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ROBERT KRAFT

ATALANTA

DIE GEHEIMNISSE DES SKLAVENSEES

BAND 2

Cover Image

RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software


Ex Libris

Erstveröffentlichung als Kolportageroman
in 60 Lieferungen unter dem Titel
Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees,
Dresdner Roman-Verlag, 1911

Überarbeitete Neuauflage
6 Bände in neuer deutschen Rechtschreibung
Verlag Dieter von Reeken, Lüneburg, 2023-2024

Druckvorlage für den Gesamtroman
Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees
Lieferungs-Roman von Robert Kraft,
Dresdner Roman-Verlag, 1911
(60 Lieferungen)

Diese E-Buchausgabe: Roy Glashan's Library, 2024
Fassung vom: 2024-11-23

Erstellt von Matthias Kaether und Roy Glashan

Textquelle: Verlag Dieter von Reeken
(Mit freundlicher Genehmigung des Verlegers)

Abbildungsnachweis:
Thomas Braatz, Leipzig (Archiv):
Einbandrückseite Dresdner Roman-Verlag
und unbekannter Zeichner
Einbandvorderseite und sämtliche Illustrationen im Text

Umschlagvorderseite:
Robert Kraft: Atalanta. Die Geheimnisse des Sklavensees
Dresdner Roman-Verlag (Druck und Verlag) 1911
koloriertes Frontispiz der Lieferung 18

Korrektur:
Mike Neider, Ellen Radszat und Dieter von Reeken

Herausgeber und Verlag der DvR-Buchreihe:
Dieter von Reeken, Brüder-Grimm-Straße 10, 21337 Lüneburg
www.dieter-von-reeken.de

Alle von RGL hinzugefügte Inhalte sind urheberrechtlich geschützt

Link zu weiteren Werken dieses Autors



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Atalanta, Cover von Lieferung 42


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Atalanta, Band 2
Verlag Dieter von Reeken, 2023


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Portrait von Atalanta

INHALTSVERZEICHNIS

Lieferung 11

Die zweite Höhle - Der Überfall - Ein anderer Sklavensee - Anderthalb Jahre später

Lieferung 12

Mephistopheles - Illusionen des Teufels - Die Camera obscura - Neue Funde

Lieferung 13

Die Zauberdose - Ein Vorschlag zu neuem Leben - Das Meutererschiff - Zum Piraten geworden! - Die Desperados

Lieferung 14

Der Parlamentär und ein Schuss - Unterirdische Flüsse - Im Unterseeboot - Unheimliche Entdeckungen

Lieferung 15

Unterseeische Wunder - Eine fremde Stimme, Tränen und ein Jubelschrei - Die Wahrheit kommt an den Tag - Der Brahmane - Zwei lebende Bilder - Die gesperrte Camera und eine Warnung

Lieferung 16

In der Falle - Durch Mitleid besiegt! - Der Anschlag missglückt - »Das ist der Mann!« - Unter falscher Flagge

Lieferung 17

Was soll ich? - Eine Elefantenjagd an Bord - Ein sagenhaftes Land - Ein heroischer Entschluss - Die Riesenschlange - Schicksalsfügung - Etwas von der Abgottschlange

Lieferung 18

Monsieur Bertrand - Der Sturz in die Tiefe - In der Schlangenhöhle - Der Zweikampf im Urwald

Lieferung 19

Wieder verschwunden! - Ein Licht in der Finsternis - Ein neuer Auftrag - Der gelbe Geier - Auf dem Dschurdschura

Lieferung 20

Eine Entführung - Der Herr der Erde - Das Ende der Herrlichkeit


Lieferung 11


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Der Wirbelsturm erfasste die Reiter samt ihren
Kamelen und Pferden und vor Atalantas Augen spielte
sich mit Blitzesschnelligkeit ein grässliches Ereignis ab.


Die zweite Höhle

Sie klappten den Deckel wieder zu, verließen die Höhle und türmten auch die Steine wieder auf. »Ja, wie kann aber nur jener Rabbi Eleazar etwas davon gewusst haben?«, meinte Arno bei dieser Arbeit einmal. »Denn dass er dieses Versteck durch astrologische Berechnung der Sterne bestimmt hat, daran glaubt doch heute kein Mensch mehr.«

»Bitte, lieber Arno, hierüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Wenn eine Erklärung möglich ist, so kann sie nur mit der Zeit kühle Überlegung bringen. Ich freue mich jetzt auf eine Schüssel Reis, unter meinem Proviant habe ich auch noch einige Bouillontafeln.«

Bald war das Werk vollendet. Atalanta betrachtete den Steinaufbau von unten und nickte zufrieden. Kein Beduinenauge konnte erkennen, dass diese Steine schon einmal weggeräumt worden waren. Sadis Verschwiegenheit würde man sich schon noch zu sichern wissen. Jetzt war der alte Mann noch viel zu kopfscheu.

Unterwegs packte Atalanta wieder ihre Instrumente zusammen und nahm den Koffer mit. Dann begab man sich in jene Höhle, welche unterdessen von dem jungen Beduinen etwas wohnlich eingerichtet worden war. Hier wurde vor dem Eingange in einem Kessel über Kameldünger Reis gekocht, an dessen Geschmack nach Hinzufügung einer großen Bouillontafel nichts auszusetzen war.

Als die Mahlzeit beendet, war es noch immer früher Nachmittag.

»Jetzt«, schlug Atalanta vor, »wollen wir die Umgebung nach Spuren absuchen, die darauf schließen lassen, dass erst kürzlich Menschen hier gewesen sind. Ihr beide, Hammid und Sadi, könnt ja getrennt gehen, ich möchte mit meinen Freunden zusammen bleiben. Es ist wohl am besten so.«

Es geschah. Die beiden Beduinen drangen gleich tiefer in die Schluchten ein, während sich die drei Freunde wieder nach dem Tale wandten.

Als sie dieses, aber noch in der Schlucht stehend, schon halb überblicken konnten, wartete ihrer eine große Überraschung.

Die Szenerie hatte sich total geändert. Während der halben Stunde hatte eine stattliche Karawane ihren Einzug in das Tal gehalten, in dem jetzt bedeutend breiter gewordenen Schatten der Felswand lagerten wenigstens anderthalb Dutzend Kamele, noch viel mehr arabische Gestalten trieben sich herum, und wenn sie aus dem Jordanstale gekommen, so hatten sie ja auch zu Fuß marschieren können, das war ja keine drei geografische Meilen von hier entfernt, auch waren schon einige Zelte aufgeschlagen.

Das Hauptinteresse der Beobachter aber wurde von einer Gruppe Männer gefesselt, die keine Burnusse, sondern moderne, weiße oder gelbe Tropenkostüme trugen. Sie standen von der Felswand etwas weiter entfernt, einige von ihnen visierten mit blitzenden Instrumenten nach der Sonne, auch sie hatten solch ein Stativ mit Fernrohr aufgebaut. Die Unbeschäftigten waren aufmerksame Zuschauer.

»Da sind schon unsere Juden!«, flüsterte Arno.

»Jawohl, und dort spaziert auch mein Levi Cohen herum. Den werde ich mir gleich vornehmen. Bitte, lasst mich erst allein — — — nein, kommt gleich mit, den Spaß sollt auch Ihr miterleben. Lasst die Gesichtsschleier herab.«

Also es waren drei Beduinen, welche aus der Schlucht hervorkamen. Da sich nun schon viele arabische Diener und auch echte Beduinen herumtrieben, so fiel ihr Kommen gar nicht auf.

Unter den Zuschauern befand sich ein Mann, der in seinem neuen Tropenkostüm einen recht kläglichen Eindruck machte. Es war viel zu weit, schlotterte um die kleine, hagere Gestalt, die sich gebückt hielt, auch der Tropenhelm war ihm viel zu groß.

Er stand gerade etwas abseits, und auf ihn steuerte der erste der Beduinen los, denen er aber den Rücken zudrehte.

Da wurde ihm von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt und eine wohlklingende Stimme sagte:

»Guten Tag, Mister Levi Cohen.«

Der Angeredete fuhr schnell herum, er musste erst den Korkhelm aus dem blassen, hageren, immer noch verhungerten Gesicht rücken, ehe er den Beduinen richtig sehen konnte.

»Guten Tag, Sir!«, erwiderte der jüdische Gelehrte etwas zögernd.

»Sie kennen mich wohl nicht mehr?«

»Wie soll ich Sie kennen, wenn Sie haben verhüllt Ihr Gesicht?«

»Ah, verzeihen Sie...«

Atalanta schlug den Schleier zurück. Aber die blöden Augen des Gelehrten erkannten das Gesicht nicht wieder.

»Immer noch nicht? Wie weit ist denn die Übersetzung meiner altspanischen Schrift?«

Da freilich erkannte der vereidigte Gerichtsdolmetscher seine Klientin wieder. Sicherlich war sein Schreck ein kolossaler, aber dieser Asket geistiger Arbeit hatte sich außerordentlich in der Gewalt. Nur ein Zusammenzucken, dann wandte er sich kaltblütig an den ihm nächsten Herrn, der auf sehr krummen Beinen einen Schmerbauch balancierte und auf einer sehr krummen Nase einen Klemmer.

»Mister Ephraim, hier ist die Person, die mir gebracht hat damals das Pergament zum Übersetzen.«

Der Herr Ephraim bekam auch einen kleinen Schreck, oder war es nur Überraschung? Denn alle diese Herren, die hier versammelt waren und alle im Typus eine so große Ähnlichkeit hatten, fürchteten keinen Kampf, in dem die gefährlichste Waffe nur die Zunge ist.

»Sie?!«

»Ja, ich!«

»Sie haben gebracht damals diesem Herrn hier das spanische Schriftstück?«

»Ja. doch, das war ich!«

»Ja, wo haben Sie denn gesteckt? Der Herr hier musste plötzlich machen eine Reise und hat Sie dann gesucht überall vergeblich. Wegen Ihnen haben wir verannonciert 200 Dollars. Können Sie mir zurückerstatten die 200 Dollars?«

Hinter dem Gesichtsschleier des kleinen Beduinen erklang ein grunzender Laut. Aber auch Arno hätte hellauf lachen mögen.

Jetzt drehte der auch gleich den Spieß herum. Genau so, wie es damals Professor Dodd getan hatte. Vorausgesetzt, dass Atalanta in Bezug auf diesen letzteren wirklich recht hatte.

»Können Sie mir zurückerstatten die 200 Dollars, die ich habe ausgegeben, um zu erfahren Ihre Adresse?«

»Nein, und ich werde es auch nicht tun!«

»Sie wollen nicht? Sehen Sie kommen dort die vielen Reiter?«

Aus der nächsten Schlucht erschienen soeben gegen drei Dutzend Reiter, eine Art von Uniform tragend, aber eher wie Vagabunden aussehend als wie Soldaten, doch bis an die Zähne bewaffnet.

»Wissen Sie, was das sind? Das sind Arnauten. Wissen Sie, was sind Arnauten? Das sind türkische Polizeisoldaten. An ihrer Spitze reitet ein Hauptmann, der gehorchen tut dem Sultan von der Türkei, und wir haben einen Ferman von dem Sultan von der ganzen Türkei, wozu auch das gehört, worauf wir stehen — und wenn ich jetzt kommandiere dem Hauptmann: hau den zusammen — so kommandiert der Hauptmann: haut ihn zusammen! — und allsogleich ziehen die Soldaten ihre großen Säbel aus der Scheide und hauen zusammen den, auf den ich hab gedeutet — — und wenn ich kommandiere dem Hauptmann: hau jenen zusammen — so kommandiert der Hauptmann seinen Soldaten: haut jenen zusammen — und allsogleich ziehen die Soldaten wieder ihre großen Säbel...«

»Mister Ephraim, wollen wir nicht anders zusammen verhandeln?«

Der fürchterliche Zusammenhauer starrte aus seinen runden Eulenaugen die dreiste Sprecherin an, die ihn zu unterbrechen gewagt hatte.

Diese Pause benutzte der kleine Beduine, um dem großen zuzuflüstern:

»Der Mann hat seinen Beruf verfehlt, das ist ein Stratege, ein geborener Schlachtenlenker, der muss Generalfeldmarschall werden.«

Jetzt hatte der Schlachtenlenker überlegt, was er antworten sollte.

»Handeln? Handeln? Na, da schlagen Sie was vor. Ich lasse mit mir handeln. Jeder Mensch lässt handeln mit sich. Gut, ich werde sehen, was ich kann tun für Sie wegen die 200 Dollars, bleiben Sie stehen hier einen Augenblick.«

Er sprach mit den andern Herren. Die wussten ja nun schon, was hier vorlag. Es ging sehr schnell, Mister Ephraim blieb der Sprecher.

»Kommen Sie mit, dass wir nicht kriegen hier einen Stich von die Sonn.«

Sie betraten das größte Zelt, das einen Tisch und mehrere Klappstühle enthielt, ein halbes Dutzend waren gefolgt, auch die beiden Beduinen.

»Wer sind denn diese beiden Männer da? Was haben die vermummt ihre Gesichter?«

»Das haben sie hier nicht mehr nötig, wo die Sonne sie nicht mehr blendet, denn sie können jedem Menschen frei ins Auge blicken. Das ist mein Gatte, Graf Arno von Felsmark, und das ist unser Freund, Mister Maxim.«

Gar keine Überraschung.

»Na schön. Dass Sie gewesen sind die Atalanta, die gehopst ist im Zirkus von der Decke bis herunter auf den Boden, wissen wir ja, und auch, dass Sie haben geheiratet den Grafen Felsmark. Und wir alle hier sind freie Bürger der Vereinigten Staaten und haben einen Ferman vom türkischen Sultan, dem gehört dieses Land, so jetzt heißet Palästina. Na schön — Sie können setzen sich, dass Ihnen nicht weh tun werden die Bein und die Füß.«

Sie setzten sich. Je länger Mister Ephraim sprach, desto mehr fing er an zu mauscheln, was auch im Englischen ganz vortrefflich geht. Und jetzt machte er es kurz, mit Umgehung jeglicher Einleitung.

»Na schön — also was wollen Se haben für das Papierche?«

Und die Indianerin machte es ebenso kurz.

»Hundert Millionen Dollars.«

Das war nun freilich nicht erwartet worden.

»Sie sind wohl hundert Millionen mal meschukke?!«

»Mister Ephraim, ich verbitte mir...«

»Na schön. Wissen Se denn, was auf dem Papierche gestanden hat?«

»Hier am Pisgaberge soll etwas vergraben sein...«

»Aber ich bitt Sie, welcher vernünftige Mensch wird vergraben etwas in so einer Wüste!«

»Nun, hier im Pisgagebirge ist doch zum Beispiel Moses begraben.«

Der Jude nickte mehrmals mit einer Energie, dass man fürchten konnte, sein Kopf möchte vom Halse knicken.

»Na schön! Recht so! So ist's richtig! Der Moses liegt hier begraben. Und wo er begraben worden ist hier, was hat gewusst noch kein Mensch, das hat auf dem Papierche gestanden. Was aber is der Moses heite? Was soll 'r sein mehr als Knochen. Was wolln Se anfangen mit die Knochen. Geben Se uns die Knochen.«

»All right!«, wurde draußen gerufen.

Alle die jüdischen Herren sprangen empor.

»Also was wolln Se haben für das Papierche, dass die Sache ist in Ordnung, dass Sie uns später machen können keine Vorwürf, weil wir sind Ehrenleit, die halten auf ein sauberes Geschäft«, drängte Ephraim, der schon einen Fuß nach dem Zeltausgang gesetzt hatte.

»Geben mir die Herren alle ihre Ringe, die sie auf den Fingern tragen, dann soll die Sache ein für alle Mal erledigt sein.«

Es war ein merkwürdiges Verlangen, einem merkwürdigen Gedanken entspringend.

Oder auch nicht.

Alle diese Juden waren kluge, welterfahrene Menschen, das musste man ihnen wohl lassen. Deshalb fanden gerade diese solch eine Forderung gar nicht so seltsam.

Alle Menschen, die sich noch dem Naturzustande nähern, haben eine große Vorliebe für glitzernden Schmuck, wobei es auf den Wert gar nicht ankommt. Der von der Kultur unbeleckte Neger Afrikas wie Australiens greift wie der asiatische Tschuktsche lieber nach dem glitzernden Groschenring als nach dem blinden Goldstück, selbst wenn er die tatsächlichen Werte der beiden Gegenstände kennt. Dieser Wert existiert aber nur für uns, die wir ihn erst geprägt haben. Der Naturmensch wertet anders und streng genommen auch richtiger. Er wertet mit ganz unbefangenem Blick. Denn der Wert jeder Sache ist eigentlich doch eine ganz persönliche Anschauung.

Es war eine Indianerin, die diese Forderung stellte, und es war ein Weib.

Dass nun die »Damen« nach einem schönen Ringe oder sonst einem blitzenden Schmuck plötzlich das heftigste Verlangen haben können, während eine gleiche Geldsumme sie ganz kalt lassen würde, das wissen weltgewandte Don Juans manchmal klug auszunutzen. Nur auf die Erfassung des Augenblicks kommt es an.

»All right, wir marschieren ab!«, erklang es draußen wieder.

Dieser Ruf beendete das letzte Zaudern und Überlegen des Juden.

»Na schön.«

Und er streifte und drehte einen prächtigen Diamant-und einen anderen Edelsteinring sowie einen dicken Siegelring von den Fingern.

»Hier haben Se. Einen schriftlichen Kontrakt braucht's wohl nicht, wir sind genug Zeugen...«

»Nein, etwas Schriftliches braucht es nicht, aber den vierten Ring will ich auch noch haben.«

Es war ein einfacher Goldreif, der Trauring, und jetzt stutzte der Jude doch.

»Was wolln Se mit meinem Trauring...«

»Ich will alle Ringe, die ich hier sehe.«

»Kommen die Herren denn nun endlich?!«, rief jemand zum Zelt herein. »Mister Harrison rückt schon ab.«

»Na schön.«

Die Indianerin erhielt auch den Trauring und ebenso die sämtlichen Ringe von allen den anderen Herren, die sich im Zelte befanden. Wenn auch noch einige Einwendungen gemacht wurden, weil manches alte Erbstück darunter sein mochte, so wurde das letzte Sträuben doch schnell aufgegeben, nur dass man hinauskam.

Draußen hatten noch andere Herren gestanden, die Berechnung war ja fortgesetzt worden, jetzt setzte sich der ganze Trupp in Bewegung, Atalanta schloss sich ihnen mit ihren Gefährten an.

»Weshalb hast Du nur gerade die Ringe gefordert?«, fragte Arno unterwegs. »Das verstehe ich nicht recht.«

»Es war ein plötzlicher Einfall. Dass diese reichen Juden, amerikanische Geldfürsten, mir eine große Summe bezahlen würden, um die unangenehme Sache wegen Entwendung des Pergaments in Güte beizulegen, das setzte ich ja voraus. Da fiel mir ein, von ihnen etwas zu fordern, was ich dann immer als Beweis gegen sie vorzeigen könnte, dass sie sich mit mir in ein unsauberes Geschäft eingelassen haben — unsauber ihrerseits. Da waren zum Beispiel ihre Fingerringe. Ich stellte diese Forderung in der Annahme, dass sie niemals darauf eingehen würden. Lieber einen Scheck über Millionen. Dass sie mir aber ihre Ringe doch gleich gaben, das setzte allerdings auch mich erst in grenzenloses Erstaunen. Dann freilich sah ich gleich ganz klar.«

»Was denn? Ich weiß immer noch nicht, wo Du eigentlich hinaus willst!«

»Ahnst Du denn nichts, Arno?«

»Nein, was denn nur?«

»So wirst Du es gleich mit eigenen Augen sehen oder ich müsste mich einmal gewaltig geirrt haben.«

Der Trupp hatte das berechnete Ziel erreicht. Es war gleichfalls die steinige Böschung. Da aber nun zwischen dem Sonnenstande des 7. Februars und des 7. Novembers doch ein gewaltiger Unterschied ist, so war die nach jener Schattentransmutation berechnete Stelle natürlich weit entfernt von der, an welcher die drei vorhin die Steine beseitigt hatten.

Aber auch hier flogen die Steine unter geschäftigem Händen zur Seite, und auch hier wurde bald der Zugang zu einer Höhle freigelegt.

»Wahrhaftig, auch hier ist eine Höhle!«, staunte Arno.

»Und Du wunderst Dich wirklich darüber?! Begreifst Du denn immer noch nicht?!«

Sie drängte sich vor, schloss sich den mit brennenden Laternen Eindringenden an, Arno mit sich ziehend.

Und da schauten sie in dieser zweiten Höhle heute das zweite Wunder!

Da standen in dieser Höhle gleichfalls zwei goldene Cherubim und daneben stand gleichfalls eine goldene Truhe von zwei und einer halben Elle Länge und ein und einer halben Elle Höhe und Breite, fast genau so wie jene, und durch die Ringe gingen gleichfalls zwei Tragstangen!

»Jehova, die Bundeslade Deines Volkes!!«

Nicht nur Mister Ephraim war überwältigt in die Knie gesunken, der aber war es, der jetzt mit erhobenen Händen auch gleich zu beten anfing.

»Gott meiner Väter, Du Gott Israels, endlich hast Du...«

Er kam nicht weiter.

»Halt!« rief eine schneidende Stimme. Und in den Kreis der Knienden trat Atalanta, ihr Antlitz war noch dunkler geworden vor Entrüstung, und mit derselben schneidenden Stimme fuhr sie fort:

»O ungeheuerlicher Frevel! Ich bin nicht religiös, ich bin nur dem Namen nach eine Christin — aber mein Gewissen duldet es nicht, dass hier gegen das Heiligste, was Millionen von aufrichtigen Menschen kennen, gefrevelt wird — dass ihr solch einen ungeheuerlichen Betrug in die Welt setzt. Indirekt bin ich mitschuldig, indem ich jenes Pergament erst gefälscht habe. Aber das geht niemanden etwas an, ich hätte es nicht aus den Händen gegeben, Ihr habt es mir gestohlen. Und nun werde ich der Welt öffentlich verkünden: Ihr habt diese Bundeslade erst anfertigen lassen, habt sie erst hierher gebracht — Ihr habt Eure Glaubensgenossen und alle Welt und sogar Euren Gott betrügen wollen — — — pfui, Schande über Euch! Kommt!«

Sie schritt hinaus, sich nicht darum kümmernd, was ihre Worte hinter ihr für einen Eindruck zurückließen

Der Überfall

Die drei Freunde befanden sich wieder in ihrer Grotte. Die beiden Beduinen waren abwesend.

Erst jetzt kam es zur Aussprache. Unterwegs hatte die Indianerin ihre Aufregung einmal nicht zu bemeistern gesucht.

»Das ist ja der großartigste Humbug, der je in die Welt gesetzt worden ist!«, lachte Littlelu aus vollem Halse.

Der geneigte Leser bedarf wohl weiter keiner Erklärung.

Aber die drei sollten gleich noch eine bekommen.

Hammid trat ein, der junge Beduine trug ein Brett unter dem Arm, ihm nach folgte Sadi, der für jenen, der nur Arabisch konnte, den Sprecher machte.

»Hammid hat Spuren gefunden, dass erst vor kurzem Franken hier gewesen sein müssen. In einer tiefen Kesselschlucht lag eine große Kiste, ganz zerschmettert. Hammid kletterte mit größter Gefahr hinab, um näher zu untersuchen, er fand nichts anderes als lose zusammenhängende Bretter, das eine brachte er mit herauf, weil etwas darauf steht, was wir nicht lesen können, hier...«

Das Brett wurde herumgedreht, und da stand mit schwarzen Lettern: New York 404.

»New York 404! Die große Kiste mit dem vermeintlichen Pianino in der Pulverkammer des ›Albatros‹!«

»Wir haben die Bundeslade selber mit herübergebracht, wenigstens bis nach Algier, das wird ja immer köstlicher!«, wurde gelacht.

»Ja, wie kann die aber so schnell hier sein?«, meinte Arno nur noch. »Das alles hat doch Zeit erfordert.«

»Nun«, entgegnete Atalanta, »Zeit genug haben wir diesen Herren doch gelassen. Zuerst haben sie natürlich jemanden hierher geschickt, um zu sehen, ob nicht doch vielleicht die Bundeslade zu finden sei. Als dies nicht der Fall war, entstand in ihnen der Plan zu dem großartigen Betruge. So ein paar Engel und so einen Kasten zu machen, das ist doch heutzutage für eine dafür eingerichtete Fabrik oder Werkstatt eine Kleinigkeit, das ist in acht Tagen fix und fertig. Wenn nur das dazu nötige Geld geliefert wird. Und daran fehlt es ja diesen amerikanischen Geldfürsten nicht, die doch überhaupt gar nichts dabei riskieren, vielmehr damit ein Bombengeschäft machen wollten.

Zu diesen Vorbereitungen hatten wir ihnen also doch wirklich Zeit genug gelassen. Nur mit dem Herschicken der Kiste wären sie beinahe zu spät gekommen. Das heißt, nur von unserer Seite aus betrachtet. Jedenfalls aber wollten auch sie sich so sehr wie möglich beeilen. Sobald die Bundeslade fertig war, wurde sie mit der ersten Gelegenheit befördert. Das war der nach Algier gehende ›Albatros‹. Weshalb gerade nach Algier? Nun, habt Ihr im Hafen von Algier nicht die Dampfjacht mit der amerikanischen Flagge liegen sehen? Diese, wahrscheinlich im Mittelmeer kreuzend, war schon hinbestellt worden, ihr Besitzer gehört mit zu dieser sauberen Kompagnie. Diese schnelle Dampfjacht hat die Kiste dann sofort nach Jaffa weiterbefördert, dann mit der Eisenbahn nach Jerusalem, von dort bis hierher ist es ja gar nicht so weit — während wir mit dem langsamen Dampfer an der Küste hinklepperten... ach, die haben ja fast eine ganze Woche Vorsprung gehabt! Und dann haben sie die imitierte Bundeslade in einer Höhle aufgebaut, deren Lage wenigstens so ungefähr der von mir fälschlich eingetragenen Bestimmung entsprach.«

So war es gewesen! Nun war auch noch die letzte Erklärung gegeben.

»Ja, aber nun jene erste Bundeslade, die wir gefunden haben?«, fragte Arno.

»Graf, da ahnt mir nun auch gleich etwas!«, rief Littlelu.

»Und mir nämlich auch!«, stimmte jener bei.

»Und ich möchte Eure Ahnung gleich als Gewissheit bestätigen!«, sagte Atalanta, »Diese schlauen Juden haben, ihnen unbewusst, einen noch schlaueren Vorgänger gehabt. Die Sache mit jener Bundeslade, die man für echt halten möchte, ist nun wieder von Professor Dodd arrangiert worden. Oder meinetwegen denkt an jenen anderen, wenn Ihr diesem edlen Professor so etwas nicht zutraut. Der hat zuerst die Idee gehabt, so einen großartigen Betrug in die Welt zu setzen. Das hat der aber ganz anders vorbereitet. Erst sollte irgend jemand den Zettel mit jenen geografischen Ortsbestimmungen finden. Nach diesem wurde die Schnupftabaksdose mit dem Pergament des geheimnisvollen Rabbi Eleazar in dem Brunnen gefunden. Und dann schließlich hier die Bundeslade der Juden. Natürlich ebenfalls imitiert. Wozu dies? Na, entweder wollte Dodd, oder wie er heißt, hierbei ein Heidengeld verdienen, oder, da er hiervon schon genug zu haben scheint, er wollte eben die ganze Welt veralbern, was ebenfalls eine Liebhaberei von ihm zu sein scheint.«

Die beiden andern konnten diesen Ausführungen nur beistimmen.

»Bleiben wir aber bei der jetzt gefundenen Bundeslade«, sagte dann Arno, »was werden jene Herren nun tun?«

»Was sollen sie tun?«

»Sollten sie den ganzen Plan nun gleich aufgeben?«

»Was bleibt ihnen anderes übrig?«

»Sie haben Arnauten bei sich, mit deren willenlosem Gehorsam jener Ephraim schon einmal geprahlt hat, und diese türkischen Polizeisoldaten sind bekanntlich zu allem fähig, sie sind ja auch als Steuereintreiber nichts weiter als gesetzlich privilegierte Räuber, Verbrecher...«

»Nein. Erstens werden diese amerikanischen Großkaufleute, ob nun Juden oder nicht, niemals einen anderen zu einem wirklichen Verbrechen verleiten. Dazu sind die doch viel zu schlau. Die werden wegen so einer Geschichte, die ihnen im höchsten Falle eine lumpige Million kostet, doch nicht gleich ihre ganze Existenz aufs Spiel setzen. Zweitens haben meine Erklärung viel zu viel andere gehört, da ist nun gar nichts mehr zu vertuschen.«

»Ja, aber wie wollen die diese fatale Sache nun wieder aus der Welt bringen?«

Gedankenvoll zeichnete die Indianerin mit der Fingerspitze in dem feinen Sande, der den Boden der Grotte bedeckte, ein Schachbrett.

».Nichts einfacher als das. O, ich durchschaue alles, alles. Mir ist förmlich, als ob ich diese jüdischen Herren jetzt reden hörte. O, die sind ja so schlau, so schlau! Die haben doch nicht nur so zufällig die wahre Herrschaft über die ganze Erde an sich gerissen.

Die verdrehen einfach jetzt diese ganze Geschichte in einen guten Witz. Einer muss die Rolle des Sündenbocks übernehmen, der hat seinen Freunden etwas vorgeschwatzt, er wisse, wo der Prophet Jeremias die Bundeslade versteckt habe, so eine hat er imitiert, hat die ganze Gesellschaft zu einer Reise nach Palästina auf seiner Jacht eingeladen.... da kommt ein Diener, und ich könnte doch gleich schwören, dass der uns zu den Herren holt, dass die uns jetzt genau dasselbe erzählen wollen.«

Es war ein Neger, der aber sicher Afrika noch gar nicht gesehen hatte. Einfach ein schwarzer Diener einer amerikanischen Herrschaft. Den Weg hierher hatte er leicht gefunden, man hatte ja beobachtet, in welcher Schlucht die drei verschwunden waren, und er brauchte nur 50 Schritte zu machen, so musste er an dieser offenen Grotte vorüber kommen.

»Mister Ephraim bittet die Herrschaften höflichst, sich noch einmal zu ihm bemühen zu wollen.«

Sie folgten ihm. Die Herren waren noch immer oben in der Höhle bei der Bundeslade.

Schon als die drei Freunde die Böschung hinauf kletterten, hörten sie drin die Stimmen, heftige und vorwurfsvolle, dazwischen immer ein Lachen und spöttische Erwiderungen.

»Ephraim, Sie sind ein ganz gemeiner Mensch!«

»Hahahaha, wie konnten Sie aber auch nur so etwas glauben!«

»Der darf nicht kommen mehr in unsern Klub, den werden wir schmeißen hinaus!«

»Hahahaha — die Hauptsache ist, dass ich meine Wette gewonnen habe!«

»Das war kein guter, das war ein schlechter Witz — Sie werden uns geben an anderer Stelle Rechenschaft.«

Atalanta machte nur eine Handbewegung, die deutlicher als Worte war. »Habe ich es nicht gleich gesagt?«

Und neben der Bundeslade bekam sie nun natürlich erst recht dieselbe Erklärung. Es handelte sich also um einen Witz, Mister Ephraim, dem auch jene Jacht gehörte, hatte seine Klubfreunde mystifizieren wollen.

»Wie sind denn aber Sie zu diesem Pergament gekommen, Frau Gräfin?«

»Das... möchte ich meine Sache bleiben lassen.«

»Das haben erst Sie gefälscht.«

»Nein.«

»Sie haben es ja vorhin selber gesagt.«

»Das war anders gemeint. Ich habe nur in der... hierüber gebe ich Ihnen keine Auskunft.«

»Wollen Sie nicht? Na schön — dann werden wir uns vor Gericht wieder sprechen!«, versuchte der Jude abermals den Spieß herumzudrehen. »Und jetzt geben Sie uns unsere Ringe wieder.«

Atalanta hatte die mehr als 20 Ringe, darunter die kostbarsten Exemplare, Vermögen repräsentierend, bereits in der Hand gehabt.

»Soeben wollte ich Ihnen und Ihrer Sippschaft die Ringe vor die Füße werfen — hier hatte ich sie schon — jetzt aber behalte ich sie — weil Sie mir gedroht haben.«

Und sie ließ die Ringe wieder im Busen verschwinden.

Immer drohender funkelten die runden Eulenaugen.

»Sie wollen mir nicht geben die Ringe?!«

»Nein. Es war ein ganz ehrliches Geschäft.«

»Ich werde rufen meine Arnauten!«

»Machen Sie sich doch nicht lächerlich mit diesen türkischen Soldaten!«


Illustration

Mit einem Satze seiner krummen Beine sprang Mister Ephraim nach dem Ausgange, um schneller zu sein als die Indianerin. Diese aber hatte gar nicht daran gedacht, ihm zuvorzukommen.

In dem Ausgange prallte er mit einem Beduinen zusammen, der dort eben aufgetaucht war, und hinter ihm erschienen noch andere.

Das war ja ganz gut, diese Beduinen waren doch von ihm engagiert worden, und auf deren Zuverlässigkeit konnte man bauen.

Ehe Mister Ephraim aber zu Worte kommen konnte, packte ihn der zuverlässige Beduine bei der Brust und schleuderte ihn kraftvoll zurück, dass der Jude ins Drehen kam und gleich bis in den Hintergrund der ziemlich langen Höhle taumelte.

Und da schlug der Beduine einen mächtigen, langläufigen und großkalibrigen Revolver, wie man ihn hier gar nicht kannte, an, und das Gleiche taten die ihm nachfolgenden Beduinen, welche jetzt den Eingang ganz ausfüllten.

»Hoch die Hände!«, donnerte es in unverfälschtem Englisch.

Arno starrte. Ein Burnus und braune Züge machen noch keinen Beduinen, keinen Araber. Dieses verwetterte, aber hübsche, männliche, verwegene Spitzbubengesicht, übermütig lachend, dass unter dem spitzausgedrehten schwarzen Schnurrbart die blendendweißen Zähne blitzten — und nun dieses wohlbekannte englische Kommando... amerikanische Banditen, Wegelagerer, Eisenbahnräuber... Cowboys!

»Hände hoch! Eins — zwei — drei!«

Puff!!

Mit einem Schmerzensschrei ließ der eine Jude seinen rechten Arm sinken, er hatte eine Kugel in die Schulter bekommen, gerade so hübsch sitzend, um den Arm für drei bis vier Wochen vollständig zu lähmen. Und dabei hatte der arme Mann gewohnheitsmäßig nur seinen Klemmer aus der Westentasche nehmen wollen.

Atalanta war die erste gewesen, die sofort ihre Arme in die Höhe geworfen hatte. Hier war auch gar nichts zu machen. In die Höhle starrten mindestens ein Dutzend Revolvermündungen, die ihr Ziel nie verfehlten.

Alle anderen waren ihrem Beispiele schnellstens gefolgt, auch die anwesenden Araber, auch wenn sie die Bedeutung dieser Worte nicht kannten. Die hoben die Arme so hoch sie nur konnten, reckten sich auf den Zehenspitzen, spreizten auch noch die zehn Finger und standen wie die Bäume.

Jetzt knatterten draußen, unten im Tale, Schüsse. Doch nicht lange, so ward es wieder still, nur der mit der durchschossenen Schulter wimmerte.

»Gestatten die Herren, dass ich mich Ihnen vorstelle!«, lachte das übermütige Spitzbubengesicht. »Bisher war ich drüben überm großen Heringsteich im Felsengebirge und in den Prärien von Nevada als der Desperado-Bill ein berühmter Mann — hier bin ich der Kaiser von Babylon, muss mich als solcher freilich erst noch berühmt machen, muss erst ein bisschen meine Kriegskasse füllen. Jetzt gestatten die Herren erst einmal eine kleine Leibesvisitation. Nur wegen der Waffen. Gekitzelt wird dabei nicht, höchstens mit einer Revolverkugel.«

Er schob den Revolver unter den Burnus und begann mit der Visitation, drei andere waren ihm dabei behilflich. Immer noch waren es ein Dutzend Revolver, welche die Gefangenen in Schach hielten.

Die aus den Taschen gezogenen Waffen wurden nach dem Eingang geworfen.

»Was ist denn das für ein Pistölchen? Das Kinderspielzeug können Sie behalten. Nein, nein, ich nehme nicht Ihre Uhren, mit solchen Kleinigkeiten gebe ich mich gar nicht ab. Ah, ein Taschenmesser mit Korkzieher und sogar mit Champagnerbrecher — das ist gerade das, was ich schon immer gebraucht habe...«

»Bill, diese Kerls hier sind von purem Gold, die ganze Kiste von Gold!«, jauchzte da einer der Cowboys.

»Ja, ja, habe schon gesehen. Aber was ist denn das gegen die Scheckbücher, welche diese Herren hier in der Tasche haben. Ich arbeite überhaupt nur noch mit Schecks, ich werde immer moderner.«

Jetzt strichen seine in dieser Visitation außerordentlich geübten Hände auch über Atalantas Körper hin, nach Waffen fühlend, und dem entging nicht das Geringste, was nicht zum menschlichen Körper gehört.

»Hei, was ist denn das?! Unter diesem Beduinenkittel steckt doch ein Weib?!«

Er blickte aufmerksam in das bronzefarbene Gesicht.

»By Jove, das ist doch nicht... die Atalanta? Die Frau Gräfin von Felsmark?«

»Ich bin es!«

Der Bandit trat einen Schritt zurück und machte eine ritterliche Verbeugung. Er war ja ein Nordamerikaner und ein echter Räuber dazu.

»Verzeihung, Mylady — Sie sind frei.«

»Weshalb?«

»Ich habe mein Ehrenwort gegeben, Sie unbelästigt zu lassen. Wenigstens gilt das hier für diese Wüste, für dieses ganze Land.«

»Wem haben Sie Ihr Ehrenwort gegeben?«

»Das zu erörtern habe ich jetzt keine Zeit, werde es auch nicht verraten. Ist denn da nicht auch Ihr Herzallerliebster dabei?«

»Der bin ich!«, ließ sich Arno vernehmen.

»Sie nehmen es doch nicht übel, wenn ich Sie den Herzallerliebsten genannt habe?«, lachte der Bandit.

»Ganz und gar nicht.«

»Und ist da nicht noch ein dritter, Mister Maxim, genannt Littlelu...«

»Der bin ich!«, sagte dieser stolz und mit tiefer Stimme.

»Sie drei sind frei, ich darf Sie auch nicht berühren. Allerdings... sichern muss ich mich. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, dass...«

»Wir geben unser Wort unter keinen Umständen!«, erklärte Atalanta sofort.

»Warum nicht?«

»Weil es erzwungen ist.«

»So geben Sie es freiwillig.«

»Worüber?«

»Dass Sie keinen Gebrauch von Ihren Waffen machen wollen.«

»Schon das können wir nicht versprechen.«

»Nur gegen uns nicht.«

»Auch nicht.«

»Gut. Mit Ihnen kann man verhandeln. Doch das ist bei Ihnen ja ganz selbstverständlich. Versprechen Sie nur, sich eine einzige Stunde nicht aus diesem Tale zu entfernen.«

»Das wollen wir versprechen, daraufhin haben Sie unser Wort. Außergewöhnliche Fälle ausgenommen.«

»Selbstverständlich. Wir verstehen uns vollkommen. Sie sind doch ganz andere Menschen als jene krummbeinigen Geldsäcke dort. Bitte, wollen Sie sich ins Freie begeben, ich möchte mit diesen Herren etwas Geschäftliches verhandeln, was Sie doch nur langweilen würde...«

»O durchaus nicht!«, sagte Littlelu schnell.

»Doch, ich bitte Sie darum. Es ist wegen Ausmachung eines Ortes — Sie wissen schon. Halt, noch einen Augenblick. Haben Sie Anspruch auf das dort?« — »Nein.«

»Sind diese Herren Ihnen etwas schuldig?«

»Nein.«

»Haben Sie sonst noch etwas mit ihnen zu handeln, falls Sie dieselben hier nicht wiedersehen?«

»Auch nicht.«

»Dann, bitte, Ned, begleite die Gentlemen und die Lady. Das heißt, sorge nur, dass sie nicht belästigt werden. Sonst sind Sie absolut frei.«

Die drei verließen die Höhle unter Begleitung eines Cowboys.

Als sie den Abhang hinabkletterten, hörten sie den Bandit wieder beginnen, immer in seiner höflichen, sehr spöttischen Weise.

»Nun, meine Herren, dürfen Sie wieder die Hände herabnehmen, damit Sie Ihre Scheckbücher ziehen können.«

Da drehte sich Littlelu noch einmal um.

»Na schön!«, rief er zurück.

Das ganze Tal war wieder menschenleer, auch die Zelte und die Reittiere waren verschwunden. Nur dort hinten vor einer Schlucht bewegten sich einige weiße Gestalten. Man schien die ganze Karawane samt den tapferen Soldaten in eine blind endende Schlucht gesperrt zu haben, viel Widerstand konnte wohl nicht geleistet worden sein. Es war einfach eine vollständig Überrumpelung gewesen.

»Das können doch nur die Cowboys sein, die uns folgen und auflauern sollten!«, meinte Littlelu.

»Selbstverständlich. Wie seid Ihr so schnell hierher gekommen?«, wandte sich Arno an den begleitenden Cowboy.

»Ich habe darüber keine Auskunft zu geben. Haben Sie sonst Wünsche?«

»Nicht dass wir wüssten.«

»Dann instruiere ich meine Kameraden, dass Sie unbelästigt bleiben.«

Er entfernte sich nach jener Schlucht.

Die drei blickten nach der Höhle zurück. Vor dieser standen allerdings noch mehr Beduinen, das heißt Cowboys, und unten hatten sie ihre Berberpferde zusammengekoppelt.

Da kam aus der Höhle ein goldener Engel geflogen,

Aber ohne Flügel, die hatte man ihm schon abgebrochen, sie folgten besonders nach. Der Cherubim wurde in Empfang genommen, man hackte auf ihm herum, nacheinander lösten sich Arme und Beine ab, alles wurde auf die Pferde gepackt und mit Leinwand zugedeckt. Dann kam der andere Cherubim daran, dann folgte die Bundeslade nach, auch schon in Stücke zerkleinert.

»O weh!«, wurde gelacht, und es war kein Frevel. »Das haben sich diese Herren auch nicht träumen lassen, dass die Sache ein solches Ende nimmt! Auch als Witz betrachtet wird es eine teure Geschichte! Sonst hätten sie doch wenigstens ihr Gold behalten.«

Die Cowboys kamen heraus und herab, schwangen sich auf ihre Pferde, auch die sechs jüdischen Herren und ihre Araber wurden in die Mitte genommen, alles musste mit nach jener Felsschlucht.

Nur ein Reiter trennte sich von der Kavalkade und sprengte auf die drei Freunde zu, die ungefähr in der Mitte des Tales standen. Es war der Nevada-Bill.

»Ich bedaure, Ihre angenehme Gesellschaft nicht mehr genießen zu können. Wir sind in dieser Mausefalle nicht sicher genug. Denn dieses Tal ist doch eine richtige Mausefalle. Ehe die Nacht anbricht, müssen wir in einem besseren Schlupfwinkel sein.«

»Wie sind Sie auf den Pferden denn nur so schnell hierher gekommen?«, fragte Atalanta erstaunt.

»Über Jaffa und Jerusalem per Dampfer und Eisenbahn. Wir hatten den Auftrag, Sie zu fangen, waren extra deswegen von Amerika hierher befördert worden, wurden aber im letzten Augenblick, als die Geschichte losgehen sollte, wieder abkommandiert. In Port Said hörten wir, dass eine Gesellschaft der reichsten Kaufleute Amerikas unterwegs nach dem Jordantale wäre, da spannen wir unseren Plan, so ganz zwecklos wollten wir doch nicht hier gewesen sein, wir mieteten für unser Geld einen eigenen Dampfer, fuhren nach Jaffa und so weiter. Die uns schon dort zur Verfügung gestellten Wüstenräuber nahmen wir mit, die bleiben auch bei uns. Vorläufig sind es noch unsere Lehrer in der Wüste, die werden wir aber bald übertroffen haben. Sie werden noch mehr vom Kaiser von Babylon hören — good bye!«

Lachend schwenkte er die Hand und sprengte davon, er verschwand ebenfalls in jener Schlucht.

Ein anderer Sklavensee

Jetzt war das Tal vollends ausgestorben.

Nur vor dem Eingang der schmalen Felsspalte standen die beiden Beduinen, die unsern drei Freunden als Führer beigegeben waren.

Was mochten die wohl von alledem denken?

Diese schweigsamen Söhne der Wüste würden schwerlich eine Frage stellen, durch die sie sich der Neugierde bezichtigten.

Beim Näherkommen wunderten sich die drei, statt des jungen Hammids Gesicht ein anderes zu sehen, ein viel älteres.

»Scheich Mustafa hat einen Boten geschickt!«, erklärte Sadi gleich. »Der Djemmelan wird im Lager bei den Kamelen gebraucht, statt seiner steht Orbasan zu Eurer Verfügung.«

Der neue Beduine war zu Pferd gekommen, sein edles Ross stand in der großen Höhle neben den vier noch vorhandenen Hedjins.

»Hat Scheich Mustafa sonst nichts sagen lassen?«

»Er lässt seine Gastfreunde grüßen und schickt ihnen Brot und frische Datteln. Das Abendmahl steht schon in der Grotte bereit.«

Man musste sich beeilen, wollte man sich in diesem Schluchtenlabyrinth nicht von der Stockfinsternis der mondlosen Nacht überraschen lassen.

»Wie weit ist das Lager der Busetos von hier entfernt?«

»Drei scharfe Stunden.«

Das hatte ja auch schon der Scheich gesagt.

Sie hatten die Grotte erreicht, ließen sich zum Nachtmahl nieder, aus neubackenem Hartbrot, Datteln und Kaffee bestehend. Dazu leuchtete eine Benzinlampe.

»Wie lange gedenkt Ihr hier noch zu verweilen?«, fragte Sadi während des Essens.

»Das ist noch unbestimmt.«

»Wollt Ihr einmal den Pisga besteigen?«

Ja, da sie einmal hier waren, wollten sie auch hinauf und denselben Anblick wie Moses genießen. Und dann auch hinab an das Tote Meer, schon deshalb ein Naturwunder, weil es die tiefste Einsenkung der Erde ist. Sein Spiegel liegt nahezu 400 Meter unter dem der anderen Meere.

»Schon morgen?«

»Ja, dann schon morgen.«

»Es gibt zwei leichte Aufstiege. Der eine führt an Graten außen an den Felswänden hin, der andere geht durch Schluchten und Spalten und natürliche Tunnel über den Bahr el Arweh. Dieser letztere Weg ist viel romantischer.«

»Dann nehmen wir diesen. Bahr ist doch ein See?«

»So ist es.«

»Dort oben befindet sich ein See?«

»Ein ganz bträchtlicher.«

»Mit süßem Wasser?«

»Ja. Er wird wohl durch Quellen gespeist, die seinem Grunde entspringen, hat keinen Abfluss, kommt auch für die ganze Gegend nicht in Betracht. Kamele und Pferde können nicht hinauf gelangen, und der Weg ist doch zu weit, als dass Menschen Wasser hinabtragen könnten. Ferner ist er ringsum von steilen Wänden eingeschlossen, sodass dort kein Grashalm gedeiht.«

»Was heißet der Zusatz el Arweh?«, fragte Atalanta.

»Arweh ist — ist — der Sklave.«

»Wie, so wäre das der Sklavensee?!«, wurde staunend gerufen.

»Ja, der Sklavensee. In alten Zeiten soll einmal eine ganze Sklavenkarawane in dem See ertrunken sein, oder die Sklaven haben sich freiwillig hineingestürzt. Seitdem heíßt er so.«

»Das ist ja ein merkwürdiger Zufall!«

»Worüber wundert Ihr Euch so?«

»Weißt Du nicht, dass wir in Amerika ebenfalls an einem Sklavensee zu Hause sind?«

Nein, davon wusste der Beduine nichts, woher sollte er auch. Und Muley ben Hassan wusste wahrscheinlich gar nichts von diesem Sklavensee hier.

Sie legten sich schlafen. Beim Morgengrauen wurde aufgebrochen. Nur Orbasan blieb bei den Tieren zurück. Die drei Freunde entledigten sich ihrer Burnusse, ihre Sportkostüme waren bequemer für die Klettertour. Jeder nahm ein Säckchen Proviant mit, ein Wasserschlauch genügte, er sollte abwechselnd getragen werden. Als ihn aber Arno auf dem Rücken hatte, gab er ihn nicht wieder her.

Es war ein fürchterliches Felsenlabyrinth, durch das sie sich aufwärts bewegten. Man musste sich wirklich wundern, wie sich der Beduine zurecht fand. Er musste hier wie zu Hause sein. Und immer mehr nahmen auch die geschlossenen Schächte und Kamine zu, natürliche Tunnel, durch die man oft auf Händen und Füßen kriechen musste. Einen freien Ausblick bekam man nirgends. Nichts als nackter Felsen, auf dem auch kein Grashälmchen gedieh.

So vergingen zwei Stunden. Wieder schritten sie durch einen Tunnel, Sadi voran, mit seiner Lampe leuchtend. Auch Seitengänge führten von diesem Tunnel ab.

»Wie sind diese Tunnel nur entstanden?«, fragte Arno. »Durch spülendes Wasser oder durch Feuerskraft?«

»Wohl durch letzteres. Denn der Pisga ist ebenso wie das ganze Nebogebirge einmal vulkanisch gewesen, überall findet man noch Krater, wenn man auch seit Menschengedenken nichts von einem Ausbruch weiß, und unsere Erinnerung reicht gar weit zurück!«, erklärte der Beduine. »Jetzt müssen wir hier einbiegen!«

Der Nebenschacht war schmaler, gestattete aber doch noch ein Nebeneinandergehen.

Sie hatten erst wenige Schritte getan, als sich plötzlich ein merkwürdiges Geräusch hören ließ, und zwar hinter ihnen, und gleichzeitig erlosch vor ihnen Sadis Lampe. Undurchdringliche Finsternis herrschte. Und da nochmals solch ein seltsames Geräusch, wie ein Knirschen von Sand mit einem nachfolgenden Klappen, das die ganze Felswand entlang lief.

»Wir sind in eine Falle gelockt worden!«, rief Littlelu sofort.

Er war hinter dem Führer gewesen. Da wurde er zur Seite gedrängt, Atalanta sprang an ihm vorbei, stieß aber nur mit den ausgestreckten Händen gegen eine Wand, die vorhin noch nicht hier den Gang beendet hatte.

Arno zündete seine Lampe an. Aus dem Tunnel war ein geschlossener Raum geworden, kaum fünf Meter lang, und Sadi fehlte in diesem natürlich.

»Verräter, Schuft, Lump!«, brüllte Littlelu.

»Nicht schimpfen, untersuchen wir lieber!«, sagte Atalanta gleichmütig.

Da war nicht viel zu untersuchen. Wohl zeigten sich an beiden neu entstandenen Wänden Fugen, aber auch keine Messerspitze konnte hineingesteckt werden. Die Araber waren seit Jahrtausenden und sind noch heute Meister in der Steinbaukunst ohne Mörtel. Am besten kann man in der Alhambra, dem alten Maurenschloss in der spanischen Provinz Granada, studieren, wie die verstanden haben, in Steinwänden Türen einzulassen, die sich auf ganz eigentümliche Weise in steinernen Zapfen drehen. Die Drehbewegung beruht auf einem ganz anderen Prinzip als bei unseren Türen. Wohl aber wird dieses eigenartige Prinzip jetzt bei den amerikanischen Schreibtischen angewandt, um große Fächer aufzudrehen.

»Wir sind eben am Sklavensee!«, sagte Arno.

Ja, es war sehr merkwürdig, diese Übereinstimmung. Aber auch sehr unangenehm.

Doch zu einer Besprechung ihrer Lage sollte es erst gar nicht kommen.

Plötzlich drehte sich die Felswand vor ihnen wieder auf, gleich dahinter befand sich ein orientalisch eingerichtetes Gemach, in dem, vom gelben Lichte einer Ampel umflossen, ein Beduine stand — Scheich Mustafa.

»Salam aleikum, willkommen als meine Gäste in der Stammburg der Busetos!«, lächelte er freundlich.

Sie traten ein. Die Erleichterung nach dem ersten Schreck wirkte äußerst wohltuend. Hinter ihnen schloss sich die Felstür wieder, ohne dass man sah, wie der Mechanismus in Bewegung gesetzt wurde.

Zwei arabische Diener kamen, griffen ohne Weiteres nach den am Gürtel hängenden Revolvern der drei Freunde, schnallten die Futterale ab und nahmen sie mit. Das musste man sich wohl gefallen lassen. Sie brauchten nur entsprechende Erzählungen gelesen zu haben, um zu wissen, dass man auch beim Betreten eines Zeltes unbedingt erst die Waffen abzugeben hat. Allerdings wird man nicht nach verborgenen Waffen gefragt.

»Verzeiht mir, wenn ich Euch für eine Minute in Ungewissheit ließ!«, fuhr der Scheich fort.

»O, das war ein ganz guter Scherz!«, lachte Arno.

»Nein, ich habe keinen Scherz machen wollen, das sei ferne von mir, Euch zu erschrecken. Es ist heilige Vorschrift, dass jeder Fremde den Weg so nimmt, wie Ihr ihn gegangen seid. Ehe er diesen Raum betritt, müssen die Türen vor und hinter ihm geschlossen werden, vorher darf er nichts davon erfahren, was ihn erwartet. Überraschen allerdings wollte ich Euch. Sonst hätte ich Euch um den ganzen Berg herumholen lassen müssen, und Ihr hättet wirklich drei Stunden scharf reiten müssen und dann immer noch einen beschwerlicheren Aufstieg gehabt als diesen.«

Er führte sie in das Nebenzimmer, größer als dieses, mit noch mehr Teppichen und Kissen und Polstern ausgestattet, ebenfalls durch eine Ampel erleuchtet, da Fenster fehlten und die Türen mit Teppichen verhangen waren. In der Mitte stand wieder ein runder, niedriger Tisch, auf den soeben dampfende Schüsseln gesetzt wurden, Reis in verschiedener Zubereitung enthaltend und Hammelfleisch, gekocht und gebraten.

Sie ließen sich nieder und sprachen mit dem größten Appetit diesem unerwarteten Frühstück zu. Ab und zu kam ein Diener, sonst war der Scheich ihr einziger Gesellschafter.

»Du gestattest wohl, dass ich einige Fragen stelle?«, begann Arno.

»Bitte frage!«, erwiderte der Scheich.

»In einer Burg befinden wir uns?«

»In der uralten Stammburg der Busetos.«

Sie bekamen nichts Verwunderliches zu hören. Sie hatten sich ja etwas über diese Gegend orientiert, ehe sie die Reise antraten, hatten auch unterwegs Zeit und Gelegenheit genug dazu gehabt.

Im ganzen Libanon wimmelt es von Klöstern und Burgen, welche wie die Adlerhorste hoch oben an unersteigliche Felswände angeklebt sind. Sie gehören den dort hausenden Drusen und Maroniten, zwar Christen, wenigstens eine Sekte, aber doch echte Araber, und auch mohammedanischen Beduinen. Sie sind in alten Zeiten angelegt worden, als alle diese Stämme noch in beständiger Fehde lebten, wie bei uns die Raubritter oder die Burgherren. Auch jeder Beduinenstamm der syrischen Wüste hatte im angrenzenden Gebirge solch einen Schlupfwinkel, in den sie sich zurückzogen, ehe sie sich vom Feinde gänzlich aufreiben ließen. Alle diese Burgen mit ihren geheimen Tunnelausgängen sind von Sklaven aus dem Felsen herausgehauen worden, besonders von christlichen Gefangenen, an denen es den Sarazenen damals ja nie gefehlt hat. Und noch mehr solcher Felsenverliese, in großer Höhe angelegt, soll es geben, die man von unten gar nicht sieht. Heute dienen diese Burgen den Stämmen als Proviantmagazine, oder es wird darin sonst aufgehoben, was man bei den Wanderungen nicht immer mit sich herumschleppen kann und will, und noch immer sind die Zugänge das Geheimnis jedes Stammes.

»Nach welcher Seite hin liegt denn die Burg? Wir sind ganz aus der Richtung gekommen.«

»Ihre Fenster, wenn man die schmalen Risse als Fenster bezeichnen darf, führen nach der Wüste, welche Ihr die syrische nennt. Auf der anderen Seite blickt man hinab auf einen See.«

»Auf den Sklavensee?«

»Auf den Bahr el Arveh, ja. Kennst Du ihn?«

»Sadi hat uns schon davon erzählt!«

»Von diesem See bekommen wir auch Wasser. In den unteren Räumen direkt durch einen künstlichen Zufluss, nach oben kann es gepumpt werden.«

»Hat nicht jede dieser Burgen Wasser?«

»O nein, die meisten haben kein Wasser, es muss hinaufgetragen werden und wird oben in Bassins aufbewahrt.«

»Ist diese Burg von unten erkennbar?«

»Nein, diese nicht. Ich werde Dich dann in Deiner Burg überall herumführen.«

Es war arabische Gasthöflichkeit, dass der Scheich tat, als ob diese Burg gleich seinen Gästen gehöre. So hatte damals ja auch Muley ben Hassan in seiner Einladung geschrieben.

»Ist es nun schon bestimmt, wann Du den Rückweg antreten wirst?«

»Er ist nicht nötig, meine Nichte Fatme bleibt hier, Die Beni Busetos haben beschlossen, ihr diese Stammburg mit der dazu gehörenden Umgebung abzutreten, sie soll hier einen neuen Stamm gründen, den der Beni Fatmes.«

»So hat sie also doch Deinen Neffen Achmed geheiratet?«

»Du weißt davon?«

»Muley ben Hassan erzählte uns davon.«

»Nein, mein Neffe hat sie nicht angenommen, hat ihr den Scheidebrief gegeben. Jetzt kann sie frei wählen. Und sie hat schon gewählt. Morgen findet hier ihre zweite Hochzeit statt.«

Ein leises Unbehagen beschlich Arno.

»Mit wem?«

»Mit Dir.«

Es war ausgesprochen. Arno hatte es zwar schon erwartet — und dennoch glaubte er, nicht recht gehört zu haben.

»Mit... mir?!«

Die Diener räumten die Schüsseln ab, einer reichte Waschwasser herum. Der Scheich tauchte seine Hände in die Schale, schwenkte die Hände und erhob sich.

»Bitte, Effendi, willst Du mir folgen!«

»Nein, Arno, bleibe!«, rief Atalanta sofort.

Der Scheich drehte sich um. Er hatte wohl als selbstverständlich erwartet, dass der Graf ihm gleich nachkommen würde.

»Bitte, folge mir, Effendi.«

»Nein, ich folge Dir nicht, oder diese beiden kommen mit mir. So sage mir doch gleich hier, was Du mir zu sagen hast.«

Ein kurzes Zögern, und der Scheich ließ sich wieder nieder. Pfeifen wurden gebracht und entzündet.

»Ich weiß«, begann der Scheich, »dass Du von Muley ben Hassan alles erfahren hast, worum es sich hier handelt, und so kann ich mir die Worte ersparen. Nur eine Frage noch: Also es ist Dir doch bekannt, dass die zurückgewiesene Frau das Recht hat, sich jetzt nach freiem Ermessen einen Gatten zu wählen?«

»Muley ben Hassan hat mir davon berichtet.«

»Gut. Meine Nichte Fatme hat Dich zu ihrem Gatten erwählt. In jener Nacht im Hause Muley ben Hassans ist sie in Deinem Schlafzimmer gewesen und hat Dir den Brautkuss gegeben.«

Littlelu wollte etwas sagen. Eine Handbewegung schnitt ihm das Wort ab. Jetzt, da er die Gefahr kommen sah, war er ganz kalt geworden.

»Was geht es mich an, dass Deine Nichte mich gewählt hat? Zur Zustimmung gehören immer zwei. Ich gebe meine Zustimmung nicht.«

»Du hast nach mohammedanischem Gesetz meine Nichte zu heiraten.«

»Ich bin kein Mohammedaner.«

»Du befindest Dich in einem Lande, in dem das mohammedanische Gesetz gilt, und deshalb hast Du Dich zu unterwerfen.«

»Ich bin ein Christ und ein deutscher Staatsangehöriger...«

»Höre mich an, Effendi, damit Du Deine Worte sparst!«, unterbrach ihn der Scheich. »Ich hatte einen Bruder; er ging auf Reisen und kam auch nach Deutschland. Dort lernte er einen jungen Mann kennen, einen Deutschen, und schloss innige Freundschaft mit ihm. Dieser sein Freund wurde in eine gerichtliche Untersuchung verwickelt. Mein Bruder sollte für oder gegen ihn zeugen. Er verweigerte sein Zeugnis. Da wurde er von dem Richter belehrt, dass in Deutschland ein Zeugniszwang bestände, dass er unbedingt zeugen müsse, sonst würde er bestraft, würde sofort in Haft genommen. Mein Bruder erklärte, dass er türkischer Untertan und Mohammedaner sei, und nach dem Koran, der auch unser weltliches Gesetzbuch ist, kann kein Mensch zum Zeugnis gezwungen werden. Der Richter erklärte ihm, dass er sich hier nicht in der Türkei, sondern in Deutschland befände, dass er sich den in Deutschland herrschenden Gesetzen zu unterwerfen habe, wobei es ganz gleichgültig, ob er Christ oder Jude oder Mohammedaner oder sonst etwas sei. Mein Bruder verweigerte standhaft sein Zeugnis. Da diktierte ihm der Richter als erstes einen Tag Haft zu. Mein Bruder wurde sofort abgeführt. Diese Schmach konnte der freie Beduine nicht ertragen. Er hat sich in der Gefängniszelle erdrosselt.«

O, das war fatal! Wenn der Scheich mit solchen Gleichnissen kam, da war ja dagegen gar nichts zu machen! Er hatte nämlich ganz recht. Das war hin wie her.

»Du willst Deinen Bruder an mir rächen?«, sagte Arno etwas leise.

»Rächen? Was fällt Dir ein?«, fuhr der Scheich empor.

»Du hast mich doch hierher gelockt, wo ich in Deiner Gewalt bin.«

»Dich hierher gelockt?«, wiederholte der Scheich drohend. »Franke, wessen bezichtigst Du den Scheich der Busetos! Doch ich verstehe, und ich will Deine Meinung in Ruhe widerlegen. Du glaubst, ich hätte schon bei der Abreise und während der ganzen Reise, als ich immer mit Dir zusammen war, davon gewusst, dass Dich Fatme zum Gatten erkoren?«

»Ja.«

Der Scheich legte seine rechte Hand um den prächtigen Vollbart.

»Beim Barte des Propheten, dem ist nicht so! Fatme war ohne mein Wissen in Deinem Schlafgemach, sie hat mir erst davon gesagt, dass sie Dich erwählt hat, nachdem sie von ihrem ersten Gatten den Scheidebrief empfangen hatte.«

»So war sie damals doch noch gar nicht geschieden, also auch nicht berechtigt, einen anderen Gatten zu wählen.«

»Sie war dazu berechtigt. Denn die Scheidung war schon vorher eine ausgemachte Sache, wirklich durch einen Vertrag abgemacht. Wir haben auch darüber zur Beratung gesessen. Oder meinst Du, wir werden gegen das Gesetz des Korans verstoßen?«

Arno sah ein, dass es zwecklos war, dem Scheich eine andere Meinung beibringen zu wollen. Er wollte sich lieber über das Weitere vergewissern.

»Ich bin bereits verheiratet und kann keine zweite Frau nehmen.«

»Weshalb kannst Du das nicht?«

»Weil ich ein Christ bin, der nur eine Frau haben darf.«

»Dieses christliche Gebot erkennen wir Mohammedaner nicht an, überhaupt die ganze christliche Religion nicht, sie ist für uns eine falsche Lehre.«

»Ich soll Mohammedaner werden?«

»Ich bitte Dich darum.«

»Niemals! Nie wirst Du mich dazu zwingen können!«

»Zwingen? Ich kann und darf Dich gar nicht dazu zwingen.«

Hier sprach der Scheich etwas aus, worüber die größte Unklarheit herrscht. Arno aber kannte die Tatsache.

Wohl haben die Mohammedaner von jeher die Christen mit Feuer und Schwert verfolgt, sie möchten noch heute nur gar zu gern das ganze Christentum ausrotten, es kommt ja auch noch häufig genug zu Christenmetzeleien. Aber zum Übertritt zum Mohammedanismus kann kein Andersgläubiger gezwungen werden. Das verbietet der Koran aufs nachdrücklichste. Ganz freiwillig muss der Übertritt geschehen. Nur freundliche Belehrung darf der Mohammedaner anwenden. Gelingt es ihm, auf diese Weise einen Christen für seine Religion zu gewinnen, dann allerdings hat er sich den siebenten Himmel gesichert, mag seine Sündenlast sonst auch eine noch so große sein. Anwendung von Gewalt oder List ist dabei vollkommen ausgeschlossen.

»Wir erkennen die christliche Religion mit allen ihren Lehren, Gesetzen und Gebräuchen nicht an!«, erklärte der Scheich weiter. »Sie existiert nicht für uns. Für uns bist Du also noch gar nicht verheiratet. Du wirst Fatme als Deine erste Frau heiraten, nach mohammedanischen Zeremonien, gleichgültig, ob Du Mohammedaner bist oder nicht. Nun aber ist Fatme bereit, einen Schritt zurückzutreten. Sie bringt Dir ein großes Opfer — weil sie Dich aufrichtig liebt. Du sollst die, welche Du jetzt als Deine Frau betrachtest, auch fernerhin als Deine erste Frau betrachten. Also Du heiratest jetzt noch einmal diese Frau nach mohammedanischer Zeremonie, unmittelbar darauf findet Deine Hochzeit mit Fatme statt. Es ist einfach eine Doppelhochzeit, und die edle Fatme ist bereit, an zweiter Stelle zu rangieren.«

»Und wenn die Doppelhochzeit nun vollzogen ist, was dann?«, fragte Arno interessiert.

»Dann bist Du der erste Scheich des neuen Stammes der Beni Fatmes. Dieser neue Stamm entsteht dadurch, dass ein Teil der Beni Suefs seine Heimat verlässt. Ferner ist beschlossen worden, dass sich auch die Busetos spalten. Gegen hundert Busetos verlassen mit ihren Familien ihren Stamm, verschmelzen sich mit jenen Beni Suefs, der neue Stamm nimmt nach uralter Tradition den Namen der ersten Scheichstochter an, er heißt also fernerhin Beni Fatmes und deren erwählter Gatte wird der erste Scheich. Als Gebiet für ewige Zeiten erhalten sie, wie ebenfalls schon beschlossen worden ist, das ganze Nebogebirge mit Umgegend angewiesen, mit dieser Stammburg. Es sind rund 200 Lanzen, über die Du zu gebieten hast. Sie bringen ungefähr 399 edle Pferde, 20 edle Jagdhunde, 350 Kinder, 1000 Kamele, ebenso viele Ziegen, 2000 Schafe und 250 Frauen mit.«

Der Scheich hatte alle diese verschiedenen Geschöpfe in der Reihenfolge ihres Wertes aufgezählt.

»Über die Grenzen Deines Gebietes werden Dich die Ältesten des neuen Stammes belehren, auch über Deine Pflichten und Rechte. Jedenfalls kannst Du versichert sein, dass das Dir angewiesene Gebiet diese Menschen und Tiere reichlich ernährt, auch erhältst Du die Schutzherrschaft über eine der reichsten Karawanenstraßen, abgesehen von dem Brautschatz Fatmes, der Dich zu einem der reichsten Scheichs macht.«

Arno wandelte etwas wie Lachlust an. Aber er ahnte schon, dass diese Sache durchaus nicht lächerlich aufzufassen war.

»Und wenn ich mich weigere?«

»Was Dich weigern?«

»Deine Nichte zu heiraten.«

»Du musst, sie hat Dich durch den Brautkuss geworben.«

»Und ich heirate sie nicht!«

»Du wirst dazu gezwungen.«

»Wie das?«

»Direkt dazu gezwungen wirst Du allerdings nicht. Zu der Trauzeremonie in Banden geschleppt werden kannst Du nicht. Wohl können wir Dich martern, aber nur deshalb, weil Du durch Deine Weigerung dem ganzen Stamme eine grenzenlose Schmach zufügst. Aber Deine Einwilligung musst Du dennoch ganz freiwillig geben, sodass diese Strafe mit einem Zwange gar nichts zu tun hätte. Aber Du dürftest das so auffassen, könntest Du nur deshalb Deine Einwilligung geben, das darf nicht geschehen, und so ist beschlossen worden, Dich deshalb nicht zu martern. Du wirst unausgesetzt freundlich belehrt werden, dass es nur Dein Bestes ist, wenn Du die Scheichstochter heiratest und selbst Scheich eines mächtigen Stammes wirst.«

»Und so lange werde ich hier festgehalten?«

»Selbstverständlich, das ist doch nicht anders möglich.«

»Ich bin einfach Euer Gefangener?«

»Ja.«

»Und meine Frau hier? Dieser unser Begleiter?«

»Diese beiden gehen uns eigentlich gar nichts an. Aber wir haben im Rate eingehend darüber gesprochen und es für besser gefunden, diese beiden ebenfalls so lange gefangen zu halten, bis Du Deine Einwilligung gegeben hast.«

Es war ausgesprochen.

Im Augenblick wunderte sich Arno nur über eines, und wahrscheinlich auch Littlelu.

Nämlich dass Atalanta dem Scheich nicht sofort an die Gurgel sprang, um ihn als Geisel in ihre Gewalt zu bekommen.

Sie mochte ihre Gründe haben, es nicht zu tun, wobei es nicht gerade nötig war, dass sie verborgene Gewehrmündungen schon auf sich und ihre Freunde gerichtet sah.

Dachte aber Atalanta nicht an so etwas, dann wollten es auch die beiden anderen nicht tun.

Der Scheich erhob sich.

»Nun wisst Ihr, woran Ihr seid. Macht mir nicht noch einmal den Vorwurf, ich hätte Euch in eine Falle gelockt. Sobald ich erfuhr, dass meine Nichte Dir den Brautkuss gegeben, war es meine Pflicht, Dir zu offenbaren, was jetzt Deine Pflicht ist. Ich hätte Euch auch unten in der freien Wüste aufsuchen können. Hättest Du Dich geweigert, Dich entfernen wollen, dann freilich hätte ich Dich festhalten müssen, es wäre doch wahrscheinlich zum Kampfe gekommen, Ihr wäret jedenfalls dabei getötet worden. Hier oben kann dies alles vermieden werden, wir können uns auf friedlichem Wege auseinandersetzen. So ließ ich Euch hierher führen. Nennt es meinetwegen eine List — mir gleichgültig. Aber ich habe Euch tatsächlich schonen wollen. Eine Flucht von hier ist unmöglich. Ich lasse Euch jetzt einige Zeit allein, damit Ihr darüber sprechen könnt, dann werde ich mir von Dir, edler Graf, die Antwort holen. Drei Gemächer stehen zu Eurer Verfügung. Ihr seid meine Gastfreunde. Ich schließe Euch nur ein, um Euch vor der Rache der beleidigten Männer zu beschützen. Denn dadurch, dass Du, Effendi, nur noch etwas gezögert, die edle Scheichstochter sofort mit Freuden zum Weibe zu nehmen, hast Du sie schon sehr beleidigt.«

Eine Berührung von Brust und Stirn, und der Scheich verschwand hinter dem Vorhang der Tür.

»Wir hätten den Kerl doch festnehmen sollen!«, war das erste, was Littlelu leise sagte.

»Dazu ist noch immer Zeit!«, entgegnete Atalanta. »Erst mussten wir ihn ruhig aussprechen lassen, wir müssen auch erst sehen, was er weiter gegen uns unternimmt, müssen uns beraten, müssen etwas Umschau halten. Er wird wiederkommen, dann können wir uns noch immer seiner Person bemächtigen, und gelingt es nicht, so schadet es auch weiter nichts. Dieser Beduine wird sich überhaupt durch nichts zwingen lassen, er ist ein furchtloser Mann, das hat er schon jetzt bewiesen, denn er musste doch schon mit so etwas rechnen.

Und haben wir dies alles denn nicht selbst verschuldet, haben wir nicht gewusst, was unser sehr wahrscheinlich wartet, nachdem uns Muley ben Hassan von den Gebräuchen der Beduinen und dem Vorhaben Fatmes berichtet hatte? Wir haben es gewusst, und wir sind dennoch mit den Beduinen in die Wüste geritten, nun müssen wir auch die Folgen tragen.

Übrigens, Arno, hättest Du keine Lust, diese Scheichstochter zu heiraten und selbst Scheich zu werden? Es ist ja schließlich doch eine ungültige Heirat, die Dein Gewissen nicht beunruhigen kann.«

»Atalanta, was mutest Du mir zu, dass ich Dir zufügen soll?!«

»Was mich anbetrifft, so...«

»Bitte, kein Wort mehr hierüber! Nie und nimmer!«

Dann genügte dies auch für die Indianerin, es wurde darüber kein Wort mehr gesprochen. Arno hatte seinen Entschluss verkündet.

Sie erhoben sich. Hinter dem Teppichvorhang war noch solch ein Gemach, dann hörte es auf. Nur Fugen verrieten, wo sich die Tür befand, die der Scheich benutzt hatte.

Dieser dritte Raum aber enthielt außerdem auch noch ein Fenster, eine Lichtöffnung, die in ziemlicher Breite und Höhe, sodass sich bequem ein Mensch hineinstellen konnte, durch die mindestens meterdicke Felswand ging.

So weit das Auge reichte, sah es nichts als die ebene Sandwüste, nur in weiter, weiter Ferne noch einen anderen Gebirgszug, und blickte man hinab, so sah man diese Felswand senkrecht als eine glatte Mauer aus der Wüste emporsteigen. Die Tiefe mochte 30 Meter betragen, was ungefähr der Dachhöhe eines vieroder selbst fünfstöckigen Hauses entspricht.

»Da kann man sich doch an zerschnittenen Teppichen hinablassen!«, meinte Littlelu.

»Ja, aber da dürfte man unten wohl in Empfang genommen werden!«, bemerkte Arno.

»Das ist wieder etwas anderes, davon habe ich ja nicht gesprochen.«

Es vergingen Stunden, niemand kam, nichts ließ sich hören.

»Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt«, sagte Littlelu, der sich lang auf ein Polster ausgestreckt hatte, »eine Zigeunerin hat mir prophezeit, dass ich 90 Jahre alt werde — die 35 Jahre will ich hier wohl noch aushalten. Verhungern werden sie uns doch nicht lassen.«

Atalanta hatte sich in die Fensteröffnung gesetzt, ganz vorn hin, unter ihr gähnte die Tiefe. In der Wüste war nichts zu sehen, nichts Lebendiges. Wohl aber konnte man etwas Außergewöhnliches beobachten.

In der Atmosphäre bereitete sich etwas vor. Schon seit einiger Zeit hatte sich eine unerträgliche Wärme bemerkbar gemacht, wie ein heißer Brodem drang es durch das Fenster herein. Und dort am südlichen Horizont stieg bei völliger Windstille eine schwefelgelbe Wolkenwand empor.

»Wo stecken Sie denn eigentlich, Graf?«, fragte Littlelu.

Er fragte es lauter, ohne eine Antwort zu bekommen.

Wenn man es sich berechnete, so mussten wohl schon zwei Stunden vergangen sein, dass die beiden Arno nicht mehr gesehen hatten. Er befand sich in einem der beiden anderen Zimmer.

»Schlafen Sie?«

Als wiederum keine Antwort kam, erhob sich Littlelu und ging hinüber.

»Der Graf ist nicht mehr da!«, erklang alsbald sein Ruf.

Atalanta konnte sich nur noch überzeugen, dass dem so war. Arno war verschwunden.

Es war leicht erklärlich, wie er so ganz unbemerkt hatte verschwinden können. Jedenfalls hatte er jene erste Wandtür wieder offen gefunden, war hinausgetreten — da hatte sich die Tür hinter ihm wieder geschlossen. Die drei waren heimlich beobachtet worden, man hatte den Grafen von ihnen zu isolieren gewusst.

Während Littlelu vor Schreck ganz niedergeschmettert war, zeigte Atalanta völlige Ruhe. Was sollte sie denn auch tun.

»Wie lange haben Sie den Grafen nicht gesehen? Wie lange kann er schon fort sein?«

»Was weiß ich — vielleicht zwei Stunden...«

Da hörte man in weiter Ferne ein Kamel brüllen. Im Nu war Atalanta wieder im letzten Zimmer und stand mit einem Satze in der Fensteröffnung.


Illustration

Und da sah sie dort unten einen Trupp Reiter, wenigstens drei Dutzend Mann, teils zu Kamel, teils zu Pferd, die im schnellsten Trabe respektive in Galopp durch die Wüste östlich davon eilten.

Es waren Beduinen, unkenntlich in weiße Tücher gehüllt, aber das Falkenauge dieser Indianerin erkannte gleich noch mehr. Der eine Burnus verhüllte offenbar ein Weib, und zweitens erkannte Atalanta, dass der eine Beduine nicht selbst die Zügel seines Kamels führte, der Strick wurde von einem anderen Beduinen gehalten.

Die Indianerin setzte die Hände trichterförmig vor den Mund.

»Arnoooo!«, gellte es langgezogen durch die glühende Luft.

Und da wendete jener Kamelreiter, der sein Tier nicht selbst leitete, den Kopf zurück.

»Atalanta! Ich werde entführt!«, erklang es schwach von unten herauf.

Und da begann auch Littlelu zu schreien, zu brüllen.

»Atalanta, was willst Du tun...«

Sie wollte nicht, sondern sie hatte es schon getan.

Die Stelle, wo sie soeben noch im Fenster gestanden, war leer. Sie war die fünf Etagen hinabgesprungen.

Mit einem Satz stand Littlelu vorn im Fenster, beugte sich hinab, und da sah er sie gerade noch aufschlagen.

Wohl war es Sand, in dem sich ihr niedersausender Körper förmlich eingrub, aber... es waren mindestens 30 Meter Höhe gewesen, die sie hinabgesprungen!

Littlelu glaubte nicht, dass sie lebendig unten angekommen war.

Doch da erhob sie sich schon wieder und setzte mit mächtigen Sprüngen den Davonjagenden nach.

Würde sie die trabenden Rennkamele und die galoppierenden Wüstenrosse einholen können? Und wenn es ihr gelang, genügte nicht eine einzige Kugel...

Littlelu kam nicht dazu, solche Erwägungen anzustellen.

Er sollte Zeuge eines furchtbaren Naturereignisses werden, welches zu schauen selten einem sterblichen Menschen vergönnt ist.

Plötzlich ging ein Sausen durch die Atmosphäre, ein unbeschreiblicher Ton, es klang, als wenn Tausende von Mühlsteinen oder Granitplatten aneinandergerieben würden, gleichzeitig aber klang es dazwischen auch wie das Klirren von eisernen Ketten — und da kam von Süden her über die Wüste ein wundersames Phänomen dahergebraust — eine aufrecht stehende Säule, die von der Erde bis in den Himmel ging, unten vielleicht zehn Meter dick, in der Mitte sich verjüngend, um dann sich wieder trichterförmig zu verbreitern, bis sie oben am Himmel ganz in eine gelbe Wolke auslief — so brauste diese Riesensäule, etwas nach vorn überhängend, mit Sturmesgeschwindigkeit heran, hinter sich einen tiefen Graben ziehend, auch wieder zehn Meter breit, allen diesen aufgesogenen Sand oben an der Wolke nach allen Seiten als Regen wieder ausspritzend.

Es war eine Trombe. Ein sich um ein kleines Zentrum drehender, fortschreitender Wirbelsturm. Wäre sie über das Wasser hingebraust, so hätte man diese Erscheinung eine Wasserhose genannt. So war sie mit Sand gefüllt, und das Mehr, das sie unten aufsaugte, spritzte sie oben wieder aus. Sonst aber war es eine lose zusammenhängende Sandsäule.

Und das entsetzliche Phänomen raste mit Eilzugsgeschwindigkeit gerade auf die Reiterschar zu. Und da gab es kein Ausweichen, keine Flucht, kein Auseinanderstieben mehr.

Da sah Littlelu, wie ein Reiter samt seinem Pferde in die Höhe gewirbelt wurde, ein zweiter, dann wurde ein Kamel hochgezogen, wie ein Kreisel drehte es um sich selbst, höher und immer höher...

Diese Last aber konnte die Wettersäule nicht mehr tragen, oder ihr Ende war überhaupt schon bestimmt.

Plötzlich ein donnerndes Gebrüll, wieder vermischt mit jenem Kettenrasseln, wie man es nur bei einem Erdbeben vernimmt, und vom Himmel herab stürzte eine ungeheure Sandmasse.

Dann noch ein brausender Windstoß, der sich aber im Nu wieder abschwächte, und friedlich lag die gelbe Wüste wieder unter einem azurblauen Himmel da.

Dort aber, wo sich soeben noch die Reiterschar zusammengedrängt hatte, erhob sich ein riesiger Sandhügel, ein ganzer Berg zu nennen.

Nichts Lebendiges regte sich.

Und dies alles war so schnell gegangen, dass Littlelu noch daran glaubte, dass er nur einen bösen Traum gehabt habe.

Dann aber kam ihm doch die Besinnung.

»Atalanta!«, schrie er auf.

Da bewegte sich dort unten neben dem Sandberg der flache Sand, eine weibliche Gestalt im kurzen Lederröckchen tauchte auf. Sie war nur von dem umherspritzenden Sandregen zugedeckt worden.

Einen Augenblick stand sie wie erstarrt da, die Hände zum Himmel erhoben. Dann stürzte sie auf den Sandberg zu und begann mit den Händen darin zu wühlen.

Eine Viertelstunde später befand sich Littlelu neben ihr. An schnell zerschnittenen Teppichen, die Streifen wieder zusammengebunden, hatte er sich herabgelassen, und niemand hatte ihn daran gehindert.

Er wollte ihr behilflich sein, den Sand wegzuräumen.

Vergebliches Mühen, wahnsinniges Unterfangen!

Um diesen ungeheuren Sandberg abzutragen, dazu hätten viele hundert Menschen ein ganzes Jahr schaufeln und karren müssen...

Anderthalb Jahre später

Doktor Hikari schraubte an einem Fernrohr von vier Meter Länge, das sich aber gegen ein anderes noch wie ein Zwerg ausnahm, als das Telefon klingelte.

In dem mit solchen Instrumenten aller Art gefüllten Raume befanden sich noch einige andere Japaner, von denen aber nur einer, der manchmal eine schwere Arbeit zu verrichten hatte, so ein abgebrochener Herkules war, fast ebenso breit wie hoch. Die anderen waren im Gegenteil sehr zierliche Gestalten.

Solch ein schlanker, zierlicher Japaner ging an das Telefon.

»Hier Sternwarte. Wer dort?«

»Doktor Sanden. Ich möchte Doktor Hikari schnell...«

»Doktor Hikari ist beschäftigt, er kann nicht abkommen.«

»Lady Felsmark scheint das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, sie hat nach Mister Maxim oder vielmehr nach Littlelu gefragt, wundert sich, dass sie...«

Hikari hatte diese Worte aus dem Telefon vernommen, und er hörte auf zu drehen, obgleich er durch diese Unterbrechung eine Arbeit von vielen Stunden umsonst machte, er eilte hinaus, sprang in den Raum des Aufzugs und fuhr mit größtmöglicher Schnelligkeit hinab.

Nachdem er durch einen Gang geeilt war, sah er vor der Tür, der er zustrebte, einen jungen Herrn stehen, das germanische Gesicht von einigen langen Narben durchzogen.

»Sie ist bei Besinnung?!«, flüsterte der Japaner.

»Sie hat die Wärterin gefragt, wo sie sei, wie sie hierher komme. Die Wärterin teilte es mir sofort mit, ich gleich Ihnen, ehe ich mich zu ihr begab...«

»Sie waren noch gar nicht bei ihr?«

»Nein. Ich wollte erst Sie rufen. Hier nützt kein Arzt etwas, sie muss erst einen Freund sehen, keinen Fremden...«

».Besten Dank, Herr Doktor, besten Dank. So lassen Sie mich auch mit ihr erst allein sprechen.«

Der Japaner holte tief, tief Atem, und während er ihn ganz langsam wieder ausstieß, öffnete er die Tür, eine hölzerne mit sehr schönem Schnitzwerk.

Es war ein mehr behaglich als elegant eingerichtetes Wohnzimmer, obgleich da zum Beispiel ein Damenschreibtisch stand, der wahrhaft künstlerische Schnitzereien zeigte. Die anderen Möbel waren bessere Fabrikware, dazwischen aber auch wieder ein bequemer Lehnstuhl von künstlerischer Handarbeit. Die Felswände waren mit gemusterter Tapete beklebt.

Durch die halbgeöffnete Nebentür blickte man in ein freundliches Schlafzimmer mit zwei Betten, durch die Spalte an der Angelseite lugte ängstlich eine junge Frau herein mit gesundem, hübschem, wenn auch etwas bäuerischem Gesicht.

An einer jener Fensteröffnungen, die schon einmal beschrieben wurden, außen sehr schmal, aber sich nach innen bedeutend erweiternd, sodass dennoch viel Licht durchfiel, für den ganzen Raum genügend, stand Atalanta in einem türkischen Morgenrock.

Mit unverkennbarem Staunen betrachtete sie die vor ihr in der Tiefe liegende Szenerie, und noch ungläubiger wurde das Staunen in dem bronzefarbenen Gesicht, als sie dieses dem Eintretenden zuwandte.

»Doktor Hikari! Ja, sehe ich denn recht?! Dann ist das also auch wirklich der Sklavensee! Das heißt der in Nordamerika, mein Sklavensee! Ja, aber wie komme ich denn nur plötzlich hierher?!«

Langsam trat der Japaner näher.

»Sie wissen es nicht? Können sich auf gar nichts entsinnen?«

Da erstarb das heitere Lächeln, sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Ach ja — ich weiß recht wohl«, erklang es seufzend, »die Trombe — die Sandhose — sie begrub alle die Reiter — und Arno — und ich habe mit den Händen gegraben und gewühlt — und dann war Littlelu neben mir und half mir — und ich habe immer dabei geschrien — und dann — und dann — ja, und dann weiß ich nichts mehr von mir...«

»Regen Sie sich nicht auf!«, bat der Japaner. »Fühlen Sie sich wohl?«

Gleich kehrte der heitere Ausdruck im Gesicht und in den Augen Atalantas zurück.

»Vollständig wohl. Sogar recht fröhlich. So erleichtert. Nein, Sie brauchen mich nicht etwa zu schonen. Wie bin ich denn hierher gekommen? Bitte, erzählen Sie es mir, das muss ich wissen, so lange fühle ich mich noch etwas beunruhigt.«

»Nachdem Sie die Vergeblichkeit Ihrer Bemühungen eingesehen hatten, was nicht lange währte, schrien Sie noch einmal gellend auf, dann haben Sie sich neben dem Sandhügel niedergekauert und — und...«

»Nun, und?«

»Und Sie kauerten heute noch dort, als Leiche, als Mumie, neben dem Sandhügel.«

Es waren etwas seltsame Worte, nicht aber für diese Indianerin.

»Ja, ich weiß, ich weiß!«, nickte sie bedächtig. »So legt sich ein treuer Hund auf dem Grabe seines Herrn hin und stirbt — wenn nicht jemand kommt, der ihn wegführt. Ich bin weggeführt worden?«

»Von Mister Maxim. Sie wissen nichts mehr davon?«

»Absolut nichts.«

»Er wanderte mit Ihnen nach dem Jordantale, so weiter zu Fuß und zu Pferd bis nach Jerusalem, von dort mit der Eisenbahn nach Jaffa, von hier per Dampfer nach New York, mit dem Pacificzug nach Pittville...«

Immer wieder war es ein ungläubiges, aber auch heiteres Lächeln, mit dem die Indianerin, die sich übrigens auch sonst gar nicht verändert hatte, den Kopf schüttelte.

»Und ich weiß von alledem so gar nichts! Kaum glaublich! Habe ich mich denn immer willig führen lassen?«

»Ganz willig, wie ein gehorsames Kind.«

»Ich war... kindisch?!«

»O nein, durchaus nicht! Eigentlich waren Sie ganz normal. Nur dass Sie immer völlig geistesabwesend vor sich hin starrten. Das war man ja aber — verzeihen Sie — schon an Ihnen gewohnt, und ebenso, dass Sie selten fragten oder überhaupt sprachen, wenn es nicht unbedingt nötig war.«

»Antwortete ich denn, wenn man mich etwas fragte?«

»Gewiss. Und ganz sachlich. Unnatürliches war ja allerdings dabei. O, wir haben viel mit Ihnen experimentiert. Wenn man Sie zehnmal hintereinander nach Ihren Namen fragte, so nannten Sie diesen zehnmal hintereinander. Hingegen konnte man Ihnen nichts vormachen. Sie ließen sich nicht einreden, dass es Nacht war, wenn die Sonne schien.«

»Habe ich denn gegessen?«

»Ganz normal.«

»Von allein?«

»Nun, dass Sie nicht von allein danach verlangten, war bei Ihnen nicht anders zu erwarten. Weil Sie eben für Hunger sehr wenig empfindlich sind, und Experimente durfte man da nicht mit Ihnen machen.«

»Wie nennt man wohl diese Krankheit oder diesen Zustand, in dem ich mich befand?«

»Doktor Sanden, ein äußerst tüchtiger Arzt, dessen Spezialität gerade die Behandlung von Nervenkrankheiten ist, sprach von peripherischer Anästhesie, hervorgerufen durch einen Nervenschlag. Aber nicht etwa, dass Sie nervenkrank gewesen sind. Gott bewahre! Gerade dieser tüchtige Spezialarzt gesteht ganz offen, dass wir von der ganzen Nervengeschichte noch gar nichts wissen. Sie sind einfach durch einen großen Seelenschmerz in einen Zustand von Apathie, von Teilnahmslosigkeit gefallen, freilich der denkbar tiefsten Apathie. Doktor Sanden ist lange Jahre in Afrika gewesen und erzählte, wie er solche Zustände der allertiefsten Apathie häufig bei Negern beobachtet hat. Sie verzeihen diesen Vergleich...«

»O, da ist gar nichts zu verzeihen!«, lächelte Atalanta. »Ich fühle manchmal recht wohl, dass ich trotz aller sogenannten höheren Bildung doch noch eine ganz waschechte Indianerin bin, ein echtes Naturkind, von aller Kultur noch ganz unbeleckt.«

Sie wurde wieder sehr ernst, als sie fortfuhr:

»Und ich glaube, da haben wir Naturkinder vor den überkultivierten Europäern einen sehr großen Vorzug. So ein feinfühliger Europäer kann an einem großen Schmerze sein ganzes Leben lang siechen. Wir Naturkinder aber werden von solch einem Schmerze gleich so furchtbar gepackt, dass wir nicht einmal zu einem Verzweiflungsausbruch kommen, sondern gleich in eine Betäubung fallen, aus der wir entweder vollkommen geheilt erwachen, oder... niemals wieder.«

Ja, da hatte Atalanta eine große Wahrheit ausgesprochen. Und das gilt nämlich auch für körperliche Schmerzen, körperliche Verwundungen. So ein Neger, wenn er in melancholischer Stimmung ist, stirbt an einer kleinen Fleischwunde, die ein energischer Europäer gar nicht beachtet. Und dieser selbe Neger, in dauernd heiterer Laune, weil er sich etwa auf dem Rückmarsche befindet, wird von einem Tiger in der fürchterlichsten Weise zerfleischt, ist ein halbes Jahr mehr tot als lebendig, dann plötzlich heilt alles mit Zauberschnelle, er weiß gar nichts mehr davon. Während ein Europäer an einem kleinen Tatzenhieb sein ganzem Leben lang siecht, weil die Wunde, von den mit Fleischresten behafteten Krallen geschlagen, immer wieder aufbricht.

Atalanta blickte wieder durch das Fenster, und wieder begannen ihre Augen zu strahlen.

»Ja, hier ist es unterdessen Frühling geworden!«, rief sie fröhlich.

»Gewiss, wir haben schon April.«

»Und damals war doch Oktober! Wann bin ich denn hierher gekommen?«

»Mitte Dezember. Es lag hoher Schnee. Wissen Sie nicht, dass Sie mit mir Schlittschuh und Schneeschuh gelaufen sind?«

»Bin ich wirklich?!«, rief sie immer wieder mit fröhlichem Staunen.

»Und Segelschlitten, mit dem wir nicht nur gekippt, sondern sogar eingebrochen sind!«

»Rätselhaft, ganz rätselhaft, diese Erinnerungslosigkeit! Und was sind denn das dort hinten für Häuschen?«

»Das sind die Wohnungen unserer Farmer.«

»Unserer... Farmer?!«

»80 Mann mit Frauen und Kindern und Großeltern — zusammen 358 Köpfe.«

»Sie sind gekommen?!«

»Aber sofort. Am 14. November waren sie schon hier.«

»Unter... Arnos Freund?«

»Unter Leutnant von Bernsdorfs Führung. Er brachte auch gleich landwirtschaftliche Maschinen mit, gegen 100 Pferde und noch mehr Ochsen und Schafe, und er besteht darauf, dass er wenigstens diesen kleinen Beitrag, wie er sagt, zu dem gemeinsamen Haushalt aus seiner Tasche beisteuert. Ein vortrefflicher Mensch, dieser Paul von Bernsdorf, und nicht minder sein Freund, Doktor Sanden, der ihn begleitet hat, der hier als Arzt bleiben möchte. Natürlich unentgeltlich. Das Gemeinwesen, in dem es nur ein Gesetz gibt — einer für alle, und alle für einen — ist schon in vollem Gange.«

Über Atalantas eben noch so heiteres Gesicht huschte ein schmerzlicher Schatten.

»Ach«, flüsterte sie klagend, »warum konnte ich ihm dies nicht alles zeigen. Nur an ihn hatte ich ja gedacht, als ich dies alles entwarf und mit Ihnen besprach — ich wollte ihn bei unserer Rückkehr überraschen, ihm seine Dragoner vorführen, er sollte ahnungslos bleiben...«

Sie brach ab, es war auch schon wieder vorbei.

»Und was ist das dort hinten für ein größeres Haus mit dem rauchenden Schornstein?«

»Die Schneidemühle zum Zersägen der Baumstämme!«

»Auch schon?!«

»O, noch viel, viel mehr. Dort daneben das Gebäude, das ist die Mahlmühle.«

»Die ist doch auch schon in vollem Betriebe.«

»Gewiss.«

»Was wird denn da gemahlen?«

»Gegenwärtig Weizen.«

»Weshalb haben Sie Körner gekauft? Nicht gleich Mehl?«

»Es ist...«, der Japaner zögerte etwas, »... unser eigener Weizen.«

»Von den Farmern mitgebracht?«

»Nein, hier gebaut, hier geerntet.«

Immer größer wurden die Augen der Indianerin.

»Hier... geerntet?!«

»Einmal müssen Sie es doch erfahren, und Sie sind genügend darauf vorbereitet: Es sind unterdessen zwei Winter ins Land gegangen, dieses ist schon der zweite Lenz — — anderthalb Jahre haben Sie sich in diesem Zustande befunden.«

Der Eindruck, den dieses Geständnis auf Atalanta machte, war doch ein gewaltiger. Wenn sie den Sprecher auch nur starr ansah und dann ihre Augen für einige Sekunden bedeckte. Dann hatte sie auch das wieder überwunden.

»Anderthalb Jahre! Nun, umso besser sind meine Wunden vernarbt. — Bitte, erst einige Fragen, ehe ich die Kolonie besuche. Sind damals die zehn Millionen Dollars bezahlt worden?«

»Vier Tage, nachdem in Pittville Ihr Telegramm eintraf, war auch das Geld dort.«

»In gemünztem Golde?«

»Lauter Adler.«

»Das müssen doch eine ungeheure Menge gewesen sein!«

»Nun — genau eine Million.«

»Ich meine auch dem Gewicht nach.«

»Es waren 100 Kisten à 5 Zentner!«

Atalanta schüttelte den Kopf.

»Wer brachte sie?«

»Sie kamen in Begleitung von zwei Männern, über die ich Ihnen gar nichts weiter erzählen kann.«

»Von nur zwei Mann?!«

»Ich verstehe, worüber Sie sich wundern. Aber das ist gar nicht angebracht. Der Inhalt war als Bleiplatten deklariert respektive versichert, die Kisten gingen einfach in Gepäckwagen mit. O, Frau Gräfin, das ist nichts weiter, da gehen durch ganz Amerika noch ganz, ganz andere Goldsendungen täglich, was meinen Sie wohl, was das Schatzamt in Washington aus ganz Amerika für Gold zusammenzieht und wieder ausschickt, und alles dieses Gold geht erfahrungsgemäß am sichersten als einfaches Frachtgut. Wohl mag immer eine starke Sicherheitswache dabei sein, aber davon kommt nichts an die Öffentlichkeit. Ich glaube übrigens, dass auch Ihre zehn Millionen von einer Schutzwache begleitet waren. Ich sah als Passagiere in dem betreffenden Zuge eine Gesellschaft von Herren, die mir alle einen so verzweifelt-verwegenen Eindruck machten, und sie hatten uns auch offenbar im Auge, als ich die Kisten übernahm. Dadurch erst fiel es mir auf. Im Übrigen aber hatte ich es nur mit jenen zwei Herren zu tun.«

»Wie erfolgte eigentlich die Übergabe?«

»Nun, ich ließ nicht etwa erst ausladen, ich fuhr gleich mit weiter nach San Francisco, auch die beiden Männer mussten mit. Sie hatten die betreffenden Gepäckwagen natürlich zu ihrer eigenen Verfügung. Ich musste doch etwas vorsichtig sein, so ohne Weiteres wollte ich meine Quittung nicht geben. Aber bis nach San Francisco hatte ich ja genügend Zeit. Wenigstens ein Drittel der Kisten habe ich unterwegs geöffnet, die anderen wenigstens genau gewogen und ausgemessen. Und in San Francisco auf der Bank stimmte es ganz genau, nicht ein einziger Goldadler war zu wenig oder zu viel.«

»Auf welche Bank haben Sie es gebracht?«

»Bei solch einer Summe kommt wohl keine andere als die Bodenkreditbank in Betracht. Dort liegt es aber auch sicher wie der Tod. Zu vier Prozent, womit freilich kein Yankee zufrieden wäre. Sie hatten sich ja damit begnügen wollen. Natürlich habe ich es gleich auf Ihren Namen schreiben lassen. Die Quittung liegt oben in meinem Panzerschrank, ich werde sie Ihnen dann gleich einhändigen.«

»Herr Doktor, ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank für alle Ihre vielen Bemühungen.«

»Bitte sehr, gar keine Ursache.«

»Aber finden Sie es denn trotzdem nicht fast märchenhaft, dass einem innerhalb von vier Tagen zehn Millionen Dollars ausgezahlt werden, noch dazu auf telegrafischem Wege von Ägypten aus?«

»Nein, das ist für Amerika durchaus nicht märchenhaft. Da sind, wenn es um Minen, Bergwerke oder Petroleumquellen ging, hier schon ganz, ganz andere Summen in barem Golde ausgezahlt worden, und in noch viel kürzerer Zeit. Und dann die Eisenbahngesellschaften — ach, mit was für Summen die manchmal operieren — und die Syndikate — die Truste!«

»Nun gut. Und was ist nun für dieses Gold von hier abgeholt worden?«

»Ich weiß nichts davon, dass hier etwas abgeholt worden ist.«

»Hat sich niemand bei Ihnen deswegen gemeldet?«

»Kein Mensch.«

»Ist niemand beobachtet worden?«

»Niemand.«

»Finden Sie dies alles nicht seltsam?«

»Sie müssen bedenken, dass dieser See doch gar groß ist, er lässt sich von jedem Punkte der Ufer aus im Boote befahren, und zu jener Zeit hatte ich nur 20 Japaner zu seiner Beobachtung hier, hatte überhaupt gar keine so strenge Beobachtung deswegen angeordnet.«

»Sie haben recht. Da kann bei Nacht einmal viel abgeholt worden sein, oder es braucht sich auch nur um eine Kleinigkeit gehandelt zu haben. Also Sie haben keine Ahnung, was das sein könnte?«

»Nicht die geringste.«

»Ich auch nicht. Und wie ist es mit dem Golde, das auf dem Grunde liegt, das wir schon angezapft hatten?«

»Von derselben Stelle hat ein Taucher noch gegen sechs Zentner heraufbefördert, meist solche Schüsseln, außerdem noch einige riesige Bekleidungsgegenstände. Dann war dort der Vorrat erschöpft.«

»Andere Goldlager haben Sie nicht gefunden?«

»Nein, so oft ich auch den See selbst im Aeroplan überflogen habe, und einer meiner Japaner, ein Ingenieur, hat damit den ganzen vorigen Sommer zugebracht, er hat dabei vier Aeroplane kaputt geflogen, aber wir haben kein anderes Goldlager erblicken können. Ferner habe ich zwei Taucher neun Monate lang ununterbrochen den See absuchen lassen — alles vergeblich. Freilich ist zu bedenken, dass der See gegen 32 englische Quadratmeilen groß ist. Da können selbst hundert Taucher wenig erforschen. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen gleich diese negativen Erfolge...«

»Aber ich bitte Sie, Herr Doktor, ich mache Ihnen nicht etwa Vorwürfe!«, lachte Atalanta. »Oder halten mich etwa für so geldgierig?«

»Das nicht«, lachte auch der Japaner, »aber lieber wäre es mir doch gewesen, hätte ich Ihnen gleich einige Wagenladungen voll Gold in den Schoß schütten können.«

»Nun, ich bin auch recht zufrieden, dass die zehn Millionen Dollars eingegangen sind, denn die 350 Menschen jahrelang zu erhalten... doch es ist erledigt. Was macht eigentlich der Seehund?«

»Der verschwand bald nach Ihrer Abreise und ist nicht wiedergekommen.«

»Und andere Seehunde haben Sie auch nicht kommen lassen?«

»Nein, wozu denn?«, fragte Hikari, schon mit einigem Stutzen.

»Um sie zu dressieren, dass sie anderwärts nach jenen Schätzen suchen!«

Ein starrer Blick nach der Sprecherin, und der Japaner schlug sich vor die Stirn.

»Bei Gott, da sieht man wieder einmal den Gelehrten! In der Sternenwelt ist er zu Hause, und auf der Erde ist er ein unpraktischer Bücherwurm! Das ist auch wirklich ein so einfacher Gedanke...«

»Und eben deshalb ist er Ihnen nicht eingefallen!«, lachte Atalanta. »Nun, das lässt sich ja nachholen, und mir ist gerade lieb, dass ich jetzt dabei sein kann. Haben Sie sonst hier etwas Bemerkenswertes erlebt?«

»Sie meinen doch jetzt natürlich betreffs jener geheimen Gesellschaft, die früher sich hier aufhielt.«

»Ja.«

»Gar nichts«

»Während dieser langen Zeit gar nichts?«

»Nein.«

»Haben Sie den Schutt in dem Wassertunnel forträumen lassen?«

»Ja, ein halbes Jahr lang, aber als er dann noch kein Ende nehmen wollte, habe ich diese Arbeit als hoffnungslos aufgegeben. Die haben ihre Arbeit gründlich besorgt.«

»Das glaube ich wohl. Haben Sie sonst gebohrt oder gesprengt?«

»Das hatten Sie mir ja verboten.«

»Ach ja, richtig! Keine verborgenen Gänge oder Türen entdeckt?«

»Meine findigsten Leute sind noch jetzt täglich an der Arbeit — wir sind noch keinen Schritt weiter vorgedrungen, als uns jene den Weg offen zu halten beliebten.«

»Der Tunnel unter dem Seegrund hin?«

»Der führt noch nach zwei anderen Inseln, dann nach dem nördlichen Ufer, mündet dort auf sehr geheimnisvolle Weise — dann hört er auf. Das besichtigen Sie lieber selbst, ehe ich Ihnen eine umständliche Beschreibung gebe.«

»Werde ich tun. Funktioniert das kinematografische Theater noch?«

»Nein.«

»Nein?!«

»Das Register steht noch. Als ich aber kurz nach Ihrer Abreise einmal eine Schiene herauszog, kam nichts, und dasselbe gilt von dem mechanischen Theater. Die Figuren kommen nicht mehr.«

»Schade. Sonst noch mechanische oder andere Merkwürdigkeiten entdeckt?«

»Das wohl, der Mechanismus ist auch immer vorhanden, aber er funktioniert nicht. Und ich weiß auch, warum nicht.«

»Nun?«

»Frau Gräfin, ich habe Sie, wie es meine Gewohnheit ist, erst aussprechen lassen, auch alle Ihnen einfallenden Fragen stellen lassen. Sie fragten vorhin schon, ob ich in der langen Zeit nicht etwas Bemerkenswertes erlebt hätte. Nein, insofern nicht, weil mir das, was mich zuerst furchtbar frappierte, jetzt zur täglichen Gewohnheit geworden ist. Gleich nach Ihrer Abreise wurde ich ans Telefon gerufen, und es war kein anderer als Professor Dodd, der mich zu sprechen begehrte. Er erkundigte sich nur wegen Ihrer Abreise. Dann fragte er noch öfters an, ob Sie geschrieben hätten und so weiter. Und seitdem Sie sich hier befinden, in jenem teilnahmslosen Zustand, vergeht kein Tag, an dem er sich nicht mindestens zweimal nach Ihrem Zustande erkundigt.«


Lieferung 12


Illustration

Wie gebannt saßen Atalanta und Doktor Hikari auf ihren
Plätzen und folgten gespannt den kaum für möglich gehaltenen
Vorgängen, die sich auf der Bühne vor ihren Augen abspielten.


Mephistopheles

Ein eigentümlicher Ton erscholl. Es war wohl ein Klingeln, aber nicht so schrill wie das elektrische, sondern sanft, leise und melodisch. Es kam aus dem Telefon, das sich auch in diesem Zimmer befand.

»Da meldet er sich schon wieder, das ist sein Zeichen und ich vermag mir nicht zu erklären, wie er diesen Ton zustande bringt.«

Die Indianerin hatte es nicht so eilig, gleich hinzuspringen. Erst blickte sie nur hin, die Arme über der Brust gekreuzt.

»Weshalb finden Sie das so unerklärlich? Es ist wohl ein eigentümlicher Ton, ein pfeifendes Klingeln, möchte man sagen, aber den kann man doch irgendwie hervorbringen, am einfachsten mit dem Munde, mit den Lippen.«

»Das ist es nicht. Ich wundere mich, wie er überhaupt das Telefon benutzen kann. Das ist doch meine eigene Anlage, ich benutze meine eigene Batterie, ich kann das ganze System vollständig isolieren, und dennoch benutzt er es.«

»Ach so! Gibt er selbst keine Erklärung, wie er das fertig bringt?«

»Er lacht mich aus, dass ich das nicht begreife, da es doch so einfach sei.«

»Er lacht Sie aus?!«

»Es ist so seine Weise. Er weiß immer die größte Höflichkeit mit dem bissigsten Spott zu verbinden!«

»Ja, ich kenne das. Funktioniert noch das elektrische Licht?«

»Das bekommen wir noch immer unentgeltlich aus geheimnisvoller Quelle geliefert.«

»Er nennt sich Professor Dodd?«

»Professor Benjamin Dodd.«

»Gibt sich für den berühmten Operateur aus, der in New York seine Klinik hat?«

»Für denselben. Dass er der aber nicht wirklich ist, davon habe ich mich schon mehrmals überzeugt.«

»Wie das?«

»Nun, einfach, indem ich mich von Pittville aus telegrafisch vergewisserte, dass sich Professor Dodd in seiner New Yorker Klinik befand, während dieser hier unbedingt am Sklavensee sein musste, da er diesen übersehen konnte.«

»Hat er Ihnen keine Erklärung dafür gegeben, wie er dazu kommt, sich für Professor Dodd auszugeben?«

»Nein, diese Erklärung will er nur Ihnen selbst geben. Da ruft er wieder.«

Das pfeifende Klingeln hatte sich nochmals hören lassen, und jetzt trat Atalanta ans Telefon.

»Wer ist dort?«

»Professor Dodd. Ah, das ist ja die Frau Gräfin selbst! Aus Ihrer Lethargie endlich wieder erwacht? Freut mich, ich gratuliere. Befinden Sie sich auch sonst wieder ganz wohl?«

»Sie sind Professor Benjamin Dodd, der Operateur, der seine Klinik in der Water Street zu New York hat?«

»Zu dienen, der bin ich!«, erklang es im Telefon, und Atalanta glaubte förmlich das grinsende Teufelsgesicht zu sehen.

»Sie haben meinen Gatten damals in die Kur genommen?«

»Das war ich.«

»Wo befinden Sie sich denn jetzt?«

»Gleich neben Ihnen, ich bin doch Ihr nächster Nachbar.«

»Sie sind aber wohl auch gleichzeitig in New York?«

»Bin ich ebenfalls. Soeben ziehe ich einem Kinde die Haut ab.«

»Sie können wohl auch an verschiedenen Orten der Erde zugleich sein?«

»Kann ich ebenfalls. Das heißt, ich will nicht renommieren — ich kann mich nur verdoppeln, also nur einfach spalten. Vorläufig. Vielleicht gelingt es mir später noch, mich zu verdreifachen, zu vervierfachen und so weiter.«

»Sie sind ja ein großartiger Kerl! Wie machen Sie denn das?«

»Kennen Sie den doppelten Menschen von Wells?«

»Ja, diesen Roman habe ich allerdings gelesen.«

John Wells (1) ist der englische Jules Verne, er schreibt phantastische Erzählungen. Eine hat folgenden Inhalt: Ein Mann fühlt das, was wohl jeder ehrliche Mensch, der sich selbst beobachtet, in sich fühlt, was Goethe mit den Worten ausgedrückt hat. »zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.« Nämlich eine göttliche und eine teuflische, Gutes und Böses nebeneinander. Dieser ist äußerlich ein braver Spießbürger, möchte auch wirklich immer nur gut und tugendhaft handeln, fühlt aber recht wohl, wie stark auch sein Hang zur rauschenden Sünde ist. Wenn er dieser Sehnsucht nur unbeschadet für seine Reputation nachgeben dürfte. Da erfindet er ein Mittel, ein Tränklein, durch das er sein Ich spalten kann. Aus dem schlafenden Spießbürger tritt ein anderer Mensch heraus, ein allen Leidenschaften und Lüsten frönender Teufel, wie ein solcher auch aussehend. Der Schluss der Erzählung ist der, dass der Mann dieses Experiment so oft wiederholt, bis die Teufelsnatur immer mehr seine eigentliche wird, er kann nicht mehr zurück in den schaffenden Leib, der Spießbürger stirbt und wird begraben, nur der Teufel bleibt übrig und nimmt als Verbrecher das verdiente Ende.

(1) Mit ›John Wells‹ müsste eigentlich der britische Schriftsteller Herbert George Wells (1866-1946) gemeint sein, aber der hier inhaltlich kurz vorgestellte 1894 in deutscher Übersetzung erschienene Roman Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und des Herrn Hyde (britische Originalausgabe: The Strange Case of Dr. Jekyll and Mister Hyde, 1886) wurde nicht von Wells, sondern von Robert Louis Stevenson (1850-1894) verfasst.

»Ja, diesen Roman habe ich gelesen.«

»Sehen Sie, was hier ein Dichter in seiner Phantasie erfunden hat, das habe ich schon längst in der Praxis ausgeführt. Meine Spaltung ist sogar noch viel, viel besser. Der eine Körper braucht nicht schlafend dazuliegen, während der andere auf Reisen ist und sich amüsiert. Als der eine Professor Dodd bin ich der weltberühmte Operateur, der fürstliche Honorare einheimst und mit Orden überschüttet wird, über den kein Tädelchen gesagt werden darf, oder der Betreffende wird schwer bestraft, weil dieser Professor Dodd wirklich ein tadelloser Ehrenmann ist, und als der andere Prozessor Dodd, den Sie zum Unterschied meinetwegen Mephistopheles nennen, bin ich eben solch ein Teufel, der zwar ebenfalls seinen Neigungen nachgeht, der aber seine Erfindungen nur dazu braucht, um die Menschen an der langen Nase herumzuführen, weil das seine höchste Lust ist.«

»Gut, Herr Mephistopheles«, ging Atalanta scheinbar auf alles ein, »nun haben Sie sich endlich vorgestellt. Wie können Sie diese Offenbarung aber wagen?«

»Was gibt es denn da zu wagen?«

»Sie bezichtigen doch jenen ehrenwerten Professor Dodd, also sich selbst, der Teufelei und Schurkerei.«

»O, gehen Sie doch einmal hin und erzählen Sie es der Öffentlichkeit, ob man es Ihnen glauben wird, hähähä.«

Das hämische Lachen war ganz berechtigt. Ja, das war eben das Raffinierte dabei, dass man so etwas nicht erzählen durfte, oder man konnte daraus gefasst sein, ins Tollhaus gesperrt zu werden.

»Und«, fuhr der Sprecher am Telefon fort, »da ich als der ehrenwerte Professor Dodd doch irgend eine Ausrede haben muss, falls mir das erzählt wird, so spreche ich einfach von einem Doppelgänger, den ich habe, der schon öfters meinen Weg gekreuzt hat, gleich von meinem verbrecherisch veranlagten Zwillingsbruder, den ich natürlich niemals gehabt habe!«

»Ah, so ist die Geschichte!«, spottete Atalanta. »Ich glaube Ihnen alles, alles. Ich glaube Ihnen sogar, dass Sie sich in einen Wolf verwandeln können.«

»Kann ich auch tatsächlich.«

»Ich denke, Sie können sich nur einfach spalten, also nur verdoppeln.«

»Allerdings. Aber bei der Spaltung kann mein zweites Ich irgendwelche beliebige Gestalt annehmen.«

»Ach, Sie sind ein großartiger Mensch, noch viel mehr als ein Hexenmeister!«

»Bin ich auch. Und habe ich Ihnen nicht bewiesen, dass ich wirklich eine ganz andere Gestalt annehmen kann?«

»Wann denn?«

»Zum Beispiel in Puebla.«

»Da, mein lieber Mephisto, habe ich Sie sofort erkannt. Das war nur die angenommene Maske eines Schauspielers, wenn ich auch nicht verstehe, wie Sie selbst die Farbe Ihrer Augen verändern können.«

»Habe ich mich denn nicht auch in einen Wolf verwandelt?«

»Ah so! Damit fangen Sie jetzt an.«

»Und dann mich wieder in einen Menschen, einen Neger.«

»Den ich dann begrub.«

»Sehen Sie zu, ob er dort noch unter der Erde liegt.«

»O, ich glaube schon, dass Sie den Leichnam wieder ausgegraben haben. Sie sollten immer lieber die Gestalt einer Hyäne annehmen als die eines Wolfes. Obschon auch Wölfe Leichen ausgraben. Da sind Sie wohl auch jener Rabbi Eleazar gewesen?«

»War ich, bin ich noch heute.«

»Aha, jetzt kommt auch noch diese Offenbarung!«, lachte Atalanta. »Sie passen ja vortrefflich zu meinem...«

Sie wandte das Gesicht gegen Doktor Hikari, der den anderen Hörtrichter am Ohre hatte.

»Wo befindet sich eigentlich Littlelu?«

»Mister Maxim? Er wird unten in der Kolonie sein!«, erwiderte der Japaner.

»Wie geht es ihm?«

»Ganz vortrefflich. Er wird außer sich vor Freude sein, Sie wieder gesund zu sehen.«

Atalanta brachte wieder den Mund ans Telefon.

»Sie, Herr Mephistopheles... sind Sie noch da?«

»Ich höre.«

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«

»Bitte.«

»Vollziehen Sie einmal solch eine Verwandlung vor meinen Augen, in ein Tier oder auch nur in einen anderen Menschen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, nichts gegen Sie zu unternehmen. Und wenn Sie solch eine Verwandlung ausführen können, dann sollen Sie mich nach Belieben untersuchen, mich sogar lebendig sezieren dürfen.«

»Ich bedaure, nicht darauf eingehen zu können.«

»Weshalb nicht?«

»Erstens ist das doch nicht so einfach, wie Sie es sich vorstellen. Das ist doch alles magisch, so etwas kann man doch nicht etwa gegen Geld ausführen oder überhaupt öffentlich...«

»Jawohl, magisch!«, spottete die Indianerin. »Eine gute Ausrede ist doch mehr als Gold wert.«

»Immer spotten Sie nur. Und es ist dennoch so. Alle Menschen, welche wirklich höhere Kräfte besaßen, wirklich Wunder ausführen konnten, vermochten dies nie auf Befehl oder gegen Geld, und taten Sie es nur ein einziges Mal, um sich ohne Grund öffentlich damit zu zeigen, so verloren sie sofort diese ihre übernatürliche Kraft. So hat doch auch Christus niemals...

»Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie diesen Namen nicht in Ihren Mund nähmen.«

»Wie Sie wünschen, gnädigste Frau Gräfin. Und zweitens habe ich Ihren reizenden Körper schon untersucht.«

»Was?!«

»Als — als... nun, ich kann den Namen dieses Tierchens ja ruhig aussprechen, es ist ebenfalls ein Meisterwerk der Schöpfung, diese hat es genau so lieb wie einen Menschen... als Floh.«

Ein Zähneknirschen erscholl. Der Japaner hatte es hören lassen.

Atalanta aber lachte nur belustigt.

»Sie sind ja köstlich, mein lieber Mephistopheles!«

»Mein lieber Mephistopheles sagen Sie? Haben Sie den ›Faust‹ von Goethe gelesen?«

»In englischer Übersetzung, ja.«

»Ist da dieser Teufel nicht eigentlich ein ganz famoser, gediegener Kerl?«

»Eigentlich ja.«

»Na sehen Sie! Und so ein guter, ganz ehrlicher Teufel bin ich auch. Ich ärgere die Menschen nur gern ein bisschen. Und als der ehrenwerte, streng wissenschaftliche Professor Dodd kann ich doch nicht solche Allotria treiben. Dann glaubt mir das ja niemand. Deshalb muss ich eben gleichzeitig den Mephistopheles spielen.«

»Sie wollen wohl mit mir ein Bündnis eingehen?«

»Na, endlich haben Sie es erfasst! Gewiss, das ist mein sehnlichster Wunsch.«

Wieder musste Atalanta herzlich lachen.

»Was gibt's denn da zu lachen? Habe ich Ihnen etwa jemals ein Leid zugefügt?«

»Na, ich danke!«

»Welches denn?«

»Sie können noch fragen?«

»Sprechen Sie, und ich werde mich rechtfertigen.«

»Sie haben uns, mich und meinen nachmaligen Gatten, hier an dieser Stelle zu betäuben versucht, nur bei mir gelang es nicht...«

»Jammerschade, dass es nicht auch bei Ihnen gelang. Sonst hätten Sie sich alle weiteren Unannehmlichkeiten erspart. Ich wollte Ihnen nur eine große, freudige Überraschung bereiten.«

»Ja, uns lebendig auf den Seziertisch schnallen.«

»Habe ich Ihnen nicht als Professor Dodd gesagt, wie ich hierüber denke? Entweder ganz freiwillig, oder niemals.«

»Elender Heuchler!«

»Jawohl, nun schimpfen Sie.«

»Gut, ich werde ganz sachlich sprechen. Als Sie sahen, dass Ihnen Ihr teuflischer Anschlag bei mir nicht geglückt war, flohen Sie.«

»Ja, sollte ich nicht schnellstens die eiserne Tür zwischen uns bringen, sobald ich Ihre Augen sah! Sie hätten mich doch sofort zerquetscht.«

»Sie gaben mir Ihr Ehrenwort, uns sofort freizulassen, sobald ich Ihnen die goldene Kapsel auslieferte.«

»Na, auf so ein Ehrenwort kommt es einem Teufel nicht an«, wurde gleich ganz offen zugegeben, »und deshalb braucht er noch lange kein schlechter Kerl zu sein. Ich bin's wirklich nicht. Ich hatte wirklich nichts Böses mit Ihnen vor.«

»Hohnlachend entfernten Sie sich und sagten, nun bekämen Sie uns doch noch lebendig auf den Seziertisch...«

»Alles nur Scherz. Ja freilich, ängstlichen Menschen so ein bisschen Schreck einzujagen, das macht mir nun einmal Spaß.«

»Dann ließen Sie die Wand durchbohren...«

»Um Sie durch Gas zu betäuben, gewiss. Ich wollte Sie doch noch in meine Gewalt bekommen. Aber wozu? Nur um Ihnen eine großartige Überraschung über die andere zu bereiten.«

»Ich wurde, als ich mich im Fenster zeigte, mit Pfeilen beschossen...«

»Aus demselben Grunde, stimmt. Die Pfeile hatten nur ganz schwache Spitzchen, waren aber mit einem narkotischen Mittel befeuchtet.«

»Dann ließen Sie uns im Wasser mit Booten verfolgen...«

»Ja, Du lieber Gott, ich musste Ihrer doch habhaft werden. Sie waren doch schon in meine tiefsten Geheimnisse eingedrungen. Dass Sie dieselben so gut wahren würden, wusste ich damals ja noch nicht.«

»Nun kommt die Hauptsache: Durch jenes Betäubungsmittel wurde der Graf gelähmt, Sie hatten ihn zum Krüppel gemacht!«

»Nein, gnädigste Frau Gräfin, in dieser Hinsicht tun Sie mir wirklich das größte Unrecht!«, erklang es mit aller Entschiedenheit aus dem Telefon. »Ich habe dieses Betäubungsmittel tausendfach angewandt, und nie hat es hinterher paralytisches Koma erzeugt oder irgendwie andere schädliche Folgen gehabt. Wohl war Ihr Herr Gemahl hinterher gelähmt, aber das wäre auf alle Fälle sowieso gekommen, durch irgend eine andere Ursache, vielleicht nur durch einen kleinen Schreck. Er war disponiert dazu. Und habe ich ihn dann als Professor Dodd nicht kostenlos in die Kur genommen? Habe ich ihn nicht wieder hergestellt? Nun werden Sie gleich sagen: Dafür haben Sie ihm etwas anderes geraubt. Nein, das ist nicht wahr! Das war nur eine Begleiterscheinung, die nur wenige Wochen gewährt hätte. Kann ich dafür, dass er dort in der syrischen Wüste sein Ende gefunden hat? Warum haben Sie die goldene Kapsel geöffnet? Warum haben Sie dem allen nachgeforscht? War es nicht überhaupt mein Geheimnis, das Sie mir entwendeten?«

Jetzt drehte der den Spieß abermals herum!

Es war mit diesem Menschen eben nichts anzufangen.

»Und außerdem«, fuhr er fort, »habe ich nicht schon wiederholt Gelegenheit gehabt, Sie in meine Gewalt zu bekommen oder Sie zu töten? Es stand doch zu erwarten, dass Sie hierher zurückkehren würden. Ich hätte Höllenmaschinen anlegen können, ein Tritt, ein Griff, und Sie wären in Atome zerstäubt. Ich habe es nicht getan. Ich könnte Ihnen hier durch das Telefon Zyanwasserstoff ins Gesicht hauchen, gegen den es kein Gefeitsein gibt — ich tue es nicht. Es wäre mir doch eine Kleinigkeit, Ihre ganze Felsenabteilung in die Luft zu sprengen — ich tue es nicht.«

»Sie sind ein edler Mensch!«, spottete Atalanta, konnte ihm aber gar nicht so Unrecht geben, sie war etwas verwirrt geworden, wenn man ihr äußerlich auch nichts davon anmerkte.

»Bin ich auch. Das heißt kein edler Mensch, sondern ein guter, ehrlicher Teufel, so weit ein Teufel gut und ehrlich sein kann.«

»Also Sie wollen mit mir ein Bündnis eingehen?«

»Das ist mein sehnlichster Wunsch. Seitdem ich Sie näher kennen gelernt habe. Wir beide passen doch vortrefflich zusammen.«

»Ich danke für diese Schmeichelei. Erst aber gestatten Sie mir noch einige Fragen.«

»Bitte sehr. Ich stehe Tag und Nacht zu Ihrer Verfügung.«

»Wofür haben Sie mir die zehn Millionen Dollars gegeben?«

»Was für zehn Millionen Dollars?«

»Nun ja, für meine Rückentätowierung.«

»Ach, nun fangen Sie wieder mit dieser Geschichte an! Und wohl auch wieder mit dem Leder? Ich weiß von keinem Leder, ich wüsste mit Ihrer Rückenzeichnung gar nichts anzufangen! Ich habe Ihnen damals durch einen Agenten bis zu sechs Millionen Dollars für den Sklavensee bieten lassen, das stimmt. Aber nur darum, um hier meine Geheimnisse und die so schön eingerichtete Behausung behalten zu können. Von Schätzen und von einem Leder weiß ich nichts — ich schwör's bei meinem Pferdefuß und bei meinen Hörnern!«

Atalanta war schon mehrmals ganz irre geworden und wurde es jetzt wieder.

»Kennen Sie einen Seewolf?«

»Ist das ein Fisch oder ein Meersäugetier? Mir unbekannt.«

Die Indianerin kam wirklich immer mehr zur Überzeugung, dass es zwei ganz verschiedene Parteien waren, die gegen sie um den Besitz des Sklavensees kämpften oder doch gekämpft hatten.

»Also wie denken Sie sich unser Bündnis?«, fragte sie weiter.

»Nun, das Einfachste ist doch, wenn wir uns gleich heiraten.«

Wieder ein leises Zähneknirschen seitens des Japaners, wahrend die Indianerin lachte.

»Ja, Sie lachen! Mir ist es sehr ernst damit. O, Sie sollen mich nur erst richtig kennen lernen, was ich für ein feiner, liebenswürdiger Mann bin. Und was ich erst für ein Ehegatte werde! Natürlich werde ich meine liebe Frau auch niemals lebendig sezieren... ja was lachen Sie denn?«

Ja, Atalanta lachte herzlich.

Jetzt entpuppte sich dieser Teufel auch noch als ein Humorist. Aber einem Mephistopheles ist so etwas schließlich ganz entsprechend.

»Bitte, fahren Sie fort in der Anpreisung Ihrer Tugenden.«

»Geld haben Sie bei mir immer im Überfluss. Denn ich mache Geld selber. Aber nicht etwa falsches. Lieben Sie goldenes Geschmeide? Ich mache Gold selber. Lieben Sie Diamanten und Juwelen? Ich mache die Diamanten und sämtliche anderen Edelsteine selber. Ja ja, es ist Tatsache! Oder glauben Sie, die Menschheit wird nicht noch einmal so weit kommen, Diamanten in jeder Menge herzustellen? Nun, ich bin der Menschheit einige Jahrhunderte voraus. O, Sie sollen einmal ein chemisches und physikalisches Laboratorium hier sehen! Was ich schon für Erfindungen gemacht habe! Von denen lässt sich die kühnste Dichterphantasie nicht einmal etwas träumen. Natürlich fällt es mir gar nicht ein, meine Erfindungen preiszugeben oder sie öffentlich zu zeigen. Möchten Sie nicht einmal meine Erfindungen kennen lernen?«

»Sie können Gold machen?«, fragte sie interessiert.

»So viel Sie wollen. Ich verwandele immer ein Metall ins andere. Dieses Problem habe ich schon längst gelöst.«

»Und Diamanten?«

»Wenn's weiter nichts ist. Ich lasse den Kohlenstoff einfach aus flüssiger Kohlensäure auskristallisieren. Wenn's freilich alle könnten, dann hätten Diamanten ja gar keinen Wert mehr. Wollen Sie meine Laboratorien besichtigen?«

»Ja.«

»Dann werden Sie meine Frau. Nur in diesem Falle sollen Sie alles sehen und noch etwas ganz anderes.«

»Daran ist nicht zu denken, aber ich werde Ihre Laboratorien dennoch besichtigen.«

»Sie wollen eindringen? Geben Sie sich keine Mühe. Sagen Sie dem Japaner, er soll endlich aufhören, die armen Felswände anzubohren. Und wenn Sie auch alles in Trümmer legen, so werde ich doch immer wieder eine neue Felswand vorsetzen.«

»Und ich werde dennoch eindringen!«

»Gut, machen wir eine Wette. Ich gebe Ihnen ein ganzes Jahr Zeit. Sind Sie dann hinter den Kulissen — was hiermit zu verstehen ist, ist wohl ganz deutlich — so soll alles bleiben, wie es jetzt ist, ich werde vorher nichts wegräumen, ich werde Ihnen alle meine Geheimnisse erklären.«

»Und wenn es mir nicht gelingt?«

»Dann müssen Sie mich heiraten.«

»Angenommen...«

Zu spät hatte Doktor Hikari ihren Arm gepackt.

»Angenommen!«, erklang es triumphierend aus dem Telefon. »Und nun sind Sie schon so gut wie meine Frau, denn niemals wird es Ihnen gelingen, in meinen Bereich zu dringen!«

Diesmal aber lachte Atalanta verächtlich.

»Bitte, lassen Sie mich doch aussprechen. Angenommen, wollte ich sagen, ich müsste nun eine längere Reise antreten? Nein, es fällt mir ja gar nicht ein, mich in einer derartigen Weise zu binden. Und ich komme dennoch hinter Ihre Geheimnisse.«

Das maßlos bestürzt gewesene Gesicht des Japaners verzog sich in ganz merkwürdiger Weise, jetzt war es ein echtes lustiges Mopsgesicht, und aus dem Telefon erscholl ein ganz merkwürdiger Laut.

»Sie sind ja ein ganz raffiniertes Weib! Pardon, ich finde wirklich nicht gleich einen anderen Ausdruck. Jetzt aber haben Sie mich wirklich einmal düpiert. Also Sie wollen nicht mit mir diese Wette eingehen?«

»Ich denke gar nicht daran.«

»Nun gut, mir nur umso lieber. Denn dann werden Sie nur umso schneller meine Frau.«

»Wie das?«

»Weil ich mich dann umso mehr anstrengen muss, Ihnen meine persönlichen Vorzüge ins rechte Licht zu rücken.«

»Eitler Prahler!«, lachte Atalanta.

»Nun, Sie werden ja sehen. Vorläufig bleibt es doch also dabei.«

»Wobei?«

»Dass wir als gute Nachbarn zusammen leben.«

»Das kommt ganz auf Sie an.«

»Über mich werden Sie nie zu klagen haben.«

»Aber ich werde ständig bemüht sein, in Ihr Reich einzudringen.«

»Hierzu gebe ich Ihnen meine Erlaubnis.«

»Deren bedarf ich gar nicht, soweit es sich um eine Entfernung von vier englischen Meilen vom Ufer des Sees handelt.«

»Ich gebe Ihnen aber die Erlaubnis, es auch von hinten, von Puebla oder sonst wo aus oder über das Plateau hinweg zu versuchen.«

»Gut, diese Erlaubnis nehme ich dankbar an.«

»Darf ich mich Ihnen jetzt persönlich vorstellen?«

»Sie wollen herüber kommen?«

»Ja.«

»Wozu?«

»Um mich Ihnen angenehm zu machen, dass Sie meine Vorzüge kennen lernen, dass Sie heiß begehren, aufs schnellste meine Gattin zu werden.«

»Immer kommen Sie nur herüber!«, lachte Atalanta ins Telefon.

»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, dass Sie nichts gegen mich unternehmen?«

»Fällt mir ja gar nicht ein!«, lachte Atalanta wiederum.

»Sie geben Ihr Ehrenwort nicht?«

»Nein.«

»Was würden Sie tun, wenn ich hinüber komme?«

»Sie sofort festnehmen und, wenn ich Sie nicht mehr erreichen könnte, Sie niederschießen.«

»Nennen Sie denn das gute und getreue Nachbarschaft halten?«

»Es war nicht so gemeint. Ich lasse mich nur nicht gern beim Wort nehmen, ich bin sehr vorsichtig geworden. Sie meinten wohl nur einen Waffenstillstand für gewisse Zeit?«

»Nichts anderes. Nur für diese erste Vorstellung.«

»Wie lange soll diese währen?«

»Nun, sagen wir eine Stunde.«

»Welche Zeit ist es jetzt?«

»Es war halb elf.«

»Gut, bis um zwölf Uhr sind Sie geschützt, auf Ehrenwort.«

»Und Sie garantieren doch natürlich auch für Ihre Begleiter?«

»Selbstverständlich. Sie befinden sich für diese Zeit als mein geheiligter Gastfreund in meinem Hause.«

»So wollen Sie sich, bitte, in das kinematografische Theater begeben, sich gleich vorn auf die erste Reihe setzen. Ich will mich Ihnen nicht nur vorstellen, sondern eine Vorstellung geben, und vielleicht haben Sie sofort Lust, mit mir Hochzeit zu feiern, weil Sie gar nicht erwarten können, die Rätsel erklärt zu bekommen. Schluss.«

Illusionen des Teufels

Fünf Minuten später betrat Atalanta, die schon den Schlafrock mit ihrem Lederkostüm vertauscht hatte, mit Doktor Hikari das kinematografische Theater.

Sobald sie sich auf die vorderste Reihe gesetzt hatten, der Bühne sechs große Schritt entfernt, verlosch das elektrische Licht und der Vorhang rollte empor.

Nichts war zu sehen. Man blickte einfach ins Leere.

Da plötzlich zuckte in der schwachen Dämmerung ein blendender Blitz auf, dem ein ganz gehöriger Donnerschlag nachfolgte, und auf der Bühne — wie man es wohl bezeichnen muss, obwohl es sich doch nur um eine Milchglasplatte oder ähnliches handelte, worauf das bewegliche Lichtbild von hinten geworfen wurde — stand in hellerer Beleuchtung ein Teufel — so ein Teufel, wie man ihn sich früher vorstellte: halb Mensch, halb Ziegenbock, mit rotbraunen Haaren bedeckt, mit langem Schwanz, mit Bocksfüßen und mit Hörnern auf dem Kopfe. Sonst gar keine Szenerie.

»Ich bin der echte Teufel aus der guten alten Zeit«, meckerte grinsend das Ziegenbockgesicht, »der Beelzebub, der Luzifer, der Satanas, der Gottseibeiuns — so wie er aber auch noch heute in vielen Köpfen existiert.«

Diese Naturtreue war erstaunlich, und fast noch mehr, wie diese Figur aus dem Bilde heraus sprach!

Aber das war ja schon das vorige Mal so erstaunlich gewesen.

Der Teufel, nach den beiden Zuschauern blickend, was natürlich nur ein Zufall sein konnte, rieb sich grinsend die dürren, beharrten Finger mit den ungeheuer langen Nägeln.

»Die Szenerie kommt Ihnen wohl etwas zu nüchtern vor?«, meckerte er. »Nun wohl, ich kann mich Ihnen auch in meiner ganzen höllischen Majestät und Herrlichkeit präsentieren...«

Und mit ganz anderer, tieferer Stimme begann er, die Arme ausbreitend, feierlich zu deklamieren:


Der auf dem Höllenthron ich sitze,
Der ich in Höllenflammen schwitze,
Der ich in Höllentiefen blitze,
Wo Laven glühn;
Mit Pech und Schwefel um mich spritze,
Euch zu verbrühn —


Er stampfte mit dem Bocksfuße auf, und plötzlich loderten aus dem Boden überall Flammen empor, rote und grüne und blaue und gelbe, und in der Mitte dieser Glut, von Rauch umhüllt, saß der Teufel plötzlich auf einem aus lauter zuckenden Funken bestehenden Throne.

»Großartig, großartig!«, flüsterte Atalanta mit aufrichtigem Staunen, und vielleicht auch noch von einem etwas anderen Gefühle erfasst.

»Ja, das ist wirklich von schauriger Pracht, da könnte man sich fürchten!«, stimmte der Japaner bei.

»Wie sie so etwas nur machen?«

»Das weiß ich aufrichtig gestanden auch nicht.«

»Das muss doch alles erst fotografiert werden.«

»Das sollte man eigentlich annehmen.«

Es blieb nicht bei dieser feurigen Höllenerscheinung. Unter einem schauderhaften Pfeifen und quiekenden Heulen kam eine ganze Menge kleiner Teufelchen angelaufen, große Gabeln in den Händen, sie stachen vor sich her eine arme Seele, einen Menschen — man konnte ihn nicht deutlich unterscheiden, es war wie ein zitternder Schatten — und mit einem Male war da ein riesiger Drachenkopf, der riss seinen Rachen auf, man sah eine rote Glut, Flammen spritzten heraus, die arme Seele kopfüber hinein, und der Rachen schloss sich wieder.

»Sehen Sie, meine Herrschaften«, sagte jetzt der Höllenfürst ganz modern, »in diesem feurigen Pfuhl muss der Mann nun für alle Ewigkeit schmoren.«

Ein Donnerschlag, verschwunden war das ganze Feuermeer, und auf der szenerielosen Bühne stand eine Gestalt in rotem Wams mit Barett, darauf die Hahnenfeder, an der Seite den langen Raufdegen.

»Der Teufel einer späteren Zeit, so halb Rokoko, Renaissance, Mephistopheles. Statt zweier Bocksfüße sehen Sie nur noch einen einzigen Pferdefuß, in einen hocheleganten Schnabelschuh gezwängt. Etwas mehr Szenerie? Bitte, Herr Regisseur.«

Ein Heulen und Pfeifen und Sausen — plötzlich eine wilde Gebirgslandschaft, darüber der Vollmond — und da kam es durch die Schlucht mit einem Spektakel herangebraust — erst dürre Hunde und einige Katzen und anderes scheußliches Ungetier — ein Schwarm Hexen, grünliche Vetteln, in Backtrögen durch die Luft segelnd, auf Besen und Mistgabeln reitend, auch auf Schweinen — und dann unter einem neuen Donnerschlag plötzlich ein freies Gebirgsplateau, in der Mitte stand Mephistopheles mit der Hahnenfeder, schaute hohnlachend den jungen Hexchen zu, die im kurzen Hemdchen im Kreise um ihn herumtobten, sich an den Händen gefasst haltend, aber das Gesicht nach außen, ihrem Meister den Rücken zukehrend, so wie Hexen eben tanzen, wenn es richtige Hexen sein wollen — und die Musik machten Flötenspieler, die an Galgen hingen.

Es war gut, dass das Bild gleich wieder verschwand.

Auf der leeren Bühne stand wieder Mephistopheles im roten Wams mit Hahnenfeder. Er bewegte die Hände hin und her, und auf dem Boden sprießten Rasen und Blumen, plötzlich schossen Kirschbäume mit roten Früchten empor, zwei Reihen bildend, eine Landstraße begrenzend, die sich als immer schmaler werdender Streifen in der Ferne verlor. Sobald Mephistopheles diese Szenerie hervorgezaubert hatte, verschwand er spurlos.

»Reizend, reizend!«, flüsterte Atalanta. »Sehen Sie nur die Bäume, wie sich die Blätter und Kirschen im Winde bewegen? Wie sie das nur machen?«

»O, das wird alles fotografiert. Wie sie die Illusionen zustande bringen, weiß ich allerdings auch nicht. Aber heute ist der Kinematografie kaum noch etwas unmöglich. Von solch klarer Natürlichkeit habe ich allerdings noch nichts gesehen, das muss ich zugeben. Die müssen hier ein ganz anderes Verfahren haben, ihre eigene Erfindung.«

Hinten auf der Landstraße tauchte eine Staubwolke auf, vorn ein dunkler Punkt, er vergrößerte sich schnell — ein Automobil raste heran.

Es raste und raste, nahm Riesengröße an, ein furchtbares Tuten, ein schmetterndes Krachen, Bersten und Splittern... es war in die Glasscheibe hineingesaust.

So musste man wenigstens annehmen. Eine Illusion, eine Täuschung der Perspektive.

Aber so natürlich, dass sich die beiden unwillkürlich geduckt hatten. Zum Fortspringen hätten sie auch gar keine Zeit mehr gehabt. Sie fühlten sich schon überfahren.

Doch da stand das hundertpferdige Automobil bereits wieder auf der Bühne. Nur zwei Kirschbäume lagen zerschmettert am Boden.

Der Chauffeur — Passagiere befanden sich nicht darin — blickte durch seine große Brille hinter sich.

»Habe ich jemanden überfahren? Nein. Schade. Ich bin in der Versicherung.«

Er warf den gelben Kittel von sich, hatte einen Zylinder auf dem Kopf und sprang im schwarzen Gehrockanzug heraus.

»Der Mephistopheles des 20. Jahrhunderts — Professor Dodd.«

Er war es! Bei der Vorstellung hatte er den Zylinder gezogen — auf seiner Stirn brannte ein großes, rotes Mal, einen Fisch darstellend, von einer Schlange umwunden, auf diese Entfernung ganz deutlich zu erkennen.

»Doktor, Doktor, das ist aber doch kein lebendes Bild mehr!«, flüsterte Atalanta ganz außer sich.

»Nein, gnädige Frau Gräfin«, entgegnete da der Herr mit dem knebelbärtigen Mephistogesicht, »das sind überhaupt niemals lebende Bilder gewesen, das heißt keine Kinematografie. Wohl lassen sich auf dieser Glasplatte, die ich vor mir habe, kinematografische Bilder erzeugen, wenn Sie dort hinten an dem Apparat die Register ziehen — aber was Sie jetzt gesehen haben, das war alles Wirklichkeit. Oder auch nicht. Es war Illusion.

Was ist Wirklichkeit? Was ist Illusion? Das wissen wir gar nicht. Was heute Wirklichkeit ist, das ist vielleicht morgen schon Illusion, und umgekehrt. Vor tausend Jahren war es Wirklichkeit, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Heute ist es eine Illusion. Heute dreht sich die Erde um die Sonne. Und wie wird es wieder in tausend Jahren sein?

Sie glauben, das wäre nun die reine Erkenntnis, die sich niemals mehr ändern könnte?

Sie da unten, Herr Doktor Hikari, Sie großer Astronom — eines kann ich Ihnen versichern: Die Kometen, deren Laufbahnen Sie so emsig berechnen, die existieren überhaupt gar nicht. Das sind nur Illusionen. Das sind durch linsenförmig angehäufte Meteoritenschwärme gebrochene Sonnenstrahlen. Hierdurch ist auch das für alle Astronomen sonst unerklärliche Rätsel gelöst, weshalb der Komet manchmal seinen Schweif der Sonne zukehrt. Sie sind Buddhist, Sie glauben an eine Wiedergeburt — wir wollen uns in hundert Jahren wieder sprechen. Wie man uns da mit unseren heutigen Kometen auslachen wird!«

»Oho! Oho!«, stammelte der Astronom.

»Ja«, fuhr der moderne Mephistopheles und Hexenmeister fort, »es ist alles nur Illusion, was ich Ihnen vormache. Aber kein Mensch kann unterscheiden, wo die Wirklichkeit aufhört und die Täuschung anfängt, und umgekehrt. Es ist meine eigene Erfindung, die ich ursprünglich zu einem ganz anderen, streng wissenschaftlichen Zweck gemacht habe, die sich nur wunderhübsch auch zu solchen Illusionen verwenden lässt. In der Glasplatte, die sich zwischen uns befindet, liegt die ganze Hexerei.«

Er ging zu dem großen Automobil, streckte die Arme aus, presste es zusammen, drückte es immer mehr zusammen, bis das mächtige Ding zwischen seinen Händen verschwand.

»Solch ein Automobil möchten Sie wohl auch besitzen, Frau Gräfin, wie?«, lächelte er. »Hier haben Sie es, bitte, fangen Sie.«

Er warf ihr einen kleinen Gegenstand zu. Es war ein kleines Automobil aus Bronze, eine Nippfigur.

»Ja, das ist aber doch keine Glasplatte!«, rief Atalanta.

»Nicht? Bitte, überzeugen Sie sich.«

Auch Hikari ging mit hin. Wahrhaftig, es war eine Glasplatte, hinter welcher der Mephisto stand! Merkwürdig war nur, dass man absolut nicht erkennen konnte, wie dick sie war. Überhaupt kann man doch in dichter Nähe immer sagen, ob man eine Glasscheibe vor sich hat oder nicht, und mag es auch das feinste Tafelglas sein, noch so sauber geputzt. Hier nicht. Man stieß mit den Händen gegen einen festen Widerstand in der Luft, konnte an ihm entlang fahren, fühlte eine Platte — zu sehen aber war absolut nichts davon.

»Was ist denn das für ein Glas? Und wo und wie haben Sie denn die kleine Figur durchwerfen können? Ich sah sie doch ganz deutlich durch die Luft fliegen!«, wunderte sich der Japaner.

Grinsend nahm der dicht vor ihnen Stehende seinen Zylinder ab, warf ihn von der Bühne herunter, dass er bis vor die erste Sitzreihe rollte, also eigentlich durch die Glasschale hindurch, griff sich ins Haar, nahm seinen Kopf von den Schultern, wischte mit dem Ärmel über der Stirn hin und her, so wie man einen Hut putzt, und während dieser Bewegung des Rumpfes mit dem Halsstumpf begann der Kopf zu sprechen, man sah, wie sich die Lippen richtig bewegten:

»Hinter dieser Glasplatte kann ich jede nur denkbare Illusion ausführen, und es ist nicht möglich, sie von der Wirklichkeit zu unterscheiden.«

Die Hand hielt den Kopf, von dessen Stirn das Brandmal jetzt verschwunden war, noch einmal vor sich hin, den beiden entgegen, das Gesicht lachte und grinste, zog Grimassen, die Zunge wurde herausgesteckt und die Augen rollten.

»Bitte, wollen sich die Herrschaften wieder auf Ihre Plätze bemühen!«, sagte dieser abgenommene Kopf klar und deutlich.

Professor Dodd — oder Mephistopheles, wie wir ihn zur Unterscheidung immer nennen wollen — begab sich nach einem der beiden umgeknickten Bäume und setzte einen Fuß auf den Stamm.

»War das eine Illusion, dass ich diese beiden Bäume mit dem Automobil über den Haufen fuhr?«

»Das kann doch nichts anderes gewesen sein.«

Er bückte sich und warf ihnen einige Holzsplitter zu. Es war ganz frisches, saftiges Kirschbaumholz. Dann hob er einen der abgebrochenen Zweige auf, voll roter Kirschen hängend, ging an einen noch stehenden Baum, den er also doch ebenso vorhin nur in die Luft gemalt hatte, brach ebenfalls einen Zweig mit Kirschen ab, trat an den Rand der Bühne, stieg die an der Seite befindlichen Stufen herab und schritt auf die beiden zu.

»Ihr Ehrenwort schützt mich!«, sagte er, mit einer Verbeugung die beiden Zweige überreichend.

Es waren frische Kirschen, man konnte sie essen.

»Ja wie ist das nur möglich?«

»Illusion!«, grinste das Teufelsgesicht.

Fragend blickte die Indianerin ihren Nachbar an.

»Wir sind doch nicht etwa... hypnotisiert?«

»Ausgeschlossen!«, entgegnete der Japaner, nach seiner Uhr sehend.

»Wie gehen Sie denn nur durch die Glasplatte hindurch?«

»Bitte, kommen Sie mit.«

Der Mephisto ging schnell zurück, die Treppe hinauf, betrat die Bühne, Atalanta folgte ihm auf dem Fuße — — und stieß gegen eine unsichtbare Wand, die sich dicht am Rande der Bühne erhob und deren Rand selbst mit hochgehobenen Händen nicht erreichbar war.

»Was ist denn das nur für ein Glas, durch das Sie hindurch gehen können und wir nicht?!«

»Das ist kein Glas, das ist eine ganz andere Masse. Das ist meine eigene Erfindung. Das ist Luft — gefrorene Luft. Nein, das ist überhaupt gar nichts, das ist eine überhaupt gar nicht existierende Luftschicht, und dennoch so fest, dass Sie mit Kanonen hineinschießen können, und auch die schwerste Panzergranate wird wirkungslos davon abspringen, ohne einen Sprung oder auch nur den geringsten Eindruck zu hinterlassen. Wer aber das Geheimnis kennt, der geht ungehindert durch sie hindurch und lässt hindurchgehen, was er will.«

»So etwas gibt's ja gar nicht — oder es ist Zauberei!«, flüsterte der Japaner, der vielleicht noch viel aufgeregter war als die Indianerin.

»Gibt es ja gar nicht? Zauberei?«, grinste die Teufelsfratze. »Geehrter Herr Doktor, o sternenkundige Leuchte der Wissenschaft! Wenn Sie vor 250 Jahren in Ihrem Hause allein ein Telefon besessen hätten, oder vielleicht nur eine elektrische Klingel, so wären Sie ganz sicher als Zauberer auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Und wenn Sie vor nur 25 Jahren behauptet hätten, es wäre vielleicht möglich, in einem lebenden Menschen die Knochen zu fotografieren, so wären Sie sicher für irrsinnig erklärt worden.«

So sprach der Mephisto. Und ach, wenn man da weiter sprechen wollte! Da würde man überhaupt nie fertig.

Als vor zirka 40 Jahren Jules Vernes »Reise um die Erde in 80 Tagen« erschien, hat man das Buch mit Vergnügen gelesen und es dann lächelnd Kindern in die Hände gegeben, obgleich es schon damals nicht an schulmeisterlichen Stimmen fehlte, man sollte die Köpfe der Kinder nicht mit solchen Phantastereien erfüllen.

Denn in 80 Tagen um die Erde zu reisen, sei eine Unmöglichkeit.

Und heute? Heute macht man genau dieselbe Reise ganz bequem in 60 Tagen!

Und hierbei handelt es sich nur um eine einfache Reise, während Jules Verne Unterseeboote, Luftschiffe, Flugmaschinen und dergleichen in den Bereich seiner Phantasie gezogen hat!

Jules Verne ist ein Prophet gewesen, wie überhaupt jeder echte Dichter ein solcher ist.

Und wenn die Werke Zolas, Maupassants & Co. schon längst im Staube modern werden, dann wird man die phantastischen Schriften ihres einst verspotteten Landsmannes Jules Verne noch immer mit Vergnügen lesen!

»Sie haben doch gewiss ein größeres Messer bei sich, Fran Gräfin.«

Ja, das hatte die Indianerin allerdings, sie brachte einen Nickfänger zum Vorschein, dessen aufgeklappte Klinge schon mehr ein kleines Schwert zu nennen war.

»Und Sie verstehen dieses Messer doch gewiss zu schleudern?«

»O ja, das kann ich.«

»Dann bitte, schleudern Sie das Messer mir einmal in die Brust, ins Herz oder in den Leib, wohin Sie wollen. — bitte, genieren Sie sich nicht...«

Nein, die Indianerin genierte sich durchaus nicht, erhob sich, fasste die Spitze zwischen zwei Fingern und hob den Arm.

»Jetzt?«

»Sofort, ich brauche keine Vorberei...«

Schon schwirrte das schwere Messer durch die Luft, und es fand keine Platte als Hindernis, man hörte es aufschlagen, mit furchtbarer Gewalt grub sich der lange Stahl bis ans Heft mitten in die Brust Professor Dodds ein, er musste das Brustbein durchschlagen haben.

Der Mephistopheles war durch die Gewalt des Wurfes etwas zurückgetaumelt, dann zog er das Messer mit einem Ruck heraus, ein Blutstrahl sprang hervor, Mephisto hielt kurze Zeit ein weißes Taschentuch darunter, sprang von der Bühne herab und überreichte das Messer und das Tuch.

Das Messer war blutig, das weiße Tuch blutgetränkt.

»Illusion, nicht wahr?«, grinste er.

Atalanta starrte auf das weiße Oberhemd. Da war auf der Brust kein Blutfleck, kein Löchelchen zu sehen.

»Ja, wie machen Sie das nur?«

»Bitte, geben Sie mir einen Gegenstand, in dem das Messer haften bleibt, am besten wäre ja ein Brett, aber es muss unbedingt von Ihnen sein...«

»Vielleicht eine Brieftasche?«

»Ja, das ginge vorzüglich.«

Schon hatte Atalanta aus ihrem Busen eine flache Ledertasche gezogen, nahm einige Papiere heraus und gab dem Unheimlichen die Tasche.

»Sie darf von dem Messer durchbohrt werden?«

»Das schadet nichts.«

Er ging zurück, stellte sich in die Mitte der Bühne, hielt sich die Brieftasche flach vor die Brust.

»So, bitte, schleudern Sie das Messer noch einmal nach der Tasche. Es schadet nichts, wenn Sie mir einige Finger abschneiden, die wachsen gleich wieder nach.«

Das Messer sauste durch die Luft, bohrte sich mitten in die Tasche und in die Brust ein.

Diesmal floss kein Blut, als der Gaukler das Messer wieder aus der Brust zog, aber so, dass die Federtasche noch auf der Klinge haften blieb, und so brachte er beides der Eigentümerin zurück.

»Illusion, nicht wahr?«, grinste er nach wie vor.

»Unbegreiflich, unbegreiflich!«, murmelte die Indianerin.

Der Mephisto war auf die Bühne zurückgekehrt.

»Hinter dieser durchsichtigen, wesenlosen und dennoch so panzerharten Platte ist mir nichts, rein gar nichts unmöglich. Sie können von mir verlangen, was Sie wollen...«

»So verwandeln Sie sich in einen Wolf!«

»Wie Sie befehlen.«

Der Gaukler legte beide Hände gegen die Schläfen und plötzlich verwandelte sich sein Kopf in einen Wolfsschädel, es war, als ob er ein Fell vom Halse herabstreife, dieses rollte von allein herunter, geschah aber doch so schnell, dass es auch die Falkenaugen der Indianerin nicht deutlich unterscheiden konnten, Arme und Beine schrumpften zusammen, das Tier fiel auf die Vorderfüße, und der schwarze Wolf war fertig. Er lief auf der Bühne herum, machte Sprünge, dann stellte er sich hin und heulte auf schreckliche Weise.

Dann entwickelte sich der Wolf zurück zum Menschen, auf der Bühne stand wieder der höhnisch grinsende Mephistopheles im schwarzen Gehrockanzug.

»In was soll ich mich nun verwandeln? In eine Katze, in einen Vogel, eine Taube oder einen Strauß, in einen Elefanten oder eine Maus... mir ganz gleichgültig!«

»In einen Elefanten.«

Die Umwandlung geschah nicht gerade zu schnell, aber man hätte die einzelnen Phasen dann hinterher nicht beschreiben können. Der schwarze Anzug wurde grau, lief auseinander, ein Elefantenkopf setzte an, ein Rüssel wuchs heraus — plötzlich stand da ein sehr kleiner Elefant, der aber zauberschnell in die Größe und Breite wuchs — bis auf der Bühne ein riesiger Elefant stand, ein indischer mit ungeheuren Stoßzähnen.

Er schwenkte den Rüssel, ging mit wahrhaft graziösen Schritten, die man solch einem Ungetüm gar nicht zutraut, hin und her, hob den Rüssel, öffnete den Rachen, ein schmetternder Trompetenton erschallte — dann hob er einige Zweige auf, schob sie in den Rachen, zermalmte sie — darauf schlang er den Rüssel um einen dünneren Kirschbaum, riss ihn mit einem Ruck samt den Wurzeln aus dem Boden, schlug die Wurzeln mehrmals auf den Boden, um die Erde abzuklopfen, genau so, wie es ein Elefant tut, und fing an, das Stämmchen zu verspeisen.

Dann allerdings war es merkwürdig, dass da plötzlich ein Teich oder wenigstens der Anfang davon zu sehen war. Der Elefant trottete hin, tauchte den Rüssel ein und spritzte sich das Wasser in den geöffneten Rachen. Dann saugte er nochmals, wandte den Rüssel gegen den Zuschauerraum und... gab den beiden eine tüchtige Dusche, die nichts an Wirklichkeit vermissen ließ.

Als die beiden, ganz durchnässt, wieder aus den Augen sehen konnten, stand da wieder der Mephistopheles im schwarzen Gehrockanzug.

»Verzeihen Sie«, grinste er, »ich wollte Ihnen nur beweisen, dass das wirklich alles nur Illusion ist.«

Die Wasserdusche war natürlich gerade das Gegenteil von solch einem Beweise gewesen.

»Wie ist das nur möglich?!«

»Das ist höchst einfach. Sie brauchen nur einmal auf die Bühne zu kommen. Dann werden Sie lachen über diese Einfachheit. Allerdings auch etwas staunen.«

»Darf ich?«

»Bitte sehr.«

Atalanta ging hin, erstieg die Stufen — und stieß gegen die Glaswand.

»Ja, da kann ich doch nicht durch.«

»Das können Sie sofort.«

»Wie denn?«

»Sie brauchen mir nur zu versprechen, meine Frau zu werden, dann erfahren Sie alles, alles, und noch ganz, ganz andere Wunder bekommen Sie zu schauen und erklärt.«

Die Indianerin hob die Schultern und begab sich auf ihren Platz zurück.

»Könnte nicht Gedankenübertragung im Spiel sein?«, wandte sie sich an den Japaner.

»Nein. Ich bin in der Kunst der Gedankenübertragung selbst sehr bewandert, habe alle Geheimnisse unserer uralten Klöster kennen gelernt, habe selbst viele Jahre Yoga getrieben. Nein, es ist keine Gedankenübertragung. Als der Elefant den jungen Baum ausriss, konzentrierte ich meine Gedanken mit aller Willenskraft darauf, jetzt solle er uns dies Stämmchen zuwerfen — aber statt dessen fraß er es, und dann ging er an den Teich und trank Wasser. Es ist eine geschickte Vermischung von Illusion und Wirklichkeit — von Kinematografie und Panorama. Durch diese Glasplatte hindurch lässt sich das Verschmelzen nicht erkennen.«

»Jetzt haben Sie's erfasst!«, spottete der Hexenmeister. »Soll ich mich noch in etwas andres verwandeln? Zur Abwechslung einmal in eine Maus? Oder in eine Mücke? Oder in einen Walfisch? Mir alles ganz egal. Nein, ich werde Ihnen wieder etwas anderes vormachen. Also hinter dieser Glaswand ist mir absolut nichts unmöglich. Ich will eine Gesellschaft, selbst ernste Männer, hier Tag für Tag und Jahr für Jahr bis an ihr Lebensende unterhalten, und sie sollen nicht müde werden, mir zuzuschauen. Sie wissen wohl, was das heißen will — bei ernsten Männern, die wohl einmal in ein Kinematografentheater gehen, dann nie wieder.

Ich will mit Ihnen auf Reisen gehen. Ich könnte hier auf der Bühne Bilder an Ihnen vorüberziehen lassen, aus aller Welt, Landschaften, Straßenszenen und so weiter. Es würde absolut nichts an Naturtreue einbüßen. In Italien würde eine Italienerin eine Apfelsine vom Baume brechen und sie Ihnen zuwerfen, sie Ihnen persönlich überreichen, Sie würden in Indien etwa einer Tigerjagd zusehen, dem Tiger wird das Fell über die Ohren gezogen, ein Kuli bringt es Ihnen, noch frisch und blutig. Aber Sie sollen wirklich auf Reisen gehen, ganz wirklich. Und dazu ist es nötig, dass Sie die Bühne betreten. Sie brauchen aber keine Sorge zu haben, Frau Gräfin, deshalb haben Sie mir Ihr Heiratsversprechen noch nicht gegeben!«

Der Vorhang rollte herab. Während er aber früher nur ein Ornamentmuster gezeigt hatte, stellte er jetzt das Innere eines Hauses dar, etwas merkwürdig, man wurde nicht gleich klug daraus, es war wie ein Gang, mit mehreren niedrigen Türen...

»Das ist ja der Kajütengang eines Schiffes!«

Da wurde auch schon dort, wo die Stufen hinaufführten, eine Schiebetür zurückgezogen, in ihr stand der Mephistopheles, jetzt aber in Kapitänsuniform.

»Bitte, meine Herrschaften, wollen Sie sich in meine Kajüte bemühen!«

Sofort erhob sich Atalanta.

»Vorsicht, es kann eine Falle sein!«, flüsterte der Japaner.

»Wenn Sie Furcht haben, so bleiben Sie zurück!«, war die kurze Antwort.

Da folgte ihr der Japaner. Sie stiegen die Stufen empor, traten ein, der Teufelskapitän machte eine Verbeugung und schob hinter ihnen wieder die Tür zu.

Es war eine kleine Kajüte, sehr hübsch eingerichtet, aber ganz schiffsge-mäß, elektrisch erleuchtet. Die runden Bullaugen waren mit den eisernen Deckeln verschlossen.

»Sie können mir ungeniert einen Revolver auf die Brust setzen, um mich bei der ersten verdächtigen Bewegung niederzuschießen!«, spottete der Kapitän mit seinem stereotypen Grinsen.

»Ist nicht nötig.«

»Dann, bitte, wollen Sie Platz nehmen.«

Sie setzten sich in die festgeschraubten Armstühle.

»Ich würde Ihnen gern durch den Steward eine Erfrischung anbieten lassen, aber ich weiß schon, dass Sie nichts genießen werden!«, grinste der Kerl. »Wohin belieben die Herrschaften zu fahren?«

»Nach Bangkok!«, entgegnete Atalanta schlankweg.

»Nach der Hauptstadt und dem Hafen von Siam in Hinterindien?«

»Jawohl.«

»I das passt ja vortrefflich! Da haben wir es ja nicht weit! Ich fürchtete schon, Sie wollten nach dem Nordpol! In Bangkok liegt nämlich mein Schiff sowieso schon.«

Er erhob sich, schraubte auf beiden Seiten die Verschlussdeckel der Bullaugen auf. Doch das Glasfenster selbst blieb geschlossen.

»Bitte.«

Die beiden wären ja keine Menschen gewesen, hätten sie noch ihr grenzenloses Staunen beherrschen können.


Illustration

Es war eine indische Hafenstadt, die sie zu beiden Seiten der Kajüte erblickten, an einer weitverzweigten Flussmündung gelegen, mit den runden Kuppeln buddhistischer Tempel, mit den schlanken Minarets mohammedanischer Moscheen und den Glockentürmen chinesischer Pagoden, zwischen den vorherrschenden Hütten und Bungalows aus Bambus europäische Prachtbauten, Villen und Faktoreien, auch im Wasser viele Pfahlbauten — und nun malaiische Prauen und chinesische Dschunken neben europäischen Dampfern und Seglern — und dies kein totes Bild, sondern in voller Lebendigkeit, ein geschäftiges Drängen aller Nationen der Erde, vom steifleinenen Engländer an bis zum Kuli mit Lendenschurz — und die Boote fuhren hin und her, auf den Schiffen wurde gearbeitet, und dies alles unter einem Mordsspektakel, wie man ihn nur in so einer indischen oder chinesischen Hafenstadt hören kann, weil jeder Mund unbedingt sprechen muss, und wer keinen Partner hat, der brüllt für sich allein zur Gesellschaft mit, und die Dampfsirenen und -pfeifen der Schiffe machten die Begleitung dazu.

Es lässt sich nicht schildern. Jedenfalls durfte man hier nicht mehr an Kinematografie denken. Jeder wird doch ein bewegliches Lichtbild, und mag es auch noch so naturgetreu und vollkommen sein, von echter Wirklichkeit unterscheiden können. Und das hier war Wirklichkeit, ganz echte!

Dicht unter den Kajütenfenstern floss das trübe Wasser, eine Lotosblume kam getrieben, auf dem großen Blatt saß ein bunter Frosch, jetzt machte er einen Satz, hatte eine Libelle erhascht, dort, wo er im Wasser verschwand, spritzten die Tropfen — jetzt kam ein Boot, angefüllt mit Bananen und Kokosnüssen, gerudert von Malaien, wie die Affen schnatternd — und so nahe fuhr das Boot, dass, wenn die Fenster offen gewesen, man die Männer bei den Haaren hätte fassen können — und gleich hinterher kam knatternd ein Motorboot angeschossen...

»Verdammt, ich überrenne Euch gelben Schufte, wenn Ihr nicht hören könnt!«, fluchte der Steuernde, und er ließ seine kleine Sirene heulen, dass man glaubte, der gellende Ton zerschnitte das Trommelfell.

Besonders Doktor Hikari war ganz außer sich. Hier versagte alle Dressur der japanischen Erziehungskunst.

»Nein, das ist Wirklichkeit, das ist wirklich Bangkok!«, rief er ein übers andere Mal. »Ich kenne doch Bangkok — dort ist die Faktorei meines Freundes — dort das Haus, in dem ich gewohnt habe — dort unser Konsulat und dort der Mann auf dem Balkon — — — bei Kanussi und Hachiman, das ist Monitoko selbst...«

Plötzlich verdunkelten sich die Fenster, es war nichts mehr zu sehen; gleichzeitig verstummte das Lärmen, das mit dem Öffnen der ersten Klappe begonnen hatte. Jetzt wurde diese aber nicht mehr geschlossen.

Grinsend beobachtete der Teufelskapitän seine beiden Gäste. Atalanta wurde nur von freudigem Staunen beherrscht, Doktor Hikari war fassungslos.

Jetzt glaubte er nicht mehr an Wirklichkeit, aber desto fassungsloser wurde er nur.

»Mann, Mann, was für eine wunderbare Erfindung habt Ihr da gemacht?!«, ächzte er.

»Eine Erfindung, die in vielleicht 100 Jahren die ganze Menschheit besitzen wird. Eher ist wohl nicht daran zu denken. So viel ich weiß, beschäftigt sich noch gar niemand mit dem Lösen dieses Problems. Obgleich es doch so einfach ist.«

»Mit Kinematografie hat es nichts zu tun?«

»Gar nichts. Kommen Sie denn nicht darauf, um was es sich hierbei handelt?«

Der Japaner schüttelte nur den Kopf.

»Ich werde Ihnen später eine Erklärung geben. Nachmachen können Sie es freilich nicht. Erst will ich Sie etwas in der Welt spazieren führen. Wohin befehlen Sie jetzt, Frau Gräfin?«

»Nun, dann einmal nach dem Nordpol.«

Der Kapitän, der er jetzt war, öffnete einen Wandschrank, der ein ganzem Werk von Rädern, Kurbeln und Hebeln enthielt, und drehte darin herum.

»Mein Schiffchen ist natürlich ein ganz besonderes Fahrzeug!«, sagte er dabei. »Es ist ein Automobil, welches ebenso gut auf dem Lande fährt wie auf dem Wasser, außerdem kann es selbstverständlich auch fliegen. Und wie! Da wir uns nun aber einmal in der Schiffskajüte befinden, wollen wir es jetzt auch als Schiff benutzen. Natürlich können Sie nun nicht verlangen, dass ich es so wie jedes andere Schiff fahren lasse, in der Stunde 10 bis 30 Knoten, an der Küste von Malakka entlang, in den Indischen Ozean hinein, um das grüne Vorgebirge herum und dann durch den Atlantik nach dem Nordpol hinaus. Das könnte man doch mit jedem Dampfer machen, dazu brauchte man doch nicht so ein Zauberschiff. Also ich lasse es gleich einen gewaltigen Sprung durch die Lüfte machen, aber da Sie nun einmal eine Seefahrt wünschen, lasse ich mich auf den Indischen Ozean nieder, gerade so recht hübsch in der Mitte — so...«

Die Kajüte fing an zu schaukeln, ganz tüchtig. Es waren die echten Schlinger- und Stampfbewegungen eines Schiffes bei bewegtem Seegang.

»Sie sind doch hoffentlich seefest? Dass Sie mir nicht etwa seekrank werden.«

»Ach, das ist ja reizend!«, jubelte Atalanta, sogar in die Hände klatschend.

Der Kapitän drückte auf einen Knopf, es war nicht anders, als würden vor den runden Fensterchen blitzschnell Klappen zurückgezogen, und durch sie hindurch erblickte man im Sonnenglanze das rollende Meer.

Atalanta hatte wieder jubeln wollen — sie war sprachlos geworden. Bis sie durch ein anderes Fenster blickte und eine neue Erscheinung ihr wieder die Zunge löste.

»Ein Schiff, ein Segelschiff!«

Es war eine dreimastige Bark, welche mit geschwellter Leinwand und wie ein weißer Schwan stolz vorübersegelte, so nahe, dass man ganz deutlich die Matrosen an Deck und in der Takelage arbeiten sah.

»Herrlich, herrlich! Herr Kapitän — Mephistopheles, Professor Dodd oder wer Sie sonst sein mögen — bin ich denn nicht wirklich auf einem Schiffe, nicht auf dem Meere?«

»Überzeugen Sie sich doch. Öffnen Sie die Tür, durch die Sie gekommen sind, blicken Sie hinein in das nackte Amphitheater.«

Atalanta schob die Tür zurück...

»Allmächtiger Gott!«, schrie sie.

Nicht in das nackte Amphitheater sah sie, sondern vor ihr lag das Deck eines ganzen Schiffes, einige Matrosen wuschen Farbe, soeben erklomm einer die Wanten des Mastes, dessen Spitze gewaltige Bogen beschrieb, gerade verlor ein Schiffsjunge die Herrschaft über seine nackten Füße, kam ins Schusseln, prallte gegen die Bordwand, wo er sich auf den Hosenboden setzte und so nach der anderen Seite rutschte — — und sonst sah man alles, was man schon durch die Kajütenfenster erblickt hatte, das rollende Meer, dort segelte noch die Bark, die »Water Witch« von Liverpool, dort am Horizont kam noch ein Dampfer dazu, eine Rauchwolke hinter sich lassend, und über dem allen stand am azurblauen Himmel die strahlende Sonne.

»Das ist Zauberei!«, flüsterte Doktor Hikari.

Er wollte hinaus an Deck — und stieß gegen einen unsichtbaren Widerstand. Vor der Tür war wieder solch eine Glaswand.

»Und es ist dennoch Zauberei!«

»Nein, es ist meine Erfindung, es ist Omnihilit!«, grinste der Teufelskapitän.

Er hatte ganz recht, wenn er nicht für einen Zauberer gelten wollte, sondern für einen genialen Erfinder. Ein Edison ist wohl etwas mehr wert als ein indischer Fakir.

»Omnihilit?«, wiederholte Hikari.

»So habe ich die von mir erfundene Masse, da jedes Kind nun doch einmal seinen Namen haben muss, getauft. Omnium heißt alles und nihil heißt nichts. Daraus habe ich Omnihilit zusammengezogen. Denn es ist alles und ist doch nichts.«

»Und aus was besteht diese Masse?«

»Es ist Wasser im vierten Aggregatzustande. Ein höherer Grad als Eis und ein höherer Grad als Dampf. So, Herr Doktor, nun wissen Sie es, nun machen Sie es nach.«

Es sei hierzu nur bemerkt, dass wir drei sogenannte Aggregatzustände kennen: den festen, den flüssigen und den dampfförmigen. Zum Beispiel Wasser, Wasserdampf und Eis. Immer mehr ahnen die Gelehrten, dass es auch einen vierten Aggregatzustand gibt. Den Diamant hält man für den vierten Grad des Kohlenstoffs, Ozon für den des Sauerstoffs.

»Und wie erzeugen Sie diesen vierten Aggregatzustand des Wassers?«

,Ja, das werde ich Ihnen verraten!«, grinste de Mephistopheles, einen Griff in den Wandschrank tuend. »So, jetzt habe ich die Spannung ausgeschaltet. Wohl funktioniert die Dampfschicht noch als Spiegel, aber der starre Zusammenhang ist gelöst. Machen Sie nur kühn einen Schritt in die Glasscheibe hinein, Sie kommen auf die Treppe.«

Erst fühlte Hikari mit den Händen — er fühlte nichts mehr, obgleich er noch immer das Deck und das Meer sah. Sobald aber sein Kopf oder nur sein Auge jenseits dieser unsichtbaren Scheidewand war, verschwand die Illusion, er blickte in das leere Amphitheater hinein.

Der Japaner wurde nur immer aufgeregter. Seine ganze Selbstbeherrschung war eben... zum Teufel gegangen. Es war auch der wissenshungrige Gelehrte, der bei ihm die Oberhand bekam.

»Mann, ich möchte Sie anbeten, als Gott oder als Teufel!«

»Mit einer ehrfürchtigen Anbetung ist mir nicht gedient!«, grinste der göttliche Teufel.

»Sind Sie nicht zu bewegen, mir Ihre Geheimnisse zu offenbaren, mich als Ihren Schüler zu Ihren Füßen sitzen zu lassen?«

»O, warum nicht? Was ist denn überhaupt unverkäuflich?«

»Verkäuflich?! Sie sind bereit, Ihre Geheimnisse zu verkaufen?!«

»Gewiss doch. Wenn es entsprechend bezahlt wird.«

»Wie viele Millionen verlangen Sie?«

»Millionen? Was denn Millionen? Ach, Sie denken wohl an Geld? Nein, geehrter Herr, Gold mache ich mir selber, so viel ich haben will.«

»Was verlangen Sie sonst?«

»Sie selbst mit Leib und Seele. Verschreiben Sie sich mir mit Ihrem eigenen Blute, so wie man sich in der guten alten Zeit dem Teufel verschrieben hat!«

»Wohlan, ich bin bereit...«

»Ach Unsinn!«, mischte sich da Atalanta ungeduldig ein. »Macht das dann unter Euch aus, aber nicht jetzt! Schließen Sie die Tür wieder oder stellen Sie die Glasplatte wieder her, führen Sie uns weiter in der Welt spazieren. Also jetzt nach dem Nordpol.«

»So ein Schiffchen gefällt Ihnen wohl, wie?«, grinste der Kapitän.

»In der Tat, da braucht man ja gar nicht mehr wirklich auf Reisen zu gehen, man bleibt hübsch zu Hause und reist dennoch in der ganzen Welt herum.«

»Möchten Sie nicht so ein Schiffchen haben?«

»Gewiss. Wollen Sie es mir geben?«

»Meine Frau erhält es zur Hochzeitsgabe.«

Die Indianerin hob die Schultern.

»Wenn Sie schon so darüber verfügt haben, dann allerdings muss ich darauf verzichten.«

Sie selbst hatte die Tür geschlossen und wandte sich wieder den Fenstern zu. Diese aber waren dunkel, undurchsichtig und jetzt hörten auch die Schwankungen auf.

»Unsere Reise soll doch nicht schon beendet sein?«

»Es ist gleich zwölf Uhr, meine Schutzfrist ist abgelaufen.«

»Ich gebe eine weitere Stunde zu.«

»Wollen Sie mir Ihre Gastfreundschaft nicht für immer angedeihen lassen?«

»Nein. Nur immer von Stunde zu Stunde, von Fall zu Fall.«

»Ich weigere mich, Ihnen Weiteres zu zeigen.«

»Das bedaure ich sehr, aber zwingen kann ich Sie nicht. So gehen wir.«

»Halt. Bitte noch einen Augenblick. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich jederzeit zu Ihrer Verfügung stehe, und dabei bleibt es, ich bin ein ehrlicher Teufel. Die Sache ist aber die, dass ich in einer halben Stunde in meinem Laboratorium sein muss, weil dann ein chemischer Prozess beginnt, dem ich unbedingt beiwohnen muss. Solche Fälle können manchmal vorkommen.

Nun möchte ich diese halbe Stunde schnell noch zu etwas anderem benutzen, in Ihren Diensten. Sie haben doch schon bemerkt, dass ich alles, was sich außerhalb meines Bereiches in diesem Felsen befindet, Ihnen zur Verfügung stelle. Zuerst hatte ich es ausgeräumt oder wirkungslos gemacht, ich besann mich anders, räumte es wieder ein, stellte die Mechanismen wieder her. Nur während Ihres lethargischen Zustandes, wo Sie ja nichts davon hatten, setzte ich alles noch einmal außer Betrieb, weil große Reparaturen nötig waren, auch habe ich unterdessen viele neue Erfindungen gemacht, konnte viele Verbesserungen anbringen.

Alles nun, was Sie hier gesehen haben und was ich Ihnen hier sonst noch zeigen würde, können Sie sich selbst vorführen. Allerdings nicht so hübsch arrangiert, die Wirklichkeit wird nicht so mit Illusionen verschmolzen, aber es dürfte Ihnen vielleicht umso größere Freude machen, weil Sie selbst dabei völlig freie Hand haben.

Bitte, wollen Sie mir folgen. Freilich ist es Ihr eigenes Haus, in dem ich den Führer spiele.«

Die Camera obscura

Sie verließen die Kajüte, stiegen die Stufen hinab, durchschritten das Amphitheater, der ehemalige Hausherr, der noch immer die Kapitänsuniform trug, führte sie in einen anderen Felsensaal.

Atalanta hatte früher nur einmal hineingeblickt, Doktor Hikari, der darin nähere Umschau gehalten, hatte mancherlei entdeckt, aber nichts damit anfangen können.

Zunächst war die eine Wand, mindestens zehn Meter hoch und noch viel breiter, weiß gefärbt.

In einiger Entfernung davor und noch vor den steinernen Sitzplätzen stand ein kleiner Apparat mit Rädern und Hebeln.

»Sind die Fenster geschlossen? Ja. Nun passen Sie auf. Das erste ist, dass Sie hier diesen Hebel herumdrehen.«

Das elektrische Licht an der Decke verlöschte, in der weiten Halle herrschte Stockfinsternis. Nur der Apparat wurde noch von einem beschirmten Lichtchen beleuchtet.

»Jetzt drehen Sie hier diesen zweiten Hebel herum.«

An der weißen Wand erschien in farbiger Zeichnung eine Erdkarte in Mercators Projektion, bei solchen Dimensionen recht deutlich. Selbst die Nebenflüsse waren noch angegeben, Städte mit 10 000 Einwohnern noch namentlich angeführt.

»Jetzt richten Sie dieses Rohr nach der Wand, drehen hier unten den Hahn auf, wodurch aus dem Rohr ein roter Lichtstrahl auf die Karte geworfen wird.«

Auf der Karte huschte, wie das Rohr bewegt wurde, ein brennend roter Punkt hin und her, er konnte aber auch auf einer Stelle stehen gelassen werden.

»Nehmen wir noch einmal Bangkok vor. So. Jetzt liegt der rote Punkt auf Bangkok. Je genauer, desto besser, denn desto weniger Arbeit haben Sie später. Ich will es aber einmal mit Absicht nicht so genau machen, sondern lasse den roten Punkt etwas weiter westlich stehen.

Nun schraube ich das Rohr hier unten fest und drehe diesen Hebel herum.«

Die Karte der ganzen Erde verschwand, dafür erschien an der weißen Wand eine Landschaft in der Vogelperspektive, also von oben aus, etwa von einem Luftballon aus betrachtet.

Deutlich war ein Häusermeer zu erkennen, durch das ein Flusssystem ging, der Fluss mündete ins Meer, auf der Landseite war die Stadt von Feldern und Wiesen und mehr noch von Wald umgeben, und dies alles in natürlichen Farben.

»Ach, ist das reizend!«, jubelte die Indianerin schon jetzt, und sie hatte ganz recht, wenn sie sich lieber der Freude über diesen Anblick hingab, anstatt wie der gelehrte Japaner von einem Staunen befallen zu werden, das schon mehr einem Entsetzen glich.

»Das ist jetzt also Bangkok mit Umgebung im Grundriss. Sie sehen, dass der rote Lichtpunkt ganz bedeutend westlich davon im Meere liegt. Nun dirigieren wir ihn einfach nach der Stadt, nach der Flussmündung, was doch schon deutlich zu erkennen ist, ich drehe wiederum diesen Hebel...«

Die ganze topografische Karte schob sich auseinander, erst verschwamm alles, nahm dann wieder scharfe Konturen an, und an der weißen Wand erschien ein Hafenbild, wieder von oben aus betrachtet.

»Sie sehen, ich habe es gleich sehr gut getroffen. Ich habe große Übung mit diesem Aufsuchen. Ihnen wird es nicht gleich so gelingen. Aber das bringt die Übung mit sich.

Das ist also der Grundriss des Hafens von Bangkok. Jetzt klappen Sie diesen Hebel hier herum, und... da haben Sie den Aufriss.«

An der Wand erschien dasselbe Bild, das sie vorhin durch die Fenster der Kajüte gesehen hatten, ebenfalls alles belebt, nur viel kleiner.

»Ja, dort auf der Illusionsbühne ist eine viel vollkommenere Einrichtung. Die projiziert doppelt und dreifach und hundertfältig, dort ist eine Panoramaprojektion. Hier erscheint immer nur ein einfacher Aufriss von dem, was man schauen will, er ist aber gerade deshalb eigentlich viel richtiger. Und hier lassen sich auch Einzelheiten viel schärfer ins Auge fassen, was dort nicht möglich ist, wenigstens eine Grenze hat, während es hier für die Vergrößerung gar keine Grenze gibt. Nur dass dann natürlich die Umgebung verschwindet.

Wollen wir zum Beispiel das Haus ins Auge nehmen, auf dem die japanische Flagge weht, das japanische Konsulat. So, der rote Lichtpunkt ist darauf gerichtet. Jetzt drehen Sie hier an diesem Rade...«

Die Umgebung verschwamm, nur dieses eine Haus trat immer schärfer hervor, wurde immer größer, bis man jedes Fenster erkannte.

»Sie sehen, das Haus ist etwas verschoben. Der Fotografenapparat ist nicht waagerecht gehalten worden, die Aufnahme ist verzerrt. Das justieren Sie einfach hier an diesem Rade. Jetzt steht das Haus aufrecht da. Auf dem Balkon steht ein Mann. Ich dirigiere den roten Lichtpunkt auf diesen Balkon, drehe wieder etwas das Vergrößerungsrad, das Haus verbreitert sich, der Balkon und der Mann treten als Hauptsache hervor...«

Alles war bereits in natürlicher Größe.

»Konsul Monitoko, er ist es!«, flüsterte der Japaner, und es klang wie ein Ächzen.

»Ist er es auch wirklich? Lassen wir den Lichtstrahl in sein Gesicht fallen, wovon er dort in Bangkok freilich nichts merkt — wieder das Vergrößerungsglas nach links gedreht...«

Eine Verzerrung, und dann erschien an der weißem Wand der riesenhafte Kopf eines Japaners.

»Sehen Sie die kleine Warze, die er auf der Nase hat, mit dem Haarbüschel darauf? Nehmen wir diese näher in Augenschein...«

Der Kopf verschwamm, nur eine ungeheure Nase blieb übrig, die ganze Wand einnehmend, darauf ein Berg mit Bambusstängeln...

Da verschwand die Erscheinung, und was jetzt an der Wand war, konnte man nicht unterscheiden.

»Er hat mit dem Kopfe eine Bewegung gemacht, braucht gar nicht fortgegangen zu sein. Bewegen darf sich das Objekt bei so einer starken Vergrößerung natürlich nicht. Doch wir können ihn wieder suchen, dann dreht man dieses selbe Rad einfach zurück. Ist er ins Haus gegangen, dann ist er allerdings für uns verloren. Durchsichtig kann ich die Mauern nicht machen, das ist auch vom Teufel zu viel verlangt — vorläufig wenigstens!«

Er drehte zurück, bis wieder das wimmelnde Hafenbild erschien, die vordersten Menschen vielleicht drei Zentimeter groß.

Jetzt brach es wieder bei Doktor Hikari hervor.

»Mann, Mann, wer sind Sie denn nur, dass Sie solche Erfindungen gemacht, schon solche Probleme gelöst haben, die man heutzutage noch nicht einmal aufzustellen wagt!«, rief er außer sich.

Mephistopheles grinste teuflischer denn je.

»Wer ich bin? Ein Mann, der sich nicht begnügt hat, die Kunst zu erlernen, Blinddärme auszuschneiden und abgebissene Nasen wieder anzuflicken, sondern der sich auch etwas mit Chemie und Physik und anderen Naturwissenschaften beschäftigt hat. Und Sie wissen doch, dass ich der ewige Jude bin. Ich habe mit diesen Sachen schon frühzeitig angefangen, habe schon mit den alten Arabern vor fast 2000 Jahren experimentiert. Na, und in 2000 Jahren kann man doch etwas lernen und selbstständig erfinden, wenn man nie stirbt, dazwischen keine Todespause macht. Ahnen Sie denn nun, um was es sich hier handelt?«

»Um eine Camera obscura in höchster Vollendung.«

»So ist es. Die Menschen kennen diese Erscheinung der sich in einem Punkte kreuzenden Lichtstrahlen schon seit Jahrhunderten, aber sie wissen damit nichts anzufangen, bringen es nicht über eine Spielerei hinaus. Obgleich die Natur schon ein großartiges Beispiel gegeben hat, was man damit anfangen könnte. Freilich beruht diese Erscheinung wieder auf ganz anderen Gesetzen. Ich meine die Fata morgana, die Luftspiegelung. Diese Erfindung hier beruht auf einer Verschmelzung des Phänomens der Fata morgana und jenes Apparates, den wir Camera obscura nennen. Das verrate ich Ihnen, mehr aber nicht.«

Das war freilich herzlich wenig. Und doch war es alles.

»Ja, ich verstehe aber nur eines nicht!«, sagte da Atalanta, als hätte sie nun schon überhaupt alles verstanden.

»Was verstehen Sie nicht?«, grinste der Hexenmeister.

»Das ist also eine Spiegelung des wirklichen Bangkoks?«

»Das ist es.«

»Nun liegt Bangkok aber doch auf der anderen Hälfte der Erdkugel, so ziemlich uns gegenüber, dort ist doch jetzt Mitternacht, oder einige Stunden später, dort wird bald die Sonne aufgehen, während hier Mittag ist. Ich sehe aber auf diesem Bilde die Sonne hoch am Himmel stehen.«

»Sehr richtig!«, nickte Mephistopheles. »Frau Gräfin, dass Sie sich hierüber wundern, dass dies gleich das erste ist, was Ihnen auffällt, worüber Sie Aufklärung verlangen — das beweist mir, dass Sie viel mehr Scharfsinn besitzen als dieser japanische Astronom.

Diese Erklärung will ich Ihnen noch geben. Was Sie hier sehen, ist ein gewesenes Bild, ein Bild aus der Vergangenheit. Darüber werden Sie sich wohl nicht wundern. Sie wissen doch, dass es Sterne gibt, die so weit von uns entfernt sind, dass ihr Licht Jahrhunderte braucht, um den Weg bis zu uns zurückzulegen.

So zum Beispiel ist der Alpha Argus — sehen Sie den gelehrten Japaner an, wie der guckt, weil ich auch etwas davon weiß — rund hundert Lichtjahre von uns entfernt. Wenn wir nun diesen Argus ins Fernrohr nehmen, und wir sehen gerade, wie er verlöscht, weil er das Opfer einer Katastrophe im Weltenraum geworden ist, in Trümmer gegangen ist, so ist das also nicht etwa jetzt geschehen, sondern schon vor hundert Jahren. Denn so lange hat das Licht gebraucht, um bis zu uns zu gelangen.

Die Schnelligkeit des Lichtes noch zu vergrößern, das wird wohl niemals gelingen. Das ist überhaupt ausgeschlossen. Sollte es aber nicht möglich sein, seine Schnelligkeit zu verlangsamen, das heißt nur scheinbar, nämlich es wie in einer Batterie aufzuspeichern und es erst ausstrahlen zu lassen, wenn man es braucht?

Gewiss, das geht. Mir ist das bis auf eine halbe Achsenumdrehung der Erde um sich selbst gelungen, also bis auf zwölf Stunden kann ich die Lichtstrahlen in der Batterie, in der ich sie aufspeichere, zurückhalten.

Hier sehen Sie drei Uhren. Sie gehen elektrisch von meinem Laboratorium aus. Die eine zeigt die hiesige Ortzeit an, jetzt wenigstens, die andere immer die Greenwicher astronomische Zeit. Beide Uhren gehen natürlich vorwärts. Diese dritte Uhr hier aber geht rückwärts, der große Zeiger hier an dieser Schraube lässt sich beliebig verstellen.

Suchen wir nun noch einmal, um Ihnen ein Beispiel zu geben, jenes Segelschiff auf, das wir schon vorhin sahen. An dem kann ich Ihnen auch am besten zeigen, wie Sie es von allen Seiten betrachten. Dazu ist allerdings nötig, dass ich weiß, auf welchem Breiten-und Längengrade bis zur Sekunde es sich vorhin befand.«

Er erläuterte, wie man dies macht, wozu wieder ein besonderer Mechanismus vorhanden war, der die geografische Länge und Breite selbsttätig registrierte, das Segelschiff erschien an der Wand.

Weiter zeigte er, wie man dieses Schiff durch Stellen von Hebeln von allen Seiten betrachten konnte.

»Nun sehen Sie, dass es auf dieser astronomischen Uhr, die in 24 Stunden geteilt ist, gleich um 14 ist. Das ist nachmittags 2 Uhr, nach dortiger Ortszeit, wo sich das Schiff befand, als diese Aufnahme erfolgte.

Das ist für hier eine Differenz von 10 Stunden. Jetzt löse ich hier diese Uhr aus, und Sie sehen, was sich im Laufe der nächsten zehn Stunden ereignet hat, und das geht so immer weiter.

Schiebe ich aber nun hier diesen Stift aus der Uhr heraus, so laufen die Zeiger schneller, und umso schneller, je weiter ich den Stift heraus ziehe. Also holt jene Zeit dort uns schließlich ein.«

Das Schiff segelte nach wie vor, aber die darauf arbeitenden Menschen bewegten sich mit ungeheurer Geschwindigkeit.

»Jetzt lasse ich den großen Zeiger immer gleich Sprünge machen — eine Stunde vorbei — zwei Stunden — drei Stunden — vier... halt, was ist denn das?«

Die Uhr ging wieder normal. An der Wand sah man ein wütendes Meer, auf dem ein mastenloses Wrack trieb.

»Ich habe zu schnell gedreht. Drehe etwas zurück — so, hier fängt der Schiffbruch an.«

Man sah, wie zwei Masten gleichzeitig abknickten, wie auch der dritte über Bord ging, wie die Matrosen, deren verzweifelte Gesichter man deutlich erkennen konnte, eben alles in Lebensgröße und naturgetreu, mit Beilen angestürzt kamen, die Taue kappten...

»Halten wir uns nicht lange auf, ich muss gleich gehen. Sie können das alles dann ja in Ruhe betrachten, so oft Sie wollen. Doch geht es immer nur bis auf zwölf Stunden zurück. Ich lasse also die Uhr etwas schneller vorwärts gehen...«

In sehr schneller Reihenfolge erblickte man die nachfolgenden Szenen, wie die Matrosen verzweifelt an den Pumpen arbeiteten, wie sie die Boote zu Wasser brachten, wie ein Boot nach dem anderen in dem furchtbaren Seegang kenterte...

»Da schwimmt ein Kerl. Sehen Sie da die Flosse auftauchen? Ein Haifisch. Jetzt dreht er sich um, öffnet den Rachen — schnapp! — Weg war der Kerl!«

Das Lichtbild war verschwunden. Größer als Atalantas Erschütterung über das soeben Geschaute war doch ihre Ehrfurcht vor diesem Manne, der so etwas erfunden, der alle Geheimnisse der Natur sich schon so dienstbar gemacht hatte.

Jetzt hatte auch sie fast Lust, niederzuknien, um ihn anzubeten, als Gott oder als Teufel — oder doch als menschlichen Geist von höchster Vollendung.

Sie tat es nicht, sie wurde durch einen anderen Gedanken abgelenkt.

»Es war die ›Water Witch‹ von Liverpool!«, flüsterte sie.

»Ja, es war ja am Heck zu lesen, sogar ganz deutlich auf den Rettungsringen und anderen Gegenständen.«

»Wann ist also dieses Schiff untergegangen?«

»Hier ist es abzulesen, wie die Uhr stehen geblieben ist. Gestern Nachmittag kurz vor sechs Uhr. Und wo? Auch dies ist hier aus der Landkarte registriert. Wo dieser Stift hinzeigt.«

»Und das weiß nun die Reederei noch gar nicht.«

»Schwerlich.«

»Das müsste man doch gleich hinmelden.«

Mephistopheles brach in ein höhnisches Gelächter aus.

»Verzeihung, Frau Gräfin — aber auch Sie gehören zu jenen törichten Menschen. Das tut mir leid. Was hat denn die Reederei davon, ob sie das weiß oder nicht? Das wird sie schon erfahren, und wenn auch erst nach einem Jahre, weil ihr Schiff verschollen ist. Und wie wollen Sie denn motivieren, woher Sie das wissen? Hier von dieser Camera obscura erzählen? Man würde Sie schön auslachen.«

»Wenn ich aber Zeugen hierher einlade?«

»Dann, geehrte Frau Gräfin, das will ich Ihnen gleich jetzt nachdrücklich sagen, dann werden Sie hier vergeblich an diesen Hebeln drehen. Ich übergebe Ihnen diesen Apparat als Spielzeug, dass Sie sich damit belustigen, aber nicht, dass Sie der Menschheit damit sogenannte wohltätige Dienste leisten!«

Er war und blieb der Teufel.

»Nun, machen Sie mir dasselbe noch einmal vor, suchen Sie sich selbst irgend einen Punkt auf der Erde. Ich werde nicht hineinreden, nur wenn Sie stecken bleiben, helfe ich Ihnen.«

Atalanta setzte sich vor den Apparat. Sie hatte alles vollkommen begriffen, es ging sehr schnell.

Die große Erdkarte erschien, der rote Punkt huschte herum, bis er in Syrien haften blieb, etwas nordöstlich vom Toten Meere.

Dann erschien eine Landschaft in Vogelperspektive, das Tote Meer mit weiterer Umgebung nach Osten, mit Wüste und Gebirge.

Darauf eine engere Gebirgslandschaft mit einem weiten Tal, immer noch von oben gesehen, bis mit einem Hebeldruck die ausgerichtete Projektion da war: jenes Tal, in dem sich vor anderthalb Jahren die Ereignisse mit den beiden Bundesladen abgespielt hatten.

».Bravo, Sie können es ja schon ebenso gut wie ich!«, lobte der höllische Lehrer. »Ja, das ist die Gegend. Die Bundeslade ist aber nicht mehr dort. Ach, dass Sie mir das verdorben haben, das war ein böser Streich von Ihnen! Ich hätte doch einen Witz in die Welt gesetzt, über den sich die Menschen noch nach Jahrhunderten totgelacht hätten, aber erst nachdem sie über die gefundene Bundeslade ganze Bibliotheken zusammen geschrieben hätten.«

Atalanta verschob das Bild, immer neue Gebirgs- und Wüstenlandschaften erschienen, doch die richtigen schienen es nicht zu sein.

»So aufs Geratewohl probieren dürfen Sie niemals. Immer von vorn mit der Karte aus der Vogelperspektive anfangen. Aber ich will Ihnen behilflich sein, ich weiß ja, was Sie suchen. Drehen Sie das Stellrad mehr nach rechts — so — so — und nun näher rücken — so, das ist es doch, was Sie gesucht haben.«

An der Wand erblickte man eine nackte, gelbe Wüste, in der sich nur ein einziger, großer Sandberg erhob — der von der Natur aufgehäufte Grabhügel, unter dem mit noch drei Dutzend Beduinen Graf Arno von Felsmark den ewigen Schlaf schlummerte, zusammen mit dem arabischen Weibe, das dies alles verschuldet hatte, wenn auch indirekt.

»Nun drehen Sie den Hebel genau nach der anderen Seite, und Sie erblicken auch den Felsen, in den die Stammburg der Busetos eingemeißelt ist.«

Atalanta drehte nicht, sie war ganz in den Anblick dieses riesigen Grabhügels versunken, und so wunderte sie sich jetzt auch nicht, woher dieser Mann denn so genau davon wisse; sie stellte keine Frage, hatte es wohl gar nicht gehört.

»Da kann man hier also jeden beliebigen Punkt auf der Erde aufsuchen?«, fragte statt ihrer Doktor Hikari.

»Jeden.«

»Also auch die beiden Erdpole, das Innerste Afrikas, wo noch kein Mensch hingekommen ist, das Innerste des noch rätselhafteren Australiens...«

»Hääääh«, machte der Teufelskapitän höhnisch mit erhobenem Finger. »Warten Sie mal ein bisschen, geehrter Herr Doktor! Nein, so weit geht die Geschichte nicht. Ja, ich kann wohl überall hinspazieren. Ich weiß wohl, wie es am Nordpol aussieht. Sehr traurig. Am Südpol dagegen, da ist es wirklich interessant. Da ist etwas zu sehen, wovon sich die Menschen noch gar nichts träumen lassen. Und dann, richtig, besonders in Australien — ei, was man da für Naturwunder zu schauen bekommt! Aber mir fällt gar nicht ein, alle Menschen das wissen zu lassen, was ich weiß, was ich mir mit unsäglichen Anstrengungen erobert habe.

Nein, Sie bekommen nur die Gegenden der Erde zu sehen, die schon erforscht sind. Inkognita terra — unbekanntes Land... das ist auch Ihnen verschlossen. Einstellen können Sie den roten Lichtstrahl wohl, Sie können auch an den Rädern und Hebeln leiern — aber kommen wird nichts. Ich habe meine Grenzen schon gezogen. Sie werden schon sehen, was Sie beobachten dürfen und was nicht.

Außerdem steht dieser Projektionsapparat nur meiner verehrten Frau Gräfin zur Verfügung, und ob sie dies und jenes auch einem anderen Zuschauer zeigen darf, das werde ich immer von Fall zu Fall entscheiden. Will ich nicht, dann kommt eben nichts, während ich ihr allein einige ganz besondere Einblicke in wunderbare Geheimnisse gewähren werde.«

Er ließ die elektrische Bogenlampe an der Decke wieder aufflammen, und schon dadurch verschwand das Bild an der weißen Wand.

»Also, Frau Gräfin, amüsieren Sie sich mit dieser Camera obscura. Gern nehme ich Sie auch noch einmal mit auf die Illusionsbühne, mache Ihnen noch ganz andere Sachen vor. Ich stehe Ihnen überhaupt, wie ich schon sagte, jederzeit zur Verfügung. Sie brauchen nur in ein Telefon meinen Namen zu rufen — Mephistopheles! — und ich werde erscheinen, wenigstens stimmlich, und Sie brauchen nicht erst zu stöpseln und die Kurbel zu drehen, ich benutze das von Doktor Hikari angelegte Telefon in ganz anderer Weise.

Aber ich will Sie auch von diesem Telefon unabhängig machen, Sie sollen mich überall sprechen können, wo Sie sich auf der Erde auch befinden.«

Er zog aus der Tasche eine runde Dose, genau wie eine Taschenuhr aussehend, nur dass man sie nicht öffnen konnte.

»Hier nehmen Sie. Ebenfalls eine Erfindung von mir, mit der ich der übrigen Menschheit hundert Jahre zuvorgekommen bin. Sie brauchen mich deshalb nicht anzubeten, Herr Doktor. Wenn Sie schon vor hundert Jahren gelebt hätten, eingeschlummert und jetzt wieder erwacht wären, dann würden Sie jetzt wahrscheinlich jeden Lokomotivführer anbeten.

Es ist einfach ein drahtloses Telefon. Für die elektrischen Wellen gibt es doch gar keine Beschränkung. Wenn nur der Leiter immer derselbe ist, und das ist hier die Atmosphäre, die Luft. In jeder Sekunde laufen die Wellen ein paar Dutzend Mal um die Erde, und zwar nach allen Seiten hin. Es kommt nur darauf an, sie auch aufzufangen, und das ist nun freilich mein allergrößtes Geheimnis dabei.

Also wo Sie sich auch auf der Erde befinden, oder im Mittelpunkt der Erde oder 10 000 Meter über der Erdoberfläche, so brauchen Sie nur hier auf diesen Knopf zu drücken, und mein Telefon, das ich immer in der Tasche habe und mit dem Ihren auf genau gleiche Spannung gestellt habe, klingelt. Ich klingele zurück. Dann sprechen Sie einfach hier gegen diese Seite, eine Metallmembrane, ich höre Ihr leisestes Wort, den feinsten Seufzer. Haben Sie ausgesprochen, dann halten Sie dieselbe Seite an Ihr Ohr, und Sie hören mich sprechen.

Nun hat die Sache aber einen kleinen Haken. Absolut vollkommen ist eben nichts auf dieser jämmerlichen Erde. Es kann einmal vorkommen, dass dieses Telefon versagt oder die Worte doch ganz unverständlich werden. Das kommt daher, weil die elektrischen Wellen während ihrer großen Reise doch durch die verschiedensten Luftschichten gehen. Einmal durch sehr feuchte, einmal durch ganz trockene — und hierdurch schwächen sie sich immer mehr ab.

Das lässt sich aber in den meisten Fällen vermeiden. Es gibt einen Leiter auf der Erde, der allüberall genau die gleiche Beschaffenheit hat. Temperaturunterschiede spielen dabei keine Rolle. Das ist das Wasser.

Gesetzt den Fall, ich stehe in Südamerika an der Quelle des Amazonenstromes. Und Sie befinden sich irgendwo in Europa, sagen wir in Deutschland, zu Ihren Füßen rieselt ein Bächlein. Wenn ich den Finger in die Quelle des Amazonenstromes tauche, und Sie tauchen Ihren Finger in das deutsche Bächlein — sind wir beide da nicht durch einen konstanten Leiter ununterbrochen verbunden? Reiht sich nicht Tropfen an Tropfen? Wo ist da der geringste Zwischenraum oder eine andere Beschaffenheit dieses Leiters?«

So war es! Eine höchst einfache Geschichte, und dennoch erstaunlich, wenn man darüber nachdenkt.

»Nun sehen Sie hier ein Knöpfchen«, fuhr der Zauberer des Sklavensees fort, »Sie ziehen es heraus, ein Draht kommt zum Vorschein. Befinden Sie sich nun an einem fließenden Gewässer oder an einem See oder Teich, der einen Abfluss hat, so hängen Sie den Draht ins Wasser hinein. Den Anruf können Sie schon vorher gemacht haben, das Klingeln höre ich auf alle Fälle, denn hierbei wird ein sehr starker elektrischer Strom ausgelöst, der kein Hindernis in der Luft kennt.

Ist es mir dann möglich, befinde auch ich mich in der Nähe eines fließenden Wassers, so hänge ich den Draht meiner Uhr ebenfalls hinein. Und dann hören wir uns auf alle Fälle, so deutlich, wie wir hier zusammen sprechen, denn das Wasser ist ein viel, viel besserer Leiter. Weiter habe ich Ihnen nichts zu sagen. Geben Sie nicht etwa Ihrer Neugier oder Wissbegier nach, dass Sie mir die Uhr nicht aufbrechen — Sie würden darin nichts weiter finden als eine Art von Baumwolle.«

Mit scheuer Ehrfurcht nahm Atalanta den dargebotenen Apparat.

»Wenn aber nun die Quelle, ohne dass ich es weiß, in einen See oder Teich geht, der keinen Abfluss hat?«

»Sehr aufmerksam gedacht! Nun, das würde nichts schaden. Dann nehmen die elektrischen Wellen ihren Weg eben in der Luft weiter, wodurch sie sich freilich abschwächen. Aber so ein Wässerchen, dessen Tropfen doch einmal das Meer erreichen, ist wohl überall vorhanden. Es ist ja mit Grundwasser zu rechnen, die Wellen verbreiten sich durch die ganze Erde.«

»Und niemand anders kann unser Gespräch hören?«

»Nein, er müsste denn ein Telefon besitzen, das so abgestimmt ist wie diese beiden!«

Der Mephistopheles griff nochmals in die Tasche und wandte sich an den Japaner.

»Und für Sie, Herr Doktor, habe ich auch noch etwas. Es ist eine Glasdose, das heißt aus jenem Omnihilit gefertigt. Ich sage Ihnen jetzt nichts weiter, untersuchen Sie sie nur, Sie werden schon von allein etwas Auffälliges daran bemerken. Und dann kommen Sie vielleicht zu mir und verschreiben mir Ihre Seele. Ich empfehle mich Ihnen, Frau Gräfin, vergessen Sie nicht, mich recht oft anzurufen, und wenn ich auch einmal ungerufen komme, also ohne vorher einen Waffenstillstand abgeschlossen zu haben, dann... brennen Sie mir hoffentlich nicht gleich wieder einen glühenden Stempel in die Stirn, hähähä!«

Unter diesem hämischen Gelächter entfernte er sich schnellen Schrittes.

Atalanta blickte ihm nach.

In diesem Augenblicke kam ihr zum ersten Male zum Bewusstsein, wie sehr sich ihr Verhältnis zu diesem Manne, der bisher ihr Todfeind gewesen, doch geändert hatte. Konnte er nicht wirklich triumphieren?

»Nein, er soll nicht triumphieren!«

Neue Funde

»Such, verloren!«

Es waren die schnauzbärtigen Köpfe von vier Seehunden, die bellend und niesend aus dem Wasser blickten, darauf wartend, dass ihre Herrin die goldenen Teller auswarf, um sie im Wetteifer wieder zu apportieren.

Atalanta hatte die Tiere aus dem zoologischen Garten von San Francisco kommen lassen, und sie hatten gar nicht erst dressiert zu werden brauchen, apportieren wenigstens taten sie sofort von selbst. Es kam freilich nur daher, weil sie durch ihre Wärter schon an verständnisvolles Entgegenkommen des Menschen gewöhnt worden waren.

Aber das war nicht Atalantas einzige Beschäftigung. Dabei hielt sie, am Ufer des Festlandes stehend, Audienz ab. Jetzt war Leutnant von Bernsdorf bei ihr, er stattete ihr über Angelegenheiten der Kolonie Bericht ab. Oder hiermit war er schon fertig, Sachen des äußeren Verkehrs kamen zur Sprache.

»Das große Lastautomobil ist für die Brücke über den Bärenfluss zu schwer, sie schwankt ganz bedenklich.«

»So soll eine neue, stärkere gebaut werden.«

»Die Leute hier sind aber ganz mit der Feldarbeit beschäftigt.«

»Lassen Sie Arbeiter in Pittville suchen, so viel Sie brauchen.«

»Das wird aber eine teure Brücke.«

»Kommt nicht darauf an.«

»Das war für heute alles!«, sagte der junge, sonnenverbrannte Mann mit den aristokratischen Zügen, das dicke Notizbuch einsteckend.

»Ich danke Ihnen, Herr Leutnant. Wenn es Ihnen möglich ist, so kommen Sie doch heute Abend nach Sonnenuntergang ein Stündchen zu mir, ich möchte noch etwas deutschen Unterricht nehmen. Such, verloren! Nun, mein lieber Herr Petermann?«

Das Oberhaupt der ganzen Kolonie ging, statt seiner näherte sich ein anderer junger Mann, im bäuerischen Anzug, mit harten Arbeitshänden, das sonnenverbrannte Gesicht aber dennoch recht durchgeistigt, mit hoher Stirn und Schillernase.

Es war einer der drei Lehrer, welche Bernsdorf und sein Freund Doktor Sanden für die ungefähr 120 Kinder, wenn diese auch noch nicht alle schulpflichtig waren, mitgebracht hatten, und diese beiden hatten schon unter Dorfschulmeistern ihre Auswahl zu treffen gewusst.

Ein Weltmann war das freilich nicht. Äußerst linkisch trat er heran, er wäre bald über seinen eigenen Fuß gefallen und war und blieb die Schüchternheit selbst.


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»Die Bücher sind angekommen!«, flüsterte er errötend.

»Ach, das ist ja herrlich! Also richten Sie gleich den Bibliotheksaal ein. Der Durchbruch nach dem Ufer zu soll mit allen Kräften beschleunigt werden. Wenn auch einmal etwas Feldarbeit liegen bleibt. Dann wird eben noch Mehl dazu gekauft. Die Leute sollen nach Feierabend etwas zu lesen haben.«

»Ich habe mit meinen Kollegen be—beraten, wir — wir könnten eigentlich noch recht gut — recht gut — wir dachten nur so...«

»Noch mehr Bücher brauchen?«, kam die Indianerin zu Hilfe.

»Ja, so noch hundert haben wir zusammengebracht, hier ist ein Verzeichnis...«

»Schon gut, brauche ich nicht zu sehen, bestellen Sie nur immer.«

»Aber es sind sehr teure Werke darunter...«

»Bestellen Sie nur immer auf meine Rechnung. Sonst etwas, mein lieber Herr Petermann?«

Der schüchterne Mann raffte sich auf.

»,Ja. Es sind einige Kinder unter unseren Schülern, vier Jungen, bei denen es eigentlich schade ist, wenn sie nur die gewöhnliche Volksschulbildung bekommen, die wir ihnen geben können. Es sind geistig hochentwickelte Kinder, und sie sind in dem Alter, wo sie ein Gymnasium besuchen sollten, und wenn es auch nur Bauersöhne sind...«

»Sehr gut, dass Sie das zur Sprache bringen. Selbstverständlich sollen die einen besseren Unterricht bekommen. Ob wir sie in eine Stadt schicken oder ob wir hier Gymnasiallehrer anstellen, das muss noch überlegt werden. Wir werden heute Abend darüber sprechen, mit von Bernsdorf und Doktor Sanden. Bitte, kommen Sie auch hin, bringen Sie Ihre beiden Kollegen mit. Das ist vielleicht die wichtigste Beratung, die bisher stattgefunden hat. Sonst noch etwas, mein lieber Herr Petermann?«

Nein, er wusste nichts mehr. Aber als er ging, merkte Atalanta doch gleich, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte, und er stolperte denn auch wieder zurück.

»Ach — ach — ja — ja — ich hätte noch eine große, große Bitte...«

»So sprechen Sie sie doch aus.«

»Aber — aber — ich weiß nicht, ob — ob...«

»Ich verspreche Ihnen im Voraus ganz bestimmt, dass ich sie Ihnen erfülle. Was Sie auch verlangen! Auf mein Ehrenwort!«

Wenn der nun jetzt verlangte, sie solle ihn heiraten? Dann war Frau verwitwete Gräfin Felsmark gefangen.

Aber er hatte eine ganz andere Sehnsucht im Herzen.

»Ich — ich hatte einen Freund — vom Seminar her — er wurde auch Lehrer in einem Dorfe — wie ich — aber ganz wo anders — ein sehr tüchtiger Lehrer — und ein guter Mensch — er — er — lebte nur für seine Schulkinder — aber — aber — er war sehr religiös — aber freireligiös — er hatte schon einige Verwarnungen bekommen — und nun schreibt er mir, dass er auf disziplinarischem Wege aus seinem Amte entfernt worden ist — und nun sitzt der Mann da mit seiner Frau und sechs kleinen Kindern. — Es ist nicht so leicht, eine auskömmliche Anstellung zu bekommen — und da schreibt er mir nun, ob es nicht hier möglich wäre...«

»Aber sofort! Schreiben Sie ihm... nein, telegrafieren Sie ihm gleich, er soll sofort einpacken und mit Frau und Kindern herüberkommen, gehen Sie sofort zur Kasse, es soll ihm reichlich Geld telegrafisch angewiesen werden, was er zur Reise braucht.«

Das Gesicht mit der Schillernase hatte sich schon verklärt, trübte sich aber noch einmal.

»Es ist nur — es ist nur — Rudolf eignet sich so zu gar nichts anderem als zum Lehrer, er ist Schulmeister mit Leib und Seele...«

»Na ja, er soll hier schulmeistern!«

»Aber wir sind doch hier schon drei, das ist doch schon viel zu viel...«

»Viel zu viel?«

»Wir sind doch gewohnt, immer 80 bis 100 Kinder zu haben, ein Lehrer...«

»Und wenn jedes Kind einen eigenen Lehrer voll und ganz beschäftigen kann, so soll hier in unserer Kolonie jedes Kind seinen eigenen Lehrer bekommen! Es ist im Superlativ ausgedrückt — ich meine, dass wir in dieser Beziehung zu allerletzt sparen wollen. Gehen Sie und telegrafieren Sie.«

Der Mann wandte sich und stolperte einige Schritt weit. Dann drehte er noch einmal um, kam schnell zurück und erhaschte die Hand der Gräfin.

»Sie sind so ein gutes Mädch... Weibs... Frauenz... Sie wissen schon, was Sie sind.«

Er sprudelte es überströmenden Herzens hervor und machte, dass er fort kam.

»Also heute Abend bei mir, vergessen Sie nicht, Ihre lange Pfeife mitzubringen!«, rief ihm Atalanta nach.

Dann bückte sie sich, dort, wo der Mann mit der Schillernase soeben gestanden, lag ein Zettel am Boden. Es war ein längeres Gedicht, mit wunderschönen Buchstaben gemalt, Überschrift und Anfang lauteten:


Du meine keusche Liebe!
Du rotes Weib, Du schönes Weib,
Du Inhalt meiner Träume,
Mit Deinem schlanken, stolzen Leib —


Atalanta steckte es schnell in den Busen, um es später zu Ende zu lesen.

Ein alter Mann humpelte an einem Stock heran.

»Nun, mein lieber Hausler, was habt Ihr denn?! Ihr wart doch gestern noch so vergnügt, als Ihr mir Euer Enkelchen zeigtet, und was macht Ihr denn heute für ein Gesicht?«

Ja, das runzlige, bartlose Bauerngesicht war bis zum Tode betrübt, und mit weinerlicher Stimme begann der Alte: »Frau Gräfin — halten's nicht für ungut — hier ist's ja so schön — und ich habe ja mein Enkelchen auch so lieb — aber ich habs Heimweh bekommen — ich halt's nicht mehr aus — ich möchte zurück in mein Dorf — zu meinem alten Freunde August — wenn wir so am Abend in der Schänke unser Glas Braunbier mit 'nem Korn trinken — und wir sprechen über Politik — ich halt's hier nicht mehr aus — mein Freund der alte August...«

»Na ja, natürlich«, unterbrach Atalanta den immer stärker Jammernden, »da fahren Sie nur wieder zu Ihrem Freunde August...«

»Halt, halt, halt!«, ließ sich da eine andere Stimme vernehmen, und Doktor Sanden erschien auf der Bildfläche. »Frau Gräfin, da muss ich Ihnen erst mal reinen Wein einschenken. Dieser alte Mann, beheimat in Hinterschlesien, ist ins Reisen gekommen. Der würde die Fahrt jetzt zum sechsten Male machen. Das erste Mal hat er fünf Wochen hier ausgehalten, dann bekam er Sehnsucht nach seinem alten Freunde August, wir schickten ihn wieder hinüber — als er vier Wochen in seinem Dorfe war, schrieb er einen flehenden Brief, er könne es vor Sehnsucht nach seinem Enkelchen nicht mehr aushalten — wir ließen ihn wieder herüberkommen — als er drei Wochen hier war, wollte er vor Heimweh sterben, sein alter Freund August... wir schickten ihn noch einmal zurück — diesmal hielt er's nur 14 Tage in seinem Kuhdorfe aus, dann packte ihn das heiße Verlangen nach seinem Enkelchen, er brachte das Geld selbst zusammen, kam von allein herüber, nun aber sei er für immer von dem Streithammel, dem August, kuriert, nun bleibe er für immer hier, deshalb beglichen wir aus der gemeinschaftlichen Kasse seine Schulden — und das war genau vor acht Tagen, und nun will der Kerl wieder zu seinem August! Der ist in den anderthalb Jahren ständig zwischen seiner Heimat in Hinterschlesien und dem Coloradosee hin und her gefahren, während er bisher überhaupt noch gar keine Eisenbahn gesehen hatte. Und passen Sie auf, jetzt hält er es bei seinem August nur noch ein paar Tage aus, dann treibt's ihn zurück zu seinem Enkelchen.«

»Na, da lassen Sie ihn auf seine alten Tage hin und herfahren!«, lachte Atalanta herzlich. »Sorgen Sie dafür, dass er hinüberkommt, es geht aus meiner Kasse...«

Jubelnd hüpfte der Alte davon, seinen Krückstock schwingend.

Inzwischen hatte Atalanta unausgesetzt ihre goldenen Teller ausgeworfen, dem zurückbringenden Seehund stets einen Fisch zur Belohnung gebend.

Zugegen war ein japanischer Matrose, der als Wärter die Tiere unter sich genommen, sie auch auf der Reise begleitet hatte, den sie schon besonders gut kannten.

»Nun ist's gut, Toki, nun wollen wir den zweiten Teil vornehmen.«

Der Japaner pfiff, ging das Ufer entlang, und die Seehunde folgten ihm im Wasser. Sie wurden hinter eine vorspringende Landzunge geführt.

Atalanta, von ihnen ungesehen, verstreute ein Dutzend goldener Teller im Wasser, die Seehunde wurden zurückgebracht, die Indianerin zeigte ihnen nur einen, dann warf sie ihn ins Wasser.

»Such, verloren!«

Alle vier jagten dem niedersinkenden Teller nach. Nur einer erwischte ihn, aber es hatte schon genügt — auch die drei anderen brachten Teller an die Oberfläche, lieferten sie der Herrin ab, und nun bedurfte es nur noch einer Aufforderung, sie tauchten wieder unter und brachten auch die anderen.

Dies wurde mehrmals vom Ufer aus wiederholt, dann ging es im Boot auf den See hinaus, an den verschiedensten Stellen wurden die goldenen Teller ausgeworfen.

Vierzehn Stück hatte Atalanta bei sich — mit einem Male brachte ein Seehund einen fünfzehnten angeschleppt. Und das war weit, weit von jener Goldinsel entfernt, wo man die erste Goldniederlage entdeckt hatte.

»Such, verloren!«, rief Atalanta, wieder einen Teller auswerfend.

Alle vier Robben jagten danach und tauchten unter.

Nur drei kehrten zurück, nur der eine präsentierte triumphierend den goldenen Teller. Nach einiger Zeit erschien auch der vierte wieder, gleichfalls solch eine zwei Pfund schwere Schüssel bringend. Er wurde mit ganz besonderen Liebkosungen ausgezeichnet, auf die es den Tieren viel mehr ankam als auf einen Fisch, den sie sich ja selbst fangen konnten, und sofort schwamm der so belobte Seehund wieder davon, tauchte unter, brachte einen neuen Teller und empfing freudig jauchzend seine Belobigung.

Aber das ließen sich die anderen drei Robben nicht gefallen, sie folgten einfach ihrem abermals davongehenden Kameraden, und so weit, dass dieser sie irre führte, ging es denn doch nicht, oder eine derartige Eifersucht gab es zwischen ihnen eben nicht — jetzt brachten alle vier goldene Teller angeschleppt.

Ein neuer Goldstapel war gefunden worden! Durch Beobachten der Tiere konnte man leicht den Ort bestimmen, wo er lag. Wieder nicht weit von einer Insel entfernt, dessen Ufer, obgleich es so flach aussah, sich plötzlich jäh hinabsenkte. Dort, wo das Gold liegen musste, ergab das Lot eine Tiefe von fast 70 Meter. Das ist eine für den Menschen unerreichbare Tiefe. Den Seehunden schien es gar keine Anstrengung zu machen, da hinabzutauchen. Nur dass sie immer etwas ruhten, ehe sie wieder hinabtauchten.

Atalanta ließ sich dieser Stelle gegenüber am Ufer der Insel nieder, um sie herum stapelten sich nach und nach die goldenen Teller auf. Littlelu hätte wieder rechnen können. Auch Atalanta tat es, nur bescheidener, sie rechnete mit der normalen Arbeitszeit von acht Stunden. Mindestens alle fünf Minuten brachte jeder Seehund einen Teller, das waren immer vier, jeder im Werte von 500 Dollars — also stündlich mindestens 20 000, täglich 160 000 Dollars.

Würde das auch wirklich tagelang so fortgehen? Der Advokat Alkara hatte von Hunderten von Millionen gesprochen, die hier auf dem Grunde des Sees ruhten. Atalanta zweifelte nicht mehr daran. Sie hatte sich etwas darüber orientiert, was den Berichten nach die alten Mexikaner in ihren Tempeln für Schätze aufgestapelt hatten, die sie den Spaniern aus den Zähnen zu rücken gewusst, und sie haben immer behauptet, dass die nördlich benachbarten Völker, also die alten Kalifornier, noch ganz, ganz andere Mengen des roten Metalls besäßen und immer noch gewännen. Dieser ausgehöhlte Felsen mit den selbst unterseeischen Gängen war doch nichts anderes als so ein Tempel dieser Ureinwohner.

Und diese Seehunde würden nie versagen. Man konnte sie in beliebiger Menge kommen lassen. Und war dieser Goldstapel hier erschöpft, so würden die klugen Tiere, denen es im Wetteifer nur darauf ankam, von ihrer Herrin gelobt zu werden, ganz sicher von allein auf die Suche nach neuen Goldlagern gehen.

Da brachte einer eine goldene Kette an, einen halben Meter lang, nur fingerstark, er hatte aber trotzdem schwer zu tragen und war wohl überhaupt nicht mit dem Dinge zufrieden, denn er schüttelte ärgerlich den Kopf und schämte sich ganz offenbar, statt eines Tellers nur eine Kette gebracht zu haben.

Er wurde natürlich ganz besonders gelobt, infolgedessen brachte er nun auch andere Gegenstände, und die anderen Seehunde folgten seinem Beispiele. Es kamen noch viele andere Ketten, soweit sie die Tiere heben konnten, dann wurden hier z. B. auch goldene Triangeln aufgefischt, deren Zweck unbekannt war, vielleicht dienten sie einstmals dazu, Glockentöne zu erzeugen, ferner Tücher aus feinstem Golddrahtgewebe — die Hauptsache aber blieben doch immer die gleichgroßen Teller.

Da aber schwamm dem Ufer ein Seehund zu, der sich einmal geirrt hatte. Er trug im Maule einen dunklen Gegenstand, anscheinend einen großen flachen Stein.

Da musste der Überbringer mit »Pfui« empfangen werden, damit die Seehunde nicht begannen, Steine heraufzuholen und sich unnütz erschöpften.

Erst aber nahm Atalanta ihm den Stein ab.

Doch was war das? Es war eben kein Stein!

Es war ein flaches Wachstuchpaket. Atalanta öffnete es, brach die innen mit Siegellack zugeklebten Ränder auf. Immer und immer wieder neue Hüllen von Wachstuch und Wachstuch, mit Siegellack verklebt. Zuletzt aber kam eine lederne Brieftasche zum Vorschein, die einige Blätter des feinsten Pergamentes enthielt, bedeckt mit mikroskopisch kleinen Hieroglyphen.

Selbst unter einem Vergrößerungsglase waren sie für Atalanta unleserlich. Es brauchte ja nicht gerade eine Geheimschrift zu sein. Es konnten ja auch arabische oder türkische oder sonstige orientalische Schriftzeichen sein, deren es ungefähr 120 verschiedene Alphabete gibt, noch heute im Gebrauch, oder Russisch — für Atalanta waren es jedenfalls unleserliche Hieroglyphen.

Eine Ahnung stieg in ihr auf. Konnte dieses Paket nicht jenes Geheimnis enthalten, wofür man ihr zehn Millionen Dollars geboten und bezahlt hatte? Freilich sollte ihre Rückentätowierung doch nur jene Stellen bezeichnen, wo die Mohawks die Schätze der alten Ureinwohner hüteten, und dieses Pergament und mehr noch die Einpackung sah recht modern aus. Doch hierfür hätte Atalanta eine Erklärung gewusst, da hatten die...

Nein, diese Indianerin wollte wie immer sich keinen Ahnungen hingeben und nichts aus sich selbst erklären, sonst konnte sie zu Trugschlüssen kommen, die sie auf eine ganz falsche Spur brachten.


Lieferung 13


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»Mann, so stellt doch diese Höllenmaschine ab!«, brüllte der
Kapitän den mit gekreuzten Armen dastehenden Juan Tenorio an.


Die Zauberdose

Eine Viertelstunde später befand sich Atalanta in der neuerbauten Sternwarte. Seit sie sich in der Camera obscura von Doktor Hikari getrennt hatte, war sie ihm nicht wieder begegnet, obgleich sie inzwischen die Sternwarte eingehend besichtigt hatte, wobei ihr Führer einer seiner beiden Assistenten gewesen, von denen der eine aus England, von der Greenwicher Sternwarte, gekommen war, der andere aus Japan.

Der Sohn des Mikados war in seinen Privaträumen gewesen, er hatte hinterlassen, ihn nur in dringendstem Falle telefonisch anzurufen, und Atalanta hatte hierzu keinen Grund gehabt.

»Ist Doktor Hikari jetzt zu sprechen?«, fragte sie den Assistenten, der sogar den englischen Professortitel führte.

Der schmächtige, zierliche Japaner, übrigens gar nicht mehr so jung, machte ein sehr besorgtes Gesicht.

»Frau Gräfin, ich war eben im Begriff, eine unschickliche Handlung zu begehen. Ich wollte Sie gerade telefonisch anrufen...«

»Was ist denn da Unschickliches dabei? Ich bin für Sie wie für jeden anderen in unserer Kolonie immer zu sprechen.«

»Das ist es nicht, etwas ganz anderes. Jeder Mensch ist freier Herr über seine Handlungen. Man darf ihn an nichts hindern, wenn er dadurch nicht andere schädigt. Wenn Doktor Hikari freiwillig des Hungertodes sterben will, was geht es einen anderen an?«

Atalanta bekam da etwas Japanisches zu hören. Nach japanischen Begriffen ist es eine »Unhöflichkeit«, den Strick eines Selbstmörders zu durchschneiden. Doch es war eine Indianerin, die das zu hören bekam, für diese war das gar nicht so unverständlich.

»Doktor Hikari will freiwillig des Hungertodes sterben?«, fragte sie ganz ruhig.

»Fast scheint es so. Seit drei Tagen ist er in seinem Privatlaboratorium und hat noch keinen Bissen genossen. Das ist schließlich eine Kleinigkeit. Als er mit der Auflösung des Orionnebels begann, gelobte er, so lange nichts zu essen, bis er mit dieser Arbeit fertig sei, er hat zehn Tage nur von Wasser gelebt und es hat ihm nicht das Geringste geschadet. Wir wissen aber, dass er jetzt seit drei Tagen und drei Nächten kein Auge zugetan hat. Und das ist etwas Unnatürliches. Wenn er wie Baron Lako, das ist unser japanischer Edison, 42 Tage hungert, täglich nur drei Stunden schlafend, im Stehen, eine brennende Wachskerze in der Hand, bis er das ins Auge gefasste Problem gelöst hat — dagegen habe ich nichts. Aber dreimal 24 Stunden ohne eine Minute Schlaf — das ist unnatürlich.«

Merkwürdige Menschlein, diese Japaner!

»Und«, fuhr Professor Saigo fort, »es ist nicht nur Doktor Hikari, der sich aufreibt, sondern es ist ein Sohn des Mikados, und mehr noch, es ist der Usabi der Schiffer, der Schutzherr von acht Millionen Menschen, der sein Leben auf diese Weise in Gefahr bringt.«

»Haben Sie ihn noch nicht gesprochen?«

»Das wohl, aber wir sprachen über alles andere — ich darf ihn doch nicht ermahnen, sich zu schonen, wenn es auch nur ein gewöhnlicher Matrose wäre, das wäre doch die denkbar größte Ungezogenheit, jeder Mensch ist doch Herr seines Willens.«

»Und nun wollten Sie mich rufen, dass ich einmal mit ihm spreche.«

»Ja, zu dieser Unschicklichkeit habe ich mich erniedrigt.«

»Bitte, führen Sie mich zu ihm, melden Sie mich an.«

Doktor Hikari befand sich in einem physikalischen Laboratorium, das zu jeder regelrechten Sternwarte gehört, so gut wie ein chemisches. Es war ein kleineres, sein eigenes, aber ausgestattet mit allen bisher erfundenen Apparaten und Instrumenten für physikalische Zwecke.

Er beobachtete eine feine, unter einem Glasdeckel stehende Waage, auf deren einer Schale jene Dose stand, die ihm der Mephistopheles gegeben hatte.

Atalanta mochte oft daran gedacht haben, was es mit dieser Dose wohl für eine Bewandtnis hatte, aber diese Indianerin war auch so ein Charakter. Von selbst kam die nicht, um zu fragen.

»Endlich kommen Sie!«, empfing sie Doktor Hikari. »Ich wollte Sie schon immer rufen, verschob es aber von Stunde zu Stunde, weil ich immer hoffte, Ihnen ein positives Resultat meiner Untersuchungen mitteilen zu können, während ich noch jetzt nach drei Tagen rastloser Arbeit gestehen muss, dass hier meine Wissenschaft zu Ende ist. Ich stehe vor einem unfassbaren Rätsel.«

Er holte die Dose unter dem Glaskasten hervor und gab sie ihr.

Es war also eine vierkantige Dose, wenig größer als eine Streichholzschachtel, von durchsichtigem Glas, an den Kanten mit schmalen Silberstreifen eingefasst.

»Die ist ja ganz erstaunlich leicht!«, wunderte sich Atalanta schon, als sie die Dose nur in die Hand nahm.

»Sie werden noch über etwas ganz anderes staunen.«

»Was ist denn da drin?«

Denn es klapperte stark, wenn man die Dose schüttelte.

»Öffnen Sie nur den Deckel.«

Atalanta tat es. In dem Augenblick, da sie den Klappdeckel aufmachte, wurde die Dose ganz bedeutend schwerer. Ein Goldadler lag darin, 16 Gramm schwer.

Wir wollen es kurz machen: die Glasdose war bis auf ihre Ränder durchsichtig wie Luft. Was sich dahinter befand, sah man also. Was aber hineingelegt wurde, das verschwand für das Auge, sobald der Deckel geschlossen wurde, wenn also der betreffende Gegenstand vollkommen von den Glaswänden umgeben war, er wurde selbst durchsichtig — und außerdem verlor er sein Gewicht.

Hikari füllte die Dose bis an den Rand mit Quecksilber. Es gingen fast 250 Gramm hinein, also ein halbes Pfund. Sobald der Deckel völlig geschlossen war, waren diese 250 Gramm verschwunden, das heißt die Dose wog nicht mehr als in leerem Zustande, kaum 10 Gramm. Überhaupt nur die silberne Kanteneinfassung schien zu wiegen. Und stellte man die Dose auf ein Zeitungsblatt, so konnte man die Buchstaben deutlich lesen. Öffnete man den Deckel, so blickte man eben auf das undurchsichtige Quecksilber, und mit geöffnetem Deckel wog die Dose 260 Gramm.

»Und dasselbe ist mit jeder anderen Substanz der Fall?«

»Mit jeder anderen! Ach, mit was für Substanzen habe ich den Versuch nicht schon angestellt! Was habe ich nicht schon gewogen! Und diese Dose selbst, dieses Omnihilit — welchen Untersuchungen habe ich das nicht schon unterworfen! Mit Hunderten von Chemikalien habe ich es behandelt, mit den schärfsten Säuren und ätzendsten Alkalien — alles vergeblich — dieser Stoff muss in der Glut der Hölle zusammengeschmolzen worden sein, er widersteht der heißesten Knallgasflamme — alle die Hunderte von Substanzen, von den Omnihilitplatten umhüllt, habe ich im spektralanalytischen Apparat untersucht — vergebens! — Keine Farbe wird zerlegt! — — Ich habe...«

Ach, was der in den drei Tagen und drei Nächten mit der geheimnisvollen Dose alles angestellt hatte!

Und es war begreiflich, dass auf diesen Physiker diese rätselhafte Dose einen ganz anderen Eindruck machte als die Illusionsbühne und die Camera obscura.

Doktor Hikari, sonst die Selbstbeherrschung selbst, raste in dem Laboratorium auf und ab.

»Ich finde das nicht rätselhafter«, meinte die Indianerin phlegmatisch, »als Professor Röntgens X-Strahlen.«

»Ja, das sagen Sie, Sie! Aber ich, ich, was soll ich mir für eine Erklärung geben! Gewiss, Sie haben ganz recht — hier handelt es sich ebenfalls um eine besondere Art von Lichtstrahlen — dieses Omnihilit absorbiert die gewöhnlichen, für unser Auge sichtbaren Lichtstrahlen und lässt nur gewisse durch — aber welche, welche — was sind das für rätselhafte Strahlen? Und dieses Omnihilit hebt auch die Energieschwingungen der Schwerkraft auf! — Ich werde wahnsinnig!«

Ganz erschöpft ließ er sich auf einen Stuhl fallen und stierte mit rotunterlaufenen Augen vor sich hin.

»Wenn Sie wahnsinnig werden, dann werden Sie dieses Rätsel ganz gewiss nicht lösen«, meinte Atalanta phlegmatisch wie zuvor, »und auch nicht, wenn Sie langsam verhungern und Ihre Nerven durch Schlaflosigkeit ruinieren!«

»Sie haben recht!«

Jäh sprang er auf und trat vor sie hin.

»Frau Gräfin, geben Sie mich frei!«

»Wozu?«, fragte sie ruhig.

»Geben Sie mir meine Freiheit wieder.«

»Sie wollen in die Dienste dieses Mannes treten?«

»Ja.«

»Hat er Ihnen noch einmal den Vorschlag gemacht, dass Sie sich ihm mit Leib und Seele verschreiben sollen?«

»Ja.«

»Wie das? Bitte, schildern Sie es mir ausführlich. Ich interessiere mich dafür und werde Ihnen dann meine definitive Antwort geben.«

»Ich habe ihn noch einmal telefonisch angerufen. Gestern oder heute oder vorgestern — ich weiß es nicht mehr, für mich hat es keine Zeit mehr gegeben.

Was er fordert, wenn er mich in das Wesen dieses Omnihilits einweiht? Er bleibt dabei: Ich soll mich ihm mit Leib und Seele verschreiben. Soll so einen Kontrakt unterschreiben, wie es im Mittelalter gewesen ist, als noch der krasseste Teufelsaberglaube kursierte, soll diesen Pakt mit meinem eignen Blute unterschreiben.

Dann will er mir nicht nur das Geheimnis dieses Omnihilits offenbaren, seine Erzeugung und alles, sondern mich auch in alle seine anderen Geheimnisse, Entdeckungen und Erfindungen einweihen, von Grund auf. Kurz, ich soll sein Schüler werden. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

»Gut. Und was für eine Garantie gibt er Ihnen, dass er sein Versprechen auch hält, nachdem Sie den Pakt unterschrieben haben?«

»Gar keine. Was soll er auch für eine Garantie geben? Und doch. Er schwört — nicht bei seiner Ehre, sondern bei seinem Pferdefuß und seinem Teufelsschwanz, dass er sein Versprechen halten wird. Dazu meckert er höhnisch, wie nur ein Teufel lachen kann. Und dennoch glaube ich ihm.«

»Und da tun Sie auch ganz recht daran. Doktor Hikari, ich will Ihnen meine Meinung sagen. Dieser Mensch — denn ein irdischer Mensch ist und bleibt er dennoch — ist solch ein Ausbund von Schurkerei, dass es ganz über unsere Fassungskraft geht. Und trotzdem ist er ein ganz gediegener, aufrichtiger, zuverlässiger, sogar edler Charakter.

Das klingt paradox, nicht wahr. Und doch ist es so. Es ist eben die alte Geschichte von den Extremen, die sich immer berühren. Und nicht umsonst hat man immer vom Teufel als von einem gefallenen Engel gesprochen, nicht umsonst hat die Volkssage den Teufel immer mit einem gewissen biederen Charakter ausgeschmückt, nicht umsonst spricht man von einem guten Teufel. Aber die böse Teufelsnatur herrscht bei diesem Manne dennoch vor. Einfach die Lust am Bösen, die Sucht, bessere Menschen zu sich in die Sünde und in den Kot hinabzuziehen. Dazu nun ein maßloser Stolz, eine maßlose Eitelkeit.

Ganz zweifellos wäre es diesem Manne ein leichtes, uns hier zu vernichten. Er lässt einfach die steinernen Decken über uns zusammenstürzen. Alle Ursache hätte er ja auch, an uns, an mir Rache zu nehmen. Warum er es nicht tut? Ich will es Ihnen sagen.

Ich habe diesem Manne gezeigt, dass ich ihm, wenn wir uns in der Freiheit Auge in Auge gegenüberstehen, körperlich und auch geistig überlegen bin. Ich habe ihn niedergeworfen, habe ihn gebunden und geknebelt — er war in meiner Hand ein hilfloses Kind.

Das hat in der Brust dieses Mannes eine Scham und eine Rachsucht erweckt, für die unsereins gar keine Worte hat. Nun müsste er mich doch umso lieber und eher vernichten, mich brechen. Aber er hat mich kennen gelernt. Ich bin eine Vollblutindianerin. Was will er denn mit mir anfangen? Mich töten? Mich an den Marterpfahl stellen? Mich kopfüber in einen Ameisenhaufen hängen? Ich lachte ihn doch aus! Mich schänden, vergewaltigen? Er könnte nur meinen Leichnam schänden.

Nein, dieser Mann hat viel hochfliegendere Pläne, um seine Rache an mir zu kühlen. Demütigen will er mich. Ganz freiwillig soll ich zu ihm kommen und ihn bitten, mich doch zu seiner Frau zu nehmen. Dann freilich, wenn er dieses Ziel erreicht hat, dann wird sein furchtbares Hohngelächter ausbrechen!

Und genau dasselbe ist bei Ihnen der Fall. Sie, der japanische Prinz, der berühmte Astronom, der an keinen Teufel mehr glaubt, sollen zu ihm kommen und mit Ihrem eigenen Blute einen Pakt unterschreiben, wie man ihn vor fünfhundert Jahren mit dem Teufel gemacht und mit seinem eigenen Blute unterschrieben hat. Und wenn er diese Ihre Unterschrift hat, dann wird er befriedigt hohnlachen. Der Welt öffentlich wird er dieses Dokument gar nicht zeigen. Die eigene Befriedigung genügt diesem Manne, der die anderen Menschen verachtet, vollkommen. Und dann wird er Sie wahrscheinlich noch veranlassen, dass Sie sich ganz freiwillig von ihm einbalsamieren lassen, dann setzt er sich in seinen Mußestunden vor Ihre leblose Statue aus Fleisch und Blut hin. ›Das ist der Sohn des Kaisers von China (1), der über Leib und Seele von acht Millionen Japanern zu gebieten hatte — ich habe ihn bezwungen, ich. Ich — o welcher Triumph, welcher Stolz — hahaha, diese jämmerlichen Narren von Menschen!‹, so wird er hohnlachend sprechen, verlassen Sie sich darauf.«

(1) Richtig muss es doch wohl ›Japan‹ heißen.

Und die Indianerin selbst hätte nicht treffender sprechen können, diesen Teufelsmenschen nicht treffender beurteilen können!

Auf den Japaner aber hatte dies alles keinen Eindruck gemacht. Er wurde nur von einem Gedanken beherrscht.

»Sie glauben nicht, dass er mich in alle seine Geheimnisse einweihen wird?«

»Doch, daran zweifele ich nicht im Geringsten. Was der Teufel verspricht, das hält er auch unbedingt, darin hat die Volkssage ganz recht, und dieser Mensch will nun einmal die Rolle des Teufels spielen. Aber darauf können Sie sich ebenfalls verlassen; verwerten können Sie Ihre auf diese Weise gewonnenen Kenntnisse nicht. Dieser egoistische Mann, der seine Mitwelt maßlos verachtet, lässt den anderen Menschen nichts von seinen Erfindungen zugute kommen.«

»Mir gleichgültig. Wenn ich nur meinen eigenen Wissenshunger befriedigen kann.«

»Das ist von Ihnen ebenfalls sehr, sehr egoistisch gedacht.«

»Wenn Sie wüssten, was so ein Wissensdurst —«

»Nun ja, ich verstehe Sie. Dass ein Doktor Faust seine Seele dem Teufel verschreibt, das kann ich wenigstens sehr gut verstehen.«

»Geben Sie mich frei?«

»Nein!«

»Bitte!«

»Wollen Sie mir diese Schmach antun? Mich so demütigen?«

»Schmach? Demütigen?«, wiederholte der Japaner erstaunt.

»Verstehen Sie denn nicht, welche Demütigung dieser Teufel mir zunächst durch Sie antun will? Sie haben mir freiwillig Ihren unbedingten Gehorsam angeboten, die Herrschaft über Ihren Leib und Ihre Seele. Und ich habe es angenommen. Und nun will dieser Teufel sich als erstes diesen Triumph bereiten, dass Sie mir den Gehorsam kündigen, dass Sie mich bitten, Sie zu entlassen, weil Sie ebenso freiwillig in seine Dienste treten wollen. Verstehen Sie denn das nicht?«

Ja, jetzt hatte Doktor Hikari verstanden, früher nicht. Er wandte sich um, und ein leises Zähneknirschen erklang, ein qualvoller Seufzer folgte nach.

»Doktor Hikari!«

Er drehte sich wieder um.

»Frau Gräfin?«

»Sie haben mir unbedingten Gehorsam zugeschworen.«

»Ich gehorche.«

»So befehle ich Ihnen, jetzt eine ausreichende Mahlzeit zu sich zu nehmen und dann sich schlafen zu legen.«

Er machte eine demütige Bewegung.

»Ich gehorche.«

»Werden Sie auch auf meinen Befehl schlafen können?«

»Ich werde es können.«

»So tun Sie es. Dann wollen wir weiter darüber sprechen.«

Sie verließ das Laboratorium und suchte den Assistenten Doktor Hikaris wieder auf.

»Es ist alles in Ordnung. Er wird essen und schlafen. Aber weshalb ich den Doktor eigentlich aufsuchte, das konnte ich nicht mehr anbringen, damit musste ich ihn jetzt verschonen. So komme ich mit der Bitte zu Ihnen, Herr Professor. Wissen Sie, was das für eine Schriftsprache ist?«

Sie gab ihm die Pergamente.

»Nein, das weiß ich nicht. Obgleich wir Japaner zu den Orientalen zählen, bin ich nicht in allen orientalischen Sprachen bewandert. Denn eine solche scheint es zu sein.«

»Nun, darauf kommt es vorläufig auch gar nicht an. Können Sie mir davon nicht eine oder einige Kopien anfertigen?«

»Auf fotografischem Wege. Das ist das Einfachste.«

»Daran dachte ich eben. Können Sie sie nicht gleich etwas vergrößern?«

»So groß Sie wollen. Natürlich leidet darunter etwas die Deutlichkeit, die Schärfe der Konturen.«

»Machen Sie es nach Belieben. Ich bitte sehr darum.«

Ein Vorschlag zu neuem Leben

Auf dem Wege nach dem Fahrstuhl klingelte in Atalantas Tasche leise die Telefonuhr. Zum ersten Male. Und sie selbst hatte sie auch noch nicht benutzt, hatte den Mephistopheles auch durch kein anderes Telefon angerufen, ihn noch nicht wieder zu sehen bekommen.

Trotzdem wollte sie ihn nicht ignorieren, sonst hätte sie die Telefonuhr doch gar nicht bei sich getragen. Sie zog sie hervor.

»Wer ist dort?«, sprach sie gegen die markierte Seite.

»Der Mephistopheles«, erklang es ganz deutlich, noch ehe sie die Uhr gegen ihr Ohr gehalten hatte, was in solcher Entfernung also gar nicht nötig war.

»Und?«

»Darf ich Sie um eine Unterredung bitten, Frau Gräfin?«

»Wozu?«

»Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, er wird Sie höchst interessieren.«

»Ja, ich habe jetzt gerade nichts weiter zu tun.«

»Wollen Sie sich in meinen Bereich begeben?«

»Nein. kommen Sie herüber.«

»Sie gewähren mir Schutz?«

»Selbstverständlich. Doch wiederum nur für eine Stunde.«

»Wo soll ich Ihnen begegnen?«

»Ich erwarte Sie wieder in dem kinematografischen Theater.«

»Ich werde schon dort sein.«

Er erwartete sie denn auch schon in dem elektrisch erleuchteten Amphitheater, der tadellose Gentleman. Auch sein ewiges Grinsen hatte er jetzt einmal verloren.

»Frau Gräfin, ich komme mit einer großen Bitte. Sie wissen doch, dass auch der Teufel manchmal hilfsbedürftig ist. Ich fasse mich kurz. Ich will eine größere Seereise machen. Um die ganze Erde. Dazu brauche ich ein Schiff, ein eigenes. Das kaufe ich mir einfach. Aber dazu brauche ich auch eine Mannschaft. Und es müssen Leute sein, auf die ich mich absolut verlassen kann, besonders auch wegen des Stillschweigens. Denn es wird mancherlei zu schauen geben, was ich sonst keinen Sterblichen wissen lassen möchte. Könnten Sie, Frau Gräfin, Ihren Freund, den Herrn Doktor Hikari, nicht veranlassen, dass er mir gegen zweihundert japanische Matrosen zur Verfügung stellt?«

Atalanta war grenzenlos überrascht.

Wenn Doktor Hikari erwacht war, wollte sie ihm, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, den Vorschlag machen, mit ihr auf Reisen zu gehen, auf einem eigenen Schiffe. Denn immer hier persönlich Kolonisation, Ackerbau und Viehzucht zu treiben, das war nichts für diese Indianerin und Artistin. Diesen Vorsatz hatte sie überhaupt schon längst gehabt. Und Doktor Hikari konnte seine astronomischen Studien und Beobachtungen doch auch von Bord eines Schiffes aus betreiben, da bekam er wieder ganz andere Himmelsgegenden vor das Fernrohr.

Konnte dieser Mann etwa auch Gedanken lesen? Nein, daran glaubte Atalanta nicht. Mochte er auch durch eine wunderbare Erfindung alles beobachten können, was auf dem entferntesten Punkte der Erde vor sich ging, ein einzelnes Insekt, das am Gegenpunkt der Erde kroch, bis ins Riesenhafte vergrößern, mochte er sogar jedes dort stattfindende Gespräch belauschen können — an ein derartiges Gedankenlesen glaubte diese Indianerin nicht, und wäre es wirklich der Fürst der Hölle gewesen. Denn sonst hörte überhaupt alles auf, dann hätte sie gar nicht mehr auf dieser Erde leben mögen. Und gesprochen hatte sie über diesen ihren Plan noch kein einziges Wort, auch nicht halblaut vor sich hin, nicht im Traume — so etwas gab es bei dieser Indianerin nicht.

Nein, es war einfach der reine Zufall, dass der Teufelsmensch ihr jetzt solch einen Vorschlag machte, und dieser Zufall war ja erstaunlich genug.

»Ich will mit dem Herrn Doktor darüber sprechen«, antwortete sie jetzt. »Warum aber wenden Sie sich nicht selbst direkt an ihn?«

»Ich will meinen Vorschlag gleich noch erweitern.

Ich habe Ihnen wiederholt versichert, dass ich immer und ganz zu ihrer Verfügung stehe. Warum? Sie sollen mich von einer besseren Seite kennen lernen, sich über mich ein besseres Urteil bilden, als Sie es bis jetzt haben.

Erst wollte ich Sie als meinen Gast einladen. Ich habe es mir anders überlegt. Kaufen Sie sich ein Schiff, laden Sie mich als Ihren Gast ein, ich will mich vollständig in Ihre Hände geben.«

»Mir ist an Ihrer Gegenwart als Gast wenig gelegen!«, erklang es kalt zurück.

»Es wird Sie aber höchst interessieren. Ich werde Ihnen die wunderbarsten Naturwunder zeigen, von denen sich noch kein Mensch etwas träumen lässt, Sie werden auch sonst ganz Erstaunliches erleben und sehen.«

»So werden Sie den Kurs und das Ziel immer bestimmen?«

»Nein, das sollen Sie. Ich werde Sie nur ab und zu bitten, den Kurs ein klein wenig zu ändern, wenn ein solches Wunder an unserem Wege liegt, denn sie sind über der ganzen Erde verstreut.«

»Nun gut, das lässt sich hören. Ich bin im Grunde genommen nicht abgeneigt. An was für ein Schiff denken Sie da?«

»Jetzt gerade ist eine günstige Gelegenheit, ein Ideal von einem Schiffe spottbillig zu erwerben. Die Privatwerft von Dolles Brothers in San Francisco hat auf eigene Spekulation ein Schiff gebaut. Eine geniale Idee. Es ist ein Passagierdampfer von zwanzigtausend Tonnen, einhundertfünfunddreißig Meter lang, neun Meter breit, sieben Meter Tiefgang, achtundzwanzigtausend indizierte Pferdekräfte, vierundzwanzig Knoten Fahrt. Dass Frachtund besonders Passagierdampfer so gebaut werden, dass man sie auch als Kriegsschiffe verwenden kann, das ist ja jetzt allgemein üblich. Aber das ist doch nur so. Als Kreuzer oder gar als Schlachtschiffe können sie nie ernstlich in Betracht kommen.

Jene Werft glaubte ein Problem gelöst zu haben. Dieser Passagierdampfer kann innerhalb vierundzwanzig Stunden gepanzert werden. Die fix und fertigen Panzerplatten schwersten Kalibers brauchen nur angeschraubt zu werden. Tatsächlich eine ganz ingeniöse Erfindung. Denn das ist leichter gesagt als getan.

Aber hinterher hat sich gezeigt, dass sich ein Rechenfehler eingeschlichen hat. Es ging nur auf dem Papiere, bei einem Modell, aber nicht in der Praxis, im Großen. Ich kann hier nicht ausführlich werden. Die Fahrt würde bei der Panzerung bis auf sechzehn Knoten herabgedrückt, und es wären noch viele andere Mängel dabei. Kurz, die Regierung der Vereinigten Staaten will dieses Schiff nun nicht abnehmen, auch keine andere Reederei, denn als ausschließliches Passagierschiff hat es nun auch wieder seine Nachteile, ist auch viel zu teuer.

So liegt der Kasten jetzt auf der Werft. Die Firma steht infolgedessen vor dem Bankrott. Das Ding ist unter Brüdern zweieinhalb Millionen Dollars wert, für zwei Millionen soll es verkauft werden. Greifen Sie zu, so einen Kauf machen Sie niemals wieder.«

»Wenn es sich aber auch als Passagierdampfer nicht recht eignet?«

Jetzt brach bei dem Mephistopheles doch wieder das Grinsen hervor.

»Weil die nicht wissen, woran der Fehler liegt, ich habe es auf den ersten Blick gesehen, hähähä. Nur die Balance braucht durch Ballast etwas verschoben zu werden.«

»So teilen Sie dies der Werft doch mit.«

»Ich? Was habe ich denn mit den Leuten zu tun?«

Atalanta sah ein, dass dem doch keine andere Gesinnung beizubringen war.

»Ist das Schiff denn schon eingerichtet?«

»Vollkommen, großartig, die Essbestecks brauchen nur noch graviert zu werden, alles aufs Feinste, der Bilderschmuck in den Speisesälen und anderen Salons stammt von ersten Künstlern. Zwei Millionen ist ein Spottpreis, sage ich Ihnen! Ich verstehe nämlich auch etwas davon.«

»Und auch Kanonen sind schon an Bord?«

»Nein, Kanonen nicht. Es ist doch jetzt als Passagierschiff eingerichtet. Auch die Panzerung ist wieder abgerissen, abgeschraubt. Das panzern wir uns aber selber.«

»Wir es selber panzern?!«

»Jawohl, hähähä. Ich mache die Panzerplatten selber, innerhalb eines Tages, gleich fix und fertig zum Anschrauben, federleicht und dennoch von keiner Granate zu durchschlagen, und auch so gepanzert behält das Schiff seine Geschwindigkeit von vierundzwanzig Knoten.«

»Ach, Sie wollen das Schiff wohl mit jenem Omnihilit panzern, sozusagen mit gefrorenem Wasser?!«

»So ist es, sozusagen mit Wasser, hähähä«, grinste der Mephisto. »Und das mache ich kostenlos. Und meine Camera obscura nehme ich natürlich auch mit. Und noch vieles andere, wovon Sie noch gar keine Ahnung haben. Und trotzdem sollen Sie die Besitzerin sein, und den Doktor Hikari, der ja Seeoffizier ist, denke ich mir als den Kapitän. Nur dass ich, wenn ich von Bord gehe, diese Einrichtungen wieder mitnehme, auch die Panzerung.«

»Bringen Sie noch Gesellschaft mit?«

»Nein. Ich komme ganz allein. Ich gebe mich Ihnen auf Gnade und Ungnade in die Hände. Wenn Sie wollen, können Sie mich sofort in Eisen legen lassen. Ich will Ihnen beweisen, dass ich Vertrauen zu Ihnen habe.«

»Nun, das ließe sich allenfalls hören. Wieviel verbraucht der Dampfer Kohlen?«

»Kohlen? Hähähä. Mein Schiffchen braucht keine Kohlen.«

»Womit feuern Sie denn sonst? Mit Teer? Petroleum?«

»Teer? Petroleum? Hähähä. Ich treibe das Schiffchen mit Elektrizität.«

»Ja, wie erzeugen Sie diese aber?«

»Wo bekommt denn der — der — liebe Gott seine Elektrizität her, um mit Blitzen um sich schleudern zu können? Aus der Spannung der Atmosphäre. Tesla — Sie kennen doch den Elektriker Tesla mit seiner sensationellen Entdeckung — pumpt die Elektrizität sozusagen aus der Erde heraus. Freilich liegt diese Erfindung noch in den Windeln. Ich habe dieses Problem schon fix und fertig gelöst. Auch aus dem Wasser hole ich mir meine Elektrizität. Denn diese Kraft ist doch überall vorhanden, man muss sie nur in positive und negative zu spalten und dann isoliert aufzufangen verstehen. Und das verstehe ich eben, hähähä.«

»Sie können das ganze Schiff mit Elektrizität treiben, die Ihnen so gut wie nichts kostet?!«

»Absolut nichts. Ich kann alle Maschinen der Erde damit treiben. Vorläufig aber kommt nur unser Schiffchen in Betracht.«

»So brauchten wir gar keine Kohlen mitzunehmen?«

»Wissen Sie was: Nehmen wir lieber Kohlen mit. Als Ballast. Mögen die Menschen nur glauben, wir feuern die Kessel mit Kohlen. Ja, durch die drei Schlote werden wir auch Rauchwolken jagen. Das heißt nur so äußerlich, nur von oben. In Wirklichkeit richten wir uns in diesen drei Schloten, jeder von vier Metern Durchmesser, behagliche Boudoirs ein, und ebenso in den Kesseln, hähähä. Dazu ist es aber eben nötig, dass wir nur verschwiegene Matrosen haben, und das sind doch die Japaner.«

»Dann brauchen Sie wohl auch gar keine Maschine?«

»Doch. Die muss vorhanden sein, um die Schraube zu drehen. Nur wird sie eben nicht durch Dampf, sondern durch Elektrizität in Bewegung gesetzt.«

»Durch eine Dynamomaschine?«

»Ach was, Dynamomaschine!«, erklang es verächtlich zurück. »Ich stelle einen kleinen Holzkasten auf, der nichts weiter als Baumwolle enthält — wenigstens sieht das Zeug so aus — von dem aus ein paar Drähte ins Wasser gehen, und wenn es die Maschine aushält, dann will ich mit diesem Kasten Hunderttausende von Pferdekräften erzeugen, dass das Schiffchen mit hundert Knoten Geschwindigkeit dahinschießt. Das kann man von der Maschine natürlich nicht verlangen. Wie die Geschichte geht, das werden Sie dann schon sehen. Also sind Sie einverstanden damit?«

»Einverstanden!«, rief Atalanta, und ihre Augen leuchteten.

Das Meutererschiff

Ein mächtiges Kriegsschiff durchschnitt die Fluten des Stillen Ozeans. Am Top wehte der Wimpel, am Heck das Sternenbanner der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Es war der »Stolz von Columbia«.

»Antreten zur Musterung in Divisionen!«, ertönte soeben das Kommando des ersten Deckoffiziers.

Beide Wachen traten an, jede auf ihrer Bordseite, von den sechshundert Mann vierhundert, die anderen zweihundert waren unter Deck beschäftigt.

Korvettenkapitän Younglof kam aus der Kajüte. Es waren zehn Offiziere, die sich ihm anschlossen oder ihm entgegenkamen, um die Mannschaft batterieweise zur Stelle zu melden.

Drei andere Wachoffiziere befanden sich auf der Kommandobrücke.

Da ein gellender Pfiff, und in die strammstehenden Reihen kam Leben, Hunderte von Matrosen sprangen vor, alle dorthin, wo die Offiziere jetzt gerade so hübsch beisammen standen, Hunderte von schwieligen Fäusten packten zu.

»Nur festhalten, nur festhalten, lebendig müssen wir die Hunde schinden!«, schrie eine Stentorstimme, das ausbrechende Wutgeheul vorläufig noch übertönend.

Aber es wurde nicht nur festgehalten. Die schwieligen Fäuste schlugen auch zu. Und da sie nun einmal dabei waren, wurde auch weiter geschlagen und mit Füßen auf den Körpern herumgestampft. Dann wurden die schon formlosen Menschenleiber auseinander zu reißen versucht und dann — —

Genug!

Nur ein Offizier auf der Brücke hatte einen Revolverschuss abgeben können, dann war er ebenso wie seine beiden Kameraden in eine formlose Masse verwandelt.

Wären die Offiziere nicht blind und taub gewesen, sie hätten es kommen sehen müssen. An den zehn Fingern hätten sie es sich ausrechnen können. Solch eine Behandlung und solch ein Futter ließ sich ja der geduldigste Norweger nicht gefallen, der es von seinen eigenen Schiffen her gewohnt war. Und das waren hier fast ausschließlich geborene Nordamerikaner, Yankees. Denn der »Stolz von Columbia« hatte ein Musterschiff sein sollen.

Korvettenkapitän Younglof war ein Schikaneur gewesen. Tag und Nacht hatte er die Leute kujoniert, sie bei jeder Gelegenheit aus der Hängematte geholt, sie mit den unnützesten Arbeiten gequält und bis aufs Blut gemartert, und dabei bekamen sie, wie gesagt, das denkbar schlechteste Essen. Man muss nur wissen, was für diese Matrosen das Essen zu bedeuten hat. Sie haben ja nichts weiter. Nicht nur, dass das Schiff durch verfluchte Makler und Zahlmeister von Anfang an schlecht verproviantiert worden, mit wurmzerfressenem Zwieback und stinkigem Salzfleisch, sondern der Kapitän kargte auch noch hiermit, strich vom Küchenzettel die Pflaumen zum Pudding. Das ist nun das letzte, was der amerikanische Matrose vertragen kann.

Wäre Bootsmann Kitcher nicht gewesen, es wäre schon längst zur Meuterei gekommen. Die wäre aber wahrscheinlich erstickt und blutig niedergeschlagen worden. Denn da waren noch nicht alle Matrosen, Heizer und Unteroffiziere auf Seiten der Meuterer.

Bootsmann Kitcher hatte die Sache in die Hand gekommen. Er war kein Bootsmann mehr, nur noch gewöhnlicher Matrose. Er hatte sich im Namen der ganzen Mannschaft direkt beim Kapitän über das Essen beschwert, war ausfallend geworden, und der Kapitän hatte ihn nicht in Eisen legen lassen, was schließlich noch zu ertragen gewesen wäre, sondern er hatte ihn sofort zum gewöhnlichen Matrosen degradiert.

Dieser Matrose nun hatte alles so geschickt arrangiert, jeder einzelne Mann wusste, was heute bei der Mittagsmusterung geschehen würde und dass kein Offizier nur die leiseste Ahnung davon bekommen hatte. Und alle Offiziere mussten daran glauben, denn sie alle hatten nach des Kapitäns Pfeife getanzt.

Was nun?

Das erste war, dass Bootsmann Kitcher zwei Matrosen niederschoss, die ohne seine Erlaubnis in die Kajüte dringen wollten, doch natürlich nur, um nach Branntwein zu suchen. Das zweite war, dass er sich zum Kommandanten erklärte. Denn was ist ein Schiff ohne Führer.

Was aber nun?

Darüber war schon vorher zur Genüge beraten worden.

Ein freies Piratenleben zu führen, daran war nicht zu denken. Bootsmann Kitcher wusste einen besseren Rat.

Seine Schlauheit hatte sogar eine Aussicht erspäht, die Meuterer noch zu hohem Ansehen zu bringen.

In Nordamerika gibt es eine große politische Partei, welche durchaus einen Krieg haben möchte, um wieder frisches Leben in Handel und Wandel zu bringen. Am liebsten möchte sie mit Japan anbinden und zwar je eher, desto besser.

»Wir halten das erste japanische Frachtschiff an, das wir in Sicht bekommen!«, erklärte Kitcher. »Natürlich dürfen keine anderen Schiffe als Zeugen vorhanden sein. Wir sagen, wir visitierten auf Opium. Die Japs haben nicht die Segel gestrichen, wir mussten entern, die Japs haben sich zur Wehr gesetzt, uns ganz hinterlistig überfallen, wie gewöhnlich zuerst alle unsere Offiziere niedergemacht. Da haben wir sie natürlich ebenfalls alle über die Klinge springen lassen.

Das Schiff nehmen wir ins Schlepptau. Das ist eigentlich schon ein Grund zum Kriege mit Japan. Und wir haben die Veranlassung dazu gegeben, wir sind die Helden.

Haben wir aber nun Glück, dann begegnen wir auch noch einem japanischen Kriegsschiffe ohne Zeugen. Das fragt uns natürlich an, was wir mit dem Schiffe mit der japanischen Flagge im Schlepptau machen. Wir lassen es herankommen — bohren es in den Grund und sorgen dafür, dass kein Mensch etwas davon erzählen kann. Wir aber erzählen, dass uns die Japaner zuerst angegriffen haben. Wer will das Gegenteil beweisen? Dann ist der Krieg überhaupt schon eröffnet, und wir sind die ersten gewesen, die ein japanisches Kriegsschiff vernichtet, ein japanisches Handelsschiff erbeutet haben. Wir sind die Helden des Tages und werden es auch bleiben.

Wir selbst müssen nur reinen Mund halten. Ja, selbst wenn später alles verraten werden sollte, so wird man uns dennoch verzeihen, denn der Erfolg liegt im Erfolg!«

So hatte der degradierte Bootsmann in der Batterie leise einem Matrosen ins Ohr geflüstert, und dieser gab es weiter und einer flüsterte es nun dem anderen zu.

Jetzt führte er dasselbe noch einmal kürzer aus, und jetzt wurde ihm mit einem jubelnden »hip hip hurra!« beigestimmt.

Nun aber musste die einmal erwählte Rolle auch glatt durchgespielt werden. Nicht etwa, dass man jetzt die rote Flagge aufzog und sich als freie Seeräuber fühlte.

Dort tauchte ein Dampfer auf, wenn das ein englischer oder russischer war, so durfte man dem nichts antun, denn gerade mit England und Russland stand Nordamerika jetzt in den besten Handelsbeziehungen — und das Handeln gibt doch immer den Ausschlag — und wenn der näher kam, musste der auf dem Kriegsschiff doch Offiziere Wache gehen sehen.

So zogen sich denn die bereits zu Offizieren erwählten Matrosen und Unteroffiziere, die intelligentesten Leute, die auch das Aussehen danach hatten, in der Kajüte die Uniformen ihrer Opfer an.

Jener Dampfer kreuzte richtig den Kurs. An seinem Deck wehte die deutsche Handelsflagge.

Das Kriegsschiff holte das Sternenbanner nieder und hisste es wieder. Auf dieses Signal hin musste das Handelschiff sich vorstellen.

»›Anna Grothein‹, Bremen, Kapitän Hartung.«

Am Signalmast des Kriegsschiffs kletterte blitzschnell eine bunte Flagge hoch.

»Nichts?«, fragte sie; nämlich ob der Dampfer irgend etwas zu melden habe.

»Nichts.«

Das Kriegsschiff dankte durch langsames Senken der Heckflagge, der Handelsdampfer grüßte ebenso.

Ein anderer Dampfer tauchte auf, mit zwei Schornsteinen und dennoch mit drei vollgetakelten Masten, ein Kreuzer mit englischer Kriegsflagge.

Beide Kriegsschiffe wetteiferten, sich gegenseitig vorzustellen, und man muss es gesehen haben, wie zauberhaft schnell die langen Flaggenreihen emporfliegen und wieder niedergeholt werden, um es glauben zu können. Die Unterhaltung geht fast so schnell, wie man schreibt.

»›Stolz von Columbia‹, Korvettenkapitän Younglof.«

»›Recovery‹, Fregattenkapitän Bart.«

»Danke. Gute Fahrt.«

»Danke. Gute Fahrt.«

Das englische Kriegsschiff war am Horizonte noch deutlich sichtbar, als am südlichen Horizonte eine neue Rauchwolke auftauchte, gleich drei in einer Reihe.

Der »Stolz von Columbia« dampfte mit seinen zwanzig Knoten entgegen, da ging es schnell.

Die Fernrohre wurden gerichtet.

»Ein Kriegsschiff!«

»Nein, es führt keinen Wimpel.

»Doch — nein, es war ein Irrtum.«

»Ein Passagierdampfer mit drei Schloten.«

»Und die Flagge?«

Sie flatterte am Heck, war aber bei diesem Wind und dieser Stellung schlecht zu erkennen.

Da doch — weiß mit einem roten Kreis.

»Ein Japaner!«

Und die Meuterer, die sich als konzessionierte Seeräuber fühlten, fingen an zu beten — nämlich dass jetzt nicht noch ein anderes Schiff dazwischen kam.

Es war ein Schnelldampfer, viel größer als dieses Kriegsschiff. Aber was hat das zu bedeuten? Ein Schaf gegen eine Bulldogge.

»Sind keine Passagiere darauf zu sehen?«

»Sind unter Deck.«

»Müssen auch mit dran glauben?«

»Selbstverständlich.«

»Auch wenn's Amerikaner sind?«

»Dann erst recht. Es geht für eine gute Sache.«

»Verdammt gute Sache!«

»Gewiss, für den Krieg mit dem verdammten Japs.«

Sie waren nahe genug.

Das Kriegsschiff holte schnell die Flagge nieder, als hätte sie noch gar nicht geweht, und hisste sie wieder.

Der Japaner stellte sich vor.

»›Bansai‹, Tokio, Kapitän Hikari.«

Schnell wurde im internationalen Schiffsregister nachgeschlagen.

»›Bansai‹, Tokio? Hat's einmal gegeben, aber nur mit einem Schornstein, ist gelöscht.«

Das Schiffsregister war schon ein Jahr alt, das war einfach ein neuer Dampfer.

Immerhin, das war schon ein Grund, dass das Kriegsschiff diesen Handelsdampfer anhalten konnte, um sich die Papiere vorlegen zu lassen. Oder es braucht überhaupt gar keinen Grund. Jedes Kriegsschiff in internationalem Gewässer besitzt dieselbe Gerechtsame wie ein Gendarm auf der Landstraße.

Drei Flaggen kletterten hoch.

»Streicht die Segel!«

Zum Piraten geworden!

Atalanta stand neben Kapitän Hikari auf der Kommandobrücke, in ein weißes, fußfreies Tropenkostüm gekleidet.

»Was bedeuten die drei Flaggen, Herr Kapitän?«

»Streicht die Segel«, entgegnete dieser, gleichzeitig den Hebel des sogenannten Signalapparates, der aber nicht nur das Kommando in den Maschinenraum gab, sondern das Kommando selbst ausführte, herumdrehend, und sofort hörte das Zittern der Schiffsplanken auf, die Maschine stoppte, das Schiff lief sich nur noch aus.

»Weshalb gibt das Kriegsschiff den Befehl, dass wir die Segel streichen sollen?«, fragte Atalanta verwundert.

»Das kann jedes Kriegsschiff tun, wenn es ein Kauffahrteischiff, zu dem auch jeder Salondampfer gehört, in Verdacht hat, dass seine Schiffspapiere nicht in Ordnung sind, dass es Konterbande an Bord hat, also unerlaubte Ware irgendwelcher Art, dass es Sklavenhandel oder Piraterie treibt.«

»Da könnte auch ein chinesisches oder türkisches Kriegsschiff einen englischen Dampfer anhalten?«

»Das kann es. Wenn das kleinste türkische Kanonenboot, nur eine Schaluppe, die den Kriegswimpel führt, dem größten englischen oder deutschen Riesenpassagierdampfer befiehlt, die Segel zu streichen, muss dieser sofort stoppen, die Marineoffiziere an Bord aufnehmen, die Schiffspapiere vorlegen und sich eine gründliche Visitation gefallen lassen. Stoppt er nicht, so wird erst angenommen, dass das Signal nicht gesehen worden ist, ein blinder Kanonenschuss wird gelöst, das Signal wird noch einmal gehisst. Stoppt er dann noch nicht, so gibt es sofort eine Granate in den Bauch.

Nun dürfen Sie das aber nicht allzu schrecklich nehmen. So scharf wird nicht gleich geschossen, am wenigsten von den Chinesen und Türken. Mit dem Anhalten und Visitieren von reputierlich aussehenden Frachtoder gar Passagierschiffen sind die Kriegsschiffe sehr vorsichtig.«

»Aber dieses amerikanische Kriegsschiff hält uns doch auf, es kommt heran!«

»Gerade in diesen Gewässern liegt auch ein triftiger Grund vor. Zwischen Nordamerika und China wird gar zu viel Opium hin und her geschmuggelt. Die Einfuhr nach China ist verboten, nach Amerika erst recht. Und nun führen wir auch noch die japanische Flagge. Das ist eigentlich eine recht gute Garantie, dass wir kein Opium schmuggeln wollen. Aber da sagen die sich dort, das ist vielleicht ein englischer Dampfer, der unter japanischer Flagge segelt, damit wir denken sollen, es sei ausgeschlossen, dass er Opium an Bord habe. Verstehen Sie?«

»Und da müssen wir uns eine gründliche Visitation gefallen lassen?«

»Müssen wir. Dagegen ist gar nichts zu machen. Wenn die wollen, müssen wir jeden Koffer aufschließen und uns in die Taschen greifen lassen.«

Finster zogen sich die kühngeschwungenen Augenbrauen der Indianerin zusammen.

»Mein Ideal von einem freien Seeleben schrumpft zu einem Minimum zusammen«, stieß sie ärgerlich hervor. »Muss man sich da womöglich von jedem türkischen Hanswurst eine Haussuchung und schließlich gar eine Leibesvisitation gefallen lassen!«

Aus dem Kartenhaus, in dem auf der Kommandobrücke die wichtigsten Karten, Bücher und Instrumente aufbewahrt werden, trat der Mephistopheles, der sich hier den Namen Señor Juan Tenorio beigelegt hatte. Aber trotz dieses neuen Namens und trotz seines unschuldsvoll weißen Tropenanzuges war es doch noch immer der höhnisch grinsende Mephistopheles.

»Dieses zusammengeschrumpfte Ideal können Sie ja wieder auseinander ziehen, hähähä.«

»Wie das?«, wandte sich Atalanta gegen ihn.

»Jedes Ideal ist ein Blättchen Gummi elastikum, das sich nach Belieben auseinander ziehen lässt — nur muss man darauf achten, dass es nicht zuletzt platzt.«

»Machen Sie mir das in Bezug auf dieses Kriegsschiff einmal vor, Señor.«

»Nichts leichter als das.«

»Nun?«

»Na, Sie streichen einfach nicht die Segel, Sie dampfen mit Ihren sechsundzwanzig Knoten weiter, die ich auch noch auf dreißig bringen werde, und mögen die nur mit Hartkugeln und mit Granaten bombardieren, mein angeschmiertes Wasser im vierten Aggregatzustand ist härter, hähähä.«

»Herr Kapitän, was wäre die Folge, wenn wir dies täten?«

»Dann würden wir und unser Schiff so lange, bis man uns fest hat, durch internationale Verkündigung für vogelfreie Piraten erklärt werden. Der Seeräuber ist ein Pirat, aber der Pirat braucht noch kein Seeräuber zu sein. Auch Sklavenhandel fällt nach internationaler Abmachung, der sich nur Frankreich noch nicht angeschlossen hat, unter die Piraterie. Jedes Kriegsschiff, das uns erblickt, ist verpflichtet, die Fahrt zu unterbrechen, unsere Flagge zu streichen und das Schiff zu besetzen, uns so in den nächsten Hafen zu schleppen, und fliehen wir, muss es alles aufbieten, uns in den Grund zu schießen.«

Das Kriegsschiff kam von hinten mit halber, viertel Kraft auf, es wollte längsseit legen, die Matrosen hielten die Enterhaken bereit, die nach der Behauptung aller Sachverständigen am Biertisch schon einmal ins alte Eisen geworfen worden waren — so ungefähr, wie dreißig Jahre lang behauptet worden ist, bei unseren modernen Gewehren könne es am Lande gar nicht mehr zu einem Nahkampf kommen. Und alle großen Schlachten der jüngsten Kriege sind zuletzt durchs Bajonett entschieden worden, alle!

Die See war ja ganz ruhig, aber sie hätte auch recht lebhaft sein können, die Enterhaken wären dennoch gefallen.

»Das ist eine Flegelei«, murrte Kapitän Hikari grimmig, »es hätte sich gehört, dass sie in einem Boot gekommen wären. Ich lasse die Bordwand nicht aufschlagen.«

So taten es die amerikanischen Matrosen, sprangen gleich auf das fremde Deck, sich zunächst in zwei Reihen aufstellend, um dem durchgehenden Kapitän oder seinem Stellvertreter die Ehre des Fallreeps zu erweisen.

»Gehen Sie nicht hinab?«, fragte Atalanta.

»Ich gehe nicht hinab, der Kapitän des Amerikaners soll nur heraufkommen oder heraufrufen.«

»Lassen Sie mich ihn empfangen und mit ihm sprechen.«

»Das können Sie, aber er wird Sie nicht für voll nehmen, auch wenn Sie sich als Besitzerin des Schiffes vorstellen und legitimieren, er hat es nur mit dem Kapitän zu tun.«

Atalanta stieg die Treppe hinab. An Deck des »Bansai« hielten sich gegen dreißig japanische Matrosen auf. Sie standen so da, sich so zusammenhaltend und so stramm, dass man gleich die ehemaligen Kriegsschiffsmatrosen erkennen konnte.

»Sie wünschen?«, empfing Atalanta den gegen sie vorschreitenden Kapitän in Dienstuniform mit Schärpe und Degen.

Als ein Weib konnte sie so fragen.

Der Kapitän blieb stehen, starrte die reizende Erscheinung in dem leichten und eleganten Tropenkleid an, und dann leuchteten seine Augen auf.

»Wer sind Sie denn?«

»Gräfin Felsmark, die Besitzerin dieses Schiffes.«

»Ah, die Besitzerin! Bitte, wollen Sie sich einmal in meine Kajüte bemühen, ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen. Herr Leutnant Sourry, bitte führen Sie diese Dame in meine Kajüte, ich komme sofort nach.«

Der Matrose spielte seine Rolle als Leutnant Sourry ausgezeichnet, ein hübsches Kerlchen, nur das Gesicht etwas zerfetzt, aber die nordamerikanischen Marineoffiziere haben doch schon Pulver gerochen. Die Manchettas, die kubanischen Messer, haben auf manches Milchgesicht einen Stammbuchvers geschnitten.

Der tadellose Offizier salutierte vor der Dame, machte eine kleine Verbeugung dazu und schritt ihr voran.

Ohne Zögern folgte ihm Atalanta. Erstens glaubte sie, dass der Kapitän wirklich sofort nachkommen würde, um ihr etwas Wichtiges zu offenbaren, zweitens hatte sie ein ganz reines Gewissen, und drittens kannte die doch überhaupt keine Furcht.

»Bitte, Mylady.«

Der tadellose Leutnant öffnete die Kajütentür und machte eine einladende Handbewegung.

Kaum aber war er hinter ihr eingetreten und die Tür wieder geschlossen, nur zugeklinkt, als sein Benehmen weniger tadellos wurde. Der Herr Leutnant fiel aus der Rolle. Dazu war aber nicht gerade nötig, dass er sich in einen Matrosen zurückverwandelte. Er konnte dabei ganz ruhig der Herr Leutnant bleiben.

Alle die dort drüben waren doch Haifischfutter.

Und dieses Weibsbild hier war doch ebenfalls Haifischfutter.

Nur würde es bei der etwas länger dauern, ehe sie über Bord geworfen wurde. Mit der wollte sich doch erst der Bootsmann Kitcher alias der Herr Korvettenkapitän Younglof ein bisschen amüsieren. Jetzt aber suchte zunächst der Herr Leutnant Sourry an die Schöne heranzukommen. Freilich musste er sich beeilen.

Also machte er es kurz. Kürzer hätte er es beim besten Willen nicht machen können.

»Na, da komm schnell her, mein Schätzchen.«

Er packte Atalanta an und wollte sie an sich ziehen. Aber die Indianerin war damit keineswegs einverstanden, auch sie packte zu, nur den einen Arm am Handgelenk. Da griff ihr der Gegner zwischen Hals und Kleid und riss ihr die ganze Taille auf.


Illustration

Ehe er sich aber an diesem Anblick weiden konnte, fühlte er die zermalmende Kraft dieses jungfräulichen Weibes, er heulte laut auf vor Schmerz, sah im Augenblicke nur den Dolch, den die Indianerin an einer Lederschnur in Metallscheide auf der nackten Brust trug. Er griff danach und riss den Dolch heraus — da fing Atalanta auch dieses Handgelenk, und jetzt war sie es, die den Mann auf das Sofa schleuderte, der aber drehte sich im Sturz herum, sodass er mit der Brust darauf zu liegen kam, und — hinten aus seinem Rücken, etwas links, kam die Spitze des Dolches wieder zum Vorschein!

Er hatte sich den langen Stahl selbst ins Herz gestoßen. Freilich nicht ohne der Indianerin Hinzutun.

Atalanta hielt sich nicht lange damit auf, die blutige Dolchspitze anzustarren.

Draußen knatterte eine Gewehrsalve, ein Wutgebrüll folgte.

Sie stürzte hinaus.

Bootsmann Kitcher hinwiederum hatte sich nicht lange damit aufgehalten, das Schiff zu visitieren oder auch nur so etwas einzuleiten, er fragte gar nicht erst nach dem Kapitän.

Alles Haifischfutter — weg damit! Und zwar schnellstens, ehe ein anderes Schiff in Sicht kam.

Es war ja alles schon verabredet. Er sprang zur Seite, die anderen Matrosen ebenfalls, und die Reihe drüben legte die Gewehre an, sie feuerte. Eine andere Abteilung hatte wieder die Kommandobrücke aufs Korn genommen.

Während die dort oben ruhig stehen blieben, brachen unten die dreißig japanischen Matrosen zusammen.

Aber selbst wer auch eine Kugel durchs Gehirn oder durchs Herz bekommt, sinkt nicht immer augenblicklich zu Boden. Sie brachen so nach und nach zusammen.

Da aber schnellte einer der Japaner, der schon dagelegen hatte, mit einem Wutschrei wieder empor, wie eine Pantherkatze sauste er langgestreckt durch die Luft, wie eine solche hatte er auch nur im geduckten Liegen sein Opfer erspäht, im Sprunge ergriff er einen amerikanischen Matrosen am Halse, ein knirschendes Krachen, die kleinen und doch so furchtbar muskulösen Hände hatten dem Manne mit einem Griff gleich die Halswirbel durchbrochen, er schleuderte ihn empor, fing ihn bei den Füßen wieder auf und benutzte ihn als Kriegskeule, mit der er auf die Gegner losschmetterte.

Ein zweiter Japaner sauste nach, der erwischte aber einen Matrosen lieber gleich bei den Füßen, benutzte ihn gleich lebendig als Kriegskeule, freilich nicht lange, denn als ein Schädel wie ein irdener Topf barst, war auch der Kopf dieser Keule zerschmettert, es ging ja aber auch so — ein dritter benutzte lieber sein Schiffsmesser, wie Blitze zuckte der Stahl zwischen den amerikanischen Matrosen hin und her — — —

Und jetzt quollen überall aus den Luken solche riesenhafte Zwerge hervor, Revolver und Entersäbel in den Fäusten, die gelben Gesichter von unbeschreiblichem Ausdruck.

Auch sie wurden von Gewehrsalven empfangen.

»Zurück, deckt Euch!!«, donnerte ihr fürstlicher Kapitän. »Wo ist — —«

Da kam Atalanta schon angestürmt, drüben aus dem Kajüteneingang herauf, mit fliegendem Haar und offener Brust. Sie machte einen Luftsprung über zwei Reihen Matrosen hinweg, schlug an Deck wie ein Gummiball auf und stand mit dem nächsten Satze, ohne eine Stufe berührt zu haben, oben auf der Kommandobrücke.

»Er hat mir Gewalt antun wollen!«, schrie sie.

Schon vorhin, als Hikari sie aus der Kajüte hatte stürzen sehen, in dem derangierten Anzuge, hatte er laut aufgebrüllt, und jetzt brüllte er noch einmal.

Man befand sich im Krieg, es war eine regelrechte Seeschlacht, da konnte nur gebrüllt werden.

Der Kapitän drehte den Hebel, die Schraube ging rückwärts, und die Stricke der Enterhaken, so stark sie auch sein mochten, rissen wie Spinnenfäden.

Atalanta war in das Kartenhaus gesprungen, dann stand sie im Türrahmen, den Kolben des Repetiergewehres an der Wange, ihre Feuerströme erwiderten die Salven, die noch immer gegen die Kommandobrücke abgegeben wurden, auf der allein noch Menschen zu sehen waren, Hikari und der Wachoffizier, diese beiden unterstützten Atalanta mit ihren Revolvern, möglichst viele Gegner unschädlich zu machen.

Unschädlich? Was konnten die ihnen denn schaden? Ja, was mochten die dort drüben eigentlich denken?

Die Kommandobrücke dieses japanischen Schiffes war doch ganz offen, nur ein Geländer zog sich herum, ganz frei und ungeschützt standen die Personen dort oben, und dennoch waren sie gegen die unaufhörlich knatternden Salven gefeit, und schließlich musste man erkennen, wie die Kugeln an einem unsichtbaren Widerstand abprallten, während die Schüsse jener die amerikanischen Matrosen niederwarfen.

Aber bei solch einer Gelegenheit, da sich zuletzt auch der sanfteste Mensch in ein blutgieriges Raubtier verwandelt, wird nicht über Rätsel gegrübelt.

»An die Geschütze!«

Die Matrosen, die noch nicht Deckung gesucht hatten, verschwanden unter Deck, und es gab Eingänge genug.

Der »Bansai« fuhr mit voller Kraft rückwärts, der Steuerbordseite des Kriegsschiffes immer mehr den Bug, das Vorderteil, zukehrend.

Schnell vergrößerte sich die Entfernung, aber die Kommandos waren noch deutlich zu hören.

»Steuerbord — Batterie — Breitseite — Hartguss-Granaten — dreihundert — haaaalt — dreihundertundfünfzig Wasserlinie — fertig — Feuer!!«

Es waren wohl zwanzig Feuerströme, welche drüben dem gepanzerten Leibe in langer Reihe entquollen, man sah die großen Vögel geflogen kommen, Vollspitzkugeln und Granaten — ja, man sieht die großen Dinger fliegen, sie ziehen in der klaren Luft einen schwarzen Strich, nur schade, dass man nicht noch schnell beiseite springen kann — als drüben die Feuerschlünde brüllten und der gepanzerte Riesenkasten sich nach Backbord überlegte, als wolle er kentern, waren die Geschosse hier schon längst aufgeschlagen.

Wie es eigentlich gekommen, das hätte kein Mensch sagen können. Jedenfalls hatten die Hartkugeln und Granaten am Bug nichts geschadet. Nur ein Geschütz war zu hoch eingestellt gewesen, das Geschoss sauste an der Kommandobrücke vorüber, durchschlug den hintersten Schornstein und verschwand in großer Entfernung harmlos im Meer.

»Bei Hachiman und Hulitan!«, schrie der prinzliche Kapitän, seine beiden Kriegsgötter anrufend. »Nun, Teufel, beweise, was Dein Höllenfabrikat aushalten kann — klar zum Ramm!!«

Er hatte den Hebel herumgerissen, und da gab es einen furchtbaren Ruck nach vorn, die Riesenschraube ging ganz gehorsam nach der anderen Richtung, das dreischlotige Schiff bäumte sich vorn hoch empor, dann machte es einen gewaltigen Satz und dann rannte es mit wieder gesenktem Kopf wie ein wütender Widder mit der Schnelligkeit eines Eilzuges auf den Gegner los.

Ein furchtbarer Stoß, der alles Stehende über den Haufen warf, ein Krachen, Bersten und Splittern — und hinter dem »Bansai« schloss sich schäumend und gurgelnd das Wasser über die beiden Hälften des amerikanischen Kriegsschiffes.

Der »Stolz von Columbia« war nicht mehr! Zur Statue erstarrt stand Kapitän Hikari da, die Hände halb erhoben, den Mund halb geöffnet.

»Was habe ich getan?!«, flüsterte er dann, als wisse er es gar nicht.

»Nur das, was ich Ihnen befohlen habe«, erklang es kalt neben ihm aus Atalantas Munde.

Hikari wollte den Hebel zurückdrehen, aber der ließ sich nicht drehen.

»Was ist das?«

Señor Tenorio sprang hin und bemühte sich ebenfalls vergeblich.

»Sie haben den Hebel überdreht.«

Hikari stieß seine Hände weg, packte zu, riss und riss, um den Hebel herum zu bekommen — und hatte ihn plötzlich in der Hand.

»So, nun ist's gut, nun haben Sie den Hebel abgebrochen!«, grinste der Mephistopheles.

»Hinunter in den Maschinenraum, stellen Sie die Maschine ab, bei allen Göttern, schnell!!«

»Ich bin auch ohne Ihre Götter schon unterwegs.«

Tenorio sprang die Treppe hinab, er verschwand unter der Kommandobrücke.

Mit sechsundzwanzig Knoten Geschwindigkeit schoss der Dampfer dahin, sich also in jeder Minute genau hundert Meter weiter von der Unglücksstätte entfernend, wo noch viele Matrosen mit den aufgewühlten Wogen rangen. Denn es waren ja noch genug an Deck gwesen, und es ist nicht so schlimm, wie man oft hört und wie man es sich auch vorstellen mag, dass ein schnell sinkendes Schiff schwimmende Menschen in den Strudel mit hinabzieht. Dieser Zug hört sehr bald auf, dann kommt die Gegenströmung, der Mensch wird von ganz allein wieder nach oben gerissen, und das stets innerhalb einer Zeit, in der jeder ganz bequem den Atem anhalten kann.

Fort und fort raste der Dampfer nach Nordwesten. Es gab nur ein Mittel, um das Vergrößern des Abstandes zu vermeiden, um sogar nach und nach zu jener Stelle zurückzugelangen.

»Steuer Backbord!«

Der Matrose am Steuer wirbelte das Rad herum. Die Zeiten, wo im Sturm vier Männer das Rad halten mussten, sind vorüber. Die Übertragung durch Eisenstangen ist so groß, dass jeder Wasserwiderstand mit spielender Leichtigkeit durch eine Hand überwunden wird.

Der Dampfer legte sich nach Backbord über, bog nach dieser Seite aus.

»Hart Backbord!«

Weiter drehte das Speichenrad, weiter legte sich der Dampfer über.

Da ein Ruck, der Dampfer richtete sich auf, schoss nach Westen davon, steuerlos — das Steuer war gebrochen, und es war kein falsches Kommando gewesen, keine Überanstrengung — die Schuld trug der Konstrukteur, die Schiffsschmiede, das Schicksal, das sich nicht um menschliche Berechnung kümmert.

»Das Steuer ist gebrochen, wann schaltet Ihr die Maschine aus!«, schrie Hikari in das neben dem Signalapparat befindliche Telefon, das in den Maschinenraum führte.

»Ich kann nicht ausschalten, kommt herab und holt Euch den Tod!«, erlang es zurück.

Hikari eilte hinab, Atalanta folgte ihm.

Dröhnendes und fauchendes Getöse, riesige Kurbeln rasten und ungeheure Stahlkolben sausten hin und her.

So wenig man einem Laien eine Dampfmaschine von dreißigtausend Pferdekräften beschreiben kann, so wenig wollen wir zu schildern versuchen, durch welche Vorrichtung hier die beiden Vierfach-Expansionszylinder ersetzt waren.

Zwei quadratische Eisenblöcke sausten zwischen Schienen hin und her, einmal sich fast berührend und dann wieder auseinander prallend, diese Doppelbewegung wurde auf die Hauptkurbel übertragen, das mag zur Erklärung genügen.

Señor Juan Tenorio stand neben einem Kessel, gar nicht so groß, der barg die geheimnisvolle Kraft, welche diesen großen Koloss in Bewegung setzte und die dreißigtausend Pferdekräfte entwickelte.

Drei Tage hatten genügt, um in Tokio auf einer großen Werft diese beiden Eisenblöcke zu fertigen, sie zwischen den Schienen laufen zu lassen, wie er angegeben. Zur Aufnahme der geheimnisvollen Substanz, durch die er aus der Atmosphäre, aus Erde oder Wasser jede beliebige Quantität Elektrizität saugte, war Tenorio jeder Behälter recht gewesen, er hatte ja zuerst sogar von einer hölzernen Kiste gesprochen.

Dieser Kessel, die Dynamomaschine ersetzend, stand von dem Elektrometer zwei Meter entfernt und war mit ihm durch zwei armstarke Kabel verbunden.

Daneben stand der weißgekleidete Teufel. Die Arm über der Brust gekreuzt, betrachtete er ganz gemütlich die Sache.

»Mann, so stellt doch diese Höllenmaschine ab!«, überbrüllte der Kapitän das Getöse.

»Ja, wenn ich's nur könnte!«, brüllte der Mephistopheles kaltblütig zurück. »Habe ich's nicht gleich gesagt, dass bei so einer neuen Maschine noch Zufälle eintreten können? Und dass Ihr dort oben den Hebel abbracht, damit habe ich nicht gerechnet.«

Ja, er hatte sich von vornherein für jede Eventualität entschuldigt. Und überhaupt, was kann der Mensch für eine Garantie geben.

»So reißt doch die Kabel ab!«

»Hat sich was, abreißen! Dann springen die Funken so über, und was für Funken, richtige Blitze — der ganze Quark schmilzt im Nu zusammen, dann steht die Karre für immer still, ganz abgesehen davon, dass sich hier ein Ozon entwickelt, welches den Aufenthalt hier unten für viele Tage unmöglich macht.

»Könnt Ihr denn die Elektrizitätsquelle nicht abstellen?«

»Das ist schon geschehen. Aber die Sache ist die, dass die Akkumulatorenbatterie immer ganz gefüllt ist, die muss sich erst entladen.«

»Und wie lange dauert das?«

»Na, so anderthalb bis zwei Stunden.«

Der Kapitän stürmte wieder hinaus.

Nach anderthalb Stunden hatte sich die Elektrizität erschöpft, das Schiff lief sich aus.

Mehr als vierzig Seemeilen war das Fahrzeug von der Unglücksstelle entfernt, man kannte nicht deren geographische Lage, denn man war Bogen gefahren, die Camera obscura, wenn sie überhaupt etwas genützt hätte, funktionierte noch nicht, außerdem musste auch erst das Ersatzsteuer angebracht werden, eine Arbeit von vielen Stunden.

Die führenden Häupter dieses Schiffes saßen im Kartenhaus zur Beratung zusammen. Zum ersten Male wurde über den ganzen Vorfall gesprochen.

Nun sei gleich ein für allemal erklärt, dass kein einziger auf den Gedanken kam, jenes Kriegsschiff könnte gemeutert, unter dem Kommando von Matrosen und Unteroffizieren gestanden haben, die bereit gewesen waren, Seeräuberei zu treiben.

Nur eine einzige Erklärung gab es: Der Kommandant des amerikanischen Kriegsschiffes hatte zur selben Jingo-Partei gehört, die irgend einen Krieg und am liebsten den mit Japan haben wollte. Und alle Offiziere waren mit seinem frevelhaften und verwegenen Plane einverstanden gewesen.

Sie wollten das erste beste japanische Schiff anhalten, die Besatzung bei der Visitation zum Widerstand reizen, und ließen die Japaner, die manchmal wie die Lämmer sein können, sich nicht reizen, dann wurden sie eben ohne Widerstand niedergemacht — aber dann natürlich behauptet, sie hätten sich ganz fürchterlich gewehrt, auf das Kriegsschiff geschossen — der Krieg mit Japan musste fertig sein. Kam der wahre Sachverhalt doch noch an den Tag, so hatte das ja gar nichts mehr zu sagen, die Flutwoge des ausbrechenden Krieges schwemmte alle solche Kleinigkeiten fort.

Also die Berater im Kartenhaus hatten ganz das Richtige getroffen. Nur dass es ein Meutererschiff gewesen, dessen Offiziere schon niedergemacht worden, dass sie die Welt von einer Ausgeburt der Hölle befreit hatten, wofür sie alle hätten dekoriert werden sollen, das ahnten sie nicht!

»Hatten wir ein Recht, das Kriegsschiff in den Grund zu rammen?«, fragte Atalanta.

»Ein Recht?«, wiederholte Señor Tenorio.

Er hatte wie gewöhnlich dabei höhnisch grinsen wollen, aber er unterließ es, blieb ganz ernst, und es war sehr gut, was er sagte.

»Ein Recht? Nein. Sie haben einem Kriegsschiffe gegenüber überhaupt kein Recht, gar keines!«

»Und was wird nun geschehen?«

»Sobald die Regierung der Vereinigten Staaten von dem Vorfall erfährt, verlangt sie von Japan die Auslieferung der Übeltäter und jedenfalls auch des Schiffes, das unter seiner Flagge gefahren ist. Japan liefert nur aus, wenn sich das Schiff gerade in einem seiner Häfen oder in seinen Gewässern befindet, sonst streicht es den ›Bansai‹ aus dem Schiffsregister, es hat keine Flagge, keine Nationalität mehr. ›So, nun sucht Euch dieses Schiff selber.‹ Und die Regierung der Vereinigten Staaten wird es, wenn es sich nicht selbst stellt, schon suchen lassen. Alle seefahrenden Nationen werden sofort davon telegrafisch benachrichtigt, alle Kriegsschiffe helfen mit suchen, so weit sich das bei ihren Fahrten mit vereinigen lässt. Solange der nationallose ›Bansai‹ sich nicht gestellt hat, ist er vogelfrei. Streicht er beim ersten Anruf eines Kriegsschiffes nicht die Segel, wird er in den Grund geschossen. Wenn er sich nicht besser entern lässt. Ist es nicht so, Herr Kapitän?«

»So ist es«, konnte dieser nur bestätigen. Er selbst hatte erst vorhin etwas Ähnliches ausgeführt. Jetzt konnte man die Wahrheit gleich einmal in der Praxis erproben.

»Doch Sie, Frau Gräfin, kommen dabei überhaupt gar nicht in Betracht!«, setzte Hikari noch hinzu.

»Wie, ich käme dabei gar nicht in Betracht?!«, wiederholte Atalanta staunend.

»Nein. Dass Sie den Leutnant getötet haben, dafür können Sie gar nicht zur Verantwortung gezogen werden. Höchstens könnten Sie dafür bestraft werden, dass Sie mit dem Gewehr auf die Mannschaft des Kriegsschiffes geschossen haben. Aber, obgleich Sie Besitzerin dieses Schiffes sind, gelten Sie doch nur als Passagier, auch hierin haben Sie einfach in Notwehr gehandelt. Allein ich als verantwortlicher Kapitän kann zur Rechenschaft gezogen werden, und ich allein bin es gewesen, der das Kriegsschiff in den Grund gerammt hat.«

»Oho!«

Mit blitzenden Augen war die Indianerin plötzlich aufgesprungen.

»Ich, ich bin es gewesen, die Ihnen hierzu den Befehl gegeben hat!«

»Sie? Ich habe nichts davon gehört.«

»Schlimm genug. Nur das Krachen der Schüsse und der sonstige Lärm könnte dies entschuldigen. Jedenfalls also haben Sie nur meinen Befehl ausgeführt.«

Der Japaner durchschaute sie sofort. Atalanta wollte die Verantwortung für alles voll und ganz auf sich nehmen. Und was war dagegen zu machen, wenn sie bei ihrer Behauptung blieb?

»Trotzdem bin ich der allein verantwortliche Teil. Denn ich bin der Kapitän. Als Besitzerin des Schiffes können Sie mir wohl vorschreiben, wohin ich zu segeln habe, über die Fracht usw. Anordnungen geben, aber in die nautische Führung dürfen Sie sich nicht einmischen oder ich darf Ihnen darin nicht gehorchen. Das gilt für jetzt und immerdar, solange ich Kapitän dieses Schiffes bin.«

»Da sind Sie im Irrtum!«, mischte sich Señor Tenorio ein.

»Wieso? Was wissen denn Sie davon?«

»Ebenso viel wie Sie und, wenn Sie das nicht wissen, dann eben mehr als Sie. Sobald dieses Schiff von der Registerliste der Kauffahrtei gestrichen ist, gilt es als vogelfreies Piratenschiff. Und ein solches hat keinen Kapitän. Wohl spricht man von einem Piratenkapitän, aber das ist nur so ein landläufiger Ausdruck, so wie man doch auch von einem Räuberhauptmann spricht, oder wie sich das Oberhaupt der Heilsarmee General nennt. Nein, mit Streichung dieses Schiffes von der Liste sind Sie kein anerkannter Kapitän mehr. Wer dann auf diesem Piratenschiffe die führende Rolle spielt, wessen Befehle ausgeführt werden, der gilt dann eben auch als Piratenkapitän und wird — ob's nun ein Matrose oder eine Gräfin ist — am höchsten Galgen aufgeknüpft. Oder ist es nicht so?«

Hikari musste es zugeben. Ja, so war es.

»Aber vorläufig sind wir noch keine Piraten, die den Galgen verdienen.«

»Nein, vorläufig noch nicht!«, stimmte der Spanier bei.

»Was haben wir jetzt zu tun?«, fragte Atalanta.

»Wir müssen sofort den nächsten Hafen aufsuchen und der Seebehörde die ganze Sache melden!«

»Und was geschieht mit uns?«

»Das Schiff wird mit Beschlag belegt.«

»Und wir kommen in Untersuchungshaft.«

»Wir alle, auch die wir als Passagiere gelten, werden den Vereinigten Staaten ausgeliefert, falls es ein anderer Hafen gewesen ist, den wir aufgesucht haben. Und wir bleiben so lange in Untersuchungshaft, bis uns der Prozess gemacht wird. Dass man uns auf freiem Fuße lässt, daran ist in diesem Falle gar nicht zu denken.«

»Und was haben wir für Strafe zu erwarten, wenn es uns nicht gelingt, uns zu rechtfertigen?«

»Das kann vorher kein Mensch beurteilen!«, entgegnete Tenorio. »Ich möchte aber prophezeien, dass wir überhaupt nie wieder aus der Untersuchungshaft herauskommen.«

»Wohlan!«, rief Atalanta. »Mein Entschluss ist gefasst. Ich werde mich zur richterlichen Untersuchung stellen. Aber nur unter der Bedingung, dass man mich für alles Geschehene ganz allein verantwortlich macht. Muss dem Gesetze und dem Richterspruche nach etwas gesühnt werden, so will ich alle Strafe allein auf mich nehmen. Der Kapitän und die Mannschaft müssen straflos ausgehen. Und außerdem stelle ich die Bedingung, dass ich während der Untersuchung auf freiem Fuße gelassen werde. Einsperren lasse ich mich nicht. Herr Kapitän Hikari, sind Sie hiermit einverstanden?«

»Sie haben mir zu befehlen.«

»Gut, so befehle ich Ihnen, hiermit einverstanden zu sein.«

»Ich bin es!«

»So setze ich jetzt sofort meinen Bericht über den Vorfall auf. Wer die Wahrheit des Inhalts mit gutem Gewissen bezeugen kann, der setzt seinen Namen darunter, auch jeder einzelne Matrose. Außerdem teile ich gleich noch alles mit, was ich vorhin sagte: zu welchen Bedingungen ich mich freiwillig zur Untersuchung stelle. Diesen Bericht übergebe ich einem Frachtdampfer, der nach einem geeigneten Hafen geht, womöglich direkt nach San Francisco. Von dort hole ich mir die Antwort der maßgebenden Behörden selbst, natürlich mich außerhalb Kanonenschussweite haltend.«

»Dann können wir uns nur gleich jetzt für Piraten halten«, meinte der Spanier, »auf solche Bedingungen gehen die Behörden niemals ein, die verlangen Unterwerfung auf Gnade und Ungnade!«

»Das wird sich finden. Ich bedarf auch gar keiner Gnade, sondern ich verlange Gerechtigkeit.«

Die Desperados

Die ganze Welt, so weit sie vom Telegrafen beherrscht wird, wusste es schon.

Endlich wieder einmal eine Sensation! Eine Sensation, wie sie Amerika vielleicht noch gar nicht gehabt hatte.

Mindestens alle drei Stunden kam in San Francisco ein neuer Extrazug an. Denn die fahrplanmäßigen Züge konnten die Neugierigen nicht bewältigen, die sich in den Kaistraßen, auf den Molen und längs des angrenzenden Strandes aufstellen wollten, um das Piratenschiff zu sehen, welches schon seit zwei Tagen dort draußen auf dem Meere lag oder langsam hin und her kreuzte, immer mindestens drei Seemeilen von der Küste entfernt, also schon in internationalem oder neutralem Wasser, mit dem Seemannsamt beständig Flaggensignale wechselnd, und es gab ja unter diesem Publikum genug Männer, welche, mit guten Ferngläsern bewaffnet, diese Flaggengespräche immer gleich übersetzen konnten. Sonst gaben die Zeitungen der Stadt mindestens alle Stunden ein Extrablatt heraus, welches diese Unterhaltung wörtlich wiederholte und auch sonst alles berichtete, was zur Sache gehörte.

Ein Piratenschiff! Endlich wieder einmal ein ganz richtiges Piratenschiff, wie es nur je in der guten alten Zeit, da die Piraterie auf dem Meere blühte, existierte. Oder auch noch nicht ein so ganz richtiges. Da man, obgleich also fälschlich, im großen Publikum nun einmal unter Piraterie Seeräuberei versteht, und da dieser Dampfer bis jetzt noch keinen regelrechten Seeraub getrieben hatte, so sprach man lieber vom Desperadoschiff — vom Schiffe der Verzweiflung, denn alle, die sich darauf befanden, waren Desperados.

Es ist dies in ganz Amerika, das einst unter spanischem Szepter gestanden hat, ein sehr bekanntes Wort, auch jetzt noch dort überall, wo gar kein Spanisch mehr gesprochen wird.

Ein Desperado, ein Verzweifelter. Solche Desperados laufen noch heute in allen Gegenden herum. Es brauchen nicht immer Verbrecher zu sein, die ihr Leben verwirkt haben. Meist ist es ja der Fall, aber es ist nicht nötig. Es braucht kein Straßenräuber und Einbrecher zu sein. Der Mann hat vielleicht ehrlich erworbenes Geld genug bei sich. Vielleicht ist er wirklich unschuldig. Jedenfalls aber wird er steckbrieflich verfolgt, er soll verhaftet werden, und der Mann ist entschlossen, sich nicht verhaften zu lassen. Er heftet an seine Brust oder an seinen Hut ein auffallendes rotes Zeichen, nicht nur ein rotes Blümchen, trägt auch gleich um den Arm eine rote Binde, und dieses Zeichen sagt: »Ich bin ein Desperado. Wer in meiner Gegenwart die geringste verdächtige Bewegung macht, den schieße ich sofort nieder!«

Es ist solchen Leuten ein gewisser Heroismus nicht abzusprechen — dieses offene, kühne Auftreten ohne Maske: »Ich bin ein vom Strafgesetz Verfolgter, aber ich lasse mich nicht verhaften — wer wagt's!« Es ist ein altes Überbleibsel von den Sitten und Gebräuchen der Blutrache, unter deren Gesetzen einst jedes Volk gestanden hat, solange es unkultiviert und unzivilisiert gewesen, in nur halb zivilisierten Ländern steht die Blutrache ja noch heute in vollster Blüte — in Korsika, in Montenegro — na, und in manchen dichtbevölkerten Stadtteilen New Yorks geht es auch noch zu wie im wilden Westen.

Die Amerikaner müssen immer neue Ausdrücke erfinden. Besonders wenn es gilt, eine Sensation noch sensationeller zu machen. Piratenschiffe hat es schon genug gegeben. Aber ein Desperadoschiff, das war einmal etwas ganz Neues. Das dort also war ein Desperadoschiff, die ganze Besatzung bestand aus lauter Desperados. Und sie hatten einen weiblichen Anführer, es war kein anderer als die Atalanta, die rote Athletin, eine Vollblutindianerin, die letzte Mohawk, die spätere Gräfin Felsmark, die Gattin des einstigen Champion-Gentlemans von New York, der schon einmal begraben wurde, von den Toten wieder auferstand, um dann in Palästina von einer Sandhose für immer begraben zu werden — und der nautische Lenker des Desperadoschiffes war Doktor Hikari, der berühmte Astronom, in Wirklichkeit ein japanischer Prinz, ein Sohn des Mikados — ließ sich die Sensation denn überhaupt noch steigern?

Wie war es gekommen?

Genau heute vor acht Tagen war es gewesen. Da hatte ein von Sydney nach San Francisco gehender Dampfer auf hoher See ein Boot gesichtet, angefüllt mit halbnackten Menschen — die letzten 21 Mann vom »Stolz von Columbia«.

Sie hatten erzählt, was sie dann vor der Seebehörde in San Francisco wiederholten, was dann aller Welt verkündet wurde — das schier Unglaubliche, fast Märchenhafte.

Das nordamerikanische Kriegsschiff hatte einen japanischen Dampfer angehalten, den »Bansai«, der noch nicht in der internationalen Schiffsliste stand. Bei der ruhigen See hatte Bord an Bord beigelegt werden können, Korvettenkapitän Younglof hatte sich an Deck hinüberbegeben. Der japanische Kapitän hatte die Vorlegung der Papiere rundweg verweigert. An eine Visitation des Schiffes, die nun direkt gefordert werden musste, war erst recht nicht zu denken. Ganz besonders rabiat hatte sich ein Weib benommen, das sich für die Besitzerin dieses Schiffes ausgegeben. Es hatte unter Drohungen den Marinekapitän und seine Leute ausgefordert, sofort ihr Schiff wieder zu verlassen, sonst geschehe etwas Schreckliches.


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Und da, wie noch ein Wort das andere gab und das braune, elegant gekleidete Weib immer ausfallender wurde, während Kapitän Younglof wie immer seine kalte Ruhe wahrte, sogar sehr höflich war, waren auf einen gellenden Pfiff hin plötzlich Hunderte oder doch sehr, sehr viele japanische Matrosen aus den Luken gequollen, hatten ohne Weiteres mit Magazingewehren auf die Mannschaft des Kriegsschiffes ein furchtbares Schnellfeuer eröffnet, und ganz besonders von der Kommandobrücke aus war man beflissen, die nordamerikanischen Offiziere wegzuputzen, die Dame selbst hatte unaufhörlich gefeuert.

Dass die überlebenden Matrosen nun die näheren Einzelheiten nicht genau angeben konnten, das war begreiflich. Alles dies und alles Weitere hatte sich ja in wenigen Minuten abgespielt, und es war gar zu entsetzlich gewesen.

Natürlich konnte der Kauffahrteidampfer gegen das nordamerikanische Panzerschiff gar nichts machen, wären auch Tausende von Japanern, ehemaligen Marinematrosen, drüben gewesen. Yankees und solche elende Japs, pah! Aber noch ehe das Kommando zum Entern, zum Sturm gegeben werden konnte, hatte der »Bansai« Contredampf gegeben, hatte sich losgerissen, dampfte rückwärts, um erst einmal freie Bewegung zu bekommen — um das Weite suchen zu können.

Es war ein dreischlotiger Dampfer, doch sicher für Passagierfahrten bestimmt. Diese modernen, schlanken Riesenpassagierdampfer sind durchweg schneller als die schwergepanzerten Stahlkolosse, auch wenn sie bei gleichem Tonnengehalt keine so starke Maschine im Bauche haben. Und dass dieses japanische Teufelsschiff dem nordamerikanischen Panzer entging, das durfte dieser doch unmöglich auf sich sitzen lassen. Übrigens ging das die Matrosen ja gar nichts an, aber es war doch hübsch von ihnen, dass sie ihre Offiziere gleich zu rechtfertigen suchten.

Also das Kommando war erschollen: »An die Geschütze!« Die volle Backbordbreitseite war abgegeben worden. Und nun war erst recht das Ungeheuerliche, Fürchterliche, Unglaubliche, Märchenhafte geschehen.

Was das für eine Hexerei gewesen war, das wussten sie nicht. Ob ihre Geschütze verzaubert gewesen oder ob der japanische Dampfer vom Teufel mit einem unsichtbaren Panzer ausgestattet — sie wussten es nicht. Sie wussten nur, dass die zwanzig Hartkugeln und Granaten dem japanischen Dampfer keinen bemerkbaren Schaden zugefügt hatten.

Und da plötzlich war der »Bansai« wie ein Widder herangerannt gekommen. — »Klar zum Ramm!«, sie alle hatten dieses Kommando gehört — und da war die Katastrophe schon geschehen. Mitten durchschnitten wurde das amerikanische Kriegsschiff.

Jeder Einzelne der Überlebenden erzählte dasselbe. Sie wurden nach unten gerissen, wieder hoch, noch einmal ein Strudel, und dann war die Gefahr beseitigt. Sie konnten schwimmen. Und dort trieb die große Jolle, die durch einen Zufall bei dem Ramm aus den Bootskranen geschlagen worden war. In die retteten sich nach und nach dreiundzwanzig Mann, die letzten der sechshundert. Und zwei von diesen hatten so schwere Verwundungen, dass sie noch im Verlaufe der ersten Stunde starben.

Vier Stunden hatten diese letzten einundzwanzig in dem offenen Boote nur zu warten brauchen, dann waren sie von dem englischen Dampfer »Stag« gesichtet und aufgenommen worden. Er hatte noch vier Tage bis nach Frisco gebraucht.

Und nun hatten sie vor der Seebehörde berichtet und waren bereit, ihre Aussagen zu beschwören.

Der Leser versteht alles. Diese einundzwanzig Matrosen hatten in den vier Stunden Zeit genug gehabt, alles zu besprechen, was sie dann aussagen wollten. Freilich hatten sie ganz den Kopf verloren. Aber sie wussten, dass sie ihn nicht nur so bildlich, sondern ihren Kopf demnächst wirklich verlieren konnten. Da hieß es, diesen Kopf, solange man ihn noch zwischen den Schultern hatte, hübsch zusammennehmen. Und unter ihnen war auch Bootsmann Kitcher. Natürlich wurde er dann nicht als Korvettenkapitän an Bord des rettenden Dampfers aufgenommen. Wer in der See schwimmen muss, der entledigt sich möglichst vieler Kleidungsstücke, der Offizier wohl vor allen Dingen seines Säbels. Dann wollte aber Kitcher auch lieber nicht als degradierter Bootsmann auftreten, nicht als Matrose. Es war eben der Bootsmann Kitcher geblieben. Wer wollte denn noch etwas anderes erzählen?

Also er hatte auch diese Sache wieder in die Hand genommen. Und so schlau war dieser Mann, dass er seine Spießgesellen anstiftete, hin und wieder lieber von einander abweichende Aussagen zu machen. Das heißt, nur in Kleinigkeiten. So behauptete der eine, er habe Kapitän Younglof noch an Deck des japanischen Dampfers von einer Kugel getroffen stürzen sehen, ein anderer meinte, der Kapitän selbst habe das Kommando zum Abfeuert der Breitseite gegeben. Einer schätzte die Entfernung, in der auf den Dampfer gefeuert wurde, auf dreihundert Meter, ein anderer auf achthundert Meter. Denn wären sie sich über solche Sachen, in denen man sich bei derartigen Gelegenheiten sehr täuschen kann, ganz und gar einig gewesen, das hätte Misstrauen erwecken können.

Nun geschah das Merkwürdige, das aber hin und wieder passiert: Was diese Matrosen zusammenlogen, glaubte man ihnen; aber die Wahrheit, die sie berichteten, die glaubte man ihnen nicht.

»Wie, die Granaten hätten das Schiff getroffen und ihm nichts anhaben können? Es hätte das gepanzerte Schlachtschiff gerammt, es wie ein Ei zertrümmert, sogar wie Butter durchschnitten?!«

Die Matrosen befanden sich in einer fatalen Lage. Es wurde schon vorgeschlagen, sie samt und sonders in einer Irrenanstalt auf ihren geistigen Zustand hin zu beobachten.

Was der »Bansai« für ein Schiff war, wusste man ja. Es war ja hier in San Francisco gebaut worden. Jene Gräfin Felsmark, die einst als rote Athletin von sich reden gemacht, die bisher am Sklavensee gehaust, hatte es für zwei Millionen Dollars erworben, es von einer Besatzung, aus allen Nationen bestehend, nach Tokio überführen lassen. Erst hier hatte es seinen Namen bekommen, auch seine eigentliche Mannschaft, aus zweihundertfünfzig Japanern bestehend. Das ist für so ein großes Schiff, besonders wenn es Passagiere mitnehmen soll, gar nicht zu viel. Die Riesenpassagierdampfer haben bis zu achthundert Mann Besatzung. Wozu freilich der Schwarm von Stewards, Dienern, Tellerwäschern und so weiter gehört. Ja, es konnte gepanzert werden. Aber es war nicht gepanzert worden, weder hier noch in Tokio noch anderswo. Das konnte man doch innerhalb einer Stunde erfahren. Überhaupt ist das doch nicht so einfach, so ein Schiff zu panzern. Da muss es für ein halbes Jahr ins Trockendock gehen.

Nein, was die Matrosen erzählten, das klang märchenhaft. Sie befanden sich, wie gesagt, in einer schlimmen Lage.

Die Ungewissheit sollte nicht lange dauern. Schon am anderen Tage, heute vor drei Tagen, traf in San Francisco ein französischer Dampfer ein. Er war auf hoher See vom »Bansai« angehalten worden, der Kapitän hatte von einer Dame, die sich Gräfin Atalanta Felsmark genannt, ein großes versiegeltes Kuvert erhalten, mit der Bitte, es der Seebehörde von San Francisco zu übergeben.

Wir wissen, was das Schriftstück berichtete. Einerseits gerade das Gegenteil von den Behauptungen der Matrosen. Das nordamerikanische Kriegsschiff habe den friedlichen Frachtdampfer wie ein Seeräuber überfallen, ohne Weiteres auf seine Mannschaft ein mörderisches Schnellfeuer eröffnet. Anderseits deckte sich der Bericht mit den Aussagen der Matrosen. Der einfache Frachtdampfer hatte, nachdem er seiner Kanonade stand gehalten, den »Stolz von Columbia«, diesen Panzerkoloss, in den Grund gerammt.

Nun wusste man erst recht nicht, was man zu alledem sagen sollte.

Und wieder am anderen Tage tauchte am westlichen Horizonte ein dreischlotiger Dampfer auf, der, sobald er in genügender Fernrohrweite war, Flaggensignale gab. Es war der »Bansai«. Seine Besitzerin, Gräfin Felsmark, teilte durch Signale noch einmal die Bedingungen mit, zu denen sie bereit war, an Land zu kommen.

Auf solche Bedingungen konnte natürlich nicht eingegangen werden.

»Sofort in den Hafen steuern!«, lautete der Befehl.

»Nein. Nur Gräfin Felsmark begibt sich an Land, nur zu den angeführten Bedingungen.«

»›Bansai‹ sofort in den Hafen steuern!«

»Nein.«

Gleich im Beginn der Verhandlungen wurde seitens der Regierung der Vereinigten Staaten ein Schritt getan, der ganz folgerichtig erschien, der dann aber einer gewissen Komik nicht entbehrte.

Der ganze Vorfall war natürlich sofort nach Washington telegrafiert worden, von dort aus ging jetzt alles, das Hafenamt in San Francisco machte nur noch den Zwischenträger. Ebenso war man in Washington mit Tokio verbunden. Für den elektrischen Funken spielt die Entfernung ja gar keine Rolle, diese Unterhaltung kostete auch nichts, die privaten Kabelgesellschaften haben behördliche Telegramme umsonst zu befördern.

So hatte man von Washington aus den ganzen Vorfall nochmals ausführlich nach Tokio berichtet, hatte die japanische Regierung unter Beobachtung der diplomatischen Regeln gebeten, diesen unter japanischer Flagge segelnden Dampfer aus der Schiffsliste zu streichen. Denn das Schiffsdeck, das ganze Schiff, über welches die Nationalflagge weht, bedeutet dieses Land selbst. Es ist nicht so einfach, in einem Hafen auf einem fremden Schiffe eine Verhaftung vorzunehmen. Da sind erst Verhandlungen mit der Gesandtschaft jenes Landes nötig, und dann muss unbedingt die Flagge niedergeholt werden. Dies darf aber von keiner fremden Hand gemacht werden. Nur ein Kriegsschiff des betreffenden Landes darf es mit Gewalt tun. Sonst ist die Schiffsflagge einfach unantastbar. Die kleinste Verletzung der Flaggenregeln könnte zum Kriege führen. Mit der Schiffsflagge wird geradezu Abgötterei getrieben. Wer in der Marine gedient hat, der weiß, dass die gehisste Kriegsflagge der Kaiser selbst ist. So wird vor ihr stramm gestanden und präsentiert und salutiert. Und die Handelsflagge bedeutet dasselbe für die ganze Nation.

In Tokio war die japanische Regierung diesem Wunsche schnellstens nachgekommen. Der »Bansai« war im Register gelöscht worden. Es gab keinen japanischen Dampfer »Bansai« mehr.

Das hatte man dem Schiffe draußen mitgeteilt. Dieses hatte das Verstandenzeichen gegeben und hatte die japanische Flagge niedergeholt.

Zu spät sah man in Washington ein, was man da für einen dummen Streich gemacht hatte!

Im Hafen von Frisco lagen zwei japanische Kriegsschiffe. Diese beiden hätten unbedingt gegen den rebellischen Dampfer vorgehen müssen, der die japanische Flagge führte. Da sie aber die Möglichkeit hatten, mit ihrer Regierung in Verbindung zu treten, mussten sie dies auch tun, um erst von Tokio aus den Befehl dazu zu erhalten. Dann mussten sie alles daran setzen, diesen Dampfer zum Gehorsam zu zwingen, und wenn es auch ganz, ganz gewiss gewesen wäre, dass sie dabei beide in die Luft flogen.

Da war auf Wunsch der Vereinigten Staaten der japanische Dampfer gestrichen worden. Jetzt ging dieses Schiff die Japaner gar nichs mehr an. Jetzt hatten nur die Vereinigten Staaten mit ihm zu tun, denen es ein Kriegsschiff vernichtet. Nun aber konnte, solange es auf neutralem Wasser lag, auch gar kein Verhaftungsbefehl mehr ausgesprochen werden. Jetzt war der regelrechte Krieg erklärt.

An dem Maste der Seewarte gingen wieder die Flaggenreihen hoch.

»Der ehemalige japanische ›Bansai‹ ist namen- und nationallos.«

»Ja.«

»Steuert sofort in den Hafen!«

»Nein.«

»Könnt Ihr segeln?«

»Ja.«

»Seid Ihr fähig, den Hafen von San Francisco anzulaufen?«

»Ja.«

»Auf Befehl der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika: Steuert in den Hafen!«

»Nein.«

»Ihr weigert Euch?«

»Ja.«

»Volle Antwort zurück!«

»Wir weigern uns.«

Eine kleine Pause. Dann gingen wieder die Flaggen hoch.

»Alle seefahrenden Nationen sind davon verständigt: Der bisherige japanische Dampfer ›Bansai‹ ist zum Piratenschiff erklärt worden. Internationales Seegesetz Artikel 132 bis 157.«

Das nunmehrige Piratenschiff hisste nur das Verstandenzeichen.

»Steuert sofort in den Hafen!«, wurde auf der Seewarte immer noch einmal wiederholt.

»Nein.«

»Wenn Ihr innerhalb von fünf Minuten nicht signalisiert, dass Ihr bereit seid, in den Hafen zu laufen, werdet Ihr beschossen.«

Jetzt zeigte auch das Piratenschiff nacheinander mehrere lange Flaggenreihen.

»Sobald mein Schiff beschossen wird, bombardiere ich die Stadt! Gräfin Atalanta Felsmark.«


Lieferung 14


Illustration

Mit Erstaunen bemerkten die oben am Fallreep Stehenden, wie
aus dem Rücken des künstlichen Fisches ein Mensch zum Vor-
schein kam, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien.


Der Parlamentär und ein Schuss

In die vieltausendköpfige Menge, die sich in den nach dem Meere freien Hafenstraßen und sonst am Strande drängte, kam eine furchtbare Bewegung, von einem einzigen gellenden Schrei begleitet.

Vergebens suchten einige hundert Stimmen von erfahrenen Männern dieses vieltausendstimmige Schreien zu übertönen.

Man solle sich doch nicht lächerlich machen. Der Festungskommandant habe sich schon lächerlich genug gemacht mit seiner Drohung, das Piratenschiff beschießen zu wollen. Das mächtigste Festungsgeschütz trug zwölf Kilometer weit, und das Piratenschiff lag noch drei Kilometer weiter entfernt. Höchstens könne es sich um einen formellen Schuss handeln, um den Ernst der Sache zu zeigen. Und es sei doch gar nicht daran zu denken, dass der Frachtdampfer die Stadt bombardieren könne.

Ja, das war alles recht schön und gut, aber — konnte man's denn wissen? Hatte dieser einfache Frachtdampfer nicht auch einen Panzerkoloss von einem Kriegsschiff in den Grund gerammt? Konnten die Piraten und Desperados nicht auch ganz besondere Höllengeschütze an Bord haben? Denn dass es sich hier um irgend eine wunderbare Erfindung handelte, das ahnte man ja schon. War dieses rote Weib, das von der Decke des Zirkus herabsprang, wie ein anderer vom Stuhle aufsteht, und ähnliche phänomenale Kunststücke aufführte — war diese Indianerin nicht auch schon eine ganz wundersame Erfindung der Natur.

Glücklicherweise sollte es nicht zu einer Katastrophe kommen, bei der Hunderte von Menschen zermalmt wurden. Noch ehe die pressende Bewegung richtig eingesetzt hatte, sah man auf dem Desperadoschiff eine weiße Flagge aufgehen, auch die schon Fliehenden blickten zurück, und nun blieben sie wieder stehen, nun war alles gleich wieder gut.

Ja, jetzt bedauerte man sogar, dass das Piratenschiff nachgab, dass es nicht wirklich zur Schießerei kam. Es wäre doch gar so interessant gewesen.

Aber weshalb dieses plötzliche Nachgeben des Piratenschiffes? Das war ganz unritterlich!

Da sah man zum Hafen hinaus in das offene Meer ein kleines Dampfboot steuern, am Signalmast ebenfalls eine große, weiße Flagge. Und hinten am Heck wehte die sogenannte Kontorflagge, blau mit einem gelben Kreis, der durch markierte Linien, in der Nähe deutlich erkennbar, die Erdkugel darstellte, durch den eine weiße, vorn zugespitzte Gänsefeder ging, also eine Schreibfeder.

Wem diese hier sehr bekannte Kontorflagge fremd war, bekam es sofort zu hören: Es war die Dampfjacht der »Western Chronicle«, einer der größten Zeitungen Amerikas, in San Francisco etabliert, für die Weststaaten dasselbe bedeutend wie der »New Yorker Herald« für die Oststaaten, vielleicht noch reicher als dieser.

Es war nicht etwa der erste Versuch einer Zeitung, sich mit dem Desperadoschiff in Verbindung zu setzen. Die Sache ging ja schon seit gestern. Ach, wie viele Berichterstatter waren schon gestern in eigenen oder gecharterten — d. h. gemieteten — kleinen Dampfern hingefahren! Aber keiner war an Deck gekommen, niemand einer Beachtung gewürdigt worden. Der Riesendampfer hatte sich, wenn er gar zu umringt war, immer langsam in Bewegung gesetzt, und die kleinen Fahrzeuge hatten immer schleunigst wegen des Wellenschlages das Weite suchen müssen. Dann hatten die Reporter endlich abgelassen, weil es ja doch keinen Zweck hatte.

Möglich, dass sich der Redaktionspalast der »Western Chronicle« schon vorher durch Signale mit dem Piratenschiff verständigt hatte. Jedenfalls zeigte die weiße Flagge an, dass der Redaktionsbesuch angenehm war. Es war ja die Parlamentärsflagge. Die »Western Chronicle« hatte allen anderen Zeitungen wieder einmal den Rang abgelaufen. Die anderen Zeitungsmenschen rauften sich jetzt vor Unmut die Haare aus.

Solange der kleine Dampfer neben dem Riesen Goliath hielt, konnte dieser natürlich auch nicht beschossen werden, so hatte der Fortkommandant gleich einen Grund für eine spätere Entschuldigung, dass er seine etwas törichte Drohung nicht wahr gemacht habe.

Die Dampfjacht legte an der schon herabgelassenen Falltreppe bei, ein älterer Herr mit schneeweißen Haaren, aber noch von jugendlicher Behändigkeit, stieg sie empor.

»Allan Reginald, Chefredakteur der ›Western Chronicle‹«, stellte er sich einem ihn schon erwartenden Offizier vor. Denn es war richtig eine Verständigung durch Flaggensignale vorher erfolgt.

Er wurde in einen prachtvoll ausgestatteten Salon geführt, in dem sich Atalanta, Hikari und Littlelu befanden.

»O ungeheuerliche Lüge!«, empfing ihn Atalanta gleich.

»Sie meinen die Aussagen jener Matrosen?«

»Ja, soweit sie sich nicht mit meinem Berichte decken. Kennen Sie meinen Bericht?«

»Ich habe ihn gelesen.«

»Er beruht auf buchstäblicher Wahrheit.«

»Das sagen die Matrosen auch.«

»Wir sind es gewesen, die von dem Kriegsschiff ohne Weiteres angegriffen wurden.«

»Die Matrosen behaupten das Gegenteil.«

»Wir sind bereit, unsere Aussagen zu beschwören.«

»Jene Matrosen ebenfalls.«

Auf diese Weise kam man nicht weiter. Aber ausgesprochen musste es doch einmal werden.

»Madam«, fuhr der alte Herr mit den ehernen, aber offenen Zügen und klugen Augen fort, »ich spreche zu Ihnen als vollkommen Parteiloser. Weshalb soll denn das Kriegsschiff den japanischen Dampfer so plötzlich angegriffen haben? Sie sagen: um einen Krieg mit Japan zu provozieren. Ich aber sage Ihnen: Es war dies bei Korvettenkapitän Edward Younglof vollkommen ausgeschlossen, vollkommen! Younglof gehörte politisch der friedensfreundlichen Regierungspartei an. Er hat Wert darauf gelegt, dass ihm nur solche politisch gleichgesinnte Offiziere mitgegeben wurden. Aller deren Gesinnung kann sich nicht so plötzlich geändert haben.«

»Und sie haben uns dennoch angegriffen, der Leutnant Sourry mich persönlich.«

»Hiervon wissen jene einundzwanzig Matrosen, von denen sich fast alle an Deck befanden, überhaupt nichts zu erzählen, dass Kapitän Younglof den Leutnant Sourry aufgefordert hätte, Sie in seine Kajüte zu führen, wie Sie berichten. Sie wären gar nicht drüben an Bord des Kriegsschiffes gewesen.«

»Weil diese Matrosen eben Lügner sind, die das alles verabredet haben.«

»Madam! Ich kannte diesen Leutnant Sourry persönlich.. Er war seit zwei Jahren mit der Tochter meines besten Freundes verlobt. Es gibt aber auch noch hundert andere ehrenwerte Männer und Frauen, welche bereit sind, zu beschwören, dass dieser ernste, bescheidene, charaktervolle junge Mann niemals zu so etwas fähig sein konnte, sich so gegen eine fremde oder überhaupt gegen irgend eine Dame zu vergehen. Wir alle halten es für vollkommen ausgeschlossen.«

»Und es ist doch so gewesen. Ganz genau so, wie ich in meinem Berichte ausführlich schilderte.«

Der alte Herr hob die Schultern.

»Wie gesagt, ich will ganz parteilos bleiben. Dann stehen wir eben vor einem ungeheuerlichen Rätsel.«

»Ich verlange mit jenen Matrosen konfrontiert zu werden, dann will ich dieses Rätsel schon lösen.«

»Das können Sie sofort haben.«

»Wie das?«

»Begeben Sie sich an Land, stellen Sie sich der Behörde.«

»Man nimmt mich in Untersuchungshaft?«

»Selbstverständlich.«

»Daran ist nicht zu denken. Ich bestehe auf meinem Bedingungen.«

»Madam! Die Behörden können nicht mehr mit Ihnen auf gewöhnlichem Wege verkehren. Dieses Schiff und alle, die sich darauf befinden, stehen unter den Gesetzen der Piraterie. Sie sind vogelfrei. Sie werden nicht mehr als zur Menschheit gehörig betrachtet, sondern als ein der Menschheit gefährliches Raubtier, das unter allen Umständen vernichtet werden muss, wozu jedes Mittel erlaubt ist, jedes. Nicht nur jedes Kriegsschiff hat die Pflicht, sondern auch jedes Handelsschiff, überhaupt jeder Mensch, und sei er selbst ein steckbrieflich verfolgter Verbrecher, hat das Recht, Sie und Ihr Schiff aus der Welt zu schaffen, durch Gewalt oder durch List, jedes Mittel ist dazu erlaubt, auch das sonst verwerflichste, und der Betreffende geht nicht nur straffrei aus, sondern hat auch noch eine hohe Belohnung zu erwarten, die erst noch auszusetzen ist. Der steckbrieflich verfolgte Verbrecher hat, wenn ihm die Vernichtung dieses Schiffes gelungen ist, außerdem noch eine Begnadigung für seine früheren Sünden zu erhoffen.

Unter solchen Verhältnissen kann doch keine Behörde mehr mit Ihnen unterhandeln. Es kann Ihnen nur noch befohlen werden, sich auf Gnade oder Ungnade zu unterwerfen oder vielmehr bedingungslos. Denn auf Gnade dürfen Sie nicht einmal mehr hoffen.

Aber ich habe ein Mittel gefunden, doch noch einen Vergleich einzuleiten. Ich bin ein Privatmann, kein städtischer oder staatlicher Beamter. Der Festungskommandant, der, solange das Piratenschiff vor San Francisco liegt, in dieser Angelegenheit doch noch das erste Wort zu sprechen hat, ist mein guter Freund. Ich war bei ihm und er ist mit meinem Vorschlage einverstanden. Also ich komme nicht amtlich. Aber auch nicht so ganz privat — so halb und halb — verstehen Sie?«

»Ja, ich verstehe. Nun, und?«

»Haben Sie vielleicht eine neue Art von Panzerung erfunden?«

Besonders Littlelu war es, der bei diesen Worten stark zusammenzuckte, Hikari hob wenigstens mit einer schnellen Bewegung den Kopf, während der Indianerin Augen plötzlich aufleuchteten.

»Ah!«, rief sie. »Jetzt endlich kommt des Pudels Kern zum Vorschein! Habe es mir übrigens gleich gedacht. Jawohl, mein Schiff besitzt eine ganz besondere Panzerung.«

»Welche den größten Granaten des Kriegsschiffes auf so kurzer Entfernung spottete.«

»Welche noch ganz anderen Granaten trotzt, die überhaupt durch kein Mittel zu durchschlagen ist.«

»Dieses Schiff ist aber doch weder in Tokio noch sonstwo gepanzert worden.«

»Ist es auch nicht.«

»Es sieht doch überhaupt gar nicht gepanzert aus.«

»Tut es auch nicht.«

»Wie haben Sie das bewerkstelligt?«

»Durch einen Anstrich.«

»Anstrich?«

»Es ist eine Art von Wasserglas. Die sirupähnliche Flüssigkeit wird angestrichen, und ist sie eingetrocknet — und zwar erhärtet sie auch unter Wasser — dann ist die Panzerung fertig. Eine fingerdicke Schicht dieser Substanz übertrifft an Härte bei weitem die stärkte Panzerplatte, die bisher hergestellt worden ist, ist überhaupt durch kein Mittel der Welt, so weit die Menschen ein solches besitzen, zu zerbrechen oder zu durchschlagen.«

Atalanta stand auf, ging an einen Wandschrank und kehrte mit einer kleinen Platte zurück, fingerstark, wie Milchglas aussehend, doch außerordentlich leicht.

»Sie können die Platte mitnehmen. Wer diese nachmachen kann, darf es auch im Großen tun. Die Erfindung ist nicht patentiert, braucht es auch nicht zu werden.«

Die Hände des Yankees zitterten, wie er die fabelhaft leichte Platte hin und her drehte.

»Dies also ist auch eines der Geheimnisse des Sklavensees!«, murmelte er, wohl mehr zu sich selbst.

»Geheimnisse des Sklavensees?«, wiederholte Atalanta.

»Sie haben doch dort die verschiedensten Geheimnisse.«

»Was für Geheimnisse?«

»Nun, Sie holen doch Ihr Gold vom Grunde des Sklavensees, haben in dem Innern der ausgemeißelten Felswand ein wunderbares mechanisches Theater, ein kinematografisches von sonst noch unbekannter Vollendung und noch vieles anderes mehr. Man spricht jetzt allgemein von den Geheimnissen des Sklavensees.«

Dass dies unterdessen an die breite Öffentlichkeit gekommen war, darüber brauchte man sich nicht zu wundern. Die Ansiedler sahen, wie das Gold durch Seehunde vom Grunde heraufgeholt wurde, Atalanta selbst hatte angeordnet, dass ihnen in den Theatern Vorstellungen gegeben wurden. Nur die Camera obscura blieb ihnen aus gewissen Gründen verschlossen, sie war während ihrer Abwesenheit außer Betrieb gesetzt.

Nun kamen doch auch andere Menschen nach der neuen Kolonie, Händler und Handwerker und zum Beispiel auch Vermessungsbeamte, denn Atalanta hatte den deutschen Farmern das ganze Südufer bereits urkundlich abgetreten. Diese mehr als dreihundert Menschen daraufhin zu vereidigen, nichts von diesen Geheimnissen zu verraten, das hatte doch gar keinen Zweck, ja es wäre geradezu frevelhaft gewesen. Mochten sie nur erzählen. Fremde kamen freilich in das Innere des Felsens nicht hinein, dafür war gesorgt worden

»Bleiben wir zunächst bei dieser Glaspanzermasse«, fuhr der Chefredakteur fort, »um diese handelt es sich jetzt nur. Ist das Ihre eigene Erfindung.«

»Nein.«

»Wessen sonst?«

»Eines Mannes, der in meinen Diensten steht.«

Es war dies das einfachste, wenn es Atalanta so sagte.

»Eines Japaners?«

»Nein.«

»Eines Nordamerikaners?«

»Eines Mannes, der keiner Nationalität, überhaupt dieser Erde gar nicht mehr angehört.«

»Aber Sie haben über ihn zu befehlen?^

»Ja.«

»Sie selbst wissen, wie diese Substanz hergestellt wird?«

»Nein.«

»Weshalb nicht, wenn Sie über diesen Mann zu befehlen haben?«

»Die Herstellung dieser Substanz ist gerade durch ihre Einfachheit so kompliziert, dass ich es gar nicht verstehe. Ich bin dazu nicht chemisch und technisch gebildet genug.«

»Nun gut. Da haben wir noch andere Männer. Da ich diese Glasplatte mitnehmen darf, muss ich doch schließen, dass jener geheimnisvolle Mann sein Rezept auch noch keinem anderen Menschen offenbart hat.«

»Sicher nicht.«

»So will ich Ihnen meinen Vorschlag machen, zu dem ich indirekt ermächtigt worden bin. Verschaffen Sie mir das Rezept zu dieser Substanz, und Sie und das Schiff erhalten von der Regierung der Vereinigten Staaten vollkommene Amnestie zugesichert.«

»Amnestie?«

»Sie wissen doch, was das ist. Ein großes Wort, ein schönes Wort, ein herrliches Wort. Vergeben und vergessen. Oder vielmehr nur vergessen. Denn es ist überhaupt nichts zu vergeben. Es gibt Untaten, die nicht vergeben werden können, weil sie keine Gnade verdienen. Aber vergessen können sie werden. Sie sind niemals geschehen. Das nennt man Amnestie. Geben Sie mir das Rezept zu dieser Masse, und ich garantiere Ihnen seitens der Regierung vollkommene Amnestie!«

Die Indianerin musste sich beherrschen, um nicht ebenfalls von einem Zittern der Aufregung befallen zu werden.

»Die Regierung bietet mir das an?«

»Nein. Das ist unmöglich. Keine Behörde kann, wie schon gesagt, jetzt noch mit Ihnen unterhandeln, der einfachste Konstabler nicht. Das muss alles erst eingeleitet werden, das mache ich jetzt alles auf meine eigene Faust.«

»Wie wollen Sie garantieren, dass ich wirklich Amnestie erhalte?«

»Sehr einfach. Diese Sache hat schon weitere Kreise gezogen. Es haben sich schon einige hochangesehene Männer bereit erklärt, sich zu Ihnen an Bord zu begeben. Einige wollen auch ihre Familien mitbringen. Selbst die Gattin des Festungskommandanten von San Francisco hat sich bereit erklärt, sich nebst ihren beiden Kindern als Geisel in die Hände zu geben. Es ist doch ganz einfach. Solange Sie solche Personen an Bord haben, kann Ihr Schiff doch nicht beschossen werden. Sie können ruhig vor der Stadt liegen bleiben, sogar in den Hafen kommen.

Nun wird der Vorschlag der Regierung unterbreitet. Vollständige Amnestie, und die Piratin liefert der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika — natürlich nur dieser — das Rezept zu dieser Panzermasse aus. Sobald die Amnestie, die nie zurückgenommen werden kann, erteilt ist, übergeben Sie das Rezept und lassen die Geiseln wieder frei.«

Die Indianerin erhob sich.

»Mister Reginald! Ich möchte rufen: Hinaus! Verlassen Sie mein Schiff! — Ich tue es nicht. Ich sehe Ihrem bestürzten Gesichte an, dass Sie jetzt fragen wollen: Warum denn? Was habe ich denn getan? — Sie werden meine Erklärung gar nicht verstehen, weil Sie ein echter Yankee sind. Und deshalb eben verzeihe ich Ihnen auch. Sie haben mir nun einen Vorschlag gemacht, wie ihn jeder echte Yankee für recht und billig findet. Ich aber nicht. Sie wissen eine Erfindung in meinen Händen, welche, wenn die Regierung der Vereinigten Staaten sie allein besitzt, diese zur größten Macht der Erde machen würde. Das ist sogar sehr patriotisch von Ihnen gedacht. Ich aber denke anders. Ich, ich will dieses Mittel nicht liefern, um eine einzige Kriegsmacht zu bevorzugen, dass ihre Kriegsschiffe dann, furchtbar gepanzert, mit rücksichtsloser Gewalt gegen alle anderen Länder der Erde vorgehen können. Am wenigsten würde ich das Geheimnis verraten, um dadurch Amnestie zu erlangen. Gerechtigkeit will ich haben, nichts als Gerechtigkeit! Weiter habe ich Ihnen nichts zu sagen.«

»Also Sie liefern dieses Rezept nicht aus?«

»Nein und abermals nein! Und das ist mein letztes Wort in dieser Sache!«

»Nun, dann wissen Sie ja, was Sie zu gewärtigen haben.«

»Na, was denn?«

»Ich habe es Ihnen vorhin ausführlich genug geschildert. Sie und das ganze Schiff sind vogelfrei — —«

»Gestatten Sie, dass ich Sie mit einer Frage unterbreche. Ist Ihnen bekannt, dass ich auf der Bodenkreditbank in San Francisco sieben Millionen Dollars liegen habe?«

»Die sind bereits mit Beschlag belegt, wenn nicht schon abgeholt worden.«

»Aha! Das wollte ich nur hören! Es wird wohl überhaupt alles, was mir gehört, konfisziert?«

»Gewiss, von der Regierung.«

»Auch mein Sklavensee?«

»Selbstverständlich. Alles, alles verfällt dem Staate. Ein vogelfrei erklärter Pirat hat kein Eigentum mehr.«

»Der ganze Sklavensee kann aber doch nicht in die weite Tasche der Regierung gesteckt werden!«, spottete die Indianerin.

»Das nicht. Aber Sie sind nicht mehr Eigentümerin davon. Er verfällt der Regierung, die darüber frei verfügen wird. Soviel ich weiß, ist bereits Militär nach dort unterwegs, um die Ufer und Inseln zu besetzen, um dem Ganzen einen formellen Anstrich zu geben.«

»Einen formellen Anstrich, so! Geehrter Herr, gehen Sie hin zu Ihrer Regierung oder zu dem Stadtkommandanten oder verkünden Sie es überhaupt ebenso der Welt, wie meine Vogelfreiheit allen Nationen öffentlich erklärt worden ist:

Wenn ich meine sieben Millionen Dollars nicht erhalte, so hole ich mir dieselben mit Gewalt!

Und wer die schon eingesteckt hat, dem nehme ich sie wieder ab!

Und hat sie die Regierung konfisziert, so konfisziere ich der Regierung der Vereinigten Staaten ebenfalls etwas, was den Wert von sieben Millionen Dollars hat, ein Kriegsschiff oder eine Insel oder so irgend etwas.

Und verkünden Sie ferner: Wer ohne meine Erlaubnis die Ufer meines Sklavensees betritt, so weit die Umgegend mein Eigentum ist, und wer ohne meine Erlaubnis den See selbst befährt, der wird von meinem Bevollmächtigten fortgewiesen, und wer diesem Befehle beim zweiten Male nicht gehorcht, der wird in Arrest genommen, wird regelrecht verhaftet und bestraft, nach einem Gesetze, das ich noch ausarbeiten werde, und wer sich dem Befehl oder der Verhaftung mit der Waffe in der Hand widersetzt, der wird als Feind im Kriege behandelt, wird überwältigt und unter Umständen getötet, kraft meiner Macht, die ich auszuüben imstande bin!

Und sagen Sie ferner, und das vor allen Dingen verkünden Sie aller Welt, damit sie gewarnt ist: Wer sich meiner und meiner getreuen Piraten Person zu bemächtigen sucht, tot oder lebendig, der wird als Gegner unschädlich gemacht! Das Kriegsschiff, das gegen mein Schiff vorgeht, wird wehrlos gemacht und unter Umständen auch sofort in den Grund geschossen oder gerammt! Und die Stadt oder die Seefestung, die gegen mein Schiff einen einzigen Schuss abgibt oder sonst wie feindlich vorgeht, wird ohne Gnade sofort bombardiert!

So, nun gehen Sie, das verkünden Sie Ihrer und allen anderen Nationen!«

Auch der alte Herr hatte sich erhoben. Er war furchtbar betroffen, tat aber, als wolle er es nicht glauben und heuchelte ein Lächeln des Staunens.

»Das ist ja eine förmliche Kriegserklärung gegen die ganze Welt!«

Da brach die Indianerin einmal in ein Lachen aus, es klang sehr grimmig.

»Hahaha, merken Sie es denn nun endlich?! Ja, da man mich von der Menschheit ausgestoßen hat, erkläre ich auch dieser Menschheit hiermit öffentlich den Krieg — — so weit sie feindlich gegen mich vorgeht!«

»Um den Krieg erklären zu können, muss man eine politische Macht sein.«

»Muss man? Nein. wer die Macht dazu hat, Krieg zu führen, der kann ihn auch erklären! Und wir fühlen uns stark genug dazu. Wir wollen keine Piraten sein. Unser Schiff hier ist unsere Heimat, unser Land, unser Reich, wir darauf Befindlichen bilden eine geschlossene Nation, ob man das lächerlich findet oder nicht. Die Zeit wird es lehren, ob wir uns halten oder nicht. Und rechnen Sie zu unserem Lande auch meinen Sklavensee mit Umgebung, so weit sie mir gehört. Und mag man uns meinetwegen Piraten nennen, so wollen wir diesen Namen eben zu Ansehen bringen. Wir bilden einen freien Piratenstaat, den man noch als selbstständiges Reich mit allen Rechten anerkennen soll!

Und nun gehen Sie hin und verkünden Sie es. Und wehe, wenn gegen mein Schiff ein Schuss fällt! Ich bombardiere tatsächlich San Francisco! Warnen Sie die Einwohner! Der Festungskommandant hat alles auf dem Gewissen, nicht ich! Ich werde beweisen, dass ich noch ganz andere technische Erfindungen besitze, die ganz besonders im Kriege ausgezeichnet zu gebrauchen sind. Soll ich den Beweis geben, dass ich imstande bin, die Stadt zu bombardieren?«

»O, ich glaube schon, dass Sie Geschütze an Bord haben.«

»Ja, aber was für Geschütze! Es ist nicht nötig, dass ich mich dazu in den Bereich der Festungsgeschütze begebe, obgleich ich es könnte, denn jetzt ist mein Schiff noch ganz anders gepanzert, jetzt kann kein Schornstein mehr durchschlagen werden.«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie die Stadt von hier aus beschießen könnten?!«, begann Mister Reginald schon zu staunen.

»Von hier aus.«

»Auf vier Seemeilen Entfernung?!«

»Meine Geschütze tragen noch viel weiter.«

Der alte Herr verlor für einige Zeit die Sprache, so erschütterte ihn das Gehörte. Die längsten Rohre der heutigen Schiffs-u nd Küstengeschütze tragen bis zu zwölf Kilometer weit. Das kann vorläufig noch nicht übertroffen werden. Wenn aber nun doch einmal solch eine Erfindung gemacht wird, wozu wohl ein ganz neuer Geschütztyp nötig ist, so ist der Staat, der diese Erfindung allein besitzt und das Geheimnis zu wahren weiß, natürlich allen anderen Kriegsmächten weit überlegen.

»Die Stadt will ich natürlich nicht in Trümmer legen, nicht den geringsten Schaden anrichten«, fuhr Atalanta fort. »Nennen Sie mir irgend ein Ziel, das vernichtet werden kann, etwa einen Baum, ich will ihn von hier aus treffen.«

»Einen Baum an der Küste von hier aus treffen?!«, wurde der alte Herr nur immer fassungsloser.

Denn solch eine Treffsicherheit gibt es bei zwölf Kilometer Entfernung nun freilich nicht.

»Nicht nur an der Küste, sondern mitten in der Stadt soll der Baum stehen. San Francisco hat doch Baumalleen. Bezeichnen Sie mir einen bestimmten Baum, ich kann ihn von hier aus sehen — —«

»Ihn von hier aus sehen?!«

Mister Reginald raffte sich zusammen. Er wollte zunächst einen Beweis haben, dass sich dieses Weib nicht nur in leeren Prahlereien erging.

»Nun wohl. Mitten in der Stadt ist der Jefferson-Platz. In dessen Mitte steht das Denkmal dieses Präsidenten. Um dieses herum gruppieren sich sechs Statuen, welche die Tugenden darstellen, die diesen Mann besonders ausgezeichnet haben. Die eine, die Justitia, ist vorgestern Nacht von Bubenhänden demoliert worden, man hat ihr Arme und Kopf abgeschlagen. Sie muss entfernt werden. Wählen Sie diese Statue als Ziel.«

»Sollte die Gerechtigkeit nicht von allein Arme und Kopf verloren haben, als die hohe Obrigkeit von San Francisco uns für Piraten erklärte?«, spottete Atalanta. »Und jetzt fordern Sie als Vertreter der Regierung mich auch noch auf, die Gerechtigkeit vollends über den Haufen zu schießen? Das ist ja ein sehr guter Witz!«

»Zeigen Sie, dass Sie nicht nur Witze machen.«

»Wohl, ich werde die Statue treffen. Aber ich bin vorsichtig geworden. Man soll mir später nicht den Vorwurf machen können, ich hätte auf die Stadt den ersten Schuss abgegeben. Verständigen Sie den Festungskommandanten von unserer Abmachung. Er soll seine Genehmigung dazu durch ein Verstandenzeichen auf der Seewarte geben.«

Dann war nichts weiter abzumachen. Mister Reginald erhob sich, um sich an Bord seiner Jacht zu begeben.

»Verkünden Sie auch«, sagte Atalanta noch, »dass mein namenlos gewordenes Schiff von jetzt an ›Mohawk‹ heißt, und als Flagge werde ich mein Totem führen, im weißen Felde einen blauen Fisch, von einer roten Schlange umwunden. Es soll in allen offiziellen Schifffahrtszeitungen verkündet werden, damit man sich vor dieser Flagge hütet.«

Die kleine Dampfjacht steuerte dem Hafen zu.

Eine Viertelstunde später wurde auf der Seewarte das Verstandenzeichen gehisst.

»Ich soll den Schuss abgeben?«, vergewisserte sich das Piratenschiff nochmals.

»Ja. Auf die Justitia, Jefferson-Platz.«

»Wann?«

»Sofort.«

»In fünf Minuten fällt der Schuss.«

Atalanta befand sich bereits in der Camera obscura. Der kleine Speisesaal des ehemaligen Passagierdampfers war dazu eingerichtet worden. An der großen, weißen Wand zeigte sich in dem verdunkelten Raume jetzt das Lichtbild des Jefferson-Platzes.

Die Indianerin und alle übrigen hatten zusehen können, wie jener rätselhafte Mann alles eingerichtet hatte, sie wussten doch absolut nicht, was das zu bedeuten und wie es gehandhabt wurde.

In dem mittleren Schornstein war ein Rohr von etwa fünfzehn Zentimeter Durchmesser so aufgehängt, dass es bei Seegang die Bewegungen des Schiffes nicht mitmachte. Unten an dem drei Meter langen Rohre waren zwei umsponnene Kupferdrähte befestigt, welche bis hierher in diesen Raum nach einem kleinen Apparate führten, der scheinbar eine ganz gewöhnliche Laterna magica war, wie sie Kinder benutzen. Und dieses Kinderspielzeug projizierte auf die gegenüberliegende weiße Wand die ganze Erdoberfläche, und dann konnte durch einen anderen Apparat, der hier ungefähr wie eine Schreibmaschine aussah, wieder jede Gegend im Grundriss wie im Aufriss hervorgehoben, jeder Punkt auf der Erdoberfläche schier bis ins Endlose vergrößert werden.

Wie brachte Mephistopheles diese Spiegelung nur zustande?

»Werden Sie meine Frau, und Sie erfahren alles.«

Er sagte es immer in scherzhaftem Tone, und so fasste es Atalanta auch auf — scheinbar.

Gewiss, um eine Spiegelung handelt es sich. Aber womit spiegelt er? Wo war im endlosen Weltenraum der unsichtbare Spiegel, den er dabei benutzt?

Ja, wie kommt denn die Fata morgana zustande? Durch eine Luftspiegelung. Dort, wo eine kältere Luftregion an eine wärmere stößt, entsteht eine spiegelnde Wand, an der man weit entfernte Landschaften und Objekte erblickt.

So lautet die Erklärung. Das sind aber Worte, die gar nichts sagen. Wir wissen noch nicht einmal, was Elektrizität ist, wie ein Gewitter zustande kommt, und wenn wir das Polarlicht ein magnetisches Gewitter nennen, so bekennen wir nur, dass wir gar nichts davon wissen.

Señor Juan Tenorio, wie der Mephistopheles außerhalb seines Felsenreiches genannt sein wollte, hatte nach San Francisco und auf das Schiff einige Kisten mitgenommen, aber was er nach und nach alles in und auf dem Schiffe aufbaute, das konnte unmöglich in diesen wenigen, leichten Kisten enthalten gewesen sein.

»Welche Substanz ist es denn«, hatte er einmal gesagt, »die allüberall auf der Erde in ganz der gleichen Zusammensetzung vorkommt und ohne die kein Leben möglich ist? Es ist das Wasser.«

Und dieser Mann schien aus Wasser alles machen zu können! Er ließ ein Fass mit Seewasser füllen, hing zwei Drähte hinein, die aus seinem Laboratorium, das er sich sofort eingerichtet hatte, herausliefen, und in ganz kurzer Zeit verwandelte sich das Wasser in einen Sirup, der, aufgestrichen, jenen Überzug lieferte, in dünnster Lage fester als die stärkste Panzerplatte, und diese feste Substanz, obgleich selbst ursprünglich Wasser, entstand auch unter Wasser.

»Der Mann, der den Zement erfunden hat«, hatte er damals gesagt, als er zum ersten Male diese Substanz hergestellt, um mit ihr das ganze Schiff anzustreichen, »ist das nicht ebenso ein höllischer Hexenmeister gewesen wie ich? Ein graues Pulver, mit Wasser angerührt, erhärtet zu einer steinfesten Masse, und zwar ebenfalls sogar unter Wasser. Ist denn das etwas anderes als wie hier? Ich führe das Wasser durch eine besondere Art von Elektrizität nur in einen anderen Aggregatzustand über, ich lasse es gefrieren, aber ohne Anwendung von Kälte, und zu einem Eis, das unter gewöhnlichen Verhältnissen nie wieder schmilzt. Was das für eine besondere Art von Elektrizität ist? Werden Sie meine Frau, dann erfahren Sie alles, hähähä.«

So hatte er aus Wasser auch ein Geschütz hergestellt, zu dem er nur die Gießformen mitgebracht hatte. Es war nichts weiter als ein dünnwandiges Rohr von Meterlänge mit einem Kaliber von zehn Zentimetern, auf einer größeren Kugel gelagert, die in einem gewöhnlichen Fasse mit Wasser schwamm, das man aufstellen konnte, wo man wollte. Von der Kugel aus liefen zwei Drähte nach einem kleinen Apparat, und wie man hier an zwei Rädchen drehte, so richtete sich das Rohr von selbst, drehte sich nach links und rechts, die Mündung hob und senkte sich, und hörte man auf zu drehen, dann lag das Rohr mit der Kugel unbeweglich auf dem Wasser, es war durch keine Kraft mehr zu drehen. Die Bewegung geschah magnetisch, das Rohr wurde magnetisch festgehalten. Das sagte er, mehr aber nicht.

Das hinten geschlossene Rohr wurde mit Wasser gefüllt, das unter Zuleitung von Elektrizität augenblicklich erstarrte, hier aber nicht zu einer federleichten Masse, sondern der Hexenmeister konnte diesem gefrierenden Wasser ganz verschiedenes Gewicht geben, das jedoch erst dann zur Wirkung kam, sobald das Geschoss das Rohr verlassen hatte. Hierbei zeigte sich also wieder die Eigenschaft jener Glasdose. Je weiter das Ziel entfernt war, desto schwerer musste das Geschoss gemacht werden.

Das Abfeuern geschah durch einen Druck auf den Knopf des Apparates. Jedenfalls befand sich zwischen dem Verschlussstück und dem gefrorenen Wasser auch noch flüssiges, das sich in einem Moment in Knallgas verwandelte und so das Geschoss hinausjagte. Aber nicht etwa, dass das Knallgas explodierte, denn der Knall war gar nicht so bedeutend. Der Rückstoß war sehr stark, konnte aber leicht aufgehalten werden, und das mit einer Ölschicht bedeckte Wasser beruhigte sich sofort wieder.

Gezielt konnte wie bei jedem anderen Geschütz werden, ein Visier war vorhanden. Viel einfacher war aber die zweite Vorrichtung, die Atalanta jetzt benutzte, und sie hatte sich von deren absoluter Zuverlässigkeit in den letzten Tagen, seitdem die Camera obscura funktionierte, durch wiederholte Schießversuche auf dem Meere überzeugt.

Jetzt zeigte die weiße Wand also den Jefferson-Platz. Man sah, wie Konstabler die Menschen von dem Denkmal fortwiesen, und das Zurückgehen derselben verwandelte sich schnell in eine Flucht, während sich die Fenster der den Platz umringenden Hauser mit immer mehr Menschenköpfen besetzten.

Atalanta richtete den roten Lichtstrahl auf das Denkmal, drehte an einem Rädchen, und die weitere Umgebung wich zurück, das Denkmal mit seiner näheren Umgebung trat größer hervor. Es wurde von sechs Figuren umstanden, Frauengestalten, von denen der einen Kopf und Arme fehlten.

Der rote Punkt wurde auf die Füße dieser Statue gerichtet. Jetzt bediente Atalanta einen anderen Apparat, und an der Wand erschien ein blauer Punkt. Er wurde nach dem roten dirigiert, und in dem Moment, da er diesen berührte, ertönte oben an Deck des Dampfers ein dumpfer Knall.

Das Geschütz war von hier unten aus gerichtet und auf optische Weise abgefeuert worden.

Es war kein elektrischer Blitz, den man absandte, um die Statue zu zerschmettern. Das Geschoss einer Krupp'schen Riesenkanone macht in der Sekunde als Höchstleistung fünfhundert Meter, und da sich jenes Ziel fünfzehn Kilometer entfernt befand, so hätte solch ein Geschoss dreißig Sekunden gebraucht — vorausgesetzt, dass es das Ziel überhaupt erreicht hätte.

Zwanzig Sekunden vergingen. In diesem Falle eine kleine Ewigkeit. Da sahen die Beobachter des Lichtbildes die Statue plötzlich verschwinden. Selbst das hatte man unterscheiden können, dass sie an den Füßen abgeknickt worden war. Dann wurde der Anblick durch eine aufsteigende, mächtige Staubwolke verhüllt. Doch nicht lange, so legte und verteilte sie sich wieder, man sah, wie von allen Seiten Menschen herbeigeeilt kamen, Männer und auch schon Damen, die Verwegensten, die sich aus dem Publikum gleich herbei wagten, wie sie gestikulierend zusammen sprachen, wie sie nach der Richtung deuteten, wo das Piratenschiff lag, das auf so weite Entfernung solch todessichere Schüsse abgeben konnte.

Unterirdische Flüsse

»Nun, Frau Gräfin, sind Sie mit mir zufrieden?«, fragte Mephistopheles wenige Minuten später Atalanta.

»Nein!«, erwiderte diese.

»Nein?! Weshalb denn nicht?«

»Dass Ihr Geschütz solche Schüsse leistet, weiß ich ja schon. Warum kann ich hier nicht auch hören, was jetzt dort über mich gesprochen wird? Diese Einrichtung verlange ich von Ihnen.«

»Frau Gräfin, da verlangen Sie Unmögliches. Auch die Camera obscura am Sklavensee, die Ihnen zur Fügung stand, war doch ohne solch akustische Einrichtung.«

»Ja eben, weshalb aber ist diese auf Ihrer Illusionsbühne vorhanden?«

»Weil zu dieser akustischen Fernübertragung eine ganz komplizierte Einrichtung notwendig ist. Vor allen Dingen eine absolute Ruhe, die es auf dem Schiffe niemals gibt.«

»Nicht? Auf ganz stillem Wasser? Kann es eine größere Unbeweglichkeit geben?«

»Es handelt sich dabei um Ruhe in der Luft, und eine absolute Windstille gibt es nicht. Der Empfänger der akustischen Übertragung muss zwischen dicken Felswänden stehen, sonst kommt kein Resultat. Nein, auf einem Schiff kann ich diese Vorrichtung nicht anbringen.«

»Sie sind eben der arme Teufel, wie er im Buche steht!«, spottete Atalanta scherzend.

»Auf der Welt ist nichts vollkommen, also auch der Teufel und seine Erfindungen nicht. Haben Sie sonst Wünsche, die ich vielleicht sofort befriedigen kann?«

»Ich möchte noch einmal nach dem Sklavensee, weil sich die Verhältnisse jetzt doch sehr geändert haben.«

»Dazu brauchen Sie doch den Teufel nicht. Dazu hat Ihnen die Natur die Füße geschaffen, und da diese den Menschen nicht schnell genug sind, haben die Menschen die Eisenbahn erfunden.«

»Ich verlange von Ihnen, dass Sie mich durch die Luft nach dem Sklavensee tragen.«

»So, hm. Weiter nichts? Wissen Sie, Frau Gräfin, Sie sind genau wie alle anderen Menschen. Sie sind unersättlich in ihren Wünschen. Das Sprichwort vom kleinen Finger und der ganzen Hand gilt viel mehr von jedem Menschen als vom Teufel. Nein, durch die Lüfte tragen kann ich Sie nicht.«

»Ich denke, Sie können sich in jedes Tier verwandeln.«

»Kann ich. Ich hab's Ihnen doch gezeigt. Aber mitnehmen kann ich Sie nicht. Denn ich kann keinen anderen Menschen umwandeln. Und so sind Sie mir zu schwer. Sie verlangen zu viel von einem Schwälbchen.«

»So verwandeln Sie sich doch in einen Riesenvogel, in einen Greif.«

»Sich in nichtexistierende Tiere zu verwandeln, das ist von der Höllenpolizei, der auch ich mich freiwillig unterstellt habe, streng verboten.«

»So verwandeln Sie sich in — — doch Scherz nun endlich beiseite. Ich wundere mich wirklich, dass Sie mit jener fabelhaft leichten und doch so stahlharten Substanz, die Sie aus Wasser herstellen, in Verbindung mit der elektrischen Kraft, die Sie in jeder Menge einfach aus der Luft ziehen, noch nicht an die Konstruktion eines Aeroplans und eines ganzen Luftschiffes gedacht haben.«

»Noch nicht daran gedacht? Geehrte Frau Gräfin, ich bin ein Mann, der bisher in seinem physikalischen und chemischen Laboratorium nur der streng wissenschaftlichen Forschung gelebt hat. Mir kam und kommt es immer nur darauf an, die Wahrheit zu ergründen, die Geheimnisse der Natur. Solche kindlichen Spielereien wie das mechanische Theater, die Illusionsbühne, die Camera obscura und so weiter habe ich nur so nebenbei für Leute geschaffen, die mir Gesellschaft und bei meinen Arbeiten Handlangerdienste leisten, damit sie in ihrer Freizeit Unterhaltung haben, ohne die diese Geister sich langweilen. Ich selbst gebe mich mit solchem — Larifari gar nicht ab.

Die Erfindung des Aeroplans und die Vervollkommnung des lenkbaren Luftschiffes durch die Menschen habe ich mit dem größten Interesse verfolgt, und Sie ersehen, was ich für ein ehrlicher und bescheidener Teufel bin, wenn ich gestehe, dass ich auf diese Erfindungen wohl schwerlich aus eigener Kraft gekommen wäre. Einen Menschen auf einem schweren Apparat durch Motorkraft emporzuheben — à la bonne heure, ich hätte gar nicht gewagt, an die Lösung dieses Problems zu gehen. Allerdings hat so etwas meiner Gedankenwelt auch immer ganz fern gelegen.

Nun freilich, da die Grundlagen einmal ausgearbeitet sind, wäre es mir ein Leichtes gewesen, den Aeroplan und das Luftschiff bis zur Perfektion zu vervollkommnen. Aber wozu? Die Menschheit bekommt von mir keine meiner Erfindungen. Ich selbst brauche kein Luftfahrzeug. Reise ich, dann benutze ich die Eisenbahn, oder ich benutze jenes Mittel, von dem ich nicht mehr sprechen will, weil Sie ja doch nicht daran glauben.

Da erhielt ich durch Zufall Kenntnis von einem wunderbaren Naturphänomen. Das musste ich näher untersuchen, dazu wollte ich auf Reisen gehen. Wissen Sie, Frau Gräfin, wie viel Wasser täglich auf der Erde verdunstet und wie viel Wasser täglich als Regen wieder herabfällt?«

Atalanta war über diese unerwartete Frage natürlich sehr erstaunt.

»Das weiß ich nicht, ich habe keine Ahnung.«

»Auch die gelehrte Welt hat sich mit dieser Frage und Antwort noch gar nicht beschäftigt. Sonst müsste man ausgerechnet haben, was gar nicht so schwer ist, dass auf dem Festland der Erde viel mehr Regen fällt, als Wasser durch die Ströme dem Meere wieder zugeführt wird.«

»Wo bleibt das andere Wasser?«

»Ja, wo bleibt es?«

»Das sickert in die Erde ein.«

»Es muss aber doch irgendwo bleiben, es kann doch nicht im Mittelpunkt der Erde verweilen.«

»Es kommt als Quellen wieder zum Vorschein.«

»Diese Quellen enden doch auch zuletzt im Meere. Ja, dieses in der Berechnung fehlende Wasser gelangt dann auch ins Meer. Alle Festländer der Erde und die größeren Inseln sind kreuz und quer mit unterirdischen Wasserläufen durchzogen, und diese will ich jetzt untersuchen.«

Die Indianerin hatte sofort begriffen, um was es sich handelte, sie machte große Augen.

»Die Menschheit hat schon etwas davon zu erfahren bekommen!«, fuhr Señor Tenorio fort. »Seit uralten Zeiten haben die Bewohner der Sahara von Wassergeistern gefabelt, welche unter der Wüste hausten, womit sie aber in ihrer bilderreichen Sprache nichts anderes meinten, als dass unter der Sahara Wasser sei.

Vor etwa fünfzig Jahren nahm einmal ein französischer Ingenieur namens Jacques Herlin, der die Sahara schon viel bereist hatte, diese arabischen Sagen für Ernst, kam vielleicht auch durch seine geologischen Erfahrungen zu dem Schlusse, dass doch etwas Wahres daran sein könne.

Er gab eine Broschüre heraus, in der er seine Ansichten klarlegte und aufforderte, in der Sahara nach Wasser zu bohren.

Es ging dem jungen Manne, wie es von jeher allen genialen, bahnbrechenden Köpfen gegangen ist. Er wurde in den Zeitungen mit Spott überschüttet, ganz besonders verhöhnte ihn die gelehrte Welt. Dem waren die Wassergeister der Sahara in den Kopf gefahren.

Aber der Wahnsinnige fand doch einige Gläubige, brachte Kapitalien zusammen, fing in der Sahara zu bohren an. Nach einem Jahre war das ganze Geld verbohrt, Herlin wurde wegen Betrugs angeklagt, oder er kam in Schuldhaft, jedenfalls ins Gefängnis, und ist darin gestorben.

Nur eine gesonderte Abteilung, die von dem Zusammenbruch der Gesellschaft noch nichts gehört hatte, bohrte unverdrossen weiter, in dem Tiefbecken Bal es Sudi, einer der ödesten Gegenden der Sahara, und plötzlich sprang aus dreihundert Meter Tiefe ein mächtiger artesischer Brunnen mit süßem Wasser hervor.

Heute weiß man es. Überall, wo man in der Sahara auch bohrt, wenn man nur tief genug bohrt, stößt man auf Wasser, das meist empor spritzt. Wo es dies nicht tut, befindet sich fließendes Wasser. Heute sind in der Sahara schon viele Hunderte von artesischen Brunnen erbohrt worden, die Folgen davon lassen sich noch gar nicht absehen. Vielleicht kann die ganze Sahara noch einmal in ein blühendes Land verwandelt werden. Jetzt entsteht an jedem Brunnen eine neue Oase, nur hierdurch wird der Bau einer Eisenbahn von Algier nach Timbuktu ermöglicht. An jedem neuen Brunnen setzen die dankbaren Franzosen ihrem großen Landsmanne Jacques Herlin einen Denkstein, wie er auch in Frankreich schon Denkmäler genug hat. Ob man auch in seine Gefängniszelle, in der er auf einem Strohsack verendet ist, etwas hineingesetzt hat, weiß ich nicht.«

Der Erzähler machte eine Pause, nachdem er die letzten Worte mit genügend bitterem Spott hervorgebracht hatte.

»Ja, von diesen unterirdischen Wasserläufen der Sahara und wie man sie jetzt ausnutzt, habe auch ich schon gehört«, sagte Atalanta. »Und so glauben Sie, dass auch alle anderen Festländer der Erde mit Wasseradern durchzogen sind!«

»Alle. Und dabei handelt es sich nicht etwa nur um sogenanntes Grundwasser, dessen Vorhandensein ja schon immer bekannt war. Nein, in noch größerer Tiefe sieht es unter der Erde ganz anders aus, als man bisher ahnt. Dass hier und da dem Meeresboden süße Quellen entspringen, ist ja schon immer bekannt gewesen. So besonders im Roten Meere und an der Ostküste Südamerikas. Diese Punkte im Meere werden sogar schon manchmal als Wasserstationen benutzt, indem sich das frische Wasser gar nicht so leicht mit dem salzigen vermischt.

Aber es ist noch ganz anders. Das Meer selbst durchkreuzt in unterirdischen Kanälen alle Festländer nach allen Richtungen, es ist ein ganzes Adersystem, und in dieses nun ergießt sich jene ungeheure Menge Regenwasser, das nach der Berechnung hier uns verloren geht.

Fragen Sie mich nicht, woher ich die Kenntnis davon bekommen habe. Ich darf es nicht verraten. Ich bekam eine regelrechte Karte von diesem ganzen unterirdischen Stromsystem. Nehmen Sie an, ein Hellseher habe sie im Traume geschaut und entworfen.

Als ich sie zuerst sah, zweifelte ich selbst daran. Die Wahrheit musste sich aber leicht ergründen lassen. Ein Hauptstrom, der vom Stillen Ozean ausgeht und sich durch den ganzen nordamerikanischen Kontinent verzweigt, berührt auch den Sklavensee. Ich ließ einen Schacht nach unten anlegen. In einer Tiefe von etwa zweihundertzwanzig Meter, vom Spiegel des Sees an gerechnet, stieß ich auf einen mächtigen Strom mit Salzwasser. Der Beweis der Wahrheit war erbracht.

Eine kurze Strecke konnte ich den unterirdischen Meeresstrom, der dann auch das abfließende Wasser des Sklavensees aufnimmt, im offenen Boote verfolgen. Dann hörte das auf. Die Decke wurde immer niedriger, zuletzt quoll das Wasser aus einem Loche heraus, freilich was für ein riesenhafter Schlund!

Jetzt baute ich mir ein Unterseeboot, so klein, dass es nur gerade einen Mann mit allem, was er braucht, aufnehmen konnte. Ich drang ein. In vierzehn Tagen langsamer Fahrt, ohne ein einziges Mal wieder mit der Luft in Berührung zu kommen, immer direkt unter Wasser, erreichte ich den Stillen Ozean. Die Mündung ist gar nicht so weit von hier entfernt, sie befindet sich bei Ebbe etwa vierzig Meter unter dem Meeresspiegel — was haben Sie, Frau Gräfin?«

Atalanta hatte wie im Schreck die Hände halb erhoben.

»Mann, Mann, wer sind Sie denn nur, dass Sie so etwas wagen und ausführen können?!«, flüsterte sie atemlos.

»Ein Mensch, der sich seit vielen Jahrhunderten unausgesetzt wissenschaftlichen Studien gewidmet hat, ohne durch Todesschlaf dabei unterbrochen worden zu sein, weil er den Tod überwunden hat«, war die Antwort, und wieder einmal zeigte das Mephistogesicht das höhnische Grinsen.

Jetzt hätte Atalanta fragen können: Weshalb bauten Sie sich denn da erst ein Unterseeboot? Warum verwandelten Sie sich nicht gleich in einen Fisch? — Sie tat es nicht.

»Sie haben ein Fahrzeug, in dem Sie vierzehn Tage unter Wasser aushalten können?!«

»Noch viel länger. So lange wie ich will. Ich erzeuge mir die zum Atmen nötige Luft selbst. Dieses Problem hatte ich schon längst gelöst, hatte nur gar keine Sehnsucht, diese Erfindung in der Praxis zu verwerten. O, ich habe noch ganz andere Erfindungen gemacht. Sie werden sie alle noch kennen lernen.

Auch damals hatte ich noch keine Zeit, diese unterirdischen Flussläufe weiter zu verfolgen, so interessant ich diese Sache auch wirklich fand. In meinem Felsenlaboratorium braute ich eben ein Gemisch, das jahrelang meine unausgesetzte Beobachtung erforderte.

So schickte ich in dem kleinen Unterseeboote erst einen Mann auf Reifen, auf den ich mich verlassen konnte. Innerhalb von vielen Jahren hat dieser alle Erdteile unterirdisch durchkreuzt, ganz Amerika, ganz Afrika, ganz Europa und Asien, auch Australien — —«

»Mein Gott, mein Gott!«, stieß Atalanta in größter Aufregung hervor.

»Und da hat er immer nur die direkten Hauptadern benutzt. Ich wollte mich nur erst überzeugen, ob es auch möglich ist, in solch einem Boote überall durchzukommen. Ja, es ist möglich. Das Fahrzeug kann noch viel größer sein.

So baute ich mir unterdessen ein größeres Unterseeboot, das sechs Personen aufnehmen kann. Unbequem ist es darin freilich noch genug. Es muss so niedrig sein, dass man sich darin nicht aufrichten kann. Entweder liegen oder geduckt sitzen. Das ist nicht zu vermeiden. Sind Sie nun bereit, Frau Gräfin, mich auf diesen unterirdischen Reisen zu begleiten?«

»Und ob ich dazu bereit bin!«, rief Atalanta mit leuchtenden Augen.

»Well, der Delfin ist bereits unterwegs, unter Führung des Piloten, der wieder vom Skelett gesteuert wird.«

»Vom Skelett?!«

»Pardon — ich spreche Namen aus, die uns geläufig sind. Mister — Remington heißt er wohl, ich weiß es gar nicht mehr recht. Weil er so dürr ist, wird er nur das Skelett genannt. Das ist der Mann, der schon die Erdteile unterirdisch befahren hat, er wird uns in dem kleinen Boot, das unterdessen bedeutend verbessert ist, als Führer dienen, neue Kanäle aufsuchen, er kann jetzt viel mehr wagen als früher. Bleibt er einmal stehen, dann ziehen wir ihn wieder heraus, hähähä.«

Atalanta begriff nicht, was es da zu grinsen gab und beachtete es auch nicht weiter.

»Da ist mir nur eines rätselhaft.«

»Und das wäre?«

»Wenn Sie nun einmal das Problem des Unterseebootes in so vollkommener Weise gelöst haben, warum bauen Sie da nicht gleich ein ganz großes, das man als richtiges Schiff benutzen kann? Bei schönem Wetter fährt man an der Oberfläche des Meeres, bei schlechtem taucht man unter. Das muss doch herrlich sein. Nur muss es auch groß genug sein, dass man auch wirklich alles darin hat wie auf einem anderen Schiffe!«

»Nun, das kann alles noch kommen. Sie vergessen wohl, dass ich selbst zu so etwas noch gar kein Bedürfnis gehabt habe. Ich lebe nur meinen Studien und — veralbere zu meiner Freude die Menschen. Nur eines kleinen Unterseebootes bedurfte ich, um jene Wasserläufe zu erforschen. Aber wenn Sie so ein großes Unterseeschiff wünschen, das ist etwas anderes. Ich werde ein solches im Modell konstruieren. Jetzt habe ich ja auch Japaner als Arbeiter, während es mir bisher sehr an Leuten gefehlt hat — zumal seitdem Sie mir so viele weggeschossen haben, hähähä.«

Atalanta überhörte diese letzte Bemerkung.

»Sie würden allein für mich ein ganzes Unterseeschiff bauen lassen?«

»Nur für Sie.«

»Herr, weshalb eigentlich stellen Sie sich so ganz und gar in meine Dienste?!«

»Um Sie von meiner Dienstwilligkeit zu überzeugen.«

»Ja, aber weshalb das nur?«

»Sie fragen noch?«

»O, Sie denken doch nicht etwa daran, dass ich Ihre Frau werde?«

»Jawohl, das hoffe ich!«, grinste der Mephisto.

Es ließ Atalanta kalt, sie hatte es ja auch schon öfters zu hören bekommen.

»Sie stellen sich und Ihre Erfindungen doch nicht etwa nur unter dieser Bedingung, dass ich Ihre Frau werde, zu meiner Verfügung?«

»Ich stelle gar keine Bedingungen. Ganz freiwillig sollen Sie zu mir kommen.«

»Da können Sie lange warten. Also da brauchen wir gar nicht weiter darüber zu sprechen.«

»Brauchen wir auch nicht. Die Folgezeit wird ja das Resultat bringen.«

»Gut, warten wir es ab. Wann kommen Ihre Unterseeboote nun hier an?«

»Heute gegen Mitternacht treffen sie hier ein.«

»Sie stehen natürlich mit Ihren Leuten immer in telefonischer Verbindung.«

»Immer.«

»Warum geben Sie mir nicht die Möglichkeit, dass ich mich mit meinen Stellvertretern am Sklavensee durch drahtlose Telefonie unterhalten kann?«

»Weil ich meine Erfindungen nicht anderen Menschen gebe. Ihnen alles, anderen Menschen gar nichts, prinzipiell nicht. Dagegen können Sie nichts tun. Denken Sie, ich sei hierzu durch einen Eid gebunden, den auch ein Teufel nicht brechen darf.«

»Meinetwegen. Wo fahren wir dann zunächst hin?«

»Ich denke, Sie wollten erst noch einmal an den Sklavensee.«

»Ja, um noch einmal persönlich mit den Leuten meiner Kolonie zu sprechen.«

»Ich werde Sie begleiten. Sie können also noch vier andere mitnehmen, es ist Platz für sechs Personen.«

»Wie lange währt die Fahrt?«

»Die Strecke, zu der ich damals vierzehn Tage gebraucht habe, macht das Skelett jetzt in drei Tagen, der Delfin kann ebenso schnell folgen. Damals musste ich doch ganz langsam fahren, um mir nicht den Kopf einzurennen. Da hatte der Pilot auch noch nicht solch einen mächtigen Scheinwerfer und viele andere Besserungen fehlten.«

»Señor Tenorio, es dunkelt, ich habe einige Anordnungen zu treffen. Wollen wir die Unterredung jetzt abbrechen?«

»Ganz wie Frau Gräfin befehlen.«

Sie trennten sich. Der Spanier begab sich in seine eigene Kabine, die ihm wie eine ganze Reihe von Luxuskabinen und anderen Räumen zur Verfügung stand. Es war ja ursprünglich ein Passagierschiff.

Hier setzte er sich, sann lange vor sich hin, und immer stärker trat sein höhnisches Lächeln hervor.

»Ja, nur so kann ich dieses Weib, das wirklich den Teufel im Leibe hat, bemeistern und mir zu Füßen zwingen!

Sie in Gefangenschaft zu bringen, wie ich es erst vorhatte, um dann als ihr rettender Engel zu erscheinen, das würde nicht zum Ziele führen. Dieses Teufelsweib würde sich selbst immer zu befreien wissen, und ebenso weicht die keiner irdischen Gewalt, lieber begeht sie Selbstmord, jetzt, wo sie ihres Erachtens nichts mehr auf der Erde zu verlieren hat.

Ich muss ihr wieder etwas geben, dessen Verlust sie noch schmerzlicher berührt als der eines geliebten Mannes.

Alle Macht muss ich ihr geben, so weit ich ihr sie verleihen kann. Hat sie diese erst einmal genossen, dann mag und kann sie diese nicht mehr missen. Und dann nehme ich ihr alles wieder. Dann wird das stolze Weib zu mir kommen und mich um meine Gnade anflehen! Oder es wäre kein Weib.«

Im Unterseeboot

Die Nacht war angebrochen, mondlos, der Himmel wolkenbedeckt.

Das vogelfreie Piratenschiff zeigte seine Lichter.

Ob aber auch ein Regierungsschiff so offen herangekommen wäre, wenigstens so weit, um einmal zu versuchen, ob dieser rätselhafte Dampfer auch gegen einen Torpedoschuss gefeit war?

Das Torpedoboot hätte sich auch in dieser stockfinsteren Nacht nicht unbemerkt nähern können.

In der Camera obscura saßen zwei japanische Matrosen vor der weißen Wand, auf deren Mitte man den »Mohawk« liegen sah, ganz allein, das Meer ringsum in meilenweitem Umkreise hell erleuchtet, wie im Sonnenglanze.

Wie die Erzeugung dieses Lichtes hier in der Camera erzeugt werden konnte, das war das Geheimnis des Erfinders.

Da huschten über die weiße Fläche, aus der südöstlichen Ecke kommend, zwei schwarze Punkte, ein kleinerer und ein größerer, näherten sich dem Schiffe, verschwanden, tauchten in noch größerer Nähe wieder auf und verschwanden abermals.

Schnell beugte sich der eine Matrose über das am Apparat befestigte Telefon.

»Dem Schiffe nähern sich von Südosten zwei Punkte, tauchen auf und nieder, wie Seehunde oder Delfine!«, meldete er.

»Es ist gut«, erklang des Kapitäns Stimme zurück, »es sind die erwarteten Boote, sie haben schon signalisiert.«

An Deck standen an der Bordwand Atalanta, Señor Tenorio, Littlelu, die japanischen Schiffsoffiziere und einige Matrosen, falls es Arbeit gab. Tenorio hatte seine Telefonuhr am Ohr, sprach auch manchmal leise hinein.

Dort, wo das Fallreep herabgelassen war, dem Hafen abgewendet, flammte es auf, ein kleiner Scheinwerfer sandte seinen Strahl hinab.

Er fiel auf einen Fisch, der neben dem Fallreep lag, ein mächtiges Tier, fast drei Meter lang. Es war ein Delfin, von den Seeleuten Pilot genannt, weil er mit Vorliebe den Walfisch begleitet, ihm die besten Futterplätze aufsucht und ihn vor seinem grimmigen Feinde, dem Schwertfisch, warnt, indem er immer die Umgegend auskundschaftet.

Dahinter aber war noch ein zweiter Delfin, mehr als noch einmal so lang, fast sieben Meter, ein Grind, der von den Seeleuten schlechtweg Delfin genannt wird.

Übrigens gehören auch die Delfine zu den Walen, sie sind wie diese keine Fische, sondern Seesäugetiere, aber man begeht keinen groben Fehler, wenn man sie Fische nennt. Der Engländer nennt alles, was im Meere lebt, »fish«, auch die Muschel.

»Ah, Sie haben Ihren Unterseebooten auch die äußere Form von Fischen gegeben!«, rief Atalanta mit freudiger Überraschung.

»Gewiss, und nicht nur deshalb, um den Beobachter zu täuschen, sondern weil die natürliche Form, wie sie sich die Schöpfung erdacht hat, auch immer die zweckmäßigste ist. O, Sie sollen noch ganz anders staunen, wie sich meine künstlichen Delfine auch bewegen können, sie sind von natürlichen überhaupt nicht zu unterscheiden.«

»Auch die Fortbewegung geschieht nicht durch eine Schraube, sondern durch Flossen und Schwanz?«, fragte Atalanta verwundert.

»Durch Flossen und Schwanz!«, wurde bestätigt.

»O, warten Sie nur, geehrte Frau Gräfin, ich habe für Sie noch ganz andere Überraschungen.«

Der ganze Rücken des Piloten klappte als Deckel auf, eine menschliche Gestalt erhob sich, ein Mann, nur aus Haut und Knochen bestehend, oder in seinem schwarzen Trikot und so gekrümmt dastehend auch einem Regenwurm gleichend, nur dass es ein weißgebleichter Totenschädel war, der herauf blickte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Señor Tenorio.

»All right!«, entgegnete eine dünne Stimme.

»Wollen wir den Delfin erst an Deck heben? Bei dieser Wasserstille können wir auch so einsteigen.«

Er blieb im Wasser. Die Passagiere waren bereit zum Einsteigen, kein Abschied erfolgte mehr. Es war alles schon erledigt worden.

Das Skelett verschwand wieder in dem Bauche des Piloten, schwamm etwas voraus, gehorsam folgte der Delfin und legte sich neben die Treppe. Auch auf ihm öffnete sich ein Deckel, der nur nicht den ganzen Rücken einnahm, Tenorio stieg als erster in den finsteren Raum.

Da aber flammte es drin auf.

»Ach jeh, ach jeh!«, rief Littlelu, als er nur hineinblickte.

Ja, da sah es eng drin aus!

Zwei lange, gepolsterte Bänke zogen sich nebeneinander durch den ganzen Fischleib, mit nur so viel Zwischenraum, dass ein Mensch eben zwischen ihnen durchkriechen konnte. Bei sechs Meter Länge konnten sich auf jede Bank drei Menschen legen, das stimmte.

Nur weil dieser künstliche Delfin etwas höher war als ein natürlicher, konnte man sich auf diese Bänke aufsetzen, ohne den Kopf einziehen zu müssen. Aufrichten freilich konnte man sich nicht.

Sonst war im Vorderteil nur noch ein kleiner Apparat mit Rädern und Hebeln aufgestellt, hier und da war an der Wand ein Kasten angebracht, nichts weiter.

»Wenn es Ihnen zu eng ist, brauchen wir ja nicht zwei Matrosen mitzunehmen.«

»Doch, es bleibt dabei, wie es ausgemacht war«, entschied Atalanta.

»Sie haben hier drei Tage und drei Nächte auszuhalten.«

»Was ist dabei?«

»Nun, Sie sollen auch nichts vermissen. Dieser zweite Delfin ist schon mit allen gesammelten Erfahrungen gebaut worden.«

Der erste Ingenieur stieg mit ein, ein zierlicher Japaner mit grauen Haaren, zwei breitschultrige Matrosen folgten, dann schloss sich der Deckel.

Tenorio hatte jedem seinen Platz angewiesen. Vorn neben ihm lag Atalanta, vor und zwischen ihnen befand sich der Apparat.

»Wer hat denn das Fahrzeug bis hierher gesteuert?«

»Niemand. Wenigstens hat er sich nicht im Rumpfe des Delfins befunden. Dieser ist dem Piloten selbstständig gefolgt — scheinbar — er wurde vom Piloten aus durch elektrisch-magnetische Wellen gesteuert.«

»Großartig! Ist Ihnen das nicht auch von anderer Stelle aus möglich?«

»Sobald ich die Einrichtung dazu auf dem ›Mohawk‹ aufgebaut habe, kann ich unsere Unterseeboote über die ganze Erde weg steuern, mittels der Camera obscura, die sie mir durch eine besondere Vorrichtung sogar unter Wasser sichtbar macht, in jeder Tiefe.«


Illustration

»Dann hätten Sie doch auch den Piloten hierher steuern können, hätten gar keinen Mann mitzuschicken brauchen.«

»Sie vergessen, dass wir diese Magnetführung an Bord unseres Schiffes noch nicht haben. Das kommt noch, eines nach dem anderen. Außerdem haben diese beiden Boote doch den größten Teil des Weges unter der Erde zurückgelegt, und die Erde zu durchleuchten, vermag ich armer Teufel noch nicht. Jetzt auf, damit Sie später selbst steuern können.«

Er drehte einen Hebel.

»Hierdurch habe ich die magnetische Verbindung mit dem Piloten ausgeschaltet, wir sind selbstständig, mit diesem Hebel drehe ich das Diffusionslicht an, mit diesem setzte ich das Boot in Bewegung und lasse es durch diesen einen Meter unter Wasser tauchen.«

Plötzlich tauchte vor ihnen ein großer, leuchtender Punkt auf.

»Das ist der Pilot, dem wir folgen. Wäre es nicht finstere Nacht, so würden Sie sehen, dass die ganzen Wände unseres Fahrzeuges durchsichtig geworden sind.«

»Wie ist das möglich?«

»Es ist eben Omnihilit, und bewirkt wird jetzt diese Durchsichtigkeit durch Diffusionslicht. Was das für ein Licht ist? Sie werden es später erfahren.«

Atalanta glaubte nicht, dass sie es erfahren würde — wenigstens nicht auf diese Weise, wie es sich der Spanier dachte.

»Am Tage kann man die ganze Umgebung sehen?«

»Als seien wir von Glas oder überhaupt von nichts umgeben.«

»Dann sind auch wir im Innern zu sehen?«

»Nein. Diese Durchsichtigkeit ist einseitig, nur von innen.«

Das war wieder gar nichts so Wunderbares. Solches Glas hat man schon lange. Hier freilich handelte es sich doch um etwas anderes.

»Hier ist auch ein Scheinwerfer.«

Vom Kopfe des Delfins ging ein mächtiger Blendstrahl aus, das Wasser wie Luft durchdringend. Und die Quelle des Lichtes blieb nicht am Kopfe, sie wandelte am ganzen Leibe entlang, nach hinten und nach oben und unten. Der ganze Delfin konnte auch wie eine Kugel zum Zentralscheinwerfer werden.

Das blendendweiße Licht verbreitete sich vom ganzem Boote nach allen Richtungen aus.

»Jetzt aber werden wir doch von anderen Augen gesehen.«

»Nein, nur wir, die wir uns hinter den Platten befinden, sehen alles, was dieses Licht beleuchtet. Außerhalb ist dieses Licht unsichtbar, so wie ja auch die Röntgenstrahlen. Das hier ist freilich wieder ein ganz anderes Licht.«

Es war für das Auge angenehmer, dass die äußere Dunkelheit wieder hergestellt wurde.

»Nun sehen Sie hier eine der genialsten Erfindungen, die je gemacht worden ist, und beschämt muss ich mit meiner Bescheidenheit gestehen, dass ich der Erfinder bin.«

Er schlug vor sich zwischen den Bänken eine Platte auf, die mit einer Netzzeichnung bedeckt war, ein Hebeldruck, und auf der Platte zeigte sich im Grundriss der Hafen von San Francisco und die westliche Umgebung, also das Meer.

»Das ist ebenfalls eine Camera obscura, aber wieder von ganz anderer Beschaffenheit. Hier sehen Sie den ›Mohawk‹ liegen, und hier sehen Sie einen dunklen Punkt sich bewegen. Dieser Punkt ist unser Delfin. Die Linien bedeuten Breiten- und Längengrade. So wissen wir jederzeit, wo wir uns befinden. Die geografische Lage wird immer selbsttätig registriert.«

Atalanta machte aus ihrem grenzenlosen Staunen keinen Hehl, hätte es aber gar nicht so nötig gehabt. Wohl war es eine geniale Erfindung, aber nicht minder genial ist die, welche Temperatur, Feuchtigkeit und anderes mechanisch registriert, durch eine Linie auf dem Papier, und solcher Apparate haben wir schon genug. Und die mechanische Bestimmung des geografischen Ortes ist nur noch eine Frage der Zeit, unsere Astronomen arbeiten schon mächtig darauf hin. Mit Hilfe der Fotografie, welche die Sonne oder Sternbilder in ein Liniennetz fixiert, ist dieses Problem lösbar, sodass der Seemann jeden Moment weiß, wo er sich befindet.

»Welche Geschwindigkeit kann dieses Boot entwickeln?«

»Bis zu fünfunddreißig Knoten in der Stunde.«

»Wie tief kann es tauchen?«

».Bis zu zweihundert Meter.«

»Darf ich auch einmal eine Frage stellen?«, ließ sich Littlelu im Hintergrunde vernehmen.

»Bitte sehr.«

»Es ist keine physikalische, sondern eine chemische Frage — haben Sie hier auch eine Küche?«

»Ah, Sie kommen auf die Küchenchemie zu sprechen!«, lachte der Señor. »Das ist gleich neben Ihnen.«

»Doch nicht hier dieser Kasten?«

»Jawohl, das ist der Koch-, Brat- und Backofen, alles elektrisch.«

»Und da haben Sie doch hoffentlich auch etwas, was man kochen, braten und backen kann.«

»Sie sollen sich wundern, was ich Ihnen dann vorsetze.«

»Das machen Sie doch natürlich alles selbst.«

»Alles selbst machen?«, fragte der Steuernde wie mit Misstrauen zurück.

»Na, das wäre doch noch schöner, wenn Sie alles das, was Mensch und Vieh zur Ernährung braucht, nicht selber machen könnten. Die ganze Luft und das Wasser ist doch voll von Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Kohlenstoff, letzterer in der Kohlensäure, und da nehmen Sie das Zeug einfach her, kneten es zusammen und schieben es in den Ofen. Wenn Sie das noch nicht einmal erfunden haben, dann können Sie mir mit Ihrem Diffusionslicht und allen anderen Ihren Erfindungen gestohlen bleiben.«

Dem Mephisto schien es gar nicht recht zu sein, dass ihm das auf diese Weise gesagt wurde. Seine schwächste Seite war wohl die Eitelkeit, die Selbstüberschätzung.

»In der Tat, Sie haben dieses Problem gelöst?!«, staunte Atalanta, wenn vielleicht nur aus Höflichkeit.

»Ich habe es. Dort in jenen beiden Apparaten, die wie einfache Kästen aussehen, werden die in Betracht kommenden Elemente von ganz allein angezogen, es fertigt sich alles selbsttätig, in Form von kleinen Pillen, die dann im Wasser aufquellen. Durch Extrakte kann ich dann jedes Gericht herstellen.«

»Dann«, ließ sich Littlelu wieder vernehmen, »bitte ich nachher um eine Schüssel Schweinsknochen mit Sauerkraut und Klößen. Ich schwärme für Schweinsknochen oder Eisbeine mit Sauerkraut und Klößen, weil ich sie als ein sehr schmackhaftes Genussmittel betrachte!«

»Nein, da verlangen Sie zu viel«, lachte der Mephisto, aber man hörte den Ärger durch. »Ich meine, ich kann der Substanz jeden beliebigen Geschmack geben.«

»Dann ist das noch längst nicht die richtige Erfindung.«

»Weshalb haben Sie alle diese wunderbaren Einrichtungen nicht an Bord meines Schiffes angebracht?«, fragte Atalanta.

»Eines nach dem anderen. Habe ich nicht unausgesetzt gearbeitet?«

In der Tat, er war Tag und Nacht beschäftigt gewesen, dieser Mann schien auch gar keines Schlafes zu bedürfen, und helfen konnte ihm ja niemand dabei, auch wenn er es erlaubt hätte.

»Dann brauchen wir die Menschheit zuletzt ja gar nicht mehr, wir brauchen keinen Hafen, kein Land mehr anzulaufen.«

»So weit will ich Sie auch noch bringen. Lassen Sie mir nur Zeit. Jetzt gehen wir vierzig Meier tief hinab und tauchen in die Mündung des unterirdischen Meeresstromes.«

Unheimliche Entdeckungen

Wir überspringen drei Tage und drei Nächte.

Es war in dem Diffusionslicht nichts anderes zu sehen gewesen als Wasser und nackte Felswände, manchmal ein Fisch oder eine Qualle, darunter ganz fabelhafte Gestalten.

»Wir sind am Ziel!«, rief Don Tenorio plötzlich aus und stellte mit einem einzigen Hebeldruck den Mechanismus des Fahrzeuges ab.

Strahlendes Licht begrüßte die aus dem Fischleibe Steigenden, in dem sie drei Tage und drei Nächte so gut wie eingesargt gewesen waren.

Aber sie waren weniger steif oder lahm, als man hätte vermuten können. Es hatte doch viel Bewegung in Raume gegeben, besonders durch häufiges Hin- und Herkriechen.

Wieder war es ein von einer Galerie umsäumtes Wasserbassin, in dem sie sich befanden, aber so groß, dass jenes, in das Atalanta damals zuerst getaucht war, als sie in dieses Reich eindrang, dagegen winzig zu nennen war. Hier hätte ein großes Seeschiff mit vollen Masten Platz gehabt. Die elektrische Lampe an der hohen Decke glich einer Sonne.

Sonst war nichts zu sehen, kein anderes Fahrzeug, die Galerie ganz nackt. Nur in den Wänden zeigte sich hin und wieder eine jener Türen, die man früher für eiserne gehalten hatte, die aber von Omnihilit waren, hier freilich undurchsichtig.

Einer nach dem anderen hatte die Galerie betreten, auch das Skelett verließ seinen noch viel engeren Wassersarg.

»Nun seien Sie mir herzlich willkommen in meinem Reiche!«, rief Señor Tenorio.

Unheimlich schallte die Stimme in der weiten Halle.

Ja, jetzt befanden sie sich wirklich im Reiche dieses Mannes, sie hatten keine Ahnung, wie weit sie hier von der Küste und wie weit sie vom Sklavensee entfernt waren. Sie befanden sich eben mitten im Felsengebirge.

»Gestatten Sie, dass ich Sie einen Augenblick allein lasse, ich will nur eine kleine Vorbereitung zu Ihrem Empfang treffen.«

Er ging nach einer Tür, das Skelett folgte ihm, die Tür schloss sich hinter ihnen.

»Der hätte unseren Empfang doch telefonisch vorbereiten können!«, meinte Littlelu.

Atalanta begab sich hin nach der Tür, sie ließ sich öffnen. Dann war es gut, Atalanta schloss sie wieder. Sie hatte in einen langen, elektrisch erleuchteten Gang geblickt und dort nichts als nackte Wände gesehen.

Man wartete.

»Das nennt der einen Augenblick?«, meinte Littlelu. »Soeben ist schon der hundertste vergangen, ich habe immer mit den Augen geblinzelt.«

Da schrillte in der Ferne ein gellendes Schreien, schnell kam es näher, jene Tür ward aufgestoßen, das Skelett in seinem schwarzen Trikotanzug stürzte heraus, einen schrecklichen Anblick bietend.

Der Mann hatte den Mund weit geöffnet, bei der fleischlosen Knochenstruktur aber sah es aus, als ob in dem weißgebleichten Totenschädel der Unterkiefer, von keiner Muskel und Sehne mehr gehalten, lang heruntergeklappt wäre, und aus dieser mit großen Zähnen besetzten Öffnung, kam das schreckliche Schreien, das gar nichts Menschliches an sich hatte und, auf einen einzigen hohen Diskantton gestimmt, durch Mark und Bein ging.

Er stürzte an den erstarrt Dastehenden vorüber und rannte die Galerie entlang, immer so grässlich schreiend.

Da kam Leben in die Indianerin, sie setzte ihm nach, hatte ihn mit einigen mächtigen Sprüngen eingeholt, umschlang ihn von hinten und hielt ihn fest.

Es war nichts als Mitleid von ihr, sie wollte ihm helfen. Wer so auf ein und denselben Ton schreit, der kann nur die Schreikrämpfe haben.

Der Mann ließ sich festhalten, wehrte sich nicht, schrie nur immer weiter.

Atalanta legte ihm die Hand unter die Kinnlade und klappte diese hinauf. Das Schreien verstummte, dafür begann der Mann jetzt zu zittern, dass man die Knochen klappern zu hören glaubte, und dann fing er zu sprechen an, aber mit einer Stimme, die wieder nichts Menschliches an sich hatte, es war nur ein tönendes Klappern der Zähne.

»Wir sind verloren — der Meister ist erschienen — der Mahatma, den wir bestohlen haben — —«

Mit einem Male klappte er zusammen und hing regungslos wie ein schwarzer Wurm über Atalantas Arm.

Sie ließ ihn zu Boden gleiten und legte die Hand auf sein Herz.

»Tot! Ein Herzschlag!«

Die anderen waren herbeigeeilt.

»Ich habe mir immer gedacht, dass der einmal an Herzverfettung stirbt!«, sagte Littlelu.

Es war ein etwas blutiger Witz in solch einer ernsten Situation. Aber einmal war es ein Yankee, der in solch blutigem Humor keinen Frevel sieht, sondern eine Art von Philosophie daraus gemacht hat, die gar nicht so zu verachten ist: die Verhöhnung des grausamen, unverständlichen Schicksals, gegen das der Mensch ganz ohnmächtig ist — und dann mochte Littlelu auch ebenso denken wie Atalanta, die es gleich aussprach:

»Oder es ist wieder nur so eine Gaukelei, mit der man uns veralbern will!«

»Sehen wir zu, ob wir ihn wieder lebendig machen können.«

Littlelu packte den schwarzen Mann bei den Fußgelenken, hob ihn spielend auf, das ganze Knochengerüst eines normalen Mannes wiegt ja auch nur vierzig Pfund, ganz ausgetrocknet sogar nur noch zehn, trat so an den Rand der Galerie, ließ den Totenschädel bis an den Hals ins Wasser tauchen und hielt dabei in aller Schnelligkeit einen kleinen Vortrag.

»Nur eine halbe Minute. Es ist dies das beste Mittel gegen alle Ohnmachtsanfälle, Nasenbluten und Scheintod. Das Blut sinkt hinab in den Kopf, steigt abgekühlt wieder empor in die kleinen Zehen, die meines Erachtens der Sitz des ganzen Lebens sind, was schon dadurch bewiesen wird, dass an ihnen Hühneraugen so scheußlich weh tun, während einem ein Hühnerauge auf der Nasenspitze oder am Herzen ganz kalt lässt. Ich habe durch dieses einfache Mittel schon viele hoffnungslos aufgegebene Leichen ins Leben zurückgerufen, sogar meine eigene Braut. Wissen Sie, dass ich einmal verlobt gewesen bin? Mit der naiven Kokette vom Olympia-Theater in New York. Eines Tages spazierten wir auf dem Washington-Platz um das große Goldfischbassin herum, wir kamen in Meinungsverschiedenheiten, meine Braut behauptete, dass es Goldfische gäbe, die unter Wasser pfeifen könnten, das glaubte ich ihr nicht, da fiel sie um und bekam die Krämpfe. Ich packte sie ohne langes Besinnen bei den Goldkäferlackschuhen und tauchte sie mit dem Kopfe in das Goldfischbassin. ›Mein neuer Hut!‹, schrie sie und war gerettet. Und ich auch. Denn am anderen Tage schrieb sie mir einen Brief, worin sie unsere Verlobung rückgängig machte.«

Er hatte den Mann wieder herausgehoben und ihn hingelegt. Wie er ihn dann näher untersuchte, und zwar mit recht kundiger Hand, zeigte er, dass es ihm doch völliger Ernst war.

»Ja, der Regenwurm scheint seinen letzten Seufzer ausgehaucht zu haben.«

»Ich glaube noch gar nicht recht daran«, meinte Atalanta. »So ein menschliches Gerippe einen Herzschlag?«

»Aber wenn ein Regenwurm so brüllt?«

»Lassen wir ihn liegen«, entschied Atalanta, »es wird sich ja zeigen, ob er wieder lebendig wird oder nicht. Aber was hatte dies alles, wenn wir keinen schlechten Scherz annehmen wollen, nur zu bedeuten? Weshalb schrie der Mann so?«

»Er sprach von einem Meister, der erschienen wäre, weshalb sie verloren seien — von einem Mahatma, den sie bestohlen hätten.«

»Mahatma?«, wiederholte die Indianerin sinnend, »dieser Name ist mir nicht unbekannt.«

»Mir auch nicht.«

»Was wissen Sie davon?«

»Nach der Lehre der Theosophie, die sich besonders in Amerika immer mehr ausbreitet, eine moderne Abart des Buddhismus, gibt es Menschen, welche die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht haben. Wenn sie sterben, so werden sie nicht wiedergeboren, sondern gehen in Nirwana ein, in den Zustand des ewigen Unbewusstseins. Nun gibt es unter diesen aber wieder Vollkommene, welche zugunsten ihrer Mitmenschen auf Nirwana verzichten. Das ist die große Entsagung. Sie heißen Mahatmas oder Meister der Liebe, leben, nur vom sogenannten Astralleib umkleidet, in einer Gesellschaft auf dem höchsten Gipfel des Himalaja und befördern die schnellere Höherentwickelung der Menschheit, indem sie gute Gedanken aussenden.«

So hatte Littlelu erklärt. Kürzer und treffender hätte es der ehemalige Clown nicht tun können.

»Da muss uns Mister Sanysio doch besondere Auskunft geben können!«, wandte sich die Indianerin an den japanischen Ingenieur.

Der zierliche alte Herr, der Urenkel eines berühmten Schwertfegers, dessen Name jeder Japaner kennt, sprach nur, wenn er gefragt wurde.

»Ich habe den Ausführungen des Doktor Maxim kaum noch etwas hinzuzufügen.«

»Sie glauben wirklich an die Existenz solcher Mahatmas, solcher — Übermenschen?«

»Würde ich es sonst aussprechen?«, war die Gegenfrage. »Nur hat man sich das Zusammenwohnen auf dem Gipfel des Himalaja sinnbildlich vorzustellen. Es soll ausdrücken, dass sie den Gipfel der Menschheit, der irdischen Verhältnisse erreicht haben. Es sind Geister, die sich freiwillig noch an diese Erde gebunden haben. Zoroaster, Buddha, Christus waren Mahatmas, die sich noch einmal in Fleisch und Blut inkarnierten, um der leidenden Menschheit den Weg zur Erlösung zu zeigen.«

Sinnend blickte die Indianerin auf den sechzigjährigen Mann, der bis auf seine weißen Haare noch ganz einem Jüngling glich. Er sprach etwas aus, wovon sechshundertsiebzig Millionen Menschen fest überzeugt sind, darunter Völker, deren uralte Kultur wir Christen heute noch nicht erreicht haben.

»Wohl dem, der daran glauben kann!«, sagte sie dann. »Was halten Sie nun davon, dass dieser Mann hier von einem Mahatma gesprochen hat, der hier erschienen sei, dem sie etwas gestohlen hätten?«

»Seine Kaiserliche Hoheit Doktor Hikari hat mit mir öfters darüber gesprochen. Wir halten den Mann, der sich Señor Juan Tenorio nennt, für einen gefallenen Mahatma.«

Starr blickte die Indianerin den Sprecher an.

»Solch ein Mahatma kann auch wieder fallen?«

»Solange er noch nicht die höchste Stufe erreicht hat, ja.«

»Diese Mahatmas machen auch wunderbare Erfindungen?«

»Ja und nein. Für diese Geister gibt es keine Zeit, keine Vergangenheit und Zukunft — für sie fließt dies alles in der Gegenwart, in einen einzigen Punkt zusammen. Diese Mahatmas kennen schon alle die Erfindungen, welche die Menschheit einst gemacht haben wird, wenn die große Kalpa beendet ist, diese Erde in Kälte erstarrt, um nach Jahrmillionen zu neuem Leben zu erwachen. In die Geschicke der Völker aber greifen sie nicht ein, sie beschäftigen sich nur mit dem Einzelnen, denn der einzelne Mensch muss sich selbst von Leid erlösen.

Doktor Hikari hält wie ich jenen Mann für einen Mahatma, wenn auch nur untergeordneten Grades. Denn da gibt es viele Stufen. Vielleicht war es nur ein dienender Bruder. Er hat die ihm offenbarten Geheimnisse für eigennützige Zwecke missbraucht. Die oberen Mahatmas haben sich nicht um ihn gekümmert, solange er das nur für sich trieb, mögen ihn immer nur gewarnt haben, in der Hoffnung, dass er demütig zurückkehren wird. Wenn er aber mit seinen Geheimnissen nun in die Öffentlichkeit tritt, wird man ihm seinen Raub schnell wieder abnehmen, ihn unschädlich machen. Das ist unsere Meinung.«

Noch einen starren Blick nach dem Sprecher, wandte sich die Indianerin achselzuckend ab.

»Und ich bin der Meinung, dass es sich hier um einen hochgenialen Menschen handelt, der seiner Zeit weit voraus ist, wunderbare Erfindungen gemacht hat und sie aus Eigennutz, aus Eitelkeit der Menschheit vorenthält und außerdem einen teuflischen, verbrecherischen Charakter besitzt. Das hier mit dem Mahatma ist nur wieder so ein Gaukelspiel von ihm, das er jetzt einleiten will.«

»Derselben Meinung hin ich auch!«, bestätigte Littlelu.

Die Hauptsache war jetzt, dass der am Boden liegende Mann kein Lebenszeichen mehr von sich gab und Señor Tenorio nicht zurückkam.

»Ich will ihn einmal anrufen«, sagte Atalanta, ihre Telefonuhr ziehend.

Sie drückte auf den Knopf, alsbald erklang auch in ihrer Uhr ein leises Klingeln. Jetzt zog sie den Draht heraus und hing das Ende ins Wasser.

»Wer ist dort?«, sprach sie gegen die gewölbte Seite der Uhr.

»Kapitän Hikari!«, erklang es verständlich auch für die anderen, und diese wunderten sich nicht.

Auch Hikari hatte solch eine Uhr bekommen, während der unterseeischen Fahrt hatte sich Atalanta fast alle Stunden mit ihm oder seinem Stellvertreter in Verbindung gesetzt.

»Nichts Neues?«

»Gar nichts.«

»Wo liegen Sie?«

Längen- und Breitengrad wurde gemeldet. Der »Mohawk« lag oder kreuzte noch immer vor San Francisco, nur außer Sichtweite des Hafens.

»Hat sich denn noch niemand mit Ihnen in Verbindung zu setzen versucht?«

»Nein. Das würde ich Ihnen doch gleich gemeldet haben.«

»Danke, Schluss.«

Jetzt öffnete Atalanta den hinteren Deckel der Uhr. In einem Kreise standen die Buchstaben des Alphabets, die sich verschieden verschieben ließen. Jetzt stand in einer Reihe das Wort »Mohawk«. Sie verschob die Buchstaben, bis das Wort »Mephisto« gebildet war, drückte wieder auf den Knopf. Diesmal kam kein Klingeln zurück, wie oft sie es auch probierte, ob der Draht im Wasser hing oder nicht.

»Das ist merkwürdig. Es ist dies das erste Mal, dass die Uhr versagt.«

»Er hat sie vielleicht nicht bei sich«, meinte Littlelu.

»O doch, er trägt die Uhr stets in der Tasche!«

»Wenn er sich aber nun gerade einmal in einen nackten Frosch verwandelt hat, wo soll er die Uhr denn da hinstecken?«

Atalanta versuchte es noch mehrmals, sprach noch einmal mit Hikari, bis sie ihre Bemühungen aufgab, mit dem Mephisto eine Verbindung herzustellen.

»Ja, da müssen wir ihn suchen. Wir wollen uns nicht trennen. Den Toten wollen wir aber lieber binden, damit er uns nicht fortläuft, falls er wieder lebendig wird.«

Das besorgten die beiden japanischen Matrosen, die Stricke hei sich hatten. Die Indianerin beugte sich noch einmal über ihn, machte einige geheime Zeichen, an denen sie erkannt hätte, falls jener auch nur die leiseste Bewegung machte. Auch auf sein geschlossenes Augenlid legte sie irgend etwas Unsichtbares.

Dann gingen sie durch jene Tür, die Indianerin immer schnellen Schrittes voran, den Kopf gesenkt, die Augen starr auf den nackten Felsboden gerichtet, der nicht die leiseste Spur von Staub zeigte.

»Da sehen Sie, was ich Ihnen einmal von der erzählt habe«, flüsterte Littlelu dem japanischen Ingenieur zu. »Jetzt verfolgt sie die Spur mit der Nase, und sie braucht diese nicht wie ein Jagdhund auf den Boden zu drücken. Sie haben so etwas nicht für möglich gehalten — nun sehen Sie es selbst. Und bei der gibt es da keinem Irrtum.«


Illustration

Hin und wieder kam man an einer Tür vorüber, Atalanta ließ sie unbeachtet. Der gerade Gang hörte auf, teilte sich nach links und rechts. Ohne einen Moment zu zögern, wählte Atalanta den rechten, ging wieder an zwei Türen vorüber und blieb endlich an der dritten stehen.

»Hier ist er hineingegangen!«, sagte Atalanta mit einer Sicherheit, die keinen Widerspruch zuließ.

Alle diese vollständig fugenlos schließenden Türen hatten keine Klinken und ließen sich nach beiden Seiten öffnen — wenn sie nicht verschlossen waren. Das war bei dieser hier der Fall. Und nun besaß man kein Mittel, sie zu öffnen. Dieses Omnihilit spottete jedes Instrumentes, und zum Sprengen hätte man doch erst ein Loch bohren müssen, der öffnende Mechanismus war nicht bekannt.

Atalanta begab sich nach der nächsten Tür auf dieser Seite — sie ließ sich aufstoßen.

Die Indianerin betrat mit ihren Begleitern zunächst einen Vorraum, der wie jeder andere elektrisch erleuchtet und recht kosig mit Teppichen und Polstern ausgestattet war. In einer langen Reihe standen zierliche Pantöffelchen und Schuhchen aller Art.

»Das sieht hier recht wie das Entree zu einem Harem aus«, meinte Littlelu. »Hier werden die Schuhe abgelegt oder vertauscht, ehe man das Heiligtum betritt!«

Der nächste Raum bestätigte diese Ansicht. Es war ein viel größeres Gemach, noch viel luxuriöser eingerichtet, ganz orientalisch. Neben den mit seidenen Decken und Kissen belegten Diwans standen Tischchen, auf denen silberne und auch goldene Tellerchen mit Konfekt aller Art und Zigaretten die Hauptrolle spielten.

»Ja, hier sind wir im Harem des Don Juan Tenorio, den er zuzuschließen vergessen hat!«, sagte Littlelu. »Nach den Diwans und besonders nach den besetzten Tischchen ist genau auf ein Dutzend weiblicher Mitglieder zu schließen.«

Mit finsterem Gesicht blickte sich die Indianerin um.

»Und dieser Mann behauptet, dass er nur seinen Studien lebt?«

»Nun, das darf man nicht allzu genau nehmen«, verteidigte Littlelu den Abwesenden. »Dass er nebenbei zu seiner Erholung die Menschheit gern veralbert, wozu er sogar Reisen macht, das hat er uns ja selbst schon oft genug gestanden, und er wäre kein echtes Genie, wenn er nicht stark sinnlich veranlag wäre. Das darf ich wohl zu Ihnen ganz offen sagen. Hat er dies übrigens nicht selbst zugestanden, indem er sich den Namen Juan Tenorio gab?«

»Juan Tenorio?«, wiederholte Atalanta verwundert. Was ist's mit diesem Namen?«

»Na, kennen Sie denn den Don Juan nicht?«

»Das wohl, aber sonst — Juan — das ist doch ein ganz gewöhnlicher spanischer Vorname — und Tenorio ein Familienname.«

Der ehemalige Clown, der aber auch in anderen Kunstverhältnissen sehr bewandert war, konnte sie eines anderen belehren.

»Wir Nordländer kennen den spanischen Don Juan fast nur aus Mozarts Oper. In Spanien ist der Don Juan Tenorio eine populäre Sagenfigur, über den eine Literatur existiert. Etwas Historisches liegt dem auch zugrunde.

Bis ins fünfzehnte Jahrhundert existierte in Sevilla eine Familie Tenorio, deren Mitglieder von der königlichen Gnade aus irgend einem Grunde das Privilegium bekommen hatten, die Goldmacherkunst zu betreiben, Tote zu beschwören, überhaupt sich mit solchen magischen Sachen zu beschäftigen, ohne dass ihnen die Inquisition etwas anhaben konnte. Das ist historisch.

Der spanische Dichter Lope de Vegas war wohl der erste, der aus einem Mitglied dieser später geadelten Familie Tenorio einen Helden gemacht hat, den Don Juan. Natürlich hatte er mit dem Teufel ein Bündnis geschlossen, seine besondere Fähigkeit war die, sich in andere Gestalten verwandeln zu können. So verführte er Mädchen und Frauen, indem er die Gestalt von deren Liebhabern und Gatten annahm. Er war also ein ganz gemeiner Kerl. So hatte er zuletzt auch die Doña Anna verführt und den dazu kommenden Gatten, den Marquis de la Mota, ermordet, er hatte dann auch noch die Unverschämtheit, auf den Kirchhof zu gehen und dessen steinerne Statue zu sich zu Gaste zu laden. Der steinerne Gast kam und zermalmte ihn, der Teufel fuhr mit ihm in die Hölle.

Die Spanier sprechen niemals einfach von Don Juan, sondern immer von Don Juan Tenorio, oder auch von Don Tenorio.«

So hatte Littlelu berichtet.

»Das habe ich nicht gewusst!«, sagte Atalanta. »Hätte er sich nur Don Juan genannt, dann wäre ich vielleicht darauf gekommen, für wen er sich ausgeben will. Nun, sein Charakter wird mir dadurch nicht anders offenbart.«

»Haben Sie ihn niemals gefragt, was es für eine Bewandtnis mit der Wahnsinnigen hat, die wir wiederholt singen und auch mit einem anderen Weibe sprechen hören?«

»Nein, niemals.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich immer voraussetzte, dass er mir doch nur ein Märchen erzählen würde. Ich glaube in Bezug auf diesen nichts mehr, was ich nicht mit eigenen Augen sehe, lieber mit den Händen fühle, und dann frage ich noch immer, ob es vielleicht nicht doch eine Lüge, eine Gaukelei sein könnte. — Ja, wo sind hier nun die Bewohnerinnen dieses Harems. Hat er überhaupt jemals welche gehabt?«

»Auch daran zweifeln Sie?«

»Ich traue diesem Manne alles zu. Auch, dass er uns nur vorspiegeln will, als habe er hier einen ganzen Harem unterhalten. Weshalb hat er nicht diese Türen abgeschlossen?«

Sie ging an eine nähere Untersuchung des Raumes und der einzelnen Sachen. Aus dem Konfekt, den halb angerauchten Zigaretten und so weiter konnte man nicht schließen, wie lange dies alles schon hier lag, wenn man nicht gerade mit vielen Jahren rechnen wollte.

Aber bald kam die Indianerin zu einer bestimmten Ansicht.

»Und doch, hier haben sich Frauen aufgehalten. Ganz abgesehen davon, dass hier ein schwarzes Frauenhaar liegt, hier ein blondes, hier ein braunes, hier wieder ein schwarzes, das aber einer anderen Person gehört hat, als jener Schwarzhaarigen, es ist stärker und hat einen bläulichen Schimmer, könnten diese Haare mit Absicht hier verstreut worden sein. Aber nein, hier sind lebendige Frauen gewesen, ich rieche, ich fühle die Lebensatmosphäre noch, das Parfüm hat gar nichts damit zu tun, und zwar schätze ich die Zeit auf höchsten vierzehn Tage. Innerhalb dieser Frist sind die Frauen noch lebendig hier gewesen.«

Atalanta hatte wiederholt das »lebendig« betont.

»Hoffentlich finden wir sie auch noch lebendig!«, sagte Littlelu.

»Suchen wir weiter.«

Die drei Japaner waren nur stille Beobachter, auch Littlelu hatte noch keine der von hier abführenden Türen, die mit buntem Mosaik schön verziert waren, geöffnet, erst Atalanta stieß eine auf.

Sie führte in eine prachtvolle Badeeinrichtung, die zu jedem Harem gehört. Ein volles Dutzend Wannen, wahrscheinlich aus Omnihilit hergestellt, aber wie bunter Marmor imitiert, jede von der anderen durch eine Scheidewand getrennt und dennoch zusammenhängend, sodass sich die Badenden unterhalten konnten, jedes einzelne Abteil mit allen nur denkbaren luxuriösen Einrichtungen versehen, zum Beispiel auch mit einem Schränkchen, das Apparate zum Massieren enthielt, von den Fläschchen und Büchsen mit wohlriechenden Ölen und Salben gar nicht zu sprechen.

Man muss wissen, dass die reichen orientalischen Frauen, in der Türkei wie in Indien, jeden Morgen drei bis vier Stunden im Bade verbringen, überhaupt den ganzen Vormittag. Die Hauptsache dabei ist freilich das Massieren, was dort von geschulten Dienerinnen mit einem Raffinement ausgeübt wird, von dem wir Europäer noch nichts wissen — glücklicherweise nicht. Nur in Amerika bei den reichen Müßiggängerinnen fängt es schon an. Jeder Körperteil, die kleinste anatomische Muskel, wird einzeln behandelt, geknetet, jedes Äderchen gestreichelt, das innere Ohr gekitzelt, das Trommelfell mit einem winzigen Vibrationsapparat bearbeitet. Und nun die Nägel!

Das ist die schönste Zeit der Haremsweiber. Dann fängt die Arbeit an: Konfektnaschen und Zigarettenrauchen, dazwischen sich immer einmal umziehen und sich mit anderem Schmuck behängen.

»Mir wird ganz unheimlich zumute!«, flüsterte Littlelu.

»Weshalb denn?«

»Diese zwölf Weiber haben sich hier doch nicht gegenseitig bedient, die hatten besondere Bedienung.«

»Ganz sicher. Hier zum Beispiel ist ein graues, gekräuseltes Haar, das wohl einer alten Negerin angehört hat.«

»Da muss man ja mit vielen Dutzenden von Personen rechnen.«

»Und warum nicht? Ich vermute, dass dieser rätselhafte Felsenmaulwurf hier viele Hunderte von Menschen unterhalten hat.«

Littlelu konnte nur den Kopf schütteln.

»Und von so etwas hat die ganze Welt nun keine Ahnung!«

»Ja, das ist eben die Hauptsache dabei, das ist es ja gerade, was jenem Teufelscharakter das größte Vergnügen macht. — Gehen wir weiter.«

Der angrenzende Raum enthielt ein großes Wasserbassin. Eine Schwimmhalle in orientalischem Stile, sehr schön mit Säulen und Bogengängen geschmückt, verschiedene Figuren, meist phantastische Tiere darstellend, spien kristallklares Wasser in die gekräuselte Flut, daneben befanden sich Dusch- und Dampfräume, alles in Betrieb, die Hähne brauchten nur angedreht zu werden.

Littlelu fand in einer Nische Badewäsche, nahm einen großen weißen Mantel, hüllte sich darin wie in einen Burnus ein und ließ sich am Rande des Bassins mit gekreuzten Beinen auf einer Matte nieder. Jetzt war ihm nicht mehr unheimlich zumute.

»Himmeldonnerwetter — wenn hier so ein Dutzend Nymphen herumplätschern — oder meinetwegen nur dreiviertel Dutzend — und ich wäre der Pascha — Frau Gräfin, nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich das hübsch finde.«

»Ich nehme es Ihnen durchaus nicht übel. Ja, dieser Mann, der hier haust, versteht die Kunst, sich das Leben auch hinter Felsenmauern angenehm zu machen.«

Sie gingen weiter. Es kamen Boudoirs, kleine Schlafzimmerchen, jede hatte ihr eigenes gehabt. Größere Räume mit Lagern waren wohl gemeinschaftlich bestimmt gewesen.

In jedem Boudoir war ein Verschlag und eine Truhe, angefüllt mit orientalischen Gewändern von feinster Seide.

Und in jeder Truhe ein besonderer Kasten mit Schmuck aller Art, alles echt, mit prachtvollen Steinen, allein manche Spange, am Oberarm oder am Fußgelenk zu tragen, ein Vermögen repräsentierend.

Bemerkenswert war, dass jeder Kasten ganz den gleichen Schmuck enthielt. Das kann ja auch nicht anders sein. Was eine Haremsdame geschenkt bekommt, muss jede andere erhalten. Sonst geht's mit den wohlgepflegten Fingernägeln in die Frisur.«

»Sapperlot, so ein Schatz!«, staunte Littlelu.

»Was gibt es da zu staunen, wenn der Herr solches Zeug selbst machen kann?«

»Glauben Sie wirklich, dass er Gold machen kann? Von Edelsteinen ganz abgesehen.«

»Die moderne Chemie kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass die ganze Theorie von den unzerlegbaren Elementen eine falsche ist, und dass es noch gelingen wird, ein Element, also auch ein Metall, in das andere zu verwandeln, zum Beispiel das Gold aus irgend einer anderen Substanz zu gewinnen, die auf der Erde vielleicht massenhaft vorhanden ist. Wer hat denn noch vor hundert Jahren vermutet, dass der Hauptbestandteil der geschmeidigen Tonerde das metallische Aluminium ist?«

»Das gäbe eine schöne Revolution auf der Erde!«

»Das kann einmal kommen.«

»Dann glaube ich auch, dass er das Gold des Sklavensees nicht braucht.«

»Ich aber glaube, dass er davon wirklich nichts gewusst hat. Mindestens müssten ihn die Tempelgerätschaften interessiert haben, denn ein Raritätensammler ist er doch offenbar.«

»Er muss doch in seinem Unterseeboote auch den See befahren haben.«

»Weshalb muss er? Und hat er es getan, so hat er seine besondere Aufmerksamkeit nicht dem Boden geschenkt, das Gold, das doch nur in einzelnen Haufen liegt, ist ihm eben entgangen. — Suchen wir weiter.«

Sie durchschritten oder blickten in noch viele andere Felsenräume, alle aufs prächtigste als orientalische Wohnzimmer eingerichtet, halb türkisch, halb indisch, aber sonst nichts weiter enthaltend.

Dann aber wartete ihrer ein überraschender Anblick.

Ein großer Saal, wieder ein Harem, diesmal aber mit wirklichen Frauengestalten belebt, und nicht nur mit einem Dutzend, sondern — hundertvierzehn Figuren wurden darin gezählt.

Die schönsten Frauen der ganzen Erde, aller Rassen und Farben. Die kaukasische Georgierin wie Milch und Blut neben dem pechschwarzen Dualamädchen aus dem Inneren Afrikas mit den sanftesten, wohlgeformtesten Zügen, daneben wieder eine reinrassige Angelsächsin, an deren Schwanenhals man jedes Äderchen studieren konnte, die Tscherkessin und die Fidschi-Insulanerin, die Kosakin und die südamerikanische Kreolin — jedes Land der Erde, das schöne Weiber erzeugt, hatte seine schönste Repräsentantin schicken müssen.

Atalanta hatte in diesen Felsenräumen schon ein weit größeres Völkermuseum gesehen. Da aber hatten erstens die Männer vorgeherrscht, zweitens war da die nationale Eigentümlichkeit durch Kostüme, Beschäftigungen usw. hervorgehoben worden.

Hier handelte es sich nur um ein Haremsbild. Alle die Weiber waren gleich gekleidet, halb türkisch, halb indisch, nur durch Farbe der Gewänder und andere Kleinigkeiten verschieden. Das Ebenholz des Dualamädchens musste natürlich durch weiße Kleidung hervorgehoben werden, durch das weiße Musselin schimmerte wunderbar die schwarze Gliederpracht, während die Georgierin mit ihrer schneeweißen Haut eines schwarzen Spitzenkostüms bedurfte, die gelbe Malaiin eines blauen, aber immer nach orientalischem Schnitt.

Dass sich übrigens in so einem großen Harem auch Europäerinnen befanden, war ebenfalls ganz naturgetreu. Im Serail zu Konstantinopel sind oder waren viele Vertreterinnen der germanischen Rasse. Die Großmutter des Ex-Sultans Abdul Hamid, die Sultan-Walide, die stets das Regiment führt, war bekanntlich eine Deutsche.

Und alle diese Weiber nun mitten im Leben, mitten in der Bewegung erstarrt. Die eine, die üppigen Glieder auf dem Diwan ausgestreckt, den schönen Kopf auf die Hand gestützt, hatte noch das Bernsteinstück der Wasserpfeife zwischen den geschminkten Lippen, die andere wollte das überzuckerte Rosenblatt erst in den Mund stecken. Ein reizendes Mädchen aus dem Tale von Kaschmir stand halb gebückt da, in die Hände klatschend, um ein niedliches Hündchen zu reizen, das sich bellend auf den Hinterpfoten aufrichtete, wenigstens glaubte man das Händeklatschen und das Bellen zu hören. Und dort einmal ein altes Weib, das einer der Schönen, die es in malerischen Stellungen umringten, aus der Hand wahrsagte. Und dort wieder eine andere Gruppe, hier auch einige reizende Kinder in allen Farben, zwei sich streitenden Kampfhähnen zusehend. Und dort — — —

Doch wie sollte man da fertig werden! Stundenlang hätte man betrachten können und immer wieder Neues gefunden.

Littlelu war zuerst eingetreten, er war am überraschtesten gewesen, oder vielmehr furchtbar bestürzt, erschrocken, und jetzt fand er doch die ersten Worte.

»Von wunderbarer Naturtreue, diese Wachsfiguren!«

»Wachsfiguren?«, wiederholte Atalanta. »Das sind richtige Menschen, nur im Tode erstarrt.«

»Ich weiß es ja, aber — ich wagte es nicht auszusprechen!«, gab Littlelu flüsternd zu.

Ja, es waren richtige Menschen. Jedes Kind musste es sofort erkennen. Mit ruhiger Hand betastete sie die Indianerin — alles steinhart. Nur die Haare nicht. Die liegenden Personen konnte man aufheben, sie hatten normales Gewicht; die stehenden waren mit den Füßen am Boden befestigt. Aber sicher war zu ihrer Aufrechthaltung keine Stange oder sonstige innere Stütze nötig.

»Wie die so plötzlich mitten im Leben und in der Bewegung erstarren konnten? Nun, eben durch Kälte. So haben sie hier gespielt, als plötzlich wie mit einem Ruck eine furchtbare Kälte eintrat. Kein Lächeln, kein Ausdruck konnte sich mehr verändern. Oder es gibt noch einen anderen Temperaturzustand als Hitze und Kälte. Wie erzeugt er denn das Omnihilit? Da sagt er ja selbst, dass es gefrorenes Wasser ist, aber ganz anders gefroren, dass es niemals wieder auftauen kann. So sind auch Menschen mit einem Ruck für alle Zeit zum Erstarren gebracht worden.«

»Hat er Ihnen damals nicht gesagt, diese Figuren seien nicht wirklich tot, sie befänden sich nur im Starrkrampf, er könne sie ins Leben zurückrufen?«

»Ja, so sagte er damals. Das aber geht über meine Fassungskraft!«, erwiderte Atalanta.

Sie sah sich um, ging auf das Hündchen zu und löste es mit einem kräftigen Ruck vom Boden ab.

»Es widerstrebt mir, eine der menschlichen Gestalten zu verletzten, sie auch nur etwas zu stechen oder gar Finger abzubrechen. Bei so einem Tiere ist es etwas anderes.«

Aber vergebens versuchte sie, mit der Spitze ihres Messers in das Auge des Hundes zu dringen. Einer der Matrosen hatte am Rücken seines Schiffsmessers eine Säge — sie durchschnitt die Haare und vielleicht das Fell, doch sobald das Fleisch kam, rutschte sie wie auf Glas hin und her.

»Der Tierleib besteht ja zur Hälfte aus Wasser. Wenn dieses in Omnihilit verwandelt worden, so ist diese Härte und die ganze Haltbarkeit erklärt.«

Sie gingen weiter. Diese Haremsgesellschaft war erst der Anfang zu einem Museum der Völkerkunde gewesen. Jetzt kamen zunächst kleine Genrebilder aus dem Leben der ganzen Erde, jedes für sich in einer Felsenkammer arrangiert mit der naturgetreuen Szenerie. Eine vor einem Kruzifix betende Nonne, eine Mater dolorosa — eine mit Kokosblättern gedeckte Schilfhütte, in der sich zwei nackte Sandwich-Insulaner gegenseitig tätowierten — ein holländischer Holzschuhschnitzer in seiner Kotte, am offenen Herd hantierte die Frau, und auch das Feuer ließ nicht an Wirklichkeit vermissen, es schien durch Elektrizität glühender Asbest zu sein — ein indischer Gaukler, der seine Schlangen nach der Kürbispfeife tanzen ließ — und so ging es fort und fort in bunter Reihe rund um die ganze Erde.

»Hier wird man nie fertig«, flüsterte Littlelu. »Ich mag gar nichts mehr sehen, mir tut der Kopf weh!«

»Ich glaube, Sie fürchten sich.«

»Offen gestanden, ja. Ich muss immer daran denken, dass ich auch in so eine geeignete Stellung gebracht werde und dann plötzlich so einen Omnihilit-Ruck bekomme, wo man dann hinterher nicht weiß, ob man tot oder lebendig ist.«

»Sie sprechen es aus, woran ich auch schon gedacht habe. Alle diese Menschen sind wahrscheinlich auf dem unterirdischen Wasserwege hierher gebracht worden, dieser Teufel hat seine Agenten zum Menschensammeln jedenfalls in aller Welt; man hat sie hier erst freundlich behandelt, veranlasste sie, eine Szene aus ihrer Heimat darzustellen, und dann bekamen sie plötzlich den Omnihilit-Ruck — wie Sie sich gar nicht so unrichtig ausdrücken.«

»Und den können wir auch noch erwarten.«

»Der Mephistopheles hätte schon oft genug Gelegenheit gehabt, uns erstarren zu lassen.«

»Wir haben uns noch nie in der geeigneten Stellung befunden.«

»Nun, bei unserem nächsten Zusammentreffen werde ich ihn doch einmal schärfer examinieren, er muss mir Rede und Antwort stehen.«

Sie blickten noch einmal in eine Schneehütte, in der eine Eskimofamilie überwinterte. Die Männer, Frauen und Kinder waren echte Eskimos, alles war echt. Das Licht wurde von der mit Tran gespeisten Lampe geliefert, über welcher der Seehundsspeck gebraten wird, und wenn dies hier auch elektrische Imitation sein mochte, so ließ sich das doch gar nicht unterscheiden, und die künstlichen Schneewände glitzerten in natürlicher Treue.

Dann schlug Atalanta selbst vor, sich zunächst wieder nach dem Wasserbassin zu begeben, ob sich dort unterdessen vielleicht etwas geändert habe.

Auf dem Rückwege wurden auch einmal einige Türen auf der anderen Seite, die man bisher gar nicht berücksichtigt hatte, geöffnet.

Hier in diesen Räumen war der Mensch in seine einzelnen Teile zerlegt, wundervolle anatomische Präparate, überall auf schwarzen Samtunterlagen für die Ewigkeit versteinert.

»Glauben Sie nun endlich«, fragte Atalanta, »dass wir es hier dennoch mit dem Anatomen Professor Dodd zu tun haben?«

»Das ist mir egal«, schüttelte sich Littlelu, »ich fühle mich schon in Scheibchen zerschnitten und als Delikatessaufschnitt hier serviert.«

In einem dieser Räume befand sich auch wieder eine weiße Wand mit einem Registerapparat.

Als Atalanta ein Register zog, verdunkelte sich der Raum, an der Wand erschien ein Mensch, dem die Haut abgezogen worden, das ganze Adersystem war extra herauspräpariert, und er lebte, und so sah man das Blut zirkulieren, vom Herzen an bis in das kleinste Äderchen des Fingers und der Zehe und wieder zurück, und durch Verstellung konnte jedes Äderchen bis ins Endlose vergrößert werden.

Durch einen zweiten Registerzug kam ein anderer Mensch zum Vorschein, welcher der Länge nach halbiert war, er aß etwas, jedenfalls Brot, man sah die Bewegungen der Zähne, der Zunge, den Vorgang des Schluckens wie der Bissen vom Magen in Empfang genommen wurde, wie sich der Magen zu bewegen begann — wenn man einige Stunden gewartet, hätte man den ganzen Verdauungsprozess mit ansehen können.

»Großartig, großartig!«, zollte Atalanta Beifall. »Aber auch jammerschade! Was könnte dieser Mann der Menschheit nützen, wenn er seine Erfindungen veröffentlichte!«

»Na, ich weiß nicht recht!«, war Littlelu etwas anderer Meinung »Er nützt ja schon genug, wenn er der leidenden Menschheit den Magen ausschneidet, ihn auskratzt und wieder einnäht. Aber was nützt es mir, zu wissen, wie meine Verdauung vor sich geht, wenn ich nichts zu essen habe.«

Jetzt traten sie den Rückweg ohne weiteren Aufenthalt an. Zunächst war es Littlelu, der beim ersten Gang die falsche Richtung einschlagen wollte. Beim zweiten Kreuzgang waren auch die drei Japaner sich über die Richtung im Unklaren, und wäre man ihrem endlichen Entschlusse gefolgt, so wäre es wieder nach der falschen Richtung gegangen.

Nur die Indianerin konnte sich nicht irren. Ohne ihren Instinkt und Spürsinn aber hätte man sich in einem Labyrinth befunden, aus dem es keinen Ausgang gab.


Lieferung 15


Illustration

» ›Der Stolz von Columbia‹ hat damals gemeutert, die
Mannschaft hat alle Offiziere ermordet und Sie sind der
Anführer der Meuterer gewesen!«, rief die als Italiener ver-
kleidete Indianerin dem Bootsmann Kitcher anklagend zu.


Unterseeische Wunder

Sie hatten das Wasserbassin wieder erreicht. Dort lag noch das Skelett, der menschliche Regenwurm. Er hatte sich nicht geregt, die Augen nicht aufgeschlagen.

»Nach zwei Stunden noch nicht,« sagte Atalanta, nach der Uhr blickend. »Dann möchte ich an seinen Tod glauben. Ja, und wo bleibt nun unser Señor Juan Tenorio?«

Sie rief noch einmal durch die Telefonuhr an. Es kam keine Antwort.

»Den hat eben der Mahatma geholt und ihn in die Hölle gesteckt,« meinte Littlelu. »Nicht wahr, Herr Ingenieur?«

»Wenigstens wird er von dem Mahatma, den er bestohlen hat, nun unschädlich gemacht worden sein!«, entgegnete der alte Japaner allen Ernstes.

»Dann muss uns der Mahatma das aber doch mitteilen.«

»Die Mahatmas kümmern sich nicht um das Treiben der Menschen. Sie senden nur gute, edle Gedanken der Nächstenliebe aus.«

»Gesetzt nun aber den Fall, wir fänden hier keinen Ausgang, wir müssten verhungern. Das hätte dann doch jener Mahatma verschuldet.«

»Was würde das schaden?«, erwiderte der alte Japaner mit stoischer Ruhe. »Einmal muss doch jeder sterben!«

Littlelu fragte nicht weiter, er schlenkerte nur die Finger, dass es knallte.

Atalanta feuerte mehrmals ihren Revolver ab, die Schüsse hallten furchtbar in dem Gewölbe, aber kein Gegenzeichen kam.

Sie setzte sich mit dem »Mohawk« in Verbindung.

»Hier Kapitän Hikari.«

»Hat Señor Tenorio etwas von sich hören lassen?«

»Nein.«

»Sonst etwas Neues?«

»Nichts.«

»Ja, so müssen wir doch weiter suchen, um einen Ausgang aus diesem Felsenlabyrinth zu finden,« sagte Atalanta. »Zuerst aber wollen wir uns überzeugen, dass nicht etwa der Rückweg abgeschnitten ist.«

»Sie denken an die unterseeische Öffnung, durch die wir hier eingedrungen sind?«, fragte Littlelu mit einiger Bestürzung.

»Ja, dass der nicht etwa eine Omnihilitplatte vorgeschoben hat. Denn dem traue ich alles zu. Wir wollen uns niemals trennen, wollen zusammen ins Boot gehen.«

Sie krochen wieder in den Delfin. Atalanta hatte in den drei Tagen und Nächten die Führung vollkommen gelernt.

Der Deckel wurde geschlossen, sie tauchten unter. Atalanta stellte das Diffusionslicht an, es erleuchtete unter Wasser das ganze Bassin, wenn sein Durchmesser auch fast hundert Meter betragen mochte, in den Felswänden erkannte man jede Ader.

Mehrere große Öffnungen waren zu sehen. Vor Atalanta lag auf der heruntergeklappten Platte eine Karte von Nordamerika. Was jede Landkarte zeigt, das war mit schwarzer Farbe eingetragen, auch die oberirdischen Flüsse. Und die blauen Linien, die kreuz und quer durch den ganzen Erdteil liefen, das waren die unterirdischen Wasserströme.

Ferner waren mit roter Farbe überall noch kleine Häkchen, Sternchen, Kreise, Dreiecke und andere Zeichen eingetragen.

Die Häkchen bedeuteten bei den unterirdischen Flussläufen scharfe Krümmungen, Ecken, doch im Verhältnis zu klein, als dass man sie auf so einer Erdkarte hätte einzeichnen können.. Kreuze warnten noch extra vor einer Gefahr. Kreise gaben an, dass hier ein Ausgang nach der Erdoberfläche vorhanden sei.

Was die Sternchen, Dreiecke und die vielen anderen Zeichen zu bedeuten hatten, das hatte Señor Tenorio selbst noch nicht gewusst. Hier hatte der sonst so eitle Mann einmal zugegeben, dass er diese Karten und alles, was damit zusammenhing, erst von anderen bekommen hatte, ohne weitere Erklärung. Übrigens war Atalanta fest überzeugt und sie hatte es aus manchem herausgemerkt, dass der Mephisto nicht nur das Skelett auf Reisen geschickt, sondern dass er selbst zur Untersuchung in allen Erdteilen gewesen war. Er wollte es nur nicht zugeben, weil es ihm nicht gelungen war, die meisten der roten Zeichen zu deuten.

Die Camera obscura mit der Vorrichtung, die immer angab, wo man sich befand, zu gebrauchen, das war unter der Erde natürlich nicht angängig, denn hier hörte die Lichtspiegelung eben auf. Aber eine andere Vorrichtung zur Ortsorientierung war vorhanden. Ein Apparat konstatierte immer ganz genau die Fahrtgeschwindigkeit des Unterseebootes, unabhängig von allen Strömungen, das wurde auf einer Uhr registriert, und da nun noch der Kompass hinzu kam, so wusste man immer ganz genau, wo man sich unter der Erde befand.

Aber die Sache war die, dass Señor Tenorio diesen Registrierapparat während des letzten Teiles der Fahrt abgestellt hatte. Er habe diese Orientierung nicht nötig, hatte er gesagt. Das stimmte wohl, nun aber wusste Atalanta nicht, wo sie sich befand. Ja, im Felsengebirge, in der Nähe des Sklavensees, das konnte sie sich wohl berechnen, aber ob dicht daran oder noch drei Meilen entfernt, davon hatte sie keine Ahnung.

Hier war ein Bassin, also ein unterirdischer See mit mehreren Zuflüssen. Aber solche Seen mit Zuflüssen gab es gerade hier eine ganze Menge, einer hing immer mit dem anderen eng zusammen, was auf der Karte durch größere blaue Punkte angegeben war. Aus diesem Bassin also konnte sie wiederum nicht schließen, wo sie sich befand.

Atalanta fuhr auf die Öffnung zu, durch die man gekommen war. Das konnte ja nach dem Kompass konstatiert werden.

Da, wie das Unterseeboot in langsamer Fahrt eben in den Schlund eingedrungen war, tauchte vor ihr eine graue Wand auf.

»Richtig geschlossen! Wir sind gefangen!«

»Irren Sie sich nicht, kann es nicht ein anderer Wassertunnel sein?«, rief Littlelu, maßlos bestürzt, weil er gleich alles erfasste.

»Der Kompass könnte sich irren, ich mich nicht. Dort an der Wand ist die schwarze Ader mit dem Auswuchs wie eine blühende Zwiebel, und das habe ich im Gefühl, durch diesen Tunnel sind wir gekommen. Und jetzt ist er durch eine Platte geschlossen.«

»Ob sie sich nicht öffnen lässt?«

»Wenn dieser Mann einmal eine Tür zumacht, dann weiß er sie auch so zu verschließen, dass man sie nicht öffnen kann.«

»Aber was hat der Mann davon, uns hier den Ausgang zu verschließen?«

»Sie fragen noch. Er will uns hier alle seine Wunder zeigen, er sorgt aber dafür, dass wir nichts davon ausplaudern können.«

»Das hieße, er wolle uns hier für immer gefangen halten!«

»Anders ist es doch nicht.«

»Weshalb verschwindet er dann plötzlich?«

»Na eben, weil er Angst hat. Wenn er jetzt wieder auftaucht, jetzt werde ich ihn doch beim Kragen nehmen.«

»Frau Gräfin, wir haben uns mit diesem Manne schon viel zu sehr eingelassen, sind mit ihm viel zu vertraut geworden!«, seufzte Littlelu.

»Ich weiß es, und Sie haben ganz recht, wenn Sie mir Vorwürfe machen. Aber ist es nicht ganz schön so? Jetzt müssen wir unseren Kopf anstrengen, wie wir aus dieser Mausefalle wieder herauskommen.«

Sie fuhr zurück, lenkte in den nächsten Tunnel ein, der rechtwinklig zu diesem von der Seite kam.

Nach kurzer Fahrt mündete dieser Tunnel wieder in einem weiten Bassin. Ehe sie sich weiter umsehen konnten, hatten sie einen Anblick, der ihnen das Blut in den Adern erstarren lassen musste oder es wären keine Menschen gewesen.

In der Mitte des Bassins, noch unter Wasser, schwamm eine ungeheure Spinne, schon der kugelförmige Leib mindestens zwei Meter im Durchmesser, jedes der vielen Beine noch länger, mit dicken Haaren besetzt, mit fürchterlichen Klauen bewaffnet, und in dem Kopfe, aus dem sich die Augen wie Teleskope immer hin und her schoben, ein Rachen, in den bequem ein Mensch hineinkriechen konnte, von schrecklichen Reißzähnen starrend, diesen Rachen immer auf und zu klappend.

Erst war das fabelhafte Ungetüm vor dem Boote etwas zurückgegangen, als das Boot aber mit einem Ruck hielt, kam es durch das Wasser herangekrochen, mit den haarigen Beinen schlenkernd, den Rachen immer auf und zu klappend und die Augen vor und zurück schiebend.

Während die anderen noch entsetzt starrten, brach Atalanta plötzlich in ein herzliches Lachen aus.

»Nein, so eine Riesenspinne gibt es in der ganzen Naturgeschichte nicht, auch nicht in den tiefsten Wassertiefen unter der Erde. Wäre ich dem Ungeheuer draußen im freien Meere begegnet, hätte ich vielleicht einige Zeit daran geglaubt, aber hier in diesem Zauberreiche — da hat der Herr Mephistopheles wieder nur einen Witz in die Welt gesetzt.«

»Ja, es ist eine deutsche Seeschlange«, ließ sich da ein japanischer Matrose vernehmen.

Diese Äußerung bedarf einer Erklärung. Von der Seeschlange, von der die Zeitungen immer einmal zu berichten wissen, hat wohl schon jeder gehört.

In alten Lexika — neuere lassen sich gar nicht darauf ein — ist zu lesen: Seeschlange, ein Seeungeheuer, welches man von Zeit zu Zeit besonders an den östlichen Küsten von Amerika sowie auch in der Nordsee gesehen haben will, und welches vom Bischof Pantoppidan und dann von Nikolaus Gramius (1656) zuerst erwähnt worden ist. Die wirkliche Existenz dieses Tieres ist noch nicht konstatiert, doch stimmen die Aussagen derer, die es gesehen haben — wollen, darin überein, dass es schlangenförmig, bei verhältnismäßig nicht bedeutender Dicke fünfzig bis hundert Fuß lang und von brauner Färbung sei und einen mähnenumgebenen Kopf mit roten Augen habe.

Die ganze Sache ist ein Matrosenwitz. Die Zwischendeckler auf den Auswandererdampfern bekommen ihre Seegrasmatratzen geliefert, billiges Zeug, das Stück kostet eine Mark. Diese Matratzen dürfen wegen Infektionsgefahr nicht wieder an Land, sie müssen nach der letzten Nacht vor dem Hafen vernichtet werden. Sie werden unter den Kesseln verbrannt oder einfach über Bord geworfen und versinken. Wenn nun gerade passende Gelegenheit vorhanden ist, die Passagiere alle unter Deck beim Frühstück sind, dann rollen und nähen die Matrosen solche Matratzen zusammen — fünfzig Stück geben hundert Meter — sie machen einen Kopf, mit Werg eine Mähne, ein Maschinist konstruiert einen Rachen, der durch eine Spiralfeder beim Wogengang immer auf- und zuklappt, alles so, wie der hochselige Bischof Pantoppidan beschrieben hat, das Ungeheuer wird heimlich über Bord gelassen, und dann brüllen die Matrosen: »Eine Seeschlange, eine Seeschlange!«

Schade, dass die Dinger so leicht unter und auseinander gehen, sonst würden die Zeitungen noch viel öfter von Seeschlangen berichten können. Merkwürdig ist nur, dass man immer wieder nach anderen Erklärungen sucht, von Delfinen spricht, die hintereinander in einer Reihe schwimmen, wodurch die Täuschung zustande kommt, von riesigem Seetang und dergleichen, obwohl diese Geschichte doch jedem Seemann und jedem anderen, der öfters zur See gefahren, bekannt ist. Weil bei Auswandererschiffen doch hauptsächlich deutsche in Betracht kommen, auch nur der deutsche Matrosenwitz auf solch eine Idee kommt, spricht man international nur von der deutschen Seeschlange.

Atalanta ließ den Delfin emporsteigen, öffnete die Klappe, trat auf den Rücken des Bootes, löste von ihren Hüften den Lasso und fing die Riesenspinne ein. Gehorsam folgte diese dem Zuge, nur mit den Beinen schlenkernd, sie wurde an die Galerie gebracht, die auch dieses Wasserbassin umgab.

Ja, sie war von Metall oder einem ähnlichen Stoffe, jedenfalls von Omnihilit.

»Aber sie ist doch vor und zurückgewichen und dann auf uns zugeschwommen!«, warf Littlelu noch einmal ein.

»Das war einfach die Bewegung des Wassers, durch unser Boot hervorgebracht. Als ich schnell stoppte, vielleicht auch etwas zurückging, folgte das Wasser und die Spinne mit. Trotzdem wird sie sich wohl selbstständig bewegen können, das heißt von einem drinnen sitzenden Menschen gelenkt.«

Denn schon hatte die Indianerin an dem Kugelleibe eine Klappe entdeckt und verstand sie zu offnen.

Man erblickte in dem Hohlraum einen Sitz, davor einige Räder und Hebel. Atalanta verzichtete darauf, hineinzukriechen und den Mechanismus der Spielerei in Bewegung zu setzen.

»Ein Walfisch!«, erklang der Ruf.

Wenigstens erblickte man dort am Rande des Bassins den charakteristischen Rücken eines solchen aus dem Wasser hervorragen.

Als man auf der Galerie hingegangen war, sah man ihn in seiner vollen Größe, das Wasser war ganz klar. Es war ein Riese von dreißig Meter Länge. Größere Wale hat man noch nicht gesehen.

»Also es war wieder eine Lüge«, sagte Atalanta, »als er damals behauptete, er besäße noch kein größeres Unterseeboot als diese beiden kleinen Dinger hier, er habe so etwas ja gar nicht nötig. Aber mir zu Gefallen würde er sofort eins bauen.«

»Na, warten Sie doch ab«, meinte Littlelu, »das kann doch vielleicht ein richtiger Walfisch sein, sogar ein lebendiger, er schläft nur. Dort an seinem Mündchen sehen Sie doch auch seine Barten spielen, dazu bestimmt, dereinst die Büste einer Dame einzupanzern.«

Aber schon war Atalanta auf den dunklen Rücken gesprungen, und nicht lange dauerte es, so öffnete sie auch hier eine Klappe.

Sie stiegen die steile Treppe hinab. Auch ein sehr großer Mensch konnte bequem aufrecht stehen, und diese Höhe wäre auch für einen richtigen Wal eine normale gewesen.

Eine Kammer reihte sich an die andere, komfortabel zum Wohnen und Schlafen eingerichtet, und selbst ein schmaler Korridor war noch vorhanden. Es war überhaupt, wie es immer ist: Jedes Gebäude scheint innen viel größer zu sein, als es von außen aussieht. Da kann man sich manchmal sogar ganz gewaltig täuschen. So war es auch hier. Als man ganz bestimmt glaubte, jetzt müsse es doch zu Ende sein, kam erst noch der Kopf, als Steuerhaus eingerichtet, in dem sich bequem sechs Menschen aufhalten konnten. Hinten in dem Schwanzteile, in dem man allerdings nur kriechen konnte, befand sich die Maschine, aber nur eine ganz kleine, welche durch eine unerklärliche Vorrichtung den Schwanz und die Flossen in natürliche Schwimmbewegungen versetzte. Größer sind ja auch die Torpedoboote nicht, wenn sie nicht zu der ganz großen Klasse, schon mehr zu den Torpedojägern gehören, und die müssen eine ganz stattliche Mannschaft beherbergen. Den größten Raum nimmt die Maschine weg, allen anderen beanspruchen die Kohlen, die hier nicht nötig waren, und trotzdem muss der Kapitän, wenn auch nur ein Leutnant, eine Kajüte zu seiner Verfügung haben. Das heißt also: In diesem torpedoähnlichen Walfische hier hatten die wenigen Leute, die zur Bedienung nötig waren, einen wahren Überfluss an Platz, sie konnten darin tanzen.

Im Übrigen sah Atalanta gleich, dass die Steuerung ganz dieselbe war wie in dem Delfin.

»Ach, das ist ja herrlich«, rief sie erfreut, »das ist ja ein Unterseeboot, wie ich es mir gewünscht habe!«

»Ja«, fügte Littlelu hinzu, »nun muss bloß noch die Omnihilit-Sperre weg, dann können wir ins Meer hinausgondeln. Ich fürchte nur, wir sind hier so lange gefangen, wie es diesem Señor Tenorio gefällt, bis er von uns das erreicht hat, weswegen er uns hier herein gelockt hat.«

»O, wir werden schon einen Ausgang...«

Eine fremde Stimme, Tränen und ein Jubelschrei

Atalanta brach mitten im Worte ab. In ihrer Tasche hatte die Telefonuhr geklingelt.

Im ersten Augenblick glaubte sie, dass diese auf den »Mohawk« eingestellt sei, überzeugte sich aber schnell, dass hinten noch das Wort »Mephisto« eingeschoben war.

»Wer ist dort?«

»Ist dort Frau Gräfin Atalanta von Felsmark?«

Es war eine sanfte, melodische Stimme, die aus der Membrane hervorklang, sie hatte gar keine Ähnlichkeit mit der schneidenden, immer technischen des menschlichen Teufels.

»Ja. Und wer ist dort?«

»Ein Mann, der Ihnen wohlgesinnt ist. Fragen Sie jetzt nicht weiter, ich würde und könnte nicht antworten. Sie sollen mich persönlich sehen. Wollen Sie sich von mir führen lassen?«

Der vorläufig noch Unbekannte hatte doch jedenfalls gemeint, ob Atalanta sich zu ihm führen lassen wolle, oder aber, ob er die Gefangenen aus diesem Labyrinth herausführen solle.

So wenigstens hatte Littlelu, der die Worte deutlich vernahm, diese Frage, wie er dann später sagte, aufgefasst.

Aber besaß diese Indianerin eine höhere Ahnungsgabe oder hatte sie wirklich etwas ganz anderes herausgehört?

»Sie wollen mich unter Ihre Führung nehmen? Doch nicht etwa für immer?«

Es erfolgte keine verwunderte Gegenfrage, sondern gleich die einfache Bestätigung.

»Ja. Wollen Sie sich meiner Leitung anvertrauen?«

»Ja, ich will!«, entgegnete Atalanta ebenso einfach.

Littlelu aber zuckte empor und hob warnend die Hand. Hatte dieses rote Weib, sonst die Besonnenheit selbst, denn plötzlich ganz und gar den Kopf verloren?

»Vorsicht, das ist doch nur eine neue List —«

Atalanta machte eine abwehrende Handbewegung.

»Sie sind ein Mahatma?«, fragte sie wieder in das kleine Telefon.

»Ein Mahatma? Nein, so etwas gibt es gar nicht. Oder es ist nur symbolisch gemeint. Und in dieser Auffassung können Sie mich einen Mahatma nennen. Ich möchte Sie aber allein sprechen!«

».Ich bin bereit dazu.«

»Ich weiß, wo Sie sich befinden, ich sehe Sie sogar stehen. Benutzen Sie den einzigen Gang, der dort keine Tür besitzt. Gehen Sie ihn entlang und öffnen Sie die erste Tür rechter Hand, dort werde ich Sie erwarten, Sie allein.«

Die Uhr klingelte, die Verbindung war unterbrochen.

Es war merkwürdig, wie traumverloren die Indianerin plötzlich vor sich hin blickte.

»Mister Maxim, haben Sie diese Stimme gehört?«, fragte sie dann.

»Sie hatte etwas so überaus Schmeichelndes an sich, und das eben gefiel mir nicht, das macht mich misstrauisch.«

»Dann verstehen Sie sich entweder nicht auf Stimmen, oder sie hatte in einiger Entfernung aus dem Telefon heraus einen ganz anderen Klang. Von süßlicher Schmeichelei, wobei doch immer etwas Falsches ist, war keine Spur! Es war die herrlichste Stimme, die ich je gehört habe, sie sprach die Worte nicht mit dem Munde, sondern mit dem Herzen, und so drang der erste Ton wie ein warmer Hauch in mein eigenes Herz und — ich werde gehen.«

Aber sogleich ging sie noch nicht. Immer verlorener blickte sie vor sich hin, und immer seltener wurden die Worte, die sie flüsterte.

»Ja, ich bedarf einer Führung. Man sagt, dass jedes Weib, das wie ein echtes Weib fühlt, eine starke Stütze braucht — einen Mann, an den es sich anlehnen, anschmiegen kann — ohne diese Stütze ist eine Frau wie eine Liane ohne Baum, ist tief, tief unglücklich — aller Lebenszweck fehlt ihr — und ich bin ein echtes Weib — trotz alledem und alledem — und ich bin eine Indianerin, noch dazu eine Mohawk — und ich hatte einst solch eine Stütze, einen Lebenszweck —«

Sie hob den Kopf, blickte Littlelu an, und dieser entsetzte sich fast, denn solche Augen hatte er bei seiner roten Freundin noch nie gesehen.

»Mister Maxim — mein guter Littlelu — Sie kennen mich doch — haben besonders in letzter Zeit alles mit mir durchgemacht — haben Sie denn noch nicht gemerkt, wie alles, was ich auch in die Hand nehme, mir gelingt — wie ich gar keinen Misserfolg haben kann — und wie dies alles doch nur so scheinbar ist — wie ein Fluch auf mir ruht — wie mich Unglück über Unglück verfolgt — wie sofort alles, wenn ich mich am Ziele einer Sehnsucht wähne, für mich wieder in ein Nichts verrinnt. — Ja, wissen Sie denn, wie tief, tief unglücklich ich bin, wie öde es in meinem Herzen aussieht?«

Immer leiser hatte sie geflüstert. Zuletzt versagte die Stimme gänzlich. Und da plötzlich entstürzten den großen, schönen Augen Tränen, sie brach in ein krampfhaftes Weinen aus, und dann plötzlich warf sie sich mit furchtbarer Wucht zu Boden, um noch heftiger zu weinen.

Littlelu war maßlos bestürzt, fassungslos. Diese Indianerin so weinen, sich in Gegenwart anderer so gebärden zu sehen — es ging über seine Fassungskraft.

Noch ehe er sich gesammelt hatte, war Atalanta wieder aufgesprungen und hinausgeeilt.

Auch Littlelu verließ das Unterseeboot; er ging auf der Galerie hin und her, seine Gefährten nicht beachtend, betrat den einzig offenen Gang, der von hier abführte, schritt an der Türe hin und her, hinter der sich Atalanta befand, ganz in Gedanken versunken.

Ja, sie hatte recht. Er kannte ja alles. Erfolg über Erfolg, das Schicksal schüttete ihr alles, was sich der Mensch nur wünschen kann, ungebeten in den Schoß, und doch wurde sie von demselben Schicksal mit unerbittlicher Grausamkeit gefasst.

Als Kind war sie wie ein Augapfel behütet worden und sie hatte doch gar keine Kinderzeit gehabt, keine Mutterliebe und nichts.

Von einer Bärin gesäugt und zurechtgeleckt, welche Erziehungsweise dann von jenem Geizteufel, dem Zirkusdirektor, durch gleich unnatürliche Mittel fortgesetzt wurde. Die aufmerksamste Pflege und dennoch nichts als qualvolle Übungen. Ramoni hatte immer über die Medikamente gejammert, die mit Gold aufgewogen werden müssten, und das Kind hatte vor Gesundheit gestrotzt. Alle drei Tage war wegen dieses Kindes ein Kalb geschlachtet worden, das vorher wochenlang nur Eier in den Schlund geblasen bekam, und dieses Kind hatte sich niemals satt essen dürfen, hatte mit Absicht immer etwas Hunger leiden müssen.

Dann war sie beim ersten öffentlichen Auftreten, als nun endlich der Lohn für alle diese Quälereien kommen sollte, besiegt worden, besiegt von einem Manne, der nicht einmal ein ausgebildeter Athlet war! Der Pflegevater, an dem sie schließlich doch gehangen, weil sie keinen anderen Menschen hatte, war vor Schreck darüber tot umgefallen, und sie selbst harte die Freiheit verloren. Wie sie diesen Mann lieben lernte, da verlor sie ihn. Sie findet ihn wieder — aber er ist ein Krüppel, den sie tragen muss. Sie heilt ihn, heiratet ihn — da hat sie keinen Gatten. Als sie sich auch mit diesem Schicksal abgefunden hat, verliert sie ihn für immer.

Sie hat ein schönes Besitztum und hat es doch nicht. Sie will, um nichts mehr davon zu sehen, nachdem sie andere darauf glücklich gemacht hat, auf Reisen gehen, und bei der ersten Vergnügungsfahrt wird sie ganz unschuldig zur Piratin, zur Desperada, die jeder Mensch ohne Weiteres niederknallen kann.

Und so weiter und so weiter.

Littlelu wusste nicht, wie lange er so in niederdrückenden Gedanken hin und her gegangen, dass schon eine halbe Stunde verstrichen war.

»Ach, das ist traurig, traurig!«, sagte er, sich mit einem Tüchelchen die Augen wischend. »Ja, ich glaube, dass diese Indianerin, die alles so still in sich hineinfrisst, das unglücklichste Weib ist, das auf der Erde —«

Da ward die Tür, an der er gerade vorbeiging, aufgerissen, aufgestoßen, nur durch einen schnellen Seitensprung konnte der gelenkige Clown sein Nasenbein vor einer unliebsamen Berührung mit der Tür retten, sie ward gleich wieder zugeschlagen, und an seinem Halse hing die tief unglückliche Indianerin mit dem jammervollen Herzen, strahlend und jubelnd und lachend.

»Littlelu, wissen Sie, wer das glücklichste Weib auf der Erde ist? Das bin ich!!«

Die Wahrheit kommt an den Tag

Zu dieser späten Abendstunde saß Oberst Mac O'Connor, Stadtpräfekt und Festungskommandant von San Francisco, sonst regelmäßig, wenn ihn keine dienstlichen oder gesellschaftlichen Pflichten abhielten, im trauten Kreise seiner Familie.

Heute wanderte er rastlos in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Und das ging nun schon seit einer Woche so.

Das Piratenschiff, ach, das Piratenschiff, das draußen vor dem Hafen kreuzte!!

Das hatte es gut, das war vogelfrei, und alle mit ihm, die sich darauf befanden. Aber der Festungskommandant, der war nicht frei wie ein Vogel, der saß gefangen.

Er hatte direkt mit diesem Teufelsschiffe ja gar nichts zu tun, hätte nicht etwa ein Torpedoboot dagegen loslassen können, obgleich die ganze im Hafen liegende Kriegsflottille unter seinem Befehl stand. Für solch ein Vorgehen musste, solange über San Francisco nicht der Kriegszustand verhängt war, erst ein Befehl von Washington kommen. Und dieser kam nicht.

Aber anderes kam. Dort auf dem Schreibtisch der ungeheure Stapel Briefe, der war noch zu erledigen, sobald sein Sekretär mit einem Dutzend Hilfskräfte drei andere solche Briefstapel erledigt hatte, dann waren aber sicher schon vier neue Stapel vorhanden, und vom Wichtigsten hatte der Kommandant Kenntnis zu nehmen, unter die Antwort seinen Namen zu setzen. Und unaufhörlich klingelte das Telefon.

Dieses hatte er ja nicht persönlich zu bedienen, telefonische Meldungen von Privatpersonen zählten überhaupt nicht mit, aber gerade persönliche Besuche musste er selbst empfangen, sobald der Anmeldung »dringend oder wichtig in Bezug auf das Piratenschiff« beigefügt wurde.

Sonst hatte der Stadtpräfekt ja gar nicht nötig, solche Querulanten zu empfangen. Aber es gibt Ausnahmen. Es ist gerade wie bei der Polizei. Sobald die Sache von der Staatsanwaltschaft in die Hand genommen worden ist, muss die Polizei auch jeden anonymen Brief für wichtig nehmen, muss auch die wahnwitzigste Idee, wie man dem Verbrechen auf die Spur kommen könnte, eingehend prüfen, selbst wenn sie weiß, dass man sie nur nasführen will.

»Mister Amoretti bittet um eine Unterredung bezüglich des Piratenschiffs!«, meldete die Ordonnanz.

»Ich lasse den Signor Amoretti höflichst bitten!«

Ein junger Italiener trat ein, in neapolitanischer Sonntagstracht der Hafenbevölkerung, wie sie in den amerikanischen Städten als Maronen-, Polenta- und Eisverkäufer genug herumlaufen, in Kniehosen und Samtjacke, den breitrandigen Filzhut unternehmend aufs schwarzgelockte Haupt gedrückt, ein hübsches, tiefgebräuntes Gesicht, unter dem flotten Bärtchen blitzten beim Sprechen die weißen Zähne.

In Amerika braucht man auch im Zimmer des Stadtpräfekten den Hut nicht abzunehmen.

»Sie wissen, wie man die Piraten in den Hafen bringen kann?«, fragte der Kommandant.

»Si si, Signore! Ich komme als Abgesandter der Gräfin Atalanta von Felsmark.«

Der Präfekt machte eine abwehrende Handbewegung.

»Mit den Piraten oder einem ihrer Abgesandten kann ich nicht verhandeln.«

»Die Gräfin Felsmark bittet Sie um eine persönliche Besprechung.«

»Das ist ja ein noch viel dreisteres Verlangen! Kann denn ich als Vertreter der Regierung mit einem für vogelfrei erklärten Piraten —«

Doch schnell besann er sich eines anderen. Er tat ja seiner Regierung nur den größten Dienst, wenn er einmal so eine gesetzwidrige Handlung beging, um diese fatale Sache so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen.

»Nun gut. Ich könnte die Gräfin als Privatmann in meinen Privaträumen empfangen.«

»Und Sie würden sie ruhig kommen und wieder gehen lassen?«

»Das ist dann selbstverständlich. Auf mein Ehrenwort. Sagen Sie das der Gräfin. Eigentlich müsste ich ja schon Sie als ihren Abgesandten sofort festnehmen lassen.«

»Bitte, zeigen Sie mir das Privatzimmer, in dem Sie als Privatmann die Gräfin empfangen wollen.«

»Wozu das?«, stutzte der Präfekt.

»Ich bitte darum.«

»Nun, gleich hier dieses Nebenzimmer, das gehört schon zu meiner Privatwohnung.«

Sofort ging der junge Italiener hin, öffnete die Tür, ging bis in die Mitte des Zimmers, wandte sich um, nahm den Schnurrbart ab, obgleich auch das schärfste Auge ihn nicht als künstlichen erkannt hätte, und ließ unter dem Hut langes Haar bis auf den Rücken herabfallen.

»Ich bin die Gräfin Atalanta von Felsmark.«

Der Präfekt war grenzenlos bestürzt. Doch schnell raffte er sich zusammen, umsonst war dieser Mann ja nicht auf solch einen verantwortlichen Posten gestellt worden, auch er trat ein, schloss hinter sich die Tür, und schon vorhin war in dem anderen Zimmer nicht die Ordonnanz gewesen.

»Sprechen Sie schnell, Frau Gräfin, stellen Sie Ihre Bedingungen, zu denen Sie sich unterwerfen. Nur müssen es andere sein, als Ihre bisher genannten.«

»Jene 21 Matrosen befinden sich noch in San Francisco?«

»Sie liegen alle auf dem im Hafen verankerten Kasemattenschiff. Morgen werden sie zum letzten Male verhört, übermorgen treten sie alle einen Urlaub an, den sie sehr nötig haben.«

»Ich habe es gehört. So bitte ich, mich mit ihnen hier zu konfrontieren, jetzt sofort.«

»Mit Ihnen, der Piratenkapitänin?! Das ist rein unmöglich!«

»Ich bin und bleibe natürlich der Italiener Amoretti, der mit dem Piratenschiff überhaupt gar nichts zu tun zu haben braucht.«

»Ach so, das ist etwas anderes. Nur dürfen Sie Ihre Maske nicht fallen lassen, ich würde bloßgestellt werden —«

»Auf mein Ehrenwort nicht.«

»Was wollen Sie denn mit den Leuten?«

»Ihnen nur einige Fragen vorlegen, und dann werden Sie selbst erfahren, dass ich das Opfer eines ungeheuerlichen Lügengewebes bin.«

»Das haben Sie schon immer behauptet.«

»Jetzt werde ich die Wahrheit beweisen.«

»Nun gut, ich werde die Matrosen und Unteroffiziere hierher bestellen. Es ist aber möglich, dass viele von ihnen auf Urlaub an Land sind, die müssen erst gesucht werden —«

»Wenn es nur ein einziger ist. Das ist mir sogar lieber. Am liebsten möchte ich zuerst den Bootsmann Kitcher haben, und dann bitte ich, dass Sorge getragen wird, dass man die anderen nach seinem Geständnis sofort verhaften kann, ehe sie das Weite suchen.«

»So sicher sind Sie Ihrer Sache?«, fragte der Präfekt unruhig.

»Todsicher.«

»Ich werde die Leute telefonisch hierher beordern. In einer Viertelstunde können sie hier sein, soweit sie gleich zur Stelle sind.«

»Aber ich möchte vorher noch etwas anderes mit Ihnen besprechen.«

»Ich komme sofort zurück.«

Schon nach einer Minute trat er wieder ein, Atalanta hatte sich unterdessen wieder in den Italiener verwandelt, unter welcher Maske sie nicht einmal als Weib zu erkennen war.

»Hören Sie mich an, Herr Präfekt.

Durch Zufall bin ich in den Besitz von Geheimnissen, von wunderbaren Erfindungen gekommen.

Sie stehen auch noch weiter zu meiner Verfügung, ich kann damit machen, was ich will, nur das Rezept dazu bekomme ich nicht.

Ich fordere die ganze Welt auf, sich am Lösen dieser Rätsel zu beteiligen.

Wen ich zu diesem Zweck an Bord meines Schiffes und in meine Felsenwohnung am Sklavensee lasse, darüber allerdings werde ich immer nach eingehender Prüfung von Fall zu Fall entscheiden, denn Schwachköpfe und Neugierige möchte ich von mir fernhalten.

Aber ich werde alle Regierungen bitten, dass jede mir zwei oder drei Ingenieure oder sonstige findige Geister schickt, um sich an dem friedlichen Wettkampfe zu beteiligen. Diese Herren sind meine Gäste, und wenn es hundert würden, so spielt das für mich gar keine Rolle, der mächtige Dampfer ist ja zur Aufnahme von Passagieren bestimmt.

Was das nun für Erfindungen sind? Woher ich sie bekommen habe? Lassen Sie sich erzählen, Herr Präfekt.«

Und Atalanta begann zu erzählen. Das Staunen des Präfekten wuchs von Minute zu Minute. Eine Viertelstunde hörte er zu, bis die Erzählerin von einem Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Auf die Erlaubnis trat die Ordonnanz ein.

».Bootsmann Kitcher.«

»Hier herein.«

Er kam in Zivil, denn er hatte sich nicht im Dienst befunden; als Deckoffizier durfte er Zivil tragen. Sofort kommen hatte er freilich müssen, aber Uniform war nicht nötig.

In dem modernen Straßenanzug machte der Mann einen äußerst simplen Eindruck. Er besaß eine kurze, untersetzte Gestalt und ein dickes, bartloses, ganz gewöhnliches Gesicht.

Alles andere ging so schnell, dass der Präfekt gar nicht zur Besinnung kam.

»Da ist Bootsmann Kitcher, den Sie sprechen wollten.«

Der junge Italiener war aufgestanden, er machte ein überraschtes Gesicht.

»Was, das wäre Bootsmann Kitcher?! Das ist doch Korvettenkapitän Younglof, der Kommandant vom ›Stolz von Columbia‹, der den ›Bansai‹ angehalten und betreten hat!«

Durch den stramm dastehenden Zivilisten ging es wie ein elektrischer Schlag, das gesunde, braune Gesicht färbte sich plötzlich aschgrau.

»Ich — ich — bin der Bootsmann Kitcher!«, stammelte er.

Langsam ging der junge Italiener auf ihn zu, mit ausgestreckter Hand, mit dem Finger auf ihn deutend.

»Der ›Stolz von Columbia‹ hat damals gemeutert, die ganze Mannschaft hat alle Offiziere ermordet, und Sie sind der Anführer der Meuterer gewesen.«

Wieder ein Zuck, aber diesmal mit der rechten Hand nach der hinteren Hosentasche, blitzschnell hatte der Mann einen Revolver hervorgerissen, im nächsten Moment krachte ein Schuss.

Die Kugel hatte seinen eigenen Kopf an der Schläfe durchbohren sollen. Der Selbstmord war nicht gelungen. Der Italiener hatte ihm noch rechtzeitig die Hand hochgeschlagen, die Kugel war in die Decke gedrungen, und dann war der Bootsmann unschädlich gemacht.

»Nun schnell, ordnen Sie die Verhaftung der anderen Matrosen und Unteroffiziere an!«

Aber so schnell war der Präfekt hierzu nicht fähig.

Wie gebrochen lehnte er an der Wand, mit weit geöffneten Augen nach der Szene starrend. Die gegen den Bootsmann ausgesprochene Beschuldigung des Italieners hatte ihn gänzlich aus der Fassung gebracht.

»Allbarmherziger!«, stöhnte er. »Himmel, stürz ein. Sonne, geh nie wieder auf über dieses Land — der ›Stolz von Columbia‹ gemeutert!!« — —

Zwei Stunden später wurde im großen Schauspielhause zu San Francisco der letzte Akt durch ein schrilles Klingeln unterbrochen, es wurde eben ein Ballett aufgeführt, und die Tänzerinnen stockten mitten im Pas, das Orchester verstummte mit einem Schlage.

Des Publikums bemächtigte sich die größte Unruhe.

Dieses zweimalige Klingeln mit der schließenden Dissonanz kannte man, kannte es noch zu gut vom letzten Kriege mit Spanien her. Es schrillte jetzt allüberall in den Vereinigten Staaten, in jedem öffentlichen, dem Publikum zugänglichen Gebäude, das aber gegenwärtig für anderes Publikum gesperrt war. Ein Befehl der Regierung musste verkündet werden.

Mitten in die Feengrotte hinein trat ein schwarzgekleideter Herr, der Theaterdirektor, ein Blatt Papier in den Händen, die ganz auffallend zitterten.

»Regierungsbefehl! Washington, den 29. Mai. Auf Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika: Das vor San Francisco liegende Piratenschiff ist durch Amnestie zum ehrlichen Schiff rehabilitiert. — — Herr Kapellmeister!«

Die Kapelle intonierte die Nationalhymne »Heil Dir, Columbia!«, alles erhob sich und sang den ersten Vers.

Der Direktor in der Feengrotte machte ein Gesicht, wie ein an unheilbarer Melancholie leidender Bullenbeißer.

Als die letzten Töne ausgeklungen waren, nahm er wieder das Wort.

»Die einundzwanzig überlebenden Matrosen und Unteroffiziere des Panzerschiffes ›Stolz von Columbia‹ sind auf Antrag der Frau Gräfin Atalanta von Felsmark verhaftet worden, sie haben ein Geständnis abgelegt, bis auf vier, welche Selbstmord begingen. Die Mannschaft des ›Stolz von Columbia‹ hat damals gemeutert, die Meuterer haben den Kapitän und alle Offiziere niedergemacht, haben als Piraten den japanischen ›Bansai‹ überfallen, dessen Kapitän verpflichtet war, alles aufzubieten, um das Piratenschiff zu vernichten, welcher Verpflichtung der ›Bansai‹ nachgekommen ist.«

Der Brahmane

Der »Mohawk«, wie das wieder ehrlich gewordene Schiff jetzt unter nordamerikanischer Flagge registriert worden war, lag im Hafen von San Francisco und war direkt am Kai vertäut.

Tag und Nacht wurde das »Zauberschiff«, wie man es allgemein nannte, von einer vieltausendköpfigen Menge angestarrt, ununterbrochen rollten Automobile und Equipagen vor die Landungsbrücke, die Herren und Damen bringend, die um Besichtigung des Schiffes gebeten und die Erlaubnis erhalten hatten, und noch tausend andere Besucher dazu.

Frau Gräfin Atalanta von Felsmark selbst machte unermüdlich die Führerin und Erklärerin, nur für wenige Stunden, die doch auch sie unbedingt der Ruhe bedurfte, ließ sie sich durch Littlelu als ihren Haushofmeister vertreten, und sie war jetzt von einer Gesprächigkeit und Heiterkeit, wie man es bei dieser Indianerin früher niemals für möglich gehalten hätte.

»Littlelu, wissen Sie, wer das glücklichste Weib auf der Erde ist? Das bin ich!!«

So hatte sie damals jubelnd gerufen, sich dem alten Freunde und Lehrer an den Hals werfend, als sie aus jenem Raum, in den sie die geheimnisvolle, so überaus sanft und weich klingende Stimme gerufen hatte, wieder herausstürzte.

Und seitdem wurde sie von jener unverwüstlichen Heiterkeit beherrscht. Littlelu hatte es sofort erfahren, was dieses selige Glück in ihr hervorgerufen. Wir werden es später erfahren. Jetzt würde es den Gang der Erzählung stören.

Der ehemalige Zirkusclown und jetzige Zeremonienmeister war an Bord des »Mohawks« der einzige Europäer. Sonst war ja alles japanisch, und an der Spitze stand eine Vollblutindianerin. Eigentlich war Littlelu ja ein geborener Amerikaner, aber das ist ein gar weiter Begriff, und hätte man ihn als einzigen Kaukasier bezeichnen wollen, so wäre das falsch gewesen.

Als Kaukasier hatte er Gesellschaft bekommen. Noch ein neuer Mann hatte sich an Bord des »Mohawks« eingefunden. Es war ein Inder, ein echter Hindu, und die Hindus gelten ja als Hauptrepräsentanten der kaukasischen Rasse.

Sahib Sirbhanga Brahma war ein kleiner, alter Mann mit langem, schneeweißem Haar und Bart, wirklich blendend weiß, wie frisch gefallener Schnee, und umso merkwürdiger nun stach das tiefbraune Gesicht ab — ein Antlitz so faltenlos, so jugendfrisch, so edel geschnitten, von einer erhabenen Seelengröße und Herzensreinheit so durchgeistigt — und nun erst diese großen, braunen Augen — aus denen ein ganzer Himmel von Güte und Milde strahlte — man konnte dieses Antlitz nicht genug mit ehrfürchtiger Bewunderung betrachten. Außerdem besaß dieser eigenartige Mann wunderbar kleine, schokoladenfarbige Hände mit winzigen Fingerchen, welche die äußersten Enden zweier Haare zusammenknoteten, die ein Mensch ohne Vergrößerungsglas gar nicht sah.

Dieser Inder, der sich auch immer als solcher kleidete, war jetzt die Seele des im Hafen liegenden Schiffes. Seine Hauptbeschäftigung wurde schon angedeutet. Häufig kam es vor, dass ein zur Belustigung der Gäste dienender Apparat plötzlich versagte. Dann war sofort Sirbhanga zur Stelle, einige Minuten der ruhigen Überlegung, die Arme über der unglaublich langsam atmenden Brust gekreuzt, gewöhnlich hatte er dabei auch, vor dem Apparat stehend, die Augen geschlossen, dann eine schnelle Bewegung, und sofort hatte er den Fehler gefunden, er knotete etwas Unsichtbares zusammen oder hantierte mit einem winzigen Lötkölbchen oder bastelte sonst etwas mit den Kinderfingerchen, dabei so recht innig und sinnig vor sich hin lächelnd, als mache ihm das Auffinden des Fehlers selbst den größten Spaß, und die Vorrichtung funktionierte wieder.

»Er ist hellsehend, er projiziert den ganzen Mechanismus in sein Inneres und erblickt dort den Fehler intuitiv.«

So flüsterten dann bei solchen Gelegenheiten scheu die umstehenden Amerikaner, die ja samt und sonders okkultistisch veranlagt sind, Neigung zur Magie, zu sinnlichen Dingen haben, und das umso mehr, je praktischer und realistischer sie im Geschäftsleben sind. Extreme berühren sich eben.

Wer war nun dieser Inder? Nun, man wusste es. Atalanta hatte es ja dem Präfekten ausführlich erzählt, sie gab noch jetzt jedem Einzelnen bereitwillig Auskunft, vorausgesetzt, dass dies einmal möglich war, weil sie, wenn einmal keine Vorstellung war, ständig von Hunderten gleichzeitig bestürmt wurde.

Sie hatte ihr Besitztum — den Sklavensee — besichtigen wollen, war durch eine Öffnung unter Wasser in das Innere der Felswand gedrungen, der ganze meilenbreite Felsen dort war hohl, und je tiefer sie eingedrungen, desto wunderbarere Entdeckungen hatte sie gemacht.

»Von wem all diese Erfindungen stammen? Es gibt eine Gesellschaft von Menschen, welche der Mitwelt schon um Hunderte von Jahren voraus ist. Doch dies gilt alles nur geistig, praktisch wird nichts verwertet, nicht einmal ausgeführt.

Nun kommt es aber doch ab und zu vor, dass ein Mitglied dieses Geheimbundes abtrünnig wird, die Erfindungen und sonstigen Entdeckungen in die Praxis umsetzt. Solch ein Mann hatte sein Laboratorium in dem ehemaligen Tempel der Ureinwohner meines Sklavensees eingerichtet. Solange solch ein Verräter seine Studien ganz geheim betreibt, davon nichts an die Öffentlichkeit gelangen lässt, wird sein Treiben von der Gesellschaft, welche die allverzeihende Güte selbst ist, geduldet. Als aber nun ich, ein gewöhnlicher Mensch, in seine Geheimnisse eindrang, da musste der Abtrünnige mit Gewalt seiner Pflicht wieder zugeführt werden.

Und trotzdem kümmert sich jene geheime Verbrüderung, obgleich sie die Schicksale der Menschheit leitet, gar nicht um die anderen Menschen. Was einmal an die Öffentlichkeit gelangt ist, hält sie wieder zu vernichten nicht für nötig oder sie darf es vielleicht gar nicht tun. Nur die Naturgewalten sind hierzu berechtigt.

Kurz, mir wurden die innerhalb meines Besitzes befindlichen Erfindungen nicht nur nicht genommen, sondern ich erhielt von der geheimen Gesellschaft auch noch einen Guru, einen Führer, der mir behilflich sein soll, dass ich diese Erfindungen auch in meinem Interesse verwerten kann. So beugt sich diese sonst durchaus geistige Verbrüderung, die eigentlich gar nicht irdisch ist, dennoch vor den irdischen Gesetzen. Was sich auf oder in meinem rechtmäßigen Grund und Boden befindet, gehört auch mir, und jene edlen Übermenschen halten es für selbstverständlich, dass sie mich dann auch belehren, wie man das Gefundene benutzt. Die Erklärung, das Rezept dazu, freilich geben sie mir nicht und ich glaube gern, dass ich es auch niemals verstehen würde.«

So hatte Atalanta damals dem Präfekten erzählt, so erklärte sie noch jetzt, wenn einmal die Gelegenheit dazu kam.

Von Professor Dodd oder seinem Doppelgänger sprach sie niemals, das hatte sie ja auch gar nicht nötig. Der Mephistopheles oder Señor Tenorio hatte sich ja niemals in der Öffentlichkeit blicken lassen. Die Japaner zählten da nicht mit, so wenig wie Littlelu.

»Mahatmas, nicht wahr, es sind Mahatmas?«, wurde dann bei solch einer neuen Erklärung von den Umstehenden immer geflüstert.

O, in Nordamerika weiß jeder Stiefelputzer von den Mahatmas, die auf dem Gipfel des Himalajas thronen und von dort aus die Schicksale der Menschheit lenken, soweit die wahre Kultur, die geistige Höherentwicklung in Betracht kommt. Ob sich ganze Völker gegenseitig abschlachten, darum freilich kümmern sie sich nicht. In die Speichen des Schicksals greifen sie nicht ein, wenn sie es auch könnten. Aber in die Dachkammer des einsamen Dichters und Philosophen schleichen sie sich, den inspirieren sie, was er schreiben soll, das ist ihr Hebel, den sie zum allgemeinen Völkerfrieden ansetzen.

In jeder größeren Stadt Nordamerikas ist eine öffentliche buddhistisch-theosophische Bibliothek. An jeder Straßenecke wird außer anderen ähnlichen Zeitungen auch »Der Mahatma« verkauft. Also weiß auch jeder Stiefelputzer davon. Er braucht ja nicht daran zu glauben, vielleicht spottet er sogar darüber, aber mitsprechen kann er.

»Fragen Sie doch Sahib Sirbhanga, der muss es besser wissen als ich!«, entgegnete dann Atalanta stets und wusste zu verschwinden.

Der Brahmane aber antwortete überhaupt gar nicht. Dafür jedoch wusste er die Fragenden immer so aus seinen Augen anzublicken, dass sie solche Fragen ganz vergaßen.

Nur eines konnte dieser Hindu, der ganz offenbar die Kunst der Faszination in höchstem Maße verstand, nicht aus ihnen heraushypnotisieren.

»Bitte, Mister Sirbhanga, sagen Sie mir einmal aus der Hand wahr, bitte, bitte, bitte —«

Und Hunderte von Händen wurden ihm entgegengestreckt.

Es wären ja auch keine Menschen und noch dazu keine Amerikaner gewesen, wenn sie es nicht getan, nicht daran geglaubt hätten.

Wir wollen hier nicht untersuchen, ob an der Chiromantie, an dem Wahrsagen aus den Handlinien, etwas Wahres sein könnte oder ob alles Unsinn ist. Bemerkt sei nur, dass noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Chiromantie an zwei deutschen Universitäten wissenschaftlich gelehrt wurde — in Jena und Leipzig — und dass heute die Chiromantie in Nordamerika ganz mächtig wieder empor blüht. In New York gibt es heute einige hundert Handwahrsager, die bekanntesten bewohnen Paläste, aus den vor den Portalen haltenden Luxuswagen steigen nicht nur brillantengeschmückte Damen, sondern auch genug Männer, nüchterne Geschäftsleute, die wissen wollen, ob die Aktien steigen oder fallen.

Und wenn dieser Hindu, ein Brahmane, sogar ein Mahatma, nicht aus der Hand wahrsagen konnte, wer sollte es denn sonst können?«

Merkwürdigerweise war der ehrwürdige Alte immer, wenn er Zeit hatte, hierzu bereit. Freilich musste sein Verfahren dabei jeden zunächst sehr enttäuschen. Er ließ die Schicksalsneugierigen an sich mit der rechten ausgestreckten Hand vorbeimarschieren, warf nur einen Blick darauf, sagte irgend etwas und immer nur etwas sehr Gutes. Eine Frage war nicht erlaubt oder zwecklos.

»Gut, sehr gut. — O, viel Glück, viel Glück. — Sie werden alt, sehr alt. — Bald geht das, was Sie wünschen, in Erfüllung.«

Und so ähnlich. Für jeden Einzelnen immer nur so eine einzige »Prophezeiung«.

Na, so aus der Hand wahrsagen, das kann wohl jeder. Am ersten Tage lachte man darüber, die Antretenden wurden verspottet.

Mit der Zeit aber wurde man stutzig. Von Littlelu, der auch hierbei den Zeremonienmeister spielte, wurde ab und zu gerufen, dass jeder nur einmal seine Hand vorzeigen dürfe. Natürlich traten einige mehrmals an. Aber der Alte ließ sich nicht täuschen, obwohl er niemals aufblickte.

»Schon dagewesen, nur einmal!«, sagte er stets oder schlug die gezeigte Hand einfach mit der Fingerspitze weg.

Im Laufe der Tage gingen viele Tausende an ihm vorüber. Es bildete sich eine Gesellschaft von Herren und Damen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den Alten einmal zu täuschen — es gelang ihnen nicht. Einer oder die andere stellte sich nach vielen Tagen wieder hin, anders gekleidet, anders verschleiert, anders parfümiert, die Hand anders beringt — — sie wurde weggeschlagen. »Schon dagewesen!«

Was musste dieser Mann eine sich erinnernde Unterscheidungsgabe zwischen Händen haben! Das war wirklich fabelhaft! Freilich, das gehörte aber zu seinem Berufe. Ein Chiromant, der heute jemandem ein Alter von achtzig Jahren prophezeit und in einigen Tagen liest er aus derselben Hand nur sechzig heraus, dürfte, wenn ihm das öfters passiert, sein Bündel wohl bald packen müssen.

Da kommt die Übung, wahrscheinlich auch erbliche Veranlagung in Betracht, Kastenwesen. Unsereins, der nichts mit Kühen zu tun hat, kann keine drei gleichfarbigen Rinder unterscheiden. Ein englischer Farmer in Südafrika unterscheidet bis zu hundert, ein Bure bis zu dreihundert, ein Kaffer bis zu tausend Stück gleichfarbiger Rinder voneinander. Das sind wissenschaftliche Experimente, gar nicht so zwecklos angestellt.

Nun, so ein Kaffer hat eben nichts weiter im Kopfe als seine Rinder, ein Chiromant nichts weiter als menschliche Hände. Aber viele Tausende solcher Hände zu unterscheiden, dass man ein und dieselbe Hand immer wieder erkennt — es war fabelhaft!

Manchmal hatte der Wahrsager auch mehr Worte, und da wusste man nicht recht, was man davon denken sollte.

In Begleitung seiner Freunde kam ein junger Fant, ein Engländer, hier nur auf der Durchreise begriffen. Dass sein Vater sein großes Vermögen als Abdecker und Pferdeschlächter verdient hatte, erzählte er nicht gern, desto lieber, dass seine Großtante mütterlicherseits eine echte Lady, eine englische Aristokratin gewesen sei. Mit diesem blauen Blute, das in unendlicher Verdünnung in seinen Adern floss, renommierte er bei jeder Gelegenheit, er selbst fühlte sich als geborener Aristokrat und erklärte, er würde einmal nur eine Adlige heiraten, er erkundigte sich öfters so unter der Hand, ob man den Adelstitel nicht mit erheiraten oder sich sonst wie verschaffen könne.

Dieser junge Mann, der sonst durchaus kein aristokratisches Aussehen und Benehmen hatte, hielt dem Wahrsager im Vorbeigehen seine große Pfote hin.

Wie gewöhnlich nur ein Blick darauf. Diesmal aber kam eine längere Prophezeiung.

»Sie sterben im Purpurmantel mit einer Krone auf dem Haupte.«

Hellauf lachten die Freunde. Dann aber stutzten sie. Wie konnte denn dieser Inder etwas von den Schrullen ihres Freundes wissen? Sie waren auf der Durchreise, vorhin erst angekommen, hier gänzlich fremd. Es war doch sehr merkwürdig! Da mochte man fast an ein Gedankenlesen glauben.


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Nun, die Hauptsache war der Pferdeschlächtersohn. Ach, war der glücklich! Er konnte vor freudiger Aufregung gar nicht sprechen.

»Da, da seht Ihr's! Im Purpur mit einer Krone sterb ich. Als Kö-kö-könig. Kann man denn heutzutage noch König werden? Von welchem Lande denn? Oder vielleicht Herzog? Oder halt — vielleicht werd ich Prinz-gemahl. Na, warum denn nicht? Meine Großtante war doch — kommt, daraufhin gebe ich einen brennenden Flammenpunsch.«

Diese Worte musste der Wahrsager noch gehört haben. Ganz ausnahmsweise blickte er einmal dem Davongehenden nach.

Ein anderer junger Mann kam. Aber nur den Jahren nach, sonst ein abgezehrter Greis, hüstelnd, dass andere das Gesicht abwandten, vor Rückenmarksschwäche mit dem Kopfe wackelnd.

Wieder nur ein Blick auf die vertrocknete Hand.

»Gut, sehr gut. Sie werden alt, sehr alt.«

Da musste der Todeskandidat, dem die Ärzte nur noch wenige Wochen Zeit gegeben, der schon seine eigene Auflösung fühlte, selbst lachen.

Und da geschah es, dass der Alte noch einmal nach der Hand haschte, die schon hohnlachend zurückgezogen wurde, sie aufmerksamer betrachtete und sagte:

»Sie zweifeln? Vor sechzehn Jahren, also in Ihrem zweiten Lebensjahre, entgingen Sie dem Feuertode, vor fünf Jahren fing Ihr Leiden im Wasser an, nach zwei Jahren endet Ihre Krankheit im Wasser. Sie werden in fester Gesundheit etwas über achtzig Jahre alt.«

Es war dies das erste Mal gewesen, dass der Wahrsager etwas von der Vergangenheit aus der Hand berichtet hatte. Und es stimmte. Wie konnte der Inder wissen, dass der zitternde Greis erst achtzehn Jahre alt war, dass er im zweiten Lebensjahre aus einem brennenden Hause gerettet worden war, dass er vor fünf Jahren lange Zeit zwischen Eisschollen getrieben war, wodurch die Lungen- und Rückenmarksschwindsucht entstand?

Es wurde bekannt. Und da begann erst richtig das Briefschreiben.

»Was fordern Sie, wenn Sie mir einmal ausführlich aus der Hand wahrsagen? Hundert Dollars? Tausend Dollars? Mehr? Bitte fordern Sie.«

Der Brahmane nahm keinen einzigen Brief an. Die Vermittelung durch die Gräfin (1) hatte keinen Zweck — einmal und nie wieder.

(1) Im Original steht hier ›Greisin‹!

Und dann geschah etwas, was den Wahrsager im Handumdrehen zum Millionär gemacht hätte, wenn er nur gewollt.

In der nachrückenden Reihe befand sich ein reizendes Mädchen von etwa zehn Jahren, es streckte das Händchen vor. Den daneben stehenden Vater, der wohl nur zum Schutze der Tochter mitging, kannte man, es war der Senator Simmer.

Der blonde, weißgekleidete Engel machte auf den Wahrsager weiter keinen Eindruck.

»Ein glückliches, langes Leben —«

Da stockte er.

»Ooooh!«, kam es bedauernd aus seinem Munde.

Er selbst schien dieses Bedauern zu bereuen, griff mit auffallender Hast nach dem Händchen und betrachte es aufmerksamer.

»Ja, dieses Kind würde ein langes, ziemlich ungetrübtes Leben führen, wenn nicht — — dieses Kind darf an dem Tage, an welchem der Vollmond wechselt, nichts essen! Keinen Bissen! Dann ist es vielleicht durchzubringen.

Hören Sie?«, wandte er sich an den Herrn, der das Mädchen bei der anderen Hand hatte. »Sie sind doch der Vater. Dieses Kind darf während der vierundzwanzig Stunden, in denen in jedem Monat der Vollmond wechselt, keinen Bissen —«

Er brauchte nicht weiter zu sprechen. Etwas von »Unsinn, Aberglauben« brummend, zog der Senator seine Tochter schnell fort.

*

In dem kleinen, traulichen Salon, mehr ein Boudoir, saßen Atalanta und Sirbhanga.

Es war das Tuskulum der beiden, hierhin zogen sich die beiden zurück, um sich einige Minuten zu erholen, und sie hatten Erholung manchmal sehr, sehr nötig. Die beiden waren wie Vater und Tochter zusammen, wenn auch noch eine andere Form gewahrt wurde.

»Was war das eigentlich mit dem jungen Mann neulich«, brach da Atalanta endlich das müde Schweigen, »dem Sie prophezeiten, er würde dereinst im Purpurmantel mit der Krone auf dem Haupte sterben? Ich hörte es gerade, es fiel mir auf. Der junge Mann sah gar nicht so majestätisch aus.«

Wie ein weher Schmerz huschte es über das mit unendlicher Ruhe erfüllte, milde Antlitz des Alten.

»Es war wieder einmal ein Fall«, entgegnete er dann, »da ich die Wahrheit sprechen musste und es doch nicht durfte, um nicht einen Menschen mit banger Sorge um die Zukunft, wenn nicht mit Angst und Entsetzen zu erfüllen, vor einem Schicksal, dem er ja doch nicht entrinnen kann.

Wie ich in der Vergangenheit und Zukunft lese, wissen Sie ja. Soweit so etwas überhaupt begreiflich ist. In der Hand steht alles, alles geschrieben. Jeder Mensch hat es ja erst selbst hineingeschrieben, sein eigenes Schicksal, hervorgegangen aus seinen guten und bösen Taten.

Die Handlinien erzählen mir schon viel. Sehe ich etwas, was mir unverständlich ist, so entsteht in mir augenblicklich eine Vision, der Schleier fällt von meinen Augen.

Ich sah die Hand jenes Mannes. Wie ein aufgeschlagenes Buch lag sein Charakter vor mir. Ein harmloser, sehr gutmütiger Mensch, anderen gern helfend; aber er muss dazu erst geschmeichelt werden; maßlos eitel, prahlerisch sich selbst überschätzend; nach dem Höchsten strebend, das heißt nur nach äußerem Glanze, nach Ehre und Macht — ganz maßlos in dieser Hinsicht. Und eben durch diese sinnlose Gier niemals etwas erreichend.

Dies alles las ich mit einem Blick. Das konnte ich ihm nicht sagen. Ich verkünde ja jedem Menschen so gern nur Gutes, freilich muss es auch der Wahrheit entsprechen. Vielleicht langes, gesundes Leben? Nein, die Lebenslinie brach schon im vierten Jahre des Saturn ab. Nur noch vier Jahre hat dieser eitle, törichte Mensch zu leben.

In einem brennend roten Punkte brach die Lebenslinie jäh ab. Wohl setzte sich die Handlinie noch fort, aber nur noch als Nacht-, als Todeslinie.

Was hatte dieser rote Punkt zu bedeuten? Was für eines Todes starb dieser Mann so plötzlich?

Da ließ die Göttin Maja den Schleier vor meinen Augen fallen.

Und da sah ich diesen Mann in einer tropischen, wahrscheinlich afrikanischen Szenerie an einen Pfahl gebunden stehen, wilde Gestalten sprangen um ihn herum — und ein Priester drückte ihm ein Marterinstrument auf den Kopf, wie eine Krone aussehend — glühend gemacht, dass sie wie rotes Gold glänzte — zischend drangen die Zacken ins Fleisch — und dann schlug die rote Lohe von seinen Füßen empor, ihn wie in einen Purpurmantel einhüllend — sie verbrannten ihn lebendig —«

»Entsetzlich!«, hauchte die Indianerin mit weit geöffneten Augen.

Der Brahmane nickte langsam.

»Ja. Und sollte ich ihm nun etwa dieses entsetzliche Schicksal, dem er durch nichts, durch gar nichts entrinnen kann, verkünden? Vor mir lag noch seine Hand. Noch las ich seinen maßlos ehrgeizigen Charakter. Und da kleidete ich die Prophezeiung, die ich nun, da ich die Zukunft einmal beschworen, auch aussprechen musste, in die symbolischen Worte: ›Du wirst im Purpur mit einer Krone auf dem Haupte sterben.‹ — Und hoch beglückt ging der junge Mann davon.«

»Entsetzlich!«, hauchte Atalanta nochmals »Lässt sich dieses Schicksal denn gar nicht von ihm abwenden? Wenn man ihn warnt, nicht in wilde Gegenden zu gehen —«

»Vergeblich, alles vergeblich. Das Schicksal muss erfüllt werden. Vergebens würde man ihn warnen, vergebens würde man ihn mit Gewalt von Afrika fernzuhalten suchen, vergebens würde man ihn vorher töten wollen — das Schicksal will es anders, und das Schicksal weiß sich immer zu helfen — so oder so, es bringt diesen Mann auf tausend verschlungenen Pfaden doch auch nach Afrika und bindet ihn zum Feuertode an den Marterpfahl. Aber das Schicksal ist nicht grausam, es ist nur gerecht. Ein jeder Mensch macht sich sein Schicksal selbst bis in die kleinsten Einzelheiten. Dieser Mann ist vielleicht in einem seiner früheren Lebensläufe ein Inquisitionsrichter gewesen, hat unschuldige Menschen verbrannt —«

Atalanta unterbrach den Sprecher mit emporgehobenen Händen.

»Höre auf, ich bitte Dich, höre auf! Ich verstehe nicht, was Du Karma nennst, ich kann es nicht fassen!«

»Du hast recht, meine Tochter. Das kann auch nicht gelehrt und gelernt werden, sondern die Erkenntnis dieser Wahrheit muss durch eigenes Nachdenken errungen werden und kommt dann urplötzlich.

Nur eines lass mich Dir noch von diesem Falle erzählen. Ich erlebe manchmal in dem Augenblick, da ich eine Prophezeiung ausspreche, etwas Merkwürdiges. Ich bekomme sofort eine Bestätigung, dass die Prophezeiung sich erfüllen wird, der Betreffende gibt sie selbst, ohne etwas davon zu wissen.

So war es auch in diesem Falle. Ich sehe den Mann am Marterpfahl in einer Feuerflamme stehen, spreche aber von einem Purpurmantel. An diesen glaubt auch erfreut der Mann. Trotzdem überkommt ihn in diesem Augenblick unbewusst eine Ahnung der Wahrheit. Auch er sieht plötzlich eine Flamme aufschlagen. Diesen Gedanken muss er irgendwie in Worte umsetzen, und er sagt zu seinen Freunden, an einem glühendheißen Mittag, da man sich nur nach einem Eisgetränk sehnt: ›Kommt, ich gebe Euch einen brennenden Flammenpunsch.‹ —«

Die Tür wurde hastig zurückgeschoben, Littlelu kam hereingestürzt, ganz verstört, das sonst brünette Gesicht plötzlich ganz grau, außer sich.

»Mann, Mann, wer sind Sie, dass Sie das Schicksal eines Menschen so bestimmen können?!«

»Um Gott, was ist geschehen?!«, rief Atalanta.

»Heute vor vier Tagen — am 18. dieses Monats — ist das kleine Mädchen — die reizende Evelyn — die Tochter des Senators Simmer —«

»Sie ist tot!«, sagte des Brahmanen sonst so weiche Stimme mit tiefem Tonfall.

»Sie wissen es schon — ?!«

»Gestern wechselte der Vollmond.«

Littlelu raffte sich empor, um Tatsachen berichten zu können.

»Die ganze Familie des Senators liegt schwer krank danieder — gestern Abend zum Nachtmahl gab es Büchsenhummer — er war giftig — — nun aber kommt das Merkwürdigste an der ganzen Sache — wenn man da so sprechen darf — die kleine Evelyn hat den ganzen Tag gegessen, auch zum Abendbrot — der Senator wollte von solchem Aberglauben nichts wissen — nur von dem Hummer bekam sie nichts — aber sie hat in der Küche heimlich doch einen Bissen davon abbekommen — — alle anderen sind schon wieder außer Lebensgefahr — nur das zarte Kind ist heute früh nach qualvollen Leiden gestorben —«

Dem alten Possenreißer stürzten die Tränen aus den Augen, er rannte wieder hinaus.

Fassungslos saß Atalanta da. Dann aber geschah etwas Seltsames. Über ihr furchtbar bestürztes Gesicht ging es plötzlich wie ein Schein des höchsten Glücks. Und sie selbst war sich dessen bewusst, sie sprach es auch aus.

»O Vater, ich schäme mich, dass ich es gestehen muss, und doch kann ich nicht anders: Dieser fremde Jammer, den ich soeben vernommen habe, bedeutet für mich seliges Glück. Denn wenn ich je noch gezweifelt habe, dass Du wirklich in die Zukunft schauen kannst — jetzt kann ich nicht mehr daran zweifeln. So sage mir noch einmal, was Du in meiner Hand liest — sage es immer und immer wieder, denn nie werde ich ja diese köstlichen Worte zu hören müde werden.«

Der Brahmane nahm ihre rechte Hand und blickte so aufmerksam hinein, als sähe er sie das erste Mal.

»Es ist immer dasselbe. Der, den Du liebst, der Deine ganze Gedankenwelt anfüllt, er lebt. Auch alle seine Gedanken gelten nur Dir in heißer Sehnsucht. Und trotzdem hält er sich freiwillig von Dir fern, bis dass die Zeit erfüllt ist. Dann werdet Ihr beide Euch in Liebe und ungetrübtem Glück wiederfinden.«

Atalanta war auf die Knie gesunken, mit halbgeöffnetem Munde hatte sie gelauscht, als wolle sie jedes Wort einfangen.

»Und wann, Vater, wann wird das sein?!«

»Wenn die Zeit erfüllt ist. Vergebens würdest Du ihn jetzt suchen wollen. Geduldig musst Du warten, bis das Schicksal Dir selbst zuruft: er lebt, suche ihn! Dann freilich sollst Du alle Deine Kräfte anstrengen, um den Geliebten zu finden. Aber mein Blick in die Zukunft, den ich Dir offenbare, ist kein solcher Ruf. Du würdest nur Misserfolg über Misserfolg haben. Nur weil Du mir feierlich versprochen hast, meine Prophezeiung nicht als Schicksalsruf zu betrachten, habe ich Dir als Trost einen Blick in die Zukunft gewährt. Weshalb er sich freiwillig von Dir fernhält, da er doch, wie ich ganz deutlich lesen kann, frei ist und all seine Sehnsucht Dir gilt, das allerdings weiß auch ich nicht.«

Das aber wusste Atalanta.

Und der Leser kennt nun die Ursache ihrer Fröhlichkeit in letzter Zeit.

Zwei lebende Bilder

Ein elektrisches Klingeln schrillte anhaltend durch das ganze Schiff.

Es war das bekannte Zeichen, dass im großen Speisesaal die kinematografischen Vorstellungen begannen, alles strömte dorthin zusammen.

Das Riesenschiff war zur Mitnahme von fünfhundert Kajüts- und tausend Zwischendeckpassagieren bestimmt gewesen. Die fünfhundert Kajütler konnten in dem großen Saale auf einmal abgespeist werden, nach Hinausräumen der Tische fanden darin bequem tausend Personen Platz, auf Stühlen, die im Hafen ja nicht festgeschraubt zu werden brauchten.

Mehr als tausend Personen durften gleichzeitig das Schiff auch nicht betreten. Jeden Tag fanden vier Führungen und Vorstellungen statt. Jede währte vier Stunden. Ihr Beginn war mittags um zwölf, nachmittags um vier, abends um acht und noch einmal um Mitternacht.

Den Vertrieb der Eintrittskarten besorgten Agenten, die daran einen Nutzen hatten. Teils wurden sie direkt zu einem bestimmten Preise verkauft, ein gewisser Teil wurde nach amerikanischer Manier verauktioniert. Die Billetts konnten im voraus bestellt werden, gingen schon jetzt durch ganz Amerika, brauchten aber nicht hier in San Francisco benutzt zu werden, denn einen Monat später würde das »Zauberschiff« in Acapulco, dem größten Hafen Mexikos, liegen.

Die Seele dieses sehr komplizierten Billetthandels war wiederum Littlelu, und bei dem kam da keine Unordnung vor. Der hatte so etwas in den Fingerspitzen, dem war so etwas angeboren. Denn schon sein Urgroßvater hatte ein Zirkuszelt gehabt, schon seine Urgroßmutter hatte an der Kasse gesessen, bis auf diesen Urenkel herab hatten sie alle das gleiche Metier ausgeübt, und so etwas muss zuletzt wohl ins Blut gehen.

Freilich hatte er auch einen ganzen Stab von Hilfsarbeitern. Das ehemalige Postbüro, das ja jetzt jeder größere Passagierdampfer hat, war das Sekretariat, darin saßen gegen zwanzig zierliche Japaner, welche die schriftlichen Sachen erledigten, die ankommenden Telegramme sofort beantworteten, das Geld aus Säcken in den Trichter einer Maschine schütteten, die es nach einigen Umdrehungen einer Kurbel sortiert, gezählt, in Rollen verpackt und versiegelt wieder zum Vorschein brachte — und diese Maschine war nicht etwa eine Erfindung der Mahatmas, sie hatte nichts mit den Geheimnissen des Sklavensees zu tun.

Die Besitzerin des »Zauberschiffes« ließ sich nicht von Zeitungsmenschen ausforschen, verriet auch freiwillig nichts von ihren Zukunftsplänen. Aber es war ja nur zu deutlich, was sie vorhatte. Von einer schwimmenden Weltausstellung zu sprechen, wäre übertrieben. Aber von einer schwimmenden Schaubude, einem Schaubudenschiff, das stimmte eher.

Auf dem Mississippi und seinen Nebenströmen gibt es schon einige Zirkusschiffe. Aber ein derartiges Seeschiff, das von Hafen zu Hafen fährt, das ist noch nicht da gewesen. Auskalkuliert mag solch ein Unternehmen ja schon oft genug worden sein, man wird aber wohl nicht auf die Kosten gekommen sein.

Das hier war ja aber etwas ganz anderes. Erstens sparte das »Zauberschiff« die Kohlen und auch vieles andere. Und dann wurden hier Wunder gezeigt, welche die Wissenschaftler der ganzen Erde schon jetzt herbei lockten, sie konnten es nicht erwarten, bis die »Geheimnisse des Sklavensees« zu ihnen kamen, um sich in ihrer Heimat an diesen unergründlichen Rätseln den Kopf zu zerbrechen, und das Publikum bekam etwas zu sehen, worüber es aus dem Staunen nicht herauskam. Ja, das war doch etwas ganz anderes als Reitkünstler und Seiltänzer und Riesen und Zwerge und dergleichen.

Schon seit acht Tagen gingen diese Vorstellungen, und noch immer gab es kein Billett unter 25 Dollars. Was diese rote Athletin verdienen musste! Nun, man konnte es sich ja ausrechnen. Tausend Menschen waren bei jeder Vorstellung zusammen, um Mittag wie um Mitternacht, und für die nächsten zehn Vorstellungen war immer alles schon wieder vollzählig angemeldet.

Auch ihre Unkosten konnte man sich berechnen. Die Hauptsache waren wohl die Büfetts, die allüberall aufgeschlagen waren, im Zwischendeck auf beiden Seiten ganz durchgehend, sodass gar kein Gedränge entstehen konnte. Selterswasser, die verschiedensten Limonaden, Milch, Tee, Kaffee, Kakao, Fruchteis, Gebäck, belegte Brötchen, sogar Delikatessen aller Art — alles frei zum Zulangen.

Das ist amerikanisch. In jeder Bierkneipe Nordamerikas steht neben der Bar ein Tisch, recht reich besetzt mit belegten Brötchen aller Art — Sandwichs — Salaten, Käsewürfeln usw. Für die fünf Cent, die ein Glas Bier kostet, kann man essen soviel man will. Der Wirt und die Barmädchen lachen den schüchternen »Dutchman« aus, der nicht zulangen will und sich von seinen Freunden vergebens nötigen lässt.

So etwas wird dem Erzähler in Deutschland oftmals nicht geglaubt. Aber der Franzose glaubt wieder nicht, dass in den deutschen Restaurationen auf dem Tische Streichhölzer zur freien Verfügung stehen. Das ist alles hin wie her. Und man kann ruhig sein: Der Wirt kommt schon auf seine Kosten. Dann tritt wieder ein Kerl ein, der alles frei hält, der seine Ehre darin sucht, den ganzen Lohn für ein furchtbar schweres Arbeitsjahr in wenigen Stunden totzuschlagen, und er rührt den Freilunch gar nicht an.

Was hatten also diese freien Büfetts hier bei solch einem Eintrittspreise zu bedeuten? Und das mochten bei dieser Schaustellung die größten Unkosten sein. Die zweihundertfünfzig Japaner, glaubte man, bezahlte die Indianerin überhaupt nicht. Sonst wusste man noch, dass die Besitzerin des »Zauberschiffes« erst heute früh die ganze gestrige Tageseinnahme von rund hunderttausend Dollars den von einem Erdbeben in Südamerika Betroffenen überwiesen hatte. Und man wusste auch, dass sie schon immer ähnliche Summen verteilt hatte. Aber diese indianische Gräfin ließ ihre eigene linke Hand nicht wissen, was ihre rechte Hand gab. Nur durch Zufall hatte man so etwas erfahren. Öffentlich bekannt musste natürlich gemacht werden, dass am nächsten Sonntag das ganze Schiff für die Zöglinge des Waisenhauses und andere arme Kinder offen stand und dass gleichzeitig in einem öffentlichen Gebäude dreitausend Arme gespeist wurden.

Da hieß es natürlich: Hut ab! — —

Der große Saal hatte sich bis auf den letzten Platz gefüllt.

In der Mitte saß vor dem kleinen Apparat der Brahmane selbst, er machte auch den Erklärer. Trotz der Weichheit seiner Stimme erfüllte diese den ganzen Saal.

Wer nun glaubte, an kinematografischen Bildern nichts Neues mehr sehen zu können, der irrte sich. Während jeder vierstündigen Besuchszeit wurden drei Bilder vorgeführt, innerhalb der acht Tage waren schon über hundert gezeigt worden. Und niemals gab es eine Wiederholung.

Der »Mohawk« hätte immer in San Francisco liegen bleiben können. Abgesehen davon, dass die Eisenbahnzüge ja aus ganz Nordamerika immer neue Besucher herbeibrachten, gab es in dem fabelhaft reichen San Francisco sicher allein tausend Personen, die bereit waren, jeden Tag und sogar für jede Vorstellung ihre 25 Dollars zu bezahlen.

Der Saal verdunkelte sich. Die weiße Wand war vierzehn Meter hoch und noch viel breiter.

»Westindische Wanderameisen, auch Jägerameisen genannt!«, erklang die weiche Stimme des Inders. »Ein Ameisenhaufen auf Kuba!«

An der Wand erschien eine kubanisch-tropische Landschaft, den Mittelpunkt bildete ein Hügel, nicht allzu hoch, auf dem es von Ameisen wimmelte.

Wenn das Bild auch näher gerückt wurde, dass die an sich nur kleinen Tierchen, kleiner als unsere roten Waldameisen, so groß wie etwa Marder wurden, so verlor es doch nichts von absoluter Naturtreue — mit anderer Kinematografie gar nicht zu vergleichen.

Übrigens hatte der Impresario einzelne Ameisen nur einmal stark vergrößert zeigen wollen, alles nahm gleich wieder natürliche Größe an, man sah nur ein Wimmeln.

»Die Ameisen ordnen sich zum Beutezug.«

Ein großer Haufen strömte heraus, im Abmarschieren entstand eine nicht enden wollende Schlange.

»Das Innere einer kubanischen Hütte, etwas über eine englische Meile von dem Ameisenhaufen entfernt.«

In der Blockhütte um einen Tisch saßen Neger und Mulatten, Männer, Frauen und Kinder, aßen, schmatzten und gestikulierten, einige Weiber wühlten in Schränken und Kommoden und zeigten wehklagend zerfetzte Kleidungsstücke.

Auf ganz Kuba sind gewisse Käfer und andere Insekten eine schreckliche Plage. Besonders in den Holzhütten der Farbigen wimmelt es von Kakerlaken und Motten, die alle Kleidungsstücke zerfressen. Ferner die große kubanische Maus, die am hellen Tage auf den Tisch kommt, sich die besten Stücke gleich aus der Schüssel holt und das noch zernagt, was Motte und Kakerlak übrig lassen. Ferner unter den Dachsparren Legionen von Wespen, welche den Menschen geradezu lebensgefährlich werden. Ein Ausrotten dieses Ungeziefers ist unmöglich. — Da ertönt der Ruf: »Die Ameisen kommen!«

Hei, diese Freude! Nun schnell alle Schranktüren und Schubfächer geöffnet, womöglich auch das kleinste Kästchen nicht vergessen. Dann aber nehmen auch die Menschen schnellstens Reißaus.

Durch die offene Tür drangen die Ameisen ein. Das Bild wurde vergrößert, immer mehr, einzelne Partien noch besonders hervorgehoben, und man wusste nicht, ob man mehr staunen oder mehr schaudern sollte.

Es ist schwer zu beschreiben. Aus allen Spalten und Rissen und Löcherchen wurden die schwarzen Kakerlaken — auch Schaben genannt — hervorgeholt, andere Käfer und sonstige Insekten, Holzböcke und Würmer und Motten, immer neue Legionen von Ameisen stürmten herein, kein Kästchen blieb undurchsucht.

Der Erklärer machte darauf aufmerksam, wie sich die Ameisen nicht erst Zeit nehmen, ihre Opfer zu töten. Nur allen Insekten, die fliegen, werden die Flügel abgebissen, den Laufkäfern die Beine, und dann fort mit ihnen nach dem heimatlichen Bau.

Das Bild wurde gerückt, man sah wieder die Ameisenschlange im Freien, ihr entlang gingen die Schaben und Würmer und Motten, an so einem großen Kakerlak zogen wohl immer hundert Ameisen, aber nur ein kurzes Stück, dann übergaben sie die Beute einer anderen Kompanie, liefen zurück und nahmen ein neues Opfer in Empfang. So wanderte jede Beute bis nach dem zweitausend Meter entfernten Ameisenhaufen, wo sie in den Zugängen verschwand, vergraben wurde, vorläufig noch lebend.

Neue Scharen stürmen heran. Es sind die Wespenjäger. Jetzt werden die Wespennester in Angriff genommen.

Und der Kampf begann, ein wirklicher Kampf, eine Schlacht unter den Dachsparren. Vergebens wehrten sich die großen Wespen gegen den winzigen Gegner, vergebens suchten sie ihre Brut zu schützen — und das war der Grund, warum sie nicht davonflogen — auf jede Wespe stürzten sich Hunderte von Ameisen, im Nu waren die Flügel abgebissen, das vorläufig so flugunfähige Opfer wurde den Kameraden zugeworfen, die Träger schleppten die zappelnde Wespe nach dem Bau und gruben sie dort ein.

Unterdessen wurden auch schon die Mäuse überwältigt. Man musste sich überzeugen lassen, wenn man es nicht glauben wollte. Übrigens waren unter den Zuschauern ja genug, welche diesen Vorgang selbst von Indien her kannten, wie dort ohne diese Ameisen keine Menschen leben könnten. Aber wer hatte solch eine Schlacht schon in solcher Nähe beobachtet? Und nun gar erst diese Vergrößerung!

Solch eine Ameise war gegen eine Maus dasselbe, was diese gegen einen Elefanten ist. Und doch wurde sie von den winzigen Insekten bezwungen. Hätten die Ameisen sie gebissen, ihr die Säure, Gift eingespritzt, oder wären sie ihr gar durch Nase und Ohren ins Innere gekrochen, sie so tötend, das hätte man begriffen. Aber nein, das Eigentümliche dieser kubanischen Jägerameisen ist eben, dass sie ihr erbeutetes Wild lebendig zum Bau schleppen und es dort lebendig vergraben. Stirbt ein Opfer im Kampfe oder unterwegs, so wird es liegen gelassen.

In kolossaler Vergrößerung sah man es ganz deutlich, wie an der Maus jedes einzelne Haar zu einem Strick wurde, an dem mehrere Ameisen wütend zogen, nicht nur diese, sondern das waren nur die Zupacker, an deren Leib zog wieder eine, an dieser wieder eine, so zogen an jedem Haar Hunderte, und ermüdete eine, drohte loszulassen, so standen für diese schon zehn andere bereit, um einzuspringen.

Und wie sich die Maus nun wehrte! In dieser Vergrößerung, wo die Maus manchmal zum Elefanten wurde, die Ameisen zu Mardern, sah es geradezu fürchterlich aus!

Aber alles Ringen war vergeblich. Die Maus wurde die zweitausend Meter weit nach dem Bau geschleppt, verschwand in einer schnell für sie gegrabenen Öffnung, mit Zauberschnelle wurden die Sandkörnchen wieder vorgefügt — erst unter der Erde musste die Maus unter tausend Qualen ihr Leben aushauchen.

In vier Stunden dreiundzwanzig Minuten war diese Hütte gesäubert. Es wurden 179 Mäuse gezählt, die sie während dieser Zeit wegschleppten. Die Kakerlaken und sonstigen Insekten waren natürlich nicht zu zählen. Jedenfalls aber war auch keine Milbe mehr vorhanden. Ein anderes Bild.

Schade! Es waren ja immer nur einzelne Szenen vorgeführt worden. Man hätte gern noch stundenlang dieser Tierschlacht zusehen mögen.

»Hierzu ein Gegenstück. Jetzt sind Menschen die Ameisen, welche zeigen, was vereinte Kraft vermag!«

Ein afrikanisches Negerdorf. Auf einer Art von Thron saß der Häuptling, vor ihm führten geschminkte Weiber und bewaffnete Krieger phantastische Tänze auf.

»Es sind Niambitas, ein nur erst dem Namen nach bekannter Negerstamm im Innern Afrikas. Noch kein Weißer ist zu ihnen vorgedrungen. Ich könnte Ihnen ein Schauspiel geben, wie Hunderte von Menschen geschlachtet und gegessen werden. Auf solche Scheußlichkeiten verzichte ich aber. Und auch das Nachfolgende ist noch blutig genug. Schwachnervige Personen wollen lieber den Saal verlassen.«

Nur ein Herr mit einem Kinde befolgte diese Warnung. Die Hälfte des Publikums bestand aus eleganten Damen, und von diesen dachte keine daran.

»Ein neuer König ist auf den Thron gekommen. Er verlangt von seinem Volke das köstlichste Geschenk, das zu haben ist, zugleich den stärksten Beweis für den Mut seiner Krieger. Diese werfen ihre Waffen weg und marschieren ab.«

So geschah es. Der Häuptling hatte eine kurze Rede gehalten, die schwarzen Krieger legten Waffen und alle etwaigen Kleider und Zierrate ab und zogen unter dem Händeklatschen der Weiber davon.

Die Szenerie wechselte. Eine Vollmondnacht in der Steppe. Ein Rudel Antilopen näherte sich vorsichtig der Tränke.

Da tauchte seitwärts zwischen dem Schilf ein ungeheurer Löwe auf, die Löwin folgte nach. Furchtbar sah es aus, wie die beiden Katzen daher schlichen, furchtbar diese Naturtreue. Sie waren dem Publikum am nächsten, und mancher mochte fürchten, wenn die Raubtiere den Kopf wendeten, würden sie lieber zwischen die Menschen springen als auf die Spießböcke.

Jetzt duckten sie sich, beide sprangen gleichzeitig. Die Löwin hatte ihr Opfer verfehlt, der Löwe aber eine Antilope aus dem jetzt davonstiebenden Rudel niedergeschlagen. Er riss mit zwei Tatzenschlägen die Eingeweide heraus legte sich hin und schaute zu, wie die Löwin von der Beute fraß.

»Diese Naturaufnahme beweist die Richtigkeit der so oft verspotteten Behauptung von Jägern und Naturforschern, dass nämlich der Löwe tatsächlich erst sein Weibchen sich sattfressen lässt, der Lebensgefährtin so lange mit sichtlichem Behagen zuschaut, ehe er selbst daran denkt, seinen eigenen Hunger zu stillen. Das Verhalten eines Löwenpaares in der Gefangenschaft kann diese Tatsache nicht entkräften. Diese selbstlose, wahrhaft edle Aufmerksamkeit des Löwen gegen die Gattin steht aber auch in der ganzen Tierwelt einzig da.«

Etwas Humor kam dazwischen! Littlelu ließ seine Stimme ertönen:

»Ich möchte die anwesenden Herren bitten, sich an dem König der Tiere ein Beispiel zu nehmen: Wie der Magen auch knurren mag, immer freundlich zusehen und warten, bis sich das Weibchen gesättigt hat.«

Gelächter, Händeklatschen, humoristische Zwischenrufe.

Aber der Humor erstarb gar bald.

Der Löwe hob den Kopf, spähte und witterte — und da plötzlich stürzten aus dem Schilfe von allen Seiten zahllose schwarze menschliche Gestalten auf die Raubtiere los. Es war ganz selbstverständlich, dass diese im Augenblick nicht an Gegenwehr dachten, sondern dass beide entfliehen wollten. Aber nur der Löwin gelang es, mit mächtigen Sätzen das Weite zu erreichen, der Löwe war von einem halben Hundert Menschen schon umzingelt, und auf ihn war es auch nur abgesehen gewesen.

Und der schreckliche Kampf begann. Denn nun freilich wehrte sich der Löwe. Das Gebiss benutzte er weniger, aber die furchtbaren Pranken, wie er mit diesen um sich schlug!

Im Nu lagen Dutzende der tollkühnen Neger mit blutenden Gliedmaßen und aufgerissenen Leibern am Boden. Aber was half es dem Löwen? Wie vorhin die Ameisen auf die Maus, so stürzten sich hier Menschen in endloser Anzahl von allen Seiten auf das gewaltige Raubtier, krallten sich in seiner Mähne und allüberall fest.


Illustration

Nur noch ein einziges Mal konnte sich der Löwe so weit frei machen, dass er zum Sprunge kam. Aber in seiner Mähne hatten sich doch noch zwei Neger festgekrallt, an jedem Hinterbein hing einer, an seinen Schwanz klammerten sich gleich drei, und solch einer Last war freilich auch die Kraft dieses Tieres nicht gewachsen.

Und dann kam er nicht wieder zum Sprunge. Ein ganzer Berg schwarzer Menschen lag auf ihm, unter dem er ersticken musste. Ringsherum allerdings lagen mindestens drei Dutzend Neger in Todeszuckungen.

Das Bild verschob sich. Durch die vom Vollmond beschienene Steppe wälzte sich ein Menschenknäuel. Ab und zu gewahrte man in der Mitte desselben den Löwen, der von eingekrallten Fäusten fortgeführt wurde, besonders wenn er sich noch einmal zur Wehr setzte. Dann blieben wohl immer wieder einige Neger mit zerfleischten Gliedern und Leibern liegen, aber sofort warfen sich von allen Seiten neue Menschenmengen auf ihn, ihn zu Boden drückend, dass er sich nicht regen konnte.

Wieder verschob sich das Bild. Der König der Wildnis wurde von den schwarzen Kriegern, die ihn mit den bloßen Händen gebändigt hatten, sodass er jetzt an keinen Widerstand mehr dachte, ihrem König vorgeführt. Der konnte mit der selbstaufopfernden Tapferkeit seiner Leute zufrieden sein.

Ehe man erfuhr, was nun aus dem gefangenen Löwen wurde, verschwand das Bild.

Atemloses Schweigen herrschte in dem weiten Saale. Es war fürchterlich prächtig gewesen. Und das musste doch wirklich in Afrika passiert sein, diese Szene konnte doch nicht etwa künstlich arrangiert worden sein, wie man so für die Theater kinematografische Bilder zusammenstellt!

»Das dritte Bild kann erst in einer Stunde gezeigt werden!«, ließ sich da Littlelus Stimme vernehmen. »Jetzt wollen sich die mit gelben Karten versehenen Herrschaften in das mechanische Theater, die mit blauen Karten versehenen in den Illusionsraum bemühen. Überall stehen Matrosen, welche führen.«

Also auch diese beiden Schaubelustigungen befanden sich schon auf dem Schiffe und waren von Sirbhanga Brahma eingerichtet worden.

Die gesperrte Camera und eine Warnung

In einem einsamen Korridor patrouillierte vor einer unscheinbaren Tür ein japanischer Matrose auf und ab, am Gürtel den großen Marinerevolver im Futteral und den mächtigen Entersäbel.

Es war eine Nebentür des kleinen Speisesaales, in dem die Camera obscura aufgestellt war. Vor den Haupteingängen zu diesem Saal mochten jetzt die Menschen auf und ab fluten, hier aber war es ganz einsam.

Zwei Herren schritten durch diesen langen Korridor, waren aber von dem Matrosen noch weit entfernt.

»Die Camera obscura wird dem Publikum überhaupt nicht gezeigt?«, fragte der eine, der ältere.

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil man dasselbe doch in dem kinematografischen Theater sieht, und noch amüsanter wirkt es auf der Illusionsbühne. Durch die Camera obscura sind alle diese lebenden Bilder erst durch Fernfotografie aufgenommen, aber das interessiert das große Publikum ja gar nicht. Das ist die wissenschaftlich-technische Seite der Sache.«

»Aber den Regierungsvertretern steht die Camera obscura offen?«

»Zu jeder Zeit, auch des Morgens, wenn das Schiff sonst für das Publikum geschlossen ist. Wir können ja, wenn wir wollen, auch gleich an Bord wohnen. Dasselbe gilt aber auch für alle anderen Ingenieure und sonstige Männer der Wissenschaft, welche von der Gräfin die Erlaubnis erhalten haben, die hier aufgegebenen Rätsel zu lösen.«

»Was noch bei keinem geglückt ist.«

»Nein. Und ich halte es auch für ausgeschlossen, dass es jemals gelingen wird.«

»Weshalb nicht? Sie selbst stellen sich als Ingenieur, den unsere Regierung als Repräsentanten der geistigen Kraft hierher geschickt hat, da nicht gerade ein günstiges Zeugnis aus.«

»Und doch muss ich es sagen. Ich bezweifle, dass irgend ein Mensch, und sei es der personifizierte Scharfsinn selbst, auch nur das kleinste dieser Geheimnisse des Sklavensees ergründen wird, denn — diese Erfindungen scheinen gar nicht von Menschen gemacht worden zu sein.«

»Sie glauben doch nicht etwa auch an Mahatmas?«, spottete der ältere Herr.

»Ich — weiß gar nichts, Mister Wray.«

»Oder halten Sie den Sirbhanga Brahma für einen Gott oder doch Halbgott?«

»Ist Ihnen bekannt, wie der Brahmane den Tod der Tochter des Senators Simmer vorausgesagt hat?«

»Na, was ist denn da weiter dabei? Aus der Hand wahrsagen, das kann jede alte Zigeunerhexe.«

»Also Sie glauben doch an Chiromantie?«

Ehe sich der alte Herr inkonsequent werden musste, hatten sie den Wachtposten erreicht, der jetzt direkt vor der Tür stand, die in den Raum führte, in dem die Camera obscura sich befand.

»Ist schon jemand drin?«, fragte der jüngere Herr.

»Nein!«, erwiderte der Posten.

»Das passt vortrefflich. Ich möchte eine halbe Stunde für mich reservieren.«

Hierzu hatte jeder der speziellen Gäste das Recht. Dann konnte er allein an dem Apparat hantieren, so viel er wollte, er wurde nicht gestört und nicht beobachtet und konnte sich diese Frist durch besonderes Gesuch auch verlängern lassen.

»Na, wollen Sie mich einlassen?«, fragte der jüngere Herr ungeduldig, als der Japaner, fast ebenso breit wie hoch, vor der Tür nicht wich.

»Ich bitte um Ihre Legitimation.«

»Na, Sie kennen mich doch — George Dale, Regierungsingenieur der Vereinigten Staaten.«

»Ich habe Order, mir immer die Legitimation vorzeigen zu lassen.«

»Das war doch früher nicht nötig, wenn man sonst bekannt ist.«

»Nein.«

»Seit wann wird denn diese Vorsicht gebraucht?«

»Seit gestern.«

»Ist da etwas passiert?«

»Ich weiß nicht.«

Mister Dale zog eine Karte aus der Tasche, der Japaner blickte darauf, salutierte, war aber noch nicht zufrieden.

»Sie wollen diesen Herrn mit in die Camera obscura hineinnehmen?«

»Jawohl, und dieses Recht, einzelne fremde Besucher mitzubringen, ist uns doch zugestanden worden. Wir müssen für den Fremden natürlich bürgen.«

»Das besteht auch jetzt noch. Jetzt aber müssen wir nach den Namen der Besucher fragen und sie hier auf diese Tafel schreiben.«

»Thomas Wray!«, sagte der ältere Herr.

Der Japaner schrieb den Namen ganz korrekt auf eine an der Tür angebrachte Tafel, über der sich eine Uhr befand.

»Ihr Stand oder Beruf, bitte?«

»Auch das muss jetzt angegeben werden?«, fragte zunächst Mister Dale.

»Jawohl.«

»Kaufmann.«

Auch das wurde aufgeschrieben, dazu die Uhrzeit, und der Wachtposten gab die Tür frei, die beiden traten ein.

Es war also der kleine Speisesaal, bei geschlossenen Fenstern elektrisch erleuchtet, der weißen Wand gegenüber stand in der Mitte der kleine Apparat.

»Da muss irgend etwas passiert sein, dass man so vorsichtig geworden ist!«, flüsterte der Jüngere zunächst. »Und es ist doch eigentlich ein grober Vertrauensbruch, dass ich Sie hier unter fremdem Namen einführe. Wir Bevorzugten müssen für jeden andern, den wir in die dem Publikum sonst verschlossenen Intimitäten einführen, mit unserem Ehrenwort haften, dazu haben wir uns schriftlich verpflichtet. Hätte ich gewusst, dass man jetzt Name und Stand angeben muss —«

»Ah bah!«, unterbrach ihn verächtlich der Ältere. »Was ist ein Name?! Ein leerer Schall.«

»Wenn Sie aber nun noch nachträglich erkannt werden?«

»Dann werde ich mich schon zu rechtfertigen wissen.«

»Ja, aber ich?«

»Sie sind Regierungsbeamter und haben einfach zu gehorchen. Nun erklären Sie mir diese wunderbare Einrichtung, an der ich vorläufig noch zweifeln möchte.«

Mister Dale setzte sich vor den Apparat, schaltete das elektrische Licht aus, ließ an der weißen Wand die Erdkarte erscheinen, erklärte den Zweck des roten Lichtpunktes, er blieb auf New York haften, diese Stadt erschien als erstes Beispiel in der Vogelperspektive und im Aufriss.

»Fabelhaft, fabelhaft!«, staunte der alte Herr immer wieder, als sich seinen Augen eine belebte Straße nach der anderen zeigte, der ganze Hafen und noch viele Einzelheiten.

»Und wie erkennt man nun, was an der Camera gesperrt ist?«

Denn hierüber hatte ihm der Ingenieur schon berichtet.

Die Sache war nämlich die, dass nicht jeder beliebige Teil der Erde aufgesucht werden konnte. Nach gewissen Gegenden ließ sich der rotleuchtende Punkt nicht hindirigieren, im Großen wie im Kleinen. Dann versagte das Stellrad, es ließ sich plötzlich nicht mehr drehen.

Im Großen kamen dabei alle Gegenden der Erde in Betracht, welche der zivilisierten Menschheit noch unbekannt sind. Also zum Beispiel die beiden Pole mit weiterer Umgebung, das Innere Australiens, viele Gegenden Afrikas und so weiter.

Ferner konnte der rote Punkt nach keinem Lande dirigiert werden, in dem gegenwärtig ein Krieg geführt wurde. So hatte jetzt wieder einmal England nach dem Sudan Kriegstruppen geworfen. Es war nicht möglich, den roten Punkt, der dann das Ganze in beliebiger Deutlichkeit herangezaubert hätte, über den Sudan zu lenken. Das Stellrad versagte. Schon Ägypten war gesperrt, desgleichen Abessinien.

Im Kleinen galt dasselbe für alle Fortifikationen, Festungsanlagen. Auch New York ist ja natürlich stark befestigt, besonders die vorgelagerten Inseln starren von verdeckten Geschützbatterien.

Man konnte ganz New York auf die Wand zaubern, das Leben in jeder Straße, auf jedem Inselchen beobachten. Aber wo dem Publikum der Zutritt verboten war oder wo der Besuch nur unter strengster Kontrolle gestattet war, wo man nicht fotografieren, kein Notizbuch mit Bleistift ziehen durfte, da sagte auch hier das Stellrad: Halt, bis hierher und nicht weiter! Der Punkt ließ sich nicht weiter dirigieren.

Der Grund zu dieser Maßregel war ja klar genug. Es hätte ja sonst von diesem Schiffe aus eine Spionage im großartigsten Maßstabe betrieben werden können. So etwas wollte Atalanta vermeiden. Dazu gab sie die Geheimnisse ihres Sklavensees nicht her.

»Bitte, richten Sie den Punkt doch einmal nach Mexiko, nach der Grenze gegen uns.« Es gelang nicht. Auch die Republik Mexiko mit allen Grenzen war gesperrt.

»Ja warum denn das?«, sagte der alte Herr mit scheinbarem Staunen. »Mexiko hat doch keinen Krieg, lebt mit aller Welt im besten Einvernehmen, im allerbesten mit den Vereinigten Staaten!«

Dieses Staunen war Verstellung. Gerade dieser alte Herr, der einen falschen Namen genannt hatte, musste es am besten wissen.

Vor einem Vierteljahre hatten die Vereinigten Staaten und die Republik Mexiko wegen Grenzstreitigkeiten dicht vor der Schwelle des Krieges gestanden. Und ein Krieg gegen den nordamerikanischen Riesen ist für das kleine Mexiko gar nicht so aussichtslos, wie mancher glauben mag. Die inneren Zwistigkeiten, die ewigen Bürgerkriege müssten nur einmal beiseite gelassen werden, das ganze Volk sich einmal einig sein. Ganz Mexiko ist ein furchtbares Gebirgsland. Zur offenen Feldschlacht würde es nie kommen. Aber diese Gebirgsbewohner sind den Guerillakrieg aus dem Hinterhalt gewohnt. Jede Schlucht, jeder Fuß breit müsste mit schwerem Blute erkämpft werden. Die ungeschulte Miliz der Vereinigten Staaten würde schreckliche Erfahrungen machen.

Damals, als das Kriegsgespenst aufgetaucht war, hatten beide Regierungen schnell ihre Truppen nach der Grenze geworfen. Die Kriegsgefahr war vorbei gegangen. Jetzt waren beide Länder wieder ein Herz und eine Seele. Über die Grenze gingen die Soldaten hinüber und herüber und zechten und tanzten zusammen. Aber sie lagen sich eben noch mit gefüllten Patronentaschen und mit Maultieren bespannten Gebirgsgeschützen gegenüber, das war die Sache! Deshalb hatte Atalanta auch diese Grenze und die ganze Umgebung für ihre Camera obscura noch nicht freigegeben.

»Verflucht, wer kommt denn da?!«, knurrte Mister Dale, schnell den roten Punkt von dieser Grenze ablenkend. »Ich denke, wir sind hier für eine halbe Stunde ungestört?«

Die beiden Personen, welche aus dem finsteren Hintergrund auftauchten, hatten hier immer Zutritt: Atalanta und Littlelu.

Mister Dale war aufgesprungen, stellte den alten Herrn als den Kaufmann Thomas Wray aus Cincinnati vor, und so sehr er auch mit sich rang, gelang es ihm doch nicht, seine Verwirrung zu verbergen.

»Sie haben da ja eine wunderbare Erfindung gemacht, Frau Gräfin!«, begann dann der Vorgestellte.

Er sagte noch andere Schmeicheleien, als ob dies alles aus dem Kopfe der jungen Frau entsprungen sei.

Bei der Frau Gräfin aber brach wieder einmal die Indianerin hervor. Sie gab einfach keine Antwort, die beiden existierten gar nicht für sie, sie beschäftigte sich mit den Rädern und Hebeln, obgleich sie kein Bild an die Wand warf.

Den beiden wurde es dadurch noch ungemütlicher zumute, weil sie auch noch von dem Begleiter Atalantas so scharf und ebenso schweigend fixiert wurden.

»Sie sind doch jetzt recht vorsichtig geworden, Fran Gräfin!«, sagte da der junge Ingenieur, eigentlich nur, um irgend etwas zu sagen. »Dass man jetzt überall seine Legitimationskarte vorzeigen, den Namen seines Gastes nennen muss.«

Die in ein schneeweißes, ganz schlichtes und dennoch hochelegantes Kostüm gekleidete Indianerin richtete sich von dem Apparat auf, über den sie sich gebeugt hatte.

»Ja«, sagte sie langgedehnt, »man muss auch vorsichtig werden. Der Mister Holten — Sie kennen ihn doch — den der von der englischen Regierung abgesandte Ingenieur als speziellen Gast hier eingeführt hat, hat gestern hier in der Camera verzweifelte Versuche gemacht, den Bann zu brechen, den ich über den sudanesischen Kriegsschauplatz verhängt habe.

Nun, solche Versuche kann er ja auch machen, es gelingt ihm doch nicht, den roten Punkt dorthin zu lenken, er könnte den Apparat höchstens demolieren.

Aber die Sache ist die, dass dieser Mister Holten, Privatgelehrter, sich als Seine Herrlichkeit der Lord von Kingslay entpuppt, und das ist kein Privatgelehrter, sondern es ist der Geheimsekretär des englischen Kriegsministeriums.

Das hat der englische Regierungsingenieur natürlich gewusst. Dieser Gentleman hat also sein Ehrenwort gebrochen.

Aber nicht nur das — die beiden haben auch großartige Bestechungsversuche in die Wege geleitet. Der Kriegssekretär hat zwei meiner japanischen Ingenieure die höchsten Ehrenposten in England und alles mögliche versprochen, wenn sie hier einmal den über den Sudan verhängten Bann aufheben und ihm auch sonst hin und wieder einen besonderen Wink geben.

Das ist höchst fatal. Ja, da muss man wohl vorsichtig werden. Sie haben wohl schon bemerkt, dass die beiden Herren plötzlich verschwunden sind. Nicht? Nun, an Bord meines Schiffes sehen Sie die beiden nicht wieder — sonst gibt es die — — Hundepeitsche!«

Der amerikanische Ingenieur musste wohl plötzlich einen Einfall haben, er sah hastig nach der Uhr.

»Herrgott, es ist ja gleich um vier, Mister Wray, wir werden doch von dem Herrn erwartet — Frau Gräfin, Sie entschuldigen wohl —«

Der alte Herr schien sich ihm nur gar zu gern anzuschließen.

Littlelu blickte den beiden nach, bis sie hinaus waren, dann wandte er sich an Atalanta, die sich wieder über den Apparat beugte und ein Schubfach aufzog, in dem ein Bogen Papier lag, auf das Linien gezeichnet waren.

»Frau Gräfin, ich habe einen Verdacht — aber ich habe auch ein sehr gutes Gesichtsgedächtnis — ich möchte mich doch gleich hängen lassen, wenn der ältere Herr nicht der Kriegsminister der Vereinigten Staaten ist, der sich nur den Vollbart hat abnehmen lassen, wodurch er ein ganz anderes Aussehen bekommen hat.«

»Sie brauchen sich nicht hängen zu lassen!«, erlang es gleichmütig zurück. »Dieser vorgebliche Mister Wray ist wirklich der Kriegsminister Arkwart.«

»Sie selbst wissen es —?!«

»Es ist mir durch einen anonymen Brief verraten worden.«

»Und Sie lassen den Kerl hier herumspionieren?«

»Was gibt es da zu spionieren? Alle diese Herren haben ja das Recht, hier alles nach Belieben zu untersuchen. Dieses Blatt Papier hier, auf dem sich der rote Einstellpunkt selbsttätig registriert, sagt mir, dass diese beiden Herren ihn immer nach der mexikanischen Grenze zu dirigieren versuchten. Vorher hatte sich der Vertreter der französischen Regierung eine halbe Stunde reservieren lassen, und der ist immer um die deutschen Festungen Metz und Straßburg wie die Katze um den heißen Brei herumgeschlichen.

Doch ich kann diesen Herren gar nicht verdenken, wenn sie die Interessen ihrer Regierungen wahrzunehmen versuchen. Und es steht ihnen ja alles frei. Dass die, denen ich solches Vertrauen schenke, fremden Besuch unter falschem Namen einführen, das ist eine andere Sache. Ich will nur erst sehen, ob die nicht auch Bestechung versuchen, dann werde ich gegen den amerikanischen Ingenieur schon vorgehen. Doch ich glaube fast, wir sehen diese beiden jetzt nie wieder.«

Littlelu war näher auf sie zugetreten.

»Frau Gräfin, lassen Sie sich warnen!«, sagte er in entsprechendem Tonfall.

»Wovor?«

»Wenn Sie fernerhin in Ihrem Leben Ruhe und Frieden haben wollen, so nehmen Sie einen Hammer und schlagen Sie diesen Apparat kurz und klein! Oder noch besser, versenken Sie lieber dieses ganze Schiff im Meer, wo es am tiefsten ist, und ebenso treten Sie lieber Ihre Felsenwohnung am Sklavensee der amerikanischen Regierung ab. Sie können ja vorher darin ebenfalls alles erst zerstören.«

»Oho!«

»Ja. Eher werden Sie niemals ein friedliches Leben genießen.«

»Nun gut, unterhalten wir uns einmal darüber. Halten Sie es für möglich, dass eine Regierung wie die nordamerikanische mir mein Schiff und mein sonstiges Eigentum mit Gewalt nimmt?«

»Nein, dass irgend eine Regierung deshalb zum Räuber wird, das halte ich für ausgeschlossen. Aber das lässt sich auf Umwegen erreichen.«

»Auf was für Umwegen?«

»Es kann sich eine Privatgesellschaft bilden, die Ihnen Ihre Geheimnisse abnimmt und diese dann auf indirektem Wege anbietet. Ja, an die Spitze solch einer Räubergesellschaft kann sich sogar ein maskierter Regierungsbeamter stellen.«

»Gut, sie mögen nur kommen.«

»Aber es gibt einen Fall, in dem auch die Regierung Sie direkt zwingen kann, ihr die Geheimnisse auszuliefern.«

»Was ist das für ein Fall?«

»Wenn ein Krieg ausbricht. Haben Sie noch nichts vom Requisitionsrecht gehört?«

»Nein.«

»Gesetzt den Fall, ein Mann hat eine neue Waffe erfunden, ein neues Gewehr mit bisher unbekannter Treffsicherheit, Durchschlagskraft usw. Er hält es nicht für gut, seine Erfindung der Öffentlichkeit zu übergeben. Unsere jetzigen Donnerbüchsen genügen gerade, um unter den Tieren des Waldes und der Prärie aufzuräumen, und er ist ein Friedensapostel, er will nichts vom Krieg wissen.

Das kann er halten, wie er will. Da aber bricht Krieg aus. Dann kommt die Regierung zu ihm und fragt ihn, wie viel er für seine Erfindung haben will. Sie ist ihm unverkäuflich. Dann wird ihm eine gewisse Summe geboten. Nimmt er die nicht an, dann — — wird ihm seine Erfindung einfach mit Gewalt genommen. Das nennt man das Recht der Kriegsrequisition.«

»Ja, wenn er seine Erfindung sich nehmen lässt.«

»Was will er dagegen tun?«

»Er versteckt sie oder vernichtet sie vorher.«

»Nun ja, das ist es ja, was ich auch Ihnen rate: Verstecken auch Sie sich mit Ihrem Schiffe oder versenken Sie es lieber gleich dort im Meere, wo es am tiefsten ist.«

»Ich denke nicht daran, und ich wiederhole: Sie mögen nur kommen!«

»Frau Gräfin, gestatten Sie mir eine Frage. Sie haben einmal gedroht, die Stadt San Francisco zu bombardieren. Würden Sie Ihre Drohung wirklich ausgeführt haben?«

Nur eine kleine Überlegung.

»Nein!«, erklang es dann bestimmt. »Meinetwegen soll kein Unschuldiger leiden. Soldaten, die mich auf Kommando angreifen, die würde ich beschießen, das ist etwas anderes. Oder die Batterie, in der ich die Kanonenschüsse aufblitzen sehe, die würde ich zum Schweigen bringen. Aber sonst würde ich nicht ein einziges Häuschen demolieren, das vielleicht ja einer Person gehören kann, die sonst ganz auf meiner Seite ist.«

»Und mit dieser Ihrer edlen Toleranz rechnet man, ist eben das Niederträchtige dabei. Verlassen Sie sich darauf, dass es so ist, ich habe Sie gewarnt.«

»Und Sie sollen sehen, wie ich gewappnet bin.«


Lieferung 16


Illustration

»Frau Gräfin, verraten Sie uns das ausgemachte Zeichen, oder
in der nächsten Minute sehen Sie diesen Mann sich in furcht-
baren Qualen winden!«, sagte der Wortführer der Maskierten.


In der Falle

Es war am anderen Tage in der zehnten Vormittagsstunde. Unter den glühenden Sonnenstrahlen begann das Leben in der Stadt schon zu ersterben, um erst am Nachmittag wieder zu erwachen.

Wie ausgestorben lag auch das riesige »Zauberschiff« da. Nur zwei japanische Matrosen gingen mit Revolver und Entersäbel vor der Laufbrücke an Deck Wache.

Da kam über den sonnenverbrannten, menschenleeren Kai ein Chinese gelaufen, in der Arbeitstracht der Kulis.

Sein Ziel war diese Landungsbrücke des »Mohawk«. Einer der Matrosen vertrat ihm den Weg.

»Was gibt's?«

,Missis Atalanta.«

»Was soll die Gräfin?«

»Muss sie sprechen, habe ihr was zu geben.«

»Gib her.«

»Muss es ihr selbst geben! Wichtig, wichtig, furchtbar wichtig.«

Diese Posten hatten ihre Order. Der Matrose sprach in ein an der Bordwand hängendes Telefon, und in einer halben Minute war Atalanta zur Stelle.

Der schmutzige Chinese brachte unter seinem Kittel ein noch schmutzigeres Kuvert zum Vorschein, hinten und vorn mit ebenso vielen roten Siegeln wie mit fettigen Fingerabdrücken versehen.

»Von wem kommt das?«

»Steht drin. Aber heimlich, heimlich, furchtbar heimlich!«

Atalanta erbrach Siegel und Kuvert gleich hier. Das in englischer Sprache abgefasste Schreiben war ziemlich orthografisch gehalten, nur hin und wieder ein kleiner Fehler und eine merkwürdige Redensart. Aber schon der Anfang war merkwürdig genug.

Ich Unterzeichneter, Lin Han Kin, bin Besitzer der verpestetsten Opiumhöhle

im chinesischen Viertel, selten vergeht ein Tag, an dem in meinem Haus nicht

ein Mord stattfindet, ich selbst bin der ausgemachteste Schurke und Lump, der

sich nicht mehr in die Sonne zu setzen wagt, und dennoch bitte ich Dich, Du

rote Mohnblume vom Lande der aufgehenden Sonne, Dich unter der Führung

des Überbringers in meine Hütte zu bemühen. Wozu? Vernimm es: Ich habe

das Gespräch zweier vom Opium berauschten Soldaten belauscht, Dir sollen

Deine Geheimnisse und womöglich das ganze Schiff geraubt werden. Vernichte

diesen Brief sofort. Ich bin zu dick und zu krank, um selbst zu kommen.

Mit unbeweglichem Gesicht faltete die »rote Mohnblume« den Brief wieder zusammen.

»Warte ein wenig.«

Sie fragte nach dem Kapitän und begab sich dann in die kleine Kajüte, in der Doktor Hikari schreibend saß.

»Was sagen Sie hierzu?«

Hikari las den Brief.

»Es kann eine Falle sein, in die Sie gelockt werden sollen, es kann auch Wahrheit sein.«

»Der Mann bezeichnet sich selbst als den größten Schurken.«

»Eben das kann eine raffinierte List sein, um Sie in eine Falle zu locken.«

»So habe ich es mir auch schon ausgelegt.«

Auf diese Weise waren diese beiden also nicht zu täuschen.

»Der Chinese erhofft natürlich eine große Belohnung.«

»Wir wollen erst einmal die Schauspielerin über diesen Mann befragen.«

Die Schauspielerin kam. Aber es war ein männlicher Japaner, doch von so zierlicher Gestalt und mit einem so hübschen Gesicht, dass er recht gut als Geisha, als Tänzerin hätte gehen kennen, und das hatte er denn auch wirklich vor noch gar nicht so langer Zeit getan.

Erst aber hatte Miura, der Sohn einer sehr guten Familie, einige Semester in San Francisco das Polytechnikum besucht; er hatte wenigstens studieren sollen, war aber dabei total verlumpt, denn das kann auch bei einem Japaner vorkommen. Nur dass er auch im größten Rausche der Stockfisch bleibt, aus dem, wenn er nicht will, nichts herauszubringen ist.

Als der verbummelte Student nach seiner Heimat zurück musste, aber auch hier nicht gut tun wollte, sodass er nicht weiter unterstützt wurde, war Miura zur Bühne gegangen. Aber nicht als Schauspieler, sondern als Schauspielerin. Denn wie in China, so darf auch in Japan nach einem religiösen Gesetz kein Weib die Bühne betreten. Die weiblichen Rollen müssen von Knaben gespielt werden. Wohl machen jetzt japanische Schauspielerinnen von sich reden, aber mehr in Europa als in Japan, oder dort können sie nur in Privatzirkeln auftreten. Es ist kein staatliches Gesetz, eigentlich auch kein religiöses — eben eine Volksansicht. Das Theater, in dem ein Weib auftritt, würde sich unmöglich machen. Tänzerinnen, Gauklerinnen und so weiter — ja, aber keine Schauspielerin.

Nun, der zierliche Miura war ja dazu wie geschaffen. Er hatte als Mädchen gemimt. Den immer mehr Herunterkommenden hatte ein Ingenieur, der für den »Mohawk« oder den damaligen »Bansai« angeworben worden, mit an Bord genommen. Es war der anstelligste, zuverlässigste Bursche. Nur an Land durfte man ihn nicht schicken, wenigstens nicht allein. Und doch gab es manchmal an Land zu tun, da machte er den Führer oder er steuerte auch das Automobil, denn der kannte ganz San Francisco wie seine Hosentasche, und je schmutziger die Straßen waren, desto mehr befand er sich wie zu Hause. Es gab keine Spelunke, die er nicht kannte. Freilich hatte man von dieser seiner Gabe noch keinen Gebrauch machen können.

»Sie sind doch auch im chinesischen Viertel bekannt?«, wurde die »Schauspielerin« empfangen.

Die listigen Schlitzaugen in dem hübschen, mongolischen Mädchengesicht himmelten zur Decke empor.

»Na und wie!«

»Kennen Sie eine Opiumhöhle von Lin Han Kin?«

Wieder ein freudig-himmelnder Blick.

»Aaaah — Lin Han Kin — der rote Drachen der Glockengasse — soll ich den nicht kennen!«

»Eine Opiumhöhle?«

»Die allergefährlichste Spelunke. Aber fein, fein — das heißt, man kann sich fein darin amüsieren, wie in keiner anderen.«

Der junge Japaner strahlte im ganzen Gesicht.

»Besonders unter der Erde!«, setzte er dann noch hinzu.

Denn das ganze chinesische Viertel ist unterirdisch wie ein Ameisenhaufen ausgehöhlt. Das hat das letzte Erdbeben im Jahre 1906 ans Tageslicht gebracht. Der Polizei ist es schon immer bekannt gewesen, auch dass in den Erdlöchern die schrecklichsten Orgien gefeiert werden; aber man lässt die Chinesen gewähren. Ganz gut, wenn man weiß, wo man zu suchen hat, wenn ein Verbrechen geschehen ist.

Da Atalanta nicht weiter fragte, was der Japaner hiermit meinte, mit dem »besonders unter der Erde«, so musste auch ihr dies schon bekannt sein.

»Was ist Lin Han Kin für ein Mann?«

»Ein Mann von mindestens drei Zentnern, und außerdem hat er auch noch Elefantenbeine.«

»Elefantenbeine?«

»Er leidet an Elefantasis, eine Wassersucht, die besonders die Beine ergreift.«

»Dann freilich kann er nicht selbst kommen. Und sein Charakter?«

»Er ist der Wirt einer Opiumhöhle, das sagt alles.«

»Trotzdem — ist ihm zu trauen?«

»Er ist ein Chinese, das sagt noch mehr.«

»Das heißt, er ist zu jedem Verbrechen fähig.«

»Zu jedem, wenn er danach bezahlt wird. Bezahlt ihn aber ein ehrlicher Mensch noch besser, so ist er sogar zu jeder Ehrlichkeit fähig.«

»Gut, nun weiß ich genug. Mache das kleine Automobil fertig, Du fährst mich nach dem roten Drachen.«

Der junge Japaner entfernte sich.

»Wissen Sie«, fragte Kapitän Doktor Hikari noch, »dass man im chinesischen Viertel rechtlos ist, dass kein darin vorkommendes Verbrechen gesühnt wird?«

Atalanta wusste es. Die beziehentlichen polizeilichen Bekanntmachungen hängen in allen Bahnhöfen und anderen öffentlichen Orten aus.

Das Betreten des chinesischen Viertels kann natürlich nicht verboten werden, aber jeder wird davor gewarnt. Wer es betritt, tut es auf eigene Gefahr. Dem Fremden wird von seinem Konsul der Schutz versagt, wenn er dort beraubt worden ist, auch die Polizei will nichts damit zu tun haben. Selbst ein im chinesischen Viertel geschehener Mord bleibt ungesühnt, die Kriminalpolizei setzt sich auf die Anzeige hin nicht in Bewegung, wenigstens macht sie sich nicht allzu viel Mühe.

Also Atalanta wusste, wohin sie sich begab. Fürchten tat sich die Indianerin natürlich nicht. Nur weil sie jetzt für viele Menschen die Verantwortung übernommen hatte, mochte sie es für besser halten, einigen Schutz mitzunehmen.

Littlelu hatte sich an Land begeben, man wusste nicht wohin, und San Francisco ist groß, sonst hätte sie diesen mitgenommen. So ließ sie sich noch von einem japanischen Matrosen begleiten, von dessen intelligenter und schlagfertiger Zuverlässigkeit sie schon mehrere Proben bekommen hatte.

An Deck öffnete sich eine große Luke, auf einem Fahrstuhl kam ein Automobil herauf, so klein und zierlich, dass es eher wie ein Kinderfahrzeug aussah, und doch verfügte es über hundert Pferdekräfte. Aber keine Maschinerie war dazu nötig, ein kleiner Kasten lieferte die Elektrizität, diese ständig aus der Atmosphäre ziehend, die Kraft wurde direkt auf eine einfache Kurbel übertragen.

Es war unter Anleitung des Brahmanen erst in letzter Zeit hergestellt worden, aus in Omnihilit verwandeltem Wasser mehr gegossen. Doch abgegeben wurde von diesem Omnihilit und der noch rätselhafteren Substanz, feingezupfter Baumwolle ähnlich, die aus allen Elementen Elektrizität saugte, nichts, denn Atalanta wollte nicht, dass sich alle Kriegsschiffe mit Wasser panzern könnten — wenn es die Menschheit nicht selbst nacherfand.

Nachdem Atalanta mit Kapitän Hikari noch eine kurze Unterredung gehabt hatte, setzte sie sich mit dem beorderten Matrosen in das geschlossene Innere, Miura sprang auf den Bock und das federleichte Gefährt rollte über die Landungsbrücke. Die Führung des Chinesen war ja gar nicht nötig.

Von dem Judenviertel getrennt durch eine öde Gegend liegt das chinesische. Es gleicht ganz den armen Quartieren in allen chinesischen Städten. Elende Hütten in dem eigentümlichen Stile, des Abends überall bunte Papierlaternen. Nur dass hier die offenen Handwerkerläden fehlen. Alle die Chinesen arbeiten in Fabriken, meist in Seifenfabriken. Ab und zu eine Pagode, ein kleiner Tempel. Und dann eine Unmenge von Theatern, Tingeltangels und dergleichen Vergnügungsstätten, ganz abgesehen von den Teestuben, zugleich stets Barbierläden, die aber hauptsächlich zum Genusse des Opiumrauchens dienen, was jedoch nur heimlich, nur in Kellerräumen vor sich gehen darf.

In solch einer Teestube, stets durch einen Drachen gekennzeichnet, schrien Weiberstimmen Zeter und Mordio. Dort drin wurde ganz offenbar ein Weib abgeschlachtet. Und das konnte nur eine Amerikanerin sein, denn einmal dürfen Weiber China ja überhaupt nicht verlassen, und kommt doch einmal eine Chinesin nach San Francisco, so darf sie sicher nie unter der Erde hervor — und dieses Weib schrie ja auch auf Englisch:

»Hilfe, Hilfe, er mordet mich!«

Vor der Tür stand ein Policeman. Er kümmerte sich gar nicht um das Hilfegeschrei. Und wenn hier eine ganze Straßenschlacht stattfand, zwischen Chinesen oder Europäern, dieser Pächter des Gesetzes mischte sich mit keinem Worte ein. Wehe aber, wenn er dabei nur den kleinsten Stoß abbekam. Dann meldete er die Sache auf der nächsten Station, sofort wurden so gegen hundert Policeleute abgeteilt, die man schon kannte, die hieben dann hier mit ihren Hickoryknüppeln alles kurz und klein und karbatschten jeden, den sie unter die Hände bekamen, windelweich. Es ist ja nicht rechtlich, diese behördliche Selbsthilfe, aber ein ganz probates Mittel. Dann ist für einige Wochen wieder einmal Ruhe im Chinesenviertel.

Das Automobil hielt vor einer größeren Teehütte. Atalanta stieg aus, der Chauffeur sprang vom Bock und gesellte sich, wie vorher ausgemacht, ihr bei, während der japanische Matrose neben dem Automobil Wache hielt.

Auch hier war in den sonnendurchglühten Gassen alles wie ausgestorben. In der Teestube selbst wurden die beiden von einem alten Chinesen mit tiefen Bücklingen begrüßt und in ein Hinterzimmer geführt, in dem als Hauptsache ein fürchterlich dicker Sohn des himmlischen Reiches am Boden kauerte. Die Backen hingen wie Säcke herab, der Bauch deckte die gekreuzten Beine ganz zu, nur Füße und Waden sahen noch hervor, und diese schienen wirklich einem Elefanten anzugehören.

»Verzeihe, o herrliche Morgenröte, dass ich Dich nicht stehend begrüßen kann —«

»Schon gut, schon gut, kommen wir ohne Einleitung zur Sache.«

Aber setzen tat sich Atalanta doch erst, das Kissen war ihr schon bereit gelegt worden, auf einem kleinen Teppich, dem Dicken in einiger Entfernung gegenüber, und für ihren Begleiter wurde noch ein zweites hinzugefügt.

»Was hast Du mir mitzuteilen?«

»Darf Dein Begleiter alles hören?«

»Alles.«

Nur diese Worte wurden gewechselt. Die Frau Gräfin hatte keine Einleitung haben wollen, und da machte der dicke Chinese auch keine, er kam gleich zur Hauptsache.

Kaum hatten sich die beiden auf den Kissen mit gekreuzten Beinen niedergelassen, der junge Japaner eine Sekunde später als die Indianerin, als von der Decke etwas herabgesaust kam, ein großer Korb, der die beiden Sitzenden völlig zudeckte, und in demselben Augenblick wich auch der Boden unter ihren Körpern, indem zwei Falltüren gleichzeitig auseinander klappten.

Die pantherartige Indianerin hätte sich wohl nicht so leicht überrumpeln lassen, vielleicht wäre es ihr geglückt, noch im Sturze zur Seite zu schnellen oder sich doch wenigstens am Rande der Grube festzuhalten, und dann hätte sie sicher sofort oben wieder auf ihren Füßen gestanden — aber der Korb war es, der dies unmöglich machte, und dem hatte sie unmöglich ausweichen können.

Nur ein gellender Schrei war laut geworden. Draußen auf der Straße neben dem Automobil stand der japanische Matrose. Für den genügte dieser Schrei ja, aus dem Munde seiner Herrin kommend.

Sofort hatte er sein Schiffsmesser in der Hand, stürzte in die Hütte und — stürzte schon in der vorderen Teestube in eine Öffnung, über der nur ein Teppich gelegen hatte.

Alles war wieder still. Zu dem alten Chinesen gesellte sich noch ein anderer, die beiden gingen hinaus und zogen das leichte Automobil nebenan in einen Hofraum.

So, dort stand es gut. Wo waren die drei geblieben, die es gebracht hatte?

Nun, die hatten sich eben einmal unter die Erde begeben, um sich etwas zu amüsieren. Wer wollte das Gegenteil beweisen?

Ach, hier kamen ja manchmal so feine Herren und Damen her, um sich ein bisschen unter der Erde zu amüsieren. Oben eine elende Spelunke und dort unten der höchste Luxus. Auch im eigenen Automobil kamen sie, das dann eben hier nebenan eingestellt wurde. Allerdings kamen sie ja meist des Nachts, aber warum nicht auch einmal bei Tage? Das war auch schon da gewesen. Früh bei Sonnenaufgang kamen sie, Herren und Damen, von einem anderen Vergnügen, das heißt von einer tollen Orgie, die hier im chinesischen Viertel in anderer Weise fortgesetzt werden sollte, und dann befanden sie sich eben in der Verfassung, dass ihnen alles ganz gleichgültig war, dass sie den eigenen Wagen vor der schmutzigsten Spelunke halten ließen.

O, man sollte nur jetzt kommen und fragen, wo die Frau Gräfin von Felsmark mit ihren Begleitern geblieben sei. Der unförmliche Chinese, der dort hinten noch immer am Boden kauerte, würde schon eine Antwort zu geben wissen, der fühlte sich sicher, sonst hätte er doch nicht so vergnügt gelacht, dass ihm der Bauch wackelte.

Durch Mitleid besiegt!

Sie war nicht tief, die Grube, in die Atalanta gestürzt war.

In demselben Moment, da sie mit dem jungen Japaner zusammen den Boden berührte, merkte sie, dass ein schwerer, süßlicher Dunst sie umgab. Ihr erster Griff war in die Tasche nach der Telefonuhr, nur ein einziges Wort wollte sie mit Kapitän Hikari wechseln, sie kam nicht dazu.

Sie hatte so lange den Atem anhalten wollen, doch wahrscheinlich schon vorher einen Atemzug getan, und der genügte, um ihr sofort die Besinnung schwinden zu lassen.

Diese Chinesen verstanden sich besser auf Betäubungsmittel als ihre europäischen Kollegen.

Atalanta wusste nicht, wie lange sie besinnungslos gewesen war, als sie wieder zu sich kam und bei allen Kopfschmerzen gleich ganz klar denken konnte.

Zu allererst kam ihr zum Bewusstsein, dass sie gefesselt war, furchtbar schwer, mit Ketten förmlich bedeckt. Sie lag am Boden auf einer Decke und konnte sich nur halb aufrichten; dann bemerkte sie weiter, dass die starken Hand- und Fußketten neben der Decke im steinernen Boden verliefen, das gleiche war wohl auch bei der noch schwereren Kette der Fall, die sich doppelt und dreifach um ihren Leib schlang.

Ja, man war bei dieser roten Athletin sehr, sehr vorsichtig gewesen!

Der zweite Blick galt ihrer Umgebung. Es war ein großer Kellerraum, schwach erleuchtet. Das Licht ging von einer Lampe aus, die in der Mitte des Raumes auf einem Tische stand, an dem vier Männer saßen, mit schwarzen Talaren angetan, vor dem Gesicht schwarze Masken, die auch nicht ein Ohrläppchen sehen ließen. Nur die Augen blitzten hinter den Öffnungen.

»Sie ist erwacht. Wo ist der fünfte?«

Durch eine eisengeschlagene Tür trat eine fünfte schwarze Maske ein.

»Nun, Frau Gräfin, wie befinden Sie sich?«

Mit größtem Interesse musterte die Indianerin die fünf Männer, und ebenso war sie ganz Ohr. Nämlich um später die Stimmen wiedererkennen zu können, und dass diese verstellt wurden, hatte für sie wenig zu sagen.

»Sind Sie bei klarer Besinnung?«

»Ja.«

»Wissen Sie, was mit Ihnen vorgegangen ist?«

»Ich weiß es.«

»Es freut mich, dass Sie so sachgemäß antworten.«

»Sie sind sehr bescheiden.«

»Wieso?«

»Dass Sie schon hierüber Freude empfinden, sonst werden Sie an mir weniger Freude erleben.«

»Wissen Sie, wen Sie vor sich haben?«

»Nein.«

»Wissen Sie, weshalb wir Sie in unsere Gewalt gebracht haben?«

»Lächerliche Frage.«

»Es handelt sich um die Geheimnisse des Sklavensees.«

»Deshalb eben war Ihre Frage vorhin lächerlich.«

»Und um Ihr Schiff.«

»Das glaube ich schon.«

»Für welche Summe treten Sie uns alle diese Erfindungen ab?«

»Das ist wiederum eine ganz zwecklose Frage.«

»Ja, Sie haben recht. Sie sind eine Indianerin, und wir kennen Sie ja auch sonst. Nicht wahr, der Kapitän Hikari, dieser japanische Kaisersohn, hat Ihnen doch bedingungslosen Gehorsam zugeschworen?«

Diesmal blieb Atalanta die Antwort schuldig. Sie zuckte nur ein ganz klein wenig zusammen, als der Wortführer jetzt vom Tische einen kleinen Gegenstand nahm, in dem sie ihre Telefonuhr erkannte.

Señor Tenorio hatte ihr zwei solcher Taschentelefone gegeben, und mehr waren nicht hinzugekommen. Sie wurden den Ingenieuren auf Wunsch gezeigt, so oft sie wollten, aber eigentlich nur zur Aufmunterung, solch eine drahtlose Telefonie ebenfalls zu erfinden. Denn was existiert, also schon einmal erfunden worden ist, muss sich doch nochmals erfinden lassen.

Die eine Uhr hatte immer Atalanta, die andere Kapitän Hikari in der Tasche.

Der Wortführer hatte den hinteren Deckel der Uhr geöffnet.

»Die Buchstaben sind auf das Wort ›Mohawk‹ eingestellt, also können Sie sich mit dem Kapitän unterhalten.«

»Das wissen Sie ebenso gut wie ich.«

»Wenn ich jetzt auf diesen Knopf drücke, so ertönt in der Tasche des Kapitäns ein Klingeln, er holt seine Uhr hervor, drückt wieder, auch hier ertönt ein Klingeln. Ist es nicht so?«

»Das alles wissen Sie ebenso gut wie ich!«, wiederholte die Indianerin, die sich in ihrer kritischen Lage merkwürdigerweise recht sprachwillig zeigte.

Aber man wolle sich erinnern, dass der nordamerikanische Indianer am Marterpfahl seine Peiniger zu verhöhnen beginnt, wobei er einmal äußerst redselig wird.

»Hierauf fragen Sie: ›Wer ist dort?!‹«

»So ist es gewöhnlich am Telefon.«

»Und jener wird antworten: ›Hier Kapitän Hikari‹, nicht wahr?«

»Jedenfalls.«

»Nun sagen Sie weiter: ›Herr Kapitän Hikari, ich schicke Ihnen einen Mann zu, er wird sich Ihnen durch dies und jenes Stichwort und Zeichen legitimieren, dem übergeben Sie sofort das ganze Schiff, Sie haben ihm bedingungslos zu gehorchen, ich befehle es Ihnen, alles steht ihm zur Verfügung —‹«

»Jawohl, das werde ich gerade tun!«, lachte Atalanta.

»Nein, Sie sprechen das nicht ins Telefon, das glauben wir Ihnen schon. Aber wir haben hier eine Dame, eine unvergleichliche Stimmenimitatorin, die Ihre Stimme genau studiert hat — die wird so für Sie ins Telefon sprechen.«

Wild klirrten die Ketten. So jäh war die Indianerin empor gefahren.

»Das werden Sie nicht tun, wehe Ihnen!«, stieß sie außer sich hervor.

Es war eine seltsame Szene, eine ganz seltsame!

Diese Indianerin hatte schon manche Probe ihrer Schlauheit und ihres durchdringenden Verstandes gegeben — hier hatte sie einmal einen ebenbürtigen Gegner gefunden.

»Nein, Frau Gräfin, es gelingt Ihnen nicht, uns zu täuschen!«, erklang es kalt hinter der Maske.

»Was — täuschen?«

»Ihr jetziger Schreck war doch nur Verstellung.«

»Was — Verstellung?«

»Nun, Sie wollen uns doch nicht etwa weismachen, dass jeder so ohne Weiteres durch dieses Telefon mit Kapitän Hikari sprechen, ihm Befehle geben kann. Sie sind nach dem chinesischen Viertel gelockt worden. Sie wussten, dass man Ihnen vielleicht eine Falle stellen könnte. Sie nahmen die Telefonuhr mit, und da wollen Sie uns doch nicht etwa weismachen, dass Sie mit dem Kapitän nicht vorher ein besonderes Zeichen verabredet hätten, wodurch Sie sich legitimieren, dass Sie auch wirklich die Gräfin Atalanta von Felsmark sind, die mit dem Kapitän spricht.«

Wieder klirrten die Ketten. Und diesmal war es echter Schreck gewesen, der die Indianerin durchzuckt hatte.

Und da gab sie ihre Verstellung gleich auf, alles Lügen hatte da doch gar keinen Zweck mehr. Ein furchtbar trotziges und höhnisches Lächeln huschte über ihre dunklen Züge.

»Sie sagen es. Ja, so ist es. Und nun setzen Sie sich mit Kapitän Hikari in Verbindung und geben Sie ihm den Befehl, dass er Ihnen den ›Mohawk‹ ausliefern soll.«

»Dazu müssen wir erst Ihr geheimes Zeichen haben.«

»Ja, darauf warten Sie mal, bis Sie das von mir bekommen!«, spottete die Gefangene.

»Der Japaner!«, erklang es kurz hinter der Maske.

In dem finsteren Hintergrund klirrten andere Ketten, Miura tauchte auf, von zwei anderen maskierten Männern geführt.

»Frau Gräfin — Ihr Begleiter. Verraten Sie uns das ausgemachte Zeichen oder in der nächsten Minute sehen Sie diesen Mann sich in furchtbaren Qualen winden.«

Es war deutlich genug gewesen. Langsam richtete sich die Indianerin auf, soweit es ihre Ketten erlaubten.

»Wehe, wehe, wehe Ihnen, wenn Sie zu diesem Mittel greifen, um mich zu zwingen!«, hauchte sie mehr, als dass sie es flüsterte.

»Ihre Drohungen können uns nichts anhaben. Entweder oder!«

Da ließ sich die Stimme des kleinen Japaners vernehmen.

»Frau Gräfin, meinetwegen brauchen Sie sich nicht zwingen zu lassen, zu gar nichts.«

Lächelnd hatte es das bildhübsche Kerlchen gesagt, dann richtete er sich in seinen Ketten höher auf und rief mit schallender Stimme.

»Japan und der Mikado — und mein Usabi — und die Gräfin Atalanta von Felsmark — Bansai, Bansai, Bansai!!«

Es war nicht recht verständlich, was er mit diesem dreimaligen Hurrarufe wollte. Oder er wollte hiermit eben ausdrücken, dass er jeder Tortur trotzen würde. So fasste es auch der wortführende Maskierte auf.

»Oho, Du sollst schon anders schreien, wenn Dir erst das Feuer an den Knochen frisst.«

Er wandte sich wieder der Indianerin zu.

»Also, Frau Gräfin, entweder Sie sagen uns das mit dem Kapitän ausgemachte Telefonzeichen oder Sie sehen diesen Mann langsam zu —«

Jäh wandte er sich abermals um, denn hinter ihm hatten die Ketten so eigentümlich geklirrt.

Der junge Japaner war plötzlich zusammengebrochen. Er hatte im Schatten gestanden, und jetzt erst, wie das Licht auf ihn fiel, sah man, dass sein gelbliches Gesicht plötzlich ganz blau geworden war, und weit traten ihm die Augen aus den Höhlen.

Diese Männer hier in San Francisco kannten die Japaner.

»Verdammt, der Kerl hat weiß Gott die Zunge verschluckt, hab ich's mir doch gleich gedacht!«, erklang es ärgerlich hinter der Maske.

Es war also von vornherein hiermit gerechnet werden.

Das Verschlucken der Zunge ist die einzige Art Selbstmord, die dem buddhistischen Japaner erlaubt ist, das heißt den unteren Kasten. Bei den oberen Kasten tritt an Stelle dessen Harakiri, das Aufschlitzen des Leibes. Allerdings soll es eigentlich Selbstmord durch Anhalten des Atems sein, ganz freiwilliges Ersticken, doch geben die Priester auch das Verschlucken der Zunge zu. Durch diesen freiwilligen Erstickungstod ändert sich nicht das Karma bei der Wiedergeburt. Hierbei handelt es sich um eine mystisch-philosophische Spekulation, die hier natürlich nicht ausgeführt werden kann.

Erwähnt sei nur noch, dass merkwürdigerweise auch viele afrikanische Negervölker diese Art des Selbstmords kennen und ausüben, durch Einschlucken der Zunge. In den Sklavenzeiten Amerikas haben auf diese Weise gar viele ihre Seele von den irdischen Ketten befreit, manchmal artete es zur Manie aus.

Wenn auch der Japaner noch nicht tot war, so war doch nichts dagegen zu machen. Ehe die krampfhaft geschlossenen Zähne durch irgend ein Gewaltmittel so weit aufgebrochen werden, dass eine Doppelschraube eingesetzt werden kann, die aber doch auch nicht immer zur Hand ist, ist der Tod schon längst eingetreten.

Nach einer Minute ein Ruck, der durch den ganzen Körper ging, und der junge Japaner war tot. Er hatte seine Herrin, der er Treue geschworen, aus jeder Verlegenheit befreit — soweit es sich um ihn selbst handelte.

Was tut's auch? Er hatte nur ein Schlafmittel genommen, ein erlaubtes, harmloses, nach dem man ohne Katzenjammer erwacht. Der Tod ist nur ein intensiver Schlaf. Der gewöhnliche Schlaf währt ein Drittel des Tages, der Todesschlaf ein Drittel des ganzen Lebens. So lehren die buddhistischen Priester. Also nach zwanzig bis dreißig Jahren wird man wiedergeboren — und zwar immer wieder als Mensch — zu neuer Jugend — und gerade in Japan haben die Kinder eine so sonnige Zeit!

»Tot!«, sagte der eine Henkersknecht, sich über den Daliegenden beugend. »Den anderen Japaner hereinführen?«

»Nein, hat keinen Zweck!«, erwiderte der Wortführer. »Das ist ein Matrose — diese Bande kenne ich — der verschluckt nur die Hälfte seiner Zunge — die andere hat er sich abgebissen und spuckt sie uns ins Gesicht. Gleich das Kind herein.«

Einer der Henkersknechte verschwand, kam zurück, auf dem Arme ein etwa vierjähriges Mädchen, das schlafend das blondlockige Köpfchen mit dem Gesicht wie Milch und Blut an seine Brust gelehnt hatte.

»Schläft der Schreihals endlich? Na, er soll gleich wieder genug schreien, wenn diese Dame es wünscht. Also, Frau Gräfin, Sie sehen hier dieses Kind. Und dort wird schon ein Bock aufgestellt. Über diesen Bock wird das Kind geschnallt und so lange gepeitscht, bis Sie uns das verabredete Zeichen gesagt haben — oder das Kind stirbt unter der Peitsche. Und daran sind Sie schuld!«

Atalanta hatte sich in die Knie aufrichten können, sie hob die Hände empor. »Großer Geist, den ich Dich habe Gott nennen lernen, sende einen Blitzstrahl herab, dulde nicht solche Schändlichkeiten auf Erden!«

»Ach was, Larifari! Hier handelt es sich um etwas anderes, als um das Leben von ein paar Kindern und den Schmerz ihrer Eltern. Hier handelt es sich um die ganze Menschheit, die Ihre Erfindungen haben muss. Doch das verstehen Sie nicht, darüber kann man mit Ihnen ja gar nicht sprechen. Also ich sage Ihnen gleich: Ich habe einige Kinder hier, alle so reizend wie dieses, und eines nach dem anderen lasse ich vor Ihren Augen totprügeln, nur Sie haben es verschuldet —«

Furchtbar klirrten die Ketten, furchtbar waren die Rucke, welche die Indianerin machte. Allein vergebens, dieses Eisen spottete ihrer Kraft — nur ihr Blut begann die Decke zu färben.

»Geben Sie sich keine Mühe. Also Sie wollen uns nicht das geheime Zeichen verraten, dass wir uns mit Kapitän Hikari an Ihrer Stelle in Verbindung setzen können? Vorwärts, das Kind auf den Bock geschnallt, die Peitsche in die Hand genommen!«

Es geschah. Das Kind wurde entkleidet, über ein Gestell geschnallt. Dabei war es erwacht und es begann natürlich zu weinen und herzzerreißend zu schreien.

Atalanta hatte sich mit dem Gesicht auf den Boden geworfen. Kein Laut kam über ihre Lippen. Aber ihre Gedanken wollen wir lesen können. Es war ein Gebet.

»Großer Geist — Ihr Geister meiner Ahnen — scheucht den Gedanken von mir, dass ich ja nur Selbstmord zu begehen brauche, um all diesen Qualen zu entgehen — lasst mich leben, leben, leben — befreien will ich mich schon selbst — um Rache ausüben zu können — Rache, Rache — die Rache der Mohawks —«

Da ertönte ein pfeifendes Sausen, ein klatschender Schlag, ein gellender Kinderschrei, der in ein Wimmern überging.

Im nächsten Moment war die Indianerin aufgeschnellt.

»Haltet ein!! Das Schiff, die Geheimnisse des Sklavensees gehören Euch!!«

Der Anschlag missglückt

Es war um elf Uhr, vor einer Stunde erst hatte Atalanta das Schiff verlassen. Die Matrosen bereiteten alles für die nächsten Vorstellungen vor, welche punkt zwölf Uhr begannen, und es hatte keinen Zweck, schon vorher zu kommen, vor dem Glockenschlage durfte kein Fremder, der nicht die Berechtigung besaß, das Schiff betreten.

Da kam Littlelu zurück, rot wie ein gekochter Krebs, in Schweiß gebadet.

Soeben stieg Kapitän Doktor Hikari die Treppe von der Kommandobrücke herab.

Littlelu schoss auf ihn zu, überzeugte sich noch einmal, dass keiner der Herren, die hier Gastrecht genossen, in der Nähe war. Japaner kamen bei Mitteilung von Geheimnissen ja nicht in Betracht.

»Kapitän, das sieht ja faul aus! Ich habe soeben mit einem ganz Geheimen gesprochen, einem guten Freunde von mir, der in der Präfektur am Telegrafenapparate sitzt. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hat er mir etwas anvertraut. Sie dürfen es ja wissen. Heute in aller Frühe hat es in Washington zwischen dem Präsidenten und dem mexikanischen Gesandten ein böses Renkontre gegeben. Um elf Uhr will der Gesandte noch einmal vorsprechen und sich die Antwort auf eine gewisse Frage holen. Es handelt sich wieder wegen jenes Grenzwinkels bei Texas. Passen Sie auf, der Präsident empfängt ihn gar nicht. Und das ist der Krieg mit Mexiko! Um elf, das ist jetzt. In jeder Minute kann es sich entscheiden, ob oder ob nicht. Wo ist die Gräfin?«

»Nach dem chinesischen Viertel gefahren.«

Der alte Clown reckte seinen Kopf wie den einer Schildkröte hervor und als wäre sein Hals noch extra aus Gummi elastikum.

»Was?! Nach dem chinesischen Viertel?! Was hat denn die dort zu suchen? Sintemal jetzt in der zehnten Morgenstunde?«

Hikari teilte ihm mit, wie es gekommen war.

»Wenn der nur keine Falle gestellt wird! Li Han Kin? Der Räuber vom roten Drachen? Das dicke Mastvieh kenne ich, der ist gerade der richtige.«

»Sie ist darauf vorbereitet, in eine Falle gelockt zu werden —«

Da plötzlich erklang in der unter dem Sonnenbrande verödet daliegenden Stadt ein Ton wie der einer fernen Meeresbrandung, im Nu wuchs das Stimmengemurmel zu einem Schreien und Brüllen an, die Straßen wurden lebendig, überall aus den Häusern kamen Menschen hervorgestürzt. Und dann vernahm man die Worte, die einer dem anderen zuschrie:

»Der mexikanische Gesandte ist abgewiesen worden! Mexiko hat seinen Gesandten abberufen!! Mexiko hat den Krieg erklärt!! Krieg — Krieg — Krieg!!«

Und das Toben in der Stadt begann, wie es eben bei Ausbruch oder Ankündigung eines Krieges immer der Fall ist, und nun noch dazu hier in San Francisco, dessen mehr südländische Bevölkerung, in dem das spanische Element vorherrscht, so leicht erregbar ist, dem Kriegsschauplatz so nahe gelegen.

»Da haben Sie's!«, sagte Littlelu, ohne zunächst dem sich entwickelnden Gewimmel und Getümmel Aufmerksamkeit zu schenken.. »Und nun ist die Gräfin nicht da!«

»Ich kann sie ja telefonisch anrufen.«

»Tun Sie es, tun Sie es!«

In dem Augenblick, da Hikari in die Westentasche griff, klingelte in dieser die Telefonuhr, Atalanta rief an.

»Hier Kapitän Hikari auf ›Mohawk‹, wer dort?«

»Atalanta.«

Der danebenstehende Littlelu verstand jedes aus dem kleinen Telefon kommende Wort. Erst aber führte Hikari die Dose näher an sein Ohr, um das Klopfen zu vernehmen, und dann tippte er selbst mit der Fingerspitze mehrmals in besonderer Weise auf die Membrane.

So, das geheime Zeichen war gegeben, dass es die beiden auch wirklich waren. Da war keine Vorsicht vergessen worden.

»Herr Kapitän, ich erfahre soeben, dass die Republik Mexiko den Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hat.«

»Ja, soeben wird es auch hier bekannt.«

»Ich habe meinen Entschluss geändert. Ich stelle mein Schiff und die Camera obscura und alle meine anderen Erfindungen und Apparate für diesen Krieg der Regierung der Vereinigten Staaten zur Verfügung.

Es dürften zu Ihnen bald Offiziere und Beamte kommen, welche das Schiff für den Krieg requirieren wollen, wenn sie auch erst ein Angebot in aller Güte machen. Suchen Sie dem zuvorzukommen, schicken Sie sofort an die Präfektur ein Schreiben, in dem Sie mein Schiff zur Verfügung stellen, oder auch schon eine mündliche Mitteilung genügt, in meinem Namen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

»Aber ich habe Sie nicht verstanden!«, schrie Littlelu, Hikari das Telefon schnell aus der Hand nehmend. »Frau Gräfin, sind Sie denn von Sinnen oder plötzlich verrückt geworden?!«

»Sind Sie das, Mister Maxim?«

»Na, kennen Sie denn meine Stimme nicht?!«

»Mister Maxim, ich verbitte mir solche —«

»Ach was, da gibt sich's gar nichts zu verbitten! Das ist die reine Teilnahme an Ihnen, wenn ich so spreche. Bei solcher Hitze kann ganz leicht jemand den Verstand verlieren. Also Sie haben ihn nicht verloren? Ja, wie kommen Sie denn plötzlich zu dieser Sinnesänderung?«

»Wissen Sie, wo ich bin?«

»In der größten Spelunke von San Francisco, im roten Drachen in der Glockengasse bei Li Han Kin, dem Schufte.«

»Ja, mein lieber Littlelu! Ich habe hier eine wundersame Begegnung gehabt. Mir ist etwas mitgeteilt worden, was — über meine Begriffe geht. Das Schiff und alle meine Geheimnisse würden mir doch genommen, so oder so. Da stelle ich lieber alles gleich der Regierung meines Landes zur Verfügung, dann habe ich endliche Ruhe für immer. Ich werde mich ganz von der Welt zurückziehen. Kommen auch Sie hierher nach dem roten Drachen, ich werde Ihnen alles mündlich mitteilen. Ich erwarte Sie sofort.«

»Ich komme, ich komme!«

Als Littlelu den Kapitän nicht mehr sah, weil sich dieser schon entfernt hatte, gab er die Telefonuhr einem japanischen Ingenieur, stürzte wieder an Land, eilte davon und — kam nicht wieder!

Kapitän Hikari hatte unterdessen schon in seiner eigenen Kajüte einige Zeilen aufs Papier geworfen, adressierte und versiegelte das Kuvert und schickte es durch eine Ordonnanz nach der Präfektur, womöglich es persönlich dem Präfekten abzugeben, sonst auf der Kanzlei.

»Ich lasse Sirbhanga Brahma zu mir bitten!«, wandte er sich an eine zweite Ordonnanz, die seiner Befehle harrte.

Der Ingenieur brachte ihm die Telefonuhr. Hikari drückte sofort den Knopf, um sich nochmals mit seiner Herrin in Verbindung zu setzen.

Aber wie er auch wartete und wieder drückte und weiter wartete, es kam kein klingelndes Gegenzeichen.

»Merkwürdig. Es kommt ja manchmal vor, dass einer oder der andere Apparat versagt, aber bei dieser Telefonuhr war es noch niemals der Fall. Nun, der Brahmane wird sie gleich wieder in Ordnung bringen.«

Aber der Brahmane kam nicht. Auch die nach ihm geschickte Ordonnanz musste erst wieder gesucht werden.

»Sirbhanga Brahma ist nicht zu finden!«, lautete eine Meldung nach der anderen.

Nun, dieses Schiff war gar groß, der versteckten Kabinen waren zahllose. Man hatte den Brahmanen schon einmal eine halbe Stunde lang suchen müssen, besonders deshalb, weil der alte, für die Welt sonst abgestorbene Inder nicht auf Telefonanruf reagierte. Man musste ihn nur suchen. Dass er an Land gegangen sei, war ausgeschlossen.

Unterdessen versuchte es Hikari noch mehrmals mir dem Taschentelefon, aber vergebens, er kam mit der Gräfin nicht wieder in Verbindung.

Nach einer Viertelstunde, seitdem sich der Bote entfernt hatte, betraten das Schiff einige Offiziere verschiedener Waffengattungen und auch einige Zivilisten. Sie kamen in Begleitung eines geschlossenen Trupps von Marinesoldaten, wohl nur deshalb, weil ihnen diese in den Straßen hatten Platz machen müssen. Denn jetzt war in den überfüllten Straßen, in denen das Volk tobte, auch mit einem Automobil gar nicht mehr durchzukommen. Geschlossen marschierenden Soldaten freilich machte man Platz, wenn dabei auch Hintermänner zerdrückt wurden.

Sie wurden von Hikari an Deck empfangen.

»Kriegsminister Arkwart!«, stellte sich der eine Zivilist vor.

Hikari kannte ihn schon. Wenn der alte Herr gestern auch noch ein Kaufmann Thomas Wray aus Cincinnati gewesen war; die ihn begleitenden Offiziere genügten ja zu seiner Legitimation.

»Wo ist die Frau Gräfin?«

»Abwesend.«

»Wo ist sie denn?«

»An Land. Ich weiß es nicht weiter.«

»Sie sind ihr bevollmächtigter Stellvertreter?«

»Ja.«

»Dann genügt das. Sie stellen das Schiff mit allen seinen Einrichtungen der Regierung der Vereinigten Staaten zur Verfügung?«

»Ja.«

»Danke. Das ist ja äußerst nett. Dadurch werden uns und besonders der Frau Gräfin viele Unannehmlichkeiten erspart. Nun bitte, führen Sie uns erst einmal in die Camera obscura.«

Die ganze Gesellschaft begab sich in den kleinen Speisesaal.

»Die Sperrung über gewisse Gegenden kann doch aufgehoben werden?«, fragte der Minister unterwegs.«

»Ja!«, war die einsilbige Antwort.

»Wer versteht das?«

»Ich selbst und noch einige meiner Ingenieure, abgesehen von dem Brahmanen.«

Das Deckenlicht erlosch, nur eine kleine Lampe beleuchtete noch den Apparat mit seinen Rädern und Hebeln.

»Bitte, werfen Sie Mexiko gegen die Wand, so die Gegenden der Grenze.«

Hikari selbst hatte sich vor den Apparat gesetzt.

»Da muss ich erst die große Erdkarte erscheinen lassen.«

»Jawohl, das weiß ich.«

In atemloser Spannung harrten die Herren. Aber wie der Kapitän auch an den Rädern und Hebeln stellte, die große Erdkarte erschien nicht an der Wand, überhaupt gar nichts.

»Der Apparat funktioniert wieder einmal nicht. Wo ist denn nur Sirbhanga Brahma?«

Neue Ordonnanzen wurden ausgeschickt, sie fanden den Inder nicht.

Immer ungeduldiger wurden die Herren, ganz besonders der Minister, der überhaupt ein sehr heftiges Temperament zu haben schien.

»Der Kerl muss doch gefunden werden können!«

»Ich kann nichts dafür, wenn man ihn nicht findet.«

»Ach was! Wo ist die Gräfin?«

»An Land.«

»Wo denn da?«

»Im chinesischen Viertel.«

»Ach, machen Sie mir doch nichts vor, was hat denn die dort —«

»Herr, mäßigen Sie Ihre Ausdrücke, ich mache gar nichts vor!«, unterbrach Hikari den Zürnenden, noch ganz ruhig.

»Das ist doch einfach eine abgekartete Geschichte!«

»Was für eine abgekartete Geschichte?«

»Dass die Camera obscura jetzt plötzlich nicht funktioniert. Die Gräfin hat sich einfach der Verantwortlichkeit entzogen, der Inder versteckt sich — das ist doch Lug und Trug!«

Der prinzliche Kapitän erhob sich langsam. In dem spärlichen Lichte war sein gelbliches Gesicht etwas dunkler geworden.

»Ich versichere Ihnen auf mein Ehrenwort, dass ich nicht —«

»Ach was, Ehrenwort! Hat denn so ein Japs ein Ehrenwort. Jeder Japs ist ein ausgemachter Schwindler und Schuft —«

War es Absicht oder war dieser Minister so jähzornig, dass er gleich den Verstand verlor?

Hier gab es nur eines — und das geschah. Der Sohn des Mikados hatte dem Minister ins Gesicht geschlagen, dass dieser gleich zwischen den Stühlen lag.

Im nächsten Moment war er wieder auf den Füßen.

»Hundesohn!«, schrie er, einen Revolver hervorreißend.

Noch ehe er ihn heben kannte, war Hikari bei ihm schlug ihn zum zweiten Male zu Boden, und für die ihm angetane Beschimpfung gab es auch keine andere Antwort.

Jetzt sprangen aber auch die anderen Offiziere und Herren herzu. Doch in dem Saale befanden sich auch einige Japaner, diese warfen sich gegen sie, um ihren Kapitän zu schützen, ganz abgesehen davon, dass es ihr Usabi war.

»Nicht handgreiflich werden!«, schrie Hikari, immer noch bei ruhiger Besinnung.

Zu spät — schon war es zum Handgemenge gekommen. Schon wurde zugeschlagen, schon wurden Degen und Messer gezogen, schon krachten die Schüsse, schon lagen am Boden Tote und Verwundete.

Einige der Offiziere und Zivilisten zogen es vor, lieber den Ausgang zu gewinnen.

»Mord, die Japaner haben uns überfallen!!«

So schrien sie in den Korridoren und oben an Deck, wo sie mit einem Trupp japanischer Matrosen zusammenstießen.

Diese hatten das Kampfgetobe im Speisesaal schon gehört und wollten natürlich ihrem Kapitän und ihren Kameraden zu Hilfe eilen; sie hatten wenigstens alle ihre Schiffsmesser schon in der Hand — die amerikanischen Offiziere sämtlich ihre Degen und Revolver gezogen, hielten diese schon für Gegner, stachen und schossen, was die Japaner natürlich erwiderten.

Und an Deck befanden sich auch gegen dreißig Mann amerikanische Marinesoldaten, die sahen natürlich ebenfalls nicht ruhig zu, und sie brauchten nur ihre Gewehre zu entsichern, die Salven krachten. Da hatten sich aber auch schon die Japaner mit Gewehren und Entersäbeln bewaffnet.

Kurz, im Nu war eine richtige Schlacht fertig, an Bord eines Schiffes geliefert.

Lange dauerte die Entscheidung ja nicht, dann hatten die Amerikaner verspielt. Was nicht tot oder verwundet am Boden lag, war auf andere Weise unschädlich gemacht worden.

Dazu kamen aber nun noch die Vertreter der verschiedenen Regierungen mit ihren eigenen Gästen, die sich bei der Sonnenglut in ihren kühlen Kabinen aufgehalten hatten, gegen fünfzig Mann.

Diese waren bei dem Spektakel natürlich an Deck gestürzt. Nur ganz wenige dachten daran, ihren weißen Kameraden im Kampfe beizustehen. Da war der Kampf überhaupt schon beendet.

Alle anderen hielten es für das Beste, schleunigst an Land zu springen, wozu ja auch nur ein Sprung über die Steuerbordwand nötig war. Aber nur einige wenige kamen noch dazu, diesen Entschluss auszuführen, um sich vor diesen Japanern, welche doch plötzlich toll geworden sein mussten, zu retten.

Jetzt kam auch Kapitän Hikari an Deck gestürzt; er stand mit einem Satz auf der Kommandobrücke.

»Alle lebendig fangen, alle lebendig fangen!«, schrie er, den Hebel des Signalapparates herumreißend.

Er glaubte bestimmt, dass auch dieser Apparat versagen, die Maschine nicht arbeiten würde, er hatte so eine Ahnung, als ob jetzt mit diesem Schiffe alles vorbei wäre, und da wollte er so viel wie möglich Geiseln zur Sicherheit in die Hände bekommen.

Aber es war eine falsche Ahnung gewesen, sofort begann sich die Schraube zu drehen, die starken Taue rissen wie Spinnenwebe, das Schiff kam frei vom Kai und steuerte in rascher und immer rascherer Fahrt dem Ausgang des Hafens zu.

Also nur ganz wenigen der Ingenieure und sonstigen Gäste war es gelungen, noch an Land zu springen, die anderen hätten nur noch ins Wasser springen können. Zwei zogen ein Bad denn auch dem Verweilen auf diesem Teufelsschiffe vor, den anderen wäre es überhaupt gar nicht mehr gelungen.

Das Kommando des Kapitäns war deutlich genug gewesen, im Nu waren alle anderen von den japanischen Matrosen überwältigt und gebunden.

Der »Mohawk« lag wieder auf Reede und konnte zum zweiten Male als vogelfreies Piratenschiff betrachtet werden, wenn es auch noch nicht öffentlich verkündigt worden war.

Auf der Kommandobrücke schritt Kapitän Hikari auf und ab. Bis jetzt war er der Führer des Schiffes gewesen, das hatte seine ganze Aufmerksamkeit erfordert, nun erst konnte er überlegen, wie alles eigentlich gekommen war und was nun weiter werden sollte.

Er brauchte nicht lange zu grübeln.

»Sirbhanga Brahma lässt den Herrn Kapitän zu sich in seine Kabine bitten!«, meldete ein Matrose.

»Was, der Brahmane ist wieder aufgetaucht?!«, fuhr Hikari empor.

»Er ist in seiner kleinen Kajüte und bittet den Herrn Kapitän zu sich.«

Eiligst begab sich Hikari hinab.

Erst nach einer Viertelstunde verließ er die Kabine wieder. So lange hatte die Unterredung gewährt.

»Ich habe getan, was ich tun konnte und was mir erlaubt ist. Die einzelnen Schicksale ändern darf ich nicht. Nur noch einmal habe ich Ihnen den Mann genannt, an den Sie sich zu wenden haben, das übrige ist Ihre Sache.«

Das waren des Brahmanen letzte Worte gewesen.

Hikari begab sich in die Kapitänskajüte und klingelte der Ordonnanz.

»Den Minister Arkwart!«

In wenigen Minuten ward er von zwei Matrosen vorgeführt, ohne Fesseln, dagegen hatte er den linken Arm verbunden. Bei dem Handgemenge hatte er, am Boden liegend, durch Fußtritte eine Armquetschung davongetragen.

Der alte Herr war sicher kein Feigling, aber unter dem furchtbaren Blicke des japanischen Kapitäns erbebte er.

»Mister Arkwart, ich weiß alles; nur von Ihnen geht dieser Handstreich aus. Fast könnte ich Ihnen verzeihen. Ja, ich tue es wirklich. Sie wollten die ganze Verantwortung auf sich nehmen, um Ihre Regierung zu entlasten. Ich verstehe so etwas zu würdigen.

Aber nun die Hauptsache: Ich verlange von Ihnen, dass Sie sofort die Gräfin und ihre Begleiter wieder frei geben.«

Der Minister, der sich rettungslos verloren sah, hatte nur eine Frage:

»Und was dann?«

»Von mir haben Sie nichts zu befürchten. Ich werde Sie ebenfalls sofort freigeben, auch alle anderen, dazu habe ich die Berechtigung.«

»Aber diese Indianerin wird sich rächen, und sie hat die Macht dazu.«

Hikari sann einen Augenblick nach, dann zog er seine Telefonuhr und gab sie jenem.

»Setzen Sie mich in Verbindung mit der Gräfin, aber mit ihr selbst, nicht mit ihrer Stellvertreterin, die für sie sprechen musste.«

Der Minister hatte die Dose genommen, zögerte aber noch.

»Ich bemerke noch, dass ihre beiden Begleiter tot sind.«

»Was?«

»Der japanische Matrose, der in eine andere Grube fiel, wurde nachträglich getötet, weil er später nicht überwältigt werden konnte, und der andere hat seine Zunge verschluckt.«

»Und Mister Maxim, der nachträglich hingeeilt ist?«

»Von dem weiß ich nur, dass er gleichfalls durch eine Falltür stürzte, aber noch nicht, was aus ihm geworden ist.«

»Setzen Sie mich mit der Gräfin in Verbindung!«, entschied Hikari.

Der Minister drückte den Knopf, und jetzt funktionierte die Telefonuhr wieder, das Gegenklingelzeichen kam.

»Miss Samson, sind Sie dort?«, fragte der Minister recht kleinlaut.

»Ja, ich bin hier!«, erklang es erst nach einer Pause in flüsterndem Tone, aber noch so deutlich, dass Hikari auch das Staunen vernahm.

Die Dame staunte wahrscheinlich, dass sie bei ihrem Namen gerufen wurde.

»Hier Arkwart. Ist Mister Dollin dort?«

»Er ist hier.«

»Ich will mit ihm sprechen. — Mister Dollin, wissen Sie, was hier geschehen ist?«

»Ich weiß alles, ich bin telefonisch immer unterrichtet worden!«, erklang es noch kläglicher zurück als der Minister sprach. »Alles, alles ist missglückt, ich hab's mir doch gleich gedacht. Aber Sie sind doch ebenfalls auf dem Teufelsschiffe gefangen, wie können Sie denn jetzt —«

»Weiß die Gräfin schon davon?«

»Nein. Im Gegenteil. Der haben wir natürlich erzählt, dass ihr Schiff schon in unserer Gewalt ist.«

»Wie geht es ihr?«

»Sonst ganz gut.«

»Teilen Sie ihr alles der Wahrheit gemäß mit — sofort!«

»Alles?«

»Alles, alles, ganz der Wahrheit gemäß, ich befehle es Ihnen, Mister Dollin!«

Fünf Minuten verstrichen. Der Minister wagte unterdessen nicht aufzublicken.

Dann erscholl wieder das Klingelzeichen.

»Es ist geschehen.«

»Was sagte sie?«

»Sie ist ganz teilnahmslos — eine Indianerin — sie sinnt auf Rache.«

»Geben Sie ihr das Telefon.«

»Sie wollen selbst mit ihr sprechen?«

»Nicht ich, sondern Kapitän Hikari.«

1 Im Original steht hier ›Minister‹ statt wie bisher ›Mister‹.

Wieder eine Minute später war der Kapitän mit Atalanta in Verbindung.

Wir brauchen das Gespräch nicht wörtlich zu vernehmen, das zwischen den beiden stattfand.

Atalanta war bereit, alles zu vergessen, wenn man sie fernerhin in Ruhe ließ. Auch sie wollte einmal Amnestie erteilen.

*

Schon eine halbe Stunde befanden sich Atalanta und Littlelu wieder an Bord, ein fremdes Boot hatte sie gebracht. Letzterer war ganz verstört, die Indianerin ruhig und ernst wie immer.

Und wieder eine halbe Stunde darauf wurden die sämtlichen Gefangenen von einer großen Dampfbarkasse abgeholt, die auch die in Segelleinwand eingenähten Toten mitnahm.

Und bald darauf sah man den »Mohawk« in westlicher Ferne verschwinden.

»Das ist der Mann!«

Wir folgen nun der persönlichen Erzählung eines deutschen Steuermanns namens Karl Hagen, der uns seine Erlebnisse mitteilt:

*

Eines schönen Nachmittags saß ich auf der Esplanade zu Buenos Aires auf einer Bank, hatte vor mir das bunte Hafenleben, kaute mein letztes Stückchen Tabak klein und gab mir den Namen verschiedener Tiere, unter denen der Esel der klügste ist.

Gestern um dieselbe Nachmittagsstunde war ich als erster Steuermann von einem deutschen Dreimastschoner abgemustert worden, hatte für eine Fahrt von vierzehn Monaten eintausendachthundert Mark in spanischen Goldpesos auf ein Brett ausgezahlt bekommen, und heute um dieselbe Stunde besaß ich keine rote Kupfermünze mehr davon.

Na, da gute Nacht!

Alles dort in so einer Hafenspelunke den geschminkten Frauenzimmern in den Hals getrichtert! Nur Champagner. Nur echt französischen! Etwas anderes hatte es bei mir nicht gegeben.

Und jetzt stand ich ab und zu auf, ging nebenan an die Pumpe, ließ meinen Hut voll Wasser laufen und löschte meinen Brand. Das Knurren des Magens hielt ich noch für Einbildung.

Das Allerschlimmste aber war, dass ich, wie ich mich heute früh auf einer Bank im Hafenpark sitzend finde, meine Brieftasche vermisse! Geld hatte ich ja nicht darin gehabt, wohl aber meine Seefahrtspapiere! Und wie ich nach meinem Schiffe gehe, höre ich, dass es noch gestern Abend von einer englischen Reederei gekauft und sofort nach Montevideo geschleppt worden ist. Und ich habe an Bord meine Kleiderkiste, darin den Sextanten. Die Kleiderkiste ist ja wohl an Land gebracht worden, ich weiß nur nicht wohin, kann es auch nicht erfahren.

Den ganzen Vormittag war ich mit meinem mörderischen Brummschädel von Pontius zu Pilatus gelaufen. Nur in jener Spelunke war ich nicht wieder gewesen, da brauchte ich nicht noch einmal hinzugehen, etwa mit der Frage, ob die Patrona nicht vielleicht so gütig wäre, mir von den eintausendachthundert Mark etwas wieder herauszugeben, da ich ja doch alles doppelt und dreifach — ach, zehnfach bezahlt hatte! Auch auf der Polizei bin ich nicht gewesen, denn das hatte keinen Zweck, so viel Erfahrung hatte ich.

Da begab ich mich denn zuerst aufs Konsulat und setzte mich einstweilen auf die Steintreppen, bis es geöffnet war. Dem Sekretär offenbarte ich alles wahrheitsgetreu.

Und nun glaube man nicht etwa, dass ich ein Lump gewesen wäre. Mir war es nur einmal gegangen, wie es jedem Seemann einmal im fremden Hafen geht, oder — er ist eben kein Seemann.

Vierzehn Monate lang auf einem Segelschiffe, nichts als Himmel und Wasser, der Kapitän ein Temperenzler, es gibt nichts als Tee und Kaffee, man kommt an Land, trinkt ein Gläschen, es kann harmloses Bier sein — mit einem Male ist die Besinnung weg. Sehr leicht möglich auch, dass man mir etwas ins Glas geschüttet hatte. Alles andere war mir wie ein Traum, bis ich gänzlich einschlief.

Wäre die ganze Geschichte nicht etwas ganz Harmloses und Alltägliches gewesen, wäre ich auf dem Konsulat doch nicht so gemütlich behandelt worden.

Der Sekretär lachte vergnügt, als ich ihm alles mitgeteilt hatte.

»Ei, Ihr Wasserratten, könnt Ihr Euch ein fideles Leben leisten! Was sind wir doch für arme Schlucker dagegen.«

Dann kam ich vor den Konsul, sogar Generalkonsul, Freiherr und Ritter pp.

Erst wurde er ein bisschen ärgerlich.

»Menschenskinder, Ihr seid doch ganz und gar von Gott verlassen! Was diese Schweinerei uns nun wieder für Geld kostet! Wenn Ihr nur vorher zu uns kommen wolltet, wenn Ihr noch Geld in der Tasche habt und nicht immer hinterher!«

Mit einem Male fing er zu lächeln an, sah so recht traumverloren und sinnig vor sich hin, wie in schöne Erinnerungen versunken.

»Jaaa, jaaa, ich weiß schon — war auch einmal jung und so ein Kerl wie Ihr — bin zwar kein Seemann gewesen, aber —«

Er sprach es nicht aus. Aber Offizier war er gewesen, hatte er sagen wollen, Leutnant, auch in Afrika hatte er mitgemacht.

Also mein Fall war ein ganz alltäglicher, hatte gar nichts zu bedeuten; nur meine Kleiderkiste musste ich wiederhaben. Ein Konsulatsdiener nahm mich ins Schlepptau, der mit mir die Lagerschuppen abklepperte, wo meine Kleiderkiste zu vermuten war. Unterdessen erkundigte sich der Konsul bei der hiesigen Agentur meiner letzten Reederei über mich, ob meine Angaben stimmten, telegrafierte auch nach Montevideo, dann wurde mir ein neues Seefahrtsbuch ausgestellt, und wenn sich meine Kleiderkiste nicht wiederfand — so viel Vorschuss, dass ich ein paar Hosen und Hemden und einen Sextanten kaufen konnte, bekam ich bei einer Anmusterung allemal oder ich machte einmal eine Reise als Matrose.

Nur ein fauler Punkt war bei der Sache; es war meine eigene Schuld.

»Brauchen Sie etwas Geld?«

Das hatte man mich auf dem Konsulat natürlich nicht gefragt, wenn man auch wusste, dass ich bis auf ein kleines Stückchen Kautabak vollständig ausgeplündert worden war.

Hätte ich um ein paar Pesos gebeten, ich hätte sie ja sofort bekommen, aber ich tat es nicht, und dort setzte man voraus, dass ich mir dann anders zu helfen wisse.

Denn ein Seemann — Matrose oder Steuermann — ist ja in einem Hafen niemals verloren. Auf jedem Schiff bekommt er zu essen, kann drauf schlafen, und wo Matrosen abgeheuert werden, braucht er nur ein Wort zu sagen, jeder greift in die Tasche und gibt ihm ungezählt.

Nur ich konnte dieses Wort nicht sagen, konnte auf kein Schiff gehen; ich brachte es eben nicht fertig, jemanden auch nur um eine Pfeife Tabak anzusprechen. Bisher war ich auch noch nie in solch eine Lage gekommen; wenigstens noch etwas zu versetzen hatte ich immer gehabt. Ja, hätte ich hier einen Bekannten gesehen, aber ich sah keinen.

Bis um zwei Uhr waren wir in der Sonnenglut herumgelaufen — vergeblich. Meine Kleiderkiste fand sich nicht. Um fünf sollte ich wieder aufs Konsulat kommen und mir meine neuen Papiere abholen.

Jetzt war es um vier. Und jetzt kam ich zur Überzeugung, dass das Knurren meines Magens doch nicht nur Einbildung war. Wahrscheinlich hatte ich auch gestern Nachmittag gar nichts gegessen. Na, wenigstens die Pumpe hatte ich neben mir. Was ich heute bei der Lauferei für einen Durst ausgestanden hatte!

»Ach, ich Horn...«

Es hatte keinen Zweck, mir solche Titel zu geben, ich hatte sie auch schon alle erschöpft.

Zur Abwechselung fing ich einmal zu deklamieren an, Hagens, meines Namensvetters Sterbelied, von Felix Dahn, aus der Mitte heraus, was gerade gut für mich passte.


So sein verflucht die Weiber,
Weib ist, was falsch und schlecht...


Da kam die sonst menschenleere Promenade ein Pärchen entlang. Ein junger Herr und eine Dame, die für einander wie geschaffen waren. Ich war schon weit in der Welt herumgekommen, in den spanischen Ländern Amerikas bekommt man viele schöne Menschen zu sehen, aber so etwas von Schönheit hatte ich noch nicht erblickt, und das galt besonders auch in Bezug auf den jungen Mann.

Was ist schön? Es mag Frauen geben, die einen pomadisierten Puppenkopf mit roten Bäckchen und hochgewichstem Schnurrbart schön finden, wie er sich selbst für einen Apollo hält, aber bei einem ernsten Manne gibt es so etwas wohl nicht.

Dieser junge Herr hier, mit tadelloser Eleganz, aber durchaus nicht stutzerhaft gekleidet, hatte ein Gesicht. das ich, auch wenn ich es nicht noch so häufig gesehen, nie wieder vergessen hätte. Die bräunlich angehauchten Züge so edel, so klassisch geschnitten, dabei so durchgeistigt, und diese Ruhe, dieser Seelenfrieden darin, der auch aus den großen, braunen Augen strahlte — und nun dies alles auch schon in der ganzen Gestalt ausgedrückt, die so klein und schlank und zierlich war und dennoch bei jedem Schritte solche ruhige Kraft verriet — unbeschreiblich! Nur eines kann ich sagen: Wenn ich noch tausend Pesos besessen hätte und dieser Fremde hätte mir gesagt, ich solle sie ihm pumpen, er habe eine Wechselschuld zu bezahlen — ich hätte sie ihm sofort gegeben, ohne nach seinem Namen und seiner Adresse zu fragen. Anders kann ich mich nicht ausdrücken, um den Eindruck zu schildern, den dieser junge Mann auf mich machte.

Und nun die junge Dame an seiner Seite, wie zu ihm geschaffen, obgleich wieder ganz anders. Statt der bräunlichen Züge ein Gesicht wie Milch und Blut, von einer unbeschreiblichen Schönheit, ganz, ganz eigentümlich, alles andere als puppenhaft, so charaktervoll, sogar herb und dennoch so reizend — eben wiederum nicht zu beschreiben, diese Gegensätze, sich zur vollkommensten Harmonie vereinend, und dasselbe drückte sich wiederum in ihrer Gestalt aus.

Während ihr bräunlicher Begleiter ganz weiß gekleidet war, trug sie mit ihrem blütenweißen Teint ein schwarzes Atlaskostüm, gegen die elegante Mode am Halse geschlossen, nur dass die Ärmel aus schwarzer Gaze bestanden, durch welche die Haut erst recht wie frisch gefallener Schnee leuchtete. Und während es nun eine schlanke, fast zierlich zu nennende Gestalt war, hatte sie doch so volle Arme, wie man sie bei dieser Figur nimmermehr erwartet hätte. Oder sie musste darunter geradezu dick wattiert sein, was aber doch wohl ausgeschlossen war.

Und nun ihr Gang! Das war für mich im Augenblick eigentlich das Auffallendste, wie ich sie so daherspazieren sah. Die näheren Studien machte ich ja auch erst später.

Den schönsten, ruhigsten, edelsten Gang haben wohl die Araberinnen. Das kommt daher, weil die gewohnt sind, alles auf dem Kopfe zu tragen. Eine kleine Schale mit Wasser setzen sie lieber auf den Kopf, als dass sie dieselbe in der Hand tragen, und sie gehen so ruhig, dass kein Tropfen Wasser überschwabbert, auch wenn die flache Schale bis zum Rande gefüllt ist. Wirklich wunderbar, wie diese arabischen Weiber schreiten! Diese Anmut, diese stolze Grazie auch bei der schmutzigsten Dorfdirne, wenn sie vom Brunnen kommt, auf dem Kopf einen Krug mit Wasser balancierend, der mindestens zwanzig Pfund wiegt. Solch einen Gang und Schritt findet man sonst nirgends in der Welt.

Es ist dies eine Eigentümlichkeit, eine Geschmackssache von mir, beim Weibe immer erst den Gang zu beobachten, ehe Gesicht, Füße und Hände daran kommen, und ich werde dem Leser dann noch gestehen müssen, dass ich jetzt eigentlich etwas anderes hätte sein können als ein verlumpter Seemann, der ohne einen Pfennig Geld mit knurrendem Magen auf einer ungewaschenen Bank saß.


Illustration

Aber nun dieser Gang hier! Der hätte man auf den flachen Hut ruhig das Ei des Kolumbus stellen können, aufrecht auf die etwas angeklopfte Spitze, es wäre nicht umgefallen. So ging sie einher, mit kleinen Schritten und dennoch nicht trippelnd, vielmehr groß und kraftvoll — sich etwas in den Hüften wiegend und dennoch ruhig wie eine wandelnde Statue.

Dies alles hatte ich schon aus ziemlicher Ferne beobachtet. Ich habe ein gar scharfes Auge. Zwei Kapitäne hatten mir schon gesagt, bei mir könnte man Fernrohre ersparen. Und auch ein gar feines Ohr habe ich.

Kaum konnten sie mich erblickt haben, als der Herr seiner Begleiterin das Gesicht zuwandte.

»Das ist der Mann!«, hörte ich ihn flüstern.

Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die das gehört hätten. Ich hörte es ganz deutlich.

Welcher Mann? Unwillkürlich blickte ich mich um. Kein anderer war zu sehen.

Nur ich konnte dieser Mann sein. Was wollten die von mir? Hatte ich gestern vielleicht etwas ausgefressen?

Im nächsten Augenblick verwarf ich alle solche Gedanken. Wie kam ich denn dazu, das »der Mann« gerade auf mich zu beziehen? Das war ja die reine Eitelkeit, dass ich das gerade aus mich bezog, oder ein böses Gewissen, das ich aber nicht hatte.

Die beiden hatten sich eben schon vorher unterhalten, und das letzte Wort des Herrn war gewesen: »Das ist der Mann«, Sie hatten vorher eben über einen anderen gesprochen, es war nur eine Bestätigung des Herrn gewesen auf etwas, was die Dame vorher gesagt hatte.

In dieser Ansicht wurde ich auch nicht irre, als die beiden jetzt direkt auf meine Bank zuschritten. Soweit ich sehen konnte, war dies die einzige Bank in der Nähe. Warum sollten sie sich nicht ebenfalls setzen?

»Ist noch etwas Platz für uns?«, fragte der Herr, seinen breitrandigen Strohhut lüftend, wobei ich erst jetzt bemerkte, dass er sein schwarzes Haar, weich wie Seide, lang bis auf die Schultern trug. Aber auffallend ist das nicht in diesem Lande.

Er hatte es auf Englisch gesagt, und anders konnte der blondbärtige Mann wohl auch nicht angeredet werden, doch nicht etwa auf französisch oder spanisch.

»Bitte sehr.«

Ja, Platz hatten die noch genug, denn ich war ebenso dürr wie lang. Ein richtiger Windhund. Freilich einer mit Pferdeknochen und Bärentatzen. Der Steuermann eines Segelschiffes hat die auch sehr nötig. Auch als Erster muss man da noch fest mit anpacken. Und eine Kraft hatte ich damals noch in diesen Knochen — jede Schraubenmutter, von einem anderen mit dem Schlüssel angezogen, konnte ich mit den Fingern noch einen Schlag nachdrehen. Aber dabei hatte ich wie gesagt das Aussehen eines verhungerten Windhundes.

Der Herr hatte sich natürlich zwischen mich und die Dame gesetzt.

»Sehr heiß heute, Sir!«, fing er ebenso natürlich an.

Es ist nicht meine Art, alles gleich zu bestätigen, besonders nicht, wenn ich anderer Meinung bin.

»Gestern war's noch viel heißer.«

»Meinen Sie?«

»Ich kalkuliere so.«

»Sie sind Seemann?«

Hei, diese Frage fuhr mir in die Nase. Was zum Teufel hatte der zu fragen, was ich sei?!

Ich war damals nämlich ein grober Patron. Das beruhte aber nicht etwa auf Rohheit, ein roher Charakter war ich nie gewesen. Freiheit! Ich erkannte meinen jeweiligen Kapitän als meinen Herrn an und sonst keinen Menschen auf der Welt! Wenn mich ein König oder Kaiser mit Du angeredet hätte, so würde ich ihn gleichfalls geduzt haben. Das war mir doch ganz schnuppe! Mit diesen Ansichten aber hing auch eng zusammen, dass ich niemanden nur um ein Glas Wasser ansprechen konnte.

»Herr, was geht es Sie an, was ich bin?«, fuhr ich also grob heraus.

Denn nun hatte der gleich alles für mich verloren, was ich vorhin so bewundernswert an ihm gefunden.

Der aber blieb ganz gelassen.

»Nun, es könnte doch sein, dass wir ein eigenes Schiff haben und dass wir einen Steuermann suchen, der Sie doch jedenfalls sind, wenn nicht Kapitän. Und wir haben unter den spanischen und sonstigen fremden Seeleuten, welche den Hafen bevölkern, eben noch keinen Mann gefunden, der uns gefällt, es ist ein Vertrauensposten, wir möchten einen Deutschen oder Engländer oder Skandinavier haben, und Sie gefallen uns eben. Könnte das nicht möglich sein? Deshalb erlaube ich mir die Frage, ob Sie Seemann sind, denn wir können uns doch auch irren.«

Der Mann hatte recht, ganz recht! Ach, ich hatte mit meiner Grobheit überhaupt schon manche Lektion bekommen!

»Verzeihen Sie, ich habe mir nun einmal so einen groben Ton angewöhnt!«, sagte ich jetzt aufrichtig. »Sie haben ein Schiff? Wohl eine Jacht?«

»Ja. Das heißt nicht ich, sondern diese Dame hier. Sind Sie gegenwärtig frei?«

»Ja, ich suche eine Heuer.«

»Als Kapitän?«

»Ich besitze das Kapitänspatent, bin aber nur einmal als erster Offizier gefahren, auf einem Segler, vierzehn Monate.«

»Würden Sie auf unser Schiff anmustern?«

»Als was? Unter welcher Flagge fährt es? Zu welcher Heuer?«

Der Herr sah nach der Uhr und stand schnell auf. »Das haben Sie alles mit dieser Dame abzumachen, welche alleinige Besitzerin des Schiffes ist und allein darüber zu bestimmen hat. Ich muss zu einer Unterredung. Also, Miss Floras, auf Wiedersehen in einer Stunde an der verabredeten Stelle.«

Er zog den Hut und ging schnellen Schrittes davon, mich mit der Dame allein lassend.

Ich fand es etwas merkwürdig. Aber warum nicht, wenn sie die Besitzerin war, der es an einer guten Kraft wirklich gelegen? Und er selbst hatte damit vielleicht gar nichts zu tun.

Also ich wandte mich ihr zu. Jetzt sah ich sie erst richtig. Sapperlot, hatte das schlanke Mädel dicke Arme! Und so hübsch! — Ich drücke mich so aus, wie ich es damals getan hatte. Von Verlegenheit wusste ich nichts.

»Was ist es für ein Schiff?«

Zunächst zeigte sie lächelnd die schimmernden Zähnchen, und ich hätte gar nicht geglaubt, dass dieses ernste Gesicht so lächeln konnte.

»Eine Jacht.«

»Unter welcher Flagge?«

»Der Vereinigten Staaten.«

»Wo segelt sie hin?«

»Macht wilde Fahrt.«

Das klingt sehr wild, abenteuerlich, ist aber ein geläufiger Seemannsausdruck für etwas ganz Harmloses. Wenn eine Mannschaft nicht für ein bestimmtes Ziel, sondern auf Zeit angemustert wird, das Schiff geht eben hin, wo es Ladung bekommt und absetzen kann, und das tun doch die meisten Schiffe, das nennt man »wilde Fahrt«.

»Wen brauchen Sie?«

»Einen Kapitän.«

»Wie viel Heuer?«

»Fordern Sie.«

»Madam, das ist nicht üblich.«

»Es gibt Ausnahmen.«

»Well — wie viele Deckoffiziere?«

»Vier.«

»Oho!! Auf einer Jacht?!«

»Sie ist groß genug.«

»Immerhin. Na ja, weiß schon, wie mit so einer Jacht renommiert wird — monatlich hundert Dollars.«

Es war eine normale, ein klein wenig bescheidene Forderung für einen Kapitän. Ob die Jacht dampft oder nur segelt, danach fragt man dabei gar nicht. Für die Maschine sind die Ingenieure da.

»Angenommen. Das heißt — wollte ich sagen — diese Heuer ist mir nicht zu hoch. Gebunden habe ich mich noch nicht etwa.«

»Gott bewahre, ich mich auch noch nicht. Das wird erst auf dem Seemannsamt ausgemacht.«

»Ist das unbedingt nötig? Würden Sie nicht auch einmal ohne Eintragung in die Musterrolle auf ein Schiff gehen?«

Ich stutzte etwas.

»Was haben Sie denn vor?«

»Sehe ich aus, als ob ich etwas Unredliches oder sonst Unehrenhaftes ausführen könnte?«

»Nein, so sehen Sie gar nicht aus!«, gab ich gleich zu. »Sie haben etwas Geheimes vor?«

»Ja.«

Durch Zufall kam sie da bei mir gerade an den Richtigen. Ich war nämlich schon einmal mit bei so einer geheimen Mission tätig gewesen, wo es auch keine Anmusterung gegeben hatte, und es war doch ganz ehrlich dabei zugegangen, grundehrlich. Ich bin als zweiter Steuermann auf dem Dampfer gewesen, der den Ex-Präsidenten Castello von Ecuador beobachtete, der, aus seinem Lande vertrieben, einen Putsch, einen Überfall vorbereitete, in Valparaiso ein Schiff kaufte, es mit Kanonen spickte und tausend verwegene Abenteurer anwarb. Unser Schiff musste dieses Schiff beobachten, durfte es nicht aus den Augen lassen, um rechtzeitig die Landung dieses ewigen Störenfriedes zu signalisieren. Und das ging nicht von einer Regierung aus, sondern ganz privat von Kaufleuten, musste aber gerade deswegen ganz geheim gehalten werden. Das Schiff wurde gar nicht registriert, die Mannschaft wurde heimlich angeworben, als ginge es auf eine Raubfahrt aus. Nur merkwürdig, dass man auf die besten Papiere und auf die ehrlichsten Gesichter sah.

»Wollen Sie mir vertrauen?«

Ich blickte in das schöne, blütenweiße, so ganz merkwürdige Gesicht.

»Ja, Ihnen vertraue ich.«

»Auch wenn ich Ihnen sage, dass ich mich jetzt hier unter einem falschen Namen aufhalte?«

»Gerade weil Sie mir das schon jetzt sagen, traue ich Ihnen nun erst recht. Außerdem bemerke ich, dass ich nicht etwa gar so feinfühlig bin. Kriegskonterbande und Blockadebrecherei sehe ich nicht etwa für ein unehrliches Gewerbe an — hei, wenn ich da nur einmal mitmachen könnte! — Und wenn ich nach der Türkei ein paar Schachteln Streichhölzer oder nach Afrika ein paar Zentnerchen Salz oder nach England ein paar Ballen Tabak schmuggeln sollte — ich wüsste von nichts.«

Wieder lachte sie, dass ihre Zähnchen schimmerten.

»Wir verstehen uns schon, Sie sind wirklich der rechte Mann, den ich suche. Es geht doch nichts über Physiognomiestudien. Ich brauchte nur einmal Ihr Gesicht gesehen zu haben und ich kannte Ihren Charakter.«

»Sie haben mich früher schon einmal gesehen?«

»Gestern Abend, aber da hatten Sie keine Zeit.«

»Nee, da hatte ich keine Zeit!«, sagte ich und kratzte mich hinter dem Ohre.

Einen so vortrefflichen Eindruck konnte ich ja da nicht gerade gemacht haben. Na, an Bord und an Land ist zweierlei, und würde ich im Dienst an Land geschickt, dann käme so etwas auch nicht vor.

»Sie sind ein Deutscher?«

»Ja.«

»Ihr Name?«

»Hagen — Karl Hagen.«

»Hagen?«, wiederholte sie sinnend. »Ein schöner, ein herrlicher Name — Hagen von Tronje — mein Ideal von Mannestreue.«

»Was, Sie kennen das Nibelungenlied?!«, rief ich.

»Ich habe es gelesen — deutsch. Wir können auch deutsch zusammen sprechen.«

Wir taten es fernerhin. Sie, die ich für eine Spanierin halten musste, sprach ein ganz perfektes Deutsch, wenn auch mit einem fremdländischen Akzent.

Ich wollte, da es nun einmal meine Liebhaberei ist, wobei ich Feuer und Flamme werden kann, vom Nibelungenliede anfangen, das ich der ganzen Iliade und allen anderen fremden, hochgepriesenen Epen vorziehe, aber sie unterbrach mich bald.

»Davon wollen wir uns später unterhalten, Herr Kapitän, ich schwärme auch so für das deutsche Nibelungenlied. Erst aber muss das Geschäft kommen. Da es sich hier nun um eine geheime Mission und um einen Vertrauensposten handelt, möchte ich doch noch etwas mehr über Sie erfahren — da genügt mir Ihr ehrliches Gesicht noch nicht. Ich bin auch wirklich neugierig.«

»Sie möchten etwas mehr von meiner Vergangenheit hören?«

»Ja. Obgleich Sie jetzt vom Scheitel bis zur Sohle den Eindruck eines echten Seemannes machen, kommt es mir doch vor, als seien Sie hierzu nicht von Jugend auf bestimmt gewesen.«

»Da haben Sie recht. Wenn es nach meinen Eltern gegangen wäre, dann wäre ich jetzt Schulmeister.«

»Schulmeister? Sie?!«, lachte sie wieder.

»Jawohl. Und Sie sollten nur sehen, wie ich die Kinder verprügeln könnte!«, lachte auch ich. »Das heißt, ich wäre schon längst Oberlehrer an einem Gymnasium, mindestens Professor, vielleicht auch schon an einer Universität.«

»Ach bitte, erzählen Sie doch ausführlich.«

Das konnte ich tun. Ich erzählte, dass ich tief drin im Binnenlande geboren wurde, in einem Städtchen, in dem nichts als Tuch gemacht wird. Mein Großvater, mein Vater, alle meine Onkels und Vettern und Neffen waren Schulmeister. Sämtliche Lehrer dort in der Drehe herum heißen Hagen.

Da musste ich natürlich ebenfalls Schulmeister werden. Das heißt Volksschullehrer. Weiter als zum Besuch des Seminars reichte die winzige Witwenpension meiner Mutter nicht, wenn nicht Onkel Christian gewesen wäre, der Bruder der Mutter. Der war aus der Art geschlagen, war als Junge durchgebrannt, zur See gegangen und fuhr schon längst als Kapitän. Der nahm sich des einzigen Kindes seiner Schwester an.

So kam ich aufs Gymnasium. Aber Onkel Christian war auch schuld daran, dass ich mit dem elften Jahre ebenfalls durchbrannte. Was der konnte, musste ich auch können. Ich kam richtig bis nach Hamburg und wollte auf das Schiff meines Onkels; ich dachte, der würde mich mit offenen Armen empfangen! Zu meinem Glück war der nicht in Hamburg, sondern in Australien.

Ehe ich mich an Bord eines anderen Schiffes verkriechen konnte, fasste mich die Polizei und schickte mich per Schub wieder nach Hause. Na, meine Mutter flennte nicht schlecht. Und mir ging's nahe. Ich hatte ja gar nicht gewusst, dass ich ihr dadurch solches Leid zufügte — hatte geglaubt, sie wäre stolz auf mich. Da versprach ich ihr, nicht wieder solche Kolumbusgedanken zu haben. Also ich absolvierte das Gymnasium, übersprang zweimal eine Klasse, bezog schon mit siebzehn Jahren die Universität, studierte acht Semester Philosophie — hauptsächlich Philologie, klassische Sprachen. Dann wurde ich Kandidat an einem Gymnasium.

Ich hatte diese Lehrerstelle noch nicht angetreten, war noch nicht verpflichtet, als meine Mutter starb. Nun wurde aber schleunigst der Koffer gepackt und nach Hamburg gerutscht, wo diesmal richtig Onkel Christian mit seinem Segelkasten lag.

»So und so, Onkel, die Mutter ist tot, ich will Seemann werden, nimm mich als Schiffsjungen an.«

»Well, Junge, jetzt habe ich nichts mehr dagegen. Nun ziehe mal Deine feinen Lumpen aus, spucke in die Hände, nimm dort den Besen und fege das Deck. Lass Dir von dem Matrosen da zeigen, wie man den Besen hält. Und wenn Du Näswater nicht die Ohren steif hältst, dann kriegst Du eins mang die Kusen, dass Dir die Zähne sektionsweise aus dem Maule marschieren.«

So war ich als Cand. phil. mit zwanzig Jahren noch einmal Schiffsjunge geworden. Na, bei mir ging es ja schnell. Nach einem Jahre wurde ich schon Vollmatrose, auch jeder andere Kapitän hätte mich dazu ernannt. Dann diente ich mein Jahr in der Marine ab, wurde als Bootmannsmaat entlassen, fuhr wieder bei der Kauffahrtei, kürzte die vorgeschriebene zweijährige Fahrzeit als Matrose auf ein Jahr ab, machte in einem Vierteljahre mein Steuermannsexamen, zwei Jahre später erlangte ich das Kapitänspatent, freilich ohne gleich Kapitän zu werden, das ist nicht so einfach, war also bisher als zweiter und zuletzt als erster Offizier gefahren. Jetzt war ich neunundzwanzig Jahre alt; oder vielmehr neunundzwanzig Jahre jung, denn ich fühlte mich noch wie ein neunzehnjähriger Jüngling, wäre zu jedem dummen Streiche bereit gewesen — ich sage dummen, keinem schlechten. —

So hatte ich berichtet, kurz und sachlich, etwas humoristisch. Die Dame hatte mich mit ihren großen, braunen Augen immer unverwandt angestarrt.

»Das ist ja herrlich!!«, sagte sie jetzt, ganz feierlich.

»Ja, es ist herrlich!«, bestätigte ich, allerdings etwas ganz anderes meinend als sie. »Über kurz oder lang werde ich doch einmal Kapitän, und dann tausche ich mit keinem König. Jetzt bin ich noch viel zu jung dazu. Und dass ich das Abiturium gemacht und erst studiert habe, das bereue ich durchaus nicht, und da war auch keine verlorene Zeit dabei. Was wollen Sie denn? Vor dem dreiundzwanzigsten Jahre kann heute niemand mehr sein Steuermannsexamen machen. Und ich habe vorher etwas in den Kopf bekommen. Wenn ich einmal Kapitän bin, werde ich mich nicht in meiner unnahbaren Einsamkeit langweilen, was gewöhnlich zur Rumbuttel führt, sondern ich werde mich in meine Klassiker vertiefen. Etwas von einem Sprachforscher bin ich noch heute.«

»Nein, ich meinte etwas ganz anderes. Wenn Sie sofort nach dem Tode der Mutter doch noch zur See gingen, als Schiffsjunge, so muss diese Sehnsucht Sie doch ständig beherrscht haben.«

»Na und ob! Ich träumte ja von gar nichts anderem als vom Schiffe und von fremden Ländern. Sie verstehen: im Schlafe. Am Tage musste ich doch über meinen Büchern ochsen. Aber in der Nacht entdeckte ich noch unbekannte Erdteile.«

»Und das haben Sie neun ganze Jahre so ausgehalten?«

»Ach, noch viel länger. Von meinem sechsten Jahre an beherrschte mich dieses Ideal.«

»Und so lange haben Sie Ihre Sehnsucht niedergerungen? Nur Ihrer Mutter wegen? Das ist herrlich!«

»Ach, so meinen Sie das! Na, ich denke, es war doch nur meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, meine Mutter, deren einziges Kind ich war, nicht flennen zu lassen.«

»Nein, nein — Sie sind ein herrlicher Mensch!«

Wie die mich nun dabei anblickte! Jetzt wurde ich etwas verlegen. Und mein Magen ebenfalls, der knurrte jetzt ganz unverschämt.

»Wissen Sie, mit wem Sie die größte Ähnlichkeit haben?«

»Ja, wenn ich wüsste, wen Sie meinen!«

»Kennen Sie den Grafen Arno von Felsmark?«

Ich sann nach, legte dazu sogar den Finger an die Nase. Ja, diesen Namen musste ich doch erst kürzlich gehört haben.

Richtig, jetzt entsann ich mich. Es war ja gestern gewesen. Wir hatten noch zwei Stunden an Bord bleiben müssen, bis wir abgemustert wurden und hatten unterdessen die letzten Zeitungen gelesen.

Da war noch einmal viel von dem Zauberschiffe, dem »Mohawk«, berichtet worden, von den Geheimnissen des Sklavensees und allem, was damit zusammenhing, auch von deren Besitzerin, einer Indianerin, die dann eine Gräfin von Felsmark geworden, und das alles hatte ganz, ganz märchenhaft geklungen.

So hatte ich auch jetzt wiederholt, um meine Kenntnisse zu zeigen.

»Und diesem Grafen von Felsmark soll ich ähnlich sehen?«

»Nun, die Gestalt ist ja eine ganz andere, höchstens die Größe könnte stimmen, auch das Gesicht ist anders — aber vor allen Dingen ganz genau derselbe Charakter, ich meine die Ausdrucksweise — ganz erstaunend ähnlich.«

»Sie haben den Grafen gekannt?«

»Ja, sehr gut sogar.«

»Der ist doch schon lange tot, wie ich gestern gelesen habe.«

»Ja, seit ungefähr zwei Jahren.«

»Ein Samum in der syrischen Wüste soll ihn verschüttet haben.«

»So sagt man.«

»Das ist ja ein Unsinn.«

Seltsam, wie die Augen, die mich anblickten, plötzlich erstarrten.

»Wie?!«, fuhr sie dann jäh empor. »Sie wüssten es anders?!«

»Dass der Samum mit aufgewirbeltem Flugsand ganze Karawanen oder auch nur einzelne Menschen verschüttet, ist ein Märchen von uns Abendländern, worüber die Araber lachen.«

Immer noch der starre, auf mich gerichtete Blick.

»Herr, es war eine Trombe, eine Sandhose, die ihn und seine Begleiter zudeckte.«

Au, da hatte ich schon wieder eine Lektion bekommen!

»Pardon — das ist etwas anderes — ja, so etwas kann's geben. Existiert dieses Zauberschiff denn nur wirklich?«

»Gewiss, es existiert.«

»Das hat ja in San Francisco zuletzt noch ein böses Renkontre mit den Behörden gehabt, eine richtige Schlacht hat's gegeben mit Marinesoldaten. Dann verschwand es. Wo mag es denn jetzt stecken?«

»Weiß nicht.«

»Da möchte ich doch einmal drauf. Aber es soll ja nur mit Japanern bemannt sein. Und diese Indianerin, diese Atalanta oder wie sie heißt, früher eine Zirkuskünstlerin, die soll ja den leibhaftigen Teufel im Leibe haben.«

Es schlug dreiviertel.

»Madam, um fünf muss ich unbedingt auf dem deutschen Konsulate sein.«

»Ja, auch ich muss gehen. Also ist es abgemacht?«

»Na, eigentlich ist noch gar nichts abgemacht.«

»So sagen Sie: abgemacht. Denn eine Anmusterung gibt es also nicht.«

Sie hielt mir die behandschuhte Rechte hin, und ohne Zögern schlug ich ein.

Herrgott, hatte die einen kräftigen Händedruck.

»Ja, wie soll es aber nun weiter werden, wenn wir uns jetzt trennen? Wo sehe ich Sie wieder? Wo liegt Ihr Schiff?«

Sie war schon aufgestanden, ich tat's auch.

»Kennen Sie das Hotel ›Farkas‹ in der Calle Minor?«

»Ja, es ist das einzige Hotel, das ich hier kenne, weil wir gestern dort unseren Kapitän abholen mussten. Es ist eine bessere Seemannsherberge — für Offiziere und Kapitäne.«

»Richtig. Dort seien Sie heute Abend um neun, ich werde Sie von dort abholen. Von dort geht es sofort an Bord. Im Boote. Mein Schiff liegt weit draußen auf Reede. Dass Sie aber auch wirklich da sind.«

»Wenn Sie mich auch nur wirklich abholen.«

»Na, was für eine Frage! Das heißt, es könnte auch eine andere Dame kommen, einen anderen Namen nennen.«

»Was für ein Erkennungszeichen?«

»Ist gar nicht nötig. Sie werden um neun Uhr bein Hotel ›Farkas‹ abgeholt. Eine Verwechslung ist doch bei Ihnen ausgeschlossen. Einverstanden?«

»Das ist doch schon abgemacht. Mein Handschlag und Ihrer doch auch.«

»Gut. Brauchen Sie Vorschuss?«

Na, das war doch wenigstens einmal ein vernünftiges Weib! Und da genierte ich mich nun nicht.

»Ja, ich bitte darum.«

Sie zog ein Ledertäschchen hervor und entnahm ihm eine Hundertdollarnote.

»Genügt das?«

»Vollkommen. Das wäre also die erste Monatsheuer als Vorschuss.«

»Also nochmals: Es könnte vielleicht auch eine andere Dame sein, die Sie abholt.«

»Punkt neun Uhr.«

»Na, vielleicht auch einige Minuten früher. Später auf keinen Fall. Auf Wiedersehen, Herr Kapitän Hagen.«

Sie ging nach links, ich nach rechts.

Unter falscher Flagge

O welches Glück! Auf dem Konsulat war schon meine Kleiderkiste!

»Was kostet das nun alles?«

Gar nichts, es war schon alles unter den Unkosten für verlotterte Seeleute gebucht. Aber dort lag eine Liste, dort stand eine Büchse für verschämte Geber. Ich ließ meine Hundertdollarnote wechseln und opferte reichlich, drückte dem Konsulatsdiener etwas in die Hand, dass der Kerl zusammenklappte wie ein Taschenmesser und dann vor mir alle Türen aufriss.

Ich ließ meine Kiste gleich nach dem Hotel »Farkas« bringen, zog mir zwei tellergroße Beefsteaks frisch von der Pfanne und drei Flaschen Bass Ale zu Gemüte, machte einige Einkäufe, vergaß besonders den Tabak nicht, dann hatte ich in dem Hotel nur noch eine Stunde zu warten und der kleine Zeiger näherte sich der neun.

Die Dame hatte nicht gesagt, wo ich warten sollte, und so hatte ich mich gleich vorn in das Barzimmer gesetzt. Nur noch ein anderer Gast befand sich darin, der mir so glich wie ein Mops einem Windhund.

Hatte sie eigentlich ihren Namen genannt? Nein. Aber ihr Begleiter hatte sie, als er sie verließ, Miss Flo—, Flo—, Flo—, Florian oder so ähnlich genannt. Den Namen ihrer Jacht hatte ich sicher nicht zu hören bekommen.

Es war zehn Minuten vor neun, als eine verschleierte Dame eintrat, zwischen den beiden Gästen einmal hin und her sah und dann auf mich zuschritt. Dass es nicht die Miss Flo war, sah ich gleich am Gange, auch war es eine viel untersetztere Gestalt.

»Sind Sie der Kapitän, den eine Dame hierher bestellt hat?«, fragte sie leise.

»Bin ich.«

»Sind Sie bereit, mitzukommen?«

»Sofort.«

»Wo ist Ihr Gepäck?«

»Steht draußen beim Portier.«

Sie hatte einige Matrosen mitgebracht, zwei nahmen meine Kiste, die anderen waren schon mit Hutschachteln und dergleichen bepackt, es ging nach dem Hafen. Nur wenige Schritte hatten wir zu gehen, dann bestiegen wir ein Boot und fuhren auf die Reede hinaus. Das erste Viertel des Mondes leuchtete uns dazu.

Das Ziel war eine schmucke, stattliche Dampfjacht von etwa tausend Tonnen. »Colomba« — die Taube — las ich hinten am Heck, um das wir steuern mussten, und als Heimathafen war Philadelphia angegeben.

Das verschleierte Weib kletterte trotz der ziemlichen Körperfülle wie eine Katze das Fallreep hinauf, ich hinterher. Unsere Wasserfahrt war ganz schweigsam verlaufen.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte sie jetzt erst.

»Hagen.«

»Einen Augenblick, Herr Kapitän, ich melde Sie der Patrona an.«

Der mitfahrende Schiffsbesitzer wird gewöhnlich Patron genannt.

Sie kam gleich zurück.

»Miss Austin lässt bitten.«

Wieder ein anderer Name!

Ich betrat eine hochelegante Kajüte, alles luxuriös, fast protzenhaft. An dem Tisch saß allein eine Dame und aß Ananasscheiben mit Schlagsahne, sie trug ein gelbes Gazekleid mit Silberstickereien und die Fruchtscheiben musste sie, um sie zum Munde zu führen, mit den diamantgepanzerten Fingerchen unter einen roten Lappen führen, denn sie trug eine rote Maske, nicht gerade das ganze Gesicht verhüllend, die Stirn war frei, da genügt ja schon ein kleines Läppchen, um ein Gesicht ganz unkenntlich zu machen.

Ein junges, schönes Weib war es sicher, so etwas konnte man doch auch hinter einer Maske beurteilen, wenn sie nicht gerade den ganzen Kopf verdeckt, schon diese kleinen, rosigen Ohren konnten da nicht täuschen, weißen Teint und schwarze Haare hatte sie auch — aber meine Flo war sie sicher nicht, gar keine Ahnung.

Sie ließ ab von ihrer Ananas, nahm eine am Halse baumelnde Lorgnette, klappte sie auf und begann mich zu mustern, vom Kopf bis zu Füßen und wieder zurück, mindestens drei Minuten lang, und das ist für so etwas eine kleine Ewigkeit.

Schon wurde ich ungeduldig, ich wollte etwas sagen, was nicht gerade eine Höflichkeit gewesen wäre, als sie endlich die Güte hatte, ihren Mund hinter dem roten Lappen zu öffnen.

»Auf meine Mercy kann ich mich doch immer verlassen, sie hat wiederum einen vorzüglichen Geschmack gezeigt.«

Das war es nicht, was ich hatte hören wollen, ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, und nicht vor Scham ob dieser Schmeichelei, die ja nur allzu deutlich war.

»Bei Ihnen ist beim Engagement eines Kapitäns wohl die Figur und das Gesicht ausschlaggebend?«

Mir schien, als wollte sie emporfahren, sie tat es aber nicht.

»Nun, will man auf seiner Lustjacht etwa eine verkrüppelte Mannschaft haben?«

Da hatte sie ja recht. Ich wusste, was die reichen Jachtsportsleute auch in Bezug auf die Besatzung für einen enormen Luxus treiben. Es ist daraus ein förmliches Geschäft geworden, in allen größeren Hafenplätzen gibt es Agenten, welche von den Schiffen die schönsten Kerls wegzukapern suchen, besonders Skandinavier, Schweden, unter denen es ja wahre Göttergestalten gibt. Die werden dann an solche Jachten — verkauft. Es ist wirklich der reine Menschenhandel. So ein Matrose oder Offizier bekommt als Vorschuss eine größere Summe, er wird förmlich dazu angehalten, sie zu verjubeln, und kann dann sogar mit Hilfe der Polizei requiriert werden. Freilich braucht er sich nur einmal recht runksig aufzuführen, dann hat er seine Freiheit wieder. Aber ich kannte einen Fall, wo ein Matrose immer mit Gewalt mitgeschleppt worden war, und es ist gar nichts dagegen zu machen.

»Bitte setzen Sie sich. Wollen Sie mir Ihre Papiere zeigen.«

Das war sachlich, das ließ ich mir gefallen.

Nur die vom Konsulat und Seemannsamt neu ausgestellte Bescheinigung über meine letzte Fahrt konnte ich vorweisen, und die genügte.

»Wo haben Sie denn Ihre anderen Seemannspapiere?«

»Die sind mir hier gestohlen worden.«

»Wie ist denn das gekommen?«

»Wie einem eben eine Brieftasche gestohlen wird.«

»Wie lange und wo sind Sie sonst gefahren?«

Da musste ich berichten. Ich zählte auf. Hinter der Maske blitzten mich die Augen an. Hinter solchen kleinen Öffnungen blitzen und funkeln die Augen immer, auch wenn sie es sonst nicht tun.

»Sie haben eine ungemeine Ähnlichkeit mit einem mir bekannten Herrn!«, unterbrach sie mich plötzlich. »Nicht in den Gesichtszügen, nicht in der Figur — er war viel voller — aber die Augen sind ganz dieselben, und dann besonders ganz dieselbe Ausdrucksweise. Eine ganz auffallende Ähnlichkeit!«

»Wohl mit dem Grafen von Felsmark?«

»Woher wissen Sie —?«, fuhr sie empor.

»Die Dame, die mich bestellt hat, sagte mir schon dasselbe.«

»Ach so! Ja, die Mercy muss es ja wissen. Hat sie zu Ihnen gleich davon gesprochen? Kannten Sie den Grafen Arno von Felsmark?«

»Es war der Gatte jener sagenhaften Atalanta —«

Eine heftige Handbewegung schnitt mir das Wort ab.

»Nennen Sie in meiner Gegenwart niemals wieder diesen Namen!«, wurde hinter der Maske hervorgestoßen.

Oho, was war denn das? Diese beiden Frauen schienen sich nicht zu lieben. Na, mir ganz gleichgültig.

»Wohin soll die Jacht gehen? Darf ich es schon erfahren oder wird nur ein Kurs angegeben?«

Schnell hatte sie sich wieder beruhigt, sie hatte aber sichtliche Gewalt anwenden müssen.

»Kennen Sie die Westküste Afrikas?«

»Ja, da bin ich schon einmal alle Häfen abgekleppert. Allerdings ist die ein bisschen lang.«

»Halten Sie zunächst auf Kap Negro zu, Bengalien (1). Das Ziel gebe ich später an.«

(1) Ein ›Kap Negro‹ in einem westafrikanischen ›Bengalien‹ konnte nicht ermittelt werden — Bengalen (das heutige Bangladesch) liegt, von Indien umgeben, am Golf von Bengalen am Indischen Ozean —, wohl aber die Stadt Benguela und ein Cabo (Kap) Negro im damals portugiesischen und jetzt unabhängigen Angola (Südwest-Afrika).

»Ist das Schiff abgenommen?«

»Alles in tadelloser Ordnung.«

Ehe ich dazu kam, wegen der Besatzung zu fragen, und da gab es ja auch sonst noch viele Fragen, die mir besser die Patrona als ein Offizier beantworten konnte, steckte ein Mann den Kopf zur Tür herein.

»Der Lotse ist an Bord gekommen!«

Die Dame stand auf.

»Voilà — Herr Kapitän, Ihr Dienst beginnt. Die Abfahrt ist auf halb zehn angesetzt, mit eintretender Ebbe. Ich komme dann auf die Kommandobrücke und leiste Ihnen Gesellschaft.«

Noch ehe ich die Tür erreicht hatte, kam jenes andere Weib herein, das mich abgeholt hatte, jetzt unverschleiert, aber ich erkannte sie gleich an dem Kleid wieder, eine verblühte Kreolin.

»Was, schon fort?! Ja, die Miss Flobert ist doch noch nicht zurück!«

»Die bleibt in Buenos Aires. Wissen Sie denn das noch gar nicht? Die hat doch hier ihren Fernando wiedergefunden.«

Mir war es doch zumute, als ob ich plötzlich einen Kübel kalten Wassers über den Kopf bekäme. Sie käme nicht mit. Sie, sie, sie!! Und dann verfluchte ich wieder alle Weiber und den verdammten Fernando dazu. Und dann lachte ich ärgerlich über mich selbst. Was ging die mich denn überhaupt an?

Aber so recht gelang es mir doch nicht. Es war mir, als ob plötzlich die Sonne untergegangen wäre, obgleich es Nacht war.

Dann stand ich neben zwei Wachoffizieren und dem Lotsen auf der Kommandobrücke und war Kapitän, der jetzt freilich noch nichts zu sagen hatte, jetzt führte allein der Lotse, ein alter Kreole, das Kommando, bis wir die Mündung des La Plata hinter uns hatten.

Nebenbei gingen mir doch noch einige andere Gedanken durch den Kopf.

Weshalb trug denn das Weib eine rote Maske? Nun, wahrscheinlich eine bekannte Weltdame, vielleicht eine verheiratete, die unerkannt per Jacht auf Abenteuer ausging. Auch den Namen der Jacht hatte sie gewechselt, deshalb fand auch keine regelrechte Anmusterung statt. Oder vielleicht war es auch nichts weiter als eine Schrulle, um sich mit einem Nimbus zu umgeben. Dann sollten die Zeitungen von der geheimnisvollen Jachtdame mit der roten Maske berichten, die dachte, alle Welt würde dann davon sprechen. So etwas kannte man ja.

Der Lotse ging von Bord, ich übernahm das Kommando. Von dem zweiten Steuermann, der die Wache hatte, ließ ich mir etwas über die Schiffsverhältnisse berichten, sonst fragte ich nicht einmal nach seinem Namen.

Es ist auch wirklich nicht nötig, dass man den weiß. Auch Kapitän und Offiziere sind durch eine unüberbrückbare Kluft von einander getrennt. Zu den vier Offizieren schien die Miss Flobert auch die Ingenieure gerechnet zu haben, denn es waren nur zwei Steuerleute vorhanden.

Nachts gegen zwei Uhr wusste ich nicht mehr, was ich noch zu tun gehabt hätte. Ich wollte einige Stunden schlafen, musste mir aber vom Steward erst meine Kabinen zeigen lassen.

Als ich, noch allein, nach dem Achterdeck ging, auf unhörbaren Segeltuchschuhen, sah ich die beiden Weiber an der Reling stehen. Auf die Brücke war noch keine gekommen.

»Bei diesem Kapitän werden Sie kein Glück haben!«, hörte ich da die kleine Dicke in frechem Tone sagen.

»O, den will ich schon kirre bekommen, und sein Widerstand soll mir gerade Spaß machen.«

Ich hatte Lust, mich bemerkbar zu machen und den Damen etwas zu sagen, besonders der mit der roten Maske, ich tat es aber nicht.

Ich beorderte, mich um sechs zu wecken, wenn es nicht vorher nötig war, schloss mich ein und träumte von einem blütenweißen Antlitz. —

Erst um sechs wurde ich geweckt, bestellte das Frühstück auf die Kommandobrücke und ging hinauf.

Dort oben saß in der Morgensonne schon die Maskierte und trank ihren Tee. Das konnte ja gut werden. Ach, wäre ich Esel doch nicht auf so eine Damenjacht gegangen! Aber ich hätte es wissen können; ein Freund von mir war einmal als Offizier auf so einer Jacht gewesen, auch mit einer Patrona, die natürlich die Kapitänin hatte spielen wollen. Und ein ganzes Damenpensionat hatte sie mitgehabt.

Der hatte etwas erzählen können, wie es da zugegangen war. Amüsant, das stimmte! Nun, ich machte so etwas auch mit, ich war doch nicht etwa ein Kopfhänger. Aber — es war einfach die Miss Flobert, die mir fehlte, und ohne Fernando oder einen sonstigen Kerl hätte sie da sein müssen, dann wäre ich durchaus nicht so ärgerlich gewesen. Jetzt kann ich es sagen, damals wollte ich es mir nicht gestehen.

»Haben Sie gut geschlafen, Herr Kapitän?«, flötete mir die Patrona entgegen. »Das ist schön, frühstücken wir zusammen.«

Ich brummte etwas, wenn auch nicht das, was ich dachte. Die wollte ich ja bald von dort oben weggeekelt haben.

Zuerst nahm ich dem Wachoffizier das Besteck ab — das heißt nicht etwa Gabel und Messer, sondern die letzten astronomischen Bestimmungen, Kurs und Lauf usw., nennt man das Besteck des Schiffes, weil sich die nötigen Instrumente in einem Etui, in einem Besteck befinden, und dann sollte ich nicht dazu kommen, mit der Patrona das Frühstück zu teilen.

»Dort hinten kommt ein großer Dampfer fabelhaft schnell auf, und womit mag der nur feuern?«

Nur einige Sekunden brauchte ich hinzublicken, dann kam mir die Sache auch ganz rätselhaft vor.

Die »Colomba« dampfte 22 Knoten in der Stunde, es gibt nur wenige Schnelldampfer und Kriegsschiffe, die das nachmachen, von Torpedobooten abgesehen, und dieser dort schoss heran, als ob unsere Jacht wie eine Schnecke kröche.

Und nur einen Schornstein? Der nicht einmal rauchte? Doch der eine Schornstein war ein Irrtum. Jetzt drehte sich der Dampfer, ein ganz mächtiger Kasten, etwas, und wir sahen drei Schlote. Aber qualmen tat keiner.

»Das ist kein anderer als der ›Mohawk‹!«, erklang da der Ruf.

Teller und Tassen zerbrachen klirrend. Die Maskierte hatte gleich den ganzen Tisch umgeworfen, so war sie aufgesprungen.

»Der ›Mohawk‹! Dass ihn tausend Flüche auf den Meeresboden ziehen mögen!«, heulte sie auf.

Mit einem Male verlor sie die rote Maske. Ja, es war ein sehr, sehr schönes Gesicht — nur gegenwärtig nicht. Jetzt war es vor Hass und Wut förmlich verzerrt.

Na, ich hatte jetzt nur Interesse für den Dampfer. Das also war das japanische oder indianische Zauberschiff!

Da stiegen Flaggen empor, und ich brauchte nicht erst im Signalbuch nachzusehen.

»Colomba stopp!«, sagte ich. »Die haben uns etwas mitzuteilen, können uns nicht schnell genug einholen, da wollen wir einmal —«

Schon hatte ich den Signalhebel gedreht, und da denke ich doch, das Weib bekommt einen Tobsuchtsanfall, so stürzte es auf mich zu und riss den Hebel, den ich ja nur leicht zwischen den Fingern hatte, wieder herum, dass mir die scharfe Ecke einer Schraubenmutter einen langen, blutenden Riss über den Handrücken zog.

»Wehe, wenn Sie stoppen!!«, schrie sie und setzte noch einige Flüche hinzu, die sie dem darin gewandtesten englischen Matrosen abgelauscht haben musste. Ich kann zwar bei Gelegenheit auch ganz gut fluchen, weil es eben manchmal nicht anders geht, bin aber sonst nicht dafür.

Na, das ging mir doch etwas über die Hutschnur! Ich lasse mir doch den Signalhebel nicht aus der Hand nehmen!

Also ich drehte den Hebel nochmals auf Stopp, wie sie ihn auch festhalten wollte, und hatte noch die Gutmütigkeit, nach einer Erklärung für die Aufforderung zu suchen.

»Vielleicht wollen uns die —«

Da hatte das Weib plötzlich einen Dolch in der Faust, es wollte mich in die Hand stechen, welche den Hebel festhielt.


Illustration

Ehe ihr das gelang, bekam sie von mir einen Stoß, der sie an das andere Ende der Brücke schleuderte — ich musste mich doch wehren. Aber im Nu stürzte sie sich mit einem schrillen Schreien wieder auf mich, und hätte ich nicht glücklich ihr Handgelenk erwischt, so hätte ich im nächsten Moment einige Zoll kaltes Eisen im Leibe gehabt.

Nun war es aber genug! Auf der Brücke putzten zwei spanische Matrosen Messing.

»He da, haltet hier mal diese Wahnsinnige fest, bis sie wieder zur Besinnung gekommen ist!«

Die beiden gehorchten sofort und packten zu, sie taten es nur zu gern, grinsten vor Vergnügen, wie das Weib zwischen ihren Fäusten zappelte, sich wie ein Aal wand, dabei immer in schrecklicher Weise auf den »Mohawk« und auf eine Atalanta schimpfend und fluchend. Ich kümmerte mich nicht um sie.

Schäumend war das mächtige Schiff herangerast, stoppte mit wunderbarer Schnelligkeit, und ehe die nachschießenden Wogen, die das ganze, sonst fast spiegelglatte Meer aufwühlten, uns erreicht hatten, lag es schon längsseit, Brücke an Brücke. Freilich war die »Colomba« ja nur ein Zwerg gegen einen Goliath, ich musste hoch hinaufblicken.

Und da sehe ich dort oben neben einigen gelben Mongolengesichtern ein anderes, mehr rotbraun gefärbt, das unbedingt einem Weibe angehören muss, ich sehe auch noch etwas von einem weißen Kleide —

»Wortbrüchiger!«, donnerte es da aus dem Munde dieses roten Mädchengesichtes, soweit eine Weiberstimme, wenn sie etwas tief ist, donnern kann. »So hältst Du Dein gegebenes Versprechen?!«

Diesen Vorwurf bezog ich erst noch gar nicht auf mich. Wer weiß, wen die meinte.

Aber dabei begann ich doch immer mehr in dieses rotbraune Gesicht zu starren, und eine kleine Ahnung fing doch schon an in mir aufzudämmern.

»Herüber an Bord zu mir oder ich lasse Sie mit Gewalt holen!«, donnerte sie wieder, und sie konnte ganz hübsch donnern.

Das war doch erst eine Aufforderung mit Drohung gewesen, wurde aber drüben sofort als Befehl aufgefasst, gleich hopsten zwei japanische Matrosen von oben auf meine Kommandobrücke, zwei Kerlchen, die fast ebenso breit wie hoch waren, mit Oberarmmuskeln wie die zwanzigpfündigen Kanonenkugeln.

Ich kannte japanische Matrosen von einem englischen Schiff her, hatte allen Respekt vor ihnen bekommen. hatte sie förmlich lieb gewonnen — aber hier auf meiner Kommandobrücke hatten sie nichts zu suchen.

Den ersten packte ich, ehe er mich hatte fassen können, bei den Armen und warf ihn über das Brückengeländer an Deck, der zweite wollte mich unterlaufen, mir wahrscheinlich die Beine unterm Leibe wegziehen, aber ehe er dazu kam, erwischte ich den sich Bückenden beim Hosenbund und ließ ihn seinem Kollegen nachfolgen.

Dann blickte ich wieder hinauf in das rotbraune Gesicht, das jetzt ebenfalls einen recht starrerstaunten Ausdruck angenommen hatte, wahrscheinlich ob meines Manövers mit den beiden zu kurz geratenen Riesen.

»Ja, sind Sie denn nicht die Miss Flobert?«

»Floras nannte ich mich gestern.«

»Die mich als Kapitän engagierte, mir hundert Dollar Vorschuss gab und mich um neun vom Hotel ›Farkas‹ abholte?«

»Ich war dort Punkt neun, aber Sie nicht!«

Nun war mir eigentlich schon alles klar. Man hat doch nicht umsonst fast ein ganzes Jahr lang studiert. Besser aber ist doch der angeborene Mutterwitz; mit der ganzen Logik kann man manchmal keinen Hund hinterm Ofen vorlocken.

Ich wandte mich der Festgehaltenen zu, die jetzt ganz still stand, nur mit vor Wut und Hass verzerrtem Gesicht nach dem anderen Schiff hinaufstierte.

Da aber fing sie plötzlich wieder zu toben an.

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, ich, ich habe Sie engagiert und Ihnen fünfhundert Dollar Vorschuss gegeben!«

»Mir fünfhundert Dollars Vorschuss? Nein, da sind Sie im Irrrum und jetzt ist mir auch alles klar. Ich bin unter falsche Flagge geraten, auf ein falsches Schiff. Die dort oben ist es gewesen, die mich auf der Esplanade engagiert und mich nach Hotel ›Farkas‹ bestellt hat, aber sie ist zehn Minuten zu spät gekommen. He da, Ihr beiden gelben Burschen, wenn Eure Knochen noch heil sind, dann fasst dort mal meine Kiste an und bringt sie herauf.«

Ich hatte nämlich Order gegeben, die Stewards sollten meine Kiste auspacken und alles in der Sonne lüften, sie kamen gerade mit meiner Kiste unter der Brücke hervor.

Ich will nicht zu ausführlich werden.

Die beiden japanischen Matrosen, die sich empor gerichtet und noch ganz verdutzt dastanden, begriffen schnell, brachten meine Kiste herauf, ein Seil wurde herabgelassen, die Kiste hinüberbefördert, ich folgte nach, die beiden Matrosen ebenfalls.

»Immer das erste Handgeld gilt, und das zweite habe ich überhaupt gar nicht bekommen!«, sagte ich. »Sie also sind die Frau Gräfin Atalanta von Felsmark? Jawohl, gestern hatten Sie eine weiße Haut, das ist der ganze Unterschied. Ich denke, unsere Abmachung gilt noch?«

Eine Antwort bekam ich nicht. Dass die Indianerin die andere schon immer gesehen hatte, das war ja ganz selbstverständlich, nur hatte ich erst einmal erledigt werden müssen. Jetzt aber platzten die beiden gegeneinander los, oder auch nicht.

Die Miss Austin oder wie sie hieß, war wieder ruhig geworden. Die beiden spanischen Matrosen hätten sie gar nicht mehr festzuhalten brauchen.

Diese Augen, diese Blicke! Wie die beiden sich maßen!

Dann hob die Indianerin die Hand, die Faust, deren Kraft ich erst noch kennen lernen sollte, und sagte:

»Marwood Morgan, zum zweiten Male hast Du einen Mann entführt, der mir gehört!«

Wenige Augenblicke später war der »Mohawk« frei und hatte die kleine Jacht schnell hinter sich. —

Ich will gleich hier eine Erklärung für den ganzen Vorfall geben, falls der Leser noch eine solche braucht.

Miss Marwood Morgan hatte eine Fahrt auf ihrer Jacht angetreten, unter anderem Namen allerdings. In Buenos Aires ging ihr Kapitän von Bord. Ihre Kammerzofe oder Freundin, die Mercedes Rafaela, unter deren Maske die Milliardärin mit Vorliebe ging, hatte an Land die Bekanntschaft eines jungen, hübschen Kapitäns gemacht.

»Sie haben keine Stelle? Gehen Sie doch auf die ›Colomba‹!«

Gegen neun Uhr sollte er im Hotel »Farkas« sein und dort von irgend jemand abgeholt werden. Er war nicht gekommen, so hatte das Schicksal mich an seine Stelle gesetzt. Die Gräfin war zehn Minuten später, pünktlich um neun Uhr, gekommen. Wenn sie gesagt, es könnte vielleicht eine andere Dame kommen, so hatte sie gemeint, dass sie vielleicht unter anderem Namen und anderer Maske auftreten könnte.

So war alles erklärt. Die Miss Morgan war wirklich ganz schuldlos an der Verwechslung.

Immerhin, es war ein ganz merkwürdiger Zufall gewesen.


Lieferung 17


Illustration

Das schwarze Riesenweib hieb von rückwärts auf
den Elefanten ein; derselbe stieß ein klagendes Brüllen
aus, und im nächsten Moment brach er zusammen.


Was soll ich?

Seit vier Wochen befand ich mich an Bord des »Mohawk«. Ich hatte alle seine Wunder kennen gelernt. Aber für mich gibt es keine Wunder. Indische Fakire sollen sich einige Wochen lebendig begraben lassen. Auf ihr Grab wird Gerste gesät, die aufgehtt, dann kommt der Mann lebendig wieder heraus.

Warum denn nicht?

Ich habe einen hässlichen Wurm gesehen, eine Raupe, sie spann sich ein, war ein halbes Jahr so gut wie tot, und dann kam ein prachtvoller Schmetterling heraus.

Ist das nicht ein viel größeres Wunder? Verschont mich mit dem Worte »Wunder«.

Wenn ich die Hände in die Hosentaschen stecke und mich in der Welt umblicke, so sehe ich nichts als Wunder. Wunder über Wunder.

Jede Schneeflocke ist für mich ein Wunder. Ich geniere mich nicht, zu sagen, dass ich die Quarta und Obersekunda übersprungen habe — aber vor dem Regenbogen bleibt mein Verstand stehen.

Ich kann mich ganz lebhaft hundert Jahre zurückversetzen.

Und was wird in hundert Jahren sein?

Unserem Schiffe folgten drei fischähnliche Unterseeboote, ohne Besatzung, durch elektrische Wellen vom Schiff aus gesteuert.

Na, was ist da weiter dabei?

Ich habe auf dem Wannsee bei Berlin ganz genau dasselbe gesehen.

Dort lag diese Erfindung noch in den Windeln. Hier war man der bummelnden Weltgeschichte eben etwas voraus.

Ich bin ein Kind der Zeit, in welcher Professor Röntgen seine Strahlen entdeckt hat.

Ich habe es miterlebt, dass das Radium gefunden wurde, wodurch unsere ganze Theorie über das Wesen der Atome und Moleküle über den Haufen geworfen wird.

Nein, ich glaube an keine Wunder. Ich nicht.

An Bord befand sich ein Glaskasten, aus jenem Omnihilit, von elektrischen Glühlampen umgeben. Die Glasplatten konnten verschiedene Färbung annehmen.

Setzte man sich nackt in diesen Glaskasten und man wurde violett bestrahlt, so war man in einer halben Stunde am ganzen Körper pechschwarz. Bei gelbem Lichte wurde man blau. Bei rotem Lichte bleichte die Haut schneeweiß.

Im Sonnenlicht nahm die Haut erst nach mehreren Tagen ihre natürliche Färbung wieder an, was aber auch verhindert werden konnte, oder der Körper wurde eben wieder von einem anderen Licht bestrahlt.

Wunderbar?

Gar nicht.

Lege ich meinen Arm, ziemlich weiß, zwölf Stunden in die heiße Sonne, so ist er in zwölf Stunden ganz braun, zumal wenn ich die Haut ab und zu befeuchte.

Trenne ich nun ein Stückchen dieser tiefbraunen Haut heraus und lege es wieder in die Sonne, so bleicht diese Haut bald schneeweiß.

Wer löst dieses Rätsel? Das hat noch kein Physiologe gelöst.

Wohin ich auch blicke, allüberall stößt meine Nase auf unfassbare Wunder. Deshalb gibt es für mich überhaupt keine Wunder, also auch an Bord des »Mohawk« keins, über das ich mir den Kopf zerbrochen hätte.

Und doch, ein Rätsel gab es, über das ich ständig grübelte:

Was ich eigentlich hier an Bord sollte?

»Das ist der Mann!«, hatte der junge Mann gesagt, der sich jetzt als ein steinalter Inder entpuppte.

Ja, ich war der Mann. Der Mann, der nicht wusste, warum er sich hier an Bord befand.

Als Kapitän war ich engagiert worden.

»Verzeihen Sie, das war nur ein Vorwand!«, sagte die Gräfin zu mir. »Alle Stellen sind hier besetzt, ich würde jeden sehr beleidigen, wenn ich ihn durch Sie verdrängen wollte, und gerade die Japaner sind hierin so empfindlich. Was Sie tun sollen? Sehen Sie sich doch im Schiffe um. Alles steht Ihnen ja zur Verfügung. Kapitän Hikari hat auch eine sehr schöne Bibliothek.«

Ich lernte Mister Maxim näher kennen. Der alte Zirkusclown war ein gar kluger Kopf. Er hatte auch noch nicht die Gewohnheit der Japaner angenommen, dass er, wenn er ja sagte, den Kopf schüttelte, und beim nein nickte, denn das haben die Japaner von den Chinesen gelernt. Er besaß germanische Offenheit.

»Was Sie hier sollen? Weshalb Sie in Buenos Aires aufgesucht worden sind?«, erwiderte Littlelu auf meine diesbezüglichen Erkundigungen. »Ich weiß es. Aber wenn es Ihnen die Gräfin nicht selbst sagt, so habe ich kein Recht dazu. Bitte, nehmen Sie an, dass auch ich es nicht wüsste. Also sprechen wir nicht weiter darüber.«

Nun, ich schickte mich darein. Auch dieses Rätsel gab es nicht mehr für mich.

Wir fuhren hin und her. Aber nur, um anderen Schiffen aus dem Wege zu gehen. Wir befanden uns schon in der einsamsten Gegend des südlichen Atlantik, und wenn doch einmal ein Segel oder eine Rauchwolke auftauchte, so entfernten wir uns schleunigst nach der entgegengesetzten Richtung.

Das war unsere ganze Lebensaufgabe. Kein Schiff war in Sicht zu bekommen.

Am Anfang hatte ich das ja etwas seltsam gefunden. Mister Maxim weihte mich ein. Ich brauche wohl kaum zu sagen, was das zu bedeuten hatte. Diese Indianerin wollte einfach von der ganzen Welt nichts mehr wissen. Ein anderer geht in die Wüste oder vergräbt sich mitten in einer großen Stadt in einer Dachkammer — der ihre Einsiedlerhöhle war ihr Schiff.

Ich will nicht berichten, was wir trieben. Was mich anbetrifft, so saß ich Tag und Nacht, wenn ich nicht aß oder schlief, im kleinen Speisesaal und warf Bilder gegen die Wand. Und ich glaube, das hätte ich mein ganzes Leben lang so treiben können.

Eine Elefantenjagd an Bord

Also schon vier Wochen waren so vergangen.

Wieder einmal hatte ich mein Mittagessen hastig hinuntergeschlungen, um nur schnell in die Camera obscura zu kommen.

Wie gewöhnlich stellte ich nicht auf einen bestimmten Punkt der Erde ein, nach und nach suchend, sondern ich projizierte gleich gegen die Wand, wie es eben kam. Das war ja gerade das Schönste dabei, dieser planlose Zufall. Erst hinterher orientierte ich mich, wenn ich es nicht erriet, wo ich mich eigentlich befand.

Was ich da schon für Überraschungen erlebt, was ich alles schon beobachtet hatte, will ich nicht erst zu schildern versuchen.

Also auch diesmal stellte ich planlos den Hebel und drehte das Rad, ich verschärfte die zufällig gewonnene Projektion im Aufriss.

Ja, ich hatte schon manches Überraschende zu sehen bekommen, aber so etwas denn doch noch nicht.

An Bord dieses Schiffes hier auf dem Atlantischen Ozean eine Elefantenjagd!

Aber eine ganz besondere!

Elefanten wurden nicht von Menschen gejagt, sondern ein Mensch wurde von einem Elefanten gejagt.

Eine tropische Landschaft, eine Steppe, dicht am Saume eines Urwaldes.

Ein mächtiger Elefant mit kolossalen Stoßzähnen war hinter einem Manne her. Die Jagd ging immer im Kreise herum. Oder vielmehr im Viereck. Der Mann rannte wie ein Hase, schlug auch Haken wie ein solcher — der Elefant aber ebenfalls.

Sie ist unglaublich, die Gewandtheit dieses scheinbar so plumpen Dickhäuters. Übrigens wird man da anderer Meinung, wenn man einen Elefanten nur im Zwinger genauer beobachtet.

Dieser lautlose Gang, dieser tänzelnde, elegante Schritt, wenn er im Zwinger auf und ab geht, wie er sich in dem kleinen Raume auf den Hinterfüßen herumwirft — o, der Elefant ist ein gar gewandtes Tier!

Bekannt ist ja, dass er jedes Pferd einholt. Aber er überwindet auch Höhen, die kein Pferd zu erklimmen vermag.

Hier war es ein Mann zu Fuß, hinter dem ein Elefant her war.

Schaudererregend — und dennoch grandios!

Der Mann in langen Schaftstiefeln und rotem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, konnte rennen. Ich glaube, er hätte es mit dem schnellfüßigen Achill aufgenommen. Hei, wie der die Beine schlenkerte, was der für Sätze machte!

Aber der Elefant verstand das Rennen nicht minder!

Absicht und Hoffnung des gejagten Jägers war offenbar, den Urwald zu gewinnen, auf einen Baum zu flüchten oder hinter einen. Aber das wusste der Elefant auch. Übrigens war er natürlich der schnellere, das sah man sofort. Der Verfolgte hielt nur dadurch den lang ausgestreckten Rüssel von sich fern, dass er ständig scharfe Haken schlug.

Das verstand er ausgezeichnet. Wie ein Hase warf er sich im schärfsten Laufe herum. Jetzt — jetzt musste der Rüssel ihn packen — schrumm, hatte sich der Mann im scharfen Winkel herumgeworfen!

Aber immer kleiner ward das beschriebene Rechteck. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann war der Mann geliefert, der Rüssel umschlang ihn oder schlug ihn zu Boden, und dann trampelte ihn das Ungetüm zu Brei.

»Das ist ja entsetzlich!«, flüsterte da neben mir die Gräfin.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie neben mir gestanden.

»Ist das Indien?«

Nein, es war Afrika. Es war ein afrikanischer Elefant. ein Fihl. Er hat einen gedrungeneren Bau und vor allen Dingen viel größere Ohren als der indische. Und in diesem Augenblick ward ich mir einmal so voll und ganz bewusst, dass dies nicht etwa die lebende Fotografie einer vergangenen Szene war, sondern das geschah eben jetzt in Wirklichkeit irgendwo in Afrika!

Und wir sahen hier ganz gemütlich zu!

Die Gegend, der Punkt, wo das jetzt geschah, wurde ja auf einer besonderen Karte ganz genau registriert, aber natürlich nahmen wir uns jetzt keine Zeit, da nachzusehen.

»Jetzt — jetzt —!«, flüsterte die Gräfin.

Ja, ich glaubte auch, jetzt hätte der Rüssel den Fliehenden gepackt. Aber es gelang ihm, noch einmal einen Haken zu schlagen.

Und da tauchte noch eine andere Gestalt auf dem Plane auf.

Aus dem Urwald heraus kam mit mächtigen Sprüngen ein Weib angesetzt, eine Negerin. Dass es ein Riesenweib war, und zwar ein kolossales, das war so der erste Eindruck, den man hatte. Arme so dick wie starke Männerschenkel, außerdem der ganze Körper noch mit kolossaler Muskulatur. Das konnte man umso besser beurteilen, weil sie bis auf einen kleinen Schurz nackt war. Ihr nach flatterte ein blaues Tuch, das auf dem Kopfe von einem goldenen Reifen festgehalten wurde. Und in beiden Händen ein mächtiges Schwert, so ein zweihändiges Ritterschwert.

So rannte sie wie ein Sturmwind über die Steppe. Sie hatte im Nu den Elefanten erreicht; seitwärts und etwas von hinten hieb sie mit dem Schwerte zu, ich sah unten aus dem linken Hinterfuße des Elefanten das Blut wie eine Fontäne emporspritzen, er knickte etwas ein, warf sich sofort herum, wollte das Weib mit dem Rüssel erwischen, aber das Riesenweib schlüpfte wie eine Schlange unter seinem Leibe durch, wieder sauste das gewaltige Schwert durch die Luft, ein neuer Blutstrahl — sie hatte auch am anderen Fuße die Hauptader und die Achillessehne durchschlagen.

Da konnte der Elefant nicht weiter. Er hob den Rüssel, öffnete den Rachen — ich glaubte ganz deutlich sein klagendes Brüllen zu hören. Mit einem Male fiel er um. Er brach nicht zusammen, sondern fiel um, wie man eine Holzfigur umwirft, und er blieb liegen, um sich zu verbluten.

Nein, das Brüllen des einige hundert Meilen entfernten Elefanten war hier nicht zu hören, aber ich selbst hatte laut aufgebrüllt. Ich war außer mir.

Es war das grandioseste Schauspiel gewesen, das ich je gesehen — wie das schwarze Riesenweib dem Elefanten zu Leibe gegangen war und ihn mit dem Schwerte zum Sturz gebracht hatte.

Es war eine Szene gewesen, gegen die alles, was etwa ein Homer in gewaltiger Größe schaffen wollte, erblasst.

Und das hier war keine Dichtung, sondern Wirklichkeit!

Neben dem gestürzten Elefanten stand das schwarze Weib; es stützte sich hochatmend auf das Schwert. Jetzt kam der Mann auf sie zu, mit furchtbar arbeitender Brust, und wollte ihr die Hand reichen.

Da drehte sich die Negerin um, drehte dem Weißen den Rücken, bückte sich, wischte das blutige Schwert im Grase ab, schritt dem Walde zu, ohne jenen zu beachten, und verschwand zwischen den Bäumen.

Der weiße Jäger blickte ihr nach. Jetzt schenkte ich ihm meine nähere Aufmerksamkeit. Ja, ein Weißer war er, wenn auch schwarzbraun gebrannt. Ein schönes, edles, aristokratisches Gesicht, umwallt von einem langen, blonden Vollbart, eine hohe, kraftvolle Gestalt...

»Allbarmherziger!!«, schrie da die Gräfin neben mir. »Arno — es ist Arno!!«

Sie drehte ein Rad, an der Wand erschien plötzlich die Erdkarte, Afrika trat hervor, die Landschaften von Oberguinea.

Der rote Punkt lag auf der Grenze von Dahomey und Togo, ganz im Norden.

Auf diese Weise konnte die Stelle, wo diese Szene stattgefunden hatte, bis auf den Bruchteil einer Längen- und Breitensekunde bestimmt werden.

Aber dazu war noch Zeit.

Die Gräfin war schon hinausgestürzt.

»Volle Fahrt direkt Osten!!«, gellte es durch das ganze Schiff.

In der nächsten Minute rannte der »Mohawk« wie ein tollgewordener Widder dem Osten zu.

*

»Jetzt dürfen Sie erfahren, wozu Sie geboren sind!«, sagte Littlelu zu mir. »Wissen Sie, dass der alte Inder aus der Hand wahrsagen kann?«

»An solchen Mumpitz glaube ich nicht!«, entgegnete ich.

»Ich auch nicht, aber wahr ist's doch. Es trifft immer ein. Mir zum Beispiel prophezeite er, dass ich noch einmal sehr, sehr reich werden würde, und eine halbe Stunde später fand ich zwischen meinen Briefschaften ein Papier, wonach ich auf der Bodenkreditbank in San Francisco ein — erschrecken Sie nicht, und versuchen Sie mich dann nicht etwa gleich anzupumpen — noch ein Guthaben von anderthalb Dollar stehen habe. Und hiervon habe ich keine Ahnung gehabt! Sehen Sie?

Was nun die Gräfin anbetrifft, so hat ihr der Brahmane aus der Hand prophezeit, dass sie an der Seite ihres jetzigen Gatten — nicht etwa eines anderen — noch ein langes, glückliches Leben genießt, und der Gatte sei nicht etwa eine Mumie. Soll das aber eintreffen, dann kann Graf Arno von Felsmark doch auch nicht tot sein. Er muss sich eben aus dem Sandhaufen wieder herausgepaddelt oder sich sonst wie vom Tode zurück ins Leben gerufen haben. Der hat ja mit Begrabenwerden und Wiederaufstehen überhaupt große Erfahrung.

Wo lebt er? Wann wird ihn die Gattin wiederfinden?

Das konnte der Brahmane aus der Hand nicht herauslesen, da versagte sein Spiritus.

Aber Sirbhanga Brahma hat manchmal auch noch so andere Ahnungen, eben wenn plötzlich der Spiritus über ihn kommt.

An dem Abend des Tages, da Sie in Buenos Aires abgemustert worden waren, spazierten die Gräfin und der Brahmane durch die Straßen. Wir waren aus keinem anderen Grunde einmal nach Buenos Aires gekommen, als um uns mit den neuesten Seekarten zu versehen. Da sahen die beiden in der Tür eines sehr fragwürdigen Hauses einen baumlangen Kerl stehen — einen baumlangen Herrn, wollte ich sagen, der auf jedem Arm ein Frauenzim..., eine Dame sitzen hatte. Dieser Herr waren Sie. Sie spielten Puppentheater. Erinnern Sie sich noch?«

Nein, glücklicherweise nicht. Ich hegte auch nicht den Wunsch, dass meine Erinnerung geweckt würde.

»Da kam der Spiritus, mit dem Sie sich vollgeplumpt hatten, plötzlich über den Brahmanen. ›Das ist der Mann, durch den Sie Ihren Gatten wiederfinden werden!‹, sagte er zur Gräfin.

Die hätte ja nun zu gern gleich mit Ihnen angebändelt, aber Sie waren an jenem Abend nicht zu sprechen. Jedem, der sich Ihnen auf zehn Schritt näherte, wollten Sie an einer Champagnerflasche das Gesetz der Torricelli'schen Leere demonstrieren, und wenn der Betreffende nicht aus der Buttel trank, dann wurden Sie eklig.

Sie wurden persönlich und auch mit der Camera obscura beobachtet, dass man Sie nicht aus den Augen verlor. Am nächsten Nachmittag sah man sie auf einer Esplanadenbank sitzen. Ich, an der Camera obscura, habe sogar einen riesigen Kater auf Ihrem Haupte sitzen sehen.

Da kamen die beiden und fassten Sie.

Und beinahe wären Sie wertvolles Möbel uns doch noch verloren gegangen. Und dass es gerade die Marwood Morgan sein musste, die, ganz absichtslos, Sie uns beinahe entführt hätte, das ist wieder ein ganz, ganz merkwürdiger Zufall.

Und jetzt haben Sie wirklich den Grafen lebendig gefunden, wenigstens die Einleitung dazu gemacht. Das freut mich. Ich bin zufrieden mit Ihnen. Fahren Sie so fort.«

Ein sagenhaftes Land

Wenn nichts versagte und nichts brach, konnten wir bei dieser rasenden Fahrt — dreißig Knoten in der Stunde — in rund hundert Stunden vor der Küste von Dahomey liegen.

»Diese Gegend dort heißt auch die Sklavenküste!«, sagte Atalanta, als ich dies in ihrer Gegenwart aussprach.

Ja, weil von dieser schwer zugänglichen und an Verstecken überreichen Küste von jeher ein schwunghafter Sklavenexport getrieben wurde und zum Teil noch heute getrieben wird.

Aber ich wusste recht wohl, dass die Gräfin mit ihrer hinzugefügten Bemerkung etwas ganz anderes meinte, sie hatte nicht etwa nur ihre geografischen Kenntnisse zeigen wollen.

Littlelu hatte mir ja unterdessen genug erzählt.

In der Tat, war es nicht ein ganz merkwürdiger Zufall? Durfte man da überhaupt noch von einem Zufall sprechen? War das nicht Schicksalsverkettung, von einer höheren Macht absichtlich so geordnet?

Die Mohawks hatten sich gegenseitig als Sklaven verdingt, danach hatte der See, an dem sie gehaust, seinen Namen bekommen, auch die letzte Mohawk war dieser Sitte ihrer Väter treu gerieben, sie hatte einen Mann haben müssen, dem sie, wenn sie ihn nicht besiegte, wie eine Magd, wie eine Sklavin dienen wollte, sie war die Besitzerin des Sklavensees geworden, dort am Sklavensee am amerikanischen Felsengebirge hatte ihr grausames Schicksal begonnen.

Das abhängige Verhältnis zu diesem Mann ändert sich, indem sie ihn heiratet, die Hochzeitsreise geht nach Palästina, in jenem Gebirge erfahren sie ganz zufällig, dass sich dort oben ein See befindet, in dem einmal eine Sklavenkarawane untergegangen ist, deshalb haben ihn die Araber Bahr el Arweh genannt, das ist Sklavensee — und an diesem arabischen Sklavensee verliert sie den Mann, den sie über alles liebt, durch den Tod.

Aber Graf Felsmark steht wiederum auf von den Toten. Und wo wird er als Lebender entdeckt? In dem amerikanischen Negerreiche, dessen Meeresstrand allgemein die Sklavenküste genannt wird.

Doch hiermit noch nicht genug, das geht noch weiter.

An Bord des »Mohawk« befand sich eine Bibliothek, von Doktor Hikari eingerichtet, die mancher ansehnlichen Stadt zur Ehre gereicht hätte.

Unter den vielen Reisebeschreibungen und Werken der Geografie und Völkerkunde befand sich auch das Buch des englischen Obersten Wallon über Dahomey, das beste, das wir über dieses noch immer ganz sagenhafte Negerreich besitzen, das einzige Land der Erde, in dem es noch heute echte Amazonen gibt, streitbare Weiber, Kriegerinnen, mit fünftausend Köpfen die Leibgarde des Königs bildend — über welche wir später noch berichten werden.

Zunächst weist Oberst Wallon in seinem Werke, dem auch ein Wörterbuch und eine Grammatik der Dahomey-Sprache beigefügt ist, darauf hin, dass Jangaloba nicht Sklavenküste, sondern Sklavenland heißt, und dass an anderen Küsten Afrikas viel mehr Sklaven exportiert worden sind als von dieser. Ja, Dahomey selbst hat überhaupt niemals Sklaven ausgeführt, wohl aber eingeführt.

Jangaloba oder Sklavenland wird dieses Reich von den benachbarten Negerstämmen genannt, weil seine Staatsverfassung auf reiner Leibeigenschaft beruht. Der König ist der Herr, alle anderen sind seine Sklaven, Jangas, besitzlos und rechtlos. Was sie besitzen, hat er ihnen nur leihweise überlassen. Was das Volk durch Handel und Arbeit verdient, gehört alles ihm, er könnte zu jeder Zeit alles fordern, auch das Leben — nur zu seinem Zeitvertreib. Und das ist alles noch heute so.

Und dieses Sklavenverhältnis des ganzen Volkes zum König geht auch nach dem Tode weiter, und nun kommt das Schaurige von der Sache: die Menschenschlächtereien in diesem Lande.

Die ersten Europäer, Portugiesen, fassten am Ende des 18. Jahrhunderts an der Sklavenküste festen Fuß. Dass aber in Dahomey Menschenschlächtereien aus religiösen Gründen gang und gäbe waren, das war ja schon immer bekannt gewesen.

Die Dahomeer glauben an eine Unsterblichkeit der Seele, an ein persönliches Fortleben nach dem Tode. Die Geister der Verstorbenen leben in einem Schattenreiche fort, gehen ganz ihren früheren irdischen Beschäftigungen und Neigungen nach, wenn wohl auch nur in der Einbildung.

Wenn nun ein König stirbt, möchte er doch auch in jenem Schattenreiche alle die Personen um sich haben, an die er gewöhnt ist, und zwar sofort, er will nicht erst warten, bis sie alle nach und nach sterben. Da der Zustand fortwährt, in dem man stirbt, würde er dann ja meistenteils nur alte Leute um sich bekommen, nur alte Weiber. Außerdem kommt er in Gefahr, sie gänzlich zu verlieren, indem die Zurückgelassenen zu dem neuen König übergehen. Dann werden das dem seine Sklaven, auf Erden wie später im Schattenreiche.

Also wenn der König stirbt, wird sein ganzer Hofstaat getötet. Zunächst alle seine Weiber und deren Dienerinnen, immer einige tausend Stück, dann das ganze Beamtenpersonal, vom ersten Minister an bis zum letzten Küchenjungen.

Außerdem können sich aus dem ganzen Volke noch Freiwillige melden, die den Einzug ihres Königs ins Schattenreich verherrlichen wollen.

Es ist keine einfache Tötung, kein Massenmord, sondern die Betreffenden werden von Priestern auf Altären unter feierlichen Zeremonien regelrecht geopfert, geschlachtet. Das ist deshalb nötig, damit die unfreiwillig Getöteten auch wirklich die Sklaven des Königs im Schattenreiche werden, denn sonst könnten sie abtrünnig werden, sich etwa einem früher verstorbenen König zuwenden oder auf den Tod des neuen warten. So aber sind die abgeschiedenen Seelen dem zum Gehorsam verpflichtet, gezwungen, für den sie von den Priestern geopfert worden sind. Durch diese Opferzeremonie werden auch Kriegsgefangene und andere, fremde Sklaven dem gestorbenen Könige als Leibeigene verpflichtet, ob sie wollen oder nicht.

Im Jahre 1856 starb der König Gheso von Dahomey. Zu seinen Ehren wurden in der Hauptstadt Abomey 28 000 Menschen geschlachtet, wozu man noch nicht zwei Wochen brauchte, und jeder einzelne wurde auf einem Altar unter Gesang und Tanz in Gegenwart einer heiligen Abgottschlange regelrecht ausgeweidet.

Nur die berufsmäßigen Krieger, etwa 30 000 Mann, und die aus 5000 Köpfen bestehende weibliche Leibgarde folgten ihrem König nicht mit in den Tod, weder freiwillig noch unfreiwillig. Höchstens dass die älteren Jahrgänge hierbei einmal ausrangiert wurden. Sonst gingen sie mit auf den neuen König über. Schon deshalb, um dem früheren immer wieder neue Sklaven ins Schattenreich nachschicken zu können.

Denn diese Menschenschlächterei findet nicht etwa nur beim Tode des Königs statt, sondern alljährlich an seinem Todestage, dann nur nicht mehr in so großartigem Maßstabe. Dann werden ihm auch nicht mehr eingeborene Dahomeer, Söhne und Töchter des eigenen Volkes, geopfert, sondern nur noch fremde Neger, Kriegsgefangene. Immerhin jedes Mal einige tausend, die durch die Opferzeremonie des Königs Sklaven im Schattenreiche werden, ob sie wollen oder nicht. Und um nun diese Kriegsgefangenen zu beschaffen, deshalb nur wird diese doch ganz beträchtliche Streitmacht unterhalten, deshalb haben die Dahomeer ununterbrochen Krieg geführt, und es ist ihnen innerhalb von dreihundert Jahren gelungen — länger besteht dieses Reich noch nicht, über dessen Anfang man nichts weiter weiß — das ganze ungeheure Gebiet von Guinea, einst das fruchtbarste, bestbebaute und menschenreichste von ganz Afrika, fast vollständig zu entvölkern. Nur um ihrem verstorbenen König für sein Schattenreich Geistersklaven zu liefern. Dieses kurze Leben ist nach ihrer religiösen Ansicht eben nur die Vorbereitung für das ewige im Jenseits. Und der nachfolgende König befolgt dieses Gebot aufs strengste, damit auch ihm dereinst diese Ehre zuteil wird.

In Wirklichkeit sind es eben die Priester, welche die Herrschaft in Händen haben. — —

Diese Menschenschlächtereien in Dahomey gehören der Vergangenheit an. Davon gehört hatte man, wie bereits gesagt, ja schon immer, seit Europäer mit diesem Lande Handel trieben.

Als aber nun im Jahre 1856 zu Ehren des Königs Gheso die Opferung von 28 000 Menschen stattfand, erfuhr die ganze zivilisierte Welt davon, und sie war natürlich empört, dem musste endlich einmal Einhalt getan werden.

Unterdessen hatte Portugal seine Oberhoheitsrechte über Dahomey, die freilich nur auf dem Papiere standen, an Frankreich abgetreten. Frankreich schickte Truppen nach Dahomey, die Hauptstadt Abomey wurde erobert. Nach verschiedenen anderen Züchtigungen versprach der neue König Bahadung zwar, diese Menschenopfer aufzugeben, aber im Geheimen wurden sie doch immer fortgesetzt, bis es endlich gelang, diese gräuliche Sitte ganz auszurotten.

Die Franzosen wenigstens behaupten, in ganz Dahomey käme heute kein Menschenopfer mehr vor.

Aber wer will denn in einem Lande, dessen Grenze nach Norden man noch gar nicht kennt, das mindestens so groß ist wie Deutschland und zu zwei Dritteln bedeckt mit undurchdringlichem, sumpfigem Urwald, so etwas kontrollieren?

Nun kommen wir noch zu etwas anderem, zu einer Sage der Dahomeer, die aber eng mit unserer Erzählung, mit unseren eigenen Schicksalen zusammenhängt.

Besonders auf älteren Karten dieses Landes sieht man hoch oben im Norden, unweit der Grenze des jetzigen Togo, einen Kreis eingetragen, der wie gewöhnlich eine Stadt, eine größere Ortschaft bezeichnen soll. Jangala. Das wäre »Sklavenstadt«.

Das ist ein Irrtum. Diese Stadt existiert nur in der Phantasie der Dahomeer. Richtiger wäre es auch, Geisterstadt oder gleich Geisterland zu sagen.

Dort oben breitet sich ein Urwaldsumpf von vielen Quadratmeilen aus, in den noch kein Mensch gedrungen ist. Dorthin verlegen die Dahomeer das Reich der Geister, das heißt der verstorbenen Menschen, die ihren toten Königen als Sklaven dienen. Dort hausen diese Toten in einer herrlichen Stadt, die an Pracht auf Erden nicht ihres gleichen hat, dort gehen sie im Wald und auf der Steppe, wo es von Wild aller Art wimmelt, der Jagd nach, auch ein Gebirge ist dort, das Jangapo, ferner auch ein See, der Jangaka, das wäre der Sklavensee. Richtiger müsste es also Geister- oder Totensee heißen. Aber da die ganzen Menschenschlächtereien ja nur deshalb stattgefunden haben, um den verstorbenen Königen im Schattenreiche Sklaven zu verschaffen, so wird immer nur vom »Janga« gesprochen, und das heißt einfach »Sklave«, ob nun tot oder lebendig.

Schon viele Forschungsreisende haben versucht, in diesen Sumpf einzudringen. Man vermutet nämlich, dass es sich nur um einen Sumpfgürtel handelt, der ein jungfräuliches Land umschließt, das eine Tierwelt beherbergt und auch für Menschen gar nicht so ungesund sein kann. Denn bei ganz klarem Wetter sieht man sich einen Höhenzug erheben, und zwar erblickt man diesen von allen Seiten, aber nicht immer in gleicher Entfernung, wie trigonometrische Messungen ergeben haben. Also scheint es ein Hochplateau zu sein, dessen Länge man auf vier und dessen Breite man auf drei geografische Meilen berechnet hat.

Aber noch keinem ist es gelungen, diesen Sumpf zu durchqueren. Einige haben dabei schon ihr Leben verloren, sie sind nicht wieder herausgekommen, und auch dem Oberst Wallon wäre es bei seinem zweiten Versuche beinahe so gegangen.

Nun, wir hatten ein Mittel, um dieses sagenhafte Geisterland auf ganz bequeme Weise kennen zu lernen: die Camera obscura.

Ja, es war wirklich ein Hochplateau von der theoretisch berechneten Ausdehnung, das sich in dem endlosen Sumpfe erhob, mit überall steilen Felswänden etwa zweihundert Meter emporsteigend, selbst wieder von niedrigen, aber wild zerklüfteten Gebirgen durchzogen, reich bewässert von Flussläufen, die meist in prachtvollen Wasserfällen vom Rande der Felsen abstürzten, also in den Sumpf hinein, auch einen ansehnlichen See bildend, mit Urwäldern und Steppen, belebt von einer reichen Tierwelt.

Alles, was ganz Afrika an Wild beherbergt, war hier auf engem Raume zusammengedrängt. Auf den Steppen weideten Antilopen und Gazellen aller Art, einträchtig nebeneinander tummelten sich Zebra, Giraffe und Strauß, große Elefantenherden, während das Rhinozeros einsam seines Weges zog, höchstens die Mutter von ihrem Jungen begleitet, und aus dem Wasser erhob sich der unförmliche Kopf des Flusspferdes.

Nur Krokodile schienen zu fehlen, dagegen waren Schlangen in unheimlicher Menge vertreten, und was für riesige Exemplare waren dazwischen!

In den Wäldern wimmelte es von Affen, darunter auch der Gorilla.

Dass sich die pflanzenfressende Tierwelt auf dieser Sumpfinsel nicht ins Endlose vermehrte, dafür sorgten Löwe und Leopard.

Und in diesem Jägerparadiese nun, einer Welt für sich, durch einen meilenbreiten Sumpfgürtel von der anderen abgeschlossen, war Graf Arno von Felsmark beobachtet worden. Er hauste auf einem Fleckchen Erde, wie man es sich idyllischer nicht vorstellen konnte.

In einer hügeligen Steppengegend sprang aus einer Felsengrotte ein kristallklarer Bach hervor. Während jetzt um diese heiße, trockenste Zeit die übrige Steppe ganz sonnenverbrannt da lag, prangte hier alles im saftigsten Grün.

Neben der Grotte erhob sich ein riesiger Affenbrotbaum. Wer noch keinen solchen westafrikanischen Baobab gesehen hat, kann sich keine Vorstellung davon machen. Dieser Baum, der ganz gestimmt ein Alter von mehreren tausend Jahren erreicht, wird »nur« bis zu fünfundzwanzig Meter hoch, das ist die Höhe eines vierstöckigen Hauses, erreicht aber einen Stammumfang bis zu fünfzig Metern, das wären etwa sieben (1) Meter Durchmesser. Ein alter Baum ist regelmäßig hohl, fast nur noch eine starke Rinde steht; die Gründung eines neuen Negerdorfes bedingt stets das Vorhandensein solch eines hohlen Baobabs, der dann als Rathaus dient, in seinem Innern versammeln sich die Gemeindeältesten, während sich in seinem Schatten das ganze Volk lagert.

(1) Da der Kreisumfang sich nach der Formel π · d (ca. 3,1416 - Durchmesser) errechnet, müsste der D u r c h m e s s e r bei 50 m Stammumfang ca. 16 m betragen, der R a d i u s ca. 8 m; hier hat Kraft wohl Durchmesser und Halbmesser verwechselt.

Die birnenförmige, spannenlange Frucht, von einer harten Holzschale umgeben, enthält einen nahrhaften, säuerlichsüß schmeckenden Mehlbrei, der sich in Erdgruben, wenn man ihn vor Insekten zu schützen weiß, ein Jahr aufheben lässt, liefert frisch eine noch besser schmeckende Limonade, später gegoren eine Art Wein, und die Asche der verbrannten Schale gibt, mit Palmöl vermischt, eine schäumende Seife, dort überall gebräuchlich.

Nicht nur in, sondern auch auf diesem Baume, noch einem ganz besonderen Riesen seiner Art, hatte sich der Graf häuslich eingerichtet. Er hatte die dichteren Zweige gelichtet, über stärkere Äste abgeschnittene Baumstämmchen genagelt oder gebunden, so eine Plattform herstellend, und auf dieser nun wieder eine Hütte erbaut, in luftiger Höhe, zwanzig Meter über dem Erdboden, und er ließ es nicht nur bei dieser einen Hütte bewenden, es waren auch schon andere Baulichkeiten vorhanden, hier ein Erker und dort ein Balkon, und alles dies war durch Galerien und Treppchen verbunden.

Ganz gewiss hatte er sich ja auch im Innern des Baumstammes eingerichtet, aber das konnten wir in der Camera obscura doch nicht beobachten. Holz zu durchleuchten, so weit war man auch hier doch nicht gekommen.

Unten befand sich eine Tür, dadurch hergestellt, dass er ein großes viereckiges Stück Rinde herausgeschnitten und in starken Lederbändern aufgehängt hatte. Nur der Beschreibung nach ganz einfach, in Wirklichkeit höchst geschickt und sogar zierlich gemacht.

Wenn er einmal ein oder aus ging, hatten wir einen Blick ins Innere, sahen aber nur eine mit Fellen bedeckte Lagerstatt. Auch Fensterchen hatte er in verschiedener Höhe ausgeschnitten, doch erblickten wir nichts weiter als die nackte, ziemlich glatte Rinde und dann eine Strickleiter, an der er emporklomm, um dann im Freien zwischen den Zweigen zum Vorschein zu kommen.

Wie lange hauste der Einsiedler schon hier? Das konnte man durch die Beobachtung ungefähr berechnen.

Schon die auf dem Baume geleistete Arbeit setzte doch eine beträchtliche Zeit voraus. Dann hatte er auf der anderen Seite der Grotte am Ufer des Baches ein Gärtchen angelegt, in dem er außer verschiedenen Gemüsen und Tabak hauptsächlich Bohnen zog. Diese waren der Reife nahe, woraus man auf drei Monate schließen konnte.

Nun aber besaß er in der Grotte, in die wir vollständig blicken konnten, einen ganz bedeutenden Vorrat von solchen trockenen Bohnen. Er hob ihn in einem Ledersack auf, den er sicher nicht mit hierher geschleppt hatte. Ferner hielt er einen Stapel Tabakblätter, die er manchmal anfeuchtete, in Gärung und hatte auch schon fertige Tabakblätter, an Stangen gereiht, von denen er sich welche für seine Pfeife zurechtschnitt.

Kurz, wir rechneten heraus, dass er hier schon zwei Ernten gemacht haben müsse, bald begann die dritte, und da durfte man bald auf ein Jahr schließen. dass er schon hier weilte.

Wie war er hierher gekommen? Kannte er einen Weg durch den meilenbreiten Sumpfgürtel?

Das konnte uns die Camera obscura natürlich nicht sagen. Wir hätten ihn denn gerade einmal auf diesem Wege beobachten müssen, was aber nicht geschah.

Auch jenes schwarze Riesenweib fanden wir nicht wieder. Es wäre uns wohl gelungen, wir hätten nur suchen müssen. Aber das tat die Gräfin nicht, die nicht von dem Apparate wich. Nur selten einmal projizierte sie die ganze Sumpfinsel, also gegen zwölf geografische Quadratmeilen umfassend, gegen die weiße Wand, nur ab und zu konzentrierte sie einige Stellen schärfer, um dann schleunigst zu dem Einsiedler zurückzukehren, als fürchte sie, er könnte unterdessen abhanden gekommen sein.

Nur des Nachts, wenn wir den Grafen schlafend wussten und sogar sahen, in der Grotte oder auf der luftigen Höhe des Baumes, schweifte sie über der Sumpfinsel hin und her, alle Gegenden immer genauer absuchend.

Und nicht etwa, dass wir dazu Mondschein brauchten. Es herrschte damals gerade Neumond. Und dennoch lag vor uns an der Wand alles in hellem Lichte: Bei genügender Konzentration war jeder Grashalm, ja das kleinste Insekt deutlich zu erkennen.

Dass es für diese Camera obscura keine Finsternis gab, ist ja schon früher gesagt worden. Wie eine in finsterer Nacht liegende Gegend hier an der Wand erhellt werden konnte, das war ja für mich allerdings unbegreiflich, aber im Übrigen kein Wunder, über das ich fassungslos werden konnte.

Ich weiß, dass es Lichtstrahlen gibt, die für das menschliche Auge unsichtbar sind. Wir sehen nicht alle Farben des Regenbogens. Zum Beispiel nicht das Ultraviolett, gegen welches hingegen gewisse Insekten und wahrscheinlich alle Nachttiere höchst empfindlich sind. Für die gibt es eben keine Nacht, d. h. keine Finsternis. Die sehen alles in ultraviolettem Lichte, das am Tage in der Atmosphäre aufgespeichert worden ist und nun langsam wieder ausstrahlt.

Dann gibt es wieder Tiere, welche die Lichtstrahlen nicht sehen, die für das menschliche Auge sichtbar sind. Für Hühner sind zum Beispiel die blauen Lichtstrahlen ganz wirkungslos.

Wie man das erfahren hat? Das ist höchst einfach — nämlich nachdem unsere Physiker und Physiologen etwas ausgetüftelt haben. Hungrige Hühner werden in einen finsteren Raum gesperrt, auf dessen Boden Körner verstreut sind. Die Hühner sehen diese nicht, sie fressen überhaupt nicht im Finstern. Nun wird durch eine Öffnung an der Decke verschiedenfarbiges Licht geschickt, durch farbige Gläser rotes, grünes, gelbes usw. Die hungrigen Hühner fallen sofort über die Körner her. Aber bei blauem Licht bleiben sie geduckt sitzen. Sie sehen die Körner nicht. Blaue Lichtstrahlen existieren nicht für ihre Augen, sie sind für sie farblos, also schwarz, es herrscht für sie Finsternis.

Ja, das ist sehr einfach, aber wer das ausgetüftelt hat, das ist ein kluger Kopf gewesen!

Wir sahen die Landschaft, die jetzt in finstere Nacht gehüllt war, hier an der Wand in intensiv gelbem Lichte, weit heller als das des Vollmondes. Wahrscheinlich wurde das ultraviolette Licht in natrongelbes verwandelt. Der Brahmane kannte vielleicht das zugrunde liegende Geheimnis, aber der verriet nichts. Und uns genügte das Resultat.

Aber in der Nacht war die riesenhafte Negerin nicht zu erblicken. Da schlief eben auch sie in irgend einem Versteck. Und auch sonst war keine Spur eines anderen Menschen zu erspähen, kein abgebranntes Lagerfeuer, keine Fährte und gar nichts, wie die Augen dieser Indianerin auch zu spähen verstanden.

Vier Tage lang beobachteten wir den Einsiedler. Die Gräfin forderte mich immer auf, doch an ihrer Seite zu bleiben. Ich ging nur, um mich in die Koje zum Schlafen zu legen, und kam ich wieder, so saß die Gräfin immer noch da. Ich glaube nicht, dass sie in den vier Tagen und Nächten ein Auge zugetan hat. Es war eben eine Indianerin.

In dieser Zeit hatten wir wohl genügend Gelegenheit, das Leben des Grafen kennen zu lernen. Es war mehr das Leben eines arbeitsamen Einsiedlers, eines Robinsons, der seine Lage immer verbessern will, als das eines Jägers.

Nur einmal erlegte er eine kleine Antilope, um sich mit Fleisch zu versehen, das er in dünnen Streifen dörrte und aufbewahrte. Dabei hatte er sich eines Bogens und Pfeils bedient, und, durch das Herz geschossen, war das Tier auf der Stelle zusammengebrochen. Ich sah, wie er Pfeile fertigte. Zur Spitze benutzte er fingerlange, stahlharte Mimosendorne. Mir fiel die Geschicklichkeit auf, wie er den Pfeil herstellte.

»Das hat er von mir gelernt!«, flüsterte die indianische Gräfin.

Wohl besaß er eine Doppelbüchse, wir sahen auch, wie er Patronen in den Gürtel steckte. Es konnte ihm ja doch einmal ein großes Raubtier gegenübertreten. Offenbar aber wollte er sich immer mehr unabhängig von der Außenwelt machen, alles sich selbst fertigen, war vielleicht auch darauf angewiesen. Er hatte scheinbar den Weg durch den Sumpf hierher gefunden, fand ihn aber nicht wieder heraus.

Wir wurden Zeuge, wie der edle Graf den Schuster spielte, sich ein zweites Paar lange Schaftstiefel fertigte. Wir sahen auch, wie er ein neues Hemd fabrizierte, dazu schabte er das Fell einer jungen Antilope ganz dünn, und wenn dazu nur die oberste, haarige Haut benutzt wird, so kann ein ganz poröser Stoff geschaffen werden. Den schnitt er zurecht und nähte ihn zum Hemd zusammen, und dann färbte er es in einem großen, selbst geformten und gebrannten Topfe rot; er hatte darin wohl ein rotes Holz gekocht.

Warum färbte er das Hemd rot? Jeder echte Junge, der seine Indianerschmöker und Buschklepper-Geschichten gelesen hat, weiß, dass alle Jäger, Miner, Goldgräber und andere Leute, die in glühender Sonne große Strapazen auszuhalten haben, rote Hemden tragen. Das ist schon vor hundert Jahren so gewesen. Und jetzt endlich kommt die zivilisierte Welt dahinter, dass nicht weiß, sondern rot diejenige Farbe ist, welche die Sonnenstrahlen am besten reflektiert, dass man also unter einem roten Anzug am wenigsten von der Sonnenhitze leidet.

Am liebsten aber arbeitete der Graf oben auf seinem luftigen Baume. Das konnte man ihm ansehen, was ihm das für Vergnügen machte, wenn er eine neue Plattform, eine neue Galerie und ein neues Treppchen zusammenzimmerte. Wir konnten ja sein Gesicht so vergrößern, dass es die ganze vierzehn Meter hohe Wand einnahm, da konnte einem wohl kein Gesichtsausdruck entgehen.

Und noch selbstzufriedener wurde dieses Gesicht, wenn er sich während der heißen Mittagsstunden dort ausstreckte und sein Pfeifchen selbstgebauten Tabaks schmauchte oder wenn er dasselbe am Abend tat, nachdem er sein Nachtmahl bereitet und verzehrt hatte, und was er dann aus einem großen Tonkrug zapfte und mit Behagen schlürfte, das sah mir gar nicht danach aus, als ob es aus Affenbrotbaumfrucht bereitete Limonade wäre.

Wenn man Limonade trinkt, macht man nicht ein so glückliches Gesicht dabei.

Ein heroischer Entschluss

Es war am vierten Tage, in wenigen Stunden mussten wir die Sklavenküste in Sicht bekommen.

Ich hatte nach dem Mittagessen in meiner Luxuskabine in Wallons Werk über Dahomey gelesen, das wir demnächst durchqueren wollten — unterirdisch oder oberirdisch, das war noch nicht entschieden — um den armen Grafen aus seiner schrecklichen Einsamkeit abzuholen.

»Da bin ich wieder!«, wollte die rote Gräfin rufen und dem Überraschten in die Arme fliegen. »Du lebst noch und ich lebe noch, so leben wir alle beide noch, und nun haben wir uns wieder!«

Und ich hatte wieder einmal etwas gedacht. Ich wurde nach und nach zum Denker. Aber Denker schweigen bekanntlich; besonders wenn sie nicht gefragt werden.

Da kam ein Matrose. Die Gräfin ließ mich zu sich bitten.

Natürlich saß sie wieder in der Camera obscura vor dem Apparat.

Und an der weißen Wand lag in der vierten Baumetage auf einer ganz neu gezimmerten Plattform, dessen Geländer er wahrhaft künstlerisch geschnitzt hatte, der unglückliche Einsame und schmauchte nach dem Mittagessen sein Pfeifchen, den Kopf selbstgeschnitzt aus einem weichen Steine, das Schilfrohr hübsch mit Federchen verziert.

Die Gräfin hatte seinen Kopf ungefähr so groß wie den eines Elefanten gemacht, da konnte man mehr als deutlich sehen, wie er bei seinen Träumereien, die Rauchwölkchen vor sich hin blasend, vergnügt mit den Augen blinzelte.

»Herr Kapitän Hagen.«

»Frau Gräfin?«

»Möchten Sie so ein Einsiedlerleben führen?«

Aha, dachte ich, jetzt kommt die auch einmal auf so einen Gedanken! Denn schwer von Begriff bin ich nicht.

»Ich? Ja.«

»So ganz einsam?«

»Ganz einsam. Geben Sie mir nur eine Robinsoninsel, ich will mich schon darauf einrichten. Und wenn ein Schiff kommt, dem winke ich ab. Bitte weiterfahren, ich will nicht entdeckt werden.«

»Und wie lange würden Sie das aushalten?«

»Für immer. Bis zu meinem seligen Tode, dann begrabe ich mich selber.«

»Meinen Sie wirklich, dass Sie solch eine Einsamkeit viele Jahre lang aushalten könnten, ohne Sehnsucht nach anderen Menschen zu bekommen?«

Mit einem Male wurde ich sehr ernst.

»Frau Gräfin, Sie haben recht. Das sind Sachen, die man gar nicht erörtern kann. Ich kann nur sagen, dass ich jetzt, gegenwärtig, glaube, solch ein Einsiedlerleben für immer ertragen zu können. Nicht nur ertragen, sondern mich dabei glücklich fühlen.«

»Wenn Sie aber nun wüssten, dass ein Wesen existiert, das sich in namenloser Liebe nach Ihnen sehnt — könnten Sie sich dann noch dauernd glücklich fühlen?«

»Frau Gräfin, ich habe kein solches Wesen auf der Erde — also kann ich über so etwas auch gar nicht urteilen.«

»Sieht dieser Mann, mein Gatte, nicht aus, als ob er ganz glücklich sei?«

»Ja, er scheint sich in seiner Einsamkeit sehr, sehr glücklich zu fühlen, denn er glaubt, Sie seien von seinem Tode überzeugt, und mit diesem Gedanken hat er sich innerhalb von zwei Jahren abgefunden. Er mag bittere Stunden und Tage und Monate gehabt haben — jetzt aber ist er glücklich, und er will nicht wieder neuen Jammer aufrühren — oder doch ein beschämendes Gefühl empfinden, wie es nur solch ein Mann empfinden kann.«

Es war ausgesprochen. Ich hatte wie gewöhnlich frisch von der Leber gesprochen.

Es war das erste Mal gewesen, dass ich eine Andeutung gemacht, wie ich alles wusste. Littlelu hatte mir ja alles offenbart. Eben weil er meinen Charakter kennen gelernt hatte. Und wie wäre ich dazu gekommen, schon vorher einmal eine Andeutung von meinem Wissen zu machen. Jetzt aber war eine Gelegenheit dazu gewesen. Ich hatte offen sprechen müssen.

Die Gräfin sah mich an, ohne Überraschung, ohne Unmut, ohne Verlegenheit.

Sie wollte wohl eine Antwort geben, aber ehe sie dazu kam, tauchte aus der Finsternis, die ja um uns herrschte, der alte Inder auf mit dem Gesicht eines Jünglings, der auch nur sein weißes Haar zu färben brauchte, um wirklich einer zu sein.

Ich glaube, auch ihn hatte die Gräfin hierher bestellt. Sie hielt ihm sofort ihre rechte Hand flach hin.

»Sirbhanga Brahma, ist es wahr, dass sich mein Gatte mit Absicht von mir fernhält?«

Ich kannte ja die ganze Geschichte mit der Handleserei. Der Alte nahm ihre Hand nochmals, als habe er sie noch nie gehabt, und studierte darin.

»Ja, er hält sich mit Absicht von Ihnen fern!«, sagte er dann.

»Auch jetzt noch? Gegenwärtig?«

»Gegenwärtig.«

»So muss er also doch einen Weg durch den Sumpf kennen.«

»Das muss ich annehmen.«

»Er könnte die Sumpfinsel verlassen?«

»Sicherlich.«

Schlaff ließ die Gräfin ihre Hand fallen.

»Und er tut es nicht, er will in seiner weltabgeschlossenen Einsamkeit vergraben bleiben!«, murmelte sie.

Dann fuhr sie jäh gegen mich herum.

»Herr Kapitän Hagen, sind Sie schon einmal geflogen?«

Die Plötzlichkeit dieser Frage überraschte mich, ich empfand im Augenblick nur ihren Humor.

»Ja, im Traume oft genug, ohne jeden Apparat, ganz freihändig. Von Treppen und dergleichen will ich nicht sprechen.«

»Mit dem Aeroplan, meine ich.«

»Nein, mit dem Aeroplan noch nicht.«

»Würden Sie mit mir von der Küste aus bis nach jener Sumpfinsel fliegen?«

»Ja. Ihnen würde ich meine Knochen anvertrauen.«

»Dann ist mein Entschluss gefasst. Hören Sie mich an, meine Herren.

Die Landkarte haben wir ja schon oft genug befragt, auch die mit den unterirdischen Wasserläufen, die jener Mephistopheles hinterlassen hat.

Auch von der Sklavenküste aus gehen blaue Linien ab, die sich netzförmig über ganz Afrika verbreiten, solch eine Linie geht auch direkt über oder vielmehr unter den Kreis hinweg, der in der großen Spezialkarte von Dahomey als Jangala oder die Sklavenstadt eingetragen ist, und gerade dort ist auch auf der Wasserkarte ein Kreis verzeichnet, der immer angeben soll, wo man von dem unterirdischen Wasserwege einen Ausweg nach der Oberfläche der Erde findet.

So hat es also den Anschein, als ob wir auch in einem Unterseeboote dorthin gelangen könnten.

Aber wir haben diese unterirdischen Wasserwege bis jetzt noch gar nicht weiter untersucht, wir wissen nicht, ob alles auch wirklich an dem ist. Wir können vielleicht stecken bleiben, oder müssen aus irgend einer anderen Ursache umdrehen — ich selbst will mich solch einer Eventualität nicht aussetzen.

Mein erster Plan war, dass nur ich selbst nach jener Sumpfinsel im Aeroplan fliege, während ein Unterseeboot den nach dort gehenden Wasserlauf untersucht, und auch Sie, Herr Kapitän Hagen, sollten diese unterirdische Wasserpartie mitmachen, was Sie doch gewiss sehr interessiert hätte.

Jetzt hat sich mein Plan geändert. Sie sollen mich im Aeroplan begleiten.

Wir werden bei Nacht ganz heimlich dort in jener Gegend landen.

Und dann sollen nur Sie es sein, der sich dem Grafen nähert, als Aviatiker, der diese sagenhafte Gegend erforschen wollte und dabei den Einsiedler scheinbar ganz zufällig auffindet.

Sie kennen mich zwar wohl, haben mich am Sklavensee im amerikanischen Felsengebirge besucht, Sie wollten diese afrikanische Sumpfinsel erforschen, ich habe Ihnen dazu den Aeroplan geliefert — aber nicht etwa, dass irgend eine Ahnung existiert hätte, Graf von Felsmark könnte sich dort aufhalten. Wir sind von seinem Tode felsenfest überzeugt. Verstehen Sie, Herr Kapitän?«

»Ich verstehe vollkommen.«

»Verzeihen Sie da zunächst eine Frage, halten Sie sich für befähigt, solch eine Rolle zu spielen, solch eine Mission ausführen?«

»Geehrte Frau Gräfin«, entgegnete ich, »ich bin alles andere als ein Diplomat. Mir fällt nämlich das Lügen höllisch schwer. Nicht etwa, weil ich so einen tadellosen Charakter habe — Gott bewahre — nein, weil ich zu stolz dazu bin, weil ich das Lügen einfach nicht nötig habe. Nicht für meine Person.

Aber wenn ich mit einer Flunkerei einem anderen Menschen helfen kann — dann, Frau Gräfin, verlassen Sie sich darauf — dann will ich das Blaue vom Himmel herunterlügen, dass dem Betreffenden die Augen übergehen — und er soll nicht im Geringsten an der Wahrheit meiner Worte zweifeln — und wenn ich ihm erzähle, ich hätte einmal einen Bären gesehen, der auf dem Klavier die Mondscheinsonate von Beethoven spielte, er soll's glauben — mit so treuherzigem Gesicht will ich's ihm erzählen.«

»Das habe ich gewusst, Herr Kapitän, sonst hätte ich Sie gar nicht für diese Mission bestimmt.«

Sie gab mir die Hand, gab meine gar nicht wieder frei, als sie zu sprechen fortfuhr, und plötzlich begannen ihre schönen, braunen Augen, aus denen sicher kein körperlicher Schmerz eine Träne hätte locken können, ganz verdächtig feucht zu schimmern.

»Sie sollen mein Fürsprecher bei ihm sein.

Was Sie ihm sagen werden, darüber können wir uns während der Fahrt noch lange genug unterhalten.

Jetzt nur die Hauptsache.

Sie sollen ihm versichern, dass seine Atalanta vollständig von seinem Tode überzeugt ist.

Aber Sie sollen ihm auch versichern, wie unsagbar glücklich seine Atalanta wäre, wenn er von den Toten auferstände und zu ihr zurückkehren würde.

Und wenn er in seiner Einsamkeit dort bleiben möchte, so sollen Sie ihn fragen, ob er vielleicht erlaubt, dass Atalanta dort sein einsames Leben mit ihm teilen darf.

Ich also halte mich dort unterdessen verborgen, und dass er nichts von meiner Anwesenheit merkt, darauf dürfen Sie sich verlassen.

Und wenn er dies alles nun nicht will, wenn er es vorzieht, weiter als ein Toter zu gelten, dort in seiner weltabgeschlossenen Einsamkeit weiter zu leben, dann kommen Sie zu mir und sagen es mir, und dann — fliegen wir wieder zurück — dann ist mein Gatte für mich wirklich tot — auch wenn ich ihn noch am Leben weiß, denn sein Glück, das er in der Entsagung sucht und gefunden hat, ist mir heiliger als meine Sehnsucht und —«

Sie brach ab, die Stimme versagte ihr, sie gab meine Hand frei, sprang schnell auf und eilte davon.

Ich wäre ihr gern nachgeeilt, um sie in meine Arme zu schließen, um sie zu küssen, oder meinetwegen um ihr zu Füßen zu fallen und sie anzubeten — als etwas Heiliges. Lieber aber hätte ich sie doch geküsst — in aller Ehrfurcht, mit heiligem Respekt.

Denn diese Indianerin hatte etwas ganz anderes geleistet als mit zwanzigpfündigen Kanonenkugeln zu spielen oder von der Decke des Zirkus herabzuspringen.

Hoch klingt das Lied vom edlen Weib!

Von jenem edlen Weibe, das noch etwas Höheres kennt als die irdische Liebe.

Die Riesenschlange

Der »Mohawk« lag angesichts der Küste, wenn sich diese auch nur wie ein Nebelstreifen zeigte, und an Deck stand auf Gummirädern ein Aeroplan, ein Zweidecker.

Ich hatte noch keinen Aviatiker fliegen sehen, noch nicht einmal im Kinematografentheater, nur auf Bildern. Ich wusste, dass mit so einem Dinge schon Schnelligkeiten bis zu hundert Kilometern in der Stunde und Höhen bis zweitausendfünfhundert Metern erreicht worden waren, konnte mir so etwas aber gar nicht vorstellen.

Ich will das Ding, dem ich mich jetzt anvertrauen sollte für eine Fahrt von siebenhundert Kilometern und immer in einer Höhe, in der uns ein menschliches Auge nur zufällig entdecken konnte, nicht etwa beschreiben, es wäre auch gar nicht möglich.

Alles war bis auf die Gummiräder aus Omnihilit, auch der 150-pferdige Elektromotor, der die treibende Kraft einfach aus der Luft saugte, und daher auch die fabelhafte Leichtigkeit. Fast nur das Gewicht der Menschen kam in Betracht und der Sachen, die sie mitnahmen. Und was nahmen wir mit? Waffen und Munition, fast gar nichts weiter.

Da war ein kleiner Kasten vorhanden, mit mehreren Hähnen, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Ließ man es herauslaufen, acht Liter, so war er nach einer Stunde schon wieder gefüllt; denn Wasser befindet sich ja immer in der Atmosphäre, mag diese scheinbar auch noch so trocken sein. Wenn man nur wüsste, wie man diesen Wasserdampf von allen Seiten herbeiziehen und kondensieren könnte.

Nun, hier war dieses Problem von irgend jemandem gelöst worden.

Drehte man einen anderen Hahn, so quoll eine breiige Masse heraus, die alle Substanzen enthielt, die der Mensch zu seiner Ernährung braucht.

Der Speisebrei konnte durch Essenzen den verschiedensten Geschmack erhalten und auch so hart gemacht werden, dass man ihn kauen konnte. Ich freilich zog mir ein Beefsteak von der Lende eines grasfressenden Ochsen und einen regelrechten Schinkenknochen, an dem es noch etwas abzunagen gibt, unter allen Umständen vor.

Ein dritter Hahn lieferte nur Öl, das auch unser Motor nicht entbehren konnte.

Vier Sitze waren vorhanden, richtige Reitsättel, und Frau Atalanta lud mich ein, Platz zu nehmen. Der eine war für meine langen Spazierhölzer schon höher geschraubt, neben mir ritt die Gräfin im grauen Lederkostüm nach Herrenart, vor sich einige Hebel und Räder, und zwar konnte dieser ganze Steuerapparat vor jeden Sitz geschoben werden.

Mir war es höchst ungemütlich zumute. Als ich noch dachte, jetzt sollten erst die Vorbereitungen zum Abfluge getroffen werden, kam das Ding schon ins Rollen. Die Bordwand war schon beseitigt worden. Erst glaubte ich, wir würden ins Meer plumpsen, das Ding senkte sich bedenklich, mit einem Male aber stiegen wir kerzengerade in die Höhe, und immer höher, bis ich die Schiffchen unter mir nur noch als Kinderspielzeuge erblickte, und da schossen wir auch schon dem Norden zu.

Ich will die Fahrt nicht schildern. Überhaupt bekam ich unter mir gar nichts zu sehen. In einer Höhe von etwa tausend Metern lagerte eine dünne, leichte Wolkenwand, über der wir uns hielten, sodass wir keinen Durchblick nach der Erde bekamen.

Aber das war es ja gerade, was die Gräfin wünschte, dass wir nicht gesehen wurden. Sonst wären wir noch viel höher gegangen.

Trotzdem wussten wir immer, wo wir uns befanden, konnten es wenigstens jederzeit erfahren. Einfach durch die Telefonuhr und indem wir selbst in der Camera obscura beobachtet wurden.

Auch ich hatte solch eine Telefonuhr bekommen, von denen Sirbhanga jetzt noch eine ganze Masse konstruiert hatte, und es machte mir Vergnügen, sie zu benutzen.

Ich drückte den Knopf, das Gegenklingelzeichen kam sofort.

»Hier Hagen.«

»Hier ›Mohawk‹.«

»Wo befinden wir uns?«

»Gerade über Abomey.«

Nun brauchte ich nur nach der Uhr zu sehen, und wir wussten, wie schnell wir bisher geflogen waren. Sonst konnte die Geschwindigkeit ja nicht gemessen werden.

Genau eine Stunde befanden wir uns unterwegs, ich hatte diese Zeit abgewartet, und ganz genau hundertzwanzig Kilometer hatte der »Mohawk«, der sich ja noch weit von der Küste abgehalten, von der Hauptstadt des Landes entfernt gelegen.

Also in einer Stunde hundertundzwanzig Kilometer! Es war erstaunlich!

Und dabei hatten wir noch etwas Gegenwind, und trotzdem merkten wir nicht das Geringste von einem Gegenzug.

Das kam einfach daher, weil wir durch eine Omnihilitplatte geschützt wurden, in einem richtigen Glaskasten saßen. Sonst wäre uns natürlich kein schlechter Sturm entgegengebraust. Ein Papierball, den ich seitwärts hinauswarf, war in einem Nu hinter uns verschwunden.

Und trotz dieser ungeheuren Geschwindigkeit hörte man nur ein leises Surren, von den rasenden Umdrehungen der Propellerflügel herrührend. Von dem schrecklichen Knattern, das sonst den Aeroplan immer begleiten soll, gar keine Spur. Unser Elektrometer ging völlig geräuschlos, und wenn er einmal fiepte, so musste etwas geschmiert werden.

Die Gräfin weihte mich in alle Handgriffe des Steuerapparates ein. Der Aufstieg und das Landen bei dieser Flugmaschine sollte so einfach sein, dass man diese schwierigen Manöver theoretisch erlernen könnte.

Im Übrigen war unser Hauptthema der Einsiedler, wie ich mich ihm gegenüber zu verhalten hatte.

Mittags um eins waren wir aufgestiegen, hei dieser rasenden Fahrt mussten wir unser Ziel in sechs Stunden erreichen, also gegen sieben Uhr.

Nun geht doch direkt auf dem Äquator die Sonne Tag für Tag früh um sechs auf und abends um sechs unter, und wir befanden uns nur zehn Grad vom Äquator nördlich entfernt, es war Mitte Juli, sodass die Sonne für uns noch etwas später unterging. Am Nordpol war jetzt halbjähriger Tag.

Und bei Nacht mussten wir ankommen, der Einsiedler durfte den Aeroplan, der Menschen brachte, doch auch nicht ganz fern am Himmel sehen. Die erste Sichel des Mondes ging hier erst viel später auf.

Gegen sechs Uhr erreichten wir das Ende der Wolkenwand, wir erblickten die Erde, vom letzten Abendsonnenschein übergossen, und zwar nichts als ein grünes Meer — den Urwald.

Wenige Minuten später wurde unter uns alles vom Schatten der Nacht überzogen, während wir selbst die Sonne noch hinter uns am Horizonte stehen sahen, bis sie auch für uns untertauchte.

Die schwärzeste Finsternis umgab uns.

Nun, vorläufig konnten wir uns ja noch nach dem Kompass richten.

Dann aber, als wir uns unserem Ziele näherten, waren wir nur noch auf die Telefonuhr angewiesen. Und nun begann das Großartige, das Rätselhafte, das über alle Menschenbegriffe ging.

Siebenhundert Kilometer von uns entfernt an Bord des »Mohawk« wurde die Sumpfinsel durch die Camera obscura an der Wand ja mit jenem gelben Licht übergossen — scheinbar, oder aber für die dort Beobachtenden auch in Wirklichkeit.

Ein günstiger, etwas versteckter Landungsplatz, etwa ein Kilometer von des Grafen Behausung entfernt, war ja schon längst ausgekundschaftet worden. Hier also wollten wir in der Dunkelheit unbemerkt landen, in der felsigen, wildzerrissenen Gegend fand die Indianerin ein noch besseres Versteck, wo sie sich vollkommen unsichtbar machen konnte, so lange sie wollte.

Nun durften wir aber doch keinen Scheinwerfer gebrauchen, sonst hätten wir uns doch von vornherein verraten. Also wurden wir jetzt vom »Mohawk« aus durch die Telefonuhr dirigiert.

Ich will es nicht schildern, wie es gemacht wurde. Die Gräfin nahm die Telefonuhr eben nicht mehr vom Ohr, nach den ihr gegebenen Anweisungen lenkte sie das Fahrzeug.

So verging eine Viertelstunde. Dann wurde noch viel langsamer gefahren, die Anweisungen der Telefonuhr, ob mehr nach rechts oder nach links, ob höher oder tiefer, wurden immer präziser.

»Stopp! In 45 Grad 150 Meter hinab!«

Wir gingen im Gleitflug hinab, der Radiometer gab den bezeichneten Winkel an.

»20 Grad 30 Meter!«, klang es zwei Minuten später aus der Telefonuhr.

Eine halbe Minute später erklang ein »Stopp!«, und in der nächsten Sekunde stießen wir sanft auf, wir hatten den ausgesuchten Landungsplatz erreicht.

Das heißt, das konnten nur die dort in der Camera obscura beurteilen. Hier war es so finster, dass ich nicht einmal die Hand dicht vor den Augen sah, und die Gräfin erlaubte nicht, dass ich mir eine Zigarre anzündete.

»Warten Sie wenigstens, bis der Mond aufgegangen ist!«, bat sie.

Ehe das geschah, war ich auf dem weichen Rasenplätzchen, auf dem ich mich ausgestreckt hatte, sanft eingeschlummert.

Als ich erwachte, war es noch pechfinstere Nacht. Mit einem Male aber war es heller Tag. Die Dämmerung in den äquatorialen Gegenden währt nur wenige Sekunden. Ich hatte reichlich elf Stunden ununterbrochen geschlafen. Das ist für mich eine Kleinigkeit. das kann ich zweimal hintereinander mit nur kleiner Pause dazwischen. Ich kann freilich auch bequem 48 Stunden ohne Schlaf auskommen.

Ja, das war das Plätzchen, das ich an der weißen Wand schon oft genug gesehen hatte. Ein ganz ebenes Terrain von etwa dreißig Meter Durchmesser, mit kurzem Gras bewachsen, wie eine Wiese, ohne jeden Stein, während es von einer Felsformation eingefasst wurde.

Etwas seitwärts vom Aeroplan stand die Gräfin in ihrem kurzen Röckchen, hatte die Arme über der Brust gekreuzt und blickte aufmerksam nach jener Richtung, der ich, halb aufgerichtet, den Rücken kehrte.

»Guten Morgen, Frau Gräfin.«

»Guten Morgen, Herr Kapitän. Sind Sie in der Zoologie bewandert? Besonders schlangenkundig?«

»Schlangenkundig?«

Ahnungsvoll wandte ich mich um, noch im Liegen oder Sitzen.

Sapperlot, war ich aber schnell auf den Beinen, denn hinter mir, keine drei Schritte von mir entfernt, kroch eine Riesenschlange von acht bis zehn Meter Länge und reichlich so dick wie ein Männerschenkel herum.

Das Ungeheuer hatte vielleicht die ganze Nacht neben mir verbracht, oder hatte immer so in der Drehe herumspioniert, bis es vom anbrechenden Tage überrascht worden war.


Illustration

Übrigens ein prachtvolles Tier, das in allen Farben metallisch schillerte.

Aber für derartige Schönheit bin ich nicht. Mit einem Satz war ich beim Aeroplan und hatte mein Gewehr beim Laufe gefasst, um es erst einmal als Keule zu benutzen.

Wie ich schon gesagt hatte, wimmelte es auf dieser Sumpfinsel von Schlangen. Wo wir mit der Camera obscura einen Platz in der Steppe oder im Urwald oder zwischen den Felsen näher beleuchteten, hatten wir sicher sein können, mindestens eine Schlange von einem bis drei Meter Länge zu erblicken, und auch zwei stattliche Riesenschlangen waren gesichtet worden. Der umgebende Sumpf war der reine Brutherd für dieses Gewürm. Der Einsiedler hauste nicht umsonst auf einem Baume, der zu dick war, als dass er von einer Schlange erstiegen werden konnte, und erst jetzt will ich bemerken, dass der Graf innerhalb der vier Tage, da wir ihn beobachtet hatten, mindestens dreißig Stück Schlangen erlegt hatte, dass er seine neuen Stiefel aus Schlangenhaut fertigte, die Schäfte waren einfach Schlangenbälge, und auch die, welche er jetzt trug, bestanden schon aus solchen.

Ich hin kein Freund von Schlangen. lieber hasche ich eine bissige Ratte mit der bloßen Hand, als dass ich eine harmlose Blindschleiche angreife — das liegt mir in der Natur. Ich ekele mich vor diesem Gewürm, obgleich ich mich nicht etwa fürchte. Eine über den Weg huschende Kreuzotter verfolge ich auch im Busch, bis ich mit den Füßen daraufspringen oder sie mit einem Stocke erschlagen kann. Außerdem bin ich nun auch eine ganz sorglose Natur. Als ich mich gestern Abend schlafen legte, hatte ich anderes im Kopfe gehabt, hatte gar nicht an die vielen Schlangen gedacht.

Jetzt freilich war mein Schreck, wenn nicht mein Entsetzen, gar groß, und ich wollte, wie gesagt, mein Gewehr als Kriegskeule handhaben.

»Lassen Sie nur«, sagte da die Gräfin ganz gemütlich, »eine Riesenschlange greift keinen Menschen an, ist alles nur Fabel.«

»Ja, das weiß ich, aber ich weiß nicht, ob auch die Riesenschlange weiß, dass sie für den Menschen ganz harmlos ist!«

Wahrscheinlich war diese geistvolle Äußerung daran schuld, dass die Schlange, die erst ganz langsam gekrochen war, plötzlich Reißaus nahm. Mit einem Male schoss sie wie ein Pfeil dahin und war zwischen den Felsen verschwunden.

»Sie hat sich die ganze Nacht bei uns herumgetrieben!«, sagte die indianische Gräfin gemütlich wie zuvor.

»Na, ich danke!«, stieß ich hervor.

»Haben Sie denn nicht bemerkt, wie sie einmal über Ihr Gesicht weggekrochen ist?«

»Na, ich danke!«, konnte ich nur wiederholen. »Sie haben das bemerkt und mich nicht geweckt?!«

»Wenn es Sie so wenig belästigte, dass Sie davon nicht erwachten, warum sollte ich Sie da wecken? Es ist doch fabelhaft, wie leicht sich diese doch so schweren Tiere beim Kriechen machen können! O, wir sind während der Nacht noch von einer Unmenge Schlangen besucht worden.«

Mich schauderte.

»Aber keine einzige giftige war darunter!«, fuhr die Gräfin in ihrer gemütlichen Weise fort. »Ich habe auch in der Camera obscura keine giftige beobachtet, die scheinen auf dieser Sumpfinsel ganz zu fehlen. Sehr merkwürdig!«

»Woher ist Ihnen denn das bekannt? Sind Sie denn so schlangenkundig?«

»Ursprünglich nicht. Erst als ich die vielen Schlangen in der Camera obscura beobachtete, beschäftigte ich mich näher mit ihnen, speziell mit den Arten, die in Dahomey vorkommen. Wir haben doch das prachtvolle Schlangenbuch von Davis an Bord, mit bunten, ganz naturgetreuen Abbildungen.«

»Was war denn das hier für ein prächtig schillerndes Ungetüm?«

»Ja, ich wollte eben fragen, ob Sie das wüssten. In Dahomey kommt nur eine Riesenschlange vor, die Assala oder Hieroglyphenschlange, auch Abgottschlange genannt, weil sie hier göttliche Verehrung genießt. Aber die schillert nicht so metallisch, sieht überhaupt ganz anders aus und ist an der Buchstabenzeichnung auf dem Rücken sofort erkenntlich.«

Ich wusste erst recht nicht, was das für eine Riesenschlange gewesen war.

»Nun, lassen wir das harmlose Geschöpf laufen. Also ich verschwinde sofort. Sie frühstücken erst, dann suchen Sie wohl gleich den Grafen auf. Auszumachen ist ja nichts mehr.«

Und sie schulterte sofort die Büchse und schritt den Felsen zu, zwischen ihnen verschwindend. Sicher hatte sie alles mitgenommen, was ihre oder überhaupt die Anwesenheit einer zweiten Person verraten konnte. Ich musste hier allein mit dem Aeroplan angekommen sein.

Es war eine Indianerin, die jede Ungeduld geradezu für ein Laster hielt — wenigstens das Zeigen derselben. Sie hatte mich aufgefordert, erst zu frühstücken, aber ich frühstückte natürlich nicht erst. Auch ich schulterte meine Büchse und schritt der betreffenden Richtung zu.

Schicksalsfügung

Langsam bummelte ich durch die Steppe.

Wo ich hinzugehen hatte, wusste ich ja ganz genau, ich war den Weg vom Landungsplatz zur Eremitage des Grafen ja schon ein Dutzend Mal hin und her spaziert, das heißt auf der senkrechten Wand an dem Lichtbilde der Camera obscura, ich durfte aber nun doch nicht gleich darauf zurennen, der Graf hätte mich doch beobachten können.

Ich war der Forscher, der sich mit Forscheraugen umsah. Als ich an ein Bächlein kam, war es ziemlich selbstverständlich, dass ich dieses verfolgte, und wollte ich nicht zurück, musste ich es stromaufwärts tun.

Da tauchte die Felsformation auf, aus welcher der Bach herauskam, was ich als Fremder aber nicht wissen konnte.

Nun, der Bach führte mich ja hin. Wenn der Graf jetzt auf seinem Baume saß und Umschau hielt, musste er mich schon gesehen haben. Ich kam näher, und ich selbst erblickte ihn nicht zwischen den Zweigen, welche die umgebenden Felsen hoch überragten.

Der Bach machte einen Bogen, ich folgte ihm und kam von hinten in die Felsen hinein.

Und da saß der vollbärtige Einsiedler, der aber sein Haupthaar kurz zu halten wusste, vor seiner Grotte und kochte etwas über einem Feuerchen.

Ein Erstarren mitten in der Bewegung, dann schnellte er empor.

»Inschallah!!«, rief er.

Es war nicht auffallend, dass er diesen arabischen Ausruf gebrauchte.

Ich musste etwas schauspielern, um ebenfalls eine Gebärde des Staunens zu machen. Es ist dies sonst nicht meine Sache, hier aber war es angebracht.

»Ein Mensch!«, rief also auch ich und konnte scheinbar vor Staunen nicht weiter.

So mögen sich die beiden ersten Urmenschen gemustert haben, die sich in den Mammutzeiten begegneten. »Donnerwetter, das Tier dort sieht doch genau so aus wie ich?!«

Aber wir beide waren keine Urmenschen.

»Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?«, rief der Jäger jetzt in englischer Sprache.

»Ja, Mann, wie kommen Sie denn hierher?!«, war meine ganz angebrachte Gegenfrage. »Das ist mir höchst fatal, hier einen anderen Menschen anzutreffen. Ich hoffte, die Ehre in Anspruch nehmen zu können, als erster Mensch ein jungfräuliches, sagenhaftes Land zu betreten, dem ich meinen Namen geben kann. Ich hoffe wenigstens, einen friedliebenden Menschen vorzufinden.«

»Kommen Sie nur ruhig näher.«

Ich tat es. Gerade sehr freundlich musterte er mich ja nicht, aber eines bösen Ausdrucks war dieses Gesicht ja gar nicht fähig.

»Wie sind Sie durch den Sumpf gekommen?«, war seine nächste Frage.

»Ich kam nicht durch den Sumpf, sondern darüber hinweg — mit dem Aeroplan.«

Ich sah seinen Augen an, wie er einige Sekunden lang angestrengt nachdachte, er fuhr sich auch mit der Hand über die Stirn, bis er dann sagte:

»Aeroplan — Flugmaschine — ja, ich weiß. Sind Sie allein?«

Ich bejahte, ohne zu erröten.

»Wann sind Sie gekommen?«

»Gestern Abend.«

»Kennen Sie mich?«

Es war eine etwas merkwürdige Frage, aber so einem Einsiedler entsprechend, dem schon die Erinnerung an Vergangenes zu schwinden begann.


Illustration

»Woher soll ich Sie kennen?«

»Ob Sie meinetwegen hierher kommen, meinte ich. Ob Sie wussten, hier einen einsamen Jäger zu treffen?«

»Keine Ahnung. Ich bin grenzenlos überrascht, hier schon einen Menschen zu finden, noch dazu einen Engländer.«

Er korrigierte mich nicht. machte sogar eine einladende Handbewegung nach dem Feuerchen.

»Bitte setzen Sie sich. Sie sind mein Gast.«

Aber es sollte zu keiner weiteren Unterhaltung kommen, meine ganze Mission sollte vergebens gewesen sein.

Noch ehe ich der Einladung Folge geleistet hatte, bemerkte ich, wie seine Augen plötzlich einen ganz starren Ausdruck annahmen, er blickte nach der Richtung, der ich den Rücken zudrehte, und wie ich mich umwandte, sah ich eine menschliche Gestalt stehen, unbemerkt schon ziemlich weit auf diesen sonst von Felsen eingeschlossenen Platz gekommen — eine Gestalt, die man nach dem ziemlich koketten Hosenkostüm doch erst für einen Mann halten musste, in der ich aber alsbald ein Weib erkannte, und außerdem — Himmel, wo hatte ich denn dieses Gesicht schon einmal gesehen?!

Der Graf war es, der meinem Gedächtnis schnell zu Hilfe kam.

»Miss — Marwood — Morgan!«, flüsterte er, und immer starrer wurden seine Augen.

Jawohl, das war ja die Miss Austin, wie sie sich damals, als sie ihr Gesicht unter einer roten Maske verbarg, genannt hatte. Littlelu hatte mir aber sehr viel von ihr als von der Miss Marwood Morgan erzählt, in welchen Beziehungen sie schon zum Grafen gestanden.

Und jetzt begann auch sie zu starren, sie hatte den Einsiedler schnell erkannt.

»Graf von Felsmark, ist es möglich?!«, löste sich ihr Starren in Staunen auf.

Und da kam auch in den erstarrten Grafen wieder Leben. Und was für ein Leben!

»Wehe, die Erde ist zu klein, als dass man sich verbergen könnte!«

So schrie er. Oder nein — so flüsterte er, ganz leise. Mir aber klingen diese von den plötzlich ganz farblos gewordenen Lippen so leise geflüsterten Worte noch heute wie ein einziger gellender Schrei in den Ohren.

Und im nächsten Augenblick setzte er wie ein Steinbock den Felsen hinauf, neben dem er stand.

»Na, Graf, nun reißen Sie doch nicht gleich aus!«, rief ich.

Ich sah es schon kommen. Wenn der jetzt nicht freiwillig blieb oder mit Gewalt festgehalten wurde, sah man den sobald nicht wieder. Ich wollte ihm nach, besann mich aber und lief um die Felsen herum, um ihm so den Rückzug abzuschneiden.

Aber ich kam zu spät. Da lief er schon über die Steppe, ganz mächtige Sätze machend, dem Walde zu, und in der nächsten Stunde war er zwischen den Bäumen verschwunden.

Nun wusste ich, was ich zu tun hatte. Das ganze Spiel musste aufgegeben werden. Ich rief die Gräfin an.

»Kommen Sie sofort her. Hier ist Ihre Freundin, die Miss Morgan, aufgetaucht, der Graf hat vor ihr Reißaus genommen.«

In zwei Minuten war die Gräfin da. Die konnte noch viel besser rennen als ihr Mann. Aber dafür hieß sie ja auch Atalanta, die doch das Schnelllaufen berufsmäßig betrieben hatte.

Ich hatte sie noch vor den Felsen erwartet, war nicht wieder hineingegangen, sondern teilte ihr alles mit ein paar Worten mit.

Hei, dieses Gesicht! Allerdings war es nur wie ein Wetterleuchten in den bronzenen Zügen gewesen, aber das Wetterleuchten ist auch nichts anderes als ein Gewitter, nur weit entfernt, und ich wartete auf die nachfolgenden Donnerschläge.

Ja, ich erwartete jetzt eine furchtbare Szene zwischen den beiden Weibern. In Unordnung kommende Toiletten und verschobene Frisuren, ausgeraufte Haare und fliegende Backenzähne, Mord und Totschlag. Ich überlegte mir schon, ob es nicht das Beste sei, dem Grafen nachzufolgen, also ebenfalls Reißaus zu nehmen.

Aber meine ganze Sorge war unnötig gewesen. Es kam zu gar keiner Szene. Diese indianische Gräfin liebte keine Szenen. Wenn doch einmal so etwas unvermeidlich war, dann machte sie es ganz im Stillen ab.

Sie sagte kein Wort weiter, blickte zu dem Felsen empor, von dem meiner Ansicht nach der Graf herabgekommen sein musste, und was ich nur glaubte, sah diese Indianerin noch nachträglich ganz deutlich mit eigenen Augen.

Mit etwas gesenktem Kopfe lief sie davon und nahm die Spur des Flüchtlings auf.

Etwas von der Abgottschlange

Ich folgte ihr langsam nach. Was sollte ich dort drin mit dem Weibe, mit dem ich schon einmal ein Renkontre gehabt hatte. Wie die hierher gekommen war, würde ich schon noch erfahren, vielleicht bedurfte die Gräfin doch noch meiner Dienste.

Als ich den Saum des Waldes erreicht hatte, kam ein Mann heraus, eine schwanke Gestalt mit einem blonden Klopfe, das Gesicht eben so verwittert und verwettert wie der Jagdanzug, aber doch immer noch gleich den Herrn erkennen lassend, der auch im Salon zu Hause ist.

»Hallo, wie kommen Sie denn hierher?!«

Das war natürlich wieder das erste.

Wenn sich zwei Menschen auf einer einsamen Insel im Weltenmeere begegnen, so werden sie schnell bekannt zusammen. Einer sagt dem anderen, wer er ist und wie er hierher kommt.

Ich überspringe die Einleitung. Übrigens war es ein mir wohlbekannter Name, den ich zu hören bekam.

Asmus Sörensen, ein Däne, hatte als Afrikaforscher schon Bedeutendes geleistet. Von der großen Verlagsbuchhandlung in Kopenhagen, die seine Reiseberichte herausgab, war er Mitinhaber. Ein netter Mensch, ein ganzer Mann.

Das sagenhafte Jangala in Dahomey zu erforschen, war sein letzter Plan gewesen, und er hatte ihn auch rasch in die Wirklichkeit umgesetzt.

Auch er hatte einen Aeroplan benutzt, um über den Sumpfgürtel zu kommen. Das liegt ja auch so nahe. Weshalb noch kein anderer auf den Gedanken gekommen ist, mittels der Flugmaschine diese Sumpfinsel zu erreichen? Nun, in Afrika gibt es noch ganz anderes zu erforschen als so ein menschenleeres Sumpfgebiet.

Also Sörensen hatte einen tüchtigen Aviatiker mit erprobter Flugmaschine für sein Unternehmen gewonnen, hatte sich mit ihm nach Dahomey begeben, zunächst nach der Hauptstadt Abomey.

Hier musste er für sein Unternehmen zuerst die Erlaubnis des Königs nachsuchen. In ganz Dahomey herrscht nämlich das strengste Passwesen. Ohne direkte Erlaubnis des Königs darf kein Fremder im Lande reisen, sich mit Ausnahme der französischen Küstenstädte nicht darin aufhalten. Die Franzosen haben da gar nichts dreinzureden, ihre Herrschaft über Dahomey steht nur auf dem Papiere, und sie sind froh, wenn sie mit den Eingeborenen ruhig Handel treiben können.

Wir hatten uns ja nicht um den König zu kümmern brauchen, aber Sörensen besaß keine solche Zaubermaschine, er konnte die ganze Tour nicht ohne Zwischenlandung durchfliegen. Übrigens benutzte er auch so weit wie möglich, und zwar bis nach Kandi — die Eisenbahn, die von dem Hafen Wida aus durch ganz Dahomey bis nach Karimama am Niger geht.

Erst aber musste er den Pass erlangen. Das ist eine kostspielige Geschichte. Da sind gar viele offene Hände zu füllen, ehe der König nur etwas von der Bitte zu hören bekommt, und dann werden Geschenke gewechselt, jede lumpige Kleinigkeit, die einem die schwarze Majestät verehrt, muss hundertfach wiedergegeben werden.

Nun, Sörensen hatte die Mittel dazu und er erhielt die Erlaubnis. Aber er bekam einen Aufseher, musste einen Ukangara mitnehmen, einen Zauberer, der den besonderen Titel »Jangagara« führte. Das ist »Herr der Sklaven«. Wir wollen aber lieber »Herr der Geister« sagen, denn er vermittelte den Verkehr mit den Toten, die aber eben im Schattenreich auch noch Sklaven des Königs sind.

Der musste unbedingt dabei sein, wenn die beiden Europäer als erste Menschen das geheimnisvolle Jangala, die Geisterstadt, betraten, sonst kamen die doch überhaupt gar nicht hin nach der Sumpfinsel. Natürlich musste der auch wieder bezahlt werden.

Nun, der Aeroplan war auch zur Mitnahme von zwei Passagieren eingerichtet.

Da aber meldete sich noch ein dritter, oder also eigentlich eine vierte Person, die mitgenommen werden sollte, eine Dame.

Zurzeit befand sich auch Miss Marwood Morgan als Gast am Hofe von Abomey. Und zwar als wirklicher Gast des Königs. Wenn man eine Milliarde hat, wird man anders behandelt als gewöhnliche Sterbliche, denn da kann man andere Geschenke geben. Und die Amerikanerin geizte nicht. Dafür hatte sie auch etwas. Die fünftausend Kriegerinnen hatten ihr zu Ehren nicht nur ein Scheingefecht aufgeführt, sondern eine wirkliche Schlacht geliefert, wobei es einige hundert Tote und Verwundete gegeben hatte. So etwas kann sich eine Milliardärin alles leisten.

»Mister Sörensen, bitte nehmen Sie mich mit!«, hatte sie gesagt.

»Das tut mir leid, auf den Aeroplan gehen nur drei Personen.«

»Na, da fliegt er einfach noch einmal zurück über den Sumpfgürtel und holt mich ab.«

Der Däne wusste bei aller Höflichkeit eine abschlägige Antwort zu geben.

Da ging die Amerikanerin einfach zu dem schwarzen König, und da hieß es: »Du musst sie mitnehmen, sonst kommst auch Du nicht hin!«

Also auch Miss Morgan kam mit. Bis nach Kandi ging es, wie gesagt, mit der Eisenbahn, hier wurden Träger genommen für den Transport des auseinandergenommenen Aeroplans und die Benzinbehälter, bis nach vier starken Tagesmärschen der sumpfig werdende Boden Halt gebot.

Bemerkenswert war, dass der Ukangara darauf bestand, als erster das geheimnisvolle Land zu betreten. Er war ja schon oft in der Geisterstadt gewesen, — nur im Geiste! Er war ja ein Zauberer, seinen leibhaftigen Fuß hatte er noch nicht auf diese Sumpfinsel gesetzt.

Also Monsieur Bertrand, der Aviatiker, der gemietete Chauffeur, den wir noch näher kennen lernen werden, musste den Ukangara zuerst als einzigen Passagier hinüberbringen. Es war nur eine geografische Meile zu überfliegen, dann sah man schon, dass unten fester Boden war.

Dann kehrte Bertrand zurück, holte Sörensen und die Amerikanerin herüber, in mehreren anderen Flügen die Benzinbehälter und das sonstige Gepäck.

Sonst durfte kein anderer Mensch nach dem Geisterlande, und von den Schwarzen hatte auch keiner Lust dazu.

Dieses Übersetzen war gestern Nachmittag ausgeführt worden. Da hatte man auf dem »Mohawk« immer unseren Aeroplan in der Camera obscura beobachtet. —

So hatte mir Sörensen berichtet. Nicht ganz so ausführlich. Ich erfuhr alles so nach und nach, die Hauptsache wusste ich nun doch schon.

»Und wie kommen Sie nun hierher, wenn ich fragen darf?«

Jetzt berichtete ich. Es war eine schwierige Geschichte.

»Was, die Gräfin Atalanta von Felsmark?!«, rief der Däne staunend, sobald ich diesen Namen genannt hatte.

Er kannte fast alles, was mit den Geheimnissen des Sklavensees zusammenhing.

»Das war sie, die vorhin hier vorbei rannte? Und wer war der Mann, der Jäger, der einige Minuten vorher in so wilden Sprüngen dieselbe Richtung einschlug?«

Jetzt musste ich von dem Grafen und Einsiedler berichten, es ging ja nicht anders. Warum auch nicht.

Dabei gingen wir am Saume des scharf begrenzten Urwaldes auf und ab. Der Däne schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Hm. In der Camera obscura an Bord des vor Wida liegenden Schiffes haben Sie das alles beobachtet? Ja, ich weiß schon, ich habe schon davon gehört, das muss ja eine wunderbare Erfindung sein. Hm. Haben Sie sonst etwas hier auf dieser Sumpfinsel beobachtet?«

Wenn der nicht gleich offen mit der Sprache heraus wollte, brauchte ich's auch nicht.

»Haben Sie noch andere Menschen hier getroffen?«, war also meine Gegenfrage.

»Ich? Nein. Sie müssen bedenken, dass wir erst gestern Nachmittag oder eigentlich erst am Abend hier angekommen sind und dass ich mit dem Unterbringen des Gepäcks zu tun hatte. Wir hausen in einer Höhle, dort am Ostrande. Bei Sonnenaufgang trat ich meinen ersten Spaziergang an. Dort, wo sich die Krone des Baobabs über jenen Felsblöcken erhebt, wohnt der Graf? Ich bin ahnungslos daran vorübergegangen. Ich bin ein tüchtiger Jäger, dieses Zeugnis darf ich mir selbst ausstellen, aber einen besonderen Spürsinn besitze ich nicht. Ich meine, haben Sie in der Camera obscura etwas Besonderes beobachtet?«

Ich gab mein Zögern auf, berichtete, in welcher Situation wir den Grafen zuerst gesehen hatten, wie er von dem Elefanten gejagt und von dem schwarzen Riesenweibe befreit wurde.

Der Däne blieb vor Überraschung stehen.

»Ein Weib von ganz kolossaler Größe und Muskulatur?!«

»Ja. Ich möchte die nicht zur Frau haben, vor der tät ich mich fürchten. Ich bin ja auch nicht gerade von Pappe, aber ich glaube, wenn wir beide einmal in Streit kämen — die nähme mich untern Arm und ließe mich verhungern.«

Sörensen lächelte flüchtig, er wurde aber gleich wieder sehr ernst, hatte wieder so ein eigentümliches Kopfschütteln.

»Nun, es gibt ja unter den Dahomeyweibern, welche die Leibgarde bilden, und gerade unter den Elefantenjägerinnen kolossale Gestalten genug. Aber wie Sie die beschreiben — und nun überhaupt, eine Elefantenjägerin auf dem heiligen Jangala — das war keine andere als die Wotulala, die Sie gesehen haben, und dann freilich wird mein schrecklicher Verdacht schon jetzt zur völligen Gewissheit.«

Mit höchst sorgenvollem Gesicht hatte es der Däne gesagt, der sonst sicher in jeder Gefahr seinen Mann stellte.

»Was für ein schrecklicher Verdacht?«, fragte ich. »Was ist mit jenem Weibe?«

»Lassen Sie es sich erzählen. Sie müssen es erfahren, denn es ist sehr leicht möglich, dass wir Leidensgefährten werden. Gleich am ersten Tage wurde ich in —«

Er brach plötzlich ab, sah starr seitwärts in die Büsche. Da erblickte auch ich es. Wieder eine so prachtvoll schillernde Schlange, aber viel, viel kleiner als jene, die ich vorhin gesehen, kaum zwei Meter lang.

Das Reptil wand sich träge einem Felsblock zu, wie solche auch hier im Walde verstreut umherlagen, sie steckte schon den Kopf in ein kleines Loch, um ganz unter dem Steine zu verschwinden.

Da plötzlich machte der Däne zwei große Sätze, packte — was ich nicht so ohne Grund gewagt hätte — die Schlange hinten beim Schwanze und riss sie mit aller Gewalt wieder heraus.

Aber da wurde das erst so faule Reptil plötzlich furchtbar lebendig, hatte sich im Nu um seinen Arm und Leib geschlungen, aber nur, um auf der anderen Seite gleich wieder herabzugleiten. Er packte nochmals zu, wollte sie offenbar lebendig fangen, aber es gelang ihm nicht, sofort hatte sie sich wieder frei gemacht und schoss über den Boden wie ein Pfeil dahin.

Da nahm der Däne einen starken Ast, sprang ihr nach und, etwas schneller war ein rennender Mensch doch, hieb zu — und da machte sie nur noch einige Zuckungen, dann war sie tot. Er hatte ihr das Rückgrat gebrochen.

Sörensen blickte zu mir auf und machte ganz entgeisterte Augen.

»O Wunder über Wunder!«, flüsterte er. »Diese Schlange!«

Ich wusste nicht recht, was er wollte. Ja, es war eine prächtige Schlange. Dieser metallische Schimmer in allen Regenbogenfarben! Aber ich habe die Korallenotter gesehen, die ist eigentlich noch schöner. Und überhaupt, nach meiner Ansicht konnte man sich doch für solch ein Vieh gar nicht so begeistern.

Aber der Däne behielt seine ganz entgeisterten Augen.

»Eine goldene Assala, die Sage wird zur Wirklichkeit!«, flüsterte er nach wie vor.

Jetzt wurde ich doch stutzig. Der konnte nicht umsonst so erregt sein.

»Hat es mit der eine besondere Bewandtnis?«

»Eine echte Abgottschlange, die von den Widas in eigenen Tempeln angebetet wird, die ihre eigenen Priesterinnen hat, die mit menschlichen Jungfrauen vermählt wird, die sie dann verschlingt — sie existiert wirklich!«

*

Ich will es hier anders berichten, als wie es mir damals Sörensen erzählte.

Vor mir liegt das bekannte »Tierleben« von Alfred Brehm, ich schreibe ab, was da über die afrikanische Assala oder Hieroglyphenschlange berichtet wird. Höchst interessant. Wer dieses Werk besitzt, kann es selbst nachlesen.

Nur muss ich erst noch einiges vorausschicken.

Den Namen Abgottschlange führt eigentlich die brasilianische Riesenschlange, die Königsschlange.

Man hat nämlich früher geglaubt, dass diese von den Indianern göttliche Verehrung genösse. Das ist nicht wahr. Die Indianer töten diese Schlange, wie und wo sie nur können, und essen ihr schneeweißes, aber äußerst hartes Fleisch, und das haben sie von jeher getan. Die Ureinwohner Amerikas sind niemals Schlangenanbeter gewesen.

Hingegen ist beobachtet worden, dass die Neger in Amerika einen Schlangenkultus treiben. Nicht nur, dass sie gewisse, giftlose Schlangenarten in ihren Wohnungen dulden, ihnen in Näpfen Wasser und Milch und Leckerbissen vorsetzen — sie haben ganz recht, wenn sie sagen, dass man diese harmlosen Schlangen an sein Haus fesseln soll, weil es die besten Mäuse- und Rattenjäger sind.

Aber man weiß auch bestimmt, dass die Neger und Mulatten in Amerika, besonders in Mexiko, Schlangen wirklich anbeten. Beide Geschlechter kommen bei nächtlicher Weile an geheimen Orten zusammen und feiern scheußliche Orgien, wobei Schlangen eine Hauptrolle spielen. Da aber sonst dabei keine Gräueltaten geschehen, keine politischen Umtriebe damit verbunden sind, lässt man die maßlos verachteten Neger gewähren.

Diesen Schlangenkultus haben die Neger mit aus ihrer afrikanischen Heimat gebracht. Dort genießen in den verschiedensten Ländern Schlangen wirklich göttliche Verehrung. Und dort ist die Sache doch nicht so harmlos. Ich habe ja auch schon erwähnt, dass die Menschenopfer der Dahomeer in Anwesenheit von heiligen Schlangen stattfanden.

Nun lasse ich Alfred Brehm erzählen, nur noch bemerkend, dass ganz Dahomey für gewöhnlich nach der großen Provinz Wida genannt wird, die Dahomeer selbst nennen sich Widas.


Dieser Art der Familie, also der afrikanischen Assala oder Hieroglyphenschlange, schreibt Brehm, gebührt der Name Abgottschlange, denn sie ist es, welche in manchen Ländern der Guineaküste unter der Pflege von Priestern in Tempeln verehrt wird. Nach Erzählung des Franzosen Marchais soll die Verehrung der Schlange einen gewichtigen Grund haben.

Als einst das Heer des Königs von Wida in Schlachtordnung stand, kam vom Feinde eine Riesenschlange herüber und benahm sich so zutraulich, sanft und zahm, dass jeder sie streicheln durfte. Der Oberpriester tat wie einst Moses vor den Kindern Israels: Er machte sie zum Götzen. Die Neger fielen nieder, um die neue Gottheit anzubeten, stürzten sich hierauf mutig auf den Feind und schlugen ihn in die Flucht.

Wem anders als dieser Schlange konnte man so hohes Glück verdanken? Ihre Wunderkraft hatte sich bewährt, und deshalb hielt man es für notwendig, ihr einen Tempel zu erbauen und einen Schatz für ihren Unterhalt zu gründen.

Bisher hatte man der Dreizahl gehuldigt und den Fetisch des Fischfanges, den Gott der Gesundheit und den Götzen des weisen Rates angebetet. Die Schlange aber erwarb sich, wie ihrem Geschlechte vom Paradiese her zukommt, bald gewisse Vorrechte, sodass man die drei Götter ihr gegenüber vernachlässigte. Sie wurde zur Göttin des Krieges, des Ackerbaues und des Handels erhoben, muss auch ausgezeichnete Dienste geleistet haben, denn bald war der erste Tempel nicht mehr groß genug, um die Wallfahrer zu fassen.

Man sah sich genötigt, neue Gebäude zu ihrer Verehrung zu errichten; Priester und Priesterinnen fanden sich, um ihr zu dienen, alljährlich wurden einige der schönsten Jungfrauen ausgesucht und ihr geheiligt.

Anfänglich mögen sich die Gläubigen freiwillig gemeldet haben, später wurden sie mit Gewalt zum Dienste der Göttin gezwungen. Mit schweren Keulen bewaffnet streiften die Priesterinnen umher, um die Jungfrauen zu holen. Wer sich ihren heiligen Verrichtungen widersetzte, wurde zwar nicht mit Bann und mit Scheiterhaufen, wohl aber mit dem Knüppel bedroht. Sie nahmen die schönsten Mädchen mit sich, und diese hielten es für eine hohe Ehre, mit der Schlange vermählt zu werden. Zuerst lehrte man sie Hymnen singen, dann heilige Tänze aufführen, hierauf verschnitt man ihnen das Haar und grub ihnen heilige Zeichen in die Haut ein. Nachdem sie in solcher Weise zur Vermählung mit dem Gotte würdig vorbereitet worden waren, führte man sie unter rauschender Musik, Gesang und Tanz, ihr erhabenes Geschick preisend, in ein dunkles, unterirdisches Gemach. Die aus der heiligen Höhle zurückkehrenden Jungfrauen erhielten den Titel »Schlangenbraut«, durften jedoch trotzdem nach eigenem Belieben sich verheiraten, und der Glückliche, auf welchen ihre Wahl fiel, erwies ihnen die höchste Ehrfurcht und Unterwürfigkeit. Aber unverbrüchliches Schweigen mussten sie bewahren über das, was in der Höhle mit ihnen vorgegangen war; denn wenn sie sich unterstanden, etwas auszuplaudern, so wurden sie von den Priestern aufgehoben und getötet, und jedermann war zu dem Glauben berechtigt, dass die Schlange sich an ihnen gerächt und sie vernichtet habe.

Durch Matthews erfahren wir übrigens, dass die Schlange nicht überall verehrt und angebetet wird. In anderen Ländern derselben Gegend sehen die Eingeborenen in ihr keine Gottheit, sondern höchstens ein Wild, welches sie verfolgen, weil sie das Fleisch für genießbar halten.

*

So weit Brehm.

Davon wusste ich damals also noch nichts.

Wohl aber hat auch Oberst Wallon darüber berichtet, fast genau dasselbe.

Nur sagt er, dass die Schlangenanbeterei der Widas schon längst der Vergangenheit angehören muss. Solange Europäer mit ihnen in Berührung sind, haben die Widas die Assala stets als Wild verfolgt und sie verspeist, von einer göttlichen Verehrung kann da also wohl nicht die Rede sein.

»Nein, die Sache ist anders!«, sagte jetzt der Däne. »Ich bin nicht zum ersten Male in Dahomey, und ich habe einmal einen Wida kennen gelernt, einen Händler an der Küste, einen ganz aufgeklärten, sogar gebildeten Mann, einen Freigeist, der mir hierüber Aufklärung gab, soweit er selbst etwas davon wusste.

Die gewöhnliche Assala oder Hieroglyphenschlange ist von den Widas immer als vogelfreies Wild behandelt worden, das stimmt. Nun soll es aber früher von dieser Riesenschlange eine goldenfarbige Spielart gegeben haben. So wie bei uns doch auch weiße Rehe und Hirsche vorkommen, in Indien weiße Elefanten, die ebenfalls heilig sind, und diese Gold-Assala nun soll wirklich als Gott angebetet worden sein, eigene Priesterinnen gehabt haben und so weiter. An sich schon selten, kam sie aber niemals aus dem Tempel heraus, der ganze Kultus wurde überhaupt äußerst geheim gehalten, und als nun den Widas die Menschenschlächtereien verboten wurden, da verschwanden auch die Gold-Assalas mit allen ihren Priesterinnen und Bräuten so plötzlich und spurlos, dass dies alles jetzt für eine Sage gilt.

Und jetzt habe ich hier eine Gold-Assala getötet, ein ganz junges Tier! Also sie existiert wirklich! Ja, nun glaube ich auch, dass noch heute dieser Schlangenkultus hier getrieben wird!«

Ich verstand nicht recht, weshalb er dies aus dieser einen Schlange gleich schließen wollte, und ich sprach es aus.

»Ja, da kommt noch vieles andere in Betracht. Gleich am ersten Tage in Abomey hatte ich so ein eigentümliches Erlebnis.«

»Richtig, das wollten Sie mir erzählen. Sie wurden durch den Anblick der Schlange unterbrochen.«

»Ich belauschte zufällig das Gespräch zweier Knaben. Erst hinterher erfuhr ich, dass es Priesterzöglinge waren, Zauberlehrlinge, würden wir besser sagen.

›Schade, dass die Wotulala gestorben ist!‹, sagte der eine.

›Ach, die ist ja gar nicht tot, die ist als Schlangenpriesterin nach Parmi ge...‹

Der Junge konnte das Wort nicht aussprechen. Plötzlich stand hinter ihm ein Mann und schlug ihm ins Gesicht, dass dem armen Jungen das Blut gleich aus Mund und Nase spritzte.

Da wurde ich wieder an die Schlangenanbeterei erinnert. Ich zog vorsichtige Erkundigungen ein, wer Wotulala gewesen sei. Man machte gar kein Hehl daraus, dass dies die Vorkämpferin der blauen Elefantenjägerinnen, der Elite dieser weiblichen Garde sei, die größte und stärkste aller dieser Weiber. Sie lebte aber nicht mehr, sie war kürzlich am Fieber gestorben.

Dieser Priesterjunge, der schon in manche Geheimnisse eingeweiht zu sein schien, hatte es also anders wissen wollen und hatte dafür etwas auf sein Plappermaul bekommen. Schlangenpriesterin sollte sie geworden sein, in Parmi. Kennen Sie Parmi, Herr Kapitän?«

»Ich erinnere mich, den Namen auf der Karte gelesen zu haben, das muss doch auch hier in der Drehe herum liegen.«

»Ja, noch mehr nördlich von dieser Sumpfgegend ist die alte Residenz der Könige von Dahomey. Abomey wurde es erst am Anfang des vorigen Jahrhunderts, als die Widas mit den Europäern in Verkehr traten. Es ist eine recht ansehnliche Stadt, weitläufiger gebaut als Abomey, mit Gebäuden aus einem roten Ton, der dort massenhaft vorkommt und an der Luft ohne Brennen steinhart wird.

Jetzt ist Parmi verlassen, nur wenige Negerfamilien siedeln in der von Vegetation überwucherten Stadt. Aber das gilt nur für neun Monate im Jahre. Nach einer alten Tradition ist der König verpflichtet, jedes Jahr drei Monate mit seinem ganzen Hofstaate in der alten Residenz zu verbringen, ganz nach den alten Sitten lebend, als gebe es keine Europäer, kein Kleidungsstück, keinen Schmuck, auch kein Messer darf benutzt werden, das von den Fremden herstammt.

Diese Tradition wird auch heute noch befolgt. Jedes Jahr siedelt der König für drei Monate mit seinem Hofstaate — ungefähr 15 000 Menschen — von Abomey nach Parmi über. Es ist immer eine richtige Völkerwanderung. Früher brauchte man dazu zwei Wochen hin und zwei Wochen zurück. Heute wird dazu die Eisenbahn benutzt, wenigstens zum Zurücklegen der Hauptstrecke, sodass man dazu nur noch fünf Tage braucht. Die drei Monate kann sich der König auswählen. Ich habe gehört, dass der Aufbruch nach Parmi nächstens geschehen soll. Und die Wotulala ist nur vorgeblich tot, sie ist in Wirklichkeit als Schlangenpriesterin nach Parmi geschickt worden? Das kommt mir höchst verdächtig vor.«

Der Däne schüttelte noch einmal ganz nachdenklich den Kopf und betrachtete misstrauisch die tote Schlange.

»Hören Sie, Mister Sörensen, was haben Sie eigentlich für einen Verdacht, nun schenken Sie mir einmal reinen Wein ein!«, sagte ich.

»Dass in Parmi noch immer Menschenopfer abgehalten werden; allerdings nicht mehr in so großartigem Maßstabe, denn auch dort kann der Zutritt von Fremden, besonders der französischen Regierungsbeamten, nicht verboten werden. Aber ich glaube nicht, dass so eine uralte Sitte so plötzlich ausgerottet werden kann, und in dem im Gebirge gelegenen uralten Parmi wird es heimliche Verstecke geben, die man in dem flachen Abomey nicht schaffen konnte.

Und nun höre ich, dass sich hier ein Dahomeyweib aufhält, eine Elefantenjägerin, die nur jene Wotulala sein kann. Also muss es auch einen Weg durch den Sumpf geben. Und nun sehe ich hier die Gold-Assala. Ich bin überzeugt, dass hier auf dieser Sumpfinsel noch Schlangenanbetung mit Menschenopfern getrieben wird, und das zu der Zeit, wenn sich der Hof in Parmi befindet.«

»Herr, das ist nach alledem, was Sie mir da berichtet haben, ein kühner Schluss!«, rief ich.

»Sie haben recht, aber ich werde diesen Verdacht nun, da er einmal in mir entstanden ist, nicht wieder los. Und der Ukangara ist mir überhaupt schon immer verdächtig vorgekommen.«

»Wieso?«

»Sein — sein — sein ganzes Wesen. Ich kann es nicht ausdrücken. Es ist überhaupt ein unsympathischer Mensch. Und wie kommt der Kerl auf die Frage, ob so eine Flugmaschine auch einmal versagen könne. Gewiss, diese Frage liegt ja ganz nahe, aber — der Verdacht ist nun einmal in mir entstanden. Er ist gestern Abend auch immer so um die Maschine herumgeschlichen. Und es ist doch ein heikles Ding, so ein Aeroplan. Es braucht nur irgend etwas entfernt zu werden, nur ein tüchtiger Schlag und wir sind hier festgenagelt, können nicht wieder zurück.«

»Haben Sie daran nicht vorher gedacht? Der Aeroplan braucht doch gar nicht böswillig beschädigt zu werden.«

»Gewiss habe ich an einen unglücklichen Zufall gedacht. Gleich einen Reserveapparat mit nach Afrika zu nehmen, hielt ich die Vorsicht denn doch zu weit getrieben, und es ist doch eine kostspielige Geschichte, auch meine Mittel sind begrenzt. Bin ich in einem Monat nicht wieder in Abomey, so hält der französische Gouverneur weitere Nachfrage nach mir, und bin ich sonst nicht gesehen worden, so telegrafiert er nach Marseille, dort habe ich einen Freund, der wird eine Hilfsexpedition ausrüsten, bei der ein Aeroplan natürlich auch wieder die Hauptrolle spielt. Das ist alles ausgemacht worden.«

»Und hier haben Sie Ihren Aeroplan doch unter genügender Aufsicht stehen?«

»Gewiss. Einer von uns beiden muss immer bei ihm sein, entweder Monsieur Bertrand oder ich. Miss Morgan kommt dabei nicht in Betracht, die geht ihre eigenen Wege. Und wo steht Ihr Aeroplan?«

Ich beschrieb die Gegend ungefähr.

»Haben Sie Schutzmaßregeln getroffen?«

»Nein. Ich erfahre das alles ja erst jetzt, und wir sind nur zu zweit. Übrigens ist unser Apparat auch kein so zerbrechliches Ding.«

»Ich rate Ihnen aber doch, etwas vorsichtig zu sein. Wir können uns ja zusammenlegen.«

»Ja, das können wir.«

»Haben Sie viel Gepäck mit?«

»Gar nichts. Wir setzen uns einfach auf die Maschine, steigen auf und lassen nichts zurück.«

»Wir aber haben gar vielerlei mit, abgesehen von dem Benzinvorrat. Wollen Sie da nicht lieber mit Ihrem Apparat zu uns kommen?«

»Diese Entscheidung muss ich der Gräfin überlassen. Ja, wo bleibt die eigentlich?«


Lieferung 18


Illustration

»Die Schlange, o Gott, da kommt schon wieder die schreck-
liche Schlange!«, rief Marwood Morgan, während Kapitän
Hagen den Wasserkrug zum Schlag bereit hielt.


Monsieur Bertrand

Wohl eine halbe Stunde hatte unsere Unterhaltung gewährt, und die Gräfin war noch nicht zurück. Wer wusste aber auch, wie weit sich der Urwald mit festem Boden noch erstreckte? Und der Graf war vielleicht so weit geflohen, wie er konnte, gerade da er einen Verfolger, vielleicht sogar weil er seine Gattin hinter sich wusste. Er konnte sie ja schon gesehen haben und wollte eine Begegnung mit ihr vermeiden.

Nun, ich konnte sie ja einmal mit der Telefonuhr anrufen.

Aber vergebens drückte ich den Knopf, es kam kein Gegenzeichen.

Ich wusste sofort, woran das lag. Die hatte sich mit dem »Mohawk« in Verbindung gesetzt und ließ den Flüchtling dort in der Camera obscura beobachten.

Das konnte auch ich, brauchte nur hinten das Wort »Mohawk« einzustellen, und ich tat es. Und richtig, da hörte ich auch schon der Gräfin Stimme.

»Immer noch nicht?«

»Nein!«, hörte ich Littlelus Stimme antworten.

»Aber er kann doch gar nicht so weit von mir entfernt gewesen sein.«

»Ja, wenn er aber in dem Sumpfe nun immer weiter gelaufen ist?«

»Suchen Sie, suchen Sie!«

»Ja, wenn nur die Bäume nicht wären! Ich kann von oben doch nicht unter die Zweige blicken, oder ich muss fortwährend Aufrisse machen, und dann kann ich wieder nicht zwischen den Stämmen durchblicken, und dann das viele Buschholz!«

»Suchen Sie, suchen Sie! Ach, wenn ich nur dort wäre!«

»Sie könnten es auch nicht schneller und besser machen als ich!«, war Littlelus unverblümte Antwort.

Einige Minuten vergingen.

»Da — da ist er, jetzt habe ich ihn!«, rief da Littlelu wieder.

»Wo?«

»Ungefähr zwei Kilometer von Ihnen entfernt.«

»Genauer!«

»Gleich, ich messe — ganz genau 1874 Meter in südwestlicher Richtung.«

»Was tut er?«

»Er sitzt unter einem Baume und — weint.«

Littlelu hatte vor dem letzten Worte eine ganz bedeutende Pause gemacht.

Und ich stellte schnell mein Telefon ab, ich wollte gar nichts mehr hören. Mir hatte plötzlich etwas ans Herz gegriffen. Ach, war das ein Jammer!

»Ich muss noch einmal nach meinem Lagerplatz!«, sagte Sörensen.

Ich begleitete ihn. Er nahm die Schlange mit.

»Ich bin gespannt, was der Ukangara sagt, wenn er das ihm heilige Tier erblickt, das ich getötet habe.«

»Wenn er schlau ist, wird er gar nichts sagen.«

»Wir müssen jeden Gesichtsausdruck genau beobachten.«

Nach zehn Minuten hatten wir das Lager erreicht. Ich hatte mir unterwegs noch einmal ausführlicher von der Amazonenschlacht erzählen lassen, die auf Wunsch der reichen Amerikanerin arrangiert worden war, mit wirklichen Toten und Verwundeten. Sie hatte eine richtige Versicherung gemacht, mit Prämien, für eine abgeschlagene Hand hatte sie so und so viel gegeben, für einen Arm das Dreifache. Es interessierte mich.

Neben dem Aeroplan, einem Eindecker, standen Monsieur Bertrand und Miss Morgan und unterhielten sich, natürlich über uns, über die Geheimnisse des Sklavensees. Sörensen hatte mir schon einiges über seinen Aviatiker gesagt. Es war ein akademischer Ingenieur, hatte eine sehr gute Stellung in einer großen Maschinenfabrik gehabt, war aber schon frühzeitig zum professionellen Radrennsport übergegangen, später zur Aviatik, hatte schon viel durch seine wagehalsigen Flüge von sich reden gemacht, wenn er auch noch nicht gerade eine Berühmtheit geworden war.

Jetzt stand ich ihm gegenüber. Er war immer noch ein junger Mann, aber viel älter aussehend, ein brünetter Franzose, ein langes, hageres Gesicht mit gewaltiger Adlernase.

Ich hatte mir gleich ein Bild von diesem Mann gemacht. Diese markanten Züge konnten nicht täuschen. Eine grenzenlose Energie. Energie ist ganz gut, aber sie muss doch ihre Grenzen haben. Bei dem gab es keine. Was der sich in den Kopf gesetzt hatte, das erreichte er auch. Der setzte für jede Kleinigkeit sein Leben ein — das anderer Menschen freilich auch. Der ging über Leichen weg, mir gefiel er nicht.

Wir waren uns vorgestellt worden.

»Und Miss Morgan — Herr Kapitän Hagen.«

»O, wir kennen uns ja schon!«, lächelte die, freilich sehr gezwungen, nur gewohnheitsmäßig, wie eben bei jeder Vorstellung.

»Ja, leider!«, erwiderte ich.

Die glaubte wohl nicht recht gehört zu haben.

»Leider?«

»Sie sind ja ein ganz miserables Frauenzimmer.«

Jetzt glaubte die wohl erst recht, dass sie nur an Gehörhalluzinationen litte, duckte sich aber schon etwas zusammen.

»Waaas?«

»Wie Sie in Abomey die Amazonen gegeneinander gehetzt haben, gegen Bezahlung, das ist einfach eine Niederträchtigkeit gewesen! Dafür gibt es überhaupt gar keine Worte. Man ist ja von der Herzlosigkeit der reichen Amerikanerinnen schon etwas gewohnt, aber so etwas — da gibt es nur ein einziges Wort: Pfui! Jeden Tag durchgepeitscht müssten Sie werden! Sie sind tausend Jahre zu spät geboren worden, im alten Rom sollten Sie leben, als Neros Konkubine. Pfui über Sie!«

Ich hatte es sagen müssen, hätte es beim besten Willen nicht zurückhalten können. Aber ganz ruhig hatte ich's gesagt, sie immer fest im Auge behaltend. Ich glaubte, sie würde springen. So ein Gesicht mit solch zitternden Nasenflügeln habe ich noch nie gesehen. Aher sie beherrschte sich wunderbar. Plötzlich wandte sie mir den Rücken und ging davon.

»Sapristi, das war stark!«, sagte der südländische Franzose gleichmütig, nichts weiter.

Der nordländische Däne hingegen machte mit den Armen ein paar Freiübungen und pumpte Luft.

»Na Gott sei Dank! Jetzt hat sie's zu hören bekommen! Herr Kapitän, Ihr Herz sitzt auf dem richtigeren Flecke als meines. Gedacht habe ich schon immer genau dasselbe, aber es ihr ins Gesicht zu sagen, dazu habe ich nicht den Mut gehabt. Ja, ich bin feig gewesen. Ich schäme mich.«

»Wo ist der Ukangara?«, fragte ich.

Er war eben nicht da.

Ich lud Sörensen ein, nun mit mir nach unserem Aeroplan zu kommen. Er wollte noch einmal von der Amazonenschlacht anfangen, nun aber mochte ich nichts mehr davon wissen, das war jetzt für mich erledigt.

Ich erzählte ihm, wie ich schon heute früh dort so eine Goldschlange gesehen hatte, aber keine junge, eine riesige.

»Dieses Ungeheuer könnte ganz leicht einen Menschen verschlingen. Gibt es verbürgte Beispiele oder nicht, dass Riesenschlangen Menschen angegriffen haben?«

Nein, es gibt keine verbürgte Tatsache. Forscher haben sich in allen Weltgegenden, wo Riesenschlangen vorkommen, ehrliche Mühe gegeben, um Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Denn in allen jenen Gegenden erzählen die Eingeborenen ja zahllose Geschichten, wie Riesenschlangen Menschen angegriffen und verschlungen haben. Jeden Tag muss das dort vorkommen.

Aber noch jedes Mal, wenn man der Sache sofort auf den Grund gehen konnte, hat es sich als ein Märchen erwiesen. Nein, die Riesenschlange, ob nun Boa oder Python, überfällt keinen Menschen. Die hat dort, wo sie zu Hause ist, anderes, kleineres Viehzeug genug, das sie viel bequemer hinunterwürgen kann als so einen langen Kerl mit Stiefeln und Sporen.

Natürlich alles mit Unterschied. Ausnahmen gibt es überall. Dass Riesenschlangen kleine Kinder, hilflose Säuglinge überfallen und gefressen haben, das ist erwiesen. Und wenn sie in die Enge getrieben ist, in der Schlinge steckt, mag sie auch ein furchtbarer Gegner sein. Aber greift das gereizte Wildschwein nicht auch den Jäger an? Und wie! Und ist es nicht auch schon bei uns häufig genug vorgekommen, dass Hausschweine unbeaufsichtigte kleine Kinder angefressen und aufgefressen haben? Aber ist deshalb das Schwein ein menschenfressendes Raubtier?

Ich hatte mich mit der Gräfin hierüber schon mal unterhalten, damals, als wir in der Camera obscura auf dieser Sumpfinsel die erste, sehr große Riesenschlange erblickt hatten. Auch diese hochgebildete Indianerin war durch Lesen von naturwissenschaftlichen Büchern der Überzeugung, dass man unter normalen Verhältnissen die Riesenschlange nicht zu fürchten braucht. Sieht man eine faul im Grase liegen, so kann man sich darauf setzen, sie schleicht träge unter einem weg, erst beim Schreck ins Schießen kommend.

Deshalb hatte die Gräfin auch heute Nacht ganz ruhig zugesehen, wie das Ungeheuer an mir herumgeschnüffelt hatte, mir sogar über das Gesicht gekrochen war.

Auch jetzt hatten wir hierüber gesprochen, Sörensen war ganz derselben Meinung.

»Ja, ich denke aber«, sagte ich, »die heilig gehaltenen Abgottschlangen wurden mit Menschen gefüttert?«

»Das ist doch wieder etwas ganz anderes. Wenn so eine Riesenschlange Hunger hat, und sie hat nichts anderes, da wird sie mit Freude wohl auch jeden Menschen in Empfang nehmen, den man ihr ausliefert.«

Wir hatten unsere Flugmaschine erreicht. Mit einem Male war auch Monsieur Bertrand da. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass er uns dicht auf den Hacken gefolgt war.

»Was gibt es?«, fragte Sörensen überrascht, fast erschrocken.

»Gar nichts. Der Herr Kapitän wollte Ihnen doch seinen Aeroplan zeigen. Ist es nicht gestattet, dass auch ich ihn besichtige?«

»Sie sollen doch bei unserer Maschine wachen!«

»Miss Morgan ist ja dort und hat mir versprochen, bis zu meiner Rückkehr dort zu bleiben. Wer soll denn überhaupt mit unserer Maschine etwas machen? Der Schwarze, wie Sie immer meinen? Der ist ja viel zu dumm dazu.«

Sörensen machte ein sehr verdrießlichem Gesicht, sagte aber nichts. Dieser Franzose sah auch gar nicht danach aus, als ob er sich viel sagen ließe.

Ich wusste, was ich an unserem Aeroplan erklären durfte und was nicht. Die Gräfin hatte mir hierüber genaue Instruktionen gegeben. Denn auch die Möglichkeit war erwogen worden, dass wir einmal getrennt wurden, ich allein bei dem Apparate war und von Leuten um Erklärung gebeten wurde, denen ich es nicht abschlagen durfte.

Übrigens war ja alles, was es hier anzustaunen gab, auch auf dem freigegebenen »Mohawk« in San Francisco gezeigt worden.

Also ich erklärte, wie in dem einen Kasten sich Elektrizität aufspeicherte, direkt aus der Atmosphäre gezogen, die sich auch nach Art der Turbinen direkt auf die Flügelwelle übertrug, und wie aus dem anderen Kasten eine genießbare Wurst hervorkam. Das heißt, erklären konnte ich es eigentlich nicht, nur zeigen, wie man die Hähne herumdrehte.

Während der Däne am meisten über diese kostenlose Wurst staunte, auch richtig sofort einen paradiesischen Zukunftstraum ausspann, wenn diese Erfindung nur erst einmal Allgemeingut der Menschheit sei, imponierte dem französischen Aviatiker mehr der ganze Aeroplan im Allgemeinen, er machte aus seiner Begeisterung gar kein Hehl.

»Wer so einen Apparat besitzt, der kann sich ja zum Herrn der Erde aufschwingen!«, rief er ein übers andere Mal mit vor Erregung funkelnden Augen.

Dann bat er mich, einmal aufzusteigen und ihn gleich mitzunehmen.

Ich musste bedauern. Ich verstand von der ganzen Fliegerei gar nichts.

»Sie können die Steuerung nicht bedienen?«

»Ich bin nur theoretisch eingeweiht worden.«

»Erlauben Sie!«, sagte er und hatte sich auch schon in den Sattel hinter den Steuerapparat gesetzt; er fingerte dabei an den Hebeln und Rudern herum.

Ich hatte ihn ruhig gewähren lassen, denn daran herumfingern konnte der so viel er wollte. Drehen konnte er nichts, die Vorrichtung war arretiert.

Nur zwei Handgriffe waren nötig, und die Arretierung war wieder ausgeschaltet. Aber wie viel Tausende von Handgriffen kann man wohl machen? Zwei Räder galt es in besondere Stellung zu bringen, aber da konnte jemand sein ganzes Leben lang daran herumleiern, er hätte die richtige Stellung auch nicht durch einen Zufall herauskommen. Eher musste man das komplizierteste Geldschrankschloss mit einem krummen Nagel öffnen können.

»Die Steuervorrichtung ist wohl arretiert?«

»Ja, die ist arretiert.«

»Wie löst man die Arretur?«

Ich brauchte gar keine Notlüge zu machen, dass auch mir das unbekannt sei.

»Herr, so eine Arretur ist dazu da, dass man sie geheim hält.«

»So, so!«, brummte der Franzose und schwang sich wieder aus dem Sattel, und dann sagte er nochmals so recht aus Herzensgrunde:

»Ja, wer so eine Flugmaschine besitzt, der kann sich als Herrn der Erde betrachten!«

Mich fing dieses Wort jetzt zu interessieren an.

»Nun, wenn Sie diesen Aeroplan nun hätten, was würden denn Sie damit anfangen? Sich zum Herrn der Erde machen, das ist doch ein etwas weiter Begriff.«

»Ja, allerdings. Das ist ja auch nur so eine Redensart. Was ich damit anfangen würde? Ich — ich — ich würde mich auf einem unersteigbaren Berge etablieren und mir dort oben einen Harem anlegen.«

Lachend hatte er es gesagt, es hatte ein Witz sein sollen.

Aber — ich hatte ihn dabei scharf angesehen. Nein, das war nicht nur so ein Witz gewesen! Dieser Franzose hatte ein ganz merkwürdiges Gesicht.

In meiner Tasche klingelte die Telefonuhr, die ich wieder auf »Plan« eingestellt hatte, welches Wort mich mit der Gräfin verband.

»Herr Kapitän Hagen?«

»Frau Gräfin?«

»Wo befinden Sie sich?«

»Bei unserer Maschine.«

»Bitte, wollen Sie zu mir kommen.«

»Wo sind Sie?«

»Stellen Sie Ihre Uhr auf ›Mohawk‹ ein, Sie werden von dort gelenkt.«

Littlelu hatte mich in der Camera obscura, nahm mich in einer Entfernung von siebenhundert Kilometern ins Schlepptau, gab die Richtung an — etwas mehr rechts, etwas mehr links.

Noch gegen zwanzig Minuten lang hatte ich durch den Urwald zu marschieren und mehr noch über Wurzeln und gestürzte Baumstämme zu klettern oder darunter durchzukriechen, und mein schwerer Fuß sank schon ganz bedenklich in den immer weicher werdenden Boden ein, schon bildeten sich bei jedem Schritte kleine Wasserlachen, als ich die Gräfin in noch ganz beträchtlicher Entfernung auf einem Baumstamm sitzen sah.

»Halt, bleiben Sie, ich komme zu Ihnen, hier sinken Sie ein!«, rief sie mir zu, als sie mich erblickt hatte.

Wie ein Eichhörnchen lief sie über die gefallenen Stämme, von einem zum andern sich an herabhängenden Zweigen schwingend, dabei mächtige Luftsprünge machend. Aber schon vorher musste sie tief in den Schlamm gekommen sein, bis an die Knie.

»Er befindet sich auf einer anderen Insel im Sumpfe, ungefähr zwei Kilometer von hier.«

»Kann es nicht schon das jenseitige Festland sein?«

»Nein. Jenseits beginnt erst recht die richtige Sumpfregion, immer noch vier englische Meilen breit. Das kann man an Bord in der Camera obscura, durch die ich ihn natürlich beobachten lasse, ganz deutlich unterscheiden. Es ist nur eine kleine Erhöhung mit festem Boden, vielleicht nur dreißig Meter im Durchmesser, auf der er sich befindet.«

»Sie konnten seine Spur nicht verfolgen?«

»Bis ungefähr hierher, wo wir jetzt sind, dann wird der Morast immer flüssiger, da hört jede Spur auf. Sie sehen es mir an, wie weit ich mich gewagt habe. Von dort, wo Sie mich sitzen sahen, kann ich mich auch nicht an Baumästen weiterschnellen, dort beginnt ringsum eine baumlose Region.«

»Ja, wie ist aber der Graf dann dorthin gekommen?«

»Der kennt eben eine Furt. Herr Kapitän, wissen Sie, wie wir dort hinüber gelangen?«

»Frau Gräfin, da fragen Sie mich zu viel. Wenn Sie das nicht einmal wissen, Sie fährtenkundige Indianerin.«

Das arme Weib ließ den Kopf hängen.

»Ich dachte, weil ich durch Sie ihn wiederfinden sollte!«, murmelte sie gedrückt.

Ich wollte sagen, dass dies ja auch geschehen war, allerdings nur ein Wiedersehen, kein Wiederfinden, und auch nur per Distance, schwieg aber lieber. Etwas anderes fiel mir ein. Wie war es überhaupt möglich, dass sie nicht gleich selbst diesen Gedanken gefasst hatte.

»So fliegen Sie doch mit dem Aeroplan hin.«

»Daran habe ich natürlich auch sofort gedacht. Aber das hat seine großen Schwierigkeiten. Gerade dort ist ein dichter Baumbestand, freilich nicht so dicht, dass man sich etwa auf den Kronen niederlassen könnte, und ringsherum ist furchtbarer Morast. Es wäre das letzte Mittel, um hinüberzukommen, ein großes Wagnis — wenn Sie keinen anderen Weg wissen.«

»Ich? Nein. Da verlangen Sie zu viel von mir, liebe Frau Gräfin.«

»Gut, dann versuchen wir es mit dem Aeroplan. Aber eine Landung ist ausgeschlossen. Es gibt nichts anderes, als dass wir dicht über den Baumwipfeln hinstreichen und dass ich herabspringe. Werden Sie die Flugmaschine dann zurückführen können?«

»O, das kann ja erst einmal über geeigneterem Boden probiert werden.«

»Gewiss, einige Proben müssen wir erst machen. Ich muss Sie noch viel mehr praktisch unterrichten, ehe wir das ausführen können. Gehen wir hin.«

Wir machten uns auf den Weg.

»Nun, meinetwegen brauchen Sie Ihr Vorhaben nicht lange hinauszuschieben!«, sagte ich. »Es ist doch ein geschulter Aviatiker hier.«

»Ein Aviatiker? Ach richtig! Die Miss Morgan, wie soll denn die hierher gekommen sein?«

Ich erzählte. Aber nicht von Abgottschlangen und dergleichen, sondern nur, was zur Sache gehörte.

»Nein, ich werde Sie darin ausbilden!«, sagte die Gräfin dann. »Ein halber Tag wird ja dazu genügen, und wenn es länger dauert, ich kann warten — ja, ich kann warten, ich habe es gelernt.«

Sie hatte es nicht geseufzt, und doch hatte ich etwas im Tone gehört.

Armes Weib!

»Frau Gräfin, gestatten Sie mir eine Bemerkung. Ist es denn auch wirklich angebracht, dass Sie den Grafen gleich aufsuchen und ihn —«

Eine Handbewegung schnitt mir das Wort ab.

»Ich weiß, was ich zu tun habe. Jetzt, da ich auf seiner Spur bin, muss ich alles daran setzen, um ihn zu sprechen, und er soll mir nicht wieder entfliehen. — Und jenes Weib soll mir nicht nochmals zuvorkommen. Ach, dass die wieder meine Wege kreuzen musste.«

Ja, es war ein merkwürdiges Verhängnis!

Wir hatten den Platz erreicht, wo unser — —

War denn das auch wirklich dieselbe kleine Anhöhe, von Felsblöcken umsäumt?!

Gewiss, das war der Platz!

Aber unser Aeroplan war nicht mehr da!

Sofort und unwillkürlich hoben wir beide gleichzeitig unsere Köpfe.

»Da fliegt er!«

In reichlich tausend Meter Höhe zog unser Aeroplan seine Kreise. Eine kleine menschliche Figur war noch zu unterscheiden, sonst nichts weiter.

Da kam hinter einem Felsen Sörensen hervor.

»Plötzlich stieg er auf, mit einem ganz kurzen Anlauf!«, sagte er, etwas unwirsch.

Dass die beiden unseren Aeroplan besichtigt, hatte ich der Gräfin schon gesagt. Da war ja auch nichts dabei. Sie hätten ihn doch auch ohne unser Beisein finden und untersuchen können.

»Haben Sie ihm denn gesagt, wie man die Arretur ausschaltet?«, fragte die Gräfin, gleichmütig wie immer, auch ohne das geringste Stirnrunzeln.

»Gott bewahre, wo denken Sie hin!«

»Er probierte immer daran herum, und plötzlich kam der Apparat ins Rollen, sofort stieg er in die Höhe!«, fügte Sörensen noch hinzu.

Dann hatte der Franzose dennoch mit einem gebogenen Nagel ein ganz kompliziertes Geldschrankschloss aufzumachen gewusst — um jenes Gleichnis noch einmal zu gebrauchen.

Der Aeroplan gab es auf, Kreise zu ziehen, ging direkt nach Norden davon, schnell immer kleiner werdend.

»Das ist stark!«, rief die Gräfin jetzt doch. »Wenn er eine größere Fahrt antreten will, so muss er wenigstens erst um Erlaubnis fragen! Ich werde ihn dann scharf zur Rede setzen.«

»Ja, wenn dazu nur noch die Möglichkeit vorhanden ist!«, meinte ich.

»Wie?«

»Wenn dieser Monsieur nur überhaupt jemals wieder zurückkommt.«

»Was?«

»Wenn dieser Monsieur sich nur nicht zum Herrn der Erde aufschwingt und sich auf einem unersteigbaren Berggipfel einen Harem anlegt.«

Die Gräfin sah mich an, als hielte sie mich nicht für ganz normal.

»Herr Kapitän, ich verstehe Sie nicht.«

Da hielt ich mich für verpflichtet, meinen Verdacht auszusprechen, auch wenn er sich dann als ganz unbegründet erwiesen hätte. Ich wäre dann bereit gewesen, den Franzosen um Entschuldigung zu bitten.

So berichtete ich, wie er vorhin mehrmals ganz begeistert davon gesprochen hatte, wer diesen Aeroplan besäße, könnte sich den Herrn der Erde nennen, und er speziell würde sich dann gleich auf einem unersteigbaren Berge als Pascha niederlassen.

»Und ich traue diesem Franzosen zu, dass er das auch ausführt, sobald er nur die Gelegenheit dazu hat. Danach sieht er ganz aus. Der ist mit unserem Aeroplan durchgegangen.«

Während die Gräfin bei dieser meiner Erklärung ganz ruhig blieb, was ihrem indianischen Charakter aber auch ganz entsprechend war, wollte der Däne für seinen Chauffeur Partei ergreifen.

»Nein, nein, so etwas traue ich dem Monsieur Bertrand niemals zu! Ich habe mich doch vorher genau über ihn erkundigt, ehe ich mich ihm für diese Reise anvertraute, er entstammt einer sehr guten Familie, sein Vorleben ist makellos, er ist mit der Tochter einer hohen Beamtenfamilie in Nizza verlobt, lebt in geordneten, sehr guten Verhältnissen — der hat doch so etwas gar nicht nötig!«

Ich hätte dem Dänen ins Gesicht lachen mögen.

»Na, Mister Sörensen — so wollen wir die Menschen lieber nicht beurteilen — der Advokatensohn Napoleon Bonaparte lebte ebenfalls in ganz guten, geordneten Verhältnissen, hätte nicht nötig gehabt, sich zum Diktator aufzuschwingen und ganz Europa in Brand zu setzen — dann wäre er als pensionierter Major in Frieden gestorben. Meiner Überzeugung nach hat uns dieser Franzose den Aeroplan gestohlen, er will sich damit selbstständig machen.«

»Und ich halte ihn solch eines Schurkenstreichs nicht für fähig, ich habe ihn dazu innerhalb von sechs Wochen zu sehr als einen tadellosen Ehrenmann kennen gelernt!«

Ich verstand es und wusste es zu schätzen, wenn der Däne den in seinen Diensten stehenden Franzosen, den er bisher als einen Ehrenmann kennen gelernt hatte, zu verteidigen suchte. Aber das änderte nichts an meiner Überzeugung und noch weniger an der Tatsache, dass der Aeroplan unterdessen am nördlichen Horizonte verschwunden war. Dieses auch nur probeweise Fortfliegen war überhaupt schon eine unerhörte Dreistigkeit, für die es gar keine Entschuldigung gab.

»Wenn ich meinen Aeroplan nur nicht gerade jetzt brauchte!«, sagte die Gräfin. »Was für eine Maschine haben Sie, Mister Sörensen?«

»Einen Farman'schen Eindecker.«

»Einen Eindecker? Von dem kann ein Mann während der Fahrt gar nicht herabspringen, ohne den anderen in Lebensgefahr zu bringen.«

»Lassen Sie den Flüchtling wenigstens in der Camera obscura beobachten!«, riet ich.

»Wozu?«

»Na, damit wir ihn eben im Auge behalten.«

»Das hat doch gar keinen Zweck. Entweder er kommt zurück oder er kommt nicht zurück.«

Ich verstand diese Teilnahmslosigkeit gar nicht.

Aber die Sache war eben die, dass der unglücklichen Gräfin die Beobachtung ihres Gatten wichtiger war als die des durchgegangenen Aeroplans. Sie hatte schon so schlimme Erfahrungen gemacht, dass sie fürchtete, in der einzigen Minute, da man in der Camera obscura einmal den Grafen aus den Augen ließ, könne dieser schon wieder abhanden kommen, um ihn niemals wiederzufinden.

Nun könnte der Leser sagen, dass ja noch eine zweite Camera obscura vorhanden war, am Sklavensee im Felsengebirge. Aber diese war von der Gräfin selbst bis auf Weiteres außer Betrieb gesetzt worden, die Japaner, die dort zurückgelassen waren, konnten sie nicht benutzen. Denn die Gräfin hatte während ihrer Abwesenheit nichts zurücklassen wollen, was noch einmal eine Regierung oder irgend einen einzelnen Menschen reizen konnte, sich durch List oder Gewalt in den Besitz solch eines Geheimnisses zu setzen.

»Nun, ich werde den ›Mohawk‹ einmal auffordern, den Aeroplan zu suchen, weit kann er ja noch nicht sein.« sagte sie jetzt dennoch.

Littlelu wurde angerufen und enthielt Instruktionen.

Eine halbe Minute verging, ehe Littlelu ein Resultat melden konnte, und ich merkte ganz deutlich, wie die Indianerin während dieser dreißig Sekunden wie auf Kohlen stand, so sehr sie sich auch zu beherrschen wusste.

»Jetzt — jetzt habe ich ihn.«

»Wo befindet er sich? Was ist unter ihm?«

»Nichts als Urwald. Aber den Sumpfgürtel hat er schon hinter sich, und im rasendsten Fluge strebt er weiter dem Norden zu!«

»Ja, nun glaube auch ich, dass der nicht wiederkommen will!«, sagte die Gräfin, immer noch ganz gelassen. »Mister Maxim, kehren Sie zu dem Grafen zurück.«

Das dauerte wieder eine halbe Minute. Natürlich befand sich der Graf noch auf der kleinen Sumpfinsel. Nur saß er nicht mehr unter dem Baume, jetzt hatte er sich lang ausgestreckt hingelegt, das Gesicht in den Armen vergrabend.

»Ja, mir ist eine Idee gekommen. Ich muss ihn unbedingt sprechen, ihm wenigstens eine schriftliche Mitteilung zugehen lassen. Können Sie Ihren Aeroplan führen, Mister Sörensen?«

»Nein. Ich habe wohl einige Kenntnis davon gewonnen, ich würde es riskieren, wenn es unbedingt sein müsste, aber ein ausgebildeter Flieger bin ich nicht, ich bezweifele sogar sehr, dass ich überhaupt hoch kommen würde.«

»Und doch möchte ich ihn benutzen. Es handelt sich nur darum, einmal über jene kleine Insel wegzufliegen. Ich will ein geschriebenes Papier fallen lassen, in ein großes Paket gehüllt, das ihm unmöglich entgehen kann.«

»Nun, Miss Morgan ist zur Fliegerin ausgebildet. So versichert sie wenigstens. Freilich habe ich ihr nie erlaubt, mit meinem Aeroplan einmal einen Versuch zu machen, das ist bei so einem empfindlichen Apparate doch zu riskiert —«

»Bitte«, unterbrach ihn die Gräfin. »diese Dame kann hierbei auch nicht in Betracht kommen. Aber ich selbst bin eine geübte Fliegerin, allerdings nur auf einem Evan'schen Apparate, aber auch das ist ein Eindecker, ich würde mich schnell einüben — wollen Sie mir Ihren Apparat anvertrauen?«

»Ganz sicher, Frau Gräfin, er steht Ihnen zur Verfügung.«

Wir begaben uns nach jenem anderen Lagerplatze. Dieser war noch freier gelegen als der unsrige, doch war auf dieser Seite zwischen uns und ihm ein langgestrecktes Wäldchen, das wir erst umgehen mussten, ehe wir freie Aussicht nach dort bekamen.

Wir waren gar nicht mehr weit entfernt, konnten den Platz aber noch nicht sehen, als ein starkes Knattern ertönte.

»Da macht die sich wirklich mit dem Dinge zu schaffen!«, rief der Däne, schneller vorwärts eilend und sich durch die Büsche arbeitend.

Mit einem Male ein Krach, das Knattern nahm einen anderen Ton an, bis es plötzlich verstummte.

Als wir durch den Busch waren, hatten wir auch die ganze Katastrophe gleich vor uns.

Der Aeroplan befand sich gegen zehn Meter von der Stelle entfernt, auf der er vorhin gestanden hatte, jetzt aber stand er nicht mehr als ein regelrechter Eindecker da, sondern er lag neben einem einzelnen, stämmigen Baume nur noch als ein Trümmerhaufen von Stangen und Drähten und Segeltuchfetzen, unter denen sich soeben die Miss Morgan hervorarbeitete.

Ihr erster Schreck war natürlich sehr groß, sobald sie aber merkte, dass sie selbst nicht den geringsten Schaden dabei erlitten hatte, suchte sie bei unserem Anblick die Sache ins Lächerliche zu ziehen, wenn auch freilich nur deshalb, um ihre Verwirrung zu bemänteln.

»Na, das ist ja noch einmal gut abgegangen! Ich hatte eben erst einen Anlauf genommen, es ging immer schneller, mit einem Male versagte die Steuerung, die Maschine sauste plötzlich nach rechts herum, mit voller Wucht gegen den Baum, dass mir Sehen und Hören verging. Ich fühlte schon meinen Kopf gespalten. Aber nichts ist passiert — der Mensch muss eben Glück haben, hahaha.«

Aber das Lächeln erstarb ihr, als sie den Dänen auf sich zukommen sah, mit geballten Fäusten und zornsprühenden Augen.

»Das ist ja unerhört, Miss!! Wie können Sie sich unterstehen, meinen Apparat benutzen zu wollen, wo ich es Ihnen immer wieder verboten habe! Und wissen Sie denn, in was für eine Lage Sie uns nun gebracht haben?«

Auch dieser ihr Schreck war gleich wieder vorüber, jetzt versuchte sie erst recht den Fall wieder ins Lächerliche zu ziehen, dabei auch noch Trotz hinzufügend, so etwas wie gekränkte Unschuld.

»Na, na, haben Sie sich nur nicht so! Sie wollen mir doch nicht etwa was tun? Wer kann denn für Unglück. Und was ist denn an so einem lumpigen Dinge gelegen, das ersetze ich Ihnen zehnmal wieder —«

»Ja, und wie kommen wir nun wieder von hier fort? Jetzt sind wir hier festgenagelt!«

Sie verzog spöttisch den Mund, immer mehr Hohn herauskehrend, weil sie sich nicht anders zu helfen wusste.

»Na, was ist denn da weiter dabei? Dann müssen wir eben einmal ein paar Wochen hier aushalten, Robinson spielen. Wenn man Ihnen nicht bald zur Hilfe kommt — ich habe doch ebenfalls hinterlassen, wohin ich mich begebe, und denken Sie etwa, man wird eine Miss Marwood Morgan im Stich lassen? Ha, haben Sie eine Ahnung! In vierzehn Tagen ist hier eine ganze Flottille von Luftschiffen, die Versicherung kann ich Ihnen geben! Oder Sie fürchten sich wohl, hier einmal ein paar Wochen allein zu bleiben? Ja, geehrter Herr, dann hätten Sie so eine Expedition gar nicht antreten sollen, dann sind Sie eben gar nicht geeignet für so etwas!«

Nein, auch ich hielt diesen Dänen nicht für den geeigneten Mann, der diesem Weibsbilde so gegenüber treten konnte, wie es sich gehörte.

Und ehe sich die Szene weiter entwickelte, erschien auf dem Plan eine neue Figur, die dem Ganzen eine andere Wendung gab.

Ein alter Neger mit graumelierten Haaren tauchte auf, in einen ehemals weißen Baumwollanzug gekleidet, an den Füßen derbe Schuhe mit Gamaschen — ich ahnte ja gleich, dass dieser Mann, wenn er jetzt auch keine Abzeichen trug, der Zauberkünstler sei, der Ukangara, er hatte ein so überaus pfiffiges Gesicht.


Illustration

Im Augenblick freilich war es durchaus nicht pfiffig, vielmehr drückte sich Schreck und Wut darin aus, und die Ursache hiervon war die, dass er die metallisch schillernde Schlange erblickt hatte, die vorhin der Däne zurückgelassen.

Eine eigentümliche Szene folgte, die uns zunächst alles andere vergessen ließ.

Sofort stürzte sich der Neger auf das tote Reptil, Worte schreiend, die ich nicht verstand. Er warf sich jammernd über den Kadaver, nahm den Kopf zwischen die Hände und küsste zärtlich das Schlangenmaul, dann wieder schrie und winselte er und gab seiner Verzweiflung in anderer Weise Ausdruck.

Als ihm Sörensen dann etwas zurief, wohl in der Widasprache, was ich wiederum nicht verstand, richtete sich der Kerl empor und ging jetzt gegen uns vor, sich nicht mehr seiner Sprache, sondern eines ganz verständlichen Englisch bedienend.

»Ihr habt die heilige Schlange getötet — sie soll Euch wieder fressen — Ihr Hunde — Ihr Söhne einer Hündin — Ihr Enkel einer Hündin — Ihr Urenkel einer Hündin —«

Mit der weiteren Aufzählung unserer Ahnen hielt er sich nicht auf, nahm die heilige Leiche und sprang in den Wald hinein, sich dort aber noch einmal umkehrend und drohend die Faust schüttelnd, um dann zu verschwinden.

Und Miss Morgan hatte es für das Beste gehalten, diese Unterbrechung dazu zu benutzen, um sich unsichtbar zu machen.

Der Sturz in die Tiefe

Dies alles hatte sich so ziemlich in der ersten Morgenstunde ereignet, und am Abend, als sich die Sonne wieder dem Horizonte näherte, hatte sich daran noch nichts geändert. Neues war wenigstens nicht hinzugekommen.

Monsieur Bertrand war noch nicht wieder da, und auf den brauchten wir auch nicht mehr zu warten.

Der andere Eindecker war ein Trümmerhaufen und würde es so lange bleiben, bis wir ihn abräumten; doch das hatte gar keinen Zweck, da war nichts mehr zu reparieren.

Miss Morgan hatte sich so wenig wie der Ukangara wieder blicken lassen.

Der Graf lag noch immer unter seinem Baume auf dem Bauche, das Gesicht auf den Armen, und nur, weil er in der Camera obscura so vergrößert werden konnte, dass man die Atembewegungen seiner Brust erkennen konnte, wussten wir, dass er überhaupt noch lebte, denn sonst hatte er sich noch nicht gerührt.

Dort, bis wohin sie seine Spur hatte verfolgen können, saß die Gräfin und hoffte wohl, dass er denselben Weg zurück nehmen würde. Das musste er wohl auch, wollte er auf der kleinen Insel, die ihm sicher keine Nahrung bot, nicht Hungers sterben, und darauf wartete die Indianerin geduldig.

Bei dieser Beschäftigung konnte ich sie natürlich nicht unterstützen. Ich wagte sie auch nicht aufzusuchen, um sie zu fragen, ob sie denn nichts essen wolle. Die wollte jetzt doch ganz allein sein. Wollte sie mich haben, so brauchte sie ja nur die Telefonuhr zu benutzen.

Ich war den ganzen Tag mit Sörensen herumgestrichen. Zum Frühstück hatten wir zusammen die besten Stücke eines Wasserschweins verspeist, und dann hatte es an einem kleinen See oder größeren Teiche eine aufregende Jagd auf Flusspferde gegeben.

Unterdessen hatten wir ja viel über unsere Lage gesprochen. Nun, beängstigend war diese zunächst noch nicht. Wir brauchten auch nicht zu warten, bis Sörensens Freund uns zu Hilfe kam.

Auch ich hatte mich ja wiederholt mit dem »Mohawk« in Verbindung gesetzt und wusste daher, dass die Gräfin bereits den Auftrag gegeben hatte, schleunigst einen anderen ebensolchen Aeroplan zu bauen. Das Meiste brauchte ja nur aus Omnihilit gegossen zu werden, die Formen dazu waren vom ersten noch vorhanden, die Ingenieure und sonstigen Handwerker hatten darin ja schon Erfahrung.

Acht Tage freilich würden vergehen, bis man mit diesem neuen Aeroplan hier zur Stelle war, und so lange mussten wir uns eben gedulden.

Aber wir durften auch vorher schon eine Hilfsexpedition hier erwarten.

Gleichzeitig mit unserem Aeroplan waren vom »Mohawk« ja auch die beiden kleineren Unterseeboote abgegangen, der Pilot und der Delfin, mit demselben Ziele. Denn, wie schon gesagt, auch bis hierher gingen nach jener Karte unterirdische Wasserläufe, und wenn es wirklich so war, dass die eingetragenen Kreise Ausgänge nach der Erdoberfläche bedeuteten, so mussten solche hier vorhanden sein. Eingetragen waren mehrere, nur nicht mit genauerer Bestimmung.

Der Führer dieser unterirdischen Wasserexpedition war der Ingenieur Sanyasi, auch er war natürlich mit einer Telefonuhr ausgestattet, also auch mit ihm konnten wir uns jederzeit verständigen, und ich selbst hatte es heute im Laufe des Tages schon mehrmals getan, ihm unsere Erlebnisse erzählend, zumal da ich während der sechs Wochen an Bord mit dem vortrefflichen alten Japaner eine nähere Freundschaft angeknüpft hatte.

Er selbst hatte mir nicht viel zu berichten. In den dreißig Stunden, seitdem die beiden Boote unterwegs waren, hatten sie zweihundert Kilometer nach Norden zurückgelegt, es konnte ja nur langsam gefahren werden, das Diffusionslicht hatte bisher nichts als nackte Felswände beleuchtet, und nur selten war es der Fall, dass über ihnen noch ein Luftraum war. Wenn nichts dazwischen kam, konnten sie sich morgen Nacht hier unter uns befinden, und hier kamen sie auch zum ersten Male an einen Punkt, der mit einem Kreise bezeichnet war, sogar gleich an zwei, ziemlich dicht zusammenliegend, was also einen Ausgang nach der Oberfläche bedeuten sollte.

An Stellen, die mit Kreuzchen und Sternchen bezeichnet, waren sie schon mehrmals vorbeigekommen, aber Sanyasi hatte nichts Auffallendes entdecken können. Gewöhnlich bezeichnet man doch mit Kreuzen eine Gefahr, auch auf Seekarten, aber auf dieser unterirdischen Wasserkarte mussten die Kreuze eine andere Bedeutung haben. Von einer Gefahr war nichts zu bemerken gewesen. —

Als die Sonne sank, begab ich mich mit Sörensen nach der Behausung des Einsiedlers zurück. Hier fanden wir doch das beste Obdach für die Nacht. Ich hatte keine Lust, mich noch einmal von Schlangen beschnobern zu lassen, und auch Sörensen konnte schon etwas von nächtlichem Schlangenbesuch erzählen.

Also den ganzen Tag hatten wir von Miss Morgan und dem Ukangara nichts mehr gesehen und gehört. Auf dem Herweg hatten wir ihren alten Lagerplatz passiert, auf dem sie ja auch einen Koffer stehen hatte, dort war sie nicht gewesen, auch hier fanden wir sie nicht vor.

Wir mussten damit rechnen, dass sie sich verirrt harte oder — dass sie dem Ukangara in die Hände gefallen war! Denn dem war jetzt doch alles zuzutrauen, nachdem er solche Drohungen ausgestoßen hatte.

Die Amerikanerin hatte ja nicht gerade unser Mitleid verdient, aber immerhin, es war ein Weib, eine von unserer Rasse, eine Leidensgefährtin von uns — wir hätten sie in einer Gefahr nicht im Stiche gelassen. Aber jetzt war nichts mehr zu machen, in einer halben Stunde war es Nacht.

Sörensen stieg auf die höchste Plattform des Baobabs, um nach ihr Umschau zu halten, ich wollte erst noch einmal die Gräfin aufsuchen, das hielt ich für meine Pflicht, ich rief sie nicht erst an, denn ich hätte doch nur eine ablehnende Antwort bekommen.

Sie hatte ihren Beobachtungsdienst etwas verändert, lagerte an einem Bächlein, das mit noch klarem Wasser durch den sonst schon morastig werdenden Boden rieselte. Ein ausgebrannter Feuerplatz und ausgerupfte Federn verrieten mir, dass sie inzwischen wenigstens etwas gegessen hatte.

»Was macht der Graf?«, musste natürlich meine erste Frage sein, und ich hatte mich auch wirklich seit längerer Zeit deshalb nicht mehr auf dem »Mohawk« erkundigt.

»Vor einer Stunde hat er sich erhoben, zum ersten Male. Auf der kleinen Insel steht auch ein Baobab, der gerade reife Früchte trägt, den hat er erstiegen und von den Früchten gegessen, die zugleich auch seinen Durst stillen. Er ist jetzt noch oben, hat sich zwischen den Zweigen festgesetzt und scheint die Nacht dort verbringen zu wollen.«

»Wollen Sie denn hier bleiben?«

»Selbstverständlich.«

»Die ganze Nacht?«

»Ich weiche nicht von hier. Eine zweite Furt wird es doch wohl nicht geben, und einmal muss er sie doch wieder benutzen.

»Sie müssen doch schlafen.«

»Ja, denn ich bin ein Mensch. Ich werde dabei das Telefon am Ohr haben, sein Klingeln wird mich sofort wecken.«

»Aber dann brauchen Sie doch nicht gerade hier in dem ungesunden Sumpfe zu lagern. Der Graf ist ziemlich zwei Kilometer von hier entfernt, die Einsiedelei noch nicht anderthalb, wenn das Telefon klingelt, können Sie ja sofort hierher rennen, Sie erreichen diese Stelle doch viel eher als der Graf, zumal da Sie in der Finsternis fast ebenso gut sehen können wie am Tage.

Sie schüttelte den Kopf, nicht energisch, sondern schwermütig, aber es drückte dasselbe aus.

»Ich bleibe hier.«

Da war nichts dagegen zu machen.

»Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«

»Lieber nicht.«

»Brauchen Sie mich sonst?«

»Nein.«

»Morgen?«

»Nein.«

»Soll ich in Ihrer Nähe bleiben?«

»Es ist nicht nötig.«

Ich sagte ihr, dass Sörensen, da er doch nun hier war, morgen mit der wissenschaftlichen Erforschung dieser Gegend beginnen, einige topografische Messungen machen wolle, und er hatte mich gebeten, ihm dabei behilflich zu sein.

»Natürlich gehen Sie mit ihm. Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht, gar keine, ich bitte Sie wirklich herzlich darum. Tun Sie für die Wissenschaft, was Sie irgend tun können, und selbst wenn Sie bestimmt wüssten, in einigen Tagen den Tod zu erleiden, so nutzen Sie diese Zeit noch voll und ganz aus, in der Hoffnung, dass andere dereinst doch noch Ihre hinterlassenen Papiere finden. Denn Sie oder Mister Sörensen zeichnen doch alles auf. Nur eines möchte ich Sie bitten, was Sie für mich tun könnten. Haben Sie schon eine Spur von jenem schwarzen Riesenweibe bemerkt?«

»Noch gar nichts.«

»Wenn Sie jener Wotulala begegnen, so suchen Sie sich mit ihr in Güte zu einigen. Bringen Sie sie zu mir, denn ich glaube, dass sie diese Furt hier kennt.«

»Ich werde mein Möglichstes tun.«

»So gehen Sie, ehe es finster wird. Also nehmen Sie keine Rücksicht auf mich. Entfernen Sie sich, so weit Sie wollen oder Mister Sörensen Sie führt. Brauche ich Sie, so haben wir ja die Telefonuhr.«

Ich ging, musste aber am Rande des Waldes schon meine elektrische Taschenlampe benutzen.

Am nächsten Morgen traten wir mit Sonnenaufgang unsere Expedition an. Der größere See, den ich in der Camera gesehen, sollte unser Ziel sein, hier wollten wir als in dem Mittelpunkt der ganzen Landschaft unsere Messungen beginnen.

Ja, ich hatte ja schon die ganze Gegend oft genug in der Camera obscura studiert, das Tierleben beobachtet, aber was war das gegen die Wirklichkeit, wenn man sie so im Morgensonnenschein durchstrich! Das wahre Jägerparadies! Hier hätte ich für immer bleiben mögen, in der Hoffnung, niemals »entdeckt« zu werden.

Doch ich will mich auf keine weitere Beschreibung einlassen, auch nicht einige kleine Jagdabenteuer schildern.

Wir kamen an dem kleinen See vorüber, in dem wir gestern das Nil- oder hier richtiger Flusspferd erlegt hatten, und folgten fast zwei Stunden lang dem Laufe eines Flusses, wobei es immer steiler bergan ging.

Aber nicht, dass dieser Fluss dadurch reißend geworden wäre. Er versank immer tiefer zu unseren Füßen im Boden. Nur wir selbst stiegen an seinem Ufer immer höher.

Zuletzt erreichten wir ein bewaldetes Plateau; tief unter uns lag ein azurblauer See von mehreren Quadratkilometern Ausdehnung. Die Wände fielen gegen sechzig Meter sehr steil hinab, nackte Felswände, nur hier und da hatten Büsche Fuß gefasst. Unten herum um den See lief nur ein schmaler Sims, zum Teil mit etwas Vegetation bedeckt.

Wir machten nach der schon hoch stehenden Sonne eine möglichst genaue Ortsbestimmung, auch ich hatte die dazu nötigen Instrumente bei mir, dann beschlossen wir, den Umfang des Sees trigonometrisch zu berechnen.

Ich sollte hier bleiben, Sörensen wollte nach der anderen Seite marschieren oder doch so weit wie möglich.

Er entfernte sich, ich hatte Zeit, sah mich näher um, auch mit Zuhilfenahme meines Taschenfernrohres.

Auf der anderen Seite gewahrte ich unten gleich über dem herumlaufenden Simse zahlreiche Höhleneingänge. Wie diese Höhlen, sicher nicht vulkanischen Ursprungs, entstanden waren, konnte mir nicht unklar bleiben.

Es war nicht anders möglich, als dass dieser See einst ein bedeutend höheres Niveau gehabt hatte. Nun findet man aber selten Gesteinsmassen, die aus ein und demselben Material bestehen, und kein Stein ist im Wasser so löslich wie der andere. Denn schließlich löst sich doch jeder Stein im Wasser. So wird die leichtlösliche Gesteinsschicht zuerst aufgelöst, ausgewaschen. Auf diese Weise sind sämtliche Höhlen und Grotten entstanden, die man an den Meeresküsten erblickt, großartige zum Beispiel an der portugiesischen und nordafrikanischen Küste, Süßwasser löst und wäscht aber noch viel schneller als das salzige Meerwasser, und setzt sich die betreffende Gesteinsschicht fort, so können auf diese Weise ungeheure Höhlengänge entstehen. Natürlich ist dabei mit Tausenden und Abertausenden von Jahren zu rechnen. Auf diese Weise war dort unten auch der vorspringende, galerieartige Sims entstanden, er hatte der lösenden und spülenden Kraft des Wassers widerstehen können.

Dies sah ich mir gegenüber, musste dazu aber schon mein Fernrohr zu Hilfe nehmen. Und wie war das Seewasser unter mir beschaffen?

Schwindelfrei war ich ja, ich musste aber beim Nähertreten an den Rand doch vorsichtig sein, es konnte ja gerade eine lose, überhängende Böschung sein.

Nicht weit von mir stand ganz dicht am Rande ein starrer Baum, seine Zweige weit überhängend. Der Boden, der den tragen konnte, musste wohl auch mein Gewicht noch aufnehmen können.

Also ich ging hin, kroch zur Vorsicht doch lieber auf allen Vieren und legte mich dann auch noch platt hin.

Jetzt blickte ich direkt die steile Felswand hinab. Ja, auch dort unten befand sich eine Galerie, mit Büschen bestanden und — und —

Da ein Mensch! Ein Weib! Ein schwarzes Riesenweib! Wotulala!

Ich sollte nicht lange Zeit haben, zu beobachten, was die dort unten machte.

Es war mir eben erst zum Bewusstsein gekommen, dass das winzige Figürchen dort unten in Wirklichkeit eine außerordentlich große Negerin sein musste, als plötzlich unter meinem Leibe der Boden wich, und ehe ich noch etwas anderes denken konnte, sauste ich schon in die Tiefe hinab.

Ob der Baum mir dabei Gesellschaft leistete, weiß ich nicht. Ich griff und griff und bekam auch manchmal etwas in die Hände, wohl Büsche, die aber immer wieder rissen. Doch wurde mein Sturz dadurch etwas aufgehalten, sonst wäre ich bei sechzig Meter Tiefe ja gleich zerschmettert.

Schließlich schlug ich hart auf, ohne ein Gefühl des Schmerzes zu empfinden, das Feuer sprühte mir aus den Augen, ein Ruck gegen den Kopf und ich verlor das Bewusstsein.

In der Schlangenhöhle

Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Boden, um mich herum herrschte schwaches Dämmerlicht, in dem ich vorläufig nichts unterscheiden konnte.

»Du bist von dort oben heruntergestürzt, hast lange Zeit besinnungslos gelegen, jetzt bricht schon die Nacht an, oder auch schon der Morgen — Du bist noch einmal mit dem Leben davongekommen.«

So sagte ich mir gleich ganz vernünftig.

Dann merkte ich, dass ich ganz infame Kopfschmerzen hatte, ich fühlte an der Stirn eine mächtige Brausche, sonst schien ich nichts gebrochen zu haben, konnte alle meine Glieder bewegen, hatte aber wenig Lust dazu, mir war eben noch sehr dumm im Kopfe.

Mit einem Male wurde es etwas heller um mich herum, meine Augen gewöhnten sich eben an das Dämmerlicht, und ich sah mich auf dem nackten Steinboden eines stubenartigen Raumes mit ebenso nackten Felswänden liegen.

Das Licht kam durch einige kleine Öffnungen in der Wand, sehr hoch angebracht.

Da schlug ein Winseln an mein Ohr.

»Kapitän Hagen!«, erlang es kläglich.

Jetzt richtete ich mich halb auf und sah in der Ecke ein Weib kauern, vor dem Gesicht lange, schwarze Haarsträhnen, das trotz seines Herrenkostüms dennoch gleich das Weib verriet.

»Herr Gott, Miss Morgan, das sind Sie doch!«

»Ich bin's!«, erklang es kläglich wie zuvor.

»Wie kommen Sie denn hierher?«

»Der Ukangara hat mich hierher gelockt.«

»Gelockt?«

»Gestern früh schon — er schloss sich mir an — sagte mir, er wolle mir ein viel besseres Quartier zeigen — und ich bin so sorglos — ich bin ihm gefolgt — weit, weit — und dann musste ich wohl, denn ich glaubte mich zu verirren —«

Sie schauderte wie im fürchterlichen Entsetzen zusammen, sie konnte nicht weiter sprechen.

Wer wusste denn, was die schon erlebt hatte! Ich wollte es eben wissen.

»Nun, und dann?«

»Zuletzt folgte ich ihm in eine Höhle — plötzlich erhielt ich von hinten einen Schlag über den Kopf — als ich wieder erwachte, befand ich mich hier.«

Wieder begann sie am ganzen Leibe zu zittern.

»Schon eine Nacht sind Sie hier?«

»Schon eine ganze Nacht! Ein Glück, dass Sie nun wenigstens noch dazu gekommen sind.«

»Na, ich für meine Person empfinde das nun weniger als ein Glück!«, entgegnete ich trocken, aber auch schon wieder etwas von meinem nicht tot zu machenden Humor erfasst.

Sie wollte etwas sagen, fing aber plötzlich zu schreien an, sich dabei noch mehr in ihren Winkel pressend.

»Die Schlange, o Gott, da kommt schon wieder die schreckliche Schlange!«

Ein Zischen hatte sich hören lassen, es konnte nur aus dem Loche kommen, das sich an der anderen Wand, der wir beide gegenüber saßen, dicht am Boden befand, zu klein, als dass ein Mensch hätte hineinkriechen können, wenigstens nicht so ein breitschultriger wie ich — und da kam auch schon aus diesem Loche ein mächtiger Kopf hervor, auch oder gerade hier in dem Dämmerlicht wie Metall, wie poliertes Messing in allen Farben schillernd — und immer weiter kroch das Ungeheuer hervor, zischend und mit der Zunge spielend und uns mit seinen grünen Augen anstarrend.

Ich war aufgesprungen, merkte aber sofort, dass ich am Gürtel kein Revolverfutteral und kein Jagdmesser mehr hatte. Da sah ich neben dem Weibe einen großen Tonkrug stehen, ergriff diesen sofort und bedauerte nur, dass die Gefäßwände so ungemein dünn waren.

»Nein, nein, sie tut uns nichts!«, ließ sich da aber auch schon die Miss vernehmen, welche Beruhigung für mich natürlich ganz unbegreiflich war.

»Zum Teufel noch einmal, woher wollen Sie denn das wissen? Haben Sie mit der Schlange schon so gute Freundschaft geschlossen oder sind Sie von der Harmlosigkeit solcher Riesenschlangen wirklich so vollkommen überzeugt?«

»Sie ist angekettet, oder hat einen dicken Ring um den Leib, dass sie nur zur Hälfte herein kann, nicht bis hierher an diese Wand.«

Aber das Ungeheuer kroch immer weiter herein, und ich hielt meinen Krug bereit. Dann jedoch schien sie wirklich nicht weiter zu können, ich sah, wie sie sich vergeblich anstrengte, noch mehr als etwa vier Meter ihres Leibes hereinzuziehen. Sie fauchte jetzt erst recht grimmig, sperrte auch den furchtbaren Rachen gegen uns auf, und dann zog sie sich wieder zurück, bis sie ganz verschwunden war.

Ich setzte den Krug wieder hin.

»Die Schlange ist angekettet?«

»Oder sie hat einen starken Ring um die Mitte des Leibes, der sie am weiteren Durchkriechen hindert.«

»Woher wissen Sie das?«

»Der Ukangara selbst hat es mir gesagt.«

»Sie haben mit ihm ausführlich gesprochen?«

»Schon öfters.«

»Was sagt er?«

»Er verhöhnt mich!«

»Inwiefern?«

»Er schimpft mich eine verfluchte Weiße — ich wäre eine Schlangenbraut — würde von jener Schlange doch noch gefressen, wenn sie nur erst hungrig genug wäre.«

»Eine Schlangenbraut? Aha! Hat er Ihnen sonst nichts von Religionsverhältnissen erzählt?«

Sie verhüllte unter neuem Zittern wieder ihr Gesicht.

»Ich weiß gar nichts, gar nichts!«, winselte sie, wie sie überhaupt immer winselte.

Es war auch etwas viel von mir zugemutet, von der jetzt noch wissenschaftlich-religiöse Forschungen zu verlangen. Aber ich selbst bin da ein kurioser Kauz. Ich entsinne mich, wie ich einmal als kleiner Kerl ein Eichhörnchennest ausnehmen wollte, vom Baume herabfiel und hinten an der Hose an einem Aste hängen blieb. Ja, schreien tat ich wohl aus Leibeskräften. Aber als ich merkte, dass es keinen Zweck hatte, hielt ich es für das Beste, so, zwischen Himmel und Erde hängend, noch einmal die römischen Kaiser durchzunehmen, die wir am Nachmittag für die Schule aufhatten.

Denn, sagte ich mir, gar nicht so mit Unrecht, gesetzt den Fall, Du wirst aus dieser Lage gerettet, so bekommst Du vielleicht keine Wichse. Aber Wichse bekommst Du ganz bestimmt, wenn Du gerettet wirst und kannst heute Nachmittag in der Schule nicht die römischen Kaiser.

Und so bin ich geblieben. Ein Nevermind Man. Dazu gehört nicht etwa ein besonderer Heldenmut, sondern einfach eine Charakterveranlagung.

»Waren Sie schon hier, als ich hier hereinkam?«

»Gewiss war ich schon hier.«

»Wie bin ich denn hier hereingekommen?«

»Sie wurden dort oben von der Decke an einem Stricke herabgelassen.«

Ich blickte empor, und jetzt hatte sich mein Auge schon so an das Dämmerlicht gewöhnt, dass ich an der vier bis fünf Meter hohen Decke deutlich die Öffnung sah.

»Wann ist das gewesen?«

»Vor höchstens zwei Stunden.«

»Wie bin ich denn dann dort in die Ecke gekommen, wo ich zuerst lag?«

»Auch der Ukangara kam herunter, an einer Strickleiter, hat Sie dorthin gezogen und Ihre Fesseln durchschnitten.«

»Gefesselt war ich?«

»Mit Stricken stark gebunden.«

»Und dann?«

»Dann sagte er mir noch, immer mit dem nötigen Hohn, ich solle ja gut aufpassen, wenn Sie aufwachten, um Sie zu warnen.«

»Wovor zu warnen?«

»Dass Sie sich dort der Wand nicht näherten, sonst könnten Sie der hervorschießenden Schlange zum Opfer fallen, und dann wäre ich wieder ganz allein in meinem Loche.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden!«, spottete ich, und der Spott war auch sehr angebracht, denn sie hatte dabei mehr an sich als an mich gedacht. »Und dann ging er wieder?«

»Dann stieg er wieder an seiner Strickleiter hinauf.«

»War er allein?«

»Ganz allein.«

»Hat sich sonst jemand dort oben an dem Loche befunden?«

»Niemand.«

»Konnten Sie denn nicht über den Kerl herfallen, als die Strickleiter noch herunterhing?«

»Ach, wie sollte ich denn, ich war ja immer vor Entsetzen über die Schlange noch ganz gelähmt!«, erklang es jammernd.

Na ja, ich hatte von dem Weibe auch etwas zu viel verlangt, die war nur mutig, solange sie aufprotzen konnte, sonst durfte man von der keine besondere Heldentat verlangen.

»Hat der Ukangara gesagt, was mit mir geschehen soll?«

»Auch Sie sollen der Schlange geopfert werden.«

»Geopfert?«

»Von ihr gefressen werden.«

»Wann?«

»Wenn sie hungrig genug ist.«

»Hat er nicht von einer besonderen Opferfeier gesprochen?«

»Nein.«

»Haben Sie überhaupt keine andere Person bemerkt?«

»Gar keine.«

»Auch kein schwarzes Weib?«

»Niemanden außer dem Ukangara. Dann aber sagte er auch noch, dass alle anderen ebenfalls noch hier herunterkämen, auch noch das andere weiße Weib, die aber eine rote Haut hat — also die Gräfin Atalanta.«

Selbst hier in ihrer verzweifelten Lage war bei ihr noch der Hass hervorgebrochen.

»Das würde Sie wohl freuen, wenn Sie zusehen könnten, wie die Gräfin von der Riesenschlange verschlungen würde?«, fragte ich noch extra, um einmal den Charakter solch eines Weibes zu studieren.

Ihre Augen funkelten auf, wie die der Schlange nicht gefunkelt hatten.

»Ja«, stieß sie hervor, »und wenn ich auch weiß, dass in der nächsten Minute ich selbst daran komme — diese Indianerin erst in dem Rachen der Schlange zu sehen, das würde mir schon eine Wonne bereiten, die mich für alle späteren Qualen im Voraus reichlich entschädigen würde!«

»Und ich, Miss Morgan — wenn ich von diesem Schicksal verschont bliebe — und ich hätte die Möglichkeit, Sie noch aus dem Rachen zu befreien — ich würd's nicht tun, ich nicht!«

Es war eine unnütze Unterhaltung.

Jetzt visitierte ich erst einmal meine Taschen. Gar nichts mehr war darin, natürlich war auch die Telefonuhr weg.

Der Krug war noch halb mit Wasser gefüllt, daneben lagen auf einem Holzteller mehrere Brotfladen, wie sie in Afrika allgemein üblich sind, aus Durramehl, das ist Hirse, zwischen zwei heißen Steinen gebacken. Ich hatte Hunger und Durst, aß und trank.

»Wie Sie nur noch an Essen denken können!«, jammerte das Weib wieder.

»So lange man noch essen kann, lebt man auch noch — nach dem Tode ist es wahrscheinlich mit dem Essen vorbei!«, entgegnete ich kauend.

Da erklang über mir eine Stimme, die ich in demselben Englisch schon einmal hatte schimpfen hören.

»Ja, immer fülle Deinen Bauch, Du weißer Teufel, Du verfluchter Hund — und wenn Du ihn Dir nicht füllst, so werden wir ihn dann mit Gewalt füllen, Du knochendürres Skelett — und auch die dort wird noch gefüllt — hahaha — Ihr sollt einmal sehen, wie wir das Mästen verstehen — haben schon lange nicht mehr gemästet, aber verlernt haben wir's nicht — hei, das soll eine Freude geben, wenn Ihr den Mehlbrei schlucken müsst — und dann werdet Ihr selbst von der Mutter verschluckt — und Ihr sollt ihr kein Kind mehr töten, Ihr verfluchten weißen Teufel —«

So schimpfte und faselte es weiter von Schlucken und Mästen.

Ich war zurückgetreten und blickte hinauf.

Ja, dort oben an einer Öffnung, aber nicht an einer solchen, durch welche Licht kam, war schattenhaft der Kopf des Ukangaras zu sehen, leider viel zu hoch, als dass ich ihn im Sprunge bei der Nase oder besser noch bei den pfeffergrauen Haaren hätte erwischen können.

»Wartet nur, bald ist das Süppchen fertig, ich koche es schon, dann sollt Ihr schlucken, schluck...«

Mitten im Worte brach er ab, also wohl nicht unfreiwillig, und nicht nur, dass er sich selbst verschluckt hätte.

»Aufgepasst, nehmt ihn in Empfang. Löst ihm die Fesseln und warnt ihn vor der Schlange!«, rief da eine andere Stimme, viel tiefer als die des Ukangaras und dennoch sicher einem Weibe angehörend.

Aus der Deckenöffnung kam an einem Seile eine menschliche Gestalt herab, in der ich Mister Sörensen erkannte.

Der Zweikampf im Urwald

Wir verlassen die persönliche Erzählung des jungen Kapitäns und kehren zu Atalanta zurück.

Diese verharrte unentwegt auf ihrem Posten und ließ sich vom »Mohawk« aus jede Bewegung berichten, die Arno ausführte.

Freilich bewegte er sich so gut wie gar nicht. Heute früh hatte er noch einmal an den Früchten des Baobab seinen Hunger und Durst gestillt, dann hatte er sich wieder hingelegt, das Gesicht gegen den Boden, jetzt war nachmittags gegen vier, und in dieser langen Zeit hatte er sich kaum gerührt.

Was mochte in dem Manne vorgehen? In der Seele eines Menschen zu lesen, das vermochte jene Camera obscura nicht, solch eine Erfindung war auch sonst nicht gemacht worden.

Die Begegnung mit der Miss Morgan hier in Afrika, auf dieser für Menschen unzugänglichen Sumpfinsel, hatte ihn eben vollständig aus dem Konzept gebracht — vollständig!

Und Atalanta war gewillt, hier zu verharren, bis er diese kleine Insel wieder verließ, wozu er sicher nur dieselbe Furt benutzen konnte, also auch hier vorbei musste.

Da hob sie den Kopf und blickte zurück. Noch weit war eine menschliche Gestalt entfernt, die ganz geräuschlos auf dem weichen Boden daherkam, kein Ästchen knackte, kein trockenes Blatt raschelte, und dennoch hatte die Indianerin ihr Kommen gehört.

Es war das schwarze Riesenweib. Es hatte selbst die Gräfin noch nicht bemerkt; mit schleichenden Schritten kam es daher, die Augen an den Boden geheftet, also eine Spur verfolgend. Atalanta hatte rückwärts blicken müssen, und jetzt begnügte sie sich, ihre sitzende Stellung etwas zu verändern, sie drehte sich so, dass sie sowohl nach der Richtung der Furt wie nach jener blicken konnte, und so blieb sie ruhig auf dem trockenen Grasplatz sitzen, mit untergeschlagenen Füßen, im Schoße das Repetiergewehr.

Jetzt hob die Negerin die Augen, erblickte die Gestalt, stutzte, aber nur einen Moment, dann richtete sie sich auf und kam mit freiem Schritt heran.

Ja, es war ein ganz kolossales Weib. Noch weit höher als zwei Meter, und dazu mit einer wahrhaft furchtbaren Muskulatur. Die mächtigsten Menschenkörper hatte Atalanta damals gesehen — und gefühlt — als sie bei ihrem ersten Auftreten im Hippodrom zu New York zum Ringkampf herausgefordert hatte. Ja, da waren unter ihren Gegnern kolossale Knochen- und Muskelmassen gewesen. Aber das war alles nichts gegen das, was sie hier zu sehen bekam. Und dennoch von Plumpheit dabei gar keine Spur, vielmehr die kleinste Bewegung dieser mächtigen Glieder wie die einer geschmeidigen Katze.

Über ihre linke Schulter ragte der aus einem polierten Rhinozeroshorn gefertigte Griff des zweihändigen Schwertes hervor, das sie auf dem Rücken trug, ohne Scheide, aber doch mit einer Vorrichtung versehen, dass sie sich damit nicht selbst verletzen konnte, dass es auch beim schnellsten Laufe ganz fest stand, oben eben doch befestigt und unten mit der Spitze in einer ganz kleinen Scheide stehend.

Außer schon durch ihre Figur wurde sie durch dieses Schwert als Elefantenjägerin charakterisiert, welche die Elite der weiblichen Leibgarde des Königs von Dahomey bilden.

Diese aus fünftausend Frauen oder vielmehr Jungfrauen bestehende Truppe setzt sich aus vier Klassen zusammen. Die ersten, von unten angefangen, sind die Bogenschützen, zugleich die speziellen Tänzerinnen. Dann — wir wollen die Namen beibehalten, die ihnen die Franzosen gegeben haben — die Musketiere, so genannt, weil sie zuerst, als die Franzosen dieses Land beanspruchten, mit Musketen bewaffnet waren, die aber schon längst durch moderne Hinterlader verdrängt worden sind. Die dritte Klasse nach oben bilden die Mäherinnen, so genannt nach ihren sensenähnlichen Schwertern, eben richtigen Sensen, mit denen sie im Kampfe den Feinden die Köpfe abzumähen haben. Die vierte Klasse — oder also eigentlich die erste, die Elite — sind die Elefantenjägerinnen.

Jetzt ist noch eine fünfte Klasse hinzugekommen, sodass jede aus abgezählt tausend Weibern besteht. Vor den Musketieren und hinter den Mäherinnen rangierend: die der Artilleristen — wie die Franzosen sie nennen. Sie wurde gebildet, als die Franzosen dem König dreißig Feldgeschütze schenkten, die nun von diesen Weibern gezogen und bedient werden müssen.

Die Elite aber bilden noch immer die Elefantenjägerinnen, welcher Name doch einen Grund haben muss, und es war nicht nur einmal so eine zufällige Gelegenheit gewesen, dass dieses schwarze Weib einem Elefanten nur mit dem Schwerte zu Leibe gerückt war, sondern das war ihr spezieller Beruf, in dem sie ausgebildet worden war.

Zunächst sei erwähnt, dass alle diese kriegerischen Weiber nicht etwa die Frauen oder Konkubinen des Königs sind. Von Zeit zu Zeit, wenn Ersatz nötig ist, halten die Cabesseren, die schwarzen Statthalter der Provinzen, Umschau, die schönsten, kräftigsten und geschmeidigsten Mädchen, die aber nicht älter als acht Jahre sein dürfen, werden zur Amazonengarde ausgehoben. Für die Eltern und Anverwandten gibt es keine größere Ehre, obgleich sie sonst keinen Vorteil davon haben.

Auch die auserwählten Mädchen haben nichts zu lachen. Sie werden in allen kriegerischen Übungen ausgebildet, nach und nach für eine besondere Klasse erzogen, für die sie sich eben eignen, und dabei mit solch spartanischer Strenge behandelt, dass nur die wenigsten die furchtbaren Strapazen aushalten, die anderen erliegen ihnen, gehen ein.

Wenn sie nun so weit sind, dass sie eingereiht werden können, müssen die Amazonen, die wegen Alters oder sonstiger Untauglichkeit ausrangiert werden sollen, verschwinden. Früher erhielten sie den Tod unter größter Feierlichkeit von Priesterhand, sie wurden in scheußlicher Weise gemartert, und zwar gab jede selbst an, was sie für Qualen erdulden wollte: Denn da konnten sie noch einmal zeigen, was für Qualen sie gleichmütig aushielten.

Das ist heute nicht mehr erlaubt. Aber wohin die Ausrangierten verschwinden, das erfährt man nicht, danach dürfen die Franzosen nicht forschen, so weit geht deren Macht denn doch nicht. Also im Geheimen sterben die Ausrangierten sicher immer noch freiwillig eines qualvollen Todes. Das geht die Franzosen nichts an, wenn nur äußerlich der »Anstand« gewahrt wird.

Dasselbe gilt für den Fall, dass solch eine jungfräuliche Amazone doch einmal eine Liebschaft eingeht, was sonst also ganz ausgeschlossen ist. Dann kann sie ihr ehrenvolles Andenken wenigstens nach dem Tode noch dadurch retten, dass sie erst recht qualvolle Martern entsinnt. Ging sie nicht freiwillig in den Tod, so wurde sie gewöhnlich lebendig geschunden, d. h. man zog ihr langsam die Haut ab.

So war es früher, und so ist es auch noch heute, nur eben nicht mehr öffentlich. Und in solche intime Angelegenheiten können sich die Franzosen denn doch nicht einmischen. Die Menschenopfer, wobei Tausende abgeschlachtet wurden, meist sehr unfreiwillig, das war doch wieder etwas ganz anderes.

Sonst geht das Leben dieser Amazonen ganz in kriegerischen Übungen auf. Die leichten Bogenschützinnen bilden außerdem noch eine Art von Corps de Ballett, und zwar leisten sie im Tanzen wirklich ganz Vorzügliches, nicht zu vergleichen mit den langweiligen Tänzen der übrigen Neger und Araber. Und die erste Klasse wird zum Amüsement des Königs und seines Hofstaates noch zur Jagd verwandt, speziell zur Elefantenjagd.

Ganz Dahomey ist, soweit es den Europäern bekannt, jetzt sehr arm an Elefanten und überhaupt an Wild. Dagegen im hohen Norden, wo das Land noch wild und unerforscht ist, gibt es noch sehr viele Raubtiere und Elefanten. Diese werden von Eingeborenen gefangen und nach Abomey transportiert, und wenn sie zu gutmütig sind, so werden sie wild gemacht, an ihnen müssen dann die Elefantenjägerinnen ihre Kunst zeigen. Außerdem geht der König ja jedes Jahr für drei Monate nach Parmi, dort ist Gelegenheit genug, Elefanten in ungehegter Freiheit anzugreifen.

Es handelt sich also darum, einen Elefanten nur mit dem Schwert zu fällen, ihm die Achillessehne zu durchschlagen. Zuerst verbinden sich einige Weiber, bis zu einem Dutzend, lenken den immer wütender werdenden Elefanten gegenseitig von sich ab, bis sie ihn zur Strecke gebracht haben, wobei aber auch regelmäßig einige Weiber auf dem Platze bleiben, es werden immer weniger Weiber, die einen neuen Elefanten angreifen, zuletzt übernimmt es nur noch eine einzige Amazone, solch ein Ungeheuer mit dem Schwerte zu fällen.

Alfred Brehm beschreibt solch eine Jagd, solch einen Zweikampf zwischen Elefant und Mensch ganz ausführlich, wenn so etwas überhaupt zu beschreiben ist. Man muss nur bedenken, worum es sich handelt. Ein Elefant holt das schnellste Pferd in kurzer Zeit ein, und die Amazone muss doch unbedingt von hinten kommen. Schon daraus kann man schließen, was diese Weiber im Laufen leisten müssen. Das Trainieren eines Radrennfahrers, dessen Beine man einmal näher gesehen und befühlt haben muss, um glauben zu können, was sich ein Mensch für Sehnen und Beinmuskeln aneignen kann, dürfte eine Kleinigkeit sein gegen die dauernden Übungen, denen sich solch eine Jägerin unterziehen muss, ehe sie fähig ist, solch einem Elefanten zu Leibe zu gehen.

Und nun der fällende Hieb! Da ist nichts mit einem gewöhnlichen Schwerte zu machen, und sei es auch scharf wie ein Rasiermesser geschliffen. Es darf überhaupt gar nicht so scharf sein. Man muss nur die Beschaffenheit solch einer Elefantenhaut kennen. Nur auf die Kraft des Hiebes kommt es an. Außerdem muss das hierzu verwandte Schwert nach alter, heiliger Tradition einheimische Arbeit sein, und die Widas fertigen herzlich wenige Schwerter, sie wissen das Eisen nicht genügend zu bearbeiten.

Diese Elefantenjägerinnen müssen also die höchste Gewandtheit mit der größten Kraft verbinden, von Kaltblütigkeit, die nie außer Atem kommen kann, gar nicht zu sprechen, und das umso mehr, je weniger Beistand sie zu der Jagd brauchen, bis sie es wagen, ganz allein gegen einen Elefanten vorzugehen.

Nun, das hier war solch eine Einzeljägerin, und danach war sie gebaut.

Das ebenholzfarbene Gesicht konnte man nichts weniger als schön nennen, denn es hatte sehr plumpe, grobe Züge. Und dennoch war es in gewissem Sinne schön, nämlich durch den furchtbar wilden Trotz, der sich darin ausprägte.

Ruhig, mit freiem Schritt kam sie hieran und wurde ebenso ruhig erwartet.

Wohl eine Minute lang musterte sie die Dasitzende, was für so etwas eine gar lange Zeit zu bedeuten hat, ebenso wurde sie wieder angeblickt.

Atalanta ahnte ja nicht, was unterdessen alles passiert war, dagegen hoffte sie bestimmt, dass diese Negerin sie zu dem Grafen führen könnte — allein diese Indianerin war über jedes äußerliche Zeichen von Ungeduld erhaben.

»Wer bist Du?«, brach das schwarze Riesenweib das Schweigen endlich mit tiefer Stimme.

»Eine unglückliche Frau, die ihren entflohenen Gatten sucht.«

Kein Zeichen der Verwunderung in den schwarzen, trotzigen Zügen ob solch einer doch etwas merkwürdigen Antwort.

»Ich weiß es.«

»Du weißt es schon?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Von dem Manne, der mit dem fliegenden Drachen hierher gekommen ist.«

»Auch ich bin mit einem Drachen hierher geflogen, auch mich hat ein Mann begleitet.«

»Ich weiß es. Ein dritter Mann ist mit dem einen Drachen, der Dir gehörte, entflohen und wird nicht zurückkehren, der andere Drachen ist zerbrochen.«

»Du hast die beiden Männer gesprochen?«

»Ja.«

»Wo?«

»Am großen Jangapo, den Ihr den Sklavensee nennt.«

»Willst Du Dich nicht zu mir setzen?«

In dem dunklen Gesicht leuchtete es drohend auf.

»Wie kannst Du mich hierzu auffordern?! Weißt Du nicht, dass Du aufzustehen hast, wenn Du mit mir sprichst?«

»Ich kenne Dich nicht!«, erklang es gleichmütig zurück.

»So sollst Du mich kennen lernen.«

»Sage mir, wer Du bist, und wenn es angebracht ist, so werde ich vor Dir ehrerbietig aufstehen.«

Diese Antwort schien der Negerin zu gefallen. Der drohende Zug verschwand, nur der wilde Trotz blieb, und ohne Weiteres ließ sie sich in dichter Nähe von Atalanta nieder. Doch offenbaren tat sie sich noch nicht.

»Weshalb ist Dein Mann vor Dir entflohen?«, war ihre nächste Frage.

»Dazu ist eine lange Erzählung nötig.«

»Ich weiß es.«

»Er selbst hat es Dir erzählt?«

»Ja. Er hat mir erzählt, wie in einem fernen Lande, in welchem nur solche Araber wohnen, wie sie auch hierher manchmal kommen, Reiter vom Sturm mit Wüstensand verschüttet wurden, und Du hast geglaubt, auch Dein Mann sei darunter, er habe so seinen Tod gefunden. Ist es nicht so?«

»So ist es.«


Illustration

»Aber er war nicht tot, er war gar nicht bei jenen Reitern.«

»Nicht?!«

»Er wurde in einer Felsenburg gefangen gehalten.«

»Aber er selbst rief mir zu, dass er entführt würde.«

»Das war ein anderer, der sich für ihn ausgab. Du solltest auf eine falsche Spur gelockt werden.«

Fast etwas Ähnliches hatte sich Atalanta selbst schon gedacht.

»Wie ist er hierher gekommen?«

»Er ist seiner Gefangenschaft entflohen, ist durch ganz Afrika gewandert. Ein Jahr ist es her, bei Parmi war es. Ein Löwe hatte mich angefallen. Ich war verloren. Fern von mir war alle Hilfe. Da krachte ein Schuss. Ich sah, wie sich über dem Auge des Löwen eine Bleikugel breitschlug. Sie war zu weich, die Pulverladung zu schwach gewesen. Da warf sich auf den Löwen ein Mann. Wohl war er mit einem sehr langen Messer bewaffnet, aber es war nur ein Messer. Er stieß es dem Löwen ins Herz. Der Löwe war tot, mein Retter furchtbar zerfleischt, viel mehr als ich. Ich habe ihn gepflegt.«

Lakonisch hatte sie es berichtet.

»Die Wunden heilten?«, fügte die Indianerin lakonisch hinzu, um zur Fortsetzung aufzumuntern.

»Ja. In vier Wochen war er wieder hergestellt. Ich verstehe solche Wunden zu heilen, dass sie nicht wieder aufbrechen. Er vertraute sich mir an. Die Wunden in seinem Herzen konnte ich nicht heilen.«

»Du brachtest ihn hierher?«

»Er erfuhr, wer ich war, was ich für eine Macht besitze, und er fragte mich, ob ich einen Ort wisse, wo er nie wieder einem Menschen begegne. Da brachte ich ihn nach dem heiligen Jangala. Für ihn, der die Wotulala gerettet, gab es keine Bedenken. — — Du hast einen Zauberspiegel?«

Die Indianerin verstand sofort. Der Negerin war schon von ihrer Camera obscura berichtet werden. Diese Einrichtung konnte sie sicher nicht begreifen. Wohl aber kannte sie einen Zauberspiegel. Der Zauberspiegel, in dem man vergangene, gegenwärtige und zukünftige Dinge, Personen und Geschehnisse erblickt, hat von jeher bei aller Magie und sonstiger Gaukelei eine große Rolle gespielt, solange die Welt in den Banden des Aberglaubens lag, bei den meisten halb und ganz wilden Völkern spielt er heute noch eine Rolle.

»Ja, ich habe solch einen Zauberspiegel.«

»Du hast ihn auf einem Schiffe, das bei Wida liegt?«

»Ja.«

»Er ist zu groß und zu schwer, als dass Du ihn bei Dir tragen könntest?«

»Viel zu groß und zu schwer.«

»In diesem Zauberspiegel hast Du Deinen Gatten erblickt?«

»Ja.«

»Jetzt wolltest Du Deinen Gatten holen?«

»Ja.«

»Er will von Dir nicht gefunden werden.«

»Zu dieser Erkenntnis bin ich nun auch schon gekommen.«

»Er ist vor Dir geflohen?«

»Nicht eigentlich vor mir, sondern vor einer anderen Frau.«

»Ich weiß es. Dich hat er noch gar nicht erblickt, er weiß wahrscheinlich noch gar nicht, dass Du hier bist?«

»So ist es.«

»Du hast ihn in den Sumpf laufen sehen und wolltest ihm folgen?«

»Nur seiner Spur bin ich gefolgt.«

»Bis hierher, wo Du nicht weiter kannst.«

»Kennst Du den Weg nach jener festen Erhöhung?«

»Ja, ich weiß, er befindet sich auf der kleinen Insel, ich habe ihm den Weg dorthin gezeigt, dort hatte er sich zuerst angesiedelt. Oft, oft musste ich ihn führen, ehe er den Weg allein finden konnte. Ein einziger falscher Schritt und der Fuß ist gefangen, man verschwindet im Sumpfe.«

»Willst Du mich hinführen zu ihm?«

»Nein.«

Dieses bestimmte Nein machte auf diese Indianerin noch keinen besonderen Eindruck.

»Weshalb nicht?«

»Er weiß noch nicht, dass Du hier bist. Warum soll er es erfahren?«

»Er wird sich freuen, wenn er mich sieht!«

»Nein, er wird sich nicht freuen. Und wenn er zuerst auch glücklich wäre, Dich wiederzusehen, so würde er hinterher nur desto unglücklicher werden. Du bist überhaupt des Todes.«

Jetzt allerdings suchte die Indianerin ihr Staunen nicht mehr zu beherrschen. »Ich des Todes?!«

Unverwandt bohrten sich die Augen der Negerin in die ihren, und jetzt lag in den schwarzen Zügen etwas Raubtierähnliches. Ja, das waren die Augen eines Raubtieres, das lauernd die erspähte Beute beobachtet, dem auch nicht die geringste Bewegung entgeht.

»Weißt Du, wer ich bin? Wotulala, die Vorkämpferin der Elefantenjägerinnen und zugleich die erste Schlangenpriesterin. Hast Du von diesen Schlangenpriesterinnen schon gehört?«

Das Staunen war vorüber, gelassener denn zuvor saß die Indianerin da.

Jetzt wusste sie sofort alles.

Also Hagen hatte ihr nichts davon mitgeteilt, was ihm Sörensen berichtet, von dessen Verdacht, es war keine Gelegenheit dazu gewesen.

Aber Atalanta selbst hatte sich vorher über das Land, das sie betreten wollte, orientiert, hatte auch von diesen Religionsverhältnissen gelesen.

Doch dies war jetzt eigentlich Nebensache.

Wie konnte die Negerin wagen, ihr mit dem Tode zu drohen, wo die Indianerin am Gürtel Messer und Revolver hängen hatte und vor sich im Schoße das Repetiergewehr? Sie brauchte doch nur den Lauf herumzudrehen und loszudrücken, dann konnte die Negerin nicht mehr mit dem Tode drohen.

Nun, für dieses schwarze Riesenweib war die kleine und fast zierlich gebaute Indianerin eben nur ein Püppchen, ein Kind. Dass es Waffen bei sich führte, hatte für diese kampfgeübte Amazone gar nichts zu sagen. Ehe das kleine Kind das Gewehr herumdrehen konnte, hatte sie schon zugepackt, sie hielt der einfach die Hände fest, und dann wurde die Unterhaltung ganz gemütlich weitergeführt; höchstens dass das erschrockene Kindchen dann zu schreien anfing.

So, sagte sich Atalanta ganz richtig, kalkulierte die Negerin.

Nun, mochte sie nur so denken.

Die Indianerin ging darauf ein, und es war auch ganz richtig, wenn sie sich stellte, als habe sie nicht recht gehört.

»Eine Schlangenpriesterin bist Du?«

»Die erste.«

»Ich habe gehört, dass die Widas früher Schlangen anbeteten und ihnen Menschen opferten, wie sie Menschen bei gewissen Feierlichkeiten auch zu Tausenden abschlachteten.«

»Früher? Das ist noch heute so.«

»Das ist doch von den Franzosen verboten worden.«

»Pah, von den Franzosen verboten!«, erklang es verächtlich.

»Und es ist doch so. Ihr habt die Menschenschlächtereien, die sonst alljährlich am Todestage des früheren Königs stattfanden, aufgegeben.«

»Nun ja, Du hast recht!«, musste die Negerin doch zugeben. »Aber sie finden doch noch statt. Weißt Du, dass der König jedes Jahr für drei Monate mit seinem ganzen Hofstaate nach Parmi geht?«

»Das weiß ich.«

»So sollst Du mit Deinen eigenen Augen sehen, wie wir mehr als tausend Menschen opfern werden, auf dass ihre Seelen dem König Bidonga im Schattenreich als Sklaven dienen.«

»In Parmi werden sie geopfert?«

»Nein.«

»Wo sonst?«

»Im Schattenreiche selbst.«

»Das existiert nur in Eurer Einbildung. Hier in Jangala, auf dieser Sumpfinsel.«

»Sie ist dieses Schattenreich selbst.«

»Ja, ich weiß es. So begibt sich der ganze Hofstaat hierher?«

»Wenigstens alle, die dabei beteiligt sein müssen.«

»Durch den Sumpf?«

»Durch den Sumpf.«

»In Parmi sind aber doch auch Franzosen und andere Europäer, der Aufenthalt in der alten Hauptstadt kann ihnen doch nicht verwehrt werden.«

»Nein, jetzt noch nicht.«

»Und jedes Jahr finden hier solche große Menschenopfer statt?«

»Jedes Jahr.«

»Jedes Jahr begeben sich viele tausend Menschen von Parmi aus durch den Sumpf nach dieser Insel?«

»Ja.«

»Das ist nicht möglich.«

»Weshalb nicht?«

»Das könnte nicht so geheim gehalten werden. Die Franzosen müssten von diesem Zuge durch den Sumpf wissen, während man fest überzeugt ist, dass er unpassierbar sei.«

»Du sprichst die Wahrheit. Fremde. Der Zug geht unter dem Sumpf hinweg.«

»Durch einen unterirdischen Tunnel?«

»Ja.«

»Den Ihr selbst angelegt habt?«

»Es ist ein alter, unterirdischer Wasserlauf, der ausgetrocknet ist.«

»Wie lang ist er?«

»In einer Stunde kann man ihn bequem durchwandern.«

»Wo beginnt er in Parmi?«

»In dem alten Palaste des Königs. In diesem darf sich jedoch kein weißer Fremder aufhalten. Und eine Nacht genügt. Am Abend, nachdem die Pforten geschlossen sind, ziehen alle ab, und ehe die Sonne aufgeht, sind sie wieder zurück, und kein Franzose weiß, was unterdessen im heiligen Jangala vor sich gegangen ist, dass der tote König unterdessen tausend und mehr neue Sklaven und die heilige Schlange einige neue Bräute bekommen hat.«

»Wo sind aber die geblieben, die hier geschlachtet werden sollen?«

»Sie sind bereits hier.«

»Wo?«

»Am Jangapo, in unterirdischen Felsräumen, wo sie so lange gefüttert werden, bis sie fett genug zum Schlachten beim Feste sind.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du meinst, wie die hierher kommen? Wir liegen mit den Lados, die nördlich von uns wohnen, doch ständig im Kriege. Da werden doch immer viele Kriegsgefangene gemacht. Davon wissen aber die Franzosen nichts, die glauben, wie wir versichern, dass wir keine Gefangene mehr machen, weil keine Sklaven mehr verkauft und gehalten werden dürfen. Wir machen aber doch noch Gefangene. Diese werden dann nach und nach durch den Sumpftunnel hierher geschafft und bleiben so lange hier, bis sie am Todestage des Königs geopfert werden. Nur dass wir diesen Tag verschoben haben, damit es nicht auffällt. Das können die Priester machen, sie heiligen diesen Tag, und es ist dasselbe.«

»Ah, so wird das gemacht! Wie viele Gefangene habt Ihr jetzt hier?«

»Ungefähr zwölfhundert.«

»Und die werden hier alle ernährt, manchmal ein ganzes Jahr?«

»Ja.«

»Von wo aus?«

»Von Parmi aus.«

»Fällt das denn nicht auf, wenn so viele Nahrungsmittel verbraucht werden?«

»Pah, Wida ist groß. Wir wissen es zu verheimlichen, seit mehr als vierzig Jahren hat noch kein Franzose etwas davon gemerkt.«

»Seit vierzig Jahren wird das hier schon so betrieben?«

»Noch länger.«

»Diese Gefangenen müssen doch Wächter haben?«

»Gegen hundert, wozu noch die Priester und Priesterinnen kommen.«

»Und diese wohnen immer hier?«

»Immer.«

»Und trotzdem ist diese ganze Sumpfinsel hier wie ausgestorben?«

»Woher weißt Du das?«

»Ich habe es im Zauberspiegel gesehen.«

»Du hast niemals einen Menschen erblickt?«

»Nur meinen Gatten und Dich.«

»So hat Dich Dein Zauberspiegel nicht belogen. Dieses heilige Land, in dem nur Geister wohnen, darf von keinem lebenden Fuße betreten werden. Auch die Priester und Priesterinnen dürfen ihre Höhlen mit keinem Schritt verlassen.«

»Aber Du darfst hier frei umherwandeln?«

»Ja, weil ich die erste Priesterin bin, mir steht dieses Recht zu.«

»Und jener Ukangara, der den anderen Fremden hierher begleitet hat?«

»Tomilo ist der erste Priester, er hat dasselbe Recht.«

»Ach so, deshalb wurde er gleich auf diese schnellste Weise hierher befördert?«

»Ja, deshalb flog er mit dem Drachen, denn er musste sowieso hierher.«

»So, nun weiß ich so ziemlich alles, was ich erfahren wollte. Nur eines ist mir noch unklar.«

»Nun?«

»Wie kommst Du dazu, mir dies alles so zu offenbaren?«

»Weil ich zu einer Toten spreche.«

»Zu einer Toten? Ich fühle mich noch sehr lebendig.«

»Auch Du wirst mit einer Schlange vermählt.«

»Das heißt, ich soll von einer Schlange verschlungen werden?«

»Ja, so gut wie jenes andere weiße Weib.«

»Wo ist dieses jetzt?«

»Es ist bereits in der Schlangenhöhle, ebenso wie die beiden Männer.«

»Wie Mister Sörensen und Kapitän Hagen?«

»Ja, so heißen die beiden Männer wohl. Ihre Namen wurden mir von dem einen, dem kleineren, selbst genannt.«

»Auch diese beiden befinden sich schon als Gefangene in der Schlangenhöhle?«

»Ja.«

Ganz ruhig hatte es die Indianerin gefragt, ruhig hatte sie die Antwort gehört.

Sie mochte sich dies alles schon lebhaft gedacht haben.

»Du selbst hast sie gefangen?«

»Ja, die beiden Männer.«

»Wie kam das? Erzähle. Es interessiert mich.«

»Der eine, der große, der mit Dir kam, stürzte die Felswand herab und blieb besinnungslos liegen. Ich band ihn und trug ihn in die Schlangenhöhle, in die der Ukangara schon die weiße Frau gebracht hatte. Dann verfolgte ich die Spur des kleineren Mannes, der mit dem großen gegangen war, sich aber dann von ihm getrennt hatte, befragte ihn erst, dann band ich ihn ebenfalls und brachte ihn nach der Schlangenhöhle.«

»Mit dem kleinen hast Du Dich erst so unterhalten wie jetzt mit mir?«

»Ja.«

»Du hast ihn ausgefragt?«

»Ja.«

»Natürlich bevor Du ihn gebunden hast?«

»Wie ich schon sagte.«

»Und ebenso willst Du nun mit mir verfahren?«

»Gewiss.«

»Mich binden und ebenfalls nach der Schlangenhöhle bringen?«

»Du fragst immer noch?«

»Wotulala, Du bist ein merkwürdiges Weib.«

»Wieso?«

»Ist Dir nicht von mir erzählt worden?«

»Dass Du die Frau von Makana bist.«

»Wer ist das, Makana?«

»Nun, eben Dein Mann, der hier wohnt.«

»Was heißt das, Makana?«

»So viel wie — namenlos.«

»Du kennst nicht seinen Namen?«

»Er hat ihn niemals genannt, er hat gesagt, dass er keinen Namen mehr habe.«

»Wie kommt es eigentlich, dass der hier hausen darf?«

»Weil er mir das Leben gerettet hat.«

»Du darfst es ihm erlauben, dass er hier als Jäger haust?«

»Das darf ich. Er ist ja hier so gut wie tot. Nur darf er nicht nach jenem See kommen, nicht jenen Fluss überschreiten, der zuvor dieses ganze Land durchschneidet. Daraufhin hat er mir sein Wort gegeben, und ich traue ihm.«

»Kennt er den unterirdischen Weg durch den Sumpf?«

»Nein.«

»Weiß er, dass hier alljährlich Menschenopfer stattfinden?«

»Nein, davon habe ich ihm nichts gesagt, davon braucht er ja auch gar nichts zu erfahren.«

»Er soll doch nicht ebenfalls geopfert werden?«

»Wo denkst Du hin! Er steht unter meinem Schutze, sein Leben ist mir heilig.«

»Ich sah in meinem Zauberspiegel, wie Du den Elefanten tötetest, der ihn verfolgte.«

»Du sahst auch das?«, erklang es ohne jede Verwunderung.

»Er wollte Dir danken. Warum nahmst Du nicht seine Hand?«

»Weil ich einen Mann nur berühren darf, wenn ich ihn als Feind niederzwingen will.«

»Ach so. Das freut mich, zu hören. Hat der Mann, den Du vorhin ausgefragt hast, nicht seinen Namen genannt?«

»Ja, das tat er.«

»Nun, wie heißt er?«

»Es war ein schwerer Name, ich habe ihn schon wieder vergessen.«

»Graf Arno von Felsmark?«

»Ja, so klang der Name.«

»Und wie heiße ich?«

»Auch Deinen Namen nannte er — Alanna.«

»Atalanta?«

»Ja, Atalanta.«

»Hat er denn sonst nichts von mir erzählt?«

»Du bist eine Indianerin aus Amerika.«

»Weißt Du, was eine Indianerin ist?«

»Ja.«

»Woher weißt Du denn das?«

»Ich bin selbst in Amerika gewesen.«

»Wie, Du wärest in Amerika gewesen?«, rief Atalanta diesmal wirklich mit Staunen.

»In New York und Philadelphia, einige Monate.«

»Wie bist Du denn dort hingekommen?«

»Mit vielen anderen Kriegerinnen, welche nach Europa gingen, um ihre Kriegsübungen zu zeigen.«

»Ah, eine Völkerschau!«

»Einige von uns mussten in Verbannung gehen. Erst unter dem neuen König kamen wir zurück, ich schon vorher, ich ging nicht mit nach Europa, nach — nach — Paris und Berlin.«

Hierfür interessierte sich die Indianerin nicht weiter. Nun aber war die Erklärung gegeben, woher diese Negerin, die man doch eigentlich als eine »Wilde« bezeichnen konnte, ein so gutes Englisch sprach, wie die Amerikaner etwas durch die Nase, und überhaupt eine gewisse Bildung oder doch Umgangsformen zeigte.

»Hat Dir der Mann sonst nichts über mich erzählt?«, fragte Atalanta nochmals.

»Nein, nur dass Du eine Indianerin bist. Was sonst noch?«

»Dass ich eine — kriegsgeübte Indianerin bin.«

»Eine kriegsgeübte? Ich habe Indianer gesehen.«

»Wo?«

»In New York. Es war eine andere Ausstellung, ›Buffalo Bills Wilder Westen‹ hieß sie, da zeigten viele Indianer, wie sie ritten und schossen und Wagen überfielen. Die Weiber aber nähten und stickten und kochten und wuschen und warteten die Kinder. Die indianischen Weiber sind keine Kriegerinnen.«

»Weißt Du, dass ich eine Athletin bin?«

»Athletin? Was ist das?«

Es hatte keinen Zweck, weiter zu fragen. Sörensen hatte eben nichts weiter von ihr erzählt.

»Ist es nicht seltsam, wie wir uns hier unterhalten?«

»Was soll da seltsam sein?«

»So gemütlich, als wären wir die besten Freundinnen.«

»Warum sollen wir uns nicht unterhalten?«

»Du hast wohl viel Zeit?«

»Ich habe Zeit. Der König kommt erst in einigen Tagen, und so lange habe ich nichts zu tun.«

»Verstehst Du denn gar nicht, worüber ich mich wundere?«

»Nun?«

»Auch ich soll der Schlange vorgeworfen werden?«

»Ja.«

»Ich drehe einfach mein Gewehr herum und schieße Dich nieder.«

»Probiere es doch!«, war die spöttische Aufforderung.

»Weshalb soll ich das nicht können?«

»Tue es doch.«

»Du meinst, Du seiest schneller mit Deiner Hand als ich?«

»Das wird sich ja finden.«

»Du fühlst Dich als Katze, die es ergötzt, mit einer Maus zu spielen. Aber die Sache ist umgekehrt. Ich bin die Katze und Du bist die Maus.«

»Was sagst Du da?«

»Ich bin schneller und stärker als Du.«

Die Negerin lachte, aber immer noch das Auge der Katze behaltend, die auch die kleinste Bewegung ihres Opfers scharf bewacht.

»Ich weiß nicht, was ich von Dir denken soll, Fremde. Du schneller als ich?«

»Und auch stärker.«

»Du bist wahnsinnig, Du redest irre.«

»Erlaubst Du, dass ich mein Gewehr und meine anderen Waffen weglege?«

»Das ist mir gleichgültig. Gebrauchen kannst Du sie doch nicht.«

»Nein, ich brauche auch keine Waffen. Wollen wir zusammen ringen?«

»Du redest irre, kleines Mädchen.«

Atalanta legte ihr Gewehr beiseite, schnallte den Riemen mit Revolver und Jagdmesser ab, immer von den Blicken der menschlichen Pantherin bewacht. Es wäre der Indianerin wohl auch schwerlich gelungen, eine Mündung gegen die Negerin zu richten. Sie hätte einfach sofort einen furchtbaren Faustschlag erhalten.

»So, ich bin waffenlos. Nun lege auch Du Dein Schwert weg.«

»Was willst Du nur?«

»Mit Dir ringen. Wirfst Du mich zu Boden, bin ich Deine Gefangene. Werfe ich Dich nieder, so bist Du meine Gefangene. Außerdem aber hast Du mir zu gehorchen. Bist Du hiermit einverstanden?«

Die Pantheraugen musterten die schlanke, fast zierliche Gestalt. Es wollte durchaus nicht in ihren Kopf.

»Bist Du denn eine Zauberin, hast Du etwa...«

Da warf die Indianerin blitzähnlich ihren Oberkörper vor, es war ein Aufschnellen der ganzen Gestalt, und gleichzeitig schmetterte ihre kleine und doch stählerne Faust zwischen die Augen der Negerin.

Lautlos schlug diese rückwärts zu Boden. Nur wenige Sekunden belieb sie regungslos liegen, dann wollte sie mit einem furchtbaren Brüllen aufspringen — da aber fühlte sie sich schon an Händen und Füßen von den Lederriemen gebunden, die Atalanta um die Hüften gewickelt gehabt hatte.

Das Riesenweib wollte es nicht glauben, furchtbar wütete es am Boden, machte die verzweifeltsten Anstrengungen, um die Bande zu sprengen, allein solche Lederriemen waren von keiner menschlichen Kraft zu zerreißen, eher eine starke Stahlkette, sie schnitten sich nur tief in das Fleisch ein.

Endlich gab sie ihre Bemühungen auf, lag keuchend am Boden, mit blutunterlaufenen Augen die Indianerin anstierend, die ruhig gewartet hatte, bis jene sich ausgetobt.

»Nein, ich bin keine Zauberin. Habe ich mich nicht ganz natürlicher Mittel bedient, um Dich zu bewältigen?«

»Du bist eine Teufelin!«, keuchte jene.

»Das haben mir schon viele andere gesagt — aber ganz mit Unrecht. Wollen wir nun unsere Unterhaltung fortsetzen? Du hast ja so viel Zeit. Gibst Du nun zu, dass ich schneller bin als Du?«

»Töte mich, töte mich, Du hast die Wotulala besiegt, sie ist nicht mehr!«, stöhnte das Weib, die Augen schließend, wahrscheinlich wirklich den Todesstoß erwartend, der sie von dieser Schmach erlöste.

»Nein, ich will Dich nicht töten, denn ich brauche Dich. Gibst Du zu, dass ich Dich besiegt habe? Oder willst Du noch irgend einen anderen Kampf mit mir bestehen?«

Sofort ging die Negerin darauf ein.

»Ja, es kam zu unvermutet, ich hatte nicht erwartet, dass Du so schnell zuschlagen würdest.«

»Also Du bist bereit, mit mir noch einen anderen Kampf zu bestehen?«

»Was für einen Kampf?«

»Den Du vorschlägst. Ganz gleichgültig welchen.«

»Du hast kein Schwert, sonst würde ich mit Dir fechten.«

»So hole noch ein solches Schwert, wie Du hast, und ich will mit Dir fechten.«

»Du glaubst, mir widerstehen zu können?«

»Das wird sich ja zeigen.«

»Es ist kein anderes solches Elefantenschwert hier.«

»So hole ein anderes, ein kleineres.«

»Auch ein solches ist hier nicht zu haben!«

»So wollen wir unsere Kraft im Wettlauf messen!«, schlug Atalanta vor.

»Du könntest so schnell laufen wie ich?«

»Ja, ich behaupte es. Ich fordere Dich zum Wettkampf heraus.«

»Und wenn ich siege?«

»So sollst Du mich Deiner Schlange vorwerfen können.«

»Und wenn Du siegst?«

»So bist Du meine Sklavin.«

»Deine Sklavin?«

»Die mir unbedingt zu gehorchen hat. Gilt die Wette?«

Die Negerin schloss die Augen und überlegte lange Zeit.

Als sie die Lider wieder hob, waren es keine schönen, vertrauenerweckenden Augen, die sie zeigte, zumal jetzt, wo sie so blutunterlaufen waren, aber einen tückischen Blick besaßen sie nicht.

»Wohlan, die Wette gilt.«

»Wenn ich im Wettlauf siege, so bist Du meine Sklavin.«

»Ich bin Deine Sklavin.«

»Die mir unbedingt gehorcht.«

»Ich weiß, was eine Sklavin ist.«

»Schwöre mir bei dem, was Dir am heiligsten ist, dass Du mir dann bedingungslos gehorchen wirst.«

»Eine Wotulala hat nicht nötig zu schwören, ihr Wort gilt!«, war die noch immer stolze Antwort der Überwundenen. »Aber, wohlan: Ich schwöre es Dir bei der heiligen Schlange zu!«

»Gut. Du wirst mir dann den Weg durch den Sumpf zeigen, nach jener Insel, auf der sich mein Gatte jetzt aufhält?«

»Selbstverständlich, Du brauchst es mir ja nur zu befehlen.«

»Und dann wirst Du meine gefangenen Begleiter befreien, uns vor etwaigen Verfolgern schützen und uns in Sicherheit bringen?«

Einiges Zögern.

»Das — kann ich nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Wenn ich die Gefangenen befreie, errege ich Misstrauen, ich bin nicht mehr die allmächtige Priesterin —«

»Du wirst tun, was Du kannst?«

»Das will ich, selbstverständlich, das habe ich Dir ja schon zugeschworen.«

»Mehr verlange ich auch nicht von Dir.«

»Du sprichst, als hättest Du schon gesiegt. Und wenn ich Dich überwinde?«

»Nun, so bin eben ich Deine Sklavin, Du kannst mich töten oder mir befehlen, Dir nach der Schlangengrotte zu folgen. Dann brauchst Du mich nicht erst zu binden und zu tragen, diese Mühe kannst Du Dir dann ersparen, dafür gebe ich Dir mein Wort, dem Du ebenso trauen musst wie ich dem Deinen!«

»Ich traue Dir.«

»Wohin soll der Wettlauf gehen?«

»Bestimme Du das Ziel.«

»Vom Rande dieses Waldes an bis zu dem Felsen des Einsiedlers, dort mit der Hand anschlagen und zurück zum Ablauf.«

»Gut. Befreie mich von meinen Banden.«

Atalanta löste die Knoten, die Negerin erhob sich, atmete tief und schwer, als sie die gegen sie zwerghafte, zierliche Gestalt mit glühenden Blicken betrachtete, dabei vom Rücken das Schwert nehmend, das ihr im Sturz nichts hatte schaden können.

Die Indianerin war zu neuer Gegenwehr bereit.

»Ich hoffe, Du fürchtest nichts?«

»O nein, ich fürchte Dich nicht, ich habe ja Dein Wort — und ich fürchte Dich auch sonst nicht.«

»Also es bleibt bei dem, wie es ausgemacht ist. Komm.«

Atalanta nahm ihre Waffen und folgte jener bis zu dem scharf abgegrenzten Waldessaum, in einer Entfernung von etwa zwei Kilometern sah man die Felsen, welche die Einsiedlerwohnung umringten.

Der Felsen, der als erstes Ziel gelten sollte, wurde näher bezeichnet, die Negerin stieß ihr Schwert in den Boden; wer den Griff zuerst berührte, hatte gewonnen.

Sie stellten sich auf, einen Fuß schon vorgesetzt.

»Zähle Du — bis drei, wie es bei Euch üblich ist!« sagte die Dahomey.

»Eins — zwei — drei —!«

Die Negerin flog davon in mächtigen Sätzen. Sie rannte, wie nur solch eine Elefantenjägerin rennen kann. Als sie nach vier Minuten mit der flachen Hand gegen den Felsen schlug und umdrehte, konnte sie noch einige gute Sprünge machen, ehe die Indianerin an ihr vorbeikam, und solch ein Vorsprung hat bei so einem Wettlauf doch viel zu bedeuten.

»Sklavin, Du bist des Todes!«, schrie das Riesenweib im Vorbeijagen jauchzend.

Dennoch sparte sie nicht ihre Kraft, sondern flog mit gleicher Schnelligkeit zurück.

Da, als sie nur noch hundert Sprünge von dem Schwerte entfernt war, schoss die Indianerin wie ein Pfeil an ihr vorbei, kaum schienen ihre Füße den Boden zu berühren, und mit dem letzten Sprunge riss sie das Schwert aus dem Boden.

Im nächsten Augenblick stand die Negerin vor ihr, mit geballten Fäusten, funkelnden Augen und wutverzerrten Zügen, während ihre Brust ganz ruhig ging.

»Teufelin!«

»Du bist meine Sklavin!«

Ein Ruck durch den ganzen Körper, und die Negerin kreuzte die Arme über der Brust und verneigte sich demütig.«

»Ich bin Deine Sklavin, befiehl über mich.«

»Wohlan, ich habe es mir anders überlegt, ich will Dich töten, knie nieder!«

Mit erhobenem Schwerte hatte es Atalanta gesagt, und sofort kniete das Riesenweib nieder und hielt willig den Kopf hin.

Es war natürlich nur eine Probe gewesen. Zeigte sie hierin Gehorsam, dann auch noch zu etwas anderem.

»Nein, ich will Deinen Tod nicht. Stehe auf.«

»Töte mich.«

»Weshalb?«

»Was soll ich noch? Die Schmach ist zu groß, das Leben ist mir nichts mehr wert.«

»Aber ich brauche Dich. Stehe auf, ich befehle es!«

Sie erhob sich.

Ehe Atalanta dem Zuge ihrer eigenen Sehnsucht folgte, dachte sie an andere.

»Den Gefangenen in der Schlangenhöhle droht vorläufig noch keine Lebensgefahr?«

»Nein. Sie werden nicht eher geopfert, als bis der König hier eingetroffen ist.«

»Das erfährst Du rechtzeitig?«

»Ja. Ich habe noch zwei Tage Zeit, und ohne mich kann die Opferung nicht stattfinden.«

»Und wenn Du dennoch fehltest?«

»So würde mich der Ukangara suchen.«

»Werden die Gefangenen gut behandelt?«

»Sie haben zu essen und zu trinken und bekommen für die Nacht ein Lager.«

»Sie werden nicht gequält?«

»Gar nicht. Höchstens dass der Ukangara sie verhöhnt.«

»Das hat nichts zu sagen. Sind denn in der Höhle wirklich Schlangen?«

»Nur eine Assala, aber sie ist angekettet.«

»Weshalb das eigentlich?«

»Die Schlange soll sich an die Menschen gewöhnen, dass man dann nicht zu lange warten muss, bis sie einen verschlingt; denn sonst können darüber Tage vergehen, ehe sie ihn umstrickt, und wenn sie auch noch so hungrig ist.«

»Ihr habt doch genug andere Gefangene da.«

»Nur Neger und Negerinnen, und vor einem weißen Menschen würde sie sich wiederum scheuen.«

»Ist es Dir möglich, diese drei Gefangenen zu befreien?«

»Ja, das kann ich.«

»In dieser Nacht noch?«

»Zu jeder Zeit, solange sie noch am Leben sind.«

»Wohlan, so führe mich jetzt erst durch den Sumpf.«


Lieferung 19


Illustration

»Atalanta, Atalanta!«, keuchte der Irrsinnige und
versuchte dabei, die Indianerin zu erwürgen.


Wieder verschwunden!

Während des Rückweges durch den Urwald auf festem Boden befragte Atalanta das Telefon. Auf dem »Mohawk« wusste man nichts von dieser ihrer Begegnung mit der Negerin, dort hatte man ja den Grafen nicht aus den Augen lassen dürfen.

Erst vor wenigen Minuten hatte er sich wieder einmal erhoben, um auf den Baobab zu steigen und Früchte zu pflücken. In dessen dichten Zweigen war er nun freilich schwer zu beobachten, gewöhnlich war er gänzlich verschwunden, kam nur hier und da mit dem Kopfe oder einem Arm zum Vorschein.

Die Stelle war erreicht, wo die Indianerin bisher gewartet, wo sie damals die Spur nicht weiter verfolgen konnte, und die führende Negerin begann zu springen, von einem festen Punkte zum anderen.

»Siehst Du, wo hier und da das braune Moos wächst? Überall, wo dieses sich zeigt, ist ganz fester Boden. Es gedeiht nicht auf ständig feuchtem Grunde.«

Ja, das hatte die Indianerin selbst schon beobachtet — das heißt erst jetzt, ehe sie darauf aufmerksam gemacht wurde. Von allein wäre sie nicht darauf gekommen, das wäre auch zu viel verlangt gewesen, selbst von ihrem indianischen Spür- und Scharfsinn.

Mehr als anderthalb Kilometer waren es, die sie so im Zickzack zu durchspringen hatten, wozu sie etwa zwanzig Minuten brauchten.

Dann erreichten sie die kleine Anhöhe im Sumpfe mit festem Boden.

Wild schlug das Herz im Busen der Indianerin, denn dessen Schlag konnte sie nicht befehlen.

Jetzt, jetzt kam es darauf an! Wie würde die Begegnung werden?

Atalanta war zu allem entschlossen, bis zur Anwendung von Gewalt, zu einem neuen Ringkampf um die Herrschaft, und diesmal wollte sie nicht wieder unterliegen.

Dort stand der Baum, unter dem er zuerst immer gelegen hatte, und dort der Baobab.

Der Graf war nicht zu erblicken, obgleich dieses Gebiet ohne Unterholz ganz durchsichtig war.

»Wo ist er?«, flüsterte sie ins Telefon.

»Er hat den Baobab noch nicht wieder verlassen!«, meldete Littlelu zurück, der nur während des Schlafes von einer anderen Person an der Camera obscura abgelöst wurde.

Dort oben befand er sich also. Es musste ein sehr alter Baum sein, das sah man der Rinde an, wenn er auch nicht zu den Riesen seiner Art zählte. Zwischen den Ästen und Zweigen war nicht durchzublicken, am wenigsten von hier unten.

Keine Antwort, so oft sie auch rief.

Kurz entschlossen ergriff sie die tief herabhängenden Zweige und schwang sich hinauf.

Nachdem sie einige Minuten hin und her geklettert war, musste sie überzeugt sein, dass sich der Graf nicht mehr hier oben befand.

Vom »Mohawk« aus aber wurde ihr versichert, dass er den Baum noch nicht wieder habe verlassen können, auf keiner Seite.

»Es ist ausgeschlossen, er muss noch auf dem Baume sein!«

Atalanta kroch noch einmal durch das Gebüsch, stieg wieder tiefer, kam an das obere Ende des Stammes, das bei dem Baobab immer scharf begrenzt und regelmäßig offen ist; denn hohl ist der Baobab immer, wie unsere Weide, und auch oben stets offen.

Es war ein richtiger Kamin, in den Atalanta blickte, mit einer Mündung von mehr als einem Meter Durchmesser, nach unten sich schnell erweiternd.

Und immer starrer wurde das Auge der Indianerin, sie ließ ihre elektrische Taschenlampe aufflammen, untersuchte die Innenseite dieses natürlichen Kamins, blickte aufmerksam um sich, betrachtete die geknickten Zweige und leuchtete wieder hinab.

Der Blendstrahl fiel in einer Tiefe von etwa zehn Metern auf einen Haufen Humus, der sich dort unten durch Verwesung des Holzes gebildet hatte, und sie sah auch noch etwas anderes — Spuren in diesem Humus, tiefeingegrabene Abdrücke von Männerstiefeln!

Die Indianerin wickelte ihren Lasso von den Hüften, befestigte ihn und ließ sich hinab.

Unten wunderte sich die Negerin, dass es dort oben so still geworden war.

Zehn Minuten vergingen und nichts regte sich, die Indianerin ließ sich nicht blicken und nicht hören.

»Bist Du denn noch oben?«, rief die Negerin.

Als keine Antwort kam, wollte einige Minuten später die Negerin hinaufsteigen. Da tauchte aus den Zweigen die Indianerin auf und ließ sich herabgleiten.

»Weißt Du, dass dieser Baobab hohl ist?«

»Welcher ältere Baobab ist nicht hohl.«

»Dass es dort unten noch tiefer in den Boden hinabgeht, und zwar an einer kupfernen Leiter?«

Die Negerin riss die Augen weit auf vor Staunen.

»An einer kupfernen Leiter?«

»Ja. Ich habe sie tief hinab verfolgt, bis ich auf einen Querschacht stieß, der sich nach Westen und nach Osten fortsetzt.«

»Was?!«, rief die Negerin in noch größerer Überraschung. »Dann haben die Jangas also auch hier eine Leiter angelegt mit einem unterirdischen Gange! Und ich, die diese kleine Insel so genau zu kennen glaubte, habe noch gar nichts davon gewusst!«

»Die Jangas? Die Sklaven? Oder richtiger die Geister?«

»Nein. Höre mich an, Herrin. Vor vielen, vielen Jahren, vielleicht schon vor tausend Jahren, muss hier in diesem unzugänglichen Sumpflande doch einmal ein Volk gehaust haben, denn man findet hier Ruinen von mächtigen Gebäuden, welche wir Widas nicht ausgeführt haben, wir sind ja überhaupt erst vor dreihundert Jahren erobernd aus dem Norden hier vorgedrungen.

So eine Ruine findet man aber nur ganz zufällig, nur Spuren davon, man kann so etwas nur erraten, denn alles ist schon längst bewachsen, und zwar stehen auch Bäume darauf, die schon tausend Jahre alt sein müssen. Aber wir finden auch noch anderes. Diese alten Bewohner haben auch viel in den Höhlen an dem See gehaust. Dort haben sie wahrscheinlich gebetet. Da sieht man noch Meißelhiebe, und auch nach unten führen die Gänge, und wo es sein muss, da ist eine kupferne Leiter angebracht.

Wer hat diese gefertigt und angebracht? Die Jangas, sagen wir, die Geistersklaven. So ist die ganze Sage erst entstanden, dass hier das Schattenreich ist, in dem die toten Könige mit ihren Sklaven herrschen. So glaubt das Volk, auch die Priester müssen es glauben. Wehe ihnen, wenn sie wenigstens anders sprechen. Natürlich gibt es auch kluge Köpfe unter ihnen.«

Die Negerin schwieg, und die Indianerin senkte sinnend den Kopf.

»Führen solche unterirdische Schächte auch an fließendes Wasser?«

»Ja, einige. Die meisten Gänge sind ja trocken, aber es gibt auch einige, in denen noch tiefes Wasser fließt.«

»Salziges?«

»Nein, trinkbares.«

»Wie tief sind solche Schächte, die auf Wasser stoßen?«

»O, tief, sehr tief!«

Weiter konnte es die Negerin nicht angeben.

»Wo sind diese Schächte?«

»Am Jangapo, am See, auf beiden Seiten.«

»Sonst nirgends?«

»Nein. Wir haben wenigstens noch keine anderen gefunden. Doch Du musst bedenken, dass das Betreten des freien Landes ja selbst den Priestern verboten ist, nur dem Oberpriester und der Oberpriesterin ist es erlaubt, und es ist immer nur ein Zufall, wenn wir einen neuen Schacht mit Kupferleiter finden. Aber außerhalb jener Höhlen am See ist das überhaupt noch nie der Fall gewesen.«

»Gut. Mehr brauche ich jetzt davon nicht zu wissen, und ich muss mich beeilen. Kannst Du denn den Weg hier durch den Sumpf auch im Finstern finden?«

»Nein, das vermag ich nicht. Nur ein einziger falscher Sprung und der einmal gefangene Fuß kommt nicht wieder frei, man wird vom Sumpfe verschlungen.«

Dann musste sie bald den Rückweg antreten. Da die Sonne hinter dem Hügel untertauchte, begann es hier im Schatten des Urwaldes schon zu dunkeln.

»Wann kannst Du wieder dort sein?«

»Am See? Ein schneller Fußgänger braucht zwei Stunden, ich nur eine.«

»Und Du kannst die Gefangenen sofort befreien?«

»Sofort. Wer will mir, der Oberpriesterin, verwehren, dass ich sie mit mir nehme, wohin ich will?«

»So eile und bringe sie hierher, lagert bis zum Anbruch des Tages am Sumpfe.«

Sofort wandte sich die Negerin zum Gehen, nur einmal stockte ihr Fuß, sie blickte zurück.

»Wie Du befiehlst, Herrin, die Du mich besiegt hast, aber ich selbst kann dann nicht wieder zurück.«

»Ich glaube es. Du hast dann keine Heimat mehr.«

»Nein, und wo man mich sieht, wird man mich wie ein wildes Tier hetzen.«

»Ich werde Dir eine neue Heimat geben, in der Du meine Freundin sein sollst. Eile, und wenn möglich, so bringe auch alle die Sachen mit, die man den Gefangenen abgenommen hat. Und selbstverständlich auch das weiße Weib.«

Es war das letzte Wort gewesen, das Atalanta zu der Negerin gesagt, ihr schon nachgerufen hatte.

Sie schwang sich wieder in den Zweigen empor, strebte dem Stammende zu, benutzte nicht wieder den Lasso, sondern sprang gleich hinab. Den Rückweg schnitt sich diese Indianerin dadurch sicher nicht ab, sie würde schon wissen, wie sie das Ende des Lassos dort oben wieder befestigte.

Hier unten betrug der Durchmesser der Höhlung mehr als drei Meter, und neben dem Humushaufen gähnte eine schwarze Öffnung, mit Steinplatten eingefasst, eine größere Steinplatte lag auch daneben, und in dem Loche sah man das Ende einer kupfernen Leiter. Atalanta stieg hinab, wohl gegen fünfzig Meter tief, und da konnte man annehmen, dass hier schon wieder fester Steinboden war, auf dem der Sumpf lagerte.

Ein Tunnel zog sich entlang, und aus gewissen Anzeichen, so zum Beispiel, dass es wohl Ecken und Vorsprünge gab, die aber alle gleichmäßig abgerundet waren, konnte man schließen, dass hier einst Wasser geflossen war. Jetzt war er ganz trocken.

Bis hierher war Atalanta schon vorhin gekommen. Ohne dass auf dem felsigen, staublosen Boden eine Fährte entstehen konnte, hatte ihr der Spürsinn, mit dem sie den besten Hund übertraf, schon vorhin gesagt, nach welcher Richtung sich Arno gewandt hatte — nach jener, die unter das feste Land führte.

Atalanta nahm ihre unterirdische Wanderung auf, mit schnellen Schritten und diese zählend. Zur Vorsicht schickte sie doch lieber den Blendstrahl ihrer Taschenlampe voraus, die eine unerschöpfliche Elektrizitätsquelle besaß.

Für einen anderen Menschen wäre dieses Licht auch sehr nötig gewesen. Denn schon nach wenigen Schritten gähnte zu ihren Füßen abermals ein Schlund, den schmalen Gang in seiner ganzen Quere einnehmend und breiter als ein Meter, sodass man also mit einem gewöhnlichen Schritt hineinstürzen musste. Daneben lag die dünne, abgedeckte Steinplatte. In dem Loche war gleichfalls das Ende einer kupfernen Leiter zu erblicken, jedoch nicht über den Boden hervorsehend.

Wie nun, wenn Arno hier hineingestürzt war? — Musste das nicht eigentlich der Fall sein, wenn er nicht gerade Riesenschritte gemacht, die ihn zufällig darüber hinweg geführt hatten?

Aber nein, die Indianerin brauchte drüben ihre Spürnase nur etwas dem Boden näher zu bringen und sie wusste, dass der Flüchtling hier weitergeeilt war.

Sie untersuchte die Steinplatte und erkannte sofort, dass diese erst jetzt abgehoben worden war. Arno hatte ihre Bedeutung untersucht, dann war er weiter geeilt, ohne die Öffnung wieder zuzudecken — sehr leichtsinnig, oder aber er hatte seinen Verfolgern mit Absicht eine Falle offen gelassen.

Doch so durfte man gar nicht kalkulieren. Wer kannte denn die Gemütsverfassung dieses unglücklichen Mannes.

Auch Atalanta hielt sich nicht mit einer Untersuchung dieses senkrechten Schachtes auf, ihr galt nur der flüchtige Gatte; sie schritt schnellen Fußes weiter.

Der Tunnel wollte kein Ende nehmen. Es kamen manchmal Abzweigungen, aber Arno hatte immer die ursprüngliche Richtung verfolgt.

Eine zweite Steinplatte lag am Boden, sicher einen neuen senkrechten Schacht verdeckend, doch Arno hatte sie nicht gehoben, und so tat es auch Atalanta nicht.

Wie lange war sie nun schon gewandert, wie weit war sie gekommen?

Nun, sie hatte nach der Uhr gesehen und die Schritte gezählt.

Anderthalb Stunden waren schon vergangen, in denen sie mindestens sechs englische Meilen zurückgelegt hatte, freilich mit vielen Krümmungen.

Da ging, obgleich sich der Tunnel noch immer fortsetzte, an der Wand eine Leiter aus starkem Kupferdraht hinauf, mit kupfernen Nägeln im Felsen befestigt.

Kupfer haben die afrikanischen Völker eher zu gewinnen und zu bearbeiten verstanden als Eisen, wie überhaupt alle Menschenrassen — daher die Bronzezeit.

Hier belieb Atalanta stehen, betrachtete den Kupferdraht aufmerksam, reckte sich auf den Fußspitzen empor und küsste eine Stelle — denn an dieser Stelle hatte seine Hand geruht.

Dann stieg sie schnell hinauf, höher und immer höher, hier wohl noch höher als fünfzig Meter.

Wieder kam ein Gang, den Arno verfolgt hatte.

Nach einer Weile blieb sie stehen und lauschte, denn jetzt vernahm sie Stimmen!

Mit verzögertem Schritte schlich sie weiter.

Die englischen Worte wurden immer deutlicher, dann erblickte sie jenseits einer Ecke einen Lichtschein, und aus derselben Öffnung kam auch die Stimme.

Es war nur ein sehr kleines Loch in der Wand, Atalanta musste die Arme heben, um es zu erreichen, sie konnte nur eben beide Hände hineinlegen, so zog sie sich hoch. Und was sie da zu sehen bekam, das ließ sie die weitere Verfolgung des Geliebten vorläufig vergessen, obgleich sie wusste, dass er durch diese Verzögerung ihr wiederum entkommen konnte.

Aber sie erblickte ihre Gefährten in höchster Not, und da kannte sie jetzt nur eine einzige Pflicht, wenn diese erst auch nur darin bestand, sie zu beobachten.

In einem Felsenraum, von einer Öllampe erhellt, lagen am Boden auf einer Matte Sörensen und Hagen, an Händen und Füßen gebunden.

Zwei Neger waren damit beschäftigt, einen merkwürdigen Apparat aufzubauen, eine Art von Gerüst, von dem ein Schlauch herabhing.

Neben Sörensen kauerte ein dritter Neger, der Ukangara, fütterte jenen mit einem Holzlöffel aus einem großen Napfe, der einen weißen Brei enthielt.

Der Däne war satt, er wollte nicht mehr schlucken und wusste den Löffel abzuwehren, aber das eben forderte den Hohn des Ukangaras heraus.

»Ha, Du magst den leckeren Brei nicht mehr, mein Püppchen — ja, glaubst Du denn, wir können unserem König solch einen knochendürren Hund als Sklaven schicken? Nein, fett musst Du sein, platzen musst Du, ersticken in Deinem eigenen Fett, dann wird sich der Jangakönig freuen und uns loben, und dann hast auch Du Aussicht, an seinem Schattenhofe einen hohen Posten einzunehmen. Also Du willst nicht mehr essen, mein Liebling? Warte, dann bekommst Du das schöne Süppchen auf andere Weise eingelöffelt. Seid Ihr fertig?«

Der Apparat war fertig. Der Däne wurde unter die Stellage geschleift, auf den Rücken gelegt, bekam vor das Gesicht eine Maske geschnallt, an welcher der Schlauch endete. Oben war an diesem ein Trichter befestigt, der Mehlbrei wurde langsam hineingegossen, der Mann, dem ein Stückchen Schlauch in den Mund gesteckt und der durch die Maske am Ausspucken verhindert war, musste schlucken, ob er wollte oder nicht, sonst erstickte er.

Atalanta wusste alles, konnte sich alles erklären.

Alle menschenfressenden Völker Afrikas, und solche gibt es ja noch genug, mästen ihre Opfer erst, wenn diese zu mager sind und die Neger nicht gar zu sehr vom Hunger geplagt werden.

Dazu verwenden sie sämtlich Durra, Hirse, die überhaupt sehr schnell fett macht, und nun haben sie alle noch ein besonderes Mittel, eine Art Hefe, welche die Verdauung und den Fettansatz ungemein fördert. Innerhalb von drei bis vier Tagen machen die auch den magersten Menschen, bei dem sonst kein Mittel anschlagen will, kugelrund. Eben durch diese Zwangsfütterung, durch eine Mästung, gegen welche das sogenannte Nudeln unserer Gänse noch ganz harmlos zu nennen ist.

Dass die Widas Menschen jemals gefressen haben, davon weiß man nichts. Wohl aber haben sie die Sklaven, die sie dem König ins Schattenreich nachschickten, immer erst einige Zeit gemästet. Denn in Dahomey ist wie in noch vielen anderen Ländern, wie auch in China, Fettheit ein Zeichen von Reichtum und Vornehmheit, und man wollte dem toten König, den man so ehrt, doch nicht magere, verhungerte Geisterseelen liefern.

Nun, dieser Däne hätte allerdings etwas mehr Fleisch auf den Knochen auch sehr nötig gehabt, gar nicht zu sprechen von Kapitän Hagen, der sich ja selbst oft genug einen Windhund genannt hat. Der Vergleich mit einem englischen Rennpferd wäre richtiger gewesen. Denn wirkliche Pferdeknochen hatte er.

Also Mister Sörensen musste schlucken, obgleich er wohl in seinen Magen schon vorhin nichts mehr hineingebracht hatte. Eine angenehme Empfindung konnte das nicht sein. Die Holzmaske bedeckte nicht ganz das Gesicht, und da sah man, was für verzweifelte Grimassen er schnitt, wie seine Augen die Höhlen zu verlassen drohten.

Aber die Qual nahm bald ein Ende. Der Ukangara hatte doch schon seine Erfahrung hierin, wusste, wie viel er einfiltrieren durfte, ohne den Leib zu zerplatzen, was recht wohl möglich ist. Und töten wollte man die Gefangenen doch jetzt noch nicht.

»Hat es geschmeckt?«, höhnte er, als er Maske und Schlauch wieder entfernte, wie er schon immer gehöhnt hatte. »So, nun ruhe Dich etwas aus — nur ein Viertelstündchen, dann geht schon wieder etwas hinein — o, das ist ein wundervoller Brei, wie schnell der durch den ganzen Leib geht — und inzwischen kommst Du daran, Du langes Knochengerippe!«

Die ganze Prozedur hatte nur wenige Minuten gedauert, und während derselben hatte auch der zuschauende Hagen nicht mit Worten gespart, er hatte den Folterknechten Namen gegeben, die sie verdienten, und alle Flüche des Himmels auf sie herabgewünscht.


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Aber das half ihm alles nichts, jetzt ward auch er an den Füßen gepackt und unter die Stellage geschleift, während der Däne mit sichtbar geschwollenem Leibe wieder auf seine Decke zurückgelegt worden war.

»Ihr Hunde, wenn ich nur erst meine Hände frei hätte —«

Und da zeigte es sich, dass der deutsche Steuermann sich unterdessen nicht begnügt hatte, seinem Zorn in Worten Luft zu machen, sondern auch bemüht gewesen war, seine Banden zu sprengen.

Plötzlich kamen, wie er eben die Maske vor das Gesicht gebunden bekommen sollte, unter seinem Rücken seine beiden Hände zum Vorschein, zwei der Neger konnte er sofort bei den Beinen fassen, er brachte sie mit einem Ruck zum Sturz, dass sie über ihn fielen, der dritte, der Ukangara, sprang unvorsichtigerweise ebenfalls herbei, vielleicht in der Meinung, seine beiden Genossen hätten sich nur deshalb über den Mann geworfen, um ihn zu überwältigen — sofort wurde er beim Fuße erwischt und ebenfalls zum Sturze gebracht — und nun umschlang Hagen mit seinen Armen gleich alle drei, presste sie zusammen, wälzte sich herum, dass er auf sie zu liegen kam, richtete sich etwas auf, kniete auf den einen, nahm die beiden anderen beim Genick und schmetterte sie mit den Köpfen zusammen, dann den dritten Kopf gegen den Steinboden stoßend, und er konnte sicher sein, nur noch drei Leichen unter sich zu haben. Denn die drei menschlichen Köpfe waren schrecklich zugerichtet, und außerdem hatten die knöchernen Bärentatzen ihnen gleich das Genick gebrochen.

Nun riss er dem Ukangara das Messer aus dem Gürtel, durchschnitt die Stricke an seinen Füßen und sprang auf.

Diese Befreiungsszene hatte sich in weit kürzerer Zeit abgespielt, als dies hier erzählt werden konnte, in wenigen Sekunden.

»Bravo!«, rief Atalanta, noch immer im Klimmzug hängend, mit unterdrückter Stimme.

Hagen war sofort zu dem Dänen hingesprungen, um auch diesen von seinen Fesseln zu befreien. Bei dem Rufe stutzte er und schaute sich verwundert um.

»Wer war das? War das nicht die Stimme der Gräfin?«

»Hier — hier bin ich — an dem Wandloche.«

Hagen blickte hin, dann führte er erst sein Vorhaben aus, durchschnitt des Dänen Fesseln und nun ging er hin. Er mit seiner mächtigen Gestalt konnte gerade hineinblicken, aber die Felswand war mindestens einen halben Meter dick.

Schnell verständigten sie sich, alles Nebensächliche beiseite lassend, nur die gegenwärtige Situation erwägend.

»Wissen Sie, wie Sie hierher gekommen sind? Finden Sie den Weg ins Freie?«, fragte Atalanta.

»Hier ist ein Ausgang, durch den wir auch hereingetragen worden sind, er ist unverschlossen, aber wohin er uns führt, das weiß ich nicht.«

Das Fatalste war jetzt, dass die beiden so wenig zu Atalanta heraus wie diese zu ihnen hinein konnte. Hätten sie durch das Loch kriechen können, so wären sie ja sofort gerettet gewesen. Aber durch dieses Loch konnte man ja kaum den Arm stecken, und ein anderes, größeres war nicht vorhanden. Jedenfalls wussten ja auch die eingeweihten Priester gar nichts von diesem benachbarten Gange.

»Ist denn die Wotulala schon bei Ihnen gewesen?«

»Das schwarze Riesenweib? Heute früh, kurz nachdem wir beide in die Schlangenhöhle gesteckt wurden, in der sich Miss Morgan schon befand, hat sie wenigstens einmal ihre Stimme vernehmen lassen.«

»Jetzt erst vor kurzem hat sie sich nicht wieder gezeigt?«

»Nein.«

»Dann hat sich ihre Ankunft verzögert, sie müsste schon hier sein, oder sie ist durch sonst etwas bisher von Ihrer Befreiung abgehalten worden.«

»Sie will uns befreien?!«

»Ja, ich habe mich mit ihr verbündet, sie ist unsere Freundin geworden. Ich rate Ihnen also, Kapitän, sich nicht von hier fortschleichen zu wollen, wobei Sie doch vielleicht gesehen werden können, wobei es dann also wieder zu einem Kampfe kommt, sondern hier auf die Oberpriesterin zu warten — —«

»Kapitän, die Wotulala!«, schrie da Sörensen.

Plötzlich stand das Riesenweib mitten in dem Raume, hinter Hagen, der ihr Kommen natürlich nicht bemerkt hatte.

»Was!«, rief sie beim Anblick der drei Neger mit den zerschmetterten Köpfen. »Ich komme zu spät, Ihr habt Euch schon selbst befreit!«

Hagen war herumgefahren, und es war gut, dass er nun schon wusste, eine Freundin vor sich zu haben. Sonst hätte er sich doch sofort auf sie geworfen, und er hatte ein Messer in der Hand, das er sicher gebraucht hätte.

»Auch ich bin hier, Wotulala!«, ließ sich Atalanta vernehmen.

»Du hier?! Wo bist Du?«

»Hier hinter der Felswand, in einem Gange.«

»In was für einem Gange?«

»Der von jenem Baobab bis hierher führt. Weißt Du nicht, dass sich hier ein Gang befindet?«

»Nein.«

»Ich erzähle Dir später. Kannst Du die beiden ins Freie bringen und sie nach der kleinen Sumpfinsel oder doch bis an den Waldrand führen, wie wir ausgemacht hatten?«

»Soeben wollte ich sie ja abholen, nur dachte ich, den Ukangara und seine beiden Gehilfen noch lebend zu finden.«

Sehr gleichgültig hatte es die Oberpriesterin gesagt.

Sie schien sich aus dem Tode ihres männlichen Kollegen nicht viel zu machen.

»Und kannst Du nun auch das Weib aus der Schlangenhöhle befreien?«

»Die habe ich schon an einen sicheren Ort gebracht, wo sich auch alles befindet, was den Gefangenen abgenommen wurde.«

»So eile ich weiter.«

Ein Licht in der Finsternis

Schneller als zuvor setzte Atalanta ihren Weg fort.

Sie hatte ja höchstens zwei Minuten verloren, die musste sie bald wieder einholen können.

Sie wunderte sich überhaupt, dass sie schon vorher den Flüchtling noch nicht eingeholt hatte, es war etwas Rätselhaftes für sie dabei.

Hier unten hatte doch immer undurchdringliche Finsternis geherrscht. Arno besaß ganz sicher keine Lampe, hatte keine Fackel benutzt, er hatte sich immer, besonders wenn der Gang breiter wurde, dicht an der Wand gehalten, an dieser mit der Hand hingleitend, also immer tastend, eben weil er nicht die Gabe dieser Indianerin besaß, die sie mit den Nachttieren teilte, auch im Dunkeln ziemlich gut sehen zu können.

Wie war es nur möglich, dass er dennoch so schnell vorwärts gekommen war? Er musste geradezu gerannt sein, immer Gefahr laufend, in eine Schlucht zu stürzen oder in vollem Laufe gegen eine Wand zu schmettern.

Oder welcher Mensch denkt bei einer Flucht auf einem finsteren, ihm unbekannten Wege nicht an solch eine Gefahr?

Das tut nur der Verzweifelte, der von Todesangst Gehetzte nicht, der stürzt vorwärts, ohne sich solch ein Hindernis auszumalen, oder derjenige, dessen Geist sich selbst in ewige Nacht gehüllt.

Atalanta wagte diese Gedanken gar nicht auszudenken.

Ja, und doch, wie er so einen ganzen Tag und eine ganze Nacht regungslos unter dem Baume gelegen hatte, und wenn er sich einmal erhoben, um seinen Hunger an den Brotfrüchten zu stillen, sollte er einen so verstörten, gänzlich veränderten Gesichtsausdruck gehabt haben — schon begann Atalanta das Schlimmste zu fürchten, auch für den Fall, dass sie ihn glücklich erreicht hatte.

So war sie wieder fünf Minuten geeilt, jetzt rennend, als sich der Gang ungemein zu erweitern begann, wie es bisher noch niemals der Fall gewesen war.

Dann stockte ihr Fuß einmal, sie lauschte.

War das nicht ein Rauschen und Gurgeln von Wasser?

Ja, aber so schwach, dass es wohl nur ihr überaus feines Ohr vernahm.

Sie eilte weiter, den Blendstrahl vorausschickend, und plötzlich schnürte sich ihr Herz in verzweifelter Angst zusammen, ohne sich zunächst über den Grund Rechenschaft ablegen zu können.

Und dann sah sie es, ihre schreckliche Ahnung bestätigte sich.

Vor ihr öffnete sich ein Schlund, die ganze Breite des Ganges einnehmend, mindestens zehn Meter, jenseits in noch größerer Entfernung erhob sich eine glatte Felswand, die diesen Gang also abgeschlossen hätte, nur dass zuvor eben die Schlucht kam, und dort unten in einer Tiefe von etwa zwölf Metern floss schnell ein schwarzes Wasser, das natürlich Öffnungen zum Ein- und Abfluss haben musste, aber diese Öffnungen waren nicht zu sehen, das Wasser stand noch höher, und daher auch das Gurgeln beim Abfließen an dem großen Strudelloch.

Auch nach diesem reißenden Wasser führte eine kupferne Leiter hinab, aber die war ganz an der rechten Seite angebracht, und der Flüchtling hatte sich an der linken Wand gehalten, da konnte sich der Spürsinn dieser Indianerin nicht irren.

Und sofort ward ihr alles klar, wie konnte es auch anders sein!

Diese breite Wasserspalte war das erste unverdeckte Hindernis gewesen, das sich dem so gut wie blinden Flüchtling entgegengestellt hatte, und — er war hinabgestürzt!

Es konnte ja gar nicht anders sein. Kein Seitengang führte von hier ab. Zu überspringen war die Schlucht nicht. Und hier auf der linken Seite, wohin das Wasser abfloss, hörte seine Spur auf!

Er war hinabgestürzt, das Wasser hatte ihn in das Strudelloch hineingerissen!

In dem Moment, als dies der Indianerin zur Erkenntnis kam, senkte sich auch über ihre Augen schwarze Nacht, mit einem Weheruf brach sie zusammen.

»Jetzt habe ich ihn verloren für immer, hier hat er seinen Tod gefunden!«

Im nächsten Augenblick aber war es ihr, als ob ein heller Lichtstrahl ihre Augen träfe, die sie doch geschlossen hielt. Nur ein Gedanke war es, der diesen Lichtstrahl erzeugte.

»Ja, hat mir aber der Brahmane nicht immer und immer wieder versichert, dass ich ihn doch noch wiederfinden werde, um an seiner Seite noch ein langes, volles Glück zu genießen?! Wie kann er da hier seinen Tod gefunden haben?«

Bei diesem hoffnungsvollen Gedanken schlug sie die Augen wieder auf und — erblickte wirklich einen hellen Lichtstrahl!

Von unten aus dem schwarzen Wasser kam er herauf, wohl noch etwas umflort, aber schnell an scharfer Deutlichkeit zunehmend, und da gesellte sich ihm ein zweiter ebensolcher Lichtstrahl bei.

Nur wenige Sekunden hatte Atalanta hinabgestarrt, als traue sie ihren Augen nicht, dann jauchzte sie auf.

»Die beiden Unterseeboote, der Pilot und der Delfin!«

Schnell zog sie ihre Telefonuhr, wollte sie auf das Wort »Delfin« einstellen, aber es war nicht mehr nötig, schon tauchte der Rücken eines zwei Meter langen Fisches auf, dem alsbald ein weit größerer folgte, sie hielten sich hintereinander, und auf dem Rücken des letzteren klappte alsbald ein Deckel empor, der grauhaarige Kopf eines Mannes mit mongolischen Zügen tauchte auf.

»Sanyasi! Sie erscheinen mir aus der finsteren Wassernacht wie ein Engel vom Himmel, der mir ein Zeichen bringt!«

Der alte japanische Ingenieur, der die unterirdische Wasserexpedition führte, wenn er selbst auch dem kleineren Pilot folgte, der von einem gewöhnlichen Matrosen gesteuert wurde, war nicht minder erstaunt und beglückt, seine Herrin dort oben zu erkennen, zuerst an der Stimme, bis der Lichtstrahl auf ihr Gesicht fiel.

»Frau Gräfin, Sie hier?! Es ist während der langen, langen Fahrt das allererste Mal, dass wir eine Mündung nach oben finden, und sofort müssen wir Sie hier treffen. Haben Sie uns denn hier erwartet?«

Aber Atalanta hatte jetzt keine Zeit zum Erklären, und es war ja überhaupt nur ein wunderbarer Zufall gewesen.

Sie kletterte an der Leiter hinab, verschwand im Innern des Delfins. Von den sechs Plätzen waren nur drei besetzt, denn es war ja schon damit gerechnet worden, drei Personen von hier abzuholen, falls es gelang, hier an die Oberfläche der Erde zu kommen.

»Fort mit der Strömung!«

Die beiden Unterseeboote setzten sich wieder in Bewegung, das heißt, sie ließen sich nur treiben, wie es Atalanta verlangte.

Beide waren durch ein ziemlich langes Stahlseil miteinander verbunden, falls der vorausfahrende Pilot einmal stecken blieb, dass er durch die Kraft des anderen zurückgeholt werden konnte, was allerdings, wie der Ingenieur dann später berichtete, noch niemals nötig gewesen war. Noch immer hatten sich die eingezeichneten Wasserläufe breit genug erwiesen, um auch den viel stärkeren Delfin durchzulassen.

»Jetzt wissen wir auch, was die Kreuze und Sterne zu bedeuten haben. Sie kennzeichnen Stellen, an denen die Magnetnadel abgelenkt wird, wahrscheinlich durch Eisenerzgänge. Die Kreuze lenken sie nach Backbord, die Sterne nach Steuerbord ab, oder vielmehr nach Westen, respektive nach Osten, und die Anzahl der Zeichen gib die Zahl der Striche an.«

»Ach, was interessiert mich das jetzt! Tauchen Sie unter, tauchen Sie unter!«

Der Pilot war schon in das Strudelloch hineingetaucht, der Delfin folgte an lockerer Stahltrosse.

Das rätselhafte Diffusionslicht, das also von außen gar nicht gesehen werden konnte, verbreitete ringsherum Tageshelligkeit, die auch unter Wasser nicht getrübt wurde, wenn dieses nur einigermaßen klar war.

Und nichts als Wasser hatte es hier auch zu durchdringen. Es war einfach eine natürliche Wasserröhre, sehr geräumig, aber auch oben keinen Streifen Luftraum enthaltend.

Also die Boote durften nur mit der Strömung treiben, und dabei maß Atalanta mit Hilfe eines Apparates die Schnelligkeit der Strömung und zählte die Sekunden.

»26 — 27 — 28 — 29 — 30 — — —«

Immer krampfhafter schnürte sich ihr Herz zusammen.

Das der unterirdische Fluss in der Sekunde vier Meter machte, so reißend war er, das hatte ja dabei nichts zu sagen. Wohl aber hat eine halbe Minute für einen Schwimmer unter Wasser gar viel zu bedeuten, besonders wenn er unvorbereitet tauchen muss.

»31 — 32 — 33 — — —«

Da jauchzte sie laut auf.

Plötzlich erweiterte sich der Tunnel hoch nach oben, über dem Wasser war wieder Luft.

»So lange hat er aushalten können, jetzt vermochte er wieder richtig zu schwimmen, zu atmen!«

Die Boote, an der Oberfläche fahrend, wurden in selbstständige Bewegung gesetzt. Wie die Pfeile schossen sie dahin. Aber scharfe Augen genug beobachteten die vorausliegende Wasserfläche, dass man nicht an dem Schwimmer vorbeifuhr, ihn etwa gar überrannte.

Einige Minuten vergingen.

Da grollte in der Ferne ein Donner.

»Ein Wasserfall!«, erklang es erschrocken.

Solche Wasserfälle hatte man in diesem Lande in der Camera obscura schon genug beobachtet, und was für mächtige!

Gleich darauf zuckte es vor ihnen mehrmals grell auf, Donnerschläge folgten.

»Gelobt sei der Allmächtige, es ist kein Wasserfall, dessen Donnern wir hören, sondern es ist einfach ein Gewitter, wir sehen schon den Ausgang des Wassertunnels, dort mündet er ins Freie!«

Wieder eine Minute später hatten sie diesen Ausgang erreicht, der Fluss verbreiterte sich zum Strom und floss nun ziemlich ruhig durch die Steppe.

Atalanta blickte zur Luke heraus. Hinter ihnen lag das felsige Gebirge, vor ihnen die ebene Steppe. Unaufhörlich zuckten die Blitze, rollten die Donner, vorläufig noch ohne Regen.

»Dort läuft er!«, rief ein Matrose mit ausgestreckter Hand.

Ja, auch Atalanta hatte ihn schon gesehen im Lichte der Blitze.

Über die Steppe jagte in großen Sprüngen ein Mann, er konnte soeben erst das Ufer erreicht haben.

Auch der Delfin befand sich gar nicht weit vom Ufer entfernt, durfte sich aber auch nicht näher wagen, und sofort sprang Atalanta ins Wasser, erreichte mit wenigen Stößen das feste Land, setzte dem Flüchtling nach, der in den unaufhörlich zuckenden Blitzen immer wieder einmal auftauchte.

»Arno, mein Arno, so stehe doch — Deine Atalanta ist es, die Dir folgt!«

So gellte es durch die Nacht.

Allein es kam keine Antwort, der Flüchtling stand nicht.

War es etwa eine wahnsinnige Angst, die ihm förmlich die Schwingen eines Vogels verlieh?

Es war sehr zweifelhaft, ob die schnellfüßige Indianerin, welche die Elefantenjägerin spielend überwunden hatte, ihn einholen würde.

Da plötzlich, wie eben wieder ein greller Blitz den ganzen Himmel in Flammen setzte, sah sie ihn stürzen.

Nun noch einmal alle Kraft zusammengenommen, ihre Füße berührten kaum mehr den Boden, und sie hatte ihn erreicht, gerade wie er sich aufrichtete und zum neuen Sprunge ansetzte.

»Arno, Atalanta ist es — —«

Da drehte er sich um.

»Atalanta, Atalanta!«, stieß er hervor, die Arme ihr entgegenstreckend.

Aber nicht, um sie liebevoll zu umfangen.

In wildem, rauem, heiserem Tone hatte er es hervorgestoßen, sein sonst so schönes Antlitz war wie von Wut verzerrt, und so packte er sie.

Nicht zur seligen Umarmung, sondern zum verzweifelten Ringkampf kam es in der von Blitzen durchleuchteten Nacht.

Er hatte sie sofort am Halse gepackt und würgte sie.

»Atalanta, Atalanta!«

Nichts anderes keuchte er dabei hervor, während er sie zu erwürgen versuchte.

Auf solch einen Angriff war die Indianerin nicht vorbereitet gewesen, und der Schreck, die Verzweiflung, lähmten ihr vollends die Kräfte.

Nur eine schwache Gegenwehr, dann sank sie in die Knie, um sich erwürgen zu lassen, nur seine Knie umschlingend, um zu seinen Füßen zu sterben.

In einer halben Minute wäre es mit ihr vorbei gewesen.

Da aber wurde der riesenhafte Mann von hinten von herkulischen Zwergen gepackt. Zwei japanische Matrosen waren nachgeeilt, und sie kamen zur rechten Zeit, um ihre Herrin vom Tode zu erretten.

Als sie den würgenden Griff an ihrem Halse sich lockern fühlte, raffte sich auch Atalanta wieder auf und half mit, den Rasenden zu überwältigen. Die drei hatten dabei alle ihre Kräfte anzustrengen.

»Atalanta, Atalanta!«, keuchte er dabei, nichts weiter.

Bis auf diese menschliche Stimme war es ein wildes Tier, das sie zu überwältigen hatten — nur dass es nicht biss.

Dann lag er gebunden und geknebelt am Boden, so wurde er davongetragen — ein vom Wahnsinn Befallener, der sich wirklich für ein wildes Tier hielt, für einen Waldmenschen, vielleicht für einen Gorilla, deren er hier genug gesehen hatte.

Das war das erhoffte Wiedersehen gewesen!

Ein neuer Auftrag

Sie alle befanden sich wieder an Bord des »Mohawk«.

Der Delfin hatte sie auf unterirdischem Wasserwege zurückgebracht. Auch Wotulala hatte den engen Raum benutzt. Nur Miss Morgan hatte das Boot sofort verlassen, als es an der Küste wieder aufgetaucht war, und sich nach der Hafenstadt Wida begeben.

Was kümmerte sich Atalanta darum, was aus den schwarzen Gefangenen würde, die zum Schlachtopfer bestimmt waren. Sie hätte überhaupt gar nicht rettend eingreifen können. Und die Sache anzeigen? Mochten diese Neger doch treiben, was sie wollten, und wenn es für sie ein religiöser, heiliger Kultus war, wie durfte sich denn da überhaupt jemand einmischen?

Es sind Ansichten, die sich aber recht wohl verteidigen lassen. Gesetzt den Fall, auf unserer Erde erschienen fremde Wesen, Bewohner vom Mars, mit ungeheuren Machtmitteln ausgerüstet, und sie wollten uns Menschen ihre Gesetze diktieren, die auf dem Mars herrschen — kann man sich ausmalen, was daraus werden würde? Wenn (1) wir nur noch die Sklaven dieser hochentwickelten Geschöpfe sein sollen, so ungefähr Zugtiere. Kurd Laßwitz hat solch eine Situation in seinem Roman »Auf zwei Planeten« sehr anschaulich geschildert.

(1) Im Original steht die falsche Schreibweise ›Kurt von Laßwitz‹. Der Roman Auf zwei Planeten ist erstmals 1897 erschienen.

Atalanta war wieder vereint mit ihrem Gatten — um getrennter denn je von ihm zu sein! Jetzt nicht nur körperlich, sondern auch geistig, seelisch.

An einer Tür, die viel fester war, als sie aussah, von keiner menschlichen Gewalt zu sprengen, stand Kapitän Hagen und blickte durch ein Glasfenster, das dieselbe Eigenschaft besaß.

Er blickte in einen Raum, der ganz gepolstert war, der sonst nichts weiter enthielt, in dem nur ein weißgekleideter Mann am Boden lag, das Gesicht in den Armen vergraben, so wie er einen Tag und eine Nacht und fast wieder einen Tag auf jener Sumpfinsel bewegungslos gelegen hatte, wenn ihn nicht Hunger und Durst zum Aufstehen nötigten.

»Atalanta — Atalanta«, wimmerte er fast unausgesetzt in den Boden hinein, kein anderes Wort weiter, und diesen Namen mochte er auch schon dort unter dem Baume immer gewimmert haben.

Wehe aber, wenn er sie erblickte, die seine ganze Gedankenwelt sehnsüchtig ausfüllte! Sie durfte seine Zelle so wenig betreten wie irgend ein anderer Mensch. Sofort schnellte er auf, stürzte sich auf den Betreffenden, wie auf die Gattin, mit einem Wutschrei suchte er sie zu erwürgen.

Er erkannte sie eben nicht. Schon wiederholt hatte es verzweifelte Kämpfe gegeben, um die Indianerin, die ihn trotz aller Gefahr immer wieder aufsuchte, aus seinem tödlichen Griffe zu befreien. Denn jetzt in diesem Zustande des Wahnsinns verfügte dieser riesenhafte Mann noch über ganz andere Kräfte als früher.

Man musste äußerst vorsichtig sein, ihm Essen und Trinken hineinzubringen, ihn sonst zu bedienen, was doch unumgänglich notwendig war. Er hatte zwei solcher Räume zu seiner Verfügung, durch eine Falltür mit einander verbunden, eben gerade wie in einem Raubtierkäfig.

Sobald er hörte, dass die Tür aufgezogen wurde, stürzte er hinüber, nicht weil er wusste, dass seiner dort drüben Essen und Trinken harrte, sondern weil er glaubte, einen Weg zur Freiheit offen zu sehen.

Es kam auch öfters vor, dass er aufsprang, um verzweifelt an den gepolsterten Wänden zu kratzen, in der Hoffnung, sie losreißen zu können, weil er eben glaubte, dadurch einen Weg in die Freiheit zu finden — gerade wie ein wildes Tier, bis ihn Hunger und Durst daran mahnten, an die vorgesetzten Sachen zu gehen, worauf er sich wieder hinwarf und von Neuem »Atalanta, Atalanta« winselte.

Nur dass er sich nicht die Kleider abriss, auch das Waschwasser benutzte er — sonst aber gebärdete er sich ganz wie ein wildes Tier — ein Wahnsinniger, der diesem ganz gleicht oder sich gar für ein solches hält.

Schon begannen ihm Haare und Nägel lang zu wachsen, er kümmerte sich nicht darum, und es gab keine Möglichkeit, ihm diesen Dienst zu tun, oder man musste ihn vorher überwältigen, was stets mit Lebensgefahr verbunden war, auch für ihn selbst.

»Ach, es ist ein Jammer!«, erlang da hinter Hagen Littlelus Stimme.

»Ja, für den wäre es besser gewesen, man hätte ihn auf seiner menschenleeren Sumpfinsel gelassen!«, seufzte auch Hagen.

»Um Gottes willen, lassen Sie das nicht die Gräfin hören!«, flüsterte Littlelu erschrocken.

»Ich werde mich hüten. Übrigens glaube ich, es wäre auch dort noch einmal ausgebrochen, die Gelegenheit musste kommen. Vorläufig war ihm das Robinsonleben noch zu neu, er wusste sich nicht zu beschäftigen. Ja, als ganz freier, unabhängiger Mensch so ein Einsiedlerleben zu führen, das lasse ich mir gefallen; aber mit einer heißen Sehnsucht im Herzen — nein, da machte ich auch nicht mit, da würde auch ich mit der Zeit wahnsinnig.«

»Sehr wahr gesprochen«, stimmte Littlelu bei. »Na, und die Gräfin ist ja ganz zufrieden, wenn nicht glücklich.«

»Zufrieden? Glücklich?«

»Ja, die ist ja schon glücklich, dass sie ihn nur sehen kann. Es ist ein Wunder, dass sie hier einmal nicht vor dem Fenster steht. Und dass ich nicht die Hauptsache vergesse, weswegen ich Sie überall suche. Sie möchten doch einmal zu der Frau Gräfin in ihre Kajüte kommen.«

Hagen begab sich hin.

Nein, unglücklich sah die junge Indianerin nicht aus. Ruhig wie immer, und ihr Auge, das früher gewöhnlich einen melancholischen Ausdruck gehabt hatte, blickte jetzt eher heiter.

»Herr Kapitän, Sie haben die Mission, deretwegen ich Sie an Bord nahm, erfüllt. Denn durch Sie habe ich meinen Gatten wiedergefunden, indem Sie ihn zuerst in der Camera obscura erblickten. Es ist zwar alles ganz anders gekommen, aber — doch hierüber wollen wir nicht sprechen. Möchten Sie bei mir an Bord bleiben?«

»Ganz wie Frau Gräfin wünschen.«

»Nein, wie S i e wünschen. Überhaupt höre ich schon aus diesen Worten, dass es Ihnen nicht so sehr bei mir gefällt!«

»Es fehlt mir an Beschäftigung, an nützlicher Beschäftigung.«

»Ich habe es gewusst. Weshalb ich Ihnen nicht einen seemännischen Posten auf meinem Schiffe geben kann, habe ich Ihnen schon einmal gesagt. Jeder einzelne ist besetzt, ein Japaner müsste zurücktreten, und gerade in so etwas ist der Japaner überaus ehrgeizig und leicht zu beleidigen.«

»Frau Gräfin, wenn ich eine Bitte aussprechen darf.«

»Sie wird unter allen Umständen erfüllt.«

»Sie haben ja noch andere Fahrzeuge, die Unterseeboote, vertrauen Sie mir eines an. Was ich während der doch nur kurzen Fahrt von Jangala bis hierher unter der Erde geschaut habe, reizt mich erst recht zu solch unterirdischen Expeditionen.«

»Denselben Vorschlag wollte ich Ihnen machen, ich will Ihnen auch ein ganzes Schiff zur Verfügung stellen. Nur hätte ich erst noch eine andere Mission, die Sie mir abnehmen könnten.«

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

»Es handelt sich um jenen Franzosen, um Monsieur Bertrand — —«

»Na endlich!«, unterbrach sie Hagen mit seiner gewöhnlichen Offenheit. »Ich habe mich schon mit Mister Maxim wiederholt darüber unterhalten, dass wir diesen Schuft doch nicht so laufen lassen dürfen, uns wenigstens erkundigen müssen, wo er geblieben ist.«

»Das habe ich denn auch getan. Wir sind doch erst seit einem Tage wieder an Bord. Ihn mit der Camera obscura zu suchen, das hat keinen Zweck, dazu ist die Erdoberfläche denn doch zu groß und unsere Wand zu klein. Oder es wäre ein wunderbarer Fall, wenn wir ihn einmal auf diese Weise fänden.

Sie wissen, dass ich mich nicht mehr an Land begeben, von der ganzen Welt nichts mehr wissen will. Auch eine Zeitung mag ich nicht mehr lesen. Nun stehe ich aber noch mit den an meinem Sklavensee zurückgebliebenen Japanern durch die Telefonuhr in Verbindung, dorthin kommen regelmäßig Zeitungen, und da habe ich wegen unseres geraubten Aeroplans doch einmal angefragt, ob die Zeitungen vielleicht sein Auftauchen in kultivierten Gegenden schon zu berichten haben. Und wahrhaftig, eine rätselhafte Flugmaschine ist bereits gesichtet worden, über Algier. Ich habe hier das Telegramm aufgeschrieben, das gestern in der ›Pittsviller Post‹ stand und das mir also drahtlos überliefert wurde. Soeben erst habe ich diese Nachricht erhalten und ich habe Sie sofort rufen lassen, Sie sehen also, wie ich immer daran gedacht habe. Bitte lesen Sie.«

Hagen nahm den beschriebenen Zettel und las:

Algier, 19. September. Spezialtelegramm der Western Chronicle, San Francisco.

Heute früh in der achten Stunde wurde über Algier in einer Höhe von etwa

zweitausend Metern ein Aeroplan erblickt. Gute Fernrohre erkannten einen

Zweidecker mit einer Person. Nachdem er eine halbe Stunde über der Stadt

gekreuzt hatte, strich er nach Süden davon, und zwar mit rasender Geschwindigkeit, obgleich in dieser Höhe ein Sturm aus Süden von wenigsten zehn Meter in

der Sekunde herrschte. Aus dieser wunderbaren Kraft, die das Luftfahrzeug besitzt, und besonders auch daraus, dass das untere Deck durchsichtig war, als ob

es aus Glas sei, möchte man schließen, dass es sich wieder um eine Erfindung

handelt, die aus der geheimnisvollen Werkstatt der Gräfin Atalanta von Felsmark am Sklavensee hervorgegangen ist, zumal ihr Schiff, der »Mohawk«, gegenwärtig an der Sklavenküste liegt. Weitere Telegramme folgen.

»Natürlich, das ist unser Franzose!«, rief Hagen. »Passen Sie auf, der etabliert sich auf dem Atlasgebirge, er will sich jedenfalls die nötigen Haremsdamen, von denen er geschwärmt hat, aus Algier besorgen, wo er ja die größte Auswahl hat, und nicht nur unter Araberinnen.«

»Das scheint auch mir sehr möglich«, bestätigte Atalanta wenigstens den ersten Teil dieser Ansicht, »denn wie ich von Mister Sörensen erfuhr, hat Monsieur Arsen Bertrand schon eine Forschungsexpedition im algerischen Atlasgebirge mitgemacht, ist also schon einigermaßen dort bewandert, er spricht außerdem ganz perfekt arabisch, denn seine Mutter ist eine Araberin gewesen.«

»Wie heißt der Kerl? Arsenik?!«

»Nicht Arsenik, sondern Arsen«, lächelte die Indianerin. »Das ist gar kein so ungewöhnlicher französischer Vorname. Was er bedeutet, weiß ich nicht, jedenfalls aber ist der Giftstoff nach einem Manne genannt worden, der diesen Namen geführt hat.«

»Ja, ja, ich weiß schon, ich kenne diesen französischen Vornamen. Immerhin, das ist wunderbar, dieser Name passt ja vortrefflich zu dem, der Kerl hat auch so eine giftige Arsenik-Physiognomie. Ja, haben Sie denn nun, da die Gegend bekannt ist, noch nicht die Camera obscura befragt?«

»Sofort, als ich diese Nachricht erhielt, habe ich Mister Ingenieur an den Apparat gesetzt, er sucht die südliche Gegend von Algier ab, und sobald wir ihn — da meldet sich die Camera schon.«

Ein scharfes, besonderes Klingeln war erschollen.

Sie begaben sich in den kleinen Speisesaal und beobachteten die ersten der Szenen, denen wir persönlich beiwohnen wollen.

Der gelbe Geier

Furchtbare Bestürzung herrschte unter der Bevölkerung des Dschurdschura-Tales, im algerischen Atlasgebirge.

Es sind Kabylen, gegen fünfhundert Köpfe, welche dieses reichbewässerte, äußerst fruchtbare Tal bewohnen, also Araber, von den östlichen kaum zu unterscheiden, allerdings keine Beduinen. Friedlich treiben sie Ackerbau und Viehzucht — sind aber sofort auch zu jedem Beutezug bereit, zu einem Überfall auf den benachbarten Stamm, der in der Bewachung der Taleingänge nachlässig ist, auf eine Karawane, auch zu einem offenen Krieg gegen die französischen Garnisonen der Bergfestungen, wenn ein Vorteil nur einigermaßen sicher ist. Außerdem herrscht innerhalb des Stammes selbst unter den Familien die heilige Blutrache. Ein ewig unruhiges Volk, und das gilt für jeden einzelnen Stamm der Kabylen.

Die Kühe, Schafe und Ziegen waren gemolken worden, die Weiber kochten vor den Hütten und Zelten das Mittagessen, als der Ruf erscholl.

Ein Kind hatte ihn zuerst erblickt, den großen Vogel, der dort am Himmel seine Kreise zog.

Die scharfen Augen der erwachsenen Gebirgsaraber erkannten aber sofort etwas anderes.

Das war nicht nur ein großer, sondern ein riesenhafter Vogel, wie er in Wirklichkeit sonst gar nicht existierte, wie er nur in ihren Sagen vorkam, ein Drache!

Bald aber erklang der Ruf: »Eine Flugmaschine — ein Aeroplan!«

Selbst dieses letzte Fremdwort wurde gebraucht.

Algier lag zweihundert Kilometer von hier entfernt, die meisten Männer waren schon dort gewesen, und Algier ist eine ganz moderne Stadt mit dem höchsten europäischen Luxus, schon viele Schauflüge sind dort veranstaltet worden, von dort aus haben kühne Aviatiker wiederholt Flüge nach Süden unternommen, die ganze Sahara haben sie überfliegen wollen, welcher Versuch bisher freilich immer gescheitert ist.

Kurz, einige der Kabylen hatten einen Aeroplan doch schon gesehen, so ziemlich alle aber von dieser wunderbaren Erfindung gehört, welche die verfluchten Franken, diese ungläubigen Hunde, wieder einmal gemacht hatten, aber die allermeisten konnten sich doch gar kein Bild davon machen.

Als man einen ungeheuren Drachen zu sehen glaubte, einen Vogel Greif, starrte man fassungslos zum Himmel empor, aber als man so eine moderne Flugmaschine erkannte, mit einem Menschen darauf, der sich offenbar in dieses Tal herabsenkte, kam erst die richtige Bestürzung, der Schreck.

Einst waren es diese arabischen Völker, welche unter dem Namen der Mauren die ganze Erde, so weit sie damals bekannt gewesen, beherrscht hatten. Nur durch die wunderbaren Erfindungen der Franken in Kriegsgerätschaften waren sie schließlich besiegt worden. Immer mehr überspannen die Franzosen ganz Nordafrika mit einem Eisenbahnnetz, auf dem sie ihre Soldaten wie die Heuschrecken überall sofort erscheinen lassen konnten, wo es einen Kampf und eine neue Ländereroberung zu machen galt. Was sollte aber daraus werden, wenn die Franken erst auf Luftschiffen zu ihnen kamen, sich aus den Lüften in ihre Täler hinabsenkten, die niemals von einer Eisenbahn erreicht werden können, wenn sie sich auf ihre unersteigbaren Bergfestungen hinaufschwingen konnten, ja, wenn man sie nur aus den Wolken beobachtete?

Dann adé, du freies, herrliches Räuberleben, dem aller Ackerbau und Viehzucht nur als eine Bemäntelung, nur als eine angenehme Nebenbeschäftigung zum Zeitvertreib dient!

Und es war eine Tatsache, der Aeroplan hatte es auf dieses Tal abgesehen. Wie ein Adler, der die Beute erspäht hat, stürzte er herab, nur dass er dabei die Flügel nicht einzog, um erst hundert Meter über dem Boden plötzlich wieder einzuhalten, dann noch ein schräger Gleitflug, und die Zaubermaschine landete sanft auf einer blumigen Wiese.

Es war so schnell gegangen, dass kein Meinungsaustausch möglich gewesen war, wie man den Fremden empfangen solle, an eine schnelle Beratung der Ältesten gar nicht zu denken. Jetzt standen sie in weitem Kreise und starrten die wundersame Erscheinung an.

Ja, es war Monsieur Arsen Bertrand, der sich aus dem Sattel schwang, beim Berühren des Bodens stark in den Kniekehlen zusammenknickend, ein Zeichen, wie lange er im Sattel gesessen hatte.

Aber zum ersten Male konnte er nicht niedergegangen sein, er musste während seinem kolossalen Fluges aus dem Innern Afrikas bis an die Mittelmeerküste schon mit Menschen in Berührung gekommen sein.

Er trug noch dieselbe Kleidung. An seinen gelben Gamaschenstiefeln klebte noch der trockene Morast von Jangala. Aber als er aufgestiegen, war er nur mit einem Revolver und Jagdmesser bewaffnet gewesen, und jetzt war noch ein guter Vorderlader mit Doppellauf hinzugekommen, der neue Brustgürtel war mit Patronen gespickt.

Ferner hatte er jetzt unter seinen Stiefeln dicke Gummisohlen. Die hatte er sich ja leicht beschaffen können. Er kam ja aus dem Lande des Kautschuks. Einfach zwei Platten, wie sie in den Handel kommen, zurechtgeschnitten und irgendwie unter den Stiefelsohlen befestigt. Nur ihr Zweck war merkwürdig.

Außerdem hatte er die durchsichtigen Tragflächen seines Aeroplans kreuz und quer mit blankem Kupferdraht übersponnen, der in Afrika ja auch überall zu haben ist, freilich nur gegen schweres Geld, denn er selbst gilt als Geld. Dieser Mann freilich schien nicht viel dafür bezahlt zu haben, danach sah er gar nicht aus.

Schließlich hing noch an einem der leeren Sättel ein großes Stück angeräuchertes und getrocknetes Fleisch und ein kleiner Sack mit Hartbrot — ein Zeichen, dass er mit dem Geschmack der Universalwurst, die aus dem Proviantkasten quoll, nicht zufrieden war, wie man sie auch mit verschiedenen Essenzen würzen konnte — in welcher Ansicht Littlelu und Kapitän Hagen ganz mit ihm übereinstimmten.

Jetzt schwang er ein Tuch, das ehemals weiß gewesen war, und trotz der schmutziggrauen Farbe ward es als weiße Friedensflagge anerkannt.

Der alte Scheich Abdallah ben Hiram raffte sich auf. Hier gab es kein Zögern mehr. Ein Wink, und die Ältesten und seine Söhne und erwachsenen Enkel und die edelsten Krieger folgten ihm.

»Salaam, Friede sei mit Dir, Scheich Abdallah ben Hiram!«, rief ihnen der Fremde entgegen.

»Inschallah, der gelbe Geier!«, erklang es erstaunt im Chor.

Ja, man kannte ihn noch, diesen Franken mit dem langen, hageren, quittengelben Gesicht und der mächtigen Hakennase. Vor vier Jahren war hier eine Expedition gewesen, welche die Erzgänge dieses Tales und Umgegend hatte erforschen sollen. Die Kabylen hätten sie ja gern überfallen und ausgeraubt, aber sie hatten gar zu viele Soldaten mitgebracht.

Auch dieser Mann war mit dabei gewesen. Den gelben Geier hatten ihn die Kabylen alsbald getauft. Gelbbraun waren sie ja selbst alle, aber nicht so quittengelb wie dieser; auch gebogene Nasen bis zum förmlichen Haken besaßen sie fast sämtlich, aber mit dieser mächtigen Raubvogelnase konnte sich keine vergleichen, solch ein Monstrum war auch für sie auffallend.

Würdiger wäre es ja gewesen, wenn sie ihn dann den gelben Adler genannt hätten, denn man spricht doch von einer Adlernase, der sogar noch einen größeren, mehr gebogenen Schnabel als der Geier hat. Aber dieser Mann hatte sich in einer Weise betragen, dass man durch ihn mehr an einen gefräßigen, alles verschluckenden Geier als an einen stolzen, einsamen Adler erinnert wurde.

Alles, was er an schönen Teppichen, altarabischen Waffen und Schmucksachen gesehen, hatte er haben wollen, und gleich darauf, wie er zu feilschen verstand, hatte man gewusst, dass er arabisches Blut in den Adern haben müsse. Denn wenn der Araber handelt, so versteht er das Feilschen noch ganz anders als der gewiefteste Jude, weswegen denn auch allüberall, wo der Araber Handel treibt, der Jude Handwerker ist.

Außerdem hatte er stark angedeutet, dass er allein es sei, der hier über den Ankauf des Tales zu entscheiden habe, er könne den Kabylen die größten Vorteile verschaffen, und so hatte er denn auch alle die Sachen für einen Spottpreis, wenn nicht geschenkt bekommen. Dann hatten die edlen Dschurdschuren das Nachsehen gehabt; der noch edlere Fremde hatte sie ganz mächtig übers Ohr gehauen.

So war er nicht als der gelbe Adler, sondern als der gelbe Geier gegangen, und deshalb auch konnte jetzt das Wiedersehen kein freudiges sein.

Nur Monsieur Arsen Bertrand selbst freute sich, dieser Name beleidigte ihn durchaus nicht, er wollte gar keinen anderen haben.

»Ihr kennt noch den gelben Geier? Ehrt mich. Erst einmal eine Zigarette her.«

Ein Enkel des Scheichs, ein dreizehnjähriger Knabe, eben erst unter die Krieger aufgenommen, beeilte sich, zu zeigen, dass er einen goldgestickten Tabaksbeutel und Zigarettenpapier besitze.

Monsieur Bertrand nahm beides, drehte sich von dem goldgelben Tabak eine Zigarette und — steckte den schönen Beutel und das ganze Büchelchen Zigarettenpapier kaltblütig in die eigene Tasche.

Der junge Krieger machte ein unglückliches Gesicht, die anderen blickten immer finsterer auf den gelben Geier, der er immer noch war.

Aber im nächsten Moment verwandelte sich ihr Grimm in Schreck, unter Inschallah- und Alschallahrufen prallten sie zurück.

Der gelbe Geier war nämlich an seinen Aeroplan getreten, die Zigarette zwischen den Lippen, hielt sie dort, wo er gerade stand, an die glitzernde Tragfläche, aus dieser sprangen knisternde Funken — die Zigarette brannte.

»Ja, so etwas habt Ihr wohl noch nicht gesehen«, sagte der Franzose, in tiefen Zügen den Rauch inhalierend und ihn durch die Nase blasend, welchen Genuss er schon lange entbehrt haben musste, weil seine erste Frage gleich nach einer Zigarette gewesen war.

»Du bist ein Sohn des Teufels!«

»Bin ich.«

»Du bist ein Zauberer!«

»Bin ich ebenfalls, eben als Sohn des Teufels. Hier, Scheich, fasse einmal meinen Aeroplan an.«

Der alte Scheich hütete sich natürlich. Aber die Ehre des Stammes musste gewahrt werden, und diese Kabylen sind alles andere als feig — sofort trat ein junger Krieger vor. Was konnte es denn auch sein, wenn der gelbe Geier auch Feuer aus der Maschine gelockt hatte, er selbst hatte doch jetzt die Hand an den Apparat gelegt.

Kaum aber hatte der Araber eine Kante der Tragflächen berührt oder war ihr nur nahe gekommen, als mit einem Knall ein starker Funke übersprang und der Mann gleich zu Boden stürzte. Er konnte sich dann wieder erheben, war aber noch lange Zeit gelähmt.

»O, ich kann auch Blitze schießen, die den stärksten Ochsen auf der Stelle töten, ein ganzes Regiment Soldaten kann ich mit solch einem Blitze über den Haufen werfen, und diese Blitze sprühen nicht nur an meinem Apparate, sondern ich selbst schleudere sie.«

Er berührte den ihm nächststehenden Araber mit der Fingerspitze, ein knisterndes Überspringen von Funken, und auch dieser Mann stürzte wie vom Blitze getroffen nieder und konnte sich erst nach einiger Zeit wieder erheben.

»Glaubt Ihr nun, dass ich wirklich ein Sohn des Teufels bin? Nein, ich bin der Teufel selbst, ich bin der Herr der Lüfte und der Erde.«

Was sollte man tun? Man starrte ihn fassungslos an, von ihm den Tod erwartend, vor Entsetzen unfähig zur Flucht.

»Aber ich komme nicht als Euer Feind, sondern als Euer Freund. Erst aber gebt einmal dem, der Euch zum mächtigsten Volke der Erde machen wird, etwas zu essen. Das Beste, was Ihr habt.«

Man beeilte sich. Hier war doch alles vergebens, und das Beste schien es ihnen, einfach zu gehorchen. Dampfende Schüsseln wurden gebracht, Reis und Mais und Durra und in Würfel geschnittenes Hammel- und Ziegenfleisch, alles durcheinander.

Der Sitte der Gastfreundschaft gemäß, ob diese nun freiwillig oder unfreiwillig gewährt wurde, mussten alle, die zum Rate gehörten, mitessen. Sie ließen sich im Kreise nieder, formten von dem Brei mit der rechten Hand und schoben sie sich in den weitaufgerissenen Mund, um die Lippen ja nicht zu verunreinigen. Auch der Franzose aß mit den Händen, aber auch die linke benutzend, obgleich diese des Teufels ist — oder gerade deswegen — er schonte auch seine Lippen nicht und aß mit Heißhunger.

»Endlich wieder einmal richtiges, frisches Fleisch und Gemüse! Nun, Scheich, wie sieht es hier aus?«

»Wie Allah will!«, war die nicht ausweichende, sondern demütige Antwort.

»Und wie will Allah? Ist die Bergfestung besetzt worden?«

In dem benachbarten Tale hatten die Franzosen nämlich in früheren Zeiten eine Bergfestung angelegt, übrigens schon ein altarabisches Bauwerk. Sie war wieder aufgegeben worden, doch war damals, vor vier Jahren, die Rede gewesen, sie wieder ganz modern zu befestigen.

»Die Franzosen sind wieder darin.«

»Ah! Seit wann?«

»Ein Jahr lang haben sie daran gebaut, vor drei Monaten sind sie eingezogen.«

»Wie stark?«

»Zweihundert Mann liegen drin.«

»Wie viele Geschütze?«

»Sechsundzwanzig Kanonen.«

»Sind sie auch schon mit Handgranaten versehen?«

Im russisch-japanischen Kriege, besonders bei der Erstürmung und Verteidigung von Port Arthur, haben die kleinen Bomben, die man mit der Hand wirft, die man schon längst vergessen hatte, wieder die größte Rolle gespielt. Die Behauptung der Kriegstheoretiker, dass es heutzutage zu einem Nahkampfe nicht mehr kommen könne, an eine richtige Erstürmung einer modernen Festung erst gar nicht zu denken, hat sich eben als eine Fabel erwiesen.

Alle großen Schlachten der letzten Kriege sind durch Bajonett entschieden worden, die Einnahme und glückliche Verteidigung von Festungen meist durch Handgranaten. Die Franzosen haben denn auch sofort ihre Festungen wieder mit Handgranaten versehen, die man schon ins alte Eisen geworfen hatte.

»Auf Kamelen und Maultieren wurden dreitausend Handbomben herbeigeschafft!«, lautete die Antwort.

»Dreitausend Stück, hm, das freut mich«, meinte der Franzose, sinnend vor sich hinblickend.

Umsonst war dessen dritte Frage, nachdem er eine Zigarette und Essen gefordert hatte, nicht gleich nach jener Festung gewesen und ob sie mit Handgranaten ausgerüstet sei.

Erst nach einer Weile fuhr der gelbe Geier aus seinen Träumen empor.

»Scheich, Deine Leute haben doch früher gar viel in die Felsen gemeißelt, um Magazine für die Getreidevorräte anzulegen.«

»Noch heute haben wir Stahlmeißel, die immer schärfer werden, je länger man sie braucht«, war die prahlerische Antwort, wie der Araber nun einmal prahlen muss.

»Legt Ihr denn immer noch solche Felsverliese an?«

»Wir haben jene Burg ja erst aufgebaut.«

»Ah so! Ihr habt selbst geholfen, Euch eine Zwingburg hinzusetzen.«

»Hätten wir es nicht getan, so hätten die Rammanas, welche Allah verfluchen möge, das Geld dafür eingesteckt.«

»Sehr richtig! Nun, die Hauptsache ist mir, zu erfahren, dass Ihr Euch noch auf solche Felsenarbeit versteht, das Handwerkszeug dazu besitzt. Scheich, ich brauche Deine Leute.«

»Wozu?«

»Eben zum Bauen solch einer neuen Burg.«

»Wie, Du bist beauftragt, eine neue Burg zu bauen?«, wurde erschrocken gefragt.

»Beauftragt von wem? Von der französischen Regierung? Was geht mich die an! Ich bin mein freier Herr — der Herr der ganzen Erde, und ich will die Dschuriten zum mächtigsten Volke der ganzen Erde machen.«

»Das ließe sich hören. Wie willst Du das anfangen?«

»Eines nach dem anderen. Gib mir einige Dutzend Deiner Leute, die hier doch nur faul herumlungern.«

»Wo willst Du die Burg bauen?«

»Dort oben.«

Der Franzose hatte in die Höhe gedeutet.

Schon das ganze Tal war mit himmelhohen, steilabfallenden Felswänden umgrenzt, durch die nur zwei Pässe führten, aber darüber erhob sich noch ein isolierter Felskegel, oder vielmehr eine Säule, von ungeheuren Dimensionen, wirklich bis in den Himmel ragend, von mehr als dreitausend Meter absoluter Höhe, der Dschurdschura, was wörtlich übersetzt bedeuten würde: höher als hoch.

An eine Ersteigung dieses Felsens kann nicht gedacht werden. Wie gemeißelt steigen die Wände empor. Nach diesem Tale, das nach ihm benannt, hängt er auch etwas über, ganz gefährlich aussehend.

»Wie willst Du denn da hinauf kommen?«

»Nun, mit meiner Flugmaschine.«

»Bis in den Himmel?«

»O, ich bin schon noch viel höher geflogen. war auch schon da oben.«

»Du warst schon oben?«

»Ich komme soeben von dort oben herab.«

Der Scheich schüttelte den Kopf, musste es aber wohl glauben.

»Wie sieht es dort oben aus?«

»O, sehr schön. Ganz eben, alles grün. Und ist nicht etwa so eine Spitze, wie es von hier unten aussieht. Das ist ein Plateau, ein halb mal so groß wie dieses ganze Tal.«

»Du scherzest!«

»Ja, Scheich, Du weißt nichts von der Täuschung der Perspektive.«

»Und was willst Du dort oben?«

»Mir eine Burg bauen. Oder zuerst ein steinernes Haus, zu allererst mir ein Zelt aufschlagen. Dazu brauche ich Arbeiter, die sollst Du mir liefern.«

»Meine Leute sollen mit Dir dort oben hinauffliegen?«

»Ja.«

»Wie viele?«

»Ich kann immer drei Mann mitnehmen.«

Der Scheich schüttelte den Kopf, nur um seine erschrockene Verlegenheit zu verbergen.

»Effendi, Du weißt, ich bin Herr über Tod und Leben meiner Krieger und deren Frauen und Kinder, aber dieser Gehorsam erstreckt sich nur auf diese Erde, nicht auf die Lüfte.«

»Der Dschurdschura gehört noch zu dieser Erde.«

»Aber der Weg dorthin geht durch die Luft, das kann ich nicht befehlen.«

»Es werden sich Freiwillige melden.«

»Ich glaube nicht.«

»Sollten die Dschuriten so feige sein?«

»Das sind sie nicht. Aber frage sie doch selbst.«

Der gelbe Geier hatte seinen Hunger gestillt, drehte sich aus dem kostbaren Beutel eine neue Zigarette, ohne ihn dem Eigentümer dann anzubieten.

»Höre mich an, Scheich. Hört mir alle zu! Nur zwei Mann brauche ich mitzunehmen, ja nur einen einzigen, der mir dort oben erst behilflich ist.

Beim zweiten Fluge nehme ich einen Balken mit, vorn mit einer Rolle, vielleicht auch gleich ein dünnes Garn, lang genug.

An diesem Garne ziehen wir über die Rolle ein dünnes Seil hinauf, an diesem wieder ein starkes, fest genug, um schon mehrere Lasten tragen zu können.

So schaffen wir nach und nach alles hinauf, was wir brauchen. Und dass das Seil zerreißt, ist niemals zu befürchten, wenn es nur stark genug ist. Ich meine, es kann niemals durch Reibung zerreißen, kann durch keinen Grat zerschnitten werden, es liegt ja nirgends auf. Der Felsen hängt etwas über, dieses Tal ist wie geschaffen dazu, von jenem Punkte dort kann alles hinaufbefördert werden, meiner Schätzung nach wird das freischwebende Seil noch dreißig his vierzig Meter von der Felswand entfernt sein. Ist das nicht ganz einfach? Wird sich ein kühner Dschurite weigern, sich an so einem Seile emporziehen zu lassen?«

Nein, sicher nicht. Diese Art von Emporbeförderung war wieder etwas ganz anderes. Diese Gebirgskabylen sind derartiges gewohnt, es gibt keinen Felsvorsprung mit einem Adlernest, den sie nicht erreichen, wenn er nur irgendwie zu erklimmen ist, da existiert für sie keine Höhe, da fordert einer den anderen heraus, und gerade mit solchen Seilen, die an Balken in Rollen laufen, sind sie vertraut.

»Ja, wenn Du solch einen Seilaufzug schaffen kannst, dann werden alle meine Männer hinauf wollen. Aber mit dieser Teufelsmaschine — nein. Sie verbrennen ja auch.«

»Sie werden nicht verbrennen, wenn ich nicht will. Nun, ich würde den Seilaufzug zuerst ja auch allein anlegen, was freilich viel länger dauern würde, und ich möchte alles so schnell wie möglich fertig haben.«

»Was willst Du dort oben?«

Der Franzose machte eine Pause, ehe er Antwort gab.

»Wenn ich alles oben habe, was ich brauche, so geht einer Deiner Krieger in die Festung und verkündet, der Herr der Erde befiehlt, dass Ihr alle sofort die Festung zu verlassen habt. Sofort! In fünf Minuten wird ein Regen von Bomben und Granaten auf Euch herabkommen!«

Der Franzose wartete die Wirkung dieser Worte ab.

Und es war nicht anders, als ob schon hier eine Handgranate eingeschlagen war. So wenigstens waren sie alle zusammengezuckt, so sehr sie sich auch zu beherrschen wussten.

Dieses Tal war uneinnehmbar gewesen, so lange sich jene Bergfestung auf der anderen Seite der Felswand in den Händen der eingeborenen, arabischen Fürsten befunden hatte. Denn die beiden Passdurchgänge konnten auch von einer europäischen Armee nicht erzwungen werden, einige Dutzend Krieger reichten aus, um sie gegen Legionen zu verteidigen.

Ebenso wenig konnte man auf die das Tal umgebenden Felsberge hinaufgelangen, wenigstens niemals Geschütze hinaufbringen. Nur einen einzigen Weg gab es hierzu, und den hatten früher eben die einheimischen Scheichs verlegt, ihn mit einer Burg geschützt.

So waren die Dschuriten früher der mächtigste Kabylenstamm gewesen, die sich in diesem äußerst fruchtbaren Tale nach Belieben vermehren konnten, von hier aus fielen sie in die benachbarten Täler und in die Wüstenoasen ein und brachten reiche Beute heim, und wurden sie einmal geschlagen, so flohen sie eben in ihr unzugängliches Tal und erholten sich in Ruhe wieder. Aufgerieben konnten sie nie werden.

Da waren die Franzosen gekommen, deren Feldgeschützen hatte die Bergfestung nicht lange widerstehen können. Jetzt hatten die sich dort oben festgesetzt, und von dort konnten sie ihre Geschütze auch auf die Bergwand bringen. So war dieses Tal als befestigter Platz gar nichts mehr wert. Überhaupt, die Dschuriten waren nichts mehr. Sie vegetierten so hin und konnten nur noch von vergangener Herrlichkeit träumen.

»Hast Du denn Bomben und Granaten?«, war des Scheichs nächste Frage.

»Nein. Habt Ihr keine, nur einige?«

»Wir? Wir bekommen nur eine gewisse Anzahl Patronen für unsere Gewehre in plombierten Schachteln von der Regierung für das ganze Jahr geliefert.«

»Schade. Ich dachte, Ihr hättet so einige moderne Handgranaten im Geheimen auf Lager, hättet sie eingeschmuggelt.«

»Das Schmuggeln von Waffen und Munition ist jetzt gar nicht mehr möglich.«

»Nun, so werden einfach von dort oben erst einmal Steine und Felsblöcke auf die Festung geschleudert, ich denke, die werden dieselben Dienste tun wie Bomben.«

Ja, das stimmte. Die Burg schmiegte sich auf der anderen Seite ganz dicht an den Felsen an. Wer einmal dort oben hinaufgelangt war, konnte sich als Herrn der Burg betrachten, er konnte mit einfachen Steinen alle Baulichkeiten in Trümmer legen, soweit sie nicht in den Stein gehauen waren.

»Du willst gegen Deine eigenen Landsleute kämpfen?«

»Eigene Landsleute? A bah! Kämpft Ihr Kabylen nicht auch untereinander?«

»Das ist etwas ganz anderes. Ihr seid einige Franzosen.«

»A hah!«, erklang es wiederum verächtlich. »Höre, Scheich! Ich habe einen Onkel gehabt, einen Bruder meines Vaters. Er war unverheiratet, als er starb, hinterließ er acht Millionen Francs, und ich war der einzige Erbe. Aber er hatte sein ganzes Vermögen dem Staate vermacht, obgleich ich ihm niemals etwas zuleide getan habe. Er wollte sich nur einen Namen machen, eine Straße in Paris sollte seinen Namen bekommen, was auch geschehen ist.

Dieses Testament focht ich an, ich hatte ja auch ein gutes Recht dazu, indem das ganze Vermögen von meinem Großvater stammte. Bis zum Präsidenten bin ich gegangen. Schon mit dem zehnten Teile wollte ich mich begnügen, aber es war alles vergebens. Nicht einen Sou habe ich erhalten. Aber mein eigenes Vermögen ist in dem Prozess draufgegangen, der viele Jahre gewährt hat. So bin ich der arme Schlucker geworden, der sich in fremden Diensten mühsam durchs Leben schlagen musste. Und ich sollte zögern, so eine lumpige Burg in Trümmer zu legen? A bah, Revanche!«

Also Rache! Ja, wo das Geld anfängt, hört der Patriotismus auf, auch der französische — wenigstens bei diesem Franzosen hier, der nicht umsonst so eine Geiernase hatte.

»Ja, ich glaube, dass Du von dort oben die Franzosen aus der Festung treiben kannst.«

»Pass auf, wie schnell das geschieht. Nur müsst Ihr mich dabei unterstützen.«

»Wie das?«

»Zunächst dadurch, dass Ihr mir Balken und Seile verschafft, über das andere sprechen wir später.«

»Und wenn nun die Soldaten in großen Truppen angerückt kommen?«

»Nun, dann lasse ich eben, wenn sie sich in den Engpässen befinden, oder auch schon auf freiem Gelände, die Handgranaten auf sie fallen, die wir in der Festung erbeuten werden, hoch oben in den Lüften von meiner Flugmaschine aus.«

»Wenn sie Dich aber nun herunterschießen?«

»Sei ohne Sorge. Eher trifft man mit der Kugel eine Schwalbe in vollem Fluge als solch einen Aeroplan in fünftausend Meter Höhe.«

»Wenn sie aber auch mit solchen Flugmaschinen kommen?«

»Es gibt keine andere wie diese. Es ist meine eigene Erfindung, die mich der Teufel gelehrt hat. Die anderen sind nur jämmerliche Dinger.«

Der gelbe Geier sprach noch weiter, und die Araber lassen sich gar so leicht zu jedem kriegerischen Unternehmen reizen, sei es auch noch so wahnsinnig — wenn es nur momentan Beute verspricht.

»Das kann ja überhaupt alles noch besprochen werden. Vorläufig habe ich die ganz friedliche Absicht, mich dort oben niederzulassen. Dazu brauche ich zunächst einen Balken mit Rolle und genügend Garn. Wir sind hier fünfhundert Meter hoch, ich schätze den Felsen von hier aus weitere zweitausendfünfhundert. Habt Ihr so viel Garn?«

»Das kann geschafft werden.«

»Dann sofort! Weshalb denn eine einzige Minute verlieren.«

Das sahen auch die Kabylen ein. Sofort gingen sie daran, aus den vorhandenen Garnvorräten, die zum Teppichknüpfen und Webereien dienen, einen entsprechend langen Faden herzustellen, während andere auch schon ein stärkeres Seil drehten. Auch mehrere Balken mit Rollen, wie sie solche also brauchten, um besonders Adlernester auszunehmen, eine recht gewinnbringende Nebenbeschäftigung, wurden gleich zur Stelle gebracht, der Franzose konnte auswählen.

Der aber wollte sich nach dem geschäftlichen Gespräch wohl erst durch ein anderes etwas erholen.

»Lebt denn Deine Enkelin noch?«, wandte er sich an den Scheich, der ebenfalls zurückgeblieben war.

Der alte Mann wurde einsilbig. Von ihren Frauen und Töchtern, soweit sie erwachsen sind, darf man bei den Arabern nicht viel anfangen, es verstößt gegen die gute Sitte.

»Ich habe gar viele Enkelinnen.«

»Das bildschöne Mädchen meine ich.«

»Meine Enkelinnen sind alle schön wie die Morgenröte.«

»Das Kind war damals vielleicht zehn bis zwölf Jahre alt.«

»So würde es jetzt, wenn es noch lebt, vier Jahre älter sein.«

»Damals wusste ich den Namen, habe ihn aber vergessen.«

»Ich kann Dir nicht helfen, Effendi.«

»Das kleine, reizende Mädchen war so zutraulich zu mir.«

»Es war ein Kind.«

»Es wollte durchaus meine Uhrkette geschenkt haben.«

»Die Du ihr natürlich nicht schenken konntest.«

»Sie hatte nur einen keinen Fehler.«

»Keine meiner Enkelinnen hat einen Fehler.«

»Oben am linken Handgelenk einen kleinen roten Fleck, ein Muttermal.«

Jetzt musste sich der alte Scheich gefangen und der Wahrheit die Ehre geben, das gebot seine Würde, dass er nicht später der Lüge überführt werden konnte.

»Du meinst Suleika.«

»Ja, richtig, Suleika!«, rief der Franzose, förmlich begeistert. »Dass ich nicht auf diesen so nahe liegenden Namen kommen konnte! Suleika! Lebt sie noch?«

»Warum soll sie nicht noch leben?«

»Hat sie gehalten, was sie versprochen hat?«

»Sie hat nichts versprochen, sie ist immer ein gehorsames Kind gewesen.«

»Hat sie sich zu solch einer wunderbaren Schönheit entwickelt, wie man damals annehmen durfte?«

»Suleika trägt den Schleier.«

Das heißt nicht etwa, sie wäre in ein Kloster gegangen, sondern unter die erwachsenen, heiratsfähigen Mädchen aufgenommen worden.

Hiermit hielt der Scheich dieses Gespräch für abgeschlossen. Nicht aber der Franzose mit der Geiernase.

»Ist sie schon verheiratet?«

»Nein, aber verlobt.«

»Mit wem?«

Hierüber durfte der Großvater sprechen, darauf war er sogar stolz.

»Mit Nadir ben Omar.«

»Aus Deinem Stamme?«

»Seit wann darf ein Araber ein Mädchen aus seinem eigenen Stamme in sein Zelt führen? Aus dem Stamme der Omaris, er ist der Sohn des Scheichs und durch Wahl sein Nachfolger.«

»Wann findet die Hochzeit statt?«

»Sobald Nadir den Kaufpreis zahlen kann. Hundert Kühe, zehn Stiere, hundertzwanzig Schafe, achtzig Ziegen.«

Und unaufgefordert zählte der alte Scheich weiter auf, was seine Enkelin ihm und dem ganzen Stamme einbringen würde, und zwar mit großem Stolze. Von der Schönheit des Mädchens durfte er nicht sprechen, wenigstens nicht direkt, wohl aber indirekt, indem er den Kaufpreis angab, wie viel sie wert war.

»Das ist enorm. Ich kenne doch auch etwas die Preise Eurer Töchter. Wird Nadir denn das auch zahlen können?«

»Er kann es.«

Der Franzose versank wieder in Träumereien, eine Zigarette nach der anderen rauchend, bis ihm gemeldet wurde, dass alles zur Stelle sei.

Außerdem aber war ein Besuch gekommen, der dem Ganzen eine andere Wendung gab. Denn sonst hätte Bertrand wohl allein hinauffliegen und oben selbst tüchtig arbeiten müssen.

Auf dem Dschurdschura

In das Tal war auf prächtigem Rosse ein Reiter gesprengt, ein junger Araber, der mit Jubel und Ehrerbietung begrüßt wurde.

»Nadir ben Omar!«

Er wurde von den jungen Kriegern gleich in Empfang genommen und jedenfalls in alles eingeweiht, nur dass man ihn wohl den Angriffsplan auf die Festung verschwieg, was ja überhaupt noch eine sehr kühne Phantasie war, und es war auch nur gegenwärtig einmal, dass man mit dem Nachbarstamme in Frieden lebte.

Bertrand hingegen erfuhr, dass Nadir nur gekommen war, um zu melden, dass er den Brautpreis schon in der nächsten Woche zahlen könne. Einen Besuch bei der Braut gab es natürlich nicht, die hatte er nur als Kind unverschleiert sehen können, jetzt durfte er sich ihr nicht einmal so weit nähern, dass zu befürchten war, er könne mit ihr die gleiche Luft atmen.

»So, schon nächste Woche«, brummte der Franzose. »Und heute haben wir Sonnabend. Das könnte unter Umständen also schon morgen sein. So, hm.«

Mit raschem, stolzem Schritte kam der junge Araber näher und betrachtete mit funkelnden Blicken den Flugapparat.

»Ja, das ist so ein Drache, mit dem auch Hassan in Algier geflogen ist!«, rief er. »Wie, und kein Dschurite wagt es, mit in die Luft zu steigen? So wird es ein Omarite Euch zeigen!«

»Du willst mit mir fliegen?«, fragte Bertrand schnell.

»Ich bitte Dich, mich mitzunehmen.«

»Du wirst verbrannt, als ob der Blitz Dich träfe!«, erklang es warnend.

»Nicht, wenn ich es nicht will, wenn ich selbst mit fliege«, sagte der Franzose. »Gut, Du wirst mich begleiten?«

»Wie ich gesagt habe.«

Jetzt aber boten sich auch einige Dschuriten als Begleiter an, immer mehr meldeten sich, zuletzt wollten sämtliche Krieger mitfliegen, denn das konnten sie nicht auf sich sitzen lassen, dass einer von einem fremden Stamme das Wagnis unternommen habe, und jetzt wussten sie die wunderbarsten Ausreden, weshalb sie vorhin noch gezögert hatten. Das war ja gar nicht so gemeint gewesen.

»Nein, jetzt kommt auch dieser Omarite als erster mit!«, entschied aber der Franzose und beharrte dabei.

Auch sonst hatte sich sein Plan geändert. Der erwählte Balken, ein sehr kurzer, war leichter als er sich gedacht, so nahm er gleich diesen mit und als Passagier einen Kabylen, der ihm als bester Steinarbeiter empfohlen wurde. Außerdem noch das große Bündel Garn, einige Meißel, Hammer, ein Fässchen Zement, noch von den Festungsarbeiten herrührend, und was er sonst zu brauchen gedachte.

»Du hast aber kein Wasser.«

»Doch, in jenem Kasten, vorläufig genug, und das Anlegen von Zisternen zum Auffangen des Regenwassers muss eine unserer ersten Aufgaben sein. Nicht wahr, Scheich?«

Er tat immer, als sei dies ein gemeinsames Unternehmen, vom ganzen Stamme ausgehend.

Die mitzunehmenden Sachen wurden von ihm sorgfältig auf dem Aeroplan befestigt, die beiden Araber mussten Platz nehmen, er gab einige wenige Instruktionen, schwang sich selbst in den Sattel, und im nächsten Augenblick schwang sich der Apparat empor, fast ohne auf den Rädern einen Anlauf genommen zu haben.

Immer größer wurden die Kreise, mit denen sich der Aeroplan empor schraubte, dann ging er in steilem Winkel in die Höhe, unter ihnen versank die Erde, und in weniger als einer Viertelstunde waren die zweitausendfünfhundert Meter erstiegen, noch ein kurzer Gleitflug, und der Aeroplan landete.

Ein wunderbarer Anblick! Ja, es war ein gewaltiger Irrtum, wenn man sich hier oben nur eine Felsenkuppel vorstellte, während es ein völlig ebenes Plateau war, das mindestens vier Hektar umfasste.

Und diese Fläche nun im frischesten Grün prangend, herrlicher Graswuchs, reich vermischt mit duftenden Kräutern — eine Alm. Denn wenn auch dort unten alles in der Sonnenhitze verdorren mochte, hier in dieser Höhe brachte jede Nacht reichlichen Taufall.

Nur am Südrande des fast viereckigen Plateaus erhob sich noch ein hoher Steinwall, und das war sehr wichtig, das ermöglichte eigentlich erst eine ständige Besiedelung. Denn hier oben musste es ja manchmal fürchterlich blasen, da gab es wohl kein Halten mehr. Nun aber kommt in dieser Gegend der Wind fast immer aus Süden, ein Sturm regelmäßig, und dieser hohe Felsen schützte gegen ihn, vielleicht für das ganze Plateau. Mochte der Sturm wüten wie er wollte, in der Nähe der Felsmauer würde man keinen Windhauch bemerken.

Nun aber erst die Aussicht, die man von hier oben genoss! Unbeschreiblich! Daher sei auch gar nicht erst der Versuch gemacht, dies zu schildern, nur kurz erwähnt sei, dass man mit bloßen Augen noch das Mittelländische Meer als eine blaue Fläche erblickte, sogar noch die Felsen, welche die Stadt Algier umgeben, obgleich diese zweihundert Kilometer entfernt lag.

Aber Monsieur Bertrand hatte keinen Blick für diese Szenerie. Er war ja auch schon hier oben gewesen. Sofort schnallte er die Gegenstände wieder ab, sie wurden nach dem Westrand getragen.

Die dicke Grasnarbe ging nicht bis dicht an den Rand, die Grenze war eine scharfe Steinkante, und der Franzose trat so dicht heran, dass seine Fußspitzen noch etwas darüber hinausragten.

So blickte er, auch noch den Oberkörper etwas vorgeneigt, in die furchtbare Tiefe hinab, als wären es nur drei und nicht dreitausend Meter.

Die Menschen dort unten in dem grünen und gelben Tale glichen lebendigen Bleisoldaten. Es sah überhaupt alles reizend aus. Aber dafür hatte der Franzose kein Interesse. Er erspähte nur den besten Platz, wo der Aufzug angelegt werden sollte, hier oben und für dort unten.

»Hierher!«

Hier und da stand auch ein Baum, eine Lärchenart, in solcher Höhe allerdings nur zwerghaft klein, desto fester im Boden wurzelnd, mit jedem Würzelchen sich in den Felsspalten festklammernd, um von den Stürmen nicht ausgerissen zu werden.

Ein solcher verästelter Zwergbaum stand auch nahe am Rande, hier wurde der Balken befestigt. Nach einer halben Stunde war es geschehen, das erste Garn ging hinab, um weiteres heraufzubefördern, wie schon alles angeordnet worden war.

Unterdessen machte Monsieur Bertrand eine Wanderung über das Plateau, und wie er in der Mitte desselben stehen blieb und sich umschaute, strahlten seine schwarzen Augen doch in Begeisterung, nur dass diese nicht Gottes herrlicher Schöpfung galt.

»O, wie will ich mich hier oben einrichten, was alles schaffen! Paläste und blühende Gärten sollen entstehen, in denen die schönsten Frauen der Erde wohnen und lustwandeln, die mich mit Gesang und Lautenspiel ergötzen, nur mich, nur mich allein — —«

Ein spöttisches Lächeln huschte über sein gelbes Gesicht.

»Den Kabylen dort unten habe ich ja etwas Schönes weis gemacht! Mit der Einnahme der Festung. Ich werde mich hüten, auch nur das Geringste zu tun, was mich mit der französischen Regierung in Konflikt bringen kann. Ich will doch hier in Frieden leben und manchmal auch Ausflüge machen, ferne Länder besuchen. Aber ich musste den Arabern doch so etwas vormachen, damit sie mir immer Arbeiter und Proviant liefern. Denn umsonst tun die so etwas doch nicht. Ja, wenn ich Geld hätte, Geld — —«

Er schritt weiter nach dem jenseitigen Rand und blickte hinab. Auf dieser Seite klebte an der Wand des Felsens wie ein Adlernest die Festung Dschurdschura, noch hoch über dem nur wenig besiedelten Tale gelegen. aber immer noch zweitausend Meter unter ihm.

Der steile Zickzackweg wurde soeben von einer Abteilung Soldaten erstiegen, die eine große Kanone zogen, auf dem geräumigen Forthofe patrouillierten Wachtposten, Offiziere und einige Zivilisten spielten mit den Damen Lawn-Tennis.

Das Gesicht des gelben Geiers verdüsterte sich.

»Ja, und doch, und doch. Man hat die indianische Gräfin wegen ihrer Geheimnisse, die sie an dem Sklavensee im amerikanischen Felsengebirge zufällig gefunden hat, nicht in Ruhe gelassen, man hat alles versucht, ihr diese abzunehmen, Privatpersonen wie Regierungen, und man wird auch mich nicht in Ruhe lassen, nur wegen dieses Aeroplans, den ich weniger zufällig gefunden habe.

Ich kenne doch meine Landsleute. Die französische Regierung wird alles aufbieten, um in den Besitz meines Aeroplans zu kommen. Man wird mir zuerst Summen über Summen bieten. Dann wird man andere Wege einschlagen. Schon dass ich mich hier oben in unerreichbarer Höhe angesiedelt habe, wird man dort unten nicht ertragen können. Übrigens habe ich gar nicht das Recht dazu. Dieser Felsen gehört dem Fiskus. Ich müsste eine Erlaubnis dazu haben, die ich natürlich niemals bekomme. Ich erhalte den Befehl, diesen Platz sofort zu räumen. Natürlich kümmere ich mich nicht darum. Und der Streit ist fertig.

Ja, es wird zum Streite kommen, es ist unausbleiblich. Man wird mich so verfolgen und schikanieren, wie man jene Indianerin verfolgt und schikaniert hat.

Aber ich werde nicht so nachgiebig sein, wie jenes Weib. Ha, die sollen mich kennen lernen, den gelben Geier! Dazu muss ich aber doch erst Bomben und Granaten und Kanonen haben. Also ist Euer Schicksal dort unten dennoch schon besiegelt!«

Er trat zurück. Der Dschurite arbeitete noch, der andere, der fremde Scheichsohn, musterte das Plateau und ging eben auf die Felswand zu.

Diesmal war es ein höhnisches Grinsen, welches das gelbe Gesicht Bertrands verzerrte.

»Also in der nächsten Woche schon Hochzeit. Vielleicht schon morgen. So, hm. Na, da werde ich Dir gleich gratulieren, das wollen wir kurz machen.«

Er ging dem Araber nach, der auf die Felsen geklettert war.

»He, Nadir ben Omar!«

»Effendi?«

»Was ist das für eine Karawane?«

»Welche Karawane?«

»Die dort unten durch das steinige Tal zieht?«

»Wo?«

Sie hatten beide den Steinwall überklettert, hinter dem immer noch ein breiter Grat war.

»Dort.«

Der Araber, ebenfalls ein schwindelfreier Gebirgsbewohner, trat ziemlich dicht an den Rand und beugte sich vor. Es war eher eine Schlucht zu nennen als ein Tal, in die er blickte, starrend von furchtbaren Felsblöcken.

»Wo denn?«

»Hast Du denn so schlechte Augen? Dann gehe hinunter und besieh sie Dir in der Nähe. «


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Nur ein Stoß in den Rücken, und der junge Araber war von dem Plateau verschwunden.

Der Mörder warf ihm nur noch einen Blick nach, er sah, wie sich die Gestalt in dem Burnus mehrmals in der Luft überschlug — sein Aufschlagen unten wartete er gar nicht erst ab, er trat zurück und wischte sich die Hände an der Hose ab.

»So, der ist besorgt.«

Nichts weiter. Es war nur eine Fliege gewesen, die er geklappt hatte.


Lieferung 20

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»Schade«, sagte Kapitän Hagen, »dass die Gräfin
darauf bestand, ich sollte diesem Scheusal sofort eine
elektrische Kugel ins Herz jagen. Lieber hätte ich
diesem Halunken zuerst den Hosenboden vollgehauen.«


Eine Entführung

Noch zwei Flüge unternahm Bertrand, jedes Mal zwei Arbeiter und Handwerkszeug hinaufbefördernd, dann konnte der Seilaufzug in Funktion treten.

Es war erstaunlich, wie diese Araber gar nichts dabei fanden, sich die furchtbare Höhe an dem dünnen Seile, in einem erbärmlichen Korbe sitzend, hinaufziehen zu lassen, und solch eine Fahrt dauerte eine dreiviertel Stunde.

Nun aber war schon Nadir ben Omar vermisst worden. Wo konnte er sein? Auf dem Plateau gab es kein Versteck Er musste abgestürzt sein.

Der ganze Felsen brauchte nur umgangen zu werden, und man fand seine Leiche in der südlichen Felsschlucht, zur Unkenntlichkeit zerschmettert, nur noch an seinen im Gürtel feststeckenden Waffen erkennbar.

Der gelbe Geier landete zum dritten Male, als gerade der Leichnam aufgebahrt wurde. Fassungslos standen die Kabylen auf dem freien Platze herum; sie konnten sich noch nicht ausmalen, was der Tod des benachbarten Scheichsohnes in ihrem Tale für Folgen nach sich ziehen würde. Es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, dass der Franzose ganz kaltblütig sein Opfer betrachtete. Er hielt es nicht einmal für nötig, Teilnahme zu heucheln, es hätte ihm auch gar nicht gestanden.

»Dort in der südlichen Schlucht ist er gefunden worden? Ich habe es mir gleich gedacht, ich sah ihn dort zwischen den Felsen herumklettern. Und nächste Woche wollte er Hochzeit feiern. Nette Geschichte. Was wird nun aus Deiner Enkelin?«

Was sollte aus der werden? Jetzt erst fing der alte Scheich zu jammern an, das heißt nur darüber, dass er nun die hundert Kühe und das andere Viehzeug nicht bekam — er jammerte, wie nur ein Araber jammern kann, wenn ihm auch nur ein Piaster, ein Groschen in die Dielenritze gefallen ist, wo er ihn nicht wieder herausbringt. Das heißt, solche Araber wie diese, der Beduine der Wüste, ist aus einem anderen Holze geschnitten, für den ist alles Geld nur dazu da, um ein Loch durchzuschlagen und es seiner Frau oder Tochter oder einer Ziege anzuhängen.

»Na, was gibt es denn zu heulen. Der Bräutigam Deiner Enkelin ist tot. Deine Enkelin braucht Ersatz. Ich werde sie heiraten.«

Kurz und bündig. Und der alte Scheich hatte sofort nur einen einzigen Gedanken, der ihn hoffnungsvoll aufblicken ließ.

»Was zahlst Du für sie?«

»Die Suleika meine ich. Denn Du hast ja noch viele andere Enkelinnen.«

»Ja, für die Suleika. Was zahlst Du für sie?«

»Die Festung drüben.«

Solche Kürze steckt an. Sonst wäre es dem Scheich doch etwas komisch vorgekommen.

»Wann?«

»Heute Nacht noch.«

»Wie willst Du das anfangen?«

»Das ist meine Sache. Wenn ich Dir heute Nacht die Schlüssel der Festung übergebe, gibst Du mir dafür die Suleika. Gilt es?«

»Unsere Sitte erfordert, dass wir erst einige Wochen verstreichen lassen — —«

»A bah! Das ist hier mein Reich, in dem ich meine eigenen Sitten und Gesetze diktiere. Gilt es oder gilt es nicht.«

»Es gilt!«

»Gut. So besorge jetzt einen größeren Korb, in dem gleich vier Mann Platz haben. Sie sollen immer etwas Proviant und Wasser mitnehmen, dass dazu kein Extrazug nötig ist. Welche Zeit haben wir jetzt? Um vier. Jede Fahrt hin und her nimmt immer eine Stunde in Anspruch. Da können bis um acht schon sechzehn Mann hinaufbefördert werden, zehn sind schon oben — das genügt vollkommen zur Ausführung meines Planes. Nur müssen es Deine tüchtigsten Krieger sein, mit Hinterladern, Pistolen, Säbeln und Messern bewaffnet.«

»Du willst sie von oben in die Festung hineinlassen?«

»Erraten, o scharfsinniger Scheich! Der zweite Aufzug dazu wird bereits gebaut.«

»Es sind aber zweihundert Mann, die in der Festung liegen. Was sollen gegen die fünfundzwanzig tun?«

»Nun, die würden schon genügen, um so eine Garnison im Schlafe zu überrumpeln. Außerdem aber werde ich wohl die Hälfte davon oder vielleicht noch mehr weglocken können.«

»Wie willst Du das anfangen?«

»Das muss ich mir erst noch überlegen. Ich werde Dir ausführlich davon berichten, wenn es so weit ist. Wie viele Krieger kannst Du stellen?«

»Hundertdreißig Gewehre.«

»Wovon also noch immer hundert hier unten bleiben. Das genügt vollkommen. Denn ich setze voraus, dass Du sie alle gegen die Festung vorgehen lässt.«

»Zum Sturm?!«, flüsterte der Scheich erschrocken.

»Bewahre! Ihr wäret gerade die rechten, so eine Festung zu stürmen. Die Tore werden Euch geöffnet, dann gibt es nur noch abzuschlachten, was sich auf dem Forthofe herumtreibt, und auf das Abschlachten verstehen sich Deine tapferen Krieger doch, wie?«

Nur einen Augenblick kam es dem alten Scheich zur Besinnung, was er da vorhabe, wie das enden solle. Dann glühten seine Augen auf.

»Und wenn wir Herren der Festung sind?«

»Dann versammeln wir alle Kabylenstämme um uns und werfen alle Franzosen aus Algerien hinaus.«

Monsieur Bertrand hatte nur den sehnsüchtigen Zukunftstraum aller dieser Araber in Worte gekleidet, und sie zündeten.

»Es gilt!«

»So sorge also nur dafür, dass möglichst viele Deiner tüchtigsten Krieger hinaufkommen, alles Weitere bespreche ich noch mit Dir.«

Der gelbe Geier setzte sich auf seinen Aeroplan, überflog das Tal und die östliche Felswand und hatte unter sich das Nachbartal, mit diesem durch keinen Pass verbunden. Und wenn man auch von der Festung aus die Bergwand erstieg, so konnte man doch nicht von dieser Seite aus sehen, was jenseits des Dschurdschurafelsens vor sich ging. Um in jenes Tal zu gelangen war ein Umweg von fast anderthalb Stunden nötig.

Sein Ziel war die Festung, der er in noch großer Höhe zustrebte. Auf dem Burghofe befanden sich noch immer die Herren und Damen, sie saßen aber jetzt auf einem grünen Platz, auf den die Felswand Schatten warf, an einem Tische und tranken Kaffee oder Tee, vor einer Laube stand ein Piano, vor dem ein Herr saß und eine Dame stand.

Da drang durch die stille Luft ein Gesang, ein wunderbarer Sopran, eine fabelhafte Koloratur, sich glockenrein in den gewagtesten Passagen ergehend.

Auch alle Schildwachen standen lauschend und blickten nach der Sängerin, deren Klavierbegleitung Bertrand erst später vernahm.

Er verzögerte die Fahrt noch mehr, sein hageres Gesicht nahm den Ausdruck der größten Spannung und Bewunderung an.

»Sapristi, die Arie aus dem Barbier von Sevilla! So singen kann nur eine! Vor zwei Jahren in der großen Oper zu Paris, da habe ich sie gehört, da habe ich gelauscht und gestaunt und gestarrt! Ich lasse mich hängen, wenn das nicht die Olinda ist!«

Er hatte den Namen der berühmtesten französischen Koloratursängerin genannt, die zugleich eine der gefeiertesten Schönheiten von Paris war.

Jetzt ließ er sich im Gleitfluge nieder.

Wieder war es nicht anders, als ob eine Bombe eingeschlagen und krepiert wäre, wie da plötzlich mitten im Burghof ein großer Aeroplan stand, auf dem ein Mann im Sattel saß. Die Wachtposten würden ja dann etwas zu hören bekommen.

Ein älterer Offizier sprang auf, dass die Tassen umfielen, und eilte als erster herbei, der Kommandeur der Festung, Major Ligny.

»Herr, wie können Sie wagen, hier auf einer Fortifikation zu landen!«, schrie er außer sich.

»Weil ich Ihnen eine Meldung zu bringen habe, die keine Sekunde Aufschub erduldet«, war die kaltblütige Antwort.

»Eine Meldung?!«, stutzte der Major.

»Ich komme von Süden her. Kennen Sie die Oase Ghardiat?«

»Ob ich die kenne! Das ist die nächste befestigte Oasenstation.«

»Dort findet ein Gefecht statt — nein, eine regelrechte Schlacht. Araber greifen die Festung an, wenn man diese Sandwälle als Festungsmauern bezeichnen darf. Ich halte sie für Tuaregs. Wie die Heuschrecken schwärmen sie an, zahllos. Unsere Soldaten haben den ersten Wall bereits aufgegeben, die Geschütze im Stich gelassen, sich hinter den zweiten und letzten geflüchtet. Fünf Minuten habe ich beobachtet, dann zog ich es vor, schnellstens nach hier als nach der nächsten Garnison zu fliegen.«

Unbeschreiblich war die Verwirrung, wie die Offiziere sich um den Unglücksmelder drängten, wie sie mehr hören wollten.

Dieser Mann war ja sattelfest, er hätte ihnen noch viel mehr erzählt, kleine Details, aber es war nicht nötig, jetzt nicht.

Der Major war in das Innere des Forts gestürzt, das in den Felsen hineingehauen war, gleich darauf schmetterte die Alarmtrompete, die ganze Garnison trat unters Gewehr. Lauter ausgedörrte Kerls, die reinen Mumien, wie in der Kaffeetrommel geröstet.

Es waren Zuaven. Früher führten die eingeborenen Soldaten diesen Namen, aber schon seit langen Jahren werden für die vier Zuavenregimenter nur noch echte Franzosen ausgehoben, oder die besten Sorten anderer Regimenter werden dazu kommandiert.

Es sind die tüchtigsten Soldaten, das muss man ihnen lassen. Besonders in Eil- und Gewaltmärschen leisten sie Unglaubliches. Eine Woche lang täglich zehn Stunden durch die glühenden Wüsten zu marschieren, in dieser Zeit achtzig geografische Meilen zurückzulegen, bepackt mit dem schweren Tornister, mit Zeltzeug und außer den Handwaffen mit hundertfünfzig Patronen, das ist ihnen eine Kleinigkeit.

Die Sache ist eben die, dass allen denen, die das nicht aushalten können, sehr bald die Lunge ausgepresst wird.

Ein Kommando mit hundertsechzig Mann rückte in Geschwindschritt ab. Die Oase Ghardiat war dreißig Kilometer von hier entfernt, in fünf Stunden mussten sie sie erreicht haben.

Zurückgeblieben war nur der Major mit zwei Leutnants und vierzig Mann, was ja auch vollkommen genügte. Die Besatzung war ja gerade nur deshalb so stark, um anderen bedrohten Plätzen Hilfe zu bringen. Ganz mit Recht wurde der Aviatiker jetzt erst nach Einzelheiten gefragt. Bertrand wiederholte das schon Gesagte und fügte noch einige interessante Einzelheiten hinzu.

»Wird sich die Garnison noch fünf Stunden halten können?«

»Das vermochte ich gar nicht zu beurteilen.«

»Sind Sie fähig, wieder zurückzufliegen?«

»Diesen Vorschlag wollte ich Ihnen eben machen, Herr Major.«

»Können Sie Begleiter mitnehmen?«

»Drei. Aber ich halte es für besser, nur noch einen Mann mitzunehmen und statt der anderen ein Dutzend Handgranaten.«

»Wahrhaftig, das ist eine vortreffliche Idee!«, war der Major so ehrlich, zu gestehen, dass nicht auch er soeben denselben Vorschlag hatte machen wollen. »Können Sie ein ganzes Dutzend mitnehmen?«

»Es kommt darauf an, wie schwer so eine Handgranate ist.«

»Drei Kilogramm.«

»Dann kann ich sogar zwei Dutzend mitnehmen.«

»Sofort, sofort!«

Wieder nach dem Eingang eilend, blieb der Major noch einmal stehen und blickte zurück.

»Wünschen Sie etwas zu genießen? Kaltes Fleisch? Oder frischgebackenen Kuchen?«

»Erst kaltes Fleisch und dann Kuchen.«

»Sofort, sofort —«

Es wurde auf dem Kaffeetisch serviert, um den sich setzenden Aviatiker gruppierten sich drei Herren in Zivil und vier Damen. Die eine Dame gehörte ins Fort, es war die Gattin des Kapitäns, sie hatte auch ihre beiden Kinder hier, die anderen Paare waren als Gäste hier, hatten einen Ausflug von Algier gemacht, den großen Teil der Strecke zu Pferd zurücklegend, natürlich unter militärischer Bedeckung.

Die Hauptperson aber war die Mademoiselle Olinda — so wenigstens lautete ihr Künstlername, den richtigen kannte man gar nicht — ein üppig-schönes Weib, bedeutend jünger ansehend als sie war.

Eine Vorstellung gab es nicht, danach war die ganze Situation nicht angetan.

Natürlich wollte man jetzt mehr vom Kriegsschauplatz hören, aber Monsieur Bertrand hatte seinen Mund immer so voll gepfropft, abwechselnd mit Fleisch und mit Kuchen, das Brot verschmähend, dass kaum etwas zu verstehen war.

»Nehmen Sie sich doch Zeit, nehmen Sie sich doch Zeit!«, ermahnte die wortführende Sängerin. »Von wo kommen Sie denn, Monsieur — wie war gleich Ihr werter Name?«

Der gelbe Geier schluckte einen faustgroßen Bissen wie eine Pille hinter, zum ersten Male hörte man ihn wieder deutlich sprechen.

»Arsen Bertrand.«

»Ah, von Ihnen habe ich schon viel gehört, Sie sind ja der berühmte Aviatiker!«

»Sehr schmeichelhaft, aber berühmt bin ich als Aviatiker noch nicht geworden, habe nur einmal einen dritten Preis gewonnen, will erst noch berühmt werden. — Danke, ich trinke jetzt keinen Wein, aber Kaffee dürfen Sie mir noch einmal einschenken. Das Zeug ist übrigens recht dünn und der Kuchen nicht richtig durchgebacken.«

Es gibt auch grobe Franzosen, sehr grobe.

Soldaten brachten die zwei Dutzend Handgranaten, je vier in einer Blechkiste verpackt. Mit noch kauendem Munde stand Monsieur Bertrand, der die Gesellschaft keines Blickes gewürdigt hatte, auf und befestigte die Kisten kunstgerecht auf dem Aeroplan.

»So«, sagte er dabei, allerdings unhörbar, »sollte die Sache doch noch schief gehen, dann habe ich jetzt wenigstens zwei Duzend Handgranaten und eine Olinda«

»Können Sie jetzt gleich zurückfliegen?«, fragte der Major.

»Sofort. Ich bin fertig.«

»Wie lange brauchen Sie zu den dreißig Kilometern?«

»Höchstens eine halbe Stunde. Kommen Sie selbst mit?«

Nein. Ein Leutnant, Artillerieoffizier. Dieser kam und nahm Platz im Sattel, allerdings etwas zaghaft.

»Sind Sie schon geflogen?«

»Nein.«

»O, da ist gar nichts weiter dabei. Nur die Füße müssen Sie etwas anders setzen.«

Monsieur Bertrand erteilte sonst noch einige kleine Instruktionen, dann drehte er einen Hebel, er drehte ihn hin und her und machte ein bestürztes Gesicht.

»Sapristi, was ist denn das?!«

Der Motor wollte nicht gehen. Bertrand schwang sich aus dem Sattel, untersuchte die Maschinerie, schraubte und hämmerte und leierte an einer Kurbel — der Motor wollte nicht gehen.

»Ja, wo mag nur der Fehler stecken?«

Der Major schimpfte auf die Unzuverlässigkeit dieser neuesten Erfindung. Jedes Mal, wenn man sie braucht, versagt sie.

»Was ist denn das überhaupt für ein merkwürdiger Aeroplan?«, fragte der Artillerieleutnant.

»Der ist von der Atalanta gebaut.«

»Wie?! Was?!«, erklang es im Chor und am eifrigsten aus dem Munde der Damen. »Doch nicht von der Indianerin, der Gräfin Felsmark vom Sklavensee im Coloradogebirge?!«

»Jawohl, von derselben.«

»Sie kennen die?!«

»Ich stehe doch in ihren Diensten.«

»Sie waren am Sklavensee? Auf dem ›Mohawk‹? Kennen alle die Geheimnisse?«

Der Major sah es schon kommen. Aus dieser Fliegerei wurde doch nichts. Und er hatte anderes zu tun, jetzt vor allen Dingen einen Bericht aufzusetzen.

»Wenn das Ding doch noch funktionieren sollte, dann rufen Sie mich«, sagte er und begab sich wieder ins Innere, ebenso der Leutnant, wenn der auch lieber von der sagenhaften Atalanta gehört hätte.

Desto mehr wurde der Aviatiker jetzt von den Zivilisten und den Damen bestürmt, mehr von der Indianerin und ihren Geheimnissen zu erzählen.

Monsieur Bertrand tat es, er log das Blaue vom Himmel herunter — aber er log genial. Und dabei hantierte er immer an der kleinen Maschine herum.

»Auch dieser Flugapparat ist so eine wunderbare Erfindung von ihr?«

»Ja, jawohl, ei gewiss. Ja, warum geht der Motor nur nicht? Ich brauche doch nur hier diesen — —«

Bertrand hatte schon immer den Kopf geschüttelt und manchmal mit merkwürdigen Blicken um sich gesehen. Es war schon mehrmals gewesen, als ob er etwas sagen wollte und es nicht herausbrächte. Endlich kam es doch.

»Ja — wissen Sie, meine Damen, dass ich etwas abergläubisch bin?«

»Abergläubisch?«

»Der Motor hat während meiner Durchquerung Afrikas schon mehrmals versagt, aber die Sache ging sofort wieder, sobald sich einmal eine Dame in den Sattel gesetzt hatte — und wenn's auch nur eine alte Negerin gewesen ist. Das fing gleich so an, als dieser Aeroplan zum ersten Male benutzt wurde. Aber das ist eine Geschichte, die ich hier nicht erzählen kann. Die Tatsache bleibt bestehen: Sobald einmal eine Dame neben mir Platz genommen hat, fängt der Motor wieder zu arbeiten an. Ob Sie's mir glauben oder nicht.«

Man glaubte es ihm — gerade diese Bühnenkünstler, die sie alle waren. Fast jede bekannte Bühnengröße hat ihren Talisman bei sich, dem sie den Löwenanteil ihrer Erfolge zuschreibt, einfach deshalb, weil sie sich nun einmal in die Bande des Aberglaubens begeben hat und sich nun ohne diesen Talisman unsicher fühlt. Die Sarah Bernhardt trägt noch ihr Kinderhalsband aus Glasperlen. Die Duse hat in der Tasche einen Hundezahn.

Dasselbe kennt man von den berühmten Radrennfahrern. Der ehemalige Weltmeister Arend fuhr immer mit ein und denselben Schuhen, wenn diese auch schon in Fetzen gegangen waren, Robl benutzte bei allen Maschinen ein und dieselbe Lenkstange, Walthour muss immer einen gewissen Zahnstocher im Munde haben. Sonst geht's nicht.

Es ist gar kein so lächerlicher Aberglaube. Der Psychologe kann es begreifen.

Dann ist es aber auch begreiflich, dass auch die moderne Aviatik solch einen Aberglauben erzeugt hat.

»Soll ich mich einmal draufsetzen?«, rief ein kleines Dämchen, eine Schauspielerin, und hatte sich auch schon in den Sattel geschwungen.

Der Aviatiker setzte sich neben sie, drehte die Hebel. »Aber nicht gar so hoch!«, kreischte die kleine Schauspielerin.

Sie konnte ruhig sein — der Motor setzte sich überhaupt nicht in Bewegung.

»Ja, ich weiß nicht, woran das liegt — Mademoiselle Olinda, würden einmal Sie Ihre Wunderkraft versuchen?«

Die Sängerin war sofort bereit dazu — umso mehr, weil sie noch nie auf einem Aeroplan gesessen hatte, auch noch nicht einmal so versuchsweise.

»Es ist doch ungefährlich?«

»O, ich will ja gar nicht aufsteigen, nur den Motor wieder arbeiten lassen, dann ist die Sache schon in Ordnung.«

Auch die Olinda schwang sich graziös in den Sattel.

»Warten Sie, ich werde Sie fotografieren!«, sagte ein Herr.

»Mich auch! Mich auch!«, jauchzten die beiden anderen Damen.

Der Herr kam nicht zum Knipsen. Mit einem Male drehten sich die großen Flügel, der Aeroplan kam ins Rollen, und plötzlich schnellte er mit einem Satz über die Brüstung des Forthofes, senkte sich, als wolle er in die Tiefe stürzen, stieg wieder empor und schwirrte davon.

»Sehen Sie, ich hab's mir doch gleich gedacht, mit Ihnen geht's sofort.«

Erst war die Sängerin vor Schreck keines Tones fähig gewesen.

»Um Gottes willen, was machen Sie!«, kreischte sie jetzt auf.

»Wir fliegen zusammen.«

»Kehren Sie um!«

»Fällt mir ja gar nicht ein.«

»Ich werde schwindlig, ich stürze!«

»Bleiben Sie sitzen und machen Sie die Augen zu.«

Sie befolgte den Rat, und da war hier gar nichts zu dulden, als er den Arm um ihre Taille schlang.


Illustration

»Nun, meine liebe Mademoiselle, wie fühlen Sie sich?«

Sie fühlte überhaupt gar nichts, wusste nicht, dass sie bereits die Bergwand überflogen hatte, merkte auf dem beweglichen, sich immer in Balance haltenden Sattel nicht, wie der Aeroplan jetzt ganz steil in die Höhe ging.

Erst als ein kleiner Ruck von unten kam, schlug sie die Augen wieder auf, sie kam überhaupt erst wieder zur Besinnung.

Eine grüne Wiese, darauf arbeitende Araber, und nun diese Szenerie, von der Abendsonne übergossen!

»O, ist das herrlich, himmlisch! Wo sind wir denn hier?«

»Auf dem Dschurdschura.«

Erst ein Staunen, dann ein Schreck.

»Doch nicht etwa auf — —«

Sie wagte es nicht auszusprechen.

»Jawohl, oben auf dem Dschurdschura, den Sie wie jeder andere Mensch bisher nur immer von unten gesehen haben. Sie sind die erste Dame, die diesen unersteigbaren Gipfel betritt.«

War es schlaue Berechnung? Gewiss, dieser Franzose machte sicher keine Redensarten.

Es war eine Bühnenkünstlerin, wegen ihrer Exzentrizitäten bekannt. Ein Flug auf einem Aeroplan war so ziemlich das Einzige, was sie noch nicht gewagt hatte, um von sich reden zu machen, man bricht dabei gar zu leicht den zarten Hals oder einige andere Knochen.

Jetzt sprang sie herab und klatschte jubelnd in die Hände.

»Die erste Dame, die allererste Dame, die den Dschurdschura betritt, ach, das ist ja himmlisch!«

Und sie stampfte mit ihren zierlichen Goldkäferschuhchen in dem Grase herum, um das Betreten noch besser zu markieren.

»Das kommt in den ›Figaro‹, in alle Zeitungen, nicht wahr?«

»O, da kommt noch etwas ganz anderes hinein.«

»Was?«

»Dass Sie die Padischa von Dschurdschura sind.«

»Was soll ich sein? Ach richtig, Padischa ist ja so viel wie Fürstin — die Fürstin von Dschurdschura — himmlisch!«

»Ja, aber nur die Gattin eines Sultans oder Paschas führt diesen Titel.«

»Ganz recht, ich bin mit dem Dschurdschura vermählt.«

»Mit diesem steinernen Felsen? I Gott bewahre, was wollen Sie denn mit dem?«

»Wie meinen Sie es sonst?«

»Na, ich selber bin der Pascha von Dschurdschura, mit mir werden Sie Vermählung feiern, und das heute noch, jetzt gleich.«

Jetzt merkte die Sängerin etwas, er ließ auch nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig, sie trat zurück und musterte den Mann, als wenn sie auf der Bühne stände, und so blieb auch ihre Sprache, sie konnte gar nicht anders.

»Mein Herr, was meinen Sie damit?«

»Herr Gott, bin ich denn noch nicht deutlich genug gewesen?«

»Sie haben mich wohl entführt?«

»Merken Sie denn das nun endlich?«

»Ich bin verlobt!«

»Ich auch. Sehen Sie, da passen wir beide ja ganz famos zusammen.«

»Ich bin verlobt mit dem Marquis Artois, Enkel des Königs von Bourbon!«

»Und ich bin verlobt mit der Scheichina Suleika, Enkelin des Oberscheichs der Dschuriten!«

»Wegen meiner Entführung wird ganz Frankreich sich gegen Sie wenden!«

Da sagte sie gar nicht zu viel. Man muss nur wissen, wie die Franzosen so eine berühmte weibliche Bühnengröße vergöttern. Wer hat denn fast alle Kriege, die Frankreich geführt, eingefädelt? Die Kaiserin Eugenie, eine Dame von sehr dunkler Herkunft, hat es ja gesagt: »Das ist mein kleiner Krieg.« Denn Napoleon war viel zu klug, um mit Deutschland einen Krieg zu wünschen. Aber er stand unterm Pantoffel.

»Nun wohl, recht so! So habe ich eine Garantie, dass dieses Fleckchen Erde, auf dem sich eine Olinda befindet, von Frankreich nicht mit Bomben und Granaten überschüttet wird.«

Die Sängerin erschrak. Sie liebte Bonbons, aber keine Bomben.

»Ich rufe um Hilfe!«

»Immer rufen Sie, schreien Sie, brüllen Sie. Aber lieber ist mir, wenn Sie singen. Sie sollen mir hier etwas vorsingen. Als erstes die Arie aus der ›Entführung aus dem Serail‹. Darf ich um Ihren Arm bitten?«

Gehorsam legte sie ihren Arm in den seinen, und mit einem Male war ihr Schreck vorüber, sie sah die Sache mit ganz anderen Augen an und lachte heiter.

Was war es denn weiter. Ein herrliches Abenteuer, an dessen Erinnerung sie ihr ganzes Leben zehren würde. Man würde sie nur noch mehr bewundern, beneiden. Einmal kam sie doch wieder frei. Sie war schon dreimal verheiratet gewesen, die Liaisons konnte sie selbst nicht mehr aufzählen, und ihr Bräutigam, der Marquis Artois, machte sich verflucht wenig draus, wenn sie während der Brautzeit einmal so eine Zwischenhochzeit feierte. Der wollte nur ihr Geld, ihre fürstlichen Gagen mit ihr teilen, wofür er ihr seine Herzogskrone gab, und solch ein Abenteuer konnte doch nur ihren Ruhm vermehren, also auch ihre fürstlichen Gagen.

Die Hauptsache aber war, dass diese Sängerin und Schauspielerin diesen Mann sofort ganz richtig beurteilen konnte, sie brauchte nur seine Nase anzusehen.

Gewiss er war ein Bösewicht, einer, der kaltblütig über Leichen ging, dem das Leben jedes Menschen nicht mehr als das einer Fliege galt. Aber einer von der schlimmsten Sorte war er noch lange nicht. Der sagte es wenigstens ganz frei heraus. Die scheinheiligen Duckmäuser, die mit der Wucherschnur ganze Familien erdrosseln, das sind die Bestien der Menschheit — und die Zeit ist noch nicht abzusehen, da endlich ein Gesetz diese menschenfressenden Ungeheuer unschädlich machen wird.

Nein, mit diesem Bösewichte hier konnte man schon auskommen. Man musste ihn nur richtig nehmen — als einen verwegenen Räuber. Und zunächst nahm die Sängerin lachend seinen Arm.

»Wohin führen Sie mich?«

»In unser Hochzeitszelt.«

An der schützenden Felswand war bereits ein Zelt aufgeschlagen worden. Auch Bertrand betrat es zum ersten Male. Es war, wie er angeordnet, mit Teppichen, Kissen und Polstern ausgestattet worden.

».Hm, ganz hübsch gemacht. Gefällt es Ihnen hier?«

»Ja. Weil dieses Zelt auf dem Dschurdschura steht.«

»Sonst nicht?«

»Sonst finde ich die Einrichtung etwas dürftig und das Zelt etwas klein.«

»Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar.«

»Unverschämter!«, lachte sie, nach ihm schlagend.

»O, ich werde Ihnen noch einen Palast erbauen lassen, extra für Sie.«

»Hier oben?«

»Gewiss, hier oben.«

»Das dürfte aber etwas lange dauern.«

»Ich habe bereits hundert Arbeiter zu meiner Verfügung und es werden immer mehr werden. Oder erst erhalten Sie einen kleinen Steinbau, er wird immer vergrößert, bis zum Palaste, und ringsherum entwickelt sich nach und nach ein Garten, und wenn Sie tausend Jahre alt werden, können Sie auch dereinst im Schatten von tausendjährigen Bäumen wandeln. — Sie sind doch nicht eifersüchtig?«

»Weshalb eifersüchtig?«

»Weil ich heute Abend in dieses Zelt noch eine zweite Gattin führen werde.«

Diese Eröffnung jagte ihr nun keinen Schreck in die Glieder.

»O Sie Unhold!«, sagte sie nur. »Sie sind ja ein Don Juan!«

»Bin ich. Hatte bisher nur wenig Gelegenheit, in diesem meinem eigentlichen Berufe zu arbeiten. Jetzt aber werde ich das Versäumte mit aller Macht nachholen.«

»Die Braut, von der Sie vorhin sprachen?«

»Jawohl, die Suleika, die Enkelin des Scheichs, der dort unten seinen Hirtenstab als Szepter schwingt. Ich bin nun bald zwei Stunden mit ihr verlobt, da wird es die höchste Zeit, dass ich sie endlich heirate.«

»Monsieur Bertrand, Sie sind köstlich!«

»Ja, und nun gestatten Sie, dass ich Ihnen noch eine Überraschung bereite. Wollen Sie mir einmal Ihr Taschentuch geben.«

»Wozu? Um mir die Augen zu verbinden?«

»O nein. Ich will Ihnen durch dieses Taschentuch eine Legitimation geben, dass man Sie hier oben als Herrin, als meine Gemahlin zu respektieren hat.«

Die Sängerin zog ihr Spitzentüchelchen, sie hatte erst etwas suchen müssen, ehe sie in dem ganz neuen, hocheleganten Tropenkleid, mit Spitzen und Schleifchen besetzt, die Tasche gefunden hatte. Sie erwartete etwas sehr Interessantes, glaubte, der moderne Luftpirat würde etwa einen geheimnisvollen Knoten hineinknüpfen. Aber Bertrand nahm das Tüchelchen gar nicht.

»Nun wollen Sie das Tuch in Ihre andere Tasche stecken. Es handelt sich um ein gewisses Erkennungszeichen.«

»Ich habe aber in diesem Kleide gar keine andere Tasche.«

»Nicht? Das wollte ich nur wissen. Es ist nämlich bei den Damen so höllisch schwer, ihre Taschen zu finden, ein professioneller Taschendieb hat mir einmal seine liebe Not geklagt, und Sie selbst lieferten den Beweis, indem Sie kaum Ihre eigene fanden. Nun aber haben Sie mir den Weg gezeigt, ich danke Ihnen.«

Und rücksichtslos griff er in ihre Tasche, brachte ein kleines Lederetui und eine kleine Browningpistole zum Vorschein und öffnete ersteres.

»Ein Kämmchen, ein Federmesserchen, ein Nagelpolierfeilchen, solche Papierblättchen, um sich die Bäckchen hübsch rosenrot zu färben — das dürfen Sie behalten, bitte hier — das Pistölchen, scharf geladen, werde ich mir aneignen. Ich kann keine bewaffneten Damen leiden. Einen Dolch auf dem Busen tragen Sie doch nicht, denn der Ausschnitt ist sehr klein und Ihr Kleid hinten zuzumachen.«

Jetzt ward der Sängerin doch etwas ungemütlich zumute.

»Monsieur, Sie sind ungalant.«

»Nur vorsichtig. Also, Madame, Sie werden dieses Zelt bis zu meiner Rückkehr mit keinem Schritt lassen. Man wird Ihnen Kaffee bringen, und zwar einen anderen als die Schlampe dort unten. Der Wächter steht überhaupt zu Ihren Diensten. Sobald Sie aber auch nur Ihr zierliches Fußspitzchen zum Zelte hinaussetzen, wird der Araber dieses Ihr zierliches Fußspitzchen mit seinem Säbel abhauen, und haben Sie dabei Ihr klassisches Näschen zu weit vorgestreckt, so ist auch dieses verschwunden. Auf Wiedersehen, allerschönste Paschabraut.«

Eine höfliche Verbeugung, und der neubackene Bandit verließ das Zelt.

Mit sehr gemischten Empfindungen blickte ihm die Sängerin nach. Alsbald postierte sich vor dem Zelt ein Araber mit einem mächtigen krummen Säbel, und der Kerl sah gar nicht danach aus, als ob es ihm viel auf ein paar Zehen und eine Nase ankäme.

Nach einer kleinen Weile kam auch Monsieur Bertrand zurück.

»Madame, ich muss Ihnen noch eine kleine Unannehmlichkeit bereiten. Bitte, wollen Sie Ihr Kleid ausziehen. Sie haben doch sicher noch etwas darunter, und hier bringe ich Ihnen auch einen ganz neuen Burnus.«

»Mein Kleid ausziehen?!«

»Ich brauche es. Ich muss daraus eine Puppe machen, die auf dem Aeroplan Ihre Gestalt markiert. Denn ich möchte mich der Festung doch noch einmal zeigen, und dann fliege ich mit Ihnen nach Süden davon. So hat es den Anschein, als ob Sie es seien, die mich nach der Oase begleitet, um auf die Tuaregs Bomben zu werfen.«

Die Sängerin hatte sich schon wieder in ihre abenteuerliche Lage gefunden, und jetzt leuchteten ihre Augen auf.

»Monsieur, da mache ich Ihnen einen Vorschlag.«

»Nun?«

»So nehmen Sie mich doch wirklich mit. Die Feuerprobe habe ich ja schon bestanden, ich fühle mich auf dem Aeroplan schon ganz zu Hause — so lassen Sie mich wirklich die Bomben auf den Feind werfen. Das kann doch aus so großer Höhe geschehen, dass man von keiner Kugel getroffen wird. Und wenn auch — für mein Vaterland bin ich bereit mich zu opfern. Bitte, bitte! Ach, das wird ja herrlich, wenn das dann in alle Zeitungen kommt, wie die Olinda den Feind vom Aeroplan aus bombardiert, wodurch sie die dem Tode verfallene Garnison in der Wüstenoase gerettet hat.«

»O, in die Zeitungen wird noch etwas ganz anderes kommen!«, lachte der Bandit.

»Immer wieder noch etwas anderes? Was denn?«

Aber der gelbe Geier hatte jetzt keine Zeit und Lust, sie in seinen ganzen Plan einzuweihen, ihr die Augen zu öffnen.

»Sie werden es schon noch zeitig genug erfahren. Nein, ich kann Sie nicht mitnehmen. Bitte, ziehen Sie Ihr Kleid aus. In fünf Minuten wird es abgeholt.«

Er entfernte sich wieder, und seine letzten Worte hatten keinen Widerspruch geduldet.

Nach fünf Minuten warf sie auch ihr Kleid hinter dem Zeltvorhang hervor, Bertrand fertigte daraus eine Puppe, befestigte sie auf einem Sattel und konstruierte noch einen besonderen Mechanismus. Durch eine Schnur konnte der Arm der Puppe gehoben und bewegt werden, sodass es aussah, als ob Mademoiselle Olinda mit einem Taschentuche wedelte.

Die Bombenkisten waren schon geleert worden, natürlich aber wurden die Kisten mitgenommen, zur Vorsicht auch einige Bomben, und so trat der gelbe Geier wieder seinen Flug an.

Seine Absicht, die er dann auch ohne Zwischenfall ausführte, war, noch einmal an der Festung vorbeizufliegen, dann den abgerückten Soldaten zu folgen, sie aus der Ferne zu beobachten, bei Anbruch der mondlosen Nacht zurückzukehren und die letzten Vorbereitungen zur Überrumpelung des Forts zu treffen.

Es war alles viel besser gekommen, als er gehofft hatte. Dass so viele Soldaten gleich abgeschickt würden, hatte er gar nicht geglaubt. Außerdem arbeitete der Aufzug schneller, beförderte mehr Menschen hinauf, als er sich ausgerechnet hatte. Eine Hilfeleistung der anderen Araber von außen war gar nicht mehr nötig.

Der Herr der Erde

Auf dem Fort war man natürlich höchst bestürzt, als der Aeroplan plötzlich mit der Sängerin davonging, und wurde noch bestürzter, als er nicht wieder zurückkam.

Eine Stunde verging. Immer mehr wurde Major Ligny bestürmt, doch einige Soldaten auszusenden, auf die Felswand hinauf oder sonst auf erhöhte Punkte, um nach den Verschwundenen auszuspähen. Aber dem Major war unterdessen zum Bewusstsein gekommen, dass an der forcierten Kriegsbereitschaft der Festung schon drei Mann fehlten, er hatte zu viele gegen den Feind abgeschickt. Und was sollten die Kundschafter denn auch? So ein Aeroplan ist eben ein heikles Ding, auch wenn er aus der geheimnisvollen Werkstatt des amerikanischen Sklavensees stammte. Wenn man nicht an ein Unglück denken wollte, so hatte der Aviatiker eben eine Landung ausführen müssen.

»Aber wenn sie nun unsere Hilfe brauchen, wenn sie — —«

»Dort kommt er wieder!«, rief da eine Schildwache.

Von Westen her, wo er verschwunden, kam der Aeroplan wieder angeschwirrt.

Mademoiselle Olinda winkte schon von weitem mit dem Taschentuche, sie wedelte noch mehr, als der Aeroplan an der Festung vorübersauste, aber noch in beträchtlicher Entfernung und Höhe.

»Eine Landung machen müssen!«, schrie der männliche Aviatiker mit allem Aufgebot seiner Lungenkraft. »Jetzt direkt nach der Oase, Mademoiselle Olinda begleitet mich!«

Das war noch deutlich gehört worden. Der Major schrie, der Aeroplan solle noch einmal herkommen, doch lieber den Artillerieleutnant mitnehmen — da aber hatte der Aeroplan schon einen Bogen gemacht, sauste nach Süden davon, weit schneller als ein Eilzug. Die Aviatiker hatte die Aufforderung gar nicht mehr hören können.

Jetzt war nichts mehr dagegen zu machen. Der Major brummte etwas von einem verrückten Frauenzimmer, die drei Zivilisten und besonders die Damen sprachen bewundernd von dem heroischen Mute ihrer Landsmännin — eben eine echte Französin — obgleich sie den eigentlichen Grund zu diesem »Heroismus« recht gut kannten. Eben in die Zeitungen kommen, von sich reden machen — alles Reklame.

Die Sonne versank hinter den Bergen, die mondlose Nacht brach an.

Um acht wurde die Wache abgelöst, alles musste mit antreten, auch der Kompanieschreiber. Der Major selbst verlas die Kriegsartikel.

In der Laube saßen die Zivilisten und Damen und lauschten den furchtbaren Strafandrohungen.

Die Beleuchtung war eine sehr spärliche. Nur Petroleumlampen, die hier und da angebracht waren.

Da plötzlich krachte von der Felswand her, die in völliger Finsternis lag, eine Gewehrsalve. Die Hälfte der vierzig Mann stürzte zu Boden, darunter auch der Major und die beiden Leutnants. Ehe die anderen daran denken konnten, ihre geladenen Gewehre zu entsichern, krachte eine zweite Salve, und nur noch wenige konnten nach dem Eingang des Felsverlieses flüchten, die meisten von diesen fielen noch unter Einzelschüssen, den anderen setzten weiße Gestalten mit gezückten Schwertern nach.

»Allah will es, Allaah, Allaaaaah!!«

Nur einem einzigen Soldaten gelang es, eine Kammer zu erreichen und die schwere Tür hinter sich zuzuwerfen und zu verriegeln. Er wurde dann ausgehungert.

Vor dem Eingang der Laube stand der Aviatiker, den man jetzt bei der Ersatztruppe dreißig Kilometer entfernt vermutete, in jeder Hand einen Revolver.

»Keinen Widerstand, meine Dramen und Herren!«

Sie dachten ja gar nicht daran, waren vor Schreck ganz gelähmt. Araber untersuchten mit blutigen Händen ihre Taschen nach Waffen.

»Mit wem habe ich die Ehre?«

Zwei Schauspieler und zwei Schauspielerinnen. Der dritte Herr war der Sohn eines reichen Seifensieders, der sein Erbe mit Bühnenkünstlern durchbrachte. Von seinem Gelde war diese Vergnügungsreise durch Algerien gegangen, die Gesellschaft der berühmten Olinda machte auch ihn berühmt, und deren Bräutigam, der Marquis Artois, hatte im letzten Augenblick das Zipperlein kommen und war hübsch zu Hause geblieben.

Die dritte Dame also war die Gattin des Kapitäns, der die Hilfsexpedition führte. Ihre beiden Kinderchen hörte man nebst ihrer schwarzen Wärterin oben aus einem Fenster schreien.

»Bah, das ist nicht viel wert«, sagte der gelbe Geier, als er nun wusste, wen er vor sich hatte, weswegen er die Sängerin nicht erst gefragt hatte. »Da muss ich mir noch andere Sicherheiten verschaffen. Na, bis dahin sind Sie mir gut genug. Zu fürchten haben Sie natürlich nichts. Seien Sie nur ruhig, Madame, Ihren Kindern geschieht nichts, sie bleiben bei Ihnen. Natürlich setze ich voraus, dass die französische Regierung nicht gegen mich vorgeht, mir vielmehr alles liefert, was ich fordere. Sonst freilich kenne ich keine Rücksicht.«

*

Am anderen Morgen, als die Sonne aufging, schwebte der Aeroplan schon hoch über dem Dschurdschura, der gelbe Geier überschaute das Gebiet, das er bereits als sein kleines, selbstständiges Fürstentum betrachtete, das er als absoluter Despot regierte.

Auf dem grünen Plateau des himmelhohen Felsens meißelten die arabischen Arbeiter schon die ersten Zisternen, welche das Wasser der nächsten Regenzeit auffangen sollten, und Regen fällt hier genug, überreichlich, er kommt eben immer gleich in solchen Strömen, dass er für die Landwirtschaft nur schädlich ist, indem er fruchtbares Land fortspült.

Ab und zu ein dumpfer Knall und eine Rauchwolke verrieten, dass die kundigen Steinarbeiter die Zisternen mit Pulver aussprengten, nur Sprenglöcher einmeißelten. Mit den herausgewuchteten Blöcken, die sich dazu eigneten, wurde schon das Fundament zu einem massiven Hause gelegt.

In sicherer Entfernung von diesen Sprengarbeiten spazierte auf dem Plateau die Sängerin in einer hocheleganten Morgentoilette, einem ihrer Koffer entnommen, rauchte eine Zigarette und schaute der jungen, zauberhaft schönen Araberin zu, die mit einem kleinen Zicklein spielte.

Suleika war dem gelben Geier noch gestern Abend anstandslos ausgeliefert worden. Was für Schwierigkeiten konnte man denn diesem neuen Pascha auch noch bereiten?

Auf der Seite nach der Festung lief an einem starken Balken, an einem ganzen Gerüst ein Seil ohne Ende hin und her. Es beförderte nicht nur einen Korb, sondern viele Körbe waren in Zwischenräumen angebracht. In diesen Körben hatten gestern Abend gleich dreißig Araber gesessen, so stark war das Ganze gleich gebaut worden, sie hatten gleichzeitig die Salve abgegeben, nur aus verschiedenen Höhen, und die Besatzung hatte nicht das geringste Geräusch bemerkt, als sie niedergelassen worden.

Jetzt wurden in diesen Körben Handgranaten hinaufbefördert.

Ja, wer wollte den Herrn und Fürsten vom Dschurdschura noch belästigen? Er rechnete schon damit, dass sein Aeroplan einmal versagen, unbrauchbar werden konnte. Was schadete es? Nur dass er selbst dann nicht mehr von hier fort konnte. Aber angreifen, beschießen durfte man ihn hier nicht. Er hatte Geiseln genug in den Händen.

Auch der verwundete Major würde mit dem Leben davonkommen und eine wertvolle Sicherheit bieten.

Würde man ihm alles geben, was er forderte, wenn er nicht allzu unbescheiden war? Besonders wenn er beim ersten Zögern nach Algier etwa ein abgeschnittenes Ohr sandte.

»Schickt mir das Geforderte, oder das zweite Ohr folgt! Und dann immer mehr!«

So machen es die türkischen und griechischen Räuber. Ein ganz probates Mittel.

Oder aber, würde die französische Regierung rücksichtslos diese Menschenleben opfern, um diesem modernen Räuber und phantastischen Tyrannen den Garaus zu machen?

Es war vielleicht anzunehmen.

Hier musste doch sofort ein exemplarisches Beispiel statuiert werden.

So etwas war ja unerhört!

In der Weltgeschichte ist so etwas allerdings schon mehrmals passiert, in neuerer Zeit aber nicht wieder, und so ein moderner Räuber, der sich als Fürst, als Tyrann betrachtet, macht leicht Schule, der findet schnell Nachahmer.

Da durfte man keine Rücksicht kennen. Mochten auch einmal ein paar Menschenleben dabei draufgehen, zwei unschuldige Kinder und die Olinda, die war auch nicht unersetzbar. Was bedeutete Gesang, was Vergötterung des Volkes! Eine Regierung weiß nichts von solchen Schwachheiten. Die muss andere Ideale haben.

Ja, es war doch sehr leicht möglich, dass bald Artillerie in hellen Scharen kam, ihre Geschütze dort auf die umliegenden Bergwände brachte, oder sie konnte auch unten im Tale bleiben. Die zweitausendfünfhundert Meter Höhe des Dschurdschura bedeuten für die modernen Feldgeschütze nichts, das Plateau würde mit einem Regen von Granaten und Haubitzen überschüttet, und der Festung brauchte einfach nur die Proviantzufuhr abgeschnitten zu werden.

Aber der gelbe Geier lächelte nur spöttisch, als er sich dies überlegte.

»Ja, so mögt Ihr denken, solange es sich nur um ein paar lumpige Schauspieler und Schauspielerinnen handelt, und die Offiziere, die sich so haben überrumpeln lassen, sind auch nichts mehr für Euch wert.

Aber wartet nur, ich werde mir schon noch andere Geiseln verschaffen, dann, kalkuliere ich, werdet Ihr anders denken.«

In der südlichen Wüste tauchte ein Zug von Menschen auf. Es war die zurückkehrende Hilfsexpedition. Na, die mochten ja keine schlechten Gesichter gemacht haben, als sie in der Oase Ghardiat eingetroffen waren und dort wie auch ringsherum alles in vollstem Frieden gefunden hatten.

Vier Stunden hatten die armen Zuaven ruhen dürfen, dann wurde der Rückmarsch angetreten. Angesichts der Berge, zwischen denen ihre gegenwärtige Heimat lag, fielen sie ganz von selbst mit ihrer letzten Kraft in Geschwindschritt. Nur um zu erfahren, was der Kerl von Aviatiker da eigentlich berichtet hatte, wie er dazu gekommen war — in der Hoffnung, diesen Hundsfott noch anzutreffen und zur Rechenschaft ziehen zu können. Na, dann sollte der etwas erleben!

Der in den Lüften schwebende »Hundsfott« beachtete die anmarschierenden Soldaten gar nicht. Wie die zu empfangen waren, darüber hatte er einen Sohn des Scheichs als den jetzigen Kommandeur der Festung schon instruiert.

Es sollte eine List versucht werden, um den Hauptmann und die anderen Offiziere von den Soldaten wegzulocken und in die Festung zu bringen. Gelang die List nicht — na, dann musste die ganze Kompanie eben vor den Kanonenmündungen umdrehen, oder es wurde losgepulvert. Mochten sie dann ziehen, wohin sie wollten. Einmal musste und sollte es die andere Welt ja doch erfahren, was hier passiert war.

»So lange dies aber noch nicht der Fall ist, muss ich die Zeit doch ausnutzen, um wertvollere Geiseln in die Hände zu bekommen.«

Er blickte dorthin, wo Algier lag, sah es wirklich liegen, freilich nur als ein besonderer Punkt als Stadt zu unterscheiden. Durch sein Taschenfernrohr konnte er aber tatsächlich die größeren Gebäude, besonders die Kirchen und Moscheen, erkennen.

»Dort residiert der Gouverneur. Den möchte ich haben. Womöglich gleich mit Frau und Kindern. Es sind ja nur zwei Stunden hin. Dazwischen liegen ja auch noch einige ansehnliche Städte, es wäre auszukundschaften, ob nicht schon von dort etwas Wertvolles an Fleisch und Blut zu holen ist. Ein englischer Gesandter, nur ein Konsul — auch nicht schlecht. Was kriecht dort unten?«

Sein Fernrohr sagte ihm, wie er überhaupt erwartet, dass es eine Karawane war, die von Norden her durch die Wüste zog, eine sehr stattliche Karawane.

»Der werde ich einmal einen Besuch abstatten. Alles, was sich lohnt, wird mitgenommen. So ein reicher Großkaufmann ist hundertmal mehr wert als die Offiziere hier, die schon so gut wie ausrangiert sind, und als die lumpige Schauspielerbande. Die Olinda natürlich ausgenommen, die ist wieder etwas ganz anderes, die könnte man schon gleichwertig mit der Tochter eines regierenden Fürstenhauses erachten. Obgleich mir eine richtige Prinzessin doch lieber wäre. Und ist sie ganz echt, mit Anspruch auf eine Königskrone, dann würde ich sie auch heiraten. Ist das nicht französische Kavallerie, von der die Karawane begleitet wird? Wahrhaftig! Eine ganze Schwadron! Dann ist da auch etwas ganz Vornehmes dabei. Also steigen wir hinab und machen unsere Aufwartung, dreist und verwegen.«

Er flog noch eine große Strecke geradeaus, dann senkte er sich hinab.

Es braucht wohl nicht erst ausführlich gesagt zu werden, was für eine Kühnheit dieser Mann besaß, was er riskierte!

Bisher waren seine Operationen ja fast ohne jede Gefahr für ihn gewesen. Aber wenn er jetzt diese Karawane aufsuchte, das konnte für ihn verhängnisvoll werden.

Er kannte die Geheimnisse des Sklavensees und was damit zusammenhing, soweit es ihre Besitzerin eben in die Öffentlichkeit hatte kommen lassen. Er hatte genug aus den Zeitungen darüber erfahren. Er wusste, dass sich im amerikanischen Felsengebirge wie an Bord des »Mohawk« eine Camera obscura befand, wusste, was mit dieser wunderbaren Erfindung zu machen sei.

Von vornherein hatte er damit gerechnet, dass er vom Augenblicke seiner Flucht von der Sumpfinsel an in dieser Camera beobachtet würde. Und er wusste auch von den Telefonuhren.

Dass man ihn vom »Mohawk« aus verfolgen könnte, daran glaubte er ja nicht. Wenigstens gab er sich da noch einen Tag Zeit, wenn er auch schon immer den Horizont nach allen Seiten im Auge behalten, auch seine Araber deswegen instruiert hatte, dass sie nach einem anderen Aeroplan spähen sollten.

Wie nun aber, wenn aus dem »Mohawk«, wo man ihn und seine Handlungen immer beobachtet hatte, darüber schon nach Algier telegrafiert worden war? Denn die Hafenstadt Wida ist telegrafisch verbunden.

Dann konnte diese Karawane schon von allem wissen und er konnte sich auf einen heißen Empfang gefasst machen.

Dass sich nun aber der Luftpirat dennoch direkt zu der Karawane niederließ, ganz ruhig abwartend, ob oder ob nicht, das zeigte, aus was für einem Holze dieser Mann geschnitzt war — aus dem Holze, aus dem die Welteroberer geschnitzt sind — und außerdem traute er eben den Vorsichtsmaßregeln, die er getroffen, seinen Schutzvorrichtungen, und mehr noch seiner Energie, Schlauheit und rücksichtslosen Verwegenheit, welche drei Eigenschaften, zusammen in einem Menschen vereinigt, noch immer alle übrigen Menschen beherrscht haben, für welche drei Eigenschaften alle Schwierigkeiten nur dazu da sind, um von ihnen in kühnem Ansturm besiegt zu werden.

Der Aeroplan war erblickt worden, sein Ziel war offenbar die Karawane, und das war jedenfalls Grund genug, dass gleich der ganze Zug hielt, ob man nun schon etwas mehr wusste oder nicht.

Der gelbe Geier, ein echter Raubvogel, hatte aus seiner Höhe jede Bewegung der Menschlein dort unten beobachtet, sobald die Köpfe gehoben wurden.

»Inschallah, Alschallah!«, erklang es natürlich, ihm schon vernehmbar, dazwischen auch französische und englische Rufe, einer wollte den anderen darauf aufmerksam machen, dass dort oben eine Flugmaschine, ein Aeroplan schwebe, und aus diesen Rufen des Erstaunens, denen nichts weiter hinzugesetzt wurde, wie auch besonders aus dem ganzen Verhalten dieser Menschlein, konnte Monsieur Bertrand mit Sicherheit schließen, dass man nur einen kühnen Aviatiker erblickte. Vielleicht wussten die Mitglieder dieser Karawane noch nicht einmal, dass er schon gestern früh über der Stadt Algier geschwebt hatte.

Aus den winzigen Menschlein wurden große Menschen, die ersten alle beritten, und der Aeroplan hatte sich nicht weit entfernt von dem greisen Führer niedergelassen.

Er wurde sofort von Reitern umringt, die zum Teil sich schon aus den Sätteln schwangen, und dass sich auch einige Damen darunter befanden, die nicht schnell genug den Flugkünstler sprechen konnten, das überzeugte den Franzosen vollends davon, dass er hier nichts zu fürchten habe.

»Wo kommen Sie her? Wo wollen Sie hin? Sie haben doch nicht etwa die ganze Sahara überflogen? Was ist denn das für ein merkwürdiger Aeroplan?«

So und anders schwirrten die Fragen durcheinander.

»Arsen Bertrand aus Marseille, Ingenieur,« stellte sich der Aviatiker, noch im Sattel sitzend, zunächst vor, und das musste ihm auch die erste Hauptsache sein, dass man seinen Namen erfuhr. Denn der Name ist bekanntlich immer die Hauptsache.

Ein älterer Mann drängte sich vor, der auch unter dem Beduinenkittel den Kavalier, ja sogar gleich den Zeremonienmeister nicht verleugnen konnte, für den kein Parkett glatt genug ist.

»Bertrand ist Ihr Name?«, flüsterte er. »Herr, Sie haben ein fabelhaftes Glück, Sie haben die Ehre, der Prinzessin Irene von England, ihrem durchlauchtigen Bruder dem Herzog von Waltonshire, dem englischen Finanzminister Lord Hatterdon, dem französischen Kolonialminister Delarge und noch einer großen Anzahl der höchsten und allerhöchsten, durchlauchtigsten und allerdurchlauchtigsten Personen vorgestellt zu werden!«

Ja, der Aviatiker konnte aufjubeln — wenigstens innerlich. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ein Aviatiker bei einer Landung im freien Felde ein Gänsemädchen antrifft oder eine englische Prinzessin, von der schon feststeht, dass sie einem europäischen Königreiche einen Thronnachfolger schenken soll. Da kommt sein Name sicher in alle Zeitungen — durch das Gänsemädchen weniger.

Hatte es der Luftpirat geahnt? Nein, er hatte nur einen Wunsch gehabt, und dieser war in Erfüllung gegangen.

Die Vorstellung durch den Zeremonienmeister erfolgte, das war hier unumgänglich notwendig, damit der Aviatiker wusste, wen er vor sich hatte, dass er sich danach richtete. Freilich ging es nicht weiter als bis zu den Ministern, obgleich da noch viele Herren und Damen von Rang und Stellung waren.

Die beiden Geschwister vom englischen Königshause machten eine Orientreise. Der Finanzminister hatte zu ihrer Begleitung Urlaub erhalten, noch andere hohe Würdenträger waren dabei, mit einem großen Kriegsschiffe waren sie gekommen. Zuerst sollte eine Reise durch Algerien gemacht werden. Marokko war zu unsicher. Da hatte sofort der Präsident von Frankreich seine Einladung geschickt. Freilich schon vorher ausgemachte Sache. Es muss für das große Publikum nur so aussehen wie momentane Höflichkeit. Also in Marseille wurde das englische Kriegsschiff durch ein französisches ersetzt, der Kolonialminister von Frankreich selbst übernahm die weitere Führung, natürlich hinter ihm noch ein Stab von Generalen und Admiralen. Und das umso mehr, weil Frankreichs sehnsüchtigster Wunsch wieder einmal ein enges Bündnis mit England war. Die waren hier alle bei dieser Karawane vorhanden, in weiter Interimsuniform oder im Beduinenburnus.

»Was ist denn das für ein Aeroplan? Was ist denn das für ein merkwürdiger durchsichtiger Stoff?«

Monsieur Bertrand hielt es nicht für angebracht, wieder von einer Atalanta und den Geheimnissen des Sklavensees anzufangen, er wusste schon, dass dann das Fragen erst recht kein Ende nahm.

»Das ist meine eigene Erfindung. Darf ich von ihrer Leistungsfähigkeit eine Probe zeigen?«

Und, alle weiteren Reden unmöglich machend, erhob er sich, ohne jeden Anlauf, erhob sich direkt vom Boden. und fuhr dicht über die Köpfe der Umstehenden dahin.

Diese duckten sich nicht schlecht. Es war noch gar nicht so lange her, dass einem französischen Minister auf dem Flugplatze von einem Aeroplan der Kopf glatt abgerissen worden war.

Aber so etwas war von diesem Aeroplan hier nicht zu befürchten. Bertrand zeigte durch einige Manöver und Evolutionen, wie er seine Maschine in der Gewalt hatte, und es war tatsächlich fabelhaft. Innerhalb eines Quadrates von zwanzig Metern Durchmesser eine Acht zu beschreiben, war ihm eine Kleinigkeit.

»Dort der Sandhügel!«, rief er, und er streifte mit dem unteren Deck dessen Spitze weg.

Mit einem Ruck vor der Gesellschaft still auf der Stelle schwebend, fragte er, ob sich ein Herr oder Mann bereit fände, sich so die Kopfbedeckung abstreifen zu lassen, sofort erbot sich ein Zuave zu dem gefährlichen Experiment. Der Aviatiker sauste davon, stieg in die Höhe, drehte um, kam wie ein Pfeil herangeschossen, stürzte herab und fegte dem strammstehenden Soldaten von hinten den Fez vom Kopfe, ohne sonst sein Haar zu berühren.

Besonders die französischen Generale und sonstigen Offiziere waren ganz außer sich. Natürlich. Frankreich ist in der Luft voran und will diese Stellung behaupten.

Der Aviatiker war wieder gelandet.

»Will mich einer der Herren begleiten? Ich kann drei Passagiere mitnehmen.«

Es waren zwei Generale und ein Kapitän, die sofort auf den Sätteln Platz nahmen. Einige Rundflüge in verschiedener Höhe, und der Aeroplan landete wieder.

»Darf ich die Königlichen Hoheiten bitten?«

Beide hatten die größte Lust, aber der englische Finanzminister hatte die Macht eines Vormundes, er war verantwortlich für alles, er erlaubte es nicht.

Doch es kam genau so, wie es Monsieur Bertrand gehofft und diesmal wirklich vorausgeahnt hatte.

»Wir wollen uns wenigstens fotografieren lassen!«, rief der französische Kolonialminister, ein sehr behäbiger Herr, der seinen Schmerbauch einem Aeroplan überhaupt nur anvertraute, wenn er fest am Boden stand.

Ja, das war etwas anderes.

Die beiden prinzlichen Geschwister, sie ein achtzehnjähriges, sehr hübsches Dämchen, er ein dreizehnjähriger struppiger Junge, nahmen auf dem Aeroplan Platz, der französische Minister zwischen ihnen, Monsieur Bertrand legte die Hände an den Steuerapparat, der Fotografenapparat wurde aufgebaut, nun eine möglichst vorteilhafte Pose eingenommen, das Gesicht in die nötigen Falten gelegt, das Käppi etwas schiefer gerückt — fertig klar zum Aufstieg, Frankreich und England vereint.

Dieser Aviatiker konnte sich als ein gemachter Mann betrachten. Denn dieses Bild kam doch in alle Zeitungen, diese Fotografie würde in allen Kunsthandlungen und ähnlichen Geschäften aushängen.

Ja, klar zum Aufstieg — der gelbe Geier drehte den Hebel herum, gab seinem Rosse die Sporen, und gehorsam stieg es auf, setzte sich in Bewegung, schoss davon.

Unten schrie alles, oben schrien die drei Passagiere. Dann machten sie lieber den Mund wie die Augen zu. Und ehe sie die letzteren zu öffnen wagten, erhielten sie schon von unten einen kleinen Ruck, der Aeroplan war gelandet — auf dem Hofe der Festung Dschurdschura.

»Fasst sie!«, rief der Aviatiker, und dieser Zuruf genügte den herbeieilenden Kabylen, er selbst ging ja auch mit gutem Beispiele voran, hatte die Arme des dicken Ministers von hinten gepackt, presste die Ellenbogen zusammen, mit einer Kraft, die dieser sehnigen Gestalt entsprach.

»Banditen, was wollt Ihr von mir?«

Gar keine Erklärung. Die Waffen wurden ihnen abgenommen, die Prinzess allerdings nicht mit roher Hand visitiert, und sie wurden in als Zimmer eingerichtete Felsverliese gesperrt, aus denen es kein Entrinnen gab, der Minister allein, die prinzlichen Geschwister zusammen.

»Verzeihen königliche Hoheiten, ich bin ein Bandit und muss mich sichern. Sie werden mit allem Respekt behandelt«, sagte der gelbe Geier nur noch, nichts weiter, dann flog er zurück zu der Karawane.

Dort wurde er ja empfangen.

»Wie konnten Sie das wagen! Wo sind denn die königlichen Hoheiten?!«

»Sie hörten, dass das Fort Dschurdschura ganz in der Nähe sei, befahlen mir, sie dorthin zu bringen, und jetzt lassen sie bitten, dass auch seine Herrlichkeit Lord Hatterdon die Flugmaschine benutzen möchte, womöglich mit dem General — ach, der Name ist mir entfallen — und dem Admiral Conrad.«

Nun, man verzieh dem Manne. Und diesem Wunsche musste nachgekommen werden. Es war ganz selbstverständlich, dass sie, einmal in dieser Richtung, auch dem Fort Dschurdschura einen Besuch abgestattet hätten.

Also auch der englische Finanzminister bestieg mit einem französischen General und einem Admiral den Aeroplan, der eine war schon einmal geflogen, der zweite hatte sofort den Mut dazu, und der dritte, der französische Admiral, machte gute Miene zum bösen Spiele, schnallte in Gedanken sein Herz fest, dass es ihm nicht in die Hosen rutsche, und der Aeroplan flog zum zweiten Male ab, überstieg die Bergwand und sauste auf die Festung zu.

»Das sind doch lauter Arab... — —«

Der Luftpirat hatte gar nicht für nötig gefunden, die Araber zu verstecken oder zu maskieren. Solch ein Aeroplan ist ein gar fixes Ding, besonders dieser hier war es. Der französische General hatte das Wort noch nichts aussprechen können, so landete die Maschine schon auf dem Forthofe, und ehe die drei nur etwas denken konnten, waren sie schon von den Kabylen gepackt worden und wurden nach Bertrands Anweisung auf einzelne Zimmer verteilt.

Das Ende der Herrlichkeit

»So, nun hin ich gesichert. Jetzt mögen sie kommen. Oder jetzt kann ich vielmehr schon meine Befehle diktieren. Nur einen Feind habe ich noch zu fürchten, und mit dem werde ich mich nun auseinandersetzen oder noch besser zu einigen versuchen, jetzt ist die Zeit dazu gekommen.«

Und der Luftpirat zog aus seiner Westentasche eine Telefonuhr.

Er hatte sie in dem Utensilienkasten gefunden. Atalanta hatte sie als Reserve mitgenommen, falls einmal eine der gebrauchten versagte oder abhanden kam.

Sofort hatte der französische Ingenieur die Bedeutung der kleinen Dose erkannt. Denn die Telefonuhr hatte zu denjenigen Geheimnissen des Sklavensees gehört, welche Atalanta der Welt, das heißt den untersuchenden Forschern, zur Verfügung gestellt hatte, allerdings immer mit Vorbehalt. Immer nur eine Aufmunterung: »Hier seht, diese wunderbare Erfindung, eine drahtlose Telefonie in der Westentasche, ist schon gemacht worden, nun macht dieselbe Erfindung noch einmal nach.«

Eine Telefonuhr hatte sie auch öffnen lassen. Sie enthielt eine weiße, baumwollartige Substanz, eigentlich nichts weiter. Es schien dieselbe Substanz zu sein, welche auch die Elektrizität aus der Luft und aus dem Wasser saugte, sie hatte aber doch wieder ganz andere Eigenschaften. Und ein unlösbares Rätsel war auch der Mechanismus, der die Verbindung zwischen zwei Uhren herstellte, die in einem Kreise geordneten Buchstaben des Alphabetes, die sich zu einem Worte zusammenrücken ließen. Da war kein besonderer Hohlraum noch vorhanden. Das Geheimnis musste in der Substanz, im Metall liegen, was auch recht wohl denkbar war. (Der physikalisch gebildete Leser wolle sich der sogenannten Chladni'schen Klangfiguren auf einer Metall- oder Glasplatte erinnern.)

Dies alles war in den Zeitungen, besonders in wissenschaftlichen, genügsam erörtert worden, dieser französische Ingenieur, der sich damals in Nizza aufhielt, wusste um alles.

Aber er hatte die vorgefundene Telefonuhr noch nicht benutzt, noch gar keinen Versuch damit angestellt, noch nicht einmal den Knopf gedrückt.

Weshalb nicht? O, dieser Mann mit der Hakennase wusste ganz genau, was er tat. Nur immer hübsch eines nach dem anderen! Diese Regel bildet mit eines der Hauptfundamente, aus denen sich jeder Erfolg aufbaut.

Jetzt zum ersten Male drückte er den Knopf, wiederholt. Es kam kein Gegenzeichen, und das hatte er vorausgesehen.

Er öffnete den hinteren Deckel, betrachtete sinnend die in einem Kreise stehenden Buchstaben.

»Als erstes würde ich es mit dem Worte Atalanta versuchen, aber jeder Buchstabe ist nur einmal vertreten.«

So probierte er es mit den Kürzungen Atl und Atln. Es kam kein Gegenzeichen.

»Sklavensee? Auch zwei ›e‹ zu viel. Probieren wir es mit dem Worte ›Mohawk‹.«

Er ordnete die Buchstaben, drückte den Knopf, und in der nächsten Sekunde ertönte in seiner Uhr ein Klingeln.

»Hier Gräfin von Felsmark«, sprach deutlich die Membrane, ohne dass man sie ans Ohr legen musste. »Sie wünschen, Monsieur Bertrand?«

»Ah, Sie wissen schon, mit wem Sie sprechen?«

»Ja.«

»Weil ich in der Camera obscura beobachtet werde?«

»Ja.«

»Und Sie stehen wieder mit dem ›Mohawk‹ telefonisch in Verbindung?«

»Ich befinde mich selbst an Bord.«

»Wie, Sie sind schon wieder zurück von Jangala?!«

»Ja.«

»Wie haben Sie denn den Rückweg bewerkstelligt? Auf meinem Aeroplan?«

»Soll ich Ihnen meine Reiseerlebnisse erzählen oder was wollen Sie sonst von mir?«

»Wissen Sie, was hier vor sich gegangen ist?«

»Ich weiß alles.«

»Ich habe das Fort Dschurdschura in meinen Besitz gebracht.«

»Ich weiß alles, sagte ich Ihnen ja schon. Wir haben alles beobachtet, auch was bei Nachtzeit passierte.«

»Frau Gräfin, so mache ich Ihnen einen Vorschlag. Wir beide wollen uns vereinen, wir wollen zusammen —«

»Schluss.«

»Halt! Sobald Sie mich nicht hören, töte ich hier ein Kind!«

In demselben Moment, da auf der einen Seite das Wort »Schluss« gesprochen worden war, war hier »Halt« gerufen worden, und zungengeläufig war das andere nachgefolgt.

Die Gräfin musste es unbedingt noch gehört haben, der gelbe Geier ließ sich durch die lange Pause nicht beirren.

O, war dieser Mann schlau! Wie gut der diese Indianerin zu beurteilen verstand, wenn er sie auch nur einmal wenige Minuten gesehen hatte! Von ihr gehört hatte er ja schon genug, und beides zusammen genügte ihm vollkommen, um seinen Plan zu entwerfen.

»Was sagten Sie da?«, flüsterte dann die Membrane.

»Sobald Sie mit mir die Verbindung abbrechen, werde ich eines der Kinder töten. Sie können es in der Camera obscura beobachten.«

»Ungeheuer!«

»Nein, das bin ich nicht. Ich will im Gegenteil ein Friedensengel werden, wozu ich allerdings erst etwas rücksichtslos sein muss. Wollen Sie mich weiter anhören?«

»Ich höre.«

»Wir beide wollen uns zusammen in Freundschaft verbinden. Wir beide wollen zusammen die ganze Erde erobern. Den Anfang dazu habe ich hier schon gemacht, und dieser Anfang genügt. Dann diktieren wir beide allen Staaten und Völkern unsere Gesetze — die Gesetze des internationalen Völkerfriedens. Wollen wir uns zusammen verbinden?«

Es war kurz und bündig, mehr Worte waren gar nicht nötig.

»Nein, ich kann nicht mitmachen, an mir haben Sie keinen Bundesgenossen!«, erklang es wieder nach einer Pause.

»Weshalb weigern Sie sich?«

»Weil ich überhaupt nicht kann.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich sofort nach Beendigung dieses Gesprächs alle Geheimnisse des Sklavensees vernichten werde.«

»Was wollen Sie?!«

»Den ›Mohawk‹ anbohren, ihn auf den Meeresboden versenken.«

Braucht der Leser noch eine Erklärung? Dieser Mann verstand sofort alles. Es machte auf ihn sehr wenig Eindruck.

»Wohl nur wegen meiner jetzigen Drohung?«

»Ja. Obgleich mir dieser Entschluss schon öfters durch den Kopf gegangen ist. Ich will nicht mehr vor solch ein Entweder—Oder gestellt werden. Es soll mir nicht wieder gedroht werden, dass meinetwegen ein Kind getötet werden soll, wenn ich mich nicht füge.«

»Gut. Vorläufig aber sind wir noch in telefonischer Verbindung, vorläufig bleibt meine Drohung noch bestehen. Fügen Sie sich, verbinden Sie sich mit mir, oder das erste Kind ist des Todes, und das zweite wird nachfolgen. Sie glauben nicht, dass ich meine Drohung wahrmache? Beobachten Sie in der Camera obscura, wie ich dem einen Kinde zunächst ein Ohr abschneiden werde.«

»Ungeheuer, die Rache des Himmels wird Sie treffen!«

»Ich habe nur das Beste vor, die Qualen dieses Kindes verschulden Sie!«

Der gelbe Geier machte Ernst, sofort! Einige Worte zu den umstehenden Kabylen, und nach drei Minuten brachte einer das vierjährige Mädchen des Kapitäns auf dem Arm.

»Noch will ich Ihnen einen anderen Vorschlag machen«, gab jetzt der Bandit doch etwas nach. »Dass Sie sich nicht mit mir verbünden, sich gar nicht in solche Politik einmischen wollen, kann ich begreifen. Gut. So versichern Sie mir auf Ihr Ehrenwort, nicht gegen mich vorgehen zu wollen, sich niemals in meine Pläne einmischen zu wollen.«

»Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich mein ganzes Schiff versenken werde, und im Coloradogebirge befindet sich überhaupt gar nichts mehr.«

»Diese Erklärung genügt mir noch nicht. Haben Sie nicht bereits jemanden gegen mich ausgesandt?«

»Ja!«, erklang es ohne Zögern.

»Auf einem Aeroplan?«

»Ja.«

»Wen?«

Eine kleine Pause.

»Das brauchen Sie nicht zu erfahren, das interessiert Sie doch gar nicht.«

»Wo befindet sich der Aeroplan jetzt?«

»Das weiß ich selbst nicht.«

»Lüge! Sie stehen doch immer mit Ihren Leuten in telefonischer Verbindung.«

Der gelbe Geier musterte den Himmel. Kein Wölkchen war daran zu erblicken. Er konnte vorläufig beruhigt sein. Die Araber oben auf dem Dschurdschura hatten eine viel weitere Umschau, und sie waren instruiert, einige hatten nichts weiter zu tun, als nach dem Himmel und dem Horizont zu spähen. Bei dem Auftauchen jedes verdächtigen Punktes wäre er sofort benachrichtigt worden, und dann hatte er noch immer Zeit, seine Maßregeln zum Empfang des feindlichen Aeroplans zu treffen. Auch für die Nacht hatte er seinen Plan entworfen.

Ha, die sollten erstaunen, erschrecken, was er zu seiner Verteidigung für ein furchtbares, raffiniertes Mittel ausgegrübelt hatte.

Jetzt zog er sein Messer, die Uhr noch am Munde behaltend.

»So sehen Sie her. Ich muss auch die andere Hand frei bekommen. Ich gebe die Uhr einem Araber. Wenn Sie noch etwas zu sagen haben, so sprechen Sie, ich höre es. Also wollen Sie auf meine Bedingungen eingehen?«

Er hatte die Telefonuhr einem Kabylen gegeben, mit der Anweisung, sie in der Nähe seines Mundes zu halten, ergriff mit der linken Hand ein Ohr des Kindes. Dieses lachte. Es wusste ja gar nicht, worum es sich handelte, das Messer konnte es nicht einschüchtern.

»Du willst mir wohl ein Ohr abschneiden?«, fragte es lustig.

Wahrscheinlich hatte schon einmal jemand so einen Spaß mit dem Kinde gemacht.

»Halt!«, erklang es aus dem Telefon.

»Was wollen Sie noch? Jetzt gibt es nur noch ein Ja oder Nein.«

»Was für Bedingungen meinen Sie, auf die ich eingehen soll?«

»War ich noch nicht deutlich genug? Sie sollen dem Lenker des Aeroplans, den Sie gegen mich abgesandt haben, sofort Befehl geben, alle Feindseligkeiten gegen mich einzustellen. Und dass Sie dies getan, haben Sie mir auf Ihr Ehrenwort, dem ich traue, zuzusichern.«

»Ich will es tun, geben Sie mir eine Minute Zeit.«

»Gut, aber nur eine einzige Minute.«

Der Bandit gab das Ohr des Kindes wieder frei, er zog dafür seine Taschenuhr.

»Noch eine Viertelminute«, sagte er nach der entsprechenden Zeit, »dann hat dieses arme Kind nur noch ein Ohr, und Sie haben es verschuldet.«

»Ja, ich bin fertig. Bitte, wollen Sie sich einmal mehr nach Osten herum drehen.«

»Wozu?«, fragte der Franzose misstrauisch.

»Sie sollen nach der Sonne blicken, ich will Ihnen etwas Merkwürdiges zeigen — genug! Deine Zeit ist abgelaufen, Du Ungeheuer!«

Der gelbe Geier hatte, um nach der Sonne zu blicken, auch den Oberkörper etwas gewendet — und mit einem Male brach er wie vom Blitz getroffen zusammen, er hatte nur noch mit der Hand, die das Messer schon fallen gelassen, eine Bewegung nach dem Herzen gemacht.

Die umstehenden Kabylen starrten. Sie begriffen gar nichts. Auch das englisch geführte Gespräch hatten sie nicht verstanden.

Sie prallten erst auseinander, als plötzlich ein starker Windstoß sie traf, der unmöglich eine natürliche Entstehung haben konnte, wozu noch ein eigentümliches Geräusch kam, und das Zauberwerk war vollkommen, als plötzlich, wie aus der Luft geboren, zwei Männer vor ihnen standen, ziemlich gleich gekleidet in Jagdkostümen mit langen Schaftstiefeln, nur dass der eine klein und dick, der andere baumlang und sehr mager war.

»Schade«, sagte der Riese, natürlich Kapitän Hagen, ein kleines, zierliches Gewehr in der Hand, wohl eine Luftbüchse, »schade, dass die Gräfin durchaus darauf bestand, ich sollte ihm sofort eine elektrische Kugel ins Herz jagen. Lieber hätte ich das Scheusal festgenommen und ihm — nicht gerade langsam die Haut abgezogen, ihm aber doch erst einmal tüchtig den Hosenboden verhauen, dass er acht Tage lang nur noch auf dem Bauche liegen konnte.«

»Ja, aber er hatte das Messer in der Hand, der wäre fähig gewesen, erst nach dem Kinde zu stoßen«, entgegnete Littlelu, dem Araber, der vor Schreck zu erstarrt war, um die Flucht zu ergreifen, das Kind abnehmend.

»Freilich, freilich, es war das Beste. Wollen Sie nun auf das Plateau hinauf, um dort oben erst einmal reine Wirtschaft zu machen, oder soll ich's tun.«

»Da will ich einmal hinaufgondeln.«

»Gut, dann kehre ich hier unten aus. Ich komme dann nach.«

Littlelu sagte dem Kinde ein paar freundliche Worte, setzte es auf den Boden, machte mit ausgestreckter Hand einige Schritte zurück, bis seine Hand an einen unsichtbaren Widerstand stieß.

Ein Griff, und eine unsichtbare Tür sprang auf, durch die man jetzt den Steuerapparat eines zweiten Aeroplans und alles, was zwei Aviatiker sonst noch zur Hand haben müssen, erblickte.

Als sich der geheimnisvolle Bewohner der Felsenhöhlen am Sklavensee im amerikanischen Felsengebirge mit seinen Nachbarn vertraut machen wollte, hatte er dem Doktor Hikari eine scheinbar gläserne Dose gegeben, zwischen deren Wänden alles unsichtbar und gewichtlos wurde.

Über dieses fabelhafte Rätsel, das sich für den Physiker nur theoretisch erklären ließ, war Señor Tenorio ja noch oft genug befragt worden. Er hatte immer gesagt, dies sei sein Geheimnis, das er vorläufig noch nicht verraten wolle, man solle es nur aus eigener Kraft zu lösen versuchen — jedenfalls aber kannte er es selbst gar nicht. Denn, wie sich später herausstellte, hatte er selbst ja erst alle diese Geheimnisse einem anderen gestohlen. Hätte er selbst diese geheimnisvolle Substanz herstellen können, so würde er es schon einmal bei Gelegenheit getan haben. Aber er vermochte eben dem Omnihilit nicht diese wunderbare Eigenschaft zu geben.

An Bord des »Mohawk« war ein zweiter Aeroplan gebaut worden, zuerst in der Absicht, mit ihm die beiden der drei Personen von der Sumpfinsel abzuholen. Dies wurde hinfällig, dafür wurde der neue Apparat dazu bestimmt, ihn gegen den Räuber des ersten Aeroplans auszusenden, bemannt mit Kapitän Hagen, der um Littlelus Begleitung bat.

Wie nun den verwegenen Franzosen überrumpeln? Er war ja hier immer beobachtet worden, man wusste, wie dieser Mann mit allen Hunden gehetzt war, wozu er fähig, denn man hatte auch gesehen, wie er einen Araber hinterlistig zum Felsen herabgestürzt hatte. Es war ein ganz gefährlicher Auftrag, den Hagen übernahm.

Da zeigte es sich, dass Sirbhanga Brahma, der sonst von allen den Geheimnissen und Erfindungen nichts wissen wollte, höchstens Störungen beseitigte, spickte und reparierte, recht gut in alles eingeweiht war, viel, viel mehr als jener Señor Tenorio.

In seiner schweigsamen Weise brachte er einige große Omnihilitplatten angeschleppt, die er frisch gegossen hatte, und als er den ganzen Flugapparat bis auf die Propellerflügel damit eingehüllt hatte, also einen viereckigen Kasten darum bauend, da war alles, was sich innerhalb dieses Glaskastens befand, für das menschliche Auge verschwunden, der ganze Aeroplan einfach unsichtbar. Also nur die Propellerschraube ragte hinten heraus, das ging ja nicht anders, aber diese selbst war von Omnihilit, von einer Glasmasse, bei der man nicht einmal wie bei richtigem Glase die Kanten sah.

»So, in diesem Kastenaeroplan können Sie sich dem Monsieur nähern, ohne dass er Sie bemerkt.«

Das Staunen der Zuschauer war grenzenlos gewesen.

»Sie können also solches unsichtbar machende Omnihilit herstellen?!«, fragte man verwundert.

»Ich kann es.«

»Aber warum haben Sie es denn noch nie gemacht?«

»Wozu?«

Man wusste schon, dass hier jede weitere Frage vergeblich war, ebenso aber auch jede Bitte, noch mehr von dem rätselhaften Stoff zu liefern.

Nur Littlelu hatte noch eine Frage gehabt.

»Da müssen Sie aus diesem Zeuge doch auch einen Anzug fertigen können, in dem ein Mensch unsichtbar wird.«

»Ja, wenn es möglich ist, das Omnihilit geschmeidig zu machen.«

»Ist das nicht möglich?«

»O ja, möglich ist es schon. Es gibt überhaupt nichts Unmögliches.«

»Bitte, liefern Sie mir solch einen unsichtbar machenden Tarnanzug.«

»Ich bedauere, mein Herr!«, war die kühle Antwort gewesen, wenn auch immer noch ganz freundlich gegeben, und der Inder war davongegangen.

Man hatte überhaupt gar keine Zeit zu verlieren gehabt. Fort, nur schnell fort, um jenen unschädlich zu machen, ehe er mit dem gestohlenen Aeroplan noch mehr Unheil anrichtete.

Dreißig Stunden hatten sie gebraucht, um die Sahara zu überfliegen, und sie waren gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um eine neue

Scheußlichkeit zu verhüten, die sogar mit auf Atalantas Schuldkonto gekommen wäre, wenn auch noch so indirekt. Sie hatte den Franzosen, schon Messer und Ohr in der Hand, nur noch eine Minute hinhalten müssen, dann war der erlösende Schuss aus dem elektrischen Gewehr gefallen, mit einer elektrischen Kugel geladen, die nicht anders als ein Blitz wirkte, aber keinen Donner erzeugte. Wir werden diese Waffe noch näher kennen lernen.

Littlelu schwang sich in den Kastenapparat und flog zu dem Plateau hinauf, Kapitän Hagen war hier unten in der Festung Herr der Situation.

Er machte es höchst einfach, und so wollen wir es auch schildern.

Zuerst untersuchte er die Taschen des toten Franzosen und fand richtig ein Bund mit großen Schlüsseln.

Dann ging er an das Festungstor, schob die mächtigen Riegel zurück und machte das Tor weit auf.

»Hinaus! Wen ich dann noch in der Festung finde, der ist des Todes! Na, wird's bald?«

Die französischen Worte waren von sehr vielen verstanden worden, die entsprechenden Bewegungen waren für alle verständlich. Die Kabylen waren einfach fassungslos. Sie gehorchten wie die geprügelten Hunde, schlichen hinaus, jagten davon, den steilen Weg hinab. Einer, der nicht schnell genug war, bekam von Hagen einen Tritt, dass er gleich die Hälfte des Aufstieges hinabkollerte.


Illustration

Als Hagen den Hof so geräumt hatte, ging er, das Tor offen lassend, in das Innere der Festung, wohin jetzt auch das Kind, das zuletzt geweint hatte, geflüchtet war.

»He, ist hier jemand eingesperrt?!«, schrie er mit seiner dröhnenden Stimmte.

Ach, da erklangen gedämpfte Antworten genug.

Er wandte sich der nächsten Tür zu, gegen die es jetzt auch von innen donnerte, probierte die Schlüssel, fand den passenden — vor ihm stand ein sehr dicker Herr, einen überaus kläglichen Anblick bietend, jammernd mit so geläufiger Zunge, dass ihn Hagen gar nicht verstand, so gut er auch das Französische beherrschte.

»Na, nun legen Sie mal Ihrer Zunge die Kandare an. Wer sind Sie denn?«

Der französische Kolonialminister war es, Monsieur Delarge.

»Oho, der Herr Arsenik hat sich ja recht vornehme Geiseln auszusuchen gewusst! Das sah ihm aber auch ganz ähnlich, mit Kleinigkeiten ließ er sich nicht ein. Haben Sie noch Leidensgefährten?«

Der Minister nannte die Namen der anderen Entführten. Er wusste auch, dass der Pirat noch drei andere Hauptpersonen von der Karawane abgeholt, Monsieur Bertrand selbst hatte es ihm gesagt, ihm auch gleich seine Pläne offenbart, die er mit der englischen Prinzessin hatte.

Jetzt aber machte Hagen doch ein höchst erstauntes Gesicht. In der Camera obscura an Bord des »Mohawks« waren ja diese Entführungsszenen beobachtet worden, durch das drahtlose Telefon waren die beiden zu Hilfe Eilenden auf dem Laufenden gehalten worden — aber die Namen der Entführten kannte man ja nicht, zum Mithören war jene Camera nicht eingerichtet.

»Was, den englischen Finanzminister?! Und sogar das königliche Geschwisterpaar?! Und die Prinzessin hat er regelrecht heiraten wollen?! Das ist ja gerade wie — — —«

Hagen brach ab, bändigte sein Staunen, wenn nicht Bestürzung.

»Ich will die anderen gar nicht sprechen. Hier haben Sie die Schlüssel, befreien Sie sie selbst. Und verkündigen Sie Folgendes: Dieser Monsieur Bertrand hat der Gräfin Atalanta von Felsmark — kennen Sie diese Dame?«

»Wer kennt diese indianische Gräfin vom amerikanischen Sklavensee nicht!«

»Gut. Dieser Monsieur Arsen Bertrand hat ihr einen Aeroplan gestohlen, mit dem er hier seine Kunststückchen ausführte. Er stand nicht einmal in ihren Diensten, war ihr ein wildfremder Mensch. Sofort, als die Gräfin davon erfuhr, was hier vorging, hat sie mit einem anderen Aeroplan eine Hilfsexpedition nachgeschickt. Zu dieser gehöre ich. Der Bandit ist unschädlich gemacht, ich selbst habe ihn getötet, und jetzt sind Sie und die Gefangenen befreit. Ich habe also im Auftrage der Gräfin Atalanta von Felsmark gehandelt. Verstanden?«

Kapitän Hagen hatte natürlich seine Instruktionen erhalten, diese Erklärung hatte er abgeben müssen. Die Gräfin wollte sich entlasten.

»Verstanden?«, fragte Hagen nochmals. »Wiederholen Sie es.«

Der Minister tat es.

»So. Natürlich wird man der Gräfin ja doch eine Schuld beimessen, aber das soll uns ganz gleichgültig sein. Hier haben Sie die Schlüssel, und damit holla! Handeln Sie weiter nach Belieben.«

Und Hagen gab sich sofort wieder auf den Forthof, sich um alles andere gar nicht kümmernd. Auch er zählte sich schon zu jenen, für welche die andere Welt nicht mehr existierte — wenigstens solange er in Diensten der Gräfin stand.

Noch einmal visitierte er dem Toten die Taschen und blickte dann suchend am Boden umher.

»Verflucht, der Kabyle hat die Telefonuhr mitgenommen. Na, never mind. Dann wenigstens die Stiefel mit den Gummisohlen her! Ja, der war schlauer als wir.«

Er zog dem Toten die Stiefel ab, benutzte die Isoliervorrichtung gegen elektrische Schläge allerdings nicht, näherte sich vorsichtig dem mit Draht übersponnenen Aeroplan, näherte ihm noch vorsichtiger seine Hand.

Auch das war ja auf dem »Mohawk« beobachtet worden, wie der Aeroplan elektrische Schläge austeilte, man hatte die beiden gewarnt. Da waren sie freilich schon unterwegs gewesen.

»Nein, die Vorrichtung ist abgestellt worden. Aber richtig, der Kerl hatte ja seinen eignen Leib mit solch einem Apparat ausgestattet. Den muss ich ihm abnehmen, wenigstens deshalb, damit kein anderer Unfug damit treibt.«

Also nochmals den Toten untersucht, und bald fand er die Büchse, von der mehrere Drähte ausliefen, die er nur unter den Kleidern hervorzuziehen brauchte.

Dann bestieg er den Aeroplan, schraubte sich empor. In halber Höhe des Felsens sah er einen Korb herabkommen, in dem eine Dame saß. Sicher diejenige, welche der Franzose zuerst entführt hatte.

Auf dem Felsplateau befand sich nur noch Littlelu, der unterdessen hier oben reine Wirtschaft gemacht hatte. Alles hatte hinunter müssen, an dem Aufzuge, der ins Tal führte, nur die Sängerin hatte er in die Festung hinabgelassen.

Es war genau so zugegangen wie im Festungshofe. Die zum Tode erschrockenen Araber hatten einfach gehorcht.

»Donnerwetter, ist es hier oben schön! Diese Aussicht! Wer war denn die Dame im Korbe?«

»Das war die Olinda, eine gar berühmte französische Sängerin.«

»Aha, die Olinda — von der habe ich auch schon gehört. Und wissen Sie, wer die anderen waren, die er sich von der Karawane geholt hat?«

»Nun?«

Hagen nannte die Namen.

Auch Littlelu machte aus seinem Staunen kein Hehl.

»Ja, was nun anfangen?«

In beider Taschen klingelte die Telefonuhr.

Selbstverständlich waren alle diese Vorgänge an Bord des »Mohawk« beobachtet worden, jetzt wollte die Gräfin auch mündlichen Bericht haben.

»Hier Kapitän Hagen. Nun, Frau Gräfin, sind Sie mit meinen Ausführungen zufrieden?«

»Sehr, Kapitän, ich danke Ihnen. Hört auch Mister Maxim mit?«

»Hier bin ich, Frau Gräfin.«

»So hören Sie mich an, meine Herren: Ich segle jetzt mit dem ›Mohawk‹ um das Kap der guten Hoffnung nach San Francisco, um mich an meinen Sklavensee zu begeben. Ehe ich das Schiff verlasse, senke ich es an einer tiefen Stelle auf den Grund, mit allem, was sich darauf befindet, — Menschen ausgenommen.

Die Camera obscura ist bereits demoliert, ebenso werde ich jetzt sofort sämtliche Telefonuhren über Bord werfen.

Ich hoffe Sie baldigst am Sklavensee wiederzusehen, auch sonst bin ich natürlich für Sie immer zu sprechen, telefonisch — aber nur mit dem Telefon, welches der Menschheit zur allgemeinen Benutzung steht.

Das war mein letztes Gespräch durch die Telefonuhr — Schluss für immer!«

*

Bestürzt blickten sich die beiden an.

Beide drückten noch mehrmals den Knopf — bekamen aber kein Gegenzeichnen.

»Na, was kieken Sie mich denn so an«, unterbrach Littlelu endlich das Schweigen, obgleich er anfangs nicht minder seinen Gefährten verdutzt angeblickt hatte. »War denn das nicht immer zu erwarten gewesen, dass die einmal so etwas macht?«

»Wahrhaftig, es war zu erwarten gewesen! Obgleich sie niemals so eine Äußerung getan hat.«

»Die will wieder ein richtiger Mensch sein, nichts anderes haben, als andere Menschen auch besitzen.«

»Ja, und ich kann's ihr nicht verdenken. Das arme Weib hat wegen dem Zeuge schon viel ausstehen müssen.«

»Ja, und durch diesen Banditen hat sie die Nase nun vollends voll bekommen. So etwas, dass man ihr mit der Ermordung eines Kindes droht, mag sie nicht zum zweiten Male erleben. Sie benutzt das Schiff nur noch so weit, um bis in die Nähe ihrer Heimat zu gelangen, dann versenkt sie es einfach. Und die Camera obscura haut sie schon vorher in Stücke, die Telefonuhren schmeißt sie einfach über Bord. Das ist jetzt schon geschehen, verlassen Sie sich darauf.«

»Ich zweifle ja gar nicht daran. Aber unsere Aeroplane hat sie vergessen.«

»Nein, diese Indianerin vergisst nichts. Die Aeroplane sind nicht bei ihr — gut, nun macht damit, was ihr wollt. Freilich weiß sie auch, dass sie in guten Händen sind. Und überhaupt, wir müssen doch ein Transportmittel haben, um aus dieser Öde wieder herauszukommen.«

»Nun, da könnten wir uns wie andere Menschen erst einer Karawane anschließen, dann Eisenbahn und Schiff benutzen, um wieder nach San Francisco zu kommen. Die Tatsache ist aber die, dass wir im Besitze dieser beiden Aeroplane sind, von denen der eine noch wunderbarer ist als der andere, und dass uns die Gräfin nicht geheißen hat, auch sie zu zertrümmern.«

»Stimmt! Bleiben wir bei dieser Tatsache. Was fangen wir nun an?«

Erst schauten sie sich noch einmal an, und besonders der deutsche Seemann brach wiederum in Rufe des Entzückens aus.

»Hier möchte ich mich für einige Zeit niederlassen!«

»Und wissen Sie, was ich möchte?«, fragte Littlelu.

»Wohl das von Monsieur Bertrand angefangene Spiel fortsetzen?«

»Sind Sie Gedankenleser? Ja, das möchte ich. Dort unten ist noch die ganze Gesellschaft, der werden wir sofort wieder habhaft, Sie heiraten die englische Prinzessin, ich die französische Sängerin — oder umgekehrt, mir ganz egal — in die Scheichstochter teilen wir uns, ebenso in alle anderen Haremsdamen, die sich der Don Juan hier oben zulegen wollte — Bomben sind hier oben genug, zuerst erobern wir Algerien, dann Marokko, dann Frankreich, dann — —«

»Hören Sie auf, hören Sie auf!«, rief Hagen. »Nämlich darum sollen Sie aufhören, weil auch mir das ein sehr angenehmer Traum ist. O ja, es hat etwas für sich, so ein bisschen den Herrn der Erde zu spielen, allen Völkern seine eigenen Gesetze zu diktieren. Fürwahr, dieser Franzose war gar nicht so dumm, und das Zeug zu einem Napoleon Bonaparte hatte der auch in sich. Aber eben weil es ein so verführerischer Traum ist, der nur eine verfluchte Ähnlichkeit mit der Laufbahn eines Verbrechern hat, soll man solche Träume mit aller Gewalt unterdrücken. Also genug davon! — Dort liegt ein geschlachtetes Kalb, Feuerholz in Menge, die Araber rüsteten sich eben zum Frühstück — wollen wir lieber diese unterbrochene Beschäftigung fortsetzen.«

Zunächst aber holten sie auf beiden Seiten die Seile hoch. So, nun waren sie ganz ungestört. Mochten die unten in der Festung nur rufen und winken und Signalschüsse abgeben wie sie wollten, die existierten nicht mehr für die beiden.

Sie sahen auch, wie von Norden her die Karawane kam, vom Süden im Geschwindschritt die Kompanie Soldaten — sie kümmerten sich nicht darum.

»Ich bin bloß froh, dass ich nicht da unten bin«, sagte Littlelu nur noch einmal, »was das für eine Erklärerei geben würde, wenn man da Rede und Antwort stehen müsste.«

»Also sprechen wir auch gar nicht mehr darüber.«

Aber über ihr weiteres Ziel mussten sie doch sprechen, und sie taten es, während sie eine Kalbskeule und einige Koteletten brieten.

»Wie wär's, wenn wir die ganze Tour bis nach Frisco per Aeroplan machten?«

Ja, warum nicht? Sie legten die Reiseroute nach der Landkarte fest, besprachen dies und das, wie sie es mit dem Besuch der größeren Städte halten wollten, es gab interessante Punkte aufzusuchen, bei dem Fluge über den Stillen Ozean wollten sie einen schnellen Dampfer begleiten, falls doch einmal etwas an einem Aeroplan passierte.

Erst aber wollten sie noch einige Zeit hier oben die Aussicht und das Bewusstsein genießen, für die anderen Menschen in unerreichbarer Höhe zu sein.

Nach dem Essen strich Hagen wieder auf dem Plateau herum, während sich Littlelu mit dem Aeroplan zu schaffen machte, auf dem sie gekommen waren. Dann aber sah Hagen aus der Ferne seinen Freund wieder beim Feuer sitzen und mit einem Topfe hantieren.

Als er nach einer halben Stunde zurückkehrte, kam ihm Littlelu mit förmlich entgeistertem Gesicht entgegen.

»Ich hab's, ich hab's, ich hab's!«

»Was haben Sie denn?«

»Wissen Sie noch, wie ich den Brahmanen fragte, ob er mir nicht auch eine unsichtbar machende Tarnkappe oder gleich einen ganzen Tarnanzug verfertigen könne?«

»Ja, das weiß ich. Dieser Gedanke liegt doch auch sehr nahe. Alles, was sich zwischen zwei derartig beschaffenen Omnihilitplatten befindet, lässt die Lichtstrahlen ungehindert hindurch, verschwindet also ganz einfach für unser Auge. Oder man kann auch drei und vier oder wahrscheinlich beliebig viele Platten hintereinander stellen. Nun ist die Sache doch ganz einfach. Fast alle Kleiderstoffe, die wir tragen, bestehen doch aus einem Gewebe. Wenn man nun dieses Gewebe mit flüssigem Omnihilit tränkt, so wird doch jede einzelne Faser davon umhüllt, also unsichtbar. Zieht man solches Gewebe an, so muss doch auch der davon umhüllte Körperteil unsichtbar werden.«

»Ja, aber Sie wissen doch auch, wie furchtbar hart dieses Omnihilit ist.«

»Freilich, es widersteht allen Chemikalien, den schärfsten Säuren, verändert sich nicht in der Knallgasflamme — —«

Littlelu streckte seinen linken Arm aus, den er bisher auf dem Rücken verborgen hatte — es war nur ein Armstumpf, den er vorstreckte, die Hand fehlte daran.

»Um Gottes willen — —«

Littlelu tat, als ob er einen Handschuh abstreifte, und er tat es auch wirklich — wie er den unsichtbaren Handschuh abstreifte, kam auch seine Hand wieder zum Vorschein.

»Das Problem ist gelöst! Ich will mich nicht rühmen — ein Zufall hat mich darauf gebracht.

Ich wollte die Kastenplatten reinigen, nahm zuerst die oberste ab, trug sie hin nach dem Feuerplatz, wusch sie ab.

Mit einem Male merke ich, wie das Feuer grün aufflammt, ich ahne gleich etwas, zu sehen ist das Zeug ja gar nicht, wenn es nicht äußerlich schmutzig geworden ist, sonst nicht einmal die Kante der Platte, ich greife nach — richtig, die eine Ecke der Platte steht im Feuer — und zu meinem Schreck und eigentlich noch mehr Staunen merke ich, fühle ich, dass die eine Ecke abgeschmolzen ist.

»Wie, so hat das Omnihilit in dieser Beschaffenheit also auch ganz andere Eigenschaften? Es lässt sich schmelzen?«, warf Hagen ein.

»Jetzt nehme ich eine Bratpfanne her, mache sie sauber, stelle sie auf's Feuer, warte, bis sie rotglühend wird und stelle die federleichte Platte mit der Ecke hinein.

Richtig, es schmilzt immer mehr ab, und das lässt sich auch beobachten, indem die Masse beim Schmelzen grünlich und erst beim Erkalten wieder farblos wird.

Herr Gott, denke ich — ich denke nicht weiter, sondern probiere gleich — ich schmelze eine größere Masse, tauche ein Stück Holz hinein — wie die daran klebende Masse erstarrt ist, einen Lacküberzug bildend, ist das Stück Holz scheinbar verschwunden. Das war ja auch vorauszusehen gewesen. Ich tauche meinen seidenen Handschuh hinein — der verschwindet natürlich auch.

Ja, nun hätte ich so einen Handschuh, der auch die Hand unsichtbar macht. Aber das Ding ist doch steinhart geworden. Da könnte man sich nur so einen eisernen Ritterhandschuh herstellen und müsste nur aufpassen, dass die Finger nicht zusammenkleben.

Da aber fällt mir ein: Ja, warum ist denn das dünne Spinngewebe in der dünnflüssigen, also doch glühend heißen Masse nicht gleich verbrannt, verkohlt?

Wie ich über dieses Rätsel noch staune, fällt mir das Ding aus der Hand. Ja, wie nun den unsichtbaren Handschuh wieder finden! Doch er kann ja nur direkt herunter gefallen sein, und also, wenn ich es richtig berechne, gerade in den Topf mit Wasser, das ich aufgesetzt habe.

Das Wasser kocht schon, ich fische mit dem Messer darin herum, hole den Handschuh wieder heraus — da ist der immer noch durchsichtig oder vielmehr unsichtbar — ist aber weich wie vorher und bleibt es auch nach dem Erkalten!

Das Problem ist gelöst! Wenn man das unsichtbar machende Omnihilit kocht oder wahrscheinlicher einer Temperatur von 100 Grad Celsius längere Zeit aussetzt, wird es weich und bleibt weich! Oder geschmeidig, ist wohl richtiger.«

Kapitän Hagen hatte die Bedeutung dieses Experiments sofort erfasst.

»Ja, dann können wir doch einen ganzen Anzug mit schmelzendem Omnihilit tränken, kochen ihn — und wir sind selbst unsichtbar.«

»Natürlich! Vorausgesetzt, dass hier nicht nur einmal ein Zufall eine Rolle gespielt hat. Ich hätte es gleich mit dem zweiten Handschuh versucht, da aber kamen Sie.«

Die Experimente wurden fortgesetzt. Es wurde noch mehr von der Platte in dem Tiegel abgeschmolzen, der zweite Handschuh hineingetaucht, dann, als er erkaltet und dabei ganz hart geworden, einige Zeit im Wasser gekocht, und weich und geschmeidig wurde er wieder hervorgezogen, blieb auch so, die Hand unsichtbar machend. Das heißt, wollen wir uns noch einmal wissenschaftlich ausdrücken, um solch eine Möglichkeit überhaupt anzudeuten: Die Lichtstrahlen wurden durch die doppelten oder vielfachen geschmeidigen Glaswände so gebrochen und absorbiert, dass alles, was sich zwischen ihnen befand, für Lichtstrahlen durchlässig und daher scheinbar unsichtbar wurde.

Wie schon einmal gesagt worden, wird an diesem Problem, seitdem man zu der Erkenntnis gekommen ist, dass die für uns sichtbaren Lichtstrahlen nur ein kleiner Bruchteil der existierenden sind, von unseren Physikern ganz intensiv gearbeitet. Und gelöst wird dieses Problem noch einmal! Denn es ist gar nichts anderes, als wenn man Kieselsand mit einigen anderen Substanzen schmilzt, die aber nur dazu dienen, um den Stein in Fluss zu bringen, und zum Vorschein kommt durchsichtiges Glas. Die phönizischen Kaufleute, welche bekanntlich das Glas durch Zufall erfunden haben sollen, indem sie einmal das Feuer zwischen großen Stücken natürlicher Soda machten und dann Sand darauf warfen, würden auch an Hexerei geglaubt haben, als sie dann eine Masse fanden, durch die man wie durch Luft hindurchblicken konnte.

Hagen konstatierte noch, woher es kam, dass das Gewebe in der flüssigen Masse nicht verbrannte. Weil das Omnihilit beim Schmelzen eine ungeheure Wärme absorbierte.

Dann gingen sie daran, sich ganze Kleidungsstücke herzustellen, welche den Körper unsichtbar machten. Ihre eigenen Kleider wollten sie lieber nicht so imprägnieren. Aber die Araber hatten einige Burnusse zurückgelassen, die wurden in einem großen Kochtopf behandelt.

Von der großen, dicken Omnihilitplatte war nur der vierte Teil nötig, um die beiden von Kopf bis zu Füßen in solches Gewebe zu hüllen, dass sie völlig verschwanden, und es war ja die obere Platte, man hätte also den Aeroplan nur von oben sehen können, und auch nur zum kleinsten Teil.

Außerdem wurde dabei noch eine Entdeckung gemacht. Ein Kopftuch verschwand einmal in dem flüssigen Glase und verbrannte. Die Masse war zu heiß geworden. Diese Entdeckung war sehr wichtig. Verdampfen tat von dem Omnihilit nichts. Also konnte man die schon imprägnierten Kleidungsstücke verbrennen, dann blieb das Omnihilit zurück, sodass es immer wieder verwendet werden, man immer andere, neue Kleider damit imprägnieren konnte.

Die beiden Freunde wurden manchmal noch ganz außer sich. Sie wagten sich gar nicht auszumalen, was sie mit dieser Erfindung noch alles anstellen konnten.

»Herr Gott, wenn das allgemein würde — dann bräche aber für die Spitzbuben eine goldene Zeit an!«, meinte Littlelu einmal.

»Ohne Sorge«, war aber Hagen anderer Ansicht, »sobald sich jeder Mensch unsichtbar machen könnte, würde auch sehr schnell eine Brille erfunden werden, durch welche diese Unsichtbarkeit wieder aufgehoben wird.«

»Ja, das glaube auch ich. Der liebe Gott sorgt schon dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Aber gesetzt den Fall, solch ein Tarngewand fiele in unrechte Hände, etwa in die eines Menschen von den Charaktereigenschaften eines Arsen Bertrand — was der für Unfug damit treiben könnte!«

Dem musste allerdings auch Hagen beistimmen.

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, den ganzen Glaskasten, mit dem ihr Aeroplan, auf dem sie gekommen waren, umhüllt war, auseinander zu schrauben. In die sechs Platten teilten sie sich. Auch der alte Aeroplan erhielt oben und unten Schutzplatten, die ihn, von unten oder oben gesehen, durchsichtig, unsichtbar machten. Da sie nun wussten, dass diese Art Omnihilit durch Feuer zu bearbeiten war, bot das keine Schwierigkeiten.

Freilich wurde dadurch auch der erste Aeroplan, von den Seiten her gesehen, sichtbar. Sie hätten ja dünnere Platten gießen können, aber dazu bedurfte es doch anderer Vorrichtungen, und so verzichteten sie hierauf. Es genügte schon, dass sie nicht von unten gesehen werden konnten, und es war ja überhaupt nötig, dass sie selbst sich immer sahen, solange sie noch nicht jene Brille erfunden hatten.


ENDE VON BAND 2


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