon beackerten die japanischen Matrosen ein größeres Feld mit zwei Kühen, zogen die Furchen ein bisschen schief, was aber dem Samen ganz gleichgültig ist, der da hineinkommt.
Es handelte sich nur noch darum, was gesät werden sollte. Weizen konnte in diesem Klima nicht in Betracht kommen, noch viel weniger Roggen, Gerste und Hafer, als richtige Brotfrucht war wohl nur Mais zu verwenden, auch Hirse gedeiht im heißesten Afrika, aber das ist nur etwas für einen Negergeschmack. Und auch der Mais will bei der Blütezeit längere Trockenheit haben, und es war sehr die Frage, ob es die hier gab.
Heute sollte dieses gepflügte Feld bestellt werden, und die Frage war so wichtig, dass man sich wegen der Fruchtwahl heute in aller Frühe nochmals ernstlich beraten wollte. Auch die Japaner mussten zu Rate gezogen werden, hauptsächlich, ob nicht doch noch Reis angebracht sei. Nur Mephistopheles konnte an der Beratung nicht teilnehmen, der war seit vier Wochen schon wieder mit dem Walfisch unterwegs, konnte allerdings jeden Tag eintreffen.
Da kam einer der japanischen Matrosen, die schon bei der Arbeit waren, angerannt, wünschte guten Morgen und hielt der Gräfin die offene Hand hin.
»Was ist das, Frau Gräfin?«
Er hatte die Hand voll weißlicher, sehr kleiner Körner.
»Das ist Hirse!«, meinte Atalanta nach einiger Betrachtung. So sehr bewandert in der Getreidekunde war sie eben nicht.
»Nein, das ist keine Hirse. Hirse ist niemals so eckig, oder es ist eine uns ganz fremde Art.«
»Wo habt Ihr die denn her?«
»Nicht vom Schiff, sie ist nicht von uns. Wie wir vorhin aufs Feld kommen, da liegt am Rande ein großer grüner Sack, ganz voll von diesem Zeug, wenigstens zwei Zentner.«
»Ein grüner Sack?!«, rief Atalanta, schon von einer Ahnung erfasst. »Ihr wisst nicht, wie der Sack dorthin gekommen ist?«
»Nein. Wir denken, dass ihn die Lemuren dort hingelegt haben, in der Nacht, wir sollen diese uns fremde Getreideart säen.«
Das war es, was sich auch Atalanta sofort gedacht hatte.
Sie wollte gleich hin, weckte ihren noch schlafenden Mann, ein Pfiff, und außer dem Zwergpinscher kamen zwei schöne Jagdhunde angesprungen, ein Pärchen. Die Tiere hatten schon einen Morgenausflug gemacht.
Sie begaben sich nach dem Felde, es war nicht weit. Dort warteten schon alle anderen, um den geheimnisvollen Sack stehend, aber auch gleich daran denkend, die Spuren derer nicht zu verwischen, die ihn hierher gebracht hatten.
An dem Sacke selbst war nichts weiter Bemerkenswertes. Ein festes Gewebe von grüner Farbe, was freilich schon viel sagte.
Die beiden Jagdhunde, von deren vortrefflicher Nase Atalanta schon viele Beweise bekommen hatte, mussten an dem Sacke Witterung nehmen.
»Such, Hektor! Such, Kassandra!«
Spuren waren in dem Grase vorhanden, von sehr großen menschlichen Füßen stammend, das Auge der Indianerin sah sie deutlich — aber die beiden Hunde wollten von dieser Spur nichts wissen, verfolgten sie nicht.
»Diese Lemuren verstehen die Witterung ihrer Spur zu verbergen, daraus ist zu schließen, dass sie auch die Eigenschaften von Hunden kennen — das ist immerhin bemerkenswert. Nun, so verfolge ich sie selbst. Unsichtbar haben sie die Spur nicht machen können.«
Die Spur, von drei Männern herrührend, von denen zwei offenbar den Sack getragen hatten, lief dorthin, woher sie gekommen war, zwischen Hügel, in eine Höhle hinein, deren Wände aber glatt abschlossen. Da war nichts von einer geheimen Tür oder so etwas zu bemerken. Und doch musste eine solche vorhanden sein, oder diese Lemuren verstanden einfach durch die Wand zu gehen.
»Nun, einen Anhalt haben wir schon wieder, wo ein anderer Eingang zu finden ist.«
Sie ging nach dem Felde zurück, konnte nur anordnen, dass ein Teil davon mit dieser Hirse, die übrige Fläche mit Mais zu bestellen sei.
Wie die Hirse zu säen, wie die Saat sonst zu behandeln sei? Keiner dieser Männer verstand etwas von Landwirtschaft, da mussten immer erst die Bücher befragt werden, die glücklicherweise in der englischen Schiffsbibliothek vorhanden waren und über solche Fragen ausführlich Auskunft gaben.
Zum ersten Male hatten sich die Lemuren in das Leben der Kolonisten eingemischt. Sie hätten aber auch wegen der Feldfrucht eine erklärende Mitteilung hinterlassen können.
Atalanta füllte in ein Tuch eine gute Portion von der Hirse, nahm sie mit, um zu Hause erst einmal einen Kochversuch zu machen. Arno blieb noch bei den Feldarbeitern.
Bei ihrer Behausung wieder angekommen, fand sie ihren kleinen Alfred im Morgensonnenschein auf seinem gewöhnlichen Spielplatze. Es war dies eine sandige Fläche, eine Miniaturwüste, welche die Natur zwischen zwei Hügeln geschaffen hatte. Hier spielte meist das Kind, das ja noch nicht laufen konnte, in dem feinen, weißen Sande.
Sarda, die japanische Dienerin, war augenblicklich abwesend. Die Mutter beschäftigte sich etwas mit ihrem Liebling, nahm ihn auf den Arm und hatte dabei das Bündel mit der Hirse auf den Boden gelegt.
Da rief Sarda die Gräfin.
»Kommen Sie, o kommen Sie schnell!«
Aber es war ein Ton, der durchaus keine Besorgnis erweckte, ganz im Gegenteil.
Atalanta hatte das Kind gerade wieder hingesetzt, hatte ihm im Sande etwas bauen wollen — so ließ sie es sitzen und eilte dorthin, wo Sarda noch immer rief, hatte auch das Tuch mit der Hirse zurückgelassen.
Ja, es war etwas sehr Erfreuliches, etwas Reizendes, was die Japanerin ihr zu zeigen hatte.
Mephistopheles hatte von seiner ersten Fahrt auch ein Volk Haushühner mitgebracht, gute Eierleger, die aber auch Fleisch ansetzten.
Sie waren unter den Kolonisten geteilt worden, auch das gräfliche Ehepaar erhielt fünf Hühner und einen Hahn. Die Tiere legten fleißig Eier, wollten aber nicht brüten, wohl infolge des Klimawechsels.
Gleich in den ersten Tagen, jetzt also vor vier Wochen, war hier ein Huhn verschwunden, Atalanta hatte es trotz ihres Spürsinns nicht auffinden können, auch nicht seine Leiche, man wusste nicht, wo es geblieben war. Raubtiere gab es hier nicht, keine Ratte, auch noch keinen Raubvogel hatte man bemerkt, mit Ausnahme von Möwen, die aber wohl schwerlich auf Hühner gehen. Es hatte sich eben verlaufen und verloren.
Und jetzt kam dieses vermisste Huhn gackernd anspaziert, neun Küken führend, mit einem Stolze, wie es eben nur eine Gluckhenne sein kann, die ihre Kinderchen zum ersten Male ausführt, zumal wenn sie das Brutgeschäft heimlich besorgt hat. Das erste war, dass sie einem der Jagdhunde, der die Küken beschnüffeln wollte, auf den Kopf flog und diesen bearbeitete, dass dem großen Hunde Hören und Sehen verging und er heulend davonfloh, worauf sie nur noch stolzer gackernd ihren Spaziergang fortsetzte.
Und nicht minder glücklich war Atalanta — und stolz dazu, denn diese erste Hühnerbrut war für diese Insel ein historisches Ereignis. Und ihr, der Herrin der Insel, auch ohne jede Abmachung als Präsidentin der Kommune oder gar als Königin anerkannt — gerade ihr war es gelungen, das große Problem zu lösen! Wie würden sich die beiden Australier ärgern, die am meisten von der Hühnerzucht verstehen wollten — wahrscheinlich nur deshalb, weil sie den Papageien immer die Eier mausten — aber es war ihnen noch nicht gelungen, obgleich sie ein Huhn sogar auf dem Nest festgebunden hatten, während es Littlelu mit dem Hypnotisieren versucht hatte, ebenfalls ohne Erfolg.
br>Das musste gleich »alle Welt« erfahren! Zuerst aber der kleine Alfred. Die Mutter holte ihn schnell, der hatte sich unterdessen zu beschäftigen gewusst, hatte das nur lose zusammengeknüpfte Tuch geöffnet und streute jubelnd die Hirse über sich, die in dem weißen Sande natürlich spurlos verschwand.
Nun, das hatte nichts zu sagen, dort gab es noch einen ganzen Sack voll.
Nachdem sich das Kind genügend an dem Anblick der Küchlein geweidet hatte, mehr noch die Mutter am Jubel des Kindes, ging sie, rannte sie wieder nach dem Felde.
»Ich habe neun Eier ausgebrütet!«, jauchzte sie schon von Weitem, gar nicht mehr als jene Indianerin erkennbar.
»Das ist noch gar nichts«, entgegnete Littlelu, »ich habe zwei junge Ferkel geworfen.«
So war es in der Tat, wenn man nun einmal den Ruhm für sich selbst beanspruchte.
Auch drei Schweine hatte Mephistopheles mitgebracht, deren Besorgung Littlelu und Wilhelm übernommen hatten. Und heute Nacht war die eine Sau, die kleinste, glückliche Mutter von zwei Ferkeln geworden, ohne dass irgend jemand die geringste Ahnung davon gehabt hätte. Das kann bei jungen Schweinen nämlich vorkommen, wenn man nicht gerade ein Fachmann ist.
»Ist nicht möglich!«
»Na, wenn ich Ihnen sage!«
»Welche denn?«
»Die mit den sentimentalen Vergissmeinnichtaugen, die einen so jungfräulich-sittsamen Eindruck macht, die egal nischt fraß und trotzdem nichts an Leibesfülle verlor.«
Es blieb zunächst bei den Hühnern. Mit Ausnahme der Japaner gingen alle mit, schon unterwegs eifrigst über das hochwichtige, geradezu welthistorische Ereignis debattierend.
Dabei waren sich alle diese Herren mit heimlichem Lächeln bewusst, dass sie alle bis vor kurzem höchstens Interesse für ein gebratenes Huhn gehabt hatten. Und trotzdem waren sie sich auch bewusst, dass dies wirklich eine hochwichtige Sache war, und die Hauptsache war, dass sie sich alle glücklich fühlten. Es gibt eben wohl nichts anderes als Natur und Landleben, dessen Genuss dauernd befriedigt, ohne eine Reue zu hinterlassen.
Und nun auch dieser herrliche Morgen! Alles sprudelte über von Scherz und Witz.
Unterdessen hatte die Gluckhenne mit unfehlbarer Sicherheit die Sandfläche und die verstreute Hirse gefunden, scharrte mächtig, um ihren Kindern zu zeigen, wie's gemacht wird, fraß selbst nicht, pickte nur zur Anleitung, um hier und da ein winziges Körnchen den dummen Gören mundgerechter zu machen, und wenn sich ein anderes Huhn nahte, dann gab's schmähliche Schnabelhiebe, am meisten für den Herrn Vater.
Die Herren lagerten sich im Kreis und schauten der reizenden Szene mit tiefstem Interesse zu, hatten auch manche Bemerkung dazu zu machen.
Wenn man auf eine weiße Steinplatte ein weißes, winziges Hirsekorn wirft, so rennt das weit entfernte Huhn sofort herbei und pickt das Korn auf; wirft man aber auf die Platte ein weißes Steinchen, von dem Hirsekorn für uns gar nicht zu unterscheiden, so kümmert sich das Huhn gar nicht darum, hat scheinbar keinen Blick hingeworfen.
Wie bringt das Huhn diese schnelle Unterscheidung fertig? Das weiß kein Mensch, und wenn er auch Professor von allen vier Fakultäten ist.
Nachdem die Herren genügend zugeschaut hatten, entfernten sie sich wieder.
Atalanta hatte nochmals eine Portion Hirse mitgenommen, um einen Kochversuch zu machen. Man kann Hirse auch mahlen, Brot daraus backen, aber dieses Brot ist, wie schon gesagt, nur für den Geschmack eines Negers. Die Kolonisten mussten sich wohl mit Hirsebrei begnügen, was freilich auch nicht nach jedermanns Geschmack ist. Und Hirse war es unbedingt, nur eben eine besondere Art.
Wo hatten die Lemuren diese Hirse her? Trieben die dort unter der Erde im grünen künstlichen Lichte etwa gar auch Landwirtschaft? Und wenn es wirklich der Fall sein sollte, würde dieselbe Pflanze auch im Sonnenschein gedeihen?
Zum ersten Male dachte Atalanta daran, einige Körnchen in den Mund zu nehmen, und da wusste sie sofort, dass das noch kein anderer probiert hatte.
Sie erschrak fast vor Staunen, nämlich ob der Süßigkeit dieser Körnchen. Zucker war nichts dagegen. Kann es denn etwas Süßeres geben als Zucker? Gewiss, Saccharin, ein künstliches, chemisches Präparat, das, raffiniert, die fünfhundertfache Süßkraft des Rohrzuckers hat.
Atalanta hatte noch kein Saccharin gekostet, jedenfalls aber wusste sie, dass die Süßigkeit des Zuckers gegen diese Hirsekörner nichts war.
Nun, dann musste erst recht ein Kochversuch gemacht werden. Schädlich konnte das Zeug wohl nicht sein. Die Hühner waren mit erstaunlicher Gierigkeit hinter den Körnerchen her, obgleich sie hier doch genug zu fressen hatten, und die gehen nicht so leicht an ihnen etwas Schädliches.
Also Atalanta setzte einen Topf mit kaltem Wasser aufs Feuer und schüttete eine Portion Hirse hinein. Wenn ein Junggeselle einmal auf die kühne Idee kommt, sich eine Mahlzeit selbst zu kochen, und er wählt Reis und er kennt den Witz nicht — dann kann er ja etwas Nettes erleben! Der misst sich doch so viel Reis ab wie er zu essen gedenkt, eine Schüssel voll, den schüttet er in den Topf, dass oben etwas freier Raum bleibt, Wasser hinein, dass es noch etwas darüber steht, und dann fängt er an zu kochen.
Und nun erlebt er sein blaues Wunder. Der Reis quillt. Und wie der quillt. Und wenn er nun gar erst zu kochen anfängt!
Der arme Mann schöpft und schöpft, um das Überlaufen zu verhindern, er füllt alle Töpfe voll, die ihm zur Verfügung stehen, er füllt seinen Aschenbecher, sein Tintenfass — vergebens, der Reis vermehrt sich immer weiter, auch wenn er jetzt vom Feuer genommen wird, bis der zur Verzweiflung getriebene Mann endlich das ganze Höllenzeug ins Ofenloch oder sonst wohin schüttet.
Der kocht ja keinen Reis wieder, auch wenn er dann erfährt, dass der hungrige Soldat im Manöver und Kriege zum Selbstabkochen nur eine Kaffeetasse voll Reis erhält.
Und ähnlich so, wenn auch nicht ganz so schlimm, verhält es sich mit der Hirse.
Nun, das konnte dieser Indianerin ja nicht mehr passieren, die hatte schon ihre Erfahrungen in der Kocherei, auch mit Reis und Hirse.
Also sie schüttete in den Litertopf nur ein Tässchen voll Hirse.
Aber alsbald erlebte sie etwas, was noch kein Junggeselle mit Reis erlebt hat.
Sobald das Wasser anfing, warm zu werden, begann die Hirse zu quellen. Und wie die erst quoll! In einem Nu war der Topf bis zum Rande gefüllt.
Atalanta hielt sich nicht auf mit Schöpfen, sie goss den Topf gleich halb aus, neben sich auf die Erde. Aber das hatte für die so behandelte Hirse nichts zu sagen, die quoll auch abseits des Feuers immer lustig weiter, aus jedem einzelnen Hirsekorn wurde ein Klößchen, und aus jedem Klößchen wurde ein Kloß.
Was aber nun erst innerhalb des kochenden Topfes wurde! Da kamen schon große, weiße Kanonenkugeln heraus.
»Hilfe, Arno, zu Hilfe!«
Arno arbeitete hinter den Hügeln. Er hatte das Lachende des Hilferufes nicht gehört und kam angestürzt, in jeder Hand einen Revolver.
Aber da gab es nichts zu schießen, obgleich der Topf selbst schoss, und zwar gleich mit Kanonenkugeln.
Und die Klöße, die auf einem Haufen am Boden lagen, wurden auch noch immer größer, wollten auch noch weiße Kanonenkugeln werden.
Arno sperrte, mit Respekt zu sagen, vor Staunen Maul und Nase auf, denn durch das fortwährende Wachsen kam ja auch der ganze Haufen in Bewegung, als ob ein lebendiges Tier darunter stäke.
Dann kamen noch andere Zuschauer, die sich aber nicht damit begnügten, das Maul aufzusperren.
Die drei Hunde kamen, machten sich sofort über die Klöße her, so heiß diese auch noch waren; sie fraßen mit einem Heißhunger, als hätten sie seit drei Tagen nichts zu fressen bekommen.
»Verjage die Hunde, die müssen ja platzen!«, lachte Atalanta, noch immer mit dem Topfe im Kampfe, wobei es gar nichts nützte, dass er vom Feuer genommen wurde.
Ja, wenn die Hunde kleinere Klöße fraßen, und die entwickelten sich im Magen so weiter, dann lag die Gefahr des Platzens sehr nahe.
Aber die sonst so wohlerzogenen Hunde waren so gierig nach den süßen Hirseklößen, dass sie sich erst verjagen ließen, nachdem Arno ganz energisch mit der Hundepeitsche gegen sie vorging.
Noch einmal wurden alle Herren gerufen, dass auch sie dieses Wunder anstaunten.
Das Experiment wurde in verschiedener Weise wiederholt.
Man konstatierte mit dem Thermometer, dass die Entwicklung erst begann, wenn das Wasser eine Wärme von 40 Grad Celsius erlangt hatte, bis dahin blieben es kleine Hirsekörner, dann aber ging die Wucherung auch ganz rapid.
Für ein einzelnes Hirsekorn genügte ein Tropfen Wasser von der angegebenen oder einer höheren Temperatur, um die Wucherung in Gang zu setzen, denn eine Wucherung war es. Man sah förmlich, wie sich Zelle an Zelle setzte, und wusste nicht, woher diese neue Materie kam. Nicht etwa, dass noch mehr Wasser zugesetzt werden musste, dieser eine Tropfen genügte, dann ging die Geschichte los und hörte nicht eher auf, als bis dieses einzige Hirsekorn die Größe von einer mittelmäßigen Kegelkugel erlangt hatte.
Dasselbe geschah auch in der Erde, wenn warmes oder heißes Wasser darüber gegossen wurde. Die sich entwickelnde Kugel sprengte die Erde auseinander, aber nicht etwa, dass ein Keim erschien, es war eine genussfertige Speise geworden, schmeckte etwas süßlich, aber sehr gut, für jeden Gaumen angenehm.
»Wir sollen die Hirse oder was es sonst ist, gar nicht säen, sondern gleich so verwenden!«
Möglich — aber die Hälfte des Sackes war nun schon in die Erde gewandert.
»Wenn es jetzt regnet«, meinte Littlelu, »dann entstehen dort in unserem Felde lauter solche Kanonenkugeln!«
Nein, einen Regen von 40 Grad Celsius gibt es nicht, wohl aber wäre es der Fall gewesen, hätte man das Feld mit heißem Wasser begossen.
Wegen der Wucherung stand man vor einem unlösbaren Rätsel. An Bord des Schiffes befand sich auch ein chemisches Laboratorium, einer der englischen Ingenieure hatte es oft benutzt. Einige der Herren besaßen ja ganz gute chemische Kenntnisse, aber dazu langten sie nicht aus, eine Analyse musste man dem zurückgekehrten Mephistopheles überlassen.
Am nächsten Morgen wurde Arno in aller Frühe dadurch vorzeitig geweckt, dass ihn einige Fliegen belästigten, die es beharrlich auf seine Nase abgesehen hatten.
Alle diese polynesischen Inseln verdienten den Beinamen der »Glücklichen« besonders deshalb mit Recht, weil auf ihnen die Mücken fehlen. Wir Bewohner einer gemäßigten Zone träumen so gern von tropischen Paradiesen, denken dabei aber nicht an Schlangen, an die fürchterlichen Blutegel und an das Entsetzlichste von allem, an die Moskitoplage, die dort das Leben zur Hölle macht.
Auf diesen polynesischen Koralleninseln nun gibt es keine Moskitos, keine Stechmücken, während sie auf dem Festlande von Australien eine fürchterliche Plage bilden. Man sagt, sie könnten sich auf diesen flachen Inseln nicht halten, weil die häufigen Stürme sie eben ins Wasser hinauswerfen. Aber weiter im Norden gibt es ebenfalls ganz flache Inseln, dort blasen die Stürme manchmal noch ganz anders, und dort wimmelt es von Mücken.
Weshalb auf diesen Inseln die Mücken fehlen, weiß man nicht. Ebenso wenig wie man weiß, weshalb es in Irland keine Frösche gibt, weshalb importierte verkommen, spurlos verschwinden, obgleich das grüne Eiland der Fortentwicklung dieser Lurche nach menschlichem Ermessen doch gerade sehr günstig sein müsste. Das sind Naturgeheimnisse, in die der Mensch wohl niemals dringen wird. Der Irländer behauptet, dass sein Schutzpatron, der heilige Patrick, die grüne Insel für alle Schlangen, Frösche und Kröten verflucht habe, und damit fertig.
Andere Insekten aber gab es hier auch auf dieser großen Insel, sonst hätten sich ja auch die Pflanzen nicht befruchten können. Außer einer honigtragenden Biene kam eine Fliege vor, vielleicht eine andere Art als unsere europäische Stubenfliege, für den Laien aber von dieser nicht zu unterscheiden. Wäre die Theorie mit den Stürmen richtig gewesen, so hätte es hier ja auch keine Bienen und Fliegen geben dürfen. Lästig aber hatten sich diese Fliegen, so zahlreich sie auch auftraten, bisher noch niemals gemacht.
Zum ersten Male wurde Arno von ihnen im Schlaf gestört. Allerdings stand die Sonne schon am Himmel und mit Verwunderung bemerkte er, dass es eine ganz neue Fliegenart war, die sich da eingestellt hatte, denn die Kolonisten waren doch erst acht Wochen hier, alles in der Natur wurde noch aufmerksam beobachtet, handelte es sich doch um eine ganz weltunbekannte Insel, auf der merkwürdigerweise Kängurus heimisch waren, von den Zwergen und sonstigen Rätseln gar nicht zu sprechen.
Es waren sehr große Fliegen, Brummer, so groß wie die Erdhummeln, aber doch wieder etwas ganz anderes, nicht so dick und plump, sondern schlank — einfach eine gewöhnliche Stubenfliege in sehr großer Ausgabe.
Atalanta, die wie immer ihr Lager schon mit dem ersten Sonnenstrahl verlassen hatte, trat in die Höhle.
»Was sind das nur für große Fliegen, die sich hier eingestellt haben?«
Der waren die fremden Insekten also auch schon aufgefallen, und draußen konnte man sie denn auch erst recht beobachten.
Dort, wo gestern die weißen Hirseklöße gelegen hatten, war der Boden mit Fliegen und Bienen und anderen geflügelten und ungeflügelten Insekten bedeckt. Gestern Abend noch hatte das gräfliche Ehepaar mit vereinten Kräften das aufgeschwemmte Zeug, wenigstens ein Kubikmeter, in mehreren Körben nach einer Höhle geschafft. Was sollte denn sonst daraus werden? Nun ja, man wollte dort erst einmal abwarten, was noch weiter daraus wurde, ehe man es vollends vernichtete.
Wie gierig den süßen Brei, der aber doch noch ziemlich fest war, die Hunde gefressen hatten, wurde schon gesagt. Auch die Hühner fraßen ihn so leidenschaftlich, ebenso wie die kleinen Hirsekörner selbst, desgleichen die Rinder, Schweine und sonstigen Haustiere, die man schon besaß.
Doch wollte man lieber noch keine großartigen Fütterungsexperimente machen, erst sollte Mephistopheles das Zeug einmal chemisch untersuchen, wenn kein Lemure eine weitere Aufklärung über diese rätselhafte Hirseart gab.
Da war es begreiflich, dass auch Fliegen und sonstige Insekten hinter dem süßen Zeug ganz toll her waren. Sogar eine ganz neue, riesige Fliegenart hatte es herbeigezogen Woher die kam, das war ein Rätsel. Alles hatte doch vom Boden nicht gründlich entfernt werden können, dieser hatte auch genug eingezogen, und nun war dieser Boden eben dicht von solchen Insekten bedeckt, unter den Legionen von gewöhnlichen Stubenfliegen zeichneten sich besonders die Riesen aus, die allerdings nur vereinzelt vorkamen.
»Wenn uns die Lemuren da nur nicht ein Geschenk aus der Hölle gemacht haben!«, meinte Arno besorgt.
Wie ward ihnen aber erst, als sie einmal nach jener Höhle gingen, in der sie das Zeug untergebracht hatten!
In dieser Höhle surrte es wie in einem aufgestocherten oder angeräucherten Bienenkorbe, aber nur von Fliegen, und doch, es waren auch Bienen dabei, aber in der Minderzahl. Der Hauptsache nach machten gewöhnliche Stubenfliegen diesen Heidenkrawall, eben weil sie sich zu Legionen in der Höhle aufhielten. Sie ließen sich nicht daraus vertreiben, niemand hätte auch gewagt, die Höhle so ohne Weiteres zu betreten.
Also es waren der Hauptsache nach nur die gewöhnlichen Stubenfliegen und Honigbienen, nur wenige Exemplare jener riesenhaften Fliege waren vertreten.
Da aber kam ein Insekt angeschwirrt, vor dem die beiden fast die Flucht ergriffen hätten. Es war eine Biene, aber was für eine! Größer als ein Kolibri, fast so groß wie ein Hühnerei, wollen wir sagen.
Atalanta schlug mit ihrem Messer danach und halbierte sie glücklich. Ja, dem Bau nach war es eine gewöhnliche Biene, wie sie hier allgemein vorkam, aber eben von riesigen Dimensionen. Deutlich konnte man den ganzen Saug- und Fressapparat studieren, die Augen so groß wie Erbsen, die Haare glichen schon mehr Borsten, hinten aus dem Leibe konnte man einen Stachel wie eine kurze Stopfnadel herausdrücken, aber spitz, wie es eben nur ein Bienenstachel sein kann, durch keine menschliche Kunst nachzuahmen, denn unter dem Vergrößerungsglas oder gar unter dem Mikroskop endigt auch die feinste Nähnadel als ein stumpfer Kegel, während die Spitze des Bienenstachels immer eine ideale ist, es ist und bleibt die vollendete Spitze, wie man sie auch vergrößert.
Und da kam schon wieder so ein Ungeheuer angeschwirrt.
Ja, das waren wirklich lebensgefährliche Ungeheuer! Wenn so eine Biene stach, wobei sie doch ein Tröpfchen ätzendes Gift in die Wunde fließen lässt, was aber hier ein großer Tropfen sein musste, wobei auch der Stachel abbricht und in der Wunde stecken bleibt — das musste von solch einem Ungeheuer für den Menschen lebensgefährlich werden! Ein Glück nur, dass die Biene nicht wie die Wespe ohne Not sticht.
Da kam Wilhelm gerannt.
»Kommen Sie aufs Feld, kommen Sie aufs Feld! Was da passiert, wie es da aussieht — ich kann's gar nicht beschreiben!«
Nein, es war wirklich nicht zu beschreiben.
Das ganze Feld war lebendig, Das heißt nur der Teil, auf dem die Hirse gesät worden war.
Auf diesem Teile schwirrten und hüpften und watschelten Legionen von Papageien, und es war nicht genau zu konstatieren, ob sie es mehr auf die Hirsesaat abgesehen hatten, die sie aus der Erde hackten, oder mehr auf die Myriaden von Insekten aller Art, die sich ebenfalls hier eingestellt hatten.
Denn mag sich der Papagei und Kakadu und Joko auch hauptsächlich von Körnern und Früchten ernähren, so ist er in der Freiheit doch auch ein Insekten-, sogar ein Fleischfresser, seine Jungen füttert er überhaupt nur mit Insekten und Fleisch. In der Gefangenschaft merkt man nur nichts davon, weil er da eben nicht brütet, dadurch mag er diesen Geschmack ganz verlieren. Aber kleinere Vögel tötet und frisst er doch noch recht gern, wenn er nur kann.
br>Also Myriaden von Insekten! Alles, was davonfliegen konnte, schien sich von der ganzen Insel hier zusammengefunden zu haben, Die Fliegen und Bienen dort in der Hügelregion hatten nur noch nicht Witterung von diesen Hirsekörnern bekommen, sonst wären die auch schon hier, denn auf die Hirsekörner hatten es alle diese Insekten abgesehen, daran war gar kein Zweifel.
Der Hauptsache nach waren sie ja alle von normaler Größe, aber auch einige riesige Exemplare von Fliegen und Bienen und anderen Insekten zeigten sich. Auch diese wurden von den Papageien und einer anderen Art insektenfressender Vögel verspeist, sogar mit Vorliebe, deren harter Schnabel machte sich nichts aus dem Bienenstachel, so groß der auch sein mochte — aber die riesigen Exemplare schienen sich immer zu vermehren, man wusste nicht, woher sie kamen, und es schien fast, als ob sie immer größer würden.
Im Übrigen war es ein einfach unbeschreibliches Treiben hier auf diesem Hirsefeld, während das benachbarte Maisfeld von den Tieren gar nicht beachtet wurde.
Auch die sämtlichen Hühner hatten sich eingestellt, die Schweine, scharrten und wühlten in geradezu leidenschaftlicher Weise in der Erde.
Alle Herren hatten sich eingefunden, um das rätselhafte Schauspiel zu beobachten, und bei denen begann sich das Rätsel schon etwas zu lösen, freilich nur, um einem noch größeren Rätsel Platz zu machen.
»Ja, ja, es ist eine Tatsache, die Fliegen und Bienen werden immer größer!«, bestätigte Hagen auf Atalantas verwunderte Äußerung, »Haben Sie noch nicht gehört, was die Japaner schon gestern Nachmittag beobachtet haben?«
Er berichtete.
Gestern Mittag war das Feld mit Hirse bestellt gewesen, wozu man die Hälfte des Sackes verwendet hatte. Die andere Hälfte hatten die Japaner mit an Bord genommen, wo sie sich immer aufhielten, noch mehr arbeitend, indem sie die sämtlichen unverweslichen Leichen in den unteren Schiffsräumen bargen.
Dass es alle Insekten und körnerfressenden Vögel so auf die Hirse abgesehen, hatte man schon bei der Aussaat bemerkt, aber noch nicht so wie heute, da nun alles Witterung bekommen hatte.
Aber an Bord hatten die japanischen Matrosen mit ihren scharfsichtigen Schlitzaugen gleich noch eine andere Beobachtung gemacht.
Nach wie vor waren die Fliegen wie toll hinter der Hirse hergewesen, jedes verlorene Körnchen wurde von ihnen attackiert, mit Speichel befeuchtet und der süße Schleim gierig eingesogen.
In diesem immer heißen Klima ist ja die Fliegenbrut nicht so regelmäßig wie bei uns, wo wohl nur dreimal im Jahre neue junge Fliegen aus den Puppen, in die sich die Made verkapselt hat, erscheinen: im Frühling, im Mittsommer und noch einmal im Herbst, welche letzte Brut dann gewöhnlich überwintert.
So waren hier auch sehr viele kleine, das heißt junge Fliegen vorhanden, und zwar von allen Perioden, noch ganz flügelunreife bis zu solchen, die ihre Normalgröße noch nicht ganz erreicht hatten.
Nun ist ja bekannt, wie schnell sich Fliegen, wenn sie die Puppe einmal verlasen haben, zur vollen Größe entwickeln. Wenn am frühen Morgen aus einer Dielenritze — auf dem Lande kann man es in der Nähe eines Kuhstalls überall beobachten — eine Schar Fliegen kriecht, kleine Tierchen, mit noch nicht entwickelten Flügeln, so haben diese am Abend schon die Hälfte ihrer Größe erreicht und am Abend des nächsten Tages sind sie schon ausgewachsen. Das kann mit der Menge der Nahrungsaufnahme nichts zu tun haben, da muss ein innerer Vorgang, eine Assimilation von schon vorhandenem Stoffe in konzentriertester Form eine Rolle spielen, so wie das Huhn in den ersten drei Tagen nichts frisst und dennoch ganz bedeutend wächst, so wie auch das Samenkorn in ganz reinem Wasser anfangs grüne Blätter treibt, bis eben das, was schon in dem Samenkorn an Zellenstoff vorhanden gewesen, sich erschöpft hat.
Nun hatten die aufmerksamen Japaner beobachtet, sich ganz junge Fliegen und Bienen, die gestern Nachmittag an den süßen Hirsekörnern gefressen, gesaugt hatten, sich schon in den ersten zwei Stunden bis zur vollen Größe entwickelt hatten, sie waren im buchstäblichen Sinne des Wortes zusehends gewachsen, und dieses Wachstum hatte sich auch noch über die normale Größe hinaus entwickelt. Heute früh waren die unter Glas gehaltenen Stubenfliegen so groß wie die Hummeln, die Bienen etwa wie die Zaunkönige. Aber das galt nur von denjenigen Insekten, die gestern also noch ganz jung und daher klein gewesen waren. Auf die schon zur völligen Größe entwickelten hatte die Hirse keinen Einfluss, die blieben, wie sie waren.
Atalanta begab sich an Bord und sah die unter großen Gläsern gehaltenen Insekten selbst. Hier aber, mit angeweichter Hirse reichlich versehen, hatten die Fliegen schon die Größe von Kolibris angenommen, die Bienen ungefähr — um einen Maßstab zu haben — die von Sperlingen.
»Mein Gott, mein Gott, was ist das nur für eine wunderbare Substanz?! Und wie soll das noch enden?«
Da ertönte ein wohlbekanntes Signal, in der Bucht tauchte der Rücken des Walfisches auf. Mephistopheles stieg an Land.
Es wurde ihm berichtet und gezeigt, und der grinsende Mann, der von einer geheimen Gelehrtenverbrüderung schon in der anderen Menschheit noch ganz unbekannte Wissenschaften eingeführt worden war, geriet in die größte Aufregung.
»Himmel, diese Lemuren scheinen das Problem gelöst zu haben, an welchem mein Bruder mit meiner Hilfe jahrelang vergebens experimentiert hat!«
Es war wieder einmal der seltene Fall, dass er seinen Bruder, den Professor Dodd, erwähnte,
Ohne vorläufig weitere Erklärung zu geben, zog er sich gleich mit einer Portion der Hirse in das Laboratorium zurück.
Nach einer halben Stunde schon kam er wieder, immer noch ganz erregt.
»Qualitativ habe ich die Analyse ausgeführt, Es ist so, wie ich dachte. Der Hauptsache nach besteht die Substanz aus Lecithin und getrockneter Schilddrüse. Aber durch die Wirkung wird das Rätsel nur umso größer.«
Lecithin und Schilddrüse, die beiden Worte, die heute unsere medizinische Wissenschaft so intensiv beschäftigen, die jeden Tag neue Wunder eröffnen, waren ausgesprochen.
Lecithin, eine noch ganz junge Entdeckung, ist der wichtigste Bestandteil der Nervensubstanz, wobei freilich erst wieder erklärt werden müsste, was Nervensubstanz ist. Eine stark phosphorhaltige Substanz von ganz verwickelter Zusammensetzung, die am meisten im Gehirn, im Rückenmark, im Blut, im Eidotter und in anderen Zentralorganen lebender und auch pflanzlicher Wesen vorkommt. Aus diesen Stoffen lässt es sich wie der Kleber durch Kneten gewinnen. Seit der Erkenntnis, dass dieses Lecithin die Quelle der Nervenkraft ist, hat sich der Medikamentenmarkt der Sache bemächtigt, bringt Lecithinpräparate aller Art in den Handel — ganz unnötigerweise, wie jeder unbestechliche Arzt erklären wird, indem Lecithin in den Nahrungsmitteln, die wir genießen, genügend vorhanden ist, besonders eben im Eidotter, auch in der Milch. Und mehr, als da geboten wird, kann der menschliche Körper gar nicht verarbeiten.
Anders aber, wenn das Lecithin nicht vom Magen verdaut werden soll, sondern wenn es unter die Haut eingespritzt wird, direkt ins Blut. Da zeigen sich die wunderbarsten Erscheinungen. Das so eingespritzte Lecithinpräparat übt einen mächtigen Einfluss auf das Wachstum des ganzen Körpers aus.
Doch das sind die neuesten Versuche, mit denen man noch in völligem Dunkeln tastet. Die Tiere, mit denen experimentiert wird, wachsen ja äußerst rasch, sterben aber sehr bald an Leukämie, die ja auch eine beim Menschen vorkommende Krankheit ist, deren Ursache man nicht kennt, gegen die es keine Rettung gibt — im Blute herrschen die weißen Blutkörperchen vor, eben eine Überfüllung mit Lecithin.
Nun aber erst das Rätsel der Schilddrüse! Wenn sich da die Hoffnungen der ärztlichen Physiologen verwirklichen, dann dürften unsere Kinder dereinst lauter Genies werden; nur schade, dass die kleinsten Genies dann doch auch wieder Dummköpfe sind.
Es ist ein rötlichbraunes, blutreiches, hufeisenförmiges Organ, das vorn an der Kehle liegt. Es überbrückt den obersten Teil der Luftröhre. Über seinen Zweck weiß man noch nichts, so wenig wie über den des Blinddarmes, der Milz, der Mandeldrüsen und noch anderer Organe, die man entfernen kann, ohne dass es dem Menschen — scheinbar! — etwas schadet. Alle Meinungen über den Zweck der Schilddrüse sind nur Theorien, von denen es eine Menge sich ganz widersprechender gibt.
Nur das weiß man jetzt bestimmt, dass eine Erkrankung der Schilddrüse die Ursache der Kropfbildung ist, aber wieso, das ist wiederum ein vollkommenes Rätsel. Der Kropf kommt am meisten in Gebirgsgegenden vor, so zum Beispiel in Oberbayern. Da haben manchmal sämtliche Mitglieder einer Gemeinde einen dicken Kropf am Halse hängen, daraus schloss man, dass das Trinkwasser daran schuld sein müsse. Das stimmt auch. Das Brunnen- oder Quellwasser des betreffenden Dorfes, anderswohin versendet und genossen, erzeugte auch dort den Kropf, also eine Erkrankung der Schilddrüse, aber man weiß nicht, was der schädliche Bestandteil des Wassers ist. Alle bisherigen Theorien haben sich als falsch erwiesen; der große Kalkgehalt, wie man meinte, ist es jedenfalls nicht.
Außerdem herrscht in den Gegenden, wo der Kropf zu Hause ist, der Kretinismus, der — — Blödsinn. Diese dickhalsigen Kretinen werden in Bayern »Talkel«, »Trottel« und so ähnlich genannt, Das sind die geborenen Kröpfler. Die anderen, die den Kropf erst im Laufe der Jahre bekommen, brauchen deshalb nicht blödsinnig zu werden.
Die Schilddrüse kann man nicht ungestraft herausschneiden, dann geht der Mensch, das Tier ein. Nun aber hat man durch einen Zufall entdeckt, dass man es dennoch tun darf, nämlich wenn man dem Operierten reichlich anderweitige Schilddrüse zu essen gibt. Und da hat man entdeckt, dass diese regelmäßige Schilddrüsenfütterung — so sagt man wirklich, es wird dabei die getrocknete Schilddrüse von Rindskälbern verwendet — die Blödsinnigen gescheit macht. Drastisch ausgedrückt!
So schnell geht das ja nicht. Jedenfalls aber wird das Gehirn und seine Funktion ganz bedeutend ausgebessert. Aus Tieren können noch Menschen werden. Das Gehirn beginnt sich normal zu entwickeln, erst aber muss die kranke Schilddrüse heraus. Außerdem bewirkt die Schilddrüsenfütterung bei allen Menschen und Tieren, also auch bei denen, die eine gesunde Schilddrüse haben, eine enorme Steigerung des Stoffwechsels, Eiweiß wird bis zur zehnfachen Menge umgesetzt, ebenso viel Fett verbrannt. Was hieraus in den Händen der Ärzte noch werden kann, das ist noch gar nicht abzusehen.
So hatte Mephistopheles erklärt, soweit es die Zuhörer nicht schon selbst wussten.
»Und der Hauptsache nach besteht diese vermeintliche Hirse aus Lecithin und getrockneter Schilddrüse. Die anderen Bestandteile muss ich erst noch zu ergründen versuchen, besonders auch, was das für ein intensiver Zuckerstoff ist, der wohl auch mit dieses fabelhaft schnelle Wachstum verschulden muss.«
»Drum«, ließ sich zunächst Littlelus Bassstimme vernehmen, und der kurze, dicke Stöpsel dehnte sich und reckte sich auf den Fußspitzen empor, »drum fühle ich's schon seit gestern in allen meinen Knochen knacken! Drum war heute früh meine Hose drei Zentimeter zu kurz! Ich habe mir erst wieder drei Zentimeter drangeflickt. Ich habe doch gestern drei solche große Klöße gegessen, jeder Kloß ein Zentimeter? Na, da werde ich jeden Tag zehn Klöße essen. Gibt im Jahre ein Mehr von sechsunddreißig Metern. O, ich werde schon nachholen, was ich in meiner Jungend leichtsinnigerweise versäumt habe. Jetzt endlich fange ich an zu wachsen! Da, hören Sie es wieder, wie meine Knochen knacken?«
Ja, der ehemalige Zirkusclown verstand es, alle seine Knochen in grauenerregender Weise knacken zu lassen, wenn er sich streckte.
Aber den anderen war durchaus nicht so humoristisch zumute. Sie alle hatten von den Klößen gegessen, zum Teil tüchtige Portionen.
»Da werden wir — am Ende auch noch wachsen?«, fragte Atalanta, die im Augenblick etwas kopfscheu geworden war.
Die Antwort übernahm Littlelu, und dem war nichts heilig.
»Na, zweifeln Sie etwa daran? Sind Sie ein anderes Lebewesen als eine Fliege oder ich oder eine Biene? Am Ende, sagen Sie? Ja, wo wollen Sie denn sonst wachsen? Oder wie meinen Sie das? Wo hinaus wollen Sie sonst wachsen? Und doch, Sie könnten recht haben. Für mich bedeutet das Ende des Menschen unten die große Zehe und oben die Nasenspitze. Und mir scheint, Ihre Nase ist schon etwas länger geworden. Bei Wilhelm dort fängt's allerdings beim linken Ohre an, das ist schon viel größer als das rechte. Und Mister Ramford wächst zuerst mit der rechten Backe aus.«
Das letztere stimmte allerdings. Der Australier hatte seit einigen Tagen Zahnschmerzen, heute hatte er eine geschwollene Backe.
Mephistopheles wusste schnell zu beruhigen, und das hätten sich die Ängstlichen, die nicht gern größer werden wollten, auch selbst sagen können.
»Nein, nein, so einfach ist es mit der Wachserei nicht. Dass es Mittel gibt, um ein Wachstum ebenso zu befördern, wie zu verhindern, das lässt sich schon logisch begründen. Aber das wird wohl nur gehen, so lange sich das Lebewesen noch in der Periode des Wachstums befindet. Ist der Mensch oder das Tier einmal in normaler Weise ausgewachsen, so wird man schwerlich seine Größe weiter befördern können, so wenig man es kleiner machen kann, oder man müsste ihm die Beine abhacken, es einen Kopf kürzer machen. Und dann glaube ich niemals, dass die Lemuren wagen würden, sich so in Ihre ureigensten persönlichen Verhältnisse einzumischen. Sie haben doch auch schon gesehen, dass nur die noch jungen, kleinen, noch unentwickelten Insekten so fabelhaft schnell wuchsen, über das normale Maß weit hinaus, bei den schon entwickelten Tieren schlägt das Mittel nicht mehr an.«
Ja, das stimmte allerdings alles.
»Aber ich habe auch meinem kleinen Alfred davon zu essen gegeben!«, klagte die junge Mutter.
»Na, ein Kloß wird dem schon nichts geschadet haben!«, tröstete Mephistopheles. »Übrigens glaube ich, dass die durch heißes Wasser gequollene Substanz ihre Kraft verloren hat. Hat man Insekten auch mit solcher gegorenen Masse gefüttert und beobachtet?«
Nein, das war nicht geschehen, Aber alle stimmten gleich dieser Meinung bei. Nur die einfache Hirse war es, welche das Wunder bewirkte.
»Hirse?!«, wiederholte Mephistopheles. »Was sprechen Sie denn immer nur von Hirse?«
»Nun, das ist doch Hirse.«
»Gar keine Ahnung! Das ist überhaupt gar kein Getreide, kein Samen. Das ist eine künstlich hergestellte Substanz.«
Die Japaner, die in ihrer Heimat auch viel Hirse ziehen, hatten von allem Anfang an gesagt, dass es keine Hirse sei, aber es war ignoriert worden — eine andere Art von Hirse — und so war es eben bei der Hirse geblieben.
»Ja, was soll es denn sonst sein? Die Lemuren haben das Zeug doch offenbar deshalb neben das gepflügte Feld gelegt, dass wir es säen sollen.«
»In die Erde streuen, ganz richtig. Ich halte es für ein Düngemittel.«
Der erste war Littlelu, der ein unbeschreibliches Gesicht machte. Mit dem linken Mundwinkel nach dem Kinn hinunter und mit dem rechten nach dem Auge hinauf.
»So 'ne Gemeinheit! Drei Stück große Düngerklöße, dann krachen alle meine Knochen, und dann soll ich nicht einmal wachsen! Aber die drei Zentimeter lasse ich mir weder abstreiten noch abschneiden!«
»Weshalb haben die Lemuren uns nur keine Instruktion gegeben, was mit dem Zeuge zu machen sei?«, fragte Atalanta, noch ob dieser Bemerkung lachend, also es wohl den Gebern nicht besonders verübelnd, dass man die Kolonisten ein Düngemittel hatte essen lassen.
»Wenn die Lemuren unsichtbar bleiben wollen, so hätten sie nur eine schriftliche Instruktion hinterlassen können, und so etwas wie Schreiben gibt's bei denen nicht, das haben die auch schon als etwas ganz Überflüssiges, Menschenunwürdiges hinter sich. Und die waren eben von Ihrem Scharfsinn überzeugt, dass Sie den Inhalt des Sackes gleich als ein Düngemittel erkennen würden, dachten gar nicht daran, dass Sie es für Hirse oder eine sonstige Getreideart halten könnten. Und ich muss gestehen, dass auch ich nicht recht begreife, wie Sie das für Hirse halten konnten.«
Ja, man musste sich jetzt etwas schämen, und dann also waren die Lemuren auch entschuldbar.
»Hätten die lemurischen Priester«, setzte der Mephistopheles noch hinzu, »auch nur die geringste Ahnung gehabt, dass Sie mit diesem Zeuge Kostproben veranstalten würden, dann allerdings hätten sie Ihnen wohl eine Warnung zukommen lassen.«
»Weshalb dann?«
»Ja, das Schilddrüsenpräparat muss doch aus irgend einem Tiere oder sonstigen Lebewesen hergestellt worden sein.«
»Nun, aus welchem denn?«, fragte Atalanta, schon von einer fürchterlichen Ahnung erfasst.
»Wie ich Ihnen schon sagte, haben mein Bruder und ich uns auch schon mit solchen Experimenten beschäftigt, um ein forciertes Wachstum zu erzwingen, durch Fütterung mit Lecithin und Schilddrüse. Ich muss gestehen, dass wir es auch mit menschlicher Schilddrüse versucht haben. Weshalb auch nicht, Leichen gibt es ja genug, sie werden den Ärzten zur Verfügung gestellt, wir haben nur Tiere gefüttert. So haben wir ein sehr scharfes Reagens gefunden, um die Schilddrüsen der einzelnen Tiere voneinander unterscheiden zu können, wenigstens in Bezug auf ältere Rinder, jüngere Kälber, Schweine, Schafe, Pferde — und auch Menschen. Ja, was für normale Tiere sollen die Lemuren unter der Erde züchten? In diesem Düngemittel ist menschliche Schilddrüse vorhanden. Tote Lemuren hat's hier ja auch genug gegeben, dafür haben wir selbst gesorgt.«
Wieder war Littlelu derjenige, den diese Mitteilung. die Mephistopheles überhaupt lieber für sich hätte behalten sollen, am meisten angriff. Der trotz seines finsteren Aussehens wohl sehr gefühlvoll angelegte Schauspieler und Zirkusclown offenbarte in der nächsten Minute den anderen ganz energisch, was er heute schon gefrühstückt hatte.
»So eine Gemeinheit!«, riefen die anderen.
»Ja, darüber werde ich von diesen Priestern noch Rechenschaft fordern, nur deshalb werde ich sie aufsuchen!«, sagte Atalanta.
Mephistopheles wollte die Lemuren entschuldigen, vom allgemeinen Stoffwechsel in der Natur beginnen, hatte eigentlich ganz vernünftige Ansichten — — aber Atalanta schnitt ihm das Wort ab.
Es durfte nicht mehr darüber gesprochen werden.
Aber die weiteren Folgen wurden aufmerksam beobachtet.
Im Laufe des Tages verschwanden die riesenhaften Fliegen und Bienen, man fand höchstens noch tote, wie auch die unter den Gläsern gehaltenen.
Sie hatten das enorme und rapide Wachstum während ihrer Entwicklungszeit nicht vertragen können.
Weshalb aber entwickelte sich nicht andere junge Brut zu solcher Größe, auf dem Felde gab es doch noch genug Dünger? Weil dieser nicht mehr gefressen wurde. Das erst so fabelhafte Vogel- und Insektenleben auf dem Felde hatte schnell abgenommen, und jetzt war darauf alles still geworden. Weshalb?
Mephistopheles experimentierte unablässig weiter, teils mit, teils ohne Erfolg.
Für diese Erscheinung fand er bald eine Erklärung.
Wenn man das Düngemittel einige Zeit in kaltem Wasser quellen ließ, so nahm es anstatt des süßen, bald einen intensiv bitteren Geschmack an, was den Tieren den Genuss verleidete.
»Das ist mit Absicht so arrangiert«, kalkulierte der scharfsinnige Chemiker, »sonst könnten die Vögel und noch mehr Insekten, von denen es ja in der Erde wimmelt, nur dass man die meisten nicht mit bloßen Augen sieht, alles auffressen, und das soll nicht geschehen. Dagegen ist es wohl ebenso beabsichtigt, dass sie anfangs gerade recht viel davon fressen sollen, um durch Exkremente dem Dünger noch eine ganz besondere Triebkraft zu geben.«
Als man daraufhin die Erde des Feldes näher untersuchte, kam man zu den wunderbarsten Resultaten.
Doch vorher noch etwas anderes. Es handelt sich dabei — wenigstens für den, der sich für so etwas überhaupt interessiert — um eines der interessantesten und wichtigsten Kapitel der Erdgeschichte, der Urbarmachung der Erde, der Möglichkeit ihrer Bewohnbarkeit, oder wie man es nun sonst nennen mag. Wenn man da überhaupt von interessant und uninteressant, von wichtig und unwichtig sprechen darf, denn im Grunde genommen ist das Sonnenstäubchen im Haushalte der Natur ebenso interessant und wichtig wie ein ganzes Sonnensystem mit allen Sternen und Planeten, und wenn wir Menschlein das mit unseren Äuglein und Gehirnlein nicht gleich einsehen, so ist doch nicht das Sonnenstäubchen dafür verantwortlich zu machen.
Der Regenwurm! Was für ein elendes Geschöpf! Frisst Erde. Was kann man sonst noch viel vom Regenwurm erzählen?
Der Regenwurm ist manchmal krumm,
Und manchmal ist er auch gerade;
Wenn man ihn tritt, ist er nicht gleich tot,
Es wäre auch jammerschade.
So singt der Student.
Nun, ohne diesen »elenden« Regenwurm könnten auf der Erde keine Menschen leben. Wir hätten nichts zu essen, es würde nichts wachsen.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass man dies erkannt hat. Der deutsche Agrikulturchemiker Professor Justus Liebig, gestorben 1873, hat hierzu den Anstoß gegeben. Derselbe Liebig, ohne welchen Deutschland heute keine 20 Millionen Menschen mehr ernähren könnte, wenn man persönlich sein will. In Wirklichkeit ist es ja etwas anderes, es ist der Erdgeist immer selbst, der sich offenbart.
Das, was wir allgemein Erde nennen, die Ackerkrume, entsteht aus Urgestein, aus zertrümmerten Felsmassen. Die müssen verwittern, aber damit allein ist es nicht getan. Auch die Vermischung mit organischer Substanz, mit verfallenden Pflanzenresten und dergleichen, schafft noch keinen fruchtbaren Humus. Die Salze, die anorganischen Verbindungen, sind noch in Wasser unlöslich, und löslich müssen sie erst gemacht werden — aufgeschlossen, wie der Ausdruck lautet — um von den Wurzelfädchen der Pflanze aufgesaugt werden zu können.
Dieses Aufschließen besorgt der Regenwurm. Indem er die Erde frisst und wieder von sich gibt, denn das tut er wirklich. Bei seinem Graben jagt er die Erde durch seinen Leib. Und dabei haben sich die unlöslichen Salze in lösliche verwandelt, die Erde ist »aufgeschlossen«.
Natürlich tut das der Regenwurm nicht allein. Da helfen noch zahllose andere Arten von Würmern und Insekten mit, welche die unterirdischen Schichten beleben, sichtbare und für unsere Augen unsichtbare Mikroben. Aber die Hauptsache dabei tut doch — nach unserem jetzigen Ermessen — der Regenwurm. Wo kein Regenwurm ist, da wächst auch nichts. Wo sich künstlich eingesetzte Regenwürmer nicht aufhalten wollen, dort wird auch nichts wachsen, da kann man düngen, wie man will. Immer mehr erkennt man die Bedeutung dieses Wurmes. Immer mehr beschäftigt man sich mit ihm. Schon sticht man eine gewisse Quantität Erde aus und zählt die darin enthaltenen Regenwürmer, danach die Güte des Ackerbodens beurteilend.
Und die Zeit wird kommen, da man diese einst so missachteten Regenwürmer in besonders von ihnen belebtem Boden, wo sie durch ihre Menge auch schädlich werden können, sorgsam sammeln und nach weit entfernten Gegenden, nach anderen Erdteilen verpflanzen wird, ihnen die Möglichkeit zur Weiterentwicklung gebend, auf dass sie den Wüstensand durch ihre Leiber treiben!
Unsere Kolonisten hatten bei ihrer Garten- und Feldarbeit schon genügende Bekanntschaft mit den hiesigen Regenwürmern gemacht. Es war die gewöhnliche Art. Diese, auch bei uns, soll bis zu 40 Zentimeter lang werden, aber das sind wohl nur Ausnahmen, spannenlange sind schon ganz hübsche Exemplare, und so war es auch hier.
Nach einigen Tagen aber fand man Regenwürmer so groß wie die Ringelnattern. Und ebenso war es auch mit anderen Würmern und Insekten, welche ganz oder halb in der Erde leben, Tausendfüßler von beängstigender Größe, wie die Mauereidechsen, Asseln, die zusammengekugelt großen Wallnüssen glichen.
Dazwischen aber auch, und zwar in weit der Mehrzahl, Exemplare derselben Art von normaler Größe. Es waren eben immer nur die jungen, noch unentwickelten Tiere, die durch die rätselhafte Substanz solche Größe annahmen.
Diese Tiere einer unterirdischen Welt hatten es einige Tage länger ausgehalten, dann erlagen auch sie dem übermäßig schnellen Wachstum, vielleicht auch dem bitteren Stoffe, der sich also erst nachträglich entwickelte.
So war der Acker jetzt ein großes Leichenfeld. Doch das ist ja überhaupt jeder Boden. Wir sehen es nur nicht, es kommt uns nicht zum Bewusstsein. Die Natur braucht unausgesetzt Leichen, um unausgesetzt neue Lebewesen schaffen zu können.
»Der Tod«, sagt Schopenhauer, »ist das große Reservoir des Lebens; wenn wir der Natur nur diesen Taschenspielerkniff ablauschen könnten.«
Und aus diesem Leichenfelde begann es grün zu sprießen. Zuerst kamen wie gewöhnlich Grashalme und Unkräuter, die sich unbeabsichtigt seitens der Menschen angesiedelt hatten oder noch von der vorigen Grasnarbe vorhanden waren.
Das Zeug wuchs mit Macht. Teils rodete man es aus, an anderen Stellen ließ man es stehen, um es weiter zu beobachten.
Da brachen hier und da andere Spitzen durch, welche das Unkraut an Schnelligkeit noch weit übertrafen. Das war Mais. Man hatte dieses Feld ja nicht mit Mais bestellt, nur das benachbarte, und da war eben auch hier ab und zu ein Maiskorn in die Erde geraten, Vögel hatten die Saat verschleppt.
Drüben auf dem ungedüngten Felde fing der Mais erst an zu keimen, hier trieb er schon grüne Halme. Und wie er trieb! Man erlebte ein anderes Wunder.
Es gibt genug Pflanzen, deren Wachstum man mit bloßen Augen beobachten kann, daneben stehend. Allerdings mehr in tropischen Gegenden, bei Schlingpflanzen. Bei uns kommen dabei wohl nur die Pilze in Betracht, hauptsächlich der Bovist. Natürlich am Morgen lugt aus der Erde ein kleines Köpfchen, und am Abend hat es sich zu einem Pilz von mehreren Pfund Schwere entwickelt — da kann man beobachten, wie das Ding wächst — so wie man das Fortrücken des großen Zeigers einer Uhr beobachten kann.
So konnte man auch hier bei diesen Maispflanzen das Wachsen beobachten, was es ja sonst nicht gibt. Es ging rapid, eben deshalb wollen wir es kurz machen.
Nach vierzehn Tagen stand eine drei Meter hohe Staude da, unten so dick wie ein Mannesschenkel. Die Blüten bildeten sich über Nacht, am nächsten Morgen entstanden die Fruchtknötchen, und nun ging deren Entwicklung mit eben solcher Schnelligkeit los.
Wieder eine Woche später hatte die Natur, von Menschenwitz unterstützt und geleitet, ihr Werk vollendet. In jeder Blattscheide stand ein riesiger Maiskolben, eine wahre Kriegskeule, starrend von gelben Körnern, so groß wie die Haselnüsse. Jedes Maiskorn hatte vielhundertfache Frucht getragen.
Die riesigen Körner ergaben das vortrefflichste Mehl. Doch, wie bald ein Versuch zeigte, zur Wiedersaat konnte man sie nicht verwenden, die keimten nicht mehr. Und das hatte man auch als ganz selbstverständlich erwartet. Die Natur zieht immer ihre Grenze; bis hierher und nicht weiter. Wohl lässt sich diese Grenze immer mehr hinausschieben, aber so schnell geht das nicht, das bedarf dann Jahre.
Unterdessen hatte man auch Versuche mit anderen Getreidearten gemacht, wie mit Roggen, Weizen, Hafer und Gerste. Es war immer das gleiche. Nach drei Wochen trugen die mehr als zwei Meter hohen Halme vielhundertfältige Frucht, und hier wurden die Körner so groß wie die des Mais', gaben auch das vortrefflichste Mehl, obgleich, wie schon erwähnt, ja der Weizen in diesem tropischen Klima eigentlich gar nicht gedieh, noch weniger der Roggen, am wenigsten Hafer und Gerste, deren eigentliche Region das Hochland von Tibet mit furchtbarer Winterkälte ist.
Aber der Menschengeist kann alles ab- und umändern, alles! Nur das Mittel dazu muss erst erfunden werden. Hier war es gefunden. Durch diese Düngung, durch dieses fabelhaft schnelle Wachstum machten sich diese Getreidearten unabhängig vom Klima. Es war genügende Sonnenwärme und Feuchtigkeit vorhanden, so brachten sie in den drei Wochen auch reife Frucht.
Unausgesetzt wurde auf diesem Versuchsfelde und an anderen Orten experimentiert, und jeder Tag brachte neue Überraschungen.
Eines Tages kletterte Littlelu an einer fünf Meter hohen Spargelstange empor und machte oben die Fahne, dann machte er sich aus der Stange eine Lanze, denn zu genießen war dieser Spargel natürlich nicht. Mit dem Gemüse war es überhaupt nichts. Alles verholzte sofort. Dagegen hatte man den Vorteil, dass man dort, wo man ein schattiges Plätzchen haben wollte, nur ein Kohlpflänzchen zu pflanzen brauchte. Nach einer Woche konnten sich alle Kolonisten zusammen in seinem Schatten lagern.
Und so ging das fort, und das würde wahrscheinlich niemals langweilig werden. Man musste seinen Witz nur anstrengen, um immer neue, immer wunderbarere Versuche anstellen zu können.
Bevor dieses neue Stadium eingetreten, war Kapitän Hagen ernstlich mit dem Gedanken umgegangen, die Insel zu verlassen, um nun das Geheimnis des Tschadsees zu ergründen. Es gefiel ihm nicht mehr auf der Insel, er langweilte sich.
Jetzt hatte er den Tschadsee abermals vergessen. Jetzt hatte er seine eigene Versuchsstation angelegt, kam manchmal angerannt, um den anderen ein neues Wunder zu zeigen.
Und das bisher Gesagte galt nur von den Pflanzen. Nun aber kamen auch die Tiere daran.
Ein Teil des jungen Hühnervolkes wurde mit der geheimnisvollen Substanz weiter gefüttert. Die Tierchen wuchsen im Gegensatz zu den anderen zusehends, wenn das diesmal auch nicht wörtlich zu nehmen ist. Jedenfalls aber hatten sie in drei Wochen die Größe von schon ausgewachsenen Haushühnern, waren aber kaum flügge, und dieses Wachstum ging immer weiter, das Ende ließ sich noch nicht absehen. Wir werden später mehr darüber berichten.
Am Schlusse dieses Kapitels soll noch etwas anderes gesagt, eine Möglichkeit dieses forcierten Wachstums begründet werden, Ja, der Leser soll sogar fähig sein, solch ein Experiment nachzumachen.
In der indischen Geheimlehre, Yoga genannt — obgleich hiermit schon die praktische Ausübung gemeint ist — spielt das forcierte Wachstum eine große Rolle.
Das hat aber nichts zu tun mit jener Gaukelei, die man in Indien überall von Fakiren, oder wie diese Hokuspokusmacher nun heißen mögen, auf der Straße ausführen sieht.
So ein Gaukler zeigt eine Mangonuss, zieht einen großen Kreis, der auch unsichtbar sein kann, vergräbt die Nuss in der Mitte dieses »Willensfeldes«, steckt sie nur in eine Ritze des Pflasters, er macht dann seine Beschwörungen und die Nuss beginnt zu keimen, ein Stämmchen kommt aus dem Boden hervor, und innerhalb von einer Viertelstunde und noch kürzerer Zeit steht ein mächtiger Mangobaum da, mit reifen Früchten, im Winde rauschen die Blätter. Dann zerschmilzt der Baum gewissermaßen wieder, oder er verschwindet auch plötzlich.
Das ist natürlich nur eine Illusion, eine hypnotische Suggestion — aber durch eine Art von Hypnotik hervorgebracht, von der wir Abendländer noch nichts wissen, auch die uneingeweihten Inder nicht. Diese Illusion ist nur innerhalb jenes Kreises zu erblicken, nur dieses Feld beherrscht der Wille des Magiers, der Baum ist nicht zu fotografieren, es gibt genug Menschen, die überhaupt nichts sehen. Übrigens klingt das alles wunderbarer, als es in Wirklichkeit ist. Wenn man es einige Male gesehen hat, blickt man gar nicht mehr hin. Es ist immer ganz, ganz genau dieselbe Erscheinung, und das nicht nur von ein und demselben Fakir, sondern von sämtlichen, welche ein und demselben Tempelorden angehören. So bekommen sie es selbst von ihren Lehrern suggeriert, so muss jeder Ast und jedes Blatt wachsen, so muss, wenn die Sonne so steht, der Schatten fallen, und dabei bleibt es ein für alle Mal. Übrigens kommen beim Schattenwerfen viele Fehler vor, auch sonst klappt manchmal nicht alles.
Aber diese Yogis kennen auch ein wirkliches forciertes Wachstum. Doch das bekommt man nur in Privatgesellschaften zu sehen, dafür müssen die Hände des Gauklers mit Gold gefüllt werden — was er dann an seinen Tempel abzuliefern hat.
Er nimmt einen Apfelsinenkern, steckt ihn in einen Topf mit Erde und begießt ihn reichlich. Nach einiger Zeit kommt aus der Erde unter seinen Beschwörungsformeln ein grünes Blättchen hervor, es entwickelt sich zum Stämmchen — nach zwei bis drei Stunden ist ein Orangenbäumchen entstanden. Blühen tut es stets, manchmal trägt es auch kleine Früchte, die man essen, mit nach Hause nehmen kann.
Das scheint wirklich Hexerei zu sein, oder da ist eben etwas dabei, was wir nicht begreifen, was ganz und gar mit dem im Widerspruch steht, was wir von der Natur und ihren Gesetzen wissen.
Aber dem ist doch nicht so.
Der Apfelsinenkern ist präpariert. Freilich auf eine Weise, von der wir Abendländer noch nichts wissen.
Und dennoch, es lässt sich erklären, wir können dieses Experiment sogar nachahmen, wenn auch nicht in so großartiger Weise.
Die wachsende Pflanze gebraucht zu ihrem Gedeihen Licht und Kohlensäure. So lange das Samenkorn aber keimt, Wurzeln bildet, ist es gerade umgekehrt. Dem keimenden Samen sind Licht und Kohlensäure schädlich, durch Licht und Kohlensäure kann er sogar gänzlich am Keimen gehindert werden. Darauf beruht das Experiment.
Man öffnet eine Selterswasserflasche, gießt etwas ab, tut schnell einiges Düngesalz hinein, wie Chilisalpeter und aufgeschlossenes Knochenmehl, schnell eine Handvoll Weizenkörner hinein, schließt die Flasche wieder und setzt sie möglichst dem Sonnenlicht aus.
Die Weizenkörner saugen sich voll Wasser, in dem sich schon die Düngesalze aufgelöst haben, quellen auf, möchten gern keimen, aber können nicht. Das Licht und die massenhafte Kohlensäure hindern sie daran, vielleicht auch noch der hohe Druck.
Nach einiger Zeit werden die gequollenen Körner herausgenommen und in der Sonne getrocknet, wodurch sie wieder einschrumpfen. Dann in feuchte Erde oder nur in Wasser gebracht, keimen sie mit fabelhafter Schnelligkeit, treiben grüne Halme.
Wie lange sie in dem Selterswasser liegen müssen, darüber ist gar nichts anzugeben. Manchmal ersaufen sie gleich am ersten Tage — oder es ist der hohe Kohlensäuredruck, der die Keimkraft ertötet — manchmal können sie unbeschädigt den ganzen Sommer durch drin liegen, manchmal gehen dann alle Körner auf, manchmal wächst nur eines mit so fabelhafter, wirklich sichtbarer Schnelligkeit. Zum Reifen bringt man sie freilich nicht, nicht einmal zu einem gelben Halme. Die künstliche Frühgeburt geht schnell wieder ein.
Es ist eben erst der Anfang eines Versuches, vor dem wir tastend stehen, während sich diese indischen Yogis seit Jahrtausenden damit beschäftigt haben.
Überrascht blieben Arno und Atalanta stehen, als sie inmitten
der Waldblöße ein junges Weib im Grase liegen sahen.
Es war mitten in der Nacht, als Atalanta von einem japanischen Matrosen geweckt wurde. »Frau Gräfin, ein fürchterliches Ungeheuer!«
Und der vierschrötige Herkules, der eher seinen Göttern fluchte, in der Gewissheit, bei seiner nächsten Widergeburt eine Schlange zu werden, als dass er vor irgend einer Gefahr zurückbebte, zitterte noch jetzt an allen Gliedern.
»Wo?«
»Am kleinen See!«
Er berichtete, während Atalanta und Arno schon mit ihm über die taufeuchte Steppe schritten.
Er hatte die herrliche Vollmondnacht zum Angeln benutzen wollen. Plötzlich war dicht vor ihm aus dem dunklen Wasser ein grünes Ungeheuer aufgetaucht, so fürchterlich, dass er es gar nicht beschreiben konnte. Halb eine Kröte, halb ein Salamander. Vorn ein Froschleib, über dessen Rücken sich ein hoher Kamm hinzog, der sich in einem Krokodilschwanz fortsetzte. Mit den rotglühenden, tellergroßen Augen hatte es den Angler angeglotzt, hatte dann den zähnestarrenden Rachen geöffnet, in den ein Mensch mit Leichtigkeit hineinrutschen konnte.
Weiter hatte der Japaner nicht beobachtet, da war er entsetzt davongeflohen, aber zuerst zu der Frau Gräfin, wie es Vorschrift war, wenn auf der Insel irgend etwas Besonderes vorfiel.
»Bist Du in der Astralgrotte gewesen?«
So war jene unterirdische Höhle genannt worden, in der alles noch tadellos funktionierte.
Natürlich war auch dieser japanische Matrose wiederholt drin gewesen, aber diese Lichtnebelgestalten hatten ihm nicht weiter imponieren können, oder für ihn, den Buddhisten, mochten es auch die Astralleiber von wirklichen Tieren sein. Solche existieren doch. Aber auf unserer irdischen
Ebene haben sie nichts zu suchen, und gewinnen sie einmal eine materielle Form soweit, dass sie wenigstens sichtbar werden, so dürfen sie dem, der Buddhas Gebote hält, doch nichts schaden, ihn nicht einmal schrecken — oder der Betreffende ist eben kein guter Gläubiger.
»Es war kein Astralkörper, den ich erblickte. Das Wasser plätscherte, das Wasser spritzte, es benetzte mich.«
Sie hatten den See und die Stelle erreicht, wo der Matrose geangelt.
Die Hügel traten hier bis dicht an das Wasser heran, fielen steil ab, bildeten eine kleine Bucht, unten aber doch noch einen schmalen, niedrigen Ufersaum lassend. Das Süßwasser des Sees war wohl ganz klar, aber doch undurchsichtig, weil der Grund aus schwarzem Basalt bestand.
Sie waren hinabgeklettert.
»Dort ist das Ungetüm aufgetaucht und —«
Der Matrose brach ab. Jetzt hatte auch er es bemerkt, worüber sich die Indianerin bereits beugte.
Das flache Ufer war mit feinem Sand bedeckt, und in diesem sah man im Mondlicht deutlich eine Spur: ungeheure Klauen, die sich abgedrückt hatten.
»Froschfüße, deren Zehen aber nicht wie gewöhnlich in Knoten, sondern in scharfen Krallen enden!«, entschied die Indianerin nach kurzer Betrachtung. »Und hinterher scheint ein Schwanz geschleift worden zu sein. Ja, das ist etwas ganz Reelles gewesen, muss ziemliche Schwere haben. Konnte das Ungeheuer —«
»Um Gottes willen, Atalanta, dort kommt es wieder!«, flüsterte Arno.
Dort, wo die schwarzen Basaltfelsen direkt in das Wasser hinabfielen, erschien in einiger Tiefe ein grünlicher Schimmer, die Umrisse eines riesigen Kopfes wurden sichtbar, aber ganz undeutlich, einige große Luftblasen stiegen empor, dann zog sich der grüne Schein wieder in die schwarze Felswand zurück.
»Dort ist ein Eingang zu dem unterirdischen Reiche der Lemuren!«, sagte Atalanta.
Sie hatte ständig nach einem solchen geforscht, ohne einen Erfolg gehabt zu haben.
In der Astralgrotte war in keiner der Höhlen eine Fortsetzung gefunden worden, vergebens war alles Bohren gewesen.
Wo damals die Spuren der drei Lemuren, die den Hirsesack gebracht, hingeführt hatten, da hatte man vergebens fast den ganzen Hügel, schon mehr einen kleinen Berg, weggesprengt, hatte vergebens klaftertief in die Erde, in den Stein hinabgebohrt — nichts war gefunden worden, nicht die engste Spalte.
»Atalanta, was willst Du tun?!«, rief Arno erschrocken.
Denn schon legte sie ihr ledernes Röckchen ab.
»Nun, natürlich werde ich dort hinabtauchen, dort ist doch ein Gang.«
»Dieses Ungeheuer —«
»Soll dieses Ungeheuer Herr dieser Insel sein oder ich?«, lächelte sie.
»Schicke erst einen Taucher hinab.«
»Erst einen anderen vorausschicken, der untersucht, ob's dort unten vielleicht gefährlich ist? Nein, lieber Arno, das kannst Du von mir nicht verlangen.«
»So benutze auch Du wenigstens ein Taucherkostüm.«
»Du weißt doch, dass ich mich darin nur gehindert fühle.«
»So komme ich mit!«
»Das sollst Du auch. Aber Du wirst doch als Gentleman einer Dame den Vortritt lassen. Einer allein muss es zuerst untersuchen, und das kann nur ich sein. Auch ein Seil wäre mir nur hinderlich. Nach einer halben Minute, die ich abzähle, kehre ich unbedingt um. Bin ich innerhalb einer Minute nicht zurück, dann sollst Du mir folgen, unterdessen mag Jako alle anderen holen. Sie alle sollen dabei sein, und wer will, kann uns dann folgen. So lange will ich auch warten.«
Der japanische Matrose kletterte hinauf und verschwand, Nach einer Viertelstunde waren alle anderen Kolonisten zur Stelle, auch Mephistopheles, nur zehn Gefährten, die er von seiner Insel Chilos mitgebracht hatte, waren an Bord des Schiffes zurückgeblieben, wo sie sich immer aufhielten, wie sie überhaupt dieser Erde gar nicht mehr anzugehören schienen. Lauter solche ausgedörrte Geistererscheinungen, nicht nur Sklaven dem Leibe nach, sondern auch ihre Seelen mussten ihr Herz in Ketten geschlagen haben.
Die Indianerin tauchte hinab, ohne scheinbar vorher irgendwelche Vorbereitungen getroffen zu haben. Ihr Messer saß fest und doch so locker in der Scheide.
»Nehmen Sie hier dieses kleine elektrische Instrument mit!«, hatte Mephistopheles zu ihr gesagt.
Da aber war sie schon im Wasser verschwunden gewesen.
Noch war keine halbe Minute vergangen, als die Telefonuhr, die Arno in der Hand hielt, klingelte.
»Bin ich innerhalb einer Minute nicht zurück, dann sollst Du mir folgen.«
So hatte sie vorhin gesagt.
»Nämlich in den Tod — oder doch, um mich aus Todessnöten zu befreien, denn dann kann ich die Telefonuhr nicht mehr benutzen!«, hätte sie noch hinzusetzen sollen.
Doch es war nicht nötig gewesen, es war ganz selbstverständlich, dass sie das drahtlose Telefon benutzte, wenn es irgend möglich war.
»Komm«, erklang es jetzt aus Arnos Uhr, »es ist ganz ungefährlich, ich habe den Atem keine zehn Sekunden angehalten, der horizontale Tunnel ist sehr weit, man kann bequem schwimmen, ich schätze seine Länge auf nur vier Meter.«
»Und was siehst Du?«, fragte Arno zurück.
»Etwas, was Dich sehr überraschen wird. Komme nur selbst.«
»Kein Ungeheuer?«
»Nein, vorläufig noch nicht.«
»Dürfen die anderen mitkommen?«
»Jeder, der will und kann. Wie wir doch schon besprochen haben.«
»Ich meine, ob dort auch Platz genug ist, um uns alle aufzunehmen, weil Du Dich doch jedenfalls in einer Höhle befindest.«
»Platz übergenug.«
»So komme ich als erster!«, sagte Arno, schnallte nur seinen Gürtel enger und war bereit, kopfüber ins Wasser zu springen.
Jetzt musste aber doch erst die Reihenfolge ausgemacht werden, überhaupt, wer mitkommen wollte, denn Atalanta war sofort im Wasser verschwunden, als sie die anderen hatte kommen sehen.
Von den sieben Japanern schloss sich keiner aus. Das waren Kinder der meerumspülten Küste ihrer Heimat, Fischerleute, schon mehr Fischmenschen, im Wasser zu Hause. Aber Arno bestimmte, dass drei von ihnen zurückblieben, einer sollte hier warten, einer zu Sarda und dem Kinde gehen, was doch besser für alle Fälle war, einer sich an Bord des Schiffes zurückbegeben.
»Und Sie, meine Herren?«, wandte sich Arno an die beiden Australier.
Die hatten nicht gleich Lust, die Taucherpartie mitzumachen, obgleich sie beide recht gut schwimmen und tauchen konnten und keiner von ihnen ein Feigling war, und dasselbe galt von Hagen. Es hat doch eben etwas auf sich, zwei bis drei Meter tief hinabzutauchen und dann vier Meter weit in einem unterseeischen Tunnel zu schwimmen, ohne zu wissen, wo man wieder herauskommt, es muss wenigstens zu einem ersten Male riskiert werden. So wollten die drei erst einmal zusehen und sich dann noch die Sache überlegen.
»Und Sie, Herr Mephistopheles?«
»Ich komme nicht mit!«, erklärte dieser gleich. »Zwar bin ich durchaus nicht wasserscheu, kann sogar sehr gut schwimmen und tauchen, aber — in meinen Kleidern solche Kunststückchen auszuführen, das bin ich nicht gewohnt —«
»So ziehen Sie sich doch aus.«
»Nein, dazu geniere ich mich vor den Augen Ihrer Frau Gemahlin, hähahä«, wurde gegrinst, »ja, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, hähähä — aber in meinem jetzigen Alter nicht mehr, ich mache keinen graziösen Eindruck mehr, hähähä.«
»So bleiben Sie. Und Sie, Littlelu?«
»Na ich komme doch selbstverständlich mit!«, warf sich der kleine, dicke Stöpsel in die Brust. »Wissen Sie denn nicht, dass ich der berühmte Mann bin, der von Dover nach Calais geschwommen ist? In dreiundzwanzig Stunden achtundfünfzig Minuten. Und dabei hatte ich sogar einen langen Pelzmantel an, der achtundsiebzig Pfund wog. Das wissen Sie nicht? Leicht begreiflich. Das hat auch sonst niemand erfahren, weil ich so bescheiden bin. Ich bin dabei nämlich immer unter Wasser geschwommen, ohne ein einziges Mal Luft zu schöpfen. Das heißt — erst noch eine Frage — ist das hier salziges Wasser?«
»Sie wissen doch, dass alle diese Seen auf der Insel süß sind.«
»Ach soooo! Dann tut's mir leid... ich kann nur in Salzwasser schwimmen.«
Länger hielt sich Arno nicht auf, er avisierte nochmals sein Kommen und verschwand in der schwarzen Flut.
Nur ein Tasten, um den Eingang des Tunnels zu finden, mit kräftigen Stößen passierte er ihn, dann, die Augen offen behaltend, sah er schon einen grünen Schimmer, und er tauchte wieder auf.
Ja, als er sich dann auf die Galerie geschwungen hatte, war sein Staunen grenzenlos, dem entsprechend, wie er damals durch den senkrechten Erdschacht in den Gang gedrungen war, der nach der Astralgrotte führte.
Es war ein kreisrundes Wasserbassin von etwa zehn Metern Durchmesser, ringsherum lief eine breite Galerie, und diese wie die Wände und die kuppelförmige Decke waren aus Marmor oder einem anderen schneeweißen Steine, der aber sonst nirgends auf der Insel vorkam, also wahrscheinlich eine künstliche Masse, durchzogen von goldenen Arabesken in künstlerischer Anordnung.
Am rätselhaftesten und auch am schönsten aber war es, dass das grüne Licht von magischer Wirkung, das den ganzen Raum erfüllte, aus dem drei Meter tiefen Wasser kam. Dieses glich einem einzigen grünen Smaragde von intensivster Färbung, dabei aber doch so durchsichtig, dass man auch auf dem Grunde noch die feinste goldene Linie sah, denn auch die Wände und der ebenso gehaltene Grund des Bassins waren mit solchen goldenen Arabesken geschmückt.
Ehe Arno noch etwas zu der neben ihm stehenden Atalanta sagen konnte, noch ganz erfüllt von diesem Zauber, tauchte aus der seitlichen Öffnung, durch die er selbst gekommen, schon wieder ein Menschenkopf auf, ein Körper folgte nach und strebte nach oben — es war gerade Hagen, der sich die Sache erst hatte reiflich überlegen wollen, der als zweiter nachfolgte.
Dann erschienen in kurzen Zwischenräumen die vier Japaner nach, darunter auch der Ingenieur, dann kam Littlelu, der unterdessen seine Ansicht über Salz- und Süßwasser geändert hatte, dann Wilhelm Neumann, der von Arno gar nicht erst gefragt worden war, dann die beiden Australier, und schließlich sogar der Mephistopheles, ohne sich entkleidet zu haben, und das erste, als er den Kopf über Wasser hatte, musste sein, dass er seine Teufelsvisage zu einem höhnischen Grinsen verzerrte.
Mit staunendem Interesse hatte Arno beobachtet, wie einer der Männer nach dem anderen aus dem Loche erschien und schwimmend nach oben strebte, es sah in dem magisch-grünen Wasser gar zu reizvoll aus, unbeschreiblich märchenhaft, und wie sie sich dann auf die Galerie schwangen, wie sie spritzten, wie die Tropfen perlten, da war deutlich zu beobachten, wie jeder einzelne Tropfen mit diesem intensiv grünen Lichte gesättigt war, wie er selbst noch leuchtete.
»Aaah, ist das herrlich hier, das ist ja einfach märchenhaft!«
So und anders klang es durcheinander.
Unterdessen hatte sich das Wasser wieder beruhigt, war glatt wie ein grüner Spiegel geworden und man schaute sich nun näher um.
Keine Tür, kein Ausgang war zu erblicken. Das heißt nicht auf der Galerie, an den oberen Wänden. Wohl aber im Wasser selbst. Jener Tunnelöffnung, die nach dem freien See führte, befand sich gegenüber noch eine zweite solche Öffnung, also mit dem oberen Rande ebenfalls noch zwei Meter unter Wasser liegend.
Und da tauchte aus diesem zweiten Tunnel ein Kopf auf, ein menschlicher Kopf, aber was für einer!
Von der Größe eines Ochsenschädels, und dementsprechend groß waren auch die glotzenden Augen, die Ohren, der Mund oder vielmehr das Maul mit den schwulstigen Lippen, die unförmliche Nase ganz eingedrückt. Und dennoch war es ein Menschenkopf, wenn man auch sehr an einen Frosch erinnert wurde.
Und diesem ungeheuren Kopfe folgte ein ebenso ungeheurer Leib nach, das war aber nun der eines richtigen Frosches. Doch ähnelt ein solcher nicht sehr dem eines Menschen?
Aber das hier war eben ein Frosch von der Größe eines erwachsenen, sehr dicken Mannes. Am auffallendsten war es, wie die langen Finger und die noch längeren Zehen in dicken Knoten endeten. Dann ging der dicke Leib auch ohne Hals gleich in den Kopf über. Freilich gibt's so etwas auch bei manchen Menschen, und dann eben war der menschliche Kopf von ungeheurer Größe.
Dieses Mittelding zwischen Mensch und Frosch in riesenhafter Ausgabe begann behaglich in dem Bassin hin und her zu schwimmen, sich streckend und dehnend, als wolle es sich nach langer Ruhe Bewegung machen.
Die Beobachter sahen schnell ein, dass es unnötig war, die Waffen bereit zu halten. Das Ungeheuer musste doch sehen können, oder es hatte diese mächtigen Glotzaugen ganz zwecklos, und es kam mit dem Kopfe auch oft genug über Wasser — aber es kümmerte sich um die Menschen absolut nicht.
»Ist es dies, was Du vorhin gesehen hast?«, fragte Atalanta jenen japanischen Matrosen,
»Nein, jener Frosch hatte keinen Menschenkopf, sondern den eines richtigen Frosches, freilich fürchterlich groß, und das aufgesperrte Maul ging um den ganzen Kopf herum, was hier doch nicht der Fall ist, dafür endete jener Frosch in einem Krokodilschwanz.«
»Dann ist dies wieder ein anderes Erzeugnis dieser unterirdischen Welt. Wie ist so etwas nur möglich?!«
»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt, so weit ich es kann«, entgegnen Mephistopheles, »diese lemurischen Priester beschäftigen sich eben mit dem Erzeugen von Tieren, ganz nach ihrer eigenen Willkür. Und das hier ist ganz einfach eine Vermischung von Mensch und Frosch.«
»Und das nennen Sie etwas ganz Einfaches?«
»Für den, der das Geheimnis kennt, wird es wohl so sein.«
Jetzt verließ das Ungetüm das Wasser, kletterte auf die Galerie, ganz mit den Bewegungen eines Frosches. Nicht nur das Wasser hatte ihn so grün gefärbt, sondern er hatte wirklich eine grüne Haut, auch das Gesicht war so gefärbt, und nicht nur durch das hier herrschende Licht, das konnte man recht wohl unterscheiden.
»Da fällt mir ein«, meinte Mephistopheles. »ich muss meine Experimente, die mir bisher nicht gelingen wollten, einmal in grünem Lichte wiederholen, ob das vielleicht günstig dabei ist.«
»Was für Experimente?«
»Wenn ich irgend ein Resultat habe, werde ich Ihnen davon berichten.«
Jetzt machte der Froschmensch einen Satz, ganz einem Frosch entsprechend. Erschrocken war Ramford zurückgewichen, denn der große Satz hatte ihm das Ungetüm ganz nahe gebracht.
Nun aber beobachtete man etwas Eigentümliches, das jedoch wiederum einem Frosche ganz entsprach.
Wenn man sich viel mit einem gefangenen Laubfrosch beschäftigt, so wird man ihn für ein ziemlich intelligentes Geschöpf halten müssen. Er nimmt einem die vorgehaltene Fliege aus den Fingern, er zeigt Aufregung, also Freude, wenn man mit dem Mehlwurmtopf kommt, er gewöhnt sich auch an einen Pfiff, dass er sein Glas verlässt und zu seinem Pfleger kommt.
Das ist aber auch alles und im Grunde genommen sehr wenig, sonst teilt der Laubfrosch die Teilnahmslosigkeit mit allen Lurchen und Reptilien. Man sieht doch, wie die Schildkröten und Eidechsen übereinander wegkriechen, ohne sich um einander zu kümmern, sie treten sich gegenseitig ins Auge, sie schließen das bedrohte Auge, aber sonst geniert sie das weiter nicht, sie rühren sich deshalb nicht. Das tun keine Insekten, zwei Fliegen weichen sich gegenseitig aus, bei Lurchen und Reptilien gibt es so etwas nicht. Wenn zwei Frösche bei der Fliegenjagd im Sprunge zusammenprallen, dann liegen oder sitzen sie da, wie sie gefallen sind, und brauchen eine geraume Zeit, ehe sie wieder etwas anderes unternehmen.
Der Froschmensch glotzte den vor ihm stehenden Menschen an. Atalanta machte dicht vor seinen Augen eine Bewegung, doch kein Zucken des wimperlosen Auges. Und dann setzte er seinen Weg kriechend fort, schleifte sich mitten zwischen den Menschen hindurch, ohne sich irgendwie um diese zu kümmern.
»Er ist blind!«
Nein, das war er sicher nicht, oder er hätte auch kein Gefühl haben müssen. Er ließ sich ja betasten. Eben vollkommen gleichgültig gegen alles.
Sein Kopf war nur der äußeren Form nach ein menschlicher geworden, sonst war es ein Froschgehirn geblieben, und dieses hatte sich auch nur der Quantität, nicht auch der Qualität nach entwickelt.
Der Froschmensch ließ sich ruhig betasten, es kümmerte ihn nicht. Nur als man auch seinen Mund begriff, diesen öffnen wollte, wurde es ihm zu viel, er entfernte sich mit einem Satz, dann den Menschen sorglos den Rücken kehrend.
Bei diesem Satze aber hatte er Sir Wilcox gestreift, nur flüchtig, und dennoch mit einer Wucht, dass der Australier gleich zurückgeschleudert worden war, was also die gewaltige Kraft und Schwere dieses Amphibienmenschen verriet, und außerdem hatte Atalanta vorhin doch etwas die wulstigen Lippen zurückgeschoben und dabei die Zähne freigelegt, ein menschliches Gebiss, aber ein ganz unheimliches, eben wieder diesem Ochsenschädel entsprechend.
Wehe, wenn dieses Ungetüm nicht so beschränkt gewesen, wenn es feindselig gegen die Menschen vorgegangen wäre, die in sein Reich gedrungen!
Da erschien in dem Wasser, wieder aus jenem Tunnel kommend, ein neues Geschöpf.
Es war eine dicke, metergroße Schlange, die sich lebhaft in dem Wasser umherbewegte, aber mit sehr vielen kurzen Füßen, ungefähr einem Mehlwurm gleichend, und man kam gleich auf die Vermutung, dass es die Larve eines Wasserinsektes sei, wieder zu einer riesigen Entwicklung gebracht.
»Das hier schwimmt nicht frei, es ist an einem Faden befestigt!«, sagte die scharfsichtige Indianerin sofort.
Niemand wollte es erst glauben, denn kein anderer sah etwas von einem Faden.
Jetzt hatte auch der Froschmensch den Riesenwurm erblickt, sofort platschte er ins Wasser, hatte ihn auch gleich erwischt, packte ihn mit den knotigen Fingern und führte ihn noch unter Wasser in das zähnestarrende Maul.
»Na, da guten Appetit!«, sagte Littlelu trocken.
Da aber sah man, wie recht Atalanta gehabt hatte.
Der Froschmensch wurde wie von einer unsichtbaren Kraft unter dem Wasser fortgezogen, und jetzt, da er sich straff spannte, erblickten auch die anderen den dünnen Faden, der zu dem Tunnel herauskam.
Es musste ein ganz besonderer Faden sein, denn das Ungeheuer sträubte sich mit Macht, weil es den Wurm dabei mit Fäusten und Zähnen gepackt hielt, ihn hastig zu verschlucken suchte, und merkwürdig war auch, dass dabei der Wurm nicht in Stücke ging.
Zuletzt wollte der Froschmensch sich auch noch mit der einen Hand gegen die Wand stemmen, da aber war er schon in den Tunnel hineingerissen.
»Er ist geködert worden!«, rief Atalanta. »Er soll hier nicht —«
Sie brach ab, denn plötzlich schob sich vor die Tunnelöffnung eine weiße Wand, das Goldmuster ergänzte sich, der Ausgang war verschlossen.
Unwillkürlich wendeten sich die Augen aller sofort der anderen Seite zu. Hier aber blieb der Eingang unverschlossen, jetzt und immer.
Alles andere sei gleich kurz zusammengefasst.
Was hier vorlag, war ja ganz klar.
Die Lemuren hatten den in den freien See führenden Tunnel einmal geöffnet, um frisches Wasser hereinzulassen. Dabei war einmal so ein gezüchtetes Geschöpf entwichen, war aber wohl freiwillig gleich wieder zurückgekehrt.
Doch schon hatte es den unterseeischen Kommunikationsweg dem dort in der Nacht zufällig angelnden Japaner verraten, denn wie man sich dann am hellen Tage überzeugte, sonst war von diesem Tunnel nichts zu bemerken, das Wasser war bei dem schwarzen Grunde zu dunkel, und außerdem wurde er wahrscheinlich auch von draußen verschlossen.
Die Lemuren hatten von alledem nichts gewusst, hatten nicht gemerkt, wie die Kolonisten in das Wasserbassin eindringen wollten, dass sie es wirklich getan hatten, und da ihnen dies nun gelungen war, wurde nur noch das zweite Ungeheuer, das sich in das ihnen zur Verfügung stehende Bassin begeben, zurückgelockt, dann überließ man laut der Verpflichtung dieses unterirdische Wasserbassin den Kolonisten, den weiteren Gang freilich sofort versperrend.
Noch in derselben Nacht brachten die japanischen Matrosen, nachdem man schon alle anderen Versuche erschöpft hatte, auf unterseeischem Wege eine Bohrmaschine herbei, allein es genügte schon ein Diamant, um zu erkennen, dass diesem weißen Steine, oder was es nun sonst war, nichts anzuhaben war.
Mephistopheles hielt die weiße Masse zwar nicht für Omnihilit, jedenfalls aber besaß sie ganz dieselbe Eigenschaft. Kein Instrument irgendwelcher Art, keine Säure und nichts konnte ihr irgend etwas anhaben.
Atalanta hatte es nun noch einmal mit einem starken Druck, also mit Gewalt versuchen wollen. Durch eine lange Eisenstange konnte der Felsenbohrer mir Iridiumspitze ja an die gegenüber befindliche Wand gepresst und so durch Schrauben ein kolossaler Druck ausgeübt werden, allein es gelang nicht, die doch jedenfalls nur dünne Platte, die sich so leicht vorgeschoben hatte, zu durchbrechen.
Am anderen Tage maßen Mephistopheles, Kapitän Hagen und der japanische Ingenieur das Terrain außen und innen aus, machten eine Berechnung und setzten den Bohrer danach von außen an die Hügelwand an. Erdreich und Felsgestein wurden durchbohrt. dann aber kam eine Schicht, an welcher der Iridiumbohrer, so hart wie Diamant, höchstens abbrach, Da war man also auf die innere Verkleidung getroffen.
Es nützte nichts, die Lemuren verstanden ihre Geheimnisse zu schützen.
Einige Tage später waren Arno und Atalanta am frühen Morgen vor ihrer Höhlenbehausung, deren Inneres sich immer komfortabler gestaltete, alles aus eigener Kraft geschaffen, mit dem Zimmern einer Laube beschäftigt, an der sich die nun ausschlagenden Rosentriebe empor ranken sollten, als in weiter Ferne die beiden Jagdhunde wütend anschlugen.
Aufmerksam lauschten die beiden.
»Was haben die Hunde?«, meinte Arno, »Sind sie hinter einem Känguru her?«
»Das dürfen und tun sie nicht mehr, sie müssen etwas Besonderes gefunden haben. So schlugen sie an, als sie neulich das Stachelschwein aufstöberten.«
Da kamen die beiden Jagdhunde schon angestürmt, ohne noch zu bellen, aber ganz außer sich, und wollten ihre Herrin veranlassen, ihnen zu folgen.
Das taten Atalanta und Arno sofort, Ein so herrlicher Sonnenmorgen es auch war, war der Weg doch nichts weniger als angenehm. Es hatte in der Nacht stark geregnet, die schon wie aus dem Wasser gezogenen Hunde führten sie manchmal durch mannshohes Gras, nur die wasserdichte Lederkleidung schützte die beiden, dass sie nicht bis auf die Haut durchnässt wurden, sie waren aber doch bald ebenfalls wie aus dem Wasser gezogen.
Als die Hunde einen Fluss kreuzten, konnten sie ihnen nur gleich nachfolgen, brauchten nicht erst den in einiger Entfernung geschlagenen Brückensteg zu benutzen.
Dann wurden sie durch einen Wald geführt, die Bäume traten zurück, umschlossen eine Blöße, wieder begannen die weit vorauseilenden Hunde wütend zu kläffen, und...
Überrascht blieben Arno und Atalanta stehen.
Noch ehe sie die Waldblöße erreicht hatten, sahen sie ziemlich in der Mitte derselben, die nur mit kürzerem Grase bewachsen war, etwas Weißes liegen.
Es war ein Mensch. Das war sofort zu unterscheiden. Auch hellblondes Haar sahen sie gleich.
Vorsichtig näherten sie sich.
Ein Weib!
Ein Mädchen!
Wie ein vom Himmel herabgekommener Engel anzuschauen.
Das blütenweiße Antlitz von klassischer Schönheit wie von gottbegnadeter Künstlerhand, der das idealste Himmelsgeschöpf darstellen wollte, aus Alabaster gemeißelt, von goldblonden Haarflechten eingerahmt, die natürlich ebenso von Wasser troffen wie das weiße Gewand, das den zarten, jungfräulichen Körper züchtig vom Hals bis zu den Füßen einhüllte.
So lag sie da in dem nassen Grase, den Kopf auf den einen Arm gelegt.
Natürlich war sie tot.
»Nein, sie lebt, sie atmet ja, sie schläft nur!«
Ja, der zarte Busen hob und senkte sich, auch die feingeschwungenen Lippen zitterten beim Atmen.
Weshalb hatten es die beiden gleich so selbstverständlich gefunden, dass sie tot sein müsse?
Nun, weil es kaum begreiflich war, wie jemand in diesem Zustande, in ganz durchnässten Kleidern in dem nassen Grase liegend, schlafen konnte.
»Stammt die aus dem unterirdischen Reiche der Lemuren?«, flüsterte Arno.
»Wir werden sie selbst fragen. Ehe wir sie aber wecken, will ich die Umgebung untersuchen und zuvor noch die Kolonisten hierher berufen.«
Sie benutzte ihre Telefonuhr. In allen solchen Fällen sollten sämtliche Kolonisten ihr Urteil abgeben, oder Atalanta hielt vielmehr darauf, dass nichts hinter deren Rücken geschah, es sei denn, um ihnen eine heimliche Freude zu bereiten, oder wo sonst eine Ausnahme angebracht war.
Aber es hatte keinen Zweck, die Umgebung abzusuchen. Der starke Regen, der erst vor ganz kurzer Zeit aufgehört, hatte wie für die Hundenasen auch für die Augen dieser Indianerin jede Spur verwischt, und auch sonst wurde nichts gefunden, und an dem weißen Gewande aus feiner Baumwolle fehlte kein Fleckchen, das irgendwo hängen geblieben sein konnte.
Noch weckte man die Schläferin nicht, man wollte ihr selbstständiges Erwachen abwarten, wenn es nicht gar zu lange dauerte.
Der erste, der kam, weil er zur Zeit des Telefonrufes gerade am nächsten gewesen, war Mephistopheles.
»Hallo, was ist denn das?!«
Sein Staunen war begreiflich.
Aber fast unbegreiflich war es, wie Atalanta plötzlich auf ihn zutrat, was sie für Augen dabei machte, wie sie ihn anblickte und welchen Ton sie bei ihrer Frage in die leise Stimme legte:
»Wer ist dieses junge Weib?!«, herrschte sie ihren geheimnisvollen Gesellschafter förmlich an.
Dieser stutzte, staunte noch mehr.
»Ja, wie soll ich denn das wissen? Wie kommt die hierher?!«
»Sie wissen es!!«
»Ich?!«
»Sie wollen es nicht wissen? Gut. Wir sprechen uns dann weiter. Ruhig jetzt!«
Und sie drehte ihm den Rücken, während Mephistopheles ein immer verblüffteres Gesicht machte.
Der etwas abseits befindliche Arno hatte von dieser Szene gar nichts bemerkt.
Die anderen Kolonisten kamen.
Durch ihre Ankunft wurde das Rätsel nicht gelöst.
Eben ein weibliches Wesen, aber sonst ganz den normalen Menschen gleich, das sich aus dem unterirdischen Reiche der Lemuren an die Oberfläche verirrt hatte, hier vor Übermüdung eingeschlafen war. Was sollte man sonst anderes denken?
Ja, übermüdet musste sie furchtbar gewesen sein. Jetzt wollte man sie rütteln, aber sie war nicht wach zu bekommen, durch kein Mittel. Von brutalen Mitteln sah man natürlich ab, aber sonst half kein Rufen, kein Rütteln und Schütteln.
Es war ein normaler Schlaf tiefsten Grades, das heißt, sie war nicht betäubt. Ihr Herzschlag und ihre Atemzüge gingen nur wenig langsamer als im wachen Bewusstsein, wie es eben im tiefen Schlafe normal ist. Feste Zahlen lassen sich da freilich nicht angeben, aber das kann man recht wohl beurteilen, wenn man nur einige Erfahrung in so etwas hat. Jedes künstliche Betäubungsmittel dagegen macht den Herzschlag langsamer, kann ihn gänzlich lähmen.
Zuletzt schob Atalanta auch die Augenlider der Schläferin zurück.
»Die ist ja hypnotisiert!«, rief da Hagen.
»Weshalb?«
»Der ihre Augen sind ja ganz nach oben verdreht, man sieht doch nur das Weiße, wie es nur im hypnotischen Zustande der Fall ist!«
Hagen befand sich in einem Irrtume und wurde darüber aufgeklärt.
Wie schon einmal erwähnt, kommt man immer mehr zu der Überzeugung, dass der einst so geheimnisvolle, sogar schauerliche hypnotische Zustand gar nichts anderes ist als der natürliche Schlaf, nur dass jener dabei auf unnatürliche Weise, d. h. durch fremde Willkür erzeugt worden ist.
Denn auch im natürlichen Schlafe kann man alle dieselben Erscheinungen hervorbringen, er muss nur tief genug sein, auch der normale Schläfer reagiert auf sogenannte hypnotische Suggestionen, kann in noch tieferen Schlaf versetzt werden, bis zum rätselhaften Somnambulismus, wenn er dafür veranlagt ist, sonst freilich nicht!
Andere Menschen lassen sich wieder nur so weit hypnotisieren, dass sie auf keinen Befehl reagieren, bei jedem Geräusch wieder aufwachen, von einem Stechen mit einer Nadel gar nicht zu sprechen. Dann schlafen sie eben nur leicht, aber immer ganz normal.
Und auch im gewöhnlichen Schlafe verdreht der Mensch den Augapfel ganz nach oben. Das hat man früher nur nicht so konstatiert, es war nicht so bekannt. Am besten merkt man es, wenn ein sehr müder Mensch einschlafen will und sich wach zu halten sucht, wie er da die Augen immer nach oben verschiebt. Weshalb er das tut, weshalb er beim Schlafen die Augen ganz nach oben verdreht, das weiß man nicht. Der Volksmund trifft, wie gewöhnlich, den Nagel auf den Kopf, wenn er von einem Schläfer humoristisch sagt: Er besieht sich von innen.
Der einfache Schlaf ist für uns ja ganz genau so rätselhaft wie der ganze Hypnotismus. Dass das Gehirn dabei blutleer wird, das ist eigentlich alles, was wir davon wissen.
Ja, es konnte ein hypnotischer Schlaf sein, in dem das Mädchen lag, d. h. ein künstlich erzeugter Schlaf, aber es brauchte auch nicht der Fall zu sein. Sie schlief eben, war nicht wach zu bekommen, musste vorher sehr übermüdet gewesen sein. Und weil sie in den pitschnassen Kleidern schlief? O, übermüdete Seeleute schlafen manchmal in noch ganz anderen Situationen, stehend, mit langen Eiszapfen an der Nase!
Atalanta selbst kreuzte mit einem ihr an Größe ungefähr gleichen Japaner die Arme, ließ sich die Schläferin darauf heben, so wurde sie fortgetragen, aber nicht nach der Höhle des gräflichen Ehepaares, sondern gleich nach dem Schiffe, wo es doch andere Bequemlichkeiten gab.
Sie wurde in eine Kabine gebettet, nur Atalanta blieb bei ihr, um sie näher zu untersuchen.
Nach zehn Minuten kam Atalanta wieder.
»Nun?«, fragte Arno.
»Ich kann sie nicht zum Erwachen bringen, habe es freilich auch noch nicht mit gewaltsamen Mitteln versucht.«
»Sollte sie nicht hypnotisiert sein?«
»Es ist möglich.«
»Wofür hältst Du sie?«
»Für ein Weib, dem man jegliche Arbeit ferngehalten hat. Ihre Hände sind wunderbar fein gepflegt, desgleichen ihre Füße. Das hat fast etwas Orientalisches an sich.«
»Aber sie gleicht mehr einer Germanin, einer Angelsächsin.«
»Das tut sie. Die Weiße ihrer Haut mit den durchscheinenden blauen Äderchen ist ganz auffallend, wozu noch das wirklich goldene Haar kommt.«
»Hast Du sonst nichts an ihren Gewändern bemerkt?«
»Gar nichts weiter. Es ist kein besonderer Stoff, es ist Baumwolle, sehr feine, die man aber überall kaufen kann. Bemerkenswert ist nur noch, dass sie Sandalen aus feinem Leder trägt, sonst habe ich nichts weiter zu berichten. Wir wollen noch einige Zeit warten, bis wir wieder versuchen, sie zu wecken.«
Arno wurde von Littlelu telefonisch gerufen, er wollte ihm ein neues Experiment mit der Düngerhirse, wie man das Zeug genannt hatte, zeigen.
»Wo ist der Meister?«, wandte sich Atalanta an eine der geisterhaften Sklavenseelen, die noch immer in schwarzen Trikots herumschlichen, denn frei wie andere Menschen konnten die sich nicht bewegen.
»Er dürfte sich in der Camera obscura befinden!«, lautete die unendlich demütige Antwort, wobei der Gefragte, obgleich es sicher ein Europäer war, auch noch schnell die Arme über der Brust kreuzte und wie ein Taschenmesser zusammenknickte.
Atalanta begab sich in die große Camera obscura.
Eine solche hatte es also früher an Bord dieses Schiffes nicht gegeben, auch keine kleine, keine andere jener technischen Einrichtungen und Spielereien, womit die Felsenwohnungen am Sklavensee ganz erfüllt gewesen waren. Das waren nur Erfindungen oder vielmehr Ausführungen von Mephistopheles, diesem abtrünnigen Geiste, gewesen, die geheime Gesellschaft, der er einst direkt angehört, hatte solche Probleme nur theoretisch gelöst, ihre praktische Nutzanwendung als vollkommen überflüssig verachtet, da diese Mahatmas dasselbe alles auf rein geistigem Wege erreichen konnten.
Aber mit Atalantas Erlaubnis hatte Mephistopheles außer anderen Einrichtungen auch solch eine große Camera obscura nach dieser Insel überführt, sie im kleinen Speisesaal des Passagierschiffes eingerichtet.
Tag und Nacht mussten einige seiner Sklaven an dieser Camera obscura wachen, und das hatte einen gar triftigen Grund.
Der Termin, da die beiden Australier wieder in Sydney zurück sein oder sonst ein Lebenszeichen hatten von sich geben wollen, war schon längst verstrichen. Sir Wilcox' bei einem Notar hinterlegtes Testament musste bereits geöffnet worden sein. Und es hätte auch gar keinen Zweck gehabt, dass er einmal zurückgekehrt wäre, um dies zu verhindern. Jener Dampfer hatte die beiden doch bis an den Rand der Cooks-Bank gebracht, sie waren nach Osten davongeflogen, also doch über diese hinweg, von ihrer Absicht hatten sie doch auch gesprochen, das war doch gar nicht anders möglich gewesen.
So mussten hier über kurz oder lang andere Luftschiffer zu erwarten sein, denn das ist nun einmal so in der Welt, was ein Mensch einmal versucht hat, er braucht sogar nur daran zu denken, das wird auch von anderen nachzuahmen versucht, das ist ebenfalls ein ehernes Naturgesetz, das wir nur nicht in Formeln zwingen können. Als es der erste Aeronaut versucht hatte, von Calais nach Dover zu fliegen, fand er sofort zahllose Nachahmer, und es musste unbedingt die Linie Calais—Dover sein, niemandem fiel es ein, es nun etwa einmal mit Hamburg—Helgoland zu versuchen. Einst war die Sehnsucht aller eroberungslustigen Völker Italien, dann kam Palästina daran, dann wurde der Nordpol der Punkt, mit dem sich der rastlose Menschengeist beschäftigte, jetzt ist es wieder einmal der Südpol — und niemand denkt daran, dass wir die allergrößten Geheimnisse in unserer dichten Nähe haben. So wissen wir noch absolut nicht, wie es im Innern Islands aussieht. Auf diese mächtigen, furchtbar vergletscherten Hochplateaus ist noch kein Mensch gekommen. Und ganz sicher gibt es auch dort weite Täler, in denen es im Sommer grünt und sprosst. Das wäre eine dankbare Aufgabe für die Aviatiker!
Also über kurz oder lang mussten hier Luftschiffer ankommen. Allerdings nicht in großen Luftschiffen, so weit waren diese noch nicht, um solche Meeresstrecken überfliegen zu können. Aber Aeroplane, Flugmaschinen, die erst so weit wie möglich auf Dampfern an die Bank herangebracht wurden. Und man wollte sich von ihnen nicht unvermutet überraschen lassen.
Als man die Insel in der Camera obscura des Walfisches hatte beobachten wollen, hatte diese nicht funktioniert. Und Mephistopheles hatte gesagt, das wäre auch gar nicht möglich, diese Lemuren verständen es, über sich und die ganze Insel etwas wie einen unsichtbar machenden Schleier zu breiten.
Als aber nun hier diese Camera obscura funktionierte, da konnte dennoch die Oberfläche der ganzen Insel gegen die Wand gezaubert werden. Die Lemuren, nachdem sie sich unter die Erde zurückgezogen, hatten einfach diesen Bann aufgehoben — ganz einfach für diese Lemuren!
Jetzt also mussten einige Wächter an der Camera obscura die ganze Insel und ihre Umgebung im Auge behalten. Auch bei Nacht war es möglich, denn auch in der finstersten Nacht wurde ja das, was man beobachten wollte, vom hellsten Lichte übergossen, wenigstens hier in dieser Camera obscura selbst, an der Wand. Wie dies möglich ist, wurde schon früher einmal erwähnt, weil es ganz sicher Farben gibt, also auch farbiges Licht, das für das menschliche Auge unsichtbar ist, wie mit Gewissheit konstatiert worden ist, dass für unser Haushuhn keine blaue Farbe existiert. Blaues Licht bedeutet für die Hühner völlige Finsternis. Und eine eigentliche dunkle Nacht gibt es auf der Erde niemals und nirgends, denn im Weltenraum ist unsere Erde ein leuchtender Planet. Unser Auge kann diese schwarze Farbe nur nicht zerlegen, was aber recht wohl durch ein besonderes Prisma denkbar ist.
Mephistopheles befand sich nicht in der Camera obscura.
»Etwas Besonderes beobachtet?«, fragte Atalanta einen der Wächter.
»Nein, nichts Besonderes.«
»Ihr müsst doch etwas Besonderes an der Wand gesehen haben, oder Ihr seid nachlässig gewesen!«
»Ja, wie die Hunde heute früh die weiße Frau fanden, aber das ist nun doch schon erledigt, das dürfen wir nicht mehr als etwas Besonderes melden. Die Hunde haben Sie gleich selbst geholt, so war unsere Meldung überflüssig.«
»Habt Ihr die weiße Frau nicht schon vorher an der Wand gesehen?«
Nein, und das war auch etwas viel verlangt. Die Wand war acht Meter hoch und noch etwas breiter, aber diese Insel war einige Quadratmeilen groß, und die ganze Insel musste immer im Auge behalten werden. Es handelte sich besonders darum, auf Punkte zu achten, die darauf zu schwirrten, falls sich diese dann als Aeroplane entpuppten. Es war schon genug, dass die Wächter auf das Treiben der Hunde aufmerksam geworden waren, die dann in einer anderen Camera obscura vergrößert worden waren.
»Woher wisst Ihr überhaupt etwas von der weißgekleideten Frau?«
»Der Meister fragte uns deswegen.«
»Was fragte er?«
»Ob wir gesehen hätten, wie und wo sie auf die Oberfläche der Insel gekommen sei.«
»Wann fragte er das?«
»Es ist noch keine zehn Minuten her.
»Wo ist der Meister jetzt?«
»Wir wissen es nicht.«
Atalanta benutzte die Telefonuhr, um den »Meister«, wie er von seinen Leuten genannt wurde, in die Kapitänskajüte zu beordern.
Als sie dort eintrat, war Mephistopheles bereits zur Stelle, hatte seinen durchnässten Anzug schon wieder mit einem tadellosen Kostüm vertauscht.
»Sie haben Ihren allergehorsamsten Diener befohlen, allergnädigste Frau Gräfin!«, begrüßte er sie, immer mit seinem stereotypen Grinsen.
Da trat auch Arno in die Kajüte.
»Bitte, Arno, lass mich einmal mit diesem Herrn allein!«, sagte Atalanta sofort zu ihm.
Arno war gewohnt, dass diese Indianerin auch ihrem Gatten gegenüber manchmal ihre eigenen heimlichen Wege ging, dann hatte es aber auch sicher einen triftigen Grund, denn anderseits, wie wir gesehen haben, zog sie ja sämtliche Kolonisten immer ins Vertrauen.
Diesmal aber fühlte sich Arno doch etwas irritiert, dass er gleich hinausgewiesen wurde.
»Weshalb?«
»Weil ich diesem Herrn einmal eine Wahrheit sagen möchte — eine furchtbare Wahrheit.«
Da allerdings zog sich Arno schleunigst zurück, da wollte er lieber nicht mit dabei sein. Und er las auch schon etwas in den Augen seiner Gattin, so ruhig diese auch sonst war.
»Eine Wahrheit?«, grinste der Mephistopheles nach wie vor. »Ich höre nichts lieber als die Wahrheit, ich selbst liebe die Wahrheit über alles.«
Aber das höhnische Grinsen verging ihm doch, als die Indianerin jetzt dicht vor ihn hintrat, solch einen gefährlichen Ausdruck nahmen ihre Augen jetzt an.
»Wer ist dieses fremde Mädchen?!«
»Ich weiß es nicht.«
»Lügner!!«
»Ich lüge nicht.«
»Wenn Sie diese Ihre Antwort mit der Wahrheit in Verbindung bringen wollen, so ist das nur ein elender Jesuitismus! Vielleicht weil Sie nicht wissen, wie ihr eigentlicher Name ist, wo ihre Wiege gestanden hat, und so weiter und so weiter, deshalb glauben Sie behaupten zu dürfen, dass Sie nicht wüssten, wer dieses Mädchen sei. Mir aber kommen Sie nicht mit solcher Sophisterei! Sie wissen recht gut, wer dieses Mädchen ist! Denn als Sie es erblickten, da sah ich Sie stutzen, sah Sie staunen —«
»Soll man da nichts stutzen und staunen, wenn plötzlich —«
»Lassen Sie mich aussprechen, unterbrechen Sie mich nicht!!«, herrschte die Indianerin ihn an, wenn auch immer ohne jede Erregung. »Ich sah Sie auch erschrecken! Vergebens haben Sie das zu verbergen gesucht, meinen Augen entging es nicht! Sie kennen dieses Mädchen!! Wer ist sie!«
»Ich weiß es nicht!«, erklang es nach wie vor, jetzt freilich ohne Grinsen.
»Doch! Die Sache aber ist die, dass Sie mir nicht antworten dürfen.«
»So ist es.«
Es war nicht das erste Mal, dass der Mephistopheles eine Auskunft verweigerte, nur so zusammengeraten waren die beiden noch niemals.
Jetzt fasste Atalanta noch einmal alles zusammen, um sich ein Bild zu machen, wie sie mit diesem Manne stand.
»Sie sind mir zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet?«
»Ja.«
»Wer hat Ihnen dies befohlen?«
»Der, dem ich zu gehorchen habe.«
»Antworten Sie bestimmter! Wer ist das?«
»Ein Mahatma.«
»Eine ganze Gesellschaft von solchen Mahatmas?«
»Ja, aber ich habe es nur mit einem einzigen zu tun.«
»Durch den freiwilligen Tod dieser Inder hier und die zu ihnen gehörten ist diese Gesellschaft noch nicht ganz vernichtet?«
»Noch längst nicht. Das waren nur einige wenige, welche die Erlaubnis erhalten hatten, aus dem Leben zu scheiden, was auf höheren Befehl hier zu geschehen hatte.«
»Sie sind wieder in die direkten Dienste dieser Gesellschaft getreten?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Es wurde mir noch einmal Gelegenheit zu einer Buße geboten.«
»Diese Buße besieht darin, dass Sie sich mir mit bedingungslosem Gehorsam zur Verfügung zu stellen haben?«
»So ist es.«
»Weshalb nehmen jene Mahatmas solchen Anteil an mir?«
»Weil Sie nun einmal in die Geheimnisse des Sklavensees gedrungen sind.«
»Das ist ein sehr unbedeutender Grund.«
»Einen anderen kenne ich nicht.«
Das glaubte ihm Atalanta.
»Haben die Mahatmas vor, mich weiter in ihre Geheimnisse einzuweihen, mich mit in diese Gesellschaft zu ziehen?«
»Das weiß ich nicht, aber das dürfte sehr leicht möglich sein.«
»Hierüber ist Ihnen nichts gesagt worden?«
»Nein.«
»Ja, wenn man Ihnen nur glauben dürfte!«
»Ich muss immer die lautere Wahrheit sprechen.«
»Ja, das habe ich wieder vorhin gemerkt.«
»Wenn ich dazu aufgefordert werde, wenn es mir befohlen wird!«, begann der Teufelsmensch wieder zu grinsen.
»Ach so! Doch das weiß ich ja schon von Ihnen. Also ich befehle Ihnen, die unbedingte Wahrheit zu sprechen.«
»Ich gehorche.«
»Und alle meine Fragen zu beantworten?«
»So weit ich kann und darf, ja.«
Das war wieder die alte Geschichte!
»Sie kennen dieses Mädchen?«
»Ja.«
»Wer ist es?«
»Das brauche ich nicht zu sagen.«
Das scharfe Ohr und mehr noch der Scharfsinn der Indianerin hatte sofort etwas Besonderes herausgehört.
»Es ist Ihnen nicht direkt verboten, über die Person dieses Mädchens zu sprechen?«
»Nein.«
»Sondern hier ist es einmal in Ihren freien Willen gegeben, darüber zu sprechen oder zu schweigen?«
»So ist es.«
»Wie über alle Ihre Privatinteressen?«
»Ja.«
»Also kennen Sie dieses Mädchen auch persönlich?«
»Das habe ich bereits zugestanden.«
»Hat es damals mit Ihnen am Sklavensee gelebt?«
Hier durfte Mephistopheles nicht mehr »ich weiß es nicht« antworten, das war ihm verboten, wenn er nun einmal so weit gebracht worden war. Dafür wusste er jetzt eine andere Ausflucht.
»Nein und ja und ja und nein — nun wollen allergnädigste Gräfin nach Belieben wählen!«, begann er wieder zu grinsen.
»Sagen Sie doch einfach: ›Darauf antworte ich nicht.‹«
»Darauf antworte ich nicht, brauche ich nicht — und das müssen Sie mir verzeihen.«
»Waren alle die vielen hundert Menschen, die sie in ganz natürlich aussehende Mumien verwandelt haben, einst lebendige Menschen.?«
»Selbstverständlich waren das einst lebendige Menschen, hähähä.«
»Weichen Sie mir nicht aus und versuchen Sie mich nicht zu verspotten!«, wurde er diesmal ganz grimmig angeherrscht, und dieser Weltmann fuhr denn auch erschrocken zusammen, was aber doch immer wieder etwas Höhnisches oder doch Ironisches an sich hatte.
»Ja, sie waren wirklich ganz lebendig, das heißt noch in voller Lebenskraft, als ich sie plötzlich erstarren ließ. Also nicht, dass ich schon Leichen in solche Stellungen gebracht hätte.«
Das war es wirklich gewesen, was Atalanta hatte wissen wollen.
»Und Sie behaupten, dass diese erstarrten Statuen gar nicht richtig tot seien, dass Sie dieselben wieder ins Leben zurückrufen könnten?«
»Habe ich das behauptet?«, stellte sich Mephistopheles unschuldig.
»Gewiss, das haben Sie seinerzeit wiederholt behauptet!«
»Dann, muss ich gestehen, habe ich damals etwas renommiert. Ja, ich halte es für möglich, dass die Lebensfunktion nur unterbrochen, nicht ganz erloschen ist, also müsste es doch auch möglich sein, diese Mumien wieder ins Leben zurückzurufen, es ist eben nur ein Scheintod, ich habe auch schon viel in dieser Hinsicht experimentiert, freilich bisher ohne jeden Erfolg, aber —«
»Nun gut, das ist für mich jetzt Nebensache. Ich wollte nur fragen, ob denn keiner von diesen Menschen vermisst wird, von Angehörigen oder sonst wie?«
»Nein, keiner wurde und wird vermisst.«
»Wie kommt das?«
»Ich durfte zu meinen Experimenten nur solche Objekte wählen, von denen es ausgeschlossen ist, dass ihr Verschwinden Unheil oder nur Trauer verursacht. Das war für mich strenger Befehl, wenn auch gar nicht direkt ausgesprochen, sonst wäre es mir eben ganz traurig gegangen, dafür hätten die Mahatmas gesorgt; dann hätten die mir bald das Handwerk gelegt.«
»Nun hatten Sie in Ihrem Laboratorium und in Ihren sonstigen Felsenlöchern am Sklavensee doch auch noch eine ganze Menge lebender Personen?«
»Gewiss.«
»Wo sind die nun geblieben?«
»Zum Teil sind Sie mir mit in meine Verbannung gefolgt, nach der Insel Chilos —«
»Zum Teil, zum Teil!«, wiederholte Atalanta ungeduldig. »Wo sind die anderen geblieben?«
»Ich weiß es nicht.«
Atalanta hatte schon öfters wegen dieser Personen gefragt und immer dieselbe Antwort bekommen. Mephistopheles wollte es nicht wissen. Bisher hatte sich Atalanta mit dieser Antwort begnügt. Diesmal tat sie es nicht.
»Sie wissen es!«, herrschte sie jenen an. »Wenn Sie Ihr ›ich weiß nicht‹ mit der Wahrheit zusammenreimen wollen, so ist dies wieder nur ein Jesuitismus: Sie meinen, Sie wissen nicht, wo diese Personen damals direkt hingekommen sind! Im Grunde genommen aber wissen Sie es recht gut. Und ich befehle Ihnen, mir zu sagen, wo —«
Die Unterhaltung wurde dadurch unterbrochen, dass in Atalantas Tasche die Telefonuhr klingelte.
»Wer ist dort?«
»Arno. Ich muss Dir mitteilen, dass die Schläferin erwacht ist, sie macht sich in der Kabine bemerkbar, die Du verschlossen hast.«
»Ich komme sofort.«
Atalanta steckte die Uhr zurück.
»Warten Sie hier auf mich. Oder bis ich Sie beordere, wir sind noch nicht fertig!«
Als Atalanta die Kabine betrat, saß das Mädchen, das in ein leichtes indisches Kostüm gekleidet worden war, auf dem kleinen Sofa, hatte das Gesicht wohl in den Händen vergraben gehabt.
Jetzt erhob es sich langsam, scheu, ängstlich, und ebenso blickten die herrlichen blauen Augen die Indianerin an und schweiften dann wieder durch die Kabine.
»Wo bin ich hier denn nur?«, flüsterte sie dann auf Englisch.
»Fürchten Sie nichts, mein liebes Kind, Sie sind unter guten Menschen in vollkommener Sicherheit.«
Auch Atalanta setzte sich und zog das Mädchen neben sich, die feinen Hände in den ihren behaltend.
»Fühlen Sie sich wohl?«
»Ja, ganz wohl — ich muss lange geschlafen haben —«
»Sind Sie hungrig, durstig?«
»Nein, gar nicht, gar nicht. Aber wo bin ich hier nur?«
»Sie wissen es nicht?«
Wieder schweiften die blauen Augen halb ängstlich, halb erstaunt durch die kleine, schön eingerichtete Kabine.
»Ja, es kommt mir bekannt vor, so etwas muss ich schon einmal gesehen haben —«
»Es ist die Kabine eines Schiffes.«
»Ach richtig, jetzt weiß ich — auf einem Schiffe bin ich!«
Wie mit grenzenloser Erleichterung hatte sie es gesagt und Atalanta, sie scharf beobachtend, begann schon etwas zu ahnen.
»Und wie kommen Sie auf diese Insel?«
»Auf diese — Insel?«, erklang es schon wieder mit ängstlichem Staunen.
»Sie wissen nicht, dass dieses Schiff an einer Insel liegt?«
»Nein.«
»Wo befanden Sie sich denn, bevor Sie einschliefen?«
»Da befand ich mich — da war ich — war ich —«
Immer ängstlicher wurden die schönen Engelszüge, man sah es, wie furchtbar es hinter der weißen Stirn arbeitete, und dann erklang es in klagendem Tone, während sie mit den Händen an den Schläfen tastete.
»Ach, mein Kopf — mein armer Kopf — wie das darin brennt —«
Jetzt aber waren es die bronzefarbenen Gesichtszüge der Indianerin, welche den Ausdruck der außerordentlichsten Spannung annahmen. Denn die Ahnung, die jetzt in ihr aufstieg, hatte sie vorhin noch nicht gehabt.
»Sie haben Kopfweh?«, fragte sie aber erst teilnahmsvoll.
»Ja — nein — es ist eigentlich kein Schmerz — es brennt nur — und es tut doch nicht weh — und ist doch nicht zum Aushalten —«
»Sie können sich nicht entsinnen, wo Sie zur Zeit waren, als Sie in den tiefen Schlaf sanken?«
»Nein — ja — nein — ach, wenn ich nur das eine wüsste — nur das allereinzigste, dann wüsste ich auch alles andere —«
»Was ist dieses Allereinzigste?«
»Ein Lied, ein Lied —«
»Was für ein Lied? Vielleicht dieses? ›Ich bin ein kleines Vögelein...‹«
Mit leiser Stimme hatte es die Indianerin gesungen. Und da plötzlich lag das weiße Mädchen vor ihr und umklammerte ihre Knie.
»O, wie geht dieses Lied weiter«, erklang es im jammerndsten Tone, dem sich aber auch etwas Hoffnungsfreudigkeit beimischte, »Sie wissen es, Sie wissen es — o sagen Sie es mir — und dann bin ich geheilt, dann weiß ich alles, alles, dann kommt mir die Erinnerung wieder!«
Furchtbar war Atalanta erschüttert!
Die Irrsinnige vom Sklavensee, die sie niemals gesehen, wohl aber zweimal gehört hatte.
Mit deren Lied, wenn man es ein Lied nennen konnte, der Roman ihres Lebens eingesetzt hatte!
Furchtbar war Atalanta erschüttert, aus diesem doppelten Grunde.
Dann raffte sie sich zusammen. Jetzt, da sie das Rätsel in Händen hatte, wollte sie es zu lösen versuchen.
Sie kannte den Namen der Unglücklichen, den Vornamen, oder wie diese doch seinerzeit angeredet worden war, denn der Leser entsinnt sich, dass damals beim ersten Male, als Arno und Atalanta mit dem Boote an der Felswand gelegen hatten, dem Liede der Irrsinnigen ein Wechselgespräch gefolgt war, zwei Frauenstimmen hatten sich gegenseitig mit Namen angeredet.
br>Hiermit musste sie einsetzen, um zu untersuchen, wes Geistes Kind sie vor sich hatte.
So zog sie die Jammernde zunächst wieder neben sich und suchte sie zu beruhigen.
»Wie heißen Sie, mein liebes Kind?«, fragte Atalanta, als ihr dies so ziemlich gelungen war.
Wieder diese wirren Blicke.
»Ich heiße — ich heiße — ach, mein Kopf — wenn ich die Fortsetzung des Liedes nur wüsste — nur die zweite Strophe —«
»Ich werde sie finden. Nicht wahr, Sie heißen Amalie?«
Nur verständnislose Blicke.
»Amalie? Amalie? Nein, ich heiße nicht Amalie — ach, wie ich mich schäme, nicht einmal zu wissen, wie ich heiße —«
Dass sie dies als Scham empfand, dass sie sich genierte, das hatte gar viel zu bedeuten. Desto bedauernswerter freilich war sie nur.
»Ach nein, Therese heißen Sie!«
»Therese? Nein — nein — auch nicht Therese —«
»Thekla?«
»Thekla, ja Thekla heiße ich!«, jauchzte da das Mädchen förmlich auf.
Geschickter hätte es Atalanta nicht machen können, um ihren Geisteszustand zu prüfen. Erst einen ganz anders klingenden Namen, dann einen ähnlich klingenden, dann erst den richtigen.
Und sie hatte richtig darauf reagiert. Nun war ihr Geisteszustand auch schon offenbart. Durchaus nicht irrsinnig, nur die Erinnerung hatte sie verloren, das Gedächtnis. Aber dieses brauchte nur und konnte wieder geweckt werden, freilich wohl für jeden einzelnen Fall. Wie weit das ging, das musste eben näher untersucht werden.
»Sie haben doch eine Freundin?«
»Eine Freundin — Freundin?«, erklang es wieder in qualvollem Zweifel. »Ja, ja, ich weiß schon, was eine Freundin ist.«
Das letztere sagte sie sich selbst zum Trost, weil sie selbst wusste, wie es mit ihr stand. Desto bedauernswerter war sie freilich nur.
»Wissen Sie nicht, ob sie eine Freundin haben oder hatten?«
»Nein — ach nein —«
»Sie sprachen mit ihr einmal über Rodrigo.«
Hoch horchte das Mädchen auf!
»Rodrigo?!«
»Sie kennen diesen Mann?«
»Nein — ach nein — ja, wenn Sie ihn mir beschreiben könnten —«
Also sie selbst gab den Weg an, wie man ihre Erinnerung wecken konnte, sie kannte die Art ihrer Erkrankung ganz genau, wahrscheinlich war mit ihr ja auch schon viel experimentiert worden.
»Hieß Ihre Freundin nicht Betsy?«
»Betsy? Nein.«
Atalanta nannte aus dem Stegreif noch einige andere Namen, nur den nicht, auf den es ankam. Die Irrsinnige, wie wir sie doch noch nennen wollen — denn ein Irrsinn war es ja, der Sinn irrte — reagierte nicht.
»Gertrud?«
»Gertrud, ja, meine liebe, liebe Gertrud!«, jauchzte es da auf.
»Wie sah diese Gertrud aus?«
»Wie sie aussah —?«, wurde wieder das Gehirn gemartert.
»Was hatte sie für Haare?«
»Was für Haare —?«
»Blonde, nicht wahr?«
»Nein, o nein, blonde Haare hatte meine Gertrud nicht.«
»Schwarze?«
»Nein, schwarze auch nicht —«
»Braune?«
»Nein, nein.«
»Rote?«
»Nein, o nein —«
Die Examinatorin wäre beinahe aus dem Konzept gekommen. Diese Gertrud schien gar keine Haare auf dem Kopfe gehabt zu haben.
»Grau?«, fiel ihr dann glücklich noch ein.
»Nein, grau auch nicht, aber — aber —«
Jetzt hätte ihr Atalanta zu Hilfe kommen können, sicher mit dem Richtigen, aber sie tat es nicht, jetzt kam ein sehr wichtiger Moment.
»Weiß — weiße Haare hatte meine liebe Gertrud — schneeweiße!«, jubelte da das Mädchen auf.
Also das Wort brauchte ihr nicht immer direkt in den Mund gelegt zu werden. Das zu wissen war sehr wichtig.
»War denn Ihre Freundin schon so alt?«
»Alt? Gar nicht alt, ganz jung, so jung wie ich.«
Nanu! Jetzt konnte man wieder irre werden.
»Und sie hatte weiße Haare?«
»Ganz schneeweiße.«
»Und sie war noch jung?«
»Ein Jahr jünger als ich.«
»Wie alt sind Sie denn, mein liebes Kind?«
»Ich bin — ich bin — ach, das Lied, das Lied, wenn ich nur die zweite Strophe wüsste!«, erklang es wieder jammernd.
Mit diesem Gedanken durfte man sie aber nicht lange sich beschäftigen lassen.
»So sah Ihre Freundin Gertrud mit den weißen Haaren noch jugendlich aus?«
»Ganz jugendlich, ganz frisch, und sie war es ja wirklich!«
»Keine Falten, keine Runzeln?!«
»Nein, nein doch! Wie Milch und Blut! Sie hatte immer so rote Wangen, und nicht etwa, dass sie sich — dass sie sich —«
Nun, man sieht hin und wieder junge, blühende Frauen mit schneeweißen Haaren. Sie sehen sogar durchweg recht hübsch aus. In der Rokokozeit, als man sich die Haare puderte, hat man recht wohl gewusst, was hübsch aussieht. Nicht umsonst ist das »hübsch aussehen« dreimal wiederholt.
»Sie puderte nicht ihr Haar?«, fragte Atalanta nochmals, freilich in ganz bestimmter Absicht.
»Nein, o nein. Dieses weiße Haar war ganz natürlich.«
»Also hat sie ihre Wangen auch nicht — nun?«
»Auch nicht geschminkt! Nein, o nein!«
Eine geschicktere Examinatorin hätte die Irrsinnige nicht haben können. So war ihr das Verständnis für die Bedeutung des fehlenden Wortes, dass sich die Freundin geschminkt oder nicht geschminkt habe, herausgelockt worden.
Sie sprach englisch und ebenso perfekt deutsch und französisch. Dass sie damals am Sklavensee im amerikanischen Felsengebirge gewesen war, wusste sie nicht, jetzt noch nicht, oder man hatte es ihr überhaupt verheimlicht.
Doch mit solchen Fragen hielt sich Atalanta jetzt gar nicht auf, etwas anderes war es, worauf es ihr jetzt hauptsächlich ankam.
»Sie wissen nicht, wo Sie sich befanden, bevor Sie zum letzten Male einschliefen?«
»Nein, ach nein —!«, erklang es zaghaft und traurig wie zuvor, sobald sie sich ihres Zustandes bewusst wurde. »Vielleicht auf einem Luftschiffe?«
»Luftschiff?«
Innerhalb einer Minute war durch telefonische Order aus der Bibliothek ein Buch zur Stelle, in dem alle Arten Luftballons vom ersten Aufstieg bis zu den modernsten lenkbaren Luftschiffen der verschiedensten Systeme abgebildet waren.
Ja, was ein Luftballon war, das wusste sie, den hatte sie schon gesehen, schon mehrere, viele, aber von einem Luftschiffe hatte sie noch gar keine Ahnung, ebenso wenig von einer Flugmaschine.
»Wo haben Sie solche Luftballons gesehen?«
»In — in —«
»In England?«
»Nein, in England war es sicher nicht —«
»Never mind. Wie alt waren Sie wohl, als Sie den letzten Luftballon sahen?«
»Da war ich — ich glaube — ach, mein Kopf, wie das wieder brennt —«
»Wollen Sie etwas ruhen?«
»Nein, bitte, bitte, fragen Sie mich weiter!«, erklang es flehend. »Das ist ja gar nicht so, dass mir der Kopf schmerzt, das ist ganz anders.«
Also sie wollte gefragt werden, es diente ihr zur Beruhigung, sie freute sich, wenn es gelang, ihre Erinnerung zu wecken.
»Waren Sie noch ein Kind, als Sie zum letzten Male solch einen kugelförmigen Luftballon erblickten?«
»Ja — ganz gewiss — ich trug noch kurze Kleider.«
»Und dann haben Sie keinen wieder gesehen?«
»Nein, ganz gewiss nicht!«
»Sie haben auch niemals solch einen langgestreckten Luftballon gesehen, auch nicht in der Abbildung, niemals etwas davon gehört?«
»Nein, ganz gewiss nicht.«
Sie war eben immer in engster Gefangenschaft gehalten worden, sie hatte auch sonst nichts von der Welt zu erfahren bekommen.
»Befanden Sie sich, bevor Sie zum letzten Male einschliefen, in einem Zimmer?«
»Ja, sicher, es war ein Zimmer —«
Ungemein schwer war es, sich dessen Einrichtung von ihr beschreiben zu lassen, alles musste aus ihr herausgeholt werden. Sie reagierte nicht darauf, wenn sie gefragt wurde, was sich an der Wand befunden hatte, die den Fenstern gegenüber gelegen. Dann marterte sie ihr Hirn vergebens, was deutlich zu bemerken war.
»Befand sich da ein Schrank?«
»Nein, kein Schrank.«
»Auch wieder Fenster?«
»Nein, keine Fenster.«
»Ein Spiegel?«
»Ja, ach ja, ein großer Spiegel hing dort!«, erklang es da jauchzend.
Auf diese Weise, freilich mit unsäglicher Ungeduld, gepaart mit größtem Scharfsinn, konnte sich Atalanta schließlich doch ein ziemlich deutliches Bild von jenem Zimmer machen.
Aber war es nun das einzige, in dem sich die Irrsinnige immer befunden hatte?
Mit solchen Fragen wollte sie gar nicht erst anfangen, jetzt wenigstens nicht.
Es musste ein nach europäischer Art komfortabel eingerichtetes Zimmer gewesen sein, englische oder deutsche Möbel. Es ist ein kleiner Unterschied dabei.
»Bewegte sich dieses Zimmer manchmal?«
»Bewegen? Wie soll sich denn das Zimmer bewegen?«
»Kann es nicht in solch einem Luftschiff gewesen sein, wie Sie hier sehen?«
»In solch einem Luftschiff? Nein, ach nein, davon weiß ich nichts —«
»Was sahen Sie, wenn Sie durch die Fenster blickten?«
»Da sah ich — sah ich —«
»Immer verschiedene Bilder, verschiedene Landschaften, nicht wahr?«
»Bilder? Landschaften? Ach nein, davon weiß ich nichts.«
»Oder waren die Fenster vielleicht immer geschlossen?«
»Ja, ja, die Fenster waren immer geschlossen!!«, wurde wiederum gejauchzt, vor Freude, dass die Erinnerung an eine richtige Tatsache wieder geweckt worden war.
»Diese Fenster sind niemals geöffnet worden?!«
»Nein, niemals, das weiß ich bestimmt!«
Nun brauchte Atalanta in dieser Sache auch nicht weiter zu fragen. Das Mädchen konnte hierüber eben gar nichts berichten.
Jetzt musste erst etwas anderes drankommen.
»Sie kennen also einen Mann namens Rodrigo?«
Denn dieser Name war damals bei dem unterirdischen Gespräche genannt worden. Auch noch eine »Johanna« war dabei gewesen, wovon Atalanta aber jetzt nicht noch beginnen wollte.
»Still, Rodrigo kommt!«, hatte damals diese Johanna zu Thekla gesagt.
»Rodrigo?«, wiederholte jetzt die Irrsinnige. »Ja, den Namen habe ich schon gehört —«
»Wenn Sie diesen Mann, der so hieß, wiedersehen, würden Sie ihn wiedererkennen?«
»Ganz sicher.«
Atalanta zog ihre Telefonuhr.
»Herr Mephistopheles, kommen Sie einmal in die Kabine, in der das Mädchen untergebracht worden ist.«
Sie glaubte ja nicht etwa, dass der gerade dieser Rodrigo sein müsse, dort hatte es doch noch viele andere Männer gegeben, vielleicht aber erkannte sie den Mephistopheles wieder, der sich freilich, wie er oft genug bewiesen, ein ganz anderes Aussehen geben, sogar die Farbe seiner Augen verändern konnte.
In einer halben Minute trat Mephistopheles ein.
»Still!«, gebot sie ihm, bevor sie sich an das Mädchen wandte. »Kennen Sie diesen Herrn, mein liebes Kind?«
Lange betrachtete ihn Thekla.
»Nein, den Herrn kenne ich nicht!«, sagte sie dann kopfschüttelnd.
»Und Sie, Herr Mephistopheles, was sagen Sie nun, da Sie die Schläferin erwacht sehen und sprechen hören? Woher stammt Ihre Bekanntschaft mit der jungen Dame?«
»Ja, ich kenne Sie allerdings«, entgegnete der Gefragte, »aber ich muss leider darauf beharren, jede weitere Auskunft zu verweigern.«
»Haben Sie diese junge Dame am Sklavensee gefangen gehalten?«
»Niemals. Ich weiß nur, dass sie — auuuu!!«
Laut hatte er es geheult. So hatte die Indianerin ihn plötzlich an der Schulter gepackt, obgleich dieser Mann sonst sicher über jede Schmerzäußerung erhaben war. Aber es war eben gar zu unvermutet gekommen.
»Lügner! Elender Lügner!! Weshalb verstellen Sie jetzt Ihre Stimme?!«
»Ich verstelle sie nicht —«
»Wie, auch das wollen Sie noch leugnen?! Ja sogar Ihren Augen geben Sie einen ganz anderen Ausdruck! Aber mich können Sie nicht täuschen! So, so — nun ist Ihr Auge wieder normal —«
»Ich habe diese junge Dame niemals gefangen gehalten —«
»Señor Rodrigo!«, rief da auch schon das Mädchen.
Also dieser Mephistopheles war ihr gegenüber immer unter einer anderen Maske aufgetreten. Aber gerade als Irrsinnige, oder weil das normale Gedächtnis sie eben verlassen, hatte sie in anderer Hinsicht wieder ungemein feine Sinne. Jetzt, da er seine Stimme. nicht mehr verstellte, was freilich auch nur für das Ohr dieser Indianerin vernehmbar gewesen war, hatte sie ihn sofort wiedererkannt.
»Ja, es ist Miss Thekla!«, fuhr der Überführte, der sich aber niemals besiegt gab, immer eine Ausrede wusste, ganz gelassen fort. »Aber gelogen habe ich vorhin durchaus nicht. Fragen Sie die Dame doch selbst, ob ich sie etwa gefangen gehalten habe. Sie konnte sich dort am Sklavensee ganz frei bewegen.«
»Wo denn sich ganz frei bewegen?«, ging Atalanta zunächst einmal auf dieses Thema ein.
»Nun, auf allen Inseln, die sie auf unterirdischem Wege erreichen konnte, ohne jeden Wächter.«
»Aber alle anderen Türen waren wohl verschlossen?«
»Ja natürlich, ein guter Hausvater hält immer auf geschlossene Türen.«
»Und ein Boot hatte sie wohl dort nicht?«
»Nein, das durfte natürlich nicht gezeigt werden, ich wollte meinen Aufenthalt dort doch nicht verraten«
»Und schwimmen kann sie wohl auch nicht?«
»Schwerlich. Und überhaupt sind alle Geisteskranken wasserscheu. Wissen Sie denn das noch nicht, wo Sie doch sonst so erfahren in allem sind?«
Jetzt musste Atalanta aber doch herzlich lachen, solch eine Dreistigkeit war ihr denn doch noch nicht vorgekommen.
»Schon gut, schon gut! Ihnen kann man ja gar nicht zürnen! Dazu haben Sie einen zu eigenartigen Charakter. So wenig wie man einem Tiger zürnen kann, mag er auch dressiert sein, wenn er einmal ein zahmes Reh niederreißt. Jetzt gehen Sie wieder in die Kajüte — nein, begeben Sie sich nach meiner Höhle, dort werden wir uns im Spazierengehen etwas weiter unterhalten.«
Auch Atalanta wollte sich gleich hinbegeben. Die Irrsinnige musste natürlich in ihrer Gesellschaft bleiben, wozu noch die der japanischen Dienerin und des Kindes kam, was doch nur wohltuend auf den verwirrten Geist wirken konnte, und Atalanta hatte keine Lust, deshalb auf das Schiff überzusiedeln.
Sie nahm nur noch einige weibliche Kleidungsstücke und Konserven mit, dann machte sie sich mit dem Mädchen gleich auf den Weg, auch nicht erst Arno rufend. Jetzt musste sie mit der Unglücklichen erst einmal ganz allein sein, sie fragte auch nicht weiter, sprach liebreich zu ihr und machte sie auf die Schönheiten der Insel aufmerksam.
Dabei freilich wurde Atalanta selbst von einer großen Sorge erfüllt. Wie war denn nur das Mädchen hierher gekommen? Es gab nur eine einzige Erklärung, sie wollte sehen, ob ihr Mephistopheles dann beistimmte. So waren die beiden bis in die Hügelregion gekommen.
»Sieh nur, wie schön die Blumen dort blühen! Nun sollst Du aber erst unseren Garten sehen! Wenn Du gegessen hast, werden wir dann gleich etwas zusammen arbeiten, ich habe eine leichte Arbeit für Dich, die Dich sehr —«
Atalanta brach ab und starrte mit weit geöffneten Augen auf den Boden.
Unterdessen war das erst so nasse Gras vollkommen getrocknet, und ganz gewohnheitsmäßig hatte die Indianerin immer die frische Spur betrachtet, die Mephistopheles, da er denselben Weg gehen musste, vor wenigen Minuten hier zurückgelassen hatte.
Und da hörte diese Spur plötzlich auf!
Der Boden war noch derselbe, grasig. aber die Fährten der beiden Männerstiefel waren plötzlich verschwunden.
Hier noch ein Eindruck, dort noch ein Eindruck, und dann war es eben alle.
»Wie ist das denn möglich?! Nur, wenn sich mein schrecklicher Verdacht bewahrheiten —«
Sie kam nicht weiter, auch nicht in Gedanken.
Plötzlich war es ihr, als ob ein Nebel über sie fiele, blitzschnell, sie fühlte noch einen Druck unter ihren Armen, und da hatte sie auch schon das Bewusstsein verlassen.
Als Atalanta wieder zu sich kam, lag sie auf einem Sofa, das in einem kleinen, sehr luxuriös eingerichteten Zimmer stand, sicher als Damenboudoir bestimmt.
Einige elektrische Lampen sorgten für Licht, denn die beiden Fenster waren durch Rolljalousien geschlossen.
Atalanta sprang auf, eilte nach der Tür und konnte sie nicht öffnen, versuchte es mit den Fenstern, ebenfalls vergeblich.
Ihre zweite Entdeckung war, dass man ihr die Browningpistole und den Taschennickfänger abgenommen hatte, desgleichen den Dolch, den sie gewohnheitsmäßig immer auf der Brust trug.
Da ging die Tür auf, ein Herr trat ein, eine ganz bemerkenswerte Erscheinung. Eine hohe, schlanke und dennoch breitschultrige, kraftvolle Gestalt, das Gesicht mit dem kurzgestutzten Schnurrbart ernst, männlich schön, aber auch von einer furchtbaren Energie, und doch wieder nur sympathisch wirkend.
Sein Alter war nicht zu taxieren, im Gesicht viele Furchen, und dennoch war es eigentlich ganz jugendlich, der Schnurrbart konnte ebenso gut weiß wie ganz hellblond sein.
Im Übrigen in seinem blauen Anzug nach Seemannsschnitt ein tadelloser Gentleman, hatte viel Militärisches an sich, und so kurz und doch so höflich war auch sein Benehmen, sein ganzes Auftreten.
br>»Bitte, gnädige Frau Gräfin, nichts gegen mich zu unternehmen! Sobald Sie es versuchen, sobald Sie mich berühren oder wenn ich sonst ein Zeichen gebe, sinken Sie wieder bewusstlos zu Boden.«
»Ich denke nicht daran. Wo bin ich? Wer sind Sie?!«
»Zunächst zu Ihrer Beruhigung, auch Ihr Kind befindet sich hier, mit der Dienerin.«
»Aaah!!«, erklang es schon erleichtert.
»Das Kind schläft jetzt. Die Betäubung hat ihm durchaus nichts geschadet. Wünschen Sie es sofort zu sehen?«
»Wenn es nicht nötig ist —«
»Nein, es ist wirklich nicht nötig, aber Sie sollen ganz Ihren freien Willen haben, Sie können sich sofort in das Kinderzimmer begeben.«
»Wenn es so steht, möchte ich erst etwas Näheres erfahren, wo ich bin, wer Sie sind.«
»Bitte, Frau Gräfin, wollen Sie Platz nehmen. Erlauben Sie, dass ich mich setze? Danke sehr. Ich bitte um gütige Verzeihung, dass ich unangemeldet bei Ihnen eingetreten bin, es ist das erste und letzte Mal gewesen, die Umstände brachten es mit sich, ich wollte Sie nur erst schnell beruhigen.
Ich werde Kapitän Nowhere genannt. Mein eigentlicher Name tut nichts zur Sache. Weiteres über mich wird Ihnen der Mann erzählen, der sich, ganz mit Recht, Mephistopheles nennt, den ich gleichfalls mit Gewalt entführt habe.
Mit diesem Mephistopheles habe ich bereits ausführlich gesprochen. Es ist, wie Sie wohl schon selbst gemerkt haben, ein sehr eigentümlicher Charakter. Er war ganz außer sich, nämlich nur deshalb, weil er glaubt, Sie könnten jetzt denken, er habe mit mir unter einer Decke gesteckt, ich hätte Sie mit seiner Hilfe oder doch mit seinem Wissen entführt. So versichere ich Ihnen auf mein Ehrenwort, dass dies durchaus nicht der Fall ist, dass ich mit diesem Mephistopheles überhaupt in absolut keiner Verbindung stehe. Trauen Sie meinem Ehrenwort?«
Atalanta blickte in die blauen Augen, die wie polierter Stahl glänzten. Wenn er die Lider senkte, so war es immer, als ob ein zweischneidiges Schwert in die Scheide gesteckt würde, um dann mit einem Ruck wieder gezogen zu werden.
»Ja, ich traue Ihrem Ehrenwort.«
»Danke sehr. Und ich erkläre von vornherein, dass auch ich Ihrem Ehrenwort unbedingt traue.«
»Ich gebe mein Ehrenwort nicht so leicht. Weshalb nun haben Sie mich entführt?«
»Um eine Sicherheit zu haben, um mich selbst zu schützen. Auch ich bin ein Abtrünniger von jener geheimen Mahatma-Brüdergesellschaft, aber ein ganz anderer als jener Mephistopheles. Ich bin nicht feige geflohen, habe mich nicht feige versteckt, um heimlich meinen Neigungen zu folgen, bin dann nicht zu Kreuze gekrochen, sondern habe mich offen gegen diese Gesellschaft empört. Ja, auch ich wollte alle die Erfindungen, die wir nur theoretisch machten, in die Praxis umsetzen, aber nicht aus Selbstzweck, der Wissenschaft halber, sondern um sie der Menschheit zugänglich zu machen. Allerdings nicht so ohne Weiteres, erst muss die ganze Menschheit von uns besiegt, sogar geknechtet werden, dann erst können wir als unumschränkte Erdbeherrscher den ewigen Frieden diktieren. Doch hiervon unterhalten wir uns ein andermal ausführlich.
Ich wurde verbannt. Länger als zehn Jahre wurde ich in einem weltunbekannten Tale des wildesten Himalajagebirges gefangen gehalten; doch durfte ich mich mit meinen Genossen, die mir treu geblieben, frei beschäftigen. So haben wir dort jenes Luftschiff gebaut, mit welchem wir die ganze Erde erobern wollen.
Die Mahatmas ließen uns frei gewähren. Wir konnten ja nichts damit anfangen, denn jenes Tal war von einer für die anderen Menschen zwar unsichtbaren, aber auch für jede Gewalt undurchdringlichen Mauer umgeben.
Und dennoch, mein Witz war stärker als der jener Mahatmas. Vor einigen Wochen ist es mir gelungen, diese Mauer zu durchbrechen.
Freilich musste ich gewärtig sein, dass mich die Mahatmas bald wieder in ihrer Gewalt haben. Oder sie können mich doch unschädlich machen, mich und mein Luftschiff einfach vernichten. Sie heben einfach die Kraft auf, die mein Schiff treibt und trägt. Das ist allerdings das einzige Mittel, das sie gegen mich anwenden können, aber auch ein todsicheres, und dagegen kann ich mich nicht schützen. Ich brauche nur hundert Meter über dem Erdboden zu schweben, plötzlich versagt die Gewichtslosigkeit, wir stürzen herab, zerschmettern.
Nur ein einziges Mittel gab es, um mich gegen diese Gefahr zu schützen.
Trotz meiner Gefangenschaft stand ich noch immer mit den Mahatmas in Verbindung, wurde in ihre Pläne eingeweiht, in der Hoffnung, dass sie mich wieder für sich gewinnen könnten.
So wusste ich, dass die Mahatmas noch Großes mit Ihnen, der Frau Gräfin Atalanta von Felsmark, vorhaben.
Weswegen und was, das allerdings weiß ich nicht, so eingeweiht bin ich nicht.
Jedenfalls aber weiß ich bestimmt, dass Sie im ganz besonderen Schutze stehen, dass Ihnen kein Härchen gekrümmt werden darf.
Und was die Mahatmas einmal beschlossen haben, steht unwiderruflich fest, daran darf nicht mehr das Geringste geändert werden.
Also ich musste Sie in meine Gewalt bringen.
Wo ich Sie zu suchen hatte, wusste ich.
So bin ich durch den Luftraum hierher gerast, und es gelang mir rechtzeitig.
Denn diese Mahatmas sind nicht etwa allwissend und allmächtig, sonst wären sie ja Gott selbst: Sie wissen und können nur sehr viel, sonst aber sind sie Menschen.
Heute Nacht kam ich hier an, wartete eine günstige Gelegenheit ab. Als Sie vor einer Stunde das Schiff verließen, habe ich einen Tarnschleier über Sie geworfen und Sie durch Haken in die Höhe gezogen. Ich bin mit meinem Bericht fertig.«
»Und Thekla, jenes Mädchen, wie ist das auf die Insel gekommen?«, war Atalantas erste Frage.
»Sie ist heute Nacht, als mein Schiff dicht über dem Erdboden schwebte, aus dem Fenster gesprungen, ist einmal nicht bewacht worden, eben ein unglücklicher Zufall.«
»Sie wollte fliehen?«
»Nein, sie weiß gar nichts davon.«
»Wie ist das möglich?«
»Sie ist mondsüchtig. Ist das Ihnen nicht bekannt?«
»Nein, nun aber finde ich es erklärlich. Wer ist überhaupt dieses Mädchen? Wie ist es zu Ihnen gekommen?«
»Auch sie ist ein Mitglied jener geheimen Gesellschaft. Wie sie zu der gekommen ist, weiß ich nicht. Ihr Geist hat sich umnachtet, mindestens hat sie das Gedächtnis verloren, dagegen konnten auch die Mahatmas nichts machen. Man gab sie zu Professor Dodd, der manchmal am Sklavensee laborierte. Als dessen Bruder, Ihr Mephistopheles, dort seinen ganzen Hofstaat auflösen musste, bis auf einige seiner Genossen, die man ihm ließ, kamen alle anderen zu mir. So also auch Thekla.«
Das war die einfache Erklärung, wenn man das einfach nennen durfte.
»Und auch sie haben Sie zurückgenommen?«
»Selbstverständlich. Sie weiß, dass Sie hier sind und bei uns bleiben, sie ist darüber glücklich, freut sich, Sie wiederzusehen.«
»Und weshalb haben Sie den Mephistopheles entführt?«
»Weil ich ihn gebrauche. Dieser Mann ist ein technisches Genie. Und mir fehlt noch gar viel an technischen Einrichtungen, die mag er ausführen, es ist alles dazu vorhanden.«
»Und da fragen Sie nicht erst viel, ob er will oder nicht?«
»Nein!«, erklang es ganz einfach zurück.
»Sie fragen überhaupt keinen Menschen, ob er will oder nicht, sondern Sie bestimmen einfach, nur Ihr Wille gilt.«
Dieses tiefernste Gesicht konnte auch einmal lächeln.
»Woher wissen Sie das?«
»Das sehe ich Ihnen gleich an.«
»Stimmt auch. Und so muss es auch sein, wenn man als Diktator der Erde auftreten will, da darf es nicht die geringste Rücksicht geben.«
»Als Diktator der Erde — ein großes Wort!«
»Ich bin mir dessen bewusst.«
»So wollen Sie also erst alle Völker der Erde unterwerfen?«
»Anders geht es nicht, um den ewigen Frieden diktieren zu können.«
»Den ewigen Frieden — ein herrliches Wort!«
»Ja, das ist es.«
»Wissen Sie, dass es schon einmal einen Mann gab, der dasselbe ausführen wollte?«
»Ich weiß es. Napoleon Bonaparte — Napoleon der Große — ein wirklich Großer.«
»Ja, der träumte denselben Traum — den ewigen Weltfrieden durch brutale Gewalt zu schaffen — bis er auf St. Helena daraus erwachte.«
»Mein Traum wird sich realisieren, ich habe die Mittel dazu.«
»Wann beginnen Sie damit?«
»Das hat allerdings noch lange Zeit.«
»Weshalb?«
»So schreibt es das Schicksal vor. Aber nicht dass ich in die Zukunft blicken kann, es ist nur Logik, die mich veranlasst, noch zu warten.«
»Bis wann?«
»Bis die Sonne noch einmal eine vollkommene Umdrehung von Osten nach Westen gemacht hat — das heißt jene Umdrehung, der die Schicksale der Menschheit folgen — bis sich die Japaner, die Mongolen wieder als mächtiges Eroberungsvolk erhoben haben, welche das Abendland mit Knechtschaft bedrohen. Diese Mongolen oder doch Japaner vernichte ich, das ist die einzige brutale Gewalt, die ich dabei anwenden muss — dann diktiere ich den ewigen Weltfrieden.«
»Da dürften Sie aber noch lange warten müssen, Herr Diktator.«
»Vielleicht — vielleicht auch nicht. Das ist mein unumstößlicher Entschluss. Führe ich es nicht aus, dann mein Nachfolger.«
»Wer ist das?«
»Vielleicht Sie.«
Die Indianerin zuckte kaltblütig die Schultern.
»Nun, wenn das noch so ferne in der Zukunft liegt, so mag es auch der Zukunft überlassen bleiben. Die Hauptsache ist jetzt für mich, dass ich doch wohl Ihre Gefangene bin.«
»Ja, das sind Sie, da mache ich gar keine schönen Worte. Natürlich werden Sie behandelt, wie es Ihnen eben gebührt, und an Bord dieses Luftschiffes haben Sie vollkommene Freiheit.«
»Das gilt für immer?«
»Zeit Ihres Lebens.«
»Wo begeben Sie sich inzwischen hin, bis Sie Ihre Pläne ausführen?«
»Darüber haben Sie zu bestimmen.«
»Ich?!«
»Gewiss. Ich will Sie für Ihre Freiheitsberaubung einigermaßen zu entschädigen suchen. Und ich habe gar nichts weiter vor. Ich muss mich wegen meiner Sicherheit nur immer in genügender Höhe über dem Erdboden halten. Damit nämlich das Luftschiff und wir alle auch wirklich zerschmettern, falls die Mahatmas den Betrieb einmal stören sollten. Was aber eben ausgeschlossen ist, solange ich Ihre geheiligte Person an Bord habe.«
»Ich darf das Luftschiff also niemals verlassen?«
»Mit keinem Fuße. So weit wie heute Nacht nähern wir uns der Erde überhaupt niemals wieder.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie an mein Kind gedacht, dieses auch gleich mitgenommen haben. Warum nicht auch meinen Gatten?«
»Den hätte ich auch gern aufgegriffen, aber das war vorhin nicht möglich, weil er sich innerhalb des indischen Schiffes befand. Aber ich habe ihm bereits durch drahtlose Telefonie alles berichtet, ihn vor allen Dingen über Ihr und Ihres Kindes Schicksal beruhigt.«
»Ah, das ist schön von Ihnen!«, rief Atalanta in aufrichtiger Freude. »Ich glaube, wir beide werden uns ganz gut vertragen.«
»Das hoffe ich auch!«, wurde gelächelt.
»Nur fordern Sie mir niemals ein Ehrenwort ab, nicht zu entfliehen.«
»Nein, das werde ich nicht tun, dazu kenne ich Ihren Charakter zu gut, gnädige Frau Gräfin. Wenn ich jenem Mephistopheles kein solches Ehrenwort abfordere, so ist das wieder etwas ganz anderes.«
»Ich verstehe recht wohl den Unterschied. Ja, kann denn nun mein Gatte mit an Bord kommen, meine Gefangenschaft mit mir teilen?«
»Wenn Sie wünschen und er will, was wohl selbstverständlich — gewiss! Setzen Sie sich doch mit ihm in telefonische Verbindung, er wartet auch darauf, hat schon verschiedene Male gefragt, ob Sie wach sind. Hier haben Sie auch Ihre Telefonuhr zurück, sie wurde Ihnen nur abgenommen, damit Sie nicht etwa gleich beim Erwachen Konfusion anrichteten.«
»Und meine Waffen hat man mir aus demselben Grunde abgenommen, damit ich nicht etwa Konfusion anrichte?«
»Aus demselben Grunde!«, wurde lächelnd geantwortet, wie gefragt worden war.
Aber Atalanta hatte es nicht so eilig, ihre Telefonuhr zu benutzen.
»Kann ich auch noch andere mit an Bord nehmen?«
»Wen Sie wollen. Das heißt, Sie können vorschlagen, die letzte Entscheidung möchte ich mir vorbehalten, in dieser Sache und in jeder anderen.«
Dieser Mann hatte eine Redeweise, die gar keinen Widerspruch duldete.
»Aber Sie werden mich selten vergebens um etwas bitten!«, wurde noch hinzugesetzt, so liebenswürdig und zugleich doch so ernst, dass man ihm wiederum unbedingten Glauben schenken durfte.
»Außer meinem Gatten habe ich auf der Insel noch einige gute Freunde, mit denen mein Schicksal eng verknüpft ist.«
»Ich weiß es. Was mir die Camera obscura nicht schon offenbarte, das hat mir vorhin der Mephistopheles mitgeteilt, so weit er konnte. Besonders den Mister Maxim, genannt Littlelu, den werden Sie wohl gern an Bord haben wollen?«
»Ja, und den Kapitän Hagen, einen gewissen Wilhelm Neumann —«
»Kenne ich alle schon, und sie sollen als meine Gäste herzlich willkommen sein. Dann sind noch die beiden Australier da, nicht wahr? Auf diese wollen Sie lieber verzichten.«
»Weshalb?«
»Ich glaube kaum, dass deren Freundschaft zu Ihnen so groß ist, und Gäste, die Ihnen aus reiner Neugier folgen, um dieses Luftschiff kennen zu lernen, möchte ich nicht haben.«
Wegen der beiden Australier war Atalanta sofort einverstanden.
»Dann sind da noch einige Japaner —«
»Japaner kommen nicht an Bord meines Schiffes!«, erklang es sofort. »Bitte, hierüber nichts mehr. Hingegen glauben Sie nicht etwa, dass ich dann auch Ihre Gesellschafter als meine Gefangenen betrachte. Nein, die können das Luftschiff jederzeit wieder verlassen. Ich habe es nur mit Ihnen zu tun, wegen meiner Sicherheit. Ja, die Herren können ja auch trotzdem auf dieser Insel bleiben, wenn sie die Kolonisation weiter betreiben wollen.«
»Wie das?«
»Nun, sie wohnen eben hier an Bord, begeben sich aber jeden Morgen oder so oft sie wollen mit einem Boote hinab und kommen wieder zurück, wann sie wollen.«
»Mit einem Boote?«
»O, mein Luftschiff hat deren mehrere, ganz wie ein Seeschiff, von der kleinsten Jolle an bis zur größten Pinasse, selbst schon ein stattliches Schiff zu nennen. Die brauchen wir auch, um die Verbindung mit der Erde herzustellen, die wir doch nicht ganz entbehren können, denn unter hundert Meter werde ich mich mit meinem Schiffe niemals hinab begeben.«
»Aber befand sich die Irrsinnige nicht hier in einer Kajüte, als sie heute Nacht aus dem Fenster sprang?«
»Das wohl — bis vor einer Stunde, bis ich Sie an Bord hatte, war gerade das Gegenteil der Fall, da hielt ich mich immer in möglichster Nähe der Erde oder des Meeres, falls die Mahatmas mein Schiff einmal zum Sturz gebracht hätten. Nun ist diese Periode vorüber, jetzt halte ich mich nur noch in großer Höhe auf. Gegenwärtig liegen wir genau tausend Meter über dem Niveau der Insel.«
Kapitän Nowhere erhob sich und ging an ein offenes Wandschränkchen, das verschieden gestaltete und gefärbte Hebel enthielt.
»Die Hebel tragen keine Bezeichnung, Sie werden schon selbst bald lernen, wozu jeder einzelne dient, und Sie können jeden ruhig drehen, es knallt nichts, jeder bringt nur eine angenehme Überraschung. Jetzt drehe ich hier den blauen, der wie eine Damenhand gestaltet ist.«
Der Boden des Boudoirs war mit einem persischen Teppich bedeckt, in den der Fuß wie in Moos einsank, in leuchtenden Farben prachtvoll gemustert.
Und plötzlich war dieser Teppich verschwunden, überhaupt der ganze Boden, man stand wie in oder vielmehr auf der Luft, wie auf festgefrorener Luft. Oder einfacher gesagt: Der Boden hatte sich plötzlich in das reinste, durchsichtigste Glas verwandelt.
Und direkt unter ihnen lag die Insel, in ihrem ganzen Umfange zu erblicken, umgeben von den roten Korallenriffen, die sich endlos erstreckten — und nun die grüne Insel selbst von dieser Höhe aus betrachtet, die Wäldchen, die einzelnen Bäumchen, dort das Schiffchen, alles wie niedliches Spielzeug hingesetzt — dort aber auch ein laufendes Menschlein, dort eine Herde hüpfender Kängurus, winzige Tierchen, wohl nur für das Auge dieser Indianerin erkennbar — ein reizender Anblick aus dieser Höhe!
»Ja, wie ist das nur möglich?«, staunte Atalanta, nachdem sie sich genügend an diesem Anblick geweidet hatte.
»Dass der Boden durchsichtig wird? Hat denn so etwas nicht auch Ihr Mephistopheles gehabt, wo es nötig war?!«
»Gewiss, er konnte manche feste Wand durchsichtig machen, nicht nur die der Unterseeboote — — aber hier dieser Teppich?«
»Nun, der steht ganz einfach mit dem Omnihilitboden in Kontakt, ist ebenfalls mit Nihilit-Elektrizität durchdrängt, so verschwindet auch er für das Auge, wenn der Strom durchgeht.«
»Nihilit-Elektrizität?«, wiederholte Atalanta.
»Hat Ihnen Ihr Mephistopheles das Wesen dieser von uns selbst geschaffenen Elektrizität, da sie selbst in der Natur nicht vorkommt, nicht erklärt?«
»Nein. Oder er hat immer nur Andeutungen gemacht. Mit der Begründung, dass wir es doch nicht richtig verstehen würden, dazu wäre erst ein langes, langes Vorstudium nötig.«
»Ach so!«, lächelte Kapitän Nirgendwo, was Nowhere bedeutet. »Ich fürchte nur, dass Ihr Mephistopheles selbst nichts davon weiß. Mit dessen Kenntnissen ist es nämlich gar nicht so weit her, selbst erfunden hat der jedenfalls absolut noch nichts. Das heißt, verstehen Sie mich recht. Ich habe vorhin diesen Mann ja selbst ein Genie genannt, dessen ich mich versichern möchte. Aber ein technisches Genie. Dieser Mann ist kein Forscher, ist kein Künstler, aber — er ist — ja, wie soll ich mich nun gleich ausdrücken — er verbindet den Forscher und Künstler zusammen in einer fabelhaft geschickten Hand, die aber doch erst vom Geiste gelenkt wird — ja, jetzt habe ich den richtigen Vergleich: Er ist ein Benvenuto Cellini. Kennen Frau Gräfin diesen italienischen Universalkünstler?«
Ja, Atalanta kannte ihn.
Seine italienische Selbstbiografie ist von Goethe ins Deutsche übersetzt, in dessen gesammelten Werke aufgenommen. Über diesen Mann existiert aber auch sonst noch eine ganze Literatur.
1500 in Florenz geboren, 1571 in Florenz gestorben, ist aber in ganz Europa herumgereist. Hat viel gemalt und gebildhauert, komponiert und musiziert und gedichtet, alles von höchster Vollendung, wenn auch nicht so, dass er dadurch unsterblichen Ruhm gewann.
Unsterblich, unnachahmlich ist er als Goldschmied. Die meisten und schönsten seiner Sachen sind im Pariser Louvre, darunter ein herrliches Salzfass, für König Franz I. gefertigt, auch das Dresdner Grüne Gewölbe hat einige Stücke von ihm.
Eine fabelhaft geschickte, leichte Hand, verbunden mit dem höchsten Kunstsinn! Und je kleiner, feiner er modellierte, desto genauer arbeitete er, desto realistischer.
Da ist ein weibliches Figürchen aus Gold, acht Zentimeter hoch. In ihrem Haar trägt sie eine Rose, also doch nur ganz winzig. Und in dieser winzigen Rose, viel kleiner als eine Erbse, sieht man die Staubfäden und alles. Und nimmt man das Vergrößerungsglas zu Hilfe, so wird die Rose nur immer natürlicher.
So etwas ist heute nicht mehr möglich, das bringt kein Goldschmied mehr fertig.
Und nun diese Schnelligkeit, mit der Cellini gearbeitet hat!
Hierüber wird eine Geschichte erzählt, die aber nicht in seiner Selbstbiografie steht. Der Arzt Saranto erzählt sie in seinen Denkwürdigkeiten, sie ist wiederholt verbürgt.
Dieser Arzt hatte einmal in Rom im Hause Cellinis zu tun, sollte der Tochter seines Hauswirts ein Zahngeschwür schneiden. Der Arzt klagte, dass er mit seinem chirurgischen Messerchen nicht gut dazu könnte. Da erbat sich der zusehende Cellini das Messer für einige Minuten, ging in seine Werkstatt kam in noch nicht einer Viertelstunde wieder und hatte in dieser Zeit das Messer umgeschmiedet oder es doch anders gebogen, wozu es aber glühend gemacht werden musste, hatte es wieder poliert und geschliffen.
Als die römischen Messer- und Waffenschmiede hiervon erfuhren, sagten sie, das sei nicht wahr, so etwas sei nicht möglich, zu solch einer Arbeit gebrauche der geschickteste Meister einen ganzen Tag. Cellini habe die Messer vertauscht.
Der beleidigte Cellini erbot sich, eine ähnliche Arbeit öffentlich zu machen. Er bekam eine Stahlplatte, aus der er in Gegenwart jener Meister innerhalb von vierundzwanzig Minuten ein chirurgisches Messer schmiedete, polierte und schliff. Wie er es polierte. das war allerdings sein Geheimnis.
Nebenbei bemerkt war Cellini ein Lumpazius ersten Ranges. Der Raufdegen saß ihm immer locker in der Scheide, er hat viele Jahre im Kerker schmachten müssen, ist sogar gefoltert worden.
Wir haben über diesen Benvenuto Cellini so ausführlich berichtet, weil sein Vergleich mit unserem Mephistopheles später noch einmal herangezogen werden muss. —
»Ja, Ihr Mephistopheles ist trotz alledem ein Universalgenie. Wenn er auch keine eigenen Ideen hervorbringen kann, aber die Ideen, die man ihm gibt, weiß er wunderbar zu bearbeiten — Wenn Sie nun diesen roten Schlangenhebel hier drehen, so werden die Wände durchsichtig.«
Es geschah. Die beiden Seitenwände und die der Tür gegenüberliegende, die nur sehr schmal war — denn das Zimmer ging etwas konisch zu — waren plötzlich durchsichtig wie Glas. Die Schränke und was sonst daran stand allerdings nicht. Aber dafür war eben schon gesorgt, dass der meiste Raum frei war, die schmale Seite gänzlich.
Jetzt genoss Atalanta noch einen viel weiteren Blick über die Korallenriffe, sie konnte deren Rand, also das freie Meer, noch erkennen, so viele Meilen dieses auch entfernt war.
»Sie sind nämlich ganz vorn im Schiff, Außerdem ganz unten. Dieses Boudoir ist der beste Platz im ganzen Schiffe. Es ist selbstverständlich, dass ich Ihnen diesen abgetreten habe. Übrigens brauchen Sie nicht zu fürchten, dass auch die Decken Ihrer Gemächer durchsichtig gemacht werden könnten. So etwas gibt es bei mir nicht. Ebenso erkläre ich auf mein Ehrenwort, dass Sie in Ihren Gemächern durch kein Mittel belauscht werden können, Sie dürfen mit jeder Person ganz laut sprechen, können schreien — es wird draußen nichts gehört, die Wände sind absolut schalldicht.«
»Herr Kapitän, darf ich jetzt meinem Gatten telefonieren?«
»Bitte sehr.«
»Er darf mit seinen Freunden sofort kommen?«
»Sofort, das Boot ist jederzeit bereit.«
»So bitte ich Sie, mich, wenn ich jetzt telefoniere, allein zu lassen.«
Es war eine etwas merkwürdige Bitte, aber ungerührt machte der Kapitän eine höfliche Verbeugung.
»Halt! Wissen Sie, weshalb Sie nicht hören sollen, was ich an meinen Gatten telefoniere?«, lächelte die rote Gräfin.
»Das steht ja ganz in Ihrem freien Ermessen —«
»Sie könnten glauben, ich wollte Ihnen in Ihrer Gegenwart nur schmeicheln, obgleich ich so etwas gar nicht kenne.«
Der Kapitän hatte sofort verstanden, und auch dieser eiserne Mann konnte etwas verlegen werden, mindestens wurde sein tiefgebräuntes Gesicht noch etwas dunkler, als er sich nochmals verbeugte.
»Wenn Sie dann das Schiff besichtigen wollen — alles steht Ihnen offen, alles steht zu Ihrer Verfügung. Auf Wiedersehen, gnädigste Frau Gräfin.«
Der Schäfer tänzelte graziös auf die Schäferin zu, machte eine zier-
liche Verbeugung, streckte das Händchen aus — und im nächsten
Augenblick stieg auch die Schäferin von ihrem Postament herab.
Er war gegangen. Ja, noch nie hatte auf Atalanta ein Mann einen so sympathischen Eindruck gemacht wie dieser. Abgesehen von ihrem Gatten, was ja aber auch wieder etwas ganz anderes war.
Das teilte sie denn auch sofort Arno mit.
»Kommt nur erst alle einmal herauf«, schloss sie durch die Telefonuhr, »also die beiden Australier und die Japaner ausgenommen. Es wird Euch gleich ein Boot zugeschickt, das weitere können wir dann ja besprechen, Ist denn etwas von einem Luftschiff zu sehen?«
»Keine Spur.«
»Das Boot wird schon sichtbar erscheinen. Schluss.«
Atalanta öffnete die einzige Tür, trat auf einen ungefähr sechs Meter langen Korridor, der sich jedenfalls quer durch das ganze Schiff zog, denn er bekam auf beiden Seiten durch Fenster Tageslicht.
Dieser Tür gegenüber war eine andere, welche auf einem Messingschild eine Aufschrift trug, den Inhaber des Raumes nennend, wie bei Seeschiffen allgemein üblich, wenigstens wenn der Bewohner zur Besatzung gehört.
»Gräfin von Felsmark.«
Auch die Boudoirtür trug dieses Schild. Wenn der Kapitän nicht schon früher mit dieser unfreiwilligen Bewohnerin gerechnet, so waren diese Schilder eben schnellstens gefertigt worden.
Ehe Atalanta diese zweite Tür öffnete, bemerkte sie, wie sich in einer Korridornische eine rote Gestalt erhob, sich mit über der Brust verschränkten Armen tief verneigte.
Es war eine junge, noch etwas kindliche Negerin, eben erst zur Jungfrau erblüht, höchstens zwölf Jahre alt, pechschwarz, aber bildhübsch. Wirklich schöne Züge, auch Mund und Nase fein geformt, wozu nun noch das kokette, rote Kleidchen kam, das die wie gemeißelten Arme frei ließ.
Es gibt auch schöne Negerinnen, zum Beispiel die Dualamädchen, da nimmt es manche mit jeder weißen Schönheit auf. Es kostet freilich eine sogar in ihrer Heimat, wo sie wild wachsen, hundert fette Ochsen.
»Wer sind Sie? Warten Sie auf mich?«
»Ich bin Ihre Dienerin in diesem Abteil, gnädige Frau Gräfin!«, erklang es auf Englisch, und die rauen oder gar schnalzenden Gaumenlaute der Neger fehlten in dieser weichen Stimme völlig.
Mit unverhohlener Bewunderung betrachtete Atalanta das reizende Kind.
»Gut. Das ›gnädig‹ kannst Du fernerhin weglassen. Wie heißt Du?«
»Esmeralda.«
»Was sollst Du hier?«
»Auf Ihre Befehle warten.«
»Immer?«
»Tag und Nacht.«
»Du kannst aber doch nicht ständig hier kauern?«
»Ich löse mich mit meiner Schwester ab.«
»Das ist etwas anderes. Hat diese Nische etwas zu bedeuten?«
»Es ist ein Fahrstuhl.«
Die schwarze Dienerin zeigte ihr, wie man die Handgriffe zu bedienen habe.
»Aber Sie können Ihre Gemächer auch auf der anderen Seite verlassen, dann ebenfalls gleich nach oben fahren.«
»Wie groß ist dieses Luftschiff, wie lang, wie breit, wie hoch?«
Hier hörten die Sachkenntnisse der Negerin auf.
»Groß, o groß — furchtbar riesig sehr groß.«
Atalanta öffnete die zweite Tür, die ihren Namen trug, durchschritt einige Zimmer, immer schöner für den Zweck, für die sie bestimmt waren, eingerichtet, bis sie in das kam, in dem ihr Kind schlafend in einem Bettchen lag, das wohl für eine Erbprinzessin angefertigt worden war.
Sarda, die japanische Dienerin, kauerte am Boden, den sie schon durchsichtig zu machen gewusst hatte, oder es war ihr bereits gezeigt worden.
»Missis, hier ist es aber schön, hier bleiben wir, nicht?!«
Dasselbe hatte Atalanta vorhin auch durchs Telefon zu ihrem Gatten gesagt.
In den Felsenbehausungen am Sklavensee war auch ein großes Luftschiff gewesen, von seinem Erbauer nur noch nicht ganz vollendet, die treibende Kraft musste noch eingerichtet werden.
Atalanta war es gleichgültig gewesen, ob es vollendet wurde oder nicht, sie hatte keine Lust gehabt, sich dem Flugsport zu widmen, auf Luftreisen zu gehen, mochte es auch noch so ein zauberhaftes Luftschiff sein.
Das waren eben andere Zeiten gewesen, da hatte sie sich in einer ganz anderen Gemütsverfassung befunden.
Jetzt war sie entzückt über alles, was sie hier sah. Ja, hier blieb sie! Da machte sie mit, solange es ihr gefiel, dachte an keine Flucht. Diese Art von Gefangenschaft ließ man sich wohl gefallen.
Weiter hielt sich Atalanta hier nicht auf, sie setzte ihre Forschungsexpedition fort.
Diese Zimmerflucht hier, die nur ihr zur Verfügung stand, wurde wiederum von einem Korridor begrenzt, der aber schon bedeutend breiter war, weil sich das Luftschiff eben an den Enden verjüngte, hatte auch mehrere Eintrittstüren, und von der Mitte aus ging ein anderer, viel breiterer Gang ab, elektrisch erleuchtet, sich weit, weit erstreckend.
Hier war es schon lebendiger. Es wurde soeben ein langer Läuferteppich gelegt. Die Männer, welche dabei Hand anlegten, waren durchweg Inder oder Neger, alle schneeweiß gekleidet, die Beaufsichtigenden und Zuschauenden nur weiße, unbedingt Germanen, alle gleichmäßig blau gekleidet, wie der Kapitän, aber ohne Abzeichen, nicht uniformiert, lauter tiefernste, sonnengebräunte, verwetterte Gesichter.
Die herangekommene Gräfin wurde nicht begrüßt, nicht im Geringsten beachtet, wohl aber trat alles, sobald es nötig war, respektvoll zur Seite, um ihr Platz zu machen.
Es ging wohl überhaupt wie auf einem Schiffe zu, wo es keinen Morgen- und Gutenachtgruß gibt, weil man einen Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht macht.
»Mit wem habe ich das Vergnügen zu sprechen?«, wandte sich Atalanta an den ersten Blauen.
Der breitschultrige, noch junge Mann klappte die Segeltuchschuhe zusammen, dass es krachte.
»Nummer neunundzwanzig, dritter Bootsmann des ›Aeolus‹!«, schnarrte sein dröhnender Bass militärisch herab.
»›Aeolus‹ heißt dieses Luftschiff?«
»Zu Befehl.«
»›Aeolus‹ war der erste Windgott der Römer, nicht wahr?«, musste die indianische Gräfin, die sich überhaupt in letzter Zeit recht verändert hatte, bereits lächeln.
»Zu Befehl, Frau Gräfin!«
»Sie führen hier wohl nur Nummern?«
»Nur Nummern. Das heißt wir, die wir zur weißen Besatzung gehören. Nur die Diener haben Namen, und das sind nur Schwarze und Braune, Neger oder Kulis — Inder wollte ich sagen.«
Ohne jede Verachtung war es gesagt worden, aber es hatte doch etwas zu bedeuten.
»Welche Dimensionen hat das Schiff?«
»180 Meter lang. 20 Meter breit, 25 Meter hoch. Nur an dem Ende läuft es ohne Übergang spitz zu.«
Das war das normale Verhältnis der Dimensionen eines Seeschiffes. Nur dass hier der Kiel als unnötig fehlte, dass das Luftschiff unten ganz flach war, also viel mehr Raum fasste.
Außerdem natürlich ein ungeheures Luftschiff, obgleich es ja schon solche von 180 Meter Länge gibt. Da ist das aber der Ballonkörper, hier war dies das ganze Schiff selbst!
Das musste sich Atalanta erst überlegen, ehe sie darüber staunte.
»Wie groß ist die Besatzung?«
»Der Kapitän, sechzehn Offiziere, achtunddreißig Unteroffiziere, zweihundertundvierzig Matrosen, hundertundsechsundsiebzig Diener und Dienerinnen!«, lautete die prompte Antwort.
Wieder musste Atalanta staunen, obgleich es bei einem Seeschiffe gar nicht so viele Menschen als Besatzung gewesen wären.
»Das Maschinenpersonal«, setzte der Bootsmann noch hinzu, »wird mit zu den Matrosen gerechnet, es sind auch nur wenige Mann, desgleichen die technischen Arbeiter, alles weiße.«
Mit dieser Auskunft über das Schiff begnügte sich Atalanta vorläufig, sie dankte, ließ sich nur noch den nächsten Fahrstuhl zeigen, den sie nun schon selbst bedienen konnte.
Also die Höhe eines vierstöckigen Hauses, aber, da die Zimmer wegen Ausnutzung des Raumes ziemlich niedrig waren, mit noch mehr Etagen. Es waren ihrer sieben, und Atalanta hatte sich gewissermaßen im Keller befunden, der Bodenraum war die siebente, dann musste wohl das Deck kommen.
Sie fuhr empor, passierte einen Korridor nach dem anderen, ohne anzuhalten.
Nur als sie in der vierten Etage aus einer großen offenen Tür einen Höllenspektakel vernahm, auch glühenden Feuerschein sah, ließ sie den Liftzug mit einem sanften Ruck stillstehen; sie wollte einmal sehen, was dort eigentlich los sei.
Unterdessen war jene große Tür wieder geschlossen worden, und im Moment war es auch wieder totenstill, so schalldicht schloss die Tür ab.
Als sie dieselbe öffnete, war wieder der Höllenspektakel da, von Schmiedehämmern hervorgerufen.
Mit grenzenlosem Staunen blickte Atalanta in eine regelrechte große Schmiedewerkstätte, überall glühten Gebläsefeuer, herkulische Zyklopen ließen mächtige Hämmer taktmäßig auf den Amboss sausen, aber auch große Dampf- oder eben mechanische Hämmer bearbeiteten mächtige, weißglühende Eisenblöcke.
Und daneben ein noch größerer Saal, in dem hauptsächlich Drehbänke und Hobelmaschinen aufgestellt waren, alles in fieberhafter Tätigkeit.
Sämtliche Arbeiter waren Weiße, allerdings meist sehr schwarz gefärbt, nur diejenigen, welche Handlangerdienste verrichteten, waren wirkliche Schwarze. Ja, Atalantas Staunen war grenzenlos. In einem Luftschiffe, tausend Meter über dem Erdboden, solch eine ganze Maschinenfabrik!
»Was wird denn hier gemacht?«, fragte sie einen Mann, wohl einen Aufseher,
Der Mann hatte schon seine Instruktionen, wusste, wen er vor sich hatte und nahm gleich eine militärische Stellung an.
Aber vergebens hatte Atalanta tüchtig geschrien, sie verstand ihr eigenes Wort nicht.
Doch der Aufseher hatte schon einen Apparat in der Hand, eine Art Telefon, hielt den Schalltrichter hin und Atalanta wiederholte ihre Frage.
Dann gab er auf dieselbe Weise die Antwort, allerdings keine auf ihre Frage.
»Ja, wir haben hier alles, um alles selbst fertigen zu können. Wir könnten die größten Schiffspanzerplatten gießen, schmieden, behobeln; wir hobeln bis zu zehn Meter Länge, aber es ist ganz ausnahmsweise, dass hier einmal so gearbeitet wird, es dauert auch nur noch einen Tag, dann ist wieder Ruhe.«
»Und was ist es, was hier jetzt gemacht wird?«
»Mysterie, Frau Gräfin.«
Und die Frau Gräfin wusste sofort, dass sie dieses Wort hier noch oftmals als Antwort bekommen würde. Es war auch wirklich nicht nötig gewesen, dass der Kapitän sie hierüber erst belehrt hätte.
Sie begab sich nach dem Fahrstuhl zurück und rutschte weiter nach oben, bis es nicht mehr weiter ging. Da befand sie sich in der obersten, siebenten Etage. Von hier aus musste sie eine kurze Treppe benutzen, dann stand sie an Deck.
Der Fahlstuhl ging deshalb nicht weiter, weil dieses Deck absolut glatt und leer gehalten worden war, und wegen des Fahrstuhls hätte doch wenigstens ein Häuschen vorhanden sein müssen.
Also eine nackte Fläche von 180 Meter Länge und 20 Meter Breite. Ein idealer Spielplatz. Dass auch kein Geländer und gar nichts vorhanden war, das sah freilich etwas gefährlich aus. Das Deck war mit Holzplatten parkettiert, nur nicht glatt gewachst, und glänzte vor Sauberkeit.
Soeben waren in doppelter Reihe mehr als hundert blaugekleidete Männer angetreten, ein anderer, jedenfalls ein Offizier, redete sie an, instruierte sie wohl, in einer für Atalanta unverständlichen Sprache.
Zunächst machte die Indianerin eine eigentümliche Entdeckung, die in ihr einen besonderen Gedanken auslöste.
Es waren Matrosen, Arbeiter. Einige kamen von einer sehr schmutzigen Arbeit, ihr öliger Anzug war mit frischem Teer befleckt, und grobe Fäuste hatten sie alle.
Ebenso aber war auch nicht ein einziger darunter, dessen sonnenverbranntes, verwettertes Gesicht nicht ebenfalls solche tiefernste, ruhige Züge gezeigt hätte. Da hatte keine schlimme Leidenschaft irgend eine Spur zurückgelassen, jeder einzelne war abgeklärt in vollster Seelenruhe, und das drückten auch die meist blauen Augen aus, die samt und sonders in sanftem Feuer strahlten. Jeder Einzelne war sich seiner Kraft bewusst, aber willens, diese nur zu guten Zwecken zu benutzen.
Das war der Gesamteindruck, den Atalanta sofort von allen diesen Männern bekam, und daran schloss sich ihr nächster Gedanke:
»Ja, so müssen die Männer aussehen, mit denen man die ganze Erde erobern, alle Völker erst besiegen will, um sie dann in ewigem Weltfrieden einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Mit solchen Männern darf man es wagen, dann ist das keine frevelhafte Utopie mehr. Das sind keine Vandalen, die nur bekriegen und erobern wollen, um Beute zu machen — die haben die Welt und ihre Lüste hinter sich!«
Aus einer Luke tauchte Kapitän Nowhere auf.
»Kommen Sie, Frau Gräfin, Sie können sehen, wie das Boot ausgesetzt wird, ein Kutter.«
Er führte sie dicht an den Rand des Decks. Es war dennoch eine brusthohe Schutzwehr vorhanden, nur eben unsichtbar, wie aus reinstem Glas, und Atalanta hatte es erwartet.
»Omnihilit?«
»Ja, Omnihilit!«, bestätigte der Kapitän.
Das Schiff ging nach unten noch etwas breiter zu, sodass man die Bordwände bequem überblicken konnte.
In der Mitte öffnete sich eine große Klappe, ein Boot schwebte heraus, gar nicht viel anders als ein Seeboot aussehend — von oben betrachtet; unten fehlte der Kiel, es war flach, kastenähnlich gebaut, nur dass es sich auf beiden Enden verjüngte.
Auch von einer maschinellen Einrichtung war nichts zu bemerken, freilich auch nichts von Rudern und einem Steuer, ebenso wenig aber auch etwas von einer Luftschraube.
Auf der hintersten Bank saß der einzige Mann, er hatte zwischen seinen Knien ein kleines Rädchen, das an einer Stange aus dem Boden ragte, das war der einzige Mechanismus.
Das Boot schwebte etwas seitwärts, dann ließ es sich schnell hinab,
»Wunderbar, wunderbar!«, staunte Atalanta, »Die Luftschraube ist unsichtbar?!«
»Es ist gar keine Flügelschraube vorhanden.«
»Ja, wie wird denn das Boot sonst fortbewegt?«
»Auf eine andere Weise. Die Flügelschraube haben wir bereits wieder hinter uns. An beiden Seiten des Bootes befindet sich je eine Röhre; vorn saugt sie, wenn sich das Boot bewegen soll, ständig Luft ein und stößt sie hinten mit kolossalem Druck wieder aus. So wird das Boot vorwärts getrieben oder rückwärts, wie man will, oder man kann es sich auch auf einer Stelle im Kreise drehen lassen. Dieses Prinzip ist auch hier bei dem Luftschiff angewendet. Der Mechanismus dazu befindet sich im Boden des Bootes und erfordert nur einen ganz dünnen Zwischenraum. Hier in dem großen Schiffe hat er seine besondere Kammer.«
Es war nichts so ganz Neues. Dasselbe Prinzip der Fortbewegung ist auch schon einmal bei Seeschiffen angewendet worden.
In den fünfziger Jahren ging ein deutscher Dampfer »Albert« mit diesem Wasserdrucksystem. Das Wasser wurde eben durch an den Seiten befindliche Röhren mit großer Kraft gepumpt, durch den Druck des Widerstandes wurde das Schiff vorwärts getrieben. Es hat sich nicht bewährt. Damals nicht! Die neu aufgekommene Schiffsschraube verdrängte diese Idee wieder, aber die Zukunft gehört ihr, vor allen Dingen wegen der möglichen Lenkbarkeit in höchster Vollendung. Gerade damals hat man auch der Turbine ihre Existenzfähigkeit abgesprochen, während sie jetzt bald alle Zylindermaschinen verdrängt haben wird, das heißt im Schiffswesen!
»Und wie senkt sich das Boot?«
»Einfach indem die aufgehobene Anziehungskraft der Erde — wir sprechen von Erdschwere — nach und nach wieder hergestellt wird.«
»Und wie steigt das Boot?«
»Auch unten am Boden befinden sich einige solche Röhren, das heißt nur als Löcher bemerkbar, durch welche die zusammengepresste Luft ausgestoßen wird. Funktionieren alle Löcher, dann steigt das Boot, das Schiff, direkt senkrecht empor, oder es kann so auch nur vorn gehoben werden, dann wird es durch die Hauptröhren schief emporgetrieben.«
»Welche Schnelligkeit entwickelt das Schiff?«
»Der Theorie nach ist die Schnelligkeit eine unbegrenzte, in der Praxis hat es seine Grenzen. Bis zu 300 Kilometer in der Stunde habe ich meinen ›Aeolus‹ schon machen lassen, mehr dürfte ich nur im höchsten Notfalle riskieren. 200 Kilometer in der Stunde ist eine normale Geschwindigkeit.«
»200 Kilometer in der Stunde, das ist ja kolossal!«, staunte Atalanta.
»Die Schnelligkeit der schnellsten Expresszüge, auch von Rennautomobilen wird sie erreicht.«
Atalanta sah, wie dort unten auf der Insel das winzige Boot landete, in der Nähe des Schiffes, wie die Menschlein herbeieilten.
»Auch gegenwärtig ist dieses Luftschiff unsichtbar?«
»Gewiss.«
»Aber wohl nur von unten gesehen, der Boden ist durchsichtig und damit verschwindet scheinbar auch das ganze Schiff?«
»Nein, auch von der Seite aus gesehen ist es unsichtbar, auch von oben aus.«
»Aber ich kann doch hier die Seitenwände sehen.«
»Weil Sie mit dem Schiffe selbst in Kontakt stehen, in Berührung sind. Auch durch Sie geht der elektrische Strom, der diese scheinbare Unsichtbarkeit erzeugt, Sie brauchen nur einmal in die Luft zu springen, dann merken Sie es.«
Atalanta tat es, machte einen Luftsprung, und während der zwei Sekunden, da sie in der Luft schwebte, hatte sie nichts mehr unter sich, war das ganze Riesenschiff für ihre Augen verschwunden.
»Durch diesen elektrischen Kontakt«, fuhr der Kapitän fort, »wird auch noch etwas anderes herbeigeführt. Fällt Ihnen an Deck nicht etwas auf?«
»Was denn?«
»Hätten Sie an Deck nicht einen Missstand zu rügen?«
Die Indianerin ließ ihre Augen nochmals über das glatte, bis auf die Menschen leere Deck schweifen, und ihr Scharfsinn hatte es bald erfasst.
Hier und da war eine offene Luke.
»Das ist etwas gefährlich. Die Luken sind ohne jeden Schutz, wie leicht kann da jemand hinabstürzen.«
»Bitte, versuchen Sie es, sich hinabzustürzen, wieder hinabzugehen.«
Atalanta wollte es, aber konnte es nicht. Die betreffende Luke war offen, sie sah die Treppe und alles andere ganz deutlich, aber ihr Fuß fand einen festen Widerstand.
Wäre es Glas gewesen, so wäre es ja ganz einfach.
Da aber kam ein Matrose die Treppe herauf, ging einfach durch diese Glasscheibe hindurch. Ein anderer kam über Deck und stieg die Treppe hinab, ebenfalls den für Atalanta festen Widerstand durchdringend.
Nun wusste sie es. Omnihilit, und hier war es so beschaffen, wie es auch der Mephistopheles bei seinen Gaukeleien wiederholt anwandte, oder auch für praktische Zwecke.
»Das ist wohl der allerbeste Schutz!«, sagte der Kapitän. »Ich habe es Ihnen vorhin noch nicht mitgeteilt, es hatte Zeit, bis Sie an Deck kamen, ich habe Sie ja gleich in Empfang genommen.
Hier haben Sie eine kleine Kugel mit einem Kettchen. Befestigen Sie dieselbe an Ihrem Gürtel oder auf der Brust oder am Handgelenk, dass Sie sie immer sehen können.
Drücken Sie dieses Stiftchen hinein, so färbt sich die Kugel, wie Sie sehen, weiß, dann sind die Luken geschlossen, das heißt, Sie können die Omnihilitschicht nicht passieren, Ziehen Sie das Stiftchen heraus, so färbt sich die Kugel sofort tiefschwarz, dann sind die Luken für Sie passierbar. Das ist sehr leicht zu merken. Weiß ist die Unschuld, schwarz ist der Tod. Stürzen Sie nun einmal in eine Luke, dann allerdings ist es Ihre eigene Schuld.«
Atalanta befestigte das Kettchen mit der Kugel an ihrem Handgelenk.
»Wie ist das möglich?«
»Die Kugel enthält eine elektrische Batterie, der Stift schließt den dazu nötigen Strom oder schaltet ihn aus. Hat Ihnen Mephistopheles nicht erklärt, wie man mit dieser Art von Elektrizität auch die feste Omnihilitschicht durchdringt?«
»Er hat sich immer nur in dunklen Andeutungen ergangen.«
»Er wird es selbst nicht wissen. Wir übrigens auch nicht. So wenig wie wir wissen, was die gewöhnliche Elektrizität, die überall in der Natur vorkommt, im Grunde genommen ist. Aber ich werde Ihnen diesbezüglich einige andere Experimente vormachen, die Ihnen Mephistopheles nicht vorführen kann.«
»Auch alle Ihre Leute tragen solche Kugeln?«
»Nein, die erreichen dasselbe auf andere Weise.«
»Wie denn?«
»Das ist eine Mysterie. Sie verzeihen, gnädige Frau Gräfin — sobald Sie hier dieses Wort aussprechen hören, so dürfen Sie nicht weiter fragen, nicht wahr?«
Mit äußerster Liebenswürdigkeit hatte es der Kapitän gesagt.
»Diese Erfahrung habe ich bereits gemacht«, lachte Atalanta,
»Haben Sie? Nun, das ist auch die einzige Schranke, die Ihnen hier gezogen wird.«
»Und dass ich das Schiff nicht verlassen darf.«
»Das allerdings auch nicht, das ist die Grundbedingung unseres gegenseitigen guten Verhältnisses.«
»Aber so einmal mit einem Boote im Luftraum herumgondeln, das darf ich doch?«
»Tut mir leid, auch das nicht.«
»Nicht? Sie geben mir einen Begleiter mit, der mich auf der Stelle niederschießt, wenn ich das Boot nicht nach seinen Befehlen lenke.«
»Nein, Frau Gräfin, es ist unmöglich.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort —«
»Nein, Frau Gräfin verstehen die Sache falsch. Sobald Sie nicht mit diesem Schiffe in Kontakt stehen, ist es vogelfrei, die Mahatmas, die uns immer beobachten, stellen die Erdschwere her, wir sausen hinab und zerschmettern.«
»So legen Sie sich mit dem Schiffe eben einstweilen am Erdboden fest!«, versuchte es Atalanta immer wieder.
»Dann stellen die Mahatmas erst recht die Erdschwere her und wir bleiben für immer am Boden kleben!«, lachte der Kapitän. »Es gibt nur eine Gelegenheit, dass ich Ihnen einmal gestatten kann, ein Boot zu benutzen, Ihnen auf Ihr Ehrenwort auch sonst einen Urlaub zu erteilen.«
»Und das wäre?«
»Wenn das Schiff gerade über einer dichtbewohnten Stadt schwebt, dann dürfen die Mahatmas das Luftschiff nicht herabschmettern lassen, es würde auch andere Menschen beschädigen, das lässt ihre Moral nicht zu.«
»Nun gut, so suchen wir bald solch eine Stadt auf.«
»Das muss ich mir aber noch immer sehr überlegen. Die Mahatmas könnten die Erdschwere auch ganz langsam nach und nach einschalten, um uns auf diese Weise festzunageln.«
»Das könnten sie aber doch auch überall, um Sie wenigstens flugunfähig zu machen.«
»Sie haben recht. Ich weiß bestimmt, dass die Mahatmas die Erdschwere nur mit einem Ruck einschalten können, anders ist es nicht möglich. Nein, es ist noch ein anderer Grund dabei, dass ich Sie niemals von Bord lassen kann. Wegen — nein, es ist eine Mysterie. Bitte, fragen Sie nicht weiter. — Ja und doch —«
Der Kapitän machte ein sehr nachdenkliches Gesicht.
»Ja, und doch gäbe es vielleicht ein Mittel, um Sie von diesem lästigen Zwang zu befreien, der mir ja selbst höchst unangenehm ist.«
»Und das wäre?«
»Frau Gräfin — wie ist das eigentlich mit Ihrer Camera obscura gewesen? Sie konnten in ihr diese Insel nicht beobachten? Mephistopheles konnte mir hierüber nichts Gewisses sagen.«
Das konnte auch Atalanta nicht. Es war ja nur Behauptung von Mephistopheles gewesen. Die Camera obscura hatte ja damals nicht funktioniert. Und dann war die Insel darin erschienen.
»Und auch die Inder auf dem ›Oststern‹ konnten die Insel nicht beobachten, nicht das Treiben der Lemuren?«
»Auf dem Schiffe befand sich ja gar keine Camera obscura.«
»Ach so! Aber auch geistig konnten es die hellsehenden Fakire nicht?«
»Das weiß ich nicht. Diese Inder waren äußerst zurückhaltend.«
»Hm«, brummte Kapitän Nowhere, »und ich glaube dennoch, dass wirklich etwas daran ist. Diese Lemuren sind in geistiger Hinsicht noch viel, viel weiter als jene Mahatmas, nur dass sich ihre Macht einzig und allein auf diese Insel beschränkt. Die können recht wohl ein Mittel besitzen, um alles technische und geistige Fernsehen unmöglich zu machen, wenigstens in Bezug auf ihre Insel, wenn sie nur wollen. Aber was für diese Insel möglich ist, das muss sich auch auf andere Flächen anwenden lassen. Was haben Sie eigentlich mit diesen Lemuren schon für eine Bekanntschaft gemacht? Bitte, wollen Sie mir erzählen? Denn was ich bisher von Mephistopheles darüber erfuhr, das war nur sehr wenig.«
Atalanta berichtete ausführlich, natürlich auch über die wunderbaren Erlebnisse unter der Erde, über die fabelhaften Gestalten.
Kapitän Nowhere wunderte sich über nichts, das schien ihm alles schon bekannt zu sein.
»Ja, das sind die Lemuren!«, sagte er dann, als Atalanta geschlossen hatte. »Die merkwürdigsten Sachen haben Sie da noch gar nicht zu sehen bekommen.«
»Was für welche?«
»Ich werde Ihnen später davon erzählen. Ich habe das alles selbst noch nicht gesehen, weiß aber, was die Lemuren in solchen Schöpfungen leisten können. Nun, ich werde mir solch einen lemurischen Priester einmal zu verschaffen versuchen, ihn persönlich vornehmen, und wenn es wirklich ein Mittel gibt, dass auch die Fernseherei hinsichtlich meines Luftschiffes aufgehoben werden kann, dann, geehrte Frau Gräfin, würde Ihre Gefangenschaft hier wahrscheinlich beendet sein.«
»O, Herr Kapitän, ich möchte gar nicht, dass Sie mich so schnell wieder los werden!«, lachte Atalanta.
»In diesem Falle sollte es mir zur höchsten Ehre gereichen, Sie noch recht lange Zeit meinen Gast nennen zu dürfen!«, verbeugte sich der Kapitän.
Das Boot kam herauf, und außer den Personen, die sie erwartet, erkannte Atalanta noch eine andere darin.
»Wie, auch Mephistopheles war schon wieder auf der Insel?«
»Gewiss. der darf an Bord ab und zu gehen, an dem ist sonst nicht viel gelegen. Er bringt gleich großes Gepäck mit, die Überraschung bergend, die er Ihnen bereiten will.«
»Mir eine Überraschung?«
»Ja, er hat doch wieder eine neue Spielerei erfunden. Hat er Ihnen noch nichts davon gesagt?«
»Kein Wort.«
»So wird er es Ihnen selbst sagen oder sie Ihnen gleich vorführen.«
Das Boot war wieder in die Seitenluke hineingekrochen.
Die nächsten Stunden wurden mit Besprechungen und gemeinsamer Besichtigung des ganzen Schiffes ausgefüllt. Auch Hagen beschloss, sich auf diesem Wunderluftschiffe einzuquartieren, das musste er erst einmal näher kennen lernen.
»Und Sie haben zu bestimmen, wohin es fliegen soll, Frau Gräfin?«
»So sagte mir der Kapitän.«
»Na, dann bleibe ich erst recht hier, zumal wenn Sie auch meinen Wünschen etwas nachkommen.«
Mephistopheles suchte eine Gelegenheit, um mit Atalanta einmal allein sprechen zu können.
»Allergnädigste Frau Gräfin verzeihen mir doch?«, begann er in demütigster Weise.
»Was soll ich Ihnen denn verzeihen?«
»Dass ich Sie heute Morgen wegen der Thekla so angelogen habe.«
»Ja, ja, ich weiß schon — ich meine, wo man denn bei Ihnen mit dem Verzeihen anfangen soll. Nun, ich verzeihe Ihnen hiermit alles, was Sie bei mir auf dem Kerbholze stehen haben, wenn Sie mir versprechen, niemals wieder zu lügen.«
»Das kann ich nicht!«, erklang es im kläglichsten Tone. »Ach bitte, bitte, lassen Sie mich weiter lügen, es ist gar zu schön!«
Atalanta musste herzlichst lachen. Es war gar zu kläglich herausgekommen, und wie der dabei die Augen verdrehte, überhaupt dieses Gesicht!
»Ich will Ihnen auch heute Abend eine große Überraschung bereiten«, fuhr er in demselben Tone fort, »eine große Freude. Nur Ihretwegen habe ich daran in den letzten Wochen Tag und Nacht gearbeitet. Wenn das, was ich Ihnen heute Abend vorführen werde, nicht alles übertrifft, was ich Ihnen bisher gezeigt habe, nur dann will ich niemals Ihre Verzeihung erlangen.«
»Gut, angenommen!«, lachte Atalanta.
»Im anderen Falle also darf ich lustig weiter lügen? Danke bestens.«
Der Abend war angebrochen.
Unsere Freunde saßen an einem langen und breiten Tische, aber nur auf der einen Seite desselben, und harrten des Kommenden.
Von der Besatzung des Luftschiffes war nur Kapitän Nowhere zugegen.
Der Mephistopheles trat ein, hatte sich wirklich als solchen herausstaffiert, in rotem Wams und Barett mit Hahnenfeder.
Einer seiner Sklaven, den er im Laufe des Nachmittags noch heraufgeholt hatte, so ein richtiges Geistergesicht, trug ihm einen großen Kasten und einige Schachteln nach.
Er nahm den Kasten.
»Hochgeehrte Herrschaften! Dieser Kasten ist aus Holz. Bitte, wollen Sie ihn untersuchen, ob Sie irgend einen versteckten Mechanismus oder sonst etwas finden?«
Der Kasten ging von Hand zu Hand. Aber da war gar nichts zu untersuchen. Er war einen halben Meter im Kubik, einfach aus dünnen Brettern zusammengenagelt, auf der einen Seite offen.
»Nein, in diesem Kasten kann nichts versteckt sein!«, lautete das allgemeine Urteil.
Mephistopheles nahm ihn zurück, stellte ihn auf die andere schmale Tischseite, wo er selbst stand, die Öffnung den Zuschauern zugekehrt.
»Und hier habe ich eine Schachtel mit kleinen Figuren. Nippfiguren nennt man wohl solche Dinger. Und da jedes Kind doch einen Namen haben muss, habe ich meine neueste Illusion ›Die Träume der Nippfiguren‹ genannt, Aber es ist gar keine Illusion, sondern die reellste Wirklichkeit, wovon Sie sich gleich überzeugen werden. Wollen Sie zunächst dieses Pärchen betrachten und untersuchen.«
Es waren zwei Porzellanfigürchen, neun Zentimeter hoch, die von Hand zu Hand gingen, einen Schäfer und eine Schäferin darstellend, im Rokokokostüm, wie Schäfer niemals gegangen sind und niemals gehen werden, nur auf dem Maskenball.
Da die Figürchen doch festen Halt haben mussten, lehnte jedes an einem Baumstamm, in der Hand den buntbebänderten Schäferstab; sie standen außerdem noch auf einem kleinen Postament.
Die Figuren waren hohl, wie man von unten sehen konnte.
»Das ist sehr feines Porzellan«, sagte Atalanta, »überhaupt sind das kleine Kunstwerke. Wie natürlich jedes kleine Figürchen! Ist das Meißner Fabrikat?!«
»Möglich, so genau weiß ich das nicht.«
Der Mephistopheles nahm die Figuren wieder, setzte sie in der Mitte des Kastens in einiger Entfernung einander gegenüber.
Dann klopfte er auf eine kleine Dose, die auf dem Tische stand.
»Herr Kapellmeister —«
Es war eine Spieluhr, in leisen, feinen Tönen erklang ein altfranzösisches Menuett.
Und da kam Leben in die beiden Figürchen!
Zuerst stieg der Schäfer von seinem Postament herab, tänzelte, den Hirtenstab schwingend, auf seinen Schnallenschuhchen graziös auf die Schäferin zu, machte eine zierliche Verbeugung. streckte das Händchen aus — und auch die Schäferin verließ Postament und Baumstamm, knickste zimperlich, sie fassten einander an den Händen, gingen nach der Mitte des Kastens und das Menuett begann, so steif wie möglich, aber dennoch zugleich von unnachahmlicher Grazie.
»Ach, das ist ja reizend, entzückend!«, rief Atalanta, und alle anderen stimmten mit in diesen Ruf ein.
Nicht minder interessant aber war es, den hinter dem Kasten stehenden Mephistopheles zu beobachten, wie der wieder einmal teuflisch grinste.
»Sogar die Gesichtszüge sind beweglich, wie sich die Augen verdrehen!«, rief Atalanta.
»Sie sind eben wirklich lebendig«, grinste der Hexenmeister, »wenn auch nur im Traume — die Nippfiguren träumen dies alles nur.«
»Ja, wie machen Sie denn das nur?«
Atalanta erwartete gar keine Antwort.
Sie wusste es selbst, soweit sie wenigstens in diese Gaukeleien eingeweiht war.
Auch der Leser weiß es. Eben wieder eine Omnihilitplatte, auf der alles nur vorgegaukelt wurde. Doch wollen wir jetzt die Illusionen nicht durch weitere Erklärungen stören.
Die Zuschauer selbst konnten alles für reelle Wirklichkeit nehmen, es fehlte auch nicht das Geringste daran.
Die leise Tanzmelodie verstummte, der Schäfer führte seine Partnerin auf ihr Postament zurück, schwenkte den bebänderten Hut, küsste galant ihre Hand, nahm auch seinen Platz wieder ein — Mephistopheles griff in den Kasten, nahm die beiden Porzellanfigürchen und gab sie den Zuschauern zur Untersuchung.
Da war aber nichts zu untersuchen. Und jetzt brach der Beifall erst richtig los.
»Köstlich, reizend, entzückend!«
»Sebastian, Du bist doch ein Teufelskerl!«, ließ sich auch Kapitän Nowhere vernehmen.
Der Mann, der zum ersten Male mit seinem Vornamen angeredet worden war, nahm grinsend aus der Schachtel ein anderes Porzellanfigürchen.
Es stellte ein Modedämchen dar, pompös gekleidet, immer farbig, saß etwas frei auf einem Stühlchen, die Beine hoch übereinander geschlagen, dass man das wohlgeformte Bein mit durchbrochenem Strumpf bis zum Knie bewundern konnte, ja sogar noch das Spitzenhöschen sah. Es hatte einen Sonnenschirm aufgespannt und lächelte den Beschauer kokettierend an, dass zwischen den roten Lippen die weißen Zähnchen blitzten.
Dieses Figürchen wurde von Atalanta noch aufmerksamer betrachtet als vorhin die beiden anderen.
Sie hatte als Kind eine besondere Vorliebe für Nippfiguren gehabt, ihr Pflegevater, Signor Ramoni, hatte sie bei ihrer schweren Arbeit durch nichts anderes erfreuen können, sie hatte eine große Sammlung gehabt, die ihr dann abhanden gekommen war.
Also sie hatte einiges Urteil. Und sie machte an dieser Figur eine ganz besondere Entdeckung.
Ein wunderbares Kunstwerk! Dieses reizende Gesichtchen, mit welcher Genauigkeit modelliert! Dieses winzige Ohr! Diese Fingerchen, die den Griff des Sonnenschirms umschlossen! Das Goldkäferschuhchen, wie natürlich die Schnürsenkel wiedergegeben waren!
Aber das war noch nicht alles. Das kokette Dämchen trug schwarze, durchbrochene Spitzenhandschuhe, bis zum Ellenbogen der weißen Arme reichend, auch die Finger waren durchbrochen.
Und nun sah man unter diesem schwarzen Gewebe, natürlich alles aus starrem Porzellan, an den Fingern einige goldene Ringe mit Steinen, sie schimmerten durch, ein Diamant, ein Rubin, ein Smaragd, dann ein Schlangenring, in allen Regenbogenfarben brillierend, natürlich ganz winzig, die Steine waren nur Splitterchen.
Man weiß doch, dass solche Porzellanfigürchen unter die Rubrik der echten Kunst fallen. Das sind freilich nicht solche, von denen das Stück einen Groschen kostet, die gegossen oder in Formen gepresst werde. Die wirklichen Kunstsachen unter diesen Nippfiguren werden eben von Künstlern mühsam modelliert, man bekommt sie nur in Museen oder Privatsammlungen zu sehen, reiche Liebhaber zahlen horrende Preise dafür.
Also Atalanta verstand etwas davon. Ramoni, der es sich leisten konnte, hatte seiner kostbaren Pflegetochter, die sonst ganz bedürfnislos war, einmal ein Porzellanfigürchen geschenkt, für das er nach langem Handeln tausend Dollar bezahlt hatte.
Aber solch eine Vollendung bis in die kleinsten Details hatte sie noch nie gesehen!
»Was ist das für eine Arbeit? Jetzt möchte ich es wissen. Und das wissen Sie auch. Solch ein Kunstwerk besitzt man nicht, ohne zu wissen, von wem es ist.«
»Ich selbst habe es gefertigt!«, gestand jetzt der Mephistopheles.
»Wie, Sie selbst?!«, staunte Atalanta.
»Jawohl, selbst modelliert, selbst bemalt, selbst gebrannt.«
»Dann sind Sie ja ein gottbegnadeter Künstler!«
»Bin ich das? Das habe ich noch gar nicht gewusst!«, grinste der rote Teufel.
»Ja, ja«, sagte Kapitän Nowhere, »erinnern Sie sich nur, wie ich diesen Teufelskerl mit Benvenuto Cellini verglich — es ist wirklich so.«
Der moderne amerikanische Cellini nahm das Figürchen wieder.
»Erlauben die Herrschaften, dass ich Ihnen vorstelle — — Señorita Elvira d'Espagnetti, erste Solotänzerin Ihrer Majestät der Königin von Honolulu. Señorita Elvira wird Ihnen auf meine Bitte etwas vortanzen. Da muss ich aber doch erst eine Vorbereitung treffen, ihre Füßchen sind den harten Boden nicht gewohnt.«
Er nahm aus der Schachtel einen Puppenteppich, breitete ihn am Boden des Holzkastens aus, setzte den Stuhl mit dem Figürchen daneben und klopfte auf die Spieldose.
»Herr Kapellmeister — bitte, erst eine kleine Ouvertüre, während die Dame ihre Toilette macht.«
Da nahm die kleine Dame das übergeschlagene Bein herab, stand auf, klappte den Sonnenschirm zusammen, lehnte ihn an den Stuhl, nahm den mächtigen Federhut jetzt ab, warf ihn achtlos zu Boden, streifte — jetzt glaubten die Zuschauer erst recht nicht ihren Augen trauen zu dürfen — die langen Spitzenhandschuhe ab, knöpfte das Kleid auf, ließ es fallen, stand im spitzenbesetzten Korsett und pompösen Unterrock da, setzte den Fuß auf den Stuhl, schnürte das Stiefelchen auf, den anderen, setzte sich, streifte die Strümpfe ab, und dann ging es an das Ablegen des Allerintimsten.
Die Zuschauer waren vor Staunen keines Wortes fähig.
Nur Littlelu, bei dem regte sich wieder der Schalk.
»Halt, halt, halt, haaaalt!«, fing der plötzlich zu brüllen an. »Ich geniere mich, ich bin noch nicht verheiratet!«
Die Entkleidungsszene war beendet. In fleischfarbenen Trikots stand sie da, und was sie sonst noch anhatte, das war nichts weiter als ein Badehöschen, so wenigstens hätten sich Laien ausgedrückt, freilich ein prachtvolles rotes Badehöschen, von Juwelen funkelnd, wie auch ihr Haar so in allen Regenbogenfarben schimmerte.
»Bitte, Herr Kapellmeister —«
Mit der Spieldose war auch so ein Geheimnis verknüpft.
Es war schon eine faszinierende Musik gewesen, sie brach aber plötzlich ab und jetzt ging es noch ganz anders los.
Und die Ballerina machte mit.
Es war das Fabelhafteste der exzentrischen Tanzkunst. Wie die sprang und sich drehte und mit den Beinen in der Luft herumquirlte! Die Anziehungskraft der Erde existierte nicht mehr für sie; aber dabei dennoch alles ganz natürlich!
Der Tanz war aus. Knicksend und Kusshändchen werfend zog sich die Ballerina nach dem Stuhle mit ihren Kleidern zurück.
»Bitte, applaudieren Sie doch, sie hat es doch verdient, sonst fühlt sie sich gekränkt!«, grinste der Mephistopheles.
Man war nur noch nicht dazu fähig gewesen.
Jetzt brach der stürmische Jubel und das Händeklatschen los.
Ja, man hatte vollständig, aber auch vollständig vergessen, dass dies doch nur eine Illusion sein konnte, dass in Wirklichkeit dort in dem Kasten eine starre Porzellanfigur sitzen musste!
Und da, wie das Bravo und das Händeklatschen erscholl, schwirrte die Tänzerin noch einmal nach der Mitte des Teppichs, jetzt knickste sie erst recht und warf Kusshändchen, immer liebenswürdiger lächelnd — und ganz natürlich lächelnd! Immer freudiger strahlten die schwarzen Augen! — Und dann gab sie noch eine Extrazugabe, schlug blitzschnell einige Räder, machte über den Stuhl weg einen doppelten Salto mortale, und dann begann sie sich wieder rasch anzuziehen.
Das Händeklatschen war schon längst verstummt, war ganz plötzlich abgebrochen.
»Das ist ja gar nicht möglich?! Das ist ja Hexerei!«
So und anders erklang es.
Und der Mephistopheles, neben dem Kasten stehend, grinste.
»Sie denken wohl, das ist Illusion? Sie denken wohl, hier ist eine Omnihilitplatte davor, hinter der eine starre Porzellanfigur sitzt? Bitte, Señorita, geben Sie mir doch einmal Ihren Handschuh.«
Er griff, sich etwas vorbeugend, mit der Hand in den Kasten hinein.
Die halbangezogene Dame stand auf, nickte lächelnd, suchte nach ihren anderen Sachen, auf denen sie gesessen, nahm einen Handschuh und reichte ihn dem Mephistopheles.
»Hier haben Sie den Handschuh.«
Wir wollen nicht mehr von grenzenlosem Staunen und dergleichen sprechen, was die Zuschauer schon jetzt für Theorien aufstellten — die Erklärung kommt später.
Also es war der abgestreifte Handschuh, aber nicht etwa von starrem Porzellan, sondern von einem schwarzen Spinnengewebe.
»Vielleicht auch Ihren Hut? Bitte, Señorita.«
Auch das Hütchen mit den biegsamen Straußenfederchen ging von Hand zu Hand. Es war einfach alles ganz natürlich, nur alles en miniature.
»Nein, nein, das ist das einzige, was ich nicht erlauben kann!«, rief Mephistopheles schnell, schützend seine Hand vor den Kasten haltend, als auch Littlelu einmal hineingreifen wollte.
»Aber kann mir die Dame nicht auch einmal etwas überreichen?«, fragte Atalanta.
»O ja, das kann sie — jedem — nur darf nicht schnell nach ihr selbst gegriffen werden. Was meinen Sie wohl, diese zarte Gestalt, die ist doch beim leisesten Fingerdruck zerquetscht, Bitte, Señorita, geben Sie der Dame doch einmal Ihren Ring — den Schlangenring.«
Und das Wunder geschah. Das Dämchen zog den genannten Ring vom Finger, und wie Atalanta vorsichtig die Hand hineinstreckte, bekam sie den Ring zwischen die Fingerspitzen gesteckt.
Es war und blieb der winzige Miniaturring.
Auch die anderen ließen sich Gegenstände geben, wie den Sonnenschirm, ein Taschentüchelchen, nachdem sie dem Hexenmeister auf Ehrenwort versichert hatten, nicht nach dem Dämchen selbst zu greifen.
Als die Sachen zurückgegeben wurden, die sie zierlich aus den Fingerspitzen nahm, freilich jede direkte Berührung vermeidend, zeigte es sich, dass ein Handschuh und der Rubinring fehlten.
»Bitte, meine Herren, geben Sie es ihr doch zurück!«, sagte Mephistopheles.
Niemand wollte den Handschuh und den Ring haben.
Atalanta wurde etwas ärgerlich.
»Ganz gewiss sind Sie's gewesen, Mister Maxim! Oder Sie, Kapitän Hagen! Nicht so etwas! Geben Sie die Sachen zurück!«
Aber beide erklärten auf Ehrenwort, die Sachen nicht beiseite gebracht zu haben.
»Das ist nun freilich fatal«, sagte Mephistopheles, dem das Grinsen vergangen war, er machte ein etwas böses Gesicht, »das stört nun die ganze Illusion.«
Die Figur hatte sich unterdessen vollends angezogen, sich in ursprünglicher Positur wieder auf den Stuhl gesetzt, nur dass eben an der rechten Hand, die den Sonnenschirm hielt, der Handschuh fehlte, sie war jetzt weiß wie der ganze Arm.
»Señorita, erstarren Sie! Den übergeschlagenen Fuß noch etwas höher — so — so — jetzt, so leid es mir tut, muss ich sie erstarren lassen, fertig —«
Der Hexenmeister griff in den Kasten und holte die Figur heraus.
Natürlich hatte sie jetzt, da die Illusion vorbei war, wieder den rechten Handschuh an, am linken Finger den fehlenden Rubinring.
Nein, eben nicht!
Handschuh und Ring fehlten noch immer an der Porzellanfigur!
»Ja, wie ist das nur möglich?!«, müssen wir die Zuschauer noch einmal staunen lassen.
Nur Hagen staunte nicht mit.
»Er hat einfach zwei Figuren, hat sie vertauscht!«, sagte er.
Da begann Mephistopheles wieder zu grinsen.
»Bitte, setzen Sie die Figur selbst noch einmal in den Kasten, geben Sie ihr die Sachen selbst.«
Er selbst hatte nämlich Handschuh und Ring in seiner Westentasche.
Hagen setzte die Figur also zurück, überreichte ihr die winzigen Dingelchen, es kam wieder Leben in die Figur, sie verneigte sich dankend und lächelnd, legte den Sonnenschirm noch einmal weg, streifte Ring und Handschuh an, Hagen selbst nahm die erstarrte Figur wieder heraus — nun war es eben wirklich die alte Figur wieder.
»Ja, wie ist denn das nur möglich?!«
Sie hätten gar keinen Grund zu solchen Ausrufen gehabt.
Auf der Illusionsbühne am Sklavensee hatte ihnen Mephistopheles doch ganz Ähnliches vorgemacht, da war ihm ebenfalls rein gar nichts unmöglich gewesen.
Die Sache war nur die, dass er es hier wieder ganz anders arrangiert hatte, allerdings wirklich fabelhaft geschickt, und nun kam noch die wunderbare Niedlichkeit hinzu.
Dass freilich Wilhelm Neumann immer ängstlicher wurde, sich immer bekreuzigte, obgleich er gar nicht katholisch war, das ließ sich begreifen.
Auch machte Hagen gleich noch eine besondere Entdeckung.
Der Hexenmeister hatte natürlich schon vorher gebeten, die zierlichen Figürchen recht vorsichtig zu behandeln, es war doch Porzellan, einiges so ganz fein, aber jetzt wollte Hagen, ihm ganz egal, der Figur den Sonnenschirm abbrechen, oder er hatte es schon gewusst, nämlich dass er es nicht konnte. Es hätte doch schon ein leiser Druck genügen müssen, um den Sonnenschirmstiel abzubrechen, allein es gelang nicht, wie er sich auch anstrengte, das dünne Stängelchen auch nur zu verbiegen.
Eben Omnihilit! Jene rätselhafte Substanz, die bald weiches Wachs, bald hart wie Diamant, bald einfach Luft sein konnte, in der Hand dessen, der das Geheimnis kannte.
»Jawohl, es ist Omnihilit«, grinste der rote Teufel höhnisch, »ebenso wie diese Soldaten hier, nicht wahr?«
Er schüttete eine Schachtel Bleisoldaten auf den Tisch, ganz ordinäre Bleisoldaten, nicht einmal voll, ganz flach, Infanteristen und Reiter, plump gefertigt, die Gesichter kaum angedeutet, eben ein ganz ordinäres Kinderspielzeug.
Es waren Bleisoldaten, weil sie sich biegen ließen, deshalb konnte es natürlich immer noch Omnihilit sein. Doch das tat ja hierbei gar nichts zur Sache.
»Nun muss ich erst einen Exerzierplatz herrichten.«
Das geschah dadurch, indem er in den Kasten ein Säckchen voll feinen weißen Sand schüttete und diesen auf dem Boden gleichmäßig ausbreitete. Weshalb er dies tat, wurde bald klar. Auf festem Boden wäre die Illusion nicht möglich gewesen oder hätte doch sehr gelitten.
Nun baute er die drei Zentimeter hohen Soldaten in Reih und Glied auf, zunächst die Infanteristen, deckte die Füße mit Sand zu, sodass man die grünen Blättchen nicht sah, auf denen sie standen, und das eben war der Hauptzweck des Sandes.
»So, lassen wir erst einmal die Infanterie marschieren. Wer von den Herren will das Kommando übernehmen? Es sind, wie Sie wohl merken, deutsche Soldaten, aus Nürnberg bezogen, wenn sie auch schon durch einige amerikanische Kinderhände gegangen sind, aber sie sind immer noch nur auf deutsches Kommando dressiert.«
Dann war Arno derjenige. Und er begann:
»Abteilung — — marsch!«
Und die Soldaten gehorchten, waren wohlausgebildete Leute. Das linke Bein brauchten sie nicht zu heben, denn das hatten sie schon sämtlich gehoben gehabt, Jetzt aber setzten sie es nieder und warfen das rechte im Paradeschritt vor. Und so ging es weiter. Natürlich klebte der rechte Fuß jetzt nicht mehr an dem grünen Blättchen, das ihnen früher Halt gegeben hatte.
Gerade diese elenden Bleisoldaten, einige ganz verbogen, wie die marschierten — es war zum Totlachen!
»Halt, halt, Herr Hauptmann, Sie lassen ja die Leute in die Wand hineinlaufen!«
Es war bereits geschehen. Aber diese winzigen Bleisoldaten waren klüger als ihr riesiger Hauptmann von Fleisch und Blut. Sie standen vor der Bretterwand nicht wie die Ochsen am Berge, sondern traten brav auf der Stelle.
»Links — um! Links — um!«
Sie marschierten zurück.
»Abteilung — halt!«
Sie standen, standen wie die Grenadiere, also nicht etwa mehr das linke Bein hochgeworfen.
»Rechts — um! Links marschiert auf — marsch, marsch!«
Alle Kommandos wurden tadellos ausgeführt.
Jetzt wollte Arno ganz eigenmächtig etwas versuchen, wollte dem Hexenmeister einen Possen spielen.
»Gewehr — ab!«
Nein, diesem grinsenden Hexenmeister konnte man keinen Possen spielen. Die Gewehre flogen von den Schultern, und so verbogen auch einige waren, es klappte doch famos.
»Das Gewehr — iwwer! Achtung, präsentiert das — Gewehr! Gewehr — iwwer! Ganze Abteilung — kehrt! Front! Abteilung — marsch!«
Die Soldaten marschierten den Zuschauern entgegen, also nach der Öffnung des Kastens.
Die anderen wussten sofort, was Arno vorhatte, sie waren höchst gespannt.
Schade nur, dass es der Hexenmeister ebenfalls durchschaute und gleich ein Mittel dagegen wusste, um sich und seine Soldaten nicht zu blamieren.
»Alles auf die alten Plätze!«, rief er noch rechtzeitig, ehe die Soldaten das offene Ende des Kastens erreicht hatten, und diese lösten sich auf und rannten dorthin zurück, wo sie ursprünglich aufgebaut worden waren.
Während Arno noch nach den Figürchen starrte, benutzte der Mephistopheles diese Gelegenheit, um ihm heimlich eine lange Nase zu machen.
Nur Atalanta hatte es gesehen, und sie musste herzlich lachen, es hatte gar zu possierlich ausgesehen, mit diesem grinsenden Teufelsgesicht.
»Verzeihung, Herr Hauptmann, dass ich Ihnen einmal ins Kommando gepfuscht habe«, sagte er dann, »aber Ihre Soldaten hatten das Ende der Erde erreicht und wären bald ins endlose Weltall hinabgefallen. Diese Soldaten stammen nämlich noch aus der Zeit des Kolumbus, trotz ihrer modernen Uniform.«
Das war eine feine Anspielung. Als nämlich Kolumbus dem spanischen Königshofe seinen Plan vorlegte, Indien, auf das es ja abgesehen war, von der anderen Seite herum zu erreichen, wurde eine »wissenschaftliche« Kommission von Gelehrten zusammenberufen, die natürlich auch »wissenschaftlich« bewies, dass dies nicht möglich sei, weil er, wenn er auf die schiefe Seite der Erdkugel gelangte, mit seinen Schiffen ins bodenlose Weltall hinabrutschen würde.
»Warte«, dachte aber Arno, »ich will Dich doch kriegen.«
»Gewehr — ab! Rührt — Euch!«
Und sie rührten sich. Und wie sie es taten, das war schon seltsam genug. Man wusste nicht, ob man mehr staunen oder mehr lachen sollte. Wie sie sich Bewegung machten, wie sie sich die Nase schnäuzten, und der eine nahm sogar den Helm ab, obgleich der doch nur angemalt war, sogar ganz primitiv — aber das machte nichts, er nahm ihn ab, zog ein rotes Taschentuch und trocknete sich die Stirn.
»Der linke Flügelmann da nimmt einen Priem!«, rief Wilhelm.
»Ja, Sie Mephistopheles, wie bringen Sie denn diese Kinematografie nur fertig?«, rief Atalanta.
»Was, Kinematografie? Das soll Kinematografie sein?«
»Gedankenübertragung?«
»Gedankenübertragung? Na, nun hören Sie aber auf!«
»Stillgestanden!«, kommandierte Arno.
Denn das »Rührt Euch!« war es noch nicht gewesen, womit er die Kunst des Hexenmeisters hatte scheitern lassen wollen.
»Richt — Euch!«
Die flachen Köpfe flogen nach rechts, obgleich die meisten gar keinen Hals hatten. Aber es ging doch vortrefflich.
»Augen gerade — aus! Das Gewehr — iwwer! Zum Chargieren — geladen!«
Die Gewehre flogen von den Schultern, die Hände fuhren nach den Patronentaschen.
Das hätte Arno niemals erwartet; aber er war noch nicht fertig.
»Legt — an! Feuer!«
Da knatterte es leiser als von Knallerbsen, aber es knatterte doch regelrecht, und aus den Gewehren kamen regelrechte Feuerstrahle.
»Nun schlag doch Gott den Teufel tot!«, stöhnte Arno.
Ja, jetzt wussten auch die anderen kaum noch, was sie hiervon denken sollten.
Nur der rote Hexenmeister blieb bei seinem Grinsen.
»Die Soldaten hatten Platzpatronen in der Tasche!«, sagte er, als der Pulverrauch und Pulvergeruch schon aus dem Kasten heraus kam. »Sie wollten wohl nur Exerzierpatronen, weil Sie so erschrocken sind? Oder soll einmal scharf geschossen werden?«
»Ja, aber dann müssen Sie erst die Gewehre gerade biegen«, meinte Littlelu, »die meisten schießen ja um die Ecke.«
»Mensch, wie machen Sie denn das nur?!«
Der Mephistopheles gab keine Erklärung, jetzt nicht.
Er bat, dass er jetzt einmal das Kommando übernehmen dürfe, und Arno gab es zurück.
Der neue Kommandeur ließ die Soldaten wieder geradeaus marschieren, auf die Zuschauer und die Öffnung des Kastens zu.
Und sie stießen gegen keine unsichtbare Wand, sie traten nicht auf der Stelle, diesmal wurden sie auch nicht zurückgerufen, sondern sie sprangen herab von dem nur sehr dünnen Brett, marschierten weiter auf der Tischplatte, man hörte ihren taktmäßigen Schritt, natürlich nur leise, ihrer Größe und Schwere entsprechend, aber doch ganz deutlich, so wie sie auch in dem Sande schon immer Fußspuren hinterlassen hatten, und sie marschierten weiter über den Tisch auf die staunenden, jetzt schon mehr fast entsetzten Zuschauer zu.
Freilich währte das kaum drei Sekunden. Noch ehe man zur Besinnung kam, griff der Hexenmeister schnell zu, packte die ganze Reihe, warf sie in den Kasten zurück — — »auf die alten Plätze!« — — Die Gestürzten, wie sie auch durcheinander gefallen waren, rafften sich auf, eilten dorthin, wo sie aufgebaut worden waren — nochmals griff der Hexenmeister schnell zu, holte sie alle zusammen heraus — — da waren es wieder die ordinären Bleisoldaten, jeder hatte das linke Bein zum Antritt erhoben.
»Nun?«, grinste der Mephistopheles. »Haben Sie es gesehen? Wo war da die Omnihilitwand? Wo blieb da die Kinematografie? Wo die Gedankenübertragung? Wie erklären Sie sich das, dass die Bleisoldaten auch herausmarschieren können, wenn ich nur will?«
Dafür gab es vorläufig keine Erklärung, man konnte nur staunen. Und es war doch so einfach gewesen!
»Nun kommt die Kavallerie daran, nicht wahr?«
»Das tut mir leid! Soeben wird mir gemeldet, dass unter den Pferden die Klauenseuche ausgebrochen ist!«, grinste der Hexenmeister.
Der Grund seiner Weigerung war aber wohl nur der, dass er das Spiel mit den Bleisoldaten nicht fortsetzen wollte, weil das Exerzieren der Kavallerie doch nur eine Wiederholung gewesen wäre. Dass der auch die Bleipferdchen lebendig machen konnte, das war nun ganz selbstverständlich.
»Etwas anderes. Was meinen die Herrschaften hier zu diesem Nacktfrosch?«
Es war ein strammer Nacktfrosch, den er präsentierte, Also ein Kind aus weißem Porzellan, eine größere Figur als sonst, 15 Zentimeter groß, mit sehr dicken Gliedern, als Puppe eben mehr einem wirklichen kleinen Kinde nachgeahmt, was wir von den Chinesen haben, denn deren Kinder kennen als Puppen keine Modedämchen, sondern deren Spielzeug muss der Natur bis in die kleinsten Details getreu nachgeahmt sein.
Die Porzellanfigur wurde in den Kasten auf den Sand gelegt.
»Ein Nacktfrosch gehört in die Badewanne, sonst hat er seinen Beruf verfehlt.«
Also nahm Mephistopheles eine entsprechend große Badewanne aus Blech, ein ganz gewöhnliches Fabrikat, wie sich jeder überzeugen konnte, füllte sie aus einer Karaffe, die auf einem Nebentischchen stand und aus der Atalanta soeben erst ein Glas getrunken hatte, mit Wasser.
»Das Wasser ist etwas zu kalt für unsern Liebling«, sagte er, den Finger hineintauchend, »wir müssen es erst etwas wärmen.«
Und er riss ein schwedisches Streichholz an, fuhr mit der Flamme zweimal unter der Blechwanne hin und der, und sofort begann das Wasser zu rauchen, es hatte die normale Temperatur eines warmen Bades angenommen, wie sich jeder überzeugen konnte.
Mit dem Streichholz hatte er das Wasser natürlich nicht so schnell heizen können, das war eben ein Taschenspielerkniff gewesen. Der arbeitete doch mit Elektrizität, aber ungemein frappierend war es doch gewesen, und Wilhelm Neumann entsetzte sich gerade vor diesem einfachen Taschenspielertrick am allermeisten.
Auch die rauchende Badewanne wurde in den Kasten gesetzt, daneben kam noch eine Stellage, an der Handtuch, Bademantel, Schwamm und Waschlappen hingen, in einem Schälchen lag ein Stückchen Seife, natürlich alles der Größe der Puppe angepasst.
»So, mein Kindchen, nun kann es losgehen.«
Er klopfte einmal oben auf den Kasten und sofort stand der starre Nacktfrosch auf, mit vollkommen natürlichen Bewegungen. Er prüfte die Temperatur des Wassers, stieg hinein, setzte sich, fing an zu plätschern, und zwar auf eine Weise, dass auch die Zuschauer ganz nassgespritzt wurden.
Dann kam Waschlappen und Seife daran, es wurde gründliche Reinigung abgehalten. Dabei bemerkte man, dass auch die schwarzen Porzellanhaare, doch nur angemalt, jetzt ganz geschmeidig waren.
Doch über so etwas wunderte man sich jetzt nicht. Es sah im Großen und Ganzen eben reizend aus, und die Indianerin klatschte vor Entzücken immer in die Hände, besonders wenn der Nacktfrosch einmal eine so richtige Kinderbewegung machte, wenn er mit dem Händchen aufs Wasser patschte, wenn er das Gesicht verzog, weil Tropfen daran gespritzt waren — — es war ja eine junge Mutter.
Und der, der alle diese Bewegungen irgendwie leitete, das war ein unübertrefflicher Künstler, der die Bewegungen eines Babys in der Badewanne ganz gründlich studiert haben musste.
»Es ist ein geistig hochentwickelter Nacktfrosch, er braucht keine Wartefrau mehr!«, grinste der Mephistopheles, als das Baby der Badewanne entstieg, sich in den Bademantel hüllte und zu reiben begann.
Dann, als es so weit war, ein Klopfen auf den Kastendeckel, die Puppe nahm im Stehen sofort ursprüngliche Stellung ein, die dicken Arme etwas vorgestreckt, wollte umfallen, der Hexenmeister griff schnell zu, nahm sie heraus, dann auch die Wanne und die sonstigen Utensilien.
»Nun sehen Sie bloß mal an — so'n Ferkel!«
Das Wasser, erst ganz klar, war jetzt seifig und auch sonst trübe, die Handtücher waren nass, das Stückchen Seife, das erst ganz scharfe Ecken gehabt hatte, war stark abgenutzt.
Gerade der grimmige, phlegmatische Hagen, der sich um nichts kümmerte, was ihn nichts anging, war es, der sich mit dem Fingerknöchel vor die Stirn klopfte und dann den Kopf schüttelte.
»Ich dächte aber, die Träume Ihrer Nippfiguren wären recht realistisch!«, meinte er dann.
»Gewiss doch, realistisch wie das Leben, und das ganze Leben ist ja nur ein Traum!«, entgegnete der Hexenmeister.
Jetzt kamen gleich zwei Nacktfrösche daran, aber solche von einer ganz anderen Sorte. Zwei Männer, ideale Athletengestalten, nackt bis auf das Feigenblatt, nur die Hände mit Riemen umwickelt. Griechische Faustkämpfer. Auch sie waren ganz weiß, hier auch das lockige Haar, aber nicht aus Porzellan, sondern jeder hätte sie für Marmorstatuen gehalten.
Sie wurden sich in dem Kasten gegenübergestellt, ein Klopfen auf den Deckel und sie verließen ihr Postament, näherten sich vorsichtig einander, gleich als Gegner.
Erst einige spielende, prüfende Finten, und da sauste der erste Hieb, wurde pariert, wurde zurückgegeben und so ging es weiter.
Furchtbar sah es aus, wie die sich gegenseitig vertobakten — furchtbar schön! Wie die Muskeln spielten, wie die Hiebe saßen!
Und da wieder ein furchtbarer Hieb auf den Oberarm des Gegners, und da floss das erste — — Blut?
»Die haben ja blaues Blut? Hören Sie, Herr Mephistopheles, sehen Sie mal hin, da haben Sie sich einmal mit Ihrer Gedankenübertragung geirrt, bei denen spritzt blaues Blut heraus!«
»O nein, ich irre mich nie!«, grinste aber der hinter dem Kasten stehende Mephisto. »Ach, Sie dachten wohl, das wären altgriechische Athleten, aus Olympia? Nein, das sind zwei ganz moderne Leutnants, die nur einmal ihre Uniform ausgezogen haben — Herr Leutnant von Schnabelinsky und Herr Leutnant von Briesewitz — na, und die haben doch natürlich blaues Blut in den Adern.«
Es war mit diesem Kerl nichts anzufangen!
Doch die Zuschauer wollten nicht lachen. es war gar zu schrecklich, wie die beiden sich gegenseitig vertobakten, wie das Blut immer mehr floss und spritzte, wenn es auch blau war.
Da erhielt der eine einen Faustschlag mitten ins Gesicht, er stürzte zu Boden.
Ein Klopfen auf den Deckel, der Gestürzte raffte sich empor, eilte wie der andere auf sein Postament, sie erstarrten, ihr Herr und Meister nahm sie heraus.
Diesmal hatte es mit den herausgenommenen Figuren wieder eine andere Bewandtnis, denn wiederholen tat sich der Illusionist nie, etwas anderes war stets dabei.
Wohl hatten die beiden Marmorfiguren die alten Stellungen eingenommen, aber ihre weißen Leiber waren jetzt an einzelnen Stellen, eben genau so wie im Kasten, blau gefärbt, allerdings war das adlige Blut schon getrocknet, und derjenige, der zuletzt den Fausthieb Gesicht bekommen, hatte keine Nase mehr.
»Ach, das ist aber schade um die schöne Figur!«, bedauerte Atalanta.
»Hat nichts zu sagen«, tröstete Mephistopheles, »ich schicke ihn zu meinem Bruder, der flickt ihm eine neue Nase an.«
Jetzt kamen die ersten Tiere daran. Ein Dutzend Teckel, die Philosophen im Hundegeschlecht, von Fingerhutgröße, in den verschiedensten Stellungen.
Ein Klopfen und sie wurden lebendig.
Erst ein allgemeines Hundeleben. Sie benahmen sich manchmal etwas unanständig, aber das musste man dem grinsenden Mephistopheles nachsehen.
»Es ist ja alles nur ein Traum!«, feixte er.
Es war auch noch erträglich.
Dann wurde eine allgemeine Spielerei daraus. Auch einige Sachen waren hineingestellt worden, wie ein Puppensofa, um dessen beste Plätze gestritten wurde, aber immer noch spielend, eine Hutschachtel, einen pompösen Damenfederhut enthaltend, von dem natürlich bald nichts mehr übrig geblieben war.
Und dann wurde aus der allgemeinen Spielerei natürlich bald eine allgemein Balgerei. Nun flogen aber die Haare.
Und hierbei wurden auch die ersten Stimmen laut. Die Bleisoldaten hatten nur mit ihren verbogenen Gewehren geknattert, diese Dachshunde aber hörte man mit dünnen Stimmchen kläffen, und der eine, der auf einem gebissenen Beine herumhinkte, quiekte und quietschte ganz jämmerlich.
Ein Klopfen auf den Kastendeckel, und die Tierchen erstarrten wieder zu Figuren.
»Langweilt es die Herrschaften, wenn ich noch einmal Hunde bringe?«
Langweilen! Was für eine Frage? Schon vier Stunden waren nun verflossen, und jeder glaubte, sein Leben lang so zuschauen zu können.
Der Hexenmeister glaubte vielleicht, weil das Publikum nicht gelacht, gar nichts gesagt hatte.
Einfach deshalb nicht, weil man gar nicht dazu gekommen war, man war nur ganz Auge gewesen.
Also nochmals Hunde. Aber solche der verschiedensten Art, von etwas größeren Dimensionen, und dann vor allen Dingen als Menschen kostümiert.
Ein Hundetheater. Ein Schauspiel aus dem menschlichen Leben, von Hunden ausgeführt. Auch einige Affen waren dabei.
Der Vorführer erklärte, obgleich es kaum nötig gewesen wäre.
Komtess Klytemnestra, eine schneeweiße Pudelhündin, im prachtvollen Hochzeitskleide, wurde von Prinz Jaromir, einem spindeldürren Windhunde, der aber seinen schwarzen Frack und Zylinder zu tragen wusste, zum Traualtar geführt. Immer auf zwei Beinen.
Zuerst die Fahrt zur Kirche. Vier gelbe Doggen zogen die prächtige Galakutsche, ein Affe führte die Zügel und schwang die Peitsche, hinten darauf die nötigen Lakaien, auch wieder Affen.
Das Brautpaar entstieg dem Wagen. Schon stand hinter dem Altar der Geistliche, ein Mops mit pechschwarzem Gesicht, auf der Nase eine mächtige Brille.
Es war zum Totschießen. Die glückliche Braut, die mit ihrem hinten zum Spitzenkleide heraussehenden Quastenschwanze wedelte, der Affenlakai, der schnell einmal dem Bräutigam die Fracktaschen visitierte.
br>So etwas wirkt schon urkomisch im richtigen Hunde- und Affentheater, Hier, in dieser winzigen Verkleinerung wirkte es doppelt.
Da bog sich Mephistopheles über den Tisch.
»Wissen Sie, was das ist?«
Es war ein länglicher, runder, etwas gebogener Gegenstand, den er zeigte, hüben und drüben ein Holzstängelchen.
Jeder Deutsche hätte sofort gewusst, was das war. Bei einem Engländer und Amerikaner war die Frage angebracht.
»Das ist eine Leberwurst — made in Germany. Nun passen Sie auf.«
Gerade wollte der Geistliche den Trauakt vollziehen.
Da flog die Leberwurst in den Kasten hinein.
Der erste, der sie erspähte, war der Pfaffe, und er flog mit mächtigem Satze über den Altar hinweg. Ihm nach folgte die Braut im Spitzenkleid, die bekam das Ende der Wurst zu packen, aber da hatte sie auch schon der befrackte Windhundprinz in der Mitte, und die vier Doggenpferde beteiligten sich gleichfalls an der Jagd um die Wurst, dabei immer hinter sich die Galakutsche schleifend.
Ein wirres Durcheinander mit einem Mordsspektakel, nicht zu beschreiben. Die Wurst ging in Stücke, der Galawagen aber auch.
»Hören Sie auf, hören Sie auf! Ich kann nicht mehr!«, wand sich Atalanta unter Lachen, ihren Kopf festhaltend, und so die anderen.
Diesmal öffnete der Hexenmeister den hinteren Kastendeckel, ließ die ganze Gesellschaft nach hinten verschwinden. Man sah nicht deutlich, wie er es machte, niemand fragte auch danach.
»Haben sich die Herrschaften diesmal amüsiert?«, grinste der rote Teufel.
Atalanta war aufgesprungen und machte eine Bewegung, als wolle sie ihm um den Hals fallen, sie tat es freilich nicht.
»Mephistopheles — — Sie sind und bleiben ein Lump — aber ein ganz genialer Lump — lügen Sie weiter, lügen Sie das Blaue vom Himmel herunter — ich will es Ihnen verzeihen, alles!«
Es wurde noch eine kleine Unterhaltung daraus. Während derselben entfernte sich Hagen einmal, kam aber gleich wieder.
»Können Sie auch andere Figuren lebendig machen?«
»Was für andere Figuren?«
»Eine Figur, die ich selbst Ihnen gebe?«
»Das kommt darauf an.«
Hagen brachte einen Elefanten zum Vorschein, zehn Zentimeter hoch, sehr schön aus einem schwarzen Holz geschnitzt, wie man solche Elefanten in allen orientalischen, zumal indischen Häfen als Hausarbeit der Eingeborenen zu kaufen bekommt, in allen Größen.
Der Mephistopheles nahm die Figur, betrachtete sie und führte sie sogar ans Ohr.
»Der ist ja überhaupt schon lebendig«, feixte er, denn anderes sprechen konnte er nicht, jetzt nicht, »der ist nur scheintot, befindet sich nur im Starrkrampf — sein Herz schlägt ja noch.«
»So heben Sie den Starrkrampf auf.«
»O ja, das kann ich. Da brauche ich ihm nur einmal an einer bestimmten Stelle ins Genick zu greifen —«
Und der Hexenmeister setzte den kleinen Elefant auf den Tisch und griff ihm in den Nacken.
»Alle Teufel!«, schrie Hagen, während die anderen keines Wortes fähig waren.
Die hölzerne Figur hatte den etwas geöffneten Rachen noch weiter geöffnet, hatte den Rüssel geschwenkt, mit den Hinterbeinen gezappelt.
Freilich war es auch gleich wieder vorbei. Vielleicht aber nur deshalb, weil Hagen gleich wieder danach gegriffen hatte. Und er hatte wieder die starre Holzfigur in der Hand — selbstverständlich — und es hatte keinen Zweck, dass er erst mit dem Federmesser an dem Holze schnipselte.
»Mensch, wie haben Sie denn das jetzt gemacht?«
»O, das war nur einmal eine kleine Probe!«, grinste der Teufelsgaukler, was immer wiederholt werden muss.
»Ja, der lebt, davon wollte ich mich nur erst einmal richtig überzeugen.«
»Sie können die Figuren auch gleich hier im Freien in Bewegung bringen?«
So und anders wurde gerufen.
Aber Mephistopheles ließ sich darauf nicht weiter ein, sagte, der Elefant müsse erst in den Kasten hinein, dort erst könnte er ihn richtig lebendig funktionieren lassen.
Man ging darauf ein, ließ das neue Rätsel vorläufig ein Wunder sein, der Hexenmeister würde schon später noch einmal darauf zurückkommen. Er wollte eben ständig eine neue Überraschung bringen.
»Nun wohl, so setzen Sie ihn in den Kasten.«
Nachdenklich blickte Mephistopheles nach diesem.
»Hm. Da wollen wir aber diesmal doch eine kleine Dekoration machen. Es ist ein indischer Elefant. Also eine indische Landschaft. Oder ist es ein zahmer? Ist er dressiert? Kann er auf den Vorderfüßen stehen und mit dem Schwanze den Leierkasten drehen?«
»Nein, keine Kunststücke. Nehmen wir an, es sei ein wilder.«
»Dann also eine indische Landschaft mit Urwald und Dschungel. Hm. Das kann ich in dem Kasten auf verschiedene Weise bewerkstelligen. Entweder ich lasse alles erst wachsen, was freilich einige Zeit dauert — —«
»Machen Sie es so kurz wie möglich.«
»Gut, dann kommandiere ich die ganze Geschichte einfach aus dem Boden heraus. Denken Sie aber nicht etwa, dass es nur eine Illusion ist. Alles Natur, alles Natur. Bei solchen Geheimnissen der Natur muss man freilich einmal einen Vorhang vorschieben, das müssen Sie mir gestatten, hinter die Kulissen lässt sich die Schöpfungskraft nicht blicken.«
Mephistopheles ging hinter den Tisch, nahm den hinteren Deckel vom Kasten und legte ihn vorn davor. Übrigens hätte man ihn begleiten können, es war durchaus nicht nötig, dass die Zuschauer immer nur auf der einen Seite des Tisches saßen, schon mancher war hinter dem Kasten gewesen.
Da war nichts zu sehen. Und es war ein ganz einfacher Tisch auf vier Beinen. In einiger Entfernung stand der schwarzbetrikote Diener, der seinem Herrn manchmal Handreichungen leistete, seiner Physiognomie nach wohl ein Engländer, sonst aber, wie schon erwähnt, ein richtiges ausgemergeltes Geistergesicht. »Blasse, abgezehrte Mienen, die den Tod zu rufen schienen!«, wie Wilhelm Busch singt.
Doch diesmal war ihm niemand gefolgt, man hatte auch gar keine Zeit gehabt, von hinten in den Kasten zu blicken, denn der Hexenmeister hatte den Deckel nur einen einzigen Moment vor den Kasten gehalten, sofort zog er ihn wieder weg, und —
»Ach, das ist ja entzückend!«, jubelte und staunte Atalanta als erste.
Eine indische Szenerie. Ein freier Grasplatz im Urwald. Auf der einen Seite noch ein Stück Dschungel, das ist eine sumpfige Schilfregion, hier kam noch ein kleiner Teich heraus, auch ein Felsen war vorhanden, aus einer Spalte sprang eine Quelle und ergoss sich plätschernd in den Teich.
Alles ganz und gar natürlich, jedes Blatt, jede Blüte der kletternden Schlingpflanzen, und die Quelle plätscherte leise. Nur eben alles den Dimensionen des Kastens entsprechend, alles in Miniatur.
»Ja, kann denn das wirklich nur Illusion sein?«, staunte Atalanta nochmals.
»Lassen Sie mich doch einmal hineingreifen!«, bat Littlelu.
»Nein, das ist das einzige, was ich Ihnen nicht erlauben — na — hm — warum denn nicht — mit Ihnen will ich einmal eine Ausnahme machen, greifen Sie mal hinein, aber sehen Sie sich vor, in Indien ist es bekanntlich heiß.«
Noch nicht wissend, was jener hiermit meinte, griff Littlelu hinein, wollte es tun, kam nur bis an die Öffnung und zog die Hand mit einem Schmerzensschrei zurück.
»Verflucht noch einmal, das ist ja glühend heiß!«
»Ja, in dieser Gegend herrscht gegenwärtig fünfzig Grad Hitze im Schatten!«, grinste der Mephistopheles.
Auch alle anderen versuchten es, konnten es aber nicht. Nicht dass sie gegen eine heiße Wand gestoßen wären, sondern plötzlich wurde ihre ausgestreckte Hand von einer intensiven Hitze getroffen. Merkwürdig war nur, dass man die Fingerspitze nur einen Zentimeter zurückzuziehen brauchte, so war von einer ausstrahlenden Hitze nichts mehr zu bemerken.
Dieser Gaukler wusste eben sein Geheimnis zu schützen, wenn er es schützen wollte, und man verlangte jetzt auch keine Erklärung dafür, glücklicherweise nicht, denn die ganze Sache war nämlich überaus einfach, der Hexenmeister grinste mit Recht so, aber eine Erklärung hätte auch alles andere verdorben.
»Bitte, Herr Kapitän Hagen, nun Ihren Elefanten her, setzen Sie ihn selbst hinein.«
»Gleich, gleich!«, sagte Hagen, sich an der Figur etwas zu schaffen machend.
»Gut, machen Sie sich erst ein Merkmal, dass ich Ihr Vieh nicht mit einem anderen vertauschte. So beleben wir die Waldblöße einstweilen mit einigen anderen Tieren. Hat jemand von den Herrschaften zufälligerweise eine Riesenschlange bei sich? Nicht? Schade. Dann muss ich eine aus meiner Spielschachtel nehmen.«
Die Schlange, die er zeigte, war 12 Zentimeter lang, aus Gummi, man konnte sie auseinander ziehen.
Kaum hatte er sie in den Kasten geworfen, als sie sich durch das Gras schlängelte und im Verhältnis zu allen Dimensionen wurde nun auch wirklich eine recht respektable Riesenschlange daraus.
»Das Verhältnis ist wie eins zu zehn, also erblickt das hochgeehrte Publikum hier eine zwölf Meter lange Riesenschlange.«
»So eine gibt's ja gar nicht!«
»Nicht? Hier aber haben Sie doch eine.«
»Dann also wäre dort der Baum, der mit seiner Krone gerade gegen die Decke stößt — fünfzig Zentimeter ist der Kasten hoch, nicht wahr?«
»Jawohl, also fünfzig Meter. Na, stimmt das nicht? Und überhaupt, Mister Littlelu, pfuschen Sie dem lieben Gott nicht immer im Handwerk herum, kritisieren Sie nicht, machen Sie's doch besser, wenn Sie's können. Aber es stimmt schon alles, verlassen Sie sich nur darauf.«
Die Riesenschlange hatte einen Baum erreicht, wand sich an dem für ihre Verhältnisse nicht allzu starken Stamme empor und verschwand zwischen den dichten Zweigen, die von den Kistenwänden nirgends mehr etwas sehen ließen.
»So, nun wollen wir als zweites Geschöpf in das Paradies einen Vogel setzen.«
Es war ein seltsamer Vogel, den er der unerschöpflichen Spielschachtel entnahm. Zwei Zentimeter hoch, mit sehr bunten Federn besetzt, auf langen Beinen stehend und mit einem Papageienschnabel, wusste man nicht recht, welcher Gattung von Vögeln man das Tier einreihen sollte.
»Ist das ein Huhn?«, fragte denn auch Littlelu gleich. »Oder ein Papagei? Oder ein zu kurz geratener Strauß, der sich mit fremden Federn geschmückt hat?«
»Wissen Sie das nicht? Dann können Sie mir leid tun. Zoologie schwach. Das ist ein Haushuhnkakadustrauß. So, gehe ins Paradies und nähre Dich redlich.«
Kaum in den Kasten hineingeworfen, wurde das Monstrum lebendig, und sein erstes war, dass es hinter sich etwas Weißes fallen ließ.
»Schon ein Ei gelegt! Wenn es jetzt — da, da, da — verfluchtes Biest, es soll doch noch mehr Eier legen!«
Der Vogel war etwas herumgelaufen, jetzt wollte er zum Fliegen ansetzen — da kam von oben aus den Baumzweigen der Kopf der Schlange hervorgeschossen, mit weitgeöffnetem Rachen, hatte im Nu den Vogel gepackt, die Schlange ließ sich gänzlich herabfallen und begann den Vogel zu verschlingen.
»Mephistopheles, Sie sind ein großartiger Kerl, wie machen Sie das nur?!«, rief Atalanta in ehrlicher Bewunderung.
»Ach, das ist alles doch nur Illusion!«, sagte Hagen, noch an seinem Elefanten herumarbeitend.
»Ja, aber diese Arrangierung — es ist großartig!«
Der belobte Hexenmeister griff in den Kasten, nahm die erbsengroße weiße, etwas gesprenkelte Kugel, die der Vogel hatte fallen lassen, und schlug sie mit einem Federmesserchen auf.
Man sah eine weiße Flüssigkeit, darin ein gelbes Eidotter.
»Na, ist das etwa Illusion?«
Die meisten staunten wirklich, Hagen blickte gar nicht hin, und Littlelu näherte sich dem Hexenmeister von hinten.
»Alter Junge«, flüsterte er ihm ins Ohr, »das ist ein Kolibri-Ei.«
Er hätte es getrost laut sagen können, diesem gerissenen Gaukler konnte er nicht kommen.
»Ein Kolibri-Ei? Was meinen Sie damit? Ja, verlangen Sie denn etwa von dem kleinen Vogel, dass er riesige Straußeneier legt?«
Da hatte Mephistopheles die Lacher auf seiner Seite.
»Dass die Schlange gleich den Vogel verschlingt, das stand nicht im Programm. Also bevölkern wir das Paradies in anderer Weise, bis Herr Kapitän Hagen mit seiner Bastelei endlich fertig ist. Wie wäre es denn hier mit diesem Mähschäfchen?«
Es war eine ganz ordinäre Holzfigur, so aus dem Erzgebirge, die Wolle war nur mit weißer Farbe angepinselt, außerdem das linke Hinterbein abgebrochen.
Aber die Hauptsache war, dass das Mähschäfchen in dem Kasten gleich zu laufen anfing, immer auf drei Beinen.
»Köstlich, gottvoll!«, lachte Atalanta.
»Nein, Du musst wieder heraus, Du passt mit Deinen drei Beinen nicht ins Paradies, und ich sehe, wie die Riesenschlange schon lüstern nach Dir blickt; die hat nämlich in der Schachtel drei Jahre gehungert. Komm her, mein Lämmchen.«
Und das Schäfchen folgte dem Rufe, ließ sich greifen und wanderte als zerbrochene Holzfigur in die Schachtel zurück.
»Machen Sie hier doch einmal meine Zigarrenspitze lebendig!«, sagte Littlelu.
»Ihre Zigarrenspitze lebendig? Haben Sie schon einmal eine lebendige Zigarrenspitze gesehen? Machen Sie doch keine Witze! Hier geht alles ganz natürlich zu, alles ganz natürlich.«
Kapitän Hagen war fertig. Er hatte um das eine Hinterbein des Elefanten einen dünnen Bindfaden gebunden, viele Knoten hineingeschlungen, außerdem mit einem brennenden Streichholz ein Tröpfchen Siegellack, den er gleich mitgebracht, darauf fallen lassen, das Tröpfchen breitgedrückt, nach dem Erkalten etwas mit dem Messer darauf gekritzelt.
»So, nun ist mein Elefant gekennzeichnet. Der Ring kann nicht abgestreift werden, denn das Gelenk ist noch viel dicker, und außerdem kann mir diese Knoten niemand nachmachen.«
»Niemand?«, grinste der Gaukler.
»Nein, niemand, behaupte ich, oder ich würde es doch sofort merken. Es ist ein Geheimnis dabei. Ganz abgesehen noch von dem Siegel.«
»So setzen Sie Ihren Elefanten selbst in den Kasten, jetzt können Sie ungeniert hineingreifen. Nur bitte ich Sie, nicht das Gras, nichts anderes zu berühren. Ich bitte sehr. Nur den oben angefassten Elefanten einfach hineinsetzen.«
Hagen tat es, zog die Hand sofort zurück, gleich war der schwarze Elefant lebendig, und sein erstes war, dass er mit der Rüsselspitze nach seinem Hinterbein fuhr und sich an dem Fadenring zu schaffen machte.
»Das ist begreiflich bei diesem wilden Elefanten«, sagte Mephistopheles, »der wird sich ja nicht schlecht wundern, was er am Beine hat. Da — ja, das tut mir leid, das konnte ich nicht ändern.«
Der Elefant hatte den Fadenring einfach abgerissen, ihn zum Kasten hinausgeschleudert.
»Ja dann freilich!«, sagte Hagen achselzuckend, den zerrissenen Faden mit dem zerbrochenen Siegel in die Westentasche steckend.
Dann begann der Elefant seinen Hunger zu befriedigen, er brach Baumzweige ab, presste sie sachgemäß erst mit dem Rüssel etwas zusammen, ehe er sie im Rachen verschwinden ließ, riss große Grasbüschel aus, die an den Wurzeln hängende Erde ebenso sachgemäß am Boden und an Baumstämmen abklopfend.
»Reizend, großartig!«
Dann ging das Tier ans Wasser, steckte den Rüssel hinein, spritzte sich den Trank mehrmals in den Rachen, hierauf hob es den vollgepumpten Rüssel höher und gab sich selbst einige Duschen über den ganzen Körper, und zwar in einer Weise, dass auch die Zuschauer genug davon abbekamen.
»Alles nur Illusion, nicht wahr?«, spottete der Mephisto, als sich jene lachend die Tropfen aus dem Gesicht wischten.
»Und jetzt muss die Riesenschlange den Elefanten überfallen«, schlug Wilhelm Neumann vor, »die beiden müssen auf Tod und Leben kämpfen.«
»Jawohl, und ein Ichneumon muss einem Krokodil in den Rachen kriechen und ihm die Eingeweide ausfressen, ohne dass das schlafende Krokodil etwas davon merkt. Nein, so etwas gibt's nicht, und hier geht alles ganz natürlich zu. Ich bin selber gespannt was da noch wird. Was hebt denn der Elefant so den Rüssel? Hebt die Ohren? Der wittert etwas.«
Da ertönte ein leiser Knall.
Der Elefant schrak wild zusammen, warf den Rüssel hoch, sich selbst auf die Hinterbeine, dann fiel er auf die Vorderbeine, ein schauerliches Gebrüll, wenn auch nur leise — dann stürzte er auf die Seite, ein furchtbares Stöhnen, ein kurzes Wälzen, ein Ruck durch den ganzen Körper, und er lag still da.
»Hallo, der ist geschossen worden! Da hat er ja auch die Wunde, ein Blattschuss, offenbar von einem Sprenggeschoss herrührend.«
br>Da teilten sich die Büsche, ein Menschlein kam hervor, weiß gekleidet mit Tropenhelm, die noch rauchende Elefantenbüchse in der Hand.
Er wurde noch von einer Menge brauner Männer überholt, nur mit einem Schurze bekleidet, die sich mit einem quiekenden Freudengeheul über den toten Elefanten hermachten,
»Ich höre es an ihrer Sprache, dass es Lakkas von Hinterindien sind!«, erklärte der Mephistopheles, »Diese noch ziemlich wilden Eingeborenen verehren den erlegten Elefanten, was die Inder sonst nicht tun. So werden Sie jetzt sehen, wie sie das tote Tier zerwirken und sich eine Mahlzeit bereiten. Allein das alles dauert sehr lange. So sind Sie wohl damit einverstanden, dass ich die Zeit etwas abkürze. Eine Sekunde soll immer eine Stunde bedeuten. Also ich halte den Deckel für drei Sekunden vor den Kasten — eins, zwei, drei — drei Stunden sind vergangen.«
Jetzt hatten die Eingeborenen den Elefanten bereit abgehäutet, so weit sie konnten. Ganz war es ja nicht möglich, dazu war das Tier, das doch gewälzt werden musste, zu schwer. Sie hatten das auf der Seite liegende Tier am Bauche aufgeschlitzt, die Haut darüber weggezogen und waren jetzt dabei, die inneren Organe herauszunehmen.
»Da, der Kerl holt eben das Herz heraus. Und Sie, Herr Kapitän Hagen, haben geglaubt, Ihr hölzerner Elefant hätte gar kein Herz? Ich habe es doch gleich gesagt, ich hörte es ja schlagen. Und die dort öffnen schon den Magen, was da alles herauskommt!«
Alles das wurde herausgenommen, was der Elefant vorhin gefressen hatte. Mit wunderbarer Deutlichkeit! Oder so durfte man gar nicht sprechen, das hier war ja keine Kinematografie. Es war eben alles realistische Wirklichkeit, nur en miniature, in winziger Kleinheit. Außerdem war unterdessen ein Zelt aufgeschlagen worden, vor diesem besichtigte der weiße Jäger gerade die schon abgesägten Stoßzähne, dann brannten einige Feuerchen — winzige Feuerchen für die Zuschauer, für diese Figürchen mächtige Lagerfeuer.
»Wir wollen abermals drei Stunden überspringen, nicht wahr? Also ich halte den Deckel wieder vor, zähle langsam bis drei — eins, zwei, drei — so, die drei Stunden sind vorüber. Und was sehen wir nun?«
Der Elefant war verschwunden, nur die blutige Haut lag noch da. Über den Feuern hingen große Kessel, in denen es kochte, über anderen brieten mächtige Fleischstücke.
»Die Sache ist nämlich die«, erklärte Mephistopheles, »dass noch eine andere, größere Jagdgesellschaft erwartet wird, für welche man gleich das ganze Fleisch zubereitet, denn diese zwei Dutzend Menschen hier könnten doch nicht den ganzen Elefanten aufessen. Deshalb also wird gleich alles Fleisch gekocht und gebraten und — — hallo, was ist das?«
Plötzlich eine allgemeine Bewegung, alles sprang auf, ergriff die Waffen und schlug sich eiligst in die Büsche.
Menschenverlassen lag die Waldblöße da.
»Ah, ich weiß, eine andere Elefantenherde ist aufgespürt worden, man will noch ein zweites Tier zu erlegen versuchen. Und nicht ein einziger ist bei den Kesseln zurückgeblieben? Das ist sehr leichtsinnig. Wo das so schön... riechen die Herrschaften nichts?«
Ja, es roch höchst appetitlich nach gebratenem Fleisch.
»Nun, wenn die so leichtsinnig sind, müssen sie bestraft werden. Gelegenheit macht Diebe. Sehen wir einmal zu, was die gekocht und gebraten haben, es scheint schon fertig zu sein.«
Und er langte in den Kasten, holte mit einem Messerchen die rauchenden Kesselchen vom Feuer, setzte sie auf den Tisch und ließ die gebratenen Fleischstücke nachfolgen, sie auf Puppentellern servierend.
»Hier, geehrte Frau Gräfin, haben Sie Elefantenklein — Sie, Herr Kapitän Hagen, bekommen natürlich das Herz, englisch gebraten — hier ist Elefantengulasch — und hier, Mister Littlelu, haben Sie eine Elefantenhaxe.«
Ja, das stimmte alles. Man konnte das Zeug essen. Ganz frisch gekocht und gebraten, es schmeckte delikat. Und was Kapitän Hagen auf der Spitze seines Messerchens balancierte, das war unbedingt ein Herz. Und was Littlelu so tiefsinnig betrachtete, das war unbedingt ein Hinterfuß, ungefähr von der Größe eines Taubenschenkels.
»Sie Teufelskerl, wo haben Sie dieses Herz her?«, konnte auch Hagen einmal staunen.
»Dieses Herz? Das ist ein Elefantenherz! Heben Sie sich's auf, fragen Sie einen anatomisch ausgebildeten Zoologen, ob das nicht ein ganz echtes Elefantenherz ist, nur in zehntausendfacher Verkleinerung. Aber essen Sie's nur. Oder Sie denken wohl, es ist von Holz? Als Zugemüse können Sie ja das Strumpfband essen, das Sie in die Westentasche gesteckt haben.«
»Famos!«, sagte Littlelu, von der Elefantenhaxe nur noch das Knöchelchen aus dem Munde ziehend. »Her mit der anderen Haxe!«
»Hier, mein Lieber.«
»Famos! Nun noch die dritte.«
»Die dritte? Sie denken wohl, ein Elefant hat drei Hinterbeine.«
»Na, was machen Sie denn mit den Vorderfüßen?«
»Ich? Die Eingeborenen haben die schon als Eisbeine eingepökelt.«
»Ach sooo, Elefanteneisbeine! Und wo ist der Rüssel?«
»Dort in dem Topfe. Zusammengehackt mit Schwanz und anderen Kleinigkeiten als Elefantenklein.«
So ging es noch einige Zeit weiter.
»Nun wollen wir aber doch einmal sehen, was die Jäger machen?«, sagte dann Mephisto. »Ich werde den Kasten wieder zudecken, dann sind wir dorthin versetzt, wo sich die Jäger jetzt aufhalten.«
Er hielt den Deckel vor, nahm ihn gleich wieder ab und die Szenerie hatte sich verändert.
Allerdings war es wieder eine Waldblöße, aber eine andere als vorhin, das Wasser fehlte.
Aus dem Dickicht kam ein Elefant mit Stoßzähnen hervor.
»Wieder so'n schwarzes Luder, das könnte meiner sein!«, sagte Hagen.
»Hören Sie, Geehrtester, da verlangen Sie aber zu viel!«, grinste der Mephistopheles. »Erst essen Sie Ihren Elefanten und dann wollen Sie ihn wohl auch noch als Nippfigur auf Ihre Kommode setzen? Nein, da verlangen Sie von mir wirklich zu viel!«
Aus dem hohen Dickicht kam ein zweiter Elefant hervor, dicht hinter ihm folgte ein dritter, ein vierter — zusammen waren es sieben, alle sicher ausgewachsen, aber ohne Stoßzähne, also Weibchen.
Dann also war der männliche Elefant der Leitführer, der bei seiner Herde keinen Nebenbuhler duldete? Dann aber war sein Verhalten merkwürdig, wie trotz aller Kleinheit der Figuren ganz deutlich erkennbar.
Dem schwarzen Männchen, im Gegensatz zu den grauen Weibchen riesig zu nennen, schien die Annäherung der holden Weiblichkeit gar nicht angenehm zu sein, oder vielleicht auch gerade das Gegenteil. Er wollte gern, wollte aber auch nicht. Man wurde lebhaft an einen alten, eingefleischten Junggesellen erinnert, der die Bekanntschaft eines schönen Weibes sucht, zu dem er sich hingezogen fühlt, vor dem ihn aber Vernunft und Erfahrung warnt — bis er schließlich doch in die Falle plumpst.
Und nichts anderes war es auch hier. Die Zuschauer bekamen die interessanteste Episode aus dem Jagd- und vielleicht überhaupt ganzen Tierleben zu sehen.
»Ah, ich weiß!«, stellte sich Mephistopheles, als ob er dies nicht erst selbst alles arrangiere. »Passen Sie auf, meine Herrschaften, ein alter Einsiedler wird von Siribeddis gefangen!«
Die meisten kannten die Bedeutung dieser Worte, wenigstens durch Lesen von indischen Jagdschilderungen, ahnten daher auch, was jetzt hier geschehen sollte, die anderen bekamen es schnell erklärt. Im Übrigen wurde man ja selbst Zeuge der ganzen Szene.
Also der schwarze männliche Elefant mit den für seine Größe gewaltigen Stoßzähnen war bei Anblick der grauen Weibchen misstrauisch geworden. Er hatte fressen wollen, jetzt stutzte er, wurde unruhig, wollte weiter, begnügte sich aber damit, den Weibchen den Rücken zu wenden und blieb stehen. Wahrscheinlich war er schon längere Zeit vor den aufdringlichen Weibern geflohen, jetzt ließ er sie näher herankommen, und nun war sein Schicksal besiegelt.
Es waren gezähmte, weibliche Elefanten, zum Fang von wilden Elefanten abgerichtet, besonders zum Fang von sogenannten Einsiedlern. Das sind Männchen, die als überflüssig von der Herde ausgestoßen worden sind, ein verbittertes Junggesellenleben führen und sich immer zu einer ganz besonderen Größe entwickeln. Anders als mit Siribeddis ist so ein alter, schlauer Einsiedler nicht zu fangen. Nur noch die Panikis vermögen es, eingeborene Jäger, wovon aber noch kein einziger Europäer Zeuge geworden ist, wie später berichtet werden soll.
»Siribeddi« heißt »lockendes Weib«, es ist dasselbe wie unsere Sirene, ein griechisches Wort. Es ist eben dieselbe Stammwurzel aus dem Sanskrit, der Mutter aller Sprachen.
Und Sirenen waren es, in deren Schlingen der alte Junggeselle gefallen war, sobald er sich nicht die Ohren verstopfte und vor ihnen floh, in wirkliche Schlingen.
Es ging ja hier viel, viel schneller als in Wirklichkeit, da bedarf das vieler Stunden, aber die Kürze der Zeit war wieder den Größenverhältnissen angepasst.
Das eine Weibchen schlich sich um den schwarzen Elefanten herum, betastete mit der Rüsselspitze liebkosend seinen Nacken, das Ohr, den Rüssel. Da es nun einmal so weit war, ließ sich der alte Krauter das auch gern gefallen, nur dass er noch den anderen trotzig den Rücken kehrte, was aber gerade recht gut war.
Auch noch zwei andere Weibchen beteiligten sich an den Liebkosungen, die anderen machten sich hinter seinem Rücken zu schaffen, sie kehrten noch einmal in das Dickicht zurück, auch in Wirklichkeit ganz unhörbar, brachten ein Seilbündel zum Vorschein, das sie schon mitgebracht und dort einstweilen versteckt hatten, mit wunderbarer Geschicklichkeit wurde das Seil aufgewickelt, von Menschenhänden war schon eine Schlinge hineingeknüpft.
Jetzt wurde die Hauptverführerin noch zärtlicher, schlang ihren Rüssel zweimal um den des Männchens, was die Elefanten in Freiheit wirklich tun, wenn sie ihrer polizeilich erlaubten Gattenliebe starken Ausdruck geben. Gleichzeitig schlang ein anderes Weibchen ihren Rüssel um einen Hinterfuß des Männchens, hob ihn sacht empor, was die Elefanten in Freiheit nun freilich nicht tun, aber der Herr Junggeselle war von der Rüsselumschlingung vorn so entzückt, so in selige Gedanken versunken, dass er von der hinteren Rüsselmanipulation gar nichts merkte, und da hatte ihm auch schon ein drittes Weibchen die Schlinge über den Fuß gestreift, und ein viertes wickelte das Seil schon auf und schlang das andere Ende wiederholt kunstgerecht um einen starken Baumstamm.
»So eine niederträchtige Gemeinheit!«, ließ sich da Atalanta entrüstet vernehmen.
Auch Littlelu wollte wohl etwas sagen, warf aber einen Blick auf seine rote Nachbarin und verschluckte seine Bemerkung, welche Rücksicht es für Hagen nicht gab.
»Ja, so sind sie alle — na geht mir doch weg mit den ganzen Weibern!«, knurrte der grimmig.
»I so was gibt's ja in Wirklichkeit gar nicht!«, sagte dagegen Wilhelm Neumann.
Doch, so etwas gibt es in Wirklichkeit, und die anderen wussten es. Alfred Brehm schildert in seinem »Tierleben« solch einen Elefantenfang durch Siribeddis ganz ausführlich, viel ausführlicher als es hier geschieht.
So wurde auch der andere Hinterfuß gefesselt und dann kamen die Vorderfüße daran. Gleich beim ersten wurde der schwarze Elefant einmal stutzig, wollte die Schlinge mit dem Rüssel abstreifen. Das war aber nur ein Versehen der Hauptverführerin gewesen, sie hatte den dummen Kerl nicht genügend in Sinnestaumel gehalten, und wäre sie nicht geschickt gewesen, so hätte das bös ablaufen können, nämlich wenn er jetzt schon merkte, wie er bereits an den Hinterfüßen gefesselt war. Da er sich noch umdrehen konnte, hätte er sich schnell davon wieder befreit.
Doch die erste Sirene wusste ihren einmaligen Fehler schnell wieder gutzumachen, fasste schnell wieder den tastenden Rüssel, verdoppelte ihre Zärtlichkeiten, und der alte Tölpel ließ sich vollends fesseln.
Vier Seile waren »ausgefahren«, an Baumstämmen befestigt, und nicht nur das, sondern die Füße waren auch kreuzweise untereinander durch Stricke verbunden. Und dieser alte Esel von Elefant hatte davon noch nichts bemerkt. Was dazu gehört, um zahme Elefanten zu so etwas abzurichten, lässt sich wohl denken. Ebenso aber muss man auch bedenken, dass die Veden, die heiligen Bücher der Inder, viele tausend Jahre vor Christi geschrieben worden sind und dass darin von dressierten Elefanten als von etwas ganz Selbstverständlichem erzählt wird, also zu einer Zeit, als man in Europa noch keinen Hund kannte, als Menschen, die schon zu Pferde saßen, für unnatürliche Geschöpfe, für Zentauren gehalten wurden.
Als sie ihn gefangen hatten, zogen sich die Sirenen, ganz wie im menschlichen Leben, zurück, den armen Tropf seinem Schicksal überlassend.
»Wenn er zur Besinnung kommt, beginnt er zu toben, und man wartet, bis er gänzlich erschöpft ist!«, erklärte Mephistopheles einmal etwas aus der Rolle fallend, nämlich weil er sonst immer tat, als wüsste er selbst nicht, was da kommen würde. »Dies wollen wir nicht abwarten, es ist auch eine hässliche Szene. Wir wollen annehmen, dass sich bei der Jagdgesellschaft ein Paniki befindet, ein eingeborener Elefantenfänger. In Wirklichkeit könnte das nicht sein, denn die Panikis bedienen sich niemals der Siribeddis. Also wir machen eine Ausnahme, wir lassen so einen rätselhaften, geheimnisvollen Paniki kommen, den Wundermann unter den Elefantenjägern, der den wilden Elefanten durch seine Zauberei vollends in Fesseln schlägt, nämlich auch in geistige, ihn dann wie ein Lamm gleich abführt.«
Aus den Büschen schlüpfte ein nackter, brauner Mann, das Haar ganz seltsam frisiert, und schlich sich von hinten unter allerhand Beschwörungsgesten an den Elefanten heran.
Um die Hüften hatte er einige Stricke gewickelt, für die Zuschauer natürlich nur Fäden, diese löste er jetzt ab und begann sich mit dem linken Hinterbeine des ruhig dastehenden Elefanten zu beschäftigen.
Was er da trieb, war nicht deutlich zu sehen, dazu war alles doch zu klein. Er wickelte eben einen Faden, für ihn ein ansehnlicher Strick, um das Bein.
»Das dürfte sich der Elefant aber in Wirklichkeit kaum so ruhig gefallen lassen!«, meinte Hagen.
»Das Tier ist bereits bezaubert.«
»So? Wie hat denn das der Kerl gemacht?«
»Haben Sie es nicht gesehen, seine Beschwörungsformeln?«
»Darum dürfte sich der Elefant verflucht wenig kümmern.«
»Und doch, die Panikis verstehen die Elefanten zu bezaubern.«
»Haben Sie das in Wirklichkeit einmal gesehen?«
Der Mephistopheles blieb die Antwort schuldig, man beobachtete weiter.
Ein zweiter Inder, ebenso frisiert, schlüpfte aus dem Dickicht, der ein Feuerchen, einen brennenden Zweig oder so etwas, in der Hand hielt.
Er gesellte sich dem ersten zu, die beiden hantierten weiter, was, das war eben nicht zu unterscheiden.
»Jetzt bekommt der Elefant wohl gleich einen Stempel eingebrannt?«
»Die Elefanten werden gar nicht auf diese Weise markiert.«
»Was tun die beiden denn sonst mit dem Feuer?«
»Sie werden es gleich zu sehen bekommen.«
Die beiden waren fertig, verschwanden wieder, rückwärts gehend, in den Büschen.
Noch stand der Elefant ganz ruhig da, wie erstarrt. Er hatte etwas am linken Hinterfuß, aber dieser war für die Beobachter vom andern verdeckt.
Und so erstarrt sollte er auch dastehen, denn als Mephistopheles jetzt auf den Kastendeckel klopfte, brauchte das Tier nicht noch seine Stellung zu verändern, der Hexenmeister griff hinein, seine Hand war mit einem Federmesser bewaffnet, er durchschnitt die vier Seile oder Fäden, die nach den Baumstämmen gingen, und holte den Elefant heraus.
Und auch Kapitän Hagen starrte, wie er die Figur anblickte, wie er sie nahm.
Sie hatte an jedem Fuß einen abgeschnittenen Faden, die Beine waren auch noch unter dem Leibe kreuzweise gefesselt, und außerdem hatte sie am linken Fuße den Garnring, den ihr Hagen zur Vorsicht angelegt, mit denselben Knoten, wie er sofort erkannt hatte, mit derselben Siegellackplombe, darauf dieselben Zeichen eingeritzt.
Sein Nächstes war, dass er in die Westentasche fuhr. Ja, da hatte er noch seinen eigenen Garnring drin, den der Elefant sofort abgerissen hatte, ohne dabei das Siegel zu verletzen. Und nun konnte man sich davon überzeugen, dass es ganz, ganz genau dasselbe war. Hagens Messerchen war beim Ritzen einmal abgerutscht, hier an diesem noch unzerrissenen Ringe ganz genau dasselbe Merkmal. Es stimmte überhaupt vollkommen überein.
»Teufelskind, wie haben Sie das gemacht?!«, stieß Hagen ganz kopfscheu hervor, und dazu gehörte bei diesem eisernen Manne viel.
»Ich?«, grinste der rote Mephistopheles mit der Hahnenfeder. »Was sprechen Sie denn immer von mir? Haben Sie denn nicht gesehen, wie die Panikis arbeiteten, wie der eine den Ring anlegte, der andere mit dem brennenden Zweig Sieglack schmolz? Ob diese Panikis bei ihrem Elefantenfang immer Siegellack bei sich führen, weiß ich freilich nicht, hähähä, auch nicht, ob sie überhaupt auf diese Weise die Elefanten fangen, ihnen solch einen Seilring anlegen — jedenfalls aber haben Sie doch nun gesehen, dass diese Panikis mehr können als Brotessen, was Sie vorhin bezweifelt haben, hahähä.«
»Ja, das ist aber doch keine Illusion mehr!«, stieß Hagen immer noch ganz erregt hervor.
»Illusion? Wer hat denn von Illusion gesprochen?«
»Sie selbst nannten das alles nur Träume von Nippfiguren.«
»Ganz richtig. Und ich versichere Ihnen, dass das ganze Leben nur ein Traum ist, wie von je her alle indischen Weisen behauptet haben. Oder gut denn, nennen Sie es eine Illusion, dann aber ist das ganze Leben auch nur eine Illusion.«
»So kommen wir nicht weiter, geben Sie uns eine Erklärung, wie Sie das machen.«
»Ich werde Ihnen später die Erklärung geben —«
»Gut, wir nehmen Sie beim Wort!«, rief Atalanta. »Jetzt wollen wir sie noch gar nicht haben, wir wollen weiter im Zauber einer reizvollen Täuschung gefangen bleiben. Nun aber erst eine andere Frage, Sie wunderbarer Hexenmeister. Sie ließen doch vorhin die Bleisoldaten aus dem Kasten herausmarschieren, auch der Elefant bewegte sich schon außerhalb des Kastens, also scheinen Sie diesen Kasten doch gar nicht zum Hervorbringen der Illusionen — denn weiter ist es ja doch nichts — nötig zu haben?«
»Nein, dieser ganz einfach aus Holzbrettern zusammengenagelte Kasten dient gewissermaßen auch nur als Bühne, um den Szenen immer einen geschlossenen Rahmen zu geben.«
»Also können Sie jede Figur auch hier auf der Tischplatte lebendig machen?«
»Kann ich!«, wurde gegrinst.
»Jede Figur?«
»Jede Figur!«, wurde bestätigt.
»Also war es vorhin gar nicht wahr, als Sie sagten, es käme darauf an, ob Sie es könnten oder nicht, Kapitän Hagen müsse seine Figur erst bringen?«
»Nein, das war nicht nötig!«, gab der Gaukler jetzt der Wahrheit die Ehre. »Das war nur so ein Einwand, wie ihn jeder Zauberkünstler einmal macht, um das Publikum — hinzuhalten, wollen wir sagen.«
»Hinzuhalten, aha! Daraus entnehmen kann ich mir jetzt freilich nicht viel. Also auch ich kann Ihnen irgend eine Figur bringen?«
»Bitte, gnädige Frau Gräfin, bringen Sie mir eine.«
»Wenn dem so ist, dann ist das ja nicht nötig, ich habe nämlich auch gar keine in meinen Koffern. Dann können wir ja auch gleich so eine nehmen, und ob es nun Omnihilit oder Porzellan oder sonst etwas ist, das tut dabei ja nichts zur Sache. Erlauben Sie, dass ich einmal in Ihre Spielschachteln blicke, eine Figur wähle?«
»Bitte sehr.«
Es waren mehrere Schachteln, darin eine Auswahl der allerverschiedensten Nippfiguren. Atalanta nahm aber wiederum eine Tänzerin, diesmal eine richtige Balletteuse im flitterbesetzten Gazeröckchen, mit natürlichen Farben, acht Zentimeter hoch, wozu noch der eine erhobene Arm kam, nach allem Urteil aus Porzellan, innen hohl, wie man von unten sehen konnte, wiederum ein vollendetes Kunstwerk. Außer Brillantschmuck in den Haaren trug sie ein Perlenhalsband und an den Fingern einige Ringe, natürlich alles aus starrem Porzellan.
»So. Bitte, machen Sie dieses Püppchen außerhalb des Kastens lebendig, lassen Sie die Balletteuse tanzen.«
»Wie gnädige Frau Gräfin befehlen.«
Er sah sich um.
»Wem gehört jener steife Hut dort?«
Es war der von Hagen, der nach echter deutscher Seemannsart, wenn er an Land ging oder sich überhaupt außer Dienst befand, nur einen steifen Hut trug.
»Bitte, wollen Sie mir ihn geben.«
Der Gaukler nahm ihn, hielt ihn in Kopfhöhe, die Öffnung seitwärts den Zuschauern zugekehrt, und machte einige Handbewegungen davor.
»Nun tanze, mein Püppchen, tanze.«
Und die Balletteuse begann in dem Hute zu tanzen, wie eben eine Balletteuse tanzt.
»Reizend, entzückend!«, erklang es jubelnd.
Es war ja eigentlich ganz dasselbe wie in dem Kasten, und dennoch wieder etwas ganz anderes.
»Nun setze ich die Figur auf den Tisch — so, nun tanze, mein Püppchen, immer tanze.«
Und die Figur tanzte auf der freien Tischplatte.
»Der hat erst eine Käseglocke darüber gesetzt!«, sagte Littlelu.
Wirklich, bei scharfer Beobachtung konnte man auf solch eine Vermutung kommen. Vorhin hatte er erst vor der Hutöffnung solche eigentümliche Bewegungen mit der Hand gemacht, jetzt mit beiden Händen über der Tänzerin, nur im Anfang, später nicht mehr. Also konnte es recht wohl sein, dass er vor dem Hute erst eine Omnihilitplatte angebracht hatte, auf der die Bewegungen nur vorgegaukelt wurden, jetzt über die Figur auf dem Tische eine Glocke gestülpt hatte.
»Käseglocke?«, spottete der Mephistopheles. »Wollen Sie sich einmal überzeugen, dass —«
Da hatte Hagen schon schnell zugegriffen, ehe der Gaukler Zeit gehabt hätte, etwas zu verändern.
Es war eine starre Porzellanfigur, die er gepackt hatte, natürlich in der ursprünglichen Stellung.
»Gerade, als ich angriff, hatte sie aber mit beiden Händen ihr Röckchen gefasst, hatte nicht das rechte, sondern das linke Bein gehoben.«
»Kann ich dafür, wenn das Blitzmädel so flink ist?«, grinste der Mephisto.
Hagen setzte die Figur wieder auf den Tisch, und sofort fing das Püppchen wieder zu tanzen an. Und diesmal hatte der Hexenmeister keine Handbewegungen gemacht, hatte sich von vornherein in einiger Entfernung gehalten, worauf er besonders aufmerksam machte.
»Jetzt greifen Sie einmal zu!«, rief er, als die Tänzerin ihren geschmeidigen Leib weit hintenüber bog, auch beide Arme nach rückwärts.
Hagen tat es, und jetzt hatte die Porzellanfigur auch diese starre Stellung angenommen, den Leib zurückgebogen und mit den Händen rücklings fast den Boden berührend.
»Es ist eben kein Porzellan, sondern Omnihilit, das Sie beliebig geschmeidig machen und wieder erstarren lassen können.«
»Meine Herren«, rief da Atalanta, »suchen Sie nicht nach solchen Erklärungen, die absolut keine sind und das Rätsel nur noch größer machen würden!«
»Sehr richtig!«, bestätigte der Hexenmeister. »Nun aber muss ich die Vorstellung leider abbrechen. Ich wollte die Figur auch noch auf Ihrer eigenen Hand tanzen lassen, dass Sie die Bewegungen der trippelnden Füßchen fühlen, auch diese Tänzerin sollte noch ihr Geschmeide ablegen, es Ihnen selbst überreichen, allein — meine Nippfiguren haben bald ausgeschlafen, werden gleich erwachen. und da ist es mit der Träumerei natürlich vorbei.«
»Und die Erklärung?«
»Die gebe ich Ihnen in den nächsten Tagen. Sie muss mit experimentalen Demonstrationen erfolgen, sonst würden Sie es gar nicht verstehen oder aber das Rätsel nur noch größer finden. Und es ist tatsächlich ganz einfach — wenn man, die alte Geschichte, das Geheimnis kennt, hinter die Kulissen blickt.«
»Was wagst Du mir da zu sagen, Sahiba? Eine Harani-
waka in meinem Hause?!«, rief der Hindu empört aus.
Es war unterdessen nachts zwei Uhr geworden. Nur Kapitän Nowhere hatte schon vor einiger Zeit das Zimmer verlassen. Da klingelte das auch hier wie in jedem anderen Raume angebrachte Telefon, ein Kastenapparat, wenig von dem allgemein gebräuchlichen verschieden.
Frau Gräfin von Felsmark wurde gebeten.
»Hier bin ich. Wer ist dort?«
»Kapitän Nowhere. Können Sie einmal in meine Kajüte kommen? Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Wenn die Vorstellung nicht gerade sehr interessant ist —«
»Sie ist soeben beendet.«
»Dann bitte ich Sie. An der Tür erwartet Sie ein Diener.«
Atalanta folgte dem schwarzen Diener durch mehrere Liftzüge und Korridore nach der Kajüte, die ganz unten und ganz hinten lag und in der es zu merkwürdig aussah, als dass man sie gleich beschreiben könnte.
»Ich habe bereits mit einem Lemurenpriester gesprochen!«, empfing sie der Kapitän.
»Haben Sie?! Es war einer selbst hier?«
»Ja. Ich habe mich mit ihnen in Verbindung zu setzen gewusst, einer hat meiner Einladung Folge geleistet und ist an Bord gekommen, ein Boot hat ihn abgeholt. Er wollte niemand anders sehen, am wenigsten einen der Kolonisten der Insel, es hängt wohl mit einem Versprechen zusammen, sonst hätte ich Sie natürlich geholt, dass Sie selbst alles hörten — soweit es das Thema der Unterhaltung zuließ. Also es ist nicht möglich, dass mein Luftschiff auch für die Mahatmas, die mich ständig beobachten, unsichtbar zu machen ist. Wohl geht es, sonst könnten die Lemuren ja auch nicht diese ihre Insel dem Gesichtskreis der Mahatmas entziehen, aber dazu muss das Luftschiff immer auf ein und derselben Stelle ruhen, es bedarf auch einiger Zeit, ehe die Sache in Funktion tritt, und ändert es seine Lage auch nur um einige Zentimeter oder es braucht sich auch nur zu drehen, so ist es eben vorbei, es müssten wieder neue langwierige Vorbereitungen getroffen werden.«
»Das heißt mit anderen Worten: Ich muss Ihre Gefangene bleiben?«
»Sie sagen es.«
»Nun, ich habe Ihnen ja schon erklärt, dass ich recht gern Ihre Gefangene bleibe. Dass ich allerdings niemals ein Luftboot benutzen kann, das tut mir leid.«
»Und ich habe dennoch ein Mittel gefunden, dass ich es Ihnen gestatten kann, dass Sie sogar einmal einen Ausflug nach der Erdoberfläche machen können.«
»Das wäre ja prächtig! Was für ein Mittel ist das?!«
»Durch Sebastians — so heißt Ihr Mephistopheles für mich — neueste Erfindung auf dem Gebiete der Illusion bin ich auf den Ausweg gekommen, oder eigentlich hat mich der Lemurenpriester darauf aufmerksam gemacht, denn dieser wohnte der Vorstellung bei, wenigstens dem Elefantenfang —«
»Der Lemurenpriester war mit in unserem Zimmer?!«
»Nein. wir beobachteten es hier in der Camera obscura. Für den war das gar nichts Neues mehr, obgleich er so etwas noch nie gesehen hat, nicht die Mittel besitzt, um es nachzumachen. Er durchschaute eben gleich den Kern der ganzen Gaukelei und gab mir dann den Rat, wie ich das in Bezug auf Sie verwerten kann. Hat Ihnen Sebastian schon eine Erklärung gegeben?«
»Nein, noch nicht.«
»Im Grunde genommen ist es höchst einfach. Die Hauptsache dabei ist Wasserdampf und der Augenspiegel. Was ich hiermit meine, wissen Sie doch?«
»Wasserdampf und der Augenspiegel?«, wiederholte Atalanta verwundert, »Ich verstehe nicht im Geringsten.«
»Haben Sie nicht gemerkt, dass die Luft in jenem Zimmer viel Wasserdampf enthielt?«
Wirklich, jetzt entsann sich Atalanta, dass es in dem Zimmer sehr feucht gewesen war, aber eben jetzt erst dachte sie daran, vorhin war ihr das gar nicht weiter aufgefallen.
»Sebastian besitzt ein Mittel, um den Wasserdampf an irgend einer Stelle in der Luft erstarren zu lassen, er lässt das feinverteilte Wasser, Wasserbläschen, im Moment im vierten Aggregatzustand gefrieren, sodass also das sogenannte Omnihilit entsteht. Das erreicht er durch eine besondere Art von Lichtstrahlen, für das menschliche Auge unsichtbar. Lichtstrahlen ist vielleicht ein unrichtiger Ausdruck, es müsste wohl eher Äther- oder Energieschwingungen heißen, doch das ist ja Nebensache. Die Länge dieser Energiewellen kann er nach Willkür bestimmen, und so kann er überall, wo er will, eine Omnihilitplatte oder eine Kugel oder eine Glocke entstehen lassen. Unterbricht er die Schwingungen, so ist das Omnihilit verschwunden, es ist eben gewöhnlicher Wasserdampf, schaltet er den Strom wieder ein, ist das starre Omnihilit wieder da.
Die zweite Hauptsache dabei ist der Augenspiegel. Hat Ihnen Sebastian schon von diesem Apparat erzählt?«
»Noch gar nichts. Ich kenne einen Augenspiegel, wie ihn die Ärzte verwenden, um das Auge zu untersuchen.«
»Nein, das hier ist wieder etwas ganz anderes. Und doch, ein leiser Zusammenhang besteht dabei. Sollte Sebastian, der sich Zeit seines Lebens mit solchen Experimenten beschäftigt hat, fremde Ideen in seiner genialen Weise immer weiter ausbauend, sie in die Praxis umsetzend, in seinen Werkstätten an Ihrem Sklavensee nicht viele Einrichtungen zum Erzeugen von lebenden Bildern gehabt haben?!«
Ja, davon konnte Atalanta berichten.
»Waren da nicht auch Szenen dabei, welche unmöglich nach der Wirklichkeit kinematografiert sein konnten?«
Allerdings. Die Jagd auf den Höhlenbären war nur ein einziges Beispiel, das wir angeführt hatten, damals bei der Besichtigung des »Hauses mit den 10 000 Zimmern«, da hatte es aber noch ganz andere Szenen gegeben.
»Ja, wie bringt er das eigentlich zustande?«
»Hat er Ihnen das nicht erklärt?«
»Dann würde ich Sie jetzt nicht fragen.«
»Mich wundert aber, dass Sie nicht auf eine Erklärung gedrungen haben.«
»Er versprach sie uns immer, wusste uns aber immer hinzuhalten, und zwar auf eine Weise, dass wir ganz das weitere Fragen vergaßen, indem er uns eben immer Neues, noch Erstaunlicheres zeigte.«
»Ja, das ist Sebastian. Und in diesem Falle würde er es wahrscheinlich gerade wieder so machen. Bei mir aber gibt es so etwas nicht. Ehe ich ihm erlaubte, dass er hier an Bord meines Schiffes seinen Hokuspokus treibe, musste er mir eine vollständige Erklärung geben. Ich hatte also schon vorher einer kleinen Vorstellung beigewohnt und konnte dabei gleich hinter die Kulissen blicken.
Nun erlauben Sie mir einige Fragen. Sind Sie schon in Indien gewesen?«
»Nein.«
»Sie haben also noch nicht die Illusionsgaukeleien der Fakire gesehen?«
»Doch, aber nicht in Indien. Aber dort am Sklavensee wurden solche Gaukeleien genug in kinematografischen Bildern gezeigt —«
»Das ist nichts, das meine ich nicht. In Wirklichkeit von indischen Fakiren ausgeführt.«
»Ja, auch das habe ich gesehen.«
»Wo?«
»An Bord des ›Oststerns‹, da waren einige Fakire, welche besonders die Frauen damit manchmal unterhalten mussten —«
»Ah, richtig, an Bord dieses indischen Schiffes müssen Sie oft Gelegenheit gehabt haben, solche Illusionen zu beobachten. Haben Sie gesehen, wie einer den Mangobaum wachsen ließ?«
»Oft genug.«
»Haben Sie versucht, den Baum zu fotografieren?!«
»Das ist nicht möglich.«
»Weshalb nicht?«
»Weil es eben gar keine Wirklichkeit ist.«
»Sondern?«
»Nur eine eingebildete Illusion, durch Gedankenübertragung des Fakirs entstanden, der seine Willensenergie durch besondere Weise bis zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet hat.«
»Eine höchste Vollkommenheit gibt es nicht, Was ist, kann noch immer übertroffen werden. Doch lassen wir das. Also es ist eine Illusion, was man sieht. Was ist eine Illusion?«
»Ein Phantasiegebilde, das man nur zu sehen glaubt.«
»Und solch eine Illusion kann man nicht auf der fotografischen Platte fixieren?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Selbstverständlich nicht«, wiederholte der Kapitän, »so, hm. Bitte, Frau Gräfin, blicken Sie dort einmal in den Wandspiegel.«
Atalanta tat es, sah ihr eigenes Bild, nicht wissend, was da kommen würde, erwartete irgend eine große Zauberei, woraus aber nichts werden sollte.
»Was sehen Sie?«
»Nun, mich selbst, und hinter mir die Möbel Ihrer Kajüte.«
»Können Sie Ihr Spiegelbild dort fotografieren?«
»Ja, das kann ich natürlich.«
»Natürlich, so, hm. Ist denn Ihr Ebenbild, das Sie dort im Spiegel sehen, eine Wirklichkeit?«
Nun wusste die scharfsinnige Indianerin schon, wo hinaus jener wollte.
Jetzt kam ein Thema daran, bei dessen Besprechung man sich immer im Kreise dreht, ohne zu einen. Ziele zu gelangen, nämlich wenn man dabei die letzten Konsequenzen ziehen will.
Für uns erscheint es ja höchst einfach, überhaupt selbstverständlich, dass man ein Spiegelbild auch fotografieren kann. Warum denn nur nicht?
Aber wenn man die Sache logisch bis auf den Grund verfolgen will, so kann man das nicht, es ist einfach unbegreiflich, Etwas, was keine Wirklichkeit hat, eigentlich gar nicht existiert, für immer zu fixieren.
»Kennen Sie«, fuhr der Kapitän in sokratischer Belehrungsform fort, »einen natürlichen Fotografenapparat, den die Natur selbst geschaffen hat?«
»Ja. Das menschliche Auge. Wohl überhaupt das Auge eines jeden Tieres.«
»Richtig, Das Auge ist das Modell, nach dem wir unseren Fotografenapparat konstruiert haben, nur ganz mangelhaft, indem wir vor allen Dingen die blitzschnelle Einstellung für weite und kurze Entfernung nicht nachahmen können. Auf der Netzhaut projiziert sich der gesehene Gegenstand in umgekehrter Form, dieses Bild wird durch die Nervenstränge nach dem Gehirn geleitet, in derselben Weise, wie wir es jetzt wieder mit der telegrafischen Fernzeichnung oder Fernschrift nachzuahmen versuchen, eben mit der telegrafischen Fernfotografie, im Gehirn kommt das gesehene Bild in positiver Form zur Erkenntnis, was das Kind nach und nach erst lernen muss, welcher Selbstunterricht durch Erfahrung sich nur unserem Bewusstsein entzieht. Halten Sie es nun für möglich, dass auf der Netzhaut des Auges ein Bild entsteht, ohne dass dieses Bild als reale Wirklichkeit gesehen wird?«
»Wie meinen Sie das? Das verstehe ich nicht recht.«
»Ja, ich will gleich sagen, es ist möglich, Wenn Sie einen Gegenstand fotografieren, die fertig gestellte Platte, durchsichtig, vor eine Laterna magica bringen, so können Sie dieses Bild gegen eine Wand werfen, es auch wieder in einem Spiegel erscheinen lassen. Haben Sie ein Spiegelbild fotografiert, so erscheint im Spiegel sogar ein Bild, dessen Wirklichkeit eigentlich gar nicht existiert. Ich weiß, dass ich mich etwas unklar ausdrücke, aber es ist anders nicht möglich, dafür fehlen uns noch die Worte.
Was wir da nun experimentieren, sollte das nicht auch die Natur fertig bringen? Ganz gewiss. Die Sache ist nämlich die: Wenn Sie die Illusion durch Gedankenkraft und Gedankenübertragung solch eines Fakirs erblicken, so lässt sich das Bild, wir wollen beim Mangobaum bleiben, zwar nicht mit einem mechanischen, chemisch wirkenden Apparat fotografieren, das stimmt, wohl aber entsteht das Bild des Mangobaumes, obgleich es nur eine Illusion, eine Einbildung ist, auf der Netzhaut Ihres Auges.«
»Wirklich?«, staunte Atalanta mit Recht — oder eigentlich mit Unrecht, wie ihr gleich gezeigt wurde.
»So ist es. Und da ist auch gar nichts Wunderbares dabei. Hierbei geht die ganze Sache nur umgekehrt vor sich. Hier wird zuerst ihr Gehirn angeregt, Sie sehen den Mangobaum zuerst geistig, und nun leiten die Nervenstränge das im Geiste, im Gehirn entstandene Bild nach der Netzhaut des Auges, projizieren es hier als Bild mit wirklichen Umrissen und Formen.
Dass es wirklich so ist, ist schon längst durch Experimente erwiesen, nicht etwa von den Mahatmas, sondern von Ihren Physiologen, von Ärzten. Man hat einst hierauf große Hoffnungen gesetzt, besonders die Kriminaljustiz. Was ein Mensch im letzten Todeskampfe erblickt, das ist auf seiner Netzhaut fixiert. Wenn ein Mensch ermordet wird, er wird von vorn mit einem Beile niedergeschlagen, ihm der Kopf gespalten, sodass fast augenblicklich der Tod eintritt, und der Getroffene hat bis zum letzten Moment seinen Mörder gesehen, so zeigt sich dann auf seiner herausoperierten Netzhaut das fixierte Bild des Mörders, wie er mit dem Beile vor ihm steht.
Das ist Tatsache, ist durch künstliche Experimente erwiesen. Man hat in Amerika Delinquenten, die durch Elektrizität hingerichtet wurden, daraufhin genug untersucht und gefunden, dass ihre Netzhaut meist das fixiert hatte, was sie zuletzt gesehen.
Meist! Die Sache, die so hoffnungsvoll aussieht, hat einen bösen Haken, Für das Kriminalwesen ist sie ganz und gar unbrauchbar. Man hat nämlich gefunden, dass auf der Netzhaut im Tode Bilder, Personen, erstarrt sind, die der Betreffende unmöglich in Wirklichkeit gesehen haben kann. Hierdurch eben ist man zur Überzeugung gekommen, dass solche Bilder auch von innen aus dem Gehirn heraus auf die Netzhaut projiziert werden können, obgleich man hierauf schon durch logische Schlussfolgerung hätte kommen müssen. In dem Augenblick, da der Tod eintritt, hat der Mensch eine ganz besonders rege Phantasie, eine ungeheure Einbildungskraft, davon weiß jeder zu erzählen, der einmal in momentaner Todesgefahr geschwebt hat, besonders diejenigen, die einmal recht hoch herabgestürzt sind, können davon berichten. In dem Moment, da sie aufschlagen, wovon sie fast immer gar nichts merken, mindestens fühlen sie nichts von Schmerz, nicht, wie ihre Knochen zersplittern, durchträumen sie noch einmal ihr ganzes Leben. Und das alles sehen sie in lebendiger Wirklichkeit.
Jener Mann also, um zu unserem ersten Beispiel zurückzukehren, der von einem anderen mit einem Beile niedergeschlagen wird, hat auf seiner im Tode erstarrten Netzhaut vielleicht nicht die Fotografie seines Mörders, sondern die seiner Mutter, im Lehnstuhle mit dem Strickstrumpfe sitzend, denn an diese hat er im Augenblick des Todes so lebhaft gedacht, dass er sie deutlich vor Augen hatte, ihr Bild wurde von innen heraus auf seine Netzhaut projiziert. Meist aber sieht man auf den Netzhäuten von solchen plötzlich Gestorbenen ganz tolle Bilder. Für die Kriminaljustiz kann das als Beweismittel also nicht in Betracht kommen.
Hierauf nun beruht die Gaukelei unseres Sebastians. In dem Zimmer befindet sich ein Mann, so ein Illusionsfakir, wenn es auch kein Inder ist, sondern ein Old-Engländer. Freilich nicht mehr als solcher zu erkennen. Durch asketische Übungen zur Mumie zusammengetrocknet. Der bildet sich, was das Publikum sehen soll, alles in seiner Phantasie so lebhaft ein, dass es wirklich vor seinen Augen steht, und es ist gar nicht richtig, da von geistigen Augen zu sprechen, denn die Bilder projizieren sich wirklich auf seiner Netzhaut, nur eben auf umgekehrtem Wege, von innen heraus.
Und nun hat Sebastian einen doppelten Spiegel konstruiert. In dem einen spiegelt er die Netzhaut des Fakirs, mit dem anderen wirft er die vergrößerten Bilder dorthin, wo das Publikum sie sehen soll, also auf die Omnihilitplatten oder Glocken. Seine Nippfiguren hat er natürlich gar nicht nötig, die dienen nur als Szenerie, um das Publikum eben in den richtigen Wahn zu bringen, oder vielleicht auch, dass sie die Phantasie des Fakirs noch besonders anregen. Das ist die ganze Erklärung.«
Ja, die Erklärung war gegeben. Für Atalanta waren natürlich erst recht Unbegreiflichkeiten entstanden, und sie sprach es aus.
»Ja Du lieber Gott«, sagte Kapitän Nowhere, »da müssen Sie eben Vergleiche ziehen. Nehmen Sie nur an, vor fünfzig Jahren wäre ein Mann mit seinem von ihm erfundenen Kinematografenapparat aufgetreten, ohne sein Geheimnis zu verraten. Was hätte denn die Welt zu diesen lebenden Bildern gesagt? Und vor zweihundert, mindestens vor dreihundert Jahren wäre er als Hexenmeister auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Wegen dieser Kinematografie? Nein, nur wegen eines Mikroskops, das nur hundertfach vergrößert. So ändern sich eben die Zeiten. Sie wundern sich, dass solche Gedankenbilder so natürlich wiedergegeben werden können? Sie müssen nur bedenken, dass dieser Mann, den Sie Mephistopheles nennen, die theoretischen Ideen dazu von einer geheimen Brüderschaft erhalten hat, welche der anderen Menschheit immer um mindestens tausend Jahre voraus ist. Dass dieser Mann mit der praktischen Ausführung solcher Ideen sich sein ganzes Leben lang intensiv beschäftigt hat. Dass er außerdem noch die genialsten Mitarbeiter gehabt hat. Und wissen Sie, wie diese Fakire sich solche Illusionskraft aneignen? Das kann man eigentlich nur selbst durchmachen. Ich aber danke dafür. Je mehr sie sich darin vervollkommnen, desto mehr trocknen sie zur Mumie aus, sind überhaupt gar keine Menschen mehr, weder körperlich noch geistig, sind weder tot noch richtig lebendig. Außerdem hypnotisieren sie sich erst selbst, ehe sie andere hypnotisieren, benutzen auch eine ganz besondere Art von Hypnose dazu, den Abendländern noch ganz unbekannt, und das Sichselbsthypnotisieren ist etwas so Furchtbares, dass Gott jeden Menschen vor einer Nachahmung gnädig bewahren möge. Haben Sie es auf dem indischen Schiffe nicht beobachtet? Ich werde Ihnen Gelegenheit dazu geben, wenn Sie den Anblick ertragen können; es sieht scheußlich aus.«
»Nun gut, das Hervorbringen der Illusionsbilder will ich begreifen, so schwer es mir auch fällt!«, sagte Atalanta. »Aber da sind noch eine Menge anderer Rätsel dabei.«
»Was für welche?«
»Wie machte er das, dass man, wenn man in den Kasten hineingriff, eine ganz intensive Hitze verspürte. die aber doch nicht ausstrahlte?«
»O, das war doch eine ganz einfache Gaukelei!«
»Für mich aber unerklärlich.«
»Sie denken wohl, der hat eine besondere Art von Feuer, welches wohl heiß ist, aber keine Hitze ausstrahlt?«
»Fast möchte ich so etwas annehmen.«
»O nein«, lachte der Kapitän, »hinter dem Kasten steht eben jemand, er hält der hineingreifenden Hand eine kleine elektrische Batterie hin, die glühende Hitze ausstrahlt. Zieht er sie wieder zurück, ist auch die Hitze wieder vorbei.«
Ja, dann freilich war das ganz einfach — hier für diese nun einmal gegebenen Verhältnisse.
»Man sah aber doch niemanden hinter dem Kasten stehen, der dies hätte ausführen können?«
»Der war natürlich unsichtbar, in ein Tarngewand gekleidet, wie auch der Fakir, und der Hexenmeister hat eine ganze Menge solcher unsichtbaren Diener zu seiner Verfügung stehen.«
Auf diesen Gedanken hätte Atalanta eigentlich von selbst kommen können. Jetzt wunderte sie sich, dass es nicht der Fall gewesen war. Sie war eben von dem Vorgeführten ganz gefangen gewesen.
»Und dass die Figuren dann manchmal andere Stellungen eingenommen hatten?«
»Einfach Omnihilit, das sich biegen lässt, wenn man nur will.«
»Die erste Tänzerin entkleidete sich?«
»Suggerierte Einbildung, die Sie schauten.«
»Nein, sie gab doch Kleidungsgegenstände und Schmucksachen heraus.«
»Die kann er von der Omnihilitfigur wirklich abstreifen.«
»Wir hätten aber auch jede andere Figur selbst bringen können.«
»Da hätte er es eben wieder anders arrangiert. Ach, was meinen Sie, was der für eine Unmenge von Figuren vorrätig hält?! Was Sie da in den Spielschachteln gesehen haben, das war nur der hundertste Teil davon. Und er ist eben auch sonst ein unübertrefflicher Taschenspieler, der Zeit seines Lebens nichts als solche Gaukeleien im Kopfe gehabt hat, den Sie niemals fangen.«
»Also auch das Elefantenragout war schon zubereitet?«
»Na ganz gewiss doch, Sie glauben doch nicht an übernatürliche Wunder? Dass der einen Elefanten braten und kochen kann? Der hätte eben überhaupt mit einem Elefanten experimentiert. Da Kapitän Hagen einen solchen brachte — nun, desto besser.«
»Und zum Beispiel das gebratene Herz?«
»Das war wahrscheinlich ein Taubenherz.«
»Er sagte, jeder anatomisch gebildete Zoologe würde bestätigen, dass es wirklich das Miniaturherz eines Elefanten sei.«
»Jawohl, hat sich was!«, lachte Nowhere. »Und warum haben Sie denn das Herz nicht aufgehoben? Und hätten Sie es getan, so hätte dieser Gaukler immer wieder ein anderes Mittel gewusst, um Ihnen etwas vorzutäuschen.«
»Er wollte eine Figur auch auf meiner Hand tanzen lassen, ich sollte die Füßchen trippeln fühlen.«
»Sie hätten gar nichts auf Ihrer Hand gehabt, der hätte die Figur zuvor im Ärmel verschwinden lassen, und so ein unsichtbarer Helfershelfer hätte mit der Fingerspitze immer auf ihre ausgestreckte Hand getippt oder jenes Gefühl sonst wie hervorgebracht,«
»Nein, hält man so etwas nur für möglich?«, rief Atalanta. »Ja, wie war das aber nun mit dem Fadenringe, den Kapitän Hagen dem Elefanten angelegt hatte?«
Nowhere machte ein etwas ärgerliches Gesicht.
»Ja, das war etwas, was mir gar nicht recht gepasst hat. Hier hat sich mein Sebastian einmal zu viel herausgenommen. Hätte ich das gewusst, das hätte ich ihm nicht gestattet. Er mag's Kapitän Hagen nur selbst erklären, wenn ihm das der deutsche Kapitän übel nimmt, mir wär's ganz recht.«
»Darf ich es nicht erfahren?«
»Ja, aber sagen Sie es Herrn Kapitän Hagen lieber nicht, das mag Sebastian nur selbst tun. Er hat ihm den abgerissenen Fadenring einfach aus der Westentasche heraus praktiziert und dann wieder hinein, oder einer der unsichtbaren Diener hat es tun müssen, und unterdessen ist der Ring und das Siegel genau nachgeahmt worden. Diese Kerls bringen alles fertig. Aber dass man einem Zuschauer wider dessen Wissen und Willen in der Tasche herumfingert, das geht zu weit, wenigstens an Bord meines Schiffes dulde ich so etwas nicht, dafür muss sich Sebastian noch entschuldigen.«
Mehr wusste Atalanta vorläufig nicht zu fragen.
»Was ich jetzt zu hören bekommen habe, das muss ich erst langsam verdauen. Und was ist das nun für ein Mittel, durch welches Sie mir zeitweilig Urlaub geben können?«
»Es beruht auf demselben Prinzip der Hervorbringung einer Illusion von handgreiflicher Deutlichkeit. Sie sitzen scheinbar an Deck, während Sie in einer Verkleidung und auch sonst in ganz anderer Maske eine Bootsfahrt machen oder sich auch einmal an Land begeben können.«
»Was, das sollte wirklich möglich sein, dass mein Illusionsbild beweglich an Deck sitzt?!«, staunte Atalanta.
»Da gibt es gar nichts Wunderbares dabei. Ich habe Sebastian noch gar nicht deswegen gefragt, für mich ist es selbstverständlich, dass er das, was er hier im Kleinen bewerkstelligte, auch im Großen ausführen kann. Wegen des Problems der Entwicklung von Wasserdämpfen im Freien habe ich bereits eine gute Idee. Ja, es lässt sich ausführen.«
»Und die Mahatmas, die Sie beständig beobachten, würden sich durch solch ein Illusionsbild täuschen lassen?«
»Ganz sicher. Das hat mir der Lemurenpriester bestätigt, und ich weiß es selbst. Da sehen Sie wieder, wie es mit uns Menschen beschaffen ist. Kein Hund lässt sich durch solch ein Spiegelbild täuschen, aber die Mahatmas besitzen kein Mittel, um die Wirklichkeit von einer derartigen Illusion zu unterscheiden.«
»Dann kann ich mich aber doch überhaupt in einer Maske entfernen, das Spiegelbild an Deck wäre gar nicht nötig. Ich halte mich vorgeblich einfach unter Deck auf.«
»Nein, dann wäre das Risiko für mich zu groß. Nur so wage ich es, Sie ab und zu von Bord zu lassen, und mein Risiko dabei ist noch immer groß genug. Sie sehen eben, wie gern ich Ihnen die Gefangenschaft erleichtern möchte. Auf Ihr Ehrenwort, das Sie mir stets zu geben haben, kann ich ja unbedingt bauen.«
»Kann ich dabei nicht ein Tarngewand benutzen?«
»Hätte keinen Zweck, die Mahatmas verstehen diese scheinbare Unsichtbarkeit oder richtiger Durchsichtigkeit aufzuheben, auf jede Entfernung hin, hierzu haben sie ein Mittel, wie auch ich, wie alle wir Eingeweihten.«
»Und von einer einfachen Maske lassen sie sich täuschen?«
»Wenn die Maske gut genug ist, ja. Es ist eben die alte Geschichte: Das Allereinfachste ist immer das Allerbeste. Und eine Hundenase ist eben durch nichts Künstliches zu ersetzen. Die witternde Nase eines guten Hundes ist etwas viel, viel Wunderbareres als alles, was Sie heute Abend geschaut haben und was wir Ihnen je vorführen können.«
»Ich soll Ihnen mein Ehrenwort geben, wenn ich Urlaub erhalte, sagten Sie. Also doch nur, dass ich zur bestimmten Zeit an Bord zurückkomme. Das gilt doch immer nur von Fall zu Fall?«
Aufmerksam blickte der Kapitän die Sprecherin an.
»Frau Gräfin denken an eine Flucht?«
»Nein!«, erklang es aufs Bestimmteste zurück. »Das heißt, nicht jetzt! Mit keinem Gedanken! Aber es könnte doch einmal die Zeit kommen, da ich meine völlige Freiheit wiederhaben möchte, die Sie mir nicht zurückgeben wollen,«
»Bitte, Frau Gräfin, habe ich denn etwa schon Ihr Ehrenwort gefordert, dass Sie nie an eine Flucht denken sollen? Und so etwas würde ich auch keinem anderen Menschen gegenüber tun, und wenn es mein Todfeind wäre, den ich über alles zu fürchten hätte, denn so etwas ginge meiner Ansicht nach geradezu gegen alle Menschenrechte, das wäre ein Missbrauch mit dem Ehrenworte, dem man unbedingt traut. Nein, ich habe nicht Ihr Ehrenwort gefordert, dass Sie nie entfliehen wollen, und werde es niemals tun. Nur von Fall zu Fall, wenn ich Ihnen einen Urlaub gebe, und das ist doch etwas ganz anderes. Dass Sie mir sonst nicht entfliehen, dafür werde ich schon Vorsichtsmaßregeln treffen.«
»Gut, dann ist diese Sache ja erledigt.«
»Ja, diese Sache ist erledigt, wir brauchen nie wieder darüber zu sprechen. Nun aber gleich noch etwas anderes. Ich sagte Ihnen gleich bei unserer ersten Unterredung, dass Sie über die Bewegungen meines Luftschiffes frei bestimmen könnten. Soll es hier liegen bleiben, so bleibt es liegen, wünschen Sie hierhin oder dorthin, so fährt es hin, wünschen Sie eine Reise um die Erde, so wird sie gemacht, auf jedem Längen- oder Breitengrade, den Sie bestimmen, Nicht wahr, so sagte ich heute früh?«
»Nicht so ausführlich, aber es war dasselbe.«
»Nun, ich hoffe, das werden Sie nicht so wörtlich nehmen. Ich haben eben meine Worte nicht direkt auf die Goldwaage gelegt. Ich meinte, Sie können darüber bestimmen, weil ich selbst kein Ziel im Auge habe. Mir ist es ganz gleichgültig, ob ich hier nahe dem Äquator liege oder am Nordpol oder am Südpol. Es kann aber doch einmal sein, dass ich irgendwo hin muss.«
»Selbstverständlich, Herr Kapitän — was brauchen Sie da erst so viele entschuldigende Worte?«
»Es ist keine Entschuldigung. Dass wir uns gegenseitig auch richtig verstehen.«
»Ich habe gar nicht daran gedacht, aus Ihrer Liebenswürdigkeit Ihnen einen Strick zu drehen, mit dem ich Sie fesseln könnte.«
»Nun gut. Wollen Sie hier liegen bleiben oder hatten Sie irgend eine Reise vor?«
»Sprechen erst Sie. Ich hatte mir noch gar keinen Plan gemacht.«
»Ich habe einmal etwas in Indien zu tun.«
»Und Indien wäre auch das Ziel meiner Sehnsucht!«, rief Atalanta erfreut. »Ich wollte es nur nicht aussprechen, denn der Wunsch ist eben erst entstanden, vorhin bei dem Anblick des Elefantenfanges, das möchte ich einmal in Wirklichkeit beobachten. Nun freilich ist Indien gar groß —«
»O, Entfernungen spielen ja bei diesem meinem Luftschiff kaum noch eine Rolle, innerhalb eines Tages fliegen wir ja über ganz Indien hinweg, alle malaiischen Inseln mit eingeschlossen. Und Sie brauchen ja überhaupt nur zu bestimmen!«
»Ach, solch einem Fange von wilden Elefanten durch zahme möchte ich einmal in Wirklichkeit mit beiwohnen! Gibt es denn heute noch so etwas? Die Beschreibung, die ich davon gelesen, war schon sehr alt.«
»Das gibt es heute noch. Natürlich werden die Siribeddis nicht jeden Tag ausgeschickt, um einen wilden Kameraden seiner Freiheit zu entführen. Das sind stets große Veranstaltungen der indischen Fürsten, meist zu Ehren eines Gastes. Aber da kann ich Ihnen gerade behilflich sein, ich stehe mit manchem Maharadscha auf sehr gutem Fuße!«
»Ach, wenn Sie so etwas veranstalten könnten!«, rief die Indianerin, immer begeisterter werdend. »In voller Lebensgröße muss das doch etwas ganz anderes sein, als von solchen Nippfiguren in einem Holzkasten ausgeführt! Und die Panikis, wie die Elefantenfänger heißen, ist da wirklich ein so großes Geheimnis dabei?«
»Davon ist tatsächlich noch kein Europäer Zeuge geworden, wie die einen Elefanten fangen. Jedenfalls aber auch noch kein anderer Inder, der nicht zu ihrer Kaste gehört, oder vielmehr zu ihrer Zunft.«
»Um das Geheimnis zu wahren?«
»Erstens das, dann dürfte der Grund aber der sein, dass jeder andere, der nicht zu der Zunft gehört, den Fang unmöglich machen würde. Diese Panikis besitzen wohl eine besondere Witterung, denn der Elefant ist ja ungeheuer vorsichtig, und dann sind sie eben beim Anschleichen gewandt wie die Schlangen, da kann kein anderer Jäger mitmachen, der Elefant lässt ihn nicht so weit herankommen, dass man die Manipulationen der Panikis deutlich genug beobachten kann, um dann etwas Gewisses darüber zu erzählen.«
»Da möchte ich einmal mitmachen!«
»Das sollen Sie. Solch eine Gelegenheit werde ich Ihnen wohl schaffen, ob als direkt Beteiligte, das kann ich Ihnen freilich nicht versprechen. Und außerdem werde ich Ihnen einige Wunder der Erde zeigen, gleich dort in Indien, wohin ich mich begebe, und dann auch auf anderen Punkten der Erde — Geheimnisse und Wunder, die Sie auch in der größten und schärfsten Camera obscura nicht schauen können.«
Seit drei Tagen schon raste der »Aeolus« über den Ozean hinweg, den man auch den »stillen« nennt.
Aber diesen letzteren Beinamen verdiente er jetzt nicht.
Dort unten wütete jetzt ein furchtbarer Sturm, der das Meer zu häuserhohen Wellen aufpeitschte.
Dort unten wütete er, nicht hier oben.
Jede Luftbewegung muss doch nach oben schwächer werden, schließlich einmal ganz aufhören. Aber nicht nur das, sondern über dieser windstillen Region kann abermals ein Sturm wehen, gerade aus der entgegengesetzten Richtung kommend. Und über dieser Region wieder ein Sturm, und dann darüber wieder ein Sturm, immer wieder aus einer anderen Richtung kommend.
Das wissen wir, aber unsere Luftballons und Luftschiffe können diese verschiedenen Luftströme nicht benutzen, denn da kommen ganz enorme Höhen in Betracht. Aus Morgen- und Abenddämmerung kann man Höhen von 70 Kilometer ber echnen, aber Meteore leuchten noch in Höhen von 285 Kilometer auf, und ihr Aufleuchten, ihr Erglühen kommt daher, weil sie mit ungeheurer Geschwindigkeit unsere Erdatmosphäre passieren, sie erhitzen sich durch Reibung, so dünn die Luft dort oben auch sein mag.
Höher als zehn Kilometer ist noch kein Mensch gekommen. Die Küstengeschütze am Kaiser-Wilhelm-Kanal tragen doppelt so weit. In dieser Höhe von zehn Kilometern können wohl verschiedene Luftströmungen übereinander liegen, aber das können wir nicht bestimmen, denn da versagen alle kleinen Versuchsballons, weil sie zuvor in Luftwirbel kommen.
Dieses Luftschiff hier hatte die Erdschwere und alle anderen Fesseln, welche unseren freien Lenkballons noch immer auferlegt sind, überwunden. Der Theorie nach hätte der »Aeolus« Reisen nach anderen Himmelskörpern machen können. In der Praxis ging es freilich nicht, da waren auch ihm Grenzen gezogen. Wenn der äußere Druck aufhörte, musste der innere natürlich so stark werden, dass er die Platten auseinandergesprengt hätte.
Hätte der auf der Erdoberfläche tobende Sturm ungefähr die Richtung gehabt, nach der das Luftschiff fuhr, so hätte man ihn natürlich benutzt, aber er kam gerade aus der entgegengesetzten Richtung, aus Nordwesten.
So befand sich der »Aeolus« jetzt in 12 000 Meter Höhe, in einer völlig windstillen Region, die freilich nicht von den Luftschiffern zu bemerken war, denn auch dem »Aeolus« brauste ein gewaltiger Sturen entgegen, nur dass er diesen durch seine eigene Schnelligkeit selbst erzeugte. Und wenn dennoch die Luftschiffer nichts von diesem Sturme bemerkten, sich an Deck aufhalten konnten, auch trotz der furchtbaren Kälte, die hier oben herrschte, so kam das nur daher, weil sie sich gar nicht im Freien befanden, weil auch das Deck wieder mit einer Omnihilitglocke überspannt war.
* In ihrem Boudoir auf einer Chaiselongue liegend, erwachte Atalanta aus kurzem Nachmittagsschlummer. Etwas seitwärts unter sich blickend, sah sie statt des prächtigen Perserteppichs einen grünen Nebel, weil sie den Boden durchsichtig gelassen hatte. Der grüne Nebel war das aufgewühlte Meer. Weiter war nichts zu unterscheiden, dazu war die Höhe zu groß, und auch Inselchen, die hier nur in Betracht kamen, wurden von diesem grünen Nebel verhüllt.
Doch sie brauchte nur die Hand zu heben, so erreichte sie den kleinen Wandschrank, der betreffende Hebel gedreht, und der durchsichtige Boden verwandelte sich in ein Vergrößerungsglas. Ob dadurch, dass sich vielleicht der untere Teil wölbte, oder auf welche andere Weise, das wusste sie noch nicht. Da hatte sie erst noch hunderterlei anderes zu fragen gehabt.
Diese Brennweite, wie man sagt, wenn es in dieser Beziehung auch ein falscher Ausdruck ist, konnte für jede beliebige Entfernung eingestellt werden. So hoch man sich auch befand, konnte man scheinbar doch so dicht über die Oberfläche der Erde hinwegstreichen, dass man das Wasser, auf einer Insel die Baumkronen zu berühren glaubte, dass man das Mienenspiel eines jeden Menschen studieren konnte. Und man hatte auch noch den Vorteil, scheinbar schneckengleich zu kriechen. sodass man alles mit Muße beobachten konnte, wenn man in Wirklichkeit auch mit 200 Kilometern Geschwindigkeit in der Stunde dahinraste.
Dabei aber zeigte es sich auch, wie nichts von Menschengeist Erdachtes und von Menschenhand Geschaffenes in dieser Welt vollkommen sein kann. Jedes Wölkchen, das sich zwischen Luftschiff und Erde befand, verhinderte den Ausblick. Aller Scharfsinn versagte, um auch dieses Wölkchen durchsichtig zu machen. Da musste man sich erst darunter begeben, um einen Blick auf die Erde zu erhalten.
Doch jetzt war, wie so oft gerade bei den schwersten Stürmen, azurblauer Himmel. Atalanta drehte den Hebel weiter. Der grüne Nebel verwandelte sich in eine grüne Platte, glatt wie ein Tisch. Die dunklen Punkte darin, das waren Inselchen.
Der Hebel wurde weiter gedreht, und die Inselchen waren wirklich als solche zu erkennen, die grüne Platte aber war jetzt nicht mehr ganz eben, sondern leicht gewellt, und die dunklen Punkte, die man hier und da sah, das waren jetzt Schiffe.
In Wirklichkeit freilich lagen die nicht so bewegungslos da. Die wurden von wütenden Wogen wie die Nussschalen umhergeschleudert.
Näher und näher rückte das Bild, und das wütende Toben des Meeres wurde erkennbar. Und gerade unter sich sah Atalanta ein Schiff.
Sie hatte im Laufe der drei Tage und Nächte schon oft das tobende Meer beobachtet, hatte manchen Dampfer und Segler in Sturmesnot gesehen, aber alle Schiffe hatten sich wacker gehalten.
Doch was sie jetzt erblickte, das machte ihr Auge erstarren. Sie schnellte auf, sprang an das Telefon, gab das Zeichen, das nur für sie und den Kapitän dieses Luftschiffes ausgemacht war, das ihn überall jederzeit erreichte.
»Hier Nowhere.«
»Direkt unter uns ist ein großes Schiff, ein Passagierdampfer, in schrecklichster Seenot, es geht unter, sein Hinterteil ist schon unter Wasser, alle Menschen sind verloren!«
So hatte Atalanta in das Telefon geschrien.
»Ich komme sofort zu Ihnen!«, erklang es ruhig zurück.
Dann musste ihn Atalanta hier erwarten. Selbstverständlich überzeugte er sich erst davon und gab gleich Kommandos zur Rettung.
Unterdessen konnte Atalanta weiter beobachten.
Was sie sah, kann kaum anders beschrieben werden, als wie sie es in das Telefon berichtet hatte.
Ein großer Passagierdampfer, dessen Hinterteil beim Hin- und Herschleudern immer ganz unter Wasser tauchte, während sich das Vorderteil manchmal beängstigend hoch in die Luft emporreckte.
Und auf diesem Vorderteil drängten sich viele Hunderte von Menschen, klammerten sich an und sahen den ohnmächtigen Bemühungen der Matrosen zu, ein Rettungsboot auszusetzen.
Als ob es ein Boot gäbe, dass man bei höchster See ins Wasser lassen, vom Schiff absetzen könnte! Gefabelt wird allerdings genug davon.
Ja, die Passagiere sahen zu. Aber Atalanta wollte gar nicht sehen, wie die »zusahen«.
Die Menschen konnte sie deutlich genug erkennen, wenigstens konnte sie Männer und Frauen und Kinder unterscheiden. Mehr aber wollte sie auch nicht unterscheiden können, am wenigsten ihre Gesichtszüge erkennen. Es war schon genug. dass sie so deutlich sah, wie diese Unglücklichen reihenweise von den Sturzwogen weggewaschen wurden, wie Mütter ihren Kindern nachsprangen, die sie nicht mehr hatten halten können — ein Glück nur, dass dieser Boden nicht auch weithörend war, sodass man nichts von dem Jammergeschrei vernahm.
Gern hätte Atalanta den Boden wieder undurchsichtig gemacht, aber sie war nicht fähig dazu, auch nicht, ihren Blick von der grässlichen Szene abzuwenden, wie gebannt musste sie hinstarren.
Da ging die Tür auf, Kapitän Nowhere trat ein.
Sein gebräuntes Gesicht war noch eiserner als sonst, und merkwürdig war es, wie er sich gleich hinstellte, gleich die Arme über der breiten Brust verschränkte, und am allermerkwürdigsten war das Wort, das er gleich sagte.
»Nein!«
Und diese Stellung und dieses einzige Wort genügte der Indianerin, da wusste sie sofort alles!
»Sie wollen diesem Schiffe nicht zu Hilfe kommen?«
»Nein!«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich mich nicht in fremde Schicksale einmische.«
Und er ging hin nach dem Wandschrank und machte den Boden wieder undurchsichtig.
Und Atalanta forderte keine weitere Erklärung, schon ihr erstes »Weshalb nicht?« war für sie unnötig gewesen.
Und wie sie nach dem Manne starrte, schossen im Moment eine Reihe von Gedanken durch ihren Kopf.
An dem »Nein« dieses eisernen Mannes war nichts mehr zu ändern, und hätte sie sich ihm zu Füßen geworfen und ihm alles, was sie zu vergeben, angeboten.
Aber er hatte ihr im Steuerraume bereits alles erklärt, sie selbst war schon fähig, das Luftschiff zu lenken.
Nur einer konnte dort noch retten, was noch zu retten war. Und da stürzte sie sich auch schon auf ihn.
Nur dass erst ihre Fingerspitzen seine Kleidung berührten, so erhielt sie wie einen elektrischen Schlag, der sie sofort zu Boden schleuderte.
Wohl schnellte sie gleich wieder auf, sie spürte keine Folgen, aber zum zweiten Male wagte sie nicht, tätlich gegen ihn vorzugehen, oder sie wusste eben, dass es ganz zwecklos gewesen wäre. Dieser Mann wusste sich zu schützen.
»Versuchen Sie das nicht wieder, es ist nutzlos!«, sagte er denn auch, ruhig wie immer. »Nein, ich komme diesem Schiffe nicht zu Hilfe — und auch keinem anderen Menschen, der sich außerhalb meines Reiches, meines Luftschiffes in Not und Gefahr befindet. Ich greife prinzipiell nicht in fremdes Schicksal ein. Ich lasse dem gerechte Schicksal freien Lauf.«
»Ungeheuer! Tyrann!«, stieß Atalanta hervor.
Der Kapitän blieb völlig ungerührt.
»Ja, ein Tyrann bin ich, will ich werden. Aber ein Ungeheuer brauche ich deshalb nicht zu sein, bin ich auch nicht. Wissen Sie, was ein Tyrann ist?«
br>Atalanta wusste es. Wusste, was jener meinte, weshalb er diese Frage stellte.
Als Tyrannos bezeichneten die alten Griechen einen Herrscher, der auf revolutionärem Wege in den Besitz der Alleinherrschaft gelangt war, aber deshalb braucht ein Tyrann doch kein grausamer Wüterich zu sein. Eine Revolution kann doch auch ganz ohne Blutvergießen abgehen, wie jüngst die Trennung Norwegens von Schweden, was freilich nur in der Heimat des Zündholzes ohne Schwefel und Phosphor möglich zu sein scheint, Nach jener Definition ist der König von Norwegen ein Tyrann. Und unter den Tyrannen, die über die griechischen Staaten herrschten, hat es ausgezeichnete Regenten und herzensgute Menschen gegeben.
Meist freilich war das Gegenteil der Fall. Und so ist aus dem Tyrann eben der barbarische Wüterich geworden, der sein Volk, oder, wenn er kein Volk hat, andere Menschen, seine Familie, tyrannisiert.
»Ja, ich bin ein Tyrann, will einer werden. Ich will dereinst unter meinem Szepter alle Reiche der Erde vereinen, aber die Menschen sollen in mir einen wahren Menschenfreund finden. Den ewigen Weltfrieden will ich gründen, und wahre Gerechtigkeit will ich einführen. Gleiches Recht für alle! Der Fürst soll nicht anders vor dem Richter stehen als der Tagelöhner, wovon die sogenannte zivilisierte Menschheit noch himmelweit entfernt ist.
Das ist mein Ideal, dafür lebe ich. Aber um dieses Ideal zu verwirklichen, da darf ich keine Rücksicht nehmen, da muss ich ein steinernes Herz haben, denn da wird noch viel Blut fließen müssen. Da werde ich erst manches Regiment wegblasen müssen, da werde ich viele weinende Witwen und Waisen schaffen, da werden mich gar viele Flüche treffen.
Wohlan, ich erwarte sie!
Sie sollen an meinem steinernen Herzen abprallen.
Mein steinernes Herz!
Wissen Sie denn so bestimmt, Frau Gräfin, ob mein Herz wirklich von Stein ist?
Oder ob es nicht vielleicht von Omnihilit ist? Eigentlich weich wie Wachs, nur dass ich es jederzeit nach Willkür diamanthart erstarren lassen kann?
Ja, ich habe es gewusst, noch ehe Sie mich riefen, dass dort unten Hunderte von Menschen verzweifelt mit dem Tode ringen, dass Wogen jammernden Müttern ihre Kinder aus den Armen reißen.
Wissen Sie denn, ob mein Herz nicht vielleicht blutet?
Glauben Sie es mir, wenn ich es Ihnen versichere?
Aber mag es auch bluten — schnell weiß ich das weiche Wachs in Diamant zu verwandeln.
Ich blicke nicht nach links und nicht nach rechts und nicht unter mich — ich habe nur mein Ziel vor Augen, jetzt und immerdar.
Sie, Frau Gräfin, würden den ewigen Weltfrieden nicht begründen können.
Dazu sind Sie viel zu schwach.
Sie sehen eine Ameise hilflos in einer Wasserpfütze schwimmen, Sie bleiben stehen. bücken sich, retten das arme Tierchen vor dem Tode des Ertrinkens, dafür hören Sie die Engel im Himmel Halleluja singen — und inzwischen hat sich der Feind gerüstet, die große Entscheidungsschlacht geht für Sie verloren. Die Ungerechtigkeit bleibt auf dieser Erde vorläufig noch bestehen, weil Sie eine Minute zu spät gekommen sind, weil Sie die Ameise aus Todesnot gerettet haben.
Nicht zu gut sind Sie, sondern zu schwach.
Aber daraus ist Ihnen kein Vorwurf zu machen.
Ihnen muss erst die richtige Erkenntnis kommen.
Ihr Herz muss Ihnen erst einmal geblutet haben wie mir.
Ich weiß wohl, dass Sie viel durchgemacht haben.
Aber ausgeblutet hat sich Ihr Herz noch lange nicht, sonst hätten Sie schon die richtige Erkenntnis.
Die Erkenntnis nämlich, dass das dort unten auch nichts weiter sind als Ameisen, eine besondere Art, Menschen genannt.
Die Erkenntnis, dass Sie mit jedem Atemzuge Millionen von Lebewesen vernichten.
Die Erkenntnis, dass dies die Bestimmung dieser Lebewesen ist.
Die Erkenntnis, dass die Menschlein, welche jetzt dort unten ersaufen, sich dieses Schicksal selbst gemacht haben.
Die Erkenntnis, dass es so etwas wie einen Tod überhaupt gar nicht gibt.
Ich mische mich in kein fremdes Schicksal, das mich nichts angeht, nicht mit meinem eigenen verknüpft ist.
Ich tu's nicht, tu's prinzipiell nicht.
Möchte Ihnen recht bald die Erkenntnis kommen — nämlich dass Sie erkennen, wie jetzt vor Ihnen ein Mann steht, der keinen Funken von Selbstsucht mehr in seinem Herzen hat, der die ganze Welt in Liebe umfassen möchte, der bereit ist, jeden einzelnen Blutstropfen für jeden Menschen hinzugeben, auch für seinen Todfeind, wenn er ihn dadurch retten könnte.
Und der anderseits keinen Finger rührt, um einen Menschen, den er zwar über alles liebt, den er aber für seine eigenen Zwecke nicht direkt braucht, vom Marterpfahle zu befreien.
Möchte Ihnen bald die Erkenntnis kommen, wie diese beiden kolossalen Widersprüche zu vereinen sind.
Zu lehren ist diese Erkenntnis nicht. Der heilige Geist muss über Sie kommen. Diesen heiligen Geist kann man erzwingen, aber wie er zu erzwingen ist, das kann man wiederum nicht lehren.
Ich habe gesprochen.
Jede Entgegnung Ihrerseits ist zwecklos.
Nehmen Sie, Frau Gräfin, meine Worte, wie sie gegeben worden sind: mit der liebevollsten Höflichkeit. Wenn Sie das vielleicht auch nicht in meiner Stimme und in meinen Zügen gemerkt haben.
Jetzt ist mein Herz von Diamant, weil es sich sonst verbluten würde.
Sie werden den Boden des Luftschiffes nicht mehr nach Belieben durchsichtig machen können. Wenn dort unten wieder einmal eine Ameise schwimmt oder in Gefahr ist, zertreten zu werden, können Sie den Hebel nicht mehr drehen. Sonst immer. Dafür werde ich sorgen.
Gut so, dass es so gekommen ist. Einmal und nicht wieder.
Auf Wiedersehen, Frau Gräfin. Ich stehe nach wie vor jederzeit zu Ihrer Verfügung.«
Eine Verbeugung und er ging.
Wie lange Atalanta grübelnd dagesessen hatte, mit gefalteten Händen starr vor sich hinblickend, wusste sie nicht, als Arno eintrat.
Da aber starrte sie nicht mehr, war ganz unbefangen.
Natürlich wusste Arno nichts von dem Schiffe dort unten, sonst hätte er doch gleich hiervon begonnen.
Sonst war ja sein Verhalten merkwürdig genug. Er hatte in der Hand ein Heft, eine dünne Broschüre, und sah sich erst vorsichtig um.
»Können wir hier ungestört sprechen?«, flüsterte er dann.
»Das weißt Du doch. Du kannst ganz laut sprechen, wir werden nicht belauscht, auch wenn es möglich wäre. Das hat mir der Kapitän versichert, und da gibt es kein Wenn und Aber.«
»Hat Hagen mit Dir schon gesprochen?«
»Nein. Worüber?«
»Der hat einen netten Plan vor.«
»Was?«
»Nichts mehr und nichts weniger, als sich dieses Luftschiffes zu bemächtigen.«
Es machte auf Atalanta keinen Eindruck.
»Wann?«
»Na, heute noch nicht«, musste Arno über dieses so kurz herausgekommene »Wann?« lachen, »er will sich die Sache erst noch ein bisschen überlegen, muss ganz vertraut mit allem werden, ehe er die ganze Besatzung entlässt. Ich wollte Dich nur fragen, wie Du Dich zu dieser Sache stellst.«
»Nun, wenn es noch Zeit hat, so kann man es sich also noch überlegen!«, lächelte auch Atalanta.
»Gut, abgemacht, wir beschlafen die Geschichte noch ein paarmal. Ich komme eigentlich auch aus einem ganz anderen Grunde. Ich habe in der Bibliothek hier dieses Heft gefunden, eine ganze Serie, mehrere Jahrgänge. Kennst Du diese Zeitschrift?«
Es war ein Wochenblatt in Broschürenform, betitelt »The New Thought« — »Der neue Gedanke« — herausgegeben von der »Psychic Research Company«, Chicago und London.
Ja, wie soll man nun schildern, was diese Wochenschrift bringt? Lassen wir Arno sprechen.
»In Amerika und England ist eine neue Bewegung im Gange. In Chicago haben sie einen ganzen Palast. Was diese Brüder eigentlich wollen, ist mit Worten gar nicht auszudrücken. Sie werten alles um. Aber wie nun. Sie paaren den hellsten Wahnsinn mit der praktischsten Nüchternheit. Das heißt, wollen wir zur Vorsicht sagen: Wahnsinn für uns! Für die sind nun wieder wir die bedauernswerten Narren. Es gibt nichts in der Welt, was sie nicht in den Bereich ihrer praktischen Spekulation zögen. Hier handelt ein Artikel über ferne Sonnensysteme, hier beschäftigt sich ein anderer in 200 Zeilen ganz intensiv mit seinen Schnürsenkeln.
Sei nicht billig! Das wird fort und fort gepredigt. Weshalb hast Du niemals Geld? Weil Du billig bist. Immer nur das Allerteuerste kaufen, dann wirst Du auch immer Geld dazu haben. Weiß der Teufel, wie die das zusammenreimen. Aber sie können es, man muss es nur selbst lesen.
Hier wird über die Warenhäuser hergezogen. Nur nichts im Warenhaus kaufen! Da klebt an allem blutiger Schweiß von ausgesaugten Arbeitern und Mädchen, und dieser blutige Schweiß kommt über Dich selbst, wird Dir zum Fluche. Brauchst Du ein Hemd, dann gehe zu einer armen Näherin, lass Dir eins machen, nur immer das Allerfeinste, bezahle die Arbeit fürstlich, und Du wirst in Deinem Hemd auch ein wirklicher Fürst des Lebens sein, das Leben hat Dir zu gehorchen.
Übrigens gehen die Neugedankler mit gutem Beispiel voran. Hier auf den letzten Seiten sind Bücher aus demselben Verlage annonciert. Hier zum Beispiel ›Die Macht des Schweigens‹. 200 Seiten stark. Und kostet? Hundert Mark. Sage und schreibe einhundert Mark. 200 Seiten. Und ebenso teuer sind alle die anderen Bücher. Auch diese Zeitschrift hier. Kostet fünf Mark. Aber nicht etwa das Abonnement. So eine Nummer, solch ein Heftchen hier fünf Mark, Es gibt auch ein Jahresabonnement. Aber Du denkst wohl, da wird es billiger? Nein, da wird es noch teurer. Ein Jahresabonnement kostet 300 Mark. Wie die sich das berechnen, weiß ich nicht. Sie rechnen eben mit freiwilligen Beiträgen, und anderseits werden solche Bücher gleich wagenweise verschenkt, das weiß ich.
Hier ist ein kleiner Auszug aus diesem Buche ›Die Macht des Schweigens‹. Halt's Maul! Das ist die Quintessenz des ganzen Buches. Es werden aber auch eingehende Rezepte gegeben. Suche Dich in den Besitz möglichst vieler Geheimnisse von anderen Menschen zu bringen, aber — sprich nicht darüber! Verheimlichen, immer verheimlichen! Stelle Dich immer anders, als Du bist. Das heißt, nur nach der guten Seite hin. Wenn jemand in Not gerät, er will Dich anpumpen — weise ihn kurz und energisch ab. Gibt's nicht, ich brauche mein Geld selber. Weise auch die barmherzige Schwester von Deiner Tür. Lass Dich als einen Geizhals verschreien. Und dann gehst Du sofort auf die Post und schickst die doppelte Summe anonym ab. Es wird Dir wiedergegeben doppelt und dreifach und hundertfältig. Aber nur nicht darüber sprechen, sonst hast Du Deinen Lohn dahin.
Stutzig kann einen machen, dass unter diesen Neugedanklern so viele Männer mit bekannten Namen sind, die tüchtigsten Männer des praktischen Lebens, der Diplomatie. Sie hatten in Chicago einen Kongress, da sind hier die Namen aufgeführt. Lauter bekannte, amerikanische Großindustrielle, Millionäre und Milliardäre, zwei englische Minister und andere hohe Staatsbeamte. Auch Thomas Alva Edison gehört dazu. Der hat hier auch einen kleinen Artikel geschrieben: ›Niemals zu spät!‹ Und wenn Du schon auf dem Sterbebette liegst und Du hast noch Lust, eine fremde Sprache zu lernen oder eine Wissenschaft zu treiben, immer fang an, auf dem Sterbebett —«
Arno lachte geräuschlos und bückte sich dabei.
»Was gibt es da zu lachen?«, fragte Atalanta, aber selbst lächelnd über ihren Gatten, wie der sich vor Lachen krümmte.
»Ja, das ist es eben! Ich ärgere mich, dass ich darüber lache. Und diese Kerls lachen uns aus, weil wir uns mit dem Leben herumbalgen, ohne zu wissen warum. Die aber wissen es. Für die gibt es überhaupt keine Welträtsel mehr. Überhaupt ein fideles Völkchen. Die freuen sich, wenn sie einmal mörderliche Zahnschmerzen haben, weil sie damit eine frühere Schuld abbüßen und dadurch eine Garantie für ein neues Glück haben.
Warum ich Dir gerade dieses Heft bringe? Du kennst doch den Frett Barkor, der die Geschichte mit den künstlichen Träumen erfunden hat, der hat hier auch einen Aufsatz geschrieben. Nun lies einmal. Was Du dazu sagst.«
Atalanta nahm das aufgeschlagene Heft und las:
Daraus, dass der Mensch den dritten bis vierten Teil seines Lebens schläft, lässt sich mit mathematischer Sicherheit folgern, dass auch sein Todesschlaf nur den dritten bis vierten Teil seiner ganzen Lebensdauer währt, also 20 bis 30 Jahre.
Diese mathematische Berechnung kann man auf die gesamte Molekular-, Pflanzen-, Tier- und Sternenwelt ausdehnen, immer kommt man zu demselben Resultat, was vorzurechnen hier aber nicht am Platze ist. Erwähnt sei nur noch, dass der Todesschlaf zwischen den speziellen Übergangsstufen noch viel länger währt, Hunderte und Tausende und Millionen von Jahren, wodurch die Zeitdauer des Wachens und des Schlafes völlig gleich lang wird, wie es für den, der die Erkenntnis bekommen, überhaupt ganz selbstverständlich ist, anderenfalls wäre es ein Unding, so wie jeder Punkt der Erde gleich viel Tag und gleich viel Nacht hat, und es kann nicht anders sein, oder es gäbe in der Welt keine Balance.
Nach diesen 20 bis 30 Jahren Todesschlaf wird der Mensch als Mensch wiedergeboren. (Es ist hier nur von normalen Verhältnissen die Rede.)
Die im Todesschlafe bewusstlose Seele erwacht, nimmt einen Zeugungsakt wahr und inkarniert sich, verkörpert, verfleischt sich wieder.
Als Embryo im Mutterleib macht der Mensch noch einmal alle die Entwicklungsreihen durch, die er in Millionen von Jahren vor seiner Menschenperiode durchlaufen hat, diesmal aber ohne Bewusstsein.
Auch diese neue Inkarnation erfolgt natürlich unbewusst, in einem Dämmerzustande, aber streng nach den Gesetzen der Affinität, der verwandtschaftlichen Anziehungskraft.
Das ist der Grund, weshalb das Kind so selten seinem Vater (oder Mutter, die Seele ist geschlechtslos) völlig ähnelt und so häufig bis zur Verwechslung seinem toten Großvater oder Urgroßvater (bzw. Groß- oder Urgroßmutter), nicht nur dem Geiste und Charakter nach, sondern oft bis in gewisse Handbewegungen und andere Gewohnheiten. Es ist einfach der tote Großvater oder Urgroßvater, der sich ordentlich ausgeschlafen hat und nun sich in derselben Familie wieder inkarniert, um mit frischen Kräften ein neues Leben zu beginnen, mit neuen Zähnen und neuen Idealen.
Vorausgesetzt ist aber, dass sich der Tote bei Lebzeiten in dieser Familie wohlbefunden hat, bis zu seinem Tode mit Liebe behandelt worden ist, sonst inkarniert er sich eben bei einem anderen Menschenpaare, zu dem er sich unbewusst durch die Gesetze der Affinität mehr hingezogen fühlt.
Somit ist die ganze Vererbungstheorie ein Märchen.
Somit ist es völlig sinnlos und zwecklos, einen Verbrecher hinzurichten. Stirbt er ungebessert eines unnatürlichen Todes, so erwacht er aus diesem nach viel kürzerer Zeit mit noch stärkerer Neigung zum Verbrechen, wird er dagegen im Zuchthaus durch wahrhaft gebildete, edle Männer und besonders auch Frauen bis an sein natürliches Ende freundlich belehrt, schläft er als gebesserter Mensch in den Tod hinüber, so erwacht er auch wieder als besserer Mensch.
Der Mensch, der nicht an natürlicher Altersschwäche stirbt, sondern an einer Krankheit, oder der tödlich verunglückt, wird also viel eher wiedergeboren. Er hat gewissermaßen nur ein Schlafmittel einbekommen. So werden früh verstorbene Kinder immer wieder ihren Eltern zugeführt, schon nach wenigen Jahren. Entweder durch Geburt in der eigenen Familie oder in anderer Weise. Uns muss nur der Schleier von den Augen genommen werden, um unsere Lieben wieder zu erkennen, denn Affinität, die größte Liebe, muss natürlich vorhanden gewesen sein. Erst recht finden sich Ehegatten, die ein Fleisch und eine Seele gewesen sind, immer wieder zusammen. Dabei werden die Geschlechtsrollen immer gewechselt, aber nicht immer hintereinander, sondern so, wie im Roulettespiel einmal Rot, einmal Schwarz seine Perioden hat; aber wenn man das endlose Spiel nachzählt, so ist Rot zuletzt doch genau so oft wie Schwarz herausgekommen.
Doch auch den Tod durch Krankheit oder Unglücksfall hat man selbst verschuldet, wie weiter unten erklärt werden soll.
Für einen Zufall ist kein Platz im Weltenraume —
Was Du jetzt bist, dazu hast Du Dich im Laufe von zahllosen Lebensläufen selbst gemacht, und Du wirst im nächsten Leben das sein, wozu Du Dich jetzt machst.
Was Du lernst, lernst Du für die Ewigkeit. Jede Fähigkeit, die Du Dir durch Fleiß und Ausdauer gründlich angeeignet hast, kommt im nächsten Leben als Anlage wieder zum Vorschein, als Charakter, Talent, Genie — im guten wie im bösen Sinne.
Es gibt keinen Zufall. Ohne Dein eigenes Verschulden fällt nicht ein einziges Haar von Deinem Haupte. Bist Du ein geborener Krüppel, so hast Du Dir das selbst verdient, gewinnst Du das große Los, so ist das Dein eigenes Verdienst — es kann dies freilich ebenso gut eine Bestrafung wie eine Belohnung sein.
Diese Ausgleichung der ewigen Gerechtigkeit, deren Waage bis zum Millionstel Milligramm genau geht, braucht sich aber nicht innerhalb eines einzigen Lebens zu vollziehen, so wenig wie wir verlangen können, dass jeder Ausgleich von heute zu morgen vonstatten geht. Auch misst sie — selbstverständlich — mit dem gleichen Maße. Hierzu ein Beispiel.
Ein Arbeiter verliert auf der Straße in einem Beutelchen seinen ganzen Wochenlohn. Ein Mann — so bezeichnet zum Unterschied vom anderen — sieht es, hebt den Beutel auf und fühlt das Geld. Er weiß, dass es der Arbeiter verloren hat, er hat es gesehen. aber der Mann behält das Geld, denn er ist augenblicklich in größter Geldverlegenheit, aber er bedarf nur dieser 20 Mark, so ist ihm für immer geholfen. Nach einer Woche ist der Mann denn auch so weit, er erstattet dem Arbeiter, dessen Adresse er sich verschafft hat, das Geld zurück, vielleicht doppelt und dreifach. Nun hat er sein Gewissen wieder völlig entlastet, er fühlt nicht mehr die geringste Schuld.
Während dieser Woche aber hat der Arbeiter mit seiner Familie gedarbt, fast gehungert, mindestens hat er die schwersten Sorgen gehabt, um sich und Frau und Kinder durchzubringen.
Der andere Mann kommt immer höher, wird ein reicher Bankier. Da brennt ihm sein Kassierer mit allem durch, der Bankier ist bankrott. Da sagt der sich als tadelloser Ehrenmann Fühlende wahrscheinlich, »Mein Gott, mein Gott, wodurch habe ich das verdient?«
Ja, siehst Du, mein lieber Mann, durch Deine Schuld hat doch einmal der Arbeiter mit seiner Familie eine ganze Woche lang hungern müssen; ob Du das gewusst hast oder nicht, das ist dabei ganz gleichgültig, Deine Pflicht war es, dem Arbeiter das Geld sofort zurückzugeben, das hast Du nicht getan, nun bist Du daran. Und dem Arbeiter waren seine 20 Mark genau so viel wie Dir Deine entschwundenen zwei Millionen. Und Du hungerst ja auch gar nicht so richtig, Du gerissener Weltmann weißt Dich und Deine Familie schon noch zu sättigen. Der Arbeiter hat in der einen Woche genau so viel Leid durchgemacht, wie Dir jetzt während eines ganzen Jahres bevorsteht. Die ewige Gerechtigkeit misst Dir ganz genau dieselbe Portion Leid zu, die Du jenem Arbeiter verursacht hast, auch nicht ein einziges Quäntchen mehr oder weniger!
Das kann sich in einem einzigen Leben oder auch innerhalb vieler Lebensperioden abspielen, der dazwischen liegende Todesschlaf hat im Schicksale des Einzelnen ebenso viel oder wenig zu bedeuten wie ein Nachtschlaf zwischen zwei Tagen.
Der Arbeiter hat seine Darbwoche natürlich ebenfalls verdient, der hat vielleicht einmal seinen Kanarienvogel einen Tag lang hungern lassen. Und der Kanarienvogel hat den Hungertag natürlich ebenfalls verdient, der hat vor hundert Jahren, als er noch in der Freiheit lebte, einmal seine Jungen hungern lassen.
Im Weltall gibt es keine Kleinigkeiten und Großartigkeiten. Auf der einen Seite sind wir alle schmarotzende Mikroben, auf der anderen Seite Götter. Auch der Kanarienvogel ist eine Erde mit ungezählten Mikroben und Göttern darauf.
Du fragst: Ja, aber nun die Frau und Kinder des Arbeiters und des Bankiers? Waren die denn auch mit schuldig, dass sie darben mussten? Ganz gewiss! Inwiefern?!
Mein lieber Frager! Bist Du ein Ingenieur auf Spinnmaschinen? Nein? Ich auch nicht. Für mich ist das ein unentwirrbares und eigentlich sogar sinnloses Durcheinander von Stangen und Hebeln und Rädern. Der Ingenieur aber, der sie gebaut hat oder die Konstruktion sonst kennt, durchschaut das alles mit einem einzigen Blick, kennt die Funktion des kleinsten Rädchens, aber erklären kann er mir das überhaupt nicht. Ich würde ihn gar nicht verstehen.
Sei versichert: Du bekommst nicht ein einziges Quäntchen Leid und Sorge umsonst zudiktiert, Du hast alles, alles selbst in Deiner Hand, zum Guten wie zum Bösen.
Was ich hier über diese ewige Gerechtigkeit sage, das ist nicht etwa was Neues. Das steht alles schon in der Bibel.
Es hat einmal einen Menschen gegeben, der dieses ganze Weltgetriebe so klar durchschaute wie kein anderer.
»Ich sage Euch aber, Ihr werdet nicht eher herauskommen (nämlich aus dem Schuldturm), als bis Ihr auch den letzten Heller bezahlt habt!«
Ist das fürchterlich? Nein, das ist nur gerecht.
Immer treibe Wucher und schneide ganzen Familien den Hals ab; zu bedauern sind diese Familien eigentlich nicht, die haben das alles wohl verdient, Du bist nur das Werkzeug in der Hand der ewigen Gerechtigkeit.
Aber Du selbst wirst alles, alles durchzumachen haben. was alle diese Familien durch Dich erdulden mussten!
Immer verleumde Deinen Nächsten hinter dem Rücken, dann aber wundere Dich nicht, wenn Du einmal des Meineids angeklagt wirst und ganz unschuldig ins Zuchthaus kommst. Ganz unschuldig bist Du nur in Deinem Wahne, die ewige Gerechtigkeit hat ein besseres Gedächtnis als Du.
»Richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet; denn mit welcherlei Maß Ihr messet, mit demselben Maße wird Euch gemessen werden!«
Was für ein furchtbares Wort! Was für ein köstliches Wort!
Ich habe mein ganzes Schicksal in meiner eigenen Hand!
Weshalb jenes unfassbare Etwas, auf persisch Gott genannt, was eben »unfassbar« heißt, da nicht lieber gleich den Schleier hinter unseren früheren Lebensläufen lüftet?
Weil wir da samt und sonders vor Entsetzen gleich wahnsinnig werden würden.
Und wozu brauchen wir denn überhaupt unsere früheren Lebensläufe zu kennen?
Ich sage Dir hiermit, dass es so ist, lass Dir das nur genügen.
Freilich hat das einen bösen Haken, das weiß ich.
Mir ist das auch erst von anderen Menschen gesagt worden, und ich habe es nicht geglaubt, ich habe sie verlacht.
Da aber nun einmal das Wort an mich gekommen, da war ich gefangen, da war ich verantwortlich für meine Taten gemacht worden. Und als ich es nicht glauben wollte, da hat mich das Schicksal beim Kragen genommen und mich so lange abgeschüttelt, bis die Erkenntnis plötzlich wie ein Blitz über mich kam. Ja, so ist es, es kann ja überhaupt gar nicht anders sein!
Und dieser Blitz der Erkenntnis trifft jeden einmal, jeden! Wenn heute nicht, dann morgen, über zehntausend Jahre, so lange muss er zappeln, aber es ist seine eigene Schuld.
Klage und schmähe nicht, dass Dir ein Brief, auf den Du alle Hoffnung gesetzt hast, nicht beantwortet wird. Überlege Dir lieber, ob Du nicht schon selbst für eine Bitte nicht einmal ein einziges »Nein« auf einer Postkarte gehabt hast.
Schreibe aber lieber immer ein »Ja«, dann wirst auch Du immer ein »Ja« beantwortet bekommen.
Nicht das Allergeringste bleibt Dir unvergolten, weder Gutes, noch Böses.
Ein Guter tut nur Gutes, mag es auch erst nur aus Berechnung sein, das schadet nichts, das wird mit der Zeit zur Gewohnheit, zum Charakter. Nur ein Narr tut Böses, er schlägt sich ja immer selbst. Der Dieb stiehlt sich das Geld aus seiner eigenen Tasche.
Jeder Dieb, Verbrecher oder sonstige Übeltäter ist ein Narr, ein Dummkopf, das muss ihm fort und fort gesagt werden, dass er ein kreuzdummer Narr ist. Man muss ihn auslachen, das ist überhaupt das einzige Mittel, um jeden, jeden Bösewicht auf einen besseren Weg zu bringen, abgesehen von jener freundlichen Belehrung. Auslachen muss man den dummen Kerl! Denn alles, alles kann der Mensch vertragen, auch Stockprügel und Hinrichtung — nur den Vorwurf der Dummheit nicht!
Jeder will für klug gelten. Nun, so wollen wir klug sein. Lasst uns möglichst viel arbeiten, um mit dem erworbenen Gelde möglichst viel Gutes zu tun, es ist ja alles nur für uns selbst, und in der Freizeit, zu der wir gezwungen sind oder die wir uns selbst geben, lasst uns ununterbrochen an unserer geistigen und körperlichen Vervollkommnung arbeiten. Die körperliche nicht zu vergessen! Bist Du ein guter Turner, ein kraftvoller, kühner Mensch, so bist Du im nächsten Leben auch schon ein kräftiges, mutiges Kind, das seine schwächeren Spielgefährten gegen Misshandlung von anderer, böser Seite schützen kann, und das ist ganz, ganz genau dasselbe, als wenn ein braves, aber schwaches Volk durch eine mächtige Nation vor tyrannischer Unterjochung geschützt wird. Kleinigkeiten und Großartigkeiten gibt es im Weltall nicht —
Noch eins. Der Selbstmord bedeutet gar keine Unterbrechung dessen, weswegen man ihn begangen hat. Er entzieht mich nicht der Strafe, nicht der Krankheit, nicht der Schande, nicht dem Kummer. Das findet im nächsten Leben ruhig seine Fortsetzung, bis sich alles ausgelebt hat, bis alles gesühnt ist, wofür ich dies alles zu tragen habe.
»Ihr kommt nicht eher heraus, als bis Ihr den letzten Heller bezahlt habt!«
Bin ich treulos verraten worden? Ich habe ganz sicher einen anderen treulos verraten. Schmäht man mich ungerecht? Ungerecht? Ich habe andere geschmäht genug. Und war vielleicht auch Grund vorhanden, sie zu schmähen, so war es doch nicht meine Sache, darüber zu richten, und das muss ich nun ausbaden. Hat mich mein Weib betrogen? O, Du Unfassbares, führe mich nicht in Versuchung! Ich habe gesündigt genug! —
Du bist vor einer Billion hoch Billion Jahren einmal ein Ätheratom gewesen, hast Dich durch anorganisches Molekül und Pflanze und Tier zum höchsten Wesen dieses Planeten entwickelt. In weiteren Billion hoch Billion Jahren wirst Du selbst solch ein Planet sein, auf dem Menschen oder ähnliche Wesen als Mikroben leben. Dann wirst Du eine Sonne, um die Erden kreisen, dann wird Dein Geist ein ganzes Sonnensystem bilden, und wenn Du erst eine Billion hoch Billion solcher Sonnensysteme in Dir vereinigst, dann — bist Du im Weltall noch immer eine Mikrobe, die einmal wacht, einmal schläft, einmal lebt, einmal tot ist, aber immer wiedergeboren wird — und von der noch ganz genau dasselbe Wort gilt:
Wie Du Dich bettest, so wachst Du auf!
Atalanta klappte das Heft zu.
»Nun, was sagst Du dazu?«, sagte Arno.
»Da kann man gar nichts dazu sagen.«
»Nein, das kann man auch nicht. Jedenfalls aber weiß dieser Mann, weshalb er lebt. Wir wissen es nicht.«
»Nein, wir wissen nicht, weshalb wir leben.«
»Und wenn es so ist, dann hätte auch Edison ganz recht: Noch als alter Mann auf dem Sterbebette soll man, wenn man dazu Lust hat, nur ruhig noch irgend etwas anfangen, höhere Mathematik treiben oder sonst etwas. Es ist niemals zu spät. Fortsetzung folgt einfach im nächsten Leben. Mindestens kommt das, was man schon gelernt hat, als Anlage, als Begabung wieder zum Vorschein. Und wäre Edison nicht als Zeitungsjunge geboren worden, sondern etwa als Millionärssohn, hätte er sich nicht so mühsam durchwürgen müssen, so wäre er wohl schwerlich dieser geniale Erfinder geworden, der sich in seiner Tüftelei ewig glücklich fühlt, wie ein Kind zu Weihnachten, der früher nie zu Bett ging. weil ihm das Aus- und Anziehen zu viel Zeit raubte, sodass er neben seiner geliebten Arbeit immer gleich auf dem Stuhle schlief.«
Arno ging bald wieder.
Und Atalanta saß da und starrte das Teppichmuster an, wie sie manchmal stundenlang auf das Schachbrett starren konnte, ohne eine Figur zu berühren.
Wir versetzen uns ungefähr 15 Jahre zurück.
Auf der Landstraße, die zwischen im ersten Grün sprießenden Baumwollfeldern hinführte, rannten im vollen Galopp drei elegante Damen.
Zu diesem Galopp hatten sie auch allen Grund. Nicht, dass sie verfolgt worden wären, es drohte ihnen keine Gefahr von Menschen oder Tieren. Wohl befanden sie sich in Indien, in Vorderindien, aber nur zwei Meilen entfernt von Bombay, dieser Millionenstadt, waren in der dichten Nähe einer Vorortstation, hatten einen kleinen Nachmittagsbummel gemacht, und das konnten die drei Damen ohne jeden männlichen Schutz tun.
Hier gab es keine anderen blutdürstenden Tiere mehr als Moskitos, selbst eine ungiftige Schlange kam hier in der weiteren Umgebung so selten vor wie in den Straßen Berlins, dazu stand dieses Land hier seit Jahrtausenden schon unter zu intensiver Kultur, sie konnte höchstens verschleppt worden sein, und Straßenräuber und sonstige böse Menschen waren in Bombay selbst mehr zu fürchten als hier im Freien.
Aber der Himmel war es, den sie zu fürchten hatten. Vor wenigen Minuten noch im reinsten Blau strahlend, war er fast plötzlich ganz schwarz geworden, mit einem furchtbaren Regenguss drohend. Nicht, dass die schwarzen Wolken erst am Horizont aufgestiegen wären und den Himmel schnell überzogen hätten, sondern die atmosphärische Feuchtigkeit hatte sich plötzlich zu einer einzigen gewitterschwangeren Wolke verdichtet.
Eine ganz gewöhnliche Erscheinung in dieser Gegend. Man würde sich wundern, wenn es einmal nicht so wäre. Es wäre wirklich ein Naturwunder, ein Phänomen.
Hier an der Küste von Malabar hat im Frühjahr jeder Tag seinen Nachmittagsregen, der so pünktlich einsetzt, dass man seine Uhr danach stellen kann, wenn man dabei die Tage seit Beginn der Regenperiode zählt. Die mittlere Zeit des Regenanfangs ist vier Uhr, dann setzt er jeden Tag vier Minuten später ein. Es hängt eben mit dem Sonnenstand zusammen, die Verdichtung der atmosphärischen Feuchtigkeit wird bewirkt, wenn sich die heißere Luft der nahen Gebirge mit der kühleren des Meeres ausgeglichen hat.
Diese Pünktlichkeit wird auch wirklich als Zeitmaß benutzt.
»Ich besuche Sie eine Viertelstunde vor dem Regen.«
So heißt es dort allgemein. Und sie ist auch recht gut, diese Pünktlichkeit des Wettergottes, denn wehe, wer im Freien von solch einem Regenguss überrascht wird! Da nützt kein Regenschirm, den haben die taubeneiergroßen Tropfen im Nu in Fetzen verwandelt. Die Tropfen schmerzen, und wenn es gar Stricke regnet, sind schon Menschen davon erschlagen worden. Nur der arme Eingeborene kümmert sich nicht viel darum, der hat sowieso nur eine Badehose an, und wenn er zu dieser Zeit ins Freie muss, oder er weiß, dass er überrascht wird, so legt er noch seinen Regenmantel an, das ist ein trichterförmiger Sack aus dicken Strohbündeln, und wenn die Tropfen gar zu sehr auf den Kopf schlagen, so zieht er eben den Kopf ein, bindet die Öffnung oben zu, kauert sich wohl auch nieder, bis in einer halben Stunde das Unwetter vorüber ist. Dieser Strohzuckerhut soll auch vor Blitzschlag schützen, welche Gefahr ja noch hinzukommt.
Aber der Wettergott kann doch einmal eine falsch gehende Uhr haben oder unpünktlich sein. Heute hatte er sich um 20 Minuten verrechnet.
Da kann man in einer Stadt wie Bombay etwas erleben! Gerade ist die Siesta vorüber, die Straßen füllen sich wieder, alles bewegt sich aber noch ganz schläfrig — und nun plötzlich, wenn sich der Himmel vorzeitig verfinstert, dieses Hasten, dieses Rennen! Und es handelt sich nur um wenige Minuten, vielleicht nur um Sekunden, Viel Gastfreundschaft gibt es dort eben nicht, das heißt nicht für den, den man nicht kennt, es ist dort doch alles englisch — my home is my castle, mein Haus ist meine Festung — aber da werden die Häuser einfach gestürmt, der Eigentümer muss Unterschlupf gewähren, ob er will oder nicht.
Diese drei Damen hier hatten das berühmte Nonnenkloster der grauen Schwestern bei Bombay besucht. Berühmt deshalb, weil es ehemals ein parsischer Felsentempel gewesen war, den die englischen Soldaten im indischen Aufstand entweiht hatten, weshalb die Parsen ihr geschändetes Heiligtum freiwillig den Christen überlassen hatten, was sonst nicht vorkommt.
Diese drei Damen waren wirklich in dem katholischen Kloster gewesen, waren empfangen und bewirtet worden, woraus man schon schließen konnte, dass es sehr hochgestellte Persönlichkeiten sein mussten, wenigstens eine von ihnen, denn dieses Nonnenkloster nahm sonst keinen Besuch an, auch keinen weiblichen. Natürlich immer mit Ausnahme. Wenn eine Fürstin kam oder eine reiche Madame Knöppaufdenbeutel, so war das ja etwas anderes.
Sie hatten das Kloster rechtzeitig verlassen und hätten die Eisenbahnstation bequem erreichen können, da fing der Wettergott mit seiner Vorstellung 20 Minuten zu früh an. Und nun galoppierten sie, um wenigstens noch die erste strohgedeckte Hütte von jenem Dorf zu erreichen!
Da blieb die einige Schritt vorausgaloppierende Dame plötzlich stehen.
br>»Ist es nicht auch eine Sünde, wenn wir uns dem durch Flucht entziehen, was Gott uns schickt?«, fragte sie mit Fistelstimme.
»Um Himmels willen!«, schrien die beiden anderen entsetzt. »Laufen Sie, Mylady, laufen Sie! Wir werden platt geschlagen, nur jenes Dorf —«
Da zuckte vom Himmel eine feurige Schlange herab, ein schmetternder Donnerschlag, und der gab auch wirklich den Ausschlag.
Plattschlagen vom Regen wollte sich vielleicht die Vorreiterin lassen, aber sich nicht von einem Blitz anzünden lassen. Also sie raffte ihr weißes Kleid noch höher auf und setzte sich wieder an die Spitze, um Tod und Leben galoppierend.
Himmel, hatte die dürre Waden! Und nun die roten Kniestrümpfe, das weiße Kleid mit schwarzem Besatz, ein weißer Hut, auf dem nach vorn eine große rote Feder nickte — so sah sie genau wie ein galoppierender Storch aus.
Wenn man aber ihr Gesicht sah, so wurde man mehr an einen Raubvogel erinnert. Ein aristokratisches Gesicht, sicher eine Oldengländerin vom reinsten Wasser, schade nur, dass darin die Hauptsache, gegen die alles andere zurücktrat, die Adlernase war. Ein fein gebogenes Adlernäschen ist ganz hübsch, aber das hier war ein mächtiger Adlerschnabel, der war nicht mehr hübsch.
Jedenfalls aber wusste die Besitzerin dieses Adlerschnabels, was sie wollte, und was sie wollte, das setzte sie durch, das drückten auch schon die schmalen, blutleeren, fest zusammengepressten Lippen aus.
Die erste Hütte war erreicht, gerade noch im letzten Augenblick, da prasselte es mit Macht herab, und gleichzeitig schien der ganze Himmel in Flammen zu stehen, unaufhörlich krachte der Donner.
Die Hütte hatte nur einen einzigen Raum. Daneben war noch ein Verschlag, in dem eine Kuh brüllte.
Die Bewohner der Hütte, ein Ehepaar mit einigen Kindern, saßen gerade beim Mittagessen, um diese Zeit eingenommen. Der senkrechte rote Strich auf der Stirn bezeichnete sie als Brahmanisten, speziell als Verehrer Schiwas. Die Anbeter Indras haben einen weißen senkrechten Strich auf der Stirn, dann gibt es aber noch Striche in allen Regenbogenfarben, senkrecht und waagerecht, kreuz und quer und krumm und gerade, wodurch sich die Mitglieder der verschiedenen Sekten äußerlich unterscheiden.
Wir wollen die Unterscheidung so machen, wie es die Engländer tun, obgleich es nicht richtig ist, aber einfach und praktisch. Die mohammedanischen Eingeborenen werden Inder genannt, denn obgleich sie in der Minderzahl sind, ist ihre Religion doch die herrschende, die meisten Maharadschas und Radschas sind jetzt Mohammedaner, sie haben auch den Handel und das Geld und daher die Macht in Händen, nach den Engländern.
Die Anhänger Brahmas und Buddhas aber mit all ihren zahllosen Sekten werden Hindus genannt; dann kommen noch die Parsen hinzu, die Anhänger Zoroasters, ebenfalls meist reiche Kaufleute, welche die ärmeren Parsen in ihre Dienste nehmen.
Das hier waren Hindus. Dass sie Schiwa als Hauptgott anbeten, verriet auch schon der vor dem Hütteneingange stehende, in den Boden gerammte Pfahl, welcher der heiligen Kuh Schiwas geweiht war. Wozu er sonst diente oder wie man den Pfahl verehrte, werden wir später sehen. In dem Verschlage stand Schiwas heilige Kuh selbst, jede Hütte hat ihre eigene. In ihrem Stalle sah es sauberer aus als hier im Wohnraume. Diese Kuh arbeitet nicht, wird nicht geschlachtet, nicht gemolken, sondern nur gefüttert, und wenn auch die ganze Familie dabei verhungert.
Die vor dem Regen geflüchteten Damen wurden freundlich empfangen, aber ohne die frühere Kriecherei, die den Hass verbarg. Das war hier in der Nähe Bombays schon längst überwunden, wie die ehemalige Schreckensherrschaft der englischen Handelskompanie in ganz Indien, wenn auch noch gesündigt genug wird.
Der Hausherr lud die Sahibas ein, an dem Mittagsessen teilzunehmen, aus einem grünen Gemüse, Bohnen, Zucker und Brot bestehend. Die Damen dankten, setzten sich auf Bastkörbe, sahen zu und lauschten dem Prasseln und Donnern.
Da kam noch eine Person herein. Ein Mädchen, eigentlich ein Kind noch, zwölf Jahre, aber schon ein vollentwickeltes Weib. Ganz kindlich waren noch die überaus kleinen, fast winzig zu nennenden Hände und Füße, kindlich die reizenden Gesichtszüge.
Sie kam nicht, sondern sie schlich herein. Waren die anderen hier schon ärmlich genug gekleidet, so war die hier kaum noch mit Lumpen bedeckt. Vom Regen schon ganz durchweicht, schlich sie nach der entferntesten Ecke und kauerte sich nieder. Kein Blick nach den Essenden oder nach den fremden Damen, immer den Kopf tief gesenkt, und so blieb sie auch kauern.
»Wer ist denn das?«, fragte die Lady mit den roten Strümpfen verwundert. »Eine verachtete Landstreicherin?«
»Nein, noch etwas viel Schlimmeres!«, erklärte ihr die eine Gesellschafterin. »Das ist eine Haraniwaka.«
»Haraniwaka? Was ist das? Halt — ich weiß — ich kann doch schon Hindustanisch genug — ›harani‹ heißt leben, ›waka‹ ist der Kopf, nicht wahr?«
»Ja, der Kopf eines Toten, ein Totenschädel. Sie sehen ja, sie hält ihn in der Hand, wenigstens die obere Hirnschale.«
So war es. Das Mädchen hatte an einem Strick um ihren Hals eine Schale hängen, die man bei oberflächlichem Hinsehen für ein Stück gelbes Holz oder Ton halten musste. Wer dachte denn gleich an die obere Hirnschale eines Menschenkopfes.
Sie hatte diese Schale gleich beim Hereinschleichen in beide Hände genommen, und zwar offenbar recht auffällig, so kauerte sie jetzt auch da, die Schale vor sich gegen die Brust drückend, den Kopf immer tief gesenkt.
»Ein Totenschädel?! Ja, wozu trägt sie denn den Totenschädel?«
»Nun, es ist eben eine Haraniwaka, ein lebender Totenschädel, eine Witwe. Ist denn Mylady das noch nicht bekannt?«
»Ja, natürlich weiß ich das, ich dachte nur nicht gleich daran!«, erklang es sehr unmutig zurück.
Die Lady blickte interessiert nach dem Kinde, das schon eine Witwe war, sie wusste etwas davon, aber nicht viel, hätte gern mehr erfahren, wollte sich aber von ihrer Begleiterin, die ihr gegenüber eine nur untergeordnete Stellung einnahm, was sie sie auch oft genug fühlen ließ, nicht belehren lassen. So fragte sie gleich direkt den Hausherrn, ziemlich geläufig hindustanisch sprechend.
»Ist das Deine Tochter?«
»Ja, Sahiba, alle diese Mädchen sind meine Kinder!«, entgegnete der Hindu höflich.
Er hatte dabei eine Handbewegung im Kreise gemacht.
»Ich meine jene dort.«
»Wen meinst Du, Sahiba?«
»Die dort kauert. Es könnte doch auch Deine Schwiegertochter sein, die sich mit ihrem gestorbenen Manne, mit Deinem Sohne, nicht hat verbrennen lassen.«
Die Lady hatte gezeigt, dass sie etwas davon wusste, nur schade, dass der Hindu nicht darauf einging.
»Wen meinst Du denn nur, edle Sahiba?«
»Na die dort!«, wurde die edle Sahiba jetzt ärgerlich und streckte Hand und Finger aus.
Der Hindu blickte nach der bezeichneten Richtung und schüttelte verwundert den Kopf.
»Ich verstehe Dich nicht, Sahiba. Von wem sprichst Du denn nur?«
»Bist Du denn blind? Siehst Du das Weib dort nicht?!«
»Ich bin nicht blind. aber ich sehe niemanden.«
Nun wusste die Lady genug. Sie hatte schon viel von dem Lose der Hinduwitwen gehört und gelesen, aber doch noch nicht, dass sie so als Luft behandelt werden.
Dann wusste sie aber auch, wie sie weiter zu fragen hatte, um ihre Wissbegierde zu befriedigen.
»Hast Du einen Sohn gehabt, der gestorben ist?«
»Mir sind zwei Söhne gestorben!«, wurde ohne viel Teilnahme erklärt.
»Sie waren verheiratet? Einer von ihnen?«
»Keiner. Sie starben ganz jung.«
»Hast Du eine erwachsene Tochter, die verheiratet war?«
Da verzog sich das ernste Gesicht des Hindus schmerzlich, seine Frau fing gleich zu weinen an, zwei halbwüchsige Kinder zu heulen.
»Ja, die habe ich gehabt, Zarina, vorgestern haben wir sie begraben.«
Es war begreiflich, dass die Lady nicht gleich das Richtige erfasste, aber sie kam schon noch von selbst darauf.
»Begraben habt Ihr sie vorgestern?«
»Ja, ja!«, fing jetzt auch der Mann zu schluchzen an.
»Woran ist sie gestorben?«
»Freiwillig.«
»Freiwillig?«
»Des Hungertodes.«
Nun ahnte die Lady schon etwas.
»Sie war verheiratet?«
»Ja.«
»Und wann ist ihr Mann, Dein Schwiegersohn, gestorben?«
»Vorgestern.«
»Und da ist seine Frau, die Witwe, Deine Tochter, an demselben Tage des freiwilligen Hungertodes gestorben?«
»Ja.«
»Da hat sie wohl schon vorher recht lange gehungert, ihr Mann war längere Zeit krank, sein Tod war zu erwarten gewesen?«
»O nein, er starb ganz plötzlich, ein fallender Baum zermalmte ihn.«
»Und da ist seine Frau an demselben Tage noch des freiwilligen Hungertodes gestorben??! Das ist ja ganz unmöglich!«
»Doch. Schiwa hat dieses Wunder vollführt. Das tut er stets, seitdem die Anglisi nicht mehr erlauben, dass sich die Witwe mitverbrennt.«
»Nein, das dort ist Deine verwitwete Tochter Zarina, sie ist eine Haraniwaka geworden!«
Da plötzlich flammten die noch tränenden Augen des starkgebauten Mannes auf, drohend ballten sich seine schwieligen Fäuste.
»Was wagst Du mir da zu sagen, Sahiba? Eine Haraniwaka in meinem Hause?! Noch dazu meine eigene Tochter?! Sahiba, warum beleidigst Du mich so furchtbar, wo ich Dir erst angeboten habe, mit mir mein Essen zu teilen?«
Erschrocken mischten sich die beiden Damen ein, die ein noch viel geläufigeres Hindustanisch sprachen.
»Entschuldige, verzeihe ihr! Sie ist ganz fremd hier, kennt die Sitten dieses Landes noch nicht, sie hat Hindustanisch nur in ihrer Heimat gelernt!«
Der Mann beruhigte sich denn auch schnell wieder.
»Ich verzeihe Dir, und Du, entschuldige meine Heftigkeit. Nein, meine Tochter Zarina ist vorgestern gestorben und begraben worden.«
Natürlich war sie es dennoch, die dort mit gebeugtem Haupte regungslos kauerte, die geliebte Tochter und Schwester, die als Tote beweint wurde, weil sie für die Lebenden einfach nicht mehr existierte.
Und wie sie nicht mehr existierte und was ihr Los war, das sollte gleich noch anschaulicher gemacht werden, in einer noch furchtbareren Weise.
Die Mahlzeit war beendet, der Mann erhob sich, nahm unten von der Wand ein befestigtes Brett weg, hinter dem es schon immer gewinselt und gequiekt hatte.
Aus dem Loche stürzten zwei dürre Hunde und ein halbes Dutzend kleiner Ferkel hervor. Der Mann nahm vom Tisch die Holzschüssel, die noch halb gefüllt war, setzte sie in einer Ecke den Tieren vor, die mit den Menschen diesen Wohnraum teilten und nicht den sauberen Stall der heiligen Kuh verunreinigen durften, die nur während des Essens einstweilen eingesperrt wurden.
Gierig fielen die Hunde und kleinen Schweine über das Fressen her.
Und da erhob sich in der Ecke das kindliche, schöne Weib, schlich hin nach der Schüssel, zwängte ihr Händchen zwischen die fressenden und wühlenden Hunde- und Ferkelköpfe, aber schüchtern, vorsichtig, stieß keinen Kopf zurück, ließ vielmals ihre Hand oft zurückstoßen, und so füllte sie nach und nach ihre Schale, den oberen Teil eines Totenschädels, und dann schlich sie zurück, dem Bruder ausweichend, der sie sonst getreten hätte, natürlich nicht mit Absicht, wie kann man denn etwas, was gar nicht existiert, mit Absicht treten, kauerte sich wieder hin und führte den Schweinefraß demütig mit zitternder Hand zum Munde — Zarina, die geliebte Tochter und Schwester, die hier beweint wurde!
Jammer über Jammer!
Das ist das Los der Hinduwitwen!
Ohne Ausnahme!
Sie muss sich mit der Leiche des gestorbenen Gatten verbrennen lassen.
So heißt es.
Das ist nicht ganz richtig.
Erstens gibt es in Indien öde Gegenden genug, wo sich gar nicht so viel Holz findet, um eine Leiche verbrennen zu können, und zweitens lassen sich überhaupt gar nicht alle Hindus verbrennen, die ärmeren niemals, die werden begraben.
Aber dieses Begraben wird ebenfalls »Verbrennen« genannt. Einfach weil das hindustanische Wort »shawaschani« in Bezug auf einen tierischen Körper, auf eine Leiche, ebenso gut verbrennen wie begraben heißt. Die Leiche wird aufgelöst, vernichtet, wir würden es am richtigsten mit »oxidieren« übersetzen.
Also die Witwe kann sich auch mit der Leiche ihres Gatten lebendig begraben lassen. Sie legt sich mit in das Erdreich, es wird zugeschüttet. Dieser Tod ist sicher nicht schmerzvoller als der des Verbrennens. In zwei bis drei Minuten ist es sicher vorbei.
Aber nun die Hauptsache: Es ist gar kein Zwang, dass sich die Witwe mit verbrennen oder begraben lässt.
Wenn die Hinduwitwe leben bleiben will, so darf sie es ruhig tun, niemand darf sie mit Gewalt dazu zwingen, den Scheiterhaufen zu besteigen oder sich in das Grab zu legen, man darf ihr auch nicht mit einem Wörtchen zureden, diese heilige Pflicht zu erfüllen, denn eine heilige Pflicht ist es ja allerdings, aber sie kann eben nicht dazu gezwungen oder auch nur aufgemuntert werden. Alles, was man so oft davon hört und liest, wie die sich sträubende Witwe mit Gewalt auf den Scheiterhaufen geschleppt wird, ist eine Fabel.
Die Witwe kann leben bleiben. Für ihre Anverwandten allerdings ist sie tot, wird nicht mehr zu den Lebenden gezählt.
Als äußeres Abzeichen, dass sie ein Leichnam ist, dessen Berührung verunreinigt, muss sie sich zunächst einen Totenschädel verschaffen. Es ist nicht der ihres Gatten. Totenschädel findet man dort überall genug, nicht nur in der Umgegend der Türme des Schweigens, wo die Parsen ihre Toten von Geiern fressen lassen, es gibt dort riesige Totenstädte, nicht nur -stätten.
Die obere Hirnschale dient ihr fernerhin als Essnapf, sie muss ihn als ihr Abzeichen immer sichtbar tragen.
So zieht sie sich als Haraniwaka, als lebender Totenschädel, in einen einsamen Wald oder eine Einöde zurück, nährt sich von Wurzeln, Beeren und wilden Früchten. Da es diese aber nicht immer gibt, ein Dorf oder ein Haus sie nicht betreten darf — was dann geschehen würde, kann man sich gar nicht ausdenken — so muss sie sich in der Nähe einer Landstraße aufhalten. Wenn der Hunger sie dazu treibt, stellt sie sich an den Rand der Straße, den Kopf gesenkt, und wartet auf einen Vorüberkommenden; darf ihm aber die Hirnschale nicht einmal hinhalten, sondern muss diese gegen die Brust drücken.
Der vorübergehende Hindu sieht die Haraniwaka überhaupt nicht, die ist ja schon längst tot, das ist nur ein Gespenst, da muss man sich hüten, hinzusehen.
Der mohammedanische Inder oder Araber oder Parse oder Jude oder Europäer, der ein mildes Herz hat, lässt im Vorübergehen etwas aus seinem Proviantsack fallen. Er darf es ihr nicht geben, nicht zuwerfen, davor muss er sich sehr hüten. Es ist ein verfluchtes Gespenst aus dem Schattenreiche, wie kann man solch einem etwas zu essen hinwerfen! Der arme Hindukuli, wenn er es erfährt, verlässt sofort die Dienste dessen, der sich so verunreinigt hat, eine ganze Fabrik kann plötzlich stehen bleiben, die Ernte verfault auf dem Felde, und der reiche Hindukaufmann bricht deswegen mit einem Mohammedaner oder Christen sofort die besten Geschäfte ab. Die Wiederherstellung der Ehre muss öffentlich unter feierlichen Zeremonien geschehen, das kostet schweres Geld, auch der christliche Europäer muss sich ihnen unterwerfen, oder er ist unter den Hindus in ganz Indien einfach unmöglich. Die Hindus müssen da ihre geheimen Zeichen haben, mit denen sie so einen Geächteten markieren. Es ist vorgekommen, dass das ganze Dienstpersonal eines Hotels plötzlich verschwand, weil in dem Hotel ein fremder Europäer abgestiegen war, der in einem ganz anderen Teile des großen Indiens mit einer Haraniwaka gesprochen, ihr nur etwas zugeworfen hatte, ganz heimlich, niemand konnte es gesehen haben.
Eine versehentliche Berührung mit der Haraniwaka hingegen verunreinigt nicht. Nach dem Glauben der Hindus wimmelt doch das ganze Weltall voll Geistern und Gespenstern und Dämonen, mit denen man fortwährend zusammenstößt, sie durchdringen uns, und deshalb wird man doch nicht verunreinigt. Nur die bewusste Absicht tut es.
Dass da die meisten Hinduwitwen vorziehen, den Scheiterhaufen zu besteigen oder sich lebendig begraben zu lassen, wobei ihnen auch noch zu Ehren die größten Festlichkeiten gegeben werden, ist wohl begreiflich. Nur bei einem kleinen Bruchteil ist die Furcht vor dem Tode, die Liebe zum Leben, stärker als alle Schmach — —
So war es früher. Bis vor etwa 60 Jahren.
Heute ist es anders geworden. Nämlich noch viel schrecklicher!
Nachdem die englische Regierung den furchtbaren indischen Aufstand niedergeworfen hatte, im Jahr 1858, der englischen Handelskompanie, die ja entsetzlich gehaust hat, das Heft aus den Händen genommen, ging sie an das Einführen von Reformen.
Unter anderem wurde auch das Verbrennen und Begraben der Witwen strikte verboten Mit Energie ließ sich das auch ganz gut durchführen.
Denn es genügt eben nicht, dass die Witwe schnell auf den schon brennenden Scheiterhaufen springt oder sich in die Grube stürzt, wenn die ersten Schollen fallen. Es ist unbedingt eine tagelange Feierlichkeit mit Schmaus, Gesang und Tanz dazu nötig, es muss die nochmalige Hochzeit gefeiert werden, die Vermählung der Seelen, sonst hat das Ganze keinen Zweck.
So etwas konnte leicht kontrolliert werden. Wer sich an solch einem Feste beteiligt hatte, wurde streng bestraft, hauptsächlich durch Auferlegung von Steuern, natürlich sehr zum Vorteil der Engländer, ganze Dörfer mussten lange Zeit bluten.
Diesen Gefallen taten aber die Hindus den verhassten Faringis nicht. Sie fügten sich, unterließen das Verbrennen und Begraben der Witwen, fügten sich dem Gebot oder Verbot in aller Ruhe.
Nämlich deshalb, weil ihre schlauen Priester schnell ein anderes Mittel gefunden hatten, um dieses Verbot zu umgehen.
Gut, dann mussten die Witwen, die sich im Tode mit den Seelen der verstorbenen Gatten vermählen wollten, eben einen anderen Selbstmord begehen, der zu demselben Ziele führte und den man gar nicht verhindern kann.
Den Hindus ist, wie schon einmal erwähnt, als Selbstmord, wenn er nicht die schwersten Folgen für ihre späteren Wiedergeburten haben soll, wozu auch noch eine qualvolle Hölle kommt, nur der Tod durch Verhungern und Verschmachten erlaubt. Vorteilhafter ist es, dabei Wasser zu trinken, weil dadurch das Verhungern noch länger dauert. Außerdem dürfen sich die Kandidaten an den gewissen Festtagen noch vom heiligen Wagen des Juggernaut zermalmen lassen, dürfen sich an hohen Festtagen von den heiligen Krokodilen gewisser Gewässer fressen lassen, einige Sekten erlauben auch gütigst, dass man sich — sicher die angenehmste Todesart — in einen Ameisenhaufen setzt.
Dann gibt es auch noch einige Sekten, die den freiwilligen Erstickungstod erlauben. Man muss den Atem so lange anhalten, bis man nicht mehr atmen kann, weil man eben tot ist. Hierzu ist zur Erleichterung das Anlegen oder gar das Verschlucken der Zunge erlaubt, was aber erst geübt werden muss. Auch verbluten darf man sich. Doch muss die Pulsader unbedingt mit den Zähnen aufgebissen werden. Aber das sind schon Freigeister, die solche lächerlich harmlose Todesarten statthaft finden — unseren Christen entsprechend, die sonst an nichts glauben, auf den ganzen Rummel pfeifen, wohl aber auf Kirchentrauung, Taufe, ein christliches Begräbnis und dergleichen halten.
Das weibliche Hindugeschlecht aber darf nur Selbstmord durch langsames Verhungern und Verschmachten begehen. So wurde dies den Witwen auferlegt, wenn sie nicht der schmachvollsten Verachtung anheimfallen wollten. Wanderprediger verbreiteten diese neue Lehre, das konnte gar nicht unterdrückt werden, und man kann doch auch weder verbieten noch verhindern, dass jemand Speise und Trank verschmäht. Die Witwen bekamen noch die Erleichterung. dass sie auch kein Wasser zu trinken brauchten. Das hält der Mensch fünf bis sieben Tage aus, dann verlässt die Seele sicher den Körper.
Also man kommt — das ist alles noch heute so — wenn ein verheirateter Mann gestorben ist, nach wie vor zum fröhlichen Schmause zusammen, die geschmückte Braut sieht als gefeierte Person, der alle Ehre gilt, zu, wie die anderen schmausen und trinken, ohne selbst etwas anzurühren. Wer will etwas dagegen machen?
Das Gelübde, den Verschmachtungstod zu sterben, ist viel leichter abgelegt, als den Scheiterhaufen zu besteigen oder sich lebendig in ein Erdloch zu legen. Aber dieses Gelübde zu erfüllen, langsam zu verhungern und zu verdursten, das ist viel schwerer, als sich lebendig verbrennen oder begraben zu lassen. Und einsperren darf man die Witwe nicht, alles muss ganz freiwillig geschehen. Sie hat immer Speise und Trank vor sich, und sie braucht nur ein einziges Mal, vielleicht schon im Delirium, ein Schlückchen Wasser zu nehmen, so hat sie ihr Gelübde gebrochen, dieses kann nie wiederholt werden, es ist für immer vorbei — den Totenschädel umgehängt, fort mit ihr als Haraniwaka!
Die Folge dieser Maßnahmen der englischen Regierung war, dass sich die Haraniwakas in erschreckender Weise vermehrten. Bald standen an allen Landstraßen des ungeheuren Reiches die abgezehrten Gestalten reihenweise, darauf wartend, dass ein Vorübergehender »aus Versehen« etwas aus seinem Proviantsack fallen ließ. Dazu kam nun noch, dass in Indien immer mehr Eisenbahnen gebaut wurden, die früher gerade am begangensten Landstraßen wurden immer einsamer, und welche Witwe nun einmal die Hirnschale als Essnapf genommen hatte, die wollte doch nun auch nicht nachträglich unfreiwillig oder freiwillig verhungern, und der Drang zum Leben ist nun einmal die stärkste Triebkraft — also zogen sich die lebenden Totenschädel in die Nähe der noch begangenen Straßen zusammen, belagerten die Städte und Ortschaften.
Diese Bettlerinnen wurden zur schrecklichen Landplage. Wie viele Witwen mag es wohl in Vorderindien geben? Man kann sie nicht zählen, jedenfalls aber handelt es sich um Millionen, denn den Hindus ist die Vielweiberei erlaubt, und der Prozentsatz der Witwen vermehrt sich noch dadurch ins Ungeheure, dass das Hindumädchen mit dem achten Jahre heiraten darf, bis zum zehnten Jahre geheiratet haben muss. Das ist ein ehernes Religionsgesetz. Wer das nicht glaubt, der erkundige sich nur, es steht auch im Konversationslexikon. Ist das Mädchen noch nicht heiratsfähig, so hat das nichts zu sagen, die Heirat erfolgt einstweilen bloß pro forma, aber unwiderruflich bindend. Stirbt der Gatte, so muss das achtjährige Kind mit auf den Scheiterhaufen oder muss sich lebendig begraben lassen oder muss freiwillig verhungern oder es muss den Totenschädel nehmen. Und gegen dieses frühzeitige Heiraten ist nichts zu machen, da darf sich niemand einmischen, am wenigsten England, denn in England darf unter Umständen auch schon das Mädchen mit zwölf Jahren heiraten, mindestens einen bindenden Ehekontrakt eingehen; was nicht hierher gehört. Bei den Hindus aber muss das Mädchen unbedingt bis zum zehnten Jahre verheiratet sein.
Also diese Millionen von Witwen wurden zur schrecklichen Landplage. Jetzt sah man sie überall unfreiwillig vor Hunger sterben.
Die englische Regierung war ohnmächtig gegenüber solcher Menge, da halfen keine philanthropischen Vereine und gar nichts.
Es wurde ein neues Gesetz geschaffen. Den Legionen von Bettlern kann in Indien das Landstreichen nicht verboten werden. Nicht einmal in England darf jemand wegen Landstreichens und Obdachlosigkeit eingesperrt werden, wohl aber haben die Hindus ein eigenes Religionsgesetz, wonach sie für unbemittelte Verwandte, die sich nicht selbst ernähren können, sorgen müssen.
Mit diesem ihrem eigenen Gesetz wurden sie gefasst. Die Kinder der Witwen waren ja überhaupt schon immer im Hause der Großeltern väterlicher- oder mütterlicherseits geblieben, jetzt mussten auch die Witwen im Hause aufgenommen werden. Geschah es nicht, so wurden Steuern aufgetrieben, in Geld oder Naturalien, um die ausgestoßenen Witwen zu ernähren.
Die Hindus zogen es vor, die Witwen in ihren Häusern aufzunehmen. Die Umwandlung hat ja lange gedauert, hat sich aber in aller Ruhe vollzogen.
Heute kennt man es gar nicht mehr anders. Nur wo noch gar keine Europäer hingekommen sind, mögen noch Haraniwakas in Wäldern und Einöden wie die wilden Tiere leben, sonst wohnen sie allgemein im Hause ihrer Eltern oder Schwiegereltern.
Ob das Verbot der englischen Regierung, dass sich die Hinduwitwen mit den Leichen ihrer Männer lebendig verbrennen oder begraben lassen, ein Segen gewesen ist, das ist ja sehr die Frage.
Wir haben gesehen, wie solch eine Haraniwaka im Hause der Eltern behandelt wird. Und das war nicht etwa eine Ausnahme. Die Eltern und Geschwister hatten sie wirklich geliebt, beweinten sie — und jetzt traten sie dieselbe mit Füßen, ließen sie sich aus dem Futtertroge der Hunde und Schweine sättigen.
Und nicht einmal, dass der Vater erst die Schüssel an den Boden setzte, damit die sich ihre Schale erst füllen konnte, ehe er die Tiere herausließ. Nein, zuerst kamen die Hunde und Schweine daran, weil es eben früher so gewesen war — weil die Tochter einfach tot war.
»Shocking!« Ein anderes Wort hatte die Lady für diese Szene des grauenvollsten Jammers nicht gehabt, hatte sie mit einer Lorgnette beobachtet.
Und die beiden anderen Damen hatten mit jener eine gewisse Ähnlichkeit, auch so strenge Gesichtszüge, und denen war das überhaupt nichts Neues mehr, die sagten gar nichts, weil sie von ihrer Herrin nicht gefragt worden waren.
Schnell, wie der vorzeitige Regenguss gekommen, war er wieder vorüber, schon lachte am blauen Himmel wieder die Sonne, die vorzüglich chaussierte Straße schnell trocknend.
Ein Gebot der Lady, eine der Damen suchte in ihrer Börse zwischen Gold und Silber so lange, bis sie eine kleine Kupfermünze gefunden hatte, und warf sie auf den Tisch — die drei setzten ihren Weg nach der Station fort.
Und der Hausvater holte aus dem Stalle der heiligen Kuh einen heiligen Kuhfladen, salbte damit den vom Regen abgewaschenen Pfahl ein, und dann schmierte er mit demselben Stoffe sein und seiner Frau und Kinder Gesicht.
Nur die Haraniwaka bekam nichts davon ab.
»Sie wollen mich sehr gut kennen, aber ich habe
Sie noch nie gesehen!«, sagte die riesenhafte
Negerin zu der ihr gegenüberstehenden Amerikanerin.
Lady Harriet, die Dame mit den roten Strümpfen und der mächtigen Hakennase, saß in ihrem Hotelzimmer zwischen aufgestapelten Büchern und grübelte.
Sie war die Tochter eines Bischofs. Die protestantische anglikanische Hochkirche hat Bischöfe, sie müssen Lord und Peer sein.
Sie war schon ein sehr frommes Kind gewesen. Das Beten allein hatte ihr niemals genügt, sie hatte schon als Kind brav gefastet und sich blutig gegeißelt, aber nur, wenn sie wusste, dass es andere wussten. Sie wollte sich bemerkbar machen, das war der Grundzug ihres Charakters. Wenn sie eine glänzende Gesellschaft besuchte, so ging sie in Sack und Asche, trug wirklich einen Kittel aus Sackleinwand und hatte einmal wirklich ihr unfrisiertes Haar mit Asche bestreut. War es hingegen eine Lumpenversammlung, so erschien sie in pompöser Toilette, so wie jetzt, da sie den Schwestern einen Besuch abgestattet hatte.
Dabei aber war ihre Frömmigkeit eigentlich eine ganz ehrliche. Man soll doch sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Die wusste schon, was sie tat. Sie wollte im Weinberge des Herrn mit Erfolg arbeiten, und sie hatte denn auch immer großen Erfolg, wenn auch nicht gerade den, den sie erwünscht. Jedenfalls aber hat sie Großes geschaffen und viel Segen gestiftet.
Ihre öffentliche Tätigkeit begann sie damit, dass sie den geistlichen Beruf dem Frauengeschlecht zugänglich machen wollte. Damit hatte sie in England nun freilich kein Glück, umsonst hatte sie die Tinte fässerweise verschrieben und mit der Hälfte ihres mütterlichen Vermögens die Zeitungen gespickt.
Dann gründete sie in London eine eigene Kapelle, predigte auch auf der Straße. Allein hiermit war es wiederum nichts, sie besaß nicht das nötige Rednertalent, drang mit ihrer Fistelstimme nicht durch. Und die Gläubigen oder vielmehr Ungläubigen mit Geldgeschenken und Fünfuhrtees anzulocken, wie es andere tun, dazu war sie doch wieder zu ehrlich. Seit dieser Zeit aber nannte man sie die Bischofslady.
Jetzt wandte sich die Bischofslady der Rettung gefallener Mädchen zu. Von solchen gibt es ja nun gerade in London eine reichliche Menge. Ein geschickter Aufruf und die gefallenen Mädchen kamen gelaufen. Allerdings nicht die, auf welche es die Bischofslady gerade abgesehen hatte. Die sogenannten Heidiedeldeigirls waren es, die gelaufen kamen und sich ihr zur Verfügung stellten. Das sind die, die Tag und Nacht vor den Bierhäusern kauern, kaum noch in Lumpen gehüllt, und auf eine milde Seele lauern, die ihnen einen »drink« spendiert, und wenn sie den haben, dann singen sie Heidiedeldeideidei und tanzen dazu. Sie sind 12 bis 120 Jahre alt. Besonders die Irländerinnen werden sehr alt. Eingesperrt können sie nicht werden.
Eigentlich also hatte es die Bischofslady auf eine bessere Klasse von gefallenen Mädchen abgesehen, so mehr auf gefallene Damen, aber sie wollte eine Streichholzmanufaktur gründen und diese gefallenen Damen wollten nichts von Streichhölzchen wissen.
Na, so begnügte sie sich einstweilen mit den Heidiedeldeimädchen. Die machten willig mit, die machen noch etwas ganz anderes mit.
Die Bischofslady kaufte ein ehemaliges Nonnenkloster — so unpraktisch wie möglich gelegen, aber ein Nonnenkloster musste es unbedingt sein — richtete alles ein und die Heidiedeldeimädchen lernten die Streichholzfabrikation.
Es ging alles ganz vortrefflich. Die zwölf- bis hundertzwanzigjährigen Jungfrauen waren körperlich doch ganz herunter, sie wurden gut gefüttert; Lady Harriet war so klug, ihnen Bier und Whisky nicht gleich vorzuenthalten. So eine Entwöhnung muss erst nach und nach geschehen.
Also es ging ganz vortrefflich. Die Heidiedeldeimädchen arbeiteten fleißig und sangen dazu Hymnen, zumal die englischen Kirchenlieder nach so frischen, fröhlichen Melodien gesungen werden. Dass sich das Streichhölzchenmanufakturnonnenkloster nicht rentierte, vielmehr noch einen schmählichen Zuschuss erforderte, hatte nichts zu sagen, Lady Harriet hatte es noch immer dazu.
Als sich aber nun die verhungerten Heidiedeldeimädchen erholt, herausgefressen hatten, wie man sagt, als das Essen, damit sie nicht gar zu üppig wurden, immer kärglicher ward, bis es zuletzt nur noch Hafergrütze gab, Bier und Whisky gar nicht mehr, da — wir wollen es gleich ganz kurz machen — da wanderten sie aus, gingen nach London zurück, gingen in die Streichholzfabriken, das Streichholzmachen hatten sie ja nun gelernt. Sie verdienten wöchentlich 15 bis 20 Schilling und konnten abends ihren künstlerischen oder wissenschaftlichen Neigungen leben.
Lange hielten sie das freilich auch nicht aus, es war ihnen zu viel Geld, sie kauerten sich wieder vor den Bierhäusern nieder, sorgten dafür, dass sich ihre Kleider schnellstens wieder in Lumpen verwandelten, warteten auf eine milde Seele, die ihnen einen »drink« spendierte, und wenn sie einen bekamen, dann sangen sie Heidiedeldeidei und tanzten dazu irischen Stepp.
Nun aber wusste die Bischofslady, dass weder Prophet noch Prophetin in der Heimat Glück haben. Sie schüttelte den Staub von den Füßen und begab sich gleich nach Indien. Jetzt wollte sie ganz echte »Heiden« bekehren, hatte es speziell auf die Buddhisten abgesehen, hatte sich aber ganz energisch erst darauf vorbereitet, hatte Hindustanisch gelernt.
In Bombay traf sie zufällig gerade den richtigen Mann, der sie aufklären konnte und dem sie glücklicherweise auch Glauben schenkte, sodass sie ein abermaliges Fiasko vermied.
Die christliche Mission unter den Buddhisten und Brahmanisten und Parsen und Mohammedanern ist ein sehr heikles Thema. Die sich taufen lassen, das sind alles nur Schlauberger, orientalische Heidiedeldeimädchen in männlicher Ausgabe. Aber dass sehr, sehr viele Christen zum Buddhismus übertreten, das stimmt! Sie nennen sich Theosophen, bilden in Indien mehr als 200 Gesellschaften, welche die Bewegung leiten, in Amerika zählen sie nach Millionen. Freilich wollen sie nichts davon wissen, wenn man sie Buddhisten nennt, fühlen sich schwer beleidigt. Aber was ist es denn anderes als eine Verschmelzung von Christentum und Buddhismus, worin der letztere stark vorherrscht, wenn nicht, dann könnte man mit demselben Recht die Mohammedaner Christen nennen, denn denen gilt unser altes Testament als heiliges Buch, das sie andächtig lesen, auch sie verehren Christus als heiligen Propheten, aber erst an zweiter Stelle nach Mohammed.
Die Bischofslady wurde durch Aufklärung von der Zwecklosigkeit ihrer christlichen Bekehrungsversuche so überzeugt, dass sie gar nicht erst damit anfing. Ein kluges Weib war sie. Aber was nun?
Da hatte sie in der Hinduhütte die Haraniwaka gesehen, da war ihr die neue, geniale Idee entstanden. »Shocking!«, hatte sie nur gesagt — desto mehr handelte sie dann.
Hier wollte sie wirklich einmal etwas Großes leisten, eine gewaltige Bewegung in die Welt setzen.
Wir fassen alles kurz zusammen.
Sie orientierte sich weiter über diese lebenden Totenschädel und erfuhr, was edle Menschen, ganze Gesellschaften und die englische Regierung schon alles versucht hatten, um den Haraniwakas ihr schreckliches Los zu erleichtern. Alles vergeblich. Jetzt war das wieder ein religiöses Gesetz geworden, dass sie sich im Hause der Eltern oder Schwiegereltern aufhielten, dass sie von ihren nächsten Verwandten so verächtlich behandelt wurden, das war ihre Strafe, und nun ließen sie sich auch durch nichts weglocken. Und brachte man solche Witwen mit Gewalt in Anstalten unter, dann waren sie ihrem Ideenkreise entrissen, dann begingen sie regelmäßig Selbstmord, sie hingen sich einfach auf. Nun war es ja doch vorbei, nun konnten sie gleich direkt in die Hölle fahren.
Lady Harriet verfiel auf ein höchst originelles Mittel, das wirklich zum Ziele führen sollte. Sie schaffte sich einen großen, gedeckten Karrenkasten mit zwei Gäulen an, hing sich selbst den Totenschädel um — so kutschierte sie im Lande umher, in den Dörfern die Haraniwakas aufsuchend.
»Es ist nicht richtig, dass Ihr Euch im Hause Eurer Verwandten verbergt, Eure Schande ist gar zu groß, Ihr müsst sie ganz öffentlich zeigen.«
Gerade diese furchtbar harten Worte wirkten. Mit Milde und Güte war eben gar nichts zu machen gewesen; die Bischofslady hatte es ganz richtig erfasst.
Die erste war Zarina, die neben ihrem Wagen herging, immer mehr kamen dazu, bis sich auf der Straße ein Zug von Hunderten von lebenden Totenschädeln bewegte. Zuerst wurden sie aus dem mit Proviant gefüllten Wagen ernährt. Als dieser leer war, hatte sich die Sache schon so weit entwickelt, dass Lady Harriet auch wieder neuen Proviant kaufen konnte. Von eingeborenen Händler bekam man ja nichts zu kaufen, auch nicht von europäischen, oder sie hätten sich ruiniert für immer, oder man hätte ihnen so viel geben müssen, dass sie fernerhin als Rentiers leben konnten. Aber unterdessen hatte sich die Regierung der Sache angenommen, die staatlichen Proviantmagazine mussten geöffnet werden, die Beamten und das Militär waren doch erhaben über die religiösen Gesetze der Hindus, wenn es nur nicht so weit ging, dass daraus eine Revolution werden konnte, was hierbei nicht der Fall war.
Aber gekauft werden musste der Proviant. Das kostete Geld, und die Mittel der Bischofslady waren begrenzt, sie hatte auch noch etwas ganz anderes vor. Die Haraniwakas mussten doch schließlich irgendwo untergebracht werden.
Sie wusste sich die nötigen Mittel zu verschaffen. Sie setzte wieder ihre sehr gewandte Feder in Bewegung und machte in England für ihre Sache Propaganda. Der Haraniwakaklub wurde gegründet. Der Klub der lebenden Totenschädel. Schon allein dieser Name zog. Die vornehmsten und reichsten Damen traten ihm bei, das Geld floss in Strömen nach Indien. Viele exzentrische Damen machten gleich tätig mit, andere Karren und Züge von lebenden Toteschädeln zogen auf den Straßen Indiens von Dorf zu Dorf.
Die Bischofslady wollte eine weibliche landwirtschaftliche Kolonie gründen. Die meisten Witwen stammten aus Dörfern, und die Frauen und Töchter der ärmeren Hindukasten müssen tüchtig mit auf dem Felde arbeiten. Diese Haraniwakas hätten ja nur zu gern wieder zum Spaten gegriffen, wenn es ihnen nur erlaubt gewesen wäre. Man hatte diese Idee, sie in einer landwirtschaftlichen Kolonie zu beschäftigen, ja auch früher schon oft genug gehabt, aber sie waren eben bisher aus ihren heimatlichen Hütten nicht wegzubringen gewesen.
Die Leiterin der Bewegung hatte sich schon immer nach einer geeigneten Gegend umgesehen. Die ist in Indien gar nicht so leicht zu finden. Das beste Land ist natürlich besiedelt, ein Verkauf durch Gesetz ist meist nicht möglich, und Urwald konnten diese Weiber nicht ausroden.
Ein Zufall kam ihr zu Hilfe.
Die Provinz Malwa wird vom Vindhya-Gebirge durchzogen. Ein recht ansehnliches Gebirge, bis 4000 Meter erreichend, die meisten Berge und Kämme sind gar nicht zu ersteigen. Zwischen der Stadt Bhopal und der südlichen Eisenbahnstation Hashangabad wird es von einem Pass durchbrochen, der am Anfang und Ende ein fruchtbares Defilee bildet, so eng, dass breitbepackte Lasttiere es nicht passieren können. Bald aber erweitert sich der Pass zu einem zwei Kilometer breiten Tale, sechs geografische Meilen lang.
Bis zum indischen Aufstande prangte dieses Tal in üppigster Fruchtbarkeit, ernährte 3000 Menschen, hätte aber die dreifache Anzahl ernähren können, obgleich hier sehr wenig Regen fällt. Vor und hinter den Defilees dehnen sich noch meilenweite Wüsten aus. Aber am Nordanfang des Tales entspringt einer Höhle eine mächtige Quelle, kann gleich Mühlenräder treiben, durchfließt das ganze Tal in der Mitte, auch die enge Zugangsschlucht, und verliert sich jenseits des Gebirges im Sande der Wüste. Deshalb wird es das Tal des rauschenden Wassers genannt. Beim hindustanischen Namen kann man sich die Zunge abbrechen.
Die Bodenbeschaffenheit ist nun so, dass das ganze Tal überall sehr leicht bewässert werden kann, daher die ungemeine Fruchtbarkeit.
In dieses Tal flüchtete sich ein Rebellenführer, der Radscha von Nagpore, mit den letzten Resten seines geschlagenen Heeres. Hier wäre er unüberwindlich gewesen, man hätte ihm nicht beikommen können — wenn die Bewohner des Tales mitgemacht hätten, aber der Maharadscha von Mawa stand auf Seiten Englands; die erschöpften Krieger wurden von ihren braunen Brüdern entwaffnet und ausgeliefert.
Dafür wurden diese von den Göttern bestraft. Plötzlich versiegte die Quelle, kein Tropfen kam mehr aus der Höhle heraus, wollte nicht wiederkommen, und das Regenwasser genügte durchaus nicht. Die Bewohner mussten auswandern.
Mehr als dreißig Jahre führte das Tal des rauschenden Wassers seinen Namen mit Unrecht. Auf dem fetten Boden gedieh nur noch, was sich mit dem spärlichen Regen begnügte, es hatte sich in eine Wildnis verwandelt.
Da wollte ein Ingenieur wieder einmal wie schon so viele das Rätsel erforschen, weshalb denn die Quelle versiegt war, und diesem gelang es denn auch, das Rätsel zu lösen, allerdings durch Zufall. Er entdeckte in einer Höhle, ganz anderswo gelegen, ein Loch, aus dem ein kräftiger Luftstrom kam. Da ahnte der Ingenieur schon etwas. Das Loch wurde zugemauert, luftdicht zuzementiert, und alsbald stürzte aus jener anderen Höhle das Wasser mit Macht wieder hervor. Es war nicht eigentlich eine Quelle, sondern ein artesischer Brunnen, dem der nötige Luftdruck gefehlt hatte, um das Wasser in die Höhe zu treiben.
Jedenfalls hatte sich unter jenen Rebellen ein Quellenkundiger befunden, der auch sonst hier die geologische Ortsbeschaffenheit kannte, der hatte an einem versteckten Platze nach der Wasserader einen kleinen Schacht getrieben, der genügte, um der treibenden Kraft, der Zugluft, einen anderen Ausweg zu geben.
Lady Harriet befand sich mit ihrem Wanderzuge, schon aus fast 500 Weibern bestehend, gerade in der Nähe dieses Tales, sie war so ziemlich die erste, welche die neue Kunde vernahm.
Sie eilte sofort nach der Hauptstadt Malwa, wobei sie das Tal sowieso passieren musste, sich von allem überzeugen konnte, und ihr eigener Verstand sagte ihr, dass diese Quelle nun auch niemals wieder versiegen würde — kaufte von dem Maharadscha von Malwa, der von alledem noch gar nichts wusste, das ganze Tal für eine Kleinigkeit.
Sie zog mit ihren Schützlingen in das Tal ein, alles, was zum Ackerbau und zur Viehzucht gehört, wurde angeschafft, und die Arbeit begann. Die Weiber arbeiteten gar fleißig.
Nach einem Jahre hatte sich die von himmelhohen Felswänden eingeschlossene Kolonie von der Außenwelt völlig unabhängig gemacht. Dabei kamen immer neue Züge von Haraniwakas, von anderen edlen Damen geleitet, die sich dieser Sache gewidmet hatten. Konnten diese nicht gleich durch die Früchte eigenen Fleißes ernährt werden — nun, aus England und auch aus anderen Ländern flossen die Geldmittel noch immer reichlich. Außerdem verfertigten die Weiber in ihrer von der Feldarbeit freien Zeit auf Handstühlen feine Gewebe und schnitzten aus Menschenknochen, die sich in uralten Gräbern des Tales fanden, kleine Totenschädel, die in England und besonders in Amerika trotz ihrer horrenden Preise reißenden Absatz fanden. Jede Dame, die nicht rückständig sein wollte, musste solch einen echten Haraniwakaschleier tragen, nicht nur vorm Gesicht, und an einem silbernen oder goldenen Kettchen einen echten Haraniwaka-Totenschädel, im Tale des rauschenden Wassers von echten Haraniwakas gewebt und geschnitzt.
Freilich stellte sich später heraus, dass diese echten Haraniwaka-Schleier in einer englischen Fabrik gewebt und die echten Haraniwaka-Totenschädel in einer Drechslerei hergestellt wurden, aus den Knochen von Londoner Droschkengäulen. Die Nachfrage war eben gar zu groß gewesen, die Haraniwakas hatten trotz allen Fleißes die Arbeit nicht mehr bewältigen können. Und überhaupt war die Sache ja so viel einfacher. Das schädigte das Ansehen der Witwenkolonie ganz bedeutend; doch ehe man dies erfuhr, da war es schon zu einer ganz anderen Katastrophe gekommen.
Also es kamen noch immer Scharen von neuen Haraniwakas hinzu. Als es aber rund 5000 waren, wurden die Tore geschlossen. Von den Millionen Witwen, die es in Indien gab, war das ja nur ein geringer Bruchteil, aber man konnte es der Bischofslady nicht verdenken, wenn sie sich nun ganz dem weiteren Ausbau dieser Kolonie widmete. Mochten andere edle Frauen nun weiter im Lande umherziehen, die Witwen aufnehmen und andere Kolonien gründen.
Es vergingen einige Jahre. Die 5000 Kolonistinnen hatten sich völlig unabhängig gemacht. Das Interesse für sie erlahmte nicht. Man hörte immer wieder einmal etwas Neues. So etwas war ja überhaupt noch gar nicht da gewesen, solch eine von aller Welt abgeschlossene Witwenkolonie, ein Frauenstaat ohne Männer und Kinder für sich.
Ja, ein so gut wie selbstständiger Frauenstaat, eine Weiberrepublik! Der englischen Regierung machte diese Geschichte viel Sorge. Man wusste nicht, wie vorgehen, was da anfangen. Dass da 5000 Weiber in einem unzugänglichen Tale ohne jede Kontrolle hausen, das ist doch nicht angängig. Die fremden Damen, die sie zahlreich besuchten, wurden freundlich aufgenommen, die konnten immer nur das Allerbeste berichten, und dass die keinen Herrenbesuch empfingen, das war ihnen nicht zu verdenken. Auch dass sie unter sich keine männlichen Beamten haben wollten.
Wollten? Hatten die die etwas zu wollen? War dieses von natürlichen Felswänden eingeschlossene Tal als ein Haus ohne Dach zu betrachten? In Bezug auf Boden- und Hausrecht herrschten hier englische Gesetze. Kein englisches Haus darf von einem Beamten betreten werden, nur wenn ein Innenbefindlicher vom Staatsanwalte verhaftet werden soll. Das heißt, dann kann der Eintritt erzwungen werden, sonst darf auch der pfändende Gerichtsvollzieher nur durch eine unverschlossene Öffnung herein, durch ein Fenster ohne Scheiben oder durch den Schornstein, was bei den weiten Schornsteinen in England auch oft genug vorkommt, weshalb man bei solchen Gelegenheiten immer ein tüchtiges Feuer im Kamin unterhält.
Diese Frage wurde wirklich eifrig debattiert, auch in Regierungskreisen. Unterdessen half man sich damit, dass man ab und zu Frauen und erwachsene Töchter der entsprechenden Beamten, deren Pflicht das gewesen wäre, hinschickte, die nach dem Rechten sahen, amtlichen Bericht erstatteten und die Steuern erhoben, die immer prompt in barem Geld bezahlt wurden. Dass man seine Steuern prompt bezahlt, das ist immer die Hauptsache.
Die Bischofslady war durch die letzten Strapazen schnell gealtert, immer krank, auch sonst war ihr bigotter Charakter immer mehr zum Durchbruch gekommen — sie zog sich ganz zurück, wollte keinen Menschen mehr sehen, obgleich sie alles noch immer leitete.
Da erschien in England eine Broschüre, die ungeheures Aufsehen erregte.
Der anonyme Verfasser behauptete, aus sicherster Quelle, aus eigener Anschauung zu wissen, dass im Tale des rauschenden Wassers die skandalösesten Zustände herrschten. Die Bischofslady sei schon längst tot, entweder gestorben oder wahrscheinlicher ermordet worden. An der Spitze der Weiberkolonie stände jetzt eine Negerin, eine riesenhafte Dahomeerin, die aus dem Harem des Radscha von Salanka, der ja eine ganze Mustersammlung von fremden Weibern besitze, entflohen sei. Und auch sonst solle man doch nur ja nicht glauben, dass da drin nur demütige Hinduwitwen seien, auch genug wilde, feurige Mahratenweiber und andere, die sich nicht damit begnügten, durch Feldarbeit und am Webstuhl ihr Leben zu fristen, die hätten schon genug Männer eingeschmuggelt, diese Führerinnen hätten sich ganz richtige Harems zugelegt, nur eben aus Männern bestehend. Von den zur Welt kommenden Kindern würden die Knaben getötet. Dass die kontrollierenden Beamtendamen von alledem nichts merkten, das sei begreiflich; man solle die Sache nur einmal ernstlich untersuchen.
Das Aufsehen war ungeheuer. Wer freilich nicht als ein Phantast gelten wollte, glaubte nicht daran, wenigstens nicht öffentlich, aber untersucht musste es natürlich doch werden, und das konnte jetzt nicht mehr von Damen geschehen.
Von Hashangabad rückten ein halbes Dutzend Beamte mit drei Dutzend Dienern ab. Bis nach dem Eingang des Tales sind noch vier Stunden durch die Wüste zu marschieren.
Sie waren früh am Morgen aufgebrochen, am anderen Mittag, spätestens am Abend des zweiten Tages, mussten sie zurück sein oder man musste doch in Hashangabad eine Meldung haben.
Auch am dritten Tage war noch immer niemand zurück, keine Meldung angekommen.
Man schickte Boten nach, die kamen auch nicht wieder. Nur einer.
»Ich habe die Schlucht gar nicht betreten. Diese Weiber lassen ja einen nicht wieder heraus. Und ich bin verheiratet, habe Familie.«
Von jenen englischen Beamten hatten einige aber ebenfalls Frau und Kinder in Hashangabad.
Zwei solcher Damen machten sich auf den Weg. Sie kamen nicht wieder aus der Schlucht heraus. Und ihre Begleiter, europäische und eingeborene, die sich mit hineingewagt hatten, ebenfalls nicht.
Nun war man ratlos.
Sollte man mit Gewalt vorgehen?
Wie wollte man denn das hier anfangen?
Durch die Sandwüste marschierte im Geschwindschritt ein Bataillon Infanterie, halb aus englischen, halb aus eingeborenen Soldaten bestehend, an der Spitze der Kapitän, ein englischer Leutnant und ein indischer. Der englische hatte seine Dogge mit.
Der Passeingang war erreicht. Wie bei allen Wüstengebirgen stiegen die Felswände ohne Übergang direkt aus der sandigen Ebene empor.
Es war nichts weiter als ein nicht ganz zwei Meter breiter Spalt, ein Felsenriss, aus dem der Bach heraus kam, der die Hälfte dieser Breite einnahm, sich natürlich im Laufe der Jahrtausende ein tiefes Bett ausgewaschen hatte, sodass nur ein schmaler Pfad übrig blieb, auf dem man wohl bequem gehen, den aber nur ein Kunstreiter mit einem entsprechend dressierten Pferde benutzen konnte.
Infolge des etwas nach Osten geneigten Terrains wandte sich der Bach, eine ansehnliche Wassermasse führend, gleich nach rechts, floss eine Strecke auf steinigem Grunde direkt an der Felswand entlang und verlief sich dann schnell im losen Sande.
Dort war ja natürlich ein Sumpf, das heißt ein Brei von Sand und Wasser, dieses verdunstete wohl mehr, als dass es in unbekannte Tiefen einsickerte, obwohl das auch möglich war, dass dieses Wasser dann anderswo an einer tieferen Stelle wieder als Quelle zu Tage trat. Hier aber am Eingang der Schlucht war der Boden vollkommen trocken.
Halt! Eine Ruhepause gemacht. Kleidung in Ordnung gebracht, die Gewehre von dem Sandstaube gereinigt und die Mündungsdeckel in die rechte Hosentasche.
Zu den vier Wegstunden hatte man im Geschwindschritt drei gebraucht.
In den Straßen Londons sieht man »Tommy Atkins«, den englischen Soldaten, mit den Händen in den Hosentaschen herumbummeln, unterm Arm das unvermeidliche Spazierstöckchen.
Ein netter Soldat! So sagen die, welche die Sache nicht kennen.
Der große Exerzierplatz des englischen Soldaten ist Indien. Dort lernt man sie kennen! Dort werden die Kerls gezwiebelt, dass — die englischen Irrenhäuser von ihnen überfüllt sind. Die bekommen ihren Schilling pro Tag nicht umsonst; man muss nur gerecht sein.
Kapitän Jefferson blickte, starrte in die Schlucht. Vielleicht nur hundert Schritte, dann schien sie von einer Felswand abgeschlossen zu sein, weil sie dort einen scharfen Bogen machte.
Der Kapitän hatte keine Instruktion bekommen, wie er vorgehen sollte, das war ganz ihm überlassen.
Was hätte man ihm auch für Instruktionen in solch einem noch nie da gewesenen Falle geben sollen?
Warum aber hatte gerade er vom Generalkommando in Bombay den telegrafischen Befehl dazu erhalten, er, der jetzt im Bürodienst beschäftigt war? Weshalb nicht Kapitän Sir O'Neil, der den eigentlichen militärischen Dienst hatte?
Kapitän O'Neil fühlte sich durch diese Zurücksetzung schwer gekränkt.
Ja, Kapitän Jefferson konnte stolz sein, sehr stolz, dass ihn die telegrafische Order vom Zeichen- und Schreibtisch weggeholt hatte, dass er hier Aufklärung schaffen, vor allen Dingen die in der »männerfressenden Schlucht« verschwundenen Beamten und Diener und Damen wieder herausholen sollte, durch List oder Gewalt — auf irgend eine Weise, die ihm ganz überlassen blieb.
Aber wusste man denn im Generalkommando zu Bombay nicht, dass er, seit noch nicht einem Jahre verheiratet, morgen seinen Stammhalter erwartete — und wenn's ein Mädchen war, so war's auch gut — während Kapitän O'Neil eingefleischter Junggeselle war?
Hatte man das dort nicht gewusst?
Kapitän Jefferson blickte, starrte in die »männerfressende Schlucht«.
»Ja, Kapitän, das ist sie, die ›männerfressende Schlucht‹!«, sagte der blutjunge Sir Raleigh, der englische Leutnant, ein Knabe noch, zog den Degen etwas aus der Scheide, riss mit einem Feuerstein über den Stahl, gleichzeitig die Funken mit einem Zündschwamm auffangend, und brannte sich eine Zigarette an. Das Kerlchen sah aus, als wäre es in einer Kaffeetrommel geröstet worden.
Die männerfressende Schlucht! Wer den Namen aufgebracht hatte, wusste man nicht, er war von selbst entstanden, schon ganz allgemein geworden.
Vor dem Abrücken aus der Garnison und unterwegs hatte der Kapitän die ihm zugeteilten Leutnants um kein Urteil gefragt. Im Anfang hatte Leutnant Raleigh Witze gemacht über die männerfressende Schlucht, was man für interessante Abenteuer jenseits von ihr wohl erleben könnte, so oder so — sein Witz war an der Schweigsamkeit seines Vorgesetzten bald verstummt. Und der indische Leutnant, ein großer, herkulischer, bärtiger, finsterer Mahrate, sprach überhaupt nicht, wenn es ihm nicht befohlen wurde.
»Nun, meine Herren, Ihr Urteil?«
»Ja, da wollen wir einmal hineinspazieren und uns von den braunen Witibs umarmen lassen!«, sagte Leutnant Raleigh, die Asche von seiner Zigarette abschnipsend. »Natürlich bleibt ein Teil zurück, aber bitte, nicht unter meinem Kommando.«
»Und Sie, Leutnant Akscharamur?«
Der finstere, nicht mehr ganz junge Inder, dessen zahllose Narben nur von dem schwarzen Barte verdeckt wurden, der das ganze Gesicht überwuchterte, aber trotzdem sorgsam gepflegt, öffnete gerade seinen Waffenrock. Er trug die vorschriftsmäßige Uniform, eine ganz moderne im Felddienst, von denen der Engländer durch nichts verschieden, aus gelbem Khaki, die Leutnantsabzeichen kaum erkennbar — aber unter diesem Waffenrock trug er einen schimmernden Schuppenpanzer, der sich an die hochgewölbte Brust wie ein Trikot anschmiegte.
»Bajonett aufpflanzen und bis zum letzten Mann im Sturmschritt vor!«, lautete dessen lakonische Antwort.
»Wollen wir beides zusammen verbinden, jene Ecke dort dürfte die Entscheidungslinie bilden; zuerst überschreite ich sie allein. So viel Zeit, um —«
»Herr Kapitän«, fiel Leutnant Raleigh ein, »diese Ehre überlassen Sie mir doch, dass ich als erster diesen braunen und schwarzen Damen in die —«
»Ruhe! So viel Zeit, um meine Pistole abzudrücken, werde ich doch noch haben. Fällt der Schuss, dann —«
Da schlug Leutnant Raleighs Dogge wütend an, in einer Weise, dass der Kapitän stutzend abbrach.
Der große, gelbe Hund hatte in aller Schnelligkeit in dem Bache ein Bad genommen, war dann etwas stromabwärts getrabt — jetzt stand er dort, wo sich seine Füße schon tief in den wässerigen Sand eingruben, bellte wütend nach der Felswand hinüber und gebärdete sich ganz außer sich.
»Mein Pollux hat einen Menschen aufgespürt!«, rief Sir Raleigh. »Bei einem Raubtier oder sonst etwas bellt er ganz anders!«
Der Kapitän blickte hin.
»Wo soll sich denn dort ein Mensch verstecken? Das ist doch ganz glatte Felswand.«
»Doch, ich sehe eine Spalte, Sie brauchen nur einige Schritte zurückzutreten.«
»Ich will mit hin. Leutnant Akscharamur, Sie bleiben hier.«
br>Die beiden englischen Offiziere machten die dreißig Schritte, hatten es schon vorher gesehen.
Ja, dort war eine Felsspalte, mehr eine Höhle zu nennen, ziemlich geräumig. Weil die grauen Innenwände ganz die gleiche Farbe hatten wie die draußen und weil die Morgensonne direkt hineinfiel, konnte man in einiger Entfernung überhaupt nichts davon bemerken.
Der Bach floss dicht daran vorüber, noch in ein felsiges Bett gefasst, verlor sich dann aber gleich im Sand, und das Wasser machte sich auch schon am Ufer bemerkbar, vom eigentlichen Sumpfe her. Der Fuß sank hier schon bis an die Knöchel ein, aber ohne festgehalten zu werden, die entstandene Spur verschwamm jedoch sofort wieder und füllte sich wieder mit feinem Schwemmsand.
Und in dieser Höhle stand ein Weib, eine junge Dame, in kurzem Sportkostüm aus gelbem Khaki, mit gelben Schaftstiefeln, am patronengespickten Gürtel im Futteral den großen Revolver, den bei demjenigen, der ihn zu handhaben weiß, die Browning oder sonstige automatische Pistole nicht so bald verdrängen wird.
Sicher eine Oldengländerin, eine Angelsächsin. Das Haar unter dem verwetterten Lederschlapphut aschblond, das aristokratische Gesicht blütenweiß.
Es ist etwas Merkwürdiges, Rätselhaftes mit dem Teint dieser unvermischt gebliebenen Angelsächsinnen. Die brennendste Sonne kann ihn nicht bräunen, so wenig wie man einen Neger im Schatten ausbleichen kann; freilich bekommen sie dafür desto mehr Sommersprossen, aber auch mit Ausnahme, die hier hatte keine.
Mit Seelenruhe betrachtete sie die beiden Offiziere, die jenseits des Baches standen. Es hätte nur noch die Lorgnette gefehlt, aber eine solche brauchten diese scharfen Augen nicht.
»Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?«, fragte der Kapitän kurz.
Keine Antwort. Zwanglos stand sie da und blickte zwanglos jene an.
»Wer sind Sie, bitte?«, fragte der Kapitän nochmals.
»Das klang schon etwas höflicher, aber das Richtige war es noch nicht, und ich bin überhaupt gewohnt, dass sich mir erst der Herr vorstellt. Der Herr kann auch einen Arbeitskittel anhaben, deshalb kann er ein Gentleman sein. Sonst ist's eben keiner.«
Sie sprach ihr Englisch ein wenig durch die Nase. Eine Amerikanerin! Dort gibt's auch echte Angelsachsen genug.
Die beiden Offiziere stellten sich vor, nannten ihren Namen und Titel. Was sollten sie weiter machen.
»Miss Sybel. Sybels Farm. Fort Fretter. Arkansas. U. S. A.«
So. Genauer hatte sie ihre Adresse nicht angeben können.
»Aber bitte, wie kommen Sie denn hierher?«
»Wie kommen Sie denn hierher?«, lautete statt einer Antwort die Gegenfrage.
In Arkansas geht es ja in den meisten Gegenden noch sehr hinterwäldlerisch zu, und Fort Fretter liegt auf der Grenze des großen Indianerterritoriums.
Aber es war so herausgekommen, dass sich Leutnant Raleigh schnell bückte und mit seinem Hunde beschäftigte und der Kapitän sich auf die Lippen biss.
Dann aber wurde er sehr ernst.
»Geehrte Miss, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich Offizier Seiner Majestät des Königs von Großbritannien und Kaisers von Indien bin.«
»Freut mich. Ich bin Besitzerin der größten Geflügelmästerei Nordamerikas. Außerdem speziell Truthühnerzucht.«
Aber der Kapitän fand es im Gegensatz zu dem Leutnant nicht mehr lustig.
»Ich bin Führer eines Bataillons, das sich im Kriegszustande befindet.«
»Sie auch? Ich nämlich auch! Doch eigentlich befinde ich mich überhaupt immer im Kriegszustande, was man zumal hier in Englisch-Indien auch sehr nötig hat.«
»Geehrte Miss Sybel! Ich bitte Sie hiermit höflichst, diesen Ton fallen zu lassen und mir sachlich zu antworten. Ich bitte Sie höflichst, Sie bringen mich sonst in die schwerste Verlegenheit, weil Sie mich zwingen würden, ebenfalls einen anderen Ton anzuschlagen. Es wäre mir höchst unangenehm.«
Die Dame änderte ihre Stellung, ihr Wesen.
»Sie haben recht, ich bitte um Verzeihung, Ich hatte vergessen, dass ich ja nicht in Amerika bin. Nun? Was wünschen Sie zu wissen?«
»Wo kommen Sie her, bitte?«
»Von dort.«
Sie deutete leicht nach Südwesten, und es war auch ganz richtig, dass sie erst die Richtung angab.
»Von Hashangabad?«
»Nein, ich habe den Zug schon vorher verlassen«.
»Wo denn? Das könnte doch nur in Arradasch oder Singpore gewesen sein.«
»Nein, hinter Arradasch. Ich komme von Bombay.«
»Hinter Arradasch hält doch kein Zug mehr.«
»Braucht er auch nicht. Ich kann auch aus dem schnellfahrendsten Zuge springen; aber da keuchte er gerade einen Hügel hinauf. Die Spitzen der Minaretts von Hashangabad waren schon zu sehen.«
Also einfach aus dem Zuge gesprungen. Nun, das macht in Amerika und auch in Indien mancher, der es riskiert; wo selbst Bummelzüge höchstens alle Stunden halten, weil eben ungeheure Strecken in Betracht kommen.
»Und sind direkt hierher gekommen?«
»Direkt.«
»Wozu?«
»Um die indische Witwenkolonie einmal zu besichtigen.«
»Sie waren noch nicht drin?«
»Nein.«
»Haben jene Zugangsschlucht dort noch gar nicht betreten?«
»Doch. Bis an eine Ecke bin ich gekommen. Dort hielt man mich an.«
»Ah! Wer hielt sie an?«
»Als ich um jene Ecke bog, stand vor mir plötzlich eine Dame, die mir einen Speer vor die Nase hielt und irgend etwas in einem Kauderwelsch zu mir sagte, was aber ganz sicher hieß: ›Geschlossene Gesellschaft‹.«
»Eine Dame?«
»Ja, es war eine Dame.«
»Eine weiße?«
»Nein, eine pechschwarze.«
»Sie meinen wohl schwarz angezogen?«
»Nein, in Natura ganz schwarz. Sie hatte überhaupt nichts weiter an als eine Schürze, ohne Latz. Und außerdem noch Manschetten und Strumpfbänder. Aber eine Dame war es dennoch. Sie war sehr höflich, wenn sie mir auch den Speer vor die Nase hielt. Das war ihre Pflicht.«
»Es war eine Negerin?«
»Wahrscheinlich.«
»Und was weiter?«
»Die Dame pfiff auf den Fingern — schauderhaft, mir gellen jetzt noch die Ohren — und da kam eine andere Dame, die noch schwärzer war, ihre Schürze noch kürzer. Die fragte mich in ganz perfektem Englisch, was ich wünsche. ›Das Tal des rauschenden Wassers besichtigen, die Witwenkolonie. Ich zahle gern Entree oder gebe was in die Armenkasse.‹ ›Well‹, sagte die Lady, ›gehen Sie wieder zur Schlucht hinaus und links um die Ecke herum den Bach entlang, bis Sie an die erste Höhle kommen. Dort treten Sie einstweilen ein und warten Sie, bis der Bescheid geschwommen kommt, ob Sie empfangen werden oder nicht.‹«
»Geschwommen soll die Antwort kommen?«
»Ja, in einer rotgefärbten Kokosnuss.«
»Ach so. Sehr praktisch. Viel weiter kann die Nuss hier ja auch nicht schwimmen. Wann war das?«
»Ich warte hier schon eine halbe Stunde. Es dauert etwas lange.«
»Sind Sie allein?«
»Ganz allein. Nur das hier gehört noch zu mir.«
Sie stieß mit dem Fuße gegen einen Rucksack, der neben ihr am Boden lag.
Da erklangen dort, wo die Soldaten standen, Rufe, einige fischten in dem Bache herum, und da brachte ein Unteroffizier schon das, worauf die Amerikanerin hier wartete: eine rote Kugel.
»Bitte nicht öffnen, die Botschaft darin ist nur für mich bestimmt!«, rief die Miss, schnell über den Bach springend.
Aber der Kapitän, der die rotbemalte Kokosnuss schon in der Hand hatte, wollte sie ihr nicht gleich ausliefern.
»Wir stehen mit denen, von denen diese Botschaft kommt, auf dem Kriegsfuße.«
»Meinetwegen, öffnen Sie sie.«
Der Kapitän tat es. Die Nuss war halbiert, die beiden Hälften schlossen wasserdicht zusammen und ließen sich leicht auseinander nehmen. Darin lag ein Stückchen weißes Leder, darauf war mit schwarzer Schrift englisch groß geschrieben:
»Kommen Sie! Wer diese Nuss aufhält oder ihr den Inhalt entnimmt, ist des Todes.«
Nichts weiter.
»So, nun sind Sie des Todes, da haben Sie's!«, sagte die Amerikanerin. Na, ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen.«
»Haben Sie in dem Tale jemand Bekanntes?«
»Nein.«
»Also war es nur ein Scherz, was Sie jetzt sagten. Unter Umständen muss man alles sehr genau nehmen.«
»Nun, vielleicht ist es doch nicht so scherzhaft gemeint gewesen!«
»Wieso nicht?«
»Haben Sie sich bereits angemeldet?«
»Nein.«
»Wissen die da drin schon, dass Sie hier sind und hinein wollen?«
»Weiß ich nicht.«
»Und wenn Sie nun keinen Einlass erhalten?«
»So werde ich mir ihn erzwingen.«
»Auf welche Weise?«
»Das wird sich finden.«
»Wer da hineingeht, kommt nicht wieder heraus.«
»Woher wissen Sie das?«
»Das weiß man in Indien schon überall, wo es eine Telegrafenstation gibt; nämlich, dass die Haraniwakas seit einiger Zeit alle Fremden zurückbehalten haben, nicht wieder herauslassen.«
»Das dürfte dann auch Ihr Los sein. Auch schon zwei englische Damen werden zurückgehalten.«
»O, mir soll das nicht passieren, ich weiß mich immer angenehm zu machen!«, erklang es sorglos zurück. »Also ich kann Ihnen doch vielleicht noch von Nutzen sein. Oder haben Sie sonst gleich etwas durch mich auszurichten?«
»Ja, gut. Ich will die Lady Harriet oder deren Stellvertreterin sprechen.«
»Ich werde es ausrichten. Wie viel Mann sind Sie? Das dürfte die dort drin zunächst am meisten interessieren.«
»Eine ganze Kompanie: drei Offiziere, sechs Unteroffiziere, ein Hornist und 120 Mann.«
»Und Sie sind entschlossen, mit Gewalt vorzugehen?«
»Hierüber ist noch gar nichts entschieden. Ich will diejenige sprechen, die hier zu befehlen hat.«
»Ich werde es ausrichten. Nun aber erlauben Sie, dass ich schleunigst der Einladung nachkomme.«
Miss Sybel war noch einmal über den Bach gesprungen, um ihren Rucksack zu holen, hing ihn sich um, die beiden Offiziere begleiteten sie bis an den Anfang der Schlucht und blieben zurück, die Amerikanerin aber drang ein.
Als sie um jene Ecke bog, stand vor ihr wieder die Negerin, die sie schon beschrieben hatte, ein stark gebautes Weib, dessen Lanze genügte, um hier ein ganzem Regiment aufzuhalten. Jeder Stich fällte einfach einen Mann. Und da brauchte sie gar nicht oft zu stechen, der schmale Tunnel musste bald mit Leichen verstopft sein.
Außerdem nun bildete die Schlucht nach ungefähr zehn Metern noch einmal eine scharfe Ecke, sodass eine Art Kammer entstand, und diese zweite Ecke konnte ja nochmals verteidigt werden.
Aber auch schon hier in dieser natürlichen Kammer war für genügende Verteidigung gesorgt. Die Negerin war nicht der einzige Wachtposten, hier war überhaupt eine Wachtstube eingerichtet.
Das Wort »Hindu«, wie es der Engländer für die buddhistische und brahmanistische Bevölkerung Indiens anwendet, ist ein gar weiter Begriff. Vorderindien allein hat 288 Millionen Einwohner, und da in diesem großen Lande tropische Regionen neben solchen mit gemäßigtem Klima und auch mit denen des ewigen Eises vorkommen, so findet man hier unter der Bevölkerung noch weit größere Unterschiede als etwa zwischen Spaniern oder Süditalienern und Norwegern.
Es waren 5000 Hinduwitwen, die in diesem Tale Unterkunft bekommen hatten. Ja, die meisten waren auch braune Weiber mit sanften Zügen, wohlgebaut mit weichen Linien, mit auffallend kleinen Händen und Füßen. Aber da gab es auch genug, die von diesem allgemeinen Typus der hindustanischen Rasse grundverschieden waren. Zumal die vornehmeren Hindus, die sich einen Harem leisten können, ihre Nebenfrauen aus weit entfernten Gegenden beziehen, es ist dort eben noch ein ganz richtiger Sklavenhandel. Die Religion der Frau hat dabei auch gar nichts zu sagen.
Es waren vierzig Weiber, die sich hier in Reih und Glied aufgestellt hatten und eine Musterkarte von ganz Vorder- und Hinterindien und der angrenzenden Länder bildeten.
Neben einem Mädchen aus dem Tale von Kaschmir, welches die schönsten Frauen der Erde liefert, wie Milch und Blut, stand ein junges Weib mit nicht minder schönen Gesichtszügen, aber dunkelfarbig, und dann ihr Körper gedrungen, plump, äußerst muskulös — eine Frau aus Kafiristan, im äußersten Nordwesten Vorderindiens gelegen, den Europäern noch heute gänzlich verschlossen, wegen der wilden Kriegsfähigkeit der Kafiren, die sich in ihren unzugänglichen Gebirgsschluchten ausschließlich der Jagd und dem Kriege widmen, die Feld- und alle anderen Arbeiten den Frauen überlassend, die daher so ungemein kräftig entwickelt sind.
Neben dieser wieder eine Lohita aus Assam...
Wir wollen nicht alle die 40 Weiber schildern. Ganz offenbar war hier mit Absicht eine richtige Musterkarte zusammengestellt worden, so verschieden wie möglich, die voneinander entlegensten Völkerstämme des weiteren Indiens repräsentierend. Hervorgehoben sei nur noch die Georgierin, mehr noch als die aus dem Tale von Kaschmir der Angelsächsin auffallend ähnelnd, nur immer voller gebaut; eine kupferrote Kolarierin aus Orissa, deren Bewohner den Namen »Rothäute« viel eher verdienen als die Indianer Nordamerikas; eine Vindhya, ganz einer Kafferin gleichend, wie überhaupt der afrikanische Negertypus stark vertreten war.
So war auch das schwarze Weib, welches noch in der Wachtstube Schildwache stand, gar keine Afrikanern, sondern eine Inderin, eine Bhil aus dem Satpura-Gebirge. Aber jeder, der die Sache nicht ganz genau kannte, hätte sie für eine echte afrikanische Negerin gehalten.
Bei näherer Betrachtung dieser weiblichen Garde musste der kundige Ethnograf bald zu einem besonderen Resultat kommen.
Alle diese Frauen nahmen bei ihrem Volke eine freie, geachtete, selbstständige Stellung ein. Deshalb mussten auch die Hindufrauen fehlen.
Allerdings werden die Hinduweiber als Mädchen und Frauen sehr gut behandelt, haben über nichts zu klagen. Wohl müssen die der ärmeren Klassen tüchtig arbeiten, doch überbürdet werden sie nicht, wie etwa die indianischen Squaws Amerikas. Doch eine selbstständige Stellung nehmen sie nicht ein, haben gar nichts mit einzureden.
Die Kafirin hingegen ist der reine Plackesel. Der Mann rührt bei der schweren Feld- und Waldarbeit keine Hand, der liegt auf der faulen Haut, bis er auf die Jagd oder in den Krieg geht. Und dennoch ist die Frau nicht nur hoch geachtet, sondern sie nimmt auch an den Kriegsberatungen teil, und dafür, dass sie den Mann auf die Jagd und in den Krieg ziehen lässt, dass er sonst nichts weiter zu tun braucht, bekommt sie von der Kriegsbeute auch das Wertvollste, vom erlegten Wilde die besten Fleischstücke. Mehr kann man doch nicht verlangen. Viel anders war es übrigens bekanntlich auch nicht bei den alten Germanen, die doch jedenfalls mit Vorliebe auf der Bärenhaut lagen, also den Frauen alle Arbeit überließen, diese aber hoch achteten.
Ja, bei den Lohitas heiratet der Mann sogar in die Familie der Frau, kommt in deren Haus, die Mutter ist das Familienoberhaupt, ohne dass sich die Männer etwas an Würde vergeben.
Dann noch zwei sehnige Guranen — Mädchen oder junge Frauen aus Kurdistan, also Kurdinnen, würden wir sagen — welche genau wie die Brüder erzogen werden, das Ross tummeln lernen, mit Büchse und Pfeil und Bogen schießen und die Lanze schwingen, auch mit an den räuberischen Beutezügen und an der Blutrache teilnehmen — was aber alles nicht hindert, dass sie, sobald sich eine gute Gelegenheit dazu bietet, von den Eltern in einen fremden Harem verkauft werden, dem sie sich auch ganz willig fügen.
Selbstständigkeit und Kriegsfähigkeit! Das war wohl die Hauptsache, wonach man hier diese Weiber ausgewählt und zusammengestellt hatte, wenigstens die Fähigkeit, die Waffen, die man ihnen in die die Hände gab, auch wirklich zu benutzen, denn von solch einer Hinduwitwe, die nur auf dem Felde oder am Webstuhl gearbeitet hatte, hätte man das vergebens verlangt. Und wäre es auch ein noch so kräftiges und von Natur aus mutiges Weib gewesen, das hätte mit einem Schwerte nichts anzufangen gewusst.
Alle diese Weiber waren denn auch bewaffnet, aber nicht einheitlich. Nur dass sie alle Schwert und Lanze trugen, die aber auch wieder ganz verschieden waren. Einige waren auch mit Bogen und Pfeilen ausgerüstet, ganz vereinzelt hatte eine auch ein Gewehr, meist ein vorsintflutliches System, sogar das Feuersteinschloss war noch vertreten. Einige trugen Panzer, indische Schuppen- oder Ringpanzer, denen man ansah, wie sie erst vom Rost befreit worden waren, die beiden Kurdinnen hatten sich die Lederharnische aus ihrer Heimat aus einzelnen Riemen selbst gefertigt, und im Übrigen war jede gekleidet, wie sie wollte, im Kostüm ihrer Heimat oder sonst wie.
Eine negerartige, ungemein kräftig gebaute Mundara war es, welche der Amerikanerin gegenüber wieder die Sprecherin machte, wie schon vorhin. Obgleich sie nichts weiter als einen kleinen Schurz trug, wenn man den Gürtel, an dem ein mächtiges Schwert und ein Revolver hing, nicht als Kleidung bezeichnen will, und obgleich sie besonders durch ihre Haarfrisur, lauter kleine Zöpfchen, die wie die Stacheln eines Igels nach allen Seiten starrten, einen ganz gefährlich wilden Eindruck machte, war die doch sicher schon einmal von der höchsten Kultur beleckt worden, ja, die musste sich schon einmal auf dem Parkett bewegt haben. Ein so feines Englisch sprach sie, mit allen Finessen, und so gewandt zeigte sie sich auch sonst. Der hatte es eben gefallen, wieder in ihren Naturzustand zurückzukehren.
»Sie lassen recht lange auf sich warten, Miss Sybel.«
»Ich bitte um Entschuldigung, ich wurde durch englische Offiziere aufgehalten.«
»Diese verweigerten doch nicht die Herausgabe unserer Botschaft?«
»Nein, das nicht. Sie wissen also schon, dass draußen eine ganze Kompanie steht?«
»Wir wissen es.«
»Die Soldaten wollen mit Gewalt vorgehen.«
»Sie mögen kommen — Emira Bhutan, führe die Sahiba zur Begum.«
Das letztere war auf Hindustanisch gesagt worden. Eine der ledergepanzerten Kurdinnen trat vor, winkte, die Amerikanerin folgte.
Emira? Das wäre eine Fürstin. Dasselbe ist auf Hindustanisch Begum, sogar Königin.
Es ging durch die menschenleere, öde Schlucht, die an manchen Stellen noch enger wurde, bis sie nach etwa 200 Schritten plötzlich in das weite Tal einmündete.
Also dieses war zwei Kilometer breit und sechs geografische Meilen lang. So weit konnte das Auge ja nicht reichen. Hier stand alles unter höchster Bodenkultur. Vor allen Dingen Mais und Reis, und an den Felsen wurde hauptsächlich die Sojabohne gezogen, die alles andere, was uns die Natur an pflanzlicher und tierischer Nahrung liefert, an Eiweißgehalt — auf den es am meisten ankommt — weit übertrifft, 30 Prozent, welche am besten die Japaner zu verwerten verstehen, die daraus, während bei uns die weiße Bohne immer nur als Bohne auf den Tisch kommt, die verschiedensten Speisen machen, ein Gericht, das von einem Fleischragout gar nicht zu unterscheiden ist, einen Käse, der ganz dem Kuhkäse gleicht, mit welchen Produkten die Japaner auch bereits die europäischen Märkte zu beschicken beginnen. Schade, dass die Sojabohne nicht einmal im südlichen Italien gedeihen will. Aber das wird schon noch kommen. Der Weizen, eine asiatische Pflanze, hat auch einst bei uns nicht reifen wollen, der musste sich erst in jahrhundertlanger Pflege akklimatisieren.
Aber die waren hier nicht nur von der Sojabohne und sonstiger pflanzlicher Nahrung abhängig. Die vorhandenen Rinder drehten nicht nur am Bachesrand die zahllosen Schöpfräder, welche die Wasserfäden überall hin verteilten. Auf den Wiesen weideten große Herden von Kühen, Schafen und Ziegen, in Volieren aus Bambus scharrten unzählige Hühner.
Bei der ganzen Beschaffenheit dieses schmalen Tales war es selbstverständlich, dass sich die Wohnungen in und an den Felswänden befanden. Waren keine natürlichen Höhlen vorhanden gewesen, so hatte man solche künstlich mit Feuer, Wasser und Meißel geschaffen, auch etagenweise übereinander, und die herausgenommenen Steine hatte man wieder dazu benutzt, um auch außerhalb Gebäude auszuführen, aber immer an der Felswand klebend. Das alles hatten schon die früheren Bewohner dieses Tales besorgt.
Doch nicht nur bei der Feldarbeit tätige Hindufrauen bekam die Amerikanerin zu sehen.
In einer geräumigen Höhle glühten Feuer, klangen taktmäßig Schmiedehämmer, kunstgerecht von kräftigen Weibern geschwungen, die nur von dieser Arbeit so geschwärzt waren, sonst eine ziemlich helle Hautfarbe hatten, sicher Gulitinnen, aus einem Tale des Himalajas stammend, dessen Bewohner Eisen schon zu einer Zeit gewannen und bearbeiteten, als man in Germanien noch nicht einmal die Bronze, nur den Feuerstein kannte.
Miss Sybel stellte keine Frage, was denn die Frauen schmiedeten.
Und dann ein ganz merkwürdiger Anblick!
Auf einer großen, gemähten Wiese exerzierten wohl tausend Weiber in Gruppen, die aber, wie man bald erkannte, eine gemeinsame Bewegung bildeten. Die beiden Flügel gingen vor und das Zentrum wich zurück, dann rannte wieder das Zentrum vor und die Flügel gingen zurück, dann aber lösten sich wieder die Flügel in einzelne Trupps auf, und so wogte das immer wie eine Schlangenlinie hin und her, und das waren lauter Hinduweiber, meist zarte Gestalten, die durchaus keinen kriegerischen Eindruck machten, aber voll Feuer bei ihrer Sache waren, wenn die hölzernen Lanzen, die sie schwangen, auch keine Spitzen hatten.
Die Weiber aber, die als Offiziere dieses Kriegsspiel leiteten, das waren wieder ganz andere Gestalten, weiße und braune und gelbe und tiefschwarze, bei vielen herrschte auch stark der mongolische Typus vor, und diese trugen wirkliche Lanzen und Schwerter, zum Teil auch Brustpanzer.
»Wie heißt die Begum?«, wandte sich Miss Sybel zum ersten Male an ihre Führerin, sich des Hindustanischen bedienend.
»Zarjade. Du redest sie nur Begum an, kannst auch in der Sprache der Anglisi mit ihr sprechen. Dort steht sie und erwartet Dich.«
Sie stand auf einem kleinen Erdhügel, das ganze Manöverfeld überschauend — ein tiefschwarzes Weib von riesenhaften Dimensionen, höher als zwei Meter und dabei herkulisch gebaut, die Oberarme so dick wie Männerschenkel, starrend von Muskeln. Ihre Hauptbekleidung bestand aus einem Schuppenpanzer, der aber bei dieser Figur wohl besonders für ein vollbusiges Weib gearbeitet sein musste, daran noch ein kurzes Kettenhemd.
Sich auf ein mächtiges Schwert stützend, blickte sie jetzt der Kommenden entgegen. Es war nichts weniger als ein schönes Gesicht, plumpe, grobe Züge, aber jeder Maler hätte es doch sehr interessant, der Wiedergabe würdig gefunden, besonders durch den wilden Trotz, der sich darin ausprägte.
Die Amerikanerin war hinaufgeführt worden. Das Riesenweib rührte sich nicht, hatte ihr nur das Gesicht zugewendet, die glühenden Augen betrachteten die Kommende forschend und misstrauisch.
»Sie sind es, die mir vorhin geschrieben hat?«, begann sie ohne Weiteres, das Englische mit tiefen Gaumenlauten sprechend.
»Ich bin es, Miss Sybel.«
»Sie wollen mich sehr gut kennen?«
»Sehr gut.«
»Sie sind mir unbekannt. Ich habe Sie noch nie gesehen.«
»Doch.«
»Nein. Vielleicht aus einem Versteck haben Sie mich einmal gesehen, ich aber Sie nicht. Wen ich ein einziges Mal gesehen habe, den erkenne ich sofort wieder.«
»Und doch sind wir einmal sehr gute Freundinnen gewesen.«
»Nicht möglich, Wo denn?«
»In Ihrer Heimat.«
»In meiner Heimat?«
»Ja, als Sie noch Wotulala hießen und Vorkämpferin des Königs von Dahomey und eine Oberpriesterin waren.«
Nur leicht war das Riesenweib zusammengezuckt, es machte gleich wieder ein gleichgültiges Gesicht.
»Dass ich einst so hieß und dies gewesen bin, das wissen auch noch andere von Zarjade, welche dem Harem des Radscha von Nagpore entflohen und jetzt die Begum des Tales des rauschenden Wassers ist. Aber am Hofe des Königs von Dahomey habe ich Sie nicht gesehen, auch nicht in New York, nirgendwo.«
»Auch nicht in Jangala, der Geisterstadt?«
Da zuckte das schwarze Riesenweib noch ganz anders als vorhin zusammen. Ein Wink von ihr und die Kurdin entfernte sich schnell.
Mit weit geöffneten Augen blickte die Begum dann die Amerikanerin mit dem blütenweißen Teint an.
»Wer sind Sie, dass Sie etwas von dem Geisterlande Jangala wissen?«
Die Amerikanerin warf einen schnellen Blick um sich. Niemand war in der Nähe.
»Weil mein eigentlicher Name Atalanta Gräfin von Felsmark ist. Und nun kannst Du Dir denken, wie ich mich wundere, Dich hier wiederzusehen, überhaupt noch am Leben. Wie bist Du damals dem Schiffbruch des ›Mohawk‹ bei den Cooksriffen entkommen?«
Noch ein starrer Blick in das weiße Gesicht, dann winkte die Dahomeerin, und die, die Atalanta sein wollte, folgte ihr.
Sie wurde in ein größeres Haus geführt, in ein orientalisch eingerichtetes Zimmer.
Hier erst wandte sich die Dahomeerin wieder ihrer Begleiterin zu.
»Sie wollen jene Atalanta sein?«
»Ich bin es.«
»Ja, ich weiß, dass diese indianische Gräfin noch lebt und dass sie an Bord ihres Schiffes einen Kasten hatte, in den man nur zu kriechen brauchte, und die Hautfarbe veränderte sich nach einiger Zeit, wie man wollte, auch meine wurde ganz weiß, blieb so, bis sie erst wieder in dem Zauberkasten schwarz wurde. — Ja, wenn ich mir Sie rotbraun vorstelle, so haben Sie große Ähnlichkeit mit meiner Herrin. Aber diese hatte auch braune Augen, und Sie haben blaue.«
»Diese Veränderung der Farbe der Augeniris ist ebenfalls möglich, dies ist Ihnen wohl nur nicht gezeigt worden.«
»So machen Sie Ihre Haut wieder rot und Ihre Augen wieder braun, dann will ich es glauben.«
»Das kann ich hier nicht machen —«
»Und ich würde es dann noch immer nicht glauben, ich bin schon einmal zu furchtbar getäuscht worden, von einem englischen Detektiv, der sich jedes beliebige Aussehen geben konnte. Ich verlange andere Beweise, dass Sie wirklich jene Atalanta sind.«
Die Amerikanerin schilderte einige Episoden von der Sumpfinsel, vom Bord des »Mohawk«.
»Das genügt mir alles noch nicht«, sagte aber die Negerin, »ich bin zu misstrauisch oder doch vorsichtig geworden — das können Sie alles von jener Atalanta erzählt bekommen haben.«
»Ja, wie soll ich mich aber sonst legitimieren?«, lachte die Amerikanerin halb ärgerlich. »Mir scheint eher, dass Du mich nicht wiedererkennen willst.«
»Doch. Und es gibt ein Mittel, durch welches sich meine Herrin legitimieren kann.«
»Nun?«
»Wenn Sie diese Atalanta wirklich sind — wären Sie jetzt nach ungefähr zwei Jahren noch imstande, mich nochmals im Ringkampf und im Wettlauf zu besiegen?«
»Ach so! Richtig! Gewiss, ich habe von meinen körperlichen Fähigkeiten noch nichts verloren. Wohlan, so wollen wir noch einmal um die Wette laufen, noch einmal zusammen ringen.«
Wieder blickte die Negerin einige Zeit starr in das blütenweiße Gesicht, dann streckte sie die Hand aus und setzte den einen Fuß etwas vor.
»Stelle Dich so wie ich, fasse meine Hand, zeige, ob Du mich niederdrücken oder mir widerstehen kannst.«
br>Die Amerikanerin verstand sofort, nahm die entsprechende Stellung ein, die beiden stemmten sich und pressten die Hände.
Der Oberarmmuskel des Riesenweibes schwoll zu einer großen Kanonenkugel an, die Adern auf ihrer Stirn traten wie Stränge hervor — aber nur wenige Sekunden, so sank sie mit einem leisen Schmerzensruf in die Knie zusammen.
»Ja, Du bist keine andere als Atalanta.«
Es war etwas merkwürdig, dass ihr dieser Kraftbeweis als vollkommene Legitimation galt. Es konnte doch auch noch andere Frauen geben, die ebenso stark waren wie diese Indianerin. Hinwiederum hatte sie gar nicht so unrecht, Atalanta hatte sich ja auch sonst schon genügend legitimiert, nur dies hatte noch gefehlt. Und im Übrigen war es eben eine Negerin, noch dazu eine Dahomeerin, bei der körperliche Kraft und Gewandtheit alles gilt, so wie beim Indianer ein guter Schuss, durch den man alles erreichen kam.
Sie blieb gleich auf den Knien liegen, beugte auch den Oberkörper tief herab, und ehe es Atalanta hätte verhindern können, hatte sie deren Fuß auf ihren Nacken gesetzt.
»Du bist meine Herrin, ich bin Deine Sklavin.«
Dann stand sie schnell wieder auf, verschränkte die Arme über der Brust, als erwarte sie nun Befehle.
Atalanta ließ es zunächst dabei bewenden, ging nicht auf dieses frühere Dienstverhältnis ein, das jene also auch jetzt noch bestehen lassen wollte.
»Ja, meine liebe Wotulala, wie kommst Du nun eigentlich hierher, wie bist Du damals aus dem Schiffbruch gerettet worden?«
Sie ließ sich auf ein Polster nieder, musste die Dahomeerin nötigen, dass diese desgleichen tat, und die Negerin berichtete ganz kurz.
Sie hatte mit den Wogen gerungen, war bewusstlos geworden — als sie wieder zu sich kam, befand sie sich an Bord eines französischen Dampfers, der nach Kalkutta ging.
Monsieur Chevalier, ein älterer, feiner, sehr freundlicher Herr, hatte sich ihrer liebreich angenommen, hatte sie, wie sie wünschte, nach New York schicken oder gleich selbst hinbringen wollen, da auch er nach Amerika musste.
Erst aber machte er eine kleine Geschäftsreise durch Indien. Und da hatte sie der feine, liebenswürdige Franzose in den Harem des mohammedanischen Radscha von Nagpore verkauft, eines schon sehr alten Mannes, der nur aus kunstsinniger Liebhaberei das Sammeln von weiblichen Raritäten mit Leidenschaft betrieb.
Ein Jahr lang hatte Wotulala in diesem Harem geweilt, dem alten Radscha etwas vorfechtend und vorspringend — wenn sie wollte. Zwingen ließ sich die ja nicht. Aber ebenso wenig gab es von dort eine Flucht, oder es hätte über gar viele Leichen gehen müssen, und dann war der Ausgang vielleicht noch immer verschlossen. Übrigens gefiel es der Dahomeerin in dem Harem ganz gut, sie machte Bekanntschaft mit ihr ebenbürtigen weiblichen Raritäten und Originalen Indiens und aus aller Welt.
Als aber der alte Radscha starb und einen jungen Nachfolger bekam, der auch den ganzen Harem erbte, da beschlossen Zarjade — wie die Dahomeerin damals hieß — und acht andere Weiber, die eben zu ihr passten, die gemeinsame Flucht unter allen Umständen. Und diese gelang auch in der Verwirrung, die in dem Totenhaus herrschte.
Wohin sich nun wenden? Draußen vernahmen die neun Weiber zum ersten Male etwas von der Witwenkolonie im Tale des rauschenden Wassers, die unter dem Schutze der englischen Regierung stand.
Von Nagpore bis dorthin ist es gar nicht so sehr weit. Es gelang ihnen, das Tal zu erreichen, sie hatten gar nichts von einer Verfolgung bemerkt, wurden aufgenommen, und nun war es gar nicht so leicht, sie wieder herauszuholen.
Die englische Regierung kann sich in das orientalische Haremsleben in den Ländern, in denen sie herrschen will, nicht mischen, das ist unmöglich, sonst wäre es mit ihrer Herrschaft bald vorbei.
Aber England, das die Anregung zur allgemeinen Aufhebung der Sklaverei erst gegeben hat, darf keinen Sklavenhandel und alles, was damit zu tun hat, dulden. Doch weiß sich England bekanntlich immer zu helfen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Beamte und Militär dürfen sich natürlich nicht mit Sklavenverfolgung befassen, haben aber auch nicht nötig, verfolgte Sklaven, wozu schließlich doch auch entflohene Haremsweiber gehören, in Schutz zu nehmen. Das mögen die Eingeborenen des betreffenden Landes nur hübsch unter sich ausmachen. Auch Telegramme und andere Mitteilungen, die mit einer Sklavensache zu tun haben, dürfen nicht befördert werden.
Die Witwenkolonie stand unter englischem Schutz, und es war gar nicht gesagt, dass es gerade Hinduwitwen sein mussten. Nein, die englische Regierung hätte die Entflohenen nicht wieder herausholen können, das mochten die, die sie wiederhaben wollten, nur selbst besorgen.
Allein sie wurden gar nicht reklamiert. Der neue Radscha von Nagpore hatte gar keine Sehnsucht nach der schwarzen Riesendame und den anderen Weibern, die wohl einen so ähnlichen schlagfertigen Charakter hatten.
»Seit einem Vierteljahre sind wir hier!«, schloss Wotulala ihren Bericht. »Als wir ankamen, lag Lady Harriet gerade im Sterben, weswegen in der Kolonie die größte Bestürzung herrschte. Einige Haraniwakas waren doch darunter, welche die Sachlage klar durchschauten, weshalb nämlich die größte Besorgnis für die Zukunft der Kolonie vorhanden sein musste. Wir neu Angekommenen erkannten gleich dasselbe. So schritten wir gleich zur Wahl einer neuen Präsidentin, und ich war es, die einstimmig gewählt wurde, eine Woche später, nachdem wir hier eingetroffen waren. Der Titel einer Präsidentin, den die Bischoflady führte, ist dann in den einer Begum, einer Königin, umgeändert worden.«
Aufmerksam, ohne einmal zu unterbrechen, hatte Atalanta zugehört.
»Woran ist Lady Harriet gestorben?«
»Am Fieber. Im Delirium. Sie war aber schon vorher lange Zeit so gut wie irrsinnig. Religiöser Wahnsinn. Hielt sich für eine Prophetin, für Christus, für Gott selbst, gab die widersinnigsten Befehle. Ein Glück nur, dass diese nicht ausgeführt zu werden brauchten.«
»Weshalb nicht?«
»Weil sie sich immer eingeschlossen hielt, nicht aus ihrem freiwilligen Gefängnis herauskam, also sich auch nicht überzeugte, ob ihre Befehle ausgeführt wurden. Sie glaubte es, wenn man ihr sagte, es wäre geschehen.«
»Ganz freiwillig hielt sie sich selbst gefangen?«
»Ja.«
»Habt Ihr hier auch Männer?«
»Wir halten 46 Männer und zwei weiße Frauen hier gefangen!«, erklang es ruhig zurück.
»Du meinst die englischen Beamten und ihre eingeborenen Diener, die Ihr innerhalb der letzten Tage hier zurückbehalten habt?«
»Ja, die meine ich.«
»Weshalb habt Ihr die als Gefangene zurückbehalten?«
»Das werde ich Dir, o Herrin, später erklären. Bitte, frage erst weiter — das, was Du wissen möchtest.«
Das war eine sehr, sehr merkwürdige Antwort und Aufforderung. Die Dahomeerin wusste also schon, woraufhin die Fragerin zielte.
Nun gut, diese ging darauf ein.
»Ihr sollt schon immer andere Männer hier gehabt haben.«
»Und?«
»Mit denen Ihr, die Führerinnen dieser Kolonie, in Polyandrie, in Vielmännerei lebt.«
»Und? Was sagt das Buch weiter, das man über uns geschrieben hat?«
»Ihr sollt die männlichen Kinder töten.«
»Und?«
»Das genügt wohl. Das sind die Hauptanklagen, die in der Broschüre, die Du also gelesen hast, gegen Euch vorgebracht werden. Und was ist es nun damit?«
In den Augen der Negerin flammte es furchtbar auf, aber es war so blitzähnlich gewesen, dass es nur ein sehr scharfer Beobachter bemerkt haben konnte.
»Alles Lüge, infame Lüge, die gegen uns in die Welt gesetzt worden ist!«, erklang es dann ganz ruhig. »Ich will Dir zeigen, Herrin, weshalb man uns so ungeheuerlich verleumdet hat, und Du wirst den Grund sofort begreifen.«
Die Dahomeerin erhob sich, verließ das Zimmer, kehrte bald zurück, ein geflochtenes Körbchen in der Hand.
Es war mit erbsen- bis haselnussgroßen Diamanten gefüllt, die, obgleich noch ungeschliffen, schon ein wunderbares Feuer ausstrahlten, so rein waren sie und von solch scharfen Kristallformen. Es waren aber auch noch ganz andere Diamanten darunter, walnussgroße.
»Die sind hier in diesem Tale gefunden?«, fragte Atalanta ohne sonderliches Staunen.
»Du sagst es. Der Boden dieses Tales besteht aus einer meterhohen Humusschicht, dann kommt eine Lehmschicht von drei Meter Stärke, dann acht Meter grobkörniges Quarz, dann blauer Ton, und in dieser blauen Erde sind die Diamanten eingebettet, man findet sie überall, wo man auch gräbt.
Es dürfte sonderbar erscheinen, dass man das massenhafte Vorkommen von Diamanten früher nicht gewusst hat, aber das ist doch schließlich überall der Fall gewesen, wo man dann Diamanten gefunden hat, in Brasilien wie in Südafrika.
Außerdem nun haben wir jetzt in Erfahrung gebracht, dass den früheren Bewohnern dieses Tales ein religiöses Gesetz verbot, tiefer in die Erde zu graben, als es zum Umpflügen das Feldes notwendig ist.
Wer dieses religiöse Gesetz schuf, der hatte wohl schon von dem Vorhandensein der Diamanten gewusst, und der kannte die Menschen, und er wollte dieses fruchtbare Tal wegen der glitzernden Steinchen, die keinen Hunger stillen, aber desto mehr Tränen erzeugen, nicht in eine öde Wüste verwandeln lassen. Deshalb schuf er dieses Gesetz, dass nicht tief in den Boden gegraben werden durfte.
Als dann die Quelle versiegte, hat man nach deren Verbleib geforscht, man hat in die Felsen gebohrt, aber nicht in den Boden hinein. Und dass hier ein Brunnen gegraben werden könnte, dass Wasser zu finden sei, daran denkt niemand, der nur etwas hiervon versteht. Oder man braucht nur unterhalb der Lehmschicht auf den losen Quarz zu stoßen, dann wird man den Versuch sofort aufgeben.
Gerade als ich hier ankam, wurde ein tiefes Loch in den Boden gegraben. Auf Befehl der Bischofslady. Wozu? Um nach dem Mittelpunkt der Erde zu dringen, nach der Hölle, um den dort unten im feurigen Pfuhle wimmernden Seelen zu Hilfe zu kommen, um den Teufel zu bekämpfen. Das war so eine Idee der Wahnsinnigen.
Damals gehorchten die Hindufrauen ihr noch. Als man in zwölf Meter Tiefe durch den Quarz gekommen war, beförderte man mit fast jedem Spatenstich Diamanten aus der blauen Erde.
Es waren Hindufrauen darunter, die den Wert dieser auch ungeschliffenen Steinchen erkannten, man grub auch an anderen Stellen, an den entgegengesetzten Enden des Tales, tiefe Löcher — überall fand man Diamanten.
Unter den Frauen befand sich eine Person, die ich auf den ersten Blick eher für einen verkleideten Mann gehalten hätte, welcher Eindruck sich dann aber abschwächte. Sie wollte ein Mischling sein, von einem Engländer und einer Inderin, in England auch erzogen, passte überhaupt nicht richtig hierher, und dann später, als man sich mehr mit ihrer Vergangenheit beschäftigen wollte, wusste auch niemand, wie sie hierher gekommen war. Mit einem Male war dieses Mannweib verschwunden, alles deutete auf eine Flucht; es hatte auch eine Sammlung der schönsten und größten Diamanten mitgenommen.
Acht Wochen später erschien jene Schrift, die so furchtbare Anklagen gegen uns erhebt, ganz aus der Luft gegriffen. Sie wurde schon hier in Indien bekannt.
Alles andere, o Herrin, kannst Du Dir nun wohl selbst erklären.«
Ja, nun wusste diese scharfsinnige Indianerin genug, zumal sie in einem ganz ähnlichen Falle, ihre eigene Person betreffend, schon die größten Erfahrungen gesammelt hatte.
Für einen anderen, der nicht solchen Scharfsinn und solche Erfahrung besaß, war ja freilich die Sache noch nicht so ganz einfach.
»Hat sich schon jemand wegen dieser Diamanten erkundigt?«
»Nein. Von uns aus ist noch nichts verraten worden.«
»Du meinst also, jenes Weib ist zur englischen Regierung gegangen?«
»Das ist nicht nötig, es können auch Privatleute im Spiele sein.«
»Die durch jene Broschüre eine Handhabe schaffen wollen, um mit Hilfe der Regierung gegen Euch vorgehen zu können.«
»Anders ist es doch nicht.«
»Um Euch aus diesem Tale zu vertreiben?«
»Ja. Mit einer scharfen Kontrolle durch Beamte fängt es an, mit unserer gänzlichen Vertreibung hört es auf. Mindestens würde man uns den Aufenthalt in diesem Tale bald zu verleiden wissen.«
»Sollte man aber nicht erst versuchen, mit Euch wegen der Diamanten in friedliche Verhandlungen zu treten?«
»Wenn Du so sprichst, Herrin, dann kennst Du die Engländer schlecht. Und Du weißt nicht, wie lieb diese Frauen ihr Tal haben, das sie in vieljähriger, mühevoller Arbeit aus einer Wildnis wieder in ein liebliches Gefilde verwandelt haben, wie sie mit jeder Faser ihres Herzens an ihrer neuen Heimat hängen. Und dass Lady Harriet dieses Tal der Witwenkolonie als ein Gemeinwesen testamentarisch geschenkt hat, vermag darin gar nichts zu ändern. Gewalt geht vor Recht. Wo Gold oder Diamanten oder etwas Ähnliches gefunden wird, da hat der Engländer noch immer Besitz von diesem Grund und Boden ergriffen. Trotz aller Gesetze werden wir gezwungen, dieses Tal zu verlassen, so oder so, wenn wir beim Abbau der Diamantenlager nicht die Tagelöhnerinnen spielen wollen.«
Die Dahomeerin hatte recht, und die Indianerin hatte es sofort begriffen.
Die Sache war also folgende, wobei wir annehmen wollen, dass jenes entflohene Mannweib ein englischer Detektiv oder Zeitungsberichterstatter gewesen war. Er kommt in unserer Erzählung sonst nicht weiter vor.
Dieser Detektiv war von dem Diamantenfund Zeuge geworden. Einer von jenen Menschen, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen, wäre nun hinausgerannt und hätte in die Welt hineingeschrien: »Hört, hört, in dem Tale des rauschenden Wassers, wo die Hinduwitwen wohnen, wimmelt alles von Diamanten!«
So dumm war dieser Detektiv aber nicht. Der gehörte zu jenen Menschen, von denen auf zehntausend nur einer kommt — zu denjenigen, welche das Schicksal ganz nach Willkür meistern, besonders deshalb, weil sie — das Maul halten können, bis es so weit ist.
Jedenfalls war er auch nicht zur Regierung oder an eine sonstige amtliche Stelle gegangen, sondern erst zu solch einer Diamantenaktienkompanie, die über riesige Betriebskapitalien verfügen.
Übrigens hätte die englische Regierung mit dieser Sache gar nichts anfangen können.
Denn in England ist es anders als z. B. in Deutschland. Nach uraltem, unumstößlichem englischen Gesetz kann kein Bodenbesitzer gezwungen werden, irgendwelchen Bergbau selbst zu betreiben oder zu erlauben oder deswegen seinen Besitz zu veräußern. Das geht, nach englischen Begriffen, gegen die allgemeinen Menschenrechte.
Aber — o Hohngelächter der Hölle — als ob es da nicht noch andere Mittel gäbe, um einen Menschen zu zwingen!
So kennt England seit Normannenherzog Wilhelm auch keinen anderen Friedensvertrag mit einem anderen Volke als den ewigen, Immer wird man lesen: »Ewiger Frieden.« Nun lese man aber daraufhin die Weltgeschichte nach, wie lange diese »Ewigkeit« immer gedauert hat.
Lady Harriet hatte dieses ganze Tal rechtmäßig gekauft und hatte es den Kolonistinnen regelrecht vermacht. Da war diesen gar nichts zu wollen, wenn die nicht wollten. Und diese armen Haraniwakas, die hier endlich wieder zu wirklichen Menschen erwacht waren, wollten ganz gewiss nicht — wegen ein paar glitzernder Steinchen ihr geliebtes Tal verlassen, da hätte man ihnen bieten können, was man wollte, sie gleich ins Paradies verpflanzen können.
Das war so klar, dass man mit so etwas gar nicht erst anfing.
Gut, dann wurde es eben auf andere Weise gemacht.
Ein anonymer Verfasser schrieb jene Broschüre, erhob die furchtbaren Anklagen.
Die Bischofslady ermordet, Vielmännerei, Kindermord usw. usw. Schreckliche Zustände!
Jetzt musste sich natürlich die Regierung einmischen, die von den Diamanten noch gar nichts zu wissen brauchte.
Also nun kamen, was man bisher aus Gutmütigkeit und Schicklichkeitsrücksichten vermieden hatte, dennoch Beamte, Männer, in das Frauental hinein.
Waren die einmal drin, kamen die auch nicht wieder heraus.
Das musste dieser Frauenkolonie, die sich immer mehr emanzipierte, ja schon höchst unangenehm sein.
Und dass es ihnen immer unangenehmer wurde, dafür wollte man wohl sorgen.
Man konnte ja auch etwas nachhelfen, Leichenfunde machen und dergleichen.
Die Kolonistinnen kamen unter immer strengere Kontrolle.
Na, und wurden dann erst von den Beamten und Soldaten und Dienern Diamanten gefunden, was doch nicht ausblieb, was auch arrangiert wurde — dann war es mit der feldbautreibenden Kolonie doch überhaupt vorbei.
Wären die Diamanten in den Felsen gefunden worden, in Minengängen, dann wäre der Feldbau vielleicht noch möglich gewesen, so aber musste doch der ganze Humusboden abgetragen werden.
Kurz und gut, die Kolonistinnen wurden so lange kujoniert, bis sie sich freiwillig entschlossen, ihr Tal zu verlassen, sich eine andere Heimat zu suchen.
Dann bot ihnen jene Diamantengesellschaft, welche die Fäden natürlich nie aus der Hand gelassen hatte, für das Tal einen hochanständigen Preis, machte vielleicht auch alle die Hinduwitwen mit zu Aktionären — aber hinaus mussten sie! Mindestens durfte das Tal nicht mehr ihnen gehören!
Ja, so wurde es gemacht. Ähnlich ist es in solchen Fällen immer gemacht worden, wenn auch immer wieder in ganz anderer Weise.
Die raffinierte Schlauheit nun lag besonders darin, dass die Diamanten erst hinterher gefunden werden durften, die Welt durfte erst hinterher davon erfahren. Die englische Regierung war — und eigentlich ja auch tatsächlich — ganz mit Recht gegen diese Kolonie vorgegangen. Die Hinduwitwen waren die Schuldigen gewesen oder hatten doch unter furchtbarer Anklage gestanden. Nicht etwa, dass man schon vorher von den Diamanten gewusst und deshalb dies alles arrangiert hätte. O nein, auf diesen Verdacht durfte kein Mensch kommen! Nur immer sauber! Sonst im Übrigen stinkt Geld ja nicht.
Dies alles hatte Atalanta sofort durchschaut und stellte nur noch andere Fragen.
»Es ist kein einziges Verhältnis mit einem Manne vorgekommen, der sich einzuschleichen gewusst hat?«
»Niemals.«
»Auch vor Deiner Zeit nicht?«
»Niemals. So versichern die Hindufrauen, die von allem Anfang an hier waren, einstimmig, und ich glaube ihnen.«
»Auch sonst kein Kindermord?«
»Kinder?«
»Eine Haraniwaka oder sonst eine Frau, eine Mohammedanerin aus dem Harem, hätte doch ein Kind mit hereinbringen können.«
»Nicht ein einziges. Wohl aber könnte man uns einer Schuld überführen, wenn man nun einmal durchaus will.«
»Wie denn?«
»Hier gibt es Menschenknochen massenhaft, auch solche von Kindern.«
»Ach so! Ja freilich, wenn man durchaus will — das lässt sich alles arrangieren, der Teufel ist erfinderisch. Und weshalb hast Du nun die englischen Beamten und die vielen Eingeborenen-Diener und die beiden weißen Damen zurückbehalten?«
»Um Geiseln in den Händen zu haben.«
»Du hast noch niemand davon verständigt, was Du beabsichtigst?«
»Die Außenwelt? Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil es so gar keinen Zweck hat. Ich habe die Brücke hinter uns einfach abgebrochen, bin mit der Kriegserklärung zuvorgekommen.«
»Ohne den Krieg schon richtig erklärt zu haben.«
»Das ist auch nicht nötig. Die werden schon noch erkennen, woran sie sind.«
»Bist Du die einzige, die hierüber zu bestimmen hat?«
»Ja. Ich habe unumschränkte Vollmacht. ich habe mir die klügsten und erfahrensten Weiber als Beraterinnen erwählt, und es sind welche darunter, die alle englischen Verhältnisse von Grund auf kennen, sie alle billigen mein Vorgehen.«
»Ja, ich würde dasselbe tun!«, meinte die Indianerin nach einigem Nachdenken. »Wie ist hier nun Eure Lage?«
»Wir sitzen in einer Mausefalle, aus der wir nicht wieder heraus können. Aber das brauchen wir auch nicht. Diese Mausefalle ist eine kleine Welt für sich, die uns ernährt, uns alles liefert, was wir zum Leben bedürfen.«
»Die Schlucht, die ich vorhin passierte, ist uneinnehmbar, das habe ich selbst gesehen. Und auf der anderen Seite?«
»Jene Schlucht ist noch uneinnehmbarer.«
Atalanta blickte durch das Fenster zu den himmelhohen Felswänden empor.
»Lassen sich diese Gebirgswände von außen ersteigen?«
»Nein, sonst wäre das Tal doch einnehmbar. Wir könnten von oben beschossen werden. Wir aber haben hier drin Klimmwege, oben stehen Posten, die alles beobachten.«
»Diese Felswände sind ungefähr 3000 Meter hoch?«
»Nicht so hoch.«
»Da schießt die Artillerie drüber hinweg, es gibt doch auch noch andere Gebirgskämme in der Nähe, die schließlich doch zu erreichen sind, auch von Artillerie.«
»Sie werden uns nicht bombardieren.«
»Weshalb nicht?«
»Weil wir Geiseln haben.«
»Wenn es sich um Diamanten handelt?«, war die bedeutungsvolle Frage.
»Wir werden uns noch andere Geiseln verschaffen. Die Engländer werden nicht bombardieren.«
»Willst Du der englischen Regierung oder überhaupt der Außenwelt nicht offenbaren, was Ihr vorhabt?!«
»Ja, es wird geschehen, noch heute, jetzt sind wir uns darüber einig geworden.«
»Nun?«
»Anerkennung unserer Kolonie als selbstständiges Königreich.«
»Darauf geht die englische Regierung niemals ein.«
»Sie muss. Eine Republik, das wäre etwas anderes, die kann England in seinem indischen Kaiserreiche nicht dulden, aber selbstständige Fürstentümer, Königreiche gibt es hier genug.«
»Aber nicht solche selbstständige, wie Du Dir Deine Kolonie vorstellst. Jeder Maharadscha, mag er scheinbar auch noch so selbstherrlich sein, steht dennoch unter englischer Kontrolle. Sobald er einmal nicht nach englischer Pfeife tanzen würde — weg mit ihm!«
»So werden wir beweisen, dass es dennoch ein absolut unabhängiges Königreich geben kann.«
»Wotulala — Du selbst glaubst nicht, dass England jemals diese Weiberkolonie als ein unabhängiges Königreich anerkennen wird.«
»Nein, ich glaube selbst nicht daran!«, gab die afrikanische Begum jetzt zu. »Aber sage, was würdest Du in diesem Falle machen?«
»Genau dasselbe wie Du. Diese Weiberkolonie als unabhängiges Königreich erklären und dann der Sache ihren Lauf lassen.«
»Nun gut, ich tue es. Und wenn sich die Engländer die Köpfe an unseren Felswänden eingerannt haben, so geben sie doch vielleicht nach, um wenigstens einigen Vorteil von diesen Diamantfeldern zu haben. Und zuletzt entscheidet immer der letzte Erfolg.«
Da hatte die Negerin ganz recht.
England hat die Burenrepubliken nie anerkannt, ihr Krieg war für die Engländer nur ein Aufstand, sie blieben Sieger, deshalb haben diese Burenrepubliken für sie nie existiert. Wären die Buren Sieger geblieben, so gäbe es jetzt innerhalb des englischen Afrikas zwei selbstständige Republiken, von allen anderen Mächten anerkannt, England lebte mit ihnen in »ewigem Frieden«, bis es eben wieder einmal anders gekommen wäre. Mit dem armen Pfarrerssohn, der als schwindsüchtiger Jüngling seine juristischen Studien dadurch ermöglichte, dass er in einem Hotel Stiefel putzte und der dann dieses afrikanische England schuf — mit Cecil Rhodes hat sich bis heute noch kein anderer Diplomat vergleichen können.
»Ich wünsche Dir viel Glück!«, sagte Atalanta, die zuletzt recht kalt geworden war. »Wie gesagt, ich würde ebenfalls so handeln wie Du. Nur eines gefällt mir dabei nicht.«
»Was nicht?«
»Du hältst hier Gefangene, über deren Schicksal Frauen und Kinder und Gatten weinen.«
»Das ist der Krieg.«
»Das würde ich nicht tun. Dass Du keinen Fremden dieses Tal betreten lässt, das ist Deine Sache, aber ich würde so wenig Schuld wie möglich auf mich laden.«
»Befiehl, und die Gefangenen sind frei.«
»Ich soll befehlen?!«
»Unser Verhältnis besteht noch und wird in diesem Leben ewig bestehen bleiben. Du bist meine Herrin, ich bin Deine Sklavin.«
»Du trittst mir einfach Deine Macht ab?«
»Du hast auch über die Begum zu befehlen.«
»Hm. Da scheint mir, als ob Dein Volk nicht die rechte Königin gewählt hätte — ganz offen gesprochen.«
»Die Treue geht über alles andere.«
»Nein, ich befehle Dir nichts. Ich will mit dieser ganzen Sache absolut nichts zu tun haben. Ich habe mit meinen eigenen, sehr ähnlichen Angelegenheiten genug zu tun. — Wotulala, ich scheide. Du wirst doch nicht so sehr erstaunt sein, wenn ich plötzlich verschwinde, in Luft zerfließe.«
»In Luft zerfließen?!«, staunte die Negerin schon jetzt.
»Nein, Du hast keinen Grund, darüber zu staunen. Du warst doch an Bord des ›Mohawk‹, als die Flugmaschine hergestellt wurde, die an sich schon unsichtbar war und die auch jeden unsichtbar machte, der sich in den Glaskasten setzte.«
»Ja, ich habe damals diese Zauberei gesehen —«
»Es war keine Zauberei, es wurde Dir doch alles erklärt, so weit es möglich war.«
»In solch einem unsichtbaren Luftschiffe bist Du gekommen?«
Atalanta bejahte, wenn die Dahomeerin auch eine Flugmaschine, einen Aeroplan meinte, was nicht der Fall war. Doch auf die Form kam es ja dabei nicht an.
»Weshalb bist Du da erst durch die Schlucht gekommen?«
»Weil ich hier nicht plötzlich erscheinen wollte, ich wusste ja nicht, wie man mich hier empfangen würde.«
»Hast Du mich schon vorher gesehen?«
»Ja.«
»Von wo aus?«
»Aus den Wolken.«
»Und Du hast mich erkannt?«
»Sofort.«
»Und Du wagtest nicht, gleich vor mich hinzutreten?«
»Doch. Dass Du mich als Freundin empfingst, das war ja selbstverständlich. Aber ich wollte hier durch mein plötzliches Erscheinen, das sich die anderen doch nicht hätten erklären können, kein Aufsehen erregen, kein Entsetzen; deshalb kam ich wie ein anderer Mensch durch die Schlucht, meldete mich erst an.«
»Ja, Du tatest wohl gut daran. Aber nun wirst Du auch wieder so plötzlich verschwinden; dazu können wir ja allerdings eine einsame Stelle aufsuchen. Wo befindet sich Deine unsichtbare Flugmaschine jetzt?«
»Nein, es ist nicht nötig, dass ich mich dazu erst auf einen einsamen Platz begebe. In dieses Zimmer kann das Luftschiff ja allerdings nicht, aber — ich selbst werde plötzlich vor Deinen Augen verschwinden.«
»Wie willst Du denn das machen?«
»Nun, sollte es denn nicht möglich sein, dass sich ein Mensch ebenso unsichtbar macht, wie man es mit einer ganzen, so großen Maschine macht?«, lächelte Atalanta.
Aber gleich bereute sie es. Die schlaue Negerin hatte wohl sofort verstanden, und in ihren Augen leuchtete etwas auf, was Atalanta gar nicht recht gefallen wollte.
»Du stülpst etwas über Dich, sodass Du nicht mehr zu sehen bist?«
»So ungefähr ist es.«
»Herrin, kannst Du mir nicht auch so etwas geben, dass ich mich unsichtbar machen kann?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Es geht nicht — frage nicht weiter — es ist mir selbst nicht erlaubt.«
»Oder, Herrin, kannst Du uns nicht Waffen liefern?«
»Habt Ihr nicht schon Waffen?«, wich Atalanta immer wieder aus.
Sie hatte es kommen sehen, da aber war es schon zu spät gewesen.
»Nur einige Schwerter und Lanzen und Panzer und ganz alte Gewehre, zu denen uns das Pulver fehlt.«
»Wo habt Ihr diese Waffen her?«
»Wir fanden sie in einer versteckten Höhle, die den früheren Bewohnern dieses Tales als Rüstkammer gedient hatte. Sage, Herrin, kannst Du uns nicht gute Gewehre und Patronen verschaffen?«
»Ich habe keine.«
»So bringe sie uns, kaufe sie, wir geben Dir Geld. Du kannst sie doch in Deinem Luftschiffe über die Felswände bringen.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Weil — ich nicht will. Wotulala, was hast Du vor?«
»Nun, wir müssen uns doch verteidigen, wenn die Engländer eindringen wollen.«
»Um die abzuwehren, dazu genügen einige wenige Lanzen.«
Wohl blieb die Negerin in ihrer demütigen Haltung, aber es war etwas sehr Unnatürliches, Gezwungenes dabei.
»Gut, wenn Du uns keine Gewehre lieferst, so zwingst Du uns, uns solche selbst zu verschaffen.«
Nicht drohend war es gesprochen worden, aber mit so eigenartiger Schlauheit.
»Auf welche Weise?«
»Nun, draußen steht eine Kompanie mit 120 Gewehren und vielen Patronen.«
»Ihr wollt diese Soldaten wohl niedermachen, um Euch ihrer Gewehre zu bemächtigen?«.
»Wenn Du uns keine verschaffst, ja. Und Du bist Schuld an ihrem Blute.«
Da fuhr die Indianerin empor.
»Weib, mache mich nicht verantwortlich für das Blut, das Ihr vergießt, nicht für Eure sonstigen Untaten, die Ihr noch begehen werdet!«
Schnell hatte sie sich wieder beruhigt, es hatte auf die Negerin auch sehr wenig Eindruck gemacht.
»Ich verzeihe Dir, was Du jetzt gesprochen hast. Du bist eine Negerin. Nein, verantwortlich kannst Du mich niemals für Eure Taten machen. Verteidige dieses Tal und das Leben und Eigentum derer, die sich Dir anvertraut haben, mit allen Kräften gegen gewalttätige Angriffe! Das darfst Du, das sollst Du, das ist Deine Pflicht, auch wenn es in keinem Gesetzbuche steht, sogar vielmehr das Gegenteil. Und genau so würde auch ich handeln, weil mir mein Gewissen am besten sagt, was recht und was unrecht ist. Aber hüte Dich, außerhalb dieses Tales Blut zu vergießen! Versuche nicht Deine Macht zu erweitern! Und lass Dir raten: Gib die Gefangenen frei! Ich befehle es Dir nicht etwa, ich will Dir nichts befehlen, will mich in diese Angelegenheit absolut nicht mischen. Ich bereue schon, Dich aufgesucht zu haben. Gehab Dich wohl,«
Sie streckte die Hand zum Abschied aus. Die Negerin nahm sie nicht, wollte noch mehr sagen.
Da berührte Atalanta nur leicht den schwarzen Arm, und plötzlich sprühte der Dahomeerin das Feuer aus den Augen, ein elektrischer Schlag zuckte ihr durch den ganzen Körper, sie taumelte zurück und verlor das Bewusstsein.
Es konnte wohl nur einen Moment gewährt haben, sonst wäre sie ja gestürzt.
In der nächsten Sekunde war sie schon wieder bei voller Besinnung — aber diese Sekunde hatte auch genügt, um Atalanta verschwinden zu lassen.
»Bleibe doch, ich habe Dir noch mehr zu sagen!«
Als keine Antwort kam, sprang Wotulala, das Richtige gleich ahnend, nicht nach der Tür, sondern mit ausgebreiteten Armen nach dem einzigen, scheibenlosen Fenster des Raumes, um die Flüchtende zu fassen, auf die Gefahr hin, nochmals solch einen elektrischen Schlag zu erhalten.
Sie bekam keine menschliche Gestalt zu fühlen. Atalanta war schneller gewesen.
Wohl aber wurde die Negerin durch das Fenster von einem Windstoß getroffen, so stark, dass er sie gleich bis an die entgegengesetzte Wand schleuderte.
»Das Luftschiff — sie ist schon mit dem Luftschiff davongegangen!«
Mit dem Luftschiff meinte sie eine Flugmaschine, hatte sich aber unbewusst ziemlich richtig ausgedrückt. Wenigstens war es ein Luftboot gewesen, das in seiner unsichtbar machenden Tarnkappe vor dem Fenster gelegen hatte.
Atalanta zog es vor, die weitere Entwicklung dieser Angelegenheit von den Wolken aus zu beobachten. Eingreifen, wenn es nötig war oder sie sonst wollte, konnte sie ja immer noch. Aber sie hatte sich von den Lehren des Kapitäns Nowhere über das Schicksal doch schon viel zu Herzen genommen.
»Bleib stehen, ich befehle es Dir!«, rief die Gauklerin
der wankenden Königin des Haraniwaka-Tales zu.
Gegen Mitternacht hielt der ostindische Pacificzug, von Bombay nach Kalkutta gehend, in Arradasch, ungefähr 120 Kilometer westlich von Hashangabad.
Auch dem Lokomotivführer und seinen beiden Gehilfen wurden freigebig die Extrablätter mit den letzten telegrafischen Nachrichten zugesteckt, welche die »East-Indian Gazette« bei jeder Gelegenheit gratis verteilt.
Natürlich drehte sich alles um das Haraniwaka-Tal. Es waren die Ereignisse des heutigen Tages. Jedes einzelne Blatt brachte die allerletzte Depesche, immer sofort gedruckt und ausgegeben, in allen indischen Städten und Ortschaften, die telegrafisch erreichbar waren, verbreitet.
Mister George Horneg, einer der von den Haraniwakas gefangen gehaltenen Beamten, ein unverheirateter Mann, war zur »männerfressenden Schlucht« wieder herausgekommen, gerade als Kapitän Jefferson mit der Hälfte seiner Kompanie mit aufgepflanztem Bajonett hatte einrücken wollen.
Der Beamte war freigelassen worden, kam als Abgesandter, brachte die Friedensbedingungen oder eigentlich die Wünsche der Hinduwitwen mündlich und schriftlich mit.
Die 4864 Kolonistinnen des Tales des rauschenden Wassers bei Hashangabad erklären ihr bisheriges Gemeinwesen als einen selbstständigen Staat, der unter einer selbstgewählten Königin mit dem Titel Begum steht, welche gegenwärtig Wotulala ist.
Dieses nun bereits proklamierte Königreich Haraniwakabegumschumla verlangt Anerkennung seitens der englischen Regierung für alle Ewigkeit.
Bis diese Anerkennung erfolgt ist, bleiben die betreffenden Beamten und Diener und die beiden weißen Damen als Gefangene im Haraniwaka-Tale, werden, wenn es nötig ist, immer an die bedrohten Punkte gestellt, sodass sie die ersten Opfer eines feindlichen Vorgehens sein würden.
Die Kompanie, die jetzt vor dem Eingang der südlichen Schlucht steht, hat sich sofort vier englische Meilen zurückzuziehen. In dieser Entfernung ist eine gedachte Grenze gezogen, die auch sonst niemand anders überschreiten darf, will er sich nicht der Gefahr aussetzen, gefangen oder getötet zu werden.
Bis zur gesetzlichen Anerkennung des Königreichs Haraniwakabegumschumla befindet sich das Tal im Kriegszustand.
Für alles, was schon geschehen ist und bis zur Anerkennung noch geschehen wird, fordern die Haraniwakas absolute Amnestie.
Das waren die Bedingungen, welche die Haraniwakas stellten, schriftlich von der Begum Wotulala unterzeichnet.
Der alte Lokomotivführer lachte herzlich.
»Solche verrückte Frauenzimmer! Na, die werden ja etwas erleben!«
»Wissen Sie, wie dieses Tal beschaffen ist?«, fragte der indische Heizer.
Ja, ganz genau, Nicht aus eigener Anschauung, aber die Zeitungen hatten täglich spaltenlange Beschreibungen gebracht.
Und der alte englische Lokomotivführer wurde denn auch gleich recht nachdenklich, kratzte sich hinter dem Ohre.
»Ja freilich — wenn die sich da drin ganz allein ernähren können — und wie die Schlucht beschaffen ist — und die Felswände so hoch, unersteigbar, und die nächsten Gebirgskämme so weit entfernt, dass man von dort mit Geschützen nicht hinüberschießen kann — und dann stellt man die Gefangenen gerade dorthin, wo die Bomben einschlagen — ja wie will man denn da diesen verflixten Weibern beikommen?!«
Er las weiter.
Der entlassene Gefangene hatte ja auch noch mündlich anderes genug berichten können.
Die Gefangenen waren meist isoliert in Höhlen eingesperrt gewesen, aber ganz ausgezeichnet behandelt worden.
Ob die Haraniwakas noch andere Männer in dem Tale hätten, wirklich in Polyandrie lebten, wenigstens ihre Leiterinnen, ob wirklich Kinder getötet worden seien, darüber konnte er nichts berichten, man hatte gar nicht für nötig gefunden, sich deswegen zu verantworten oder sonst wie zu erklären.
Dagegen erklärte Mister Horneg auf das Bestimmteste, dass gar keine Aussicht vorhanden sei, auf irgend eine Weise in das Tal zu dringen. Alles würde einfach so abgefangen, wie es mit ihnen selbst geschehen war. Jeder Mann musste einzeln um eine Ecke biegen, deren es aber noch zahlreiche andere gab, ein Lanzenstich war gar nicht nötig — einige kräftige Hände griffen zu, jeder Mann war weg! Und was gab es da drin für herkulische Weiber! Nicht nur die nunmehrige Königin, die Wotulala, die wirklich jene aus dem Harem des Radscha von Nagpore entsprungene Zarjade sei.
Weiter brachte Mister Horneg die mündliche Botschaft, dass die gefangenen Männer von ihren Frauen und Kindern, die beiden Damen von ihren Familien besucht werden dürften. Heraus käme dann freilich niemand wieder, bis eben die Anerkennung des selbstständigen Königreichs von der englischen Regierung eingetroffen sei. Bis dahin seien alle weiteren Verhandlungen ganz zwecklos. Wer die gedachte Grenze, vier englische Meilen vor dem Schluchteingang durch die Wüste gezogen, überschritt, galt als Feind und wurde beschossen.
Mister Horneg hatte dem Kapitän Jefferson so dringlich zugeredet, ihm alle Verhältnisse geschildert, dass dieser es vorgezogen hatte, mit seiner Kompanie hinter jene Grenze in der Wüste zurückzugehen. Es war ja auch gar nichts weiter zu machen. Und die energischen Weiber hatten auch noch eine besondere Warnung ergehen lassen, hatten von der himmelhohen Felswand einige Felsblöcke oder doch große Steine in die Schlucht hinabgeworfen.
Was wollte man denn nun machen, wenn von dort oben ein ganzer solcher Steinregen herabkam, wenn die Soldaten gerade durchzogen? Kapitän Jefferson war nicht verpflichtet, seine Soldaten bis auf den letzten Mann zu opfern, durfte es gar nicht, für nichts und wieder nichts.
Er hatte sofort einen schnellfüßigen Boten nach seiner Garnison abgeschickt, ein Reiter hatte bereits die Billigung dieses seines Vor- oder vielmehr Zurückgehens gebracht. Er sollte dort an dieser Grenze in der Wüste liegen bleiben, bis weiterer Befehl einträfe, auch wegen des Wassers keinen einzigen Mann vorschicken, ein Transport mit Wasser und Proviant sei schon unterwegs.
Dies war die letzte Nachsicht, abends um sechs Uhr aufgegeben, immer im kurzen Telegrammstil.
»Das halte ich für einen großen taktischen Fehler«, sagte der Lokomotivführer, ein alter, gedienter Soldat, »nun haben wir uns das letzte Mittel aus den Händen gegeben, um dieser rabiaten Weiber Herr zu werden.«
»Welches Mittel?«, fragte sein junger englischer Assistent.
Überlegen drehte der Alte seinen martialischen Schnauzbart.
»Man hätte sofort in der engen Schlucht den Bach eindämmen müssen, dass er das ganze Tal überschwemmte, die Weiber müssten alle ersaufen, mindestens würde ihre Ernte vernichtet, dass sie nichts mehr zu essen hätten.«
»Nun, das kann man doch immer noch machen.«
»Nein, nun ist's zu spät, nun lassen die niemanden mehr heran.«
»Na, die hätten die Arbeiter doch gleich von oben mit Steinen bombardiert, hätten alles zerschmettert.«
»Freilich, freilich!«, brummte der Alte unwirsch, jetzt merkend, dass er mit seiner Weisheit zu früh herausgeplatzt war. »Ja, da weiß man nicht, was daraus werden soll. Das beste ist wohl, man lässt dieses Weiber-Königreich einfach links liegen, kümmert sich gar nicht drum.«
Das Signal zur Abfahrt ertönte.
»Allerletzte Depesche vom Haraniwaka-Tal!«, klang nochmals der Ruf, und ein Zeitungsjunge warf einige Zettel auf die Plattform der Lokomotive.
»Dem sicheren Vernehmen nach ist das Haraniwaka-Tal ein einziges mächtiges Diamantenfeld. Die wasserreinsten Diamanten von seltener Größe lagern überall in leicht erreichbarer Tiefe in blauer Erde.«
»Ach, ach!«, sagte der alte Maschinenführer, wie er dies gelesen hatte, seine Hand an das Ventil legend. »Das hätte nicht kommen dürfen! Ihr armen Hinduweiber, wenn da Diamanten drin sind, dann seid Ihr verratzt, da müsst Ihr Euer Festungstal aufgeben, und wenn man auch von allen Seiten meilenlange Tunnel durch die Felswände bohren müsste, oder es gäbe kein Oldengland mehr.«
Die Lokomotive zog an und fuhr zur Station hinaus, brauste durch endlose, wohlbebaute Felder, die still im Mondschein lagen, durch noch endlosere Urwälder, durch Sandwüsten und auf hohen Dämmen durch sumpfige Dschungels, die so lange für unpassierbar gegolten hatten, bis eben der Schienenstrang durchgelegt werden musste. Denn wenn es der geldbringende Handelsverkehr erfordert, dann ist für den Witz des Ingenieurs heute einfach gar nichts mehr unpassierbar, und wäre am Nordpol ein Goldberg, so führte schon längst nach dem Nordpol eine Tunneleisenbahn.
Zwei Stunden vergingen. In zehn Minuten musste der Schnellzug Hashangabad erreicht haben, trotzdem war hier noch kein bebautes Land, sondern alles eine höchst dürftige Steppe; denn einen Kilometer weiter nördlich begann die sterile Wüste, die sich bis an das Windway-Gebirge erstreckte, in dem sich jetzt die Hinduwitwen als Bürgerinnen eines freien Königreichs fühlten. Arme verblendete, phantastische Weiber!
Übrigens war von der Landschaft nichts zu erblicken, Der Mond war untergegangen, es herrschte Stockfinsternis.
Nur dass alle fünf Minuten ein rotes Licht auftauchte, und sobald dieses vorüberhuschte, war schon wieder ein anderes in der Ferne zu erblicken. Wärterhäuschen mit Signallichtern. Bei diesen ungeheuren Strecken sind wie in Amerika die Eisenbahnschienen nur sehr leicht gelegt, deshalb werden die Strecken von Signalstation zu Signalstation täglich zweimal abgegangen, jede nötige Reparatur ist auch sehr leicht auszuführen. Der Aufwand an Menschenmaterial ist hier billiger als von vornherein ein solideres Fundament. An dieser Linie geht auch das telegrafische Kabel entlang, das die ganze Erde umspannt, so stehen die Stationen untereinander in Verbindung. Wo es an Wasser für die eingeborenen Beamten fehlt, da ist ein Fangarm errichtet, der vom letzten Gepäckwagen gewisser Züge selbsttätig einen mit Wasser gefüllten Schlauch abnimmt, von einem anderen wieder einen Proviantsack.
Der indische Heizer warf Kohlen nach, blickte nach Norden, wo in einer Entfernung von drei geografischen Meilen das geheimnisvolle Haraniwaka-Tal lag, und las noch einmal die Depeschen.
»Absolute Amnestie wollen die haben?«, fragte er dann. »Was ist denn das, Amnestie?«
»Das ist das«, erklärte der alte Lokomotivführer auf Umwegen, »was Ihr braunen Rackers damals bekommen habt, als man Euch Anno 58 endlich wieder unterkriegte.«
»Noch mehr Steuern wollen die Weiber freiwillig zahlen, als man ihnen jetzt schon abnimmt?«, wunderte sich der Hindu.
»Nee, gerade das Gegenteil!«, lachte der Alte herzlich, und es war auch wirklich ein guter Witz gewesen, den jener unbeabsichtigt gemacht hatte. »Amnestie ist völlige Verzeihung — mehr noch, es gibt gar nichts zu verzeihen, weil überhaupt gar nichts passiert ist. Amnestie ist ein völliges Vergessen. Wenn man etwas vergeben hat, dürfte man noch immer einmal an alte Sünden erinnern; das gibt's bei der Amnestie nicht. Es ist überhaupt gar nichts geschehen.«
»So, nun verstehe ich schon. Und auch für alles das, was die Haraniwakas noch tun werden, bis ihr Staat als selbstständiges Königreich anerkannt wird, verlangen sie vollkommene Amnestie?«
»Ja, das ist eben die Raffiniertheit dabei!«, lachte der Alte wiederum. »So eine schlaue Weiberbande! Aber das ist überschlau, und so was tut niemals gut. Die wollen's wie die alten Raubritter machen, die sich vorher einen Ablasszettel kauften, noch ehe sie die Kaufleute ausgeplündert hatten. Nein, so was gibt's nicht. I, was könnten denn da diese Frauenzimmer noch anstellen! Sie könnten hier zum Beispiel unseren Zug — hallo!!«
Des Lokomotivführers Hand zuckte nach dem Hebel der Karpenterbremse.
Vor ihm hatte in der Ferne ein rotes Licht gestanden, schnell jagte es näher — mit einem Male verwandelte es sich in ein grünes.
Das Haltesignal!
Furchtbar wirkte die Luftbremse. Jetzt wurden die Passagiere, die sicher meist im Schlafe lagen, von den Bänken und aus den Betten durcheinandergeworfen.
Der Zug stand.
Das Führerpersonal kam nicht dazu, über das Haltesignal Meinungen auszutauschen.
Von beiden Seiten sprangen auf die Plattform der Lokomotive dunkle, halbnackte Gestalten, kräftige Weiber, einige von ihnen wahrhaft herkulisch gebaut — im Nu waren die zwei überwältigt.
»Heiliger Patrick, die Haraniwakas!«, gurgelte der alte Führer aus seiner von einer schwarzen Faust umspannten Kehle.
Mit seinem letzten Gedanken hatte er an sie, an solch eine Möglichkeit gedacht, es aber doch nicht für möglich gehalten.
Doch nein, sein allerletzter Gedanke war das nicht gewesen, sondern ein furchtbarer Schreck hatte ihn durchzuckt, als er so jäh die Bremse gezogen und diese so gewaltig gewirkt hatte.
Der Lokomotivführer hatte nämlich die strengste Order erhalten, während dieser Fahrt niemals so schnell zu bremsen, sondern auch im höchsten Notfall den Zug so langsam wies möglich zum Stillstand zu bringen, sonst könnte der ganze Zug in die Luft fliegen.
Dieser Schnellzug führte nämlich — überhaupt ganz ausnahmsweise als Gepäck — 3000 Snydergewehre mit einer Million dazu gehörenden Patronen mit sich, ferner zehn leichte, aber weittragende Schnellfeuergeschütze und tausend Granaten. Das alles war für eine neu geschaffene Bergfestung bestimmt, mitten im Herzen Indiens gelegen. Lord Clever selbst, der indische Kriegsinspizient, begleitete den Transport, zusammen mit einer Masse Generäle und anderen hohen Offizieren und Beamten. So wichtig war ja die ganze Sache eigentlich gar nicht, diese Herren wussten nur gleich das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, machten zugleich eine Vergnügungstour, wofür sie aber noch riesige Tagegelder erhielten, hatten meist ihre Familien mitgenommen.
Diese Million Patronen und tausend Granaten hatte der alte Lokomotivführer schon im Geiste krachen hören. Aber in Wirklichkeit hatte es nicht gekracht, die konnten schon noch einen ganz anderen Puff vertragen, ehe sie explodierten. Aber solch eine Instruktion der möglichsten Vorsicht hatte doch sein müssen.
»In welchem Wagen befindet sich Lord Clever?!«, herrschte das schwarze Weib mit den grimmigen Gesichtszügen, das den Hals des zum Tode Entsetzten zusammenschnürte, diesen an.
Sie bekam keine Antwort, hatte sie auch gar nicht nötig.
Es war ganz gleichgültig, in welchem Wagen sich diese Hauptperson befand, hier entkam überhaupt keiner.
Der Zug hatte noch nicht richtig gehalten, rutschte noch auf den Schienen, als schon links und rechts und hinten und vorn die Coupétüren aufgerissen wurden, braune und schwarze und gelbe und weiße Weiber drangen ein und warfen sich auf alles, was saß oder lag, sich bewegte oder schnarchte. Schon durch die Last von drei und vier Frauenleibern wurde jeder widerstandsunfähig gemacht, die Weiber brauchten gar nicht über besondere Kräfte zu verfügen. Die meisten waren sogar vor wenigen Jahren noch zarte Hindufrauen gewesen, die einen fremden Mann gar nicht zu berühren, nicht einmal anzusehen gewagt hatten — jetzt machten sie ihre Sache ganz vortrefflich, sie mussten ausgezeichnet eingedrillt worden sein. Besonders auch verstanden sie mit Stricken umzugehen, Knoten zu schürzen. Im Handumdrehen war jeder Mann gebunden.
Nur ein Sergeant, der mit zu den 50 Mann Begleitung gehörte, kam zum Schuss. Die Kugel aus seiner hochgeschlagenen Browningpistole durchlöcherte die Decke des Wagens.
Nur einem Schaffner gelang die Flucht. Er kam nicht weit, das ihm nachsetzende schwarze Weib brauchte ihn nicht einzuholen, er hatte sich schon vorher in der Stockfinsternis an einem Baumstamm den Schädel zerschmettert.
»Alles heraus!!«
»Nur dieses einzige Kommando erklang, sonst war keines mehr nötig.
Es waren gegen 300 Männer, weiße und farbige, und hundert Frauen und Kinder, die herausgeschleppt wurden, wenn sie nicht schnellstens freiwillig ausstiegen. Die Füße hatte man ihnen nicht gefesselt, nur die Hände auf dem Rücken. Wer im Hemd auf dem Bettpolster gelegen hatte, blieb so.
Die Entsetzten sahen, so weit das Fensterlicht der Wagen reichte, alles von phantastischen Frauengestalten wimmeln, und dort im Finstern schien es noch viel mehr zu wimmeln.
Mit Zauberschnelle wurden die Männer in langen Reihen zusammengebunden, sie sahen es nicht, konnten es nur fühlen, dass ihnen lange Stangen auf die Nacken gelegt wurden, so wie man die Sklavenkarawanen treibt, und weiter wurden ihnen schwere Packen auf den Rücken geschnallt.
Keine Frage, wo sich die Gewehre und die Munition befänden, der ganze Zug wurde einfach ausgeräumt, mitgenommen.
»Marsch! Wer flieht oder nicht marschieren will, wird auf der Stelle niedergemacht!«
Und der Zug setzte sich in Bewegung. dessen Größe und Beschaffenheit man erst in vier Stunden im Lichte der aufgehenden Sonne erkennen würde.
Verlassen lag der Eisenbahnzug da, aus den Fenstern noch eigenes Licht strahlend. Auch der Lokomotivführer und seine Gehilfen waren mitgenommen worden, alles, immer schwer bepackt!
Er war gegen hundert Meter vor der Signalstation, einer Blockhütte, zum Stehen gebracht worden. In dieser lagen die drei eingeborenen Beamten gebunden am Boden. Dafür standen in dem Raume einige meist dunkelfarbige Weiber, die, wenn sie überhaupt bekleidet waren, sich sehr hoch geschürzt hatten, und sie alle waren auffallend hohe, schlanke, kräftige Gestalten.
Nur das junge, braune Mädchen, das an dem Telegrafenapparat saß, war eine ganz andere Erscheinung, fein gebaut und hatte auch sehr intelligente Gesichtszüge.
Das war so eine, die von dem englischen Damenverein, der den armen, geknechteten Hindumädchen so gern helfen möchte, ihnen eine selbstständige Stellung unter den Männern geben wollte, sie zu einem Berufe erziehen ließ — »Bildung macht frei, Wissen ist Macht« — zur Telegrafistin ausgebildet worden war.
Ja, jetzt zeigte dieses zarte Hindumädchen, wie Bildung und Wissen Macht ist.
Die fing jetzt hier die Depeschen ab, las sie, ließ sie aber nicht weiter gehen, leitete den unterbrochenen Strom in die Erde und konnte telegrafieren, was sie wollte.
Dass hier etwas passiert war, musste man in dem zehn Kilometer entfernten Hashangabad ja nun schon wissen, denn erstens hätte nun dort schon der Schnellzug eingetroffen sein müssen, seine rechtzeitige Ankunft war telegrafiert worden, und zweitens konnte ja eine Wachtstation immer das Signallicht der nächsten sehen, und hier war ein grünes gezeigt worden.
Dieses grüne Haltesignal wurde nun die ganze Strecke weitergegeben, sowohl bis nach Hashangabad wie bis nach Arradasch.
Ein Unglück konnte also nicht passieren, dass etwa ein anderer Zug auf diesen verlassenen lief.
Was aber war nun dort geschehen? Da wurde von beiden Hauptstationen vergeblich angefragt, man bekam keine Antwort. Das Telegrafenkabel war unterbrochen, so musste man wenigstens annehmen.
Eine halbe Stunde verging. Da tauchten aus der finsteren Nacht zwei feurige Riesenaugen auf, näherten sich schnell, wenn auch nicht so schnell, wie die Lokomotive mit den drei Hilfswagen hätte fahren können. Der auf den Schienen erleuchtet stehende Zug mahnte zur Vorsicht.
Er war noch längst nicht herangekommen, als der Lokomotivführer und alles sonstige Personal, meist aus Schlossern, Ingenieuren und Ärzten bestehend, schon wieder von gewandten und starken Weibern, deren Zahl man nicht schätzen konnte, überwältigt worden war.
Die Hände auf dem Rücken gefesselt, und ein zweiter Gefangenentransport ging nach dem Norden ab, und wieder mussten sie selbst auf dem Rücken alles tragen, was sich in dem Hilfszuge befunden hatte, hauptsächlich Handwerkszeug der verschiedensten Art. Nur die Waffen eigneten sich die Weiber gleich an.
Wieder lag alles in schwarzer, totenstiller Nacht da.
Da ertönten leise Pfiffe, von weither pflanzten sie sich bis zu dieser Blockhütte fort.
Aber Mundara, die gebildete schwarze Dame mit dem Negertypus, die hier alles leitete, hatte nicht nötig, wegen dieser Warnungssignale den Telegrafenraum zu verlassen, diese Art Pfiffe sagten ihr, dass es keine besondere Gefahr war, die sich näherte, und die Vorposten waren bis ins kleinste instruiert.
Es waren zwei Reiter, Privatleute, junge Herren, die aus Neugierde am frühesten in Hashangabad aufgebrochen waren, um an Ort und Stelle zu kommen, wo es doch etwas Interessantes zu sehen geben musste. Es würden schon noch mehr Neugierige kommen, die den Hilfszug nicht benutzen durften, von dem diese beiden ersten hier überholt worden waren.
In vorsichtigem Trab ritten sie in der stockfinsteren Nacht die Schienen entlang, sich immer nur nach den Signallichtern orientierend, ab und zu auch mit einer elektrischen Taschenlaterne, riskierten aus Neugierde Genick und Knochen und ihre Pferde.
Vor ihnen lagen die beiden erleuchteten Züge, zu hören war nichts, dazu waren sie noch zu weit entfernt.
»Verdammte Finsternis!«
»Sst, Jack, waren das nicht Pfiffe?«
»Ich habe nichts ge...«
Da waren die beiden schon vom Pferde gerissen. Und in den nächsten zwei Stunden kamen noch mehr, die von den Pferden gerissen wurden.
Und dann gellende Pfiffe.
Die bedeuteten eine wirkliche Gefahr!
Flucht!
Eine der schlanken, hochgebauten Himalajaweiber hob die kleine, braune Telegrafistin auf die Schultern und setzte in langen Sprüngen ihren schon nach Norden in die Nacht hineinziehenden Kameradinnen nach. Die Pferde mit den sämtlichen anderen Gefangenen waren schon vorher abgeführt werden.
Es war eine Schwadron Dragoner, die von Hashangabad angerückt kam.
Man fand die beiden leeren ausgeplünderten Züge, aber keinen Menschen, der etwas hätte erzählen können.
Doch auf dem Telegrafentisch lag ein weißer Zettel, mit großen Zügen beschrieben:
Wer uns verfolgt, ist des Todes! Wotulala, Begum von Haraniwakabegumschumla.
Da war die Erklärung gegeben. Und manchem erstarrte in den Adern das Blut vor Schreck.
Mehr als 500 Menschen in der Gewalt dieser Weiber, die also nun zu allem entschlossen zu sein schienen.
3000 der modernsten Magazingewehre, eine Million Patronen, zehn Schnellfeuergeschütze, tausend Stück Granaten!
Was nun? Der Führer der Schwadron, ein Leutnant, dachte wohl gleich an eine Verfolgung der räuberischen Weiber, verzichtete aber in seinem Plan von vornherein auf einen Angriff, und er war so klug, nach Hashangabad an seinen Vorgesetzten schnell einen Bericht zu telegrafieren — das konnte jetzt wieder geschehen — nicht aber erst eine Antwort abzuwarten, sondern sich gleich zur Verfolgung aufzumachen, um nicht erst einen direkten Befehl zum Angriff zu erhalten.
Der junge Leutnant war auch so klug, um gleich noch etwas anderes zu erkennen.
Bei der ganzen Plünderung des Schnellzuges war ein großes Rätsel.
Bis auf die Postsäcke, die sie unberührt gelassen, hatten die Haraniwakas alles mitgehen heißen, außer den Waffen und der Munition zum Beispiel auch sehr viel Proviant, ebenfalls für jene Garnison bestimmt.
Wie man aus den Lieferscheinen ersah und sich auch sonst leicht berechnen konnte, wog dies alles zusammen mindestens zweitausend Zentner. Allein die Million Gewehrpatronen wogen ja achthundert Zentner, ohne Verpackung.
Wie hatten denn die dieses Gewicht fortgebracht? Selbst wenn sie jedem Gefangenen, auch den Weibern und Kindern, einen Zentner aufgelegt hatten?
Dieser junge Leutnant war der erste, der gleich ahnte, dass es einige tausend Haraniwakas gewesen waren, die hier gehaust hatten!
Aus der vorsichtig spürenden Verfolgung sollte übrigens nichts werden.
Wohl konnte die Spur in der Steppe mit Leichtigkeit verfolgt werden, alles war ja total niedergestampft, aber in der Sandwüste hörte es bald auf.
Denn mit dem Aufgang der Sonne setzte ein Wind ein, der bald zum heftigen Sturm ausartete, der hatte in der Wüste schnell jeden Fußeindruck verwischt, auch der beste Hund hätte da nichts helfen können.
Außerdem waren unterdessen, wenn man sich die Zeit richtig berechnete, schon drei Stunden vergangen, die räuberischen Weiber mussten ihr Tal schon wieder erreicht haben, was gab es denn da noch zu verfolgen.
Natürlich behielt man nun die Richtung auch bei. Was würde Kapitän Jefferson erzählen, der vier englische Meilen vor der männerfressenden Schlucht lag? Hatte der mit den Weibern ein Rencontre gehabt?
Man erreichte das Lager, das noch große Stärkungen erhalten hatte und schon mit Zelten ausgestattet worden war.
Aber Kapitän Jefferson konnte nichts erzählen, dort hatte man keinen Weiberzug gesehen, dort wusste man überhaupt noch von gar nichts.
Nur die Sonne hätte erzählen können.
Als die sich in der sechsten Morgenstunde über den Horizont erhob, sah sie durch die Wüste einen langen, langen Zug sich bewegen, aus ungefähr dreitausend Weibern bestehend, die meisten von ihnen schwer bepackt, viel schwerer als die dreihundert gefangenen Männer, denen man rücksichtsvoll nur leichtere Sachen aufgebürdet hatte, den Frauen, auch den eingeborenen, gar nichts, während die Kinder von den Haraniwakas sogar getragen wurden, sogar größere, sobald sie über Müdigkeit klagten, denn zur höchsten Eile wurde ständig angetrieben.
Gegen hundert Weiber waren nötig, um die zehn Geschützrohre auf elastischen Stangen zu tragen, und die doppelte Anzahl, die mit den erbeuteten Gewehren wohl schon umzugehen verstand, schwärmte an den Seiten, bildete die Vor- und Nachhut.
Aber die Richtung nach der männerfressenden Schlucht nahm der Zug nicht, er hielt sich vielmehr westlich und drang dann in ein sandiges Wüstental ein.
Wollte er etwa das ganze Gebirge umgehen, mehr als sieben geografische Meilen marschieren, um dann von der anderen Seite aus in das Haraniwaka-Tal einzudringen?
Dort lag natürlich ebenfalls schon längst eine starke englische Truppe als Wache, konnte zwar von hier aus noch weniger hinein als auf der Südseite, ließ aber auch niemand anders passieren. Nein, die räuberischen Weiber benutzen keinen dieser beiden Eingänge.
Natürlich hatten sie sich wieder in ihr Tal zurückbegeben, aber auf welche Weise, das wusste dann niemand, denn der Sturm war ihnen zur Hilfe gekommen, hatte ihre Spuren im Sande verwischt.
Nur die Sonne hatte gesehen. welchen geheimen Schleichweg sie dabei benutzten — und dann noch einige Beobachter hoch oben in den Lüften, für die es auch keine finstere Nacht gab.
»Bravo!«, sagte Atalanta. »Dagegen habe ich nichts einzuwenden, das war ein kühnes Stückchen gewesen, alles ohne Blutvergießen abgelaufen, und dem Kühnen gehört die Welt!«
Eine Woche war vergangen. Eine Haraniwaka hatte in das Hauptquartier des Militärkordons, der sich um das das ganze Tal einschließende Gebirge herumzog, zwei Briefe gebracht, einen von Lord Clever und einen von der Begum Wotulala.
Lord Clever berichtete, dass er wie alle anderen Gefangenen ganz ausgezeichnet verpflegt und behandelt werde. Mehr habe er nicht zu sagen.
Die Begum forderte kurz die Rechnung für die geraubten Sachen und für den sonstigen durch den Bahnüberfall angerichteten Schaden.
Sie bekam keine Antwort. Das ging doch überhaupt nicht so schnell, das konnte doch nicht hier in diesem Hauptquartier einer Patrouillenkette entschieden werden.
Unterdessen brachte fast jeder Zug von Osten und Westen neue Truppenmassen herbei, die nördlich und südlich vor den Schluchteingängen und in den Nebentälern verteilt wurden, eine ununterbrochene Postenkette von mehr als 15 geografischen Meilen Länge bildend, was man eben einen Kordon nennt, der eine Festung oder auch ein ganzes Land einschließt.
Wer die Örtlichkeit oder nur die sonstigen Verhältnisse kannte, fand das alles ja ganz lächerlich. 20 000 Mann waren bisher aufgeboten, aber was hatten denn die bei solch einer ungeheuren Strecke zu bedeuten! Und was wollten die denn überhaupt dort unten in den engen Nebentälern, womöglich gar mit Kanonen. Die konnten ja gar nicht hinaufschießen. Die Haraniwakas hingegen hatten das Schießen gar nicht nötig, die brauchten nur Steine herabzuwälzen, und dort unten wurde alles zermalmt. Und aus den Schluchten brauchten sie ja nicht herauszukommen. Und die größeren Truppenmassen, die vor diesen Schluchten in einer Entfernung von vier englischen Meilen lagen, waren doch ebenfalls ihrem Feuer ausgesetzt, wenn es ihnen gelang, woran gar kein Zweifel war, die zehn Geschütze dort oben hinaufzubringen. Und deren Bedienung würden sie, wenn sie es nötig hatten, schon schnell genug lernen, auch das Treffen, das ist heute bei solchen Kanonen gar keine Kunst mehr.
Vielleicht noch lächerlicher war es, dass man jetzt auch die Eisenbahnlinie durch einen meilenlangen Militärkordon schützte.
Eben die alte Geschichte vom Brunnen, der erst zugedeckt wird, wenn das Kind hineingefallen ist.
Na, schließlich war es ja ganz gleichgültig, ob die englischen und eingeborenen Söldlinge dafür bezahlt wurden, dass sie faul in ihren Garnisonen lagen oder auf dem Exerzierplatz totgehetzt wurden oder ob sie hier einen aufreibenden Wachtdienst unterhielten.
Und überhaupt waren die, welche das alles lächerlich fanden, ganz im Unrecht. Es musste doch getan werden, was nur irgendwie möglich war.
Was sollte denn aber nun aus alledem werden?
Schon viele englische Zeitungen forderten energisch, einfach nachzugeben, Amnestie zu erteilen, die Weiberkolonie als ein selbstständiges Königreich anzuerkennen.
Diese rabiaten Weiber hatten gegen 600 Gefangene drin, davon mehr als die Hälfte Engländer, darunter die angesehensten Persönlichkeiten, was letzteres man ja freilich in der Öffentlichkeit nicht so betonen durfte, in solchen Fällen »soll« es kein Ansehen der Person geben. Mensch ist Mensch.
Wenn diese Weiber nun eine Alternative stellten? Bis zu dem und dem Termin verlangen wir Anerkennung unserer Bedingungen oder wir massakrieren die Gefangenen?
Was wollte man denn dagegen tun? Und so weit durfte man es doch nicht kommen lassen.
Übrigens war die Sache mit diesem selbstständigen Weiberkönigreiche innerhalb des englisch-indischen Kaiserreiches ja gar nicht so schlimm.
Diese Haraniwakas waren doch männerfeindlich gesinnt. Und dass sie auch fernerhin keine Männer mit hereinnahmen, darauf musste man natürlich in dem Kontrakt bestehen. Ebenso, dass sie auch keine anderen Weiber mehr aufnahmen.
Na, und wie lange würde es denn dauern, 40, höchstens 50 Jahre, dann konnten doch dort drin nur noch ein paar alte Großmütterchen leben. Na, und so lange musste man sich eben gedulden.
Die Hauptsache war jetzt, dass man die Gefangenen wieder herausbekam. Dafür konnte man sich auch einmal der Lächerlichkeit preisgeben, solch eine verrückte Weiberkolonie als ein selbstständiges Königreich anzuerkennen.
Die Bedingungen mussten dann »natürlich« hüben wie drüben gehalten werden, man hielt die männerfressenden Engpässe noch immer besetzt, ließ weder Mann noch Weib ins Tal. Dann war in spätestens 50 Jahren das ganze Tal ausgestorben, Oldengland war in allen Ehren aus dieser bösen Affäre hervorgegangen — —
So schrieben die Zeitungen, oder diejenigen, die da sprachen, meist Offiziere und Diplomaten a. D., zerbrachen sich wieder einmal ganz unnötigerweise den Kopf.
Die englische Regierung, die auch in diesem Falle schließlich doch mehr zu sagen hatte als der Vizekönig von Indien und sein Generalstab, braucht keinen von solchen pensionierten Majoren und ähnlichen Geistern, die abgegangen worden sind.
Die englische Regierung hatte ohne fremden Rat schon ganz andere Sachen fertig gebracht.
Und im geheimen Kabinett zu London war man gar tätig! Ununterbrochen spielte das Telegrafenkabel zwischen London und Kalkutta, der Residenz des Vizekönigs, hin und her, eine chiffrierte Depesche jagte die andere.
Und da war eine Depesche dabei, die alles schon entschied.
Die Haraniwakas hätten das Tal nur gleich freiwillig verlassen können, weil in ihrem Tale Diamanten gefunden sein sollten.
Das »Sollte« genügte schon.
br>Aus dem in der Wüste liegenden Hauptquartier ritt eine Kavalkade, aus Europäern und Indern bestehend.
Den meisten sah man nicht an, was für eine hohe militärische oder diplomatische Rangstellung sie einnahmen. Gerade denjenigen nicht, die eine ganz schlichte Interimsuniform oder einen bequemen Reitanzug trugen, was auch für die Inder galt.
Einige Reiter freilich mit gelben bis zu schwarzen Gesichtern fielen durch ihre prächtige, phantastische Kleidung auf, denn den eingeborenen Offizieren, die freilich auch nur eingeborene Soldaten kommandieren können, ist es erlaubt, sich zu kleiden und zu schmücken, wie sie wollen — den Soldaten und Unteroffizieren nicht — und da sieht man manchmal die phantastischsten Kostüme, und der Schuppenpanzer, vergoldet, alles schillernd von Edelsteinen, spielt noch immer eine große Rolle.
Ein blutjunger Inder, ein Knabe noch, war es, der sich ganz besonders durch sein Kostüm auszeichnete. Wir wollen es nicht zu beschreiben versuchen, dieses Gemisch von seltenstem Pelzwerk, Seide, Samt, Gold und Edelsteinen. Doch nicht etwa, dass er so mit Diamanten am ganzen Körper gepanzert war. Aber zum Beispiel wurde die bunte Feder eines Waoblis, des prächtigsten Paradiesvogels, der jetzt auch in den Wildnissen Hinterindiens auszusterben beginnt, weil ihm eben wegen seines Schmuckes so nachgestellt wird, dass seine schönsten Federn kaum noch zu bezahlen sind, an dem Pelzbarett des indischen Zwergdachses, der auch noch kaum zu bezahlen ist, mit einer Agraffe festgehalten, die ein kleines Fürstentum aufwog, und dasselbe galt von dem Griffe und der Scheide des Degens. Mag das genügen. Nur noch, dass das braune Kerlchen ein Pferd zwischen den Schenkeln hatte, für das Napoleons Schwager Murat wohl sein Neapel hingegeben hätte.
Es war der Prinz Mahadschao von Siam, mit noch einer Unmenge anderer unaussprechbarer Namen.
Siam, ziemlich genau 100 000 Quadratkilometer größer als Deutschland, ist ein unabhängiges Königreich.
Ein wirklich reiches Reich! Edelsteine aller Art, darunter auch der Rubin, der den gleichgroßen Diamanten um das Fünf- bis Zehnfache seines Wertes übertrifft — Gold, Silber, Kupfer, Zinn, Eisen, Kohle — alles im Überfluss vorhanden. In den Urwäldern herrscht der Teakbaum mit seinem eisenharten Holze vor, ganz abgesehen von der üppigen Fruchtbarkeit des ganzen Landes.
Wer wird der Selbstständigkeit dieses Königreichs einmal ein Ende machen und alles dies in seine Tasche stecken? Frankreich oder England?
England nimmt gern exotische Königskinder in Pension. Von Siam hat es schon zwei Prinzen erzogen, der eine ist mit einer englischen Prinzessin als Gemahlin in seine Heimat zurückgekehrt, der andere studiert noch heute in Oxford. Aber eine siamesische Prinzessin hat auch einen englischen Fürsten geheiratet. Und es geht doch nichts über Verwandtschaft, zumal wenn beiderseits genügend Geld vorhanden ist, welches doch fester als jedes andere Klebemittel zusammenkittet.
Prinz Mahadschao war nach den Sitten seines Landes und dem Hofgesetz bis zu seinem zwölften Jahre im Harem zwischen Weibern und Eunuchen erzogen worden, hatte gar nichts von der Außenwelt zu sehen bekommen, war aber auch körperlich und geistig sorgfältig ausgebildet worden, schon mehr nach europäischem Muster, er sprach bereits perfekt Englisch und Französisch.
Dann also hatte sich England seiner angenommen. Jetzt sollte er zuerst die Vermischung von indischen und englischen Verhältnissen kennen lernen, war natürlich, um in die militärischen Verhältnisse eingeweiht zu werden, gleich Kapitän geworden, Hauptmann, später ging es zur Einführung in die höhere Diplomatie nach England.
Der Knabe, auf dessen Lippen aber schon ein Flaum sprosste, der überhaupt bei uns für einen achtzehnjährigen Jüngling gegolten hätte, geistig schon noch viel reifer war, hatte den Wunsch geäußert, dieses interessante Weibertal kennen zu lernen, welchem Wunsche natürlich sofort gewillfahrt worden, so weit es möglich war.
Die Reiter stiegen vor der Schlucht von den Pferden. Diener nahmen die Zügel und blieben zurück, die anderen drangen zu Fuß ein.
Ihre Ankunft war schon gemeldet worden, der Bote hatte der Begum Versicherung gebracht, dass diese Gesandtschaft selbstverständlich unverletzlich sei, nicht ebenfalls zurückbehalten würde.
Die Herren hatten die männerverderbliche Ecke erreicht, konnten sie ohne Anruf passieren und standen direkt vor der Begum Wotulala, die keine weiteren Zeremonien zum Empfang brauchte.
Die Weibergarde befand sich in diesem natürlichen Felsenraume immer, nur dass sie jetzt alle mit Gewehren und zum Teil mit Revolvern bewaffnet waren und dass sich ihr auch einige Hindufrauen zugesellt hatten, die eben die Prüfung ihrer Kriegstüchtigkeit schon bestanden.
Auch ein Tisch mit Schreibgerätschaften war schon aufgestellt.
Der Wortführer, der gerade den allereinfachsten Eindruck machte, war kein anderer als Lord Stuart Frederick, der Staatssekretär des indischen Kaiserreiches, der noch einen General als militärischen Beirat hatte.
»Was bringen Sie?«
»Die Anerkennung Ihrer Forderungen.«
»Das geht sehr schnell.«
»Nicht für uns. Wir müssen alles aufbieten, um den Generalinspizienten Seine Herrlichkeit Lord Clever, seine Gemahlin und Kinder und alle anderen, die sich in Ihren Händen befinden, so schnell wie möglich wieder frei zu bekommen. Genügt Ihnen dieser Grund?«
Ja, zumal dieser Negerin genügte er vollkommen, sie erkannte. dass ihr erstes Misstrauen ganz unangebracht gewesen war.
»Wie darf ich Sie titulieren?«
»Nur Begum. Also Sie sind Lord Stuart Frederick, der Staatssekretär?«
»Ich bin es. Gestatten Sie, dass ich Ihnen die anderen Herren vorstelle —«
»Es ist nicht nötig. Sie sind Bevollmächtigter der englischen Regierung?«
»Ja.«
»Können Sie das beweisen? Haben Sie eine Vollmacht?«
Der Staatskanzler präsentierte eine gesiegelte Urkunde. In London konnte diese natürlich nicht ausgestellt worden sein, dann wäre sie noch nicht hier gewesen. Aber vom Vizekönig von Indien, und das englische Parlament hatte telegrafisch seine völlige Genehmigung des Wortlautes gegeben, was vermerkt worden war, durch eine Menge von Unterschriften beglaubigt.
»Genügt Ihnen das?«
Ja, das hätte nicht nur dieser Negerin genügt, sondern auch jedem gewieften Diplomaten. Was hier der Staatssekretär sprach und unterschrieb, das tat er im Namen der englischen Regierung, daran war dann nicht mehr zu rütteln.
Es war aber doch gut, dass es auch dieser Negerin genügte.
»Unter welchen Bedingungen erkennen Sie nun unsere Kolonie als selbstständiges Königreich an?«
»Dass Ihre sämtlichen Gefangenen sofort freigegeben werden.«
»Sonst nichts weiter?«
»Die anderen Bedingungen stellen ja Sie, nicht wir!«
»Vollständige Amnestie?«
»Vollständige Amnestie.«
»Wir können fernerhin auch frei aus und ein verkehren?«
»Ja selbstverständlich. Wir können Ihnen da doch keine Vorschriften machen.«
»Wir können andere Frauen aufnehmen, andere wieder ausstoßen, unter Umständen auch Männer hier hereinnehmen?«
»Aber bitte, wenn England diese Kolonie fernerhin als selbstständiges Königreich anerkennt, so haben wir Ihnen doch auch gar keine Vorschriften zu machen.«
Ja, das begriff die Dahomeerin jetzt auch. Diese Leichtigkeit, mit der sich alles abwickelte, war ihr nur etwas überraschend gekommen.
»Und ebenso selbstverständlich wollen wir doch in Frieden zusammenleben. Hier sind die hauptsächlichsten Paragrafen aufgesetzt, bitte, wollen Sie prüfen, ob Sie noch etwas hinzuzufügen oder zu ändern haben, wenn nicht, so brauchen Sie und wir nur zu unterschreiben und die Sache ist erledigt.«
Die Dahomeerin nahm das Pergament und las. Es waren gar nicht viele Paragrafen, und sie hatte nichts daran auszusetzen.
»Vier englische Meilen im Norden und Süden und die nächsten Nebentäler bilden eine neutrale Zone?«, fragte sie.
»So würden wir vorschlagen. Ist Ihnen das nicht angenehm?«
Die Negerin hatte solch ein Entgegenkommen nur gar nicht erwartet,
»Ja, ich weiß, was eine neutrale Zone ist — gut. Und die Zollgesetze müssen erst noch geregelt werden?«
»Ja, das geht wohl nicht so schnell zu machen.«
»O, wir brauchen absolut nichts einzuführen, wir erzeugen alles selbst.«
»Dann wird es ein sehr glückliches Königreich sein, über das Sie herrschen werden!«, lächelte der alte Herr.
»Und in ewigem Frieden werden wir zusammenleben?«
»Gewiss doch!«, bestätigte der alte Herr, lächelte aber dabei schlauerweise lieber nicht.
»Und die geraubten Waffen und die Munition und die —«
»Bitte sehr, Amnestie!«
»Soll uns das geschenkt —«
»Amnestie, kein Wort mehr darüber!«
»Und da brauche ich nur hier zu unterschreiben?«
»Bitte sehr.«
»Nur meinen Namen?«
»Wotulala, Begum von Haraniwakabegumschumla.«
Die Dahomeerin nahm die Feder und schrieb es sehr gewandt in kräftigen Zügen hin.
Auch die sieben in der Vollmacht genannten Männer unterschrieben.
»Es ist geschehen. Wollen Eure Königliche Majestät uns in huldvoller Erinnerung behalten.«
Die Offiziere salutierten, die anderen nahmen ehrerbietig den Hut ab.
Nur einem jungen Offizier, der aber schon den Rang eines Obersten einnahm, zuckte es dabei verdächtig um den Mund, als wolle er vor Lachen herausplatzen.
Doch der hatte überhaupt immer so ein nervöses Zucken im Gesicht. Hätte er sich sonst nicht beherrschen können, dann wäre er hier nicht mitgenommen worden.
Das schwarze Riesenweib atmete mit ihrem gewaltigen Busen tief auf, während ein glückliches Lächeln ihre plumpen, sonst so grimmigen Züge verklärte.
Sollten nicht auch Negerinnen ihre Ideale haben? Diese hier hatte das ihre erreicht.
»Nun geben Eure Majestät wohl gleich den Befehl, dass die Gefangenen freigelassen werden.«
Nur ein Wink, ein einziges Wort, und eine der bewaffneten Frauen verschwand hinter der zweiten Felsenecke. Hier gab es noch keine Büros, in denen erst viel, viel Tinte fließen muss, ein Aktenstück von einem grünen Tisch auf den andern wandert, ehe — — eine Groschensache erledigt wird, und dementsprechend kurz hatte es eben auch die englische Regierung gemacht, ihr Generalbevollmächtigter.
»Würden Eure Majestät nicht die Gewogenheit haben«, nahm der Staatssekretär dann wieder das Wort, »uns einmal eine Besichtigung Ihres Königreichs zu gestatten?«
»Nein!«, erklang es kurz zurück, und es verging eine Weile, ehe noch ein Grund hinzugesetzt wurde.
»Ich werde mein Reich von aller Welt abschließen. Absolut! Dieser Entschluss wurde in den Beratungen ausgearbeitet und angenommen, als unsere Kolonie höchstens den Namen einer Republik verdiente, als noch jede Haraniwaka ihre Stimme abgeben konnte, unter solchen Bedingungen hat man mich einstimmig zur Begum erwählt, nun muss ich das auch unbedingt einhalten.«
Der Staatssekretär versuchte es doch noch einmal. Er machte eine vorstellende Handbewegung nach dem siamesischen Prinzen, der einer von den wenigen war, die nicht mit unterschrieben hatten.
»Prinz Mahadschao, der vierte Sohn Seiner Majestät des Königs von Siam, Seine Königliche Hoheit bittet inständigst, mit ihm einmal eine Ausnahme zu machen, ihm die Pforten dieses sagenhaften Tales, das solch heldenhafte Bewohnerinnen —«
Aber alle Komplimente und Schmeicheleien nützten nichts.
»Es tut mir leid, ich kann nicht gegen die Verfassungsbestimmungen handeln. Nein, kein Fremder darf unser Reich betreten, jetzt nicht und niemals.«
Da wusste Lord Frederick, dass er nicht weiter zu fragen und zu bitten brauchte.
Na, dann wollte er wenigstens noch so viel wie möglich über diese Verfassungsbestimmungen erfahren.
Eigentlich ist es ja üblich, dass, wenn sich einmal ein Gemeinwesen oder sonst ein noch abhängiges Reich selbstständig etabliert, es seine Verfassungsbedingungen vorher erst den anderen Mächten einreicht, sie sich sanktionieren lässt.
Hier hatte man nach solchen »Verfassungsbestimmungen« gar nicht erst gefragt, das wurde nur einmal so nebenbei berührt, nur aus Neugierde.
»Kein einziger Fremder darf das Tal betreten?«, stellte sich der Lord verwundert.
»Nein.«
»Eure Majestät sprachen aber doch schon davon, dass später auch Männer aufgenommen werden würden.«
»Nein, das tat ich nicht, oder Sie haben mich falsch verstanden. Ich fragte nur, ob dies uns dann gestattet sei.«
»Selbstverständlich, da hat doch überhaupt niemand mehr Ihnen Vorschriften zu machen —«
»Gut, das ist ja nun auch schon erledigt. Nein, wir werden keine Männer aufnehmen, in diesem Tale wird niemals ein Kind das Licht der Welt erblicken.«
»Aber andere Frauen werden Sie aufnehmen, andere Haraniwakas, die sich melden?«
»Ja, und es brauchen keine Haraniwakas zu sein, keine Hinduwitwen. Jede soll uns willkommen sein. Und dennoch bleibt es bestehen, auch kein fremdes Weib wird dieses Tal jemals betreten.«
»Ja, wie wollen Sie diese Widersprüche zusammen verbinden?«
»Einfach, indem wir auch außerhalb unseres Reiches Stationen errichten, in denen diejenigen, welche sich zur Aufnahme melden, erst längere Zeit geprüft werden. Bestehen sie die Prüfung, so kommen sie nicht mehr als Fremde zu uns, es sind schon die unsrigen.«
»Stationen?«, wiederholte der Lord zunächst.
»Nun, Gesellschaften, oder es braucht ja nur eine einzige Person zu sein, die unsere Interessen vertritt.«
»Hier auf dem neutralen Gebiet, vor Ihrem Tale?«
»Nein, wir dachten uns in jeder größeren Stadt solch eine Vertretung, an die sich diejenigen, welche Bürgerinnen unseres Reiches werden wollen, gleich direkt wenden. Oder ist so etwas nicht erlaubt?«
Doch, so etwas, wie die Dahomeerin da andeutete, ist erlaubt, gerade in England und seinen Kolonien. Das britische Reich duldet in seinen Ländern auch die Propaganda der Mormonen, ja sogar die öffentlichen Versammlungen von Anarchisten. Die Anarchisten haben in London ihre eigenen Klubs, niemand stört sie. Aber das hat weniger zu tun mit der Anerkennung der menschlichen Freiheit, sondern das ist sehr, sehr klug! Auf diese Weise kann man das Treiben der Anarchisten immer beobachten. Aus demselben Grunde werden ja in Deutschland zum Beispiel auch alle die Verbrecherspelunken geduldet.
»Gewiss, das ist erlaubt, nur darf diese Propaganda nicht geheim betrieben werden.«
»O nein, solche Stationen werden öffentlich bekannt gegeben, sonst können diejenigen, die sich melden, sie ja nicht finden.«
»Sie haben solche Stationen wohl bereits eingerichtet und in Betrieb?«, fragte der Lord.
Auf dem dunklen Gesicht wollte ein schlaues Lächeln entstehen, wurde aber rasch unterdrückt — freilich zu spät für den noch immer sehr scharfsichtigen alten Herrn, und dass sie gar keine Antwort gab, hatte doch auch viel zu sagen.
»Woher war Ihnen denn bekannt, dass jener Zug so viele Waffen und Munition mit sich führte?«, versuchte es der Staatssekretär auf andere Weise.
»Ich denke, hierüber haben wir Amnestie? Über so etwas darf gar nicht mehr gesprochen werden?«, lautete die Gegenfrage.
Ja, der Lord hatte sich selbst den Mund versiegelt.
»Also Sie werden keine Haraniwaka mehr aufnehmen?«
»Nein.«
»Wenn nun einmal eine Hilfeflehende kommt —«
»Unter keinen Umständen. Wir lassen uns durch nichts erweichen. Sie muss erst außerhalb unseres Tales eine Prüfungszeit durchmachen.«
»Wie lange?«
»Das kommt ganz darauf an.«
»Worin besteht die Prüfung?«
»Ob man ihr trauen darf!«, lautete der kurze Bescheid, und die Begum wandte dem Frager den Rücken.
Das war aber keine Unhöflichkeit, sondern die abgesandte Kriegerin war zurückgekommen. Dass ihr die entlassenen Gefangenen nicht dicht auf dem Fuße folgten, war begreiflich, Dafür brachte sie ein Bastkörbchen mit, das bis zum Rande mit den schönsten Diamanten gefüllt war, die nur noch wenig Schliff bedurften, um Brillanten genannt werden zu können.
Die Dahomeerin nahm das Körbchen, griff hinein und teilte mit vollen Händen unter den Herren aus, als wären es Kieselsteine.
»Bitte, nehmen Sie das von mir zum Andenken an diese Stunde.«
Natürlich allgemein grenzenloses Staunen, und der Unglaube dabei war gar nicht so sehr erkünstelt, solch eine Freigebigkeit musste ja auch überwältigend wirken.
»Wie, Diamanten?!«, rief auch Lord Frederick in grenzenlosem Staunen. »Von solcher Größe und selbst ungeschliffen von solchem Feuer?! Wo haben Sie denn die her? Die finden Sie doch nicht etwa in Ihrem Tale?«
Die immer etwas blutunterlaufenen Augen fixierten ihn scharf mit drohendem Ausdruck.
»Das ist Ihnen doch sehr wohl bekannt, dass in unserem Tale Diamanten gefunden worden sind.«
»Woher soll mir das bekannt sein?«
»Es hat doch schon in allen Zeitungen gestanden!«, erklang es noch drohender.
Der alte Diplomat hatte sich keine Blöße gegeben, hatte vielmehr sehr schlau ein unbewusstes Geständnis herausgelockt, nämlich, dass die Haraniwakas schon immer mit der Außenwelt in Verbindung gestanden hatten.
»Gewiss, das weiß ich. Aber das sind doch nur Vermutungen, in denen sich die Zeitungen ergehen, da ist doch gar nichts darauf zu geben. So hat man wirklich in diesem Tale Diamanten gefunden?«
Wotulala bejahte einfach, Die Unterhaltung wurde dadurch abgebrochen, dass die Gefangenen kamen, an der Spitze Lord Clever. Eine Begrüßung, die einen Aufenthalt verursacht hätte, war gar nicht möglich, sonst wäre doch der lange, lange Zug in der engen Schlucht ins Stocken geraten, und alles drängte, um nur erst einmal ins Freie zu gelangen, um Gewissheit zu haben, seine Angehörigen wiedersehen zu können.
So kam es auch während des anderthalbstündigen Marsches durch die Wüste bis nach dem Hauptquartier der Vorpostenkette zu keiner richtigen Aussprache, weil jeder seine Erlebnisse erzählen wollte, obgleich im Grunde genommen niemand etwas Besonderes erzählen konnte. Denn keiner der Gefangenen hatte das Haus oder die Höhle, in denen sie bewacht wurden, verlassen dürfen, hatte nicht einmal die kriegerischen Manöver der Hindufrauen beobachten können.
Und die Führer auf englischer Seite hoben die Besprechung verabredeter Weise überhaupt für später auf.
Nur Lord Frederick richtete an den indischen Prinzen bei Gelegenheit, als es unauffällig geschehen konnte, einmal ein Wort von besonderer Bedeutung. Die beiden gingen jetzt zu Fuß. Wie alle anderen Herren, die beritten gekommen, hatten auch sie ihre Pferde englischen Damen abgetreten. Wenn die nicht quer auf dem Sattel sitzen wollten, so hatten sie einfach ihr Oberkleid hinten und vorn aufgeschlitzt. Außerhalb Europas reiten ja überhaupt alle Frauen nach Männerart, mit Ausnahme, wenn sie bei der Stadtparade eben einmal europäische Mode mitmachen, ihr neuestes Pariser Reitkleid zeigen wollen.
»Ja, Königliche Hoheit, Ihr Plan, das Tal erst einmal als Besuch auszukundschaften, wäre schon missglückt.«
»Never mind«, entgegnete der prinzliche Knabe mit wegwerfender Handbewegung, »hiermit habe ich doch selbstverständlich von vornherein gerechnet.«
»Aber wenn die Haraniwakas keine einzige Person —«
»Bitte, Mylord, das lassen Sie nur meine Sorge sein. Ich werde mich schon hineinzuschleichen — still, Lord Clever kommt!«
Das große Generalszelt im Hauptquartier war mit Wachtposten umgeben, die aber auch noch weitab standen.
In dem Zelte befanden sich alle die Herren, welche vorhin dem Vertrage beigewohnt hatten, ob sie ihn nun mitunterzeichnet oder nicht. Sonst war nur noch der General-Kriegsinspizient von Indien, Lord Clever, hinzugekommen.
Dass alle diese Herren den höchsten Rang einnahmen, wenigstens hier in Indien, wurde schon erwähnt, das war ja auch ganz selbstverständlich, bei solch einer Mission, durch einen Federzug im Namen der englischen Regierung ein selbstständiges Königreich anzuerkennen.
Sonst sei von ihnen nur noch ein Mann hervorgehoben, obgleich er sich gar nicht besonders durch sein Äußeres auszeichnete, Eiserne Gesichtszüge hatten die meisten dieser Herren, dabei verwettert und durchfurcht — Kolonialdienst reibt auf! — und die schlanke Gestalt verriet auch nichts von der sehnigen Kraft.
Viscount Herty von Adalare, Lord High Stewart von Britisch-Indien.
Den Titel »Lord High Stewart« führte in England unter der Schreckensherrschaft von Heinrich II. der Polizeigewaltige, dem eben die Polizei des ganzen Landes unterstellt war. Dieser Titel ist in Großbritannien längst eingegangen, aber in Indien hat man ihn wieder aufleben lassen. Jetzt führte ihn Viscount Herty von Adalare. »Viscount« ist eine Zwischenstufe zwischen Baron und Graf.
Er hatte ein bewegtes Leben hinter sich. War einst ein verlorener Sohn gewesen. Der alte Viscount, ein reicher Mann, hatte ihn nach den indischen Kolonien geschickt, er sollte arbeiten lernen. Hier hatte sich der junge Herty aber nur in den Spelunken herumgetrieben. Dann war er nach Amerika gegangen, war bis zum Cowboy, zum Ochsenjungen herabgesunken, ja, man munkelte sogar, dass der englische Graf in den Felsengebirgen der Anführer einer gefürchteten Räuberbande gewesen sei.
Nun, die Hauptsache war, dass er sich dabei nicht hatte erwischen lassen. Als er nach dem Tode seines Vaters wieder aufgetaucht war, hatte man ihm seinen Pflichtteil nicht vorenthalten können.
Mit dem noch immer beträchtlichen Vermögen nun schleunigst nach Indien zurück, wo es so herrliche Spelunken gibt, mit weißen, gelben, braunen, roten und schwarzen Dirnen so schnell wie möglich alles verprasst.
Da machten wieder einmal die Thugs von sich reden. Die Mitglieder jener geheimen Sekte, welche die Göttin Kali verehren, welche morden, nur um zu morden, weil diese Göttin eben alles Lebendige hasst. Nur immer weg mit diesen zwecklosen Schöpfungen eines verrückten Gottes, weg damit, ob Mücke oder Mensch! Doch kein Blut darf dabei fließen. Nur mit der der Göttin geheiligten seidenen Schlinge darf erdrosselt werden. Daher auch Pharsingaris genannt, Schlingenwürger. Und dem Opfer muss das Grab schon vorher bereitet werden. Gelingt es nicht, den zum Opfer erspähten Menschen innerhalb einer gewissen Frist hineinzubringen, so muss sich der Thug selbst hineinlegen und erdrosseln und lässt sich von einem andern begraben.
Dem Grafen Adalare gelang es, eine ganze Bande solcher Schlingenwürger abzufangen. Da trat er in den Polizeidienst, als Leutnant. Und einige Jahre später war er der Lord High Stewart von Britisch-Indien, der Polizeigewaltige, der an Macht gleich hinter dem Vizekönig kam, aber durch diesen Titel war er noch nicht Lord geworden. Er war noch immer Viscount, würde es wohl auch immer bleiben, noch nicht einmal regelrechter Graf. Er hatte in England viele Gegner; besonders in den dem Hofe nahestehenden Kreisen, die sich durch »Moral und Frömmigkeit« auszeichnen, durfte nicht einmal sein Name ausgesprochen werden. Der Tigergraf von Indien, der Bluthund von Adalare! Es war allgemein bekannt, dass er bei jeder Gelegenheit, um ein Geständnis zu erpressen, regelrecht folterte. Er hatte deshalb schon wiederholt unter Anklage gestanden. Aber es war ihm nie etwas zu beweisen gewesen, dazu war der viel zu schlau.
Und die Hauptsache war: Man konnte ihn nicht entbehren, war äußerst zufrieden mit ihm. Noch nie hatte in Indien eine solche politische Ruhe und eine solche öffentliche Sicherheit geherrscht wie unter dem Regiment von diesem Polizeigewaltigen. In Indien, in dem es noch ganz andere geheime Mörder- und sonstige Verbrechersekten gibt als die der Thugs, so geheim, dass man noch gar nichts von ihnen weiß, nur etwas ahnt. So zum Beispiel die Sekte der schrecklichen Rhabsados, welche — doch wir wollen nicht vorgreifen.
Aber Graf Adalare hatte nicht umsonst alle Spelunken Indiens studiert, hatte sich nicht umsonst in Amerika an den Indianergrenzen herumgeschlagen, war jedenfalls nicht umsonst auch selbst Anführer von Wegelagerern und Strauchdieben gewesen. Das kam ihm jetzt zugute. Der war in allen Sätteln gerecht. Und er sollte auch ein Mittel haben, um selbst den Pharsingar, der schon seine Zunge verschluckt hatte, noch zum Sprechen zu bringen, und selbst dem asketischen Todeskandidaten, der sich schon in einen Ameisenhaufen gesetzt hatte, um sich bei lebendigem Leibe die Eingeweide ausfressen zu lassen, noch ein Geständnis zu erpressen.
Wie gesagt, man war mit diesem Lord High Stewart von Indien, dem Bluthund von Adalare, äußerst zufrieden.
Die Herren waren eben erst zurückgekommen und nahmen eine Erfrischung ein, aber ohne sich auch nur von einer Ordonnanz, deren Verschwiegenheit man hätte trauen dürfen, bedienen zu lassen.
Der Staatssekretär hatte schon längere Zeit gesprochen.
»Natürlich, meine Herren«, fuhr er jetzt fort, »ist an diesem Vertrage nun nichts mehr zu ändern. Diese Frauenkolonie ist als ein selbstständiges Königreich anerkannt worden, und noch nie hat England einen Kontrakt zu brechen auch nur versucht.
Aber etwas anderes ist dabei zu bedenken.
In dem Haraniwaka-Tale sind Diamanten gefunden worden.
Das kann uns ja ganz kalt lassen.
England hat noch nie versucht, auch nur wegen des kleinsten Kieselsteines das Völkerrecht zu verle... ehem, ich habe ein falsches Bild gebraucht — auch nicht wegen des größten Diamantberges, wollte ich natürlich sagen.
Aber von einer anderen Seite droht dem jungen Frauenkönigreich wegen dieser Diamanten die furchtbarste Gefahr.
Graf Adalare, nun sprechen Sie.«
Der Polizeigewaltige hatte eben einen Schluck aus seinem Rotweinglase genommen, von dem graumelierten Schnurrbart, der aber nicht echt zu sein brauchte, tröpfelte es noch wie Blut.
Der machte es kurz.
»Eine geheime Verbrecherbande, die sich über ganz Indien erstreckt, hat von dem Diamantenfund gehört und will sich des Haraniwaka-Tales bemächtigen.«
Er schloss den Mund, wischte sich den Rotwein vom Bart und schien das für genügend zu finden.
»Was ist das für eine geheime Bande?«, wurde gefragt.
»Hat sich erst neu gebildet.«
»Eine religiöse Sekte?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Allgemeiner Raub in Kompanie.«
»Auf welche Weise wollen sie sich denn des Tales bemächtigen?«
»Weiß nicht. Sie kennen wohl Schleichwege über das Gebirge.«
»Schleichwege über diese unersteiglichen Felswände?!«, erklang es erregt.
»Oder darunter hinweg. Die Haraniwakas, die den Eisenbahnzug überfallen haben, müssen doch auch so etwas benutzt haben.«
»Ja, wenn die solche Schleichwege benutzen können, dann könnten doch auch wir —«
»Meine Herren, was gehen uns denn solche Schleichwege an, die in dieses unantastbare Königreich, mit dem wir in ewigem Frieden leben, führen!«, brachte der Staatssekretär die Aufgeregten, meist alte Offiziere, schnell wieder zur Besinnung. »Graf Adalare, fahren Sie fort. Nicht wahr, die Haraniwakas sind rettungslos verloren?«
»Yes. Die Bande hat eigentlich auch gar keine Schleichwege nötig. Höchstens, um gleich in der Nähe zu sein, wenn das ganze Tal ausgestorben ist, um es dann schnell zu besetzen.«
»Was, das ganze Tal ausgestorben?!«, erklang es wiederum.
»Yes.«
»Wie denn ausgestorben?«
»Sie wollen die Haraniwakas, die neu hineinkommen, mit — bitte, Lord Talston, reichen Sie doch mal die Brandyflasche her — danke, Zucker brauche ich nicht — mit Pestbazillen infizieren.«
Das allgemeine Entsetzen ob dieser Mitteilung war nicht erkünstelt, so viel auch sonst hier geschauspielert wurde. Die Pest — entsetzliches Wort!
»Und«, fuhr der Polizeigeneral fort, »die rechnen auch schon damit, dass keine neuen Haraniwakas aufgenommen werden. Dann werfen die, welche den Schleichweg kommen, einfach mit Pestbazillen infizierte Lumpen in das Tal hinein. In spätestens acht Tagen lebt dort drin keine Ratte mehr, that is a fact.«
Eine kleine Pause der seelischen Erschütterung entstand.
»Dann werden die Mörder aber doch selbst von der Pest angesteckt!«, meinte dann sehr richtig ein General.
»No, Sir.«
»Wieso nicht?«
»Haben ein Mittel dagegen, um sich selbst zu schützen.«
»Ein Mittel gegen die Pest?! Das wäre ja vortrefflich, dann würden ja diese Verbrecher zum Segen der Menschheit, wenn die so etwas erfunden hätten!«
»No, Sir. Es ist ein besonderer, ganz neuer Pestbazillus, den sie erst neu gezüchtet haben. Er stirbt nach einiger Zeit von selbst wieder ab, nachdem er erst ganz intensiv gewirkt hat.«
»Woher wissen Sie dies alles?«
»Nun, ich habe es eben ausgekundschaftet.«
»So machen Sie doch gleich die ganze Bande unschädlich.«
»Kann ich nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Weil ich sie erst alle zusammen haben muss.«
»Das wäre doch schließlich nicht nötig.«
»Nicht?«
»Sie zwingen die, die Sie schon haben, dazu, die Namen aller anderen zu nennen.«
»Zwingen, wie?«
»Nun, Sie haben doch ein Mittel, um jeden Menschen zum Sprechen zu bringen.«
»Was denn für ein Mittel?«
Ganz ruhig hatte es der Polizeigeneral gesagt, aber es war von einem so eigentümlichen Blicke begleitet gewesen, dass niemand deswegen weiter fragte.
»Und außerdem, was nützen mir denn die Namen? Die sämtlichen Mitglieder der Bande muss ich abfangen. Und die wissen noch nicht einmal, wer ihr Anführer ist, der eben dieses höllische Mittel erfunden hat. Nur das ist gewiss, dass sie beschlossen haben, auf diese Weise das ganze Haraniwaka-Tal aussterben zu lassen, wegen der Diamantenfelder.«
»Und wir«, setzte der Staatssekretär hinzu, »können dann nach wie vor nicht hinein, diese Verbrecher wohl aber wieder heraus. Meine Herren, was haben wir zu tun?«
»Selbstverständlich müssen die Haraniwakas gewarnt werden!«, erklang es sofort im Chor.
»Meinen Sie, die werden unserer Warnung Glauben schenken?«
»Nein, das werden sie natürlich nicht.«
»Außerdem hätte diese Warnung ja auch gar keinen Zweck. Diese Verbrecher kämen dennoch zum Ziele.«
»Ja, was ist dann zu tun?«
»Wir müssen diese dem Tode rettungslos verfallenen Frauen bewegen, ihr Tal zu verlassen.«
»Die lassen sich nicht bewegen.«
»Dann müssen wir sie durch List oder Gewalt dazu bringen. Es ist unsere heiligste Pflicht.«
Wer von den Herren vielleicht etwas schwer von Begriff war, dem musste jetzt endlich ein Licht aufgehen, wo das alles hinauslief.
»Ja, das ist unsere heiligste Pflicht!«, erklang es enthusiastisch im Chor, wenn auch mit gedämpften Stimmen.
»Weiß einer der Herren einen Rat, wie die unglücklichen Frauen zu bewegen sind, dass sie das Tal ganz freiwillig verlassen, ehe sie von der Pest hinweggerafft werden?«
Niemand meldete sich.
»Dann, meine Herren, wird Seine Königliche Hoheit Prinz Mahadschao das Wort nehmen. Der Prinz wurde schon vorher von Graf Adalare in das Vorhaben jener Verbrecherbande eingeweiht, sein edles Herz empörte sich natürlich dagegen, er strengte seinen Geist an, der schon so oft Beweise des größten Scharfsinns gegeben hat — sofort hatte er den Plan entworfen, der, so Gott will, sicher zum Ziele führen wird. Der edle Prinz setzt sein eigenes Leben daran, um die armen Weiber, die doch gewissermaßen seine eigenen Schwestern sind, vor einem entsetzlichen Schicksale zu bewahren. Bitte, Königliche Hoheit.«
Der knabenhafte Prinz erhob sich und entwarf seinen Plan, wie man die armen Haraniwakas dazu »bewegen« könne, dass sie »ganz freiwillig« ihr paradiesisches Tal verließen.
Die Nacht war angebrochen.
Der Lord High Stewart befand sich allein mit dem indischen Prinzen in seinem Zelte, das noch viel besser abgeschlossen war als jenes.
Prinz Mahadschao hatte unterdessen das prächtige Phantasiekostüm mit seiner englischen Kapitänsuniform gewechselt.
»Wohlan, es ist Zeit, Du kannst Dich vorbereiten!«, sagte Graf Adalare auf Hindustanisch, das kein »Sie« kennt.
Das braune, schöne, edle Gesicht des Prinzen nahm einen traurigen Ausdruck an, wie er erst mit großen Augen starr den Sprecher anblickte, der ihm jetzt gar nicht die Ehrerbietung bewies, mit der man sonst von allen Seiten diesen Fürstensohn behandelte.
»Und wenn es gelingt?«
»Dann bist Du frei.«
»Du entsetzlicher Mann gibst mich wirklich frei?«
»Ganz gewiss. Auf mein Ehrenwort.«
»Das hast Du mir schon oft so zugeschworen, und noch immer bin ich in Deiner schrecklichen Macht.«
»Weil Du noch niemals die Aufgabe voll und ganz löstest, die ich Dir stellte.«
»Weil Du selbst es immer zu vereiteln wusstest, dass mir alles bis zum Schluss gelang. Dreiviertel überließest Du mir, dann wusstest Du mich immer zu entfernen.«
»Schwatze nicht töricht, Kind! Was meinst Du wohl, was diesmal auf dem Spiele steht? Führst Du alles gut aus, so gebe ich Dich frei. Auf mein Ehrenwort!«
»Und tötest mich dann!«
»Nonsense!«, lachte jener leise. »Wie kommst Du auf solche Gedanken?«
»So hast Du manchen verschwinden lassen, der eine Forderung an Dich zu stellen hatte.«
»Dazu bist Du mir zu kostbar, mit Dir will ich mich gerade noch enger verbinden. Du kennst doch meinen Plan, wie oft habe ich Dir davon erzählt.«
In den dunklen Augen leuchtete es hoffnungsvoll auf.
»Und dann verrätst Du mir auch das Mittel, wie man jeden Menschen zum Sprechen bringen kann?«
»Sicher. Das haben wir doch alles schon ausgemacht. Sobald ich Dich freigebe, erfährst Du auch dieses Geheimnis, nach dem Du so brennst.«
»Und auch, wie man es anwendet?«
»Selbstverständlich, sonst würde es Dir ja gar nichts nützen. Nun ziehe Dich um.«
Zunächst nahm der Prinz aus einem Koffer ein Fläschchen, benetzte die Fingerspitze und so den seidenweichen Flaum auf der Oberfläche. Da ging das Bärtchen ab. Doch nicht etwa, dass es Rhusma oder eine ähnliche ätzende Flüssigkeit war, welche die Orientalen vielfach anstatt des Rasiermessers anwenden, der wirkende Bestandteil ist immer Kalkwasser, welches Horn, also auch Haare, stark angreift, es in eine Gallerte verwandelt.
Nein, es war ein angeklebtes Bärtchen gewesen, die Härchen saßen auf einem Häutchen. Aber auch das schärfste Auge hätte nichts davon bemerkt. Und mit gewöhnlichem Wasser konnte es wohl auch nicht abgelöst worden sein, sonst wäre es nicht in einer so kostbaren Phiole aufbewahrt worden.
Und was tat der siamesische Prinz mit dem abgelösten Bärtchen? Er nahm es in den Muud und verschluckte es!
»Wozu?«, fragte denn auch der Polizeigeneral, was freilich sehr seltsam klang.
»Falls ich es brauche.«
»Du brauchst den Bart nicht.«
»Eine alte Angewohnheit, dass ich alles verschlucke.«
»So etwas gewöhne Dir lieber ab. Du brauchst den Bart nicht.«
Gehorsam griff der Prinz in den Mund, eine eigentümliche Schlangenbewegung des ganzen Körpers und er nahm das verschluckte Bärtchen wieder heraus und barg es in dem Koffer.
Dann begann er sich zu entkleiden, zuerst den Oberkörper.
Was hätte nun ein anderer Beobachter zu dem gesagt, was er hier zu sehen bekam!
Es war ein kräftig gebauter Jüngling, wenn auch mit feinen, wie gedrechselten Gliedern, die Haut wie brauner Samt glänzend.
Es war ein Jüngling. Er drehte sich um, hing das Oberhemd an eine Stellage. Wie er sich wieder umwandte, war aus dem Jüngling ein vollbusiges junges Weib geworden.
Wenn der junge Mensch aber das konnte, so konnte er diese Umwandlung vielleicht noch weiter treiben. Ein Hermaphrodit. Wer nicht weiß, was das ist, der erkundige sich an der richtigen Quelle, aber an der richtigen. In Nachschlagebüchern wird es gewöhnlich mit »Zwitter« übersetzt, aber das ist noch lange kein Hermaphrodit. Im Orient, wenn man in die richtigen Kreise kommt, kann man menschliche Verwandlungsszenen sehen, deren Beschreibung unglaublich klingen würde. In der Skulpturensammlung des römischen Vatikans, die dem Publikum manchmal offen steht, sieht man uralte Statuen, mit denen man nichts anzufangen weiß, bis der Führer erklärt, und hat man den richtigen, so wird man auch etwas von dem sagenhaften Lemuren zu hören bekommen.
Dann massierte das nunmehrige junge Weib mit den Fingern das Gesicht, und auch dieses veränderte sich, es wurden ganz andere Züge daraus, sogar die Nase wurde kleiner und weniger gebogen.
Wir wollen es gleich sagen: Es war gar nicht Prinz Mahadschao von Siam. Wohl hatte der bis gestern hier in diesem Hauptquartier gelegen, hatte es aber interessanter gefunden, einen Abstecher nach Bombay zu machen, um in arabischer Verkleidung, die auch das Gesicht verhüllt, und unter bewährter Führung, ihm vom Polizeigeneral zur Verfügung gestellt, dort die Spelunken kennen zu lernen.
Aber diese Maskierung genügte noch nicht. Über alle »Bewegungen« solch eines Königskindes muss doch immer berichtet werden, gerade bei solch einem exotischen Prinzen, den England in Pension genommen hat. Wenn der dreimal hintereinander niest, so weiß es am nächsten Tage die ganze Welt — wenn sie in den Zeitungen nachlesen will — dass er Schnupfen hat. »Lebensgefahr scheint nicht zu bestehen.« Aber die Zeitungen können doch nicht berichten, dass der Königssohn in den Spelunken von Bombay herumkraucht! Und er kann doch nicht plötzlich verschwinden, er muss doch irgendwo geblieben sein. Und liegt er im Bett, dann muss er doch krank sein —
Na, der Polizeigewaltige von Indien hatte einstweilen einfach einen Ersatzmann gestellt. Eigentlich war's ein Weib, aber das machte ja nichts. Und während sich Prinz Mahadschao in Bombay amüsierte, erwarb er sich hier vor und in dem Haraniwaka-Tale auch noch unsterblichen Heldenruhm. indem er mit Risiko seines eigenen Königlichen Lebens sich in das Tal wagte, um seine braunen Mitschwestern vor dem sicheren Tode zu retten, dann später kam für England auch noch die Diamantenfrage hinzu, aber die durfte jetzt noch gar nicht berührt werden.
Ebenso blieb es der Zukunft überlassen, wie das arrangiert wurde, wenn es herauskam, dass es nicht der Prinz Mahadschao von Siam, sondern ein unbekanntes Weib gewesen war, das dies alles fertig gebracht hatte. Übrigens war dies dabei ziemlich Nebensache. Dann konnte es noch immer der Prinz gewesen sein, der dieses Weib vorgeschickt hatte, und das gab den Ausschlag.
Schon manche Schlacht ist durch die Kühnheit und Energie eines Feldwebels entschieden worden, aber immer ist es der General oder sonstige Schlachtenlenker, der dem Siege den Namen gibt.
Dieses junge Weib war eines der zahllosen Räder und Rädchen, die in der mächtigen Polizeimaschine des Generalgewaltigen von Indien schnurrten. Eine Gauklerin, die er selbst erzogen, ausgebildet, dressiert hatte, ein Wunder von einem polizeitechnischen Instrument. Sie selbst war dem Publikum und jedenfalls auch der Verbrecherwelt ganz unbekannt, eben nur ein Instrument in seiner Hand, ein Handwerkszeug. Ihm selbst eine willenlose Sklavin, die der »entsetzliche Mensch«, wie sie ihn genannt hatte, mit Leib und Seele in Ketten zu schlagen verstanden hatte, die immer auf ihre Freiheit hoffte und sie niemals bekam.
Sie entkleidete sich weiter, vorläufig nur den Unterkörper nach indischer Frauenweise wiederholt in ein dünnes Gewebe wickelnd, dass daraus also ein enganschließender Rock wird. Wenn die Inderin bei dieser Toilette eine Tür zur Verfügung hat, so klemmt sie das lange Tuch mit dem einen Ende dabei zwischen diese Tür, spannt das Tuch durch das ganze Zimmer und dreht sich immer im Kreise nach der Tür, bis sie sich eben ganz eingewickelt hat.
Diese Gauklerin hier hatte dazu keine Tür nötig, die verstand es, sich auf andere Art einzuwickeln.
»Komm, Punscha, ich will Dich gleich präparieren.«
Also sie führte nur eine Nummer. »Punsch« heißt im Hindustanischen »fünf«. Wasser, Tee, Rum, Zucker und Zitrone — das ist fünferlei, was zusammen den Punsch gibt. Im nördlicheren Dialekt wird daraus Pandsch — Fünfland, nämlich von fünf Strömen durchflossen. Die Fünf benutzte die Pause, um sich schnell eine Zigarette zu drehen.
Unterdessen zog Graf Adalare sein großes, ungemein dickes Taschenmesser hervor, ein ganzes Arsenal von Klingen und Instrumenten enthaltend, schob eine Art von Sporenrädchen heraus, fuhr mit diesem langsam und nachdrücklich einige Male über den braunglänzenden Rücken, und sofort floss das Blut. Aber diese einfachen langen Striche genügten noch nicht, der Graf malte mit dem schneidenden Rädchen auf dem Rücken weiter, hier und da auch kürzere Striche anbringend, und immer stärker floss das Blut.
Inzwischen also drehte sich das junge Weib in aller Seelenruhe eine Zigarette, brannte sie an und rauchte mit Genuss durch die Lunge.
br>»So, das kann kein Mensch von echten Peitschenhieben unterscheiden, und auch nicht die geringste Narbe wird hinterbleiben, oder ich hätte meine sichere Hand verloren.«
Auch der Oberkörper wurde von einem dünnen Gewebe eingehüllt, das natürlich sofort anklebte.
Hierauf nahm die Gauklerin aus dem Koffer einen länglichen, runden Gegenstand, so lang wie ein Finger, aber noch bedeutend dicker. Es war, wollen wir gleich verraten, eine Zinntube, die man hinten drücken muss, wenn vorn etwas herauskommen soll.
Diese ansehnliche Zinntube nahm sie in den Mund und verschluckte sie, wie ein Italiener eine Makkaroni-Nudel, ein Gourmand eine Spargelstange verschluckt.
»Bist Du bewaffnet?«
»Mit meinem Dolch.«
»Nimm zur Vorsicht auch noch eine Schusswaffe mit.«
Gut, konnte geschehen, der Zinntube folgte noch eine Browning-Pistole nach, zwar nicht allzu groß, aber doch nicht recht zum Verschlucken geeignet.
Nun, der menschliche Magen ist eben nicht nur dazu da, um Nahrung aufzunehmen und zu verdauen. Manche Menschen betrachten Speiseröhre und Magen als eine geeignete Scheide für ein Schwert. Es ist noch gar nicht so lange her, als sich in Deutschland ein Mann produzierte, der in seinen Magen an einer langen Kette eine normale Taschenuhr hinabließ; wenn er es erlaubte, dass man das Ohr an seinen Bauch legte, so hörte man ihr Ticken, dann ließ er eine Spieluhr nachfolgen, und in seinem Bauche erklang die »Wacht am Rhein«.
Aber was will das sagen gegen das, was indische und chinesische Gaukler alles verschlucken. Ein Pfund schmiedeeiserne Nägel, als Nachtisch ein Dutzend eiergroße Kieselsteine daraufgesetzt, das ist ihnen eine Kleinigkeit. Und die brauchen auch keine Ankerkette, um das Zeug wieder herauszuleiern, die bringen zum Vorschein, was man wünscht, auf Kommando, jetzt einen Stein, dann drei Nägel, dann vier Steine, dann ein Dutzend Nägel — ganz wie man befiehlt.
»Bist Du fertig?«
»Ich bin bereit.«
»Dann mache Deine Sache gut. Deine Instruktionen hast Du. Und gelingt es Dir, so bist Du fernerhin Deine eigene Herrin.«
»Halt, wer da?!«
»Ich will zur Begum, die Begum will ich sprechen!«, erklang es leidenschaftlich aus der schwarzen Finsternis zurück.
»Wer bist Du?«
»Eine freie Hindu, die man wie eine Sklavin gepeitscht hat! Rächen will ich mich!«
Erst jetzt fiel ein Blendstrahl aus einer ganz modernen Taschenlaterne auf die Einlass Begehrende. Die Augen der Wächterin hatten wohl genügt, um die Gestalt zu unterscheiden, auch in einem dunklen Gewand hätte sie sich nicht heranschleichen könne, und wäre sie auch wie eine Schlange geglitten, aber um etwas Näheres in dieser Finsternis zu unterscheiden, dazu reichten diese scharfen Augen doch nicht aus.
Der Blendstrahl fiel auf eine weibliche Gestalt.
Dass es ein Weib sein musste, das war aber auch so ziemlich das Einzige, was man selbst im hellsten Lichte erkennen konnte, sonst alles eine Kruste von feinem Flugsand, und dass dort, wo sich das Gesicht befand, zwei Augen wie feurige Kohlen glühten.
»Warte ein wenig, Du wirst Speise und Wasser bekommen und eine Decke, auf der Du hier schlafen kannst, aber hinter diese Ecke kommst Du nicht.«
»Ich bin keine Haraniwaka, sondern —«
»Wir nehmen auch andere als Haraniwakas auf, auch Mädchen, aber so schnell kommt niemand herein. Morgen erhältst Du Bescheid, wo Du Dich zu melden hast —«
»Nein, nein«, erklang es immer leidenschaftlicher, »ich will gar keine der Eurigen werden — nur rächen will ich mich — etwas Schreckliches verraten will ich — das soll meine Rache sein.«
»Was willst Du verraten?«, erklang da eine andere Stimme.
»Was man gegen Euch plant! Die furchtbare Gefahr, die Euch droht!«
Das war allerdings schon etwas anderes.
»Lass sie herein.«
Sie durfte die Ecke passieren, befand sich in der natürlichen Kammer, durch eine Petroleumlampe erleuchtet. Bewaffnete Weiber standen und lagen umher.
Weiter aber als bis in die Wachtstube durfte niemand kommen. Unter gewöhnlichen Umständen wurden die Anfragenden schon draußen abgefertigt, erhielten Speise und Trank und für die Nacht eine Decke, wobei es ausgeschlossen war, dass hier etwa ein Asyl für Obdachlose entstehen würde. Ein solches findet jeder Bettler in Indien leichter, als dass er erst vier Stunden durch die Wüste marschiert.
Jetzt in der dichten Nähe der Lampe sah man, was es mit der Angekommenen für eine Bewandtnis hatte. Ihr ganzes Gewand starrte von Blut, auf das sich, als es noch feucht gewesen, der vom Wind aufgewirbelte Sand der Wüste festgesetzt hatte.
»Wer hat Dich so furchtbar geschlagen?!«, rief ein kriegerisches Weib mit ziemlich weißer Haut, aber schwarzen Augen, und schon flammten diese drohend auf.
»Mein Herr!«, stieß jene hervor. »Und die Begum will ich sprechen!«
»Was sprachst Du vorhin von einer Gefahr, die uns drohte?«
»Eine furchtbare Gefahr, aber nur der Begum selbst kann ich —«
»Was für eine furchtbare Gefahr?«, fragte da eine tiefe, raue Stimme, und hinter der zweiten Ecke tauchte die riesenhafte Gestalt einer Negerin auf.
»Du bist die Begum Wotulala!«
»Woher kennst Du mich?«
»Nur Du bist so groß und so stark!«
»Ich bin es. Und wer bist Du?«
Noch einmal dasselbe. Nur dass sie jetzt auch ihren Namen nannte, etwas von ihrer Person sprach: Oglinde.
»Mein Herr hat mich peitschen lassen, weil ich ein Armband der Herrin —«
»Wer ist Dein Herr?«
»Colonel Taylor. Seit vielen, vielen Jahren habe ich ihm treu gedient, nun aber verrate ich alles, alles, was ich erlauscht habe!«
Immer wilder glühten die Augen auf.
»Was hast Du erlauscht?«
Jetzt wanderten die funkelnden Augen mit einem besorgten Ausdruck über die Reihen der anderen Weiber.
»Das darf ich nur Dir allein sagen, o Begum!«
»Weshalb nur mir?«
»Weil es kein anderes Ohr hören darf. Weshalb nicht, das wirst Du dann selbst erkennen, und Du würdest mich schelten, hätte ich es auch andere vernehmen lassen.«
Punscha hatte leichteres Spiel, als sie wohl erwartet.
»Komm!«, winkte ihr die Dahomeerin und führte sie um die zweite Ecke tiefer in die Schlucht hinein.
Es gibt eben für jeden Fall eine Ausnahme, schließlich war es doch die Begum, die hier zu bestimmen hatte.
»Gib mir Deine Hand, dass Du Dich nicht stößt.«
Ja, es war hier so stockfinster, dass man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Aber das galt nicht für die Augen dieser Gauklerin. Die sahen im Dunklen genau so gut wie im hellen Tageslicht, und so wusste sie, dass niemand in der Nähe war, als die Begum wieder stehen blieb.
»Nun sprich!«
»Kann uns niemand belauschen?«, durfte die Gauklerin ihr Hellsehen nicht verraten.
»Nein, niemand darf sich mir nähern.«
»Wenn aber nun doch jemand kommt? Kannst Du denn im Finstern sehen?«
»Nein, das kann ich nicht, wenigstens nicht so deutlich. Aber wer diese Schlucht passieren will, der muss vorher erst ein Signal geben, wir können nicht überrascht werden. Was nun hast Du erlauscht? Was für eine Gefahr soll uns drohen?«
Dabei mochte sie schon jetzt an eine Gefahr denken, war jedenfalls so vorsichtig, auch noch die andere Hand der Fremden, die man gar nicht untersucht hatte, mit festem Griff zu fassen. Es konnte ja eine gedungene Mörderin sein, die bereit war, sich selbst zu opfern.
»Ihr habt hier doch Diamanten gefunden?«
»Ja.«
»Wegen dieser Diamanten wollen die Anglesi Euch alle töten.«
»Wie wollen sie denn das machen?«
»Indem sie Euch neue Haraniwakas zuschicken, mit Kleidern, die Leute getragen haben, die an der Pest gestorben sind. Der schwarze Tod soll Euch alle auffressen.«
Schwer lehnte sich das Riesenweib plötzlich gegen die Felswand.
Die Besinnung hatte sie plötzlich verlassen.
Nicht etwa, weil diese Mitteilung einen gar so furchtbaren Eindruck auf sie gemacht. Sondern aus dem erhobenen Munde der Sprecherin hatte sie ein feuchter Hauch getroffen, der ihr sofort die Besinnung geraubt hatte. Sie war in einen hypnotischen Schlaf gesunken, welcher doppelte Ausdruck das andeuten soll, dass es nichts weiter als ein künstlich hervorgerufener Schlaf ist, und dazu ist kein fixierender Blick nötig. Jedes Schlafmittel erzeugt Hypnose. Die Suggestion ist es, die Beeinflussung des Willens, worauf es ankommt. Doch hierüber ist früher schon einmal ausführlich gesprochen worden.
Diese Gauklerin wusste ganz genau, was sie zu tun hatte und wie weit ihre Macht reichte.
»Begum Wotulala, Du hörst mich sprechen?!«, flüsterte sie, ganz leise, aber energisch, dabei die Hände drückend, die jetzt sie gefasst hatte.
Keine Antwort. Die Negerin schief eben.
»Antworte mir, ich befehle es Dir. Hörst Du mich sprechen?«
Ein »Ja« wurde gelallt.
»Wiederhole, dass Du mich sprechen hörst!«
»Ich — höre — Dich — sprechen!«, wurde mit schwerer Zunge gemurmelt.
»Du kannst ganz geläufig sprechen, ich will es, ich befehle es Dir!«
»Ich kann ganz geläufig sprechen!«, wurde jetzt in ganz anderem Tone wiederholt.
»Wer bin ich, die zu Dir spricht?«
»Oglinda.«
»Du hast mir zu gehorchen!«
»Ja.«
»Was sollst Du?«
»Dir gehorchen.«
»Unbedingt!«
»Unbedingt.«
»Was sollst Du? Wiederhole ausführlich.«
»Ich soll Dir unbedingt gehorchen.«
»Jetzt und immerdar.«
»Jetzt und immerdar.«
»Und Du wirst mir gehorchen?«
»Ich werde Dir gehorchen.«
»Auch nach Deinem Erwachen?«
»Auch nach meinem Erwachen.«
So, das war die Einleitung gewesen.
Dass die Schläferin nicht »Deinem« wiederholt, sondern »meinem« richtig gebraucht hatte, war ein sicheres Zeichen des Erwachens ihres subjektiven Bewusstseins im Schlafe gewesen, was unbedingt notwendig ist, soll irgend etwas gelingen.
Aber nicht etwa, dass diese Gauklerin nun glaubte, sie könne der Negerin nun befehlen, was sie wolle, diese würde es auch ausführen. Etwa: »Ich befehle Dir, Deine Herrschermacht mir zu übertragen, mit Deinen sämtlichen Haraniwakas das Tal zu verlassen.«
Nein, so weit geht die Macht der hypnotischen Suggestion nicht!
Es ist immer die alte Geschichte: Erst haben die Männer der Wissenschaft von der ganzen Hypnotik nichts wissen wollen, sie einen Schwindel oder doch Selbstbetrug genannt, und dann wieder ist ihre Macht weit, weit übertrieben worden.
Die Polizei und Justiz ist vollkommen im Recht, wenn sie von Aussagen, die in der Hypnose gegeben worden sind, nichts hält, sie überhaupt gar nicht gelten lässt. Denn der Verbrecher, der sich einmal eine falsche Aussage zurechtgelegt hat, wird diese auch in der tiefsten Hypnose wiederholen. Daran kann kein Befehl, die Wahrheit zu sagen, etwas ändern.
Seine Furcht vor Strafe oder seine Scham ist in jedem Falle stärker als der Wille des Hypnotiseurs.
Oder wenn es nun ein Unschuldiger ist, und der Hypnotiseur beeinflusst ihn so — was allerdings möglich ist — dass er unfreiwillig ein Verbrechen gesteht?
Nein, das Gerichtswesen ist ganz im Recht, wenn es von der ganzen Hypnotik nichts wissen will.
Das kann vielleicht noch einmal kommen, aber so weit sind wir heute noch lange nicht. Wir tasten da noch in einem sehr dunklen Gebiete der menschlichen Seele herum.
Nie, niemals aber wird es möglich sein, einen ehrenfesten, tugendhaften Menschen durch posthypnotischen Befehl zu einem Verbrechen zu veranlassen! Alles, was darüber erzählt wird, ist Fabel, und es ist höchst unrecht, solche Fabeln zu erfinden oder weiterzuverbreiten.
Das wäre ja auch noch schöner, wenn das möglich wäre!
Da müsste auch der größte Optimist jeden Glauben an eine gerechte Weltordnung aufgeben.
Da aber tritt das alte, schöne Sprichwort in Kraft: Der liebe Gott sorgt schon dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Sonst ist ja allerdings die hypnotische Suggestion eine große Macht, viel lässt sich durch sie erreichen, das stimmt.
»Gibt es außer den beiden Passwegen noch einen anderen Zugang zu diesem Tal?«
»Ja.«
»Was für einen?«
»Es ist ein Tunnel.«
»Durch die Felswände?«
»Ja.«
»Wo befindet sich der?«
»Auf der Westseite des Tales«
»Ist er allen Haraniwakas bekannt?«
»Ja.«
»Du wirst ihn mir zeigen.«
Es erfolgte keine Antwort, die Gauklerin hatte auch gar nicht gefragt. Es war überhaupt nur eine Prüfung, die sie jetzt vornahm.
»Du wirst mir den Tunneleingang morgen zeigen, ich befehle es Dir. Wirst Du mir gehorchen?«
»Das — darf ich nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Du bist eine Fremde.«
»Ich befehle es Dir aber, Du sollst ihn mir zeigen, Du wirst gehorchen!«
»Ich gehorche!«, wurde dumpf gemurmelt.
Aber die Gauklerin wusste bereits, dass jene ihr morgen nicht gehorchen würde.
»Wenn Du erwachst, setzen wir unser Gespräch fort.«
»Ja.«
»Was habe ich Dir zuletzt gesagt?«
»Dass die Anglisi uns neue Haraniwakas schicken wollen, die Kleider von Pestkranken tragen, dass wir alle am schwarzen Tod sterben.«
»Gut. Ich werde Dir weiter davon erzählen. Du wirst mir alles glauben, ich befehle es Dir!«
»Ich gehorche.«
»Dann werde ich über die Schmerzen klagen, die ich habe, weil ich gepeitscht worden bin. Und Du wirst mich auffordern, dass ich Dir meinen Rücken zeige, Du selbst wirst mit Wasser das festgeklebte Gewand aufweichen, wirst meinen Rücken waschen und salben, Du wirst mich fortwährend bedauern und wirklich das tiefste Mitleid mit mir empfinden —«
Und so fuhr die Gauklerin fort, der Dahomeerin die nächsten Handlungen vorzuschreiben, die sie nach dem Erwachen, wenn es so weit war, auszuführen habe.
Das war es, worauf sie jetzt ihre ganze Willenskraft konzentrierte, um dies der Hypnotisierten zu suggerieren.
Und das war es, worauf alles, alles ankam! Dadurch bewies diese Gauklerin, wie sie die Hypnotik und alle Begleiterscheinungen von Grund auf kannte und diese zu benutzen verstand!
Es ist nicht möglich, einem Hypnotisierten zu befehlen, dass er für irgend einen Menschen, den er womöglich noch gar nicht kennt, plötzlich die heißeste Liebe empfinden soll. Befehlen kann man es ihm wohl, aber er wird nicht gehorchen. Oder gar glühenden Hass plötzlich in glühende Liebe zu verwandeln. Erzählt wird Derartiges ja genug — es ist alles aus der Luft gegriffene Fabel! So lässt sich die Natur nicht verspotten.
Aber auf Umwegen lassen sich solche Umwandlungen allerdings erreichen. Genau so, wie es eben auch im wachen Bewusstsein möglich ist, nur dass in der Hypnose die Beeinflussung stärker ist, dass es da schneller geht, aber sonst ist da gar nichts Unnatürliches dabei.
Dass die Negerin den Rücken der Gepeitschten untersuchen würde, ihn mit eigenen Händen wusch, das konnte ihr direkt befohlen werden, das würde sie auch ausführen. Es müsste denn gerade ein Weib gewesen sein, das vor solch einer Krankenbehandlung einen unüberwindbaren Abscheu gehabt hätte, dann wäre dieser vielleicht noch stärker als der Wille des Hypnotiseurs gewesen, aber das war bei dieser Negerin doch sicher nicht der Fall.
Dann kam das Mitleid schon von ganz allein. Dem konnte ja auch noch durch Willensbeeinflussung etwas nachgeholfen werden. Und Mitleid ist schon der Anfang der Liebe. So ist es allerdings möglich, für eine sonst ganz fremde Person Liebe zu erzeugen.
Und so fuhr die Gauklerin noch einige Zeit fort, die Schläferin zu bearbeiten.
Allerdings ging es viel, viel schneller, als hier geschildert wird. Dem Befehl folgte immer die Wiederholung, der Frage die Antwort.
Und dann die Hauptsache, zugleich eines der größten Geheimnisse der Hypnotik.
»Sobald ich das Wort ›Hippopotamus‹ ausspreche, wirst Du wieder einschlafen.«
»Dann werde ich wieder einschlafen.«
»Wie heißt das Wort?«
»Hippopotamus.«
»Was geschieht dann?«
»Dann werde ich wieder einschlafen.«
»Aber nur, wenn ich es ausspreche.«
»Nur wenn Du es aussprichst.«
»Nicht, wenn es ein anderer ausspricht.«
»Nein.«
»Wenn Du dieses Wort von anderer Seite hörst.«
»Nein.«
»Was geschieht dann nicht?«
»Dann werde ich nicht einschlafen.«
»Keine Spur von Müdigkeit, nicht irgend ein anderes unbehagliches Gefühl empfinden.«
»Nein.«
»Sondern nur, wenn —?«
»Nur wenn Du es aussprichst.«
Es war geschehen. Nun hatte die Gauklerin die Beherrscherin dieses Tales auch fernerhin in ihrer Gewalt, soweit dies durch Hypnose eben möglich ist.
»Wenn ich Dich jetzt anhauche, erwachst Du erinnerungslos.«
»Ja.«
»Hast keine Ahnung, was wir jetzt zusammen gesprochen haben.«
»Keine Ahnung.«
»Aber alles, was ich Dir jetzt im Schlafe befohlen habe, wirst Du ausführen.«
»Ich werde alles ausführen.«
»Was zum Beispiel wirst Du ausführen?«
»Wenn Du über Schmerzen klagst, werde ich Dich auffordern, mir Deinen Rücken zu zeigen.«
»Und?«
»Ich werde das Gewand selbst abweichen und Deinen Rücken waschen und salben.«
»Und?«
»Das tiefste Mitleid mit Dir empfinden.«
»Und?«
Es erfolgte keine Antwort. Aber die Gauklerin sah, wie sich in dem schwarzen Gesicht ein Missbehagen auszudrücken begann.
»Was wirst Du morgen tun?«
Der Ausdruck des Missbehagens wurde noch stärker, bis es endlich zögernd erklang:
»Ich — ich — werde Dir — den Tunneleingang zeigen.«
Mehr konnte Punscha nicht verlangen, wusste auch schon, dass ihr die Begum morgen nicht gehorchen würde, wusste, auf welche Weise alles kommen würde, was sich dann auch bestätigen sollte.
»Erwache erinnerungslos!«
Ein Hauch, wobei sie aber diesmal der Zinntube nichts entströmen ließ, und das erste war, dass die Negerin ihre Hände zurück zog und ihr Gesicht betastete.
»Was war das?«
Aber die Gauklerin brauchte keine Sorge zu haben, die war sich ihrer Sache sicher.
Ganz unbewusst wusste die Begum einen im dunklen Hintergrunde ihrer Seele unerklärlichen Vorgang selbst gleich zu arrangieren.
»Was sagtest Du da?«, fuhr sie gleich fort, »die Anglisi wollten die Pest bei uns einschleppen?«
»So ist es.«
Und das fremde Weib schilderte ganz ausführlich, was sie belauscht hatte — haben wollte.
Die Begum sagte nichts dazu, sie wurde nur immer eiserner.
Sie wurde erst aufmerksam, als der Erzählerin die Stimme zu versagen drohte.
»Was hast Du?«
»O, wie die Peitschenhiebe jetzt auf meinem Rücken zu brennen anfangen!«, erklang es leise jammernd.
»Ach, daran habe ich ja gar nicht gedacht! Oglinde heißt Du? Komm, Oglinde, ich will erst Deinen Rücken waschen, die Wunden mit Öl einreiben, das muss das erste sein.«
Im mitleidigsten Tone war es gesagt worden, und die Fremde wurde an der Hand weiter in die Schlucht hineingeführt, in das Tal, in das Haus der Begum, und diese selbst weichte mit Wasser das festgeklebte Gewand auf, wusch und salbte ihr den Rücken mit Öl ein, immer mehr das unglückliche Geschöpf bedauernd, dem man solch schreckliche Peitschenhiebe beigebracht hatte.
Und sie bedauerte in einer Weise, dass die Gauklerin sofort merkte, wie dieses schwarze Riesenweib wirklich für echtes Mitleid sehr empfänglich war, warum sollte sie auch nicht, das Herz hatte mit dem riesenstarken Körper und dem früheren Waffenberufe der Dahomeerin nichts zu tun. Nun aber hatte die indische Detektivin vollends gewonnenes Spiel, sie konnte schon triumphieren.
»Du sollst gerächt werden, mein armes Kind!«, erklang es erst später im drohendsten Tone, während die Gauklerin jetzt lieber nicht mehr von Rache sprach.
»Ich kann aber nicht wieder zurück.«
»O nein, Du bleibst gleich hier — bei mir — in meinem Hause. Bei Dir ist es ja etwas ganz anderes. Wir schulden Dir ja den allergrößten Dank. Aber auch sonst sollen sich diese Anglisi, diese Söhne des Teufels, fürchterlich irren, Schreckliches sollen sie erleben, wenn sie so etwas versuchen wollen. Komm, mein armes Kind, nun teile mein Nachtmahl mit mir. Schmerzt es noch sehr?«
Am nächsten Morgen in aller Frühe begleitete Oglinde die Begum auf ihrer Inspektionswanderung durch das Tal.
Das ganze Tal konnte in einem Tage ja nicht inspiziert werden, das war ja sechs geografische Meilen lang. Sonst saß die Begum auch immer zu Pferd, heute nicht, wegen ihres Schützlings, obgleich Oglinde versichert hatte, dass sie reiten könne und es ganz gut vertragen würde.
»Nein, nein, Kind, das kannst Du unmöglich aushalten. Das Wundfieber wird sich schon noch einstellen. Überhaupt möchte ich Dich lieber zurücklassen, aber ich möchte Dir auch etwas zeigen — es ist ja gar nicht nötig, aber — — komm nur mit — ich will etwas besichtigen —«
Die Verworrenheit, die dieses sonst so eiserne Weib heute zeigte, hätte jedem anderen auffallen müssen, der die Begum näher kannte. In der Gegenwart von anderen Weibern ließ sie sich freilich nichts davon merken, nur dem fremden Mädchen gegenüber ließ sie sich gehen. Und Oglinde wusste, was an dieser Verworrenheit schuld war. Die Negerin fühlte einen Drang in sich, dem sie nicht nachgeben wollte, und sie musste es dennoch tun, wenigstens vorläufig noch.
Ohne sich von anderen Weibern aufhalten zu lassen, wenn es auch ihre »Minister« waren, führte die Begum das Mädchen in schräger Linie quer durch das Tal, den in der Mitte fließenden Bach einfach überspringend.
»Darf ich Fragen stellen?«
»Immer frage, mein liebes Kind, immer frage. Weshalb sollst Du denn nicht?«
»Weil ich doch eine Fremde bin.«
»Nein, Du gehörst bereits zu uns. O, wenn Du wüsstest, was ich Dir jetzt zeigen will!«
Dabei blickte sich das Riesenweib ganz unwirsch um, aber gleich wieder mit der größten Zärtlichkeit auf ihre Begleiterin, ihr gegenüber eine Zwergin.
»Nun, mein liebes Kind, was wolltest Du denn fragen?«
»Was machen denn die Frauen dort?«
»Die bestellen ein Reisfeld.«
»Das dachte ich mir, aber das wird doch sonst ganz anders gemacht, der Schlamm muss mit Brettern, die an den Füßen befestigt sind, eingetreten werden.«
»Ja, aber hier bei uns ist das viel einfacher. weil wir es so bequem mit dem Wasser haben.«
»Das ist der Bach, der früher einmal versiegt ist?«
»Jawohl, aber das kann nie wieder vorkommen.«
»Weshalb nicht?«
»Hast Du denn noch gar nichts davon gehört?«
»Doch, aber ich verstehe eben nicht —«
»Kind, das ist ein großes Geheimnis, hiervon darfst Du niemals wieder sprechen.«
Sie hatten die jenseitige Grenze des Tales erreicht, das ja nur zwei Kilometer breit war.
Ausnahmsweise war hier einmal der Boden unfruchtbar, sandig, auch lagen viele kleine und große Felsblöcke verstreut. Offenbar war hier früher einmal ein Stück der Felswand eingestürzt.
Wieder blickte sich die Begum ganz unwirsch um.
»Ja, was will ich eigentlich hier?«, murmelte sie.
»Hippopotamus!!«, erklang es da befehlend neben ihr, und sofort verdrehte die Negerin die Augäpfel nach oben, ehe sie die Lider schloss, taumelte und wäre zusammengebrochen.
»Bleib stehen, ich befehle es Dir, Du kannst stehen.«
Da blieb die in Hypnose Gefallene aufrecht stehen.
Sie standen gerade zwischen mehreren Felsblöcken, und auch sonst hatte sich die Gauklerin vorher überzeugt, dass niemand in der Nähe war, unbemerkt hätte sich auch niemand nähern können.
»Warum führst Du mich hierher?«
»Ich soll Dir doch den Eingang zu dem geheimen Tunnel zeigen.«
»So zeige ihn mir jetzt, ich befehle es Dir!«
»Nein — das darf ich nicht — ich kann nicht gehen —«
»Doch, Du kannst gehen, ich befehle es Dir, führe mich hin!«
»Nein, das darf nicht sein —«
»Ich befehle es Dir, Du musst mir gehorchen.«
Aber es nützte alles nichts, der eigene Wille, ein großes Geheimnis der Fremden gegenüber zu wahren, war stärker als der Wille des Hypnotiseurs.
Die Gauklerin konnte nicht einmal erfahren, ob denn dieser Tunneleingang nicht bewacht würde.
So wollte sie versuchen, etwas anderes zu erfahren.
»Wo befindet sich die Höhle, in der das Loch ist, durch welches seinerzeit die Quelle zu fließen aufhörte?«
»In meinem Hause.«
Das hatte die Hypnotisierte ohne Zögern gesagt, es war aber auch nichts Neues, was die Gauklerin da zu hören bekam, denn die hatte sich zuvor doch genügend orientiert, war von dem Polizeigeneral instruiert worden.
Vor dieser Höhle, von der das Wohl und Wehe dieses ganzen Tales abhing, hatte damals die Bischofslady eine schwere, schmiedeeiserne Tür einmauern lassen, außerdem war auch ein neues Haus von Quadersteinen ausgeführt, das sie fernerhin bewohnt hatte. Und dass die Begum nun dieses selbe Haus bezogen, das hatte die Gauklerin schon gestern Abend von ihr erfahren. Nach dieser Höhle und Tür hatte sie natürlich nicht gefragt, das hätte jene misstrauisch machen können.
»Wird diese Höhle bewacht?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Es ist nicht nötig.«
»Warum ist es nicht nötig?«
»Eine eiserne Tür ist davor!«
»Ist an der Tür kein Schloss?«
»Ein Schloss ist wohl daran, drei Schlösser sogar, aber sie gehen nicht zu öffnen.«
»Weshalb nicht?«
»Wir haben keinen Schlüssel.«
»Wo ist der geblieben?«
»Die Bischofslady hat ihn damals verschwinden lassen, er ist nie wieder gefunden worden.«
»So warst auch Du noch nicht in der Höhle?«
»Noch nie.«
»Hast Du denn nicht versucht, die Tür sonst wie zu öffnen, aufzubrechen?«
»Das wohl, aber es gelang durch kein Mittel.«
Jedenfalls eine Geldschranktür mit Sicherheitsschloss, das allen Dietrichen und sonstigen Instrumenten spottet, sonst würden sich doch nicht die berufsmäßigen »Geldschrankknacker«, die sonst gewiss jedes Schloss öffnen können, das überhaupt zu öffnen ist, so abmühen, von der Seite her ins Innere zu gelangen.
Über diese eiserne Tür wusste man sonst nichts Genaueres mehr, es war doch schon viele, viele Jahre her.
»Hast Du denn noch nicht versucht, die Felswand nebenher zu sprengen oder sonst wie zu zertrümmern, dass man die Tür einfach aushebt?«
Ein schlaues Lachen huschte über das schwarze Gesicht der Hypnotisierten.
»Ich werde mich hüten, so etwas zu versuchen.«
»Weshalb wirst Du Dich davor hüten?«
»Es könnte doch bekannt werden.«
»Und was ist dann?«
»Hinter dieser Tür in der Höhle wohnt Dragobar.«
»Wer ist das, Dragobar?«
»Der Schutzgott dieses Tales, der aber nur gut ist, solange er eingesperrt gehalten wird; dann spendet er das erfrischende, fruchtbringende Wasser, sobald er aber freigelassen wird, lässt er alles verdorren.«
Es war der Glaube der alten Bewohner dieses Tales gewesen, die sich ansiedelnden Haraniwakas hatten ihn übernommen. In Indien muss jedes Dorf und jedes Haus nun einmal seinen eigenen Schutzgott haben.
Dann allerdings war diese Höhle auch auf allerbeste Weise geschützt, wenigstens gegen etwaige Neugier der Bewohnerinnen dieses Tales. Und außerdem wohnten in demselben Hause auch noch die besten Kriegerinnen, der ganze Generalstab.
Doch über die Mitbewohnerinnen dieses »Rathauses« musste sich die Gauklerin erst noch orientieren, was sie besser durch eigene Anschauung als jetzt durch Fragen tat. In dieser Nacht und heute früh hatte sie dazu noch keine Gelegenheit gehabt.
Ein Trupp bewaffneter Weiber tauchte in der Ferne auf und näherte sich gerade dieser Stelle.
»Wird der Tunneleingang bewacht?«
»Ja.«
»Kennen alle Haraniwakas seine Lage?«
»Nein.«
»Welche nur?«
»Nur meine vertrautesten Freundinnen, die die waffengeübtesten sind.«
»Aber Ihr alle habt ihn damals benutzt, als Ihr den Eisenbahnzug überfielt?«
»Ja.«
»Da lernten aber doch alle den geheimen Zugang kennen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Als wir das Tal verließen, war es Nacht, und sie wurden auf Irrwegen hingeführt.«
»Aber als Ihr zurückkamt, war es doch schon heller Tag.«
»Da mussten sie alle so lange in dem finsteren Tunnel bleiben, bis wieder die Nacht angebrochen war.«
»Wie viele wart Ihr damals?«
»Mehr als dreitausend.«
»Und alle die dreitausend Weiber mussten so lange in dem Tunnel bleiben?«
»Ja. Bis auf einige, die eben schon das Geheimnis kennen.«
So vorsichtig war man hier wegen dieses geheimen Tunnels. Viel vorsichtiger als wegen der Wasserhöhle, die war eben am besten durch Aberglauben geschützt, freilich ja auch durch die eiserne Tür.
»Wie habt Ihr diesen Tunnel durch die Felswand überhaupt gefunden?«
»Ich fand in dem Schreibtisch der Bischofslady, als sie tot war und man mich erwählte, ein altes Leder, beschrieben und mit einer Zeichnung darauf. Ein Hinduweib, das früher in einem Kloster lebte, konnte die alte Schrift enträtseln, was sonst niemand vermochte. Schon die früheren Bewohner dieses Tales haben von dem geheimen Schleichweg mitten durch die Felsen und unter der Erde gewusst, haben es aber als ein Geheimnis behütet.«
Der bewaffnete Weibertrupp, jedenfalls die ablösende Wache des Tunnels, hatte sich bis auf hundert Schritt genähert.
»Erwache erinnerungslos!«
Ein starkes Anhauchen und die Negerin schlug die Augen auf, blickte nicht erst verwundert um sich.
»Ach so, jetzt weiß ich — das steinerne Krokodil wollte ich Dir zeigen!«
Wo sich bei dem Bergsturz die Felswand glatt abgespalten hatte, war der Eindruck eines Krokodils, das hier einmal einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen war, in seiner ganzen Größe freigelegt worden.
Das hatte sie ihrem Schützling zeigen wollen, deshalb hatte sie ihn hierher geführt — so redete sich die Begum ein, und damit hatte sie ihre Seelenruhe wieder.
Als der furchtbare Kopf seinen ungeheuren Rachen aufklappte
und ein Feuerstrom daraus hervorkam, brach die schwarze
Königin zusammen, um niemals wieder aufzustehen.
Sie setzten ihre Wanderung in die Tiefe des Tales fort, dabei wieder den Bach erreichend, an dessen Seiten bequeme Wege hinliefen. Nach Passieren eines dichten Waldes, aus buschigen Helabäumen bestehend, deren reichliche Früchte ein vortreffliches Speise- und Brennöl liefern, hatte Oglinde plötzlich einen überraschenden Anblick.
Tausend Weiber waren es mindestens, die wie die Ameisen in einem weiten Becken arbeiteten, dessen einer Rand nahe dem Bachufer lag. Hunderte von ihnen hackten und schaufelten mit primitiven Werkzeugen, noch mehr schafften die Erde herauf, in festen Bastkörben, die sie nach orientalischer Weise auf dem Kopfe balancierten, seitwärts einen Hügel auftürmend, der schon eine stattliche Höhe erreicht hatte.
»Was wird hier gemacht? Du lässt nach Diamanten graben?«
Die Negerin machte eine unwillige Bewegung, sprach aber dann nur umso freundlicher zu ihrer Begleiterin.
»Nein, mein Kind. Es ist selbstverständlich, dass Du im Lager der Anglisi von den Diamanten gehört hast, die sprechen jetzt doch von nichts anderem mehr, aber ich bitte Dich, liebes Kind, in meiner Gegenwart nie mehr diese glitzernden Steinchen zu erwähnen. Fluch lastet auf ihnen. Nein, ich lasse hier ein Bassin auswerfen, es soll sich mit Wasser füllen. Ein künstlicher Teich.«
Auch die schärfsten Augen hätten nicht bemerkt, wie das fremde Mädchen bei diesen Worten zusammengezuckt war. Es war nur ein innerliches Zusammenschrecken gewesen.
»Wozu das?«
»Um beim Berieseln der Reisfelder einen größeren Wasservorrat zu haben. Durch den Bach allein dauert es zu lange, es setzt die ganze Ernte in Frage. Günstiger wäre die Stauanlage ja oben an der Quelle, aber dort ist die Quarzschicht, die das Wasser durchlässt, zu tief. Nur hier kommt fast gleich nach dem fruchtbaren Boden der wasserfeste Ton.«
»Wann wird der Teich fertig sein?«
»Morgen.«
Diesmal hätte die Detektivin noch mehr Grund zum Erschrecken gehabt, aber diesmal tat sie es nicht.
»Schon morgen?«, stellte sie sich erstaunt.
»Weshalb nicht? Du siehst, das Bassin ist schon so gut wie fertig, eine Einmauerung ist gar nicht nötig, der Boden hält wasserdicht. So Dragobar will, erfolgt morgen früh der Durchstich, bis zum Abend hat sich das Bassin mit Wasser gefüllt.«
Nachdem sie dies gesagt, lachte die Negerin ärgerlich.
»So Dragobar will — jetzt fange ich auch schon mit diesem Dragobar an, als ob ich an ihn glaubte!«
»Wer ist das, Dragobar?«, musste die fremde Hindu wohl fragen.
»Der Schutzgott dieses Tales, noch von den früheren Bewohnern des Tales stammend.«
»Und auch die zugewanderten Haraniwakas glauben an ihn?«
Die schwarze Begum machte ein sehr besorgtes Gesicht.
»Leider ja. Daran ist nur die Hedjemaine schuld, die hat alle anderen — ach, da ist sie ja schon wieder, die wahnsinnige Alte!«
Jetzt hatte auch Oglinde sie bemerkt.
Es war ein steinaltes Weib, das sich in dem Becken zu schaffen machte, sich ganz seltsam benahm. Unter Schimpfen und Keifen riss sie hin und wieder einer Arbeiterin Hacke oder Spaten aus der Hand, warf die Werkzeuge weg, suchte sie auch zu zerbrechen, oder sie stürzte sich auf eine der Trägerinnen, riss ihr den gefüllten Korb vom Kopfe, schüttete die Erde auf den Boden — kurz, suchte die Arbeit auf jede Weise zu hindern.
Viel erreichte sie freilich nicht bei diesem ameisenartigen Fleiße. Auch hielt sie sich viel zu lange mit bloßem Schimpfen und Schütteln der Fäuste auf. Was sie keifte, war nicht zu verstehen, dazu war die Entfernung zu weit.
»Was hat das Weib?«
»Das ist die einzige, die aus diesem Tale stammt, hier geboren worden ist, noch als erwachsenes Mädchen, als junge Frau hier gelebt hat. Sie musste natürlich mit auswandern, als der Bach versiegte — das alles ist Dir doch bekannt, Kind — wurde Witwe, nahm den Totenschädel — bis sie durch die Bischofslady als Kolonistin wieder in ihre alte Heimat zurückgeführt wurde. Natürlich schon als ein uraltes Weib. Und nun habe ich sie auf dem Halse.«
»Sie ist wahnsinnig?«
»Nein, nicht eigentlich wahnsinnig. Sie ist bei ganz normalen Sinnen, weiß recht gut, was sie tut, aber eine religiöse Fanatikerin. Sie als ehemalige Bewohnerin des Tales glaubt natürlich noch an den Schutzgott, an den Dragobar, hat ihn durch ihr fortwährendes Predigen hier wieder eingeführt, sonst wüssten diese Haraniwakas ja gar nichts von ihm, er wäre schon längst vergessen. Aber Du weißt doch, dass hier jede Stadt, jedes Dorf, jedes Tal, überhaupt jede Menschenansiedlung einen eigenen Schutzgott haben muss, der sonst für die anderen gar nicht existiert. Auch diese Hinduweiber hätten sich einen solchen geschaffen, das wäre nach und nach so ganz von selbst entstanden.
Na, da sie nun von der alten Hedjemaine den Namen des früheren Talgottes erfuhren, von seinen Eigenschaften erzählen hörten, so nahmen sie natürlich diesen wieder an. Das hätte ja auch gar nichts zu sagen gehabt. In gewissem Sinne ist es mir sogar sehr lieb, dass sie gerade diesen Dragobar verehren. Hier mit dieser Teichanlage ist aber nun ein böses Verhältnis daraus geworden.
Dass dem Bache durch Schöpfräder zum Berieseln der Felder Wasser entnommen wird, das hat, wie Hedjemaine lehrt, Gott Dragobar selbst angeordnet, aber dass sein fließendes Wasser aufgespeichert wird, das duldet er auf keinen Fall, für diesen Frevel würde er sich furchtbar rächen — ach, da hat mich die Alte schon erspäht, nun muss ich es über mich ergehen lassen, eine Flucht ist nicht mehr möglich.«
Die Alte war zwischen arbeitenden Frauen, die an den beiden auch dicht vorüberzogen, untergetaucht gewesen, plötzlich stand sie vor ihnen.
Drohend schüttelte sie die knochigen Fäuste gegen die schwarze Königin.
»Wehe, wehe, wehe, Wotulala, Du willst den Schutzgott dieses Tales einzwängen! Noch ist es Zeit, stelle diese Arbeit ein! Aber wehe, wehe, wehe, wenn Du dieses freie Wasser fesseln willst — Dragobar, der sich selbst freiwillig hat fesseln lassen, wird sich befreien und sich schrecklich rächen, dieses Tal wird wiederum verdorren —«
Eine kräftige Arbeiterin, die einen besonders großen Korb mit Erde auf dem Kopfe trug, reizte ihre neue Wut, sie stürzte hin, um ihr den Korb zu entreißen und die Erde in das Becken zurückzuschütten, und die Begum benutzte die Gelegenheit, um sich schleunigst zu entfernen, ihre Begleiterin mit sich ziehend.
Eine direkte Flucht vor dem Weibe wäre Ihrer Majestät nicht würdig gewesen, und die Wahnsinnige oder doch überspannte Fanatikerin galt wie im ganzen Orient auch hier heilig, man durfte sich ihrer nur mit Sanftmut erwehren.
»Da hast Du es gesehen, mein Kind. Und die sämtlichen Haraniwakas waren erst ganz auf ihrer Seite, weigerten sich, die Arbeit zu beginnen, einmal wäre es bald zur Revolution gekommen. Es hat meine ganze Überredungskraft gekostet, sie davon zu überzeugen, dass das fließende Wasser ja nicht gefesselt wird, es fließt ja durch, sogar im Gegenteil, es bekommt noch eine größere Betriebsfähigkeit, die Macht Dragobars wird also noch viel mehr gewürdigt. Endlich ließen sie sich überzeugen. Aber vor dem morgenden Tag, wenn der Damm durchstochen wird, bangen sie doch noch.«
»Wovor bangen sie?«
»Na, dass sich da eben der Wassergott dennoch beleidigt fühlt, dass er seine Fesseln, die er sich freiwillig hat auferlegen lassen, abschüttelt, dass da irgend etwas Furchtbares passiert. Womöglich dass plötzlich die Quelle versiegt, für immer, sodass dieses Tal wiederum unbewohnbar wird.«
»Seine Fesseln abschüttelt? Ist er denn gefangen?«
Oglinde bekam es noch ausführlicher zu hören, als sie es der Hypnotisierten abgefragt hatte.
Eben eine Sonderbarkeit dieses Tal- und Wassergottes. Er wollte gefangen gehalten werden, oder aber: Sein Heiligtum durfte von keinem Menschen betreten werden. Öffnete man die Tür oder die Vermauerng hinter der er sich als freiwillig Gefangener aufhielt, dann entwich er, die Quelle versiegte.
Die Gauklerin wusste ja alles, das war schon früher bei den alten Bewohnern dieses Tales so gewesen. Bei denen war Dragobar auch schon in einer Höhle eingemauert gewesen. Diese Mauerung hatten sie damals allerdings nicht durchbrochen, aber durch den Hochverrat, dass sie ihre braunen Mitbrüder den Engländern ausgeliefert hatten, war er so erzürnt gewesen, dass er eben entwichen war, ein Gott lässt sich schließlich doch von keinem Mauerwerk halten, wenn er nicht freiwillig will, und da war eben prompt die Quelle versiegt.
Übrigens sah man in dieser Sage ganz deutlich, wie schon den alten Bewohnern wenigstens ein dunkles Bewusstsein gedämmert hatte, dass es ein artesischer Brunnen war, der durch Luftdruck getrieben wurde. Entwich der komprimierte Luftgott an irgend einer Stelle, dann kam aus jener Quellenhöhle kein Wasser mehr heraus. Es gibt überhaupt keine Sage in der Welt, der nicht etwas Reelles zugrunde liegt.
Aber die junge Inderin durfte nicht allzu viel wissen.
»Wo hält man denn den Gott gefangen?«
»Früher war er in einer Grotte eingemauert, die sich dicht neben der Quellenhöhle befand. Und jetzt — Du weißt doch, aus welchem Grunde damals der Bach versiegte, wie erst 50 Jahre später das Loch gefunden wurde, und als man es zugemauert hatte, sprang die Quelle gleich wieder hervor?«
Ja, davon musste das indische Mädchen, das bei einem englischen Offizier diente, der jetzt vor diesem Tale lag, in letzter Zeit oft genug gehört haben.
»Nun«, fuhr die Begum fort, während sie den Rückweg eingeschlagen hatte, »in diese Höhle hat man das neue Heiligtum des Gottes verlegt, jetzt sitzt er hinter einer eisernen Tür gefangen, welche schon die Bischofslady davor angebracht hatte.«
»Und wo ist diese Höhle?«
Die Gauklerin hätte nicht nötig gehabt, die Begum deshalb in der Hypnose zu befragen. Die Negerin erzählte ihr dasselbe auch alles im wachen Bewusstsein. Warum auch nicht? Wohl war es eine religiöse Mysterie, aber eine, die hier doch jede Haraniwaka kannte.
Später berichtete ihr die Begum allerdings noch mehr, sprach zu ihr, wie sie sonst zu keiner Haraniwaka gesprochen hätte, weil sie ihrem Schützling eben ein ganz besonderes Vertrauen schenkte. Nur so weit ging dieses noch nicht, dass sie ihr auch gleich das Geheimnis des Tunnels verraten hätte. Das war eben ein politisches Staatsgeheimnis.
»Gerade am entgegengesetzten Ende des Tales. In meinem eigenen Hause, oder doch dahinter in der Felswand, an die sich mein Haus schmiegt. Wie ich Dir schon sagte, hat dieses, das jetzt allgemein das Rathaus genannt wird, bereits die Bischofslady bewohnt, ist von ihr erst erbaut worden. Vielleicht schon zum Schutze dieser Höhle.«
»Zum Schutze?«
»Nun ja, Kind, bedenke doch, wenn es einmal jemandem einfallen würde, dort einzudringen und das zugemauerte Loch wieder zu öffnen. Dann pfiff die zusammengepresste Luft heraus, die sich in dem irdischen Wasserschacht befindet, der Bach würde abermals versiegen. Natürlich denkt bei uns niemand an so etwas. Die Haraniwakas verstehen ja überhaupt gar nicht, worum es sich handelt, für die existiert nur ein eingesperrter Gott. Und überdies könnte man das Loch ja schnell wieder zumauern, dann würde der Bach wieder fließen. Aber immerhin, die Bischofslady hatte damals wohl einen triftigen Grund, die Höhle mit einer mächtigen schmiedeeisernen Tür zu verschließen und davor auch noch ihr eigenes Haus zu bauen, in dem sie bis zu ihrem Tode als Wächterin saß.«
Unter solchen Gesprächen hatten sie das Rathaus wieder erreicht.
Zuerst betraten sie einen Raum, in dem sich mehrere Weiber befanden, zum Teil an Tischen sitzend. Es war die Amtsstube, das Büro, in dem alle Fäden zusammenliefen, von dem aus das ganze Tal und nunmehrige Königreich mit seinen 4864 Bürgerinnen regiert wurde, denn eine einheitliche Leitung musste doch vorhanden sein. Sogar geschrieben wurde hier, so gut wie in den Amtsräumen des Königs von Dahomey. Allerdings nicht viel. Akten wurden nicht angelegt, nur wenn eines der schlanken, hochbeinigen Weiber, die den schnellfüßigen Depeschendienst verrichteten, in drei Stunden das ganze Tal durchjagte, einen mündlichen Befehl nicht behalten konnte, bekam es einen schriftlichen mit.
»Den Schlüssel zum Heiligtum!«
Eine ältere Frau mit sehr intelligentem Gesicht entnahm einer Tischschublade einen großen Schlüssel, den einzigen, den es hier gab. Sonst gab es hier überhaupt gar keine Türen, der Zimmermann oder Maurer hatte dort, wo man durch die Wand wollte, ein Loch gelassen, davor war höchstens ein Gewebe oder ein selbstgeknüpfter Teppich gehangen.
Gleichzeitig wurde eine mit Helaöl gespeiste kleine Lampe angezündet und der Begum überreicht. Es war ein höchst kunstvolles Produkt eigener Töpferarbeit, und daneben stand eine noch viel größere Lampe, noch viel schöner. Das waren sicher schon Tempelgerätschaften.
Die beiden begaben sich wieder hinaus und durchschritten einen langen Korridor des geräumigen Hauses.
»Kind, Du bist doch nicht aberglänbisch?«, fragte die Begum unterwegs.
»Ich glaube an die Götter meiner Väter!«, war die etwas ausweichende Antwort, mit Absicht ganz gleichgültig gesagt.
Und diese Antwort genügte der schwarzen Königin, welche die hiesigen Verhältnisse nun doch schon kannte, auch vollkommen. Die orientalischen Weiber brauchen gar keine Religion zu haben, weder Mohammedanerin noch Buddhistin. Man fragt sie gar nicht nach ihrem Glauben. Und dass es anders auch nicht bei den ersten Christengemeinden gewesen ist, die ja ebenfalls im Orient entstanden, das kann man recht deutlich in den Paulinischen Briefen lesen. Die Frau braucht gar nichts zu glauben, die wird durch ihren frommen Mann selig.
Und die ehemalige Oberpriesterin der Dahomeer hatte natürlich erst recht alle Götter hinter sich, glaubte an den ganzen Humbug nicht.
Übrigens befand sie sich nicht auf diesem Wege, um nun gerade ihrem Schützling das Heiligtum zu zeigen. Sie selbst wurde hingetrieben, nahm die fremde Inderin, zu der sie sich so hingezogen fühlte, nur gleich mit.
Der Korridor beschrieb eine scharfe Ecke, jetzt ging es, da die Fenster zu fehlen begannen, wohl schon in den Felsen hinein, endete an einer großen eisernen Tür, auch noch mit starken Eisenbändern beschlagen.
Die Begum steckte den Schlüssel in das einzige Schloss, drehte ihn um — die schwere Tür bewegte sich geräuschlos in den Angeln.
Es war ein großer, ganz nackter Raum, der von der Lampe erleuchtet wurde. Eine Felsengrotte mit ebenen Wänden.
Die Gauklerin wusste und sah auch schon etwas, wollte aber lieber nichts wissen und sehen, wollte sich nicht gar so scharfsinnig zeigen.
»Das ist die Höhle, wo das Loch zugemauert worden ist?!«
»O nein, das ist erst der Vorraum. Hier wird dem Gotte geopfert.«
»Es wird ihm geopfert?«
»Gewiss. Einige Verehrung muss doch dabei sein. Es ist allerdings wenig genug. Im Jahre ein einziges Mal, in der vierten Vollmondnacht, versammeln sich hier die ersten Vertreterinnen der Kolonie, des nunmehrigen Königreiches, verzehren ein gebratenes Lamm, wobei auch Gott Dragobar in der Phantasie sein Teil abbekommt, und dazu werden ganz sinnlose Gebete gemurmelt.
Sinnlos für diese Haraniwakas. Die Sache ist nämlich die, dass die Bischofslady in dieser Höhle immer das christliche Osterfest abhielt, das christliche Abendmahl. Die hat doch überhaupt viel in christlicher Mission gemacht, hat bei den Hinduweibern freilich wenig Glück gehabt. Das heißt, gehorchen taten die wohl, plapperten alles nach, aber verstehen taten sie gar nichts davon.
Als nun die Bischofslady gestorben war, hat man dasselbe heilige Abendmahl schleunigst für den Gott Dragobar eingerichtet. Die Hindufrauen haben vielleicht auch immer gedacht, die Feierlichkeit ist für den bestimmt. Das ist denen ja überhaupt ganz egal. Die plappern zu Ehren des indischen Wassergottes noch heute christliche Gebete her. Und weil die letzte Feierlichkeit, welche die Bischofslady hier abhielt, auf die vierte Vollmondnacht fiel, so ist beschlossen worden, diesen Termin nun auch für immer beizubehalten, denn das christliche Osterfest verschiebt sich immer, was die natürlich nicht berechnen können. Das ist die Sache. Sonst betritt auch dieses sogenannte Heiligtum niemand. Natürlich stammt auch diese erste Sicherheitstür schon von der Bischofslady.«
»Und wo ist nun die andere, welche die eigentliche Höhle verschließt?«
»Dort, siehst Du sie denn nicht?«
Nein, wenn man es nicht schon wusste, war sie nicht so leicht zu erkennen, oder das Licht musste direkt darauf fallen. Sie war eben so dunkel wie die Basaltwände.
Eine Tür, nicht so groß wie die andere, aber noch viel schwerer, solider, was man ihr gleich von außen ansehen konnte, mit noch ganz anderen Eisenbändern, außerdem mit drei Schlössern. Eine moderne Panzertür, und es gibt ja Geldschränke wie die Kleidergarderoben.
Wieder machte die schwarze Begum ein sehr besorgtes Gesicht, als sie näher trat und die Tür betrachtete, und diese Sorge war es eben, die sie jetzt hierher getrieben hatte.
»Ja, wenn ich nur einmal da hinein könnte!«
»Weshalb kannst Du nicht?«
»Ich habe keine Schlüssel. Die Bischofslady hat sie gehabt, aber wir wissen nicht, wo sie geblieben sind, sie sind nicht zu finden. Jedenfalls hat sie sie auch mit Absicht verschwinden lassen, oder es soll auch, wie einmal ein Mann sagte, nur ein einziger Schlüssel für alle drei Schlösser nötig sein.«
»Kann denn so ein Schlüssel nicht gemacht werden? Mein Herr hatte auch einmal einen Schlüssel verloren, da ließ er nur einen Schlosser kommen, der drückte Wachs in das Schloss und —«
»Kind, das ist hier etwas ganz anderes. Das ist eine Panzergeldschranktür. Das ist ein — ein — — Chubbschloss. Als wir noch fremden Besuch annahmen, war einmal ein Mann dabei, ein Ingenieur, der verstand etwas davon. Ich sprach mit ihm im Vertrauen. Nein, so ein Chubbschloss, wie er es nannte, ist nicht wieder aufzubekommen, wenn man den Schlüssel verloren hat.«
»Aber der Schlosser damals machte die Schranktür zuerst mit einem krummen Haken auf —«
»Was für eine Tür?«
»Eine Stubentür.«
»Ach, geh doch weg! Das hier ist keine Stubentür, Nein, es gibt kein Mittel, um so ein Schloss wie dieses hier zu öffnen. Man müsste an die Fabrik schreiben, wo diese Tür gefertigt worden ist, ob dort noch ein zweiter Schlüssel vorhanden wäre. Nach dem könnten dann beliebig andere gemacht werden. Aber wer weiß denn, wo diese Tür her ist.«
»Sie lässt sich auch sonst nicht aufbrechen?«
»Gar nicht daran zu denken, Ja, ich habe es schon mehrmals probiert. Habe starke Eisenstangen abgebrochen, aber wo ich sie ansetzte, davon bemerkst Du nicht einmal eine Spur. Das ist alles wie Diamant. Ja, mit Feuer könnte man vielleicht durchbohren, aber mit einem Feuer, wie es hier gar nicht zu verschaffen ist. Mit Knallgasfeuer. Das gibt's hier nicht, und ich weiß auch nicht, wie ich mir das besorgen soll.«
Es war ja doch noch eine halbwilde Dahomey-Negerin, die hier sprach. Hatte aber, was sie gehört, sich recht wohl gemerkt.
»Ja, diese verschlossene Höhle macht mir schwere Sorge! Wenn ich nur einmal hinein könnte!«
»Weshalb macht sie Dir so große Sorge?«
»Kind, überlege Dir die ganze Sache nur richtig. Was es mit dem unterirdischen Wasserlaufe für eine Bewandtnis hat, wie da drin zusammengepresste Luft ist, die das Wasser 24 englische Meilen von hier in der anderen Höhle wieder heraustreibt, und wie die Zusammenpressung der Luft dadurch entsteht, weil eben von anderer Seite immer wieder Wasser zufließt — das alles habe ich Dir ja schon erklärt, das hattest Du auch schon von den Engländern gehört.
Jener Mann damals nun, der den Verrat der hiesigen Talbewohner rächen wollte, kannte die Beschaffenheit des ganzen Tales, wusste, dass er gerade hier in dieser Höhle ein Loch in den Boden schlagen musste, um der Pressluft einen anderen Ausweg zu geben, wodurch die Quelle versiegen musste, was alles auch geschah.
Erst nach mehr als 50 Jahren hat man das Geheimnis ergründet und dieses Loch hier zufällig gefunden. Denn das war der reine Zufall. Das Loch wurde zugemauert, nicht nur so einfach mit Steinen, sondern mit so einem Steinpulver, das die Anglisi Zement nennen, das mit Wasser angerührt und dann fest wie der härteste Stein wird, wie Eisen, und im Wasser sogar noch mehr als in der Luft.
Unterdessen sind viele Jahre vergangen. Die Quelle ist noch nie wieder versiegt. Also ist dort drin alles noch in Ordnung. Ja, wenn die Zementvermauerung aber nun doch einmal unbrauchbar wird, in das Loch hineinstürzt? Oder sie braucht auch nur einen kleinen Riss zu bekommen, dann pfeift hier der Wind heraus und dort hört die Quelle auf zu fließen, oder das Wasser rieselt nur noch ganz spärlich heraus.
Wenn wir in die Höhle könnten, dann hätte das ja gar nicht viel zu sagen, dann würde das Loch einfach wieder von Neuem zugeklebt, solchen Zement haben wir noch in vielen Fässern da. Oder es könnte ja schließlich auch anders geschehen. Aber wir können die Tür nicht öffnen, das ist die Sache.«
»Aber kann man denn hier nebenan den Felsen nicht durchbohren, so zuletzt die ganze Tür herausheben?«, fragte die junge Inderin, die deshalb nicht besonders schlau zu sein brauchte.
»Ja, Kind, Du hast recht. Das wäre gar keine so schwere Arbeit. Da haben wir hier schon andere Steinarbeiten ausgeführt. Wir sprengen auch mit Pulver, wenn wir nur Pulver haben. Aber hier? Ja, wenn diese vermaledeite Hedjemain nur nicht wäre. Und die hat alle Haraniwakas schon so mit ihrem Aberglauben angesteckt, dass es nun schon zu spät ist. Die würden niemals dulden, dass hier diese Tür geöffnet würde, und noch viel weniger, dass man mit Gewalt einbrechen wollte. Dann könnte doch der Wassergott entwischen. Das käme einfach zur Revolution, dann wäre ich hier am längsten Begum gewesen, denn ich bin nicht Königin von Gottes Gnaden, sondern von der Haraniwakas Gnaden.«
»Die Luft entweicht noch nicht, wenn man die Tür öffnet?«
»O nein. Die hat mit dem Luftabschluss gar nichts zu tun, die sitzt nicht so dicht auf dem Felsen auf.«
»Kannst Du denn da nicht im Geheimen die Tür zu entfernen suchen? Das muss sich dann doch wieder zumauern und zuschmieren lassen, dass man dann nicht das Geringste davon merkt. So machen es doch auch die Anglisi, wenn sie die heiligen Gräber öffnen, die mauern dann den Stein wieder zu, dass alles wieder ganz alt aussieht.«
»Ja, ja, Kind, Du hast ganz recht!«, wiederholte die Negerin wie vorhin, warf aber dabei einen scheuen Blick nach jener Tür, durch die sie hereingekommen waren.
Diese hatte sich durch ihr schiefes Gewicht von allein wieder geschlossen, sich wenigstens angelehnt. In eine Mausefalle konnte man hier wohl nicht geraten, sonst wäre die Begum vorsichtiger gewesen.
»Ja, ja«, fuhr sie dann fort, »daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich ganz allein? Es wäre eine schrecklich mühsame Arbeit, denn da dürfte nicht etwa gesprengt werden, kein lauter Schlag geführt. Ganz, ganz im Geheimen und ganz geräuschlos müsste es geschehen, denn ich habe gar nicht so leicht einen Grund, die anderen Bewohnerinnen aus diesem Hause zu entfernen. Das ist ihr altes Recht, dass sie mit hier im Rathause wohnen, und die waren eher hier als ich, ich bin noch gar nicht so sehr unabhängig. Ja, ich denke immer, ob denn nur nicht ein Schlüssel —«
Sie begab sich nach der großen Tür zurück, setzte die Lampe an den Boden, zog den Schlüssel draußen heraus, steckte ihn von innen ins Schloss, begann, in tiefes Sinnen versunken, daran herumzuprobieren, studierte den Mechanismus und suchte ihn sich zu erklären.
Viel Ahnung hatte sie da freilich nicht von der Türschlosserei, wenn sie glaubte, auf diese Weise zu ergründen, wie man dort das Chubbschloss öffnen könnte. Das hier war ein gewöhnliches Fallenschloss.
Da plötzlich ertönte ein dumpfer Knall, der draußen im Freien aber ganz anders klingen musste.
Die Begum war emporgefahren, jedoch ohne besonderen Schreck, als habe sie schon so etwas erwartet.
»Die Felswand ist gesprengt worden! Schon jetzt? Das ist zu früh! Da muss ich —«
Sie eilte hinaus. Jedenfalls hatte es gar nichts zu sagen, wenn die fremde Inderin hier zurückblieb. Es war ein ganz profaner Raum, diente nur zeitweilig als heilige Halle.
Oglinde lauschte. Dann setzte sie das Probieren der Begum fort, drehte den Schlüssel hin und her — bis sie die Tür zugeschlossen hatte.
Darauf ging sie nach jener geheimnisvollen Tür zurück, betrachtete die drei Schlösser, nahm auch die Lampe und leuchtete hinein, so weit sie es konnte.
Es waren also sogenannte Chubbschlösser, die nur mit dem passenden Chubbschlüssel geöffnet werden konnten. Beides ist nach dem Engländer Chubb genannt, der dieses Sicherheitsschloss erfunden hat. Die sogenannten Zuhaltungen sind es, worauf es ankommt. Weiter wollen wir uns hier nicht auf die Kunstschlosserei einlassen.
Aber wiederholt muss werden, dass es kein Mittel gibt, um solch ein Chubbschloss, mit dem alle guten Geldschränke ausgestattet sind, auf andere Weise ohne Verletzung des Schlosses zu öffnen. Hat man den Schlüssel verloren und die Fabrik besitzt kein Modell von dem Schlüssel, muss der Schrank »aufgeknackt« werden.
So ist es heute. Aber es war auch einmal eine Zeit, wo es noch kein Chubbschloss gegeben hat. Und diese Erfindung mit den Zuhaltungen ist ebenso einfach wie ingeniös. Und für alles gibt es ein Gegenmittel. Also ist es nur eine Frage der Zeit, dass auch noch einmal ein Dietrich erfunden wird, mit dem man jedes Chubbschloss öffnen kann. Das wollen wir nur ruhig den Einbrechern überlassen, die so etwas als Spezialität betreiben, den Geldschrankknackern, da sind gar geniale Köpfe darunter, und die werden so lange tüfteln, bis sie auch dieses Problem gelöst haben. Dann muss eben ein neues Sicherheitsschloss erfunden werden. Und dann geht der Kampf zwischen Geldschrank und Einbrecher von Neuem los.
Die Gauklerin machte eine würgende Bewegung, griff sich in den Mund und — hatte nicht die Zinntube in der Hand, auch nicht die Browningpistole, wohl aber ein dickes Taschenmesser, dessen Schalen eine Menge von Klingen und Instrumenten barg, so eines, wie auch der Polizeigeneral gezeigt hatte, nur dass er es nicht in seinem Magen barg.
Sie zog aus den Schalen ein Instrument heraus, dem man nicht weiter viel ansah, schraubte oder stellte daran herum, mehrere Spitzen und Häkchen verschoben sich, sie probierte in dem einen Schloss, verstellte wieder — und da ein leiser Knack, noch einige andere, und das Schloss war geöffnet. Und bald waren auch die anderen aufgeschlossen.
Die hatte eben schon die Erfindung der Zukunft gemacht, den Traum der Einbrecher verwirklicht. Oder wahrscheinlicher war es der Polizeigewaltige von Indien, der dieses Patent besaß, es aber nicht anmeldete.
Die Tür ließ sich zurückdrehen. Wieder eine Höhle, aber viel kleiner, wieder ganz leer.
Nur dass sich in der Mitte am Boden ein Hügel erhob, gewölbt, aber sonst ganz glatt. Und dort in der Ecke eine Hacke, ein schwerer Hammer und anderes Handwerkszeug.
Nur wenige Sekunden der Überlegung.
»Ja, warum nicht gleich jetzt? Kann es eine günstigere Gelegenheit geben?«
Und schon kratzte ein Meißel auf dem Hügel. Aber mit Kratzen war auf dem eisenharten Zement nicht viel auszurichten. Und der Hammer klang so hell auf dem Meißel. Die Spitzhacke wurde durch die Luft geschwungen. Die wirkte besser. Der Zement splitterte und bröckelte ab. Und immer dreister wurde die junge Inderin, ließ die Hacke immer kräftiger niederfallen. Nur dass sie manchmal inne hielt und lauschte.
br>»Mögen sie nur kommen. Sie können nicht herein. Vorwärts, ich sprenge meine eigenen Fesseln — oder bereite mir mein eigenes Grab!«
Wieder sauste die Hacke nieder.
Da ein pfeifender Laut, aus einem Löchelchen der Hügeldecke spritzte Staub empor.
Noch ein kräftiger Schlag, noch einer — und fast die ganze Decke stürzte hinab, in eine unbekannte Tiefe.
Lauschend beugte sich die Gauklerin über die Öffnung. Draußen war alles still, hier drin auch. Nur im Anfang hatte sie ein von unten kommender starker Luftstrom getroffen, dann war es wieder vorbei.
»So, Dragobar, Du bist frei! Und ich auch! So die heilige Kali will!«
Und die Gauklerin, die sich hiermit als Mitglied der Sekte der Thugs zu erkennen gegeben hatte, weshalb sie ja noch keinen Menschen erdrosselt zu haben brauchte, legte das Werkzeug zurück, verließ den Raum, schloss hinter sich die Tür mit dem Dietrich wieder zu, verschluckte das Messer, öffnete auch die zweite Tür und begab sich hinaus, die Lampe zurücklassend.
In dem Amtszimmer warteten die Weiber auf eine Botschaft, was der zu früh losgegangene Sprengschuss angerichtet habe.
Da kam auch schon so eine schnellfüßige Botin angerannt, aber nur für das fremde Mädchen.
»Bist Du Oglinde? Du sollst mir zur Begum folgen.«
»Was ist geschehen?«, fragte diese unterwegs. »Hat der Sprengschuss Unheil angerichtet?«
»Ich habe Dir nur zu sagen, dass Du mir zur Begum folgen sollst!«, lautete die kurze Antwort, und auch die hohen Beamtinnen hatten ja nichts zu erfahren bekommen, obgleich wirklich etwas sehr Wichtiges passiert war.
Eine sich weit vorschiebende, isoliert stehende Felswand war gesprengt worden, sie war gefallen, hatte sich noch über den Bach geworfen. Alles war total in Trümmer gegangen, diese aber lagen gerade in dem Bach so dicht, dass sie ihn stauten.
Es war Gefahr vorhanden, dass das Wasser nicht nur die nächsten Felder überschwemmte, sondern dass es auch verfrüht den Damm durchbrach und somit das Bassin schon füllte, in dem noch gar viel Erde lag. die erst wegzuschaffen war, oder anstatt eines klaren Sees würde ein schlammiger Sumpf entstehen, der erst wieder ausgetrocknet werden musste.
Die nahen Erdarbeiterinnen waren herbeigeeilt und waren wiederum wie die Ameisen beschäftigt, um die Trümmer wenigstens zuerst aus dem Bache zu entfernen.
Die Begum selbst leitete die Arbeit, hatte aber noch Zeit gehabt, dabei an ihren Schützling zu denken, diesen herbeirufen zu lassen.
Mit einer unangenehmen Empfindung sah Oglinde das viele sich ansammelnde Wasser.
Doch natürlich, das Tal war sechs Meilen lang, der manchmal Bogen beschreibende Bach noch viel länger. Wenn die Quelle dort oben schon längst versiegt war, dann musste das Wasser noch lange Zeit hier reichlich fließen.
Wie lange? Der Bach floss nicht allzu rasch, und das nirgends, wie sie bald erfuhr. Wollte sie einen Meter in der Sekunde rechnen, dann brauchte er zu den 24 englischen Meilen — die Gauklerin erwies sich als eine gewandte Kopfrechnerin — brauchte er — — — oho, ungefähr 13 Stunden?!
Jawohl, die Rechnung stimmte. Man konnte aber auch gleich mit 15 Stunden rechnen, so lange würde man hier wenig merken, dass am anderen Ende des Tales aus der Quellhöhle kein Tropfen mehr herauskam.
Aber die Eilboten würden eher da sein. Die legten dieselbe Strecke in drei Stunden zurück, die konnten sich ja ablösen.
Vor allen Dingen aber erfüllte es die Gauklerin jetzt mit der größten Angst, dass das Wegschaffen der Trümmer nicht so schnell ging, wie es zuerst ausgesehen hatte, der neu entstandene Damm verstopfte sich immer mehr, das Wasser staute sich an, drohte in das Bassin zu brechen.
Und wenn das nun geschah?
Was diese indische Detektivin beabsichtigte, war ja ganz klar. Dem Tale das Wasser nehmen, die Haraniwakas dem Verschmachtungstode ausliefern, wenn sie nicht »freiwillig« auswanderten.
Aber wenn nun das Wasser jenen Erddamm durchbrach? In zwei Stunden hatte sich das ganze Bassin gefüllt, mit vielen tausend Kubikmetern. Und mochte das Wasser auch noch so schlammig sein, das klärte sich bald, es wurde filtriert, und überhaupt, Verdurstende trinken noch etwas ganz anderes als schlammiges Wasser.
Gewiss, auch dieser Teich würde eintrocknen, das Wasser verdunsten, wenn der Zufluss fehlte. Aber er sollte zwei Meter tief werden, und wie lange würde da das dauern? Wochenlang, und was konnten die Haraniwakas nicht unterdessen alles unternehmen?
So grübelte die Detektivin in verzweifelter Angst, denn sie glaubte schon, ihr seit Jahren heiß ersehntes Ziel, ihre Befreiung aus Sklavenketten, wiederum nicht erreichen zu können.
Dabei schalt sie sich eine Närrin. So oder so, einmal musste dann doch auch der große Teich austrocknen. Ja, wenn aber nun —
Da, gelobt sei die heilige Kali — das aufgestaute Wasser selbst hatte sich durch den neu entstandenen Damm Spalten gebrochen, es floss wieder mit Macht ab, nun konnten die anderen Steintrümmer mit Muße beseitigt werden!
»Kind, was hast Du, was fehlt Dir?!«, erklang es da erschrocken neben ihr.
Erst jetzt merkte die Gauklerin, wie elend ihr zumute war, wie abwechselnd heiße und kalte Schauer durch ihren Körper rannen, dass sie sogar schon mit den Zähnen klapperte.
Das Wundfieber hatte sich eingestellt. Zu ihrem eigenen Staunen, zu ihrem Grimm. Sie war doch erhaben über solche Schwäche, sie konnte noch ganz andere Wunden vertragen als die paar Risse auf dem Rücken. Aber die seelische Erregung, das martervolle Grübeln war es, was sie bezwang, jetzt dennoch das Wundfieber ausbrechen ließ, und vergebens strengte sie alle Willenskraft an, wenigstens das Zähneklappern zu unterdrücken.
»Nichts, mir fehlt gar nichts!«, klapperte sie hervor.
»Kind, Du hast das Wundfieber bekommen! Wie Deine Augen glühen! Komm schnell nach Hause, Du musst Dich legen, ich selbst werde Dich pflegen!«
Es half alles nichts, sie musste mit, musste sich tragen lassen. Dann lag sie in dem Schlafzimmer der Begum, von dieser selbst in nasse Tücher eingewickelt und warm zugedeckt.
Auch das noch! Das Fieber bezwang sie wieder, aber die Begum ließ sie natürlich nicht aufstehen. Und sie konnte doch nicht fragen: »Fließt der Bach noch? Hat ein Bote schon gemeldet, dass aus der Quellenhöhle kein Wasser mehr kommt?«
Ihre Qual ward noch schlimmer.
Diese eingeborene Detektivin brauchte keine Uhr, um die Zeit zu messen. Sie wusste genau, wann drei Stunden vorüber waren.
Jetzt hätte sie alle Minuten jene Frage stellen mögen und durfte es doch nicht ein einziges Mal.
Sie wusste sich zu helfen, ersann eine List, und sie brauchte auch gar keinen Fieberanfall zu heucheln, bekam wirklich einen. Nur dass sie dabei die Besinnung nicht verlor, dass sie ihre Phantasien erkünstelte.
»Dragobar — da — da — der Gott hat sich befreit — der Bach ist versiegt, kein Tropfen ist mehr drin —«
»Sei ruhig, mein Kind, der Bach ist voll klarem Wasser bis zum Rande und wird niemals versiegen!«, tröstete die mitleidige Negerin und führte den Becher mit Zitronenwasser an die glühenden Lippen.
Eine weitere Stunde verging, zwei Stunden. Oglinde hatte noch mehrmals von dem ausgetrockneten Bache phantasiert. Aber immer hatte die Begum sie beruhigt, der Bach flösse nach wie vor und würde immer fließen.
»Himmel und Hölle«, knirschte die Detektivin innerlich, »in fünf Stunden müsste die Botschaft doch schon da sein, wenn die Quelle versiegt wäre! Nein, sie ist eben nicht versiegt, ich habe das Loch zwecklos geöffnet, der Tigergraf hat mich wiederum betrogen! Ach, ich Unglückselige!«
Als nochmals drei Stunden vergangen waren, also zusammen nun neun, seitdem sie das Loch geöffnet hatte, als hier der Abend anbrach, da gab sie die Hoffnung auf.
Wohl war aus dem Loche die Luft mit Gewalt entwichen, aber einen Einfluss auf die sprudelnde Quelle hatte das nicht, jetzt nicht mehr. Das musste sich im Laufe der Jahre eben unter der Erde geändert haben.
Wenn sie nicht wirklich schlief, so stellte sie sich doch so.
Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang ließ sich die junge Inderin nicht mehr in den Decken halten. Es war ihr auch wirklich nicht anzusehen, was für eine fürchterliche Nacht sie durchgemacht, wie sie ihr Hirn unausgesetzt gemartert, was für Hoffnungen sie begraben hatte.
»Wohl, wenn Du Dich kräftig genug fühlst, so kannst Du mitkommen und dem Füllen des Teiches beiwohnen.«
»Also der Durchstich erfolgt wirklich schon heute?«
»In einer halben Stunde. Es ist die ganze Nacht bei Fackelschein gearbeitet worden.«
Sie begaben sich hin. Bei Anblick des köstlichen, kristallklaren Wassers, das den Bach bis zum Rande füllte, hatte Oglinde beinahe einen neuen Fieberanfall bekommen.
Jetzt waren schon mehr als 20 Stunden vergangen, nun wurde nichts mehr daraus, wenn sie vielleicht immer noch eine Hoffnung gehabt hatte. Alles war zwecklos gewesen.
»Ist es so weit?«, fragte die Begum die eigentliche Leiterin.
»Alles ist fertig.«
Ja, in dem tiefen Becken sah es heute ganz anders aus als gestern. Alles geebnet und festgestampft.
»Dann durchstecht den Damm!«
Die hiermit beauftragten Hinduweiber gingen recht zögernd daran.
Da tauchte die alte Hedjemaine wieder auf, drohend die Knochenfäuste gegen die schwarze Königin schüttelnd.
»Wehe, wehe, wehe, wenn Du den Bach abfließen lässt, wenn Du ihn fesseln willst! Wehe Dir, wehe Euch allen! Fluch über Dich, Fluch über das ganze Tal! Die Quelle soll versiegen, alles soll verdorren —«
Ein allgemeiner Schreckensschrei unterbrach die Keifende.
Plötzlich fiel das Wasser des Baches. Es war ganz ersichtlich, man brauchte kein Merkmal im Auge zu behalten. Zoll für Zoll ging das Wasser hinab. In wenigen Minuten konnte nur noch das im Bette sein, was eben nicht abfließen konnte.
Der allgemeine Schrei des Schreckens, wenn nicht schon des Entsetzens, hatte den Jubelruf der fremden Inderin nicht hören lassen, den sie nicht hatte unterdrücken können.
Es war dennoch gelungen! Und jetzt wusste sie alles. Sie hatte eben nur Geduld haben müssen. Das war nicht so einfach, dass die mächtige Quelle sofort zu fließen aufhörte, wenn der Luftdruck entwich. Die kam wahrscheinlich aus einem ungeheuren Reservoir, das musste sich erst erschöpft haben.
Doch warum war das nicht schon von dort aus gemeldet worden, wo der Bach schon längst wasserleer geworden sein musste?
Auch diese Erklärung sollte sich die Detektivin gleich selbst geben können.
Jetzt zunächst erfüllte sie noch einmal ein jäher Schreck.
Nein, sie war noch nicht am Ziel, ihr Plan konnte noch immer vereitelt, das Ziel mindestens weit, weit hinausgeschoben werden.
»Den Damm — durchbrecht den Damm!«, schrie da die Begum außer sich.
Sie selbst ergriff eine Hacke und hieb in das Erdreich. Ja, das konnte sie tun, aber sie war die einzige, Hilfe bekam sie nicht.
Plötzlich lagen alle die tausend Weiber auf den Knien, warfen sich platt hin und verhüllten ihr Gesicht.
»Dragobar hat sich befreit, das ist Dragobars Rache!«
So und ähnlich erklang es immer und immer wieder, kreischend, heulend und winselnd.
»Hier hilft kein Jammern«, schrie die Begum, »legt mit Hand an, wir müssen so viel Wasser wie möglich auffangen, oder wir müssen unser Tal verlassen, wenn wir nicht verdursten wollen!«
Sie rief es vergebens, wandte vergebens Gewalt an. Die Weiber ließen sich fortschleifen und fielen wieder wie die Säcke hin, ließen sich lieber totschlagen, ehe sie aufstanden und eine Hacke nahmen.
»Dragobar will es, dass wir verdursten sollen, weil wir sein Wasser fesseln wollen — das ist Dragobars Rache!«
Und da wusste Oglinde, weshalb von dort, wo der Bach schon ganz ohne Wasser, noch keine Boten mit dieser Meldung gekommen waren. Alle diese Frauen, die das erblickten und hörten, verhüllten einfach ihr Gesicht und erwarteten den Tod, ergaben sich in das Kismet, in das unvermeidliche Schicksal. Es war des beleidigten Dragobars Rache, die sie verdient hatten.
Übrigens hielt sich die Begum nicht lange damit auf, ein und das andere Weib mit Worten und handgreiflich zum Aufstehen zu bewegen. Schnell griff sie selbst wieder zur Hacke und schwang sie mit herkulischen Armen.
Der Damm war ja gar nicht so dick, aber es war beinharter Ton, es ging langsam, ganz langsam, bis eine Fuge entstand, und tiefer und tiefer sank das Wasser.
»Oglinde, eile ins Rathaus und hole die —«
Sie sah sich um und brach ab, weil sie Oglinde nicht erblickte, die hatte sich wohl ebenfalls zu Boden geworfen. Oder nein, sie war so verständig gewesen, verständiger als die schwarze Königin, dass sie gleich selbst nach dem Rathause gelaufen war.
Denn da kamen einige Weiber schon angestürmt, die über solchen Aberglauben erhaben waren. Es war Wotulalas Verhängnis oder aber eigene Schuld gewesen, dass diese Führerinnen sich alle in der Amtsstube befunden hatten.
Jetzt schwangen ein Dutzend Arme die Hacken, der Damm brach ein.
Allein da war es schon zu spät. Kein Tropfen Wasser gelangte mehr in das Bassin. Und eine Minute später hörte es in dem Bette zu fließen auf, nur an den tieferen Stellen standen noch Wasserpfützen, allerdings manchmal ja recht beträchtliche.
»Wir müssen schöpfen, was noch zu schöpfen ist!«
Ja, wenn alle 4864 Weiber geschöpft hätten, die hätten noch einen großen Wasservorrat zusammenbekommen. Jede einzelne für sich viele Eimer voll, dass sie für viele Wochen mit Wasser versehen waren, kleine und große Gefäße waren genug vorhanden, auch Zisternen, wohin das Wasser gebracht werden konnte, und an dem langen Bache gab es Platz genug, auch wenn weiter im nördlichen Tal das Bett sicher schon ganz ausgetrocknet war. Eine Meile Länge genügte schon, um all den tausend Weibern Platz zu gewähren.
Aber es waren eben noch keine zwei Dutzend, was konnten die für jene Tausende viel zusammenbringen, zumal es an jeder Pumpe fehlte. Auch nur an den tiefsten Einsenkungen konnte mit Eimern geschöpft werden.
Höher und höher stieg die indische Sonne des Sommers und brannte mit furchtbarer Glut in das Tal hinein. Das letzte Wasser verdunstete sozusagen im Handumdrehen, schon gab es keine Stelle mehr, die für einen Eimer geeignet war, schon musste man mit Kännchen und Tassen schöpfen.
Die Begum sah ein, dass diese Wasserschöpferei gar keinen Zweck hatte, es musste ein Entweder—Oder versucht werden.
»Mir nach, alle! Ihr aber holt die Bohrmaschinen, bringt Sprengpatronen mit, ins Rathaus!«
Sie eilten, rannten dorthin.
Als die beiden Steinbohrer, schon von der Bischofslady angeschafft, ankamen, stand die Begum mit ihren geisterfreien Getreuen im Heiligtum vor der Panzertür.
»Die Vermauerung ist in das Loch gestürzt oder doch undicht geworden!«
»Könnte«, meinte eine der Aufgeklärten, »nicht auch anderswo ein Loch —«
»Schweig, nur dieses hier kann in Betracht kommen!«, rief die Begum grimmig, um sich selbst zu beruhigen. »Wir brauchen es nur wieder dicht zu machen, dann fließt der Bach auch wieder.«
Die beiden Bohrer wurden neben der Panzertür angesetzt und angestemmt, die Schneidespitzen, welche die kunstfertigen Gulitenweiber immer wieder, wenn sie abgenutzt waren oder abbrachen, zu schmieden, zu härten und zu schärfen verstanden, knirschten in dem Gestein. Der eine brach ab, es war sofort ein neuer zur Stelle.
»Die Löcher sind tief genug, die Patronen können eingesetzt werden!«, erklärte die Sprengmeisterin.
Es geschah.
»Da — bewegte sich nicht die Tür?!«, flüsterte da ein Weib.
Die Begum hatte nicht hingesehen.
Aber wahrhaftig, die schwere Panzertür drehte sich in den Angeln etwas hin und her!
Furchtlos griff sie sofort zu, schlug die Tür vollends zurück.
Aber was sie da für einen Anblick hatte, dem war sie nicht gewachsen!
Vor ihr stand ein rotes Etwas. Die Hauptsache war ein ungeheurer Kopf, in der Finsternis rotglühend, halb menschlich, halb einem fabelhaften Ungeheuer angehörend, an der Stirn Hörner und Schlangen.
Die Begum hatte nicht so viel Zeit, dieses Monstrum eingehend zu betrachten. Sie sah nur noch, wie der furchtbare Kopf seinen ungeheuren Rachen aufklappte, ein Feuerstrom brach daraus hervor.
In diesem Feuerstrom brach die schwarze Königin zusammen, um niemals wieder aufzustehen.
Noch ein anderes, neben ihr stehendes Weib war von dem Feuerstrome etwas getroffen worden, und auch dieses stürzte sofort hin.
Mehr warteten die andern nicht ab. Der Wassergott hätte auch gar nicht Feuer zu blasen brauchen.
Ein Glück war es, dass jene erste, größere Tür nach draußen aufging, sonst hätten sie sie gar nicht aufgebracht, hätten sich gegenseitig totgequetscht, so eilig hatten sie es, diesen Raum zu verlassen. Erst draußen konnten sie heulen.
»Dragobar. Dragobar!!«
Die Eingangstür hatte sich von allein wieder geschlossen, angelehnt.
Da verließ Gott Dragobar vollends sein intimes Heiligtum. Ja, oben sah er schrecklich aus, der furchtbare Kopf war und blieb — aber unten war es die zierlich gebaute Gestalt eines jungen Weibes, von rotem Trikot umhüllt.
Dragobar hatte es nur auf die beiden hingestürzten Weiber abgesehen, er schleifte sie herein, hatte ein Messer in der Hand, aus dem ein merkwürdiges Instrument hervorsah, steckte es in die drei Schlösser und ließ die Zuhaltungen wieder zuschnappen.
»Es wäre gar nicht nötig, von denen kommt keine wieder, auch keine andere, um hier noch einmal hereinsehen zu wollen. Aber gut war es, dass neben der Negerin gerade eine stand, die für mich passt, denn zum zweiten Male hätte ich meinen feurigen Gifthauch nicht blasen können.«
Dann nahm der Gott zunächst seinen fürchterlichen Kopf ab, der sofort zusammenklappte, in den Händen gänzlich verschwand. Aber er hatte darunter noch einen anderen Kopf, der viel eher zu den unteren Partien passte, zu der menschlichen Frauengestalt.
Es war natürlich Oglinde, die sich rechtzeitig hierher zurückgezogen hatte, das Kommende wissend und dazu ihre Vorbereitungen treffend. Was sie dazu brauchte, führte sie alles im Leibe mit sich. Der menschliche Magen ist ein seltsames Ding, wenn er in Spiritus gesetzt ist, sieht man ihm gar nicht an, was der alles fassen kann. Aber besonders wer beim Militär gedient hat, der wird sicher einen Vaterlandsverteidiger gekannt haben — denn einer ist bei jeder Kompanie! — der doppelte Brotrationen erhält und dann bei seinen Kameraden auch noch die Krusten sammelt, der auf einen Sitz ein sechspfündiges Kommissbrot aufisst, wenn er's nur bekommt. Und alle diese Vielfresser sind doch meist dürre Windhunde.
Oglinde beugte sich über die noch junge Inderin. In dem Raume herrschte Stockfinsternis, aber die Augen dieser Detektivin konnten ganz deutlich sehen, und auch wir wollen solche Augen besitzen.
»Was, Du lebst noch?«
Das junge Weib atmete nicht nur noch, sondern jetzt schlug es unter einem Röcheln auch die Augen auf, starrte freilich nur in schwarze Finsternis.
Sie sollte sich nicht lange des Lebens erfreuen.
Wie Eisenklammern legten sich Finger um ihren Hals, schraubten sich zusammen.
Doch noch einmal wurde ihr eine Frist gegeben, die Eisenschrauben öffneten sich wieder.
»Das Grab habe ich ja selbst geöffnet, nun brauche ich bloß noch —«
Eine würgende Bewegung des ganzen Leibes, sie griff in den Mund und hatte in der Hand ein winziges Bündelchen, das sich nach dem Auseinanderwickeln als eine dünne seidene Schnur erwies.
Schon lag die Schlinge um dem Hals, wurde zusammen gezogen.
»Die große Kali segne mein —«
Sie brach wieder ab, lockerte auch die Schlinge wieder, und blickte nach dem Loche.
»Nein, ich darf die Leiche nicht hineinwerfen, nicht verschwinden lassen. Sie muss hier liegen bleiben, draußen im Vorraum. Ich muss meinen Ehrgeiz bezähmen, die höchste Vorsicht ist geboten, nicht wegen dieser jämmerlichen Haraniwakas, sondern wegen der Anglisi, die dann doch eine Untersuchung anstellen werden, und bei denen gibt es keinen Aberglauben, dass etwa Dragobar die Leichen hier herein geschleppt und gar habe gefressen oder sonst wie verschwinden lassen können. Die Weiber können in ihrer Einbildung nur eine Vision gehabt haben, vor Schreck hat diese beiden hier der Herzschlag getroffen. Oder es sind ihnen giftige Dünste, die sich hier angesammelt hatten, entgegengeschlagen, das macht die Sache noch viel einfacher.«
So wurde das noch einmal aufflackernde Leben der jungen Haraniwaka einfach mittels der Hände vollends ausgelöscht. Zum Bewusstsein war sie überhaupt gar nicht mehr richtig gekommen.
»Verzeihe mir, heilige Kali«, flüsterte die Mörderin während dieser Henkersarbeit feierlichst, »dass ich Dir ein Opfer, das ich Dir schon zugedacht hatte, entgehen lasse. Ich gelobe Dir hiermit, Dir dafür sieben Jungfrauen in sieben Gräber zu legen. Aum.«
Einige Stunden später stand die indische Detektivin vor ihrem Herrn und Meister. Die Militärposten waren schon zurückgezogen worden, oder der Befehl dazu doch schon gegeben, morgen früh sollte hier das Hauptquartier abgebrochen werden. Man hatte mit dem selbstständigen Frauenkönigreiche nun doch gar nichts mehr zu tun, es wäre ja auch wider alles Völkerrecht gegangen, nun außerhalb der neutralen Zone eine Militärmacht liegen zu haben.
Punscha hatte ihren Erfolg berichtet und wie es ihr in der allgemeinen furchtbaren Verwirrung, die in dem Tale herrschte, ein Leichtes gewesen war, wieder zu entkommen. Niemand hatte es gesehen, es gab überhaupt gar keine Wache mehr.
Mit eiserner Ruhe hatte der Tigergraf zugehört, ohne mit einem Worte zu unterbrechen.
»Sonst noch etwas?«
»Ich habe geendet.«
»Was wollen die Frauen jetzt tun?«
»In jeder Minute werden tausend Pläne gemacht und sofort wieder verworfen. Sie leiden schon Durst, das ist die Hauptsache.«
»So gehen sie einfach in die Kammer, mauern das Loch wieder zu, dann fängt die Quelle wieder an zu fließen. Oder wahrscheinlich können sie gleich mit einem Seileimer herausschöpfen.«
»Ich habe die Panzertür natürlich wieder verschlossen und außerdem —«
»Sie wird doch noch herausgesprengt, die Weiber vollenden ihr Werk.«
»Das ist ganz ausgeschlossen, von denen wagt sich keine einzige wieder an die Panzertür, nicht einmal in den Vorraum, in dem die beiden Leichen liegen, sie werden nicht einmal hineinblicken —«
»Kannst Du dafür garantieren, dass sie es nicht tun werden?«
»Ja, dafür kann ich garantieren.«
»Womit?«
Ja, womit — das war nun eine Frage.
»Nein, Punscha, Du hättest, wie es ausgemacht war, unter allen Umständen in der verschlossenen Höhle bleiben sollen, bis ich selbst in dem Tale war, und ich hätte Dich unbemerkt schon wieder herausgeholt. Ich bin höchst unzufrieden mit Dir, Du hast Deinen Auftrag nur halb erfüllt —«
»Unzufrieden mit mir?! Nur halb erfüllt?!«, fuhr da die Inderin empor.
»Nicht einmal zum dritten Teil, gar nichts hast Du erfüllt. Wenn die Weiber jetzt —«
»Du willst mich nur abermals um meinen Lohn betrügen!«
»Halte Deine Zunge im Zaume!«, erklang es eisern zurück, ohne weitere Drohung. »Du hättest unter allen Umständen in der Höhle ausharren müssen, und wenn es vierzehn Tage gewesen wären. Das ist für Dich eine Kleinigkeit, auch ohne Essen und Trinken, oder ich selbst hätte Dich nicht trainiert. So warst Du instruiert. Warum hast Du das nicht getan?«
Dieser Mann hätte nicht so scharfe Augen zu besitzen brauchen, um sich diese Frage nach dem »Warum nicht?« selbst zu beantworten.
Das Gesicht der jungen Inderin war ein ganz anderes geworden, aber das hatte nichts mit Schauspielerei zu tun, die braune Farbe hatte sich in ein Grau verändert, die Augen lagen schrecklich tief in den Höhlen, die Backenknochen traten weit hervor, die Nase war ganz spitz geworden.
Und daran konnte die Gauklerin nichts ändern, nur mit aller Energie vermochte sie noch das Zittern ihrer Glieder zu unterdrücken.
»Sage, Punscha, warum bist Du nicht in der Höhle geblieben, wie ich Dich instruiert hatte?«
»Weil ich es nicht lange mehr ausgehalten hätte!«, erklang es leise und röchelnd.
»Weshalb hättest Du es denn nicht aushalten können?«
»Weil ich krank bin, todeskrank!«, wurde noch röchelnder geflüstert.
Diesmal hohnlachte ihr Meister.
»Ach was, Du und krank! So was gibt's ja gar nicht. Was fehlt Dir denn?«
»Wenn Du wüsstest, was ich in der vorigem Nacht durchgemacht habe, und nun der Natur gespottet, den Ausbruch des Wundfiebers mit Gewalt unterdrückt — ich bin — ich kann nicht mehr —«
Und sie brach bewusstlos zusammen.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie gut gebettet auf einem Diwan, der unter blühenden, duftenden Zweigen in einem Garten stand. Büsche verwehrten die weitere Aussicht.
Neben ihr stand Graf Adelare.
»Nun, wie geht's?«
Sie hätte gleich aufspringen mögen, so wohl und kräftig fühlte sie sich.
»Wie lange habe ich bewusstlos gelegen?«
»Vier Tage und Nächte.«
Die Inderin wunderte sich nicht, wusste nun auch gleich noch mehr.
»Du hast mich in hypnotischem Schlafe gehalten?«
»Ja. Du hast darin das Wundfieber durchgemacht.«
In dieser Hinsicht dürfte dieser künstliche Schlaf, der beliebig lange angehalten werden kann, noch einmal zum Segen der leidenden Menschheit werden.
»Und die Haraniwakas?«
»Das ist bereits alles in Ordnung!«, lachte der Graf.
»Sie haben ihr Tal schon verlassen?«
»Ja, Sie sind bereits auf dem Marsche nach Langolan, wo man ihnen ein anderes weites, sehr fruchtbares Gebiet angewiesen hat, das sie bewirtschaften können, das aber nicht durch unübersteigbare Felsenwände eingeschlossen ist, und so eine größenwahnsinnige Spielerei wie mit einem selbstständigen Königreiche kommt natürlich auch nicht wieder vor.«
»Und was ist es nun mit dem Tale?«
»Das gehört bereits einer Diamantenminengesellschaft. Die Weiber in ihrer Kopflosigkeit haben ihr ganzes Königreich für ein Butterbrot hingegeben. Eben für jene paar Felder.«
»Und der Bach, fließt der wieder?«
»Nein, so schnell soll das lieber nicht geregelt werden, da will man doch noch ein bisschen warten, um keinen bösen Argwohn zu erwecken.«
»Ist denn das Loch nicht wieder zugemauert worden?«
»Das wohl, das musste noch im Beisein der Haraniwakas geschehen, wenn die auch von alledem nichts mehr wissen wollten; aber man hat noch für ein paar andere Löcher gesorgt, die ebenfalls den Wind herauspfeifen lassen. Übrigens ist die Gesellschaft gar nicht so recht zufrieden mit den Diamanten. Dort, wo die Haraniwakas zufällig gegraben haben, scheinen gerade einmal recht schöne, wasserhelle gelegen zu haben. Diamanten findet man überall wohl in Menge, aber nur ganz gelbe, die wertloseste Art. Na, das geht uns ja gar nichts an, wir haben unseren Lohn bekommen?«
»Wir? Ja, Du den Deinen. Aber ich? Sagst Du nun immer noch, ich hätte meine Aufgabe nicht gelöst?«
Der Bluthund von Indien konnte auch zärtlich sein. Lächelnd streichelte er ihr die Wangen.
»Nein, meine Punscha, Du hast sie vollkommen gelöst, ich bin mit Dir sehr, sehr zufrieden —«
»Und dann bin ich auch frei?!«, rief das Weib mit blitzenden Augen, sich halb aufrichtend.
»Selbstverständlich. Ich habe Dir doch mein Ehrenwort gegeben.«
»Ich kann gehen, wohin ich will?«
br>»Du kannst fernerhin ganz auf Deine eigene Faust arbeiten. Und wenn ich mich einmal mit Dir verbinden möchte, so muss ich Dich darum bitten.«
»Und das Mittel, durch das man jedem Menschen jedes Geheimnis entlocken kann, selbst wenn es ein asketischer Fakir ist, das gibst Du mir auch?!«
An diesem Mittel schien ihr ebenso viel gelegen zu sein wie an ihrer Freiheit oder ohne jenes war ihr diese nichts wert.
Ja, wenn man nur einmal solche Fakire zum Sprechen bringen könnte, obgleich die noch auf der untersten Stufe der Yogalehre stehen geblieben sind.
»Selbstverständlich, auch dieses Mittel bekommst Du geliefert. Der Graf Adelare hat noch immer sein Wort gehalten. Komm, ich will Dir gleich zeigen, wie man es macht. Du kannst gleich liegen bleiben.«
Und schon hatte er sie mit sanfter Gewalt zurückgedrückt, gleichzeitig aber auch ihren Arm am Handgelenk festgeschnallt, ebenso schnell den anderen.
Es war ein eigentümlicher Diwan. Alles war vorhanden, um einen Menschen von oben bis unten festzuschnallen.
»Ist es unbedingt nötig, dass man den Betreffenden immer festschnallt?«, fragte die Detektivin, die sich alles ruhig gefallen ließ.
Der Graf hatte bei ihrer Erziehung und Dressur noch ganz andere Prozeduren vorgenommen.
»Ja, das ist unbedingt notwendig.«
»Weshalb?«
»Na, weil der Kerl sonst einfach ausreißt!«, lachte der Polizeigeneral. »Komm, nun Deine Füße noch. So, auch das wäre geschehen. Nun werde ich an Dir selbst demonstrieren, wie man jedem Menschen auch sein Geheimnis entreißen kann. Sage mal, Punscha, wo ist denn damals Dein Kollege geblieben?«
Das lächelnde Gesicht des Grafen hatte sich plötzlich furchtbar verändert. Ja, jetzt konnte man glauben, dass der sonst so harmlos aussehende Mann den Namen des Tigergrafen oder des Bluthundes von Indien verdiente.
Wenn auf diese Frage hin in dieser Situation mit der Detektivin innerlich etwas vor sich ging, so war ihr doch nicht das Geringste davon anzumerken, die hatte sich wieder in der Gewalt.
Ganz unbefangen blickte sie den Frager an, nur etwas verwundert.
»Was für einen Kollegen meinst Du denn?«
»Stelle Dich doch nicht verwundert! Ich habe Dich oft genug deshalb gefragt! Meinen eingeborenen Detektiv meine ich, den Sarrakal, der Dir vielleicht noch etwas überlegen war, noch mehr Teufelskünste konnte als Du. Wo ist der damals in Lahore geblieben?«
»Ja, danach hast Du mich oft genug gefragt. Und ich muss Dir immer wieder antworten: Ich weiß es nicht. Ich bin damals gar nicht mit Sarrakal zusammen gewesen.«
»Du hast ihn verschwinden lassen! Ermordet! Einmal aus Neid, aus Eifersucht, weil ich ihn Dir manchmal vorzog. Und zweitens, weil er ein Rezept zu einer besonderen Substanz schriftlich bei sich trug. Das hast Du ihm entwendet!«
»Diese Anklage hast Du schon mehrmals gegen mich erhoben. Was denn nur für ein Rezept?«
»Das sollst Du mir eben sagen. Ich habe Dich jetzt in den vier Tagen vergebens in der Hypnose bearbeitet. Eigentlich habe ich ein Verfahren, um auch den hartnäckigsten Widerstand in der Hypnose zu beseitigen, aber mit Dir Teufelsweib war wiederum nichts anzufangen. Jetzt greife ich zu meinem letzten Mittel, und pass auf, wie schnell ich Dein Geständnis herausbekommen habe, ich soll es Dir ja zeigen, wie's gemacht wird. Nun pass nur gut auf.«
Er zog ein Federmesserchen aus der Westentasche und bückte sich dort, wo ihre nackten Füße unter der Decke hervorsahen.
Bei dieser Gelegenheit, als er mit dem Kopfe verschwand, ließ die Inderin einmal wild ihre Augen umherrollen, als suche sie eine Hilfe.
Doch gleich war sie wieder ganz ruhig, gerade dadurch, dass sie fühlte, wie er das Messerchen an ihre Sohlen setzte.
»Martere mich, wie Du willst, schneide mir die Sohlen auf, die Füße stückweise ab — ich kann nichts anderes aussagen, als —«
»O, ich denke gar nicht daran, Deine zierlichen Füßchen zu verstümmeln. Tut das etwa weh?«
Er ritzte nur ihre Fußsohlen, ganz vorsichtig, ließ das Messerchen wohl noch durch die Haut gehen, aber auch nicht tiefer, kein Tröpfchen Blut kam hervor.
»Sieh, das ist die ganze Kunst. Nur einige Schnitte in die Haut.«
»Und damit willst Du auch einem Fakir ein Geständnis entlocken?«, lachte Punscha, sich scheinbar wieder nur für dieses Experiment interessierend.
»Lache nur nicht zu früh. Du wirst schon noch genug lachen. Dies war der erste Teil. Sieh, hier habe ich ein Fläschchen mit konzentrierter Salzlösung. Einfaches Kochsalz, in einfachem Wasser aufgelöst. So, damit schmiere ich Dir die Fußsohlen ein. Na, wie tut's?«
»Es schmerzt, es brennt sehr.«
»Ach geh doch weg, Du und Schmerzen! Dir könnte man doch die ganzen Sohlen aufschneiden und Salzsäure hineinschmieren, Du würdest keinen Schmerz fühlen.«
»Das stimmt allerdings. Weil ich nicht will. Ich konstatiere aber, dass es sehr brennt, dass andere, normale Menschen schon jetzt ziemliche Schmerzen empfinden würden.«
»Wirklich? Na, Du wirst gleich noch etwas ganz anderes konstatieren können, Bist Du für Humor empfänglich? Warte, ich will Dir einen guten Witz erzählen, Du sollst Dich einmal auslachen. Komm, mein Böckchen.«
Er war einmal ins Gebüsch gegangen und erschien gleich darauf mit einem stattlichen Ziegenbock wieder.
»So, nun lecke, mein Tierchen.«
Der Ziegenbock witterte sofort das Salz, ließ sich nicht zweimal einladen, begann sofort gierig an den nackten, leichtgeritzten Fußsohlen zu lecken, und der Graf sorgte immer für neue konzentrierte Salzlösung.
»Hahahahahaha«, begann da die Festgeschnallte aus vollem Halse zu lachen, sich in ihren Banden windend, »das ist ja ein komisches Gefühl, das halte ich nicht aus —«
»Nicht? Willst Du mir dann sagen, wo Sarrakal geblieben ist?!«
Da merkte die Detektivin, was jener bezweckte. Aber das Richtige ahnte sie doch noch nicht, sie kannte eben nicht dieses Mittel, welches im dreißigjährigen Kriege die Schweden anwandten, um zu erfahren, wo man sein Geld vergraben hatte — das heißt das letzte Mittel, wenn vorher keine andere Folter geholfen hatte. Und eine Ziege oder Kuh war ja auch nicht immer zur Stelle.
Die Inderin wollte sich beherrschen. Ganz unmöglich.
Dieses Weib hätte man rädern und lebendig schmoren können, es hätte keinen Schmerzensruf von sich gegeben, nicht mit der Wimper gezuckt. Aber lachen musste es.
»Hahaha — höre auf, höre auf, ich kann nicht mehr —«
»Wo ist Sarrakal geblieben?«
»Ich weiß es nicht — hahaha — ich sterbe — ja, ja, ich will alles gestehen —«
Es war schon ein Henkersknecht zur Stelle, ein alter Inder mit pockennarbigem Gesicht. Der zog jetzt auf des Grafen Wink die Ziege etwas zurück.
»Nun, was hast Du zu gestehen?«
Das junge Weib hatte sich schon halb in Krämpfen gewunden, jetzt lag es keuchend da, brauchte einige Zeit, ehe es sprechen konnte, und so lange wartete der Graf geduldig.
»Ich habe nichts zu gestehen — ja, Du entsetzlicher Mensch, jetzt weiß ich es, durch dieses Kitzeln erzeugst Du ein Lachen, das aber nur den fürchterlichsten Schmerz ausdrückt — dem kann wirklich kein Mensch widerstehen, jetzt glaube ich es selbst —«
»Wo Sarrakal geblieben ist, das will ich wissen!«
»Aber Du kannst dadurch auch einen Unschuldigen veranlassen, ein Verbrechen zu gestehen, so wie ich es jetzt tun wollte — hahahaha!«
Ein Wink, und der alte Inder, der unterdessen die Sohlen mit frischer Salzlösung bestrichen hatte, ließ die Ziege weiter lecken.
»Hahahaha — höre auf — höre auf — ich sterbe — ich gestehe alles — ja, ja, ich habe Sarrakal ermordet — hahahaha —«
Sie konnte ja vor Lachen nicht sprechen. Erst aber ließ der Graf sie noch einige Zeit weiter lachen, bis er die Ziege wieder entfernte.
Diesmal dauerte es viel längere Zeit, bis sich Punscha erholt hatte, und wenn sie vielleicht immer noch zögern wollte, so brauchte der Graf nur zu drohen, nur ein Zungenschlag der Ziege, und sie gestand alles.
Sie hatte den indischen Detektiv ermordet, ihm den Leib aufgeschlitzt, weil sie in seinem Magen eine Kapsel vermutet hatte, die ein für sie sehr wichtiges Schriftstück barg. Der Mord war vergebens gewesen, sie hatte die Kapsel nicht gefunden, hatte aber doch wenigstens einen verhassten Nebenbuhler beseitigt.
»So, nun weißt Du alles. Ja, Deinem fürchterlichen Mittel kann man nicht widerstehen, jetzt weiß ich es. So fürchterlich ist es, dass man nicht einmal daran denkt, durch den Tod diesen lachenden Qualen zu entgehen. Du hast mich zum Geständnis gezwungen, aber den Folgen entziehe ich mich noch nachträglich —«
Eine krampfhafte Bewegung der Halsmuskeln — sie hatte ihre ganz hinten an dem Gaumen angelegte Zunge verschluckt. Die Fakire und andere Asketen bringen es sogar fertig, ihre Zunge zusammenzurollen.
»O nein, mein Täubchen«, hohnlachte aber der Graf, »bei dieser meiner Folter gibt es auch keinen derartigen Selbstmord, sonst hättest Du doch überhaupt schon vorher die Zunge verschluckt, wenn es Dir nur möglich gewesen wäre. Schnell, Daka!«
Die Ziege leckte gierig das frische Salz, und lachend sprudelte die Inderin die Zunge wieder hervor, lachte weiter.
Kaltblütig blickte der Graf nach seiner Uhr.
»Ich könnte Dir auch die Arme freigeben, um Dir zu beweisen, dass Du auch nicht imstande bist, Dir die Pulsadern aufzubeißen, vor Lachen kannst Du das nicht, nicht durch einen blitzschnellen Biss. Auch mit einem Rasiermesser könntest Du sie nicht aufschneiden, keinen Revolver vor Deiner Schläfe abdrücken. Du musst lachen, lachen, lachen. Allein ich habe keine Zeit mehr, ein Geschäft ruft mich, und zu diesem Geschäft gebrauche ich jene Substanz, zu deren Herstellung Sarrakal das Rezept bei sich hatte, das Du aber nicht gefunden hast. Nun sollst Du auch noch dieses Rezept kennen lernen. Eine Anwendung wirst Du freilich nicht mehr machen können, eben weil Du mir diese Substanz selbst liefern sollst, und von Dir Teufelsweib aus der Hölle muss sie wohl doppelt wirksam sein.«
Das fürchterlich lachende Weib hatte den Sprecher natürlich nicht gehört, aber das verlangte der Graf auch gar nicht. Er zog aus der Tasche ein Futteral, öffnete es und entnahm ihm drei kleine silberne Dosen, in die Watte gestopft war.
Diese drei Dosen setzte er geöffnet auf den Diwan, dorthin, wo sie von der sich Wälzenden noch nicht berührt wurden, und wartete des Weiteren.
Die Ziege leckte, und das junge Weib lachte und lachte, lachte immer grässlicher. Es war schon kein Lachen mehr, nur noch ein unbeschreibliches röchelndes Brüllen. Und nicht lange dauerte es, so brachen auf ihrer Stirn, im Gesicht und wahrscheinlich überall, Schweißtropfen hervor.
Der Graf nahm aus der einen Dose die Watte und tupfte mit dieser die Schweißtropfen auf, barg die getränkte Watte, nahm neue.
Wozu sammelte er den Schweiß?
Der Todesschweiß soll ein furchtbares Gift sein.
Soll?
Seit uralten Zeiten behauptet dies der Volksaberglaube, weiß schauderhafte Geschichten zu erzählen, wie es Menschen gegeben hat, böse »Zauberer«, die andere Menschen unter den schrecklichsten Qualen langsam zu Tode gemartert haben, nur um ihren vergossenen Angst- und Todesschweiß aufzusammeln, um damit ihre schwarze Kunst zu treiben, um Gifttränklein zu brauen, die wahnsinnig machten, oder sie trieben mit solchen Präparaten auch einen schwunghaften Handel.
Heute erkennt die Wissenschaft an, dass der verlachte Volksaberglaube recht gehabt hat.
Nicht nur, dass der sogenannte Todesschweiß, Anthropotoxin, ein furchtbares Gift ist, sondern dass sich auch durch andere Schweißarten, in den verschiedensten Gefühlserregungen aus den Poren gepresst, durch Einspritzung dieses Schweißes ins Blut die verschiedensten Effekte erzielen lassen. Mindestens weiß man ganz bestimmt durch mikroskopische und chemische Untersuchung, dass sich das Blut und daher auch der Schweiß durch Gemütsbewegungen und Affekte verändert. Das Blut und der Schweiß eines Menschen, der sich in fröhlicher Laune befindet, ist ganz anders beschaffen als Blut und der Schweiß eines Zornigen.
Übrigens hätte man dazu kein Mikroskop und keine chemischen Apparate gebraucht, um das zu wissen. Dazu hätte schon die Logik genügen müssen. Denn dass die Mutter mit ihrer Milch dem Kinde ihre Gemütsaffekte einflößt, das ist schon immer als beweisbare Tatsache bekannt gewesen. Die Milch aber wird doch erst durchs Blut gebildet.
Nun ferner hat der Engländer Robert Fludd dem »Volksaberglauben« dadurch zu seinem Rechte verholfen, indem er in seiner »Philosophia mosaica« Hunderte von beglaubigten Beispielen erzählt, in Gerichtsakten heute noch nachzulesen, wie besonders im Mittelalter gewisse Leute einen förmlichen Beruf daraus machten, Menschen langsam zu Tode zu martern, um ihren Schweiß aufzusammeln, und sie machten einen genauen Unterschied, was das für Qualen waren, an denen die Opfer zuletzt starben. Es sind schauerliche Berichte. Harmlos ist noch die Spezialität eines spanischen Juden in Tunis, der seinen Opfern mit Gewalt die Kiefer auseinander schraubte, ihnen Speisen vorsetzte und sie so langsam verhungern ließ, nur um den aus dem Munde triefenden Speichel aufzusaugen, dessen Wirkungskraft umso besser wurde, je näher der Mann dem Tode kam. Diesen Speichel verkaufte er dann als Appetitanreger, und sein Geschäft ging so gut, dass er für einen irländischen Matrosen, der auf den Sklavenmarkt kam, 300 Pfund Sterling zahlte, was heute die dreifache Summe zu bedeuten hätte, 20 000 Mark, nur deshalb, weil der Mann ein kolossaler Fresser war, dessen im Hunger ausgepresster Speichel ganz besonders wirksam sein musste. Bei dem Verkauf dieses Mannes hatten sich zwei solche Spezialisten überboten. Und noch heute ist die Buchführung dieses spanischen Juden vorhanden, aus der man sieht, wohin er seine Präparate verkaufte. Besonders viele Klöster sind angeführt, in denen damals ja auch im Fressen Erstaunliches geleistet wurde —
Als dann richtiger Krampf auftrat, sich vor dem Munde Schaum bildete, sammelte der Graf auch diesen mit der Watte sorgsam auf, aber mit einer anderen, die kam wieder in eine andere Dose, und die nahm den letzten Schweiß einer Toten auf.
Die Inderin hatte sich zu Tode gelacht, wenn sie zuletzt freilich auch nicht mehr gelacht hatte. Es waren fürchterliche Krämpfe gewesen, denen sie erlegen.
»Entsetzlich!«, hauchte Atalanta.
Sie hatte durch den Boden des Luftschiffes diese Szene beobachtet, wobei es also ganz gleichgültig war, in welcher Höhe sich der »Aeolus« aufhielt.
Auch gehört hatte sie alles, denn der Boden konnte auch akustisch wie ein Telefon gemacht werden.
Neben ihr stand Kapitän Nowhere, und er hatte nicht nötig gehabt, sie daran zu hindern, dass sie etwa eingriff, um die Unglückliche zu retten.
»Sie hat den Tod verdient!«, setzte Atalanta noch hinzu, »Sie war eine Pharsingara, wer weiß, wie viele unschuldige Menschen sie schon erdrosselt hat. Solch ein schreckliches Ende wäre allerdings nicht nötig gewesen, aber — ich habe von Ihnen schon etwas gelernt. Sie hat das geerntet, was sie gesät hat — es kann nur eine gerechte Wiedervergeltung gewesen sein, und einmal wäre sie ihrem Schicksal, ihrer Strafe doch nicht entgangen. Aber diesen Teufelsgrafen — sollte man die Menschheit nicht von dieser Bestie befreien?«
»Dieser Bestie?«, wiederholte der Kapitän. »Fragen Sie nur dort unten die Menschheit, soweit sie ehrbar ist, wie zufrieden die mit dem Polizeigewaltigen von Indien ist. Der hat es doch nur auf die Verbrecher abgesehen, der befreit die Menschheit von Bestien. Dass der immer Glacéhandschuhe anzieht, das kann man von solch einem Manne natürlich nicht verlangen. Was die Weiberkolonie anbetrifft, so hat er da ja nun allerdings einen heimtückischen Streich begangen, aber von dem gilt doch genau dasselbe —«
»Sie haben recht, Sie haben recht!«, fiel ihm Atalanta ins Wort, »Ja, auch der wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen. So weit haben Sie mich schon, dass ich an solch eine Wiedervergeltung glaube; deshalb will ich freilich nicht gesagt haben, dass ich nicht einmal eingreife, wenn mir die Sache zu toll wird. Hier aber will ich es nicht tun, das Frauenkönigreich in dem engen Tale war ein phantastisches Hirngespinst und —
Doch genug, das habe ich hinter mir. Und nun fort von hier, ich habe vorläufig genug von dem paradiesischen Indien.«
Acht Tage später hatte der »Aeolus« statt tropischer Gefilde Schnee und Eis unter sich, obgleich man sich noch immer im Hochsommer befand.
Auf dem 84. Breitengrade, nur noch 100 Meilen vom Nordpol entfernt.
Aus dem Riesenleibe des Luftschiffes kroch ein Boot, bemannt mit Eskimos; wenigstens hatten sie solche Pelzkostüme an, nur dass sie die Gesichter noch nicht verhüllt hatten.
Das Luftboot, das nur in der Nähe des Riesenschiffes einen kleinen Eindruck machte, erhob sich höher, um noch einmal das Deck des »Aeolus« zu überblicken.
Da auf diesem die Matrosen in ganz leichter Kleidung arbeiteten, durfte man versichert sein, dass sich über das ganze Deck die Omnihilitglocke wölbte, unter der es behaglich warm war, denn hier in der Nähe des Nordpols herrschte natürlich eine grimmige Kälte, noch dazu in einer Höhe von mehr als tausend Metern.
Da sich diese glasartige Schutzhülle nicht beschlagen hatte, woraus natürlich die schönsten Eisblumen geworden wären, musste es entweder eine doppelte sein oder wahrscheinlicher wusste man dies durch irgend ein Mittel zu verhindern, dieses Omnihilit nahm die Feuchtigkeit der Atmosphäre eben nicht an.
Außerdem befand sich an Deck eine Dame, und an Bord dieses Luftschiffes gab es nur eine einzige weibliche Person, die den Titel einer Dame für sich in Anspruch nennen konnte — — die Gräfin Atalanta von Felsmark.
Sie saß ganz vorn an Deck, wo es nach ihren eigenen Zimmern hinabging, in einem Klappstuhl, war ganz in ein Buch vertieft.
Erst Zurufe von Matrosen machten sie auf das Luftboot aufmerksam, sie erhob sich schnell, ging an die unsichtbare Bordwand, winkte lebhaft, erst mit der Hand, dann mit einem weißen Tuch, das sie aus der Tasche gezogen.
Die meisten Insassen des Luftbootes erwiderten die Grüße — von Kapitän Hagen zum Beispiel konnte man so etwas ja nicht verlangen — am eifrigsten winkte ein kleiner Eskimo, der aber einen blonden Knebelbart hatte.
Es war Nunrmer acht, der zweite Offizier vom »Aeolus«, auf dem nur die farbigen Diener und Arbeiter Namen führten.
»Nein, wie natürlich!«, wandte sich dieser jetzt an Kapitän Nirgendwo. »Wie oft schon habe ich mein wesenloses Spiegelbild sich selbstständig an Deck bewegen sehen, und immer wieder gerate ich außer mir vor Staunen.«
Die Sache war also die, dass der Eskimo mit dem blonden Knebelbarte Atalanta war, die hatte das Aussehen des zweiten Offiziers angenommen, mit dem sie gleiche Größe besaß, und die Dame, die dort winkte, das war nur ein durch den kinematografischen Augenspiegel, wie wir den Apparat nennen wollen, erzeugtes Phantom.
Jetzt legte diese wesenlose Atalanta die Hände trichterförmig vor den Mund.
»Bringt mir einen Eisbären mit!«, rief sie nach dem in noch beträchtlichem Abstande stillschwebenden Luftboote hinüber.
Für einen anderen wäre an diesem Rufe doch nichts weiter gewesen, die meisten der Bootsinsassen aber wurden wieder vom größten Staunen befallen, am meisten die Gräfin.
»Wie, auch sprechen kann mein wesenloses Ebenbild jetzt?!«
»Na, was ist denn da weiter dabei?«, knurrte Hagen. »Es kann doch überhaupt auch jemand anders gerufen haben, wir sollen einen Eisbären mitbringen. Natürlich hat das irgend ein Mensch gerufen.«
»Aber es war Atalantas Stimme, ganz genau!«, sagte Arno.
»Na, die versteht der Betreffende eben nachzumachen.«
»Nein, es war kein anderer Mensch, der diese Stimme nachgemacht hat!«, lächelte Kapitän Nowhere.
»Na, dann war's eben ein Grammofon!«, knurrte Hagen nur immer verdrießlicher.
»Nein, es ist auch kein Grammofon, dieses wesenlose Luftbild spricht wirklich.«
»Na dann meinetwegen mag es sprechen. Wollen wir hier in der Luft kleben bleiben oder unser Ziel aufsuchen?«
Aber die Gräfin, die hier wie immer den Ausschlag gab, hatte es nicht so eilig, zu der vereisten Erde hinabzugelangen.
»Mein Luftbild kann jetzt auch ganz selbstständig sprechen?«
»Ganz selbstständig — soweit man da von Selbstständigkeit sprechen darf!«, lächelte Kapitän Nowhere. »Es ist dies die neueste Erfindung von unserem Mephistopheles, oder doch ein höchst geschicktes Arrangement. Natürlich muss jemand dahinter stecken.«
»Ich kann auch in der dichten Nähe mit ihr sprechen?«
»Als wäre es wirklich die Frau Gräfin von Felsmark.«
»Ach, da möchte ich doch erst einmal hin!«
»Bitte sehr.«
Das Luftboot schwebte wieder dem »Aeolus« zu, Hagen gab sein Brummen als zwecklos auf.
»Aber können das die Mahatmas nicht hören, die Sie immer beobachten?«, fragte Arno.
»Beobachten, aber nicht belauschen. Das können sie nicht, sonst dürften wir uns doch auch nicht so unterhalten.«
»Ach ja, natürlich! Mir fiel nur gerade ein, weil doch auch wir in jeder Höhe durch die akustischen Platten hören können, was irgend jemand auf der Erde spricht.«
»Irgend jemand? O nein. Nur denjenigen, den wir auch direkt sehen können. Nicht nur indirekt. Also nicht nur durch Spiegelung wie in der Camera obscura. Das wäre schlimm, wenn die Mahatmas auch das könnten, dann müssten wir, wenn die Maskierung der Frau Gräfin einen Zweck haben sollte, ja auch in unserer Unterhaltung kolossal vorsichtig sein.«
»Könnten aber die Mahatmas nicht solch eine Erfindung machen, dass man uns auch auf jede Entfernung hin belauschen kann?«
»Ja, möglich wäre solch eine Einrichtung, warum nicht.«
»Und wenn sie diese Einrichtung nun schon hätten, alles hörten, was wir hier sprechen?«
»Dann würde ich rechtzeitig davon benachrichtigt werden, dass ich mich noch schützen kann, ehe man mein Luftschiff hinabstürzen lässt, weil sich die heilige Gräfin ja gar nicht an Bord befindet.«
»Ah, Sie haben wohl bei den Mahatmas einen Spion?!«, rief Atalanta.
»Einen Vertrauensmann, der mich immer auf dem Laufenden erhält.«
»Ganz richtig, das nennt man einen Spion!«, nahm Hagen wieder einmal das Wort.
»Meinetwegen, nennen Sie ihn einen Spion. Zwei Mächte, die gegenseitig auf feindlichem Fuße stehen, können eben ohne Spione nicht auskommen.«
»Sollten aber da die Mahatmas nicht auch an Bord Ihres Luftschiffes einen Spion unterhalten?«
»Ausgeschlossen. Auf meine Leute kann ich mich verlassen, auf jeden einzelnen.«
»Dann wohl Ihnen!«
Das Boot hatte das Luftschiff erreicht, schwebte noch etwas über Deck, konnte ja wegen der Omnihilitwand nicht weiter gehen.
Nun aber hätte jemand sagen sollen, dass dies nicht Frau Gräfin von Felsmark selbst war, die dort in handgreiflicher Nähe stand!
Und jetzt begann die durch den Augenspiegel vorgetäuschte Erscheinung auch zu sprechen, das erste Mal, dass sie es tat, und es war eben vollständig Atalanta.
»Nun, meine Herren, Sie kommen zurück?«
Niemand wusste gleich, was er sagen sollte, starrte vor Staunen.
»Ich mache Sie darauf aufmerksam, meine Herren, dass wir in einer Camera obscura, die im Himalajagebirge oder sonst wo aufgestellt ist, beobachtet werden. Besonders Du, Arno, mache doch nicht ein so furchtbar dummes Gesicht. Und Sie, Mister Acht, Sie könnten sich gelegentlich einmal rasieren lassen. Sonst sind Sie ja ein bildschöner Kerl, besonders Ihr Knebelbart, wie aus ungekämmtem Flachs zusammengeklebt — faktisch, ich habe mich sterblich in Sie verliebt. Du hast doch nichts dagegen, Arno? Du hast überhaupt gar nichts zu sagen. Na, nun macht nur, dass Ihr weiterkommt!«
So hätte die richtige Atalanta nun freilich nicht geredet.
Es war eben der Mephistopheles, der dahinter steckte.
Das Luftboot fuhr in horizontaler Linie davon, also noch immer mehr als tausend Meter über der Erdoberfläche, schneller und immer schneller.
Es war das allererste Mal, dass Kapitän Nowhere einen Ausflug im Boote mitmachte, überhaupt das Luftschiff verließ. Dies musste eine Frage aufwerfen. Atalanta leitete sie ein.
»Auch dieses Boot wird jetzt von den Mahatmas beobachtet?«
»Jede Bewegung, die wir ausführen.«
»Kennen die Beobachter Sie persönlich? Ihr Gesicht?«
»Und wie gut!«
»Und sie können aus jeder Entfernung auch die Erdschwere dieses Luftbootes plötzlich wieder einschalten, dass es niederstürzen müsste?«
»Das können sie.«
»Weshalb tun sie es nicht, da auch Sie sich darin befinden. Dann hätte man Sie, den die Mahatmas als ihren Feind betrachten, doch gleich für immer beseitigt?«
»Ich bin nicht ihr Feind. Nur ein Abtrünniger, den sie gern wieder in ihren Kreis zurückführen möchten. Vor allen Dingen aber dürfen die Mahatmas nicht einmal ein Tierchen mit Absicht töten. Nun allerdings wird ja auch alles getötet, wenn sie das Luftschiff einmal herabsausen lassen, aber das ist eine Ausnahme. Das Luftschiff ist es, das ich ihnen entführt habe, dieses muss vernichtet werden, es wird als tote Materie betrachtet, was sich lebendig darauf befindet, kommt diesmal nicht in Betracht. Es ist eben dem Tode verfallen.
Nun möchten Sie sagen: Dann könnten die Mahatmas ja auch dieses Boot als Ausnahme betrachten. Nein, die Mahatmas haben einmal den Entschluss gefasst, nur das große Luftschiff zerschmettern zu lassen, und bei denen hat ein einmaliger Entschluss solche Gültigkeit wie ein von Gott geschaffenes Naturgesetz. Es ist nichts mehr daran zu ändern, nicht daran zu rütteln.«
»Das ist sehr schön, solche Konsequenz.«
»Es ist fast göttlich zu nennen. Sie wollen ja auch Gott möglichst ähnlich sein — oder doch werden. Das ist ja auch ein christliches Gebot, danach soll man streben.«
»Es muss Ihren Gegnern aber doch sehr daran gelegen sein, Sie von Ihrem Luftschiff zu entfernen.«
»Weswegen?«
»Nun, indem es dann eben seinen Führer verloren hat.«
»Ich lasse mich nicht von meinen Luftschiffe trennen.«
»Wenn Sie mit diesem Boote auf dem Lande liegen, wird die Erdschwere eingeschaltet.«
»Hat wenig zu sagen, dann holt mich ein anderes Boot zurück.«
»Auch dieses wird flugunfähig gemacht.«
»Aber dieses zweite Boot ist mit dem Luftschiff durch zwei Seile verbunden, so wird es wieder emporgezogen, oder diese Seile können ja auch sofort herabgelassen werden.«
»Könnten sich die Mahatmas nicht einmal Ihrer Person bemächtigen, wenn Sie sich an Land befinden?«
»Dazu müssten sie Helfer haben, und die Mahatmas haben absolut nichts mit der anderen Welt zu tun, sie leben ganz in einem geistigen Reiche. Nein, die Hauptsache ist, dass ich Sie, Frau Gräfin, an Bord meines Luftschiffes habe, durch Ihre heilige Person ist auch mein ›Aeolus‹ gesichert.«
Ein Klingeln ertönte, und sofort stoppte das Luftschiff seine Fahrt.
»So, wir sind am Ziel. Nun, meine Herrschaften, werden Sie erfahren, weshalb ich Sie nach dem Nordpol entführt habe, oder doch in seine dichte Nähe. Sie sollen eine der größten Seltenheiten dieser Erde zu sehen bekommen — eine Rarität, für die unser Mephistopheles gar viel gegeben hätte, wenn er sie in seinem Museum gehabt hätte. Man kann sie nicht immer sehen. Heute ist gerade ein glücklicher Tag. Bitte, wollen Sie unter sich blicken.«
Der Boden des Fahrzeuges wurde durchsichtig gemacht, und da sahen sie es.
Es war eine Polarlandschaft, mit glatten Schnee- und Eisflächen, von denen man nicht wissen konnte, ob sie Land oder Meer bedeckten, auch wenn sich hin und wieder Eisschollen bergehoch auftürmten. Die Berge in der Ferne, das war allerdings sicher Land.
Das hatten sie ja schon immer während der Fahrt gesehen. Jetzt aber hatten sie direkt unter sich ein offenes Meer von grünlicher Färbung, und auf diesem schwamm — ein Fahrzeug!
Man wusste lange nicht, was man daraus machen sollte. Ein offenes Ruderboot, aber eines von so kolossaler Länge, wie es solche heute gar nicht mehr gibt. Nur das erhöhte Hinterteil gedeckt, vorn der Bug noch höher, und außerdem reckte sich daran an langem Halse der Kopf eines fabelhaften Ungeheuers empor.
Und nun eine Menge Männer darin, deren Zahl man auf 200 schätzen musste. Man konnte sie leicht schätzen, denn sie saßen meist in Reihen geordnet, und 80 von ihnen hatten gewaltige Ruderstangen über Bord ausgelegt, auf jeder Seite 40, gewaltige Riemen von — wir wollen gleich Maße angeben — 11 Metern Länge. Die anderen saßen zwischen diesen Ruderern, einige standen auch. Am bemerkenswertesten war der Mann, der vorn auf dem Bug neben dem Ungeheuer stand und mit ausgestreckter Hand in die Ferne deutete.
Dies alles aber nun unbeweglich!
Man konnte leicht an eine griechische oder römische Galeere denken, oder an eine des Mittelalters, die Franzosen haben Sklavengaleeren bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gehabt, die arabischen und malaiischen Seeräuber bedienen sich noch heute sehr großer Ruderboote.
Aber wer dies alles näher kannte, wusste dass hier kein solches Fahrzeug vorliegen konnte. Alle diese alten Rudergaleeren haben ganz anders ausgesehen. Vor allen Dingen bestand hier das Steuerruder aus einem wirklichen Ruder, aus einer besonders mächtigen Riemenstange, die hinten über Bord ausgelegt war, von zwei Männer dirigiert.
Diese Männer selbst konnte man nicht deutlich unterscheiden, so scharf war der vergrößernde Boden des Luftfahrzeuges noch nicht eingestellt, jedenfalls mit Absicht nicht.
»Nun, wofür halten Sie das?«
»Ein Wikingerschiff!«, war Kapitän Hagen der erste, der das rief.
»Sie sagen es.«
Und feierlichst fuhr Kapitän Nowhere fort:
»Meine Freunde — schade, dass wir keinen Hut aufhaben, um ihn abzunehmen — entblößen Sie im Geiste Ihr Haupt — Wikinger — germanische Seehelden — vor mehr als 11 000 Jahren auf der Rückfahrt von Amerika nach ihrer isländischen Heimat begriffen!«
Die, welche dies hörten, wunderten sich nicht — nicht darüber, dass Skandinavier schon vor 1100 Jahren in Amerika gewesen sein sollten. Sie kannten die Historie.
Skandinavien hatte eine ungemein fruchtbare Bevölkerung. Man erzählt von Booten mit 100 Mann Besatzung, die nur aus Brüdern und Vettern bestanden. Solch einem Kindersegen war das arme Land nicht gewachsen. Und vor allen Dingen herrschte das Recht der Erstgeburt. Der erste Sohn bekam Haus und Hof und alles, die anderen gar nichts. Da wurden sie Winkingars, das ist Krieger — sie gingen auf Eroberung aus. Bei der Beschaffenheit ihres Landes konnte natürlich nur das Boot, das Schiff in Betracht kommen. In ihrem eigenen Lande hatten sie ja gar nichts zu rauben.
Zwölf bis hundert Boote, jedes mit 20 bis 150 Mann besetzt, taten sich zusammen, stellten sich unter den Befehl des bewährtesten Kriegers, den man König nannte, und nun ging es los.
Außer Dänemark wurde besonders England furchtbar von ihnen heimgesucht. Alfred der Große, der von 871 bis 901 über England regierte, ein wirklich großer König, hat ganz gewissenhaft Geschichte geschrieben, aber der weiß auch noch nicht, wo diese ungeheuren Räuberscharen herkommen. Es ist ihm ein Rätsel. Es muss irgendwo ein Land geben, in dem nur Knaben geboren werden, immer gleich dutzendweise. Zehntausend werden vernichtet, und zwanzigtausend kommen in neuen Booten wieder.
Dagegen weiß er nicht genug zu erzählen von der Größe und der furchtbaren Kraft und der Kühnheit dieser Wikinger. In England waren damals auch schon Angelsachsen, das waren auch meist blonde Riesen — aber sie waren immer noch Zwerge gegen diese Wikinger. An Waffen besaßen sie wohl Schwerter und Äxte, aber diese gebrauchten sie gar nicht, sie schlugen alles gleich mit Knüppeln tot. Das heißt mit ihren mächtigen Ruderstangen, so schwer, dass die starken Angelsachsen gar nicht begreifen konnten, wie man mit solchen Dingern rudern könnte. Wer so ein elf Meter langes Ruder nicht handhaben konnte, wurde auf die Wikingsfahrt nicht mitgenommen, das war die Prüfung. Mit diesen Ruderstangen schwangen sie sich aus beträchtlicher Entfernung aus ihren Booten, wenn sie nicht landen konnten, ans Ufer, stürmten gegen den Feind an, und wenn man dachte, man wolle einen mit der Lanze aufspießen, so waren sie schon mitten drin in den Feindesreihen, denn sie schwangen sich an ihren Ruderstangen auch über die Köpfe der vorderen Reihen hinweg. Und ihr Anführer hatte eine Lanze, die schleuderte er so weit wie möglich zwischen die Feinde hinein, und diese dem Odin geheiligte Lanze wieder herauszuholen, das war die Ehre, um die alles ging.
Alfred der Große hat sie endlich besiegt. Aber nicht im offenen Kampfe, da waren sie unbesieglich. Er vernichtete die ganze Ernte und zog sich mit allen Vorräten in undurchdringliche Sümpfe zurück. Die eingefallenen Seeräuber mussten bald wieder abrücken, weil sie sonst verhungert wären. Da kamen sie nicht wieder. Nicht als Wikinger, wohl aber als Normannen, um England nun für immer zu erobern.
Denn andere Wikingerscharen hatten sich unterdessen nach Frankreich gewendet, viele von ihnen wurden des Wanderlebens überdrüssig, siedelten sich in der Normandie an, nahmen Töchter des Landes zu Weibern und führten nun den Namen Normannen. Ihre Kinder bekamen immer öfters schwarze Haare, die Männer wurden nicht mehr so groß.
Es ist falsch und unrecht, von jetzt ab die Wikinger als Normannen zu bezeichnen. Es blieben echte Skandinavier genug, echte Wikinger, die weiter drangen, ohne sich irgendwo länger aufzuhalten, als es Krieg und Plünderung erlaubte. Sie mögen Frankreich, Spanien und Portugal umrudert haben, mehr noch aber sind sie die Seine hinaufgegangen, dann andere Ströme und Flüsse suchend, ihre Boote weit, weit über Land tragend. Das meldet die Legende, das wird sicher bewiesen durch zurückgelassene Boote, welche dort gefunden worden sind, wo niemals Wasser gewesen ist.
Die Argonauten, die das goldene Vlies suchten, sollen ihr Schiff in zwölf Tagen und Nächten von der Syrte bis zum tritonischen See über Land auf den Schultern getragen haben, darunter waren riesenstarke Kerls wie Herkules und Theseus. So meldet die griechische Sage.
Die germanischen Skandinavier aber haben in Wirklichkeit noch etwas ganz anderes fertig gebracht. Man hat Schiffe von ihnen, für hundert Ruderer bestimmt, auf den Gipfeln der Pyrenäen gefunden, und die »Argo« fasste nur 50 Mann.
Bei diesen Wanderungen wurden sie natürlich immer weniger, bis sie verschwanden.
Andere Scharen hielten es nur mit dem Meere und den Küstengebieten. Immer weiter ging es nach Westen, auf die Suche nach Abenteuern und Beute. Das unbewohnte Island wurde entdeckt. Nur einige irische Mönche sollen darauf gewesen sein. Hier ließen sich wieder einmal Wikinger nieder, sie entwickelten sich auch geistig sehr hoch — später wurde Island die Hochschule für Europa — unter dem Seekönig Flocke begann die Aufzeichnung der historischen Ereignisse, in Runenschrift noch heute erhalten in der Bibliothek von Kopenhagen.
Im Jahre 932 nach Christi ging Erik Randa, der Sohn des damaligen Seekönigs von Island, mit einigen Ruderbooten nach Westen, umschiffte ein Eisgebiet, fuhr höher hinauf und entdeckte ein herrliches grünes Land, welches er denn auch Grünland nannte. Unser heutiges Grönland. Und das ist schon Amerika.
Die Wikinger ließen sich nieder, ruderten auch noch einmal an der Eisbarriere entlang zurück, neue Ansiedler kamen, sie bauten Häuser von Holz und auch von Stein, im Laufe der Jahre entstanden an der Westküste Grönlands zwei Städte mit 16 Kirchen — unterdessen hatte das Christentum Fuß gefasst — zwei Klöstern und 100 Weilern. Getreide aller Art wurde bestellt, auch die Weintraube wurde reif.
Das ist historisch.
Ungefähr 40 Jahre später, als die Kolonie nichts mehr von sich hatte hören lassen, wohl ab und zu ein Ruderschiff hingegangen, aber keines zurückgekommen war, begab sich auch ein Missionar hin, erreichte die beiden Städte, aber fand keinen Menschen mehr, alles war ausgestorben, verlassen. Und das war kein grünes Land mehr, alles Eis und Schnee, auch jetzt im Hochsommer.
Und so ist es heute noch dort. Die beiden Städte sind noch da. Die 16 Kirchen stehen freilich nicht mehr, gar nichts. Alles liegt in Trümmern, außerdem tief, tief unter Eis und Schnee vergraben.
Wer löst dieses Rätsel, dass dort an der Westküste Grönlands einst sogar die Weinrebe gedeihen konnte, und nicht etwa in der Urzeit, sondern im zehnten Jahrhundert nach Christi, noch nach Karl dem Großen, und dass dort oben so gut wie plötzlich alles vereiste und bis heute vereist blieb?
Der menschliche Geist hat es gelöst. Allerdings sind ihm dabei die Sagen der Indianer von Florida zu Hilfe gekommen.
Das im Golf von Mexiko durch die Sonne erwärmte Wasser sucht sich draußen mit dem kälteren auszugleichen, fließt ab und bildet den Golfstrom.
Der hat früher seinen Weg an der Ostküste von Nordamerika entlang genommen. Es ist auch ganz folgerichtig, dass solch ein Strom, der die Temperatur ausgleichen will, sich immer der Küste entlang hinzieht, um sich eben möglichst zu verlängern. Erst bei Labrador verließ er die Küste, ging über die Baffinbai hinüber nach Grönland, dort, damals noch ungeteilt, mit voller Wucht auftreffend, seine ganze, mächtige Wärmemenge ausstrahlend.
Das machte diese nordische Gegend so warm, auch im kältesten Winter, dass selbst die Weinrebe gedieh.
Damals gab es aber noch nicht die Halbinsel Florida. Da bildete der jetzige Staat Georgia noch eine scharfe Ecke. An dieser hat der Golfstrom im Laufe der Jahrhunderttausende seinen Schlamm abgesetzt. Er vermochte ihn nicht wieder abzuspülen, und immer weiter reckte sich die Halbinsel ins Meer hinein.
Aber noch immer schlängelte sich der Golfstrom um diese Halbinsel herum und setzte seinen Weg an der Küste fort, bis sie ihm gar zu groß wurde, er der Schlängelei überdrüssig war. Da brach er ostwärts in das offene Meer hinein, teilte sich mehrmals, ein Arm davon traf und trifft heute noch das südwestliche England und strich an der Küste Irlands hin.
Seitdem ist Irland das Grönland geworden, die grüne Insel. Denn eigentlich liegt Irland viel zu nördlich, als dass es selbst im Winter ein so herrliches Grün haben könnte.
Diese Ablenkung des Golfstromes ist die gewaltigste Erdrevolution gewesen, die sich seit dem historischen Bestehen der Menschheit vollzogen hat.
Dies alles wussten die Insassen des Luftbootes.
Kapitän Nowhere hatte bloß zu sagen brauchen, dass es Wikinger seien, auf der Rückfahrt von Amerika nach ihrer isländischen Heimat begriffen.
»Aber sie kommen nicht von ihrer grönländischen Kolonie, aus Randastaat«, setzte er noch hinzu, »sondern sie sind auf dem Festland von Amerika gewesen, jedenfalls in dem jetzigen Staate New York.«
Diese Mitteilung brachte vorläufig keinen weiteren Eindruck hervor. Man staunte noch über die erste, über diesen Anblick.
»Die sind aber doch tot!«, rief zunächst Atalanta.
»Ja«, übernahm einmal Littlelu die Antwort, »wenn sie nicht 1100 und einige Jahre gesund geblieben sind, dann müssen sie tot sein.«
»Die sind mitten in der Bewegung erstarrt?«
»Anders kann es nicht gewesen sein!«, übernahm wieder Kapitän Nowhere die Erklärung.
»Ja, und die treiben nun seit den 1100 Jahren in ihrem Schiffe immer so auf dem Wasser?«
»Nein, das ist wohl nicht möglich, und ich will Sie nicht länger in der Illusion lassen —«
»Wie, das ist nur eine Illusion?! Das sehen wir hier in dem durchsichtigen Boden unseres Fahrzeugs?«
»Nein, eine Realität ist es dennoch. Eine Illusion ist es nur, dass das Boot auf dem Wasser schwimmt. Wie käme denn überhaupt offenes Wasser hierher? Es ist Eis, in dem das Schiff mit der ganzen Mannschaft tief, tief eingefroren ist. Das Eis ist nur ganz klar.«
»Weshalb haben wir das Boot nicht schon früher gesehen?«, fragte Hagen. »Ich habe doch immer Umschau gehalten.«
»Es ist nur zu erblicken, wenn man sich in größerer Höhe direkt darüber befindet. Von der Seite aus ist es nicht zu sehen. Es hängt eben mit der Lichtbrechung des Eises zusammen.«
»Das habe ich mir gleich gedacht, ich wollte es nur von Ihnen bestätigt hören.«
»Auch auf dem Eise selbst ist nichts davon zu sehen, oder nur schwache Umrisse, und da muss es einmal schon sehr durchsichtig sein. Nur aus großer Höhe kann der Blick die Eisschicht durchdringen. Natürlich nicht, wenn Schnee darauf liegt oder wenn neues Eis darüber undurchsichtig gefriert. Wir haben heute gerade einen herrlichen Tag getroffen. So deutlich sieht man es selten.«
»Ja, aber wie kann denn nur ein Mensch so mitten in der Bewegung erstarren?«, fragte wieder Atalanta.
»Wir müssen wohl damit rechnen, dass durch jene Ablenkung des Golfstromes noch eine andere Katastrophe folgte, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Diese Ablenkung ist jedenfalls ganz plötzlich geschehen, in einem Moment. Wie ein Strom den Damm durchbricht und sich in ein anderes, ausgetrocknetes Flussbett ergießt, dieses nun für immer benutzend, so hat sich auch der Golfstrom, als er nicht mehr um die Halbinsel herum konnte, plötzlich nach Osten gewendet. Seine ausstrahlende Wärme muss dort, wohin er noch nicht gekommen, in der Atmosphäre eine kolossale Revolution erzeugt haben. Aufsteigende Windströmungen, große Verdünnung, die wieder ausgefüllt werden musste. Da ist jedenfalls vom Nordpol her eine furchtbare Kältewelle gekommen. Noch bei den heutigen Indianern hat sich überhaupt die Sage von so einer Kältewelle erhalten. In einer Nacht soll einmal selbst unten in den tropischen Gegenden alles erfroren gewesen sein, Flüsse und Teiche bis auf den Grund zugefroren. Selbst in Brasilien. Das wird schon damals gewesen sein. In Europa hat man davon nichts gemerkt, und das Grünwerden des bisher sehr kalten Irlands ging natürlich viel langsamer vonstatten als die Vereisung Grönlands. Was Frühjahr und Sommer mühsam schafft, vernichtet eine einzige Frostnacht.
Auch dieses Wikingerschiff hier wurde von der Kältewelle getroffen; von einer Kälte, die vielleicht sonst überhaupt nicht auf der Erde vorkommt, indem sich an gewissen Stellen sehr luftverdünnte, fast luftleere Räume bildeten. In solch einen Raum kam das Schiff hinein, da wirkte die Kälte doppelt und dreifach — alle Menschen erstarrten mitten in der Bewegung. Gleich darauf stürmte in den luftverdünnten Raum eine ungeheure Woge nach, erstarrte sofort zu Eis — da waren Schiff und Menschen in Eis eingeschlossen, so, wie sie sich im letzten Moment befunden hatten.
Nur so ist dieses Wunder zu erklären. Der Eisblock ist dann immer weiter nach Norden hinaufgetrieben worden, bis er jetzt auf dem 84. Breitengrade liegt, denn so hoch sind die Wikinger damals nicht gekommen, sie sind ja auch ganz leicht bekleidet, die meisten halbnackt.«
»Und Sie sagten vorhin, sie wären vom Festland von Amerika zurückgekommen?«
»Ja. Falsch war nur, dass ich von ihrer isländischen Heimat sprach, nach der sie zurück wollten. Jedenfalls wollten sie wieder nach ihrer grönländischen Kolonie, die sie schon vereist gefunden hätten.«
»Woher wissen Sie, dass sie im jetzigen Staate New York gewesen waren?«
»Oder vielleicht noch südlicher, Sie sollen selbst sehen, woher ich das weiß.«
Der durchsichtige Omnihilitboden wurde wie ein Teleskop eingestellt, obgleich sich dabei nichts verschob, immer größer wurden Schiff und Menschen, bis zur Lebensgröße, jeden Gegenstand konnte man erkennen.
»Sehen Sie dort vor dem Heck die beiden kupferroten Gestalten am Boden kauern? Das sind Indianer. Und die hat es damals in Grönland nicht gegeben, so wenig wie heute, wenn es damals auch ziemlich warm dort war. Man hat keine Spur von Indianern gefunden, und sonst würden doch auch die genauen Berichte davon erzählen. Außerdem sind die Tätowierungen deutlich zu erkennen. Danach gehören sie einem ausgestorbenen Stamme an, der einst im Süden des Staates New York gehaust hat. Das lässt sich heute noch konstatieren. Diese Wikinger sind schon im heutigen Staate New York gewesen, so wie man in Kalifornien an Felswänden uralte chinesische Inschriften gefunden hat.«
»Die beiden Indianer können auch in einem Boote auf See aufgefischt worden sein!«, meinte Hagen der Zweifler.
»Gewiss, auch möglich. Dann aber ist es ein Hausiererboot gewesen, ein indianisches Handelsschiff. Sie sehen die vielen Säcke und Packen, einige sind offen, ihr Inhalt ist verstreut. Lauter indianische Sachen, bemalte Tierhäute, Federschmuck, sehr viele Tabakspfeifen, von denen die Wikinger noch nichts wussten —«
»Gewiss, die sind auf dem Festlande gewesen und haben sich Andenken mitgenommen!«, bestätigte Atalanta. »Was steht da oben am Heck aufgeschrieben oder eingeschnitten?«
»Es sind Runen, altskandinavische Buchstaben. Sie geben den Namen des Schiffes und seines Besitzers an. Ich habe sie bereits von einem Runenkundigen übersetzen lassen. Hulka, Seekönig Olaf Travason.«
»So könnte das der Seekönig sein, der vorn steht und in die Ferne deutet.«
»Das ist sogar ganz sicher. Er ist der größte und stärkste Mann, sehen Sie nur diesen Körperbau, er allein trägt goldene Armringe, und dann vor allen Dingen stützt er sich auf Odins heilige Lanze, der man, wenn's in den Krieg ging, auch im Christentume immer treu blieb und die kein anderer berühren durfte, es sei denn, sie war aus der Mitte der Feinde herauszuholen. Das ist der Seekönig Olaf Travason.«
»Wunderbar, wunderbar — nach elf Jahrhunderten!«, flüsterte die indianische Gräfin mit heiliger Ehrfurcht.
»Es kann auch ein anderer sein, sein Nachfolger, Travason war schon tot!«, musste Hagen wieder zweifeln.
»Nein, diesmal ist so eine Möglichkeit ausgeschlossen. Auf den Armringen steht auch dieser Name, und die hätten die Wikinger ihrem Toten unbedingt mit ins Grab gegeben, in die Erde oder ins Meer.«
»Haben Sie das Schiff schon in der Nähe besichtigt?«, fragte Atalanta wieder.
»Nein. Vor vielen Jahren bin ich einmal hier gewesen — nicht mit einem Luftschiffe, sondern in einem Unterseeboote, das ich konstruiert und erbaut hatte, mit dem mir ein Ausflug erlaubt worden war. Dieses Wikingerboot hatte ich zufällig in der Camera obscura entdeckt, konnte es da ja aus beliebiger Vogelperspektive betrachten. Hier an Ort und Stelle, auf dem Eise stehend, sah ich nur schwache Umrisse und hatte dabei besonderes Glück, das Eis war einmal besonders durchsichtig. Ich wollte einen Tunnel hineinbohren, hatte dazu alles mit. Gleich im Anfange bekam ich den Befehl, zurückzukehren, und ich musste gehorchen. Nun bin ich zum zweiten Male hier, als mein freier Herr.«
»Und diesmal wollen Sie es ausführen, einen Tunnel hinab zu bohren?«
»Ei gewiss, ich habe alles dazu mit!«
»Wie tief ist das Schiff unterm Eise?«
»Ich schätze es auf acht bis zehn Meter. Freilich kann ich mich auch gewaltig irren. Es gibt keine Methode, um dies zu berechnen, weder in der Camera obscura noch hier an Ort und Stelle. Verschiedene Eisschichten machen das Exempel unberechenbar.«
»Wo geht denn Ihr Luftschiff hin?«, rief da Arno.
Dieses, bisher unbeweglich liegend, fuhr jetzt in nördlicher Richtung davon, entfernte sich also.
»Es hat eine kleine Mission auszuführen.«
»Was denn für eine? Es sucht wohl den Nordpol auf?«
»Bitte, fragen Sie nicht. Oder ich müsste Ihnen eine Unwahrheit sagen. Und wenn Sie an Bord geblieben wären, hätte ich Sie einschließen müssen, was dem widerspricht, wie ich meine Gäste behandeln möchte. Nein, nach dem Nordpol geht es nicht. Natürlich werden wir uns dann auch dorthin begeben, und Sie, gnädige Frau Gräfin, sollen die erste von uns sein, die den mit mathematischer Genauigkeit berechneten Achsenpunkt dieses Planeten betritt.«
»Und ich«, setzte Littlelu hinzu, »werde derjenige sein, der die Erdachse einmal ordentlich schmiert; ich höre sie schon lange quietschen.«
Kapitän Nowhere lag entseelt am Boden. Ein furcht-
barer Schlag des elektrischen Stromes, den er un-
vorsichtig eingestellt, hatte ihn sofort getötet.
Der Boden wurde wieder auf normale Durchsichtigkeit eingestellt, ohne Vergrößerungskraft, sodass die menschlichen Figuren dort unten die Größe von Bleisoldaten hatten, und das Fahrzeug ging langsam senkrecht hinab.
Dadurch nahmen diese menschlichen Figuren wohl immer an Größe zu, ihre Umrisse wurden aber auch immer undeutlicher.
»So. Noch 400 Meter darüber. Nun wollen wir die Stelle markieren, wo wir eindringen werden, damit wir ja nicht beim Bohren einen Menschen verletzen, denn unten dürften wir gar nichts sehen, damals war das Eis noch durchsichtiger als heute, der Himmel noch klarer.«
Kapitän Nowhere nahm aus einem Kasten eine schwarze Kugel, so groß wie eine mittlere Kegelkugel, die sich in seiner Hand plötzlich leuchtend rot färbte.
Man war vom Sklavensee her solche Verwandlungen gewohnt, bekam an Bord dieses Luftschiffes täglich und stündlich so viele Rätsel zu sehen, dass man auf solche Kleinigkeiten gar nicht mehr achtete.
Die rote Kugel wurde an einen dünnen Draht befestigt, der ausgerollt war, und durch eine am Boden geöffnete Luke hinabgelassen.
Durch die Öffnung strömte eine intensive Kälte in das auch oben durch eine Omnihilitglocke geschützte Fahrzeug.
»Ja, wir müssen uns nach und nach an die Kälte gewöhnen, draußen herrschen 16 Grad. Aber für die Nordpolgegend eben die Sommertemperatur.«
Die Kugel schwebte hinab, pendelte wohl etwas, obgleich es ganz windstill war, aber das konnte ja leicht bewerkstelligt werden, dass sie gerade dort auf das Eis zu liegen kam, wo man eindringen wollte.
Es war dies ziemlich in der Mitte des Bootes, wo sich gerade kein Mensch befand.
»Ein elektrischer Strom — so, die heiß gewordene Kugel hat sich etwas in das Eis eingeschmolzen, sie liegt fest, nun ist die Stelle markiert, wir können sorglos hinabgehen.«
Es geschah. Schnell verschwammen die Umrisse der menschlichen Gestalten und des ganzen Schiffes immer mehr, bis gar nichts mehr davon zu sehen war, zumal sich jetzt der bisher blaue Himmel mit einem grauen Schleier zu beziehen begann.
Das Fahrzeug legte sich mit dem flachen Boden auf die völlig ebene Eisfläche, einige Schritte von der wieder schwarz gewordenen Kugel entfernt, die sich bis zur Hälfte in das Eis eingegraben hatte.
Es waren Atalanta, Arno, Littlelu, Hagen und Wilhelm, die dem Boote entstiegen. Letzterer gehörte allerdings nicht mit zu denjenigen Insassen, welche das alles von den Wikingern, von Grönland und dem Golfstrom schon gewusst hatten, sonst hatte Kapitän Nowhere nur noch einen Ingenieur und einen schwarzen Arbeiter mitgenommen.
Schnell hatte man sich an die Kälte gewöhnt, sie war ja gar nicht so schlimm, aber die Pelzkappen auch vor dem Gesicht taten doch recht wohl.
»Ach. ist das herrlich hier!«, jubelte Atalanta. »Ach, wenn wir Schlittschuhe hätten!«
Ja, dazu war diese unübersehbare Eisdecke wie geschaffen. Die hochstehende Sommersonne musste die Oberfläche doch ab und zu auftauen, jetzt war sie wieder spiegelglatt gefroren und dennoch, wahrscheinlich durch gleichzeitigen Schneefall, ganz fein gekörnt, eben wie geschaffen zum Schlittschuhlaufen.
»Ja, es ist schade, dass wir keine Schlittschuhe haben, ich wäre so gern wieder einmal gefahren!«, bedauerte auch Littlelu.
»Na, Sie und Schlittschuhfahren, mit Ihrem Bierbauche, Sie möchte ich mal sehen!«, spottete Hagen.
»Ich nicht fahren können?!«, stellte sich Littlelu beleidigt, »Was meinen Sie wohl, ich bin früher Kunstläufer gewesen! Mit dem linken Beine beschrieb ich eine Achte, gleichzeitig mit dem rechten eine Dreie, und dazu spielte ich auch noch Pianoforte! Ach, wie schade, dass wir keine Schlittschuhe haben!«
»Bitte, hier!«, sagte da Kapitän Nowhere, in einen Kasten greifend und einige Paare blitzender Schlittschuhe präsentierend.
Während Atalanta gleich jubelnd darnach griff, betrachtete Littlelu misstrauisch die blanken Dinger.
»Na, nun zeigen Sie mal, was Sie können!«, ermunterte Hagen.
Aber Littlelu wollte noch immer nicht zugreifen.
»Das sind doch Halifax mit Hebelschluss. Das tut mir leid, ich kann nur auf Schraubenschlittschuhen fahren.«
»Bitte, hier!«, sagte Nowhere, nochmals in den Kasten langend und ein Paar Schraubenschlittschuhe präsentierend.
»Sie haben wohl auch so einen Zauberkasten, in dem man alles findet, man braucht nur immer hineinzugreifen?«, lachte Arno zunächst, auf jenen Traum in der Steinzeit anspielend.
»Nein, einen Zauberkasten habe ich nicht, wohl aber hatte ich gleich an so etwas gedacht und Schlittschuhe mitgenommen. Nun, Mister Maxim, sind diese Schraubenschlittschuhe nicht gut?«
Aber der kleine, dicke Stöpsel wollte durchaus nicht zulangen, machte ein nur immer misstrauischeres Gesicht.
»O ja, gut scheinen sie zu sein. Aber die sind wohl vernickelt?«
»Ja, die sind vernickelt.«
»Das tut mir aber leid! Ich kann nur auf unvernickelten laufen. Mir ist immer so die Vernickelung im Wege.«
Endlich nahm er doch ein Paar, und zwar Halifax, stellte sie sich für seine Stiefel ein, befestigte aber nur den linken und machte sich so auf die Wanderung, mit dem rechten Fuße immer abstoßend, und das auch nicht besonders kunstvoll, immer die Hände vorsichtig vorgehalten.
»Ich habe es doch gleich gesagt, bei mir fährt immer jeder Fuß für sich. Jetzt kommt erst einmal der linke dran, wenn der sich wieder eingefahren hat, dann der rechte. Nur immer langsam und gewissenhaft, desto besser geht's später. Wenn nicht in diesem Leben, dann in tausend Jahren. Man wird ja immer wiedergeboren.«
Atalanta und Arno jagten schon dahin, Wilhelm schusselte, so gut er schusseln konnte, und der baumlange Hagen hatte am wenigsten Grund, jetzt noch über seinen kleinen dicken Freund zu spotten. Er hatte schon wiederholt das Eis geküsst, am meisten mit der Hinterseite.
»Sie, Hagen, machen Sie es doch lieber so wie ich, fallen Sie nur mit dem einen Fuß und halten den anderen immer bereit, vor Anker zu gehen. Groß genug ist ja Ihr Latsch, der eine genügt schon, dass Sie nicht die Balance verlieren, oder aber, ich rate Ihnen, die Schlittschuhe doch lieber gleich am Hosenboden festzuschnallen — Ho, ho, wenn Ihr hier das ganze Eis am Nordpol aufstaut, dann kann ich überhaupt nicht fahren!«
Kapitän Nowhere und seine beiden Gehilfen waren schon bei der Arbeit, in das Eis einen senkrechten Tunnel zu graben.
Dort, wo die Kugel den Eindruck hinterlassen hatte, wurde eine viereckige Platte gelegt, einen Meter im Quadrat, mit dem Boote durch zwei grünumsponnene Drähte verbunden, und alsbald begann die elektrisch erhitzte Platte sich in das Eis einzusenken.
Dann wurde ein Schlauch gelegt, auch wieder mit Metalldraht umwunden, das eine Ende hing in dem entstehenden Loche, das andere Ende wurde abseits gelegt, dieser Schlauch war durch einen anderen wieder mit dem Boote verbunden, so wurde durch irgend eine Vorrichtung das Wasser aus dem Loche herausgepumpt, verbreitete sich abseits auf dem Eise, gefror wieder — der Schlauch konnte auch immer weiter gelegt werden.
Es ging ganz außerordentlich schnell. Atalanta und Arno waren zurückgekommen und beobachteten dieses interessante Verfahren.
»Und wenn Sie nun unten auf dem Schiffe sind?«
»Dann muss ein horizontaler Schacht geschmolzen werden. Das wird noch eine komplizierte Arbeit, wie ich das mache, weiß ich noch nicht, das ergibt dann die Besichtigung. Nämlich, um ja nichts zu beschädigen.«
»Und dann? Nehmen Sie die gefrorenen Menschen, das ganze Schiff mit?«
»Das weiß ich auch noch nicht. Wohl schwerlich. Dieses Naturwunder möchte doch erhalten bleiben. Ich bin kein Mephistopheles, der alles in ein Museum stellen muss, wie es noch genug andere tun; aber in handgreifliche Nähe möchte ich diesen Wikingern doch einmal kommen. Die Camera obscura konnte ja so scharf eingestellt werden, dass man die Gravierung an den Armringen lesen konnte, aber was sich in den Packen und Truhen befindet, das entzieht sich den Blicken, und das möchte man doch einmal näher untersuchen.«
»Ein Eisbär!«, rief da Hagen, der sich wieder einmal unfreiwillig platt auf den Bauch geworfen hatte und so gerade recht gut über die Eisfläche visieren konnte.
Denn sonst erblickte man das weiße Tier noch gar nicht, es war auch noch sehr weit entfernt, oder die Richtung musste sehr genau bezeichnet werden, ehe man sich dort etwas bewegen sah.
»Ja, es ist ein Eisbär, er kommt auf uns zu!«, sagte Atalanta nach längerem Hinsehen, und Kapitän Nowhere, der ein Fernrohr benutzte, bestätigte es.
Dann hatte er es sehr eilig, sich an die anderen zu wenden.
»Meine Herrschaften, eine herzliche Bitte — das Tier scheint uns einen Besuch abzustatten — keine Jagd, nicht gleich tot machen, es geht gegen —«
»Nein, nein, wir sind auch nicht so!«, fiel ihm Atalanta ins Wort. »Eine Eisbärenjagd wäre ja einmal eine ganz angenehme Abwechslung, aber wenn Sie es aus besonderen Gründen wünschen — dem Tiere soll sein Leben gelassen werden.«
»Schade«, sagte Littlelu, jetzt auch den anderen Schlittschuh befestigend, »ich wollte schon fragen, ob Sie nicht eine Kanone bei sich hätten. Na, da geben Sie mir wenigstens eine Salzbüchse, die werden Sie doch haben.«
»Salzbüchse?«
»Ich will dem Eisbären Salz auf den Schwanz streuen, dann kann man ihn fangen. Kennen Sie dieses alte Rezept nicht? So können Sie auch jeden Vogel fangen, jede Schwalbe. Immer nur Salz auf den Schwanz streuen, dann bleibt das Tierchen ruhig sitzen.«
»Sie wollen den Eisbären fangen?«, lachte Nowhere.
»Passen Sie auf, wie ich das mache. Wenn ich nur erst die Salzbüchse habe. So, ich danke, Hassan. Nun bin ich ausgerüstet —«
»Sie wollen wirklich hin?«
»Ganz gewiss.«
»Sehen Sie sich vor, mit einem Eisbären ist nicht zu spaßen!«
»O, ich weiß mit Eisbären ganz genau Bescheid, kenne ihr Wesen und ihre Angewohnheiten durch und durch. Mit Vorliebe schusseln sie eine weißangemalte Rutschbahn herunter, plumpsen in schmutziges Wasser, und man kann ihnen befehlen, dass sie sich auf den Kopf stellen und mit den Hinterpfoten Violine spielen. Ob sie es auch tun, das freilich ist ja eine andere Sache.«
Und schon fuhr Littlelu davon, mit einem Male sehr gewandt.
»Aber auf keinen Fall einen Schuss auf ihn abfeuern«, rief ihm Kapitän Nowhere nach, »es ist gerade heute, wir haben einen heiligen Tag —«
»Nein, nein, ich habe ja gar keine andere Schusswaffe bei mir als meine Salzbüchse!«
»Auch nicht stechen —«
»Mein Zigarrenabschneider ist meine einzige Lanze!«
Auch Arno und Atalanta jagten ihm nach, und als Littlelu das merkte, hielt er an, erwartete sie.
»Sie wollen mit?«, fragte er ernst.
»Natürlich bleiben wir da nicht zurück.«
»Es ist aber mein Ernst, ich will dem Bären einmal zu Leibe gehen. Für einen guten Schlittschuhläufer ist ja gar keine Gefahr vorhanden, und Sie scheinen es ja zu können. Gefährlich könnte die Sache nur werden, wenn man einen oder gar beide Schlittschuhe verliert. Wir wollen die Halifax lieber doch noch mit Riemen befestigen. In dem Kasten lagen viele, ich habe ein paar mitgenommen.«
Sie setzten sich noch einmal, schnallten auch die kurzen Riemen um. Littlelu hatte aber nur einen bekommen.
»Das genügt für mich«, sagte er, aufstehend, »wenn ich mich nur auf den linken verlassen kann, auf den habe ich mich ja vorhin zur Genüge eingeübt. Ist denn der Bär aber auch noch da? Dass er nicht unterdessen in einem Wasserloche verschwunden ist.«
Nein, der Bär war unterdessen ganz bedeutend näher gekommen, immer in einem flotten Trab, immer direkt auf das Luftboot zu.
Das war nicht verwunderlich, Die drei brauchten noch nicht in den Polargegenden gewesen zu sein, um zu wissen, dass der Eisbär mit Vorliebe die Nähe der Menschen aufsucht. Er fühlt sich als Herr der Eisregion, die Eskimos braucht er doch nicht zu fürchten, aber auch die schon nähere Erfahrung mit Feuerwaffen macht ihn nicht weniger dreist. Wo ein Schiff im Packeis sitzt, da ziehen sich die Eisbären aus der ganzen Umgegend zusammen, sie kommen an Deck und holen sich das Fleisch aus der Küche, lassen sich lieber töten als vertreiben. Es mag der sie ewig plagende Hunger sein, der sie jede Gefahr vergessen lässt. Nur wenn sie in ihrem Schneelager Junge haben, sind sie um ihr Leben besorgter. Dann aber wird ihre Verfolgung auch nur umso gefährlicher.
Bis auf 50 Schritt war der Bär herangekommen, dann blieb er stehen, betrachtete die Menschlein einige Zeit lang, setzte sich nach Hunde- oder eben nach Bärenart nieder. Ein ganz mächtiges Exemplar.
»Warten Sie, zuerst möchte ich mich ihm vorstellen!«, sagte Littlelu und fuhr hin.
Dass der Mensch direkt auf ihn zukam, das wurde dem Bären doch zu viel. Er erhob sich, erhob sich noch höher, setzte sich aufgerichtet auf die Hinterfüße, erhob die Tatzen — aber nicht zum Schlage, sondern — er machte »bitte, bitte«. Wie es die kleinen Kinder und die Pudel machen.
»Der will Zuckerchen haben!«, meinte Littlelu, immer vorwärts fahrend.
»Sehen Sie sich vor!«, warnte Arno. »Das ist so eine eigentümliche Bewegung der Eisbären, ehe sie schlagen wollen!«
»Wissen Sie das so genau? Davon ist mir nichts bekannt.«
»Ich weiß nur, dass sie gerade, wenn sie recht böse sind, sich so gemütlich hin und her schaukeln. Das sieht auch immer ganz harmlos aus.«
»Nein, der will Zuckerchen haben.«
Littlelu suchte in den Taschen seines Pelzkostüms, das ja doch etwas anders war als das eines Eskimos, und brachte wirklich einige Stück Zucker zum Vorschein, die er beim letzten Kaffeetrinken, schon in Pelz gehüllt, gewohnheitsmäßig eingesteckt haben mochte.
Und richtig, kaum hatte der Eisbär den weißen Zucker erblickt, so sperrte er seinen Rachen weit auf und machte noch viel energischer »bitte, bitte«.
Littlelu hatte sich ihm bis auf drei Schritte genähert und warf ihm den Zucker geschickt in den Rachen, ebenso geschickt wurde er gefangen und mit einem behaglichen Brummen verzehrt.
Dann erst blickte Littlelu zurück, das Tier aber dabei vorsichtig in den Augenwinkeln behaltend, und sein Gesicht war nicht minder erstaunt als die der beiden anderen, nur dass der ehemalige Zirkusclown dabei eine seiner Grimassen schneiden musste.
»Das ist ein zahmer Eisbär!«
»Ja, diesen Eindruck macht er fast!«
»Der ist einer Menagerie entsprungen.«
»Ach gehen Sie doch weg!«
»Weshalb soll ich denn weggehen? Wenn der —«
Aber Littlelu ging schon weg, denn der Eisbär hatte sich wieder auf die Vorderpfoten fallen lassen und näherte sich ihm.
Vor allen Dingen mussten Arno und Atalanta herzlich lachen. Denn zum Totlachen sah es auch aus, wie Littlelu retirierte, langsam vorwärts fahrend, aber dabei so misstrauisch mit einem schiefen Munde nach dem ihm folgenden Bären blickend.
»Was reißen Sie denn aus, der ist ja zahm, der frisst ja Zuckerchen!«, lachte Arno.
»Deibel noch einmal, der denkt, ich bin auch Zuckerchen.«
»Der brummt ja ganz vergnügt!«
»Soll der nicht vergnügt brummen, wenn er so einen süßen Menschen wie mich fressen will.«
Jetzt machte der Eisbär, um den süßen Menschen zu erreichen, einen Satz — aber schon schoss Littlelu wie ein Blitz davon, doch immer noch seine Clownnatur nicht verleugnend, nur auf einem Fuße, den anderen schlenkerte er hinter sich in der Luft, als winke er Abschied.
Der ganzen Situation war die Gefährlichkeit genommen, obgleich diese noch immer bestand.
Aber der Eisbar setzte sich nicht in Trab, blieb stehen, richtete sich wieder empor und machte »bitte, bitte«.
»Der will mehr Zuckerchen haben.«
»Ja, sollte man nicht meinen, das ist ein gezähmter, ein dressierter, aus einer Menagerie oder einem Zirkus?«
»Es ist unfassbar!«
»Na, warum denn nicht? In unserem Zirkus wurden einmal dressierte Seelöwen gezeigt, die alles auf der Nase balancierten. Da kam nach einer Vorstellung ein alter, feiner Herr — er ist unbekannt geblieben — fragte, was die Tiere kosteten, bezahlte sofort die horrende Forderung, ließ die Tiere ans Meer bringen und gab sie frei. Dem hatte es leid getan, dass diese Wassergeschöpfe im Zirkus auf dem Teppich herumkrauchen mussten. Zweck hatte es ja nicht gehabt, die Tiere wollten ja zu den Menschen, ließen sich von jedem greifen, der Dresseur nahm sie dann einfach wieder mit nach Hause. Aber kann das hier nicht ebenso sein? Einem gezähmten Eisbären ist die Freiheit wiedergegeben worden, oder er stammt von einem Schiffe, das ist untergegangen. Er hat eben seinen Herrn verloren, der ihn gezähmt hatte.«
So sprach Littlelu. Unterdessen mühte sich der Eisbär vergebens ab, durch »bitte, bitte« noch ein Stückchen Zucker zu bekommen.
Als er die Zwecklosigkeit seiner Bemühungen endlich einsah, legte er sich hin, auf den Rücken, streckte alle Viere von sich, wälzte sich behaglich hin und her, dabei freundlich brummend nach den Menschen sehend.
»Der will gekrabbelt sein!«, sagte Atalanta. »Krabbeln Sie ihn doch.«
»Krabbeln S i e ihn doch!«, echote Littlelu mit entsprechender Betonung. »Es ist ein Weibchen. Jetzt sehe ich's. Und ich krabble prinzipiell keine Weibchen, wenigstens keine von fünf Zentnern.«
Da kam Hagen an. Er war schon immer unterwegs gewesen, brauchte aber dazu längere Zeit, setzte oder legte sich ab und zu einmal hin.
»Was ist denn da eigentlich los mit dem Eisbär?«, rief er noch in einiger Entfernung.
»Es ist ein zahmer!«
»Ein zahmer? Weshalb legt der sich denn so hin? Wenn der — hopsa!«
Hagen verlor wieder einmal die Balance und fiel nach vorn über.
»Weshalb legen Sie sich denn hin?«, fragte Littlelu zurück. »Krauchen Sie doch lieber auf allen Vieren, da kommen Sie schneller vorwärts.«
Aber den anderen verging das Lachen, als der Bär jetzt schnell aufsprang und in kurzem Galopp auf den Gestürzten zu eilte, ihm einen Tatzenschlag gebend, der Hagen, der sich eben aufrichten wollte, sofort wieder niederwarf.
Doch da erkannte man auch schon, dass gar keine Gefahr dabei war. Der Eisbär, trotz seiner gewaltigen Größe wohl noch ein junges Tier, ein Jüngling oder eine Jungfrau, dachte, das Menschlein hätte sich nur seinetwegen so hingelegt, wollte mit ihm spielen, und das tat er denn auch reichlich, warf Hagen immer wieder hin, sprang um ihn herum, wie es spielende Hunde tun, sich immer einmal duckend, den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten legend, dabei das Hinterteil hoch erhoben, dann sich wieder über den Liegenden werfend, täppisch, aber dabei dennoch ungemein gewandt, sogar graziös, und dem Menschen sicher nicht das leiseste Weh zufügend.
Hagen hatte denn auch gleich die Ungefährlichkeit erkannt, sonst hätte er doch nicht so gelacht, wenn er dabei auch weidlich schimpfte und dem Bären kräftige Fausthiebe versetzte.
Dann kam in diese Spielerei noch einmal eine urkomische Situation.
Jetzt musste der Bär seinen Spielgefährten erst einmal beriechen, der stand gerade so günstig da, lag nämlich auf allen Vieren, und der Bär reckte seinen mächtigen Körper, reckte den Kopf noch weiter vor, dass der Hals ganz lang wurde, und beroch jenem das Gesicht, und jetzt nahm Hagen eine ganz ähnliche Stellung an, reckte den Hals, auf allen Vieren ruhend, auch so vor und beschnoberte die Nase des Bären.
»Ach, das ist ja zum Totschießen!«, lachte Atalanta, während sich Arno krümmte.
Da warf sich der Bär herum und trottete nach jener Richtung, von der er gekommen.
br>»Der riecht ja nach Grog!«, rief Hagen, noch immer auf allen Vieren liegend.
»Nach Grog?«, fragte Littlelu.
»Faktisch, der riecht aus dem Halse nach Grog!«
»Na, den Zucker hat er schon in sich, Wasser hat er auch genug, da fehlt ihm nur noch der Rum.«
»Nee, der fehlt ihm nicht mehr, der riecht nach altem, gutem Jamaikarum!«
Man schenkte diesen Worten weiter keine Beachtung, weil man wieder den Bären beobachtete.
Der trabte nicht für immer davon, sondern blieb bald wieder stehen, blickte zurück, wieder davon, blieb stehen, wandte sich halb zurück, warf sich herum und trabte weiter, blickte zurück und brummte einladend.
»Wir sollen ihm folgen!«
Sie taten es auch. Nur Littlelu nicht. Der hatte den Bären schnell eingeholt, streichelte ihn und hatte sich plötzlich auf seinen Rücken geschwungen. Und der Bär duldete den Reiter, der für ihn gar nichts zu bedeuten hatte, gern. Da aber konnte man doch nicht mehr sagen, dass Littlelu ihm folgte.
Eine völlige Eisebene war es doch nicht. Hin und wieder erhob sich ein Hügel, wahrscheinlich aufgetürmte Eisschollen, deren Außenseite sich durch Auftauen und Wiedergefrieren und Beschneien geglättet hatte.
Solch einem Hügel führte der Bär die Menschen zu, wahrscheinlich war er hinter diesem hervorgekommen, und der Hügel war gar nicht so weit entfernt, wie es erst gedeucht hatte. Denn in diesen Eisgebieten, wo die Luft immer sehr feucht ist, ist es gerade umgekehrt als in der trockenen Wüste, auch mag die Spiegelung des Eises hinzukommen: Die Gegenstände sind in Wirklichkeit immer viel näher, als wie man sie glaubt.
»Nun bin ich doch gespannt, wohin uns der Bär führen wird!«, sagte Arno.
»Es ist eine Bärin«, entgegnete Atalanta, »vielleicht hat sie Junge, will sie uns zeigen. Nein, so ein Erlebnis! Andere Polarreisende erzählen immer von Jagden auf Eisbären, lügen die haarsträubendsten Abenteuer zusammen — wir müssen gerade einen zahmen Eisbären treffen, der auf sich reiten lässt — und uns wird man gewiss nicht glauben.«
Jetzt bog der Bär um den Hügel, wollte es eben tun, war noch zu sehen — da plötzlich purzelte Littlelu von seinem Reittier herab, blieb auf dem Rücken liegen und reckte die kurzen, dicken Beinchen, durch die Pelzumhüllung noch unförmlicher, gen Himmel.
»Littlelu, was ist Ihnen?!«
»Ich habe die Sprache verloren!«
Als die anderen um den Hügel bogen, wäre es ihnen bald ebenso gegangen. Da stand ein Tisch mit einigen Stühlen, auf dem Tische dampfte eine Punschterrine, die Etiketten von mehreren Konservenbüchsen gaben ihren Inhalt an: Hummer, Lachs, Kaviar, Kalbszunge und dergleichen — eine Butterbüchse, ein Kistchen mit Zwieback, ein frisches Brot.
Man sollte sich nicht mehr lange den Kopf zerbrechen, wer das hier aufgebaut hatte.
Da schlich Littlelu vor, auf den Eisbären zu, der ihm gerade das Hinterteil zukehrte, griff ihm unter den Stummelschwanz und zog etwas Weißes heraus, das immer länger wurde.
»He, alter Schneesieber, Du hast wohl ein Hemd gefressen und es nicht ordentlich verdaut? Bei Dir guckt ja hinten ein Hemd heraus?«
Das ließ sich der Eisbär nicht bieten, machte es kurz, richtete sich auf den Hinterfüßen empor und — nahm seinen Kopf ab.
Aber darunter hatte er noch einen anderen, ein wolliger, pechschwarzer Negerkopf kam zum Vorschein, die Bratwurstlippen zu einem Grinsen verzogen.
»Goliath!!«
Nun war alles erklärt, der Neger brauchte nicht zu erzählen..
Der liebenswürdige Luftschiffkapitän hatte seinen Gästen eine Überraschung bereitet, sie während seiner zeitraubenden Arbeit unterhalten wollen, sie zugleich bewirtend.
An Bord des Luftschiffs befand sich ein schwarzer Diener, der nicht umsonst Goliath hieß. Ein dicker Riese von drei Zentnern. Dass er dabei auch ungemein gelenkig war, als habe er gar keine Knochen im Leibe, bestehe ganz aus Gummi, das hatte man schon öfters beobachten können. Aber dass er, in ein Eisbärenfell eingenäht, das noch verschiedenen Mechanismus besaß, zum Beispiel um den Rachen zu öffnen, auch wirklich die Rolle eines Eisbären so ausgezeichnet spielen konnte, das hatte keiner der Gäste geahnt. Denn das ist doch gar nicht so einfach, die Bewegungen eines Bären so bis ins Kleinste nachzuahmen, und selbst die scharfen Augen der Indianerin hatten sich täuschen lassen.
»Teufelskerl, woher kannst Du das?!«
»Ist sich doch lange, lange im Zirkus Barnum & Bailey als Bär gewesen!«, grinste der Neger in seinem merkwürdigen Englisch.
Eben ein professioneller Bären-Imitator, wahrscheinlich in einer Pantomime, in einer Burleske auftretend.
»Siehst Du, Kerl, ich habe es Dir doch gleich angerochen, dass Du schon Grog gesoffen hast!«, triumphierte Hagen.
»Goliath niemals nix kein Grog gesoffe!«, beteuerte der Eisbär mit dem schwarzen Menschenkopfe, die Tatze auf dem Herzen, aber auch mit der dampfenden Terrine liebäugelnd.
Er konnte noch nähere Bekanntschaft mit ihrem Inhalt machen, auch die anderen ließen sich nicht lange nötigen.
»Ein äußerst liebenswürdiger Mensch, dieser Kapitän Nowhere!«, sagte Atalanta einmal.
»Ja, leider!«, brummte Hagen, auf beiden Backen kauend.
»Was, leider?«
»Dass er nicht mit hier ist, meinte ich.«
Es fiel niemandem auf, dass Hagen in Gedanken etwas anderes mit dem »leider« gemeint haben musste, denn seine Entgegnung passte ja gar nicht.
Immer grauer war der Himmel geworden, an dem jetzt im Sommer hier am Nordpol die Sonne niemals unterging, es begann zu schneien.
»Ist dies alles in einem Luftboot gebracht worden?«, fragte Atalanta.
»In eine Luftboot!«, bestätigte der Neger.
»Unsichtbar?«
»Wir können nie nix gesehen werden.«
»Vorhin war der ›Aeolus‹ sichtbar.«
»Einmal, nix mehr.«
»Wo ist das Luftschiff jetzt?«
»Weiß nix, Missus — nein, Goliath darf nie nix lügen — darf nix sagen, wo ›Aeolus‹ hin ist.«
»Ich frage auch nur, ob dies hier wieder von einem Luftboote abgeholt wird?«
»Nein, Luftboot kommt nix wieder, Goliath soll alles Kapitän bringen, wenn fertig ist mit Essen und Trinken.«
Das war man bereits. Und immer dichter fielen die Flocken, wie ein undurchsichtiger Nebel senkte es sich herab.
Ein mehrfaches Klingeln ertönte. Jeder hatte eine Telefonuhr in der Tasche, sie alle riefen an.
»Hier Nowhere! Was haben Sie mit dem Eisbären erlebt?«
»Ach, das war ja eine köstliche Überraschung, die Sie uns da bereitet habe!«
»So hat sich der Eisbär bereits entlarvt?«
»Ja, Goliath sitzt mit hier am Tisch.
»Haben Sie gespeist?«
»Wir sind fertig.«
»So bitte ich Sie, schnellstens zurückzukommen. Auch Goliath. Wenn er nicht alles tragen kann, so soll er lieber alles stehen und liegen lassen.«
»Es ist dort doch nichts passiert?«
»Ja, es ist etwas passiert, aber nichts Gefährliches. Das Luftboot muss sofort in die Höhe steigen, sonst kommt es dann nicht frei. Also bitte, beeilen Sie sich. Ich gebe immer Pfeifsignale.«
Man brach sofort auf, ließ aber nichts zurück, jeder belud sich mit etwas, dann war es wenig genug, der Tisch konnte wie die Stühle zusammengeschlagen werden. Die Schlittschuhe waren abgeschnallt worden.
Unablässig gellte der Ton einer Pfeife. Für die Indianerin wäre dieses Signal nicht nötig gewesen, aber manch anderer hätte nichts mehr von der Richtung gewusst. Man konnte in dem Schneetreiben die Hand nicht vor den Augen erkennen.
»Hier sind wir schon!«, rief Atalanta in einer Pause des gellenden Pfeifens, als dieses schon dicht vor ihnen erklang.
»Gehen Sie nach dem Boote! Finden Sie es? Wir stehen unterdessen schützend vor dem Loch, dass nicht etwa jemand hineinstürzt, es ist schon fünf Meter tief.«
Die Zurückgekommenen, sich immer dicht zusammenhaltend, versammelten sich bei dem Boote, auf dem der Schnee wie überall bereits fußhoch lag. Kapitän Nowhere und seine beiden Gehilfen gesellten sich ihnen bei.
»Was ist denn geschehen?«
Schon die Sprechweise des Kapitäns verriet, dass keine Gefahr vorliegen konnte.
»Gestatten Sie«, erklang es sorglos und heiter, »dass ich Sie, die ich Sie als meine Nachfolgerin im Auge habe, zunächst einmal auf Ihren Scharfsinn prüfe. Erlauben Sie es?«
»Bitte sehr.«
»Fällt Ihnen nicht gleich etwas auf?«
»Allerdings.«
»Nun?«
»Dass sich auf der Omnihilitglocke über dem Fahrzeug eine Schneedecke gebildet hat, die müsste doch von der Innenwärme des Bootes sofort wegschmelzen.«
»Bravo!«, zollte der Kapitän Beifall. »Ja, die Sache ist nämlich die, dass wir keine Innenwärme mehr haben. Die Heizung funktioniert nicht mehr. Der schwarze Peter dort hat gleich im Anfange unserer Arbeit, als er einmal die elektrische Pumpe ausschalten sollte, den Hebel zu weit gedreht, der elektrische Strom ging in die Heizungsanlage, obgleich die doch schon angestellt war, die Spannung war ihr zu hoch, da sind sämtliche Drähte geschmolzen. Ich bemerkte es erst, als es vorhin zu schneien begann und der Schnee auf der Omnihilitdecke liegen blieb. Innen war es schon ganz kalt geworden.«
»Und nun können Sie wohl nicht wieder hoch?«
»Nein. Die Flugfähigkeit dieses Fahrzeuges beruht ja nur darauf, dass es absolut gewichtslos gemacht werden kann, und ebenso alles, was die Omnihilitplatten umschließen. Denn gehoben wird es ja nur dadurch, dass unten aus vielen Röhren ein starker Luftstrom bläst, der prallt gegen den Boden, so hebt es sich empor, und auch noch die Reibung in der Luft genügt, um das Boot immer höher zu treiben und auch vorwärts. Aber dieser Luftdruck genügt natürlich nicht, um nur einen einzigen Menschen, nur einige Pfund emporzuheben. Das beruht eben allein auf der absoluten Gewichtslosigkeit des Bootes. — Ja, und dennoch vermag ich mich wieder zu befreien. Was hätten Sie nach dieser bösen Entdeckung wohl gleich getan, gnädige Frau Gräfin? Gestatten Sie, dass ich Sie so examiniere.«
»Zunächst muss ich konstatieren, dass das Eis ringsum am Boden noch geschmolzen ist.«
»Weil der untere Teil des Fahrzeugs eine viel stärkere Beplankung hat, hält die einmal aufgespeicherte Wärme viel länger, ist überhaupt ein viel schlechterer Wärmeleiter als oben die dünne Glasglocke. Das wäre auch schlimm, wenn der Boden des Fahrzeugs das Eis nicht mehr auftaute, dann wären wir bereits angefroren, also festgenagelt, und so weit dürfen wir es natürlich nicht kommen lassen, deshalb habe ich Sie eben schleunigst zurückgerufen. Nun aber oben die Schneeschicht, die schon so beschwert, dass sich das Boot nicht mehr erheben kann?«
»Die wird einfach abgefegt.«
»Wenn sich aber nun durch den Schnee, der erst schmolz, schon eine feste Eiskruste gebildet hätte, die nicht so leicht abgeklopft ist? Und wenn sich während dieser Arbeit immer neue Schneemassen darauf stürzen?«
»Ich hätte, als es zu schneien begann und schon die Folgen kannte, schnell eine Decke über das ganze Fahrzeug gelegt, oder mehrere Decken nebeneinander!«
»Bravo!! Das wollte ich nur von Ihnen hören! Das habe ich nämlich auch getan. Nun aber schnell ins Boot, dass wir nicht etwa doch noch anfrieren!«
Sie schlüpften in das Boot, das schon elektrisch erleuchtet war. Nur Kapitän Nowhere und der schwarze Peter, der Arbeiter, ein Schlosser, waren noch draußen geblieben.
Oben auf dem undurchsichtig gewordenen Glockendache raschelte und krachte es, die mit Schnee belasteten Decken wurden weggezogen.
Dann schwang sich der Neger herein, gleich darauf folgte Nowhere.
»All right!«, rief er gleichzeitig.
Der Ingenieur warf einen Hebel herum, man hörte, wie mächtig die Röhren unten am Boden gegen das Eis und noch mehr in das Wasser pus-teten, man merkte an der ersten Erschütterung, wie das Fahrzeug senkrecht in die Höhe stieg, und ein besonderes Barometer zeigte in großen Zahlen jeden Viertelmeter an, den man höher kam.
»Noch glücklich frei gekommen! Ich hatte wirklich schon Sorge, der Boden könnte doch bereits angefroren sein, nur etwas, was schon genügt, um dem doch schwachen Luftdruck zu trotzen.«
»Ja, aber nun schneit es doch immer noch auf das Dach, es bildet sich immer wieder eine Schneeschicht.
»Na, ein paar Schneeflocken schaden nichts, deshalb können wir uns schon empor pusten und in der Schwebe halten. Und sehr bald werden wir so viel Eigenwärme entwickelt haben, dass oben auf der Omnihilitglocke alles schmilzt.«
»Wohin fahren Sie?«
»Wir beschreiben immer nur einen engen Kreis. Eigentlich könnten wir ja auch unten liegen bleiben, bis die Heizung wieder repariert ist, was nur wenige Stunden in Anspruch nimmt. Die Sache ist nur die, dass ich mich geradezu in meiner Ehre beleidigt fühle, wegen solch eines kleinen Defektes festgenagelt zu werden, hilflos anzufrieren. Da muss ich unbedingt den Kampf mit den Elementen aufnehmen.«
Eine halbe Stunde verging. Die drei Männer, welche die eigentliche Besatzung bildeten, arbeiteten emsig, löteten durchgebrannte Kupferdrähte zusammen und legten neue. Gesteuert brauchte nicht zu werden, die Steuerung war festgestellt, das Fahrzeug beschrieb immer einen engen Kreis, wie der Kompass anzeigte, ab und zu ein Blick auf diesen und auf das Manometer, das eine Höhe von ungefähr hundert Meter angab, das heißt über dem Erdboden gerechnet, der aber hier noch hoch über dem Meeresniveau lag, genügte.
Man sah, wie oben auf der Omnihilitglocke das Wasser rieselte. Also schneien tat es noch immer, aber der Schnee schmolz, denn hier im Innenraum war die konstante Temperatur von vier Grad Wärme eingetreten. Das genügte für die nur dünne Omnihilitplatte, um den Schnee sofort zum Schmelzen zu bringen.
»Wir sinken!«, rief da Atalanta.
»Leider ja«, seufzte Nowhere, »meine Befürchtung, die ich Ihnen vorhin nicht mitgeteilt habe, hat sich verwirklicht.«
»Was für eine Befürchtung?«
»Oben schmilzt der Schnee, aber das herablaufende Wasser gefriert jetzt an den Seitenwänden des Fahrzeugs, die sind unterdessen nun vollends erkaltet. Wohl habe ich einen elektrischen Strom durchgeschickt, in der Hoffnung, dass sich die Platten etwas erwärmen, aber es nützt nichts, wie ich nun merke. Das sich bildende Eis zwingt uns nieder. Na, dann legen wir uns wieder an unserer alten Stelle nieder, frieren an und lassen uns einschneien. Gegen die Elemente ist man eben ohnmächtig. Vielleicht auch ganz gut, dass es so gekommen ist. Ich bin wieder um eine Erfahrung reicher, denn dass durch eine unvorsichtige Umschaltung der Arbeitsstrom plötzlich in die Heizung übergeht und diese durchschmelzen kann, das soll mir ja nicht wieder passieren, das wird jetzt anders angeordnet.«
»Kann so etwas nicht auch einmal Ihrem großen Luftschiffe passieren?«
»Nein, dieser Fall wenigstens nicht. Dort ist ja alles ganz anders angeordnet, für jede Einrichtung und jedes Stückchen ist eine Reserve vorhanden. In solch einem kleinen Boote ist ja alles viel primitiver eingerichtet.«
Das Fahrzeug ging herab, von ganz allein, die unteren Luftröhren bliesen noch immer, wurden sogar auf volle Kraft eingestellt, und dann fühlte man förmlich, wie es etwas in den weichen Schnee einsank.
»So, da liegen wir wieder über dem Wikingerschiffe. Zwei Stunden werden wohl noch vergehen, bis die Heizung wieder funktioniert. Wollen Sie hinaus oder nur einmal die Tür öffnen? Dann dürfte allerdings sofort so viel Kälte eindringen, dass die Temperatur hier unter den Nullpunkt sinkt, dann friert das Wasser auch oben, und ist das einmal geschehen, dann bleibt der Schnee auch weiter liegen. Na, das schadet nun nichts, wenn wir auch völlig einschneien. Wenn die Heizung wieder funktioniert, wollen wir bald alles wieder weggeschmolzen haben. Nur während dieser zwei Stunden müssen wir einmal ein bisschen Eskimos in der Schneehütte spielen.«
»Sie haben wohl auch Stockfisch und Seehundspeck mit?«, fragte Littlelu, mit gelindem Grauen an sein Abenteuer damals in der künstlichen Polargegend denkend.
»Stockfisch und Seehundspeck?«, wiederholte Nowhere, der hiervon nichts wissen konnte. »Nein, damit bin ich nicht verproviantiert. Essen Sie das so gern? Ich glaube, auf dem ›Aeolus‹ sind einige —«
»Nich in de Hand, nich in de Hand!«, schüttelte sich Littlelu.
Die Tür wurde geöffnet. Immer noch ein undurchdringlicher Schleier von Schnee, der aber jetzt nicht mehr in weichen Flocken fiel, sondern als feine, harte Körner, wie es auch noch viel kälter geworden war.
Jetzt erst dachte Kapitän Nowhere an den geschaffenen Tunnel und warnte bei einem Verlassen des Bootes vor einem Hineinstürzen. Doch es hatte gar niemand Lust, hinauszutreten.
Die zwei Stunden waren vergangen. Man merkte dem Kapitän und seinem Ingenieur, die sich manchmal in einer den anderen unverständlichen Sprache unterhielten, gleich an, dass sie nicht zum Ziele kamen, wie sie immer so den Kopf schüttelten und ganz planlos zu suchen anfingen.
»Die Heizung will wohl nicht funktionieren?«
»Meine Herrschaften. ich muss ein beschämendes Geständnis machen. Alle Drähte sind wieder in Ordnung, aber es geht kein Strom durch die Heizung. Es fehlt irgendwo ein Kontakt, der Strom wird unterbrochen, und wir können die betreffende Stelle nicht finden. Na, es wird schon noch werden, wir müssen nur suchen.«
Wieder verging eine Stunde, die Sache war noch nicht in Ordnung.
»Ich konstatiere«, sagte da Atalanta, »dass die Luft schlecht wird. Die Kohlensäure nimmt überhand, es beginnt an Sauerstoff zu fehlen.«
»Das ist nicht möglich!«, rief Kapitän Nowhere, der so wenig wie die anderen hiervon etwas merkte. »Ein Apparat sorgt für immer frische Zufuhr von Sauerstoff, die Kohlensäure wird absorbiert und wieder zerlegt. Sie bilden sich das nur ein, weil wir jetzt eingeschlossen sind, was aber doch immer der Fall ist —«
»Nein, ich bilde es mir nicht ein, und es beschwert die Atmung ja auch noch nicht, ich konstatiere es nur. Der Apparat wird wohl nicht mehr funktionieren, sehen Sie nur nach.«
Der Kapitän war schon dabei, öffnete einen Kasten an der Wand und machte gleich ein ganz unwirsches Gesicht.
»Wahrhaftig, jetzt funktioniert auch das nicht mehr! Ah, ich weiß! Wir haben, um die Heizung wieder in Betrieb zu bringen, hier diesen Draht —«
Es wurde wieder in Ordnung gebrach, aber die Sache wollte doch nicht mehr funktionieren.
»Fatal! Jetzt haben wir so lange an der vermaledeiten Heizung herumgepfuscht, bis nun auch diese Vorrichtung ruiniert ist. Ja, wo liegt nun wieder hier der Fehler?«
Nach zehn Minuten hatte er ihn noch nicht gefunden, und jetzt wurde die Luft auch für die anderen merklich schlechter.
»Na, geht mir doch weg mit so 'nem Luftschiff«, knurrte Hagen, »da lobe ich mir doch einen alten Segelkasten, da fehlt's niemals an frischer Luft, da pfeift der Wind durch die Ritzen.«
»O, auf dem ›Aeolus‹ kann so etwas auch gar nicht passieren —«
»Schlimm genug, dass es in einem Luftboot passieren kann.«
»Das kann aber auch nur einmal vorkommen, man muss Erfahrungen sammeln.«
»Schaffen Sie nur frische Luft, das ist mir lieber.«
»Wir brauchen ja nur die Tür zu öffnen.«
Die ging aber nicht auf. So viel Schnee lag draußen schon davor.
»An so etwas hätten Sie auch denken können! Nicht einmal eine Schiebetür! Nun müssen wir hier wohl ersticken, was?«
»O nein, so schlimm ist das nicht!«, lachte Nowhere, freilich recht ärgerlich.
Es dauerte nur wenige Minuten, so war die Tür, die sich eben nur nach außen öffnen ließ, was allerdings ein Fehler war, aus den Angeln gehoben.
Es musste furchtbar geschneit haben, oder gerade auf dieser Seite hatte eingetretener Wind den Schnee so aufgehäuft. Einen Meter musste man durch den Schnee graben, was ja bald geschehen war.
Es schneite nicht mehr, man hatte freien Umblick.
Was aber für ein Anblick bot sich den Herausgekrochenen!
Besonders Kapitän Nowhere stand wie erstarrt da, war ganz fassungslos!
Ringsum erhoben sich ungeheure Berge, und nicht etwa solche, die aus Schnee zusammengeweht worden waren, sondern ein richtiges Gebirge von den bizarrsten Formen, und das Fahrzeug lag in einem Talkessel.
»Das ist kein Traum, das ist Wirklichkeit!«, flüsterte Nowhere endlich mit bleichen Lippen.
Schnell kroch er in das Boot zurück, kam bald wieder heraus, wischte sich den Schweiß von der Stirn, so bitterkalt es auch war.
»Meine Freunde — wir sind vor einem furchtbaren Schicksale bewahrt worden — wir hätten dort an der Eiswand zerschmettern können — auch der Mechanismus hat nicht mehr richtig funktioniert! Statt im Kreise zu fahren, sind wir immer direkt geradeaus gejagt. Die Steuerung erfolgt doch dadurch, dass das Luftrohr auf der einen Seite gar keine oder nur wenig Luft ausstößt. Das hat nicht mehr funktioniert. Beide Seitenröhren haben mit gleicher Kraft gearbeitet. Also sind wir immer geradeaus geschossen. Wenn auch nur mit 50 Kilometer Geschwindigkeit, so genügte das doch, um uns dort an der Felswand zerschmettern zu lassen. Ein gnädiger Gott hat unser Boot rechtzeitig zum Sinken gebracht. Gerade in diesem Tale.«
»Aber der Kompass?«
»Der funktioniert erst recht nicht mehr, sämtliche Kompassnadeln werden abgelenkt. In welcher Weise, wodurch, das weiß ich noch nicht. Ihre Bewegungen lassen sich gar nicht kontrollieren.«
»Und wo befinden wir uns hier?«
»Wie soll ich das wissen? Wenn der Himmel bedeckt ist, kann man keine geografische Ortsbestimmung machen.«
»Aber die Camera obscura stellt sich durch eine ingeniöse Vorrichtung doch automatisch auf Längen- und Breitengrade ein, es liegt nur an der Vergrößerung, um selbst Zehntelsekunden zu erkennen.«
»Ja, aber da muss man eine Camera obscura haben. Dieses Boot ist gar nicht mit einer solchen ausgestattet.«
»So wissen Sie nicht einmal, in welcher Richtung wir gefahren sind?«
»Auch das nicht, wenn man sich auf den Kompass nicht mehr verlassen kann?«
»Ein nettes Ding, dieses Luftboot, ein richtiger Windhund, auf den es keinen Verlass gibt!«, knurrte Hagen.
»Mir ahnt auch, dass ich wieder Stockfisch und Seehundspeck essen muss!«, setzte Littlelu in komischer Verzweiflung hinzu.
»Nein, so schlimm ist es nicht«, fuhr Kapitän Nowhere in wieder heiterer Laune fort, »wir werden vom ›Aeolus‹ in der Camera obscura bald gefunden worden sein, der kommt hierher und befreit uns. Ich werde ihn gleich einmal anrufen.«
Er zog seine Telefonuhr und sprach hinein. Es kam keine Antwort, kein Gegenzeichen.
Wieder machte Nowhere ein ganz bestürztes Gesicht, und das war begreiflich.
»Was ist das? Nun versagt auch meine Telefonuhr?!«
Aber nicht nur seine, sondern auch alle anderen Telefonuhren versagten, oder man bekam vielmehr keine Antwort, denn unter sich funktionierten die Telefonuhren. Und dasselbe galt für den größeren Telefonapparat im Fahrzeug.
»Dann funktioniert eben das drahtlose Telefon auf dem ›Aeolus‹ nicht, was ja einmal vorkommen kann«, sagte der Kapitän, »die starke Kälte, in die wir sonst noch nie gekommen sind, und gleich aus dem heißen Süden, hat alles so beeinflusst.«
»Oder Ihr Luftschiff hat seinen Untergang gefunden!«, meinte Hagen.
»Unmöglich!«, fuhr der Kapitän empor.
»Weshalb denn unmöglich?«
»Ja freilich«, musste Nowhere zugeben, »unmöglich ist überhaupt gar nichts. Ich meinte nur, dass der ›Aeolus‹ wegen jeder kleinen Störung nicht in solch eine fatale Lage kommen kann, wie dieses primitive Boot hier. Wenn die Mahatmas allerdings doch erfahren hätten, dass sich die Gräfin gar nicht an Bord befindet, dann — halt, da fällt mir ein, wie ich mit dem großen Telefon doch noch den Wecker auf dem ›Aeolus‹ erschallen lassen kann, ich muss nur einmal den stärksten Strom durchschicken und es noch in besonderer Weise arrangieren.«
Schnell schlüpfte er wieder durch den Tunnel in das Fahrzeug.
Unterdessen stampften die anderen draußen im Schnee herum.
»Ich ahne schon, dass ich bald wieder Stockfisch und Seehundspeck essen, diesmal sie sogar erst selber fangen muss!«, jammerte Littlelu in komischer Verzweiflung.
»Nummer drei, kommen Sie einmal herein!«, erklang es drinnen dumpf.
Auch der Ingenieur, der auf dem Luftschiffe also den dritten Posten einnahm, kroch hinein.
Gleich darauf ertönte in dem langgestreckten Schnee- und Eishaufen ein Schrei.
»Der Kapitän ist tot!«
Die Hineineilenden fanden es bestätigt.
Kapitän Nowhere lag entseelt am Boden, und so hatte ihn schon der Ingenieur gefunden. Der Ruf nach diesem war sein letztes Wort gewesen, dann hatte ihn ein furchtbarer Schlag des elektrischen Stromes, den er unvorsichtig eingestellt, sofort getötet.
Erschüttert standen sie alle da.
»Wir können doch nicht etwa auch so einen elektrischen Schlag bekommen?«, nahm zuerst Hagen das Wort, an das Nächste denkend.
»Nein, ich habe den Strom schon wieder abgestellt. So etwas hätte ich überhaupt nie gewagt. Der Kapitän muss sich in einer verzweifelten Stimmung befunden haben, dass er das getan hat, die ganze Elektrizitätsquelle zu öffnen, ohne sich besonders zu schützen.«
Dann wandte sich der Ingenieur in ehrfurchtsvollster Haltung an Atalanta.
»Frau Gräfin von Felsmark, ich begrüße Sie als meine Herrin.«
»Mich als Ihre Herrin?«
»Als Herrin des ›Aeolus‹. Dass Kapitän Nowhere beabsichtigte, Sie zu seiner Nachfolgerin zu erwählen, ist Ihnen doch bekannt. Es ist aber wirklich schon geschehen. An Bord des ›Aeolus‹ ist alles schon schriftlich niedergelegt. Der erste Offizier oder dessen Stellvertreter wird Ihnen dann alles übergeben — so Gott will.«
»Und die ganze Besatzung wird mich als ihre Herrin anerkennen?«
»Selbstverständlich.«
,Habe ich dann irgendwelche Verpflichtungen zu erfüllen?«
»Ich glaube kaum. Wir sind für diesen Fall schon ausführlich instruiert worden, aber da war von irgendwelchen Verpflichtungen Ihrerseits keine Rede.«
Atalanta atmete tief. Weitere Fragen hatten jetzt gar keinen Zweck. Man musste erst wieder an Bord des Luftschiffes sein.
»Wo ist der ›Aeolus‹ hingegangen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Frau Gräfin, ich muss Ihnen immer die unbedingte Wahrheit sagen.«
»Gut. Sie haben auch keine Ahnung, wo er sich befinden mag?«
»Nicht die geringste Ahnung.«
»Und es ist nicht nur ein Zufall, dass wir hierher gekommen sind?«
»Ein Zufall?«
»Der Kapitän hat doch vielleicht irgend etwas arrangieren können, er hat das Luftboot gar nicht aus der Gewalt verloren, hat uns mit Absicht hier festgenagelt.«
»Nein, das glaube ich nicht. Es ist alles wirklich so gewesen, wie es der Kapitän geschildert hat.«
»Sie wissen nicht, wo wir uns hier befinden?«
»Noch weniger als es der Kapitän wusste.«
»Können Sie sich erklären, weshalb uns vom ›Aeolus‹ nicht geantwortet wird?«
»Das drahtlose Telefon versagt dort.«
»Ist das schon einmal geschehen?«
»Ja, schon zweimal.«
»Was kann das für eine Ursache haben?«
»Wenn sich Geber und Empfänger in recht verschiedenen Luftschichten befinden, der eine etwa in einer sehr trockenen, der andere in einer sehr feuchten. Dann kann dieses drahtlose Telefon einmal nicht funktionieren, das heißt, die elektrischen Wellen erreichen nicht ihr Ziel.«
Das war allerdings eine Erklärung. Hiervon hatte ja auch schon Mephistopheles gesprochen, als er die erste Telefonuhr der Gräfin übergab. So etwas könne vorkommen, deshalb sei es am besten, die Telefonuhr immer durch einen Draht mit Wasser zu verbinden, das nicht isoliert war, sodass Geber und Empfänger in einer ununterbrochenen Wasserverbindung standen.
Aber wenn sich der »Aeolus«, was natürlich der Fall war, hoch in der Luft befand, so war das ja nicht zu machen.
»Gestatten Sie mir noch eine offene Frage. könnte es möglich sein, dass die Mannschaft des ›Aeolus‹ einmal gegen den Kapitän meutert?«
»Vollkommen ausgeschlossen, vollkommen!«, rief der Ingenieur in einem Tone, dass Atalanta gar nicht weiter zu fragen gebraucht hätte.
»Es gibt keinen Offizier, der vielleicht Herrschergelüste haben könnte?«
»Nein, vollkommen ausgeschlossen!«
»Gut. Ich bin bereit, die Erbschaft des Kapitäns anzutreten. Erst aber haben wir eine heilige Pflicht zu erfüllen. Hat der Kapitän etwas bestimmt, falls er einmal seinen Tod findet, wegen seiner Leiche, ob er begraben sein will oder verbrannt?«
»Gar nichts. Das wird ihm auch höchst gleichgültig gewesen sein.«
»Haben Sie ein Mittel, um die Leiche zu verbrennen?«
Der Ingenieur blickte unsicher nach dem kleinen elektrischen Kochofen, der jetzt ja aber gar nicht funktionierte.
»Nein.«
»Die Leiche bleibt einstweilen hier liegen, bis wir in der Umgegend einen Begräbnisplatz gefunden haben, wo sie vor Eisbären und sonstigen Raubtieren geschützt ist. Wenn wir die Leiche nicht vielleicht mit an Bord des Luftschiffes nehmen. Sie bleiben mit Ihren beiden Gehilfen, wozu nun doch auch Hassan zu rechnen ist, hier im Boot und versuchen ab und zu, durch das Haupttelefon mit dem ›Aeolus‹ in Verbindung zu kommen, natürlich ohne wieder solche Gewaltmittel anzuwenden, während ich mit meinen Freunden die Umgegend inspiziere. Gelingt die Verbindung, so lassen Sie es mich gleich wissen. Unsere Telefonuhren funktionieren ja noch zusammen; übrigens wird mein Mann seine Uhr auf ›Aeolus‹ eingestellt behalten.«
»Wie Sie befehlen, Frau Gräfin.«
Die fünf Personen, welche als Gäste des Luftschiffes zu bezeichnen waren, begaben sich wieder ins Freie. Draußen atmete Atalanta nochmals tief auf, noch viel tiefer als vorhin dort drin, da sie die Kunde vernommen, und ihre dunklen Augen strahlten.
»Besitzerin und Herrin des Luftschiffes und aller seiner Geheimnisse!«
»Ja, nun geht der Kampf mit Ihnen los!«, ließ sich da Hagen vernehmen.
»Der Kampf mit mir?! Wie meinen Sie das?«
»Frau Gräfin — da es nun einmal so gekommen ist, will ich auch gleich der Wahrheit die Ehre geben. Ich befinde mich in ganz besonderer Stimmung, muss mich erleichtern. Ich bin nämlich durch den Tod des Kapitäns mehr erschüttert, als man mir anmerken mag. — Hat Ihnen Ihr Gatte nicht einmal mitgeteilt, wie ich einst beabsichtigte, an Bord des Luftschiffes eine Rebellion anzuzetteln, mich in seinen Besitz zu bringen?«
»Ja, das hat er.«
»Ich habe niemals wieder darüber gesprochen, bin deswegen nicht wieder gefragt worden. Kurz gesagt, ich hatte während dieses Abstechers mit dem Luftboote nichts mehr und nichts weniger vor, als bei passender Gelegenheit dem Kapitän die Pistole auf die Brust zu setzen. Dein Leben oder Dein Luftschiff her! Wenn auch in etwas anderer Weise, nicht gerade mit einer Pistole.«
»Aaah! Jetzt fällt mir auch eine Äußerung von Ihnen ein — wie ich von der Liebenswürdigkeit dieses Kapitäns sprach, und Sie bestätigten es mit einem ›Ja, leider‹ — jetzt verstehe ich das —«
»Sehr richtig, da hätte ich mich beinahe verplappert, wie es eigentlich so einem alten Seebären wie mir nicht passieren sollte. Doch ich hätte Sie ja vorher überhaupt erst in Kenntnis davon gesetzt.«
»Auf welche Weise hätten Sie den Kapitän zwingen wollen?«
»Dies hat sich durch seinen Tod und sein Testament nun alles erledigt, also braucht auch gar nicht mehr darüber gesprochen zu werden.«
»Und nun also wollen Sie auch mir das Luftschiff abknöpfen?«, lächelte Atalanta.
»Nee. Das war vorhin nur ein Witz von mir. Mit Ihnen ist das doch etwas ganz anderes. Sie beabsichtigen doch nicht etwa, alle Völker der Erde unter Ihrem Szepter zu vereinigen —«
»Wenn das die Bedingung wäre, unter der ich die Erbschaft nur antreten könnte, das heißt, dass mich dann die Besatzung als neue Herrin anerkennt, so würde ich diese Erbschaft nie antreten.«
»Seien Sie ganz ohne Sorge, solch eine Bedingung hat der Kapitän niemals hinterlassen. Da habe ich ihn schon zu gut kennen gelernt. Der hat überhaupt nicht über seinen Tod hinausgedacht. Auch ganz richtig so. Die Erben sollen immer tun und lassen können, was sie wollen. Etwas anderes ist es ja, wenn man eine Stiftung macht. Aber das mit dem Luftschiff ist doch etwas ganz anderes. Nein, der lässt sich nach dreißig Jahren einfach wiedergebären und setzt dann sein Lebenswerk mit eigener Kraft fort. Ganz hübsch, wenn man so einen Glauben hat. Aber so, wie die Sache lag, hätte ich gegen ihn angekämpft. Ich hätte mich seines Luftschiffes bemächtigt. Ihnen gönne ich es. Wenn Sie mich brauchen können — ich stehe zu Ihren Diensten. Nun aber freilich — wir streiten oder unterhalten uns jetzt ja über des Kaisers Bart.«
»Ja, Atalanta«, nahm da auch Arno mit gepresster Stimme das Wort, »wenn dem ›Aeolus‹ etwas passiert wäre — unser Kind —«
Da legte die junge Mutter dem hünenhaften Vater ihres Kindes die Hand auf die Schulter, wobei sie sich etwas emporrecken musste, und blickte ihn lächelnd an.
»Nein, dem ›Aeolus‹ ist nichts passiert — der Telefonbetrieb ist nur einmal unterbrochen — wir sehen das Luftschiff und unser Kind wohlbehalten wieder — ich weiß es — frage mich nicht, woher ich es weiß — ich weiß es — ich weiß es — und solch eine Ahnung betrügt mich nie, nie!!«
Es war in einer Weise gesprochen, dass den anderen sofort jede Besorgnis schwand, für immer, niemals wieder solch eine Vermutung aufgeworfen wurde.
»Nun, meine Freunde, so lasst uns näher besichtigen, wohin uns das Schicksal geworfen hat!«, rief Atalanta in noch fröhlicherer Laune.
Sie sahen sich aufmerksamer um als vorhin.
Es war ein Talkessel von etwa einer englischen Meile Durchmesser, nicht ganz zwei Kilometer, ringsum eingeschlossen von bis in die Wolken gehenden Gebirgswänden, furchtbar zerrissen, nur dass durch Schnee und Eis alle Linien sanft abgerundet waren.
Außerdem überall Einschnitte, breite Schluchten, wieder ganze Nebentäler, und durch ein solches war das Luftboot hereingekommen.
Welch eine wunderbare Fügung, dass es in seiner sausenden Fahrt gerade solch eine freie Schlucht von kaum 200 Meter Breite passiert hatte! Und keine 100 Meter weiter, so wäre es an einer jäh aufsteigenden Wand zerschellt! Aber gerade da hatte die sich bildende Eiskruste es niederzwingen müssen!
»Durch jene Schlucht sind wir gekommen«, sagte Atalanta, »das lässt sich aus der Lage des Fahrzeugs, das sich doch nicht gedreht hat, wohl mit Sicherheit konstatieren. Arno, Du hast doch einen Taschenkompass bei Dir.«
»Habe ich auch, sogar einen astronomischen«, versetzte Hagen, »aber wenn im Boot der große Kompass versagte —«
Das war denn auch bei den beiden Taschenkompassen der Fall, auch hier im Freien. Die Magnetnadeln ließen sich beliebig in der Dose herumschütteln, blieben stehen, wie sie gerade standen.
»Das ist ein Phänomen! Was wäre daraus zu schließen? Dass wir uns direkt oder ziemlich auf dem Nordpol befinden?«
»Falsch. Ich weiß, was Sie meinen, aber Sie irren. Die Magnetnadel weist gar nicht direkt nach dem Nordpol, sondern dieser Anziehungspunkt, der magnetische Nordpol genannt, ist von Kapitän Ross auf dem 70. Breitengrade 96 westlich von Greenwich gefunden worden, auf der Halbinsel Boothia Felix, was wiederholt bestätigt worden ist. Weshalb nun die Magnetnadel dorthin zeigt, das freilich weiß noch kein Mensch zu sagen. Etwa um mächtige Berge aus Magneteisenstein kann es sich dabei nicht handeln. Es muss doch wohl mit der Achsenumdrehung der Erde zusammenhängen, die eben doch nicht so einfach ist, wie sich der Laie gewöhnlich denkt, Man spricht von magnetischer Deklination und Inklination.«
»Ach richtig, von diesem magnetischen Nordpol habe ich schon gehört, dass er nicht mit dem Achsenpol zusammenfällt. Da muss die Magnetnadel aber doch immer noch nach einem bestimmten Punkte weisen, nur gerade auf diesem Punkte selbst ist sie ohnmächtig.«
»Nein, so ist das alles nicht. Der Erdgeist lässt sich nicht mit solchen Zirkelpünktchen ein. Es ist ein weites Gebiet, auf dem die Magnetnadel plötzlich versagt. Nun gibt es aber solcher Gegenden noch gar viele, wo die Magnetnadel nicht mehr dekliniert, auch auf dem Äquator, mitten auf dem Meere, und das Warum weiß man nicht.«
»Also ist aus dem Versagen des Kompasses nichts zu schließen, wo wir uns hier befinden könnten?«
»Gar nichts.«
»O doch, so ungefähr weiß ich's!«, ließ sich Littlelu vernehmen, im Schnee herumstampfend und die Arme um den Leib schlagend. »Ich behaupte mit Bestimmtheit, dass wir dem Nordpole viel näher sind als dem Äquator, sintemal wir heute den 14. Juli haben. Außerdem behaupte ich, dass —«
Littlelu brach ab, auch mit seinem Stampfen und Armschlenkern, beugte sich vor.
»Nu natürlich — direkt auf dem Nordpol sind wir — oder doch keine fünfzig Schritte von dem Pünktchen entfernt, um das sich die Erde dreht — dort guckt ja die Erdachse heraus!«
Er hatte zufällig gerade hingeblickt, hatte auch gerade gutes Licht dazu — sonst war das Ding dort auch den scharfen Augen der Indianerin entgangen, dass sich dort etwas über die Schneedecke emporreckte, wie ein senkrecht eingerammter Balken, ganz weiß, eben vereist, sich daher von der nahen weißen Wand gar nicht abhebend.
Sie gingen hin. Der Schnee war ganz fest gefroren, man hätte darauf wieder Schlittschuh laufen können.
Ja, es war eine dicke Stange, ein runder Balken, der sich zwei Meter hoch aus dem Schnee erhob, ganz senkrecht, nur unten ein wenig von Schnee verweht, natürlich selbst mit Schnee und Eis bedeckt.
»Was kann das sein?«
»Eine Felsennadel.«
»Die sich so isoliert 20 Meter von einer jähen Felsenwand entfernt erhebt? Dass so etwas möglich ist, kann man sich kaum vorstellen. Das wäre ein Naturwunder.«
»Nee, das ist kein Naturwunder und keine Nähnadel«, sagte Littlelu, »sondern das ist die Achse, um die sich die Erde dreht. Siehst de, Wilhelm, da hast se!«
»Ach nee!«
»Ja freilich! Hast Du die Ölkanne mit?«
»Aber sie dreht sich doch gar nicht?«
»Hast Du überhaupt schon etwas davon gemerkt, dass sich die Erde dreht? Aha, alter Junge, ich weiß schon — Du bist hierher nach dem Nordpol gekommen, um Dich auf die Erdachse zu setzen und Karussell zu fahren!«
Unterdessen hatte Atalanta Hand an den weißen Balken gelegt, rüttelte daran, es knirschte, als ob Eis bräche, der Balken bewegte sich.
»Das Ding wackelt!«
»Nu, soll die Erdachse nicht wackeln!«, sagte Littlelu. »Wer weiß denn, wie viele Millionen von Jahren die schon geleiert hat, die muss doch natürlich schon ganz ausgeleiert sein.«
Atalanta fasste fester zu, schlang den Arm drum — und hob den runden Balken heraus.
Aber es war gar kein Balken.
»Eine Röhre! Ganz wie eine Ofenröhre!«
»Ganz richtig«, blieb Littlelu immer fest bei seiner humoristischen Behauptung, »das ist ja nicht eigentlich die Erdachse, diese Ofenröhre, sondern nur die Kapsel, die draufgesetzt ist, damit kein Dreck neinfällt.«
»Und da ist ein Loch!«
»Da, das ist nun die eigentliche Erdachse, um die sich die ganze Geschichte dreht.«
»Sechs Zoll im Durchmesser, dass die Röhre genau hineinpasst.«
»Ja, auf sechs Zoll hat sich das Loch unterdessen ausgeleiert. Früher war's einmal eine Linie, da sah man gar nichts von einem Loch. Aber die Millionen von Jahren egal geleiert — da muss sich das doch so weit ausgeleiert haben. Beguck's Dir nur ordentlich, Wilhelm. Siehst Du, wenn Du schlanker wärst und Du fällst in dieses Loch, dann kommst Du unten am Südpol wieder heraus.«
»Ach nee, ach nee!«, staunte der deutsche Fleischergeselle, der sonst durchaus nicht auf den Kopf gefallen war.
Aber was er hier nun schon alles erlebt, das hatte ihn doch etwas verwirrt gemacht, und über den Nordpol und die Erdachse mochte er nun überhaupt seine eigenen Vorstellungen haben. Da hört man sogar manchmal von sogenannten gebildeten Leuten kuriose Ansichten. Selbst in wissenschaftlichen Büchern, die noch vor gar nicht langer Zeit verfasst sind, liest man, dass an den Polen unbedingt immer die heftigsten Wirbelwinde herrschen müssten. Die konnten eben noch nicht begreifen, dass die Erde und ihre Atmosphäre aus einem einzigen Guss sind.
»Wie tief mag das Loch sein?«, fragte Atalanta weiter. Sie hatte sich dabei freilich nicht an Littlein gewandt,
»Nu, der Durchmesser der Erde an den Polen beträgt rund zwölf Millionen Meter, ich glaube, es kommen noch drei oder vier Millimeter hinzu —«
»Ach, lassen Sie endlich Ihren Unsinn! Hat jemand eine Schnur bei sich?«
Ja, Hagen hatte eine einstecken.
»Genau 30 Meter lang, Unten ist auch gleich ein bleierner Hosenknopf befestigt.«
Atalanta ließ die Schnur hinab.
»Sie, wenn Sie aber denken«, konnte Littlelu den Mund nicht stehen lassen, »Ihr Hosenknopf kommt am Südpol wieder zum Vorschein, da irren Sie, da fehlen an der Schnur noch elf Millionen neunhundertneunzigtausend neunhundert und — da, habe ich's nicht gleich gesagt?!«
Die Schnur ließ sich in dem Loche auf eine Weise auf und ab bewegen, die deutlich verriet, dass das Gewicht nicht den Grund gefunden hatte.
»Wie tief mag es sein? Auch das Loch ist mit Blech ausgefüttert, mit Kupferblech, ist ebenfalls eine Röhre, und die andere passt ganz genau hinein. Wozu dient das? Und nun vor allen Dingen: Wer mag das angelegt haben?«
»Na, wenn Sie das nun noch nicht wissen, dann tun Sie mir leid, nun erkläre ich Ihnen nichts mehr!«, sagte Littlelu, steckte die Hände in die Eskimohosentaschen und drehte sich verächtlich um. Er wandte seine Aufmerksamkeit aber doch sehr bald der Sache wieder zu.
»Also Menschen sind schon einmal hier gewesen«, sagte Hagen, »und ich halte das für eine Vorrichtung, um Vermessungsstangen leicht einzustecken und wieder herauszunehmen.«
»So tief?«
»Ja, wir wissen ja gar nicht, wie hoch die Schnee- und Eisschicht ist, auf der wir stehen. Die haben zugleich nach dem Boden sondiert.«
Es war die einzige plausible Erklärung.
»Untersuchen wir die Schluchten näher.«
Sie wanderten an der Felswand entlang.
Da kam Littlelu, der einmal etwas zurückgeblieben war, wieder vorgelaufen.
»Sie — Sie — jetzt weiß ich, wer auf die ausgeleierte Erdachse die Röhrenkapsel gesteckt hat.«
Breitbeinig stand Littlelu da, die eine Hand auf dem Rücken.
»Ach, machen Sie keinen Unsinn!«
»Faktisch, ich weiß es, wer das gemacht hat.«
»Na, wer denn?«
»Die alten Wikinger.«
»Sie sind ein unverbesserlicher —«
»Faktisch! Ich habe noch etwas gefunden.«
»Was haben Sie gefunden?«
»Hier hat so ein alter Wikinger seine Zahnbürste liegen lassen.«
Und Littlelu brachte hinter seinem Rücken einen Handfeger zum Vorschein, einen sehr großen, einen halben Meter lang, sonst aber einen richtigen, hinten mit einem Handgriff.
»Wo haben Sie den Handfeger her?«
»Na, gefunden! Oder dachten Sie, ich schleppe so einen Handbesen immer mit in meinem Magen herum, so wie die indische Gauklerin? Und Handbesen? Ich halte es für die Zahnbürste von so einem riesenhaften Wikinger.«
»Wo haben Sie ihn denn aber gefunden?«
»Dort.«
Littlelu führte sie hin. Eigentliche Höhlen gab es hier in den Felswänden nicht, nur Vertiefungen, Einbuchtungen, der Schnee konnte überall hin. Littlelu hatte zufällig in solch eine Vertiefung geblickt — da hatte hinter einem größeren verschneiten Steine dieser Handfeger gelegen.
Wohl haftete an ihm Schnee, aber nur sehr wenig, und nicht etwa, dass er eingeschneit gewesen wäre. Er hatte auf der festen Schneekruste gelegen.
Aufmerksam betrachtete ihn Atalanta und suchte dann am Boden umher. Keine Spur von einer Fährte, nichts.
»Wie kommt der hierher?«
»Den muss natürlich ein Mensch hergelegt haben.«
»Das ist nicht unbedingt notwendig, Es kann auch ein —«
Sie brach ab. Sie hatte an ihr Kind gedacht, das von einem Raubvogel entführt, von einem anderen zurückgebracht worden war. Aber so weit wollte sie hier nicht gehen.
»Er braucht nicht von einem Menschen hergelegt worden zu sein.«
»Es kann ihn jemand haben fallen lassen.«
»Ja.«
»Aus der Luft, aus einem Luftfahrzeug.«
»Ja. Aber es hat gar keinen Zweck, solch eine Möglichkeit zu erwägen. Und wer diese Röhren eingelassen hat, der muss unbedingt hier am Boden gewesen sein, Also wohl auch der Besitzer dieses Handfegers. Er macht noch einen ganz neuen Eindruck, der Bindfaden zum Aufhängen ist noch ganz neu, er war nicht verschneit. Was ist daraus zu schließen?«
»Hier halten sich überhaupt Menschen auf!«, lautete das allgemeine Urteil.
br>»Wir wollen weiter suchen.«
Als sie in die nächste Schlucht bogen, erwartete sie ein seltsamer, ein wunderbarer Anblick.
Es war mehr eine weite, tiefe Ausbuchtung zu nennen, über 60 Meter breit und noch viel tiefer, aber keine Höhle, sondern oben offen, von steilen Felswänden begrenzt, nur hinten geschlossen.
Dort hinten aber gähnte in der weißen Wand ein ungeheures schwarzes Loch, und nun vor allen Dingen hingen dort mächtige Eiszapfen herab, rahmten die ganze Öffnung ein, wie eine ungeheure Orgel bildend.
»Dort kommt warme Luft heraus!«, sagte Atalanta sofort.
Sie gingen näher. Von Spuren immer noch nicht zu merken, obgleich der Schnee immer weicher wurde, bis noch vor der Höhle der schwarze Boden sichtbar war, und da empfand man auch schon die warme Luft, welche aus der Höhle herauskam.
Es war eine Höhle von wenigstens zwölf Meter Höhe und ebensolcher Breite, ihr Ende konnte man noch nicht erkennen, und eine wahre Backofentemperatur herrschte darin.
Aber das kam nur daher, weil man aus schneidender Kälte eintrat. Das Taschenthermometer zeigte noch nicht einmal 20 Grad Celsius an, eine normale Zimmertemperatur.
»Vorsicht, das ist ein Vulkan, in den wir eindringen!«
»Was, ein Vulkan am Nordpol?«, staunte Wilhelm.
Er wurde schnell eines Besseren belehrt. Es wäre vielmehr sehr wunderbar, wenn man dort am Nordpol herum keine Vulkane finden würde. Die Eisgegenden der Erdrinde haben mit dem feuerflüssigen Inneren ja gar nichts zu tun. In den Südpolarländern hat man schon tätige Vulkane genug entdeckt, und Wilhelm brauchte auch nur an den Hekla auf Island erinnert zu werden, nur einer von wahrscheinlich Hunderten von feuerspeienden Bergen, und er sah seinen Irrtum ein.
Einen Einfluss auf die Gegend haben solche Polarvulkane freilich nicht. Nicht etwa, dass sie ein Treibhaus im Freien erzeugen, in dem nun Apfelsinen reifen, da siegt die atmosphärische Kälte, unterstützt vom Wind, der gar kein Sturm zu sein braucht. Dort, wo der Boden sehr warm ist, schmilzt Eis und Schnee natürlich weg.
Sie drangen tiefer ein, ihre elektrischen Taschenlampen, die sie immer bei sich hatten, leuchten lassend.
Da zweigte linkerhand ein Gang ab. Er wurde zunächst verfolgt. Nackte Felswände, weiter nichts.
Da aber, in dem Scheine der vorausschickten Blendstrahle, konnte man noch nichts Richtiges erkennen, weil die Luft so warm und neblig war, flammte es plötzlich mit mächtiger, intensiver Helligkeit auf, sie blickten in eine weite Halle, und das erste, was ins Auge fiel, war ein ungeheures Gerippe aus Stahlstangen, 20 Meter hoch und wohl zehnmal so lang, aber teilweise zusammengebrochen.
»Das Gerippe eines Luftschiffes, so wie Mephistopheles eines konstruiert hat, ohne es zu vollenden, wie es aber von Kapitän Nowhere mit seinem ›Aeolus‹ vollendet wurde!«
So hatte Atalanta sofort gerufen. Dann bückte sie sich, hob eine Stahlstange auf, die durch ihr Gewicht auffiel.
»Omnihilit!«
Sie zog ihre Telefonuhr und klingelte, das Gegenzeichen kam.
»Hier Nummer drei!«
»Herr Ingenieur, hat Kapitän Nowhere in den Nordpolargegenden eine Werkstatt oder ein Depot oder ein Magazin für sein Luftschiff angelegt?«
»Davon weiß ich nichts.«
»Kann es nicht möglich sein?«
»Nein, das ist sogar unmöglich, darf ich behaupten.«
»Weshalb unmöglich?«
»Weil Kapitän Nowhere zum ersten Male hierher kommt — kam.«
»Er war doch schon einmal hier, hat das Wikingerboot —«
»Mit einem Luftschiffe, meine ich, als Luftschiffer.
Damals war er in einem Unterseeboote hier, hat noch gar nicht an Luftschifffahrt gedacht. Ich war selbst mit dabei, war auch sonst mit Kapitän Nowhere sehr vertraut.«
»Gibt es einen anderen Manu, der hier ein Luftschiffdepot angelegt, ein ganzes Luftschiff erbaut haben könnte?«
»Nicht dass ich wüsste. Sie haben doch nicht so etwas gefunden?«
»Ja. Ganz in der Nähe, kaum hundert Schritt von Ihnen, man muss nur in eine Schlucht einbiegen. Aber bleiben Sie nur dort. Ich schildere es Ihnen. Eine mächtige Höhle, in der 20 Grad Wärme herrscht, natürliche oder auch künstlich erzeugte. Sobald wir die große Halle betraten, eine ungeheure Halle, flammte von selbst elektrisches Licht auf, überall, wir sehen das Gerippe eines Luftschiffes, fast so groß wie der ›Aeolus‹, ringsherum an Bänken Schraubstöcke, in einem anderen Raume erblicke ich Werkzeugmaschinen — also kein Depot, es ist eine ganze Werkstatt zum Bau von Luftschiffen. Das Weitere ist erst noch zu untersuchen.«
»Aus was für Material ist das Gerippe erbaut?«
»Omnihilit!«
»Ja, da möchte man fast glauben —«
»Was?«
»Hat Ihnen Kapitän Nowhere von dem Colonel Possard erzählt?«
»Nein.«
»Wie er einst einen Mitarbeiter gehabt hat, der mit ihm in jener Verbannung lebte, welche die Mahatmas über die Freigeister verhängten, und wie der schon mit einem Luftschiff geflohen war?«
»Nein. Berichten Sie.«
»Es war ein Franzose, Monsieur Possard. Wir nannten ihn den Colonel. Er war der Mitarbeiter des Kapitäns Nowhere beim Bau des Luftschiffes, was die beiden nach Ansicht der Mahatmas nur aus Zeitvertreib machten. Denn über die Grenzen des Tales durften sie ja nicht, konnten sie nicht. Nach der Meinung der Mahatmas.
Aber der Hauptmacher war Kapitän Nowhere, der hat alles ausgedacht und konstruiert. Zwischen den beiden wurde bald ein feindseliges Verhältnis. Der Franzose war maßlos eitel, wollte alles für sich beanspruchen. Und dann ist er mit dem ersten erbauten Luftschiff geflohen, mit nur 13 Mann Besatzung. Er hat es Kapitän Nowhere einfach gestohlen.
Er ist nicht weit gekommen. Gleich jenseits der Talgrenze hoben die Mahatmas die Gewichtslosigkeit auf, das Luftschiff sauste mehr als viertausend Meter herab und zerschmetterte total.«
»Und der Colonel war tot?«
»Das ist doch anzunehmen, bei einem Sturze in viertausend Meter Tiefe.«
»Hat man seine und seiner Begleiter Leichen nicht gefunden?«
»Davon sich zu überzeugen, war nicht gut angängig. Das Luftschiff war in eine furchtbare Schlucht gestürzt, in die es keinen Abstieg gab, und überhaupt, die Mahatmas gaben sich deswegen gar keine Mühe. Es genügte ihnen, von dem Tode der Flüchtlinge überzeugt zu sein und das Luftschiff mit seinem ganzen Inhalte an einem Orte zu wissen, wo auch die Trümmer kein anderer Mensch finden konnte,«
»Und Sie meinen also, dieser Colonel Possard könnte doch mit dem Leben davongekommen sein und sich hier am Nordpol eine Werkstatt eingerichtet haben, um sich ein neues Luftschiff zu bauen —«
»O nein, das meine ich nicht! Ich wollte nur sagen, dass es auf der Erde nur drei Menschen gibt, welche das Geheimnis des Omnihilits und alle anderen Geheimnisse kennen, daraufhin solch ein Luftschiff zu bauen und es auch tun, weil es eben Abtrünnige von jener geheimen Gesellschaft der Mahatmas sind: Der eine ist der Mann, den Sie Mephistopheles nennen; der zweite ist Kapitän Nowhere; der dritte ist oder war Colonel Possard. Andere Menschen gibt es nicht, die zu so etwas imstande sind.«
»Es gab aber doch noch andere Abtrünnige, die mit jenen geflohen waren, Sie selbst gehören doch mit dazu.«
»Nein, nur diese drei Männer waren geistig reif dazu, die erfinderischen Theorien der Mahatmas zu verstehen und sie in Praxis umzusetzen.«
»So etwas kann man doch noch lernen.«
»Das kann man niemals durch ein Studium erlernen. Entweder man ist solch ein Geisteskind, um gleich zu verstehen, oder man wird es nie begreifen. Es gehört ein ganz besonderes Genie dazu.«
»Das verstehe ich nicht recht.«
»Die Sache ist auch so kompliziert, dass ich sie Ihnen nicht weiter beschreiben kann, weil ich eben selbst nicht solch ein Geisteskind bin, obgleich ich — bei dieser Gelegenheit muss ich es erwähnen — ein Mathematiker bin, der noch eine ganz andere Methode erfunden hat als die Integral- und Differentialrechnung. Aber durch ein Beispiel kann ich es Ihnen klar machen. Frau Gräfin sind Schachspielerin?«
»Ja.«
»Eine ganz vorzügliche, nicht wahr?«
»Nun — ja, die bin ich.«
»Können Sie blindlings spielen? Ein oder gar mehrere Spiele leiten, ohne auf das Schachbrett zu blicken, jeden einzelnen Zug und somit die ganze Stellung aller Figuren immer im Kopfe behalten?«
»Ja, das kann ich. Als Kind habe ich es oft gemacht, habe bis sechs Spiele gleichzeitig und blindlings geleitet. Und jetzt vermag ich es sicher noch besser, wenn ich es auch nicht mehr geübt habe.«
Eine Pause entstand.
»A la bonne heur,« erklang es dann flüsternd, was allein schon das grenzenlose Staunen ausdrückte, »das habe ich nicht gewusst!«
Ja, der Ingenieur hatte auch allen Grund zu seinem ehrfürchtigen Staunen.
Man muss mit dem Schachspiel näher vertraut sein, vor allen Dingen theoretisch, sich mit dem Auflösen von Problemen beschäftigen, um zu wissen, was das Schachspiel überhaupt ist.
Aber nun gar das blinde Schachspiel ist ein unfassbares Wunder des menschlichen Geistes.
»Aaaah«, erklang es dann langgedehnt in der Telefonuhr, »nun weiß ich auch, weshalb es die Mahatmas so auf Sie abgesehen haben, weshalb sie alle Hände über Sie halten! Sie sind bestimmt, dereinst noch eine führende Rolle in dieser geheimen Gesellschaft zu spielen, welche die Schicksale der Menschheit leitet!«
»Lassen wir das. Also es könnte nur unser Mephistopheles und jener Colonel Possard in Betracht kommen, die hier am Nordpol eine Werkstatt —«
»Frau Gräfin, der »Äolus« ruft an!«
»Hier, Lucy, habe ich Dir etwas mitgebracht!«, sagte der
Arzt,auf
die schöne Unbekannte zeigend. »Eine Vorstellung kann aber
nicht erfolgen, ich übergebe dieses Rätsel Deinen sanften Händen!«
Auch in Arnos Tasche hatte es geklingelt, er zog seine Telefonuhr, Atalanta nahm sie, um mitzuhören. Doch erklang es laut genug heraus, dass auch alle anderen es verstehen konnten.
»Hier Nummer drei!«, meldete sich der Ingenieur.
»Hier ›Aeolus‹. Herr Kapitän, Sie —«
»Der Kapitän ist tot.«
»Was?!«
»Unsere Heizung brannte durch, auch das Telefon versagte — da wollte der Kapitän den doppelten Expansionsstrom — wer spricht mit mir?«
»Erkennen Sie mich nicht an der Stimme?«
»Nummer eins?«
»Ja.«
»Da wollte der Kapitän den doppelten Expansions... — sind Sie allein, Nummer eins?«
»Ja.«
»Niemand kann mithören?«
»Nein.«
»Hier hört Frau Gräfin von Felsmark mit, sie darf es, es ist unsere neue Herrin.«
»Ich weiß es. Wo befinden Sie sich?«
»Wir wissen nicht, wie — ist denn dort Nummer eins?«
»Na, gewiss doch! Wo also befinden Sie sich?«
Zwischen den beiden war etwas nicht in Ordnung, das hatte Atalanta nun schon gemerkt.
»Sie sind Nummer eins?«
»Was wollen Sie denn nur? Wo Sie sich mit dem Luftboote befinden, das will ich wissen!«
»Geben Sie mir doch einmal das Losungswort.«
»Was für ein — zum dreibeinigen Teufel, ich befehle Ihnen —«
»Colonel Possard!«, schrie da der Ingenieur mehr, als dass er sprach, »jetzt erkenne ich Sie auch an der Stimme — Sie sind Colonel Possard!«
Eine längere Pause entstand, ehe die Antwort kam.
»Ja, ich bin es!«, erklang es dann. »Aber ich befinde mich nicht etwa auf dem ›Aeolus‹. Ich habe mein eigenes Luftschiff, wollte nur einmal mit Kapitän Nowhere —«
In der Telefonuhr, die Atalanta am Ohr hatte, entstand ein seltsames Geräusch, ein Lärmen, unterdrückte Flüche, aber nicht in das Telefon hineingerufen, das alles musste weit abseits vor sich gehen, und dann eine brüllende Stimme, auch entfernt vom Telefon gerufen, was man ja aber dennoch hören kann, und wohl mit Absicht war die brüllende Stimme so hoch bis zum Fistelton geschraubt.
»Glaubt ihm nicht, Colonel Possard hat sich des ›Aeolus‹ bemächtigt!!«
So gellte es, dann ein dumpfer Fall, und alles war wieder still.
»So, nun wissen Sie es!«, erklang es dann wieder.
»Sie, Colonel Possard, haben sich des ›Aeolus‹ bemächtigt?«
»Ja. Ich —«
»Einen Augenblick, Frau Gräfin, haben Sie alles gehört?«
»Alles.«
»Wollen Sie jetzt mit dem Colonel weitersprechen? Ich möchte keine Verantwortung haben, es sei denn, Sie befehlen es mir —«
»Ich werde selbst mit ihm sprechen, es steht Ihnen aber immer frei, mich zu unterbrechen, mir das Wort abzuschneiden. Ich bitte Sie sehr, es zu tun, falls Sie es für gut finden. — Colonel Possard, sind Sie dort?«
»Ja. Habe ich die Ehre, mit Frau Gräfin Atalanta von Felsmark zu sprechen?«
»Ich bin es.«
»Es ehrt mich sehr. Wo befinden Sie sich?«
»In einer uns ganz unbekannten Gegend.«
»Können Sie mir dieselbe näher beschreiben?«
»O ja.«
»Was erblicken Sie im Norden?«
Zunächst machte Atalanta eine eigentümliche Handbewegung hinter sich. Dass ja niemand nun etwa gleich rief: »Die Kompasse versagen!«
Es war eben sehr gut gewesen, dass diese Indianerin gleich das Weitere übernommen hatte!
»Weshalb ist Ihnen denn so viel daran gelegen, zu wissen, wo wir uns befinden?«
»Weil ich mit Ihnen persönlich sprechen möchte.«
»Wir sprechen doch schon persönlich zusammen.«
»Meine Ehrerbietung will ich Ihnen persönlich zu Füßen legen.«
»Was für eine Ehrerbietung?«
»Sie sind doch die neue Herrin des ›Aeolus‹.«
»Woher wissen Sie das?«
»Aus allerbester Quelle. Ich bin von den Mahatmas selbst abgesandt, um mich des ›Aeolus‹ zu bemächtigen, um die Herrschaft über das Luftschiff auf Sie zu übertragen. Den ersten Teil meiner Aufgabe habe ich erfüllt, nun fehlt nur noch der zweite: Sie als neue Herrin einzuweihen.«
»Sagen Sie der Frau Gräfin«, flüsterte da des Ingenieurs Stimme in Arnos Telefonuhr, »dass der Colonel lügt, er ist von jeher ein ehrloser Wicht gewesen — niemals haben die Mahatmas ihm solch einen Auftrag erteilt, er will die Frau Gräfin nur wegen seiner eigenen Sicherheit wieder an Bord haben.«
Atalanta hatte die geflüsterten Worte noch deutlich vernommen, und wieder machte sie eine entsprechende Handbewegung, die sagte, dass solch eine Warnung gar nicht nötig war.
»Also auch Sie erkennen mich als Herrin des Luftschiffes an?«
»Gewiss.«
»Sie gehorchen mir?«
»Ich muss.«
»Wo und wie haben Sie sich des Luftschiffes bemächtigt?«
»Das werde ich Ihnen ausführlich berichten.«
»Da Sie mir zu gehorchen haben, so befehle ich Ihnen, mir jetzt gleich alles zu berichten.«
»Ich gehorche. Ich bin mit 300 Mann von den Mahatmas in einem eigenen Luftschiffe abgesandt worden, um diese geflohenen Abtrünnigen wieder zum Gehorsam zu zwingen. Wo sich der ›Aeolus‹ immer befindet, davon sind die Mahatmas ja jederzeit unterrichtet, das Luftschiff wird einfach immer in der Camera obscura beobachtet, und da nützt es nichts, dass es sich unsichtbar machen kann, diese Unsichtbarkeit oder richtiger vollkommene Durchsichtigkeit kann in einer besonderen Camera obscura wirkungslos gemacht werden. Dies ist doch der Frau Gräfin bekannt?«
»Ist mir alles bekannt.«
»Natürlich haben auch wir uns dem ›Aeolus‹ unsichtbar genähert. Unterdessen aber habe ich selbst eine Erfindung gemacht, durch welche die Unsichtbarkeit in der Camera obscura nicht mehr aufzuheben ist. Auf diese Weise gelang uns die Überrumpelung sehr leicht. Ich brauche nichts weiter zu sagen, als dass es eben eine vollständige Überrumpelung war. Die ganze Besatzung saß auch gerade beim Mittagsessen, hatte gar keine Vorsichtsmaßregeln getroffen, und ich kenne doch alles, wie man sich dort wehren kann, was man für Mittel besitzt, das konnte ich von vornherein alles unbrauchbar machen — nur der erste Offizier leistete Widerstand, musste überwältigt werden. Ich bin Herr des ›Aeolus‹ und bin beauftragt, diese Herrschaft nun Ihnen zu übergeben.«
»Sie sind doch selbst ein abtrünniger Flüchtling.«
»Gewesen. Haben gnädige Frau Gräfin von meiner damaligen Flucht gehört?«
»Ja.«
»Ich stürzte mit meinem Luftschiff in einen Abgrund.«
»Ich weiß es.«
»Aber ich habe damals meinen Tod nicht gefunden, blieb am Leben.«
»Das merke ich jetzt.«
»Reumütig kehrte ich zu den Mahatmas zurück, nahm eine furchtbare Buße auf mich, bis dass Kapitän Nowhere mit seinem neuerbauten Luftschiffe entfloh. Da wurde ich von den Mahatmas beauftragt, mich dieses Flüchtlings und seiner Genossen wieder zu bemächtigen, dann sollte mir alles verziehen sein. Da ich also unterdessen jene und noch andere Erfindungen gemacht hatte, gelang es mir, meine Aufgabe hiermit zu lösen.«
»Lüge, Lüge — alles Lüge!«, ließ sich der Ingenieur wieder flüsternd vernehmen.
»Sie kommen direkt von den Mahatmas?«, fragte Atalanta.
»Ganz direkt.«
»Wo wohnen denn diese?«
»Im Himalajagebirge.«
»Wo denn da? Das ist doch sehr groß.«
»Die Gegend darf ich allerdings nicht näher bezeichnen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil es eben nicht erlaubt ist. Aber ich bin beauftragt, Sie sofort selbst hinzubringen.«
»Wozu?«
»Die Mahatmas wollen Sie mit in ihren Geheimbund aufnehmen, Sie sollen in alles eingeweiht werden, auch in die tiefsten Mysterien, denn Sie sind bestimmt, in diesem Geheimbund, der die Schicksale der Menschheit leitet, noch eine führende Rolle zu spielen. Es ist schon alles vorbereitet, um Sie mit der größten Feierlichkeit zu empfangen.«
»Wie er mich ködern will!«, flüsterte diesmal Atalanta, und laut fuhr sie fort.
»Wo befand sich der ›Aeolus‹, als Sie ihn nahmen?«
»Das wissen Sie doch selbst.«
»Herr Colonel, das ist keine Antwort, die man seiner Herrin gibt!«
»Ich bitte um Entschuldigung, aber —«
»Also direkt über dem Nordpol?«, fuhr Atalanta schnell fort.
»Direkt über dem Nordpol!«, wurde sofort bestätigt.
Nun war vollends erwiesen, dass jener log. Denn Kapitän Nowhere hatte versichert, dass er sein Schiff nicht nach dem Nordpol schicke, und dem glaubte Atalanta unbedingt.
So war nicht nötig, dass der Ingenieur wieder auf diese Lüge aufmerksam machte.
»Und auch Sie befinden sich noch dort?«
»Ja, immer noch.«
»Weshalb fragten Sie denn immer, wo ich mich befände?«
»Nun, das möchte ich doch eben wissen.«
»Wozu denn nur?«
»Um Sie abzuholen. Ihr Luftboot ist doch wohl flugunfähig geworden, nicht wahr?«
»Weshalb glauben Sie denn das?«
»Nummer drei sagte doch, dass die Heizung durchgebrannt sei, und da wird Ihr Boot doch so von Schnee und Eis beschwert, dass es sich nicht mehr erheben kann.«
Es war schade, dass der Ingenieur dies gleich berichtet hatte, aber das hatte er ja nicht wissen können, und nun war es einmal geschehen.
»Sie müssen doch selbst sehen können, wo wir uns befinden.«
»In der Camera obscura, meinen Sie?«
»Gewiss.«
»Wir haben vergebens schon die ganze Polargegend, die in Betracht kommen kann, abgesucht, in allen Vergrößerungen, wir können Ihr Boot nicht entdecken.«
»Wie ist denn das möglich? Selbst wenn wir uns unsichtbar gemacht hätten — Sie haben ja eine Erfindnng gemacht, um diese Unsichtbarkeit aufzuheben.«
»Es gibt noch einen ganz anderen Grund, dass wir Ihr Boot nicht erblicken können.«
»Und der wäre?«
»Es ist einfach eingeschneit, der kleine Schneehügel ist doch nicht so leicht auf der weißen Ebene zu finden, und dann wissen wir doch immer noch nicht, ob sich unter dem Schneehügel auch das gesuchte Luftboot befindet.«
»Aha, nun weiß ich es — aber immer noch nicht, wo wir uns befinden.«
»Das müssen Sie doch wissen!«
»Nein.«
»Sie haben in dem Schneetreiben wohl die Richtung verloren?«
»So ist es.«
»Aber die Richtung, die Sie immer eingehalten haben, kennen Sie doch nach dem Kompass.«
»Ja, natürlich.«
Der brauchte nichts davon zu wissen, dass hier die Magnetnadeln versagten.
»Nun, welche Richtung haben Sie immer eingehalten?«
»Das sagt uns immer noch nicht, wo wir hier festgefroren sind, und zur geografischen Bestimmung unserem Lage fehlt die Sonne.«
»Aber Sie haben doch ein ganz einfaches Mittel, um das sofort auf mechanische Weise zu bestimmen.«
»Was für ein Mittel?«
»Nun, Sie stellen einfach die Camera obscura Ihres Luftbootes ein, auf die nächste Umgebung, die zeigt automatisch Längen- und Breitengrade bis zur Sekunde an.«
Also der Colonel wusste noch nicht einmal, dass sich an Bord dieses kleinen Bootes gar keine Camera obscura befand. Und die Überwältigten verrieten ihm nichts, gaben ihm jedenfalls nicht eine einzige Antwort, da mochte er fragen wie er wollte.
Das konnte sich Atalanta, die den Charakter aller dieser Menschen nun doch schon kennen gelernt hatte, ganz deutlich vorstellen.
»Der Ingenieur Nummer drei sagte Ihnen doch schon, dass noch einige andere Unregelmäßigkeiten hier vorgekommen sind.«
»Allerdings.«
»Nicht nur die Heizung ist durchgebrannt, auch die Camera obscura versagt.«
»Nun, dann bestimmen eben wir selbst Ihre Lage.«
»Auf welche Weise ist das möglich?«
»Sie brauchen sich doch nur ins Freie zu begeben, es ist gar nicht nötig, dass Sie ein besonders auffallendes Signal errichten. Dann wollen wir Sie bald in der Camera obscura gefunden haben.«
»Ach so! Wir können aber das Luftboot nicht verlassen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil es vollkommen eingeschneit ist.«
»So schaufeln Sie sich doch durch.«
»Wir schaufeln schon seit drei Stunden, kommen nicht durch. Der Tunnel ist bereits zehn Meter lang und noch immer ist kein Ende der Schneeschicht abzusehen.«
»Ach machen Sie mir doch nichts vor!«
»Herr Colonel, wollen Sie solche Ausdrücke unterlassen und Ihrer Herrin gegenüber gefälligst einen anderen Ton anschlagen!«
»Ich bitte um Verzeihung, aber —«
»Da gibt es gar kein Aber! Zunächst werden Sie mir eine Frage beantworten!«
»Bitte.«
»Wie kamen Sie dazu, sich erst für den ersten Offizier des ›Aeolus‹ auszugeben?!«
Die Antwort daraufhin hatte sich der Colonel wohl schon zurechtgelegt, sonst wäre sie nicht so schnell gekommen.
»Weil ich vermutete, dass Sie, wenn Sie gleich die wahren Verhältnisse erführen, sich weigern würden, an Bord des ›Aeolus‹ zurückzukommen. Denn feindlich musste ich ja gegen den ›Aeolus‹ vorgehen, das stimmt. So gebrauchte ich eine List. Sie ist missglückt, es ist mir recht geschehen, ich habe eine große Torheit begangen, jetzt sehe ich es ein. Aber Sie misstrauen mir doch nicht etwa?«
»O nein!«, gab Atalanta ohne jeden ironischen Ton zurück. »Aber die Sache ist die, dass ich jetzt noch keine Lust habe, mich an Bord des ›Aeolus‹ zurückzubegeben.«
»Warum nicht?«
»Einfach weil ich nicht will. Weil ich hier etwas Interessantes beobachte. Bin ich nicht Herr meines freien Willens?«
»Das sind Sie, aber —«
»Nicht immer wieder ein Aber! Sie liegen noch über dem Nordpol?«
»Ja. Ich schwebe nicht mehr darüber, sondern ich liege direkt darauf.«
»Auf festem Boden?«
»Ja. Wir haben doch nicht mehr nötig, uns immer in großer Höhe zu halten, ich handle ja im Auftrage der Mahatmas, wir sind die besten Freunde. Die frühere Vorsichtsmaßregel ist nun ganz hinfällig geworden.«
»Das ist ja herrlich. So werden Sie also dort auf dem Nordpol liegen bleiben, bis ich hinkomme.«
»Wann ist das?«
»Wenn es mir beliebt. Morgen, vielleicht übermorgen, vielleicht noch später.«
»Aber ich muss —«
»Habe ich Ihnen nicht zu befehlen? Müssen Sie mir nicht gehorchen?«
»Das wohl, aber vor allen Dingen habe ich von den Mahatmas den Befehl erhalten, Sie sofort nach dem Himalajagebirge zu bringen.«
»Wem haben Sie zu gehorchen, mir oder den Mahatmas?«
»Da muss ich gestehen, dass der Befehl der Mahatmas vorgeht.«
»Mich aber gehen die Mahatmas gar nichts an. Und ich denke gar nicht daran, mich unter deren Kommando zu stellen —«
»Ich bitte Sie aber herzlichst, der Einladung Folge zu leisten, die größten Überraschungen warten Ihrer, Sie werden sofort in die tiefsten Mysterien eingeweiht, von denen sich kein Mensch auch nur etwas träumen lässt.«
»Ich befehle Ihnen, mit dem ›Aeolus‹ auf dem Nordpol liegen zu bleiben, bis ich dorthin komme. Wollen Sie mir gehorchen oder nicht?«
»Gut, ich gehorche Ihnen, werde es den Mahatmas sofort melden —«
»Dann also vorläufig Schluss —«
»Halt, nur noch eins!«, erklang es eilfertig, denn es war zu erwarten, dass die indianische Gräfin wirklich sofort Schluss machte und sich nicht wieder anrufen ließ.
»Was noch? Machen Sie es kurz, ich habe keine Zeit mehr, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Ich wollte Sie nur noch darauf aufmerksam machen, dass Sie, wenn Ihre Camera obscura wieder funktioniert, den ›Aeolus‹ vergebens darin suchen werden.«
»Weshalb vergebens?«
»Ich habe eine Erfindung gemacht, die ich ganz allein beanspruche«, lautete die sehr stolze Antwort, man hörte immer die maßlose Eitelkeit heraus, »wonach ich die Wirkung der Camera obscura aufheben kann. Der Gegenstand, der nicht gesehen werden soll, ist in keiner einzigen Camera zu erblicken. Dazu muss dieser Gegenstand aber erst präpariert werden, und ich muss gestehen, dass ich noch nicht so weit bin, diese wahrhaftige Unsichtbarkeit dann auch wieder aufzuheben.«
»Und auch den ›Aeolus‹ haben Sie schon so präpariert?«
»Jawohl, und das ist nun für immer geschehen, das ist nun nicht wieder rückgängig zu machen. Also können Sie weder mein eigenes Luftschiff noch den ›Aeolus‹ in irgend einer Camera obscura jemals wieder erblicken.«
»Atalanta, der Ingenieur möchte Dich sprechen!«, flüsterte da Arno, ihr seine Telefonuhr gebend.
»Ja, Herr Ingenieur?«
»Es dürfte eine Tatsache sein, was Colonel Possard da berichtet!«, sagte der Ingenieur, ohne seine Stimme zu dämpfen, denn dieses Zwiegespräch konnte dort sicher nicht belauscht werden. »Dieser Mann hatte seine Erfindungsgabe, die er wirklich besaß, von jeher auf die Vervollkommnung der Camera obscura konzentriert und schon immer behauptet, die Möglichkeit müsse vorhanden sein, in der Camera obscura das wirkliche Bild wegzuwischen oder gar etwas anderes vorzugaukeln, das man von der Wirklichkeit nicht unterscheiden kann. Einmal ist ihm solch ein Experiment schon gelungen, er konnte es nur nicht wiederholen, jetzt aber bin ich überzeugt, dass er es machen kann. Also wird er auch hier über diese Gegend, in der er seine neue Werkstatt errichtet hat, etwas wie einen Nebel gebreitet oder sonst wie dafür gesorgt haben, dass man diese Gegend nicht in der Camera obscura beobachten kann. Aber das wird höchstwahrscheinlich auch für ihn selbst gelten. Also können auch wir nicht von ihm beobachtet werden —«
»Was nützt mir das alles«, unterbrach da Atalanta den Sprecher in jammerndem Tone, »mein Kind, mein Kind — was soll nun aus meinem Kinde werden?!«
Sie hatte es ausgesprochen, woran auch Arno einzig und allein gedacht hatte.
»Jetzt ist mein Kind in der Gewalt dieses ausgesprochenen Bösewichtes —«
»Sei ohne Sorge, meine Tochter, Dein Kind ist bereits diesen Bösewichtern entrückt worden.«
Hoch horchte Atalanta auf. Es war eine ganz andere Stimme gewesen als die des Ingenieurs, die das letzte gesagt hatte, und der bediente sich doch auch nicht des sonst im Englischen ganz ungebräuchlichen »Du«. Nur in der Poesie und in der Bibel wird es angewandt.(1)
(1) Im Englischen wird in der umgangssprachlichen Anrede (›you‹) nicht zwischen ›Sie‹ und ›du‹ unterschieden. Robert Kraft wird mit der »nur in der Poesie und in der Bibel« verwendeten Anrede ›du‹ das englische Wort ›thou‹ gemeint haben. liegt und was Du Dir nicht selbst beantworten kannst. Nur eines kannst Du schon jetzt erfahren: Kapitän Nowhere hat unsere Macht immer vollkommen unterschätzt.
»Wer hat da gesprochen?!«
»Ein Mahatma. Der Mahatma, dem befohlen worden ist, über Dich zu wachen, und zu Dir gehört auch Dein Kind.«
»Mein Kind soll bereits gerettet sein?«
»Es befindet sich bereits auf dem Wege zu Dir.«
»Wie ist das möglich? Wer bringt es?«
»Du wirst es erfahren. Frage niemals etwas, was noch in der Zukunft
Wir haben immer gewusst, dass Du ab und zu an Land gehst, dass sich dann nur Dein vorgetäuschtes Bild an Deck des Luftschiffes bewegt.
Also hätten wir auch schon immer die Erdschwere herstellen und das Luftschiff zerschmettern lassen können.
So glaubte Kapitän Nowhere.
Aber da war ja noch Dein Kind an Bord.
Doch wir hätten auch die Erdschwere langsam nach und nach einschalten können.
Wir hatten dies alles nicht nötig, weil für uns dieser Kapitän Nowhere ganz unschädlich war, solange er sich nicht in die Schicksale der Menschheit mischte, solange er also auch nicht seine wahnwitzigen Pläne ausführen wollte.
Jetzt hat sich ein anderer Abtrünniger dieses Luftschiffes bemächtigt, auch ihn, der sich Colonel Possard nennt, ließen wir unbelästigt, solange er gar nicht vorgehen konnte, weil ihm eben die Mittel dazu fehlten. Das hat sich nun geändert. Er würde mit den Erfindungen, die er uns geraubt hat, nur fürchterlichen Missbrauch treiben.
Dem kommen wir zuvor. Jetzt ist er mit seinen beiden Luftschiffen, über die er nun verfügt, bereits lahmgelegt, und das für immer.
Er und seine Genossen sind vom ewigen Eise eingeschlossen. Leben können sie, so lange sie sich eben am Leben erhalten können, aber diese Eiswüste anders als zu Fuß oder zu Schlitten, die sie jedoch selbst ziehen müssten, zu verlassen, das ist ihnen unmöglich.
Also sie sind so gut wie lebendig begraben.
Du kannst Dich auch nicht mehr mit diesem Colonel unterhalten, wir gestatten keine Verbindung mehr.
Du hast es ja auch gar nicht mehr nötig. Dein Kind ist bereits unterwegs zu Dir.
Und dann, meine Tochter, kehrst Du mit dem Luftboote, welches Du noch einmal zur Verfügung gestellt bekommst, sofort nach Lemurien zurück.
Dort wartest Du, bis Du von uns wieder gerufen wirst.
Deine Freunde nimmst Du natürlich mit Dir, ebenso erlauben wir, dass Dich auch die drei Männer vom ›Aeolus‹ begleiten, die der Katastrophe entgangen sind.
Kehre sofort zurück, brich sofort auf! Sieh Dich nicht weiter dort um! Alles dies, was uns geraubt worden ist, deshalb der Menschheit noch nicht gehört, ist der Vernichtung preisgegeben, und diese wird sofort vollzogen.
Mehr habe ich Dir jetzt nicht zu sagen. Warte geduldig, bis Du von uns wieder gerufen wist.«
Die Telefonuhr schwieg.
Atalanta blickte die Umstehenden an.
»Das ist recht hübsch, wenn man solch einen geheimnisvollen und schier allmächtigen Beschützer hat!«, meinte Hagen. »Aber ich möchte lieber keinen haben, ich vertraue lieber meiner eigenen Kraft.«
»So sprechen Sie, weil Sie kein Kind haben, das sich in der Gewalt von Bösewichtern befindet, die zu allem fähig sind.«
»Da haben Sie recht«, gab der ehrliche Hagen gleich zu, »ich bitte um Entschuldigung, ich will nichts gesagt haben.«
»Ja, wie soll aber nun mein Kind hierher —«
Da tauchte im Hintergrunde der erleuchteten Halle, in der sie doch immer noch standen, eine Männergestalt auf, die trotz des dicken Pelzkostüms noch einen schlanken Eindruck machte.
Das Gesicht, das er unverhüllt trug, mit einem schwarzen Knebelbart geschmückt, zeigte wahre Teufelszüge.
»Mephistopheles!«
»Ich bin es. Ich bringe Ihren kleinen Alfred und die Dienerin mit.«
»Wo sind die beiden? Wie kommen Sie hierher?«
»In einem Luftboot. Sie wissen doch schon alles. Nur noch nicht, dass ich mit einem Luftboote entwischt bin, bei der ersten besten Gelegenheit. Und die war gleich im Anfange. Und glauben Sie nicht etwa, dass ich dazu erst den Befehl von den Mahatmas erhalten hätte. Die haben sich allerdings mit mir in Verbindung gesetzt, mir Breiten- und Längengrad angegeben, wo ich Sie finden würde, aber das taten sie erst hinterher, als ich mit Ihrem Kinde und mit Sarda schon im Boote saß.«
»Mephistopheles, lassen Sie sich umarmen!«, jubelte Atalanta, tat es freilich nicht.
»Da sehen Sie wieder, was ich für ein guter Teufel bin, wie Sie mich fortwährend verkennen. Aber was ich zu sehen bekommen habe, das war fast zu viel auch für meine Nerven. Die ganze Besatzung des ›Aeolus‹, mehr als 500 Mann, ist von dem Colonel Possard und seiner Handvoll Leute massakriert worden. Es geschah ihnen schließlich auch ganz recht, denn sie haben sich wie Tölpel durch die plumpeste List überrumpeln lassen. Aber solch eine Massenhinrichtung — freilich ganz fein sauber — durch einen einzigen elektrischen Schlag — sie waren alle gerade so hübsch beisammen im großen Saale —«
»Genug, genug!! Ich mag von alledem nichts mehr hören! Nur fort von hier, fort von hier!«
Sie waren wieder auf ihrer Insel.
Die ganze Gesellschaft, zu der nun auch wieder die beiden Australier gehörten, hatte zur Abwechslung einmal gemeinsam an Bord des »Oststerns« zu Mittag gespeist und hielt jetzt an Deck im Schutze von Sonnensegeln Siesta.
Während ein Japaner Kaffee und für die Herren Zigarren servierte, unterhielten sie sich — das Gespräch war zufällig darauf gekommen — über die Hypnotik, was durch diese noch so dunkle Macht zu erreichen sei und was nicht.
»Da fällt mir ein«, sagte Littlelu, »der uns nun schon bekannte Frett Barkor hat auch so eine Erzählung verfasst, die einen hypnotischen Fall behandelt. Sie ist noch ungedruckt, sogar ungeschrieben, und dennoch werde ich sie Ihnen, wenn Sie gestatten, vorlesen, jedoch ohne irgendwie meine Stimmbänder anzustrengen.«
Er verschwand im Kajüteneingang, kam gleich wieder, den bekannten Sprechkasten mitbringend, den man weder Phonograph noch Grammofon nennen durfte, weil es so etwas ganz anderes war.
»Es ist Ihnen also recht?«, fragte er, während er sich mit dem auf den Tisch gestellten Kasten beschäftigte. »Ich schicke voraus, dass diese seltsame Geschichte auf Tatsachen beruht. Wie Frett Barkor zuletzt erwähnt, hat er selbst in Wanstead bei London gewohnt, sogar in demselben Hause, in dem sich die Hauptsache der Erzählung abspielt, hat alles aus bester Quelle erfahren. Also es geht los.«
klar und deutlich erscholl es aus dem Apparat:
In der flutenden Liverpool Street begegneten sich um die Mittagszeit zwei Freunde, blieben wohl stehen, um sich die Hände zu schütteln, aber schon einen Fuß zum Weitergehen vorgesetzt.
»Sieht man Sie kohlbauenden Einsiedler auch einmal in London?«
»Hatte in der Zentral-Pharmazie zu tun.«
»Haben Sie schon das Neueste gehört?«
»Und?«
»Die ›City von Paris‹ ist in Eastbourne brennend angekommen.«
»Was Sie nicht sagen! Das ganze Schiff brannte?«
»Na, wenigstens im Gepäckraum war Feuer ausgebrochen. Als man die Luken aufmachte, schlugen die hellen Flammen heraus. Es muss unterwegs von Dieppe aus schon immer geschwelt haben, unbegreiflich, dass man nichts gerochen hat. Kein Koffer soll verschont geblieben sein. Da wird die Gesellschaft ja tüchtig blechen müssen!«
»Ich muss auf die Station, muss nach Hause, habe Sprechstunde.«
»Wünsche Ihnen recht viele kapitalkräftige Patienten. Und ich muss ins Britische Museum.«
»Was macht Ihr Werk über Ninive?«
»Babylon, Babylon! Geht tüchtig vorwärts. Good bye. Empfehlen Sie mich Ihrem Fräulein Schwester. Sie kann dann mein Buch in sämtliche Sprachen der Erde übersetzen. Good bye.«
br>Sie trennten sich. Aber der »kohlbauende Einsiedler« sollte seinen Zug nicht mehr erreichen. So sah er auch aus, nicht wie ein Arzt, eher wie ein Ökonom. Eine große, breitschultrige Gestalt, das gutmütige Gesicht so sonnenverbrannt wie die großen Hände, die auch Spuren von schwerer Arbeit zeigten. Der schwarze Gehrockanzug und Zylinder waren ja tadellos, aber schon der zerzauste Vollbart sagte, dass dieser Mann, der höchstens 30 Jahre zählte, wenig auf sein Äußeres gab.
Doktor Richard Hulman sollte also heute nicht rechtzeitig in seine Sprechstunde kommen. Kaum hatte er sich zum eiligen Gehen gewendet, als sein Fuß schon wieder stockte. Eine junge, mit einfacher Eleganz gekleidete Dame fesselte seine Aufmerksamkeit. Nicht durch ihr goldblondes Haar, nicht durch den blütenweißen Teint ihres edel geschnittenen Gesichtes — dieser Frauentyp ist im Lande Albions etwas Alltägliches — sonder durch ihr Benehmen.
Sie stand nicht weit von der Stelle, wo sich die Freunde getroffen und getrennt, nahe der Häusermauer, stützte sich gegen diese mit der einen Hand, die andere hatte sie vor ihre Stirn gelegt. Doch eine sehr auffallende Stellung auf der belebten Straße.
Schnell trat der Arzt auf sie zu.
»Ist Ihnen unwohl, Miss?«
»Ja — nein«, hauchte sie, »ich weiß nicht — mir ist — mir ist — ich weiß nicht —«
Kurz entschlossen zog Doktor Hulman ihren Arm in den seinen und führte sie in den nächsten Hausflur. Von anderen war der Vorgang in dem Straßengewühl nicht beobachtet worden, kein Neugieriger folgte.
»Wie fühlen Sie sich, Miss?«
»Ich weiß nicht — ich weiß nicht — wie ein Schleier senkt es sich herab —«
Hulman sah sich in dem einsamen Hausflur um.
»Gar keine Sitzgelegenheit vorhanden —«
»Nein, nein, ich fühle mich durchaus nicht schwach — aber — mein Gott, wie ist mir denn nur — wo bin ich denn nur?«
Doktor Hulman betrachtete sie aufmerksam als Arzt. Er hatte sie nicht zu schleppen, nicht zu führen gebraucht, sie stand ganz sicher auf ihren Füßen, und die fast schneeweiße Gesichtsfarbe konnte ihn nicht beirren. Das war unvermischt angelsächsisches Blut, das in den blauen Äderchen rollte, die an dem schlanken Halse deutlich zu sehen waren. Ihr Puls ging ganz normal, diese hellblauen Augen strahlten in gesunder Lebenskraft. Jetzt freilich irrten sie suchend umher.
»Ich weiß nicht — mein Gott, ich weiß gar nichts — wie komme ich nur hierher —«
»Darf ich Sie in Ihre Wohnung begleiten? Ich rufe einen Wagen. Wo wohnen Sie?«
Wie verständnislos starrten die blauen Augen den Frager an.
»Wohnen — ja, wohnen — ich muss doch irgendwo wohnen —«
Dem Arzte ging schon eine Ahnung auf.
»Haben Sie den Namen Ihres Hotels vergessen?«, wollte er sich erst noch vergewissern.
»Hotel? Hotel —?«
»Wie ist Ihr werter Name?«
Man sah, wie furchtbar das Gehirn hinter der weißen Stirn arbeitete, und immer weiter öffneten sich die Augen vor Entsetzen.
»Mein Name? Mein Gott, mein Gott, wie heiße ich denn nur —?«
Jetzt wusste der Arzt bestimmt, was er vorhin nur geahnt hatte.
Es kommt recht häufig vor, immer häufiger, gerade in dieser Riesenstadt, dass ein Mensch auf der Straße plötzlich nicht mehr weiß, warum er sich auf der Straße befindet, wo er hin will, wo er wohnt, wie er heißt. Er sucht in seiner Brieftasche, und wenn er seinen Namen und Adresse liest, so kommt die Erinnerung noch nicht immer gleich zurück, oder er hat zufällig keine Legitimationspapiere bei sich, keinen Briefumschlag. Dann irrt er in den Straßen umher, verzweifelt, setzt sich in eine Eisenbahnstation, auf eine Parkbank, grübelt und grübelt, wer er denn nur eigentlich sei — endlich kommt die Erinnerung wie ein Blitz zurück — manchmal aber auch nicht — dann vertraut er sich einem Konstabler an, geht selbst auf die Polizeiwache, man möchte seine Personalien feststellen —
Dort hat man schon Erfahrung mit solchen Fällen. Es kommt, wie gesagt, gar häufig vor. Aber tagelang hat diese Erinnerungslosigkeit noch nie gedauert. Nach einem Schlafe ist das Gedächtnis noch immer zurückgekehrt.
Das macht die rastlose Arbeit, das fieberhafte Spekulieren, das Londoner Leben. Die Nerven sind der Peitsche endlich überdrüssig, die Denkmaschine streikt einmal. Ihr Besitzer ist gewarnt!
Aber dass nun auch schon solche jugendkräftige Mädchen derartige Gehirnlähmungen bekommen?!
»Haben Sie nicht Ihre Visitenkarte bei sich, Briefe oder dergleichen?«
Sie hatte in der Hand nur einen Sonnenschirm, brachte aus der Kleidertasche ein Portemonnaie zum Vorschein, das einiges Silbergeld und ziemlich viele Goldstücke enthielt, nichts weiter.
»Haben Sie sonst nichts bei sich?«
Es fiel dem Arzte gleich auf, dass sie erst nach anderen Taschen suchte. Auch wenn es ein ganz neues Kleid gewesen wäre, zum ersten Male angelegt, so hätte sie doch wohl von anderen Taschen gewusst. Aber dieses Kostüm war nicht soeben erst fertig in einem Konfektionsgeschäft gekauft worden. In die einzige Tasche hatte sie sofort gegriffen, Sie enthielt sonst nur noch zwei Taschentücher, eines noch zusammengefaltet, beide ohne Monogramm.
Ihre Angst wuchs.
»Mein Gott, was ist das nur — was soll ich nur anfangen —?«
Doktor Hulman blickte nach der Uhr. Den Zug hatte er verpasst. Aber den nächsten musste er unbedingt benutzen, er durfte seine Sprechstunde nicht verpassen. Und er wusste im Augenblick keine Familie, wo er das arme Mädchen hätte hinbringen können — und ein Hotel? — Da hätte er eine Polizeistation vorgezogen.
»Wollen Sie mit mir kommen? Es ist nur eine halbe Stunde Fahrt, nach Wanstead, meine Schwester wird Sie —«
»Ja — ja — um Gottes willen, verlassen Sie mich nicht!«
Dann war es ja gut. Er rief ein geschlossenes Cab an, das frei vorüberfuhr, sie stiegen ein.
Doktor Hulman hatte mit solchen verlorenen Erinnerungen noch keine Erfahrung gemacht, aber er bewies sofort, dass er für derartige Fälle recht gut geeignet war, sie zu behandeln wusste.
»Doktor Hulman ist mein Name!«, stellte er sich jetzt der Gegenübersitzenden vor, in wohlberechneter Absicht.
»Sehr angenehm!«, murmelte sie geistesabwesend.
»Darf ich um Ihren werten Namen bitten?«
»Nein, nein, auch so will es nicht gelingen!«, klagte sie nach einer kleinen Pause.
Also sie wusste, dass er durch eine gegenseitige Vorstellung, durch die Macht der Gewohnheit ihrem Gedächtnis zu Hilfe hatte kommen wollen, und dass sie dies überhaupt gemerkt, dass sie hieran dachte und es aussprach, das war immerhin etwas wert, das zeigte, wie ihr Gehirn sonst noch normal funktionierte.
»Erlauben Sie, dass ich einige Fragen stelle?«
»Ja — ja — fragen Sie immer — helfen Sie mir!«, kam sie ihm wieder gleich entgegen, ein gehorsamer Patient, der sich mit seiner undefinierbaren Krankheit bedingungslos dem Arzte anvertraut, von ihm die Heilung erhoffend.
»Wann sind Sie geboren?«
»Am — am — o Gott, ist das schrecklich, ich weiß es nicht mehr!«
Sie wollte zu weinen anfangen, raffte sich aber gleich wieder zusammen, fuhr mit dem Taschentuche nur einmal über die Augen.
»Fragen Sie weiter. Ich muss mich doch auf etwas erinnern können.«
»Sind Sie schon einmal in solch einer Situation gewesen?«
»Ich — ich — weiß gar nichts.«
»Leben Ihre Eltern noch? Wo wohnen sie?«
»Eltern? Eltern —?«
Auch betreffs anderer der ihr nächststehenden Personen war ihr Gedächtnis verloschen.
»Genügt es, wenn ich Sie ›Miss‹ anrede? Oder ›Mylady‹?«
»Ich — ich weiß gar nichts.«
»Was haben wir heute für einen Tag?«
»Ja, was für einen —?«
»Mittwoch.«
»Mittwoch? Ja, heute ist Mittwoch.«
»Nein, heute ist Freitag, in Wirklichkeit.«
»Freitag? Ja, wenn Sie es sagen.«
Das sah freilich schlimm aus.
»Was ist dann morgen?«
»Sonnabend.«
»Und was war gestern?«
»Donnerstag.«
Das sah nun wieder besser aus.
»Wissen Sie, wo Sie sich befinden, in welcher Stadt?«
»In — in — nein.«
»In London.«
»Ja, ach ja, das ist London.«
»Zeigen Sie mir bitte Ihre rechte Hand.«
Sie streckte die betreffende Hand aus.
»Nein, das ist die linke.«
»O nein, das ist meine rechte Hand, das weiß ich.«
Er nahm den Fahrtarif.
»Können Sie das lesen?«
Ja, das konnte sie lesen. Sie sprach das beste, dialektfreie Englisch.
»Sprechen Sie noch andere Sprachen?«
»Sprachen? Sprachen? Was ist das?«, murmelte sie.
»Nun, es gibt doch noch andere Sprachen als Englisch.«
»Ja — ja — ich weiß — ich weiß — aber — aber —«
»Es gibt noch Deutsch und — nun?«
»Ja, Deutsch — und — und —?«
»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er auf Englisch.
»Deutsch?«, wiederholte sie immer wieder, ganz geistesabwesend und doch ihr Gehirn marternd.
»Tun Sie sprecken Deitschland?«, fragte jetzt der Engländer auf Deutsch mit zungenzerbrechender Mühe.
Da mit einem Male konnte sie Deutsch, ganz perfekt, wovon nun freilich der englische Arzt nicht viel verstand. Ebenso konnte sie auch vollkommen Französisch.
Doktor Hulman zog sein Notizbuch, gab es ihr mit Bleistift.
»Bitte, Schreiben Sie. Es ist nur der Ordnung wegen: ›Ich, Unterzeichnete, begebe mich freiwillig in die Wohnung des Doktor Richard Hulman, praktischer Arzt in Wanstead.‹ Haben Sie geschrieben? Nun noch Ihren Namen darunter. Nur der Ordnung wegen.«
Aber auch diese List glückte nicht. Sie setzte den Bleistift an — auch schriftlich vermochte sie ihren Namen, unerwartet dazu aufgefordert, nicht anzugeben.
»Nein, es geht nicht. Aber ich weiß schon, Sie können ganz ruhig sein, ich gehe ganz freiwillig mit.«
»Fürchten Sie sich denn nicht, mit einem Ihnen ganz fremden Menschen in seine Wohnung zu fahren?«
»Mir sind ja alle Menschen fremd. Fürchten? Ach, Sie haben ja ein so gutmütiges Gesicht!«
Es war so naiv herausgekommen, dass er lachen musste.
Und da mit einem Male brach auch sie in ein herzliches Lachen aus.
»Nein, so etwas Komisches! Weiß ich gar nicht mehr, wer ich selber bin! Na, die werden sich freuen, wenn ich wieder bei ihnen bin, wenn ich ihnen mein Abenteuer erzähle!«
»Wer wird sich freuen?«, fragte Hulman schnell.
»Nun, ich werde doch wohl zu jemandem gehören.«
Es war nur ein erlösendes Lachen für die Stimmung gewesen, nicht für das Gedächtnis. Immerhin, es war schon viel wert.
Auf dem Bahnhof brauchten sie nicht lange zu warten, in dem vollen Coupé unterließ der Arzt examinierende Fragen.
Doktor Richard Hulman war etwas von einem Sonderling, wenn seine »Schrullen« auch nur darin bestanden, dass er ein geräumiges Heim liebte, wofür er an Miete allerdings fast die Hälfte seines Einkommens zahlte — sonst gibt man in diesem teuren Lande hierfür höchstens den dritten Teil — dass er sich gern im Garten beschäftigte und sich von anderen Menschen so viel wie möglich unabhängig zu machen suchte. Er »bastelte« gern. Nicht gerade, dass er seine Kleider und Stiefel selbst fertigte, aber auf die schief gewordene Hacke einen Lederfleck setzen, das tat er, sauber wie der geschickteste Schuhkünstler, und wenn sich eine Tür klemmte, so wurde nicht erst der Tischler gerufen, der Herr Doktor wusste mit Hobel und Stemmeisen umzugehen, auch Fensterscheiben schnitt und zog er selbst ein, hatte sogar eine Methode erfunden, wie man sich selber das Haupthaar scheren kann. Freilich sah seine Frisur auch danach aus.
Vor drei Jahren hatte er sich in dem idyllischen Wanstead als praktischer Arzt niedergelassen, der zweite im schnell wachsenden Orte, hatte ein einstöckiges Haus genietet, das schon von manchem Wohnungssuchenden besucht worden. Eine ideale »Residenz«. Das heißt von außen betrachtet. Aber nun innen! Diese großen Räume, lauter Salons, diese mächtigen Fenster, diese Flügeltüren, man konnte immer gleich die ganze Wand aufmachen, das musste ja im Winter hier eine Hundekälte sein, so viel die ungeheuren Kamine auch an Kohlen fressen mochten.
Das war das Parterre. Die Etage dagegen bestand aus einem Labyrinth von winzigen Kämmerchen, mit denen man erst recht nichts anzufangen wusste. Doch so weit kamen die Wohnungssuchenden gar nicht. Nur Doktor Hulman war von alledem entzückt gewesen, seine Schwester hatte nichts daran auszusetzen gehabt als höchstens die hohe Miete, auch mit der vorsintflutlichen Küche im Souterrain war sie einverstanden gewesen.
»Die Abtei« wurde dieses Haus allgemein genannt. Nicht dass es früher einmal eine Abtei oder etwas Ähnliches gewesen sei. Vielleicht wegen der Zellen im ersten Stockwerk, mehr noch wohl, weil sich um das ganze Grundstück eine hohe Mauer zog, über die man auch aus der ersten Etage der Nachbarhäuser — und hier kamen nur einstöckige Häuser in Frage — nicht blicken konnte. Es war für dieses Straßenviertel ein ausnahmsweise großer Garten, mit alten Bäumen, aber auch noch mit viel freier Erde, und hier zog Doktor Hulman seine Blumen, mehr noch Bohnen und Erbsen und Gemüse, in solcher Menge, dass er und sein Hausstand ganz davon leben konnte, die Bohnen und Erbsen langten auch für den Winter, das grüne Gemüse kochte und konservierte er eigenhändig.
Doch war er kein Vegetarier. Er sparte nur, wo er konnte. Schwächlichen Patienten verschrieb er Fleisch und Bouillon und — gab Unbemittelten sogar noch das Geld dazu!
Da kam nun freilich nicht viel Geld in die Sparbüchse. Schlimmere Streiche aber als sein gutes Herz spielte ihm seine ehrliche Überzeugung, indem er nämlich so wenig seine Apotheke in Anspruch nahm, so wenig Medizin verkaufte.*) »Sonne, Luft, Wasser und reizlose Diät.« Da kam er aber dort schlecht an. Die Landkundschaft hatte er sich schon längst verscherzt. Die Bauern, wenn sie nun einmal krank waren, wollten dafür doch auch etwas ausgeben, wollten für ihr schönes Geld nun auch möglichst große Apothekerbüchsen und Flaschen mit lateinischen, unleserlichen Etiketten neben ihrem Bett stehen haben. Und nicht viel anders war es in Wanstead selbst. Der Konkurrent verkaufte seine Mixturen eimer- und kohlenschippenweise.
(*) Jeder englische Arzt hat seine eigene Apotheke mit den gebräuchlichsten Medikamenten.
Diese Wohnung teilte der Arzt mit seiner um fünf Jahre jüngeren Schwester Lucy. Die völlig alleinstehenden Geschwister führten gemeinsamen Hausstand, dabei aber immer in edler Fehde liegend. Das sehr gebildete Mädchen, das besonders ihr großes Talent für fremde Sprachen ausgebildet hatte — was dem Bruder ganz abging — schrieb Rezensionen über Neuerscheinungen der deutschen, französischen und italienischen Literatur, für einen Verlag lieferte sie Übersetzungen, hatte ständige Arbeit und verdiente weit mehr als der Bruder. Und der wollte nicht dulden, dass sie die Hälfte der Kosten des Hausstandes trug, das Dienstmädchen sogar ganz allein bezahlte, wo sie doch neben ihrer Schriftstellerei selbst kochte und flickte und noch mancherlei verrichtete. Lucy hinwiederum behauptete, dass sie doch nur durch Haltung dieses Dienstmädchens freie Zeit zur Schriftstellerei habe, also müsse sie es doch allein bezahlen. So lagen die Geschwister immer in edlem Wettstreit, und die Folge war, dass jeder nach einem Ausgange stets etwas mit nach Hause brachte, um dem anderen Teile die Ausgabe zu ersparen, gleich für die nächsten Tage, einige Pfund Fleisch oder einen Truthahn und dergleichen, was sie gar nicht aufessen konnten. Aber da hatten sie Abnehmer genug.
Lucy war seit längerer Zeit mit einem Postbeamten der höheren Karriere verlobt. Sobald der das nächste Mal aufrückte, sollte Hochzeit sein.
»Nein, nicht eher, als bis Dick eine Frau hat!«, sagte sie scherzhaft.
Und vielleicht auch nicht so scherzhaft. Ihr einstiger Gatte musste unbedingt eine Beamtenwohnung in der Hauptpost inne haben, es war eine große Vertrauensstellung, und was sollte der »kohlbauende Einsiedler« in der Stadt? Oder allein bleiben? Dieses große Kind? Gar nicht auszudenken. Für den gab es keine Wirtschafterin, nur die Schwester oder eine passende Frau.
»Lucy, komm herauf, und sieh, was ich mitgebracht habe!«
In der hellen Kellerküche wühlte die Schwester in einem Mehlteige herum und hatte dabei die Feder hinter dem Ohre.
»Doch nicht schon wieder einen Truthahn? Wir haben noch —«
»Nein, es ist ein ganz fremder Vogel, Komm nur herauf. Verzeihen Sie, Miss, bei uns geht's nun einmal so zu, wir nehmen uns kein Blatt vorn Mund.«
»Ach, das ist aber schön hier!«, hörte da Lucy oben auch noch eine Frauenstimme sagen.
Lucy entfernte das Mehl von den Händen, so weit das in der Schnelligkeit möglich war, band die Schürze ab und ging hinauf.
»Du kommst aber spät, Dick!«, sagte sie auf der Treppe, ehe sie noch den fremden Besuch sah.
»Sind schon viele im Wartezimmer?«
»Kein einziger.«
»Desto besser. Auch Mistress Dorington nicht?«
»Die ist zu Doktor Philas gegangen.«
»Desto besser. Mag die ihre hysterischen Grillen mit grüner Seife einschmieren, die Unze für zehn Schilling. Nun, Lucy — eine Vorstellung kann gar nicht erfolgen — ich übergebe dieses Rätsel Deinen sanften Händen.«
Natürlich staunte die Schwester über das, was sie da erfuhr. Aber davon war ihr nichts anzumerken, nur inniges Mitleid, Teilnahme. Im Empfangszimmer fand ein neues Examen statt, ein neuer Versuch, die Personalien der fremden Dame festzustellen, ihre Erinnerung zu wecken, aber von dem weiblichen Examinator viel zarter angestellt, wohl auch geschickter.
Es war vergeblich. Hulman notierte sich die Fragen und Antworten, um dann Schlüsse ziehen zu können, die Grenze zu erkennen, wo die Erinnerung aufhörte und das neue Bewusstsein begann. Es war kaum möglich, diese Grenze verschob sich immer wieder.
»Sind Sie denn längere Zeit in den Straßen umhergeirrt, ehe sich mein Bruder Ihrer annahm?«
»Ich — ich weiß es nicht — ja, ich glaube.«
Aber wann und wo es eingetreten, das konnte sie absolut nicht angeben.
»Bitte, ziehen Sie doch Ihre Handschuhe aus.«
Sie streifte die neuen Glacéhandschuhe ab — wohl die teuersten, die zu kaufen waren.
An der Linken ihrer feinen Hände, so zart und weiß wie das Gesicht, trug sie zwei Ringe: einen schlichten Goldreif mit einer Perle, wohl ein altes Erbstück, und einen prachtvollen Phantasiering mit wunderbarem Diamanten, umgeben von Smaragden und Rubinen.
Eine Gravierung trugen die Ringe nicht.
»Ist Ihre Wäsche gezeichnet?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie scheinen müde zu sein?«
»Ach ja.«
Gegessen hatte sie schon etwas, ohne besonderen Hunger — Lucy zog sich mit ihr zurück.
Als die Schwester allein zurückkam, sagte sie:
»Die feinste Wäsche, wenn auch nicht neu, das heißt nicht eben erst gekauft, aber kein Monogramm und gar nichts. Ich finde das alles sehr, sehr auffallend. Da kommt man wirklich auf den Verdacht, hier könnte ein — nun, wir werden ja sehen. Keine voreiligen Schlüsse. Die Polizei hast Du doch natürlich benachrichtigt?«
»Nein!«, stutzte der Bruder.
»Aber Dick! Das hätte doch gleich das erste sein müssen!«
»Ich dachte — ich dachte — wenn man das arme Mädchen auf der Polizei behielt —«
»Ja, wenn sie aber nun von ihren Angehörigen in ganz London wie eine Stecknadel gesucht wird! Die gehen doch auch zuerst auf die Polizei!«
Der Bruder schlug sich vor die Stirn.
»Mein Gott, daran habe ich gar nicht gedacht. Du hast recht — ich hole es sofort telefonisch nach, rufe das Polizeipräsidium an.«
»Vergiss nicht zu fragen, ob schon eine Anmeldung vorliegt. Setze Dir alle wichtigen Punkte erst auf, wenn Du sie beschreibst, Warte, ich mache es lieber selbst.«
Im Zentralamt der Polizei, in der Abteilung für Vermisste und Namenlose, waren einige hundert Kinder und Erwachsene angemeldet. Die hatten sich aber im Laufe langer Zeit angehäuft. Hier kam nur heute und zur Vorsicht noch gestern in Betracht. Da waren sechs Kinder, vier Frauen und drei Männer als vermisst angemeldet worden. Nein, eine junge Dame nach gegebener Beschreibung war nicht darunter.
Lucy wurde in der Beschreibung der Kleidung, des Aussehens und der sonstigen Verhältnisse so ausführlich, bis man dort ungeduldig ward.
»Das ist seltsam!«, meinte sie dann. »Sie muss doch irgend jemand bei sich gehabt haben, der muss doch gleich auf die Polizei gegangen sein.«
»Weshalb? Sie kann doch erst von Hause fortgegangen sein, wird noch nicht zurückerwartet. Sie kann auch auf einer Reise begriffen sein, auf einer längeren, hat irgendwo Gepäck liegen.«
»Da hast Du wieder recht. Ich will der Polizei noch sagen, dass sie auch in allen Hotels, Pensionen und besseren Boardinghäusern nachforscht.«
Auf dem Polizeiamt wurde etwas gebrummt, was auch nicht deutlicher ward.
»Und nun kommt die Polizei und holt sie uns ab, Wanstead gehört noch zum Londoner Polizeidistrikt!«, meinte Dick.
»Du, so eilig haben's die nicht, das habe ich eben gemerkt. Und nehmen lassen wir sie uns nicht, so lange sie sich in diesem Zustande befindet. Ihre freie Meinungsverfügung hat sie, da kann sie bleiben, wo sie will. Doch wir machen uns ja ganz unnötige Sorgen. Wenn sie sich ausgeschlafen hat, wird ihr Gedächtnis zurückgekehrt sein.«
3.
Um vier Uhr hatte die Namenlose ausgeschlafen — und war noch immer namenlos. Nichts hatte sich in ihrem Zustande geändert.
»Von solch einem Falle, dass eine plötzlich eintretende Erinnerungslosigkeit so lange anhält, habe ich noch nichts gehört!«, meinte Dick beim Kaffeetisch kopfschüttelnd.
»Und auf der Polizei ist auch noch nichts gemeldet worden. Hiervon abgesehen — mir ist etwas eingefallen — haben Sie schon etwas von Hypnotik gehört?!«
Sie vereinte. Wenn sie es wusste, so doch jetzt nicht mehr. Es musste ihr alles nach und nach wieder beigebracht werden. Im Übrigen konnte man in ihrer Gegenwart alles ruhig erwägen, sie interessierte sich selbst dafür, forderte dazu auf.
»Dick, Du hast Dich früher doch einmal viel mit Hypnotik beschäftigt, bei sensitiven Personen gelangen Dir recht gute Experimente.«
»Wahrhaftig, Du hast recht!«, fuhr der Bruder auf.
»Kann man wohl einem Menschen die Erinnerung aushypnotisieren — wenn man sich so ausdrücken darf?«
»Du meinst doch nicht —«
»Nein, nein, es ist nur so eine Frage. Ob das wohl ginge?«
»O ja, das geht. Das ist schon gemacht worden. Durch posthypnotischen Befehl. Ebenso, wie sich jemand nach dem Erwachen bei sonst vollem Bewusstsein für irgend ein Tier halten kann, braucht er auch nichts mehr von seiner Vergangenheit zu wissen. Freilich ist das ganz verschieden. Bei dem einen gelingt's so, bei dem anderen so und bei dem dritten gar nicht.«
»Willst Du einmal versuchen, ob Du sie einschläfern kannst?«
Die Namenlose war mit allem einverstanden. Doktor Hulman hatte wirklich gute Erfahrungen und große Geschicklichkeit im Hypnotisieren, aber was er mit ihr auch für Manipulationen vornahm, es gelang ihm nicht, sie einzuschläfern.
»Kann ihr das nicht ebenfalls erst suggeriert worden sein, dass sie sich nicht mehr in hypnotischen Zustand versetzen lässt?«
»Ja, das ist möglich. Aber immer dieselbe Geschichte: Bei dem einen geht's, bei dem anderen nicht.«
»Dass sie sich nur von einer bestimmten Person einschläfern lässt?«
»Alles möglich.«
»Dass sie auf ein gewisses Stichwort hin sofort, wenn sie es hört, in Hypnose fällt?«
»Du weißt ja alles ebenso gut wie ich.«
»Dass sie beim Hören eines Stichwortes die Erinnerung verliert?«
»Doziere Du weiter, ich schweige.«
»Dass sie auf ein anderes Stichwort die Erinnerung zurückbekommt?«
»Na ja, nun aber finde dieses Stichwort. Und vielleicht oder sogar wahrscheinlich reagiert sie auf gar kein Stichwort.«
»Trotzdem, wir sollten es noch einmal mit der Hypnose versuchen.«
»Meine Kunst ist erschöpft.«
»Du bist darin doch kein richtiger Fachmann. Wenden wir uns an einen solchen.«
»An wen?«
»Gleich direkt an Professor Peacock, der Kapazität auf diesem Gebiete ist, gerichtlicher Sachverständiger für hypnotische Fälle, der behauptet, dass es gar keinen Menschen gebe, den man auf die eine oder die andere Weise nicht in hypnotischen Schlaf bringen könne. Wollen wir morgen zu dem einmal hinfahren? Er wohnt in Richmond, ich weiß es zufällig.«
»Und wenn sie morgen nun alles weiß?«
»Na, dann fahren wir natürlich nicht hin! Aber wir können gleich einmal telefonisch anfragen, ob und wann Professor Peacock morgen früh zu sprechen ist. Ohne Verpflichtung unsererseits.«
Es geschah. Der weltberühmte Psychiater war selbst am Telefon, war die Liebenswürdigkeit selbst. Der sonst ganz unbekannte Vorortsarzt wurde gleich »mein lieber Kollege« genannt. Die Sache wurde ihm so kurz und doch so klar wie möglich mitgeteilt.
»Jawohl, jawohl, das interessiert mich sehr. Und das passt vortrefflich, ich wollte morgen sowieso einen Ausflug nach Robin Hood machen. Wenn es Ihnen passt, bin ich morgen früh Punkt elf Uhr bei Ihnen. Nein, nein, wenn sich die Sache schon erledigt hätte, das macht nichts, ich fahre sowieso hin! I Gott bewahre, lieber Kollege, das kostet nichts.«
Inzwischen wurden die Examina fortgesetzt, um die Grenze zwischen Erinnerungslosigkeit und Bewusstsein schärfer zu ziehen. Wenn vielleicht auch alles zwecklos war, weil der nächste Tag doch sicher alles ins alte Gleis brachte, so war es doch sehr interessant.
Hierbei wurde bestimmt konstatiert, dass man ihre Erinnerung durch geeignete Fragen wecken konnte. Es kam eben alles aufs Fragen an.
Sie war sicher viel gereist, mindestens in Frankreich und Deutschland, vielleicht durch ganz Europa. Aber das musste man alles erst herausbekommen.
Den Namen Raffael hatte sie noch gar nicht gehört. Und dann doch wieder.
»Ach ja, der berühmte Maler.«
Man musste es ihr nur erst einmal vorgesprochen haben, und dann war es von ihr nicht etwa nur Nachsprecherei.
»Was ist Raffaels bekanntestes Gemälde?«
Sie kannte gar keines. Die Sixtinische Madonna ward ihr im Stahlstich gezeigt.
»Jawohl, das kenne ich!«
»Was ist das?«
»Das ist — das ist — ich weiß es nicht.«
»Die Sixtinische Madonna.«
»Natürlich, das ist doch die Sixtinische Madonna!«
»Aber Sie irren, die ist von Corregio.«
»Nein, o nein, die ist von Raffael.«
»Haben Sie dieses Bild schon einmal gesehen?«
»Gewiss doch!«
»Wo?«
»Das — weiß ich nicht.«
»Waren Sie in Dresden?«
»O, Dresden kenne ich.«
Aber eigentlich kannte sie es nicht. Und doch war sie sicher dort gewesen.
»Jawohl, in Dresden habe ich die Sixtinische Madonna gesehen.«
»Wo da?«
Das wusste sie wieder nicht.
»In einer Privatsammlung?«
»Ich — weiß es nicht.«
»In der Königlichen Gemäldegalerie?«
»Ach richtig, ja.«
Und nun ließ sie sich nicht etwa noch einmal anders beeinflussen!
Auf diese Weise musste man auch ihren Namen herausbekommen. Sie sprach perfekt Französisch und Deutsch, aber ihre Muttersprache war sicher Englisch. Man musste ihr alle Namen aus dem Londoner Adressbuch vorlesen. Freilich eine gar große Arbeit. Und der Erfolg war in diesem Falle auch sehr zweifelhaft, denn was ihre eigene Person betraf, so wollte sich die Erinnerung doch nicht so aus ihr herausholen lassen. Man brauchte wegen ihres Geburtsjahres doch nur in Betracht kommende Jahreszahlen zu nennen. Aber darauf reagierte sie nicht. Auch von ihren Familienangehörigen wollte sie absolut nichts wissen, Das gehörte eben schon zu ihrer eigenen Person, und da versagte ihr Gedächtnis gänzlich.
Es war ein interessantes Rätselspiel, das den ganzen Abend ausfüllte, und dabei ging es ganz heiter zu, das fremde, schöne Mädchen mit den aristokratischen Manieren lachte so gern, fühlte sich wie zu Hause.
»Gute Nacht, schlafen Sie wohl. Morgen früh ist das Rätsel sicher gelöst.«
»Hoffentlich nicht!«, lachte sie zurück. »Na ja, wegen meiner Angehörigen, die sich um mich sorgen, denn ich kann doch nicht vom Himmel gefallen sein. Aber sonst — wissen Sie, Herr Doktor, hier möchte ich für immer bleiben, hier gefällt es mir gar zu gut.«
Am anderen Morgen hatte sich nicht das Geringste geändert.
»Das wird mir unheimlich!«, sagte Hulman in ihrer Gegenwart.
»Und mir wird's immer heimlicher hier!«, meinte sie, sich ein Stück Toast mit Butter bestreichend. »Haben Sie schon auf der Polizei angefragt?«
»Ja. Es ist noch keine Meldung Ihretwegen eingelaufen.«
»Desto besser. Hoffentlich zögern die noch recht lange, ehe sie sich meiner erinnern. Ich muss ein wenig liebenswürdiges Geschöpf sein, dass man mich so gern vergisst. Herr Doktor, was kostet bei Ihnen die volle Pension?«
»Wissen Sie, was eine Pension ist?«
Gewiss, das wusste sie.
»In welcher Pension sind Sie schon einmal gewesen?«
Das wusste sie nicht, konnte sich an keinen Namen und an keine Szene und an keine Situation und an gar nichts erinnern.
»Ich bin gespannt, diesen berühmten Peacock kennen zu lernen!«, sagte Lucy.
»Ach, dass er lieber nicht käme!«, meinte die Fremde gedankenvoll, wenn nicht kleinlaut.
»Halt!«, rief da der Bruder mit ungewohnter Lebhaftigkeit. »Wenn es nicht Ihr freier Wille ist, so dürfen Sie niemals hypnotisiert werden!«
»Nein, nein, so war das nicht gemeint!«, entgegnete sie, und gerade wegen dieser Antwort überzog ihr weißes Gesicht ein feines Rot.
Und da färbte sich auch des jungen Arztes braunes Antlitz noch dunkler. Der Schwester entging es nicht, sie warf den beiden einen langen, wenn auch verstohlenen Blick zu — und schwieg.
Punkt elf Uhr ließ ein alter Herr den Klopfer am Gartentor erschallen. Professor Doktor Peacock. Er wurde mit der gebührenden Hochachtung empfangen, doch in Person war er gar nicht so liebenswürdig wie man nach dem gestrigen Telefongespräch hätte erwarten sollen, er machte gar keine Einleitung, das schöne Mädchen war ihm nur ein hypnotisches Versuchsobjekt.
Erst setzte er einige Zeilen auf, wonach er sie mit ihrer freien Einwilligung hypnotisiere, und da sie ja keinen Namen zu unterschreiben wusste, rieb er die Spitzen ihrer beiden Daumen mit Stempelfarbe ein, die musste sie darunter drücken, und Doktor Hulman und Schwester mussten bestätigen, dass dies die Daumenabdrücke der Betreffenden seien.
Dieser Professor wusste noch ganz andere Verfahren, einen Menschen in hypnotischen Schlaf zu versetzen. Aber es nützte alles nichts, es wollte ihm nicht gelingen.
»Dann gibt es nur noch eines, ich muss sie in narkotischen Schlaf bringen. Hierzu genügt mir Ihr mündliches Zugeständnis. Es ist ganz harmlos. Ja? Gut. Herr Doktor, darf ich einmal Ihre Apotheke benutzen? Ein kleines Opiat.«
Die Namenlose nahm das Tränklein und sank alsbald in tiefen Schlaf.
Man weiß ja noch gar nicht, was der hypnotische Zustand im Grunde genommen ist. Jedenfalls nichts anderes als ein natürlicher, sehr tiefer Schlaf, durch äußere Mittel, durch fremde Willensbeeinflussung herbeigeführt. Denn auch im gewöhnlichen Schlafe lassen sich alle die Suggestionen durchführen, nur dass immer die Möglichkeit des Erwachens vorhanden ist, oder dieser Schlaf wird eben in einen hypnotischen, d. h. in einen außergewöhnlich tiefen verwandelt, wonach das Erwachen erst auf Befehl erfolgt.
Aber auch jetzt versagten alle Künste des Professors, er vermochte die Schlafende nicht zum Sprechen, zu gar nichts zu bringen.
»Meine Mittel sind erschöpft. Ich kann die Dame nicht hypnotisieren.«
»Ist Ihnen dieser Fall schon einmal passiert?«
»O gewiss. Öfters.«
»Was ist daraus zu schließen?«
»Gar nichts. Ich für mein Teil wenigstens enthalte mich aller Schlussfolgerungen.«
»Kann man einem Hypnotisierten nicht suggerieren, dass er sich niemals wieder in Hypnose bringen lässt?«
»Ja, manchmal gelingt das.«
»Manchmal nur? Nicht immer?«
»Geehrter Herr Kollege, die Hypnotik ist ein Gebiet, auf dem wir noch im Finstern herumtasten. Erst eine ganz, ganz schwache Dämmerung ist angebrochen. Da muss man mit eigenen Behauptungen und mit der Gläubigkeit an Fremde äußerst vorsichtig sein. Über den hier vorliegenden möglichen Fall möchte ich mein Urteil zurückhalten, wenn ich mir überhaupt eins bilde.«
»Aber, Herr Professor, Sie haben doch einmal behauptet, dass Sie noch keinen Menschen gefunden, den Sie nicht zu hypnotisieren vermocht hätten, und darunter waren, wie ich mich entsinne, auch solche, denen im hypnotischen Zustand befohlen worden war, sich nie wieder hypnotisieren zu lassen, nie wieder in diesen unnatürlichen Schlaf auf Befehl zu fallen, auch auf ein Stichwort hin nicht.«
»Stimmt. Das ist aber schon lange Zeit her, dass ich dies behauptet habe. Das war leichtfertig von mir. Haben Sie nicht mein letztes Werk gelesen? Da nehme ich diese früheren Behauptungen reumütig zurück. Unterdessen sind mir verschiedene Personen begegnet, die ich durch kein Mittel in hypnotischen Schlaf versetzen konnte. Aber das allerdings halte ich aufrecht, dass noch kein anderer Hypnotiseur mehr leisten konnte als ich, während ich viele Personen eingeschläfert habe, wo auch die Macht des geschicktesten Hypnotiseurs aufhörte. Das halte ich vorläufig noch aufrecht, denn das ist einfach Tatsache. Und diese Erfahrung habe ich an der Quelle der hypnotischen Kunst gemacht, in Indien, wo ich mich Jahre lang aufhielt. Der berühmteste Fakir konnte sich nicht mit mir messen. Diese junge Dame gehört zu den Personen, die ich nicht hypnotisieren kann. Ich empfehle mich.«
4.
Nach längerem Schlafe erwachte die Fremde, mit etwas Kopfweh, aber sich sehr freuend, als sie das negative Resultat vernahm.
»Herr Doktor, Miss Lucy, passen Sie auf, mich werden Sie nicht wieder los! Ich bleibe bei Ihnen. Ja, es ist mein Ernst. Wenn ich mir noch das aus dem Sinn schlagen könnte oder kann, dass es Menschen gibt, die um mich trauern, so möchte ich die Erinnerung an die Vergangenheit gar nicht wiedererlangen. Das ist ja ein ganz reizender Zustand! Als wenn man neu geboren wäre. Als ausgebildeter Mensch mit vollem Bewusstsein in einen glücklichen Familienkreis hineingeboren. Ja, ich möchte die Erinnerung gar nicht wiederbekommen, denn was könnte sie mir nicht vielleicht alles offenbaren? Kann ich nicht vielleicht auf eine gar traurige Kinderzeit zurückblicken? Ich möchte so gern bei Ihnen bleiben. Und wegen der Pension — o, ich werde mich schon nützlich machen, Miss Lucy, ich helfe Ihnen bei Ihren Übersetzungen.«
»Aber wir müssen doch alles tun, um Ihre Vergangenheit aufzuklären.«
»Gewiss, das geht wohl nicht anders. Hoffentlich kommt etwas Gutes dabei heraus.«
Jetzt wollte man den Fall der größeren Öffentlichkeit übergeben, den Zeitungen.
»Da denke ich an meinen Freund Malford«, meinte Doktor Hulman, »für den dürfte das, mit Verlaub zu sagen, ein gefundenes Fressen sein.«
Dieser, Hilfsredakteur bei den bedeutenden »Evening News«, war auf telefonischen Anruf schnell zur Stelle, den von ihm unzertrennlichen Knipsapparat umgehängt, schon das dicke Notizbuch in der Hand.
»Du bist der glückliche Finder der erinnerungslosen Dame? Wir haben gestern Abend die letzte Liste der herrenlosen Menschenware gebracht. Alter 20 bis 25 Jahre, blond, weißer Teint, gewöhnliches Gesicht, elegantes, graues Straßenkostüm. zwei wertvolle Ringe. — Du, das ist hübsch von Dir, Dick, dass Du da gleich an mich gedacht hast. Das Verlieren der Erinnerung an die Vergangenheit hat heute noch etwas zu bedeuten, das gefällt dem Lesepublikum, besonders dem weiblichen, zumal wenn die verlorene Erinnerung ein elegantes Straßenkleid trägt, und nicht minder hat schon der Ring mit der ganzen Masse von Diamanten, Rubinen und Smaragden imponiert. Wenn die wirklich echt sind, dann kann ich vielleicht als wirklicher Redakteur angestellt werden.«
»Gewöhnliches Gesicht, hat die Polizei gemeldet?«, unterbrach Hulman den Redeschwall.
»Nun ja. Hat sie nicht zwei Ohren? Das eine auf der linken Seite am Kopfe und genau gegenüber das rechte? Ist sie einäugig? Sitzt ihr Mund nicht an vorschriftsmäßiger —«
»Mein Freund, Mister Charley Malford!«, stellte ihn Hulman der jetzt mit der Schwester Eintretenden vor.
Der Redakteur war ganz verblüfft. Diesen Anblick hätte er allerdings nicht erwartet. Bei der saßen alle Gliedmaßen an der vorschriftsmäßigen Stelle, und da war noch etwas ganz anderes zu bewundern als nur diese Symmetrie.
Aber der ehemalige Straßen- und Vereinsreporter, ein verkrachter Student der Rechte, hatte gar bald seine Unverfrorenheit wieder.
»Miss — wie darf ich Sie nennen?«
»Namenlos«, ergänzte Lucy lachend, weil sie diesen Menschen schon zur Genüge kannte.
»Miss Namenlos? Das ist nichts, klingt nicht originell genug. Sie haben der Dame noch keinen Namen gegeben? So erlauben Sie, dass ich sie aus der Taufe hebe. Charley, jetzt strenge Deinen genialen Verstandskasten an. Ein Name muss es sein, wie ihn die Welt noch nicht — halt, ich hab's schon! Hört und staunt, wie ich die treffenden Namen aus den Ärmeln schüttele — und Du, mein alter Lateinlehrer in Oxford, drehe Dich einmal im Grabe um, wenn Du meinetwegen nicht schon ins Kugeln gekommen bist — also, gnädigste Miss, ich taufe Sie hiermit feierlichst — nun war mir der geniale Name wieder entfallen — halt, jetzt habe ich ihn schon wieder — ein lateinischer Name, der gar nicht existiert, auch als Wort nicht — ›niemand‹ heißt auf lateinisch ›nemo‹, eine weibliche Endung hierzu gibt es nicht, ich aber schaffe sie — Nema sollen Sie heißen, Amen! Na, was gibt's denn da zu lachen? Im Unsinn liegt die geniale Originalität. Und in solchen Namen sind wir Engländer doch überhaupt groß. Haben wir nicht drei berühmte Männer — mir fallen gerade nur drei ein, aber ihre Zahl ist Legion — deren Vornamen ganz rätselhaften Ursprungs sind? Allan Poe, Alva Edison, Rudyard Kipling — wer will die Bedeutung dieser Vornamen ergründen? — Höööh, Dick, schenk mir mal ein Glas Whisky mit Soda ein. Also es lebe das Patenkind zwischen 20 und 25 Jahren, die Miss Nema im eleganten Straßenkostüm mit dem gewöhnlichen Gesicht und dem Edelsteingebirge am Finger!«
Man lachte. Übel nehmen konnte man ja diesem Menschen gar nichts. So hatte das fremde Mädchen einen Namen bekommen, den sie wirklich behielt.
Dann wurde man ernst. Aber ehe der Redakteur mit seinem Interview begann, gab ihm Doktor Hulman ein Heftchen, in dem er alle schon gestellten Fragen und Antworten nach Notizbuch und Erinnerung, und was er sonst beobachtet, übersichtlich zusammengebracht hatte. Je weiter der Redakteur las, desto verdrießlicher wurde sein sonst immer heiteres Gesicht.
»Hm. Da bleibt ja für mich gar nichts mehr zu tun übrig. Da könnte ich nur wiederholen. Die Fragen und Antworten sind so logisch und systematisch geordnet — da bleibt für mich ja gar nichts mehr übrig.«
»Frage nur, strenge Deinen Scharfsinn an!«, ermunterte ihn der Freund.
»Nein, nein, bist Du in gewisser Hinsicht ein kurioser Kauz, so bin ich's in anderer. Kann ich das Büchelchen mitnehmen?«
»Jawohl, ich habe eine Abschrift.«
»Das wird so veröffentlicht, wie's hier steht, und das Honorar dafür bekommst natürlich Du.«
»Nonsense! Wo denkst Du hin?«, fuhr der Arzt auf —
»Na ja, ich kenne Dich, sprechen wir jetzt nicht darüber. Aber den Gefallen tust Du mir wohl, dass Du mir versprichst, mich den einzigen Interviewer bleiben zu lassen — wenn ich's auch nicht gewesen bin — das heißt, alle Deine weiteren Beobachtungen nur den ›Evening News‹ zukommen zu lassen.«
»Und ich wollte Dich gerade bitten, bei Veröffentlichung des betreffenden Artikels das übliche Nachdruckverbot wegzulassen, sodass ihn alle anderen Zeitungen nachdrucken können.«
»Hm, das ließe sich in diesem Falle machen, das hier liegt im allgemeinen Interesse, hat sozusagen einen edlen Zweck.«
»Dann würde ich eventuell alle weiteren Berichte nur an die ›Evening News‹ schicken.«
»Die Miss Nema von keinem Berichterstatter einer anderen Zeitung interviewen lassen, keinem anderen Zeitungsmenschen davon etwas mitteilen?«
»Nein.«
»Bitte, das gibst Du mir wohl gleich schriftlich.«
»O nein, so haben wir nicht gewettet. Eventuell, sagte ich. Ich behalte mir noch alles vor. Meine Entscheidung hängt von dem Betragen der ›Evening News‹ ab.«
»O, was bin ich doch plötzlich für eine berühmte Person geworden!«, ließ sich da einmal die neugetaufte Nema vernehmen, sich mit komischem Stolze aufrichtend. »Aber warum denn nicht, Herr Doktor, wenn Sie dabei ein gutes Stück Geld verdienen können?«
Sie hatte sich schon einmal von einer recht praktischen Seite gezeigt, und jetzt, da sie sich so geäußert, stimmte ihr auch Lucy bei.
Hulman warf den beiden einen Blick zu, besonders dem schönen, weißen Mädchen, dann wandte er sich zur Antwort wieder an den Besucher.
»Nein, nein, Du kennst mich doch, Charley — nur keine Reklame, wenn sie nicht absolut sauber ist —«
»Aber ich bitte Dich, was könnte da Unsauberes daran sein, ich muss meine Zeitung verteidigen, und was ist da überhaupt für eine Reklame —«
»Genug, genug, jedes Wort hierüber ist vorläufig vergebens. Und ich hoffe, Miss, Sie sind damit einverstanden, wie ich dies zu arrangieren gedenke!«
Statt weiterer Antwort reichte ihm das fremde Mädchen die Hand, zum ersten Male, und drückte die seine.
Der Redakteur stellte doch noch einige Fragen, ohne zu neuen Resultaten zu kommen.
br>»Nun erlauben Sie wohl, dass ich Sie fotografiere. Bitte, setzen Sie sich, blicken Sie etwas mehr nach links — so, so — nun glauben Sie nicht, dass ich ein Plagiat begehe, wenn ich jetzt sage: Bitte, ein recht freundliches Gesicht! — Dieser Ausspruch ist ursprünglich von mir — so, noch etwas freundlicher — danke — das war der erste Abdruck, nun noch einen zweiten, in anderer Stimmung aufgenommen — bitte, blicken Sie durchs Fenster, dort nach dem Baume, auf dem sich die zwei Turteltauben schnäbeln — so — jetzt sehen Sie ganz anders aus, einfach himmlisch — danke — und nun noch einen dritten Knips, wieder in anderer Stimmung, ich möchte Sie auch recht ernst haben, meinetwegen finster, indem Sie früher vielleicht auch manchmal in finsterer Laune gewesen sind — also bitte, denken Sie an etwas recht Finsteres, oder an Ihnen Unangenehmes — Sie wissen nichts? — Nein, lachen dürfen Sie nicht, oder es müsste ein finsteres Lachen sein, das Sie gar nicht haben — nun, denken Sie etwa an einen halbierten Frosch, den Sie — halt, denken Sie nicht an den halbierten Frosch, blicken Sie dorthin nach dem großen Tintenfass, das ist für mich der Schrecken aller Schrecken — für Sie nicht? — Dann denken Sie an einen Strumpf mit seinem großen Loche in der Hacke, und dieses Loch müssten Sie — Knips, das war ein ausgezeichnetes Gesicht, wie ich's gerade haben wollte, so tiefsinnig-melancholisch-geistreich-sentimental, das Loch im Strumpfe hat noch niemals versagt, und das ist ebenfalls meine Erfindung.«
Der Zeitungsmensch schloss seinen Mund und seine Kamera, empfahl sich schnell, um Artikel und Bild noch heute für seine Zeitung fertig zu machen.
»Adieu, dummer Dick«, sagte er draußen zu seinem Freunde, »und das Honorar bekommst Du doch.«
»Ich nehme es nicht an, hoffe aber, dass auch dieses Bild anderen Zeitungen gegeben wird.«
»Ja, wenn sie uns das Klischee abkaufen. Na lass nur, wir machen schon, was wir können, und ich für mein Teil bin schon zufrieden, wenn ich durch diese Geschichte Chefredakteur der gelesensten und einflussreichsten Weltzeitung der Erde und —«
Seine anderen Worte verloren sich draußen schon auf der Straße.
Der nächste Tag brachte keine Erinnerung und keine Meldung von der Polizei, die »Evening News« aber brachten den Artikel und das Brustbild der geheimnisvollen Fremden.
Die Sensation war groß, war ungeheuer, denn London hatte gerade keine andere. So warf man sich mit Gier auf diese, und sie sollte anhalten.
Doktor Hulman hätte seine ärztliche Praxis nur gleich aufgeben können, um ein Dutzend Schreiber zu beaufsichtigen, welche die einlaufenden Briefe beantworteten. Das tat er ja nicht, aber er und seine Schwester mussten doch schon all ihre Freizeit opfern, um nur die wichtigsten zu beantworten, von Personen, die nicht geschnitten werden durften, oder um solche, denen Rückporto beigelegen, mit einer Zeile zurückzusenden.
An diesem Briefschreiben beteiligte sich auch Nema fleißig, es machte ihr den größten Spaß, über sich selbst Auskunft zu geben.
Und nun diese Besucher, diese Reporter und Privatdetektivs! Der Klopfer am Gartentor war in unaufhörlicher Bewegung. Mitten in der Nacht wurde gepocht. Ein Grübler hatte herausgetüftelt, wer die Unbekannte sein könnte, es hatte ihm im Bett keine Ruhe gelassen.
Diesem Treiben setzten auf den Notschrei Doktor Hulmans die »Evening News« endlich dadurch Schranken, alle Fragen und Mitteilungen betreffs der »Miss Nema«, wie sie nun schon allgemein genannt wurde, schriftliche wie mündliche, seien ausschließlich an ihre Redaktion zu richten, Doktor Hulman nehme in dieser Sache keine Briefe mehr an, empfange diesbezügliche Besuche nicht mehr — und dies mussten auch alle anderen Zeitungen, welche die Berichte nachdruckten, ihren Lesern mitteilen.
Der so entlastete Arzt revanchierte sich damit, dass er jeden Tag einen Bericht über das Befinden der Miss Nema schickte, was sie gesagt und getan, ob in ihrem Zustande eine Veränderung eingetreten sei, und so weiter, wozu er von den »Evening News« allerdings erst gebeten worden war. Das kostete ihm aber täglich höchstens eine Stunde, dann hatte er Ruhe.
Und die Sensation kam erst recht in Flor, als die »Illustrated News«, von dem gleichen Verlage herausgegeben, eine höchst vornehme Zeitschrift, die Wiedergabe einer künstlerisch vollendeten Fotografie der Miss Nema brachten, fast in Lebensgröße, und dann dasselbe Brustbild koloriert, besonders um das goldene Haar, den blütenweißen Teint und die Augen wiederzugeben, dieses Konterfei immer wieder erscheinen lassend, in jeder Nummer, und darunter die Worte. »Wer ist es? Hundert Pfund Belohnung!«
Und dabei blieb es nicht. Es wurden 200 Pfund daraus. Und schon in der dritten Nummer wurden unter Miss Nemas Farbenfotografie 1200 Pfund Sterling dem angeboten, der einwandfrei nachwies, wer diese geheimnisvolle Unbekannte sei.
Von der Zeitung gingen die anderen 1000 Pfund nicht aus, sondern von einem der reichsten Klubs. Dort hatte man betreffs der Erinnerungslosen eine Wette abgeschlossen, worüber speziell, in welcher Weise, das kam nicht in die Öffentlichkeit. Jedenfalls aber waren dem Doppelverlage 1000 Pfund Sterling in bar zur Verfügung gestellt worden.
Und man muss die Engländer und ihr Zeitungswesen kennen. Der Stein war nun einmal ins Rollen gekommen. Was die »Evening News« konnten, musste diese und jene Zeitung auch können. Immer wieder einige hundert Pfund Prämie. Aber das ging auch ins Privatleben über. Kollekten wurden veranstaltet, man bettelte in Kneipen und in Hotels, in Hütten und Palästen, und wenn Baron Rothschild nicht umhin konnte, aus Gefälligkeit für den fechtenden Geschäftsfreund eine stattliche Summe zu zeichnen, so konnte es der und jene Großkaufmann und Großindustrielle und Börsenjobber erst recht nicht.
Kurz und gut, in Bälde stand schon eine Prämie von rund 5000 Pfund, dem auszahlbar, der über die namenlose Unbekannte definitiven Aufschluss geben konnte.
Schließlich war das gar keine so ungeheuerliche Summe. Man denke doch daran, wie seinerzeit der Missionar und Afrikaforscher Livingstone von Stanley aufgesucht wurde. Was das gekostet hat! Und was der bezahlt bekam! Das war allerdings Amerika! Aber England lässt sich doch nicht etwa von Amerika lumpen! Und es war ein Londoner Verleger, der dem Stanley dann für sein Tagebüchelchen 50 000 Pfund Sterling bar auf den Tisch zahlte.
Und was hatte denn schließlich Livingstone zu bedeuten gehabt? Als Forscher wie als Missionar damals ganz unbekannt. Und keine Angehörigen, keine Freunde hatten wegen seines Verschwindens besonderen Lärm gemacht.
Es war vom »New York Herald« eben eine Sensationsmache gewesen. Hier aber handelte es sich wirklich um einen ganz sensationellen Fall.
Ja, es war ein unbegreifliches Rätsel vorhanden,
Eine junge Dame verliert auf der Straße plötzlich das Gedächtnis, weiß nicht mehr, wer sie ist. Schon dagewesen. Hat keine Papiere bei sich, gar nichts, woraus sie zu legitimieren ist. Auch schon vorgekommen. Aber ihr Gedächtnis will auch im Laufe der Wochen nicht zurückkehren. Das ist, da es sich um keine Irrsinnige handelt, wohl noch nicht dagewesen.
Und es ist ein außergewöhnlich schönes Mädchen, überhaupt eine ganz auffallende Erscheinung, und obgleich ihr naturgetreues Konterfei schon über die ganze zivilisierte Welt verbreitet ist, meldet sich doch niemand, der diese Dame schon einmal gesehen haben will, obgleich er sich damit mindestens 5000 Pfund Sterling verdienen kann, oder die unwissentliche oder auch wissentliche Täuschung, Irrtum oder beabsichtigter Betrug, kann mit Leichtigkeit immer gleich nachgewiesen werden.
Hat sie denn nur gar keine Angehörigen, die sich um sie kümmern? Und wenn sie auch immer allein gereist ist, sie muss doch gesehen worden sein, dieses auffallende angelsächsische Gesicht ist doch sofort wieder zu erkennen. Und wenn sie auch im amerikanischen Hinterwalde oder im australischen Busche ganz einsam großgezogen wurde, sie ist doch nach England gefahren. Aber sie ist ja überhaupt viel in Europa gereist, hat in allen Hauptstädten Theater, Museen und andere öffentliche Sehenswürdigkeiten besucht.
Immer kühnere Vermutungen wurden aufgestellt. Wir wollen gar nicht erst anfangen, sie aufzuzählen. Vielleicht die beste Lösung, wenn auch nicht minder phantastisch, war die, dass es sich um eine Nonne handele, die in Begleitung höherer Geistlichkeit eine Missions- oder Inspektionsreise durch verschiedene Länder Europas gemacht habe, immer mit der Kapuze über dem Kopfe, bis sie auf dem freien englischen Boden entfloh. Da aber wirkte ein Stichwort oder irgendeine Handlung, durch einen posthypnotischen Befehl verlor die Flüchtige das Gedächtnis.
Gar nicht so übel ausgedacht. Dadurch wäre erklärt gewesen, weshalb dieses auffallende Gesicht noch niemand gesehen hatte.
Es wurden aber noch ganz, ganz andere Phantasien ausgesponnen. Die Miss Nema war bereits die Heldin einer neu erstandenen Schauerliteratur geworden.
Dann fehlte es auch nicht an Stimmen, welche andeuteten oder es ganz direkt aussprachen, dass hinter der ganzen Sache ein großer Humbug, ein raffinierter Schwindel stecke. Die Erinnerungslosigkeit war simuliert, die ganze Geschichte war von langer Hand vorbereitet, vielleicht schon von Geburt des Mädchens an, das man eben bisher versteckt gehalten hatte. Na ja, wenn die jetzt wieder normal wurde — oder das war ja gar nicht nötig — die bekam doch von den Varietés Angebot über Angebot, die wurde mit Gold überschüttet, und von der Prämie bekam sie auch noch ein gut Teil ab. Das hatte man alles schon vor vielen Jahren ausgerechnet. Der Wansteader Arzt, der fast verhungerte, steckte vielleicht auch mit dahinter.
Wer aber dieses Mädchen gesehen und gesprochen, in diese Augen geblickt hatte, der wusste sofort, dass solche Behauptungen und Vermutungen in das Reich der Fabel zu verweisen seien, oder es gab überhaupt keine Wahrheit mehr in der Welt, dasselbe galt betreffs dieses bärenhaften Arztes, und unter diesen prüfenden Besuchen waren genug Männer und Frauen, deren Urteil hierüber als kompetent galt, sodass derartige Meinungen gar keine Verbreitung fanden, überall verächtlich als Ehrabschneiderei zurückgewiesen wurden.
Allerdings hatte Doktor Hulman einen großen Vorteil davon, dass gerade er es gewesen war, der die erinnerungslose Dame zuerst angesprochen und in sein Haus aufgenommen hatte.
Plötzlich war ganz Wanstead und die weiteste Umgebung zu der Überzeugung gekommen, dass Sonne, Luft und Wasser doch die besten Heilfaktoren seien, aber in der Abtei wurden ja auch Arme eingerenkt und Knochen geschient, böse Finger geschnitten und Zähne gezogen, für gewisse Krankheiten gab es recht wohl auch Arzneien — und nicht nur aus Wanstead und weiterer Umgebung, sondern sogar aus London kamen die wirklichen und die eingebildeten Kranken gefahren, und wenn sie auch nicht die geheimnisvolle Unbekannte, um die sich jetzt alles drehte, zu sehen bekamen, so genügte es doch schon der Sensationslust, nur einmal in dem Hause gewesen zu sein, in dem sie sich aufhielt. Dann konnte man mitsprechen.
Doktor Philas, der Konkurrent, bedauerte schon, dass er sich nicht als einer der beiden Assistenzärzte gemeldet hatte, die sich der beneidenswerte Kollege hatte zulegen müssen, bei der dritten ausgeschriebenen Stelle würde er es tun.
Dabei war es dem jungen Arzte in der Abtei gar nicht recht angenehm, dass er plötzlich eine so kolossale Praxis bekommen hatte. Das war doch gar nicht sein Verdienst, sagte er bei jeder Gelegenheit. Es war eben ein komischer Kauz. Doch war er wenigstens so vernünftig, sich seine Arbeitszeit bezahlen zu lassen. Aber sonst gab es nichts, und es kam über ihn genug in die Öffentlichkeit, was jeden Verdacht, hier könne es sich um eine künstliche Mache handeln, sofort niederschlagen musste.
Nach einiger Zeit schickten ihm die »Evening News« für seine bisherigen Berichte eine Pauschalsumme von 100 Pfund, ihm für die weiteren das höchste Zeilenhonorar zusichernd. Diese 100 Pfund übersandte er sofort einem wenig gut fundierten Hospitale, sein Name durfte nicht genannt werden, alles weitere Honorar verbat er sich.
»Du hättest es annehmen sollen, konntest es ja weiter zu wohltätigen Zwecken verwenden, wenn Du nun einmal so denkst, obgleich ich da gar nicht so Deiner Meinung bin!«, sagte die Schwester.
Eigentlich hatte sie recht, und das konnte auch gleich wieder gut gemacht werden.
Andere Zeitungen, auch amerikanische, machten Angebote, wollten direkte Berichte aus der Abtei geliefert haben. Als die »Evening News« hiervon nur erst etwas läuten hörten, kam sofort ein Abgesandter. Was Doktor Hulman fordere, wenn ausschließlich die »Evening News« die Originalberichte erhielten, nur für dieses kontraktmäßige Recht.
»Tausend Pfund.«
»Angenommen!«, rief der Zeitungsmensch schnell.
Der junge Arzt hatte nur Scherz gemacht, niemals solch eine hohe Summe erwartet. Er wusste eben wenig Bescheid im Zeitungswesen. Was hatten denn tausend Pfund für solch ein Blatt zu bedeuten! Hier ging es doch um die Ehre.
Auch diese tausend Pfund übergab er jenem Hospitale, auf Umwegen, so ängstlich war er, dass man nur ja nicht den Namen des Gebers erfahre, um ihm jetzt und später nicht einen »Vorwurf« machen zu können. Aber es kam doch in die Öffentlichkeit, und niemand dachte daran, ihm daraus einen »Vorwurf« zu machen. Das Lob seiner edlen Uneigennützigkeit erscholl überall, und im Wartezimmer bis hinaus vor das Tor stauten sich immer mehr die Patienten.
Aber er hatte auch wirklichen Erfolg, er war wirklich ein tüchtiger Arzt, es gelangen ihm einige glückliche Kuren, Operationen, und wenn die Patienten im Luxusautomobil vorgefahren kamen, so wusste er doch auch Rechnungen zu machen. Wenn er es im Anfange nicht verstand, so hielten ihn diese Leute von ganz allein dazu an, und dann saß auch die praktische Schwester kräftig dahinter. Da konnte er auch Pläne für die Zukunft machen.
Zum Quartalswechsel kam der Hausagent, die Miete zu kassieren.
»Ist die Abtei wohl zu verkaufen?«
»Was ist in England unverkäuflich?«, lautete die Gegenfrage des alten, ausgetrockneten Männchens.
»Was dürfte dieses Grundstück kosten?«
»Na — ich schätze es auf 2000 Pfund.«
»Sie wissen es nicht genau?«
»Nein. Hat noch niemand deswegen gefragt.«
»Wem gehört das Haus eigentlich?«
»Einem Mister George Doll.«
Nema war bei diesem Gespräche mit anwesend.
»Ist das der A. G. Doll, der hier gegenüber die Getreidehandlung hat?«, warf sie ein.
Das konnte sie, die sonst nie das Haus verließ, sich gar nicht für die Nachbarschaft interessierte, wissen, weil an dem Hause gegenüber der Abtei ein riesiges Schild mit dieser Firma angebracht war.
Dies würde hier nicht angeführt, wenn es nicht für später von großer Bedeutung wäre.
»O nein, das ist ein ganz anderer Doll. Aber auch der Eigentümer dieses Hauses, der Abtei, Mister George Doll, hat früher selbst einmal hier gewohnt. Jetzt ist er immer auf Reisen. Das ist ein schwerreicher Mann.«
»Wissen Sie seine Adresse?«, fragte wieder der Arzt.
»Der hat gar keine bestimmte Adresse.«
»Wie verkehren Sie denn mit ihm?«
»Ich habe absolut nichts mit ihm zu tun.«
»Aber wegen der Miete —«
»Das geht alles durch die Westerland-Bank. Durch die kann man sich mit ihm wohl in Verbindung setzen.«
»Wollen Sie einmal anfragen, wie es mit diesen Grundstück ist? Wegen der Anzahlung und so weiter?«
»Schön, ich werde es besorgen.«
Der Hausagent ging.
»Ach ja«, jubelte Nema, »Herr Doktor, kaufen Sie dieses Haus, den schönen Garten!«
Dann wurde sie kleinlaut und setzte seufzend hinzu:
»Ach, wenn ich nur für immer hier bleiben könnte! Aber wie soll es möglich sein? Einmal muss die Aufklärung ja doch kommen, und dann — ade!«
5.
Lucy hatte an diesem Tage in London Verschiedenes zu besorgen gehabt, kam erst bei Dunkelheit zurück.
Nema war wie immer um diese Zeit schon schlafen gegangen, um beim ersten Morgensonnenstrahl wieder im Garten zu sein, wie Doktor Hulman, diesem bei seiner Blumen- und Gemüsezucht helfend, wie sie bei schönem Wetter überhaupt den ganzen Tag im Garten war, ohne dass die brennendste Sonne dieser weißen Haut etwas anhaben konnte.
Auch half sie Lucy viel bei den Übersetzungen, wobei sich ihre Bildung und Belesenheit immer mehr offenbarte, es musste alles und jedes nur immer in ihr wieder geweckt werden, sie machte sich auf andere Weise im Hause nützlich, half sogar sehr gern in der Küche.
Dieses Grundstück hatte sie im Laufe der vier Wochen noch mit keinem Schritte verlassen. Sie hatte kein Bedürfnis danach. Das alte Haus und der Garten war ihre ganze Welt, in der sie sich glücklich fühlte.
Nun, dann war es ja gut. Man fragte sie nicht mehr, ob sie nicht einmal ins Theater, in ein Konzert zu gehen wünsche, was das für Erinnerungen in ihr wecken würde. »Nein, ach nein — bitte, lasst mich hier.« Nun, desto besser. Es hätte bei aller Vorsicht doch zu Aufläufen kommen können.
Die Heimgekehrte hatte schnell noch eine Postkarte zu schreiben, betrat das Arbeitszimmer des Bruders, fand es noch finster und drehte das elektrische Licht an.
Sie erschrak, als sie ihren Bruder vor seinem Schreibtische sitzend fand, offenbar hatte er das Gesicht auf die Arme gelegt gehabt.
Wie, ihr Bruder, dieser rastlos tätige Mann, hatte in seinem finsteren Arbeitszimmer geträumt?! Das war etwas ganz Neues!
So war er in Träumereien versunken gewesen, dass er den Eintritt der Schwester erst bemerkte, als das elektrische Licht aufflammte, da erst blickte er nach ihr hin.
»Bist Du's, Lucy?«
Wie diese Stimme klang! Wie müde! Und diese Augen! Der hatte unbedingt —
Die Schwester wagte es gar nicht auszudenken. Sie ahnte ja schon längst etwas, wusste es, hatte es ja schon deutlich genug bemerkt — jetzt aber nur schnell etwas anderes!
»Ich traf vorhin auf dem Bahnhof den Hausagenten, er sagte mir, Du hättest die Absicht, die Abtei zu kaufen.«
Er raffte sich zusammen, die Stimme wurde wieder normal, nur die Augen schimmerten noch feucht, was erst mit der Zeit verging.
»Ja, ich habe daran ernstlich gedacht. Wir wollen einmal darüber sprechen. Mein Guthaben auf der Bank wächst, und es ist ehrlich verdientes Geld. Wenn es so weiter geht, dann werde ich bald eine hübsche Anzahlung machen können.«
»Hast Du aber auch daran gedacht, dass Du jetzt ein bekannt gewordener Arzt geworden bist? Du könntest in London die allergrößte Praxis bekommen.«
»Nein, Lucy, daran ist gar nicht zu denken. Und selbst wenn das so fort ginge, möchte ich doch immer der bescheidene Landarzt bleiben. Ich und in die Stadt! Du willst mich auch nur prüfen. Nein, meine ganze Sehnsucht ist es, hier zu bleiben, gerade hier in dieser Abtei, in deren Garten mir in den drei Jahren jeder Baum ans Herz gewachsen ist, und es ist auch schon Nemas wegen —«
Erschrocken brach er ab, obgleich er eigentlich gar keinen Grund dazu gehabt hätte. Er glaubte nur, mehr gesprochen zu haben als er durfte.
Die Schwester aber wusste, dass jetzt die passende Gelegenheit gekommen war, da gab es nichts mehr aufzuschieben — sie stand schnell auf, um sich auf einen anderen Stuhl dicht an seine Seite zu setzen, legte die Hand auf seine Schulter und den Arm um seinen Nacken. So blickte sie ihn an.
»Du liebst das fremde Mädchen?«
Er wollte eine Bewegung der Bestürzung machen, was ihm gar nicht gelang.
»Aber Lucy, ich bitte Dich —«
»Dick, sei doch offen gegen mich. Und so, wie ich Dich kenne, konnte es ja gar nicht anders kommen.«
Da stemmte er den Arm auf den Schreibtisch und legte den Kopf in die Hand.
»Ach, Lucy!«
In diesem »Ach« hatte alles gelegen, was er in letzter Zeit durchgemacht, wenn man ihm davon auch nichts angemerkt hatte.
Sie sprachen sich aus.
Ja, dieses Mädchen war wie geschaffen für ihn. Und wie sie ihm entgegenkam, das sah man ja bei jeder Gelegenheit.
Aber was sollte daraus werden? Wer war sie denn?
Sie musste aus einer reichen Familie stammen, das war aus allen ihren Gewohnheiten zu merken, die sie mit der Erinnerung nicht verloren hatte. Sie hatte etwas Aristokratisches an sich. Dieser Typus war der des angelsächsischen Adels, der noch jetzt Großbritannien beherrscht.
Doch davon abgesehen. Wenn ein Lord und Peer gekommen wäre und hätte gesagt, das ist meine Tochter — das hätte diesen Arzt wenig irritiert. Da hätte er bei einem Widerstand frisch und fröhlich den Kampf aufgenommen. Ach, solch ein Kampf ist ja heutzutage überhaupt gar nicht mehr nötig, der existiert nur noch in Romanen; wenn sich die Liebenden nur einig sind.
Aber wenn nun jetzt ein Mann kam und sagte: »Das ist mein mir ehelich angetrautes Weib!«
Die Schwester war es gewesen, die diese Möglichkeit angedeutet hatte.
»Lucy!«, schrie der Bruder im furchtbarsten Seelenschmerze auf.
Und dann wollte er in seiner Hilflosigkeit damit beginnen, dass sie ja keinen Trauring am Finger habe, dass sie doch gar nicht so aussehe.
Lächerlich!
Nie würde sich ein Geistlicher finden, der das erinnerungslose Weib einem Manne antraute, solange es nicht einwandfreie Zeugen gab, die versichern konnten, dass es noch ledig oder verwitwet sei, vom Standesamt gar nicht zu sprechen. Und auch bei solchen Zeugen würde sich jeder gewissenhafte Geistliche noch sehr, sehr überlegen, ob er die Trauung vollziehen dürfe. Es konnte immer noch jede Stunde ein Mann auftreten, welcher die Erinnerungslose als seine Frau beanspruchte, den Trauschein vorlegte.
Wann sie gesetzlich einmal als frei erklärt würde, dass sie heiraten konnte, das war gar nicht zu beurteilen. Solch ein Fall der Erinnerungslosigkeit ist im englischen Gesetz nicht vorgesehen, und wohl auch in keinem anderen. Das musste unter der Rubrik »Irrsinn« oder »Unzurechnungsfähigkeit« gefasst werden. Und da ist keine Ehe gestattet.
»Was machen wir uns denn für unnütze Sorgen«, suchte die Schwester zu trösten, »sie wird die Erinnerung schon wieder bekommen.«
»Ja, und wenn sie nun dann erzählt, dass schon ein anderer —«
Da schrillte die elektrische Klingel, die seit einiger Zeit am Gartentor den eisernen Klopfer ersetzte.
Die Hilfe des Arztes wurde begehrt oder er wurde an ein Krankenbett gerufen. Das kam jetzt mitten in der Nacht häufig vor; aber es war ja noch Abend, das Dienstmädchen noch wach, es öffnete schon.
»Ein Herr wünscht den Herrn Doktor dringend zu sprechen!«, meldete es bald danach.
»Bitte.«
Die Schwester blieb, hatte sie doch schon so häufig Handreichungen geleistet.
Der Herr trat ein. Eine ganz merkwürdige Figur! So geckenhaft und auffallend wie möglich gekleidet, mit buntgestreiften Beinkleidern, hellgetüpfelter Weste und brauner Samtjacke, gelbe Schuhe und grüner Schlips, auch der Schlapphut von grünem Samt. An den auffallend weißen und doch ungemein kräftigen Händen ein ganzes Dutzend protzender Ringe.
Und nun dieses hagere, totenblasse Gesicht! Von dämonischer Schönheit, aber durchwühlt von den schrecklichsten Leidenschaften. Und diese schwarzen Augen, wie die stachen! Und dennoch schön? Ja. Eben dämonisch, ein schöner Teufel.
War denn in der Umgegend ein Volksfest? Wie verirrte sich denn dieser Zirkusreiter oder Zauberkünstler oder sonstige Jahrmarktsheld nach dem soliden Wanstead?
»Good evening. Einem Arzte kann man doch abends um neun noch einen Besuch machen.«
Seine Sprechweise und sein ganzes Benehmen war einem Manne entsprechend, der sich aus der ganzen Welt nichts mehr macht, weil er jeden Tag ein paar Mal sein Genick aufs Spiel setzt.
»Sie wünschen?«
»Den Herrn Doktor Hulman unter vier Augen zu sprechen.«
Dabei setzte er sich ohne Weiteres. Doch gerade solch ein Landarzt kommt ja mit den verschiedensten, merkwürdigsten Individuen zusammen.
»Sind Sie krank?«
»Ob mir etwas fehlt? Ja. Lassen Sie nur erst einmal die Lady sich entfernen.«
Es war das Sprechzimmer eines Arztes. Lucy verschwand hinter einer Portierentür und blieb stehen. Sie bangte nicht für ihren Bruder, aber — hier kam ihr doch etwas nicht ganz geheuer vor.
»Die steht sicher hinter der Portiere, um uns zu belauschen. Never mind.«
»Herr, was wollen Sie eigentlich, wer sind Sie?«, fuhr jetzt der Arzt drohend empor.
»Wer ich bin?«, erklang es gemütlich zurück. »Beech, John Beech, allgemein genannt der schöne John. Sie haben noch nicht vom schönen John gehört? Das bedauere ich. Ich denke, ich bin schon weltberühmt. Stehe doch unter Polizeiaufsicht von fast sämtlichen europäischen Staaten. Mein Bildnis nebst Personalbeschreibung hat doch schon sämtliche Zeitungen geziert. Wegen Falschspielerei und Falschmünzerei, wegen Einbruchs und sogar schon mehrmals wegen Raubmords. Das heißt, die Steckbriefe waren immer ganz unnötig gewesen. Ich habe mich immer gleich gestellt. Wurde immer freigesprochen. Jawohl, ich bin noch heute unschuldig wie ein neugeborenes Kind, habe eine tadellose Vergangenheit hinter mir. Na ja, ein paar Mal wegen Körperverletzung und dergleichen einige Wochen abgebrummt. Aber etwas Ehrenrühriges gibt es bei mir nicht.«
Hulman hatte den ruhig und zynisch Sprechenden nicht unterbrochen, eine ahnende Angst hielt ihn ab, ein »Hinaus!« zu donnern und nach dem Stocke aus Rhinozeroshaut zu grreifen, der am Schreibtisch lehnte, besser als jede andere Waffe.
»Was — wollen Sie eigentlich von mir?«
»Sie fragten mich, ob ich krank sei. Nein. Aber fehlen tut mir etwas.«
»Was — fehlt Ihnen?«
»Meine Frau fehlt mir.«
»Ihre — Frau?«
»Jawohl, die Nema, wie Sie sie genannt haben, das ist meine mir ehelich angetraute Frau. Die wollte ich mir von Ihnen holen. Sie waren so liebenswürdig, sie einstweilen gut aufzuheben. Besten Dank. Machen Sie die Rechnung.«
Jetzt, da es heraus war, verwandelte sich die furchtbare Ahnung, die ihm die Luft hatte rauben wollen, bei dem starken Manne in eine eiserne Ruhe.
»So, Ihre Frau.«
»Jawohl, meine Frau.«
»Das werden Sie wohl erst mal beweisen müssen.«
»Das werde ich klipp und klar beweisen.«
»Na, dann mal los.«
»Morgen vor Gericht.«
»Also morgen vor Gericht.«
»Und jetzt nehme ich Harriet natürlich mit.«
»Wer ist denn das, Harriet?«
»Nun eben meine Frau. Missis — Harriet — Beech.«
»Die wollen Sie jetzt gleich mitnehmen?«
»Gewiss doch.«
»Lassen Sie sich doch nicht auslachen!«, lachte Hulman wirklich belustigt.
Da lenkte der »schöne John« ein. Es schien hier nicht alles so gekommen zu sein, wie er gehofft hatte.
»Soll ich Ihnen gleich jetzt beweisen, dass diese Dame meine Frau ist?«
»Na los mal.«
»Dann müssen Sie sie mir aber mitgeben.«
»Wann denn?«
»Wenn ich es Ihnen klipp und klar bewiesen habe.«
»Das wird sich finden.«
»Oder ich requiriere einfach Polizei.«
»Requirieren Sie doch.«
»Herr, können Sie sich denn nicht vorstellen, dass sich ein Mann nach langer Trennung nach seiner Frau, die er über alles liebt, sehnt?«, versuchte es der schöne John einmal auf diese Weise.
»Möglich. Habe keine Erfahrung darin. Bin nicht verheiratet.«
»Sie höhnen! Es wird morgen alles offenbar werden!«
»Ich denke schon jetzt? Schießen Sie doch mal los mit Ihren Beweisen.«
»Heute haben wir den ersten Juli. Am 28. Mai haben Sie meine Frau auf der Liverpool Street aufgegriffen, nicht wahr?«
»Aufgegriffen? Ihre Frau?«
»Die erinnerungslose Dame.«
»Stimmt. Am 28. Mai.«
»Um die Mittagszeit.«
»Ja.«
»An demselben Tage wurde ich früh in der zehnten Stunde in der Hinterstube des public house »Kingshead«, Paly Square 15, von Konstablern arretiert. Ich hatte einem Menschen, einem Falschspieler, eine Kopfnuss gegeben, die ihn zu Boden streckte. Ich kam auf die Wache, in Untersuchungshaft, in der ich eine Woche blieb, und bekam vier Wochen Gefängnis aufgebrannt. Glauben Sie mir das?«
»Das glaube ich schon!«, lachte Hulman, und es klang gar nicht erkünstelt. »Aber was interessiert mich das?«
»Was Sie das interessieren soll? Das wird sich gleich zeigen. Ich soll Ihnen doch Beweise bringen. Heute Mittag bin ich aus dem Gefängnisse entlassen worden. Nun bekommt man doch bekanntlich weder im Gefängnis noch in der Untersuchungshaft Zeitungen zu lesen. Dass ich seit dem 28. Mai dieses Jahres bis heute Mittag eingesperrt gewesen bin, glauben Sie also. Gut. Nun glauben Sie wohl auch, dass ich also von dem Schicksal meiner Frau bis heute Mittag nichts wissen konnte. Nicht wahr?«
Der Arzt musste sich beherrschen, um den so kalt und höhnisch Sprechenden nicht mit stieren Augen anzustarren.
»Ja, was wollen Sie — ich bezweifle ja gar nicht —«
»Ich wollte Ihnen nur erst beweisen, dass ich von alledem ja gar nichts wissen konnte. Und so werde ich Ihnen einen Beweis nach dem anderen vorbringen, immer ganz logisch, dass jene erinnerungslose Dame wirklich meine Frau ist.«
Die lauschende Lucy überlief es eiskalt. Dieser Mann musste seiner Sache todsicher sein!
»Nun weiter!«, sagte der Bruder ganz ruhig. »Wie hat denn nun Ihre Frau die Erinnerung verloren?«
»O, Sie fragen ja ganz unlogisch außerhalb aller Ordnung. Sie eigneten sich nicht zum Untersuchungsrichter!«, wehrte der Mensch mit überlegenem Hohne ab. »Da muss ich erst noch ganz andere Beweise bringen, ehe ich so gefragt werden darf. Sie können doch nicht verlangen, dass ich gleich nach dem ersten Schritte aus dem Zuchthause respektive Gefängnisse mich auf Zeitungen stürze, um meine in fünf Wochen vernachlässigte Weltkenntnis nachzuholen. Nicht wahr, nicht?«
Es wurde immer widerlicher, das Getue dieses Menschen. Wie er so mit breitem Behagen alles in die Länge zu ziehen suchte. Bei einem anderen freilich hätte es den berechneten Eindruck nicht verfehlt.
»Fassen Sie sich kürzer!«, sagte der Gemarterte herrisch.
»Mein erstes war eine Zigarette und dann einige Steaks mit den nötigen —«
»Zum letzten Male: Kommen Sie zur Sache!«
»Gut, wenn Sie so ungeduldig sind. Aber sagen Sie nicht später, in meiner Beweisführung sei eine Lücke gewesen! — Hierauf ging ich, so gegen drei, in die Wohnung, wo ich meine Frau gut aufgehoben wusste. ›Mensch‹, sagte man mir hier, ›weißt Du denn gar nicht, was mit Deiner Frau los ist?!‹ Jetzt erfuhr ich es, las es in allen Zeitungen, die man mir gab. Das hat sich noch ein paar Stunden hingetrödelt, dann bin ich hierher geeilt, um meine Frau abzuholen.«
Der Sprecher schwieg und schien nicht fortfahren zu wollen.
»Ja, wo bleibt denn nun der Beweis, dass diese Dame Ihre Frau ist?«
Der Mann entnahm seiner Brusttasche ein Pergamentpapier, gab es ihm. Es war ein Trauschein, vor fünf Jahren im Londoner Distrikt St. George von der Registratur ausgestellt. Dem Edward John Beech, 23 Jahre alt, von Beruf Artist, war die Maud Harriet Burmaster, 17 Jahre alt, ledig, angetraut worden. Zwei Zeugen, ein Mann und eine Frau, hatten unterschrieben, der Registrator hatte gestempelt, eine größere Stempelmarke darauf geklebt und sie durch seinen Namenszug entwertet.
So sieht ein englischer Trauschein aus. Es ist ja zur Trauung gar nichts weiter als ein Brautpaar nötig, das nicht kindlich aussieht, und zwei Zeugen, die man draußen vor der Tür für ein Pint Bier bekommt.
Die das Papier haltenden Hände des jungen Arztes zitterten.
»Sie können den Wisch ruhig zerreißen!«, munterte der andere mit gewöhnlichem Hohn auf. »Es ist ein Duplikat, weil ich das Original einmal verloren hatte. Habe es aber wiedergefunden.«
Hulman warf das Papier jenem verächtlich zu. Nur vor Ingrimm hatte er gezittert, was jener für ein Spiel mit ihm versuchte.
»Das nennen Sie einen Beweis?«
»Ich werde morgen, oder wenn's ist, vor Gericht beweisen, dass diese Miss Maud Harriet Burmaster die erinnerungslose Frau ist, die sie in Verwahrung halten, also meine Gattin.«
»Wie wollen Sie denn das nur beweisen?«
»Einfach durch Schwur.«
Es war ausgesprochen!
Man hörte das schwere Atmen hinter der Portiere auch in diesem Zimmer.
»Die beiden Trauzeugen leben auch noch, und dann werde ich noch ein paar Dutzend Zeugen bringen, die meine Frau kennen, die beschwören werden, dass die Miss Nema meine Frau ist, immer mit mir zusammen gelebt hat.«
Der Fluch des Goldes! Hier kam er einmal furchtbar zum Vorschein!
Die Belohnung von 5000 Pfund Sterling — wie viele Subjekte konnte man damit wohl nicht zum Meineid verleiten?«
Aber nun das Schrecklichste für den gemarterten Mann: Konnte denn dieser Mensch nicht auch die Wahrheit sprechen?
Das Gericht würde entscheiden, jetzt wollte der junge Arzt nur noch so viel wie möglich erfahren — möglichste Gewissheit wollte er haben!
»Wo zusammen gelebt?«, brachte er mit heiserer Stimme hervor.
»Harriet hat mich immer auf meinen Kunstreisen begleitet, in Frankreich, in Deutschland und überall.«
»Wie ist es möglich, dass diese auffallende Erscheinung noch nicht wiedererkannt worden ist?«
»Weil ich sie immer verborgen gehalten habe.«
»Wo verborgen?«
»Nun, unsereiner wohnt nicht gern im Hotel!«, erklang es hohnlachend zurück.
»Wo sonst?«
»O, wir haben überall unsere Absteigequartiere, und dann ist es auch wegen der Anfälle meiner Frau.«
»Was für Anfälle?«
»Jawohl, fragen Sie noch! Sie hat schon von Kindheit an ihr Gedächtnis zeitweilig verloren, das dauert stets viele Wochen und wird immer schlimmer, zuletzt wird sie es gar nicht wiederbekommen.«
»Was ist denn Ihre Gattin für eine Geborene?«
»Stammt auch aus unseren Kreisen, auch ihr Vater wurde immer von der Polizei gesucht. Aber fein dabei, sage ich Ihnen! Wer meinen Sie denn, wer ich bin? Hätte sich meine dämliche Mutter nicht weggeworfen, wäre ich jetzt ein Lord oder mindestens ein Baronet. Wissen Sie, wer mein Großvater ist? Das war der Lord von Cambridge! Jawohl! Seine Tochter ging mit einem Kunstreiter durch. Und meine Frau ist aus nicht minder feiner Familie. Das werde ich vor Gericht alles klipp und klar beweisen.«
Von den unglücklichen Familienverhältnissen dieses Lords hatte Doktor Hulman schon gehört, und das konnte ihn nicht beruhigen.
»Wie ist denn Ihre Frau damals auf die Straße gekommen?«
»Sie hatte in Begleitung einer älteren Dame eine Wagenfahrt gemacht, die Dame verließ einmal den Wagen, um in einem Geschäft etwas zu kaufen. Das war ein großer Fehler. Da ist meine gedächtnisschwache Frau, als sie allein war, aus dem Wagen gesprungen. Das tut sie immer, wenn man nicht aufpasst. Sie will nicht allein sein. Wenigstens nicht so im Freien. Das Haus, in dem sie einmal ist, will sie niemals wieder verlassen. Da ist sie wie eine Katze. Das müssen Sie doch selbst schon gemerkt haben, wie sie an einem Hause hängt, in das sie sich einmal eingewöhnt hat. Nun nehmen Sie mal eine Katze mit in einen Wagen, wie schnell die davonspringt, sobald sie eine Gelegenheit findet.«
Ja, dieser Mann wusste Gründe vorzubringen!!
»Ihr Register hat nur noch ein großes Loch.«
»Nur noch eines? Was denn für eines?«
»Alle die Zeugen, die Sie bringen wollen, kennen doch also Ihre Frau, haben doch überall das Bild gesehen — warum hat sich denn in den fünf Wochen niemand gemeldet, um sich die 5000 Pfund zu verdienen?«
»Jaaa, geehrter Herr Doktor! Wir bilden eine festgeschlossene Clique, und ich bin ihr — Präsident! Nicht etwa der Hauptmann einer Räuberbande, o nein. Unser Bund besteht aus lauter ehrenwerten Männern und Frauen, nur aus Gentlemen und Ladies. Na ja, Vorstrafen haben ja die meisten gehabt, aber immer nur Gefängnis und so. Unsere bürgerlichen Ehrenrechte besitzen wir noch alle, darauf halten wir. Passen Sie nur auf, wie hübsch wir alle zum Eidschwur vorgelassen werden. — Ja, und die wussten also alle, dass ihr Präsident wieder einmal für ein paar Wochen kaltgesetzt worden war, und dass die etwas ohne ihren Präsidenten tun, das gibt's bei uns nicht. Bei uns herrscht Zucht! Es handelte sich eben um die Frau Gemahlin des Herrn Präsidenten. Ich kam ja bald genug wieder heraus. Und außerdem: Je länger wir warteten, desto höher stieg ja die Prämie. Jetzt aber scheint es mit den 5000 Pfund geschnappt zu haben. — Ich will meine unglückliche Frau wiederhaben, die ich wirklich von ganzem Herzen liebe.«
Es war eine unwiderlegbare Logik, die dieser Mann mit allem und jedem hervorbrachte, Und er war sich seiner Sache sicher, er hatte den Arzt herumbekommen, er glaubte es ihm deutlich anzumerken.
»Ja, wenn es so ist«, sagte Doktor Hulman kleinlaut, »da ist freilich nichts zu machen —«
»Dick, Dick«, rief da die Schwester außer sich, hinter der Portiere hervorkommend, »gib ihm nicht nach, glaube ihm nicht, hier wird eine Schurkerei ausgespielt, ich weiß es bestimmt!«
Da stand der Bruder auf und richtete seine Hünengestalt lachend empor, freilich war es ein heiseres Lachen.
»Sei beruhigt, Lucy, ich denke ja gar nicht daran.«
Auch der Mann war aufgestanden, aufgesprungen. Diese ungeahnte Wendung ließ plötzlich seine Wut hervorbrechen.
»Schurkerei?!«, schrie er. »Beim heiligen Nebukadnezar, solch eine —«
Ein gellender Schrei unterbrach ihn. Im Rahmen der anderen Tür stand Nema im Nachtgewand. Sie wankte, Lucy sprang hin, noch schneller war der Bruder, er fing die Stürzende auf.
»Das ist sie ja, meine Frau!«, erklang es hinter ihm, »Sehen Sie, was für einen Eindruck mein Anblick auf sie macht? Sie wird vor Freude ohnmächtig. Ob sie mich freilich sonst erkennt, das ist die Frage, das tut sie in diesem Zustande nie —«
»Hinaus!«, donnerte ihn da der Hüne an, der die Ohnmächtige der Schwester überlassen und dafür den Rhinozerosziemer genommen hatte. »Hinaus, gehen Sie!«
Der Mensch sah, dass mit diesem Manne nicht zu spaßen war, er zog es vor, zu retirieren.
»Ich gehe, aber morgen —«
»Jawohl, morgen, morgen, aber jetzt gehen Sie, gehen Sie schleunigst!«
Und der Mann ging, ohne noch ein Wort zu sagen, man hörte nur sein Zähneknirschen. Aber Hulman, der ihn bis an das Gartentor begleitete, hatte keine Bange vor einem heimtückischen Messerstiche.
6.
Wir wollen nicht die Gedanken zu schildern versuchen, die dem zurückkehrenden Arzte wild durch den Kopf jagten.
Lüge, Wahrheit, Flucht, Himmeleinsturz — alles bunt durcheinander.
Die Ohnmächtige war auf dem Diwan gebettet worden, war schon wieder zu sich gekommen, benahm sich recht seltsam, als wenn gar nichts vorgefallen wäre, richtete sich auf und streckte dem Kommenden mit freudigem Lächeln beide Hände entgegen.
»Herr Doktor, Herr Doktor! Wer war denn dieser Herr, der mir die Erlösung brachte?«
»Was?!«, konnte der Doktor nur stutzen, und nicht anders erging es der Schwester, die ebenfalls von noch gar nichts wusste.
»Ich wache auf — muss eben erst eingeschlafen gewesen sein — habe plötzlich so eine Unruhe — mich duldet es nicht im Bett — ich höre Stimmen — komme herunter — sehe den fremden Herrn — in dem Moment, wie ich eintrete, ruft er ›heiliger Nebukadnezar‹ — — und das geht mir doch wie ein Stich durch und durch, Herr Doktor, mein liebster Doktor!«, begann sie jetzt sogar zu jauchzen und machte Miene, ihm um den Hals zu fallen. »Ich weiß alles, alles — der Bann ist gelöst! — Mit Babylon hat er begonnen und mit ihrem König Nebukadnezar ist er beendet!«
Doktor Hulman ahnte ja schon etwas, wollte es aber nicht glauben. Was er damals mit seinem Freunde auf der Straße gesprochen, dessen entsann er sich noch genau, das Wort »Babylon« brachte ihm die ganze Szene mit allen Worten klar wieder vor Auge und Ohr. Aber war es denn möglich?
»Babylon?«
»Jawohl, Babylon! Sie, gerade Sie waren es, der dieses Wort aussprach — nein, der andere Herr war es — Sie sprachen von Ninive, der andere Herr verbesserte es in Babylon, sprach es zweimal aus, und in demselben Augenblick schwand mir mein Gedächtnis.
Mein Papa hat einmal ein hypnotisches Experiment mit mir gemacht, ob es möglich sei, jemandem die Erinnerung an die Vergangenheit auszuhypnotisieren — jawohl, das ging bei mir — dann auch auf posthypnotischen Befehl. Auf das Wort ›Babylon‹ musste ich die Erinnerung verlieren, auf das Stichwort ›Nebukadnezar‹ musste ich sie wiederbekommen. Der Papa hat mir diese Suggestion wieder aussuggeriert, es ging dann auch nicht mehr — aber später hat das Stichwort doch noch einmal gewirkt, und jetzt auch das Gegenwort. Nein, das ist ja köstlich! Jetzt weiß ich alles, alles, und die letzten fünf Wochen sind nicht etwa ein Traum für mich. Die sind die folgerichtige Fortsetzung meiner wiedergekommenen Erinnerung.«
Mit lachendem Munde hatte es Nema erzählt.
»Ja — ja — wer — wer sind Sie denn da eigentlich?«, stotterte der Arzt.
»Na, die Evelyn Doll bin ich!«
»Die Doll — die Doll?«, wiederholte Hulman geistesabwesend. »Doch nicht — etwa — jetzt möchte man ja bald alles glauben — doch nicht etwa die Tochter von dem Getreidehändler A. G. Doll dort drüben?«
»Nein, von dem Doll nicht«, lachte das Mädchen, »von George Doll — wir haben ja fünf Jahre hier in unserer Abtei gewohnt.«
»Das — ist — ja — nicht — mööööglich!«, konnte der Arzt nur hervorbringen, während sich die Schwester still beobachtend verhielt.
»Ja warum denn nicht?! Das hier war unser Parlour. Dort stand das Büfett, dort ein Bücherschrank, hier stand ebenfalls ein Diwan, dort ein Schreibtisch —«
Ihre Arme flogen wie die Flügel einer Windmühle herum.
»Das — ist — ja — nicht — mööööglich!«, konnte Hulman nur wiederholen.
»Bitte«, ließ sich jetzt die Schwester vernehmen, »erzählen Sie doch ausführlich, was Sie wissen, wie das alles gekommen ist, denn hier sind ja wirklich noch die dunkelsten Rätsel zu lösen.«
Sie erzählte, bis der Morgen graute.
Der Vater war ein Privatgelehrter gewesen, hatte es nicht nötig, eine Stellung zu bekleiden, ein sehr vermögender Mann, vermehrte nur sein Wissen, ohne selbst etwas zu produzieren, überhaupt ein Sonderling, lebte ganz einsam, nur zwischen seinen Büchern. Aber er war ein guter Familienvater.
Damals, als das einzige Kind seiner überaus glücklichen Ehe geboren wurde, hatte er in einer kleinen Ortschaft in Schottland gewohnt. Zwei Jahre später starb die Mutter. Der Vater unterrichtete das heranwachsende Kind selbst, teils weil er den angenehmen Landaufenthalt wegen einer Schule nicht aufgeben, sich noch weniger von seiner Tochter trennen wollte, teils weil es überhaupt ein merkwürdiges Kind war.
Ein aufgewecktes, gesundes, kräftiges Mädchen, aber es litt immer an den Augen, konnte kein Tageslicht und kein künstliches irgendwelcher Art vertragen, bekam immer entzündete Augen. Nur im Dämmerlicht oder unter dem Schutze einer blauen Brille oder eines blauen Schleiers erholten sie sich wieder.
So hatte Evelyn schon als kleines Kind stets eine große, blaue Brille getragen, und im Freien, auch auf der erleuchteten Straße, einen dichten Schleier.
Als sie dreizehn Jahr gewesen, war der Vater in die Nähe Londons gezogen, um die Tochter nun auch in die Kunst einzuweihen. Hier die Abtei hatte er gekauft, fünf Jahre hatten sie hier drin gewohnt, mit den beiden alten Dienstboten. Das einsame Leben wurde fortgesetzt. Kein einziger Besuch kam, Evelyn verließ nur das Haus, um mit dem Vater manchmal nach London zu fahren, Theater und Museen zu besuchen, immer mit dem dichten blauen Schleier, den sie absolut nicht entbehren konnte.
Ob das junge Mädchen dieses einsame Leben, ohne eine einzige Freundin, ertragen konnte? Gewiss. Erstens Gewohnheit. Sie kannte es nicht anders. Zweitens: Ach, es gibt so viele, viele Menschen, die schon als Kind ebenso einsam gehalten worden sind und so weiterleben. Die schlechtesten Menschen sind es nicht. Sie sind nur so schwer zu finden, eben weil sie nicht gefunden werden wollen.
Diesem Mädchen war der Vater ihr Ein und ihr Alles, er genügte ihr vollkommen zur Gesellschaft, und war er beschäftigt, so hatte sie ihre Bücher.
Die Gartenmauer hielt jeden zudringlichen Blick ab, die Fenster ihres Zimmers mussten immer verhangen sein, auf der Straße ging sie nur im dichten Schleier, so konnte es kommen, dass niemand ihr Gesicht gesehen, hier in Wanstead, wo sie fünf Jahre gewohnt. Man wusste, dass die Tochter aus der Abtei sehr augenleidend sei, das genügte, und nachbarschaftliche Aufdringlichkeit kennt man in England gar nicht.
Dann war Mister Doll mit der Tochter auf Reisen gegangen, vier Jahre lang, um ihr die Kunstschätze des Festlandes zu zeigen, in Frankreich, Holland, Deutschland und Italien.
Auch hier immer der dichte Schleier vorm Gesicht. Der reiche Sonderling nahm stets ein ganzes Coupé und speiste im Hotel nur auf seinem Zimmer. Und bei Evelyn mochte durch die Gewohnheit nun wirklich etwas Nonnenhaftes hinzugekommen sein. Dass sie auf der Straße und im Theater lieber den blauen Schleier als die große blaue Brille trug, konnte man ihr nicht verdenken. Aber wenn der Kellner eintrat und sie hatte die Brille auf der Nase, dann schlug sie auch den stets bereiten Schleier herab.
Nur als Kind war sie wegen ihres Augenleidens in ärztlicher Behandlung gewesen. Aber der Vater behauptete in letzter Zeit immer häufiger, dass dieses Augenleiden nur auf Einbildung von ihr beruhe. Jetzt wenigstens. Das hätte sich schon längst gelegt. Versuche hatten ergeben, dass sich ihre Augen durchaus nicht mehr im hellen Tageslichte entzündeten, nicht im blendendsten Sonnenscheine. Und dass sie dann so schlecht sehen könne, das eben sei nur Einbildung, sie müsse nur einmal mit Energie Brille und Schleier weglassen.
Evelyn war bei ihrer eigenen Behauptung geblieben. Sie könne im hellen Tageslichte nicht sehen. Da hatte es der Vater einmal mit der hypnotischen Behandlung versucht, worin er theoretisch bewandert war, und hatte sich so ein Handbuch angeschafft. Evelyn ließ sich leicht in hypnotischen Schlaf versetzen, reagierte auf posthypnotische Befehle, aber gerade in diesem Falle nicht. Die Macht der Gewohnheit war stärker als der posthypnotische Befehl, sie konnte von dem Schleier nicht lassen. Der Vater hatte nach jenem Buche gleich noch einige andere Experimente mit ihr angestellt. Erstaunlich war, wie leicht man ihr die Erinnerung an die Vergangenheit nehmen konnte. Auch nachträglich durch ein Stichwort. Sobald das ausgemachte Wort »Babylon« an ihr Ohr schlug, verlor sie das Bewusstsein über ihre Person, die Erinnerung an ihre eigene Vergangenheit. Bei dem Stichwort »Nebukadnezar« kam die Erinnerung sofort zurück.
Weiter trieb der Vater diese unter Umständen gefährlichen Experimente nicht. Wie das Buch riet, verbot ihr der Vater im letzten Schlafe, sich jemals wieder von irgend einem Menschen hypnotisieren zu lassen, suggerierte ihr auch die beiden Stichworte aus, überzeugte sich dann, dass sie nicht mehr wirkten.
Vor fünf Wochen hatten die beiden in Paris ihre Koffer zum letzten Male gepackt. Gleich darauf vermisste der Vater seine Brieftasche. Sie konnte nur in dem Rocke stecken, den er soeben im Koffer verstaut hatte. Never mind. Man musste auf den Bahnhof. Die Hauptsache war, dass er noch genug Geld in der Hosentasche, Evelyn im Portemonnaie hatte. Eine Handtasche führten weder er noch die Tochter mit sich.
Auf der Fahrt von Dieppe nach Eastbourne brach im Gepäckraum des Schiffes Feuer aus, alles wurde vernichtet. Die Ansprüche mussten die Geschädigten in London stellen.
Nun hatte Evelyn schon seit einiger Zeit einen Entschluss gefasst. Sie war selbst schon zur Überzeugung gekommen, dass ihre Kurzsichtigkeit im Tageslicht nur auf Einbildung beruhe. Kraftvoll wollte sie einmal dagegen ankämpfen. Mit dem Betreten des englischen Bodens, hatte sie sich auf dem Schiffe fest vorgenommen, wollte sie Brille und Schleier für immer ablegen. Nun aber war der Brand dazwischen gekommen, das war doch heillose Verwirrung gewesen, und überhaupt betrat sie den englischen Boden ja erst auf der Liverpool Station in London.
Auf dieser Eisenbahnfahrt, wie immer ein reserviertes Coupé benutzend, hatte der Vater, der in letzter Zeit recht oft unpässlich wurde, ohne richtig krank zu sein, gesagt, er wolle sich sofort nach dem »Exeter«-Hotel begeben, dicht neben der Station gelegen. Evelyn möchte inzwischen im nächsten Geschäft die nötigste Wäsche einkaufen.
So etwas hatte Evelyn schon oft getan, in ganz fremden Städten, das konnte man ihr ruhig überlassen, denn unpraktisch und menschenscheu war sie nicht.
Gut, der Vater nahm ein Cab, die Tochter ging schnell die Liverpool Street entlang, das nächste Wäschegeschäft suchend. Gleich nach dem Verlassen des Vaters hatte sie den Schleier abgenommen, setzte auch die blaue Brille nicht auf, und es ging, da sie nun ernstlich wollte.
Na, der Papa sollte ja nicht schlecht staunen, wenn sie mit freiem Antlitz zurückkam. Das würde eine Überraschung geben! Und dann hielt der Gelehrte wieder einen langen Vortrag über die Macht der Willenskraft.
Sie war noch nicht weit gekommen, ganz entzückt, dass sie im blendenden Sonnenlichte wirklich sehen konnte wie andere Menschen, als das Wort »Babylon« an ihr Ohr schlug, gleich zweimal hintereinander.
Da war es plötzlich vorbei mit ihr gewesen. Wie ein Schleier hatte es sich über ihr Gedächtnis gelegt. Das ihr suggerierte Stichwort hatte doch noch gewirkt. Leicht möglich, oder wahrscheinlich sicher, dass eben der ungewohnte Zustand, wie sie jetzt ohne Brille und Schleier auf der belebten, sonnigen Straße ging, sie noch einmal so sensitiv empfänglich gemacht hatte.
Über die Art ihrer Erinnerungslosigkeit brauchen wir nichts mehr zu sagen. Sie wusste nicht, dass sie hypnotisiert worden, kannte also auch die beiden Stichworte nicht — die Abtei und der Garten, worin sie fünf Jahre verlebt, waren ihr gänzlich fremd.
Und von den Wansteadern ahnte niemand, dass die geheimnisvolle Unbekannte die Miss Evelyn Doll war, die sie nur mit dichtverhülltem Gesicht kannten, die jetzt wieder in ihrem eigenen Hause wohnte. Sollte jemand auch auf solch eine Ahnung kommen!
Die beiden sehr alten Dienstboten waren damals bei der Abreise entlassen worden, waren verschollen, wahrscheinlich schon gestorben.
Jener Mensch, der auf die 5000 Pfund spekuliert, mit der Sensation des Tages vielleicht auch noch etwas anderes vorgehabt hatte, um Geld daraus zu schlagen, hatte die Erlösung gebracht. Das Böse hatte wieder einmal dem Guten dienen müssen.
»Wo ist aber nun mein Papa geblieben?«
Das musste natürlich die letzte Frage sein, angstvoll hervorgebracht.
Sie konnte nur noch sein Aussehen, seine Kleidung, Uhr und Kette und drei Fingerringe und einige andere Kleinigkeiten möglichst genau beschreiben, dann schlief sie ein, denn, wie gesagt, über diese Erzählung hatte der neue Tag zu grauen begonnen.
Sobald der Morgen weit genug war, fuhr Doktor Hulman nach London und sprach im »Exeter«-Hotel vor. Jawohl, so ein Herr, wie beschrieben, war vor fünf Wochen, am 28. Mai, in der Mittagsstunde hier abgestiegen, ohne jegliches Gepäck, und hatte zwei Zimmer genommen. Noch ehe er sich eingeschrieben, hatte man ihn tot aufgefunden. Ein Herzschlag. Keine Legitimation bei sich gehabt. Alle Ermittelungen waren ergebnislos verlaufen. Er lag auf dem Friedhof der Namenlosen begraben. Sein Geld und die Wertsachen und alles andere waren auf der betreffenden Abteilung der Polizei abgegeben worden.
Doktor Hulman eilte dorthin. Anzug, Uhr, Kette und Ringe bestätigten alles. Die Leiche konnte nur noch exhumiert werden, um ein würdigeres Begräbnis zu finden.
»Doktor Hulman aus Wanstead?«, redete diesen ein Herr an, der zwischen den herrenlosen Sachen herumschnüffelte.
Er stellte sich als Kriminalkommissar vor, und jetzt erkannte ihn auch der Arzt. Er hatte einmal vor Gericht ein Gutachten abgeben müssen und war dabei mit diesem Kommissar zusammengekommen.
»Sagen Sie mal, Herr Doktor, war gestern Abend ein Mann bei Ihnen? Wir haben nämlich heute in aller Herrgottsfrühe einen Kerl festgenommen, den ›schönen John‹, wie er in den Verbrecherkreisen und auch für uns heißt, einen ganz schweren Jungen, dem aber bisher noch niemals beizukommen war. Bei seiner Verhaftung glaubte er, er solle an dem Einbruch beteilig gewesen sein, der heute Nacht stattgefunden hat, er wollte gleich ein Alibi angeben, er sei gestern Abend zwischen neun und zehn Uhr bei Ihnen gewesen, er könne also gar nicht in Betracht kommen. Aber der Bursche irrte sich überhaupt. Um diesen Einbruch handelte es sich gar nicht. Ein Kronzeuge trat gegen ihn auf. Der ›schöne John‹ hat den Woolwicher Raubmord verübt! Hat's jetzt schon gestanden! Endlich kann dieser Halunke unschädlich gemacht werden! Und er war gestern wirklich bei Ihnen? Was wollte er denn?«
Wir brauchen Doktor Hulmans Auskunft nicht zu wissen. Er hatte keine Unannehmlichkeiten mehr davon. Die Tochter des verstorbenen George Doll konnte sich, um die Erbschaft anzutreten, ohne Schwierigkeit legitimieren. Der Vater hatte bei der Abreise alle Möbel und Bücher und sonstige Sachen bei einem Spediteur eingestellt, es fanden sich zahlreiche Fotografien seiner Tochter, von ihm selbst aufgenommen, und in den letzten Jahren hatte sich Evelyn nicht verändert.
Dann trat sie, unnötigerweise, noch einen anderen Beweis an, einen ganz merkwürdigen, aber auch von durchschlagender Überzeugungskraft.
Sie hatte seinerzeit in dem Abteigarten drei Leichen begraben, die eines kleinen Hundes und zweier Kanarienvögel. Sie wusste die verschiedenen Stellen noch ganz bestimmt anzugeben. Über dem Hund war unterdessen ein großer Busch gewachsen, die Gebeine der Vögelchen düngten die Wurzeln von Bohnen und Erbsen.
Eigentlich nur spaßeshalber lud man die Kommission, welche die Erbschaftssache zu regeln hatte, ein, dem ersten Spatenstiche beizuwohnen.
Der eine Vogel war verschwunden, den hatte wohl schon der »kohlbauende Einsiedler« beim Umgraben aufgeworfen, ohne es gemerkt zu haben. Dann fand sich aber doch noch ein Kopf vor. Um das Gerippe des zweiten Vogels hatten sich die Wurzeln von Feuerbohnen geschlungen, und das galt erst recht von dem Hundeskelett, das unter dem vierjährigen Busch lag.
Die 5000 Pfund Sterling, die sich als Prämie für die Lösung des Rätsels angesammelt hatten, wurden Doktor Hulman zugesprochen. Aber der nahm sie wieder nicht an, der komische Kauz, überwies sie abermals wohltätigen Anstalten. Doch so komisch war er nicht, dass er auch auf Evelyns Mitgift verzichtet hätte, auf das bei der Westerland-Bank angelegte oder dort verwaltete Kapital, von dessen Zinsen der Privatgelehrte so kostspielige Reisen hatte machen können.
Als dem »schönen John« in Newgate das Armesünderglöcklein geläutet wurde, feierten die Geschwister Hochzeit. Das heißt eine doppelte.
Bald danach wurde Lucys Gatte als englischer Postkontrolleur nach New York versetzt, das ärztliche Ehepaar begleitete die beiden nach Amerika, wo Erbsen und Bohnen und andere Gemüse noch besser gedeihen sollen.
Die Abtei steht noch heute im lieblichen Wanstead, wo der Erzähler dieses länger als ein Jahr gewohnt hat, er selbst hat das alte Haus mit dem total verwilderten Garten einmal mieten wollen, aber seine Frau machte nicht mit, es war ihr zu unheimlich — und in Wanstead erzählt man sich noch heute von der »Lady without memory«, von der Dame ohne Erinnerung.
Der Sprechapparat schwieg.
Und wir lassen von jetzt an wieder Kapitän Hagen persönlich erzählen, wozu ein triftiger Grund vorliegt.
»So, mein Junge, nun lass Dir die Gegend ringsum erklären!«, sagte
der Ingenieur, indem er sein leichtes Motorboot dahinschießen ließ.
Ich dachte«, sagte Littlelu, »Frett Barkor hätte selbst in der alten Abtei gewohnt; er hat also nur in Wanstead haaaauuuuhhhh!!« »Da wollen wir«, setzte die Gräfin hinzu, obgleich sie dabei aufstand, »wieder an unsere Maisernte haauuh!«
Auch sie beschloss ihren Satz mit einem kräftigen Gähnen, hielt aber dabei wenigstens die Hand vor den Mund, während Littlelu noch hinterher einige Zeit sein Froschmaul aufgerissen hielt und es nicht einmal mit einem Streichholz verdeckte.
Solch ein herzhaftes Gähnen steckt an, alle anderen machten mit, ich nicht ausgeschlossen. Obgleich die Erzählung doch gar nicht so langweilig gewesen war.
Aber ich wusste schon, was hier vorlag.
Wir hatten samt und sonders diese paradiesische Insel überdrüssig bekommen, eine fürchterliche Langeweile hatte sich eingestellt, so viel wir auch zu arbeiten hatten.
Vor acht Tagen waren wir zurückgekommen, hatten von den Tieren, die damals von dem Zeuge gefressen und auch damit weitergefüttert, in kürzester Zeit eine riesenhafte Größe erreicht hatten, nichts mehr vorgefunden, sie waren sehr bald gestorben, natürlich ohne Nachkommen zu hinterlassen, nicht einmal genießbar waren die Schweine und Hühner gewesen, hatten ein widerwärtig schwammiges Fleisch gehabt — dagegen strotzte das Maisfeld von baumähnlichen Stauden, mit meterlangen Kolben besetzt, die mit haselnussgroßen Körnern gespickt waren. Jetzt waren wir mit der Ernte beschäftigt, wozu die Japaner nicht ausreichten, sonst fielen die Körner, die das herrlichste Mehl lieferten, aus und verdarben.
Aber auch alles andere, was wir sonst gesät und gepflanzt, hatte sich auch ohne jenes Düngemittel in diesem paradiesischen Himmelsstrich mit kolossaler Üppigkeit entwickelt.
Die selbstgezimmerte Laube des gräflichen Ehepaars vor ihrer Höhlenwohnung war mit Rosen überwuchert, die Petersilienbüsche konnten sie schütteln und mit den Spargelstangen sich gegenseitig totschlagen.
Und da hieß es bei uns: Jetzt wird die Geschichte langweilig.
Weshalb?
Ich bin derjenige, der die alten amerikanischen Backwoodsmen, die Hinterwäldler, die aber auch heute noch genug existieren, vollständig begreifen kann.
Da zieht solch eine kinderreiche Familie mit ihren vollrädrigen Planwagen durch die Wildnis, durch Prärien und Urwälder. Sie kommen an eine Lichtung, an ein hübsches Plätzchen, das zum Bebauen wie geschaffen ist. Und nun wird in die Hände gespuckt und vom ersten Sonnenstrahl bis zum letzten gewürgt, in einer Weise, von der man in Europa gar keine Ahnung hat.
Endlich steht das solide Blockhaus, endlich ist der Urwald mit unsäglicher Mühe ausgerodet, die erste Saat sprießt, endlich ist es gelungen, der Tiere des Waldes so weit Herr zu werden, dass sie nicht mehr alles abfressen — da kommt ein Mann, bringt gleich einen Regierungskommissar mit, der den Ansiedlern klipp und klar beweist, dass sie auf einem Gebiet sitzen, das schon einem anderen gehört.
Also fort von hier!
Was sollen die unrechtmäßigen Ansiedler machen? Mit Flinte und Bowiemesser ihr vermeintliches Recht verteidigen? Dazu sind die viel zu klug.
Nur die stehende Ernte dürfen sie noch einheimsen, das erlaubt ihnen das Gesetz, dann packen sie wieder ihren Planwagen und verlassen ihr Blockhaus, verlassen alles, alles, was sie da geschaffen haben, traurig und verbittert gehen sie wieder durch die Wildnis, um sich ein neues Fleckchen zu suchen, traurig und verbittert, oder wohl gar gebrochenen Herzens!
So liest man in derartigen Erzählungen.
Das ist alles Quatsch!
Diese echten Hinterwäldler sind ein ganz besonderer Schlag von Menschen. Abenteuerlustige Ritter ohne Furcht und Tadel, nur eben dem bäuerischen Stande angehörend. Länger als eine oder höchstens zwei Ernten halten die es überhaupt auf keinem Flecke aus. Am Tage wie die Wilden arbeiten, des Nachts auf dem Anstand sitzen und da sein Nickerchen machen, bis der Hirsch brüllt, mit Rothäuten sich herumbalgen, ab und zu einen Pferdedieb fangen und aufknüpfen — wenn man das nicht mehr kann, ja was hat dann das Leben überhaupt noch für einen Reiz?
Es braucht gar niemand zu kommen, der sich als rechtmäßiger Besitzer des Grund und Bodens legitimiert, sobald diese Hinterwäldler so viel Korn geerntet, dass sie für ein halbes Jahr Brot haben, und wenn das Wild nicht mehr die Felder bedroht, wird aufgebrochen und weitergezogen.
Es liegt dem auch ein psychologisches Geheimnis zugrunde, sogar etwas ganz Grandioses des menschlichen Charakters.
Ich habe schon einmal erwähnt, wie irgend ein großer Dichter, dessen Namen ich vergessen, gesagt hat: »Wenn ich nach meinem Tode ein Paradies fände, so würde ich es erst in Trümmer legen, um mir aus den Ruinen aus eigener Kraft ein neues Paradies zu schaffen!«
Schaffen! Das ist es! Schöpfen! Dadurch wird der Mensch selbst zum Gott. Sobald alles fertig ist, man nun in Ruhe behaglich leben kann, dann wird die Geschichte langweilig. Also lustig von Neuem angefangen.
Ganz dasselbe galt für uns. Bei uns, die wir hierbei in Frage kommen, befand sich kein einziger, der sich für Ackerbau und Viehzucht geeignet hätte. Ja, einmal so ein bisschen mitmachen, aber nicht für die Dauer.
Ganz besonders galt das für die indianische Gräfin. Die sehnte sich immer nach Ruhe, war aber doch im Grunde genommen eine ganz ruhelose Natur. Viel, viel zu abenteuerlustig, wenn sie selbst auch nichts davon wissen wollte. Da verstehe ich die Menschen aber besser zu durchschauen. Sich die Laube selbst zu zimmern, ein paar Bohnen zu stecken und Gemüse zu pflanzen und das Zeug wachsen zu sehen, sich die Höhle immer wohnlicher einzurichten — ja, das hatte ihr Spaß gemacht, aber da nun alles so weit in Ordnung war, wurde ihr die Geschichte langweilig. Und nun gar etwa die Ackerbauwirtschaft in größerem Maßstabe betreiben! Auch der Larifari mit den Lemuren hatte schon längst allen Reiz verloren, zumal diese nichts mehr von sich hören und sehen ließen, nichts Neues mehr entdeckt wurde.
Was mich betrifft, so wollte ich immer noch mit einem Unterseeboote nach dem Tschadsee, um zu ergründen, wo jährlich die 30 Kubikkilometer Wasser verschwinden, denn nach dem Afrikaforscher Nachtigall hat der Tschad jährlich mindestens 100 Kubikkilometer Zufluss, höchstens 70 verdunsten, einen sichtbaren Abfluss hat er nicht. Jedenfalls also hat er unterirdisch einen mächtigen Abfluss. Und das zu ergründen muss doch höchst interessant sein, wozu ich mit einem Unterseeboot in der besten Lage war. Ich wollte nur noch abwarten, wie diese Geschichte hier verlief, denn einmal musste hier etwas zum Abbruch kommen, und das konnte gar nicht mehr so lange dauern.
So stand die Sache, als alle gähnten und sich erhoben.
»Ja, da wollen wir den Mais abschneiden.«
Aber in die Hände spucken tat noch keiner. Da klingelte es wieder einmal in irgend einer Tasche. In der meinen nicht. Ich führte so ein Ding wie eine Telefonuhr niemals bei mir, um eben nicht egal angeklingelt und angefragt zu werden.
Die Gräfin war es, die ihre zog.
»Hier Atalanta, wer dort?«
Wir hörten eine quäkende Stimme, weiter nichts. Jedenfalls der Vorarbeiter der Japaner, die trotz der mächtigen Hitze nach einer nur kurzen Mittagspause schon wieder auf dem Felde arbeiteten, als ob sie's bezahlt bekämen, denn ich glaube gar nicht, dass sie Lohn dafür erhielten.
»Ich soll an ein großes Telefon kommen!«, sagte die Gräfin und verschwand im Kajüteneingang.
»Bleiben Sie noch hier?«, fragte mich Littlelu.
Denn ich war der einzige, der sich nicht erhoben hatte.
»Gewiss doch, bei so einer Hitze beißen keine Fische an.«
Denn ich war auch der einzige, der nicht etwa bei den Erntearbeiten mitmachte. Fiel mir ja gar nicht im Traume ein! Ich vertrieb mir noch immer die Zeit mit Angeln und studierte die Süßwasserfische.
»Ja, Sie haben's gut!«, seufzte Littlelu, sich dehnend und wieder gähnend.
»Na, warum können Sie es denn nicht auch so gut haben?«
»Weil — weil — weil es sich nicht schickt, jeder, wer kann, muss Hand anlegen bei den Erntearbeiten.«
»Hände habe ich auch, aber Sie werden mich nicht lehren, was sich schickt!«, entgegnete ich, der ich von meiner offenen Freimütigkeit, was man auch kurz Grobheit nennt, noch nichts eingebüßt hatte.
»Es ist wirklich noch zu heiß, wir wollen noch ein Viertelstündchen warten!«, meinte auch Graf Felsmark, setzte sich wieder, ließ sich noch eine Tasse Kaffee einschenken, brannte sich eine frische Zigarre an, und alle anderen folgten seinem Beispiele.
Nicht lange, so wurde auch Mephistopheles angeklingelt, die Gräfin rief ihn zu sich an das große Telefon. Niemand achtete darauf. Man war diese Klingelei schon gewohnt, alles gab sich wieder dem Dolce far niente, dem süßen Nichtstun hin.
Da kam die rote Gräfin wieder. Aber so eine ganz waschechte Indianerin war das nicht mehr, man sah es ihr gleich an, dass irgend etwas Besonderes vorgefallen sein musste.
»Arno! — Meine Herren! — Alles sofort einpacken, wir müssen die Insel verlassen!«
Hallo, das freilich brachte Leben in die faule Gesellschaft.
»Weshalb denn?«
»Weiß ich noch nicht. Sofort ausziehen! Höherer Befehl!«
»Von den Mahatmas?«, fragte der Graf.
»Ja. Außerdem aber habe ich eine Einladung erhalten, mir ist schon eine neue Heimat angeboten worden. Ist jemand näher in Mexiko bekannt? Wer kennt Christoffera, eine Stadt mit 30 000 Einwohnern, in der Sierra Madre, am Hulkopotltitetl gelegen?«
Niemand kannte diese Gegend. Nur ich horchte hoch auf, Wie ich früher ausführlich berichtet, hatte ich acht Semester Philologie studiert und bei dieser Gelegenheit meine Nase auch einmal ins Altamerikanische gesteckt.
»Hulkopotltitetl?«, wiederholte ich. »Wissen Frau Gräfin, was das heißt?«
»Nein.«
»›Hulko‹ heißt der Sklave, ›potl‹ der See und ›tetl‹ das Tal: ›Sklavenseetal‹. Da aber das eingeschaltete ›ti‹ den Genetiv ausdrückt, so heißt das Ganze ›Tal des Sklavensees‹.«
Da freilich machte die Indianerin ein grenzenlos überraschtes Gesicht.
Und dazu hatte sie ja auch allen Grund.
An einem Sklavensee, der ihr Besitz war, hatte der Roman ihres Lebens begonnen. An einem Sklavensee im asiatischen Libanon(1) hatte sie den Gatten verloren, auch nur vorübergehend. An einem afrikanischen Sklavensee, dort auf der Sumpfinsel, hatte sie ihn wiedergefunden.
(1) Im Originaltext steht statt ›Libanon‹ die zwar ähnlich klingende, aber falsche Ortsangabe ›Lybien‹; dies (richtig allerdings ›Libyen‹) liegt in Nordafrika.
Das war nun der vierte Sklavensee, nach dem sie eine Einladung erhielt.
Ich überspringe alles Nebensächliche.
Dreizehn Tage später kroch unser Zug, dem wir uns in Mexiko, das heißt in der Hauptstadt, anvertraut hatten, durch den letzten Tunnel, der in das Tal mündete, in dem Christoffera liegt.
Der Graf hatte für uns gleich zwei Pullman'sche Luxuswagen gemietet, mit Küche, Bad und Pianoforte. Aber nicht als Graf Arno von Felsmark. Wir alle gingen unter anderen Namen. Ich hatte den schönen Namen Quisy Fairfax bekommen, in meinen Papieren stand, dass ich ein englischer Rentier sei, ehemaliger Großindustrieller. Woher diese Papiere stammten, weiß ich nicht, habe nicht danach gefragt. Ich kümmere mich um nichts, was mich nichts angeht. Übrigens: Wer für fünf Tage gleich zwei Pullman'sche Salonluxuswagen mietet, der braucht gar keine Papiere zu haben, den fragt man gar nicht nach dem Namen.
Auch die beiden Australier waren von der Gräfin eingeladen worden und waren mitgekommen. Mephisto dagegen war mit seiner schwarzen Bande und den Japanern noch auf der Insel zurückgeblieben. Weshalb, weiß ich nicht. Und unterwegs erfuhr ich auch nichts weiter, als dass der Mann, der uns eingeladen hatte, Don Manuelo Christoffero hieß, dass nach ihm die Stadt Christoffera benannt worden war. Wen sollten wir denn auch fragen. Wir hatten einen schwarzen Koch und zwei Diener schon in Acapulco, wo wir das Land betraten, gemietet, die hatten noch gar nichts von einer Stadt Christoffera gehört. Der Graf und die Gräfin hielten sich sehr separiert, oder eigentlich waren wir es, die wir uns ihnen nicht näherten. Unter dem »wir« verstehe ich Littlelu, Wilhelm Neumann und mich; denn wir drei haben fünf Tage und Nächte lang, wenn wir nicht schliefen, Skat gedroschen, das Essen nur so nebenbei verschlungen.
So ging es durch alle die mexikanischen Gebirge. Immer bergauf gekeucht und bergab gesaust, durch Hunderte von Tunnels. Erst als die Sierra Madre kam, wir uns also unserem Ziele näherten, warfen wir Skatspieler ab und zu einen Blick durchs Fenster.
Sierra Madre, die Bergmutter, die Mutter der Berge, Ja, Himmeldonnerwetter, das ist ein Gebirge! Imposant oder malerisch sieht es allerdings nicht aus. Mit unseren Alpen gar nicht zu vergleichen. Alle höheren Berge fehlen, nämlich weil das ganze Gebirge ein einziger Felsblock von 4 bis 5000 Meter Höhe ist, nur von Schluchten und Tälern durchbrochen, in denen tropische Vegetation wuchert, während oben allüberall ewiger Schnee liegt.
»Sie, Hagen, das wäre so etwas«, meinte Littlelu einmal, »hier so eine Besitzung haben mit einem Aufzug dort oben hinauf. Unten wohnt man unter Palmen, und wenn's einem zu heiß wird, dann rutscht man schnell hinauf und jagt Eisbären.«
»Ich spiele aus mit Schippen-Ass!«, versetzte ich.
Nun also krochen wir durch den letzten Tunnel und befanden uns beim Herauskommen auch gleich mitten drin in der Stadt, oder nein, mitten drin nicht. Es war ein spitzer Talkessel, in dem die Stadt lag, nach Süden geschlossen, wie eine Zipfelmütze geformt, und zunächst fuhren wir noch an der Felswand entlang, etwas erhöht, aber schon so nahe der Stadt, die sich ja nicht mehr verbreitern konnte, dass wir auf die nächsten Häuser spucken konnten.
Übrigens eine ganz respektable Stadt. Großartige Gebäude. Diese Paläste! Hier konnten nicht viele arme Leute wohnen.
Ebenso prunkvoll und architektonisch schön war der Bahnhof, in den wir einliefen, von dem ich aber nicht viel zu sehen bekam.
»Machen Sie sich fertig, meine Herren!«, sagte der in unser Abteil eintretende Graf. »Aber ein paar Minuten haben wir noch Zeit. Wir steigen hier noch nicht aus, unser Wagen wird rangiert, wir fahren gleich in das Haus des Don Christoffero hinein.«
»Oho, gleich direkt ins Haus?!«, rief Littlelu.
»Jawohl, direkt in die Wohnung hinein, in seinen Palast. Na, wenn jemandem eine ganze Stadt gehört, da kann er wohl auch eigenen Gleisanschluss haben. Alles, was Sie hier sehen, gehört dem Don Christoffero, alles hat er nur verpachtet. Sogar das Rathaus ist sein Eigentum. Sehen Sie dort das prächtige Gebäude mit der Kuppel? Das ist das Theater. Jetzt hat der Don für einige Tage ein spanisches Ballett engagiert, eine berühmte Truppe, aus mehr als hundert Mädeln bestehend —«
»Doch nicht etwa auch solche magnetelektrische Puppen mit Quecksilber in den Holzgliedern?«, warf ich ein.
»Nein, richtige Tänzerinnen aus Fleisch und Blut!«, lachte der Graf und ging wieder.
»Sie, Littlelu«, sagte ich, »da gehen wir heute Abend ins Ballett, ich will wieder mal was Lebendiges sehen.«
Unterdessen waren unsere beiden Wagen losgekoppelt worden und hatten eine besondere Lokomotive bekommen. Noch fünf Minuten ging es weiter, immer an der Wand lang, neben und etwas unter uns immer die ganze Stadt.
Dann hatten wir unser Ziel erreicht. Aussteigen! Aber bis hinein in das Haus waren wir nicht gefahren. Wohl gingen einige Schienenpaare in einen mächtigen Vorweg hinein, doch die standen schon voll Güterwagen.
So konnte ich mir erst einmal das Haus, das uns als Gäste aufnehmen sollte, von außen und seine Umgebung betrachten.
Ja, ein ganz mächtiger Steinkasten war es, was da dicht an der Felswand klebte. Aber wenn man das einen Palast nannte, dann darf man jedes Fabrikgebäude so nennen. Es machte überhaupt mehr den Eindruck eines Lagerhauses. Überall waren Fässer und Kisten aufgetürmt, vier Güterwagen waren mit Häuten beladen, sodass ich an eine Gerberei glaubte.
Und wenn dieser Don Christoffero der Besitzer des ganzen Tales war, so hatte er für seinen »Palast« gerade den allerschlechtesten Platz ausgesucht. Ganz hinten im engen Südzipfel des Tales. Es war früher Morgen, die Sonne stand noch im Nordosten, aber schon lag hier alles im Schatten. Nur von der Mittagssonne konnte höchstens das Dach getroffen werden. Und, sapperlot, wie stiegen diese glatten Felswände bis zum Himmel empor! Ein wahres Kellerloch, in dem sich der spanische Don angesiedelt hatte, während in der Stadt jetzt alles im schönsten Sonnenschein lag.
Wir mussten in eine Art Gewölbe treten, da ging der Boden auch schon hinauf. Ein Liftzug. Als dieser hielt und wir auf einen Korridor traten, da freilich bekam ich etwas von Luxus zu sehen, soweit man den schon bei einem Korridor verlangen kann. Jedenfalls aber ein prächtiger Teppichläufer, reichgeschnitzte Schränke, viele Marmorstatuen, die elektrischen Glocken wurden von künstlerischen Figuren getragen.
Eben ein reicher Krämer, dachte ich mir, der hier in seinem Lagerhause gleich wohnt, der vielleicht seinen Park und Garten anderswo hat. Denn während ich in der Stadt selbst genug grüne Plätze und Baumalleen und schöne Gärten erblickt hatte, hier in der Umgebung dieses düsteren Steinkastens gedieh kein Grashälmchen.
Eine Schar betresster Diener nahm uns in Empfang, wir wurden isoliert, ich in ein Prunkzimmer geführt, dessen beide Nebentüren offen standen, ein Schlafzimmer mit üppigem Himmelbett und eine luxuriöse Badeeinrichtung zeigten.
»Darf ich dem Herrn beim Auspacken helfen?«
»Mir ganz egal.«
»Es wird in diesem Hause mehr englisch gesprochen.«
»Also englisch.«
»Haben der Herr Wünsche?«
»Meine Koffer.«
Sie kamen bereits herein.
»Darf ich dem Herrn beim Auspacken behilflich sein?«
»Es ist nicht nötig, danke sehr!«, konnte auch ich höflich sein, gerade gegen solch einen dienstbaren Geist.
»Dem Gaste des Don Christoffero steht Tag und Nacht das ganze Haus zur Verfügung. Diese Klingel ruft mich oder einen anderen Diener. Dies ist das Haustelefon, die verlängerten Drähte gehen überall hin, Sie können auch vom Bett oder Badezimmer aus sprechen — dieses Telefon ruft das Fernsprechamt. Bad und alles ist in Ordnung.«
Eine Verbeugung, der glattrasierte Geist wollte verschwinden.
Mir gefiel diese kurze Höflichkeit.
»He, Freund!«
»Herr?«
»Wie heißen Sie?«
»Jordan — Fritz Jordan — werde hier im Hause Fritz gerufen.«
»Fritz Jordan?! Sie sind wohl ein Deutscher?!«
»Jawohl, mein Herr. In diesem Hause ist fast alles deutsch.«
»Wie kommt denn das?«
»Don Christoffero ist zwar eingeborener Mexikaner, stammt aber von deutschen Eltern, heißt eigentlich auch Christoph und will nur so angeredet sein, ist auch sonst ganz deutsch.«
»Es ist gut.«
Mehr wollte ich diesen Diener nicht über seinen Herrn fragen, und vor allen Dingen ärgerte ich mich schmählich über mich selbst, dass ich mich hier für so einen englischen Fairfax ausgab.
So stand ich noch ärgerlich da, als es schon wieder klopfte.
»Come in!«
Ein Herr im Sportanzug trat ein.
Der guckte mich an, ich guckte ihn an.
»Karl, bist Du's denn wirklich?«
»Emil!!«
Er war nicht gerade klein, ging mir aber doch nur bis zur Schulter, und so hob ich ihn an meine Brust.
Über meinen Werdegang habe ich dem Leser ja schon berichtet. Emil Gerbracht war von klein auf mein bester Freund gewesen, mein einziger. Ganz gleiche Charaktere. Wir beide hatten auf dem Ententeiche Seeräuber gespielt und im benachbarten Busche Indianer. Während ich aber wie alle Hagens Schulmeister werden musste, war Emil von vornherein zu einem abenteuerlichen Berufe bestimmt gewesen. Sein Vater war Ingenieur in Staatsdiensten, sein Junge sollte auch Ingenieur werden, aber nicht so ein Beamter, wenigstens erst einmal sollte er hinaus in die Welt, wo in Wildnissen Eisenbahnstränge gelegt und Brücken geschlagen werden.
Wir hatten zusammen auch die Universität bezogen, hatten auf einer Bude gewohnt. Ich bekam von zu Hause ja überhaupt nichts, mein Vater war doch ein Schulmeisterlein, wie gesagt, ermöglichte doch nur mein Onkel, der Schiffskapitän, mein Studium, aber knapp war es immer bei mir, während Emil einen reichlichen Monatswechsel bekam, den er mit mir so gut wie teilte. Es ging alles aus einer Kasse. Wir beide studierten Philosophie. Das ist nun allerdings ein weiter Begriff. Ich als zukünftiger Oberlehrer trieb hauptsächlich Philologie, Sprachwissenschaften, er als späterer Ingenieur Mathematik. Aber davon muss doch auch der Oberlehrer etwas kennen, ich fühlte mich überhaupt dazu hingezogen, denn die Vorlesungen können doch ganz nach Belieben gewählt werden — so hörte auch ich zwei Semester Mathematik, saß neben Emil. Und dann trieb ich mit ihm zusammen auch ein halbes Jahr praktische Nivellierkunst.
Als ich dann nach dem Tode der Mutter noch als einundzwanzigjähriger cand. phil. als Schiffsjunge zur See ging, bezog Emil noch ein Polytechnikum. Wir hatten beim Abschied viele Pläne gehabt, wollten uns wieder treffen, aber es war nichts daraus geworden. Nur so nebenbei erfuhr ich manchmal, dass Doktor Emil Gerbracht in Ägypten, im Sudan und in Zentralasien nivellierte und ein Heidengehalt bekam. Zuletzt war er in Amerika gewesen, im Indianerterritorium, immer für eine englische Gesellschaft.
»Junge, Junge, Junge, Junge!! Emil!! Wo hast Du denn Dein linkes Ohr gelassen?«
»Das hat mir ein Pawnee-Indianer abgeschnitten, hat sich's an seine Uhrkette gehängt.«
»Was hast Du denn da oben Glänzendes auf Deinem Kopfe?«
»Eine silberne Platte. Da hat mir einmal ein Neger den Schädel eingeschlagen. Aber das Silber hat nur meine Denkkraft befördert.«
»Und alle Deine zehn Finger hast Du och nich mehr? Nur noch achte?«
»Den hier hat mir ein Kurde abgeschossen, den da ein Sudanese abgebissen.«
»Aber sonst geht's Dir gut?«
»Famos!«
Emil blickte sich einmal um.
»Du, Karl«, fing er dann mit gedämpfter Stimme an, »dass wir erst die Hauptsache erledigen — ich weiß, in wessen Begleitung Du kommst — ich weiß noch viel mehr — ich bin ein intimer Vertrauter des Ewigen — aber es darf kein Wort darüber gesprochen werden. Du erzählst mir nichts, ich frage nichts. Verstanden?«
»Well. Du meinst, Du bist ein intimer Vertrauter vom lieben Gott? Ich gratuliere.«
»Vom lieben Gott? Du faselst wohl. Den Ewigen meine ich.«
»Na ja, ist das nicht der liebe Gott?«
»Den Don Christoffero meine ich. Weißt Du noch nicht, dass der hier allgemein ›der Ewige‹ heißt?«
»Ist mir unbekannt.«
»Aber sonst hast Du doch schon von ihm gehört?«
»Gar nichts.«
»Gar nichts?«
»Absolut nichts.«
»Aber Du weißt doch, wo Du hier bist?«
»In Christoffera bin ich. Mehr nicht. Habe noch niemals etwas von dieser Stadt gehört.«
»Du weißt nicht, was hinter dieser Felswand ist?«
»Zum Teufel, Emil, willst Du mich foppen?! Gar nichts weiß ich, sage ich Dir!«
Emil blickte mich an, und er kannte mich doch.
»Famos!«, sagte er dann händereibend. »Dann will ich auch der erste sein, der Dir die Überraschung bereitet. Wenn Du aber ins Heiligtum gelangen willst, so musst Du in den Diensten des Ewigen stehen, wenn es auch nur eine Förmlichkeit ist, weil fremde Gäste absolut keinen Zutritt haben. Du bist doch frei?«
»Ganz frei.«
»Stehst in keinen anderen Diensten, meine ich?«
»Nein. Bin gegenwärtig frei wie der Vogel in der Luft.«
»Na, na, wenn man verheiratet ist, darf man nicht mehr so sprechen.«
»Was, verheiratet?!«, staunte ich.
»Du bist doch verheiratet!«
»Emil, bei Dir piept's wohl?! Ich und heiraten!«
»Dann bin ich falsch unterrichtet worden —«
»Den Kerl, der Dir das erzählt hat, den bringe mal her, und er mag sich solch eine silberne Schädelplatte nur gleich vorher bestellen.«
»Gut, also nicht. Desto besser. Kannst Du noch nivellieren?«
»Ich denke doch.«
»So werde ich Dich als Vermessungsbeamten engagieren. Es ist, wie gesagt, nur der Form wegen. Aber da musst Du erst vor den Ewigen, der macht alles aus. Du sprichst mit ihm deutsch, redest ihn einfach Herr Christoph an. Und nun sage ich Dir gleich: Du lernst einen wunderbaren Kauz kennen. Ein Original durch und durch. Steckt voller Schrullen. Aber ein Prachtmensch! Ist schon über achtzig Jahre alt, aber noch ganz wie ein Jüngling —«
»Alle Wetter!!«
»Ja, das ist es eben, deshalb heißt er auch der Ewige. Einfach nicht tot zu bekommen. Das Herz macht es! Und denke nicht etwa, dass er kindisch ist. Der hat noch den durchdringendsten Verstand. Nur eben voller Schrullen. Für den ist das ganze Leben eine lustige Komödie. Denn es gibt auch traurige Komödien. Na, Du wirst ihn schon kennen lernen. Also ich melde Dich an. Und unterdessen — Du, Karl, seit wann hast Du Dich nicht mehr gewaschen?«
»Nu — heute morgen noch nicht.«
»Ich dachte, seit letzte Weihnachten nicht. Du siehst ja entsetzlich schmierig aus. Willst Du erst ein Bad nehmen?«
»Meintswegen.«
»Wie lange brauchst Du, um Deinen langen Leichnam abzuwaschen?«
»Zehn Minuten.«
»Sagen wir lieber eine halbe Stunde. Also in einer halben Stunde wirst Du abgeholt. Hast Du schon gefrühstückt?«
»Heute früh um fünf, als die Sonne aufging. Nicht viel, nur einen halben Schinken, kaum zwei Pfund.«
»Dann hältst Du es aus —«
»Das weißt Du doch nicht!«
»Ja, ja, ich kenne schon Deinen unheimlichen Magen. Aber wir frühstücken dann noch einmal zusammen. Also in einer halben Stunde wirst Du abgeholt. Jetzt ist es —«, Emil blickte nach der Wanduhr, deren großer Zeiger elektrisch minutenweise hüpfte, »drei Minuten nach sieben. Drei Minuten nach halb acht klopft ein Diener, der Dich zum Ewigen führt.«
»Ich werde fertig sein.«
»Den derben Sportanzug kannst Du anbehalten, sieht anständig genug aus, dann später wirst Du Dich sehr bald verändern.«
Emil war gegangen, ich ließ Wasser in die Marmorwanne, entkleidete mich und gab mich dem Behagen eines lauwarmen Bades hin, ohne viel an das zu denken, was noch kommen sollte. Das mache ich nicht, so etwas kommt ja von ganz allein — — oder es kommt eben nicht oder doch ganz anders, und dann hat man seinen Gehirnkasten vergebens angestrengt.
Dann zog ich langsam frische Wäsche an, und als ich fertig war, hüpfte der große Zeiger gerade auf die dritte Minute nach halb, und in demselben Augenblick klopfte es auch.
Diese Pünktlichkeit war nun wieder etwas, was mir sehr imponierte.
Der Diener führte mich durch einige Korridore, auch ein Liftzug musste benutzt werden, und ich stand in einem kleinen Salon vor dem »Ewigen«.
Ein kleiner, feiner, zierlicher, patenter alter Herr, ganz schwarz gekleidet, Frackrock, nur weiße Weste, Glanzstiefelchen, weiße Glacéhandschuhe, das kurze Haar so schneeweiß wie die Wäsche. Das glattrasierte Gesicht voll tausend Fältchen, nicht eigentlich Runzeln, und so tief gebräunt, dass man ihn, wenn er sich nicht täglich in der Sonne schmoren ließ, für einen Spaniolen gehalten hätte, wenn seine Augen nicht vergissmeinnichtblau gewesen wären, und diese Augen blickten wirklich noch scharf und sogar feurig wie die eines Jünglings — der auch wirklich noch Jugendfeuer in sich hat! Es gibt auch andere Jünglinge.
Alles ganz Würde. Sehr steif. Jede Bewegung abgezirkelt.
»Herr Kapitän Hagen? Der sind Sie für mich. Emanuel Christoph. Ihr Freund, Herr Doktor Gerbracht, hat mir von Ihnen erzählt. Sehr angenehm, was ich über Sie gehört habe. Bitte nehmen Sie Platz.«
Wir setzten uns.
Der sollte voll Schrullen stecken? Da war ich doch gespannt.
»Ehem — Sie wünschen in meine Dienste zu treten?«
»Ja.«
»Dieses ›Ja‹ gefällt mir. Sie sind angenommen. Sie können nivellieren?«
»Ja.«
»So stelle ich Sie als Vermessungsbeamten an. Sie stehen unter dem Kommando von Herrn Doktor Gerbracht. Ja, unter dem Kommando. Bei mir geht nämlich alles militärisch zu. Nach preußischem oder jetzt deutschem Muster. Ansehen der Person gibt es dabei nicht. Jeder muss von unten anfangen. Also was sind Sie jetzt?«
»Soldat.«
»Gut. Was für ein Soldat?«
»Das kommt auf die Gruppe an, der Sie mich zuteilen.«
»Ob Sie jetzt schon General sind, meine ich?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Gemeiner.«
»Jawohl, ein ganz und gar Gemeiner!«
Dabei aber blieb der alte Herr in seiner vollkommenen Würde. Doch nun sah ich ja die Schrullen schon hervorkommen.
»Was ist Ihre nächste Frage?«
»Wie viel ich für meine Dienste bekomme.«
»Richtig! Aber das könnten Sie sich selbst beantworten. Wie viel bekommt der gemeine Soldat?«
»Täglich 22 Pfennige.«
»Und das bekommen Sie auch. Natürlich Station. Was Sie zu beanspruchen haben, wissen Sie doch. Bei mir gibt's früh zum Kaffee auch Zucker. Genügt Ihnen das?«
»Nee.«
»Dieses ›Nee‹ gefällt mir. Ich ernenne Sie hiermit zum Unteroffizier. Im Monat dreißig Mark. Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Desto besser, Herr Sergeant. — Können Sie, schießen?«
»Ja.«
»Also, Herr Feldwebel — es steht Ihnen dort, wohin Sie geführt werden, alles frei. Nur einige Gebiete wird Ihnen Herr Doktor Gerbracht als gesperrt bezeichnen. Diese dürfen Sie nicht betreten. Wie groß sind Sie, Herr Leutnant?«
Na, mein Avancement ging ja schnell vor sich! Und dazu bekam ich doch auch natürlich immer das entsprechende Gehalt.
»Ein Meter sechsundneunzig.«
»Mit oder ohne?«
»Ohne Strumpf und Schuh!«, verstand ich die Frage sofort.
»Sehr gut geantwortet, Herr Oberleutnant!«, lobte und beförderte er mich denn auch gleich. »Nun lassen Sie einmal sehen, wie lang Ihr —«
Er zog aus der Brusttasche einen Zollstock hervor, stand auf, legte ihn mir an den Kopf, schien bis zur Mitte des Halses zu messen.
Noch ahnte ich nicht, was er vorhatte.
»Wollen wir 27 Zentimeter sagen, vom Scheitel bis zum Hals. Ein Meter 96 beträgt Ihre Gesamtlänge? Herr Hauptmann, sobald Sie einmal solch ein gesperrtes Gebiet betreten, beträgt Ihre Gesamtkörperlänge nur noch ein Meter 69. Verstanden?«
Ich genierte mich nicht, einmal herzlich zu lachen. Diese Umschreibung, wie man einen Kopf kürzer gemacht wird, war ja sehr originell!
»Haben Sie mich verstanden, Herr Major?«
»Ja, Herr Christoph.«
»Gut, Herr Oberstleutnant. Also Sie können auch schießen?«
»Ja.«
»Auch treffen?«
»Ja.«
»Womit können Sie schießen?«
»Mit Büchse und Revolver.«
»Was können Sie damit treffen?«
»Das, worauf ich ziele.«
»Sehr gut gesagt, Herr Oberst. Aber mit dem Sagen allein ist es noch nicht getan.«
Er ging an einen Wandschrank, nahm ein zierliches Tesching heraus und lud es mit einer Patrone.
»Genaues Korn und Druckpunkt nehmen. Verstanden?«
»Zu Befehl.«
»Dann schießen Sie mir mal hier den Dollar aus den Fingern heraus.«
Er gab mir das Tesching, ging an das andere Ende des Salons, hatte dreizehn Schritte getan, gerade nach einem großen Wandspiegel, dort drehte er sich um, streckte Arm und Hand aus, zwischen deren Fingern er einen Dollar hatte.
»Also gestrichenes Korn —«
Ich hatte schnell das Gewehr hochgerissen und losgeknallt.
Der Silberdollar war aus den Fingern verschwunden.
Der große Wandspiegel aber ebenfalls.
Oder war doch nicht mehr als Spiegel zu gebrauchen.
Aber da wird doch das gesunde, tiefgebräunte Gesicht des alten Herrn plötzlich ganz aschgrau, und dementsprechend blickt er mich an, und mit einem Male spricht er einen ganz besonderen deutschen Dialekt.
»Sie sein wohl halb verrickt?! Sie sind wohl meschugge, dass Sie nach dem Dollar zwischen meinen Fingern schießen, ohne das Gewehr irgendwie zu kennen?! Ich hawwe doch nur Schbaß gemacht!!«
So, hatte er? Das hätte er eher sagen müssen. Ich hatte nach preußischem Militärmuster einfach gehorcht und geschossen.
Doch jener erwartete so eine Erklärung gar nicht, hatte sich sofort wieder von seinem ersten Schreck erholt, hob den Dollar auf —
»Akurat in der Mitte!«, nickte er befriedigt, dem zerschossenen Wandspiegel schenkte er gar keinen Blick, ging auf mich feierlich zu, nahm unterwegs aus einer Tischschublade einen mächtigen goldenen Ordensstern, freilich nur aus Pappe, wie ich merkte, klatschte ihn mir gegen die Brust, klatschte wirklich recht kräftig, ehe er ihn mit einer Stecknadel anheftete, und dazu sagte er ebenso feierlich:
»Herr Kapitän Karl Hagen von Buffalo, ich erhebe Sie hiermit in den erblichen Adelsstand, mit der Berechtigung, sich nach Belieben mit dem harten P oder mit dem weichen B zu schreiben, und ernenne Sie gleichzeitig zum kommandierenden General der Infanterie, Kavallerie, Artillerie und der Luftballonflotte. So, nun gehen Sie mit Gott und melden sich bei Ihrem Freunde zur Stelle.«
Der kommandierende General Herr von Buffalo, der so gut puffen konnte, ging.
»He, Herr Graf von Buffalo, kommen Sie doch noch einmal her.«
Ich ging zurück.
»Noch ein wichtiges, wichtiges Geheimnis, das ich Ihnen nur ins Ohr sagen darf. Bitte, bücken Sie sich doch ein bisschen.«
Der Graf von Buffalo bückte sich — tief, sehr tief.
Und der kleine Mann legte die Hände trichterförmig vor den Mund, reckte sich auf den Spitzen seiner Lackstiefelchen empor, und so flüsterte er mir ins Ohr:
»Noch eins, Herr Herzog, regieren Sie sich keinen Bruch!«
Dann war ich draußen, Und draußen stand schon Emil.
»Na, wie war's? Hat er Dich — he hoooh, was spuckst Du mich denn an?!«
Ich war ihm nämlich von oben herab ins Gesicht geplatzt.
Während wir durch einige menschenleere Korridore schritten, berichtete ich ihm kurz.
»Ja, so ist er immer. Aber immer wieder etwas Neues, das muss man ihm lassen. Und, denke nicht etwa, dass der kindisch ist, sogar mit solch einem Unsinn verfolgt er einen bestimmten Zweck —«
»O, ich verstehe recht gut, was der parodierte!«
»Ja, das ist es! Ach, da ist einmal so eine englische Gesellschaft zu ihm gekommen, lauter Aristokraten, die wollten bei ihm — nein, ich darf es nicht erzählen, ein andermal. Was der mit denen ausgestellt hat! Aber dass das ihm mächtig imponiert hat, wie Du ihm den Dollar aus den Fingern geschossen hast, das glaube ich wohl! Das kannst Du also immer noch? Teufel aber, das hätte ich nicht gewagt, mit einem Gewehr, das ich gar nicht kenne! Nun nimm erst mal die goldne Pappe von Deiner Heldenbrust.«
Ein Fahrstuhl brachte uns wieder in die Tiefe hinab. Wir kamen in einen langen Gang, den ich gleich als einen in den Felsen gehauenen Tunnel erkannte, elektrisch erleuchtet, sehr breit, mit zwei Doppelschienen, ein ganzer Eisenbahnzug kam uns entgegen, dem man aber bequem ausweichen konnte —
»Wo kommt der her?«
»Ruhig, Junge, Du wirst alles erfahren!«
Dann kam Wasser, aber immer nur in dem Tunnel. Ein Frachtboot wurde ausgeladen.
Auch noch andere Fahrzeuge lagen da. Emil sprang in ein kleines Motorboot, winkte mir, ich ihm nach und fort ging es.
Dort hinten schimmerte das Tageslicht. In zwei Minuten waren wir im Freien.
Eine weite, weite Bucht, in der es von Fahrzeugen aller Art wimmelte, vom kleinsten Grönländer an, in dem man nur mit größter Vorsicht aufstehen darf, bis zu Schiffen von 40 Meter Länge.
Schiffe, sage ich. Sie waren noch kastenähnlicher und noch flacher gehend als die Elbdampfer. Es waren richtige Archen. An allen bemerkte ich gleich, dass sie durch seitlich angebrachte Röhren, aus denen mit großem Druck Wasser ausströmte, getrieben und gelenkt wurden, ohne dass ich irgendwie an unsere Luftboote dachte, hier etwa eine Verbindung suchte.
Diese Fortbewegung durch Druckwasserröhren wird jetzt in Amerika immer mehr eingeführt, besonders auf flachen Gewässern, oder solchen, die viel mit Wasserschlingpflanzen bedeckt sind. Es gibt ja auch gar nichts Praktischeres, diesem einst verworfenen System gehört noch die Zukunft.
Vor allen Dingen aber staunte ich diese himmelhohen Felsen an, wie die mit so ganz glatten Wänden die weite Bucht einrahmten! Ein wunderbarer Anblick!
Die Bucht hatte zwei schmalere Eingänge, Tore wollen wir sagen, wenn diese auch oben offen waren. Zum einen kamen die Fahrzeuge herein, zum anderen fuhren sie hinaus. Doch war das Leben gar nicht so schlimm; die meisten Fahrzeuge lagen an dem künstlich gemauerten Ufer festgemacht.
Wir fuhren hinaus und —
O, dieser Anblick! Ich kann ihn nicht beschreiben.
Lauter Wasser und dazwischen überall tropische Vegetation, die herrlichsten Südfruchtbäume, Bananen, Urwald mit wunderbar blühenden Schlingpflanzen, blumige Prärien und —
Nein, ich will es nicht zu schildern versuchen. Es kann nur nach und nach geschehen.
»So, mein Junge, nun lass Dir erklären!«, begann Emil, während er sein leichtes Motorboot dahinschießen ließ. »Du befindest Dich in einem Tale, das ringsum von jähen, mindestens 4000 Meter hohen Basaltwänden eingeschlossen ist.
Dieses Tal ist fast genau rechteckig, ungefähr vier geografische Meilen lang und zweieinhalb breit.
Es hat keinen anderen Ein- und Ausgang als den Tunnel, den wir passiert haben.
Wohl aber hat es einen mächtigen Zufluss, im nordöstlichen Zipfel, der aber unterirdisch ist, und unterirdisch fließt das Wasser an der Westseite auch wieder ab.
Das ganze Tal wäre ein einziger See, wenn es nicht mit sehr vielen großen und einfach zahllos kleinen Inseln und Inselchen durchsetzt wäre.
Auch alle die großen Inseln sind mit Wasserläufen durchzogen, mit Ausnahme der Pferdeinsel, worüber wir noch später sprechen werden.
Ich fahre jetzt nach Süden, und nun passe vor allen Dingen auf, wie sich die Vegetation nach und nach ändert. Das ist das Interessanteste dabei. Vorausgesetzt, dass es hier irgend etwas gibt, was nicht immer wieder das Interessanteste wäre.
Die verschiedenen Floraregionen kommen daher, weil der starke Zufluss sehr warm ist, 25 Grad. Dieser warme Strom schlängelt sich an der Nordküste entlang und erhält immer neue warme Zuflüsse, sogar kochend heiße Quellen, sodass im nördlichen Teile immer ein feuchtwarmes Klima herrscht.
Außerdem ist es schwarzer Basaltfelsen, gegen den dort am Nordrand den ganzen Tag die Sonne brennt. Das tut auch viel mit, denn sonst wäre es gar nicht möglich, dass hier solch eine tropische Flora gedeihen könnte. Denn wenn wir auch so ziemlich auf dem Wendekreis liegen, so befinden wir uns doch schon 800 Meter über dem Wasserspiegel.
Daher aber auch wieder trotz der feuchten Wärme das ungemein gesunde Klima.
Im Gegensatz dazu entspringen auf der im ewigen Schatten liegenden Südseite zahlreiche kalte Quellen, zum Teil eiskalte, das Wasser immer ganz nahe dem Gefrierpunkte. Das macht, weil dort der ewige Schnee, der dort oben liegt, immer herabsickert. Auch Eisschollen kommen genug vor, wir haben sogar eine richtige Eisgrotte, wir haben hier überhaupt alles, was Du Dir nur denken kannst.
Nun will ich Dir erst berichten, wie Don Manuel Christoffero in den Besitz dieses Tales gelangte.
Vor fast hundert Jahren ging Michel Christoph, ein biederer Schwabe, aber auch ein ganz verwegener Bruder, nach Amerika, nach Mexiko, um Gold zu suchen. Das gab es damals nur in Peru oder Mexiko zu finden, an Kalifornien dachte man noch gar nicht.
Sein spezielles Gebiet war hier die Sierra Madre. Er hat aber wohl mehr gejagt, seiner Abenteuerlust gefrönt, als Gold gesucht. Als dann die Kolonisation immer stärker betrieben wurde, nahm er auch an den politischen Wirren teil. Er hatte alles mitgemacht, Anarchie und Konföderation und wieder Anarchie und Republik und Kaiserreich und wieder Republik. War immer der verwegenste und erfolgreichste Bandenführer, er selbst hätte leicht Kaiser oder Präsident werden können.
Später heiratete er eine Doña Manuela, die reichste Minenbesitzerin des ganzen Landes, vielleicht von ganz Amerika. Er selbst war schon im Kaiserreich zum Don Christoffero erhoben worden.
Für ein Butterbrot kaufte er von der Regierung hier dieses ganze meilenweite Gebiet. Hat ja für Mexiko auch nicht viel zu sagen, selbst auf einer sehr großen Landkarte kann man es mit der Fingerspitze bedecken. Und nun außerdem nichts als Felsen. Von diesem Tal hatte man keine Ahnung. Nur Michel wusste darum. Er hatte schon früher auf seinen Fahrten jenen Tunneleingang entdeckt, hatte dieses Tal gefunden, in dem sich die Hirsche gegenseitig erdrückt hätten, wenn es nicht auch genug Raubtiere gegeben hätte.
Dort jenseits der Felswand in dem Talzipfel gründete Michel eine Kolonie, die bald zur Stadt emporwuchs, der er seinen Namen gab. Dort drin war er der Geschäftsmann. Hier in diesem Talkessel blieb er der wilde Jäger.
Und so ist es nun auch mit seinem Sohne Manuel, der als zehnjähriger Junge hierher kam und nun schon seit siebzig Jahren hier haust, nur dass er sich nicht mehr um Geschäfte kümmert. Er hat es nicht nötig. Alle seine Minen hat er verpachtet. Was der für Einkünfte bezieht! Aber sonst ist es auch noch so, oder vielmehr erst recht so: Drüben in Christoffero hat er den höchsten Luxus, Theater und alles, was sich ein gebildeter, kunstsinniger Mann nur wünschen kann — dann kriecht er durch den Tunnel und ist in einer vollkommenen Wildnis, wie man sie heute in Amerika kaum noch findet, von brasilianischen Urwäldern etwa abgerechnet. Hier darf nicht ein einziger Schornstein rauchen, kein Telefondraht gezogen werden. Siehst Du schon, Karl, wie sich alles verändert?«
Ja, ich hatte es längst gemerkt. Sogar schon die italienische Flora mit Orangen und Pinien hatten wir hinter uns, auch schon die süße Kastanie, jetzt kam bereits die Eiche.
»Gebaut wird nichts?«, fragte ich. »Landwirtschaft, meine ich?«
»Absolut nichts!«, freute es mich ungemein zu hören. »Was wild wächst, das wächst. Es wächst ja genug. Wein und Früchte aller Art, dort oben am sonnigen Nordrande liefern Dattelwälder ungeheure Erträge, sonst aber kommt nur die Jagd in Betracht. Es werden jährlich rund 40 000 Stück Hochwild geschossen.«
»Was?«, staunte ich. »Jährlich 40 000 Stück Hochwild?!«
»Na, na, Junge, was gibt es denn da so zu staunen? Rechne es Dir doch gefälligst aus. Dieses Tal umfasst, wenn man die Buchten mitrechnet, mindestens 700 Quadratkilometer. Mehr als die Hälfte davon ist festes Land. Ich will 400 Quadratkilometer sagen. Mindestens. Nun rechne, dass auf jeden Hektar ein Hirschpärchen kommt. Wir wollen nur so ein Exempel annehmen. Das wäre bei der hier herrschenden üppigen Vegetation noch herzlich wenig. Ein Hektar könnte hier bequem sechs stattliche Ochsen ernähren. Das ist tatsächlich schon genau berechnet worden. Wir wollen aber nur zwei Hirsche annehmen, ein Männchen und ein Weibchen. Dann kämen also auf den Quadratkilometer, der 100 Hektar hat, auch 100 solche Pärchen. Bei 400 Quadratkilometern kämen also 40 000 Paare in Betracht. Jedes hat im Jahre ein Junges — also müssen im Jahre auch 40 000 Stück weggeschossen werden, wollen sich die Tiere zuletzt nicht gegenseitig auffressen, weil alles Raubzeug fehlt.
Nun stimmt die Rechnung aber insofern nicht, weil alle diese Hirscharten doch nicht in Monogamie leben. Es gibt immer viel mehr Hirschkühe, jeder Hirsch hat deren mehrere. Kurz und gut, alle drei Jahre muss unbedingt ein großes Kesseltreiben veranstaltet werden, wobei mehr als 100 000 abgeschossen werden, denn sonst vermehren sich die Tiere ins Ungeheure. Das merkt man dann auch ganz deutlich, wie sie sich schon die Weide streitig machen. Und dabei habe ich Tiere wie die Biber, die mehrere Junge werfen, noch nicht mitgezählt, vor allen Dingen die Wildschweine, die manchmal zur Plage werden können.«
»Und wer besorgt nun diese Massenjagd?«
»Es sind immer ungefähr 100 Jäger angestellt. Beim letzten Monatsappell waren 102 Mann zur Stelle. Davon 58 Rothäute, 11 Mestizen, 4 Neger, 3 Mulatten, und die anderen 26 wollen wir als Weiße gelten lassen.
Die meisten der Indianer sind vom Stamme der Choktaw, einem Jägervolk, das früher im Staate Mississippi saß. Vor ungefähr 40 Jahren sollte der Rest, noch aus 300 Köpfen bestehend, nach dem Indianerterritorium verpflanzt werden. Sie bekamen gerade sehr armselige Jagdgründe angewiesen. Da erbarmte sich Don Christoffero der Ausgestoßenen und nahm sie zu sich in sein Jägerparadies.«
»Mit Frau und Kindern?«
»Na selbstverständlich! Wo sollten die denn sonst bleiben. Es muss sogar jeder Jäger hier verheiratet sein, es ist seine Pflicht.«
»Ach nee?!«, machte ich wohl ein sehr verdutztes Gesicht.
»Ach, der Ewige hat Dich wohl gefragt, ob Du verheiratet seist, und als Du es verneintest, hast Du wohl gleich einen Orden bekommen?«, lachte Emil. »Und daraus schließt Du nun, dass er ein Weiberfeind ist, der es hier auch so hält? Nein, dazu ist dieser alte Sonderling viel zu klug. Das wäre eine schöne Geschichte, wenn hier 100 solche wilde Jäger unbeweibt hausten. Nein, jeder muss verheiratet sein, hat seine Familie bei sich«
»Und was wird da aus den Kindern?«
»Die Vermehrung ist gar nicht so schlimm. Diese Choktaws sind überhaupt von der Natur aus auf den Aussterbe-Etat gesetzt. Vor 40 Jahren hielten hier mehr als 300 Köpfe ihren Einzug, heute ist es nicht mehr die Hälfte. Familien mit drei Kindern sind sehr selten. Und mit nur zwei Kindern muss es ja schon rückwärts gehen. Es gehen aber auch genug mit einem frühzeitigen Tode ab. Die Jagd ist gar nicht so ungefährlich, wenn es auch kein einziges Raubtier mehr gibt, keine Schlange. Im letzten Monat allein sind sieben Jäger tödlich verunglückt. Zwei wurden von verwundeten Hirschen angenommen und mit den Geweihen zerfleischt, einer von einem Büffel zerstampft, einer von einem Pferd erschlagen, einer stürzte bei der Gemsenjagd ab, einem entlud sich sein Gewehr in den Magen, einer wurde von einem Lachs an der Harpunenschnur, in die er sich verwickelt, unter Wasser gezogen.
Es war allerdings ein Unglücksmonat, wenn das immer so ginge, dann wären ja bald keine Jäger mehr da.
Die Kinder der weißen Jäger bleiben bis zum sechsten Jahre bei der Mutter, dann kommen sie nach Christoffera in die Schule, dürfen dieses Tal nie wieder betreten, können ja aber von Eltern und Geschwistern immer besucht werden. Ist in ihrem 14. Jahre die Sehnsucht nach einem Jägerleben gar zu groß, dann können sie ja wieder aufgenommen werden. Aber es muss doch immer noch Ergänzung von außerhalb kommen. Der Ewige macht manchmal Reisen. Da sammelt er alte eingefleischte Trapper und Waldläufer, deren Jagdgründe zu eng werden, und bringt sie mit. O, Karl, Du sollst hier Originale kennen lernen!«
»Also nur diese 100 Jäger müssen jährlich die 40 000 Stück Wild abschießen?«
»Nur diese 100 Mann. Hier werden nicht etwa Gäste zur Treibjagd eingeladen. Hier darf kein Fremder jagen, und wenn's ein englischer Herzog oder ein russischer Großfürst ist.«
»Das dachte ich mir, und das imponiert mir! Da hätte also jeder Jäger täglich zehn Stück Wild zu schießen.«
»Allein zehn Stück Hochwild. Darunter verstehe ich Büffel, Hirsche, Rehe, Antilopen und dergleichen. Das ist sogar die Pflicht jedes Jägers. Allerdings gibt es auch Schonzeiten. Du wirst schon noch über alles unterrichtet. Nun kommen aber noch die kleineren Tiere dazu. Und das Geflügel! In dem Schilfe wimmelt alles von Wildenten und Wildgänsen, die aus diesem Talkessel gar nicht heraus können, die müssen doch abgeschossen werden. Und nun die Biber und Schweine! Jeder Jäger ist kontraktlich verpflichtet, jeden Tag allein drei Schweine abzuliefern. Und alle diese Tiere müssen abgehäutet und konserviert sein. Ich sage Dir, Karl, diese Jäger haben nicht etwa Zeit, sich ins Gras hinzuhauen oder vor dem Wigwam oder der Blockhütte zu liegen und ihre Pfeife zu rauchen! Die haben vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl und meist noch die halbe Nacht herumzuschleichen! Freilich ist das ja eben ihre Lust.«
»Konservieren müssen sie die Tiere?«
»Ja. Du wirst schon noch in alles auch praktisch eingeweiht werden, jetzt kann ich es nur theoretisch. Jeder Jäger kann sich, wenn er will, das Beste abschneiden, das andere muss er abliefern. Damit das Fleisch nicht verdirbt, muss es vorläufig etwas präpariert werden.
In dem ganzen Tale sind einige hundert Stationen errichtet, wo das geschieht. Aber äußerlich sind die nicht erkenntlich, hier wird alles versteckt, was den Eindruck der absoluten Wildnis stören könnte. Es sind große Eisenbehälter, meist in hohlen Baumstämmen untergebracht, mit einer konzentrierten Salzlösung gefüllt, hoch aufgehängt, mit einem Schlauche daran.
Der Jäger lässt das erlegte Wild gut ausbluten, bringt es nach solch einer Präservestation — der Bootsverkehr erleichtert das ja ungemein — steckt die Schlauchspitze in die große Schlagader, die Salzlösung aus dem hochhängenden Kasten spritzt mit großem Druck hinein, verteilt sich auch bis in die feinsten Äderchen.
So, nun kann das Tier dort liegen bleiben, bis es vom Räucherschiff abgeholt wird, das Fleisch hält sich einige Tage. Aber es sind ständig sechs Räucherschiffe unterwegs, die alle Präservestationen anlaufen. Das sind solche große Archen, wie Du sie im Hafen gesehen hast. Auf jedem Schiff sind 20 Mann und noch mehr. Hier wird das Fleisch sofort geräuchert oder eingesalzen. Ferner werden gleich die Felle bearbeitet, die aber der Jäger selbst schon abgezogen haben muss. Außerdem werden die kalten Höhlen besucht, in die die Jäger die gefangenen Fische abliefern, schon ausgenommen. Diese Fische werden auf den Räucherschiffen, wie sie nun einmal heißen, sofort in Öl gesotten, die größeren, wie die Lachse, geräuchert, andere Sorten eingesalzen —«
»Alle Wetter, das ist ja ein großartiger Betrieb!«, staunte ich.
»Jaaa, Junge, was meinst Du wohl, wie dieser alte Kauz, den manche für einen schwachsinnigen Narren halten, alles organisiert hat, und wie der noch heute alles am Schnürchen hält, und noch heute sitzt der wie ein Teufel dahinter!«
»Ja, dann allerdings rentiert sich auch so eine Sache!«
»Was rentiert sich?«
»Nun, das bringt doch etwas Schönes ein —«
»Karl! Höre! Der Ewige nimmt aus diesem Tale auch nicht einen einzigen roten Cent! Aber jährlich steckt er mindestens hunderttausend Dollars hinein!«
»Ja, was macht er denn da mit dem geräucherten Fleisch?«
»Das wird alles Waisenhäusern geschenkt! Jährlich die vielen tausend Zentner geräuchertes Fleisch, alle die Blechkisten mit in Öl gekochten und geräucherten und gesalzenen Fischen — alles verteilt an die Waisenhäuser!«
Ich nahm ehrfurchtsvoll meine Kappe ab.
»Ja, Karl, es ist ein großartiger Kerl! Eine Seele von einem Menschen, obgleich wieder in anderer Hinsicht ein kleiner Teufel, oder sogar ein großer Teufel. Aber sonst — alles für die Armen! Besonders die Waisenkinder hat er in sein Herz geschlossen. Und da gibt es gar viele. Er beschränkt sich auch nicht nur auf Mexiko, so engherzig ist der nicht. Und was dieses Tal nun sonst noch alles liefert. Dieser Honig! Und wenn die Früchte reif sind, da kommt zur Ernte einmal die ganze Stadt herein — besonders die Kinder — da sollst Du einmal diesen Jubel sehen! Die können sich auch mitnehmen, was sie wollen, sind aber verpflichtet, die Hälfte zu konservieren und abzuliefern, und dann gehen wieder Eisenbahnzüge voll eingemachter Früchte ab — alles für Waisenhäuser!«
Ich nahm meine Kappe nicht noch einmal ab — weil ich sie nämlich noch in der Hand hatte.
»Aber sonst gibt es nichts! Da war unter anderem — es ist schon häufig vorgekommen, ich erwähne nur diesen einen Fall — einmal ein Mitglied des englischen Königshauses hier, wollte zehntausend Pfund für die Armen zahlen, ein eigenes Waisenhaus stiften und unterhalten, wenn Don Christoffero ihm erlaube, nur einen einzigen Tag hier drin zu jagen. Nein, gab es nicht! Nicht ein einziges Karnickelchen durfte er schießen. Er kam überhaupt gar nicht herein.«
»Bravo!«
»Na, und die Orden und Titel, die dem Ewigen versprochen wurden —«
»Das kann ich mir lebhaft denken, wie der da geantwortet hat, wenn auch vielleicht ganz stumm!«, lachte ich. »Aber man sieht hier doch gar kein Wild. Nur Vögel in Masse.«
»Ja, das ist gar nicht so einfach, hier zu jagen, weil das Wild eben weiß, dass es gejagt wird, was es von jedem einzelnen Menschen oder doch Manne zu erwarten hat, den es erblickt, den es wittert. Da verschwindet es sofort.«
»Und noch keinen einzigen Schuss habe ich gehört. Da müssen doch täglich mehr als tausend Schüsse knallen.«
»Erstens wird hier meistens mit Pfeil und Bogen geschossen —«
»Was, mit Pfeil und Bogen?«
»Jawohl. Die Choktaws sind zur alten Waffe ihrer Väter zurückgekehrt. Und da es doch nun eine ganz andere Kunst ist, ein Wild mit einem Pfeile zu erlegen, wobei man sich doch auf mindestens 50 Schritt heranpirschen muss, als mit einem modernen Hinterlader, so wollen sich die weißen Jäger von ihren roten Konkurrenten nicht beschämen lassen, machen also mit. Und Du sollst nur sehen, wie diese Kerls mit Pfeil und Bogen schießen! Einen Büffel durch und durch, Herzschuss, dass das mächtige Tier auf der Stelle tot zusammenbricht.«
»Mit der Büchse zu schießen ist gar nicht erlaubt?«
»O doch. Das kann jeder machen wie er will. Hier herrscht Freiheit! Schrot ist freilich nicht erlaubt. Es wird ja auch genug mit der Büchse geschossen. Nun musst Du aber bedenken, dass es 100 Jäger sind, die sich auf 700 Quadratkilometer Fläche verteilen. Einer kommt auf sieben. Das sind Strecken, wo Du keinen Schuss fallen hörst. Und es darf auch nicht gleich so losgeschossen werden, weder mit Pfeil noch mit Kugel. Wehe, wenn der Ewige einmal ein verwundetes oder verendetes Wild findet. Und der findet's! Dann lässt er keine Ruhe, bis er den betreffenden Jäger heraus hat, dem das Wild entgangen ist. Und kommt es zum zweiten Male vor, dann fliegt der Betreffende sofort hinaus. Doch bei Dir ist das etwas anderes, Du brauchst da keine —«
Wir befanden uns gerade in einem sechs Meter breiten Wasserkanal, auf beiden Seiten von Unterholz eingesäumt. Und da krachte es vor uns rechts in diesem Unterholz, ein prachtvolles, rabenschwarzes Ross brach daraus hervor, auf seinem, ich glaube ungesattelten, Rücken eine kleine Männergestalt, mit einem mächtigen Satze war es mitten drin im Wasser, war auch gleich drüben am anderen Ufer hinauf, im Unterholz wieder verschwunden.
Wie ein Phantom war das vorübergesaust!
Mit einem Rucke hatte Emil das Boot auf der Stelle gestoppt, wie es eben nur bei solch einem Röhrensystem möglich ist, dass das Wasser plötzlich nach vorn ausgestoßen wird.
»Hast Du's gesehen, Karl?«
»Natürlich habe ich es gesehen.«
»Das war er!«
»Wer? Doch nicht der Don Christoffero?!«
»Jawohl, der Ewige! Siehst Du, da hast Du ihn! So reitet der! Wie der leibhaftige Teufel. Wir machen in der Stunde acht Knoten, und der hat uns zu Pferde überholt. Aber nun wie! Immer von einer Insel zur anderen, hundertmal durchs Wasser — da kommt er wieder!«
Der Alte war wieder am Ufer aufgetaucht, aber zu Fuß, und jetzt erkannte ich ihn, freilich nur an den Zügen. Zwar trug er auch jetzt noch einen schwarzen Anzug, aber einen ledernen, der wohl eben so alt sein konnte wie sein Besitzer, glänzend vor Abgeschabtheit und Schmiere, und ebenso schmierig war auch die Pelzmütze.
Er blickte nach oben in die Luft — hei, wie diese vergissmeinnichtblauen Augen blitzten! — Jetzt setzte er die Hände trichterförmig vor den Mund und — »Hui piiiihhh!«, gellte es.
Himmeldonnerwetter noch einmal!
Ich hätte niemals geglaubt, dass solch ein Ton aus einer menschlichen Kehle kommen könnte!
Ich bin gewiss nicht nervös, bei mir kann jede Lokomotive pfeifen so viel sie will oder jemand mit dem Messer auf dem Teller herumquietschen — aber dieser gellende Ton ging mir doch durch Mark und Bein!
»Der Jagdruf des Alten!«, flüsterte Emil.
»Hui piiiihh!«, erscholl es gleich darauf in einiger Entfernung und dann noch einmal weiter.
Gleich darauf kam ein leichtes Lederboot angeschossen, ein Kanu, ein nur mit Hose bekleideter Indianer saß darin, er sprang zu dem Alten ans Ufer, dann teilten sich am anderen Ufer die Büsche, noch ein zweiter kupferroter Indianer tauchte auf, dieser nur mit einem Schurze bekleidet, dafür federgeschmückt, warf sich sofort ins Wasser und schwamm hinüber.
Der Alte deutete in die Höhe, sprach etwas — ich verstand es nicht, eine fremde Sprache — allgemein aufmerksames Blicken nach dem blauen Himmel — dann waren die drei wieder verschwunden.
Wir beide sahen nichts dort oben. Ja, Enten und Gänse und Schwäne und andere Wasservögel schwirrten und schwebten genug herum.
Emil hatte aus dem Bootskasten ein Fernrohr genommen.
»Richtig, dort oben schwebt ein großer Raubvogel! Wehe, wenn es dem gelingt, auch nur ein kleines Häslein zu greifen! Dann trommelt der Ewige alle Jäger zusammen, und dann gibt's ein Donnerwetter, gewürzt mit blutigem Hohn, dass die kupferroten Choktaws blass und die Blassgesichter kupferrot werden. Dabei darfst Du wohl glauben, dass es hier in diesen Gebirgen sonst von Raubvögeln wimmelt. Aber es ist geradezu, als ob alle die Adler und Geier und sonstigen Räuber der Lüfte wüssten, dass sie verloren sind, sobald sie in Schusshöhe über diesem Tale schweben — und es muss auch so sein, sie müssen es wissen, sie müssen ihre Jungen darüber unterrichten, denn es kommt eben fast gar nicht vor, dass man hier einmal einen Raubvogel erblickt. Wie der sofort aufs Korn genommen wird, das hast Du ja soeben gesehen.«
Emil hatte sein Boot wieder in Fahrt gebracht.
Ich weiß selbst nicht, was mir an dem, was ich da gesehen und gehört, so mächtig imponierte. Ja, diese Wachsamkeit, mit der ein Jagdherr sein riesiges Gebiet beschirmte. Aber auch noch etwas ganz anderes war dabei, was sich mit Worten nicht ausdrücken lässt.
»Und nun glaube nicht etwa«, fuhr Emil fort, »dass dieser alte Mann ein wilder Jäger ist, der nichts weiter im Kopfe hat als diese seine Jägerei und sein Jagdgebiet. Er ist zugleich ein hochgebildeter Mann, sage ich Dir, und ein kunstsinniger Mann dazu! Er hat die ganze Welt bereist, aber nun wie! Nicht etwa nur, um immer die Repräsentanten der einheimischen Tierwelt niederzuknallen. Außerhalb dieses seines Gebietes nimmt er überhaupt gar keine Büchse in die Hand. Es gibt kein Kunstmuseum von Ruf in der Welt, kein bedeutsames Kunstwerk, das er nicht gesehen, über das er nicht zu sprechen weiß. Und hier seine eigene Gemäldegalerie und seine sonstigen Kunstsammlungen sollst Du sehen! Wirst und kannst sie ja auch sehen. Die verschließt er nicht, das ist alles in Christoffera öffentlich ausgestellt. Ich sage Dir, Karl, dieses mexikanische Städtchen wird noch einmal eine Zentrale der Kunst, nach dem alle Kunstjünger der Welt pilgern werden. Und wenn er nach hier für sein eigenes Theater eine Schauspielertruppe kommen lässt, so ist das nicht etwa eine zusammengelaufene Bande, das sind immer weltbekannte Berühmtheiten, so wie jetzt das spanische Ballett, das sollen echte Künstlerinnen sein, die ihre Tanzerei vom idealsten Standpunkte aus betrachten. Sonst treten sie nur in den großen Hauptstädten auf, die Plätze werden gegen Gold verauktioniert — und unser Ewiger hier lässt sie mit einem Sonderzug von Mexiko kommen, um den Bewohnern dieses weltvergessenen Gebirgsstädtchens einmal solch einen Kunstgenuss zu verschaffen.«
So sprach Emil. Und mir begann dieser »Ewige« immer gewaltiger zu imponieren. Weshalb, das wird der Leser noch später erfahren. Er soll mich überhaupt erst kennen lernen, denn bisher kennt er meinen eigentlichen Charakter noch nicht. Und da dürfte er wohl noch sehr staunen.
»Was wolltest Du vorhin sagen«, nahm ich wieder das Wort, »wovor brauchte ich keine Sorge zu haben?«
»Ach so, ja — dass Du einmal ein Wild nur anschießt und dass es Dir entgeht. Der Ewige hat mir darüber vorhin Instruktionen gegeben, ich soll es Dir mitteilen. Entgeht Dir einmal ein angeschossenes Wild, so merkst Du Dir ungefähr die Stelle, wo Du Dich befunden hast, sorgst dafür, dass Du deutliche Spuren hinterlässt, dann teilst Du es dem ersten Jäger mit, dem Du begegnest, den Du siehst. Der nimmt dann die Verfolgung des Wildes auf. Oder einem Weibe, einem Kinde, das sagt es dann einem Jäger. Oder, da Du hier vielleicht manchmal tagelang keinen Menschen zu Gesicht bekommst, Du schreibst eine betreffende Notiz und legst sie an einer Präservestation nieder, die täglich von einem Räucherschiffe besucht wird. Dann wird alles Weitere schon veranlasst. Es darf durchaus nicht sein, dass ein verwundetes Tier sich hier herumquält. Diese Sache ist hier so wichtig, dass Du deswegen den Don Christoffero des Nachts aus dem Bette holen kannst und unter Umständen sogar musst —«
»Bravo, bravo!«
»Was bravo? Na ja, ich weiß schon, was meinst. Diese Präservestationen musst Du freilich erst zu finden wissen. Doch das wirst Du schon lernen. Wo Du einen hohlen Baumstamm vermutest, den untersuche, und ist er hohl, so kannst Du sicher sein, dass darin solch ein Blechkasten mit Salzlösung angebracht ist. Diese hohlen Baumstämme spielen bei uns gewissermaßen die Rolle von Briefkästen. Wenn der Baumstamm aufrecht steht, noch wurzelt. Ist es ein gestürzter, hohler Baumstamm — immer dicht am Ufer, nur solche kommen dabei in Betracht — so kannst Du sicher sein, ein Kanu darin zu finden. Das kannst Du nehmen. Wenn es nicht schon ein anderer genommen hat. Gibst Du Dein Kanu auf, dann ist es Deine Pflicht, es auch wieder zu verstecken, und zwar, damit es wieder ein anderer finden kann, wieder in einem gestürzten hohlen Baumstamme. Bedenke immer, dass hier absolute Freiheit herrscht. Aber gerade deshalb muss man auch immer an die anderen denken. Das ist hier nicht etwa ein Park. Du kannst Dir auf der schönsten Stelle der Blumeninsel ein mächtiges Lagerfeuer anzünden, niemand wird sich darum kümmern, auch der Ewige hält das für ganz selbstverständlich. Wenn es Dir eben Freude macht, dort zu lagern und Dir etwas zu braten. Anderseits aber sorge auch im wildesten Urwald dafür, dass Dein Lagerfeuer dann keinen hässlichen Brandfleck hinterlässt, der das Auge eines anderen beleidigt, decke etwas —«
»Höre auf, Emil, höre auf!! Ich bin doch nicht so einer, der überall sein Butterbrotpapier fortschmeißt.«
»Dennoch, ich bin beauftragt, Dir unsere Hausordnung mitzuteilen, gerade weil diese mit keinem Buchstaben geschrieben ist. Es herrscht hier absolute Freiheit, absolute! Privateigentum gibt es nicht! Wenn Du irgend etwas brauchst, etwa eine Axt, so gehst Du in den ersten besten Wigwam oder Blockhütte und nimmst Dir dort die beste Axt, ohne zu fragen, ob der Bewohner zugegen ist oder nicht, brauchst nichts zu hinterlassen, oder nimmst das beste Gewehr oder sonst, was Du brauchst. Was ich aus der Hand lege, gehört nicht mehr mir. Dass das nicht buchstäblich zu nehmen ist, weißt Du ganz genau. Du verstehst mich überhaupt vollkommen!«
»Sicher!«, rief ich mit leuchtenden Augen.
»Du könntest auch jede bewohnte Blockhütte beziehen, der Erbauer würde sein Lieblingsplätzchen Dir sofort überlassen —«
»Mache keinen Unsinn, Emil!«
»Ich muss es Dir sagen. Was Du nicht brauchst, das legst Du auf einer Präservestation oder in einer Fischhöhle nieder. Dorthin lenke also zuerst Deine Schritte oder Dein Boot, wenn Du etwas brauchst. Und nun ferner: In der Mitte des Tales liegt die Kanoneninsel. Auf dieser wird am Sonnabend punkt Mitternacht ein Kanonenschuss abgefeuert, im ganzen Tale hörbar. Der Sonntag beginnt! Und am Sonntag darf kein Schuss abgefeuert und kein Pfeil abgeschnellt, kein Tier mit dem Messer geritzt werden! Absolute Sonntagsruhe! Doch sonst kann jeder treiben, was er will. Nur kein Tier belästigen, bis Sonntag Mitternacht wieder der Kanonenschuss fällt. Dann ist die Jagd wieder freigegeben.«
»Ach, das ist ja herrlich!«, rief ich.
»Was ist herrlich?«, wollte mich Emil prüfen.
»Diese absolute Sonntagsruhe für die Tiere!«
»Junge, Du bist wohl fromm geworden?«
»Gott verdamm mich ewig, ja!«, rief ich in heller Begeisterung.
»Na, ich weiß schon, wie es mit Dir steht«, lachte Emil, »ich kenne Dich kuriosen Kauz ja zur Genüge.«
Ja, Emil war wohl der einzige Mensch, der mich richtig verstand — früher verstanden hatte.
»Werde ich denn aber auch diese absolute Freiheit viel genießen können?«
»Wieso nicht?«
»Wenn ich hier nivellieren soll —«
»I wo!«, lachte Emil. »Ich habe es Dir doch gleich gesagt, dass das nur eine Form war. Weil Fremde keinen Zutritt ins Tal haben, es ist nun einmal Prinzip des Ewigen. Nein, Du bist ganz frei. Du gehörst doch mit zu jener indian... zu jener Dame, die — nein, ich darf darüber nicht sprechen, will also auch gar nicht daran denken. Doch sonst und gerade deshalb unterliegst Du auch denselben Bedingungen, deshalb muss ich Dich besonders darauf aufmerksam machen: Wenn Du während der 24 Stunden des Sonntags einen Schuss abfeuerst oder einen Pfeil abschnellst oder sonst wie die Ruhe der Tiere störst, dann fliegst auch Du sofort aus diesem Jagdparadiese hinaus.«
»Gibt es sonst noch einen Grund, dass man hinausfliegt?«
»Ja; wenn Du ein gesperrtes Gebiet betrittst. Und das ist die Hauptsache, weshalb ich Dich hierher geführt habe, weil hier das nächste gesperrte Gebiet ist, dessen Grenzen ich Dir demonstrieren kann.«
Unterdessen hatten wir uns der südlichen Felswand genähert, die immer wieder jäh aus dem Wasser bis zum Himmel emporstieg, ganz glatt wie eine gemauerte Wand, aber nicht etwa immer eine gerade Linie bildend. Wohl gab es lange, lange Wände, aber dass überall Einbuchtungen und Vorsprünge waren, ganz mächtige Vorgebirge, das konnte man bereits unterscheiden.
Links und rechts hatten wir ja stets Ufer gehabt. Das ist doch auch ganz selbstverständlich. Ich meine: Es waren eigentlich immer nur Wasserstraßen, die wir benutzten. Manchmal waren diese nur drei Meter breit, manchmal zwanzig, manchmal passierten wir auch kleine und selbst größere Seen, auf denen man schon ganz famos segeln konnte. Dann ging es wieder in einen Kanal hinein, von dem zahllose andere abzweigten.
Die Verwandlung, die ich in der Vegetation beobachtet hatte, habe ich nicht beschrieben, kann ich nicht gut. Man nehme an, man könne in einer Stunde von Nizza bis nach Norwegen rasen, oder besser noch von Indien, von Ceylon bis nach dem nördlichen Sibirien, ohne ein Gebirge zu passieren. Diesen Vegetationswechsel mit allen Übergängen hatte ich in einer Stunde durchgemacht.
Da wird man begreifen, dass man das nicht gut beschreiben kann.
Hier standen auf den Inseln und Inselchen, über die man zum Teil springen konnte, nur noch Kiefern, der anspruchsloseste Nadelbaum. Allerdings mächtige Dinger! Aber die Birke, der anspruchsloseste Laubbaum des Nordens, kam schon nur noch ganz krüppelhaft vor.
So kalt war es hier. Das machte das Wasser. Das hatte hier nur noch 4 Grad Celsius. Und die Sache war nun die, dass diese Temperatur hier immer so blieb. Auch im höchsten Norden gibt es doch im Sommer manchmal heiße Tage genug. Von den Polargegenden abgesehen. Und doch, hier war es eigentlich noch schlimmer. Nur die höchste Mittagssonne des Hochsommers konnte hier über die Felswände hereinscheinen, und die wärmte das Wasser auch nicht, denn immer noch kälteres floss nach.
Hier, wo es kein Unterholz mehr gab, wo sogar das Gras fehlte, nur noch Moos gedieh, sah ich auch das erste vierbeinige Wild, Hirsche! Aber was für welche! Ochsen mit Geweihen! Elche!
Und da war von einer Scheu nichts zu bemerken. Solch ein riesiges Vieh kam gleich auf uns zu, beschnoberte uns — das Boot hielt — mit seiner rüsselförmigen Schnauze.
»Weil die Elche jetzt Schonzeit haben«, erklärte Emil, »das wissen die natürlich ganz genau. In vierzehn Tagen bekommst Du keinen mehr zu Gesicht, oder nur in galoppierender Flucht, denn Schonzeit gibt es natürlich für jedes Wild, oder die Freiheit artete in Anarchie, in Aasjägerei aus. Jeder Trapper gibt seinen Bibern eine Schonzeit. Bei uns sind aber nun gerade die Biber vogelfrei, ebenso wie Karnickel, Hasen und Wildschweine. Wegen dieser Schonzeit gebe ich Dir dann noch eine Karte. Jetzt erst will ich Dich über das gesperrte Gebiet instruieren, das kein Mensch betreten darf.«
Wir lagen vor dem Eingange zu einer Bucht.
Dies muss man aber nun alles in großartigem Maßstabe auffassen.
Ich spreche jetzt von einem »Eingange« und einer »Bucht«, weil ich jetzt schon die Karte im Kopfe habe, die ich damals noch nicht kannte, die ich aber jetzt auch nicht mehr aus meinem Kopfe bringen kann
Ich schätzte diesen »Eingang«, was sich dann auch zufällig als richtig erwies, auf einen Kilometer Breite, dann traten die Felswände, steil wie überall bis 4000 Meter Höhe aufsteigend, zurück und schlossen eine Bucht ein. Das heißt eine »Bucht« von zwei Kilometer Breite und mehr als drei, ziemlich vier Kilometer Tiefe, was ich natürlich nicht überblicken konnte.
Also in diese Bucht, wie ich sie mir jetzt der Karte nach vorstelle, blickte ich hinein, sah Land, durch Wasserkanäle wieder in zahllose Inseln geteilt oder vielleicht auch zusammenhängend, auf denen es noch öder aussah als hier draußen, obschon dort erst recht riesenhafte Kiefern standen.
»So. Dies ist gesperrtes Gebiet. Nun betrachte Dir hier links und rechts die vorspringenden Felsecken, ziehe zwischen ihnen eine Linie, und Du weißt, wo die Grenze ist, die kein Mensch überschreiten darf, auch Du nicht. Andere Markierungsstellen, etwa gar mit großen farbigen Pinselstrichen, dürfen nicht angebracht werden.«
»Das ist auch schon deutlich genug!«, sagte ich, nach links und rechts visierend. »Weshalb darf man diese Grenze nicht überschreiten?«
»Weil diese Bucht gesperrt ist.«
»Und warum ist sie gesperrt, muss ich da immer wieder fragen? Soll das Wild ein Asyl haben, wo es auch während der Jagdzeit geschützt ist?«
Sinnend blickte mein Freund in die Bucht hinein, wirklich ganz merklich tief in Gedanken versunken.
»Ja, vielleicht auch das. Aber — ich glaube, ich glaube — weshalb zieht sich der Ewige manchmal für Tage in diese abgesperrten Gebiete zurück — da ist irgend ein Geheimnis dabei — weshalb nimmt er da stets einen —«
Plötzlich schrickt mein Freund zusammen, nur weil er aus seinen Gedanken erwacht ist.
Und mir schießt doch plötzlich das Blut in den Kopf, dass ich ganz deutlich fühle, wie er purpurrot wird.
»Emil — dass Du zur Hölle fahren sollst — denkst Du denn —«
»Schon gut, schon gut«, fing er jetzt zu lachen an, »ich kenne Dich kuriosen Kauz ja! Aber erlaube nur, dass ein anderer einmal seine Gedanken hat.«
Ja, ich war ein kurioser Kauz.
Ich weiß nicht — wenn jemand mir gegenüber auch nur eine Andeutung macht, dass ein anderer irgend ein Geheimnis hat, oder er weiß irgend etwas von ihm, was andere von ihm nicht wissen dürfen, und er fängt so von hinten zu plappern an, dann — möchte ich dem Kerl allemal eine herunterhauen! Hab's auch schon getan.
Aber dabei nehme ich es anderen eigentlich gar nicht übel. Es ist ja oft genug eine ganz harmlose Sache.
Nur ich kann es nicht, kann es nicht mit anhören. Es ist das nicht etwa eine besondere Tugend von mir, sondern viel eher eine Schwäche. Da bin ich wie ein kleines Rädchen, freilich in anderer Hinsicht.
Kurz und gut — ach, was ich mich jetzt schämte, dass ich vorhin schon zweimal nach einem »Warum?« gefragt hatte!
Doch da es heraus war und besonders weil mich Emil ausgelacht hatte, war es nun auch gleich vorbei.
»Solcher gesperrter Reviere«, fuhr er fort, in die Brusttasche greifend, »gibt es vier, darunter auch eine Insel. Die anderen beiden sind eben solche Buchten. Hier hast Du ein Kärtchen, woraus Du Dich orientieren kannst, das genügt doch für Dich, Du hättest deshalb kein Semester praktische Nivellierkunst zu treiben brauchen. Der Maßstab ist 1 zu 300 000.«
Ich füge dieses gezeichnete, aber wohl vervielfältigte Kärtchen, das er mir gab, hier bei, in genau derselben Größe. Also ein Millimeter bedeutet in Wirklichkeit 300 Meter.
»Freilich«, klärte Emil weiter, sind es nur die großen Inseln und Inselgruppen, die hier eingetragen sind, sonst musst Du Dir allüberall Punkte eingetragen denken, die Inselchen vorstellen. Solche große freie Wasserflächen, wie sie hier erscheinen, gibt es gar nicht. Das ganze Tal ist entweder
ein See, der mit zahllosen Inseln durchsetzt ist, größere Entfernungen als Büchsenschussweite sind ganz seltene Ausnahmen — oder richtiger muss man den ganzen Boden als festes Land betrachten, das mit zahllosen Wasseradern durchzogen ist, dazwischen auch Teiche und größere Seen.
Den richtigen Überblick bekommst Du oben von den Felswänden aus der Vogelperspektive. Da wirst Du erkennen, dass hier mit Recht größere Inseln eingezeichnet sind, obgleich auch sie mit zahlreichen breiten Wasserkanälen und schmalen Wasserfäden durchzogen sind. Mit Ausnahme der Pferdeinsel und hier der Felseninsel. Letztere allein ist gebirgig, da ist wahrscheinlich früher einmal eine Felswand zusammengestürzt, alle anderen sind völlig eben, sehen wenig über dem Wasserniveau hervor, das seit Jahrtausenden, wie man recht wohl konstatieren kann, um keinen Zentimeter weder gestiegen noch gefallen ist.«
Aufmerksam betrachtete ich das Pappkärtchen.
»Und was bedeuten die Zahlen?«
»Das steht auf der Rückseite.«
Ich drehte das Kärtchen herum, gebe die Bezeichnungen hier wieder:
1. Der Talzipfel mit der Stadt Christoffera.
2. Hafenbucht.
3. Eisbärenzwinger.
4. Heißer Kessel.
5. Naphtaquelle.
6. Gesperrte Bucht.
7. Gesperrte Bucht.
8. Gesperrte Bucht.
9. Gesperrte Insel.
10. Heiliges Feuer.
11. Kaltes Loch.
12. Eisgrotte.
13. Zufluss.
14. Abfluss.
15. Heißer Wasserfall.
16, Kanoneninsel.
17. Magazininsel.
18. Aufzug.
Ich hatte es halblaut gelesen.
»Wo befindest Du Dich also jetzt?«, examinierte Emil.
»Vor der gesperrten Bucht Nummer acht, Döskopp! Halte mich nicht für so dumm! Und die gesperrte Insel, mit Nummer neun bezeichnet, befindet sich also gegen 1500 Meter nordöstlich von der Kanoneninsel entfernt?«
»Ja, und diese Orientierung genügt auch vollkommen, dass Du sie nicht einmal versehentlich betrittst, auch nicht des Nachts. Auf der Kanoneninsel erhebt sich nämlich ausnahmsweise auch noch ein spitzer Felsen, ›die Nadel‹ wird er genannt, was schon genug sagt, und dort oben brennt während der Nacht ein Leuchtfeuer, das einzige im ganzen Tale. Als Signal, meine ich. Lagerfeuer brennen ja sonst noch genug. Du siehst es überall, mit Ausnahme der Felseninsel, oder wenn Dich dichter Wald umgibt —«
»Oder wenn ich schlafe oder die Augen zumache oder den Kopf in den Sand stecke. Sieht man aber das Leuchtfeuer auch hinter der gesperrten Insel, wenn man sich dieser von Nordosten her nähert? Dass kein Wald dazwischen ist?«
»Nein. Diese gesperrte Insel ist ganz vegetationslos, Sand, Wüste, obgleich auch sie mit Wasseradern durchzogen ist, und trotzdem ist es keine Sandbank zu nennen. Es ist felsiger Grund.«
»Wie weit darf man sich ihr nähern? Dass ich hierüber genau instruiert bin!«
»So weit Du willst. Nur direkt anlegen darfst Du nicht.«
»Es kann kein Irrtum vorkommen?«
»Nein. Gerade diese Insel, obgleich in viele Inselchen geteilt, liegt ganz isoliert, ist scharf begrenzt, hat keine vorgelagerten Eilande, nicht so groß, dass man einen Fuß darauf setzen kann.«
»Gut, nun weiß ich hierüber genug. Weshalb heißt die Bucht Nummer vier ›der heiße Kessel‹?«
»Fahre nur selber mal hin, dann wirst Du schon selber merken, warum sie so heißt!«, lachte mein Freund.
»Sehr richtig, aber —«
»Ich will Dir die Überraschung nicht verderben. Eine Gefahr besteht übrigens nirgends. Mit Büffeln und verwundeten Hirschen musst Du freilich vorsichtig sein.«
»Aber eines muss ich doch fragen: Merke ich auch, wenn ich nach Nummer drei komme, weshalb dieser Felsenvorsprung ›Eisbärenzwinger‹ heißt? Der hat mit der Gestalt eines Eisbären doch gar keine Ähnlichkeit.«
»Ja, da musst Du allerdings fragen. Der heißt ganz einfach so, weil dort oben drauf Eisbären gehalten werden.«
»Was, auch Eisbären habt Ihr hier?«
»Ach, Karl, was wir hier alles haben! Du wirst Mund und Nase aufsperren, auch wenn Du Dickhäuter sonst über Staunen erhaben bist. Jawohl, dort oben ist eine ganze Herde Eisbären. In voller Freiheit, obwohl abgesperrt. Auch ein Eskimolager ist dort oben. Und was für eins. Da kannst Du mit dem Schlitten fahren, rund um das ganze Tal herum, mit Hunden oder mit Rentieren bespannt. Während hier unten die Sonne brennt, liegt dort oben doch ewiger Schnee. Da musst Du hinaufgehen, wenn es hier unten einmal regnet, dann hast Du dort oben, wenn die Wolken tief hängen, entweder blauen Himmel, oder aber dort oben schneit es lustig.«
Das heißt — jetzt fing ich wirklich an zu staunen! Und dabei mochten meine Augen immer mehr aufleuchten. Mein Freund merkte es.
»Ja, Karl, Du wirst hier noch Deine Wunder erleben. Und gerade für Dich ist das etwas. Ich kenne Dich doch, Du wirst Dich unterdessen nicht viel geändert haben.
Sieh, ich bin bald zwei Jahre hier. Zum ersten Male wird dieses Tal kartografisch vermessen und aufgenommen. Habe drei Dutzend Vermessungsbeamte unter mir. Nun gibt es hier nicht den kleinsten Felsvorsprung, nicht die kleinste Höhle, kein Inselchen, auf das man eben seinen Fuß setzen kann, was nicht alles seinen besonderen Namen hätte.
Diese Namen hat der Ewige gegeben. Der hat viele Tausende im Kopf. Wie viele Tausende, das weiß ich gar nicht.
In diesen zwei Jahren haben wir kilometerweise vermessen und sind immer noch nicht ganz fertig damit. Immer noch ziehen wir erst die Kilometerlinien. Trotzdem wimmelt unsere große Generalstabskarte schon von Hunderten von Zahlen. Die trägt dann der Ewige ein, schreibt in ein Register den betreffenden Namen. Nun muss aber noch jeder Quadratkilometer für sich erst nivelliert werden! Ich werde diese Arbeit in meinem Leben wohl nicht vollenden, bin aber dann auch ein reicher Mann.
Was es hier alles zu finden und neu zu entdecken gibt, das muss ich Dir an einem Beispiel erläutern.
Von den Indianern, die vor 40 Jahren hierher kamen, leben noch einige. Darunter ist einer, der nie gejagt hat, nicht durfte. Es handelt sich um ein Gelübde, er wurde schon als Kind dem Manitu geweiht.
Trotzdem ist dieser jetzt sechzigjährige Indianer der allerscharfsinnigste Jäger, das heißt die allerbeste Spürnase. Da er nun sonst nichts weiter zu tun hat, so spürt er herum, geht auf Entdeckungen aus. Es gibt wohl kein Inselchen, das er nicht schon betreten hat, keine Höhle, in die er nicht schon gekrochen ist, in diesen 40 Jahren.
So müsste man doch wenigstens annehmen. Und ich sage Dir, Karl: Es vergeht selten ein Tag, an dem Lookout nicht zu mir kommt und eine neue Entdeckung meldet. Erst neulich hat er auf der Ostseite eine Höhle mit einer singenden Flamme entdeckt, und die ist schon immer gewesen, der Ewige kennt sie und Lookout weiß auch, dass er in dieser Höhle noch nicht war.
Was das zu bedeuten hat, dass Lookout schon 40 Jahre lang Tag und Nacht hier herumkriecht und dass er diese große Flamme, die einen ganz gehörigen Spektakel macht, erst jetzt entdeckt, das wirst Du erst später zu würdigen wissen, wenn Du es jetzt noch nicht begreifst. Und hier ist die Karte, woraus Du ersiehst, wann die verschiedenen Wildarten Schonzeit haben und welche Tiere Du überhaupt nicht schießen darfst. Ich kann es Dir auch einfacher erklären, auf dieser Jagdkarte ist es etwas unklar ausgedrückt. Elefanten darfst Du überhaupt nicht —«
»Was, Elefanten?!«
»Auf der Tropeninsel sind sieben Elefanten, fünf Weibchen und zwei Männchen. Ach, was wir hier alles für Viehzeug haben! Die ganze Welt hat dazu liefern müssen. Es ist eben der reine zoologische Garten, nur alles in vollkommener Freiheit und dass die Raubtiere fehlen, bis auf die Eisbären, die aber in ihrer Höhe isoliert sind. Auf der Tropen- und Pferdeinsel darf überhaupt nicht gejagt werden. Was sich aber von diesen kompakten, scharf begrenzten Inseln auf andere begibt, ist vogelfrei. Ob Zebra oder Kamel oder Strauß — es kann geschossen werden. Mit Ausnahme natürlich, wenn sie Schonzeit haben, was genau auf dieser Karte verzeichnet ist. Allein geschützt für immer ist der Elefant. Alle diese Tiere wissen überhaupt recht gut, was sie außerhalb ihres Reviers zu erwarten haben, machen nur während der Schonzeit Ausflüge, kehren rechtzeitig zurück. Weiter ist darüber nichts zu sagen.«
»Auch Gemsen gibt es?«
»Echte Tiroler Gemsen, Steinböcke, Angoraziegen — alles auf der Felseninsel vertreten, Bei dieser Jagd sieh Dich aber vor, nimm lieber einen erfahrenen Mann mit. Du kannst Dich versteigen, bist verloren. Allein während meiner Zeit sind dort oben zwei verhungert, konnten weder vorwärts noch zurück, man hat ihre Rufe nicht gehört, ganz abgesehen davon, wie viele schon abgestürzt sind.«
»Oho, solch ein Gebirge auf der kleinen Insel?«
»Kleine Insel? Ja, hier auf dem Kärtchen.
Ein Millimeter sind 300 Meter, die hat also in Wirklichkeit 4000 Meter Durchmesser und steigt bis 3000 Meter hoch an. Und was für ein furchtbar wildes, zerrissenes Felsenlabyrinth! — Dort kommt eine Vermessungsarche, ich habe deren vier. Es ist gerade die, auf der ich zu tun habe. Kommst Du mit?«
Schnell und lautlos wollte solch eine 40 Meter lange Arche vorbeigleiten. Es war nur ein langer Kasten, vorn und hinten etwas zugespitzt, aber dennoch einen ungemein gefälligen Eindruck machend, auch so hübsch weiß und grün angestrichen.
Mein Freund, der Chefingenieur, hob nur die Hand und schloss sie zur Faust, und auf der Stelle stoppte die Arche.
»Kommst Du mit? Wir frühstücken erst zusammen. Nein, ich sehe es Dir an, Du willst gleich allein abrücken. Ich würde es an Deiner Stelle ebenso machen. Komme nur einmal an Bord, damit ich Dich etwas für Dein Jägerleben ausrüste, Was willst Du für ein Boot haben? So eins wie dieses hier?«
»Womit treibt Ihr Eure Boote?«
»Mit Naphta.«
»Mit Benzin?«
»Heute wird auch Benzin Naphta genannt, wenn auch ein Unterschied dabei ist. Ursprünglich aber verstand man unter Naphta ein besseres, sehr flüchtiges, gleich gebrauchsfähiges Erdöl. Petroleum, wie es am Kaspischen Meere vorkommt. So auch hier. Es gibt hier eine ganze Menge Naphtaquellen. Die in der Bucht Nummer fünf ist gefasst, dort kann man sich am bequemsten seinen Vorrat ergänzen.«
»Ich ziehe ein Ruderboot ohne Motorbetrieb vor, ein ganz einfaches Kanu.«
»Sollst Du haben, Junge. Bis Du so eins überall zu finden verstehst.«
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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