Roy Glashan's Library
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ROBERT KRAFT

ATALANTA

DIE GEHEIMNISSE DES SKLAVENSEES

BAND 4

Cover Image

RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software


Ex Libris

Erstveröffentlichung als Kolportageroman
in 60 Lieferungen unter dem Titel
Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees,
Dresdner Roman-Verlag, 1911

Überarbeitete Neuauflage
6 Bände in neuer deutschen Rechtschreibung
Verlag Dieter von Reeken, Lüneburg, 2023-2024

Druckvorlage für den Gesamtroman
Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees
Lieferungs-Roman von Robert Kraft,
Dresdner Roman-Verlag, 1911
(60 Lieferungen)

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2024
Fassung vom: 2024-12-03

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle: Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlegers)

Abbildungsnachweis:
Thomas Braatz, Leipzig (Archiv):
Einbandrückseite Dresdner Roman-Verlag
und unbekannter Zeichner
Einbandvorderseite und sämtliche Illustrationen im Text

Umschlagvorderseite:
Robert Kraft: Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees
Dresdner Roman-Verlag (Druck und Verlag) 1911
koloriertes Frontispiz der Lieferung 38

Korrektur:
Mike Neider, Ellen Radszat und Dieter von Reeken

Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe:
Dieter von Reeken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg
www.dieter-von-reeken.de

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Link zu weiteren Werken dieses Autors



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Atalanta, Cover von Lieferung 42


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Atalanta, Band 4
Verlag Dieter von Reeken, 2024


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Portrait von Atalanta

INHALTSVERZEICHNIS

Lieferung 31

Die große Schande und der dicke Engel - Ein nächtlicher Besuch - Der letzte Tolewane - Der abgewiesene Freier

Lieferung 32

Im Giftraum - Der blutleckende Jaguar - Die Erbin von Moorfield - Der hohle Felsen - Dreitausend Meter unter der Erde

Lieferung 33

Wunder der Urwelt - Ein seltsames Gespräch - Der Stern des Ostens - Der Geier des Meeres - Zu spät gekommen! - »Alles zurück an Bord!«

Lieferung 34

Der Stierkämpfer - Bei der Ochsenkönigin - Der große Bombastus

Lieferung 35

In Lemurien - Im Reiche der Maja

Lieferung 36

In einer unbekannten Welt - Auf der Flucht

Lieferung 37

In der Steinzeit - Bei den Bergmenschen - Die Kelten kommen!

Lieferung 38

Das dem Leser versprochene Rezept - Die Traumapotheke - Hokapoka duplikata

Lieferung 39

Das Totenschiff - Grausige Offenbarungen - Der Kampf mit den Zwergen

Lieferung 40

Herrin der Insel! - Noch eine Schlacht - Ein anderes Paradies



Illustration

Hannchen wagte es, sie trat an die Tür, griff nach dem Knopfe der elekt-
rischen Leitung, und im nächsten Augenblick flammte das Licht wieder auf.



Lieferung 31

Die große Schande und der dicke Engel

Es stand schon in den Morgenblättern. Der rote Vecchino, der bekannte Anarchistenführer, der vor zwei Monaten in Mailand am helllichten Tage den verwegenen Bankraub begangen, wobei er zwei Bankbeamte getötet hatte und ihm dreimalhunderttausend Lire in die Hände gefallen waren, war gestern Abend hier in Berlin nach verzweifelter Gegenwehr festgenommen worden.

Er hatte sich schon sechs Wochen in Berlin aufgehalten, den Krösus gespielt, im vornehmsten Hotel unter den Linden gewohnt. Dann hatte er aber doch lieber bescheidener auftreten wollen, hatte ein ganz bescheidenes Zimmerchen bezogen, in der und der Straße Nummer so und so viel bei einer Witwe Sophie Baumer in der dritten Etage, der Wolf hatte sich in Schafskleider gehüllt, hatte nur von Brot und Milch gelebt und religiöse Bücher gelesen, die er gegen Hinterlegung einer großen Kaution aus der königlichen Bibliothek lieh. Aber die Großmannssucht war doch immer wieder hervorgebrochen. Nickelgeld gab's bei ihm gar nicht, für den Liter Milch hatte er immer gleich eine Mark bezahlt.

Und dann hatte er noch andere Passionen, die er mit seinem Größenwahne zu paaren wusste. Die Tochter der Witwe Baumer, ein bildschönes Mädchen, ist Porzellanmalerin. Durch die hatte er gleich für siebentausend Mark feinstes Porzellan direkt aus Meißen bezogen, dem Mädchen elftausend Mark für das Bemalen gegeben. Außerdem war er mit dem jungen Mädchen immer in die vornehmsten Hotels gegangen und hatte dort diniert.

Vor sechs Wochen hatte er bei der Deutschen Bank hunderttausend Mark deponiert, in dieser Zeit schon wieder sechzigtausend Mark abgehoben. Wo das andere Geld, das er erbeutet hatte, geblieben war, wusste man nicht. Na ja, wenn er's so trieb! Elftausend Mark für eine Porzellanmalerei! Nur für die Farbenmalerei jenes Mädchens, der Johanna Baumer!

Er hatte sich unter dem Namen Titus Leonardo aus Neapel angemeldet. Natürlich war der Pass gefälscht. Und überhaupt, diese unglaubliche Dreistigkeit, sich noch für einen Italiener auszugeben! Na ja freilich, dieses markante italienische Gesicht! Aber warum hatte denn die Polizei den im Steckbrief so genau beschriebenen Raubmörder und weltbekannten Anarchisten nicht gleich erkannt? Ein italienischer Gipsfigurenhändler hatte ihn erkannt und denunziert.

Jetzt saß er in Moabit. Die deutsche Justiz hatte mit diesem Ungeheuer in Menschengestalt glücklicherweise nichts zu tun. Er wurde gleich an Italien ausgeliefert. Höchstens dass man ihn hier noch wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt bestrafte.

*

Die Familie Baumer kauerte in den Ecken.

Noch gestern Abend waren sie in der Wohnung vernommen worden. Das Porzellan war schon beschlagnahmt, um wenigstens zu retten, was noch zu retten war.

Auch heute klingelte es unausgesetzt. Zeitungsreporter, Anfragen vom italienischen Konsulat, Kriminalbeamte kamen.

Und Baumers hätten sich doch so gern einer dumpfen Betäubung, welche die Wirklichkeit nicht erkennt, hingegeben.

»Ach, diese Schande, diese Schande, die überlebe ich nicht!«, schluchzte Frau Baumer in ihrer Ecke.

Es war das erste Mal, dass sie diese Worte gebrauchte, eigentlich dass sie überhaupt deutliche Worte hören ließ.

Da erhob sich Hannchen plötzlich aus ihrer Ecke, plötzlich waren ihre Tränen versiegt, hoch aufgerichtet stand sie da.

»Was für eine Schande meinst Du denn, Mama?«

»Wir den Raubmörder beherbergt — —«

»Mama! Haben wir denn etwas davon gewusst?«

»Das Porzellan — die elftausend Mark — —«

»Glaubst Du denn, ich hätte auch nur eine Mark angenommen, hätte ich nicht geglaubt, sie auf ehrliche Weise zu verdienen?«

»Die Milch — —«

»Hat diese Mark Dein Gewissen schon vorher beschwert? Dann, liebe Mama, hättest Du sie allerdings niemals annehmen dürfen. Mein Gewissen hat sie nie beschwert.«

»Aber die Schande, die Schande!«

»Ja, was denn nur für eine Schande?«

»Es steht doch in allen Zeitungen«, weinte die Mutter, »mit unseren Namen — und wie das gedeutelt worden ist — Du bist mit ihm in einem Hotel gesehen worden — mit dem Raubmörder hast Du diniert — wir kommen vor Gericht — und wie die Leute auf uns mit den Fingern zeigen werden — —«

»Ja, Mama, ist das alles nicht eigentlich herrlich?«

Verwundert hob die Weinende den Kopf.

»Herrlich?!«

Das Mädchen antwortete nicht, wandte sich um, ging nach dem Bücherschrank, nahm ein großes, dickes Buch heraus, blätterte flüchtig darin und las mit klarer Stimme:

Der Landpfleger sagte: Was hat er denn Übles getan? Sie schrien aber noch

mehr und sprachen: Lass ihn kreuzigen! Da aber Pilatus sah, dass er nichts

schaffte, sondern dass ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser und

wusch die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an dem Blute

dieses Gerechten; sehet Ihr zu. Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein

Blut komme über uns und unsere Kinder. Da gab er ihnen Barnabam los; aber

Jesum ließ er geißeln und überantwortete ihn, dass er gekreuzigt würde. Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesum zu sich in das Richthaus und

sammelten über ihn die ganze Schar; und zogen ihn aus und legten ihm einen

Purpurmantel an und flochten eine Dornenkrone und setzten sie auf sein

Haupt, und ein Rohr in seine rechte Hand, und beugten die Knie vor ihm und

spotteten ihn und sprachen: Gegrüßet seist Du, der Juden König. Und speieten

ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit sein Haupt — und führeten

ihn hin, dass sie ihn kreuzigten.

Hannchen stellte die Bibel zurück und wandte sich wieder um.

»Hast Du gehört, Mutter? Sie spien ihn an und schlugen ihm den Stock um den Kopf — und an anderer Stelle steht, dass sie ihm Bubenstreiche versetzten und ihn auch nochmals geißelten — ihn, den König der Liebe, der einst hoheitsvoll die ihn Umstehenden fragte: Welcher ist unter Euch, der mich einer Sünde zeihen kann? Ihn, vor dem jetzt jeder König demütig seine Knie beugt — beugen muss, ob er will oder nicht. Und wir sollten nicht einmal diese kleine, harmlose Verachtung ertragen können, da wir doch ganz unschuldig sind? Mutter! Wenn ich vor dem Untersuchungsrichter stehe und wenn ich auf der Straße gehe und die Leute deuten mit Fingern auf mich, so will ich sprechen: Herr, verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun — sie kennen die Wahrheit nicht, sind im Irrtum — das weißt Du, Gott, ja am besten — und was ich jetzt leide, das wirst Du mir dereinst vergelten öffentlich — und wenn mich der Jammer doch einmal übermannen will, so will ich mitten auf der Straße stehen bleiben und mit erhobenen Händen singen: ›O Haupt voll Blut und Wunden‹!«

Mit staunender Ehrfurcht blickten die Kinder zu der betenden Schwester empor. Sie war sonst durchaus keine Heilige, ging sogar recht selten in die Kirche. Die Mutter aber erhob sich, breitete die Arme aus, sie weinte an der Brust der Tochter weiter, aber das war jetzt ein ganz anderes Weinen, ein erlösendes.

Ja, wer sie nicht kennt, die Kraft der Religion, der ist sehr zu bemitleiden. Denn es ist eine ganz reelle Kraft. Über kurz oder lang wirft ihn das Schicksal doch einmal nieder. Der religiöse Mensch aber schreitet lächelnd über solche Kleinigkeiten hinweg, über die jener stürzt, dann jammernd am Boden liegend, wenn er sich nicht gar zerschmettert.

Hannchen drückte die Mutter sanft auf das Sofa zurück.

»Nein, Mama, deshalb habe ich nicht geweint, sondern nur über den armen, armen Menschen.«

Es klingelte.

»Mache nicht auf, Hannchen, das ist wieder ein Zeitungsreporter.«

»Wir müssen stets öffnen. Es kann auch ein Kriminalbeamter sein. Und wir haben doch überhaupt gar keinen Grund, feige zu sein.«

Sie öffnete. Den älteren, vornehmen, wohlbeleibten Herrn musste sie doch schon einmal — —

»Kommerzienrat Gehrling«, stellte der sich gleich vor. »Nicht wahr, hier wohnt doch die Mutter von Herrn Richard Baumer, der bei mir ist, der jetzt in Amerika montiert?«

»Bitte, treten Sie ein, Herr Kommerzienrat.«

Er zögerte etwas. Das Mädchen sah ja auch freilich verweint genug aus.

»Hier ist doch nicht etwas passiert?«

»Haben Sie es noch nicht gehört?«

»Nein, was denn?«

»Bitte, treten Sie doch ein, Herr Kommerzienrat. Kein Todesfall, kein Unglück — wir sind öffentlich verleumdet worden.«

»Nu, das kann jedem mal passieren«, sagte der alte Herr, im Eintreten den Hut abnehmend. »Ich soll früher ooch mal gemaust haben.«

Hannchen musste unter den letzten, noch an den Wimpern hängenden Tränen lächeln. Das war ja ein prächtiger alter Herr. Sie führte ihn ins Wohnzimmer und machte die Tür zur guten Stube noch weiter auf.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Kommerzienrat. Sie kommen wohl wegen meines Bruders Richard?«

»Ja. Sie wissen warum?«

»Ich glaube doch, dass wir dasselbe meinen. Ist es etwas Erfreuliches, was Sie uns über ihn mitzuteilen haben?«

»Ei gewiss, etwas sehr Erfreuliches.«

»Dann gestatten Sie, dass ich die Tür zum Nachbarzimmer offen lasse. Meine Mutter ist drüben, sie ist zu angegriffen, um Sie empfangen zu können, und es wird ihr sehr gut tun, etwas Erfreuliches zu hören, besonders wenn es unseren Richard betrifft.«

»Sehr hübsch gesagt, Fräulein! Sie sprechen überhaupt wie ein Buch. Ja, also Sie wissen die Geschichte, wie der jetzt das Fleisch und den Sauerkohl und den Käse und den ganzen anderen Quark zu inspizieren hat und für diese Faulenzerei achttausend Dollars bekommt?«

»Ist es denn nur wirklich Tatsache?«

»Ja, das möchte ich Sie fragen.«

»Er hat uns geschrieben, kann aber selbst keinen triftigen Grund angeben, wie er dazu gekommen ist.«

»Haben Sie den Brief hier? Wollen Sie mir nicht die betreffende Stelle vorlesen?«

»Bitte, lesen Sie doch gleich den ganzen Brief.«

»Mir ooch recht.«

Er setzte einen goldenen Kneifer auf, ganz vorn auf die Nasenspitze, hielt den Brief in Armlänge von sich ab und bewegte beim Lesen die Lippen.

»Na ja, da haben wir's ja«, sagte er dann. »Nun ist für mich alles erklärt. Das Stiftchen ist daran schuld. Gewiss, es liegt unbedingt ein Irrtum vor, aber das Stiftchen klärt ihn auf. Ihr Bruder ist Zeichner, bekommt zwar weniger als ein Schlosser, gehört aber doch mehr zu den Ingenieuren, schon durch seine Kleidung, durch sein Aussehen, durch sein Benehmen. Er bringt die Maschine wieder in Gang. Das sieht ein Direktor. Nun wollen die da drüben gar zu gern einen Ingenieur von mir haben, der in meine neuen Patentmaschinen ganz genau eingeweiht ist, um sich unabhängig von mir zu machen. Mausen können sie ja das Patent nicht, aber — ich weiß schon, sie wollen so einen von mir gar zu gern auf ihrer Seite haben. Nun geht der Direktor schnell zum Generalmeister: Hören Sie, so und so, da ist so'n deutscher Michel, ein Ingenieur von dem Vagabunden, dem Kommerzienrat Gehrling da drüben, dem ist gerade das und das passiert, den können wir jetzt ködern! Es ist gerade die Stelle vom Wirtschaftsinspektor frei, da schieben wir den einstweilen hinein. Der bringt uns dann später alle die deutschen Arbeiter von dem Vagabunden, dem Kommerzienrat Gehrling, herüber. Sehen Sie, so ist's gekommen. Ich kenne die Amerikaner ooch 'n bisschen. Und was spielen denn bei denen achttausend Dollars für eine Rolle. So viel wie bei mir acht gute Taler. Und ich bin doch ooch nich von Pappe. Na was gibt's denn da zu lachen?«

Ja, Hannchen musste herzlich lachen. Vergessen war aller Kummer.

»Sehen Sie, dass ich heute der Kommerzienrat Gehrling bin, daran ist eine Schnapspulle schuld. Sie glauben's nicht? Passen Sie auf. Ich bin ooch mal Schlossergeselle gewesen. Da war ich einmal in einer großen Werkzeugmaschinenfabrik, hatte erst ein paar Wochen darin gearbeitet, die Stunde für dreißig Pfennige, da kam eines Tages der König, unser guter alter Wilhelm, und wollte die Fabrik besichtigen. Natürlich war er vorher angemeldet, alles vorbereitet. Und unser Alter war auch so'n tüchtiger Kerl, der von der Pike auf gedient hatte. Der wollte nicht, dass den König da so'n erster Ingenieur herumführte, der sonst nicht aus dem Büro herauskam und nun in den Werksälen den Erklärer spielen sollte, wofür er dann einen Orden bekam. Das musste jeder Werkmeister in seinem Saale oder seiner Bude selber tun, alles selber erklären. ›Ach was, nich sprechen können — jeder stottert so gut wie er kann, und wenn Ihr Eure Majestät nicht herausbekommt, da sagt Ihr einfach Herr König oder Herr Geenig zu ihm, da freut sich unser Wilhelm nur!‹

Ich war im großen Hobelsaal, hatte nur Handlangerdienste zu tun. Unser Werkmeister war ein ganz patenter Mensch, trank aber gern een, und als der König kam, hatte er sich gar zu viel Courage angetrunken, konnte nicht mehr Lerchelchen sagen, nicht mehr auf den Beinen stehn. Der Alte erfuhr's natürlich. Und bei uns herrschte Ordnung. Wenn der Werkmeister krank oder besoffen war, dann musste ein anderer da sein, und wenn keiner da war, dann musste einer geschaffen werden. ›Hier, wer wagt's, Rittersmann oder Knapp, den König herumzuführen und ihm alles zu erklären.‹ Ich war gar nicht so großpatzig, da hatten andere viel mehr Rechte als ich und auch eine viel größere Klappe, aber als keiner aus den Reihen trat — na, da tat ich's eben.

Gut, ich führe den König mit seinem Gefolge herum, spreche und erkläre, wie mir der Schnabel gewachsen ist. ›Das haben Sie sehr schön gemacht, Herr Werkmeister‹, sagt Wilhelm, ›wie heißen Sie?‹ — ›Gustav Gehrling, Majestät.‹ — ›Ich danke Ihnen, Herr Werkmeister!‹

Am anderen Tage musste ich zum Alten kommen. ›Seine Majestät unser König hat Sie mit Werkmeister angeredet, und so sollen Sie's auch bleiben. Ich habe mich über Sie erkundigt, Sie sind ein tüchtiger Kerl — jut.‹ Sehen Sie, so wurde ich Werkmeister, doch auch nur so ein Zufall, weil der wirkliche Werkmeister einmal zu tief in die Schnapspulle geguckt hatte. Aber damit ist's noch nicht alle. Zwei Jahre später wird das fuffzigjährige Bestehen der Fabrik gefeiert, mit nem Balle, auch die Werkmeister müssen mitmachen, ich erwische einmal eine Tochter vom Alten. ich hol se noch einmal und schwenk se rum — und bei der Damenwahl holt die mich — na, wissen Se, das wurde mir jetzt doch ein bisschen auffällig — ich kloppe so'n bisschen uff'n Busch — natürlich, die hat sich in mir verkiekt — oder in mich verkiekt? In mir, in mich — na das ist ja ganz egal. Na ja, ich war kein unrechter Mensch, war gut gewachsen — und ich war kein Rülps, hatte ooch meine Bildung, konnte auch über's Theater mitsprechen und de ›Biergschaft‹ und de ›Kindesmörderin‹ von Schillern konnt ich auswendig.

Also ich kloppte nochmals noch nachdrücklicher uff'n Busch. Jawohl, ich sollte nur mal zum Papa gehen. Freilich war sie schon so halb und halb mit 'nem Gardeleitnant verlobt, aber den wollte se nich, und auch der Vater war gar nicht so recht einverstanden, das hatte nur die Mutter zustande gebracht.

Gut, ich mich am nächsten Sonntag in meine beste Kluft geworfen, und ich gehe darauf dreist wie Oskar direkt in die Wohnung vom Alten. Mehr als rausschmeißen konnte er mich doch nicht. Aber der schmiss mich nich raus. Der hörte mich ganz ruhig an. Und dann fragte er mich nich, ob ich Gardeleitnant wäre oder ob ich schon den ›Rienzi‹ gesehen hätte, der fragte mich was ganz anderes. ›Ja, Klärchen hat schon so was gemunkelt. Ob Sie geheimer Legationsrat sind oder Schlossergeselle, das ist mir dabei ganz schnuppe. Aber sage mal, mein Sohn, Du bist doch schon zwei Jahre Werkmeister bei mir, hast in diesen zwei Jahren netto fünftausend Mark von mir bekommen — was hast de denn davon auf die Sparkasse gebracht?‹

Oooh, da konnte ich etwas vorweisen! Sehen Sie, da hab ich se bekommen, de Klärchen. Denn der Gardeleitnant, der hatte nischt uff der Sparkasse.

Dann wurde ich Mitinhaber der Firma, und als der Alte starb und die Fabrik in eine Aktiengesellschaft verwandelt wurde, bekam ich bare siebenmalhunderttausend Taler auf'n Tisch gezählt. Und heute bin ich Kommerzienrat.«

»Und was ist denn aus dem Werkmeister geworden, der damals zu tief in die Flasche gesehen hatte?«

Hoch blickte der alte Herr auf und die Fragerin an, er machte eine Bewegung, als wolle er ihr kräftig aufs Knie schlagen, was er freilich nicht tat.

»Hören Sie, jetzt möchte ich vor Ihnen den Hut abnehmen!«, rief er mit wahrer Begeisterung. »Dass Sie das bei meiner langen Erzählung noch in der Erinnerung behalten haben, dass das gleich Ihre erste Frage ist — dass Sie nun nicht gleich mit Herr Kommerzienrat hinten und vorne anfangen, mir Schmeicheleien sagen und Süßholz raspeln und so, sondern dass Sie gleich wieder nach dem alten Werkmeister fragen, als hätten Sie's gar nicht erwarten können — i Sie sind ja ein Prachtmädel! Nehmen Sie mir diesen Ausdruck nicht übel, ich könnte wohl bald Ihr Großvater sein, und es kam vom Herzen. Nee, wirklich, mein liebes Fräulein, solche Menschen wie Sie findet man heutzutage selten.«

»Und was wurde nun aus dem alten Werkmeister?«, lächelte das Mädchen mit ernsten Augen.

»Nu, ich danke, dem ging es noch recht gut. Er ist deshalb nicht etwa fortgejagt worden, er war nicht etwa ein Söffel, o nein. In der Arbeit ganz nüchtern. Nur zum Frühstück und zum Vesper trank er seinen normalen Schnaps. Aber freilich, wie der König kam, da ist's ihm eben mal passiert. Dann ist ihm ein Bein abgehobelt worden, da hatte er schon seine fünfundzwanzig Jahre hinter sich, bekam eine schöne Pension — na, da hat er sich so sachte unter die Erde gekümmelt.«

Der Kommerzienrat zog aus der hinteren Rocktasche ein weißes Taschentuch hervor, betrachtete es, steckte es ungebraucht zurück, brachte dafür ein rotes zum Vorschein und trompetete hinein.

»Ja. Da wäre die Sache erledigt. Ich wollte nur wissen, ob Sie mehr davon wüssten. Nun weiß ich's.«

»Richard hat auch Ihnen geschrieben?«

»Natürlich. Er ist doch bei mir in Stellung, musste erst kündigen. Aber mein erster Ingenieur drüben erlaubte ihm, dass er sich gleich in sein Wurscht- und Käsebüro setzte, und so ist's ja gut. Dann teilte es mir auch der Ingenieur mit und die Generaldirektion schrieb mir deswegen. Alles in Ordnung. Da ist nicht mehr dran zu tippen. Im Jahre achttausend Dollars, alljährlich um fünfhundert steigend, und der zehnte Teil davon immer Pension — so ein Glück habe ich mit solchen Jahren nicht gehabt.«

»Es ist Ihnen aber wohl nicht recht, Herr Kommerzienrat?«, fragte Hannchen leise.

»Was, nicht recht?«

»Dass Richard Sie nun so ohne Weiteres verlässt — dass er die unverdiente Stellung annimmt.«

»Was? Mir nicht recht? Ich? Na hören Sie mal, der Junge wäre doch ein Einfaltspinsel, wenn er da nicht mit beiden Händen zugriffe! Immer rin mit'n Gelde in den Sack! Wenn er jetzt nur nicht etwa die erste beste schlumpige Amerikanerin heiratet, denn an Heiratsanträgen wird's dem nun nicht fehlen. Die Weibsbilder sind dort drüben noch viel verrückter als hier. Ich war ooch mal drüben. Wollen Sie denn nun alle hinüber, wie er in dem Briefe wiederholt bittet? Er macht selber eine starke Andeutung, dass es für ihn das beste wäre.«

»Ach, am liebsten gleich, noch heute!«, wurde das Mädchen wieder von etwas Schwermut befallen. »Aber das ist nun vorbei!«

»Warum denn? Ja was ist denn eigentlich hier passiert? Darf man's nicht erfahren?«

»Haben Sie's heute früh noch nicht in der Zeitung gelesen? Unser Name und die Adresse und alles ist ja mit angegeben, und es steht doch sicher in allen Zeitungen.«

»Ich habe heute früh in der Tante Voß nur den Leitartikel gelesen.«

»Hier, lesen Sie.«

Sie gab ihm die Zeitung, er setzte wieder den goldenen Kneifer auf die Nasenspitze, und je länger er las, desto höher schob er die weißen, buschigen Brauen auf der Stirn empor, bis sie fast auf der Glatze saßen.

»Au, das ist faul! Wie sind Sie denn zu dem gekommen?«

Hannchen teilte ihm alles mit, ziemlich ausführlich, wenn auch so kurz wie möglich.

»Was ist denn das mit der Porzellanmalerei für elftausend Mark?«

»Ja, wir waren zusammen in einem Porzellangeschäft, dort wurde so viel für die Übertragung der Malerei verlangt — —«

»Elftausend Mark? Was ist denn das nur für eine Malerei?«

Das Probeporzellan, schon vollständig gemalt, besaß Hannchen noch. Sie hatte gestern Abend nur eine Andeutung zu machen brauchen, dass das doch eigentlich ihr Eigentum sei, sie konnte doch auch das Schreiben der Meißner Fabrik vorzeigen, so hatte der Beamte sofort seine Hände davon gelassen.

Sie brachte einen Speiseteller und eine Teetasse.

»Das ist es.«

»Das ist es?«, wiederholte der Kommerzienrat und ließ seine Brauen wieder zur Glatze hinaufrutschen.

»Es ist ein Service von zehn Stück.«

Sie setzte alle zehn Stück auf den Tisch. Die Brauen rutschten nur ein wenig herab.

»Ja, das sieht allerdings prachtvoll aus. Aber für diese zehn Stück elftausend Mark — —«

»O nein, von jedem drei Dutzend, zusammen dreihundertsechzig Stück, und dann noch die großen Terrinen, Saucieren und Schüsseln.«

»Aaah sooo! Ja, Bauer, das ist etwas anderes, das hätten Sie doch gleich

1 Gemeint ist die damals in Berlin erscheinende Vossische Zeitung. sagen sollen! Davon steht aber doch gar nichts in dem Artikel, da denkt man womöglich immer nur an ein einziges Stück, etwa an eine Vase.«

»Das ist es ja eben!«, wollte Hannchen wieder etwas zu weinen anfangen.

Er warf ihr einen Blick über die Klemmergläser zu, nahm dann einige Stücke und betrachtete sie aufmerksam.

»Was kostet das ganze Zeug?«

»Das Porzellan fünftausend Mark, oder eigentlich siebentausend Mark, ich hab's zum Engrospreis bekommen.«

»Also zusammen mit der Malerei regulär achtzehntausend Mark.«

»Ja.«

»Hm. Ich verstehe auch etwas davon. Habe zur silbernen Hochzeit so ein großes Service bekommen, aber nur zweihundert Stück, längst nicht so feines Porzellan und längst, längst nicht so prachtvolle Malerei, und das hatte zehntausend Mark gekostet. Wenn so'n verflixtes Dienstmädel was davon zerschmeißt, dann merke ich's allemal. Meine Frau zieht's dem Küchenbesen allemal vom Lohne ab und ich muss es dem Mädel heimlich wieder zustecken. — Wie lange malen Sie denn an den dreihundertsechzig Stück?«

»Ein ganzes Jahr mindestens.«

»Täglich?«

»Täglich mindestens dreizehn volle Stunden, und auch den Sonntagvormittag, und da darf ich mich nicht dabei umdrehen. Das habe ich mir schon genau ausrechnen können.«

»Und das ein ganzes Jahr lang?! Ja, mein liebes Fräulein, was wollen Sie denn eigentlich? Da sind elftausend Mark doch gar nicht zu viel? Wenn solche Kunst nicht bezahlt wird, was soll denn dann sonst bezahlt werden? Und nun bei solch einer Schinderei! Na, was wollen Sie denn nur eigentlich?«

»Ich will ja gar nichts«, musste die junge Künstlerin wieder unter halben Tränen lächeln, »aber die Zeitungen — —«

»Ach die Zeitungen! Das ist doch nur der erste Bericht, nur Strohfeuer, das wird alles anders, das darf man sich doch nicht gleich so zu Herzen nehmen. Denken Sie mal an so'n hohen Staatsbeamten, an einen Minister, wenn der einmal in der Politik einen Schnitzer macht, wie die Zeitungen über den herziehen, wenn der sich alles zu Herzen nehmen wollte — i, der käme ja aus den Weinkrämpfen gar nicht mehr heraus. Nee, bei so was muss man sich als nickelstahlgepanzertes Rhinozeros fühlen. — Sie geben das Geld einfach wieder — hat er Ihnen denn die elftausend Mark gleich bezahlt?«

»O nein. Ich bekam es von ihm stückweise bezahlt, habe überhaupt erst dreihundert Mark von ihm erhalten, und die habe ich fast schon für die Farben ausgegeben.«

»Na da! Na da! Das wird ja immer besser! Wollen Sie nun nicht auch noch davon anfangen, dass er Ihnen für den Liter Milch eine Mark gegeben hat?«

»Ja, das nimmt sich jetzt besonders meine Mutter so zu Herzen — —«

»Na, nun hören Sie aber auf! Das ist einfach Papperlapapp! Ich war jetzt eben in Belgien. Da habe ich für ein kleines Gläschen Milch einen Franc zahlen müssen. Und nicht etwa in einem Hotel, sondern auf einem Gute, auf einem Bauernhof! Die Bauern dort oben sind jetzt nämlich auch schon dahintergekommen, dass von den Lebend'jen mehr zu kriegen ist als von den Toten. Doch sagen Sie, stimmt es, dass Sie mit dem Zimmerherrn in Restaurants gewesen sind?«

»Nur ein einziges Mal, als wir vormittags in dem Porzellangeschäft gewesen sind. Dann waren wir zusammen in der Gemäldegalerie, dann lud er mich ein, mit ihm zu Mittag zu speisen.«

»Hat er sich denn da anständig betragen?«

»O, ich habe Ihnen doch schon erzählt, wie der sich hier bei uns geführt hat.«

»Hat er sich Ihnen denn gleich als Anarchist und Raubmörder vorgestellt? Nicht? Ja, wie konnten Sie denn da wissen, dass das so einer war? Warum sollen Sie denn nicht mit einem sich anständig betragenden Herrn, den Sie in der Familie aufgenommen haben, einmal ausgehen und mit ihm in einem Restaurant essen? Dazu sind nämlich solche Lokale von Amts wegen da, dass man hineingeht, wenn man hungrig und durstig ist. Und nun überhaupt: Hat denn der Mann schon gestanden, dass er jener Raubmörder Vecchino wirklich ist? Oder ist er davon überführt worden? Wer sagt denn, dass er es auch wirklich ist? Da darf man nicht eher urteilen, als bis das alles klipp und klar bewiesen ist, und dann muss man noch immer sehr, sehr vorsichtig sein. Sehen Sie mich an, ich habe in meinen jungen Jahren ooch mal drei Monate gesessen. Und nicht etwa nur in Untersuchungshaft, sondern habe sie richtig im Kittchen abgebrummt. Ich sollte einen Zentner Kupferdraht gemaust haben. War mir gar nicht im Traum eingefallen. Äppel habe ich als Junge gemaust, sonst noch nischt weiter. Aber ich wurde scheinbar überführt, wurde zu drei Monaten verdonnert. Und mein Vater hat vor mir ausgespuckt! Und wie ich wieder herauskomme, da gesteht so ein Lumich, dass er's gewesen ist. Ja, was war da nun zu machen? ›Entschuldigen Sie gütigst, es war ein Irrtum, soll nicht wieder vorkommen.‹ So konnte man mir vor Gericht nur sagen. Und mein Vater war unterdessen gestorben! Sehen Sie, so was wurmt! Wem so was mal passiert ist, der urteilt nicht mehr so schnell über einen anderen. Das ist bitter.«

Der alte Herr zog sein rotes Taschentuch, betrachtete es, steckte es zurück, nahm das weiße und fuhr sich einmal über die Augen.

»Sehn Se, mein liebes Fräulein, ich habe ooch gesessen, in allen Zeitungen hat's gestanden — und heite bin ich Kommerzienrat mit'n ganzen Haufen Orden. Was hat's denn bei seiner Verhaftung hier für einen verzweifelten Kampf gegeben?«

»Ach, wenn ich es mir jetzt in Ruhe überlege — so furchtbar war es gar nicht. Er schleuderte nur die Männer zur Seite, die ihn fesseln wollten, dem einen, der gegen ihn den Revolver hob, schlug er auf den Arm, dann besann er sich, hielt ruhig die Hände hin, dass man ihn fesseln konnte.«

»Sonst nischt weiter? Ja der Deiwel, soll man sich immer alles ruhig gefallen lassen! Als ich damals verhaftet wurde — habe ich dem Beamten auch einen Kunks in den Bauch gegeben, dass er sich gleich hinsetzte. Erst war das Widerstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung und Gott weiß was, ich hätte noch ein paar Wochen brummen müssen. Dann aber, als sich meine Unschuld nachträglich herausstellte, war es impulsive Notwehr gewesen. Da wurde ich auch noch um Entschuldigung gebeten. — Na, mein liebes Fräulein, ich weiß ja, wie's Ihnen allen jetzt zumute ist. Fatal ist's und bleibt's natürlich, und wo man Sie erkennt, da werden sich alle Hälse nach Ihnen verrenken. Ja, wenn Sie zu Ihrem Bruder nach Amerika wollen, dann fahren Sie doch so bald wie möglich?!«

»Am liebsten noch heute! Wir alle! Wenn's nur möglich wäre!«

»Was hindert Sie denn? Fehlt's am Geld?«

»Ach, daran liegt's nicht«, musste das Mädchen immer wieder lächeln, so ernst doch eigentlich auch alles war, »aber nun kommt doch erst das Gerichtsverfahren —«

»Was denn für ein Gerichtsverfahren? Liegt ein Verhaftungsbefehl gegen Sie vor? Haben Sie schon eine Vorladung bekommen?«

»Nein, das noch nicht, aber wir brauchen doch einen Reisepass — —«

»Nach Amerika? Braucht kein Mensch. Und wenn Sie nicht durch Staatsgewalt hier festgehalten werden, können Sie hinreisen, wohin Sie wollen. Aber Sie haben ganz recht, schleichen Sie nicht wie ein Flüchtling mit schlechtem Gewissen davon. Lassen wenigstens Sie sich einen Reisepass ausstellen. Dazu müssen Sie erst ein Leumundszeugnis von Ihrem Polizeiamt haben. Haben Sie etwas auf dem Kerbholze? Na, was denn, das kann doch jedem passieren. Sie können doch jemandem aus dem Fenster einen Blumentopf auf den Kopf geworfen haben. Ooch nich? Gar nischt? Da sind Sie besser dran als ich. Gehen Sie nur auf Ihr Polizeiamt, da werden Sie schon erfahren, ob man etwas gegen Sie hat. Nur immer dreist und gottesfürchtig. Verhaun kann man einmal werden, aber ausreißen gibt's bei uns nicht. Wollen Sie gleich jetzt gehen? Dann komme ich gleich mit. Ich habe heute gerade Zeit. Ich gehe mit auf die Polizei und aufs Passbüro. Ziehen Sie sich an. Schtiebeln an und Hut auf — angezogen sin Se ja sonst.«

»Ach, Herr Kommerzienrat, Sie sind zu liebenswürdig — —«

»Nenee, liebenswürdig bin ich gar nicht, meine Leute wenigstens wissen davon nischt. Bei mir pfeift's manchmal. Wollen Sie denn gleich alle Möbel mitnehmen?«

»Nein, die bleiben vorläufig noch hier. Wir müssen ja eigentlich auch noch diese Wohnung ein dreiviertel Jahr behalten, indem wir erst am letzten September für den ersten April kündigen können.«

»Wie wollen Sie's denn da machen?«

»Das übergeben wir einem Spediteur. Wenn wir ganz drüben bleiben sollten, wird uns alles nachgeschickt.«

»So ist's recht. Aber einiges nehmen Sie doch mit.«

»Ja, einiges, was uns besonders an's Herz — —«

»Wie zum Beispiel die Nähmaschine dort.«

»Ja, die nehmen wir unbedingt mit!«

»Und da geht's unter Umständen wirklich schon heute fort?«

»Na, hoffentlich morgen. Die Abmeldung der Kinder von der Schule muss überhaupt schriftlich geschehen, jetzt sind Ferien, wir haben keine Abschiedsbesuche zu machen — —«

»Wissen Sie was, ich werde Ihnen zwei Packer herschicken mit Kisten. Ich habe im Packraum ein paar Faulenzer, die sehen schon früh um achte immer nach der Uhr, ob's nicht bald Feierabend ist. Und Kisten haben Sie doch nicht, und ich weiß nicht wohin damit. Und was so besser verpackt werden muss wie dort die Nähmaschine«, er zog aus der Brusttasche eine Schmiege, »da werde ich gleich selber ein bisschen Maß nehmen — hopsa — heben Sie mir mal meinen Zollstock auf, ich kann mich schlecht bücken — so, ich danke Ihnen, mein liebes Fräulein — wenn Sie erst mal so dick sind wie ich, können Sie sich ooch nich mehr gut bücken — na nu ziehen Se Ihre Schtiebeln an — —«

Hannchen schloss hinter sich die Verbindungstür.

»Glaubst Du denn, Mutter, dass es gute Engel gibt, die Gott einem, wenn man in der größten Not ist und an allem verzweifeln will, zum Trost und zur Hilfe schickt?«

»Ich glaube es!«, erklang es feierlich zurück.

Als Hannchen zum Ausgehen fertig zurückkam, fand sie bei dem dicken Engel mit der weißen Weste die Mutter und Kinder.

Die beiden hatten etwas besprochen, wahrscheinlich Geldangelegenheiten, soeben schüttelte der Kommerzienrat, den Klemmer auf der Nasenspitze, gegen Frau Baumer wie warnend den Zollstock, als wäre es sein verlängerter Zeigefinger.

»Sie haben ganz recht, meine liebe Frau Baumer. Ganz meine Meinung. Vernehmen Sie den Rat eines alten, erfahrenen Mannes: Man kann noch so'n armes Luder sein, aber uff'n paar Pfennige muss man heutzutage halten, sonst is man verratzt!«

Ach, Hannchen bedauerte nur, dass sie nicht diese ganze Unterhaltung mit angehört hatte! Jedes Wort, das aus dem Munde dieses Mannes kam, war ja einfach köstlich!

Bei ihrem Anblick wandte er sich gleich wieder ihr zu, lebhaft wie immer.

»Was, diese Zaubernähmaschine hier ist von meinem Werkmeister Schulze?! Das ist ein Freund von Ihrem Bruder?! Der kommt oder kam jeden Sonntag Abend hierher?! Ich habe ja vorhin in dem Briefe etwas von einem August gelesen, ich dachte ja gleich an meinen Werkmeister Schulze, aber dass es so ist, konnte ich doch nicht ahnen. Hören Sie, auf diesen Schulze halte ich die größten Stücke! Mit dem habe ich, wenn mich der liebe Gott so lange leben lässt, noch etwas vor. Er ist noch jung, auch noch ein bisschen zu hitzig, hat manchmal ein bisschen die große Klappe — aber das legt sich mit den Jahren. Wenn mal mein alter Direk... — doch davon darf man nicht sprechen. Das ist ein Prachtkerl, dieser Schulze! Wenn ich den sehe, muss ich immer an mich selber denken in meinen jungen Jahren. Ich hatte ooch so immer die große Klappe. Und dennoch ein Prachtkerl! Wenn ich eine Tochter hätte, und der käme, die beiden wären sich einig: ›Da habt Ihr Euch!‹, würde ich sagen. Da ist hier wohl was im Gange, was, wie, he?«, setzte er schmunzelnd und augenblinzelnd hinzu.

Das errötende Mädchen wusste schnell eine Ablenkung, freilich für ihren Zweck, solch einen »Verdacht« unmöglich zu machen, nicht eben eine glückliche.

»Es ist nicht das erste Mal, dass ich den Herrn Kommerzienrat sehe, und da war auch August dabei.«

Der alte Herr sah das Mädchen starr an.

»Ja, mir ist doch auch fortwährend, als ob ich Sie schon gesehen hätte — und richtig — erst neulich — ich muss Ihr Gesicht immer mit meinem Schulze zusammenbringen — wenn ich Sie mir vorstelle — mit so'n großen Hut uff'n Koppe — —«

»Vor noch nicht vierzehn Tagen, der Herr Kommerzienrat speisten im Hotel von — —«

»I nu natierlich! Das waren Sie! Jetzt erkenne ich Sie wieder! Schulze war in meiner Wohnung gewesen und kam mit der Rohrzange herein! Und Sie redeten ihn an und gaben ihm die Hand — —«

Plötzlich brach der alte Herr ab, fuhr sich nach dem Kopfe, sah sich um.

»Wo ist mein Hut. Ich möchte ihn aufsetzen und ihn vor Ihnen abnehmen! Fräulein, dass Sie dem Arbeiter in dem Speisesalon die Hand gegeben haben, das habe ich meiner Frau schon ixmal erzählt und ich fange immer wieder davon an, weil sie's nicht glauben will. Die sagt, solche Mädels gäbe es heutzutage gar nicht mehr, die so was machten, wenn sie eine feine Kladderadasche anhaben. — Das waren Sie?! Fräulein, jetzt gehen wir zusammen auf die Polizei, und wenn man da etwas gegen Sie hat, dann gehen wir erst recht Arm in Arm zu ›Dressel‹ und trinken eine Flasche Champagner, und wenn ich heute zu spät zum Mittagessen komme und meine Frau schimpft, dann weiß ich, was ich zu sagen habe — —«

Als sie aus der Vorsaaltür traten, wurden sie schon erwartet. In diesem Hause wurde selten ein Dienstmädchen gehalten, schon seit frühester Morgenstunde machten sich heute die lieben Nachbarsfrauen auf den Treppen zu schaffen, um bei der Familie Baumer allen Ein- und Ausgang zu kontrollieren, immer in der Hoffnung, Frau Baumer und besonders die älteste Tochter selbst einmal mit einem Blicke zu erhaschen. Und endlich, endlich war der heißersehnte Moment gekommen!

»Ja ja, Hochmut kommt vor dem Fall!«, rief die eine der lieben Nachbarsfrauen zur anderen hinauf, natürlich ohne jeden Bezug auf die Anwesenden, nur so im Laufe des Gesprächs.

»Ja, und alte Herren bezahlen manchmal noch mehr als junge!«, erklang es zurück.

»Haben Sie's gehört?«, sagte der Kommerzienrat. »Hochmut kommt vor dem Fall. Und weil ich gar so hochmütig bin, geben Sie mir lieber den Arm, damit ich nicht falle. Die Stufen sind ein bisschen steil für mich. Also ich bringe Sie erst auf die Polizei, dann machen wir bei ›Dresseln‹ ein feines Frühstück mit Champagner, nicht wahr? Sie trinken doch mit?«

»So viel Sie wollen, Herr Kommerzienrat«, lachte Hannchen.

Sonst freilich hätte sie nicht gelacht, hätte auch nichts zu lachen gehabt, bei diesem Spießrutenlaufen.

Erst nach drei Stunden kam sie wieder zurück, mit einer Automobildroschke vorgefahren.

Die Mutter erschrak, als sie die glühenden Wangen der Tochter sah, und nun gar erst diese Augen!

»Hannchen, was ist geschehen, was war auf der Polizei — —«

Aber jubelnd nahm Hannchen sie in ihre Arme.

»Mama, ich hab einen Aal gehascht! Wir haben bei ›Dressels‹ zwei ganze Flaschen Champagner getrunken! Ich hab 'nen Aal!«

Außer dem Aal aber hatte sie auch noch den Reisepass mitgebracht. Sie hatte gar keine Schwierigkeit dabei gehabt, der Kommerzienrat wäre gar nicht nötig gewesen.

*

Es war am Abend des folgenden Tages.

Der Schnellzug Berlin—Hamburg hielt in Wittenberge.

Hannchen kaufte eine Berliner Zeitung, eigentlich ein Morgenblatt, schon für den anderen Tag bestimmt.

Die fettgedruckten Über- und Zwischenschriften genügten.

Der italienische Raubmörder Vecchino ausgebrochen — verwegenste Flucht — Eisenstäbe einfach herausgerissen — zwei Stockwerke hoch herabgesprungen — über alle Mauern gesetzt — ganz unbegreiflich — scheinbar unverletzt entkommen — bisher noch nicht wieder gefasst.

Über Leichen hatte er dabei nicht gehen müssen, sich an keinem Menschen vergriffen. Verhört war er noch nicht gewesen.

Nun, wenn man etwa noch daran gezweifelt, dass jener Titus Leonardo dieser Anarchist und Raubmörder Vecchino war — durch diesen tollkühnen Ausbruch hatte er sich selbst verurteilt.

»Siehe auch unter Lokal-Nachrichten.«

Da wurde noch einmal die Familie Baumer vorgenommen, bei welcher der Raubmörder gewohnt hatte. Jetzt aber ganz, ganz anders. Jetzt waren sie alle zusammen die reinen Engel.

Die Erklärung auf der letzten Seite, den halben Raum einnehmend, wäre wirklich nicht mehr nötig gewesen.


Ich Unterzeichneter habe mich über die Familie der Frau verw. Baumer, deren Sohn bei mir angestellt ist, persönlich erkundigt und werde jeden Verleumder als einen Ehrabschneider unnachsichtlich strafrechtlich belangen lassen.

Gustav Gehrling, Kommerzienrat.

*

»Stillgestanden! Riehrt eich! Du, Fritze, wenn stillgestanden kommandiert ist, dann wird nicht mehr am Beine gekratzt! Stillgestanden! Richt eich! Der dritte Vordermann etwas weiter raus — feixe nich, Emil — den Bauch einziehen, Oskar — Du, Moritz, wenn de primst, dann darfst de nich dabei denken, de wärst ä Ochse, der ein Zentner Heu wiederzukauen hat. Na, eich Brieder werde ich ja heite noch bimsen! Augen grade — aus!! Nich feixen, Emil! Das Geweeeehr — iwwer!! So, das klappte ja ziemlich. Abteilung — Gottlieb, Du hebst Deine Stelze eine Stunde zu früh und außerdem ist's die rechte — Abteilung — marsch! Links rechts, links rechts — höher, höher de Beine! — links rechts, links rechts — Lehmann, Du trägst ein Gewehr und keine Mistgabel — links rechts, links rechts, links rechts — immer die Kniekehlen durchgedrückt, dass die Kniescheiben hinten herauskommen — links rechts —«

So erklang es in der sechsten Abendstunde auf der Prärie.

Ja, auf der nordamerikanischen Prärie, die sich, nachdem sie lange sonnenverbrannt gewesen, nach der Regenzeit noch einmal für den sogenannten indianischen Sommer mit frischen Blumen zu schmücken begann.

Gegen zehn geografische Quadratmeilen groß war das Tal, welches von seitlichen Ausläufern des Felsengebirges und diesem selbst eingeschlossen wurde. Dicht an die himmelhohen Felswände, von denen viele mächtige Wasserfälle herabbrausten, schmiegten sich die endlos langen Gebäude an, in denen gegen 20 000 Menschen in drei Schichten Tag und Nacht arbeiteten, mit Ausnahme des Sonntags von Mitternacht zu Mitternacht. Östlich davon lagen die Wohnungen dieser Arbeiter, eine Stadt mit 35 000 Einwohnern; und im Westen auf einer Terrasse die zum Teil prächtigen Häuser der höheren Beamten, wieder eine kleine Stadt für sich bildend. Auch von dieser Terrasse, dem Moor Hill, stürzten noch Wässer als Kaskaden herab, sich mit dem Strome vereinend, der nach Westen abfloss, erst durch das ganze Tal, dann in einer Schlucht durch das Gebirge brechend.

Dieses ganze, man darf wohl sagen, ungeheure Tal, von dem die Stadt und Spinnerei doch nur den hundertsten Teil einnahm, hatte den Ahnen der letzten Gebrüder Moor schon zu den Indianerzeiten gehört, als hier noch die jetzt ausgestorbenen Creeks gehaust hatten. Daher wird auch dieses Seitengebirge, welches dieses Tal im Süden und das Gebiet des Sklavensees im Norden begrenzt, zwischen beiden eine unübersteigbare Scheidewand bildend, das Creek-Gebirge genannt.

Das ganze Tal war ein ungeheueres Kohlenbecken und Eisenlager. Ein Kapital von mindestens hundert Millionen Dollars lag hier brach. So viel hatte das vereinigte Kohlen- und Eisenbau-Syndikat von Nordamerika schon wiederholt geboten, bisher ohne Erfolg.

Vorläufig war das alles noch eine urwüchsige Prärie, im Nordwesten gab es noch richtige Urwälder wie drüben am Sklavensee, das aus dem Gebirge kommende Hochwild hätte noch Trapper ernähren können, der Fang von Bibern und Waschbären bildete noch heute einen Sport der jagdlustigen Bevölkerung von Moorfield, selbst der Baribal, der schwarze Bär, kam noch sehr häufig vor, und tiefer drin im Gebirge konnte man sogar noch ein Renkontre mit dem grauen Bären erleben, wobei sich meistenteils der Jäger in den Gejagten verwandelte. Und außerdem wimmelte es an den beschilften Ufern des Stromes von Wasservögeln aller Art.

Eine Viertelstunde von der Spinnerei entfernt stand auf freier Prärie ein kleiner, niedriger Steinbau, das Pulverhaus, das Munitionslager der Miliz, die wie jede Stadt und Ortschaft auch das sonst ganz private Moorfield zu stellen hatte. Es herrschen ja eigentümliche Verhältnisse unter diesen amerikanischen freiwilligen Truppen. Waffen und Übungsmunition, auch scharfe Patronen genug bekommen sie von der Regierung geliefert, uniformieren tun sie sich selbst, und zwar ganz nach eigenem Geschmack, sie erwählen ihre Offiziere selbst und befördern sie durch Vereinsbeschluss, und merkwürdig ist es — für unsere deutschen Anschauungen — dass diese Offiziere auch seitens der Kriegsverwaltung ganz ernst genommen werden, sie sind und bleiben auch in einem eventuellen Kriege, wenn sie mitmachen wollen, wirkliche Offiziere, wenn auch so ein General mit grauem Bart — meist hängt es vom Alter ab, vom fünfzigsten Jahre ab ist überhaupt jeder Soldat dieser freiwilligen Miliz ein General — nicht gerade ein Oberkommando bekommt. Übrigens ist es sehr anerkennenswert, mit welcher Lust und Liebe diese Soldatenspielerei betrieben wird, wie sie sich ganz freiwillig einer strammen Disziplin fügen.

Wie überall in Nordamerika war auch hier die Miliz in nationale Parteien gespalten. Es gab eine Yankeebrigade, eine englische, eine schottische, eine irische und eine deutsche Brigade, zu welch letzterer auch viele Deutsch-Amerikaner gehörten — nicht alle. Jede Brigade stand unter ihrem eigenen Major mit zwei Hauptmännern oder Captains und vier Leutnants, wenn ein Leutnant wie bei der irischen auch nur zwei Mann zu kommandieren hatte. Sonst war auch hier jeder Soldat schon ein Unteroffizier.

Heute Nachmittag exerzierten am Pulverhaus zwei Dutzend Mann von der deutschen Brigade. Prachtvolle Uniformen! Infanterie. Übermorgen zogen dieselben Soldaten ihre noch viel prachtvolleren Kavallerie-Uniformen an. Heute kommandierte der Herr Major selbst und allein, weil die anderen Hauptleute und Leutnants jetzt entweder schliefen, sich zur Nachtschicht stärkten, oder in der Fabrik spannen oder schmierten.


Illustration

Dieser Major hier hatte eine fabelhaft rasche Karriere gemacht. Vor acht Tagen war er erst hierher kommen, hatte von alledem noch gar nichts gewusst, war sofort zum Leutnant und gleich am zweiten Tage mit Überspringung des Hauptmannsranges zum Major befördert worden. Den bisherigen Brigadekommandeur hatte man mit Überreichung eines Ehrensäbels als General pensioniert, womit er ganz einverstanden gewesen.

Das machte nämlich: Der Neuling war der einzige, der in Deutschland Unteroffizier gewesen war, Sergeant, bei den Husaren. Aber natürlich verstand er auch vom Fußdienst genug. Erst ein Versuch mit ihm — jaaa, bei dem pfiff das anders! Drei Wochen unter dem exerziert, dann sollten die anderen Brigaden gucken! Denn das ist ja die Hauptsache bei dieser nationalen Spaltung, eine ganz lobenswerte: militärischer Ehrgeiz.

So hatte der neue Ankömmling gleich die Majorsepauletten bekommen. Und was für Dinger! Sie machten das kleine Kerlchen mit den etwas geschweiften Husarenbeinen fast ebenso breit wie hoch. Und diese goldenen Klunkern dran! Überhaupt diese prachtstrotzende Uniform! Und diese ungeheueren Sporen! Und dieser mächtige Pallasch, auf dem er ritt! Er konnte aber auch ein richtiges Pferd zwischen die Beine nehmen. Dort stand es. Und zwar ein ganz edles Ross! Und solche Pferde hatten auch alle diese Soldaten zu ihrer Verfügung. Nur heute nicht.

»Links — um! Emil feixe nich. Links — um!«

Die Abteilung marschierte zurück, direkt auf das Pulverhaus zu.

Da plötzlich wurden dem Herrn Major, der dem Hause noch den Rücken zukehrte, von hinten die Augen zugehalten.

»Melde mich gehorsamst zur Stelle, Herr Major!«, sagte eine Stimme, deren erkünstelte Tiefe er nicht merkte, weil ihm mit den Armen auch etwas die Ohren zugehalten wurden.

»Leitnant Schuster, solche Albereien verbitte ich mir, mir sein hier uff'n Exerzierplatze und nich —«

Mit einem Ruck hatte er sich frei gemacht und umgedreht — und erstarrte.

Statt des vermeintlichen Leutnants stand vor ihm eine junge Dame im Reisekostüm, und dort kam in Begleitung Richards noch eine andere Dame mit zwei Kindern anspaziert —

»I das is ja gar nich möglich!!«

»Guten Tag, August.«

»Hannchen — Frau Baumer — Paul — Gretchen — i das is ja gar nich mööööglich!!!«

»Morgen ist Sonntag. Kommst Du morgen zu uns? Wir sind aber umgezogen. Wir wohnen jetzt dort oben auf Moor Hill.«

Da wurde das an sich schon dunkelgebräunte Gesicht des Herrn Major rot wie eine Klatschrose, er begann an dem goldstrotzenden Kragen zu würgen, suchte seinen Säbel zu verstecken, wusste nicht, wie er Frau Baumer und die jubelnden Kinder begrüßen sollte.

»Nee — ach neee — ich — ich — ich bin ja gar nich richt'jer Major, ich tu nur so —«

»August, Deine Soldaten treten das ganze Pulverhaus ein«, sagte Richard.

Die Marschierenden hatten das Haus erreicht, blieben nicht stehen, traten nicht auf der Stelle, sondern warfen die Füße immer möglichst hoch gegen die Wand, immer feste dagegen tretend, und jetzt war es nicht nur Emil, der »feixte«.

Da wurde sich der Herr Major auch gleich wieder seiner Pflicht bewusst.

»Abteilung — halt! Front! Tretet — Emil feixe nich — tretet — weg!«

Die Soldaten gingen nach der Stadt, ihre Schießprügel nach Belieben tragend.

»Hööööh!!«, rief August ihnen nach. »Das sind auch nach'm Exerzieren immer noch Gewehre und keine Mistgabeln!«

So, nun wurde der Herr Major wieder der schüchterne August. Aber ein klein wenig taute er doch auf, hier im Freien, und die Freude überwältigte ihn, er fand Worte.

»Hannchen! — Frau Baumer — Paul — Gretchen — tja — tja — bin ich verrickt oder seid Ihr's? — Wie kommt Ihr denn nur hierher?!«

»Na, genau so wie Du. Wir sind Euch eben nachkommen.«

»Und — und — Ihr bleibt doch nicht etwa für immer hier?!«

»Eigentlich hatten wir die Absicht, aber wenn's Dir nicht passt, Au-gust —«

»Jaa — a a a ach jaaaa — mir — mir — mir passt's schon — mir — mir — mir ist das ganz egal — aber — aber — ich muss mich erst umziehen — geniere mich in der Affenuniform — beim Exerzieren geht's ja — aber sonst — sonst —«

»Na ja, ziehe Dich um, dann kommst Du gleich in Richards Wohnung, die wir natürlich beziehen. Du hast heute frei, wie Richard sagt, und morgen ist Sonntag. Also wir erwarten Dich sofort und bestimmt, hörst Du, August? Wir brauchen Dich beim Auspacken, Du sollst uns helfen.«

»Dann — dann — komme ich auch — ja — ach jaaaa —«

Er lief, ohne über seinen Säbel zu stolpern, nach seinem Pferde, sie blickten ihm nach, um zu sehen, wie er aufstieg — aber August stieg gar nicht auf, mit einem einzigen Satze, dabei von spielender Grazie, saß er im Sattel, und im nächsten Augenblick jagte das wirklich prächtige Ross in voller Karriere an ihnen vorbei.

»Der August, unser August!!«, staunten die Kinder und nicht minder die beiden Frauen.

»Na was denn?«, sagte Richard. »Ihr wisst doch, der hat bei den Husaren gedient, ist schon im zweiten Jahre zum Unteroffizier ernannt und als Sergeant entlassen worden, was sonst gar nicht vorkommt.«

Ja, sie wussten es — sie hatten sich den linkischen, unbehilflichen Menschen nur gar nicht zu Pferde vorstellen können.

Und überhaupt, es war wohl sein Schicksal, für alle Zeiten der verkannte August zu bleiben. Vielleicht aber fühlte er sich bei dieser Verkennung gerade recht glücklich.

»O«, fuhr Richard fort, »wenn der seine Reiterkunststückchen macht, dann sperrt hier alles Maul und Nase auf. Unser Reitlehrer ist ein ehemaliger Cowboy, der auf dem Pferderücken Wunderdinge verrichtet, aber unserem August kann er nicht das Wasser reichen —«

»Seht nur, seht doch!!«

August hatte sein Ross einem hohen Busche zugelenkt, es nahm ihn mit elegantem Sprunge — ein breiter Graben kam, August aus dem Sattel, nur die Hände auf Pferdehals und Kruppe gelegt und so nebenher über den Graben voltigiert, drüben wieder im Sattel sitzend — wieder ein Graben, wieder herab, jetzt aber den Pallasch aus der Scheide gerissen und ihn haushoch in die Luft geschleudert, jetzt sich nicht einfach in den Sattel geschwungen, sondern erst den Handstand machend, erst elegant, dann, um seiner Freude Ausdruck zu geben, mit den Beinen in der Luft zappelnd, zurück in den Sattel, den herabsausenden Stahl aufgefangen, sich wendend ihn noch einmal grüßend geschwenkt — und er verschwand hinter den ersten Häusern.

»Der August! Nein, ist es denn nur möglich?!«

Bei diesem Menschlein war jede Erklärung zwecklos. Sie mussten es wohl glauben, dass er im Sattel ein anderer Mensch war.

Sie gingen zurück nach dem Terrassenhügel, um ihre zukünftige Wohnung zu besichtigen, um nur erst mal zur Besinnung zu kommen, dass sie wirklich am Ziele ihrer langen, langen Reise waren, ja um erst den Sohn und Bruder richtig zu begrüßen.

Vor einer halben Stunde waren sie mit der Eisenbahn in Moorfield angekommen, von Denver her, Richard hatte sie abgeholt. Nur einige Umarmungen und Küsse.

»Was macht August?«, war dann gleich die erste Frage gewesen.

»Der exerziert jetzt als Major am Pulverhaus seine deutschen Soldaten.«

»Kann man da hin?«

»Jawohl.«

»Wo ist das?«

»Gar nicht weit. Die Hälfte können wir mit der Elektrischen fahren.«

»Weiß er, dass wir kommen?«

»Ich habe nichts verraten, der hat keine Ahnung.«

Da hatte man sich nur noch überzeugt, dass das Gepäck aus dem Zuge gekommen war, dann mit der elektrischen Bahn bis zur Spinnerei gefahren, von dort zu Fuß in die Prärie hinein. Wenn man sich unterhielt, so nur darüber, wie man »ihn« am schönsten überraschen könnte. Durch das Pulverhaus gedeckt waren sie herangeschlichen. Dann hatten sie ganz gemütlich anpromeniert kommen wollen. Aber die Gelegenheit, ihn völlig zu überrumpeln, war zu günstig gewesen, Hannchen hatte sich nicht halten können, war vorausgerannt und hatte ihm die Augen zugehalten.

Sie hatten den mit Häusern besetzten Hügel auf Stufen, die durch herrliche Blumenanlagen führten, erklommen.

»Dort drin wohnt der Besitzer.«

Es war ein ganzer Palast, auf den Richard deutete, er hätte in Florenz stehen können.

»Der ehemalige Indianerhäuptling?«

»Ja, Jakob Moor.«

»Aber jetzt ist er nicht da?«

»Nein, der treibt sich in der Welt herum, studierend und sammelnd. Jetzt ist er wohl in England. Hat sich schon zwei Jahre nicht mehr hier sehen lassen. Aber da drin ist alles in Ordnung. Gegen drei Dutzend Diener haben nichts weiter zu tun als nur immer zu scheuern, abzustäuben und zu putzen. Großartig!«

»Warst Du einmal drin?«

»Schon dreimal. Aber das langt nicht, um damit fertig zu werden. Fabelhaft! Abgesehen von den Prunkzimmern und besonders den Badeeinrichtungen — diese Bibliothek! Diese Sammlungen! Besonders von den Indianerstämmen, die schon der alte Tobias Moor während eines Menschenalters zusammengetragen hat! Und die altamerikanischen Raritäten, aus Mexiko und Peru und Yucatán — unschätzbar! Und was nun unter diesem indianischen Universalgelehrten hinzugekommen ist! Dieses chemische und physikalische Laboratorium — so eins haben wir in unserem Technikum nicht gehabt, gibt es auf der Berliner Universität nicht — diese Instrumente und Apparate — ein riesenhaftes Sonnenmmikroskop — dort der Turm ist die Sternwarte — mit ungeheueren Teleskopen, mit einem Meridianfernrohr — diese Sternwarte allein ist mit zwei Millionen Dollars versichert —«

»Hat die Indianerin, die Atalanta, nicht auch so eine Sternwarte?«

»Jawohl, und die kann man auch von hier aus sehen. Das heißt, da

1 Im Original steht hier der Name ›Georg‹. muss man weit, weit in die Prärie hineingehen, dann sieht man eben die Spitze des Turmes jenseits des Gebirgskammes. Diese Sternwarte ist aber von dem japanischen Prinzen erbaut worden, der dann mit dem Zauberschiffe unterging.«

»Also hier hinter diesem Gebirge ist der Sklavensee?«

»Jawohl, und wisst Ihr, dass das nördliche Ufer des Sklavensees von unserer Direktion hier gekauft worden ist, um dort eine Wollwäscherei zu errichten?«

Ja, das war jetzt schon allgemein bekannt.

»Und um dorthin zu gelangen, dazu muss das ganze Gebirge durchtunnelt werden?«

»Gerade hier an diesem Hügel, hier an dieser Stelle. Hier ist die Felswand, weil sie auf der anderen Seite eine Schlucht hat, nur drei Kilometer dick. Jawohl, nur! Und die Bohrmaschinen und ein ganzes Regiment Arbeiter sind schon da, jeden Tag muss es anfangen, ich weiß nicht, weshalb es sich noch immer verzögert. Auf der anderen Seite wird schon fest gebohrt.«

»Was sagt denn nun die Indianerin dazu, dass man ihr heiliges Gebiet so verletzt hat? Denn die hat die Miss Marwood Morgan doch niemals als Besitzerin anerkannt, hat niemanden auf dem See und an seinen Ufern geduldet.«

»Ja, die Atalanta ist doch mit ihrem Gatten, dem deutschen Grafen von Felsmark, seit nun bald dreiviertel Jahr verschwunden. Zuletzt haben die beiden unter fremden Namen und Maske doch den mexikanischen Krieg mitgemacht. Im November vorigen Jahres verschwanden sie und sind seitdem noch nicht wieder aufgetaucht.«

»Und was ist nun mit dem Golde, das auf dem Grunde des Sklavensees liegt?«

»Davon wird nichts mehr gefunden. Wie man auch gefischt und getaucht und Seehunde abgerichtet hat. Kein einziges goldenes Tellerchen ist mehr heraufgebracht worden.«

»So hat man es wieder probiert?«

»Wie ich sage. Es gibt immer noch genug Goldsucher, welche die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben und auf dem See herumfahren. Die Regierung lässt sie gewähren, sie selbst hat den Versuch schon aufgegeben, dort noch Gold zu finden.«

»Früher sind die Boote, die den See befuhren, ob sie nun nach Gold suchten oder nicht, doch immer auf rätselhafte Weise vernichtet worden.«

»Jawohl, jedenfalls durch ein Unterseeboot von solcher Vollkommenheit, wie es die übrige Welt noch gar nicht kennt. Das geschieht jetzt nicht mehr. Aber jedenfalls ist alles noch vorhanden gewesene Gold durch solch ein Unterseeboot auch bei Seite gebracht worden.«

»Und die Indianerin hat sich nicht wieder gezeigt?«

»Gar nicht wieder. Man weiß nicht, ob sie noch lebt — man weiß überhaupt gar nichts von alledem. Und dasselbe gilt von ihren japanischen und sonstigen Begleitern, die sie bei sich gehabt hat.«

»Und die Felsenwohnungen, in denen sie früher gehaust hat?«

»Die sind verschlossen, man sieht keinen Eingang, keine andere Öffnung, keine Fuge — eine glatte, nackte Felswand, so wie es früher gewesen ist, als man von alledem noch nichts wusste.«

»Hat man denn noch nicht versucht, durch Bohrungen und Sprengungen in dieses geheimnisvolle Reich einzudringen?«

»Man hat es wohl schon probiert, aber es ist nicht gelungen.«

»Weshalb nicht?«

»Nun, man ist eben niemals auf Hohlräume gestoßen, so tief man den Bohrer auch schicken konnte. Das sind aber nur Privatunternehmungen gewesen, von Neugierigen ausgeführt, und Du musst nur bedenken, was dazu gehört, in solchem hartem Basaltfelsen tiefere Bohrungen auszuführen, noch dazu wo fester Boden fehlt, vom Wasser aus! Aber, wie ich gehört habe, jetzt soll eine größere Gesellschaft an die Miss Marwood Morgan, welche doch die Besitzerin dieses ganzen Gebietes ist und die dazu erst die Erlaubnis zu geben hat, herangetreten sein, diese Versuche, jene Felsenwohnungen zu erschließen, sollen jetzt ganz energisch betrieben werden. Nun, wir werden ja hören, was daraus wird, können ja auch vielleicht einmal selbst hinfahren.«

»Wie fährt man da? Wie weit ist das?«

»Das ist eine halbe Tagesreise. Oder schon mehr eine ganze. Sieben Stunden ununterbrochen mit der Eisenbahn und dann noch mehrere Stunden mit dem Automobil.«

»Was?! Ich denke, der Sklavensee liegt gleich hinter diesem Gebirge hier, nur hinter dieser Felswand?!«

»Jawohl, anders ist es auch nicht. Wir sind hier vom nördlichen Ufer des Sklavensees nur anderthalb Meilen entfernt. Aber man kann nicht über diese Felswand hinüber. Oder man müsste erst Leiterwege schaffen, deren Herstellung Jahre erfordern würde, und der Kletterweg dauerte dann immer noch einige Tage. Man muss diese Gebirgszüge umgehen, umfahren, entweder nach Westen herum über Denver oder nach Osten herum über Pittville. Letzterer Weg ist der kürzere, nimmt aber noch immer allein sieben Stunden Eisenbahnfahrt in Anspruch. Ja, Kinder, hier in Amerika gibt es Entfernungen! Das wird ja allerdings anders, wenn hier der Tunnel durchgebrochen ist.«

»Und wie lange dauert das?«

»Das kann gar nicht berechnet werden. Da muss man sich auf zahllose Überraschungen gefasst machen. Ob man sprengen kann oder nicht, darauf kommt alles an, und das kann kein Mensch vorher beurteilen. Vielleicht dauert's nur ein Jahr, vielleicht zehn Jahre.«

»Ach Du lieber Gott!«

»Ja, mit diesem Tunnel dürfen wir noch nicht rechnen, wenn wir einmal nach dem Sklavensee hinüber wollen. Jetzt aber bleiben wir vorläufig hier und machen es uns gemütlich. Denn hier ist meine — nein, Eure Wohnung, ist, liebe Mutter, Deine Wohnung, in der Du mir doch ein Plätzchen gönnen wirst.« Richard hatte sie in das Parterre eines großen, dreistöckigen Hauses geführt.

Staunend durchwanderten die von Deutschland Gekommenen die acht Zimmer. Erst staunten sie über die Möblierung, dann über die praktische Einrichtung. Denn was sie beim ersten und dann noch mehr beim näheren Umschauen zu vermissen glaubten, das kam noch alles aus der Wand oder sonst wo heraus.

Es war amerikanisch, wie man es aber jetzt auch in England hat, selbst in den Cottages, zu Deutsch »Hütten«, Arbeiterhäuschen, aber eben durch diese ganze Bauweise wahrhaft komfortabel.

Schränke und Kommoden und dergleichen Aufbewahrungsmöbel braucht man gar nicht mehr mitzubringen, das wird alles gleich in die Wand hineingemauert, sodass alle Nischen und Winkel wegfallen. Die Bretter und Fächer lassen sich nach Belieben verstellen und vergrößern, die Türen können ja künstlerisch verziert sein. Überhaupt in den Wänden so viele versteckte Hohlräume wie möglich, auch schon deshalb, weil die Luftschicht zwischen den Doppelwänden wärmer respektive kühler hält als massiver Stein.

Kein sehr großes Zimmer und keine enge Kammer, sondern alles normal. Durch Öffnen der Schiebetüren werden zwei Zimmer in einen großen Salon verwandelt, auf diese Weise lässt sich auch ein kleines Schlafboudoir herstellen. Aber nur kein vorgeschriebener Zwang! Das Einschlagen von Nägeln, um Bilder und anderes aufzuhängen, ist eine in England und Amerika längst überwundene Barbarei. An der Decke sind vergoldete Stangen, daran laufen Schnüre entlang, an jeder Stelle der Wand kann man aufhängen, was man will, auch sich selbst, braucht nicht erst einen Haken einzuschlagen, und so kann für die Tapeten auch etwas ganz anderes angelegt werden.

Nur einen Nachteil — scheinbar — hat diese praktische Bauart: Dieser Raum ist ein Schlafzimmer! Danach ist er eingerichtet, lässt sich nicht anders verwenden. Der Waschtisch mit Marmorplatte ist eingemauert, das Rohr für das warme Wasser geht durch den Schornstein. Aber wir haben doch ebenfalls genug Räumlichkeiten, die nur dazu zu gebrauchen sind, wozu sie der Baumeister selbstherrlich bestimmt hat. In früheren Zeiten dagegen gab es gar keine besondere Küche, und da wurde die Holzbadewanne des Abends in die Wohnstube gesetzt.

Und schließlich wird man bald herausfinden, dass der amerikanische oder englische Baumeister das Schlafzimmer gerade dorthin verlegt hat, wohin man selbst es gewünscht hätte. —

Das war ja nun etwas für die Kinder, die unsichtbaren Fächer in den Wänden aufzusuchen, und da gab es wie auf einer Robinsoninsel, auf der man sich häuslich einrichten will, auch noch anderes zu entdecken, was zu erforschen die beiden Frauen nicht minder interessierte.

Dann kam August in Zivil, nicht mit leeren Händen, sondern er brachte mit Hilfe von Arbeitern gleich sämtliches Gepäck mit, konnte seine eigene Nähmaschine und die Geschenke der Kinder auspacken, und da musste der arme Kerl nun noch etwas über sich ergehen lassen. Ja, nichts weiter als Dankesworte, die aber doch für manche menschliche Käuze so überaus peinlich sind.

Und dann musste ihm hier bei der Einzugsfeierlichkeit auch noch etwas ganz Besonderes passieren!

Aufmerksam, wie er immer war, hatte er aus der Fabrikbäckerei auch gleich eine große Fruchttorte mit Schlagsahne mitgebracht. Und sein Erstes war, dass er sich in diese Torte hineinsetzte. Eigentlich war es ja Hannchens Schuld gewesen. Sie hatte die Torte, da alle Tische vollgepackt gewesen, einstweilen auf einen Stuhl gesetzt, was sich doch nicht gehörte. Aber musste es nun gerade der unglückliche August sein, der sich auf diesen Stuhl setzte und in seine schaumige Fruchttorte hinein!

Ach, dieser Schreck, diese Schande, diese Scham! Als ihm die Kinder die Erdbeeren und Schlagsahne hinten von der Hose wischten!

Man lachte natürlich nicht, das heißt, man wusste es durch krampfhafte Anstrengung zu verbergen, man erging sich in Bewunderungen — aber das war bei August ein ganz falsches Manöver, dadurch wurde er nur erst recht die Verlegenheit selbst — und erst als, durch Richard veranlasst, ein allgemeines Gelächter ausbrach, in das auch August aus vollem Halse mit einstimmte, überwand er diese schreckliche Situation.

»Lauf, Richard, hole aus der Bäckerei eine andere Torte, natürlich auf meine Rechnung.«

Richard holte sie, und die Sache war wieder im Gleise.

Nachdem im elektrischen unsichtbaren Wandschrankofen der erste Kaffee gebraut worden war, ging es ans Erzählen.

Die Hauptrolle spielte natürlich der italienische Zimmerherr. Aber eine neue Wunde konnte die Erinnerung an ihn nun nicht mehr erzeugen. Das war wie ein Traum mit merkwürdigen, schönen und bösen Episoden in der Heimat zurückgeblieben.

»Wer hätte das geahnt!«, seufzte Frau Baumer noch einmal.

»Ich hatte es doch gleich gesagt«, meinte Paul, »dass — man sich wenigstens den Tee und Kaffee hier zu Hause selber kocht.«

Er hatte hinter dem »dass« eine Pause gemacht und war mit einem Male ganz rot geworden.

»... dass der Italiener etwas auf dem Gewissen hatte«, hatte er sagen wollen.

Dass er dies noch rechtzeitig unterdrückt hatte und nie wieder hiervon sprach, das zeigte, dass dieser dreizehnjährige Junge schon ein ganzer, ein wahrer Mann war. Denn wenn er etwas prophezeit, irgend etwas, und es geht in Erfüllung und er spricht immer wieder davon, wie er damals richtig prophezeit hat, das ist kein Mann — und er wird auch einmal bei anderer Gelegenheit zeigen, dass er ein Waschlappen ist.

»Was sagst Du denn dazu, August?«

Der glotzte in seine Tasse. Denn wenn er auch die Geschichte mit der Torte überstanden hatte, deshalb blieb er der schüchterne August, der auch jetzt am Kaffeetisch förmlich gefüttert werden musste, und bei dieser unvermuteten Frage fing er gleich wieder am Kragen zu würgen an und dann sich die Knie zu reiben.

»Ja — jaaa — so'n Tollewahne —«

»Döse nicht, August, wir sprechen nicht über Deinen nunmehrigen Prinzipal, Mr. Jakob Moor, sondern über unseren damaligen italienischen Zimmerherrn!«

»Ja — jaaa — so'n möblierter Italiener —«

»Soll ich Dir noch einmal einschenken, August?«

»Jaaa — meinetwegen — der Tee schmeckt recht gut.«

»Nein, diesmal ist's nun wieder Kaffee, was Du trinkst«, wurde gelacht.

Dann kam Kommerzienrat Gehrling daran, dem musste das Ohr jetzt nicht schlecht klingen, dann wurde über die Reise berichtet. Die Ankunft hier hatte sich durch Aufenthalt in Hamburg und durch ein langsames Schiff sehr verzögert, sodass August, obgleich nur zwei Tage früher abgefahren, schon seit acht Tagen hier war.

Ein nächtlicher Besuch

Drei Wochen waren ins Land gegangen.

Die Kinder sollen erst zum Oktober in die Schule kommen, sie tummelten sich mit den anderen Knaben und Mädchen von Moor Hill in der Prärie, dabei das Englische sozusagen im Handumdrehen lernend. Paul machte mit Bruder Richard, der wirklich nur drei Stunden täglich im Büro zu sein hatte, viele Bootsfahrten auf dem Strome und auf einem entfernteren See, Exkursionen in die Berge, mit dem Gewehr, er hatte schon einige Wildschweine erlegt und an einem Hirsche vorbeigeschossen.

»'s war mir auch hinterher sehr lieb«, erklärte er dann, »so ein Hirsch sieht in der Freiheit doch viel schöner aus als tot. Gebraten lasse ich ihn mir ja gefallen, aber schießen tue ich nicht wieder nach einem, ich könnte ihn treffen.«

Dafür brachte er einmal einen gefangenen Waschbären mit nach Hause, der unendlichen Spaß bereitete und bald so zahm wurde, dass er im Hause aus- und einging, im Garten auf die Bäume kletterte, seinem geliebten Herrn im Maule einen Apfel brachte — bis er eines Nachts sämtliche indianische Nachtigallen im Zimmerkäfig und in der Gartenvoliere alle Fasanen abwürgte, ohne sie seinem geliebten Herrn zu bringen! Dieser so drollige »Schupp« ist ein ganz blutgieriges Raubtier, das ohne Erbarmen in der Schlinge gefangen und totgeschlagen werden muss.

Harmloser war da ein Baribalbär, der von der Kolonie gemeinschaftlich gehalten wurde. Er ging wegen Kost und Logis von ganz allein die Reihe herum, stellte sich jeden Sonntag früh pünktlich als Besuch für diese Woche ein, klingelte, schob das Dienstmädchen zur Seite, öffnete die anderen Türen selbst und setzte sich mit an den Frühstückstisch, diesen vom Boden aus noch hoch überragend, fasste er die Teetasse geschickt mit beiden Tatzen, aß mit wie ein Mensch und wollte unwiderruflich des Nachts sein richtiges Bett haben. Am nächsten Sonntag ging er dann wieder für eine Woche zu einer anderen Familie. Er war der Liebling der ganzen Kolonie.

*

Genau drei Wochen waren vergangen, seitdem sie hier angekommen waren. Wieder war es ein Sonnabend, um dieselbe Stunde, nur dass jetzt schon Dämmerung herrschte.

Hannchen befand sich allein in der Wohnung. Die Mutter war zu einer deutschen Familie gegangen, der sie sich etwas angeschlossen, Richard hatte heute seinen Klubabend, und die Kinder hatten die Erlaubnis erhalten, mit August in der Fabrik eine Nachtschicht zu machen. Wenigstens die Hälfte davon gehörte der Nachtschicht an. Das war für die Kinder schon ein großes Ereignis, in der elektrisch erleuchteten Halle unter den surrenden Maschinen mit den vielen emsigen Männern und Frauen, dann mitten in der Nacht in Augusts engem und so traulichem Büro, in dem er seine Arbeitsbücher führte, mit ihm Brot und Speck zu essen, gleich aus der Hand mit dem Taschenmesser, einen Schluck Bier gleich aus der Flasche zu nehmen, was eigentlich wie aller Alkohol in jeglicher Form streng verboten war, was immer höhere Strafen bis zur Entlassung kostete, worum sich der deutsche Werkmeister aber den Teufel kümmerte, da er sein Bier nicht etwa heimlich trank.

Übrigens hörte er heute schon um elf auf. In der letzten Stunde wurde aufgeräumt, geputzt und gescheuert, wobei er nicht zugegen zu sein brauchte. Von Mitternacht an, wenn der Sonntag anbrach, durfte in der ganzen Spinnerei kein Rädchen mehr gehen, keine Hand mehr gerührt werden.

Dann, oder also schon eine Stunde früher, brachte August die Kinder nach Hause, und dann hatte er für heute Nacht noch etwas ganz Besonderes vor.

Er hatte hier auch eine Turnerriege geschaffen, überhaupt die ersten Turner. Sie bildeten die Riege August Schulze, oder vielmehr die Riege Aschulze. Denn die hatte es auch in Berlin gegeben, zum Unterschied von der Riege Beschulze, Ceschulze, Abcschulze und so weiter das ganze Alphabet mit allen Variationen durch. Die Riege Aschulze aber hatte in ihrem Schranke von allen Schulzenriegen die meisten Eichenlaubkränze gehabt. Und was in Berlin gewesen war, das musste auch hier in Amerika entstehen. Nur immer der Oberstkommandierende gibt den Ausschlag, der Schlacht den Namen. Die Soldaten wechseln ständig, das siegreiche Regiment ist unsterblich.

Es waren nur Deutsche und einige Deutschamerikaner, meist in der Reparaturwerkstätte beschäftigt, die er zur Riege Aschulze zusammengetrommelt hatte. Sie hatten sich Reck und Barren und alle anderen Gerätschaften selbst gebaut, und da wurde zweimal in der Woche geturnt, dass die Haare in der Nachbarschaft herumflogen.

Vorgestern hatte August seinen Geburtstag gefeiert im Kreise der Familie Baumer, die eigentliche Geburtstagsfeier aber fand heute am Sonnabend in der Nacht zum Sonntag statt.

Seit Menschengedenken, oder doch so lange er Turner war, von geschweiften Jünglingsbeinen an, hatte August den Geburtstag am folgenden Sonnabend mit seiner Riege gefeiert. Für diesen Tag sparte er das ganze Jahr, an diesem Abend ließ er etwas springen, in dieser Nacht machte er einmal durch. Mit genügenden Bierfässern. die niemals geleert werden konnten, ging es in den Grunewald oder nach Friedrichshagen an den Müggelsee, unter einer Eiche wurde das nächtliche Germanenlager aufgeschlagen, und wenn's Strippen regnete, und dann wurde der Vorturner Aschulze auch einmal zum Musikdirektor, zum Liedermeister, vorher aber noch zum patriotischen Redner, gab eine getreue Übersicht über die Entwicklung Deutschlands von den Urururanfängen bis zur Gegenwart, machte es freilich sehr kurz, fing mit den ururalten Germanen an, war drei Minuten später schon beim Kaiser Barbarossa, von dem er immer gleich zum alten Fritz übersprang, und nachdem er seine Rede mit einem dreifach donnernden Hoch auf König und Kaiser Wilhelm den Zweiten, unseren edlen Landesfürsten, geschlossen hatte, fing er dröhnend zu singen oder eigentlich zu brüllen an. »Deitschland, Deutschland iewer aahalles.« Immer so falsch wie möglich, aber mit erschütternder Inbrunst. Beim Morgengrauen wurde wieder zurückmarschiert, von Friedrichshagen bis nach Berlin, drei Meilen weit. Eisenbahn gab es nicht für diese Turner. Die alten Germanen haben auch keine gehabt. Und hätten sie eine gehabt, dann, wusste August seinen Turnern klar zu machen, hätten sie sie sicher nicht benutzt.

Und auf diese Weise würde heute auch hier in Amerika die neue Riege Aschulze die Nacht feierlich begehen. Die Bierfässer waren im Hotel von Moorfield, dem einzigen Fleck, wo hier etwas Alkoholartiges von Staats wegen zu bekommen war, schon bestellt, lagen schon da, freilich kostete der Liter mehr als eine Mark. Doch das hatte für August an diesem Abend gar nichts zu sagen. Und merkwürdig dabei war, dass sich kein einziger Turner ausschließen wollte, obgleich einige geschworene Temperenzler darunter waren.

Doch so weit sind wir noch nicht.

*

Hannchen hatte keine Lust gehabt, die Mutter zu jener Familie zu begleiten. Sie wollte ihre Malsachen in Ordnung bringen. Sie musste wieder malen, es war ihr ein Bedürfnis geworden. Einiges ungebranntes Porzellan hatte sie mitgenommen, anderes würde sie aus Deutschland beziehen, sie wusste, dass sie hier direkte Abnehmer genug fand, brauchte auch nicht auf Bestellung zu arbeiten, malte aus freier, künstlerischer Neigung. Die Frage des Brennens hatte August hier an Ort und Stelle zu lösen versprochen.

Ganz allein in der Wohnung war sie nicht. Deren Größe und überhaupt der Haushalt des General-Inspektors erforderte zwei Dienstmädchen — Parlourmaid und Housemaid. Sie kamen früh um sieben und gingen abends um neun. Überstunden extra bezahlt. Obgleich die größeren Mahlzeiten aus der Speiseanstalt geschickt wurden, hatten die beiden doch genug zu tun. Die Housemaid für die gröberen Arbeiten war eine ältere Negerin, hier von Kindesbeinen an im Dienst gewesen.

Hannchen hatte, schon auf ihre Malerei bedacht, ein eigenes Zimmer genommen, das auch ein am Tage unsichtbares Bett enthielt. Das große Fenster ging nach dem Hofe hinaus, aber mit Blumenanlagen und Büschen geziert, in der Mitte sprang eine natürliche Fontäne, ein artesischer Brunnen, hoch empor, an das Plätschern hatte man sich schnell gewöhnt, es wirkte zuletzt wohltuend wie alle eintönigen, natürlichen Geräusche. Das Fenster blieb in dieser Jahreszeit Tag und Nacht offen, das Parterre war sehr hoch, draußen ging immer ein Wächter, für die Nacht genügte eine Jalousie, eine dichte Gardine, die Hannchen gewöhnlich auch wieder aufschob, wenn sie das elektrische Licht ausgedreht hatte.

Ihrem Fenster gegenüber lag der herrschaftliche Palast, in dem des Abends nur die Dienerwohnungen im Souterrain und einige wenige Fenster im Parterre erleuchtet waren.

Als Hannchen das elektrische Licht andrehte, wunderte sie sich, dass dies auch drüben in der ersten und zweiten Etage geschah. Mit einem Schlage waren beide langen Fensterreihen hell erleuchtet, heute zum ersten Mal, und es war nicht anders gewesen, als ob das Hannchen von hier aus gemacht habe, so gleichzeitig mit ihrem Hebeldruck war es auch drüben aufgeflammt. Nun, eben ein Zufall. Weshalb der Palast erleuchtet wurde, darüber zerbrach sie sich nicht den Kopf.

Sie packte ihre Malutensilien aus, auf dem Tische vor dem offenen Fenster.

Da schrillte die Klingel der Vorsaaltür. Die Negerin meldete ihr einen jungen Ingenieur, der nach Mr. Baumer fragte. Hannchen begrüßte den Herrn selbst.

»Richard ist im Klub, er ist schon längst fort.«

»Bitte um Verzeihung, dass ich gestört habe. Wissen Sie es schon?«

»Was denn?«

»Vor einer halben Stunde ist hier Professor Moor eingetroffen.«

»Ach was! Hat er drüben seinen Palast bezogen?«

»Gewiss, ein anderes Haus kennt er hier gar nicht. Er scheint hier etwas experimentieren zu wollen, hat viele Flaschen und Büchsen mit Chemikalien mitgebracht, obgleich in seinem Laboratorium alles nur Erdenkliche vorhanden ist.«

»Bleibt er hier?«

»Das weiß niemand.«

»Und wenn er bleibt, ändert sich dadurch etwas hier in der Kolonieordnung?«

»Nicht das Geringste. Er kümmert sich gar nicht um uns und gibt deutlich zu verstehen, dass wir uns auch nicht um ihn kümmern sollen. Grüßen Sie ihn nicht, wenn Sie ihm begegnen — er grüßt nicht wieder. Dabei aber doch von Stolz gar keine Spur. Es ist doch noch viel Indianisches an ihm. Indianischer Stoizismus, Gleichgültigkeit gegen alles und jedes. Wenn ihn einmal ein kleines Kind erwischt, es klammert sich an seine Füße, so bleibt er so lange unbeweglich stehen, bis jemand kommt, der ihm das Kind abnimmt, ihn davon befreit, und wenn's eine halbe Stunde dauert, und so lange steht er regungslos wie eine Statue. Ich habe ihn nämlich gerade in dieser Situation einmal beobachtet. Ein anderes Mal hat ihn ein bissiger Hund angefallen, hat ihn mehrmals in die Beine gebissen, dass das Blut floss, hat ihm Fleischstücke herausgerissen, und Mr. Moor hat mit keiner Wimper gezuckt, die über der Brust verschränkten Arme nicht gelöst, hat nicht nach dem beißenden Hunde geblickt, hat seinen langsamen Gang auch nicht im Geringsten beschleunigt, hat den Köter ruhig immer weiter beißen lassen, nach sich eine dicke Blutspur ziehend. Als der tödlich erschrockene Besitzer des Hundes kam, diesen gleich niederschoss und Entschuldigungen hervorstammelte, hatte Mister Moor nur ein einziges Wort: never mind.«

»Ach, das ist ja schier unglaublich — wirklich großartig — übermenschlich!«

Der junge Mann zuckte die Achseln.

»Eben indianisch. Ich bin oben bei den Sioux gewesen. Die bringen noch etwas ganz anderes fertig. Auf Wiedersehen, Miss.«

Hannchen begab sich in ihr Zimmer zurück. Also jetzt war er dort drüben, dieser wundersame Mensch, dieser phänomenale Geist, einst ein skalpierender Indianer, der blutleckende Jaguar, jetzt Gebieter über 20 000 Menschen und einige hundert Millionen Dollars, Professor und Doktor aller Wissenschaften, und immer noch manchmal in seinem alten Blutdurst —

Hannchen schloss die Fenstergardinen und damit auch ihren Gedankengang. Sie schämte sich jedes Mal, wenn ihr solche Gedanken aufstiegen, sobald sie nach jenem Palaste blickte. Dann stieg vor ihren geistigen Augen immer noch rechtzeitig die Gestalt des alten biederen Kommerzienrates auf, sie hörte nochmals seine Worte —

Wieder schrillte die Eingangsklingel. Die Tür war zu weit entfernt, als dass man hätte hören können, wer sprach. Der weiche Teppichläufer auf dem Korridor machte jeden Schritt unhörbar.

Plötzlich wurde ohne Anklopfen ihre Tür geöffnet, aufgerissen, die alte Negerin stürzte herein.


Illustration

»Missus, der Massa!!!«

»Was war das? Was sagten Sie da?«, fragte Hannchen mit unnatürlicher, eisiger Ruhe. Denn sie war auf jede Eventualität gefasst, auf einen Überfall oder sonst etwas, die sonst so gut dressierte Negerin kam doch nicht umsonst in solcher Aufregung hereingestürzt, und sie hatte sie wirklich nicht verstanden.

»Missus, der Massa!!!«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Massa Moor im Palour, will Missus sprechen.«

Nun hatte Hannchen verstanden. Jetzt verwandelte sich ihre unnatürliche Ruhe in eine natürliche Aufregung.

Dieser indianische Einsiedler und Stoiker machte eine Antrittsvisite? Wie reimte sich das mit dem zusammen, was sie bisher und soeben über ihn gehört hatte?

»Hat er nach Missis oder nach Miss Baumer gefragt?«

»Missus Missus alles eins«, kauderwelschte die Negerin, die niemals ordentlich Englisch sprechen lernte.

»Nun gut.«

Hannchen warf einen Blick in den Spiegel und fand sich empfangsfähig.

»Haben Sie den Parlour erleuchtet?«

»Alles Licht.«

Das junge Mädchen durchschritt den langen Korridor, öffnete die betreffende Tür, eine hohe, schwarzgekleidete Gestalt erhob sich, den Zylinder in der Hand, und — Hannchen streckte, sich halb abwendend, den Arm aus, als wollte sie ein Gespenst von sich fernhalten.

Der letzte Tolewane

»Signor — — Leonardo!!«

»Ich war es.«

»Mister — Moor!!«

»Ich bin es.«

Das menschliche Gehirn ist doch ein merkwürdiges Ding. In einem einzigen Moment kann es ein ganzes Menschenleben durchdenken, und kein Wort, keine Episode lässt die Wirklichkeit vermissen. Am besten geht das im Traume. Dass fast jeder Traum im gesunden Schlaf nur einen Moment währt, ist durch Experimente nachgewiesen worden. In dem Augenblicke, da man aus dem Bett fällt, träumt man etwa eine ganze Palästinareise mit allen Einzelheiten, man besichtigt Jerusalem, steigt auf ein Minarett, fällt herunter — und liegt neben dem Bett. Das alles hat man im Augenblicke des kleinen Sturzes geträumt.

Das kann man aber auch im wachen Zustande durchträumen. Wer einmal in momentaner Todesgefahr gewesen ist, der weiß besonders davon zu erzählen.

In einem einzigen Momente machte Hannchen noch einmal alles mit dem italienischen Zimmerherrn durch, von da an, wo er zum ersten Male über ihre Schwelle geschritten war, bis zum letzten Blick auf ihn, da er in Ketten die Treppe hinabgeschleppt wurde. Alles und jedes machte sie noch einmal in langsamer Reihenfolge durch, mit einer wunderbaren Erinnerungskraft, die sie sonst gar nicht besaß. Ganz deutlich hörte sie Gretchen sagen. »Weißt Du, Paul, wie der aussieht? Gerade wie der Schinkengucker in Deinem Lederstrumpf.« Und Paul antwortete entrüstet. »Wie Chingachgook die große Schlange? Grete, Du bist wohl — — Stelle Dir mal diesen edlen Indianerhäuptling mit so'n hohen Stehkragen und mit'n Zylinder auf'm Kopfe vor! Nein, das ist ein alter Schnapsbruder.«

Und jetzt wunderte sich Johanna, staunte, dass sie in diesem Manne nicht auf den ersten Blick den Indianer erkannt hatte. Dieses bronzene Gesicht, diese unbeweglichen Züge, diese stoische Ruhe — natürlich, das war doch der Indianer, wie er im Buche steht, in Pauls Buche!

Ja, jetzt konnte man das sagen, hätte man nicht auch gleich daran denken können, dass es jener blutleckende Jaguar und jetzige Professor und Spinnereibesitzer war, von dem Richard so ausführlich berichtet hatte? Gewiss, das war doch so einfach, dieser Austausch — Richard drüben bei dem, und der hüben bei ihnen in Richards Stube — und natürlich war er es gewesen, der dem Sohne seiner Pensionsmutter gleich diese Stellung als General-Inspektor angewiesen hatte — — jawohl, alles ganz einfach! In Theaterburlesken kommen solche Austausche vor. Im wirklichen Leben kommen aber noch ganz andere Sachen vor, die man nicht auf die Bühne bringen dürfte, sie sind gar zu unglaublich, einfach ganz und gar unmöglich — bis sie in Wirklichkeit geschehen sind!

Wenn das Publikum doch die Äußerung des großen Napoleons beherzigen wollte, der einst seiner Umgehung befahl, das Wörtchen »unmöglich« niemals wieder in seiner Gegenwart zu gebrauchen, es lieber ganz aus ihrem Wörterschatze zu streichen!

Aber freilich — »das verstehe ich nicht, das ist mir unbegreiflich« — das hört man so oft gewohnheitsmäßig sagen, und der Betreffende weiß nicht, was er sich selbst dadurch für ein geistiges Armutszeugnis ausstellt. — —

Das Mädchen hätte glauben können, tagelang geträumt zu haben, eben diese ganze Zeit mit allen Einzelheiten noch einmal durchmachend, und doch war es nur ein einziger Moment gewesen, der letzte Ton von seinem »ich bin es« zitterte noch durchs Zimmer.

Dann sprach er gleich selbst die Hauptsache aus:

»Ich bin kein Anarchist, kein Raubmörder — es war ein Irrtum.«

Das junge Mädchen hob Augen und Arme zur Decke empor, die vor ihr den Himmel verhüllte, und es war nichts Theatralisches dabei.

»Gelobt sei Gott!!«

»Haben Sie an meiner Unschuld gezweifelt, an meine Schuld geglaubt?«

Er hätte diese Frage als ein wirklich gebildeter Mensch mit Geistesschärfe gar nicht stellen dürfen, und er fuhr denn auch gleich fort:

»Ja, Sie mussten an meine Schuld glauben. Schon mein Leben bei Ihnen berechtigte Sie dazu, auch wenn ich nur Milch und Brot genoss und religiöse Bücher las — das schon musste Sie direkt stutzig machen, denn das passte nicht zu meinem sonstigen Charakter, meinem Auftreten, meinen sonstigen Gewohnheiten. Und meine letzte Gegenwehr und nun vollends meine Flucht mussten Sie von meiner Schuld überzeugen.«

»Ja.«

Die Bestätigung war ausgesprochen, und er neigte dankend das Haupt und sprach es ebenfalls aus:

»Das war ein offenes ›Ja‹ gewesen, und ich danke Ihnen dafür, ich hatte es erhofft. Denn ein ›Nein‹ hätte nicht zu Ihrem Charakter gepasst, hätte mich misstrauisch gemacht. — Aber wollen wir uns nicht setzen? Ich kann Ihnen keinen Platz anbieten, ich bin in Ihrer Wohnung.«

Sie setzten sich.

»Wie ist denn dieser entsetzliche Irrtum entstanden?«

»Durch meinen Namen, durch den Pass. Es war nicht der meine. Das müssen Sie mir zugute rechnen, was ich Ihnen da erzählt, dass ich Sie da getäuscht habe. Ich selbst dachte mir dabei so wenig wie ein Fürst, der inkognito reist, weil er nicht erkannt sein will. In Europa ist das nur einem Fürsten erlaubt, in Amerika jedem freien Bürger, jedem Menschen. Hier kann bekanntlich jeder seinen Namen ändern, braucht es nicht erst anzumelden. Nur muss er sich darauf gefasst machen, dadurch seine registrierten Rechte zu verlieren.

Ich war zuvor in Italien gewesen, hatte einen gebildeten Herrn kennen gelernt, der mir etwas ähnlich sah, er stellte sich mir als ein Titus Leonardo vor, der Sohn eines Weinbergbesitzers bei Neapel, er war zum Geistlichen bestimmt gewesen, hatte das Kloster und alles verlassen, jetzt wollte er nach Amerika, hatte sich einen allgemeinen Reisepass ausstellen lassen, den er für Amerika gar nicht brauchte — da kam mir eine Idee: Ich habe dem Manne, dessen Verhältnisse, wie er einmal gestand, keine glänzenden waren, den Pass abgekauft. Dass es schon ein falscher Pass war, das ahnte ich natürlich nicht, und noch weniger, dass ich den Anarchistenführer und Raubmörder Vecchino vor mir hatte.«

»Wie ist der Irrtum denn nun aufgeklärt worden?«

»Morgen werden Sie es in den Zeitungen lesen. Ich selbst habe darüber ein ausführliches Telegramm erhalten. Vecchino ist nicht nach Amerika gegangen, oder er ist sofort nach Holland zurückgefahren — vorgestern wurde er in Amsterdam erkannt und verhaftet, hat sofort gestanden, dass er der Mailänder Bankräuber und Mörder ist, hat auch schon erzählt, dass er sich einen Pass auf den Namen Titus Leonardo verschafft hatte, den er dann an einen ihm sehr ähnlich sehenden Amerikaner verkaufte. Das weiß man nun auch schon in Berlin, in Deutschland, damit man dort die steckbriefliche Verfolgung des Neapolitaners Titus Leonardo oder vielmehr jenes Vecchinos, der in Ihrer Wohnung verhaftet wurde, einstellt. Was ich selbst getan habe, wegen meiner Flucht und so weiter, das kommt nun gar nicht mehr in Betracht, das ist bereits erledigt. Ich bin es, der angegriffen wurde.«

»Ja, warum haben Sie sich denn nicht gleich zu erkennen gegeben? Warum sind Sie überhaupt ausgebrochen?«

Mr. Moor blieb einige Zeit die Antwort schuldig.

»Wollen Sie nicht erst andere Fragen stellen, ehe ich Ihnen hierüber eine Erklärung gebe?«, fragte er dann ganz leise.

Ja, Johanna glaubte, dass sie dann noch etwas zu hören bekommen würde!

»Wie gelang Ihnen die Flucht?«

»Die Flucht aus dem Untersuchungsgefängnis selbst war so kompliziert und doch wieder so einfach, dass ich es Ihnen schwer beschreiben kann, das erlassen Sie mir wohl. Kurz, es gelang mir, unversehrt das Freie zu erreichen, und auch an keinem Menschen hatte ich mich zu vergreifen brauchen. In Berlin gastierte damals doch eine Indianertruppe von Sioux. Den Manager, einen ehemaligen Wildwestmann, kannte ich von früher her. Zu dieser Truppe begab ich mich sofort, es war ja mitten in der Nacht, ich offenbarte mich dem Manne, wurde als Indianer, der ich ja auch wirklich bin, gekleidet, das Gastspiel der Truppe war für Berlin sowieso zu Ende, ich veranlasste den Manager, gleich wieder nach Amerika, nach New York zu gehen, wenigstens mit einigen Sioux, andere blieben noch zurück — gerade mit solchen Individuen wird es mit der An- und Abmeldung sehr genau genommen — aber auf diese Weise gelang es, mich unbemerkt nach New York zu bringen — als einen würdevollen Siouxhäuptling. In Amerika war dieser Mummenschanz nicht mehr nötig.«

Wieder eine lange Pause.

»Nun möchte ich doch fragen«, flüsterte das Mädchen endlich.

»Fragen Sie.«

»Hätten Sie sich in Deutschland vor Gericht nicht als der legitimieren können, der Sie wirklich sind?«

»O gewiss. Ich wäre schon am anderen Tage von ganz allein erkannt worden.«

»Wieso?«

»Bei der körperlichen Untersuchung. Ich habe viele Narben, bin auch ganz auffallend tätowiert am ganzen Körper. Das wäre doch bekannt gemacht worden. Und da hätten sich gar viele gemeldet, nicht nur Amerikaner, mit der Behauptung: Das ist ja gar kein Italiener, das ist eo ipso ein Indianer, er trägt ja die Tätowierung der Sioux, das Totem der Tolewanen — das ist kein anderer als Mr. Jakob Moor von Moorfield, der Professor, der ehemals so bekannte Chirurg!«

»Und als dieser wollten Sie nicht erkannt sein?«, fragte Johanna, und es sollte ihre letzte Frage gewesen sein.

»Nein. Wenn ich als Leonardo oder Vecchino lebenslänglichen Kerker bekommen hätte — nichts wäre mir angenehmer gewesen. Niemals hätte ich meine Maske gelüftet. Nur auf dem Schafott wollte ich nicht enden. Noch will ich leben, weil — ich noch am Leben hänge. Ich hätte den Arbeitssaal wie die finstere Kerkerzelle in meine Studierstube zu verwandeln gewusst, ich bedarf keiner Bücher, keines Papiers, unter Umständen sogar keiner chemischen und physikalischen Apparate, um Probleme zu lösen, die mich Tag und Nacht beschäftigen. Nur meines Kopfes bedarf ich dazu. Deshalb hätte ich den nicht gern auf dem Schafott verlieren mögen. Aber lebenslänglich hinter Kerkermauern — herzlich gern. Es wäre mir sogar nichts erwünschter.«

Er schwieg — und das ihm gegenüber sitzende Mädchen ebenfalls.

Waren es nicht ganz, ganz merkwürdige Worte gewesen, ganz unverständliche, die er da gesprochen hatte?

Aber das Mädchen stellte keine Frage.

So vergingen lange, endlos lange Minuten.

»Sie fragen nicht nach einem ›Warum‹?«, begann er dann endlich wieder.

»Nein.«

»Sie wollen überhaupt weiter keine Fragen stellen?«

»Nein.«

»Dann wissen Sie das ›Warum‹?«

»Ich — ahne es.«

»Soll ich Ihnen die ausführliche Erklärung geben?«

»Ja.«

»Sie möchten Sie wirklich hören?«

»Ja.«

»Ahnen Sie wirklich schon, was Sie da zu hören bekommen werden?«

»Ja.«

»Und Sie wollen es aus meinem Munde hören?«

»Ja.«

Aber er begann noch immer nicht damit.

Wieder eine lange, lange Pause.

»Fräulein«, erklang es dann wieder leise.

»Ja.«

»Gestatten Sie, dass ich beim Sprechen anderswo hinblicke? Mich ans Fenster stelle, Ihnen den Rücken zuwende?«

Nein, das Mädchen gab ihm die Erlaubnis nicht.

Aber etwas anderes, ganz, ganz Merkwürdiges tat sie.

Wortlos stand sie auf, ging nach der Tür, drehte das elektrische Licht aus und tastete sich nach ihrem Stuhle zurück.

»So, nun sprechen Sie.«

Und er begann zu sprechen.

In dem Zimmer herrschte völlige Finsternis, und in dieser erklang es alsbald, mit tiefer, ruhiger Stimme, die etwas Eisernes an sich hatte, aber ruckweise.

»Weh mir, dass ich damals in dem Gemetzel als der letzte Tolewane übrig blieb!

Weh mir, dass ich damals nicht auch mein Leben aushauchte!

Ich bin der Indianer geblieben, der Sioux, der Tolewane, der blutleckende Jaguar!

Ach, was habe ich nicht alles getan, um in mir den blutdürstenden Indianer zu töten!

Ich habe mich kasteit und gemartert, wie sich nur je ein fanatischer Mönch oder ein orientalischer Fakir kasteit und gemartert hat!

Ich habe gefastet und gehungert, bis sich die Seele vom Körper trennen wollte!

Ich habe meinen Leib mit glühenden Eisen gebrannt!

Ich habe mich in die tollsten Sinnestaumel gestürzt und habe winselnd im Staube vor dem gekreuzigten Gotte der Christen gelegen!

Ich habe die Erde umrast und habe mich lebendig begraben!

Vergebens, vergebens, alles war vergebens!! Je mehr sich mein Leib verzehrte, desto mehr brannte mein Hirn, desto glühender wurde meine Sehnsucht!«

»Was für eine Sehnsucht?«

»Blut — Blut wollte ich sehen!!

Menschen morden, mit meinen Händen sie erwürgen, ihnen das Messer im Herzen umdrehen — und — — ihnen die Kopfhaut abziehen!

Fräulein! Machen Sie Licht, wenn Sie es wagen!«

Ja, sie wagte es. Das elektrische Licht flammte wieder auf, und sie kehrte zurück zu ihrem Stuhle. Ihr blasses Gesicht war so unbeweglich wie das bronzene.

»Sie wagen es, mich auch im hellen Lichte zu sehen?«

»Ja.«

»Auch im Sonnenlichte könnten Sie mich noch so anblicken?«

»Ja.«

»Wollen Sie mein Weib werden?«

»Ja.«

Sofort war dieses »Ja« erklungen, dann aber trat wieder eine lange Pause ein. Fest und unbeweglich blickten sich die beiden an.

»Wissen Sie auch wirklich, was ich soeben gefragt habe und was Sie antworteten?«

»Ja.«

»Wirklich?«

»Ich weiß es. Ich bin bei vollem, klarem Bewusstsein.«

»Sie wollen mein Weib werden?«

»Ja.«

»Lieben Sie mich?«

»Nein.«

»Und Sie wollen dennoch mein Weib werden?«

»Ja.«

»Bitte, sprechen Sie etwas mehr!«

»Tag und Nacht will ich bei Ihnen sein, nicht Ihre Hand aus der meinen lassen.«

»Und Sie lieben mich dennoch!«

»Dennoch — ja.«

»Als einen Unglücklichen, von dem Sie einst sagten, dass Sie ihm nie die Hilfe versagen würden, wenn es in Ihrer Macht stände, ihm zu helfen.«

»Ja.«

»Fräulein! Ich weiß ein einsames Häuschen in einem einsamen Tale. Dort werden Sie neben mir sitzen, wie Sie in Berlin neben mir gesessen haben. Sie werden malen, ich werde lesen und schreiben.«

»Ja.«

»Es ist nicht nötig, dass wir zusammen sprechen.«

»Nein.«

»Sie brauchen mir nicht die Hand zu geben.«

»Nein.«

»Und Ihre Mutter? Ihre Geschwister?«

»Wie Sie bestimmen.«

»Ich möchte mit Ihnen allein sein.«

»Ja.«

»Sie bringen mir ein Opfer.«

»Ja.«

»Ich werde es belohnen.«

»Ich bin belohnt genug.«

Wieder eine lange, regungslose Pause. Bis die tiefe, metallene Stimme wieder begann:

»Noch ein anderes Glück will ich in Ihr Herz legen, wenn Sie einsam neben mir sitzen.«

»Es gibt für mich kein anderes Glück als das, das ich hiermit freiwillig erwähle.«

»Es gibt noch ein anderes.«

»Nein.«

»Sie sollen neben mir jeden Augenblick an zehntausend Witwen und an zehntausend Waisenkinder denken, die jetzt ohne Sie darben würden.«

Sie blieb die Frage, blieb die Antwort schuldig.

»Ich werde alles verkaufen, was ich habe, und in Ihre Hände legen.«

»Ich bedarf keines Goldes.«

»Sie sollen es den Armen geben.«

»Tun Sie das selbst. Ja, das fordere ich überhaupt von Ihnen. Das ist die einzige Bedingung, die ich stelle: Arm müssen Sie zu mir kommen, arm müssen Sie bleiben! Ich muss Sie durch meiner Hände Arbeit ernähren. Sie selbst dürfen nicht das Geringste dazu beitragen. Verstehen Sie? Sonst vermag ich es nicht zu vollbringen.«

Bejahend neigte er ergebungsvoll das Haupt. Dann blickte er wieder auf.

»Wie lange brauchen Sie Bedenkzeit?«

»Ich brauche keine Bedenkzeit. Es ist geschehen.«

Er sah nach der Uhr.

»Es ist neun. Morgen früh um neun bin ich wieder hier.«

»Ich brauche keine Bedenkzeit.«

»Sie müssen mit Ihrer Mutter sprechen.«

»Das ist nicht nötig. Bleiben Sie hier, kommen Sie mit in mein Zimmer, ich möchte noch etwas arbeiten.«

»Ich habe drüben noch zu tun.«

»Ich komme mit Ihnen hinüber. Befehlen Sie über mich. Das Reich Gottes kommt in einem Augenblick und kennt keine menschlichen Sitten und Gesetze.«

»Ich bitte, geben Sie zwölf Stunden Bedenkzeit.«

»Ihnen?«

»O nein. Für Sie.«

»Ich brauche keine Bedenkzeit. Von dieser Stunde an gehöre ich Ihnen.«

»Dennoch bitte ich darum.«

»Wenn Sie es befehlen, so ist das etwas anderes, dann gehorche ich.«

»Morgen früh Punkt neun Uhr bin ich wieder hier.«

»Ich erwarte Sie.«

Er erhob sich, den Zylinder in der behandschuhten Rechten, machte er eine förmliche Verbeugung und ging.

Der abgewiesene Freier

Ruhig, als ob nichts geschehen wäre, als ob es sich um das Gleichgültigste gehandelt hätte, begab sich Hannchen in ihr Zimmer zurück, ordnete aber ihre Malutensilien nicht weiter, sondern packte sie wieder ein, nahm die Meldung der beiden Dienstmädchen entgegen, sie gingen. Sie wollte sich entkleiden, um zu Bett zu gehen.

Da schrillte die Vorsaalklingel.

Ein kleiner Schreck.

Wer konnte das sein? Die Mutter wollte erst um zehn zurückkommen, vielleicht noch später, an Richard war nicht zu denken — —

Nun, es war ja erst neun Uhr. Schnell hatte sie das Kleid wieder geordnet und war hinausgegangen.

»Wer ist da?«

Kein gewöhnliches »Ich«, sondern ein kräftiges »August Schulze!«.

Hastig öffnete Hannchen die Tür.

»Was ist mit den Kindern?!!«

»Nichts. Die sind in bester Obhut. Wir haben Abendbrotpause, und ich habe einen Eilbrief bekommen, den muss ich Dir sofort mitteilen, es ist wichtig genug.«

August wurde in ein Wohnzimmer geführt. Mit einem Male konnte er ganz fließend sprechen. Vielleicht, weil er in seiner Arbeitskleidung und mit Hannchen allein war, vielleicht war es die Freude, die aus seinen Zügen und Augen leuchtete.

»Ich konnte nicht warten bis um elf oder gar bis morgen. Es ist doch eine schöne Sache um einen schönen Berg Geld und ich bringe ihn mit.«

»Geld?«

»Ja. Du weißt doch noch, Hannchen, wie Du mir den Schlips angemalt hast.«

»Ja.«

»Ich sagte doch gleich, dass das ein Patent wäre, zumal für England und Amerika.«

»Ja.«

»Nun, ich habe die Sache sofort in die Hand genommen, das Ding einem Patentbüro eingereicht. Um alle Weitläufigkeiten zu ersparen, habe ich getan, als wäre das Patent von mir, ich wollte Dich auch damit überraschen. Und es ist denn auch so gekommen, wie ich gleich dachte. Soeben bekomme ich von der Hemdenfabrik Allan und Söhne in Philadelphia, der größten Amerikas, hier diesen eingeschriebenen Eilbrief. Sie bietet mir für das Patent, fertige Hemden mit gemalten Schlipsen zu bedrucken, hunderttausend Dollars, sofort zahlbar.«

Hannchen nahm den Brief, überflog ihn. Ja, es stimmte.

»Hunderttausend Dollars — mehr als viermalhunderttausend Mark? Wie ist das für solch eine Kleinigkeit möglich?«

Kleinigkeit? August, der sich inzwischen unter den Hemden näher umgesehen hatte, konnte ihr etwas anderes berichten.

Amerika hat seine eigenen Sitten. Wir haben sie doch auch. Man hat ausgerechnet — und die Hemdenfabriken können das doch ganz genau — dass es in Nordamerika rund zehn Millionen Männer gibt, die jeden Sonnabend für den Sonntag ein neues Oberhemd kaufen, das höchstens fünfundzwanzig Cents (eine Mark) kostet. Ein hochfeines Oberhemd mit Manschetten. Am nächsten Tage wird es fortgeworfen. Man kann auch gar nichts anderes damit anfangen. An ein Waschen ist gar nicht zu denken. Aber für den Sonntag jedenfalls ein prachtvolles Oberhemd!

Jeden Sonnabend werden zehn Millionen solcher Oberhemden abgesetzt! Nun rechne man sich aus, wenn die Fabrik an solch einem Hemd auch nur einen Fünfer verdient. Natürlich streiten sich da mehrere Fabriken um die Konkurrenz. Aber das war es ja hier eben. Gleich einen Schlips daraufdrucken, das war einmal etwas Neues — was kam es denn da solch einer Fabrik auf hunderttausend Dollars an, wenn sie dadurch vielleicht den ganzen Sonnabendnachmittagshemdenmarkt erobern konnte!

»Der Brief ist durch die Hände des New Yorker Patentanwaltes gegangen. Er hat ein paar Zeilen dazu gelegt. Hier sind sie. Er meint, wir könnten auch das Doppelte und vielleicht Dreifache fordern, aber — er rät uns, doch lieber die gebotene Summe gleich anzunehmen. Man könnte uns doch noch schikanieren, wir sind in Amerika, da lässt sich viel machen.«

»Gewiss, das nehmen wir an«, sagte Hannchen ruhig.

»Nun, darüber hast Du natürlich zu bestimmen.«

»Nur ich? Wir werden das Geld natürlich teilen.«

»O nein, Hannchen, da kennst Du mich schlecht. Ich habe nur einige Arbeit dabei gehabt, aber das Patent und das Geld gehören Dir.«

»Nein, August, mindestens die Hälfte —«

»Kein Wort, Hannchen, oder Du kennst mich noch nicht!!«

Himmel, wie das Kerlchen plötzlich auftaute!

Aber mit einem Male war es doch wieder der schüchterne August. Nur nicht so gänzlich. Oder er hatte keinen Kragen um, an dem er würgen konnte.

Treuherzig blickte er das Mädchen von der Seite an.

»Oder — oder — wollen wir doch teilen?«

»Wie ich sage.«

»Ganz — ganz teilen — all — alles — was — was wir haben —«

»Alles, was wir haben, teilen?«, fragte Hannchen, aufmerksam werdend.

Seine Augen mussten ihr ja alles sagen, und jetzt sprach er es auch aus, das, was er vielleicht schon seit Jahren mit sich herumschleppte.

»Hann — Hannchen — ich habe Dich — Dich — doch so lieb — willst Du nicht meine Frau wern?«

Da ging ein jäher Ruck durch den ganzen Körper des jungen Mädchens, mit einem tiefen, hörbaren Atemzuge wandte es sich halb ab, die Hand wie abwehrend nach jenem ausstreckend.

»Zu spät! Ich kann nicht mehr!«

Und da erstarrten die treuherzigen Augen.

»Du ka — kannst nicht mehr?!«

»Ich — gehöre schon einem anderen!«

Einige Sekunden Todesstille, nur den Springbrunnen hörte man draußen plätschern, und dann machte der kleine Mann eine kleine Verbeugung, gar keine so linkische.

»Gute Nacht, Hannchen. Ich bin Dir nicht etwa böse, glaub's mir nur.«

Und er ging hinaus.

Draußen in der finsteren Nacht stand er mit tief gesenktem Kopfe einige Zeit.

»Sie gehört schon einem anderen!«, erklang es etwas weinerlich in der Finsternis.

Dann warf der kleine Mann den Kopf zurück und ging mit weiten, elastischen Turnerschritten der erleuchteten, surrenden Fabrik zu.

*

Auch das junge Mädchen stand einige Zeit regungslos in der Mitte des Zimmers.

Dann drehte sie das elektrische Licht aus und ging wiederum gleichmütig, als ob nichts geschehen wäre, in ihr Zimmer zurück, entkleidete sich und ging zu Bett.

Um zehn kam die Mutter und blickte in das Zimmer der Tochter.

»Bist Du denn schon zu Bett, Hannchen?«

»Ja, Mama, ich war recht müde!«, klang es mit solcher Stimme zurück.

»Du bist doch nicht krank?«

»Ich krank?«, wurde jetzt aber ganz heiter gefragt. »Ach, ich freue mich so auf morgen.«

»Weshalb denn?«

»Weil ich da wieder zu malen anfange.«

»Der Professor Moor in hier eingetroffen, der Indianer.«

»Ja, ich habe es auch schon gehört«, wurde die Stimme der Tochter jetzt wieder recht schläfrig.

»Gute Nacht, Kind.«

»Gute Nacht, meine liebe Mama.«

Einige Minuten nach elf kamen die Kinder zurück. August brachte die ihm anvertrauten Schützlinge selbst, er war ein Mann.

»Kommst Du morgen Nachmittag zu uns, August?«

»Na, das ist doch ganz sicher!«

»Gute Nacht, August.«

»Gute Nacht, Paul, gute Nacht, Gretchen.«

Wieder wurde es still.

In der Finsternis entstanden vor Hannchens Augen Gestalten. Da stand ein stattlicher alter Herr, über den weißbewesteten Bauch spannte sich eine goldene Kette, an der man einen Ochsen hätte spazieren führen können.

»Wenn ich eene Tochter hätte, un der käme, die beiden wären sich einig — da habt Ihr Euch!«

Und dann verwandelte sich der alte Herr in August, der sich wuchtig in die duftige Obsttorte mit Schlagsahne setzte.

Um Mitternacht kam Richard.

Wieder war es still.

Das Plätschern der Fontäne gehörte mit zu dieser Stille.

Noch ein Weilchen, dann erhob sich Hannchen wieder, schlüpfte in die weichen Schuhe, warf den Morgenrock über, ging ans Fenster, welches noch geöffnet war, und zog die Vorhänge zurück.

Es war eine herrliche Spätsommernacht. Hier aber noch einmal Frühling — der indianische Sommer. Die neu erblühten Blumenbeete sandten köstliche Düfte herüber. Die Fontäne leuchtete silbern im Scheine des Mondes, der als halbe Scheibe dort oben über den waldigen Bergen stand.

Drüben in dem Palaste waren die Lichter erloschen.

Hannchen drehte das elektrische Licht an, nahm die Bibel, setzte sich an das offene Fenster und las in den Evangelien, dabei die Lippen bewegend, was sie sonst beim Lesen nicht tat, wie sie überhaupt nicht oft in der Bibel las. Es kam alle Jahre einmal vor.

So saß und las sie mit lautlos flüsternden Lippen, bis die Sterne zu erbleichen begannen — bis sie plötzlich eine furchtbare Erscheinung hatte, die ihr das Blut in den Adern erstarren machte — —


Lieferung 32


Illustration

Der Indianer, Hannchen im Arm festhaltend, hob den
Tomahawk, ließ den Verfolger nochetwas näher heran-
kommen, dann schleuderte er die todbringende Waffe.


Im Giftraum

Professor Moor, wie wir ihn nennen wollen, unter welchem Namen der einst so berühmte Operateur, Professor Dodds einziger Konkurrent, noch in der Erinnerung Amerikas war, hatte sich wieder hinüber in seinen Palast begeben.

Im Vestibül trat ihm ein alter Mann entgegen, der Hausmeister.

»Vor einer Viertelstunde ist der alte Tom tödlich verunglückt.«

»Ach!«

Wenn es ein bedauerndes »Ach« gewesen war — im Tone hatte es nicht gelegen.

»Er kam durch sein eigenes Verschulden unter den Fahrstuhl.«

»Tot?«

»Augenblicklich. Die Platte drückte ihm die Brust total ein. Ich dachte, falls Sie ihn noch einmal sehen wollten.«

»Führen Sie mich hin.«

Der Tote lag in seinem Souterrainstübchen, in dem er ein Menschenalter gehaust hatte, seine Dienste dem Herrn dieses Palastes widmend.

Friedlich lag das graue Haupt in die Kissen gebettet, nur etwas getrocknetes Blut auf den Lippen verriet, dass er eines gewaltsamen Todes gestorben war. Sonst glich er ganz einem Schlafenden.

Den Zylinder in der Hand, blickte Professor Moor auf die Leiche herab.

»War der Koloniearzt schon hier?«

»Ja. Er hat schon den Totenschein ausgestellt. Morgen früh um neun wird er begraben.«

»Morgen — früh — um — neun. So! Ich gehe nicht mit zum Begräbnis, kann nicht.«

Es wäre überhaupt das erste Mal gewesen, dass er's getan hätte.

»Ich werde — hinterlässt Tom Familie?«

»Nein.«

»Hat er Verwandte?«

»Keine Verwandte und gar nichts. Er stand ganz allein in der Welt.«

»So. Was liegt denn da neben seinem Kopfe zwischen den Haaren?«

Der Hausmeister wurde etwas verlegen.

»Seine Pfeife, die er immer rauchte. Tom sagte manchmal, er habe nichts mehr in der Welt als seine Tabakspfeife, das wäre noch seine einzige Freude. Die möchte er mit ins Grab nehmen. Da habe ich sie vorhin mit hingelegt.«

»Schön. Er soll sie mit ins Grab bekommen, mit in den Sarg.«

»Nein, Herr Professor, so war das nicht gemeint, ich sagte nur —«

»Man soll ihm die Tabakspfeife mit in den Sarg legen.«

»Das duldet der Herr Pastor nicht, der ist —«

»Still! Vorläufig habe noch ich hier zu befehlen. Wenn der Herr Pastor das nicht duldet, so geht er. Verstanden?«

»Ja, Herr Professor.«

In dem dunklen Hintergrunde des Zimmers stand noch ein Bett, und von dort erscholl ein Brummen.

Der Professor blickte aufmerksam hin.

»Was ist denn das dort? Wer liegt denn dort im Bett?«

Der Hausmeister musste lächeln, wenn auch recht wehmütig.

»Das ist unser Toddy.«

»Toddy?«

»Ach so, Herr Professor wissen noch nicht, er ist ja erst anderthalb Jahr hier —«

Er erzählte von dem zahmen Baribalbären, von seiner Liebenswürdigkeit, von seinen Angewohnheiten, wie er für Kost und Logis in den Familien der Kolonie reihum ging, sich ganz wie ein Mensch betragend.

»In letzter Zeit hat er sich aber immer mehr an Tom angeschlossen. Nur zu den Mahlzeiten geht er noch in die Familien, abends kommt er hierher, er will nur noch bei Tom schlafen, der ihm hier ein Bett gemacht hat, in das er sich wie ein Mensch legt. Das ist nun auch vorbei.«

»So. Ist das Tier harmlos?«

»Wie ein Lamm. Sonst dürfte es doch nicht frei herumlaufen.«

»Ich meine: Kann ich jetzt hingehen?«

»Ganz gewiss.«

Moor begab sich hin, brauchte kein Licht, sah in den weißen Kissen ganz deutlich den mächtigen schwarzen Kopf des Bären. Der Baribal ist nicht viel kleiner als der braune Bär.

Gemütlich brummend blinzelte das Tier den fremden Mann an und wusste mit seinen Tatzen geschickt die heruntergerutschte Bettdecke über sich zu ziehen.

»So in die Decken wickelt er sich ganz von selbst?«

»Sie sehen ja, wie er's macht.«

»Wie alt ist er?«

»Zwei Jahre. Er war erst einige Wochen alt, als wir ihn fingen, er musste noch die Milchbuttel bekommen.«

»So.«

Der Professor verließ den Raum, setzte seinen Zylinder erst draußen wieder auf, erstieg zwei Treppen, öffnete eine Tür, im Eintreten das elektrische Licht andrehend.

Das kleine chemische Laboratorium, nach hinten liegend, enthielt nur zwei Arbeitstische. Es gab ein noch viel, viel größeres, nach vorn heraus. Doch auch hier war alles vorhanden, was der Chemiker zur qualitativen und quantitativen Analyse braucht, alle Reagensflaschen gefüllt, alles in tadelloser Ordnung.

Ohne den Hut abzunehmen, setzte der indianische Gelehrte im schwarzen Gehrock einen Fuß auf einen Schemel, stützte den Ellenbogen aufs Knie, das Kinn in die Hand und blickte einige Minuten regungslos vor sich hin. Dann ging er schnell nach einem Schranke, unterwegs die Glacéhandschuhe abstreifend und sie auf den Laboratoriumstisch werfend, entnahm dem Schranke eine Kochflasche, betrachtete sie prüfend gegen das Licht, spülte sie mit destilliertem Wasser aus, füllte etwas Braunstein hinein und traf alle Vorbereitungen, um chemisch reines Chlorgas zu entwickeln.

Dies musste unter dem Abzuge geschehen — im Giftschrank. Es ist dies einfach eine Art Wandschrank mit Glastür, oben in der Wand ist ein in den Schornstein gehender Abzug, in dem eine Gasflamme brennt. Ein luftdichter Abschluss der Glastür ist gar nicht nötig. Die Gasflamme saugt alles in den Schornstein ab. Natürlich muss dieser auch wirklich ziehen. Dann aber würde die Flamme ja auch gar nicht brennen, wenn sie von außen keine Luftzufuhr hätte, oder sie schlägt zurück.

Das kleine, besondere Laboratorium, das solche Abzugsschränke enthält, nennt man den Giftraum.

In solch einem Giftschrank baute der Professor seinen Apparat auf, um aus Braunstein und konzentrierter Salzsäure durch gelindes Erhitzen Chlor zu entwickeln. Dabei ist ja, wenn man dazu neues Glas verwendet, noch mancher Kork zu feilen und zu bohren, hier und da eine Glasröhre glühend zu biegen. Doch dieser indianische Gelehrte brauchte nicht seinen feinen Anzug durch einen Laborkittel zu schützen, seine braunen, schlanken und doch so kräftigen Hände arbeiteten mit einer wunderbaren Schnelligkeit und Geschicklichkeit.

Der Entwicklungsapparat war fertig, nur die Salzsäure fehlte noch. Erst füllte er noch eine Glasglühröhre mit Platinschwamm, schaltete diese hinter der Waschflasche, deren Wasser das Chlor zum Reinigen zu passieren hatte, ein, setzte unter die Glühröhre einen Reihenbrenner, drehte das Gas an, entzündete die sechs Flammen, welche den Platinschwamm erhitzen mussten, brannte mit einem langen Stock die Gasflamme im Abzug an, jetzt goss er in den Entwickler konzentrierte Salzsäure, stellte ein kleines Flämmchen darunter und schloss das Fenster des Schrankes.

Die Entwicklung begann, das aus dem Braunstein getriebene Chlorgas perlte durch das Waschwasser und strich über den glühend werdenden Platinschwamm.

Eine Weile beobachtete er diesen Vorgang, hatte nichts mehr zu regulieren, blickte noch einmal nach dem Abzug, in den die Flamme langgestreckt hineinschlug, ging an einen anderen Schrank, entnahm ihm ein chemisches Handbuch und Papier und begann, an einem Tischchen sitzend, lange chemische Formeln zu berechnen.

Noch einmal ging er an den Giftschrank, überzeugte sich, dass die Gasentwicklung normal verlief, dann nicht wieder.

Eine halbe Stunde verstrich. Der Gelehrte war ganz in seine Formeln vertieft. Eine große Spinne lief ihm über die Stirn, untersuchte sein Ohr, und er merkte es nicht, machte auch keine Impulsbewegung, um das krabbelnde Insekt zu verscheuchen. Wenn die Gasentwicklung aufhörte oder sonst wie unterbrochen wurde, so hatte das jedenfalls nichts zu sagen. Jetzt hüstelte er — er hatte schon öfters gehüstelt, ohne es zu beobachten. Jetzt aber merkte er, dass er immer stärker hustete, wie es ihm im Schlund kratzte.

Sollte er es auch nicht endlich merken! Der ganze Raum war voll Chlorgas.

Die seitlich neben dem Giftschrank angebrachte Abzugsschnur hatte sich losgelöst, die Klappe im Schornstein war geschlossen, das kaum noch sichtbare Flämmchen stand ganz gerade, die Chlorentwicklung ging lustig weiter, immer ins Laboratorium hinein.

Chlor ist kein direktes Gift wie etwa Zyanwasserstoff, Blausäure, so wenig wie Wasser, in dem man aber doch auch innerhalb einer Minute erstickt. Außerdem aber zerfrisst das stechende Chlorgas die Atmungsorgane, die Lunge. Doch so schnell geht das nicht. Jeder studierende Chemiker hat manches Quantum Chlor geschluckt. Mancher hat auch mit Absicht einige Züge eingeatmet, ehe er zum Kommers ging, um viel trinken zu können, weil es einen unlöschbaren Durst erzeugt.

Der Professor ging schnell hin, zog die Klappenschnur, die Flamme saugte wieder, er öffnete das ins Freie führende Fenster, lehnte sich hinaus, tat einige tiefe Züge, und die Sache war für ihn erledigt. Auch noch die Tür öffnen, um Gegenzug zu erzeugen, tat er gar nicht erst, das noch in der Atmosphäre vorhandene Chlor genierte ihn gar nicht weiter. So ein Chemiker muss eine ausgepichte Lunge haben.

Nur sein Durst war hierdurch noch nicht beseitigt. Jetzt erst merkte er, der vorhin das Krabbeln der Spinne gar nicht verspürt hatte, was für ein furchtbarer Durst ihn plagte. Doch ein natürliches Durstgefühl ist es ja gar nicht. Der gebeizte Schlund will eine wässerige Abkühlung haben.

Schon wollte er an der Leitung einen Becher voll Wasser laufen lassen, als er sich besann. Das Wasser kam aus einem Reservoir, war sehr warn. Und vorhin erst hatte er beordert, dass in den Eisschrank des zu diesem Laboratorium gehörenden Schreibzimmers einige Flaschen Selterswasser und Limonade gelegt würden. Ohne Eis kann der Amerikaner ja gar nicht auskommen.

So begab er sich hinüber und zog eine Flasche aus dem eingemauerten Schrank.

»Sterilisierter Weinmost, garantiert alkoholfrei«, stand auf der Etikette.

Es war die natürlichste Limonade, reiner und besser als jede andere, wenn sie nicht aus frischen Früchten bereitet wird.

Er nahm ein halbes Dutzend Flaschen davon mit. Dass er sich dabei so gar nicht beeilte, das zeigte, wie er seinen Körper, seine Empfindungen in der Gewalt hatte, was doch erst vom Geiste ausgeht. Das Brennen im Schlunde war furchtbar. Ein anderer hätte schon vorher erst einige große Gläser des lauwarmen Leitungswassers hinabgestürzt, nur um fähig zu sein, dann noch die Limonade holen zu können.

Jetzt freilich gab er sich ganz dem Genusse hin, ohne sich Zwang anzutun. Er trank schnell hintereinander zwei Becher der gelblich schäumenden Limonade, sah einmal nach dem Entwickler, leerte eine zweite Flasche. Es war wie ein Tropfen auf einen heißen Stein.

Dann begann er wieder zu rechnen, dabei eine Flasche nach der anderen leerend, neue holend aus dem unerschöpflichen Eisschranke, immer solchen sterilisierten, absolut alkoholfreien Weinmost.

Kann man denn durch den Geschmack beurteilen, ob ein Getränk alkoholfrei ist? Nein, das kann man nicht. Am wenigsten, wenn das Getränk eisgekühlt oder sehr heiß ist.

Hierbei zeigt es sich einmal, was die Einbildungskraft des Menschen vermag. Schon mancher glaubensfromme Temperenzler hat in solcher Limonade, besonders wenn sie aus Früchten hergestellt ist, aber doch auf künstliche Weise, gute Portionen Alkohol zu sich genommen, er ist als Gerechter nüchtern nach Hause gegangen. Ein anderer trinkt wirklich absolut alkoholfreien Wein, glaubt, er sei sehr schwer, und wird davon bezecht. Besonders bei Damen gelingt dieses Experiment mit alkoholfreien Punschessenzen regelmäßig.

Natürlich hat dies wie alles seine Grenzen. Zuletzt fällt der Temperenzler doch unter den Tisch, und der andere merkt bei der dritten Flasche, dass er seinen Magen mit einem Zeuge voll pumpt, mit dem sein Geist, Spiritus, keine Verwandtschaft hat.

Der rechnende Gelehrte wurde bei der achten Flasche Limonade stutzig. Die Feder wurde ihm in der Hand so schwer, die Zahlen verwirrten sich im Kopfe.

Prüfend durchleuchtete er das Glas mit der gelben, perlenden Flüssigkeit. Wenn der kalifornische Wein nicht gehörig sterilisiert worden, wenn er in der Flasche nachgegoren hatte, dann — —

Der Chemiker machte sofort eine Probe, nicht die einfachste, aber die gründlichste. Er destillierte eine abgemessene und abgewogene Menge der Limonade im Kolben über, die Dämpfe durch starke Kühlung kondensierend — natürlich, Alkohol!

Durch Bestimmung des spezifischen Gewichtes konnte er weiter konstatieren, dass diese Limonade fast zwölf Prozent Alkohol enthielt. Mindestens zwei ganze Liter des schwersten kalifornischen Weines hatte er getrunken, in kurzer Zeit hinuntergegossen.

Ja, nun, da er es bestimmt wusste, merkte er es erst recht! Er setzte sich und stemmte den glühenden Kopf in die Hände, stierte vor sich hin.

Und es war ein Vollblutindianer! Nun begann sich in dem Gehirn dieses Vollblutindianers etwas abzuspielen, sich jene rätselhafte Umwandlung zu vollziehen, mit der sich noch kein Psychologe richtig beschäftigt hat.

Es sei hier nur angedeutet, worüber man dicke Bücher schreiben könnte.

Indianer, Wald- und Prärieläufer, Cowboys, kanadische Voyageurs, Matrosen, Schiffer — besonders die Mississippischiffer — diese Leute, so verschieden sie auch sonst sein mögen, haben alle ein und denselben Charakterzug. Bei der ersten näheren Bekanntschaft mit ihnen fällt einem ihre beispiellose Trägheit auf, ihre Apathie, ihre Nervenlosigkeit. Sie legen sich in den Schatten, dieser verrückt sich, sie kommen in die brennende Sonne zu liegen, das ist ihnen höchst unangenehm, aber sie sind zu faul, aufzustehen oder sich auch nur herumzuwälzen. Neben ihnen wird eine Kanone losgebrannt, oder zwei Männer morden sich ab — es fällt ihnen gar nicht ein, auch nur den Kopf zu drehen. Es geht sie ja nichts an. Der Amerikaner hat für diese Art Leute das Wort »nevermind men« geprägt.

Extreme berühren sich. In diesem Zustande der körperlichen und geistigen Apathie sammelt sich bei diesen Männern jene energetische Spannung an, durch welche sie dann wieder die ungeheuerlichsten Anstrengungen und Strapazen ertragen können. Auch im — Saufen. Denn von einem Trinken oder Zechen kann man da nicht mehr sprechen. Was die da leisten, das muss man gesehen haben, um es glauben zu können. So ein Mississippischiffer stürzt einen Liter des schwersten Jamaika-Rums mit einem Zuge hinter, wie unsereiner bei großem Durst ein Glas Bier mit einem Zuge austrinkt. Und das rührt den Mann ebenso wenig, noch viel weniger. Denn bei diesem einen Liter Rum bleibt es nicht. Wenn nur noch welcher da ist. Er ruht nicht eher, als bis er das ganze Branntweinfässchen leer hat. Zwei Tage und Nächte hält er eine derartige Sauferei aus, bis er plötzlich wie tot zusammenbricht. Dann kommen die üblichen drei Tage: Am ersten Tage ist er tot; am zweiten ringt er noch mit dem Tode; am dritten ist er krank, zittert sich aus — und am vierten Tage wird mit frischen Kräften weitergesoffen. Wenn nur noch etwas da ist. Besonders auch die australischen Schafscherer, die leisten etwas in solchen Kunststückchen! Sie arbeiten dann aber auch wieder, wovon man in Europa gar keinen Begriff hat, auch in Amerika nicht.

Das Merkwürdigste aber nun dabei ist, dass alle diese Männer gar nicht betrunken werden. Scheinbar nicht! Und nun eben kommt das psychologische Rätsel.

Bei solchen Zechgelagen, wenn die Gelder für die ganze Saison ausgezahlt werden, überbietet man sich in Kraftstückchen, reitet und schießt um die Wette. Dabei wird immer der Branntwein hintergegossen. Nein, betrunken sind sie nicht. Aber im Gehirn verschiebt sich nach und nach etwas. Doch es ist nicht etwa Delirium tremens. Da kann man nicht mehr auf galoppierendem Pferde kopfstehen und jemandem ein Vier-Cent-Stück mit unfehlbarer Sicherheit aus den Fingern schießen. Es ist seelische Umwandlung, die mit diesen Männern vor sich geht. Man möchte sagen: Die Schärfe ihrer Sinne, die Erkenntnis der Außenwelt, steigert sich bei ihnen bis zur höchsten Potenz, aber sie verlieren dabei das Bewusstsein von ihrem eigenen Ich.

Auffallend ist es, wie häufig sie sich in diesem Zustande beim Anzünden der Pfeife die Finger verbrennen. Sie zünden ein Streichholz an, sprechen mit jemand und merken nicht, wie die Flamme ihnen die Fingerspitze verbrennt. Sie merken es faktisch nicht, fühlen nichts. Nach solchen mörderischen Zechgelagen haben alle diese Männer immer furchtbare Brandwunden an den Händen.

Oder da erzählt einer, wie sein Freund von einer Klapperschlange in den Finger gebissen worden ist, wie er sich den Finger abgehackt hat, der Erzähler schildert möglichst anschaulich, legt den Finger auf einen Stein, setzt das Messer genau so an, wie sein Freund es machte — hackt sich seinen eigenen Finger ab. »Never mind.«

Dann später wundert sich der Mann, wo er seinen Finger gelassen hat.

Aber da kommen noch ganz, ganz andere Sachen vor, die man gar nicht erzählen kann, sie klingen gar zu unglaublich. Und dennoch sind es Tatsachen.

Shakespeare hat einmal etwas geschildert, wie man so etwas, so eine Handlung, in der ganzen Literatur nicht wiederfindet. Othellos Ende, seine letzten Worte, so nachdenklich sinnend in erzählendem Tone gesprochen:


... Schreibt das alles
Und fügt hinzu, dass in Aleppo, wo
Ein giftiger Türk in hohem Turban einst
'nen Venezianer schlug und schalt den Staat,
Ich den beschnittnen Hund am Hals ergriff
Und traf ihn — so!


Und da macht Othello eben vor, wie er den »beschnittnen Hund« getroffen hat, bei dem »so!« stößt er sich selbst den Dolch ins Herz.

Das ist eben Shakespeare!

Derselbe Shakespeare, von dem seine literarischen Zeitgenossen kein Wort zu melden wussten, ihn als einen platten Vielschreiber ignorierten.

Der blutleckende Jaguar

Unbeweglich saß der indianische Gelehrte da, den Kopf in die Hände gestützt, und stierte vor sich hin. Stundenlang.

Wenn er sich einmal bewegte, so nur, um eine neue Flasche jener »Limonade« mit zwölf Prozent Alkohol zu leeren.

Jetzt aber füllte er nicht erst das Becherglas, trank gleich aus der Flasche, sie immer ohne Absetzen leerend.

Die glänzenden Augen waren schon längst starr geworden, sie wurden gläsern, das aber verlor sich auch wieder — sie begannen zu glühen.

Und jetzt — jetzt lächelte er.

Das erste Lächeln in diesen sonst so unbeweglichen, ehernen Zügen!

Ein furchtbar höhnisches, grimmiges Lächeln!

Wovon träumte dieser Mann? Von jenen ungeheuerlichen Zechgelagen, wie sie auch bei den Rothäuten, bei den Sioux, üblich sind, wenn sich nur einmal Gelegenheit dazu bietet, wobei sie dann alle Cowboys in den Schatten stellen, wobei sie mit scheinbar ganz klarer Vernunft Ausschweifungen begehen, die jeder Beschreibung spotten, bei deren Andeutung schon die Feder sich sträuben würde?

Und sollte der dreizehnjährige Jüngling, der schon den ganzen Gürtel voll selbsterbeuteter Skalpe gehabt, mit eigener Hand dem Feinde abgezogen, nicht auch schon an solchen Orgien praktisch teilgenommen haben?

Die Hand tastete nach den Flaschen — sie fand nur leere.

Er holte eine neue Batterie aus dem Eisschrank, andere als mit der Etikette »garantiert alkoholfreier Weinmost« zurückstellend.

Im Vorbeigehen sah er den Destillierapparat. Und im Vorbeigehen trank er das Destillat aus, ein großes Glas voll, ungefähr siebzig Prozent Alkohol enthaltend. So, nun konnte er noch besser träumen, sich in die Erinnerung versenken, noch grimmiger lächeln. Und dazwischen wurde immer wieder einmal eine Flasche »Limonade« geleert.

Jetzt erhob er sich wieder, wollte nach der Tür gehen, immer noch den Zylinder auf dem Kopfe, kam an dem Chemikalienschranke vorüber, er blieb stehen, sein glühender Blick blieb an einer großen Flasche haften.

Absoluter Alkohol. Er nahm die Flasche, füllte ein großes Becherglas bis weit mehr als zur Hälfte, ließ Wasser zulaufen, nicht bis zum Rande, und stürzte die mindestens fünfundsiebzigprozentige Alkoholmischung hinter.

Er setzte seinen Weg durch die Tür fort, mit sicherem, elastischem Schritt, noch elastischer als sonst, und er brauchte auf dem Korridor kein Licht, diese wie die einer Katze glühenden Augen konnten sicher auch die schwärzeste Finsternis durchdringen, wenn sie sich nur am Tage mit Sonnenlicht gesättigt hatten.

Er öffnete mehrere Türen mit sicherem Griff. Bis er wieder das elektrische Licht andrehte.

Da befand er sich in einem großen Saale, in dem Sammeleifer alles zusammengetragen hatte, was auf das Leben der nordamerikanischen Indianer der Vergangenheit bis zur Gegenwart Bezug nimmt, vom kleinen aus Holz oder Hirschhorn plump oder zierlich geschnitzten Pfeifenstopfer an bis zum zehnrudrigen Kanu, bis zum großen Häuptlingswigwam, alles in zahlreichen Exemplaren vertreten.

Auch für naturgetreue Wiedergabe war gesorgt. Vor solch einem Wigwam saßen um ein Lagerfeuer drei Indianer in vollem Federschmuck, würdevoll das Kalumet rauchend, der eine aus dem ausgehöhlten Stiele seines Tomahawks. In dem Wigwam sah man eine junge Indianerin, an einem Mokassin stickend und ein Kleines im Schoße, daneben eine scheußliche Hexe, in einem Napfe rührend. Alles von vollendeter Naturtreue, aus einiger Entfernung von der Wirklichkeit gar nicht zu unterscheiden, auch das Lagerfeuer nicht, die glühenden Äste. Denn die glühten wirklich. Sie waren aus rotgefärbtem Glas und innen elektrisch erleuchtet. Besonders im Dunklen, wenn nur dieses Lagerfeuer glühte, musste sich diese Gruppe wundervoll ausnehmen.

Der Professor verlöschte nicht erst die Lampen. Ihm war das alles wohlbekannt.

Eine kleine Überlegung, dabei nach jener Lagergruppe blickend, dann schritt er einer anderen Türe zu.

Nummer acht, erklärte der Katalog: Letzte Tolewanen.

In dem nur kleinen Kabinett war alles untergebracht, was man damals den toten Rothäuten nach jener Metzelei noch so ziemlich unversehrt hatte abnehmen können, was nicht total in Fetzen gehauen worden war. Alles andere hatten sie ja vorher verbrannt. Nur einiges hatte man dann noch in einem Versteck gefunden, so den großen Häuptlingsschmuck, der im Kampfe nicht getragen wird, die sonstigen Insignien seiner Würde.

Und der letzte Tolewane war es, der dies alles betrachtete!

Sich selbst betrachtete er!

Dort hingen seine eigenen Leggins, die ledernen fransenbesetzten Beinkleider, mit rotgefärbten Sehnen, von Mutter und Schwester zierlich genäht, aber durchlöchert, nämlich von den Stichen der Lanzenreiter, deren furchtbare Narben er noch im Fleische hatte — dort seine noch zierlicher genähten und gestickten Mokassins — dort sein Tomahawk und sein Messer, nur wenig kleiner und leichter als die der erwachsenen Krieger — dort sein vorzüglicher Hinterlader mit silberausgelegtem Schaft, mit dem er ein halbes Dutzend Offiziere weggeschossen hatte — dort der patronengespickte Gürtel mit dem Medizinbeutel, außer wirklichen Medizinen oder doch Kräutersäften, Biber- und Eichhornfett und ähnlichen Salben besonders die trockenen Erdfarben zum Bemalen enthaltend — und auch noch ein Dutzend Skalpe hingen daran, über nassem Holzfeuer geräuchert.

O, er wusste noch recht gut, wem diese schwarzen und blonden und weißen, kurzen und langen Kopfhaare einst gehört hatten. Dort der runzlige Lappen, der fast gar keine Haare hatte, mit dem hatte er die größte Arbeit gehabt. Denn der Skalp darf niemals losgeschält, sondern muss nach dem isolierenden Kreisschnitt losgerissen werden. Und es gehört eine lange Übung mit dem Erlernen eines ganz besonderen Kniffes dazu, oder aber eine Riesenkraft, um das fertig zu bringen, um so die Kopfhaut mit einem Ruck abzureißen. Dafür aber kann man dabei auch einen besonderen Wunsch stellen, bei dieser Prozedur, der dann ganz sicher vom großen Geiste erfüllt wird.

Ja, dieser Skalp hatte einem glatzköpfigen Farmer gehört, dem Old Texer, der kein Mehl mehr liefern wollte. An dem hatte der kleine Jaguar sein Meisterstückchen gemacht.

Und dort jenes blonde, fast meterlange Haar, das hatte einer jungen — —

Genug!

Zum dritten Male betrat der letzte Tolewane diese Kammer, in welcher der Geist seines Vaters und seiner Brüder und Stammesgenossen noch lebte. Sein eigenes, sein erstes Ich, das er dort in dem Gemetzel an den schwarzen Hügeln verloren hatte, hier lebte es weiter.

Als der alte Moor den Jüngling, den Knaben das erste Mal hier hereingeführt hatte, sich nichts weiter dabei denkend, ihn nur belehren wollend, da war es das erste Mal passiert: da war der indianische Knabe davon geflohen, auf einem Rosse, bis dieses tot unter ihm zusammenbrach, und dann hatte er sich noch viele Tage im Gebirge herumgetrieben, wie ein wildes Tier lebend, bis ihm endlich die Besinnung zurückgekehrt war.

Sein Pflegevater brauchte dieses Kabinett nicht zu verschließen, Jakob betrat es von selbst nicht wieder, wäre mit Gewalt nicht lebendig noch einmal hineinzuschleppen gewesen.

Und das zweite Mal, da war dann das Fürchterliche geschehen, was immer noch wie ein schrecklicher Alp über ganz Moorfield lag, obgleich doch eigentlich niemand davon wissen konnte.

Da war er schon Professor gewesen, der berühmte Operateur und Universalgelehrte.

Er hatte Kollegen von New York mitgebracht, sich doch einmal zu einem Glas Wein verleiten lassen — und daraus waren Flaschen geworden — ja, und dann hatte er sich, obgleich er ganz, ganz nüchtern gewesen, so nüchtern und bei so klarer Besinnung wie jetzt, hierher geschlichen — und hier war in dem letzten Tolewanen die unwiderstehliche Sehnsucht entstanden — und er hatte sich zurückgeschlichen nach dem Leichenhause, das er seinen Gästen von derselben Fakultät gezeigt — und da war eben das Entsetzliche geschehen, mitten in stiller Nacht — —

Aber der Leichenwächter und der Arzt hatten es bemerkt — noch in derselben Stunde erfuhr es der alte Tobias Moor — und den Leichen wurden die Kopfhäute wieder angekittet und dann fort mit ihnen unter die Erde — —

Der alte Leichenwächter hatte nichts genommen und war stumm wie das Grab geblieben — auch der Arzt hatte nichts verraten — aber der hatte dann in New York wie ein Fürst gelebt — immer und immer wieder hatte der alte Moor einen Scheck nach New York geschickt, über Hundertausende — rund eine Million Dollars hatte ihm der glänzende Hofstaat des finsteren Arztes gekostet, innerhalb weniger Jahre — bis dieser wegen einer unheilbaren Krankheit Gift genommen — —

Das war damals jener Zeitpunkt gewesen, von jener Nacht an hatte der berühmte Chirurg kein Operationsmesser mehr in die Hand genommen, hatte lange Zeit kein harmloses Tischmesser mehr berühren, es nicht mehr sehen können — —

Und nun stand er, der letzte Tolewane, zum dritten Male an dieser Stelle!

Dieser Mann führte keine Selbstgespräche. Wir können ihn nicht murmeln, flüstern, hauchen lassen. So wollen wir seine Gedanken hören.

»So etwas könnte mir ja jetzt nicht mehr passieren. Nur eine Sehnsucht habe ich noch, eine einzige, und dieses unschuldige Vergnügen kann ich mir gönnen. Es ist das letzte Mal, dass es möglich ist — morgen fängt das neue Leben an.«

Er entkleidete sich schnell, vollständig.

Himmel, war das ein Körper!

Die rote Bronzestatue eines hageren Athleten, von Muskeln und mehr noch von Sehnen starrend, die überall wie die Stricke hervortraten.

Und diese Bronzestatue nun wie von den Axthieben eines Vandalen zerbeult und zersplittert.

Furchtbare Narben allüberall!

Und außerdem der ganze Körper mit Tätowierungen bedeckt, auf der Brust einen sehr gut ausgeführten Jaguar, einst in roter und blauer Farbe, die Zeichnungen waren ausgestochen worden, dadurch hatten sie sich weiß gefärbt, was bei einem Blassgesicht ja ganz vorteilhaft gewesen wäre. Aber an diesem kupferroten Leibe traten sie nur noch umso deutlicher hervor, mit unheimlicher Deutlichkeit.

Er legte das Häuptlingskostüm seines Vaters an, die reichbefransten Leggins, das mit unverwüstlichen Farben schön bemalte Lederhemd, zog an die nackten Füße die Mokassins, setzte die Krone auf, aus den weißen und schwarzen Schwungfedern des Seeadlers bestehend, der Federschmuck lief den Rücken hinab und schleifte im Gehen am Boden nach.

So, nun war der Siouxhäuptling fertig. Nein, an der Toilette fehlte noch etwas. Wäre er so in einen Indianerkreis getreten, es wäre nicht anders gewesen, als würde bei uns jemand mit den Bartstoppeln einer Woche im Gesellschaftssalon erscheinen.

Dem am Gürtel hängenden Medizinbeutel entnahm er rote, blaue und schwarze Farben, bemalte sein Gesicht mit Strichen und Punkten, dabei in den Spiegel blickend, den man ebenfalls in jenem Versteck gefunden hatte, ein dreieckiges Bruchstück, mit einer Wurzel eingefasst, die mit zahllosen Schnitzereien bedeckt war.

Diese Malerei war beendet. So, nun war der Sioux-Häuptling salonfähig.

Wusste Johanna nun, weshalb damals bei der ersten Begegnung der fremde Zimmermieter so in ihr mit farbigen Pinselstrichen bedecktes Gesicht gestarrt hatte?

Ach, die hatte jetzt an etwas ganz anderes zu denken!

Nun noch von der Wand des Vaters Kalumet genommen, das lange, federgeschmückte Rohr mit dem selbstgeschnitzten Steinkopf. An seinem Gürtel hing der gefüllte Tabaksbeutel mit Feuerstahl, Stein und Zunder, bald durchzog ein bitterlich-aromatischer Duft den Raum. Die Sioux mischen den Tabak des Händlers mit »Nikiniki«, das ist die geschabte und getrocknete Rinde einer besonderen Weide, sehr aromatisch riechend, aber auch betäubend wirkend.

Gravitätisch wanderte der Siouxhäuptling in den großen Saal zurück und ließ sich an dem Feuer mit gekreuzten Füßen nieder.

Regungslos hockten die anderen drei Indianer da. Es waren ja Puppen. Aber wären sie lebendig gewesen, sie hätten nicht minder regungslos verharrt, in die Glut starrend.

Und der lebendige Tolewanenhäuptling wurde die vierte regungslose Figur, die mit starren Augen in das Feuer blickte. Nur dass er ab und zu die Pfeife zum Munde führte, die Lungen mächtig vollpumpend, dann den Rauch ganz langsam in kaum sichtbaren Wölkchen zur Nase wieder herauslassend.

Die Pfeife war ausgeraucht.

Jetzt erst musste der letzte Alkohol zu wirken beginnen, von dem er ein Quantum zu sich genommen, das in solcher Konzentration einen Gewohnheitstrinker schnell niedergeworfen hätte. Und hier kam noch das höllische »Nikiniki« dazu.

Der Tolewanenhäuptling, in den sich der amerikanische Hochschulprofessor verwandelt hatte, begann leise zu bellen.

»Hau — hau — hau hau hau.«

Die Engländer schreiben es »Hugh«. Es ist das apalachische »Ja«, und das jetzt ausgestorbene Apalachisch ist die Stammwurzel aller nordamerikanischen Indianersprachen vom nördlichsten Kanada bis nach Texas. Die aber gebrauchen dieses »Hau« oder »Hugh«, es gellend hervorstoßend, auch als ihren Kriegsruf.

Dann lauschte er offenbar. Jedenfalls hatte er vorher im Geiste eine Rede gehalten, hatte sicher Antworten gehört. Gewiss, seinem Plane, den er gefasst und offenbart hatte, wurde beigestimmt.

»Hau — hau!!«

Dann fügte er in seltsamen Gurgellauten, die gar nicht aus seinem Munde zu kommen schienen, noch etwas hinzu, erhob sich gravitätisch und ging in die Kammer der Geister seiner roten Brüder zurück.

Wieder veränderte er seine Toilette, legte den Federschmuck ab, zog das Lederhemd aus, überzeugte sich, dass ein gutverkorktes Holzfläschchen noch Öl enthielt, salbte sich den ganzen Oberkörper und die Arme damit ein.

Dann entnahm er dem Medizinbeutel eine weiße Farbe, überzog damit im Gesicht die roten und blauen Striche, Kreise und Punkte und fügte noch andere Malereien dazu. Weiß ist die Kriegsfarbe der Sioux.

Wie er sein Werk im Spiegel betrachtete, verzerrte sich das an sich schon schrecklich aussehende Gesicht zu einem grimmigen Hohnlächeln.

Diese Malerei und dieses gescheitelte Haar! Wie das zusammenpasste! Wie die Zipfelmütze zu einem martialischen Wachtmeistergesicht.

»Ich sage, ich hätte mir beim Experimentieren das Haar verbrannt, habe es gleich ganz abrasiert, trage einige Wochen eine Kappe. — Nur dieses eine Mal will ich es auskosten!«

So dachte er. Vorausgesetzt, dass er überhaupt noch an solch einen Entschuldigungsgrund dachte. Sehr zweifelhaft.

Die ölige Seifenwurzel und das winzige, haarscharfe Messerchen fand er. Aber kein Wasser. Er ging ins Laboratorium zurück.

Erst machte er sich noch einmal eine Mischung von Alkohol und Wasser, noch stärker als vorhin, stürzte das noch größere Glas mit einem Zuge hinab, dann füllte er eine kleine Kochschale mit Wasser, um sie mitzunehmen — und beim Vorübergehen an dem Schrank nahm er auch gleich noch einen halben Liter siebzigprozentigen selbstgefertigten Schnaps mit, das heißt gleich im Magen.

Paul, Du hattest es geahnt — —!!

In die Kammer zurückgekehrt, befeuchtete er sein Haar mit Wasser, rieb es mit der ätzenden Seifenwurzel ein, zog das Messerchen an einem Ledergürtel ab, begann seinen Kopf zu rasieren, oben das Haupthaar. Mit wunderbarer Schnelligkeit und Leichtigkeit, ohne dabei in den Spiegel zu blicken, was ja auch nicht viel genützt hätte.

Nun, das musste der geschickte Operateur doch verstehen. Aber das muss auch jeder andere Indianer können, der eine Skalplocke trägt, sich die Kopfhaut selbst zu rasieren.

Wozu trägt der nordamerikanische Indianer eigentlich die sogenannte Skalplocke, einen Haarbüschel mitten auf dem Scheitel? Er duldet keine Haare auf seinem Körper, hält das für tierisch, reißt sie sich heraus oder rasiert sie sich ab. Nun ist aber einmal der Skalp, die Kopfhaut, die althergebrachte Trophäe, die man dem Feinde abzieht. Und wenn die Kopfhaut gar keine Haare mehr hat, die man packen kann, so lässt sich das schwer bewerkstelligen, zumal eben der Skalp nicht abgezogen werden darf, sondern abgerissen werden muss. Also lässt der Indianer auf dem Schädel wenigstens einen tüchtigen Haarbüschel stehen, um seinem Feinde, der ihn besiegt hat, diese Prozedur zu erleichtern.

Ist das nicht edel, großartig? Eigentlich ja. Es liegt schon etwas Heroisches darin. Der nordamerikanische Indianer würde, wenn er es könnte, vernichtende Panzerkanonen bauen, aber keine schützende Panzerplatten.

Und auf dem Wirbel ließ der Herr Professor Dr. Jakob Moor denn auch einen Haarbüschel stehen. So kurz dieser auch war, brachte er es doch in wenigen Sekunden fertig, eine Adlerfeder hineinzubinden, fast senkrecht empor stehend. »Hier seht meinen schönen Skalp, wer wagt ihn mir zu nehmen?«

Nun noch seinen eigenen Gürtel, an dem die von ihm selbst erbeuteten Kopfhäute hingen und den er erweitern konnte, des Vaters wuchtigen Tomahawk und großes Skalpiermesser hineingesteckt — nun konnte der letzte Tolewane den Kriegspfad betreten.

Aber das wollte er gar nicht. Es war doch alles nur Spielerei.

»Es ist ein harmloses oder doch erlaubtes Vergnügen, was ich jetzt vorhabe, wozu mich meine letzte Sehnsucht treibt. Ich hatte unten etwas liegen lassen, wollte es holen. Da hat er mich angefallen. Und hoffentlich tut er es wirklich. Nur einmal noch —«

So dachte er. Vorausgesetzt, muss wiederholt werden, dass er überhaupt noch so etwas dachte, noch nach einem Entschuldigungsgrund suchte.

Er schlich durch die Korridore, die finsteren Treppen hinab. Aber sie hätten auch erleuchtet sein, bewacht werden können — dieser Tolewane hätte sich schon vorbeigeschlichen. Gerade jetzt, wo er das richtige Stadium erreicht hatte. Denn von einer Betrunkenheit gar keine Spur! Aber — — —

In Ordnung war sein Gehirn natürlich nicht mehr. Sonst müsste der Alkohol die chemische Formel des Wassers haben.

Die Souterrainstube, in der die Leiche lag, war sein Ziel.

Aber der Leser glaubt doch nicht etwa, Herr Professor Dr. Jakob Moor wolle dem Toten den Skalp abziehen?

O nein, an so etwas dachte er mit keinem Gedanken! Was hätte denn auch sonst morgen früh um neun Uhr daraus werden sollen?

Nein, er hatte etwas ganz Harmloses vor. Freilich musste man dabei nicht Pauls Anschauung über so etwas haben. Aber das haben ja alle die nicht, die Hasen in einem Kessel zusammentreiben lassen und sie niederknallen, jedes Häschen mit einer ganzen Hand voll Schrotkörner bedenkend. Was man so regelrechte Weidmannskunst nennt.

Er hatte die Tür wieder hinter sich geschlossen, brauchte kein Licht, in diesem Zustande sah er in der Finsternis erst recht wie eine Katze.

Toddy bemerkte den Eindringling und brummte verdrießlich.

Der Tolewane brummte ebenfalls, aber ganz anders, brummte wie ein Baribal, der gereizt zum Kampfe gegen den Nebenbuhler vorgeht, und er hatte die Töne der Wildnis noch nicht verlernt.

Aber vergebens — Toddy ließ sich nicht reizen, er blieb bei seinem verdrießlichen Brummen, weil man ihn im Schlafe störte, in seiner Nachtruhe. Dieser Baribal hatte schon in zwei Jahren die Sprache seiner Brüder verlernt, die dieser rothäutige Gelehrte, der sich selbst wieder zum echten Indianer gestempelt, noch nach zwanzig Jahren naturgetreu nachahmen konnte.

Vergebens, er wurde nicht verstanden.

Da ging er hin, betastete den haarigen Kopf, zog die Decke vom Körper.

Das verdrießliche Brummen verwandelte sich in ein behagliches — Toddy hoffte gekrault zu werden.

Armer Toddy, du wurdest anders gekrault, als Du wünschtest!

Plötzlich verwandelte sich das behagliche, einladende Brummen in ein heiseres Röcheln, ein paar furchtbare Tatzenhiebe, die aber ihr Ziel verfehlten, noch einige Zuckungen, und Toddy hatte ausgelitten. Diese Hand mit dem Messer wusste die tödlichste Stelle im Herzen zu treffen.

Das war sein letztes »Vergnügen« gewesen.

Doch da brauchte sich, wie schon angedeutet, der letzte Tolewane nicht besonders zu schämen, fast alle die edlen Jagdvergnügungen sind doch nichts weiter als Abschlachtereien von so gut wie gefesselten Tieren.

Er zog den schweren Bären mit Riesenkraft aus dem Bett, dennoch gab es einen kaum hörbaren Fall, schleifte ihn nach der Mitte der Stube. Dort ließ er ihn liegen. Dort hatte ihn der Bär angefallen. Natürlich hatte er sich wehren müssen.

Er wollte gehen.

Aber er blieb.

Er hatte sein Vergnügen gehabt, aber er hätte in diesem Zimmer ein noch viel schöneres Vergnügen haben können.

Seine Augen leuchteten wie glühende Kohlen, und sie blickten nach dem anderen Bett, in welchem die Leiche des alten Dieners lag.

»Der Totenschein ist schon ausgestellt, er wird sofort in den Sarg gelegt, und ich kann es wieder so ankleben, dass davon überhaupt nichts zu bemerken ist.«

Die glühenden Blicke wanderten durch die Finsternis nach dem Lager und blieben am Kopfende haften.

Und als er das Zimmer verließ, hing an seinem Gürtel neben den geräucherten Skalpen ein ganz frischer mit grauen Haaren.

Dass er keine Blutspur hinterließ, wusste er. Außerdem hatte er ja den Bären in der Notwehr getötet. Wie er durch den Korridor des Parterres schlich, blieb er an einem offenen Fenster stehen, duckte sich noch mehr und lauschte.

»Deitschland, Deitschland iewer aaahalles, iewer aaaales in deher Weeelt«, erklang es singend in weiter Ferne, erst einstimmig, dann fiel ein Chor ein.

Das ganze Lied wurde gesungen, ein Vers nach dem anderen, und die Stimmen kamen weder näher noch entfernten sie sich.

Und je länger die glühenden Augen nach der Richtung blickten, in eine Schlucht hinein, desto deutlicher glaubten sie einen Feuerschein wahrzunehmen, unsichtbar für jedes andere Auge.

»— — ieweher aahalles in deher Welt!«, schloss wieder ein Vers.

Und da war die dunkle Gestalt verschwunden, hatte sich zum Fenster hinausgeschwungen, war wie eine Schlange hinausgeglitten.

Stunden vergingen.

Noch eine halbe, dann würden im Osten die Sterne erbleichen.

Da glitt der menschliche Jaguar wieder durch das Parterrefenster herein.

Und jetzt hing an seinem Gürtel ein zweiter noch ganz frischer, noch blutiger Skalp mit blonden kurzen Locken.

»Wir sitzen so fröhlich beisahammen, und haben einander so lie — i — i — ieb«, wurde in der Ferne vielstimmig gesungen.

Der menschliche Jaguar nickte zufrieden mit grimmigem Lächeln, schlich in das Laboratorium und nahm einen wohlverdienten Labetrunk.

Nun war die Flasche mit dem absoluten Alkohol aber leer! Und der blutleckende Jaguar leckte mit der Zunge nach mehr Alkohol.

Nun, drüben im großen Laboratorium stand noch eine ganz andere Flasche. Also ging er hinüber, bereitete sich den zweiten wohlverdienten Labetrunk, immer weniger Wasser dazunehmend.

Was nun? Wie sollte das noch werden?

Als ob der noch an die Zukunft, nur an die allernächste, gedacht hätte!

Er ging ans Fenster, das hier auf den Hof hinausführte, nach den anderen Gebäuden.

Und da glühte sein funkelndes Auge noch mehr auf, während sein grimmiges Lächeln, das er eben noch gehabt, plötzlich erstarrte.

Dort gegenüber im Parterre ein offenes, erleuchtetes Fenster, daran am Tischchen ein Weib mit blonden, aufgelösten Haaren — das Mädchen, das er so gut kannte — morgen früh Punkt neun Uhr — —

Das war kein höhnisches Lächeln mehr, sondern ein Grinsen, das die dunklen Züge verzerrte.

Er huschte hinaus. — —

Hannchen las mit lautlos flüsternden Lippen:

»Und wer verlässt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, der wird es hundertfältig nehmen und das ewige Leben — allmäch...«

Ein dunkler Schatten hatte sich zum Fenster hereingeschwungen, nur jene zwei Silben hatte sie ausstoßen können, dann schloss ihr eine Hand den Mund, eine andere drückte ihr die Kehle zu, und als sich die Hand vom Mund löste, ward ihr dafür blitzschnell ein Tuch hineingepfropft.

An eine Gegenwehr dachte sie gar nicht, sie starrte nur in das höhnisch verzerrte Indianergesicht, dieses trotz aller scheußlichen Malereien sofort erkennend.


Illustration

»Komm, mein Schätzchen«, wurde ihr ins Ohr gezischt, »Du wolltest doch mit mir gehen — ob ein paar Stunden früher, das bleibt sich doch gleich — und nicht der Signor Leonardo und nicht der Professor Moor ist's, der Dich holt, sondern der letzte Tolewane, der blutleckende Jaguar — komm, Liebchen, wir wollen Hochzeit feiern, indianische Hochzeit — —«

Er hatte sie auf den von Muskeln und Sehnen starrenden Arm genommen, stieg aufs Fensterbrett, sprang mit seiner Bürde die vier Meter hinab, wie ein anderer vom Stuhle aufsteht.

Da kam ein Mann herbeigeeilt, der Wächter, er wusste noch nicht, wohin er den Blendstrahl seiner Laterne zu lenken habe.

»Hallo, wer — —«

Es war sein letztes Wort gewesen.

Das große Messer, auf zehn Schritte Entfernung geschleudert, hatte sich bis ans Heft in sein Herz gebohrt.

Im nächsten Augenblick war der Tolewane bei dem Zusammengebrochenen, ließ seine Beute herabgleiten, sie hinlegend, setzte einen Fuß auf ihren Rücken, damit sie sich nicht erheben konnte, packte den noch Röchelnden bei den Haaren, klemmte seinen Hals zwischen die Knie, zog das Messer aus der Brust, machte mit der Spitze einen kreisrunden Schnitt um den Kopf, ein gewaltiger Ruck — und er konnte den dritten frischen Skalp an seinem Gürtel befestigen.

Das Mädchen hätte er nicht dabei so festzuhalten brauchen, Hannchen war momentan bewusstlos geworden. Seine Beute wieder auf den Arm nehmend, eilte er nun in weiten Sätzen in die Schlucht, durch die der grauende Tag heranrückte. — —

Durch diese dämmernde Schlucht marschierte die Riege Aschulze. Auf der Bahre, mit der die Turner die Bierfässer transportiert hatten, trugen sie jetzt eine Leiche. Das heißt eine Bierleiche.

Sie alle hatten unter ihres Vorturners Anleitung im Biertrinken ganz Gutes geleistet, auch die bisherigen Temperenzler, August war mit ihnen sehr zufrieden, sie hatten alle Bierfässer geleert und konnten jetzt noch stramm marschieren — mit Ausnahme des einen, eines Deutschamerikaners, der war trotz seiner starken Konstitution beim dritten Glase eingeschlafen und war nicht wieder wach zu bekommen gewesen. Man hatte »Lockenkarl« etwas abseits von dem Lagerfeuer auf die Bahre gelegt, ihn gut zugedeckt — so, da mochte er schlafen, so lange er wollte.

Als der kommende Morgen sich bemerkbar machte, wenn es auch noch ziemlich dunkel war, wurde aufgebrochen. Lockenkarl hatte sich noch nicht gerührt, hatte sich so hübsch eingemummelt, die Decke auch über den Kopf gezogen — so wurde er mitgenommen, auf der Bahre getragen.

Der Tag graute.

»Nun wollen wir beim Rückmarsch das scheene Lied singen, mit dem wir auch hermarschiert sind: Deitschland, Deitschland iewer alles. Aber die Waden dabei durchgedrickt! Also aufgepasst — eins — zwei — drei: Deitschland, Deitschland iewer aahalles —«

»Himmel Herr Gott!!«

Einer der unteren Träger hatte das Letzte gerufen, hatte die Bahre vor Schreck gleich fallen lassen.

»Lockenkarl hat doch gar keene Haare mehr uff'n Koppe??!!«

Nein, dort, wo bei dem jungen Hünen sonst die blonden Locken üppig wucherten, da war jetzt eine rote Scheibe.

Dass er auch einen Messerstich im Herzen hatte, zu dieser Erkenntnis kamen sie vorläufig noch gar nicht.

»Der ist skalpiert worden!«, wurde schon geflüstert.

»Von wem denn?«

»Das kann nur ein Indianer gemacht haben, wie die alle —«

»Dort kommt er gelaufen!!!«

Der Tolewane rannte dem Zuge entgegen, seine Beute auf dem Arm, sah, dass es hier kein Durchkommen gab, und erklomm deshalb seitwärts den jähen Abhang.

»August — August!!«, erklang es da.

August stand wie versteinert.

»Herrjehsens, das war doch grade wie Hannch —«

»August — Hilfe, August!!«

Da war August schon unterwegs.

»Hannchen!!«

Wie eine Gemse sprang der Indianer die Böschung hinauf, das Mädchen schien für ihn gar keine Bürde zu sein. Er erreichte ein freies, glattes Plateau und jagte mit mächtigen Sprüngen darüber.

Da sah das verzweifelte Mädchen, rückwärts blickend, auch August sich auf das Plateau schwingen.

»Zu Hilfe — August!!!«

Der Hilferuf war nicht nötig. August rannte schon wie nur ein deutscher Vorturner, der in allen Sätteln gerecht sein muss, rennen kann.

Aber der Indianer wurde durch diesen Ruf aufmerksam, bremste seinen rasenden Lauf, blickte sich um. Er hatte wohl nicht erwartet, dass jemand so dicht hinter ihm sein konnte, und er erkannte gleich die Schnelligkeit dieses Verfolgers.

Nun wohl — er umschlang das Mädchen noch fester, dass es ihn nicht etwa hindern konnte, löste vom Gürtel den Tomahawk, hob ihn weit ausholend zum Wurf, ließ den Verfolger noch etwas näher herankommen, dann schleuderte er die todbringende Waffe.

Man könnte ebenso gut einer Kugel oder doch einem Pfeile ausweichen wie einem von geübtem Arm geschleuderten Tomahawk. Doch in demselben Augenblick, da die furchtbare Waffe der Hand entsauste, strauchelte August, warf den Oberkörper noch mehr vor, um nicht zu stürzen, und im nächsten Augenblick durchschnitt das Beil sausend genau dort die Luft, wo soeben noch Augusts Kopf gewesen war.

Ein gurgelnder Wutschrei, der Indianer riss sein Messer aus dem Gürtel, nahm die Spitze zwischen die Finger — so schleuderte er es, wie nur ein Sioux das Messer schleudern kann, und diesmal verfehlte die tödliche Waffe nicht ihr Ziel.

Aber gerade dort, wo das Messer sein Herz durchbohren wollte, hatte August auf seiner Joppe einen großen Hornknopf, den konnte die Spitze nicht durchdringen, das Messer prallte ab.

Da war auch der Indianer waffenlos. Doch er hatte ja noch seine Hände, mit denen er so sehnsüchtig Blassgesichter zu erdrosseln wünschte. Er ließ das Mädchen einfach fallen, sprang dem Kommenden mit ausgestreckten Händen entgegen, sie prallten zusammen — —

Aber bei diesem deutschen Vorturner war der Indianer mit seinem Erdrosseln nun gerade an das unrichtige Blassgesicht gekommen. Im Nu hatte ihn der kleine Mann bei den Hüften gepackt, aufgehoben und zu Boden geschmettert, sich selbst auf ihn geworfen.

Freilich lag im nächsten Augenblick der menschliche Jaguar oben drauf. Dann aber wieder war August der Obere. Und dann wieder der Indianer. Und so wälzten sich die beiden immer weiter. Der Indianer mit Absicht. Sein Ziel war das Messer.

Jetzt waren sie in Armlänge desselben. Der Tolewane griff danach. Aber August, der gerade wieder einmal obenauf lag, hatte schon die Absicht des Gegners durchschaut, er griff gleichzeitig ebenfalls nach dem Messer. Doch der Indianer hatte den längeren Arm, er bekam es. Dafür packte August sein Handgelenk und nagelte den bewaffneten Arm mit unwiderstehlicher Kraft am Boden fest, mit der anderen Hand dem Gegner die Kehle zuschnürend, was der Indianer freilich zu tun ebenfalls nicht versäumte.

»Sonofabitch — Sohn einer Hündin!«, gurgelte die Rothaut, drehte den Kopf und grub seine Zähne in Augusts Arm, der den seinen meisterte.

»Warte, Biest, ich will Dir beißen lernen!«, röchelte August aus seiner zusammengequetschten Kehle und drückte seinerseits, was er drücken konnte.

So, nun kam es darauf an, wer von den beiden den Atem am längsten anzuhalten vermochte.

Von dem Mädchen hatte August keine Hilfe zu erwarten. Das lag auf den Knien, hatte die gefalteten Hände erhoben und blickte entsetzt nach den Ringenden.

Doch nein, es sollte nicht darauf ankommen, wer von den beiden am längsten den Atem anhalten konnte.

Noch ehe ein Ersticken hätte eintreten können, kamen die beiden wieder ins Rollen.

Und gerade dorthin rollten sie, wo sich in dem Plateau ein breiter Spalt öffnete, in fürchterliche Tiefe hinabgehend.

Und in diesem Spalt waren die beiden mit einem Male verschwunden. Da stieß Hannchen einen gellenden Schrei aus, schnellte empor und stürzte hin.

Aber noch ehe sie in die fürchterliche Tiefe blicken konnte, tauchte aus dem Spalt Augusts Kopf wieder auf, der ganze Mann schwang sich auf das Plateau, zunächst seinen Mund zu einem merkwürdigen Ausruf öffnend.

»Herr jeeh, Hannchen, das war doch unser möblierter Italjäner??!«

Sie hörte es wohl schon nicht mehr — ohnmächtig war sie zu Boden gesunken.

Die Erbin von Moorfield

Es war acht Tage später.

Hannchen saß am offenen Fenster des Zimmers, das nach der Prärie hinausging, und wärmte sich im Sonnenschein.

Heute war ihr wieder ganz wohl, sie fühlte sich wie neu geboren. Nur recht viel Sonne musste sie noch haben — wie jedes neugeborene Kind.

Sie hatte einen bösen Nervenschock gehabt, immer Weinkrämpfe. Aber in den freien Stunden hatte ihr Richard über alles berichten müssen; es diente wirklich zu ihrer Beruhigung.

Es war ja alles so durchsichtig, auch wie es gekommen. Die Laboratoriumsdiener wussten, dass die Flasche mit absolutem Alkohol gefüllt gewesen, er konnte sie nur ausgetrunken haben. Es wurde auch bald konstatiert, dass der sterilisierte Weinmost gegoren hatte, da war der Anfang vollends erklärt.

Aber Paul sagte nichts, und da fing auch niemand anders davon an, man ehrte des Knaben männliches Schweigen.

Und Johanna berichtete, dass er an jenem Abend sie nur besucht habe, um ihr von seiner Unschuld und seiner Flucht zu erzählen, weil er nicht erkannt sein, weil er sich einfach nicht hatte einsperren lassen wollen.

Sonst nichts weiter. Was sonst zwischen den beiden vorgefallen, verhandelt, ausgemacht worden war, davon erfuhr niemand etwas — wenigstens vorläufig nicht!

Und das Mädchen selbst suchte ihn zu entschuldigen. In jener Nacht war er ja gar kein Mensch mehr gewesen. Es wäre manchmal recht gut, wenn man noch an einen Teufel glauben könnte, der den Menschen besessen macht, ihn durch Höllenkünste verführt. Dann brauchte man nicht immer so kompliziert nach Entschuldigungsgründen zu suchen.

Nun aber die Hauptsache: Wo war er denn geblieben?

Beide Gegner waren in den Spalt gestürzt, der in einer Tiefe von etwa dreißig Metern in einem Wasserloche endete.

Beide waren von einem Busche aufgehalten worden, der gleich oben am Anfange der Schlucht wuchs, beide hatten sich, ihre Umklammerung lösend, daran festgehalten — aber nur dem Blassgesicht war dies definitiv gelungen, unter dem Gewichte des Indianers waren die Zweige gebrochen, er war weiter hinabgesaust, in dem Wasserloche verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.

Unterdessen waren also acht Tage vergangen, und die Leiche war noch nicht zum Vorschein gekommen. Denn dass er lebendig wieder aufgetaucht wäre und die Spalte erklommen hätte, das war ganz ausgeschlossen, diese steilen, völlig nackten, glatten Felswände ließen sich nicht ohne Hilfsmittel erklimmen.

In diesen acht Tagen hatte man alles getan, was nur irgendwie möglich gewesen war, um wenigstens die Leiche zu bergen, um so den Tod des Herrn von Moorfield bestätigen zu können.

Eine Auslotung ergab, dass das Wasserloch die unheimliche Tiefe von fast achtzig Metern besaß.

Wenn der Mensch ertrinkt, so sinkt sein Körper zunächst unter. Wie tief, das weiß man nicht, das hängt vom Knochenbau und von seinem Fettpolster ab. Nach einiger Zeit, wenn sich im Innern Gase gebildet haben, steigt die Leiche wieder nach oben. Wie lange das dauert, das ist wiederum ganz verschieden. Das hängt am meisten davon ab, was der Betreffende zuletzt gegessen hat.

Nach acht Tagen aber hätte die Leiche unbedingt oben treiben müssen, oder aber — sie hatte sich eben unten festgeklemmt oder war unter einen Felsvorsprung gekommen, wurde dann dort vielleicht für alle Ewigkeit festgehalten, oder das fleischlose Knochengerüst sank eben vollends auf den Grund.

Zuerst hatte man versucht, das Wasserloch, das gar keinen so großen Durchmesser hatte, auszupumpen. Vergebens. Wie mächtig auch gepumpt wurde, der Wasserstand verminderte sich um keinen Zentimeter. Es war ein Brunnen, der einen starken Zufluss hatte. Mit Haken und dergleichen hatte man es natürlich schon vorher probiert.

Nun ließ man aus San Francisco einen Taucher kommen, und es war ein berühmter. Unter den Tauchern gibt es wirkliche Berühmtheiten.

Ein Taucher soll mit seinem Apparat sechzig Meter tief hinab kommen können. So steht es auf dem Papiere, so ist es in den Büchern zu lesen, zum Beispiel im Konversationslexikon. Der berühmteste Taucher, der am tiefsten ging, war der Hamburger Flint, und der ist bis auf vierzig Meter hinab gekommen. Was in dieser Tiefe für Druck herrscht, davon können wir uns gar keine Vorstellung machen. Ein spanischer Taucher wollte den Hamburger übertreffen, er ging zweiundvierzig Meter hinab und wurde breitgequetscht wieder heraufgezogen.

Dieser amerikanische Taucher hier ging fünfunddreißig Meter hinab, für jede Minute einen Dollar verlangend, und er hatte nichts gesehen als nackte Felswände.

So, nun war getan worden, was der Mensch heutzutage in so etwas zu leisten imstande ist. — — —

Es war also am achten Tage nach jenem furchtbaren Ereignis, Richard suchte die Schwester auf, die zwar wie eine Schwerkranke mit Tüchern eingehüllt im Lehnstuhl saß und auch sehr, sehr blass aussah, die aber jetzt hätte aufspringen und sich im Freien tummeln können, so wohl fühlte sie sich heute wieder.

»Also, Hannchen, soeben ist der Tod des Professors Moor, alleiniger Besitzer von Moorfield, auf gesetzlichem Wege bestätigt worden. Und gleichzeitig ist hier von Denver ein Rechtsanwalt und Notar zur Testamentseröffnung eingetroffen.

Es ist geradezu, als ob Professor Moor kurz vorher seinen Tod vorausgeahnt hätte. Man hat sich ja oft hier darüber unterhalten, was aus dem ganzen Betriebe und dem sonstigen ungeheuren Besitz einmal wird, wenn der jetzige Inhaber einmal abfahren sollte. Erben hat er ja nicht. Und man wusste nicht einmal, ob er überhaupt schon ein Testament gemacht hatte.

Aber er hat eines gemacht. Kurz vor seinem Tode erst. Ehe er hierher kam, ist er in Denver gewesen und hat bei dem Rechtsanwalt und Notar Ballington seinen letzten Willen niedergelegt.«

»Und wie hat er bestimmt?«, fragte Hannchen, ohne besonderes Interesse.

»Das weiß ich auch nicht. Soeben findet die Testamentseröffnung statt, drüben im großen Konferenzsaale. Es ist ein gar feierlicher Akt. Alle höheren Beamten müssen dabei sein. Das heißt, wenn sie schon drei Jahre hier angestellt sind. Das ist dann gesetzliche Bestimmung. Inwiefern, das weiß ich nicht. Jedenfalls komme ich noch nicht in Betracht.«

»Wo bleibt denn nur August?«, war des Mädchens nächste Frage. »Warum besucht der mich gar nicht einmal?«

»Nun, weil er sich geniert.«

»Geniert? Weshalb denn?«

»Ja, da fragst Du nun —«

Richard konnte das mit Recht sagen. Und dabei wusste er noch nicht einmal etwas von dem Heiratsantrage.

»Wo er mir das Leben gerettet hat, und noch viel mehr, mich vor Fürchterlichem behütet —«

»Na eben deshalb geniert er sich, zu Dir zu kommen, er hat Angst, Du könntest ihm danken. Du kennst doch unseren August. Ja, weißt Du denn aber schon, dass es mit dem hier vorbei ist?«

»Wie? Vorbei mit ihm?«

»Hat es Dir denn die Mutter nicht erzählt, der ich es ganz ausführlich berichtet habe?«

»Kein Wort.«

»Du weißt noch gar nicht, was unser August hier Großartiges fertig gebracht hat?«

»Großartiges? Was denn?«

Richard strahlte im ganzen Gesicht, als er es erzählte.

»Der hat neulich hier einen Krach gemacht — ach! Sie haben ihm nämlich eine Geldstrafe zudiktiert, weil er in der Spinnerei zum Vesper Bier getrunken hat. Aber da ist doch mein August losgegangen! Ach, was hat der den Herren alles gesagt! Und nun ist auch noch das mit der Geburtstagsfeier dazwischen gekommen, wo er seine ganze Turnerriege zum Biertrinken verführt haben soll. Ob er gerade Dich dadurch gerettet hat oder nicht, das kommt dabei gar nicht in Betracht, die Herren dort oben können eben die Deutschen nicht leiden, obwohl sie die deutschen Schlosser hier nicht entbehren können. Da hat aber August losgelegt! Oben vor'm General-Direktor, bei dem er sich extra deswegen melden ließ, und der war so unklug, ihn auch zu empfangen.

Er ließe sich doch nicht etwa Vorschriften machen, was er essen und trinken dürfe, oder die wollten ihm gar noch befehlen, wie er sich des Nachts ins Bett zu legen habe.

Kurz, August hat die Arbeit hingeworfen, er geht. Natürlich hätte er jetzt wohl sowieso gehen müssen, das hätte sich der General-Direktor doch nicht bieten lassen können. Aber August ist ihm eben mit der Kündigung zuvorgekommen.

Aber das Großartige daran ist das natürlich noch nicht. Unser August hat außerdem etwas fertig gebracht, was noch kein Mensch fertig gebracht hat, was in der ganzen Weltgeschichte einzig dasteht.

Die Sache ist die, der erste Ingenieur hier von Gehrlings Fabrik, der noch mächtig hier zu tun hat, hat um noch mehr eingearbeitete Schlosser geschrieben. Der Kommerzienrat selber hat geantwortet. Er könne keinen einzigen mehr schicken, habe selber an die dreißig Schraubstöcke leer stehen, es seien keine Spinnereimaschinenschlosser mehr zu haben. Der Werkmeister Schulze fehle ihm schon hinten und vorne. Nun, August geht ja wieder hinüber.

Jetzt nimmt der aber seine ganze Turnerriege mit! Lauter tüchtige Reparaturschlosser, auf Spinnmaschinen eingearbeitet! Zwei Dutzend! Hundert und hundertzwanzig Mark bekommen sie drüben natürlich nicht. Allerhöchstens fünfzig Mark. Aber gesetzt auch den Fall, sie wüssten es, dass sie mit den fünfzig Mark in Deutschland so weit kommen wie hier mit hundertundfünfzig — nein, dass überhaupt in Amerika festangestellte Arbeiter auswandern, um in Deutschland Arbeit anzunehmen, gegen ein Drittel ihres amerikanischen Lohnes — i so etwas ist ja seit der Entdeckung Amerikas noch gar nicht da gewesen! So etwas kann eben nur unser August fertig bringen! Na, Kommerzienrat Gehrling wird ja schön schmunzeln!«

»Und wann geht er denn da?«, fragte Hannchen.

»Heute Abend schon reist er mit seiner ganzen Riege ab.

»Was, heute Abend schon?!«, stieß das Mädchen in grenzenloser Bestürzung hervor.

»Jawohl, es ist alles schon in Ordnung.«

»Und er nimmt nicht einmal Abschied von mir?!«

»O, das tut er sicher, der kommt heute schon noch —«

Hannchen glaubte es fast nicht. Richard wusste eben nicht, was zwischen den beiden vor sich gegangen.

»Ja, er darf auch nicht ohne Abschied gehen, ich muss ihn unbedingt noch einmal sprechen —«

Da meldete die Parlourmaid Herrn Werkmeister Schulze.

Hannchen hatte sich also geirrt. Dieser Mann ging nicht ohne Abschied davon, mochte er ihm auch noch so schwer fallen.

»Bitte, Richard, lass' mich mit ihm allein.«

Der Bruder ging, statt seiner trat August ein, im Straßenanzug.

Von Verlegenheit war jetzt keine Spur an ihm zu merken.

»Ich wollte mich verabschieden, Hannchen, Du weißt doch wohl, was hier passiert —«

»Du willst mich verlassen, August, mich hier allein lassen?«

Lächelnd hatte sie ihn unterbrochen, und mit einem Male war es mit ihm vorbei, er wurde rot wie eine Klatschrose und fing an seinem Kragen zu würgen an.

Diese Entgegnung hatte er eben nicht vermutet, das brachte ihn gleich aus dem ganzen Konzept.

»Ja — ach jaaa — ich muss doch — das heißt —«

»Würdest Du mich denn nicht gern mitnehmen, August? Vielleicht als Deine Frau?«, lächelte das Mädchen weiter.

Sollte das bei dem armen Manne, der sich wieder verloren hatte, nicht vollends den Boden einschlagen!

Aber sie ließ ihn nicht lange in seiner furchtbaren Verlegenheit.

»Hier, setze Dich neben mich, August, ich will Dir alles erzählen.«

Er musste sich hinsetzen, sie erzählte ihm, wie es mit dem letzten Tolewanen und ihr gekommen war, was sie für diesen Unglücklichen für ein Opfer zu bringen bereit gewesen war.

Und merkwürdig — auf Gottes weitem Erdboden war es wahrscheinlich nur dieser einzige Mann, der sie sofort voll und ganz verstand, auch alles sofort zu würdigen wusste! Wenn er sich jetzt auch nicht auszudrücken vermochte.

»A a achso — so ist die Geschichte — ja hätte ich das gleich gewusst —«

Und schon konnte das Mädchen wieder heiter, glücklich lächeln.

»Und nun bin ich wieder frei, Du selbst hast mich befreit, wenn Du auch nur das Werkzeug eines allmächtigen, gnädigen Gottes gewesen bist, und nun, August, kannst Du Deinen Heiratsantrag wiederholen —«

Jetzt aber war es nun gerade wieder August, der hierzu nicht fähig war.

Er machte nur den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus und vergaß, den Mund wieder zuzumachen.

»Du willst es nicht tun? Na dann will ich's machen. Also, Herr August Schulze, wollen Sie mein Mann werden? Erlauben Sie, dass ich Ihre Frau werde? Oder haben Sie etwas dagegen?«

»A a a ach neee — ach nööö — nu meintswegen —«

Da machte sie es noch kürzer, da fiel sie ihm lachend und jubelnd um den Hals.

Und das war keine Augenblicksneigung, keine Empfindung der Dankbarkeit, zu der sie sich etwa verpflichtet fühlte.

In jener Minute schon, da sie ihn abgewiesen, hatte sie ja schon erkannt, was sie an diesem Manne verlor, plötzlich hatte sie gewusst, dass sie ihn ja schon immer geliebt, aber es war nur eine so edle Liebe der innigsten Freundschaft gewesen, dass jede andere Regung davor hatte zurücktreten müssen — und in den letzten acht Tagen war es bei ihr schonbeschlossen, dass sie ihn nicht gehen lassen würde, und wenn er nicht wiederkam, dann wollte sie selbst zu ihm kommen, um sich ihm anzubieten.

Nun aber ward auch August plötzlich ein ganz anderer — er nahm das Mädchen einfach her und küsste es herzhaft, und das immer wieder, und Hannchen blieb ihm die Antwort nicht schuldig.


Illustration

»Himmel Herr Gott, was ist denn das?«, erklang da Richards Stimme.

Er stand mitten im Zimmer und machte keine schlechten Augen.

»Na was denn?«, fragte der umgewandelte August ganz gleichgültig zurück. »Lieb haben wir uns alle beide und heiraten wollen wir uns. Du hast doch nichts dagegen.«

»Ich bin starr, ich falle aus einer Überraschung in die andere —«

Richard raffte sich empor.

»Ja, Kinder, diesen Fall machen wir nachher ab — jetzt müssen wir erst meine erste Überraschung erledigen — Hanne, die ganze Beamtengesellschaft ist angerückt gekommen, mit dem General-Direktor und dem Rechtsanwalt aus Denver an der Spitze — man wollte Dich holen, aber Du warst doch krank — ob Du fähig seiest, die ganze Gesellschaft zu empfangen —«

»Ich?!«, rief das Mädchen, plötzlich alles Blut aus den Wangen verlierend.

Sollte sie nicht auch gleich viel oder gar alles ahnen? Aus welchem Grunde kam denn diese ganze Konferenz, welche soeben der Testamentseröffnung beigewohnt hatte, zu ihr?

Aber jetzt war keine Zeit zum Ahnen.

»Ja, ich bin fähig und bereit, die Herren zu empfangen.«

»Wo willst Du —«

»Hier, gleich hier!«

Sie kamen herein, fast das ganze Zimmer füllend, gegen zwei Dutzend Herren, alle im schwarzen Gehrock, teils mit sehr feierlichen, mehr noch aber mit sehr aufgeregten Gesichtern.

»Mister Ballington, Rechtsanwalt und Notar in Denver«, stellte Richard einen älteren bebrillten Herrn vor, »meine Schwester Johanna.«

»Miss Emilie Johanna Baumer aus Berlin, Tochter des verstorbenen Tuchhändlers Emil Baumer?«, vergewisserte sich der Rechtsanwalt, auch ihr Geburtsdatum angebend.

»Ja, die bin ich, ich kann auch meine Papier vorlegen.«

»Das habe ich nicht zu verlangen.«

Der alte Herr entnahm seiner Aktenmappe bedächtig ein großes Kuvert, dessen Siegel erbrochen war, zog einen Bogen Papier heraus, entfaltete ihn und räusperte sich.

»Der letzte Wille des verstorbenen Professors Doktor Jakob Moor, Besitzer von Moorfield. Die Eröffnung des Testamentes geschah ohne Ihr Beisein, was gesetzlich auch nicht nötig war. Hingegen sind jetzt alle Personen anwesend, welche jetzt anwesend sein müssen. Sind alle Herren zugegen?«

Einstimmig wurde bejaht.

»Oder wissen oder glauben Sie, dass noch jemand fehlt?«

»Nein.«

»So erfolgt die Verlesung dieses Testamentes rechtskräftig.«

Es waren der Hauptsache nach ganze zwei Zeilen, die er vorzulesen hatte.

Hannchen war zur Universalerbin eingesetzt.

»Es steht Ihnen frei«, fügte der alte Notar unmittelbar hinzu, »sofort zu erklären, dass Sie diese letztwillige Hinterlassenschaft antreten, oder Sie können die Annahme jetzt sofort verweigern. Rechtsgültig ohne Widerruf für immer. Oder Sie können sich auch deswegen Bedenkzeit ausbedingen, über deren Länge dieses gesetzlich anerkannte Komitee konferieren wird.«

Ja, Hannchen hatte so etwas geahnt!

Jetzt aber, da es wirklich so gekommen war, wurde sie ganz überwältigt, und das war begreiflich.

Zuerst musste sie irgendwelche Worte hervorbringen, um sich etwas zu beruhigen.

»Ich weiß gar nicht, wie ich dazu komme —«

»Sie weiß es sehr wohl, und wir erklären sofort die Annahme dieser Hinterlassenschaft«, erklang da eine andere Stimme.

August war es, der sich zuerst bescheiden in den Hintergrund zurückgezogen hatte, jetzt aber frei ins Zentrum trat.

Die funkelnden Brillengläser wandten sich ihm gelassen zu.

»Wir? Wer wir? Wer sind Sie?«

»August Schulze, ich bin der Verlobte dieser Dame.«

»Von welcher Dame?«

»Von dieser Dame, welche als einzige Dame hier in diesem Zimmer ist und die hier überhaupt allein in Betracht kommen kann.«

»Sie haben sehr recht —«

Und die Brillengläser funkelten wieder nach dieser Dame hinüber.

»Sie kennen diesen Herrn?«

»Ja, er ist mein Bräutigam.«

»Hat er denn ein Recht, die Annahme der Hinterlassenschaft zu erklären?«

»Ja, das hat er.«

»In Ihrem Namen?«

»In meinem Namen.«

»Er hat Ihre Vollmacht dazu?«

»Er hat meine Vollmacht dazu.«

»Ihre General-Vollmacht?«

»Meine General-Vollmacht.«

»Bitte, wollen Sie mir diese General-Vollmacht vorlegen.«

»Eine schriftliche? Schriftlich habe ich sie ihm allerdings nicht gegeben —«

»Das muss unbedingt sein. Schriftlich und notariell beglaubigt.«

»Kann das nicht noch geschehen?«

»Zu jeder Zeit.«

»Jetzt sofort?«

»Jetzt sofort. Das kostet 3 Dollars 75 Cents — inklusive der Stempelmarke. Sie wollen also diesem Herrn eine General-Vollmacht ausstellen?«

»Ja.«

»Well.«

Und der alte Herr sah sich nach einem Stuhle um, entnahm seiner Aktenmappe einen reinen Bogen Papier und machte seinen Füllfederhalter zurecht.

»So, nun wollen Sie beide hierher kommen —«

»Halt, ich erhebe Einspruch!!«, ließ sich da der General-Direktor vernehmen, und schon stimmten ihm andere bei.

Freundlich blickte der alte Notar hinter seinen Brillengläsern zurück.

»Wogegen denn, meine Herren?«, fragte er ebenso freundlich zurück.

»Gegen die Ausstellung einer solchen Vollmacht.«

»Dagegen haben Sie doch gar keinen Einspruch zu erheben! Das geht Sie doch gar nichts an! Das kann doch jeder machen wie er will! Also ich werde die General-Vollmacht formulieren.«

In fünf Minuten war es geschehen.

»So, bitte, nun wollen die Anwesenden hier unterschreiben, dann ist alles in Ordnung.«

»Ich unterschreibe nicht!«, rief der General-Direktor sofort, und wieder stimmten ihm andere gleich bei, und wieder blickte der alte Notar hinter seinen Brillengläsern freundlich zurück.

»Sie? Was wollen Sie denn unterschreiben? Sie haben hier doch gar nichts zu unterschreiben! Ich meine die anwesenden beiden Parteien. — So, ich danke. Also, Mister Schulze, Sie wollen als Bevollmächtigter der rechtmäßigen Erbin Miss Johanna Baumer diese Erbschaft sofort antreten?«

»Ja.«

»Dann, bitte, lesen Sie hier noch diese Zeilen und setzen Sie Ihren Namen darunter. So. Nun ist alles in Ordnung. Nur noch 3 Dollars 75 Cents habe ich zu bekommen. Und — ehem — ich leide wieder sehr an Sodbrennen — wenn Sie vielleicht Sodawasser im Hause haben — und vielleicht etwas Whisky oder Brandy — das Sodawasser kann ich unter Umständen entbehren —«

Richard eilte. So groß seine Aufregung auch war, da er als Bruder der Erbin hierbei doch auch etwas in Betracht kam, hatte er sich doch schon wiederholt ein Lächeln verbeißen müssen.

Er war noch nicht wieder zurück, als ein donnernder Krach ertönte, dass die Fensterscheiben ganz bedenklich klirrten.

»Was war das?«, riefen die meisten tödlich erschrocken.

»Wer hat da mit einer Kanone geknallt?!«, setzte August noch extra hinzu.

Er sprach viel besser Englisch als Richard und Hannchen, hatte ja bei seiner Aufnahmeprüfung für das Technikum zwei fremde Sprachen nachweisen müssen, hatte Englisch und Französisch gewählt, und was August machte, das machte er auch gründlich, hatte sich wahrscheinlich auch weiter darin ausgebildet, er sprach Englisch perfekt, kein Ausdruck, keine Redewendung fehlte ihm — sprach es freilich mit recht merkwürdigem Akzent ungefähr wie ein eingefleischter Sachse das Plattdeutsche.

»Es war ein Sprengschuss«, beruhigte ein Ingenieur, »die erste Sprengung, die in dem Tunnel ausgeführt worden ist.«

»So. Ich werde es dann gleich einmal kontrollieren«, meinte August.

»Das ist der Tunnel, der nach dem Sklavensee geführt wird?«, fragte der Notar.

»Jawohl, derselbe!«

»Wie weit ist man denn da schon vorgedrungen?«

»Na, heute früh war der Tunnel groß genug, dass man in das Loch gerade seinen Kopf stecken konnte, wenn man nicht einen gar zu dicken Schädel hat. Das machte nämlich, die dazu angestellten Arbeiter haben hier drei Wochen herumgelungert. Von jetzt an wird's aber ein bisschen schneller gehen, ich werde schon Dampf dahinter machen.«

»Werden Sie dann auch die Felsenwohnungen am Sklavensee in Angriff nehmen?«

»Was für Felsenwohnungen?«

»Nun, in denen die Indianerin, die rote Atalanta, mit ihren Begleitern lange Zeit gehaust hat, in denen alle die Geheimnisse aufgespeichert sind, noch ganz andere als wie sie damals auf ihrem Zauberschiffe gezeigt hat.«

»Sie meinen das Westufer des Sees?«

»Ja, es ist das Westufer.«

»Das geht mich ja gar nichts an. Mr. Moor hat doch nur das Nordufer gekauft, um darauf eine Wollwäscherei zu errichten.«

»Nein. Er hat von der Miss Morgan den ganzen Sklavensee gekauft, mit Ausnahme des Terrains auf dem Ostufer, welches schon der deutschen Kolonie Atalantatown gehört. Und die Regierung hat sich noch das Recht vorbehalten, dass alles Gold, was etwa noch auf dem Grunde des Sees liegt, ihr gehört.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Das ist ganz gewiss.«

.August sah sich im Kreise um, und die meisten der Herren, die allerhöchsten Beamten, nickten bestätigend.

»So ist es. Mr. Moor hat den ganzen Sklavensee gekauft, so weit Miss Marwood Morgan darüber zu verfügen hatte.«

»Das habe ich ja noch gar nicht gewusst!«

»Die anderen Ufer sind auch erst später dazugekommen.«

»Gut. Du, Hannchen, da werden wir einmal einen energischen Vorstoß gegen diese Felswohnung machen, uns sollen diese Räumlichkeiten nicht verschlossen bleiben, ob sie nun Geheimnisse enthalten oder nicht. Was uns von Rechts wegen gehört, das wollen wir auch wirklich haben, und kein Teufel soll uns daran hindern!«

Richard hatte die gewünschten Getränke gebracht und die letzte Neuigkeit noch gehört.

Der alte Notar schenkte sich ein großes Glas voll Brandy ein, das Sodawasser vergaß er, hob das Glas.

»Auf Ihr Wohl, Miss Baumer, auch auf das Ihrige, Mister Schulze, dass Ihnen diese Erbschaft samt dem Sklavensee recht viel Glück bringt —«

Da wurde die Tür hastig geöffnet, mit allen Zeichen der Aufregung kam ein besser gekleideter Mann herein, aber ganz verstaubt.

»Meine Herren — ah, der Herr General-Direktor! — Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen erst Meldung zu machen, ehe ich selbst weiter untersuche — die Sprengung in dem Schachte hat eine riesenhafte Höhle freigelegt, deren Ende sich noch gar nicht absehen lässt — aber — Wunder über Wunder — mir bleibt der Verstand stehen —«

»Lassen Sie ihn weiter laufen«, sagte August, »was ist denn drin in der Höhle.«

»Alles elektrisch erleucht! Mit Bogenlampen und Glühbirnen! Und ein unterirdischer Fluss, ein Strom, über den eine eiserne Hängebrücke führt — mehr habe ich noch nicht gesehen, ich wollte erst dies berichten!«

»Recht so! Komm, Hannchen, das wollen wir gleich einmal besichtigen. Du kannst auch mitkommen, Richard. Ist sonst alles hier in Ordnung, Herr Notar? Ja? Dann können die anderen Herren wieder an ihre Arbeit gehen, soweit sie dort in dem Tunnel nicht angestellt sind.«

Der hohle Felsen

Der Tunnelanfang befand sich also gleich neben dem Terrassenhügel, auf dem die Beamtenkolonie lag.

Etwas größer, als dass man nur den Kopf hineinstecken konnte, war das Bohrloch innerhalb von zwei Wochen doch geworden — schon eine ziemliche Höhle.

Und nun hatte die erste Sprengung, die ohne Gefahr für möglich gehalten und ausgeführt worden, die hintere Wand dieser kleinen Höhle in Trümmer gelegt, es war eben wirklich nur eine Wand gewesen, die eine ungeheuere Höhle verschlossen hatte.

Die Arbeiter hatten schon die nötigsten Aufräumungsarbeiten besorgt, sodass man jetzt bequem eindringen konnte, sie ergingen sich in staunenden Äußerungen über das, was sie bisher geschaut hatten, wenigstens aus der Ferne.

Und August war durchaus kein »nevermind man«, er machte aus seinem Staunen kein Hehl.

»Sapperlot, was ist denn das, was soll man denn hiervon denken?«

So weit das Auge reichte, sah man in langen Reihen nach vorn, links und rechts an hoher Decke elektrische Bogenlampen strahlen, hin und wieder auch niedriger angebrachte Glühbirnen.

Es war eine ungeheuere Höhle, fast einen Kilometer im Durchmesser haltend, die Decke im Gegensatz dazu sehr niedrig, allerdings wohl immer noch gegen sechzig Meter hoch, die hier in der Nähe der Wand von Quergängen durchzogen wurde.

Ganz zufällig hatte man gerade die dünnste Stelle dieser Wand angebohrt. Der Quergang kam hundert Meter weiter hinten. Dann führte ein anderer Tunnel nach Süden, dorthin, wo der Sklavensee lag. Dazu musste man aber erst eine Hängebrücke überschreiten, die einen ansehnlichen Strom überspannte, der träge sein dunkles Wasser nach Westen wälzte, also in das eigentliche Felsengebirge hinein.

Weiter Merkwürdiges war vorläufig noch nicht zu sehen, aber das genügte ja auch schon.

»Wir sind hier offenbar schon in jener geheimnisvollen Region, die sich von den Felsenwohnungen am Sklavensee abzweigt!«, flüsterte Richard.

»Das denke ich auch«, meinte August, aber ohne seine Stimme zu dämpfen. »Also so weit sollte sich das alles erstrecken? Wie weit sind wir denn davon entfernt? Ist hier nicht ein Situationsplan, der auch den Sklavensee enthält?«

Ja, auch einen solchen besaßen die leitenden Ingenieure hier.

Danach befand man sich rund fünf Kilometer von jener Felsenwand entfernt, welche den Sklavensee im Westen begrenzte, sich jäh aus seinem Wasser erhob. Dieses Felsgebirge hier war also ein östlicher Ausläufer von jenem, war hier drei Kilometer stark und dann immer noch ziemlich genau vier englische oder eine geografische Meile von dem See entfernt.

»Das ist ja ganz ungeheuer, wie die gebohrt oder doch das benutzt haben, was ihnen die Natur schon an Höhlen und Tunneln geboten hat!«, staunte August. »Woher bekommen die das elektrische Licht?«

Vergebliche Frage.

»Nun, dringen wir erst einmal nach Süden vor, in der Richtung nach dem See. Denn wir wollen doch auch das Geschäftliche dabei im Auge haben.«

»Aber bedenke«, warnte Richard, »dass wir uns im Gebiete jener Indianerin befinden, die Fremde nicht in ihre Geheimnisse dringen lassen will, die sich schon ganz ernsthaft zur Wehr gesetzt hat, und dass sie so lange nichts von sich hat hören und sehen lassen, ist noch keine Garantie dafür, dass sie hier nicht noch immer haust.«

»Gut, wir wollen keine Vorsichtsmaßregeln unberücksichtigt lassen. Ich werde sofort meine Riege als Militär auf die Beine bringen, wenn sie auch nicht gerade ihre Paradeuniformen anzuziehen brauchen, aber warten tun wir nicht auf die, wir nehmen einstweilen einige Arbeiter mit.«

August suchte ein Dutzend Leute aus, wer von diesen keinen Revolver bei sich hatte, bekam einen von einem anderen, und sie machten sich auf den Weg.

»Was ist das für ein Metall?«, meinte August, an der Hängebrücke angekommen, an den Trägern fühlend und klopfend. »Es scheint Stahl oder Eisen zu sein, klingt aber ganz anders.«

»Das dürfte jenes rätselhafte Omnihilit sein«, erklärte ein mitkommender Ingenieur.

Er war auf jenem Zauberschiffe gewesen, erklärte von dem Omnihilit, so viel er konnte.

»Weiter!«

Der Strom wurde überschritten und sie marschierten geradeaus.

Es war ein breiter, hoher Tunnel, in dem ein Dutzend Reiter sich nebeneinander halten konnten, nichts weiter. Wände und Decke und Boden nackter, harter Felsen. Aber immer wieder ab und zu eine elektrische Bogenlampe, in tadelloser Ordnung, jedoch war hier nichts von Leitungsdrähten zu bemerken.

»Hatte das Zauberschiff auch elektrisches Licht?«

»Gewiss.«

»Wie wurde es erzeugt?«

»Das weiß ich nicht, jedenfalls aber ebenfalls auf geheimnisvolle Weise.«

»Unterscheiden sich diese Bogenlampen von unseren, wie wir sie benutzen?«

»Diesen Eindruck machen sie mir nicht.«

Weiter ging es.

Wieder war es August, der an der Wand Spuren von Meißelhieben bemerkte. Aber wer wusste, wie alt die waren.

Dann zweigte nach rechts ein Seitengang ab.

»Erst immer geradeaus«, entschied August.

Fast eine halbe Stunde mussten sie marschieren, ehe sie an das Ende dieses Tunnels kamen. Ausgemessen hatten sie ja nicht, auch die Schritte nicht gezählt, konnten sich aber doch ungefähr berechnen, dass hier das Felsgebirge bald aufhören musste.

Und hier führte an der Wand eine Steintreppe hinauf, an der Decke in einem quadratischen Loche verschwindend. Sie stiegen hinauf, mussten einen schrägen Schacht passieren, alles elektrisch beleuchtet, gelangten in einen Korridor, von dem Kammern und Zimmer und ganze Säle abzweigten.

Auch hier war eben alles ausgehöhlt, und man konnte kaum glauben, dass da die Natur auch nur vorgearbeitet habe.

Es war alles dasselbe wie in der Felsenwand am Westufer des Sees, wovon diese Menschen hier ja nur etwas vom Hörensagen kannten, und wenn hier auch alles ganz nackt war, bis auf die elektrischen Lampen, alle brennend, so genügte das doch schon, sie in immer grenzenloseres Staunen zu versetzen.

»Wer kann dies alles nur geschaffen haben?!«

Immer wieder ganz vergebliche Frage, so wie wegen des Ursprungs des elektrischen Lichtes, nach den Leuten, welche die Lampen instand hielten.

Nur August sah sich gleich mit noch etwas anderen Augen um, und der hatte dabei sicher nichts von den Yankees gelernt.

»Sehr gut das! Hannchen, da ersparen wir alle Kosten für die Errichtung der Gebäude für die Wollwäscherei, das können wir alles gleich hier unterbringen. Eigentlich hätte ja auch sonst die ganze Einrichtung gleich hier sein können, aber verlangen kann man das schließlich nicht. Und was sind das für Wandschränke?«

Unter seinen geschickten Griffen löste sich bald eine der Klappen ab, die sich an der Wand in regelmäßigen Zwischenräumen befanden, und — sie blickten auf eine waldige Gegend, und über den Gipfeln der Bäume glänzte in weiter Ferne der Spiegel des Sklavensees.

August trat in die Nische, welche das Fenster wegen der noch ziemlich dicken Felsenwand bildete, und links von sich sah er in einiger Entfernung das Lager der Steinarbeiter, wie sie mit den mit komprimierter Luft betriebenen Bohrmaschinen an der Wand arbeiteten.

»Aufhören dort!«, kommandierte er sofort. »Hier unten wird gebohrt, hier ist's näher!«

Doch das überließ man lieber einem der mitgekommenen Ingenieure, welche diese Arbeit nun einmal leiteten, die anderen Hauptpersonen hielten eine kleine Beratung ab und beschlossen, von der weiteren Untersuchung dieser oberen Felsenräume, welche, wie jetzt schon zu beurteilen war, zahllos zu sein schienen, vorläufig abzusehen und erst die unteren Tunnel weiter zu untersuchen.

So trat man den Rückmarsch an. Auf der Hälfte des Weges, aber noch vor jenem Seitentunnel, der nach Westen führte, trafen sie mit der Turnerriege zusammen, die im Eilschritt angerückt kam, aus zwei Dutzend Mann bestehend, mit Gewehren bewaffnet und umgeschnallt, aber ohne Uniform.

Auch nach rechts, nach Osten, führte noch ein Seitentunnel ab, aber zunächst wurde in den linken eingedrungen.

Er unterschied sich von dem Haupttunnel nur durch seine geringere Breite. Doch bald kam man an eine Tür, die sich öffnen ließ, hinter ihr lag ein kleiner Raum, in dem eine Treppe hinabführte.

Es war ein ganz seltsamer Anblick. Man sah in einen schrägen Schacht von schier endloser Tiefe hinein. Zuletzt schienen die Felswände unten zusammenzustoßen, die elektrischen Glühbirnen glichen nur noch leuchtenden Punkten, zuletzt verschwanden sie ganz, und da war diese Treppe sicher noch nicht zu Ende.

,»Alle Wetter, hier scheint's nach dem Mittelpunkt der Erde hinabzugehen!«, meinte August. »Diese Stufen wollen wir doch einmal messen und zählen, um zu wissen, wie tief man hinabdringt.«

»Das kann man auch nach dem Barometer bestimmen, ich habe ein ganz genau gehendes Dosenbarometer bei mir«, sagte der mitgekommene Ingenieur, der schon auf dem Zauberschiffe gewesen war.

Das Taschenbarometer zeigte eine Höhe von 768 Meter über Normal Null, also über dem Meeresspiegel, an. Das konnte wohl stimmen. Man befand sich ja hier in oder eigentlich auf dem Felsengebirge, auch die Talsohlen konnten noch als Hochplateaus betrachtet werden. Daher hier auch die strengen Winter, obgleich man sich doch auf ein und demselben Breitengrade mit Neapel befand. Im Sommer hingegen ließ sich die Kraft der Sonne von dieser Höhenlage noch nicht beeinflussen.

An dem Barometer befand sich auch ein Thermometer. Es zeigte fünfzehn Grad Celsius.

Dreitausend Meter unter der Erde

Sie stiegen hinab, August an der Spitze, nicht aber bevor er an jener Tür einige Mann als Posten zurückgelassen hatte.

Die Stufen wurden dennoch gezählt. Sie waren ganz regelmäßig, jede war zwanzig Zentimeter hoch.

Abwärts ging es, immer abwärts in schnurgerader Richtung.

»Tausend!«, rief der zum Zählen angestellte Mann, der aber auch noch von anderen kontrolliert wurde.

Demnach waren sie schon zweihundert Meter tief hinabgedrungen, und das musste so sein, die Höhe der Stufen hatte sich nicht geändert, fünf zusammen ergaben genau einen Meter.

Nach dem Barometer aber war man noch nicht einmal hundertundzwanzig Meter tief hinabgekommen, und trotzdem konnte es eigentlich richtig anzeigen, so richtig wie das Thermometer, das jetzt achtzehn Grad Celsius angab, und das Quecksilber irrte sich natürlich nicht.

Wir wollen hier gleich erledigen, was über die Zunahme der Erdwärme nach dem Inneren und des Atmosphärendruckes zu sagen ist. Nämlich wir wollen gleich gestehen, dass die Wissenschaft da noch sehr im Dunklen tastet.

Wenn man in die Erde bohrt, so nimmt die Temperatur bei zwanzig bis dreißig Metern Tiefe immer um ein Grad Celsius zu. Das hat man durch zahllose Versuche, in Bergwerken angestellt, mit Gewissheit konstatieren können. Aber schon das »zwanzig bis dreißig Meter« sagt ja, wie es mit dieser »Gewissheit« steht.

Es kommt doch ganz darauf an, wo man bohrt, ob am Toten Meere gleich von vornherein vierhundert Meter unter den anderen, normalen Meeresspiegeln, oder hoch oben auf dem Himalaja. Und trotzdem — wenn sich der Mount Everest mit seinen zehntausend Metern Höhe auf einem Erdglobus von einem Meter Durchmesser auch wie eine Stecknadelkuppe ausnehmen würde — auch hier tritt die Temperaturzunahme fast ebenso schnell ein, eben weil es in Bezug auf die ganze Erde gar keine ist. — Die Erde kommt als Wärmehalter im Ganzen in Betracht — also muss die Wärme schon so zunehmen, wenn man auch seitlich in den Berg eindringt — und trotzdem wieder sind es doch ganz andere Verhältnisse — und nun weiß man doch nie, ob nicht in der Nähe eiskalte oder kochend heiße Quellen vorhanden sind —

Kurz, genaue Angaben lassen sich da nicht machen. Es ist schon eine gewaltige Leistung der Wissenschaft gewesen, mit Sicherheit festzustellen, dass die Erdwärme bei zwanzig bis dreißig Meter immer um einen Grad zunimmt. Das tiefste Bohrloch in Deutschland ist in Paruschowitz bei Rybnik in Schlesien, dort herrschen bei zweitausend Meter unter dem Meeresspiegel siebzig Grad Celsius, und das stimmt nach jener durch Beobachtung gewonnenen Theorie.

Nun kommt noch der zunehmende Luftdruck in Betracht. Aber der folgt beim Eindringen ins Erdinnere so verwickelten Gesetzen, dass wir gar nicht erst davon anfangen wollen.

Hingegen noch etwas anderes: Die beiden Freunde hatten zwei Jahre ein Technikum besucht. Auf solch einem deutschen Technikum, obgleich doch nur niederen Grades, wird von akademischen Professoren in dieser Beziehung alles gelehrt, was auf den Universitäten getrieben wird. Der Unterschied ist nur der, dass die Schüler nicht in die letzten wissenschaftlichen Gründe dringen, sie bekommen nur die Resultate der Forschungen zu hören. Sonst aber muss ein ursprünglicher Schlosser oder Maurer ebenso gut wissen, wie man das Gewicht unseres Erdballes berechnet — sonst fällt er durch das Schlussexamen.

Also unsere beiden Freunde waren in solchen physikalischen und physischen und physiologischen Sachen durchaus beschlagen, da brauchten sie von dem vielleicht akademisch gebildeten Ingenieur, der sie begleitete, nicht Erklärungen zu bekommen.

Jetzt blieben sie zunächst einmal stehen und blickten sich staunend an.

»Zweihundert Meter schon hinabgestiegen!«, flüsterte Richard. »Das ist die zehnfache Höhe eines vierstöckigen Hauses, und noch ist kein Ende der Treppe abzusehen!«

»Schon zweihundert Meter unter der Erde!«, flüsterte Hannchen ebenso, und die anderen sprachen wenigstens mit den Augen so, wie sie sich erstaunt und auch scheu umsahen.

Nur August wollte nicht mitstaunen.

»Zweihundert Meter — na was ist denn das? Gar nischt. Danach befinden wir uns immer noch fünfhundertundfünfzig Meter über dem Meere.«

»Ja, wer hat aber hier diesen Schacht angelegt, diese kolossale Treppe — denn das wirst Du doch zugeben, dass das eine kolossale Treppe ist! — die ist doch nicht etwa natürlich, die ist gemeißelt! Und nun dieses elektrische Licht, hier mitten im Felsengebirge!«

»Ja, das ist allerdings erstaunlich, das gebe ich zu. Also weiter.«

Sie stiegen hinab, tiefer und tiefer. Einmal musste doch ein Ende dieser Treppe kommen — und es kam.

»Eintausendfünfhundert Stufen!«, rief der Zähler.

Da bog der vorausgehende August gerade um eine Ecke. Es war ein Absatz, von hier aus wendete sich die Treppe wieder zurück, wieder blickte man in einen endlosen Schacht mit Stufen hinein, immer wieder elektrisch erleuchtet.

Und auf diesem Absatz war an der grauen Wand ein dicker roter Strich angebracht, daneben Zahlen und Buchstaben.

»450 Meter über N. N.«

Das Dosenbarometer freilich zeigte eine viel größere Höhe an.

»Auf das können wir uns nicht mehr verlassen, diese Berechnung hier wird schon stimmen«, sagte August.

Sie stiegen die zweite Treppe hinab, diesmal wurden genau siebenhundertundfünfzig Stufen gezählt, da kam wieder ein Absatz und hier war richtig eine Höhe von dreihundert Meter über Normal Null angegeben, während das Thermometer zwanzig Grad Celsius zeigte.

»Das stimmt wiederum nicht, obgleich sich das Thermometer sicher nicht irrt. Die Wärme nimmt nicht so zu, wie es eigentlich sein müsste. Weiter!«

Wieder ging die Treppe rückwärts hinab.

»Hundertundfünfzig Meter über Normal Null«, meldete der Strich auf dem nächsten Absatz, und das Thermometer zeigte noch immer zwanzig Grad an.

Auf dem nächsten Absatz stand an dem roten Markierungsstriche nichts weiter als »Normal Null«.

Sie waren schon siebenhundertundsechzig Meter tief hinabgestiegen, befanden sich mit dem Meeresspiegel in gleicher Höhe, und die Temperatur hatte nicht mehr zugenommen.

Und da führte immer wieder eine Treppe nach rückwärts hinab, in regelmäßigen Zwischenräumen durch elektrische Lampen erleuchtet.

»Wollen wir weiter hinabsteigen?«, flüsterte Richard.

»Weshalb denn nicht?!«, fragte August zurück.

Da es Richard nicht auszusprechen wagte, so tat es die Schwester.

»Schon siebenhundertundsechzig Meter unter der Erde — mir wird ganz unheimlich zu Mute!«

»Ach was, das ist doch nur Täuschung, weil wir das Gebirge über uns haben, in Wirklichkeit befinden wir uns jetzt an der Meeresküste. Weiter!«

Wir wollen es kurz machen. Jetzt kamen die Absätze mit den Markierungsstrichen alle zweihundert Meter. Nach weiteren zehn Absätzen befanden sie sich also zweitausend Meter unter dem Meeresspiegel.

Bisher waren sie wortlos hinabgestiegen, als aber der führende August immer wieder in einen Schacht mit Stufen und Glühlampen hinabblickte, blieb er einmal stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Er wusste, dass so tief das tiefste Bohrloch in Deutschland ist, dass dort eine Hitze von siebzig Grad Celsius herrscht, und er sprach es aus.

»Und wie warm ist es hier?«

»Immer noch zwanzig Grad Celsius, eine normale Stubentemperatur«, entgegnete der Ingenieur.

»Rätselhaft, ganz rätselhaft. Aber weiter! Von hier aus haben wir noch achthundertundsechzig deutsche Meilen, dann kommen wir auf der anderen Seite der Erde wieder heraus, und in der Mitte der Erde wird die Wärme doch um ein paar Grad zugenommen haben, oder es ist nicht wahr, dass sie einen feurig-flüssigen Kern hat. Das wollen wir also untersuchen.«

Und August, bei dem man jetzt nichts mehr von Schüchternheit merkte, führte seine Truppe weiter in die Tiefe hinab.

Doch bald blieb er stehen, mitten auf der Treppe.

»Merkt Ihr etwas?«

Nein, niemand wusste, was er meinte. Wenn alles still war, herrschte Grabesruhe.

Als er seinen Finger anleckte und vor sich hin hielt, wusste man wohl, dass er prüfen wollte, ob ein Luftzug herrsche, was man eben am besten am angefeuchteten Finger verspürt, aber es war nichts davon zu bemerken, wie auch die anderen dieses Experiment machten.

»Und doch, mir ist, als ob —«

Suchend blickte sich August um, nahm von dem Rocke eines seiner Turnersoldaten eine zarte Flaumfeder ab, und als er sie aus den Fingern ließ, schwebte die Feder langsam empor.

Ein Luftzug von unten, der doch nur ein künstlicher sein konnte. Es gab hier eine Ventilation. Nun war schon eher erklärt, weshalb die Wärme beim Tiefersteigen nicht zunahm. Und wer wusste denn, was diese Menschen, die hier schon so Großartiges geleistet hatten, sonst noch für wunderbare Hilfsmittel besaßen.

Wenn aber die natürliche Temperatur künstlich verändert wurde, jedenfalls durch einen Strom verdünnter Luft, dann musste auch ein gewöhnliches Barometer versagen, ganz falsche Resultate liefern. Zweitausendzweihundert — zweitausendvierhundert — zweitausendsechshundert Meter — —

»Tiefer ist man auch nicht in der Diamantenmine von Transvaal gedrungen!«, sagte August, jetzt aber begann auch er zu flüstern.

Und hier ging es noch weiter hinab!

Zweitausendachthundert — dreitausend Meter unter dem Meeresspiegel, meldete der rote Strich.

»Kinder, Kinder, dreitausend Meter — so tief ist noch kein anderer Mensch in die Erde hineingekrochen, wir sind die allerersten, und ich, der ich vorangehe, bin der —«

Da kam wieder einmal seine angeborene Bescheidenheit zum Vorschein.

»Will jemand anders vorangehen?«, fragte er mit einladender Handbewegung. »Du, Hannchen? Willst Du diese Ehre haben?«

Dabei aber war er schon wieder einige Stufen hinabgestiegen, und da kam mit einem Male nicht nur wieder ein neuer Treppenabsatz, sondern ein horizontaler Gang, der allererste, auf den man stieß.

»Dort ein Fenster!«

Es war an der gegenüberliegenden Wand in Brusthöhe angebracht, ungefähr einen Quadratmeter im Durchmesser haltend. August konnte nicht direkt hineinblicken, er musste erst noch einige Schritte seitwärts gehen, und dann eilten auf seinen staunenden Ruf schnell auch die anderen herbei, und was sie erblickten, war danach angetan, dass sie erst glaubten, ihren Augen nicht trauen zu dürfen.


»


Lieferung 33


Illustration

Achtung, wir haben hier alles zu erwarten!«, schrie Au
gust, der am Steuer saß, seinen Begleitern zu, als er das
Mongolengesicht in der Öffnung der Felswand erblickte.


Wunder der Urwelt

Durch die klare Glasscheibe blickten sie in eine Landschaft, wie sie sich heute auf der ganzen Erde nicht mehr vorfindet, nicht in den heißesten Tropen, höchstens noch auf Neuseeland, aber, was die Pflanzenwelt anbetrifft, im Gegensatz zu hier in ganz verkleinertem Maßstabe.

Dagegen haben uns solche Landschaften wissenschaftliche Forscher nach Versteinerungen und Abdrücken, die man in Stein- und Braunkohlenlagern gefunden hat, mit Hilfe von künstlerischer Phantasie in Bildern wiedergegeben.

Auch unsere Freunde hatten schon solche Bilder gesehen, hatten darüber gelesen, und so wussten sie recht gut, dass man jene Zeiten die Sekundär- und Tertiärperiode nennt, in der sich unsere Erde befand, als sie solch eine Vegetation zeitigte. Im Allgemeinen spricht man auch von einer Urzeit und einer Urwelt.

Vor allen Dingen waren es riesenhafte Schachtelhalme und Farnkräuter, palmenähnliche Farnbäume, die sich turmhoch aus dem Gemisch von Wasser und Land erhoben.

Denn ein solches Gemisch war es. Eine unübersehbare Wasserfläche, durchsetzt von zahllosen Inselchen und schmalen Landzungen, alles zusammenhängend und doch immer wieder isoliert und scharf abgegrenzt, und dies alles, mit Ausnahme der freien Wasserstellen, bestanden mit jenen riesigen Schachtelhalmen und Farnen, aber auch mit niedrigem Gebüsch, das jedoch auch so ein seltsames Aussehen hatte, immer entweder dünn und spitz oder wie niedrige Palmenungeheuer breitblättrig.

Eigentümlich eintönig wie die Pflanzenformen selbst war auch die Farbe. Bunte Blumen und Blüten fehlten ganz, alles ein Mittelding zwischen grün und gelb, das letztere fast vorherrschend; selbst die Baumstämme zeigten dieselbe Farbe wie die Blätter.

Aber es war nicht eine flache Wasser- und Sumpflandschaft, obgleich wir sie unübersehbar genannt haben. Überall erhoben sich Felsen, so hoch, dass man von diesem Fenster aus nicht ihr oberes Ende sehen konnte, wie man sich auch bückte — doch diese Felsen waren nicht massiv, sie bildeten zahllose Grotten, durch die man blicken konnte, das Ganze war, da es doch begrenzt sein musste, eine ungeheuere Höhle, die durch unregelmäßige Pfeiler und durchbrochene Scheidewände in Kammern geteilt war. Freilich bildete schon jede einzelne Kammer eine weite Region mit einer ganzen Landschaftsszenerie für sich.

»Fabelhaft, fabelhaft!!«, wurde staunend geflüstert. »Das ist ganz einfach die Urwelt, die sich hier unten erhalten hat«, meinte August.

»Sich erhalten hat?«

»Na, oder künstlich geschaffen worden ist. Wie man oben auf der Erde in nördlichen Gegenden Treibhäuser und Wintergärten anlegt, in denen man Palmen und Apfelsinen zieht, so hat man hier einmal einen Garten geschaffen, in dem riesenhafte Schachtelhalme und Farne gedeihen, und das kann nur unter der Erde geschehen, weil damals, als solches Zeug oben auf der Erde wuchs, außer einer viel größeren Hitze auch ganz sicher ein viel größerer Atmosphärendruck herrschte, die Luft war sozusagen viel dicker.«

»Von einem stärkeren Atmosphärendruck merkt man aber hier nichts.«

»Ja, hier draußen nicht. Aber dort drin ist ganz sicher ein starker Druck, der bei solcher Tiefe hier normal ist.«

Ehe diese Unterhaltung fortgesetzt werden konnte, bemächtigte sich der Beobachter neues Staunen.

Von oben aus der Luft kam ein Vogel geschwebt, so groß wie ein Storch, oder wie ein Adler, und es war auch ein Mittelding zwischen beiden: Deutlich waren die nur ganz kurzen Beine zu sehen, aber mit furchtbaren Krallen bewehrt, während der unmäßig lange Hals eine wahre Riesenschlange für sich war, aber nicht mit dem Kopfe eines Vogels oder einer Schlange, sondern mit dem langgestreckten Kopf eines Krokodils.

Dieses Ungetüm ließ sich in ziemlicher Nähe des Fensters auf einem Felsen nieder, jetzt sah man auch, dass der Körper mit einer Art von Schuppen bedeckt war, und wie es einmal den Rachenschnabel weit öffnete, erblickte man darin Reihen von furchtbaren Zähnen, wie eben bei einem Krokodil, und schrecklich anzusehen waren auch die für diesen langen Kopf entsetzlich großen Augen, fast so groß wie Untertassen.

»I so was darf doch heutzutage gar nicht mehr leben!«, war August der erste, der Worte fand.

»Ein Archäopterix!«, war Mr. Nelson, der amerikanische Ingenieur, der zweite, der sich vernehmen ließ.

»Was für ein Tier?!«

»Einer der ersten Vögel, die in der Diluvialzeit unsere Erde belebten, noch kein echter Vogel, erst den Übergang vom Reptil zum Vogel bildend, so wie es noch heute die Fledermaus zwischen Säugetier und Vogel tut.«

Dieser amerikanische Ingenieur konnte auch sonst viele Auskünfte geben, er wusste von alledem mehr, als was zur allgemeinen Bildung gehört. Er hatte das Studium der sogenannten Diluvialzeit, soweit sie Andenken hinterlassen, aus Liebhaberei eifrig betrieben, besaß selbst eine große Sammlung von Knochen, Versteinerungen und Abdrücken vorsintflutlicher Tiere und Pflanzen.

Von diesem Reptilvogel wurden und werden zahlreiche Reste und ganze Exemplare in Amerika gefunden, in dem viel älteren Europa fand man bisher nur zwei Abdrücke, beide in dem Kalkstein bei Solnhofen, beide wurden »natürlich« sofort von Engländern angekauft, doch konnte das eine Exemplar noch für das königliche Museum in Berlin gerettet werden, wo es heute noch zu sehen ist.

»Ja, wie kann denn aber so ein Tier heute noch leben?!«

»Wenn alle Bedingungen für seine Existenz gegeben sind, warum nicht?«

»Da soll es sich Zehn- oder wahrscheinlicher Hunderttausende von Jahren hier dreitausend Meter unter der Erde erhalten haben?!«

Es hatte gar keinen Zweck, solche Fragen aufzuwerfen. Sie würden wohl immer unbeantwortet bleiben. Man musste sich mit den Tatsachen begnügen, die man hier erblickte.

Und man erblickte noch mehr.

Der Reptilvogel breitete wieder seine schuppigen, fledermausähnlichen Flügel aus, erhob sich in die Lüfte, doch nur, um sich gleich wieder herabzustürzen, auf eine freie Wasserstelle, tauchte seinen langen Krokodilschnabel hinein, und dann, als er wieder aufstieg, hatte er in diesem einen großen, zappelnden Fisch, den er während des Fliegens noch einmal in die Höhe schleuderte, ehe er ihn in dem weit aufgerissenen Rachen verschwinden ließ.

Doch hiermit war sein Hunger noch nicht gestillt, er drehte noch einmal um und strich dicht über das Wasser hin — —

Da wallte dieses plötzlich auf, aus dem Strudel tauchte der Kopf eines Krokodils auf, aber ein so ungeheurer, wie ihn heute kein Krokodil mehr hat, fast zwei Meter lang, mit Augen wie Suppenteller, die furchtbaren Kinnladen, von schrecklichen Zähnen starrend, klappten auseinander, und der Reptilvogel war zwischen ihnen verschwunden. Auch der Krokodilskopf tauchte gleich wieder unter.

»Das ist ein Ichthyosaurus gewesen!«, rief der Ingenieur.

»Schrecklich, entsetzlich! Und das war nur der Kopf, den wir gesehen haben!«

»Nun, daraus darf man noch nicht auf eine enorme Größe schließen. Die Ichthyosauren, überhaupt alle Saurier, haben einen unverhältnismäßig großen Kopf gehabt. Die größten Exemplare, die wir gefunden haben, sind selten länger als zehn Meter.«

Zehn Meter — na, das genügt ja auch gerade. Man messe sich diese Länge aus und stelle sich solch ein Krokodil vor! So etwas gibt es heutzutage nicht mehr. Ein Nilkrokodil, das größte, von fünf Meter Länge ist schon ein riesiges Ungetüm.

»Nein, wie ist denn hier nur so etwas möglich?!«, konnte nur immer wieder gestaunt werden.

Ja, man stand vor einem unlösbaren Rätsel. Einer der Schlosser, der sich laienhaft mit Hypnotismus beschäftigte, kam sogar auf die Idee, dass sie alle zusammen hypnotisiert seien.

Doch davon konnte keine Rede sein, sie befanden sich alle bei vollem, klarem Bewusstsein.

»Und dennoch kann alles nur Täuschung sein, der Wirklichkeit entbehren!«, meinte Mr. Nelson.

»Wie das?«

»Es sind nur kinematografische Bilder, die wir erblicken.«

»Kinematografsche Bilder?«

»Diese Glasplatte ist Omnihilit, auf dieser durchsichtigen Substanz werden die Bilder in besonderer Weise erzeugt.«

Er hatte etwas davon auf dem Zauberschiff gehört, erklärte es, so weit er konnte. Es war wenig genug, eine ganz unglaubhafte Theorie.

»Nein«, sagte denn auch August, »da ist es doch einfacher, zu glauben, dass sich hier dreitausend Meter unter der Erde noch Reste einer vorsintflutlichen Welt lebendig erhalten haben, weil sie hier den atmosphärischen Druck und alle sonstigen Bedingungen, die sie benötigen, noch vorfinden. Kann man denn das Fenster nicht öffnen?«

Es war keine Vorrichtung dazu vorhanden.

»Na, dann hauen wir einfach die Scheibe ein«, sagte August, schon den Gewehrkolben ansetzend.

»Um Gottes willen, August, sei vorsichtig!!«, riefen Richard und seine Schwester erschrocken.

»Wenn man eine Fensterscheibe einschmeißen will, braucht man nicht besonders vorsichtig zu sein.«

»Dort drin herrscht wahrscheinlich ein enormer Druck und eine große Hitze!«

»Gar so schlimm kann das nicht sein, das werden wir auch schon aushalten können.«

»Aber wenn die Ungeheuer herauskommen?«

August unterließ denn auch den Versuch, die Scheibe zu zertrümmern, schon deshalb, weil jetzt ein Ruf erklang:

»Hier ist eine Tür!«

Mehr als zwanzig Menschen waren ja mit herabgekommen, alle hatten sie an dem Fenster nicht Platz gehabt, so waren einige der Turnersoldaten weitergegangen, um andere Fenster zu suchen, hatten auch wirklich solche gefunden, immer war hin und wieder solch ein Fenster eingelassen, und auch eine Tür hatten sie gefunden.

Rasch hatten sie diese geöffnet und waren eingetreten.

Es war ein nackter Raum, so groß wie ein mittelmäßiges Zimmer, an den Wänden zogen sich Steinbänke hin, sonst nichts weiter.

Aber eine Hitze! Das Thermometer stieg auf dreißig Grad, während es draußen immer noch zwanzig gezeigt hatte.

Und gegenüber dieser Eingangstür wieder eine andere.

»Wir müssen darauf gefasst sein, in einen immer heißeren Raum zu kommen, so wie beim Dampfbad, dass man sich nach und nach daran gewöhnt«, sagte August.

So war es denn auch. Im nächsten Raume zeigte das Thermometer gleich vierzig Grad. Es war kaum noch zum Aushalten, und es gab immer noch eine andere Tür.

»Wir werden verbrennen!«, flüsterte Hannchen angstvoll, als August auch diese öffnen wollte.

»Nein, nein, so schlimm ist es nicht, man muss sich nur daran gewöhnen. Unter dem Äquator herrschen in der Sonne oft genug fünfzig Grad und noch mehr Hitze, und man verbrennt noch lange nicht. Nur auf die Steine darf man nicht mit nackten Füßen treten, oder man muss eine Negerhaut haben.«

Er öffnete die Tür. Es war die letzte gewesen.

Oder auch nicht. Wohl befanden sie sich schon im Freien, waren aber noch von einem dünnmaschigen Netzgeflecht umgeben, in dem immer noch eine Tür war.

Doch die Luft, die hier drinnen herrschte, umspülte sie schon. Sie war kaum atembar, und ihre Glut war umso fühlbarer, als sie mit Feuchtigkeit gesättigt war. Denn bei vollkommen trockener Luft erträgt der Mensch eine Temperatur bis zu hundert Grad Celsius, dem Siedepunkt des Wassers. Das hängt mit seiner Ausdünstung zusammen, der sich in Menge bildende Schweiß verdunstet schnell und erzeugt dadurch wieder eine kühle Luftschicht um den ganzen Körper.

Hier zeigte das Thermometer achtundvierzig Grad an. Ja, es war, als ob man glühendes Blei einatme. Und doch gewöhnte man sich schnell daran, hielt es aus — wobei der Gedanke viel mithalf, dass man ja jederzeit in eine kühlere Region zurücktreten konnte.

Es war nicht mehr dieselbe Landschaft, die sie hier erblickten. Sie hatten draußen um die etwas gerundete Felswand einen ziemlich großen Bogen beschrieben, jetzt war es eine Waldlandschaft, vor der sie standen, in der sie sich sogar schon befanden, hier mit wirklichen Bäumen.

Hauptsächlich waren es Nadelbäume, nicht gerade von riesenhaften Dimensionen, unseren normalen Kiefern vergleichbar, gerade hier stand auch viel junger Nachwuchs, aber immer nur oben beästet, sodass unten überall ein freier Durchblick war.

Aber es waren ganz fremdartige Nadelbäume, mit einer wunderbaren Verästelung, und auch die Zweige mit den langen Nadeln hatten wieder so ein farnähnliches Aussehen.

»Es sind sogenannte Araukarien«, erklärte der in der Urwelt bewanderte Ingenieur, »der Nadelbaum, der in der an Arten so armen Diluvialzeit unserer Erde am häufigsten vorkam, dessen Abdrücke man in der Kohlenformation massenhaft findet.«

»Und was ist das für ein Vieh, welches dort läuft?«, fragte August.

Es war einfach ein Gürteltier, welches über den mit Flechten bedeckten Boden langsam einher kroch, aber im Gegensatz zu den heute in Südamerika noch vorkommenden eines von ungeheuerer Größe, so groß wie ein ausgewachsenes Schwein, auch so dick, nur dass es von einem Panzergürtel starrte.

Auch das heute noch existierende Gürteltier, so klein es auch sein mag, will ja, wie noch manches andere Tier, in unsere heutige Lebewelt nicht mehr recht passen. Das sind eben Überbleibsel einer früheren Periode, die sich veränderten Verhältnissen wohl anzupassen verstanden haben, aber nicht mehr mit den anderen Tieren harmonieren. Das gilt ja auch vom Krokodil und noch von vielen anderen Geschöpfen, die deshalb auch auf dem Aussterbeetat stehen, vielleicht sogar vom Elefanten, und wenn diese Tiere erst durch die Habgier der Menschen ausgerottet werden, so ist der Mensch schließlich doch nur ein Werkzeug der Natur, welche diese jetzt überflüssigen Tiere nach und nach beseitigen will.

»August, mir wird unwohl«, flüsterte da Johanna und lehnte sich schwer gegen ihn an.

Und da plötzlich brach einer der Schlosser bewusstlos zusammen, gleich darauf ein zweiter, und dem drang auch schon das Blut aus der Nase.

Da gewahrten auch alle anderen mit Bestürzung, dass sie über das Staunen ihren eigenen Zustand vergessen hatten, in dem sie sich bereits befanden.

War es ein besonders starker Luftdruck oder allein die glühende Hitze, oder gab es hier in dieser Atmosphäre, was sehr leicht möglich war, besondere Miasmen, gegen welche die Fieberbazillen unserer jetzigen Tropensümpfe harmlose Kleinigkeiten waren?

Jetzt, da die Erkenntnis kam, wurden sie sich alle ihrer plötzlichen furchtbaren Schwäche bewusst, auch noch bei anderen stellte sich Nasenbluten ein.

Schleunigst zurück in die kühlere Atmosphäre der Außenwelt, wenn man das hier, was draußen war, so nennen durfte.

Nicht nur die schon Bewusstlosen mussten von den noch Kräftigeren hinausgeschleift werden.

Aber die Kühle brachte ihnen keine Erholung. Wie bleierner Schlaf senkte es sich plötzlich auf sie herab, einer nach dem anderen sank ohnmächtig oder doch schlafend zu Boden, der letzte war August, und da war kaum eine Minute vergangen, ehe hier draußen der erste umgefallen war. — —

August war auch der erste, der wieder zu sich kam.

Er sah sich wieder in so einem nackten Felsenraum, in dem die Mitglieder der unterirdischen Expedition förmlich übereinander geschichtet lagen, bis auf Hannchen, die bequemer auf einer Steinbank gebettet war, auch einige Decken zur Unterlage hatte.

Dann aber waren auch noch einige andere Männer aus Moorfield da, noch mehr gingen ab und zu, sich mit den Bewusstlosen oder Schlafenden beschäftigend, ihnen hauptsächlich nasse, kühle Umschläge machend.

»Wo sind wir?«, war Augusts erste Frage.

Nicht etwa mehr dreitausend Meter unter dem Meeresspiegel, sondern schon wieder siebenhundertsechzig Meter darüber! In einer Steinkammer, die sich gar nicht weit von jener Tür, durch welche der erste Abstieg erfolgte, in dem Seitentunnel befand.

»Und wie sind wir hier herein gekommen?«

Das wusste niemand zu sagen.

Nachmittags gegen vier Uhr war der Abstieg erfolgt, zu dem sie trotz ihres schnellen Gehens fast zwei Stunden gebraucht hatten.

Mochten sie nur eine halbe Stunde unten verweilt haben.

Jetzt aber war es erst um sieben!

Und erst vor wenigen Minuten hatten die an jener Tür postierten drei Männer einen lauten Schrei gehört, und als sie hingeeilt waren, hatten sie die Schlafenden oder gar Bewusstlosen hier in dieser Kammer gefunden.

Dann waren auch noch andere gekommen, welche die so lange Ausbleibenden in diesem Seitenschacht hatten suchen wollen.

Wie reimte sich das nun zusammen?

Wie konnten die Schläfer in weniger als einer halben Stunde wieder heraufgekommen sein?

»Ist hier etwa ein Fahstuhl?«, fragte August.

Davon war absolut nichts zu merken.

Und wer hatte die Bewusstlosen dann hineingetragen? Woher stammten diese Decken, auf denen Johanna gebettet lag?

Es waren unergründliche Rätsel.

Und als jene Tür, welche zu der Treppe führte, geschlossen wurde, ließ sie sich nicht wieder öffnen, trotzte allen derartigen Versuchen, auch kein Löchelchen war anzubringen, um etwa eine Dynamitpatrone anzuwenden.

Ein seltsames Gespräch

Zwei Tage später, noch am frühen Morgen, ließ sich der neue Besitzer des Sklavensees in einem Boote von einigen Männern seiner Turnerriege nach dem westlichen Ufer rudern.

Denn als zukünftiger Gatte und Bevollmächtigter Hannchens durfte sich August wohl selbst als Besitzer fühlen. Schnell näherte man sich der glatten Felswand, die sich himmelhoch jäh aus dem Wasser erhob.

Hier und da konnte man sehen, dass man versucht hatte, die Felswand unten anzubohren. Es war bei kläglichen Versuchen geblieben, jetzt war niemand mehr damit beschäftigt.

»Ja, was ich hier schon erlebt habe, wie die Tür und aller Felsen ringsherum jedem Bohrer spottet, da vergeht mir auch bald die Lust, hier an dieser Felswand nochmals anzufangen, denn die werden sich hier wohl noch besser zu schützen gewusst haben«, sagte August.

Da plötzlich schob sich etwas seitwärts vor ihnen ein großes Stück Felswand in das Wasser hinein, drehte sich wie um eine Angel, eine weite Höhle hatte sich geöffnet, und gleichzeitig entstand darüber, in der Höhe einer ersten Etage, eine Fensteröffnung, in der sich ein mongolisches Gesicht zeigte.

»Achtung, wir haben alles zu erwarten!!«, schrie August, der am Steuer saß.

Das hatte er schon denen gesagt, die ihn hatten begleiten wollen.

Aber das Mongolengesicht dort oben grinste freundlich.

»Immer hereingefahren, meine Herrschaften, Sie werden erwartet!«, rief es auf Englisch.

»Wer ist es, der uns erwartet?«, fragte August ganz sachgemäß zurück.

»Die Missis Atalanta von Felsmark.«

»Wen erwartet sie?«

»Mister August Schulze von Moorfield.«

»Vorwärts«, entschied August. »Wenn die uns etwas anhaben wollen, so können sie es auch von dort oben aus, sie brauchen uns nicht erst in eine Falle zu locken.«

Das Boot steuerte durch das von der Tür bewegte Wasser in die Grotte hinein, in die damals Arno und Atalanta getaucht waren. Die Felsentür schloss sich sofort wieder, das elektrische Licht beleuchtete einige Ruder- und Motorboote und einen sich immer wieder verbeugenden Japaner in europäischer Seemannskleidung, der fast ebenso breit wie hoch war.

»Bitte wollen Sie aussteigen und mir folgen, Mister Schulze.«

»Woher kennen Sie mich?«

»Es ist mir gesagt worden, wie ich Sie anzureden habe.«

»Wohin soll ich Ihnen folgen?«

»Missis Atalanta wünscht Sie zu sprechen, erwartet Sie schon.«

»Und meine Begleiter?«

»Für diese Gentlemen wird von anderer Seite gesorgt.«

»Gesorgt?«

»Sie müssen doch bewirtet werden.«

Nun war August beruhigt, ohne Zögern folgte er dem vorausgehenden Japaner.

Er hatte nur einen kurzen Gang zu machen, so öffnete sich vor ihm eine Tür, in dem einfach und doch so geschmackvoll eingerichteten Zimmer stand eine Dame in einem weiten, dunklen Kleide, fast nonnenartig eingehüllt.

August hatte sie ja noch nicht gesehen, kein Bild von ihr. Und hätte er es, so würde er sie kaum wiedererkannt haben.

Die ganze Figur war voller geworden. Und nun vor allen Dingen das Gesicht! Da war nichts mehr von indianischer Starrheit darin zu sehen, jetzt strahlte es von einem heiteren Lächeln, etwas Mütterliches lag darin, und das schien der ständige Ausdruck dieses schönen Gesichtes zu sein.

»Mister August Schulze, der Bevollmächtigte und Bräutigam der Erbin von Moorfield?«

»Bin ich.«

»Atalanta von Felsmark. Von mir haben Sie schon gehört.«

»Habe ich.«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

Er setzte sich wie sie. Von Augusts Schüchternheit den Damen gegenüber war nichts mehr zu bemerken, die schien er mit seiner Verlobung gänzlich aufgegeben zu haben.

»Für Ihre Begleiter ist gesorgt. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«

»Danke sehr, ich habe wirklich kein Bedürfnis.«

»Trotzdem sind Sie mein geheiligtster Gastfreund, so lange Sie hier weilen. So kommen wir gleich zur Sache, zum Geschäft. Sie wissen doch, dass ich die Besitzerin des Sklavensees bin, und dazu gehört auch das Ufer vier englische Meilen vom Strande entfernt.«

»Sie waren die Besitzerin, dieses Terrain und der ganze See gehört nicht mehr Ihnen.«

»Sie wissen doch, dass ich diesen Besitz noch beanspruche, den damaligen Rechtspruch nicht gelten lasse.«

»Da sind Sie eben im Unrecht. Dieses Gebiet ist damals der Regierung der Vereinigten Staaten verfallen, Miss Marwood Morgan hat es gekauft, diese hat es weiter an Professor Jakob Moor verkauft, bis auf das südliche Ufer, welches der deutschen Kolonie Atalantatown gehört, Professor Moor ist gestorben, seine Erbin ist Miss Johanna Baumer, ich bin ihr Generalbevollmächtigter und hoffe ihr Mann zu werden. Ist Ihnen dies alles bekannt?«

»Das wohl, aber ich erkenne diesen Besitzwechsel nicht an, der ganze Sklavensee mit seiner Umgebung ist bis auf das südliche Ufer, das ich notariell verschenkte, noch immer mein Eigentum.«

»Frau Gräfin, auf diese Weise kommen wir nicht weiter.«

»Nun gut«, lächelte sie heiter wie zuvor, so probieren wir es auf eine andere Weise. Sie wollen am nördlichen Ufer des Sees eine Wollwäscherei errichten.«

»Ja. Das war und ist die Absicht der General-Direktion, Jakob Moor hat sich um so etwas gekümmert, ich als Bevollmächtigter der Erbin heiße diesen Plan jetzt gut.«

»Sie wollen dazu durch das Creek-Gebirge einen Tunnel bohren.«

»Dieser Tunnel ist bereits vorhanden, die Natur selbst hat ihn geschaffen, uns ließ ein Zufall nur die dünnsten Wände finden, die nun bereits durchbrochen sind.«

»Sie haben auf der südlichen Seite auch die Felsenkammern gefunden?«

»Ja.«

»Sie werden dieselben benutzen?«

»Jawohl. Sie ersparen uns fast alle weiteren Baulichkeiten.«

»Etwas mehr als die Hälfte dieses Tunnels liegt noch innerhalb jener vier englischen Meilen, vom Ufer des Sees an gerechnet.«

»Das weiß ich.«

»Hier ist ein Situationsplan, bitte überzeugen Sie sich —«

»Es ist nicht nötig, ich selbst besitze so einen Situationsplan, habe ihn genau studiert, noch extra mit der Messkette bereits nachmessen lassen.«

»So verbiete ich Ihnen, diesen Tunnel, so weit er mir gehört, zu benutzen.«

Mit diesem Befehl, der doch sogar etwas Drohendes an sich hatte, wollte gar nicht übereinstimmen, dass sie dabei noch immer so heiter lächelte.

August aber machte jetzt ein etwas anderes Gesicht.

»Das können Sie mir nicht verbieten, Madam.«

»Doch, ich verbiete es Ihnen.«

»Nun gut, verbieten können Sie es wohl — aber ich gehorche Ihnen nicht, brauche es nicht.«

»Ich bin noch rechtmäßige Besitzerin des Sklavensees und seiner Umgebung.«

»Das sind Sie nicht!«

»Doch. Über menschliche Rechtsprechung steht noch etwas anderes: die göttliche. Sie spricht durch das Gewissen in des Menschen Brust. Und mein Gewissen sagt mir, dass ich unschuldig verurteilt bin, dass die irdischen Richter lein Recht hatten, mir mein Eigentum, das ich von meinen Vätern geerbt, zu nehmen und einfach anderen zu geben — und nach diesem meinem Gewissen muss ich unbedingt handeln — ich verbiete Ihnen hiermit, auf meinem Besitztum nach Ihrem Belieben zu wirtschaften!«

Diesmal hatte das heitere Lächeln einer hehren Feierlichkeit Platz gemacht.

August kaute an seinem unsichtbaren Bärtchen.

»Ja, Madam, auch auf diese Weise kommen wir nicht weiter — erst recht nicht. Nein, diesem Befehle werde ich niemals gehorchen.«

»Weshalb nicht?«

»Aus Prinzip nicht.«

»Ach, dass ich Sie darum bitten dürfte, zu Füßen niedersinken, Ihre Knie umklammern und darum anflehen dürfte!!«, erklang es da in bedauerndem, fast schmerzlichem Tone.

Aufmerksam hob August den Kopf.

Ahnte dieser Mann schon etwas?

Denn gerade dieser ehemalige Schlosser, der in unausgesetztem Streben und dabei in stiller Bescheidenheit etwas aus sich gemacht hatte, der alle Anlagen dazu hatte, einst noch die Höhen der Menschheit zu erklimmen, saß hier gerade auf dem richtigen Platze!

»Weshalb dürfen Sie mich nicht bitten?«

»Weil — ich nicht darf.«

»Wer verbietet Ihnen das?«

»Ich mir selbst.«

»Madam, Sie sind doch sehr reich.«

»Ja — was man so reich nennt.«

»So kaufen Sie mir doch das alles wieder ab.«

»Das darf ich erst recht nicht. Wie kann ich etwas abkaufen, was mir meiner Überzeugung nach schon rechtmäßig gehört? Würde ich mich da nicht selbst betrügen? Eine Tat begehen, die ich nicht verantworten kann?«

»Hm. Wie man es nimmt.«

»Und wenn mir dieser Tunnel und die Felsenkammern und das ganze Gebiet auch nicht gehörten, so dürfte ich es Ihnen doch nicht abkaufen, um Sie vor —«

Erschrocken brach sie ab, schlug sich sogar auf den Mund, was höchst possierlich aussah.

»O, jetzt hätte ich mich bald verplappert!«

August aber blickte sie nur noch aufmerksamer an.

»Sind Sie vielleicht hellsehend, Madam?«

Das sonst so starre, bronzene Gesicht konnte einen ganz erstaunten Ausdruck annehmen.

»Wie kommen Sie auf diese Frage?!«

»Sollten Sie darüber wirklich so erstaunt sein?«

»In der Tat — über diese Frage selbst eigentlich nicht«, wurde sie jetzt etwas verlegen, wovon diese Indianerin früher ebenfalls nichts gewusst hatte, »aber habe ich denn schon so viel angedeutet, dass Sie gleich —«

»Bitte, antworten Sie mir: Sind Sie hellsehend, können Sie in die Zukunft schauen?«

»Nein«, erklang es jetzt kurz.

»Sie müssen doch immer die Wahrheit sprechen.«

»Ich muss —?«, wurde wiederum gestutzt.

»Sie dürfen nicht lügen.«

»Wer soll mir das verbieten? Nun ja natürlich, kein Mensch darf lügen —«

»Nein, Ihnen ist von Ihren Lehrern noch speziell befohlen worden, immer bei der absoluten Wahrheit zu bleiben, selbst wenn Sie Ihr eigenes Leben und sogar das Ihres Gatten, Ihres Kindes in Gefahr bringen. Und wenn Sie im Walde von Räubern überfallen werden, Sie und Ihr Mann, Ihrem Manne gelingt es zu entfliehen, er flieht nach rechts, und die Räuber fragen Sie, nach welcher Richtung er geflohen ist, so müssen Sie entweder schweigen oder die Wahrheit sagen, wenn Sie dadurch auch Ihren Mann verraten, sein Leben opfern. Ist es nicht so? Ist Ihnen Derartiges nicht befohlen worden?«

Die Indianerin machte eine Bewegung, als wolle sie vor Staunen vom Stuhle aufspringen, wenn sie auch sitzen blieb.

»Mann, wer sind Sie —«

»August Schulze aus Berlin«, lächelte der kleine Mann mit den fast nichtssagenden Zügen. »Aber ich will Ihnen auch eine Erklärung geben. Ich bin einmal in Berlin in einer theosophischen Versammlung gewesen, habe auch ein Buch bekommen, da habe ich so etwas gehört und gelesen. Und dass nun hier solches sogenanntes okkultistisches Zeug getrieben wird, sogenannte Geheimwissenschaft, das kann ich mir doch ganz leicht zusammenreimen.«

Schnell hatte sie sich wieder gefasst, war ernst und dennoch von ruhiger Heiterkeit.

»Sie sagen es.«

»Sie sind hellsehend?«

»Nein.«

»Aber andere hier sind hellsehend.«

»Ich schweige.«

»Das ist eine Bestätigung.«

»Braucht nicht der Fall zu sein. Nun gut, das kann ich sagen: ja.«

»Uns droht in diesem Tunnel eine große Gefahr?«

Jetzt schwieg sie wirklich.

»Das ist sehr hübsch, dieses Rezept, danach kann man sich sehr gut richten. Was für eine Gefahr?«

»Ich spreche nicht mehr.«

»Aber eine Belehrung werden Sie mir doch zuteil werden lassen.«

»Das kommt darauf an.«

»Ich will ein Gleichnis anführen. Gesetzt den Fall, so ein Mahatma oder Adept — oder wie die Kerls heißen, die in die Zukunft gucken können — weiß, dass ein Bergwerk in der nächsten Zeit zusammenbrechen wird, Hunderte von Bergleuten werden dabei ihren Tod finden. Das liest der Hellseher im Buche der Zukunft.

Nun weiß er auch, dass da gar keine Prophezeiung und keine Warnung hilft, sie würden ihn nur auslachen — das weiß er, weil er eben ein Hellseher ist.

Nun hat der Kerl aber viel Geld, und um das Unheil abzuwenden, was doch seine Pflicht ist, wenn er nur irgendwie ein Herz im Leibe hat, muss er das ganze Bergwerk kaufen. — Es ist eine etwas kostspielige Geschichte, dass ich gerade ein Bergwerk gewählt habe; ein Haus, das demnächst einstürzen wird, seine Bewohner unter sich vergrabend, wäre einfacher gewesen. Bleiben wir nun aber bei dem Bergwerk.

Und nun frage ich: Darf dieser Mann das verkäufliche Bergwerk kaufen, die Arbeiter schnell entlassen, um Hunderten von Menschen das Leben zu retten?«

»Nein, das darf er nicht«, entgegnete die Indianerin sofort.

»Weshalb nicht?«

»Das — würden Sie gar nicht verstehen. Verzeihen Sie, aber es ist so.«

»Weil er sich in den Gang des Schicksals nicht einmischen darf.«

»Weshalb fragen Sie erst, wenn Sie es selbst wissen? Ja, so ist es, wenigstens ein Teil des Grundes.«

»Ja, Madam, was nützt mir dann die ganze Hellseherei, wenn ich sie nicht benutzen darf?«

»Diese Frage zeigt, dass Sie eben doch nicht richtig wissen, worum es sich dabei handelt. Wir sprechen also nicht von Menschen, die von Geburt die Gabe des Hellsehens erhalten haben, was meist oder wohl stets krankhafte Veranlagung ist, die Betreffenden sind immer auch körperlich krank — sondern von Menschen, welche sich mit voller Absicht schneller auf eine höhere Stufe bringen wollen. Für diese ist das Hellsehen und In-die-Zukunft-schauen nur ein Durchgangsstadium, eine Begleiterscheinung ihrer Höherentwicklung. Und hiervon dürfen sie keinen Gebrauch machen, weder zum Nutzen für sich noch für andere. Wenn sie es tun, so verlieren sie sofort auch alles andere wieder, was sie sonst noch erreicht haben.«

»Nun gut. Mir ist dies alles gar nicht so fremd. Also ich kann nicht erfahren, was uns in jenem Tunnel und in den Felsenkammern für eine Gefahr droht?«

Die Indianerin nahm wie einen innerlichen Anlauf.

»O ja, ich will es Ihnen sagen. Ich darf es nicht, ich lade eine Schuld auf mich, aber ich bin bereit, diese Schuld abzubüßen. Heute über zwei Jahre ist dieses ganze Gebirge durch ein Erdbeben in einen Trümmerhaufen verwandelt!«

Mit erhobener Stimme hatte es die Indianerin gesagt. Es machte auf den kleinen Deutschen sehr wenig Eindruck, gar keinen.

»Können Sie mir eine Garantie geben, dass dies auch wirklich geschehen wird?«

»Nein, das kann ich nicht. Wie soll ich Ihnen eine Garantie dafür geben?«

»Doch, Sie können es.«

»Wie denn?«

»Das hat Ihnen ein Hellseher und Prophet verkündet?«

»Ja.«

»Befindet sich der noch hier?«

»Ja.«

»So soll mir dieser Prophet erst einen anderen Beweis erbringen, dass er wirklich in die Zukunft schauen kann. Er soll mir irgend etwas prophezeien, was morgen eintreffen wird, wovon noch kein Mensch etwas ahnen kann.«

»Das darf er nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Ein Prophet, wie Sie ihn nennen, darf jedem nur ein einziges Mal etwas aus seinem Leben prophezeien.«

»Nun gut, so soll er es eben nur dieses einzige Mal tun, mir etwas prophezeien.«

»Er hat es doch schon getan.«

»Was denn?«

»Soeben durch meinen Mund: Heute über zwei Jahre wird dieser ganze Teil des Felsengebirges in Trümmern liegen, auch jener Tunnel, und wer sich darin befunden hat oder in den Felsenkammern, wird unrettbar begraben sein.«

August schlenkerte mit den Fingern.

»Ach so — richtig — da hatte ich ja schon meine einmalige Prophezeiung weg!«

»Und außerdem, es steht ja schon in der Bibel, Christus selbst hat es gesagt, als er ein Wunder tun sollte, dass man an ihn glauben könne: Und wenn die Toten wiederkämen, man würde ihnen nicht glauben!«

»Ja, sehr richtig. Ich verstehe schon, was Sie meinen. Es ist immer die alte Geschichte.«

»Also Sie geben auf diese Warnung nichts?«

»Nein. Ich würde mich vor mir selbst genieren. Ich nehme den Kampf mit dem Schicksal auf. In zwei Jahren tritt das erst ein? O, da haben wir noch genügend Zeit. Bis dahin lässt sich noch eine ganz hübsche Wollwäscherei einrichten, und ist sie in flottem Gange, glaube ich dann doch vielleicht an Ihre Prophezeiung, so verkaufe ich sie noch rechtzeitig und mache ein feines Geschäft dabei. Dann mag der andere sehen, wie der mit der Prophezeiung und dem Erdbeben fertig wird.«

So ernst dies alles auch war, brach die Indianerin plötzlich in ein herzliches Gelächter aus.

»Und Sie wollen ein sentimentaler Deutscher sein?!«

Nein, August brauchte von keinem smarten Yankee etwas zu lernen.

Schnell wurde Atalanta wieder ernst.

»Dann bleibt es eben dabei: Ich verbiete Ihnen, auf meinem Besitztume zu wirtschaften.«

»Ich erkenne Ihr vermeintliches Recht nicht an, gehorche Ihnen also nicht.«

»So muss ich Sie eben mit Gewalt daran hindern.«

»Wie das?«

»Das werden Sie erfahren.«

»Und ich werde mich wehren. So ist also die Kriegsaxt zwischen uns ausgegraben.«

»Ja, der Kampf zwischen uns ist eröffnet.«

Aber beide hatten es ganz gemütlich gesagt.

Die Tür wurde etwas geöffnet, man hörte ein kleines Kind leise weinen, eine Frauenstimme fragte etwas in einer fremden Sprache.

»Aber gewiss doch!«, sagte die Indianerin aufstehend und gleich die Hände ausstreckend.

Eine junge Japanerin kam herein, ein kleines Kind im Hemdchen auf dem Arme, Atalanta nahm es ihr ab, setzte sich wieder, knöpfte ungeniert das Kleid auf und gab dem Kinde die volle Brust.

Es war eigentümlich, dass auch der schüchterne August dabei gar nichts fand. Oder es war auch gar nicht eigentümlich.

»Ist das Ihr Kind?«, fragte er.

»Mein Kind«, lautete die glückstrahlende Antwort.

»Wie alt ist es denn?«

»Erst sechs Tage. Vorigen Sonntag wurde es geboren.«

»Ach ja!«

Mit tiefstem Interesse betrachtete er den Wurm im Hemdchen. Es hatte eine nur wenig bräunliche Haut, schwarze Haare und blaue Augen.

»Ein Mädchen?«

»Ein Junge! Sehen Sie denn das nicht?«

»Nee. Wie heißt er denn?«

»Alfred — wie der Vater meines Mannes.«

»So. Und Sie sind doch eine echte Indianerin, nicht wahr?«

»Ja, eine Vollblutindianerin.«

»Dann — dann — ist das also ein Mulatte, nicht wahr?«

Plötzlich fing die indianische Gräfin aus vollem Halse zu lachen an.

»Na, ein Mestize, wollen wir sagen! Ja, das ist er.«

»Ach so, ein Mestize, kein Mulatte. Na, das ist dem ja ganz egal, was er ist. Hören Sie, so müssen Sie öfters lachen, wenn Sie ihm die Brust geben. Dann wird das mal ein lust'ger Bruder.«

»Meinen Sie, dass sich so etwas durch die Milch überträgt?«

»Na, das ist doch ganz sicher. Aber ich weiß schon, woran Sie denken. Ich bin manchmal ooch 'n bisschen hellsehend. An so etwas glaubt man, hält es für selbstverständlich, obgleich man so gut wie gar nichts davon weiß. — Ja, Frau Gräfin, da hätte ich doch noch eine andere Frage. Nur das mit dem Tunnel ist für mich erledigt. Ausgerissen wird nicht, so lange nicht, solange nicht alles zusammenbricht.«

»Bitte, fragen Sie.«

»Ich weiß schon, dass es ganz richtige Schulen gibt, in denen das Hellsehen und dergleichen gelehrt wird. Früher hatte man so etwas nur in Indien, dann kam England und Amerika daran, und jetzt fängt man auch schon in Deutschland damit an.«

»Ja, es ist eine okkultistische Bewegung in der Welt.«

»Kann denn dieses Hellsehen und In-die-Zukunft-gucken jeder Mensch lernen?«

»Jeder. Sobald er will.«

,,Nu, das möchte ich eigentlich auch lernen, das muss ganz hübsch sein.«

,,Aber Sie wissen doch, dass Sie selbst absolut keinen Vorteil davon haben, auch anderen dadurch nicht helfen können.«

»Nu, bloß so'n bisschen zum Privatvergnügen. Kann man das hier lernen?«

,,Jawohl, kommen Sie zu uns, werden Sie ein Schüler.«

,,Wie lange dauert der Unterricht?«

»Ganz verschieden. Bis Sie hellsehen und in die Zukunft blicken können? In einem Jahre, vielleicht erst in fünfzig Jahren. Vielleicht auch lernen Sie es nie.«

»Da muss ich immer hier bleiben?«

,,Je nachdem. Vielleicht auch brauchen Sie nur eine einzige Unterrichtsstunde.«

»Dann kann ich wieder nach Hause gehen?«

»Jawohl.«

,,Kann meinen Berufsgeschäften nachgehen?«

»Die dürfen Sie überhaupt dabei nicht versäumen.«

»Was ist denn nun so die Hauptsache bei dem Unterricht, um hellsehend zu werden?«

»Vor allen Dingen viel Nachtwachen, also Schlaflosigkeit, und langes Fasten.«

»Fasten?«

»Viel hungern.«

»Viel Nachtwachen und viel Hungern — na, das ist ja ein billiges Vergnügen. Aber, hören Sie, mancher Mensch unter uns hungert gar sehr und wird dadurch nicht hellsehend und ein Prophet, und mancher Zechbruder bringt's auch weit im Nachtwachen, und er wird dadurch nur immer dösiger.«

»Ich hoffe doch, Sie machen nur Spaß.«

»Ja, so war das nicht gemeint. Ich glaube schon, dass man durch vieles Nachtwachen und langes Hungern besondere Seelenkräfte entwickelt. Ich bin deshalb oftmals von meinen Kameraden verlacht worden, wenn wir auf so etwas zu sprechen kamen, aber — ich glaub's. Ich habe nämlich auch schon manchmal so etwas erlebt, wenn ich einmal recht lange — doch davon will ich hier nicht sprechen. Aber wozu braucht man da einen Lehrer, um sich des Schlafes und der Nahrung zu enthalten?«

»Den braucht man unbedingt, einen Guru, wie er in Indien heißt. Diese Schlafentbehrung und das lange Hungern muss unter ganz fachgemäßer Leitung, unter strengster Kontrolle vorgenommen werden, sonst wäre die Folge nur vollständige Nervenzerrüttung — bis zum Wahnsinn. Der Schüler muss Schritt für Schritt weitergeleitet werden.«

»Ah so! Nun, so etwas habe ich auch schon gehört. Und was kostet das?«

»Gar nichts.«

»Der Unterricht ist ganz umsonst?«

»Vollständig.«

»Na, wenn das so billig ist, dann möchte ich es einmal probieren.«

»Das können Sie. Wollen Sie sofort anfangen?«

»Nun, einmal eine kleine Lektion.«

»Die kann auch ich Ihnen erteilen. Obgleich ich nicht etwa Unterricht genommen habe und auch nicht nehmen werde. Aber was der Guru Ihnen zuerst sagt, das kann auch ich Ihnen sagen.«

»Nun?«

»Es steht alles schon in der Bibel.«

»Ich bin nicht so bibelfest.«

»Die erste Vorbedingung ist: Halte die zehn Gebote.«

»Das habe ich getan von Jugend auf — so weit ein Mensch kann.«

»Das zweite ist: Verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen.«

»Da ging der Jüngling betrübt von dannen, denn er hatte viele Güter«, sagte August, aufstehend und nach seiner Mütze greifend. »Leben Sie recht herzlich wohl, Frau Gräfin. Nein, da glaube ich, dass Sie da nicht viele Schüler bekommen werden. Mich auch nicht. Und Ihren Jungen lassen Sie auch nicht hellsehend werden, der hat schon helle Augen genug. Adje, Frau Gräfin.«

Der Stern des Ostens

San Francisco hatte wieder einmal seine Sensation.

In seinem Hafen lag der größte Riesendampfer der Erde, dessen Bau in Liverpool schon lange Zeit die Welt beschäftigt hatte.

Natürlich glaubte man unbedingt, er gehöre wieder der Cunard-Linie, die ja schon die beiden größten Schnelldampfer nach New York fahren lässt: die »Lusitania« und die »Mauretania«.

Die letztere hat zweiunddreißigtausend Tonnen, ist zweihundertvierzig Meter lang und siebenundzwanzig Meter breit, hat bei fünf Oberdecks zehn Meter Tiefgang. Es ist ein Turbinendampfer — keine Kurbelzylindermaschine, sondern der Dampf setzt direkt die Schraubenwellen in Bewegung — von siebzigtausend Pferdekräften, welche in der Stunde fünfundzwanzig Knoten Schnelligkeit geben. Zur Besatzung gehören vorschriftsmäßig siebenhundert Mann, nämlich vierhundert Matrosen und dreihundert Heizer und Maschinisten, wozu noch zirka fünfhundert Mann zur Bedienung der sechstausend Passagiere gehören, die mitgenommen werden können. Also im Ganzen zwölfhundert Mann Besatzung. Da kann man wohl von einer schwimmenden Stadt sprechen.

Das neue Schiff übertraf die »Mauretania« noch um tausend Tonnen. Und wegen seiner Bestimmung hatte man falsch geurteilt. Es blieb gar nicht in England, wurde nur von einer englischen Besatzung sofort nach Bombay überführt und — kam in Privatbesitz!

Ein Schiff von dreiunddreißigtausend Tonnen als Privatjacht!

Von solch einer waghalsigen Idee hat auch noch kein amerikanischer Krösus geträumt!

Wer kann sich so etwas leisten?

Der Maharadscha von Nepal konnte es sich leisten.

Er war einer jener indischen Fürsten, welche England scheinbar in aller ihrer Macht gelassen hat. Scheinbar! In Wirklichkeit sind es eben Vasallen. Aber man muss mit ihnen schön tun. Sie stellen vor allen Dingen die eingeborenen Regimenter, und was will denn England machen, wenn sich diese indischen Fürsten einmal einig sind und ihre Soldaten gegen die fremden Eroberer loslassen. Dann hat England in Indien ein für alle Mal verspielt.

Diese indischen Fürsten beziehen von England für die Aufgabe gewisser Monopolrechte enorme Apanagen. Der von der Provinz Nepal, schon im Himalajagebirge gelegen, zum Bespiel bezog jährlich eine Million Pfund Sterling. Außerdem gehörte er zu jenen Maharadschas, welche gar nicht wissen, wie reich sie sind. Auf der Bank haben sie allerdings selten verzinsbar angelegtes Geld. Aber diese Schätze, die sich bei denen im Laufe von Jahrtausenden angehäuft haben! Und die Zeiten sind eben vorbei, da man jemandem so etwas ohne Weiteres wegnehmen kann.

Die Provinz Nepal liegt also schon im Himalajagebirge. Während ganz Vorderindien jetzt mohammedanisch ist, ist hier alles noch buddhistisch. Hier haben die Anhänger Buddhas ihre größten Heiligtümer, welche zahllose Pilger anziehen, die alle ihren Tribut zurücklassen müssen, wenn nicht ganze Vermögen, wenn nicht an Geld, dann an ungemünztem Gold und Edelsteinen, hier blühen noch die Mysterien der Priesterkaste, hier werden die Fakire ausgebildet.

Umso erstaunter war man, als man hörte, dass Maharadscha Bitur Rupigandsch endgültig auf alle seine Herrscherrechte verzichtet, sein ganzes Fürstentum en bloc an England verkauft hatte, gegen eine Abfindungssumme von zehn Millionen Pfund Sterling, eine lächerlich geringe Summe.

Freilich würde auch mit dem schon steinalten Fürsten das jetzige Herrscherhaus aussterben. Er hatte keine Kinder, obgleich er an die fünfhundert Frauen sein eigen nannte.

Und mit diesen fünfhundert Frauen und was er sonst brauchte, mit seinem ganzen Hofstaate von zweitausend Köpfen zog er sich auf dieses Schiff zurück, das er sich hatte bauen lassen und das er »Stern des Ostens« taufte.

Die englische Besatzung wurde natürlich entlassen. Auf dem rein buddhistischen Schiffe konnten als Matrosen nur Japaner in Frage kommen, die doch ebenfalls Buddhisten sind. Unter den Offizieren waren allerdings auch einige oder sogar ziemlich viele Engländer. Die waren jedenfalls keine Christen mehr, wenigstens im Herzen nicht. Es ist erstaunlich, wie viele gerade unter den englischen Offizieren, die in Indien gedient haben, zum Buddhismus abschwenken. Als Heizer gab es indische und chinesische Kulis genug.

Der »Oststern«, wie das Schiff einfach genannt wurde, dampfte durch den Stillen Ozean nach San Francisco und ergänzte seine verbrauchten Kohlen. Wir wollen nicht wieder mit Zahlen anfangen, was dieser Koloss durch seine Schornsteine jagte.

Das war die Sensation von San Francisco, der größte Dampfer der Welt in ihrem Hafen! Eine schwimmende Stadt mit fünfunddreißighundert Einwohnern, buddhistisch, beherrscht von einem indischen Maharadscha, der seinen Harem von fünfhundert Frauen mit an Bord hatte und damit gar nichts anzufangen wusste. Außerdem sollten noch ebenso viele Bajaderen darauf sein. Die anderen waren Priester, Diener und Dienerinnen und eine Leibgarde von riesenhaften Sikhs. Und dann eben die mehr als zwölfhundert Mann Besatzung.

Man bekam nicht so viel zu sehen, wie man gehofft hatte. Bei der Kohlenübernahme sah man die schwarzen, braunen und gelben Burschen wie die Ameisen arbeiten, sonst keinen anderen Menschen, am wenigsten ein Weib, alle Türen und Luken waren dicht geschlossen.

Auch die Lieferanten der Stadt waren enttäuscht. Kein Täubchen und kein Brötchen kam von Land an Bord. Und dann legte sich das Riesenschiff in die Mitte des Hafens, man konnte es nur noch aus der Ferne anstaunen.

Es war gegen Mitternacht, als eine Dampfbarkasse an der äußersten Landungstreppe des Hafens beilegte.

Einige leise Rufe in hindustanischer Sprache wurden gewechselt, aus der vollständigen Finsternis der mondlosen Nacht tauchten im Scheine der Hecklaterne ein Dutzend vermummter Gestalten auf, nahmen in der Barkasse Platz, sie steuerte zurück.

Der »Oststern« war ihr Ziel. Die Vermummten erstiegen das haushohe Fallreep, indische Stewards oder Diener nahmen sie in Empfang und führten sie in verschiedene Richtungen davon.

Zwei der Vermummten, die leise ihren Namen oder Stichwörter genannt, hatten sich besonders zusammengehalten, tief unten im Schiff, aber immer noch über der Wasserlinie, wurde ihnen eine ganze Reihe von glänzend eingerichteten Kabinen als ihr Heim angewiesen.

Die beiden schälten sich aus ihren indischen Kostümen. Aus dem einen kam ein baumlanger, knochendürrer Mann zum Vorschein, aus dem anderen ein kurzer, dicker menschlicher Stöpsel mit finsterem, mürrischem Schauspielergesicht.

»So, mein lieber Kapitän Hagen«, sagte dieser letztere, »hier sind wir in unserem Grabe. Unserem edlen Grafen ist das Lebendigbegrabensein ja nichts Neues mehr, und auch wir werden uns daran gewöhnen. Ich heiße Sie als meinen Grabnachbar mit herzlicher Hochachtung und hochachtungsvoller Herzlichkeit willkommen. Wir werden uns schon vertragen. Das kommt nur auf Sie an. Dass Sie, wenn Sie drüben in Ihrem Sarge liegen, nicht mit Ihren langen Seestiefeln durch die Tür mir in den Bauch treten, und wenn Sie Ihren schrecklichen Tabak rauchen, vergessen Sie nicht, die Scheidewand zu schließen!«

»Sind Sie nun endlich fertig, Littlelu?«

»Mit der Begrüßungsrede bin ich fertig.«

»Die nächste Rede werde ich hoffentlich von der Gräfin zu hören bekommen.«

»Nein, die werde ebenfalls ich Ihnen halten.«

»Ach hören Sie auf!«, knurrte Hagen, der in schlechter Stimmung war, verdrießlich.

»Hat die Gräfin Ihnen nicht gesagt, dass Sie, sobald Sie dieses Schiff betreten, erfahren sollen, wohin wir verschwinden werden?«

»Jawohl, das hat sie gesagt.«

»Nun, ich bin beauftragt, Ihnen dies zu offenbaren.«

»Sie?!«, stutzte Hagen. »Ich denke, auch Sie wissen noch gar nichts davon, auch Sie sollen das erst an Bord dieses Schiffes erfahren.«

»Verzeihen Sie der Gräfin und auch mir, wenn wir Sie da in einem Irrtum gelassen haben. Nein, auch ich war schon immer in den ganzen Plan eingeweiht, obgleich ich mich nicht etwa rühmen darf, von unserer edlen Gräfin größeren Vertrauens als Sie gewürdigt zu werden — durchaus nicht — aber die Gräfin wird wohl jetzt schwerlich für uns viel Zeit haben, und so hat sie mir schon auf der Eisenbahn gleich alles mitgeteilt — Sie hätten dabei sein sollen, aber Sie waren ja nicht aus dem Speisewagen von den bayrischen Bierbutteln wegzulocken — und soll ich Ihnen es jetzt mitteilen, auf dass die Gräfin Wort hält, dass Sie sofort beim Betreten dieses Schiffes alles erfahren, denn gleich wie der König Nebukadnezar — —«

»Na, da schießen Sie endlich los, Sie unverbesserlicher Schwätzer!«

»Gut, ich schieße! Also Sie wissen doch, dass es der Gräfin Wunsch von jeher war, spurlos aus dieser jämmerlichen Welt zu verschwinden und dabei dennoch am Leben zu bleiben, und dass dieser Wunsch jetzt, da sie ihren Gatten wieder hat, und die erste Auflage eines Nachfolgers dazu, in noch stärkerem Maße in ihr aufgetreten ist!«

»Das weiß ich alles, alles!!«, wurde Hagen wieder ungeduldig.

»Na, wenn Sie alles, alles wissen, dann kann ich ja schweigen.«

»Fahren Sie fort.«

»In den Felsenbehausungen am Sklavensee können wir sowieso nicht bleiben, weil die ja doch demnächst unter einem Erdbeben zusammenbrechen werden —«

»Ja, wenn die Hellseher recht behalten. Denn wenn auch schon manches eingetroffen ist, was sie prophezeit — an ihrer Hellseherei ist doch manches sehr windig —«

»Wollen Sie sprechen und einen Vortrag über Hellseherei halten oder soll ich sprechen?«

»Sprechen Sie.«

»Nun hatte der Maharadscha von Nepal denselben Wunsch: sich ganz von der Welt zurückzuziehen, sogar daraus zu verschwinden, und dennoch am Leben zu bleiben. Wer dieser Maharadscha ist, wie er zu diesem Schiffe gekommen, wissen Sie.«

»Das weiß ich.«

»Und die beiden haben sich nun vereinigt zu ihrem Plane. Im Bunde gestanden haben sie ja schon immer. Wenn nicht unsere Gräfin, so doch Sirbhanga Brahma. Bei uns ist ja überhaupt alles indisch. Jedenfalls ist dieser Maharadscha, der schon immer der Hüter der buddhistischen Geheimnisse gewesen ist, auch einer der Häupter jener geheimen Gesellschaft. Doch das sind nur Vermutungen, davon wissen wir nichts, es geht uns auch gar nichts an.

Wie stellen Sie sich nun vor, Herr Kapitän Hagen, wie dieser Maharadscha aus der Welt verschwinden will?«

»Nun, er will eben ganz auf diesem Schiffe leben, das Land niemals wieder betreten.«

»Nennen Sie denn das ein spurloses Verschwinden aus der Welt?«

»Ich glaube fast, diese Kohleneinnahme hier war nur ein Schein, die haben die Kohlen gar nicht nötig, wollen aber nicht verraten, dass sie noch andere Mittel haben, um das Schiff zu treiben, dass sie noch eine andere Kraftquelle haben.«

»Sehr leicht möglich, sogar ganz sicher. Aber nochmals: Nennen Sie das ein spurloses Verschwinden aus der Welt, wenn jedes Kriegsschiff, sogar jedes lumpige türkische, diesen Kasten anhalten und nach Papieren und Ladung fragen, es bis zum Kielraum durchsuchen kann?«

»Die wollen doch nicht etwa das ganze Schiff unsichtbar machen?«

»Fertig brächten die es, das halte ich schon für möglich. Aber nein, das genügte noch nicht, da könnten sie immer noch mit einem anderen Schiffe zusammenstoßen und sich dadurch sehr bemerkbar machen. Herr Kapitän, gibt es noch unentdeckte Inseln?«

»Nein, die gibt es heutzutage nicht mehr.«

»Wirklich nicht?«

»Na ja, wenn man den Stillen Ozean betrachtet, da wimmelt es ja von Inselgruppen, die sich auch nicht auf der größten Seekarte in die einzelnen Inselchen auflösen lassen, so wenig wie die Milchstraße durch das größte Teleskop in einzelne Sterne. Diese Inseln sind ja allerdings noch gar nicht ausgemessen, noch gar nicht gezählt, man wird sie wohl auch niemals zählen können, eben weil sie einfach zahllos sind, und so mag es ungezählte Tausende solcher Inselchen geben, die noch keines Europäers, auch noch keines Eingeborenen Fuß betreten hat. Auf solch einer Koralleninsel kann noch heute ein Robinson sein ganzes Leben lang unentdeckt bleiben, aber eine unbekannte Insel, die dreitausendfünfhundert Menschen oder auch nur hundert aufnehmen und ernähren kann — nein, die gibt's heute nicht mehr.«

»Dann muss solch eine Insel künstlich geschaffen werden.«

»Eine Insel künstlich schaffen? Wie wollen Sie denn das anfangen?«

»Das ist höchst einfach, wenn man es weiß und die Mittel dazu hat. Kennen Sie die Cook's Bank im polynesischen Archipel?«

»Na und ob! Dort ist ja auch der ›Mohawk‹ gescheitert.«

»Nur an den Cooks-Riffen. Was wissen Sie aber sonst von der ganzen Bank?«

»Nun, diese ganze Bank besteht aus solchen Korallenriffen, die einen Raum von vielen Quadratmeilen einnehmen. Sie ist ungefähr zwölf geografische Meilen lang und acht breit, und der Schiffer muss sich noch eine Meile weit davon entfernt halten, so gefährlich ist dort die Gegend.«

»Ist diese Cook's Bank schon erforscht worden?«

»Erforscht? Was soll man denn da erforschen? In dieses Gewirr von Riffen und Klippen und Bänken gibt es keinen Eingang, nicht einmal die Eingeborenen von den ringsherum liegenden Inselchen kennen einen und ich wüsste auch nicht, was sie zwischen diesen trostlosen Bänken, wo nicht einmal die bedürfnisloseste Kokospalme gedeiht, zu suchen hätten.«

»Diese Inder hier aber wissen eine Einfahrt, und sie werden sie benutzen und sich mit dieser schwimmenden Stadt in der Mitte dieses Korallenarchipels festlegen und dort für immer liegen bleiben.«

»Alle Wetter ja!«, staunte Kapitän Hagen. »Dort könnte man wirklich sagen, man ist spurlos aus der Welt verschwunden! Wenn das möglich wäre!«

»Wir fahren hinein, verlassen Sie sich nur darauf. So schmal das Fahrwasser auch ist und wie es auch immer im Zickzack geht — überall ist das Wasser tief genug, um dieses zehn Meter tief gehende Schiff durchzulassen.«

»Woher kennen die denn solch eine Passage?«

»Weiß ich nicht. Ob da auch wieder Hellseherei im Spiele ist — ich weiß es nicht.«

»Und dort soll das Schiff für immer liegen bleiben?«

»Für immer. Spurlos aus der Welt verschwunden. Kein anderes Schiff, kein Boot kann sich nähern. Und sollte doch noch jemand anders diese einzige Straße kennen, was aber ausgeschlossen ist, so wird einfach ein Riff gesprengt, welches die Straße noch außer Kanonenschussweite sperrt.«

»Und unser Schiff ist selbst gefangen?«

»Gefangen? Es will ja niemals wieder heraus.«

»Und wie sieht es mit der Ernährung aus?«

»Nun, Sie wissen doch selbst, wie die sich Speise erzeugen können, es schwimmt ja alles in der atmosphärischen Luft herum, was der Mensch zur Ernährung braucht.«

»Solchen Brei möchte ich aber nicht immer essen, und Sie doch auch nicht.«

»Lassen Sie nur gut sein, es ist für alles gesorgt. Ja, es ist auch noch etwas ganz anderes dabei. Könnte denn nicht in diesem kolossalen Korallengebiet auch noch eine wirkliche große Insel liegen, von der die Welt niemals etwas erfahren wird, eben weil da niemand hineindringen kann?«

»O ja, dort wäre es möglich.«

»Und so ist es. Mitten in dieser Korallenregion liegt eine meilengroße Insel von höchster Fruchtbarkeit, seit ungezählten Jahrtausenden unbewohnt, einst aber der Hauptsitz eines fast übervölkerten Kontinentes —«

»Was sagen Sie da?«

»Herr Kapitän, haben Sie einmal von Atlantis gehört?«

»Das ist der sagenhafte Erdteil, der einst zwischen Afrika und Amerika gelegen haben soll, dessen Bewohner eine noch heute ungeahnte Kultur erreicht haben sollen, mit den fabelhaftesten Erfindungen, bis er von einem furchtbaren Seebeben verschlungen wurde. Die Azoren sollen die letzten Reste dieses verschwundenen Erdteiles sein. Zuerst berichtete Plato davon, der hatte diese Sage von den alten Ägyptern, die damals aber auch schon im Aussterben begriffen waren. Ganz merkwürdig allerdings ist, dass die alten Ägypter immer behauptet haben, sie seien eine Kolonie von jenen untergegangenen Atlantiern gewesen, und die hätten auch Kolonien nach Westen geschickt, dort läge auch noch ein Erdteil, wo man damals doch von Amerika noch gar nichts ahnte. Und das Merkwürdigste nun dabei ist, dass die alten Peruaner uud Mexikaner, die jetzt auch von der Erde verschwunden sind, den alten Ägyptern so ähnlich sahen, und dann derselbe Baustil und noch vieles andere, was mit den alten Ägyptern eine ungemeine Ähnlichkeit hat.«

»Ja, ja, es wird schon etwas daran sein an dem alten Atlantis«, meinte Littlelu. »Wissen Sie aber nun, dass auch einmal im Stillen Ozean solch ein Erdteil existiert hat, der im Meere versunken sein soll?«

»Da braucht man weniger an eine Sage zu glauben«, entgegnete Kapitän Hagen, »da braucht man nur die Landkarte anzusehen. Wie alle diese Inselarchipele zusammenhängen, durchaus nicht nur durch Korallenbildung entstanden — ja, das sieht ganz genau so aus, als ob das die letzten Trümmer von einem untergegangenen Erdteile seien.«

»Dieser Erdteil hat in der Sage sogar einen Namen bekommen.«

»Weiß ich. Man spricht von einem Lemurien, die Bewohner nannte man Lemuren. Das ist freilich alles noch viel sagenhafter.«

»Nicht für diese Inder. Wissen Sie, wofür die Gräfin damals die zehn Millionen Dollars bekommen hat?!«

»Das weiß sie selbst noch nicht.«

»O ja, jetzt weiß sie es.«

»Nun?«

»Sie hat es eigentlich schon immer gewusst.«

»Und das ist?«

»Für die Tätowierung auf ihrem Rücken.«

»Was hatte die zu bedeuten?«

»Das ist ein Situationsplan, der angibt oder angab, wo auf dem Grunde des Sklavensees etwas versenkt lag.«

»Und das war?«

»Das haben wir zufällig selbst gefunden. Sie waren ja nicht selbst dabei, aber Sie haben doch alles erfahren?«

».Das Paket in Wachstuch, das eine Geheimschrift enthielt?«

»Gewiss, darum handelte es sich.«

»Diese Geheimschrift konnte nicht entziffert werden.«

»Aber jetzt ist sie wieder in die richtigen Hände gekommen. Die Geheimschrift erzählt von den Geheimnissen jener weltverschlossenen Insel, die wir jetzt aufsuchen werden, auf der wir für immer bleiben werden. So, nun wissen Sie alles, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Jedenfalls aber werden wir dort die größten Überraschungen erleben.«

Der Geier des Meeres

Schneckengleich kroch der Riesendampfer an der Westküste Amerikas entlang, ließ sich vom plumpesten Frachtschiff überholen. Diese Inder hatten ja Zeit.

Jetzt befand sich der »Oststern« ungefähr auf dem dreißigsten Grade südlicher Breite, gegenüber der chilenischen Küste, allerdings immer so weit von ihr entfernt, dass man sie nicht sah.

Weshalb das Schiff diesen großen Bogen machte, wenn es nach dem Polynesischen Archipel wollte, das erfuhren unsere beiden Freunde nicht, oder sie fragten vielmehr gar nicht danach.

Wir überspringen, was sie im Laufe von zwei Wochen alles schon auf oder vielmehr in dieser schwimmenden Stadt erlebt hatten.

Es war ein herrlicher Oktobermorgen, die See fast spiegelglatt. Während oben im Norden der Herbst begann, brach hier unten also der Frühling an.

Auf den verschiedenen Decks, soweit sie ihnen zur Verfügung standen, vollzogen die indischen Diener und Dienerinnen ungeniert ihre Morgentoilette. Auch eine Unmenge Kinder war vorhanden und es wurden immer mehr. Erst gestern hatten zwei neue Weltbürger auf internationalem Seegebiet das Licht der Welt erblickt.

Eine Etikette gab es gar nicht. Ungeniert bewegten sich die japanischen Matrosen zwischen den sich waschenden Frauen. Es waren ja Buddhisten. Aber auch die christlichen Europäer konnten sich ruhig hier aufhalten und zusehen, so viel sie wollten. Die waren eben als Gäste aufgenommen, gehörten mit dazu. Und man lebte hier eben wie im Paradiese. In aller Unschuld. Aber das ist ja überall so in den indischen und japanischen Städten. Geht man durch die Straßen von Tokio, so kann man durch die offenen Fenster das intimste Familienleben beobachten, alle Toilettengeheimnisse der Frauen studieren, und niemand stößt sich daran, denkt gar nichts Arges dabei. Die Sünde des Paradieses haben wir überkultivierten Europäer eben erst gemacht.

Nur das obere Promenadendeck, bis zum Heck gehend, war für die »Herrschaften« reserviert. Hier hielten sich jetzt die Haremsdamen und vielleicht auch die vornehmeren Bajaderen, welche ja eigentlich Priesterinnen sind, auf. Die hatten allerdings ihre Morgentoilette unter Deck gemacht. Aber auch sie badeten hier eigenhändig ihre kleineren Kinder, zogen sie an — die Frauen des Maharadschas, der ja keine Nachfolger haben sollte. Gerade die indischen Harems- und Eheverhältnisse sind eben ganz eigentümliche. Alle diese Kinder seiner Frauen hatten mit seiner Erlaubnis das Licht der Welt erblickt, er nannte sie seine eigenen, aber keines war seiner Nachfolge würdig.

Neben einem Tische, auf dem ein Kind ausnahmsweise von einer Japanerin gebadet wurde, standen die Eltern dieses kleinen Geschöpfes — Atalanta und Arno.

Doch jetzt galt deren Aufmerksamkeit den Albatrossen, die sich erst vor Kurzem eingefunden hatten, alle anderen Möwenarten, die treuen Begleiter eines jeden Schiffes, vertreibend.

Auch ein englischer Schiffsoffizier war zugegen, der von diesen Vögeln mancherlei erzählen konnte.

Der Albatros ist der größte Seevogel. Eine Flügelspannweite von vier Metern ist normal. Und trotz dieser Größe übertrifft er jede andere kleinere Möwenart an Behändigkeit. Fabelhaft ist es, wie diese Riesen auch noch gegen den stärksten Sturm schnell vorwärts kommen und wie sie anderseits spielend das Schiff umkreisen.

Sie werden mit Recht die Geier des Meeres genannt. Einmal wegen ihrer ungeheueren Gefräßigkeit, und dann wegen ihrer unglaublichen Dreistigkeit. Wenn es nicht Dummheit ist. Denn der Aasgeier lässt sich ja nur mit Knüppeln von seinem Fraße vertreiben. So auch der Albatros. Er holt einem den Bissen aus der erhobenen Hand, wobei nur seine Geschicklichkeit zu bewundern ist, beißt an jedem Angelköder, und das immer wieder, so oft man ihn auch befreit.

»Obgleich es ein ziemlich harmloser Sport ist«, sagte der englische Schiffsoffizier, »indem sich der Haken nur in den hornigen Schnabel einspießt, wollen wir es doch lieber nicht tun, die tierfreundlichen Inder sehen es nicht gern.«

Dafür fütterte er sie jetzt. Er hatte schon deswegen bestellt, ein japanischer Matrose brachte in einem Korbe kleine und große Fleisch- und Speckstücke.

Die ausgeworfenen Stücke berührten oftmals noch nicht das Wasser, so wurden sie von den Riesenvögeln schon in der Luft erhascht, und dabei waren sie oft noch weit, weit entfernt gewesen.

Die kleinen Stücke wurden sofort verschlungen, mit den großen flogen sie pfeilschnell nach Osten davon.

»Die verzehren sie erst an Land, müssen sie zerkleinern?«, fragte Arno.

»O nein, die verschlingen noch ganz andere Stücke. Aber das macht: Die Albatrosse in dieser Gegend nisten jetzt, haben Junge zu füttern. Denen tragen sie die großen Stücke zu. Kleinere würden ja den weiten Flug nicht lohnen.«

»Bis nach der chilenischen Küste?«

»Ja. Oder vielleicht auch nach Inseln, nach Klippen, die vor Sturm und Brandung geschützt sind. Wie schnell so ein Albatros fliegt, weiß man noch nicht, nur dass sie —«

Erschrocken brach der Sprecher ab.

Etwas Weißes, Kolossales war an ihm vorübergesaust, schon der Luftdruck, ein Sturm, schleuderte einen erwachsenen Menschen zurück.

Auf dem Tische hatte der kleine Alfred gelegen, nach dem Wasser-, Luft- und Sonnenbade schon wieder eingekleidet, in sein weißes Wickelbettchen gesteckt, das nach indischer Sitte zum bequemen Tragen, dass man das Kind nicht immer auf dem Arm haben muss, auf der Brust und auf dem Rücken einen Handgriff hat.

Jetzt lag das Kind nicht mehr da.

Dort schoss ein Albatros nach Osten, ein großes, weißes Bündel im Schnabel.


Illustration

»Fred, mein Kind, mein Kind!!«, schrie die Mutter schrecklich auf.

Nur sie war fähig dazu. Wer es sonst sofort oder hinterher bemerkt hatte, stand noch wie versteinert da.

Der zweite, in den Leben kam, war Arno — doch schlug er nur laut aufheulend die Fäuste vor die Augen.

Hier war auch gar nichts weiter zu machen.

Das Kind war fort.

Der Albatros strebte seinem Neste zu und fütterte dort sein einziges Junges sicherlich mit seiner Beute.

Schon war der Riesenvogel am Horizonte als ein weißes Pünktchen verschwunden.

Nur Atalanta starrte nicht dorthin, wo er verschwunden war, hielt sich auch nicht die Augen zu.

Sie stürzte davon, unter Deck. Im Korridor stand vor einer Kabinentür ein riesenhafter Sikh, ein indischer Krieger in phantastischem Kostüm, ein ungeheueres Schwert in den Händen, eine Ehrenwache für eine hohe Person.

Er wollte auch ihr, die hier sonst mit höchster Hochachtung behandelt wurde, den Eintritt in diese Kabine verwehren, aber der Riese wurde mit einem Griffe wie ein Kind zur Seite geschleudert.

In dem kleinen Salon kauerte am Boden auf einem Kissen ein alter Inder mit langem, weißem Barte, er hatte soeben die sorgfältige Behandlung seiner Fingernägel beendet.

Es war nicht der Maharadscha, nicht Sirbhanga Brahma — es war ein andrer, aber eben der, an den sich die unglückliche Mutter hier zu wenden hatte.

»Ein Albatros hat mein Kind geraubt!!«

»Ich weiß es.«

Ganz gleichgültig hatte es der Alte gesagt, aber es war nicht anders, als hätte die Indianerin einen furchtbaren Schlag erhalten, so prallte sie zurück.

»Du weißt es?!«

»Ich weiß es.«

»Du hast schon vorher gewusst, dass es so kommen würde?«

»Ja, es stand im Buche des Schicksals, in dem ich für Dich gelesen habe.«

Da brach es bei der Indianerin los.

»Fluch über Euch, die Ihr Euch durch schreckliche, unnatürliche Übungen auf die Gipfel der Menschheit erbeben wollt — jedes Raubtier hat ein besseres Herz in der Brust als Ihr —«

Plötzlich verstummte sie. Diese Flüche waren jetzt zwecklos.

»Konnte dieses Unglück nicht abgewendet werden?«

»Nein.«

»Durch nichts?«

»Nein. Immer wieder hätte derselbe Albatros Dein Kind entführt und die etwa versäumte Zeit nachgeholt. Wohl Dir, dass Du ihn nicht durch unnatürliche Mittel daran gehindert hast.«

»Wohl mir?«

»Wohl Dir.«

»So werde ich das Kind unversehrt wiederfinden?«

»Wer sagt das?«

»Du.«

»Ich habe nicht die geringste Andeutung davon gemacht. Aber hättest Du in das Schicksal eingegriffen, dann —«

Plötzlich packte die Indianerin den Alten bei der Brust, riss einen Dolch hervor und erhob ihn zum Stoße.

»Hast Du auch im Buche des Schicksals gelesen, dass ich Dir diesen Dolch ins Herz stoßen werde, wenn Du mir jetzt nicht sagst, ob ich mein Kind wiederfinden werde oder nicht?!«

Ganz gleichmütig blickte der Alte in die glühenden Augen, in denen er sein Todesurteil lesen musste.

»Das erfährst Du nicht«, erklang es ebenso ruhig zurück.

»Beim großen Geiste — bei Christus, Buddha und Mohammed — ich stoße Dir diesen Dolch ins Herz, wenn Du mir nicht sagst, ob ich mein Kind wiederfinde oder nicht!!«

»Stoße zu.«

Da ließ Atalanta die Waffe sinken. Sie sah ein, dass sie einen Menschen zwecklos getötet hätte.

Und da nahm der Alte von selbst wieder das Wort:

»Weil Du Dich selbst besiegt hast, so darf ich Dir auch noch etwas verkünden: Ja, Du wirst Dein Kind unversehrt wiederfinden.«

Ein Freudenschrei schallte durch den Raum.

»Wann?! Wo?!«

»Das erfährst Du nicht.«

Und diesmal zog Atalanta nicht wieder den Dolch, wusste auch, dass hier ebenso jedes Flehen vergeblich war. Dafür wusste sie eine andere Quelle, wo sie jetzt etwas Näheres über das augenblickliche Schicksal ihres Kindes erfahren konnte.

Sie eilte hinaus, durch den Korridor, in eine kleine Kabine, die nichts weiter enthielt als ein Kissen, auf dem ein halbnackter Mann kauerte, sich mit dem Rücken an die Wand lehnend, an diese auch mit einem Strick gebunden.

Es war ein schwarzbraunes Gerippe, nur aus Haut und Knochen bestehend, nur die glühenden Augen in dem Totenschädel verrieten, dass noch Leben in dieser Mumie war.

Den einen Arm hatte der Mann über den Kopf gelegt, und dieser Arm sah im Gegensatz zu der sonstigen Hautfarbe fast weiß aus — die Hand des anderen Armes hatte er zur Faust geballt, und durch den Handrücken sahen die Nägel der eingeschlagenen Finger weit heraus.

Es war ein Fakir. Er hatte einmal in einer frommen Ekstase oder wahrscheinlicher in der Absicht, seine »seelischen Fähigkeiten höher zu entwickeln«, das Gelübde abgelegt, den rechten Arm über den Kopf zu legen und nicht wieder herabzunehmen, die linke Hand zur Faust zu ballen und sie nicht wieder zu öffnen. Und er hatte es getan. Und im Laufe der Jahre war ihm der rechte Arm abgestorben und die Nägel der linken Finger ihm durch den Handrücken gewachsen.

Und so saß er hier Tag und Nacht in dem nackten Raume und stierte vor sich hin, musste gefüttert und getränkt werden — alle zwei, drei Tage mit einer winzigen Kleinigkeit.

Wir wollen solche Sachen nicht belächeln. Diese Leute wissen schon, was sie tun. Jeder Mensch sucht eben sein Glück, jeder auf seine Weise. Manche elegante Dame bei uns hat einen verkrüppelten Fuß, um mit einem zierlichen Stiefelchen paradieren zu können. Die Morgenländer könnten über so etwas genau so gut spöttisch lächeln.

Ohne Weiteres ergriff Atalanta die vom Kopfe herabhängende fahle, welke Hand.

»Du sollst sehen, worauf ich meine Gedanken konzentriere, ich befehle es Dir!!«

Willenlos ließ der Fakir alles mit sich machen, und Atalanta wartete geduldig, bis er seinen Mund öffnete.

Dumpfe Laute wie aus einem Grabe erklangen. Atalanta verstand die Worte nicht. Er war Hindustanisch.

»Sprich englisch, ich befehle es Dir! Was siehst Du?«

Da sprach er ein ziemlich gutes Englisch. Allerdings war da nichts Übernatürliches dabei, er konnte es eben.

»Ich sehe — — nichts.«

Anderes hatte Atalanta auch nicht erwartet, und sie wartete noch immer geduldig. Sie wusste, dass dieser Fakir noch nicht hellsehend war und wann er es wurde.

Plötzlich begann sich die schlaffe, kalte Hand in der ihren zu erwärmen, obgleich diese Wärme nicht etwa von ihr ausging.

»Ich sehe —«

»Was siehst Du?«

»Einen großen weißen Vogel — größer als ein Schwan — er hat ein weißes Bündel im Schnabel — ich sehe — den Kopf eines Kindes — der Vogel fliegt — dorthin, wo die Sonne steht — jetzt — jetzt senkt er sich herab —«

Eine Pause entstand.

»Was siehst Du, Ukoli?!«, fragte dann die Indianerin mit fliegender Brust.

»Ich sehe — Wasser — das Meer — und in dem Meere — Land — Felsen — jetzt lässt sich der Vogel nieder — ich sehe — ein großes Rad — nein, es ist ein großes Vogelnest — jetzt lässt der Vogel das Bündel mit dem Kinde fallen —«

»Wohin ist es gefallen?!«

»Auf den Boden.«

»In das Nest hinein?«

»Nein, daneben, nicht weit davon.«

»Ist es aus großer Höhe herabgestürzt?«, erklang es angstvoll.

»Nein, der große Vogel wollte sich gerade auf dem Neste niederlassen — jetzt schreit und kreischt er — gebärdet sich ganz merkwürdig — wie wütend —«

»Ist in dem Neste ein kleinerer Vogel?«

»Nein, das Nest ist leer — da — jetzt kommt ein Mann gelaufen — schreit — schwingt einen Stock — der große Vogel schlägt mit den Flügeln, will sich wehren — nein, er fliegt davon — der Mann hebt das Kind auf, er staunt — er ruft und winkt — noch drei andere Männer kommen gelaufen, ebenso gekleidet —«

»Gelobt sei Gott, vor dem Vogel ist mein Kind gerettet, es ist von Menschen gefunden worden!«, erklang es mit unterdrücktem Jauchzen in dem engen Raume.

»Was siehst Du weiter?«

»Der erste Mann zeigt den anderen das Kind — sie betrachten es staunend — sie untersuchen die Tücher — jetzt gähnt das Kind, reibt sich die Augen, als hätte es geschlafen —«

»Wie sind die vier Männer gekleidet?«

Der Hellseher beschrieb es ganz genau. Es waren unbedingt spanische Fischer, also von der chilenischen Küste oder von einer Insel.

Dann kletterten sie die Felsen hinab, das Kind mitnehmend, stiegen in ein Boot, in dem schon ein kleiner weißer Vogel tot lag, das Junge des alten Albatros, ein begehrter Leckerbissen, sie ruderten davon, nach dem Lande zu, welches der Hellseher schon mit ihren eigenen Augen erblickte.

Sie ruderten, ruderten, ruderten — Atalanta ließ die Hand los, eilte davon, in die Offiziersmesse, in der die Offiziere gerade beim Frühstück saßen.

»Meine Herren, wer von Ihnen kennt die chilenische Küste?!«

Gleich fünf waren schon dort gewesen, wenigstens in Valparaíso, und der sechste, ein dänischer Steuermann, versicherte, dass es an der chilenischen Küste kein Fischernest gebe, das er nicht wie seine Hosentasche kenne, gestand auch gleich, woher er diese Kenntnis besaß, er hatte dort früher jahrelang gepascht, auf einem Schmugglerschiffe.

»Dann sind Sie mein Mann, kommen Sie mit, kommen Sie mit, Mister Sörensen!«

Unterwegs erzählte ihm Atalanta mit fliegenden Worten, worum es sich handle.

»Spanische Fischer? Chilenische? Wenn Ukoli von ihrem Dorfe irgend ein besonderes Merkzeichen beschreibt, will ich sofort den Namen nennen, und wenn es auch nur aus drei Fischerhütten besteht.«

Atalanta nahm wieder die Hand des Fakirs, es dauerte einige Zeit, ehe sie sich wieder erwärmte, nur durch Willensbeeinflussung derer, die den Hellseher benutzen wollten.

»Was siehst Du?«

Die vier Männer ruderten noch immer auf dem Meere. Aber die Küste war schon ganz in der Nähe. Das Boot steuerte in eine Bucht, an der ein kleines Hüttendorf lag.

»Lassen Sie es sich näher beschreiben, ob er nicht irgend etwas recht Auffallendes sieht«, sagte der Däne und gab noch nähere Anweisungen, wie sie fragen solle.

»Ich sehe — links neben dem Dorfe einen Baum stehen — eine Platane — der Stamm spaltet sich wie eine Gabel in drei Teile —«

»Fragen Sie ihn, ob links von der Bucht ein großer Felsen von rotbrauner Farbe liegt!«, rief der Däne schnell.

Atalanta stellte die Frage und der Hellseher bejahte sie.

»Das ist Obigo!«, sagte jetzt der Däne sofort.

»Wo liegt das? Was ist der nächste größere Hafen?«

»Caldera, fünfzehn englische Meilen südlich davon.«

»Kann da dieses Schiff einlaufen?«

»O nein, was meinen Sie wohl! An der chilenischen Küste kann nur der Hafen von Valparaíso und Valdivia so ein Schiff wie dieses aufnehmen.«

»Wie weit ist Obigo von Valparaíso entfernt?«

1 Im Original heißt es mehrfach falsch ›Porte Caldo‹, was hier berichtigt worden ist.

»Ach — an die hundert Meilen.«

»Und wo befinden wir uns jetzt?«

»Nun, wir werden so ziemlich querab von Caldera sein.«

»Und wie weit entfernt?«

»Vielleicht zwanzig Seemeilen.«

»Mister Sörensen — rufen Sie den Kapitän — wecken Sie ihn, wenn er schläft — und meinen Mann und wer uns sonst hier noch helfen kann!«

Der Steuermann eilte. Unterdessen befragte Atalanta den Hellseher weiter.

*

In dem Dorfe natürlich die größte Aufregung, alles strömte zusammen, besonders hatten die Frauen das Wort, das einem Albatros abgenommene Kind wurde angestaunt, beurteilt, die Wäsche untersucht.

Dann kam es in eine Hütte; eine junge Mutter, die wahrscheinlich erst vor ganz kurzem ihr eigenes Kind verloren hatte, erbarmte sich des fremden, gab ihm die Brust, und der kleine Fred saugte kräftig.

*

Arno kam angestürzt, nach ihm der Kapitän, ein Engländer, ein noch ganz junger Mann, fast knabenhaft aussehend, dem der Maharadscha den Riesendampfer mit dreitausendfünfhundert Menschenleben anvertraut hatte.

»Arno, unser Kind ist am Leben, ist gerettet, in Sicherheit!!«

Da plötzlich begannen die Schiffsplanken ganz unheimlich zu zittern.

»Wir haben bereits den Kurs nach Obigo eingeschlagen«, sagte der Kapitän, »sind schon in voller Fahrt. Wir nähern uns der Küste, so weit es ohne Gefahr möglich ist.«

Zu spät gekommen!

In einer halben Stunde hatte der Riesendampfer dreizehn Seemeilen durchrast. Noch einige Meilen weiter in immer langsamer werdender Fahrt, sich der schon längst sichtbar gewordenen Küste immer mehr nähernd, und die Schraube stoppte. Bis zuletzt hatten Matrosen unausgesetzt das Lot ausgeworfen.

»Weiter darf ich es nicht wagen«, sagte Kapitän Gibson zu Hagen, der neben ihm auf der Kommandobrücke stand.

Hagen hatte schon immer eine Frage gehabt, aber nicht einsprechen wollen, jetzt musste er es tun.

»Warum ist denn immer gelotet worden? Wenn so viele Hellseher an Bord sind, muss man doch mit deren Augen. mit deren Allwissenheit die Meerestiefe immer erforschen können. Oder ist das nicht möglich?«

Es war ein gar geistreiches Gesicht, welches der blutjunge Kapitän besaß, die hohe Stirn, die Augen verrieten die höchste Denkkraft, jedenfalls war es ebenso ein genialer Gelehrter wie ein tüchtiger Seemann, dem man die nautische Führung dieses Schiffes anvertraut hatte.

Aber in diesem Gesicht war ein melancholischer Zug, den man sonst selten bei Seeleuten findet, und jetzt trat dieser noch stärker hervor.

»Gewiss, das könnten schon die Hellseher beurteilen.«

»Nun, warum wird dann nicht auf diese Weise gelotet?«

»Bei allem, was der Mensch durch eigene Kraft erwirken und lösen kann, dürfen die magischen Fähigkeiten der Fakire und Priester nicht benutzt werden«, lautete die Antwort.

Es hatte Hand und Fuß, was er da sagte. Aber merkwürdig war, dass der melancholische Zug dabei immer noch stärker hervortrat, schon mehr ein schmerzliches Leiden, das aber nur in der Seele seinen Ursprung haben konnte.

Schon war die Dampfbarkasse ausgesetzt, schon befanden sich Arno und Atalanta darin. Ersterer hatte auch an Bord immer einen Sportanzug getragen, letztere hatte ihr indisches Gewand wieder mit einem kurzen Lederröckchen vertauscht.

»Kapitän Hagen, Mister Maxim — Sie kommen doch mit, um Zeuge meines Glückes zu werden!«

Nur zu gern folgten die beiden der Einladung. Und das Herz schwoll ihnen, wie die in ihrem Glück, durch Unglück erzeugt, sofort an ihre Freunde gedacht hatte.

Die Barkasse dampfte davon und schleppte ein kleineres Ruderboot nach sich.

»Wozu das?«, fragte Littlelu.

»Falls die Bucht zu flach ist für die ziemlich tief gehende Barkasse«, erklärte der am Ruder sitzende dritte Steuermann.

Da stellte Littlelu genau dieselbe Frage wie vorhin sein Freund Hagen — das müssten doch die Hellseher schon vorher unterscheiden können — und der Steuermann gab genau dieselbe Erklärung wie vorhin sein Kapitän.

Und merkwürdig — dieser dritte Steuermann hatte sonst durchaus kein melancholisches Gesicht, vielmehr ein recht heiteres — jetzt aber, als er diese Erklärung gab, trat auch bei dem solch ein wehmütiger Zug hervor.

Und mit einem Male hatte Hagen eine Erklärung hierfür.

Und er hatte ein Wort auf der Zunge.

»Wenn ich Kapitän wäre, ich ließe mir von keinem Hellseher ins Kommando sprechen — ich würde ihn nicht befragen, und wenn Sturm und Klippen und der Tod in tausenderlei Gestalt mich und mein Schiff bedrohten — magische Fähigkeiten würde ich niemals benutzen, um mich zu retten, um einer Gefahr zu entgehen — oder ich pfiffe auf die ganze Seemannschaft!«

Er sprach es nicht aus. Er dachte an die neben ihm sitzende junge Mutter, die ohne die magische Fähigkeit des Fakirs, durch qualvolle Übungen ausgebildet, ihr Kind nicht wiedergefunden hätte.

Bis zuletzt hatte Atalanta den Hellseher befragt, seine Hand in der ihren behaltend.

Es war nichts Neues geschehen. Der kleine Fred war in einem Korbe gebettet worden und schlief jedenfalls.

Von jener Bucht war man noch fünf Seemeilen entfernt. In einer halben Stunde würde die Dampfbarkasse diese Strecke durcheilt haben. Dann war das Riesenschiff noch immer in Sicht — natürlich, auf zehn Kilometer wird mit Schiffsgeschützen nach noch viel kleineren Zielen geschossen.

Atalanta hatte eine Telefonuhr mitgenommen, sich mit einem indischen Ingenieur, der das Geheimnis dieser vorzeitigen Erfindung von Grund auf kannte, wegen der Benutzung verabredet.

Das Boot hatte sich noch nicht weit vom Schiff entfernt, als Atalanta das drahtlose Telefon benutzen wollte, um nochmals den Hellseher zu befragen, was vor sich ginge. Das würde sie wohl während der ganzen Bootsfahrt tun.

Die Uhr war auf das Wort »Stern« eingestellt, alles in Ordnung.

Sie drückte den Knopf, wartete nicht erst das Gegenklingelzeichen ab, sondern sprach gleich auf die Membrane:

»Was sieht Ukoli jetzt?«

Keine Antwort.

»Herr Ingenieur, hören Sie mich?«

Keine Antwort.

Atalanta drückte noch mehrmals den Knopf — kein Gegenzeichen kam.

»Die Uhr funktioniert nicht. Vorhin war sie in Ordnung, wir haben es probiert.«

»Oder der Ingenieur hört es nicht, hat sie weggelegt«, meinte ein anderer.

»Das wäre ja eine —«

Sie probierte es während der ganzen Fahrt, doch kein klingelndes Gegenzeichen kam.

Dann steuerte die Barkasse in die Bucht ein, konnte dicht an der hölzernen Landungstreppe beilegen, aber noch ehe es so weit war, war die Indianerin, deren Leichtfüßigkeit durch ihre Mutterschaft nur noch zugenommen zu haben schien, schon herausgesprungen, und sie brauchte nicht nach der Hütte zu fragen, in der das fremde Kind untergebracht worden sei, sie hatte sich diese von dem Fakir zur Genüge beschreiben lassen — in vollem Laufe rannte sie dorthin.

Die Tür stand offen. Ein junges Ehepaar und mehrere Kinder, immer kleiner werdend, bewohnten die Hütte.

»Wo ist mein Fred?«

Sie hatte es gleich auf Spanisch gerufen.

Die Frage wäre gar nicht nötig gewesen.

Dort stand ja der Korb.

Atalanta war hingestürzt.

Ja, in dem Korbe lag ein kleines Kind mit einem bräunlichen Gesichtchen.

Aber Fred war das nicht.

»Wo ist mein Kind?!«

Das ob der fremden Dame bestürzte Ehepaar hatte sich wieder etwas gefasst, war aber noch nicht gleich einer Antwort fähig.

»Wo ist mein Kind?! Das Kind, das Ihr dem Albatros abgenommen habt.«

»Quien sabe? Wer weiß es?«, war die Gegenfrage des spanischen Chilenen, eine stereotype Redensart, bei jeder Gelegenheit hervorgebracht, ob es passt oder nicht.

»Wo ist mein Kind?!«, fragte die Indianerin zum dritten oder vierten Male, jetzt aber plötzlich ganz leise.

»Das Kind ist fort.«

»Fort«, wurde ebenso leise wiederholt, aber diese Augen plötzlich! »Wohin?«

»Ein Fremder hat es abgeholt.«

»Ein Fremder?«

»Ein Cavalleresco, wir kennen ihn nicht.«

»Abgeholt?«

»Er sagte, er wolle sich des armen Kindes annehmen, es erziehen, hat uns für unsere Mühe hundert Pesos gegeben, die wir geteilt haben.«

»Wann?«, erklang es nach wie vor mit eisiger Ruhe.

»Da reitet er noch!«, rief ein kleiner Junge, durch das scheibenlose Fenster deutend.

Atalanta musste sich erst zur Seite wenden, ehe sie einen freien Blick durch dieses Fenster bekam.

Die Republik Chile, ein Küstenstreifen von durchschnittlich fünfundzwanzig geografischen Meilen Breite, im Osten von der himmelhohen Gebirgskette der Cordillera de los Andes begrenzt, ist ja im Allgemeinen ein schönes, fruchtbares Land, nur im Norden nicht, wo sich die trostlose Stein- und Sandwüste von Atacama ausdehnt.

Und in dieser Gegend befand man sich hier schon. Nur ein ganz schmaler Streifen mit dürftigem Grase, dann kam eine sandige Fläche, sich endlos ausdehnend, und ganz dort hinten in weiter Ferne erblickte Atalanta den Reiter, mit seinem Pferde schon ein ganz kleines Figürchen.

»Ein Pferd, ein Pferd — habt Ihr ein Pferd?!«, schrie sie.

»Wir haben kein einziges Pferd.«

Diese Antwort wäre gar nicht nötig gewesen, also auch die Frage nicht.

Denn das indianische Falkenauge hatte trotz der großen Entfernung schon erkannt, dass jenes Pferd dort, das in schlankem Trabe gehalten wurde, ein so edles, vorzügliches Tier war, wie ein solches hier in diesem Fischerdorf sicher nicht gehalten wurde — also wäre der Reiter auch nicht zu Pferde einzuholen gewesen, wenn er sich nicht einholen lassen wollte — und da war die Indianerin auch schon mit gleichen Füßen durch das Fenster gesprungen und jagte durch die Wüste dem Reiter nach, der einen Vorsprung von vielleicht zwei Kilometern hatte.

»Alles zurück an Bord!«

Diese Szene in der Hütte hatte ja noch nicht eine Minute in Anspruch genommen.

Unterdessen war auch Arno angeeilt gekommen, ihm nach folgten Hagen und Littlelu.

Sie hatten noch gehört, dass ein fremder Reiter das Kind gekauft und mitgenommen habe, dort ritt er, dort rannte ihm Atalanta nach, dass ihre wieder langgewachsenen Haare wie vom Sturm gepeitscht nachflatterten, obgleich Windstille herrschte.

Wenn ein Pferd vorhanden gewesen, so wäre Arno nachgeritten. In dem Fischerdorfe gab es einige Kühe, Schafe und Schweine, auch zwei Esel, aber kein Pferd.

Und wenn es Arno noch nicht gewusst hätte, so brauchte er dort bloß die Läuferin mit den fliegenden Haaren zu sehen, um nun bestimmt zu wissen, dass er die niemals einholen konnte. Also war es auch ganz zwecklos, ihr nachzulaufen. Da gab es nichts anderes, als einfach abzuwarten.

Der Reiter verschwand hinter einem Sandhügel, einer ganzen Hügelkette, fünf Minuten später Atalanta ebenfalls, und nun musste man sich erst recht in Geduld fügen.

Unterdessen aber konnte man ja die Fischersleute über die näheren Einzelheiten befragen. Sie waren äußerst verstört oder doch verlegen, als sie jetzt hörten, dass dies die Mutter und der Vater des von einem Albatros entführten Kindes waren, die von seinem Hiersein erfahren hatten und es nun wieder abholen wollten — aber sie bequemten sich doch zu einer Auskunft.

Viel war es ja freilich nicht, was man von ihnen erfuhr. Diese spanischen Fischer hatten nicht einmal ein Zeitmaß, sie berechneten die Anzahl der Minuten nur nach ausgerauchten Tabakspfeifen.

Vor vielleicht einer halben Stunde — so brachte man endlich aus ihnen heraus — war er gekommen, der Reiter. Von Norden her. Hatte natürlich gleich erfahren, wie hier ein fremdes Kind einem Albatros abgenommen worden war, das ganze Dorf befand sich immer noch in größter Aufregung über dieses wundersame Erlebnis. Ebenso natürlich hatte er sich das Kind zeigen lassen, hatte es aber auch gleich recht eingehend untersucht, hatte es zu diesem Zwecke völlig entkleidet.

»Ein hübscher Junge. Den möchte ich als mein eigenes Kind annehmen. Meine Frau wünscht sich immer eins. Was wollt Ihr für den Bengel haben? Seid Ihr mit hundert Pesos zufrieden? Mehr gebe ich auch nicht.«

Ja, mit hundertfünfzig Mark, die unter allen Familien geteilt werden mussten, nur dass die Finder des Kindes den Löwenanteil bekamen, waren sie zufrieden. Das war für dieses armselige Dorf ein großes Betriebskapital. Was hatten sie auch für eine Pflicht, dieses fremde Kind zu erhalten, das mindestens noch zehn Jahre auf Gemeindeunkosten ernährt werden müsste, ehe der Junge eine Arbeit leisten konnte? Und wollte es der Fremde nicht als sein eigenes Kind annehmen? War es nicht ein vornehmer, sicher ein reicher Mann? War es da nicht viel besser aufgehoben?

Er hatte mit Zehnpesoscheinen bezahlt, mit zehn Stück. Und das Papiergeld war echt und gut, das konnten auch diese Fischer hier beurteilen.

Dann hatte er dem wiedererwachten Kinde noch einmal die Brust geben lassen, dann war er davon geritten.

»Wer war der Fremde?«, fragte Arno.

Noch niemand hatte ihn hier gesehen.

»Wie hieß er?«

»Quien sabe? Wer weiß es?«, war die stereotype Gegenfrage als Antwort.

»Ihr müsst ihn doch wenigstens nach seinem Namen gefragt haben!«, wurde Arno immer ungeduldiger.

Nein, das hatten sie eben nicht getan. Wozu?

»Wie ist so etwas möglich —«

»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Graf, und wundern Sie sich nicht darüber«, ließ sich Kapitän Hagen vernehmen. »Ich kenne diese spanisch-chilenischen Fischer. Die wissen gar nicht, dass es so etwas wie einen Familiennamen gibt. Hat er denn wenigstens gesagt, wo er wohnt?«

»Nein, das hat er nicht.«

»Und auch danach habt Ihr ihn nicht gefragt?!«

»Wie darf man einen feinen Mann fragen, wo er zu Hause ist?«

Das waren eben Ansichten über die Höflichkeit.

»Und doch«, fuhr Hagen fort, »wenigstens Deine Frau musste für das Kind, das sie gestillt, so viel Mitleiden haben, dass sie fragte, wohin er ritt, ob das Kind es auch so lange aushielt, da er ja, wie Ihr schon sagtet, keine Milch mitgenommen hat.«

»Das sagte er auch.«

»Nun, wohin reitet er denn?!«

»Wohin soll er anders als nach Porte Caldo?«

»Wie weit ist das von hier, Caldera, oder Porte Caldo, wie es hier heißt?«

»Wir brauchen fünf Stunden zu Fuß, der wird es auf seinem schnellen Pferde in der Hälfte machen.«

»Caldera liegt aber südlich von hier, und er reitet direkt östlich.«

»Nur um hinter die erste Dünenkette zu kommen.«

»Weshalb tut er das?«

»Dort hinten ist der Sand viel fester als hier am Strande. Wir gehen auch immer dort hinten entlang.«

»Habt Ihr ihm das gesagt?«

»Nein.«

»Er nahm gleich von selbst diesen Weg?«

»Ja.«

»Und hat er wirklich gesagt, er wollte nach Caldera?«

»Bei der heiligen Madonna, das tat er.«

»So muss er hier also doch schon bekannt sein.«

»Wir kannten ihn nicht.«

»Er selbst aber muss diese Gegend hier schon kennen.«

»Quien sabe? Wir haben ihn nicht danach gefragt, wir sind höfliche Leute!«

»So will ich wenigstens dort nach der Hügelkette laufen, ob sie noch zu sehen sind«, sagte Arno.

»Tut das nicht, es hat keinen Zweck«, meinte der Fischer.

»Weshalb nicht?«

»Dort hinten ist ein Hügel am anderen, nach zehn Schritten verschwindet ein Reiter, und das immer wieder.«

Trotzdem wollte der ebenso ungeduldige wie unglückliche Vater hin, nur um der Mutter, die das Kind zurückbrachte, wenigstens entgegenzugehen, obgleich es wirklich keinen Zweck hatte, da sie ja ganz anderswo wieder auftauchen konnte.

Da donnerte in der Ferne ein Kanonenschuss. Hagen sprang hinaus und spähte nach dem Dampfer.

»Sie zeigen Flaggen, geben ein Signal!«

Doch erkennen konnte dies auf solche Entfernung auch das schärfste Auge nicht.

Aber der wie alle anderen bei der Barkasse gebliebene Steuermann hatte schon sein Fernrohr darauf gerichtet, er winkte den drei Davongegangenen, legte die Hände trichterförmig vor den Mund.

»Alles zurück an Bord!!«

»Alles?«, wiederholte Arno. »Ich nicht, ich warte hier, bis Atalanta wiederkommt.«

Aber zunächst ging doch auch er mit nach der Barkasse.

»Alles zurück an Bord!!«, wiederholte der Steuermann, noch durch das Fernrohr spähend. »Steigen Sie schnell ein, das Signal wird durch Flagge unterstrichen, es ist sehr dringlich.«

»Ja, wissen Sie denn, was hier passiert ist?«

»Nein. Ich sah nur die Frau Gräfin davonrennen.«

»Ein fremder Reiter hat mein Kind mitgenommen.«

»Ooh!!«, erklang es bedauernd. »Ja aber — wir sollen sofort alle an Bord zurückkommen, alle! Die erste Flagge wird zum Nachdruck nochmals wiederholt und gehisst.«

»Fahren Sie nur, ich bleibe hier«, sagte Arno, »ich warte hier auf meine Frau.«

»Ich werde semaphorieren, mir nähere Auskunft geben lassen«, sagte Hagen, seine Arme als Windmühlenflügel erhebend.

Auf diese Weise kann man das ganze Alphabet durchmachen.

Aber der Steuermann und Bootsführer wollte keinen Augenblick länger warten.

»Tun Sie es, bleiben Sie hier — ich muss mit der Barkasse zurück! Dampf auf!«

»Kommen Sie mit, Herr Graf«, entschied da Littlelu. »Ehe wir mit dem langweiligen Semaphorieren eine Antwort haben, sind wir schon an Bord, erfahren alles. Ja, und warum denn diese plötzliche Eile? Wenn die dort nun Hellseher und Zukunftsleser haben — und das ist doch ein Faktum — und die wissen, dass Atalanta dem Reiter bis nach Caldera nachrennt? Und der ›Oststern‹ will dorthin, dass Sie Frau und Kind dort in Empfang nehmen? Und dann sind Sie nicht dort? Was dann, he?«

Es war eine ganz einleuchtende Ansicht. Umsonst wurde doch nicht »Alles« an Bord zurückbeordert. Arno gab sein Zögern auf und sprang in die Barkasse.

In einer halben Stunde hatte diese den Dampfer wieder erreicht, und sie war noch nicht völlig gehisst, als der »Oststern« schon wieder in voller Fahrt dem Süden zu raste.

»Kapitän Gibson, weshalb mussten wir schnellstens an Bord zurück?«, fragte Arno, der sich sofort auf die Kommandobrücke begeben hatte.

»Ich weiß es nicht.«

»Wir fahren nach Caldera?«

»Auch unser Ziel kenne ich nicht, ich habe vorläufig nur Kurs bekommen. Wenden Sie sich doch direkt an Kathana Brahma, der wird Ihnen über alles Auskunft geben.«

Es war derselbe alte Inder, zu dem auch Atalanta gleich geeilt war, der Stellvertreter des Maharadschas, der auch sonst die höheren Befehle für das Schiff gab.

Jetzt ließen die vor der Tür wachestehenden Sikhs Besuch wie den Grafen auch ohne Anmeldung passieren. Wieder saß der alte Inder ganz allein, diesmal aber auf einer Art Thronsessel, der in einem kleinen Prunksalon stand, blickte ruhig geradeaus — saß da, als ob sein Lebenszweck darin bestände, so dazusitzen — und das konnte auch sehr leicht sein — indische Askese — Aufgehen in Brahma — mindestens möglichste Bewegungslosigkeit.

Alle Inder und sonstige Buddhisten, die vor diesen Radscha Brahma, einen Priesterfürsten, traten, warfen sich zur Begrüßung auf den Boden. Der deutsche Graf machte nur eine Verbeugung.

»Was willst Du, mein Sohn, der Du Dich mir anvertraut hast?«, fragte der Brahmane, immer geradeaus blickend, nicht aber starrend.

»Da Du in die Zukunft siehst, weißt Du, was mich zu Dir führt.«

»Wir fahren nicht nach Caldera.«

»Nicht?!«, fuhr Arno bestürzt empor.

»Nein. Wir würden weder Dein Kind noch Deine Frau dort finden. Und im Buche des Schicksals steht verzeichnet, dass wir diesen Ort verlassen müssen, um schnellstens unser Ziel aufzusuchen, das wir sonst nie erreichen würden. Und im Buche des Schicksals stand auch verzeichnet, dass Du Deinem Weibe nicht folgen, sondern mit uns kommen würdest. Und dennoch ist der Mensch ganz frei, dennoch hättest Du meinem Befehle trotzen und deinem Weibe folgen können. Wie beides zu vereinbaren ist, das unabwendbare Schicksal eines jeden Menschen, und wie er dennoch aus ganz freiem Willen seinen eigenen Weg gehen kann, das verstehst Du nicht, es ist ein Mysterium. Da Du nun aber dem Schicksale, das zu Dir durch mich sprach, gehorcht hast, so darfst Du es auch erfahren: Sei guten Mutes und fröhlicher Hoffnung, Dein Weib wird ihr Kind wiederfinden und es Dir wiederbringen. Wohl werden sie beide durch zahllose Fährlichkeiten gehen müssen, aber wohlbehalten werden sie mit Dir wieder vereint. Nur frage nicht nach der Zeit. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, es gibt nur eine Gegenwart. Wärest Du Deine eigenen Wege gegangen, so wäre alles wohl dasselbe gewesen im Reiche der Maja, für Dich und für Dein Weib und Dein Kind aber wäre alles ganz anders gekommen, und wenn es auch nur eine Täuschung ist — für Euch wäre es doch Wirklichkeit. Doch das verstehst Du nicht, weil Du noch in den Banden der Maja liegst.

Sei zufrieden, mein lieber Sohn, und dankbar jenem Unfassbaren, was ihr Christen Gott nennt. Wenn Du diesem unfassbaren Weltgeiste aus inbrünstigem Herzen, mit ehrlich jubelndem Munde dafür danken kannst, weil er Dir Dein Liebstes genommen hat, weil er Dich in furchtbaren Schmerzen sich winden lässt — wenn Du ihm dann noch lobpreisend danken kannst, indem Du erkennst, dass er dennoch ein allgütiger Gott ist, der stets nur das Dir denkbar Beste will — dann verstehst Du mich, eher nicht.

Die Fähigkeiten Ukolis und der anderen Fakire stehen Dir zur Verfügung, dass Du immer weißt, wo Dein Weib und Dein Kind ist, was sie treiben. Bist Du aber weise, so wirst Du den Schleier nicht lüften, den eine weise Vorsehung vor unsere Augen gehängt hat.

Es ist gut, mein lieber Sohn.«

Arno verneigte sich und ging, plötzlich eine wunderbare Ruhe in seinem Herzen.

»Halt!«, erklang es ihm da noch einmal nach. »In der zweiten Kabine links neben dem kleinen Maschinenraum sehe ich einen Mann sitzen. Er liest in einem Buche. Lies auch Du es, oder, wenn Du es nicht kannst, lass seinen Inhalt Dir von diesem Manne erklären. Dieses Buch sagt das, was sonst kein irdischer Mensch mit Worten ausdrücken kann, so weit es möglich ist.«

Arno ging und fand in der bezeichneten Kabine statt des erwarteten Inders einen deutschen Maschinisten, der in einem kleinen Buche las, lateinisch abgefasst.

Sein Titel lautete »Boetius, Tröstungen der Philosophie«. Dieses Buch ist das einzige in der uns zugänglichen Literatur, welches ziemlich klar sagt, was wohl viele einsame Menschen ahnungsvoll wissen, was sie aber nicht in die sechstausend Worte zu kleiden vermögen, welche die wortreichste Sprache enthält — und wir Deutschen bedürfen im Umgange nur zirka tausend Worte: wie alles in der Welt, also auch der Mensch, sein vorherbestimmtes Schicksal hat, dem er durchaus nicht entrinnen kann — und wie er dennoch nach ganz freiem Ermessen seine eigene Wege gehen kann.


Lieferung 34


Illustration

Der wütende Stier nahm den Indianerhäuptling auf
seine Hörner und schleuderte ihn hoch in die Luft.


Der Stierkämpfer

So wie Atalanta, die rote Athletin, hinter dem Reiter her rannte, der ihr Kind entführte, mag auch ihre Namensschwester, die griechische Heroin, die personifizierte Schnellfüßigkeit, gerannt sein, wenn sie sich mit einem Gegner im Wettlauf maß.

Zu sehen war der Reiter hinter jener ehemaligen Dünenkette nicht mehr, es ging immer kreuz und quer durch Sandhügel, aber klar und deutlich waren in dem feinen Sande die Hufspuren abgezeichnet, und sie sagten der Pferde- und Fährtenkundigen, dass der Reiter sich noch immer in einem gemäßigten Trab hielt.

Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, so musste sie ihn eingeholt haben.

Da machten die Hügel einmal einer größeren freien Fläche Platz, und in der Mitte derselben, kaum noch hundert Meter von ihr entfernt, trabte der Reiter.

Atalanta hütete sich, ihn anzurufen. Unvermutet einholen musste sie ihn! Sie war bereit, von hinten auf sein Pferd zu springen.

Da wollte das Schicksal, dass der Reiter einmal den Kopf wendete.

Er sah das Weib in dem kurzen Lederkostüm mit fliegenden Haaren angerannt kommen, war über diese Erscheinung so erstaunt, dass er sich völlig im Sattel wandte, sein Tier anhielt.

Atalanta sah ein hageres, knebelbärtiges Gesicht — vor allen Dingen aber das weiße Bündel, das vorn halb aus seinem Poncho, dem spanischen Mantel, hervorlugte.

Hatte sie »mein Kind, gib mir mein Kind!!«, gerufen? Sicher nicht, sie hatte es nur gedacht.

Dem Reiter aber mochte plötzlich eine gewisse Ahnung überkommen, dass er sein Ross wieder herumwarf und ihm die Sporen gab.

Es fiel in Galopp, in Karriere, jagte in mächtigen Sätzen davon.


Illustration

Da musste sich das Muttergefühl Luft machen, und es war auch ganz richtig, dass sie es versuchte, auf diese Weise zum Ziele zu kommen. »Mein Kind, es ist mein Kind, gib mir mein Kind zurück!!«

Aber schon war der Reiter hinter dem nächsten Hügel verschwunden, und als Atalanta ihn passiert hatte, kam ein Hügel nach dem anderen, der Reiter war nicht mehr zu erblicken.

Vorwärts, dann den Spuren nach, und die Schnellkraft noch mehr angespannt — wenn eine noch größere Schnelligkeit, als wie sie bisher entwickelt, möglich gewesen wäre.

Da hörte sie in ihrer Tasche die Telefonuhr klingeln; ohne in ihrem fliegenden Laufe einzuhalten, zog sie dieselbe hervor, gab das Gegenzeichen, sprach hinein.

»Wer ist dort?«

»Sirbhanga Brahma.«

»Was willst Du, mein Vater?«

»Stehe, mein Kind, gib die Verfolgung des Reiters auf.«

»Ich hole ihn nicht ein?«

»Auf diese Weise erreichst Du ihn und Dein Kind niemals.«

Atalanta gehorchte, blieb stehen.

»O, mein Vater, weshalb musste solch neues Unglück über mich kommen, weshalb konntest Du mich nicht andere Wege leiten, dass ich ihm entgehen konnte!«

»Weil Du diese Wege gehen musstest — weil es ohne Leid kein Glück gibt! Willst Du mir gehorchen, mein Kind?«

»Ich will.« — »So höre, was ich Dir zu sagen habe.«

Und das drahtlose Telefon sprach weiter.

* Vier Stunden später tauchte vor der Wandernden das Hafenstädtchen Caldera oder einfach, dann mit anderer Endung, Caldo genannt, auf.

Sie hatte sich also nicht mehr sehr beeilt, war nur gewandert, marschiert.

Die ganze Gegend hatte sich verändert, obwohl immer noch alles sterile Wüste war. Während das Städtchen selbst auf völlig flachem Strande liegt, thront die kleine Festung auf einem hohen Felsen, und so ist auch schon die ganze Umgebung mit Felsen durchsetzt. Dazwischen aber, wo der Wind wehen kann, immer noch Sandhügel — und der Wind hatte in den letzten zwei Stunden gar tüchtig geblasen, die Indianerin hätte keine Spur verfolgen können, die war schon längst verweht.

Jetzt war es wieder still geworden, umso glühender brannte die Mittagssonne.

Suchend blickte die Wandernde um sich, sie hatte es schon immer in der letzen halben Stunde getan, und jetzt, da sie das Hafenstädtchen vor sich auftauchen sah, nachdem ihr der hohe Felsen mit der Festung schon immer zur Richtschnur gedient hatte, spähte sie nur umso aufmerksamer um sich.

Sie suchte etwas, wusste nicht, wohin sie ihre Schritte lenken sollte. Sie hätte doch die Telefonuhr befragen können. Aber sie wusste, dass sie von dort jetzt keine näheren Instruktionen, gar keine Antwort mehr bekam. Was sie wissen musste, war ihr schon gesagt worden.

Ja, aber wie sollte sie den bestimmten Punkt oder doch den bezeichneten Felsen finden, sie konnte doch ihren Schritt zwischen den zahllosen Hügeln und Felsenformationen lenken, wie und wohin sie wollte, vor jedem Hügel standen ihr gleich drei und noch mehr Richtungen frei.

Da stockte ihr Fuß.

»Das ist der Felsen! Wunderbar!«

Das heißt, dieser Felsen, auf den ihr Blick fiel, war nicht gerade wunderbar. Ein großer, halbrunder Stein, auf dem eine kleinere Kugel lag, die einen Vorsprung hatte und einige Vertiefungen, sodass man mit Zuhilfenahme von Phantasie, aber nicht zu wenig, daraus ein menschliches Gesicht machen konnte.

Aber solcher Steinfiguren gab es hier noch in zahlloser Menge. Überall konnte sich die Phantasie einen Menschenkopf mit einem Gesicht zurechtformen. Wunderbar war es nur gewesen, dass Atalanta gerade auf diesen Doppelstein geblickt und sich sofort gesagt hatte: Dies ist der mir als Markierung bezeichnete Stein und kein anderer!!

Sie begab sich hin. Mit einem Male sprang sie mit einem mächtigen Satze seitwärts. Sie war an einem Sandhügel vorbeigegangen, der wie alle anderen nach der Seite, wohin gewöhnlich der Wind wehte, etwas überhing, und dieser überhängende Kamm, noch hoch über ihrem Haupte, war herabgefallen, eine Sandmasse rollte nach, die unnatürliche Unebenheit war wieder ausgeglichen.

Doch weshalb da dieser erschrockene oder mindestens mächtige Seitensprung? Es war so harmlos gewesen. Kein ängstliches Kind wäre diesem herabrollenden Sande aus dem Wege gegangen.

Oder wusste die Indianerin, die schon in Wüsten gewesen, etwas anderes? Oder hatte sie das Telefon gewarnt?

Sie hatte den Felsen erreicht, der ihr Ziel gewesen. Sie drehte sich um, blickte zurück.

»Wahrhaftig, da ist auch die Zange!«

Wieder gehörte viel Phantasie dazu, um aus zwei schlankeren Felsen, die sich in einiger Entfernung von ihr aus dem Sande erhoben, eine Zange zu machen, und es gibt gar so viele Arten von Zangen.

Aber die Indianerin hatte ihre zweite Markierung, und nach dorthin, wo die Gießzange die Kugelform hatte, woraus man sich aber ebenso gut einen Frosch oder einen Hefekloß machen konnte, führte sie acht große, meterlange Schritte aus.

Dort blieb sie stehen, und dort stand sie gerade wieder am Rande eines Sandhügels, der aber, obgleich auf dieser Seite dem Winde abgewendet, hier keinen überhängenden Kamm hatte.

Hier schaufelte sie mit den Händen den Sand fort. Ein gelber Stiefel kam zum Vorschein.

Diese Indianerin war sicher nicht schreckhaft, es auch nicht geworden. Es musste einen anderen Grund haben, dass sie wie erschrocken beide Hände emporhob.

»O Wunder über Wunder!«

»Und doch«, setzte sie dann in anderem Tone hinzu, »ich habe ja gar nicht daran gezweifelt, dass ich es finden werde.«

Sie schaufelte den Sand weiter zur Seite.

Ein menschliches Bein kam zum Vorschein, bekleidet mit einer schwarz-samtenen Hose, reich mit Silberstickerei besetzt, vom Knöchel bis zum Knie aufgeschlitzt.

Und der ganze Mann folgte nach, ein Jüngling in reichem, spanisch-amerikanischem Nationalkostüm — ein Bild von einem Jünglinge. Das dunkle, bartlose Gesicht von klassischer Schönheit, das schwarze, wie Seide glänzende Haar ihm bis auf die Schultern reichend.

Wie schlafend lag er da. Kein Zeichen des Erstickungstodes entstellte das schöne Gesicht.

Denn erstickt war er. Es konnte noch gar nicht so lange her sein, dass er sich hier niedergelegt hatte, um in dem spärlichen Schatten, den der überhängende Hügelkamm warf, die Mittagshitze zu verträumen.

Da war der Sand auf ihn herabgerieselt. So geringfügig, dass man es gar nicht beachtet hatte. Es hatte weiter gerieselt. Als ihm die Menge des Sandes unangenehm wurde, hatte er aufstehen wollen. Da war der lose Sand mit Macht auf ihn hereingebrochen, und jede Bewegung, die er machte, um sich von der Last zu befreien, hatte nur neue Mengen nachfolgen lassen. Bis er keine Bewegung mehr gemacht hatte.

Jetzt konnte die Indianerin den Leichnam ohne jede Gefahr weiter freilegen. Auch eine zierliche Büchse kam zum Vorschein, ein Repetiergewehr, der Schaft reich mit Silber, Perlmutter und Elfenbein ausgelegt.

Zuerst griff sie in die Brusttaschen der schwarzen Samtjacke, nach mexikanischer Sitte sehr kurz, aber weit, vorn offen getragen, ebenfalls gestickt, mit goldenen Knöpfen besetzt und sonst noch verziert. Sie zog eine Brieftasche hervor, die außer einer größeren Summe Papiergeld auch einige Briefe enthielt.

Diese las sie zunächst, dabei wie zufrieden mit dem Kopfe nickend.

Dann schnallte sie den Gürtel ab, in doppelter Reihe mit Zentralfeuerpatronen gespickt, die ebenso zu dem Gewehr wie zu dem im Futteral daran hängenden Revolver passten, auch wieder so zierlich, das heißt nur im Aussehen, sonst großkalibrig genug, um mit ihm einem noch gefährlicheren Raubtier entgegen zu treten, als wie es der Mensch ist.

Dann zog sie der Leiche die Kleider aus, Stück für Stück. Dabei kam auch ein Messer zum Vorschein. Aber was für ein Messer! Er trug es im linken Hosenbein in einer metallenen Scheide, die genau vom Hüftknochen bis zum Knie reichte, sie war auch an dem Beine mit Riemen festgeschnallt, sodass sie bei keiner Bewegung hinderlich werden konnte.

Es war einfach ein kurzes breites Schwert. Solche kurze, breite Schwerter führten auch die römischen Legionäre, welche dereinst die ganze Welt besiegt haben, und die bekamen gewiss die geeignetsten Handwaffen.

Und nun diese Klinge, dieser Stahl! Ganz abgesehen von seiner Rasiermesserschärfe.

Fast entzückt betrachtete die Indianerin den blitzenden Stahl, auf dem ein Stiergefecht eingeätzt war, der Griff aus einem polierten Büffelhorn, wieder reich mit Silber ausgelegt, aber auch mit funkelnden Steinen, obgleich die nicht echt zu sein schienen.

»Solch eine herrliche Toledo-Klinge habe ich noch nicht gesehen!«, flüsterte sie.

Sofort probierte sie die furchtbare Schärfe des Stahles an ihren eigenen Haaren, die sie dazu über die Schulter nahm und verschnitt. Aber nicht durch einen einfachen Schnitt, sondern sie schabte mit umgelegter Schneide von unten nach oben, was der Haarkünstler »fräsieren« nennt, wie er Frauenhaar und langes Männerhaar verschneidet.

Sie vollzog diese Prozedur mit einer Geschwindigkeit, als habe sie schon die größte Übung darin. In kaum zwei Minuten war es geschehen, und ihr Haar war tadellos geschnitten. Es war ja auch schon das zweite Mal, dass sie dies tat. Aber damals, als sie sich als Soldat anwerben ließ, hatte sie es kürzer geschnitten. Jetzt wallte es ihr noch bis auf die Schultern — so wie es jener tote Jüngling getragen hatte.

Dann legte sie ihre Kleider ab und die des Toten an, erstieg den Sandhügel und ließ herablaufen, was noch freiwillig herablief, schaufelte nach, und die nur noch mit einem Hemd bekleidete Leiche hatte ein sicheres Begräbnis erhalten, kein aassuchendes Raubtier würde den Todesschlaf stören. Denn wie in den afrikanischen und asiatischen Wüsten, wo der Regen fehlt, trocknen auch hier alle Leichen in dem heißen Sande zu Mumien aus, und wenn sie genügend mit Sand bedeckt sind, so werden sie von keinem Schakal und keinem Geier gefunden, eben weil der verwesende Geruch fehlt.

An diesem unsichtbaren Grabe kniete sie nieder zum stillen Gebet, und sie hatte auch einen ganz besonderen Grund dazu.

»Verzeihe mir den Missbrauch, den ich mit Dir treibe — verzeihe ihn einer unglücklichen Mutter, die ihr Kind sucht — ich will Dich dereinst noch rechtfertigen!«

Nach diesen letzten Worten des Gebetes erhob sie sich, und nachdem sie noch ihre eigenen Kleider, deren Taschen sie nichts weiter als die Telefonuhr, ein Dolchmesser und eine kleine Browningpistole zu entnehmen gehabt, an einer entfernteren Stelle im Sande verscharrt hatte, wanderte sie weiter — als ein spanisch-mexikanischer Cavalleresco und Hidalgo, das heißt als ein spanischer Gentleman, der nur arbeitet, wenn ihm die Arbeit Vergnügen macht, was man dann also doch eigentlich keine Arbeit nennt.

Bald erreichte sie die ersten Hütten und Häuser von Caldera. Kein Gärtchen, kein Baum waren hier sichtbar. Nur hier und da wusste sich noch ein stachliger Kaktus zu behaupten, denn in dieser Gegend, gerade an der Küste, fällt kein Tropfen Regen. Dort, wo sich Fischer und Strandräuber angesiedelt haben, gibt es wenigstens brackiges Brunnenwasser, sonst könnte der Mensch ja nicht existieren, aber nicht einmal das gibt es in Porte Caldera, keinen Tropfen Trinkwasser. Es wird durch Destillation von Meerwasser erzeugt, was billiger ist als das Herbeischaffen per Schiff oder gar Eisenbahn, denn mit einem Zentner Kohle kann man einen Kubikmeter Wasser destillieren.

Aber Caldera musste entstehen, es liegt in der einzigen Bucht, die größere Schiffe aufnehmen kann, welche die aus dem Gebirge kommenden Kupfererze abholen.

Das Gewehr über die Schulter gehängt, die Hände in den Hosentaschen und mit den darin enthaltenen Gold- und Silbermünzen klimpernd, so schlenderte der mexikanische Cavalleresco durch die schnurgeraden Straßen. Atalanta hielt es nicht für nötig, den breitrandigen Samthut, mit einer Reihe Silbermünzen geschmückt, tiefer in die Stirn zu ziehen. Einmal war die ganze Stadt um diese glühende Mittagszeit wie ausgestorben, und zweitens musste sie es eben darauf ankommen lassen, ob sie als Doppelgänger eines Toten Misstrauen erwecken würde oder nicht, jetzt oder später.

Wie aber wäre es gewesen, wenn sie jetzt als Indianerin im kurzen Lederröckchen und mit langen Haaren hier ihren Einzug gehalten hätte?

Aus einem offenen Parterrefenster, dem er sich näherte, erklangen leise Weiberstimmen.

»Sieh, Manuela, da kommt er wieder, der mexikanische Toreador. Ach, ist das ein schöner Junge!«

Eine rote Rose kam aus dem Fenster geflogen. Sie war schlecht geworfen, wäre über den Kopf des Vorbeigehenden auf die Straße geflogen. Aber blitzschnell hatte der »schöne Junge« die eine Hand aus der Hosentasche, ergriff die Rose — eine papierne, natürliche waren hier selten wie die Edelsteine — zierlich mit zwei Fingern aus der Luft heraus, küsste sie und warf diesen ideellen Kuss den beiden aus dem dunklen Hintergrund am Fenster auftauchenden Mädchenköpfen zu, die lächelnd und errötend dankten, dann die Papierrose an der Brust befestigend, wieder mit der Hand in der Hosentasche weiterschlendernd.

War Atalanta durch die Telefonuhr so genau instruiert worden, wie sie sich als Pseudo-Toreador zu benehmen habe, oder handelte sie nach eigener Initiative?

Ihr Ziel war, den Bahnhof nicht zu verfehlen. Er nahm die Hälfte der ganzen Stadt ein. In langen Reihen standen die Züge, die in offenen Güterwagen das Kupfererz aus den Gebirgen brachten. Hinten oder vorn auch einige Personenwagen. Alle vier Stunden kam auf dem einfachen Schienenstrange ein vollbeladener Zug an, ohne Dampfkraft, sofort ging einer wieder hinauf, leer, aber mit zwei Lokomotiven bespannt, die tüchtig zu keuchen hatten und das nur bis nach Copiapó, zwölf geografische Meilen von hier entfernt. Von dort aus musste der nach Antonio und Puquios gehende Zug noch von einer dritten Lokomotive geschoben werden.

Das Vestibül dieses Bahnhofes, der doch ausschließlich dem Güterverkehr diente, hätte jeder europäischen Hauptstadt zur Zierde gereicht. Einfach großartig, mit monumentalem Schmuck überladen! Denn in diesen südamerikanischen Republiken will man immer nur das Schönste haben, nichts kann genug kosten, und da niemals Geld im Staatssäckel ist, werden einfach Schulden gemacht — dann noch einfacher ein Präsidentenwechsel, und die Gläubiger sind geprellt. Für das andere sorgt der liebe Gott.

Auch hier alles wie ausgestorben. Die Gestalten, die in den Ecken und Bänken lungerten, waren in dem Halbdunkel kaum zu erkennen. Die Dame, hinter dem Büfett, bildschön wie alle Kreolinnen, so lange sie jung sind, pompös frisiert, machte ein Nickerchen.

Da aber erhob sich von solch einer dunklen Bank eine Gestalt und näherte sich unterwürfig dem Kommenden.

Es war ein noch junger, etwas dicker, aber sehr kräftig, fast herkulisch gebauter Mann, in eine goldstrotzende Livree gekleidet, auf dem ebenfalls goldenen, nämlich rothaarigen Kopfe eine Portiermütze. Der Hausknecht des ersten Hotels von Caldera. Also überhaupt unbedingt ein Deutscher. Es gibt nur deutsche Hausknechte in der Welt. Die sind noch viel deutscher als Kellner und Kellnerinnen. Nur noch mit den Bäckergesellen können sie konkurrieren. Und nun überhaupt das rote Haar und der rote Schnauzbart, was hierher passte wie ein Eisbär in die Sahara.

Auch noch etwas anderes konnte man diesem Manne gleich auf drei Kilometer ansehen. Diese roten Pausbacken, überhaupt dieses unverschämt gesunde Gesicht, das sich weder vom Fieber bleichen noch von der Sonne bräunen ließ, und dann diese Bratwurstarme, und der ganze Mann hatte überhaupt so etwas Bratwurstähnliches an sich — ja, diesem Manne sah man gleich auf drei Kilometer seinen eigentlichen Beruf an.

Also diese rote, in Gold eingefasste Bratwurst näherte sich dem Mexikaner unterwürfig, mit einigen Bücklingen.

»Nun, Señor, haben Sie etwas geschossen?«, fragte er in einem tadellosen Spanisch.

Wenn der wieder lebendig gewordene Mexikaner hier einen alten Bekannten traf, über den er nicht instruiert worden, so wurde er dadurch doch nicht in die geringste Verlegenheit versetzt.

»Gar nichts.«

»Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt. Hier finden nicht einmal Schakale und Geier etwas zu fressen. Nur Ratten treiben sich in der Wüste herum, Ocultos werden hier diese Viecher genannt, aber auch nur in der Nacht.

»Ja, eine traurige Umgegend.«

»Ach, hier in der Stadt ist es noch viel trauriger als drin in der Wüste. Aber eine Million Dollars hätten Sie sich verdienen können.«

»Wie?«

»Durch einen einzigen Schuss. Das wäre eine Jagdbeute gewesen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Haben Sie kein Weib in der Wüste gesehen?«

»Ein Weib?«

»Die rote Atalanta soll sich in der Wüste herumtreiben.«

»Die rote Atalanta?«

»Kennen Sie die nicht? Die oben in Nordamerika am Sklavensee haust, mit einem deutschen Grafen verheiratet ist, mit dem Felsmark, der nämlich mein Schwadronleutnant gewesen ist — ich habe nämlich bei den Dragonern gedient — ein prachtvoller Mensch — wenn der —«

»Jawohl, ich habe genug von der roten Atalanta gehört!«, unterbrach diese selbst den Sprecher, damit er sich nicht noch weiter von dem Thema verirrte. »Was, die soll hier gesehen worden sein?!«

»Ein Mann will sie gesehen haben.«

»Was für ein Mann?«

»Ein Fremder, der vor zwei Stunden zu Pferde ankam, von Norden her, aus der Wüste heraus.«

Atalanta wollte sich wohl recht gern führen lassen, hatte aber durchaus nicht die Absicht, nun etwa alle eigenen Bemühungen aufzugeben.

»Ich glaube, diesen Mann habe ich in der Wüste gesehen. Hatte er nicht ein Kind im Arme?«

»Ein Kind?«

»Ein ganz kleines Kind in einem weißen Wickelbett?«

Die menschliche Bratwurst riss ihre blauen Augen weit auf vor Staunen.

»Was, ein kleines Kind im Wickelbett?!«

»Ich sah so einen Mann durch die Wüste reiten, er hatte ein kleines Kind in einem weißen Wickelbett vor sich im Sattel, im Arme.«

»Ja ja, das könnte schon stimmen! Er hatte etwas unter dem Poncho, ich sah einmal ein weißes Paket. Aber dass es ein Kind war, das ahnte ich natürlich nicht, es war auch ganz still. Wie soll man da an so etwas denken!«

Diese Indianerin wusste sich auch als Mutter zu beherrschen.

»Wo ist der Señor geblieben?«

»Der ist gleich in den Zug gestiegen, der gerade abging.«

»Wohin ist er gefahren? Wissen Sie das vielleicht?«

»Zuerst natürlich nach Copiapó. Weiter kann man das Billett hier nicht lösen, weil dann die Eisenbahn einer anderen Bahngesellschaft gehört, und eine Zwischenstation gibt es nicht.«

»Und das Kind hat er mitgenommen?«

»Ja, wenn's ein Kind war — ich sah das weiße Paket unter seinem Poncho gerade als er einstieg.«

»Sie kennen den Herrn nicht?«

»Nein.«

»Auch kein anderer kannte ihn?«

»Auch nicht. Er war ein ganz Fremder. Was ist es denn nur mit dem Kinde?!«

»O, nichts weiter — es ist nur, weil ich ihn durch dieses Kind wiedererkenne. Und die Sache ist nämlich die, dass er, als er an mir vorbei ritt, etwas verloren hat.«

»Etwas verloren? Was denn?«

»Einen Brief. Den ich ihm natürlich gern wieder zustellen möchte. Es scheint etwas sehr Wichtiges zu sein. Wann ist der Zug abgegangen?«

»Punkt zehn. Sie wollten ihn doch auch benutzen. Ich habe mich immer gewundert. dass Sie nicht kamen.«

»Ja, ich hatte mich etwas in den Schatten gelegt, bin eingeschlafen. Und wann ist der Zug in Copiapó?«

»Wenn alles gut geht, um eins.«

»Da ist er jetzt doch noch unterwegs.«

»Gewiss, es ist erst halb eins.«

»Kann man da nicht telegrafieren?«

»Freilich, da geht auch ein Telegrafendraht hin, und wenn Sie — was war denn das?«

Ein leises Klingeln war erklungen.

»Meine Repetieruhr, sie klingelt manchmal von selber«, meinte der junge Mexikaner phlegmatisch, die Telefonuhr aus der Tasche ziehend.

Er gab das Gegenzeichen, hielt sie ans Ohr, wusste, dass das, was ihm mitgeteilt werden sollte, keinem anderen Ohr vernehmlich war.

»Gib Dir keine Mühe, auf diese Weise erreichst Du den Fremden nicht, bekommst Du Dein Kind nicht wieder«, flüsterte denn auch die Membrane ganz leise.

Phlegmatisch steckte der junge Mexikaner die Uhr wieder ein.

Wenn Atalanta betroffen war, so nur darüber, wie man dort alles wusste, alles!

Wohl, sie glaubte dort dieser Allwissenheit, wollte also gehorchen. Aber was sie sonst tun konnte, wollte sie dennoch tun.

»Nein, so wichtig ist die Sache denn doch nicht, dass ich deshalb telegrafiere, den Reisenden etwa aufhalte. Wo ist denn sein Pferd geblieben? Das hat er mitgenommen?«

»Nein, das hat er hier abgegeben.«

»An wen denn?«

»Es war gerade ein Diener vom Señor Horlando auf dem Bahnhof da, dem hat er das Pferd gegeben.«

»Dann muss dieser Diener doch auch wissen, wer der Mann gewesen ist.«

»Nein, der kannte ihn nicht, ich habe ihn deshalb gefragt.«

»Aber der Señor Horlando muss ihn doch kennen.«

»Wohl möglich.«

Der deutsche Portier kannte die Sache. Es war vielleicht auch nicht möglich. In Südamerika ist das Pferd ein fast unpersönliches Eigentum. Die Pferde werden fortwährend getauscht. Wenn jemand quer durch Argentinien reitet, so nimmt er auf jedem Rancho ein neues Pferd, holt es sich sogar ohne erst zu fragen aus dem Stall oder fängt es sich auf der Weide ein, lässt es auf der nächsten Station wieder laufen, gesattelt oder ungesattelt, wie er es genommen hat. Dabei wird gar kein Unterschied zwischen guten und schlechten Tieren gemacht, auch Sattel und Zaumzeug sind immer gleich. Natürlich immer mit Ausnahme.

Das alles wusste auch Atalanta.

»Wo wohnt dieser Señor Horlando?«

»Gleich hier die zweite Straße links um die Ecke. Ich würde Sie gern führen, wenn ich nicht hier auf —«

»Danke, ich werde es schon finden.«

Der Mexikaner ließ sich das Haus nur etwas beschreiben und ging, fand es sofort.

Nach langem Klingeln öffnete ein Diener, und das war auch gerade derjenige, der dem Herrn das Pferd abgenommen hatte.

Aber auch dieser Diener kannte den Herrn nicht, wusste auch sonst nicht, wer er war.

»›Sagen Sie nur dem Señor Horlando, ich hole mir das Tier nächstens wieder ab.‹ So hat er gesagt, weiter nichts.«

»Aber Señor Horlando muss ihn doch kennen.«

»Ich weiß es nicht.«

»Er hat keinen Namen genannt?«

»Nein.«

»Kann ich das Pferd einmal sehen?«

»Wozu?«

Schnell wurde der Mann durch eine Silbermünze gefügig gemacht.

»Bitte sehr. Ist es Ihnen gestohlen worden? Ja, es ist ein gutes Pferd, aber keins, was man stiehlt.«

»Warum nicht?«

»Na, weil man für so eins keinen Käufer findet, solcher gibt's gar zu viele hier«, lachte der Mann.

Atalanta betrat den Stall. Die meisten Pferde standen gesattelt drin, blieben immer gesattelt, wenn der Sattelgurt nicht einmal riss.

Auch das ihr gezeigte trug noch den Sattel.

Ja, das war das Tier, da irrte sich die Indianerin nicht, wenn sie es auch nur einmal aus hundert Meter Entfernung gesehen hatte.

Sie trat näher, streichelte das Tier und — saugte dabei die Witterung des Sattels, des Zügels ein, den seine Hand gehalten, und das hatte sie ja auch nur gewollt.

So, das genügte, nun fand sie diesen Mann unter Hunderten, unter Tausenden wieder heraus, aus jeder Volksmenge, wenn derselbe Geruch nur noch einmal ihre Nase traf. Sie begab sich nach dem Bahnhofe zurück, wo der Portier wieder dem Mexikaner entgegenkam.

»Nein, er ist unbekannt.«

»Ja, wie das hier so ist. Man kennt sich und kennt sich doch nicht. Ja, und der will in der Wüste die rote Atalanta gesehen haben.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Das hat er hier laut erzählt, ich hab's zufällig gehört!«

»Wem hat er es erzählt?«

»Ein paar Herren, die er hier auf dem Bahnhofe traf.«

»Was waren das für Herren?«

»Auch wieder Fremde. Gott, Copiapó ist doch eine ziemlich große Stadt, die Hauptstadt dieser Provinz, die riesigen Bergwerke — da kommen viele Fremde hier durch.«

Atalanta verzichtete, auf diese Weise etwas über den Entführer ihres Kindes zu erfahren.

»Was sagten Sie da von einer Million Dollars, die man sich durch einen einzigen Schuss verdienen könnte?«

»Nun ja, wenn man die rote Atalanta totschießt. Wissen Sie denn nicht, dass auf deren Kopf eine Million Dollars steht, wenn man sie unschädlich macht, tot oder lebendig? Die müsste doch eigentlich im Zuchthause sitzen, wird jetzt auch noch wegen Mord verfolgt. Wissen Sie denn das nicht?«

»O ja, ich habe davon gehört.«

»Na, und diese Prämie steht noch immer aus. Eine Million Dollars erhält man bar ausgezahlt, und das für einen einzigen Schuss.«

»Die möchten Sie sich wohl gern verdienen.«

Der deutsche Hausknecht machte ein förmlich erschrockenes Gesicht.

»Ich?! Gott soll mich bewahren, ich bin doch kein solcher Lump! Diese rote Atalanta ist doch ein famoses Weib, so viel ich von ihr gehört habe, ich würde genau so handeln wie die, wenn ich's nur könnte, und überhaupt, sie ist doch die Frau von meinem Schwadronsführer geworden, dem Grafen von Felsmark, für den wir sofort alle durchs Feuer gegangen wären — nee, nee, wie's nur manchmal so kommt! Der und die rote Atalanta!!«

Dann machte die in Gold gefasste Bratwurst wieder eine unterwürfige Verbeugung.

»Verzeihen Sie nur, Señor, dass ich so ungeniert mit Ihnen spreche. Dass Sie ein nobler Cavalleresco sind, hatte ich ja gleich gemerkt — aber ich ahnte doch nicht, dass Sie auch so ein berühmter Mann wären.«

»Ein berühmter Mann?!«, lächelte der junge Mexikaner belustigt.

»Na und ob der Toreador Tarantello nicht ein berühmter Mann ist! Ein weltberühmter! Wir in Deutschland — ich bin nämlich ein Deutscher — wissen ja von so etwas freilich nichts, aber die Welt ist doch noch größer. Die Zeitungen haben doch wochenlang von Ihnen erzählt, jeder Sprung, den Sie machten, wurde besprochen. Innerhalb von zwei Stunden aber auch gleich elf Stiere, das ist ja großartig! Und das war Ihr erstes Auftreten als Toreador, wenn ich fragen darf?«

»Mein allererstes.«

»Umso großartiger. Umso größer Ihr Ruhm. Ich kenne auch etwas davon. Ja, wie ist denn aber das nur möglich? Da müssen Sie doch schon ein berühmter Picador gewesen sein, um als Toreador zugelassen zu werden, zumal in einer Arena wie Mexiko.«

»Nein, ich bin niemals öffentlich aufgetreten.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich bin eine Ausnahme, das war alles schon vorher abgemacht, mit dem Zirkusdirektor. Es handelte sich von vornherein um eine Überraschung.«

»Ah so! Aber da müssen Sie vorher doch immer erst ausgebildet worden sein, mindestens als Picador.«

»Ich bin im Geheimen ausgebildet worden.«

»Ah so! Jetzt verstehe ich.«

»Ja, jetzt ist es aber mit dem Toreador Tarantello schon wieder vorbei, jetzt bin ich wieder der Señor Diaz Lopez.«

»Weshalb sind Sie denn auf drei Jahre disqualifiziert worden? Sie haben sich doch gar keines Vergehens schuldig gemacht? Und nun überhaupt gleich auf drei Jahre — drei Jahre lang in keiner Stierarena der Welt mehr auftreten zu dürfen — das ist ja horrend! — das heißt ja einem gleich den Lebensfaden abschneiden!«

»Ich bin nicht disqualifiziert worden.«

»Nicht?! Es hat doch in den Zeitungen gestanden!«

»So haben die Zeitungen falsch berichtet oder Sie den Widerruf nicht gelesen. Nur anfangs sprach man von einer Disqualifikation.«

»Wie ist es sonst gekommen, wenn ich fragen darf? Ich interessiere mich sehr dafür.«

»Auch mein Vater war Toreador, ohne sich einen besonderen Namen zu machen, er trat nur in kleineren Arenen auf. Als ich vier Jahre alt war, entsagte er seinem Berufe, um sich ganz meiner Ausbildung zu widmen, wozu er eine besondere Idee hatte. Ich wurde auf einer ganz einsamen Plantage erzogen, wo ich Gelegenheit hatte, jeden Tag einigen Stieren den Garaus zu machen, und es war überhaupt eine ganz besondere Erziehungsmethode, worüber ich nicht sprechen darf. Dies alles geschah sehr gegen den Willen meiner Mutter, einer sehr frommen Dame, die ihren einzigen Sohn lieber im schwarzen Priestertalar als im bunten Seidenkostüm des Toreadors gesehen hätte, aber ihr Wille galt nichts.

Vor vier Wochen trat ich zum ersten Male öffentlich auf, und mein Erfolg hat wohl die Trainingsmethode meines Vaters gerechtfertigt. Aber dieser selbst konnte meinen und seinen Triumph nicht mehr genießen. Ein Schlaganfall hatte kurz vorher seinem Leben ein Ende gemacht. Und direkt aus der Arena wurde ich zu meiner Mutter gerufen. Auch sie lag im Sterben. Und auf ihrem Sterbebette beschwor sie mich, dem Berufe eines Toreadors und überhaupt dem Stierkampfe zu entsagen. Sonst könnte sie nicht in Frieden von dieser Erde scheiden. Sie würde keine Ruhe im Grabe finden, könne der ewigen Seligkeit nicht, — na, Sie wissen wohl, was alles weiter kam.«

»Ja, ich weiß, weiß, kann mir wenigstens alles vorstellen, wenn ich auch kein Katholik bin. Und Sie haben den Schwur geleistet?«

»Was sollte ich tun? Ich bin nicht gerade sehr religiös, aber meine Mutter habe ich wirklich geliebt. Ich leistete den Schwur.«

»Aber nur einen Verzicht auf drei Jahre.«

»Nein, für immer, Zeit meines Lebens.«

»Ja, ich denke, nur drei Jahre dürfen Sie nicht mehr auftreten.«

»So ist es dann noch arrangiert worden. Der Bischof der Stadt Mexiko hörte von der Sache, ließ mich vor sich kommen, reduzierte das lebenslängliche Gelübde auf ein dreijähriges. Ganz ohne mein Hinzutun. Denn wenn ich auch, wie gesagt, nicht gerade sehr fromm bin, mindestens nicht bigott, so ist mir ein Schwur doch zu heilig, als dass ich hinterher irgend etwas daran zu ändern versuchen würde. Aber wenn mir die Kirche selbst so entgegenkommt — na, das wird natürlich dankbar angenommen.«

»Hören Sie, Señor«, lachte der deutsche Hausknecht, der sich als ein immer gebildeterer Mensch entpuppte, »ich wollte vorhin schon auf die Pfaffen schimpfen — und wenn's angebracht ist, dann tue ich's, da nehme ich mir kein Blatt vor den Mund, und wenn ich gelyncht werde — aber dass sich der Bischof so Ihrer angenommen hat, das gefällt mir nun wieder, das erkenne ich dann auch offen an. Das heißt, Sie werden wohl etwas Tüchtiges dafür in die Kirchenkasse zu bezahlen gehabt haben, für Messelesen und so?«

»Nun, wie man's nimmt. So einfach ist es allerdings nicht. Am liebsten hätte mich der Bischof gänzlich von meinem Schwure dispensiert. Aber ein paar Jahre musste doch die Entsagung eingehalten werden. Hinwieder musste ich dem Bischof geloben, mich in diesen drei Jahren gerade recht fleißig in meinem Berufe zu üben. Nur öffentlich auftreten darf ich nicht, oder doch nicht gegen Bezahlung. Und was ich dann nach diesen drei Jahren wieder als Toreador verdiene, davon habe ich die Hälfte der Kirche abzugeben.«

»Oooh — au!!«, machte der Hoteldiener fingerschlenkernd. »So eine Gesellschaft —«

»Herr, hierüber haben Sie nicht zu urteilen, wenigstens nicht mir gegenüber!«, wurde der junge Mexikaner plötzlich sehr ungnädig, wandte jenem kurz den Rücken und schlenderte nach dem Büfett.

Die bildschöne Bardame war vornüber gefallen und steckte ihr klassisches Näschen in eine Schokoladentorte, ließ sich ermuntern, wischte die Schokolade von der Nase ab und kredenzte das gewünschte Eiswasser.

Atalanta hätte allen Grund gehabt, das Glas mit einem Zuge leer und noch ein Dutzend andere zu fordern. Fünf Stunden war sie durch die glühende Wüste marschiert, gerannt, jeder andere Mensch wäre doch halb verschmachtet gewesen. Aber diese Indianerin hatte eben eine ganz besondere Natur. Seit einer Stunde bald war sie nun schon in der Stadt und hatte noch nicht ans Trinken gedacht, und jetzt nippte sie nur an dem Glase.

Der Hoteldiener war nach der Zurechtweisung etwas unwirsch geworden, kam aber, als ihm freundlich gewinkt wurde.

»Nehmen Sie es nur nicht für ungut, Señor, wenn ich vorhin —«

»Das ist erledigt. Darf ich Sie zu einem Glase einladen? Aber mit Wasser ist Ihnen wohl nicht gedient. Wein? Es gibt auch Bier, wie ich sehe. Echt bayrisches. Das ziehen Sie als Deutscher wohl vor.«

»Gewiss, wenn Ihnen fünfundsiebzig Centavos nicht zu viel sind.«

Er hob das eingeschenkte Gläschen, das eine Mark kostete, und trank es auf das Wohl des Mexikaners.

»Wie sind Sie eigentlich hierher gekommen?«, fragte dieser.

»Gott, wie man so herumgeworfen wird, ich bin nach meiner Militärzeit eben in die Welt gegangen.«

»Was sind Sie ursprünglich von Beruf?«

»Eigentlich bin ich ein Kollege von Ihnen«, war die lächelnde Antwort.

»Sie sind auch Stierkämpfer?«

»Auch das. Von Beruf bin ich Fleischer.«

Das war es, was man diesem unverschämt gesunden Gesichte mit dem rosigen Teint und der ganzen Bratwurstgestalt gleich ansah!

Und das war auch schon Vererbung, wie er jetzt erzählte. Sein Vater war Fleischermeister und seine Mutter eine Fleischermeisterstochter gewesen. Da es sich die Eltern leisten konnten, hatte der Junge studieren sollen, aber er war nur bis Untertertia gekommen, es hatte ihm eben im Blute gelegen, auch er war Fleischer geworden. Beim Tode des Vaters war doch nicht so viel vorhanden gewesen, und den Wilhelm Neumann hatte es noch nachträglich als Fleischergeselle in die Welt getrieben.

»Ich habe zwei Jahre in Madrid gearbeitet, dort habe ich mein Spanisch gelernt. Ja, aber ich bin auch wirklich Stierkämpfer gewesen, in Madrid, freilich nicht Toreador, nicht einmal Picador, sondern habe nur mehrmals

1 Nur in der Lieferung 34 des Originals heißt es ›N a umann‹, im weiteren Text aber

durchgehend ›N e umann‹. Auf diese Schreibweise ist insgesamt umgestellt worden. als Matador mitgemacht. Jawohl, ich bin Matador gewesen! Die bei mir zu Hause mögen nicht schlecht gestaunt haben, als sie es hörten: Der Wilhelm ist in Madrid Matador — ach so, Sie verstehen gar nicht, was da für ein Witz drin liegt. Bei uns in Deutschland denkt man nämlich immer, der Matador ist beim Stierkampf der höchste, oder überhaupt, wenn sich jemand irgendwie recht hervortut, der wird Matador genannt. Während es doch gerade umgekehrt ist.«

Ja, so ist es. Matador heißt Knecht, und Knechte sind es doch auch nur, welche den Stier, nachdem er vom Toreador gefällt worden ist, vollends töten und ihn hinausschleifen.

»Hm«, meinte der junge Mexikaner nachdenklich, »also Sie haben bei Stiergefechten doch schon mitgemacht, kennen schon etwas von der Sache. Und wie sind Sie nun nach Chile gekommen?«

»Auch wieder als Fleischer. Ich dachte auf den argentinischen Viehhaziendas schweres Geld zu verdienen. Aber schwer hereingefallen bin ich dabei. Man hat mir etwas vorgemacht. Dieses Massenschlachten während der Saison in Akkord wird ja ganz jämmerlich bezahlt. Im Westen sollte es besser sein als im Osten, sagte man. Aber es wurde nur immer schlechter. So bin ich durch ganz Argentinien gewandert, bin zuletzt über die Kordilleren gemacht und hier als Hausknecht gelandet. Um nur etwas zu haben.«

»Hm, ich könnte einen Mann gebrauchen —«

»Aber sofort!!«, rief Wilhelm Neumann, eine Bewegung machend, als wolle er gleich seinen goldstrotzenden Rock ausziehen.

»Halt, halt!«, lachte der Mexikaner. »Sie wissen ja noch gar nicht, als was ich Sie engagieren würde.«

»Nun, ich denke doch als Ihren Diener.«

»Sie würden die Rolle eines Dieners spielen?«

»Meinen Sie nicht? Bin ich denn hier etwas anderes als ein Diener? Und was für einer!«

»Sie wissen aber doch noch nicht, was ich Ihnen zahlen werde.«

»Gar nichts brauchen Sie mir zu zahlen.«

»Gar nichts?«

Der jetzige Hausknecht blinzelte schlau mit den Augen.

»Na, wenn ich der Diener von dem berühmten Toreador Tarantello bin, dann regnet's doch für mich Trinkgelder, und ein Genieren wegen des Annehmens gibt's bei mir doch nicht mehr.«

»Weswegen denn Trinkgelder?«

»Na, wo Sie hinkommen — das wissen Sie doch selber am besten, was Sie für Briefchen täglich erhalten — natürlich nicht gerade hier in diesem elenden Neste — und doch, es ist nur noch nicht bekannt genug, dass der Toreador Tarantello sich hier aufhält — aber bleiben Sie nur bis morgen hier, wohnen Sie in einem Hotel oder sonst wo, und wenn Sie morgen mit der ersten Post nicht mindestens ein halbes hundert Briefchen bekommen, meist rosafarbene und parfümiert, so sollen Sie mich lebendig abhäuten können. Na, und da wird mir als Ihrem Diener schon genug in die Hand gedrückt werden.«

»Sooo, darauf spekulieren Sie, auf die Dienste und Einnahmen eines Postillons d'amour!«, lachte der Mexikaner.

»Nein, ich spekuliere nicht darauf«, entgegnete aber der Deutsche jetzt in ganz anderem Tone. »Señor, ich habe ganz offen etwas gesagt, was mir eigentlich nicht gerade sehr zur Ehre gereicht, so gestatten Sie mir auch ein anderes freies Wort, was mir als einem Hoteldiener einem vornehmen Cavalleresco gegenüber eigentlich nicht zukommt: Sie gefallen mir! Sie imponieren mir! Sie haben ein so ganz anderes Wesen als wie man es sonst bei diesen spanischen Herren findet. Ich bin nichts weiter als ein Hausknecht, und Sie sprechen mit mir, als wäre ich Ihresgleichen. Und ich spiele nicht etwa gern den Hausknecht. Dienen will ich wohl, und ich glaube überhaupt, jeder Mensch muss wohl dienen, sogar jeder Rentier, von einem Minister und selbst einem König ganz abgesehen — aber wenn ich dienen will und muss, so möchte ich mir doch gern meinen Herrn aussuchen, nur einen einzigen Herrn haben, dass ich nicht vor jedem Hanswurst zu bücklingen habe. Bitte, Señor, wollen Sie mich in Ihre Dienste nehmen? Sie werden mit mir zufrieden sein, und einen treueren Diener werden Sie jedenfalls niemals finden.«

Treuherzig, wie diese Worte gesprochen worden, blickten die blauen Augen den jungen Mexikaner an. Der aber blieb davon ziemlich ungerührt; nicht etwa, dass er jenem gleich begeistert die Hand entgegengestreckt hätte.

»Sie wissen aber noch gar nicht, wo ich mich hinbegebe, was ich vorhabe.«

»Nun, ich denke doch, Sie werden sich die drei Jahre, da Sie nicht als Toreador tätig sein dürfen, schon zu vertreiben wissen. Ihnen steht doch die ganze Welt offen —«

»Sie denken an ein abenteuerliches Leben? In großen Städten oder in der Pampas? Jawohl, in der Pampas, das stimmt schon, nur nicht als freier Mann, als mein eigener Herr. Ich beabsichtige, eine feste Stellung anzutreten. Ich übernehme die Aufsicht über einige zehntausend Rinder, einige tausend Pferde und einige hundert Gauchos.«

»Auf einer Hazienda?! Einem Rancho?! Als Direktor oder Inspektor — oder als Governatore, wie man hier sagt?!«

»Jawohl, ich bin als Governatore auf einen Rancho engagiert.«

»Auf einen mit einigen zehntausend Rindern, sagen Sie? Da kann doch nur Argentinien in Betracht kommen.«

»In Argentinien.«

»Diese großen Ranchos kenne ich doch alle, wenigstens dem Namen nach.«

»Dann also wohl auch den allergrößten, den der Señora Fonserra.«

Wilhelm Neumann machte plötzlich ein ganz bestürztes Gesicht.

»Ach Herrjeeh!! Bei der Eulalia, bei der Ochsenkönigin!«

»Jawohl, bei der Ochsenkönigin, wie sie allgemein genannt wird. Sie kennen sie?«

»Na und ob. Bei der bin ich auch vierzehn Tage gewesen. Länger wäre ich für alle Schätze der Welt nicht geblieben. Diese alte Vettel möchte sich ja vor Geiz am liebsten selber auffressen. Die Gauchos draußen sind ja nicht zu kontrollieren, die nehmen, was sie brauchen, aber wir Hausarbeiter, wir bekamen nur Fleisch, wenn einmal eine alte Kuh verendete, und das auf dem größten Viehrancho der Welt, der nicht einmal Absatz für sein Fleisch hat! Wie kommen Sie denn nur zu der?!«

»Diese alte Vettel ist meine Tante«, lächelte der junge Mexikaner.

Der andere machte eine erschrockene Bewegung und kratzte sich hinter dem Ohre.

»Pardon, das konnte ich nicht ahnen!«

»Ich habe es bis vor wenigen Tagen selber kaum geahnt. Ja, ich habe wohl immer gewusst, dass eine Verwandte meiner Mutter die größte Ranchobesitzerin in Argentinien ist, dass man sie die Ochsenkönigin nennt, habe mich aber absolut nicht um sie bekümmert, so wenig wie sie sich um mich und meine Eltern kümmerte.

Jetzt aber hat sie sich plötzlich meiner erinnert. Lädt mich in einem zärtlichen Briefe zu sich ein. Ich soll die Verwaltung des Ranchos übernehmen. Sie würde zu alt, und fremden Leuten trauen könnte man nicht. Ich soll sie dereinst beerben. Na, kann man sich die Geschichte da nicht wenigstens einmal ansehen?«

Jetzt machte Wilhelm Neumann doch wieder ganz andere Augen.

»Beerben sollen Sie die? Ja dann freilich! Dann lasse ich mir schon so eine Tante gefallen.«

»Also wollen Sie mich als mein Diener begleiten?«

»Sofort!«

»Ich benutze aber den nächsten Zug, der um zwei Uhr geht, also in einer Stunde.«

»Ich komme mit.«

»Können Sie denn gleich Ihre Stellung aufgeben?«

»Sofort. Ich habe keine Kündigung. Ich brauche bloß diese Affenuniform auszuziehen und meinen Kleidersack zu schnüren.«

»Dann eilen Sie. Über Ihren Lohn werden wir uns schon einig werden.«

Wilhelm sprang davon und Atalanta entnahm ihrer Brieftasche einen Gepäckschein, sie wusste aber noch nicht, was sie dafür am Schalter bekommen würde.

Es war ein neuer handlicher Lederkoffer, der nichts weiter enthielt als einige Leibwäsche, ein seidenes Toreador-Kostüm von leuchtenden Farben und ein Paar silberne, pfundschwere Sporen mit talergroßen Stachelrädern.

Nach weiteren Papieren suchte Atalanta. vergebens. Sie waren auch nicht nötig. Was sie in der Brieftasche bei sich trug, hatte vollkommen zu ihrer Orientierung genügt.

Bei der Ochsenkönigin

Während sich hier auf chilenischem Gebiet eine trostlose Wüste den Meeresstrand entlang zieht, breitet sich jenseits der Anden eine Prärie, hier Pampas genannt, von unerschöpflicher Fruchtbarkeit aus, weil von zahllosen Flüssen und Bächen bewässert, welche das mit ewigem Schnee gekrönte Gebirge alle nur nach Osten verlassen.

Freilich war das Land aus den verschiedensten Gründen nicht zum Ackerbau geeignet, schon aus dem Grunde nicht, weil zu der Jahreszeit, wenn hier alle Korn- und Hülsenfrüchte reifen, auch die Baumwolle, die ganze Gegend unter Wasser gesetzt wird. Das ist aber auch gerade die beste Bedingung zur Viehzucht. Die Überschwemmung erfolgt gerade in der heißesten, trockensten Zeit, und ist sie vorüber, dann prangt auch ohne Regen alles wieder im saftigsten Grün.

Der an die Anden grenzende Rancho, eine Rinder- und Pferdefarm, größer als manches deutsche Fürstentum, gehörte seit alten Zeiten, seitdem die Spanier Herren des Landes geworden, der Familie Fonserra.

Die Besitzer hatten die verschiedensten Geschäftskrisen durchgemacht. Einmal brachte der Rancho Millionen ein, ein anderes Mal war er total entwertet.

Es hing mit den fortwährenden politischen Wirren zusammen, nicht minder aber auch mit Erfindungen, welche Gelehrte in stiller Studierstube und im Laboratorium ausgegrübelt haben.

An ein Versenden des Fleisches nach dem Auslande konnte seinerzeit nicht gedacht werden. Nur die Büffelhörner und die eingesalzenen Häute der Rinder und Pferde kamen in Betracht. Das Fleisch der geschlachteten Tiere musste vergraben werden, sollte es nicht pestilenzartige Dünste aushauchen, das war eine schreckliche Plage, erforderte eine ungeheuere Arbeit, ganz zwecklos ausgeführt. Und das galt auch für die Ostküste, in der Umgebung von Buenos Aires war es damals nicht anders. Man konnte mit dem Fleische nichts anfangen, bis der deutsche Professor Justus Liebig die Herstellung des Fleischextraktes erfand.

Was die Erfindung dieses deutschen Gelehrten für ganz Südamerika, für die ganze Welt zu bedeuten hat, das ist mit Worten gar nicht auszudrücken. Nur dürfte es keine menschliche Stupidität und Engherzigkeit geben, die überall gleich Grenzen ziehen und diese verschließen muss.

Hierzu kam dann noch die Erfindung des Franzosen Nicolas Appert mit dem Corned Beef, überhaupt das Fleisch auf die verschiedenste Art zu konservieren.

Damals, als dieser Umschwung der Verhältnisse für die südamerikanischen Ranchos eintrat, hatte das Besitztum der Fonserras noch zu Chile gehört. Damals war die Grenze zwischen Chile und Argentinien eben noch nicht durch die Cordilleres de los Andes gezogen gewesen, da hatte sich Chile noch viel weiter nach Osten erstreckt.

Aber auch schon vorher waren die Geschäftsverhältnisse dieses Ranchos sehr günstige gewesen, als nur Büffelhörner und Häute in Betracht kamen. Die Zentralstation der Schlächtereien lehnte sich gleich ans Gebirge, darüber hinweg führte ein ganz bequemer Pass, und die weiteren fünfundzwanzig Meilen durch die Wüste bis zur Küste haben für Amerika gar nichts zu bedeuten.

Dann wurde die Eisenbahn bis nach San Antonio gebaut. Ihre Weiterführung über das Gebirge hinweg war nur noch eine Frage der Zeit. Immer wertvoller wurde Fonserras Rancho, immer besser rentierte sich die Viehzucht — —

Da brach zwischen Chile und Argentinien der Krieg aus, der endlich 1898 durch Schiedsspruch der Vereinigten Staaten von Nordamerika geschlichtet wurde. Von jetzt an bildeten die Anden die Grenze zwischen den beiden Republiken. Fonserras Rancho gehörte nicht mehr zu Chile, sondern zu Argentinien. Und hierdurch war dieses Rancho völlig entwertet.

Denn Chile sperrte seine Grenzen gegen argentinische Einfuhr, und für den Durchgang erhob es einen ungeheuren Zoll. Und an einen Transport der Waren bis nach der atlantischen Küste war doch gar nicht zu denken. So war dieses Rancho vollständig entwertet, und das nach menschlicher Berechnung für alle Ewigkeit.

Jetziger Besitzer des Ranchos war ein Weib, die letzte Fonserra, aber keine Frau, keine Señora, sondern eine Señorita, eine unverheiratete Jungfrau, freilich eine von schon fünfzig Jahren.

Jetzt saß die Señorita Eulalia in ihrem Fürstentum und spann Trübsal. Wie reich sie war, wusste sie wirklich nicht. Seit Jahrzehnten hatten sich ihre Rinderherden ins Ungeheuere vermehrt. Es war ja gar kein Absatz da. Sie wusste wohl, wie viel Zehntausende sie hatte, aber die einzelnen Tausender kannte sie nicht genau. Und von den Pferden nicht die Hunderter. Und dies alles nun ganz wertlos. Es war ein Spottname, die Ochsenkönigin, den man ihr gegeben hatte. Gegen dreihundert Gauchos, wie hier die Cowboys genannt werden, mussten unterhalten werden, und der Mensch braucht doch noch anderes als nur Fleisch. Und dieser Riesenbesitz brachte nicht so viel ein, um nur den Tabak zu bezahlen, den die Gauchos zu fordern hatten.

Und nötig waren diese Viehhüter. Jedes Rind und Pferd musste sofort gebrannt werden, eine Marke bekommen. Sonst war das Tier gesetzlich vogelfrei, konnte von jedem Nachbar weggefangen werden. Wenn der mit dem Tiere auch nichts weiter anzufangen wusste, als es seinen Herden einzureihen. Das macht doch schon Spaß genug. Und nun ringsherum die Pampasindianer, die Indios bravos, die jede Gelegenheit wahrnahmen, um zwischen den Rinderherden ein Massaker anzurichten, nur aus reiner Mordlust. Die konnten nur von einem Regiment Gauchos in Schach gehalten werden.

Ja, das Klügste, was Señorita Eulalia hätte tun können, wäre gewesen, einfach ihren ganzen Rancho aufzugeben, einfach abzureisen und alles im Stich zu lassen. Dann hätte sie wenigstens nicht mehr ihr Kapital fortwährend angreifen müssen. Denn die Zinsen des von ihren Vorfahren angehäuften Vermögens, so groß dieses auch war, langten schon längst nicht mehr, um die Unkosten zu bestreiten.

Und darauf warteten die Gauchos ja auch nur. Dass die Patrona einmal abging, dass sie einige Zeit keine Proviantrationen und keinen Lohn erhielten, um sich dann in das herrenlose Gebiet zu teilen, ihr wildes Leben als freie Herren weiterzuführen.

Aber nicht etwa, dass die Gauchos ihrer Patrona nun deshalb das Leben auch noch verekelten. O nein. Diese Gauchos sind wahre Heroen der Pflichttreue. Sie wollen nur ihre vorschriftsmäßigen Rationen an Tabak, Pulver, Mehl und jährlich einen Poncho haben — diese Bedürfnisse des menschlichen Lebens sind gleich nach ihrer Wertfolge geordnet — und außerdem noch — ein Begräbnis in von einem Priester geweihter Erde — dann sind sie bereit, für jedes Kalb ihr Leben zu opfern, sich von den Indianern lebendig schinden zu lassen. Dass ein Gaucho mit einem viehlüsternen Nachbar gemeinsame Sache macht, ist vollkommen ausgeschlossen. Nicht fur alle Schätze der Erde, nicht einmal für den allerschönsten Revolver. Es ist so ausgeschlossen, als wenn ein Gaucho den Fremden, dem er Gastfreundschaft gewählt hat, bestehlen wollte. Es ist so ausgeschlossen, als wenn ein Gaucho den Fremden, der seine katholische Strenggläubigkeit bezweifelt, nicht sofort an einen Pferdeschweif bindet und ihn zu Tode jagt. Es ist so ausgeschlossen, als wenn ein Gaucho ein Fässchen denaturierten Brennspiritus in die Hände bekommt und eher davon ablässt, als bis er es ausgetrunken hat.

Aber Señorita Eulalia dachte gar nicht daran, ihren Besitz aufzugeben. Nur deshalb nicht, damit ihn nicht ein anderer bekam. Lieber opferte sie auch noch alles andere, und zuletzt, wie Wilhelm Neumann sich ausgedrückt, fraß sie sich selbst noch auf.

*

Jetzt befand sie sich in einem Raume des Herrenhauses. Dieses war aus Stein ausgeführt — Steine gab es ja hier in der Nähe des Gebirges genug — aber es waren unbehauene Steine, die nach Art der zyklopischen Mauern ohne Mörtel zusammengepasst waren, wie es gerade ging, und da hier der Stein durch den fortwährenden Wechsel von größter Trockenheit und größter Feuchtigkeit sehr schnell verwitterte, so war das alte Haus schon äußerst baufällig, die Mauern konnten jeden Tag über den Bewohnern zusammenbrechen. Doch an den Gedanken solch einer Möglichkeit gewöhnt man sich ja mit der Zeit.

Es war ein Empfangszimmer, ein Gesellschaftssalon. Einige Überreste von Möbeln verrieten, dass dieser Raum auch einmal wirklich möbliert gewesen war. Die zahllosen Insekten dieser Gegend, deren Larven meist im Holze leben, räumen gar schnell damit auf. Zwar gab es gerade hier am Abhang des Gebirges Wald genug, aber kundige Hände fehlten, um auch nur den plumpsten Stuhl zu zimmern. Also behalf man sich wie in den Gauchohütten, um Sitzplätze zu gewinnen, einfach mit Pferdeschädeln, nicht einmal mit Decken belegt.

Auf solch einem Pferdeschädel saß die Hansherrin.

Ja, die Kreolinnen sind durchweg bildschöne Weiber. Aber nur, so lange sie jung sind. Und mit fünfzig Jahren ist man das nicht mehr. Señorita Eulalia war eine gelbe, spindeldürre Hexe mit spitzer Nase. Sie passte ganz zu dem Pferdeschädel, auf dem sie saß, zu dem ganzen Hause. Eingehüllt war sie in einen weiten Schal, ebenso schmutzig wie durchlöchert, und wie sie ihn so fest an sich zog, kam man fast auf die Vermutung, dass sie gar nichts weiter darunter anhabe.

Ihr gegenüber saß, ebenfalls auf einem Pferdeschädel, ein älterer Mann im abstrapazierten Reitkostüm aus Leder. Nach den bartlosen, hageren Zügen und besonders nach den großen, dunklen Augen konnte man ihn sehr leicht für einen Mestizen halten, für den Abkömmling eines Spaniers und einer Indianerin, wovon er aber jedenfalls nichts wissen wollte.

Er drehte sich aus einer silbernen Tabatiere eine Zigarette nach der anderen, und sein Feuerzeug war sogar von Gold, und jedes Mal sah die Hausherrin dabei begehrlich auf seine Finger, ohne dass er ihr eine Zigarette anbot. Und wenn er einen Stummel fortwarf, so ließ sie jedes Mal unter ihrem Schal einen zerrissenen Lederschuh hervorschlüpfen, mit dem sie den noch glimmenden Stummel austrat.

Der Señor wusste recht wohl, weshalb sie das tat. Nicht wegen Feuersgefahr, nicht aus Ordnungsliebe, sondern damit der Stummel nicht umsonst weiterglimmte. Weil sie ihn dann weiterrauchen wollte oder den Tabak herausmachte. Obgleich sie den Tabak heute noch zentnerweise verteilen musste. Aber wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.


Illustration

»Ich verstehe nicht, Señorita, was Sie mit Ihrem Toreador wollen.«

»Ich habe es Ihnen doch deutlich genug erklärt, Señor Ramón. Ein junger, feuriger, schöner Mann, Meister in allen ritterlichen Künsten, ein unvergleichlicher Schütze und Reiter — —«

»Das habe ich wohl alles verstanden. Aber glauben Sie doch ja nicht, solch ein ritterlicher Kavalier könnte den Indianern nur durch sein Auftreten und durch alle seine sonstigen Tugenden so imponieren, dass die alle gleich ihre Feindseligkeiten vergäßen und sich zu einem gemeinsamen Kriegszuge unter seiner Führung vereinigten. Wir haben unsere Agenten und Spione bei allen den sechsundzwanzig Indianerstämmen, die als die mächtigsten hierbei in Frage kommen. Wir haben soeben in Santa Fee unsere Generalversammlung gehabt. Das heißt — von wegen soeben — ich bin schon wieder seit drei Wochen im Sattel, und die Pferde, die unter mir zusammengebrochen sind, habe ich nicht gezählt.

Da ist also, wie Sie sich das denken, gar nichts zu machen. Und wenn der Kerl wie ein Gott reiten und schießen und das Lasso werfen und die Bola schleudern könnte — diese Indios bravos werden niemals einen Fremdling als ihren Häuptling anerkennen, noch viel weniger sich unter ihm vereinigen.

Nein, geben Sie nur den Plan mit Ihrem Neffen dem Toreador auf. Es bleibt bei unserer abgemachten Sache.«

»Mit dem Kinde.«

»Ja, mit dem Kinde. Es ist ein wundersamer Zufall genug, dass wir endlich erfahren haben, was es mit der uralten Sage oder Prophezeiung, die unter sämtlichen Pampasindianern zirkuliert, für eine nähere Bewandtnis hat, dass wir jetzt wissen, wie die Zauberer und die Häuptlinge und die sonstigen Eingeweihten zum Sprechen zu bringen sind.

Der große Geist wird vom Himmel herab ein Kind senden, dem werden, wenn es dereinst zum Manne erwachsen ist, alle Indios bravos anhängen, der wird sie vereinigen, unter dessen Führung werden sie die weißen Fremdlinge wieder zum Lande hinausjagen.

Mit dieser prophetischen Sage müssen wir rechnen. Wir müssen dem großen Geiste etwas unter die Arme greifen. Etwas anderes gibt es nicht.«

»Ein kleines Kind muss es sein?«

»Ein ganz kleines. So gut wie neugeboren. Na, in Wirklichkeit kann es ja ein paar Wochen oder selbst ein paar Monate alt sein, dass es auch lebensfähig ist. So ein Götterkind wird doch gleich ganz anders geboren.«

»Da vergehen aber doch zwanzig Jahre, bis das so weit ist.«

»Na, sagen wir fünfzehn Jahre.«

»Fünfzehn Jahre! Und so lange soll ich hier noch warten?!«

»Haben Sie sich schon zwanzig Jahre hier herumgeärgert, so können Sie es auch noch fünfzehn aushalten. Sagen Sie sich nur immer, dass die Hälfte schon weit überschritten ist. Wir sorgen als echte Spanier eben nicht für uns selbst, sondern arbeiten für unsere Kinder.«

»Ich habe keine Kinder.«

»Dann schaffen Sie sich doch welche an.«

»Herr —!«, wollte die Señorita emporfahren.

»Nachkommen, Erben meine ich natürlich. Sie hatten doch selbst gesagt, Sie wollten Ihren Neffen als Erben einsetzen. Tun Sie das, nur lassen Sie ihn als Indianerhäuptling aus dem Spiele.«

»Wie soll denn das Kind vom Himmel herabkommen? Durch den heiligen Geist?«

»Jawohl, durch den heiligen Geist«, spottete der Señor.

»Wie denn sonst?«

»Es muss eben ganz plötzlich vom Himmel erscheinen.«

»Ja, aber wie denn nur. Was meldet da die Prophezeiung?«

»Es geschieht eben ein Wunder.«

»Und wie werden Sie das Wunder inszenieren?«

»Das lassen Sie nur unsere Sache sein.«

»Weshalb werde ich nicht eingeweiht?«

»Man hat Sie doch schon eingeweiht.«

»Aber nur erst halb.«

»Zahlen Sie an unseren Verein eine Million Pesos, und man wird Sie ganz einweihen.«

»Eine Million Pesos!«, erklang es entrüstet. »Sie sind wohl —«

»Und doch liegt dieser vorzubereitende Indianeraufstand in Ihrem allereigensten Interesse.«

»Ach, was werde ich denn davon haben! Höchstens, dass auch ich zum Lande hinausgejagt werde, wenn mir nicht Schlimmeres widerfährt.«

»Und ich sage: Gerade Ihnen wird dieser Indianeraufstand vom allergrößten Vorteil sein!«

Die gelbe Hexe mit den funkelnden Augen spitzte die Ohren.

»Bei welche Stamme wird denn dieses Kind nach der Prophezeiung erscheinen?«

»Ja, das ist es eben, was wir jetzt endlich auch herausgebracht haben, und nun können wir auch zu handeln anfangen.«

»Nun, bei welchem?«

»Ja, da fragen Sie mal.«

»Doch nicht bei den Penchuenchen?!«

»Ahem, bei den Penchuenchen. Ich bin beauftragt, Ihnen dies mitzuteilen, auch ohne dass Sie die Million gezahlt haben, damit Sie sich danach richten, sich schon weiter darauf vorbereiten. Ja, die Penchuenchen sind das erwählte Volk des großen Geistes, in diesem Stamme wird der indianische Messias erscheinen, der alle Indios bravos wieder zur alten Herrlichkeit zurückführen wird.«

»Also bei den Penchuenchen!«, flüsterte die Señorita, wie sie schon immer sehr leise gesprochen hatte, jetzt aber ganz erregt.

Es war der benachbarte Indianerstamm, der aber auch noch in ihrem Rancho selbst hauste, da dieses ja ein Land fast so groß wie das Königreich Sachsen war, vielleicht der mächtigste von ganz Argentinien.

»Ja, und daher müssen auch Sie eine Rolle dabei spielen.«

»O ja, das glaube ich wohl, nun braucht man mich, als Patrona der Penchuenchen.«

»Die sich den Teufel um Ihre Schutzherrschaft kümmern, was Sie ihnen überhaupt gar nicht sagen dürfen, zumal Sie ihnen kein Quäntchen mehr geben, als sie von Rechts wegen zu verlangen haben.«

»Die haben überhaupt gar nichts zu verlangen.«

»Das sagen Sie einmal diesen Indianern.«

»Ist denn schon so ein Kind gefunden worden?«, lenkte die Señorita von diesem Thema ab.

»O, das ist sofort da, wenn man es braucht. Kinder gibt's genug. Natürlich muss es ein entsprechendes sein, das stimmt.«

»Ein indianisches?«

»Nein, damit fangen wir lieber nicht an. Ein Indianer bleibt immer ein Indianer, der trotzige Charakter kommt doch immer wieder zum Durchbruch, den können wir später nicht mehr kontrollieren, da haben wir schon unsere bösen Erfahrungen gemacht.«

»Also ein weißes, ein spanisches?«

»Das dürfte wohl auch nicht gut gehen, der Sohn des großen Geistes und der zukünftige Häuptling aller vereinigten Pampasstämme muss doch wenigstens etwas Indianisches an sich haben. Also bleiben wir beim goldenen Mittelweg: Wir werden einen kleinen Mestizen wählen.«

»Der soll dann von den Penchuenchen erzogen werden?«

»Selbstverständlich, von wem denn sonst. Doch nicht etwa in Buenos Aires auf der Universität.«

»Da verlieren wir wiederum die Kontrolle über ihn, dass er dann später nicht nach unserer Pfeife tanzt.«

»Ja, da müssen wir ihm eben gleich einen geeigneten Gesellschafter geben, natürlich einen von unseren Leuten.«

»Dann kann das doch mein Neffe sein.«

»Ach, gehen Sie doch weg mit Ihrem Toreador!«, erklang es verächtlich zurück. »Ja, er mag reiten und schießen können, aber was meinen Sie wohl, was dazu gehört, um sich den Respekt von solchen Pampasindianern zu verschaffen. Vor allen Dingen müsste er ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn sein, ein untrüglicher Fährtensucher, und ist das Ihr Neffe etwa?«

»Er ist auf einer Farm erzogen worden, die in der Wildnis lag.«

»In Mexiko, a bah, was ist denn das! Was kann er denn da von der Jagdkunst der Wildnis gelernt haben! Was da ein Pampasindianer verlangt, das wissen Sie doch selbst am besten. Auf den ersten Blick beurteilen, ob die Fährte von einem Hirsche oder einer Hirschkuh stammt und wie alt das Tier ist.«

»Ich habe ihn aber nun einmal herbestellt.«

»So bestellen Sie ihn wieder ab.«

»Er ist schon unterwegs.«

»Schicken Sie ihn wieder zurück. Nein, das muss ein ganzer Pampasmann sein, den wir dem Kinde von uns aus zur Seite geben, damit auch wir dereinst nicht etwa zum Lande hinausgejagt, wenn nicht gleich massakriert werden.«

»Ja, und wie soll das Kind nun vom Himmel fallen?«

»Derartig, dass es sich dabei nicht die Knochen zerschmettert.«

»Von einem Luftballon aus?«

»Jawohl, haben Sie eine Ahnung!«, lachte der andere »Und selbst wenn diese Indianer noch keinen Luftballon über Argentinien hätten hinstreichen sehen, oder dass es wenigstens einer dem anderen erzählt hat, so wüssten sie doch gleich, dass das nur eine künstliche Mache der Blassgesichter wäre. Denn die Zeiten sind vorbei, da diese Indianer solch eine fliegende Luftkugel als ein göttliches Wunder anbeten würden. Die wissen schon, was die weißen Fremden alles fertig bringen.«

»Der Ballon kommt des Nachts, das Kind wird heimlich ausgesetzt.«

»Heimlich? Wie denn heimlich? Das Wunder muss sich doch überhaupt ganz offen vollziehen.«

»Ja, wie soll denn das da nur gemacht werden? Ein Kind soll vom Himmel herabfallen?«

»Sie wissen nicht, wie das zu machen ist?«

»Nein.«

»Hätten gar keine Idee dazu?«

»Nein.«

»Da sehen Sie, wie gut es ist, dass diese Sache in andere Hände gelegt worden ist. Nun, ich bin beauftragt, Sie jetzt hierin einzuweihen, denn alles, was zur Vorbereitung dazu gehört, vollzieht sich in unserer dichtesten Nachbarschaft, schon seit langer Zeit, obgleich Sie, wie ich jetzt merke, nicht die geringste Ahnung davon haben.«

Er begann noch leiser zu sprechen, erzählte gar lange, und das gelbe Gesicht der alten Hexe nahm einen immer erstaunteren Ausdruck an.

Bis draußen ein sporenklirrender Schritt erklang. Ein Mann trat ein, ein Verwalter oder Aufseher, aber wie jeder andere Gaucho gekleidet, ganz in Leder gehüllt, aber in ungegerbtes, das seinen Körper wie ein harter Panzer umgab, und seine bis an den Leib reichenden Stiefel bestanden aus den Beinen eines Pferdes, dem man das Fell ohne Schnitt abgestreift hatte. Nur die Hufe müssen natürlich entfernt und durch andere Füße ersetzt werden.

»Die Penchuenchen wollen ihre Rationen holen«, meldete er kurz.

»Wie viele sind es?«, schrak die Señorita aus ihrer Unterhaltung empor.

»Zweihundertvierundsechzig Köpfe.«

»Schon wieder zweie mehr!!«, erklang es jammernd.

Ja, es war auch eine ganz bedeutende Tributzahlung für nichts und wieder nichts, jeden Monat pro Kopf ein halbes Pfund Tabak, fünf Pfund Mehl, ein Pfund Zucker und etwas Kakao, außerdem noch die nötige Schießmunition und jedes Jahr pro Kopf einige Meter Tuch und anderes Gewebe.

So war das ausgemacht worden, als der erste Ansiedler hier mit den ursprünglichen roten Besitzern dieses Landes Frieden geschlossen hatte, und wenn der Tribut nicht pünktlich gezahlt wurde, so war das eben Friedensbruch und die Penchuenchen wussten sich zu rächen.

Ihre Forderung war ja überhaupt bescheiden genug.

Die Indianer in Nordamerika müssen in ihren Reservaten von der Regierung und den Privatbesitzern ganz anders entschädigt und unterhalten werden, was sind auch monatlich fünf Pfund Mehl pro Kopf, bei Leuten, denen Brot dasselbe ist wie uns das Fleisch. Und für solch einen Riesenrancho wie diesen musste dieser monatliche Zins ja auch gar nichts zu bedeuten haben.

Wenn freilich ein großes Haus unvermietet ist, gar nichts einbringt, so hat eben auch die kleinste Ausgabe etwas zu bedeuten. Die Patrona konnte mit Recht jammern, das ging alles von ihrem Kapital ab.

Und diese Indianer in Südamerika wollen auch gar nicht weniger werden, obgleich sie fortwährend unter sich in blutiger Fehde liegen. Vermehren tun sie sich allerdings nicht, nehmen aber auch nicht ab. Die scheinen überhaupt aus einem ganz anderen Holze geschnitzt zu sein als ihre nordamerikanischen Brüder. Bei denen lässt sich keine Branntweinpest künstlich einführen, die scheinen nur immer älter zu werden, je mehr Feuerwasser sie trinken. Wenigstens gilt das für die argentinischen Pampasindianer, die heute noch auf hundertausend Köpfe geschätzt werden, noch in gänzlich ungebundener Freiheit leben und heute noch eine für die Zivilisation ganz gefährliche Kriegsmacht bilden. Ein Glück nur, dass die Stämme unter sich immer uneinig sind.

Es waren nicht etwa alle zweihundertvierundsechzig Männer, Frauen und Kinder des Stammes der Penchuenchen, welche kamen, um sich ihren Tribut zu holen, sondern nur ein Dutzend Krieger, die mit Packpferden gekommen waren.

Es waren hohe, schlanke, sehnige Gestalten, zum Teil auch sehr muskulös, nur mit weichgegerbten Lederhosen und Mokassins bekleidet, der Oberkörper nackt und ebenso wenig tätowiert wie das bartlose Gesicht, das durchwegs regelmäßige, sehr angenehme Züge zeigte, in denen aber auch so ein starrer Ausdruck wie bei den nordamerikanischen Indianern lag, die Haut mehr dunkelbraun als rot, das schwarze Haar lang und straff, bis auf die Schultern und noch weiter reichend, ohne jeden Schmuck.

An Waffen trugen sie im Gürtel nur die Manchetta, das lange spanische Messer, mit dem sie aber nicht skalpieren, sie schneiden dem Feinde immer gleich den ganzen Kopf ab, ferner die Bola, eine Schnur mit zwei oder drei Bleikugeln wie die Walnüsse, die wirbelnd durch die Luft geschleudert wenden, und dann führte noch jeder eine Lanze bei sich, bestehend aus dem Rohre einer starken Schilfart, an dessen Ende wieder ein Messer befestigt war.

Jeder hatte seine Lanze in den Boden gesteckt und den Zügel seines Pferdes darum geschlungen. Es waren kleine, magere, unscheinbare Tiere, aber von höchster Ausdauer, nur mit einer Decke gesattelt, vor der ein Lasso aufgerollt war. Dass die Pferde ruhig stehen bleiben, solange der Zügel um die doch nur lose in den Boden gesteckte Lanze liegt, das ist die einzige Dressur, die diesen »Cimmarones«, den verwilderten Nachkommen von andalusischen Rennern, beigebracht worden ist, durch besondere Kniffe und mehr noch durch Prügel. Fällt die Lanze einmal um, dann geht das Tier ab, es sucht sich mit seinen freien Genossen zu vereinigen.

Nur der Häuptling führte noch eine schöne Doppelbüchse bei sich. Es war eine große Ausnahme, dass einmal der Häuptling, die große Adlerklaue, mitgekommen war. Seinen Namen mochte er daher haben, weil der noch junge Mann im Gegensatz zu den anderen ganz auffallend große Hände hatte.

Sie erwarteten keine Begrüßung, am wenigsten von der Ranchobesitzerin, und da machte auch die Gegenwart des Häuptlings keinen Unterschied. Sie wollten nur ihren Tribut haben, und auf ihre Ehrlichkeit bei der Volkszählung konnte man sich verlassen. Wenn sie in ihr Lager zurückkamen und unterdessen war ein Kind, ein Säugling gestorben und es wurde konstatiert, dass es schon tot war, ehe die Gesandtschaft den Rancho erreicht hatte, so konnte man sicher sein, dass einer ein halbes Pfund Tabak, fünf Pfund Mehl und den Zucker und Kakao zurückbrachte.

Natürlich musste die Gesandtschaft auch bewirtet werden. Sie lagerten an ihrem alten Platze, wo noch die frühere Feuerstelle war, gleich neben dem Herrenhause, holten vom nahen Busche Holz, machten ein großes Feuer an, schon hatten Gauchos einen jungen Stier abgestochen, schleiften ihn herbei, einige Indianer häuteten ihn mit fabelhafter Geschwindigkeit ab, zerwirkten das Tier, die großen Fleischstücke wurden auf glühende Holzkohlen gelegt, und wenn ein Stück leicht angeröstet, das heißt angebrannt war, wurde es verschlungen, dass das Blut von den Lippen floss. Das würde einige Stunden währen, dann war von dem jungen Stiere nichts weiter übrig als Haut und Knochen und wertlosere Fleischteile. Unterdessen wurden die Tabaksrollen und kleinen Mehl- und Zuckersäcke herbeigebracht, die Indianer wogen dann nach, nur durch einfaches Heben mit den Händen, aber sofort merkend, wenn auch nur eine Unze an dem spanischen Gewicht fehlte, und dann ritten sie mit ihren beladenen Packpferden zurück, um einen Monat lang nichts mehr von sich sehen und hören zu lassen — wenn es die weißen Fremdlinge nicht anders wollten, oder vielmehr die weißen Gäste, Hospidas, wie die Pampasindianer die Blassgesichter recht andeutungsvoll nennen. Sie werden bei ihnen eben nur als Gäste geduldet, und einmal muss doch schließlich jede Gastfreundschaft ein Ende haben.

Der Gaucho hatte den Raum wieder verlassen.

Und die Señorita interessierte sich natürlich nicht mehr für diese schwarzbraunen Halunken, die ihr jedes Mal ein ganzes Kalb auffraßen und dann auch noch Waren im Werte von tausend Mark mitnahmen, jeden Monat!

»Sie müssen die Gesandtschaft begrüßen«, sagte Señor Ramón.

»Ich die begrüßen, was fällt Ihnen ein?!«

Durch das Fenster sah man auf die am Feuer wirtschaftenden Indianer.

»Bei Gott, da ist auch die Adlerklaue dabei!! Den Häuptling müssen Sie unbedingt begrüßen!«

»Damit er mir vor seinen Kriegern erst recht beweist, dass gerade ich als die Patrona Luft vor seinen Augen bin!«

»Sie haben recht, aber — geben Sie nur reichlich Geschenke, spenden Sie die doppelten Rationen!«

»Doppelte Rationen?«, höhnte die Patrona. »Weiter fehlte nichts? Wofür denn nur?«

»Sie wissen doch, was davon abhängt, nachdem ich Sie nun in alles eingeweiht habe —«

»Ja, wenn es so weit ist. Da muss erst das Kind da sein. Vorher hat das alles gar keinen Zweck, die Indianer werden nur verwöhnt.«

»Señorita, Ihr Geiz ist sprichwörtlich —«

»Was wäre ich?! Geizig?«

»Na, wenn Sie daran selbst noch zweifeln — was sind das für zwei Reiter?«

Sie bogen gerade um die Ecke des Seitengebäudes, einer im mexikanischen Nationalkostüm, der andere in einer derben Reisekleidung.

Die Señorita sprang empor.

»Das ist er, mein Neffe Diaz Lopez!«

»Ah, Ihr zukünftiger Erbe, der weltberühmte Toreador Tarantello, so sieht er auch gerade aus«, spottete der Señor. »Na, da stellen Sie ihn mal den Penchuenchen als ihren und aller Indios bravos' Häuptling vor, und dann treten Sie ihm Ihren Rancho ab.«

Aber so hatte das die Señorita nicht gemeint, ihr Aufspringen war kein freudiges gewesen; sie hatte ihre Ansicht ganz gründlich geändert.

»Nein, wenn die Sache so steht, dann werde ich mich dieses unerwünschten Kostgängers schnell wieder zu entledigen wissen.«

*

Atalanta, wie wir sie auch in ihrer männlichen Kleidung weiter nennen wollen, war von ihrem Begleiter getrennt und von einem verwilderten Menschen in einen Raum geführt worden, der sich durch eine elende Lagerstelle und einen zerbrechlichen Waschtisch auszeichnete, in dessen Becken und Krug das Wasser fehlte.

Gern hätte sie einmal die Telefonuhr benutzt, aber sie wusste, dass sie vergeblich angerufen hätte. Sie bekam keine Antwort, musste warten, bis sie selbst das Klingelzeichen erhielt.

Und die Hauptsache war, dass sie ganz genau wusste, wer sie selbst war, wen sie vorzustellen hatte — einen jungen, sorglosen Mexikaner, der kein morgen kennt — einen siegesbewussten Toreador, der sich in seiner Kraft und Gewandtheit für den Herrn der Erde hält.

So war es denn auch ganz richtig, dass sie sich jetzt erst verwundert in dem ziemlich nackten Raume umschaute.

»In was für eine Bettlerhütte bin ich denn hier geraten? Ist denn das ein Fremdenzimmer, in dem man einen zukünftigen Millionenerben oder mindestens den Governatore dieses fürstlichen Ranchos unterbringt? Mit der Fürstlichkeit scheint es hier freilich etwas zu hapern, und das mit allem, was ich bisher hier gesehen habe. Aber Millionen hat meine Tante, das hat sie mir selber geschrieben, und die Erbschaft sichert sie mir zu, wenn sie nur einigermaßen mit mir zufrieden sei. Nun, daran soll es nicht fehlen.«

Ungestüm wurde die Tür aufgerissen, sporenklirrend trat wieder solch ein verwilderter Mensch ein, aber ein anderer, als der den Gast hierher geleitet hatte.

Dieser hier war noch gröber als der vorige, polterte etwas in einem Kauderwelsch heraus, was Atalanta wirklich nicht verstand, sie wusste gar nicht, was das für eine Sprache sei.

»Sprecht Ihr nicht Spanisch? Was ist denn das für eine Sprache?«

»Araukana.«

»Araukana? Was ist denn das?«

Zur Erklärung wieder fremde Worte.

»Ihr versteht mein Spanisch aber doch recht gut, sonst hättet Ihr doch überhaupt nicht geantwortet. Und merkt Euch: Wenn Ihr von jetzt an mein Zimmer betretet oder ein anderes Zimmer, in dem Ihr mich vermutet, so klopft Ihr erst an die Tür und wartet, bis ich rufe. Verstanden?«

Es war kein eigentlicher Gaucho, nur in der Tracht eines solchen, ein Haus- und Hofarbeiter oder vielleicht noch etwas Höheres, der von der Patrona schon instruiert worden war.

Der struppige Kerl starrte in das hübsche, mädchenhafte Antlitz des Jünglings, das aber doch einen so kühnen, entschlossenen Ausdruck hatte, und besonders mochten es diese Augen sein, die gleich sein Benehmen umwandelten.

Er versuchte eine linkische Verbeugung zu machen.

»Ihr sollt mir zur Patrona folgen«, knurrte er dann, es wenigstens noch im Tone probierend.

»Ob Ihr mich verstanden habt, frage ich!«

»Ja, Señor«, erklang es jetzt in ganz anderem Tone.

»Ich soll Euch sofort zur Patrona folgen?«

»Sofort.«

»Ist es denn hier nicht Sitte, dass man sich wenigstens erst etwas wäscht, wenn man eine tagelange Reise hinter sich hat und vor einer Dame erscheinen soll?«

»Weiß nicht, Señor. Die Patrona sagte mir, ich sollte Euch holen.«

»Sagt der Señorita, ich würde erst etwas Toilette machen, in zehn Minuten könnt Ihr wiederkommen. Vorausgesetzt, dass ich bis dahin rechtzeitig Waschwasser bekommen habe. Wie heißt Ihr? Was seid Ihr hier?«

»Fango, bin hier Inspektor.«

»Inspektor? Das konnte ich nicht ahnen. So seien Sie so freundlich, einen Diener oder Arbeiter zu beordern, dass er mir Wasser und ein Handtuch bringt.«

Aber der Herr Inspektor nahm den Krug gleich selbst mit und brachte ihn sofort gefüllt mit einem zerrissenen Handtuche, einer struppigen Kleiderbürste und einem dünnen Scheibchen Seife zurück.

Dann erst begab er sich zu seiner Herrin und berichtete, wie er von dem jungen Manne behandelt worden sei, natürlich sehr übertreibend.

»Wie einen Hund hat er mich angeschnauzt und über die Lumpenherrschaft geschimpft, die hier herrscht.«

»Das Jüngelchen fühlt sich eben hier schon Herr im Hause, mit dem können Sie ja noch etwas erleben«, lachte Señor Ramón.

Das gelbe Gesicht der Ochsenkönigin war ganz grün geworden.

»Oho! Oho!! Von einer Lumpenwirtschaft hat er gesprochen?«

»Das hat er gesagt«, log der struppige Inspektor, teils aus Ärger, teils aus Schadenfreude, einmal seine eigene Meinung sagen zu können.

»Oho! Oho!! Das soll er ja büßen! Nun sind wir überhaupt schon fertig miteinander. Ich will ihn nur noch empfangen, um ihn gleich wieder heimzuschicken, wie es sich gehört.«

Sie machte ihrer Entrüstung weiter Luft, sprach schon von einem zudringlichen Menschen, der sich bei ihr einschleichen wolle, bis er kam.

Die Ochsenkönigin hatte also mit dem Toreador, der ihr weitläufiger Neffe war, einen ganz besonderen Plan mit stark politischer Färbung vor. Bisher hatte sie sich gar nicht um ihn gekümmert, so wenig wie um seine Eltern. Erst als die chilenische Zeitung, die sie sich aus geschäftlichen Gründen halten musste, von dem plötzlich berühmt gewordenen Toreador berichtet hatte, jede einzelne Phase des vielstündigen Stierkampfes ausführlich wiedergebend, von den Kunststückchen der Kraft und Gewandtheit, die er in der Arena und auch in privaten Gesellschaften gezeigt hatte, da plötzlich hatte sie sich daran erinnert, dass das doch ihr Neffe sei und dass dieser Mann es sein müsse, den sie schon längst für ihre Pläne suchte, ohne einen solchen finden zu können.

Eine Beilage der Zeitung auf besserem Papier hatte viele Bilder von ihm gebracht, Szenen aus seinem ersten Stiergefecht, das ihn plötzlich zum vergötterten Helden gemacht, auch ein großes Brustbild, da hatte die Tante schon gesehen, was es für ein bildschöner Jüngling war, wenn sie der Beschreibung allein nicht glauben wollte. Freilich hatte er auf der Wiedergabe der Fotografie einen sehr knabenhaften, fast kindlichen Eindruck gemacht.

Vorhin hatte sie ihn nur flüchtig am Fenster vorüberreiten sehen, kaum einen Blick auf seine Gestalt, noch weniger in sein Gesicht bekommen können.

Und nun stand er vor ihr.

Und sie war grenzenlos überrascht.

Es war auch wirklich ein Bild von einem Manne, von einem Jünglinge, ein Bild von ritterlicher Grazie, Kraft und Behändigkeit, dieses durch jeden Schritt ausdrückend, durch die kleinste Bewegung, selbst wenn er so ruhig dastand, es lag in der ganzen Gestalt, in den Zügen und in den Augen, wozu nun noch das kleidsame mexikanische Nationalkostüm kam.

Señorita Eulalia Fonserra war Zeit ihres Lebens eine ausgesprochene Männerfeindin gewesen. Einfach aus Geiz. Wer um ihre Hand angehalten, hatte doch nur auf ihr riesiges Vermögen spekuliert. Das hatte sie sich schon damals gesagt, als sie als spanische Kreolin noch eine wirkliche Schönheit, als die jetzt gefährlich spitze Nase noch ein klassisches Näschen gewesen war. Und das war mit dem Alter und mit zunehmendem Geize natürlich immer schlimmer geworden. Bei der hatte auch niemals von einem zarten Verhältnis die Rede sein können. Es war immer das leidige Geld, das dazwischenstand. Die bekam jetzt doch nichts geschenkt, nur sie hätte den Beutel immer aufknöpfen müssen.

Es war ganz sicher jetzt zum allerersten Male in ihrem Leben, dass ihr plötzlich das Herz ganz warm wurde.

Aber — der nun einmal in ihr aufgestiegene Ärger und Groll behielt doch die Oberhand, das ließ sich nicht so leicht überwinden.

Und außerdem war da der Señor Ramón, ihr politischer und daher auch geschäftlicher Berater, der ihr versichert hatte, dass durch seine und seiner Freunde Bemühungen ihr Besitztum über kurz und lang wieder zur höchsten Rentabilität gebracht werden könnte — mit dem sie schon ausgemacht, wie sie den aufdringlichen Neffen schnellstens wieder abfertigen würde — sie hätte sich doch geschämt, plötzlich anderen Sinnes zu werden — und überhaupt, sie selbst wusste ja gar nicht, was plötzlich in ihr vorging — kurz, Ärger und Groll behielten die Oberhand, und sie meinte vielleicht, das heiße Gefühl in ihrem Herzen sei nur ein verstärkter Groll, der sie beim Anblick des anmaßenden Menschen überkomme.

Mit einer höflichen Verbeugung war der Neffe eingetreten, er wiederholte sie nochmals.

»Ich habe die hohe Ehre und die große Freude, Dich, meine liebe, mir huldvollst geneigte Tante zu begrüßen.«

Viel anders hatte der junge Mexikaner, der seine Erziehung genossen haben musste, wohl nicht sprechen können.

Jetzt hätte ihm die Tante erst die Hand zum Kusse hinhalten müssen.

Sie tat es nicht. Eigentlich hätte sie ja zum Empfange des eingeladenen Neffen auch etwas anderes anhaben müssen als den schmierigen, durchlöcherten Schal.

Und Atalanta konnte froh sein. Die knöcherne Spinnenhand, die ihr geboten worden, wäre nicht einmal reinlich gewesen.

Merkte Atalanta schon, oder der Neffe, mit welch giftigen Blicken er gemessen wurde, wie in ihnen aber dennoch staunende Bewunderung und vielleicht auch mehr noch lag?

»Du hattest die unaussprechliche Liebenswürdigkeit«, fuhr der weltgewandte Mexikaner fort, »mich zu Dir einzuladen, für mein ferneres —«

»Du bist gekommen und bei uns ist möglichst geschäftsmäßige Kürze Sitte«, wurde er schroff unterbrochen, aber in dieser Schroffheit lag etwas Gezwungenes. »Ich habe soeben gehört, dass Du gar nicht Araukana kannst?«

»Araukana, was ist denn das nur?«

Vor allen Dingen war es der Grund, um den unleidigen Neffen gleich wieder fortschicken zu können, was ihm natürlich nicht gesagt wurde — und überhaupt war es gar nicht an dem.

»Du weißt nicht, was Araukana ist?«

»Nein.«

»Das ist der Indianerdialekt, der in ganz Amerika gesprochen wird.«

»Davon ist mir nichts bekannt.«

»Du bist doch auf einer Farm erzogen worden, die noch ganz in der Wildnis lag, hast unter Indianern gelebt, wie die Zeitungen berichteten.«

»Ja, das waren Apachen.«

»Die sprechen doch araukanisch.«

»Nein, die sprechen apachisch und auch apalachisch, den Dialekt der südlichen Indianer Nordamerikas.«

»Nicht Araukana?«

»Davon habe ich noch gar nichts gehört, und die Apachen auch nicht.«

Immer abweisender wurde das Gesicht der Tante, und Señor Ramón verbarg sein Grinsen.

»Ich denke, sämtliche Indianer von Amerika sprechen den Araukana-Dialekt.«

»Da bist Du im Irrtum, liebe Tante. Wohl habe ich gehört, dass alle Pampasindianer außer ihren eigenen Dialekten, die bei den einzelnen Stämmen ganz verschieden sind, noch eine Universalsprache haben, wusste aber noch nicht, dass diese Araukana heißt.«

»Und Du kannst diese Sprache nicht?«

»Wie gesagt, nein.«

»Ja, mein lieber Diaz, dann kann ich Dich auch nicht hier gebrauchen!«

Diese Indianerin hatte ja sofort gemerkt, was das sein würde, dass hier irgend etwas dazwischen gekommen war, was den Neffen unerwünscht machte.

»Wozu ist denn diese Sprache nötig?«

»Ja, Du solltest doch hauptsächlich mit den Indianern verkehren. Dass Du den Dialekt der Penchuenchen sprichst, kann ich ja nicht verlangen, aber —«

»Ich denke, ich sollte hier die Stelle eines Governatores bekleiden.«

»Gewiss, aber gerade in dieser Stellung hast Du beständig mit den Indianern zu tun, das ist ja die Hauptsache, weshalb ich Dich kommen ließ —«

»Du schriebst mir, es sei nur die Oberaufsicht über die Farm, über die Viehherden —«

»Nun ja, und da hast Du eben fortwährend mit den Indianern zu tun.«

»Davon schriebst Du mir aber nichts.«

»Tat ich es nicht? Nun, weil das doch ganz selbstverständlich ist.«

»Nun, diese Sprache werde ich mir schon schnellstens aneignen —«

»Schnellstens? O, was meinst Du wohl, wie schwer das Araukanische ist! Das ist in späteren Jahren gar nicht mehr zu erlernen, das muss man von Kindheit auf können. Ich dachte doch, das wäre bei Dir der Fall —«

»Da hast Du eben falsch gedacht, liebe Tante.«

»Wie meinst Du?«, erklang es maliziös zurück.

»Da hast Du eben falsch gedacht«, wiederholte der junge Mexikaner mit Seelenruhe, und als Stierkämpfer durfte er ja auch gar keine Nerven besitzen.

»Falsch gedacht? Ich? Ich denke überhaupt niemals falsch, ich verbitte mir solche Redensarten!«

»Mich deucht, ich komme Dir recht ungelegen.«

»Ungelegen? Was soll das heißen?«

»Du scheinst mich gleich wieder los sein zu wollen.«

»Ja, wenn Du Dich allerdings so beträgst, und auch schon mein Inspektor hat sich über Dein Benehmen beschwert!«

»Ja freilich, wenn man hier nicht einmal Waschwasser bekommt und dann auch noch so ein schmutziges und zerrissenes — —«

»Mensch, was wagst Du mir da zu sagen?«, fuhr die Tante empor.

»Ich dächte, das einfachste ist, Du zahlst mir gleich die Reisespesen.«

Da aber kam der Neffe gerade an die rechte.

»Was für Reisespesen?«

»Nun, die Kosten, die ich gehabt habe, für die Herreise, und auch für die Rückreise, das ist doch ganz selbstverständlich —«

»Mensch, Du bist wohl wahnsinnig!! Hinaus mit Dir, oder ich —«

Ein draußen entstehender Tumult unterbrach sie.

Man konnte durch das Parterrefenster alles erblicken.

Ein Stier, der von der Herde abgesondert war, ein sogenannter Einsiedler, war eingefangen worden, hatte zum Schlachten nach der Hazienda gebracht werden sollen, hatte sich losgerissen, und nun war das bösartige, verbitterte Tier in voller Fahrt.

Die riesigen, schraubenzieherartigen Hörner gesenkt, raste das zottige Ungeheuer mit glühenden Augen gerade auf das Lagerfeuer zu, um das die Indianer hockten, eben die ersten halbgaren Fleischstücke verschlingend.

Besonders waren es wohl die Pferde, auf welche es der wütende Stier abgesehen hatte, durch solche war er ja seiner Freiheit beraubt worden — und diese brauchten das Ungetüm nur zu erblicken, so war es mit aller eingeprügelten Dressur vorbei, die Lanzen mit dem Zügel aus dem Boden gerissen und nach allen Richtungen davon gestoben.

Natürlich sprangen auch die Indianer blitzschnell auf, und der Häuptling hatte noch einen ganz besonderen Grund, einen Schrei des Schreckens oder der Wut auszustoßen.

Er hatte sein schönes Gewehr auf dem Rücken seines Pferdes befestigt gelassen, und da ging dieses davon, und es war sehr die Frage, ob er dieses je wiedersehen würde.

Aber auch sonst hatten die Indianer allen Grund, einmal die Schnelligkeit ihrer Füße zu erproben. Mit so einem wütenden Stier ist doch nicht zu spaßen. Und was will da eine Revolver- oder selbst eine Büchsenkugel sagen. Es muss geradezu ein Sprenggeschoss sein, welches solch ein Ungetüm sofort zur Strecke bringt.

Und da er die Pferde doch nicht einholen konnte, so waren die nächsten Lebewesen sein Ziel. Nur ein Penchuenche dachte an seine Lanze, auch der Häuptling wollte nicht gleich sein Heil in der Flucht suchen, wollte beiseite springen — da hatte ihn der Stier schon auf den Hörnern, hoch sauste der menschliche Körper in die Luft, und unten warteten die spitzen Schraubenzieher, um ihn wieder aufzufangen und das Spiel zu wiederholen oder ihn gleich kreuz und quer zu zerfetzen.

Aber noch ehe der menschliche Körper in der Luft umkehrte, jagte plötzlich der Mexikaner auf ihn zu, ein breites Schwert in der Hand, wie ein Blitz sauste es durch die Luft, ein dicker Blutstrahl spritzte aus der mächtigen Brust, der Stier brach röchelnd zusammen, wälzte sich zur Seite, und unbeschädigt fiel der Häuptling auf seinen zottigen Leib nieder.

Wenigstens sprang er sofort wieder empor, und auch dann zeigte es sich, dass er ganz unbeschädigt aus dieser Affäre hervorgegangen war.

Einige Sekunden stand er wie fassungslos da, dann blickte er auf den jungen Mexikaner, der jetzt kaltblütig sein Toreroschwert abwischte und es wieder im weiten Hosenbein verschwinden ließ — blickte ebenso ehrfürchtig auf ihn, wie alle die anderen Indianer, die beim Todessturz ihres Häuptlings in jähem Schreck ihre Flucht gehemmt hatten.

»Uff, Du hast die große Adlerklaue gerettet, mein Leben gehört Dir.«

Und schnell kniete der Häuptling nieder, beugte den Kopf, hob mit der Hand des Mexikaners Fuß, setzte ihn auf seinen Scheitel und erhob sich wieder.

Diese Zeremonie war außerordentlich schnell geschehen, kaum drei Sekunden hatte es gedauert. Nur dass der Häuptling sich jetzt noch mit der Hand auf dem Herzen vor seinem Lebensretter verneigte, und alle anderen Indianer folgten seinem Beispiel.

Dann aber stürmten sie in den Stall, in dem immer eine Menge von gesattelten Pferden zur sofortigen Benutzung standen, rissen die Sättel ab und schwangen sich auf den nackten Rücken, jagten hinaus, ihren eigenen Tieren nach, um sie mit Lasso und Bola wieder einzufangen — es wenigstens zu versuchen.

Auch einige echte Gauchos schlossen sich ihnen an, nur um die lustige Jagd mitzumachen, sich mit den Indianern im Wettkampf zu messen.

Wilhelm putzte noch die beiden Pferde, auf denen sie gekommen. Es waren ganz andere Tiere als diese Mustangs. Er hatte nur Mühe gehabt, die vor dem Stiere entsetzten Rosse zu halten.

Auch der Häuptling war davongejagt.

Da kam Wilhelms Herr angerannt.

»Komm, Wilhelm, da machen wir mit!«

In die Sättel geschwungen und ebenfalls davongerast.

Dies alles hatte sich viel, viel schneller abgespielt, als es sich hier erzählen ließ.

In der Stube standen die Ochsenkönigin und der fremde Señor und fragten sich, ob das wirklich der Mexikaner gewesen sei, der vorhin, plötzlich ein Schwert in der Hand, durch das Fenster gesetzt sei.

»Haben Sie es gesehen, Señorita?!«

»Alles, alles!«

»Der Häuptling hat sich ihm unterworfen.«

»Und alle anderen waren damit einverstanden.«

»Wenn die sich weiter verstehen, kann der mit ihm noch die Häuptlingswürde teilen. Und jetzt haben Sie Ihren Neffen hinausgeschmissen.«

»Und daran sind nur Sie schuld!!«, brach da die Ochsenkönigin los.

»Ich?! Wieso denn ich? Was fällt Ihnen denn nur ein?«

»Ich wollte ihn sowieso zum Häuptling der Penchuenchen machen, aber Sie haben mir den Rat gegeben, ihn gleich wieder fortzuschicken, weil es ja doch gar keinen Zweck hätte.«

»Nein«, fing jetzt auch der Señor zu brüllen an, »ich habe Ihnen nur geraten, ihn nicht gleich in alles einzuweihen, ihn aber doch nicht gleich hinauszuschmeißen, Sie hätten den berühmten Toreador unbedingt doch wenigstens in der Hand behalten müssen!«

»Und Sie haben es dennoch getan!«, brüllte die Jungfrau wutentbrannt noch mehr. »Gleich das mit dem Araukanischen war Ihr unsinniger Rat!«

»Und ich habe nur gesagt, das wäre eine Möglichkeit, ihm nicht gleich die erste Stelle zu geben! Wie kann ich denn aber ahnen, dass Sie das so plump anfangen, ihn gleich hinausschmeißen!«

»Jetzt sind wir ihn für immer los, und das ist nur Ihre Schuld!!«

»Nein, Ihre Schuld ist es!«

»Wenn Sie das noch einmal sagen, schmeiße ich auch Sie hinaus!«

»Sie — Sie wären gerade die rechte — wagen Sie es nur, und ich erzähle etwas von Ihnen, dass kein Hund ein Stückchen Brot mehr nimmt, dass aber gleich der Staatsanwalt kommt! Nur Ihr vermaledeiter Geiz ist an alledem schuld!«

»Ich geizig? Von Ihnen fressen ja nicht einmal —«

Und so fuhren die beiden fort, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen und Drohungen auszustoßen, noch lange Zeit.

Bis nach zwei Stunden die Indianer und die Gauchos zurückkamen, sämtliche entflohene Pferde wiederbringend. Nur der Häuptling, der Mexikaner und dessen Diener fehlten.

Die Gauchos berichteten. Sie hatten von den Wundertaten des jungen Mexikaners zu erzählen, nur ihm hatte man es zu verdanken, dass man in so kurzer Zeit alle Pferde wieder eingefangen hatte.

Einmal war sein Ross, das er sich in San Antonio gekauft hatte, ein ganz anderes Tier als diese Mustangs, es hatte keine so plumpe, dicke Fesseln, Gelenke, konnte daher wohl auch nicht sechzehn Stunden lang ununterbrochen galoppieren, was man dort von solch einem Mustang unbedingt verlangt — dafür aber war es ein viel schnelleres Pferd. Nur der Mexikaner hatte die entflohenen Tiere, die sich dann zusammenhielten, einholen können. Und wie der nur das Lasso und die Bola zu schleudern verstand! Die Indianer hatten sich schon wieder beruhigt — sie schämten sich, dass sie vorhin so gestaunt hatten — die Gauchos taten es noch jetzt.

So hatte der Mexikaner eines der Pferde nach dem anderen eingefangen, ihnen entweder die Lassoschlinge um den Hals werfend oder die Bolakugeln um die Hinterfüße, dass sie verstrickt stürzen mussten — nur noch einige wenige hatte er den anderen zutreiben können, dabei auch wieder ganz wundersame, selbst in diesem Zentaurenlande ganz unbekannte Listen und Kniffe anwendend. Dann war der Häuptling mit dem Mexikaner und dessen Diener nach dem Lager geritten, sie sollten seine Gäste sein.

»Ich weiß, wie ich es noch gut machen kann«, sagte die zerknirschte Ochsenkönigin, »er muss doch noch einmal hierher kommen, um seinen Koffer abzuholen.«

Nein, den und den Kleidersack des Dieners forderten die Indianer, als sie mit ihrem Proviant abzogen, sie mussten ihn ausgeliefert bekommen.

Der große Bombastus

In dem Gebirgstale, das frei in die endlose Pampas auslief, war das Penchuenchenlager aufgeschlagen.

Zwischen den Wigwams aus Lederhäuten erscholl ein Jubeln und Lachen, aus Männerkehlen kommend, wie es sonst auch den Kindern nicht erlaubt war, um sie zu würdevollen Männern zu erziehen.

Es wurde ein Fest gefeiert, da war das erlaubt, mit Waffenspielen, zu Ehren des Fremden, der schon seit einigen Tagen in diesem Lager als Gast weilte, er sollte Mitglied des Stammes werden, und da musste er in den Wettkämpfen erst noch einmal offiziell beweisen, dass er ein Meister in allen Waffenübungen, dass er würdig war, ein Ehrenkrieger des Penchuenchenstammes zu werden.

Jetzt kam das Bolawerfen daran. Mehr ein Gesellschaftsspiel. Die schnellstenu Knaben, die sich gegenseitig ablösten, mussten zwischen zwei Bäumen hin- und herrennen, und es galt, ihnen mit der Bola auf gewisse Entfernung hin, die nach und nach immer größer wurde, die Füße zu umwickeln. Hierbei aber waren die nussgroßen Bleikugeln, die jeden Knochen zerschlagen können, durch hölzerne Bälle von Apfelgröße ersetzt.

Es war nur ein lustiges Spiel, keine eigentliche Waffenübung. Dann liefen auch die erwachsenen Krieger, alte Männer, und es kam ebenso darauf an, der Bola durch schnelles Laufen oder durch plötzlichen Stillstand zu entgehen.

Also es würden zwei Sieger übrig bleiben: einer, der die meisten Läufer umstrickte, und einer, der nicht gefangen wurde.

Und es war schon ganz ersichtlich, wer in dem Wettspiele Sieger bleiben würde, gleich doppelter Sieger: der junge Mexikaner, der allen Wurfkugeln auszuweichen wusste und seine eigenen mit unfehlbarer Sicherheit schleuderte, als ob sich der Toreador mehr mit dieser in Mexiko sonst ganz unbekannten Bola als im Stierkampf geübt hätte.

Vorläufig aber war das Spiel noch in vollem Gange, und immer lauter erklang das Gelächter, wenn ein Läufer mit verstrickten Füßen einen Bocksprung machte und hinstürzte.

Da erscholl in der Ferne ein gellender Pfiff, und plötzliche Stille herrschte.

Eine der vorgeschobenen oder auf einer Höhe postierten Wachen hatte die Annäherung eines fremden Mannes gemeldet. Nur eines einzelnen und ohne jede Gefahr für das Lager. Dies alles hatte in dem Pfiff gelegen. Es brauchte nicht nach den Waffen gegriffen zu werden.

Aber erwartet wurde der Fremde doch.

Er hielt, von einem jungen Krieger begleitet, seinen Einzug auf einem knochendürren Klepper, ein alter, weißhaariger Mann, an dem das Auffallendste außer seiner Habichtnase die lange, rote Hahnenfeder war, die an seiner Lederkappe prangte.

Sonst aber glich der alte Mann durchaus keinem Mephistopheles, sein runzliges Gesicht war vielmehr ein sehr gutmütiges, freilich lag darin noch viel mehr Schlauheit, und noch listiger waren die blinzelnden Augen.

»Heda, Ihr Penchuenchen, Ihr unten behosten und oben nackten Ritter der Pampas«, rief er schon von Weitem auf Spanisch, was hier jeder Indianer verstand, »macht Platz für den großen Bombastus! Der große Bombastus kommt! Erst aber gebt dem großen Bombastus einen Becher Wasser. Frisches Wasser, reines Wasser, klares Wasser, wie es der große Bombastus liebt!«

Wenn sich die Indianer über diese Antrittsrede wunderten, so merkte man ihnen davon doch nichts an. Und diese Söhne des großen Geistes wissen doch auch, was ein alter Sonderling und Juxvogel ist.

Der Alte war von seinem Gaule, der auch noch mit einer Menge von Säckchen und Kistchen bepackt war, abgestiegen.

Schon brachte ein Weib einen großen Krug angeschleppt und bot ihn dar. Aber der Alte nahm ihn nicht an.

»Bin ich denn ein Pferd, dass ich aus einem Kruge trinken soll?!«, wetterte er in seiner komischen Weise los. »Ja, da lacht Ihr. Oder lacht Ihr nicht? Ihr werdet schon noch lachen und vor Freude hüpfen. Die Pferde tränken nicht aus Krügen? Ha, kommt mal hin zu den Henkalis im Osten, wo ich herkomme, da trinken die Pferde nur aus Krügen, nehmen sie zwischen die Vorderfüße und stoßen miteinander an. Der große Bombastus säuft nicht wie ein Pferd aus Krügen, der große Bombastus trinkt nur aus einem Becher. Habt Ihr für den großen Bombastus keinen Becher?«

Es wurde einer gebracht, aus Buchsbaumholz, der Alte nahm ihn und hielt ihn hin, sorgte wie mit Absicht dafür, dass der Wasserstrahl aus dem Kruge in hohem Bogen sich hinein ergoss, fing ihn sehr geschickt auf.

»Frisches Wasser, reines Wasser, klares Wasser?«, fragte er nochmals, ehe er den Becher ansetzte.

»Die Penchuenchen trinken nur klares Quellwasser«, sagte der Häuptling des Stammes, dessen Gebiet an die Anden grenzte.

Der Alte trank.

»Aaaah, das war ein Labetrunk für den großen Bombastus«, sagte er, als er den Becher absetzte. »Junges Blut, rotes Blut, gutes Blut — wie es der große Bombastus liebt.«

Erstaunt, erschrocken, entsetzt starrten die umstehenden Indianer den Alten an. Sein weißer Schnauzbart hatte sich nämlich blutrot gefärbt, die roten Perlen tropften herab.

»Uff! Das war doch frisches Wasser?!«, stieß endlich der Häuptling als erster hervor.

»Uff! Der große Bombastus trinkt kein Wasser — trinkt nur Blut — junges Blut, frisches Blut, gutes Blut macht den großen Bombastus jung und frisch und klug «

»Du kannst das Wasser in Blut verwandeln?!«

»Hast Du's nicht gesehen?«

Dabei zog der Alte ein rotes Taschentuch aus der Tasche, fuhr sich ein paarmal über den rotgefärbten Schnauzbart, und der war weiß wie zuvor.

»Mehr Blut — noch einen Becher Wasser für den großen Bombastus.«

Aber die Frau schenkte nicht noch einmal ein, die hatte nur wie eine Statue dagestanden, jetzt, da wieder Leben in sie kam, ließ sie den Krug einfach fallen und lief schreiend davon. Das klare Wasser ergoss sich in das niedergetretene Gras. Der Häuptling selbst nahm den Krug, ging an die nächste Quelle, spülte den Krug mehrmals aus, füllte ihn, blickte hinein, kam zurück und füllte den hingehaltenen Becher.

Schon aus seinem bestürzten Gesicht konnte man erkennen, dass sich das Wasser in dem Becher wieder in Blut verwandelt hatte.

»He, Ihr glaubt's wohl nicht, dass der große Bombastus Wasser in rotes Blut verwandeln kann? Habt Ihr Fürsten der Pampas nicht auch durchsichtige Becher aus Glas?«

Ja, der Häuptling oder dessen Frau hatte in der Raritätenkiste zwei Gläser, gewöhnliche Wassergläser, sie wurden gebracht.

Der Alte schüttete den Holzbecher in das eine Glas um.

»Wah!!«, stieß der Häuptling in namenlosem Staunen hervor.

Denn er hatte in dem Holzbecher ganz deutlich rotes Blut gesehen, und nun war in dem Glase wieder klares Wasser.

»Ja, wenn der große Bombastus Wasser in Blut verwandeln kann, so muss er es natürlich auch wieder zurück in Wasser verwandeln können. Aber hier —«

Er goss das Wasser in das zweite Glas, und es war wieder rotes Blut.


Illustration

Jetzt wurden auch die anderen Indianer von neuem Staunen, wenn nicht von Entsetzen befallen.

»Das ist rotes Blut«, erklärte der Hexenmeister. »Es gibt aber auch weißes Blut und grünes Blut und blaues Blut. Fische haben weißes Blut, Schlangen haben grünes Blut und Drachen haben blaues Blut. Und dem großen Bombastus ist es ganz egal, was er aus Wasser für Blut macht. Wenn ich zum Beispiel grünes Schlangenblut haben will, so brauche ich nur zu sagen: etne, tetne, schschsch — da ist grünes Schlangenblut.«

Er hatte die rote Flüssigkeit in das andere Glas gegossen, und sie hatte sich grün gefärbt.

»Dieses grüne Schlangenblut ist das furchtbarste Gift, was es in der Welt gibt. Nur der große Bombastus kann es ungestraft trinken und wird dadurch giftfest, auch gegen jedes andere Gift.«

Er trank die grüne Flüssigkeit aus, sein weißer Schnauzbart färbte sich grün, einige Male mit dem roten Taschentuche darüber gewischt, und er war wieder weiß.

»Aaaah! So, nun könnt Ihr alle Schlangen der Pampas zusammenkochen und den Saft dem großen Bombastus zu trinken geben, dem schadet es nichts. Aber wer ihm diesen Gifttrank heimlich beibringen wollte, der wird selbst von diesem Gifte innerlich zerfressen.«

Neues Entsetzen der Indianer. Nur der Mexikaner und sein Diener waren nichts weiter als aufmerksame Zuschauer.

»Mumpitz«, sagte Wilhelm jetzt, »das ist ein ganz gewöhnliches Kunststück, ich muss nur die nötigen Salze dazu haben, dann kann ich's auch.«

»Still!«, gebot ihm sein Herr, und der alte Hexenmeister hatte den beiden auch schon mehrmals misstrauische Blicke zugeworfen.

»Was willst Du nun haben, Häuptling?«, fuhr er fort. »Soll der große Bombastus jetzt weißes Fisch- oder blaues Drachenblut machen.«

»Blaues Drachenblut.«

»Aus rotem Blute oder aus grünem Schlangenblute, oder aus reinem Wasser.«

»Aus reinem Wasser.«

»So fülle mir das Glas.«

Die Hände des Häuptlings zitterten, als er aus dem Kruge Wasser in hohem Strahle in das Glas laufen ließ, und sofort nahm es eine intensiv blaue Färbung an. Der Alte trank es und entfärbte sich den blauen Bart wieder mit dem roten Taschentuche.

»Aaaah, das schmeckt dem großen Bombastus! Und dieses blaue Drachenblut hat noch eine besondere Eigenschaft. Zwar macht es mich nicht selbst unverwundbar, aber wer mich mit Absicht verwundet, mit Stahl oder mit Blei oder sonstwie, der muss selbst an dieser Wunde sterben.«

»Der macht sich nicht umsonst giftfest und unverwundbar, der hat irgend etwas vor«, flüsterte Wilhelm.

»Still!«, gebot ihm sein Herr nochmals.

Der Alte verwandelte Wasser oder andere Färbungen auch noch in weißes Fischblut, welches die Eigenschaft hatte, den großen Bombastus hellhörend und hellsehend zu machen — anders färbende Salze besaß er wohl nicht.

Denn um anderes als um gewisse Salze — in chemischem Sinne gesprochen, Kochsalz zum Beispiel ist chlorsaures Natrium, Soda kohlensaures, von denen die geringste Quantität, sozusagen ein Atom genügt, um eine große Menge Wasser intensiv zu färben, handelte es sich hierbei nicht. Man braucht nur mit dem Finger, der solches Salz einmal berührt hat, in das Glas zu greifen, und das eingefüllte Wasser färbt sich, kann auch durch ein anderes Mittel wieder entfärbt werden.

Wer einige chemische Kenntnisse besitzt oder vielmehr solche Chemikalien, übermangansaures Kali, gelbes und rotes Blutlaugesalz und dergleichen, mit sich führt und sie zu gebrauchen versteht, der kann bei wilden Völkern Erfolge erzielen, wie sie durch keine Waffenmacht zu erzwingen sind — und die Leute brauchen gar nicht so »wild« zu sein, nicht einmal nach der Hundetürkei braucht man zu gehen, um sich mit dem Nimbus eines Zauberers zu umgeben, der dann verlangen kann, was er will.

Diese Indianer hier waren eines Staunens oder Entsetzens gar nicht mehr fähig, die wussten jetzt schon, was hier vorlag.

»Du bist ein Pranitschi!«, sagte jetzt der Häuptling nicht in fragendem Tone, sondern gleich mit größter Entschiedenheit.

Wir wollen beim Zauberer bleiben, von den amerikanischen Indianern Medizinmann genannt, weil ihnen alle »Medizin« Zauberei ist, ein Ausdruck, der durch die englischen Hinterwäldler entstanden ist.

Wo ist das wilde oder unzivilisierte oder noch nicht auf der höchsten Stufe der Kultur, der geistigen Aufklärung stehende Volk — dieser Begriff im weitesten wie im engsten Sinne gebraucht — das nicht seine Zauberer und Medizinmänner hätte?

Sie wohnen heute sogar noch auf der Friedrichstraße in Berlin, zumal weibliche — Kartenschlägerinnen, und vor ihrer Tür halten Equipagen.

Wollen wir doch ja nicht von unserer geistigen Aufklärung sprechen! Oder gar vom sogenannten »gesunden Menschenverstande«. »Die Geschichte des gesunden Menschenverstandes«, sagt Leplance, »ist die Geschichte seiner Blamagen.« Je aufgeklärter jemand wird, desto mehr wird er von der Existenz von Geistern, von übersinnlichen Wesen überzeugt sein. Wie Kant und Schopenhauer. Und anderseits wälzen sich diejenigen, welche sich mit ihrer »geistigen Aufklärung« brüsten, im tiefsten Sumpfe des Aberglaubens herum. Genug davon!

»Du sagst es, ich bin ein Medizinmann«, entgegnete der Alte, plötzlich die möglichste Würde annehmend.

Was aber hatte der alte Kerl dabei so listig nach den beiden Fremden zu blinzeln? Doch die Indianer hatten dieses Blinzeln nicht gemerkt, ehrfürchtig blickten sie auf den dürren Greis mit der roten Hahnenfeder.

Dieser hingegen hatte gemerkt, wie ihm der junge Mexikaner leise, aber vielsagend zugenickt hatte, und das gab ihm den Mut, seinen Mund noch voller zu nehmen.

»Der große Bombastus ist der größte Medizinmann, der je durch die Pampas geritten ist, der überhaupt je in der Welt gelebt hat.«

Eine kleine Pause trat ein, immer ehrfürchtiger blickten die Indianer auf den großen Bombastus.

»Weshalb kommt der große Medizinmann zu uns?«, war dann des Häuptlings nächste, ganz logische Frage.

»Der große Geist schickt mich zu dem mächtigen Volke der Penchuenchen.«

,Du kennst den großen Geist?«

»Soll der große Bombastus den großen Geist nicht kennen! Er kennt ihn, wie der große Geist den großen Bombastus kennt.«

»Du sprichst mit ihm?«

»Täglich — jede Stunde, wenn ich will. Der große Geist ist für den großen Bombastus immer zu sprechen.«

»Und weshalb schickt der große Geist Dich zu uns?«

»Das weiß ich nicht.«

»Das weißt Du nicht?«

»Gehe hin, großer Bombastus, zu dem tapferen Volke der Penchuenchen, welches ich liebe — hat der große Geist zu mir gesagt, als ich bei den Henkalis weilte, und ich habe sofort gehorcht, wochenlang bin ich Tag und Nacht geritten.«

»Und was sollst Du bei uns?«

»Warte bei den Penchuenchen, hat der große Geist gesagt, bis ich mich dem Volke, welches ich liebe, durch Dich in einem Wunder offenbaren werde.«

»In einem Wunder?«

»In einem Wunder, durch ein Wunder.«

»Durch was für ein Wunder?«

»Das weiß ich noch nicht, das hat mir der große Geist nicht gesagt. Ich muss warten. Und wenn der große Bombastes warten muss, so werdet Ihr wohl auch warten können.«

»Durch ein Wunder will sich der große Geist uns offenbaren.«

So ging es flüsternd durch die Reihen der Indianer, eine immer größer werdende Unruhe bemächtigte sich ihrer, so sehr sie diese auch zu unterdrücken suchten.

»Wann wird dieses Wunder geschehen?«, fragte der Häuptling dann weiter.

»Auch das weiß ich noch nicht. Wenn der große Geist den großen Bombastus — —« Der Alte stockte, plötzlich färbte sich sein braunes, runzliges Gesicht ganz grau, mit einem unartikulierten Schrei stürzte er zu Boden, bekam Schaum vor dem Munde, wälzte sich in Krämpfen.

Mit heiliger Scheu blickten die Indianer auf den Unglücklichen herab. Niemand dachte daran, ihm helfend beizustehen. Nur Wilhelm wollte hinzuspringen, wurde aber von dem Mexikaner schnell zurückgehalten.

Atalanta wusste, was hier vorlag. Das heißt, nicht dass sie zweifelte, dass es ein echter Krampfanfall sei — ob echt oder erkünstelt, das war dabei ganz gleichgültig — sondern sie kannte die Verhältnisse.

Bei allen wilden, unzivilisierten Völkern, bei allen, aber auch bei den mohammedanischen, von denen einige doch auf einer ziemlich und auch sehr hohen Kulturstufe stehen, gelten die Wahnsinnigen für heilig, für besondere Günstlinge der Götter oder Allahs. deshalb sieht man auch noch in Konstantinopel Irrsinnige auf der Straße ihre Kapriolen treiben. Nur wenn sie gefährlich sind, werden sie eingesperrt, aber nur, um sie aufs beste zu verpflegen, in ärztliche Behandlung kommen sie nicht.

Und dasselbe gilt für Epileptische, für an der fallenden Sucht, an Krämpfen Leidende. Das hat ja mit Wahnsinn eigentlich gar nichts zu tun, ist aber doch auch so eine sonderbare Erscheinung, die man sich nicht leicht erklären kann. Und beides zusammen kommt ja auch häufig genug vor. Es sind Heilige, ohne ihr Hinzutun, von Gott selbst geheiligt. Bei unseren spiritistischen Medien ist ja etwas Ähnliches der Fall. Ganz normal sind die doch alle nicht im Kopfe, meist hysterisch, leiden auch immer so an Krampfanfällen und dergleichen, was man bei denen dann »Trance« nennt.

Und dass dieser große Mann, der große Bombastus, einen kleinen Klaps hatte, das hatten diese Indianer auch gleich gemerkt. Das gehörte eben mit zu seiner Medizinschaft. Und nun bekam er auch noch die Krämpfe — nun war die Sache erst recht perfekt, nun hatte er den Beweis von seiner gottgesandten Heiligkeit geliefert.

Deshalb blickten die Indianer mit so heiliger Scheu auf den sich in schrecklichen Zuckungen am Boden Windenden.

Es war ein scheußlicher Anblick, dieser Schaum vor dem Munde, wie der die Glieder verrenkte und gar erst die Augen verdrehte — nein, Atalanta konnte an keine Verstellung glauben.

Und jetzt fing er an zu sprechen, zu brüllen, in einem schrecklichen Tone:

»Er kommt — der Mlawata — der Mlawata — er kommt — er kommt —«

Wie ein elektrischer Schlag ging es durch die Reihen der Indianer.

Er kam? Der Mlawata? Der Heiland, der indianische Messias?

Gleichzeitig wandten sich aller Augen nach oben, nach dem azurblauen Himmel — —

Da aber war es bereits von diesem herabgekommen, war schon in ihrer allernächsten Nähe — eine schwarze Wolke, die brausend herabfuhr, einen starken Wind, in nächster Nähe einen wahren Sturm erzeugend — ein ungeheuerer Kondor, der größte Raubvogel der Erde, der sich mit hochgeschlagenen Schwingen herabgleiten ließ — und er hatte etwas Schwarzes im Schnabel, ein längliches Paket — ließ es nicht einfach fallen, sondern legte es in der Nähe des weißen Hexenmeisters direkt auf den Boden nieder, ohne diesen selbst zu berühren — breitete seine mächtigen Schwingen wieder aus, schraubte sich in die Höhe und schoss mit einem heiseren Krächzen pfeilschnell dem schneebedeckten Kamme der Kordilleren, seiner Heimat, zu.

Hatte man denn auch recht gesehen? War es nicht nur ein Traum?

Nein, da lag das Paket ja noch.

Und jetzt erkannte man noch mehr.

Erst ein allgemeines Flüstern, dann ein allgemeiner, langanhaltender Schrei.

»Der Mlawata!! Die Zeit ist erfüllt, der große Geist hat den Mlawata geschickt, und wir sind die Auserwählten!!!«

Auch der junge Mexikaner hatte einen Schrei ausgestoßen.

Er hätte ruhig noch viel lauter schreien und auch Worte gebrauchen können — »mein Kind, mein Kind!!« — sie wären in dem allgemeinen Lärm verloren gegangen.

Atalanta hatte in dem Kinde, das jetzt die Ärmchen reckte und gar nicht weinerlich mit den hellen Äuglein um sich blickte, ihr eigenes erkannt.

Und da irrte sich die Mutter nicht, am wenigsten diese indianische.

Der größte Seevogel hatte ihr Kind entführt, der größte Landvogel brachte es ihr wieder!

Der große Bombastus aber lag jetzt ganz still da.

Und das für immer. Er war tot.

Wenn es ein simulierter Krampf gewesen war, dann hatte ihn eben jetzt die Strafe des Himmels dafür getroffen. Dann war er in der künstlich hervorgerufenen Aufregung einem Herzschlage erlegen.


Lieferung 35


Illustration

»Lemurien! Also doch ein Faktum!«, rief Sir Walter, als
er die Insel erblickte, über die sie soeben dahinflogen.


In Lemurien

Wir versetzen uns nach Sydney, in die palastähnliche Villa von Sir Walter Wilcox, eines englischen Baronets. Er lag auf der Veranda des prächtigen Gartens in einer Hängematte, rauchte eine kurze Shagpfeife und langweilte sich, wie er sich Zeit seines Lebens gelangweilt hatte, so jung er auch noch war.

Er war hier geboren, sein Vater hatte eine riesige Schafzucht gehabt, sein Sohn hatte natürlich in England, in Oxford, studieren müssen, dann war er auf Reisen geschickt worden, um erst einmal noch mehr kennen zu lernen als Australien und England.

Nach dem Tode des Vaters hatte er sich wieder auf den Landbesitz bei Sydney zurückgezogen, wo er geboren. Gänzlich zurückgezogen. Hatte sich den Tag in zwölf Stunden geteilt, die er auszufüllen wusste. Punkt sechs stand er auf, stieg gleich in ein warmes Bad, fünf Minuten nach halb sieben war er mit Rasieren fertig, dann machte er hundertmal die tiefe Kniebeuge, dabei mit jedem Arm eine zehnpfündige Hantel streckend, hierauf aß er zwei pflaumenweiche Eier und fünfundvierzig Gramm geröstetes Weißbrot mit vierzehn Gramm Butter, dann kam Signor Gullani, mit dem er zwanzig Minuten Florett focht, was ihm sechs Schilling kostete, dann kleidete er sich zum Reiten um und ritt eines seiner Pferde fünfundzwanzigmal um das große Spargelfeld herum, hierauf zog er sich wieder aus und schwamm eine halbe Stunde in seiner eigenen Schwimmhalle, sieben Minuten vor neun Uhr schnürte ihm sein Diener den linken und letzten Stiefel zu, dann marschierte er dreißigmal um das kleine Champignonbeet, was zusammen vier Kilometer ausmachte, dann aß er hundert Gramm gegrilltes Rindfleisch mit zwanzig Gramm Schrotbrot, dann kam Mister Herwart und focht mit ihm fünfundzwanzig Minuten schwere Säbel — —

Und so ging es den ganzen Tag fort, bis Sir Walter Wilcox, Baronet von England, abends Punkt sechs Uhr das linke Bein dem rechten ins Bett nachzog, worauf er es fertig brachte, zwölf Stunden lang ununterbrochen wie ein Murmeltier zu schlafen.

Diesen zwölfstündigen Schlaf hatte er sich ja auch wohl verdient, brauchte ihn sogar unbedingt, um am nächsten Morgen sein anstrengendes Tagewerk wieder beginnen und durchführen zu können.

Wir haben vorhin überhaupt ganz mit Unrecht gesagt, dass er sich gelangweilt hätte. Der langweilte sich nicht. Wie soll man sich denn bei solch einem Leben langweilen? Früher auf Reisen hatte er sich gelangweilt, jetzt nicht mehr. Er war ja rastlos tätig. Jetzt nach dem Mittagessen, von halb vier Uhr bis vier, das war das einzige halbe Stündchen, wo er sich einmal ausruhen und eine Pfeife schmauchen konnte. Punkt vier Uhr kam schon wieder ein Gentleman, mit dem er sich für zehn Schilling fünfunddreißig Minuten herumboxen musste und dann hatte er gleich wieder fünfundsiebzigmal die Rumpfbeuge vor- und rückwärts zu machen.

Zu erwähnen ist nur noch, dass Sir Walter auch nichts mehr las. Die Romane, die er hätte lesen können, die hatte er alle selbst erlebt und sich dabei gelangweilt. Mit Kunst und Wissenschaft hatte er sich früher schon genug herumgeschlagen, und es hatte ihn gelangweilt. Den Zeitungen glaubte er nicht mehr. Und überhaupt, er hatte zum Lesen gar keine Zeit.

Jetzt also lag er auf der Veranda in der Hängematte und schmauchte seine Pfeife. Das einzige halbe Stündchen, das er am ganzen Tage der Ruhe widmen durfte. Und das musste ihm natürlich auch noch gestört werden!

»Mister Ramford«, meldete ein Diener.

»Come in — come out.«

Der Besuch trat aus dem Zimmer auf die Veranda.

Thomas Ramford, ebenfalls ein geborener Australier, war Sir Walters Freund, sein einziger, von den Oxforder Universitätsjahren her.

Der hatte sich auf den Flugsport verlegt. Sein Ehrgeiz war, den Stillen Ozean zu überfliegen.

Wie die Flugmaschinen heute sind, ist nicht daran zu denken, den Atlantischen Ozean zu überkreuzen, und der Stille ist noch ganz bedeutend breiter. Und trotzdem ist hier die Möglichkeit vorhanden. Nämlich durch die vielen Inseln, die dazwischen sind.

Von Sydney nach Valparaíso. Das ist die längste Strecke, aber auch die günstigste. Zuerst alle die Inselgruppen, welche man allgemein Polynesien nennt. Und da gibt es genug Inselchen, welche auch nicht auf der größten Landkarte verzeichnet sind, wohl aber hat sie der Seemann auf der seinen. Alle zwanzig Meilen mindestens kann eine Benzinstation eingerichtet werden. Das geht so bis nach Ducie, dem östlichsten Koralleneiland, das noch diesen Namen verdient. Da hat man schon drei Viertel der ganzen Strecke hinter sich. Dann kommt die Osterinsel, dann Sala y Gómez, dann San Ambrose, dann Juan Fernández, die berühmte Robinsoninsel, und dann ist man in Valparaíso. Diese letzten Inseln freilich liegen noch sehr weit auseinander. Aber für einen Aeroplan ist die Möglichkeit vorhanden, diese Strecken zu überwinden.

Thomas Ramford hatte den umgekehrten Weg genommen, von Osten nach Westen, von Valparaiso nach Sydney. Einmal, um für die längsten Strecken bei frischesten Kräften zu sein, und dann wegen Ausnutzung des gewöhnlich herrschenden Ostwindes.

Die ganzen Inselreihen entlang waren Posten stationiert, mit Benzin und Ersatzteilen und ganzen Reservemaschinen und mit Reparaturschlossern. Und das nicht nur in schnurgerader Linie, sondern in gar vielen Parallellinien. Nicht nur Dutzende, sondern Hunderte von solchen Stationen, die bei Tag und Nacht riesige Signalzeichen unterhielten.

Was das kostete! Und Thomas Ramford hatte nichts, gar nichts. Desto mehr hatte Sir Walter Wilcox. Und der gab her, was sein Freund forderte. Und das nicht nur einmal, sondern sein Freund hatte schon drei solche Versuche gemacht!

Das erste Mal war er hinter der Osterinsel ins Meer gesaust und gerade noch rechtzeitig von einem Dampfer aufgefischt worden.

Zurück nach Valparaíso, von Neuem gestartet.

Das zweite Mal kam er bis nach den Paumotu-Inseln, etwa in der Mitte der Strecke gelegen, musste wegen Motordefektes auf einem Eiland niedergehen, unbewohnt und ohne Station, hatte hier ein halbes Jahr ein Robinsonleben geführt, bis ein Dampfer kam und ihn mitnahm.

Wieder alle Stationen aufgefrischt, wieder zurück nach Valparaíso, wieder losgeflogen und — —

»Nun, wie ist's diesmal gegangen, mein lieber Tommy?«

»Wieder nichts! Bedeutend weiter bin ich ja diesmal gekommen, habe mich aber im Nebel total verirrt, und noch mehr dadurch, dass meine beiden Kompasse versagten — ein Phänomen, worüber ich dann noch sprechen werde — kurz, mir ging das Benzin aus, konnte mich gerade noch auf einem Segelschiffe niederlassen, das mich nach Honolulu brachte, von dort bin ich hierher gefahren. Und nun bin ich hier, lieber Walter, um Deine Großmut zum vierten Male in Anspruch zu nehmen.«

»Höre, lieber Tommy, aller guten Dinge sind drei. Du weißt, was ich für Dich zu tun bereit bin. Aber es hat alles seine Grenzen. Auch bei mir. Du darfst nicht glauben, dass ich mir die Tausendpfundnoten nur immer so aus den Rippen schneiden kann.«

»Das weiß ich, das kannst Du nicht, das brauchst Du auch nicht. Ich will auch gar nicht zum vierten Male versuchen, den Stillen Ozean zu überfliegen, das gebe ich nun auf —«

»Sondern?«

»Ein anderes Problem gilt es zu lösen. Hältst Du es für möglich, dass es heutzutage noch eine große, sehr große Insel gibt, die man noch nicht kennt, gar nichts von ihrer Existenz ahnt?«

»Nein, das halte ich nicht für möglich.«

»Kennst Du die Cooksbank?«

»Ja.«

»Über diese bin ich hinweggeflogen. Und in der Mitte derselben habe ich unter mir eine viele Meilen große Insel gesehen, im üppigsten Grün prangend, bewaldet, mit Flüssen und ganzen Seen.«

Sir Walter richtete sich vor Überraschung halb empor, und das hatte bei diesem Manne, der sein angeborenes Phlegma noch künstlich ausgebildet hatte, gar viel zu sagen.

»Ist nicht möglich!!«

»Wie ich sage.«

».Du bist gelandet?«

»Konnte ich nicht. Mein Benzin ging zur Neige, ich kam denn auch gerade noch über das ganze Korallengebiet und erwischte ein Schiff.«

»Bewohnt?«

»Vögel und Kängurus in Masse habe ich gesehen, keine Menschen.«

»Kängurus?! Dort?!«

»Wie ich sage. Und außerdem habe ich noch etwas anderes gesehen.«

»Was?«

»Ungeheurere Bauten, darunter Pyramiden, teils in Ruinen liegend, teils noch ganz wohl erhalten.«

Jetzt konnte der Baronet nicht mehr aus seiner Ruhe gebracht werden.

»Du kannst Dich nicht getäuscht haben?«

»Ausgeschlossen.«

»Was denkst Du davon?«

»Weißt Du noch, Walter, worüber wir uns einmal auf unserer Bude in Oxford unterhalten haben?«

»Weiß ich. Über das sagenhafte Lemurien.«

»Well. Daran denke ich.«

»Hast Du schon davon erzählt?«

»Noch keinem Menschen.«

»Ich bin der erste?«

»Der allererste.«

»Und was gedenkst Du nun zu tun?«

»Einen Dampfer zu chartern, so weit wie möglich an die Korallenriffe heranzufahren, mit dem Aeroplan hinzufliegen.«

»Well, mein lieber Tommy, ich glaube, ich werde krank.«

Dieser Aeronaut war auch so einer, der sich durch nichts mehr außer Fassung bringen ließ, sich über nichts wunderte. Sonst hätte er sich eben nicht zum Aeronauten geeignet.

»Was fehlt Dir, mein lieber Walter?«

»Ich leide an Schlaflosigkeit.«

»Schläfst Du noch immer zwölf Stunden?«

»Nein, das ist es eben. Ich will, aber ich kann nicht. Es kommt häufig vor, dass es fünf Minuten dauert, ehe ich einschlafe. Das ist ein beängstigendes Symptom. Ich brauche doch einmal Abwechslung. Ich werde Dich begleiten.« — Drei Wochen später hielt angesichts der westlichen Cooksriffe ein großer Dampfer.

Über das ganze Deck hinweg war von Balken und Brettern ein Gerüst gebaut, eine Art von Rutschbahn, erst sehr schräg hinabgehend, dann zuletzt etwas in die Höhe.

Vorn am höchsten Punkte stand ein Aeroplan, ein Doppeldecker, einige Männer in blauer Monteurkleidung hantierten an ihm herum, jetzt nahmen auf den Sitzen zwei Männer in derben Jagdkostümen Platz.

»All right?«

»Ready! Go ahaead!!«

Der Motor knatterte, der Aeroplan sauste die schräge Bahn herab, immer schneller und schneller, überwand den aufsteigenden Teil, schwebte über dem Wasser, stieg schnell empor und schwirrte davon.

So weit das Auge reichte, nichts als rote Korallenriffe, dazwischen Wasserstraßen.

Aber der Aeroplan stieg höher und höher, und da konnte man in der Ferne doch schon etwas anderes unterscheiden: ein Gebirge. Sehr hoch mochte es ja allerdings nicht sein.

Die Cooksbank ist also zwölf geografische Meilen lang und acht breit, und man überflog sie von der Seite her.

Und der Aeroplan machte in der Stunde mindestens achtzig Kilometer, zehn Meilen, da brauchte man also nicht lange auf die Entscheidung zu warten.

Nur eine halbe Stunde, so lag es schon direkt unter ihnen, wovon die uralten indischen Vendasta-Bücher erzählten, in der Akasha-Chronik, was von uns Abendländern, so weit uns diese heiligen Bücher überhaupt zugänglich sind, als eine phantastische Sage betrachtet wird.

Eine große Insel in der Korallenwüste, nur aus dieser Höhe von sechshundert Metern überblickbar, von Gebirgen durchzogen, mit grünen Ebenen, durch die sich silberne Fäden schlangen, mit Palmenhainen und ganzen Wäldern von anderen Baumarten, und was sich dort erhob, das konnte nur — —

»Eine Pyramide!«, sagte Sir Walter.

»Von der anderen Seite aus habe ich eine ganze Menge gesehen, auch noch andere Bauten, burgähnliche.«

»Lemurien! Also doch ein Faktum! Ich bitte die indischen Weisen, die ich damals verspottete, um Entschuldigung.«

»Dort eine ganze Ruinenstadt.«

»Überfliegen wir erst einmal die ganze Insel.«

.Selbstverständlich müssen wir erst — Du, Walter, da klappert etwas! Und jetzt pfeift's!«

An dem Motor war etwas in Unordnung gekommen. Es war die höchste Zeit, dass sie einen Landungsplatz aufsuchten.

In steilem Gleitfluge ging es mit ausgeschaltetem Motor hinab, einer grünen Fläche zu.

Eine Herde Kängurus sprang in mächtigen Sätzen davon, dann stieß der Aeroplan hart auf, es splitterte und krachte, das ganze Oberdeck stürzte über die beiden zusammen.

»Bruch, da sitzen wir fest«, sagte Tommy, als er sich unter den Trümmern hervorarbeitete. »Lebst Du noch, Walter?«

»Ich glaube, ja«, erklang es dumpf in dem Trümmerhaufen, und des Baronets Kopf tauchte auf.

»Hat's Dir sonst was geschadet?«

»Mir nicht. Dir?«

Sie hatten sich befreit.

»Ich konnte wahrhaftig nichts dafür!«, entschuldigte sich der Pilot.

»Ich auch nicht.«

Es hatte auch wirklich nichts weiter zu sagen. Mit so etwas hatten sie von vornherein rechnen müssen. Es sind auch gar zu zerbrechliche Dinger, diese Aeroplane. Die Hauptsache war, dass sie hier Existenzbedingungen hatten, dann würden sie schon über kurz oder lang befreit werden.

Auf dem Dampfer hatten sie deswegen nichts hinterlassen. Es wäre auch ganz zwecklos gewesen. Sobald schlechtes Wetter eintrat, musste das Schiff diese überaus gefährliche Gegend sowieso verlassen. Auch sonst hatten die beiden niemandem offenbart, was sie beabsichtigten. Eben die Cooksbank einmal überfliegen.

Wohl aber hatte Sir Walter Wilcox in Sydney bei seinem Rechtsanwalt ein Testament deponiert. War er in vier Wochen nicht zurück, so musste es geöffnet werden. Dann sollte man ihn und seinen Gefährten tot oder lebendig zwischen den Cooksriffen suchen. Was natürlich wieder nur per Aeroplan möglich war. Und dann würde man sehen, wie viele Flieger sich meldeten. Die Aussetzung einer Prämie war gar nicht nötig. Es brauchte nur einmal eine Anregung gegeben zu werden, ein Grund dazu vorhanden sein, dann war das Überfliegen der Cooksbank eine neue Aufgabe für die Aeronauten.

Sie räumten die Trümmer ab. Dass keines der Instrumente beschädigt worden, war die zweite Hauptsache. So wurde zunächst eine geografische Ortsbestimmung ausgeführt, was Thomas Ramford perfekt verstand, Sir Walter konnte ihn dabei unterstützen.

Aus dem hohen Grase tauchte der Kopf eines Kängurus auf und schaute neugierig dem Treiben der beiden Menschen zu.

»Ja, solche zweibeinige Viecher hast Du wohl noch nicht gesehen!«

Kängurus hier im Polynesischen Archipel? Die gibt es sonst hier auf keiner Insel. Doch sind das ja alle nur kleine, und man befand sich doch noch immer in australischer Region. Kängurus und überhaupt Beuteltiere sind die ersten Säugetiere gewesen, welche die Erde bevölkert haben. Auch in Deutschland haben sie einst gelebt, man findet noch zahlreiche Knochen von ihnen.

Mit den Händen fangen ließ sich das Tier natürlich nicht. Ramfords Büchse krachte, das Känguru brach im Feuer zusammen. Es war nicht nur wegen des Fleisches. Sie mussten doch die Pflanzen- und Tierwelt dieses unbekannten, sagenhaften Landes erforschen.

Es war ein gewöhnliches, graues Felsenkänguru.

Aber was war das?

Das Känguru hatte durch die Nase einen kupfernen Ring gezogen!

»Das ist mit diesem Kupferringe nicht geboren worden«, sagte Sir Wilcox in seiner phlegmatischen Weise.

»Ja, Walter, wir sind zu spät gekommen, diese Insel ist nicht mehr so jungfräulich wie sie scheint, da ist jemand schon vor uns hier gewesen, der den Kängurus kupferne Trauringe an die Nase gehängt hat.«

In weiteren Vermutungen ergingen sich die beiden nicht. Sie nahmen es als Tatsache hin und wollten mit eigenen Augen forschen.

Freilich war das nur einmal eine Ausnahme gewesen.

Einer großen Herde Kängurus konnten sie sich so weit nähern, um mit dem Fernrohr zu konstatieren, dass kein anderes Tier noch solch einen Ring in der Nase hatte.

Ihr nächstes Ziel war eine Pyramide, an der Basis ungefähr hundert Meter breit und sechzig Meter hoch, stark abgeflacht.

Dabei sei erwähnt, dass die Cheopspyramide, die größte in Ägypten, zweihundertdreiunddreißig Meter breit ist und hundertsechsundvierzig hoch, von welcher Höhe aber jetzt neun Meter fehlen.

Es gibt aber in Ägypten auch viel, viel kleinere Pyramiden, und hier hatten sie vom Aeroplan aus auch noch viel größere gesehen.

Diese hier war aus rotem Porphyr ausgeführt, wie wohl alle anderen, denn die Gebirgszüge bestanden nur aus solchem Gestein. Die kolossalen Quader waren behauen, sonst aber nach Art der sogenannten zyklopischen Mauern ohne ein Bindemittel lückenlos zusammengepasst. Die Stufen der ägyptischen und amerikanischen Pyramiden fehlten, dagegen waren von einiger Höhe an in horizontalen Reihen kleine, viereckige Löcher angebracht, sodass man gleich an Fenster denken musste. Diese hier war noch vollkommen erhalten.

Auf der Ostseite befand sich dicht über der Erde ein Eingang, ein Tunnel, so niedrig, dass sich die beiden tief bücken mussten, als sie mit angezündeten Benzinlaternen eindrangen.

Dieser Tunnel führte sie, indem sie die Schritte zählten, bis nach der Mitte der Pyramide, von hier aus ging eine steinerne Treppe hinauf, die sie in einen weiten, hohen Raum brachte. Von diesem gingen Türen nach einem Korridore ab, der sich draußen um diesen großen Hohlraum herumzog, und von diesem Korridor wieder führten zahllose Türen in die Kammern, die an der Außenseite der Pyramide lagen. Jede Kammer hatte solch ein Fensterchen, hatte zwei Meter im Quadrat, war aber nur anderthalb Meter hoch, sodass sich die beiden also ganz bedeutend bücken mussten.

Diese Kammern zogen sich durch die ganze Pyramide an den Wänden von unten bis oben hin, durch dreißig Etagen, die im Zentrum durch Treppen miteinander verbunden waren. Zu betreten war jede nur vom Korridor aus durch eine Tür, eine Öffnung. In der untersten Etage befanden sich auf jeder Seite zweiunddreißig Kammern, zusammen also hundertachtundzwanzig, und da sie alle gleich groß waren, oder vielmehr gleich klein, musste ihre Zahl nach oben natürlich abnehmen, oben die vorletzte Etage hatte nur noch acht, nämlich auf jeder Seite zwei, dann kam eine einzige mit vier Fenstern, aber auch nicht größer, deren Decke bildete die Plattform der Pyramide.

Enthalten taten die Kammern und der große Innenraum absolut nichts. Nur Fledermäuse und Vögel hatten Andenken hinterlassen.

»Das müssen doch Wohnräume gewesen sein.«

»Ja, man denkt an klösterliche Zellen.«

»Aber so niedrig?«

»Entweder eine Vorschrift, eine Askese, dass die Bewohner sich in den Zellen nicht aufrichten durften, oder — Zwerge. Waren die Bewohner von Lemurien vielleicht zwerghaft klein?«

Das konnte auch Ramford nicht sagen, obgleich der sich näher mit der Sage über Lemurien befasst hatte.

Sie verließen die Pyramide wieder. Draußen wartete ihrer ein überraschender Anblick, der auch etwas sehr Beunruhigendes haben musste.

Die Umgebung der Pyramide war ausnahmsweise sandig, und hier vor dem Tunneleingang drückten sich in dem feinen, weißen Sande außer ihren eigenen Stiefeln die Spuren eines großen, nackten Fußes ab.

Es war ausgeschlossen, dass diese Spur schon vorhin da gewesen war. Das hätten sie sofort gemerkt. Die Fährte war erst jetzt entstanden.

Und was für ein Fuß war das! Noch größer als ein Maßfuß gleich zwölf Zoll. Und wer dieses Maß aufgebracht hat, den englischen oder Pariser oder preußischen oder sonst einen Fuß, drei Fuß eine Elle, wobei ja niemals ein großer Unterschied ist, der muss überhaupt einen ganz mächtigen Latsch besessen haben! Denn er muss dabei seinen Fuß doch wohl nackt gemessen haben. Dreieindrittel solcher Füße einen Meter! Alle Hochachtung vor solch einem Fuße! Wenn dieser Mann ein entsprechend großes Gehirn gehabt hat, so muss das ein sehr gescheiter Kerl gewesen sein! Oder er hatte einen Wasserkopf.

»Das muss ein Riese gewesen sein!«

Vorsichtig blickten die beiden um sich.

Zu sehen war der Mensch nicht.

Die Spur führte aus dem Grase heraus, lief vor dem Tunneleingang in dem Sande hin und her und ging in das Gras zurück.

Die Freunde wollten sie weiter verfolgen, gaben aber bald den Versuch auf. Wohl waren sie in aller weidmännischen Jagdkunst bewandert, aber in diesem Grase, wie das hier beschaffen war, reichten ihre Augen und ihr sonstiger Spürsinn nicht aus.

So kehrten sie zurück und betrachteten noch einmal den scharfabgedrückten Fuß.

»Das ist ein Riese von über zwei Meter Länge gewesen.«

»Und wie weit die Zehen voneinander abstehen, besonders die große Zehe!«

»Das deutet nicht auf besondere Geistesschärfe.«

»Meinst Du, Walter?«

»Ich habe einmal so etwas gehört.«

»Jedenfalls deutet es darauf hin, dass dieser Mensch auch sonst kein Schuhwerk trägt.«

»Und jedenfalls tun wir gut, wenigstens unsere Revolver zu entsichern.«

»Walter, dort — dort!!«, flüsterte da Ramford.

Ja, es war ein wundersamer Anblick.


Illustration

In einiger Entfernung von ihnen jagte über die nur mit einer kurzen Grasart bedeckte Ebene ein Känguru, mit großen Sätzen auf den Hinterbeinen springend, es war wohl ein großes Tier, aber nicht eben ein Riesenkänguru, vielleicht einen Meter hoch, und auf seinem Rücken saß ein Mensch, der schon wegen seines Reittieres ein Kind sein musste.

Ehe man etwas genauer unterscheiden konnte, war die Erscheinung schon zwischen einer Felsformation verschwunden.

»O Wunder über Wunder«, rief Ramford, »ein Mensch auf einem Känguru!!«

»Na, da finde ich nun nicht gerade so etwas Wunderbares dabei«, meinte sein Freund. »Warum soll denn nicht ein Känguru von einem Menschen zugeritten werden können, der für das Tier leicht genug ist? Die alten Peruaner und Mexikaner haben freilich auch ›Wunder über Wunder!‹ gerufen, als sie die ersten Spanier zu Pferde gesehen haben.«

»Die hatten überhaupt noch nie ein Pferd gesehen. Du gibst doch zu, dass es etwas Erstaunliches ist, einen Menschen auf einem Känguru reiten zu sehen.«

»Ja, ich gebe es zu.«

»Und dieser Junge ist nicht etwa nur einmal so draufgesprungen, wie man sich schließlich auch einmal auf eine Riesenschildkröte setzen und sich forttragen lassen kann, obgleich man deshalb solch eine Schildkröte doch noch nicht als Reittier bezeichnen darf. Ich habe ganz deutlich gesehen, dass der einen Zügel in der Hand hatte.«

»Ja, das sah ich auch. Nun ist auch der Kupferring in der Nase des Kängurus erklärt. Die Bewohner dieses Landes haben zahme Kängurus und lassen ihre Kinder darauf reiten, wie bei uns Kinder wohl einmal auf großen Hunden und Ziegenböcken reiten. So ein zahmes Känguru hat einmal seine Freiheit wiedergewonnen, ist verwildert, wir mussten gerade dieses Tier erlegen.«

»Oder es war eben ein zahmes. Aber der Sohn eines Riesen war das nicht, der glich vielleicht einem zehnjährigen Jungen von normaler Größe.«

»Na, wir brauchen doch nicht zu glauben, dass hier lauter Riesen wohnen. Der Fuß, den wir dort gesehen haben, gehörte nur einmal einem sehr großen Menschen an.«

»Hm. War der Junge mit etwas bekleidet?«

»Das konnte ich nicht unterscheiden, er war zu schnell verschwunden.«

»Mir kam er recht dick vor.«

»Ja, es schien ein recht dicker, kräftiger Bengel zu sein. Oder er hatte ein dickes, gelbes Kängurufell an. Etwas Gelbes sah ich.«

»Und vorn auf der Brust? Sahst Du da etwas?«

»Es war mir, als ob er da etwas Weißes hätte.«

»Sahst Du das auch? Ich dachte nämlich schon, es wäre ein langer, weißer Vollbart gewesen, der ihm bis auf die Brust wallte.«

»Der kleine Junge mit einem langen, weißen Vollbarte? Wo denkst Du hin, Tommy!«

»Nun, gehen wir ihm doch einmal nach.«

Mit aller Vorsicht begaben sie sich nach jener Felsformation, zwischen welcher der seltsame Reiter verschwunden war, und drangen dort ein.

In einer Schlucht war der Boden mit feinem Sand bedeckt, hier sahen sie wieder zahlreiche Spuren, hin- und herlaufend, von Kängurus und Menschen, letztere teils wieder so ungeheuer groß, teils normal.

»Das ist nicht mehr die Fährte eines einzigen Riesen«, sagte Ramford, »hier unterscheide ich drei verschiedene solche große Füße. Bei diesem hier stehen die Zehen wieder so weit auseinander, bei dieser Spur ist dies viel weniger der Fall, und dem hier fehlt die linke große Zehe.«

So war es, Sir Walter musste es bestätigen.

»Und das hier ist wieder ein anderer Riesenfuß. Wir müssen uns also darauf gefasst machen, mit einem ganzen Volke von Riesen zusammenzukommen.«

Sie verfolgten die Spuren weiter, überdies hatte die Schlucht, allerdings nur von niedrigen Felsenhügeln begrenzt, gar keine Seitenwege.

Da kam eine kleine Ausbuchtung, in der man gleich einen Lagerplatz erkannte. Es lag und stand ja nichts herum, man sah keine Gerätschaften, wohl aber waren mehrere Feuerstellen vorhanden, erkaltet, und dann eben von Känguru- und Menschenfüßen zertreten.

Außerdem waren noch zwei große Löcher in der glatten Felswand vorhanden, Eingänge zu Höhlen bildend.

Die eine, welche einen zweiten Ausgang in eine andere Schlucht besaß, diente offenbar als Stall für Kängurus, die an Kupferstangen, in den Felsen eingelassen, gebunden wurden. Ein Eimer ganz aus gediegenem Kupfer verriet, wie reich die Insel an diesem doch immerhin wertvollen Metall war.

Die zweite Höhle, keinen anderen Ausgang habend, diente als Wohnraum. Hier musste man sich genauer umschauen, um aus den Gegenständen auf das Wesen dieser hier hausenden Menschen zu schließen.

Pfannen, Töpfe, Äxte, Messer — alles aus Kupfer. Nicht gegossen, sondern geschmiedet, und zwar recht plump. Bei weitem nicht die sorgsame und oft recht geschmackvolle künstlerische Arbeit zeigend, welche die Völker Europas aus der sogenannten Bronzezeit — der trojanische Krieg fällt noch in das Ende derselben — hinterlassen haben.

Als Lagerstätten waren Kängurufelle aufgestapelt, aus ihrer Anzahl durfte man auf ein Dutzend Bewohner schließen, freilich konnten sie ja auch zusammen schlafen.

Sonst war nicht viel zu sehen. Nur eine große Kiste war vorhanden, aus Kupferplatten bestehend.

Eben wollte sie Ramford näher untersuchen, als er zurückprallte, denn plötzlich war hinter dieser Kiste ein kleines, menschliches Wesen hervorgesprungen und suchte den Ausgang der Höhle zu gewinnen.

Und es war ein ganz besonderes menschliches Wesen, Ramford war erschrocken zurückgeprallt, das tat aber nicht Sir Walter, der hinter ihm gestanden hatte, der griff sofort zu und packte diesen Jungen.

Das war aber nicht so einfach, den festzuhalten. Er entwickelte eine ganz unglaubliche Kraft und war geschmeidig wie ein Aal.

Mit Hilfe Ramfords gelang es endlich, das um sich und mit tiefer Stimme grunzende Laute ausstoßende Kerlchen zu überwältigen, es wurde an Händen und Füßen gebunden, der englische Baronet knebelte auch die Kinnlade mit seinem großen Taschentuche, und nun sah man erst richtig, was man nur ungefähr hatte beurteilen können, solange sich der Zwerg zwischen ihren Fäusten gewunden hatte.

Denn ein Zwerg war es, kein halbwüchsiges oder sogar kleines Kind. Kaum einen Meter hoch, aber ungemein kräftig gebaut, strotzend von Muskeln und Sehnen, ein glatzköpfiger Greis, er hatte kein einziges Härchen auf dem Schädel, dafür aber einen weißen, bis auf die Brust reichenden Vollbart. Um die Lenden nur ein Schurz aus Kängurufell. Die Haut von braungelber Farbe. Und während die Hände für die Figur von normaler Größe oder Kleinheit waren, nur eben auch sehr muskulös, hatte er ganz ungeheuere Füße mit weitabstehenden Zehen.

»Das ist unser Riese!«, sagte Sir Walter. »Ein abgebrochener Riese, von dem nur die Füße übrig geblieben sind.«

»Und trotz seiner Glatze und seines weißen Bartes kann er noch gar nicht so sehr alt sein, kein Greis«, ergänzte Ramford.

Je länger man ihn betrachtete, desto mehr kam man zu dieser Überzeugung.

Einmal trotz der Zwerghaftigkeit die ungemein kräftige Entwicklung, alles Fleisch noch so fest, und dann zeigte auch das Gesicht noch kein Fältchen.

Ein sympathisches Gesicht freilich war es nicht. Überhaupt für den Zwerg ein ungeheuerer Kopf, aber doch wieder zu der breitschultrigen Gestalt passend, mit ungeheueren, weit abstehenden Ohren, ebenso ungeheuer groß der Mund, die Nase plump, und die Augen nun vollends ganz rot, blutunterlaufen, und so stierte er die beiden Fremden halb angstvoll, halb mit furchtbarem Grimme an, manchmal mit den gewaltigen Zähnen knirschend.

»Ich glaube gar nicht«, sagte Sir Walter, »dass die Augen blutunterlaufen sind, sie sind eben rot, ich halte den Kerl für einen Kakerlak, für einen Albino, der eben rote Augen und weiße Haare hat —«

»Halt, Du hast recht!«, rief sein Freund. »Jetzt entsinne ich mich, in den indischen Büchern gelesen zu haben, dass die Lemuren tatsächlich Albinos gewesen sind! Nur dass von zwerghafter Gestalt die Rede war, davon weiß ich nichts.«

Mit unverhohlenem Staunen, dem auch etwas Scheu beigemischt war, betrachteten die beiden Freunde den Bewohner einer verschollenen, untergegangenen, sagenhaften Welt, und sie hatten ja auch sonst noch Grund zur Scheu.

»Sieht aus wie ein wildes Tier in ungefährer Menschengestalt. Du, Walter, wir wollen vorsichtig sein, seine Kameraden könnten ihm zu Hilfe kommen. Von diesen Wesen hätten wir nichts Gutes zu erwarten.«

Es war aber wohl das Beste, wenn sie in dieser Höhle blieben, vorläufig wenigstens. Draußen hätten sie mit Pfeilen beschossen oder mit Steinen beworfen werden können.

Sie schnürten ihm wieder den Mund auf, beißen tat er nicht mehr, er schien sich in sein Schicksal zu ergeben. Es hatte gar keinen Zweck, erst zu versuchen, sich mit ihm in irgend einer Sprache verständlich zu machen.

Ramford schoss einmal seinen Revolver ab, der Zwerg schrak wohl zusammen, aber doch nicht allzu sehr, dann starrte er mit finsterem Trotze nach der donnernden, feuerspeienden Waffe, dann wandte er verächtlich das Gesicht ab. Ebenso wenig Eindruck machte auf ihn das Ticken einer Uhr, das Vorhalten eines Spiegels.

»Bist Du überzeugt, dass wir hier Nachkommen jener sagenhaften Lemuren vor uns haben?«, fragte Sir Walter.

»Ja, das bin ich«, entgegnete Ramford.

»Und sollen jene Lemuren nicht im Besitze von fabelhaften Erfindungen gewesen sein, von denen wir modernen Kulturmenschen uns heute noch gar nichts träumen lassen?«

»Ja, so wird in jenen indischen Büchern behauptet, und diese Bauwerke stammen doch auch sicher von diesem Zwergvolke, denn nun ist auch die Kleinheit der Wohnräume erklärt.«

»Wie erklärst Du Dir da, dass ein hochstehendes Kulturvolk so herunterkommen kann, bis es zuletzt wie die nackten Wilden mit den primitivsten Gerätschaften in Höhlen lebt?«

»Das ist einfach der Lauf der Welt, der Weltgeschichte. Jedes Volk hat seinen Anfang, seine Entwicklung zum Höheren, seine Blütezeit, seinen Niedergang und sein Ende. Wir haben solche Beispiele doch genug, die wir historisch verfolgen können. Denke doch an die Perser. Was ist das einst für ein Kulturvolk gewesen. Besonders auch in Bezug auf Wissenschaft, was die schon in astronomischen Berechnungen geleistet haben, und in was für einem Luxus die lebten, als man in Mitteleuropa, das jetzt die Kultur trägt, noch den Auerochsen in Urwäldern jagte. Was sind die Perser heute? Wenn sie nicht von eroberungslustigen Engländern und Russen bedrängt würden, daher noch immer mit einer fremden Kultur in Fühlung blieben, wären sie schon längst auf das tiefste Niveau der Menschheit zurückgesunken, wären wieder Wilde geworden. Oder denke an die alten Ägypter, was die für Bauwerke geschaffen haben, was die schon für Erfindungen besaßen. Ich erwähne nur die Galvanoplastik, die erst viertausend Jahre später in Europa zufällig wiedererfunden wurde. Von diesen alten Ägyptern gibt es noch ganz direkte Nachkommen: die Kopten — heute das elendste, schmutzigste, verkommenste, unwissendste Element unter der arabischen Bevölkerung. Was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben — was steigt, das sinkt auch wieder — das ist der ewige Lauf der Welt.«

»Nun gut«, entgegnete der englische Baronet, »und wie erklärst Du Dir nun, dass dieser zwerghafte Mensch, doch nichts anderes als ein Wilder, so gar keinen Schreck und kein Staunen vor unseren Feuerwaffen und allen sonstigen Instrumenten zeigt, während sich andere Wilde doch vor so etwas entsetzen. Der hier aber wendet sich nur verächtlich ab.«

»Hm. Das ist nicht so einfach zu erklären —«

»Doch, ganz einfach, ich will es Dir sagen, und Du selbst hast es ja schon stark angedeutet. Weil diese Lemuren eben schon einmal auf der höchsten Kulturstufe gestanden haben. Wenn aber ein Mensch, ein ganzes Volk so weit gekommen ist, dann wird ihm die ganze Geschichte langweilig, eine andere Sehnsucht stellt sich ein, die in dem Schlagwort gipfelt: Zurück zur Natur!! Alle Errungenschaften der Kultur, Wissenschaft und Kunst werden verachtet, man setzt seinen Stolz darein, statt Wein aus silbernen Bechern oder geschliffenen Gläsern wieder Wasser aus den hohlen Händen zu trinken, statt lukullische Mahlzeiten zu halten, wieder rohe Früchte und Kräuter zu essen, statt Eisenbahnen und aller sonstigen Verkehrserfindungen nur wieder seine Füße zu benutzen. Und wird das allgemein, so kann ein ganzes Volk mit Absicht wieder zu Wilden herabsinken. Aber das werden nun ganz andere Wilde — Naturmenschen wollen wir sagen. Die Erinnerung, dass sie einst schon die höchsten Erfindungen besessen haben, bleibt ihnen, und ebenso bleibt ihnen die stolze, trotzige Verachtung gegen alles dies, was sie nicht mehr nötig zu haben glauben. Das ist der Grund, weshalb zum Beispiel die arabischen Wüstenbewohner und viele amerikanische Indianerstämme alle unsere Kulturangebote verächtlich zurückweisen. Sie sagen sich, das haben wir selbst alles schon gehabt, bevor ihr es hattet, wir brauchen das nicht mehr und so ist es auch ganz sicher hier mit diesen Lemuren gegangen. Der Kerl hier lässt sich nicht von unseren Feuerwaffen und dem Ticken unserer Taschenuhren imponieren, denn wenn er es nicht bestimmt weiß, so ahnt er doch instinktiv, dass seine Vorfahren, mit denen er sich noch persönlich vereint fühlt, noch ganz andere Erfindungen gehabt haben. Er verachtet alles das, so wie er die Wohnungen in den Pyramiden verachtet und es vorzieht, in einer elenden Höhle zu hausen.«

Es war eine große Wahrheit, die der englische Baronet da ausgesprochen hatte, und sie sollte auch noch von anderer Seite bestätigt werden.

»Ja, was sollen wir nun mit dem Kerl anfangen?«, setzte Sir Walter noch hinzu.

»Vor allen Dingen kommt es mir vor, als ob er Dich verstanden hätte, er hat zuletzt so aufmerksam zugehört und ein paar Mal verächtliche Grimassen geschnitten.«

Sir Walter hatte es nicht bemerkt, hatte den Zwerg eben nicht beobachtet.

»Speak English?«

Der Zwerg stierte trotzig vor sich hin.

»Nein, das ist Unsinn, zu verlangen, dass der Englisch kann. Aber — da fällt mir ein — gerade die Inder haben sich doch so viel mit der Sage von Lemurien beschäftigt, was sich nun so ziemlich als Tatsache erweist, und dieser Archipel hat doch in der Nähe Indiens gelegen — versuchen wir es einmal mit Sanskrit!«

Beide Freunde hatten auf der Oxforder Universität wie so viele Engländer, ob sie sich nun dem indischen Kolonialdienst widmen wollen oder nicht, hauptsächlich indische Sprachen studiert, deren Schlüssel das Sanskrit ist, überhaupt wohl die Basis sämtlicher arischer und indogermanischer Sprachen, in der alle religiösen und philosophischen Bücher geschrieben sind, wenn es auch nicht mehr gesprochen wird. Der Meister und Hauptlehrer des Sanskrits an der Oxforder Universität — anderswo ist es gar nicht zu studieren — ist oder war ein Deutscher, der weltberühmte Professor Max Müller.

Sie stellten einige Fragen in diesem indischen Latein. Es brachte auf den Zwerg keinen Eindruck hervor, nach wie vor blickte er mit finsterem Trotz zur Seite.

»Nein, auch das ist zu viel verlangt, dass der Sanskrit können soll. Was nun mit dem Kerl anfangen? Sollen wir ihn immer mit uns herumschleppen? Lassen wir ihn laufen.«

»Ja, aber erst wollen wir ihm doch etwas größeren Respekt vor unseren Donnerwaffen beibringen.«

Soeben hüpfte draußen ein großes Känguru vorbei, blieb einen Augenblick stehen, um neugierig in die Höhe zu blicken — da krachte Ramfords Revolver, das Tier brach im Feuer zusammen.

Es wurde hereingeschleift, dem Zwerge die blutende Wunde in der Herzgegend gezeigt. Sir Walter hatte recht wohl beobachtet, wie diesmal der Zwerg bei dem Schusse nicht im Geringsten erschrocken zusammengefahren war, jetzt wollte er nicht sehen, was ihm gezeigt wurde.

»Der meint vielleicht, solch eine Wunde könnte er auch mit seinen Waffen erzeugen, das Tier töten. Also immer noch ein anderes Beispiel.«

Ein Kessel, aus starkem Kupfer getrieben, wurde gegen die Wand gestellt, Ramford jagte aus seiner Büchse eine Spitzkugel durch den Boden.

Ja, diesmal starrte der Zwerg mit recht weit aufgerissenen Augen das entstandene Loch an. Dann aber wandte er wiederum wie verächtlich den Kopf zur Seite.

»So, das genügt, mehr können wir nicht tun, nun weiß er, was er von uns zu erwarten hat, und er mag es seinen Kameraden erzählen.«

Noch einige Zeichen des Friedens wurden gemacht, dann löste man ihm die Fesseln. Wie ein Wiesel huschte der weißbärtige Zwerg hinaus und war wenige Augenblicke später hinter dem nächsten Felsen verschwunden.

Und die beiden machten schnell, dass sie aus dieser Felsenregion herauskamen. Dieser Eingeborene hatte trotz seiner zwerghaften Kleinheit ein gar zu kräftiges, kriegerisches Aussehen gehabt, wozu nun besonders noch die roten, tückisch blickenden Augen kamen. Wenn das nicht eine ganz besondere Ausnahme gewesen war, dann durfte man diesen Lemuren nicht trauen. Und hier in diesen Schluchten war es so leicht, den beiden fremden Eindringlingen den Garaus zu machen. Wenn die begrenzenden Wände auch nicht hoch waren, so genügten doch herabgewälzte Steine, um sie zu zerschmettern.

Sie hatten sich wieder nach dem zertrümmerten Aeroplan zurückbegeben. Was nun? Es war fatal. Dass diese Insel von Menschen bewohnt, von solchen geradezu fürchterlich aussehenden Zwergen, das hatten sie natürlich nicht erwartet, das machte die ganze Erforschung der Insel illusorisch. Sie mussten immer auf ihrer Hut sein, durften sich nie trennen, durften kaum noch wagen, eine Pyramide oder sonst ein Bauwerk zu betreten, wo ihnen doch der Rückweg verlegt werden konnte.

»Da kommt eine ganze Bande auf zweibeinigen Pferden!!«

Es waren mindestens fünfzig Menschen- und Känguruköpfe, die plötzlich aus dem hohen Grase auftauchten. Es war nicht anders möglich, als dass sie sich geduckt herangeschlichen hatten.

Aber hier, wo der Aeroplan gelandet, war der Graswuchs wohl wegen der Bodenbeschaffenheit in weitem Umkreise viel niedriger, kaum kniehoch, und ganz offen ließen die Reiter ihre seltsamen Reittiere auch in dieses freie Gebiet hineinhüpfen, wobei die Kängurus jetzt auch manchmal ihre Vorderbeine gebrauchten, die hinteren nachziehend.

Lauter solche Zwerge, alle nackt bis auf den Schurz, alle so breitschulterig und kräftig, muskulös, fast herkulisch zu nennen, alle mit roten Augen und weißem Barte, kürzer oder länger, aber der Kopf immer ganz nackt.

In Pistolenschussweite stiegen sie ab. Ruhig blieben die Kängurus stehen. Schon war zu sehen, dass die Reiter einfach auf ihren nackten Rücken gesessen hatten, ein Strick wurde als Zügel benutzt, an einem durch die Nase gezogenen Ringe befestigt.

Bereits war einer der Zwerge, dessen weißer Bart bis auf den Unterleib reichte, vorausgegangen, sich verbeugend und wiederholt die Hand aufs Herz legend, alle anderen folgten ihm.

»Walter, die sehen alle so aus wie vorhin der«, sagte Ramford unruhig.

»Sie haben keine Waffen bei sich.«

»Wenigstens sind keine zu sehen. Aber der Teufel traue diesen Burschen. Wie wollen wir sie empfangen?«

Ja, sie befanden sich in einer fatalen Situation. Sie konnten doch nicht gleich in die Menge hineinschießen. Vielleicht waren es ganz friedliche Menschen und jedenfalls näherten sie sich unter Friedenszeichen.

Es gab nur eine einzige Möglichkeit der Sicherung, und schnell hatten sich die beiden verständigt.

Ramford empfing sie, den entsicherten Revolver in der Hand, ob ihnen dies nun gefiel oder nicht, und Sir Walter lag gedeckt hinter dem Trümmerhaufen, sein Repetiergewehr an der Wange.

So geschah es. Aber Zweck hatte dies alles nicht.

Die fünfzig kleinen Männer, abgebrochene Herkulesse, kamen heran, grunzend und Friedensbeteuerungen machend, die Hälfte von ihnen umringte Ramford, die anderen gingen an ihm vorüber, um den Trümmerhaufen auf den Baronet zu, ihn ebenfalls umringend.

So, nun war man gerade so weit wie zuvor.

Und da war es auch schon geschehen!

»Nicht so weit heran, Hand weg von der englischen Flagge!«, hörte Ramford seinen Freund noch sagen, da hatten sich plötzlich die zwei Dutzend Zwerge auf ihn geworfen, die Beine wurden ihm unter dem Leibe fortgezogen, im Nu war er an Händen und Füßen gebunden.

Und ebenso war es dem Baronet ergangen. Noch weniger als einen Revolver hatte er sein Gewehr gebrauchen können. Aber einen Faustschlag hatte er doch ausgeführt, der einem Zwerge sicher das bärtige Kinn zerschmettert hatte. Dann lag auch er gebunden am Boden.

»Himmelhunde! Tommy!!«

»Mir geht's ebenso wie Dir. Adieu, Walter, auf ein Wiedersehen im Jenseits.«

Das Grunzen verwandelte sich in ein allgemeines Schnattern. Aber sonst benahmen sich die Zwerge mit ziemlichem Gleichmut, vergriffen sich nicht weiter an den hilflosen Gefangenen, zeigten keine Wut, keine besondere Aufregung darüber, dass einer ihrer Gefährten mit zerschmetterter Kinnlade bewusstlos am Boden lag

Die Gebundenen wurden aufgehoben und davongetragen, immer nur zwei Zwerge waren dazu nötig, auch der ohnmächtige Kamerad wurde mitgenommen, der aber jetzt wieder zu sich kam und mit heruntergeklappter Kinnlade ganz schreckliche Töne von sich gab, bis er plötzlich verstummte.

Die anderen schwangen sich wieder auf die Rücken der Kängurus, ritten nebenher, die Beuteltiere ganz langsame, kurze Sprünge machen lassend.

»Sieh nur, Tommy«, rief Sir Walter, »wie komisch diese Reiterei aussieht! Solch eine Kavallerie sollten wir uns auch anschaffen!«

Ramford kannte ja seinen phlegmatischen Freund zur Genüge, aber dass der sich jetzt noch für so etwas interessieren konnte, dazu hätte er ihn denn doch nicht für fähig gehalten.

Es ging wieder einer Felsformation zu, aber einer anderen, die bedeutend höher war als die vorige, schon mehr ein Gebirge zu nennen, das sich nur ganz unvermittelt aus der grasigen Ebene erhob.

Wieder in eine Schlucht hinein, die sich nach vielen Verzweigungen abermals zu einem freien Platze erweiterte. An den steilen, glatten Felswänden befand sich eine Höhle neben der anderen, in ihnen konnte man das Familienleben beobachten, es spielte sich auch draußen im Freien ab.

Die Weiber waren den Männern entsprechend, nur dass sie keinen Bart hatten, aber auf dem Kopfe ebenfalls kein einziges Härchen, was einen überaus hässlichen Eindruck machte, während sie sonst ganz annehmbare Züge und Gestalten hatten. Auch ihre Füße waren nicht so unförmlich groß wie die der Männer. Bekleidet waren auch sie nur mit einem Schurze.

Die Kinder waren gar nicht so klein, wie man hätte erwarten sollen. Am besten konnte der Fremde das bei noch ganz kleinen Kindern beurteilen, die noch getragen werden mussten, bei Säuglingen, die eine fast normale Größe hatten. Ältere Kinder — halbwüchsige, würden wir sagen — ließen sich nur durch ihre Bartlosigkeit und noch nicht so kräftig entwickelte Körperkonstitution als solche erkennen. Es schien eben nur das Wachstum in gewissen Jahren aufzuhören, dann ging es nur noch in die Breite.

Merkwürdig war, wie die Ankunft der beiden gefangenen Fremden, die hier doch wahrscheinlich eine wunderbare Erscheinung aus einem unbekannten Jenseits sein mussten, so gar kein Aufsehen erregte, wie diese denn auch gar nicht beachtet wurden. Das hatten diese zwerghaften Lemuren mit den Indianern gemein, diese Nichtbeachtung alles Unbekannten. Alle wilden Völkerschaften sind durchaus nicht so, auch nicht alle Indianer.

Die beiden Gefangenen waren mit dem Rücken gegen die Felswand gelehnt worden. Einige der kleineren Kinder kamen neugierig heran — ein rauer Laut aus der Kehle eines Mannes, und sie flogen davon oder drehten sich mehr noch trotzig um, ihrer Verachtung gegen die fremden Ungeheuer dadurch Ausdruck gebend, dass sie gar nicht mehr hinblickten.

Jetzt beschäftigte sich alles hauptsächlich mit dem bärtigen Manne, dem des Baronets Faust die Kinnlade zerschmettert hatte. Wenigstens standen die meisten Männer, Frauen und Kinder um ihn herum. Er saß in der Mitte des freien Platzes auf einem Steine und hatte den Kopf in beide Hände gestützt. Die Gefangenen konnten ihn durch den Kreis der Umstehenden erblicken.

Plötzlich tauchte in diesem Kreise eine andere Gestalt auf, ebenfalls ein weißbärtiger Zwerg, aber mit einem grünen, langen Gewande angetan, das an einem offenbar viel zierlicheren Körper in weiten Falten herabfloss, wie er auch auf dem Kopfe einen grünen Turban trug.

Die beiden hatten sein Kommen gar nicht bemerkt, nur noch gesehen, wie er die letzten Schritte tat, um vor dem Verletzten stehen zu bleiben, und dann, wie die anderen, die ihm im Wege gestanden, ehrfürchtig vor ihm zurückgewichen waren. Der kleine Mann hatte überhaupt etwas sehr Majestätisches an sich, auch wie er jetzt mit über der Brust verschränkten Armen, wobei man aus den weiten Ärmeln zierliche Kinderhändchen hervorlugen sah, wie solche sonst hier auch die kleinsten Kinder nicht hatten, ruhig dastand.

»Das ist offenbar ein Priester«, flüsterte Ramford, »und jetzt entsinne ich mich auch, gelesen zu haben, dass die Priesterfarbe der Lemuren grün war.«

Jetzt löste der kleine Priester, der wohl auch zugleich Arzt sein mochte, die Armverschränkung, betastete mit seinen Händchen den Kopf und die Kinnlade des Dasitzenden, und dann sprach er mit lauter, tiefer Stimme, die man diesem Körper gar nicht zugetraut hätte, ein einziges Wort aus:

»Makasi.«

Hoch horchten die beiden auf.

Sanskrit!

»Kasi« ist so viel wie wert, würdig — »makasi« das Gegenteil, also unwert, unwürdig.

Der Priester verließ den Kreis sofort wieder und wandte sich einem Höhleneingange zu.

Die beiden folgten ihm nicht mit Blicken, die bekamen jetzt etwas anderes zu sehen, etwas Entsetzliches.

Sofort erhob sich der Mann, einer der Nächststehenden reichte ihm ein großes kupfernes Messer, jener nahm es und — stieß es sich ohne Weiteres bis an das Heft in den Leib, auch noch einen Schnitt von unten nach oben machend.

Ein Blutstrahl, er stürzte zu Boden, einige Zuckungen, und er war tot.

Japanisches Harakiri. So töten sich die Japaner, wenn sie Selbstmord begehen dürfen, wenn es ihnen die Ehre gebietet oder sie aus einem anderen Grunde freiwillig aus dem Leben scheiden müssen.

Weshalb stoßen sich die Japaner, wenn sie nun einmal durch blanke Waffe sterben müssen, das Messer nicht lieber ins Herz?

Weil nach uralter indischer Lehre, der auch die doch ebenfalls buddhistischen Japaner anhängen, der Sitz des Lebens hinter der Magengrube liegt.

Es hat etwas für sich. Erst jetzt fangen unsere Gelehrten an, sich mit dem Nervenbündel, das hinter der Magengrube liegt, näher zu beschäftigen. Da es strahlenförmig angeordnet ist, nennt man es das Sonnengeflecht, Plexus solaris. Aber sein eigentlicher Zweck ist so unbekannt wie der der Milz, der Schilddrüse, der Mandeln und noch manch anderer Organe, über deren Zweck man sich nur in Vermutungen ergeht. Die indischen Philosophen also behaupten, dass dieses Sonnengeflecht der Sitz des Lebens sei, durch seine Ausbildung und Beherrschung sollen die Fakire ihre wunderbaren Erscheinungen hervorbringen, zum Beispiel, dass sie stunden- und tage- und wochenlang den Atem anhalten, sich lebendig begraben lassen können. Und merkwürdig auch ist es, dass ein starker Schlag gegen die Magengrube, wie bekannt, den Atem aussetzen lässt, also die Funktion der Lunge aufhebt, oft aber auch den Herzschlag, und dennoch bleibt der Getroffene bei vollem Bewusstsein.

Dieses Bauchaufschlitzen durch eigene Hand aber war das Wenigste gewesen, es sollte noch etwas ganz anderes nachfolgen.

Sofort machten sich einige andere über den Toten her, weideten ihn kunstgerecht aus, zogen ihm die Haut ab — und der Mensch hat eine gar dicke Haut, schon manches Buch ist in Menschenhaut eingebunden worden, steht dem Schweinsleder wenig nach — andere machten unterdessen ein großes Feuer an, der Leichnam wurde mit Kupferdraht an einem starken Stock befestigt, dieser über zwei Gabeln gelegt — das Braten begann, gleich im Ganzen, wie manche Völker alle Tiere gleich im Ganzen braten, was auch bei uns wieder aufkommt. Eben weil wir es vor tausend und einigen Jahren auch schon einmal so gemacht haben, und weil alles, alles wiederkehrt.

»Menschenfresser! Entsetzlich!«, hauchte Ramford.

»Na na, tu mal nicht so«, meinte hingegen Sir Walter mit unverwüstlichem Gleichmut, »Du wolltest doch einmal nach den karibischen Inseln gehen, sie erforschen, da hättest Du immer darauf gefasst sein müssen, hin und wieder solch ein Schauspiel zu erleben, das darf Dich doch also nicht aus der Fassung bringen.«

»Gleich im Ganzen zu braten — —«

»Wenn Du Dich daran stößt — na, wenn Du vor mir drankommst, dann will ich dafür sorgen, dass Du erst in Stücke zerhackt wirst. Bei Dir wäre es ja auch nötig, Du bist lang genug. Aber bei so einem kleinen Kerl, was soll man denn da erst viel zerkleinern.«

»Du meinst, Walter —«

»Na, sicher meine ich. Oder meinst Du nicht? Wenn die ihren eigenen Kameraden auffressen, der nichts weiter hat als eine kaputte Kinnlade, dann fressen die doch sicher erst recht einen Fremden auf. Na, und was tut's? Einmal muss man doch sterben, und ob man nun von Würmern oder menschlichen Zähnen abgenagt wird, das bleibt sich doch ganz gleich. Ich wollte mich allerdings verbrennen lassen. Aber werde ich hier nicht auch verbrannt? Jawohl, es riecht schon ganz brenzlig, dem dort verbrennt schon der linke Schinken. Drehen, immer feste drehen!«

»Walter, Du bist entsetzlich!«, stöhnte Ramford, der nicht so nervenlos war.

»Ja, was hilft da alles Weinen? Fügen wir uns in das Unvermeidliche.«

»Es ist auch das Weiseste, was ein Mensch tun kann.«

Betroffen blickten die beiden auf. Neben ihnen stand der grüne Priester, blickte mit über der Brust verschränkten Armen hoheitsvoll, so weit dies bei der kleinen Gestalt möglich war, auf sie herab — dieser hatte das gesagt, auf Englisch!

Jetzt erst sahen sie, was dieser Priester im Gegensatz zu den anderen für ein regelmäßiges, sogar wirklich schönes Gesicht hatte, geadelt vom höchsten Geiste. Allerdings nicht gerade milde Züge, aber auch keine strengen. Einfach unbeweglich, steinern. Übrigens konnte er noch gar nicht so alt sein, wenn er auch schon einen langen, weißen Bart hatte.

»Hallo, Sie sprechen Englisch?!«

»Schweigt!«

Ein Wink, und einige Krieger, wie wir sie im Gegensatze zu den Priestern nennen wollen, obgleich sie gar keine Kriege führten, sprangen herbei, der Priester sprach etwas zu ihnen, wieder in jenen schnalzenden oder sogar grunzenden Gutturallauten, sie untersuchten den Gefangenen die Taschen, nahmen ihnen alles ab, lösten aber auch gleichzeitig die Banden.

»Folgt mir.«

Sie erhoben sich.

»Du, Tommy, mit unserem Gebratenwerden scheint es nichts zu sein, und ich hätte so gern selber mitgegessen«, meinte der Baronet.

Sie folgten dem vorausschreitenden Priester in eine Höhle, die aber gar nichts enthielt, nur im Hintergrunde eine Treppe, diese hinauf, und sie befanden sich in einer Felsenkammer, die ihr Licht durch eine höher angebrachte Öffnung erhielt.

In der sonst ganz nackten Kammer war nur ein Sitz vorhanden, aus einem stehen gebliebenen Felsstück gebildet, und auf diesem saß wieder ein Priester, ebenso gekleidet, der aber sicher wirklich alt war.

Der Führer trat zurück, die beiden standen vor dem Alten, der sie lange Zeit unbeweglich ansah.

»Wer seid Ihr?«, fragte er dann auf Englisch.

Ramford übernahm es, zu berichten, der Wahrheit gemäß. Was hätte er auch verschweigen sollen.

»Wisst Ihr, wo Ihr Euch hier befindet?«

»Auf dem letzten Reste eines Festlandes, eines ganzen Erdteiles, der einer Erdkatastrophe zum Opfer gefallen ist.«

»Wie nannte man diesen Erdteil?«

»Lemurien.«

»Was weißt Du von diesem Lemurien?«

Auch hierüber berichtete Ramford, so weit er konnte. Es war nicht allzu viel, was er gelesen hatte, er hatte sich auch nicht weiter für diese Sage interessiert.

Der kleine Alte unterbrach mit keinem Worte, fragte deswegen auch nicht näher.

»Kennst Du den Sklavensee?«

»Den Sklavensee?!«, wiederholte Ramford erstaunt. »Was für einen Sklavensee?«

»Eben den, an den Du jetzt denkst, wenn es auch mehrere Seen dieses Namens geben mag.«

»Also den Sklavensee in Colorado am Felsengebirge.«

»Ja, in einem Lande, welches Ihr Amerika nennt. Kennst Du ihn?«

»Nur dem Namen nach. Ich war noch nicht dort.«

»Auch Dein Freund nicht?«

»Nein.«

»Aber Du hast von ihm gehört?«

»Genug.«

»Was hast Du von ihm gehört?«

»In den hohlen Felsenkammern haust eine rätselhafte Gesellschaft von Menschen, die wunderbare Erfindungen besitzen.«

»Was für wunderbare Erfindungen?«

»Man kann sie gar nicht aufzählen, und das wenigste wird die andere Welt wohl erfahren haben. So besitzen so eine rätselhafte Masse, glasartig —«

»Gut«, wurde Ramford zum ersten Male unterbrochen. »Und was ist das nun für eine rätselhafte Gesellschaft, wie Du sie nanntest?«

»Davon weiß ich nichts, weiß wohl niemand etwas. Man spricht ja von Adepten oder Mahatmas, aber —«

»Gut. Bringt Ihr uns hier mit diesen rätselhaften Menschen dort am Sklavensee in Verbindung?«

»Nein. Wir hatten keine Ahnung, dass wir hier überhaupt Menschen finden würden.«

»Gut. Du sprichst die Wahrheit. Das wollte ich nur von Dir hören. Ihr beide seid frei.«

Es schien, als ob sie gleich entlassen sein sollten.

»Wir werden auch nicht in Freiheit als Schlachtvieh gemästet?«, musste sich auch der Baronet einmal vernehmen lassen.

Das Gesicht des kleinen Alten war und blieb unveränderlich.

»Ich weiß was Du meinst. Nein. Nur wenn jemand tödlich verunglückt, so erlauben wir ihm aus Barmherzigkeit, dass er sich vollends selbst tötet, und dann wird er verzehrt, obgleich derselbe Lebensgeist in jedem Tiere ist wie im Menschen.«

»Der Mann war durchaus nicht tödlich verunglückt.«

»Doch. Er wäre an einer Knocheneiterung gestorben, wäre mindestens verhungert, da er keine Nahrung mehr aufnehmen konnte «

»Wir sind also frei?«, nahm Ramford wieder das Wort.

»Ihr seid frei.«

»Vollkommen frei?«

»Vollkommen.«

»Dürfen uns hinbegeben, wohin wir wollen?«

»Wohin Ihr wollt.«

»Dürfen diese Insel auch wieder verlassen?«

»Wenn Ihr es könnt, ja.«

»Wir können es nicht?«

»Das werdet Ihr sehen.«

»Es gibt keinen Ausweg durch die Korallenriffe?«

»Sucht einen.«

»Wir können uns zum Beispiel einen neuen Aeroplan bauen?«

»Baut Euch einen.«

»Wir dürfen die ganze Insel untersuchen?«

»Ja.«

»Dürfen in alle Baulichkeiten eindringen?«

»Ihr dürft es.«

»Auch Gewalt anwenden?«

»Gewalt?«

»Zum Beispiel bohren und sprengen?«

»Ihr dürft es. Alles, wo Ihr irgendwie eindringen könnt, steht Euch offen. Nur eines dürft Ihr nicht: Gewalt gegen einen Sklaven oder einen Priester anwenden.«

»Die nackten Menschen, die uns überwältigten, sind Sklaven?«

»Sind die Sklaven der Priester. Und an Euch selbst wird es liegen, ob Ihr Sklaven oder Priester werdet.«

»Wie das?«

»Das werdet Ihr selbst sehen.«

»Werden wir unterrichtet?«

»Das liegt an Euch selbst, ob Ihr würdig seid, von Priestern unterrichtet zu werden oder nicht.«

»Wir dürfen mit den Sklaven verkehren?«

»So viel Ihr wollt. Ihr seid absolut frei.«

»Sie befragen?«

»Wenn Ihr es vermögt, ja.«

»Auch die Priester?«

»Wenn Ihr es vermögt, ja«, lautete wiederum die Antwort. »Könnt Ihr einen Sklaven oder einen Priester befragen, so ist er verpflichtet, Euch unter allen Umständen wahrheitsgetreue Antwort zu geben, Euch auch das tiefste Geheimnis zu offenbaren, das diese Insel birgt.«

»Wohlan, ich nehme Dich beim Wort!«, rief da Sir Walter schnell. »Du bist ein Priester, ich werde Dich befragen! Wann ist Lemurien bis auf diese Insel verschwunden? Dies ist meine erste Frage.«

Zum ersten Male veränderte sich das unbewegliche Gesicht des Alten, und es war ein gütiges Lächeln, das die bärtigen Lippen umspielte.

»Du bist sehr klug und schnell entschlossen im Handeln, Faringi, Du gefällst mir, und so hast Du alle Hoffnung, statt zu einem Sklaven herabzusinken, zu einem Priester emporzusteigen, und auch der höchste Thron soll Dir nicht unerreichbar sein. Allein Du irrst, wenn Du glaubst, ich müsste mich Deinem schlauen Zwange sofort fügen. Dies hier ist erst eine Ausnahme, Ihr werdet erst eingeführt. Sobald Ihr diese Kammer verlassen habt, seid Ihr Bürger von Lemurien, nicht schon jetzt.«

»Dürfen wir den Sklaven befehlen?«, fragte wieder Ramford.

»Befehlen könnt Ihr ihnen wohl.«

»Aber sie werden uns nicht gehorchen.«

»Das hängt immer wieder ganz von Euch ab.«

»Dürfen wir sie zwingen, dass sie uns gehorchen?«

»Wenn Ihr es vermögt, ja.«

»Selbst Gewalt dürfen wir gegen sie anwenden?«

»Wenn Ihr es vermögt, ja«, erklang es immer wieder.

»Die Sklaven werden sich gegen uns wehren?«

»Selbstverständlich werden sie sich wehren, wenn Ihr Gewalt anwenden wollt.«

»Aber sie haben nichts Feindseliges gegen uns im Sinn?«

»Durchaus nicht. So lange Ihr nicht feindselig gegen sie vorgeht. Es ist gut — geht.«

»Nur noch eine einzige Frage.«

»Stelle sie.«

»Gesetzt den Fall, dass ich einmal einen Sklaven durch ein unglückliches Versehen töte — was dann?«

»So wird der Tote von seinen Kameraden verzehrt.«

»Hm, das meine ich nicht. Was geschieht mit mir selbst?«

»Die Priester sitzen über Dich zu Gericht. War es nur ein unglücklicher Zufall, so bist Du eben unschuldig.«

»Mir geschieht nichts?«

»Gar nichts.«

»Und wenn ich ihn — mit Absicht getötet habe?«

»So wirst Du wiederum mit Absicht getötet. Und hast Du ihm mit Absicht eine Hand abgeschlagen, so wird auch Dir dieselbe Hand abgeschlagen. Findest Du das gerecht?«

»Ja, das muss man wohl Gerechtigkeit nennen.«

»Hast Du sonst noch etwas jetzt zu fragen?«

»Wir sollen also für immer hier Eure Gefangenen bleiben?«

»Gefangene? Ihr seid vollkommen frei — so wie jeder Sklave, welches Wort aber bei uns eine andere Bedeutung hat. Nennt sie lieber Uneingeweihte. An Euch selbst liegt es, ob Ihr eingeweiht werdet oder nicht, Ihr selbst müsst forschen. Jetzt geht. Und wenn Ihr von hier fort wollt und Ihr könnt es ausführen, gut, so tut es.«

Der andere, jüngste, Priester, der immer ruhig zur Seite gestanden hatte, winkte ihnen, führte sie nur an die Treppe und ging dann wieder zurück.

Im Reiche der Maja

Der Baronet war nur drei Stufen hinabgestiegen, als er schnell wieder umkehrte und zurücksprang.

Sein Freund begriff sofort, was der vorhatte, folgte ihm ebenso schnell nach.

Um in die Felsenkammer zu gelangen, musste man von der Treppe aus um eine Ecke biegen, es waren höchstens fünf Sekunden vergangen, dass sie die Kammer verlassen hatten — jetzt aber war diese leer, bis auf den Steinsitz — doch der Alte saß nicht mehr darauf, auch der jüngere Priester war verschwunden.

»Parbleu, wo sind die beiden hin?!«

Ja, sobald sie die Kammer verlassen hatten, sollten sie als Bürger von Lemurien gelten, sollten auch jeden Priester befragen dürfen, er war verpflichtet, ihnen wahrheitsgetreu Rede und Antwort zu stehen, darauf hatte der Baronet als erster spekuliert, auch Ramford hatte dann gleich daran gedacht — jetzt aber war eben kein Priester mehr da, den sie hätten befragen können.

»Können die sich denn unsichtbar machen?!«

»Es gibt hier eben eine geheime Tür, die sie schnell benutzt haben«, meinte Ramford.

Aber auch keine Fuge war zu entdecken.

»Gewiss, es ist eine Versenkung vorhanden, so gut schließend, dass auch keine Fuge zu entdecken ist. Was machst Du, Walter?«

Der ging mit ausgebreiteten Armen hin und her, sich auch schnell drehend, als wolle er ein Phantom fangen.

»Du denkst doch nicht wirklich, die könnten sich unsichtbar machen?!«

»Na, ich weiß nicht — schließlich ist nichts unmöglich. Stand in dem heiligen Buche nichts davon, dass sich die Lemuren, wenigstens die Priester, auch unsichtbar machen konnten?«

»Solche Einzelheiten habe ich gar nicht gelesen. Es sollen einfach Götter gewesen sein, mehr ganze als halbe.«

»Und Götter müssen sich unsichtbar machen können, wenn es auch nur halbe sind. Na, lassen wir. Diesmal ist unsere List eben nicht geglückt. So müssen wir es eben auf andere Weise versuchen, einen Priester beim Wort zu nehmen.«

Sie hatten sich noch gar viel mitzuteilen, verzichteten aber jetzt lieber darauf, gingen wieder hinab und traten durch die Höhle ins Freie.

Soeben war der Braten fertig; er wurde in Portionen zerschnitten und an die Umstehenden verteilt. Es kam auf jeden nicht viel.

Beim Anblick der beiden Fremden wurde freundlich gewinkt, vor allen Dingen aber sprang gleich ein alter Zwerg herbei, ein Stück rauchendes Menschenfleisch in der Hand, daran schmatzend kauend, obgleich es so heiß war, dass er es kaum halten konnte. Er kam aber nur, um den beiden die Waffen und sonstigen Sachen zu zeigen, die man ihnen vorhin abgenommen hatte.

»Sogar die Patronen zu den Revolvern und Gewehren gibt man uns wieder? Das wundert mich«, meinte Ramford.

»Nein, das wundert mich nun gar nicht mehr«, entgegnete aber der Baronet.

Darauf, nachdem sie die Sachen wieder zu sich genommen hatten, lud der Zwerg noch durch besondere Gesten sie ein, an dem Mahle teilzunehmen, und nicht nur das, sondern da kamen auch schon zwei junge, hübsche Weiber, die ihnen in kupfernen Schalen je eine Portion am Spieß gebratenes Menschensteak brachten, es mit freundlichstem Lächeln anbietend.

Aber die fremden, unhöflichen Barbaren ließen sich nicht bewegen, auch nur einen Bissen zu kosten, und wenn es auch noch viel reizendere Zwergmädchen gewesen wären — sie machten schleunigst, dass sie noch weiter ins Freie hinaus kamen.

»Nun, Tommy, was sagst Du zu alledem?«

»Grässlich, entsetzlich!«, stöhnte der Gefragte.

»Du meinst die Menschenfresserei? Tommy, das ist Geschmackssache — Ansicht. Wir haben schon vorhin darüber gesprochen, und auch der Priester hat etwas sehr Wahres gesagt. Der buddhistische Inder filtriert sogar sein Trinkwasser, nur deshalb, um nicht aus Versehen ein Tierchen mit zu verschlucken — nicht aus Ekel, sondern weil er eben kein Tierfleisch genießen will. Dabei freilich vergisst er, dass er mit jedem Atemzuge Legionen von Tieren verschlingt. Aber das ist etwas anderes. Er tut eben, was er kann. Wenn ihn ein Floh beißt, so fängt er ihn — vorausgesetzt, dass der Floh nicht fixer ist — er darf ihn aber nicht knicken, sondern er wirft ihn weg. Und muss sich dabei vorsehen, dass der Floh nicht ins Wasser, nicht einmal in feuchtes Gras fällt, wo er sich tödlich erkälten könnte. Atwam asi, das bist du selbst, sagt er beim Anblick eines jeden Tieres, er teilt mit ihm dieselbe Seele, und danach behandelt er es. Ich dächte also, das Thema der Menschenfresserei ist hiermit abgeschlossen. Ich kann es begreifen, obgleich ich selbst niemals Menschenfleisch essen würde. Ich meinte, was Du zu der Offenbarung des Priesters sagst.«

»Eine honettere Gefängnisdirektion können wir nicht wünschen«, entgegnete sein Freund, der sich von seinem Abscheu erholt hatte.

»O, es ist einfach großartig!«, rief der Baronet in förmlicher Begeisterung. »Sklave oder Priester, der höchste Oberpriester! Es liegt an uns, was wir werden wollen. Diese Priester sollen mir gar nichts sagen, ich werde von ganz allein in alle ihre Geheimnisse dringen, und dann werde ich mich dennoch zum elenden Sklaven erniedrigen!«

»Weshalb denn? Wie meinst Du das?«

»Dann werde ich unter diesen Sklaven eine Meuterei anzetteln — Revolution! — ich werde dieser ganzen Priesterwirtschaft ein Ende bereiten, werde mich auf den Thron setzen, aber nicht als Oberpriester, sondern als König dieser Insel. Du, Tommy sollst mein erster Minister werden. Oder vielleicht auch Vizekönig einer Provinz. Endlich ist dieses langweilige Einerlei vorbei, endlich habe ich meinen Beruf entdeckt, einen Lebenszweck gefunden!«

Ramford lachte. Er kannte ja seinen Freund. Übrigens zweifelte er gar nicht daran, dass er Ernst machte, er wollte aber jetzt nicht weiter darüber sprechen.

»Woher konnte der Priester Englisch? Wie konnte er etwas von dem amerikanischen Sklavensee wissen?«, fragte er nur noch.

»Entweder sind diese Lemurenpriester allwissend oder wir haben schon einen Vorgänger hier gehabt, von dem sie Englisch gelernt haben, der ihnen auch vom Sklavensee erzählen konnte.«

»Dann kann aber das noch nicht so weit zurückliegen, dass schon ein anderer Fremder hier gewesen ist. Die ganzen Ereignisse, die mit jenem Sklavensee zusammenhängen, haben sich ja noch seit keinen zwei Jahren abgespielt.«

»Die Priester sollen uns alles dies selbst erklären.«

Sie hatten ihren zertrümmerten Aeroplan erreicht. Alles schien unangetastet. Hierüber brauchten sie sich nicht besonders zu wundern. Es war ihnen ja gesagt worden, dass sie sich auch eine neue Flugmaschine bauen, also wohl auch diese Bestandteile benutzen durften. Die Waffen waren ihnen nur abgenommen worden, als sie zum ersten Male fessellos zum Verhör geführt worden waren. Diese Priester mochten ihre Leute schon kennen. Eine Pistole oder einen Dolch auf die Brust gesetzt — dann hätten die Fremden eine Geisel in den Händen gehabt, hätten unter Umständen alles, auch ihre Freiheit verlangen können.

»Ich fürchte nur«, meinte Ramford, »wenn die ihrer Sache so sicher sind, dass sie uns alle Mittel zum Wiederfortkommen überlassen, so haben die auch ein Mittel, um uns dennoch hier festzuhalten.«

»Wenn sie dabei keine Gewalt anwenden sollen, so müssten sie sich dabei übersinnlicher Zaubermittel bedienen. Nun, wir werden ja sehen. Jetzt müssen wir alles tun, was in unseren Kräften steht.«

Das bestand darin, dass sie den zertrümmerten Aeroplan, seine einzelnen Bestandteile vor Regen und anderen atmosphärischen Einflüssen schützten.

Übrigens war er gar nicht so sehr zertrümmert. Nur die beiden Tragflächen des Doppeldeckers waren durch den harten Aufschlag zusammengebrochen. Der Motor war noch vollkommen gut erhalten, und dann — die Hauptsache — die beiden noch gefüllten Benzinbehälter waren unbeschädigt geblieben. Denn was hätte ihnen eine Flugmaschine ohne Benzin genützt.

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, den Apparat vollends auseinander zu nehmen und die einzelnen Teile in einer Höhle zu bergen, die sie in den nahen Felsen gefunden hatten. Die ganze Insel war, soweit gebirgig, äußerst reich an Höhlen. Gleich daneben entdeckten sie noch eine zweite, viel geräumiger, in dieser beschlossen sie vorläufig, bis sie etwas Besseres gefunden hatten, ihr Quartier aufzuschlagen, zumal in der Nähe eine klare Quelle floss.

Auch das geschossene Känguru mit dem Ringe in der Nase hatte noch unberührt dagelegen, sie hatten sich schon am Mittag davon einen deliziösen Braten gemacht, am Abend aßen sie zum zweiten Male davon, dann streckten sie sich in der Höhle auf das ausgeraufte Gras nieder, das sie am Nachmittag etwas in der Sonne getrocknet hatten.

Den ganzen Tag über hatten sie keinen der Zwerge mehr gesehen. Morgen wollten sie selbst nähere Bekanntschaft mit ihnen machen. Wollten sie würdig sein, hier dereinst eine Priesterrolle zu spielen, so mussten sie wohl zunächst die Sprache dieser Zwerge erlernen.

*

Sir Walter Wilcox wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er durch ein leises Rütteln an der Schulter geweckt wurde.

Vor ihm stand ein Zwerg, aber ein ganz anderer als den er bisher hier gesehen hatte. Es war ein bartloser Jüngling, ein Knabe mit schönem, etwas mädchenhaftem Antlitz, konnte überhaupt ebenso gut ein Mädchen sein, zumal ihm das blonde Haar noch über die Schultern hinabwallte, und außerdem trug er eine Art römischer Tunika aus einem feinen, blauen Gazestoff, die ihm bis an die Knie reichte. Die Gaze war so dünn, dass Sir Walter darunter ganz deutlich den feinen Gliederbau zu sehen glaubte, so deutlich wie die nackten, wunderbar schön geformten Arme und Beine, an welch letzteren er Sandalen trug, die mit roten Riemen befestigt waren, zierlich kreuzweise über die Schienbeine geflochten.


Illustration

In der feinen, schneeweißen Hand hatte er eine silberdurchbrochene Lampe, die ein ganz merkwürdiges, magisches Licht ausstrahlte.

»Bist Du bereit, mir zu folgen?«, fragte der Knabe mit silberner Stimme in reinstem Sanskrit.

Die ganze Erscheinung in der nackten Höhle war so märchenhaft, dass Sir Walter fest überzeugt war, dies alles nur zu träumen. Und, wie der Mensch nun mal ist, der jeden Zweifel gleich zu lösen versuchen muss, grübelte er zunächst darüber nach, ob das wohl ein Knabe oder ein Mädchen sei, und kam zu der Ansicht, dass es doch wohl ein Wesen männlichen Geschlechtes sein müsse. Oder eben ein Engel, die ja wohl geschlechtslos sind, oder wenn sie noch ganz klein sind, sind es Jungen, und später werden es lauter Mädchen. Mit Ausnahme der Erzengel.

Das heißt, zu diesem Gedankengange hatte Sir Walter nur einen einzigen Moment gebraucht.

»Du glaubst wohl, Du träumst nur?«, lächelte der holdselige Knabe.

»Ja, das glaube ich!«, entgegnete der Baronet, so gut als er Sanskrit konnte, und er hatte es dereinst fließend gesprochen.

»Überzeuge Dich doch, dass Du nicht träumst, dass Du wirklich wach bist.«

Gut, Sir Walter kniff sich ins Ohr und zupfte sich an der Nase, drehte sich etwas um und befühlte seinen neben ihm sanft schlafenden Freund und musste so wohl zur Überzeugung kommen, wirklich wach zu sein.

»Wer bist Du?«, war dann seine nächste Frage.

»Ich heiße Elediom. Bist Du bereit, mir zu folgen?«

»Wohin?«

»Zu meiner Herrin.«

»Wer ist Deine Herrin?«

»Auch die Herrin über ganz Lemurien, von dem für Euch Menschen nur noch diese kleine Insel geblieben ist, und auch das nicht einmal, da ihr auch von dieser kleinen Insel gar nichts wisst, die meisten Menschen an Lemurien gar nicht glauben.«

»Ich habe schon früher davon gehört, und bin jetzt geneigt, daran zu glauben.«

»Eben deshalb sollst Du zu meiner Herrin kommen, damit Du mehr davon hörst.«

»Wie heißt Deine Herrin?«

»Majadea.«

»Majadea? Das würde doch heißen — die Tochter der Maja.«

»Du sagst es.«

»Maja war eine indische Göttin — die Göttin der Täuschung.«

»Sie ist es noch heute.«

»Nach uralter indischer Philosophie gibt es keinen Raum und keine Zeit, das sind alles nur Begriffe, die wir Menschen geschaffen haben, wir befinden uns dabei in einer großen Täuschung, und die Göttin, die diese Täuschung schafft, heißt Maja.«

»Du sagst es, und so ist alles noch heute, noch jetzt, und es gibt überhaupt nur ein Jetzt.«

»Es soll überhaupt nichts Reelles geben, es ist alles nur ein Traum, oder vielmehr eine Spiegelung von Gedanken, die von Göttern oder von Brahma selbst geträumt werden, das bewirkt Maja, weshalb sie mit einem Spiegel in der Hand abgebildet wird, die fängt die Gedanken der Götter auf und spiegelt sie wider, und diese Spiegelgaukeleien halten wir für Wirklichkeiten.«

»Du sagst es, so ist es.«

»Ich aber sage Dir, dass Zahnschmerzen etwas höchst Reelles sind, und ebenso, wenn jemand einem wuchtig aufs Hühnerauge tritt.«

»Auch das ist nur eine vorgespiegelte Täuschung!«, lächelte der Knabe.

»Nein, das ist etwas ganz Reelles, wenn jemand einem aufs Hühnerauge tritt, dass gleich der Angstschweiß ausbricht.«

»Es ist nur ein eingebildeter Wahn.«

»Nein, sage ich Dir, ein Hühnerauge ist etwas ganz Reelles. Dann bist Du eben noch nicht auf ein Hühnerauge getreten worden.«

»Wollen wir uns hier über so etwas streiten, oder willst Du Beweise meiner Behauptung haben?«, lächelte der Knabe wieder.

»Gut, gib mir Beweise.«

»So folge mir also.«

Sir Walter erhob sich. Dass er etwa träumte, davon konnte jetzt keine Rede mehr sein.

»Ist es weit?«

»Ein Weg von zehn Minuten.«

»Ein Weg auf dieser Insel?«

»Selbstverständlich.«

»Über die Prärie hinweg?«

»Ja.«

»Was für eine Rolle spielst Du denn hier?«

»Ich bin ein Deva.«

»Ein Deva?! Ein Gott?! A la bonne heure!«

»Kein Gott, nur das, was ihr Menschen einen Engel nennt.«

»Richtig. Na, das genügt auch schon. Aber weißt Du, wenn ich ein Engel wäre, dann fiele es mir nicht ein, bei Nachtzeit mit der Laterne durch das taunasse Gras zu latschen, dann machte ich das anders.«

»Du sollst nichts an Wirklichkeit vermissen, nur deshalb hole ich Dich auf diese Weise ab!«, entgegnete der Knabe, immer mehr lächelnd.

»Darf denn mein Freund nicht mitkommen?«

»Nein, lass ihn schlafen. Aber auch er wird dann abgeholt. Du wirst ihm wieder begegnen.«

»Wo?«

»Wo Du ihn am wenigsten erwartest. Ihr sollt große Überraschungen erleben. Willst Du Dir das vorläufig genügen lassen?«

»Es soll mir genügen «

Eben wälzte sich Ramford auf die Seite und fing tüchtig zu schnarchen an.

Die beiden verließen die Höhle. Dass der Knabe mit der Laterne leuchtete, war nicht nötig. Am sternenfunkelnden Himmel stand der Vollmond. Überhaupt eine herrliche Nacht, ganz windstill, nur, wie Sir Walter vorausgeahnt, war das Gras sehr nass vom Tau.

Sir Walter sah nach seiner Taschenuhr. Es war kurz vor Mitternacht. Als sie an der Höhle vorbeikamen, in der die Flugmaschine geborgen worden war, sah er eine Metallstange halb im Freien liegen. Sie war an die Wand gelehnt worden, war umgefallen. Er trug sie tiefer in die Höhle.

Dann folgte er dem Knaben weiter. Es ging in Schluchten hinein.

»Bist Du hier schon gewesen?«, fragte unterwegs Elediom, wie er sich genannt hatte.

»Nein. Aber seid Ihr denn nicht allwissend?«

»Was ist allwissend? Bitte, frage nicht so.«

»Wer ist denn aber nun diese Majadea, die Tochter der Maja? Darf ich das wenigstens fragen und erfahren?«

»Das darfst Du, doch zweifle ich, dass Du meine Erklärung verstehst. Die Tochter setzt das in Wirklichkeit um, was ihre Mutter nur vorspiegelt, und dennoch ist diese Wirklichkeit ebenfalls nur Täuschung. Verstehst Du das?«

»Ganz und gar nicht.«

»Und eine andere Erklärung kann ich Dir nicht geben. Zweifelst Du, dass Du jetzt wirklich wach bist, nicht etwa nur träumst?«

»Davon kann keine Rede sein. Ich habe schon sehr nasse Füße, dass ich mir wahrscheinlich einen Schnupfen holen werde. Oder Du willst doch nicht etwa sagen, dass ich diesen nächtlichen Spaziergang nur träume, dass ich jetzt noch schlafend in meiner Höhle liege?«

»Ich sage gar nichts. Das musst Du doch selbst unterscheiden können. Wir sind am Ziel.«

Wieder war es in einem niedrigen Felsen eine Höhle, in die sie eindrangen.

Sir Walter wusste nicht, ob sich plötzlich eine Wand öffnete oder ob sie im Hintergrund der Höhle um eine Ecke bogen — kurz, mit einem Male befand er sich in einem anderen Raume, entweder in einer ungeheuren Grotte oder gar in der Endlosigkeit des Weltalls.

Doch solche Erwägungen stellte er jetzt gar nicht an. Auch dieser sonst so phlegmatische Mann konnte einmal sprachlos vor Staunen werden.

Was er sah, das hätte er selbst gar nicht beschreiben können. Er befand sich mitten in einem Spiele von Regenbogenfarben. Um ihn herum, über und unter ihm, alles war ein Gewoge von allen nur möglichen prächtigen Farben. Aber ob sich diese nur in Armweite oder endlos entfernt von ihm befanden, das konnte er nicht unterscheiden. Diese Farben zuckten beständig hin und her, jeder einzelne Punkt änderte fortwährend seine Farbe, und gleichzeitig war es ihm, als ob er überall Figuren sähe, die Farben ordneten sich zu Linien, zu Gebilden, aber im nächsten Moment war schon wieder ein anderes da, und dann immer wieder ein anderes.

»Was ist denn das?!«, staunte der Baronet, als er seine Sprache wiedergefunden hatte.

»Das ist die Majadea. Hattest Du geglaubt, eine weibliche Person in Menschengestalt zu sehen? Ja, auch diese Gestalt kann sie annehmen, weil Ihr Menschen Euch nun einmal solche Vorstellungen machen müsst, selbst das höchste Wesen, das ihr Gott nennt, oftmals als einen alten Mann abbildet, obgleich es Euch Eure Religion verbietet, Euch von diesem höchsten Wesen ein Bildnis zu machen.

Was Du hier siehst, das ist die Majadea selbst, die Tochter der Göttin der großen Täuschung. Mit diesen Farben, welche Brahma, die Weltseele, ausstrahlt, spiegelt Maja den Menschen und allen denen, welche Täuschung und Wahrheit noch nicht unterscheiden können, wozu auch viele Devas und selbst Götter gehören, die Welt als eine Realität vor.

Maja aber ist zu erhaben, als dass sie den Betrug des Unterschiedes zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausführen könnte. Die fortwährend entstehenden Bilder, die Du hier siehst, aber nicht erkennen, nicht unterscheiden kannst, die sind Brahmas Träume, die er geträumt hat vom Anfang der Welt an, also von aller Ewigkeit her, und die er in der fernsten Zukunft träumen wird. Aber das ist nur eine Berechnung von Menschen. Es gibt nur ein einziges Jetzt. In diesem Farbenspiele ist alle Vergangenheit und alle Zukunft, alles was je gewesen und geschehen ist, vereinigt, und alles, was später je sein und geschehen wird — es ist alles ein Jetzt.

Majadea, ihre Tochter, aber kann dieses Farbenspiel auflösen, trennen und nach Willkür ordnen, sie kann dieses Farbenspiel nach Willkür erstarren lassen, und wir in Lemurien, welches schon zu einer Zeit existierte, von der Ihr Menschen Euch nichts träumen lasst, obgleich diese Vergangenheit doch gar nicht existiert hat — wir haben uns diese Majadea dienstbar gemacht. Verstehst Du, Fremdling?«

»Ich verstehe alles, und ich verstehe gar nichts!«, entgegnete der Baronet mit tiefsinniger Offenheit.

»Wenn Du der Wahrheit nachforschest, so wird für Dich scheinbar die Zeit kommen — scheinbar — denn in Wirklichkeit ist es schon jetzt der Fall, aber das begreifst Du nicht, und so will ich in Deinem Sinne sprechen — so wird die Zeit kommen, da Du selbst durch eigene Gedanken-und Willenskraft dieses Farbenspiel erstarren lassen kannst . Jetzt musst Du noch geführt werden. So kannst Du jetzt auch noch nicht frei wählen, in welche Zeit und an welchen Ort Du kommen willst. So nimm hin das trügerische Leben, das ich Dir als erstes bieten werde.

Und vernimm noch eines: Es könnte sein, dass Du dieses trügerischen Lebens überdrüssig wirst, es abstreifen möchtest. Auch etwa in einer großen Gefahr oder bei großen Schmerzen oder aus irgend einem anderen Grunde.

Es wird Dir nicht gelingen, Dich von dem Betrug zu befreien, nicht durch Selbstmord. Dann führst Du dieses trügerische Leben immer noch auf der Astralebene weiter, bis Du auf der irdischen Ebene wiedergeboren wirst. Doch davon verstehst Du nichts.

Nur der Tod des Verhungerns befreit von der Täuschung. Aber dieses langsame Sterben bis zum Verlöschen der Lebenskraft, die ebenfalls ein Betrug, eine Spiegelung der Maja ist, ist qualvoll.

Wir in Lemurien haben ein anderes Mittel gefunden, uns von dieser Täuschung zu befreien.

Und Du sollst befähigt sein, es ausführen zu können, obgleich Du das Geheimnis noch nicht verstehst.

Willst Du das Leben verlassen, so halte den Atem an, so lange Du es vermagst, und wenn Du zu ersticken glaubst, so wirst Du mit dem nächsten Atemzuge die Täuschung abgestreift haben.

Aber das geht nur, wenn es sein muss. Und das vollzieht sich von selbst, wenn es ebenfalls sein muss. Das verstehst Du nicht? Es ist auch nicht nötig, Du wirst es von selbst erfahren. So tritt ein in Majas Reich, das Majadea jetzt auf meinen Befehl erstarren lässt.«


Lieferung 36


Illustration

Verwundert blickten die beiden Freunde auf das Boot, das in schneller
Fahrt an ihnen vorüberglitt und von einem Indianer gerudert wurde.


In einer unbekannten Welt

Mit einem Male erlosch das Farbenspiel, Sir Walter befand sich allein in der dunklen Höhle, die von außen Tageslicht erhielt. Er ging hinaus, war wiederum sprachlos vor Staunen.

Zwischen mächtigen Bäumen wälzte sich träge ein breiter Fluss, und zu Sir Walters Füßen, der im Eingang der Höhle stand, lag ein Boot, in dem ein Mann saß — ein ihm sehr gut bekannter Mann.

»Ja, Tommy, wie kommst Du denn hierher?!«

»Das frage ich Dich auch.«

»Mich hat ein Bengel, der ein Engel sein wollte, hierher gebracht.«

»Mich auch.«

»Elediom nannte sich der Kerl.«

»Jawohl, das sagte er mir auch.«

»Er führte mich zehn Minuten durch Prärie und Schluchten, wir betraten eine Höhle, ich sah ein wunderbares Farbenspiel, jener schwatzte mir viel von Maja und Majadea vor —«

»Hat er alles auch mir gezeigt und erzählt.«

Kurz, die beiden hatten genau dasselbe erlebt. Nur dass Ramford vielleicht eine Minute früher die Höhle verlassen hatte und in das hier liegende Boot gestiegen war, um seinen Inhalt näher zu untersuchen, sehr erstaunt, ihre eigenen Gewehre und noch vieles andere, was ihnen gehörte, darin zu finden.

»Es war ungefähr fünf Minuten vor Mitternacht, als mich der Junge abholte.«

»Bei mir auch. Ich habe nach der Uhr gesehen.«

»Als ich an der anderen Höhle vorbeikam, lag eine Stützstange halb draußen im Freien —«

»Die habe ich auch gesehen.«

»Ich habe sie aufgehoben, an die Wand gelehnt.«

»Habe ich ebenfalls getan.«

Die beiden Freunde blickten sich einige Zeit schweigend an.

»War ich denn schon fort, als Du geweckt wurdest?«, fragte Sir Walter dann weiter.

»Nein, Du lagst da und schliefst.«

»Na ja, das könnte ja stimmen, da Du eher abgeholt worden bist. Aber als ich fortging, lagst auch Du noch da und fingst gerade an zu schnarchen.«

»Ist doch nicht möglich!«

»Es ist so. Ich habe Dich auch befühlt.«

Wieder blickten sich die beiden an. Es war begreiflich, dass ihnen ganz unheimlich zu Mute wurde.

»Sollten wir das alles nur träumen?«, meinte Ramford dann.

»Ich bin überzeugt, dass dies alles handgreifliche Wirklichkeit ist.«

»Ich auch.«

»Nun steht aber doch jetzt die Sonne am Himmel, vorhin war es Mitternacht, und die Erklärung des Deva hat keine fünf Minuten gewährt.«

»Hierfür habe ich eine ganz einfache Erklärung.«

»Welche?«

»Es gibt ganz einfach gar keine Vergangenheit und Zukunft, es gibt nur ein Jetzt —«

»Höre auf, höre auf, Walter — davon verstehe ich nichts —«

»Ich auch nicht.«

»Da glaube ich doch lieber, dass wir noch schlafend in unserer Höhle liegen und dies alles nur träumen.«

»Wir? Schlafe und träume Du, ich bin hier, wo ich bin.«

Mit diesen Worten war auch der Baronet in das Boot gesprungen.

»Nein, Walter«, meinte Ramford, der gerade einen größeren Kasten öffnete, wobei er sich tief bückte, »wenn ich hier auch unseren Patronenkasten vor mir habe, ihn fühle, die Patronen zähle, so glaube ich doch eher, dass wir hypnotisiert sind, dies alles nur träumen. — — Auuuu!!«, unterbrach er sich aufschreiend, die Patronen fallen lassend und schnell mit beiden Händen nach seiner Hose fahrend, sich dann erst umdrehend, »Mensch, was stichst Du mich denn!!«

Denn der Baronet hatte ihm eine Nadel, die er seinem Rockkragen entnommen, ziemlich tief ins Fleisch gestochen.

»I das träumst Du ja nur, das ist nur Einbildung, dass das Dir weh getan hat.«

»Mensch, mache doch solche Experimente mit Dir selber, denkst Du denn, ich habe geräucherte Schweineschinken in meiner Hose?!«

»Also Du bist überzeugt, nicht nur zu träumen?«

»Na, lassen wir — nehmen wir die Sache, wie sie ist — mache solche Experimente nicht wieder, oder nur an Deinem eigenen Körper.«

Sie untersuchten weiter, was in dem Boote lag: ihre Repetiergewehre, ihre Gürtel mit Revolver und Jagdmesser, ein Kasten mit zweihundert Patronen, und außerdem zwei Schaufelruder, eine Hakenstange, ein aufgewickeltes Seil, ein kleiner Anker an einer Kette.

»Hast Du Deine Waffen mitgenommen?«

»Ich nicht.«

»Ich auch nicht. Welche Zeit haben wir denn?«

Ihre Taschenuhren waren auf Punkt zwölf stehen geblieben.

»Hat Dir der Elediom gesagt, an welchen Ort und in welche Zeit wir versetzt werden sollen?«

»Mir nicht.«

»Mir auch nicht.«

»So sehen wir uns mit eigenen Augen um.«

Also auf beiden Seiten des Flusses dichter Urwald, aus meist mächtigen Bäumen gebildet, die ihre Zweige zum Teil über dem Wasser begegnen ließen.

Unter den Laubbäumen herrschte die Eiche vor, in riesigen Exemplaren. Dann ab und zu ein einzelnstehender Nadelbaum von ebenso mächtigen Dimensionen, in dem die beiden erst nach einiger Beratung eine Eibe erkannten.

Die Eibe war einst, bis zur Zeit der germanischen Völkerwanderungen, der in ganz Europa verbreitetste Nadelbaum. Ihr überaus zähes, elastisches Holz wurde von allen Völkern zum Anfertigen des Bogens benutzt, was schon Homer erwähnt. Weshalb sie so gut wie ausgestorben ist, weiß man nicht. Ihre Existenzbedingungen hat sie auch heute noch, denn einzelne Exemplare finden sich immer noch, am häufigsten in der Schweiz, in Schottland und in Kanada, nur im nördlichen Sibirien bildet sie noch ganze Wälder, obgleich sie nicht etwa großer Kälte bedarf und keine Hitze vertragen kann. Sie kommt auch vor, wo es niemals friert. Auch die Pflanzenarten haben eben ihren Anfang und ihr Ende und dazwischen ihre Wanderzeit. Der asiatische Kirschbaum ist heute bei uns, Asien kennt ihn kaum noch.

Dies alles wussten also die beiden, hatten darüber gesprochen.

»Auf unserer Insel sind wir jedenfalls nicht mehr«, meinte Ramford, »die hat keine solche Wälder.«

Nein, das hatte sie nicht. Sie waren ja noch in keinen Wald gekommen, die Gegend, in der sie gelandet, war prärieartig und etwas felsig, aber sie hatten vom Aeroplan aus große Wälder gesehen, hatten sie beurteilen können, und sie hatten einen indisch-australischen Charakter gehabt, wie überall in dieser Inselwelt des Stillen Ozeans diese beiden Welten zusammenschmelzen. Schon aus weiter Ferne war deutlich erkennbar gewesen, dass neben dem Teakbaum der Gummibaum vorgeherrscht hatte. Und in der Nähe der Küste wuchsen überall Palmen.

Von alledem war hier aber nicht das Geringste zu merken.

»Da möchte man eher glauben, wir seien hier in einem kanadischen oder sibirischen Urwalde«, fuhr Ramford fort.

»Oder wir befinden uns noch auf der lemurischen Insel«, ergänzte der Baronet, »sind aber einige tausend Jahre zurückversetzt worden, wie es damals auf dieser Insel ausgesehen hat. Wo sind wir eigentlich herausgekommen?«

Erst jetzt wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Höhle zu, aus der sie getreten, dem ganzen Felsen.

Es war eine Felsformation von geringem Umfange, bis dicht an das Flussufer tretend. Die Steine waren zum größten Teil mit Moos bewachsen, und das hatte es auf dieser Insel nirgends gegeben. Nun aber vor allen Dingen: Auf der ganzen Insel war alles ausschließlich roter Porphyr gewesen, das hatten sie schon vom Aeroplan aus genau beurteilen können, und hier trat unter dem Moose grauer Kalkstein zutage.

»Vorwärts, rudern wir los!«, entschied Sir Walter.

Sie stiegen wieder ins Boot, griffen zu den Schaufelrudern und fuhren langsam stromabwärts.

In tiefem Schweigen lag der Urwald da. Ab und zu raschelte es im Dickicht, aber die Ursache war nicht zu sehen. Kaum, dass ab und zu ein Schmetterling oder eine Libelle über dem Wasserspiegel gaukelte.

»Das sind nordeuropäische Insektenarten, wie sie auch in England vorkommen«, meinte der Baronet, und sein Freund bestätigte es.

Ebenso bekannt waren ihnen auch die Vogelstimmen, die sich manchmal traumverloren im Gebüsch hören ließen. Es war eben heißeste Mittagszeit, die Tierwelt hielt Siesta.

Da aber trat in einiger Entfernung hinter einem Baume ein stattlicher Hirsch mit einem mächtigen Geweih hervor, wollte sich dem Wasser nähern, zur Tränke gehen, erblickte das Boot, warf sich herum und brach krachend durch das Unterholz.

Es war ein europäischer Edelhirsch gewesen, vielleicht ein Zwanzigender.

»Es wird doch nicht das einzige Stück Wild gewesen sein«, sagte Ramford, »also ist dafür gesorgt, dass wir auch in diesem Traumlande nicht verhungern.«

»Traumland?«, wiederholte der Baronet. »Soll ich noch einmal —«

Er tastete wieder an seinen Rockkragen.

»Bitte, lass Deine Nadel stecken. Und wir träumen dennoch nur, und dennoch habe ich einen ganz mächtigen Hunger, und da — Biest!«

Er schlug eine Mücke tot, die an seinem Halse Blut gesogen hatte.

Die Szenerie veränderte sich nach und nach. Immer mehr herrschte statt der Eiche die Eibe vor, dann kamen Kiefern, diese wurden immer mehr von Birken verdrängt.

»Dieser Baumwechsel ist sehr seltsam.«

Wenn sie gewusst hätten, wo sie sich befanden, so hätten sie dies nicht seltsam gefunden.

Plötzlich mündete der breite Fluss oder schmale Strom ohne allmähliche Verbreiterung direkt in einen großen See, bei der herrschenden klaren Luft in seiner ganzen Länge zu überblicken. Sehr breit war er überhaupt nicht, und auch jenseits konnte man das Ufer noch ungefähr erkennen. Überall war er von Birkenbäumen und Birkengebüsch eingefasst, doch waren dahinter auch hohe Kiefern sichtbar.

Kein Fahrzeug belebte den See. Aber sonst war er doch sehr lebendig, wenigstens an den Ufern. In dem Schilfe schwärmte es von zahllosen Wasservögeln aller Art; Reiher, Kraniche und Störche standen auf einem Beine im seichten Wasser, philosophierten und lauerten auf Beute.

Und dort am linken Ufer einige Häuserchen!

Aber nicht auf dem Ufer stehend, sondern noch im Wasser, auf Pfählen sich darüber erhebend.

»Pfahlbauten!«

Ehe die beiden noch dazu kamen, hierüber weiter zu sprechen, lenkte ein leichtes Plätschern ihre Aufmerksamkeit hinter sich.

In schneller Fahrt kam ein anderes Boot heran, aber nicht so modern und geräumig wie das ihre, wenn auch dieses leicht genug war, um von Schaufelrudern fortbewegt zu werden, sondern es war ein langes, ganz schmales Kajak, auch Grönländer genannt, weil ein solches Fahrzeug hauptsächlich die grönländischen Eskimos benutzen. Diese jedoch sitzen in solch einem Boote ganz geschlossen, nähen sich sogar noch in wasserdichte Felle oder Fischblasen ein, die daran befestigt sind. Ist solch ein Fahrzeug, wie es heute von Sportliebhabern wieder sehr häufig benutzt wird, oben offen, so nennt man es ein Kanu, ein Ausdruck der nordamerikanischen Indianer, obgleich diese Kanus haben, in denen viele Menschen Platz nehmen können.

Und ein Indianer war es auch, der das doppelte Schaufelruder — das Pagei — handhabte. Man sah ja nur seinen Oberkörper, der unbekleidet war, von kupferroter Farbe mit weißen Tätowierungen, mager, aber doch ungemein kräftig — auf dem sonst nackten Schädel eine Skalplocke mit weißer Adlerfeder — und dann vor allen Dingen sahen die beiden dieses grimmige Gesicht, wie es mit finsterem Trotze nach ihnen blickte.

Ehe die beiden an ihre Waffen dachten, war das leichte Boot schon an ihnen vorübergeschossen, machte Schwenkung und verschwand in dem hohen Schilfe.

»Ein Indianer — wir sind in Nordamerika!!«, machte Ramford endlich seinem Staunen Luft.

»Ja, nun weiß ich aber bald nicht mehr, was ich hiervon denken soll«, brummte der Baronet.

»Und, Walter, wenn ich bei Dir nicht in den Verdacht kommen wollte, wahnsinnig zu sein, dann würde ich Dir noch etwas anderes sagen.«

»Was hast Du sonst noch zu sagen?!«, fuhr da der andere wie betroffen empor. »Ist Dir vielleicht auch das Gesicht aufgefallen?«

»Was, Dir auch?«

»Ich weiß nicht — ich fühlte mich plötzlich nach Oxford versetzt — —«

»In den Hörsaal für indische Philosophie — —«

»Ja, ich auch, und der hinter dem Katheder stand, das war —«

»Professor Jakob Moor —«

»Der ehemalige Siouxhäuptling, bei dem der Indianercharakter wieder einmal zum Durchbruch gekommen ist —«

»Der dann auf seinem Besitz in dem Wasserloche einen so kläglichen Tod gefunden hat —«

Die beiden blickten sich an.

Kurz vor dem Antritt ihrer Expedition hatten die Zeitungen, auch die australischen, über diese ganze Affäre berichtet, und auch Sir Walter Wilcox hatte einmal Zeitungen gelesen, eben weil er diesen indianischen Professor so gut gekannt, einst zu seinen Füßen als Schüler gesessen hatte.

Und immer starrer wurden die Augen der beiden, wie sie sich anblickten.

»Das war kein anderer als dieser indianische Professor Jakob Moor!«

»Ich möchte es auch fast glauben!«

»Walter, Walter, sind wir beide denn nur wahnsinnig?! Ist das ein Traum oder Wirklichkeit? Und wenn man Phantasie und sonstige Einbildung nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden kann, das ist es nämlich, was man Wahnsinn nennt!«

So sprach Ramford, und sein Freund dachte jetzt nicht daran, noch einmal die Stecknadel zu gebrauchen.

»Guten Tag, die Herren«, erklang da eine andere Stimme auf Englisch.

Ohne dass es die beiden bemerkt hatten, war wieder ein leichtes Boot herangekommen, welches aber an ihrem beilegte.

Ein Mann saß darin, ein Mann mit markantem Schauspielergesicht, bekleidet mit einem modernen Jagdkostüm, in seinem Boote sah man als Hauptsache zwei Gewehre liegen, das eine davon war eine kolossale Elefantenbüchse.

»Kennen Sie mich, meine Herren?«, fragte ohne Weiteres der Fremde, der natürlich auch wieder wie ein Phantom angestarrt wurde.

»Nein.«

»Louis Maxim, genannt Littlelu.«

»Littlelu?«, wurde traumverloren wiederholt. »Haben Sie von dem schon gehört?«

»Ist das nicht ein — Zirkusclown?«

»Der bin ich, war ich. Kennen Sie mich persönlich?«

»Nein.«

»Woher ist Ihnen mein Name sonst bekannt?«

»Aus Zeitungen, welche über die Geheimnisse des Sklavensees im amerikanischen Coloradogebirge berichteten.«

»Sehr gut das, dass Sie von diesem Sklavensee und seinen Geheimnissen schon gehört haben«, nickte der tiefernste Schauspielerkopf, »und mag es auch sehr wenig sein, so erspart es mir doch viele Mühe. Meine Herren, lassen Sie mich so kurz wie möglich fassen. Ich werde von jener geheimen Gesellschaft, die dort haust, Ihnen zu Hilfe geschickt. Denn man treibt mit Ihnen ein frevelhaftes Spiel. Frevelhaft allerdings nur aus Unkenntnis. Wissen Sie, wo Sie sich hier befinden?«

»Wir möchten es für einen asiatischen Urwald halten —«

»In welcher geistigen Region, meine ich.«

»Geistige Region?«

»Sie befinden sich auf der Astralebene.«

»Astralebene?«, wurde immer erstaunter wiederholt.

»Wissen Sie, was man hierunter versteht?«

»Ja, so ungefähr«, entgegnete Ramford. »Das soll eine zweite Welt sein, welche unsere irdische durchdringt, auf welcher die Geister und Verstorbenen —«

»Ach, verschonen Sie mich mit Geistern und Verstorbenen«, wurde er unterbrochen. »,Ja, es mag etwas daran sein, aber darauf wollen wir uns gar nicht einlassen. Ich habe schon zu viel gesagt, als ich von der Astralebene begann. Nun gut, bleiben wir dabei. Während der Mensch schläft, befindet er sich im Geiste mit seinem unbewussten Ich auf der Astralebene, da träumt er, und nur selten bringt er in sein Erwachen einige verworrene Bilder, die er geschaut, mit herüber, gewöhnlich nicht.

Was ist der Schlaf, meine Herren? Wir wissen es nicht. Was ist der Traum? Wir wissen es nicht.

Also wissen wir auch nicht, was die Astralebene ist — wir Uneingeweihten wenigstens wissen es nicht, können uns gar keine Vorstellung davon machen.

Sie sind nach Lemurien verschlagen worden. Die lemurischen Priester beherrschen die Astralebene. Man hat Sie auf die Astralebene versetzt, um einmal zu beobachten, was für einen Eindruck diese Bilder auf Fremde, die hiervon so gut wie gar nichts wissen, hervorbringen werden.

Die Priester haben nichts Böses mit Ihnen im Sinne. Aber auch diese Lemuren sind nur Menschen. Sie haben vergessen, dass Sie noch nicht einmal angefangen haben, das ABC dieser Geheimwissenschaft zu studieren, das auch ich noch nicht ganz hinter mir habe.

So hat man Sie gleich auf die Astralebene des dritten Grades versetzt.

Soll ich Ihnen sagen, was Sie hier erleben würden?

Nur in einem Gleichnis kann ich es ausdrücken.

Nehmen Sie an, ein afrikanischer Buschneger, der von der Welt nur das kennt, was sein Fuß durchwandert und sein Auge erblickt, der noch keinen weißen Menschen gesehen hat, wird von Europäern in schlafendem Zustande gefunden, die Europäer wollen sich einen Spaß machen, sie geben dem Neger im Schlafe einen Betäubungstrank ein, bringen ihn in bewusstlosem Zustande nach einer großen europäischen Stadt, nach London, der Neger muss in einem Hotel aufwachen, ist ganz sich selbst überlassen.

Was würde wohl mit dem Manne werden? Der Kerl würde über das, was er zu erblicken bekommt, doch einfach den Verstand verlieren. Jawohl, er könnte sehr leicht wahnsinnig werden.

Und in derselben Lage befinden Sie sich, meine Herren. Ich habe vorhin Ihre letzten Worte gehört. Ja, auch Sie können sehr leicht wahnsinnig werden, Traum von Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Zumal Sie mit Erinnerung erwachen sollen.

So erwachen Sie denn jetzt. Die Bilder, die Sie hier auf der dritten Astralebene zu sehen bekommen würden, sind noch nichts für Sie. Sie müssen mit der ersten anfangen.

Und dazu sollen Sie Gelegenheit haben. Das Schicksal hat Sie mit uns vom Sklavensee zusammengeführt. Wenn Sie erwachen, so steigen Sie auf einen höheren Hügel. Im Osten werden Sie in einer Bucht ein großes Schiff liegen sehen.

Dort begeben Sie sich hin, dort werden Sie das Weitere erfahren.

Erwachen Sie!!«

*

Sir Wilcox rieb sich die Augen und schaute verwundert um sich.

Er lag in der Höhle auf dem trockenen Grase, neben ihm schnarchte sein Freund.

»He, Tommy, wach auf!«, rüttelte er ihn.

Auch der schlug die Augen auf und blickte erstaunt um sich.

»So ein kurioser Traum!«, war sein erstes Wort.

»Was hast Du geträumt?«

»Von einem indischen Deva, der mich abgeholt hat —«

»Wie nannte er sich?«

»Elediom.«

Sie unterhielten sich weiter — beide hatten genau dasselbe geträumt, vom Anfang bis zum Ende. Wie sie dem Traum, an dem aber so gar nichts an Wirklichkeit gefehlt hatte, entrückt waren, wussten sie nicht.

»Ja, was soll man dazu sagen?«

»Wir sind in Lemurien, dessen letzte Bewohner die Träger uralter Geheimnisse sind.«

»Wir sollen uns auf einen Hügel begeben und nach Osten blicken, dort läge ein großes Schiff.«

Sie begaben sich hinaus. Als sie an jener anderen Höhle vorüberkamen, sahen sie eine umgefallene Aluminiumstange halb im Freien liegen.

So hatten sie es im Traume gesehen, beide wollten die Stange aufgehoben haben und — nein, sie mochten gar nicht mehr darüber nachgrübeln.

Als sie den nächsten Hügel erstiegen hatten, sahen sie auch die letzte Mitteilung, die sie im Traumlande erhalten hatten, bestätigt.

Im Osten lag an der Küste, noch deutlich zu erblicken, ein großes Schiff, ein Dampfer. Es musste ein ganz riesiges Fahrzeug sein.

Sie machten sich auf den Weg, um dort die Lösung dieser Rätsel zu erhalten. — —

Bevor wir diese Erzählung weiterführen, uns erst aber wieder nach Argentinien versetzend, möchte eine Bemerkung eingeschaltet werden.

Diese unterbrochene Traumepisode war nur die Einleitung zu noch viel merkwürdigeren Begebenheiten im Reiche der Phantasie.

Weshalb diese Einleitung nötig war, wird der Leser später selbst merken.

Vor allen Dingen aber wird der Leser gleich jetzt sagen, dass so etwas ja gar nicht möglich ist.

Eine Erklärung dieses eigenartigen Vorkommnisses kann allerdings nicht gegeben werden, so wenig wie erklärt werden kann, was der Traum, was unser einfacher Schlaf ist.

Wissen wir doch noch nicht einmal, was Elektrizität ist, wenn wir sie uns auch schon nutzbar zu machen gewusst haben.

Wohl aber soll später etwas anderes gegeben werden: das genaue Rezept, wie diese scheinbaren Unmöglichkeiten sehr wohl möglich gemacht werden können. Jeder soll imstande sein, diese Experimente auf ganz harmlose Weise nachprüfen zu können.

Auf der Flucht

Señorita Eulalia schwang sich gewandt aus dem Sattel, in dem sie mit ihrem geteilten Reitkleide nach Männerart gesessen hatte.

Sie hatte in Begleitung des Señor Ramón und einiger Gauchos, von denen jeder noch ein hochbepacktes Pferd mit sich führte, dem Penchuenchenlager einen Besuch abgestattet. Es war dies das zweite Mal in ihrem langen Leben. Denn dazu musste die gesetzliche Herrin dieses Gebietes, die aber von den Indianern doch nur als Gast betrachtet wurde, stets reiche Geschenke mitbringen.

Die Penchuenchen nahmen von den Reitern nicht die geringste Notiz, und die Ochsenkönigin kannte natürlich die Sitten — sie eilte ohne Weiteres auf den jungen Mexikaner zu, der vor einem Wigwam mit dem Häuptling zusammenstand, der für sie vorläufig ebenfalls nicht zu existieren brauchte.

»Mein lieber Diaz, Du hast die Prüfung glänzend bestanden, jetzt erst heiße ich Dich als meinen lieben, lieben Neffen willkommen!«

Mit diesen Worten warf sie sich jubelnd an seine Brust — soweit diese krächzende Stimme jubeln konnte.

Natürlich musste der liebe Neffe sehr überrascht und dann etwas kühl sein.

»Was für eine Prüfung meinen Señorita?«

»O, nicht diesen Ton! Wenn Du wüsstest, was Deine arme Tante in dieser Nacht durchgemacht hat! Weil ich mit Dir gestern eine kleine Prüfung anstellte, die Du glänzend bestandest, aber gerade, wie ich meine Rolle wechseln, Dich in meine Arme schließen wollte, wurden wir durch den Stier gestört, und Du rittest davon, ohne wiederzukommen. Gern wäre ich Dir sofort nachgejagt oder noch in der Nacht aufgebrochen, nur dringendste Geschäfte hielten mich zurück, und ich glaubte ja immer noch, Du kämest wieder. So habe ich mich gleich heute früh in den Sattel gesetzt.«

»Ich verstehe noch immer nicht, inwiefern das nun eine Prüfung gewesen sein soll?«

»Nicht? Nun, ich wollte doch nur Deinen Gehorsam prüfen. Und Du hast herrlich Deine Selbstbeherrschung bewiesen. Aber komm, ich will es Dir ausführlich erzählen —«

Sie legte ihren Arm unter den seinen, wollte ihn davonführen, erst, als er nicht gleich von selbst mitging, mit ganz sanfter Gewalt, dann zog sie schon ganz tüchtig, ohne ihren Zweck zu erreichen.

Von besonders entwickelten Muskeln merkte sie nichts. Wohl aber merkte sie, dass sie ebenso gut einen starken Baum aus dem Boden reißen konnte wie ihren Neffen davonziehen. Denn der stand eben wie festgewurzelt, ohne sich dagegen gestemmt zu haben.

Mit einem Male aber gab er seinen Widerstand auf und ging mit.

Sie führte ihn etwas abseits vom Lager, nötigte ihn, mit ihr auf und ab zu promenieren. Beim Stillstehen hätte sie ihn doch anblicken müssen, und das wäre ihr wohl unangenehm gewesen.

»Bist Du überzeugt, mein lieber Neffe, dass ich nur das Beste mit Dir vorhabe?«

»Wenn Sie es mir versichern, Señorita«, gab der junge Stierkämpfer jetzt auch hierin seinen Widerstand auf.

»Lass diese Förmlichkeiten. Ich bin Deine Tante, die Dich liebt — so weit eine Tante ihren Neffen lieben darf. Also ich habe Dich nur einmal auf Deinen Gehorsam geprüft, und Du hast die Prüfung glänzend bestanden. Das mit dem Araukanischen war doch natürlich nur ein Vorwand. Also ich setze Dich zu meinem Erben ein, und bis dahin bleibst Du bei mir als Governatore der Hazienda.«

»Ich danke Dir, liebe Tante, aber ich bin jetzt schon anderweitig engagiert.«

»Anderweitig engagiert? Was willst Du damit sagen? Du bist doch hier nicht etwa zum zweiten Häuptling gewählt worden?«

Es war etwas merkwürdig, dass sie dies gleich aussprach, dabei auch so ein vergnügtes Gesicht machte, was sie vergebens zu verbergen suchte.

»Nein, nur zum Krieger dieses Stammes, und das ist wohl schon Ehre genug.«

»Da hast Du ganz recht, aber durch Deine ritterlichen Fähigkeiten, von denen ich schon eine kleine Probe zu sehen bekommen habe, hast Du alle Hoffnung, hier auch ein Häuptling zu werden.«

»Ist es denn bei den Penchuenchen Sitte, dass sie noch Nebenhäuptlinge erwählen? Davon weiß ich noch gar nichts.«

Die Señorita blickte sich einmal um, ob sie allein seien. Auf diesem freien Platze konnte sie niemand beschleichen.

»Dann wirst Du das schon noch erfahren. Nun lass mich gleich noch etwas anderes fragen. Ist hier gestern etwas Besonderes vorgefallen?«

Man sah es ihr an, wie ihr diese Frage auf dem Herzen gebrannt hatte, wie sie nur deshalb hierher gekommen war, um diese Frage zu stellen.

»Was soll hier Besonderes vorgefallen sein?«

»Diaz, Du weichst mir aus!«

»Wenn Du genau weißt, was Du von mir erfahren kannst, so frage auch Du doch gleich offen.«

»Ist hier nicht gestern ein alter Mann eingetroffen?«

»Ja.«

»Wie nannte er sich?«

»Den großen Bombastus.«

»Richtig. Aber er selbst war nicht ganz richtig im Kopfe.«

»Es schien so.«

»Als was gab er sich aus?«

»Für einen Zauberer und Medizinmann.«

»Ja, er ist es. Ist dieser Mann noch hier?«

»Nein.«

»Er hat das Lager wieder verlassen?«

»Er ist tot.«

Der alten Tante erstarrte vor Schreck der Fuß.

»Ist — nicht — möglich!!«, hauchte sie dann.

»Es ist so. Er stürzte hin, bekam die Krämpfe und starb.«

Schnell hatte sich die Señorita wieder gefasst.«

»Wie ist es gekommen?«

»Wie ich Dir schon berichtet habe.«

»Ja, mit drei Worten.«

»Es waren einige mehr, und ich habe auch nichts weiter hinzuzusetzen.«

»Machte der Alte hier nicht einige Zauberkunststückchen vor?«

»Ja, das tat er.«

»Was für welche?«

»Er verwandelte Wasser scheinbar in Blut, färbte es auch anders.«

»Und wie bekam er die Krämpfe?«

»Er stürzte plötzlich hin, die fallende Sucht.«

»Und hat er da nicht etwas gesagt, hat sich da sonst nichts ereignet?«

Jetzt war es der junge Mexikaner, welcher stehen blieb und die Fragerin aufmerksam anblickte.

»Tante, warum sprichst Du nicht offen? Tue es, wenn Du etwas von mir erfahren willst.«

Die alte Dame atmete schwer, als sie sich wieder vorsichtig umblickte.

»Du bist als Stammesgenosse in alles eingeweiht worden?«

»In was eingeweiht?«

»In die Geheimnisse der Penchuenchen, aller Indios bravos, welche die argentinische Pampas durchstreifen.«

»Ja, ich bin es.«

»Und worum handelt es sich?«

»Tante, wie kannst Du so fragen? Bekommt man Geheimnisse anvertraut, um sie zu verraten? Wofür hältst Du mich?«

»Wunderst Du Dich über nichts?«

»Ja.«

»Worüber?«

»Dass Du von diesen indianischen Geheimnissen überhaupt etwas ahnst.«

»Und ich sage Dir: Ich ahne nicht nur etwas, sondern ich kenne sie ganz genau, alle, alle.«

»Das wundert mich sehr.«

»Weshalb?«

»Weil mir der Häuptling und andere Krieger versicherten, dass kein einziges Blassgesicht davon wüsste.«

»Nun erfährst Du eben das Gegenteil. Wie ich dahinter gekommen bin, das werde ich Dir ein andermal erzählen. Hat der alte Zauberer gestern nicht von einem Mlawata prophezeit, welcher vom Himmel herab zu den Penchuenchen kommen würde?«

»Das hat er.«

»Und das Kind ist gekommen?«, fragte die Señorita mit atemloser Spannung.

Der junge Mexikaner gab sein Zögern auf — Atalanta hielt es für das Beste. Denn sie selbst wollte mehr erfahren.

»Es ist gekommen.«

»Wie kam es?«

»Das weißt Du doch selbst am besten.«

»Ich?!«

»Höre, Tante, gib Deine Verstellung auf! Dass ein Wunder geschieht, dass ein wilder Kondor einfach ein Kind herbeigeschleppt bringt, das mögen diese Indianer glauben, ich tue es nicht. Dieses ganze Wunder ist von Dir oder von einer Gesellschaft, der Du angehörst, arrangiert worden.«

»So ist es«, gab die alte Dame flüsternd zu. »Ahnen die Penchuenchen etwas?«

Diese Frage hätte sie viel besser von vornherein verneinen können als dieser junge Mexikaner, der hier doch fremd war.

Diese Pampasindianer haben keine Hunde, verstehen nicht einmal ihre Pferde so weit abzurichten, dass sie stehen bleiben — wie sollten die glauben, dass man einen Raubvogel, einen Kondor, so dressieren könnte.

»Lebt das Kind, ist es gesund?!«, fragte die alte Dame denn auch gleich, ohne eine Antwort abzuwarten, hastig weiter.

Mit aller Macht musste der junge Mexikaner, in dessen Kleidung sich die Mutter dieses Kindes verbarg, seine tiefe Niedergeschlagenheit bekämpfen. Sie wäre nicht angebracht gewesen.

»Es lebt, aber es ist krank.«

»Krank?«

»Es hat in der Nacht heftiges Fieber bekommen.«

»Wird es leben bleiben?«

»So Gott will. Kein Mensch kann es wissen.«

»Es wird leben bleiben!«, sagte die alte Dame mit energischster Entschiedenheit.

»Bist Du allwissend?«

»Also die Indianer zweifeln nicht, dass der große Geist Ihnen das Kind geschickt hat?«

»Nein. Wie sollen sie es sich anders erklären, und es ist ja auch eine uralte Prophezeiung, die hiermit in Erfüllung geht, wenn auch gerade von keinem Kondor die Rede war.«

»Dann können die Indianer doch auch nicht daran zweifeln, dass das Kind leben bleiben wird.«

»Nein, das tun sie auch nicht. Weil sie nicht wissen, dass ein Betrug dahinter steckt. Was soll nun dies alles?«

Der Mexikaner hatte schon immer nach dem Lager geblickt, und jetzt eilte er hin.

Zwischen den Wigwams war einige Unruhe entstanden, Frauen hatten dem Mexikaner gewinkt.

Der eine Wigwam unterschied sich von den anderen dadurch, dass er noch besonders mit Fellen belegt worden war, der Eingang war dicht geschlossen, auch oben das offene Loch, aber etwas weißlicher Rauch, der aber mehr Dampf ähnelte, drang doch noch durch.

»Es ist erwacht«, wurde dem kommenden Mexikaner von einer Squaw zugeflüstert.

»Und gerettet?«

»Der Pranitschi sagt es.«

»Gelobt sei Gott!«

Unter Vorsichtsmaßregeln wurde der Wigwam betreten. Hier waltete der Pranitschi, der Zauberer und Medizinmann, ein alter Indianer, seines Amtes, aber ohne weiteren Hokuspokus zu treiben, ohne sich besonders geschmückt zu haben.

In dem Wigwam herrschte eine kaum ertragbare Hitze und ein Nebel, in dem man zuerst die Hand nicht vor den Augen sah, bis man sich daran gewöhnt hatte.

Ein Feuer brannte nicht in dem Wigwam, die feuchte Hitze wurde anders erzeugt. Das große Feuer befand sich draußen, in ihm wurden große flache Steine glühend gemacht, schnell durch ein Loch am Boden in das Zelt geschoben und mit heißem Wasser begossen. So wurde ein Dampfbad erzeugt, für das Kind, das in der Mitte des Raumes auf einer hohen Schicht Felle lag, bis an den Hals mit Pelzen zugedeckt, eingeschnürt.

Wie hatte sich das Gesichtchen des so kräftig entwickelten Kindes verändert! Ganz eingefallen, runzlig, ganz alt aussehend.

Aber die Hauptsache war, dass von diesem runzligen Gesichtchen der Schweiß jetzt in Strömen herablief, worauf man schon seit vielen Stunden vergebens gewartet hatte, durch diesen plötzlichen Schweißausbruch war es auch aus tiefer Betäubung erwacht, die ein Vorbote des baldigen Todes gewesen zu sein schien.

Jetzt blickte es mit ziemlich klaren Augen um sich, es wollte dem jungen Mexikaner, der sich über das Lager beugte, offenbar die Ärmchen entgegenstrecken, und da es dies nicht konnte, so begann es wenigstens seiner Freude durch Worte Ausdruck zu geben, stammelte jene internationalen Worte, nach denen man wirklich glauben möchte, dass die Menschheit einst eine allgemeine Ursprache gehabt hat.

»Mamamamama.«

Wer löst dieses Rätsel? Denn ein Rätsel ist es, ein unergründliches!

Nicht nur deshalb, weil in aller Welt, an Grönlands eisiger Küste sowohl wie im glühenden Afrika, des Kindes erste Worte Mama und Papa sind, sondern vor allen Dingen, weil es sofort zwischen diesen beiden Worten einen genauen Unterschied macht.

Die Frau, für die das Kind Sympathie empfindet — es braucht natürlich nicht die Mutter zu sein — redet es mit Mama an, und den Mann mit Papa. Und da irrt sich das kleine Kind nie, und da hilft auch keine Verkleidung, keine sonstige Maskerade.

Wer löst dieses Rätsel?

Es ist Instinkt, sagt der Mensch, der kein unlösbares Rätsel anerkennen will.

Ja, aber was ist denn Instinkt?

Und warum lässt sich denn das Kind später durch eine Maskerade täuschen, wenn es älter geworden ist, wenn die sogenannte »Vernunft« kommt?

»Mamamamama.«

Diesem Kinde von wenigen Wochen war es ganz gleichgültig, wie die Person gekleidet war, die sich über sein Gesicht beugte, es wusste sofort, dass es eine Frau war, die ihm wohl wollte, und so wurde sie begrüßt. Nicht allerdings gleich als Mutter.

Außer dem Medizinmann waren in dem Wigwam noch der Häuptling, zwei andere Krieger und einige Weiber. Diese beachteten das gelallte »Mama« natürlich nicht, fanden nichts dabei. Die in den mexikanischen Männersachen steckende Mutter aber musste sich Gewalt antun.

»Es ist gerettet?«

»Es ist neu geboren«, versicherte der Medizinmann. Für die anderen war es ganz selbstverständlich, dass der große Geist, der ihnen den Mlawata, den Messias, geschickt hatte, ihn doch nicht gleich wieder nehmen würde. Diese kurze, aber sehr schwere Krankheit war jetzt nach ihrer Ansicht sogar eine Notwendigkeit gewesen, das vom Himmel gekommene Kind musste nochmals für das Leben geboren werden.

Atalanta begab sich wieder hinaus, zu der Señorita zurück, und meldete dieser:

»Das Kind wird leben bleiben.«

Gern hätte sie noch etwas anderes hinzugesetzt:

»Und wenn mein Kind gestorben wäre, dann hätte ich Dich und Euch, die Ihr dies alles erst in Szene gesetzt habt, dafür verantwortlich gemacht!«

Unterdessen hatte die Tante ihren Plan gefasst, jetzt weihte sie den Neffen ohne Weiteres in alles ein.

Wie es in Südamerika eine geheime politische Gesellschaft gab, die nichts weniger im Auge hatte, als alle diese einzelnen Republiken unter einem Szepter oder Präsidenten zu vereinigen.

Das war nicht anders als durch Waffengewalt möglich, erst musste eine allgemeine Revolution angezettelt werden. Als erstes eine Vereinigung von Chile und Argentinien. Dazu musste man sich der Pampasindianer bedienen, zusammen gegen hunderttausend waffengeübte Krieger. Aber auch diese waren erst zu vereinen, was fast unmöglich erschien.

Ganz zufällig hatte man erfahren, dass unter diesen Indianern eine uralte Prophezeiung ging, wonach sie dereinst wieder die weißen Fremdlinge vertreiben und zur alten freien Herrlichkeit zurückkehren würden.

Doch wo ist das geknechtete Volk, das nicht solch eine Prophezeiung hat? Auch für uns Deutsche schlief einst im Kyffhäuser der Kaiser Barbarossa, der nur des Gewecktwerdens harrte.

Mehr aber konnte man nicht erfahren, und man musste auch sehr, sehr vorsichtig sein.

Da griff man zu einem ganz modernen Mittel, so modern, dass die moderne Menschheit noch nicht recht etwas davon wissen will, am wenigsten die Gerichtsbarkeit.

Zu den Indianerstämmen wurden einige geschickte Hypnotiseure gesandt. Die mussten die Häuptlinge und Medizinmänner vornehmen, ohne dass diese etwas wussten. Und überall erfuhr man dasselbe:

Dereinst wird Nizikotli, der große Geist, seinen Kindern, welche brav geblieben waren, bravos, das heißt frei und tapfer, vom Himmel herab ein Kind schicken, einen Knaben, und der würde ihr Mlawata werden, ihr Heiland, ihr Erlöser, ein gewaltiger Kriegsheld, der alle Indios bravos vereinen und sie nach Besiegung und Vertreibung aller weißen Fremdlinge zur alten Herrlichkeit zurückführen wird.

Zu welchem Stamme der Messias vom Himmel herabkommen würde, das war ganz unbekannt. Nur gewisse Anzeichen verrieten, dass die Erfüllungszeit schon sehr nahe gerückt. Besonders aus dem Fluge des Kondors wollten dies die darin bewanderten Zauberer konstatieren.

Aus dem Fluge des Kondors? Dies hatte geniale Köpfe jener Gesellschaft gleich darauf gebracht, wie das Problem zu lösen sei.

Es wurde alles von langer Hand, aber so schnell wie möglich vorbereitet.

In den Anden musste das Versteck liegen, in dem operiert wurde. Da war die Hazienda oder doch das Gebiet der Ochsenkönigin am besten dafür geeignet. Hoch oben in den Wolken waren in einem Felsenwinkel einige Männer lange Zeit damit beschäftigt gewesen, junge Kondore zu fangen, sie zu dressieren, dass sie apportierten, Gegenstände hin und her trugen, eben wie die abgerichteten Hunde arbeiteten.

Als der eine ausgewachsene Kondor hierin perfekt war, brauchte nur ein geeignetes Kind beschafft zu werden, und das Gaukelspiel konnte inszeniert wenden.

Die erste Hauptrolle spielte ein alter Mann, ein internationaler Zigeuner, ohne ein wirklicher Zigeuner zu sein, der alles konnte, was sonst andere ehrliche Menschen nicht können — ein internationaler Abenteurer.

Der alte Bombastus, wie er sich nannte, war mit unter jenen Männern im Felsenversteck gewesen, er musste durch seine rote Hahnenfeder und durch andere Mittel den scharfäugigen Kondor lenken, der das unterdessen besorgte Kind brachte.

Der große Bombastus hatte auch bei dem Penchuenchenstamme bleiben sollen, sich als Medizinmann unentbehrlich machend. Doch hatte sein Tod, den er sich in der künstlich erzeugten Ekstase mit Krampfanfall zugezogen, nicht viel zu sagen.

Da wäre dann schon noch ein anderer Mann gekommen, der als Erzieher des zukünftigen indianischen Messias aufgetreten wäre. Man hatte ja noch viele, viele Jahre Zeit. Nur durfte der kleine Heiland nicht aus der Kontrolle verloren werden.

»Nun weißt Du alles«, schloss die Señorita ihren Bericht. »Und den größten Vorteil von alledem hast Du selbst. Die Vereinigung von Chile und Argentinien, das ist das erste, was dabei herausspringt. Dann ist mir der Weg durch Chile nach der Küste wieder freigegeben, dann wird meine Hazienda wieder mächtig empor blühen, und Du bist mein Erbe.«

»Und das erste wird sein«, ergänzte der Neffe, »dass die Penchuenchen Dich zum Lande hinausjagen.«

»Nein, das müssen wir eben dadurch verhüten, dass wir den Messias immer unter unserer Kontrolle behalten, dadurch die Penchuenchen und alle anderen Indianer, und zu dieser Rolle habe ich Dich ausersehen, und alle anderen sind hiermit einverstanden.«

Gut, der junge Mexikaner sah die Richtigkeit der Kalkulation ein, war damit einverstanden, hatte nur eine Frage.

»Werden denn nun aber auch alle anderen Indianerstämme an diesen Messias glauben? Werden sie nicht das hier geschehene Wunder bezweifeln?«

»Das, mein lieber Neffe, zeigt mir, dass Du diese Indios bravos nicht kennst. Aber Du wirst sie schon noch kennen lernen. Ja, lieber hätten wir Häuptlinge und Krieger wenigstens von den benachbarten Stämmen hier gehabt, als sich das Wunder vollzog. Aber das war ausgeschlossen. Die Penchuenchen leben mit allen Nachbarstämmen in beständiger Fehde, gerade jetzt in heftigster Feindschaft, und unsere Bemühungen, alle die Häuptlinge hier zusammenzubringen, hätte Misstrauen erwecken können.

Aber der Bericht dieser Penchuenchen genügt vollkommen. Ich hasse diese braune Bande, doch die Ehre muss man ihnen lassen, dass sie nicht lügen. Sie sind zu stolz dazu. Kurz, man wird ihrer Erzählung vollkommen Glauben schenken. Aus ganz Argentinien werden die Häuptlinge oder Abgesandte aller Pampasstämme hierher kommen, um dem erschienenen Mlawata zu huldigen und niemand wird nur den geringsten Zweifel darein setzen, dass sich das Wunder wirklich so vollzogen hat, wie die Penchuenchen erzählen. Haben sie nicht schon Boten abgesandt?«

»Ja. Schon gestern sind ein Dutzend Krieger abgeritten, um die benachbarten Stämme zu benachrichtigen, und diese geben es wieder weiter.«

»Siehst Du. Schon ist alle Feindschaft vergessen. Die Häuptlinge werden kommen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Sicher. Aber ebenso sicher werden sie nicht hierher kommen.«

»Weshalb nicht?«

»Weil diese Indianer doch dies alles äußerst geheim halten werden. Aber bist Du nicht schon in alles eingeweiht worden?«

»Ja.«

»Nun, wo treffen die Häuptlinge zusammen?«

»Tante, Du verlangst von mir, dass ich zum Verräter werde.«

»Ach, wie kannst Du so sprechen! Du bist ein Spanier, mein Erbe.«

»Vor dem Patriotismus und allem anderen geht die Ehre.«

»Wie, Du willst doch nicht etwa mit den Indianern gemeinschaftliche Sache gegen uns machen?!«

»Nein, das will ich nicht. Wir werden uns schon einigen.«

»Das denke ich auch.«

»Nur verlange nicht, dass ich das verrate, was mir anvertraut worden ist.«

»Wo diese Zusammenkunft stattfindet, brauche ich auch gar nicht zu wissen. Also man hat Dir wegen dieses Mlawatas alles offenbart?«

»Alles.«

»Das hätte ich kaum vermutet.«

»Diese Penchuenchen haben sich für mich ganz begeistert, besonders der Häuptling.«

»Das konnte ich mir denken, nachdem ich gesehen, wie Du dem Häuptling das Leben rettetest. Was für eine Rolle spielst Du hier?«

»Vorläufig bin ich als Krieger aufgenommen worden.«

»Und wirst Nebenhäuptling?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ist Dir die Erziehung des Kindes anvertraut worden?«

»Wie kann ich solch ein kleines Kind erziehen? Das bedarf noch lange Jahre nur Frauenpflege.«

»Aber sollst Du nicht später seine Ausbildung vornehmen?«

»Wenigstens hat der Häuptling schon an so etwas gedacht, auch schon davon zu mir gesprochen...«

»Bravo, bravo! So liegt es nur an Dir, Dich hier zu behaupten und diese Stellung zu bekommen. Nun, mein lieber Neffe, wir wollen uns trennen. Señor Ramón, in dem Du noch einen ganz vorzüglichen Menschen kennen lernen wirst, winkt mir und einige Indianer blicken auch recht misstrauisch nach uns, so sehr sie es auch zu verbergen suchen. Was sagst Du, wenn Du gefragt wirst, worüber wir uns unterhalten haben?«

»Einer dieser Indianer wird mich wohl nicht fragen.«

»Nein, aber wir wollen doch lieber etwas ausmachen. Ich wollte Dich eben wieder zurücknehmen, Du sollst der Governatore meiner Hazienda werden, aber Du hast es abgeschlagen, willst hier bleiben, diese Ehre gilt Dir mehr.«

»Gut.«

»So bald Du kannst, kommst Du zu mir, da sprechen wir weiter über die Zukunft.«

»Ich werde kommen.«

»Wer ist eigentlich der Mann, den Du bei Dir hattest?«

»Mein Diener.«

»Wo hast Du ihn her?«

»Er war früher Hoteldiener in Caldera.«

»Wie bist Du zu ihm gekommen?«

»Ganz zufällig. Ich sah mich eben nach einem zuverlässigen Begleiter um.«

»Ist der ebenfalls in alles eingeweiht worden?«

»Ganz und gar nicht.«

»Auch Du hast es nicht getan?«

»Nein. Im Gegenteil, ich werde den Mann wieder zurückschicken.«

»Weshalb?«

»Weil er mir nicht gefällt, er hat seine Launen.«

»Sonst würde ich ihn zu mir auf den Rancho nehmen.«

Die Señorita wusste also gar nicht, dass er schon bei ihr gewesen war. Dieser Rancho war ja auch groß, hatte viele Vorhöfe.

»Nein, ich entlasse ihn einfach.«

»Wenn er nicht eingeweiht ist, so ist das ja auch das Beste. Nun lebe wohl, mein lieber, lieber Neffe, bis auf Wiedersehen.«

Sie küsste ihn zärtlicher als es fast einer Tante ihrem Neffen gegenüber erlaubt war.

Dann ging der junge Mexikaner schnell zurück, sie folgte langsamer nach, wohnte der Verteilung der Geschenke bei, welche die Indianer gleichgültig entgegennahmen, als einen selbstverständlichen Tribut.

Wilhelm lag träumend und rauchend im Schatten eines Baumes, als sein Herr kam und sich neben ihm niederließ.

»Wilhelm, ich habe ein wichtiges Wort mit Dir zu sprechen.«

»Ja?«

»Ich muss Dich wieder entlassen.«

»Warum denn?!«, stieß jener ebenso erschrocken wie erstaunt hervor.

»Frage nicht nach dem Warum. Dass ich nicht mit Dir unzufrieden bin, weißt Du selbst am besten. Eine Erklärung kann ich Dir unmöglich geben. Kurz, schließe Dich dann dem Reitertrupp an, der nach dem Rancho zurückgeht, ich rate Dir aber auf das ernstlichste, auch dort nicht zu bleiben, sondern Dich schleunigst wieder über die Anden auf chilenisches Gebiet zu begeben. Bist Du hiermit zufrieden?«

Atalanta hatte ihm unauffällig eine Hundert-Peso-Note in die Hand gedrückt.

»Ich würde Dir gern mehr geben, aber ich kann nicht, ich muss selbst einiges Geld bei mir haben.«

»O, das habe ich doch längst noch nicht verdient, wie komme ich dazu —«

»Nimm es, das kann ich entbehren. Und gib mir Deine Adresse, oder eine andere, die uns in Verbindung bringt, und Du sollst weiter von mir hören.«

»Dann brauchen Sie nur unter meinem Namen nach dem ›Grandios‹-Hotel in Caldera zu schreiben, von dort wird mir immer alles nachgeschickt, das habe ich schon ausgemacht. Droht uns denn eine Gefahr?«

»Weniger mir als Dir. Ich bin es erst, der Dich in die größte Gefahr bringen könnte, unter diesen Indianern. Bitte, frage nicht weiter. Dagegen versprich mir, dass Du Dich so schnell wie möglich in Sicherheit bringen wirst.«

»Ich verspreche es Ihnen. Wo aber bin ich in Sicherheit?«

»Jenseits der Grenze in jeder Stadt. Oder nein, besser ist es, Du verlässt auch Chile, lieber ganz Südamerika, und das so schnell wie möglich.«

»Diese Indianer sind es, von denen mir Gefahr droht?«

»Ja.«

»He, Sie wollen doch nicht etwa dieses Kind entführen?«, flüsterte Wilhelm mit großen Augen.

Er war von den Indianern nicht eingeweiht worden, auch nicht von Atalanta, wusste also nichts von einem zukünftigen oder schon jetzigen Messias — aber dass es mit diesem Kinde eine ganz besondere Bewandtnis hatte, wie sich alles in dem Lager um das Kind drehte, das musste er doch gemerkt haben.

»Da Du es erraten hast, so will ich es bestätigen. Nun aber, bitte, frage nicht weiter, und nun kennst Du auch die Gefahr, die Dir als meinem Begleiter droht, wenn ich mit dem Kinde verschwinde.«

»Nur noch eine einzige Frage. Sie rauben das Kind doch nicht etwa im Auftrage dieser Señorita Eulalia?«

»Und wenn es der Fall wäre?«

»Dieses Weib ist die Falschheit selbst.«

»Nein, ich handle nicht in ihrem Auftrage, ich habe meine eigenen Pläne.«

»Gut, ich werde Ihren Plänen nicht hinderlich sein. Aber können Sie mich denn nicht bei dieser Entführung gebrauchen?«

»Ich muss dann schnellstens fliehen, wer weiß, was für einer furchtbaren Verfolgung ich ausgesetzt bin —«

»Und ich weiß, dass ich da nur hinderlich wäre, da kann ich nicht mitmachen, Sie bringen mehr fertig als ich, ich selbst bin ja Ihnen gegenüber auch nur ein kleines Kind, das habe ich nun schon gemerkt. Dann ist die Sache also erledigt.«

»Nur noch eins: Die Karawane bricht auf, Du sollst Dich ihr anschließen, es muss ein Grund dazu vorhanden sein. Wir inszenieren jetzt einen Streit —«

Das war bald abgemacht und ausgeführt.

Die spanischen Worte wurden immer lauter, bis der Mexikaner aufsprang.

»Caramba, das lasse ich mir von meinem Diener nicht bieten!«

»Dann gehe ich eben meiner Wege!«, schrie Wilhelm, ebenfalls aufspringend.

»Gehen Sie, Sie unverschämter Mensch, Sie sind entlassen!«

Noch eine scheinbare Entlohnung, und die Sache war erledigt, Wilhelm schwang sich auf sein Pferd, nahm hinter sich seinen Mantelsack und schloss sich der abreitenden Karawane an.

Diesmal hatte der Häuptling Interesse für den Vorgang gehabt. Er näherte sich dem Mexikaner.

»Was hatte mein Bruder mit seinem Diener?«

»Der Bursche kam mir grob, wollte mir nicht gehorchen!«

»Was befahlst Du ihm?«, fragte der Häuptling, aber keine Spur von Misstrauen war dabei zu bemerken, worauf Atalanta sehr achtete.

Eine Begründung war schnell gefunden.

»Und Du hast ihn fortgeschickt?«

»Ja.«

»Wo geht er hin?«

»Wo er hergekommen ist, nach Chile. Danach habe ich ihn aber nicht gefragt.«

Sinnend wiegte der Häuptling das Haupt hin und her.

»Das ist nicht gut.«

»Was ist nicht gut?«

»Das Blassgesicht weiß von dem Mlawata.«

»Nein, er weiß nichts davon, ahnt nichts. Oder meinst Du, ich hätte ihm auch nur ein Wort davon gesagt?«

»Aber er hat gesehen, wie das Kind gekommen ist.«

Hiermit hatte Atalanta von vornherein rechnen müssen. Es war nicht zu vermeiden gewesen.

»Was tut es? Er kann nur von einem Wunder erzählen, wie ein Kondor ein Kind zu den Penchuenchen gebracht hat.«

»Es wäre sonst nicht bekannt geworden.«

»So hole ihn zurück. Dann aber weihe ihn lieber in alles ein.«

Nur ein kurzes Zögern des Häuptlings.

»Nein, er mag gehen, es schadet nichts, wenn es die Blassgesichter erfahren«, entschied er dann, und die Sache war erledigt.

Atalanta achtete darauf, ob in der nächsten Zeit Indianer das Lager ohne ihr Wissen verließen, aber es geschah nicht.

Am anderen Tage war das Kind wieder völlig hergestellt, saugte kräftig an der Brust einer jungen Indianerin. Und für die wirkliche Mutter war es die höchste Zeit, es wieder an die ihre zu nehmen, sonst hätte sie es nicht mehr ernähren können.

Zwar war es bis zum Rancho der Ochsenkönigin, dem nächsten, nur vier Stunden, dort gab es ja Kuhmilch genug, aber dort konnte der Kindesräuber sich doch nicht verstecken, und der Ritt über das Gebirge, so gut der Pass auch war, erforderte mindestens zwei Tage. So lange glaubte die junge Mutter nicht noch aussetzen zu können, und als sonstige Ernährung wären hier höchstens noch Vogeleier in Betracht gekommen, was aber auch sehr fragwürdig war. Woher sich denn immer frische, unangebrütete Vogeleier verschaffen. Ebenso wenig konnte ein Reiter Milch mitnehmen, die wäre sofort zu Butter geworden, ganz abgesehen von der jetzt herrschenden Hitze

In dieser Nacht musste der Raub spätestens ausgeführt werden.

Gegen Mittag waren die ersten Penchuenchen wieder eingetroffen, welche als Gesandte zu den Nachbarstämmen geschickt worden waren.

In dem Lager entstand eine Bewegung, ohne dass Atalanta erst noch einen Grund erfuhr. Aber sie bekam es sehr bald zu erfahren.

»Mein Bruder begleitet mich«, sagte der Häuptling zu dem Mexikaner, der erst noch seinen Ehrennamen bekommen sollte.

»Wohin?«

»Nach dem Wasserhügel.«

»Was ist dort?«

»Am Wasserhügel treffen die Häuptlinge der Ilanos und Arkaunas zusammen, vielleicht auch schon andere.«

»Wie weit ist das?«

»Wenn die Sonne sinkt, sind wir dort. Wir können nicht zu schnell reiten, denn zwei Weiber begleiten uns, die nicht wie Männer reiten können.«

»Wozu zwei Weiber in die Versammlung der Männer?«

»Der Mlawata kommt mit.«

»Das Kind kommt mit?!«

»Das Kind kommt mit. Alle Häuptlinge werden dem Mlawata huldigen.«

Atalantas Entschluss war sofort gefasst. Der Wasserhügel lag östlich, wo es vollends in die endlose Pampas hineinging.

Und der gefasste Entschluss wurde innerhalb der nächsten fünf Minuten ausgeführt.

Atalantas Pferd war weit schneller als diese Mustangs und befand sich in vorzüglichster Verfassung. Als das gut eingehüllte Kind gebracht wurde, um es einer der mitreitenden Indianerinnen zu übergeben, saß sie schon im Sattel, voll ausgerüstet, hatte sich auch eine Lederflasche mit Wasser und einiges Hartbrot mit getrocknetem Fleisch unauffällig zu verschaffen gewusst.

»Gebt mir lieber das Kind, ich will es tragen«, sagte der Mexikaner, die Hände ausstreckend.

Diesem Ehrenkrieger widersprach man nicht gern, und überhaupt, er hatte das Kind schon genommen — und war nun einfach davongeritten.

Und ehe die Indianer nur irgend etwas ahnten, jagte das edle Ross schon weit ausgreifend über die Steppe — aber in anderer Richtung, dem Westen zu!

Da freilich musste den Penchuenchen endlich eine Ahnung aufgehen, die sofort zur Gewissheit wurde.

Gellende Wutschreie, alles schwang sich auf die Rücken der Pferde und jagte nach.

Wer im Besitze eines Gewehres war, hatte auch im Augenblicke der Erkenntnis gar nicht daran gedacht, eine Kugel nachzusenden. Diese Pampasindianer wollen so wenig von Feuerwaffen wissen, sie können sie eben entbehren, und es war ja der heilige Mlawata, der entführt wurde.

Außerdem war da der Räuber schon hundert Meter entfernt gewesen, und jede Sekunde brachte ihn zehn Meter weiter, und dann gebrauchte die Mutter auch noch die kühne List, das Kind hochzuheben.

Vom galoppierenden Pferde aus war dann erst recht nicht an ein Schießen zu denken.

Und diese Penchuenchen wussten, dass ihnen der Räuber doch nicht entgehen konnte, so schnell sein aus der Zivilisation hervorgegangenes edles Ross auch sein mochte.

Es ist kein Märchen, es ist eine Tatsache, dass diese argentinischen Pampasindianer von ihren gezähmten Cimarrones einen ununterbrochenen sechzehnstündigen Galopp verlangen. Die Südamerika-Forscher Rengger und Tschudi erzählen übereinstimmend solche Beispiele genug und noch ganz andere. Dann ist das Tier natürlich, wenn es nicht schon vorher zusammenbricht, ruiniert für immer.

Die Penchuenchen kannten dieses fremde Ross und kannten ihre eigenen Pferde. Es entging ihnen nicht. Es konnte einige Kilometer Vorsprung bekommen, aber in spätestens drei Stunden hatten sie es eingeholt.

Die wilde Jagd brauste über die blumige Pampas. Oft genug ging es durch Flüsse hindurch.

Atalanta wusste ja dasselbe. Aber wenn sonst kein Unglück dazwischen kam, so sah sie sich gerettet. Sie nahm denselben Weg, den sie gekommen, kannte ihn also, kannte auch die Mittel, um den Verfolgern dennoch zu entgehen, wenn ihr Pferd sich auch total erschöpfte. So lange es möglich war, musste sie alle seine Kräfte anspornen.

Zwei Stunden vergingen. Das edle Tier war kaum noch durch die Sporen in Galopp zu halten. Da aber tauchte schon das erste dem Rancho vorgelagerte Gehöft auf, Atalanta hatte es gesehen, wusste, dass sich dabei auch eine Fenz befand, überhaupt ganz selbstverständlich.

Das ist ein umzäunter Platz, in dem die zugerittenen Pferde gehalten werden, ungesattelt und gesattelt. Eigentlich heißt die Umzäunung Fenz. Sie ist immer anderthalb Meter hoch, durchbrochen, aber natürlich undurchlässig für die Pferde.

Atalanta wandte sich wieder einmal im Sattel. Vor einer halben Stunde waren ihre Verfolger ganz kleine Punkte gewesen, jetzt hatten sie sich wieder bedeutend genähert. Aber das schadete nichts, sie war gerettet.

Die niedrigen Gebäude waren viel näher, als ein anderer vermutet hätte. Der Eingang zu der Fenz lag diesen natürlich gegenüber. In zehn Minuten hatte sie, ihr keuchendes Ross zur letzten Kraftleistung antreibend, die Fenz erreicht und schob den schweren Riegel zurück.

Es waren einige Gauchos da, sie sahen den Reiter, wussten schon sein Vorhaben — niemand hinderte ihn. Dieses Wechseln der Pferde ist in der freien Pampas doch noch viel gebräuchlicher als in den Städten, auch ein Unberittener kann sich ohne Weiteres ein Pferd herausholen, sogar ein gesatteltes und gezäumtes, weil es eben selbstverständlich ist, dass er es nur bis zum nächsten Rancho benutzt, wo er es wieder freilässt, und kommt es nicht zurück, schadet es auch nichts.

Es waren mehr als hundert Tiere, welche in wildem Durcheinander nach der anderen Seite des Platzes jagten. Fangen wollen sie sich durchaus nicht lassen, das will überhaupt gelernt sein, und solange man nicht auf dem Rücken sitzt, schlagen und beißen sie mörderisch.

Atalanta hinter ihnen her, schon hatte sie das beste Pferd erspäht, das ihr erreichbar, es trug keinen Sattel, war nur gezäumt, und eben deshalb fühlte sich das kluge Tier sicherer als die gesattelten — da aber voltigierte die Reiterin schon aus ihrem Sattel auf seinen nackten Rücken hinüber. Jetzt brauchte das Tier nicht erst die Sporen zu bekommen, die Last des Reiters und kundiger Schenkeldruck genügte, da erinnerte sich der Mustang der furchtbaren Prügel, die er früher bekommen hatte.

Als sie die Fenz wieder verließ, waren die Verfolger keine zweihundert Meter mehr entfernt. Es hatte nichts zu sagen. Mochte dort auch ein schnelleres Pferd sein, die beste Kraft hatte es in den ersten zwei Stunden beständiger Karriere doch schon verbraucht, während dieses jetzt langgestreckt davonjagte. Und die Verfolger wussten, was geschehen war, aber an einen Pferdewechsel hatten sie nicht gedacht. Jetzt erscholl ihr Wutgeheul.

Aber von einem mitgenommenen Gewehre wurde noch immer nicht Gebrauch gemacht, keiner zügelte sein Ross und sprang ab, um kniend oder liegend eine Kugel nachzusenden, welche das Pferd des Räubers niedergeworfen oder doch gelähmt hätte. Es ist eben gar nicht so einfach, auf zweihundert Meter ein galoppierendes Pferd von vorn oder hinten zu treffen, mit der absolut sicheren Garantie, nicht den Reiter herabzuschießen, zumal wenn man schon eine zweistündige wilde Jagd im Sattel hinter sich hat und alle Nerven zittern. Und es war ja der geheiligte Mlawata, der getroffen oder doch durch einen Sturz verletzt werden konnte.

Weiter ging es in sausender Flucht! Das eigentliche Rancho tauchte auf, es blieb weit rechts liegen. Die schneebedeckten Kämme und Gipfel der Kordilleren waren immer in Sicht gewesen, jetzt rückte die Gebirgswand schnell näher, die fast ohne Hügelübergang jäh aus der Steppe emporstieg.


Illustration

Atalantas Ziel war eine Schlucht, die den Anfang des Passes bildete, der zuerst schnurgerade und völlig eben zwischen Felswänden hinlief, stundenlang, ehe das eigentliche Gebirge begann.

Vorher aber war noch ein breiter Fluss zu passieren, der mit dieser ersten Gebirgskette parallel lief.

Eine kleine Aufmunterung mit den Sporen und hoch spritzte das lehmige Wasser über Ross und Reiter zusammen.

Der Mustang schwamm brav. Weshalb aber schnob er so ängstlich, weshalb starrten die glühenden Augen so furchtsam?

Atalanta bemerkte es nicht, und hätte sie es getan, so hätte sie doch keine Erklärung dafür gewusst. War es vielleicht angeborene Wasserscheu, die man oft bei Pferden findet, gerade bei wilden und halbwilden, die das Wasser nur zu oft, bei Überschwemmungen, als feindliches Element betrachten müssen?

Die nordamerikanische Indianerin hatte in den wenigen Tagen die Pampas ja durchaus noch nicht kennen gelernt, hatte bei ihrer Herreise wie ihr Begleiter ein Stadtpferd benutzt, hatte noch gar keinen Mustang beim Durchschwimmen eines Wassers beobachtet.

Ihr Tier schwamm brav, das war die Hauptsache. Der Fluss war etwa fünfzig Meter breit, und als sie sich in der Mitte befand, sprangen am Ufer die Verfolger schon hinein.

Das war begreiflich, dass die unterdessen so nahe gekommen. Aber die Entfernung war doch noch viel zu groß, als dass sie das Lasso hätten benutzen können, die Kugelschleuder kam nicht in Betracht und vor einem Schuss war Atalanta durch das Kind geschützt, das sie hoch empor hielt. Und wenn die Verfolger das Ufer erreicht hatten, dann hatte sie schon wieder einen Vorsprung von dreihundert Metern.

Vorläufig aber befand sie sich noch in der Mitte des Stromes. Und da plötzlich stieß ihr Pferd einen lauten, grässlichen Schrei aus — einen Schrei, der gar nichts Pferdeähnliches an sich hatte, wie ihn auch die wenigsten Menschen zu hören bekommen — nur Soldaten, die einen Krieg mitgemacht haben, können von ihm erzählen — der Angst- und Schmerzensschrei von auf dem Schlachtfeld verwundeten Pferden.

Und ehe Atalanta, die selbst diesen fürchterlichen Schrei noch gar nicht gehört hatte, ihn erklären konnte, fühlte sie plötzlich, wie der Pferdeleib unter ihr so seltsam erstarrte, es war nicht anders, als ob alle Muskelfasern wie steinerne Stränge herausträten, und da sank das Pferd auch schon unter ihr weg, sie musste schwimmen.

Nein, diese nordamerikanische Indianerin kannte die argentinische Pampas noch lange nicht. Aber gelesen und auch gehört hatte sie von ihren Gefahren schon genug, plötzlich überkam sie die sichere Erkenntnis, was hier passiert war.

Ein elektrischer Zitteraal hatte dem schwimmenden Pferd einen Schlag versetzt, es vollständig gelähmt. In diesen nördlichen Pampas, hier schon Llanos genannt, also noch nahe dem Äquator, ist der Zitteraal zu Hause, hält sich mit Vorliebe in trübem Wasser auf. Ein Glück, dass er nur an einzelne Tiere geht, sonst würde er in jenen Gegenden die ganze Viehzucht in Frage stellen. Aber auch wenn eine ganze Herde von Rindern oder Pferden durchs Wasser getrieben wird, muss man immer mit dem Verluste einiger Tiere durch Zitteraale rechnen.

Das hier geborene Pferd hatte natürlich die Gefahr gekannt, daher seine Angst, und Atalanta hatte nicht gewusst, dass man beim Durchschwimmen eines trüben Flusses immer links und rechts auf das Wasser peitschen muss.

Die Indianer, die sich soeben in den Fluss stürzten, hatten sofort erkannt, was dort geschehen war, ihr Freudegeheul erscholl.

»Allgütiger Gott, verlasse mich nicht!«, betete die junge Mutter, als sie schwimmend nur den rechten Arm gebrauchte, mit dem linken ihr Kind etwas über die Schulter hebend und an sich drückend.

Die Pferde schwammen durchaus nicht schneller als sie. Am Ufer angekommen, drehte sie sich um, überschaute die Situation, erwog ihre Lage.

Jetzt waren die Verfolger erst in der Mitte des Flusses. Gegen zwei Dutzend waren es. Und in ihrem Gürtel hatte sie weit mehr Patronen, die durch das Bad so wenig unbrauchbar geworden waren wie ihr Repetiergewehr.

Die Penchuenchen ahnten die Gefahr, in der sie sich befanden, sie glitten von den Rücken ihrer Pferde, schwammen nebenher, jeden Augenblick bereit, unterzutauchen.

Es hätte ihnen nichts genützt, die letzte Mohawk hätte innerhalb einer Minute diese zwei Dutzend Krieger in die ewigen Jagdgefilde geschickt.

Aber — —

Blut ist ein besonderer Saft!

Die junge Mutter blickte nach der Gebirgswand, nach der Schlucht. Einen Kilometer war sie noch von ihr entfernt.

Und sie blickte wieder nach den Schwimmenden.

Und dann betete sie abermals:

»Gott, sei gnädig mit mir, lass mich nicht so viel unschuldiges Blut vergießen — denn diese Männer sind ja in ihrem guten Rechte — die Blutschuld möchte auf das Haupt meines armen Kindes kommen!«

So betete die rote Indianerin.

Dabei aber hob sie mit der einen Hand ihr Gewehr und zielte auf die Verfolger.

In ein und derselben Sekunde drei Schüsse, deren Krachen zu einem einzigen verschmolz, und drei Indianer griffen nach ihren durchbohrten oder abgeschossenen Ohren.

Dann floh sie in weiten Sätzen davon. Diese Warnung wenigstens hatte sie geben müssen. Nun wussten die Penchuenchen, was sie zu erwarten hatten, wenn sie die Verfolgung nicht aufgaben.

Doch daran dachten diese nicht. Es ging um Tod und Leben.

Als ihre Pferde das Ufer gewonnen, hatte Atalanta wohl wieder einen Vorsprung von zweihundertfünfzig Metern, aber es war sehr die Frage, ob sie nicht schon vor jener Schlucht eingeholt war, sich mindestens im Bereiche eines Lassos befand.

Denn mochte diese rote Athletin auch die personifizierte Schnellfüßigkeit selbst sein — dass ein Mensch mit einem Pferde in Karriere konkurrieren kann, das gibt es nicht, das kommt höchstens in solchen Erzählungen vor, in denen am Südpol Eisbären gejagt werden.

Die Steppe war hier mit frischem, ganz kurzem Gras bewachsen, sie bot nicht das geringste Versteck. Atalanta brauchte überhaupt kein Versteck, nur den Pass, die Schlucht wollte sie noch rechtzeitig erreichen. Sie war durch diese doch schon geritten, erinnerte sich bestimmt, dass die Felswände, so steil sie auch sein mochten, zu ersteigen waren, gerade hier am Ausgange in die Pampas.

Kam sie freilich schon vorher in den Bereich des Lassos, dann musste sie sich schnell hinter einen Felsblock werfen oder sich schon hier umdrehen, dann allerdings mussten ihre Verfolger daran glauben.

Aber es gelang, ihr flüchtiger Fuß, der kaum das Gras zu berühren schien, brachte sie noch rechtzeitig in die Schlucht, die ersten Reiter waren noch reichlich fünfzig Galoppsprünge von ihr entfernt.

Schnurgerade zog sich die Schlucht entlang. Das Kind, in weiches Leder gehüllt, hatte sowieso schon eine Vorrichtung, um es sich nach indianischer Art auf den Rücken oder auch an einen Baumast zu hängen. Und schon hatte es die Mutter auf ihrem Rücken, schon hatte sie eine günstige Stelle an der Felswand erspäht, schon sprang sie wie eine Gemse hinauf.

Hinter ihr ein neues Wutgeheul der Enttäuschung, schon direkt unter ihr. Ja, der Verräter war herabzuschießen, auch die Wurfkugel erreichte ihn noch, und man hätte dabei das auf dem Rücken befestigte Kind sicher nicht getroffen — aber ebenso unfehlbar wäre doch der Mexikaner herabgestürzt, und schon befand er sich in der Höhe eines vierstöckigen Hauses, und dieser Sturz hätte doch auch den Tod des heiligen Kindes bedeutet.

Weiter erkannten die Penchuenchen auf den ersten Blick, dass sie es dieser menschlichen Gemse nicht nachmachen konnten, zumal es Pampasindianer waren, im Gebirge ganz und gar nicht zu Hause. Man hätte es aus einiger Entfernung überhaupt gar nicht für möglich gehalten, diese Felswand zu erklimmen, so steil, so nackt sah sie aus; erst in dichter Nähe erkannte man hier und da die Risse und kleinen Vorsprünge, die aber vielleicht nicht einmal einem Steinbock genügt hätten. Und der Mexikaner klomm mit größter Schnelligkeit empor.

Einige Indianer wollten folgen, es waren die gewandtesten, aber bald mussten sie ihre Bemühungen aufgeben, sie stürzten fortwährend wieder herab, waren auch nicht hoch genug, als dass sie sich mehr als blutige Hände und Kniescheiben holen konnten.

Atalanta bemerkte es. War sie deshalb gerettet, dass man nicht nach ihr schoss, ihr nicht folgen konnte?

Sie wusste noch gar nichts, konnte nur hoffen, konnte nur beten — beten, dass sich dieser Kletterweg so weit fortsetzte, bis sie einen Grat erreichte, der sie weiterführte, dass sie überhaupt diesen Kletterweg über das ganze Gebirge fortsetzen konnte, bis sie eben vor ihren Verfolgern definitiv in Sicherheit war.

Aber es sollte nicht sein. Ja, einen Grat erreichte sie, ein kleines, schmales Plateau — und dieses Wort sagt schon, dass es begrenzt war. Auf beiden Seiten ging die Felswand wieder vor, und von hier stieg sie glatt, wie gemauert, empor, ohne den geringsten Riss oder Vorsprung.

Zwar war diese Wand höchstens zehn Meter hoch, dann kam eine scharfe Kante, aber diese Höhe genügte vollkommen, um unüberwindlich zu sein, wenn das Lasso nicht oben irgend einen Halt fand.

Eine halbe Stunde lang warf Atalanta ihre Lederschlinge hinauf, über die Kante hinweg, immer konnte sie sie frei wieder herabziehen, bis sie endlich ihre Bemühungen aufgab.

Also der weitere Weg verschlossen, und unten lagerten die Feinde!

Außerdem bemerkte sie jetzt, dass ihre Lederflasche geplatzt war.

So konnte sie nicht einmal ihren brennenden Durst stillen. Wohl aber den des Kindes, das sich jetzt durch Schreien bemerkbar machte.

Sie kauerte sich nieder und gab dem kleinen Alfred die Brust, die noch nicht versiegt war, und trotz der furchtbaren Lage, in der sie sich befand, wurde sie vom seligsten Mutterglück erfüllt.

War sie denn auch wirklich verloren?

Nein, jene rätselhaften Männer, die Herren des Schicksals zu sein schienen, hatten ihr wiederholt versichert, dass sie sich und ihr Kind retten, dass sie sich mit ihrem Gatten wieder vereinigen würde, und sie durfte nicht mehr an dem hellsehenden Zukunftsblick dieser Männer zweifeln.

Nicht, dass sie sich erst jetzt in ihrer höchsten Not der Telefonuhr erinnerte. Sie hatte schon immer daran gedacht. Aber seitdem das drahtlose Telefon in Caldera in ihrer Tasche geklingelt, hatte es sich nicht wieder gemeldet, und vergebens hatte sie in letzter Zeit wiederholt angerufen, sie hätte ja so oft gern einen Rat gehabt, so zum Beispiel ehe sie sich zu ihrer Flucht vorbereitete — allein die Uhr hatte keine Antwort gegeben.

Funktionierte sie nicht mehr? Nein, Atalanta war überzeugt, dass jene geheimnisvollen Menschen ihr nicht antworten wollten, sie sollte eben ganz nach freiem Ermessen handeln. War es unbedingt nötig, dann würde sich das Telefon auch schon wieder melden.

Und wie die Mutter noch so sann, mit lächelndem Glück das Kind an der Brust, dabei aber auch mit funkelnden Augen die untere Felskante beobachtend, falls dort ein Kopf auftauchte, der unfreiwillig sofort wieder verschwunden wäre — da klingelte es leise in ihrer Tasche.

Mit einem unterdrückten Jubelrufe zog sie die Uhr aus der Tasche.

»Hier Atalanta, wer dort?«

»Sirbhanga Brahma.«

»O, mein Vater, mein Vater! Weißt Du, in welcher Lage ich mich befinde?«

»Ich weiß es, mein Kind. Bist Du nicht schon zufrieden, dass Du Dein Kind wieder an Deiner Brust hast? Und Du wirst auch weiter gerettet werden. Begib Dich sofort nach Caldera zurück. Dort liegt der Delfin, der Dich abholen wird, auch Dein Gatte ist an Bord. Der Delfin geht unter Kapitän Hagens Führung nach Afrika, will den Tschadsee erforschen. Es steht in Deinem freien Ermessen, ob Du diese Expedition mitmachen willst oder nicht, ob Du Dich nach Lemurien zurückbringen lässt und hier bei uns bleibst. Du hast überhaupt immer deinen eigenen Willen. Mehr habe ich Dir jetzt nicht zu sagen. Schluss.«

Ein Klingelzeichen, und Atalanta wusste, dass sie vergebens wieder angerufen hätte, so viel sie auch noch zu fragen hatte.

Der Delfin? Das mittlere der drei Unterseeboote, die sie im Stillen Ozean, in der Nähe des Polynesischen Archipels versenkt hatte, um sich von allem zu befreien, was nach ihrer Meinung immer nur Schuld an all ihrem Unglück gewesen war. Sie hatte es getan, ohne erst den alten Inder deswegen um Rat zu fragen, der ihr überhaupt auch gar keinen Rat erteilt hätte — freilich auch ohne zu ahnen und ohne gewarnt zu werden, dass sie bald darauf mit ihrem »Mohawk« Schiffbruch erleiden würde.

Und nach Caldera sollte sie sich begeben? Sofort? Ja, da musste sie erst die Möglichkeit haben, hier fortzukommen, und danach sah es gar nicht aus — —

»Hallo!!!«, erklang da eine Stimme über ihr.

Und sie blickte in das Antlitz des Engels, den ihr der Himmel geschickt hatte, um sie vollends zu retten, ohne den sie hier rettungslos verloren gewesen wäre — und dieser Engel, der eine sehr raue, heisere Stimme hatte, trug die Züge von Wilhelm Neumann.

»Hallo!! Ist denn das nicht — Señor Diaz Lopez — genannt Tarantello — der Toreador — der vorgestern noch mein Herr war?!!«

Immer größeres Staunen wurde in die heisere Stimme, die kaum noch röcheln konnte, gelegt, und das war begreiflich.

Denn dass der Mexikaner dort unten sein Herr war, daran konnte Wilhelm Neumann doch nicht zweifeln. Aber dieser Mexikaner hatte seine Brust entblößt, stillte an dieser vollen Brust ein Kind!

Atalanta gab sich keine Mühe, ihre Demaskierung wieder zu verhüllen, und es hätte auch nichts mehr genützt.

»Wilhelm, Du bist der vom Himmel gesandte Engel, der mich und mein Kind retten soll!«

»Bin ich's? Dann lassen Sie sich's gesagt sein, dass dieser Engel selbst sehr der Rettung bedarf. Ich vergehe vor Durst, halte es nicht mehr lange aus. Also ein Frauenzimmer sind Sie? Das habe ich freilich nicht einmal im Traume geahnt, obgleich es mir jetzt gar nicht so unmöglich erscheint, dass sich unter diesem weiten mexikanischen Kostüm ein Weib verstecken kann. Und dieses indianische Himmelskind ist wohl das Ihre? Und stillen können Sie es? Können Sie nicht auch meinen wütenden Durst stillen? Nehmen Sie's nicht für ungut, ich denke nur an Wasser, das man gewöhnlich in einer Flasche oder einem ähnlichen Gefäße mit auf die Reise nimmt.«

»Wie kommst Du hierher?«

»Ich habe mich verstiegen, seit gestern Nachmittag irre ich hier im Gebirge herum, finde den Rückweg nicht mehr.«

»Wir sind gerettet, Du und ich. Fang mein Lasso auf.«

Er fing die zugeworfene Lederschnur, stemmte sich fest, und in der nächsten Minute stand Atalanta neben ihm, auf einem viel größeren Plateau, von dem aus noch viele Aufstiege, ziemlich bequeme, nach oben führten.


Illustration

Alles andere jetzt als Nebensache betrachtend, berichtete Wilhelm erst mit kurzen Worten. Nachdem er sich von der Karawane in der Nähe des Ranchos getrennt hatte, war er auf das Gebirge zugeritten, war in eine Schlucht gedrungen, in der festen Überzeugung, dass dies der Pass sei. Wer nicht einen ganz besonderen Orientierungssinn besaß, konnte das auch gar nicht unterscheiden, da dieser Pass gar nicht mehr benutzt wurde, also keine Spuren und nichts zeigte.

Nach einiger Zeit waren Wilhelm zwar Bedenken aufgestiegen, ob er sich auch wirklich auf dem rechten Wege befände, aber es hatte nichts zu sagen, umkehren tat er nicht. Die Hauptsache war, dass diese Schlucht, die von einem Bach begleitet wurde, nach Westen führte, und sie musste doch auch einen Anfang, also einen Ausgang haben, der sicher in das Haupttal führte.

In der heißesten Mittagszeit hatte sich Wilhelm gelagert. Proviant führte er genügend mit sich. Da hatte er über sich auf einem Felsgrat eine Bergantilope stehen sehen. Ein frischer Braten wäre ihm doch lieber gewesen als das getrocknete, harte Fleisch — das Tier war unter seinem Schuss zusammengebrochen.

Mit Leichtigkeit hatte er den Felsen erstiegen. Aber die Antilope war nicht mehr zu sehen gewesen. Getroffen hatte er sie, sie hatte stark geschweißt, geblutet, und Wilhelm verfolgte die Spur, die immer noch bergauf führte.

Die blutige Spur hörte auf, aber Wilhelm wollte die Verfolgung noch nicht gleich aufgeben, hoffte noch auf seinen Braten, und seiner Meinung nach gab es nur einen Weg, den das Tier genommen haben konnte.

Endlich aber wollte er doch wieder umkehren. Mit einem Male wusste er weder aus noch ein. Aufwärts konnte er noch, aber nicht mehr abwärts. Wie das im felsigen Gebirge eben manchmal so geht, und so etwas kann auch dem erfahrensten Tiroler Gemsjäger in seiner Heimat passieren.

Nachdem Wilhelm stundenlang vergebens nach einem Abstieg gesucht hatte, zog er es vor, lieber aufwärts weiter zu steigen, um nur Wasser zu finden, denn ihn quälte schon lange großer Durst.

Eine Quelle fand er denn auch, musste aber erst eine waghalsige Klettertour machen, ehe er sie erreichte. Und dann sah er wohl, wo er heraufgekommen war, wagte aber, als er in die Tiefe blickte, nicht wieder den Abstieg.

Denn das ist ja bekannt, dass es viel leichter ist, einen steilen Felsen hinaufzuklettern als wieder hinab. Und der deutsche Fleischergeselle war in so etwas durchaus nicht geübt, war nicht einmal ganz schwindelfrei.

Wir wollen es kurz machen, wie es auch Wilhelm in seiner Erzählung tat. So war er den ganzen Rest des gestrigen Tages herumgeirrt, hatte in der Nacht geschlafen, und heute war die alte Geschichte wieder losgegangen. Einige frische Vogeleier, die er aus Nestern genommen, hatten ihn bei Kräften erhalten, auch mehrere Quellen hatte er gefunden — nur seit etwa drei Stunden war er wieder ohne Wasser, und das hatte genügt, um seine Stimme so röchelnd zu machen. Denn er hatte nichts bei sich, um aus den Quellen Wasser mitnehmen zu können.

So war er bis hierher gekommen, und hier hätte er wieder umkehren müssen. Denn er besaß kein Lasso und keine andere Möglichkeit, diese zehn Meter hinabzugelangen, hätte überhaupt auch den weiteren Abstieg gar nicht wagen dürfen. Er wäre wahrscheinlich verloren, dem Verschmachtungstode ausgesetzt gewesen.

Nun war es anders, nun hatte er eine sichere Führerin gefunden, die seine Spur, auch wenn diese unsichtbar war, zurückverfolgen konnte. Und zugleich hatte er auch Atalanta vor dem sicheren Tode gerettet.

»Wunderbar, es ist wunderbar!!«, flüsterte diese, vom heißesten Danke gegen den Himmel erfüllt.

Sie traten den Rückweg über den Gebirgskamm an. Den Weg, zu dem Wilhelm etwa zehn Stunden gebraucht hatte, machten sie jetzt in zwei. Wilhelm hatte sich ja Zeit genommen, manchmal gleich eine Stunde an einer Quelle gelagert, und solcher fanden sie gar viele. Und die Abstiege, die er allein sonst nicht gewagt hätte, wurden jetzt mit Hilfe des Lassos mit Leichtigkeit überwunden.

Noch ehe die Sonne unter den Horizont sank, blickten sie in das Nebental hinab, aus dem Wilhelm gestern heraufgekommen war, und dort unten weidete noch sein angebundenes Pferd.

Die beiden durften sich als gerettet betrachten, waren es auch wirklich.

Das Pferd bald gemeinsam, bald abwechselnd benutzend, hatten sie zwei Tage später die Kordilleren überschritten und die nächste Eisenbahnstation erreicht.


Lieferung 37


Illustration

Als sich der Baronet umdrehte, erstarrte er vor
Schreck; hinter ihm stand ein gewaltiges Mammut.


In der Steinzeit

Wir versetzen uns wieder an Bord des »Oststerns«, der also schon in einer Bucht jener der Welt sonst unbekannten Insel vor Anker lag. In einer geräumigen Kabine unter Deck befanden sich Thomas Ramford und Sir Walter Wilcox; sie lasen beide in Büchern, von denen eine ganze Sammlung, allerdings nur Werke in englischer Sprache, über Land- und Völkerkunde und was damit zusammenhängt, enthaltend, vorhanden war. Auch für Schreibgelegenheit war gesorgt, einige grünüberzogene Tischchen mit bequemen Klubstühlen — das ganze war überhaupt ein kleiner Klubsalon, in dem man sich weniger wissenschaftlichen Studien als der Behaglichkeit hingeben sollte.

Die beiden blätterten in den vor ihnen liegenden Büchern, woraus man schließen konnte, dass sie dieselben schon gelesen hatten. Interessant waren sie genug, sie behandelten die Urgeschichte Mitteleuropas, mit zahlreichen Abbildungen, wie wissenschaftliche Studien nach hinterlassenen Funden aus jener Zeit und logische Phantasie solche geschaffen haben.

Außerdem lag zwischen den beiden eine Karte der Umgegend von Berlin, und sie hatten bei ihren früheren Reisen einmal gemeinschaftlich die deutsche Hauptstadt besucht, waren auch in die weitere Umgebung gekommen.

Littlelu trat ein, unter dem Arm einen schwarzen, runden Gegenstand, einer Hutschachtel ähnlich.

»Nun, meine Herren, haben Sie sich orientiert?«

»Vollständig. Sie haben uns ja Zeit genug dazu gegeben, wir brennen vor Ungeduld, von der Theorie zur Praxis überzugehen.«

»Ja, nehmen wir sofort das Experiment vor. Die Erklärung gebe ich Ihnen später, so weit ich sie geben kann, und verstehen Sie mich nicht, so verstehen Sie einen Inder oder europäischen Adepten, der in alles eingeweiht ist, erst recht nicht. Sehen Sie, meine Herren, diese Hutschachtel hier, das ist das größte Geheimnis des Sklavensees, für welches der Gräfin

Atalanta zehn Millionen Dollars geboten worden sind, die sie auch bar ausgezahlt bekommen hat, ohne dass sie die Hutschachtel dafür hergab. Das konnte sie auch gar nicht, einfach deswegen nicht, weil sie die Hutschachtel selbst gar nicht besaß.«

Die beiden lachten, und das verriet, dass sie auch sonst in manches eingeweiht worden waren.

»Aber es handelte sich doch gar nicht um eine Schachtel, um einen Apparat, sondern um ein ausführliches Schriftstück«, meinte Ramford.

»Stimmt«, bestätigte Littlelu, »um eine Geheimschrift, welche der einstige Kompagnon jenes Mephistopheles, von dem ich Ihnen ja schon genug erzählt habe, den indischen Mahatmas gestohlen und die er dann aus Versehen in den See hatte plumpsen lassen. Wie die geografische Ortsbestimmung dieses Punktes auf den Rücken der kleinen Indianerin gekommen ist, das erzähle ich Ihnen ein andermal. Jedenfalls enthielt diese Geheimschrift die ausführliche Beschreibung jener Erfindung, welche wir Engländer hier akustische Kinematografie nennen, durch welche es möglich ist —«

»Machen Sie los, machen Sie los!«, ermahnte Wilcox. »Sie wollen uns doch keine theoretischen Erklärungen geben, sondern an uns selbst gleich das Experiment ausführen. Also versetzen Sie uns auf die Astralebene ersten Grades.«

Das Drängen war nicht nötig, Littlelu war bei seinem Sprechen durchaus nicht untätig. Er hatte einen Wandschrank geöffnet, der eine elektrische Batterie enthielt, und verband die schwarze Schachtel, die oben Schrauben hatte, mit Kupferdrähten.

»Astralebene?«, wiederholte er jetzt, obschon er mit seiner augenblicklichen Beschäftigung noch gar nicht fertig war. »Ach verschonen Sie mich doch mit Ihrer geisterhaften Astralebene, wenn ich diesen Ausdruck früher auch selbst gebraucht habe. Es ist einfach das Reich der Träume, in das ich Sie versetze. Sie bekommen einen Traum suggeriert, in dem sie aber ebenso willkürlich handeln können, wie es jeder Mensch in jedem Traume kann, was freilich nur scheinbar ist, aber dennoch nichts an Realität einbüßt. So, der Apparat ist fertig. Bleiben die Herren nur ruhig sitzen, wie Sie gerade sitzen. Wer soll zuerst drankommen?«

Er trat auf Ramford zu, der zurückgelehnt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Stuhle saß, stülpte ihm ohne Weiteres den Zylinder, das heißt die Schachtel, die aus einem leichten Metall zu sein schien, jedenfalls aus Omnihilit, über den Kopf, drückte gleichzeitig oben auf einen Knopf, ein schnarrendes Geräusch erscholl, kaum eine Sekunde während, und Littlelu nahm den Zylinder wieder von Ramfords Kopf.

Während das Gesicht des jungen Australiers vorher ganz gleichgültig gewesen, war es jetzt förmlich verzerrt wie vor Todesangst.

»Das war entsetzlich«, hauchte er, »dieses Ungetüm hatte mich —«

Mit einem Male nahm sein Gesicht einen ganz erstaunten Ausdruck an, so blickte er um sich.

»Ja, wie ist mir denn — wo bin ich denn hier — ja, es war nur ein Traum, aber ich kann doch nicht so lange geschlafen haben —«

Das Staunen verwandelte sich wieder in Bestürzung.

Jetzt aber machte auch Sir Wilcox ein erstauntes Gesicht.

»Na, Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass mein Freund Tommy in diesem einzigen Augenblick ein ganzes Leben lang — —«

»Seien Sie stille«, unterbrach ihn Littlelu. »Jetzt kommen Sie daran, leben Sie wohl, auf Wiedersehen in etlichen Jahren!«

Mit diesen Worten hatte Littlelu auch dem Baronet den Zylinder über den Kopf gestülpt, das schnarrende Geräusch erklang, und — —

*

Man kann ziemlich genau den Moment kontrollieren, in dem man aus dem Schlafe erwacht, aber nicht denjenigen, in dem man das Bewusstsein verliert, einschläft.

Als Sir Wilcox erwachte, musste er natürlich glauben, geschlafen zu haben.

Da aber stand er schon auf seinen Füßen, stand in einer Höhle, in welche von draußen das helle Tageslicht hereinschien, und wie er hinaustrat, stand er am Ufer eines breiten Flusses, der seine dunklen Fluten durch einen Urwald wälzte, in dem neben der Eiche die Eibe vorherrschte, und zu seinen Füßen lag ein Boot.

Der Leser versteht.

Der Traum, der damals abgebrochen wurde, nahm noch einmal denselben Anfang.

Aber etwas anders war dieser Anfang doch.

In dem Boote lagen einige Sachen, aber kein anderer Mensch befand sich darin. Diesmal fehlte Ramford.

Und dann besonders war die Stimmung, das Bewusstsein des Baronets diesmal ganz anders beschaffen.

Es ist schwer zu beschreiben, und trotzdem weiß der geneigte Leser ganz genau, worum es sich hier handelt, weiß es aus eigener Erfahrung, wenn er nur einigermaßen hin und wieder seine Träume beobachtet hat, nach dem Erwachen und während des Traumes selbst, was nämlich sehr wohl möglich ist, obwohl man nicht weiß, dass man träumt — — doch da verwickeln wir uns schon wieder in solche Widersprüche, weil es sich hierbei um psychologische Erscheinungen, um Vorgänge inneren Seelenlebens des Menschen handelt, welche der Mensch zur Erklärung noch nicht in Worte kleiden kann und es wohl auch niemals können wird.

Kurz, Sir Wilcox dachte diesmal gar nicht daran, sich an der Nase zu zupfen oder gar eine Stecknadel zu Hilfe zu nehmen — dachte nicht daran, sich die Frage vorzulegen, ob er wache oder nur träume — er nahm einfach alles, wie es war, wunderte sich über nichts, fand alles ganz selbstverständlich, wenn der Traumgott auch einmal einen »faux pas«, einen falschen Hopser machte, wenn gar einmal etwas völlig Unmögliches passierte.

»Also das ist die Spree, wie sie ungefähr zehntausend Jahre vor Christi Geburt aussah. Nun, da wollen wir einmal losrudern, und zwar stromabwärts nach Berlin, und mit aufmerksamen Augen um uns schauen.«

Mit diesen Worten stieg er ins Boot, setzte sich ins Hinterteil, legte ein modernes, kleinkalibriges Magazingewehr und eine gewaltige Elefantenbüchse handlich neben sich und griff zum Schaufelruder.

Aber gleich nach den ersten Ruderschlägen merkte er, dass ihm bei dieser Gondelpartie ums Jahr zehntausend vor Christi doch noch erwas fehlte. Also er zog seine geliebte Bryarpfeife, die er nach seiner Gewohnheit im Gürtel stecken hatte — die englischen Gentlemen haben sich wieder solche Hinterwäldlersitten angeeignet — und an dem Gürtel hing auch sein Tabaksbeutel, eine ganz ordinäre, möglichst schmutzige Schweinsblase.

Aber die Schweinsblase war leer oder enthielt doch nur noch wenige Krümel Tabak.

Nun, Sir Wilcox wusste, wo er seinen Tabakvorrat für diese Flussexpedition hatte. Vorn im Boot stand ein großer Kasten. Er schlug den Deckel hoch. Und es war ganz selbstverständlich, dass dieser große Kasten nichts weiter enthielt als Tabak, vielleicht zehn Pfund, und ebenso »natürlich« war es, dass es »seine« Sorte war, die er ständig rauchte, parfümierter und mit Honig getränkter Navy Cut, gemischt mit etwas Rifle Cake und Moss Rose.

Also Sir Walter stopfte seine Pfeife, füllte auch gleich seine Schweinsblase, entnahm einem gleichfalls am Gürtel hängenden Beutelchen Feuerstein, Stahl und Zunder, wie dieses primitivste Feuerzeug der Wilden jetzt auch wieder von jedem englischen Gentleman benutzt wird, wenn er »smart« sein will, und zwar nicht etwa in der Wildnis, sondern in London — »zurück zur Natur!« — und nun erst, als ihn der aromatische Qualm umschwebte, konnte das Vergnügen einer Spreefahrt ums Jahr zehntausend vor Christi Geburt richtig beginnen.

»Es können auch zwanzigtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung sein«, meinte der Baronet zu sich selbst, »so genau kommt das nicht darauf an, wenn man — verfluchtes Biest!«

Eine Mücke hatte ihn in die Backe gestochen. Es gab hier überhaupt recht viele Mücken, viel mehr als Schmetterlinge und Libellen.

Nun, da wusste sich der Baronet zu helfen. Er war schon in Indien gewesen, auch in Südamerika, hatte den Orinoko befahren, wo die Moskitos zu Hause sind.

Also er öffnete nochmals jenen Kasten. Aber in dem war jetzt kein Tabak mehr drin. Sondern »selbstverständlich« enthielt er jetzt eine wohlausgestattete Reiseapotheke. Und ebenso selbstverständlich wunderte sich der Baronet über diese Transmutation nicht im Geringsten. Kam gar nicht auf den Verdacht, dass er hier einen ganz echten Zauberkasten besaß, der ihm alle seine Wünsche befriedigte. Und doch, er wusste es, aber das war doch alles so klar wie zwei mal zwei vier ist, das konnte doch gar nicht anders sein.

Hiermit ist nun wohl genügend angedeutet, in welcher geistigen Verfassung sich der Baronet befand.

Er entnahm der Reiseapotheke eine größere Tube. Nach Abschrauben des Stöpsels kam durch Druck aufs Hinterteil vorn ein grünes Würstchen heraus. Lorbeerfett, vermischt mit etwas Nelkenöl, durch Rinds- oder Hammeltalg zu festerer Konsistenz gebracht. Das beste Mittel, um sich gegen Mückenstiche zu schützen. Auf die Haut, welche mit diesem Zeug eingerieben ist, lässt sich keine Mücke nieder, weder eine indische noch eine südamerikanische noch eine deutsche.

Der Baronet rieb sich Gesicht und Hände ein und setzte mückensicher seine Fahrt fort.

Aufmerksam musterte er die Ufer, die ganze Szenerie.

»Hauptsächlich Eichen. Nicht andere als unsere jetzigen. Aber mächtige Dinger! Und was sind das für Nadelbäume, die hier und da vereinzelt stehen? Ja ja, ich weiß schon, das sind Eiben, aus deren Zweigen schon oder vielmehr noch Homer seine Helden ihre gewaltigen Bogen schnitzen lässt.«

Außer Insekten war nichts von einer Tierwelt zu sehen. Es war heißer Mittag, alles hielt Siesta. Nur ab und zu ertönte aus dem Gebüsch der traumverlorene Ruf eines Vogels. Doch da trat hinter einem Baume ein mächtiger Edelhirsch hervor, ein Zwanzigender, und wollte am Fluss zur Tränke gehen.

Bei Anblick des Bootes warf er sich herum und floh krachend durch das Unterholz.

Bei so vollständig klarem Bewusstsein der Baronet auch war, so kam ihm doch nicht in den Sinn, dass er alles schon einmal gesehen hatte. Ebenso wenig wie er seinen Freund vermisste. Weil er jetzt diese Fahrt eben zum ersten Male machte.

Die Eiche wich immer mehr der Eibe, diese wieder der Kiefer, diese dann der Birke.

Der Fluss machte einen Bogen und mündete ohne vorherige Verbreiterung in einen See, breit und noch viel länger, aber auch noch der Länge nach zu überblicken. Wenigstens konnte man jenseits das Ufer erraten.

Ringsum Birkenbäume und Birkengebüsch, dicht am Wasser viel Schilf, das sich an einigen Stellen, wo es seicht war, auch noch weit hinein erstreckte.

In diesem Schilfe wimmelte es von Wasservögeln aller Art, die hin und her flogen, während Reiher, Kraniche und Störche meistenteils ruhig standen, auf Beute lauerten.

»Der Müggelsee! Dort drüben liegt Erkner, und das dort — ja gewiss, das ist Friedrichshagen.«

Von diesem jetzigen Dorfe oder Vorort mit dreizehntausend Einwohnern war nun freilich nichts zu sehen. Die großen Etablissements mit ihren Gärten und Bootstationen fehlten. Nur einige Hütten standen im Wasser auf Pfählen, was es heute dort nicht mehr gibt.

»Pfahlbauten!«

Nach dieser Erkenntnis, die er schon einmal gehabt, blickte sich der Baronet um.

Kam ihm einmal die Erinnerung? Erwartete er jetzt das Kanu mit dem skalplockigen Indianer, in dem er und sein Freund den Professor Jakob Moor erkannt haben wollten? Erwartete er dann als zweiten Menschen den Zirkusclown, der sie in das Reich der Wirklichkeit zurückführte?

Doch diese beiden kamen diesmal nicht, diesmal war die Sache doch etwas arrangiert worden, der Träumer sollte ja nicht auf die Astralebene dritten, sondern auf die ersten Grades geschickt werden, und der Okkultist zählt deren sieben — und überhaupt hatte der Baronet gar nicht an so etwas gedacht, er hatte sich nur einmal umgeblickt, was hinter ihm war, und da er nichts Auffälliges bemerkte, musterte er wieder die Pfahlbauten.

»Aufsuchen muss ich sie. Aber ich muss mich auch darauf gefasst machen, von einem Pfeilhagel begrüßt zu werden.«

Er ruderte langsam darauf zu und hatte nach einer Viertelstunde die erste der vier Pfahlhütten erreicht.

Kein Mensch, kein Rauch, merkwürdigerweise auch kein Boot, kein ausgehöhlter Baumstamm waren sichtbar.

Besonders aus dem Fehlen jeglichen Fahrzeuges musste der Baronet darauf schließen, dass die ganze Horde oder Rotte abwesend war.

Mit Horde bezeichnet der Ethnologe eine Vereinigung von mehreren Familien, die unter sich verwandt sind, zum selbstständigen Stamme, das sich bis zum »Volke« entwickeln kann; fehlen die verwandtschaftliche Bande, so spricht er von einer »Rotte«.

Die Entfernung der in einer Linie liegenden Pfahlbauten vom Ufer betrug etwa dreißig Meter. Das Wasser war hier mannestief. Für jede Hütte waren fünf Kiefernstämme in den Grund gerammt, vier im Viereck und einer in der Mitte, noch drei Meter über das Wasser ragend. Über diese war aus dünnen, zusammengebundenen Stämmen eine Diele gebildet, auf dieser stand die zuckerhutförmige Hütte, von jungen Baumstämmchen errichtet und mit Nadelreisig bedeckt. Auch um die Hütte herum konnte man sich auf der Diele oder Plattform noch frei bewegen. Jeder Pfahlbau stand vom anderen so weit entfernt, dass den Zwischenraum auch das größte Raubtier nicht überspringen konnte.

Das war das erste gewesen, was der Baronet konstatiert hatte. Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit zunächst den Pfählen zu, weil es sich für ihn auch darum handelte, wie da hinaufzukommen.

Die Kiefernstämme waren sauber geschält, entrindet, auch sonst noch geglättet, außerdem noch mit Fett eingerieben, sodass auch das gewandteste Raubtier nicht hinaufklettern konnte, auch kein zweibeiniges. So waren natürlich auch keine Sprossen eingehauen. Die Pfahlbewohner benutzten jedenfalls eine Leiter oder einen Strick. Aber davon war jetzt nichts zu sehen.

Nun, Sir Walter wusste sich zu helfen. Er hätte das Seil benutzen können, an dem der kleine Anker befestigt war. Aber er machte es viel einfacher, er griff ganz einfach, ohne hinzusehen, in seinen Universalkasten, zog eine seidene Strickleiter hervor, die gerade die richtige Länge und auch die richtigen Haken hatte.

Diese befestigte er mit der langen Hakenstange oben an der Plattform, stieg hinauf, sah sich einmal um, sah nicht viel mehr als zusammengebundene Stangen, mit welchen nach dem nächsten Pfahlbau eine Brücke hergestellt werden konnte, dann betrat er die Hütte dort, wo der Zimmermann das Loch gelassen hatte.

Das Innere der Hütte war geräumiger, als man von außen geglaubt hätte. Ein Dutzend Menschen konnten sich bequem nebeneinander ausstrecken, und das war hier die Hauptsache. Die Diele war mit zartem Tannenreisig bedeckt, in der Mitte lag eine große Steinplatte, auf der Feuer gebrannt hatte. Sonst absolut nichts weiter. Und so sah es sicher auch in den anderen Hütten aus. Sie waren verlassen worden, die Bewohner hatten alles mitgenommen.

Was musste es diese Menschen für Arbeit gekostet haben, diese Bäume zu fällen, zu entschälen und hier einzurammen, vom Boote aus! Was konnte sie veranlasst haben, diese sicheren Wasserbauten, an die sie so viel Mühe gewendet, aufzugeben?

Da plötzlich erscholl ein fürchterliches Brüllen.

Es konnte nur das eines Löwen sein — aber schon aus diesem Brüllen durfte man urteilen, dass es kein solcher war, wie ihn heute noch die afrikanischen Wildnisse bergen und die europäischen Tiergärten zeigen. Ein ganz furchtbares, ohrenbetäubendes Brüllen!

Der Baronet brauchte sich nur umzudrehen, so sah er durch die Tür das Ufer, also gegen dreißig Meter von hier entfernt.

Das Schilf, das im seichten Wasser gestanden, war sorgfältig noch unter Wasser abgeschnitten worden, am Ufer selbst war im weiteren Umkreis alles Buschholz ausgerodet. Teils hatten es die Pfahlmenschen als Feuerung verwendet, teils wollten sie in ihrer Nähe auch am Ufer freien Überblick haben, dass sich kein Raubtier verstecken, sie beschleichen konnte.

Ja, auf die Pfahlhütten konnte kein Raubtier kommen. Aber wenn es nun einem Löwen oder Bären, der schon Geschmack an Menschenfleisch bekommen hatte, dieses allem anderen vorzog, beliebte, sich hier am Ufer auf die Lauer zu legen?

Dann konnten die Hüttenbewohner nicht das Land betreten, um auf die Jagd zu gehen, konnten sich nicht einmal Feuerholz verschaffen, um die gefangenen Fische zu kochen oder wahrscheinlicher zu rösten.

Jetzt aber wurde des Baronets Aufmerksamkeit zunächst durch einen besonderen Anblick gefesselt.

Über diese Lichtung galoppierte ein Rudel Rentiere(1>. Oder wir wollen lieber Rens sagen. Denn mit dem Rennen hat diese Hirschart gar nichts zu tun, sie kann überhaupt nicht so rennen wie andere Hirscharten, bringt es nicht über einen schwerfälligen Galopp. In der neuen deutschen Orthografie hat es — sehr geistreich! — nur deshalb die beiden N bekommen, damit es nicht mit dem zweibeinigen Rentier verwechselt wird. In seiner skandinavischen Heimat wird es sogar Reen geschrieben.

(1) Im Original steht (nach den 1911 geltenden Rechtschreibregeln) ›Re n n tiere‹

Und hinter den Rens war ein braunschwarzer Bär her. Und was für ein Ungetüm! Drei Meter lang und mindestens einen Meter hoch mit einem ungeheueren Kopf.

Ein Höhlenbär! Er brauchte nicht gerade in Höhlen zu hausen. Man hat seine Knochen nur hauptsächlich in Höhlen gefunden, die vor Überschwemmungen gesichert waren — oder aber dort hineingeschwemmt. Doch man hat seine Knochen massenhaft auch in ganz ebenen Gegenden ausgegraben, wo es gar keine Höhlen gibt. Wegen der Ren-Knochen, die mit den seinen vermischt am meisten vorkommen, wohl weil er diese wenig schnelle Hirschart am leichtesten erbeuten konnte, wird er jetzt häufiger und wohl richtiger Renbär genannt, jetzt also Rentierbär. Aber bleiben wir bei dem geläufigen Ausdrucke Höhlenbär, das Wort »Höhle«, wie üblich, auch anderen Raubtieren jener Zeit vorsetzend.

Doch dieser Bär konnte es nicht gewesen sein, der jenes donnernde Gebrüll ausgestoßen hatte.

Schnell war die Jagd wieder in dem Dickicht verschwunden.

Und da kam sie hervorgetreten, die Majestät, die unwillig darüber gewesen war, dass ein fremder Rivale sein Gebiet durchkreuzt hatte.

Ein Höhlenlöwe! Von schwarzbrauner Farbe, ohne Mähne, dafür das ganze Fell wollig, also mehr ein Pelz, und doch in seiner ganzen Gestalt ein echter Löwe, nur noch viel riesiger als unser heutiger der Berberei, des größten. Er war — wir wollen gleich die richtigen Maße angeben, wie sie an Knochenfunden in Sibyllenloch bei Teck, Schwäbische Alb, gemessen wurden — 2,50 Meter lang, ohne Schweif gemessen, und an der Schulter 1,30 Meter hoch. Man messe sich dies einmal aus. Schon ein Kaplöwe trägt ein halbjähriges Rinderkalb im Rachen davon, soll mit ihm eine zwei Meter hohe Fenz überspringen können. Dieses Ungeheuer hier musste dasselbe mit einem ausgewachsenen Stiere mit Leichtigkeit vollbringen können.

Der Löwe schritt faul nach der Mitte der Waldblöße, setzte sich auf die Hinterbeine, öffnete den furchtbaren Rachen zum Gähnen, streckte sich vollends aus und blickte nach der Pfahlhütte.

Der englische Baronet, so phlegmatisch er auch sonst sein mochte, glaubte zu fühlen, wie sich plötzlich seine Haare vor Entsetzen auf dem Kopfe sträubten. Gleichzeitig aber wurde er auch, ohne eigentlich zu wissen warum, von einem glühenden Hasse gegen dieses Tier erfüllt.

Ja, die gleichzeitige Sicherheit, die dieses Ungeheuer gegen ihn, den Herrn der Schöpfung zeigte, das war es!

Freilich — damals war der Mensch durchaus noch nicht der Herr der Schöpfung. Was wollten denn die damaligen Menschen mit ihren Pfeilen, die nur Knochen- und Steinspitzen hatten, gegen solch ein Ungeheuer ausrichten? Das schüttelte die Pfeile einfach ab und juckte sich, vorausgesetzt, dass sie überhaupt durch den wolligen Pelz etwas gedrungen waren. Und ein Pfeilschuss ins Auge, das wäre bei dieser Entfernung auch für einen Kunstschützen der reine Zufall gewesen.

Der Baronet raffte sich aus seiner Erstarrung empor, er schämte sich ihrer.

»Na warte, ich will Dir etwas anderes zeigen als Pfeil und Bogen, hoffentlich bleibst Du noch drei Minuten so liegen.«

Schnell kletterte er wieder in sein Boot, das er unten angebunden hatte, hing sich die Elefantenbüchse um und stieg wieder herauf.

Der Löwe lag noch in derselben faulen Stellung da, gähnte noch mehrmals und zwinkerte behaglich mit den Augen.

Sir Wilcox wusste alles, was er wissen musste. Wusste, dass seine Büchse von zölligem Kaliber jetzt mit einer Sprengkugel geladen war, mit einer kleinen Granate, die beim Aufschlagen explodierte und von dem Löwen, wo sie auch traf, nicht viel übrig gelassen hätte. Sie hätte ihn gleich in Stücke zerrissen, und das wäre schade gewesen.

Also er öffnete die Kammer, nahm das Sprenggeschoss heraus und ersetzte es aus seinem Gürtel durch eine Patrone mit Spitzkugel, natürlich ebenfalls zölliges Kaliber.

Dies alles tat er mit ruhiger Überlegung, so legte er auch an, stemmte sich möglichst fest, hielt so tief unter die Mitte der Augen, wie es bei dieser Entfernung nötig war, denn er kannte doch seine Elefantenbüchse, obgleich er in Wirklichkeit noch niemals eine in der Hand gehabt hatte.

Der Schuss donnerte. Und wie der donnerte! Hätte der Baronet seine Elefantenbüchse nicht so gut gekannt, hätte er sich nicht so fest gestemmt, er wäre doch gleich mit der ganzen Hütte zusammengebrochen, so stark war der Rückstoß dieser Handkanone.

Aber die Hauptsache war, dass sich der Riesenlöwe mit einem Ruck nur etwas in die Höhe richtete, um gleich wieder zusammenzubrechen, in seinen letzten Zuckungen sich mit einem dröhnenden Röcheln auf die Seite wälzend.

Der war tot! Sir Walter Wilcox ging jede Wette mit ein, dass er ihn mitten zwischen die Augen getroffen hatte. Er kannte doch seine Elefantenbüchse!

Jetzt stieg er ins Boot, ruderte nach dem Ufer. Wohl dachte er daran, dass noch ein zweiter Löwe in der Nähe sein könnte, das Ehegesponst, aber deswegen wollte er sich das Betreten des Landes nicht verleiden lassen. Nur dass er wieder ein Sprenggeschoss in die Kammer lud.

Während der kurzen Überfahrt konstatierte er aus dem unter Wasser abgeschnittenen Schilfe, dass die Bewohner den Pfahlbau doch vor noch gar nicht so langer Zeit verlassen haben konnten. Auch die Brandstelle auf der Steinplatte hatte noch recht frisch ausgesehen, frisch war auch das Tannenreisig gewesen.

Er zog sein Boot etwas auf das flache Ufer, ging auf den toten Löwen zu, das Gewehr entsichert unter dem Arm.

»Fremdling. die Löwin!!«, gellte da eine Stimme über ihm.

Der Baronet kam nicht dazu, nach oben zu blicken, wunderte sich auch nicht im Geringsten darüber, hier im Urwald bei Berlin vor zehntausend bis zwanzigtausend Jahren vor Christi Geburt in einer Sprache angeredet zu werden, die kein Englisch war und die er doch sofort verstand — er sah nur das braunschwarze Ungeheuer, das aus dem Dickicht heraus mit mächtigem Satze schoss und nur noch zwei Sprünge zu machen hatte, um das Menschlein zwischen seinen furchtbaren Pranken zu haben.

In diesem Augenblicke aber, da der Baronet die Büchse hochriss, noch nicht wissend, ob er sie auch noch abdrücken könnte, da stieg ihm einmal so ein dunkles Bewusstsein auf, oder sogar ein ganz klares, freilich nur blitzähnlich.

»Ich träume ja nur! Gott sei Dank, dass dies nur ein hypnotischer Traum ist! Der Deiwel auch, wenn das alles Wirklichkeit wäre, wenn mich dieses Luder jetzt —«

Da krachte sein Schuss, im zweiten Sprunge war das zottige Ungeheuer plötzlich wie verschwunden, überall lagen nur noch blutige Fleischfetzen herum.

Und in diesem selben Augenblick, da der Schuss krachte, war auch jenes dunkle oder klare Bewusstsein des Baronets wieder verschwunden, dass dies alles nur ein Traum sein könnte, er erinnerte sich gar nicht mehr daran, solch einen Gedanken gehabt zu haben.

Freilich war auch der Baronet verschwunden. Allerdings nicht so wie die Löwin und wie jener Gedanke. Sir Walter Wilcox war durch den Schuss nur auf den Rücken gefallen und reckte die Beine gen Himmel. Obgleich er seine treue Elefantenbüchse so gut kannte. Aber er hatte diesmal keine Zeit mehr gehabt, sich erst festzustemmen.

Nun, er stand einfach wieder auf, rieb sich die etwas schmerzende Schulter und griff sich in den Mund, um zu konstatieren, dass ihm zwei Backenzähne etwas gelockert waren. Man schießt eben nicht ungestraft eine nachlässig in die Schulter gestemmte Kanone los. Doch die Backenzähne würden schon wieder fest werden.

Dann sah er, dass die Löwin das ihm nicht nachmachen konnte, das Wiederaufstehen, weil am besten nur noch der Kopf von ihr erhalten geblieben, und dann blickte er nach oben in die Wipfel der Bäume. Hatte vorhin dort oben nicht jemand gerufen, ihn vor der Löwin gewarnt?

Da erschien schon dieser Jemand. Auf einer Waldblöße stand eine riesige Eiche, der Stamm wohl vier Meter im Durchmesser, nahe dem Boden befand sich ein umfangreiches Loch, und aus diesem tauchte jetzt ein Mensch auf, stürzte aber gleich so schnell davon, dass der Baronet ihn gar nicht richtig zu sehen bekommen hatte.

Doch nur das nahe Ufer war sein Ziel, dort warf er sich auf die Knie nieder, beugte den Kopf zum Wasser hinab. Er musste vom größten Durste geplagt worden sein.

Sir Walter ging ihm langsam nach. Der Mann erhob sich, blickte sich um, warf sich gleich wieder hin, das Gesicht ins Gras drückend.

»Du bist der Geist des Blitzes und des Donners, und Du bist ein guter Geist, sonst hättest Du die bösen Löwen nicht getötet — Du wirst mir nichts tun.«

So murmelte er, noch deutlich zu verstehen. Und Walter(2) wunderte sich wiederum nicht, dass er ihn überhaupt verstand. Obgleich es kein Englisch war und keine sonstige Sprache, die er kannte. Der Baronet befand sich eben in der glücklichen Lage, alles zu haben und zu wissen und zu verstehen, was er haben und wissen und verstehen musste, ohne sich darüber im Geringsten zu wundern.

(2) Im Original steht ›Oskar‹ statt (richtig) ›Walter‹.

So konnte er also auch gleich in derselben Sprache die passendste Antwort geben.

»Ja, ich bin der gute Geist des Blitzes und des Donners, nicht der böse, und ich liebe besonders Euch Seemänner und Eure Weiber und Kinder. Stehe auf — stehe auf, ich befehle es Dir!«

Der Mann erhob sich. Es war ein kleiner, unansehnlicher, magerer Mensch, aber von starkem Knochenbau, zu großen Strapazen befähigt, den jetzt leeren Hängebauch konnte er für drei Tage mit Fleisch füllen, sechs Pfund auf einmal hineinpfropfen, und dann ebenso lange wieder hungern — das faltige, bartlose Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen, mit großen, weit abstehenden Ohren, sehr großem Munde, mit etwas schiefliegenden Schlitzaugen. Er sah ganz wie ein Eskimo aus, oder er hatte auch große Ähnlichkeit mit einem Lappländer. Diese beiden sind ja auch so ziemlich ein Schlag. Um die Hüften des gelbbraunen Körpers hatte er das Fell eines jungen Wolfes geschlungen, wohl stark gefettet, um es weich zu erhalten, aber nicht gegerbt.

Ja, sehr ähnlich einem Eskimo oder Lappländer! Und das stimmte auch.

Sir Wilcox war in der Urgeschichte der Menschheit überhaupt bewandert und hatte sich vor dem Beginn des Experimentes, das ihn auf die »Astralebene« versetzen sollte, noch besonders über so etwas orientieren müssen.

Lappländer sind es gewesen, die nach der letzten Eiszeit zusammen mit dem Ren in ganz Europa hausten, mindestens bis zu den Alpen. Das ist mit Sicherheit zu beweisen, aus Knochenfunden, besonders aus den Schädelformen.

Bis sie von den aus Asien kommenden Kelten, den ersten Indogermanen, nach Norden verdrängt wurden, höher und immer höher hinauf, bis nach dem Norden Skandinaviens, wo diese ersten Bewohner Europas — wenn da nicht schon eine andere Menschenperiode vorausgegangen ist, von der wir aber nichts mehr wissen, von der nur die Okkultisten etwas träumen, von den Atlantiern — wo sie also heute noch mit ihren Rens und Wölfen als Lappländer wohnen.

Die schwarzhaarigen, aber schon weißhäutigen Kelten brachten bereits etwas Bronze mit, bedienten sich aber in der Hauptsache doch noch an Waffen und Gerätschaften aus Stein. Ihre Herrschaft in Europa bildet daher die sogenannte zweite Steinzeit, den Übergang zur ersten Bronzezeit. Solche Übergänge dauerten ja immer Tausende von Jahren.

Dann kam, wahrscheinlich aus den Tälern des Kaukasus, der große Schub der blondhaarigen Germanen. Die warfen mit ihren Bronzeschwertern die kleinen Kelten immer weiter nach Westen, zuletzt nach England hinüber, wo sie ausgestorben sind bis auf einen kleinen Rest. In der Grafschaft Wales leben noch echte Kelten. Das sieht man gleich ihren Gesichtern an, es ist ein ganz fremder Typus in diesem Lande. Und nun das Merkwürdigste: Diese Waliser lieben noch heute mächtigen Messingschmuck, stellen ihn sich selber her, wie man solchen noch heute in uralten Keltengräbern findet; und ferner schälen die walisischen Frauen noch heute die Kartoffeln mit Messern aus Feuerstein, weil der Kartoffelsaft den Stahl weich macht, sagen sie. Das stimmt. Aber das tut die Kartoffel anderswo auch.

Nein, diesen Walisern liegt ihre Liebhaberei für Bronze und Steinmesser noch im Blute! — —

»Bist Du dort von den Pfahlhütten?«, fragte der Baronet weiter.

Denn er war in diesem Zustande nicht etwa allwissend geworden, was ja auch gar keinen Spaß gemacht hätte, und brauchte es auch für diesen Menschen nicht als »Geist« zu sein.

»Ja, Herr.«

»Wo sind Deine Brüder und Schwestern?«

»Wir haben gestern früh unser Dorf mit allem verlassen.«

»Weshalb?«

»Weil die beiden Löwen uns am Ufer immer auflauerten, sodass wir nicht mehr auf die Fleischjagd gehen und auch kein Brennholz mehr holen konnten.«

Das also hatte Sir Wilcox schon vorher gewusst. Aber nicht aus Allwissenheit, sondern durch Überlegung, durch Logik.

»Wie lange haben Euch die Löwen vom Lande ferngehalten?«

»Sechsmal ist die Sonne schon aufgegangen, seitdem sie Menschenfresser geworden sind.«

»Die Löwen waren schon früher da?«

»Ein Löwenpaar herrscht überall.«

»Aber sie greifen sonst für gewöhnlich keinen Menschen an?«

»Niemals, so lange sie nicht gereizt werden. Den Menschen aber, der nach ihnen schießt, den fressen sie, und haben sie das einmal getan, dann fressen sie nur noch Tiere, um sich satt geduldig auf die Lauer zu legen, bis sie einen anderen Menschen erbeuten können, und das tun sie dann immer.«

Die alte Geschichte, dass jedes größere Raubtier Menschenfleisch aller anderen Nahrung vorzieht, sobald es einmal davon gekostet hat. Vorher aber, so lange es nicht einmal dazu gezwungen wurde, greift kein Löwe und kein Tiger und nicht einmal der Panther, das blutdürstigste Raubtier, einen Menschen an, es geht ihm immer aus dem Wege.

»Wie sind die beiden Löwen zu Menschenfressern geworden?«

Plötzlich geriet der kleine Mann in die heftigste Wut, spuckte aus, schüttelte die geballten Fäuste, knirschte mit den Zähnen, trampelte auf seinen sehr großen Füßen mit weitabstehenden Zehen herum — ganz wie ein Affe, der über jede Kleinigkeit in die größte Wut gerät, man weiß gar nicht warum.

»Wenn Du Dich ausgespuckt und ausgetobt hast, dann berichte mir.«

Der Mann war nicht sobald damit fertig.

»Sei still, ich befehle es Dir!«, versuchte es der Baronet jetzt in einem anderen Tone. »Wer hat die beiden Löwen zu Menschenfressern gemacht, sprich!«

Der Befehl wirkte, ebenso schnell, wie sie gekommen, war die Wut wieder verraucht, der Mann erzählte.

Vor acht Tagen war ein »anderer Mensch«, das heißt von einem anderen Stamme, der dort gen Mitternacht hauste, hierher gekommen, um mit Geschenken Friedensversicherungen zu bringen, in Wirklichkeit aber, um auszuspionieren und den ehemaligen Feinden den niederträchtigsten Streich zu spielen, der für diese Naturmenschen möglich war.

Auf dem Rückweg hatte er auf die Löwin, der noch dieses Gebiet hier gehörte, mit Pfeilen geschossen und war schnell auf einen Baum gestiegen. Er wusste, dass die Löwin Junge hatte, hoffte, dass ihr Gebrüll den Gatten erreiche. Dann wäre sie nach einiger Zeit wieder davongegangen, um die Jungen zu säugen, der hinterlistige Jäger wäre entschlüpft, die Wut der Löwen hätte sich auch nachträglich gegen andere Menschen, gegen die Seemänner gerichtet.

Aber der Plan misslang, der männliche Löwe hörte das Brüllen der Gattin, kam, und da war der Mann auf dem Baume geliefert. Dieses Raubtier konnte Durst und Hunger länger ertragen als ein Mensch, und überhaupt lösten sich die beiden Löwen gegenseitig ab, bis ihr Opfer nach zwei Tagen vor Erschöpfung vom Baume stürzte.

Sie fraßen den Mann, von nun an waren es Menschenfresser, die jeden menschlichen Aufenthalt in ihrem meilenweiten Reviere unmöglich machten.

»Wo ist Dein Volk hin?«

»Wir bauen uns drüben am anderen Ufer neue Wasserhütten.«

»Sind dort keine Löwen?«

»Ein Löwenpaar ist überall, aber es sind keine Menschenfresser.«

»Warum lasst Ihr hier Eure Hütten stehen?«

»Es ist viel schwerer, die Pfähle wieder herauszuziehen, als neue zu machen und einzurammen.«

»Jetzt sind aber die beiden Menschenfresser tot.«

»Ja, Herr, erlaube mir, dass ich davonlaufe und meine Brüder und Schwestern zurückhole, ehe sie mühsam die dicken Bäume abschneiden.«

»Halt! Nun kannst Du auch noch etwas warten. Wie kamst Du denn in den hohlen Baum hinein?«

»Das ist unsere Winterwohnung. Ich wollte gestern früh noch etwas herausholen, glaubte die beiden Löwen einmal fort, was ja manchmal vorkommt, und es sind doch nur ein paar Sprünge. Hinein kam ich, aber nicht wieder heraus. Die Löwin war schon wieder da, und seitdem haben sie auf mich gelauert.«

»Und Deine Brüder haben Dich einfach im Stich gelassen?«

»Was sollten sie denn tun, um mich zu retten? Ja, wenn es ein Bär gewesen wäre!«

»Dem wären sie zu Leibe gerückt?«

»Sie hätten ihn von dem Loche weggelockt, dass ich entwischen konnte.«

Auch nicht gerade heldenhaft. Aber hier waren eben die großen Raubtiere noch die Beherrscher der Erde.

»Ein Löwe lässt sich nicht weglocken?«

»Wohl, aber erreicht er in wenigen Sprüngen sein Opfer nicht, kehrt er sofort zurück.«

»Und der Bär?«

»Wenn er schon ein Menschenfresser ist oder wenn man ihn erst gereizt hat, so läuft er dem Menschen so lange nach, bis dieser auf einen Baum klettert.«

»Und dann?«

»Dann legt sich der Bär darunter und wartet, bis der Mensch herunterfällt. Wird aber der Bär selbst zu hungrig und durstig, so geht er davon und kommt nicht wieder.«

»So, das ist also der Unterschied zwischen den beiden Menschenfressern. Was ist das gefährlichste Tier, das ihr am meisten fürchtet?«

»Der Ur und der Wisent«, war die sofortige Antwort. »Die greifen den Menschen ganz ungereizt an, und ist das Wasser sehr flach, so watet er hinein und rennt mit dem Kopfe gegen die Pfähle, nur aus Bosheit, dass die Hütten einstürzen. Dem Ur geht auch der Löwe aus dem Wege, zumal wenn er Junge hat, Kälber führt. Ab er der Ur ist dumm wie der Wisent. Man springt hinter einen starken Baum, der Stier rennt mit dem Kopf dagegen, steht betäubt da und geht dann weiter.«

»So, nun weiß ich vorläufig genug. Nun lauf.«

Der Baronet ging nach der großen Eiche, kroch durch das Loch hinein. Der Stamm war ganz hohl, bis oben hinauf. Überall waren Löcher gebohrt, wenn auch nur so tief, dass Stangen hüben und drüben festen Halt hatten. Immer einige Stangen bildeten zusammen eine Art von Brett, mit einem Fell bedeckt — das aber jetzt fehlte — als Lager dienend. Diese Lagergestelle zogen sich also etagenweise dicht übereinander von unten bis oben hin. Unten wurde auf einer Steinplatte ein tüchtiges Feuer gemacht, hier war das ganze Bauminnere schon angekohlt, was aber nichts zu sagten hatte, die Rinde war noch immer einen halben Meter dick, die warme Luft zog nach oben — so ließen sich diese Urmenschen dicht zusammengedrängt den ganzen langen, langen Winter räuchern, sicher mit acht Monaten Schnee, die Männer diese Wohnung nur verlassend, wenn das ganze Volk vom Hunger geplagt wurde, um Fleisch herbeizuschaffen, wozu sie nie weit zu gehen brauchten.

Das Fleisch wurde geröstet und verschlungen, bis der Magen zu platzen drohte, worauf man zwei bis vier Tage wieder schlafen konnte. Obgleich sie sich selbst räucherten, verstanden sie doch kein Fleisch zu räuchern. Sie konnten es vielleicht gefrieren lassen, aber das konnte nur draußen geschehen, draußen musste es auch liegen bleiben, und dort holten es Wölfe und Hyänen weg, von den Bäumen der Luchs und vor allen Dingen der Kolkrabe.

Im Sommer ging es dann hinaus in die luftigen und wohl auch lustigen Pfahlbauhütten. Die Fischkost war eine angenehme Abwechslung, bis der Fleischhunger wiederkehrte. Dazu Waldbeeren in reichlichster Fülle, auch gleich roh gegessen, wie man es heute noch im Bayrischen Wald hält, und schließlich als vegetabilische Kost, unserem Brote entsprechend, die sehr nahrhaften, weil stärkemehlhaltigen Baumflechten, die zerrieben und mit Fett gemischt zwischen heißen Steinen gebacken wurden, wie gesagt das erste Brot. Während des kurzen Sommers wurden auch die Winterkleider, Waffen und sonstigen Gegenstände gefertigt. — —

Woher wir so genau wissen wollen, wie diese Urmenschen nach der Eiszeit gelebt haben? Das sind keine Phantasien, sondern streng logische, lückenlose Folgerungen aus dem Leben von noch jetzt existierenden, auf der tiefsten Stufe stehenden Völkerschaften — Eskimos, Lappländer, Buschmänner, Australneger, Feuerländer usw. —

Dann betrachtete der Baronet mit ehrfürchtigem Staunen den toten Löwen, den männlichen, der die Spitzkugel richtig mitten zwischen die Augen bekommen hatte.

Diese ungeheueren Pranken, diese fürchterlichen Reißzähne! Das Fell oder vielmehr der Pelz musste einen ganzen Teppich für ein großes Zimmer geben.

Sir Wilcox wollte das Tier abhäuten und das Fell mitnehmen — wohin eigentlich, darüber gab er sich jetzt keine Rechenschaft — wollte dieses Geschäft aber doch lieber den eingeborenen Jägern überlassen, der schwere Körper musste dabei mit vereinten Kräften hin und her gewendet werden.

Die Löwin sollte Junge haben? Diese gedachte er durch Verfolgung der Spur ihrer Mutter aufzusuchen.

Aber als sich der Baronet umdrehte, dachte er nicht mehr daran. Er erstarrte vor Schreck.

Hinter ihm oder jetzt vor ihm stand ein ungeheuerer Elefant, mit einem rotbraunen Pelz bedeckt, mit drei Meter langen Zähnen, die man nicht mehr als Stoßzähne bezeichnen konnte, weil sie gar zu sehr nach oben gekrümmt waren — ein Mammut!

Den Rüssel hoch erhoben, den Rachen halb geöffnet, so blickte der Riese der Urwelt auf das zweibeinige Mäuslein herab. Vollständig lautlos war das Ungetüm herangekommen, so lautlos wie jeder Elefant, der, wenn er will, unter seinen kolossalen und doch so elastischen Füßen nicht das kleinste und trockenste Ästchen knacken lässt.

Sir Walter Wilcox sah sein letztes Stündlein gekommen, wenn es diesem Herrn der Schöpfung beliebte. Hier war gar nichts mehr zu machen. Ein Tritt oder ein Rüsselschlag, und das zweibeinige Mäuslein war zu Brei zerquetscht.

Da aber warf sich der rotbepelzte Elefantenriese mit jener wunderbar leichten Eleganz, über die man bei scheinbar so plumpen Elefanten immer wieder staunen muss, auf den Hinterfüßen herum und trabte davon, mit einer Wucht auftretend, dass alles krachte und zitterte. Er hatte sich das fremde Menschlein nur einmal in der Nähe ansehen wollen.

Schnell hatte sich der Baronet wieder gefasst, und jetzt beschloss er, dem Mammut zu folgen, um es zu beobachten. So nahe freilich ließ er es nicht wieder an sich herankommen, da machte er doch lieber Gebrauch von einer Sprengkugel.

Ein meterhohes Kieferbäumchen hatte das Interesse des Mammuts gefesselt. Das Ungetüm riss es mit seinem Rüssel wie ein Grashälmchen heraus, schlug es mit den Wurzeln auf den Boden und auch gegen dicke Bäume, um die noch an den Wurzeln haftende Erde abzuklopfen, dann verschwand das Christbäumchen im Rachen, einige malmende Bewegungen, und es wanderte in den Magen.

Solchen jungen Bäumchen galt der Spaziergang des Riesen. Er war der Förster des Urwaldes, allerdings nicht für neue Aufzucht sorgend, sondern gerade fürs Gegenteil und eben dadurch so nützlich werdend: dass sich die Bäume nicht gegenseitig erstickten.

Zum ersten Male drang der Baronet in den Urwald ein. Und da erlebte er das Wunder, dass er gleich auf eine Landstraße stieß.

Ja, das konnte doch nichts anderes sein als eine künstlich angelegte Landstraße, die sich fast schnurgerade durch den Wald zog! Allerdings war ja auch sie mit Kiefernadeln dicht bedeckt, aber das konnte ja in diesem Walde nicht anders sein, und hier waren die Nadeln festgestampft, außerdem gestürzte Baumstämme und Äste beseitigt, diese bildeten an den Rändern manchmal einen künstlichen Wall.

Kurz und gut, es war eine zielbewusst angelegte und ausgeführte Straße, die in Ordnung gehalten wurde.

Von wem? Da kamen sie schon anmarschiert, die Straßenbaumeister und Chausseewärter: ein Rhinozerosehepaar mit seinem halbwüchsigen Kinde!

Beide, der Elefant und das Nashorn, sind ständig auf Wanderung. Während aber die Elefanten, obgleich sie meist in großen Herden wandern, planlos durch die Wälder und Steppen ziehen, geht das Rhinozeros, nur paarweise lebend, immer ein und denselben Weg zwischen zwei Tränkplätzen hin und her. Während der Elefant grünes, saftiges Futter liebt, kann sein behornter Vetter es nicht trocken genug bekommen, liebt besonders auch Wurzeln. Mit seinem Horne wühlt das Rhinozeros — und schon dieses Wühlen ist sein größtes Vergnügen, das Angenehme wird mit dem Nützlichen verbunden — so lange in der Umgebung eines Baumes, bis es alle Wurzeln freigelegt, sie gefressen hat. Der Baum stirbt ab oder kann schon vorher umgestoßen werden, er wird zur Seite gewälzt, und wieder ist der Weg verbessert. Auch herabgefallene Äste und Zweige duldet das Nashorn nicht auf seiner Straße, es schleudert sie beiseite, frisst sie aber auf dem Rückweg oder später — wenn sie für seinen Geschmack genügend ausgetrocknet sind.

Allerdings weidet das Rhinozeros auch gern Felder ab, aber nur, wenn die Früchte schon reif sind, das Stroh gelb und dürr ist, während der Elefant die grüne, aufsprossende Saat liebt. Sonst ist das Rhinozeros so ordnungsliebend, dass es sogar seine Losung nur auf einem bestimmten Platze absetzt, in der Nähe eines Gewässers — nämlich um sich nach dem Bade in der pulverisierten Losung zu wälzen, so sich einen Schutz gegen die Stechfliegen verschaffend. Denn das Rhinozeros kann sich nicht wie der Elefant mit seiner langen Nase so tief in den Schlamm wagen.

Das Rhinozeros ist wie der Elefant ein ganz harmloses Tier, wenn es der Mensch nicht zum Teufel gemacht hat. Und dass es die Felder abweidet, ist ja freilich nicht hübsch, das hält es aber eben für sein gutes Recht. Sonst aber kümmert es sich gar nicht um den Menschen. Warum auch? Das weiß man auf Java, wo das »Warra« schon seit langer Zeit geschont wird. Nur auf seiner Straße duldet es kein anderes Geschöpf. Aber es genügt, bei seinem drohenden Schnauben schnell beiseite zu springen, dann setzt es ruhig seinen Weg fort.

So ist es heute, so ist es sicher schon vor Zehntausenden von Jahren gewesen, wenn diese Tiere damals auch viel größer gewesen sind, ein meterlanges Horn auf der Nase hatten und sich in einen Pelz hüllten, der durch vieltausendjährige Akklimatisation während der Eiszeit entstanden war.

Sir Walter Wilcox wusste dies alles nicht nur aus Büchern, sondern er hatte selbst in Afrika Nashörner gejagt und war auf Java ihnen ausgewichen.

So sprang er auch hier schnell zur Seite, und das drohende Schnauben verstummte, die schon zum Vorgehen gesenkten furchtbaren Hörner wurden wieder aufgerichtet. Freilich hatte der Baronet dafür gesorgt, dass er neben einer dicken Fichte stand, deren am ganzen Stamme abgebrochene Äste einen schnellen Aufstieg gestatteten. Denn vertrauenerweckend sahen diese bepelzten Ungeheuer nicht gerade aus, noch weniger als das Mammut.

Auch dieses hatte sich schleunigst aus dem Staube gemacht. Seine ihm von der Natur verliehene Waffe, der Stoßzahn, war schon längst unbrauchbar geworden, von Geburt an, dadurch, dass es jetzt nicht mehr wie früher seine Urahnen, als hier noch tropischer Urwald herrschte, sich beständig einen Weg bahnen musste, immer gestürzte Baumstämme zur Seite schiebend. In diesen Kiefernwäldern war das nicht mehr nötig, und da hatte sich der unbenutzte Stoßzahn immer mehr nach oben gekrümmt — im Laufe der Jahrtausende.

Die behornten Ungeheuer waren vorüber. Dann hatte der Baronet einen seltsamen, aber auch sehr unerfreulichen Anblick. Zwei Edelhirsche verfolgten ein Ren, hatten es schnell eingeholt, eben weil das »Renntier« nicht so schnell rennen konnte, stießen es nieder, zerfleischten es mit den Geweihen, stampften auf der blutigen, formlosen Masse herum, und diese beiden jungen Hirsche waren nur die Vorläufer des ganzen Rudels gewesen, dieses kam an und half mit, die Wut an dem zerstampften Ren noch nachträglich auszulassen.

Da brauste eine riesige Herde von Rens heran, viele Hunderte, und vor diesen ergriffen nun wieder die wenigen Hirsche die Flucht, die ihnen nun freilich leichter gelang. Sonst wäre es ihnen durch die Rens ebenso gegangen, sie wären zerfleischt und zerstampft worden. Aber Hirsche würden die zusammenhaltenden Rens so lange auseinander zu sprengen versuchen, bis sie auch das letzte niedergemacht hatten — wenn die Rens nicht vorzogen, dorthin auszuwandern, wo es den Hirschen wegen der gar zu kalten Winter nicht mehr behagte — oder wenn ihnen der Mensch als personifiziertes Schicksal nicht schneller dabei half — derselbe Mensch, der dann auch ihnen wieder, den Hirschen, das Ende bereitete.

Rassenhass! Der Kampf um die Existenz, um die Herrschaft über die Erde! Schicksalsbestimmung!

Hier weidete einst der indische Muntjak, zwischen tropischer Blumenpracht bunt gescheckt wie der Axishirsch. Da kamen mit den vorrückenden Gletschern von Norden her die Rens, und der Muntjak, der ihnen nicht wich, wurde zerstampft. Die Eiszeit verstrich, in das gemäßigt werdende Klima rückten von Osten her unsere heutigen Edel- und Damhirsche, und gingen die Rens nicht freiwillig nach ihrem Norden zurück, so wurden auch sie zerstampft.

Unabhängig von diesem Wechsel waren nur diejenigen Tiere, die hier wirklich einheimisch waren und sich zu akklimatisieren verstanden: der Elch, der Schelch, der Ur, der Wisent, der Elefant, das Nashorn. Die sind der Beutelust des Menschen zum Opfer gefallen, seinen immer mehr sich vervollkommnenden Waffen. Sonst könnten die heute noch hier leben. So wie heute noch das afrikanische Dromedar als asiatisches Trampeltier die bitterste Kälte wie die größte Hitze wohlgemut verträgt.

Noch vieles andere sah der Baronet: eine schleichende Hyäne, nur immer dunkel gefärbt, der Umgebung sich anpassend; Luchse und Vielfraße; und dann sah er zwischen den Bäumen auf einer weiten Lichtung, auf der Gras gedieh, eine große Herde von Pferden, struppige Ponys, ganz unseren heutigen Shetlandponys gleichend, die doch auch wieder eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem afrikanischen Zebra haben, nur dass sie nicht so bunt sind. Und die Shetlandponys leben noch heute auf ihren unwirtlichen Inseln hoch im Norden immer im Freien, sind überhaupt ganz wild, wenn sie auch Besitzer haben.

Mit dem Urpferd, das einst hier gehaust, hatte dieses Pony aber schon nichts mehr zu tun, das war bereits ausgestorben, war der Kälte der Eiszeit erlegen. Dieses Pony hier kam als Tarpan oder Gulan aus den asiatischen Steppen.

»Da fange ich mir eines und reite es zu«, sagte sich der Baronet.

Erst aber trat er den Rückweg nach dem Pfahlbau an. Dort war unterdessen das ganz Seevolk wieder eingetroffen, gegen fünfzig Männer, Frauen und Kinder. Der Fremde wurde erst scheu betrachtet, sehr bald wurden sie vertraulich, es war ja ein guter Geist — ja, sie wurden sogar gleich unverschämt.

Sie hatten sofort den toten Löwen abgezogen, das Fell einfach als ihr Eigentum betrachtend, jetzt machten sie dem »guten Geiste« sogar Vorwürfe, dass er mit seinem zweiten Blitze den anderen Löwen gleich so zerschmettert, das schöne Fell in Stücke zerrissen habe — ganz dem Lappländer entsprechend, der seinen hölzernen Fetisch, seinen Götzen, liebkost, solange alles gut geht, sonst aber ihm Vorwürfe macht, ihn ohrfeigt und gegen die Wand wirft. Letzteres hätte sich der Baronet nun freilich nicht gefallen lassen.

Er besah sich die Boote, durch Feuer ausgehöhlte Baumstämme, äußerst roh gearbeitet, Einbaum genannt. Mehr noch interessierte er sich für die Waffen und Werkzeuge, Hämmer, Beile, Messer, Meißel, Lanzenspitzen und dergleichen, alles aus Feuerstein, ganz roh zugehauen, zum Unterschied von jenen Feuersteinsachen, die man zum Beispiel in den Schweizer Pfahlbauten gefunden hat, die geebnet, geschliffen und sogar poliert sind. Die stammen eben schon aus der jüngeren Steinzeit, in der sich der Mensch auch schon den Wolf als Hund dienstbar gemacht hatte — nach Schopenhauer eine der höchsten Errungenschaften der Menschheit.

Der Baronet hatte sich schon über die als Feuerherde dienenden Granitplatten gewundert. Denn so viel kannte er die geologische Beschaffenheit der Umgebung, die sich in den Jahrtausenden doch nicht geändert hat, und er hatte sich doch vorher orientiert, um zu wissen, dass es hier keinen Granit gibt.

»Wo bekommt ihr diese Platten und die Feuersteine her?«, fragte er seinen Freund, der sich Ullo nannte.

»Von den Baummenschen.«

»Wo wohnen die?«

Ullo deutete nach Nordosten. »Dort in den Bergen.«

»Weit von hier?«

»Gar nicht weit. Wir fahren gleich hin.«

Dann konnte es sich nur um die Rüdersdorfer Kalkberge handeln — Berlins »Gebirge«.

»Dort werden solche Granitplatten und Feuersteine gefunden?«

»In großen Blöcken und mächtigen Schutthaufen.«

Aha! Erratische Blöcke und Geschiebe, vielleicht von Skandinavien auf Eisschollen bis hierher geschwommen, als hier noch das Meer flutete, die Rüdersdorfer Kalkberge — Hügel — waren in dieser Ebene die höchste Erhebung, hier stauten sich die Schollen, zerbrachen oder blieben eben Jahrtausende liegen, bis die wärmeren Sommer kamen, bis sie schmolzen, und die Steine und das Geschiebe sanken auf den Boden — skandinavischer Basalt, Granit und Feuerstein.

»Aber die Feuersteine sind dort wohl recht selten?«

»Selten? Alles wimmelt davon.«

»Ja, warum holt Ihr Euch nicht mehr davon und spaltet sie? Ich sehe doch so wenig Waffen.«

»Holen?«, fragte Ullo verwundert.

Dem kam diese Frage des »guten Geistes« sicher so vor, als wenn bei uns jemand glaubt, man könne sich alles, was man braucht, einfach aus dem Laden »holen«, also ohne Bezahlung, weil's ja dort in Menge liegt.

»Die Steine gehören doch den Bergmenschen, wir müssen sie ihnen natürlich abkaufen.«

»Ach so! Also auch hier ist schon das Schachern zu Hause! Was müsst Ihr dafür bezahlen?«

Felle. Ach, da mussten sie gar viele, viele Rens, Hirsche, Rehe, Luchse und Vielfraße erlegen und abhäuten, ehe sie einen faustgroßen Feuerstein dafür bekamen! Die Felle waren hier so billig, viel, viel billiger als bei uns die alten abgelegten Stiefelsohlen, waren überhaupt ganz wertlos. Und wenn sie nun für hundert der schönsten Felle, deren Inhalt sie im Laufe eines Jahres verzehrt hatten — extra gejagt deswegen wurde nicht, das lohnte sich gar nicht, man konnte dabei mehr Pfeile mit Feuersteinspitzen verlieren als man dann dafür wiederbekam — solch eine faustgroße Feuersteinknolle erhielten, dann war es so schwer, diese so zu spalten, dass man auch wirklich eine Lanzenspitze herausbekam! Man verspaltete sich so leicht. So kaufte man von den Bergmenschen lieber gleich fertige Waffen, die verstanden diese Spalterei des Feuersteins, damals die höchste Kunst, die sie sich natürlich auch wieder entsprechend bezahlen ließen.

Das erste Handwerk, professionell betrieben! Die erste Arbeitsteilung! Die erste Zunft! Der erste Anfang zum Fabrikbetrieb!

Dieses ganze Volk hier besaß zwei Feuersteinbeile, das waren heilige Erbstücke. Zehn und noch mehr der schönsten Felle von Höhlenbären hatte jedes gekostet, und selten wurde einmal solch ein Ungetüm erlegt, was immer einige Menschenleben kostete.

»Was machen die Bergmenschen mit den Fellen und Pelzen?«

»Die verkaufen sie wieder.«

»An wen?«

»An die Aris.«

»Wo wohnen die?«

Weit, weit gen Sonnenaufgang. Das war überhaupt etwas ganz Sagenhaftes.

Jedes Jahr machten die Bergmenschen, die hier die Rolle der Kaufleute spielten, zwei große Expeditionen nach dem fernen Osten. Im Sommer eine zu Wasser mit vollbeladenen Booten, und im Winter genau denselben Weg per Schlitten auf dem Eise des Flusses. Mit den sagenhaften Aris aber handelten sie nicht direkt, da kamen erst noch viele andere Zwischenhändler.

»Sind die Aris schon hier gewesen?«

»Noch kein einziger.«

»Kommen andere Handelskarawanen hierher, um die Pelze abzuholen?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Die Salzmenschen fürchten sich vor den vielen Raubtieren.«

»Wer ist das, die Salzmenschen?«

»Mit denen die Bergmenschen handeln. Weiter kommen auch diese nicht.«

Wo diese Salzmenschen wohnten, das wusste Ullo nicht und kein anderer dieser Seemenschen, das war schon das tiefste Geschäftsgeheimnis der Bergmenschen.

Der Baronet ahnte aber schon, dass es gar nicht so weit sein könnte.

»Gibt es dort, wo die Salzmenschen wohnen, keine Rens und Hirsche und Raubtiere mehr?«

»O, die gibt es doch überall, so gut wie Mücken und Fliegen. Nur nicht so furchtbar viele wie hier, und der schreckliche Löwe und der große Bär ist wohl auch sehr selten, dass man ihr Brüllen nicht fortwährend hört. Außerdem sind die Salzmenschen viel zu feig, als dass sie Löwen und Bären jagen würden.«

Der Hauptgrund war wohl der, dass diese Salzmenschen es bequemer und vorteilhafter fanden, schon abgezogene Felle und Pelze einzutauschen als die Tier selbst zu erlegen, wie es ja auch schon die Bergmenschen machten.

»Was bekommen die Bergmenschen von den Salzmenschen für die Pelze?«

»Nun, eben Salz. O, die Bergmenschen sind durch ihren Handel reich geworden — reich, sage ich Dir, reich!! — Die können jeden Tag Salz essen!«

Salz! Das große Wort war ausgesprochen.

Über die Bedeutung des Kochsalzes, welches im Innern Afrikas noch heute mit Gold aufgewogen wird, könnte man dicke Bücher schreiben. Nur ein einziges Beispiel von dieser Bedeutung: Es ist historisch nachzuweisen, dass noch kein Volk, das sich sein Kochsalz nicht selbst herstellen konnte, eine nationale Selbstständigkeit erreicht hat. Zum Beispiel Finnland nicht. Die Größe eines Volkes und noch mehr seine Kultur geht mit seiner Salzgewinnung und noch mehr mit seinem Salzhandel ganz genau gleichen Schritt. Je mehr das Salz versteuert wird, desto geknechteter ist das Volk. Und so weiter und so weiter. Am Salz erkennt man alles, alles. Von dieser Bedeutung des Salzes spricht auch sehr oft die Bibel. »Ihr seid das Salz der Erde — —«

»Könnt Ihr Euch denn kein Salz eintauschen?«

Ja, gegen dieses Löwenfell hofften sie einige Hände voll zu bekommen. Ha, und dann sollte ein Göttermahl gehalten werden! Fleisch und Fische mit Salz! Kann es etwas Herrlicheres geben?

»Hättest Du nur mit Deinem zweiten Blitz die Löwin nicht gleich so zerrissen! Da hätten wir noch einmal so viel Salz bekommen. Mit diesen Fetzen ist doch gar nichts anzufangen. Es ist zu dumm von Dir gewesen!«

Das musste sich der gute Geist nun sagen lassen! Aber es war seine eigene Schuld, warum war's ein guter. Einem bösen Geiste so etwas zu sagen, davor hätte man sich gehütet.

»Ich bitte um Entschuldigung, es soll nicht wieder vorkommen. Ich werde Euch noch viel mehr Löwen schießen und werde womöglich kein Löchelchen in ihren Pelz machen.«

Na, dann wollte man dem guten Geiste noch einmal verzeihen.

Doch auch von den zerfetzten Körperteilen der Löwin hatten die Männer und Frauen sorgfältig das Fell abgelöst, vielleicht gaben ihnen die Bergmenschen doch etwas Salz dafür oder wenigstens einige Pfeilspitzen aus Feuerstein, die nur verschossen wurden, wenn man ganz bestimmt wusste, dass der Pfeil nicht verloren gehen konnte, oder bei der Jagd auf den Bären, das heißt, wenn man von diesem auf einem Baume gestellt worden war. Ein Glück nur, dass dieses Ungeheuer nicht klettern konnte, so wenig wie heute der amerikanische Grizzlybär, was die Indianer seine einzige Tugend nennen.

Dann brachten einige Männer die wolligen Felle von zwei ganz jungen Löwen, so groß wie die Möpse. Man hatte das Lager der Alten jetzt aufgespürt und die Jungen getötet, worauf nur noch gewartet worden war.

Die Felle, die sich in letzter Zeit angesammelt hatten, wurden auf den Kähnen verpackt, aber das des männlichen Löwen war so schwer und so ein plumper Einbaum konnte so wenig tragen, schon wegen seiner eigenen Schwere, dass ihrer drei zusammengebunden werden mussten.


Illustration

Sir Wilcox schloss sich den Abfahrenden in seinem eigenen Boote an, das man als ein unverständliches Wunder des Himmels betrachtete, so unverständlich wie Blitz und Donner, den der Fremde ja ebenfalls in seiner Hand hatte.

»Die Bergmenschen haben auch viel bessere Einbäume als wir, wenn auch nicht so schön wie Dein Boot!«, sagte Ullo zu dem neben ihm fahrenden Baronet hinüber.

»Wo bekommen sie diese her?«

»Die machen sie sich selber.«

»Warum könnt Ihr Euch nicht so gute Einbäume machen?«

»Weil sie viel bessere Werkzeuge haben. Diese aber machen sie sich nicht selbst, die bekommen sie von den Salzmenschen. Deren Äxte und Messer sind ebenfalls aus Feuerstein, die aber ganz glatt sind und scharf — so scharf, Du machst Dir gar keinen Begriff davon!«

Glatt und scharf? Also geschliffen?

Und der belesene Baronet sah schon jene Periode hier angerückt kommen, welche unsere Gelehrten als die jüngere Steinzeit bezeichnen, da man lernte, die erst behauenen Steinsachen mit Wasser auf anderen Steinen zu schleifen.

Doch eine ganz einfache Sache, einen Stein auf dem anderen zu schleifen, nicht wahr? Kann man da wirklich von einer sensationellen Erfindung sprechen, welche unter der Menschheit eine ganz neue Periode hervorrief?

Nun, wir wollen uns nur erinnern, dass auch die Griechen und Römer, welche in der Kunst der Steinbearbeitung doch die höchste Stufe erreicht hatten, auch das Schneiden von Gemmen — Diamanten — sehr liebten, diese aber doch nicht zu schleifen verstanden.

Ullo erzählte seinem göttlichen Freunde noch viel von den Bergmenschen und besonders von ihrem Häuptling Kalala, der ein ganz mächtiger Zauberer war. Doch den und alles andere sollte der Baronet noch persönlich kennen lernen.

Als sie durch den Dämeritz-See fuhren, sah er am Ufer eine ungeheuere Herde Mammuts, schätzte sie auf viele Hunderte, und Ullo erklärte, dass es noch viel, viel größere Herden gebe. Ebenso zahllose Nashörner, die aber nur familienweise gingen.

»Jagt Ihr diese Mammuts nicht?«

»Nein, wozu denn?«

»Nun, wegen des Fleisches und wegen der Stoßzähne.«

Wegen der Zähne? Was sollte man denn mit diesem weißen oder gelben Zeuge anfangen? Das konnte man doch nicht einmal zu Pfeilspitzen und zu gar nichts verwenden, das war doch viel zu weich.

Glückliche Tiere!

Und wegen des Fleisches?

Fleisch gab es hier doch genug, viel leichter zu erbeuten.

»Wie sollen wir denn überhaupt so ein ungeheures Tier töten?«

»Es erst in Fallgruben fangen.«

»In Fallgruben? Was ist das?«

Der Baronet war kein solcher Jäger, der jedes Tier, das ihm über den Weg läuft, niederknallen muss, wenn es nur die Polizei erlaubt — er bereute schon, nur eine Andeutung gemacht zu haben. Diese Naturmenschen hätten doch vielleicht Geschmack an Mammutfleisch finden können, und dann — es waren eben Menschen.

Ullo fragte auch nicht weiter wegen der Fallgruben.

»Nein«, setzte er dagegen noch hinzu, »wir sind froh, dass die Mammuts so gute Tiere sind, dass sie uns Menschen nichts tun. Was wollten wir denn machen, wenn das böse Tiere wären? Sie waten in das Wasser, wir könnten für unsere Pfahlbauten die Stellen nicht tief genug wählen — und auch das hälfe nichts, das Mammut kann so gut schwimmen — also es schwämme heran und höbe mit seinem Rüssel die Pfähle einfach aus dem Grund, dass unsere Hütten zusammenbrechen müssten. Was sollten wir dagegen tun? Nein, wir werden uns hüten, das Mammut, das ebenso klug wie edel ist, zu beleidigen.«

Glückliche Tiere!

Von dieser ihrer Klugheit und ihrem Edelmut sollte der Baronet alsbald einen Beweis bekommen, den aber auch noch heute jede afrikanische Elefantenherde, die man nicht reizt und die den Menschen noch nicht als das größte, niederträchtigste Raubtier der Erde kennen gelernt hat, liefert.

Eben schickte sich die ganze Mammutherde an, ins Wasser zu gehen, um ein Bad zu nehmen. Einige waren schon weit drin im See. Da sahen sie die Boote kommen. Sofort trat ein Stillstand in der allgemeinen Bewegung ein, nur die dem Ufer nächsten gingen wieder zurück, die weiter drin im See befindlichen blieben ruhig stehen, die Boote kamen so dicht an ihnen vorüber, dass man sie mit der Hand berühren konnte, und erst als die Boote sich schon weit entfernt hatten, dann fing das allgemeine Spritzen und Plätschern an, den ganzen See in ein wütendes Wogenmeer verwandelnd.

Dasselbe kann man noch heute in Afrika erleben.

Glückliche Tiere!

Kluge, edle Tiere!

Weil ihr den Menschen noch nicht kennen gelernt habt. Weil dieser Mensch hier noch nicht wusste, was eure Stoßzähne wert sind.

Aber diese Zeit sollte sehr bald kommen, und dann war es vorbei mit dem Glück, mit der gegenseitigen achtungsvollen Duldung!

Wieder Flüsse, noch einige Seen, und über dem Walde tauchte ein Hügelzug auf.

Die Behausung der Bergmenschen war erreicht.

Bei den Bergmenschen

Seit Wochen schon weilte Sir Walter Wilcox als Gast bei den Bergmenschen.

Die Rüdersberger Kalkberge bieten heute, wenn es auch nur drei Hügel sind, der höchste ist siebenundsiebzig Meter hoch, eine ganz hübsche Gebirgsszenerie, wenn auch nur en miniature. Die Phantasie muss etwas zu Hilfe kommen. Man muss aus einer Mücke einen Elefanten zu machen wissen (was der Berliner ja sehr gut versteht).

Aber sonst wirklich höchst pittoresk. Das machen die Kalkbrüche, um deren Besitz in früheren Jahrhunderten schon Kriege geführt worden sind, oder doch blutige Fehden zwischen den umliegenden Ortschaften, früher Klöster und Burgen.

Also schon seit Jahrhunderten hat man da gebrochen und gebohrt und gesprengt, und so sieht man da jetzt steile, nackte Felswände und kolossale Trümmerhaufen und blickt von oben herab in schier endlose Abgründe hinab.

Von alledem bemerkte Sir Wilcox jetzt nichts. Ein sanft gewölbter Hügelrücken mit vier Warzen darauf, von den heutigen Berlinern Arnims-, Schulzen-, Glocken- und Krienberg getauft. Alles dicht bewaldet, wodurch die Abrundung eine noch sanftere wurde.

Zwischen diesen vier Warzen hausten die Bergmänner, mit ihren Frauen und Töchtern Bergmenschen. Denn für die umwohnenden Wald-, See- und Flussmenschen waren diese vier Warzen eben gleichfalls ganz gewaltige Berge.

Ja, die Bergmenschen hausten hier. Aber wie sie hausten! In fabelhaftem Luxus. Das hier war gewissermaßen eine Stadt, für die umwohnenden Urmenschen ungefähr von derselben Bedeutung wie jetzt Berlin für Tripsdrill. Und die Bergmenschen waren sich ihrer Macht und Bedeutung selbst voll und ganz bewusst.

Zählte ihre Ansiedlung doch fast zweihundert Köpfe! Und nun vor allen Dingen: Sie wohnten nicht in hohlen Bäumen, nicht in leichten Wasserhütten, sondern sie wohnten in steinernen Höhlen!! Zweihundert Menschen!

Diese Höhlen hatte ihnen teils die Natur fix und fertig geliefert, teils stellten sie sich selbst solche her. Nicht durch Hammer und Meißel, sondern die Höhlen wurden, wo man eine in der Felswand haben wollte, gesprengt. Allerdings nicht mit Pulver. Das war damals noch nicht erfunden. Wohl aber gab es schon Feuer und Wasser.

Dort, wo eine Höhle geschaffen werden sollte, wurde die Felswand vom Erdreich freigelegt, an dieser Stelle ein Holzstoß errichtet, dieser angezündet, das Feuer erhitzte den Stein, kaltes Wasser dagegen gespritzt — da sprang der Kalk wie Glas, die einzelnen Trümmer konnten mit Leichtigkeit herausgeholt werden, und so drang man immer tiefer in das Loch ein. Zuletzt konnte ja auch der Meißel etwas nachhelfen, um die Ecken zu beseitigen.

Die Bergmenschen brauchten nicht wie die anderen »Menschen« auf die Jagd zu gehen, brauchten im Winter nie entweder zu hungern oder die Glieder zu erfrieren, sie bekamen Fleisch und Pelze in Hülle und Fülle geliefert, und trotzdem führten sie nicht so ein vergnügtes, das heißt faules Leben wie die Wald- und Wassermänner. Sie mussten beständig arbeiten. Entweder Feuersteine spalten oder deren Fundstellen bewachen.

Dieses letztere war überhaupt der Lebenszweck dieser Bergmenschen. Ihre Schätze zu behüten, dass sie ihnen nicht gestohlen wurden. Die ganze Höhenkolonie war eine Art Festung, von der aus ein richtiger Wachtdienst ging, um die abseits gelegenen Fundstellen von Feuersteinen und erratischen Blöcken zu bewachen. Und hätten sie das nicht getan, so hätten die Bergmenschen hier bald ihre herrschende Rolle ausgespielt gehabt.

Die einzelnen Horden der Wald- und Wassermenschen lebten ja im Allgemeinen in Frieden untereinander. Sie hatten nichts, weswegen sie sich bekriegen sollten, was sie sich hätten gegenseitig rauben können. Nur einen einzigen Gegenstand gab es, um den manchmal zwischen zwei Horden oder Völkern blutige Fehden ausbrechen konnten. Derselbe Gegenstand, der noch heute das Grundthema aller Romane bildet, um den sich aber auch alle Affen prügeln, um den auch die Hirschkäfer kämpfen. Où est la femme — wo ist das Weib? Und aus demselben Grunde konnten auch diese Horden einmal aneinandergeraten. Wegen einer recht schön gewachsenen Maid mit möglichst krummen Beinen und einem möglichst großen Munde. Um die fingen erst zwei Jünglinge zweier verschiedener Horden an und dann kam es gewöhnlich zum allgemeinen Völkerkriege. Aber sonst lebten sie in Frieden miteinander.


Illustration

Wenn nun freilich einmal diese reichen Bergmenschen eine Schwäche gezeigt, ihren Wachtdienst vernachlässig hätten, so wären sich die sämtlichen umwohnenden Nachbarhorden sofort einig gewesen, wären mit vereinten Kräften über die schwelgenden Aristokraten hergefallen, um dann ebenfalls nach Herzenslust in Salz schwelgen zu können, um in den Besitz der Feuersteinlager zu kommen, um überhaupt die Herrschaft über das ganze Land an sich zu reißen, was zuletzt natürlich nur einer einzigen Horde gelungen wäre, worauf für die anderen wieder das alte Abhängigkeitsverhältnis eintrat.

Aber die Bergmenschen wurden durch ihre Salzschwelgerei eben nicht verweichlicht. Im glühendsten Sommer wie im grimmigsten Winter hielten sie brav Wache, und in der Zeit, die ihnen dazwischen blieb, spalteten sie Feuersteine. Freilich versauerten sie sich dadurch nur selbst das Leben, aber das ist nun einmal so und wird immer so bleiben. Und die Hauptsache war doch, dass sie die Herrschaft behielten, oder vielmehr, dass auch der verhungertste Steinschlepper die Ehre hatte, zum mächtigsten Volke der Erde zu gehören.

Die vereinigten Wald- und Wassermänner sollten nur einmal kommen! Denen gaben sie für ihre Pelze und Felle doch nur die schlechtesten Pfeilspitzen, die besten behielten sie natürlich für sich selbst, die wurden dann den Feinden in den Bauch geschossen.

Der Häuptling, der König dieses »mächtigsten Volkes der Erde«, hieß Kalala. Der schon alte Mann war außerdem ein großer Zauberer. Erstens besaß er einen gezähmten Wolf, allerdings nur so weit gezähmt, dass er seinem Herrn nachlief und sich von ihm füttern ließ, sich sonst sehr wenig um ihn kümmerte; so ging er wohl mit auf die Jagd, aber nur für eigene Rechnung, fraß das niedergerissene Wild selbst, das von den Jägern erlegte suchte er zu verschleppen, und wäre sein Herr von einem Feinde angefallen worden, so hätte dieser erste Haushund der Menschen oder doch dieses Volkes ruhig zugesehen. Immerhin, einen wilden Wolf so gezähmt, das heißt so verwandelt zu haben, das galt diesen Leuten schon für eine große, unbegreifliche Zauberei.

Zweitens aber stand Kalala in direkter Verbindung mit den Göttern und Geistern. Was diese Urmenschen sich von solchen Göttern und Geistern für Vorstellungen machten, das allerdings konnte der Baronet beim bestem Willen nicht herausbringen. Eine eigentliche Religion gab es nicht. Sie verehrten oder glaubten vielmehr an Naturgewalten, an gute und böse, jedes einzelne Naturelement hatte diese doppelte Eigenschaft — wenn nach langer Hitze und Trockenheit ein erfrischender Regen fiel, so schickte den der gute Regengeist, und kam ein verheerender Wolkenbruch, so stammte der eben vom bösen Regengeist — und ohne dass sie sich von diesen Geistern oder Göttern weitere Vorstellungen machten, fürchteten sie die bösen natürlich, ohne dass sie ihnen etwa Sühnopfer brachten, und ebenso natürlich kümmerten sie sich um die guten Geister überhaupt nicht, weil sie diese eben nicht zu fürchten hatten, so wie es noch heute alle auf der tiefsten Stufe stehenden Völker halten.

Bei diesem Häuptling der Bergmenschen nun zeigte sich der erste Anfang einer Religion, oder vielmehr eines Religionskultus. Nicht, dass er schon seinem Volke von Göttern gelehrt, diese angebetet hätte, sondern es war eine ganz eigentümliche Sache, dass er in den Ruf kam, mit den bösen und guten Geistern direkt zu verkehren, ab und zu von ihnen »besessen« zu werden, woran er selbst glaubte.

Der alte Häuptling war sonst ein sehr ruhiger, würdevoller Herr, saß gewöhnlich — vielleicht war es auch schon etwas Altersschwäche — den ganzen Tag in einem pelzbelegten Lehnstuhl, den er — schon ein Zeichen von Kunstgeschmack — mit zwei mächtigen Mammutzähnen verziert hatte, regierte von hier aus sein Volk ganz ausgezeichnet, und so hatte er es auch schon in seinen jüngeren Jahren gehalten.

Ab und zu bekam der Häuptling einen merkwürdigen Anfall. Er wurde heiter, wurde lustig und immer lustiger, der alte, ernste Mann fing an zu singen und zu springen, lachte über jede Kleinigkeit und über nichts, scherzte mit jungen Weibern, wurde immer unbändiger in seiner Ausgelassenheit — bis nach einiger Zeit diese in das Gegenteil umschlug, da wurde er böse, ergrimmte über jede Kleinigkeit, und das wurde immer schlimmer, bis er zuletzt zu toben anfing und er zur Vorsicht von seinem »Volke« gebunden wurde. Denn in diesem Zustand hatte er schon mehrmals böse Geschichten gemacht, sogar einem Manne, der ihn gar nicht gereizt hatte, mit der Streitaxt gleich den Kopf gespalten.

Dann verfiel er regelmäßig in einen tiefen Schlaf, hierauf war er wieder normal, nur dass er noch einen bis zwei Tage den Kopf hängen ließ. Dann war alles wieder vorbei, dann hatte er eine bis zwei Wochen Ruhe, bis wieder die Geister über ihn kamen, erst die guten, dann die bösen.

Denn was konnte dies anderes sein, als dass der Häuptling und Zauberer manchmal von Geistern besessen wurde? Aber das kam nicht von selbst, nicht zufällig, sondern diesen Verkehr mit den Geistern wusste der alte Zauberer mit Absicht und Willkür herbeizuzwingen, und das eben war das tiefe, heilige Geheimnis dabei.

Nun, Sir Wilcox, der immer vertrauter mit der Majestät wurde, ward sehr bald in dieses Geheimnis eingeweiht. Übrigens war es ja auch allgemein bekannt, wie der Häuptling es machte, wie er die Vorbereitungen dazu traf: nur dass es ihm niemand nachahmen konnte oder doch nicht nachzuahmen wagte.

Die Sache war folgendermaßen:

Getrocknete Baumflechten wurden wie gewöhnlich, wenn sie genossen werden sollten, zwischen Steinen zu Pulver verrieben, das Mehl aber einmal nicht mit Fett verrührt, sondern nur mit Wasser zu einem Teige geknetet und dieser recht scharf zwischen zwei heißen Steinen gebacken.

Wenn diese Brotfladen erkaltet waren, dann setzten sich einige Weiber um einen großen, ausgehöhlten Stein, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt war, kauten das Brot und spuckten den Brei in den Stein.

Das war die ganze Vorbereitung zu der heiligen Zeremonie. Der Häuptling hob dieses Breiwasser auf, ließ es einige Tage ruhig stehen, und dann, nachdem eine Bläschenbildung vorüber war, trank er das Zeug. dann kamen die Geister über ihn, erst die guten, dann die bösen. Er — betrank sich, wollen wir gleich auf gut Deutsch sagen.

Dieser alte kluge Häuptling hatte das erste Brauverfahren entdeckt, hatte die erste Brauerei eröffnet!

Ganz genau so operieren noch heute die Botokuden in Brasilien, um sich ein alkoholhaltiges Getränk herzustellen. Die Weiber kauen scharfgebackenes Maisbrot und spucken den Brei in ein Holzgefäß, gießen genügend Wasser darauf, und nach einigen Tagen wird ein allgemeines Zechgelage abgehalten.

Die Haupteigenschaft und der Hauptzweck des Speichels ist nämlich, das unlösliche Stärkemehl, das an sich ganz unverdaulich ist, in Dextrin und Traubenzucker überzuführen. Wer also Brot, Kartoffeln und die anderen stärkemehlhaltigen Nahrungsmittel nicht genügend kaut, sie nicht genügend mit Speichel mischt, der könnte fast ebenso gut Sand schlucken. Das Stärkemehl an sich ist unverdaulich. Es muss in Dextrin und Stärkezucker übergeführt werden, was der Speichel sehr schnell tut, und umsonst sondern die Munddrüsen innerhalb von vierundzwanzig Stunden nicht drei Pfund Speichel ab.

Der Stärkezucker aber geht in wässeriger Mischung nach einiger Zeit ganz von selbst in Gärung über, verwandelt sich in Alkohol, worauf ja auch die moderne Brauerei und Brennerei beruht, nur dass man das Stärkemehl im Samen oder in der Knolle durch Keimen in Stärkezucker überführt, weil jenes sonst auch für die Pflanze gewissermaßen unverdaulich ist.

Also in dieses heilige Geheimnis war der Baronet vom Häuptling eingeweiht worden, hatte der Prozedur des Kauens und Spuckens selbst mit beigewohnt, was übrigens ganz öffentlich geschah.

Dass er die Einladung, sich auch einmal zu bezechen, dankend abschlug, nicht einmal zu bewegen war, von dem köstlichen Getränk einen Schluck zu kosten, können wir verstehen, aber der Häuptling konnte es nicht begreifen.

»Es ist kein Gift dabei, Du kannst ruhig trinken, dann kommen die Geister über Dich, und es ist wunderbar schön.«

»Nein, ich danke wirklich, ich mag mit solchen Geistern nichts zu tun haben, zumal auch böse dabei sind —«

»O, die kommen erst hinterher, davon weiß man schon nichts mehr. Dann allerdings machen sie sich noch hinterher etwas bemerkbar, wenn man aus dem wunderbaren Schlafe wieder erwacht ist, dann rumoren sie einem im Kopfe, dass man glaubt, die Haare tun einem weh — aber das hat nichts zu sagen gegen das wonnige Gefühl, das einem zuerst die guten Geister bereiten.«

»Nein, ich danke, ein guter Geist bin ich selber, ich will meinen Kameraden nicht Konkurrenz machen, und mit den bösen mag ich prinzipiell nichts zu tun haben. Aber warum bereiten sich Deine Leute nicht ebenfalls dieses Getränk, lassen sich von den guten Geistern so lustig machen und nehmen die paar bösen mit in den Kauf?«

Der alte Häuptling zwinkerte schlau mit den Augen; er hätte es nicht getan, wenn er nicht bereit gewesen wäre, seinen göttlichen Gast in alle seine Geheimnisse einzuweihen.

Also er gab die Erklärung, wie er es machte, um sein Volk und alle anderen »Menschen« abzuhalten, von diesem Bräu zu trinken, es sich selbst zu bereiten, was ja im Grunde genommen so einfach war.

Ab und zu ließ er doch auch andere davon trinken.

Dann aber mischte er dem Zeuge zuvor Saft vom Stechapfel und von der Tollkirsche bei, sodass die Betreffenden wirklich toll wurden, dass nach ihrer Meinung nur die bösen Geister über sie kamen, wenn sie danach nicht gar unter grässlichen Schmerzen starben.

Dieses Experiment genügte. Niemand wagte es, Flechtenmehl ohne Fett zu backen und so durch Kauen und Spucken sich den Göttertrank zu bereiten. So besaß der alte Häuptling dieses Geheimnis, obgleich es doch eigentlich gar kein Geheimnis mehr war, ganz allein, nur er allein verkehrte mit den Geistern, was ja ebenfalls mit dazu beitrug, das Ansehen des ganzen Stammes bei den Umwohnenden zu heben, dass man auch sonst Respekt, wenn nicht Furcht vor den Bergmenschen hatte, obgleich der alte Zauberer sonst durchaus keinen weiteren Hokuspokus trieb, keinen Regen, keinen Waldbrand beschwor, keine Krankheiten heilte. Es genügte, dass er manchmal seine Anfälle bekam, das schon brachte ihn in den Ruf der Heiligkeit. Aber der Baronet sah die Zeit schon kommen, da diese Art von Brauerei hier Gemeingut werden würde, und dann würde der Erfinder und König auch seine Steuern dafür erheben.

Weshalb der Häuptling den fremden Gast so in seine tiefsten Geheimnisse einweihte und ihn auch sonst in sein Vertrauen zog, das war ja begreiflich genug. Ob es nun wirklich ein Gott oder Geist war, der einmal eine menschliche Gestalt in Fleisch und Blut angenommen hatte, das war dabei ganz gleichgültig, darüber zerbrach man sich hier nicht den Kopf, warf wohl gar nicht so eine Frage auf, wie das möglich sein könnte.

Die Hauptsache war, dass er den Blitz und Donner in seiner Hand hatte. Ganz abgesehen von seinem Fernrohr, seinem Feuerzeug und noch vielen anderen Gegenständen, die eben nur ein Gott besitzen kann. Aber nun dieses Rohr, in dem er Blitz und Donner mit sich führte! Und was für Blitze! Der Fleisch gewordene Geist hatte schon viele Proben von deren zermalmender Wirkung gegeben. Schon einige Löwen und Bären hatte er im Laufe der Wochen erlegt, sogar ein Rhinozeros und ein Mammut waren unter seinem Donner tot zusammengebrochen.

Und da endlich offenbarte der schlaue Häuptling, weshalb er dem Gaste solches Vertrauen schenkte, ihn in jeder anderen Weise an sich zu fesseln suchte. Natürlich aus reinem Eigennutz.

Vergebens hatte der Baronet zu erfragen gesucht wo denn die Salzmenschen wohnten. Der Häuptling wusste immer geschickt auszuweichen, und die anderen erklärten ihm, dass sie ihm den Weg gar nicht beschreiben könnten, was der Baronet zuletzt auch glaubte. Seiner Meinung nach wohnten diese Leute, welche den Handel mit dem kostbaren Salze doch nur vermittelten, im Spreewalde, aber schon bis dahin bildete der Fluss ein unentwirrbares Labyrinth von Wasserarmen. Nun aber hätte man ihm doch einen kundigen Führer mitgeben können. Da jedoch wusste der Häuptling ihm eben immer auszuweichen, wenn der Baronet solch eine Forderung oder Bitte stellte, bis er endlich mit seinem sicher schon längst gefassten Plane herausrückte.

»In den nächsten Tagen fahren wir zu den Salzmenschen. Wir erwarten nur noch die Felle der Waldleute, müssen auch noch unsere Boote dicht machen, was ich schon lange Jahre nicht mehr getan habe. Und Du wirst uns begleiten?«

»Ganz sicher werde ich Euch begleiten. Es ist doch mein sehnlichster Wunsch, diese Salzmenschen, von denen Du mir schon so viel erzählt hast, persönlich kennen zu lernen.«

»Und Du nimmst Dein Rohr mit, in dem Du den Blitz und Donner hast?«

»Das lasse ich überhaupt nie aus meiner Hand.«

»So höre mich an, Fremdling.«

Und nun kam die Hauptsache. Die Salzmenschen waren für die Bergmenschen dasselbe, was diese für die Wald- und Wasserleute. Sie wohnten auf uneinnehmbaren Inseln, und dann besaßen sie Waffen, lange Messer und Lanzen und Pfeile, von deren Furchtbarkeit der Häuptling gar nicht genug erzählen konnte. Diese Waffen waren nicht aus Feuerstein, sondern aus Sonnenstein, das heißt sie glänzten und funkelten, die Sonne spiegelte sich darin, und nun diese furchtbare Schärfe der Äxte und der ungeheuer langen Messer, also der Schwerter — es waren ganz einfach Bronzewaffen, welche diese Handelsleute bereits von weiter östlich wohnenden Völkern eingetauscht hatten, und wenn sie auch nur einige solcher Waffen bekommen haben mochten, das verlieh ihren Kriegern über die Feuersteinmenschen doch schon ein kolossales Übergewicht.

Und zwischen diesen sonst unüberwindlichen Kriegshelden sollte der befreundete »gute Geist« nun mit seiner Donnerbüchse aufräumen. Als friedliche Handelskarawane wollte man wie gewöhnlich kommen, daraus wurde diesmal ein räuberischer Einfall. Kleinere Fehden hatten die Bergmenschen gegen die umwohnenden »Völker« ja schon oft geführt, die hatten für sie ja auch schon förmliche Kriege zu bedeuten gehabt, diesmal aber sollte es zu einem ganz anderen Kriege kommen, es galt, das ganze Volk der Salzmenschen zu unterjochen oder besser noch vollkommen auszurotten, um dann deren Vorteile im Handelsverkehr mit den östlichen Völkern teilhaftig zu werden, den ganzen Salzhandel, der auch ab und zu solche wunderbare Sonnenwaffen einbrachte, in die eigenen Hände zu bekommen.

»Bist Du damit einverstanden? Wirst Du uns mit Deinem Donnerrohr behilflich sein, die Salzmenschen zu besiegen?«

Der Baronet zögerte gar nicht lange, sein Jawort zu geben, obgleich er gar nicht daran dachte, seine modernen Gewehre als Mordwaffen gegen Menschen zu gebrauchen. Aber es ging gar nicht anders, erst musste er beistimmen. List gegen List. Er wollte mit zu den Salzmenschen. Dann würden sich schon andere Auswege finden lassen.

Aber der alte Häuptling schien dennoch ein Zögern seines Gastes bemerkt zu haben, oder es war eben ein schlauer, wirklich kluger Mann, der sich zu sichern verstand. Und wie konnte er sich sichern? Wie konnte er diesen göttlichen Gast wirklich an sich fesseln? Auf dieselbe Weise, wie es noch heute bei der ganzen Menschheit geschieht, nicht nur in fürstlichen Häusern, und wie es ganz sicher seit allem Anfange der Menschheit gewesen ist: durch Bande der Blutsverwandtschaft, durch Heirat.

Erst schilderte der alte Häuptling und König noch einmal alle die glänzenden Vorteile, die man durch Besiegung der Salzmenschen haben würde, um dann hinzuzusetzen:

»Und nach meinem Tode, der doch nicht mehr lange ausbleiben kann, sollst Du alle diese Vorteile haben.«

»Ich?«

»Ja, Du. Du sollst mein Nachfolger werden, der Häuptling der Bergmenschen, denen nun aber auch das Inselland gehört, wo bisher die Salzmenschen wohnten.«

»Aber Du hast doch schon einen Nachfolger, Deinen Sohn.«

»Das lässt sich alles machen. Du sollst der zukünftige Häuptling sein. Wenn Du uns mit Deinem Blitze hilfst. Nur musst Du natürlich ein Weib aus meinem Stamme heiraten, und das kann nur meine Enkelin Hakalalana sein.«

Der alte Häuptling pfiff auf den Fingern, und seine Enkelin Hakalalana kam. Der Baronet kannte das junge Mädchen ja schon zur Genüge, aber jetzt erst machte der Großpapa den Gast richtig auf ihre Reize aufmerksam. Hakalalana hatte natürlich schon gewusst, was da kommen würde, denn sie hatte ihren gelbbraunen Leib, der nur mit einem Schurze gegürtet war, erst noch einmal tüchtig mit aufgebratenem Fett eingerieben.

»Gibt es ein schöneres Mädchen als diese meine Enkelin? Betrachte ihren herrlichen Wuchs, ihre lieblichen Züge? Hast Du je krümmere Beine gesehen, einen größeren Mund? Ihre Beine sind weit krümmer als die des Dachses und um dieses Maul beneidet sie jedes Rhinozeros —«

So und anders lobte der Häuptling seine Enkelin, die verschämt lächelnd ihr Wolfsgebiss fletschte, und der Baronet dachte nicht etwa an einen Witz.

Er kannte die Verhältnisse und wusste, dass noch heute bei den meisten wilden Völkerschaften möglichst krumme Beine und ein sehr großer Mund als die schönsten weiblichen Reize gelten. Das ist aber sogar noch bei den Chinesen der Fall, die doch eigentlich auf einer hohen Stufe der Kultur stehen — allerdings nicht in der Kunst und des Schönheitsgeschmackes, worüber nun freilich wiederum überhaupt nicht zu streiten ist.

Aber Lord Walter Wilcox war kein Chinese und kein Hottentotte. Er hatte bisher diese Bergmädchen mit Interesse betrachten können, eben mit Forscheraugen, aber nun, da es ans Heiraten gehen sollte, hielt der Wissensdurst nicht mehr stand, da begann ihm zu grauen, besonders vor dem gefletschten Wolfsgebiss.

»Häuptling, ich weiß die Ehre zu schätzen, die Du mir anbietest, aber — ich bin schon verheiratet«, log der unfreiwillige Schwiegersohn in spe.

»Du bist schon verheiratet? Wo?«

»Nu — nu — wo ich zu Hause bin.«

»In Deiner Geisterheimat?«

»Jawohl, in meiner Geisterheimat.«

»Wie viele Frauen hast Du da schon?«

»Ach — eine ganze Menge.«

»Ist eine davon auch so schön wie diese meine Enkelin?«

»Nein, das allerdings nicht, besonders mit solchen krummen Beinen kann keine antreten, aber —«

»Nun siehst Du. So heiratest Du eben auch meine Enkelin — —«

So war Sir Walter Wilcox noch niemals in die Enge getrieben worden, das heißt, noch niemals so in Verlegenheit gekommen, und er wusste selbst nicht warum.

Zu seinem Glücke sollte eine Unterbrechung stattfinden, die dann keine Fortsetzung dieser Szene erlaubte.

Die Kelten kommen!

DIESE Unterhaltung hatte vor der Häuptlingshöhle stattgefunden, die ziemlich hoch auf einem Hügel lag, von dem aus man den ganzen See übersehen konnte, der jetzt Kalksee heißt.

Doch schon vorher, ehe etwas Besonderes zu sehen gewesen, war unter dem Volke, das zwischen den Hügeln am Ufer seinen gewöhnlichen Beschäftigungen nachging, eine Unruhe entstanden. Boote, vom Fischfang und von Handelsgeschäften schnell heimkehrend, hatten die merkwürdige Nachricht mitgebracht. Bis allgemein der Ruf erklang: »Fremde kommen in großen Scharen, und es können nur Aris sein!!«

Selbstverständlich mussten sie in Booten kommen. Größere Reisen waren in diesen sumpfigen Urwäldern unmöglich, mindestens wie jetzt im Hochsommer. Hier in dieser Gegend kannte man nur Wasserwege.

Und da kamen sie auch schon über den See. Boote, aber ganz, ganz andere als die man hier kannte, sehr große Fahrzeuge, kunstvoll aus Brettern zusammengefügt, in jedem wenigstens zwanzig Mann, die meisten rudernd, während die anderen nur ihre Waffen in der Sonne wie Gold gleißen ließen, sodass es weit mehr als zweihundertfünfzig Mann waren — eine kolossale Kriegsmacht, ein ganzes Volk in Waffen.

Es waren kleine oder doch nur mittelgroße Gestalten, aber alle sehr kräftig gebaut, nicht nur so aus Knochen und Haut bestehend wie diese Waldmenschen hier, die bei reichlicher Ernährung höchstens einen Hängebauch bekamen, diese hier hatten wirklich Fleisch auf den Knochen, Muskeln. Sie hatten schwarze Haare, oftmals gekräuselt, hatten es, soweit es die Reisestrapazen erlaubten, sorgfältig geordnet, trugen schwarze Schnurr- und auch Backenbärte. Wohl war ihre Haut, soweit man sie sah, braun, aber nur von der Sonne so gefärbt, in Wirklichkeit war sie weiß.

Die ersten Arier, die ersten Kelten, woraus dann wieder Gallier wurden, die ersten Vorfahren der heutigen Franzosen, wozu aber erst wieder romanisches, das heißt rumänisches Blut kommen musste, und die Rumänen waren dunkelhäutig.

Frage niemand, woher sie von allem Anfange kamen, die schwarzhaarigen, weißhäutigen und blauäugigen Kelten, dann die schwarzäugigen und dunkelhäutigen Rumänen, dann die blondlockigen, riesenhaften Germanen. Nun ja, aus Asien kamen sie. Aber wie viele tausendjährige Stationen mögen diese wandernden Völker dabei in Tälern und Flussniederungen gemacht haben, wo sie immer beheimatet wurden, um immer wieder auszuwandern?

Und wir wollen doch nicht etwa glauben, dass wir für immer hier sitzen?

Jetzt hat die herrschende germanische Rasse ihre Grenze am Stillen Ozean, in Kalifornien gefunden. Und was wird dann kommen? Wird sie dort stehen bleiben? Hinter ihr drängen mächtig die Slawen nach, das germanische Deutschland allein muss den ganzen Ansturm noch aushalten, es steht auf verlorenem Posten, zumal es mit dem germanischen Vetter jenseits des Kanals in unheilvoller, dem Brotneide entsprungener Feindschaft steht.

Das hier waren Kelten, welche die Ureinwohner Deutschlands und wahrscheinlich des ganzen nördlichen Europas bis nach Lappland hinauf geworfen haben. Das lässt sich historisch verfolgen — aus ihren Gräbern.

In der Sprache der Waliser, welche unzweifelhaft die reinsten Nachkommen dieser ersten Indogermanen sind — oder wir wollen lieber Arier sagen — heißt die Axt Celt. Und weil in allen Gräbern dieser ersten asiatischen Eroberer hauptsächlich Bronze-Äxte gefunden werden — es ist das Übereinstimmendste dabei — haben wir diese ersten Arier Kelten genannt. Übrigens ist auch Club ein keltisches Wort. Es war ein Schild, vorn mit einem Buckel darauf, also ebenso zur Verteidigung wie zum Zuschlagen bestimmt. Und das liegt noch heute in unserem Worte Klub. Ein Verein von Männern zur Abwehr und zum Angriff.

Diese Männer hier trugen gewebte Gewänder, bis zu den Knien reichende Kittel, zum Teil sehr schön buntgestickt, an den Füßen lederne Sandalen, deren Riemen unbedingt gegerbt sein mussten, was man alles in den Keltengräbern gefunden hat und findet.

Ohne Weiteres strebten die Boote dem Hügellande zu, das erste legte an, die anderen folgten seinem Beispiel.

Sofort sprang als erster ans Ufer ein herkulisch gebauter Mann, reicher gekleidet als alle anderen, seine gewölbte Brust wurde von einem schimmernden Schuppenpanzer umspannt, der auch bei diesen Kelten die größte Seltenheit sein mochte, von weit östlicher wohnenden Völkern, vielleicht schon von den kunstfertigen Indern, eingetauscht, und aus purem Gold war das Stirnband, welches das lange, schwarzlockige Haar zusammenhielt.

Er trug in der Hand eine Lanze, am anderen Ende befand sich eine große, schimmernde Sonne, und während die Ruderer und sonstigen Krieger sich sofort in Schlachtreihe aufstellten, stieß ihr Anführer, ihr Herzog, wie wir ihn nennen wollen, der Mann, der vor dem Heere zog, diese Lanze in den Boden.

»Die Sonne der Galis scheint über dieses Land, der Herzog der Galis ergreift von diesem Lande Besitz!«

So rief er mit schallender Stimme.

Und da war es geschehen, das große politische Ereignis!

Der kleine Negerstamm — wie wir vergleichender Weise sprechen wollen — hatte einen anderen Negerstamm überfallen, sich seines Gebietes bemächtigen wollen. Es wäre für diese Neger ein Weltereignis von höchster politischer Bedeutung gewesen.

Da aber kam — vergleichender Weise — eine europäische Macht und pflanzte ihr Banner auf, annektierte einfach das ganze Land, ohne erst zu fragen, ob es gefällig sei oder nicht.

Die Hauptsache war, dass da mehr als zweihundertfünfzig Krieger mit Lanzen und Äxten und Schwertern in Schlachtreihe angetreten waren, bereit zum Schlachten. Und da trieb sich auch ein pfiffig blickender Mensch herum, der trotz seiner schönen Leinwandkleidung diesen Lappen, diesen Ureinwohnern, auf ein Haar glich. Das war der Verräter gewesen, der hatte die Kelten hierher geführt, hier sei etwas zu holen, und der hatte auch versichern können, dass zweihundertfünfzig Krieger mit ihren Bronzewaffen genügten, um alle die Tausende von Wald-, Wasser- und Bergmenschen mit Leichtigkeit zu überwältigen oder doch in Schach zu halten.

Aber diese Besitzergreifung musste auch eine Weihe erhalten, musste sanktioniert werden.

Das eine der Boote war viel länger und breiter als die anderen, trug in der Mitte auch einen Aufbau, reich verziert.

Aus diesem Häuschen hervor kam ein alter Mann mit langem, weißem Bart, in einem faltigen Gewande von schneeweißem Leinen, eine hohe Mütze auf dem Kopfe. Ihm nach folgte ein Weib, trotz ihrer vollen Gestalt ein Mädchen, das aber unmöglich eine Angehörige dieses Keltenstammes sein konnte. Denn fast um Haupteslänge ragte sie über die Männer empor, dann war es rotblondes Haar, das ihr bis weit über den Gürtel hinabwallte, und außerdem war es, obgleich es einige Ähnlichkeit mit dem des Herzogs hatte, doch wieder ein ganz anderes Gesicht von blütenhafter Weiße, obgleich geschmückt mit den Rosen der Gesundheit — »eine echte Germania, wie sie im Buche steht«, sagte sich gleich der englische Baronet.

Sonst aber war auch sie mit bunten, kostbar gestickten Gewändern bekleidet, wie man sie in den Keltengräbern den Weibern beigegeben findet.

Den beiden wurde ein Käfig nachgetragen, aus dem der alte Weißbart, ein Priester, einen Hahn nahm — den gallischen Hahn, der noch heute auf manchem gutgermanischen Hause als Symbol der Rechtmäßigkeit, des ehrlichen Besitzes prangt — er köpfte ihn unter Formelsprüchen, das Blut wurde in einem Gefäße aufgefangen, das junge Weib tauchte ihre weißen Hände in das rote Blut und bespritzte damit die Erde.

So war das neue Land regelrecht in Besitz genommen worden, ein Weib hatte es geweiht, getauft, ein Priester seinen Segen dazu gegeben.

So haben auch stets die alten Wikinger, später die Friesen ihre Schiffe von einem Weibe weihen lassen, die germanischen Jünglinge ihre Waffen, nicht immer von einer Priesterin, sondern öfter von einer Schwester oder von der Geliebten.

Und dies alles ist auch heute noch bei uns der Fall. Wer schlägt denn die Fahnennägel ein? Wer tauft das neue Kriegsschiff, lässt an seinem Bug eine Champagnerflasche zerschmettern? Immer ein Weib, eine Dame. Und das ist nicht etwa eine Galanterie, sondern das ist eben eine alte, uralte Sitte aus indogermanischer Zeit.

Wieder wunderte sich Sir Walter Wilcox nicht im Geringsten, dass er die fremden Worte verstand. Denn die Bergmenschen hatten sie nicht verstanden. Die gaben sich allerdings auch nicht viel Mühe, den Vorgang zu begreifen. Sie hatten sich angstvoll in ihren Höhlen verkrochen. Nur diejenigen, die eine führende Rolle spielten, hatten sich, wenn sie noch genügend Mut dazu besaßen, schnell ihrem Häuptling beigesellt.

So, nachdem die Fremden das neuentdeckte Land »rechtmäßig« in Besitz genommen hatten, konnte man sich auch einmal nach den menschenähnlichen Wesen umschauen, die hier hausten.

Die Begegnung fand statt. Der verräterische Lappe war nicht als Dolmetscher nötig. Die Kelten kannten zwar nicht die Sprache dieser Bergmenschen, wohl aber verstanden sie der Priester, der Herzog und dessen Tochter. Die waren eben nicht aufs Blaue hinein auf Abenteuer ausgegangen.

Der Keltenherzog versicherte, dass er nur gekommen sei, um diesem armen Volke die höchsten Segnungen der Zivilisation und Kultur zu bringen, wovon er auch ganz ehrlich überzeugt war, und der alte Bergkönig war ebenso überzeugt, aus dieser neuen Bekanntschaft nur die größten Vorteile für sich und sein Volk zu schlagen — am allermeisten allerdings für sich.

»Und wer ist dieser Mann dort, der doch nicht zu Euch gehört?«

Das war eben ein Geist, ein Gott, der einmal die Erde in Fleisch und Blut besucht hatte.

Hierbei fanden die vorgeschrittenen Kelten ebenso wenig etwas wie die Wald-, Wasser- und Bergmenschen, vielleicht noch weniger.

Noch zu den Zeiten des trojanischen Krieges — eine bessere prähistorische Überlieferung besitzen wir eben nicht — haben die Götter ja noch ganz tüchtig in menschlicher Gestalt auf der Erde herumgewirtschaftet, haben wie andere Menschen gelebt und geliebt und gestritten, und die irdischen Menschen sind vor ihrer göttlichen Zauberei durchaus nicht zurückgewichen, Herkules hat die halben und ganzen Götter ganz eklig in die Pfanne gehauen, hat nach dem Sonnengotte geschossen, und die Minerva konnte mit allem ihrem Hokuspokus ihren Schützling Hektor auch nicht vor dem Achilles retten.

Das ist Sage! Ja, hat aber Martin Luther nicht sein Tintenfass nach dem Teufel geworfen? Haben wir nicht noch vor zweihundert, noch vor hundert Jahren Hexenprozesse gehabt? Hat man da also nicht noch ganz fest an einen Teufel, also an einen bösen Geist geglaubt, der auf der Erde manchmal in Menschengestalt sein Wesen treibt? Und nahmen nicht irdische Richter den Kampf mit ihm auf, indem sie ihn einfach durch den Hexenhammer und die Geistlichen ihn durch die Hexenbulle verurteilten?

Nein, wir dürfen als ganz bestimmt annehmen, dass sich damals diese Menschen gar nicht so sehr gewundert haben, wenn sich ihnen ein anderer Mensch als Gott vorstellte. Natürlich musste er auch etwas ganz Besonderes können. Ebenso sicher aber ist es, dass die Menschen dann auch diesen Gott in Fleisch und Blut gleich zu ihrem Vorteile auszubeuten suchten.

So war es auch hier. Der gute Gewittergott, der den Donner und Blitz in zwei Rohren mit auf die Erde gebracht hatte, wurde gleich mit Beschlag belegt, hauptsächlich natürlich von dem Priester, vom Herzog und dessen Tochter Frya.

Denn seine Tochter war es, die Germania, wenn sie auch den Vater um Haupteslänge überragte und rotblonde Haare hatte. Sie war eben nach der Mutter geraten. Die war wieder mit einer fremden Expedition weit, weit vom Osten her nach dem Keltenlande verschlagen worden, der Keltenherzog hatte sie geehelicht.

Das neue Leben begann. Das erste war, dass sich die neuen Besitzer dieses Landes Wohnungen nach ihrem Geschmack herrichteten. Zwar ebenfalls Höhlen, aber doch andere, als in denen sich die Bergmenschen wohl fühlten, solche Höhlen, in denen wir noch heute wohnen.

Denn was sind unsere Häuser und Stuben viel anderes als Höhlen. Nur dass man es jetzt umgekehrt macht. Früher hat man die Höhlen, wenn sie nicht schon vorhanden waren, in den Stein hineingebohrt. Jetzt macht man es umgekehrt, nimmt gewissermaßen das schon vorhandene Loch und baut eine Steinwand mit kleineren Löchern herum.

So war es das erste der Kelten, sich auf dem höchsten Hügel ein Haus zu bauen. Natürlich taten sie das nicht selbst, sondern das ließen sie die anderen tun, die Bergmenschen. Die mussten jetzt von früh bis abends Erde schaufeln und Steine brechen und diese nach Angabe zusammenfügen, und das taten sie auch so gern, weil es ihnen etwas Neues war, es war doch so schön, die schönen Gerätschaften aus glänzender Bronze zu handhaben, zumal sie jetzt nicht mehr Feuersteine zu spalten und die Schutthaufen zu bewachen hatten. Diese unangenehme, langweilige Arbeit hatten ihnen jetzt die Fremdlinge abgenommen, so edel waren die. Natürlich ahnten die Bergmenschen nicht, dass sie ihre eigene Zwingburg errichteten, in die sie dann eingesperrt und in der sie karbatscht wurden, wenn ihnen diese Arbeit einmal keinen Spaß mehr machte.

Auch die Frauen und Kinder wussten die neuen Ankömmlinge sehr angenehm zu beschäftigen. Die mussten mit wunderschönen Hacken geeigneten Boden auflockern und in die Furchen Körner streuen, welche die Fremden mitgebracht hatten, Hafer und Gerste, und die Frauen und Kinder hackten mit einer wahren Wut, mit Wollust, nur aus froher Erwartung, was aus diesen rätselhaften Körnern herauskommen würde.

Aber auch auf die einheimischen, schon vorhandenen Landesprodukte hatte der die allermodernste Kolonialpolitik treibende Keltenherzog sein Augenmerk gerichtet. Hauptsächlich auf die Mammuts, auf ihre Stoßzähne, Elfenbein, das in seiner Heimat schon eine gar begehrte Ware sein musste, der meiste Schmuck der Kelten bestand aus Elfenbein.

Es mussten doch in den Jahrtausenden schon viele, viele Mammuts gestorben sein. Wo waren deren Gerippe mit den Stoßzähnen geblieben?

Die Bergmenschen wussten es nicht zu sagen, auch nicht die Wald- und Wassermänner. Ja, ab und zu wurde ein Stoßzahn gefunden, aber sehr, sehr selten, und das war wohl nur ein abgebrochener, den einer von zwei kämpfenden Männchen im Liebesstreite verloren hatte.

Wo blieben denn die Mammuts, wenn sie an Altersschwäche oder sonst aus einem Grunde starben?

Wo bleiben denn in Afrika die toten Elefanten?

Das ist ein großes Rätsel.

Die eingeborenen Jäger Afrikas und Indiens werden schon recht haben, wenn sie ganz übereinstimmend behaupten, der Elefant suche, wenn er seinen Tod herannahen fühlt, einen einsamen Ort auf, so versteckt, dass ihn kein Mensch jemals findet.

Und Tatsache ist es, dass man nur höchst selten einmal das Skelett von einem Elefanten findet. Diese Tiere sterben doch auch fast nur an Altersschwäche oder an einer langsamen Krankheit, denn dieser riesenhafte Dickhäuter hat doch sonst keine anderen Feinde als Schmarotzer, die auf seiner Haut wohnen. Und dann natürlich den Menschen. Und ferner ist Tatsache, dass man schon solche »Begräbnisplätze« gefunden hat, an denen die Skelette und Stoßzähne von Elefanten massenhaft liegen, meist an Orten, die durch umgebenden Sumpf für jedes andere vierfüßige Tier und für den Menschen unzugänglich sind. Solche Begräbnisplätze werden von den Eingeborenen natürlich schnellstens ausgebeutet und geheim gehalten, aber dann geht kein Elefant mehr hin. — —

Nein, diese Ureinwohner wussten nicht, wo die durch den Tod abgehenden Mammuts blieben. Kadaver und Knochen von Nashörnern fand man häufig, besonders im heißesten Sommer, wenn die Sümpfe austrockneten, da kam oftmals solch ein Ungeheuer aus dem Schlamme zum Vorschein, man konnte wenigstens unter einem Schlammhügel eines erraten — aber von einem Mammut fand man höchst, höchst selten einmal ein Gerippe, von dem Raubtiere und Vögel das Fleisch abgeschält hatten.

Nun, so musste wegen des Elfenbeins eben den lebendigen Mammuts zu Leibe gegangen werden.

Aber auf welche Weise? Diese Kelten hatten schon ihre Erfahrungen betreffs des Mammuts. Mit den Bronzewaffen war da nichts zu machen, so vorzüglich diese auch gegen die Feuersteinwaffen sein mochten. Und der Elefant geht in keine Fallgrube. Das Rhinozeros plumpst in jede, wenn sie auch noch so ungeschickt angelegt ist, gerade weil das Rhinozeros keinen Strauch auf seinem Wege duldet. Aber nicht der Elefant. Der wittert sofort alles, und der hat seinen Rüssel, um erst den Boden vor sich zu untersuchen.

Doch wozu war denn der gute Donnergott da, wozu hatte er sein Rohr mit dem Blitze, wozu hatte man mit ihm Freundschaft gemacht?

Aber der gute Donnergott setzte sich bei diesem Begehren auf die Hinterbeine. Er hatte im Laufe der Wochen nun schon sechs Mammuts geschossen, nun war seine Jagdlust befriedigt, und er hatte keine Lust mehr, sämtliche andere Mammuts in die Luft zu sprengen, viele Hunderte, um seinen neuen Freunden Elfenbein zu verschaffen. Und er wusste einen Ausweg. Er hatte ganz einfach einen Schwur abgelegt, hier auf Erden nur sieben Mammuts zu schießen, und muss ein Mensch seinen Schwur halten, so ein Gott doch erst recht. Also er schoss noch einen Rüsselträger mit besonders großen Stoßzähnen — so, nun war die heilige Zahl sieben voll, er schoss kein Mammut mehr, wenn seine neuen Freunde ihm deswegen auch grollten.

Da erfand der keltische Priester eine andere Jagdmethode. Er mochte sich schon länger mit dieser genialen Idee getragen, auch schon Versuche angestellt haben, er ging gleich gar so praktisch vor.

Kreuzottern, von denen es in diesen Wäldern genug gab, wurden gefangen, ihnen die Giftdrüsen ausgedrückt, die Pfeilspitzen mit dem Safte eingeschmiert.

Der englische Baronet lachte. Wollten die etwa diese Mammuts mit solchen Giftpfeilen erlegen? Glaubten die etwa, das Schlangengift hätte noch seine Wirkung, wenn der Pfeil wirklich durch den zölligen Panzer drang? Und überhaupt, so ein Mammut sollte am Bisse einer Kreuzotter sterben? Na, da konnten ja viele Kreuzottern beißen!

Aber der Baronet irrte sich. So dumm waren die Vorfahren der heutigen Franzosen nicht, wie der dachte.

Einzelne Jäger setzten sich mit solchen vergifteten Pfeilen auf dicke Bäume, an denen die Mammutherden auf ihren gewöhnlichen Wanderungen vorüber kamen. Sie kamen, unterwegs wie immer hüben und drüben Gras ausraufend, junge Bäumchen entwurzelnd und sie in ihren weitgeöffneten Rachen verschwinden lassend.

Und wenn sie nun den Rachen aufsperrten, da schossen die Jäger ihre Pfeile ihnen tief in den Schlund hinein!

Nicht dass die ungeheueren Tiere an dem wenigen Gift gestorben wären. Im Crystal Palace zu Sydenham bei London bekam vor einigen Jahren ein Elefant, ein mächtiges Tier, einen Tobsuchtsanfall, er erhielt ein Brot, in das man ein abgewogenes Pfund Zyankali praktiziert hatte — das furchtbarste Gift, von dem wohl schon ein Gramm genügt, um einen Menschen ins Jenseits zu befördern. Der Elefant verschlang das Brot, wurde etwas melancholisch, bekam etwas die Kolik — nichts weiter, erholte sich wieder, tobte von Neuem und wurde mit einer Sprengkugel getötet. Es klingt fast unglaublich, aber es ist eine Tatsache.

Nun ist Schlangengift ja etwas ganz anderes, zersetzt direkt das Blut, aber so ein bisschen Schlangengift, wie man auf eine noch so große Pfeilspitze schmieren kann, vermag doch nicht solch einen Riesen zu töten, auch wenn der Pfeil gleich die inneren Teile verletzt.

Nein, vergiften wollte man die Tiere auch gar nicht, der geniale keltische Priester dachte viel weiter.

In spätestens einer Stunde wand sich jedes so getroffene Mammut röchelnd am Boden, weil es nicht mehr atmen konnte, im Schlunde war ihm alles geschwollen — einige Minuten später hatte es ausgelitten.

Und zwei Tage später waren auf diese Weise mehr als zweihundert Mammuts mit den schönsten Stoßzähnen zur Strecke gebracht worden!

Sir Wilcox hatte gerade einen längeren Jagdausflug gemacht. Er hatte um den teuflischen Plan gewusst, die Vorbereitungen dazu treffen sehen, aber nicht geglaubt, dass es so schnell gehen würde, überhaupt gar nicht recht an die Möglichkeit der Ausführung.

Als er am Abend zurückkam, war es schon geschehen. In einem gewissen Teile des Waldes wimmelte es von gefallenen Mammuts, alle erstickt, mehr als zweihundert, in ihren Lagen entsetzliche Anblicke bietend. Die Kelten ordneten an, wie die Bergmenschen die Stoßzähne abzusägen hatten.

Engländer und Amerikaner sind sehr als Jäger verschrien — als Aasjäger, was man ihnen freilich nicht sagen darf. Es gibt aber auch genug unter ihnen, die nicht alles gleich niederknallen müssen, was ihnen lebendig über den Weg läuft, wenn es nur die Polizei erlaubt. Zu diesen Jägern gehört freilich der ehemalige Präsident Roosevelt nicht. Alle Achtung sonst vor diesem Manne, aber dass er in Afrika an die fünftausend Antilopen niederknallte — außerdem noch in einem Jagdschutzgebiete, also gewissermaßen in einem Parke, den die Engländer nur einmal eben dem amerikanischen Präsidenten geöffnet hatten — und dass er dann auch noch damit renommiert, das hätte er nicht nötig gehabt. Das kann jeder Schusterjunge, wenn er nur eine Kanone hat, da kann er an einem einzigen Tage noch viel mehr Springböcke wegplatzen. Da hört der Mensch auf, ein Mensch zu sein, da soll man nicht mehr vom Ebenbilde Gottes reden.

Nein, zu solchen »Jägern« gehörte Sir Walter Wilcox nicht.

Erst war er förmlich entsetzt, dann erfasste ihn ein furchtbarer Grimm — und dann arbeitete er im Geiste gleich das erste Jagdreglement aus, das er morgen verkünden wollte und das ungefähr folgenden Wortlaut haben würde:

»Von jetzt an darf kein Mammut mehr in den Rachen geschossen werden. Wen ich fernerhin mit dieser Absicht auf einem Baume erwische, dem blase ich aus meinem Donnerrohr eine volle Ladung in den H... Beim ersten Male eine Ladung Schweinsborsten — oder keltischen Hafer mit Salz; beim zweiten Male eine Ladung Rehposten, und beim dritten Übertreten dieses Jagdgebotes puste ich das ganze Keltenvolk in die Luft.«

So arbeitete der Baronet schon im Geiste aus, besprach dieses Reglement auch gleich mit Frya, dem Keltenmädchen, der Herzogstochter.

Denn die beiden waren sich schon lange eins. Das war ja auch ganz selbstverständlich, das hatte doch gar nicht anders kommen können. Liebe auf den ersten Blick. So selbstverständlich, dass wir die Szene gar nicht beschrieben haben, wie die beiden sich zusammengefunden hatten. Natürlich war es eine herrliche Sommernacht gewesen, ebenso natürlich hatte der Mond dazu vergnügt gelächelt — derselbe Mond, der noch heute lächelt, der über solche Szenen schon so viel gelächelt hat, dass dieses Lächeln nun ganz stereotyp bei ihm geworden ist. Nur die Nachtigall hatte dazu nicht süß geschlagen, denn die hat es damals noch nicht in Deutschland gegeben. Desto mehr hatten die Eulen gekrächzt.

Die rotblonde Keltenmaid mit dem germanischen Blut war natürlich ganz der Ansicht des Geliebten. Aber die Sache musste noch ganz anders arrangiert werden, mit der Ankündigung des Jagdreglements und seiner energischen Durchführung allein war es noch nicht getan. Es lag überhaupt noch Verschiedenes dazwischen.

Die beiden wollten sich doch natürlich heiraten. Der Keltenherzog hatte ja auch durchaus nichts dagegen, fühlte sich vielmehr hochgeehrt, den guten Donnergott zum Schwiegersohne zu bekommen, aber — — hier war es Sitte, dass man die zukünftige Frau kaufte. Und der Vater verlangte als Kaufpreis für seine Tochter von dem guten Donnergotte seine ganze Donnerei — das große wie das kleine Donnerrohr, samt den darin enthaltenen Blitzen.

Hierauf wollte sich der gute Donnergott aber partout nicht einlassen. Denn wenn er nicht mehr blitzen konnte, so konnte er doch auch nicht mehr donnern. Höchstens noch umgekehrt. Zwar betonte der Vater immer, und der Priester bestätigte es, das Donnergeschäft bliebe ja deswegen immer in der Familie, aber — —

Nein, auf diese Weise wurde aus der Heirat nichts. Na, dann wurde die Braut einfach entführt. Ganz mit dem Einverständnis dieser. Und wenn morgen das Jagdgesetz verkündet wurde, so gab es ja hier sowieso einen fürchterlichen Krach. Also morgen wollten die beiden fliehen, wollten sich auf einer Insel niederlassen und von hier aus ihre Jagdgesetze diktieren, dann die geeigneten Männer um sich versammeln, die Gründer eines neuen Volkes werden, welches den Kelten sehr starke Konkurrenz machen würde.

Der Plan war verabredet. Es war schon spät am Abend und vergnügt lächelte der Mond, als sich die beiden den letzten Kuss gaben.

Der Baronet ging in seine Höhle, streckte sich aus, legte links neben sich das Repetiergewehr, rechts die Elefantenbüchse und schlief ein.

Als er erwachte, war es schon Tag. Gewohnheitsgemäß griff er erst links nach dem Repetiergewehr. Er konnte keines greifen, weil keins mehr da war. Dasselbe galt rechterhand für die Elefantenbüchse.

»Die Bande hat mir meine Waffen gemaust!«

Sein nächster Gedanke galt seinem Zauberkasten, der hinten in der Höhle stand. Er hatte sich immer mehr daran gewöhnt, in diesem famosen Kasten alles zu finden, was er irgendwie brauchte. Er griff einfach hinein und hatte es in der Hand: ein scharfes Rasiermesser; oder ein Paar neue Stiefel; oder einen Zahnstocher; oder ein interessantes Buch; oder eine Hängematte; oder ein Buttelchen Whisky und so weiter, und so weiter. Er fand nicht das geringste Wunderbare dabei. Und wenn er auch die Sachen nach der Benutzung nicht wieder hineintat, so wunderte er sich doch nicht, wo sie sonst blieben. Man ist doch nicht umsonst ein Gott. Der wundert sich über so etwas ebenso wenig, wie ein irdischer Mensch danach fragt, was aus einem benutzten Straßenbahnbillett wird.

Also der Donnergott, der sich ohne seine Donnerapparate sehr ungöttlich, ungemütlich fühlte, wollte wahrscheinlich erst einmal in seinen Zauberkasten greifen, um einfach neue Donnerbüchsen daraus hervorzuziehen.

Aber wiederum konnte er nicht greifen.

»Die Bande hat mir auch den Zauberkasten gemaust!«

Ja, da war es freilich vorbei mit seiner Zauberei. Da musste er erst einen anderen Zauberkasten haben, um den alten wieder daraus hervorzuziehen.

Ganz unwirsch trat der ausgeplünderte Donnergott vor die Höhle. Er war gewohnt, als erstes jeden Morgen seinem Zauberkasten eine Tasse frisch gekochten Kaffee und eine Zigarre zu entnehmen, und dass ihm das nun fehlte, machte ihn schon ganz verwirrt. Und überhaupt, er kam sich wie nackt vor, obgleich er sonst doch noch vollständig angezogen war. Er war eben kein richtiger Donnergott mehr.

Dann aber erfasste ihn eine furchtbare Wut.

»Wohl, bin ich kein guter Donnergott mehr, so werde ich ein böser sein! Jetzt werde ich diesen Kelten zeigen, wie ich auch donnern kann, ohne vorher zu blitzen!«

So schrie er und rannte dem nahen Ufer zu.

Dort saß nämlich der keltische Priester in einem Boote, in des Donnergottes eigenem Boote, und angelte.

Als der den Donnergott angestürmt kommen sah, wenn auch ohne Donnerrohre, zog er es vor, die Angelrute schleunigst mit dem Schaufelruder zu vertauschen und ein Stückchen spazieren zu fahren, weiter auf den See hinaus.

Der Donnergott hatte erst Lust, ins Wasser zu springen und ihm nachzuschwimmen, sah aber noch rechtzeitig ein, dass es keinen Zweck hatte, konnte ihm nur die ohnmächtig geballten Fäuste nachschütteln und ihm einige wenig ehrenhafte Titulaturen nachschicken.

Ein trampelndes Geräusch hinter ihm, mit einem Schnauben vermischt, ließ ihn sich umblicken, und was er da erblickte, veranlasste ihn, doch lieber schleunigst ins Wasser zu gehen.

Es war ein mächtiger Ur, ein Auerochse, welcher der neuen Keltenkolonie einmal einen Besuch abgestattet hatte und jetzt mit gesenkten Hörnern auf den seiner Attribute entkleideten Donnergott in voller Fahrt losging.

Also der Baronet sprang schleunigst ins Wasser. Einen anderen Weg gab es nicht, um in Sicherheit zu kommen. Aber es nützte nichts, dass er bis an die Knie, bis an die Brust hineinwatete. Der Stier kam ihm sofort nach. Der Baronet verzichtete lieber gleich aufs Waten, fing an zu schwimmen. Da schwamm aber auch schon der Stier, und zwar bedeutend schneller als der Mensch.

Der Baronet überlegte nicht mehr, ob ihn der Stier im Wasser mit den Hörnern aufspießen oder ihn beißen oder ihn mit den Vorderfüßen bearbeiten würde — er sah sein letztes Stündlein gekommen. Mit schrecklicher Schnelligkeit näherte sich ihm der ungeheuere, zottige Kopf mit den rotglühenden Augen.

Nur eines konnte den Verfolgten noch retten. Der Baronet war ein ausgezeichneter Schwimmer und Taucher.

Noch rechtzeitig tauchte er unter, schlug unter Wasser einen Haken, schwamm zurück, tauchte dem Ufer zehn Meter näher wieder auf. Das ist schon eine ziemliche Leistung.

Ja, der Stier war noch ein gutes Stück weiter geradeaus geschwommen. Als er sein Opfer aber nicht vor sich wieder auftauchen sah, sah er sich doch einmal um, und wie er nun den schwimmenden Menschenkopf dort sah, da ging es wieder in voller Fahrt auf ihn los.

Der Baronet sah keine Aussicht, das Ufer noch rechtzeitig zu gewinnen, da musste er erst noch lange waten, und ein geeigneter Baum war auch nicht gleich in der Nähe.

Also lieber gleich im Tiefen geblieben, wieder untergetaucht und zurückgeschwommen, direkt unter dem Stier hinweg. Der aber behielt jetzt die Umgebung mehr im Auge, und kaum war der Baronet wieder aufgetaucht, da war der Stier schon wieder hinter ihm her, jetzt ganz bedeutend näher gekommen.

Und so ging das Spiel um Leben und Tod weiter. Immer kleiner wurde das Quadrat, in dem sich diese Wasserjagd bewegte. Der Baronet sah sich verloren. Schon diese Anstrengung konnte er gar nicht mehr aushalten, vermochte nur noch wenige Meter unter Wasser zu schwimmen, dann musste er schon wieder Luft schöpfen.

Höchstens der Priester konnte ihm noch Rettung bringen. Der war mit seinem Boote gar nicht so weit entfernt.

»Lenke ihn ab von mir!!«, schrie der Baronet.

Ja, der Priester hätte nur dazwischenfahren zu brauchen, so wäre der Stier wohl erst dem Boote gefolgt, oder der Baronet hätte sich ja daran hängen können, und so ein leichtes Ruderboot war denn doch bedeutend schneller als ein schwimmender Stier.

Aber der Priester dachte gar nicht an so etwas. Mit verschränkten Armen schaute er dem Spiele ruhig zu. Der Baronet sah ihn auch einmal ganz deutlich grinsen.

Und da wurde der Baronet trotz seiner Todesangst noch einmal von der Wut gepackt.

Na, dann eben los auf Tod und Leben! Aber so jagen ließ er sich nicht mehr von diesem Biest!

Aber wie er nach seinem Jagdmesser griff, da musste er erleben, dass er auch dieses nicht mehr bei sich hatte!

Nur noch sein kleines Taschenmesser fühlte er. Dieses herausgeholt, die Klinge aufgeklappt.

Gerade kam der Stier wieder auf ihn zu.

Der Baronet tauchte unter.

Richtig, als er wieder hochkam, war der Stier, wie er es sich berechnet, direkt neben ihm.

Schnell sich in das zottige Fell eingekrallt und ihm die kurze Klinge in die Seite gestoßen, immer und immer wieder.

Da aber schlug ihm das Wasser schon wieder über dem Kopfe zusammen, und der Baronet hatte zuvor nicht erst Atem geschöpft, ein Gurgeln — — —



Lieferung 38


Illustration

Als der Professor die Tür geöffnet hatte,
stürmten portugiesische Soldaten und Polizisten
in das Zimmer und bemächtigten sich seiner.


Das dem Leser versprochene Rezept

»Moooin, Herr Baronet, gratuliere herzlichst — heute ist doch Ihr Hochzeitstag.«

»Ei so ein verdammtes Biest!!«, gurgelte und stöhnte der glückliche Bräutigam, aber schon mit größter Erleichterung, und so blickte er sich auch um.

»Gott sei Dank, das alles war nur ein Traum!«

Und er sah vor sich Littlelu stehen, jene schwarze Tute mit den blanken Kupferdrähten in der Hand, dort saß sein Freund Tommy, der noch ganz erstaunt nach ihm blickte — und auch der Baronet begann wieder zu starren.

»Sie wollen doch nicht — etwa sagen — dass — Sie auch mir den Zylinder nur eine einzige Sekunde über den Kopf gestülpt und dass ich in dieser einen Sekunde dies alles geträumt hätte?!!«

»Es war nicht einmal eine ganze Sekunde, bei ihnen machte ich es noch viel schneller als vorhin bei Mister Ramford.«

»Tommy, ist es wahr?«

Der nickte.

»Ja, nur den Zylinder über den Kopf, das schnarrende Geräusch, und gleich wieder ab.«

Der Baronet glaubte es. Einige Erklärungen hatten die beiden ja schon zuvor bekommen, und dasselbe hatte er bei seinem Freunde ausführen sehen.

»Das ist der Apparat, das ist die Erfindung«, fuhr Littlelu fort, »für welche der Gräfin Atalanta von Felsmark zehn Millionen Dollars geboten wurden, die sie auch bekam, ohne dass sie sie dafür geben konnte. Weil sie diese Erfindung damals selbst nicht besaß, gar nichts davon ahnte. Jetzt aber haben wir das uns gegebene Rezept ausgearbeitet. Nun, ist diese Erfindung nicht zehn Millionen Dollars wert?«

Der Baronet hatte sich wie sein Freund wieder gesammelt.

»Ja, es ist superb! Dass jeder Traum nur einen einzigen Augenblick währt, davon war ich ja schon immer überzeugt. Wie nun aber bringen Sie diese Suggestion zustande?«

»Wir nennen es, wie ich schon sagte, akustische Kinematografie.«

»Das sagt mir gar nichts.«

»Bitte, meine Herren, hören Sie mir zu. Ich werde Ihnen etwas vorlesen, was ungefähr ein Stündchen dauern dürfte.«

Litklelu stellte den Zylinderapparat auf den Wandschrank, setzte sich, zog aus der Brusttasche ein dünnes Heft und begann vorzulesen:

Die Traumapotheke
oder
die Kunst, sich auf ganz harmlose Weise Träume zu
erzeugen und ihren Inhalt nach Willkür zu bestimmen

1.

Es soll hier nicht von der Physiologie und Psychologie des Traumes gesprochen werden, sind doch die Gelehrten, welche sich damit zu beschäftigen der Mühe für wert halten, sich selbst noch nicht über seine Ursache, Entstehung und des Vorganges dabei im Gehirn, sei es des kleinen oder des großen, im Klaren. Wir nehmen den Traum, wie er ist, als ein buntes Gaukelspiel der Phantasie, das sich in den sonderbarsten Szenen gefällt und über welches wir keine Kontrolle ausüben können.

Es gibt dreierlei Arten von Träumen: den Fiebertraum, welcher meist nur ängstigt, den länger währenden Traum und den Augenblickstraum. Ersterer kommt für uns gar nicht in Betracht, er hängt mit einem krankhaften Zustande zusammen, ebenso wie der Somnambulismus, wobei wahrscheinlich die Schranke zwischen dem großen und kleinen Gehirn durchbrochen wird. Ebenso soll es uns gleichgültig sein, ob der Traum eine Stunde oder nur einen Moment währt. Wenn jemand aus dem Bett fällt, so träumt er etwa, wie er einen Turm besteigt, Umschau hält, er kann auch schon vorher ein ganzes Leben durchträumt haben — bis er von dem Turm herabstürzt, und das alles hat er in dem Moment durchträumt, da er aus dem Bette fällt.

Ein gesunder Schlaf soll traumlos sein, sagt man.

Ich will nicht behaupten, dass es falsch ist, aber jedenfalls ist ein traumhafter Schlaf nicht ungesund. Ganz im Gegenteil, will man meiner Anweisung gemäß künstliche Träume erzeugen und nach Belieben regeln, so gehört vor allen Dingen ein gesunder Schlaf dazu, den man sich durch körperliche Ermüdung und Bewegung im Freien verschafft. Hierdurch habe ich also von vornherein jedes Misstrauen zurückgewiesen, dass meine Methode den Körper ruinierende Medikamente, nervenaufregende Mittel oder etwas Ähnliches enthält.

Ein reicher Mann lebt sorglos und in Freuden, wird aber von dem Verhängnis verfolgt, Nacht für Nacht träumen zu müssen, er sei ein geknechteter und gemisshandelter Sklave. Wacht er dann unter Angstschweiß auf, so seufzt er: »Gott sei Dank, es war nur ein Traum!« Er kann aber nur sechzehn Stunden die Freiheit genießen, ihm bangt schon wieder vor dem nächtlichen Traume, der für ihn jedes Mal ein ganzes Leben bedeutet.

Ein armer Sklave hinwiederum träumt jede Nacht, er sei der reiche, glückliche Pflanzer. Wacht er auf, so schleppt er seine Ketten weiter und freut sich auf die kommende Nacht.

Büßt der Traum beider nichts an Realität ein, so ist das Schicksal der beiden nicht nur gleich, sondern der Sklave ist noch bedeutend im Vorteil. Jede Nacht kann er durch ein ganzes Leben den reichen Mann spielen, Sklave ist er nur sechzehn Stunden lang; bei dem reichen Manne ist es umgekehrt.

Wenn jemand die Wahl hat zwischen einem schönen und einem hässlichen Traume, so wäre er ein Narr, wollte er nicht ersteren wählen. Und ein angenehmer, heiterer Traum ist gewiss eine hübsche Sache. »Träume sind Schäume«, sagt man. Ja, aber gar mancher blickt auf sein Leben zurück, und wenn es auch noch so arbeitsam war, es ist doch nur Schaum gewesen. Salomo hatte gewiss viel geschaffen, und da er es ansah, sagte er: »Es ist alles eitel« — denn er war weise.

»Träume von mir«, sagt die Braut zum Geliebten beim Abschied. Er möchte wohl gern, aber es geht nicht. Er wird von Hunden verfolgt, läuft im Hemd auf der Straße herum oder Wilde sägen ihm am Marterpfahl das Rückgrat durch — und wacht er auf, so merkt er, dass er auf einem Hemdenknopf gelegen hat.

Wie schön wäre es nun, wenn man dem Traumgott so vorschreiben könnte, wie der Dramatiker dem Schauspieler und dem Regisseur! Da gäbe es keine trennenden Gebirge und Meere mehr, die Liebenden würden sich einigen, die Eltern den in der Ferne weilenden Sohn umarmen, die Mutter das gestorbene Kind wiederhaben und es herzen. Und ist es auch nur ein Traum gewesen, so war es doch schön. »Es war wie ein schöner Traum!« In diesen Worten liegt eine namenlose Sehnsucht. Man kann im Traume in himmlischer Musik schwelgen, man kann Engelszungen reden hören, in Paradiesen weilen und eine Seligkeit, einen Frieden genießen, wie er im nüchternen Leben nicht möglich ist. Wer ein Freund von tollem Humor ist, findet solchen im Traume, wie ihn ein Mark Twain nicht schildern kann. Wer das Gruseln lernen will, wohlan, er soll mit Zähneklappern und gesträubten Haaren unter Angstschweiß erwachen. Und ist es denn nichts, wenn ein armer, kranker, von Kummer und Sorgen geplagter Mensch einmal sein Leiden vergisst und in die sonnige Kindheit zurückversetzt wird, diese noch einmal mit allen Einzelheiten durchlebt?

Meine Traumapotheke hat aber auch noch eine andere, gefährliche Seite.

Ehe ich dieses Werkchen schrieb, legte ich mir die Gewissensfrage vor, ob ich die moralische Verantwortung auf mich nehmen könne, die Früchte meiner Erkenntnis und Erfahrung der Öffentlichkeit zu übergeben. Ich musste mit einem Ja antworten. Der Glasfabrikant ist nicht verantwortlich dafür, wenn eine seiner Bierflaschen als Streitkolben benutzt wird. Der Bierbrauer wird nicht angeklagt, wenn jemand von seinem Erzeugnis zu viel genießt, in den Straßengraben fällt und ertrinkt. Auch dem Arzte kann nicht zum Vorwurfe gemacht werden, dass sein neu entdecktes schmerzstillendes Mittel zum Laster missbraucht wird, wie etwa Morphium und dergleichen. Ebenso ist es mit meiner Traumapotheke, die sich jeder selbst zusammenstellen muss. Gewiss, auch sie kann missbraucht werden, doch dafür kann ich nichts.

Außerdem aber hat es mit dem Traume noch eine ganz besondere Bewandtnis. Die reale Wissenschaft mit ihrem Materialismus wird dieses Geheimnis wohl nie lösen, und die sogenannten Okkultisten verspottet man, obgleich sie wohl der Wahrheit am nächsten sind. Denn ob man es nun das Unbewusste oder die Seele oder den Astralleib nennt — im Menschen waltet eine geheime Kraft, welche durch ein göttliches Feuer getrieben wird, und wenn dieses im Menschen für gewöhnlich auch nur als Funke glimmt, es kann doch plötzlich zur Flamme auflodern — eben im Traume. Und es ist ein göttliches Feuer! Wirklich böse Träume sind selten, und dann meist nur Ausgeburten eines krankhaften Zustandes. Und ist der Traum unmoralisch, so ist man sich dessen doch nie bewusst, und nach dem Erwachen fühlt man erst recht keine Verantwortung dafür.

Eine gebräuchliche Redensart lautet. »Er ist ein guter Mensch, wenn er schläft.« Und dahinter steckt eine große Wahrheit! Schon mancher Traum hat einen schlechten Menschen bekehrt. Ein verbrecherischer Charakter sinnt auf Mord und Totschlag, im Kreise seiner Genossen kommt ihm kein guter Gedanke, in der Einsamkeit arbeitet er seine schwarzen Pläne weiter aus, sein Gewissen ist längst versteinert. Da schläft er ein, die verstorbene Mutter, die eine gute Frau gewesen, erscheint ihm, er sieht sich als unschuldiges Kind wieder — und das Gewissen ist erwacht, damit ist er wieder ein Mensch, vielleicht kehrt er um.

Ein zweites Bedenken, welches gegen die Kunst, willkürlich beliebige Träume zu erzeugen, erhoben werden könnte, wäre das, die Menschen würden dadurch zu Träumern. Wenn der Arbeiter sich jede Nacht als reicher Mann glücklich fühlt, so höre jede Energie nach Vorwärtsstreben auf.

Nichts falscher als das! Wie schon anfangs erwähnt, erfordert meine Methode vollständige Gesundheit an Geist und Körper. Um tiefen Schlaf zu erhalten, sind Arbeit, Bewegung im Freien und ruhiges Gemüt nötig. Ich reflektiere auf solche Schüler, welche nicht in der Lage sind, sich ideale und ästhetische Genüsse zu verschaffen, obgleich sie danach schmachten, oder denen etwas in der Wirklichkeit fehlt, was ihnen im Traum ersetzt werden kann, und sei es nur Frieden. Wer freilich nur im Essen und Trinken, im Tanzen, Kartenspielen usw. sein höchstes Ideal sieht, nun, der wird nicht viel nach Träumen fragen, der ist froh, wenn er am nächsten Morgen ohne Kopfschmerzen erwacht. Dagegen fordere ich auf, das, was man tut, voll und ganz zu tun, sich eine innere Ruhe anzueignen, die an sich schon die höchste Freude gewährt, sich selbst zu sammeln, sich selbst zu erkennen. Dafür soll der arme Schreiber, der musikalisch veranlagt ist und seine Groschen zusammenspart, um einmal in ein sinfonisches Konzert gehen zu können, selbst Komponist werden und die herrlichsten Tonwerke aus eigener Kraft hervorzaubern, die arme Näherin, die Pfennig auf Pfennig legt, um einmal im Jahre ins Theater zu gehen, kann sich dieses Vergnügen jede Nacht verschaffen, und noch viel mehr. Nichts ist unmöglich, das Fabelhafteste, was man sich nicht erdenken kann, gibt der Traumgott denen, die ihn bezwungen haben, im Schlafe, der Haschischrausch des Orientalen ist solch einer Schöpfungskraft nicht fähig.

Und noch eine andere, geheimnisvolle Eigenschaft besitzt der Traum, von welcher die meisten Menschen kaum etwas ahnen, obgleich sie es schon oft an sich selbst erfahren haben. Aber sie haben es eben nicht beobachtet, nicht darüber nachgedacht. Im Traume werden geistige Fähigkeiten und Talente offenbar, welche man sonst nur gottbegnadeten Genies zuschreibt. Aber eigentlich besitzt sie jeder Mensch in sich. Es würde zu weit führen, wollte ich näher darauf eingehen, darum nur ein Beispiel davon.

Ein Drama zu schreiben, ist gewiss nicht jedermanns Sache, und die Dramen, die aufgeführt werden, sind es oftmals nicht wert, das Lampenlicht erblickt zu haben. Das macht: Der Dichter bleibt immer subjektiv, aus jeder Person auf der Bühne hört man stets den Dichter selbst sprechen. Shakespeare hätte keine Theaterstücke zu schreiben brauchen, schon durch seine Sonette wäre er der unübertrefflichste Dramatiker gewesen. Wenn da die Elisabeth Vernon spricht, so redet eben ein Weib, den Dichter hört man nicht.

Diese Kunst nun, welche den echten Dichter macht, nennt man die dramatische Spaltung des Ichs, und in dieser Kunst ist jeder Mensch, auch der poesieloseste, im Traume vollkommener Meister!

Wenn ich träume, ich bin in der Schule, der Lehrer stellt an mich eine Frage, und ich kann sie nicht beantworten, wie ich auch mein Gedächtnis anstrenge — da steht mein Nachbar auf und beantwortet sie richtig — so ist dies eine dramatische Spaltung des eigenen Ichs in höchster Potenz — und trotzdem kann das im Traume noch immer verhundertfacht werden — und da dies im Traume jeder Mensch kann, so ist er im Traume auch der vollendetste Dichter!

Ferner sei noch daran erinnert, mit welcher wunderbaren Genauigkeit man sich im Traume an Ereignisse und Personen erinnert, welche im Wachen dem Gedächtnis längst und vollkommen verschwunden sind. Man hat vor vielen, vielen Jahren, als kleines Kind, einmal einen Menschen flüchtig kennen gelernt, man hat seiner mit keinem Gedanken mehr gedacht, weiß nicht, ob man überhaupt seinen Namen jemals gewusst hat — und nach dreißig und noch mehr Jahren steht dieser Mann im Traume vor uns, in lebendiger Wirklichkeit, man sieht jeden Zug seines Gesichts, man erkennt seine Stimme, man redet ihn mit seinem Namen an.

Hier liegt ein tiefes, unergründlich tiefes Geheimnis des Traumlebens vor. Hier stehen wir an der Schwelle jenes Reiches, von dem sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt. Und ob es sich nicht dennoch ergründen lässt? Aber davon soll hier nicht gesprochen werden, wir bleiben bei der Praxis.

2.

Ich wohnte mit einigen jungen Freunden zusammen. Einen davon nannten wir scherzweise den Traumdoktor, weil er die Gabe hatte, am Morgen den Inhalt unserer Träume anzugeben oder diesen auch schon am Abend zuvor zu bestimmen. Wenn wir uns am Frühstückstisch zusammenfanden, so legte er vor jeden einen Zettel hin, die Schrift nach unten, und fragte. »Was hast Du geträumt?«

»Ich träumte, ich ginge in einem Tannenwald spazieren...«

Er deckte den Zettel auf und darauf stand »Tannenwald«.

Der zweite: »Ich träumte von Katzen.«

Auf dem Titel stand »Katze«.

Der dritte: »Mir träumte, ich läge in einem Hospital.«

»Krankenstube« hatte der Wahrsager aufgeschrieben.

Ebenso also konnte er uns angeben, was wir in der kommenden Nacht träumen würden. Wir gaben der Spielerei keinerlei Bedeutung, wir waren der Meinung, der Traumdoktor flüstere uns im Schlafe den Inhalt eines Traumes ein, suggeriere also, was er allerdings bestritt, ohne weitere Aufklärung zu geben. Überdies behandelten seine Vorherbestimmungen immer dieselben Themen: Hunde, Katzen, Tannenwald, Laubwald, Rosen, Veilchen, Krankenstube und Kuhstall. Die Sache glückte auch nicht immer, je öfter die Experimente wiederholt wurden, desto unsicherer wurde ihr Erfolg, bis dieser ganz ausblieb. Der Traumdoktor hatte seine Gabe verloren, wir vergaßen die Geschichte.

Erst viele Jahre später führte ein Zufall mich darauf, mich näher mit meinem Traumleben zu befassen, und ich gedachte wieder jenes Traumdoktors. Der am Anfang erwähnte Hemdenknopf spielte dabei eine Rolle.

Ich hatte am Abend mit Interesse über die Volksstämme Afrikas gelesen, und so war es nicht sonderbar, dass ich in der Nacht davon träumte, obgleich ich sonst selten träume. Ich träumte eine ganze Geschichte durch, so toll und unsinnig, wie es eben der Traum eingibt: Ich feierte mit meinen Angehörigen das Weihnachtsfest, der Christbaum brannte, Neger waren dabei, die überfielen mich, banden mich an den Marterpfahl und sägten mir langsam unter endloser Qual das Rückgrat durch. Endlich erwachte ich, den Schmerz fühlte ich aber noch, und das Rätsel war bald gelöst, als ich fand, dass ich mit dem Rücken auf einem Hemdenknopf gelegen hatte.

Lachend erzählte ich den Traum meinem Stubenkollegen, der spät des Nachts nach Hause gekommen war, vergaß auch nicht, den Christbaum zu erwähnen.

»Das ist ja sonderbar!«, meinte mein Freund. »Ich fand gestern Abend das Licht nicht, da schnitt ich ein Stück von dem Wachsstock ab, der vom vorigen Weihnachten übrig geblieben ist.«

Auf dem Tische war eine gelbe Wachskerze festgeklebt, viel Wachs war daneben getropft, denn der Docht musste erst bloßgelegt werden. Ich begann zu überlegen und stellte Folgerungen auf.

1. Ich hatte von Negern gelesen und infolgedessen von ihnen geträumt. Sonst passiert mir das eigentlich nicht, dass mich im Traume beschäftigt, was ich gelesen habe, es sei denn, es hat mich außerordentlich interessiert.

2. Der Knopf, auf dem ich gelegen, hatte mir Schmerzen verursacht. Da war leicht begreiflich, dass ich träumte, man zersäge mir das Rückgrat.

3. Irgend jemand musste diese Henkersarbeit doch tun, und weil ich nun von Negern gelesen hatte, so tauchten solche im Traume auf.

4. Der Geruch des sich verflüchtigenden Wachses und des ausgelöschten Dochtes hatte mich an den heimatlichen Weihnachtstisch zurückversetzt, wo ich diesen eigenartigen Duft gegen zwanzig Jahre jedes Mal zu Weihnachten gerochen hatte, aber eben auch nur zu dieser Zeit.

Schließlich war es gar nichts Neues, was ich da entdeckt hatte. Auch im Wachen bringen ja Geruch, Geschmack, überhaupt alle Sinne, wenn sie plötzlich erregt werden, Erinnerungen mit sich. Hört man im Vorzimmer eine bekannte Stimme, so hat man den Betreffenden augenblicklich vor Augen. Diese Wechselbeziehungen können aber auch noch ganz anderer Art sein. Ist ein Herr im Zimmer gewesen, der eben vom Reiten kam, so sagt man oft unwillkürlich: Hier riecht es nach Pferdestall. Diese Wechselbeziehungen dehnen sich noch viel, viel weiter aus, sie können zwischen den einzelnen Sinnen eintreten und plötzlich Bilder vor das geistige Auge zaubern. Hört man etwa ein melodisches Glockengeläute, so fühlt man sich mitten in der Stadt, wenn auch nur für einen Moment, nach der Alm versetzt, hört auch Kühe brüllen, man zieht den Duft von Alpenkräutern ein, und schließt man die Augen, so kann man den Eindruck auch für längere Zeit festhalten, natürlich immer vorausgesetzt, dass eine wirkliche Erinnerung erweckt worden ist. Deshalb sagt man auch oft: Das schmeckt nach Stiefelschmiere, nach Schnupftabak, nach Blausäure. Alles dreies hat man noch nie gekostet, man riecht nur, die Geruchsnerven führen die Anregung zum Gehirn, und man glaubt, man habe mit der Zunge geschmeckt, oder aber das Gehirn überträgt die Empfindung wirklich auf die Geschmacksnerven.

Allgemein dürfte bekannt sein, dass, wenn man jemanden im festen Schlafe mit Wasser bespritzt, er träumt, es regne, unter Umständen auch, er läge im Wasser. Ich habe dieses Experiment unzählige Male an anderen gemacht und bin immer zu gleichem Resultat gekommen. Hierdurch wurde ich auch der Überzeugung, dass es gar keinen Menschen gibt, der nicht des Träumens fähig wäre. Dies zu sagen ist überhaupt keine Ehre. Meist ist er nur zu denkfaul, sich des Traumes zu erinnern. Ich habe einen Freund gehabt, welcher auch behauptete, er träume niemals, und als er wie ein Bär schnarchte und ich ihn nur leise bespritzte, machte er plötzlich heftige Schwimmbewegungen — und nach und nach gab er zu, dass auch er jede Nacht träume, und je länger ich mit ihm experimentierte, desto empfindsamer wurde sein Traum, ohne dass dies seinem gesunden Schlafe den geringsten Abbruch tat. Ja, ich habe konstatiert, dass dieser etwas stumpfsinnige Mann geistig ganz bedeutend regsamer wurde, intelligenter!

Ich ließ ein Stümpfchen Wachslicht brennen und träumte abermals, einer Christbescherung beizuwohnen. Ich bat meinen Stubengenossen, welcher gewöhnlich erst nach Hause kam, wenn ich schon schlief, die Wachskerze zu benutzen. Zweimal vergaß er es, und zweimal träumte ich gar nichts oder etwas anderes. Am dritten Tage war die Kerze weg, ich dachte an diesem Abend gar nicht daran und träumte dennoch wieder von der Christbescherung. Ich erzählte es meinem Freunde, und siehe da, er war in dieser Nacht meinem Wunsche nachgekommen, hatte die Wachskerze angebrannt und den Docht ausgedrückt. Um mich zu prüfen, hatte er die Kerze dann auch noch versteckt.

Dieses Experiment wiederholte ich öfters, zuerst immer mit dem gleichen Resultat. Aber das Bild der Christbescherung wurde immer undeutlicher, der Traum immer verschwommener, bis er endlich ganz aufhörte, es glückte nicht mehr. Die Wirkung der Wachskerze war abgenutzt, die Erinnerung wurde nicht mehr wachgerufen.

Ich sann auf andere Wechselbeziehungen, fand aber nicht die geeigneten Mittel dazu. Damals fand ich keine. Ich hätte wohl genug Erinnerungsmittel haben können, hätte ich schon genügende Erfahrung besessen. Später z. B. versetzte ich mich durch etwas Apfelschale, die ich unter das Kopfkissen legte, als Kind in die Stube meiner Großmutter zurück. Doch ist dies ein trügerisches Mittel, es gibt noch viel bessere, um den Traum zu so etwas zu zwingen.

Unterdessen setzte ich meine Experimente in anderer Weise fort, meinen Schlafgenossen ohne sein Wissen dabei mit benutzend. Der Traumdoktor war mir wieder eingefallen. In jener großen Stadt konnte ich nicht einmal Tannenreisig auftreiben. Da las ich eine Annonce, in welcher Fichtennadelextrakt in Bädern gegen alle möglichen Krankheiten angepriesen wurde. Ich kaufte ein Fläschchen. In dem Laden roch es ungeheuer stark nach dem Zeuge, denn im Hinterhaus wurden die Fichtennadeln gleich destilliert. Außer auf mein Kopfkissen tropfte ich auch etwas von der zähen Substanz auf das meines Stubenkameraden und legte mich in der Erwartung schlafen, zu träumen, in einem Fichtenwald zu sein. Es war aber nichts. Ich hatte einen unruhigen Schlaf, unter beängstigenden Symptomen träumte ich, in jenem Laden zu sein und im Hinterhause mit destillieren zu müssen, in ganz unsinniger Weise.

Mein Freund dagegen erzählte mir am Morgen von selbst, er habe geträumt, an einem Festmahle teilzunehmen, und alle aufgetragenen Speisen hätten scheußlich nach Fichtennadeln geschmeckt, es hätte sogar Fichtennadelsalat mit Essig und Öl gegeben.

Ein Erfolg war also doch da. Freilich nicht der gewünschte.

Unablässig experimentierte ich weiter. Ich gestehe, meinem Freunde sogar Katzenurin auf das Kopfkissen gesprengt zu haben, und er erklärte, die ganze Nacht hätte er nicht schlafen können, die Katze müsse die Stube verunreinigt haben.

Wieder war es mehr ein Zufall, der mir die Erkenntnis brachte, weshalb meine Experimente nicht den gewünschten Erfolg hatten.

Eines Nachts träumte mir von einer Begegnung mit einer Dame, die schon längst meinem Gedächtnis entschwunden war, und zwar in eben jener Umgebung, wo ich ihr damals begegnet. Nun schon gewohnt, mein Traumleben genau zu beobachten, zu prüfen, die Ursache der Entstehung des Traumes zu erforschen, suchte ich so lange, bis ich den Grund gefunden hatte. Mein Taschentuch, das unter dem Kopfkissen gelegen, zeigte eine Spur von einem fremdartigen Parfüm, zufällig hineingekommen, und jetzt entsann ich mich, dass dieses immer jene Dame benutzt hatte.

Ich kaufte mir solches Parfüm und träufelte davon auf mein Kopfkissen.

Da träumte ich von allem anderen, nur nicht von jener Dame.

Dann stellte ich von diesem Parfüm eine ganz verdünnte Lösung her, benetzte ein wenig das frischgewaschene Kopfkissen, kaum zu riechen — und richtig, jene Dame erschien mir wiederum im Traume.

So, nun wusste ich, wie man es zu machen hat!

Will man etwas dem Gehirn fest einprägen und ein Mittel dabei anwenden, welches die Rückerinnerung hervorruft, so muss man, soweit es Geschmack und Geruch anbetrifft, ein ganz starkes Mittel intensiv benutzen, also etwa Salmiak, Pfefferminz, Vanille, Nelkenblüten oder sonst ein Gewürz, deren es doch unzählige gibt. Um die Rückerinnerung im Traume aber hervorzurufen, muss man dieselbe in ganz, ganz schwacher Beschaffenheit anwenden. Tut man dies nicht, hat man etwa eine getrocknete Nelke in den Mund genommen und legt sich mit dieser auch schlafen, so träumt man entweder gar nicht, oder fieberhaft — und das meistenteils — oder der Traum führt einem ein bizarres Bild vor.

Den Grund hierfür will ich nicht des Längeren ausführen, dagegen ein Beispiel dazu aus dem Wachsein geben. Wenn Du in Deiner Stube auf dem Sofa sitzest, ein paar als Tiroler verkleidete Freunde treten herein und machen mit Kuhglocken einen Höllenlärm, so wirst Du Dich jedenfalls nicht nach der Alm versetzt fühlen. Sitzest Du aber still und träumend im Dunkeln da, plötzlich hörst Du in weiter Ferne leise den Kuhreigen spielen, dann taucht vor Deinen geistigen Augen die grüne Alm, und was dazu gehört, auf.

Eine Ferienreise im Sommer führte mich nach einem Landhause. Wegen zahlreicher Mücken musste eifrig Salmiakgeist benutzt werden. Nach Besteigung eines Berges präsentierte jemand Pfefferminz. Ich aß es bereits mit der Absicht, mich dadurch in jene Situation zurückzuversetzen, konzentrierte also daraufhin meine Gedanken.

Als ich nun nach Hause zurückgekehrt war, machte ich mir eine ganz verdünnte Lösung von Salmiak und Wasser, spritzte für die erste Nacht nur einen Tropfen auf das Kopfkissen und träumte richtig noch einmal jene ganze Zeit im Landhause, die Spaziergänge im Walde durch.

Für die zweite Nacht legte ich ein Kügelchen Pfefferminz in ein Fläschchen, füllte es voll Wasser, schüttelte, tröpfelte etwas auf das Kissen und hielt richtig im Traume Umschau von jenem Berge.

Für die dritte Nacht träufelte ich etwas Salmiaklösung auf das Kopfkissen, vor dem Schlafengehen von dem Pfefferminzwasser getrunken — und ich weilte in jenem Landhause, schlief, aß, trank und plauderte, machte Spaziergänge, jemand schlug vor, den Berg zu besteigen, und wir taten es.

Das war also schon eine Kombination zwischen Geruch und Geschmack! Und als ich am vierten Abend außer diesen beiden Mitteln auch noch jenes Parfüm gebrauchte, da gesellte sich uns wahrhaftig auch noch die betreffende Dame bei!

Ich war grenzenlos überrascht, fast außer mir. Ich glaubte als erster in ein geheimnisvolles Reich zu dringen, was bisher den Menschen verborgen gewesen war, glaubte mindestens eine ganz neue Wissenschaft begründet zu haben.

Nun, heute sehe ich dies alles mit ganz nüchternen Augen an. Aber eine interessante Zeit war es jedenfalls damals für mich, wie ich so Schritt für Schritt in das Gebiet des Traumgottes eindrang.

So fuhr ich fort und fort, meine Erinnerungen an mir gefallende Ereignisse, Personen und so weiter zu fixieren, im Theater, in der Oper, im Konzert, in der Gemäldegalerie, bei anderen Sehenswürdigkeiten, auf der Straße und überhaupt im Leben, ich gebrauchte Gewürze, Parfüme und Gefühlserregungen, wie später geschildert wird, so entstand eine Sammlung von Substanzen und Gegenständen, welche ich zusammen meine Traumapotheke nannte, mit deren Hilfe ich imstande war, mir künstlich Träume zu erzeugen und ihnen jeden beliebigen Inhalt zu geben, den ich nur will, ob es im Leben möglich oder unmöglich ist. Allerdings kann man durch solche Erinnerungsmittel nur die groben Konturen vorzeichnen, die Detailmalerei bleibt dem Traumgott überlassen, aber gerade das ist das Interessanteste dabei, und immer wieder wird man staunen über die kolossale Einbildungskraft, deren im Traume auch der nüchternste Mensch fähig ist.

Schließlich gibt es noch ein anderes Mittel, um dem Traume ganz enge Grenzen zu ziehen, wie später gezeigt werden soll. Jetzt zunächst eine ausführliche Anleitung mit Beispielen, um dem Leser alle die Enttäuschungen zu ersparen, denen ich ausgesetzt war.

3.

Du beabsichtigst, am Abend eine Vorstellung besuchen, in welcher »Eine Reise um die Erde« in Lichtbildern vorgeführt wird, und möchtest die Erinnerung dabei fixieren, um sie im Traume zu benutzen. Ob die Lichtbilder beweglich oder unbeweglich sind, ist dabei ganz gleichgültig. Zu meiner Zeit damals gab es noch keine Kinematografie.

Zu diesem Zwecke hast Du eine kleine Büchse zu Dir gesteckt, welche einige trockene Gewürznelken enthält. Diese aber darfst Du noch zu keiner anderen Fixierung benutzt haben. Ferner hast Du ein anderes scharfes Gewürz bei Dir, welches Du überhaupt niemals zu solch einer Fixierung benutzest, ein Gewürz, dessen Geruch andere womöglich gar nicht bemerken, also etwa das sogenannte Katechu (Kaschu), in jenen bekannten kleinen Stängelchen oder Lakritzen. Dies ist das Mittel, welches ich das neutralisierende nenne, und auch Du musst Dir ein solches wählen, also sei es gleich Katechu.

Wenn die Lichtbilder erscheinen, steckst Du eine Gewürznelke in den Mund und gibst Dich dem Eindruck der Landschaften, Szenerien, Völkertypen usw. voll und ganz hin, wie es ja auch sein soll, gibst nicht auf Deinen Nachbar rechts acht und beschäftigst Dich nicht mit Deiner schönen Nachbarin links, sondern suchst Dich eben ganz in die Bilder zu versenken, musst Dich bemühen, alles selbst mit zu erleben. Je besser Dir das gelingt, desto deutlicher wird Dir alles im Traume wieder erscheinen, denn alles, alles, was Deine Aufmerksamkeit fesselt, wirst Du auch im Traume wieder sehen, miterleben, und wenn es auch so gering ist, dass Du — scheinbar! — gar nichts davon weißt. Selbst wenn Dein Nachbar sein Programm fallen lässt und Du bemerkst es aus Deinem Augenwinkel, so wird sich später auch dieses in Deinem Traume wiederholen. Doch ist dies alles nicht störend, so penibel ist der Traumgott nicht, er weiß alles nach seiner genialen Art zu verwerten. Ließ Dein Nachbar etwa in dem Augenblick sein Programm fallen, da an der Wand der arabische Vorbeter auf dem Minarett stand, so ist es vielleicht dessen Gebetsrolle, die der Wind entführt. Doch es gehört schon eine große Erfahrung dazu, um solche Wechselbeziehungen zu erkennen, Du brauchst Dich gar nicht darum zu kümmern.

Wird dabei ein erklärender Vortrag gehalten, so ist dies nur gut, auch den hörst Du im Traume wieder, aber nicht von einem Manne im schwarzen Frack.

Ist eine kurze Pause, so vertiefst Du Dich in Dein Programm, gehst das Erlebte oder Geschaute im Geiste noch einmal durch. Kommt eine längere Pause, so entfernst Du schnell die Nelke aus dem Munde, womöglich kurz vorher, ehe das allgemeine Aufstehen des Publikums Deine Aufmerksamkeit gefangen nimmt, und steckst dafür Katechu hinein, denn die Personen, welche Dir im Saale in die Augen springen, würden sich sonst mit der Reise vermischen, und was das Gedächtnis im Traume darin leistet, ist fabelhaft.

Bei Fortsetzung der Vorstellung nimmst Du wieder die Nelke in den Mund, kurz vor Schluss entfernst Du sie abermals und neutralisierst den Geschmack mit Katechu. Ist dies mehrmals gemacht worden, so wirkt dieses Katechu zuletzt wie ein hypnotischer Befehl. Was Du dann tust, ist gleichgültig.

Zu Hause angekommen, sei Dein Nächstes, die Fixierung in Deinem Tagebuch oder besser Nachtbuch einzutragen. Also:

Reise um die Erde — Nelke — Datum.

Diese Eintragung darfst Du nicht vergessen, damit Du nicht aus Versehen ein und dasselbe Fixiermittel zweimal benutzest. Denn passierte es Dir z. B., dass Du eine Nelke etwa wieder beim Besuche einer Menagerie anwendest, so dürftest Du sozusagen in des Teufels Küche geraten.

Wenn Du nun diese Traummittel noch an demselben Abend probierst, so wirst Du auch stets einen Erfolg haben, in diesem Falle also eine Reise um die Erde im Traume machen. Das aber nun ist das große Geheimnis dabei: Je länger Du mit der Wiederholung wartest, desto schärfer werden die Traumbilder! Und wenn Du auch erst nach zwanzig, dreißig Jahren das betreffende Fixiermittel benutzest, es wirkt in vollendeter Schärfe! Je öfter Du den Versuch wiederholst, desto undeutlicher wird der Traum — je längere Pausen Du machst, desto schärfer werden wieder die Konturen!

Das ist ein Beweis dafür, dass unser Gehirn im Schlafe gänzlich anders arbeitet als im wachen Bewusstsein, geradezu entgegengesetzt funktioniert!

Willst Du nun das Fixiermittel einmal benutzen, so wendest Du es also in homöopathischer Verdünnung an. Du schüttelst die Gewürznelke tüchtig mit viel Wasser und trinkst von diesem vor dem Schlafengehen. Oder Du kannst auch davon auf Dein Kopfkissen sprengen. Geschmack und Geruch bleibt sich gleich. In letzterem Falle aber musst Du natürlich immer ein frisch gewaschenes Kopfkissen haben.

Am nächsten Abend besuchst Du eine Gesellschaft, einen Maskenball. Hierzu benutzest Du wieder ein anderes Gewürz. Pfefferminz, wollen wir sagen. Oder Du kannst auch einmal ein Parfüm anwenden, ins Taschentuch getan, an dem Du öfters riechst, während Du das ganze bunte Gewühl mit einem Blicke zu umfassen suchst. Es ist ein kräftiges, aber sich doch wieder leicht verflüchtigendes, nicht anhaftendes Parfüm, sonst ist es besser, dass Du dieses Taschentuch vernichtest, wegwirfst. So oft Du Dein Kopfkissen mit einer ganz, ganz schwachen Lösung dieses Parfüms besprengst, wirst Du im Traume noch einmal diesen Maskenball durchleben. Oder Du kannst auch vor dem Schlafengehen von dem Parfüm trinken, in einer wässerigen Verdünnung, an der Du nicht mehr den geringsten Geruch dieses Parfüms wahrnimmst. Aber im Schlafe sind unsere Sinne eben so geschärft, dass auch die minimalste Spur eines Geruches oder Geschmackes doch noch auf die Nerven, auf das Gehirn wirkt. Oder es kommt hierbei eben eine andere, uns sonst ganz unbewusste Funktion des Gehirns in Betracht.

Und wenn Du nun zehnerlei oder zwanzigerlei und noch mehr solcher Fixiermittel zusammenmischest und sie benutzest, so erscheinen die Bilder und Erinnerungen, welche Du mit ihnen fixiert hast, alle zusammen Dir gleichzeitig im Traume.

Nun muss ich hierzu allerdings eines bemerken: Je länger ich in solcher Weise experimentierte, desto sensitiver wurde ich, desto leichter reagierte mein Gehirn im Schlafe auf solche Fixiermittel. Von allem Anfang an war das nicht so. Es ist eben auch hiermit wie bei jeder anderen Sache: Wenn man die möglichste Vollkommenheit erreichen will, so muss man von vorn anfangen, Übung macht den Meister. Aber durch zahllose Versuche an anderen Personen, die ich persönlich dazu anleitete, habe ich gefunden, dass auch jeder andere Mensch solche Vollkommenheit in der Beherrschung seines Traumlebens erreichen kann. — Menschen, welche sonst im Alltagsleben durchaus nicht sich durch geistige Fähigkeiten auszeichneten.

Ferner betone ich bei dieser Gelegenheit, dass ich durch solche Experimente nicht etwa ein für das praktische Leben unbrauchbarer Träumer wurde. Ganz im Gegenteil! Niemals bin ich meinen Berufspflichten freudiger nachgekommen, niemals habe ich am Tage größere Arbeitskraft gefühlt als damals, da ich meine ganze Freizeit der Erforschung des Traumlebens widmete. Der vorurteilsfreie Leser wird dies auch aus allem schließen können. Der erste Paragraf meines Rezeptes lautet: Was Du tust, das tue voll und ganz; konzentriere Deine ganze Aufmerksamkeit auf das, was Du siehst und hörst und erlebst! Das tust Du zuerst nur zu dem Zwecke, um Dir Erinnerungen für Deinen Traum zu fixieren. Aber diese Gedanken- und Sinneskonzentration geht Dir sehr schnell in Fleisch und Blut über. Deine Beobachtungsgabe und Deine Sinne werden sich auch im Gebrauche für das praktische Alltagsleben bis zu einem Grade verschärfen, wovon Du früher gar keine Ahnung hattest.

*

Littlelu schloss das Buch, die Broschüre, ein quadratisches Heft.

»Hiermit breche ich ab.

Es ist nur der vierte Teil des Werkchens, und zwar ist es ein Manuskript, eine Handschrift, die ich Ihnen vorgelesen habe.

Der Verfasser hat seine Gründe gehabt, das Manuskript nicht drucken zu lassen, seine Erfahrungen nicht zu veröffentlichen.

Es ist ein Deutscher, sein Name tut nichts zur Sache. Als anglisierter Schriftsteller nannte er sich später Frett Barkor(1). Ursprünglich war er ein Seemann. Als er die ersten Experimente anstellte, besuchte er die Steuermannsschule, dann hat er sie meistens an Bord des Schiffes fortgesetzt, während ihm in allen Weltteilen der Wind um die Nase pfiff.

(1) Siehe hierzu die Erläuterung in der Fußnote auf S. 299.

Was ich Ihnen aus seinen Manuskripten vorgelesen habe, das genügt, um Sie einzuweihen, worum es sich handelt.

Alles andere gebe ich mit summarischer Kürze wieder.

Sehr interessant ist auch sein Rezept, auf welche Weise man seine Sinne, seine Aufmerksamkeit, seine Bobachtungsgabe immer mehr ausbilden kann.

Er schildert ausführlich, wie er zum Beispiel auf der Straße an einem Schaufenster vorübergeht, es enthält etwa Spielwaren, nur während des Vorübergehens blickt er hinein, und ist er vorüber, so fragt er sich: Was hast Du gesehen? Was alles war in dem Schaufenster? Wie waren die Sachen geordnet? — Darüber gibt er sich Rechenschaft, dann dreht er um und überzeugt sich, was er alles in seiner Erinnerung behalten hat, macht den Versuch noch einmal, verbessert sich und so weiter.

Dass man durch solche fortgesetzte Übungen schließlich eine schier fabelhafte Beobachtungsgabe bekommt, ist wohl glaubhaft, und da darf man doch nicht etwa von nutzlosen Träumereien sprechen.

Aber auch sonst hat dieser Frett Barkor zur Erforschung des Traumlebens unablässig weiter experimentiert.

Zuletzt kam es ihm hauptsächlich darauf an, mit Sicherheit zu konstatieren, ob der Traum wirklich nur einen einzigen Moment währt.

Dies hat er denn auch durch eine genial erdachte Methode erwiesen.

Noch in diesem Manuskript hier gibt er das Rezept, wie man sich auch auf andere Weise Träume verschaffen und ihren Inhalt bis in die kleinsten Details regulieren kann.

Es ist ja nicht nötig, dass man das, was man träumen will, vorher sehen und erleben muss. Man kann doch auch beim Lesen eines Buches, eines Romans so ein Gewürz im Munde haben, durch das angewendete Fixiermittel erlebt man dann das Gelesene im Traume persönlich mit.

Nun kann man aber auch das wieder, was man schon geträumt hat, in Form einer Erzählung niederschreiben, dabei ein Fixiermittel benutzend, bei dessen Anwendung man die Erzählung noch viel deutlicher durchträumen muss.

Oder man kann sich solch eine Erzählung unter Benutzung eines Fixiermittels vorlesen lassen.

Kann man sich da nicht auch die Erzählung während des Schlafes vorlesen lassen, sodass alles wie eine hypnotische Suggestion wirkt?

Ich will kürzer berichten. Auf diese Weise, nach zahllosen Experimenten, kam Frett Barkor auf eine ganz andere Methode, sich Träume zu erzeugen. Er schaffte sich einen Phonographenapparat an. Während des tiefen Schlafes das zu hören, was ihm der Phonograph vorsprach oder vorsang, etwa gar als Tatsache mitzuerleben, das gelang ihm nicht. Der natürliche Schlaf ist eben etwas ganz anderes als der hypnotische Zustand.

Barkor löste dieses Problem in anderer Weise. Es war ein Edison'scher Walzenphonograph. Durch mehrfache Übersetzung brachte er die Umdrehung der Walze auf eine dreißigfache Geschwindigkeit. Ebenso schnell bewegte sich natürlich der Stift mit dem Schalltrichter über die Walze hin. Bei normaler Umdrehung spielte die Walze drei Minuten — diese Kürze war Absicht — jetzt also nur sechs Sekunden. In diesen sechs Sekunden schnarrte das ganze Lied, oder was sich sonst auf der Walze befand, ab. Obgleich der Stift jede Rille mitnahm, war natürlich nur ein einziger schnarrender Ton zu hören.

Nun ließ sich Frett Barkor eine Walze geben, von der er nicht die geringste Ahnung hatte, was sich darauf befand. Nicht einmal, ob es ein Konzertstück war oder ein gesungenes Lied oder etwas Gesprochenes oder sonst etwas.

Der Phonograph besaß eine Vorrichtung, durch welche der Mechanismus zu irgend einer beliebigen Zeit selbsttätig eingeschaltet wurde.

Frett Barkor legte sich, müde genug, zum Schlafen nieder.

Neben ihm stand der Phonograph.

Um ganz sicher zu gehen, ließ er sich auch noch von zwei Freunden, mit denen er damals zusammen experimentierte, beobachten, sie wachten also in dem Zimmer.

Er wusste nicht einmal, wann der Phonograph zu schnarren beginnen würde, auch die beiden Freunde wussten es nicht, ebenso wenig, was sich auf der Walze befand. Denn die drei waren so vorsichtig, dass sie sogar an eine etwaige Gedankenübertragung dachten — eine ganz überflüssige Vorsicht.

Also nach etwa zwei Stunden begann der Phonograph plötzlich und unvermutet zu schnarren — ein misstönendes Schnarren, das sechs Sekunden lang währte.

Die Zeit wurde durch eine Stechuhr kontrolliert, so weit das möglich war.

Fast sofort war der Schläfer emporgefahren.

Nun darf man aber doch nicht glauben, dass man, wenn man aus dem Schlafe emporfährt, auch wirklich sofort ganz wach ist.

Und hierdurch eben wurde konstatiert, dass jeder Traum im Moment des Erwachens entsteht und so lange währt, wie — die Seele braucht, um sich aus dem Reiche des Unbewussten in die Wirklichkeit zurückzufinden. So wenigstens drücken sich die Okkultisten aus.

Doch das ist hierbei ganz Nebensache. Die Hauptsache war, dass das gelungen war, worauf es bei diesem Experiment ankam.

Frett Barkor hatte einen langen, langen Traum durchträumt. Nach den verschiedensten Situationen und Erlebnissen war er im Theater gewesen, in der Oper, Mozarts »Zauberflöte« war gespielt worden. Sarastro hatte sein »In diesen heiligen Hallen« gesungen. Ganz hatte er das Lied nicht beenden können, da war der Traum durch das Erwachen abgebrochen worden.

Nun wurde die Walze auf normale Umdrehungsgeschwindigkeit eingestellt, und da erklang aus dem Trichter mit Bassstimme. »In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht.«

Das Experiment war gelungen!

Und jetzt folgte ein derartiges Experiment nach dem anderen.

Die Walzen wurden erst besprochen. Es wurde etwas erzählt, wovon der Schläfer keine Ahnung hatte. Es gelang auch, der Walze eine noch größere Umdrehungsgeschwindigkeit zu geben. Und je mehr das der Fall war, je kürzer der Schalltrichter schnarrte, desto deutlicher hörte der Schläfer im Momente des Erwachens die gesprochenen Worte, die ganze Erzählung, machte stets einen selbstständigen Traum daraus, als sei er selbst der Erfinder, der Erzeuger der Erzählung.«

Littlelu stand auf und nahm von dem Wandschrank wieder den schwarzen Zylinder mit den Kupferdrähten.

»Was die okkultistische Gesellschaft, in deren Mitte zu weilen wir jetzt die Ehre haben, mit diesem Apparate leisten kann, das ist nur eine Fortsetzung der Experimente jenes Frett Barkor. Er zuerst hat dieses Problem angeregt, hat es gelöst, soweit es ihm bei seinen damaligen Hilfsmitteln möglich war.

Damals besaß er nur einen Phonographen, sogar einen sehr unvollkommenen. Unterdessen hat der Däne Poulsen sein Telegrafon erfunden. Dieser Apparat ist Ihnen wohl bekannt. Es ist ebenfalls ein Phonograph. Die Töne werden aber nicht wie auf dem bisherigen mechanisch fixiert, festgehalten und wiedergegeben, sondern auf elektromagnetischem Wege. Es wird auf ein Stahlblech gesprochen, Elektromagnetismus hält die Schwingungen fest, diese werden nach Willkür durch einen anderen elektrischen Strom wieder abgelöst. Statt des Bleches kann man auch einen Stahldraht benutzen, dünner als der feinste Blumendraht, und da dieser endlos lang sein kann, kann auch beliebig lange in den Apparat gesprochen oder gesungen werden.

Diese geheime Gesellschaft, die sich hauptsächlich auch mit mechanischen Erfindungen beschäftigt, hat nun dieses Telegrafon freilich ganz bedeutend verbessert. Statt des Stahles benutzt sie ein ganz anderes Material. Immerhin, es muss betont werden, dass alle diese Erfindungen ursprünglich von Menschen herrühren, welche noch voll und ganz dieser Erde angehören.

Also in solch ein Telegrafon wird eine sorgfältig ausgearbeitete Erzählung gesprochen. Das, was Sie vorhin geträumt haben, das Erlebnis in der Steinzeit, erfordert zum Beispiel vier Stunden ununterbrochenes Sprechen.

Jetzt stellen Sie sich einen Gummistreifen von nur einigen Millimetern Breite vor. Dieses Gummiblättchen kann in eine Länge von mehreren hundert Metern auseinandergezogen werden. Sie werden sagen: Das geht nicht, solch ein Gummi elastikum gibt es ja gar nicht. Stimmt. Ich führe auch nur ein Gleichnis an. Es ist eine ganz andere Substanz, welche die Erfinder benutzen. Aber bleiben wir nur bei dem Gummi.

Auf diesen auseinandergezogenen Gummistreifen wird die vier Stunden lange Erzählung gesprochen. Geht der Streifen in dieser Länge noch einmal durch den Apparat, so kommt die Erzählung wieder heraus, vier Stunden lang. Je mehr man den Gummistreifen aber wieder zusammenlaufen lässt, desto schneller spricht der Apparat. Ist der Streifen wieder gänzlich zusammengezogen, so hört man nur ein Schnarren, kaum eine Sekunde während.

Selbstverständlich sind da keine Worte mehr zu vernehmen. Wohl aber tut dies das menschliche Gehirn im Schlafe, wo es eben ganz anders funktioniert. Wie, das wissen auch diese Mahatmas und Adepten nicht.

Eine andere Erklärung kann ich Ihnen, meine Herren, nicht geben. Ich selbst bin ein Schüler dieser Mahatmas, der kaum das ABC hinter sich hat, und deren weitere Erklärung würden Sie ganz und gar nicht verstehen.

Es ist eine Erzählung, die Ihnen innerhalb einer Sekunde suggeriert wird, wozu nun freilich auch noch gehört, dass Sie in dieser Sekunde auch in eine besondere Art von Hypnose versetzt werden. Der Betreffende spielt in der suggerierten Erzählung immer die Rolle des Haupthelden, was er zu tun und zu lassen hat, wird ihm vorgeschrieben, nur die Detailmalerei kann er selbst ausführen.«

Littlelu hatte seinen Vortrag beendet.

»Fabelhaft, es ist fabelhaft!«, staunten die beiden Freunde.

»Fabelhaft?«, wiederholte Littlelu. »Halten Sie so etwas nicht für möglich, nachdem ich Ihnen von Grund auf alles erklärt habe, so weit ich es eben kann?«

»Ja, wir glauben, dass es so ist und nicht anders, aber ist das nicht etwas ganz Großartiges?«

»Gewiss, das ist es. Diese Erfindung ist wohl ihre zehn Millionen Dollars wert.«

Er drehte in dem geöffneten Wandschrank an einem Hebel, stülpte sich den Zylinderapparat über den Kopf, ein schnarrendes Geräusch, und er nahm ihn wieder ab.

»Wissen Sie, wo ich jetzt gewesen bin? Ich habe den Turmbau von Babel mitgemacht. Angenehm war's nicht gerade. Gegen zwanzig Jahre lang habe ich Steine schleppen müssen.«

Die erstaunten Gesichter der beiden anderen lassen sich denken.

»Was, zwanzig Jahre lang?!«

»Na, zweifeln Sie denn noch daran, dass so etwas möglich ist? Die Länge der Zeit spielt doch dabei überhaupt gar keine Rolle. Tausend Jahre sind ihm wie ein Augenblick, und ein Augenblick sind ihm tausend Jahre. So ungefähr steht wohl in der Bibel, mit Bezug auf Gott. Das ist hier in diesem Apparate in praktische Wirklichkeit umgesetzt. Kommen Sie mal her.«

Ehe es Sir Wilcox verhindern konnte, hatte ihm Littlelu den Zylinder über den Kopf gestülpt und nach dem Schnarren gleich wieder abgenommen.

»Na, was haben Sie erlebt?«

Das bestürzte Gesicht, das der Baronet vorhin gemacht hatte, als er aus seiner erträumten Steinzeit erwachte, war nichts gegen sein jetziges.

Er blickte gerade in einen Wandspiegel, und sein erstes war, dass er mit beiden Händen in sein bartloses Gesicht fuhr.

»Wo sind meine Runzeln? Wo ist mein langer, weißer Bart?«

»Ja, in zwanzig Jahren kann man wohl einen weißen Bart bekommen, besonders wenn man immer Steine schleppen muss!«, lachte Littlelu.

»Das ist ja zum Wahnsinnigwerden!«, schüttelte sich der Baronet wie vor Grauen, denn er hatte in dieser Sekunde eben wieder ein Erlebnis durchgemacht, das diesmal aber zwanzig Jahre lang gewährt hatte — beim Turmbau zu Babel mitgeholfen.

Littlelu aber machte plötzlich ein sehr ernstes Gesicht und schüttelte abwehrend die Hand.

»Na, na, zum Wahnsinnigwerden ist das lange nicht! Oder der Betreffende, mit dem solch ein Experiment gemacht wird, ist eben noch nicht reif für so etwas. Aber sollte ich mich in den Herren geirrt haben? Ist es wirklich zum Wahnsinnigwerden?«

Schnell hatte sich der Baronet wieder gefasst, konnte jetzt lachend erklären, dass dies nur so eine Redensart gewesen sei.

»Aber parbleu, das ist eine Erfindung, für die mancher Unternehmer noch mehr als zehn Millionen bar auf den Tisch zahlen würde. Wenn man sich das vorstellt, wenn eine ganze Gesellschaft zusammensitzt, jeder Person wird für eine Sekunde dieser Topf übers Haupt gestülpt, jeder durchlebt in dieser Sekunde ein ganzes Leben — ja, was für eine Perspektive eröffnet sich da für die Menschheit?!«

»Das kann ich mir selbst gar nicht ausmalen!«, entgegnete Littlelu. »Die Hauptsache aber ist, dass jene indischen Okkultisten — denen allerdings auch sehr, sehr viele Europäer angehören — diese Erfindung vorläufig noch nicht aus den Fingern lassen. Wünschen Sie auch einmal zwanzig Jahre lang beim Turmbau zu Babel Steine zu schleppen, Mister Ramford?«

»Das ist mir ein bisschen zu lange —«

»Na, dann vielleicht einmal sechs Wochen in den Serail von Konstantinopel, in den Harem des Sultans? Mit 5000 Odalisken, he?!«

»Als Sultan?«, lachte der Gefragte.

»Nee, aber als Eunuch.«

Und schon hatte ihm Littlelu, der wieder einen Hebel gedreht, den Zylinder über den Kopf gestülpt.

Als er ihn nach dem schnarrenden Geräusch sofort wieder abgehoben hatte, wollte Ramford vor Lachen vom Stuhle fallen.

»Was hast Du denn erlebt, dass Du —?«

Sein Freund, der Baronet, konnte den Satz nicht vollenden, denn schon hatte Littlelu auch ihm den Zylinder über den Kopf gestülpt, und eine Sekunde später krümmte sich auch der sonst so phlegmatische Baronet vor Lachen.

»Herrlich, köstlich, himmlisch!!! Ja, da braucht man doch gar nicht mehr in dieser wirklichen Welt zu leben!«

»Sie haben recht, diese Welt haben wir auch überwunden. Wenigstens in einem gewissen Sinne. Aber kann man sich nicht auch im Traume satt essen und trinken? Doch lassen wir das, sonst begeben wir uns in ein Labyrinth von Spekulationen. Fragen Sie auch nicht, wie Sie schon damals durch die lemurischen Priester in dieses Traumland geschickt werden konnten, in diese selbe Steinzeit hinein. Fragen Sie mich nicht, inwiefern Sie damals auf der dritten Astralebene waren, während wir uns hier mit der ersten, mit dem einfachen Traume begnügen. Jene okkultistische Gesellschaft hat mit diesen lemurischen Priestern schon immer in Verbindung gestanden, das weiß ich, mehr aber nicht, würde es auch gar nicht verstehen, denn wie gesagt, ich selbst bin erst ein ABC-Schüler. Bleiben wir vorläufig nur bei dem, was wir jetzt begreifen können.«

Littlelu blickte nach der Uhr.

»Wir haben noch eine Stunde Zeit bis zum Mittagessen. Wollen wir diese Stunde möglichst vergnüglich ausfüllen.

Aber, wenn auch immer noch phantastisch genug, doch weit realer.

Der Hauptspaß bei der ganzen Geschichte besteht eigentlich darin, dass man solche Erlebnisse selbst erdichtet und dann als Wirklichkeit erlebt.

Hierzu ist natürlich einige Übung nötig, denn wenn auch jeder Mensch im Traume ein genialer Dichter ist, so vermag er es dann doch nicht schriftlich in der passendsten Weise wiederzugeben.

So werden Sie jetzt eine Erzählung von jenem Frett Barkor zu hören bekommen.

Frett Barkor hat dann später seinen Seemannsberuf an den Nagel gehängt und sich mit dem Erfinden und Niederschreiben solcher Erzählungen befasst.

Diese Geschichte, die Sie jetzt zu hören bekommen werden, hat er in besonderer Weise arrangiert. Auf welche Weise, das werden Sie gleich sehen, ich kann mir alle weitere Einleitung ersparen.«

Littlelu nahm aus dem Schranke einen kleinen Apparat, dessen Hauptsache ein Schalltrichter war, und alsbald erklang es aus diesem mit klarer Stimme heraus:

Hokapoka duplikata
Eine Phantasie von Frett Barkor(*)

(*) Anmerkung der Redaktion: Frett Barkor ist das Anagramm von Robert Kraft; es sind dieselben Buchstaben.

Es war ein seltsamer, alter Herr, den ich da im Löwenbräu am Biertisch zufällig kennen gelernt hatte. Eine Vorstellung gibt es hier nicht. Anfangs hielt ich ihn für einen pensioniertem Laternenanzünder — er hatte so eine rote Nase und putzte fortwährend an den Gläsern seiner Hornbrille herum — dann aber kam ich auf den Verdacht, ob ich hier nicht einen großen Professor vor mir hätte, denn gescheit war der Mann, grundgescheit!

Zuerst unterhielten wir uns natürlich übers Bier, dann kam Hopfen und Malz daran, dann die Hefe, welche die alkoholische Gärung einleitet — und mit einem Male waren wir mitten drin in der Bakteriologie.

Gewiss, er war ein gelehrter Bakteriologe! Der alte Herr warf mit Pilzen, Bakterien und Bazillen um sich, dass mir angst und bange wurde und ich alle diese niedlichen, zum Teil noch unentdeckten Tierchen schon in meinem Magen krabbeln fühlte.

Ja, er beobachtete die Fortpflanzung, den Spaltungsprozess der Bakterien und anderer mikroskopischer Lebewesen. Das verstand ich. Aber was er mir noch von diesem Spaltungsprozess alles erzählte, verstand ich keine Spur, das war zu furchtbar gelehrt. Als wir den vierten Liter Löwenbräu tranken, fing er von Pflaumenbäumen und Kartoffeln an — aber das alles hing eng mit dem Spaltungsprozess der Bakterien zusammen, er bewies nämlich, wie sich doch auch die Pflanzen nicht nur durch Samen, sondern auch durch direkte Spaltung vermehren, aus den Wurzeln heraus, wenn diese verletzt werden, durch Knollen, durch Senker — und beim fünften Liter Löwenbräu ließ er ganze Ochsen sich spalten — — und beim sechsten Maßkruge kopulierte und okulierte er Menschen, pfropfte einen auf den anderen und vermehrte sie wie die Kartoffeln.

»Aber — aber, erlauben Sie«, wagte ich schüchtern einzuwenden, »die Menschen sind doch keine Kartoffeln!«

»Ganz richtig, die Menschen sind keine Kartoffeln!«, bestätigte er tiefernst, nach seinem siebenten oder schon achten Maßkruge greifend. »Aber das Kartoffelkraut ist ursprünglich ein Nachtschatten, ein Unkraut, giftig dazu, und dass dieses giftige Unkraut jetzt bekömmliche, wohlschmeckende Knollen trägt, dazu ist der Nachtschatten erst durch die Kultur der Peruaner und Chilenen veredelt worden. Wir haben ganz genau dasselbe doch mit unserer Möhre. Die ist ursprünglich auch nur ein Unkraut mit ungenießbarer Wurzel — daucus sylvestris — erst durch die Kultur ist sie zur genießbaren Möhre gemacht, veredelt worden. — Ich sage also: Der Same pflanzt die Art fort, die Wurzel, die Knolle, der Senker pflanzt das Individuum fort. Wie nun der Mensch durch Erfahrung und durch Erkenntnis dieses Gesetzes jetzt schon imstande ist, die Pflanze willkürlich zu veredeln und die einmal veredelte Pflanze durch Spaltung des Individuums ins Endlose zu vermehren, so wird es der Mensch — verlassen Sie sich drauf! Prost! — wird es der Mensch noch so weit bringen, indem er die Winke benutzt, die ihm die Natur gibt, wie sich die kleinsten tierischen Lebewesen spalten, und dies mit seinen Erfahrungen zu verbinden weiß, welche er bereits gesammelt hat, wie er die größten Tiere durch langsame Zucht nach und nach veredelt, dass er diese einmal veredelten Tiere auch durch Spaltung sofort vermehren kann — und schließlich der Mensch sich selbst. Haben Sie mich verstanden, wie ich mir die Spaltung des Menschen vorstelle?«

Nein, ganz und gar nicht. Und das umso weniger, als ich nicht gewohnt war, auf einen Sitz sechs ganze Maß Löwenbräu zu trinken.

»Also Sie meinen, der Mensch wird dereinst zur Vermehrung seines Geschlechtes auseinandergesägt und die einzelnen Stücke werden wie die Kartoffeln in die Erde —«

»Nein, o nein! So einfach, wie Sie, geehrter Herr, sich die Sache denken, ist sie nun freilich nicht. Da muss noch viel studiert und probiert werden, da wird noch viel Löwenbräu getrunken — prosit, mein Herr! — ehe wir erst einmal so weit sind, um nur die allerkleinsten Insekten durch direkte Spaltung ins Endlose vermehren zu können, und dann müssen diese Insekten doch auch erst veredelt werden. Jedenfalls aber müssen wir, nachdem wir uns über den Spaltungsprozess der Bakterien und sonstigen Mikroben genügend im Klaren sind, mit den Insekten beginnen, und zwar mit solchen, welche für ihre Brut eine außergewöhnliche Sorgfalt an den Tag legen. Ich denke hauptsächlich an die Formicida, an die Ameise. Die Ameise trägt ihre Puppen in die Sonne und bringt sie wieder ins Trockene, wenn es regnet, und diese Puppen müssen ihr so lange fortgenommen werden, bis sie nach und nach die Erinnerung an die Puppen verliert, und dann muss sie durch einen künstlichen Reiz veranlasst werden, dass sie an eine andere Art von Erhaltung ihres Geschlechtes denkt. Gerade bei der Ameise bin ich nicht sehr für die Vermehrung durch Senker, dass man etwa einer Ameise ein Bein amputiert und dieses Bein schnell auf eine andere Ameise okuliert. Es wäre doch sehr die Frage, ob sich aus dem aufgepfropften Beine nun auch wirklich eine andere Ameise entwickelt. Da müsste jedenfalls noch künstliche Blutzuführung gemacht werden. — Auf Ihr Wohl, mein Herr! Kellner, noch eine Maß! — — Nein, gerade bei der Ameise halte ich die direkte Spaltung für die einfachste Art der Vermehrung. Ihr eingeschnürter Leib ist dazu wie geschaffen. Nebenbei muss man immer jene Tiere beobachten, welche verloren gegangene Gliedmaßen zu ersetzen wissen. Man muss ihnen ablauschen, wie sie das machen. Also zum Beispiel die Polypen, die Krebse, die Eidechsen. Aber der Polyp, der Krebs, die Eidechse muss natürlich erst veredelt werden. — — Meine Blume, Herr! — — Nun haben Sie mich wohl verstanden, wie ich das meine. Das ist doch ganz einfach. So geht man nach und nach von Stufe zu Stufe, bis man zuletzt den durch sachgemäße Erziehung veredelten Hammel halbieren kann, sodass man zwei solcher edlen Hammel hat, aus diesen gewinnt man vier, aus diesen acht Hammel und so fort. Verstehen Sie mich nun?«

»Und Sie meinen, auf diese Weise können zuletzt auch die Menschen vermehrt werden?«, fragte ich, immer schüchterner werdend.

»Selbstverständlich, selbstverständlich! Das heißt, beim Menschen halte ich die Halbierung und das Pfropfen von Gliedmaßen nicht für angebracht, und so, wie Sie meinen, Körperteile gewissermaßen als Knollen auszusäen, das dürfte große Schwierigkeiten haben, denn lebendig muss das Individuum, das gespalten werden soll, natürlich bleiben, wenigstens so lange, bis eine glückliche Spaltung erfolgt ist. Ich denke mir die Sache ganz einfach so: Einem jungen, gesunden, schön gewachsenen, talentvollen Manne wird etwa hinten aus dem Nacken künstlich ein Geschwür erzeugt. Das Geschwür wird durch geeignete Ernährung in der Entwicklung befördert — das ist also gewissermaßen die Blüte am Pflaumenbaum — und wenn das Geschwür reif ist, so bricht daraus die Frucht, die reife Pflaume, als ein schon weit entwickelter menschlicher Embryo heraus. Dieser Embryo nun wird einstweilen von dem jungen Manne auf dem Nacken herumgetragen, er ist ja auch mit ihm verwachsen, danach muss sich der junge Mann auch ernähren — so viel Bier darf er natürlich nicht trinken wie wir! — und erst wenn das Kind sich selbstständig ernähren kann, wird es durch eine ganz einfache Operation von seinem Vater, der auch zugleich seine Mutter ist, getrennt. Nun kann man aber auch überzeugt sein, ganz genau dieselbe Frucht von ganz genau demselben Geschmacke bekommen zu haben. Na, was meinen Sie zu meiner Idee, hä?«

»Herr Professor«, entgegnete ich mit meiner mir angeborenen Bescheidenheit, »das ist ja alles recht genial ausgedacht, ich halte die Ausführung auch recht wohl für möglich, aber — wenn sich die Menschheit nun einmal weiter vermehren soll, dann schlage ich vor, wollen wir doch lieber bei der alten Methode bleiben!«

»Sie sind ein großes Kamel, Sie spalte ich nicht!«, wurde der alte Herr plötzlich grob.

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidert habe, weiß auch nicht mehr recht, wie ich nach Hause gekommen bin, in mein Bett, an den Vorsetzen in Hamburg.

Nur das weiß ich, dass ich unterwegs mir immer hinten an meinen Hals griff, ob ich nicht etwa schon so eine menschliche Pflaume dranhängen hätte. Und dann quälte mich ein fürchterlicher Traum, der Alte mit der Hornbrille experimentierte mit mir, pumpte in meine Adern Ameisenblut, pfropfte mir auf den Rücken einen Eidechsenschwanz und vorn vor den Kopf einen Elefantenrüssel, und schließlich wurde ich zerschnitten und wie die Kartoffeln ausgesteckt.

*

Einige Jahre später — ich hatte den Unsinn natürlich schon längst vergessen — lag ich mit meinem Schiffe in Funchal, der Haupt- und Hafenstadt der Insel Madeira.

Wie ich eines Tages durch die bergigen Straßen pilgere, da fällt mir ein alter Mann auf — »Herrgott, wo hast Du den schon einmal gesehen, diese rote Nase, diese Hornbrille« — bei diesem Grübeln greife ich mir unbewusst, aber doch vielleicht von einem Reflex-Instinkte geleitet, in den Nacken — — und da schieße ich auch gleich auf ihn zu.

»Grüß Gott, Herr Bakteriologe! Was machen die Ameisen? Was machen die Hammel? Was machen die Kartoffeln? Haben Sie schon recht viele Krebse und Eidechsen veredelt? Haben Sie auch schon einen menschlichen Embryo als reife Pflaume im Genick sitzen?«

Nun hatte auch er sich gleich besonnen.

»Ach, der aus dem Hamburger Löwenbräu! Wie kommen denn Sie nach Madeira?«

»Mit meinem Schiffe. Ich bin Seemann. Bin aber abgemustert worden, wohne jetzt in einem Hotel. Und wie kommen Sie hierher?«


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Der Alte blinzelte schlau mit den Augen.

»Ich hab's hier unterdessen schon weit gebracht!«, flüsterte er dann.

»Mit den Bakterien?«

»Die habe ich schon längst hinter mir.«

»Mit den veredelten Schöpsen?«

»Nein, so weit bin ich nun wieder noch nicht. Aber mit den Ameisen bin ich nun schon fertig.«

»Was Sie nicht sagen! Haben Sie schon Ameisenbeine amputiert und okuliert und gepfropft und künstliche Bluteinspritzungen gemacht?«

»Nein, damit war es nichts, wie ich's überhaupt damals gleich sagte. Es ging wohl, das gepfropfte Bein wuchs immer ganz gut an, es hätte sich auch eine andere Ameise daraus entwickelt, aber die künstliche Blutzuführung machte zu viele Schwierigkeiten, ich konnte nicht genügend kleine Pumpen auftreiben, ich hätte die Ameise immer auch festschnallen oder chloroformieren müssen — wie ich damals sagte.«

»Und inwiefern sind Sie denn nun sonst schon so weit mit den Ameisen gekommen?«

»Na, eben auf eine andere Weise, durch direkte Spaltung. Die hiesige Art schien mir dazu gerade recht geeignet, die hat einen so eingeschnürten Leib, und so siedelte ich eben nach Madeira über. Und ich hab's erreicht!«

»Sie können aus einer Ameise durch Teilung zwei Ameisen machen?«, lächelte ich.

»Gewiss!«, entgegnete er ernsthaft. »Es ist mir sogar noch viel mehr gelungen, als was ich in meinen kühnsten Träumen zu hoffen wagte. Ich habe aus der Ameise heraus ein ganz neues Tier gezüchtet. Sie glauben's nicht? Kommen Sie mal mit. Ich wohne gleich hier.«

Zeit hatte ich genug, und diesen kuriosen Kauz musste ich doch einmal in seiner Wohnung besuchen. Gut, ich ging mit.

»Aber«, sagte der Alte erst noch, warnend den Finger hebend, »machen Sie vor Staunen nicht etwa den Mund so weit auf, dass Sie ihn dann nicht wieder zubekommen!«

Er war noch ganz derselbe.

Es war gar nicht weit, wir betraten ein Haus, welches, wie hier fast meistenteils, halb in den Felsen gehauen war, erstiegen eine steinerne Treppe, mein Führer blieb vor einer Tür stehen und zog einen Schlüssel aus der Tasche.

An der Türe war ein Schild befestigt, und ich las:

»Professor Hokuspokus Duplikatus«.

»Wer ist denn das?!«, fragte ich erstaunt.

»Das bin ich!«, entgegnete der Alte mit einem Anflug von Stolz, gegen seine Brust klopfend.

Ich folgte ihm in ein Zimmer, in welchem mir am allermeisten ein kolossaler Panzergeldschrank imponierte. Solch ein Ungetüm hatte ich noch gar nicht gesehen.

»So«, sagte Herr Professor Hokuspokus Duplikatus, »da wären wir. Jetzt, Senhor, werden Sie etwas zu sehen bekommen. Ich spreche sonst niemals von meinen Experimenten, solange ich kein vollendetes Resultat vorweisen kann, und die Züchtung der Formicida hokapoka duplikata — Sie verzeihen mir doch die Schwäche, dass ich die neue, sozusagen von mir geschöpfte Ameise nach mir benannt habe — ist ja auch nur ein Durchgangsexperiment, denn einen praktischen Nutzen für die Menschheit hat die Spaltameise doch schließlich nicht. Da ich aber damals, von Löwenbräu angeregt, schon etwas zu viel davon zu Ihnen gesprochen habe, so sollen Sie es nun auch sehen. Außerdem habe ich Sie noch um Entschuldigung zu bitten, dass ich Sie damals ein großes Kamel genannt habe. Nein, das sind Sie nicht, auch kein kleines. Sonst hätten Sie mich nicht sofort wiedererkannt und gleich gefragt, wie weit ich mit meinen Experimenten vorgeschritten sei. Zwar haben Sie mir damals für das große Kamel gleich eine ins Gesicht gelatscht, aber — das ist nun alles vergeben und vergessen. Also Sie sollen der erste sein, der die Formicida hokapoka duplikata zu sehen bekommt. Doch möchte ich Sie aus angeführtem Grunde ersuchen, dass Sie keinem Menschen etwas davon verraten.«

»Ganz gewiss nicht, Herr Professor!«

»Schön, ich danke Ihnen. Patentieren zu lassen brauche ich mir meine Erfindung nicht, es kann sie mir doch sowieso niemand nachmachen, sie soll auch dereinst zum Segen der Menschheit Gemeingut werden, und dass, falls ich inzwischen sterbe, ohne schon so weit zu sein, mich durch einen Senker fortzupflanzen, damit meine Erfindung nicht verloren geht, sondern weiter verfolgt werden kann, bis man auch Hühner und Hammel und Ochsen einfach spalten kann, sodass die ganze Eierlegerei und alles andere vollkommen überflüssig wird, dafür habe ich gleichfalls gesorgt.«

Mit diesen Worten hatte Herr Professor Hokuspokus Duplikatus die Tür verriegelt, jetzt zog er aus der Tasche ein mächtiges Schlüsselbund, stellte an dem Panzerschrank ein Vexierschloss auf ein geheimes Wort ein, nun konnte er aufschließen, schloss noch eine Panzertür auf, stellte drei Selbstschüsse ab, stellte noch ein Vexierschloss ein, schloss noch eine Panzertür auf, stellte noch sechs Selbstschüsse ab, dann musste ich mich umdrehen, weil jetzt das Geheimfach geöffnet wurde, und als ich mich wieder umdrehen durfte, schloss Herr Professor Hokuspokus Duplikatus immer noch eine Tür auf — nun aber hatte er es auch: einen Teller mit einer Käseglocke, unter der eine tote Maus lag!

»Formicida hokapoka duplikata!«, sagte der alte Herr feierlich, und eben so feierlich, wie der Oberkellner eine Rebhuhnpastete, so trug der die Käseglocke mit der toten Maus nach dem Tisch. »Dass ich dieser neuen, von mir erfundenen und erschaffenen Ameisenspezies meinen Namen gegeben habe, deswegen habe ich wohl schon um Entschuldigung gebeten. Übrigens war ich lange Zeit im Zweifel, ob ich die neue Ameise nicht lieber Formicidus hokuspokus duplikatus nennen sollte. Es sind nämlich nur Männchen, welche zu spalten mir bisher gelungen ist, und sollte hier ein Naturgesetz dahinter stecken, dass überhaupt nur das männliche Geschlecht durch direkte Spaltung fortgepflanzt werden kann, so würden alle Weibchen auf der Erde überflüssig sein und dürften bald als nutzlos ausgerottet werden. Für mich hätte das nichts zu bedeuten — ich bin nämlich Junggeselle.«

Ich war empört über solch einen krassen Egoismus, und ich war umso empörter, weil ich nämlich demnächst in den Stand der heiligen Ehe zu treten gedachte und weil ich in meine Braut bis über die Ohren verliebt war. Und dieser Unhold nun wollte alle Weibchen ausrotten! Ameisinnen und meine Braut!

Nun, man musste Rücksicht nehmen auf die Schrullen dieses alten Kauzes, und ich wandte meine Aufmerksamkeit der Käseglocke zu.

Es war keine gewöhnliche Käseglocke, sondern eine aus rotem Glase, welches die tote Maus im heitersten Lichte erscheinen ließ. Dann aber gewahrte ich wirklich auch Ameisen, welche sich mit der rosenroten Maus amüsierten, solche von der hiesigen Sorte, mächtige Biester, noch größer als unsere rote Waldameise, und ich sah deutlich, wie sie mit ihren unheimlichen Zangen große Stücke Fleisch aus der Mauseleiche herausrissen und sie mit Heißhunger verschlangen.

»Es sind liebe Tierchen!«, sagte der alte Professor zärtlich, sanft über die Käseglocke streichelnd. »Immer lebendig, immer fidel, immer voll Humor und Appetit. Was die alles fressen — Sie machen sich gar keinen Begriff! Heu, Pomade, Stiefelsohlen — alles ganz egal. Neulich setzte ich ihnen ein Ragout vor aus Arsenik und Zyankali, angerührt mit Alizarintinte — im Handumdrehen war's verschwunden, sie sahen sich nur mehr um und leckten mit der Zunge. Aber am allerliebsten ist ihnen rohes Fleisch, besonders wenn's noch lebendig ist.«

»Wie spalten Sie denn nun die Ameisen?«, fragte ich.

»Ich? Wie ich sie spalte? Das tun sie von ganz allein, so weit habe ich sie eben schon gebracht!«, lautete die stolze Antwort. »Das heißt, ich will mich nicht rühmen — wie ich schon sagte, das Resultat hat alle meine Erwartungen übertroffen. Ja, ich habe viele Jahre lang Tag und Nacht gearbeitet, ehe ich aus einer Ameise deren zwei machen konnte, aber dass diese sich nun von allein spalten würden, und das wieder und immer wieder, das habe ich nicht zu träumen gewagt. Ja«, setzte der Professor nachdenklich und mit etwas besorgtem Gesicht hinzu, »diese selbstständige Spaltung ist mir eigentlich gar nicht lieb, denn so entzieht sich die Fortpflanzung ganz der Kontrolle des Menschen, geht mir zu schnell, viel zu schnell, ich muss sehen, dass ich das meiner Ameise wieder abgewöhnen kann. Die unwillkürliche Spaltung setzt nur während der Nacht aus, und am Tage wird sie nur durch rotes Licht gehindert.«

»Unter dieser roten Glocke spalten sich die Ameisen nicht?«

»Nie. Nur im weißen Tageslicht.«

»Dann nehmen Sie die Glocke doch mal ab.«

»Gewiss, Sie sollen es sehen. Haben Sie eine Stunde Zeit? Denn die Spaltung vollzieht sich im Durchschnitt in einer Stunde, manchmal geht's etwas fixer, manchmal etwas langsamer.«

Ja, ich hatte eine Stunde Zeit, auch drei, eigentlich sogar drei Tage. Das heißt, so lange wollte ich hier nicht vor der rosenroten Käseglocke stehen bleiben.

Jetzt war ich nur neugierig, wie sich der Herr Professor Hokuspokus Duplikatus nun herauswickeln würde, wenn er die sichtbaren Beweise für die Wahrheit seiner Behauptungen erbringen sollte.

Er begab sich in das Nebenzimmer, beim Öffnen der Tür sah ich ein vollkommen eingerichtetes Laboratorium, und wie er wieder erschien, trug er eine große Flasche mit einer gelben Flüssigkeit.

»Das ist englische Schwefelsäure« erklärte er, »mit der müssen die Spaltameisen umgeben werden, damit keine entweicht. Schwefelsäure scheint nämlich das einzige zu sein, was die Formicida hokapoka duplikata durchaus nicht vertragen kann.«

Ich bemerkte denn auch in dem sonst ganz ebenen Porzellanteller am Rande eine breite Rille, welche also mit Schwefelsäure ausgefüllt werden sollte. Kolossal vorsichtig!

Dazu sollte es aber nicht kommen. Der Alte hatte die Flasche auf den Tisch gesetzt und wollte eben den Glasstöpsel herausziehen, als es an der Tür in besonderer Weise klopfte.

»Wer ist da?«

»Ich!«, sagte eine dünne Stimme, und das eigentümliche Klopfen wiederholte sich.

»Ah, mein lieber Freund und Mitarbeiter, der Professor Schnarras Lumpazius!«, sagte Herr Hokuspokus, ging nach der Tür, riegelte sie auf und — in das Zimmer stürmten portugiesische Soldaten und Polizisten.

Mir kam alles wie ein Traum vor. Wie ein Phantom sah ich den alten Professor zwischen den Uniformen verschwinden, er musste sofort gepackt und hinausgeschleppt worden sein.

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, ich bin nicht wahnsinnig, ich verlange Gerechtigkeit, oder ich lasse die Formicida hokapoka duplikata los!«

So hörte ich ihn noch einmal schreien, und dann hatte ich genug mit mir selbst zu tun, denn ein Offizier unterzog mich einem peinlichen Verhör. Wer ich sei und was ich von diesem sogenannten Professor Hokuspokus Duplikatus wisse und in welchen Beziehungen ich zu ihm stände.

Nun, ich antwortete der Wahrheit gemäß. Ich war mit dem Manne nur ein einziges Mal in Hamburg zusammen gewesen, ich hielte ihn für etwas überspannt, jedenfalls litte er an einer fixen Idee, wie er nach Madeira käme, wisse ich nicht, ich traf ihn hier zufällig, er hatte mir ein Experiment mit Ameisen vormachen wollen — von der Spalterei sagte ich aber lieber nichts, um nicht selbst in den Verdacht des Wahnsinns zu kommen, weil ich ihm deshalb hierher gefolgt war — meine Seefahrtspapiere hatte ich bei mir, hatte außerdem noch vom deutschen Konsul einen besonderen Schutzbrief bekommen, und der Offizier schien hiermit zufrieden zu sein.

Unterdessen stöberten die anderen Beamten und Soldaten alles durch, zuerst hatten sie sich auf den geöffneten Panzerschrank gestürzt, und als sie hier auch kein einziges Stück Papier fanden — die Ameisen unter der Käseglocke hatten den alleinigen Inhalt des diebes- und feuersicheren Geldschrankes gebildet — wurde weitere Untersuchung gehalten. Der eine Polizist hob sogar den leeren Teller mit den Ameisen vom Tisch, ob etwas darunter verborgen sei, er hielt den Teller schief, die Käseglocke rutschte herab, alles mitnehmend, und zerbrach am Boden — die tote Maus blieb liegen, Formicida hokapoka duplikata suchte das Weite.

Na, es gab hier auf Madeira noch genug von dieser Sorte; sie können lästig werden, sie beißen auch den Menschen im Bett.

»Hat er nicht auch gesagt, dass er Gold machen kann?«, fragte der Offizier weiter.

Nein, von dieser seiner Kunst hatte er mir nichts anvertraut. Das heißt, ich antwortete immer ganz sachgemäß.

»Sie halten ihn für irrsinnig?«

»Gewiss, ich halte ihn für geisteskrank, aber auch für ganz harmlos.«

»Er wird einige Tage in der Irrenanstalt beobachtet werden. Wir achten schon lange auf ihn. Er hat an Seine Exzellenz den Gouverneur einen Drohbrief geschrieben. Hier«, der Offizier gab mir meinen Schutzbrief zurück, »Sie werden sich sofort in Ihr Hotel begeben und dasselbe mit keinem Schritte eher verlassen, als bis Sie dazu wieder die polizeiliche Erlaubnis erhalten. Man wird Sie beobachten. Haben Sie mich verstanden, mein Herr?«

Ja, ich hatte verstanden. Da hatte mich ja der Monsieur Hokuspokus mit seinen Spaltameisen in eine eklige Patsche gebracht! Ohne den Schutzbrief wäre ich wahrscheinlich auch gleich als der Anarchie verdächtig eingesteckt worden.

Na, lange konnte mein Stubenarrest ja nicht dauern, einige Tage, und mit diesem Troste schlich ich meinem Hotel zu.

Ich hatte sowieso schreiben wollen, hatte Stoff für einige Wochen, und so machte ich mich auf meinem Zimmer sofort an die Arbeit.

Ich hatte noch nicht lange geschrieben, sinnend blicke ich vor mich hin, als ich da auf dem Tische eine große Ameise gewahre, welche an einer toten Fliege frisst. Wie gesagt, Ameisen sind hier nicht selten, es sind Hausgenossen, aber ihre Gefräßigkeit oder gar Gefährlichkeit ist nicht etwa so, wie es der Professor von seiner neu gezüchteten Spaltameise schilderte — im Gegenteil, sie werden im Hause gern gesehen, sie nützen mehr, als dass sie schaden, durch Vertilgen von anderen unangenehmen Insekten, sie verstehen sogar Fliegen und Mücken im Sprunge zu erhaschen oder zu beschleichen, wie sie überhaupt eine ganz andere Lebensweise führen als unsere deutschen Arten. Sie haben kein Nest, rauben einzeln und wandern nur in großen Zügen.

»Wenn das nun eine Formicida hokapoka duplikata wäre, die ich an meinen Kleidern mitgeschleppt habe, und sie finge sich jetzt zu spalten an?«

Wie ich das noch so lächelnd denke, fällt mir plötzlich etwas an der Ameise auf.

Gewiss, die in ihren Fraß vertiefte Ameise verändert sich zusehends!

Kommt das daher, weil sich ihr Magen immer mehr füllt?

Nein, der Leib wird nicht dicker, aber immer länger wird er!

Und da erscheint hinten ein Knötchen! Und dieses Knötchen schwillt immer mehr an! Und es wird zu einem Ameisenkopf! Und hinter diesem kommen Beine zum Vorschein!

Ich zupfe mich an meiner Nasenspitze und kneife mich ins Ohr, ob ich auch nicht träume, aber es hilft nichts — die größere Ameise, die ursprüngliche, die noch frisst, muss sich stemmen, weil die kleine, die neue, die jener aus dem Hinterleib herausgewachsen ist, davonlaufen will!

Mein Staunen lässt sich denken. Ich war starr. So war es also kein Wahnsinn, der aus dem alten Manne gesprochen hatte? Nein doch, ich sah ja hier den Beweis der Wahrhaftigkeit vor meinen Augen sich entwickeln!

Eine heilige Scheu überkam mich. Endlich raffte ich mich auf. Mit dem Schreiben war es jetzt natürlich vorbei. Offenbar hatte ich eine der in jenem Hause zu Boden gefallenen Ameisen an meinen Kleidern mit hierher geschleppt. Jetzt konnte ich in aller Ruhe beobachten.

Die Entwicklung war noch nicht ganz fertig, die neue Ameise noch bedeutend kleiner, also die beiden waren noch zusammengewachsen, zerrten sich gegenseitig noch hin und her.

Zuerst wollte ich schnell eine Fliege fangen, um sie als Leckerbissen dem neuen Geschöpf gleich anbieten zu können. Das ging aber doch nicht so schnell, die Fliegen im Süden sind sehr lebhaft, aufs Fliegenfangen bin ich nicht dressiert, und außerdem — — die Stube kann voller Fliegen sein, aber wenn man einmal eine haben will, dann ist sicher keine da.

Schließlich hatte ich doch eine geklatscht. Aber meine Enttäuschung, wie ich an den Tisch zurückkehre und nur noch eine Ameise sehe! Nämlich dieselbe, welche noch immer an der schon ganz dünn gewordenen Fliegenleiche frisst oder saugt. Die neue Hokapoka duplikata hatte sich inzwischen schon von der Mutter oder vielmehr vom Vater losgetrennt, und wie ich auch suchte, sie war und blieb verschwunden.

Oder hatte ich mir diese Verdoppelung nur eingebildet? Nein, ich träumte doch nicht, litt doch niemals an Visionen! Jetzt hoffte ich nur, dass sich die alte Ameise nochmals verdoppeln würde, in einer Stunde sollte das ja geschehen, in dieser Stunde also würde ich Gewissheit haben. So legte ich meine Fliege neben sie hin und überdeckte sie zur Vorsicht mit einem großen Wasserglase.

Richtig, meine Hokapoka witterte sofort den frischen Braten und machte sich sofort mit ungeschwächtem Heißhunger über die neue, saftige Fliege her. Und es dauerte gar nicht lange, bis ich schon wieder die Veränderung des Leibes bemerkte, hinten das Knötchen, den neuen Ameisenkopf entstehen sah. Sie verdiente immer noch den Ehrenbeinamen Duplikata. Ach, war ich glücklich!

Mit Forscheraugen, die Uhr in der Hand, immer Notizen machend, beobachtete ich. Schon in einer Viertelstunde war die kleine Ameise am Hinterleib des Vaters fertig ausgebildet. Nach einer weiteren Viertelstunde begann der Kampf zwischen der großen und der kleinen um die Selbstständigkeit, beide zogen. Dabei wurde die Mitte immer dünner, jedenfalls kam Mutter Natur, die aber in diesem Falle erst vom Vater Hokuspokus geschaffen worden war, zu Hilfe, und wieder nach einer Viertelstunde erfolgte zwischen den beiden der unwiderrufliche Bruch, ohne dass ich üble Folgen gewahren konnte.

Sofort drehte sich die kleine Neugeburt um und fiel ebenfalls mit Heißhunger über die Fliege her, ich sorgte auch für eine andere, und abermals nach einer Viertelstunde — also nach einer vollen Stunde seit dem Beginn der ersten Entwickelung des Knötchens — hatte die zweite Ameise nicht nur die Größe der ersten erreicht, sondern sie fing auch schon an, sich zu verdoppeln, eine neue Hokapoka zu bilden — — die alte aber auch schon wieder!

Meine Begegnung mit dem verkannten Professor hatte in früher Morgenstunde stattgefunden, um elf war ich wieder in meinem Hotel gewesen, und jetzt in der vierten Stunde hatte ich schon sechzehn Ameisen unter meinem Glase, und gleich würden es zweiunddreißig sein. Ihre einzige Lebensaufgabe war das Fressen, auch die Jungen am Vaterleibe fraßen schon gierig, es brauchte nur ein Köpfchen vorhanden zu sein, und diese frühzeitige Fütterung, mundgerecht hingelegt, beförderte auch die Schnelligkeit ihrer Entwickelung ganz bedeutend. Ich hatte genug zu tun, nur immer Fliegen zu fangen.

Dann bemerkte ich, dass diese Fliegenhascherei, die mich doch von meiner Beobachtung sehr ablenkte, gar nicht nötig war, und das hatte mir ja auch schon der Professor gesagt: Diese lieben Tierchen fraßen überhaupt alles! Ich konnte unter das Glas legen, was ich wollte, wenn es nur nicht von Metall oder Stein war — es verschwand nach und nach. Ich wusste aus Erfahrung, dass die Ameisen den Fischgeruch nicht vertragen können, auch hier zu Lande werden die Wohnungen, wenn die Ameisen überhand nehmen, mit Wasser besprengt, in dem Seefische gekocht worden sind, und die Ameisen wandern sofort aus.

Also ich ließ mir vom Kellner eine Sardine bringen — diese Spaltameisen stürzten sich mit Heißhunger darüber her. Ich wollte sehen, ob sie sich gegenseitig auffräßen, wenn sie nichts anderes hatten, räumte alles Fressbare unter dem Glase hervor — da machten sie sich über die Tischdecke her. Ich balancierte die Tierchen auf die freie Tischplatte — da nagten sie Löcher in das Holz hinein, und zwar mit schier unglaublicher Geschwindigkeit. Als sie sich freilich auf einem Porzellanteller befanden, da war es vorbei, da fielen die von ewigem Heißhunger geplagten Bestien übereinander her. Weil ich aber fürchtete, alle meine Versuchsobjekte könnten sich auf einmal abwürgen, wollte ich lieber —

Himmelbombenelement!! Wie von einer Tarantel gestochen fuhr ich empor! Es war aber keine Tarantel, sondern eine Ameise, die mich so niederträchtig ins Bein gebissen hatte, in die Wade, über dem Strumpf, und immer noch biss. Ich brauchte natürlich nicht lange zu suchen, um sie zu finden, sie hatte sich schon förmlich eingefressen, und eben wollte ich sie rücksichtslos zermalmen, da fiel mir etwas auf — die hat sich ja mit dem Hinterleib eingebohrt — nein, sie hat hinten auch noch einen Kopf — da ist das eine Formicida hokapoka duplikata!

Schnell befreie ich mich von dem Plagegeist — mir geht schon eine schreckliche Ahnung auf — mir war doch vorhin eine neugeborene Hokapoka entschlüpft — und wenn ich auch weiter keine mitgebracht hatte, das genügte gerade — ich sehe unter den Tisch — und richtig, da kriebelt und wiebelt alles von großen Ameisen, ein Stück Brot ist ganz schwarz von ihnen, vor meinen Augen vollziehen sich gleich ein Dutzend Spaltungsprozesse.

Und da fängt es in meinem Gehirn von ganz allein zu rechnen, zu verdoppeln an: 1 — 2 — 4 — 8 — 16 — 32 — 64 — 128 — nun sagt mein Gehirn zur Bequemlichkeit, großmütig nach unten abgerundet: 250 — 500 — 1000 — 2000 — 4000 — 8000 — 16 000 — 32 000 — 64 000 — 128 000 — 250 000 — 500 000 — — die erste Million ist voll, und jetzt geht es weiter mit den Millionen.

Und da sprang ich wie ein Wilder mit gleichen Füßen auf das wimmelnde Stück Brot, trampelte weiter, nahm meinen Pantoffel, jetzt sah ich auch viele Hokapokas auf dem Tische laufen, schlug also los, das Tintenfass fiel um, das Wasserglas ebenfalls — und in dem gläsernen Käfig waren gerade 128 Stück gewesen — auch auf diese schlug ich jetzt wie ein Tobsüchtiger los, aber die niedlichen Tierchen waren gar fix — zwei von ihnen brachte ich glücklich zur Strecke, einhundertsechsundzwanzig entkamen — und dann erstarrte ich wieder zur Bildsäule!

Was half es denn, wenn es mir hier wirklich gelingen sollte, sämtliche Spaltameisen zu vernichten? Der Polizist hatte ein ganzes Nest in Freiheit gesetzt! Dort in jenem Hause duplizierten sich jetzt die hungrigen Ameisen jedenfalls in ungestörter Lust.

Aber war es denn nur wirklich so schlimm? Ich begann noch einmal zu rechnen.

Am bequemsten ist es, wenn man, um den unvermeidlichen Abgang in Rechnung zu bringen, täglich nur zehn Stunden annimmt — denn in der Nacht vermehrten sie sich ja nicht — und, wie es eigentlich auch ganz richtig ist, mit der zwei beginnt, denn nach der ersten Stunde sind es ja schon zwei Ameisen. Dann sind es nach zehn Stunden tausend Ameisen. Das heißt von einer einzigen angefangen. Am zweiten Tage sind es eine Million. Am dritten Tage tausend Millionen oder eine Milliarde. Am vierten Tage tausend Milliarden oder eine Billion. Dann tausend Bill...

O Hokuspokus Duplikatus Multiplikatus!! Was Du da angerichtet!!

Und doch, was kannst Du schließlich dafür? Du hattest Deine Spaltameisen genügend mit Panzerplatten und Selbstschüssen, mit rosenroter Käseglocke und englischer Schwefelsäure geschützt! Sie waren für Dich nur ein Durchgangsstadium, ein Experiment, Du wolltest die Menschheit nicht mit Spaltameisen, sondern mit Spalthammeln und mit Spaltochsen beschenken und mit Nützlichem mehr! Was kann der Arzt dafür, wenn man sein heilendes Gift missbraucht? Man schleppte Dich weg, jedenfalls ganz unschuldig, ehe Du ein Wort der Warnung sagen konntest, und im Irrenhaus glaubt man Dir doch erst recht nichts! Nein, nicht Du, sondern der vermaledeite Polizist ist schuld daran, der hat die Käseglocke heruntergeschmissen! Und ich kann ebenfalls nichts dafür! Gottlob, ich kann erst recht nichts dafür!

Diese Überlegung und das Bewusstsein meiner Unschuld gab mir etwas meine Ruhe wieder. Dann brach jetzt schnell die Nacht herein, und ich konstatierte an einigen unter das Glas gesetzten Ameisen, dass sie sich jetzt nicht mehr spalteten, auch bei elektrischem Lichte nicht — alles, wie der verkannte Professor mir gesagt hatte. Außerdem verschwanden sie jetzt in Löchern und Ritzen, während der Nacht hatte ich also nichts von ihnen zu fürchten, und heute konnte ich doch nichts mehr machen. Morgen früh würde ich das Weitere sehen. Auf jeden Fall würde ich den Professor zu sprechen versuchen und, wenn nötig, den Polizeidirektor von Funchal oder sonst eine Person, die diese Sache anging.

Ich begab mich in die Hotelrestauration und verbrachte hier einige Stunden, ohne einem Menschen etwas von den Spaltameisen zu erzählen. Dagegen vernahm ich hier einiges über den Professor. Er war als Wahnsinniger und als Anarchist, der in seinem Laboratorium Sprengstoffe herstellte, schon seit längerer Zeit verdächtig, und die Drohbriefe, welche der Gouverneur jetzt erhielt, sollte wahrscheinlich er geschrieben haben. Das hatte seine Verhaftung bewirkt. Freilich vorläufig ohne jeden Beweis seiner Schuld. Doch da er erst kürzlich in einem öffentlichen Lokale mit einem Einwohner der Stadt eine ähnliche Unterhaltung wie damals mit mir angeknüpft hatte, nur mehr über das Goldmachen sprechend, die kühnsten Behauptungen aufstellend, so glaubte man, dass er eher ins Irrenhaus als ins Gefängnis gehöre, und jetzt würde er wohl bereits einige kalte Duschen bekommen haben.

Ich konnte den Unglücklichen vorläufig nur bedauern, nichts für ihn tun. Und nun kommt auch noch die portugiesische Rechtspflege in Betracht, welche mit der russischen konkurriert.

Ein fünfgängiges Souper hatte ich schon abgespeist, und nun verspeiste ich zum Staunen des Kellners immer noch ein doppeltes Beefsteak, eine dreifache Portion Kartoffeln und ein großes Brot auf meinem Zimmer. Die Schüsseln setzte ich auf den Boden, das in Stücke zerteilte Brot streute ich rings umher. So, nun konnte ich wohl ruhig schlafen. Wenn die Ameisen vor Hunger erwachen sollten, hatten sie etwas anderes zu fressen als nur mich. Wer will mir strategisches Geschick noch abstreiten?

Doch es war eine schreckliche Nacht, die ich verbrachte. Ich musste rechnen und rechnen und rechnen, und wie ich bei der achtmalhunderttausendsten Oktillion angekommen war, da wurde diese Acht mit neunundzwanzig Nullen lebendig, biss mich als Formicida hokapoka duplikata ins Bein, fraß mich auf, und ich empfand einen Schmerz, dass ich gellend schrie:

»Hilfe, Hilfe, die Formicida hokapoka duplikata ist da!!«


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Das schrie ich aber nicht nur im Traume, sondern in Wirklichkeit — ich bin aus dem Bett gesprungen — ich hab's verschlafen, die Sonne steht schon hoch am Himmel — verschwunden ist das doppelte Beefsteak samt Kartoffeln und Brot, der Teller ist rein abgeleckt — und meine ganze Stube ein einziger wimmelnder Ameisenhaufen — und jetzt haben die Biester mich entdeckt — mein Bett ist schon ganz schwarz — statt des Beefsteaks kommen jetzt meine Beine dran — lebendiges Fleisch liebt diese veredelte Ameise ja am allermeisten.

Ich streiche herab, was ich streichen kann stürze im Hemd auf den Korridor.

»Hilfe, Hilfe, es rette sich, wer kann! Die Formicida hokapoka duplikata multiplikata ist da!!«

Kellner, Stubenmädchen, der Wirt rennen herbei. Sie halten den Mann im Hemd natürlich für verrückt. Aber sie haben auch schon so unheimlich viele Ameisen auf dem Korridor bemerkt. Und wie sie einen Blick in mein Zimmer werfen, da brüllen sie alle mit, und jetzt ergießt sich der wimmelnde Ameisenschwarm schon durch die Tür.

Es gelingt mir, schnell einen anderen Anzug zu bekommen, denn in mein Zimmer wage ich mich gar nicht mehr zurück, ich renne nach der Polizeistation von Funchal, ohne von einem Detektiv — da ich ja das Hotel nicht verlassen sollte — angehalten zu werden.

»Haben Sie auch etwas über die Ameisenplage in der Rua principal(2) zu berichten?«, werde ich auf der Polizei gleich von einem Beamten gefragt.

(2) Im Original steht die spanische Bezeichnung ›Calle mayor‹ für die Hauptstraße von Funchal. Da auf Madeira portugiesisch gesprochen wird und es dort eine ›Calle mayor‹ nicht gibt, wurde der Straßenname durchgehend in (portugiesisch) ›Rua principal‹ berichtigt.

Also da war es schon! In der Rua principal lag nicht mein Hotel, sondern das war eben jene Bergstraße, in welcher der Professor wohnte, und es waren schon eine ganze Menge von jammernden Leuten hier gewesen, die verlangten, die Polizei sollte die Ameisen arretieren, ehe sie in der Rua principal die Menschen mit Haut und Haaren auffräßen; dort hecke ein Haus hungrige Ameisen, in Legionen drängen sie daraus hervor.

»Ja, ja, ja, ja, die Formicida hokapoka multiplikata ist da!!«, schreie ich, und besonders, weil ich auch den Namen Hokuspokus nenne, komme ich sofort vor den Polizeidirektor.

Der will es erst gar nicht glauben, was ich da mit hastigen Worten erzähle. Zuletzt glaubt er's doch, die Hilfeschreie aus der Rua principal mehren sich fortwährend, es laufen entsetzliche Berichte ein, das Haus Nummer acht speit Ameisen, sie haben schon Kanarienvögel und Hühner erwürgt, aufgefressen, ein Maultier ist ihnen bereits zum Opfer gefallen, sie haben sich sogar schon auf Menschen gestürzt, die sich kaum noch retten konnten.

Das Irrenhaus ist dicht neben der Polizeistation, der Direktor geht mit mir hinüber, wir werden in eine Gummizelle für Tobsüchtige geführt, Professor Hokuspokus liegt im Bett, er hat schon einige kalte Duschen bekommen, der arme Mann sieht schrecklich aus, der pfeift auf dem letzten Loche.

Ich will einen kurzen Bericht erstatten, habe aber eben erst die zerbrochene Käseglocke erwähnt, als sich Monsieur Hokuspokus mit letzter Kraft aufrichtet.

»Was, die Formicida hokapoka duplikata ist ausgebrochen?!«, haucht er mit entgeisterten Augen.

Dann aber ist es kein Entsetzen, sondern ein furchtbarer Triumph, der aus seinen Augen bricht, wie er langsam die Arme ausbreitet und spricht:

»Ganz Madeira ist verloren — ich — bin — gerächt! — Warum habt Ihr mir kalte Duschen gegeben, wo ich sowieso wasserscheu bin?«

»Professor, gibt es denn gar kein Mittel, der Entwicklung der Spaltameisen wieder Einhalt zu tun?!«, flehe ich. »Sie können doch mehr als Brotessen!«

»Nein, nein, nein, nein, und ich will nicht!!«, fängt er da zu schreien an, soweit ein Sterbender noch schreien kann. »Warum habt Ihr mir kalte Duschen gegeben, wo ich doch gleich gesagt habe, dass ich wasserscheu bin und mich niemals wasche! Und ich will's eben nicht sagen!«

So also schrie er, dabei schon blutigen Schaum vor dem Munde.

Also wusste er doch ein Mittel dagegen! Und ich bettelte und schmeichelte und drohte mit dem jüngsten Gericht, bis er schließlich doch nachgab — und es war überhaupt ein edler Mensch.

»Ja, ich kann sämtliche Ameisen in der Welt innerhalb von einer Stunde vollständig vernichten, das ist ja mein Studium gewesen«, röchelte er, kaum noch vernehmbar, »und meine Formicida hokapoka natürlich erst recht, denn die habe ich ja erst erzeugt, und es wird noch die Zeit kommen, da der Mensch auch Hammel und Ochsen spalten kann und da der Mensch sich selbst wie die Kartoffeln —«

»Herr Professor, nennen Sie mir das Mittel!«, drängte ich, denn mit dem ging es schnell zu Ende.

»Ja, ich will es nennen, nicht, um Madeira zu retten, wo ich hier ganz unschuldig kalte Duschen bekommen habe, und wo ich doch gleich gesagt habe, dass ich sowieso wasserscheu bin. Aber die ganze Menschheit will ich nicht durch meine Formicida hokapoka duplikata zugrunde gehen lassen, sondern ich will, dass die ganze Menschheit noch dereinst den Vorteil der gespaltenen Hammel und der gespaltenen Ochsen genießt und auf dass sich dereinst auch alle Menschen wie die Kartoffeln —«

»Das Mittel, nennen Sie doch erst das Mittel!!«, stöhnte ich verzweifelt.

»Ja, Sie haben recht, ich muss mich beeilen«, stöhnte der noch viel mehr, »denn in der nächsten Sekunde schon werde ich nicht mehr am Leben sein, vielleicht schon nicht mehr in der hundertstel Sekunde, und dann wären ja keine Menschen mehr da, denen meine gespaltenen Hammel und meine gespaltenen Ochsen von Nutzen wären. Ja, ich muss mich sehr, sehr beeilen, ich sterbe, schon fühle ich meine Beine kalt werden, ich bin schon so gut wie tot. Das macht die kalte Dusche, die kann ich nicht vertragen, ich bin nämlich — ich glaube, ich habe es Ihnen schon einmal gesagt — ich bin nämlich wasserscheu. So hören Sie denn, wie man sämtliche Ameisen und auch meine Formicida hokapoka duplikata mit einem Schlage vernichten kann, es ist ganz einfach, in drei Worten — noch nicht einmal in drei Worten — kann ich's sagen —«

Na endlich! Gott sei Dank! Ich lauschte wie ein Mäuschen auf die drei Worte, aber weil die drei Worte gar nicht kommen wollten, blickte ich ihn an — und da war dieser Mensch schon tot!

Nein, doch noch nicht ganz, er fing erst noch einmal zu röcheln an, und ein schon überirdisches Lächeln verklärte sein eingefallenes Gesicht, als er röchelte:

»Fangen Sie jede einzelne Ameise, nehmen ein Waschbecken, halten Sie jede einzelne Ameise so unter Wasser, bis sie tot ist —«

Das heißt, jetzt hätte ich den Kerl beinahe bei der Gurgel gepackt, um seine Sterbezeit abzukürzen!

Aber da erstarb das Lächeln, sein Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an, als er fortfuhr:

»Nein — keine Witze auf dem Sterbebette — hören Sie — das Mittel — mein Schreibtisch — in meinem Schreibtische — Rua principal Nummer acht — da liegt das Rezept — ganz einfach — nur drei Worte — nicht einmal drei —«

So röchelte er noch einmal, und dann war er wirklich tot, so tot wie seine Maus unter der Käseglocke. Der Unhold hatte es also ganz genau so gemacht wie im hochinteressanten Romane der geheimnisvolle Unbekannte auf dem Sterbebette. Der will ja das große Geheimnis gern verraten, aber der schwatzt und quattert und quasselt erst so lange, bis er glücklich tot ist — und nun fängt der hochspannende Roman an. Der Mann hätte bloß drei Worte zu sagen brauchen, dann wäre der ganze Roman nicht nötig gewesen — nein — es ist einfach schrecklich!

Aber etwas hatte der Sterbende wenigstens doch noch von sich gegeben. Einen Schreibtisch hatte ich in seiner Wohnung gesehen, aus diesem musste einfach das welterrettende Rezept geholt werden.

Wie ich in die Rua principal komme, sehe ich die Menschen laufen und schreien, sie haben sich mit alldem bewaffnet, womit nur irgendwie eine Ameise totzuschlagen ist, und sie schlagen drauf los, in Funchal ansässige Yankees haben bereits eine Ameisenklatschen-Manufaktur-Aktiengesellschaft mit beschränkter Haftpflicht gegründet.

Jetzt heißt es aber erst, das Rezept aus dem Schreibtische, aus dem Hause Nummer acht zu holen, und — wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?!

Denn in der Rua principal, wie auch schon in den Nachbarstraßen, sah es schrecklich aus. Das ganze Pflaster ein einziger lebendiger Ameisenleib. Sie krochen auch die Häuserwände hinauf, kehrten aber immer wieder um, weil an der nackten Mauer nichts zu fressen war, und so rückte die riesige, vielköpfige Schlange langsam, aber unaufhaltsam vorwärts, denn was half es, wenn man zehntausend erschlug, hunderttausend rückten nach, und die hatten schon jetzt wieder hunderttausend Frischlinge am Hinterleibe hängen, und was nützte es denn überhaupt, auf die Ameisen loszuschlagen, es brauchte nur eine einzige übrig zu bleiben, dann waren von dieser einzigen vier Tage später schon wieder eine Billion hungriger Ameisen da, und dann darf man nicht glauben, dass der Brutherd nur hier oder nur in meinem Hotel war, nein, jetzt bildeten sich überall die Anfänge zu den zukünftigen Legionen, die Menschen trugen sie ja an ihren Kleidern fort und verbreiteten sie allüberall, und nicht nur Menschen, auch fliehende Ratten und andere Tiere, wahrscheinlich auch Vögel, Tauben, denen die Ameisen im Sitzen angekrochen waren, denn schon wurde aus der vier Meilen entfernten Stadt Holkar telegrafisch gemeldet, dass dort eine Ameisenart aufgetaucht sei, die sich in erschreckender Weise vermehre.

Das Rezept herbei, das Rezept!! Und keine Minute war zu verlieren, denn Schritt für Schritt musste man vor der Ameisenschlange zurückweichen, die in der Minute ungefähr einen Meter vorwärts kam, und jeder hatte schon genug mit den Vorreitern zu tun, und wenn ein anderer unübersehbarer Schwarm von hinten kam und man wurde von einer Ameisenflut umzingelt, so war man einfach verloren! Man goss mit Schwefelsäure, man spritzte mit Petroleum und brannte es an, dass die Flamme die ganze Straße hinauflief, aber was half denn das alles, das Petroleum brannte ab und der Boden war doch gleich wieder mit lebendigen Ameisen bedeckt.

Ein Hund, der so weit wie möglich zwischen die Ameisen geschleudert wurde, gewann mit einigen Sprüngen wieder das feste Land und verbreitete nun wieder neue Brut, die sich an seinen Haaren festgeklammert hatte, sich aber auch schon heißhungrig einbiss, er gebärdete sich vor Schmerz wie rasend und entging nur dadurch dem sicheren Tode, dass er sich ins Wasser stürzte. Und was waren auch die wenigen Meter, die er zwischen den winzigen, aber mit gewaltigen Fresswerkzeugen ausgerüsteten Insekten zurückgelegt hatte! Ein hineingeschleudertes Kaninchen war augenblicklich verschwunden, d. h. von Ameisen zugedeckt, es kam nicht wieder zum Vorschein. Welcher Mensch sollte da wagen, das weitentfernte Haus aufzusuchen?

Endlich erbot sich gegen ein paar Piaster ein angetrunkener Mann, in das ihm bekannte Haus zu laufen und uns alle Schubfächer des Schreibtisches zu bringen, wenn nicht mit einem Male, dann nach und nach, er sei gegen Ameisenbisse ganz unempfindlich.

Von unseren Segenswünschen begleitet, rannte er davon, wir sahen ihn zuletzt waten, und er erreichte das noch sichtbare Haus Nummer acht und verschwand darin — heraus kam er nicht wieder, obgleich wir zwei Stunden auf ihn warteten: Dann warteten wir nicht mehr auf ihn. Wenn nicht auf der Straße, dann war er eben in jenem Hause Ameisenfutter geworden. Und auf der Straße hatten sich die Biester unterdessen wieder vervierfacht und uns hundert Meter weiter zurückgedrängt.

»Ach was, wer wird sich denn vor Ameisen fürchten!«, sagte ein englischer Matrose in hohen Seestiefeln verächtlich, und ehe ihn jemand daran hindern konnte, war er losgestampft.

Etwa dreißig Schritte weit war er gekommen, dann blieb er stehen, wir sahen, wie er nach den Augen griff, er drehte um, brüllte, rannte, stürzte — und war verschwunden!

Nur noch ein von Ameisen bedeckter Hügel zeigte, wo er lag, und dieser Hügel sank immer mehr zusammen, so schnell wurde der Mann bis auf die Knochen aufgefressen.

Endlich mit Anbruch der Nacht verschwanden die Ameisen spurlos, wir wussten nicht wohin, und ich war es, der sich auf die Wanderung nach des höllischen Professors Haus machte, ganz allein.

Es war eine stockfinstere Nacht, und sorgsam verbarg ich das Licht meiner kleinen Laterne, um den Leu nicht zu wecken. Auf der Straße lag ein rein abgenagtes Skelett, auch von den großen Seestiefeln war nichts mehr vorhanden. Derselbe Anblick bot sich mir im Flur des betreffenden Hauses, weiter war auch der erste Mann nicht gekommen.

Leise erstieg ich die steinernen Stufen. Was ich in dem Zimmer finden würde, hätte ich mir eigentlich denken können: nichts weiter als den großen Panzerschrank, ein gläsernes Tintenfass und andere Gegenstände, denen auch die Fresslust dieser Hokapoka duplikata nichts anhaben konnte. Von dem hölzernen Schreibtisch waren nur noch die eisernen Nägel und Schrauben und Messingbeschläge übrig geblieben, und das Vernichtungsrezept hatte die Hokapoka natürlich erst recht gefressen, ohne dass ihr dies etwas geschadet hätte.

Halt!! Da sehe ich am Boden ein eisernes Kästchen liegen, gerade dort, wo der aufgefressene Schreibtisch gestanden hat! Und schon geht mir eine ahnungsvolle Gewissheit auf, welche in solchen Fällen bekanntlich nie, niemals trügt, schon jauchzend stürze ich drauf zu, das Kästchen ist unverschlossen, ich mache es auf — richtig, ein Manuskript — jetzt jauchze ich noch lauter auf — »Rezept« lese ich auf der ersten Seite — nein, solch eine Ahnung in Todesgefahr trügt eben nie, nie! — »Ich hab's, ich hab's, Menschheit, Du bist gerettet!«, so jauchze ich nochmals, inbrünstig drücke ich das rettende Manuskript an meine Brust, ich küsse es, die Tränen träufeln mir in den Bart — Hokuspokus Duplikatus, weil Du hierfür gesorgt hast, deshalb soll Dir alles, alles verziehen sein! — Und nun drehe ich freudezitternd die erste Seite herum und lese auf der zweiten:

»Vollständige Anleitung, wie man jeden Floh und jede Wanze innerhalb von einer Minute verdreifachen kann.«

*

Ich will das Ende dieser traurigen Geschichte kurz fassen.

Überhaupt habe ich so eine Ahnung — welche bekanntlich nie, nie trügt! — Habe so eine Ahnung, als ob mir der geneigte Leser diese ganze Geschichte ja doch nicht glaubt, obgleich ich doch ganz einfach meine Erlebnisse nach nackten Tatsachen berichte.

Also: Nach sechs Tagen gehörte ich zu den letzten Menschen, welche Madeira verließen. Was auf der ganzen Insel aufzufressen gewesen war, das hatten die Ameisen bereits aufgefressen. Wir letzten Menschen hatten todesmutig bis zum letzten Augenblick gekämpft, ich speziell, heldenhaft wie ich immer bin, bis zum allerletzten Quadratfuß, denn als ich in das letzte Boot sprang, das noch nicht aufgefressen worden war, da war dieser allerletzte Quadratfuß augenblicklich ebenfalls mit Ameisen bedeckt. Wir stießen ab — so, nun konnten sich die Biester alleine auffressen.

Dass ich's nicht vergesse — unter uns Heldenmutigen war ein alter Gelehrter, ein Deutscher, ein Zoologe, auch so einer von dem Schlage meines seligen Freundes — der experimentierte unter Gläsern immer mit der Spaltameise herum, und wie wir nun mit dem Boote abstießen, ins Ungewisse hinein, da sagte dieser: »Sie muss Formicidus hokuspokus duplikatus heißen, denn es sind nur Männchen.«

Also dieses Problem war endlich gelöst, nun konnten wir beruhigt abgondeln! Das heißt, draußen auf Reede lag noch ein Dampfer, der nahm uns auf. In drei Tagen sollte der elende Kasten uns nach Gibraltar bringen, aber kurz vor diesem Hafen mussten wir in die Rettungsboote gehen, weil uns sonst die Ameisen aufgefressen hätten.

Auf dem Kai von Gibraltar winkten uns hunderttausend — — Millionen Ameisen ein freudiges Willkommen zu, sie saßen sogar oben im Felsen auf den Kanonen. So dumm waren wir natürlich nicht, ihrer Einladung Folge zu leisten, wir schlugen uns seitwärts in die Büsche — allerdings immer auf dem Wasser! Die Boote konnten wir ameisenrein halten, und ehe unser Proviant zu Ende ging, entdeckten wir an der spanischen Küste ein freundliches Dörfchen, Landleute ackerten das Feld — dort war's schön, dort wollten wir uns niederlassen.

Diese glücklichen Leutchen hatten überhaupt noch gar nichts von einer Ameisenplage gehört, sie glaubten es nicht, lachten darüber. In der Nähe hatte ein deutscher Minister des Auswärtigen sein Tuskulum, aber der konnte uns keine Aufklärung über dieses Rätsel geben, denn der wusste selbst nichts davon, glaubte ebenfalls an keine Ameisenplage.

So verlebten wir hier drei friedliche Tage — da machte sich die von uns mitgebrachte Hokapoka duplikata bemerkbar, sie multiplizierte sich, und zwei Tage später wurde als erstes Opfer der Minister aufgefressen, der dabei immer schrie. »Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, es gibt gar keine Ameisenplage!«

Wir anderen retteten uns wieder in die Boote und — — — an einem schönen Sommertage kletterte im Himalajagebirge ein Mensch den Mount Everest oder Gaurisankar hinan. Es war der letzte Mensch. Und dieser letzte Mensch auf der Erde war natürlich ich, denn sonst hätte ich dies doch nicht so genau wissen und erzählen können. Alle anderen Menschen waren mit Strümpf und Schuh von den Ameisen gefressen worden. Mir hatten sie die Strümpf und Schuh auch schon abgefressen. Meine Braut hatten sie mir weggefressen. Sie hatten überhaupt alles auf der Erde aufgefressen. Die gesamte organische Substanz war nur noch in den Leibern der Formicida hokapoka duplikata vertreten, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich selbst aufzufressen.

Nur der alleroberste Gipfel des Gaurisankars, den vor mir noch kein Mensch erreicht hat, war noch ameisenrein. Hier oben wollte ich sie erwarten, denn sie saßen mir schon dicht auf den strumpflosen Hacken. Hier oben wollte ich sterben. Den Heldentod wollte ich sterben. Und es ist doch immerhin eine schöne Sache, wenn man vorher noch sagen kann: Ich bin oben auf dem Gaurisankar gewesen.

Meine Ausrüstung bestand in einem gebratenen Maulwurf und in einer Ameisenklatsche. Es war das allerletzte Tier auf der Erde gewesen, dieser Maulwurf — außer mir und den Ameisen — und die Ameisen hätten ihn doch nur aufgefressen. Da tat ich's lieber. Die Ameisenklatsche hatte ich mir im letzten unaufgefressenen Laden auf Abzahlung gekauft. Mit ihr wollte ich bis zum letzten Atemzuge fechten.

Die Nacht brach an, und die Hokapoka duplikata war noch nicht da. Es war ganz eklig kalt hier oben, so an die 10 000 Meter über dem Meeresspiegel. Und nachdem ich den gebratenen Maulwurf kalt verzehrt hatte, war ich ja mit weiter nichts mehr bekleidet als nur noch mit meinem Schwerte — mit meiner Ameisenklatsche wollte ich sagen.

Am anderen Morgen bei Sonnenaufgang sah ich die Ameisen angerüstet kommen. Ich hörte sie lachen, als sie mich sahen. Ich schlug mir erst die Arme ein bisschen um den Leib, um mich warm zu machen, dann griff ich zu meiner Ameisenklatsche — zu meinem Schwerte, wollte ich sagen, prüfte seine Schärfe, und dann stimmte ich den Schlachtgesang an:

»Was blasen die Trompeten, Husaren heraus!«

So singend, schwang ich mein Schwert und stürzte mich in die feindlichen Reihen — und lag neben meinem Bette am Boden.

Unten auf der Straße zogen die Husaren mit Trompetenklang vorbei.

Aber nicht etwa in Funchal.

Ich bin überhaupt noch gar nicht auf Madeira gewesen.

Nein, das Bett, neben dem ich lag, stand an den Vorsetzen in Hamburg, und in meinem Kopfe rumorten noch die sechs Liter Löwenbräu von gestern Abend.

Und auf dem Tische lag ein Brief, den ich gestern Abend noch gelesen hatte, von meinem Bruder, der im Weinhandel en gros tätig ist, der war gegenwärtig auf Madeira, in Funchal, wohnte Rua principal Nummer acht.

*

Der Sprechapparat war verstummt.

Die beiden Freunde lachten herzlich, so wie sie es schon oftmals während der Erzählung getan hatten.

»Das war so eine der Schnurren«, sagte Littlelu, »mit denen Frett Barkor seit fünfzehn Jahren das Publikum unterhält, noch mehr wahrscheinlich sich selbst. Also auf Wiedersehen bei Tafel, meine Herren. Ich werde in aller Schnelligkeit noch eine kalte Dusche nehmen, aber ganz freiwillig, obgleich auch ich etwas wasserscheu bin.«

Littlelu war aufgestanden, barg die Apparate, und wie er dabei einen Blick durch das runde Schiffsfensterchen warf, stockte er in der Bewegung.

»Hallo! Das Dampfbeiboot kommt zurück! Und die drei Buckel, die hinter ihm folgend aus dem Wasser sehen, das sind die drei Unterseeboote, Kapitän Hagen hat sie glücklich gehoben!«


Lieferung 39


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Die beiden auf der Landungstreppe stehenden Männer fie-
len den Insassen der Unterseeboote schon von Weitem auf.


Das Totenschiff

Als der »Mohawk« an der Westküste Afrikas lag, als die Expedition von jener Sumpfinsel auf unterirdischem Wasserwege glücklich an Bord zurückgelangt war, da hatte Atalanta den Kapitän Hagen gefragt, ob es ihm bei ihr gefiele, ob er bei ihr an Bord bleiben wolle — was wohl nicht der Fall zu sein schiene, da sie ihn nicht genügend beschäftigen könne — ob sie ihm sonst wie für seine aufopfernden Dienste, durch welche sie ihren Gatten wiedergefunden hatte, wenn auch als Irrsinnigen, eine Belohnung anbieten dürfe.

Kapitän Hagen hatte gefragt, ob ihm die Gräfin nicht eines der Unterseeboote zur Verfügung stellen wolle. Die unterirdische Wasserreise von Jangala bis nach der Küste hatte es ihm angetan, er wollte diese unterirdischen Flussläufe, welche nach jener vorgefundenen Karte alle Festländer der Erde durchzogen, weiter erforschen.

Selbstverständlich! Atalanta wollte ihm auch ein ganzes Schiff zur Verfügung stellen, d. h. ihm die Mittel dazu geben.

Erst aber bat sie Kapitän Hagen, noch eine andere Mission zu erfüllen: jenen Franzosen, Monsieur Arsen Bertrand, genannt der gelbe Geier, der auf der Sumpfinsel den Aeroplan geraubt hatte, zu verfolgen und unschädlich zu machen.

Auch diesen Auftrag hatte Kapitän Hagen zusammen mit Littlelu erfüllt.

Als die beiden unter seltsamer Führung — von jenem Mister Dollin — nach dem Sklavensee gelangten, fanden sie Atalanta und den Grafen als die beiden letzten Überlebenden des »Mohawks« wieder.

Atalanta hatte alles das, was zufällig in ihren Besitz gekommen und was doch offenbar an all ihrem ununterbrochenen Unglück schuld war, von sich abschütteln wollen. Alle diese Erfindungen und sonstigen Rätsel, aus einer fremden Welt stammend, lasteten doch sichtlich wie ein Fluch auf ihr.

Das erste war gewesen, dass sie die Telefonuhren sämtlich über Bord geworfen und auf dem »Mohawk« die Vorrichtung der Camera obscura unbrauchbar für immer gemacht hatte. Sie wollte zwar nicht nur noch auf ihre eigenen Hände und Augen und Ohren angewiesen sein, sonst hätte sie ja auch kein Pulver, kein Fernrohr mehr benutzen dürfen, aber jedenfalls wollte sie nichts anderes besitzen als die übrige Menschheit, zu der sie gehörte, was von den genialsten Köpfen dieser wirklich der Erde angehörenden Menschheit erfunden worden war. Keine anderen Erfindungen und sonstigen Apparate und Sachen mehr, deren eigentliches Wesen ihr vollkommen fremd war.

Das zweite war gewesen, dass sie die drei Unterseeboote versenkt hatte. Aber dabei hatte sie recht wohl an ihr dem Kapitän Hagen gegebenes Versprechen gedacht.

Ja, er sollte ein Unterseeboot bekommen, nicht nur eines, alle drei. Aber bis nach der kalifornischen Küste oder gar bis nach San Francisco ging sie mit diesen wahrhaft unheimlichen Fahrzeugen nicht. Fort mit diesen Erzeugnissen einer erfinderischen Genialität.

Im Stillen Ozean wurden die drei Boote versenkt. Nur dass Atalanta dazu nach seemännischem Urteil eine Stelle ausgesucht hatte, deren Tiefe für normale Taucher erreichbar war.

In der Nähe der Cooksriffe waren die drei Unterseeboote mit voller Ausrüstung versenkt worden, denen hatte Atalanta auch ihre Telefonuhren und die Camera obscura und alles andere gelassen, in einer Tiefe von etwa 15 Metern. So, dort lagen sie sicher, zwischen diesen Riffen konnten sie auch nicht durch Zufall, durch einen schleppenden Anker gefunden werden, in diese Gegend kam kein Schiff. Von hier mochte sie sich Kapitän Hagen dann abholen, er sollte alle Mittel dazu bekommen.

Atalanta ahnte nicht, und von keinem Hellseher und Zukunftsschauer bekam sie es gesagt, dass sie am anderen Tage mit ihrem »Mohawk« selbst Schiffbruch zwischen diesen Riffen litt.

Wie sie und ihr Gatte als die letzten Überlebenden gerettet und nach San Francisco gebracht wurden, was sie erst alles durchmachen musste, bis sie den Sklavensee erreichte, wissen wir.

Nun traf sie wieder mit Kapitän Hagen zusammen. Sie berichtete ihm, stellte ihm so viel Geld zur Verfügung, wie er haben wollte, er hätte sich seine drei Unterseeboote holen können. Wie er das machte, was er sich für ein Schiff anschaffte, welche Mannschaft, das war seine Sache, das ging die Gräfin nichts mehr an, das hatte sie nun alles hinter sich.

Aber Kapitän Hagen hatte es nicht so eilig. Er kam doch zum ersten Male an den Sklavensee, in diese Felsenbehausungen. Und durch Mister Dollin wurden immer neue Wunder eröffnet.

Über diese Wunder vergaß Hagen ganz seine Unterseeboote und die unterirdischen Wasserläufe. Mehr als ein Jahr verging, und er war mit der Erforschung der Tunnel und Kammern und Säle in dem siebartig durchlöcherten Felsengebirge immer noch nicht fertig.

Da teilte ihm die Gräfin Atalanta, nachdem sie mit ihrem Gatten anderweitig wieder die verschiedensten Abenteuer durchgemacht hatte, das Neueste mit.

Jene geheime Gesellschaft war näher an sie herangetreten, wollte sich ganz mit ihr und ihren Genossen vereinen. Und diese Felsenbehausungen müssten sowieso verlassen werden, weil sie demnächst durch ein Erdbeben dem Untergang geweiht seien, alles würde zusammenbrechen.

Es war der Maharadscha Bitur Rupigandsch von Nepal, der sie mit seinem »Stern des Ostens« von San Francisco abholte. Ob dieser vielleicht das Haupt der ganzen geheimen Gesellschaft sei, der Mahatmas oder wie sie sich sonst nannten, das wusste Atalanta nicht, erfuhr es auch nicht.

Mit diesem neuen Verhältnis war es überhaupt eine merkwürdige Sache, wie es aber auch schon mit Sirbhanga Brahma gewesen war.

Atalanta konnte sich wahrhaftig keinen gütigeren väterlichen Freund denken als diesen alten Inder. Aber — er hatte seine Mucken. Oder wie war es sonst zu nennen? Wirklich die zu jeder Aufopferung bereite Güte selbst. Aber wenn Atalanta einmal etwas von ihm wissen wollte, und er hielt es für besser, es ihr nicht zu sagen, dann war er einfach nicht aufzufinden.

An Bord des »Oststerns« kam dieses eigentümliche Verhältnis erst recht zum Vorschein.

Die 3500 Menschen bildeten eine soziale Kommune von idealster Beschaffenheit. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Das gab es hier im buchstäblichsten Sinne des Wortes. Der Kapitän und selbst der Maharadscha war auf diesem Schiffe nicht mehr als der geringste japanische Matrose und der indische Telleraufwäscher.

Und im Gegensatz dazu nun wieder der ausgeprägteste Kastengeist!

Wie lässt sich das zusammenreimen?

Es ging recht wohl. Nur mit Worten lässt es sich nicht ausdrücken.

Übrigens haben wir ja Ähnliches bei uns, wenn z. B. ein hoher Offizier die angetretenen Soldaten mit »Kameraden« anredet. Dieser Offizier, ist er ein echter Offizier, meint das auch ganz ehrlich. Der intelligente Soldat im Drillichkittel empfindet das auch. Und es braucht nur eine Gelegenheit zu kommen, nicht nur im Kriege, auch im Manöver, und der echte Offizier wird die Echtheit seiner kameradschaftlichen Empfindung gegen den gemeinen Soldaten durch einen Beweis erhärten. Und trotzdem besteht doch zwischen den beiden eine unüberbrückbare Kluft.

So war es auch auf dem »Oststern«. Alles eine Brüderlichkeit, aber im Grunde genommen war der Matrose für den Kapitän doch nur eine Null, so wie dieser eine Null war für den Maharadscha, wie für jeden anderen der indischen Führer.

Und das war nicht nur so, wie es an Bord jedes anderen Schiffes ist. Nein, das hier war ein ganz, ganz anderes Verhältnis. Einerseits die größte Offenheit, andrerseits die größte — Hinterlistigkeit. Anders lässt es sich kaum ausdrücken.

Nur an Beispielen kann es gezeigt werden.

Gräfin Atalanta konnte mit an Bord nehmen, wen sie wollte!

Aber als es zur Abreise kam, da waren es nur ihr Littlelu, Kapitän Hagen und ihre japanische Dienerin Sarda, welche mitkamen, alle übrigen mussten zurückbleiben, ob Atalanta nun wollte oder nicht.

Es war aber nur zu ersichtlich, dass dies Sirbhanga Brahma von vornherein so bestimmt hatte, und geradezu wunderbar war es nun, wie der alte Inder das so zu arrangieren wusste, dass Atalanta zuletzt selbst glaubte, alles dies sei ihr eigener Wunsch gewesen.

»Wann tritt hier das furchtbare Erdbeben ein?«

»In einigen Jahren.«

»In wie viel Jahren? Ist das im Buche des Schicksals, in dem Du lesen kannst, nicht ganz genau vorgezeichnet?«

»Gewiss, ganz genau.«

»Nun?«

»Da muss ich erst eine längere Erklärung vorausschicken, ehe Du das verstehst, liebes Kind.«

Und der alte Inder begann zu erklären — begann von der Lehre der indischen Weisen, wie es gar keine Vergangenheit und Zukunft gebe, sondern nur eine Gegenwart — und er sprach, bis es nach zweistündigem Vortrag auch dieser scharfsinnigen Schachspielerin wirr im Kopfe wurde und sie bat, er möchte doch mit seinen »Erklärungen« aufhören.

»Dann, liebes Kind, kannst Du aber auch nicht erfahren, zu welcher Zeit dieses Erdbeben hier stattfindet. Und doch möchte ich es Dir gern sagen. Also beginnen wir wieder mit der vedischen Lehre von der dreifachen Spiegelung im Weltall —«

»Nein, nein, ich verzichte lieber!«, lachte Atalanta halb belustigt, halb ärgerlich.

Und so ging es also auch an Bord weiter.

Die Gäste konnten verlangen, was sie wollten, alle waren zu jedem Dienste und zu jeder Erklärung bereit.

Aber wenn sie eine Telefonuhr oder einen sehenden Fakir benutzen wollten, was ihnen zu jeder Zeit erlaubt war, dann funktionierte die Telefonuhr manchmal nicht, oder es war kein Fakir in dem Schiffe zu finden, und allemal gerade dann, wenn es darauf ankam!

Und so war es mit allem und jedem.

»Eine ganz niederträchtige Bande, deren wirkliches Mitglied möchte ich niemals werden!«, hatte Littlelu einmal gesagt.

Trotzdem war gerade er derjenige, der am meisten in alle Geheimnisse einzudringen suchte, und das tat er ganz mit Recht, er musste wenigstens jede Gelegenheit benutzen.

Jeder, den er fragte, war ihm ein williger Lehrer. Aber wenn der Schüler etwas wissen wollte, was man ihn nicht wissen lassen wollte, so fing er eben wieder mit einer endlosen Erklärung an, die auch den scharfsinnigsten Menschen ganz kopfscheu machen musste.

So war und blieb es während der ganzen Reise. Der kleine Alfred wurde von einem Albatros entführt, die Mutter erhielt die Versicherung, dass sie ihn wiederfinden würde, aber anstatt ihr nun zu sagen, dass sie die Verfolgung allein ausführen müsse, so schriebe es das Schicksal vor, ließ man ihren Gatten und ihre sonstigen Begleiter ruhig mit ihr gehen, dann erst, als es so weit war, wurden diese förmlich auf hinterlistige Weise zurück an Bord geholt.

Der Brahmane, welcher den Maharadscha an Bord vertrat, hatte dem unglücklichen Vater erlaubt, jederzeit die hellseherischen Gaben Ukolis oder eines anderen Fakirs zu benutzen. Das war alles recht schön und gut, aber Arno bekam von diesen Hellsehern immer nur geringfügige Kleinigkeiten zu hören. Sobald es irgendwie darauf ankam, versagte entweder die Gabe des Hellsehers oder ein solcher Fakir war in dem Bauche des Riesenschiffes nicht zu finden, kein einziger.

»Eine hinterlistige Bande, trotz all ihrer sonstigen Vortrefflichkeiten, die man bewundern muss!«, sagte Littlelu immer wieder, und besonders war es Kapitän Hagen, der sich mit finsterem Gesicht immer mehr von dieser indischen Gesellschaft abschloss.

Im Zickzack und in den verschlungensten Windungen ging es durch die endlose Korallenbank.

Bei dieser Gelegenheit brach Hagen einmal sein Schweigen, er fragte Kapitän Gibson, wie er den Weg finde, nach welchen Zeichen er sich richte. — Er tat es von vornherein in der festen Überzeugung, die freundlichste, ausführlichste Aufklärung zu bekommen, mit der er aber gar nichts anfangen konnte, denn auch die europäischen Mitglieder dieser Gesellschaft, die alle so eine eigentümliche melancholische Physiognomie hatten, obgleich sie sonst tatkräftige Männer vom Scheitel bis zur Sohle waren, hatten schon ganz dasselbe Gebaren wie die Inder und Japaner angenommen, das musste eine Schulung sein.

Und so geschah es denn auch. An der Hand einer gezeichneten Karte gab Kapitän Gibson ausführliche Erklärung über alle Details, wie der Weg durch dieses Korallenlabyrinth zu finden sei.

Aber Hagen verstand nicht das Mindeste davon.

»Haben Sie mich verstanden?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Aber das ist doch so einfach. Sehen Sie hier —«

Ja, es schien wirklich ganz einfach zu sein. Aber seltsam war es, dass Hagen, der doch nicht auf den Kopf gefallen war, so ganz und gar nichts von der Erklärung verstand.

Wie sich das zusammenreimte, ist schwer zu erklären, oder aber wiederum ganz einfach. Durch ein Beispiel. So wird einem ein verblüffendes Kartenkunststück vorgemacht. Dass es verblüffend einfach ist, weiß jeder, der sich nicht verblüffen lässt, aber dahinter kommt er doch erst, wenn ihm der Kniff gezeigt worden ist.

Hagen merkte recht wohl, wie er — — veralbert wurde, denn etwas anderes war es nicht, und ärgerlich, sogar verächtlich wandte er seinem englischen Kollegen bald den Rücken.

»Sobald wir die Insel erreicht haben, steht unser Dampfbeiboot mit japanischen Tauchern zu Ihrer Verfügung.«

So war ihm noch vor der Abreise von San Francisco gesagt worden. Sonst hätte Hagen die Reise wahrscheinlich auch gar nicht mitgemacht, denn gleich in der ersten Stunde hatte er sich an Bord dieses Schiffes so ungemütlich gefühlt. Und das war während der langen und so langsamen Reise immer mehr der Fall geworden.

Kaum hatte nun der »Oststern« in einer Bucht der geheimnisvollen Insel Anker geworfen, als Hagen, ohne sich um irgend eines dieser Geheimnisse zu kümmern, ohne der Insel kaum einen Blick zu schenken, an das gegebene Versprechen gemahnt hatte.

»Bitte sehr, alles steht zu Ihrer Verfügung!«, hatte Kathana Brahma sofort entgegnet.

Und sofort wurde denn auch das Dampfbeiboot ausgeschwungen und zu Wasser gelassen. Bei dem Riesendampfer von 35 000 Tonnen war dieses Beiboot aber selbst ein Dampfer, den man in früheren Zeiten für recht beträchtlich gehalten hätte.

Kapitän Hagen war über diese Schnelligkeit selbst doch etwas überrascht.

»Werden Ihre Freunde Sie begleiten?«, fragte Kathana Brahma.

»Ich weiß noch nicht, ich habe sie noch nicht gefragt.«

»Wo wollen Sie sich hinbegeben, wenn Sie die Unterseeboote gehoben haben?«

»Zunächst möchte ich das Rätsel des Tschadsees ergründen.«

Jeder andere Mensch hätte doch wohl gefragt, was denn das für ein Rätsel mit diesem afrikanischen See sei.

Dem indischen Priester fiel solch eine Frage gar nicht ein. Natürlich, wenn er allwissend war! Aber warum stellte er dann andere Fragen?

»Werden Sie vorher noch einmal zurückkehren?«

»Nein!«, entgegnete Hagen kurzerhand.

»Weshalb nicht?«

»Weil ich mich gleich nach der Küste Afrikas begeben will, und ich wüsste nicht, was ich dann hier noch zu suchen hätte.«

»Ich bitte Sie aber, sich erst noch einmal hierher zu begeben.«

»Weshalb?!«, fragte jetzt auch Hagen.

»Weil Sie mit einem Unterseeboot die Gräfin von Felsmark abholen müssen.«

Da war Hagen natürlich gefangen. Aber hätte ihm das nicht gleich gesagt werden können? War das nicht eine ganz hinterlistige Art und Weise, das Tun und Lassen eines Menschen zu bestimmen?

»Von wo soll die Gräfin abgeholt werden?«, fragte er nur noch einmal.

»Dort, wie es im Buche des Schicksals verzeichnet steht, was wir aber nicht eher deutlich lesen können, als bis Sie hierher zurückgekehrt sind.«

Nun also gab der junge deutsche Kapitän alle weiteren Fragen auf, er wollte sich nicht länger an der Nase herumführen lassen.

»Der Teufel soll Euch heimtückisches Gesindel holen, das aus lauter vortrefflichen Menschen besteht!«, brummte er unwirsch.

Bismarck hat einmal so einen Ausspruch getan: »Als Einzelpersonen sind die Engländer tadellose Gentlemen, die besten Menschen, als Nation zusammen bilden sie ein Lumpenpack.«

So ungefähr war es auch mit dieser europäisch-indischen Gesellschaft.

Arno ging nicht mit. Der wollte in der Nähe derer bleiben, die ihm allein über das Schicksal Atalantas berichten konnten, wenn ihre Mitteilungen auch noch so spärlich und gewöhnlich ganz nichtssagend waren. Dann blieb auch Littlelu hier.

Das Dampfboot ging ab, einige geübte japanische Taucher mit ihren Apparaten an Bord. Die Führung übernahm Kapitän Gibson selbst, natürlich wieder auf Befehl des Maharadschas oder dessen Stellvertreters.

»Nun, Herr Kapitän Hagen, will ich Ihnen noch einmal erklären, wie man diesen Weg zwischen den Korallenriffen mit Leichtigkeit findet.«

Hagen hatte eigentlich gar keine Lust, diese Erklärung, die gar keine Erklärung war, nochmals anzuhören.

Aber er musste es, und da gab ihm jetzt der englische Kapitän den Schlüssel zu seinen früheren, mehr symbolischen Erklärungen, und nun war die Sache mit einem Male wirklich ganz einfach.

Hinwiederum diese symbolischen Andeutungen früher waren unbedingt nötig gewesen, sonst hätte Hagen wiederum jetzt nicht das Ganze verstanden, worauf es ankam, hätte den ihm gegebenen Schlüssel gar nicht benutzen können. Er hätte den englischen Kapitän um Verzeihung bitten mögen, aber es wäre gar nicht angebracht gewesen.

Hagen musste aber auch noch über etwas anderes staunen.

»Wie kommen Sie dazu, mir dieses Geheimnis zu offenbaren?«

»Sie sind einer der Unsrigen.«

»Ganz und gar nicht!«, rief Hagen mit Entschiedenheit. »Mir ist daraufhin auch kein Ehrenwort abgefordert worden.«

»Ich wurde beauftragt, Ihnen die Erklärung zu geben, und ich habe gehorcht. Und wenn Sie einmal diesen geheimen Weg nicht als einer der Unsrigen, sondern als unser Gegner benutzen wollten, so würden Sie ihn doch nicht wiederfinden.«

»Wie das?«

»Das ist nun wieder ein Geheimnis, in das Sie nicht eingeweiht werden!«, lächelte der englische Kapitän, aber es war ein sehr, sehr melancholisches Lächeln gewesen.

Die Fahrt bis nach jener Stelle nahm nur einen Tag in Anspruch, und das Heben der drei Unterseeboote war ganz einfach. Es brauchte nur ein Taucher hinabzugehen und ein außen angebrachtes Ventil zu drehen, so hob sich jedes Boot von ganz allein wieder. Alles war noch in tadelloser Ordnung.

Trotzdem vergingen freilich vier Tage, ehe die nunmehrige Flottille nach der Insel zurückkehrte, und diesmal hatte Kapitän Hagen den geheimen Weg durch die Korallenriffe ganz allein gefunden.

Wir wollen hier gleich erledigen, was unsere beiden anderen Freunde während dieser vier Tage auf der Insel erlebt und beobachtet hatten. Eigentlich gar nichts.

Wären nicht die beiden Australier schon auf der Insel gewesen und hätten ihnen von auf Kängurus reitenden Zwergen, die ihre dem Tode verfallenen Kameraden verzehrten, und von lemurischen Priestern erzählt, sie hätten gar nichts davon gewusst, auch nichts davon bemerkt.

Man hatte ihnen wohl von einer Insel erzählt, die in der Mitte dieser sonst für alle Welt unzugänglichen Cooksbank läge, dass sie der letzte Rest eines einst mächtigen, jetzt untergegangenen Kontinentes sei — Lemurien genannt — aber kein Wort davon, dass diese Insel noch Bewohner habe, Nachkommen der uralten Lemurier.

Hätten ihnen die beiden Australier nicht davon berichtet, Arno und Littlelu würden es überhaupt nicht geglaubt haben, denn jetzt war keine Spur von diesen Zwergen zu bemerken. Die Pyramiden waren noch da, die Höhlen — aber alles vollständig nackt, da war keine Feuerstelle, kein Fußabdruck mehr zu bemerken.

Wohin waren denn die Zwerge verschwunden?

Wussten denn diese Inder überhaupt, dass hier solche Lemurier noch existierten?

Sicherlich. Aber aus denen war nichts herauszubringen. Es war immer dieselbe Geschichte. Immer gern zu jeder Auskunft bereit, aber wenn man etwas wissen wollte, was sie nicht sagen wollten, dann erklärten sie es auf eine Weise, dass man daraus nicht das Geringste entnehmen konnte, und trotzdem musste man noch für die Belehrung danken, in so freundlicher und auch genauer, sachlicher Weise war sie gegeben worden.

Nun, Arno dachte an anderes als an die Beantwortung solcher Fragen, und Littlelu beschäftigte sich mit den beiden Australiern, welche — eigentlich doch auch wieder so ein Rätsel — von vornherein als Gäste betrachtet worden waren, als hätten sie schon immer zu dem indischen Schiffe gehört.

Also nach vier Tagen kam der kleine Dampfer mit den drei Unterseebooten zurück.

Kapitän Hagen wurde sofort zu Kathana Brahma gebeten, dasselbe war mit Arno geschehen. Die beiden trafen gleichzeitig vor dem Allmächtigen zusammen.

»Finden Sie jetzt den Weg durch die Straße allein, Kapitän?«, fragte der alte Inder.

»Ja.«

»So nehmen Sie eines der beiden größeren Boote, den Wal oder den Delfin, fahren Sie nach Caldera, wo die Frau Gräfin von Felsmark Sie erwartet — und Sie, Herr Graf?«

Arno war vor freudiger Überraschung wie aus den Wolken gefallen. Er hatte ja etwas Ähnliches gehofft, aber — alle seine diesbezüglichen Fragen wegen der Zeit waren zwecklos gewesen. Immer wieder jenes geschickte Ausweichen.

»Endlich, endlich!!«, jubelte er auf. »Und mein Kind?«

»Es erwartet im Arme der Mutter den Vater.«

Dann hatte Arno nichts mehr zu fragen.

»Ich möchte gleich alle drei Boote mitnehmen!«, sagte hingegen Kapitän Hagen in seiner immer etwas trotzigen Weise.

»Das können Sie nach Belieben tun.«

Keine einzige Frage nach dem Warum. Atalanta betrachtete alles, was sich innerhalb ihres Gebietes am Sklavensee befand, als ihr Eigentum, nach gesetzlichem Recht hatten dazu auch die drei Unterseeboote gehört, die hatte sie dem deutschen Kapitän geschenkt, das wurde alles auch von diesen Indern respektiert, und damit eben fertig.

»Die Gräfin will hierher gebracht werden?«

»Sie sagte so.«

»Will sie hier bleiben?«

»Das Schicksal wird darüber entscheiden.«

»Können Sie nicht einmal gleich im Buche des Schicksals nachschlagen?«

»Jetzt nicht!«, erklang es ohne jede Beleidigung auf diese spöttische Bemerkung zurück.

»Nun, wenn die Gräfin hierher will, dann bringe ich sie natürlich auch hierher.«

»Tun Sie es. Der Dank wird nicht ausbleiben. Jeder Mensch macht sich sein Schicksal selbst.«

Natürlich! Wenn so ein echter, strenggläubiger Buddhist etwa einen Schmetterling hoch oben an einer gefährlichen Stelle in der Klemme sieht, so holt er eine Leiter herbei, Seile, riskiert seinen Hals, um hinauf zu klettern und den Schmetterling zu befreien, in der festen Überzeugung, dass dieser selbe Schmetterling, aber jedenfalls in einer ganz anderen Gestalt, vielleicht schon als Mensch, nach Tausenden oder Millionen von Jahren auch ihn wieder aus einer gefährliche Lage befreit.

Sie hat schon etwas für sich, diese Lebens- und Weltanschauung. Mindestens sorgt sie dafür, dass das Leben nicht langweilig wird, denn fade bis zum Ekel wird es durch unseren modernen Materialismus.

»Dann bitte ich um einige Matrosen und um einen Ingenieur, falls einmal etwas an dem Getriebe in Unordnung kommt.«

»Das tut mir leid, von der Besatzung darf für diesen Zweck niemand das Schiff verlassen.«

»Nun, dann eben nicht, ich werde auch allein fertig.«

Hagen sprach es und ging, alles Weitere wegen der Zusammenkunft in Caldera dem Grafen überlassend, der schon weitere Instruktionen bekommen würde und sie auch erhielt.

Nein, Hagen brauchte auch wirklich keine andere Mannschaft, um alle drei Boote gleichzeitig zu steuern, er selbst hätte es ganz allein tun können. Dieses Problem ist ja auch schon von unserer modernen Technik gelöst worden, das Problem der Bootssteuerung durch elektrischen Fernstrom, der keine Drähte mehr braucht. Es genügte, wenn sich ein einziger kundiger Mann in irgend einem der drei Fahrzeuge befand, dann konnte er auch die beiden anderen Boote steuern, ganz allein, konnte sie hinter sich oder vor sich fahren lassen.

Natürlich wollte Arno sofort aufbrechen. Hagen vielleicht erst recht, und selbstverständlich schloss sich auch Littlelu an.

Als die beiden Australier davon hörten, wollten auch die nicht zurückbleiben.

»Wir beiden Fremden hier allein?«, meinte Ramford. »Nein — ich weiß ja, dass ich hier in absoluter Sicherheit bin — vortrefflichere Menschen kann man sich gar nicht denken, — aber — ich weiß nicht — allein möchte ich nicht hier bleiben, nicht mit meinem Freunde.«

»Machen Sie nicht so viele Worte«, entschied Hagen, »packen Sie Ihre sieben Sachen und kriechen Sie wie weiland der selige Jonas in den Bauch des Walfisches.«

Es geschah. Die beiden Aeronauten hatten ja nicht viel mitzunehmen. Hagen hingegen brachte zwei beträchtliche Koffer angeschleppt.

»Ja, soll es denn nur wirklich ein Auszug sein?«, fragte Arno etwas unwirsch. »Sollen wir unser Gepäck mitnehmen?«

»Machen Sie, wie Sie das wollen!«, entgegnete Hagen. »Ich für mein Teil ziehe aus. Will die Frau Gräfin hierher, dann bringe ich sie natürlich auch hierher, aber ich ziehe schon jetzt aus.«

»Na, dann nehme auch ich gleich alle meine und Atalantas Sachen mit, falls sich ihr Entschluss geändert hat.«

Und auch Arno packte seine und Atalantas Sachen zusammen, die eine größere Anzahl von Koffern und Kisten ausfüllten. Indische Diener, die ihm schon immer zur Verfügung gestanden, halfen ihm dabei. Um Atalantas Sachen kümmerte sich hauptsächlich Sarda, die japanische Dienerin, die mit vom Sklavensee gekommen war und von der es ganz selbstverständlich war, dass sie mitging

»Merkwürdig, das ist ja ganz merkwürdig!«, brummte Littlelu, als er mit seinem Köfferchen angerückt kam, und besonders Arno war ganz derselben Meinung.

Ja, es war auch wirklich ganz merkwürdig!

Niemand kümmerte sich um die Gäste, welche so offenkundig das Schiff für immer verlassen wollten.

Diese Teilnahmslosigkeit war ja nun diesen Indern ganz ähnlich. Diesen Indern, welche verächtlich oder vielmehr mitleidig lächeln, wenn Abendländer von unserer Kultur oder gar von unserer Waffenmacht, von unseren kriegerischen Erfolgen sprechen, wie wir Europäer jetzt Herren der Erde seien und es doch auch sicher bleiben würden.

Und wie nun gar mitleidig lächeln sie, wenn wir sie darauf aufmerksam machen wollen, wohin sie mit ihrer buddhistischen Toleranz gekommen, wie sie doch nur die geknechteten Sklaven Englands seien.

»Nur Geduld, wartet nur, wartet nur!«, lächeln sie dann, wenn man sie einmal zum Sprechen bringt. »Noch immer geht die Sonne im Osten auf und im Westen unter. Auch Ihr habt einmal einen Anfang gehabt, auch Ihr werdet einmal ein Ende haben, auch wir kommen wieder einmal daran. Wenn der Mongole Euch dereinst den Fuß auf den Nacken setzen wird, werden wir uns wieder sprechen. Und was sprichst Du da, mein lieber Freund, von Kultur und Macht?! Ja, bei uns in Indien wüten oftmals Hungersnöte, welche in wenigen Wochen viele Tausende von Menschen hinwegraffen — aber prozentual verhungern bei Euch viel mehr Menschen als bei uns.«

So spricht der Inder, der gebildete Hindu, der sich, Fürst oder Bettler, täglich dreimal baden muss, wenn er einmal zum Sprechen zu bringen ist.

Diese Teilnahmslosigkeit war also begreiflich.

Immer geht, geht für immer!

Tut doch, was Ihr wollt.

Das Schicksal eines jeden Menschen ist bestimmt, und jeder Mensch macht sein eigenes Schicksal.

Abschied?

Wiedersehen?

Gibt es ja alles nicht, ist ja alles nur Einbildung, ein Trugwerk der Maja.


Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder,
Und kein Mensch kann's wenden...


Nein, über diese Teilnahmslosigkeit der Inder brauchte man sich nicht zu wundern.

Wohl aber über etwas anderes.

Den Gästen, von denen zwei überhaupt gänzlich Fremde waren, hatte man keinen Schwur, kein Ehrenwort, kein Versprechen abgenommen, dass sie nichts verrieten, was sie hier zu sehen und zu hören bekommen hatten.

»Ich habe so eine Ahnung«, meinte Littlelu, als sie sich in dem Walfischbauche schon häuslich einrichteten, »als ob wir dieses Schiff und die ganze Insel überhaupt nie wieder sehen werden. Die versperren uns die Rückfahrt, ich habe so eine ganz bestimmte Ahnung.«

»Jawohl, Ahnung, Ahnung!«, spottete Hagen. »Sie wissen doch aus Frett Barkors Ameisenerzählung, was man von solchen Ahnungen zu halten hat. Überdies sollte es mir sehr angenehm sein, wenn Ihre Ahnung in Erfüllung ginge.«

»Das wäre ganz gegen das Versprechen, das uns gegeben worden ist!«, versetzte Arno. »Denn wir sollten hier auf dieser weltfremden Insel ein Asyl finden, in dem wir niemals entdeckt werden können, in dem uns keine Macht der Erde beikommen kann, und ich bin überzeugt, dass dieser Maharadscha ein gegebenes Versprechen unverbrüchlich hält. Und trotzdem — auch ich habe so eine Ahnung, so ein sicheres Gefühl, als ob sich hier irgendetwas Fürchterliches vorbereite.«

Arno sprach das Gefühl aller aus. Auch Hagen hatte es, wollte es nur nicht zugeben.

»Ready! Go ahead!«, rief dieser jetzt im Steuerraum, der mit Apparaten und Hebeln und Rädern aller Art ausgestattet war.

Der Walfisch bewegte seine Flossen, setzte sich in Bewegung, und ihm nach folgte der Delfin, dann der immer noch viel kleinere Pilot, in dem nur ein einziger Mann Platz fand, in dem jetzt aber niemand war.

Dies alles konnte der im Walfischkopf Steuernde dirigieren und in einem Spiegel beobachten — und noch vieles andere mehr. Das rätselhafte Diffusionslicht, das die dicken Platten durchdrang, von außen aber doch nicht sichtbar war, trat in Tätigkeit. Obgleich der Wal einige Meter unter Wasser fuhr, war es für den Steuernden doch nicht anders, als ob er auf der freien Kommandobrücke eines Schiffes stände, und auch die finsterste Nacht war für ihn heller Tag, obgleich er selbst für andere dennoch im Dunklen blieb, Dank jenes Diffusionslichtes, über das ja schon einmal ausführlich berichtet wurde.

Die Möglichkeit jeder Erfindung, welche der Phantasie entspringt, muss eine logische Begründung haben, oder es ist eine Ausgeburt des Wahnsinns, der höchstens Methode hat.

Gibt es denn etwa so etwas nicht, wie hier beschrieben wird?

Lässt nicht eine Milchglasscheibe Licht durchscheinen, ohne dass man hindurchblicken kann?


Illustration

Kann man nicht aus jedem durch Tageslicht erhellten Zimmer durch die Fensterscheiben hinausblicken und alles erkennen? Aber draußen muss man sein Gesicht schon sehr dicht an die Scheiben bringen, um ins Zimmer blicken zu können.

Für uns erscheint das ganz selbstverständlich, weil es eben etwas ganz Alltägliches ist, weil wir es nicht anders kennen.

Aber es gehören große physikalische Kenntnisse dazu, um zu wissen, weshalb das so ist, weshalb das nicht anders sein kann!

Es sei hier auch gleich noch ein Wort über jene Spaltameisen gesagt.

Diese Erzählung ist ja nur ein Traum oder eben eine Phantasie.

Aber glaubt man etwa, so etwas sei in der Natur nicht möglich?

Unter den fünfarmigen Seesternen gibt es Männchen und Weibchen, die sich durch Eier fortpflanzen.

Schneidet man aber von dem lebendigen Tier einen Arm, alle fünf Arme ab, so entwickelt sich aus jedem einzelnen Arme wiederum ein fünfarmiger Seestern.

Das weiß jeder Küstenfischer, dieses Experiment mag jeder, der einmal an die See kommt, probieren.

Was sagt man dazu?

Es sei kurz gesagt: die menschliche Phantasie, das Gehirn kann nichts erfinden, was die Natur nicht in Wirklichkeit auszuführen imstande wäre! Einfach deshalb nicht, weil die Natur selbst erst dieses Gehirn geschaffen hat!

Vor ungefähr 50 Jahren hat Jules Verne sein Unterseeboot, sein lenkbares Luftschiff, seine Flugmaschine erfunden, nur in seiner Phantasie, und hat damit Reisen gemacht.

Auch die Erwachsenen haben diese Erzählungen damals mit Vergnügen gelesen, dann sie lächelnd den Kindern in die Hände gegeben.

»Ganz hübsch erfunden und geschrieben, aber die pure Phantasie, alles rein unmöglich.«

Und heute?

O, Jules Verne — Hut ab vor Dir — was bist Du für ein gottbegnadeter Prophet gewesen! Eben weil Du ein echter Dichter warst!

Ja, wird man sagen, das sind mechanische Erfindungen! Aber wie sollten wir auch in das geheimnisvolle Getriebe der Schöpfungskraft eingreifen können?

Nun, sehen wir uns nur unsere heutigen Hunderassen an.

Hund ist Hund.

Aber gibt es nicht Zwerghunde, die man in die Rocktasche stecken kann, und riesenhafte Doggen?

Hat diese der Mensch nicht ganz selbstständig geschaffen, wobei er die Kraft der Natur nur gelenkt hat, ganz nach Willkür?

Man überlasse diese verschiedenen Hunderassen nur sich selbst, und nach hundert Jahren haben sich alle wieder in den Wolf zurückverwandelt, sind alle wieder von gleicher Größe und gleichem Aussehen.

Wir erzeugen heute Blendlinge zwischen Löwen und Tiger, die wiederum fortpflanzungsfähig sind.

Und diese Züchtungsversuche sind noch ganz jung!

Wie es in tausend Jahren damit auf der Erde aussehen wird, das kann sich auch nicht die glühendste Phantasie im Fieberdelirium ausmalen!

*

In sechsmal vierundzwanzig Stunden hatte der Walfisch die neunhundert geografischen Meilen durchrast, die zwischen der Cooksbank und der chilesischen Küste liegen.

An Bord des »Oststerns« hatte es jeglichen Komfort gegeben, zum Beispiel auch ein prächtiges Schwimmbassin, wie man es heute auf allen den neuesten Luxusdampfern findet. Aber nichts von jenen wunderbaren technischen Einrichtungen, wie sie die Felsenberge am Sklavensee beherbergten. Also kein mechanisches Theater, keine Camera obscura.

Denn wozu brauchte diese indische Gesellschaft solch eine Einrichtung, wenn sie über lebendige Hellseher verfügte.

Wohl aber war eine Camera obscura in die beiden größeren Unterseeboote eingebaut. Der Verfertiger derselben, Señor Tenorio, war eben ein Mitglied dieser Gesellschaft gewesen, hatte sich mehr auf mechanische Erfindungen gelegt, welche jene nur als unnütze Spielereien betrachteten.

Die Camera obscura des Delfins gestattete, wie schon einmal erwähnt, nur das Überblicken eines Umkreises. Die des Walfisches war bedeutend größer, aber diese funktionierte nicht, und kein Ingenieur des »Oststerns«, kein anderer hatte davon etwas verstehen wollen.

Überhaupt hatte man sich damit gar nicht aufgehalten, Graf Felsmark wollte nach Caldera.

Auch während der Fahrt gelang es nicht, diese Camera obscura in Betrieb zu setzen.

»Ach, was brauchen wir solchen Quark, verlassen wir uns nur auf unsere gesunden Augen!«, entschied Kapitän Hagen.

Caldera wurde gegen Mitternacht erreicht. Natürlich blieben die drei Unterseeboote zunächst auf der Reede liegen, nur mit dem Rücken etwas aus dem Wasser sehend.

Jetzt aber wollte Hagen dennoch die Camera obscura gebrauchen, nur deshalb begab er sich mit Arno nach dem Delfin hinüber.

Die Vorrichtung funktionierte. Obgleich es eine pechfinstere Nacht war, am Hafenkai nur wenige spärliche Lampen brannten, lag hier auf einer horizontalen Platte das ganze Hafenbild im hellsten Lichte da, und jede einzelne Stelle konnte nach Belieben besonders in Augenschein genommen, verschärft und vergrößert werden.

Der Hafenkai wurde abgesucht. Zwei Männer, die an einer Landungstreppe standen, fielen besonders auf. Der eine im derben Jagdanzug, der andere in mexikanischer Nationaltracht, nur dass der schwarze Samtanzug schon stark mitgenommen war. So deutlich konnte man alles unterscheiden, und es lag ja nur an der Einstellung, so war jeder Gesichtszug, jedes Härchen zu erkennen.

So scharf aber waren die beiden Gestalten noch gar nicht auf der Platte fixiert, als Arno schon aufjauchzte:

»Atalanta, das ist Atalanta!!«

»Wer? Der mit dem roten Schnauzbarte oder der mit dem Samtanzuge?«

»Der Mexikaner, es ist Atalanta!! Aber wo ist Alfred?«

»Wenn sie's wirklich ist, dann wird sie das Kind wohl hinten auf dem Buckel in dem Rucksack haben!«, sagte Hagen in seiner trockenen Weise.

Sie war es! Und zehn Minuten später lag Atalanta in den Armen des Gatten, drückte der Vater sein Kind an die Brust.

Doch im Stehen konnte dies nur an Land geschehen, in dem kleinen Delfin konnte man ja nur liegen, aber wiederum zehn Minuten später befanden sie sich in dem Walfisch, wo selbst Hagen seine endlose Knochengestalt ganz aufrichten konnte, wobei er nur eben mit den Haaren gegen die Decke stieß. Auch Wilhelm Neumann war mitgekommen.

Atalanta berichtete, was natürlich einige Stunden in Anspruch nahm, die beiden waren eben erst vom Bahnhof gekommen, hatten gerade den Kai erreicht, als sie in der Camera obscura gesichtet und vom Delfin abgeholt wurden.

»Und wie sieht es jetzt mit dem ›Oststern‹ auf jener Insel aus?«, fragte dann Atalanta.

Jetzt musste Arno berichten, woran sich aber auch die anderen beteiligen konnten.

»Wie, diese Insel hat Bewohner?! Nachkommen der alten Lemuren sollen es sein?!«

Auch Atalanta hatte hiervon nichts gewusst, immer wieder konnte man sich nur in Vermutungen ergehen.

Jedenfalls aber wollte Atalanta erst einmal nach dieser geheimnisvollen Insel. Ob sie dort blieb, da sich Arno wie die anderen so wenig unter dieser Gesellschaft wohl fühlten, das würde ja die Zukunft entscheiden.

*

Wiederum sechs Tage später steuerte der Walfisch, die beiden anderen Unterseeboote durch magnet-elektrische Verbindung nach sich ziehend, wieder in die Korallenstraße ein.

Während dieser sechs Tage hatte Atalanta sich an der Camera obscura zu schaffen gemacht, sie aber ebenfalls nicht in Betrieb setzen können, obgleich sie sicher nicht defekt war.

Da man von der Breitseite her in die Korallenbank eindrang, war man nur drei geografische Meilen von der Insel, von jener Bucht entfernt, aber da unzählige Bogen zu beschreiben waren und man doch nur langsam fahren konnte, dauerte die Durchfahrt mindestens fünf Stunden.

Nachts gegen vier war man eingedrungen, das Unterseeboot, ein einziger Scheinwerfer, gewissermaßen eine Spiegelkugel, verbreitete ja ringsum das hellste Licht, und als man die Bucht erreichte, stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel.

Der Wal bewegte sich wie ein natürlicher mit dem Rücken etwas über der Wasseroberfläche, man hätte auf diesen Rücken treten können, aber es war nicht nötig, die schwarzen Platten waren von innen durchsichtig wie das feinste Tafelglas.

Vor ihnen lag im goldenen Sonnenschein die hügelige, zum Teil bewaldete Insel, im sanften Morgenwinde nickten leise die Palmen, friedlich lag das mächtige Schiff in der weiten Bucht, dicht am hohen Ufer, ein Laufbrett führte hinüber.

»Ach, das ist ja herrlich, herrlich hier, hier bleiben wir!«, rief Atalanta entzückt.

»Ja, wenn ich mit Dir allein hier bleiben könnte mit einigen guten Freunden!«, meinte Arno etwas gedrückt. »Dann ließe ich es mir gefallen, aber diese indische Gesellschaft gefällt mir durchaus nicht, noch weniger diese europäischen, zum größten Teil englischen Mahatmas — oder wie sich diese Kerls nun nennen mögen.«

Die Breitseite des riesenhaften Schiffes war erreicht. Auf das Deck hatte man noch nicht blicken können, es war gar zu hoch, auch mit einer hohen Bordwand umgeben, und dass auch die oberen, nur von durchbrochenen Gittern umgebenen Promenadendecks ganz menschenleer waren, darüber brauchte man sich nicht zu wundern. Diese Decks belebten sich nur zu gewissen Zeiten des Tages, in dieser heißen Gegend mehr noch des Nachts. Für gewöhnlich war alles wie ausgestorben.

Nur dort, wo das Fallreep herabhing, lag ein Matrose halb über der Bordwand, hatte sich so recht faul auf seine gekreuzten Arme gelegt und blickte mit seinen Schlitzaugen herab.

Das hatte man schon beobachtet, als man sich noch im Unterseeboote halb unter Wasser befand.

Jetzt stieg der Wal noch höher empor, die Luke wurde geöffnet, alle stiegen hinauf.

Hagen hatte das Boot, die Lukenöffnung gerade dorthin dirigiert, wo das Fallreep herabhing. Da hier keine Spur von Ebbe und Flut, von einer Strömung zu merken, war ein Befestigen des Bootes nicht nötig.

Das Fallreep war etwas verkürzt, man musste erst einen Klimmzug machen, um die Stufen zu gewinnen.

Und der Matrose dort oben rührte sich nicht.

Das war eigentlich merkwürdig. Die japanischen Matrosen hatten auf diesem indischen Schiffe nichts von ihrer angeborenen oder vielmehr anerzogenen Höflichkeit verloren, sprangen beim kleinsten Wink, komplimentierten bei jedem Worte.

Und der dort oben veränderte seine faule Lage nicht, sondern blickte gemächlich auf die Kommenden herab.

»He, lasse das Fallreep etwas weiter herab!«, rief Hagen hinauf.

Keine Antwort, und der rührte sich nicht.

»Schläft denn der Kerl mit offenen Augen?!«

Hagen schwang sich als erster empor.

»Heiliger Klüverbaum, der Kerl ist ja tot!«

Der Mann brauchte nur von der Bordwand zurückgedrängt zu werden und er fiel hin, klappte wie ein Sack zusammen — eben wie eine Leiche.

»Der hat einen Schlaganfall gehabt!«

Und der musste erst vor ganz kurzem eingetreten sein. Die Leiche war nicht gerade noch warm, aber jedenfalls musste der Tod erst vor ganz kurzer Zeit erfolgt sein. Daraufhin wiesen alle Anzeichen. Die Todesstarre kam wahrscheinlich erst noch.

»Hat das denn noch niemand hier bemerkt?«

»Nein, der Matrose hat sich so halb über die Bordwand gelehnt, da traf ihn der Schlag. Merkwürdig aber, wie sein Auge so ganz ungebrochen ist, da folgt erst noch die Todesstarre.«

Sie sahen sich nach Menschen um, bemerkten aber keinen.

Doch auf der Kommandobrücke musste unbedingt mindestens eine Wache sein.

Hagen sprang zuerst hinauf.

Sie alle hatten vor zwölf Tagen bei der Abfahrt eine gewisse Ahnung gehabt — jetzt aber wollte keinen solch eine Ahnung überkommen.

»Tot, alles tot!«, schrie da Hagen.

Jetzt waren auch die anderen schnell oben.

Ja, alles tot!

Kapitän Gibson saß wie so häufig unter dem Sonnensegel auf einem Feldstuhl — tot! Im Kartenhaus lag auf dem Sofa der dritte Wachoffizier, am Tisch saß ein Inder, den Kopf in den Armen verborgen — beide tot! Noch drei andere Männer waren hier oben, welche Zutritt zu der Kommandobrücke hatten — alle tot!

»Kinder«, flüsterte Hagen, »was wir hier sehen, das ist erst der Anfang — wir können uns noch auf Entsetzliches gefasst machen!«

Und so war es.

Sie brauchten sich nur unter Deck zu begeben.

Dreitausendfünfhundert Menschen — alle tot!!

Wir müssen es mit den sachlichen Augen eines untersuchenden Staatsanwaltes beurteilen, wozu natürlich so schnell keiner der sieben Menschen fähig war, die in geschlossener Gruppe von Kabine zu Kabine, von Saal zu Saal gingen — nicht die stoische Indianerin, nicht der phlegmatische Baronet, nicht der derbe Hagen.

Der Tod musste sie alle mitten im vollsten Leben getroffen haben, aber nicht sie überraschend, nicht unerwartet. Alles deutete vielmehr darauf hin, dass sie sich zum Tode erst vorbereitet hatten. Jener japanische Matrose war wohl der einzige, der sich in einer Stellung befunden, welche der Mensch nicht einnimmt, wenn er den baldigen Tod erwartet. Alle anderen lagen entweder in ihren Betten oder Kojen oder saßen auf Stühlen oder hatten sich auf Polstern niedergelassen, immer mit würdevoller Ruhe. Keine unnatürliche Stellung, nicht das geringste Zeichen eines dem Tode vorangegangenen Schmerzes, keine Angst in den Zügen, gar nichts. Niemand war etwa mitten in einer Bewegung, bei einer Beschäftigung, umgefallen. Sehr bemerkenswert war auch, dass alle diejenigen Männer, welche die niedrigsten, schmutzigsten Arbeiten zu verrichten hatten, festlich gekleidet waren. Das heißt, sie hatten alle ihre besten, saubersten Gewänder an, hatten sich auch alle vorher gewaschen. Das konnte man sehr deutlich bemerken. Hingegen die oberen Klassen hatten sich nicht etwa geschmückt, auch nicht die vielen Weiber.

Es hatte einer halben Stunde bedurft, ehe die sieben Menschen zu diesen Erkenntnissen gekommen waren.

In dieser halben Stunde hatten sie ja durchaus nicht etwa das ganze Schiff durchwandern können. Was sie aber in den Räumen gesehen, durch die sie gekommen oder in die sie geblickt, das genügte zur Überzeugung, dass es allüberall so beschaffen war.

»Es ist nicht möglich! Es ist entsetzlich!«

Andere Worte hatten sie bisher nicht gehabt.

Dann also bekamen sie jene Erkenntnis, und sie sprachen es aus.

»Die sind alle freiwillig in den Tod gegangen!«, war Arno der erste, der seine Meinung aussprach.

»Woraus willst Du das schließen?«, fragte Atalanta.

»Aus ihren Gesichtszügen, aus ihren Stellungen und wie sie sich doch ganz offenbar zum Tode vorbereitet haben.«

»Du magst recht haben, Arno, aber es kann auch ein voreiliger Schluss sein, es kann sich auch um eine versehentliche Massenvergiftung handeln, vielleicht durch das Trinkwasser aus dem gemeinsamen Tank. Sie haben sich vergiftet gefühlt, sahen sich unrettbar dem Tode verfallen. Da haben sie sich ruhig und würdevoll auf diesen unvermeidlichen Tod vorbereitet.«

Ja, alle mussten zugeben, dass auch diese Kalkulation der Indianerin viel für sich hatte. Der Tod war dann eben ganz schmerzlos eingetreten, nach einer vorausgehenden Betäubung.

»Sollte aber da nichts Schriftliches für uns hinterlassen worden sein?«

»Danach müssen wir wenigstens suchen!«, entgegnete Atalanta. »Das wäre Sache des Kapitäns gewesen. Wenn er hier auch nicht der Höchste war — er war und blieb doch immer der Kapitän, der Befehlshaber des Schiffes, das respektierte auch der Maharadscha. Dass er den Tod auf der Kommandobrücke erwartete, ist ganz selbstverständlich. Hat jemand vielleicht in seiner Hand ein Papier gesehen?«

Nein, niemand.

»Oder so etwas im Kartenhause auf dem Tische, was mir vielleicht entgangen wäre?«

Auch nicht.

»Ganz richtig, ich vermute auch, dass, wenn er etwas Schriftliches hinterlassen hat, dies in seinem Büro liegt, das für jedermann jederzeit offen stand. Begeben wir uns dorthin.«

Grausige Offenbarungen

Sie taten es. Dieses Büro lag gleich im ersten Deck.

Es war ganz selbstverständlich, dass sich diese sieben Menschen immer eng zusammenhielten. Nur Sarda war mit dem kleinen Alfred im Walfisch zurückgeblieben.

Eine große Überraschung sollte ihrer warten. In dem Augenblick, da Atalanta als erste dieses Büro betrat, klingelte das darin befindliche Telefon — dasjenige, durch welches man sich mit den meisten Räumen und Kabinen des ganzen Schiffes in Verbindung setzen konnte, zur allgemeinem, gesellschaftlichen Benutzung dienend.

Dieses schrille Klingeln in dem Totenschiff ging sogar dem phlegmatischen Baronet als jäher Schreck durch alle Glieder.

Atalanta winkte und nahm den Schalltrichter ab.

»Hier Frau Gräfin Atalanta von Felsmark. Wer dort?«

»Hier Mephistopheles!«, erklang es zurück, auch für die anderen deutlich vernehmbar, und diejenigen, die mit diesem Manne schon zu tun gehabt hatten, erkannten auch gleich seine Stimme. Teufel gibt es ja genug, aber das hier konnte nur ein einziger Mephistopheles sein.

»Señor Tenorio?«

»So habe ich mich einst genannt. Bitte, nennen Sie mich einfach Mephistopheles«

»Wo befinden Sie sich?«

»Ich bin von Chilos unterwegs zu Ihnen.«

»Weshalb?«

»Auf Befehl des Maharadschas Bitur Rupigandsch von Nepal.«

»Weshalb sollen Sie zu mir kommen?«

»Das möchte ich Ihnen persönlich sagen.«

»Wir sprechen persönlich zusammen?«

»Von Angesicht zu Angesicht. So lautet der Befehl, dem ich unbedingt zu gehorchen habe.«

»Wissen Sie, wo wir uns hier befinden?«

»Gewiss. Sonst könnte ich Sie ja nicht aufsuchen.«

»Wissen Sie, was hier geschehen ist?«

»Ja. Das alles eben soll ich Ihnen erklären — und noch viel mehr.«

»Wann können Sie hier sein?«

»Das hängt ganz von Ihnen ab.«

»Wie das?«

»Gestatten Sie, allergnädigste Frau Gräfin, dass ich zu Ihnen komme?«

»Wenn Sie den Auftrag dazu haben, so müssen Sie diesem Befehl auch Folge leisten!«

»Sie können ja damit nicht einverstanden sein, mich nicht empfangen wollen. Gestatten allergnädigste Frau Gräfin, dass Ihr alleruntertänigster Diener unter Ihre Augen tritt?«

So sprach der Mephistopheles, immer im spöttischsten, höhnischsten Tone. Aber das Merkwürdige dabei war, dass man diesem Kerl gar nichts übel nehmen konnte!

»Selbstverständlich. Wann können Sie hier sein?«

»O, das geht sehr schnell. Wenn ich —«

»Sind Sie noch auf der Insel Chilos?«

»Nein, ich bin bereits unterwegs zu Ihnen. Wenn ich mich beeile —«

»Nun, so beeilen Sie sich! Wie lange dauert es denn, bis Sie hier sein können?«

»Wie gesagt, das kann sehr schnell geschehen — dann dürfen wir uns aber nicht mehr mit Worten aufhalten — also Schluss — auf baldiges persönliches Wiedersehen —«

Das Telefon klingelte ab, und höchstens zwei Sekunden später trat der Mephistopheles persönlich durch die Tür, in ein schneeweißes Tropenkostüm gekleidet, ein tadelloser Gentleman, ganz devot, sogar sehr kriecherisch, dieses echte Mephistophelesgesicht vom höhnischsten Grinsen verzerrt, was aber doch nicht widerlich wirkte, weil das nun einmal zu diesem Teufelsgesicht gehörte, es sollte ja auch nur ein gutmütiges Lächeln sein und wirkte auch wirklich so...

»Ihr gehorsamster Diener, allergnädigste Frau Gräfin, ist schon zur Stelle, Sie brauchen nur mit Ihren schönen Augen zu winken. Habe die Ehre, meine Herren.«

Die Überraschung der anderen lässt sich denken.

»Sie sind schon hier?!«, rief Atalanta.

»Wie Sie sehen —«

»Sie sind bereits hier gewesen?«


Illustration

»Ich bin schon eine Stunde vor Ihnen mit dem Aeroplan hier eingetroffen.«

»Mensch, können Sie denn nur gar nicht einmal bei der Wahrheit bleiben? Müssen Sie denn nur immer lügen?«

»Wieso habe ich denn gelogen?«

»Sie sagten doch, Sie seien erst unterwegs!«

»Nun ja, ich bin doch unterwegs zu Ihnen. Ob ich nun noch tausend Meilen oder noch tausend Millimeter von Ihnen entfernt bin, das hat doch gar nichts zu sagen. So etwas wie Raum und Entfernung gibt es ja überhaupt gar nicht, so wenig wie Vergangenheit und Zukunft, das hat sich der Mensch alles erst geschaffen, es gibt nur einen einzigen Augenblick in der Gegenwart, nur ein Jetzt, und ebenso auch nur einen Punkt im Weltall —«

Atalanta winkte ab.

Es war mit diesem Kerl ja doch nichts anzufangen.

Und jetzt gab es ihn anderes zu befragen.

»Was wissen Sie von diesem schrecklichen Vorkommnis?«

»Sie sämtlich sind freiwillig in den Tod gegangen!«, erklärte der Mephisto jetzt kurz und bündig, ohne dabei sein Grinsen lassen zu können.

»Freiwillig?«

»Ja.«

»Also mit Absicht?«

»Mit voller Absicht.«

»Weshalb das?«

»Weil sie eben aus diesem Leben scheiden wollten. Es war ein gemeinsamer Entschluss.«

»Weshalb das, muss ich da immer wieder fragen?«

»Das allerdings weiß ich nicht. Sie waren eben alle zusammen des Lebens überdrüssig.«

So allerdings hatten sie auch alle zusammen ausgesehen. Nur nicht die vielen Weiber und Kinder. Aber die Frauen haben bei den brahmanischen und buddhistischen Indern ja gar nichts zu bedeuten, die hatten eben mitmachen müssen, so wie sich die Witwe mit der Leiche ihres Gatten verbrennen lassen muss. Und das ist noch heute so. Allerdings erlaubt das die englische Regierung nicht mehr, aber einen Segen hat sie dadurch nicht gestiftet, sie hat da vielmehr einen schweren Konflikt beschworen. Die indische Witwe ist noch heute maßlos verachtet, im Hause ihrer Eltern oder Schwiegereltern hat es jeder Hund besser.

Wir werden darüber später noch mehr berichten.

»War denn dieser Selbstmord etwa schon vorher ausgemacht?«

»Schon lange vorher.«

»Schon als sich diese ganze Gesellschaft noch in Indien befand?«

»Gewiss.«

»Der Maharadscha ist extra deswegen hierher gefahren?«

»So ist es.«

»Hat sich deswegen erst dieses Riesenschiff gekauft und es so prunkvoll einrichten lassen?«

»Ganz gewiss. Das wundert die Frau Gräfin etwa? Könnten nicht auch wir Christen ganz einfach in der Erde verscharrt werden? Wozu die prunkvollen Leichenbegängnisse? Weil es dem Menschen eben Spaß macht. Und was einem Millionär oder seinen Erben ein Leichenbegängnis bedeutet, das 10 000 Dollars kostet, das bedeutet für den Maharadscha von Nepal dieses Schiffchen hier.«

»Trotzdem — ich verstehe noch manches nicht.«

»Bitte, fragen Sie. Ich werde antworten, soweit ich kann.«

»Sie dürfen nicht alles beantworten?«

»O doch. Ich habe dazu sogar direkten Befehl erhalten, aber es fragt sich nur, inwieweit man mich in alles eingeweiht hat, ob ich selbst alles weiß, was Sie wissen wollen.«

»Wie haben sie ihren Tod herbeiführt?«

»Durch Gift.«

»Wann?«

»Heute früh gegen halb sieben, also kurz vor Aufgang der Sonne. Die neue Sonne durfte kein Mitglied dieser Gesellschaft mehr am Leben erblicken.«

»Also Sie wussten darum?«

»Ja. Ich wurde vor ungefähr vierzehn Tagen davon durch drahtlose Telefonie verständigt und machte mich sofort auf den Weg.«

»Sie waren noch auf der Insel Chilos?«

»Ja. Meine Verbannung wurde aufgehoben.«

»Sie sind per Schiff hierher gefahren?«

»Mit einem Aeroplan.«

»Sie sind eine Stunde früher als wir hier eingetroffen?«

»Ja. Jetzt also vor anderthalb Stunden.«

»Da war alles schon tot?«

»Alles.«

»Was für ein Gift haben sie genommen?«

»Ein Gift, für welches die andere Menschheit noch keinen Namen hat.«

»Aber Sie kennen es?«

»Ich kenne es.«

»Können es bereiten?«

»Kann ich.«

»Es wirkt sofort tödlich?«

»Nicht sofort, betäubt aber augenblicklich, führt dann in fünf Minuten den schmerzlosen Tod herbei. Außerdem geht es sofort ins Blut, wird durch die feinsten Äderchen überallhin verteilt, konserviert den Körper und macht ihn unverweslich für immer.«

»Das ist dann wohl so etwas Ähnliches wie jenes Mittel, durch welches Sie die Leichen präparieren?«

»Es ist wenigstens der erste Teil dieses Mittels. Dann kann ich die Leichen in jede beliebige Lage und Stellung bringen und sie durch die Einspritzung eines anderen Mittels im Moment erstarren lassen.«

»Weshalb haben sich diese Inder nicht lieber dem freiwilligen Feuertode ausgeliefert? Entweder lebendig den Scheiterhaufen bestiegen oder doch dafür gesorgt, dass sie dann noch verbrennen? Oder sollen wir dies etwa noch besorgen?«

»Gerade im Gegenteil. Ich bin noch rechtzeitig hierher beordert worden und auch eingetroffen, um eben zu verhindern, dass Sie diese Leichen etwa begraben oder verbrennen oder ihnen im Wasser ein seemännisches Begräbnis geben.«

»Was soll denn sonst mit den Leichen werden?«

»Alle diese Menschen, auch die Europäer, sind keine reinen Buddhisten gewesen.«

»Nein?!«

»Der Maharadscha von Nepal war der Hauptvertreter des Parso-Buddhismus.«

Es ist dies eine Verschmelzung des Buddhismus, in dem es ja überhaupt sehr, sehr viele Sekten gibt, mit der parsischen Religion, gegründet von Zoroaster, einem Perser, daher der Name, die ums Jahr 600 vor Christi erfolgte.

Diese parsische Religion war den meisten der Hauptsache nach bekannt.

Sie ist sehr mit dem Buddhismus und Brahmanismus verwandt. Zwar sind die Parsen Feueranbeter, als höchste Kraft, nicht eigentlich als Gottheit, für diese verehren sie die Sonnte, worin sie ja auch ganz recht haben, doch glauben sie auch noch an alle die anderen indischen Götter, wie jetzt auch der Buddhismus, was früher ja nicht der Fall war.

Die größte Merkwürdigkeit der Parsen ist, dass sie mit ihren verwesenden Leichen nicht die drei heiligen Hauptelemente verunreinigen dürfen: die Erde, das Wasser und das Feuer. In der Nähe von allen größeren Städten und Ortschaften Indiens findet man niedrige, aber sehr umfangreich angelegte Türme, oben offen, Dakhmas genannt, was schweigender Turm bedeutet, Turm des Schweigens.

In diese Türme, also ummauerte Plätze, werden die Leichen der Parsen gebracht, als ein Fraß der Aasgeier. Das ist ihre — Begräbnisweise, wenn man das so nennen darf.

»Diese dreitausendfünfhundert Leichen sollen hier von Raubvögeln verzehrt werden?!«, rief Atalanta, schon jetzt mit Bestürzung erfüllt.

»Von Raubvögeln? Sie denken an die Geier, die in Indien dieses Geschäft meist besorgen? Das ist durchaus nicht nötig. Die Avesta, das heilige Buch der Parsen, schreibt nur vor, dass die toten Organismen von lebendigen Organismen beseitigt werden sollen. Das Ausliefern der Leichen an die Aasgeier ist dabei nur das Bequemste. In Hakandscha in der Provinz Hyderabad, wo es sehr viele Ameisen gibt, legen die Parsen ihre Toten neben den Ameisenhügeln nieder, die Tierchen besorgen das Beseitigen der irdischen Überreste bis auf die Knochen ebenso schnell und gründlich wie die Geier, sogar noch viel sauberer.«

»Ja, und was für Tiere sollen denn hier diese Leichen bis auf die Knochen beseitigen?«

»Die Bewohner dieser Insel, die Lemuren. Die sollen das Fleisch der Toten verzehren, denn es sind Menschenfresser.«

Es war ausgesprochen.

Es war auch für diese Indianerin, die doch sicher lebhafte Phantasie besaß, etwas zu viel gewesen. Ihre Erstarrung währte einige Zeit, bis sie wieder der Sprache mächtig war.

»Von den Bewohnern — dieser Insel — aufgefressen?!«

»So ist es. Die Lemuren sind Menschenfresser. Wussten Sie das noch nicht?«

Ja, durch die beiden Australier hatte auch Atalanta schon davon erfahren.

»Dieses Schiff hat sich wohl nur deshalb hierher begeben?«

»So ist es. Das hätten sie ja allerdings auch anderswo haben können, wenn nicht von Menschen, so eben von Tieren, von Geiern, Schakalen, Ameisen oder anderen Insekten, was sich ja alles ganz gleich bleibt. Wenn nur Erde, Wasser und Feuer nicht verunreinigt wird. Mit diesen nunmehrigen Toten aber hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Sie bildeten unter den Parso-Buddhisten wiederum eine besondere Sekte. Dieser Maharadscha von Nepal und einige andere Inder rühmten sich, direkte Nachkommen der Lemuren zu sein, welche einst die ganze Welt beherrschten.

Der Maharadscha hat mit diesen Lemuren immer in Verbindung gestanden, wenn auch nicht brieflich oder telegrafisch.

Hier kommt wirkliche Telepathie, Gedankenübertragung auf jede Entfernung hin, in Betracht.

Der Maharadscha ist mit den lemurischen Priestern übereingekommen, dass er sich mit allen denen, die mit ihm sterben wollen, hierher begibt, sie töten sich, ihr Fleisch wird von den Lemuren verzehrt.

Das Ihnen zu sagen, dazu bin ich von dem Maharadscha beauftragt worden.

Und weiter, dass dann dieses ganze Schiff Ihnen gehört, und ebenso diese ganze Insel.

Hiermit habe ich mich meines Auftrags entledigt.«

Wieder wurde Atalanta von einer Art Erstarrung befallen. Sie sah in ihrer lebhaften Phantasie eben schon diese dreitausendfünfhundert Leichen verspeist werden.

»Und wann — wann — soll dies geschehen?«, brachte sie dann hervor.

»Die Lemuren können jeden Augenblick kommen, um sich die Leichen abzuholen.«

»Das gestatte ich auf keinen Fall!!«

Nicht Atalanta war es, sondern Kapitän Hagen war es gewesen, der dies energisch gesagt hatte, und jetzt trat er einen Schritt vor.

»Meine Herren! Frau Gräfin! Wollen Sie mich anhören. Sie sehen vor sich einen Mann, mit dessen christlicher Religionsempfindung es sehr schwach bestellt ist. Ob ich an einen Gott glaube oder nicht, darüber bin ich mir selber noch nicht im Klaren. Ich grübele gar nicht darüber nach. Tue recht und scheue niemand — was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu — — in diesen beiden Sprichworten gipfelt meine ganze Religion. Und sollte es wirklich nach dem Tode ein ewiges Leben im Paradiese geben — na, dann hoffe ich auch in diesem zu erwachen. Ich glaub's verdient zu haben. Und werde ich nicht in den Himmel gelassen — na, dann bleibe ich eben draußen.

Was dereinst nach meinem Tode aus meinem Kadaver wird, ob ihn Fische fressen oder ob Ameisen oder Aasgeier, oder ob er zu Asche verbrannt wird, ist mir verflucht schnuppe. Aber in Bezug auf andere menschliche Leichen denke ich nicht so. Da ist gar keine Religion dabei, sondern das ist — — gewissermaßen ein Anstandsgefühl! Ich bin ein anständiger Mensch, wenn ich auch manchmal saugrob sein kann. Ich habe schon viele Leichen gesehen, und wenn ich irgendwie konnte, so habe ich ihnen ein ehrliches Begräbnis gegeben, auf dem Meere nach Seemannsart und auf dem Lande habe ich darauf gehalten, dass sie richtig begraben wurden, und als ich einmal in der Wildnis einen mir stockfremden Toten fand, einen Neger, einen Wilden, und ich hatte kein Werkzeug bei mir, nicht einmal ein Messer, so habe ich doch so lange in der Erde mit den Fingernägeln gekratzt und mit den Händen geschaufelt, bis ich ein Grab zustande gebracht hatte, in dem ich die Leiche verschwinden lassen konnte, und dann ein Gebet gesprochen, und dieses kam vom Herzen, obgleich ich sonst mehr fluche als bete.

Meine Herren! Frau Gräfin! Ich habe noch keiner Kannibalenmahlzeit beigewohnt, aber ich habe einmal gesehen, wie eine hungrige Hauskatze am Kadaver einer anderen Katze fraß.

Was mich bei diesem Anblick so schauderhaft berührte, das vermag ich nicht mit Worten auszudrücken.

Kurz und gut: Ich, Karl Hagen, gestatte nicht, dass Menschen andere Menschen auffressen! Und am allerwenigsten, dass hier menschliche Leichen verzehrt werden sollen. Das empört mein Gefühl, das dulde ich nicht! Und damit basta!«

Kapitän Hagen hatte aus der Seele aller anderen heraus gesprochen.

»Recht so, Kapitän Hagen hat in meinem eigenen Namen gesprochen!«, rief denn auch Atalanta, und alle bestätigten dasselbe.

»Aber es geschieht doch im Einverständnis der Toten, so hatten sie bestimmt, als sie noch lebendig waren!«, sagte der Mephistopheles.

Die anderen taten ganz recht, wenn sie nun Hagen auch weiter sprechen ließen.

»Das ist mir ganz egal!«, sagte dieser. »Es geht gegen mein Gefühl, eine solche Menschenfresserei werde ich niemals dulden, solange ich noch einen Arm rühren kann.«

»So begeben Sie sich doch einstweilen fort von hier, bis —«

»A bah, Mann, machen Sie doch keine Geschichten! Dann könnte ich ebenso gut hier bleiben und einstweilen die Augen zumachen. Wenn ich so etwas dulde, das würde mein Gewissen Zeit meines Lebens beschweren, ich würde mich ständig vor mir selber schämen, und das umso mehr, wenn ich vorher etwa Reißaus genommen hätte, um mein Gewissen später nicht in Konflikt zu bringen. Pfui Deibel! So etwas gibt's bei Karl Hagen nicht —«

»Und bei mir auch nicht, bei uns allen nicht!«, rief Atalanta. »Aber sprechen Sie nur weiter, Herr Kapitän, Sie waren noch nicht fertig.«

»Ich kann die religiösen Ansichten dieser Sekte verstehen, und ich will sie ehren. Wenn die nicht verbrannt und nicht begraben und nicht im Wasser versenkt sein wollen — gut, das kann ich begreifen. Wer durchaus nicht verbrannt sein will, den werde ich auch nicht verbrennen. Wer lieber von Tieren gefressen sein will — bon, ich werde möglichst dafür sorgen, dass sein letzter Wunsch erfüllt wird, weil's ihm etwas Heiliges ist, will auch ich's heilig halten. Ich ganz allein will, wenn's nicht anders sein kann, alle diese dreitausendfünfhundert Leichen dort oben auf einen Hügel tragen. Täglich hundert Stück — da brauchte ich also rund einen Monat dazu. Gut, das will ich tun, wenn's mir auch kein Vergnügen macht, ich will deshalb manches andere aufgeben oder doch aufschieben. Ich habe in meinem Leben schon mehr gebuckelt. Dort oben werden die Leichen schon von Tieren gefressen, wenn nicht von Geiern, dann von Möwen oder von Insekten und deren Larven. Aber von Menschen lasse ich diese Toten nicht fressen, und wenn es auch nur menschenähnliche Wesen sind, die sonst eigentlich gar nicht als richtige Menschen zu bezeichnen sind. Basta!«

»Der Maharadscha hat mit Zustimmung aller die Leichen den Lemuren versprochen!«, sagte der Mephistopheles doch immer wieder.

»Und sie bekommen dieselben eben nicht ausgeliefert. Was soll nun das weitere Gerede?«

»Die Lemuren werden kommen und die Leichen fordern.«

»Sie sollen nur kommen!«, sagten Hagen und Atalanta gleichzeitig.

»Sie werden sich der Toten mit Gewalt bemächtigen.«

»Wir werden Sie daran hindern!«, nahm Atalanta jetzt allein das Wort.

»Wissen Sie, mit was für einem Feind Sie es zu tun bekommen?«

»Nein. Wir haben über diese Lemuren noch gar nichts erfahren, und zu sehen sind ja keine mehr. Können Sie uns etwas von ihnen erzählen?«

»Auch nur wenig, aber doch genug, was Sie jetzt wissen müssen, um die Gefahr zu erkennen, in die Sie sich durch eine Weigerung begeben. Die Lemuren sind die letzten Nachkommen eines einst mächtigen Volkes, das die ganze Erde beherrschte —«

»Das wissen wir bereits. können Sie uns sonst nichts von ihnen erzählen?«

»Wie viele es sind, die diese Insel bewohnen, weiß ich nicht, aber sicher mehr als eine Million.«

»Ist nicht möglich!«, wurde ungläubig gerufen.

»Ganz bestimmt. Mehr als eine Million.«

»Hier auf dieser Insel, die nur wenige Quadratmeilen umfasst?«

»Jawohl.«

»Wo sollen die denn hausen?«

»Unter der Erde.«

»Unter der Erde?!«, wurde jetzt ungläubig gestaunt.

»So ist es!«, versicherte Mephisto. »Die Lemuren haben zuletzt eine Religion angenommen, welche eigentlich gerade das Gegenteil vom Parsismus ist und dennoch ganz eng damit zusammenhängt. Ursprünglich haben sie die Sonne angebetet. Aber die Sonne gilt doch nur für diese Erde, für dieses Planetensystem. Und hat die Sonne etwa ewigen Bestand? Nein, auch sie wird dereinst, wenn die große Kalpa vorüber ist, erlöschen, erstarren. Und soll man etwas anbeten, was keinen ewigen Bestand hat? Was ist überhaupt das Licht? Nur eine vorübergehende Erscheinung, eine Ausnahme, die einmal die Nacht erhellt. Die Nacht, die Finsternis, das ist das einzig Beständige und daher das einzig Wahre. Gut, sagten sich also die Lemuren, da die Sonne, das Licht nichts Beständiges ist, so wollen wir auch nichts mehr davon wissen. Und sie gruben sich in die Felsen und direkt in die Erde hinein. Haben Sie schon hier metergroße Zwerge gesehen, die auf Kängurus reiten?«

»Diese beiden australischen Herren haben sie gesehen, uns von ihnen erzählt!«, entgegnete Atalanta.

»Diese Kängurureiter bilden die einzige Kaste, welche sich noch zeitweilig auf der Oberfläche der Erde aufhält. Alle übrigen sind vollkommen unterirdische Wesen geworden, welche der Sonne überhaupt nicht mehr bedürfen. Nun aber kann der Mensch und überhaupt die ganze Tierwelt die Sonne doch nicht so gänzlich entbehren. Nicht der Nachtvogel, nicht das im Sumpfe hausende Reptil. Auch diese unterirdischen Lemuren haben diese Fähigkeit im Laufe der Jahrtausende oder sogar Jahrzehntausende — denn mit solchen Perioden müssen Sie hierbei rechnen — nicht erlangt. Allerdings brauchen sie selbst sich nicht der Sonne auszusetzen, können diese überhaupt nicht mehr vertragen. Wohl aber muss diesem unterirdischen Geschlecht manchmal frisches Blut zugeführt werden — Sonnenblut, möchte man sagen. Das also besorgen die Kängurureiter, welche sich möglichst viel der Sonne auszusetzen haben. Durch deren Vermischung behält das unterirdische Geschlecht seine Lebensfähigkeit, hat sogar eine äußerste Fruchtbarkeit.«

Kopfschüttelnd hörten die anderen diesen Bericht an.

»Und was treiben nun diese Lemuren dort unten?«, fragte Atalanta.

»Gar nichts. Höchstens dass sie immer neue Höhlen schaffen, falls sie sich zu stark vermehren. Die Priester betrachten sie nur als Karnickel, zu nichts anderem da, als dass sie gegessen werden.«

»Was, auch die Priester essen ihre eigenen Leute auf?«

»Na, zweifeln Sie etwa noch daran, nachdem schon diese beiden Herren beobachtet haben, wie die Kängurureiter ihre eigenen Kameraden auffressen?«, grinste der Mephisto.

Ja, es brauchte nicht mehr überraschend zu kommen.

»Aber wovon leben diese unterirdischen Lemuren selbst?«

»Nun, indem sie sich ganz einfach immer gegenseitig auffressen. Sie glauben, das geht nicht? Ganz gewiss geht das! Ohne Zuführung von anderer Nahrung. Das ist ganz einfach die höchste Ausnutzung des Stoffwechsels, es ist eine fortwährende Zirkulation, ein Kreislauf der organischen Substanz.«

Die Zuhörer wurden von einem neuen Grausen befallen.

Menschen hielten sich Menschen als Schlachtvieh, das wiederum mit Menschenfleisch gefüttert wurde, sodass organische Substanz immer im Kreislauf ging!

Sie hätten nicht so entsetzt zu sein brauchen.

Der Vegetarier, der nur aus Gesundheitsrücksichten, aus einer hygienischen Theorie auf allen Fleischgenuss verzichtet, kann hierbei nicht in Frage kommen. Diese Entsagung ist nichts weiter als eine besondere Art von Egoismus.

Schon eher derjenige Vegetarier, der aus ethischen Gründen kein Fleisch isst.

Für den überzeugten Buddhisten und Theosophen aber, der in jedem Tiere, jedem anderen Lebewesen etwas von seinem eigenen Ich sieht, ist jeder Fleischgenuss einfach ein Kannibalismus.

Trotzdem, das allgemeine Entsetzen war begreiflich.

»Na, na«, beruhigte dieser Mephistopheles in seiner zynischen Weise, gleich ein Gegenbeispiel wissend, »wir hochkultivierten Europäer brauchen uns da gar nicht zu entrüsten. Wenn wir nicht selbst Kannibalismus treiben, so wissen wir assimiliertes Menschenfleisch, einmal schon verdautes, doch recht wohl zu würdigen. Wie das? Nun, sind Krebse nicht ein recht begehrtes Gericht für Leckermäuler? Und nun sehen Sie einmal eine menschliche Leiche an, die einige Zeit in einem Flusse gelegen hat, in dem Krebse sind, wie die voller Krebse sitzt.«

Der Mephisto hatte da eine furchtbare Wahrheit ausgesprochen!

Besser ist, man fängt mit so etwas gar nicht an, aber gesagt kann es doch einmal werden.

»Diese Lemuren essen sonst gar nichts weiter als Menschenfleisch, haben gar keine vegetabilische Nahrung?«, konnte sich die Indianerin wieder zur Sachlichkeit aufraffen.

»Vegetabilische Nahrung, nein, die haben sie nicht. Dass sie aber nicht so ganz und gar allein mit Menschenfleisch auskommen, zeigt sich dadurch, dass sich jene Kaste, die sich noch im Sonnenlichte aufhält, hauptsächlich von Kängurus ernährt. Auf die Dauer kann ein gleichmäßiger Kreislauf in der Natur eben nicht bestehen, auch nicht im Stoffwechsel, sonst tritt Degeneration ein, oder die Natur rächt sich auf irgend eine andere Weise, deshalb essen die unterirdischen Lemuren hin und wieder einen oberirdischen Kameraden, dessen Körper der Hauptsache nach aus assimiliertem Kängurufleisch besteht.

Nun dürfte es aber auch sein, dass die lemurischen Priester unter der Erde auch andere Tiere halten, mit denen sie großartige Züchtungsversuche anstellen, die man schon mehr Schöpfungsversuche nennen könnte.

Sie haben mich vorhin gefragt, was diese Lemuren denn eigentlich treiben.

Wir können dabei nur die Priester im Auge behalten.

Gestatten Sie mir, dass ich einmal eine Theorie über die menschliche Tätigkeit, über die menschliche Produktion aufstelle, sie in verschiedenen Graden klassifiziere.

Sie werden bei einiger Überlegung erkennen, dass alles, was der Mensch unternimmt, worin er fortschreitet, sich vervollkommnet, in drei Stufen zerfällt.

Zuerst kommt das rein Materielle, das Stoffliche, dann kommt etwas Geistiges dazu. Das Geistige nimmt immer mehr zu, verbessert das Stoffliche. Dann drängt das Geistige das Stoffliche immer mehr zurück, bis nur noch das geistige Element herrscht.

Ein Beispiel soll zeigen, wie ich das meine.

Nehmen wir die Chemie an.

Zuerst beschäftigte sich der Mensch mit den Eigenschaften der Naturstoffe, ohne eine Ahnung von dem eigentlichen Wesen der Elemente zu haben, er experimentierte planlos darauf los, um zufällig eine nützliche Erfindung zu machen.

Nach und nach kam immer mehr Geist hinein, immer mehr erkannte man das Wesen der Elemente.

Immer mehr beschäftigte man sich auch mit chemischen Theorien, wenn auch das praktische Experiment noch nicht vernachlässigend.

Auf dieser Stufe sind wir ungefähr schon heute.

Und die Zeit wird kommen, da der Chemiker überhaupt keiner Retorten und Phiolen und Waagen mehr bedarf, da er alle Geheimnisse der Natur nur noch durch philosophische Spekulation löst.

So wie auch Galilei in seinem Kerker zu Rom die schwierigsten physikalischen Probleme gelöst hat, ohne etwas anderes zu haben als die Strohhalme seines Lagers, mit denen er wohl keine besonders komplizierten Experimente angestellt haben kann.

Oder meinen Sie nicht, meine Herrschaften, dass es so ist und so kommen wird?«

Die meisten der Zuhörer blickten den Sprecher etwas unverständlich an.

Nur Kapitän Hagen machte ein ganz besonderes Gesicht.

»Verdammt noch einmal, das ist ja ein ganz verflucht gescheiter Knopp, das hat alles Hand und Fuß, was er spricht!«, murmelte er.

Der Mephistopheles grinste.

»Und so ist es mit allem und jedem, nicht nur mit der Chemie!«, fuhr er dann fort. »So ist es heute sogar mit der allereinfachsten Beschäftigung des Menschen, der sich sein Leben immer komfortabler gestalten will, mit der Zubereitung der Nahrungsmittel, mit der Kocherei.

Früher genügte es, wenn ein Mädchen eine Suppe kochen konnte, die Hauptsache war immer dabei, dass diese Suppe auch schmeckte. Heute spricht man von einer Kochkunst, aber das genügt noch nicht, immer mehr Geist musste hineingekocht werden — heute wird in jeder Volksschule dem Mädchen Küchenchemie gelehrt, es muss wissen, wie viel Eiweiß und Kohlehydrate die Suppe enthält — und dann versalzt sie die Suppe und lässt sie auch noch anbrennen.

Wir Europäer, die wir heute auf der höchsten Stufe der Kultur und Wissenschaft stehen — was die Menschheit allerdings zu jeder Zeit getan hat — leben gegenwärtig in der Blüteperiode der Technik.

Das stimmt auch, das kann nicht bezweifelt werden.

Diese Technik wird immer mehr vergeistigt, weshalb man ganz richtig von Ingenieurwissenschaft spricht. Ingenium heißt Geist.

Die Repräsentanten der indischen Nation oder vielmehr Rasse nun haben diese Errungenschaften bereits hinter sich, auch wenn sie diese selbst gar nicht erfunden haben.

Diese indischen Priester und Großen benutzen zwar unsere Erfindungen, weil sie sie eben gerade gut gebrauchen können, sprechen aber sonst verächtlich davon, halten es nicht der Mühe wert, sich mit solchem Firlefanz zu beschäftigen. Sie halten das Leben nur dazu für lebenswert, um die seelischen Fähigkeiten zur — vermeintlich — höchsten Vollkommenheit zu entwickeln.

Trotzdem beschäftigen auch sie sich mit solchen chemischen und physikalischen Problemen, also mit naturwissenschaftlichen und auch mit Erfindungen, aber nur in der Theorie, jedes Experiment dabei verschmähend.

Ich selbst war ein Mitglied solch einer Gesellschaft, die solche Erfindungen macht, aber nur geistig, alles Materielle dabei verschmähend.

Das genügte mir nicht, ich wurde flüchtig — dort am Sklavensee im Coloradogebirge habe ich diese nur in der Theorie ausgearbeiteten Erfindungen in die Praxis umgesetzt, mit welchem Erfolge, das wissen Sie selbst.

Dafür bin ich bestraft worden, jetzt hat man mich begnadigt, ich muss Ihnen, Frau Gräfin, allerdings noch eine Zeit lang als gehorsamer Sklave dienen.

Diese Lemuren nun, das heißt ihre Priester, sind wiederum eine Stufe höher gerückt.

Die verachten alles Materielle vollkommen.

Kaum dass sie sich das primitivste Handwerkszeug, das sie unbedingt bedürfen, aus Kupfer, das hier sehr reichlich vorhanden ist, herstellen, dass sie für die Priester ein grünes Gewebe verfertigen.

So sind sie in materieller, körperlicher Hinsicht wieder auf eine Stufe gesunken, die sich von dem Naturzustande des Tieres sehr wenig unterscheidet.

Ja, diese lemurischen Priester verachten auch alle seelischen Fähigkeiten, die sie einst durch mühevolle asketische Übungen sich angeeignet haben, wenn sie dieselben auch noch besitzen, so benutzen sie sie doch nicht mehr.

Diese lemurischen Priester haben nun wieder ein ganz anderes Ziel als ihr Ideal im Auge.

Die versuchen dem lieben Herrgott ins Handwerk zu pfuschen.

Sie wollen die Schöpfungskraft nach Willkür lenken.

Dort unter der Erde züchten sie allerhand Tiere, ganz nach Willkür, die fabelhaftesten Ungeheuer, riesige Schlangen mit Drachenköpfen und Menschen mit Schafsköpfen und dergleichen amüsante Zwittergestalten mehr.

Einige der Herrschaften haben schon die Wunder der Urwelt geschaut, die sich im nördlichen Gebirge dort am Sklavensee tief unter der Erde noch lebendig befinden.

Diese jetzt ausgestorbene Tierwelt dort ist noch ein Überbleibsel der Lemurier, welche einst dort gehaust haben, noch vor den Atlantiern, vor Zehntausenden von Jahren, schon damals unterirdisch oder in Felslöchern hausend.

Aber die Erzeugung solcher Geschöpfe aus der Urwelt, wie sie einst wirklich existiert haben, war nur ein Durchgangsexperiment.

Hier auf dieser Insel sollen die Lemurier unterdessen noch ganz, ganz andere Erfolge gehabt haben. Es sollen Geschöpfe entstanden sein, die jeder Phantasie spotten.

Hiervon wissen aber auch die Inder nichts, nicht die hell- und fernsehenden Mahatmas, bei denen ich nur ein untergeordnetes Mitglied war, ein dienender Bruder.

Erstens wird das Hellsehen schon dadurch sehr erschwert, dass sich alles unter der Erde befindet. Zwar die Finsternis allein macht es nicht, sondern die Sache ist die, dass dieses ganze unterirdische Reich mit allem, was sich darin befindet, überhaupt niemals von der Sonne beschienen worden ist. Und mit dem Lichte, mit der Kraft der Mutter Sonne muss alles durchdrängt sein, was der Hellseher erblicken will. Das scheint ein Naturgesetz zu sein, wenn auch ein geistiges, das sich sehr leicht erklären lässt.

Nebenbei bemerkt: Dieser absolute Ausschluss des Sonnenlichtes ermöglicht auch erst das Schaffen von solchen abnormen Lebewesen. Die Sonne selbst duldet solche Abnormitäten nicht, sie lässt höchstens kleine Abweichungen zu. Es sollen überhaupt sehr fragwürdige Zwitterwesen sein, die dort unten erzeugt werden. Sie leben wohl, sind aber doch nicht richtig lebensfähig. Am Lichte der Sonne würden sie sofort sterben.

Und zweitens verstehen diese lemurischen Priester alle Hellseherei zuschanden zu machen, sobald diese Kraft auf ihr eigenes Gebiet gerichtet wird. Das haben sie noch von ihrer alten Schule her, da sie sich mit der Ausbildung ihrer seelischen Fähigkeiten befassten. So würden Sie auch vergebens die Camera obscura nach dieser Insel richten, Sie würden nur einen leeren Fleck sehen.

Ich muss jetzt meinen Vortrag schließen, denn dort kommt ein lemurischer Priester, um die Leichen zu fordern. Was Sie ihm zu sagen haben, das ist Ihre Sache.«

Der Kampf mit den Zwergen

Aller Augen richteten sich nach dem Schiffsfensterchen, das nach dem Lande ging, dem sie bisher den Rücken gekehrt, während der Mephisto immer hingesehen hatte.

Ja, dort kam eine zwerghafte, grüngekleidete Gestalt einhergeschritten, ohne jede andere Bekleidung.

Die anderen erschraken fast, als Atalanta plötzlich wie ein Blitz zur Türe hinausschoss.

Nur Arno hatte noch den gleichen Gedanken.

»Unser Kind —!!«

Ja, daran hatte auch die Mutter gedacht. Die Japanerin befand sich noch mit dem Kinde in dem Walfisch, der für jeden zugänglich war.

Atalanta war an Deck gestürmt, glitt das Fallreep hinab, in den Walfischbauch hinein. In einem Abteil wiegte die Japanerin das schlafende Kind auf dem Arm.

Sie musste mit an Deck, sich in die Kabine vor dem Ruderhaus begehen. Hier, vor diesem stehend, wollte Atalanta den Priester empfangen, ihn abfertigen.

Unterdessen waren auch die anderen heraufgekommen.

Wilhelm Neumann kratzte sich noch ob des Gehörten hinter den Ohren.

»Menschenfresserei? Riesenschlangen mit Drachenköpfen? Menschen mit Schafsköpfen?«, wandte er sich an Littlelu. »Dass so etwas überhaupt noch erlaubt ist! Wozu haben wir denn unsere Polizei?«

Jetzt schritt der beturbante Zwerg gelassen über die Laufbrücke. Dieselbe überspannte noch einen Wasserstreifen von sechs Meter Breite, das Wasser war an der steil abfallenden Felsenküste noch immer sehr tief, sonst hätte das Riesenschiff ja auch nicht so nah herankommen können.

Der Lemure sprach ein Englisch, als hätte er es immer auf dieser weltunbekannten Insel in der gewähltesten Gesellschaft gesprochen.

»Frau Atalanta Gräfin von Felsmark?«, wandte er sich ohne Weiteres an die einzige Dame, zwei Schritte vor ihr stehen bleibend.

»Ich bin es.«

»Majoka ist mein Name, Oberpriester der Lemuren. Ich begrüße Sie als Besitzerin und absolute Herrin dieser Insel.«

»Danke. Ob ich das wirklich bin, wird sich noch entscheiden.«

»Sie sind es.«

»Die Lemuren wollen sich gar nicht mehr auf der Oberfläche dieser Insel zeigen?«

»Mit keiner Fußspur mehr. Dieser Herr dort, der sich Mephistopheles nennt, hat Sie doch schon in alles eingeweiht?«

»So ziemlich.«

»Dass wir die Leichen abholen werden, ungefähr dreitausendfünfhundert Stück?«

»Das sagte er.«

»Es werden sofort fünftausend Arbeiter kommen, welche die Leichen abholen, auf einmal. In einer halben Stunde wird es geschehen sein, dann werden Sie niemals wieder etwas von uns erblicken.«

»Können Sie nicht Gedanken lesen, Herr Oberpriester?«

Dieser hatte schon eine Bewegung gemacht, sich umzudrehen und davonzugehen, blieb dann aber stehen.

»Gedanken lesen? Ja, das können wir. Aber wir tun es nicht, niemals.«

»Das ist sehr schade.«

»Weshalb schade?«

»Das würde mir meine Worte ersparen.«

»Was für Worte?«

»Sie brauchen die fünftausend Lemuren nicht erst zu schicken.«

In dem Gesicht des Zwerges, dessen Alter gar nicht zu taxieren war, zuckte keinen Muskel, jetzt nicht und niemals.

»Weshalb brauche ich die Sklaven nicht erst zu schicken?«

»Weil ich ihnen die Leichen niemals ausliefern werde.«

»Weshalb nicht?«, erklang es noch immer ohne die geringste Erregung.

»Weil ich nicht dulde, dass tote Menschen von lebenden Menschen aufgefressen werden.«

»In zehn Minuten holen 5000 Lemuren die 3500 Leichen ab.«

Der Zwerg sprach's, wandte sich und ging.

Er hatte am Land nur wenige Schritte zu machen, so kam er in eine Hügelregion, in der man ihn verschwinden sah.

»Das war die Kriegserklärung!«, hatte Mephistopheles schon vorher gerufen.

»Gut, so bereiten wir uns zum Empfang der Zwerge vor!«, sagte Atalanta. »Zuerst die Laufbrücke eingeholt!«

Das war mit Hilfe einer Winde schnell geschehen.

»Kann das Schiff nicht noch weiter in die Bucht hineinbefördert werden?«

»Ausgeschlossen!«, erklärte Mephistopheles sofort.

»Weshalb? Können wir die Anker nicht hochwinden? Verstehen Sie die Maschine oder Turbine nicht in Gang zu setzen?«

»Das wohl, unter normalen Verhältnissen, aber diejenigen, die hier das Leben mit dem Tode vertauscht haben, haben auch dafür zu sorgen verstanden, dass ihr letzter Wille befolgt wird. Und ihr Wille war, dass dieses Schiff hier für immer festliegen soll. Der Kiel berührt überhaupt den Grund.«

Das hatten auch die anderen schon früher wahrgenommen. Jedenfalls war nach dem Ankern ein Ventil gezogen worden. Ebbe und Flut fehlte hier hinter den meilenweiten Korallenriffen also gänzlich.

»Dagegen kann ich Ihnen die angenehme Mitteilung machen«, grinste der Mephisto weiter, »dass diese Zwerge absolut wasserscheu sind. So etwas wie waschen kennen die gar nicht mehr, sie gehen überhaupt lieber in den zehnfachen Tod als ins einfache Wasser. Diese sechs Meter breite Spalte genügt also vollkommen, und dass sie dieselbe nicht überbrücken, daran müssen wir sie eben hindern. Ich empfehle die elektrische Spritze.«

Atalanta wusste recht wohl, was das für ein Instrument war. Ein furchtbares Schnellfeuergeschütz, das mit komprimierter Luft mit tödlicher Elektrizität geladene Glaskugeln mehr spritzte als schoss.

»Wissen Sie, wo sich das Geschütz befindet?«

»Ich weiß es und habe mich bereits überzeugt, dass es in Ordnung ist und dass ich es bedienen kann.«

»So stellen Sie es am geeignetsten Orte auf, wir anderen bedienen uns der gewöhnlichen Gewehre.«

Als bester Verteidigungsort wurde das erste Zwischendeck gewählt, an dessen Wand sich ein ununterbrochener Korridor hinzog. Auch waren hier die Bullaugen, die runden Schiffsfensterchen, so klein, dass man sie eher als Schießscharten bezeichnen konnte.

Durch einen einzigen Mechanismus konnten sie geöffnet und auch wieder geschlossen werden, sowohl mit der dicken Glasscheibe als mit dem noch dickeren Eisendeckel.

Mephisto hatte sein Geschütz an solch einer Schießscharte aufgebaut, aus nichts weiter bestehend als aus einem langen Rohre, an dem sich hinten ein unscheinbarer Kasten befand. Aber Atalanta kannte die furchtbare Wirkung dieses Mordinstrumentes.

»Ich bleibe neben Ihnen stehen, und Sie lassen die Spritze nicht eher spielen, als bis ich hierzu Befehl gebe.«

»Wenn es dann nur nicht schon zu spät ist.«

»Über was für Waffen verfügen diese Zwerge?«

»Über ihre Hände.«

»Wie meinen Sie?«

»Die benutzen keine Waffen, wenn sie überhaupt welche hätten. Aber die haben nicht einmal Fitschepfeile, keine Blasrohre, nur Äxte und Messer aus Kupfer, die sie aber nur zu gewissen Arbeiten benutzen dürfen. Seien Sie versichert, dass diese Zwerge auch nicht einmal solch ein elendes Messer gegen uns gebrauchen werden. Sie tun es aus Verachtung gegen alles solches Zeug nicht, das auch alle anderen Menschen haben. Es geht auch gegen ihre Religion. Ich kenne diese Lemuren nicht persönlich, habe aber schon genug von ihnen gelesen, in jenen heiligen Büchern, die mir damals zugänglich waren.«

»Ja, wie wollen die uns denn sonst überwältigen?«

»Einfach durch ihre Überzahl, einfach durch ihre fünffingrigen Hände, dann vielleicht dürfen sie noch ihre Zähne gebrauchen. jedenfalls nichts anderes, was ihnen die Natur als Waffen verliehen hat. Sie werden's gleich selbst sehen, da kommen sie schon.«

Hinter den Hügeln quoll es wie ein Ameisenstrom hervor — lauter solche Zwerge, kahlköpfig, nur mit einem Schurze bekleidet.

Wie die Gänse schnatternd bewegten sie sich auf das Schiff zu, außer jeder Reihe, ganz gemütlich, an ihrer Spitze ein grüngekleideter Priester.

»Sehen Sie, die haben weder Axt noch Messer bei sich. Überhaupt wissen es die jetzt nicht anders, als dass sie die Leichen abholen, an eine Gegenwehr denken die gar nicht, das existiert einfach nicht für sie, selbst wenn sie die Gegenwehr als ganz bestimmt voraussetzen.«

Wie Mephisto diese etwas rätselhaften Worte meinte, sollte bald klar werden — furchtbar klar!

Schnatternd wälzte sich die dichtgedrängte Schar heran. Als der Kopf der Menschenschlange das Ufer erreicht hatte, quoll es aber noch immer unaufhörlich hinter Hügeln hervor.

Sie standen am Wasser, die Verbindungsbrücke fehlte.

Ganz ersichtlich war es, dass jetzt ein Wort, ein gesprochenes Signal zurücklief. Der Priester hatte es zuerst gegeben, einer sagte es dem anderen, bis das Wort, der Befehl, hinter den Hügeln war.

Und da kam dieses Wort, zur Materie verwandelt, auch schon wieder zurück.

Lange Kupferstangen waren es, die von Hand zu Hand gegeben wurden, mit einer Schnelligkeit liefen sie die Reihe entlang, dass man der Bewegung mit den Augen kaum folgen konnte.

Und da wurden schon die ersten Stangen über den Wasserspalt nach dem Schiffe gelegt.

Mit Schrecken sahen die Verteidiger, wie sie es kaum noch verhindern konnten, dass jene eine Brücke herstellten, und dann waren sie eben auf dem Schiffe, und die würden auch die verschlossenen Türen zu öffnen verstehen, das waren keine Omnihilit-Türen, die Menschenmasse, zur höchsten Kraft potenziert, drückte sie einfach ein.

Nur das rücksichtsloseste Vorgehen konnte hieran etwas ändern.

»Keine Schonung!«, rief Atalanta. »Das sind keine Menschen — es sind nur zweibeinige Tiere — Raubtiere — Schnellfeuer!!«

Sieben Gewehre krachten. Die Spritzkugeln durchbohrten noch mehr als nur sieben Zwerge.

Selbstverständlich hatten die Schützen auf solche Zwerge gezielt, welche gerade Kupferstangen legen wollten.

Die Getroffenen ließen die Stangen fallen und brachen zusammen.

Merkwürdig war das Weitere — nein, fürchterlich war es!

Nämlich wie das mörderische Feuer, wie der Tod ihrer Kameraden auf die anderen so gar keinen Eindruck machte. Nach wie vor schnatternd, als wäre nichts passiert, griffen eben andere gleichgültig und dennoch mit äußerster Schnelligkeit nach den Stangen, um sie über die Wasserspalte zu legen.

»Feuer!!«

Atalantas Kommando war nicht nötig. Jeder tat sein Möglichstes, um aus seinem Repetiergewehr ein wohlgezieltes Schnellfeuer zu unterhalten.

Nur der Mephisto wurde von der Indianerin noch zurückgehalten, sein elektrisches Geschütz spielen zu lassen.

Die Wirkung der sieben Repetiergewehre war schon fürchterlich genug. Gleich in der ersten Minute lagen mehr als hundert Tote oder Schwerverwundete am Boden, sie türmten sich zu einem Walle auf — aber am fürchterlichsten war es, wie das auf die Lebenden so gar keinen Eindruck hervorrief, ihr Benehmen, wie sie, sich immer unterhaltend, auf diesen Leichenwall kletterten, ganz gleichmütig und dennoch so schnell, um ihren Versuch fortzusetzen, durch übergelegte Stangen eine Brücke herzustellen.

Als die erste Salve gekracht hatte, waren drei Stangen gelegt worden, noch eine vierte war hinzugekommen, was noch nicht genügte, um einen beschreitbaren Steg zu bilden. Und es gelang jetzt den Schützen, immer diejenigen Zwerge wegzuschießen, welche gerade neue Stangen legen wollten, aber eine fünfte kam jetzt doch noch hinzu.

Da kam Atalanta, die einmal fortgesprungen war, mit einer langen Hakenstange zurück, sie dirigierte dieselbe durch das Fensterchen, und im nächsten Augenblick klatschten die fünf Kupferstangen ins Wasser.

Was tat es? Auf die Zwerge machte es keinen Eindruck. Unentwegt waren sie bemüht, andere Stangen über die Kluft zu legen, und nach der Stange, welche ein Zusammenbrechender fallen ließ, griffen sechs andere Hände, und immer neue Stangen wanderten die Menschenreihe entlang.

Eines war sehr merkwürdig dabei, und Atalanta sprach es aus.

»Warum wollen sie die Stangen nur gerade an der einen Stelle legen, wo früher die Brücke gewesen ist? Warum versuchen sie es nicht an anderen Stellen? Die ganze Bordseite steht ihnen doch zur Verfügung, 200 Meter Länge, und sie müssen doch wissen, dass wir uns dann verstreuen, sodass wir gar nicht mehr an eine so intensive Abwehr denken können. Diese Zwerge sind entweder furchtbar beschränkt oder einfach direkt wahnsinnig.«

»Ganz im Gegenteil«, entgegnete aber Mephistopheles, »die wissen ganz genau, was sie tun, so etwas wie ein Hindernis, eine Unmöglichkeit, gibt es für die eben gar nicht. Hier, wo bisher die Holzbrücke gewesen ist, wollen sie nun auch durch, koste es, was es wolle.«

»Das ist aber keine Energie, sondern ein Starrsinn, welcher der Dummheit entspringt.«

»Die Hauptsache ist aber, dass sie zum Ziele gelangen, desto größer ist dann ihr Triumph. Das ist für die einfach eine Übung zur Stärkung ihrer Energie, und so etwas wie Tod gibt es für die ja gar nicht. Das ist nur ein länger währender Schlaf, den alle ersehnen.«

Während dieser Unterhaltung hatten ununterbrochen die Gewehre geknattert, keine einzige Stange hatten die Zwerge mehr legen können.

Da änderten sie ihre Taktik.

Plötzlich, ohne dass man vorher auch nur etwas hätte ahnen können, fassten auf dem immer höher werdenden Leichenwalle zwei Zwerge einen ihrer Kameraden bei den Armen und Füßen, zwei taktmäßige Schwünge, und in hohem Bogen flog die kleine Gestalt durch die Luft, über die sechs Meter breite Spalte hinweg, an Deck!

Und da folgten ihm auch schon ein halbes Dutzend anderer Zwerge nach, und so immer mehr, und die waren natürlich von hier aus nicht mehr zu erblicken.

»Mir nach!«, schrie Atalanta. »Es gilt das Deck zu säubern! Wohlan, Mephistopheles, jetzt räume mit Deiner Höllenmaschine auf!«

Die mit Gewehren Bewaffneten stürmten den Korridor entlang, der an einer Tür endete, welche direkt auf das freie Deck führte. Auch diese Tür, von innen sicher verschlossen, hatte in Kopfeshöhe ein kleines Fensterchen, aber das genügte doch nicht für alle Gewehre, und ohne Zögern stieß Atalanta die Tür auf.

Zwei Dutzend Zwerge waren es mindestens, die sich an Deck befanden, immer neue wurden nachgeworfen, und dann waren einige schon nicht mehr zu sehen.

Die Verteidiger hatten nur die Leiche jenes Matrosen in dem Raume unter der Kommandobrücke geborgen, die anderen sechs Toten, die sich auf der Brücke und im Kartenhause befanden, hatten sie liegen lassen müssen, dazu war vorhin gar keine Zeit mehr gewesen, diese ins Innere des Schiffes zu tragen, und wenn die Zwerge das nicht gewusst, so hatten sie wie die aaswitternden Hyänen sofort die richtige Spur gefunden.

Auch auf der Kommandobrücke waren schon eine ganze Masse, nur nicht gleich zu sehen gewesen, jetzt warfen sie ihren Kollegen die toten Männer zu, für diese kleinen Gestalten doch wahre Riesen, die Zwerge selbst aber entwickelten dabei eine Riesenkraft, und von ihrem herkulischen Körperbau wurde ja auch schon oft genug gesprochen.

Die Leichen wurden unten aufgefangen, wanderten von Hand zu Hand, flogen in hohem Schwunge über Bord an Land.

Da aber knatterten auch schon wieder die Repetiergewehre, in den ersten zehn Sekunden schon waren keine Zwerge mehr an Deck vorhanden, welche die Leichen hätten befördern können, und die auf der Kommandobrücke dachten gar nicht daran, sich zu verstecken, man konnte sie wegschießen wie die Figuren in einer Schießbude, und jetzt folgten vom Ufer auch keine neuen mehr nach.

Kurz entschlossen sprang Atalanta aus der Tür nach der Bordwand.

Und da sah sie es — sah sie das Fürchterliche!

»Wohlan, Mephistopheles, jetzt räume Du mit Deiner Höllenmaschine auf!«

So hatte sie gerufen.

Und der schneeweiß gekleidete Mephistopheles hatte die Anweisung befolgt, hatte ganz gründlich aufgeräumt.

Hinten der große Kasten an dem dünnen Rohre war mit Glaskugeln gefüllt, längst nicht so groß wie Erbsen, nur wie kleines Schrot, wie Vogeldunst. Aber jede dieser kleinen Glaskugeln war eine elektrische Batterie von furchtbarer Spannkraft, wo sie auftraf, da war es nicht anders, als wenn der Blitz einschlüge.

Und durch das lange, dünne Rohr konnten diese Glaskugeln wie ein Regen ausgestreut, ausgespritzt werden.

Und der Geschützführer hatte diesen Regen von vorn an bis nach hinten zu den Hügeln spielen lassen.

Alles tot!

Wenn es 5000 Zwerge gewesen waren, die der Priester vorgeführt hatte, so waren es mindestens 3000, die jetzt hier in langer Reihe dichtgedrängt dalagen, einfach von tödlichen Blitzen getroffen!

Auch nicht ein einziger zuckte auch nur!

Die Indianerin stand einige Zeit wie erstarrt, als sie diese lange Schlachtreihe überblickte.

Dann begab sie sich in den Korridor zurück, zu dem Mephistopheles.

»Nun, habe ich Ihre Anweisung gut befolgt, sind Sie mit mir zufrieden?«, grinste dieser.

Die Indianerin hatte sich wieder gefasst, war wieder ganz Ruhe.

»Ja, gründlicher konnten Sie Ihre Aufgabe nicht lösen. Und es war auch ganz richtig so, es musste ein Exempel statuiert werden. Was werden die Lemuren nun beginnen?«

»Gnädigste Frau Gräfin, da fragen Sie mich zu viel. Gar viel ist mir bewusst, aber allwissend bin ich nicht — so hat mich schon Goethe zu Faust sprechen lassen, hähähä.«

»Sollten diese Lemuren, die so wunderbare Errungenschaften in den Wissenschaften gemacht haben, keine anderen Mittel besitzen, um uns anzugreifen, als nur ihre Hände?«

»Gewiss, die haben genug Mittel, um uns sofort vom Erdboden verschwinden zu lassen.«

»Warum tun sie es nicht?«

»Das habe ich Ihnen doch schon einmal ausführlich erklärt, weil sie unter der Sonne nichts benutzen dürfen, was ihnen Brahma, die Schöpfungskraft, nicht direkt gegeben hat. Das ist ihre Religion, ist durch unumstößliche Gesetze festgelegt. Der Lendenschurz und ein Messer und eine Axt ist die einzigste Ausnahme, die man den Kängurureitern, die sich also noch unter der Sonne aufhalten, gestattet hat, weil es ihnen sonst zu schwer wird, Brennholz zu zerkleinern, die erlegten Tiere abzuhäuten und zu zerwirken. Ich weiß aber bestimmt, dass dies die allereinzigste Ausnahme ist, dass eine solche nie wieder gestattet wird.«

»So wenden sie solche Mittel in der Nacht an, wenn die Sonne es nicht mehr sieht.«

»Ausgeschlossen! Die Sonne braucht es nicht direkt zu sehen, es handelt sich dabei um das Reich der Sonne. Wollen wir aber nicht erst die Leichen der Schiffsbesatzung, die sie schon an Land befördert haben, zurückholen?«

Es geschah. Nur ein Brett wurde nach dem Lande gelegt, vier Leichen waren es, darunter die des Kapitäns, die zurückgebracht und in sicheren Gewahrsam genommen wurden.

Was sollte aber nun aus alledem werden?

Konnte man denn auf diesem festgenagelten Schiffe bleiben, mitten zwischen den 3500 Leichen?

Und wenn diese auch vor Verwesung geschützt waren, was sollte denn...

Niemand kam dazu, sich die Zukunft weiter auszumalen.


Lieferung 40


Illustration

Allabendlich nach getaner Arbeit saßen Arno und
Atalanta vor dem Eingang ihrer Höhle beisammen.
Atalanta hatte den kleinen Alfred auf dem Schoß, und
sie freuten sich, wie prächtig das holde Knäblein gedieh.


Herrin der Insel!

Ein Priester kommt!«, erklang der Ruf. Der grüngekleidete Zwerg war hinter den Hügeln aufgetaucht, schritt langsam die Reihe der Leichen entlang, ohne sie zu beachten.

Da sah man, dass er ein weißes Tuch in der Hand hatte, welches er jetzt schwang.

»Ein Parlamentär!«, rief Atalanta. »Dass die hier auch schon die Bedeutung der weißen Flagge kennen!«

»O, die wissen überhaupt alles, als wären sie mitten in der modernsten Kulturstätte geboren und aufgewachsen!«, erwiderte Mephisto. »Dass sie es nicht benutzen, ist ja etwas anderes, aber wenn es sein muss, geschieht es doch, wie Sie jetzt sehen.«

»Ob dem Parlamentär aber auch zu trauen ist? Dass er nicht etwa ein teuflisches Mittel mitbringt?«

»Was für ein teuflisches Mittel?«

»Nun — etwa — etwa — die Miasmen einer ansteckenden Krankheit.«

Atalanta wusste selbst nicht, wie sie plötzlich auf diesen Argwohn, überhaupt auf solch eine Idee gekommen war.

Wie scharfsinnig sie aber instinktiv geahnt hatte, sollte sich sehr bald erweisen.

»Nein, diesem Parlamentär ist unbedingt zu trauen, doch kommt das ganz auf Sie an!«, entgegnete Mephistopheles.

»Wie meinen Sie das?«

»Er muss unbedingt die Wahrheit sprechen, bei diesem Volke ist auch nicht die geringste Notlüge erlaubt. Doch schätzen Sie das nicht etwa zu hoch ein, mit einer höheren Moral hat das gar nichts zu tun, es ist einfach ein Religionsgesetz, dem unbedingt gehorcht werden muss. Und wie ungern es diese Lemuren befolgen, das sieht man daraus, wie sie dennoch immer die Wahrheit zu verbergen suchen. Werden sie aber gefragt, dann müssen sie auch der absoluten Wahrheit gemäß antworten. Es ist ein Jesuitismus im höchsten Grade. Also fragen Sie immer dementsprechend. Gestatten Sie mir, dass ich einmal einspringe, falls Sie nicht schlau genug fragen, falls Sie so eine Zweideutigkeit nicht wittern, obgleich Sie mich belehrt haben, dass Sie mir an Schlauheit, an Klugheit und an Scharfsinn ganz bedeutend über sind.«

Unterdessen war der Priester in Rufweite gekommen.

»Erkennt man mich als Parlamentär an?«, rief er.

»Haben Sie Böses gegen uns im Schilde?«, fragte die Indianerin zurück.

»Nein.«

»Absolut nichts?«

»Nein.«

»So sind Sie als Parlamentär geschützt.«

»Sehr vorsichtig gewesen!«, lobte Mephistopheles.

Der Priester, diesmal ein alter Mann mit weißem Vollbarte, obgleich sie als Albinos ja alle weiße Haare hatten, überschritt das Laufbrett und wurde an Deck empfangen.

»Ich fordere Sie nochmals auf, uns die Leichen der Schiffsbesatzung auszuliefern!«, begann er ohne Weiteres.

»Nein.«

»Ich bitte Sie darum.«

»Nein.«

»Wissen Sie, was der letzte Wille aller dieser Menschen war?«

»Diesem letzten Willen gebe ich nicht nach. Ich kann keine Menschenfresserei dulden, ich darf es nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Es geht gegen meine Anschauung, gegen mein Gewissen.«

»Es ist doch ganz gleichgültig, ob der Mensch das Fleisch von Tieren oder von —«

»Geben Sie sich keine Mühe, Sie überzeugen mich nicht von Ihrer Religionsanschauung, und dies ist mein letztes Wort.«

»Wir können Sie dennoch zwingen, uns die Leichen auszuliefern.«

»Versuchen Sie es.«

»Werden Sie an Bord dieses Schiffes bleiben?«

»Ja.«

»Wie lange?«

»Das weiß ich noch nicht. So lange es mir gefällt.«

»Wenn wir wollen, wird es Ihnen hier bald nicht mehr gefallen, schon morgen nicht mehr.«

Die Indianerin hatte schon die Blicke des Mephistos aufgefangen, sein Räuspern gehört.

Sie wusste recht gut, was der wollte.

Sie brauchte ja nur zu fragen, dieser Priester war also verpflichtet, der Wahrheit gemäß zu antworten.

»Sie wollen uns den Aufenthalt hier verleiden?«

»Ja.«

»Auf welche Weise?«

»Es gibt ein Mittel, um Sie von hier zu vertreiben, Ihnen den Aufenthalt ganz und gar unmöglich zu machen, oder — Sie und Ihre Gefährten sind des Todes.«

»Was ist das für ein Mittel?«

Aber der Priester schwieg.

»So sagen Sie es doch! Was ist das für ein Mittel?«

»Wenn wir die Leichen der Unsrigen hier liegen lassen. Schon morgen ist die Luft hier so verpestet, dass Sie es gar nicht mehr aushalten, und da nützt es nichts, alle Öffnungen zu schließen. Wollen Sie nicht selbst ersticken, müssen Sie frische Luft haben, und mit dieser schleichen sich auch die Verwesungsmiasmen ein. Sie sind des Todes.«

Die Zuhörer erschraken.

Hieran hatten sie noch gar nicht gedacht.

Aber der Priester hatte eine furchtbare Wahrheit ausgesprochen.

Nur Atalanta und der Mephisto waren nicht erschrocken, beide hatten auch sofort den gleichen Gedanken gefasst.

»Hm«, brummte erstere, dem Zwerg scharf in die roten Augen blickend, »dürfen Sie denn aber auch dieses Mittel anwenden?«

So sehr sich dieser zwerghafte Priester auch zu beherrschen wusste — etwas verlegen wurde er dennoch.

Es waren eben die Augen, in denen diese Indianerin zu lesen verstand.

»Sprechen Sie! Dürfen Sie dieses Mittel auch anwenden, um uns von hier zu vertreiben, zu töten? Dass Sie die Leichen Ihrer Kameraden hier verwesen lassen, dürfen Sie das auch? Sprechen Sie!«

»Nein, das dürfen wir nicht!«, gab jener jetzt zu.

»Weshalb nicht?«

»Weil — weil — es uns verboten ist.«

»Wer verbietet es Ihnen?«

»Unsere Religion.«

»Was müssen Sie sonst mit den Leichen Ihrer Kameraden tun?«

»Sie verzehren.«

Man hatte hier schon genug Grausiges gehört und gesehen, dass dies keinen besonderen Eindruck mehr machen konnte.

»Dazu müssen Sie aber erst die Toten abholen.«

»Ja, und das ist es eben.«

»Was ist das eben?«

»Sichern Sie mir zu, dass Sie nicht mehr auf die Sklaven schießen, wenn sie die Leichen abholen — die ihrer eigenen Kameraden? Das ist es, weshalb ich ja komme.«

Nun war aber auch der Jesuitismus ganz zutage getreten!

Man musste erst etwas nachsinnen, um diese raffinierte, diese Hinterlist ganz zu begreifen.

Der Priester hatte mit einem Mittel gedroht, das er besäße, um die Fremden von hier zu vertreiben oder auch töten zu können.

Ja, solch ein Mittel besaß er wirklich.

Er ließ diese Leichen einfach liegen, bis sie verwesten.

Das konnte er, das wollte er auch tun. Das heißt, er hätte es so gern getan, aber er durfte es nicht tun, es war ihm verboten.

Indem er dies nun aber so lange verschwieg, wie es ihm möglich war, hatte er gehofft, allein schon durch diese Drohung die Fremden zu vertreiben, zu einem Versprechen zu bewegen, dass sie die Insel freiwillig verließen.

Das eben war die jesuitische Schlauheit dabei gewesen!

Sie war missglückt, durch den Scharfsinn der Indianerin, und der Mephisto hatte Wache gestanden, um rechtzeitig einzugreifen, was aber eben gar nicht nötig gewesen war.

»Und wenn ich nun nicht gestatte, dass die Leichen der Lemuren abgeholt werden?«

»Es ist Ihr eigener Schaden.«

»Ich weiß ein Mittel, um mich gegen die Gefahr der Miasmen zu schützen.«

»Was für ein Mittel?«

»Das ist meine Sache.«

»Es gibt kein solches Mittel.«

»Das werden Sie ja sehen.«

»Wir müssen die toten Sklaven dennoch abholen.«

»Aha, jetzt kommt es, die Hauptsache! Sie fürchten, dass wir auch die abholenden Lemuren zusammenschießen.«

»Ja, das fürchten wir!«, gab der Priester jetzt ungeschminkt zu.

»Und wenn wir es tun?«

»So müssen wir dennoch die Leichen abholen lassen.«

»Auf die Gefahr hin, dass wir sämtliche Lemuren töten.«

»Ja, selbst auf diese Gefahr hin.«

»Sie sind gezwungen, dennoch Ihr ganzes Volk dazu aufzubieten?«

»Wir sind gezwungen dazu.«

»Bis auf den letzten Mann?«

»Bis auf den letzten Mann«, wurde bestätigt, »bis auf das letzte Kind.«

»Und das wollen Sie vermeiden?«

»Das wollen wir vermeiden.«

»Sie haben nicht gewusst, dass wir solche Mordwaffen besitzen?«

»Wir wussten wohl davon, haben aber nicht an solch eine Wirkung geglaubt.«

»Nun gut. Sie kommen also, um sich mit uns zu einigen?«

»Ja, deshalb komme ich.«

»Das hätten Sie eher sagen können.«

»Ich sage es jetzt.«

»Was schlagen Sie nun vor?«

»Nichts, als dass Sie gestatten, dass wir unsere toten Kameraden abholen.«

»Und was bieten Sie uns für die Gewährung dieser Bitte?«

»Wir haben Ihnen nichts dafür zu bieten.«

»Oho! Dann wäre dieser Vergleich ein sehr einseitiger.«

»Nicht doch. Wir können Ihnen nichts dafür bieten, weil Sie niemals wieder etwas von uns erblicken werden.«

»Die Lemuren wollen sich unter die Erde zurückziehen?«

»So ist es.«

»Für immer?«

»Für immer und ewig.«

»Wir dürfen die Insel betreten?«

»Wir werden Sie daran nicht hindern.«

»Wir können uns frei auf der Insel ergehen, uns darauf ansiedeln?«

»Von uns werden Sie nichts wieder erblicken.«

»Wir haben von Ihnen nichts zu fürchten?«

»Nicht das Geringste.«

»Von keinem anderen Bewohner dieser Insel?«

»Nein.«

»In wessen Namen sprechen Sie?«

»Im Namen aller Oberpriester, die eine Gemeinschaft bilden, welche kein anderes Oberhaupt hat!«

Die Indianerin blickte nach ihrem Berater, der hier doch besser Bescheid wusste, und dieser nickte zustimmend.

»Was dieser Priester jetzt sagt, darauf können Sie sich bedingungslos verlassen. Einen Kontrakt oder so etwas gibt es hier nicht, am wenigsten einen schriftlichen.«

»Gut. Dann habe ich nur noch einige Fragen. Ich darf mich also als Herrin dieser Insel betrachten?«

»Ja.«

»Auch die Lemuren erkennen mich als solche an?«

»Ja.«

»Ich darf darauf machen, was ich will?«

»Ja.«

»Auch andere Menschen hier ansiedeln?«

»Ja.«

»Und was wird aus den Leichen der Schiffsbesatzung?«

»Darüber haben auch Sie jetzt nur noch zu bestimmen.«

»Weshalb haben die Priester ihren Entschluss geändert?«

»Weil wir eingesehen haben, dass wir nicht zum Ziele kommen.«

»Das lässt sich hören, und das ist sehr vernünftig von Ihnen. Diese Leichen sind unverwesbar?«

»Ja.«

»Für immer?«

»Für immer.«

»Ihre Anwesenheit schadet lebenden Menschen nichts?«

»Gar nichts.«

»Ist das wirklich der Wahrheit gemäß?«

»Ich darf nichts anderes als die reine Wahrheit sprechen.«

»Sie verzichten ganz und gar auf diese Leichen?«

»Ja.«

»Wenn ich sie nun an Land bringen lasse?«

»Tun Sie es.«

»Gibt es nicht auf dieser Insel geräumige Höhlen?«

»Sehr viele.«

»Wenn ich nun diese Leichen in solchen Höhlen beisetzen lasse?«

»Tun Sie es.«

»Die Lemuren werden sich nicht daran vergreifen?«

»Wir werden uns nicht wieder an der Oberfläche dieser Insel zeigen, kein einziger.«

»Die Oberfläche der Insel — das ist ein sehr weiter Begriff. Wenn nun eine dieser Höhlen noch zu Ihrem unterirdischen Bereiche gehört?«

»Frau Gräfin, ich spreche ohne jeden Hintergedanken: Niemand von uns wird sich an diesen Leichen jemals vergreifen.«

»Gut, ich glaube Ihnen. Nur noch über eines bin ich im Zweifel. Es gibt also auf dieser Insel viele Höhlen, wir dürfen eine jede betreten?«

»Jede.«

»Wir dürfen auch —«

»Sie dürfen überhaupt alles«, unterbrach der Priester sie einmal, »Sie sind absolute Herrin der Insel.«

»Wenn wir aber nun einmal einen Eingang zu Ihrem unterirdischen Reiche finden?«

»Sie werden keinen finden.«

»Es könnte aber doch einmal sein.«

»Nein, es kann nicht sein.«

»Nehmen Sie den Fall an, wir fänden doch einmal einen Eingang zu Ihrem unterirdischem Reiche —«

»Dann können Sie ihn natürlich auch benutzen.«

»Die Lemuren würden uns nicht feindselig gegenübertreten?«

»Niemals.«

»Sondern?«

»Wir würden uns weiter zurückziehen und dafür sorgen, dass Sie uns nicht folgen können.«

»Auf welche Weise?«

»Indem wir neue Felsmauern errichten.«

»Und wenn wir mit Absicht in Ihr unterirdisches Reich dringen wollen, graben und bohren und sprengen?«

»Wir dürfen Sie daran nicht hindern, wenigstens nicht direkt, nur indirekt, indem wir eben immer neue Barrikaden errichten.«

»Und wenn wir diese immer wieder sprengen?«

»Müssen wir eben immer wieder neue errichten.«

»Tätlich werden die Lemuren niemals gegen uns?«

»Niemals. Es geht gegen unsere Religion.«

»Gut, nun weiß ich genug, nun ist mir unser gegenseitiges Verhältnis klar. Und ich sage Ihnen gleich, dass ich mit aller Gewalt und aller List in Ihr unterirdisches Reich zu dringen versuchen werde.«

»Das können Sie tun, wie Sie wollen.«

»So lassen Sie jetzt die Leichen der Lemuren abholen, aber ich stelle immer noch eine Bedingung?«

»Immer noch eine Bedingung?«, stutzte der Priester etwas, so sehr er sich auch beherrschen konnte.

»Dass Sie mir dann noch eine Unterredung gewähren?«

»Was für eine?«

»Der Vorschlag, den ich Ihnen noch zu machen habe, dürfte Sie sehr überraschen. — sehr freudig. Jetzt rufen Sie Ihre Lemuren.«

Noch eine Schlacht

Der Priester drehte sich um, hob die Hand, sofort quoll es hinter den Hügeln wieder hervor.

Die Entfernung betrug kaum hundert Meter, so sah man auch ohne Fernrohr deutlich, was die Zwerge, die nicht weiter vorkamen, dort hinten trieben.

Sie brachten einfach die Leichen fort. Aber doch nicht so auf gewöhnliche Weise, indem etwa immer zwei Mann eine aufhoben und forttrugen, sondern es ging immer von Hand zu Hand, so wie die Maurer die Ziegelsteine treiben, nur dass zu diesen menschlichen Körpern, so klein diese auch waren, eine ganz andere Kraft und Geschicklichkeit gehörte.

Unbedingt musste diese Art von Weiterbeförderung eine Gewohnheit dieser Zwerge sein, sie mussten darin eine ungemeine Übung haben, anders war es gar nicht begreiflich, so fabelhaft schnell ging es. Dabei rückten sie natürlich auch immer weiter vor.

Lebhaft wurde man dabei an jene westindische Wander- oder Jägerameise erinnert, deren Treiben wir einmal an Bord des »Mohawk« im kinematografischen Lichtbilde beobachteten. Diese reichen sich doch auch die Beute immer so gegenseitig zu. Merkwürdig aber ist es, dass nur diese Ameisenart das so tut, keine andere, wenigstens ist es noch bei keiner anderen beobachtet worden. Alle anderen Ameisenarten schleppen den Gegenstand, den sie erfasst, so weit sie können, allein oder mit vereinten Kräften, aber nicht, dass sie ihn die Reihe systematisch entlang gehen lassen, ihn sich richtig zureichen.

Auf diese Weise ging das Wegräumen der Leichen schier fabelhaft schnell. Die Strecke betrug also ungefähr 100 Meter, und noch waren keine zehn Minuten vergangen, als der Kopf der lebendigen Menschenschlange schon wieder das Ufer erreicht hatte, da waren auch schon sämtliche Leichen entfernt, und es waren sicher über dreitausend gewesen, welche die furchtbare Höllenmaschine mit ihren elektrischen Kugeln niedergemäht hatte. Freilich waren es sicher auch über dreitausend lebendige Menschen gewesen, welche diese Riesenarbeit in zehn Minuten bewältigt hatten.

Das Merkwürdige hatte nur in der Kettenformation gelegen, und überhaupt in dem Ameisenartigen, das diesen Zwergen, wenn sie so in Masse auftraten, anhaftete.

Sie verschwanden wieder hinter den Hügeln, Blut war nur im Anfang durch die Gewehrschüsse geflossen, auch nur ganz wenig, und so lag jetzt alles wieder im stillsten Frieden da, als wenn nichts geschehen wäre.

Auch die toten Zwerge an Deck waren abgeholt worden. Die Verteidiger waren auf ihrer Hut gewesen, aber sie hatten es gar nicht zu sein brauchen.

Sie hatten dies alles so interessant gefunden, dass sie gar nicht daran gedacht hatten, die Gräfin zu fragen, was sie denn noch mit dem Priester verhandeln wolle.

Dieser selbst war an Deck zurückgeblieben.

»Nun, womit kann ich noch dienen, bevor Sie mich niemals wieder sehen noch hören, mich und keinen anderen Lemuren?«, wandte er sich jetzt an Atalanta.

»Weshalb eigentlich wird mir diese Insel zur Verfügung gestellt?«

»So hat es der Maharadscha von Nepal bestimmt.«

»Weshalb hat er dies bestimmt?«

»Hat er dies Ihnen nicht selbst gesagt?«

»Nein.«

»So kann auch ich es Ihnen nicht sagen.«

»Sie dürfen es nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Auch kein anderer Oberpriester?«

»Ich glaube kaum. Wir haben zu gehorchen. Der Maharadscha von Nepal war einer der Unsrigen — eigentlich unser Vorgesetzter — oder auch nicht — aber — es ist hiermit ein religiöses Geheimnis verknüpft — ich glaube kaum, dass Sie —«

»Nein, nein, ich will Ihnen solch ein Geheimnis auch durchaus nicht entlocken, aber Sie müssen doch zugeben, dass ich in den Besitz dieses Schiffes und gar dieser ganzen Insel recht unverdient gekommen bin. Meinen Sie nicht?«

»Was heißt unverdient? Kein Mensch hat irgend etwas verdient, was ihm das Schicksal verleiht, auch durch sein Karma nicht.«

»Ich vertreibe Sie, alle Lemuren?«

»Nein.«

»Nicht?! Weshalb ziehen Sie sich unter die Erde zurück?«

»Weil jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, da es sowieso geschehen wäre.«

»So steht es im Buche des Schicksals geschrieben?«

»Ja. Sie haben uns nicht das Geringste zu danken.«

»Trotzdem, ich fühle mich nicht ganz als rechtmäßige Besitzerin der Insel.«

»Für dieses Ihr Gefühl können wir nichts.«

»Ist es Ihnen überhaupt angenehm, dass jetzt fremde Menschen auf der Oberfläche der Insel ihr Wesen treiben?«

»Es hat uns weder angenehm noch unangenehm zu sein.«

Auf diese Weise war aus dem Priester doch nichts herauszubringen.

»Spielen Sie Schach?«, fragte da die Indianerin plötzlich.«

Die roten Augen des Priesters glühten etwas auf, was schon einiges sagte.

»Das Schachspiel ist eine indische Erfindung, wir spielten schon Schach, als es für die Menschheit noch kein Indien gab.«

»Spielen Sie es?«

»Ja. Allerdings nur im Geiste.«

»Ohne Brett und Figuren? Ich verstehe. Sie spielen es mit anderen Priestern zusammen? Oder lösen Sie nur Probleme?«

»Beides.«

»Ich vermute, dass unter den lemurischen Priestern starke Spieler sind.«

Der Zwerg lächelte nur.

»So fordere ich Ihren stärksten Spieler zu einem Wettkampf heraus. Gewinnt er, so verlasse ich diese Insel sofort und kehre niemals wieder, was auch von allen diesen Herren gilt. Gewinne ich, so gehört mir diese Insel, alle jene Bedingungen gelten, über die wir vorhin gesprochen haben. Abgemacht?«

Unter den Zuhörern war schon vorher eine Unruhe entstanden. Was die Gräfin beabsichtigte, war ja nur zu klar gewesen.

»Atalanta, was tust Du, das hast Du ja gar nicht nötig!«, rief Arno jetzt.

»Ich weiß, lieber Arno, was ich tue. Ich will mir diese Insel in ehrlichem Kampfe, durch eigene Kraft erwerben — oder auf sie verzichten. Der Kampf mit der elektrischen Kugelspritze hat mir nicht imponieren können. Abgemacht?«

»Abgemacht!«, rief der Priester erst jetzt, während seine roten Augen immer mehr aufgeglüht hatten.

»Ich habe ein Schachspiel hier. Es werden auch mehrere an Bord vorhanden sein. Falls Sie eine etwas andere Methode oder Spielweise haben, andere Figuren, werden wir uns leicht einigen.«

»Abgemacht! Darf ich einen Oberpriester holen?«

»Einen oder mehrere.«

»Sie gestatten auch ein Beratungsspiel?«

»Wie Sie wollen. Ich selbst spiele allein.«

»Eine Anzahl von Priestern dürfen sich immer beraten?«

»Jawohl, das nennt man doch ein Beratungsspiel.«

»Wie viele Gegenspieler dürfen es sein?«

»So viele wie Sie wollen, meinetwegen bringen Sie tausend, bringen Sie die ganze Insel mit.«

»Ich gehe, sie zu holen.«

Und der Priester wandte sich mit auffallender Hast, die wohl nur der Freude entspringen konnte, dem Laufbrett zu.


Illustration

Littlelu vertrat ihm den Weg.

»Halt!! Aber, geehrter Herr, dieses Wettspiel ist gar nicht nötig!«

»Weshalb nicht?«

»Na, im Buche des Schicksals steht doch schon verzeichnet, wer diese Schachpartie gewinnen wird, und Sie können doch im Buche des Schicksals lesen, weshalb sich denn da erst so placken?!«

»Wir können wohl im Buche des Schicksals lesen, aber wir tun es nicht!«, entgegnete der Priester ohne Verlegenheit und wollte an Littlelu vorbei.

Der aber vertrat ihm immer noch einmal den Weg.

»Wo wollen Sie hin?«

»Einige andere Priester holen.«

»Sie können doch die Kunst der Gedankenübertragung?«

»Gewiss, darin sind wir Meister.«

»Na, da schicken Sie doch einfach Ihre Gedanken hin, nur einen einzigen, lassen Sie den Laufjungen spielen! Was bemühen Sie denn da Ihre eigenen Beine?«

»Wir können Gedanken übertragen, aber wir wollen nicht, wir tun es nicht!«, war nach wie vor die mit unerschütterlicher Ruhe und Würde gegebene Antwort, und der Priester ging an Land, den Hügeln zu.

Littlelu hatte ihn gehen lassen, jetzt aber hob er den Finger und schob bei einem unbeschreiblichen Gesicht die Augenbrauen bis zur Stirn hinauf.

»Haaaah, jetzt weiß ich endlich, was ich alles kann! Plötzlich ist der heilige Geist über mich gekommen. Herrgott, wer bin ich und was kann aus mir noch werden! Alles, alles kann ich! Die Sonne kann ich still stehen lassen — und die Erde dazu — mir ist überhaupt gar nichts mehr unmöglich — — aber ich will nicht, ich tu's nicht, ich tu's partout nicht! Na, da hört doch auf, mich zu plagen, ich tu's eben nicht, es geht gegen meine Religion!«

Nachdem Littlelu bei den letzten Worten noch mit den Füßen getrampelt hatte, schüttelte er die Hand dem davongehenden Priester nach.

»Neenee, alter Junge, Dich habe ich jetzt erkannt — Du bist der Fuchs aus der bekannten Geschichte, dem die Trauben zu sauer sind — weil sie ihm zu hoch hängen.«

Alle lachten, wurden aber doch wieder sehr ernst, als sie sich der Gräfin zuwandten.

Doch an ihrem Vorsatze war nun nichts mehr zu ändern.

»Diese Inder werden wirklich ausgezeichnete Schachspieler sein«, meinte Arno besorgt, »wirst Du ihnen auch gewachsen sein? Du hast in letzter Zeit gar nicht mehr gespielt.«

»Gerade in letzter Zeit habe ich sehr viel gespielt.«

»Wann denn? Mit wem?«

»Für mich allein, im Kopfe.«

Ja, das geht, zum Schachspiel braucht man kein Brett und keine Figuren. Freilich muss man dazu ein Genie im Schachspiel sein, noch ein ganz besonderes dazu.

Schon traf Atalanta die Vorbereitungen zu dem Spiele, und da kam der Lemurenpriester auch schon wieder zurück, in Begleitung von fünf anderen.

Der Wettkampf, das Match, wurde arrangiert. Es wurde in der Kapitänskajüte gespielt. Mit dem dort aufgebauten Schachspiel erklärten sich die Lemuren vertraut und einverstanden. Jeder konnte zusehen, nur nicht hineinsprechen. In der daneben befindlichen Kabine befand sich ein zweites Schachspiel, hier wollten sich die sechs gemeinschaftlichen Spieler beraten.

Auch die Bedingungen wurden noch einmal wiederholt.

»Solange gespielt wird, setzen Sie und keiner von Ihnen einen Fuß an Land?«, fragte einer der Priester.

»Nein. Das ist ja alles schon ausgemacht. Was wäre sonst noch zu bedenken?«

»Wie lange Überlegungszeit?«

»Ganz nach Belieben.«

»Gut. Die einmal mit Absicht berührte Figur muss gezogen werden, die einmal hingesetzte Figur steht.«

»Selbstverständlich. Dann sind wir mit den Vorbereitungen wohl fertig. Welche Farbe zieht an?«

»Wie gewöhnlich weiß.«

»Ist das auch in Indien so? Also wählen wir.«

»Bitte, lassen Sie links oder rechts entscheiden.«

Atalanta nahm zwei verschiedenfarbige Bauern in die Hände, der älteste Priester wählte ohne Weiteres links und hatte mit weiß den Anzug.

Diese uralten Inder — uralt doch wenigstens dem Geiste nach — zogen ganz modern den Königsbauern zwei Felder vor.

Das erwidert der Gegner immer mit demselben Zuge, mit demselben Königsbauern, da gibt es heute noch keine Ausnahme.

Diese moderne Indianerin aber rückte ganz unmodern ihren linken Turmbauern nur ein einziges Feld vor.

Darob gleich eine förmliche Bestürzung unter den sechs Priestern, sie zogen sich gleich zur Beratung in die Nebenkammer zurück.

Eine Viertelstunde verging und sie waren noch nicht wieder zum Vorschein gekommen.

»Das kann ja gut werden«, meinte Littlelu, »wenn die gleich beim ersten Zuge so lange Zeit zum Überlegen brauchen, dann sind wir heute übers Jahr mit der Partie noch nicht fertig.«

»Diese lange Überlegung ist gerade bei meinem Gegenzug ganz angebracht«, erwiderte Atalanta, »ich hätte nicht anders verfahren, wenn mir eine so unerwartete Eröffnung gezeigt worden wäre. Und überhaupt kann jeder so lange überlegen, wie er will, da ist kein Wort zu verlieren.«

»Wenn die aber nun —«

»Still, oder Sie müssen das Zimmer verlassen!«

Littlelu zog ein schiefes Maul und schwieg, um bleiben zu können.

Genau zwanzig Minuten hatte die Beratung gewährt, dann kamen die sechs Priester zurück, einer von ihnen deckte ihren Bauern mit dem Springer.

Nun aber ging es schnell, wenn auch bei Weitem nicht so schnell wie damals im Hippodrom zu New York.

Fünf Minuten gebrauchte jede Partei mindestens zu einem Zuge, Überlegungen von einer Viertelstunde Länge aber kamen nicht mehr vor.

Die Indianerin blickte immer starr auf das Brett, die sechs Lemuren berieten sich flüsternd in einer fremden Sprache, ohne jedoch wieder die Kajüte zu verlassen.

Die Zuschauer standen herum oder gingen leise hin und her, nur der Mephistopheles verharrte unbeweglich am Tisch, einen Fuß auf einen Stuhl gestemmt, ausnahmsweise einen Klemmer auf der Nase, ab und zu sein teuflisches Grinsen zeigend.

Um vier Uhr hatte die Partie begonnen, zwei Stunden später hatte sich das Mittelspiel voll entwickelt.

Wieder eine Stunde später sah es nach Ansicht eines Laien, aber wohl auch eines jeden Sachverständigen, für die Indianerin recht schlecht aus, sie hatte bereits drei Bauern und zwei wertvolle Figuren weniger als die Gegner.

Gleich darauf setzte der Mephisto wieder einmal sein höhnisches Grinsen auf. Wohl nur er allein von den Zuschauern sah es, wie die Indianerin ihren Gegnern eine ebenso hinterlistige wie geniale Falle baute.

Aber auch die Priester merkten sie, gingen nicht hinein, griffen vielmehr auf einmal den feindlichen König auf eine furchtbare Weise an, jagten ihn schutzlos von Feld zu Feld.

»Atalanta«, flüsterte Arno einmal, recht unnötigerweise, »das sieht schlimm für Dich aus, Du wirst wohl verlieren.«

Atalanta antwortete nicht, das wusste sie selbst wohl am besten. Wieder eine Stunde später hatte sie ihren König wieder sicher gestellt, aber dafür auch zwei Hauptfiguren opfern müssen.

Unterdessen war es neun Uhr geworden, fünf Stunden hatte nun schon das Spiel gewährt, und das Ende war noch nicht abzusehen.

»Ich bin sehr müde«, sagte da die Indianerin, »ist mir eine Ruhepause gestattet?«

Das war eigentlich ganz selbstverständlich, und deshalb fast unhöflich, dass sich die Lemuren deshalb erst eingehend berieten in ihrer Sprache.

»Wie lange?«

»Ich möchte einige Stunden schlafen.«

»Wie viele Stunden?«

»Brechen Sie doch die Partie während der Nacht ab«, nahm da der Mephisto das Wort, »Sie nehmen sie morgen früh wieder auf, wie es überhaupt Sitte ist.«

»Nicht bei uns — bei uns gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Wie lange wollen Sie ruhen?«

»Vier Stunden.«

Wieder eine längere Beratung.

»Wir geben Ihnen bis morgen früh um sechs Zeit«, hieß es dann.

Ohne weiteren Dank nahm Atalanta diese Frist an, die Stellungen wurden notiert, die sechs Priester entfernten sich.

Dass diese Indianerin um eine längere Frist gebeten hatte, weil sie sich müde fühle, das war schon ein ganz bedenkliches Zeichen, und ganz bedenklich sah auch ihre Lage aus. Die Gegner hatten fast noch einmal so viele Figuren wie sie.

»Ja, ich stehe mich sehr schlecht!«, sagte sie jetzt. »Wenn das so weiter geht, verliere ich, aber ich glaube nicht, dass es so weiter geht. Diese Priester sind äußerst routinierte Spieler, haben auch eine ganz andere Angriffsweise, dennoch gebe ich noch längst nicht alle Hoffnung auf. Ich habe leichtsinnigerweise zwei große Fehler begangen. Ich bin wirklich sehr erschöpft. Ich bitte, mich nicht weiter zu stören.«

Sie zog sich zurück. Nur Littlelu bekam sie noch einmal zu sehen. Die junge Mutter hatte ihr Kind an der Brust und blickte starr vor sich hin, sicher im Kopfe immer weiter Schach spielend.

Da konnte Littlelu einen seiner Scherze nicht unterlassen. Mit dem erhobenen Finger drohte er dem kräftig saugenden Knaben.

»Höre mal, alter Junge, Du musst aber mal ein gescheiter Diftelbruder werden — mit so 'ner Milch!«

Plötzlich brach die erst so traumverlorene Indianerin in ein helles Lachen aus.

»Ja, jetzt in den letzten Minuten muss er's auch bekommen haben, denn jetzt hab ich's!«

»Sie wollen die Partie noch gewinnen?!«, staunte Littlelu aufrichtig.

»Wenn das nicht, so kann ich sie wenigstens remis machen, unentschieden. Und die nächste Partie gewinne ich sicher. Jetzt weiß ich, worauf es bei diesen Priestern ankommt. Schlafen Sie ruhig, wir werden die Insel bekommen.«

*

Am nächsten Morgen kurz vor sechs fanden sich die Zuschauer wieder in der Kajüte zusammen, im Scheine des elektrischen Lichtes.

Einer sagte es dem anderen, jeder klagte, dass er ganze Nacht im Traume Schach gespielt habe, sogar Wilhelm Neumann hatte es getan, obgleich der gar keine Ahnung vom Schachspiel hatte. Deshalb hatte er es auch auf besondere Weise abgemacht, er hatte, wie er erzählte, die feindlichen Figuren immer umgeblasen, mit dem Blaserohr.

Punkt sechs Uhr stellten sich die sechs Priester ein, das Spiel wurde fortgesetzt.

Nach einer Stunde verlor Atalanta ihre Königin, hatte jetzt nur noch einen Springer und drei Bauern, um ihren König zu verteidigen, während die Gegner noch zwei Bauern und drei Hauptfiguren hatten. Obgleich sich aber die Lemuren in solcher Übermacht befanden, zogen sie sich jetzt doch für jeden Zug zur Beratung in die Nebenkammer zurück, berieten manchmal eine halbe Stunde lang, und Atalanta, immer starr auf das Brett blickend, brauchte gar einmal eine ganze Stunde, ehe sie einen Bauer ein Feld weiter rückte.

»In vier Zügen sind Sie matt!«, sagte da Mephistopheles, nachdem die Priester wieder einmal eine halbe Stunde schon abwesend waren.

»Nein!«, ließ da Atalanta zum ersten Male wieder ihre Stimme hören.

»Natürlich doch.«

»Wie denn?«

»Wenn die ihren Läufer hierher ziehen, dann —«

»Ich weiß, was Sie meinen, aber Sie werden sehen, dass ich mich zu verteidigen weiß.«

Die Priester kamen wieder, taten den gedachten Zug, und Atalanta machte sich frei, indem sie auch noch ihren Springer opferte.

»Ja dann freilich!«, meinte Mephisto, sich aber doch recht verdrießlich in den Haaren kratzend. »Nun können Sie aber nicht einmal mehr remis machen.«

Da zeigte die Indianerin einmal, wie schlau sie lächeln konnte.

»Im Gegenteil, ich habe bereits gewonnen.«

»Oho! Oho!!«

»Es ist so! Noch drei Züge, dann biete ich Schach, was ich nicht als remis gelten lasse, also werden die Gegner weiter ziehen, und einmal müssen sie doch einen falschen Zug tun — oder ich biete immer wieder Schach — also habe ich schon so gut wie gesiegt. Und das wissen die auch recht gut, deshalb bleiben die jetzt so lange.«

Ja, diesmal blieben die sich Beratenden über ein Stunde aus.

Innerhalb der nächsten zwei Stunden bot Atalanta dreimal Schach, mit ihren Bauern den feindlichen König immer vor sich her treibend, die feindlichen Figuren zu keinem Angriff kommen lassend.

Und die sich beratenden Lemuren kamen aus ihrer Kammer überhaupt nicht wieder zum Vorschein.

»Ja, wo bleiben denn die?«, meinte Arno ärgerlich, als nun schon anderthalb Stunden vergangen waren und niemand sich sehen ließ. »Das geht doch nicht, dass sie da drin schlafen!«

»Jeder hat so viel Zeit, wie er haben will.«

»Aber Dir ließen sie auch nicht beliebig lange Zeit, dass Du Dich ausruhen konntest.«

»Das war etwas anderes, ich bat direkt um Schlaf. Ich hätte nur ruhig hier bleiben müssen.«

»Ja, aber wenn die nun —«

Da kamen die sechs Priester wieder heraus.

»Meine Herren, der nächste Zug bedarf längerer Überlegung.«

»Noch längere?«, fragte diesmal Kapitän Hagen. »Wie lange?«

»Das können wir im Voraus nicht bestimmen, wir möchten uns dazu aber in unsere Behausung zurückziehen.«

»Weshalb das?«

»Um uns den nächsten Zug ruhig zu überlegen.«

»Das können Sie auch hier.«

»Nein, nicht so ruhig wie bei uns.«

»Das ist aber nicht gestattet.«

»Weshalb nicht?«

»Sie haben Ihrer Gegnerin auch nicht so ohne Weiteres gestattet, dass sie sich zur Ruhe zurückzog.«

»Das war etwas anderes, sie wollte schlafen, wir wollen gar nicht ruhen, und außerdem haben wir es ihr doch gestattet. Wir wollen nur überlegen.«

»Wie lange bleiben Sie?«

»Bis wir wissen, wie wir ziehen wollen.«

»Unter Umständen können Sie da wohl hundert Jahre ausbleiben.«

»Gewiss, warum nicht? Über die Länge der Zeit zur Überlegung gibt es keine Bestimmung.«

Es war ausgesprochen, nun war auch alles ganz klar. Mit zornsprühenden Augen und geballten Fäusten trat Hagen einen Schritt gegen die Priester vor.

»Lumpenpack, elendes!«

»Halt!«, rief da die Indianerin. »Wenn hier jemand entrüstet zu sein hätte, so wäre nur ich es! Ich bin es nicht! Die Herren sind ganz in ihrem Rechte, Sie haben so lange Zeit zur Überlegung für jeden Zug, wie Sie wünschen. So war's ausgemacht und daran ist nun nichts mehr zu ändern. Aber dass Sie dazu das Schiff verlassen, das gestatte ich nicht. Es war ausgemacht, dass Sie sich zur Beratung dort in jene Kabine zurückziehen, und dabei bleibt es ebenfalls.«

»Gut, so bleiben wir in dieser Kabine!«, erklang es sofort, und die sechs Priester begaben sich denn auch gleich wieder in den Nebenraum, setzten sich um den Tisch und begannen nach wie vor leise zu sprechen. Worüber, das konnte man ja nicht verstehen.

Die Zurückgebliebenen blickten sich an.

»Diese Jesuiten!«

Atalanta hob sie Schultern.

»Es ist nichts dagegen zu machen.«

»Die sind bereit, ihr ganzes Leben lang hier an Bord zu bleiben, damit wir nicht die Insel betreten dürfen, die opfern sich für die anderen auf.«

»Aber sie hatten doch vorher gar nichts dagegen, wenn wir Besitz von der Insel ergreifen, darauf herumzuwirtschaften, wie wir wollen, da sie sich ganz unter die Erde zurückziehen!«, meine ein anderer.

»Ja, aber da handeln sie nur auf einen höheren Befehl, dem sie unbedingt gehorchen müssen. Viel lieber ist es ihnen natürlich, wenn sie keine oberirdischen Nachbarn haben.«

»Na, wir werden ja sehen, wie lange sie es aushalten!«, sagte Hagen. »Zu essen bekommen sie natürlich keinen Bissen, wir werden sie auch am Schlafen hindern.«

»Nein, das ist nicht angängig!«, entschied Atalanta. »Sie haben mir zu schlafen gestattet, also muss auch ich es tun, wenn sie mich darum bitten. Und gestern haben wir sie wiederholt gefragt, ob sie etwas zu essen wünschen, und wenn sie es auch immer abgeschlagen haben, so müssen wir dieses Angebot doch von Zeit zu Zeit wiederholen. Währt eine Schachpartie längere Zeit, womöglich einige Tage, was ja schon oft genug vorgekommen ist, so ist es ganz selbstverständlich, dass man dem Gegner Zeit und Mittel zum schlafen und essen gibt, so wie man es doch selbst tut. Nein, da ist nichts dagegen zu machen. Wir haben gewusst, dass es Jesuiten sind, und da hätten wir eben vorsichtiger sein sollen, auch wegen der Überlegungsfrist direkte Bedingungen treffen sollen. Nun ist es zu spät.«

»Du hast eben gar keine Lust, Dich hier auf dieser Insel niederzulassen!«, sagte Arno.

»Doch, nach allem, was ich nun erfahren habe, möchte ich es recht gern, aber wie diese Priester das so schlau angefangen haben, da ist nun auch nichts mehr dagegen zu machen. Wir haben uns eben überlisten lassen.«

Es ging ja eigentlich gegen den gesunden Menschenverstand, man hätte diese Priester doch eigentlich zum Teufel jagen müssen. Entweder sie spielten die Schachpartie weiter, oder — — sie hätten etwas erleben können!

Aber es war eben der indianische Starrsinn, der wieder einmal zum Durchbruch kam. Sie wollte »korrekt« sein, und da war einfach nichts dagegen zu machen. Sie hatte hier zu befehlen.

»Um was handelt es sich denn eigentlich?«, ließ da wieder einmal Wilhelm Neumann etwas von sich hören.

Na, wenn der das jetzt noch nicht begriffen hatte — niemand hatte Lust, ihm das alles noch einmal vorzukauen.

Aber wieder war es Atalanta, die dem Fleischergesellen alles noch einmal mit unsäglicher Geduld erklärte, jede seiner Fragen beantwortete. Es war eben immer wieder die Indianerin, die sich gewissermaßen gern selbst marterte — oder doch erhaben über Ärger und Ungeduld und alle andere solche Schwächen war.

»Na, da gäbe es doch vielleicht ein Mittel, um die zu zwingen, dass sie die Schachpartie fortsetzen!«, meinte Wilhelm, als er endlich nichts mehr zu fragen hatte.

Diese Besprechung fand bereits am gemeinsamen Frühstückstisch statt, den Littlelu hergerichtet hatte.

»Wie, Sie wüssten ein Mittel?!«, erklang es mit allgemeinem Erstaunen.

»Vielleicht — es muss einmal versucht werden. Wie lange sollen die Spieler Zeit zur Überlegung haben?«

»Eine Stunde, will ich sagen, für jeden Zug.«

»Eine Stunde, gut. Also erlauben Sie, dass ich mal in Ihrem Namen mit den Priestern spreche?«

»Was wollen Sie Ihnen denn vorschlagen?«

»Ach, lassen Sie mich das nur machen. Entweder es gelingt, oder es gelingt nicht.«

Noch einige Worte, die aber keine Erklärung brachten, und alle begaben sich in die Kajüte zurück, nur Wilhelm betrat den Nebenraum, ließ die Tür offen, sodass die anderen hineinblicken konnten.

Die sechs Priester saßen noch immer um den Tisch, sprachen leise zusammen, ohne sich um das Nebentischchen zu kümmern, auf das Littlelu auf der Gräfin Geheiß einige kalte Speisen gesetzt hatte.

»Gentlemen«, begann Wilhelm in einem ganz perfekten Englisch, »ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen.«

»Nun?«

»Ich habe mit der Frau Gräfin eine Wette gemacht.«

»Eine Wette? Ja, wir wissen, was das ist. Was aber geht das uns an?«

»Es ist Ihnen doch sicher nicht angenehm, hier für alle Ewigkeit oder doch wenigstens Zeit Ihres Lebens zu sitzen.«

»Das beabsichtigen wir ja gar nicht.«

»Was denn sonst?«

»Wir beraten immer nur den nächsten Zug, bis die Schachpartie zu Ende ist.«

»Geben Sie die Schachpartie doch lieber ganz auf.«

»Aufgeben? Weshalb denn? Wo wir uns so gut stehen?«

»Ich weiß aber ein kürzeres Mittel, um die Sache zur Entscheidung zu bringen. Sehen Sie, meine Herren, ich habe hier ein Tuch —«

Wilhelm brachte ein rotes, nicht eben sehr sauberes Taschentuch zum Vorschein und legte es der Länge nach zusammen.

»So. Jetzt stehen Sie auf, stellen sich in einer Reihe hin und jeder streckt den rechten Arm aus. Nun schlage ich mit diesem Tuche jedem dreimal auf die rechte Hand. Und wenn nur ein einziger von Ihnen diese drei Schläge aushält, so verlässt die Gräfin sofort die Insel und wir mit ihr, und Sie sehen uns niemals wieder. Kann aber nur ein einziger von Ihnen die drei Schläge nicht aushalten, so haben Sie eben unter der Erde zu verschwinden, wir nehmen Besitz von der Insel. Einverstanden?«

So hatte Wilhelm gesprochen.

Die drüben in der Kajüte hatten es gehört.

»Ach dieser uralte Kinderwitz!«, flüsterte Littlelu. »So dumm, dass man ihn im Zirkus in keiner Kindervorstellung mehr machen darf, sonst wird man herausgeschmissen! In diese plumpe Falle werden doch diese schlauen Priester nicht gehen!«

Ebenso dachte auch Arno.

Nun war aber etwas sehr Merkwürdiges dabei.

Die Indianerin, deren Scharfsinn doch nichts zu wünschen übrig ließ, kannte diesen uralten Kinderwitz eben noch nicht und kam daher auch nicht eher auf die Pointe, als bis es eben geschehen war.

Und dasselbe galt jedenfalls auch von den beiden Australiern.

Und so war es begreiflich, dass auch diese sechs lemurischen Priester nicht wussten, nicht ahnten, auf was das Ganze hinauslief.

Nicht etwa, dass sie die List durchschauten, sondern es war nur Misstrauen, ihnen wahrscheinlich angeboren, wenn sie nicht gleich darauf eingingen.

»Weshalb sollen wir denn die drei Schläge mit dem Tuche nicht aushalten können?«

»Weil Sie es eben nicht können.«

»Ja, weshalb denn nicht?«

»Das ist mein Geheimnis.«

»Ist in diesem Tuche vielleicht jene Kraft, welche Ihr Elektrizität nennt?«

»Durchaus nicht.«

»Oder haben Sie selbst solche Elektrizität in sich?«

»Nein.«

»Ja, weshalb soll denn da niemand drei solche leichte Schläge auf die flache Hand aushalten können?«

»Dass es niemand kann, habe ich ja gar nicht behauptet; Ihr könnt es nicht, sage ich.«

»Weshalb denn wir nicht?«

»Weil Ihr Lemuren seid.«

Wilhelm machte es wirklich sehr schlau, denn es war gar nicht so einfach, die Priester zu bewegen, in die Falle zu gehen.

»Einer von Euch kann es?«

»Ja, so behaupte ich.«

»So mache es doch erst mit jemandem von Euch.«

Gut, Littlelu erbot sich, die drei Schläge auf die Hand zu bekommen und erhielt sie.

»Ja, weshalb sollen denn wir das nicht aushalten?«

»Weil Ihr Lemuren seid.«

»Wir sind doch auch Menschen.«

»Aber ganz andere als wir.«

»Wieso denn?«

»Das werdet Ihr ja sehen.«

Und so ging das noch eine halbe Stunde weiter, was wir natürlich nicht ausführlich schildern wollen.

»Muss es denn gerade dieses Tuch sein?«

»Nein, es kann auch ein anderes sein.«

»Eines von uns?«

»Wie Sie wollen.«

Kurz und gut, nach langer, langer Beratung, in ihrer eigenen Sprache geführt, erklärten sich die sechs Priester bereit, sich die drei Schläge auf ihre ausgestreckte Hand geben zu lassen.

Aber die Schlussbedingungen waren unterdessen geändert worden.

Die sechs Priester hatten eben den Auftrag, mit der Gräfin eine Partie Schach zu spielen, das musste nun auch eingehalten werden.

Also zuletzt wurde die Sache dahin geregelt: Hielt nur ein einziger die drei Schläge aus, die ihnen Wilhelm mit ihrem eigenen Tuche, einem ganz dünnen Gewebe, auf die ausgestreckte Hand gab, so hatten die Fremden die Insel sofort in ihren Unterseebooten zu verlassen und durften niemals wiederkommen.

Hielt nur ein einziger von den sechs Priestern die drei Schläge nicht aus, so wurde die Schachpartie fortgesetzt, aber zur Überlegung für jeden Zug durfte die Frist von einer Stunde nicht überschritten werden.

»Einverstanden?«

»Es ist abgemacht.«

Also die sechs kleinen Männer stellten sich, wie es Wilhelm anordnete, in einer Reihe auf und streckten ihren rechten Arm mit der flachen Hand aus, die Innenseite nach oben.

Als es so weit war, hatte Atalanta noch immer nicht die geringste Ahnung, was der deutsche Fleischergeselle eigentlich beabsichtigte, ebenso wenig die beiden Australier. Littlelu und Arno hatten noch nichts verraten. Der Mephistopheles war merkwürdigerweise gar nicht anwesend, und das war auch recht gut, dessen höhnisches Grinsen hätte die Priester nur noch misstrauischer machen können als sie schon waren.

Wilhelm ging die Reihe entlang und gab jedem mit dem Tuche einen leichten Schlag auf die Hand.

»Eins.«

Er ging zurück, schlug abermals auf jede Hand.

»Zwei.«

Nun aber ging er nicht noch einmal vorbei, sondern begab sich seitwärts, das Tüchelchen in seinen Gürtel steckend.

Die sechs Priester standen wie die Statuen, die rechten Arme in genau horizontaler Lage ausgestreckt.

Diese Zwerge hatten große Geduld.

Es dauerte wenigstens fünf Minuten, ehe einer von ihnen den Mund zur Frage öffnete, nämlich deshalb, weil sie den Arm nicht mehr so halten konnten. Es hatte überhaupt schon viel Willenskraft dazu gehört, das nur fünf Minuten zu ertragen.

»Warum geben Sie uns nicht den dritten Schlag?«

»Den werde ich Ihnen schon geben.«

»So tun Sie es doch.«

Zunächst hatte sich Wilhelm bequem in einen Lehnstuhl gesetzt und die Beine übereinander geschlagen.

»Warten Sie es nur ab, ich habe Zeit. Den dritten Schlag bekommen Sie heute übers Jahr — vielleicht — vielleicht auch erst in zehn Jahren. Ich habe Zeit. Bleiben Sie nur ruhig so stehen, bis Sie den dritten Schlag bekommen.«

Ein wieherndes Gelächter erscholl. Der plötzlich wieder anwesende Mephistopheles hatte es ausgestoßen, auch die beiden Australier stimmten jetzt mit ein, ebenso die anderen. Nur Atalanta nicht.

»Bravo, Mister Neumann, bravo!! Das haben Sie ausgezeichnet gemacht!«

Trotzdem glaubte wohl keiner, dass sich die Priester hiermit geschlagen geben würden, die hatten doch natürlich gleich eine andere Ausflucht, ließen solch eine List nicht gelten, wenn ihnen auch nur Gleiches mit Gleichem vergolten worden war.

Wohl nur die Indianerin und der Mephisto waren von vornherein vom Gegenteil überzeugt.

Und richtig, derjenige Priester, der immer das Wort führte, senkte denn auch gleich den Arm.

»Wir haben verloren«, sagte er, »das Schachspiel muss zu den neuen Bedingungen fortgesetzt werden. Also höchstens eine Stunde immer Bedenkzeit.«

Die anderen hielten ihre Bemerkungen bis später zurück. Die Partie wurde sofort fortgesetzt. Aber die Priester hielten nun gar keine Beratung mehr ab, sie hatten eben von vornherein gewusst, dass sie die Partie verloren.

Nur wenige Züge noch, und die Indianerin, mit ihren wenigen Bauern unausgesetzt Schach bietend, sodass die feindlichen Hauptfiguren gar nicht mehr in Aktion treten konnten, trieb den König vor sich her, bis sie ihn mattgesetzt hatte. Es war gar nicht mehr zu ändern gewesen.

Die sechs Priester erhoben sich gleichzeitig mit unerschütterlichen Mienen.

»Wir haben verloren, Ihr könnt bleiben, die Insel gehört Euch.«

Sprachen es, gingen an Land, verschwanden hinter Hügeln und wurden nicht mehr gesehen.

Ein anderes Paradies

Jetzt brach auch bei der Indianerin der Jubel hervor.

»Wilhelm — Sie sind der Retter! — Sie sind ja ein großartiger Mensch! — Lassen Sie sich umarmen! — Das will ich Ihnen noch einmal vergelten!«

»Ja, hält man es denn nur für möglich, dass diese schlauen Priester auf solch eine plumpe List hineinfielen und sich dann auch gleich zufrieden gaben?!«

So konnten die sprechen, welche selbst vorhin diese List nicht durchschaut hatten, weil sie diesen Kinderwitz eben noch nicht gekannt hatten. Eben die alte Geschichte vom Ei des Kolumbus.

Am stolzesten aber hätte Atalanta darauf sein können, diese sechs Priester, die sich als Meister des Schachspiels erwiesen hatten, besiegt zu haben.

Doch ließ sie es gar nicht dazu kommen, dass hiervon gesprochen wurde.

»Meine Herren, meine lieben Freunde, verschonen Sie mich mit Ihren Komplimenten!«, rief sie in lustigster Laune. »Sprechen wir überhaupt gar nicht mehr von diesen Lemuren, die existieren jetzt einfach nicht mehr für uns. Jetzt aber merken Sie wohl, wie ich mich freue, dass ich, dass wir Besitzer von dieser der anderen Menschheit unbekannten Insel geworden sind, auf der wir auch niemals entdeckt werden können. Höchstens Aeroplane und Luftschiffe hätten wir von uns fernzuhalten. Doch davon später. Wie wollen wir uns hier nun einrichten? Erst müssen wir wohl einmal die Insel erforschen, denn auch was die beiden australischen Herren uns von ihr erzählen können, ist herzlich wenig. Nicht wahr, Sie waren noch nicht einmal in einem Wald?«

Die beiden Australier verneinten.

»Sie können uns noch nichts Näheres über die Pflanzenwelt berichten?«

»Auch das nicht. Die australische Flora scheint sich stark mit der indischen zu vermischen.«

»Was hatte eigentlich die indische Gesellschaft hier vor? Hat jemand mehr davon gehört, als dass man wegen der Ernährung hier Ackerbau und Viehzucht treiben wollte?«

»Wegen der Ernährung Ackerbau und Viehzucht?«, wiederholte der Mephistopheles verwundert.

»So wurde mir gesagt. Man wollte diese wasserreiche und auch sonst überaus fruchtbare Insel bebauen, hätte Sämereien aller Art mitgenommen. Von Viehzucht ist allerdings nicht gesprochen worden, das ist möglich. Ackerbau und Viehzucht — das ist eben so ein Ausdruck. Aus diesen Indern war ja gar nichts herauszubringen, obgleich sie auf jede Frage präzise Antwort zu geben schienen.«

»Sind denn Haustiere und dergleichen mitgenommen worden?«

Davon war allerdings niemandem etwas bekannt.

Dieses Riesenschiff bildete ja eine ganze Stadt, in der man sich gar nicht so leicht zurechtfinden konnte. Frisches Fleisch aller Art hatte es ja täglich gegeben, wenigstens für die Gäste, das konnte aber alles präserviertes gewesen sein, von frischem gar nicht zu unterscheiden.«

»Es wurde Ihnen gesagt«, forschte der Mephisto nochmals, »man hatte beabsichtigt, hier Brotfrüchte zu bauen?«

»Nein, wie gesagt, es wurde ganz allgemein von Bebauen gesprochen, und dabei wurden auch einmal Sämereien der verschiedensten Art erwähnt, das weiß ich bestimmt.«

»Mir ist vom Maharadscha oder dessen Sekretär telefonisch etwas ganz anderes mitgeteilt worden.«

»Was denn?«

»Bei der ganzen indischen Gesellschaft war es ja von vornherein beschlossen, hier gemeinsam in den Tod zu gehen. Die brauchten also keine Früchte von Ackerbau und Viehzucht, wohl aber hat man an Sie und Ihre Gefährten gedacht. Es ist ja möglich, dass auch Getreidesamen mitgenommen worden ist, hauptsächlich aber sollen sich an Bord Blumensämereien aller Art befinden, sogar ein ganzer botanischer Garten, den Sie nur auf die Insel zu verpflanzen brauchen, um sie in ein Paradies zu verwandeln. In der Hauptschublade des Schreibtisches des Kapitäns soll die Liste liegen, wo wir dies alles zu suchen haben.«

Diese Liste war denn auch bald gefunden. In ihr war alles, alles angeführt, was die neuen Kolonisten einer noch unkultivierten Insel nur irgendwie gebrauchen konnten, und immer war genau angegeben, wo man es nach dem Schiffsplane finden würde.

Vor allen Dingen waren es auch Blumensämereien aller Art, die hier gedeihen würden. Als man den bezeichneten botanischen Garten suchte, fand man ein unter Deck angebrachtes Gewächshaus, das noch von der Sonne beleuchtet werden konnte, wovon die Gäste, so lange sie auch schon an Bord gewesen, nicht die geringste Ahnung gehabt hatten.

Hier befanden sich im vortrefflichsten Zustande alle Pflanzen, Büsche und Bäume Indiens, des heißen Amerikas, Afrikas und selbst Europas, die sich auch hier zu ihrer richtigen Größe mit Blüte und Frucht entwickeln würden.

»Ach, das ist herrlich, herrlich!«, jubelte die Indianerin immer wieder.

Denn schon sah sie, und die anderen mit ihr, in ihrer lebhaften Phantasie diese Insel, die eigentlich ein ziemlich eintöniges Gepräge hatte, sich nach und nach in ein Paradies verwandeln — in ein blüten- und früchtereiches Paradies, wie man sich ein solches nur in seiner Phantasie ausmalen kann.

Und dass dieses Paradies nicht schon vorhanden war, dass sie es sich erst schaffen mussten, durch die Arbeit ihrer Hände, dass sie alles nach Willkür ordnen konnten, darin lag ja eben der Hauptreiz.

Irgend einer hat einmal einen sehr bedeutsamem Ausspruch getan.

»Unter den Lebensbäumen ewig träumen? Das hielte ich nicht aus. Wenn ich nach dem Tode ein Paradies vorfände, dann legte ich erst alles in Trümmer, rottete alles aus, um mir aus eigener Kraft ein neues Paradies zu schaffen.«

So ungefähr.

Ja, es liegt schon etwas drin!

Und ein ganz ähnlicher Gedanke war es, der jetzt durch die Köpfe aller dieser Männer ging, klarer oder unklarer, selbst durch den von Wilhelm Neumann, der bewiesen hatte, dass er nicht auf diesen seinen Kopf gefallen war.

Denn so schnell mit dem Auf- und Ausbauen dieses Paradieses ging es ja nicht, da wollte erst mancher Hackenschlag und Spatenstich getan sein. Ehe es ein wirkliches Paradies geworden war, dann waren seine Schöpfer schon alt geworden, konnten sich daran noch erfreuen, und ihre Nachkommen mochten es dann ja wieder einreißen.

»Na, dann vorwärts!«, rief Atalanta. »Da ist nun nichts mehr zu überlegen, und gefrühstückt haben wir ja. Jeder nimmt gleich eine kleine Hacke und einen kleinen Spaten mit, Sämereien, jeder streift für sich auf der Insel herum, jeder sucht sich das schönste Fleckchen aus, und da fängt er gleich an zu buddeln .«

»Jeder für sich?«, lachte Arno, der seine Gattin selten so heiter, förmlich glückstrahlend gesehen hatte wie jetzt.

»Ganz gewiss! Das macht doch gerade den Hauptspaß. Jeder hat seine Höhle oder sonstige Behausung für sich und baut da, was er bauen kann, und dann besuchen wir uns gegenseitig und zeigen uns, was wir geschaffen haben. Na, es können sich ja auch immer zwei zusammengesellen, so zum Beispiel Du und ich. Wollen wir das nicht so machen?«

Lachend wurde dieser Vorschlag allgemein angenommen.

Man dachte wohl daran, dass dies etwas einer kindlichen Spielerei ähnelte, aber — was ist denn Spielerei? Entweder ist jede Spielerei tiefster Ernst oder das ganze Leben ist nur Spielerei. Ein Gutsbesitzer, der sich mit Hypotheken herumzuwürgen hat, bei dem freilich hört die Spielerei auf.

*

Wir überspringen vier Wochen.

Arno und Atalanta saßen vor ihrer neuen Behausung.

Das war ein größeres Felsenloch, Höhle genannt, das wenig mehr als zwei Schlafstellen enthielt, aus Heu bestehend, darüber Decken gelegt. Zum Gerben von Kängurufellen war noch keine Zeit gewesen.

1 Im Original heißt es ›paddeln‹.

Dicht daneben befand sich noch eine kleinere Höhle, durch deren Eingang man aber nur auf Händen und Füßen kriechen konnte. Hingegen hatte das Ehepaar schon mit vereinten Kräften die nur dünne Scheidewand durchbrochen, eine gangbare Verbindungstür geschaffen, und dieser zweite Salon, nicht minder vornehm eingerichtet, diente der japanischen Dienerin zum Aufenthalt, die auch das Kind immer bei sich hatte, wenn es nicht nach der Mutter begehrte.

Dann gab es in der Nähe noch eine dritte Höhle, die als Vorrats- und Rumpelkammer diente.

Es war überhaupt eine ganze Höhlenregion, und zwischen den Hügeln, die aber manchmal auch als kleine Berge sehr steil emporstiegen, floss ein klarer Bach, an dessen Ufer ein kleines Geviert den zukünftigen Gemüsegarten bildete.

Das waren so die Hauptsachen, die in die Augen sprangen. Da gab es ja noch viel, viel mehr, aber das alles sahen nur die Augen desjenigen, der das hier geschaffen oder angelegt hatte, denn wer konnte zum Beispiel vermuten, dass das trockene Ästchen dort, das mit einigen grünen Augen schüchtern aus der Erde um sich blickte, der erste Anfang zu einer dornenlosen Rosenlaube sein sollte.

Auf dem Stumpfe eines Gummibaumes, der etwas sehr schief abgesägt worden war, saß Graf Arno von Felsmark und — schälte sich mit einem Messer das dicke Horn von den Händen.

Ja, das Umsägen dieses Baumes mit dem eisenharten Holze! Dabei das ewige Schärfen der Säge! Und dort das Gras hatte er abgehauen, dabei ein halbes Dutzend Sensen ruiniert! Und nun gar erst der Gemüsegarten dort! Vorausgesetzt, dass das grüne Zeug, was da vorsichtig aus der Erde lugte, auch wirklich Gemüse war, nicht etwa Unkraut. Und was er nun sonst hier noch alles geschaffen hatte! Dort links einen ganzen Wald von indischen Haselnüssen, und dort rechts eine Spargelplantage!

Das heißt, das sollte ja alles erst noch kommen, so in ein bis drei Jahren. Vorläufig war alles erst in der Phantasie vorhanden. Nur nicht das Horn in den gräflichen Händen. Das war wirklich schon da.

Ja, solche Schwielen hatte Graf Arno von Felsmark noch nie gehabt, nicht als Sporttrainer des Athletikklubs, hatte es nicht als Einsiedler auf der afrikanischen Sumpfinsel, nicht in jener künstlichen Felsenwildnis bekommen, obgleich er dort doch ebenfalls um seine Lebensexistenz hatte arbeiten müssen.

Neben ihm saß auf einem umgestülpten Holzeimer seine Gattin, die Frau Gräfin Atalanta von Felsmark, und strickte an einem Kinderstrümpfchen. Es sah etwas merkwürdig aus, dieses schon ziemlich fertige Kinderstrümpfchen, Es war sehr die Frage, ob das, was jetzt daran kam, eine Hacke oder eine Haube werden sollte. Jedenfalls verstand diese Gräfin mit der rötlichen Haut das Schießen und Reiten besser als das Stricken.

Jetzt ließ sie sechs Maschen hintereinander fallen, weil sie sich soeben umblickte, mit ganz verklärtem Gesicht.

Weshalb dieses verklärte Gesicht, in dem zugleich auch Stolz lag, das hätte ein nüchternes Auge schwerlich beurteilen können.

Weil es eben für ein nüchternes Auge hier ziemlich kläglich aussah.

Nicht aber für das phantasievolle Auge dessen, der hier mit eigener Hand für die Zukunft gearbeitet hatte.

»Sieh nur, mein lieber Arno, wie dort die Zwiebeln kommen!«, flüsterte die ehemalige Athletin und jetzige Strümpfestrickerin ganz verzückt.

Auch Arnos Gesicht nahm einen ganz verzückten Ausdruck an, als er nach den grünen Spitzen blickte, die das schwarze Erdreich durchbrochen hatten.

»Ja, es ist prachtvoll! Aber Du irrst, liebe Atalanta, das sind keine Zwiebeln, das ist Tabak.«

»Tabak?«

»Gewiss, weißt Du denn nicht, dass ich dort in der Ecke des Gemüsegartens Tabaksamen gesteckt habe?«

Samen steckt man ja eigentlich nicht, aber Arno hatte ganz recht, das konnte hier auf dieser weltunbekannten Insel jeder machen wie er wollte.

»Und dort der Rhabarber, wie der schießt! Ach, was ich mich auf den ersten selbstgebauten Rhabarber freue!«

»Du meinst dort in der Mitte des Gemüsegartens, liebe Atalanta? Ja, es ist großartig, wie das Zeug wuchert! Nur muss ich Dich darauf aufmerksam machen, dass das kein Rhabarber ist, sondern Virginia.«

»Virginia? Virginia-Rhabarber?«

»Nein, Virginia-Tabak. Das in der Ecke, das ist Varinas.«

Also Atalanta musste auf ihren Rhabarber verzichten, verlor aber deshalb den Mut nicht.

»Und was ist denn das?!«, staunte sie jetzt mit leuchtendem Blick. »Dort schießt doch schon der Spargel? Ich denke doch, der kommt erst in drei Jahren? So steht's doch im Konversationslexikon?!«

Jetzt wurde der Herr Gemahl doch etwas verlegen.

»Da hat das(2) Konversationslexikon auch recht. Aber das ist Kuba.«

(2) Der hier sinngemäß eingefügte Satzbeginn fehlt im Original.

»Kuba-Spargel?«

»Kuba-Spargel? Gibt's denn den? Nein, das ist Kuba-Tabak. Sogar echter Havanna. Ich habe ihm dort den Platz gegeben, weil er dort die meiste Sonne hat.«

Jetzt aber musste die Gattin doch in ein herzliches Lachen ausbrechen.

»Sage mal, Arno, Du willst hier wohl nur eine Tabakversuchsstation anlegen?!«

»Nun, nun«, beschwichtigte der Gatte, wenn auch etwas verlegen, »was der Mensch braucht, das muss er doch haben. Und ich denke doch, Du weißt, was Du jeden Tag dreimal begießt. Und ich habe ja auch sonst noch für genug Gemüse gesorgt. Was Du dort zum Beispiel so grün leuchten siehst, das ist Petersilie —«

»Petersilie? Petersilie sieht doch ganz anders aus!«

»Tut sie? Na, dann sind's Erbsen — oder Gurken — oder Radieschen — ich bin nicht so genau in der Botanik bewandert —«

Und auf diese Weise ging die Unterhaltung weiter.

Ach, es war ein herrliches Leben!

Ein Leben wie im Paradiese!

Aber das war ein ganz anderes Paradies als das damals, in dem sie nur hatten spazieren gehen, Früchte naschen und sich die ganzen gebratenen Hammel aus der Ofenröhre holen können. Trotz aller sonstiger Abwechselungen, trotz aller Rodelbahnen, Pferde und Segelboote wäre ihnen jenes Paradies doch sehr bald langweilig geworden, was hier nie, nie der Fall werden konnte, und wenn sie auch hundert Jahre alt, sogar so alt wie Adam und Eva wurden, die es ja noch weit höher als Methusalem gebracht hatten.

Weil sie eben den noch im Garten Eden gegebenen Fluch in einen Segen zu verwandeln verstanden, weil sie sich dieses irdische Paradies hier durch fleißige Arbeit selbst schufen, und das nicht erst für die Zukunft, sondern Tag für Tag.

Die Kolonisten hatten sich in vier Parteien gespalten.

Hier in der Hügelformation hauste das gräfliche Ehepaar als Troglodyten, als Höhlenbewohner, pflegten hauptsächlich den Gemüsebau, der allerdings, wie wir gesehen haben, etwas nach Tabak roch.

Die beiden Australier hatten den Wald vorgezogen, wohnten als Waldmenschen in luftiger Höhe auf Bäumen, trieben ebenfalls etwas Landkultur, noch mehr aber Viehzucht, geflügelte Viehzucht. In den Wäldern wimmelte es von Papageien. Vorläufig bestand ihre Viehzucht darin, dass sie diesen Papageien die Eier mausten, sie hatten aber auch mit dereinst gezähmten Papageien, die gemästet wurden, noch großartige Pläne vor.

Die dritte Partei wurde von Littlelu und Wilhelm Neumann gebildet. Diese hausten an einem See, widmeten sich ebenfalls ganz intensiv der Landwirtschaft, allerdings etwas einseitig, nämlich einseitig betreffs der Arbeitsteilung. Wilhelm Neumann bearbeitete das Feld im Schweiße seines Angesichts, Littlelu guckte nur zu. Von dieser Einseitigkeit der Arbeitsverteilung freilich wollte er nichts wissen.

»Ich bin der geistige Leiter. Ihr denkt, das strengt nicht an? Weil ich nicht schwitze? Ihr solltet nur mal sehen, wie ich innerlich schwitze! Ein starker Charakter lässt sich äußerlich eben gar nichts anmerken. Wenn Ihr nur wüsstet, wie ich meine geistige Kraft anstrenge, um so zum Beispiel dort den Salat aus der Erde zu zerren, und nun jedes Blatt einzeln!«

Gegenüber auf der anderen Seite desselben Sees hauste der grimme Hagen von Tronje als Einsiedler.

Der lebte nur vom Fischfang, angelte den ganzen Tag, machte nichts anderes. Wo er des Nachts blieb, das war sein Geheimnis.

So lebten die Kolonisten in vier getrennten Parteien.

Aber jeden Abend kamen sie zusammen.

Und da ging es immer gar lustig zu.

Da wurde — —

Doch wir können ja selbst einmal dabei sein.

Heute Abend hatte das gräfliche Ehepaar, hatten die Troglodyten, wie sie als zukünftiges »Volk« schon genannt wurden, ihren jour fixe, ihren Empfangstag.

Vorkehrungen zum Bewirten ihrer Gäste brauchten sie nicht zu treffen.

Das Besuchen geschah nach altenglischer Sitte, es wurde Picknick gemacht.

So ein Picknick, zu dem jeder seinen Beitrag an Fressalien mitbringt, braucht aber nicht etwa im Freien abgehalten zu werden, im Gegenteil, hauptsächlich findet es in Häusern statt.

Und das ist eine gar reizende Sitte, die nicht genug zur Nachahmung empfohlen werden kann.

Die Familie in Deutschland, bei der die Mittel knapp sind, sieht nicht gern Besuch kommen, in England ist es gerade umgekehrt. Das Haus, die Hütte, in der Arbeitslosigkeit oder sonstige Not herrscht, wird von Freunden und Verwandten gerade recht häufig mit Besuch bedacht, womöglich jeden Abend, denn jeder Besucher muss einen Beitrag zum gemeinschaftlichen Mahle mitbringen, auch etwaiges Getränk, der Besuchte(3) darf nur das heiße Wasser und die Essgerätschaften liefern. Auf diese Weise hilft man den in Not Geratenen über die schlimme Zeit hinweg, ohne ihrem Ehrgefühl irgendwie nahe zu treten.

(3) Im Original heißt es ›Besucher‹.

Denn das ist nicht etwa eine Hilfeleistung, sondern das Picknick ist ein uralter, heiliger Brauch der Angelsachsen. Bei uns hat sich das nur noch in der Bonbonniere, in der Zuckertüte erhalten, die man der Hausfrau oder den Kindern mitbringt. In England wird diese Sitte des Beitrags zur Mahlzeit noch ganz gewissenhaft gepflegt, auch in den höchsten Kreisen. Wenn der deutsche Kaiser an den englischen Hof geht, so bringt er, wie in den Zeitungen zu lesen ist, immer einen gefüllten Schweinskopf mit. Das ist noch das alte Picknick.

Zuerst kamen die Waldmänner, die beiden Australier, mit einem ganzen Sack voll Eiern und auch mit einigen erlegten Papageien, die ganz vorzüglich schmeckten.

Dann kam Hagen anspaziert, natürlich Fische mitbringend, deren Schuppen er noch an seinen langen Stiefeln kleben hatte.

Zuletzt tauchten Littlelu und Wilhelm auf, schwerbepackt, auch ersterer schleppte aus Leibeskräften.

»Was bringen denn Sie mit, Littlelu?«

Der Gefragte schnürte stolz einen großen Sack auf.

»Hier die ersten selbstgezogenen Kartoffeln! Meine eigene Sorte. Pommerana Littlelala. Eben erst aus der Erde gebuddelt(4).«

(4) Im Original heißt es ›gepaddelt‹.

»Das geht doch bei Ihnen recht fix?!«, wurde gelacht. »Vorgestern haben Sie die auseinandergeschnittenen Kartoffeln doch erst gesteckt?!«

»Ja, bei mir wachsen die Kartoffeln eben sehr fix! Arbeiten Sie aber auch einmal so fix wie ich. Sogar die ganze Nacht habe ich den Daumen gehalten! Was, diese Kartoffeln sollen vom Schiffe her sein? Sie sehen doch, hier klebt doch noch der ganze Dreck dran. Was, den Dreck hätte ich künstlich drangeschmiert? Nee, das ist Pommerana Littlelala, in zwei Tagen gewachsen.«

»Und was ist hier drin?«

Das Paket enthielt Spargel, schöne, dicke Stangen.

»Das ist der erste, den ich heute gestochen habe. Wie weit ist denn Ihr Spargel? Ach jeh, ach jeh, von dem ist ja überhaupt noch gar nischt zu sehen. Hier mein Spargel! Und wäre Wilhelm nicht so langsam, dann wäre er noch viel größer —«

»Der Spargel ist ja schon gekocht?!«

»Natürlich, bei mir wächst er gleich gekocht. Ich gieße mit heißem Wasser.«

»Und Schweizerkäse?«

»Schweizerkäse? Das ist Kängurukäse! Und hier selbstgemachte Kängurubutter. Haben Sie meine Kängurumolkerei noch nicht gesehen? Das ist großartig! Wenn ich jeden Morgen an die tausend Kängurus melke! Ach, Hagen, gehen Sie doch weg mit Ihren paar lumpigen Fischen! Das sind ja Süßwasserheringe. Hier drei Pfund Lachs, selber gefangen und geräuchert. Und hier eine Schachtel Kaviar. Haben Sie schon meine Kaviarsalzerei gesehen? Wie weit ist denn Ihr Tabak, Herr Graf? Ach jeh, ach jeh! Das scheint mir übrigens mehr Petersilie zu sein, aber kein Tabak! Hier, wie ich schon gearbeitet habe, ich bringe gleich eine ganze Kiste Zigarren mit! Und hier eine Buttel Whisky —«

»Wo haben Sie denn die an Bord gefunden?!«, rief Hagen mit freudigem Staunen. »Ich habe doch das ganze Schiff durchsucht —«

»Was, an Bord gefunden?! Dieser Whisky ist das erste Erzeugnis aus meiner Kornbranntweinbrennerei! Und wenn ich diesen Whisky wirklich an Bord gefunden hätte, dann würde ich's gerade Ihnen verraten, denn wenn ich wieder hinkäme, wäre doch keine einzige Flasche mehr da. Und Ihnen, Frau Gräfin, bringe ich speziell eine Tafel Schokolade mit, aus meiner eigenen Schokoladenmanufaktur. Wenn Sie darauf ›Suchard, Paris‹ lesen, so lassen Sie sich dadurch nicht beirren, das ist nur ein Druckfehler. Und beachten Sie auch die Verpackung, die hat mir das meiste Kopfzerbrechen gemacht, ganz besonders die Herstellung des Stanniols.«

Und so ging es weiter, auch noch, als sie schon um das Feuer saßen und kochten und aßen. Der Proviant des Schiffes musste ja natürlich noch tüchtig herhalten, würde es noch jahrelang müssen.

Aber sie fühlten sich doch schon als Kolonisten, die auf sich selbst angewiesen waren, sich selbst ernährten, so weit es vorläufig ging, und sie waren glücklich in diesem Gedanken.

»Ach«, sagte Arno, »wenn ich einmal der Herrgott wäre — ich würde die Erde noch einmal schaffen — alle Festländer in lauter kleine Inselchen zerteilen — in hundert Millionen Inselchen und noch mehr, sodass auf jeder Insel eine Familie leben könnte.«

»Jawohl«, setzte Littlelu hinzu. »und an jedem Inselchen so ein Schiff von 35 000 Tonnen, so vollgepfropft wie unseres, mit allem, was der Mensch braucht. Nicht wahr?«

Aber auch über Ernsteres wurde gesprochen, obgleich noch immer über dasselbe Thema.

Es geht wieder einmal ein besonderer Zug, ein besonderer Geist durch die ganze zivilisierte Menschheit.

Zurück zur Natur!

Das ist das Losungswort.

Aber nicht in dem Sinne gemeint, wie es einst Rousseau gesprochen hat.

Nicht in jenem Sinne, wie heute die Schweizreisenden, die aus allen Tälern Hospitäler machen, nicht im Sinne der Bergkraxler und Kilometerfresser.

Obschon dies alles mit dazu gehört, es ist schon die Einleitung zum Ideal.

Jenes Ideal, welches am eingehendsten der Franzose Proudhon skizziert hat: alles Land in kleine Gevierte zu teilen und auf jedem eine Familie anzusiedeln.

Ist das eine Utopie, eine Unmöglichkeit?

Die Sehnsucht dazu ist vorhanden, und das ist die Hauptsache.

Erst die Sehnsucht, dann der Vorsatz, dann der Wille — dann kommt die Ausführung von ganz allein.

Was ist es denn, was so viele pensionierte Beamte hinauszieht aufs Land, in die Vorstadt, um da auf einer kleinen Scholle Geflügel- und Karnickelzucht zu treiben?

Weshalb entstehen denn alle die Schrebergärten, die Gartenvereine?

Zu Proudhons Zeiten war dies alles Utopie, da dachte niemand an so etwas.

Und heute? Wenn heute bei Berlin ein Feld, ein Bauplatz einstweilen zu Gartenzwecken verpachtet wird, da kommen sie in Scharen angeströmt, mit Spaten, Hammer, Nagelkasten und mit Brettern.

Und erstaunlich ist es, zu beobachten, wie diese Männer, die meist alles andere als Bauhandwerker sind, ihre Lauben, ganze Häuserchen entstehen lassen, mit welcher Geschicklichkeit, mit welcher Intelligenz, ja sogar mit welchem Kunstgeschmack!

Und tief nachdenklich kann man werden, wenn man weiter beobachtet, wie sich die Männer dabei gegenseitig bei der Arbeit helfen — Leute, die sich sonst gar nicht kennen! Mit einem Male ist alles eine Brüderlichkeit, alles eine Hilfsbereitschaft!

Ja, da kann man sehr nachdenklich werden!


Kindertraum, Kinderspiel,
Wollet sie nicht verspotten...


Sind wir alle denn nicht große Kinder? Närrische Kinder?

Wir jagen nach Erfolg, nach Geld, nach Ehre — wir jagen nach einem schillernden Phantom und rennen immer am wahren Glück vorbei.

An jenem wahren Glücke, das einzig und allein in freudiger Arbeit mit genügsamer Zufriedenheit liegt.

Wenn man an einem frühen Frühlingsmorgen im Parke spazieren geht, da jubeln die Vöglein, aber die Arbeiter, denen man begegnet, die haben alle — — traurige Apothekerbüchsengesichter, sagt Carlyle.

Erst wenn der verfluchte Frondienst vorüber ist, wenn sie noch spät des Abends, obgleich schon hundemüde, auf ihrer eigenen, wenn auch nur gepachteten Scholle zimmern und graben, da sieht man diese Gesichter wieder glücklich leuchten.

*

So und ähnlich unterhielten sich unsere Kolonisten beim Picknick.

Aber auch von ihrer eigenen Zukunft sprachen sie, was sie alles noch hier schaffen wollten, in welcher Reihenfolge es geschehen musste.

Wollten sie sich immer unabhängiger von dem Schiffsproviant machen, so mussten sie erst eine wirkliche Brotfrucht bauen, was aber doch am besten mit vereinten Kräften ging.

Doch so sehr auf bäuerische Arbeit waren sie ja nicht gerade erpicht, das war wieder etwas ganz anderes.

Hiermit wollten sie warten, bis Mephistopheles zurückkam, die Japaner vom Sklavensee und wahrscheinlich auch seine eigenen Leute von Chilos mitbringend. Wenn sich diese letzteren unterdessen dort eingefunden hatten, an der amerikanischen Küste, wo er sie hinbestellt hatte.

Denn Mephistopheles, den man als einen immer besseren Teufel kennen lernte, war gleich in den ersten Tagen mit dem Walfisch zurück nach San Francisco gefahren, nach dem Sklavensee.

Atalanta war damit einverstanden gewesen, dass er alle dortigen Einrichtungen, alle seine Sammlungen und Museen und mechanischen Spielereien mit hierher brachte, weil dort ja alles dem Untergange geweiht gewesen wäre. Natürlich konnte dies nur nach und nach geschehen.

Wo dies alles hier aufzustellen war, das musste noch überlegt werden, solche große Höhlen wie dort am Sklavensee gab es hier nicht, und derartige mächtige Gebäude, die dazu nötig gewesen, erst auszuführen, daran war nicht zu denken, oder es hätten Hunderte von Kolonisten als Bauhandwerker herbeigezogen werden müssen, woran Atalanta gar nicht dachte.

Gut aber war es, wenn man hier den elektrischen Apparat hatte, mit dem Omnihilitplatten gegossen wurden. Mit solchen Platten konnte hier schneller etwas geschaffen werden, und was ihr gehörte, was ihr zur Verfügung stand, das wollte Atalanta nun auch benutzen — hier, wo sie nicht mehr zu fürchten brauchte, dass es feindliche Mächte auf solche Erfindungen abgesehen hätten. Dann vor allen Dingen sollte das Unterseeboot auch einige Rinder, Schafe und sonstige Tiere mitbringen, die man hier zu züchten gedachte.

Die weitere Entwicklung der Insel blieb der Zukunft überlassen, erst musste das Unterseeboot zurück sein.


ENDE VON BAND 4


Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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