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"Nach den Mondbergen,"
Verlag für Volkskunst und Volksbildung Richard Keutel, Stuttgart, 1911
"Nach den Mondbergen," Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1920
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
"Nach den Mondbergen," Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1920
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
Diese Erzählung, die eine Fortsetzung von »Im Lande der Zwerge« bildet, und ihrerseits durch die dritte Erzählung »Ophir« fortgesetzt und abgeschlossen wird, erschien als kurze Skizze im »Neuen Universum«, dem bekannten Jahrbuch der Union Deutsche Verlagsgesellschaft, im Jahre 1906. Als ich beim Amerikanistenkongreß in Stuttgart 1904 die Freude hatte, Professor Hans Meyer kennen zu lernen, befragte ich ihn um seine Ansicht betreffs meiner Überzeugung, daß der Tanganjika früher oder vielleicht noch gegenwärtig durch den Kiwusee mit dem Albert-Edward-Njansa zusammenhänge, und die alten Nilquellen, entsprechend den mittelalterlichen und noch älteren Karten, im Lokingagebirge zu suchen seien. Hans Meyer wandte dagegen ein, es sei eine hohe Wasserscheide zwischen dem Kiwusee und dem Albert-Edward entdeckt worden. Dagegen bemerkte ich, daß diese Wasserscheide, nämlich die Virunga-Vulkan-Kette, die damals noch »Mfumbiro« geheißen wurde, nichts beweise, da ja auch zwischen dem Albert-Edward und dem Albert-See eine sehr hohe Wasserscheide, der Runsoro, sich erhebe, unbeschadet der Verbindung dieser beiden Seen durch den Semliki.
So viel haben nun die neuesten Forschungen Herzog Adolf Friedrichs von Mecklenburg bewiesen, daß eine Verbindung zwischen Kiwu und Albert-Edward vielleicht noch in geschichtlichen Zeiten bestand, also immerhin die Möglichkeit vorhanden ist, daß die alten Nilquellen südlich vom Tanganjika zu suchen sind. Jedenfalls ist das letzte Wort in dieser Frage noch nicht gesprochen und die Wunder der alten Nilquellen können noch entdeckt werden.
Inzwischen hoffe ich, daß diese Erzählung, die sich mit dem großen Rätsel beschäftigt, die Leser fesseln, anregen und ihnen Gewinn bringen möge.
Eschelbach in Württemberg, August 1911. Fr. Wilh. Mader.
Seit Erscheinen der ersten Auflage ist die Verbindung zwischen Kiwu und Tanganjika durch den Russissi tatsächlich nachgewiesen. Allerdings ist der Seespiegel des Kiwu wesentlich höher als der des Tanganjika, so daß der Russissi vom Kiwu zum Tanganjika fließt, statt umgekehrt. Immerhin bleibt die Möglichkeit, daß eine starke Senkung im mittelafrikanischen Graben in geschichtlicher Zeit das Verhältnis umkehrte.
Stuttgart 1920. Fr. Wilh. Mader.
Professor Dr. Heinrich Schulze (Bwana Bawessa, Abu Arba, Bwana Maua).
Dr. med. Otto Leusohn (Bwana Fimbo).
Helene Leusohn, seine Schwester.
Piet Rijn, ein Bure.
Klaas und
Danie, seine älteren Söhne.
Hendrik Rijn, sein jüngster Sohn (Bwana Angadir, Bwana Mdogo).
Sannah Rijn, Hendriks Schwester.
Lord Charles Flitmore (Bwana Kelele, Bwana Mkubua).
John Rieger (Johann), sein Diener (Bwana Lolo).
Amina, Helenes Dienerin.
Hassan bin Mohamed, ein Somali, Aminas Bruder.
Hamissi, Suahelikoch.
Tipekitanga, Zwergprinzessin.
Abu Ibrahim, arabischer Karawanenführer.
Achmed, ein Araber, Hauptmann der Askaris.
Kaschwalla, ein Suaheli (Abu Merissa, Baba Pombe).
Sangula, sein Weib.
Uledi, sein Sohn, der kleine Ziegenhirte.
Der starke Juku, ein Suaheli, Träger und Askari.
Parker, ein Sulu.
Die Sultanin Niawingi (Kiakutuma), Zauberin von Ruanda.
Bussissi, ein Mruanda.
Nanturu, ein Mruanda.
Msinga, Sultan von Ruanda (»Mami«).
Klaas Rijn, ein Bure.
Sarah, seine Frau.
Lukas Pretorius, ein Bure.
Wilhelmintje, seine Frau.
Sebulose, Batwazwerghäuptling.
Tamate, Dorfhäuptling von Kwidschwi.
Ali, ein Somali, Askari.
Antari, Häuptling der Watongwe.
Schekka, sein Sohn.
Mohamed Heri, ein arabischer Sklavenjäger.
Werdella, ein Negerhäuptling.
Tschitambo, ein Negerfürst.
Baruti, Jukus Bruder.
Mietje Rijn.
Nigger, Johns Dachshund. — Mietje, ein junger Elefant. — Negerhäuptlinge, Neger, Wanjaruanda, Batwazwerge, Warundi, ein Führer, arabische Sklavenjäger, Askaris, Träger und ihre Weiber und Kinder.
Karte zu Kapitel 1-18 / Karte zu Kapitel 19-28
Mit Hendriks und Schulzes Hilfe gelang es ihm,
den Koloß auf den Rücken des Tieres zu heben.
Die Regenzeit war zu Ende, als eines Morgens eine stattliche Karawane am Nordwestende des Albert-Edward-Sees den Semliki auf einer Pfahlbrücke überschritt.
Sie bestand aus dreißig schwarzen Trägern, Eingeborenen aus der Gegend, jeder mit seiner Traglast auf dem Kopfe, einem Suaheli, namens Hamissi, der als Koch diente, und aus zwölf Askaris oder Soldaten, die von einem Somali, namens Hassan, befehligt wurden.
Die weißen Männer des Unternehmens waren: Professor Heinrich Schulze, Otto Leusohn, Doktor der Medizin, Lord Charles Flitmore und dessen Diener Johann Rieger, sowie Hendrik Rijn, ein junger Bure.
Endlich befanden sich bei der Gesellschaft noch vier weibliche Wesen: Sannah Rijn, Hendriks Schwester, Helene Leusohn, die Schwester des Doktors, Helenes schwarze Dienerin Amina, die Schwester des Somali Hassan bin Mohamed, der die Askaris befehligte, und eine niedliche kleine Zwergin, Tipekitanga, die Wambuttiprinzessin.
Außerdem begleitete noch ein hochgewachsener Graubart, der Bure Piet Rijn, Hendriks und Sannahs Vater, mit seinen stattlichen Söhnen Danie und Klaas die Abziehenden bis zur Grenze seines Besitztums, das sich zu beiden Seiten des Semliki ausdehnte.
Als diese Grenze auf dem linken Ufer des überschrittenen Flusses erreicht war, nahmen der Bure und seine Söhne Abschied von Hendrik und Sannah sowie den übrigen Weißen, wünschten ihnen Glück und den göttlichen Schutz zur Reise und sprachen die Hoffnung auf ein gesundes und frohes Wiedersehen aus.
Noch einmal blickten die Scheidenden zurück nach dem Runsoro und den Wäldern und Pflanzungen zu seinen Füßen, nach der Salzstadt Katwe und dem kleinen Posten Kasindi in der Steppe am Nordstrand; dann wandte sich der lange Zug nach Süden, dem Ufer des Albert-Edward-Sees zu.
Schulze und Leusohn saßen auf stattlichen Reitstieren. Diese langhörnigen Rinder, wenn sie einmal eingeritten sind, zeigen sich als die vorzüglichsten Reittiere Afrikas. Sie sind lenksam und ausdauernd und überwinden auch schwierige Hindernisse, wie Sümpfe und Flüsse, mit Leichtigkeit.
Helene und Sannah besaßen Reitesel, die sich auch stets als bequeme und widerstandsfähige Beförderungsmittel im schwarzen Erdteil bewiesen haben.
Sannah freilich bestieg ihr Tier nur selten, wenn sie einmal recht ermüdet war; für gewöhnlich überließ sie ihren Esel der Zwergprinzessin, der, infolge ihrer außerordentlichen Kleinheit, das Mitkommen oft schwer wurde, so tapfer und ausdauernd sie auch marschierte.
Der Lord und der junge Bure gingen zu Fuß, letzterer aus Gewohnheit von Kind auf, ersterer aus Grundsatz; denn er sagte, er habe in Afrika alle Beförderungsmittel ausprobiert und keines so vorteilhaft gefunden wie die eigenen Beine.
»Ich bin auf Pferden, Eseln und Stieren geritten,« erklärte er, »und ich muß sagen, besonders die letzteren haben sich stets gut bewährt. Ich habe mich auch im Tragstuhl und in der Hängematte von schwarzen Trägern tragen lassen, gleich einem faulen Pflanzer, und es ist dies eine sehr bequeme Beförderungsart, so sanft geschaukelt und ohne Anstrengung das Land zu durchreisen mit seinen oft so schwierigen Wegen.
»Andrerseits muß ich bekennen, so angenehm das körperliche Gefühl dabei gewesen, das moralische war weit minder angenehm; ich habe mich stets geschämt, den Negern meine Last aufzubürden und selber keine Strapazen auf mich zu nehmen.
»Was mich aber in letzter Linie dazu bestimmte, auf alle Bequemlichkeiten zu verzichten und grundsätzlich nur noch zu Fuß zu gehen, ist ein Doppeltes: erstens ist man auf diese Weise allein imstande, an der eigenen körperlichen Ermüdung zu bemessen, wieviel man den Negern zumuten darf, namentlich den Lastträgern; man fordert dann nicht so leicht übermäßige Leistungen von ihnen, mit denen man sie überanstrengt. Sodann aber habe ich erprobt, daß die körperliche Bewegung das beste Schutzmittel gegen Fieber und Erkrankung in den Tropen ist. Nie habe ich mich hier so wohl gefühlt, als wenn ich zu Fuß wanderte; auch die Hitze empfindet man dabei weit nicht so lästig, wie ja überhaupt der Untätige stets mehr unter der Sonnenglut zu leiden hat, als wer sich Bewegung verschafft, vorausgesetzt, daß sie in angemessenen Grenzen verbleibt.«
Die Richtigkeit dieser Bemerkungen des edlen Lords bestätigte sich auch den berittenen Weißen, und in der Folge zogen Schulze, sowie Leusohn und seine Schwester es ebenfalls vor, ihre Tiere meist ledig laufen zu lassen oder einem maroden Schwarzen abzutreten. Manchmal freilich waren sie auch recht froh, nach längerer Anstrengung oder bei besonders schwierigen Wegverhältnissen reiten zu können.
Ganz wundervoll marschierte es sich in den frischen, klaren ersten Morgenstunden der afrikanischen Trockenzeit. Wie leicht hoben sich die Füße, wie wonnig schweifte das Auge in die leuchtenden Fernen, wie herrlich atmete man in der von Mimosenblüten und andern duftigen Pflanzen gewürzten Luft!
»Nirgends habe ich genußreichere Stunden verlebt,« nahm Flitmore wieder das Wort, »als bei einer solchen Morgenwanderung in der afrikanischen Steppe; das Herz will zum Himmel fliegen, man hat so recht das Gefühl, die ganze Welt stehe einem offen, und man wünscht, es möchte nur so weitergehen bis ans Ende der Erde.«
»Nicht übel, teurer Lord,« gab Schulze zurück, »aber andrerseits habe ich nirgends qualvollere Stunden durchlitten als in der Mittagsglut dieser Steppen. Man hat das Gefühl, als sei die Welt zugeschlossen, das Herz möchte in den Boden versinken und man wünscht, es möchte keinen Schritt mehr so weiter gehen.«
Der Lord lachte: »Auch nicht unrichtig, kein Genuß ohne Leiden und alles hat seine Kehrseite. Übrigens, wer keinen besonderen Grund zur Eile hat, mag morgens und abends wandern und mittags rasten, dann geht es prächtig.«
»Ja, so wollen wir's auch halten,« schlug Leusohn vor und traf damit die Meinung der Andern.
Übrigens, so sehr sich Lord Flitmore für die Morgenwanderung begeisterte, die Steppe, die zur Zeit durchwandert wurde, war nichts weniger als reizvoll, vielmehr erschreckend öde. Hie und da eine Euphorbiengruppe und einige kümmerliche Sorghumpflanzen, die auf eine zerstörte Ansiedlung hinwiesen, vereinzelte Hütten mit Feldern, auf denen etwas Eleusine, Sorghum und Bohnen gebaut wurden. — Das war alles!
Von Kassodscho aus sah man noch einmal die silberne Wasserfläche des Issango, dann ging es über Geröll und durch dichten Akazienbusch nach Kassavo. Von dort durch eine Ebene mit einzelnen Laubbäumen und Borassuspalmen; durch Felder von Canna indica, durch hohes Schilfgras und verwüstete Bananenhaine erreichte man am zweiten Abend nach dem Abmarsch den Seestrand, wo es über feinen Kies und durch verlassene Bananenpflanzungen bis Kirima weiterging.
Hier wurde gelagert in der Nähe eines prächtigen Wasserfalles, der von den hohen Bergen herabstürzte.
Es war eine romantische, an norwegische Landschaften erinnernde Gegend. Bei der klaren Luft sahen unsere Freunde gegenüber ihrem hochgelegenen Lager am andern Seeufer im Osten den hohen Bergrand von Nkole, zur Linken im Norden die Schneegipfel des riesigen Runsoro und zur Rechten im Süden in weiter Ferne die Vulkankegel der Virunga-Bergkette, der sie zustrebten.
Am nächsten Tage wanderte man an den steilen Ufern hin, Paviane tummelten sich oben auf den Klippen und schauten neugierig herab; Kormorane, Schlangenhalsvögel, Möwen, Reiher und andere Wasservögel belebten die Luft, den See und das Ufer, schön bewaldete Schluchten öffneten sich zur Rechten und schäumende Wasserfälle rauschten aus gewaltiger Höhe herab.
Beschwerlich, besonders für die Träger und die Reittiere, war das Überschreiten eines mit riesigen Schieferblöcken übersäten Trümmerfeldes.
So ging es über Kischakka nach Kikere.
Der Weg führte an manchen Stellen durch das Wasser, obgleich er leicht hätte höher angelegt werden können.
»Es ist sonderbar,« meinte Helene, »daß die Leute ihre Wege durch den See führen, statt auf dem trockenen Ufer. Was soll das für einen Zweck haben?«
»Allerdings,« sagte Schulze, »das hat keinen Sinn. Zweifellos ist der Spiegel des Sees gestiegen und hat die ursprünglich am Ufer angelegten Pfade stellenweise überschwemmt.«
Die Berge fielen nun steil in den See ab und ließen einen oft nur wenige Meter breiten, mit Geröll bedeckten Strandstreifen frei. An manchen Stellen galt es, mit Gebüsch dichtbewachsene Klippen mühsam zu überklettern.
Bei Vallia zeigten sich die Eingeborenen des Wakondjo-Stammes äußerst freundlich, und es konnten Vorräte an Bananen, Mais und Bohnen erhandelt werden.
»Wissen Sie auch, warum die Stämme hier so friedfertig sind?« fragte Flitmore.
»Na!« sagte Schulze. »Das wird in ihrer Naturanlage liegen.«
»Haben Sie nicht beobachtet, wie viel die Leute Hanf rauchen?« erwiderte der Lord.
»Leidenschaftliche Raucher sind alle Neger,« versicherte Hendrik.
»Ja, aber das hier verbreitete Hanfrauchen hat seine besondere Wirkung,« beharrte Flitmore.
»Jedenfalls eine zerrüttende Wirkung, wie das Opium,« meinte Leusohn, »es betäubt stark, wie ich schon oft beobachtet habe.«
»Schadet nichts,« widersprach der Engländer. »Die gesundheitsschädlichen Folgen sind nicht so schlimm, wie man behauptet. Dafür zähmt der Hanf die Wilden und stimmt sie viel milder. So waren zum Beispiel die Baschilange die wildesten, kampfeslustigsten Neger. Heute sind sie ein friedfertiges Volk. Warum? Sie haben sich dem Hanfrauchen ergeben. Was halten Sie vom Rauchen überhaupt?« fügte er bei, dicke Dampfwolken seiner Pfeife entlockend.
»Da wir alle rauchen,« lachte Doktor Leusohn, »dürfen wir diese üble Angewohnheit nicht zu schlecht machen.«
»Ich meinesteils,« warf Schulze ein, »möchte gerade hierzuland das Rauchen nicht entbehren; es tröstet mich bei so manchen Entbehrungen andrer Genüsse oder Bedürfnisse und hilft meiner Stimmung auf.«
»Solange ich Tabak habe, werde ich nie verzweifeln,« erklärte der Lord. »Ich werde zwar auch ohne Tabak nicht verzweifeln, aber was Sie von der Stimmung sagen, ist richtig: selbst der schärfste Negertabak beruhigt und verklärt die Stimmung gleich Palmwein, das Rauchen regt die Gedanken an, und zwar die besten Gedanken, sowohl die mildesten wie die geistreichsten.
»Ich kenne Edison; je mehr er denkt, desto mehr raucht er, oft zwanzig Zigarren im Tag, und zwar starke. Das verträgt nicht Jeder und vor Nachahmung ist zu warnen. Er aber hat noch nie einen Nachteil für seine Gesundheit davon verspürt. Sein Großvater war ein ebenso starker Raucher und kaute noch dazu Tabak; er wurde hundertdreißig Jahre alt.«
»Bravo! Möchten wir ebenfalls so lange rauchen,« rief Schulze. »Ich kenne auch so einen Raucher in Südamerika, der über dreihundert Jahre alt ist.«
»Oho! Professor!« rief Leusohn ungläubig.
»Natürlich, das glaubt mir niemand,« sagte Schulze. »Ich hätte es auch nicht geglaubt, aber der alte Herr hat mir sein Alter bewiesen.«
»Ich halte nichts für unmöglich,« hub Flitmore wieder an, »und ich glaube Ihnen, Professor. Hüten Sie sich vor der Zweifelsucht, Herr Doktor, sie ist die Mutter der Blamage. Vielleicht zeige ich Ihnen selber noch Dinge, die Sie für unmöglich halten.«
»Das haben Sie freilich schon getan, Lord,« entgegnete Leusohn. »Wenn ich nur an Ihre Geisterstimme im Lande der Zwerge denke! Da fällt mir übrigens eine köstliche Geschichte ein, da wir doch vom Rauchen reden.
»Als junger Student besuchte ich meinen dreiundsiebzigjährigen Großonkel, der den ganzen Tag rauchte. Qualmend hielt er mir einen Vortrag über die Verderblichkeit dieses Lasters und warnte mich, nur nie das Rauchen anzufangen.
»Als ich endlich zu Wort kam, sagte ich: ›da kommst du schon zu spät, Großonkel, ich habe es mir bereits angewöhnt‹.
»Alsbald fuhr er mich an: ›warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Da hätte ich dir schon längst eine Zigarre angeboten!‹ — Und unverzüglich holte er dies nach.
»Inzwischen kam die Großtante herein und begann nun auch, als sie mich rauchen sah, über das Gesundheitsschädliche dieser Gewohnheit sich zu verbreiten.
»›Aber sieh doch nur den Großonkel an,‹ gab ich ihr zurück, ›dem fehlt nie etwas, er bringt den ganzen Tag die Pfeife nicht aus dem Munde und ist schon dreiundsiebzig Jahre alt.‹
»›Schweig du nur,‹ erwiderte die hartnäckige alte Dame. ›Wenn der nicht geraucht hätte, er wäre jetzt mindestens schon achtzig.‹«
Herzlich lachten alle über die unüberlegte Bemerkung der seligen Großtante.
»Da fällt mir auch ein,« begann nun Schulze, »was mir ein alter Gardehusar erzählte, der als Ordonnanz des Generalobersten von Pape den siebziger Krieg mitmachte.
»General von Pape, erzählte er, war ein leidenschaftlicher Raucher, und nur selten ließ er seine Zigarre ausgehen. Einmal, während der Schlacht, kommt ein Hauptmann von den Gardejägern auf seinem Fuchse angesprengt und will ihm eine Meldung machen, vergißt aber im Eifer, seinen Zigarrenstummel aus dem Munde zu nehmen, kann auch, vom tollen Jagen außer Luft und Atem, kein Wort hervorbringen. In aller Seelenruhe sagt General von Pape zu dem Hauptmann: ›Na was haben Sie denn?‹ Und indem er dem verblüfft dreinschauenden Jägeroffizier seine brennende Zigarre entgegenhält, fährt er fort: ›Hier, brennen Sie sich mal erst Ihre Zigarre an und dann erzählen Sie —.‹ Dies geschah im fürchterlichsten Feuer! Es war uns nicht gerade lächerlich zu Mut, dennoch aber mußten wir lachen, selbst der Jägeroffizier! — Vor St. Privat fiel des Generals Schimmel; er selbst kam unter das Pferd zu liegen, das heftig um sich schlug. Nachdem wir ihn aus seiner unangenehmen Lage befreit hatten, suchte er nach etwas eifrig auf der Erde; wir suchen alle pflichtschuldigst mit. Was hebt er auf? Seine halbe Zigarre. Mit den Worten: ›Sie brennt ja noch‹ raucht er ruhig weiter.«
Flitmores Diener, Johann Rieger, hatte, wie gewöhnlich, stillschweigend den Gesprächen zugehört. Nun gestattete er sich in seiner gewählten Sprechweise die bescheidene Frage: »Darf ich, weil es sozusagen etwas ganz Ähnliches ist, ein eigenhändiges Erlebnis erzählen?«
»Gewiß, mein Lieber, trage nur zu unserer Unterhaltung bei,« lud ihn der Professor ein.
»Also, weil ich nämlich herrschaftlicher Kutscher im Hohenlohischen war, so fuhren einmal mein gnädiger Herr und ich den Berg hinunter mit zwei jungen feurigen Rappen, wo noch nicht gut eingefahren waren und deshalb durchgingen, denn der junge Herr hatte mir die Zügel entnommen, indem daß er selber gern kutschierte.
»Das raste den Berg hinunter, daß uns Hören und Sehen verging und ich dachte nur, da bin ich begierig, wo wir landen werden.
»Das war aber plötzlich der Fall, weil der Wagen an einen Kilometerstein prallte, infolgedessen ich in das weiche Gras flog, mein junger Herr aber auf einen Steinhaufen, anstatt umgekehrt, wie sich's gehört hätte.
»Ich spürte bald, daß ich ganz heil war und aufstehen konnte, und eilte zu meinem Herrn, ganz beschämt, daß ich so weich gefallen war, statt auf den Steinhaufen, wo er lag. Er hatte den Arm verstaucht und das Bein zerquetscht und blutete an der Stirn und an der Wange.
»Doch das merkte er sozusagen erst viel später, machte ihm auch nicht viel aus; denn als ich ihn fragte, wie es stehe mit ihm, so zog er an seiner Zigarre und sagte: Gottlob! sie brennt noch! Weil nämlich ein Sturm ging und er sie nicht gut wieder hätte anstecken können.«
»Bravo!« rief Leusohn. »Das sind die echten Raucher! Die kommen viel leichter durchs Leben als die Verächter des edlen Krautes. Aber nun ist es Zeit, sich zur Ruhe zu begeben, daß wir morgen beizeiten fortkommen.«
Am folgenden Morgen erwartete die Reisenden eine peinliche Überraschung. Zwanzig Träger waren entwichen und nur diejenigen, die bei einem früheren Unternehmen gegen die Zwerge dabei gewesen waren und dort unbedingtes Vertrauen zu den Weißen gewonnen hatten, zehn an der Zahl, waren mit den Askaris zurückgeblieben.
Ihre Lasten hatten die Flüchtlinge allerdings zurückgelassen und überraschenderweise nur mäßig bestohlen. Wahrscheinlich mochten sie auf dem beschwerlichen Rückweg über die Felsen des Seeufers kein Gepäck mitschleppen.
Nun war guter Rat teuer.
Dreißig Ballen waren so wie so schon ungenügend gewesen für eine Reise, wie die geplante, und nötigten zur äußersten Sparsamkeit.
Überdies war nun noch Lord Flitmore mit seinem Diener bei der Karawane, der bis auf weniges Gepäck seine sämtlichen Ballen im Lande der Zwerge verloren hatte.
»Was fangen wir nun an?« fragte Schulze. »Den Askaris können wir nichts aufladen, das leiden sie nicht; denn dazu sind sie nicht angeworben. Ließen sie sich aber auch durch Gründe zum Trägerdienst überreden, so könnten wir nur zwanzig Lasten befördern, was doch nicht genügt.«
»Die Askaris müssen freibleiben schon aus Sicherheitsgründen,« erklärte Leusohn. »Aber wir können es machen wie andre vor uns: zehn Lasten nehmen wir mit. Bei den übrigen lassen wir ein paar Askaris als Wächter. Vom nächsten Lagerplatz aus senden wir die Träger zurück, zehn weitere Lasten zu holen, und dann müssen sie nochmals umkehren, den Rest nachzubringen.«
Flitmore schüttelte den Kopf. »Das ist ein verzweifelter Plan; bedenken Sie, daß die Träger jedesmal wieder einer Rast bedürfen. Durch das zweimalige Rückkehren verfünffacht sich die Strecke und mit den Ruhepausen wird noch mehr Zeit gebraucht. Wir würden eine volle Woche brauchen, um den Weg zurückzulegen, den wir sonst in einem Tage machen. Wir brauchen also etwa siebenmal mehr Lebensmittel, und auf der ganzen Strecke, die wir durchziehen wollen, würde der dadurch verursachte Mehraufwand den Wert der Lasten bedeutend übersteigen. Es bleibt uns nichts übrig, als sie zurückzulassen.«
»Dagegen läßt sich freilich nichts einwenden,« sagte der Professor sehr niedergeschlagen. »Aber damit ist auch unsere Weiterreise unmöglich gemacht, es bleibt uns nichts übrig als die Rückkehr nach Oranjehof.«
»Beruhigen Sie sich,« erklärte der Lord. »Nach Vitschumbi haben wir nicht mehr weit und dort, das verspreche ich Ihnen, hat unsere Notlage ein Ende.«
Obgleich der Engländer sich zu keinen weiteren Erklärungen herbeiließ, wurde doch im Vertrauen auf seine Verheißung die Zurücklassung der Lasten beschlossen, für die es an Trägern fehlte.
»Also vergraben wir die Ballen,« riet Leusohn.
Dagegen erhob jedoch Hendrik Einspruch, indem er zunächst fragte: »Gedenken Sie wieder hier vorbeizukommen, um die Lasten abzuholen?«
»Das nicht,« erwiderte der Doktor.
»Also für wen wollen wir die Lasten vergraben? Für die Eingeborenen, die sie sicher finden würden? Sehen Sie, wenn die Eingeborenen merken, daß Europäer aus Mangel an Trägern ihre Ware zurücklassen, dann werden sie alles daran setzen, die Träger der Karawanen durch Überredung oder Gewalt zum Auskneifen zu bringen, um sich dann ohne weiteres die Schätze aneignen zu können, die da liegen bleiben.
»Aus dem gleichen Grunde werden aber schon ohne fremde Überredung die schlauen Träger nach dem Platz zurückkehren, wo die Lasten vergraben wurden, um sich mit den zurückgelassenen Ballen auf Nimmerwiedersehen aus dem Staube zu machen. Man ermuntert sie dadurch geradezu zur Fahnenflucht und zum Diebstahl.«
»Der junge Herr hat recht,« gab Flitmore zu. »Wir würden dadurch die Auflösung unsrer eigenen Karawane verschulden und überdies ein Raubsystem großziehen, das allen späteren Reisenden Schaden brächte.«
»Aber was dann?« fragte Schulze kleinlaut, da er keinen Ausweg aus dieser Sackgasse sah.
»Wir müssen die Ballen vernichten!« entschied Hendrik.
So schwer dieser Entschluß alle ankam, so sahen sie doch ein, daß die bittre Notwendigkeit ihn gebot.
So wurden denn zwanzig Traglasten vernichtet, die Zeuge und alles Brennbare verbrannt, das Übrige in den See versenkt.
Weiter ging's nun durch eine mit hohen Bäumen bestandene Gegend, wo viele Graupapageien sich fanden; dann wieder am Seestrand hin durch Bananenpflanzungen und Gras über Karumbe nach Rumande; endlich durch Bananenhaine über den Fluß Taleha, der in der herrschenden Trockenzeit durchwatet werden konnte, bis Iwemerre, wo das Ufer verlassen wurde, um die Landzunge abzuschneiden, die hier in den See vorspringt; von da aus wurde die Anhöhe von Katarenge überschritten, auf welcher man das Südufer des Sees übersehen konnte. Dann folgte ein Papyrussumpf und das Dorf Kiruve, das von Wakondjo vom Stamme der Walenge bewohnt wird.
Große Bananenwälder tauchten nun auf, meist Musa Sapientium mit schwarz-violetten Stämmen, aber auch Musa Paradisiaca mit hellbräunlichem Stamm und auffallend großen Früchten.
Nachdem der sechs Meter breite Bach Ruende durchquert war, zeigte sich links eine von zahlreichen Fischerbooten belebte Bucht.
Bald darauf war der Magingirifluß zu durchwaten, dem eine große Grasebene folgte, durch die man zum Dorfe Muhagura gelangte.
Nun ging's durch eine Ebene am Südende des Albert-Edward-Sees, die aus einer schwärzlichen Ablagerung bestand voller Schalen von Wasserschnecken und Süßwassermollusken.
»Merken Sie sich diese Beobachtung,« sagte Flitmore zu Schulze und Leusohn. »Wir haben hier den Beweis, daß der Wasserstand des Muta-Nsige in früheren Zeiten ein viel höherer war und daß der See sich weithin nach Süden erstreckte; wir wandeln auf früherem Seegrund. So hat man überall die Bemerkung gemacht, daß alle innerafrikanischen Seen, wenn sie auch zeitweilig steigen, doch dauernd zurückgegangen sind.«
»Hier ist das allerdings eine augenfällige Tatsache,« bestätigte der Professor.
Man übersah von diesem Punkt aus den ganzen See, dem die Wanyoro verschiedene Namen gaben: Nyansa, Mwuta-Nsige, Lweru oder Dweru, während ihn die Wakondjo einfach Ngesi, das heißt »See« nannten.
Im Norden leuchtete das Schneehaupt des Runsoro herüber, hier »Ru-Ndjurru,« das heißt »Besitzer des Regens«, genannt.
Im Süden ragten sechs Bergkegel der Virunga-Vulkankette auf, die trotz ihrer Entfernung eine gewaltige Größe zeigten.
Unsere Freunde wandten sich nun nach Osten, dem großen Dorfe Vitschumbi zu, dessen Hütten am Seestrand zum Teil im Wasser standen, ein neues Anzeichen dafür, daß der in früheren Zeiten so viel tiefer gesunkene Seespiegel sich gegenwärtig in raschem Steigen befand.
Vitschumbi betreibt einen lebhaften Salzhandel und ist zu beiden Seiten eines etwa fünfhundert Meter breiten Seearmes gelegen. Es hat etwa zweitausend Einwohner von dunkler, schokoladebrauner Farbe, die verschiedenen Stämmen angehören. Sie treiben keinerlei Ackerbau und nur ein wenig Ziegenzucht, sie leben vom Fischfang und vom Salzhandel. Das Salz holen sie mit ihrer großen Flotte von Booten aus Katwe am Kiosee, indem sie das Westufer entlang bis zum Nordende des Albert-Edward-Sees fahren.
Vitschumbi liegt in der flachen, baumlosen Grasebene, durch die der Rutschurru, von Süden kommend, dem See zufließt.
Nachdem unsre Freunde nun seit mehreren Tagen keinen eigentlichen Rasttag mehr gehalten hatten, wurde beschlossen, den folgenden Tag hier auszuruhen, wie Flitmore vorschlug.
Alle waren begierig darauf, wie der Lord sein Versprechen halten werde, ihnen hier aus der Not zu helfen; denn mit den geringen Mitteln, die noch vorhanden waren, und den wenigen Trägern war an einen Weitermarsch nicht zu denken.
Der Abend näherte sich bereits, als man Vitschumbi erreichte; darum wurde das Lager angesichts des stattlichen Ortes aufgeschlagen, ohne daß man ihn für heute betrat.
Überraschend war hier der ungeheure Reichtum an Vögeln, die das Wasser und die Lüfte belebten oder am Strand im Röhricht sich tummelten. Reiher und Silberreiher, Pelikane und Marabus, wilde Enten und Wildgänse stapften oder schwammen umher und unbeschreiblich war das Gewimmel der Sumpf- und Wasserhühner, die leichtfüßig von Blatt zu Blatt hüpften oder aus den dünnen Gräsern des Wassers dahineilten. Weiße und graue Möwen flogen in Scharen durch die Luft und hoch oben kreisten die Adler, namentlich See- und Fischadler. Auch Falken, Raben, Krähen und Schwalben ließen sich blicken.
Am sumpfigen Gestade konnte man Schnepfen und Schildkröten sehen; kurz, es mangelte nicht an Geflügel und Leckerbissen zum Abendimbiß. Doch das war unsern Freunden nicht die Hauptsache: das schöne Bild, das die bunten und lebhaften Geschöpfe boten, gewährte ihnen einen edleren Genuß.
Als Schulze abends noch einen Gang durchs Lager machte, sah er Flitmore mit seinem Diener John vor seinem Zelte sitzen und ein Kapitel aus der englischen Bibel lesen. Hierauf sprach der Lord noch ein kurzes Gebet und Rieger sagte das englische Vaterunser und den Segen her.
»Sie haben wohl eine Andacht gehalten?« fragte der Professor, der andächtig stehen geblieben war.
»Das tun wir beide jeden Abend,« erwiderte Flitmore. »Ich halte es für besonders notwendig, in den heidnischen Wildnissen sein Christentum nicht zu vergessen.«
»Da haben Sie recht,« meinte Schulze beschämt. »Aber dürften wir Andern nicht an diesen Andachten teilnehmen?«
»Selbstverständlich!« sagte der Engländer. »Wer dazu Lust hat, ist willkommen.«
Seither versammelten sich stets alle Weißen um Lord Flitmore, wenn er seine täglichen Abendandachten hielt. Auch Sonntags, wo für gewöhnlich geruht wurde, wenn keine Notlage einen Marsch gebot, leitete der Engländer die Gottesdienste, wobei gemeinsame Choräle in deutscher Sprache gesungen wurden. Hassan, Hamissi, Amina und Tipekitanga waren dabei immer zugegen, meist aber versammelten sich auch die übrigen Schwarzen zur Feier und der Lord, manchmal auch Hendrik, hielten ihnen dann eine kurze Ansprache auf Kisuaheli, in der sie diesen Heiden und Mohammedanern das Evangelium nahe brachten.
Am nächsten Morgen in aller Frühe, als das ganze Lager noch im Schlafe lag, weckte Lord Flitmore seinen Diener und sandte ihn mit einem Auftrag nach dem entferntesten östlichen Teil von Vitschumbi.
Allmählich erwachte das Lager, die Schwarzen regten sich zuerst.
Auf einmal wurde es überall laut, eine große Unruhe machte sich bemerkbar.
»Jambo! Jambo!« hörte man's rufen.
Schulze und Leusohn kleideten sich hastig an.
Was hatten diese Rufe zu bedeuten? Schlimmes keinenfalls, denn »Jambo« heißt »Willkommen!«
Aber wer mochte da nahen und einen solchen Willkommgruß entbieten? Es konnte nicht anders sein, als daß es Küstenleute waren. Sollte eine europäische Reisegesellschaft hier angelangt, in diese entfernten Gebiete vorgedrungen sein?
Ein Ereignis war offenbar eingetroffen, aber welches? Nie hatten Schulze und Leusohn eine ähnliche Neugier empfunden und sich rascher in die Kleider geworfen, um sie zu befriedigen.
»Jambo, Jambo!« scholl es aus dem Lager zurück, wie es von außen herein tönte.
Eben traten die beiden Neugierigen aus dem Zelt, als Hamissi ihnen hüpfend und lachend entgegensprang.
»O, Bwana Dakta, o, Bwana Bawessa!« rief er aus. »Kaschwalla gekommen sein, alter Freund von Hamissi.«
»Wie kommt er her?« fragte der Professor. »Und wegen diesem Kaschwalla herrscht eine solche Aufregung? Wer ist denn überhaupt dieser Kaschwalla?«
»O, Bwana Bawessa nicht kennen Kaschwalla? Alle Leute in Sansibar, alle Suaheli, alle Kinder kennen Kaschwalla. Nie gehört haben von Kaschwalla, Bwana? Kaschwalla, das dicke Nilpferd, das dickste Neger von Afrika!« und er lachte, daß sein ganzer Leib wackelte.
»Aber nun sage doch, was ficht diesen Kaschwalla an, hierher zu kommen? Es müssen doch mehr Leute gekommen sein, den Rufen nach, die wir hörten.«
»O, tausend Träger und fünfhundert Askaris gekommen sein, alle zu uns.«
Schulze wußte, wie die Neger übertreiben, nicht aus Lügenhaftigkeit, sondern aus naiver Überschätzung alles überraschend Kommenden. Aber, daß eine große Karawane angekommen war, konnte nicht mehr zweifelhaft sein. Er schob daher den Suaheli beiseite, der den Eingang des Zeltes versperrte, und schritt zwischen den Zelten Hendriks, Flitmores und der Mädchen hindurch vor das Lager hinaus; Leusohn ging ihm zur Seite.
Hier bot sich ihnen ein überraschender Anblick. Ungefähr hundert Träger mit ebensoviel Lasten, die sie abgelegt und aufgestapelt hatten, schwärmten umher und etwa dreißig Askaris.
Hendrik, Helene und Sannah standen bereits da und staunten auch über den unerwarteten Anblick.
In diesem Augenblick trat Lord Flitmore vor, gefolgt von zwei Arabern im weißen Burnus.
»Ich gestatte mir, meine Herren,« sagte der Engländer, »Ihnen hier Abu Ibrahim vorzustellen, den Leiter der Karawane und Achmed, den Aufseher über die Askaris, einen tüchtigen Soldaten, den ich Ihnen besonders empfehle.«
Die Weißen verbeugten sich, ohne daß ihnen die Sache irgendwie klarer wurde. Wer war dieser Abu Ibrahim? Was wollte er hier? Wie kam Flitmore zu seiner Bekanntschaft?
Sie konnten sich nichts Anderes denken, als daß dieser Ibrahim eine Karawane ins Innere führte, um sich Elfenbein zu beschaffen, vielleicht auch Sklaven; — denn einen andern Anlaß kannten die Araber doch nicht, um Zentralafrika aufzusuchen.
Aber was wollte der Mensch denn bei ihnen?
Abu Ibrahim jedoch, ein Greis mit langwallendem Bart, verbeugte sich würdig vor Schulze und redete ihn folgendermaßen an: »Abu Arba, Herr der großen Expedition, ich übergebe dir hiemit die Karawane. Sie ist vollzählig bis auf einen Askari, der unterwegs gefallen ist, ein Opfer seines Muts im Kampf mit den Wilden, und bis auf zwei Träger, die davonliefen. Es sind noch dreiundneunzig Träger und neunundzwanzig Askaris, außer Achmed, ihrem Obersten. Die Löhne bezahlte ich bis hierher aus nach meiner Anweisung, von jetzt ab mußt du die Leute ausbezahlen. Die Hälfte meines Guthabens einschließlich der ausgelegten Löhnungen wurde mir im voraus bezahlt, die andere Hälfte erhielt ich soeben. Ich habe meine Pflicht erfüllt und werde wieder umkehren. Hast du noch Befehle für mich?«
Der Professor war wie aus den Wolken gefallen!
»Das ist ein Mißverständnis,« sagte er verwirrt: »Ich bin nicht der Abu Arba, den du meinst.«
Flitmore lächelte, der Araber aber sprach ruhig: »Verzeihe, daß ich deinen Namen, den dir die Europäer geben, nicht recht auszusprechen vermag: ›Kulz‹ ist schwer für unsre Zunge. Ich nannte dich Abu Arba, weil du vier Augen hast, zwei natürliche und zwei, die du darüber aufsetzt und wieder abnehmen kannst.«
Nun wußte Schulze wohl, daß die Araber die Europäer nach irgendwelchen auffälligen Kennzeichen zu nennen pflegen. Auch verstand er genügend Arabisch, um zu wissen, »Abu Arba« heißt soviel wie »Vater der vier«, nämlich »der vier Augen«. Wurde ihm nun klar, daß Ibrahim mit seinem »Abu Arba« ihn meinte, so blieb ihm doch alles übrige ein Rätsel.
Lord Flitmore ließ ihn jedoch nicht länger im unklaren.
»Ich bin es,« begann er, »der Abu Ismael an Sie gewiesen hat als den Herrn des Unternehmens. Ich versprach Ihnen ja, Ihnen in Vitschumbi aus aller Not zu helfen.
»Ich hatte nämlich die Absicht, meine Träger und Askaris vom Kongo wieder heimzusenden, wenn ich bis hierher gekommen wäre und von hier ab Leute von der Ostküste zu nehmen, nach der ich nach Vollendung meiner Forschungsreise mich wenden wollte. Ich sah voraus, daß mich Leute vom Westen nicht so lange begleiten würden und nicht zur Ostküste mitgehen möchten.
»Aus diesem Grunde fuhr ich zunächst nach Sansibar und beauftragte den mir von früher als durchaus zuverlässig bekannten Ibrahim, eine wohlausgerüstete Karawane hierher zu bringen. Als Zeitpunkt seiner Ankunft hatte ich die letztvergangene Woche bestimmt; einen Monat sollte er hier auf mich warten. Nun ließen mich ja meine Kongoleute weit früher im Stich; die Suaheliträger, die wir jetzt haben, sind wohl zuverlässiger, besonders da Ibrahim seine Leute kennt und die besten auswählte. Die Askaris sind sämtlich Somalis. Der Geldpunkt ist bereits erledigt.«
»Ich wünsche Ihnen Glück, Lord,« sagte Schulze: »Sie haben sehr weise gehandelt und sind nun schön heraus. Aber warum machten Sie sich den Scherz, Abu Ibrahim irre zu führen und mich als den Herrn dieser Karawane zu bezeichnen?«
»Verzeihen Sie, das ist kein Scherz. Sie waren bisher Haupt der Expedition, Sie bleiben es selbstverständlich auch ferner, und es wird mich freuen, als Mitglied derselben unter Ihrer Oberleitung zu stehen. Ich stelle Ihnen hiemit diese ganze Karawane zur Verfügung.«
»Aber davon kann keine Rede sein, Lord,« widersprach Schulze. »Wir sind Ihnen dankbar, wenn Sie uns den Anschluß an Ihre Karawane gestatten, aber selbstverständlich sind Sie, der Sie die Leute angeworben und die Lasten bezahlt haben, der Leiter des Ganzen.«
»Nein, Professor!« erklärte Flitmore bestimmt: »Sie wissen, wie es mir gegangen ist. Ich tauge nicht dazu, eine solche Bande zu leiten. Es ist mir viel wohler, wenn ich mich um niemand zu kümmern und für niemand zu sorgen habe, als für mich und meinen Diener Johann. Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, daß Sie mir die Last abnehmen, die mir unbequem ist.«
»Wenn Sie so reden,« beschloß der Professor, »dann kann ich freilich nichts tun, als mit Dank annehmen. Möchte meine Leitung, die ich jedoch nur als stellvertretend betrachte und bereit bin, Ihnen jederzeit wieder abzutreten, so bald Sie es wünschen, zu Ihrer Zufriedenheit und zum Heil des Unternehmens gedeihen!«
Nun lernten die Weißen auch den berühmten Kaschwalla kennen, den die Araber wegen seiner Gewandtheit im Biervertilgen »Abu Merissa« getauft hatten, was die Suaheli in »Baba Pombe« übersetzten; beide Ausdrücke bedeuten »Vater des Biers«.
Dieser afrikanische Falstaff war allerdings nicht mehr zu vergessen, wenn man ihn einmal gesehen hatte. Sein Leib glich einem gefüllten Bierschlauch, der beständig wackelte und schwabbelte. Der fette Kopf schien unmittelbar darauf gesetzt, ohne Hals. Es war ein Wunder, wie die kurzen, allerdings auch umfangreichen Beine diese Tonne zu tragen vermochten.
Kaschwalla war die Gutmütigkeit selbst und ertrug die Spöttereien, mit denen er von allen Seiten geneckt zu werden pflegte, mit dem sich stets gleichbleibenden heiteren Grinsen, das seinem unförmlichen Gesicht etwas Gewinnendes verlieh.
Auch an Feigheit und Großsprecherei war er ganz Falstaff. Allein, wenn er eine gewisse Menge getrunken hatte, erfüllte ihn plötzlich ein Löwenmut und er vermochte es, durch zündende Reden alle andern zu kühnen Taten mit fortzureißen, so daß er sich hernach nicht genug über sich selbst wundern konnte.
Dazu war er durchaus ehrlich, — eine seltene und unschätzbare Tugend für einen Neger, — und besaß einen solchen Witz und Humor, daß ihm der Spott der andern wohl gleichgültig sein durfte; denn zuletzt hatte er immer die Lacher auf seiner Seite.
Unter den Trägern fiel besonders einer auf, abgesehen natürlich von Kaschwalla, der den Askari spielte und keine Lasten trug; dieser eine war ein untersetzter junger Neger von gewaltiger Körperkraft, Juku genannt.
Er hatte ein pockennarbiges Gesicht, mit kühn und unternehmungslustig blitzenden Augen. Er war denn auch voll Mut und Ausdauer, und nichts war ihm zu viel. Wenn es darauf ankam, trug er zwei Lasten auf dem Kopf und eine dritte auf dem Rücken. Man nannte ihn allgemein »den starken Juku«. Er hatte unsre Freunde schon auf dem Marsch zu den Zwergen begleitet.
Ferner zeichnete sich ein Träger durch seinen besonders schönen und hohen Wuchs aus; dies war ein Sulu, der sich den englischen Namen »Parker« beigelegt hatte. Er besaß alle guten Eigenschaften der Sulus: große Körperstärke und Gewandtheit, unbedingte Zuverlässigkeit, einen Löwenmut und doch einen kindlich harmlosen Charakter voll gewinnender Liebenswürdigkeit. Schulze gesellte ihn wegen seiner Tüchtigkeit den Askaris zu, während der starke Juku je nach Bedarf als Träger oder Askari diente.
Wer zum erstenmal nach Afrika kommt, meint wohl, alle Neger sähen einander gleich; bald aber lernt er die verschiedenen Gesichtszüge unterscheiden, die nicht weniger, sondern eher mehr ausgeprägt sind, als bei den Europäern, und er erkennt aus Hundert den Einzelnen auf den ersten Blick.
Unter den Trägern befand sich auch einer, den man den »Strohwitwer« hieß. Er hatte sich erst unterwegs der Karawane angeschlossen, indem er seiner gewalttätigen Gattin entlaufen war. Er war überglücklich, sie los zu sein, und versicherte, er werde niemals durchbrennen und wenn alle andern davonliefen, denn er fürchte nichts so sehr wie die Heimkehr zu seinem verehrten Weibe.
Die meisten Träger hatten ihre Frauen und Kinder mitgenommen, auch hatten sich ihnen unterwegs noch zahlreiche Frauen und Mädchen angeschlossen, wie es meist der Fall ist. Man nahm diese Mitläufer gerne mit, denn sie waren von großem Nutzen: nicht nur liefen sie ohne zu murren schwerer bepackt als die meisten Träger, sondern sie waren es auch, die im Lager unermüdlich Mehl stampften und so für die Ernährung der Leute wesentliche Dienste leisteten.
Die einzelnen Lasten hatten ziemlich genau das Gewicht von dreißig Kilo. Mehr darf man den Trägern nur ausnahmsweise zumuten. Die Weiber aber trugen noch allerlei Lebensmittel und Kochgeschirr und oft noch ein Kind auf dem Rücken. Die größeren Kinder liefen tapfer mit; nur ausnahmsweise trug der Vater ein ermüdetes Kind die letzte Strecke des Marsches.
In Vitschumbi bekamen unsre Freunde einige Wakondjoweiber zu Gesicht, die merkwürdige, kunstvolle Tätowierungen hauptsächlich auf dem Rücken aufwiesen.
»Wissen Sie, wie diese Ziernarben zustande kommen, Fräulein Helene?« fragte Schulze die Schwester des Doktors.
»Nein!« erwiderte diese: »Gewöhnliches Brennen oder Ätzen kann es nicht sein, da die Narben förmliche Wülste bilden bis zu zwei Zentimeter Höhe.«
»Das gewünschte Muster,« erklärte der Professor, »wird mit einem Messer in die Haut geritzt, dann wird Schmutz und Ruß nebst allerlei Pflanzensäften in die Wunden gerieben, so daß eine künstliche Entzündung entsteht und die Einkerbungen zu fabelhafter Dicke anschwellen. Großartig, was?«
»Nein! Ich danke!« rief Helene entsetzt: »Die armen Frauen und Mädchen müssen ja fabelhafte Schmerzen ausstehen bei diesem grausamen Verfahren!«
»Wollen sie nicht anders!« meinte Schulze: »Ja, die liebe Eitelkeit! Wenn es gilt, sich schön zu machen, erduldet die Negerin ebensogern die abscheulichsten Qualen, wie die Europäerin, die sich schnürt oder allerlei Verschönerungsoperationen über sich ergehen läßt.«
Am frühen Morgen erfolgte der Aufbruch.
Helene stand mit Sannah am Ufer des Sees, um zum letztenmal die liebliche Landschaft mit ihren entzückenden Farben zu bewundern.
Im Südwesten erblickte man Katana und noch weiter südlich das schwimmende Dorf Katanda, das ganz einzigartig ist in seiner Bauart. Seine leichten, aus Schilfrohr geflochtenen Hütten ruhen nämlich auf Flößen, so daß das ganze Dorf in seiner Rohrbucht schwimmt, ein sicheres Mittel, den drohenden Überschwemmungen zu entgehen.
Nun aber war alles zum Abmarsch bereit und die Mädchen mußten sich losreißen und der Karawane anschließen, die zunächst den Rutschurrufluß durchschritt, der bei sechzig Meter Breite nur einen Meter tief war. Der Rutschurru kann als der Oberlauf des Semliki gelten, wird daher auch »Semliki« genannt. Man könnte ihn ebensogut »Nil« heißen, da er ja nichts andres ist als ein Quellfluß des Nils.
Von da ab ging es südwärts den Mfumbirobergen oder besser »Birungavulkanen« zu, die unsichtbar waren, weil sie sich, wie der Runsoro, in eine Nebelkappe zu hüllen pflegen.
Die Ivinsa- oder Rutschurruebene, durch die es ging, zeigte immer den schwarzen Schlammboden, der mit Seemuscheln und Schalen durchsetzt war. In der öden Steppe tummelten sich ganze Antilopenherden. Mehrere Wälder von Euphorbien oder Wolfsmilchbäumen unterbrachen die trostlose Einförmigkeit der Landschaft.
Diese Euphorbien waren hochstämmig, mit kleinen Kronen dicker, fleischiger, dreiflügeliger Äste.
Die Träger sprudelten über von Humor. Unter sich gaben sie auch ihren weißen Herren, wie es unter den Negern üblich ist, Spitznamen, nach irgend einer hervorstechenden Eigenschaft, die ihnen zunächst auffiel.
Da Achmed, der Befehlshaber der Askaris von Schulze nur als von »Abu Arba«, dem Vater der vier Augen sprach, wie er es von Ibrahim gehört hatte, so griffen auch die Schwarzen diesen Namen auf; daneben nannten sie ihn noch wie früher »Bwana Bawessa«, das heißt »Herr Professor«.
Lord Flitmore hieß bei ihnen, wegen seiner unerschütterlichen Ruhe »Bwana Kelele«, das bedeutet »Herr Ruhe«, zuweilen auch »Bwana Mkubua«, »der große Herr«, womit mehr seine Macht als seine Körpergröße gemeint war.
Leusohn hießen sie wegen seiner Schlankheit »Bwana Fimbo« oder »Herr Stange«, während sie ihn persönlich stets mit »Bwana Dakta«, Herr Doktor, anredeten.
Hendrik war wegen seiner scharfen Augen »Bwana Angadir« oder »Herr Geier« getauft worden; daneben hieß er auch der »kleine«, das heißt der »junge« Herr, nämlich: Bwana Mdogo. Alle Weißen mit einander wurden Bwana Wasuri, »Gute Herren«, genannt.
Am Abend, als den Trägern der erste Wochenlohn im voraus ausbezahlt wurde, gab es einen kleinen Streit. Sie verlangten nämlich sämtlich, nur in weißen Zeugen ausgelohnt zu werden, bunte wollten sie gar nicht annehmen.
Da aber der Vorrat an weißen Zeugen nicht so bemessen war, daß diese Forderung auf die Dauer erfüllt werden konnte, mußte ihnen dies verweigert werden. Schließlich gingen sie darauf ein, daß ihnen die Hälfte in weißem, die Hälfte in buntem Stoff gewährt wurde.
Die nächsten Tage ging es durch grasreiche und belebtere Steppen mit zahlreichen Büffeln, Antilopen und Giraffen. Letztere wurden jedoch nur aus weiter Ferne gesichtet.
In der braungrauen Strauchsteppe fanden sich zuweilen Löwenspuren. Nur alle paar hundert Schritte zeigte sich zwischen dem Gras eine Mimose oder ein kleiner Akazienwald, hie und da auch ein Palmenhain.
Manchmal ragte einer der unförmlichen Baobabs oder Affenbrotbäume empor, gleich einer schattenlosen Ruine. Die glatte, graublaue Rinde ihrer gewaltigen Stämme leuchtete in der Sonnenglut in blaßrötlichen Farben und brachte somit immerhin einen belebenden Ton in das eintönige Grau der Steppe.
Bei Maji ja Moto war die Ebene zwischen die Randberge des mittelafrikanischen Grabens eingeengt, die sich namentlich im Westen als gewaltige Mauer erhoben.
Maji ja Moto bedeutet »heißes Wasser«. In der Tat entsprudelten den Felsen heiße Quellen, deren Wasser bis zu sechsundneunzig Zentigrad, also nahezu den Siedepunkt erreichten.
Spuren von Zebras, Nashörnern und Elefanten waren hier zahlreich zu sehen.
Überhaupt wimmelte die ganze Rutschurruebene von Wild: Wasserböcke, Moorantilopen, Riedböcke, Leierantilopen, ganze Rudel von Büffeln, auch die häßlichen Gestalten der Warzenschweine konnten häufig beobachtet werden. Letztere sind für die Löwen ein besonders beliebter Leckerbissen, daher auch der König der Steppe diese Gegenden unsicher machte.
Aus diesem Grunde wurde das Lager stets mit einem drei Meter hohen Dornverhau umgeben. Aber die Löwen scheuten selbst einen Sprung über diesen Wall nicht; denn eines Nachts setzte einer dieser Räuber über den Verhau und packte einen Wächter. Nur das Geschrei, das dieser alsbald erhob und das sich durch das ganze aufgeschreckte Lager fortpflanzte, bewog das Tier, sein Opfer loszulassen und wieder zurückzuflüchten über die hohe Schutzwehr.
Der Rutschurru war hier bedeutend tiefer als an seiner Mündung.
Als die Karawane am Ufer entlang marschierte, streckte ein junges Nilpferd den Kopf aus dem Schilf heraus. Die Neger hielten es für einen Säugling und gedachten, es zu fangen: zwanzig Mann sprangen sofort ins Wasser.
Als nun das Tier plötzlich wieder auftauchte, zeigte es sich dreimal so groß, als sie vermutet hatten, es war schon halbwüchsig.
Da schien es den Schwarzen doch nicht ratsam mit ihm anzubändeln und sie stürzten schreiend ans Ufer; nur der starke Juku ging mutig voran und packte das Tier am Hinterbein. Dieses gute Beispiel ermunterte einige andere, vor allem den Sulu Parker, daß sie dem Kameraden beisprangen.
Nun gab es eine große Balgerei im Wasser, bei der das Nilpferd sich als das stärkere erwies und die Leute gegen den offenen Fluß hinzog.
Lord Flitmore machte dem Kampf ein Ende, indem er dem jungen Dickhäuter eine Kugel durch den Kopf jagte.
Hierauf wurde die Beute triumphierend ans Land geschleppt. Da zeigte sich, daß das Nilpferd am ganzen Leibe Kerben trug, die von den Hauzähnen eines andern Flußpferdes herrührten.
»Nein, welch barbarischen Vater hat das Junge gehabt!« rief der Somali Hassan. »Wie grausam hat er sein Kind mißhandelt!«
»Das hat gewiß seine Mutter getan!« behauptete der Araber Achmed.
Die Araber streiten gerne über die nichtigsten Dinge; sie können die halbe Nacht weiterdisputieren und fangen am andern Morgen wieder von vorne an. Einige der Somalis und Suahelis hatten im Umgang mit den Arabern diese Streitlust und Rechthaberei angenommen; es bildeten sich zwei Parteien, die mit aller Leidenschaft und mit wichtigstem Ernst teils Achmeds, teils Hassan bin Mohameds Meinung vertraten.
Der Streit begann hitzig zu werden, als Lord Flitmore zwischen die Erregten trat.
Da kamen beide Parteien vernünftigerweise überein, dem weisen Msungu, das heißt »Weißen«, den Fall vorzulegen und sich seinem unparteiischen Schiedsspruch zu unterwerfen.
»Was meinst du, Scheich,« fragte Achmed: »Ist das junge Nilpferd von seinem Vater gebissen worden, wie Hassan behauptet, oder von seiner Mutter, wie ich ganz bestimmt vermute?«
»Von seinem Onkel!« entschied der Lord ernst und ruhig.
»Wa Illahi sahe!« rief Achmed: »Bei Allah, das ist wahr!«
Auch alle andern nahmen den salomonischen Schiedsspruch mit jubelndem Beifall auf: beide Parteien waren zufrieden, hatten doch wenigstens die Gegner nicht recht bekommen. Einträchtig machten sie sich an die Zerlegung und Zubereitung des Streitobjekts.
An einem glutheißen Nachmittage, als die Karawane durch hohes, dürres Gras schritt, das von einigen Akazienbüschen durchsetzt war, rief plötzlich Hassan aus: »Bwana Bawessa! Feuer! Die Steppe brennt!«
»Es ist dies ein häufiges Ereignis in der afrikanischen Steppe,« sagte Schulze mit Seelenruhe zu Leusohn. »Jetzt in der Trockenzeit gerät das Gras leicht in Brand; das kann von selber geschehen, vielfach aber wird auch die Steppe durch Menschen in Flammen gesetzt, sei es durch Unvorsichtigkeit, sei es mit Absicht, um den frischen Graswuchs zu beschleunigen. Die Brände sind meist harmlos; das Gras flammt nicht so lichterloh wie in den Prärien Amerikas und das Feuer schreitet gewöhnlich langsam fort.«
»Doch kann es wohl auch lebensgefährlich werden?« fragte Leusohn.
»Das auch,« bestätigte Schulze. »Schweinfurth hat Hab und Gut, vor allem kostbare Sammlungen und Notizen durch einen solchen Brand verloren, und er ist nicht der Einzige, den ein derartiges Unglück betroffen hat; Junker ging es nicht viel besser.«
»Natürlich, Sammlungen und Notizen, das ist Ihnen wieder wichtiger als das Leben. Aber sagen Sie, Professor, — mir scheint, das Feuer verbreitet sich schnell, — droht uns nicht selber Lebensgefahr?«
»Gewiß!« rief Hendrik, der herbeieilend die letzten Worte vernommen hatte: »Eile tut not: wenn die Flammen uns im hohen Grase erreichen, sind wir sämtlich verloren!«
Das hatten auch die Schwarzen erkannt. Wildes Geschrei und große Unruhe in ihren Reihen tat es kund.
»Eile? Ja, wohin denn? Wo finden wir Rettung?« fragte Schulze, der, als er das Dringende der Gefahr erkannte, seine Ruhe plötzlich verlor, mehr für die andern zitternd als für sich selbst.
»Sehen Sie dorthin!« sagte Hendrik: »Dort schlängelt sich ein grünes Band durch die Ebene, das ist das sichere Anzeichen eines größeren Wasserlaufs: dort allein winkt uns Rettung!«
Millionen geflügelter Insekten flogen, gleich einer schwarzen Wolke den Himmel verdunkelnd, vor den verheerenden Flammen her und Scharen von Vögeln stießen aus der Luft herab, um sich ihre Beute aus den dichten Massen flüchtender Käfer und Heuschrecken zu holen.
Helene und Sannah saßen auf ihren Eseln; letztere hatte Tipekitanga vor sich auf das Tier genommen, während Amina leichtfüßig nebenhersprang. Das schwarze Mädchen mußte aber ihre Muskelkraft aufs höchste anspannen; denn die Esel, die sowohl die drohende Gefahr, wie auch die Nähe des rettenden Wassers gewittert hatten, stürmten im Galopp voran, und Amina ergriff, um mitzukommen, schließlich den Schwanz von Helenes Esel und wurde beinahe geschleift.
Auch die Reitstiere, die Schulze und Leusohn wieder bestiegen hatten, zeigten die größte Eile und die Reiter mußten sie mit höchster Anstrengung zügeln, da sie den Schluß des Zuges bilden wollten, namentlich um darauf zu achten, daß die schwarzen Träger ihre Lasten nicht abwarfen, um rascher das rettende Flußbett zu erreichen. Die Askaris zeigten bei dieser Gelegenheit ihren Mut und ihre Treue. Sie dachten nicht an wilde Flucht, sondern hielten sich neben den rennenden Suahelis und bedrohten jeden, der Miene machte, seinen Ballen abzuwerfen.
Zuletzt hinter allen keuchte der dicke Kaschwalla. »O, Feuer,« jammerte er. »Soll ich allein von dir gebraten werden? Mama, Mama! Ich komme nicht nach! Die andern tragen eine Last auf dem Kopf und ich muß drei Lasten mit mir schleppen im Bauch. O, Mutter! Ich spüre die Hitze des Feuers: hilft keiner dem armen verlorenen Kaschwalla?«
Leusohn erbarmte sich des Verzweifelnden, dessen Bauch im Laufe hin und her schwankte, und der im Schweiß zu zerfließen schien. Wahrhaftig, er mußte zusammenbrechen! Und wie schade wäre es gewesen um den lustigen Kaschwalla!
So sprang der Doktor von seinem Stier, und mit Hendriks und Schulzes Hilfe gelang es ihm, den Koloß auf den Rücken des Tieres zu heben.
Kaum hatten sie dem Schwarzen die Zügel gegeben, so raste der Reitstier weiter; doch nicht lange: sein Reiter erdrückte ihn fast und ermattet mußte er seine Eile mäßigen, so daß Hendrik und Leusohn ihn wieder einholten.
Schon wehten die Funken auf sie hernieder und ein Gluthauch drohte ihnen die Kleider und Haare zu versengen, da erreichten sie im letzten Augenblick den grünen Hain und mit ein paar Sätzen stürzten sie in den Fluß, in dem sich schon die ganze Karawane mit sämtlichem Gepäck umherwälzte.
Auch hier herein wehte der Wind die glühende Luft, und Funken und brennende Grasteile regneten hernieder. Alle tauchten daher häufig unter, um durch die Nässe geschützt zu sein. Auch Helene und Sannah, mit denen die Esel als erste in das Wasser gesetzt hatten, trotz des unvernünftigen Widerstrebens der Damen, konnten nun nicht anders, als mit den andern zu tauchen; naß waren sie ja doch schon.
Aber wo blieb der arme Kaschwalla? Mühsam zwängte sich der Stier mit seinem dicken Reiter durch den Busch. Baba Pombe hielt sich krampfhaft an den Hörnern fest, sonst wäre er heruntergestreift worden.
Jetzt erreichte der Stier das Ufer und kollerte zusammenbrechend hinab.
Aber o weh! Gerade an dieser Stelle hatte ein Erdrutsch stattgefunden, und unter Wasser befand sich der scharfdornigste aller Akazienbüsche.
Da wälzten sich Tier und Reiter in den Stacheln. Ersterem gelang es, sich herauszuarbeiten, aber Kaschwallas Fettmasse lag hilflos von den gräßlichen Zweigen umklammert. Er erinnerte an die Heiligen, die sich in Dornen zu wälzen pflegten, nur daß er es höchst unfreiwillig tat.
»Mama, Mama!« rief er jammernd, denn die Schwarzen pflegen im Erstaunen oder Erschrecken ihre Mutter anzurufen: »Das Wasser ist schlimmer als das Feuer, es ist voller Splitter und Pfeilspitzen; die Hälfte von mir wird darin hängen bleiben, dann bin ich nur ein armseliges Restchen von Kaschwalla und wenn ich Pombe trinke, fließt es zu hundert Löchern wieder heraus.«
Die Neger lachten trotz des ausgestandenen Schreckens aus vollem Halse bei dem Gejammer des hilflos sich wälzenden menschlichen Nilpferds und machten ihre schlechten Witze dazu.
»Nehmt euch in acht, ein Flußpferd ist im Wasser! Hört ihr, wie es grunzt? Es wälzt sich vor Vergnügen. Kommt ihm nur ja nicht zu nahe.«
»O, ihr blöden Augen,« rief Kaschwalla. »Ihr seht ein Nilpferd und seid selber Rhinozerosse. Ihr meint, mich zu ärgern, wenn ihr mich Nilpferd heißt. O, wäre ich doch eins, mit seiner dicken Haut wollte ich euch auslachen. Aber meine Haut ist zart wie die Blätter der Banane.«
Die Weißen, die sich auch des Lachens nicht erwehren konnten bei dem tragikomischen Schauspiel, dachten doch daran, wie sie den guten Kaschwalla aus seiner höllischen Lage befreien könnten.
Sannah machte, wie schon öfters, den besten Vorschlag, um diesen gar nicht so einfachen Zweck zu erreichen.
Auf ihren Rat wurden zwei junge Bäume umgehauen und quer über den Fluß gelegt, so daß Kaschwalla sich mit jeder Hand an einem derselben festhalten konnte. Dann mußten einige Neger an beiden Ufern die Enden der Baumstämme emporheben. Das war keine Kleinigkeit; aber mit vereinten Kräften gelang es, Kaschwalla der dornigen Umarmung zu entreißen.
Besonders der starke Juku und der Sulu Parker taten ihr Bestes. Und so gelangte Baba Pombe zwar stark zerstochen und zerkratzt, aber doch noch ziemlich vollständig ans Ufer, wo er sich die abgebrochenen Dornen aus dem Fleische ziehen konnte.
Das Lager wurde am Rande des Wäldchens aufgeschlagen, wo das rasch verwehte Feuer die grünen Bäume nicht hatte ergreifen können.
Der Boden der nun ganz kahlen und grauen Steppe glostets und glimmte noch und der Wind wehte die Funken auf, bis auch die letzten erloschen waren.
Noch stiegen vereinzelte Rauchwolken empor und ihre Schatten schienen da und dort einen See in die Steppe hineinzuzaubern. Dann wieder wirbelte der Wind die Asche auf, die in dunkeln Tromben, gleich wandelnden Riesensäulen, daherwehte.
Die Träger suchten draußen nach eßbaren Wurzeln, die schon angeröstet in der Erde steckten.
Alle Insekten und Vögel, die sich hatten retten können, schienen im schmalen Waldbande am Flußufer Zuflucht gesucht zu haben: da wimmelte es am Boden von Ameisen, Käfern, Wanzen und Tausendfüßlern.
Schmetterlinge in allen Farben flatterten umher, und Graupapageien belebten die Bäume. Auch zahlreiche Perlhühner fanden sich vor, von denen Leusohn und Hendrik einige erlegten zu den beliebten, vorzüglichen Braten für das Nachtmahl.
Die Nacht brach herein, am Himmel glänzte herrlich das Dreieck des Zodiakallichtes; die Neger wateten mit lodernden Rohrbündeln im Fluß, um Fische aufzuspüren, die sie mit ihren Lanzen aufspießten.
Ein eigentümliches und stimmungsvolles Bild boten diese flackernden Brände, die sich im dunkeln Gewässer spiegelten.
Um die Lagerfeuer schwirrten Nachtvögel und Insekten. Flitmore hielt noch die regelmäßige Abendandacht; dann wurde es stille und selbst die Schwarzen störten ausnahmsweise die Nachtruhe nicht mehr: der Schlaf war heute allen willkommen.
Auch auf der Südseite des Flusses hatte der Steppenbrand gewütet und so weit das Auge sah, dehnte sich hier eine ausgebrannte Wüste.
Schulze wäre gerne geradenwegs auf die Virungavulkankette zumarschiert; aber da sich auch mit dem Fernrohr nichts als eine öde Steppe sehen ließ, die sich unabsehbar nach Süden erstreckte, sagte er sich, daß er das Leben so vieler Menschen, die seiner Fürsorge anvertraut waren, nicht mutwillig aufs Spiel setzen dürfe und wandte sich nach Osten, wo eine gebirgige und bewaldete Gegend auf fruchtbares Land hinwies.
Lord Flitmore jedoch erklärte, ihm liege viel daran, festzustellen, ob der Albert-Edward-See mit dem Kiwu-See durch den Rutschurru in Verbindung stehe. Er bat sich daher zehn Träger aus, um westlich das Ufer des Flusses zu gewinnen.
»Verhungern werden wir nicht,« erklärte er, »da weiß ich mir zu helfen.«
Es wurde ausgemacht, daß die Karawane am Fuße der Virungavulkane mit Flitmore wieder zusammentreffen solle; denn Schulze beabsichtigte, auf günstigerem Wege dorthin zu gelangen und für den Notfall sich zuvor in fruchtbareren Gegenden reichlich mit Lebensmitteln zu versorgen.
So trennte man sich: Flitmore zog mit Johann, zehn Trägern und vier Askaris nach Westen, der Professor mit dem großen Heere südostwärts.
Aber das östliche Gebirgsland war noch weit entfernt; den ganzen Tag marschierte man durch die ausgebrannte Prärie; hie und da kam man durch einen Wald von Raphiapalmen, die ihre vom Feuer versengten Blätter traurig über die angekohlten Stämme herabhängen ließen.
Lebhaft bereute nun Schulze, daß er nicht in der Nähe des in der Frühe durchquerten Flusses geblieben war, wo sie wenigstens Wasser, Fische und Perlhühner in Hülle und Fülle gehabt hätten.
Zwei Tage mußte von Konserven gelebt werden; aber merkwürdigerweise enthielten Flitmores Lasten deren nur wenige, und bei der großen Zahl der Leute stellte sich am dritten Tage Hungersnot ein.
Gegen Abend zeigte sich ein Termitenhügel.
»Ein einziger nützt uns nicht viel,« sagte Leusohn bedauernd. »Wenn sie zahlreicher wären, könnten wir alle unsern Hunger an Termiten stillen.«
»Puh!« rief Helene. »Du würdest wirklich weiße Ameisen verzehren, Otto? Das ist nicht dein Ernst!«
»Liebe Schwester, wenn man Hunger hat, gewöhnt man sich an alles. Übrigens müssen sie gar nicht übel schmecken; die Neger sind Feinschmecker, und Termiten gelten ihnen als Leckerbissen. Es ist immer gut, sich an die einheimischen Speisen zu gewöhnen und alle Vorurteile abzulegen; dadurch kann man in der Not so weit kommen, mit gutem Appetit da zuzugreifen, wo man sich früher mit Abscheu abgewendet hätte.«
»Und um Vorurteile handelt es sich bei derartigem, um nichts als um Vorurteile,« bemerkte Schulze. »Wo würde ein Neger Schnepfendreck essen, der bei uns als vorzügliche Speise gilt? Dem Chinesen ekelt es vor Schweinefleisch, wogegen ihm nichts höher steht als Rattenbraten.«
»Rattenbraten? Pfui! schweigen Sie, da wird einem ja übel, wenn man nur daran denkt,« sagte Helene und schüttelte sich.
»Ich meinesteils,« nahm Leusohn wieder das Wort, »will von nun an alle Negergerichte kosten, so sehr mich manche davon abstoßen. Ich will mich auch ohne Not an eine Kost gewöhnen, die mir im Falle der Not willkommen sein kann.«
»Geh weg!« erwiderte Helene, die sich mit solchen Gedanken nicht vertraut machen konnte. »Da müßtest du auch noch getrocknete Raupen, Käferlarven und fette Maden verzehren, Heuschrecken und Skorpione und wer weiß was alles.«
»O!« mischte sich Sannah in das appetitliche Gespräch. »Termiten habe ich auch schon versucht, als Brei und gedörrt, ebenso Heuschrecken; ich kann dich versichern, das sind ganz schmackhafte Speisen. Sogar gebratene Rohrratten aß ich einmal, freilich ohne zuvor zu wissen, was es war; aber selten hat mir ein Braten so köstlich gemundet.«
»Hör auf, hör auf!« eiferte Helene und hielt sich die Ohren zu. »Mich werdet ihr doch nie zu solchen afrikanischen Genüssen bekehren.«
Aber sie war eine schlechte Prophetin: wenn sie auch heute schon quälenden Hunger verspürte, so wußte sie doch noch nicht, wie das Begehren des Magens nach Nahrung so stark werden kann, daß ihm keine Speise mehr zuwider scheint.
Heute aber mußten alle mit leerem Magen nächtigen; denn als die Neger den festen Bau des Termitenhügels mit Beilen zertrümmert hatten, fanden sie ihn zu ihrer großen Enttäuschung verlassen.
Am andern Vormittag schlich die Karawane nur noch dahin. Beinahe alle Träger waren so entkräftet, daß es Mühe kostete, sie davon abzuhalten, ihre Lasten von sich zu werfen; dazu mußten die meisten Kinder getragen werden und es war jederzeit zu gewärtigen, daß die schwächsten der Neger vor Erschöpfung umstürzen und liegen bleiben würden.
Die Weißen hatten wenigstens ihre Reittiere, sonst wären sie wohl auch nicht mehr mitgekommen. Die Zwergprinzessin, die sich übrigens merkwürdig tapfer hielt, durfte mit Sannah reiten: sie beschwerte den Esel nicht zu sehr, da auch das Burenmädchen kein großes Gewicht hatte.
Hendrik, der kein Reittier besaß, schritt immer noch rüstig aus, er konnte viel ertragen, ohne gleich schlapp zu werden.
Endlich, gegen Mittag, stießen die Neger ein Freudengeschrei aus und nun eilten sie mit frischen Kräften nach Osten, wo sich eine weitausgedehnte Termitenkolonie aus der Ebene erhob.
Sie glich einem ganzen Gebirgszuge im kleinen, mit weitverzweigten Berg- und Hügelketten.
Viele der Termitenbauten erreichten eine Höhe von vier bis fünf Metern und stellten so nicht bloß die Zwergendörfer der Wambutti, sondern auch die stattlichsten Negerhütten in Schatten.
Die Neger machten sich nach Abwerfen ihrer Lasten sofort über die Termitenhügel her, hieben Stücke davon ab, gruben nach und sammelten die dicken weißlichen Insekten.
Die fettreichen weiblichen Tiere wurden zu Brei zerdrückt und so zu Tausenden verzehrt, denn die Gier nach Nahrung ließ niemand an ein vorheriges Kochen oder Braten denken. Und siehe da! Der rasende Hunger hatte selbst Helene Leusohn so mürbe gemacht, daß sie von dem dicken Termitenbrei aß, anfangs zwar mit Widerstreben, dann jedoch mit sichtlichem Genuß. Da bewahrheitete sich im vollsten Sinne das Sprichwort: »Hunger ist der beste Koch.«
Nachdem die Schwarzen gesättigt waren, sammelten sie Zweige von vereinzelten angekohlten Sträuchern, die hier zahlreich zwischen den Ameisenhügeln standen und zündeten Feuer an. Nun wurde Termitenbrei in Massen gekocht und in leeren Konservenbüchsen untergebracht, als Vorrat für morgen.
Auch Tausende von geflügelten Männchen wurden über dem Feuer gedörrt, wobei die Flügel alsbald abfielen und knisternd verbrannten.
Neben den Termitenhügeln quoll überall eine weißgelbliche, breiige Masse aus dem Erdboden, wie Quarkkäse anzusehen, jedoch mit festen, weißen Körnchen, dem Tapioka ähnlich, durchsetzt. Diese Körnchen schienen Termiteneier zu sein.
Die Neger umsteckten jene kleinen Maulwurfshügel mit Stöckchen und deckten Zweige darüber. Schon nach wenigen Stunden wuchsen aus der Masse weiße Pilze auf zierlichen Stielen empor, die am andern Tag eine stattliche Größe erreicht hatten, während der Brei, aus dem sie wuchsen, schon zusammengefallen und eingetrocknet war.
Diese Termitenpilze zeigten sich als ein wahrer Leckerbissen, den sich die Weißen so gut wie die Neger nicht entgehen ließen.
Den ganzen Tag bildeten die gestern gesammelten Termiten, gedörrt oder als Brei, die Nahrung; doch ging der Vorrat bald aus und abends stellte sich wieder der Hunger ein.
Gefahr zu verhungern war freilich nicht mehr zu befürchten, da man binnen weniger Stunden die östlichen Waldungen erreichen konnte.
Ein breites, ausgetrocknetes Flußbett, das jetzt durchschritten wurde, hatte dem Steppenbrande ein Ziel gesetzt; auf der andern Seite stand wieder trockenes Gras und dazwischen fanden sich sumpfige Tümpel.
»O, Bwana Bawessa!« jubelte Hamissi. »Hier müssen sein Rohrratten,« und er schnalzte mit der Zunge, im Vorgeschmack des köstlichen Bratens.
Die Träger griffen zu ihren Speeren, die Askaris zu den Flinten; wer keine Waffe bei sich hatte, namentlich Frauen und Kinder, bewehrte sich mit Knütteln und großen Steinen. Dann wurde eine Grasinsel umstellt und das Gras in Brand gesetzt.
Ihrer Gewohnheit gemäß verharrten die Ratten regungslos in ihren Verstecken, bis sie stark angesengt waren. Erst wenn die Hitze unerträglich wird, ergreifen sie halbverbrannt die Flucht.
Als sich so lange nichts regte, glaubten die Weißen schon, es befinde sich kein Getier zur Stelle. Die Neger aber, denen die Verhaltungsweise der betreffenden Nager wohlbekannt war, warteten mit gespannter Aufmerksamkeit. Und siehe da! Auf einmal regte es sich und eine um die andere sprangen die dreißig bis vierzig Zentimeter langen Ratten aus dem Bereich der Flammen heraus und suchten den Kreis der Jäger zu durchbrechen. Aber es war ein drei- bis vierfacher Kreis, und was nicht gleich anfangs den Kugeln und Speerwürfen erlag, wurde ein paar Schritt weiter hinten von Steinen und Knütteln getroffen. Nur wenige entgingen ihrem Schicksal. Da die ganze Jagd höchstens eine Viertelstunde gewährt hatte, wurden noch mehrere mit Gras und Rohr bewachsene Plätze in der gleichen Weise umstellt, angezündet und ihres Wildes beraubt.
So mangelte es den hungrigen Jägern nicht an Braten.
An Kehle, Schnauze, Brust und Bauch sahen die Ratten hellgrau aus, auf dem Rücken jedoch braun, weil hier die Borstenhaare lederbraune Spitzen hatten. Das mehr als einen halben Zentimeter dicke, doch sehr zarte und leicht zerreißbare Fell wurde sorgfältig von der damit verwachsenen starken Fettlage getrennt und dann wurden die Tiere am Spieße oder in der Glut gebraten.
Diesmal zeigte sich Helene nicht mehr zimperlich; denn die Rattenbraten strömten einen verlockenden Duft aus und gaben denn auch einem Kalbsbraten an Güte nichts nach. Auf die Zukost von Skorpionen und Käferlarven, die sich die Neger dazu schmecken ließen, glaubte das weiße Fräulein jedoch verzichten zu dürfen.
Als am andern Nachmittag der Urwald erreicht wurde, machte sich der Nahrungsmangel bereits wieder fühlbar.
Da entdeckte Kaschwalla, der nicht, wie man hätte meinen können, genug an seinem eigenen Fett zu zehren hatte, sondern stets der Hungrigste von allen war, in einem hohlen Baum eine Menge Honig.
Allerdings kam ihn diese Entdeckung teuer zu stehen: wie einst Hassan von Wespen, so wurde Baba Pombe nun von den Bienen überfallen. Die Bienen schienen noch rasender als die Wespen: Kaschwalla konnte sich ihrer nicht erwehren, so wütend er um sich schlug, viele auf seiner Haut zerquetschend. Ach! sein armer Leib hatte Platz für so zahlreiche Stiche! Das war noch schlimmer als letzthin in den Dornen der Akazie, die sich wenigstens ruhig verhielten.
Aber nicht nur der Dicke, auch andere Neger sowie die Europäer wurden von den wütenden Insekten angegriffen.
Einige der überfallenen suchten ihr Heil in jäher Flucht: nichtiges Beginnen! Die Bienen folgten ihnen, soweit sie sprangen.
Hassan und Parker, die in ihren weiten Burnussen den besten Schutz besaßen und wenigstens nur ihr Gesicht und die Hände zu wahren hatten, taten das einzig Vernünftige, indem sie ein qualmendes Feuer entzündeten, das die Bienen allmählich teils betäubte, teils vertrieb.
Nun endlich konnte dieser »bittre« Honig geborgen werden. Die Neger verschlangen ihn mitsamt dem Wachs und den noch darinsteckenden Bienen. Sie lasen dazu noch die betäubten und getöteten Insekten auf, um sie mit Behagen zu verzehren.
Die Weißen beteiligten sich nicht an diesem Mahl, das auch nicht für alle ausgereicht hätte. Sie spähten nach anderen Genüssen aus.
Auf einmal ließ Schulze einen Ruf freudiger Überraschung vernehmen: »Da ist ja Strychnus edulis!« und er zeigte ein Bäumchen, das Früchte mit brüchig holzigen Schalen trug, wie Granatäpfel.
»Strychnus edulis? Der edle Strychnus?« witzelte Leusohn.
Der Professor ging auf den Leim und nahm den schlechten Witz für Ernst und mangelhafte Kenntnis des Lateinischen. »Ach was, Doktor! Edulis heißt natürlich ›eßbar‹. Es ist dies der sogenannte eßbare Strychnus, weil seine Früchte einen genießbaren Fruchtbrei enthalten.«
»Nun,« lachte Leusohn, »das ist ja eben das Edle an diesem Strychnus, daß er eßbar ist.«
Außer den wohlschmeckenden Früchten, die begierig verzehrt wurden, fand sich hier noch die wilde Melochia, die gekocht einen schleimigen Spinat liefert, außerdem eine Jutefaser erzeugt.
Das letztere war den Ausgehungerten Nebensache; aber der nahrhafte Spinat gab ihnen bald ein willkommenes Mittagessen. Allerdings, recht satt fühlten sie sich noch nicht nach diesem eingängigen Mahl; doch sollten sie auch einen Nachtisch bekommen.
Im Weitermarsch blähte nämlich Schulze plötzlich seine Nüstern weit auf.
»Ximenia, du verrätst dich durch deinen durchdringenden Wohlgeruch!« sagte er vergnügt lächelnd. Er sprang vom Reittier ab und schritt auf einen kleinen Strauch zu, dessen zarter Orangeduft auch der Gefährten Riechorgane umschmeichelte.
Der Strauch war bedeckt mit gelben Früchten, in Größe und Form von Kirschen.
Die saftigen Beeren, über die unsere Freunde alsbald herfielen, schmeckten nach Zitronen und wurden samt dem dünnschaligen, haselnußartigen Kern verzehrt.
Der Wald zog sich über einen Höhenrücken hin, der sich bis in die Landschaft Mpororo hinein erstreckte.
Als der Bergzug überschritten war und der Wald ein Ende nahm, trat die Karawane hinaus in eine Steppe, die ganz unvermittelt sich scharf vom Walde schied, um nach einer Stunde ebenso unvermittelt wieder in Urwald überzugehen
Im letzteren war der Boden mit Moos und niedlichen Farnen bedeckt. Bananen und Palmen erreichten riesenhafte Größenverhältnisse, die Raphiapalme trieb Blätter bis zu achtzehn Meter Länge, und Stämme, die erst in einer Höhe von vierzig Metern sich verzweigten, waren nichts Seltenes.
»Wir kommen ins Land der Riesen!« rief Helene bei diesem Anblick. »Sehen Sie, Herr Professor, ein neues botanisches Wunder: da wachsen ja Riesenleberwürste auf den Bäumen!«
»Das reinste Schlaraffenland!« lachte Leusohn.
»Das sind Kigelien,« erläuterte Schulze, »der Elefantenbaum, Kigelia pinnata.«
Die hellgrauen Früchte des sonderbaren Baumes sahen aber tatsächlich aus wie enorme Leberwürste, die an langen Schnüren herabhingen. Der Stamm des Baumes war stark, gleich der Eiche, das Laub glich dem des Nußbaumes. Leider sind die Früchte ganz und gar ungenießbar.
»Wir haben die Bäume schon früher angetroffen,« belehrte Schulze. »Damals standen sie aber erst in Blüte und zeigten uns nicht die merkwürdigen hängenden, halbmeterlangen Früchte. Sie erinnern sich wohl noch solcher Bäume, Fräulein Helene, die durch ihre leuchtenden purpurnen Blüten Ihre Aufmerksamkeit erregten.«
»Ja, ja! Jetzt erkenne ich wieder einen alten Bekannten,« bestätigte das Fräulein. »Wie Tulpen sahen die Blüten aus.«
Affen, grüne Papageien, Schopfadler und Palmengeier belebten den Wald und selbverständlich auch die unvermeidlichen Perlhühner.
Büffelfährten und die Riesenstapfen der Elefanten durchkreuzten den Busch; Grillen und Diamantenkäfer hüpften und krochen auf dem Boden umher, und wie Gespenster lauerten grüne und graue Fangheuschrecken auf unvorsichtige Insekten, geschützt durch ihre Farbe und ihre Gestalt, welche ihnen das Aussehen von Blättern und Zweigen verlieh.
Bartmoose und geisterhafte Flechten hingen von den Zweigen und Lianen herab. Erika und Strohblumen schmückten den Wiesenteppich der Lichtungen und zierliche Sonnenvögelchen und prachtvolle Riesenschmetterlinge umgaukelten Blumen und Blüten.
In den Schluchten ragten an den Wasserlachen verwitterte Senecio Johnstoni, fremdartige Pflanzengebilde, gleich lauter menschlichen Gestalten, in den grauen Mantel ihrer abgestorbenen Blätter gehüllt, wie in Pilgermäntel oder Mönchskutten.
Auf einmal ertönte ein lautes Gejohle und Gelächter, und die Weißen eilten herbei, zu sehen, was sich begeben hatte.
Die Schwarzen umdrängten eine sechs Meter tiefe Fanggrube, in die sie hineinschrien und lachten. Sie öffneten aber ihren Kreis den nahenden Herren, so daß diese an den Rand der Grube treten konnten.
Das Loch war für einen Elefanten bestimmt, aber ein »Nilpferd« hatte sich darin gefangen: es war Kaschwalla, der Pechvogel, der da hineingeraten war.
Von Glück konnte er sagen, daß kein gespitzter Pfahl auf dem Grunde der Falle stand, sonst wäre er gespießt worden und des Todes gewesen.
Die zahlreichen mit Zweigen, Farnkräutern und Moos bedeckten Elefantenfallen erforderten während des Waldmarsches die angestrengteste Aufmerksamkeit; denn damit sie ihren Zweck erfüllten, war ihre gebrechliche Decke dem Waldboden täuschend ähnlich gemacht.
Kaschwalla nun, der sich von seinem Weib Sangula sonst stets sein beliebtes Eleusinepombe bereiten ließ, hatte sich heute von ihr Honigbier brauen lassen und davon so reichlich genossen, daß er löwenmutig dem Zug voranschritt und die nötige Vorsicht vergaß.
Da lag sein dicker Leib gleich einem unförmlichen Klumpen in der unten zugespitzten Grube, und so wütend er mit Armen und Beinen fuchtelte, er war derart eingeklemmt, daß er sich nicht aufrichten konnte.
Bei der Tiefe des Loches hätte er auch so wie so nicht ohne Hilfe herauskommen können.
Nun war der Wald bevölkert mit allen Arten von Ameisen: von den Bäumen, die ihre Äste über die Fanggrube streckten, fielen fortwährend Ameisen der kleinsten Art hernieder. Überdies stürzte ein Regen weißer Ameisen, einer Art Baumtermiten, von oben herab.
Aber auch auf dem Waldboden krochen Ameisen aller Arten und Farben in wohlgeordneten Zügen dahin. Die schwarzen Treiberameisen, deren knisterndes Krabbeln die Neger für den Gesang der Ameisenlastträger halten, trugen ihre Puppen, zu beiden Seiten begleitet von ihren scharfzangigen Askaris, die keine Lasten tragen, aber wütend über jedes lebende Hindernis herfallen, um die Bahn frei zu machen.
Rote, graue, weiße und zweifarbige Ameisen kreuzten die Wege, und daß ganze Scharen von ihnen in das Loch stürzten, das sich unvermittelt mitten in ihrer Bahn abschüssig eröffnete, war selbstverständlich.
O, armer Kaschwalla! — Er schrie und jammerte: »Alles Böse fällt über den armen Kaschwalla her, der doch keinem Tier etwas zuleide tut; mich spicken die Dornen der Akazie mitten im Wasser, mich stechen die wütenden Bienen. Aber, o Mutter! was ist das gegen die Ameisen, die diese Grube sicher gegraben haben, um sich an Kaschwallas Leibe zu mästen. Habe ich dazu mein Fleisch gepflegt, daß es den wütenden Heerwürmern zur Speise diene? Sie zwicken mich mit glühenden Zangen: helft, helft, sonst könnt ihr nie mehr über mich lachen!«
So lächerlich die Sache aussah, so war die Gefahr doch groß. Die Bisse der schwarzen Ameisen brennen zwar bloß wie glühendes Eisen; die roten Beißameisen aber sind äußerst giftig, soll doch aus ihrem Safte tödliches Pfeilgift bereitet werden. Talergroße Blasen sind die Folgen ihrer Bisse.
Vier Träger wurden an Stricken in die Grube hinabgelassen, um Kaschwalla das stärkste der Taue um den Leib zu binden, da er in seiner hilflosen Lage dies nicht selber vermocht hätte. Dann wurde er mit großer Mühe und Anstrengung seiner peinlichen Lage entrissen.
Aber Kaschwalla hatte heute einen besonderen Unglückstag und seine schlimmen Abenteuer sollten noch lange nicht zu Ende sein.
Nach Überschreiten eines Steppenstreifens gelangten unsere Freunde in einen lichten Galeriewald; so nennt man die tunnelartigen Wälder, die in mehr oder weniger breiten Streifen die Ufer fließender Gewässer säumen und Bach- oder Flußläufe überwölben. Der Italiener Piaggia gab ihnen diesen bezeichnenden Namen, der durch Schweinfurth allgemein eingebürgert wurde.
Im Galeriewald, den unsere Freunde betraten, fanden sich zahlreiche Pisangpflanzen, die willkommenen Vorrat an Lebensmitteln boten. Die gewaltigen Stämme waren mit wildem Pfeffer bewachsen und hoch an den Zweigen sah man die tonnengroßen Bauten der Baumtermite. Umgestürzte, faulende Stämme waren mit den undurchdringlichen Gehängen der Mukuna behangen, die nachtschwarze Lauben bildete.
Auf den Ästen der Bäume fiel besonders das dort parasitisch wuchernde Farnkraut auf, das Schweinfurth »Elefantenrohr« benannte.
Laubengänge und Säulenhallen gaben dem Walde zum Teil das Ansehen eines verwilderten Parkes, zum Teil eines ägyptischen Riesentempels.
In diesen üppigen Waldschluchten hauste der Schimpanse, der aber der Karawane selten zu Gesicht kam, weil er in den Höhen der Zweige sich verborgen hielt.
Wilde Ananas boten eine köstliche Labe; vor allem aber wurden die zahlreichen Kolanußbäume jubelnd geplündert, die ein häufiger Galeriebaum sind. Es war zwar nur Lola cordifolia, aber ihre Frucht bot doch eine großartige Auffrischung und Anregung der Kräfte, und die von Rijn erhaltenen Vorräte echter Kolanüsse waren längst zu Ende gegangen, da Schulze freigebigst den Trägern die Nüsse austeilte, so oft sie besonderen Anstrengungen ausgesetzt waren.
Eine halbe Stunde, nachdem der Galeriewald durchquert war, stellte sich den Reisenden ein böses Hindernis entgegen: dschungelartig verwachsenes, baumhohes Mariankagras versperrte den Weg und es mußte durchschritten werden. Da galt es, sich durchzuwinden, zu bücken, die Halme zur Seite zu drücken und das Gesicht mit der Hand zu schützen, währenddem die geknickten, von allen Seiten einem entgegenstarrenden Rohre einem stets wieder schmerzhafte Stöße versetzten. Überdies ließ das reife Gras seine befiederten, höchst peinlich juckenden Samenstacheln herabregnen, sobald man es berührte.
Was da Kaschwalla auszustehen hatte, der überall anstreifte, wo selbst die Reitstiere sich durchwanden, ist nicht zu sagen!
Bald darauf wurde ein Papyrussumpf erreicht.
Die hohen mit ihren flaumigen Blüten gekrönten Stengel boten stets wieder einen genußreichen Anblick; doch wußten die Wanderer aus Erfahrung, daß ihnen ein beschwerliches Stück Weges bevorstand.
Von der Höhe gesehen, war eine Papyruslandschaft immer etwas ganz besonders Bezauberndes. Wenn so ein Tal von oft mehreren hundert Metern Breite nebst seinen Seitentälern von dem grünen Gewoge angefüllt war, so verweilte der Blick mit Entzücken auf dem reizvollen Meer, aus dem die Berge gleich Inseln emporragten.
Das Anziehendste an dem Bild war sein beständiger Wechsel und auch hierin glich es den Fluten des Mittelmeers, die nie langweilen, ob sie in glatter Ruhe den dunkelblauen Himmel widerspiegeln, ob sie im Morgenrot rosig erglühen, im Sonnengold flimmern oder im Silberschein des Mondes glitzern; ob sie grau, schwarz, braun, violett oder sonstwie gefärbt erscheinen oder die verschiedensten Farbenabstufungen gleichzeitig aufweisen; ob sie leicht gekräuselt, oder majestätisch bewegt sich zeigen; ob endlich gewaltige Wogen sich haushoch türmen und schaumgekrönt in wilder Pracht sich ans Ufer stürzen oder an den Felsen hinaufzischen und in weißem Sprühregen ihren Gischt zerstäuben.
So erschien auch das Papyrusmeer in immer neuer eigenartiger Schönheit, anders im Frühling als im Herbst oder Sommer, anders am Morgen als am Mittag oder Abend, je nach dem Einfallswinkel des Lichts oder der Sonnenstrahlen, verschieden gefärbt und beleuchtet. Bei trübem Wetter bot es einen wesentlich anderen Anblick als bei klarem Himmel, und je nachdem der Wind es bewegte und wellte, der Sturm es kräuselte und aufwogen ließ, erschien es wiederum ganz verschieden. Und wie großartig, wenn ein Orkan es durchfurchte und die klaffenden Spalten sich abwechselnd schlossen und wieder öffneten. Ja, nie konnte man sich sattsehen an diesem lieblichen oder erhabenen Anblick.
Stieg man aber hinab in dieses Meer, um es stundenlang mühsam zu durchbrechen, dann schwand gar bald die Begeisterung.
So ging es auch diesmal.
Der Sulu Parker und der starke Juku mußten mit dem Buschmesser voran einen Weg durch das Rohr bahnen.
Ihnen nach begab sich der ganze Zug ins Wasser.
So schön die Papyrusstauden in ihrem saftigen Grün und mit ihren fiebrigen Blüten auch waren, auf die Dauer wirkte der gleichmäßige Anblick der bis zu vier Meter hohen, armsdicken Stämme des fremdartig phantastischen Rohres mit seinen einen halben Meter breiten Blattrosetten doch langweilig; denn eine volle Stundelang währte der nasse Marsch, und nur einmal bot sich eine kleine Abwechslung in der Eintönigkeit des Bildes, die aber für die Nasen durchaus nicht angenehm war.
»O, Kaschwalla, dein Bruder ist tot!« rief der starke Juku auf einmal.
»Mein Bruder?« fragte Kaschwalla, der den Weißen voran, tapfer hinter den Bahnbrechern drein stapfte, um ihnen das Breitenmaß des zu bahnenden Weges anzugeben. »Wie willst du wissen, daß mein Bruder gestorben sei? Gesund verließ ich ihn in Sansibar.«
»Dort schwimmt seine Leiche!« erwiderte Juku mit wehmütiger Stimme: »Es muß dein Bruder sein, er hat ganz deine Gestalt und dein Antlitz, das ohne Hals auf dem Leibe thront.«
Dabei wies er auf ein verwesendes Flußpferd, das im Röhricht lag.
Ein wieherndes Gelächter stimmten die Schwarzen an, die in der Nähe waren, und gaben die Kunde von der Leiche des Bruders Baba Pombes den Nachfolgenden weiter, so daß sich das Lachen stets von neuem erhob, allemal wenn wieder eine Gruppe an die Stelle herankam und entdeckte, wer mit Kaschwallas Bruder gemeint war.
Endlich lichtete sich der Sumpf und erweiterte sich zu einer Lagune.
Hier galt es, zu eilen, denn gleich schwimmenden Baumstämmen sah man die Rücken mehrerer Krokodile auf dem Wasser treiben.
Die Riesenechsen schienen nicht abgeneigt, sich einen oder den andern Schwarzen zum Fraße zu holen.
Leusohn und Hendrik, die das Ufer erreicht hatten, gaben daher Schüsse auf sie ab.
Die Wirkung des ersten Schusses war eine überraschende: mit der Stille der Wasserwildnis war es mit einem Schlage zu Ende. Enten, Gänse, Pelikane, Reiher, Störche, Schnepfen und unzählige andere Arten von Sumpfvögeln erhoben sich in ganzen Wolken aus dem Röhricht mit einem ohrenbetäubenden Gepfeif, Geflöte, Geklapper und Gekreisch.
Einige der Schwarzen, die am Ufer standen, gaben inzwischen Schrotschüsse auf die Krokodile ab.
Durch einige verirrte Schrotkörner war ein Riesenreiher flügellahm geschossen worden und stand im seichten Wasser, als gerade Kaschwalla keuchend nahte, der längst nicht mehr beim Vortrab war, sondern die Nachhut bildete.
Kaschwalla gedachte den gelähmten Vogel zu packen und ans Ufer zu schleifen, um sich unsterblichen Jägerruhm zu erwerben, an dem es ihm bis jetzt fehlte.
Da kam er aber schlecht an. Der Reiher wehrte sich so heftig mit seinem spitzen Schnabel, daß Baba Pombe die Flucht ergriff, von dem Riesenvogel mit Schnabelhieben beständig verfolgt.
Das gab wieder ein großes Hallo und Gelächter der Zuschauer am Ufer.
Es sah aber auch gar zu köstlich aus, wie Kaschwallas schwabbelnde Fleischmasse in der höchsten ihr möglichen Eile durch das Wasser watschelte, sich duckend vor den Stößen des Reihers.
Nun stolperte der erschöpfte Flüchtling und strampelte hilflos in der seichten Flut, während sein grimmiger Feind ihm siegreich den Rücken bearbeitete.
Weder Leusohn noch Hendrik wagten es, auf den Vogel zu schießen, aus Furcht, den Schwarzen zu treffen, der immer wieder Anstrengungen machte, sich aufzurichten, ebenso oft aber wieder von dem wütenden Reiher mit einem wuchtigen Schnabelhieb niedergestreckt wurde.
Die Sache begann ernst zu werden und das Gelächter verstummte; aber keiner wagte es, dem dicken Genossen zu Hilfe zu kommen.
Da war es Kaschwallas getreues Weib Sangula, die dem Bedrohten als Retterin erschien.
Sie sprang ins Wasser und packte mit einem kühnen Griff den Reiher am Halse. Dann wandte sie rasch das Gesicht ab, so daß die Schnabelhiebe, die nun auf sie niederfielen, nur ihren Nacken trafen. Sie ließ aber den Hals des Vogels nicht los, so daß dieser bald nicht mehr imstande war sich zu wehren.
Inzwischen hatte sich Kaschwalla erhoben und war ans Ufer gekrochen.
Sangula aber brachte den halberstickten Reiher als ihre mutig erkämpfte Beute ans Land, wo ihr von allen Seiten Lobsprüche zuteil wurden, die sie mit merkwürdiger Bescheidenheit, aber nicht ohne Würde entgegennahm.
Kaschwalla dagegen wurde wieder das Ziel des Gespötts: »Wenn du Reiher fangen wollen,« sagte Hamissi, »du müssen hinter ihm herlaufen und nicht vor ihm drein, sonst er dich fangen.«
Und der starke Juku höhnte: »O, Baba Pombe, laß nur Sangula nicht von deiner Seite weichen, ohne ihren männlichen Schutz könnte dir noch Unheil zustoßen.«
»Was schmeckt jetzt besser,« fragte Hassan, »sage es uns, o Kaschwalla, denn du hast Erfahrung: Akaziendornen oder Bienenstiche, Ameisenbisse oder Schnabelhiebe?«
»O, Hassan,« erwiderte der Dicke gelassen, »man hat mir eine Geschichte von dir erzählt, daß du im Walde der Wambutti Honig gekostet habest, der sehr bitter geschmeckt haben soll; ich glaube, du hast noch größere Erfahrung als ich. Was aber den Reiher anbetrifft, so habe ich ihn im Vorbeigehen gebeten, mir die Blasen aufzustechen, die ich von den Ameisenbissen bekam. Er hat das sehr freundlich und gründlich besorgt, bis Sangula es für genug hielt und ihm Einhalt gebot, nachdem sie gesehen, daß kein Mann sich in die Nähe des Schnabeldoktors getraute.«
Diese Andeutung, daß keiner so viel Mut gezeigt habe, wie das Weib, ließ die Spötter beschämt verstummen.
In der Steppe, die sich an den Papyrussumpf anschloß, zeigten sich zahlreiche Antilopen, und Hendrik eilte der Karawane voraus, um womöglich den Weißen einen saftigen Braten zum Nachtimbiß zu schießen.
Es gelang ihm, sich unbemerkt an eine Gruppe äsender Gnus anzuschleichen. Diese Tiere waren braun mit schwarzer und weißer Mähne, einem Pferdeschweif und Hörnern, die erst nach auswärts und dann nach oben gebogen sind.
Auf den ersten Schuß erlegte der junge Bure eines der Tiere; sämtliche Antilopen nah und fern jagten in wilder Flucht davon, als der scharfe Knall ertönte.
Eine zweite Kugel, die Hendrik den flüchtigen Gnus nachsandte, traf eines derselben in den linken Hinterschenkel, worauf es auch nach einigen Sprüngen zusammenbrach.
Als Hendrik dem verwundeten Tiere nahte, richtete es sich plötzlich drohend auf, und nur ein rascher Seitensprung rettete ihn vor dem Stoß der scharfen Hörner.
Er mußte noch einen Schuß auf das Tier abgeben, um es zur Strecke zu bringen.
Der glückliche Jäger kehrte zur Karawane zurück und Leusohn begleitete ihn mit Juku zur Stelle, wo die Antilopen einige hundert Schritt voneinander entfernt lagen. Die Reitstiere waren mitgenommen worden und das Wild wurde ihnen aufgeladen und festgebunden.
Die Karawane hatte heute einen tüchtigen Marsch geleistet, doch wanderte man noch in die Nacht hinein, um einen fernen Akazienwald zu erreichen, da es dieser Grassteppe an Brennholz fehlte.
Durch das Kauen von Kolanüssen erhielten die Träger sich aufrecht, während sie im Halbschlaf weiterwandelten. Verstummt war ihr Gesang und Scherz, sie sehnten sich nach Rast und vor allem nach einem kräftigen Abendessen.
Kein Auge hatten sie für das prachtvolle Schauspiel des Abends, da die Berge von Ruanda in leuchtendem Dunkelrosa aufflammten und ein Alpenglühen sie überblühte, wie es sich entzückender nicht denken ließ, während die fernen Gebirgszüge in magisches Dunkelviolett sich tauchten.
Dicht über dem Gebirgskamm strahlte ein Stern auf, nachdem die wunderbaren Farben erblaßt waren. So groß erschien er dem geblendeten Auge, daß man ihn für ein Meteor hätte halten mögen. Er funkelte wie ein Fixstern, ja auf Augenblicke verschwand er ganz, wie das Blinkfeuer eines Leuchtturms. Das Merkwürdigste aber war, daß er einigemal wie mit einem Ruck seinen Platz wechselte.
»Diese unerhörte Erscheinung,« sagte Schulze, »wird sich dadurch erklären, daß die stark erhitzten Luftschichten auf den Gebirgswänden in zitternder Bewegung sind und je nachdem das Licht des Planeten weniger oder stärker brechen.«
Dem mochte so sein; denn als der Stern höher stieg, schien er an Größe abzunehmen und sein Licht wurde stetig; mit der stolzen Ruhe eines Planeten schwamm er im dunklen Tropenhimmel, der bald von unzähligen Gestirnen flimmerte.
Als der Wald erreicht war, hieben die Schwarzen Bäume und Büsche am Waldrand ab. In den dunklen Busch hätte sich keiner getraut, weniger aus Furcht vor den wilden Tieren als vor den Dornen, die in der Nacht einen solchen Wald unzugänglich machen, es sei denn, daß man sich mit Fackeln versehe.
Zunächst wurde, wie gewöhnlich, ein Dornenverhau um den Lagerplatz errichtet, da viele der gefährlichsten Raubtiers Afrikas zu frech sind, um sich durch Feuer allein von nächtlichem Eindringen ins Lager abhalten zu lassen.
Sannah übernahm in Abwesenheit des Lords das Lesen aus der Bibel bei der Abendandacht; denn von diesem erhebenden Abschluß des Tagewerks wollten die Weißen nicht mehr lassen.
Hendrik wurde in dieser Nacht in seinem Zelte von Wanderameisen überfallen und verfiel auf den Gedanken, sie dadurch von sich abzuhalten, daß er an verschiedenen Stellen, namentlich auch vor dem Zelte, Überreste von Lebensmitteln hinlegte.
Er erreichte auch vollkommen seinen Zweck, denn mit den Lockspeisen beschäftigt, behelligten ihn die Quälgeister nicht weiter.
Wie schon so oft lauschten die Europäer vor dem Einschlafen noch auf das unheimliche Konzert, das aus Wald und Steppe rings um sie her ertönte: Da erscholl das widerliche Lachen und klagende Geheul der Hyäne und das helle Gekläff des Schakals. Die Nachtaffen und die Nashornvögel verübten auf den Bäumen einen greulichen Spektakel. Dumpf grunzend brachen die Wildschweine durch krachendes Gestrüpp.
Dazwischen erscholl das heisere und unheimliche Stöhnen oder Bellen des Leopards mit seinen kurzen Stößen.
Dann und wann kreischten auch Meerkatzen von den Bäumen herab.
Am grauenerregendsten klang der donnergrollende Baß des jagenden Löwen, der freilich stets in der Ferne blieb, während die dreisten Hyänen und Schakale sich dem Lager ungescheut näherten und ein wahrhaft höllisches Konzert aufführten.
Hendrik schlief spät ein. Und wie es oft geht, wachte er um so früher auf.
Es war noch Nacht. Doch hörte er bereits das eintönige Geräusch des Mehlstampfens im Lager und dazu den schwermütigen Gesang der Negerinnen.
Der Bure erhob sich und nahm seine Flinte. Vielleicht gelang es ihm, in der Morgenfrühe ein Wild zu schießen, da es Not tat, Nahrung zu beschaffen; denn außer den Früchten des Waldes und Baumtermiten war seit der letzten Hungersnot keine Nahrung zu haben, als das unterwegs geschossene Wild und Geflügel.
Jetzt erst verwunderte er sich darüber, daß die Weiber Mehl stampften: woher mochten sie nur Getreide haben? Hatte man doch in den letzten Tagen nirgends eine Niederlassung getroffen, wo sie es erhandeln konnten, und die Versorgung der Träger wurde stets noch nach dem Mikonosystem geübt, das heißt, sie erhielten ihre »Mikono« oder Armlängen Tuch, um sich dafür Lebensmittel einzutauschen, falls solche zu haben waren.
Als der Jüngling das Lager durchschritt, sah er mehrere Weiber und Mädchen bei der mühsamen Arbeit hocken; unter ihnen erkannte er auch Sangula, Kaschwallas Weib.
Der Mond leuchtete den Arbeiterinnen, denen Hendrik im Innern seine Hochachtung nicht versagen konnte.
»Was reden die Europäer doch so viel von der Faulheit der Neger!« dachte er bei sich. »Und dabei wird man in Europa weit wandern können, bis man solchen Fleiß antrifft, nach dem, was ich von Europa gehört habe.
»Wenn sie abends vom Marsch ermüdet im Lager ankommen, machen diese Negerinnen sich sofort an die Arbeit. Wenn die Männer schon schlafen, stampfen sie noch das Korn. Und morgens ehe der Tag erwacht und wenn das ganze Lager noch schlummert, erheben sie sich und beginnen schon wieder ihr beschwerliches Tagewerk.
»Niemand weckt sie auf, niemand treibt oder mahnt sie ans Geschäft, keine Sklavenpeitsche wird über ihnen geschwungen. Ich habe auch nie gehört, daß die Männer sie irgendwie unwirsch angefahren oder gar ihnen gedroht hätten, weil es etwa an Brei oder an Brot mangelte. Freilich, sie geben keinen Anlaß dazu.«
»Ihr Pflichtgefühl allein ist es, das sie zu so ausdauernder Arbeit treibt, und wer weiß, wieviel zärtliche Sorge in diesem Mehlstampfen verborgen liegt: ihr Mann, ihr Vater, ihr Bruder, ihre Kinder müssen zu essen haben! Das ist der Gedanke, der sie abends und morgens so unermüdlich tätig sein läßt.«
Als Hendrik gegen Westen am Waldsaum entlang ging, sah er einen Schakal am Boden lagern und Nüsse knacken. Das Tier, etwas größer als ein Fuchs, einem Windhunde gleichend, war bräunlich gefärbt und hatte auf jeder Seite einen breiten hellgrauen Streifen, der ihm den Namen »Streifenwolf« eingetragen hat.
Es bemerkte Hendriks Kommen nicht, der als geübter Jäger lautlos einherschritt und nur deshalb das Raubtier verschonte, weil er kein besseres Wild durch einen vorzeitigen Schuß erschrecken wollte.
Als jedoch kurz darauf zwei Wildschweine aus dem Waldesdickicht brachen, legte der Bure sofort an, und mit zwei wohlgezielten Schüssen streckte er beide nieder. Es waren sogenannte »Pinselschweine«.
Während er bisher am Waldsaum hingeschritten war, der, stark eingebuchtet, einen großen Bogen beschrieb, kehrte der junge Nimrod nun auf dem nächsten Wege zum Lager zurück.
Dabei kam er an zwei verlassenen Negerhütten vorbei, neben denen verwilderte Mais- und Eleusinefelder standen. Nun erst war ihm klar, woher die Negerinnen das Korn hatten, das sie in aller Frühe zu Brei und Brot verarbeiteten.
Als die Karawane nach einem notdürftigen Morgenimbiß wieder aufbrach, begab sie sich zunächst zu der Stelle, wo Hendriks Jagdbeute lag, um das Fleisch mitzunehmen. Unterwegs wurden noch die offenbar herrenlosen Felder geplündert, die wenigstens für zwei Tage genügend Mehl für die ganze Karawane liefern mochten.
Die verlassenen Hütten waren übrigens ein sicheres Zeichen, daß man bald auf menschliche Siedelungen stoßen würde, und somit die Not vorerst ein Ende haben werde.
Es fanden sich bei den zerfallenen Wohnungen auch noch Kolokasien, die fleißig ausgegraben wurden, da ihre Knollen und Blätter genießbar sind.
An diesem Tage ging es durch Dornwald, der wenigstens zum Lohn für den beschwerlichen Durchmarsch einige Perlhühner und noch ein paar weitere Eber und Wildsäue lieferte.
Die folgenden Tage führten abwechselnd durch Wälder und Steppen, über Täler und Hügel, an Sümpfen und Seen vorbei, bis endlich wieder angebautes Land erreicht wurde.
Sofort fielen allen die riesigen Ährenkolben des Sorghumgetreides auf, die weit über Kindskopfgröße erreichten. Daneben stand ein Maniokfeld, und auch die Maniokpflanzen überschritten jedes gewöhnliche Maß, denn sie glichen jungen Bäumen.
»O, Mama!« rief Kaschwalla, »wir kommen in das Land der Riesen! Bwana Bawessa, vorgestern hat mich ein Riesenreiher beinahe zu Tode gepickt, heute finden wir den Riesenmaniok und das Riesengetreide, wie nur Riesen sie anbauen können.«
»Es gibt kein Land der Riesen!« beruhigte Leusohn den Erschreckten.
»O, Bwana Dakta, jedermann weiß, daß es ein Land der Riesen gibt, wie ein Land der Zwerge, und beide sind nicht weit voneinander.«
»Was sind das für törichte Fabeln!« eiferte Leusohn unmutig.
Aber Hamissi bestätigte Kaschwallas Behauptung. »Bwana Fimbo,« sagte er, im Eifer den Doktor bei seinem Spitznamen anredend, »Zwerge Menschen sein so klein, wie viele nicht glauben, Menschen sein können. Aber Bwana selber gesehen haben, Zwerge doch da sein! Riesen auch Menschen sein so groß, wie viele nicht glauben, aber Riesen doch da sein, wie Zwerge. Das wissen alle Suaheli, weil es gehört haben von anderen, die Riesen gesehen haben, und hier gewiß Land der Riesen bald kommen: da wir nicht hinein können.«
Schon jetzt hätten sich wohl die Schwarzen geweigert, weiterzugehen, denn allgemein hatte sie die Furcht vor den Riesen ergriffen; aber hinter ihnen drohte der Hungertod, also mußten sie zunächst voran: dem gefürchteten Lande konnten sie ja immer noch ausweichen.
Auf einmal riß Helene, die mit Sannah und Tipekitanga vorausritt, die Augen weit auf.
»Da ist ja ein richtiger Wegzeiger mit einer deutschen Inschrift!« rief sie verblüfft aus.
Wirklich lag da ein mächtiger Felsblock, auf den mit roter Farbe ein Pfeil gemalt war und die Inschrift:
»Jambo! Nach Katschuri eine Viertelstunde!«
»Das ist das Großartigste, was mir je vorgekommen ist,« versicherte Leusohn. »Ist so etwas erhört? Da reisen wir in den wildesten und unbekanntesten Gegenden Innerafrikas, und plötzlich heißt uns ein deutscher Wegzeiger willkommen!«
»Wir sind von dem Gebiet des Kongostaats auf deutsches Gebiet übergetreten,« sagte Schulze, ebenfalls höchlich verwundert. »Gewiß hat hier ein Offizier der deutschen Schutztruppe Grenzvermessungen vorgenommen oder ist aus einem sonstigen Grund hierhergelangt, worauf er nach chinesischer Art einen Felsblock zum Wegzeiger machte.«
»Jedenfalls ist dieses ›Willkommen‹ uns ein gutes Vorzeichen,« meinte Hendrik. »Es sind also schon Weiße in der Gegend gewesen und haben guten Humor behalten; es kann hier nicht so schlimm sein.«
Auch auf die Schwarzen machte die Erklärung der Inschrift einen sichtlich guten Eindruck, und sie marschierten nun frisch drauf los in der Richtung des Pfeiles.
Freilich, die Viertelstunde hatte der Fuchs gemessen! Entweder war der Verfertiger des Wegzeigers gut beritten gewesen oder er war eine mitleidige Seele, die dem ermüdeten Wanderer eine schöne Hoffnung vorspiegeln wollte; jedenfalls dauerte es eine starke Stunde, ehe das Negerdorf erreicht war.
Die Bewohner Katschuris zeigten sich friedlich und freundlich und es konnten große Vorräte an Sorghum, Mais, Butter und Eiern eingehandelt werden, ebenso mehrere Hühner.
Besonders war eine herrliche Milch zu bekommen, die sich Schwarze und Weiße schmecken ließen, und Honig in Fülle. Man war tatsächlich in das Land gekommen, wo Milch und Honig floß, der Inbegriff der köstlichsten Nahrung von alters her.
Hamissi verstand es, namentlich aus den noch milchigen Körnern des Mais ganz vorzügliche Speisen zu bereiten, vor allem den Maisbrei nach Art der Niamniam und den Milchmais nach Art der Mangbattu und Sande, ein Gericht, das bei den letzteren nur den Häuptlingen vorgesetzt wird.
Die Niam-Niam-Polenta bereitete er auf folgende Weise: die saftigen Maiskörner wurden auf dem Mahlsteine feingerieben, was gewöhnlich Amina und die weißen Damen besorgten, wobei Tipekitanga trotz ihres Prinzessinnenranges fleißig mithalf.
Der von der Kleie gereinigte Brei wurde in kleine Klöße geballt, die in einem Topf mit ein wenig siedendem Wasser locker aufgeschichtet wurden, um nicht anzubrennen. Nachdem sie recht durchdämpft waren, rührte sie Hamissi erst zusammen.
Der Milchmais der Sande war noch schmackhafter. Die im Holzmörser zerstampften Maiskörner wurden in Bananenblätter gewickelt oder auch in andere Blätter, in Anteilen, die zu einer Mahlzeit ausreichend bemessen waren. Mit dem Blattstiel verschloß der Koch die Düten; dann stemmte er Querhölzchen in den Kochtopf, auf denen die Düten über dem Wasser ruhten. Der Topf wurde zugedeckt und der Brei im Wasserdampf gar gekocht.
Dieses herrliche Gericht nannte Hamissi »Pokuta«. Es geriet nicht immer gut; am besten war es, wenn es recht locker und innerlich wie Eidotter dunkelgelb gefärbt war.
Um an Milch und frischem Fleisch künftig keinen Mangel zu leiden, erwarb Schulze eine ganze Ziegenherde. Zum Ziegenhirten wurde Uledi, Kaschwallas zwölfjähriger Sohn, ernannt, ein äußerst gescheiter und zuverlässiger Knabe, der seiner Mutter Sangula nachschlug und auch körperlich nichts von der Beleibtheit feines Vaters besaß, von dem er jedoch den Witz und den unverwüstlichen Humor geerbt hatte.
Schulze hatte in Erfahrung gebracht, daß sich in Katschuri zur Zeit die Sultanin Nyawingi aufhalte, die berühmte Zauberin von Ruanda, die aber für keinen Sterblichen sichtbar sei. Sie selbst sei unsterblich; wer sie erblicke, sei des Todes.
Der Professor jedoch begehrte sie zu sehen, und Leusohn und Hendrik mit ihren Schwestern begleiteten ihn.
Eine Grashütte in der üblichen Bienenkorbform wurde ihnen gewiesen. Sie zwängten sich durch eine enge Türe in den »Palast«, der durch eine geflochtene, mit Kuhdung gedichtete Scheidewand in zwei Räume geteilt war. Die Türöffnung dieser Wand war mit einer Strohmatte verhängt, auf die schwarze Figuren gemalt waren.
Der Katikiro, das heißt der Minister oder Großwesir, fragte die Ankömmlinge nach ihrem Begehren.
»Wir wollen die große Sultanin sehen,« erwiderte Schulze.
Hierauf erscholl eine Stimme hinter der Wand, welche also redete: »Ich bin ein Geist, die Tochter des Sonnengottes Kasoba; mein Wohnsitz ist in den Wolken, ich komme aber zur Erde und kann in einem Augenblick gehen, an welchen Ort ich will.«
»Die Nebel sind mein Kleid und der Blitz mein Schlag. Auch die Weißen sind meine Kinder wie die Schwarzen, aber ich habe noch keinen gesehen.«
Über dieses treuherzige Eingeständnis mußten unsere Freunde lächeln. Dieser allgegenwärtige Geist hatte noch nie seine weißen Kinder zu Gesicht bekommen können!
Nyawingi befahl nun dem Katikiro, die Hütte zu verlassen, und als dieser dem Befehl Folge geleistet hatte, frug sie: »Was begehrt ihr von mir, meine weißen Kinder?«
Zu Schutzes und Leusohns Verblüffung erwiderte Hendrik, der Frechling: »Wir begehren Hongo von dir, als Zeichen deiner Unterwerfung, zehn Rinder und fünfzig Hühner.«
Nun entstand ein fürchterlicher Spektakel hinter dem Vorhang: das aufgeregte Gekreisch einer weiblichen Stimme und ein Gerassel wie von eisernen Waffen.
Plötzlich riß Hendrik mit einem Griff die Strohmatte herunter. Da stand vor ihnen ein schlankes Weib von heller Hautfarbe und zierlicher Gestalt mit wohlgeformten Gliedern, die reich mit glänzenden Kupferringen geschmückt waren.
Mit einem blinkenden Eisenstab schlug sie nach Hendrik, der behende auswich; dann aber sank sie zu Boden und sah zitternd mit den großen, langbewimperten schönen Augen die Weißen an. Ihr ovales Gesicht mit der feingeschwungenen Adlernase und dem kleinen Munde hatte nichts Negerhaftes, eher einen semitischen Schnitt.
Sie kroch nun heran, umfaßte Hendriks Knie und bat um Schonung, sie wolle alle Forderungen pünktlich erfüllen.
Hendrik beruhigte sie. »Wir sind nicht gekommen, dir ein Leid zuzufügen, wir wollten dich nur sehen, und du siehst, dein Anblick tötet uns nicht.«
Die also beruhigte Sultanin hatte alsbald ihre Fassung wiedergewonnen und erwiderte lächelnd: »Ich bin nicht Nyawingi, die soeben in die Wolken entschwebt ist; ich bin nur Kiakutuma, ihre Dienerin, die dem Volke der Göttin Befehle verkündigt.«
Hierauf rief sie den Katikiro herein und gebot ihm, den Gästen nach dem Willen Nyawingis zwanzig Rinder und siebzig Hühner zu überbringen. Alsbald wurde auch diese reiche Abgabe in das Lager vor dem Dorfe geschafft.
Schulze überreichte dagegen der Sultanin ein kostbares Geschenk an Stoffen, Perlen, Messingdraht und allerlei Spielzeug, worüber die lichtfarbige Negerin in helles Entzücken geriet.
Am meisten freute und wunderte sie ein Handspiegel, in den sie immer wieder hineinblickte, um dann vergeblich hinter dem Spiegel nach dem hübschen Gesicht zu suchen, das, wie sie meinte, ihr durch das Glas entgegenblickte.
Als nun der Professor erwähnte, sie hätten die Absicht, durch das Land Ruanda nach Süden weiter vorzudringen, mahnte Kiakutuma ernstlich, sie möchten von diesem gefährlichen Unternehmen abstehen.
»Riesen wohnen in diesem Lande und lassen niemand hindurch, selbst unsere Leute dürfen nur waffenlos, mit einem bloßen Lendentuche die Grenze überschreiten, obgleich unser Bezirk zum großen Sultanat Ruanda gehört.«
»Es ist ein großes Land mit hohen Bergen. Die Leute sind stark und ihre Speere nicht zu zählen; ihre Bogen sind größer als ich bin. Niemand kann sie besiegen.«
Ähnliche Nachrichten hatten auch die Neger im Lager von den Einwohnern Katschuris erhalten, mit denen sie in lebhaften Tauschverkehr eingetreten waren.
Sie verlangten daher hartnäckig nach Osten, zur Küste zurück zu marschieren.
Davon konnte keine Rede sein, weil schon Flitmore nicht so schnöde im Stiche gelassen werden durfte.
Schulze wandte sich an Hassan, auf dessen Mut und Treue er sich am meisten verließ. »Was sagst denn du?« fragte er den Somali. Dieser aber erwiderte zu seiner schmerzlichen Überraschung: »O Bwana, sie wollen alle nicht in dies schreckliche Land; dort müßten wir alle sterben. Laß uns umkehren!«
»Dann müssen wir Weiße eben allein weitermarschieren,« rief der Professor ingrimmig. »Ihr seid eine feige, schuftige Bande, alle miteinander, Somalis und Sansibariten.«
»O nein!« rief da Amina. »Ich folge meiner weißen Herrin, wohin sie geht, und wenn mein Bruder seinen Mut verloren hat, soll er sich vor mir und den weißen Damen schämen.«
Da rief auch Sangula: »Lasset nur unsere Männer mit den Knaben heimkehren, und mögen unsere Söhne daheim erzählen, unsere Väter sind Ziegen, sie haben ihre weißen Herren verlassen. Aber unsere Mütter und Schwestern sind als Träger und Askaris mit ihnen gegangen, die soll niemand beschimpfen.«
»Und was sagt Tipekitanga?« fragte Helene, erfreut von dieser Standhaftigkeit schwarzer Mädchen und Frauen, die kleine Negerprinzessin.
»Die Wambutti kennen keine Furcht,« sagte die Zwergin stolz. Wenn dies auch gewiß übertrieben war, für sie selber mußte es jedenfalls als Wahrheit anerkannt werden. Und sie fuhr fort: »Nur die großen Männer sind Feiglinge, mich wird niemand auf dem Pfade der Flucht sehen.«
Diese mannhaften Erklärungen der kühnen weiblichen Wesen riefen bei den Weibern eine wahre Begeisterung hervor. Sie schmähten ihre mutlosen Männer und riefen ihnen zu: »Gehet heim, gehet heim und stampfet fortan euer Mehl selber, gebt uns eure Lasten und Gewehre, wir werden sie nicht fortwerfen und tragen sie durch die Länder der Riesen.«
Da konnte man sehen, wie kleinlaut und beschämt die Schwarzen dastanden. Keiner fand mehr den Mut, den Weitermarsch zu verweigern.
So wurde denn von Katschuri abmaschiert, dem Süden zu. Es war ein landschaftlich wunderschönes Gebiet, aber beschwerlich zu durchwandern; erreichten doch seine Gebirge die Höhe von dreitausend Metern und waren durch Flüsse, tiefe Täler und Seen reichlich durchschnitten.
Als die ersten grasigen Berge erklommen wurden, sagte Schulze: »So sind wir denn eingedrungen in das rätselhafte Königreich, das Fabelland, in welchem weiße Menschen leben sollen!«
»Dort sind ja die Riesen!« rief Helene aus, die wieder einmal voranritt.
Wirklich zeigten sich auf einem Weidegrund wahrhaft hünenhafte Gestalten. Es waren Jünglinge, die große Rinderherden hüteten.
Um die Hüften trugen sie einen schmalen Schurz aus weichgegerbter Haut, von der zehn bis zwölf Schnüre bis zu den Knien herabhingen.
Es war dies die Nationaltracht der Ruandaleute. Reiche und Vornehme trugen außerdem, wie unsere Freunde es später sahen, lose Stoffe um die Schultern geschlagen.
Die Knaben waren von auffallend heller Hautfarbe und hatten durchaus keinen Negertypus, vielmehr feingeschnittene, schöne Züge von semitisch-hamitischer Bildung, so daß Schulze sofort erklärte, die Bevölkerung müsse ursprünglich aus Ägypten eingewandert sein.
Ohne gerade fett zu erscheinen, strotzten die jungen Hirten von Gesundheit, ihre Haut glänzte, als sei sie mit Öl eingerieben, und es waren so prachtvoll gebaute Gestalten darunter, daß sie jedem Bildhauer als Modell zu einem Antinous hätten dienen können.
Am auffallendsten aber fiel die wahre Riesengröße dieser jungen Leute in die Augen. Die meisten waren über zwei Meter hoch, viele aber erreichten die außerordentliche Höhe von zwei Metern und zwanzig Zentimetern und darüber.
Und diese Stärke, Gesundheit und Größe erzielte ein Volk, das sich, wie unsere Freunde sich im Laufe der Reise durch dieses merkwürdige Reich überzeugten, nicht von Fleisch, sondern fast ausschließlich von Milch und Honig ernährte.
Eine solche Kost befördert keinerlei wilde Triebe, so erfuhren denn auch die Ankömmlinge, daß man ihnen ohne Grund vor den Wanjaruanda hatte Furcht machen wollen.
Schon die außerordentliche Milde, die aus den großen Augen und friedlichen Gesichtszügen sprach, machte einen äußerst günstigen und auf die Schwarzen sehr beruhigenden Eindruck.
Schulze bot den sanften Riesen Geschenke an; sie waren aber nicht dazu zu bewegen, irgend etwas anzunehmen, so sehr die Bewunderung und Lust an den niegesehenen Herrlichkeiten ihnen aus den Augen leuchtete.
»Wir haben keine Erlaubnis von unserem König, Geschenke anzunehmen,« sagten sie und beharrten standhaft auf ihrer Weigerung.
»Ein solches Verhalten ist für Afrika unerhört!« rief Hendrik aus.
»Es beweist überdies,« erklärte der Professor, »was für eine stramme Zucht unter den Leuten herrscht, und wie der Sultan seine Untertanen in der Gewalt hat.«
»Diese Gewalt,« fügte Helene bei, »scheint er zu äußerst edlen Zwecken zu gebrauchen; denn seine Untertanen zu verhindern, Geschenke anzunehmen, heißt sie doch zu hoher Gesinnung erziehen.«
Die Hirten wiesen in zuvorkommendster Weise den Weißen den Weg zur nächsten Niederlassung, in der ein Unterhäuptling des Sultans seinen Sitz hatte. Ja, sie ließen es sich nicht nehmen, ihnen einen Führer mitzugeben, da man sich im nahen Walde leicht verirren könne.
Gegen Abend war das Dorf oder vielmehr die Stadt erreicht, in deren Nähe das Lager aufgeschlagen wurde.
Auch hier stellten sich die Riesen, wie man sie mit Fug und Recht heißen durfte, äußerst freundlich zu den Besuchern ihres Landes.
Schulze erkundete bald, daß die Wahutus die Urbevölkerung von Ruanda bildeten. Sie sind ein ackerbautreibender Stamm aus der großen afrikanischen Völkerfamilie der Bantus.
Die Beherrscher des Landes sind die viehzüchtenden Watussi, die vor Zeiten aus dem Norden einwanderten, ein prächtiger Menschenschlag von Riesengröße, da Gestalten von zwei Meter zwanzig Zentimeter, wie gesagt, keine Seltenheit sind. Sie sind durch schönen Körperbau, edle Gesichtsbildung und den bronzefarbenen Ton der Haut ausgezeichnet. Die hohe Stirn, die feingeschwungene Nase und das anmutige Oval des Gesichtes kennzeichnen sie besonders.
Die Bevölkerung des großen Reiches umfaßt etwa anderthalb Millionen Einwohner.
Ferner wurde noch berichtet, daß Ruanda Zwergvölker beherberge, die Batwa oder Batua, auch Watua oder Butte-Butte genannt, die bei den Vulkanen der Msumbirolandschaft und an den Ufern des großen Kiwusees lebten, wo sie sich hauptsächlich vom Fischfang nährten.
»Also Riesen und Zwerge beieinander,« bemerkte der Doktor. »Genau wie in den alten Sagen.«
Was Schulze ganz besonders interessierte und kaum glaublich erschien, war die Behauptung, auch eine Niederlassung von Weißen befinde sich im Nordwesten; aber diese seien erst vor wenigen Jahrzehnten eingewandert.
Die Watussi zeigten sich als ein äußerst gescheiter Menschenschlag, was man ihren einnehmenden Gesichtszügen gleich ansah.
Sie verehren heilige Tiere, und zwar jeder Stamm sein besonderes Tier, dem er huldigt und nach dem er sich nennt. Sie kennen aber auch einen obersten Gott, Imana, den Schöpfer der Welt.
Das Land zeigte sich überall äußerst fruchtbar und sein Klima hervorragend gesund.
An Wild, namentlich Elefanten, Löwen, Büffeln und Antilopen war es ungemein reich.
Die hellfarbigen, schöngewachsenen und wohlgebildeten Frauen Ruandas sind als Sklavinnen sehr gesucht, was unsere Freunde nicht wundernahm. Sie erzielen Preise bis zu viertausendfünfhundert Mark, während für eine gewöhnliche Sklavin nicht mehr als zwanzig bis vierzig Mark bezahlt werden.
Sie sind aber äußerst selten; denn die arabischen Sklavenjäger wagen es glücklicherweise nicht, die Grenzen Ruandas zu überschreiten; das Volk ist ihnen zu stark und mächtig.
Nach dreitägigem Aufenthalt wollten unsere Freunde sich nunmehr westwärts den Virungavulkanen zuwenden, als zwei Abgesandte des Sultans Msinga von Ruanda erschienen mit einem Gefolge von Dienern und Vieh. Mit solch feierlichem Ernste und in so ruhevoll ehrfurchtgebietender Haltung schritten die Ankömmlinge daher, daß alsbald das Geschwätz der Träger und Askaris verstummte.
Die Gesandten, Bussissi und Nanturu, waren zwei schlanke Riesen von herrlichem Körperbau, weit über zwei Meter hoch. Ihre vornehme Art und der Anstand ihres Benehmens machten sofort den Eindruck, daß man es hier mit einem ganz andern Menschenschlag als den Negern zu tun hatte.
Die Schwarzen der Karawane betrachteten denn auch die Ankömmlinge mit ehrfürchtiger Scheu.
Die Gesandten brachten eine stattliche Herde Rinder und Ziegen als Geschenke des Königs und die Einladung des Herrschers nach seiner Hauptstadt Nianfa.
Da diese Stadt ziemlich weit südlich lag, hätte ihr Besuch einen großen Umweg bedeutet; daher lehnte Schulze höflich dankend ab; es eilte ihm, mit Lord Flitmore zusammenzutreffen, da er in Sorge war, wie es ihm ergangen sein mochte.
Die Abgesandten wollten aber von der Ablehnung nichts wissen. »Amri ya Msinga — Befehl des Msinga,« sagten sie höflich, aber bestimmt.
Die Weißen traten zur Beratung zusammen.
»Urundi und Ruanda sind die einzigen selbstherrlichen Königreiche Mittelafrikas,« erklärte Hendrik, »und zwar ist Ruanda das mächtigste aller Negerreiche. Ein Befehl des Msinga darf nicht mißachtet werden.«
»Auch ich bin der Ansicht, daß es unser Verderben wäre, wenn wir den Sultan beleidigten,« stimmte der Professor bei. »So sehr ich wünschte, sofort weiter zu reisen, glaube ich, wir müssen dem mächtigen Herrscher gehorchen.«
So begab sich denn die Karawane auf den Weg, geführt von Bussissi und Nanturu.
Zahlreiche Dörfer wurden durchschritten. Die laubbedeckten Hütten ruhten teilweise auf Pfählen und waren von Bananenhainen beschattet.
Nirgends war ein Mtuale oder Unterhäuptling anwesend. Auf die Frage nach ihrem Verbleib hieß es stets, die Watuale seien in Niansa.
Es war offenbar, daß der Sultan die Großen seines Reiches um sich versammelt hatte, die Fremden festlich zu empfangen.
Abends wurde der Niawarongo erreicht, ein Quellfluß des Kagera, an dessen Ufer das Lager aufgeschlagen wurde.
Am anderen Tag kam unseren Freunden eine Karawane entgegen, die ihnen dreißig Ziegen überbrachte. Mit Schrecken sah Schulze, wie seine Vorräte an Tauschwaren und Geschenkgegenständen zusammenschmolzen; denn die großmütigen Gaben des Sultans erforderten reiche Gegengaben.
Als daher im Laufe des Weitermarsches noch zwei solche Gesandtschaften erschienen, wollte er sich höflich bedanken. Aber die ruhige Entgegnung: »Amri ya Msinga!« zwang ihn zur Annahme.
Häufig trafen Menschenzüge von allen Seiten her kommend ein und setzten sich an die Spitze der Karawane; es waren die nach der Residenz berufenen Watuale mit ihrem Gefolge. Bald war der Zug der Watussi, der unseren Freunden voranschritt, auf Hunderte angewachsen.
Man nahte sich der Hauptstadt Niansa. Tausende von Menschen bedeckten die umliegenden Anhöhen, den Anmarsch der Fremden zu beobachten.
Es war für unsere Freunde ein verblüffendes, für Afrika ganz fremdartiges Schauspiel, zu sehen, wie ruhig sich diese Volksmassen verhielten, kein Lärmen, kein Schreien, kein Gedränge, wie sie es sonst gewohnt waren, begleitete ihren Einzug. Das war ein Volk, das sich vorteilhaft von den gewöhnlichen Negern unterschied und unter einer strammen Zucht stand, in die es sich willig und verständnisvoll fügte!
»Der große Stier kommt mit seinen Kälbern; er hat vier Arme und sechs Beine!« so schwirrte es jetzt von Gruppe zu Gruppe. Damit sollte weniger das Äußere des Professors und seiner Begleiter, als vielmehr seine Macht und Stärke nach der Vorstellungsweise dieses Hirtenvolkes gekennzeichnet werden.
Als die Karawane auf dem weiten Platz vor der Sultanshütte angelangt war, erschienen zwei Beamte, in wallende rote Stoffe gehüllt, und verscheuchten die Neugierigen mit ihren langen Stäben, vor denen die kundige Menge jäh auseinanderstob, so daß nur wenige von den sausenden Hieben getroffen wurden.
Als der Platz derart gesäubert war, ertönte Trommelwirbel und nun wurde unseren Freunden ein Anblick, wie sie ihn noch nie gehabt.
In langem Zuge, feierlich und ruhig schritten die Ruandafürsten mit ihren Söhnen paarweise voran, Prachtgestalten im Festschmuck der Watussi; über den Kopf lief ein Haarkamm von Ohr zu Ohr, eine dünne Perlenkette glänzte darin; vom Hals hing eine Fülle von gelben Schnüren aus Bananenbast über den nackten Oberkörper herab; Mitako, das heißt Perlenschmuck, in verschiedener Größe war an den Schnüren befestigt. Armbänder aus Kupferdraht und bunten Perlen umschlossen die Handgelenke; die Hüften umschlang ein schmaler Schurz aus Rindsleder, von dem viele Schnüre aus Otter- oder Rinderfell zu den Knöcheln niederhingen, die mit zahlreichen Drahtringen geschmückt waren.
Dann erschien Sultan Msinga in seiner Sänfte, einem einfachen, langen Korb, dessen Bambusstangen auf den Schultern von Batwaleuten ruhten.
Vorsichtig wurde die Sänfte zu Boden gelassen, die schlanke Riesengestalt des Königs richtete sich auf und er reichte zunächst Schulze, dann den anderen Weißen die zierliche Hand mit dem deutschen Gruß: »Guten Morgen, mein Herr; guten Morgen, meine Dame!«
Eigentümlich erschien der Hauptschmuck des Mami, wie der einheimische Titel des Sultans lautet. Perlenschnüre hingen ihm über die Schläfen und über die Nase bis zur Oberlippe herab, einen Teil des Gesichts bedeckend.
Der Mami sprach fließend Kisuaheli und seine Unterhaltung verriet scharfen Verstand und vielseitige Bildung.
Dann bat er, seine Geschenke überreichen zu dürfen. Diese bestanden aus einer Milchkuh mit deren Kalb, zehn großgehörnten Rindern, einer großen Herde Ziegen, schweren Lasten von Mehl, Milch, Honig, Butter, Bohnen und Bananen, und schließlich noch dem hier so seltenen und deshalb um so wertvolleren Brennholz. Der Zug der Wahutu, die diese Gaben brachten, wollte gar nicht enden.
Schulze konnte unmöglich Gegengeschenke bieten, die auch nur annähernd den Wert des Empfangenen deckten; dennoch gab er sich Mühe, solche Gegenstände auszuwählen, von denen er hoffen durfte, daß sie des Mami Antlitz erhellen würden. Und das gelang ihm über Erwarten.
Die landesüblichen Zeuge und Perlen beachtete Msinga kaum und verteilte sie sofort unter seine Großen. Ein Jagdmesser, ein Gewehr und eine Patronentasche dagegen erregten seine höchste Befriedigung.
Als nun aber der Professor ihm gar eine Weckeruhr überreichte, ihren Zweck und Bau erklärte, und sie rasseln ließ, da strahlte der Sultan vor Vergnügen. Den Höhepunkt seines Entzückens jedoch rief eine Handsäge hervor, die er anfangs ziemlich ungeschickt, bald aber äußerst gewandt handhabte.
Mit Hochgenuß begann er nun zu zersägen, was zur Hand war, und es gelang ihm sogar, die Füße von Schulzes Feldstuhl glatt abzusägen.
Der Professor brummte zwar in seinen Bart, doch freute ihn das kindliche Glück des großen Mami, der sich reich beschenkt fühlte. Der Feldstuhl ließ sich ja auch mit Leichtigkeit wieder herstellen.
Am andern Tag fanden zu Ehren der Gäste Festspiele statt.
Ganz verblüffende, ja märchenhafte Leistungen wiesen die Watussi beim Hochsprung auf.
Zwischen zwei gegabelten jungen Baumstämmchen wurde eine Schnur ausgespannt; ein kleiner fußhoher Termitenhügel diente als Sprungbrett.
Die besten Springer, Riesen von überschlanker Gestalt mit indianerhaftem Gesichtsschnitt, erreichten die unglaubliche Höhe von zweieinhalb Meter, während der in Amerika erreichte Weltrekord der Kulturwelt nur ein Meter vierundneunzig Zentimeter beträgt!
Dann folgten kunstvolle Tänze, in denen die Watussi den Kronenkranich und andere Vögel nachahmten; auch Kriegstänze, die mit anscheinender Leidenschaft ausgeführt wurden, ohne jedoch je in wilde und ungeordnete Sprünge auszuarten.
Beim Speerwurf entwickelten sie eine Kraft und Gewandtheit, wie sie in der Kulturwelt unerhört ist; sie schleuderten ihre kurzen Lanzen in ungeheure Höhen, und zwar mit solcher Wucht, daß es vorkam, daß die zitternden Schäfte in der Luft zerbrachen!
Das Wettschießen mit dem Bogen, dessen kunstgerechte Spannung eine gewaltige Kraftanstrengung erfordert, und nur in langjähriger Übung gelernt werden kann, wies vorzügliche Treffer auf. Die Schnellkraft der anderthalb Meter hohen Bogen betrug mehr als zweihundert Schritt.
Auch im Wettlauf wurde Großartiges geleistet.
Zum Abschluß der Festlichkeiten führte Schulze ein Grammophon vor, das einen gewaltigen Erfolg hatte.
Europäische Musikstücke erregten zwar keinerlei Interesse, um so mehr aber die Gespräche, von denen die Watussi natürlich kein Wort verstanden, an denen sie jedoch die größte Freude hatten.
Weibliche Singstimmen, namentlich in den höheren Lagen, lösten einen Sturm der Heiterkeit aus. Die Wanjaruanda boten dabei ein geradezu köstliches Schauspiel. Lachen gilt nämlich bei ihnen als unfein. Bei der Bemühung, es zu unterdrücken, verrenkten sie ihre Gesichtsmuskeln und verzerrten die Züge in komischster Weise; dann aber hielten sie die Hand vor den Mund und ein urwüchsiges, wieherndes Gelächter brach aus. Schnell nahmen sie sich wieder zusammen, um mit würdigem Ernste dreinzuschauen, bis wieder die krampfhafte Heiterkeit ihre Bemühungen zuschanden machte.
Msinga probierte nun sein Gewehr im Scheibenschießen auf einen Topf. Er traf ihn zwar nicht, was man bei diesem ersten Versuch auch nicht erwarten konnte, zeigte jedoch eine natürliche Schützenbegabung durch seinen tadellosen Anschlag; kein deutscher Infanterist hätte alle Bewegungen vollkommener ausführen können.
Als nun auf des Sultans Wunsch auch die Weißen ihre Schießkunst zeigten, erhob sich jubelnder Beifall bei den Zuschauern, angesichts der sicheren Treffer, die selbst die Damen aufwiesen. Nur Schulzes niefehlende Büchse traf eigensinnig vorbei.
Als der König vernahm, daß die Reisenden die Vulkane besuchen und besteigen wollten, bat er sie: »Zündet den Feuerberg wieder an, den eure Brüder gelöscht haben.«
Der feuerspeiende Ninagongo hatte nämlich seit unvordenklichen Zeiten den nächtlichen Himmel von Ruanda mit blutigem Scheine erleuchtet. Bis in ferne Länder sah man diesen seltsamen Glutschein, und Ruanda war wegen dieses Wunders berühmt, das ein besonderes Wahrzeichen des Landes bildete.
Es ging die Sage, daß die Verstorbenen sich an dem Feuer des Berges ihre Speisen bereiteten, und daß kein menschlicher Fuß den Gipfel des Feuerberges betreten könne.
Als daher Graf Götzen die Absicht kundtat, den Ninagongo zu besteigen, wurde er ernstlich gewarnt, und niemand glaubte, daß es ihm gelingen könne. Nun aber hatte er am 11. Juni 1894 tatsächlich den Gipfel erreicht. Er und seine Begleiter hatten als erste Sterbliche das Wagnis unternommen und es war ihnen geglückt. Lebend und heil waren sie wieder herabgestiegen. Dadurch wurde der Ruf von der Macht der weißen Männer ungemein gestärkt. Entsetzen aber erregte es geradezu, als seit dem Tage dieser ersten Besteigung der Glutschein des Berges erlosch und nicht wieder erschien.
Was Wunders, wenn die Watussi überzeugt waren, jene Weißen hätten das Geisterfeuer gelöscht.
Hochbefriedigt verabschiedete sich der Mami von den Fremden und entschwebte in der Sänfte, gefolgt von einem Wald von fünftausend Speeren. Ein unvergeßlicher Anblick!
Auffallend war es unseren Freunden, daß sie während ihres ganzen Aufenthalts in Ruanda auch nicht ein einziges Watussiweib zu Gesicht bekamen. Es hieß, der Sultan habe befohlen, daß kein weibliches Wesen seine Hütte verlasse, und in der strengen Befolgung dieses Befehls zeigte sich wieder die Größe seiner Macht.
Wahrscheinlich befürchtete der Herrscher, die berühmte Schönheit der Frauen des Landes könnte die Fremden veranlassen, eine Jagd auf Sklavinnen zu veranstalten!
Andern Tags ging die Reise zunächst nach Westen durch Wälder, denen mannshohe Adlerfarne einen prächtigen Schmuck verliehen.
Leider zeigte der Wald Spuren sinnloser Verwüstung; altersgraue Waldgreise fühlen sich bemüßigt, das bißchen Wald Ruandas vollends niederzubrennen, den Boden umzugraben und Erbsen zu pflanzen, worauf sie weiterziehen und die gleiche Verheerung an anderer Stelle fortsetzen, während die alten Erbsenfelder zwischen den verkohlten Baumstämmen von Farnkraut überwuchert werden. Diese unsinnig hausenden Waldgreise und Waldverwüster sind eine Geißel für das baumarme Land Ruanda.
Wo noch Wald stand, zeigten sich häufig schöne Ölbäume, namentlich Olea Hochstetteri. Diese Bäume stehen soweit auseinander, daß ihre Kronen einander nur selten berühren, daher die Bestände nicht mehr den Eindruck eines Waldes machen.
Von besonders interessanten Bäumen ließ sich Schulze durch Hendrik blühende Äste zur Bereicherung seiner botanischen Sammlung herabschießen. Anders war ihnen nicht beizukommen; mit zwei bis drei Kugeln aber holte der ausgezeichnete Schütze die Blütenbüschel mit größter Sicherheit herab.
Bald war der Oberlauf des Niawarongo erreicht. Dieser Quellfluß des Kagera floß hier nordwärts, um später in großem Bogen sich nach Südosten zu wenden.
Schulze drängte nun voran; es sollte in nördlicher Richtung marschiert werden, um so auf kürzestem Wege die Virungavulkane zu erreichen.
Obgleich Flitmore versichert hatte, er werde sich zu helfen wissen, so fürchteten unsere Freunde doch, der Mangel an Nahrungsmitteln möchte ihm und seiner kleinen Karawane verhängnisvoll geworden sein. Wenn sie nur noch zur rechten Zeit kamen, um ihn aus der Not zu retten! Hatten sie doch nunmehr Nahrungsmittel in Hülle und Fülle, namentlich eine großartige Ziegenherde, die sie der Freigebigkeit des großen Mami verdankten.
Sehr zustatten kam es der Karawane für die Beschleunigung ihres Marsches, daß sie nun aus dem Wald und von den Bergen herab in die freie Ebene kam.
Das Gebiet, das man jetzt durchwanderte, stand nicht mehr unter der strengsten Botmäßigkeit Msingas, obgleich es eigentlich noch zu Ruanda gehörte.
Uledi, der kleine Ziegenhirt, war stolz auf die große Herde, die er nun wieder unter sich hatte. Schulze dagegen hatte Böses im Sinne; er wollte die Lebensmittelvorräte möglichst sparen für den Fall der Not, denn das Land hier war wildarm und wenig angebaut. Er wollte sich daher vorzugsweise an Ziegenfleisch halten und wandte sich an Uledi mit den Worten: »Ich muß einige schöne, fette Ziegen auswählen, daß wir sie schlachten können. Laß einmal sehen! Die da, und die da fange einmal ein,« und er wies auf zwei stattliche Ziegen.
»Nichts da!« erwiderte der kleine Ziegenhirt unerschrocken. »Bwana, meine schönsten und kräftigsten Tiere lasse ich nicht schlachten; die geben die beste und reichlichste Milch.«
»Was!« rief Schulze, indem er eine drohende Miene aufsetzte, »du wagst, dich meinen Befehlen zu widersetzen? Bin ich nicht Herr der Karawane?«
»Ja, Bwana!« gab Uledi unentwegt zurück. »Aber der Häuptling der Ziegen bin ich. Ich kenne meine Tiere und werde selber auswählen, welche ich zum Schlachten opfern darf. Da sind einige fette, die wenig Milch geben und kaum mehr weitermarschieren können, von diesen will ich herausgeben, so viel ihr braucht, und so werde ich es auch fernerhin halten; was nicht mitkommt und mehr Fleisch als Milch gibt, wird geschlachtet, sonst kann ich zuletzt eine lahme Ziegenherde treiben, die keinen Wert hat.«
Schulze wunderte sich über die Klugheit und Festigkeit des kleinen Mannes, und da er ihm recht geben mußte, ließ er ihn fernerhin schalten und walten zum großen Vorteil der Verpflegung der Leute mit Milch und Fleisch.
Das vielgebrauchte Salz, das auch für die Unterhaltung der Ziegen wichtig war, wurde durch Auslaugen von Pflanzenasche gewonnen. Anderes Salz als Aschensalz gab es hierzulande nicht.
Bald sollte die Karawane merken, daß sie sich nicht mehr unter den friedliebenden Riesen von Ruanda befand, denn sie betrat das Gebiet eines räuberischen Negerstamms, der sich ihnen feindlich entgegenstellte.
Einige dieser frechen Leute kamen abends unter Speerschwingen und Drohungen ins Lager und stellten ganz unverschämte Forderungen: sämtliche Rinder und Ziegen, sowie die Hühner, dazu Perlen, Messingdraht und Zeuge sollten ihnen als Hongo für ihren mächtigen Häuptling ausgeliefert werden.
Mit solchem Ansinnen drangen sie in Schulzes Zelt, in dem sich auch Hendrik befand.
Letzterer entfernte sich und ließ einen Ballen öffnen, in dem, wie er wußte, sich einige Spieldosen befanden.
Unbemerkt stellte er drei der kleinen Instrumente in das Zelt des Professors und zog sie auf.
Schulze konnte sich der zudringlichen Neger, die sein Leben bedrohten, kaum mehr erwehren, als plötzlich die zarte Musik ertönte, erst an einer, dann an einer zweiten, endlich an einer dritten Stelle.
Verwundert schauten sich die Schwarzen um. Sie entdeckten wohl die kleinen Kästchen, aus denen die Töne kamen, aber wie konnten da drinnen Menschen stecken, die Musik machten?
Sie konnten sich nichts anderes denken, als daß da Geister hineingebannt seien, und fürchteten, der weiße Häuptling, der ein ganz gewaltiger Zauberer sein mußte, möchte den unheimlichen Spuk auf sie loslassen.
So verließen sie, vor Furcht zitternd, ganz kleinlaut das Zelt und das Lager, während Schulze sich halb krank lachte, daß der Spieldosenzauber die beute- und blutgierigen Feinde so rasch zu vertreiben vermochte.
»Das haben Sie gut gegeben, Hendrik,« sagte er. »An so etwas hätte ich gar nicht gedacht. Ja, Sie wissen es, wie man Wilde zähmt, das ist Ihnen ja schon bei der gefürchteten Zauberin von Ruanda so trefflich gelungen.«
Hendrik bat sich nun einiges Feuerwerk aus, da noch viele Feuerwerkskörper in den Lasten waren. Er fürchtete, die gierigen Räuber würden im Schutze der Nacht einen Angriff auf das Lager machen, und die Ereignisse gaben ihm recht.
Die Schwarzen kennen das lautlose, listige Anschleichen der Indianer im allgemeinen nicht: bei ihnen wird alles mit größtem Spektakel unternommen; sei es, daß sie durch möglichst großen Lärm die Feinde einzuschüchtern hoffen, sei es, daß das laute Wesen eben in ihrer Natur liegt, die sie nicht zu bändigen vermögen.
So kündete denn auch nach Einbruch der Dunkelheit ein vielstimmiges Gebrüll den bevorstehenden Angriff der Feinde an.
Nun entzündete Hendrik eine Anzahl Frösche und Schwärmer.
Als die Angreifer diese feurigen Teufel mit fürchterlichem Knallen auf sich zuspringen und zuzischen sahen, ergriffen sie sofort die Flucht unter schrecklichem Angstgeheul.
Als nun noch eine feuerspeiende Riesenschlange folgte, eine funkensprühende Rakete nämlich, die der junge Bure den Flüchtigen nachsandte und die das dürre Grasdach der nächsten Hütte in Brand setzte, da hatten die Wilden von dem höllischen Zauber der Weißen genug, und wagten sich nicht mehr aus ihrem Dorfe, bis die Karawane abgezogen war.
Die Steppe, die man nun durchwanderte, war von zahlreichen Elefanten belebt, doch kam es zu keinem Zusammentreffen mit den gewaltigen Dickhäutern.
Zwei Tage darauf hatten unsre Freunde einen Anblick, der nach all dem Überraschenden, das sie erlebt und geschaut hatten, ihnen doch das Wunderbarste schien, was ihnen bis jetzt vorgekommen war.
Von der Höhe eines Grashügels herab sahen sie auf eine ausgedehnte Stadt.
Diese bestand aber nicht aus den bekannten Negerhütten, sondern aus einstöckigen Häusern nach der Art, wie sie europäische Ansiedler in Afrika zu bauen pflegen.
Freilich waren es keine Steinbauten, sondern teils Blockhäuser, teils Lehmhäuser, aber große und freundliche Gebäude mit zahlreichen Fensteröffnungen und mit Veranden.
Jedes Haus stand in einem wohlgepflegten, sauber eingezäunten Garten, und breite Straßen zogen sich dazwischen hin und erstreckten sich weit hinaus in die üppigen Felder und Pflanzungen.
Rebhühner und Wachteln belebten die Felder; richtige Ölbäume bildeten lichte Wälder; Opuntien, Kaktus und prächtige Aloes säumten die Pfade; Quitten, Aprikosen, Pfirsiche und Johannisbrotbäume erinnerten an europäische Ansiedelungen; blühende Oleanderbäume verbreiteten weithin einen süßen, durchdringenden Wohlgeruch.
Niemals hätte sich Schulze oder einer seiner Begleiter träumen lassen, in diesen abgelegenen Wildnissen auf einen so üppigen Kulturgarten zu stoßen, und nun gar auf eine Stadt, nach der man durchaus auf eine zivilisierte Bevölkerung schließen mußte!
»Das ist ja eine Burenstadt!« rief Sannah, die anfangs sprachlos dagestanden war.
»Wahrhaftig! man glaubt, sich in Transvaal zu befinden,« bestätigte Hendrik.
Nun eilten die Weißen voran den Hügel hinunter, die Träger, Askaris, Weiber und Kinder ihnen nach.
Beim Näherkommen sahen sie, daß die Leute, die teils in den Feldern und Gärten tätig waren, teils über die Straße gingen, wahrhaftig Weiße waren.
Als sie den Talgrund erreicht hatten, kam ihnen ein Mann von etwa vierzig Jahren entgegen mit langem braunem Bart, ganz ein Bure.
In der Tat war es auch die Burensprache, in der er die Ankömmlinge begrüßte, und Hendrik und Sannah jubelten auf, als die Klänge ihrer Muttersprache ihr Ohr trafen.
»Wie kommt ihr hierher, weiße Fremdlinge?« fragte der Bure. »Nie hat ein Weißer dieses Tal betreten, seit unsre Väter sich hier niederließen, außer unsern Brüdern, die vor wenigen Jahren sich mit uns vereinigten.«
Sehr erfreut war der Mann, als sich ihm Hendrik und dessen Schwester als Stammesgenossen zu erkennen gaben. Hendrik klärte ihn auch kurz auf über Ausgangspunkt, Zweck und Ziel ihrer Reise.
Der Bure seinerseits befriedigte die Neugier unsrer Freunde durch folgenden Bericht: »Vor etwa sechzig Jahren haben unsere Väter, um den beständigen Bedrohungen durch die Engländer zu entgehen, einen großen Treck veranstaltet, mit dem zahlreiche Familien von Südafrika nordwärts nach den großen Seen zogen.«
»Über die Lokingaberge am Ostufer des Tanganjika entlang kamen sie in diese abgelegene, aber fruchtbare und wildreiche Niederung, die von meist sanften und friedliebenden Negerstämmen umgeben ist.«
»Keine bessere Gegend konnten sie sich wünschen; so haben sie hier eine Ansiedelung gegründet, die seither blüht und gedeiht.«
»Oh!« rief Hendrik aus. »Hier ist also der verschollene Treck, von dem kein Mensch mehr etwas gehört hat, seit er nach Norden zog? Wie oft hat mein Vater davon erzählt, wie manche Familie hat sich gesorgt um ihre Verwandten, die mit fortgezogen waren. Ist doch auch meines Großvaters Bruder bei ihnen gewesen.«
»Wie hieß dein Großvater?« fragte der Bure aufhorchend.
»Rijn,« antwortete der Jüngling. »Ich bin Hendrik Rijn.«
»So ist dein Vater Piet Rijn, mein Vetter?«
»Ja, so heißt mein Vater.«
»Gott sei gelobt, der mir meine lieben Verwandten zuführt! Ich habe deinen Vater zwar nie gekannt: ich bin erst hier geboren. Aber mein Vater hat mir oft erzählt von seinem älteren Bruder Paulus, der am Oranje zurückblieb und dessen Sohn Piet, der damals zwölf Jahre zählen mochte. Und ihr habt nie mehr etwas von uns erfahren? Das ist kein Wunder, denn wir leben hier zurückgezogen und glücklich und suchen keine Verbindung mit den fernen Weißen, von denen wir nur unbehelligt zu bleiben wünschen.«
»Spärliche Nachrichten sind wohl zu uns gelangt,« antwortete Hendrik; »denn wir haben fleißig nachgeforscht und uns erkundigt über den Verbleib des verlorenen Trecks. Die Eingeborenen am Tanganjika wußten zu erzählen, daß ein großer Zug weißer Leute mit Ochsenwagen durch ihre Länder gekommen sei; aber damit hörte die Spur auf. Cecil Rhodes sandte eine Expedition aus, um womöglich sichere Kunde zu erlangen, allein damals brach der unselige Krieg aus und die Expedition kam nicht weiter.«
»Ich erinnere mich,« fügte Schulze hinzu, »daß auch Stanley erfuhr, es hätten sich Weiße hier herum niedergelassen, doch konnte er zu seinem Bedauern nicht weiter nach ihnen forschen.«
»Sie sollen's nur bleiben lassen und uns Ruhe gönnen!« murmelte Klaas Rijn, denn das war der Name des Buren. »Aber du hast den letzten Krieg mitgemacht: wir haben schon Näheres darüber gehört, doch nicht aus dem Munde von Mitkämpfern, erzähle mir doch auch davon.«
»Ich selber war noch zu jung zum Mitkämpfen,« entgegnete Hendrik, »aber meine Brüder haben wacker mitgefochten und mein Vater natürlich.« Und nun erzählte er dem Onkel, wie er des Vaters Vetter nannte, allerlei Einzelheiten, oft ergänzt durch Sannahs Zwischenbemerkungen, und schloß mit dem Bedauern, daß alles vergossene Blut die Unterwerfung durch die Engländer nicht zu verhindern vermochte.
»Das ließ sich voraussehen!« sagte Klaas, »es wundert mich nur, daß unsre Freistaaten sich noch ein halbes Jahrhundert halten konnten, nachdem schon unsre Väter der drohenden Einverleibung entwichen sind.«
Während dieser Reden und Berichte hatten die Schwarzen auf einem freien Platz das Lager aufzuschlagen begonnen; Klaas Rijn aber lud die Weißen ein, ihm in die Stadt zu folgen und seine Gäste zu sein.
Mit Dank wurde die Einladung angenommen. Nur Leusohn blieb zurück, um die Karawane zu überwachen, die nötigen Anordnungen zu treffen und die Fürsorge zu üben. Morgen wollte dann Schulze ihn ablösen; denn daß sie mindestens zwei bis drei Tage hier blieben, waren sie schon Hendrik und Sannah schuldig; es reizte sie aber auch gar zu sehr, die merkwürdige Siedelung kennen zu lernen.
»Du hattest einen Bruder Frans?« fragte Rijn unterwegs.
»Ja!« sagte Hendrik, überrascht, woher dem Onkel diese Kenntnis komme. »Er ist aber im Kriege gefallen.«
»Nicht doch!« widersprach Klaas. »Er war zwar lebensgefährlich verwundet, ist aber von seiner Wunde genesen.«
»Wieso?« rief Sannah. »Wir hörten nur von seiner tödlichen Verwundung, und da wir nichts mehr über ihn erfuhren nahmen wir an, daß er ihr erlegen sei: was ließ sich auch andres denken? Was weißt du von ihm? Lebt er noch?«
»Nein! das wohl nicht,« war die bedauernde Antwort. »Als er nach langem Leiden genas, erfuhr er, daß sein Vater nach dem Muta Nsige gezogen sei und wanderte nordwärts.
»Er hoffte, sich einem Treck anschließen zu können, der kurze Zeit zuvor aufgebrochen war, und den er einzuholen gedachte. Aber dieser Treck wurde von feindlichen Eingeborenen im Sambesigebiet vollständig niedergemacht und es ist kein Zweifel, daß Frans sich unter den Opfern befand; denn zu uns gelangte er nie, und zu euch, wie es scheint, auch nicht.«
»Ach nein! Das ist schrecklich,« seufzte Sannah, die anfangs eine hoffnungsreichere Kunde erwartet hatte. »So müssen wir ihn also ferner als tot beweinen, wie bisher!«
»Woher aber habt Ihr all diese Nachrichten, Onkel, und wie seid Ihr überhaupt zur Kunde von dem Kriege gekommen?« fragte nun Hendrik wieder.
»Es hat nicht lange Zeit darauf ein zweiter Treck den gleichen Weg eingeschlagen und wurde auch von Wilden angegriffen. Er schlug sie aber glücklich ab, wenn auch mit Verlust seiner meisten waffenfähigen Männer. Die Überlebenden kamen dann bis zu uns, meist Greise, Frauen und Kinder. Von den Wilden, mit denen sie kämpften, erfuhren sie das Schicksal ihrer Brüder und Schwestern, denn die Schwarzen rühmten sich dieses Sieges.«
Inzwischen war Rijns Wohnung erreicht. Unterwegs hatten unsre Freunde die reichen Anpflanzungen und großen Herden, die üppigen Gärten und die zahlreichen Haustiere der Ansiedler bewundern können. Besonders entzückte sie auch der prächtige Blumenflor in den Ziergärten vor den schönen Häusern.
In dem weiträumigen, äußerst wohnlichen Hause Klaas Rijns führte sie dieser in das große, freundliche Wohngemach. Weiße Vorhänge schmückten die Fenster; denn die Burenfrauen wußten hier Gardinen zu häkeln und eine Glashütte war am sandigen Ufer eines nahen Sees eingerichtet. Blumenstöcke standen auf den Simsen und auf einem Tisch lag das »Buch« der Buren, eine ungeheure silberbeschlagene Bibel.
Zwei Damen fanden sich im Gemach, wohl in den Dreißigern, aber frisch, blühend und äußerst jugendlich aussehend. Sie waren umgeben von einer rosigen Kinderschar, nicht weniger als elf Kindern im Alter von zwei bis zehn Jahren.
»Hier bringe ich euch gute Freunde!« sagte der Bure; »Weiße, die soeben hier angekommen sind und dazu zwei liebe Verwandte, Hendrik und Sannah Rijn!«
»Entschuldigen Sie,« wandte er sich dann an die Gäste, »wenn ich Sie auf kurze Zeit meinen Damen allein überlasse; ich muß die freudige Nachricht meinem Freunde Mitteilen, der nicht weit ist; er würde es mir mit Recht verübeln, wenn ich ihm die Freudenkunde eine Minute zu lang vorenthielte.«
Damit entfernte er sich und ließ unsere Freunde in nicht geringer Verlegenheit zurück; denn Klaas Rijn hatte nicht daran gedacht, ihnen zu sagen, wer die beiden Damen seien, die er »seine Damen« nannte. Eine davon mußte jedenfalls seine Frau sein, aber doch nicht beide!
Die Kinder aber redeten sämtlich ohne Unterschied jede der beiden Damen als »Mama« an, als ob sie beiden gemeinsam gehörten.
»Wem gehören die hübschen Kinder?« fragte Schulze endlich.
Und wie aus einem Munde antworteten die beiden Frauen mit sichtlichem Stolz: »Oh, das sind unsre Kinder natürlich.«
Das klärte die Sachlage nicht.
Hendrik mußte lächeln; aber Sannah fragte geradeheraus: »Welche von euch ist denn wohl Klaas Rijns Frau, meine Tante?«
»Das bin ich,« sagte nun die eine der beiden. »Ich heiße Sara Rijn, und die Gattin unsres Freundes ist Wilhelmintje Pretorius.«
»Und welche Kinder gehören denn Ihnen?« fragte der Professor interessiert.
»Ach! sie gehören alle uns beiden,« lachte Tante Sara. »Eigentlich gehören sechs davon mir und fünf sind kleine Pretorius; aber wir machen da keinen Unterschied; wir leben und wohnen ja von Anfang an beieinander, haben gemeinsamen Haushalt und gemeinsames Eigentum, so gehören auch die Kinder uns beiden zusammen, wie sie auch alle uns beide Mutter nennen.«
»Das ist aber schön!« sagte Helene bewundernd und Schulze fragte weiter: »Das ist wohl ein einzigartiger Fall hier?«
»O nein!« sagte diesmal Frau Pretorius. »In den meisten Häusern wohnen zwei Familien beisammen: es ist viel unterhaltender und bequemer so.«
»Gibt es denn da nicht viel Streit und Verstimmung?« fragte wieder der Professor bedenklich.
»Wieso denn? Warum meinen Sie?« war die verwunderte Gegenfrage. »Im Gegenteil, man schließt sich so recht fröhlich aneinander an, man lebt wie Brüder und Schwestern.«
Schulze und Helene dachten im stillen, ob ein so patriarchalisches ungetrübtes Zusammenleben wohl in Europa möglich wäre, wo zwei Ehepaare gemeinsam leben und arbeiten ohne getrennte Haushaltung, ja ohne getrenntes Eigentum bis auf die Kinder hinaus? So ohne alle kleinlichen Eifersüchteleien, Streitigkeiten und Ärgernisse? Wahrhaftig, das erschien ihnen wunderbar!
Inzwischen war Klaas mit seinem Freunde Pretorius zurückgekehrt, und nun zogen sich beide Damen zurück, um gemeinsam das Mahl zu bereiten.
Pretorius hatte auch die herzlichste Freude an den Besuchern, die er natürlich auch als seine eigenen Gäste und lieben Verwandten betrachtete.
Vor dem Essen wurde ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen; dann genossen unsere Freunde ein Mahl, das ihnen nach den Entbehrungen der letzten Wochen wahrhaft fürstlich erschien und sie mitten in die Zivilisation versetzte.
Andern Tags kam fast die ganze Einwohnerschaft nach und nach, um die Weißen zu begrüßen und sich ihres Besuches zu freuen; es waren unter denen, die in neuerer Zeit aus Transvaal gekommen waren, auch einige, die Hendrik und Sannah von früher kannten, oder doch den alten Rijn vom Oranjehof. Da war die Freude doppelt groß.
Schulze begab sich ins Lager, damit nun Leusohn seinerseits die Gastfreundschaft der Buren genieße. Aber auch ins Lager hinaus kamen viele der Einwohner und brachten reiche Geschenke an Lebensmitteln, Früchten, Geflügel, ja Schweinen und Schafen mit und duldeten keine Zurückweisung.
Am wertvollsten für unsre Freunde war, daß sie hier wieder ihre beinahe erschöpften Munitionsvorräte reichlich erneuern konnten; denn die Buren wurden stets gut versorgt mit allem, was sie aus der Kulturwelt benötigten, teils durch Karawanen aus dem Kongostaat und Deutsch-Ostafrika, teils durch ihre eigenen Karawanen, die sie nach der Küste sendeten, um die Erzeugnisse ihrer Siedelung gegen Güter und Rohstoffe umzutauschen.
Am Saume eines Waldes lagerte Schulzes Karawane.
Es war noch früh am Tage, dennoch war schon ein ziemlicher Weg zurückgelegt worden; denn vor Tagesanbruch war man aus dem Burentale aufgebrochen, um sich den Virungavulkanen zuzuwenden.
Hendrik hatte sein Zelt, das er allein bewohnte, zunächst am Waldrand aufgeschlagen und ruhte im Schatten, einen Nashornvogel beobachtend.
Er wunderte sich über das mächtige Rauschen des Gefieders des großschnäbeligen Vogels, der seinen Namen dem Höckergebilde über dem Schnabel verdankt.
Auf einmal zeigte der Vogel eine lebhafte Unruhe, dann flog er in den Wald hinein und es erhob sich ein Geschrei und Gekreisch der verschiedensten Vogelstimmen. Es war ein ganzer Aufruhr im Walde entstanden, den sich Hendrik nicht zu erklären wußte.
Da trat der Araber Achmed, der Führer der Askaris, herzu.
»Es ist ein Leopard in der Nähe,« sagte er. »Sobald der Nashornvogel den Räuber entdeckt, warnt er sämtliche Vögel des Waldes und stört sie auf. Dann folgen die Vögel dem Feinde auf Schritt und Tritt, einige stoßen wohl auch herab, ihm Schnabelhiebe zu versetzen; denn der Leopard ist der Feind aller Tiere, Vögel und Menschen. Gewandt und heimtückisch, auf den Bäumen, in den Felsen, auf dem ebenen Boden, überall ist er gleich gefährlich, und es ist gut, daß man solche Warner hat.«
Ganze Scharen von Vögeln flogen nun herbei und ließen sich auf einer Baumgruppe nieder.
»Dort lauert das Raubtier, das ist gewiß!« sagte Achmed wieder.
Hendrik wollte sich dem Gebüsch nahen, um den Unhold aufzuspüren und womöglich zu erlegen. Der Araber warnte ihn jedoch ernstlich: »Er sieht dich, ehe du ihn erblickst, und du bist verloren.«
»Er wird sich doch scheuen, einen Menschen anzugreifen,« ertönte Helenes Stimme; denn der auffallende Aufruhr in der Vogelwelt hatte ihre Neugier erregt, so daß sie herbeigeeilt war.
»Das nicht,« entgegnete der junge Bure. »Der Leopard ist von einer unglaublichen Frechheit und keinem andern Raubtier in Afrika fallen so viele Menschenleben zum Opfer. Ich will ihn doch lieber in Ruhe lassen, da er hier, am Waldrand verborgen, einen zu großen Vorteil über mich hat.«
Das Lager wurde inzwischen mit dem üblichen Dornenschutzwall umgeben und nach eingenommenem Mahl begab sich heute frühzeitig alles zur Ruhe, um morgen wieder vor Tagesanbruch aufbrechen zu können; denn am übernächsten Tage sollte die Vulkankette unter allen Umständen erreicht werden.
In der Nacht wachte Hendrik auf mit einem seltsamen Gefühl der Beklemmung.
Da sah er vom Eingang seines Zeltes her zwei glühende Augen auf sich gerichtet.
Das mußte der Leopard sein, der, vielleicht von einem Baum aus, die hohe Dornhecke übersprungen hatte, reichte diese doch hier bis dicht an den Wald heran.
Der Jüngling wußte nicht, was tun. Eine rasche Bewegung konnte ihm verhängnisvoll werden. Er starrte wie gebannt in die unheimlichen Lichter.
Inzwischen näherte sich das Tier lautlos; etwas mußte geschehen, sonst war Hendrik verloren.
In diesem Augenblick flog durch den Zelteingang ein großes Packtuch über das Raubtier, das durch den geschickten Wurf ganz bedeckt wurde.
Der Leopard schlug wütend seine Krallen in die gepichte Leinwand, aber eben dadurch erschwerte er sich die Befreiung, denn nun hielt er die Hülle, aus der er die Krallen nicht so leicht wieder herausbrachte, über seinem Kopf fest.
Jetzt wendete er sich und verwickelte sich dadurch noch mehr.
Unterdessen war Hendrik nicht müßig geblieben; er war sofort aufgesprungen, hatte sein Gewehr ergriffen und schickte nun eine Kugel in die Umhüllung hinein.
Das verwundete Raubtier knurrte wütend; doch offenbar war es durch den sonderbaren Überfall erschreckt, und als es sich im nächsten Augenblick frei machen konnte, entfloh es mit weiten Sätzen.
Hendrik stürzte ihm nach.
Der Leopard setzte an, die Umzäunung zu überspringen, doch von unten her gelang ihm das nicht, zumal Hendriks Kugel ihm im Hinterschenkel saß. Er kollerte hinab, mit den Vorderpranken Dornzweige mit sich reißend.
Nun erhielt er eine zweite Kugel in den Kopf; allein auch dieser Schuß war nicht unmittelbar tödlich. Noch einmal sprang das verwundete Tier auf, und nun wäre es endgültig um Hendrik geschehen gewesen.
Da aber bohrte sich ein schwirrender Pfeil in des Räubers Auge, so daß dieser lautlos zu Boden sank; die Pfeilspitze war ins Gehirn gedrungen.
Hendrik sah sich um und erkannte Tipekitanga als seine Retterin.
Die Zwergin, die nunmehr fließend Suaheli sprach, berichtete ihm, sie habe im Zelte ihrer weißen Herrinnen, das Hendriks Zelt am nächsten stand, wach gelegen, als sie das Niederplumpen des Leoparden gehört habe.
Vorsichtig blickte sie zur Zeltöffnung hinaus und sah das Raubtier nach Hendriks Schlafstätte schleichen. Sie griff nach Bogen und Pfeil, die sie stets mit sich führte; denn sie war waffengeübt wie irgend ein Mann unter den Wambutti.
Sie wagte aber weder Lärm zu machen, noch von hinten auf den Leoparden zu schießen, da sie ihn auf diese Weise bloß verwundet und gereizt hätte.
Da sah sie die Packleinwand eines geöffneten Warenballens daliegen, und rasch entschlossen erfaßte sie dieselbe und warf sie dem Tier über den Kopf, ein Wurf, den nur eine so kleine Person wie sie durch den niederen Zelteingang so glücklich ausführen konnte.
Dann wartete sie, beiseite stehend, ab, um im Notfall mit einem Pfeilschuß eingreifen zu können, wie es ihr nun auch geglückt war.
Lebhaft dankte Hendrik seiner mutigen kleinen Lebensretterin und lobte ihre Unerschrockenheit und Gewandtheit, was sie sichtlich freute.
Natürlich machte er die Heldentat allgemein bekannt, als jetzt Leben in das Lager kam, und besonders die Schwarzen staunten nun die Zwergprinzessin als Leopardenbesiegerin an, während sie bisher ziemlich geringschätzig auf das kleine Wesen herabgesehen hatten, obgleich Hassan und Hamissi viel von ihren früheren Heldentaten erzählt hatten.
Aus der Leopardenhaut wurde im Laufe der nächsten Tage ein fürstlicher Mantel für die »große« Jägerin hergestellt, den sie fortan gelegentlich mit berechtigtem Stolze trug.
Die Negerstämme, die auf der Reise angetroffen wurden, zeigten sich bis auf die eine Ausnahme, von der wir geredet haben, sanft und friedliebend, und Leusohn sprach seine Verwunderung darüber aus, daß unmittelbar neben wilden und kriegerischen Stämmen so harmlose Leute wohnten, während er früher geglaubt hatte, alle Neger müßten von Natur wild und grausam sein.
»Unsinn!« sagte Schulze. »Der Charakter ist bei den Negervölkern so verschieden wie bei den Weißen. Stanley hat auf seiner Kongofahrt die blutigsten Überfälle erleiden müssen und viel zu kämpfen gehabt, zwischenhinein traf er aber allemal wieder auf ganz zahme Stämme mitten unter Wilden; überdies ist anzunehmen, daß er an dem feindseligen Verhalten vieler Dorfbewohner selber schuld war, daß er sie in seiner Rücksichtslosigkeit reizte oder besorgt machte, denn andre Reisende kamen viel unbehelligter durch die gleichen Gegenden.«
Nachmittags wurde der Mkungwa- oder Mkungafluß erreicht, dessen prächtige Wasserfälle das Entzücken unsrer Freunde erregten.
Dann ging es am Ufer des Luhondosees dahin, in den der Mkunga mündet.
Dieser reizende See, dessen Ufer dicht bevölkert sind, war von bebauten Ackerfeldern und Bananenhainen umsäumt.
Hoch ragte vor der Karawane der Vulkan Muhawura, auf den sie, stets nach Norden wandernd, zuschritt.
Jetzt kam der Bolerosee in Sicht, der weit größer ist als der Luhondo und ziemlich höher liegt als dieser, mit dem er sich durch einen herrlichen, weißschäumenden Wasserfall vereinigt.
An den Ufern des idyllischen Bolero wurde die Nacht verbracht, dann ging es zwischen dem Muhawura und dem Seeufer weiter, bis die Nordseite der Vulkankette erreicht war; denn hier sollte man nach der Übereinkunft mit Lord Flitmore zusammentreffen.
Gegen Mittag sah man von ferne ein Negerdorf an einem Flußlauf liegen. Es wurde nach kurzer Mittagsrast scharf ausgeschritten, um das Dorf frühzeitig zu erreichen, und wenn die Neger sich so zugänglich zeigten wie bisher, Lebensmittel einzutauschen.
Als das Flußufer nach dreistündigem Marsche erreicht war, sah man ein Kanu, mit Lebensmitteln und Geflügel beladen, den Strom hinabfahren. Nur ein Weib und ein Knabe saßen darin, und als die Karawane sich anschickte, den anderthalb Meter tiefen Fluß zu durchwaten, zeigten die Insassen des Bootes alle Anzeichen der Furcht und ruderten so schnell sie konnten.
Schulze, Leusohn und Hendrik winkten ihnen jedoch beruhigend zu, und riefen in der Sprache der Eingeborenen: »Friede, Friede!« Denn die nötigsten Ausdrücke der in dieser Gegend üblichen Mundarten hatten sie bereits aufgefaßt.
Am anderen Ufer hatte man noch eine Stunde bis zu dem auf einem Hügel hart am Flußufer liegenden Dorfe zu wandern.
Als nun das Lager einige hundert Schritte vom Dorfe entfernt errichtet wurde, kamen die Einwohner friedlich und ohne Waffen heraus und boten freiwillig reiche Vorräte an Lebensmitteln zum Kaufe an.
Zunächst freilich betrachteten sie die Weißen mit großer Neugier und lebhaften Ausrufen des Erstaunens; denn noch niemals hatten sie Menschen von dieser Farbe zu Gesicht bekommen.
Besonders Schulze umringten sie und riefen an einem fort: »Wo kommt der Mann her, der nicht von unserer Art ist, der mit seinem Ziegenhaar nicht gleicht den Bewohnern der Erde.«
Das glatte Haar der Europäer erschien diesen Wollhaarigen gleich Ziegenhaar.
Oder hieß es: »Sind diese vom Himmel gefallen, sind sie Bewohner des weißen Mondes? Hat je zuvor einer ihresgleichen geschaut?«
Als nun gar Schulze seine Brille abnahm, kannte ihre Verblüffung keine Grenzen. »Schau, schau!« rief einer dem anderen zu, »er kann seine Augen abnehmen und hat darunter zwei andere Augen, was ist das für ein Zauber?!«
Hendrik wandte sich an den Häuptling des Dorfes: »Habt ihr denn keine Angst vor uns, wenn ihr doch zum erstenmal Weiße seht?«
»O Herr,« sagte der Häuptling mit pfiffigem Grinsen. »Wir sahen euren Zug von fernher kommen. Da haben wir ein Kanu voll Lebensmittel den Fluß hinaufgerudert und eine Frau und einen Knaben hineingesetzt. Dann sind wir nach Hause und haben alles beobachtet.
»Als ihr dem Fluß nahe kamt, mußten die Frau und der Knabe das Kanu flußab rudern, als ob sie von weiter oben kämen. Wäret ihr schlecht gewesen, so hättet ihr die Lebensmittel geraubt. Dann hätten wir die Kriegstrommel gerührt und hätten euch überfallen.
»Aber ihr seid gut: ihr habt den Schwarzen kein Leid getan, sondern gerufen: ›Friede, Friede!‹ darum haben wir Vertrauen zu euch: seht, wir sind ohne Waffen gekommen.«
»Das ist einmal ein Malefizkerl, dieser olle Dorfschulz,« rief Leusohn lachend. »Aber da sieht man's, daß friedliche Bürger auch unter den Wilden am besten durchkommen!«
In diesem Augenblick kam ein Askari dahergeschwankt und erzählte folgendes: »Ich hatte unterwegs einen Fieberanfall und blieb deshalb zurück, weil mir das Gehen in der Hitze beschwerlich wurde. Niemand bemerkte es. Da überkam mich eine Ohnmacht und ich fiel hin und lag ohne Besinnung. Einmal kehrte mir das Bewußtsein wieder, und ohne meine schweren Augenlider sichtbar zu heben, sah ich einen Neger, der mit einem Speer bewaffnet war und mich aufmerksam betrachtete.
»Dann ging der Mann weg und ich verfiel wieder in Bewußtlosigkeit.
»Auf einmal fühlte ich mich aufgerichtet. Der Schwarze, den ich vorhin erblickt hatte, kniete am Boden und flößte meinen schmachtenden Lippen Milch ein aus einer Kalebasse.
»Er sagte, er habe mich ohnmächtig gesehen und sei zu seinem eine halbe Stunde entfernten Dorfe geeilt, um mir einen kräftigenden Trunk zu holen. Dann begleitete er mich bis hierher und kehrte wieder um in sein Dorf. Ich wollte ihm mein Messingarmband geben, aber er nahm durchaus nichts an.«
»Man sollte glauben, dieser Wilde habe die Geschichte vom barmherzigen Samariter gelesen!« rief Sannah aus, als der Askari geendet hatte.
»Ja, ich fange an zu glauben,« sagte Leusohn, »daß diese Neger viel mehr Gemüt und Edelsinn haben, als ein oberflächlicher Beurteiler ahnt.«
Am nächsten Tage sahen die Wanderer die übrigen Vulkane der Kette gegen Westen hin vor sich; sie hatten heute die Tarnkappe gelüftet, die sie für gewöhnlich den Blicken entzog, und waren wolken- und nebelfrei.
Hier hausten Zwergvölker, etwas größer als die Wambutti, aber völlig verschieden von diesen durch ihre vollkommen friedliche Natur.
»Wie kommt es wohl, daß diese Zwerge so friedlich sind, obgleich sie nicht kräftiger erscheinen als die kriegerischen Ewe, die sich um ihrer Schwäche willen, wie man sagt, durch List und Grausamkeit schützen müssen?« fragte der Doktor.
»Obgleich ich nicht verpflichtet bin, eine Antwort auf diese unbescheidene Frage zu wissen,« erwiderte der Professor, »glaube ich Ihnen doch den Schlüssel des Rätsels geben zu können: die Ewe oder Wambutti nähren sich von der Jagd, an und für sich schon ein kriegerisches Geschäft, und sind demgemäß Fleischfresser, ja, wie man sagt, Kannibalen, und Fleischgenuß erregt tierische Leidenschaften, wenn man sie nicht zu bändigen versteht, wie wir Europäer.
»Die Zwerge hier aber sind Pflanzenesser und nähren sich im übrigen von Milch und Honig, höchstens noch von Fischen, was aber bekanntlich kein Fleisch, sondern eine Fastenspeise ist; daher sind sie so sanft und friedlich wie die Riesen von Ruanda, die die gleiche Kost genießen.«
»Das läßt sich hören,« stimmte Leusohn zu. »Sage mir, was du ißt, so sage ich dir, was du bist!«
Helene aber machte einen Einwand: »Ich will nicht bestreiten, was die gelehrten Herren ja besser wissen müssen, daß die Ernährungsweise einen Einfluß auf Charakter und Sitten haben kann; doch glaube ich, die ausschlaggebenden Gründe für die Friedlichkeit dieser Zwerge liegen doch anderswo.«
»Und wo, bitte! weises Fräulein?« fragte Schulze ziemlich spöttisch.
»Nun, ich denke, wenn diese Zwerge von Feinden umgeben wären, wie die Wambutti, dann müßten sie notgedrungen kriegerisch, argwöhnisch und aus Notwehr hinterlistig sein, ob sie nun gerade Fleisch essen oder Honig. Harmlos und friedfertig aber sind sie deshalb, weil sie von friedliebenden Stämmen umgeben sind.«
»Brava!« rief Schulze. »Ich bin geschlagen: ich gestehe es, Ihre Begründung leuchtet mir ganz kolossal ein, obgleich ich ihr mit großem Vorurteil entgegen kam, ehe ich sie gehört hatte.«
Auf einmal sahen unsre Freunde eine kleine Karawane, die ihnen entgegenkam.
»Hurra! Flitmore!« rief Hendrik freudig aus.
Er war es in der Tat, der mit seinen Leuten einherzog.
Nigger, der Dachshund, watschelte laut bellend voraus und hüpfte in freudigem Erkennen an Hamissi hinauf, der ihn ebenfalls hocherfreut streichelte und sofort wieder in seine Pflege übernahm.
Inzwischen wurde der Lord und auch sein Diener Johann nicht minder freudig und herzlich von den Weißen begrüßt, während Askaris und Träger ihre Freunde bewillkommneten.
Flitmore berichtete, daß er seinen Zweck erreicht und festgestellt habe, daß ein Quellfluß des Rutschurru, zwischen den Vulkanen durchfließend, in früheren Zeiten einen Abfluß des großen Kiwusees gebildet haben müsse, ehe ein vulkanischer Ausbruch eine kleine Wasserscheide zwischen dem Kiwu und Albert-Edward aufrichtete. Ein größerer südlicher Zufluß des Kiwu wäre daher jedenfalls als eine frühere Hauptquelle des Nils anzusprechen. Daß die Virungavulkane, wie Stuhlmann meine, das Mondgebirge der Alten seien, davon könne seiner Ansicht nach keine Rede sein.
»Und haben Sie keine Hungersnot gelitten?« fragte der Professor besorgt.
»Nein!« sagte der Lord lächelnd, »das wäre gegen meine Grundsätze.«
»Prächtige Grundsätze,« lachte Schulze. »Leider hatten wir sie nicht; sie hätten uns jedenfalls auch wenig helfen können.«
Von den Zwergen erfuhren die Forschungsreisenden die Namen der acht Virungavulkane, die sie nunmehr genauer erforschen wollten. Sie bilden drei Gruppen: die östlichste besteht aus dem Muhawura, dem Mgahinga und dem Sabinjo. Südwestlich davon befindet sich die Mittelgruppe mit dem Wissoke, Karissimbi und Mikeno. Die Vulkane dieser beiden Gruppen können als erloschen gelten. Die Westgruppe besteht aus dem Ninagongo, der vor kurzem noch in Tätigkeit war und jederzeit wieder ausbrechen kann, und dem zur Zeit tätigen Namlagira, nordwestlich vom Ninagongo.
Der Professor erwähnte, daß Stuhlmann, der freilich die Kette nur von fern sah und ihr, wie alle früheren Reisenden, den Gesamtnamen »Mfumbiro« beilegte, auf seiner Karte nur vier Berge verzeichnet, die er folgendermaßen benennt, nachdem er die Namen von den nördlicher wohnenden Eingeborenen erkundet hatte: Mfumbiro oder Virungo, Nahango, Kisigali und Virungo-nya-gongo. Den Kisigali schätzt er auf viertausend Meter und den Virungo-nya-gongo bezeichnet er als tätig.
»Man sieht hieraus,« sagte Schulze, »wie schon ein wenig weiter nördlich die Namen in Verwirrung geraten. Der Name Virungo, statt Virunga, der die ganze Kette bezeichnet, tritt dort beim ersten und letzten der Kegel auf; aus dem Anhängsel des letzteren ›nya-gongo‹ läßt sich unschwer der Ninagongo erkennen; doch ist dies erst der vorletzte und ein zurzeit nicht tätiger Vulkan.«
Die Zwerge berichteten, seit etwa zehn Jahren seien die Vulkane erloschen bis auf den letzten, der noch in Tätigkeit war.
»Das fasse ich so auf,« sagte Schulze: »Zu Zeiten brauchten die unterirdischen Lavamassen acht Kamine, heutzutage genügt ihnen eines zum Ausbruch, zuweilen zwei; die sechs andern sind nun durch erkaltete und verhärtete Lava verstopft. Kommt wieder ein Zeitraum stärkerer Tätigkeit, so werden sie schon wieder ausgesprengt werden, wenn sich die Lava nicht anderswo einen leichteren Ausweg sucht und einen neunten Vulkan entstehen läßt.«
»Wo, wie hier, die vulkanische Tätigkeit noch in vollem Gange ist, kann man eigentlich, meines Erachtens, von erloschenen Vulkanen nicht reden, sondern bloß von vorerst untätigen.«
»Eine andre Möglichkeit,« wandte Lord Flitmore ein, »wäre folgende: In dem Maße wie einzelne Kamine sich verstopften, hat sich die vulkanische Glut neue Auswege geschaffen und damit neue Vulkankegel gebildet; auch mag sich mit der Zeit der Schwerpunkt der vulkanischen Tätigkeit im Erdinnern von Osten nach Westen verschoben haben. Übrigens ist nach meinen Beobachtungen der östlichste Kegel, der Muhawura, durchaus nicht derjenige, der seine Tätigkeit am frühesten einstellte; vielmehr weist der Grad der Verwitterung nebst andern geologischen Merkmalen darauf hin, daß der Sabinjo und der Mikeno am längsten keinen Ausbruch mehr hatten.«
»Die ganze Vulkangruppe scheint verhältnismäßig jung zu sein und erst ihre Entstehung trennte den Kiwusee vom Albert-Edward; ist doch das ganze Zwischengebiet unverkennbar alter Seeboden. Diese Erhebung des Erdbodens beim Kiwusee mag auch veranlaßt haben, daß der Russissi aus einem Abfluß des Tanganjika in den Kiwu in einen Zufluß aus diesem in jenen verwandelt wurde.«
Heute sah man die ganze Vulkankette deutlich vor Augen; kühn reckten die massigen Berge ihre finstern Riesenleiber in den blauen Himmel hinein und ihre höchsten Häupter erglänzten in blendendem Neuschnee.
Am Fuße des Muhawura wurde ein Lager errichtet und der Lord nebst Schulze unternahmen den Aufstieg in Begleitung von drei Trägern.
Mühsam war der Marsch über die erstarrte zackige Lava, welche weithin den Boden bedeckte. Überall, wo dieser vulkanische Boden in völlige Verwitterung übergegangen war, bildete er dagegen ungemein fruchtbares Land, das von den Eingeborenen fleißig ausgenützt wurde.
Der Professor erkannte bei der Besteigung des Vulkans, daß er noch nicht lange erloschen sein konnte, da er verhältnismäßig junge Lavaergüsse auf der Ost- und Nordostseite aufwies; hier wuchs auch kein Baum, sondern nur ein Gewirr von Krautmassen und hie und da junges Bambusrohr.
Die Stellen jedoch, welche von den jüngsten Lavaergüssen verschont geblieben waren, zeigten sich mit einem wahren Urwald von Senecio Johnstonii bewachsen; diese merkwürdigen Bäume standen so dicht, daß man sich nur mit Mühe durcharbeiten konnte und häufig bis zur Brust in überwachsene Spalten und Löcher einsank, zumal ein Wirrsal durcheinandergestürzter Stämme voll triefender Moospolster den Weg versperrte.
So kamen die Bergsteiger erst am dritten Tage zurück, ohne den viertausendeinhundertfünfundsechzig Meter hohen Gipfel dieses dritthöchsten der Virungavulkane ganz erreicht zu haben.
Als der Professor über seine Beobachtungen berichtete, meinte Lord Flitmore: »Ich sagte es ja! Der Muhawura hat noch in neuerer Zeit seine Ausbrüche gehabt, heißt doch gerade die Landschaft nordöstlich von ihm bezeichnenderweise ›Usfimbiro‹ oder ›Msumbiro‹, das heißt ›die Rauchende‹.«
Die Karawane zog nun durch die prachtvollen Laubwälder an den Hängen des Mgahinga dahin, deren lang herabhängende Schlinggewächse sich im Urbusch verloren, der den Boden bedeckte.
Diese Wälder waren reich an Bergelefanten, die sich überhaupt in der Vulkangegend, zumeist auf den Höhen, fanden.
Der Sabinjo, um den alsdann herumgeschwenkt wurde, war ein kuppelartiger, kraterloser Lavaberg: er bestand aus einem einzigen gewaltigen Lavaerguß, der den Krater, aus dem er hervorgegangen war, bedeckte.
Flitmore erwähnte, daß hier Gorillas hausen sollten; der Professor wollte jedoch nicht an das Vorhandensein dieses schrecklichsten aller Affen, ja vielleicht gefährlichsten aller Tiere überhaupt, glauben. Erst später am Tanganjika sollte er durch eine unheimliche Begegnung zur Überzeugung gebracht werden, daß auch Mittelafrika den echten Gorilla beherbergt.
Auf dem Marsche nach Südwesten, der nunmehr erfolgte, wurde abends der Fuß des Wissoke erreicht.
Hier hausten wieder Batwazwerge, die sich jedoch im Walde verborgen hielten und nur mit größter Mühe zur Annäherung bewogen werden konnten.
Hendrik gelang es endlich, vom Häuptling Sebulose zwei Führer zu erhalten, die ihn auf eine Elefantenjagd begleiteten.
Die Gewandtheit und Schnelligkeit, mit der die Batwa sich durch das Dickicht und Lianengewirr wanden, setzte den Buren in Erstaunen. Der Schurz aus Rindenstoff, mit dem sie bekleidet waren, bot freilich den Dornen keinen Angriffspunkt, und ihre Haut schien sich auch nichts aus dem scharfen Gedörn zu machen, während Hendrik mit seinen Kleidern überall hängen blieb.
Der Rindenstoff, aus dem sich die Neger vielfach Lendenschürze und Kleidungsstücke bereiten, sitzt bei einem Dutzend Arten von Feigenbäumen zwischen Holz und Rinde. Man schält den Baum gewöhnlich in acht bis zehn Meter Länge und einem Meter Breite ab und wickelt dann Bananenblätter, Tücher oder alten Rindenstoff um den geschälten Stamm, bis dieser neuen Bast bildet. Die Feigenbäume lassen sich auf die einfachste Weise vermehren: man braucht nur in der Regenzeit einen armstarken Ast in den Boden zu stecken, so schlägt er Wurzel und wächst zu einem neuen Baum heran.
Der Bast besteht aus kreuzweise ineinander verflochtenen und verfilzten Fasern, die in der Längsrichtung sehr fest, in der Querrichtung aber elastisch sind; je weicher und schmiegsamer, desto wertvoller ist der Stoff. In Europa wird er hauptsächlich zu Kunstleder, Stofftapeten und Polsterbezügen verarbeitet. Seine Farbe ist hellbraun bis weiß, doch wird er von den Negern mittels des Saftes der Fikusbäume selber meist braun gefärbt; er liefert ihnen unübertreffliche Bekleidungsstücke.
Als Hendrik, von den Dornen zerfetzt, den Wald verließ, um besser vorwärts zu kommen, erklärten die kleinen Führer, ihm hierhinaus nicht folgen zu können und verschwanden im Busch.
Der Bure gab für diesmal die Elefantenjagd auf und übergab seine übelzugerichteten Kleider seiner Schwester Sannah zum Ausbessern.
Schulze nahm an einigen Batwa Körpermessungen vor; sie mußten aber mit Gewalt dazu herbeigeschleppt werden und zitterten, als ob es zur Schlachtbank ginge. Wirklich glaubten die abergläubischen Geschöpfe nicht anders, als dieser schreckliche Zauber müsse sie das Leben kosten.
Sie brachten hernach ihrer Gottheit wochenlang Opfer dar, um die schrecklichen Folgen des Zaubers abzuwenden.
Neben Elefanten beherbergte das Vulkangebiet namentlich Meerkatzen, unter denen der schön rot und graugrün gefärbte Cercopithekus Kandti am häufigsten vorkam. Außer diesen Affen bekamen unsre Freunde noch zwei Leopardenarten zu sehen und eine ganz neue Art des Buschbocks, sowie auch Wildkatzen und Löwen.
Vom Wissoke wandte sich die Reisegesellschaft dem benachbarten Mikeno zu, den die ganze Karawane bis zu einer Höhe von dreitausend Metern erstieg.
Vom Lager aus, das hier oben errichtet wurde, hatte man eine prächtige Aussicht auf den schönen Gipfel des Ninagongo, der sich über ein wogendes Wolkenmeer emporhob. Die untergehende Sonne tauchte den Tropenhimmel in die wunderbarsten Farbentöne: man glaubte ein Nordlicht zu sehen. Und von diesem leuchtenden Himmel zeichneten sich die Umrisse des rauchenden Gipfels ab, ein märchenschönes Bild!
Die Nacht war eisig kalt und dichte Nebelschwaden wehten gespenstisch über das Lager.
Am frühen Morgen machte sich Schulze mit Leusohn, Hendrik und Helene auf, um den Gipfel vollends zu ersteigen.
Der Bambuswald, der bis zum Lagerplatz reichte, hörte auf und hochgewachsene, knorrige Erikabäume, von deren dicht verzweigten Ästen Bartflechten herabhingen, erhoben sich bis zu fünf Meter Höhe.
Auf dem nassen Moosteppich des Abhangs geriet man alle Augenblicke ins Gleiten und rutschte oft wieder hinab, bis man sich an einer Erika festhalten konnte; dann wurde die Böschung stellenweise so steil, daß man sie nur mit Hilfe der Hände erklettern konnte.
Senecio Johnstonii, Lobelien und Strohblumen schmückten die Hänge des Gipfels und vierhundert Meter unter demselben eröffnete sich eine entzückende Aussicht auf den Kiwusee.
Der letzte Aufstieg war äußerst beschwerlich: man glitt auf dem Moose aus, und wollte man sich an einer Seneciostaude halten, so wurde diese entwurzelt. Schluchten mit eiskalten Bächen galt es zu durchklettern und schließlich kam hartgefrorener Schnee.
Und all diese Anstrengungen wurden erst nicht gekrönt, denn plötzlich boten schroff ansteigende Felswände dem weiteren Vordringen halt und nötigten zur Umkehr, ohne daß der höchste Gipfel hätte erreicht werden können.
Erschöpft langten unsre Freunde im Lager an, um andern Tags mit der ganzen Karawane auf dem Südhang des Mikeno den Abstieg zu unternehmen, dem Karissimbi zu, dessen gewaltige Masse vor ihnen zum Himmel aufragte.
Der viertausendfünfhundert Meter hohe Vulkan mit seinem Schneegipfel ist der höchste von den acht Virungabergen und wohl einer der gewaltigsten Vulkane der Erde überhaupt.
Am Aufstieg auf diesen Riesen wollten alle Weißen teilnehmen: zwanzig Träger und fünf Askaris sollten sie begleiten, darunter der starke Juku, der Sulu Parker, Hassan und Hamissi. Auch Amina und Tipekitanga beteiligten sich selbstverständlich an der Unternehmung, als treue Begleiterinnen ihrer Herrinnen.
Der größere Teil der Karawane sollte unterdessen unter Achmeds Führung ein Lager zwischen dem Karissimbi und dem Ninagongo beziehen.
Am ersten Tage des Aufstiegs durchschritten unsre Freunde den großen Bambusurwald, der den Karissimbi bis zu einer Höhe von dreitausend Metern bedeckt.
Das Fremdartige dieses eigentümlichen Waldes, das auf den Neuling einen ganz besonderen Reiz ausübt, ließ die Wanderer anfangs die Beschwerlichkeiten des Marsches kaum merken: bis zu siebzehn Meter Höhe treibt das Riesenrohr seine armsdicken Halme empor. Außer kleinen Farnen, einer Brennesselart und sonstigem krautartigen Niederwuchs wächst nichts auf dem tiefschwarzen Humusboden.
Die Bambushalme sind von der Wurzel an mit langen, lanzettförmigen Blättern bewachsen, die an der Krone so dicht stehen, daß kaum ein Sonnenstrahl hindurch dringen kann. So bleibt der Boden feucht und schlüpfrig, und es ist schwierig, darauf vorwärts zu kommen.
Das einförmige Bambusgehölz wurde bald allen so langweilig, daß sie aufatmeten, als sie gegen Abend sein Ende erreicht hatten.
Sie traten hinaus in einen lichten Wald, der seinesgleichen vielleicht nirgends anders hat, und auf die staunenden Bergsteiger einen ganz seltsamen Eindruck machte.
Dieser Wald bestand aus uralten Hagenien mit Stämmen von vier bis sechs Meter Umfang, Felsblöcken gleich, die in geringer Höhe weitausladende Riesenäste ausstreckten. Diese waren mit dicken Moospolstern bedeckt und lösten sich in lichtes Zweigwerk mit silbergrauhaarigen Fiederblättern auf. Das Unterholz bildeten hübsche Sträucher, namentlich eine Brombeerart mit Blüten gleich Heiderosen; der Niederwuchs aber bestand aus saftiggrünen weichkrautigen Stauden, die eine wahre Wildnis bildeten und von fern wie üppige Matten im frischesten Grün zwischen dem lichten Baumbestand durchschimmerten.
Nach mehrstündiger Nachtruhe wurde der Aufstieg durch diesen Hagenienwald fortgesetzt.
In einer Höhe von dreitausendvierhundert Metern gelangte man in die Senecioregion. Die Senecio Jonstonii erreichte hier die Höhe von zehn Metern und nahm die Form eines kandelaberartig reich verzweigten Baumes an; dazwischen mischten sich die Lobelien mit ihren Riesenschäften, gewaltigen Kanonenwischern gleich. Diese Schäfte waren bis zu fünfeinhalb Meter lang; hiervon entfiel beinahe die Hälfte auf die Blütenähre.
In den graugrünen Teppich der Alchemilla cinerea, die lückenlos fast den ganzen Bergkegel in dieser Gegend bedeckte, sank man bis an die Knie ein, so daß die Steigung sich äußerst anstrengend gestaltete.
So ging es noch tausend Meter hinauf, wobei die Bäume und Pflanzen immer kleiner wurden, bis schließlich nur noch Flechten und Moose zwischen Lavatrümmern, Schnee und Eiskristallen den Gipfel bedeckten.
Der Gipfel selber fand sich kraterlos: ein nackter Fels voll Schnee und Eis; der Krater befand sich südwärts unter dem Hauptkegel. Er heißt »Hans-Meyer-Krater« und ist mit Erikabäumen bewachsen.
Das Lager wurde am Brancakrater aufgeschlagen, der sich anderthalb Kilometer breit in die weite Hochebene einsenkt, die sich als langgestreckter Bergrücken an die Ostflanke des Karissimbi anlegt.
Am folgenden Tag marschierten die Bergsteiger quer durch die breite aber flache Mulde des Brancakraters. Keiner ahnte, wie bald ihnen hier ein schrecklicher Tod entgegengrinsen sollte!
Schulze wählte diesen Weg, um nicht den großen Umweg um den Spalt herum machen zu müssen.
Der Boden des Kraters ist ein einziges großes Moor, aus dessen Mitte ein kleiner Vulkankegel sich erhebt, dessen Wände nach innen steil abfallen und einen prächtigen, klaren Kratersee umschließen.
Es fanden sich noch einige, von niederen Hügeln eingefaßte Kraterseen im sonst völlig ebenen, schlammigen Boden der Riesenmulde.
Die Karawane befand sich in der Mitte des Moores, als sich urplötzlich der heitere Himmel verfinsterte; ein dichter Nebel erfüllte die Kratermulde und ein unerhörter Hagelschauer prasselte nieder. Die Temperatur sank in wenigen Augenblicken auf den Gefrierpunkt, und nun brach ein Schneesturm los, wie er selbst im hohen Norden nicht heftiger sein kann.
Kaum sahen die Träger den Schnee, als sie die Lasten abwarfen, sich auf den Boden legten und jammerten, sie müßten sterben!
Schulze, Leusohn und Hendrik erklärten ihnen vergebens, das Liegen im eisigen Sumpfwasser, ohne den Schutz von Bäumen, noch die Möglichkeit, ein Feuer zu entzünden, sei allein ihr sicheres Verderben. Stumpfsinnig erwiderten sie mit dem Fatalismus der Mohammedaner: » Amri ya mungu, es ist göttliche Fügung: wir müssen sterben!«
Nur die Askaris, sowie Juku, Parker und Hamissi erhoben sich, bereit, den Weißen zu folgen; namentlich der Mut der weißen Damen, sowie Aminas und der Zwergprinzessin beschämte sie.
Nun wurden zehn der verblendeten Träger mit Gewalt emporgerissen und von den Männern mit festem Griff gehalten, wenn nötig mit Püffen und Schlägen weiter getrieben.
So gelangte man, bis zu den Knien in Sumpf- und Schneewasser watend, an den Kraterrand, obgleich die vom Sturm gepeitschten Flocken die Richtung nicht erkennen ließen.
Im Schutz der Bäume, die sich hier fanden, errichtete man ein Lager und zündete mächtige Feuer an, während John und Hendrik mit Juku, Parker, Hassan und den übrigen Askaris sich noch einmal in den Krater zurückkämpften, um die sieben halberstarrten Unglücklichen zu holen, die zurückgeblieben waren.
Es war ein schweres Stück Arbeit, denn die Leute waren schon fast erfroren und mußten getragen oder geschleift werden, wobei den erschöpften Rettern öfters die Kräfte zu versagen drohten.
Endlich waren alle um die wärmenden Lagerfeuer gebettet, und ein Trank aus gewärmtem Schneewasser mit etwas Schnaps weckte vollends die Lebensgeister.
Dann wurde ein stärkendes Mahl bereitet, und als nach drei Stunden die Sonne wieder vom wolkenlosen Himmel schien, konnten auch die vom Schnee begrabenen Lasten aus dem unseligen Brancakrater geholt werden.
An einen Weitermarsch dachte jedoch für heute niemand mehr: man war froh, dem eisigen Tode entronnen zu sein und ein geschütztes Lager für die Nacht zu haben.
Am andern Tag konnte der Abstieg vollendet werden; er ging sehr rasch vonstatten, dank dem schlüpfrigen Erdreich im Bambuswalde, das beim Aufstieg so hinderlich war. Nun schnitt sich jeder einen Bergstock aus Bambusrohr und sauste gleich einem Skifahrer mit unheimlicher Geschwindigkeit die Berglehne hinab. Verlor dabei auch einer oder der andre der Träger seinen Ballen, so rollte dieser ihm doch selbständig nach, den steilen Abhang hinunter.
In der Ebene war es aber wieder der Lavaboden mit seinen scharfen Kanten und Spitzen, der dem Vormarsch verhängnisvoll wurde. Die Träger mit ihren nackten Füßen verwundeten sich vielfach an den Fußsohlen und blieben zum Teil weit zurück, so daß die Karawane sich ziemlich auseinanderzog und es Abend wurde, bis der letzte der Ermatteten das Lager erreichte, in dem Achmed und die Hauptkarawane seit den letzten Tagen auf die weißen Herren mit ihren Begleitern warteten.
Achmed, der wohl wußte, wie sehr sich der Professor für alle auffälligen oder seltenen Naturerscheinungen interessierte, namentlich wenn sie nach des Arabers Meinung völlig wertlos waren, kam gleich auf Schulze zu und sagte: »Oh, Abu Arba, fünf Schritte vom Lager ist eine merkwürdige Quelle: sie siedet und ist doch eiskalt!«
»Unsinn!« erklärte der Professor. »Wenn sie siedet, so hat sie eine Temperatur von hundert Grad, wenigstens annähernd so viel, wenn wir das Sieden richtigerweise als das Vorstadium des Kochens ansehen; dann aber ist sie so heiß, daß man sich die Finger darin verbrennt; ist sie aber eiskalt, wie du sagst, so kann sie unmöglich sieden. Mancher kann aber Siedhitze und Eiskälte nicht voneinander unterscheiden, weil beide ein ähnliches Gefühl auf der Haut erregen.«
»Die Rede des Weisen ist wie ein frischer Trunk für den Dürstenden,« sagte Achmed; »aber Allah ist groß und seine Allmacht schafft Wunder, die dem Weisesten verborgen sind: komm und siehe, so wirst du erkennen, daß ich wahr gesprochen habe.«
»Na, denn man zu!« sagte Schulze lachend und folgte dem Führer.
»Oho! Ein richtiger Sprudel, eine kohlensaure Quelle!« rief er entzückt, als er das Wasser mit den aufsteigenden Bläschen entdeckte. »He! Hamissi! Einen Krug und ein Glas!« schrie er ins Lager zurück und suchte inzwischen dem Araber zu erklären, wieso dies keine siedende Quelle sei, sondern eine kohlensaure.
Achmed aber beharrte darauf, daß ein Wasser, in dem solche Bläschen aufsteigen, bei allen Gläubigen »siedend« genannt werde. Wenn die Franken es »kohlensauer« hießen, so sei das ihr Recht; »denn,« sagte er, »die Schwalbe hat eine andre Sprache als die Nachtigall.«
Als jedoch Hamissi den Krug brachte und der Professor ihn aus der Quelle füllte, das Glas vollgoß und sich anschickte, das Wasser zu versuchen, warnte ihn Achmed ernstlich. »Allah schuf vieles zur Freude, zum Nutzen und Genuß der Menschen; aber Iblis, der Teufel, vergiftet das Gute zum Schaden und Verderben des Unkundigen. O Herr, trinke nicht von diesem Wasser, es scheint mir vom Teufel zu sein.«
Schulze lachte und nippte am Glas.
»Herrlich, köstlich, ausgezeichnet!« rief er und trank es nach dieser ersten Probe auf einen Zug aus, um gleich ein zweites folgen zu lassen. »Oh, wie schmeckt dieses quellfrische Labsal, nachdem ich seit Wochen nur gekochtes Flußwasser zu kosten bekam!«
Alsbald sandte er Hamissi ins nahe Lager, die übrigen Weißen herbeizurufen, und bald lagerten alle um die Quelle und ließen sich das kostbare Naß schmecken, das sie nicht gegen Sekt eingetauscht hätten.
Es dauerte lange, bis Achmed und die Neger sich entschlossen, ihr Mißtrauen gegen das verzauberte Wasser zu überwinden.
Hamissi als Koch war der erste, der sich herbeiließ, den Versuch zu wagen. Der Trunk mundete ihm so sehr, daß er laut jubelnd die Güte der Quelle lobte. Nach und nach kosteten auch die andern, und der Erfolg war, daß schließlich alle mit leeren Krügen und Flaschen herbeirannten, um aus der paradiesischen Quelle zu schöpfen.
Bei Einbruch der Nacht bot sich dem ganzen Lager ein Schauspiel von schauerlicher und doch erhabener Pracht.
Es wurde angekündigt durch ein seltsames Getöse, wie das Wogen einer entlegenen Meeresbrandung und das Grollen eines fernen Gewitters. Bald schwoll das Brausen an und ein klingendes Surren ließ sich dazwischen vernehmen.
Schwarze und Weiße traten vor die Zelte und Bambushütten des Lagers, um Ausschau zu halten, was diese niegehörten Töne bedeuteten.
Dort kamen sie her, wo im Nordwesten der Namlagira sein Riesenhaupt erhob; dichte weiße Dampfwolken entquollen dem Krater des Vulkans, gleich ungeheuren Blumenkohlköpfen ballten sie sich in der Höhe zusammen, um sich dann zu einer Pinie fächerförmig auszubreiten. Immer höher und höher wuchs die Rauchgarbe und bräunliche, düstere Dämpfe schossen von unten in die weißleuchtenden Wolken hinein.
Plötzlich blitzte es auf; eine rotgelbe Feuersäule, ein Strom von Glut brach aus dem Gipfel und stieg im Augenblick zu schwindelnder Höhe empor, glühende Schlacken vor sich her schleudernd, die bald nach allen Seiten hinausspritzten, als ob ein Strauß von vielen tausend Raketen losgelassen worden wäre.
Gleich darauf ging aus der Ausbruchwolke ein schwarzer Regen von Steinen und Asche nieder, von denen der Wind die feinsten Teile bis in das Lager der ehrfürchtig staunenden Beobachter wehte. Schulze schätzte die Höhe der Pinie auf neun Kilometer, die Breite ihrer Krone auf deren neunzehn.
Noch drei Feuerströme schossen nach kurzen Pausen mit donnerndem Krachen empor; ein furchtbares Getöse erschütterte die Luft, als wollte der Berg auseinanderbersten, zersprengt durch die Gewalt der Explosion.
Die hochgetürmten Dampfwolken glühten in ihren unteren Teilen in düsterem Rot, während sie oben, gleich gewaltigen Baumwolleballen, in schneeigem Weiß leuchteten, gemischt mit tiefschwarzen, wirbelnden Nebeln von Rauch und Asche.
Und immer wieder brach ein Goldfunkenregen aus diesen geheimnisvollen Schleiern; ein Anblick von schauriger Schönheit!
Nach einer Stunde nahm die Kraft der Ausbrüche ab, die Rauchwolke verblaßte und wurde immer kleiner, bläuliche und schwefelgelbe Glutdämpfe zuckten und züngelten gespensterhaft aus dem Krater empor, ein dumpfes, pochendes Geräusch, wie von tausend Hämmern in der Schmiede Vulkans, tönte aus der Tiefe.
Dann vernahm man nur noch ein fernes, gleichmäßiges Rauschen, wie das Wehen des Windes durch die Kronen der Pinienwälder, und endlich lag alles stumm und tot, den Namlagira verhüllten die undurchdringlichen Schleier der Nacht und friedlich funkelten die Sterne vom klaren Himmelszelt hernieder.
»Die Rinder des bösen Geistes brüllen im Berg und er schießt mit seiner Flinte aus der Tiefe heraus,« meinten die zitternden Schwarzen während des Ausbruchs; das war ihre Erklärung für das großartige Naturwunder, eine Erklärung, die sie den Watwazwergen verdankten.
Während der Hauptausbrüche war die Landschaft weithin derart erhellt, daß man die Instrumente und Chronometer ohne Laterne abzulesen vermochte; um so tiefer erschien nun die Schwärze der Nacht.
Hassan, der stolze Somali, der Blasiertheit heuchelte, auch wenn er von ganz neuen Wundern überrascht und erschreckt wurde, ging in das Lager zurück mit seiner gewöhnlichen, aber durchaus nicht angebrachten Redensart: »Gerade so, wie im Somalilande!« Und die Suaheli staunten den Mann an, der einem Lande entstammte, in dem die seltsamsten Schauspiele alltäglich zu sein schienen.
Der Ninagongo, der sich dem Lager im Westen zunächst befand, sollte nunmehr erstiegen werden.
Schulze und Hendrik wollten diese Leistung vollbringen und Helene und Sannah, die unermüdlich unternehmungslustigen Mädchen, schlossen sich ihnen an. Amina blieb diesmal zurück, aber Tipekitanga fand es selbstverständlich, daß sie die weißen Damen begleitete; denn was konnte ihnen nicht zustoßen, wenn die treue Zwergprinzessin mit ihrer besonnenen Umsicht und ihren unfehlbaren Pfeilen nicht über ihr Leben wachte!
Diesmal bat Achmed, mitgehen zu dürfen; er wollte als Befehlshaber der Askaris nicht weniger Mut zeigen als seine Untergebenen. Außerdem wurden noch fünf Träger mitgenommen, unter denen der starke Juku nicht fehlen durfte noch wollte.
Das Land um den Ninagongo herum und selbst der fruchtbare Lavaboden seiner untersten Hänge war ganz mit Feldern angebaut, dann aber begann ein dichtes Gebüsch, das beinahe undurchdringlich schien und nur langsames Vorwärtskommen gestattete.
Es folgte die Region des Knieholzes mit Sträuchern und Stauden; nur wenige Erikabäume ragten dazwischen etwas höher empor.
Hier wurde das erste Nachtlager gehalten.
Weiter oben begannen die üblichen Bestände von Senecio Johnstonii; während jedoch diese baumartige Pflanze anderwärts bis zu sechs Meter Höhe erreicht, begnügte sie sich hier mit zwei Metern.
Die zwanzig Zentimeter dicken Stämme dieses eigentümlichen Gewächses waren mehrfach gegabelt und in drei geteilt, so daß eine kandelaberartige, das heißt armleuchterförmige Krone entstand. An den Enden der kräftigen Zweige sproßten Büschel üppiger, frischgrüner, unten zottig behaarter Blätter, gleich Tabaksblättern. Die abgestorbenen, gebräunten Blätter hingen an den Zweigen herab und umhüllten sie wie ein dichtes Polster. Aus den Blattbüscheln schossen reiche, pyramidenförmige Rispen gelber Blütenköpfe meterhoch auf.
Zwischen diesen Bäumen schmückten kleine Strohblumen und reizende Erdorchideen mit dunkelrosenroten Blüten den Boden.
Der Gipfel selber bestand aus nackter, eisenharter Lava und Asche, die zu Tuffstein erhärtet war. Nur einige Flechten, Moose und Lebermoose wuchsen noch in den Spalten und Rissen.
Nördlich und südlich vom Hauptkegel fanden unsre Freunde zwei ältere, längst erloschene und bis oben überwachsene Krater.
Als unsre Bergsteiger vor dem letzten Aufstieg rasteten, wogte plötzlich ein dichter Nebel daher und hüllte sie mitsamt dem Berggipfel ein. Ein furchtbarer Hagelschlag prasselte nieder, so daß rasch die Zelttücher und Decken ausgepackt wurden und sich alle darunter verkrochen. Dann kam ein Schneesturm und zauberte die schönste Winterlandschaft hervor.
Nach einer halben Stunde jedoch strahlte der Himmel wieder in wolkenlosem Blau und die Sonne erwärmte die erstarrten Glieder.
Ein Imbiß wurde eingenommen und dann der Gipfel vollends erstiegen.
Die Dünne der Luft und die Steilheit der glatten Wände erschwerte diese letzte Anstrengung, und mit keuchendem Atem und starkem Herzklopfen langte die kleine Gesellschaft endlich oben an.
Aber hier fand sie alle Mühe reichlich gelohnt: die Riesenarena eines gigantischen Amphitheaters öffnete sich vor ihren staunenden Blicken, ein nahezu kreisrunder Krater mit steil abfallenden Innenwänden, der den ganzen Gipfel des Berges einnahm und einen überwältigenden Eindruck machte.
»Das ist der Graf-Götzen-Krater,« erklärte der Professor. »Er ist seinem Entdecker zu Ehren so genannt worden. Sein Durchmesser beträgt nicht weniger als eintausendzweihunderteinundfünfzig Meter und seine Tiefe deren hundertfünfundfünfzig. Graf Götzen sah hier ein herrliches Schauspiel rotschimmernder Dämpfe dem Boden entquellen. Seither ist aber die Glut erloschen.«
Der Grund des Kraters bestand aus völlig ebenem Lavaboden, in dessen Mitte zwei große, steilwandige Ausbruchsschlote gähnten, die nach Schulzes Angaben vierhundertneunundfünfzig und dreihundertsechsunddreißig Meter im Durchmesser hatten. Sie lagen dicht beieinander, durch eine kleine Scharte verbunden, und bildeten so einen ungeheuren, etwas plattgedrückten Achter.
Hier haust nach Aussage der Batwa der Berggeist Gongo, der oberste aller Geister, zu dem die Seelen der Verstorbenen gehen. Er weist ihnen ihren dauernden Wohnsitz in einem der Vulkane an.
Neben ihm wohnt der Geist Liangombe mit seiner Mutter Nina Liangombe, seinem Vater Bawinga und seinem Großvater Njundo. Liangombe beaufsichtigt die Seelen der Bösen, fesselt und prügelt sie. Namlagira und Mikeno sind Söhne des Gongo.
Hendrik wollte sein Gewehr abfeuern; doch Achmed warnte ihn ernstlich, die Rache des Berggeistes nicht herauszufordern.
Die Weißen lachten den abergläubischen Araber aus und schossen ihre vier Büchsen gleichzeitig ab. Das Echo war großartig: der Knall brach sich tausendfach an den Felswänden und schien ohne Unterbrechung die Kraterwand entlang zu rasen, ohne einen Ausweg finden zu können.
In der Folge aber sagte Achmed bei jedem Unfall, der die Karawane betraf, mit düsterer Miene: »Das ist die Rache des Berggeists Gongo!«
In der Nähe des erloschenen Nordkraters wurde die zweite Nacht verbracht; dann wurde der Abstieg nach Nordosten ausgeführt und abends der Kana Maharege erreicht, bei dem die Karawane lagerte.
Der Kana Maharege ist ein kleiner Vulkankegel, der sich infolge eines Ausbruchs des Namlagira im Jahre 1905 gebildet hat.
Schulze erklärte den sonderbaren Namen seinen Gefährten, indem er sagte: »Kana Maharege bedeutet: ›Der Herr, der Bohnen liebt‹; denn die Wanjaruanda sagen statt Bwana oder Bana ›Kana‹. ›Herr Bohne‹, so nannten die Eingeborenen den Leutnant Pfeiffer, der später bei einer Elefantenjagd verunglückte. Nun behaupten die Batwa, der Geist des Toten sei in den Hügel gefahren, der plötzlich unter dem Donner und Feuer der Tiefe aus dem ebenen Erdboden emporwuchs.«
Zahllose große Lavablöcke, zertrümmertes, scharfkantiges Gestein und ein mächtiger erstarrter Lavastrom voll umgestürzter und verkohlter Baumstämme gaben der Gegend ein wildes Aussehen. Der Boden dampfte noch an vielen Stellen und einen seltsamen Anblick gewährte die Buntfärbung zahlreicher Lavatrümmer, die aus Verwitterungsvorgängen zu erklären ist; da waren kreideweiße, ziegelrote und braune Brocken, als sei die schwarzgraue Lava aus einem Tuschkasten überkleckst worden.
Den Abschluß und die Krone der Erforschung des Vulkangebietes sollte die Besteigung des noch tätigen Namlagira bilden.
An ihr wollten sich noch einmal alle Weißen beteiligen; doch machte es Schwierigkeiten, schwarze Träger für das Wagnis zu finden; die Neger scheuten diesen feuerspeienden Berg ganz besonders, nachdem sie jüngst die Gewalt seines Ausbruchs geschaut hatten.
Nur die Mutigsten ließen sich mit Mühe zum Aufstieg bewegen. Amina und Tipekitanga freilich waren sofort bereit; auch Hassan und Hamissi, Juku und Parker entschlossen sich bald. Im übrigen aber mußten zehn Träger ausgewählt und mit aller Strenge zur Begleitung befohlen werden.
Voller Furcht und banger Ahnungen ergaben sie sich in ihr Schicksal. Hätten sie aber gewußt, was ihrer droben wartete, keine Macht der Welt hätte sie hinaufgebracht!
Zunächst ging es über ein Lavatrümmerfeld. Alle waren mit langen Bambusbergstöcken versehen, und oft mußten kühne Sprünge von einer Scholle zur andern über breite Spalten hinweg gewagt werden. Dann warfen die Träger allemal ihre Ballen voraus auf den nächsten Block.
Im allgemeinen zeigten sie sich sehr geschickt bei diesen Würfen; manchmal freilich kollerte ein Gepäckstück hinab und mußte dann in mühsamer Kletterei aus der Tiefe geholt werden.
Beim weiteren Aufstieg zeigte die Lava oft messerscharfe Kanten, die das Leder der Schuhe durchschnitten; zuweilen war sie im Gegenteil so löcherig, und bröckelig, daß sie einbrach und Stürze verursachte.
Eine weißliche Flechtenart gab dem Berghang das Ansehen eines Gletschers. Eine Kette von achtzehn dicht aneinandergereihten Schlackenkratern stieg gleich einer Perlenschnur an der Südflanke hinauf.
Aus einem jungen, steilwandigen Ausbruchsschlot stiegen scharfe, schweflige, weiße Dämpfe aus und wurden von den Trägern mit großem Mißtrauen beobachtet.
Es folgte eine Buschregion, durch die mit der Axt ein Weg gebahnt werden mußte. Viele Elefantenfährten zeigten sich bis zur Höhe von zweitausendsiebenhundert Metern, wo der Pflanzenwuchs nackter Lava Platz machte.
Die Steigung war mäßig und dieser letzte Teil wurde in zwei Stunden bewältigt.
Auch diejenigen unsrer Freunde, die schon den überwältigenden Anblick des Graf-Götzen-Kraters genossen hatten, waren überrascht, als sie die ungeheuren Größenverhältnisse des Namlagirakraters zu Gesicht bekamen.
»Nein! Ist das ein Loch!« rief Helene, als sie in die zwei Kilometer weite Öffnung mit ihren steilen Wandungen hinabblickte.
Rundherum im Krater lief eine Art Terrasse, von der aus ein Vorsprung von Osten nach der Mitte zu lief. Die Terrasse wiederum fiel in schroffen Wänden zum eigentlichen Kraterboden ab. Dieser war so eben wie der Grund des Graf-Götzen-Kraters, dampfte aber aus vielen schwefelgelb und kreideweiß gefärbten Spalten und Ritzen.
Asche und Schlacken bedeckten zum Teil die Terrasse und den Kratergrund.
Unsre Freunde faßten den kühnen Entschluß, einen Abstieg in den Krater zu wagen, um einen Blick in seine tiefsten Tiefen zu tun, eine Tollkühnheit, die ihnen verhängnisvoll werden sollte.
Die Träger, die bis auf einige mitgenommene Lebensmittel das Gepäck auf dem letzten Lagerplatz zurückgelassen hatten, waren nicht zu bewegen, an dem waghalsigen Unternehmen sich zu beteiligen.
»Laßt sie doch!« rief die Zwergprinzessin. »Ihr seht doch, es sind keine Männer darunter; lauter Weiber und Kinder sind es! Die Frauen der Msungi haben Mut, aber die Suaheli und Somali sind furchtsame Ziegen und wagen sich nicht an den Rand eines Mauslochs, aus Angst, es könnte ein Leopard darin verborgen sein.«
»Ja, der Rauch einer Pfeife könnte sie in die Flucht jagen,« spottete Amina ihrerseits, »denn sie ist ein kleiner Vulkan und wirft Asche und Funken aus wie der Namlagira.«
Dieser Hohn der schwarzen Mädchen weckte den Trotz der Neger. »Furcht?« rief Juku. »Nein! Furcht kennen wir nicht. Nur die Sorge um unsre weißen Herren und die Fräulein ließ uns von dem Wagnis abmahnen; aber wenn sie dennoch hinabsteigen, wer will dahinten bleiben? Sprecht, Pagasi und Askaris, wer hat Angst?«
Es meldete sich keiner, und somit folgten alle mit heimlichem Beben den Weißen an der einzigen zugänglichen Stelle in die gefährliche Tiefe. Diese Stelle war eine Scharte, die den steilen Kraterrand durchschnitt: im übrigen war die Felsmauer ringsumher so hoch und schroff, daß sie keine Abstiegsmöglichkeit gewährte.
Als sich die Gesellschaft mitten im Krater befand, nur noch wenige Schritte von einem der dampfenden Schlünde entfernt, senkte sich plötzlich ein dichter Nebel auf sie herab, so daß nichts mehr zu sehen war, und ein feiner Sprühregen begann, sie zu durchnässen.
Das war eine schlimme Sache! Die Träger wollten sich schleunigst zur Flucht wenden, da donnerte ihnen Flitmores Stimme entgegen. »Halt!« rief der Lord, »keinen Schritt weiter! Hier müssen wir lagern und warten, bis das Wetter sich aufhellt, und wenn es zwei Tage dauern sollte.«
»Der Lord hat recht,« sagte Schulze. »Ein einziger Fehltritt kann jeden von uns in die grundlosen Schlünde stürzen lassen. Dann sind wir verloren und verbrennen in den Gluten der Tiefe zu Asche.«
»Und gelänge es allen, die unheimlich gähnenden Abgründe zu vermeiden,« fügte Hendrik hinzu, »so würden wir uns doch verirren und im dichten Nebel auseinandergeraten; darum müssen wir hier beieinander bleiben. Wer vermöchte in blindem Umherirren jemals die Scharte der Kraterwand zu finden, die den einzigen Ausweg bietet?«
Alle lagerten sich auf dem heißen Boden und verharrten eine Stunde lang in dumpfem Schweigen.
Da! Was war das?
Ein fernes Rollen ließ sich unter dem Boden vernehmen, ein leises unterirdisches Donnern.
»Gott sei uns gnädig!« rief Schulze, dem der kalte Angstschweiß aus die Stirne trat. »Ein Ausbruch bereitet sich vor! Jetzt gilt es zu fliehen auf Tod und Leben!«
Immer gewaltiger schwoll das Donnergrollen an; der Boden begann zu schlittern und zu schwanken.
»Es halte sich einer am andern!« rief Leusohn. »Ich gehe voran!«
Die Schwarzen hatten den Kopf völlig verloren; sie heulten vor Angst und schrien: »Warum habt ihr den Scheitan im Berg beleidigt, da ihr seine Behausung betratet? Das ist die Rache des Gongo! O weh! Wir müssen alle sterben!«
Sie waren bereit, sich wieder zu Boden zu legen und das unabwendbare gräßliche Schicksal abzuwarten; nur Hassan, Hamissi, Juku und Parker zeigten sich vernünftig, wie vornweg Amina und die kleine Prinzessin.
So gelang es, die verstörten Träger in die Reihe zu nehmen, und einer hinter dem andern folgte die ganze Gesellschaft dem voranschreitenden Doktor.
Es war die höchste Zeit, wenn es nicht schon zu spät war, denn bereits stürzte ein Hagel von Lapillis herab, die zum Teil glühten und Löcher in die Kleider der Europäer brannten, den Schwarzen aber die Haut versengten.
Die herniederregnende Asche vermehrte noch die herrschende Finsternis, und es war unmöglich, sich zurechtzufinden; das Schlimmste aber waren die aufsteigenden vulkanischen Dämpfe, die den Atem benahmen und sich schwer auf die Brust legten. Keuchend und mit stürmischem Herzklopfen, nach Atem ringend und nach Lust schnappend, stürzten die Ärmsten Leusohn nach.
Es war gewiß edel vom Doktor, daß er die Führung übernommen harte; denn er wagte dabei als erster sein Leben; wie leicht konnte er in einen Spalt, in ein offenes Höllenloch stürzen. Verhängnisvoll aber für alle mußte es werden, daß Leusohn, der mit hämmernden Schläfen dahinstürmte, seine klare Überlegung vollständig verloren hatte unter dem Einfluß des Schreckens und der giftigen Dünste.
Planlos irrte er umher; immer wieder stieß er an die unersteiglichen Kraterwände und schlug dann wieder eine andre Richtung ein, sich schließlich im Kreise bewegend.
Flitmore erkannte bald die Sachlage.
»Doktor!« rief er. »Ich will vorangehen.« Und alsbald begab er sich an die Spitze.
Kaltblütig tastete sich der Lord an der Kraterwand hin; nur so konnte mit Sicherheit die Scharte gefunden werden, die den einzigen Ausgang aus der Mausefalle bildete.
Aber wer konnte wissen, wo sie lag? Vielleicht bewegte man sich gerade von ihr weg und mußte den ganzen Krater umwandern, bis man zu ihr gelangte: sechs Kilometer vielleicht hatte man dann zurückzulegen, und doch konnte man kaum mehr einen Kilometer machen, ehe man erstickte oder vom brodelnden Verderben ereilt wurde!
Schon lohten rote Feuergarben auf, und nun ließ sich ein entsetzliches Wallen und Kochen vernehmen: zischend entquoll die flüssige Lava den Schlünden; feurige Gluten, auf denen bläuliche und gelbliche Flammen züngelten, wälzten sich heran; bald würden sie den ganzen Kraterkessel erfüllen und in wenigen Sekunden die armseligen Menschlein verschlingen und zu nichts verbrennen!
»Hier ist der Ausgang!« sagte Flitmore ruhig.
Wahrhaftig! Zur Eile brauchte er nicht zu mahnen; mit der letzten Kraft stürzten alle hinaus und rannten noch einige Schritte zur Seite, dann brachen sie zusammen.
Nur der Lord hatte noch Atem; seine Seelenruhe hatte keine Kraftvergeudung aufkommen lassen wie die verzehrende Erregung der andern. Er setzte sich zu den erschöpft Umherliegenden und Tipekitanga, die noch weniger angegriffen erschien als der Engländer, stand da, auf ihren Bogen gestützt, und schaute der Lava zu, die nun verheerend aus der Scharte brach, die soeben noch den Bedrängten den letzten Rettungsweg geboten hatte.
Ein glühender Strom ergoß sich an den Flanken des Namlagira hinab, alles verzehrend, was ihm im Wege stand. Schon flammten weiter unten die Bäume und Büsche auf, wie Riesenfackeln.
Bald wurde die Hitze unerträglich für die Menschen, die sich noch in allzu großer Nähe des zähen Glutstroms befanden, und es bedurfte kaum der Mahnung des Lords, um sie wieder auf die Beine zu bringen.
In kurzer Zeit war der Lagerplatz erreicht, wo man sich rasch durch ein kleines Mahl stärkte. Dann nahmen die Träger ihr Gepäck auf, und im Sturmschritt ging es den Berg hinab; denn wer konnte wissen, was der heimtückische Vulkan noch im Sinne hatte?
Die zurückgebliebene Karawane war inzwischen südwärts marschiert und lagerte im Westen des Ninagongo, wie Schulze es angeordnet hatte. Hier drohte keine unmittelbare Gefahr.
Es war tiefe Nacht, als unsre geheitzten Freunde das Lager erreichten. Sie hatten mit diesem Gewaltmarsch nach all den Schrecken und Anstrengungen wahrhaft Übermenschliches geleistet, und doch ließ sie jetzt die große Nervenüberreizung die Erschöpfung nicht spüren; ja, die Schwarzen lachten und tanzten gar in der kindlichen Freude über die überstandene Lebensgefahr. Sie verspotteten einander gegenseitig mit ihrer Furcht vor dem Scheitan und dem Gongo, dem Teufel und dem Berggeist.
Jetzt wollte keiner es gewesen sein, der die mindeste Angst gehabt hätte; aber die andern, ja die andern!
Hassan, der Somali, sagte mit Würde: »Dazu sind wir doch viel zu ›amende‹, das heißt ›aufgeklärt‹«, und fügte hinzu: »Es war ganz wie im Somaliland!«
Der Namlagira entfaltete inzwischen eine gesteigerte Tätigkeit; es erfolgte jetzt ein Ausbruch, den wohl keiner lebendig überstanden haben würde, der sich noch in seinem unmittelbaren Bereiche befunden hätte.
Weithin war der Nachthimmel in rote Glut getaucht; ein gewaltiger Donner erscholl vom tobenden Krater her, und mächtige Garben glühenden Gesteins sprühten in die Luft.
Viele Kilometer weit wurden die rasch erkaltenden Steinbrocken geschleudert und manch einer erreichte das Lager, glücklicherweise ohne Schaden anzurichten.
Am andern Tag zeigte sich erst die Erschöpfung bei den gestern so glücklich Geretteten; notgedrungen mußten sie sich einen Rasttag gönnen.
Dann aber ging es weiter, dem Kiwusee zu, auf den alle begierig waren, nachdem sie seine gewaltige Wassermasse und seine reizende Uferlandschaft von der Höhe der Vulkane aus schon einigemal bewundert hatten, wenn nicht die Nebel die Aussicht hinderten.
Der Adolf-Friedrich-Kegel, der sich ganz in der Nähe des Lagers befand, wurde zunächst besichtigt.
Schulze gab, wie gewöhnlich, die nötigen Erläuterungen, indem er Folgendes ausführte: »Wir haben hier einen ganz jungen kleinen Vulkan vor uns, wie den Kana Maharage. Er ist im Mai 1904 plötzlich entstanden, warf über mannshohe Bomben und Lavablöcke aus, die von einem zweihundertfünfzig Meter breiten Schmelzfluß zehn Kilometer weit bis an das Seeufer gewälzt wurden. Dieser Lavastrom hat Bäume und Sträucher auf seiner Bahn begraben und weist uns den nächsten Weg zum See.
»Ihren Namen trägt die vulkanische Neuschöpfung zu Ehren des Herzogs Adolf Friedrich von Mecklenburg, der eine der großartigsten und erfolgreichsten Forschungsreisen durch diese Gebiete geleitet hat.«
Einen Krater wies der Adolf-Friedrich-Kegel nicht auf; der Schlot lag unter mächtigen Schlackenhaufen begraben. Dagegen war er von zahlreichen dampfenden Rissen und Spalten durchzogen, die erstickende Dünste ausströmten: Schwefelwasserstoffgas, Kohlensäure, Salzsäuredämpfe und solche von schwefliger Säure mit stechendem Geruch.
Weiterhin zog sich ein fruchtbares, reich angebautes Land; namentlich wurde die Bienenzucht von den Batwa in großartigem Maßstabe betrieben. In einem Dorfe zählten unsre Freunde über dreihundert Bienenstöcke.
Die herrlichen, blühenden Gefilde boten aber auch den Bienen reichliche Nahrung, und den Weißen wie den Schwarzen war es durchaus nicht zuwider, daß sie beinahe nichts als Milch und Honig zu genießen bekamen: es war eine äußerst nahrhafte, gesunde und dazu wohlschmeckende Kost.
Die fruchtbaren Niederungen erwiesen sich auch hier als ursprünglicher Seegrund, und es war in die Augen springend, daß der Kiwusee vor Zeiten mit dem Albert-Edward-See ein einziges großes Wasserbecken bildete, und zwar mußte dies, wie Flitmore versicherte, noch in geschichtlicher Zeit der Fall gewesen sein, denn es entspreche ganz der Darstellung, welche die Karten der Alten von den Seen Innerafrikas gäben.
Die Ebene war von zahlreichem Wild, namentlich Elefanten und Büffeln belebt, und Schulze entdeckte eine ganz neue Schimpansenart. Löwen und Antilopen waren hier auch nichts Seltenes.
Als nun die Karawane die Ufer des Kiwusees erreichte, waren die Weißen ganz entzückt und begeistert von dem herrlichen Landschaftsbild.
»Wahrhaftig,« rief Schulze aus, »ich habe schon manchen See gesehen in Europa, Amerika und Afrika, aber keinen, der sich mit diesem vergleichen ließe, das muß ich ehrlich gestehen! Eine solche Vereinigung von Lieblichkeit und Größe, von stillen Buchten und tiefen Fjorden, von seligen Inseln und majestätisch ragenden Gebirgen, das findet sich nirgends wie hier beim Kiwu!«
Darin waren alle mit ihm einig und bestätigten sein Urteil.
»Und nun sehen Sie diese Schwarzen!« eiferte der Professor voller Entrüstung. »Ist da auch nur einer oder eine, die dieses entzückende und erhebende Schauspiel auch nur eines Blickes würdigen würden? Nein! Stumpfsinnig bauen sie ihre Lagerhütten, stampfen ihren Mais und ihre Durra und lassen Landschaft Landschaft sein. Ja, die Sorghumfelder, Bananenhaine und Palmenwälder rufen stets ihr Entzücken hervor, weil es da etwas für Gaumen und Magen gibt; aber Sinn für Naturschönheit? Nee! das gibt's nicht bei diesen trostlosen, stumpfsinnigen Menschen!«
»Ereifern Sie sich nicht sosehr, wertester Professor!« lachte Leusohn. »Auch hier heißt es: ›Ganz wie bei uns‹, oder wie der Deutsche zu sagen pflegt, ›tout comme chez nous‹. Nämlich unsre europäischen Bauern sind hierin um kein Haar fortgeschrittener als die Neger Afrikas.
»Als ich zum Beispiel einmal nach dem Gotthard wanderte, traf ich einen Schweizer Landwirt, einen besseren, nicht ungebildeten Mann. Als der die majestätischen Felsenwände und die schäumenden Wasser bei der Teufelsbrücke sah, war er ganz entsetzt, angesichts dieser großartigen, wildromantischen Landschaft. ›Was‹, rief er aus, ›das soll schön sein? Ich habe immer die Fremden rühmen hören, wie ausnehmend herrlich es hier in den Schöllenen sei. Da dachte ich, mußt es dir doch auch einmal ansehen. Und was ist's? Nichts als nackte Felsen und Wasser! Keine Wiese, kein Feld! Nein, solch eine häßliche Gegend habe ich überhaupt noch nicht gesehen?‹«
»Das war das Urteil des Schweizer Bauern,« fuhr der Doktor fort. »Und ähnlich habe ich hundert Bauern in allen Gegenden Deutschlands urteilen hören; die schönste Landschaft ist für sie die fruchtbare Ebene ohne Berg und Tal.«
»Ihr tut unsern Bauern sowie den Negern unrecht,« tadelte Helene. »Wie kann man von ihnen Sinn für Naturschönheit erwarten, wenn niemand sich die Mühe nimmt, diesen Sinn in ihnen zu wecken? Ich bin überzeugt, wir alle wären uns der Schönheit solcher Landschaftsbilder nicht bewußt, wenn wir nicht von Kind auf Erwachsene zur Seite gehabt hätten, deren Begeisterung uns die Augen geöffnet hätte und Bücher und Schilderungen gelesen hätten, die uns den Blick für Naturschönheiten geschärft hätten.«
»Na, na!« spöttelte Leusohn. »Versuche es doch einmal bei diesen Negern, den Sinn zu wecken, der erst vorhanden sein muß, ehe er geweckt werden kann.«
»Oh, Versuche habe ich schon gemacht, und zwar mit Erfolg, du alter Spötter,« verteidigte sich seine Schwester, »aber bei Kindern natürlich. Gelegentlich bei Ausflügen machte ich etwa Bauernkinder auf die Schönheit einer Landschaft aufmerksam, wies ihnen dies und das und erklärte ihnen, was hübsch, großartig, romantisch daran war. Und sofort sah ich, wie sie sinnend standen und das tausendmal gesehene Bild mit ganz neuen Augen betrachteten, ja alsbald noch andre Reize, die ich nicht genannt hatte, selbständig ausfindig machten.
»So war ich auch einmal bei Fritz, — das ist nämlich unser älterer, verheirateter Bruder, Herr Professor; — mein kleiner Neffe Karl wollte eines Morgens nicht aus seinem Bett heraus und schon drohten ihm Schläge. Da bat ich, es zuvor noch einmal mit Güte versuchen zu dürfen. Nun sagte ich ihm: ›Wenn du dich ganz lieb anziehen läßt, zeige ich dir etwas ganz Wunderschönes?‹ Das zog! Er ließ sich ankleiden und kam dann gleich zu mir, verlangend, ich solle ihm jetzt das versprochene Schöne zeigen. Ich aber hob ihn zum Fenster empor und sagte: ›Siehe einmal, welch wunderschönes Wetter da draußen ist; der blaue Himmel, die goldige Sonne und alles so grün?‹ — Es hatte nämlich die letzten Tage immerfort geregnet. Da war der kleine Mann nicht etwa enttäuscht, wie ich halb und halb befürchtete, sondern verwundert, aber nachdenklich sah er sich alles an; und was mich besonders freute, weil es bewies, daß etwas Neues im Knaben erwacht war, er kam im Laufe des Tages noch mehrmals und bat mich, ihn zum Fenster emporzuheben, er möchte das schöne Wetter noch einmal sehen.«
»Das ist allerdings ein schöner Erfolg gewesen,« gab Leusohn zu, »aber bei diesen Negern ...«
»Ich bezweifle selbst,« gestand Helene, »ob es bei Erwachsenen nicht schon zu spät und deshalb vergeblich sein dürfte. Aber ein Versuch lohnt sich immer, und ich will ihn machen. Wenn er nur ein wenig Erfolg hat, so wird er schon ansteckend wirken; eines wird das andre aufmerksam machen und Reize schätzen lehren, die es zuvor nicht ahnte.«
Sie rief nun Amina, Tipekitanga, Hassan und Hamissi her und redete sie etwa folgendermaßen an: »Hier sehet doch auch, wie wunderschön der See und seine Ufer sind. Wir Weiße sind ganz fröhlich davon, denn wir haben nie etwas so Schönes gesehen.«
Die Schwarzen waren verblüfft und blickten erst den See, dann Helene ganz dumm und blöde an. Nur Hassan sagte mit ernster Miene: »Das ist ganz wie im Somalilande!«
Das weiße Fräulein aber war damit nicht zufrieden; sie begann nun die vier Menschenkinder auf die Reize der Farben aufmerksam zu machen, wußte sie doch, daß der Neger einen ausgeprägten Farbensinn hat, da er die feinsten Abtönungen der Stoffe und Glasperlen genau zu unterscheiden und nach seinem Geschmack auszuwählen vermag, obgleich seine Sprache nicht einmal für alle Grundfarben unterscheidende Namen besitzt.
Dann ging sie weiter, machte auf die Formen der Berge und der Bäume, auf die Großartigkeit der eigentümlichen Felsgebilde, auf Wasserfälle und andres aufmerksam und hatte die Freude, zu sehen, daß alle ganz nachdenklich die genannten Vorzüge des Landschaftsbildes betrachteten. Ja, Tipekitanga klatschte ein über das andre Mal in die Hände und rief: »Ach ja, das ist wirklich schön; das hat Tipekitanga gar nicht gewußt und nie darauf geachtet; sie ist vorbeigegangen, wie eine, die keine Augen hat. Jetzt aber macht es sie auch ganz froh, wie die Weißen.«
Auch diese Ausrufe der Zwergprinzessin machten einen sichtlichen Eindruck auf Hassan und Hamissi, besonders aber auf Amina. Und Schulze und Leusohn, die die Wirkung scharf beobachteten, erklärten einstimmig, für heute dürfe Helene mit ihrem Erfolg wohl zufrieden sein, sie hätten nie geglaubt, daß die Schwarzen auch nur zu einem solch nachdenklichen Betrachten zu bewegen sein würden.
Hassan aber machte den Schluß, indem er mit einem letzten, bewundernden Blick auf die Ufer wiederum erklärte: »Wahrhaftig! Ganz wie im Somalilande!«
Da unsere Freunde wußten, daß der Kiwusee keine Krokodile beherbergt, so wenig wie Flußpferde, ließen sie sich's nach eingetretener Dunkelheit im köstlichen Wasser wohl sein, plätscherten und schwammen darin umher.
Tipekitanga wollte auch hier durchaus ihre Herrinnen begleiten, die abseits von den weißen Männern eine stille Bucht als reizende Badegelegenheit erkundet hatten.
»Aber daß du dicht am Ufer bleibst!« mahnte Helene die Zwergprinzessin, »da du nicht schwimmen kannst, darfst du den Boden unter den Füßen nicht verlieren.«
Die Kleine ging bis an den Hals ins Wasser und sah, wie Helene und Sannah lustig umherschwammen. Der Mond begann zu scheinen und Tipekitanga achtete aufmerksam auf alle Schwimmbewegungen der weißen Mädchen.
Dann plötzlich warf sie sich hin und begann mit den schlanken Armen und Beinen die Bewegungen auszuführen, die sie gesehen hatte. Ihr Kopf tauchte unter und sie mußte Wasser schlucken; aber sie gab nicht nach. Ihre Füße fanden keinen Grund mehr: sie mußte schwimmen! Und so hatte sie's gewollt.
Als Sannah und Helene umwendend die Prinzessin im Wasser kämpfen sahen, glaubten sie, sie sei am Ertrinken und schwammen eilends herbei; aber Tipekitanga sprudelte einen Mund voll Wasser heraus, lachte und rief: »Jetzt schwimmt Tipekitanga gleich den weißen Herrinnen!« und mit ein paar Stößen ruderte sie weiter hinaus in den See; sie hatte das Gleichgewicht gefunden und in wenigen Minuten die Kunst gelernt, die man, sobald man sie einmal erfaßt hat, nie wieder verlernen kann, auch wenn man sie jahrelang nicht übt.
Nun aber sahen unsre Freundinnen einen Büffel am Felsufer zur Rechten sich nahen; dies bewog sie, dem köstlichen Bade zu entsteigen und sich rasch anzukleiden, um dann das schützende Lager zu gewinnen.
Am frühen Morgen wurde aufgebrochen und am Seeufer entlang nach Osten marschiert. Über den kleinen belgischen Militärposten Ngoma, der aus ein paar elenden Strohhütten bestand, ging es nach dem äußersten damals noch deutschen Posten Ostafrikas, Kissenji, der wie Ngoma völlig auf Lavagrund steht und dessen Häuser auch meist aus Lavagestein erbaut sind.
Dieser deutsche Vorposten in Mittelafrika stand erst seit kurzer Zeit; doch mit seinen sauberen, weißen Häuschen, die mit Gras gedeckt waren, mit den hübschen Bananen- und Blumengärten und dem schnurgeraden, von Eukalyptusbäumen eingefaßten Strandspazierweg machte er einen ganz städtischen Eindruck und wurde als Kulturstätte im wilden Afrika von unsren Freunden mit lebhafter Freude begrüßt.
»In gesundem, frischem Höhenklima, eintausendfünfhundert Meter über dem Meer,« sagte Schulze, »ist dieser Posten an der Grenze des Kongostaates einer glänzenden Zukunft gewiß.«
»Und kann man sich einen reizenderen Fleck Erde denken?« schwärmte Helene. »Am Ufer des lieblichsten Sees, umrahmt von schroffen Felsen, mit dem Ausblick auf die ganze Kette der mächtigen Virungavulkane, — wo kann es schöner sein?«
Eine besondere Freude war es den Deutschen, hier Landsleute zu treffen, namentlich einen liebenswürdigen deutschen Offizier; auch der Lord und die Buren freuten sich dieser Begegnung, und eine dreitägige Rast wurde aus diesem Grunde hier gehalten.
Dann ging die Reise an der Ostküste des Sees hin nach Bujonde, einem Dörfchen an einem steilen Hange über der Mecklenburgbucht, und weiterhin südwestwärts bis Ischangi und Nya-Lukemba.
Während der Lord die Karawane auf diesem Landweg führte und Leusohn ihm zur Seite stand, fuhr Schulze mit Hendrik, Helene und Sannah, Amina, Tipekitanga und Hassan nebst einigen Trägern über den See, um dessen größere Inseln zu besichtigen. In Nya-Lukemba wollten sie dann mit der Hauptkarawane wieder zusammentreffen.
Zuerst wurde auf der Insel Mugarura gelandet, die vorwiegend Steppencharakter trägt und bloß im Norden mit dichtem Buschwald bestanden ist. Nur dieser bewaldete Teil bietet landschaftliche Reize, und zwar ganz entzückende Plätzchen.
Verschwiegene Buchten umsäumen hier das sanft ansteigende Ufer. In einer solchen verankerten unsre Freunde ihre Boote.
Zu Tausenden hingen in den Ästen der Bäume die Flughunde, die sich weder durch Geschrei noch durch Schüsse vertreiben ließen; aufgeschreckt umflogen diese Fledermäuse gleich Mückenschwärmen die Köpfe der Ruhestörer und ließen sich dann gleich wieder an ihren alten Ruheplätzen nieder.
Die Insel Mugarura, die zu den größeren Inseln des Kiwusees gehört, ist unbewohnt und dient nur zeitweise Rinderhirten der Watussi zum Aufenthalt.
Von hier aus machten unsre Freunde einen Abstecher an den Mhorofall, der sich in großartigen Kaskaden in den See ergießt.
Über Mugarura zurück ging es dann nach Westen zur kleineren Insel Wau. Gelandet wurde in der nördlichen ihrer beiden malerischen Buchten, welche das drei Kilometer lange Eiland in der Mitte bis auf hundert Meter Breite zusammenschnüren.
Obgleich die Insel sehr niedrig ist, gewährt sie doch wunderbare Ausblicke auf die Virungavulkane, auf die Insel Kwidschwi und einige kleinere bewaldete Inseln.
Wau zeigte sich zur Hälfte mit dichtem Urwald bedeckt, zur Hälfte war es eine blühende Steppe, welcher die kleinen, in den prächtigsten Farben schillernden Nektarinen, die Kolibris Afrikas, einen besonderen Reiz verliehen, wie sie umherflatternd mit den langen Schnäbeln die Insekten aus den Blüten holten.
Auch Graupapageien belebten die Landschaft und regungslos, wie erstarrt, thronte auf hohen abgestorbenen Bäumen der Beherrscher der Insel, der königliche Schreiseeadler.
Als Hendrik eine am Ufer daherwatschelnde Nilgans schoß, ertönte im Urwald das Schrecken eines Buschbocks, des einzigen Säugetiers, das die Insel bewohnt.
Die Fahrt ging weiter nach der nahen Insel Kwidschwi, die mit ihrer ausgedehnten Masse die südliche Hälfte des Kiwusees beinahe zum dritten Teil ausfüllt; sie ist vierzig Kilometer lang und bis zu fünfzehn Kilometer breit.
Diese Insel wird von Negern bewohnt, deren Zahl auf zwanzigtausend geschätzt wird.
Der mittlere Teil der Insel ist mit einem dichten Urwald bedeckt, der stellenweise bis ans Ufer reicht. Hier landeten die Seefahrer in einer breiten Bucht, die von Bananen-, Erbsen und Bohnenfeldern dicht umsäumt war.
Unter einer mächtigen Schirmakazie wurden die Zelte aufgeschlagen.
In der Nähe lagen mehrere Dörfer in Bananenhainen versteckt; die Einwohner zeigten sich jedoch äußerst scheu. Sie fürchteten die Fremden, in der Erinnerung an die Watussi, die ihnen früher ihr Vieh raubten, als die Insel noch zu Ruanda gehörte. Nun aber hat sie sich von der Herrschaft Ruandas befreit und bildet ein unabhängiges Sultanat.
Bald mochten die Leute merken, daß ihnen von den Fremden keine Feindseligkeiten drohten; namentlich Tipekitanga, als gewandte Vermittlerin, brachte ihnen diese Überzeugung bei. Sie wurden rasch zutraulich, und als Schulze am folgenden Tag ein Dorf betrat, ging ihm der Älteste entgegen, schlug sich auf den Schenkel und auf die Stirn, worauf er dem Professor die Hand reichte mit der Begrüßung: »Jambo, Mami — willkommen, Herr!« Hierauf lieh der Dorfschulze den fremden Gästen Pombe und Bananen, sowie einige Hühner bringen, die mit Dank angenommen und mit Gaben von Stoffen und Perlen vergolten wurden.
Schulze hatte es sich in den Kopf gesetzt, Meerkatzen zu erbeuten, die einzigen größeren Säugetiere der Insel. Bald sollte er erfahren, wie schwierig die Affenjagd in einem afrikanischen Urwald ist.
Hendrik begleitete den Professor und Hassan folgte. Für die Mädchen war das Eindringen in den Wald nicht ratsam.
Die äußerst scheuen Meerkatzen hielten sich bandenweise in den höchsten Baumkronen versteckt, verrieten sich aber durch ihre Unruhe und ihr Gekrächze.
Es ging bergauf, bergab durch das dichteste Unterholz. Mit Armen und Beinen zugleich blieb man an den Lianen hängen oder die Schlingpflanzen schlangen sich um die Büchse und um den Hals gleich lebendigen Reptilien.
Dann krochen die Jäger wieder auf allen Vieren unter einem undurchdringlichen Gewirr von Zweigen weg, sie turnten mit Lebensgefahr über einen gestürzten Baum; die Dornen hielten sie fest und zerfetzten ihre Kleidung.
Hatten sie dann endlich schweißbedeckt den Baum erreicht, aus dessen Wipfel das Gekrächz erschollen war, so hatte das Geräusch ihrer mühsamen Annäherung die Affen längst verscheucht.
Ermattet und zerrissen mußten die erfolglosen Meerkatzenjäger schließlich die Jagd aufgeben und zu den Zelten zurückkehren, wo die Damen ihr Mißgeschick lebhaft bedauerten und die Spuren ihrer Mühsale, soweit sie sich an den Kleidern zeigten, durch fleißige Nadelarbeit beseitigten.
Der Dorfhäuptling machte einen Besuch, und als ihm das Jagdergebnis berichtet wurde, erklärte er, niemand vermöge die Meerkatzen zu erbeuten, als die Batwazwerge im Innern der Insel, die berühmten Jäger, die an Schlauheit und Gewandtheit die Affen überträfen.
Zugleich erbot er sich, einige dieser Zwerge herbeizubringen, ein Angebot, das Schulze mit Dank annahm.
Tipekitanga aber lachte verächtlich: »Braucht unser Herr fremde Jäger?« fragte sie. »Können seine Leute nicht jagen, was er befiehlt?«
Allein niemand achtete auf ihren Widerspruch; denn daß keiner der Schwarzen auf Befehl eine Meerkatze schießen werde, das stand fest, und daß es den Weißen nicht gelang, davon waren diese nach dem heutigen Mißerfolg überzeugt.
Am andern Morgen erklärten Helene und Sannah, den Urwald besichtigen zu wollen.
Schulze und Hendrik geleiteten sie an eine zugänglichere Stelle, wo ein kleiner Wasserlauf aus dem Walde trat.
Hier herrschten unter dem Laubdach der höheren Bäume die Baumfarne vor, die schönsten Kinder der afrikanischen Pflanzenwelt, die eher Palmen als Farnkräutern glichen, und deren Stamm oft zehn Meter hoch war.
Zu Helenes Entsetzen ringelten sich am Boden ungeheure Regenwürmer, fast einen halben Meter lang und von mehr als Daumendicke,» Benhamia specialis« nannte sie der Professor; aber der lateinische Name machte sie den Mädchen nicht liebenswürdiger. Krabben und Schnecken, mit oder ohne Gehäuse, krochen im feuchten Unterholz umher. Lieblicher erschienen in ihrer Farbenpracht die Schmetterlinge, von denen unzählige Arten in buntem Geflatter das Auge erfreuten. Wundervolle, große Papilioniden und Nymphaliden mit zarten, metallisch glänzenden Farben oder sattem, samtenem Schwarz, auf dem kräftiges Grün oder leuchtendes Gold strahlte, saßen im feuchten Sande.
Lange verweilten unsre Freunde in dem herrlichen Walde.
»Wo ist Tipekitanga?« fragte plötzlich Helene. Die Zwergprinzessin hatte sie begleitet, war aber verschwunden, ohne daß es bemerkt worden war; erst jetzt erinnerten sich alle, daß sie die Kleine schon seit mehreren Stunden nicht mehr bei sich gesehen hatten.
»Sie wird ins Lager zurückgekehrt sein,« sagte Schulze lachend. »Was interessiert sie die Tier- und Pflanzenwelt des Urwaldes? Gewiß wurde ihr's zu langweilig.«
Aber im Lager wußte niemand etwas von der Verschwundenen und sie erschien auch nicht zum Mittagsmahl.
Als nach beendigter Mahlzeit Hendrik mit einigen Schwarzen auf die Suche nach Tipekitanga gehen wollte, erschien der Dorfälteste Tamate und brachte ein Dutzend Zwerge mit. Sie waren kleiner als die Batwa des Vulkangebiets und zeigten sich äußerst scheu. Ihre zierlichen, wohlgebauten Leiber trugen als einzige Bekleidung einen Schurz aus Rindenstoff.
Sie waren mit Speeren bewaffnet und jeder trug, an der Schulter hängend, einen Tabaksbeutel, wie es auch bei den Wanjaruanda üblich war.
Tamate erklärte, die Zwerge seien bereit, gegen angemessene Belohnung einige Meerkatzen für die Weißen zu erlegen.
Da vernahm man in der Ferne das Kreischen eines dieser Affen aus dem Walde. Immer näher kam es und nun erschien Tipekitanga am Waldrand. Mit Mühe schleppte sie einen zierlich aus Lianen geflochtenen Korb, in dem eine Meerkatze wie tobsüchtig umherfuhr.
Die Zwerge und der Dorfhäuptling rissen Mund und Augen auf und auch die Weißen waren ganz verblüfft.
»Wie kommst du zu diesem seltenen Fang?« rief Schulze dem Mädchen entgegen, ganz außer sich vor Freude.
Die Zwergprinzessin brachte ihre Beute herbei und sagte stolz: »Tipekitanga wollte zeigen, daß ihr keine fremden Jäger braucht, wenn sie bei euch ist. Sie hat sich einen Korb aus Lianen geflochten, weil sie glaubte, eine lebendige Meerkatze sei dem Bwana Bawessa wertvoller als zehn tote; dann machte sie sich eine Schlinge und kletterte zu den Affen hinauf, so leise, daß sie nichts merkten. Mit der Schlinge hat sie diesen gefangen und vom Baum herabgezogen; er hielt sich sehr fest, aber das Lasso erwürgte ihn, daß er die Kraft verlor. Dann löste Tipekitanga die Schlinge und sperrte ihn in den Korb; da wurde er bald wieder lebendig.«
»Sehr lebendig!« sagte Hendrik und betrachtete das rasende Tier. Kopf und Hände waren tiefschwarz, sonst war es graugrün gefärbt.
Der Professor erklärte, es sei die gleiche Art wie der Cercopithekus Stuhlmanii, der bisher nur im Gebiet des Ruwenzori gefunden wurde.
Alle drückten der Kleinen ihre hohe Bewunderung über ihre unglaubliche Gewandtheit aus, Tipekitanga aber erwiderte nur: »Im Walde liegen noch zwei tote Meerkatzen, von Tipekttangas Pfeilen getroffen. Sie konnte sie nicht mitbringen, die eine war schon schwer für sie.«
Tamate meinte, nun brauchte man wohl die Batwajäger nicht weiter zu bemühen, und dies wurde ihm bestätigt. Einige Glasperlen entschädigten die Zwerge für ihren unnützen Gang.
Während Tipekitanga ihren Hunger stillte, gelang es Hendrik mit Hilfe einiger Träger, die Meerkatze mit einem Strick um den Leib zu fesseln, worauf sie an einen Baum gebunden wurde. Dann zeigte die Prinzessin den Trägern den Weg zu den erlegten Affen, die bald herbeigebracht wurden.
Die gefesselte Meerkatze aber machte an ihrem Strick so tolle, rasende Sprünge, daß sie sich innere Verletzungen zuzog und noch am Abend einging.
Allein der Professor meinte, er habe die Studien am lebenden Tiere, auf die es ihm ankam, schon zur Genüge machen können und die Felle der drei toten Exemplare seien eine äußerst wertvolle Bereicherung seiner Sammlung.
Tausende kleiner Grillen ließen im Röhricht des Sees ihr Nachtkonzert ertönen, als unsre Freunde nach ihrer Abendandacht sich zum letztenmal auf Kwidschwi zur Ruhe niederlegten; es war, als hämmerten winzige Schmiede mit silbernen Hämmern auf klingende Ambosse.
Am andern Tage ging die Fahrt weiter nach Nya-Lukemba am Südende des Kiwusees, wo der Russissi in prächtigen Fällen aus dem See austritt, um seine Wasser dem Tanganjika zuzuführen.
Flitmore und Leusohn befanden sich mit der Hauptkarawane schon dort.
Es galt nun, Abschied zu nehmen von dem reizendsten aller afrikanischen Seen.
Noch einmal standen unsre Freunde am Ufer und ließen ihre Blicke schweifen über die Wasserfläche, die sich hier von der Insel Kwidschwi begrenzt zeigte.
Der Kiwusee ist arm an Vögeln; am anziehendsten waren die ausfallenden, schneeweißen Gestalten der Silberreiher, die am Ufer einherstolzierten; Möwen und Kormorane flogen über das Wasser und auch vereinzelte Nilgänse und Enten waren zu schauen.
»Fissimaja, Bwana, — Herr, eine Fischotter!« rief Hamissi und wies in den See.
Hendrik zielte und hatte das Glück, den Fischräuber zu treffen, der im Kiwu häufig vorkommt.
Das war seine letzte Beute vom Seegestade; die Reise ging nun weiter nach Süden, dem Tanganjika zu.
Vorerst wanderte man am Russissi dahin, der ebenfalls südwärts strebte.
Flitmore machte jedoch den Professor darauf aufmerksam, daß die ganze geologische Bildung darauf hinwies, daß vielleicht vor nicht gar zu langer Zeit der Fluß von Süden nach Norden fließen mochte und so einen Abfluß des Tanganjika in den Kiwu gebildet hätte, als dieser noch in den Albert-Edward-See abfloß, dann wäre der Russissi ein Teil des Oberlaufes des Nilstromes gewesen.
Schulze und Leusohn mußten sogar dem Lord zugeben, daß ein Steigen des Tanganjika noch heute seinen Abfluß nach dem Kiwusee eröffnen könnte, und daß die eigentlichen Nilquellen dann in einem Zufluß zum Tanganjika zu suchen seien.
»Allerdings, eine ganz unerhörte geographische Seltsamkeit!« erklärte Schulze; »denn dann wäre der Quellfluß des Nils gleichzeitig der Quellfluß des Kongo, da der Tanganjika auch an diesen durch den Lukuga zeitweilig Wasser abgibt.«
»Und doch entspricht gerade dieses geographische Wunder den Angaben der alten Karten Afrikas,« fügte Flitmore hinzu. »Die Zweifelsucht neuzeitlicher Kartenzeichner erst hielt diese Eintragungen für Schwindel und merzte sie aus den Karten aus.«
In der Ebene südlich vom Kiwusee schien sich die Tier und Pflanzenwelt von Ost- und Westafrika zu vereinigen. So erblickte man unter den zahlreichen Büffelherden solche des schwarzen Büffels des Ostens und solche des kleineren roten westafrikanischen Büffels.
Leusohn und Hendrik brachten es nicht übers Herz, an all dem vielen Wilde ungejagt vorüber zu gehen und beschlossen, eine Büffeljagd zu unternehmen.
»Lassen Sie die Büffel in Ruhe,« warnte Schulze, »und sind Sie froh, wenn die Büffel Sie in Ruhe lassen. Der Büffel gehört zum stärksten Wilde Afrikas und bleibt oft Sieger im Kampfe mit dem Löwen. Greift er die Menschen auch nicht aus Raublust oder Händelsucht an, wie der Leopard, da er kein Fleischfresser ist, so ist er doch, angegriffen und gereizt, ein kampflustiger und furchtbarer Gegner, gleich dem Elefanten.
»Die Afrikareisenden Russell und Harnier und so mancher andre, haben ihr Leben unter den Hörnern eines Büffels ausgehaucht.«
Leusohn lachte: »Professor!« sagte er, »Sie sind geradezu köstlich! In Ihrem gelehrten Eifer, Belehrungen zu erteilen, vergessen Sie ganz, daß wir schon am Semliki Gelegenheit hatten, die Büffel gründlich kennen zu lernen.«
»Stimmt!« brummte Schulze. »Wenn Sie aber trotz solcher Erfahrungen in Ihr Verderben rennen wollen, ist es meine Pflicht, Sie zu warnen.«
Als jedoch gegen Abend Hendrik und Leusohn, vom starken Juku begleitet, in der Nähe des Flußufers einem Büffel aufzulauern gingen, erklärte der Professor, der kein Hasenfuß war und selber gerne jagte: »Allein kann ich Sie unmöglich auf diese lebensgefährliche Jagd ausziehen lassen: ich habe mich in Südamerika zum Wildtöter ausgebildet und werde Ihnen mit meiner niefehlenden Büchse beistehen.«
So schritten denn die drei Weißen mit dem Schwarzen der gewöhnlichen Tränkstelle des Wildes zu, die durch zahlreiche Fährten gekennzeichnet war; dort verbargen sie sich hinter hohen Termitenbauten und warteten auf ihr Opfer.
Antilopen und kleineres Wild, das sich zuerst an der Tränke einfand, blieb unbelästigt, damit nicht durch einen Schuß das größere Wild gewarnt würde.
Plötzlich aber gerieten die friedlich ihren Durst löschenden Tiere in Aufruhr und jagten davon. Die Jäger sahen einander erstaunt an: hatten die Antilopen Witterung von ihnen bekommen? Aber sie lagen in der Windrichtung.
Alles schien still und der Mond übersilberte die ausgedehnte Ebene.
»Der Löwe!« rief Juku. Sein scharfes Ohr hatte fernes Löwengebrüll vernommen.
Offenbar besaßen die Antilopen ein noch feineres Gehör als der Schwarze und hatten die Gefahr vor ihm bemerkt.
Nun vernahmen auch die Weißen die rauhen Töne, die stets einen gelinden Schauder erwecken. Sie wurden immer lauter und deutlicher, und zwar so rasch, daß es zweifellos war, der König der Steppe verfolgte ein flüchtiges Wild.
Schon hörte man ein donnerndes Stampfen und bald darauf erschien ein schwarzer Koloß in rasender Eile, aber ehe er noch das Flußufer erreicht hatte, saß ihm der Löwe im Nacken.
Der Büffel strauchelte, raffte sich aber alsbald wieder auf, da traf eine Kugel aus Hendriks Büchse den Löwen, der mit wütendem Gefauch von seinem Opfer abließ und mit wilden Sätzen auf die Termitenhügel zusetzte.
Leusohn und Schulze drückten gleichzeitig auf den Feind ab. Ersterer traf ihn in den Hals, während die Kugel aus des Professors niefehlender Büchse den Büffel in die Schwanzgegend traf.
Er behauptete zwar hernach, er habe auf den Bullen gezielt; doch fand dies wenig Glauben; denn wer wird auf ein entferntes Wild anlegen, wenn ein Löwe in nächster Nähe auf ihn einstürmt?
Der Löwe hatte genug: schon Hendriks Kugel hatte ihn tödlich getroffen, wie sich später erwies.
Der Büffel jedoch, statt sich bei seinen Lebensrettern höflich zu bedanken, raste nun seinerseits auf die verdächtigen Termitenbauten zu.
Allein auch er wurde getroffen, daß er niedersank, und Juku sprang trotz Hendriks Zuruf hinzu, um ihm mit dem Messer den Todesstoß zu versetzen.
Der Bulle kam aber noch einmal hoch und beugte den massigen Kopf, um den Neger auf seine furchtbaren Hörner zu spießen und in die Luft zu schleudern.
Ein Schuß war unmöglich, denn Jukus Leib deckte den Büffel: der Schwarze schien verloren.
Aber schon hatte er das Messer fortgeworfen und packte den Büffel bei den Hörnern, die er so fest hielt, daß der Bulle mit seinen gewaltigen Kopfstößen ihn nicht abzuschütteln vermochte, obgleich er ihn derart hin und her schleuderte, daß der Ausgang nicht zweifelhaft sein konnte.
Die Jäger waren inzwischen herbeigeeilt und nahmen den Büffel nun von der Seite. Schulze war so vernünftig, seine niefehlende Büchse in Ruhe zu lassen, da er unfehlbar Juku getroffen hätte, der einmal dahin, einmal dorthin flog.
Hendrik und Leusohn dagegen gelang es, den richtigen Augenblick zu benutzen, um zwei Schüsse abzugeben, die dem rasenden Tiere das Lebenslicht ausbliesen.
Auf die ersten Schüsse waren mehrere Neger aus dem Lager herbeigeeilt, die sich aber während des Kampfes in ehrerbietiger Entfernung hielten.
Nur Kaschwalla, der infolge eines tüchtigen Pombetrunkes voller Löwenmut war, stieß dem zusammenbrechenden Bullen seine Lanze in die Seite und rühmte sich hernach, Jukus Leben gerettet zu haben.
Ins Lager zurückgekehrt erzählte Kaschwalla: »O, Mutter! Hättet ihr doch alle den starken Juku gesehen! Das ist ein Tänzer, so habe ich noch keinen erblickt! Einmal flog er mit beiden Füßen nach rechts, dann wieder nach links, meistens aber waren seine Beine hoch in der Luft und der Kopf unten. Und das ging so schnell, daß sie überall zugleich zu sein schienen und nie den Boden berührten. Und der Büffel! Der drehte sich im Kreise umher und schwang den Kopf auf und ab, rechts und links: er war auch ein geübter Tänzer.
»Allein ich fürchtete, er möchte den armen Juku zu Tode tanzen und gab ihm mit meiner Lanze das Zeichen, einzuhalten. O, starker Juku, führe doch noch einmal diesen herrlichen Büffeltanz aus, daß die andern es auch sehen.«
»Wenn du mir einen Büffel holst, Baba Pombe,« sagte Juku trocken.
Kaschwalla war, wie gesagt, stark angeheitert und in der Stimmung, alles zu wagen.
»Gleich werde ich dir einen holen!« antwortete er und entfernte sich.
Die Neger lachten, denn sie glaubten natürlich, er scherze. Aber zwei Stunden vergingen und Kaschwalla kehrte nicht wieder.
Inzwischen war der erlegte Bulle ins Lager geschafft worden und der saftige Büffelbraten bereits gar.
Die Fleischstücke wurden auch unter die Neger verteilt; aber einige treue Seelen wollten nichts davon genießen, ehe sie über Kaschwallas Schicksal beruhigt waren, und beschlossen, mit Sangula, die jetzt erst von der Sache erfuhr, nach dem tollkühnen Dicken zu forschen.
Aber sieh! Da erschien dieser und schleppte ein Büffelkalb mit großer Anstrengung daher.
Ein wahrer Tumult brach aus. Rufe der Verwunderung und Bewunderung erschollen im Lager; solch eine Heldentat war ja ganz unerhört, und vollends von Kaschwalla — wer hätte das gedacht!
»Ich habe des Löwen Herz verzehrt,« erklärte Baba Pombe stolz, »jetzt habe ich den Mut und die Kraft des Löwen.«
Daran zweifelten die Schwarzen nicht, denn es herrscht bei ihnen allgemein der Glaube, daß die guten Eigenschaften eines Tieres auf denjenigen übergehen, der sein Herz verzehrt. Das gleiche glauben auch die Kannibalen, wenn sie Menschenfleisch genießen.
Nun erklärte es sich auch, warum der Löwe, als die Weißen ihn holen ließen, kunstgerecht geöffnet war: Kaschwalla hatte zunächst dem toten Raubtier das Herz herausgeschnitten, hatte es roh verspeist und war nun von dem eigenen Mute so felsenfest überzeugt, daß er tatsächlich mit unglaublicher Kaltblütigkeit und Furchtlosigkeit seinen tollkühnen Plan ausführte.
Zunächst durchwatete er den Fluß und schlich sich nach einer weiter abwärts gelegenen Tränkstelle des Wildes, da nicht zu erwarten war, daß der Schauplatz des letzten Kampfes heute Nacht noch besucht werde.
Nebst zahlreichen Antilopen erblickte er dort auch eine Büffelkuh und ein Büffelkalb. Letzteres entfernte sich mit seinen tollen Sprüngen öfters von der Mutter und kam bald auch zu der Stelle, wo sich Kaschwalla im hohen Grase verborgen hielt.
Blitzschnell sprang der Neger auf, trotz seiner Leibesfülle.
Eine so rasche Bewegung hatte er seit seinen schlanken Jünglingsjahren sich nicht mehr geleistet; aber es galt!
Ebenso schnell drückte er dem überrumpelten Tier Nüstern und Kehle zu, daß es keinen Laut von sich geben konnte und bald betäubt war. Während der Büffel schon anfing nach dem verschwundenen Kalb zu suchen, lud sich Kaschwalla dasselbe auf und schlich lautlos davon. Sowie er merkte, daß das Tier einen Laut von sich geben wollte, hielt er wieder an, um ihm die Luft abzuschneiden. Erst in der Nähe des Lagers ließ er es wieder ganz zur Besinnung kommen.
Da Juku erklärte, er tanze nur mit ausgewachsenen Büffeln und nicht mit einem elenden Kalb, wurde Kaschwallas Beute sogleich geschlachtet und zerlegt, und obgleich es darüber spät wurde, auch noch gebraten und verzehrt.
Die Neger wachen gern in die späte Nacht hinein, und die Tat des Kaschwalla Löwenherz mußte gefeiert werden, was durch Verzehren der Jagdbeute am besten geschah. Das Büffelfleisch ist zwar derber als Rindfleisch, liefert aber nicht minder wohlschmeckende und saftige Braten.
Unterdessen stritten sich Hendrik und Leusohn um das Fell des Löwen. Jeder sprach es nämlich dem andern zu, als demjenigen, der den tödlichen Schuß abgegeben habe.
»Wissen Sie was?« erklärte schließlich der Doktor: »Wir verehren es gemeinschaftlich Fräulein Sannah, dann hat der Streit ein Ende.«
Hendrik hätte es zwar lieber Fräulein Helene geschenkt, da er jedoch immer Leusohn das Verfügungsrecht zugesprochen hatte, nahm er den Vorschlag an, und Sannah erhielt das prächtige Fell, das fortan ihr Stolz und ihre Freude war.
In der Hitze des Tages lief der Schweiß der Träger in Strömen. Aber statt zu klagen und zu murren oder auch nur verdrießlich zu sein, scherzten sie darüber nach Negerart und erheiterten einander durch ihre Witze.
»Ach! Da läuft nun wieder die gute Milch und die köstliche Butter ins Gras, die mir gestern so schmeckten!« sagte einer.
»Nicht umsonst war das Büffelfleisch so saftig!« klagte ein anderer mit lustigem Augenblinzeln. »Der Bratensaft tritt mir zur Stirne wieder aus.«
»Ach, was nützt es zu essen und zu trinken?« philosophierte ein dritter. »Alles wird wieder herausgeschwitzt.«
»Ei, so laß Essen und Trinken sein,« mahnte Kaschwalla; »ich aber denke umgekehrt: gerade weil ich mehr Schweiß verliere als ihr, trotz eurer Lasten, muß ich um so mehr Pombe trinken, daß nicht zuletzt mein ganzer Leib zerfließt wie die Butter in der Hitze.«
»O, du!« lachte der Sulu Parker. »Wenn du auch die Hälfte deines Leibes verschwitzst, aus der andern Hälfte kann man doch noch einen Träger und einen Askari machen.«
So redeten sie aufeinander ein, und es mochte ein Witz noch so harmlos oder gar schwach sein, schallendes Gelächter zollte ihm unfehlbar Beifall.
Ein Dorf kam in Sicht, dessen Einwohner sich zur Abwechslung feindselig stellten und drohten, die Karawane anzugreifen.
Kaschwalla, der tatsächlich keine Furcht mehr zu kennen schien, seit er das Löwenherz verzehrt hatte, erbot sich, mit den Leuten zu verhandeln. Juku und Parker begleiteten ihn, und der feindliche Häuptling trat ihnen mit angemessener Begleitung entgegen.
»Warum wollt ihr Krieg mit uns?« fragte Juku.
»Wir fürchten, ihr kommt, uns zu schaden; denn ihr seid keine Menschen wie wir.«
»Wieso?« fragte jetzt der Sulu. »Sind wir nicht schwarz wie ihr, haben wir nicht Kopf, Hände und Füße, wie ihr alle?«
»Ja,« sagte der Häuptling, »ihr scheint wohl menschliche Geschöpfe zu sein wie wir. Aber eure weißen Häuptlinge, was sind das für Wesen?«
»O,« nahm nun Kaschwalla das Wort, »die kommen vom Mond, deswegen haben sie heute weiße Gesichter wie der Vollmond; sowie aber der Mond abnimmt, wird ihr Gesicht immer schwärzer und bei Neumond ist es so schwarz wie das unsrige.«
Der Häuptling riß vor Staunen den Mund weit auf; dann aber sagte er: »Das muß wohl so sein, wie ihr sagt, und so mögen sie uns willkommen sein, wenn sie Frieden wollen.«
»Sie sind so friedlich wie der Mond,« versicherte Kaschwalla, »und stechen nicht wie die Sonne.«
So genügten wenige Worte, um die freundschaftlichen Beziehungen zu jenen Wilden herzustellen, die sich so grimmig gebärdet hatten, und doch nur aus Furcht einen Angriff unternehmen wollten, um den vermeintlichen Feinden zuvorzukommen.
Während das Lager errichtet wurde, kamen Neugierige aus dem Dorfe, die Weißen anzustaunen, deren Gesicht wechselte wie der Mond.
Irgend eine ungewohnte Kleinigkeit, die sie erblickten, konnte sie erschrecken und ein paar Schritte zurücktaumeln lassen.
Hiebei stieß einmal einer der Eingeborenen an den vorbeikommenden Araber Achmed, der auf die Neger nicht gut zu sprechen war, so gut er auch seine Somalis behandelte. Beleidigt über die unabsichtliche Anrempelung, rief er: »Einen solchen Tölpel, wie dich, habe ich noch nie gesehen; du bist die Schlechtigkeit selbst.«
Der Schwarze wandte sich ihm zu und sagte lächelnd: »Du hast recht, ich kann es nicht leugnen; wie könnte es auch anders sein? Ist doch alle Güte bei dir!«
»Du bist ein Dummkopf!« schalt Achmed, ärgerlich über die sanftmütige Erwiderung.
»Es ist wahr, das bin ich,« war die gelassene Antwort; »denn du bist es, der allein alle Weisheit besitzt.«
Achmed war geschlagen und beschämt.
»Nein! hören Sie nur,« sagte Schulze zu Leusohn, »wie liebenswürdig und fein dieser Wilde den ganz grundlos ihn beschimpfenden Araber zurechtwies! Wie wenig reizbar und wie überlegen durch seine unerschütterliche Ruhe und Höflichkeit zeigt sich dieser Mann, und dabei hat er den Gegner durch seinen Spott gründlicher geschlagen, als wenn er Scheltwort mit Scheltwort vergolten hätte: und das sind nun die Leute, die uns vor einer halben Stunde so wild und kriegerisch erschienen!«
Im Russissitale wurden prachtvolle Schluchtbildungen entdeckt, überhaupt war es ein äußerst romantischer Fluß.
An einer Stelle, wo er sich zwischen enge Felswände einzwängte und nach Westen abbog, wurde der Flußlauf verlassen und die südliche Richtung beibehalten.
Nach einem weiteren Tagemarsch aber stand die Karawane vor einem Nebenfluß des Russissi, der zu tief war, um durchwatet werden zu können.
Es handelte sich also darum, ob eine Brücke über das Hindernis geschlagen oder ein Kanu gebaut werden solle.
Zu einer Brücke fehlte es jedoch hier an hohen Bäumen und auch der Bootsbau war ohne starke Stämme schwierig. Eines wie das andre hätte auch mehrere Tage Arbeit erfordert und mit einem einzigen Nachen hätte es wieder ein paar Tage dauern können, bis alles Gepäck und die ganze Karawane hinübergeschafft worden wären.
Leusohn schlug daher vor, nach Osten abzubiegen, um vielleicht flußaufwärts eine Furt zu finden; dabei verliere man nichts, da das nächste Ziel, Urundi mit den Kageraquellen, doch südostwärts liege.
Flitmore seinerseits hätte gern den Russissi noch weiter erforscht. Beide überließen die Entscheidung Schulze, als dem Führer der Expedition.
Der Professor schwankte; einerseits war Leusohns Vorschlag am bequemsten auszuführen, andrerseits hätte er doch gerne Flitmores Wunsch erfüllt, da im Grunde so ziemlich die ganze Karawane auf seine Kosten angeworben und ausgerüstet worden war.
Ratlos sah er umher, als ob sich irgend ein Hilfsmittel zeigen müsse. Er entdeckte aber weiter nichts, als daß merkwürdig viel Kürbisse in der Gegend wuchsen und zwar ganz riesige Exemplare.
Doch eben diese Kürbisse brachten ihn auf einen erlösenden Gedanken. »Da fällt mir ein,« rief er fröhlich aus, »daß schon Barth und nach ihm Schweinfurth darauf aufmerksam gemacht haben, daß ein paar Dutzend mittelgroßer Flaschenkürbisse genügen, um in kürzester Zeit eine tragfähige Fähre herzustellen. Hier haben wir Hunderte von Riesenkürbissen, was wollen wir mehr? Ein paar Tage wird die Sache ja schon dauern, weil die Kürbisse erst getrocknet werden müssen; aber wir brauchen so wie so wieder einmal eine längere Rastzeit, und dann wissen wir nicht, zu welchen Umwegen uns der vielleicht viel gekrümmte Flußlauf nötigt, wenn wir ihn ostwärts verfolgen wollten. Wir gehen daher am sichersten so.«
»Ausgezeichnet!« rief Lord Flitmore, froh, daß nun seine Wünsche in Erfüllung gehen sollten. »Aber ich meine, wenn wir doch einmal eine Fähre bauen, wozu soll uns das schöne Werk bloß dienen, den Fluß zu überqueren?«
»Es ist allerdings schmerzlich,« stimmte Hendrick bei, »das Kunstwerk, das in mehrtägiger Arbeit entstand, nur für eine Stunde in Gebrauch nehmen zu können, um es dann als ausgedient zurückzulassen.«
»Darum möchte ich vorschlagen,« fuhr Flitmore fort, »wir bauen ein starkes und langes Floß, das die ganze Karawane aufnehmen kann, und fahren den Fluß hinunter, so weit es geht. Glückt es, so können wir unter Umständen ein paar Tagemärsche ersparen und kommen in einem Tage so weit, wie sonst in fünf; denn einmal geht es schneller und dann halten, wie ich vermute, die Träger das Fahren länger aus als das Lastentragen.«
»Das ist ein feiner Gedanke!« rief Helene. »Wie freue ich mich auf eine Wasserfahrt!«
Hendrik aber bemerkte: »Überdies hält es uns gar nicht länger auf, ob wir ein großes oder ein kleines Floß bauen; den Hauptaufenthalt verursacht das Trocknen der Kürbisse und tausend trocknen so schnell wie hundert. Das Aushöhlen der Früchte ist leichte Arbeit, in der die Neger bewandert sind, und da Frauen und Kinder mithelfen können, wird ein Tag genügen, um uns mit tausend dieser Luftblasen zu versehen.«
Wie Hendrik voraussagte, ging die Arbeit rasch vonstatten. Die ausgehöhlten Kürbisse wurden mit heißem Sand vom Flußufer gefüllt, und da derselbe häufig durch frischen, trockenen ersetzt wurde, konnten am vierten Tag schon die Kürbisse mit Pflanzenbast zusammengefügt werden. Da alle Hände zu dieser Arbeit frei waren, war schon nach zwei weiteren Tagen ein Floß von genügender Größe und Tragkraft vollendet und schwamm, am Ufer festgebunden, auf dem Fluß.
Eine dichte Lage des langen zähen Steppengrases und Schilfrohres deckte die tragenden Kürbisse, und noch am Abend waren sämtliche Lasten eingeschifft, so daß es am andern Morgen in der Frühe losgehen konnte.
Stundenlang ging die schöne Fahrt zwischen grünen, erst flachen, dann hügeligen Ufern hin, zwischenhinein auch durch geheimnisvolle Wälder.
Dann wurde das Ufer felsig. Immer schroffer stiegen die steinernen Wände zu beiden Seiten empor und mit Besorgnis schaute Schulze aus, ob kein Ende abzusehen sei.
Ihm fielen die gefährlichen Stromschnellen des Kongo und des Sambesi ein, die so viele Opfer gefordert haben; es hatte ganz den Anschein, als ob etwas Ähnliches hier drohe, um so mehr, als die Ufer immer näher zusammenrückten, und der in die Enge eingezwängte Fluß immer reißender strömte.
An ein Umkehren war nicht mehr zu denken; gegen die Strömung hier anrudern zu wollen, wäre in einem leichten Kanu vielleicht möglich gewesen, nicht aber auf dem gewaltigen Floß, zumal nur Ruderstangen und keine eigentlichen Ruder vorhanden waren. Eine Landung aber war, angesichts der senkrecht aufragenden Felswände, ausgeschlossen.
Auf einmal, bei einer Biegung des Flusses, sah Schulze, wie sich die Felsen in der Höhe zusammenschlossen und ein schwarzer Tunnel sich öffnete, dem das Fahrzeug unaufhaltsam zutrieb.
»Nun gnade uns Gott!« rief er aus. »Wenn das nur gut abläuft!«
Und schon befanden sie sich im Schoß des Berges; das Floß schoß pfeilschnell dahin und es kostete die größte Mühe, bei der zunehmenden Finsternis einen Anprall an die Felsen zu verhüten. Und betäubend rauschten und brausten die Wasser in tausendfachem Widerhall.
Fackeln wurden entzündet, denn es wurde stockdunkle Nacht nur noch in weiter Ferne sah man den bleichen Schimmer des Tunneleingangs.
Aber wie funkelten und glitzerten die Wände in der roten Glut der Fackeln! Tropfsteine hingen von oben herunter und an den Seiten war alles Bergkristall. Dieser aber schien radioaktiv zu sein, denn er besaß offenbar eigene Leuchtkraft.
Die Fahrt verlangsamte sich; das Gefäll schien mäßiger zu werden und damit schwand auch die unmittelbare Gefahr und die größte Besorgnis der Fahrer.
»Hurra!« rief der Doktor, als das Floß sich der einen Höhlenwand so sehr näherte, daß er mit einem wuchtigen Schlag einer Ruderstange sich ein besonders weit hervorragendes Stück Bergkristall abzuschlagen vermochte, das auf den Boden des Floßes fiel.
»Hurra!« rief er, den glitzernden Kegel aufhebend. »Ich hab's! Das ist die Höhle, durch die Herzog Ernst mit seinen Rittern fuhr, und Herzog Ernst schlug einen funkelnden Stein von der Wand ab, den heißt man auf Lateinisch › Unio‹ und zu Deutsch 'Karfunkel'. Wahrhaftig! Ich glaube nun, daß die ganze sogenannte Sage von Herzog Ernst auf einem wahrheitsgetreuen Reisebericht beruht, wenn sie auch die Tatsachen etwas kunterbunt untereinandermengt.
»Der brave Herzog muß so ziemlich den gleichen Reiseweg eingeschlagen haben wie wir; denn haben wir nicht die Kranichschnäbel, die Zwerge und die Riesen gesehen, zu denen er kam? Fahren wir nicht soeben durch die Karfunkelhöhle, aus der er seinem Vater, dem großen Kaiser Otto, einen leuchtenden Stein mitbrachte, den dieser in seine Krone fassen ließ?
»Es sollte mich nicht wundern, wenn wir jetzt noch zu den einäugigen Arimaspern kämen, von denen die Sage weiter berichtet, wenn sie diese nicht spitzbübisch dem alten Vater Homer entlehnt hat, um die Reise des Herzogs mit noch mehr Wunderbarem auszustatten, als sie an und für sich schon enthielt.«
Nach einstündiger Fahrt, zuletzt in ganz ruhigem und trägem Fahrwasser, war das Ende der Höhle erreicht und aufatmend begrüßten alle das Tageslicht, dem nun die bisher in stummem Bangen befangenen Schwarzen mit jubelnden Gesängen ihr Lob spendeten.
Nach einer weiteren Stunde traten an Stelle der kahlen Felsen grüne Hügel an die Ufer heran, und hier vereinigte sich der Fluß mit dem Russissi.
Es konnte gelandet und gelagert werden.
Noch einen weiteren Tag dauerte die Floßfahrt auf dem Russissi, dann erstiegen unsre Freunde das linke Ufer und überließen das abgeladene Floß seinem Schicksal.
In den Felsen des Ufers entdeckte Hendrik den Eingang zu einer Höhle.
Schulze wünschte, auch dieses Naturwunder zu besichtigen und die übrigen Weißen nebst Tipekitanga schlossen sich ihm an.
Der enge Eingang führte in einen großen Raum, dessen Decke von einer glatten Steinplatte gebildet wurde. Aus diesem unterirdischen Saale führte ein ziemlich breiter Tunnel in gotischer Bogenform tiefer hinab.
Dieser Gang bot einen wahrhaft feenhaften Anblick; denn er bestand aus schneeweißem Gestein, das im Schein der Fackeln blitzte und glitzerte. Seltsame Gebilde bedeckten die Wände oder hingen von der Decke herab; schlanke Säulen, mächtige Pfeiler, versteinerte Schlangen und Drachen, zarte und großartige, liebliche und grauenerregende Gestalten wechselten in stets erstaunlichen Formen.
Der schwarze Boden war elastisch wie Gummi, so daß die Tritte keinen Laut weckten und unheimliche Stille die Wanderer umfing.
Plötzlich öffnete sich eine weite Halle, durch die ein kohlschwarzer Fluß dahinglitt.
»Der Styx!« rief Schulze. »Der schwarze Strom der Unterwelt, die Gewässer des Todes!«
Wahrhaftig, was konnte besser den sagenhaften Fluß des Totenreiches veranschaulichen als dieser finstere, lautlos fließende Bach, der in ewiger Nacht und Grabesstille die gespenstischen bleichen Hallen durchzog?
Über dem Fluß drüben gähnten in der Rückwand der Grotte mehrere Löcher, Gänge, die zu weiteren Wundern führen mochten aber das eiskalte Wasser gebot weiterem Vordringen Halt. Ohne Hilfsmittel konnte es nicht überschritten werden.
So verzichteten denn unsre Freunde auf eine weitere Erforschung der Höhle, zumal die Stille da unten bedrückend wirkte, so herrlich auch alles erschien bis auf den geheimnisvollen Strom.
Sie fühlten sich hier unten wie Gefangene oder lebendig Begrabene und beeilten sich, den Ausgang zu gewinnen.
Erleichtert atmeten sie auf, als wieder goldenes Sonnenlicht sie umflutete.
Jetzt wurde rüstig ausgeschritten in östlicher Richtung, und am folgenden Tage erreichte die Karawane die Grenze von Urundi.
Angesichts der Grenze wurde gelagert.
Einige Warundi, die in der Nähe ihre Herden hüteten, gerieten beim Anblick der Weißen in gewaltige Aufregung und stießen an einem fort Rufe aus, die aber bei der Entfernung nicht verstanden werden konnten; darauf zogen sie sich ins Innere des Landes zurück.
Wie besorgt aber war Schulze, als am nächsten Morgen das Toben und Schreien einer gewaltigen Volksmenge wie fernes Meeresbrausen an sein Ohr schallte.
Er trat vor das Zelt und sah in der Entfernung von etwa einem halben Kilometer einen Zug von Negern, die mehrere Hundert an der Zahl zu sein schienen, sich der Grenze nahen.
Die Leute zeigten die höchste Aufregung, fuchtelten mit den Armen und stießen gellende Schreie aus.
Inzwischen hatte der ungewohnte Lärm auch die übrigen Weißen aus den Zelten gelockt, und Leusohn und Helene sahen ebenfalls mit besorgten Mienen den Nahenden entgegen.
Der Professor wunderte sich nur, daß seine Schwarzen gar keine Angst verrieten, vielmehr lachten und scherzten, als handle es sich um einen Spaß.
»Das ist bedenklich!« nahm Schulze endlich das Wort. »Die Warunda wollen uns offenbar den Eintritt in ihr Land verwehren, und angesichts ihrer drohenden und feindseligen Haltung fürchte ich, wir könnten nicht ohne Blutvergießen den Weitermarsch erzwingen.«
»Und ob wir ihn mit Gewalt erzwingen könnten?« fragte Leusohn kopfschüttelnd. »Sie sind hier bereits in solcher Zahl versammelt, dazu so wohl bewaffnet, daß der Ausgang eines Kampfes zum mindesten zweifelhaft erscheint.«
»Erlauben Sie,« widersprach Flitmore, »ich bin schon mehr in Afrika gereist, und so viel ich beurteilen kann, ist die Aufregung dieser Leute, so wild sie sich gebärden, eher eine freudige als drohende. Ich glaube, sie wollen uns mit offenen Armen aufnehmen.«
»Hm!« machte Schulze. »Eine eigentümliche Art ist dieses Gebaren für einen freundlichen Empfang. Immerhin möchten Sie nicht unrecht haben. Ich erinnere mich, daß mancher Neuling in Afrika zu seinem eigenen Schaden solche wilde Freundschaftsbezeugungen als kriegerische Kundgebungen auffaßte.
»So beschwerte sich beispielsweise Hauptmann von Francois über die drohende und feindselige Haltung verschiedener Stämme, die Wißmann hernach als durchaus harmlos und friedlich gesinnt erkannte. Die Häuptlinge hatten sich um die weißen Gäste förmlich gerissen, so erfreut waren sie über den ehrenvollen Besuch. Francois aber hatte ihre Äußerungen tobender Freude für Wutausbrüche gehalten. Solch ein Mißverständnis kann leicht verhängnisvolle Folgen haben, wenn man sich zu voreiligen Schritten hinreißen läßt.«
»Unsre Träger und Askaris,« mischte sich Hendrik ein, »scheinen jedenfalls die Kundgebungen der Warundi nicht für bedenklich zu halten und auch nach meinen Erfahrungen möchte ich Lord Flitmore recht geben. Da sehen Sie doch! Wir werden tatsächlich mit hohen Ehren und begeisterter Freude begrüßt!«
Die Schar der Warundi war inzwischen bis zur Grenze gekommen. Sie kamen, die weißen Fremdlinge zu empfangen, von deren Ankunft die Hirten ihnen Nachricht gegeben hatten, eine Kunde, die wie ein Lauffeuer das ganze Land durcheilte.
Die Leute zeigten sich als kräftige, wohlgewachsene Gestalten, anmutig in ihren Bewegungen und mit edelgeschnittenen, zum Teil wirklich schönen Gesichtszügen.
Sie trugen keine Waffen; denn das, was Schulze und Leusohn aus der Ferne für geschwungene Speere gehalten hatten, erwies sich nun in der Nähe als blumenumwundene Stäbe und schwanke Laubzweige, die mit hellen Jubelrufen in der Luft geschwenkt wurden.
Nun hielt die Karawane angesichts dieser freudigen Menge, die an der Grenze stehen blieb, in aller Ruhe ihr Frühmahl; dann wurden die Zelte abgebrochen, die Träger nahmen die Lasten auf und der Abmarsch erfolgte.
Beim Nahen der Karawane teilte sich die Menge der Warundi und ließ in ihrer Mitte eine Gasse frei.
Leusohn ritt diesmal auf seinem Reitstiere voran und wagte sich, nicht ohne einige Beklemmung, mitten in die Gasse hinein.
Da trat ihm ein hochgewachsener Häuptling entgegen, neigte vor ihm seinen Blumenstab und rief: »Mwesi, Mkasi ya Urundi, Viheko visima, tuli Wahutu!«
Diese Anrede bedeutete zu deutsch, wie Schulze später erklärte: »Mwesi, Beherrscher von Urundi, großer König, wir sind deine Sklaven!«
»Passen Sie auf,« sagte der Professor, als er die Worte vernahm, »Doktor, die Leute halten Sie für den Mwesi, den weißen König, der von Norden kommen soll, nachdem er sich im Geisterwasser verjüngt hat; sie hoffen auf den Wiederanbruch der goldenen Zeit ihrer alten Sagen. Genau so ist es hier Oskar Baumann ergangen, der auch in Urundi als der Mwesi begrüßt wurde. Ähnlich wurden Witzmann und Pogge von den Baschilanga begrüßt, die in ihnen ihre zwei in der Fremde gestorbenen Häuptlinge sahen, die aus dem Geisterwasser als Weiße zurückgekehrt seien.«
Nun kam den Reisenden eine Schar Frauen und Mädchen entgegen, die vor ihnen einen kunstvollen Tanz aufführten, mit anmutigen Bewegungen der hocherhobenen Arme ihre Laubzweige schwingend. Es war ein wirklicher Genuß, den reizvollen Verschlingungen des Reigens zuzusehen.
Durch das ganze Land wurde die Karawane von einer stets wachsenden Volksmenge begleitet, die bald nach Tausenden zählte.
Immer wieder wurden Tänze aufgeführt, teils von den Männern, teils von den Frauen, und auch die kleinen, nackten Kinder machten komische Sprünge, um im Tanze ihre Freude kundzugeben.
Die Kinder ließ man springen, wie sie wollten; machte aber ein Erwachsener den kleinsten Fehler in dem wirklich kunstreichen und schwierigen Tanz, so wurde der Sünder oder die Sünderin mit Hohngeschrei oder gar mit Prügeln davongejagt.
Überall wurde die Karawane aufs reichlichste mit Lebensmitteln versorgt; großhörnige Rinder, Ziegen und Schafe, Unmengen von Bananen und Hülsenfrüchten, zahlreiche Krüge mit Pombe wurden an einem fort in das jeweilige Lager unsrer Freunde gebracht, ohne daß irgend etwas gefordert oder erbeten worden wäre.
»Dem Mwesi gehört alles!« hieß es immer wieder, und ihm gegenüber verstummte selbst die sonst unvermeidliche Bettelei der Neger.
Auf Hendriks Rat nahm denn auch Leusohn, der hier notgedrungen den Herrn der Karawane spielen mußte, alle Gaben mit königlicher Würde entgegen, ohne den Versuch zu machen, etwas zu bezahlen; kurz, er verhielt sich, wie es dem Landesherrn zukam, da er als solcher angesehen wurde.
Auch sein königliches Gefolge nahm den begeisterten Zoll getreuer Untertanen als etwas Selbstverständliches entgegen denn bald hatten alle begriffen, was von ihnen gehalten wurde.
Freilich hatte der Triumphzug auch das ungemein Lästige, daß ein ungestörtes Beisammensein unmöglich wurde. Tag und Nacht war die kleine Schar von einer ehrfürchtigen Menge umgeben, deren Ehrfurcht sich leider in lauten Ausbrüchen gefiel.
Erst in der Nähe der Quelle des Kagera-Nils blieben die Warundi scheu zurück. Dies war nämlich die Stätte, wo ihre alten Könige begraben lagen, vor deren umgehenden Geistern das Volk sich fürchtete.
Schulze war außer sich vor Freude, als er diese eine Quelle des alten Nils erblickte und als auf den Bergmatten in der Nähe des Quellbaches ein Lager aufgeschlagen wurde, wo man ganz in Ruhe für sich war, unbelästigt von zudringlichen »Zankudos«, wie er sich ausdrückte, womit er die begeisterten Warundi, unhöflich genug, mit schwärmenden Schnaken verglich.
Leusohn fragte nun Schulze, warum eigentlich diese Leute eine so merkwürdige fanatische Begeisterung an den Tag legten, und was das eigentlich für eine Bewandtnis habe mit dem Mwesi, für den sie ihn hielten.
»Das will ich Ihnen erklären,« sagte der Professor bereitwillig, da er aus Baumanns Reisewerk mit der Mwesisage vertraut war. »Das Volk von Urundi wurde vor Zeiten von einer weißen Herrscherfamilie regiert, wahrscheinlich viele Jahrhunderte hindurch ...«
»Jahrtausende!« warf Lord Flitmore bestimmt ein.
»Nun, meinetwegen Jahrtausende! Woher sie kamen ist unbekannt ...«
»Vom Norden, von Ägypten,« unterbrach wiederum der Engländer.
»Oho!« rief Schulze verwundert. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Von einer Mumie.«
»Na, das wird interessant!« war des Professors verblüffter Ausruf. »So legen Sie denn mal los, Lord!«
»Später, später!« wehrte Flitmore ab. »Doch will ich Ihnen soviel sagen, als zur Geschichte des Mwesi gehört. Die Mumie also offenbarte mir folgendes: »Sie selber sei der Leichnam eines Königs, und zwar des Bruders eines berühmten Eroberers, der an den langen See gezogen sei, der hinter der Mittagssonne liegt. Hier eroberte er ein weitausgedehntes Reich und wohnte an den Quellen des kleinen Nil. Er herrschte über schwarze Völker und wurde angebetet als der Mond, dessen Name ihm beigelegt wurde, wegen seines weißen Antlitzes. Sein Reich wurde das Land des Mondes genannt.«
»Das sind in der Tat interessante Aufschlüsse,« bemerkte Schulze. »Nun, es scheint, die Schwarzen haben sich unter der Herrschaft jener weißen Könige wohlgefühlt. Der letzte dieser Mwesis ist auf einem Kriegszuge verschollen, vor mehr als hundert Jahren; aber die Leute haben den festen Glauben, er lebe noch und werde von Norden her wieder kommen. Als nun Baumann, als erster Weißer, von Norden ins Land kam, wurde er allgemein für den Mwesi gehalten und mit der gleichen Bewunderung empfangen und begleitet wie wir.
»Nun ist es Freund Leusohn, in dem sie ihren verheißenen Mwesi erblicken und verehren. Na, Doktor, überlegen Sie sich's; es ist Ihnen ein Leichtes, hier unumschränkter Gebieter über einen besonders schönen und liebenswürdigen Volksstamm Afrikas zu werden. Sie könnten diesen armen Negern eine ungeheure Wohltat erweisen und ihnen ohne Mühe die Segnungen der Kultur erschließen; denn als Mwesi wird man Ihnen alles mögliche Vertrauen und unbedingten Gehorsam entgegenbringen.«
Leusohn lachte: »Danke! Habe zurzeit wenig Lust, mich auf solche Abenteuer einzulassen; später einmal will ich mir's überlegen.«
»Es ist merkwürdig,« fuhr der Professor nach einer Pause fort, »wie man überall die Sage einer vergangenen goldenen Zeit antrifft, auf deren Wiederanbruch die Völker hoffen: in Afrika wie in Europa, Asien und Amerika. So haben auch die Waganda im mächtigen Reiche Uganda ihre Kintu-Sage.«
»Lassen Sie uns doch diese Sage hören,« bat Helene. »Ich lausche so gern den alten goldenen Sagen.«
»Gerne!« erklärte Schulze. »Also! Auch Uganda soll einst durch nordische Einwanderer bevölkert gewesen sein.«
»Ganz richtig,« unterbrach Flitmore, »durch Ägypter; Uganda gehörte zum Reiche des Mwesi und wurde von einem Vasallenkönig desselben beherrscht.«
»Meinetwegen, da Sie doch alles wissen,« genehmigte Schulze, sich aufs neue über des Lords geheimnisvolle Kenntnisse wundernd. »Also! Der erste weiße Herrscher des Landes war Kintu, ein milder und weichherziger König, der keinerlei Blutvergießen duldete.
»Als nun sein Volk unbotmäßig, lasterhaft, gottlos und gewalttätig wurde, verließ er das Land, und mit seinem Weggang fand die goldene Zeit ihr Ende.
»Sein ältester Sohn Tschwa übernahm die Regierung, dem wiederum sein Sohn Kamiera, dann sein Enkel Kimera folgte, ein Mann von Riesengröße und ein gewaltiger Jäger, der zuerst die Hunde zur Jagd abrichtete.«
»Also der Nimrod Ugandas,« sagte der bibelfeste Hendrik.
»Ganz richtig! Alle diese Nachkommen Kintus ließen überall nach dem verschollenen Ahnen forschen, der für unsterblich gehalten wurde, aber ohne Erfolg.
»Den genannten Königen folgten andere in der Regierung, stets die Söhne des Vorgängers: Almaß, Tembo ...«
»Wohl der Erfinder des Palmweins,« lachte Leusohn.
»Wohl möglich! Ferner Kigara, Wanpamba, Kaima und Nakivingi, ein Held und Eroberer, dem der tapfere Kibaga diente, der fliegen konnte, und seinem Herrn durch diese Kunst zu manchem Siege verhalf. Aber sein Weib, vom Stamme der Wanyoro, kam hinter sein Geheimnis und verriet es ihren bedrängten Stammesgenossen, die daher auf die Geschosse aus der Luft achteten und schließlich Kibaga von einem Baum herabschossen.«
»Samson und Delila,« meinte Sannah.
»Ja!« bestätigte der Professor. »Ein ganz ähnlicher weiblicher Verrat, wie er in Geschichte und Sage oft vorkommt.
»Auf Nakivingi folgten Morondo, der Karl der Große Ugandas, und verschiedene andere Könige, deren Namen mir nicht mehr gegenwärtig sind. Einer derselben, Maanda, hatte das Glück, den verschollenen Ahnen Kintu wieder aufzufinden, da seine edle Gesinnung ihn dazu würdig machte.
»Kintu hatte ihn durch einen Bauern, dem er im Traum erschienen war, aufgefordert, an einen bestimmten Ort im Walde zu kommen, nur von seiner Mutter begleitet, sonst dürfe ihm niemand folgen, nicht einmal sein Hund.
»Allein Maandas Katikiro oder Minister sah den König mit seiner Mutter allein in den Wald gehen und folgte ihnen heimlich, aus Sorge um ihr Leben.«
»Das hatte zur Folge, daß Maanda zwar seinen Ahnen traf, der, von vielen Kriegern umgeben, im Walde thronte. Allein Kintu verschwand vor seinen Augen mit seinem ganzen Gefolge, weil sein Gebot übertreten worden war.«
»Alle Nachfolger Maandas setzten die Nachforschungen nach Kintu fort, doch immer vergeblich.«
»Wir erfahren noch von den wunderbaren Taten des Helden Wakinguru unter König Tschabagu, ferner von dem Großvater Mtesas, dem König Kamanya, der Ukedi eroberte, das mächtige Reich, dessen Krieger eiserne Rüstungen trugen und furchtbare Kriegsdoggen mit sich führten, und endlich von Mtesas Vater, Suna II., unterworfen wurden. Dieser Bluttyrann versuchte vergeblich die Unterwerfung Usogas und schloß endlich einen Scheinfrieden mit dem Volke, um die friedlich eingeladenen Wasoga zu überfallen und dreißigtausend an der Zahl gefangen zu nehmen. Die Männer ließ er dann lebendig in Stücke zerhacken. — Doch genug von der bluttriefenden Geschichte Ugandas!«
Als die Karawane von den heiligen Bergen, den Missosi ya Mwesi, wieder Herabstieg, schloß sich ihr sofort die jubelnde Volksmenge wieder an und umdrängte Leusohn in einer Weise, daß er ernstlich ärgerlich wurde. Aber er wußte sich nicht zu helfen.
Als nun gar abends eine Abordnung der Askaris in seinem Zelte erschien und erklärte, sie wünschten nicht weiter ins Unbekannte zu reisen, sondern zögen vor, noch länger hier zu verweilen, wo man umsonst so gut verpflegt werde, und dann den Heimweg anzutreten, warf er den Schwarzen in seiner bösen Stimmung einige harte Gegenstände an den Kopf.
Als er sie daraufhin fragte, ob sie sonst noch etwas wollten, erklärten die Somalis vergnügt: »O nein, wir sind jetzt ganz zufrieden und werden euch folgen, wohin ihr wollt!«
Leusohn war ganz überrascht über diesen unerwarteten Erfolg seines neumodischen Verfahrens.
Nun zog die Karawane auf einem andern Wege der Grenze zu, zurück nach Westen. Überall im Lande traf man auf eine Bevölkerung von Watussi, die sich durch ihre helle Farbe und ihre fast europäischen Gesichtszüge auszeichneten.
Sie hüteten ihre langhörnigen Rinder und erklärten, die Fremdlinge dürften ohne des Königs Erlaubnis das Land nicht verlassen.
Als ein Fluß, dessen Ufer von Papyrussümpfen eingeschlossen waren, den Weitermarsch hinderte, flochten die begleitenden Warundi lange Seile aus Papyrusschilf, spannten sie über den Fluß und befestigten Papyrusbündel darauf, so daß in unglaublich kurzer Zeit eine Brücke fertig war, über die die ganze Karawane samt Eseln und Reitstieren wandern konnte.
Als aber die Leute sahen, daß Leusohn mit seinem Zuge ihre Grenzen verlassen wollte, flehten sie ihn an, bei ihnen zu bleiben.
Glücklicherweise wagten sie es jedoch nicht, sich seinem königlichen Belieben zu widersetzen, und als er gegen ihre Bitten taub blieb, begnügten sie sich damit, ihm noch lange nachzurufen: »Gansa, gansa, Mwami! — Sei gegrüßt, sei gegrüßt, Häuptling!«
Schulze, der eine Gelegenheit zu einem billigen Witze nie gerne unbenützt ließ, sagte: »Sehen Sie, Doktor! So sind die Leute; da Sie nun ihr Land schnöde verlassen, werden Sie von den erzürnten Seelen bereits ›Gänsehäuptling‹ genannt. Ein schmeichelhafter Titel, was?«
»Nun, da bin ich doch immerhin noch Häuptling,« gab Leusohn zurück. »Sie aber, Verehrtester, werden offenbar nur zur Herde gerechnet.«
Der Professor war mit seiner Witzelei bös hereingefallen.
Als am nächsten Lagerplatz die Weißen, wie gewöhnlich, nach der Mahlzeit plaudernd und rauchend beieinandersaßen, entschloß sich Johann oder »John«, wie Flitmore seinen Diener nannte, sein andächtiges Zuhören durch eine Frage zu unterbrechen.
Er war, wie wir wissen, ein aufgeweckter Bursche, der sich zu belehren suchte, wo er konnte.
Da er nun über einige Dinge sich nicht klar werden konnte, wandte er sich an Schulze, den er für wissenschaftlich unfehlbar und nahezu allwissend hielt, weil er Professor und gar Berliner war.
»Entschuldigen der Herr Professor,« begann er, »wenn ich mich bei Ihnen über einige mir wissenschaftlich undeutliche Punkte orientalisieren möchte.«
»Bitte, bitte!« ermunterte Schulze lachend. »Nur immerzu gefragt; mein geringes Wissen steht völlig zu deiner Verfügung, und wenn du dich orientalisieren willst, so soll's an mir nicht fehlen.«
»Ich höre so viel von den Herren, was äußerst bildend auf mich wirkt und ich nicht alles verstehe, weil auf meinem Heimatdorfe kein Kimnasium war, daß ich Lateinisch gelernt hätte, was ich immer bedauere. Wie ist das zum Beispiel, daß Sie so viele verschiedene Namen sagen für das ganz Gleiche?«
»Ja, Freund, das ist so ein Fall in Afrika,« belehrte Schulze. »Die Eingeborenen haben hier gewöhnlich in jedem Stamme ihre besonderen Namen für ein und denselben Berg, Fluß oder See. Da schnappt der eine Reisende den einen auf, ein anderer den anderen, und niemand weiß mehr, wie man sagen soll.
»Auch sagen die einen immer R, wo andere L sagen, und selbst die Europäer haben ihr besonderes Gehör für die ungewohnten afrikanischen Laute. So schreiben die einen Suaheli, andere Suahili, wieder andere Sswahili. Der eine schreibt Askari, der andere Asikari. Namentlich verketzert Stanley alle Namen und setzt mit Vorliebe Vokale für Konsonanten, wie Ufumbiro für Mfumbiro, und wo zum Beispiel Wilson ein L schreibt, hat Stanley durchweg ein R, so beispielsweise sagt er Kamiera für Kalemela, Kigara für Kigalla, Morendo für Mlondo, Kaguru für Kagula und, noch schlimmer, Mdowra für Ndaula, Ankori für Mole, Wassedsche für Wassaya und Kikuruvi für Tschirukwe. Wer soll da noch draus kommen?«
»Ein bezeichnendes Beispiel bildet der Name des Araberhändlers und Sklavenjägers Tippu-Tip: Junker schreibt Tippo-Tip, ebenso Baumann; Stanley und Casati Tippu-Tib, Wißmann Tibbu-Tibb, Stuhlmann Tipu-Tip, und so fort.«
»Obgleich ich Ihnen danke für die schöne Belehrung,« sagte nun Johann wieder, »so meinte ich doch nicht eigentlich sowohl dieses, wie viel mehr noch etwas anderes. Wie ist nämlich zum Beispiel das: Sie sagen Suaheli und Kisuaheli und Wasuaheli, und ebenso, als wir bei den Urundileuten waren, sprachen Sie von Murundi und Warundi und Kirundi, und es scheint mir fast immer dasselbe, nämlich das Land oder die Leute, wo wir sind.«
»Vortrefflich beobachtet, guter Freund,« lobte Schulze. »Die Sache ist so: U ist das Land, M ist der Mann in der Einzahl, Wa sind die Leute in der Mehrzahl und Ki ist die Sprache. So ist Urundi das Land Rundi, Mrundi ist ein Bewohner dieses Landes, Warundi sind mehrere Bewohner oder die ganze Bevölkerung, Kirundi die Sprache dieser Leute, wie Kisuaheli die Sprache der Suahelis oder vielmehr Wasuaheli ist; so macht man es hier überall: in Unyamwesi beispielsweise wohnen die Wanyamwesi, die das Kinyamwesi sprechen.«
»Ach so! Ich danke Ihnen; das ist ja sehr praktisch.«
»Gewiß! Und du weißt jetzt mehr als mancher auf dem ›Kimnasium‹.«
»Wirklich wahr, Herr Professor?« fragte Rieger geschmeichelt.
»Wirklich wahr!«
»Noch einen Umstand möchte ich wissen,« begann der Diener von neuem. »Wie Sie sagen, wollen Sie nach den Mondbergen; das sind doch aber nicht die runden Berge, die auf dem Mond sind, aber vielleicht so ähnliche?«
»Ja, lieber Freund, auf den Mond wollen wir freilich nicht, sondern die Mondberge sollen hier unten in Afrika liegen; wie sie aber aussehen, weiß kein Mensch.«
»Warum wollen Sie denn hin?«
»Weil dort, nach Jahrtausende alten Berichten, der Nil entspringen soll. Wir würden sehr berühmt, wenn wir die Mondberge entdeckten.«
»Ich auch mit?«
»Du auch mit. Aber freilich, wo die Mondberge liegen, das weiß ebenfalls niemand als vielleicht dein Herr, Lord Flitmore.«
»Sie spotten, Professor,« mischte sich der Lord auf englisch ins Gespräch, »mit Unrecht, denn ich weiß vielleicht doch mehr, als Sie denken.«
»Nun,« meinte Schulze, »der Vizekönig von Ägypten, Ismael-Pascha, hat einst den famosen Witz gemacht, jeder Afrikareisende besitze seine Privatnilquelle. Nichts ist richtiger als das: so hielt Ihr Landsmann Stanley den Runsoro für das Mondgebirge der Alten, Bruce glaubte die Nilquellen in Abessinien gefunden zu haben, ohne zu wissen, daß die Quellen des Blauen Nils schon seit hundert Jahren auf den portugiesischen Karten dort angegeben waren; Samuel Baker behauptete, der Albert-See sei die eigentliche Nilquelle und er deren Entdecker; Baumann hielt den Missosi ya Mwesi für das Mondgebirge, Stuhlmann den Msumbiro, das heißt die Virungakette; das alles scheint Ihren Ansichten nicht zu entsprechen?«
»Gewiß nicht! Denn ich habe bestimmte Anhaltspunkte für die richtige Lage der Mondberge bekommen.«
»Oho! Von wem denn?« forschte nun Leusohn neugierig.
»Nun eben von meiner Mumie, von der ich Ihnen bereits in Urundi erzählte.«
»Fabelhaft!« lachte Schulze: »Was eine tote Mumie nicht alles zu erzählen weiß! Nun aber endlich heraus mit Ihrem Geheimnis, weiser Lord, sonst glauben wir Ihnen kein Wort mehr. Sie verschanzen sich ja doch immer hinter Ihre rätselhafte Mumie.«
»Ein Geheimnis ist es nicht,« erwiderte Flitmore seelenruhig, »nur wünschte ich, mich zuvor selber von den Tatsachen zu überzeugen, ehe ich mehr von meinen Kenntnissen preisgab. Aber ich will Ihre Neugier nicht länger foltern.«
»Nun denn, los!« drängte der Professor.
»Well! Sie wissen, daß es eine Zeit gab, wo eine hochweise Wissenschaft sich über den alten Herodot lustig machte, der jeden Schwindel geglaubt und ernsthaft berichtet habe, den die ägyptischen Priester sich das Vergnügen machten, seiner Leichtgläubigkeit aufzubinden.«
»Das war allerdings die allgemeine Ansicht vor etwa fünfundzwanzig Jahren,« bestätigte der Professor; »inzwischen hat man gelernt, Herodots Angaben ernst zu nehmen, da zahlreiche seither entzifferte Hieroglypheninschriften sie aufs glänzendste bestätigten.«
»Richtig, Professor! Herodot also erklärt den See Möris für wunderbarer als alle berühmten Weltwunder, für wunderbarer sogar als das in der Nähe befindliche Labyrinth. Weder von diesem See noch vom Labyrinth weiß man heutzutage etwas ...«
»Oho!« widersprach Schulze. »Die Ruinen des Labyrinths im Fayum sind seit hundert Jahren allbekannt.«
Flitmore zuckte geringschätzig die Achseln: »Diese schwache Nachbildung ist so wenig das echte Labyrinth, als die Feuernekropole in Hissarlik in Wirklichkeit die Burg Ilion ist. Eine von der Wissenschaft angenommene Hypothese kann jahrhundertelang Unkundige täuschen. Allein schon der Umstand, daß die Ruinen im Fayum keine Spur der von Herodot erwähnten Vorhöfe aufweisen, hätte die Gelehrten stutzig machen sollen, vor allem aber die Breite des Sees, die nach Herodots Angaben, wenig gerechnet, das Zwanzigfache der Mulde im Fayum betragen müßte. Ein Zufall führte mich vor Jahren in die Gegend, wo meiner Ansicht nach sich der See Möris und das Labyrinth befunden haben müssen. Vom See war nichts zu sehen: er war vertrocknet und versandet. Aber die ganze Gegend bildet eine gewaltige Mulde, die wohl so lang ist als die ganze Mittelmeerküste Ägyptens.«
»In der Tat,« bestätigte der Professor, »gibt Herodot die Länge des künstlichen Sees mit diesem Maße an.«
»Noch heute heißt die Gegend Meroë,« fuhr der Lord fort. »Die Stadt der Krokodile mag das heutige Chartum sein. Nicht weit davon wird auch das Labyrinth im Sande vergraben liegen mit seinen dreitausend Zimmern, seinen Hallen und Höfen über und unter der Erde. Das soll noch mein Geheimnis bleiben.
»Wohl aber entdeckte ich in der Mitte der Mulde einen Doppelhügel, unter dem ich die beiden Pyramiden vermutete, die aus der Mitte des Sees emporragten. Ich ließ von den mich begleitenden Fellachen den Sand wegkratzen und stieß denn auch wirklich auf eine der beiden Pyramiden. Es kostete einige Tage Arbeit, sie soweit bloßzulegen, daß wir den Eingang, der über dem früheren Seespiegel lag, fanden. Es gelang mir, in das Innere der Pyramide einzudringen, wo ich nichts fand, als die Mumie eines uraltägyptischen Herrschers. Länger konnte ich mich leider nicht aufhalten, da ich nach England zurück mußte; doch nahm ich die Binden mit, in welche die Mumie gewickelt war.
»Den Bericht über meinen Fund hat die wissenschaftliche Welt gar nicht beachtet, weil ich namenlos und nicht zünftig war. Die Binden aber, die mir leicht als Beweise hätten dienen können, hielt ich geheim; denn als ich ihre Hieroglyphen entzifferte, offenbarten sie mir einige merkwürdige Geheimnisse, die ich der Öffentlichkeit nicht preisgeben wollte, um keinem anderen die Möglichkeit zu geben, mir mit Entdeckungen zuvorzukommen, die ich selber machen wollte. Was mich am meisten interessierte, war eine ziemlich genaue Beschreibung des oberen Nillaufs und der Lage der Mondberge.«
»Das sind in der Tat interessante Aufschlüsse,« bemerkte Schulze, »aber diese Aufzeichnungen können ja auch auf zweifelhaften Sagen beruhen.«
»Gewiß! Aber die Berichte meiner Mumienbänder stimmen zu auffallend überein mit zweifellosen Tatsachen. So haben Sie schon gehört, wie genau die Residenz des Mwesi von ihnen an den Quellen des kleinen Nils, das heißt des Kagera, angegeben wird. Sie berichten aber auch über die Quellen des großen Nils, und da decken sich ihre Angaben ganz merkwürdig mit dem, was die Alten, namentlich Ptolemäus F1, von diesen Quellen wissen.«
»Ich schenke den geographischen Angaben der Alten großes Vertrauen, geben doch ihre Karten das Land der Pygmäen oder Zwergvölker ganz richtig an, und dies ist ein triftiger Grund, ihnen auch sonst einigen Glauben zu schenken.«
»Nun zeigen sich auf den ältesten Karten drei Quellflüsse des Nils, von denen jeder durch einen See fließt. Der östlichste dieser Quellflüsse entspringt nördlich vom Äquator und fließt durch den Colvoe palus, das wäre der Rudolfsee, der zwar heute abflußlos ist, früher aber höchst wahrscheinlich den Sobat oder gar den blauen Nil speiste.«
»Der mittlere Quellfluß entspringt wenige Grade südlich vom Äquator, das mag der Kageranil sein, der durch den Ukerewe sich mit dem Nil vereinigt. Der westliche Quellfluß endlich entspringt am südlichsten, etwa dreizehn Grad südlich vom Äquator, dem berühmten Mondgebirge, an der Stelle, wo unsere Karten das Lokingagebirge verzeichnen.«
»Dann sollten also wirklich Nilquellen und Kongoquellen ein und dasselbe sein?« fragte Leusohn.
»Warum nicht?« gab Flitmore zurück. »Sein oder gewesen sein. Auch Livingstone hielt den Lualaba für den eigentlichen Quellfluß des Nils und die alten Karten lassen beide Ströme, Kongo und Nil, dem gleichen See entfließen. Wir selber haben ja die Wahrscheinlichkeit festgestellt, daß der Tanganjika früher oder jetzt noch zeitenweise mit dem Kiwusee in Verbindung steht oder stand.
»Wenn nun, wie ich annehme, der Moerosumpf und der Moerosee, der dem Kongo den wasserreichen Luapula zusendet, mit dem Tanganjika zusammenhängen oder dereinst zusammenhingen durch irgendeinen natürlichen Kanal, so haben wir die Nilquellen im Lokingagebirge zu suchen.
»Die sechs mittelafrikanischen Seen, Albert Njansa, Albert Edward, Kiwu, Tanganjika, Itawa und Bangweolo, wahrscheinlich auch noch der Moerosee, bildeten vor Jahrtausenden einen einzigen langgestreckten See; die vielen Salztümpel und Salzmulden und Sümpfe zwischen diesen Seen weisen darauf hin. Der Moerosee selber ist nur ein Überrest dieses einstigen großen Sees, der vom zehnten südlichen Grad bis etwa drei Grad nördlich vom Äquator reichte: da haben wir diesen ›langen See‹, in dessen Osten das Mondland gelegen war, wie die Hieroglyphen meiner Mumie berichten.«
»Verzeihen Sie, Mylord,« wandte Leusohn ein; »trotz unserer Beobachtungen am Russissi kommen mir doch immer wieder Bedenken, daß zwei so gewaltige Ströme wie der Kongo und der Nil, die so entfernt voneinander münden, ein und dieselbe Quelle jemals gehabt haben sollten.«
»Das beweist gar nichts,« erwiderte Flitmore hartnäckig, »den gleichen Einwand erhob man, als man die natürliche Verbindung zwischen dem Amazonas und Orinoko als geographische Ungeheuerlichkeit verwarf; sie besteht aber eben doch! Bedenken Sie ferner, daß die Wasser der Donau bei Immendingen versickern und als ein Nebenfluß des Rheins fernab wieder zutage treten, also in die Nordsee fließen anstatt ins Schwarze Meer. Wird das Wasser nun teilweise über die Versickerungsstelle geleitet, wie man beabsichtigt, so flieht die Donau teils in die Nordsee, teils ins Schwarze Meer. Seien wir sparsam mit der Behauptung von Unmöglichkeiten: angesichts einer Tatsache hört jede Unmöglichkeit auf.«
»Die Tatsache bleibt immerhin erst noch festzustellen,« beharrte Leusohn.
»Nehmen Sie sich in acht vor der Zweifelsucht, Doktor,« sagte Flitmore lachend. »Sie ist und bleibt die Mutter der Blamage, überlassen Sie das Zweifeln den Schwachköpfen und Halbgebildeten und stellen Sie sich nicht auf die Stufe der Neger, die so oft unsere Belehrungen mit ungläubigem und überlegenem Lächeln aufnehmen und sprechen: »Die Herren glauben, uns etwas weis machen zu können, als ob wir keinen Verstand hätten!«
»Es ist wahr,« bestätigte Schulze, »die wissenschaftlichen Zweifler haben sich stets als die Kurzsichtigen und nachträglich Blamierten erwiesen. So der Londoner Geograph Cooley, der an den von Missionar Johann Rebmann und Dr. Ludwig Krapf entdeckten Kilimandjaro-Gletscher nicht glauben wollte und weiter über diese angebliche Fabel höhnte, als Baron Klaus von der Decken und Dr. Otto Kersten den Berg bereits bis zu viertausend Meter Höhe erstiegen hatten. Er erklärte den Gletscher für Sinnestäuschung!
»So wollen voreingenommene Gelehrte alles besser wissen als die Augenzeugen. Genau so wurde der von Speke entdeckte Viktoriasee von den maßgebenden Größen der geographischen Wissenschaft, selbst von Afrikaforschern, wie Burton, mit so ausschlaggebenden Gründen geleugnet, daß er drohte von den Karten zu verschwinden.
»Immerhin habe ich selber noch meine Bedenken gegen Lord Flitmores Ansichten. Der Name Mwesi deutet nach meiner Überzeugung auf das Mondland und das Mondgebirge hin. Zwar bestreitet dies Hans Meyer, und Stanley, der die Nilquellen im Runsoro sucht, damit er selber die Ehre ihrer Entdeckung habe, kann auch nichts damit anfangen. Übrigens muß immer wieder betont werden, daß Stanley durchaus nicht der Entdecker des Runsoro ist, wie er wider besseres Wissen behauptet: diese Ehre muß man Casati lassen.
»Stanley, der sehr schwer von Begriffen ist und grobe Irrtümer ohne weiteres als Tatsachen berichtet, glaubte, der gegenwärtige Herrscher von Urundi heiße ›Mwesi‹ mit seinem Eigennamen. Ebenso behauptet er, er habe in Erfahrung gebracht, daß in Ukalagansa ein König namens Mwesi vor Zeiten gelebt habe. Sein Volk habe man daher ›Kinder von Mwesi‹ genannt und sein Land ›Unjamwesi‹. Als Stütze dieser Behauptung bringt er bei, daß der gegenwärtige König von Urundi ›Mwesi‹ heiße. Also, so viele Behauptungen, so viele Irrtümer! Mir scheint der Titel Mwesi darauf hinzuweisen, daß Urundi das Land des Mondgebirges ist.«
»Das Mwesi-Land,« erwiderte der Lord, »reichte eben bis zu den Mondbergen. Sehen Sie, die Wanjaruanda, bei denen noch heute weiße Eingeborene zu finden sein sollen — wahrscheinlich keine unvermischt erhaltene Rasse — und die selber so auffallend hellfarbig sind, gehörten jedenfalls früher zum Reiche des Mwesi, ebenso die Wanyamwesi, wie schon ihr Name bezeugt; Urundi war sozusagen nur die Residenz des Mwesi. Das alles ist aber noch kein Reich für einen altägyptischen Eroberer ...«
»Sein Vaterland muß größer sein,« lachte Schulze.
»In der Tat! Dehnen Sie es noch einmal so weit nach Süden aus, und wir stehen am Fuße des Lokingagebirges.«
Hendrik hatte bisher geschwiegen und dem gelehrten Streit mit gespanntem Interesse gelauscht. Als nun aber der Meinungsaustausch vorläufig zu Ende schien, ergriff er das Wort.
»Die Eingeborenen,« sagte er, »erzählen ganz fabelhafte, ja zum Teil grauenerregende Dinge von einem Berge Gumr, der die Nilquellen bergen soll, und zwar wirklich derart bergen, daß kein Sterblicher sie je erblicken könne.«
»Das sind uralte Sagen, mein Freund,« erklärte Schulze.
»O, bitte, Herr Professor,« begann jetzt Johann, »wollten Sie diese Sagen nicht uns vortragen; ich höre ums Leben gern gruselige Dinge.«
»Nun, die sollst du zu hören bekommen; wir gehen ja, zu untersuchen, was an dem ganzen Schwindel ist, und da du mitgehst, gehört es sich, daß du auch mit den Gefahren bekannt gemacht wirst, die uns drohen, wenn wir den alten Märchen Glauben schenken.«
Nach solcher Einleitung begann Schulze mit der Erzählung der uralten, zum Teil wunderbaren, zum Teil schauerlichen Sagen, die aus grauer Vorzeit uns von den Arabern übermittelt worden sind.
»Ihr habt durch Lord Flitmore gehört von dem merkwürdigen See Möris, den die alten Ägypter gegraben, um den Abfluß des Nils zu regeln. Zur Zeit des Hochwassers flossen die überschüssigen Wasser des Stromes sechs Monate lang in den See: so lange dauerte es, bis derselbe sich anfüllte. Wir müssen annehmen, daß ein so ungeheures Becken nicht lediglich von Menschenhand gegraben wurde, sondern daß eine zuvor vorhandene ausgedehnte Mulde, die früher vielleicht einen See enthielt, nun aber zur wasserlosen Wüste geworden war, von den genialen Herrschern Ägyptens zu ihrem Zwecke ausersehen wurde. Immerhin mag es noch eine gewaltige Arbeit gewesen sein, dies natürliche Becken so weit herzurichten, daß es seiner Absicht entsprach. In der Mitte erhoben sich als Riesenwahrzeichen menschlichen Unternehmungsgeistes zwei mächtige Pyramiden und neben jeder derselben eine steinerne Kolossalstatue auf einem Thronsessel, noch hoch aus dem Wasser emporragend, wenn der See gefüllt war. Durch einen Kanal wurde das Wasser des Blauen Nils in den See geleitet, um in der regenarmen Zeit durch die geöffneten Schleusen eines Abflußkanals wiederum sechs Monate lang dem unteren Nil zuzuströmen. Auf diese Weise wurde vermieden, daß die befruchtenden Nilüberschwemmungen in verderblichem Maße anschwollen, und ebenso, daß zur Zeit der Dürre Wassermangel eintrat oder gar der Nil ganz austrocknete.
»Mit Recht hat Herodot dieses gewaltige Kulturwerk weit über alle anderen Weltwunder gestellt.
»Damit war aber noch nicht alles getan. Der Weiße Nil auf seinem langen Laufe und mit seinen vielen Quellflüssen mochte zuzeiten, auch wenn ihm der Zufluß des Blauen Nils größtenteils abgeschnitten war, immer noch mit verheerenden Wassermassen daherbrausen. Es galt auch hier, ein Regulierungswerk auszuführen, das ein plötzliches, vernichtendes Anschwellen des Stromes verhinderte und nur ein allmähliches Ansteigen zuließ. Dieses Werk soll nun König Am-Kaam oder Hermes der Erste vollführt haben.
»Wie es geschah, ist etwas dunkel, denn die sagenhaften Berichte verweilen mehr bei dem wunderbaren Beiwerk als bei den praktischen Vorrichtungen. So wird erzählt, daß Hermes die starken Quellbäche des Nils in den hohen Gebirgen, wo die meisten Niederschläge niedergingen, also auch das Hochwasser seinen eigentlichen Ursprung hatte, durch gewölbte Gänge leitete. Beim Austritt aus diesen Gängen wurde es mittels hoher Aquädukte achtundfünfzig kupfernen Statuen zugeführt, aus deren gewaltigen Mäulern es herauslief.
»Diese Kolossalstandbilder standen in einer weiten, teils natürlich, teils künstlich abgeschlossenen Talmulde, aus der das Wasser wieder nur durch einen engen Tunnel abfließen konnte. So stelle ich mir die Sache wenigstens vor; denn Näheres wird hierüber nicht gesagt. Auch handelt es sich ja nur um Fabeln. Da aber auch Fabeln einen zweckentsprechenden Sinn haben müssen, ist es nötig, sich über ihre Meinung klar zu werden. War nun in der Tat nur ein beschränkter Abfluß aus jener angenommenen Talmulde möglich, so ist es einleuchtend, daß immer nur so viel Wasser abfließen konnte, als die Öffnung des Tunnels zuließ. Bei Hochwasser staute sich das Wasser in der Talsperre und floß nur ganz allmählich ab.
»Diese Anlage soll sich nach Ti Farschi und Scheich Izz Eddin, sowie anderen arabischen Geographen elfeinhalb Grad südlich vom Äquator befinden.
»Das ist das Großartige; nun aber kommt das Unheimliche. Das Mondgebirge, das sich etwa zwölf Grad südlich vom Äquator befinden sollte, wird von den alten Geographen übereinstimmend als das Quellgebirge des Nils bezeichnet; auch auf den alten Karten erscheint es als solches. Überall tritt uns auch die merkwürdige Ansicht entgegen, daß der Nil sich teils nordwärts, teils aber westwärts wendet, mit anderen Worten, daß die Nilquellen gleichzeitig auch die Quellen des Kongos sind; vielleicht soll das bedeuten, daß ebenfalls zur Vermeidung verheerender Überschwemmungen ein Teil des Nilwassers durch einen Kanal in den Kongo abgeleitet wurde.
»Das Mondgebirge heißt bei den Arabern Djebel el Gumr. Es ist nun begreiflich, daß manche Reisende, die mit einer Karawane nach dem Mondgebirge kamen, aus Neugier den berühmten Berg Gumr bestiegen und sich wohl auch nach dem Weltwunder umsehen wollten, das König Hermes mit den achtundfünfzig kupfernen Statuen geschaffen hatte.
»Nun erzählen uns die arabischen Schriftsteller, daß auch nicht einer von allen denen, die den Berg Gumr bestiegen, wieder zurückgekehrt sei. Eine abergläubische Scheu hielt daher die meisten ab, den verhängnisvollen Aufstieg zu wagen. Immerhin ließen sich je und je einzelne, die an die Gefahr nicht glauben mochten, durch keine Warnungen zurückhalten. Waren sie dann droben angekommen, gebärdeten sie sich wie närrisch vor Freude, fingen an zu lachen, klatschten in die Hände und stürzten sich auf der anderen Seite des Berges hinab, um für immer verschollen zu bleiben.
»Es wurde behauptet, auf der anderen Seite dieses berüchtigten Mondgebirges sei ein unruhig bewegtes Meer, so dunkel wie die Nacht; mitten durch dieses Meer fließe ein silberweißer Strom, so hell wie der Tag, und dieser Silberstrom besitze eine solche magnetische Kraft, daß wer ihn erblicke, toll vor Lust, unwiderstehlich angezogen werde, so daß er sich hinabstürzen müsse.
»Eine solche dämonische Anziehungskraft schreibt ja das Volk in Württemberg auch dem Blautopf bei Blaubeuren zu; und Tatsache ist, daß sich viele in diesen Blautopf stürzen und andere erzählen, sie hätten sich dort so rätselhaft angezogen gefühlt, daß sie nur durch rasche Flucht sich dem Drange entziehen konnten, ins Wasser zu springen. Nun, das scheint eine Art Schwindel zu sein, den die eigentümliche blaue Quelle in gewissen Naturen weckt.
»Was aber die ähnlichen Berichte über den Berg Gumr in ihrer ganzen Nichtigkeit bloßstellt, ist die Behauptung, daß sich dort keiner dem Banne entziehen könne. Nun, wenn alle Besteiger sich hinabstürzten, und keiner wiederkehrte, woher, frage ich, konnte man denn Kunde haben von dem dunklen Meer und dem weißen Fluß? So richten sich solch unsinnige Märchen von selber angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnis.«
Schulze war zu Ende, und man sprach noch lange hin und her über dieses Märchen aus Tausend und einer Nacht. Allgemein waren die Weißen, außer Flitmore, der Ansicht, daß die ganze Geschichte eigentlich in jene Märchensammlung gehöre zu der Messingstadt und den Inseln Wak a Wak. Immerhin war durch Schulzes Erzählung die Begier um so stärker angeregt, den fabelhaften Djebel el Gumr zu entdecken und von Angesicht zu sehen.
Lord Flitmore nahm noch einmal das Wort: »Eine große Rolle spielen in der Sage oder, wie ich lieber sagen will, in den Berichten über den Berg Gumr, die fabelhaften Höhlenbauten, die sich dort befinden sollen. Nun hat Thomson in Elgumi, und zwar im Elongebirge, nordöstlich vom Viktoria-Njansa, große Höhlenbauten entdeckt, die nur von einem Kulturvolk herrühren können, wobei man zunächst an die Ägypter zu denken hat. In einer dieser Höhlen fand Thomson ganze Dörfer. Die Eingeborenen erklären die Höhlen für Gottes Werk und sagen, mehrere von ihnen verlören sich in der Nacht des Berges, ihr Ende hätten sie noch nie gesehen. Peters findet in El Gumi einen Anklang an den Namen Gumr und vermutet, dort möchten die Mondberge zu suchen sein. Ich suche sie weit südlicher; aber die großartigen Höhlen von Elgumi scheinen mir das Werk des gleichen Volkes, das die genialen Anlagen des Berges Gumr geschaffen hat.«
Damit wurde das Gespräch abgebrochen, das einen Gegenstand berührte, der in der Folge für unsere Freunde von merkwürdiger Bedeutung werden sollte.
Weiter ging nun der Marsch durch die Steppe. Hie und da waren Giraffen zu erblicken, und unsere Freunde, namentlich Hendrik, hätten gar zu gern einmal auf die schönen Tiere Jagd gemacht.
Da sie jedoch keine Pferde besaßen, gelang es ihnen zu ihrem Leidwesen niemals, sich dem scheuen, flüchtigen Wild zu nähern, das hier offenbar schon die Menschen als gefährliche Feinde fürchten gelernt hatte.
Ein interessantes Schauspiel hatten die Wanderer in einem Negerdorfe, in dem die Weiber gerade beschäftigt waren einige Hütten zu errichten. Um den kreisrunden Unterbau war in einigem Abstand ein Kranz von Pfählen in den Boden gerammt. Kunstvoll flochten die Negerknaben das Grasdach, das auf kleinen Pfosten ruhte. Das vollendete Dach wurde sodann von den Weibern über die Hütte gestülpt, so daß sein Rand von den Balken getragen wurde, die die oberen Enden der Stützpfähle miteinander verbanden.
Die Grasebene, die nun folgte, war arm an Wild; nur zuweilen traf man auf einige Antilopen, unter denen der Wasserbock vorherrschte.
Es war aber keine Kleinigkeit, unberitten die schnellfüßigen Tiere zu jagen, und nur ein einziges Mal brachte es der junge Bure fertig, einen prächtigen Wasserbock anzuschleichen und zur willkommenen Bereicherung des Mittagsmahles zu erlegen.
Wenige Tage später standen unsere Freunde am nördlichen Ende des Tanganjika.
Die Regenzeit hatte wieder begonnen und kleidete alles in ein zartes Grün; Bäume und Sträuche standen in voller Blüte. Überall sprangen die grauen Knospen auf, so daß, wie von einem Zauberstabe berührt, was eben noch grau und öde erschien, auf einmal in frischen Farben leuchtete.
Amina sprach so warm ihre Freude über die Schönheit der Natur aus, daß die Weißen anerkennen mußten, Helenes Versuch, ihren Sinn dafür zu wecken, sei völlig geglückt.
Noch entzückter äußerte sich die kleine Tipekitanga.
Und als nun das Lager am Ufer aufgeschlagen war, gesellten sich Hassan und Hamissi und noch einige Schwarze zu den Weißen, die in stummer Bewunderung am Strande standen, und bewiesen ihre neugewonnenen Fähigkeiten, die Natur zu genießen, durch allerlei Bemerkungen und Ausrufe.
»Wie tief ist die blaue Farbe des Sees, und man sieht kein Ufer im Süden,« rief Hassan aus. »Wahrhaftig, er ist wie das Meer und so donnert auch seine Brandung; es ist gerade wie im Somalilande!«
»Und wie dicht und hoch sein die Bäume und Pflanzen,« bemerkte Hamissi. »Und grün, alles grün, so schön grün und viele Blüten, alle Farben!«
»Siehst du, wie viele Vögel fliegen,« sagte die Zwergprinzessin zu Amina: »Sie singen und zwitschern so froh: sie sind glücklich, daß der Regen alles so schön gemacht hat.«
»Und seht hier die grünen Urundiberge,« rief Kaschwalla und wies nach Osten.
»Und dort die schroffen Felsen,« sagte Juku, nach Westen weisend; ihm imponierte mehr das Wilde und Rauhe. »Das sind die Berge von Uvira, wie eine düstre Mauer stehen sie.«
Ein köstlicher Wind verbreitete, vom See her wehend, Frische und Behagen.
Am Ufer fanden sich viele Muscheln, und Möven strichen über den Seespiegel hin.
Der Tanganjika hat zwar salzhaltiges Wasser, das er seinen salzführenden Zuflüssen verdankt, muß aber doch als Süßwassersee gelten; es erschien daher überraschend, daß Quallen und Medusen an seiner Oberfläche hintrieben, Geschöpfe, die man früher für ausschließliche Meeresbewohner hielt.
Eine Plage barg freilich das liebliche Ufer, den gefürchteten Guineawurm oder Sandfloh, der sich namentlich in die nackten Zehen der Eingeborenen einbohrte und böse Geschwüre hervorrief, wenn es nicht gelang, ihn durch vorsichtiges Nachbohren unverletzt zu entfernen, so daß seine Eier in der Wunde nicht zurückblieben.
Flußpferde schnaubten im Röhricht und auch zahlreiche Krokodile waren zu sehen.
Die Weißen beschlossen, den See auf Booten zu durchschiffen und zunächst nach Udschischi überzufahren.
Der Araberhäuptling, von dem die zahlreichen Boote gemietet werden mußten, verlangte außer einer angemessenen Bezahlung Leusohns Flinte und Flitmores Revolver, die ihm jedoch rund abgeschlagen wurden, worauf er die Boote einfach verweigerte.
»Ich denke,« sagte Flitmore, »wir werden dem Manne seine unverschämte Forderung erfüllen müssen: es ist ja nicht so schlimm, wir besitzen noch Gewehre und Revolver genug im Vorrat.«
Hendrik überbrachte dem Häuptling die beiden Waffen und übergab sie ihm mit den Worten: »Wir wußten nicht, daß ein Araber wie ein Neger bettelt!«
Der Araber war beschämt, antwortete aber stolz: »Nimm die Schießwaffen wieder mit, es war nicht mein Ernst!« und er stellte nun ohne weiteres die Kanus.
Nun schiffte man sich ein und die schwarzen Ruderer stimmten fröhliche Bootgesänge an.
Der Wellengang war jedoch infolge des heftigen Südwindes ein so starker, daß fast sämtliche Schwarze und auch Leusohn von der Seekrankheit ergriffen wurden. Diese ließ erst nach, als abends gelandet wurde. Die Landung war übrigens nur schwer zu bewerkstelligen, da die Brandung am Ufer eine gefahrdrohende Gewalt entwickelte. Krokodile und Flußpferde gab es auch hier in Menge. Die ausgehöhlten Felsenufer boten bequeme Lagerplätze. Schulze bemerkte, daß der Wind gegen Abend abflaute, während er morgens wieder mit erneuter Heftigkeit blies. Er machte daher den Vorschlag, den Tag über hier zu verweilen und die Nacht zur Weiterfahrt zu benutzen. Dieser Vorschlag fand allseitigen Beifall.
In Kawele, dem Hafen von Udschischi, wurde wiederum angelegt, und auf dem Markte dieser Araberstadt allerlei Lebensbedarf eingehandelt.
Leusohn, seinem Grundsatz gemäß, sich an die Eingeborenenkost zu gewöhnen, kaufte sich sogar gedörrte Raupen, denen auch Flitmore mit Behagen zusprach.
Ein Vorrat von Maiskolben, die geröstet der beste Ersatz für Brot sind, wurde ebenfalls mitgenommen.
Die Träger und Askaris aber ließen sich das verführerische Palmenpombe schmecken, so daß mancher am folgenden Tage gar katzenjämmerlich dreinsah und Hassan tiefsinnige Betrachtungen anstellte und ausrief: »O, Bwana Bawessa, wie ist der Mensch so schwach, und wie mächtig sind die verderblichen Triebe des Fleisches über seinen Willen und seine besten Vorsätze!«
Als es Zeit zur Abfahrt war, bestieg Kaschwalla nicht ohne Mühe Schulzes Reitstier, den er halten sollte, bis er eingeschifft würde. Das Festhalten war ihm zu anstrengend und beschwerlich und er fand es bequemer, den Bullen mit seinem Körpergewicht zu belasten.
Das Tier aber mißverstand den Schwarzen und rannte mit Baba Pombe in den See, wo es wacker hinausschwamm, während Kaschwalla Löwenherz in einem Anfall seiner alten Feigherzigkeit schrie und jammerte: »O, Mama! Ich ertrinke, ich ertrinke!«
»Ein Nilpferd ertrinkt nicht, und ebensowenig eine leere Tonne,« meinte Juku, der ihm zu Hilfe ruderte.
»Aber ich bin eine volle Tonne!« erwiderte Kaschwalla, nicht mit Unrecht.
Juku erfaßte den Stier beim Zügel und lotste ihn mitsamt dem Reiter ans Ufer, da er es nicht wagte, den Dicken im Wasser ins Boot aufzunehmen, aus Furcht, zu kentern.
Negerstämme an der Ostküste des Tanganjika, zum Teil noch dem Kannibalismus ergeben, nahmen oft eine drohende Haltung ein und näherten sich mit ihren Kanus in bedenklicher Weise der kleinen Flotte.
Da verhältnismäßige Windstille herrschte, wurde wieder bei Tag gefahren; als nun unsre Freunde gegen Abend an der Küste anlegen wollten, zeigte es sich, daß diese hier von Flußpferden wimmelte, die ebenfalls äußerst angriffslustig waren.
Es war umsonst, daß einige der Dickhäuter durch wohlgezielte Schüsse schwer verwundet und getötet wurden, sie stürzten sich geradezu auf die Boote, die einem solchen Angriff nicht gewachsen waren, und schleunigst die Flucht ergreifen mußten.
Es half nichts, es mußte noch weiter nordwärts gerudert werden, und bei einbrechender Dunkelheit erreichten die Kanus eine Bucht, in der sich keine Flußpferde aufhielten.
Der Professor wäre gern an dieser Küste vorbeigefahren, denn er wußte, wie verrufen gerade der Strand von Utongwe, zu dem die Bucht gehörte, wegen der Raublust seiner Bewohner war. Aber die Leute waren zu sehr ermüdet, um weiterrudern zu können, und so mußte er notgedrungen die Landung anordnen.
Sehr überrascht war Schulze, als sich bald zahlreiche Eingeborene, anscheinend ganz friedlich, näherten und viele Lebensmittel zum Verkauf anboten. Er glaubte schon, die deutsche Schutzherrschaft habe diese Wilden gebändigt und ahnte nicht, welche Hinterlist sich hinter dem harmlosen Gebaren versteckte.
Die Watongwe brachten vor allem viel süßen Maramba, das ist Bananenwein, zum Verkauf und forderten Träger und Askaris auf, mit ihnen auf gute Freundschaft zu trinken, was diese sich nicht zweimal sagen ließen.
Flitmore warnte Schulze, die Leute so viel trinken zu lassen; aber dieser erwiderte sorglos: »Ach was! gönnen wir ihnen das Vergnügen; da die Eingeborenen sich so überraschend freundlich zeigen, droht keine Gefahr, und morgen haben die Zecher ihre Räusche ausgeschlafen.«
Allein dieses gute Zutrauen sollte zum Verhängnis werden, am andern Morgen fand es sich, daß sämtliche Kanus verschwunden waren, und die beiden Wächter, die zweifellos infolge des reichlichen Weingenusses eingeschlafen waren, lagen, von Lanzenstichen durchbohrt, tot im Schilf.
Nun war guter Rat teuer: ohne Fahrzeug an eine feindliche Küste gebannt, das war bedenklich!
Es galt vor allem, den Versuch zu machen, sich der Fahrzeuge wieder zu bemächtigen, und dazu war es notwendig, auszukundschaften, wo sie sich befanden.
Hendrik erklärte, das Wagnis ausführen zu wollen, und nahm Juku und Hassan mit sich.
Da die Watongwe gestern von Süden her gekommen waren, mußte ihre Niederlassung in dieser Himmelsrichtung liegen.
So ging denn der junge Bure mit den beiden Schwarzen das Ufer hinauf nach Süden, überall spähend, ob irgendwo sich Spuren fänden, daß Boote ans Ufer gezogen worden seien.
So kamen sie an die Mündung eines breiten Flusses, der ziemlich tief war und den Weitermarsch hemmte.
Sie folgten nun dem Flußlaufe landeinwärts nach Osten.
Plötzlich flüsterte Hendrik: »Dort!« und wies auf das gegenüberliegende Ufer.
Nicht umsonst war Hendrik von den Trägern »Bwana Angadir« getauft worden, »Herr Geier«, oder, wie die Indianer sagen würden, »Falkenauge«. Die Schwarzen bemerkten erst nach einer Weile am entfernten Ufer, dort, wo Hendrik hinzeigte, im Röhricht die Spuren, daß hier Kanus an Land gebracht oder im Schilf verborgen worden waren.
Die Räuber hatten offenbar ihre Beute den Fluß hinaufgerudert bis in die Nähe ihres Dorfes und dort in Sicherheit gebracht.
Nun kehrten die Kundschafter auf dem nächsten Wege zum Lager zurück, um über ihre Entdeckung Meldung zu erstatten.
Alsbald hielten die Weißen Kriegsrat, und Hendrik, der sich als geborener Feldherr erwies, entwickelte einen Plan, der allgemeinen Beifall fand.
Es war anzunehmen, daß die Watongwe die Kanus bewachten, und darin lag eben die Schwierigkeit und Gefahr des Unternehmens.
Nun schlug Hendrik vor, er selber wolle mit zehn Mann zunächst eine Strecke nach Osten wandern und von dort südwärts das Flußufer erreichen, ein gutes Stück oberhalb der Stelle, wo die Boote sich zu befinden schienen.
Auf diese Weise konnte die kleine Truppe, unbemerkt von den Wächtern, die sich am andern Ufer befanden, den Fluß durchschwimmen und dann, mit aller Vorsicht flußabwärts sich schleichend, jenen in den Rücken fallen.
Für diesen Überfall war genau zehn Uhr nachts bestimmt.
Achmed, der eine Uhr besaß und auch sonst für ein solch waghalsiges Unternehmen ganz geeignet erschien, sollte unterdessen mit dem Sulu Parker und Hassan sich an der Stelle des Ufers verborgen halten, die sich dem Orte gerade gegenüber befand, wo die Kanus vermutet werden mußten.
Fünf Minuten vor zehn Uhr hatten die drei sich nicht allzu geräuschlos ins Wasser zu werfen und dem andern Ufer zuzuschwimmen, so daß die ganze Aufmerksamkeit der Wächter sich ihnen zuwenden mußte, und diese mit Erfolg von den Gegnern in ihrem Rücken überrumpelt werden konnten.
Das Unternehmen war gewagt und lebensgefährlich für alle Beteiligte; denn ein einziger Schrei der Wächter konnte die Feinde im Dorfe auf die Beine bringen und den kühnen Männern auf den Hals hetzen. Aber die Boote mußten beigebracht werden um jeden Preis, und ohne Gefahr war dies nicht auszuführen.
Achmed, Parker und Hassan hatten gegen die ihnen zugewiesene Rolle nichts einzuwenden.
Seine zehn Mann wollte Hendrik unter den Askaris ausgewählt wissen, da die Suahelis für ein lautloses Anschleichen allzu unvorsichtig waren.
So versammelte denn Schulze die Askaris und trug ihnen vor, um was es sich handelte, dann forderte er Freiwillige auf, vorzutreten.
Es trat aber keiner vor.
»Askaris, löwenmutige Krieger!« redete der schwer enttäuschte Professor die Zaghaften an: »Schämt ihr euch nicht, euch zu verhalten wie die Ritter und Knappen in dem berühmten Gedichte des großen Schiller ›Der Taucher‹? Seid ihr Weiber und Ziegen? Sehet, Bwana Hendrik geht euch voran. Hat keiner den Mut, ihm zu folgen? Es trete hervor, wer kein Feigling ist.«
Aber wieder regte sich keiner.
Schulze versuchte es nun mit einer Belohnung, die er den Teilnehmern an dem Unternehmen versprach.
Ohne Erfolg!
Nun fragte Hendrik: »Wollt ihr mich denn allein gehen lassen?«
»Nein!« erscholl die Antwort.
»Also, wer geht mit mir?«
Totenstille.
»Ja, was soll ich denn machen?« fragte Hendrik ernstlich verstimmt.
Da trat der starke Juku vor, der zur Zeit zu den Askaris zählte, und sagte treuherzig: »Bwana Hendrik, wir sind eure Kinder. Fragt ihr noch weiter, ob wir wollen, so wird keiner sich melden: warum selber das Leben wagen, wenn es andere können? Befehlt ihr aber, dann müssen wir folgen, und dann gehen wir mit ohne Murren.«
»Das hätte ich mir gleich denken können,« sagte Hendrik. Und nun wählte er sich die zehn Tüchtigsten aus, darunter Juku, und befahl ihnen, sich ihm anzuschließen. Und siehe da! Keiner erhob den leisesten Widerspruch, ja sie schienen noch stolz darauf, zu den Auserwählten zu gehören.
Als es Zeit war, brach Hendrik auf, während Achmed, Parker und Hassan den ihnen zugewiesenen Weg einschlugen.
Der Bure erreichte mit seiner Schar den Fluß an einer Stelle, wo eine Biegung den Unterlauf den Blicken entzog.
Alle schwammen hinüber und wandten sich nun zur Rechten.
Aus dem Negerdorfe erscholl das wilde Singen und Gröhlen, das auf ein nächtliches Zechgelage schließen ließ. Es war weit genug vom Ufer entfernt, um das Wagnis nicht von vornherein in Frage zu stellen. Je näher sie der bewußten Landungsstelle kamen, desto vorsichtiger schlichen die Leute, und endlich gebot ihnen Hendrik halt!
Er wollte zunächst allein auskundschaften, wie es um die Boote und deren Bewachung stand; denn eine unvorsichtige Bewegung, ein Knacken im Rohr, Laute, die kaum zu vermeiden waren, wenn eine Schar anrückte, hätte ihr Nahen den Wächtern verraten können.
Flußpferde und anderes Getier verursachten ja genug solcher Geräusche im Röhricht; aber in unmittelbarer Nähe der Landungsstelle trieben sie ihr Wesen nicht; jedenfalls hätten die Wächter sich zweifellos veranlaßt gefühlt, nach den Urhebern eines Lautes zu forschen, der sich nicht weit von ihnen hätte vernehmen lassen.
So kroch Hendrik vorsichtig am Boden hin, sich zwischen den Papyrusstengeln durchwindend.
Endlich erschaute er vor sich einen Pfad, der vom Dorfe aus durch die Schilfbestände des Ufers zum Flusse führte.
Mit einem Blicke sah er, daß die Boote tatsächlich im Schilfe festgebunden waren, und daß drei Schwarze, unmittelbar am Ufer sitzend, darauf achteten.
Die Nacht war hell genug, um die Lichtung zu übersehen, während Hendrik im Schatten der Papyrusstauden kaum entdeckt worden wäre, auch wenn die Neger ihm nicht den Rücken zugekehrt hätten.
Ebenso vorsichtig wie er gekommen war, kroch nun der junge Bure zurück, nur daß er, da er nun den genauen Aufenthalt der Feinde kannte, unmittelbar aus dem Röhricht auf freieres Gelände, dem Dorfe zu, strebte.
Dort hatte er Bewegungsfreiheit und konnte aufrecht gehen.
Er bog nun wieder links ab und kehrte zu seinen Leuten zurück; da es schon stark auf zehn Uhr ging, drang er alsbald mit ihnen vor.
Er führte sie zunächst aus dem Papyrusschilf hinaus auf den Weg, den er eben gegangen war, bis hart an den Pfad, der zum Ufer führte.
Dann nahm er Juku und einen Askari namens Ali mit sich. Jeder von ihnen sollte einen der Wächter von hinten überfallen und ihn sofort am Schreien verhindern, worauf ein leiser Ruf alsbald die übrigen zur Hilfe herbeieilen lassen sollte.
So krochen die Drei durchs Schilf auf dem Boden hin bis in die Nähe der Feinde, und nun zeigte Hendrik Hassan und Juku, welchen der Neger jeder von ihnen angreifen sollte.
So verharrten sie schweigend, kaum drei Schritte von ihren ahnungslosen Opfern entfernt, platt am Boden liegend.
Jetzt hörte man vom gegenüberliegenden Flußufer her ein Aufklatschen, als wenn ein Tier oder ein Mensch mit einem Satze ins Wasser gesprungen wäre.
Die Wächter regten sich und sahen scharf hinüber.
Ein zweiter und dritter Plumps wurden unmittelbar darauf vernommen.
Nun sprangen die Männer auf mit einem gedämpften Ausruf. Sie schwangen die Speere, bereit, die Schwimmer, die man im Flusse plätschern hörte, zu durchbohren, sobald sie sich dem Schilfgestade auf Speerwurfsweite näherten.
Der große Augenblick war gekommen: Alles hing nun ab von raschem, kaltblütigem und gleichzeitigem Handeln.
Hendrik klopfte das Herz vor Aufregung, als er sich jetzt geräuschlos erhob. Seine Begleiter folgten seinem Beispiel.
Mit Katzentritten schlichen sie sich auf den Weg hinaus.
Die Wächter richteten währenddessen ihre ganze gespannte Aufmerksamkeit auf die kühnen Schwimmer.
Der junge Bure gab mit der Hand das Zeichen, und mit einem Satz sprangen alle drei den überraschten Wächtern auf den Rücken und schnürten ihnen mit festem Griff die Kehlen zu, bevor sie einen Laut von sich geben konnten.
Gleichzeitig ließ Hendrik den verabredeten gedämpften Ruf ertönen, worauf die im Hinterhalte herbeistürzten.
Ihre Hilfe tat hoch not.
Wie beabsichtigt war, waren die Gegner durch den starken Anprall der auf sie gestürzten Schleicher zu Boden geworfen worden. Sie wälzten sich nun mit ihren Angreifern herum; und wenn auch Juku seinem Opfer die Kehle so fest zuschnürte, daß dem Atemberaubten alsbald die Kräfte versagten, so fehlte doch Ali und Hendrik die Kraft, sich der heftig um sich schlagenden, kräftigen Feinde auf die Dauer zu erwehren.
Sie mußten schon locker lassen, und da war es an der Zeit, daß die andern kamen, zugriffen und die Gefangenen an Händen und Füßen fesselten.
Nun wurde den Halberstickten ein Büschel Gras in den Mund gestopft und mit Bast um den Kopf festgebunden, während ihr Hals freigegeben werden konnte, da sie nun zu jedem Warnungsruf unfähig waren.
Aber eine peinliche Überraschung stand den Siegern bevor: die vorsichtigen Räuber hatten die Ruder aus den Booten genommen und in ihr Dorf verbracht.
Da war nun nichts zu machen!
Inzwischen hatte auch Achmed mit Parker und Hassan das Ufer erreicht.
Die Truppe war nun vierzehn Mann stark.
Aus den dicken Papyrusstengeln schnitzten sie sich Ruderstangen, banden dann die Boote los, von denen sieben mit je zwei Insassen bemannt wurden, während die andern ins Schlepptau genommen werden mußten.
Die Gefangenen nahm man mit und ließ sich so den Fluß hinabtreiben, um dann mit Mühe, und nur langsam vorwärtskommend, mittelst der unbeholfenen Ruder durch den See dem Lager zuzusteuern, sich so dicht am Ufer haltend, als das Röhricht es gestattete.
Mit Jubel wurden die kühnen Sieger begrüßt; doch wurde die Freude wesentlich gedämpft durch die schlimme Nachricht vom Verluste der Ruder.
Daran waren aber die Heimkehrenden unschuldig und ihrem umsichtigen und tapfern Verhalten wurde die vollste Anerkennung zuteil.
Voller Sorge schifften sich unsere Freunde am anderen Tage ein, um mit ihren mangelhaften Ruderstangen das Ufer entlang zu fahren.
Ihre einzige Hoffnung war, die deutsche Saline Gottorp am Mlagarassi, dem größten östlichen Zufluß des Tanganjika zu erreichen, und dort sich mit neuen Rudern versehen zu können.
Doch war zu befürchten, daß die Feinde sie nicht unbehelligt ziehen lassen würden, nachdem sie den Verlust der geraubten Kanus entdeckt haben würden.
In der Tat, kaum war mit großer Anstrengung die Flußmündung überwunden, so zeigte sich die Küste von Eingeborenen besetzt, die mit wildem Geschrei das Erscheinen der Boote begrüßten.
Diese entfernten sich rasch vom Ufer, das heißt, so rasch es eben mit den unbeholfenen Rudern gelang.
Ein Hagel von Steinen wurde ihnen nachgesandt, teils mit der Hand geworfen, teils mittelst Schleudern mit großer Wucht geschnellt.
Zahlreiche Boote wurden von den Wurfgeschossen getroffen und bei der schlechten Beschaffenheit ihres morschen Holzes wurde ein Dutzend von ihnen leck. Dazu waren einige Leute verwundet, davon einige recht schwer.
Glücklicherweise kam man bald außer Bereich der Würfe und auch die Speere und Pfeile, die nun flogen, fielen wirkungslos ins Wasser.
»Geht und sterbt im Njansa!« riefen die Wilden den Abfahrenden höhnisch nach, und es war alle Aussicht vorhanden, daß sie recht behielten; zumal zu allem Unglück auch die Lebensmittel ausgegangen waren; denn was vorgestern erhandelt wurde, hatte der zahlreichen Mannschaft nur auf einen Tag gereicht.
In der Ferne zeigte sich eine Insel; das war das Ziel, dem die Boote nun zunächst zustrebten, obgleich niemand wissen konnte, ob nicht neue Gefahren dort auf die Flüchtigen lauerten.
So sehr waren alle damit beschäftigt, so rasch als möglich voranzukommen, und faßten das ferne Ziel ins Auge, daß sie nicht bemerkten, wie eines der Boote zurückblieb.
In diesem Nachzügler befanden sich Lord Flitmore mit seinem Diener, sowie Schulze, ferner der Araber Achmed und zwei Somalis.
Das Boot füllte sich so rasch mit Wasser, daß alles Ausschöpfen nichts helfen wollte; es war verloren.
Die Wilden hatten kaum den zurückbleibenden Nachen bemerkt, als sie zwei Kanus bemannten, um die Insassen gefangen zu nehmen.
FIitmore lud seine Flinte mit Entenschrot.
»Lord, lassen Sie das Schießen sein!« bat der Professor: »Es hat keinen Zweck. Wir reizen nur unnötig die Wilden. Unser Boot geht unter, — was bleibt uns dann übrig, als ans Ufer zu schwimmen? So oder so fallen wir den Feinden in die Hände; wozu also unnützes Blutvergießen?«
»Professor,« erwiderte der Lord gelassen, »die Sache wird ernst, und wir müssen den Feinden zeigen, daß wir eine furchtbare Macht besitzen. Wir werden allerdings in ihre Gefangenschaft geraten, aber ich glaube, es wird dann nur unser Vorteil sein, wenn wir ihnen zuvor etwas Respekt eingeflößt haben.«
Damit drückte er ab.
Die Wirkung war eine schreckliche: sämtliche Insassen des vordersten Kanus waren verwundet und wälzten sich mit lautem Gebrüll auf dem Boden ihres Fahrzeugs.
Die Feinde ließen sich jedoch nicht abschrecken; sie bemannten weitere Boote und umzingelten unsre Freunde.
Flitmore gab nun keinen Schuß mehr auf die Übermacht ab; auch er verabscheute zwecklosen Mord, selbst in der Notwehr, er hatte es nur eben für zweckmäßig gehalten, den Wilden zu zeigen, was die Weißen könnten, wenn sie wollten; nun sollten die Schwarzen sehen, daß ihre furchtbaren Gegner sich freiwillig jeder ferneren Gegenwehr enthielten.
Es wäre ja nicht undenkbar gewesen, daß einige weitere Schrotladungen dem Angriff ein Ziel gesetzt hätten; da aber das Boot sank und die Landung in Feindesland nicht zu vermeiden war, so wäre damit nichts Wesentliches erreicht gewesen.
So ließen sich denn die Bedrängten wehrlos ins Schlepptau nehmen und ans Ufer ziehen.
Dort sprangen Flitmore und Johann mit den beiden Somalis ans Land, wo sie sofort von heulenden Wilden umzingelt wurden.
Achmed aber folgte Schulzes Beispiel und blieb mit der Seelenruhe des Arabers im Boote sitzen, während dieses am Ufer emporgezogen wurde.
Da saßen sie denn buchstäblich auf dem Trockenen, umdrängt von Hunderten brüllender Feinde. Mancher Speer wurde bedrohlich gegen sie geschwungen, mancher Pfeil auf sie angelegt; doch mochte ihr unerschütterlicher Gleichmut und ihre kalte Miene die Schwarzen einschüchtern, kurz, sie zögerten noch, ihre Mordwaffen zu entsenden.
Vielleicht auch wollten sie sich den Genuß verlängern, die Wehrlosen in ihrer Gewalt zu haben.
Es ist überhaupt eine Eigentümlichkeit der Wilden, daß sie ihren Feinden lange drohen, ehe sie mit dem Angriff Ernst machen, und dieses Zögern gibt oft allein ihren bedrängten Opfern die Möglichkeit, noch einen Weg zur Rettung zu finden. Ganz ähnlich verhalten sich ja auch die Indianer Nordamerikas ihren Gefangenen gegenüber.
Inzwischen war es den anderen Booten schlimm genug ergangen. Ein heftiger Sturm hatte sich erhoben und der Regen fiel in Strömen. Von der entfernten Insel war bei diesem Wetter nichts mehr zu sehen, und die ermüdeten, vor Kälte zitternden Neger vermochten nicht gegen Wind und Wellen anzukämpfen mit den ungefügen Stangen, die ihnen als Ruder dienten.
So trieben sie hilflos von ihrem Ziele ab, während die Nacht einbrach.
Um Mitternacht ließ der Sturm nach und der Mond übersilberte die immer noch hochwogenden Wellen des Sees. Wer schlafen konnte, schlief.
Die lecken Boote aber gönnten ihren Insassen keine Ruhe; sie mußten unermüdlich ausgeschöpft werden, wenn sie nicht sinken sollten, und alle Versuche, sie zu dichten, hatten nur mangelhaften Erfolg.
Leusohn saß mit Helene in einem der beschädigten Kanus. Die Schwarzen, die bei ihnen waren, schienen sich einer dumpfen Verzweiflung hingeben zu wollen. Kein Wunder! Vom Hunger geschwächt, vom Rudern ermüdet und noch mehr von dem rastlosen Kampf gegen das Wasser, das andauernd in das Boot eindrang, sahen sie nur ihr Verderben vor Augen.
»Das ist der Fluch der Watongwe!« sagten sie. »Haben sie uns nicht nachgerufen: Geht und sterbt im Njansa? Jetzt geht es in Erfüllung!«
»Mut, Mut, meine Kinder!« mahnte Leusohn, der wohl sah, daß Verzagtheit hier sichern Untergang bedeutete. »Kümmert euch nicht um den Fluch der Wilden von Utongwe, es sind schlechte Menschen, und die Flüche schlechter Menschen erfüllen sich nicht.«
Aber seine Worte machten wenig Eindruck.
So kam der Morgen und mit ihm eine neue Qual: ein furchtbares Hagelwetter ging nieder und die haselnußgroßen Körner trafen recht schmerzhaft die geplagten Schiffbrüchigen, als welche sich die Insassen der lecken Nachen betrachten mußten.
Die Blitze zuckten und der Donner krachte; wieder schlugen mächtige Wellen an die morschen Bootswände und ergossen sich auch in die unbeschädigten Fahrzeuge. Überall mußte fieberhaft Wasser ausgeschöpft werden, während man sich dem Sturm und der Strömung hilflos überlassen mußte.
Diesmal jedoch kam der Sturm vom Norden, so daß die Weißen hofften, er werde sie gegen die Insel treiben, die gestern im Südwesten lag, heute aber ziemlich südlich gelegen sein mußte, nachdem der gestrige Südoststurm die Schiffe nordwestwärts getrieben hatte.
Und wirklich, als endlich der Himmel sich aufhellte, sah man die Insel im Süden.
Sie erschien jetzt ziemlich nahe; doch immer noch fern genug, um ohne richtige Ruder nicht so bald erreicht werden zu können.
Nun ruderten die unbeschädigten Boote tapfer auf die Insel zu. Sie kamen bald an den sinkenden Kanus vorbei, die gestern langsamer von der Richtung abgetrieben worden waren.
Als Hendriks Boot an ihnen vorüberkam, erhob sich ein großes Geschrei: »Rettet uns, rettet uns, Bwana Hendrik! Wir sinken! Das Wasser geht uns schon an die Kniee. Bring das Boot her, lieber Herr!«
Es war aber nicht möglich, bei den immer noch hochgehenden Wogen die noch seetüchtigen, aber überfüllten Boote mit den Schiffbrüchigen zu belasten. Diese waren andrerseits so erschöpft, daß sie des eindringenden Wassers nicht mehr Herr werden konnten.
Hendrik rief ihnen zu: »Haltet euch am Bootsrande fest, wenn ihr sinkt; wir kommen bald zurück, euch zu retten.«
Immer wieder ertönte das Jammergeschrei: »Meister, Meister, o bringt eure Boote, wir müssen ertrinken.«
Mit äußerster Anstrengung arbeiteten sich die durch Hunger und Rudern entkräfteten Schwarzen der Insel zu. Hendrik und Sannah lösten fleißig die Ermattetsten ab.
»Hurra!« rief endlich Hendrik: »Hier ist unsre Insel. Tapfer, Kinder! Eure Brüder schreien nach eurer Hilfe!«
Da kamen zwei Kanus von der Insel her: Hassan saß in dem einen, Juku im andern.
»Was beginnt ihr?« rief ihnen Hendrik zu: »Eure Brüder ertrinken und hoffen auf euer Kommen.«
»Darum eilen wir so!« riefen die Beiden: »Wir haben unsre Ladung gelöscht und wollen unsre Brüder retten.«
»So ist's recht!« lobte Sannah, die sich mit ihrem Bruder über die eifrige Hilfsbereitschaft der Schwarzen freute.
Der nächste, der diesen ersten Rettungsbooten folgte, war Hendrik. Sannah und die übrigen Insassen seines Nachens waren mit den Lasten ans Ufer gestiegen und der junge Bure ruderte nun aus allen Kräften zurück, den Schiffbrüchigen Hilfe zu bringen.
In kurzer Zeit folgten noch andre Kanus, die ebenfalls gelandet waren und mit den noch rüstigsten ihrer Insassen den Ertrinkenden zustrebten.
Hendrik hatte die verunglückten Boote noch nicht erreicht, als schon Juku und Hassan wieder an ihm vorbeifuhren, der Insel zu. Sie hatten Männer, Frauen und Kinder aufgenommen, so viele, als ihre Fahrzeuge tragen mochten, ohne zu sinken.
Hendrik schaute nach Leusohn und Helene aus. Ihr Boot war zuerst gesunken und trieb weit entfernt von den andern.
Der Bure überließ die Rettung der ihn um Hilfe anschreienden Schwarzen den nachfolgenden Kanus und strebte rüstig weiter, um zuerst die aufzunehmen, die ihm am meisten am Herzen lagen und auch der Hilfe am dringendsten bedurften.
Da hingen sie alle im Wasser, an den Rand des Bootes angeklammert und in ihrer Entkräftung kaum mehr fähig, sich zu halten; ein Schwarzer hatte bereits losgelassen und war in der Tiefe versunken, er war verloren.
Hendrik nahm die Bejammernswerten zu sich auf. Helene hatte sich tapfer gehalten.
Als sie nun die Insel erreichten, wurden sie von lautem Jubelgeschrei der Askaris und Träger begrüßt. Ja Flintensalven schossen die Schwarzen in die Luft ab, so freute sie die Rettung ihres weißen Herren Leusohn und seiner Schwester, die sie schon verloren gegeben hatten.
»Sind alle gerettet?« fragte Helene, die an sich selber am wenigsten dachte.
»Alle!« erscholl die Antwort, »die in den sinkenden Booten waren. Aber wo ist der Bwana Bawessa und Bwana Litmor? Wo sind Achmed und die zwei Somalis, die bei ihnen waren?«
Ein großer Schrecken bemächtigte sich der Weißen. Schulzes Boot hatte seit gestern Morgen niemand mehr gesehen.
Nach eiliger Stärkung durch Genuß der am Ufer wachsenden Bananen zog wieder eine ganze Flotte in den See hinaus; aber nirgends war eine Spur der Vermißten zu entdecken; nur einige Warenballen konnten noch aufgefischt werden.
Das unglückliche Boot mußte mit allen Insassen untergegangen sein! Das war eine niederschmetternde Erkenntnis!
Die Insel, auf der unsere Freunde gelandet waren, war nur spärlich bevölkert. Ein einziges Dorf befand sich auf ihr, und der Unterhäuptling der Watongwe, der hier herrschte, hatte kaum fünfzig waffenfähige Männer zur Verfügung.
Mit kleinem Gefolge erschien er um die Mittagzeit und verhandelte mit Leusohn, der ihm als Häuptling der Eindringlinge bezeichnet worden war.
»Warum seid ihr hiehergekommen?« fragte er.
»Weil uns die Leute von Utongwe ohne allen Grund überfallen haben. Wir wollten Frieden, wir wollen immer Frieden, sie aber wollten Krieg.«
»Ich kann euch hier nicht dulden,« fuhr der Häuptling fort, »weil ihr Feinde der Watongwe seid.«
»Wir sind nicht ihre Feinde, wenn sie uns in Frieden lassen, wir sind nicht schuld am Streit. Aber ob du uns dulden willst oder nicht, kann uns einerlei sein: mit zehn von meinen Leuten vernichte ich deine ganze Macht.«
Der Häuptling warf einen Blick auf die Gewehre der Askaris und sah die Richtigkeit von Leusohns Behauptung wohl ein, doch sagte er: »Die Watongwe werden kommen und euch vertreiben, sie haben viele Kanus. Der Sohn ihres Königs ist bei mir, sie werden ihn nicht in eure Hände fallen lassen.«
Als Hendrik die letzten Worte hörte, sagte er zu Leusohn: »Wir sollten uns unverzüglich des Königsohns bemächtigen, dann hätten wir einen Geisel und das könnte uns den Watongwe gegenüber einen unschätzbaren Vorteil gewähren. Auch den alten Häuptling würde ich ohne weiteres gefangen nehmen, damit seine Leute uns im Falle eines Kampfes nicht anzutasten wagen.«
»Sie haben recht,« sagte Leusohn beistimmend: »Unsere Not erfordert außerordentliche Vorsichtsmaßregeln.«
Er wandte sich wieder dem Häuptling zu, während er Hendrik anwies, die nötigen Vorbereitungen zu treffen.
»Wie heißt euer König?«
»Antari, der Löwe.«
»Du sagst, du habest seinen Sohn bei dir? Du willst uns nur bange machen, wir glauben dir nicht.«
»Hier ist er, Schekka, einer der Söhne Antaris,« erwiderte der Häuptling erzürnt, und wies auf einen Jüngling von etwa achtzehn Jahren.
»Gut so! Ihr beide seid unsere Gefangenen. Es soll euch kein Leid geschehen; wir müssen euch nur in unserer Gewalt behalten um unserer Sicherheit willen.«
Der Häuptling sah sich um.
Von allen Seiten war er mit seinen wenigen Begleitern von Askaris umzingelt und drohende Flintenläufe starrten ihm entgegen.
»Es sei, wir können nichts machen,« sagte er finster.
»So befiehl zunächst deinen Leuten, sie sollen uns Lebensmittel bringen. Wir könnten sie jetzt mit Gewalt nehmen, wir wollen aber alles bezahlen; wir sind gute Menschen und keine Räuber.«
Der Häuptling gab die nötigen Befehle und seine Leute wurden entlassen, während er selbst und Schekka sich's gefallen lassen mußten, gefesselt zu werden.
Die Einwohner des Dorfes kamen denn auch bald und brachten Lebensmittel in Menge, die ihnen redlich bezahlt wurden.
»Wir begehren auch, euch eure Waffen abzukaufen und eure Ruder,« sagte Hendrik.
Darauf wollten sie nicht eingehen; aber der Häuptling fand es geraten, auf eine scharfe Aufforderung hin, auch hiezu Befehl zu erteilen und so lieferten die Leute Speere, Bogen und Pfeile aus und brachten ihre Ruder herbei.
So, im Rücken gedeckt und mit Rudern versehen, schifften sich unsere Freunde am anderen Tage wieder ein.
Als sie jedoch um die östliche Ecke der Insel bogen, sahen sie eine große Flotte von Booten auf sich zukommen: es waren die Watongwe, die mit etwa dreihundert Fahrzeugen ausgezogen waren, die Fremden zu vernichten.
Unsere Freunde gedachten nun, zunächst wieder in die Bucht zurückzukehren und zu landen, weil sie hofften, vom Land aus die übermächtige Flotte wirksamer im Schach halten zu können.
Aber die Wilden hatten sich vorgesehen, und durch ein geschicktes, gut vorbereitetes Manöver kamen sie den gegnerischen Kanus zuvor und schnitten ihnen den Weg ab.
Nun rief Leusohn zu den nächsten Watongwekanus hinüber: »Wir haben Schekka, eures Königs Sohn, in unserer Gewalt und den Häuptling der Insel. Laßt ihr uns in Frieden abziehen, so soll ihnen nichts geschehen, greift ihr uns aber an, so sind sie des Todes!«
Dabei hieß er die beiden Gefangenen, die sich in seinem Boote befanden, aufstehen, so daß die Watongwe sie sehen konnten.
Einen Augenblick stutzten die letzteren; dann aber schrieen sie: »Nangu, nangu! Behaltet Schekka, er ist uns niemand; wir haben einen anderen Mkama.«
»Nangu« bedeutet in ihrer Sprache »nein!«, »Mkama« aber »König«.
»Wollet ihr nichts tun, um Antaris Sohn zu retten?«
»Nangu, nangu! Antari hat noch viele Söhne, was ist ihm der eine? Wir wollen nichts tun, als kämpfen und euch vernichten.«
»Das werdet ihr bald bereuen!«
Aber nur ein höhnisches »Huh!« war die Antwort und die Boote kamen näher.
»Nun hilft es nichts!« rief Leusohn: »Es geht um unser Leben!« und er befahl »Feuer!«
Hundert Schüsse krachten, und da die Gewehre meist mit grobem Schrot geladen waren, war der Erfolg ein ganz bedeutender. Schon diese erste Salve hatte gewaltig unter den Angreifenden aufgeräumt.
Aber sie ließen sich nicht abschrecken und waren bereits so nahe, daß sie von ihren Assegais, das heißt Sperren, Gebrauch machen konnten.
Diese flogen durch die Luft, und alsbald hatten auch unsere Freunde mehrere Tote und Verwundete zu beklagen.
Leusohn sah ein, daß er zwar mit neuen Salven die Feinde schließlich vernichten könnte, aber daß er in diesem Kampfe Verluste erleiden würde, die der Karawane für ihre weitere Reise verhängnisvoll sein müßten.
Es galt ihm, möglichst wenige seiner Leute preiszugeben.
Er kommandierte daher noch eine Salve, und dann befahl er, so rasch als möglich dem nächstgelegenen Ufer zuzustreben.
Die Wirkung der zweiten Salve ließ unseren Freunden Zeit, aus dem Bereiche der feindlichen Wurfspeere zu gelangen; so bald jedoch die Watongwe sahen, daß sich ihre Gegner ans Ufer flüchteten, folgten sie ihnen nach.
Ein unerwartetes Hindernis stellte sich der Landung unserer Freunde entgegen: das Ufer war von einer Menge von Flußpferden belebt, und einige derselben stellten sich den Booten entgegen und drohten, sie zum Kentern zu bringen.
Es mußten erst durch mehrere wohlgezielte Schüsse ein paar der Dickhäuter erlegt werden, ehe der Weg zur Küste offen stand.
Glücklicherweise wurde auch die Landung der Feinde, die mit ihren zahlreichen Booten einen weit breiteren Küstenstreifen anlaufen mußten, durch die kampflustigen Nilpferde wesentlich verzögert.
Als Leusohn mit seinen Truppen die Kanus verließ, verhehlte er sich nicht, daß diese samt den Ballen ein Raub der Feinde werden könnten. Er dachte daher daran, die Annäherung der feindlichen Flotte möglichst zu verhindern. Das Ufergebüsch bot genügende Deckung; doch war es fraglich, ob bei der großen Anzahl der Wilden ihre Landung auf die Dauer vereitelt werden konnte.
Die Frauen und Kinder wurden zunächst vorausgeschickt, damit sie sich weiter oben in größerer Sicherheit aufhalten könnten, bis sich der Kampf entschied.
Dann wurde ein mörderisches Feuer auf die nachdrängenden Boote eröffnet.
Diese waren aber dem Ufer schon so nahe und dort vielfach durch das dichte Schilfgebüsch, das sie geflissentlich aufsuchten, so gut gedeckt, daß Leusohn den Befehl geben mußte, sich weiter zurückzuziehen, um von einem günstigeren Standpunkt aus den Kampf wieder zu eröffnen.
Da teilte ihm Hendrik einen Plan mit, den er sich soeben ausgedacht hatte, und der Leusohn einleuchtete.
Hendrik schlug sich mit fünfzig Mann seitwärts in die Büsche, wo er sich bis zum rechten Augenblick verborgen hielt.
Leusohn schickte sodann die Weiber und Kinder mit den Verwundeten und den beiden Gefangenen nach der südlichen Inselbucht, in der sich die Kanus der Insulaner befanden.
Da sie die Vorsicht gebraucht hatten, ihre Ruder mitzunehmen, konnten sie die kleine Flotte der Einwohner zur Flucht benutzen, auch wenn Hendriks Plan nicht gelingen sollte.
Den waffenlosen Insulanern waren die bewaffneten Weiber, die mit Reserveflinten ausgerüstet waren und die zum Teil nur leicht verwundeten Männer gewachsen, so daß sie hoffen durften, sich der Boote mit leichter Mühe bemächtigen zu können.
Dann setzte sich Leusohn auf einem bewaldeten Hügel fest, von wo er aus guter Deckung die anstürmenden Wilden beschießen konnte.
Diese begnügten sich nicht damit, die Kanus ihrer Gegner mit dem sämtlichen Gepäck sich anzueignen: die Beute hielten sie für sicher und ließen vorerst nur wenige Mann in den Kähnen zurück, um zunächst die Karawane vollständig zu vernichten, und dann nach einem gründlichen Erfolg mit dem reichen Raube heimzukehren.
Das eben hatte Hendrik erwartet und daraufhin seinen Plan gebaut.
Leusohn ließ die Feinde nie auf Speerschußweite herankommen: nach ein oder zwei Salven zog er sich mit seinen Leuten jedesmal wieder im Laufschritt in eine neue Deckung zurück, die Feinde auf diese Weise immer weiter vom Ufer weglockend.
Als der junge Bure am immer schwächer vernehmbaren Knall der Schüsse erkannte, daß die Kämpfenden weit genug entfernt waren, brach er mit seinen fünfzig Mann plötzlich hervor, und überwältigte in den Booten die völlig überraschten Wächter, die gut gefesselt ans Ufer geworfen wurden, wo sie sich die Lungen ausschreien konnten.
Sie zu knebeln, glaubte Hendrik unterlassen zu dürfen; denn in absehbarer Zeit konnten ihre Rufe nicht an das Ohr ihrer Stammesgenossen dringen.
Nun wurden die stärksten und größten Kanus der Wilden ausgesucht und zum Teil an Stelle der eigenen, schlechteren mit den Ballen beladen. Die übrigen wurden alle ins Schlepptau genommen und auf den See hinausgeführt.
Mit fünfunddreißig Kanus waren die Weißen hier gelandet, einundfünfzig nahm nun Hendrik mit, so daß der Verlust der gesunkenen Boote mehr als gedeckt war, zumal mehrere weit größere Fahrzeuge unter den neugewonnenen sich befanden, als die Seefahrer zuvor besessen hatten.
Jedes der einundfünfzig Boote war mit einem Ruderer bemannt und hatte vier bis fünf Kanus im Schlepptau.
Letztere wurden aber nur einige hundert Meter weit in den See geführt, worauf mit Äxten und Beilen ihr Boden durchschlagen wurde, so daß sie rasch sanken.
War es nun den anderen gelungen, sich der Boote der Insulaner zu bemächtigen, so saßen die Feinde ohne Fahrzeuge auf der Insel gefangen, und die Flucht mußte ohne Schwierigkeit gelingen.
Eine Verfolgung war dann auch nicht mehr zu befürchten; denn einige Tage würden die Wilden immerhin brauchen, um sich den notdürftigsten Ersatz für ihre verlorenen Kanus herzustellen, von denen über zweihundert auf dem Grunde des Sees ruhten.
Wie ausgemacht worden war, ruderte Hendrik mit seiner stattlichen Flotte dem Bootshafen der Insel zu. Dort fand er bereits die Kanus der Eingeborenen von den Weibern, Kindern und Verwundeten in Beschlag genommen.
Nun wurden auch hier diejenigen Fahrzeuge vernichtet, die sich als nicht ganz seetüchtig erwiesen. Die anderen ruderten mit ihren Insassen auf den See hinaus, während Hendrik im Hafen blieb mit so viel Schiffen, als nötig waren, um Leusohn und seine Mitkämpfer aufzunehmen.
Der Jüngling ließ hierauf eine Salve abgeben, das verabredete Zeichen, daß sein Unternehmen geglückt und alles bereit sei.
Leusohn hatte sich bei seinem Rückzug mit Vorbedacht dem Hafen genähert; so war denn der Schauplatz des Kampfes bereits ganz in der Nähe, als der Doktor die erlösende Salve vernahm.
Verluste hatte ihn die ganze langwierige Schlacht keine mehr gekostet; nur einige leichtere Verwundungen waren noch vorgekommen, da er mit äußerster Vorsicht seinen Rückzug ausgeführt hatte. Die Wilden hingegen mochten wohl die Hälfte ihrer Leute eingebüßt haben; trotzdem waren es noch mehrere hundert kampffähige und aufs äußerste erbitterte Männer, die dem heldenhaften Doktor gegenüberstanden.
Nun aber wandte er sich mit all den Seinigen in rasendem Laufe dem Hafen zu.
Die Höhe des Hügels, auf dem er zuletzt gekämpft hatte, war so dicht bewachsen, daß die Feinde zunächst nicht sehen konnten, nach welcher Richtung er abgezogen war.
Erst nachdem sie ihrerseits die Höhe erklommen hatten, konnten sie den Spuren der Flüchtigen folgen, und bis sie dann zum Hafen gelangten, waren die Boote schon so weit entfernt, daß die nachgesandten Pfeile und Speere keines mehr erreichten.
Ein rasendes Wutgeheul erhob sich unter den gefoppten Wilden, obgleich sie noch nicht ahnten, welch schlauer Anschlag hier durchgeführt worden war.
Sie glaubten einfach, ihre Gegner hätten sich der Boote im Hafen bemächtigt, mit denen sie nun entfliehen würden.
Sie eilten daher zur Stelle zurück, wo sie ihre eigene Flotte und die beladenen Kanus der Karawane zu finden glaubten, um sofort den Flüchtigen nachzusetzen und mit größerem Vorteil auf offenem Wasser den Vernichtungskampf fortzusetzen und zum siegreichen Ende zu bringen.
Wie groß war nun ihre Verblüffung und ihre ohnmächtige Wut, als sie nichts fanden als ihre gefesselten Genossen, die ihnen berichten konnten, welch niederträchtigen Streich ihnen der Weiße gespielt hatte, der noch fast ein Knabe schien!
Als unsere Freunde sich in Sicherheit wußten, lösten sie die Bande des Häuptlings und des Königsohns Schekka und gaben ihnen ein Boot, mit dem sie nach der Insel zurückfahren konnten da es keinen Zweck hatte, sie länger gefangen zu halten.
Schulze und Lord Flitmore waren, wie wir wissen, nebst Johann Rieger, Achmed und zwei Askaris in einer höchst ungemütlichen und lebensgefährlichen Lage, da ihnen mit scharfen Speeren um die Nase gefuchtelt wurde und auf gespannten Bogen Pfeile auf sie gerichtet waren.
Es wäre ihnen wohl auch bald an den Kragen gegangen, wenn nicht Antari »der Löwe,« der König von Utongwe, in Person erschienen wäre und Befehle in bezug auf die Gefangenen gegeben hätte.
Danach wurden ihnen zunächst die Arme auf den Rücken gebunden mit zähen Baststricken, die schmerzhaft die Handgelenke einschnürten.
»Wozu seid ihr gekommen?« fragte Antari seine Gefangenen.
Schulze erwiderte: »Großmächtiger Löwe aller schurkischen Watongwe, wir sind an deinen räuberischen Küsten nur aus Not an Land gegangen, weil unsere Ruderer ermüdet waren, und wir hätten euer ungastliches Gebiet sofort wieder verlassen, hättet ihr uns nicht unsere Kanus geraubt.«
»Eure Boote nahmen wir als Pfand, um den Hongo zu erhalten, den ihr mir schuldet. Nun sind deine Begleiter entwichen, ohne Hongo zu zahlen. Sobald der Sturm sich gelegt hat, werden wir ihnen nachsetzen und sie vernichten und uns die Abgabe selber holen, alles was ihr besitzt, falls nicht der Wind und die Wellen eure Boote zuvor verschlungen haben.«
Damit wandte er sich ab und ließ die Gefangenen ins Dorf schleppen, wo sie in einer elenden Hütte untergebracht wurden.
Um die Hütte herum erhob sich bald ein Höllenlärm: die Wilden verteilten die im Boote gefundene Beute. Nur die Gewehre legten sie ängstlich in die Hütte, nachdem eines derselben durch die leichtfertige Handhabung eines Negers losgegangen war, und die Kugel einem anderen die Hand durchlöchert hatte.
Dann kamen Weiber in die Hütte, darunter einige ganz hübsche; die begannen die Gefesselten regelrecht zu verhöhnen, indem sie sagten: »Jetzt brauchen wir nicht mehr Wasser zu tragen, Holz zu hacken und Korn zu stampfen: das ist nun euer Geschäft!« und dergleichen Spottreden mehr.
Als die Weiber genug gehöhnt und die Hütte verlassen hatten, kamen wieder einige Männer und sahen, was es bei den Weißen etwa weiter zu rauben gebe.
Einem der Wilden stachen Flitmores feine Schnürstiefel in die Augen, und er zog ihm die Stiefel einfach aus.
Damit war es für heute genug und die Gefangenen konnten sich, nachdem man ihnen etwas Speise in den Mund geschoben hatte, um nicht ihre Arme zu entfesseln, sich einer, wenn auch nicht ungestörten Nachtruhe hingeben.
Am nächsten Morgen ging ein furchtbares Gewitter mit Hagel nieder, und Schulze dachte mit Besorgnis daran, wie es wohl den Freunden auf dem See bei dem rasenden Orkan ergehen möchte, falls sie keine sichere Zuflucht gefunden hätten?
Dann kamen einige Wilde und befahlen den Gefangenen, aufzustehen: sie müßten vor dem König erscheinen.
Während die anderen folgten, blieb Flitmore ruhig sitzen.
»Wie soll ich aufstehen und gehen? Ihr habt mir ja gestern die Haut von den Füßen gezogen: wir Weiße können nicht gehen ohne die Haut an unseren Füßen,« behauptete der edle Lord.
Die Wilden rissen die Augen weit auf, als sie erfuhren, daß die Weißen eine Abziehhaut an den Füßen besaßen. Sie befühlten des Engländers Strümpfe und mochten meinen, das sei allerdings das bloßgelegte Fleisch der Weißen, wenn auch ein höchst sonderbares Fleisch.
Hierauf beschafften sie die Schnürstiefel und mühten sich vergeblich ab, sie dem Lord an die Füße zu ziehen, denn er erschwerte es ihnen mit Absicht.
»Ihr könnt mir meine Haut nicht wieder anziehen: bindet mir die Arme los!« befahl Flitmore.
Die Schwarzen gehorchten und wunderten sich, mit welcher Leichtigkeit und Eleganz der Engländer seine Haut wieder über die Füße brachte.
Gedankenlos und leichtsinnig, wie die Neger sind, vergaßen sie es, dem Gefangenen die Hände wieder zu fesseln.
Vor den König gebracht, beantworteten die Europäer noch einige müßige Fragen desselben, worauf dieser kaltblütig Befehl gab, die Gefangenen zu verbrennen.
Die Hütten der Eingeborenen waren meist auf hohen Pfählen angelegt und Leitern führten zu ihnen hinauf.
Vor einer Hütte auf solch einem Pfahlgerüst standen Antaris Frauen, um von oben herab dem grausamen Schauspiel zuzusehen. Denn auf den Pfählen befand sich zunächst eine breite Plattform aus Bambusstäben, in deren Mitte die Hütte errichtet war, so daß rings herum ein freier Platz verblieb.
Als nun die Wilden mit brennenden Fackeln herbeikamen, die sie unter tollen Sprüngen hin- und herschwangen, kam einer der Leiter des erwähnten Baus zu nahe und sie ging in Flammen auf.
Das Feuer ergriff die Bambusplattform und die Weiber, drei an der Zahl, rannten sinnlos vor Angst und mit gellenden Hilferufen am Rande derselben hin.
Sie wagten nicht, aus der bedeutenden Höhe herabzuspringen und wären wohl auch kaum lebend unten angekommen.
Da das Feuer rasch um sich griff, war kein Zweifel, daß sie nun selber das Schauspiel des lebendig Verbranntwerdens bieten würden, an dem sie sich in grausamer Lust zu weiden gedacht hatten.
Niemand kam der Gedanke, einen lebensgefährlichen Rettungsversuch zu machen, außer dem weißen Lord.
Er war ja ungefesselt und so eilte er, sobald das Unglück geschehen war, auf die Hütte zu, kletterte mit unglaublicher Gewandtheit an einem der äußeren Stützpfähle empor, erfaßte eine der Frauen und trug sie herab.
Noch ein zweites und drittesmal klomm er hinauf und brachte auch die beiden anderen in Sicherheit.
Das drittemal freilich stand schon der ganze dürre Bau in Flammen und er trug mehrere Brandwunden davon, als er das schwarze, vor Schmerz und Todesangst brüllende Weib den Flammen entriß.
Zwei waren gerettet, die dritte aber war schon so verbrannt, daß sie nach zwei Stunden unter gräßlichen Schmerzen und ununterbrochenem Schreien den Geist aufgab.
Die Wilden waren völlig starr, als sie sahen, daß ein von ihnen einem martervollen Tode geweihter Weißer den Frauen seines Todfeindes unter eigener Lebensgefahr zu Hilfe kam.
Antari war durch diesen Vorfall derart aus der Fassung geraten, daß er Befehl gab, die Gefangenen vorläufig wieder in die zu ebener Erde gelegene Hütte zurückzubringen, in der sie die Nacht verbracht hatten.
Vor Tagesanbruch zog die Flotte der Watongwe aus, da ein auf Kundschaft ausgesandtes Kanu die Nachricht vom Landen der Weißen auf der Insel gebracht hatte.
Antari, ob er gleich der »Löwe« hieß, ging nicht mit in den Kampf, sondern zog es vor, sich einen tüchtigen Rausch zu trinken in der Vorfreude über den zweifellosen Sieg.
Dagegen waren fast alle Männer des Dorfes fort und Flitmore erwog den Gedanken der Flucht.
Die Fesseln seiner Mitgefangenen hatte er bereits gelöst, und da sämtliche Gewehre noch in der Hütte lagen, durften sie wohl sicher sein, mit Leichtigkeit zu entkommen: denn den Abzug der Männer hatten sie wohl beobachtet und die Weiber würden sie nicht zurückhalten können, nachdem sie die paar Wächter an der Hütte überwältigt haben würden.
Aber die Frage war, wo ein Kanu finden? Denn nur mit einem solchen konnten sie wirklich Rettung finden und hoffen, sich mit den Freunden zu vereinigen, während sie, auf sich selber angewiesen und von allen Mitteln entblößt, sich zu Lande niemals durch die Wildnis hätten schlagen können.
Da war guter Rat teuer.
Auf einmal zur Mittagszeit trat eine weibliche Gestalt in das Zelt.
Es war eine der von Flitmore dem Flammentode entrissenen Frauen.
Sie wandte sich an den Lord und sagte mit gedämpfter Stimme: »Gestern hatte ich mich gefreut, zuzusehen, wie ihr verbrannt würdet; aber als das Feuer mich bedrohte, da war es aus mit meiner Freude und ich dachte: es ist ein schrecklicher Tod. Die Weißen sind gut, sie hätten sich auch freuen können, die Weiber ihrer Feinde brennen zu sehen, aber sie haben ein schönes Herz, das am Schrecklichen keine Freude hat, auch wenn es ihren Feinden widerfährt.
»Da hat mir mein Herz gesagt: du bist schlecht, aber der weiße Mann ist gut, du darfst ihn und seine Freunde nicht töten lassen. Antari hat Pombe getrunken, viel Pombe; er ist wie ein toter Löwe. Den Wächtern habe ich Pombe gebracht, sehr große Krüge: es hat sie alle besiegt; die Frauen und Kinder halten ihr Mahl, folget mir schnell und leise, es ist die beste Zeit.«
Das war unverhoffte Schicksalsgunst: wer von ihnen hätte an die Dankbarkeit einer Wilden gedacht?
Die junge Frau führte sie unbemerkt zum Dorf hinaus in das nicht ferne Papyrusdickicht, wo sie ihnen ein Boot am Flußufer zeigte.
Nun verloren die Geretteten keine Zeit, ruderten den Fluß hinab und dann auf den See hinaus, der Insel zu, die schon vorgestern ihr Ziel gewesen war und von der ihnen die junge Häuptlingsfrau berichtet hatte, ihre Freunde seien dort an Land gegangen, und die ganze Utongweflotte sei ausgelaufen, sie dort zu vernichten.
Das Weib hatte dies als Warnung erzählt, damit sie ja die gefährliche Insel meiden sollten. Sie aber dachten natürlich nur, die Freunde aufzusuchen, vielleicht ihnen zu Hilfe zu kommen.
Sehr verdächtig war es ihnen, daß sie von der großen Flotte nichts sahen und auch kein Schießen mehr vernahmen, nachdem sie anfangs ferne Gewehrsalven gehört hatten.
Sollte der Kampf zu Ende sein und gar einen schlimmen Ausgang für ihre Genossen genommen haben?
Voll banger Ahnungen beschlossen sie, vorsichtig die Insel zu umrudern, um auszuspähen, ob sie irgendwo von der Sachlage etwas zu entdecken vermöchten.
Ein Glück war es, daß sie sich zunächst zur Linken wandten, der Südseite des Eilandes zu; denn nun erblickten sie alsbald die soeben dort auslaufende Flotte.
Im ersten Augenblick erschraken sie zwar bei dem Anblick der zahlreichen Boote und glaubten, die Feinde vor sich zu haben.
Gleich darauf aber erkannten sie, daß es die Ihrigen waren und mit lauten Rufen der Freude steuerten sie auf Leusohns Kanu zu.
Brausender Jubel empfing die Totgeglaubten, nicht nur von seiten der Weißen, nein, auch die Schwarzen freuten sich wie die Kinder, sie wieder lebend vor sich zu sehen.
Schulze stieg zu Leusohn und Helene hinüber, Flitmore mit Johann zu Hendrik und Sannah, denn es drängte sie, zu hören, was die Gefährten inzwischen erlebt hatten, so wie es diese verlangte, von den Abenteuern der Wiedergefundenen zu vernehmen.
Die beiden Boote der Weißen hielten dicht nebeneinander, so daß man sich auch vom einen zum anderen hinüber verständigen konnte.
Als Schulze von Hendriks Taten vernahm, rief er diesem erstaunt zu: »Wie? Das soll wahr sein? Diese ganze Flotte haben Sie erobert und den Feind seiner sämtlichen Fahrzeuge beraubt?«
Hendrik inzwischen erzählte dem Lord von Leusohns Taten und dieser geriet darüber ebenfalls in so hohe Verwunderung und Bewunderung, daß er seine gewöhnliche Einsilbigkeit vergaß und hinüberrief: »Was? Mit so verschwindenden Verlusten haben Sie sechs Stunden lang einer so gewaltigen Übermacht die Stirne geboten? Sie sind ein Feldherr, Doktor! Meine Hochachtung!«
Schulze seinerseits berichtete von des Lords edler Handlung, der sie zunächst ihre Rettung verdankten.
»Lord Flitmore,« rief nun Leusohn diesem zu: »Sie sind ein Christ!«
»Ich wünsche es zu sein,« erwiderte der Engländer; »denn mit Recht so genannt werden zu können, halte ich allerdings für den höchsten Ehrentitel, der einem zuteil werden kann.«
Da unsere Freunde von der Ostküste des Tanganjika vorerst genug hatten, fuhren sie nun nach Westen dem wunderlichen Felsenufer zu mit seinen so seltsamen Gebilden.
Ihr Nachtquartier suchten sie auf der kleinen Insel Kasenge, in deren Mitte sich ein grasbewachsener Bergkegel erhebt.
Dort fanden sich zahlreiche Melonenbäume, Granatäpfel, Zitronen- und Limonenbäume, die seinerzeit von den Arabern hier gepflanzt worden sind.
Unter den Trägern und Askaris waren bald auch die Schicksale der Gefangenen bekannt geworden: die beiden Somalis, die mitgefangen gewesen waren, wußten Wunderdinge von Lord Flitmores Schnürstiefeln und seiner aufopfernden Tat zu erzählen.
So kam es, daß die Bootsleute am anderen Morgen schon einen Gesang anzustimmen wußten auf die Gefangenschaft Schulzes und Flitmores, der also anhub:
»Die Watongwe sind wahrhaft frech:
Sie nahmen gefangen Lor Litmor,
Dazu den Bwana Bawessa
Und fesselten ihnen die Arme
Ganz nach europäischer Sitte.«
Vor allem aber besangen sie in begeisterten Versen die Taten Bwana Hendriks, der eine feindliche Flotte durch List eroberte.
»Sie fluchten uns: ›Geht und ertrinkt im See,‹
Nun sind sie im Njansa gefangen,
Sie schimpfen und fluchen: ›O weh uns, o weh!‹
Und kriechen am Boden wie Schlangen.
Bwana Hendrik hat ihre Boote versenkt,
Bwana Hendrik hat uns zum Sieg gelenkt:
Jetzt lachen wir, wenn sie fluchen:
Sie werden's nicht wieder versuchen!«
Und der Chor der Schwarzen sang jubelnd die zweite Hälfte des Verses mit, die sich als Kehrreim bei jedem Verse wiederholte.
Es war nur eine kurze Überfahrt, die heute zu machen war; dann erfolgte die Landung an der Küste von Uguha.
Die Waguha zeigten sich als ein friedliebender Stamm und man merkte ihnen schon den Einfluß der unter ihnen wirksamen Mission an. Die Leute fielen besonders auf durch den wahrhaft künstlerischen Aufbau ihrer mannigfaltigen Haartrachten.
Diese Haarbauten erinnerten Schulze an die Haarhelme der Latukas, von denen Samuel Baker berichtet: die Latukas durchflechten ihr krauses Haar mit feinem Garn aus Baumrinde, bis dieses ein dichtes, filziges Netzwerk bildet. Sowie das Haar dies Geflecht durchwachsen hat, wird das gleiche Verfahren wiederholt, bis im Laufe der Jahre ein undurchdringlicher, hoher Helm entsteht, dessen unteres Ende mit Zwirn zu einem festen, wulstigen Rand vernäht wird. Ein Stück polierten Kupfers wird von vorn angebracht, bunte Perlen von Erbsengröße in künstlerischer Anordnung geben diesem Naturhelm ein schönes Ansehen und seinem Rand wird durch angenähte Kaurimuscheln eine feste Kante gegeben.
Die Felsenküste des Tanganjika am Westrand war von vielen Schluchten durchschnitten und im Hintergrunde türmten sich die Hochalpen von Goma auf. Wälder von Riesenbäumen erfüllten die Seitentäler, aus denen schäumende Flüsse brausten.
Hellgrüne Streifen von Wasserrohr säumten die Buchten, und Hunderte gelbbrüstiger Vögel hängten dort ihre Nester auf, sich, mit dem Kopf nach unten, an die Zweige der Bäume klammernd oder mit hellem Gezwitscher umherfliegend.
Weiter im Norden sah man ganze Waldungen von Obstbäumen.
Ölpalmen, Zuckerrohr, Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, Erdnüsse, Maniok, Sorghum und Eleusine und alle Bananenarten wurden angebaut.
Seit der kleine Uledi nicht mehr Ziegenhirt sein konnte, weil seine ganze Herde zu seinem größten Leidwesen nach und nach dem Appetit der Karawane verfallen war, begleitete er mit Vorliebe den Professor auf seinen botanischen Ausflügen.
Dabei konnte sich Schulze nicht genug wundern, welche genaue Kenntnis dieses Naturkind von allen einheimischen Pflanzen- und Tierarten hatte, so daß Uledi ihm wirklich für seine wissenschaftliche Ausbeute ein unschätzbarer Gehilfe wurde.
Seine Kenntnisse brachten auch manche Abwechslung in die Speisenkarte: durch ihn lernte der Professor zum Beispiel die Schale eines mächtigen Urwaldbaums kennen, die einen kräftigen Zwiebelgeruch ausströmte und, mit Fleisch gekocht, ein richtiges Zwiebelgericht abgab. Ebenso eine Ölfrucht, die der Muskatnuß glich.
Die köstliche, säuerliche Frucht des Amomum bot eine willkommene Erfrischung, da sie hier häufig zu finden war.
Auch eine faustgroße Baumfrucht mit harter, gelber Schale, säuerlich-süßem, braunem Fleisch und vielen Kernen ließen sich die Schwarzen schmecken, trotz Uledis Warnung; denn sie gaben nichts auf das Wissen des Knaben. Sie hatten es jedoch zu bereuen, als ein allgemeines Erbrechen als Folge des Genusses dieser Strychnusart sie kurz darauf befiel.
Die Weißen erstiegen die grüne Höhe über dem Lugumbatal, wo sich die englische Mission von Uguha befindet, von der aus man eine weite, prächtige Aussicht über den See genießt.
Der liebenswürdige Missionar nötigte sie, einige Tage seine Gäste zu sein.
Sie hatten hier den segensreichen Einfluß, den die Mission auf die Neger ausübt, recht vor Augen, und sahen, wie die Zöglinge zu freiwilliger, tüchtiger Arbeit und zu gefestigten, sittlichen Charakteren erzogen wurden.
Leusohn sagte später: »Es ist ja sehr begreiflich, daß Erfolge unter wilden, ganz unzivilisierten Völkern nicht von heute auf morgen zu erzielen sind, und daß es oft jahrelanger, treuer, fleißiger und geduldiger Vorarbeit bedarf, bis nur erst ein kleiner Fruchtansatz sich zeigt; wenn ich aber bedenke, wie viele schiefe und gehässige Urteile ich in Deutschland schon über die evangelischen Missionen hörte, und sehe dann diese aufopfernde und so segensreiche Arbeit an Ort und Stelle, dann empört sich alles in mir gegen diejenigen, die ein solches Werk zu verlästern wagen.«
»Ich will Ihnen etwas sagen,« erwiderte Schulze. »Es ist sehr bequem für Leute, die ein sattes, behagliches Leben führen, zu schimpfen über andere, die ihr Leben einem edlen Ziele opfern; solche Philister schelten deshalb, weil sie sich selbst damit über die Beschämung erheben wollen, die sie solchen uneigennützigen und unermüdlichen Arbeitern gegenüber empfinden müßten, da ihr eigenes Leben und Streben nur von Kleinlichkeit und Selbstsucht beherrscht wird.
»Außerdem gibt es noch solche, die deshalb auf die Missionen schlecht zu sprechen sind, weil es ihnen durchaus nicht paßt, daß der Wilde sittlich und geistig gehoben wird, da sie ihn dann nicht mehr so leicht für ihre schlechten Zwecke ausbeuten können. Deshalb findet man häufig derartige hämische und wütende Lästerer unter den gewissenlosen Handelsherren, die in schmählichem Eigennutz nur an die rücksichtslose Ausbeutung der Schwarzen denken.«
Helene bemerkte hiezu: »Ich glaube, die meisten, die verächtlich oder gehässig von der Mission reden, haben sich nie Mühe gegeben, sie auch genauer kennen zu lernen. Allerdings ist es dann auch eines Menschen, der gebildet und anständig sein will, höchst unwürdig, über etwas abzusprechen, von dem er nichts oder nicht viel versteht.«
Und Sannah fügte bei: »Eines kann jedermann wissen: nämlich, daß die Missionare ihre Arbeitskraft, ihre Gesundheit, ihr Leben, ihre Familie in schwerer, opferwilliger Arbeit aufreiben, beziehungsweise den größten Gefahren und Entbehrungen aussetzen, und das alles nicht aus Ehrgeiz oder Goldgier und anderen selbstsüchtigen Beweggründen, die oft die schlechtesten Menschen dazu treiben, alles zu wagen, sondern nur um die Heiden zu heben und zu wahrhaft glücklichen Menschen zu machen. Nun, wenn einer das weiß, und kläfft wie ein Hund solche echte Helden an, so ist er, meines Erachtens, ein elender Feigling, ein verächtlicher Tropf.«
Ihre ehrliche Empörung gab dem Burenmädchen eine Schärfe der Ausdrücke ein, die ihr sonst völlig fremd war.
»Ihre schneidigen aber nicht unberechtigten Worte, Fräulein Sannah,« nahm der Professor wieder das Wort, »erinnern mich an die hohe Bewunderung, die der Portugiese Serpa Pinto trotz seines katholischen Bekenntnisses für die evangelischen Missionare empfand, als er bei seiner Durchquerung Afrikas längere Zeit der Gast und Reisegefährte eines solchen sein durfte. Der Missionar erzählte ihm, wie er mit seinen Dienern unter den Wilden in eine lebensgefährliche Lage kam, so daß er sich und die Seinigen schon verloren gegeben habe.
»Serpa Pinto hielt ihm entgegen, sie seien ja alle gut bewaffnet gewesen, so daß sie sich der Wilden leicht erwehren konnten.
»Hierauf erklärte der Missionar: dann hätte er Blut vergießen müssen, um diesen Preis hätte er niemals sein Leben und das seiner Diener retten wollen.
»Serpa Pinto war völlig überrascht: eine solche Mannhaftigkeit, sagt er, sei ihm durchaus neu gewesen, und diesen eisigen Mut habe er mit seinem heißen, südländischen Blut nicht begreifen können. Aber es ging ihm ein Licht auf, daß es einen höheren Mut gebe, als den des blutvergießenden Kämpfers und Kriegshelden, den Mut der Missionare, der dem der alten Märtyrer entspricht, und er bekannte, daß er selber einen so hohen Mut leider nicht besitze.
»Sehen Sie, das ist ein edles und mannhaftes Urteil und Bekenntnis. Weniger edle Seelen aber, die ihre eigene Minderwertigkeit weder sich noch anderen eingestehen wollen, helfen sich durch billigen Hohn oder gehässiges Schimpfen.«
»Wir Engländer,« sagte nun noch Flitmore, »denken nicht daran, die Mission zu mißachten, zu höhnen oder zu beschimpfen; denn wir kennen sie und wissen ihre Arbeit und ihre Hoheit zu schätzen. Samuel Backer und Stanley machen hierin freilich unrühmliche Ausnahmen; der letztere ist aber auch kein echter Engländer, sondern ein Amerikaner.«
Den Aufenthalt in Uguha benutzten unsere Freunde, um den Lukuga zu besuchen, jenen merkwürdigen Fluß, der so berühmt wurde durch den leidenschaftlichen Streit der Afrikaforscher; die einen erklärten ihn nämlich für einen Zufluß, die anderen für einen Abfluß des Tanganjika, bis sich herausstellte, daß er abwechselnd beides ist, je nachdem der Seespiegel steigt oder fällt.
Zur Zeit strömten die Wasser des Sees zweifellos durch das Bett des Lukuga dem Kongo zu.
Die Ufer des Flusses waren von einem Wald von Papyrusstauden eingefaßt.
Das Tierleben entfaltete hier einen außerordentlichen Reichtum: außer den Möwen, die allerorten über den See hinstreichen, fanden sich am Ausfluß des Lukuga zahlreiche Süßwasservögel und eine Menge gefiederter Sänger. Der Fluß wimmelte von Flußpferden und Krokodilen; Antilopen und Büffel kamen häufig ans Wasser, nebst vielem anderen Wild, wie die zahlreichen Spuren erwiesen.
Leusohn schoß ein Nilpferd, das den Kopf schnaubend aus dem Wasser erhob. Ein freches Krokodil jedoch schien das verendende Tier als seine rechtmäßige Beute zu betrachten; denn es erstieg gemächlich den Rücken des langsam dahintreibenden Dickhäuters.
Eine Kugel aus Hendriks Büchse bestrafte es für seine Anmaßung.
Den schweren Körper des Nilpferds ans Ufer zu schaffen, dazu waren die nötigen Kräfte nicht zur Stelle; hingegen gelang es, das tote Krokodil zu holen. Es wurde der besten Stücke seines zarten Fleisches beraubt, die zum Nachtmahl ein herrliches Krokodilsgulasch lieferten; denn das Amphibium war ein ganz junges Exemplar, und sein Fleisch hielt im Geschmack die Mitte zwischen Fisch- und Hühnerfleisch.
Sehr unangenehm bemerkbar machte sich eine kleine, glücklicherweise stachellose Biene, die mit unheimlicher Hartnäckigkeit in Ohren, Augen und Nasenlöcher hineinflog.
Schulze zerdrückte einige dieser Insekten mit einem Schlag seiner Hand in seinem Gesicht. Dadurch kam er jedoch vom Regen in die Traufe; denn der Honiggeruch, der nun von ihm ausströmte, machte ihn erst recht zum Ziel der kleinen Plagegeister.
»Ach, was muß man leiden für die Wissenschaft!« rief er in komischer Verzweiflung aus.
»Na!« meinte Leusohn, »diesmal leiden Sie nicht für die Wissenschaft, sondern infolge Ihres blinden Eifers. Eine Biene zu Brei zerquetschen, das ist doch keine wissenschaftliche Untersuchungsmethode. Kein Wunder, wenn sich die empörten Insekten für so unwissenschaftliche Behandlung rächen.«
»Ein Büffel! Ein Büffel!« rief in diesem Augenblick Helene. Und wirklich brach ein großes Tier krachend aus dem Gebüsch, durch das der Heimweg ging.
Allerdings erreichte es nicht die gewöhnliche Größe des Bos Kaffir, der hier zu Hause ist, und bei näherem Zusehen erkannte der Professor einen mächtigen Keiler des Warzenschweins.
» Phacochoerus africanus!« rief er aus. Doch war keine Zeit zu wissenschaftlichen Erörterungen; denn das gewaltige Tier rannte blindlings geradewegs auf Sannah los, die von dem wuchtigen Anprall zu Boden geworfen wurde.
Der Keiler hatte sich mit seinen Hauern in ihrem Kleide verfangen, und stieß und wühlte mit dem unförmlichen Kopfe in einer Weise, daß jeden Augenblick zu befürchten stand, er werde dem armen Mädchen den Leib aufschlitzen.
Es war keine Sekunde zu verlieren, sollte das Leben der Bedrohten gerettet werden, und doch durfte man einen Schuß nicht wagen.
Sannah erkannte die ganze Gefahr, empfand aber, wie es in solchen Augenblicken häufig der Fall ist, keinerlei Todesangst.
»Schießt nur, wenn ihr auch mich trefft!« rief sie aus.
Aber schon hatte sich Leusohn mit Todesverachtung auf den grimmigen Eber geworfen und stieß ihm sein langes Jagdmesser in Hals und Rücken, wo er ihn treffen konnte.
Da wich das Tier zurück und riß sich los; der Doktor kollerte zu Boden, und das Warzenschwein, das nun wieder die Augen frei hatte, machte Miene, ihm seine Hauer in den Leib zu bohren, als eine wohlgezielte Kugel es in den Kopf traf, so daß es mit ihm zu Ende ging.
Hendrik hatte den Schuß abgegeben; denn Schulze wagte es nicht, seine »niefehlende« Büchse sprechen zu lassen, wo zwei Menschen von ihr ebensogut hätten getroffen werden können, wie das gefährliche Tier.
Sannah hatte merkwürdigerweise keinen Schaden davongetragen, als daß ihre Röcke gründlich zerfetzt waren; doch die ließen sich leicht wieder ersetzen.
Als die Gesellschaft nun wieder ans Ufer des Sees hinaustrat, hatte sie Gelegenheit, ein echt afrikanisches Idyll zu beobachten.
Auf einem großen Felsblock, dessen Fuß vom Wasser umspült wurde, stand eine ganze Leopardenfamilie: Vater, Mutter und zwei Kinder.
Die schauten mit neugierigem Interesse nach einem Segelboot, das da vorüberfuhr, und wandten unsern Freunden den Rücken.
So harmlos sah dabei die Raubtierfamilie aus, daß keiner der Weißen daran denken mochte, diesen Frieden grausam zu stören. Sie betrachteten lange das seltene Schauspiel, bis der alte Leopard ihre Anwesenheit wittern mochte. Er wandte den Kopf zurück und ließ ein mürrisches Knurren ertönen, worauf die ganze Familie mit ein paar Sätzen ans Ufer sprang, um im Dickicht zu verschwinden.
Den Aufenthalt in Uguha benützten unsere Freunde, um ihre sämtlichen Boote mit Segeln zu versehen, damit die weitere Fahrt auf dem See bequemer und schneller ausgeführt werden könne.
Eines Morgens nahmen sie dann Abschied von dem edlen Missionar und fuhren wieder weiter, den See hinauf nach Süden.
Am Strande von Tembwe, an der Mündung des großen Flusses Rubuko oder Lofuko und an der Küste von Marungu mit ihren Grasebenen vorbei, die wahrscheinlich früheren Waldbränden ihre Entstehung verdankten, an der Mapotamündung und dem Lande Uemba vorüber, gelangten sie an den Rufuvu, den großen, vierhundert Meter breiten, westlichen Zufluß des Tanganjika.
Vom rechten Flußufer aus steigt hier eine Ebene allmählich zu den großartigen, klippengekrönten Felswänden von Kapembwa empor.
Überall sah man Anzeichen, daß der See in starkem Steigen begriffen war.
»Der Tanganjika frißt das Land!« rief Hassan aus; denn deutlich erkannte man, daß der Seegrund am Ufer aus überschwemmtem Wiesenland bestand, aus dem nun Lotusstengel emporwuchsen und ihre blaßblauen Blüten auf dem Seespiegel wiegten.
»Das Wasser des Sees geht nach Norden,« sagte einer der gemieteten arabischen Bootsführer, »kommt dann aber stärker als zuvor zurück.«
Diese Bemerkung schien auf den zeitweiligen Abfluß des Lukuga hinzuweisen.
Daß der See tatsächlich das Land fraß, wurde später noch deutlicher, als am Abschluß der Seereise die Kanus bei dem Dorf Mwangala über Hütten und Dorfzäune hinwegfuhren, die das Wasser hoch überflutet hatte.
Vorerst ging es aber noch an der Westküste entlang, die immer wilder und großartiger wurde.
Einige unbewohnte aber fruchtbare Inseln zeigten sich im Süden, im Nordosten ragten die furchtbaren Granitmassen des Kaps Mpimbwe empor mit seinen aufgetürmten Felsblöcken, die so wenig Halt zu haben schienen, daß man glaubte, sie schwanken und im nächsten Augenblick stürzen sehen zu müssen. Mächtige Höhlenspalten durchfurchten diesen drohenden Koloß.
Aber noch wunderbarer erschienen die märchenhaften Gebilde der Westküste, an der die Boote hinfuhren.
Tafelberge und Felstürme mit Galerien, an den gewaltigen Turm zu Babel erinnernd, zinnengekrönte Klippen in den phantastischsten Formen erschienen wie überwältigende Bauwerke vergangener Riesengeschlechter, und die staunenden und bewundernden Ausrufe der Schwarzen zeigten, daß tatsächlich der Sinn auch für die großartigen Wunder in der Natur bei ihnen erwacht war und ansteckend gewirkt hatte.
Drei Felstürme mit prachtvollen Galerien und sich stets verjüngenden Aufsätzen, der Mtombwa, Kateye und Kapembwa, galten den Einwohnern von alters her als Wohnsitze von Geistern.
Weiterhin schossen schlanke Steinsäulen zum Himmel empor.
Und als Kaschwalla im Nordosten die aus schönem roten Sandstein gebauten, senkrechten Riesenwände der sogenannten Kastellspitze von Kirungwe erblickte, rief er aus: »O Mutter! Dies ist eine Festung! Sehet, dort sind die Fenster und hier die Tore!«
»Ganz wie im Somalilande!« meinte Hassan würdevoll.
Überall sah man nämlich in den Felsmauern der Ufer mächtige Höhlen, deren Öffnungen oft zehn Meter Höhe aufwiesen und die sich bis zu sechzig Meter Länge in den Berg hineinbohrten.
Toren gleich gähnten solche Löcher am Fuße der Wände, Fenstern gleich öffneten sie sich hoch oben und schauten schwarz in die Tiefe.
Am Fuße eines solchen Höhlenfelsens dehnte sich ein lieblicher Küstenstreifen, mit Tamarinden, Akazien und Tekbäumen vereinzelt bestanden.
Dieser schien wie geschaffen für ein Lager, das vorzügliche natürliche Wohnungen bot.
In den Seitenschluchten rauschten in der jetzigen Regenzeit gewaltige Wasserfälle herab und aus dem hier tiefgrünen Wasser des Sees schossen riesige Steinpfeiler empor.
Fern aber an der Ostküste zeigten sich die Berge von Ndereh, wo der räuberische und mörderische Stamm der Ruga-Ruga haust, der jedoch hier niemand gefährlich werden konnte.
So wurde denn die Landung beschlossen und ausgemacht, mehrere Tage an diesem günstigen Lagerplatz zu verweilen, um die ergiebige Jagd in den Wäldern der Täler und Höhen einmal recht auszunützen.
Nach einer regnerischen Nacht strahlte ein frischer sonniger Morgen über dem Tanganjika auf.
Hamissi, der Koch, stand am Ufer des Sees, Koch- und Eßgeschirre spülend, und dazu mit melodischer Stimme eines seiner »hochpoetischen« Stegreiflieder singend, zu dem er, als musikalischer Dichter, gleichzeitig die nicht üble Weise erfand.
Sein Lied aber lautete heute folgendermaßen:
»Tausend Rupien, o tausend Rupien,
Ist das nicht arg viel Geld?
O ja, eine schöne Summe fürwahr, o, o!
Gibt es wohl so viel Geld in der Welt?
Das will ich meinen, das gibt's, o, o!
Tausend Rupien, o tausend Rupien, —
Wären nur mir solche Schatze verliehen!«
Natürlich wurde dieser begeisterte Sang auf Kisuaheli, der Sprache der Suahelis oder Wasuaheli, vom Stapel gelassen. Doch die getreue deutsche Wiedergabe zeigt, daß der schwarze Dichter sich auf den Tonfall, ja sogar den Reim, nicht schlecht verstand.
Der Somali Hassan bin Mohammed, der in diesem Augenblick unter dem Eingang einer Höhle erschien, die sich am Fuße der dreißig Schritt vom Ufer jäh emporsteigenden Felswand öffnete, hatte offenbar keinen rechten Sinn für Hamissis geniale Poesie, denn er äffte den Sänger in höchst tadelnswerter Weise nach, indem er brüllte:
»Tausend gescheite Gedanken, o tausend Gedanken,
Gibt es so viel in einem Kopfe, o, o?
Wer Hamissi kennt, der bezweifelt das stark:
Allah schenke Verstand dem Tropfe, o, o!«
Hamissi strafte den Spötter mit Verachtung und sang ihm zum Trotz den Vers von den schönen Rupien in unermüdlicher Wiederholung nochmals und nochmals, während Nigger, der Teckel, lustig am Ufer hin und her sprang.
Der Suaheli-Koch besaß auch seinen Stolz, und das mit Recht; denn nicht nur war er Dichter und Sänger, sondern auch als Expeditionskoch leistete er ganz außerordentliches, und des öfteren schon hatte ihm das Lob seiner weißen Herren geschmeichelt: »Wahrhaftig, Hamissi, du bist ein Tausendkünstler; denn aus Nichts verstehst du die schmackhaftesten Speisen hervorzuzaubern.«
Ja, wer verstand es, wie er, den Maisbrei oder den leckeren Milchmais zu bereiten? Wer wußte aus der Banane so zahlreiche verschiedene Gerichte herzustellen? Wer brachte es fertig, die Maniokknollen in so zartes Brot, so feine Puddings, so duftige Kuchen und so nahrhaften Brei zu verwandeln? Und dies waren doch nur erst einzelne kleine Proben seiner unerschöpflichen Kunst, die allen bekannten Rezepten noch immer neue eigene Erfindungen hinzufügte.
Endlich war das Geschirr blank und der Koch und Poet, der offenbar trotz seiner schwarzen Farbe für blinkende Sauberkeit war, betrachtete sein Werk mit Wohlgefallen und bückte sich, alles zusammenzuraffen. Aber — da kroch aus dem Wasser ein großes Krokodil! Zweifellos hätte das grüne Scheusal den ahnungslosen Hamissi, unbekümmert um seine vielseitigen Talente, einfach weggeschnappt, wäre nicht Nigger, der mutige Dachshund, gewesen, der sich als geborener Schwabe vor nichts fürchtete. Mit wütendem Gebell stürzte er auf das Untier und packte es an einer Pfote. Das gefräßige Amphibium schüttelte den schwarzfelligen Frechling ab und gedachte ihn als Vorspeise zu verschlingen. Es hatte aber nicht mit Niggers Gewandtheit gerechnet, der sich bereits in die Kehle seines Widersachers verbissen hatte. Der Biß des kleinen Köters mochte dem Krokodil jedoch belanglos vorkommen, denn es machte sich daran, mitsamt dem Hunde am Halse den eilig fliehenden Hamissi zu verfolgen; da pfiff eine Kugel, von oben herkommend, durch die Luft und bohrte sich in das Auge des Scheusals. Daraufhin wandte sich dieses kopfschüttelnd um und plumpste ins Wasser. Nun erst ließ es der wütende Dachshund los und schwamm triumphierend ans Ufer.
Hamissi schaute empor und sah Hendrik mit rauchender Flinte in der Öffnung einer Höhle stehen, die etwa zehn Meter über dem Uferrand aus den Felsen trat.
»Bwana Hendrik!« rief der Schwarze. »O, Bwana Hendrik! Mir haben Leben gerettet!« Und alsbald stimmte er einen schwungvollen Lobgesang an auf Bwana Hendrik Rijn, den Burensohn von Oranjehof am Muta Nsige, den Helden und Krokodiltöter, der dem Expeditionskoch das Leben rettete, wofür ihm dieser durch Zubereitung der leckersten Speisen ewig danken werde. Er machte sich denn auch alsbald an das Kochen des Mittagessens.
Übrigens war Nigger der eigentliche Held und Lebensretter, was Hendrik dem Suaheli gleich erwidert hatte, und was dieser auch einsah, weshalb er denn während des Kochgeschäfts den Dachshund lobend erwähnte in dem Sang, der seine neue Arbeit begleitete, und hervorhob, daß bei den Weißen sogar die Hunde an Kraft und Hochherzigkeit mit ihren Herren wetteiferten.
Als die Zeit der Mahlzeit erschienen war, versammelten sich die weißen Mitglieder der Reisegesellschaft unten am Seeufer. Sie kamen aus dem Felsen heraus, dessen stockweise übereinander lagernde Höhlen im Innern miteinander verbunden waren und weiter oben in ein Hochtal mündeten, wo die Askaris und Träger der Expedition lagerten und unter Achmeds Aufsicht ihr Mahl bereiteten und verzehrten.
Der Somali Hassan, sowie Hamissi als Leibkoch, genossen meist den Vorzug, mit den Weißen essen zu dürfen, ebenso Tipekitanga und Amina.
Schulze begab sich am Nachmittag mit seinem kleinen Gehilfen Uledi auf einen botanischen Ausflug. Diese Ausflüge, von denen er mit Pflanzen reich beladen heimkehrte, trugen ihm außer seinen andern Spitznamen bei den Schwarzen noch den Namen »der Blattfresser« ein.
Die Neger konnten sich nämlich nicht denken, wozu er so viel Grünes sammle und trockne, wenn es ihm nicht als Speise diente. Sie waren auch fest überzeugt, daß er, wenn er einsame Waldspaziergänge machte, grüne Blätter in Menge esse. Und wenn einmal Mangel im Lager war und der Professor, mit edlem Beispiel vorangehend, so wenig als möglich Speise zu sich nahm, sprachen sie unter sich: »Ja, der Blattfresser natürlich, der hat sich wieder heute morgen im Walde satt gegessen, wie eine Giraffe.« In dieser Eigenschaft erhielt der Professor den weiteren Beinamen: »Bwana Maua« oder »Herr Blume«, das heißt »der Botaniker«.
Heute hatte Schulze Damenbegleitung; Helene und Sannah, die sich die Gegend ansehen wollten, baten ihn, sie mitzunehmen, samt ihren unzertrennlichen Zofen Amina und Tipekitanga. Der Professor erfüllte natürlich gern ihren Wunsch und bog mit ihnen in ein Seitental ein.
Auf einer Felsenhöhe mitten unter Buschwerk und Steingeröll tummelte sich ein Trupp von mehr als hundert Pavianen, die neugierig auf die Wanderer herabsahen, ohne sich weiter aufzuregen, nur daß sie die kurzen, abgerissenen Laute des Erstaunens ausstießen, die ihnen eigen sind, und an das Schrecken des Rehbocks erinnern.
»Bwana Bawessa, schießen Sie einen Affen,« bat Amina, die nicht an überzartem Gemüte litt, »das gibt einen ausgezeichneten Braten.«
»O nein! Töten Sie doch keines der harmlosen Tiere, die so vergnügt spielen!« baten Sannah und Helene gleichzeitig.
»Tue ich auch nicht!« erklärte der Professor. »Davor habe ich von Südamerika her ein Grauen. Und vollends Affenbraten! Ich sage Ihnen, man glaubt ein gebratenes Menschenkind vor sich zu sehen!«
»Hu!« rief Helene, sich schüttelnd.
»Aber ein wenig erschrecken will ich die Gesellschaft mit meiner niefehlenden Büchse,« sagte Schulze, und schoß in die Luft, daß der Knall von den Felsen widerhallte.
Hui! gab das einen Aufruhr. Die wunderlichen Gestalten watschelten und galoppierten an der Wand hinauf mit ganz kostbaren Sprüngen.
Einige aber, nicht faul, griffen nach Steinen und warfen sie ins Tal, so daß ein ganzer Steinhagel niedersauste und die gefährdeten Menschenkinder sich unter die vorspringenden Felsen flüchten mußten.
Tipekitanga war von einem scharfen Stein an den Oberarm getroffen worden, so daß das Blut über ihre glänzende Haut herniederrieselte; aber tapfer, wie sie war, sagte sie: »O, das macht nichts; es ist ein Mückenstich!« Und zwar sagte sie dies in deutscher Sprache, denn mit wunderbarer Gelehrigkeit hatte sie schon gelernt, sich auf Englisch und Deutsch verständlich zu machen, besser als Amina, während sie Kisuaheli ganz fließend sprach, da der Satzbau dieser Sprache dem ihrer Muttersprache glich.
Nun wurde die Höhe erklommen, die dicht bewaldet war. Zahlreiche Elefantenspuren waren zu bemerken; die goldgelbe süße Frucht der Fächerpalmen zog die Dickhäuter hier besonders an.
Uledi machte die Damen auf einen unansehnlichen Baum aufmerksam, der kleine Beeren trug.
»Owindibeeren,« sagte er, »famos riechen!«
Wirklich, als man sich dem Baume näherte, strömte er einen herrlichen Lavendelduft aus, und Helene und Sannah füllten sich die Taschen mit den wohlriechenden Beeren, ein Beispiel, dem Amina folgte.
Dies gab Tipekitanga Anlaß, darüber zu klagen, daß sie keine Tasche besitze, und jetzt bat sie selber um ein Kleid, während sie sich bisher stets geweigert hatte, etwas anderes zu tragen, als höchstens bei Regen und Kälte die Leopardenhaut, die sie seinerzeit bei den Virungavulkanen sich erobert hatte.
Bereitwillig versprachen ihr die weißen Damen, noch heute damit zu beginnen, ihr ein Kleid aus dem schönsten Stoffe zu nähen.
»Aber mit Tasche?« sagte die kleine Prinzessin.
»Mit einer großen Tasche,« beruhigte sie Helene lachend.
Während des Beerenpflückens schoß plötzlich eine große dunkle Schlange mit weitaufgeblähtem Halse aus der Baumkrone hervor und biß Helene in die pflückende Hand, worauf sie sich blitzschnell Sannah zukehrte, die, wie erstarrt, dicht daneben stand und nur zur Abwehr die Hand ausstreckte.
Amina stieß einen gellenden Schrei aus.
Tipekitanga aber, mit ihrer stets bewiesenen Geistesgegenwart und Behendigkeit, hatte alsbald ihren Bogen von der Schulter gerissen, ohne den sie nie ausging, und die Schlange sank auch bereits leblos zu Boden; der sichere Pfeil hatte ihren Kopf durchbohrt.
Schulze eilte herbei und rieb die Bißwunde an Helenes Hand sofort mit Salmiak ein, da er hievon stets ein Fläschchen bei sich trug, schon etwaiger Bienen- und Wespenstiche halber.
Helene mußte auch einen Schluck der unangenehmen Arznei nehmen.
»Es hilft nichts,« sagte der Professor. »Wären wir im Lager, so würde ich Ihnen den Ammoniak in einem Becher Palmwein zu trinken geben, so daß sein niederträchtiger Geschmack weniger bemerklich wäre. Aber Eile tut not: Sie sind von der giftigsten Schlange Afrikas, abgesehen von der Puffotter, gebissen worden, der Uräusschlange.«
»Ist es gar so gefährlich?« fragte Sannah, um die Freundin besorgt.
»Wenn nicht gleich Hilfe zur Stelle ist, allerdings,« erwiderte Schulze; »dann ist ein rascher Tod sogar so gut wie sicher. Doch Sie dürfen beruhigt sein, Fräulein Helene, Salmiak hilft unfehlbar, ich habe das in Amerika erprobt, übrigens kehren wir natürlich sofort um und ich gebe Ihnen noch tüchtig Palmentembo zu trinken, bis Ihnen der Kopf schwindelt.«
»Ich danke, ich danke!« sagte Helene lächelnd.
»Doch, doch! Es muß alle Vorsicht gebraucht werden, eine starke Gabe Alkohol ist das sicherste Mittel gegen eine Herzlähmung, die den von einer Giftschlange Gebissenen droht.«
»Gibt es hier viele giftige Schlangen?« fragte Helene, als sie nun rasch den Rückweg einschlugen.
»Nein! gottlob sind sie selten in Zentralafrika,« war Schutzes Antwort. »Die häufigste Schlange, die hierzulande überhaupt vorkommt, ist der Python Sebä, die ungiftige afrikanische Riesenschlange.«
Im Lager angekommen, mußte Helene auf des Professors Drängen so viel Palmwein hinunterschlucken, bis ihr taumelig zumute wurde; dann mußte sie sich sofort zur Ruhe begeben.
Sannah schnitt nach dem Nachtessen das Kleid für Tipekitanga, um das Versprechen einzulösen, an das die Kleine sie ungeduldig mahnte. Hochinteressiert und beglückt sah diese der Arbeit zu, die beim Schein des flackernden Feuers rasche Fortschritte machte, obgleich das Burenmädchen sie immer wieder unterbrach, um nach Helene zu sehen.
So oft sie aber mit der Fackel die Höhle betrat, fand sie die Freundin in tiefstem Schlaf, was freilich nicht auffallend sein konnte nach dem ungewohnt reichlichen Weingenuß. Auch die Bißwunde zeigte sich nur leicht gerötet und mäßig geschwollen.
Als das Kleid fertig geschnitten war, begaben sich auch Sannah und Amina, die bisher mit den Weibern Getreide gestampft hatte, zur Ruhe, während Tipekitanga die erste Nachtwache bei Helene übernehmen sollte, um dann von Sannah abgelöst zu werden; Amina wollte die Morgenwache übernehmen.
Obgleich Schulze es nicht für nötig hielt, hatte doch Leusohn als Arzt die Nachtwache angeordnet, damit er gleich geweckt würde, falls eine stärkere Schwellung einträte. Im übrigen war er mit des Professors Heilmittel vollkommen einverstanden.
Sorgsam wachte die Zwergprinzessin über ihre geliebte Herrin beim Fackelschein im Vordergrund der Höhle, welche die Mädchen zu ihrer Wohnung erwählt hatten.
Sie lauschte auf das Johlen und Singen der Neger, auf ihr Geplauder und Geplapper; denn die Schwarzen schliefen selten die ganze Nacht durch; allemal erhoben sich wieder ein paar, um unter Gesang oder Schwatzen sich irgend ein beiseite gebrachtes Stück Fleisch am Feuer zu braten oder sonst ein Zwischenmahl zu bereiten.
Die andern ließen sich durch den nächtlichen Lärm so wenig im Schlafe stören als durch das Gebrüll der Raubtiere, und auch die Weißen hatten sich notgedrungen daran gewöhnt, trotz all der Unruhe im Lager, unentwegt weiter zu schlafen.
Sie waren froh, es wenigstens so weit gebracht zu haben, daß die schwarzen Kinder keine Flintenschüsse mehr zu nachtschlafener Zeit abfeuerten, wie sie anfangs aus reiner Lust am Schießen und Knallen getan hatten. Weniger die Nachtruhestörung, als die bedauerliche Munitionsvergeudung und die häufigen Unglücksfälle die das unvorsichtige Geschieße im Gefolge hatte, waren der Grund, daß es mit aller Strenge untersagt worden war.
Um vier Uhr morgens erwachte Sannah aus einem erquickenden Schlummer.
»Wie?« rief sie aus. »Du wachst noch immer, Tipekitanga? Warum hast du mich nicht eine Stunde nach Mitternacht geweckt, wie wir ausgemacht haben?«
Die Prinzessin lachte: »Ich habe die ganze Nacht wachen wollen, ich habe Fräulein Helene so lieb, und wollte sehen, ob der böse Biß nicht gefährlich werde. Tipekitanga braucht nicht alle Nacht zu schlafen.«
Sannah freute sich, aus diesem kleinen Zuge die treue Seele der kleinen Dame zu erkennen, obgleich sie bedauerte, nicht auch etwas von ihrem Schlaf der Freundin geopfert zu haben.
Als Helene am andern Morgen mit etwas Kopfweh ziemlich spät erwachte, erklärte ihr Bruder, sie sei außer Gefahr. Auch schmerzten sie die kleinen, bereits geschlossenen Wunden kaum mehr.
Heute war Schulze entschlossen, einen gewaltigen Jagdausflug mit seiner nie fehlenden Büchse zu unternehmen und womöglich einen Elefanten oder gar ein Rhinozeros zur Strecke zu bringen. Es kam ihm auch nicht darauf an, gleich ein Dutzend solcher Dickhäuter zu erlegen; denn er war nicht kleinlich in seinen Plänen und Vorsätzen, sowie es auf die Jagd ging.
Da die Höhlen hier so äußerst wohnlich und geräumig waren, und den besten Schutz vor den nächtlichen und zuweilen auch täglichen Güssen der Regenzeit boten, war Beschluß gefaßt worden, mindestens zwei Wochen hier zu verweilen.
Dazu lockten auch die ergiebigen Jagdgründe; denn Flitmore, Leusohn und Hendrik waren ebenso leidenschaftliche Jäger wie Schulze.
Es kam noch hinzu, daß sich Lebensmittel für die Karawane sehr leicht mittels der Kanus aus den zahlreichen Dörfern am Ufer beschaffen ließen. Die Jagd sollte jedoch, schon aus Sparsamkeitsgründen, das Hauptmittel der Versorgung mit Nahrung sein.
Ein so sonniger Tag, wie der heutige, mußte ausgenützt werden, und so schulterte der Professor sein Gewehr gleich nach dem Frühstück und rief Leusohn zu, der soeben die Höhle betrat, die er mit Schulze und Hendrik bewohnte: »Nanu, Doktor, gehen Sie mit auf die Jagd?«
»Unbedingt,« erwiderte dieser und machte sich alsbald fertig, dem Professor zu folgen, der schon ausgerüstet vor ihm stand. »Hendrik wird uns wohl begleiten?«
Hendrik war aber nicht zu finden. Schulze erkundigte sich bei Hamissi, wo der Jüngling wohl stecken möge.
»Bwana Hendrik ganz allein auf See gefahren, Bwana Bawessa,« entgegnete der Suaheli.
»Wenn es nur keinen Sturm gibt,« meinte Schulze mit einem besorgten Blick zum Himmel; »der See ist tückisch, und allein mit einem großen Segelboot — der Junge ist tollkühn!«
»Nur keine Sorge,« beruhigte Doktor Leusohn. »Er ist stark und gewandt und wird sich auch vorsehen.«
Die beiden Nimrode verließen ihren Stand an dem Höhlenloch mitten in der Felswand und begaben sich ins Innere des Berges, bis eine Seitenhöhle zur Linken sie dem Tageslicht entgegenführte. Hier traten sie zu ebener Erde heraus auf einen freien Platz, wo die Träger und Askaris lagerten, soweit sie nicht vorgezogen hatten, unten auf dem schmalen Küstenstreifen ihr Quartier aufzuschlagen. Als Zuflucht gegen Regengüsse standen ihnen oben und unten geräumige Höhlungen zur Verfügung, so daß sie die gewöhnlichen Hütten aus Baumzweigen, die doch nicht wasserdicht waren, hier gar nicht errichtet hatten: gegen die Sonne fanden sie im Schatten der Bäume Schutz.
Hassan und Johann standen zur Zeit ebenfalls hier oben und unterhielten sich mit den Trägern.
»He, John! Du könntest uns deinen Nigger zur Jagd mitgeben,« bat Schulze.
»Mit ausgezeichnetem Vergnügen,« erwiderte Johann zuvorkommend. Wie gerne wäre er selber mitgegangen; aber niemand dachte daran, ihn einzuladen, und selber darum zu bitten, dazu war er zu bescheiden. Wenn der Professor oder der Doktor übrigens seinen Wunsch geahnt hätten, sie hätten ihn mit Freuden erfüllt; ein dritter Gefährte konnte ihnen nur willkommen sein. Nun aber blieb Johann zurück; so geht es, wenn man nicht wagt, den Mund aufzutun! Übrigens war es diesmal ein Glück, daß der Diener nicht mitging, wie sich bald zeigen wird; er sollte seinen Teil an der Jagd heute trotzdem noch haben.
Da die treue, bescheidene Seele von Lord Flitmore während der Rastzeit wenig in Anspruch genommen wurde, hatte Rieger übrige Zeit. Er kletterte, die Flinte über die Schulter gehängt, ein wenig an den Felsen hinauf und legte sich oben in den Schatten eines Gebüschs, zum blauen Himmel hinaufträumend.
Da sah er einen Vogel heranfliegen, schnurstracks von Süden kommend. Rasch legte Johann sein Schießrohr an die Wange, und in dem Augenblick, da der Vogel über ihn wegflog, dem Norden zu, knallte der Schuß, und tödlich getroffen stürzte das arme Opfer herab.
»O weh, eine Taube!« rief Johann aus, als er seine Beute aufnahm. »Der arme Vogel! Tut mir leid! Ein Habicht wäre mir lieber gewesen. Daß ich aber auch gerade treffen mußte! Das passiert mir doch sonst so selten. Nun, es ist nichts zu machen; ich will das schöne Täubchen dem Lord bringen, der ist ein Feinschmecker, wenn er's haben kann.«
Rieger stieg hinab und durcheilte die Höhlengänge, bis er unten am Seeufer herauskam, wo Flitmore am Felsen lehnte und in einem Buche las.
»Was bringst du da? Eine Taube? Pfui, John, wer mag so harmlose Geschöpfe töten, wo es doch gefährliche Raubtiere genug gibt in diesen Gegenden!«
»Es hat mir selber leid getan, Mylord, aber ich schoß, ohne erst genau zu sehen, was für ein Vogel es war.«
»Das muß man nie tun! Nur keinen Schuß, ehe man weiß, auf was man schießt! Man kann sonst großes Unheil anrichten. Ich weiß das aus Erfahrung. — Aber, was ist das? Gib her die Taube, gib sie her!« fügte er in plötzlicher großer Erregung bei, die Johann an seinem kaltblütigen Herrn gar nicht gewohnt war. Hastig ergriff der Lord die dargereichte Taube und verschwand mit ihr in der Höhle.
Nach einer Viertelstunde kehrte der Lord zu seinem Diener zurück. Er war tief blaß; sonst aber war ihm nichts von seiner inneren Erregung anzumerken.
»Wo sind der Professor und der Doktor?« fragte er. »Und wo ist Hendrik?«
»Die Herren sind auf die Jagd und Herr Hendrik auf den See hinaus.«
»Ärgerlich! Suche sofort nach den beiden Herren und bitte sie, eiligst zurückzukehren; nach Hendrik will ich selber sehen.«
Johann konnte sich den unvermittelten Auftrag rein nicht erklären; allein er war gewohnt, seinem Herrn zu folgen, auch ohne den Grund seiner Befehle zu kennen. Er eilte daher hinauf und folgte den Spuren der Jäger in den Wald.
Schulze und Leusohn waren lange gewandert, ohne ein Wild zu erspähen, das sie hätten jagen mögen. Zur Jagd auf Raubtiere war die Tageszeit wenig geeignet, wenn man die Bestien nicht in ihren Schlupfwinkeln aufspüren konnte.
Affen freilich gab es in Menge, aber auf solche mochte Leusohn so wenig schießen, wie der Professor.
Außer Pavianen zeigten sich Meerkatzen und Hundsaffen, die hier überall heimisch sind, während der Ostküste des Tanganjika die Meerkatzen zu fehlen scheinen.
Auch eine besonders hübsch gezeichnete Art des Bartaffen, Colobus Guereza, wie ihn der Professor nannte, belebte den Wald; diese Affen hatten eine bläuliche Gesichtsfarbe mit weißbehaarter Nase und weißem Backenbart. Prächtig sah es aus, wenn bei ihren weiten Sprüngen ihre weißen Haarmäntel und Schwanzhaare wallten; sie schienen wirklich beflügelt.
»In diesen Wäldern soll übrigens auch der gefürchtete Soko hausen,« nahm Schulze das Wort. »Die einen glauben, dieses gefährliche Affentier sei eine Gorillaart, Wißmann ist der Ansicht, es handle sich um besonders große und starke Schimpansen. Es ist merkwürdig, was für Sagen über erschreckliche Affen in der Welt umgehen: in Südamerika ist es der Salvaje, der behaarte Waldmensch, hier am Tanganjika ist es der Soko. Ein Europäer hat ihn übrigens noch so wenig zu Gesicht bekommen, wie den Salvaje Venezuelas.«
»Sie schießen Affen grundsätzlich nicht?« fragte der Doktor.
Schulze bestätigte dies: »Man kann nicht wissen, in welchem Verwandtschaftsgrad man zu ihnen steht,« scherzte er.
Doch er sollte lernen, sich um eine solch fragwürdige Verwandtschaft nicht länger zu kümmern.
Nigger stieß plötzlich ein solch klägliches Geheul und Gewinsel aus, daß die beiden Jäger erschreckt stutzten. Hier mußte eine ganz außergewöhnliche Gefahr nahen; denn der Dachshund, der sich einem Krokodil gegenüber so furchtlos zeigte, konnte sich kaum so ängstlich gebärden, wenn es sich bloß um ein gewöhnliches Raubtier handelte.
Äste und Zweige krachten, und da trat er zwischen den Bäumen hervor, hochaufgerichtet, mit rollenden Glutaugen und gräßlich fletschenden Zähnen, der Riese unter den Affen, der auch den Löwen nicht fürchtet.
»Ein Gorilla!« rief Schulze entsetzt. »Wahrhaftig, der Salvaje, der behaarte Waldmensch! Der fürchterliche Soko!«
Leusohn, dem weniger bekannt war, welch furchtbarer Gegner der Gorilla ist, konnte noch über des Professors Schrecken scherzen. »Nun, Kamerad,« rief er, »vor Ihrem nächsten Verwandten werden Sie sich doch nicht fürchten?«
Schulze war inzwischen zurückgesprungen, während der Doktor das Gewehr anlegte. Aber mit einem Satz hatte der Gorilla den Unglücklichen erreicht, entriß ihm das Gewehr und zerbrach es wie ein dünnes Rohr, unbekümmert um den Knall des losgehenden Schusses. Gleich darauf wurde Leusohn von einem solch wuchtigen Schlag an den Kopf getroffen, daß er besinnungslos zu Boden stürzte.
Währenddessen hatte der Professor den Affen aufs Korn genommen und drückte los. Die Kugel traf den Gorilla in die Brust; doch blieb es dem Schützen zweifelhaft, ob der Schuß tödlich sei; denn ehe er ein zweites Mal abdrücken konnte, hatte der Wüterich ihn umklammert und sich in seine Schulter verbissen. Der Professor fühlte seine Rippen knacken, und sein Leben hätte nur noch nach Sekunden gezählt, wenn nicht Nigger seinen Heldenmut wieder bewiesen hätte und dem Affen in die Seite gesprungen wäre, seine Zähne tief einschlagend.
Dies bewog den Gorilla, von Schulzes blutender Schulter abzulassen und den Kopf nach dem kleinen Angreifer zu wenden. Doch nur wenige Augenblicke konnte des Teckels Heldentat das Ende des Professors verzögern, denn der Affe ließ diesen nur mit einem Griffe los, um den Hund zu packen und fortzuschleudern.
Allein im Augenblick der äußersten Gefahr erschien der Retter; des Professors Schuß hatte Johann, der schon lange rufend den Wald durchsuchte, den rechten Weg gewiesen. Er stürzte herbei, um aus nächster Nähe eine Kugel um die andere in des Ungetüms Leib zu jagen. Aus größerer Entfernung hätte er keinen Schuß wagen dürfen wegen der Gefahr, zugleich den festumklammerten Professor zu durchbohren.
Der Gorilla griff noch nach dem neuen Gegner und riß ihm ein ansehnliches Büschel Haare samt einem Fetzen Kopfhaut aus; das war aber auch seine letzte Schandtat. Seine Kräfte verließen ihn, und zuckend kollerte er zu Boden und verendete.
Leusohn war unterdessen wieder zu sich gekommen, doch brummte ihm der Schädel gewaltig und nur taumelnd schritt er neben den Gefährten her, die übrigens auch das stramme Marschieren verlernt hatten.
Am Lagerplatz angelangt, war der Doktor wieder so weit, daß er Schulze und Johann ihre Wunden auswaschen und kunstgerecht verbinden konnte; dann begaben sich alle drei durch die Höhle an den Strand, um zu erfahren, was Flitmore von ihnen wünschte.
Dieser hatte Hendrik inzwischen aufgefunden, der sich mit Fischfang beschäftigt hatte. Der Lord erschrak beim Anblick der Wundverbände des Professors und Johns; doch keine Muskel seines Gesichts verriet seine Besorgnis, als er sich nach dem Befinden der Patienten erkundigte.
»Nun,« sagte er, als ihm befriedigende Auskunft geworden war, »ich sehe mit Vergnügen, daß Sie reisefähig sind; nach dem Mahl müssen wir sofort aufbrechen!«
»Wie? — Wohin? — Warum?« fragten Schulze, Leusohn und Hendrik bestürzt; denn Flitmore hatte auch letzterem noch nichts gesagt.
»Wohin? Nach unserem vorläufigen Reiseziel, dem Djebel el Gumr. Warum? Weil es eilt und von unserer rechtzeitigen Ankunft viel, sehr viel abhängen kann. Das möge Ihnen für jetzt genügen.«
Mehr konnte niemand aus dem Lord herausbringen, und von Johann erfuhren die Neugierigen hernach nur, daß er eine Taube geschossen habe, daß sein Herr dadurch in eine Aufregung geraten sei, die auf einen ganz außerordentlichen Anlaß schließen lassen mußte, weil er auch in den Augenblicken höchster Gefahr sonst niemals so sehr die Herrschaft über seine Ruhe verloren habe.
Ganz unvermittelt habe ihn hierauf Lord Flitmore ausgesandt, die Herren zu suchen, während er selber auf den See hinausgesegelt sei, Hendrik zu holen.
Mit der Taube mußte irgend ein unerklärliches Geheimnis verbunden sein, und oft streifte in der Folge ein neugieriger Blick unserer Freunde das Federkleid des rätselhaften Vogels, das Lord Flitmore, nachdem er den Balg an der Tropensonne getrocknet hatte, fortan stets am Gürtel trug. Die Taube jedoch verriet ihr Geheimnis nicht.
Nachmittags stachen die Segelboote in See; es herrschte aber völlige Windstille, so daß die Schwarzen angestrengt rudern mußten. Segeln wäre ihnen bei weitem lieber gewesen; darum pfiffen sie auf Tod und Leben, um den Windgeist zu reizen, ebenfalls zu pfeifen. Als sich dann wirklich ein leichter Wind erhob und die Segel blähte, freuten sie sich des Erfolges ihrer Bemühungen und legten sich schlafen, bis auf diejenigen, die Segel und Steuer zu bedienen hatten. Gegen Abend bewirkte der auffrischende Wind hohen Wellengang; da warfen die Neger Glasperlen und Zeugfetzen ins Wasser, um den Seegeist milder zu stimmen; dieser ließ sich jedoch nicht bestechen.
Glücklicherweise war das Südende des Sees, Kabunda zu, erreicht, und es konnte gelandet werden, gerade noch zu rechter Zeit, denn in der Nacht erhob sich ein derartiger Orkan, daß die Schiffe gewiß untergegangen wären, wenn sie sich auf dem heimtückischen Gewässer befunden hätten.
Als Schulze und Leusohn in ihrem Zelte waren, bemerkte der Doktor: »Professor, es war doch eine schlimme Begegnung mit dem Soko gestern. Ich meinesteils verzichte darauf, mich mit solch wilden Vettern wieder einzulassen.«
»Ganz mein Fall,« lachte Schulze; »da sind mir die wildesten Neger, etwa die Watongwe, immer noch lieber.«
»Wenn wir bei Professor Garner Unterricht in der Affensprache genommen hätten, wäre es uns vielleicht möglich gewesen, uns mit dem Untier zu verständigen,« fuhr Leusohn, ebenfalls lachend, fort. »Wer weiß, er wäre uns dann vielleicht anständiger entgegengekommen.«
»Wohl möglich! Doch was halten Sie von Garners berühmter Entdeckung?«
»Was ich davon halte? Nun, ich glaube, es steckt etwas dahinter: alle Tiere besitzen gewisse Laute, um sich miteinander über das Wesentlichste zu verständigen.«
»Das ist es ja eben!« sagte der Professor. »Es ist mir rein unbegreiflich, wie Garners sogenannte Entdeckung überhaupt Aufsehen erregen und blöde Geister in Verwunderung setzen konnte; er hat ja nichts weiter entdeckt, als was alle Welt seit Jahrtausenden wußte.«
»Nun!« warf Leusohn ein. »Er konnte doch bestimmte Laute feststellen, durch welche die Affen ihre Freude oder aber ihre Angst bezeugen. Ja, er lernte diese Laute nachahmen und brachte damit die gleiche Wirkung bei den Affen hervor, wie er sie zuvor beobachtet hatte.«
»Gut! Und was weiter? Kennen wir nicht auch bei anderen Tieren Lock- und Warnungsrufe? Können nicht Jäger und Naturkinder diese Laute geschickt nachahmen und die betreffenden Tiere dadurch täuschen? Ich selber habe einmal einen Kuckuck durch täuschende Nachahmung seines Lockrufs so völlig betrogen, daß er mir nicht nur jedesmal antwortete, sondern auch immer näher kam.«
»Es ist wahr,« gab der Doktor zu. »Im Grunde handelt es sich um altbekannte Tatsachen; aber sind das nicht schon Ansätze zu einer richtigen Sprache?«
»Nein, mein Lieber! Wer sich durch Garner auf den Leim locken läßt, der übersieht das Wesentliche; sehen Sie, die Hühner in Europa, Afrika, Asien und Amerika, kurz, wo Sie wollen, haben alle die gleiche Sprache; genau so etwa die Schimpansen. Die Sprache des Pavians ist schon eine andere als die des Gorillas, und niemals wird der eine des anderen Sprache lernen, geschweige denn, daß ein Affe etwa lernen könnte, sich mit dem Rindvieh zu verständigen.
»Da gibt es keine Mundarten, keine geographischen Unterschiede. Durch die Jahrtausende behält jede Art ihre Sprache, und versetzen Sie eine Gluckhenne von Berlin nach Udschidschi, so wird sie ohne Schwierigkeit die afrikanischen Hähne verstehen.
»Von der menschlichen Sprache sagt nun zum Beispiel Stuhlmann: ›Die Sprache allein beweist nichts für die Zusammengehörigkeit von Völkern, sie kann wie ein Anzug an- und abgelegt werden.‹ Bei den Tieren aber beweist die Sprache mit ihren engbegrenzten Lauten, die sich im wesentlichen bei allen Arten auf ein paar Begriffe beschränken, als Lock- und Warnungsrufe, Freudenschreie und Äußerungen der Wut, Kampflust, Furcht oder Herausforderung, Schmerzensrufe und Zärtlichkeitsbezeugungen, also, bei den Tieren, sage ich, beweist die Gleichheit der Sprachlaute auch die Gleichheit der Art. Merken Sie nun etwas?«
»Ja!« gab Leusohn zu. »Es wird mir deutlich, daß eben die Sprache der Tiere von der menschlichen Sprache nicht nur dem Umfang nach, sondern ganz wesentlich verschieden ist.«
»Gut gebrüllt, Löwe — oder Löwensohn! Eine Sprache im Sinne der menschlichen Sprache sind die paar Verständigungslaute der Tiere niemals, wenn sie ihnen auch in beschränktem Maße die gleichen Dienste leisten; die menschliche Sprache ist geographisch bestimmt und angelernt, die sogenannte Tiersprache ist durch die Rasse bestimmt und angeboren, so daß die Tiere, auch wenn sie fern von ihresgleichen von Menschen aufgezogen werden, ihre Naturlaute gebrauchen, ohne sie je von anderen gehört zu haben. Gewiß lernen sie, ihnen fremde Laute zu verstehen, wenigstens in beschränkten Grenzen; begreift doch ein Haustier manchen Zuruf in der menschlichen Sprache. Aber eine fremde Sprache reden zu lernen, bleibt ihnen versagt, abgesehen von dem verständnislosen Nachsprechen des Papageis und einiger anderer Vögel. Somit jagt der ehrenwerte Herr Garner einem Hirngespinst nach aus Mangel an klarem Denken, und nur wer ebenso urteilslos ist, wird sich von ihm verblüffen lassen.«
»Ich denke jetzt klar!« lachte Leusohn, die nicht so bös gemeinte Spitze humorvoll auffassend.
Karte zu Kapitel 29.-45.
Am andern Morgen wurde der Landmarsch angetreten, nachdem die gemieteten Boote entlassen und die paar mitgenommenen arabischen Führer entlohnt worden waren.
Diese konnten wohl zufrieden sein; denn sie brachten mehr Kanus nach Hause, als sie mitgenommen hatten, und dazu für einige alte und morsche Fahrzeuge ebensoviel weit seetüchtigere und größere, die nun überdies noch mit Segeln versehen waren. Sie mieteten nun ihrerseits so viel Ruderer als sie brauchten, um die Flotte auch bei Windstille wieder an die Nordküste zu verbringen.
So sehr es Flitmore darum zu tun war, nur möglichst rasch vorwärts zu kommen, so erklärte er doch, die gerade Linie nicht einhalten zu können; denn alles komme darauf an, die richtigen Nilquellen aufzufinden, die sich, wie er nun bestimmt wisse, im Lokingagebirge befänden.
»Aber,« sagte er, »es ist dies ein ausgedehnter Gebirgszug, den wir wochenlang absuchen könnten, wenn wir auf geradem Wege hinstrebten und keine zuverlässigen Anhaltspunkte für die Lage der Quellen besäßen. Es bleibt uns daher nichts übrig, als dem Laufe des Nils zu folgen. Der Umweg ist nicht allzugroß; wir werden dem Moerosumpf oder Itawa entlang gehen müssen und zusehen, ob er, wie es nach meinen Vermutungen sein mühte, mit dem Moerosee in Verbindung steht.
»Dann handelt es sich darum, ob der Moero aus dem Bangweolosee gespeist wird, wie ich behaupte, oder ob sein Hauptzufluß ihm unmittelbar vom Lokingagebirge zuströmt. In letzterem Falle wäre dies der Quellfluß des Nils, im anderen aber wäre der Hauptzufluß des Bangweolo als der Nilursprung anzusprechen.«
So ging es also zunächst dem Itawa zu. Am ersten Abend machten Leusohn und Hendrik, während das Lager geschlagen wurde, noch einen Jagdausflug.
Sie bedauerten beide, die schönen Jagdgefilde am Tanganjika so rasch haben verlassen zu müssen, ehe sie auch nur eine richtige Jagd hatten ausführen können. Doch Flitmore hatte ja gewiß seine gewichtigen Gründe gehabt, so plötzlich aufzubrechen.
Nicht lange waren die Jäger gewandert, so erblickten sie in der Ferne einige Quaggas und eine ganze Zebraherde. Schon öfters hatten sie Zebras von weitem gesehen, nie aber waren sie zu einem Schuß gekommen; gibt es doch kein scheueres und vorsichtigeres Wild als dieses prächtige Tigerpferd.
Es schien äußerst schwierig, in offenem Steppenland die klugen Tiere unbemerkt anzuschleichen; der Wind war wenigstens günstig und wehte den Jägern ins Gesicht; so hoffte Hendrik, bei äußerster Vorsicht zum Schusse gelangen zu können, und ihm klopfte das Herz bei dem Gedanken, sein erstes Zebra heute vielleicht zu erlegen.
Er mahnte den Doktor zu höchster Behutsamkeit und Geräuschlosigkeit; und so wanden sich beide kriechend am Boden hin, jedes Büschel Gras als Deckung benutzend.
Zur Linken trabten Büffel dem Walde zu, schlanke Giraffen weideten am fernen Waldsaum die Blätter der Zweige ab. Aber die Jäger kümmerten sich um kein anderes Wild, als dasjenige, das sie im Auge hatten.
Auf hundert Schritte hatten sie sich angepürscht. Die Herde bot einen prächtigen Anblick: Wildheit und edle Kraft, Gewandtheit und Anmut prägten sich in Gestalt und Bewegungen der schönen Tiere aus, und wenn man die harten Hufe auf dem Boden stampfen hörte und das scharfe Gebiß blinken sah, konnte man es begreifen, daß selbst der freche Leopard sich scheut, ein Zebra anzugreifen, und nur der Löwe sich an die Wildpferde herangetraut.
Mitten unter den Zebras weideten Antilopen verschiedener Arten; denn im Gegensatz zum anderen Wild Afrikas, das in streng gesonderten Rudeln lebt, sieht man häufig Antilopen und Wildpferde in gemischten Herden.
Einige Kudus mit ihren eleganten Schraubenhörnern, Springböcke und feine Zwergantilopen waren da zu schauen, aber besonders eine stattliche schwarze Mähnenantilope stach Leusohn ins Auge.
Noch einige Schritte gelang es den Jägern sich zu nähern; dann aber sahen sie plötzlich den Führerhengst stutzen und scharf sichern. Die Ohren vorgelegt, die Nüstern weit geöffnet, stemmte er die Läufe vorwärts. Jetzt schlug er den Boden mit den starken Hufen, daß es dröhnte, und stieg kerzengerade empor, um weite Umschau zu halten, und hierauf ein warnendes Prusten auszustoßen.
Leusohn und Hendrik wußten, es war keine Zeit zu verlieren, sollte ihnen nicht die lockende Beute auf Nimmerwiedersehen entschwinden; denn die Zebras schnellten wie gefedert empor und trabten unruhig durcheinander.
Hendrik nahm den Führerhengst aufs Korn, Leusohn hatte es auf die schwarze Antilope abgesehen.
Zwei Schüsse krachten gleichzeitig. Die Antilope brach zusammen, das Zebra machte einen mächtigen Satz, galoppierte wie rasend einige Schritte vorwärts, wankte und stürzte in die Knie, zitterte, überschlug sich und stieß mit den Beinen in die Luft.
Die Jäger regten sich nicht, denn die Zebras hatten trotz des Knallens der Schüsse die dringende Gefahr nicht erfaßt; mit gellendem Wiehern umkreisten sie den verendenden Führer in anmutigen Sprüngen, als wollten sie ihn ermuntern, sich aufzuraffen. Und erst als eine zweite Kugel aus Leusohns Gewehr noch eines der Tiere durch den Kopf traf, so daß es lautlos zusammenstürzte, jagten sie wie der Wind davon, mit ihnen Kudus und Zwergantilopen.
Hendrik hatte es nicht übers Herz gebracht, noch einmal zu schießen; denn nachdem er den ersten Jagdeifer gekühlt hatte, dauerten ihn die edlen Tiere.
Dennoch war sein Jägerherz durch den Erfolg seines ersten Schusses so erfreut, daß er nun aufspringend jubelte: »Mein erstes Zebra! Nie ist es mir zuvor geglückt, einer Herde dieser scheuen Tigerpferde so nahe zu kommen, daß ich eines erlegen konnte. Es ist überhaupt eine der seltensten Jagdbeuten, und nur die Giraffe ist noch schwieriger zu erjagen. Wie wird Fräulein Helene sich freuen, die immer begehrte, eines dieser Tiere in der Nähe zu schauen, wenn sie jetzt auch nur den leblosen Körper bewundern kann!«
Damit legte er sein Taschentuch auf das verendete Wild und forderte den Doktor auf, ein Gleiches zu tun.
»Wozu das?« fragte Leusohn verwundert.
»Es wird Nacht und das Lager ist weit; heute können die Tiere nicht mehr fortgeschafft werden. Bis morgen früh aber würden sie eine Beute der Geier, Hyänen und Schakale, wollten wir nicht diese Vorsicht gebrauchen.«
Leusohn lachte hell auf. »Und nun meinen Sie, dieses Raubgesindel wird Respekt haben vor Ihrem Zeuglappen und denken: Aha! Diese Tiere sind anderweitig belegt, es steht uns nicht zu, sie zu verzehren? Nee, mein junger Freund, abergläubisch bin ich nicht.«
»Sie werden ja sehen!« sagte Hendrik. »Aber geben Sie mir Ihr Taschentuch, es wäre schade um Ihr Zebra; die Antilope mag geopfert werden.«
Der Doktor willfahrte kopfschüttelnd dem Jagdgenossen, der das Tuch auf das zweite Zebra breitete.
Dann gingen sie heim in der bereits einbrechenden Dunkelheit.
Am anderen Morgen eilten die beiden Jäger der Karawane voran, deren Weg über den Schauplatz der gestrigen Jagd führte.
Helene und Sannah begleiteten sie auf ihren Reiteseln, begierig, die erlegten Zebras zu schauen. Auch einige Schwarze wurden mitgenommen, um die Jagdbeute gleich an Ort und Stelle zu zerlegen und die Reitstiere mit dem Fleisch zu bepacken.
Von der schwarzen Antilope fand sich kaum mehr als das nackte Gerippe; einige Geier flogen auf, als unsere Freunde sich nahten.
Leusohn ahnte nichts Gutes. Aber weit riß er die Augen auf, als sich die beiden Zebras völlig unversehrt vorfanden.
»Na! Das muß ich sagen, Hendrik,« rief er aus: »Sie sind ja ein gewaltiger Zauberer! Wie ist das nur möglich, daß diese armseligen Tücher die gefräßigen Aasräuber derart in Respekt setzen? Erklären Sie mir, bitte, den großen Zauber des Taschentuchs, wenn Sie dazu imstande sind.«
»Gerne,« lachte der Bure. »Die Tiere scheuen den Menschen, und da ihnen aus den Tüchern die Witterung des Menschen entgegenweht, so wagen sie keine Annäherung.«
»Aha! Jetzt begreife ich,« sagte Leusohn. »Wir kurzsichtigen Gelehrten halten leider alles für Blödsinn und Aberglauben, bis es uns die Augen aussticht und wir nachträglich eine wissenschaftliche Erklärung dafür finden.«
Helene und Sannah bewunderten lebhaft die schön gestreiften Tigerpferde und ihren feinen Gliederbau und bedauerten nur, daß so edles Wild dazu bestimmt sein sollte, sein Fleisch zur Nahrung herzugeben.
Zur Mittagszeit kosteten aber doch auch sie von dem etwas süßlichen, aber wohlschmeckenden Braten.
Sie unebene Steppe mit ihren rauhen Grasnarben, Termiten-Hügeln und zahlreichen Löchern, auch stellenweise sumpfigem Boden, machte das Reiten, namentlich auf einem Esel, nicht gerade zu einer Annehmlichkeit.
»So ein Esel ist die reinste Foltermaschine!« erklärte Helene. »Ich muß voller blauer, gelber und grüner Male sein.« Damit schwang sie sich aus dem Sattel und überließ das Reittier Amina, die es mit freudigem Grinsen bestieg; ihre Glieder waren nicht so empfindlich.
Auch Sannah zog es vor, zu Fuß zu gehen, und trat ihren Esel ganz an Tipekitanga ab, die in ihrem neuen Kleide stolz einherritt.
Gegen Abend kam die Karawane in die Nähe eines Dorfes, in dem ein großer Tumult herrschte, so daß Neulinge in Afrika hätten befürchten können, hier ganz wilde und kriegerische Leute zu finden.
Es fand aber lediglich die Häuptlingswahl statt, und die weißen Häuptlinge wurden durch eine Gesandtschaft eingeladen, der feierlichen Handlung anzuwohnen, da gleichzeitig das Fest des neuen Feuers gefeiert werde.
Männer, Weiber und Kinder waren auf dem Dorfplatz versammelt, wo auch unsere Freunde mit einigen schwarzen Begleitern sich niederließen, neugierig, wie der Vorgang sich gestalten werde.
Neben ihnen hockten in einer Reihe die Männer, die für das Amt eines Häuptlings in Betracht kamen.
Zunächst wurde viel Pombe in großen Kürbisschalen herumgereicht.
Die gegenüberhockenden Männer unter Führung des Dorf ältesten, denen die Wahl zukam, achteten fleißig auf die Trinkenden; es schien, als hätten sie im Sinn, den größten Zecher als den Würdigsten zu erwählen.
Kaschwalla leerte seinen Pombebecher allemal auf einen oder zwei Züge; immer wieder mußte das ihn bedienende Mädchen den Kürbis füllen, den sie ihm knieend überreichte.
Er hatte bereits acht Schalen geleert, während die Bewerber aus dem Dorfe an der vierten oder fünften waren und schon bedenkliche Zeichen der Beschwipsung merken ließen.
Mit immer höherem Staunen betrachteten die Leute, Männer und Weiber, den gewaltigen Zecher, dessen fette Gestalt ihnen schon als die eines geborenen Häuptlings in die Augen stach immer demütiger und tiefer neigte sich das Mädchen, das nur zu springen hatte, seine Schale neu zu füllen, vor dem ehrfurchtgebietenden Baba Pombe, wenn sie niederkniete, ihm den köstlichen Trank zu reichen.
Auf einmal erhob sich der Dorfälteste. Er hielt in der Hand eine aus mehreren Gliedern zusammengesetzte Holzschere, wie sie in Deutschland unter dem Namen »Soldatenschere« als Kinderspielzeug bekannt ist.
Eine solche Soldatenschere ist in zusammengelegtem Zustande nur zwanzig bis dreißig Zentimeter lang; sobald aber die Griffe mit beiden Händen gefaßt und gegeneinander gedrückt werden, dehnen sich die Glieder, bilden Vierecke, die sich zu langen Rhomben strecken, und blitzschnell hat der merkwürdige Gegenstand eine Länge von acht bis zehn Metern oder noch mehr erreicht.
Dieses Werkzeug also hielt der Dorfälteste in den Händen, sprang damit im Kreise herum und ließ es plötzlich sich zu seiner ganzen Länge ausdehnen.
Scheinbar zufällig traf die Spitze der vorwärts schnellenden Schere den ahnungslosen Kaschwalla auf die Brust, so daß er erschreckt die volle Kürbisschale fallen ließ, die er eben zum Munde führte. Der schäumende Inhalt ergoß sich über den Kopf des wollhaarigen Negermädchens, das ihn so fleißig bedient hatte.
Mit einem Aufschrei sprang die triefende Schöne zur Seite.
Unterdessen aber war unter den Männern ein wilder Tumult ausgebrochen; mit wütendem Geschrei stürzten sie auf Baba Pombe, umzingelten ihn, packten ihn bei den Schultern und Armen und rissen ihn empor und zerrten ihn auf die Mitte des Platzes.
Dabei brüllten Weiber und Kinder so entsetzlich, daß unsere Freunde sich schon anschickten, dem scheinbar schwer Bedrohten zu Hilfe zu kommen.
Nur Hendrik hielt sie noch zurück. »Ich glaube, das hat nichts Schlimmes zu bedeuten,« sagte er; »übereilen wir nichts, die Leute tragen ja keine Waffen.«
In der Tat war der Sinn des ganzen Spektakels bloß der, daß Kaschwalla feierlichst zum Dorfhäuptling erwählt worden war.
Er selber kannte aber die Sitten dieses Volkstamms so wenig, daß er glaubte, es sei blutiger Ernst und sie seien wütend auf ihn, weil er das schöne Bier verschüttet habe, war er doch der erste, dies als ein Hauptverbrechen anzusehen.
Er wehrte sich daher verzweifelt und es gelang ihm auch, sich loszureißen und zu den Weißen zu flüchten.
Nun wurde aber bei diesen Wilden das Erschrecken und die Gegenwehr eines so unversehens Überfallenen als Zeichen der Feigheit angesehen. Ein solcher galt als unwürdig, Häuptling zu werden, und somit war Kaschwalla seiner neuen Würde bereits verlustig, worüber er sich jedoch nicht weiter grämte, als er später den Sachverhalt merkte.
Die Männer kehrten ruhig an ihre Plätze zurück, würdigten Baba Pombe keines Blickes mehr, und die Schere des Ältesten trat wieder in Tätigkeit und traf diesmal einen hochgewachsenen Dorfgenossen.
Dieser wurde mit dem gleichen Wutgebrüll umzingelt, fortgezerrt und hin und her gerissen. Er bewahrte aber seine Ruhe und wurde nun jubelnd zum Häuptling ausgerufen.
Jetzt nahm das Zechgelage erst recht seinen Fortgang und Baba Pombe hatte Gelegenheit, seinen Mut und seine Ausdauer wenigstens auf diesem Gebiet aufs neue so glänzend zu beweisen, daß er mit Genugtuung bemerkte, wie er sich die verlorene Achtung rasch wiedereroberte und mancher bewundernde Blick ihn beobachtete.
Inzwischen war es Nacht geworden und der Mond hatte am Himmel den Stand erreicht, der das Zeichen zum Beginn des Festes des neuen Feuers gab, das heute in allen Dörfern des Landes gefeiert wurde.
Im ganzen Lande waren die Feuer Tags zuvor gelöscht worden, denn keines durfte älter als ein Jahr werden.
Dem neuen Häuptling wurde ein kleines viereckiges Brett aus weichem Holze gebracht, in dessen Mitte sich eine trichterförmige Vertiefung befand; in diese senkte er die geriefelte Spitze eines spannenlangen Stiftes aus hartem Holz und quirlte ihn mit den Händen rasch und gewandt so lange, bis das Weichholz zu glosten begann, worauf die Weiber durch heftiges Blasen die Funken anfachten und mit Zunderstücken ausnahmen.
An alle Weiber wurden nun glimmende Zunderstücke verteilt; das neue Feuer war geboren, das nun zwölf Monate auszuhalten hatte.
Unsere Freunde wurden noch mit schmackhaften Kuchen bewirtet, die Helene so vorzüglich mundeten, daß sie dem Mädchen, das sie bediente, die Bitte vortrug, es möge ihr verraten, wie diese köstliche Speise zubereitet werde.
Obgleich sich aber das weiße Fräulein tapfer an Termiten-, Raupen- und Rattenkost gewöhnt hatte, verzichtete es doch darauf, sich das Rezept aufzuschreiben, als es erfuhr, der Kuchen bestehe aus kleinen Kungufliegen, die in Schwärmen von Millionen die Sonne verfinstern, und, wenn sie sich ermüdet niederlassen, von den Eingeborenen massenhaft eingesammelt, zerquetscht und zu Teig geknetet werden, um dann geröstet die beliebten Kungufliegenkuchen zu liefern.
Während im Dorfe weiter gefestet und gezecht wurde, verabschiedeten sich die Weißen mit ihren Begleitern und kehrten in ihr Lager zurück, das auch Kaschwalla, dank der kräftigen Unterstützung des starken Juku, glücklich erreichte. Hier aber mußte sich Baba Pombe, wie schon öfters, einen ernsten Vorhalt Hendriks wegen seiner Unmäßigkeit gefallen lassen. Er versprach denn auch Besserung, wie er allemal tat.
Im Lager erfuhr Schulze, daß ein Träger fehle. »Ist er durchgebrannt?« fragte der Professor.
Achmed gab Auskunft: »Abu Arba,« sagte er, »Allah schlug das Weib des Mannes mit Krankheit und ihre Füße trugen sie nicht weiter. Wir sagten ihm, er solle sie zurücklassen, hat er doch noch seinen Lohn für einen Monat anzusprechen. Er aber erklärte: soll ich mein treues Weib im Stich lassen, das mich auch pflegt, wenn ich krank bin? Ich bleibe bei ihr, sie zu pflegen und frage nichts nach meinem Lohn.«
»Warum sagtet ihr mir das nicht gleich?« rief Schulze. »Wahrhaftig, ich hätte der treuen Seele den Lohn sofort ausbezahlt und noch einen Monatslohn dazu! Ist es recht, daß er um sein ehrlich verdientes Gut komme, weil er seine Frau nicht verlassen will?«
Parker, der schnellfüßige Sulu, erbot sich, den Lohn dem Träger zu bringen, der in einem nur eine Stunde zurückliegenden Dorfe sich aufhalte.
Mit Freuden nahm der Professor das Anerbieten des edelmütigen Negers an und gab ihm den doppelten Lohn für den Träger; dem Sulu bot er hernach für den nächtlichen Gang ein ansehnliches Geschenk, das dieser, ganz gegen Negerart, erst gar nicht annehmen wollte, weil er sagte, es sei ihm eine Freude gewesen und keine Mühe.
Flitmore konnte auf der Reise feststellen, daß der Moerosumpf oder Itawa, der nun erreicht wurde, tatsächlich einen Abfluß in den Tanganjika besaß.
Der papyrusreiche Sumpf dehnte sich so weit ins Land hinein, daß er ein ernstliches Hindernis für das Weiterkommen bildete.
Riedböcke und Wasserböcke tummelten sich in großen Rudeln an seinen Ufern, Marabus stolzierten ernsthaft einher, Reiher, Silberreiher, Ibisse, Flamingos und Pelikane nebst zahlreichen anderen Sumpfvögeln gewährten ein lebendiges und anziehendes Bild.
Schulze hatte kranke Beine und mußte in einem Tragstuhl getragen werden, den Hendrik für ihn anfertigen ließ; es war ein aus Rohr geflochtener Sitz, der mit Baststricken an einer Stange aufgehängt war, die zwei Träger auf ihre Schultern luden. Der Professor saß rittlings auf dem Rohrboden, die Beine zu beiden Seiten hinabhängend.
Es war dies ein bequemes und sanftes Beförderungsmittel, während Schulze das Sitzen und Auf- und Abgestoßenwerden im Sattel des Reitstiers mit seiner wunden und mit Blasen bedeckten Haut nicht mehr ausgehalten hatte.
Er beklagte sich jedoch, so oft es durch ein Dornendickicht ging, daß nun seine Füße den Dornen und Stacheln noch mehr ausgesetzt seien als bisher.
Die kluge Sannah wußte hierfür sofort eine wirksame Abhilfe; sie riet ihm, in den Tragboden zwei Löcher für die Füße zu schneiden, statt sie außen herabzuhängen.
Der Professor befolgte den so einfachen Rat, auf den doch sonst niemand gekommen war, und nun waren seine Füße keinen scharfen Angriffen mehr ausgesetzt.
Da ein Sumpfarm des Itawa sich unabsehbar nach Osten dehnte, so daß seine Umgehung ausgeschlossen erschien, mußte er durchwatet werden. Das war keine Kleinigkeit; denn er war ziemlich tief und es galt, über die geknickten und niedergetretenen Papyrusstengel zu turnen, die keinen sichern Halt für die Füße boten.
Als nun das Rohr sich lichtete, zeigte es sich, daß ein Fluß hier strömte. So mußte die ganze Karawane den beschwerlichen, nassen Weg wieder zurückmachen und aus massigen Papyrusbündeln, die neben- und übereinander geschnürt wurden, ein Floß bauen, das nach und nach Leute und Lasten über den Fluß und seine sumpfigen Ufer beförderte.
Schulze fand es ratsam, im nächsten Negerdorfe einen Führer mitzunehmen, der ihnen den Weg zum Moerosee weisen könnte; denn nun eröffnete sich eine öde Steppe, die rechts und links von Urwäldern eingesäumt wurde, und es schien äußerst schwierig, sich hier zurechtfinden zu können, namentlich auch einen Weg zu entdecken, der durch angebaute Gegenden führte, so daß die Karawane nicht befürchten mußte, Mangel zu leiden.
»Der Führer ist für uns eine so kostbare Person,« sagte Hendrik zu Schulze, »daß wir nicht versäumen sollten, ihn mit den stärksten Banden an uns zu fesseln.«
»Wie meinen Sie das?« fragte der Professor.
»Nun,« gab Hendrik lachend zurück, »der Kerl scheint mir hinreichend verdächtig. Geben Sie acht, bei der nächsten Gelegenheit entweicht er und läßt uns in der pfadlosen Wüste im Stich, und das könnte unser aller Verderben sein. Lassen Sie ihm einen Halsring anlegen und ihn am Strick führen. Nachts wird er mit gefesselten Händen festgebunden.«
»Das ist aber doch eine etwas scharfe Maßregel, auf einen bloßen Verdacht hin,« wendete Schulze ein.
»Es ist eine hochnötige Vorsicht,« widersprach der junge Bure. »Passen Sie auf, der Mann sieht das selbst ein.«
Der Professor beschloß, Hendriks Rat zu folgen.
Der Führer machte zwar zunächst ein erstauntes Gesicht, als ihm der Halsring angelegt wurde; dann aber lachte er und sagte, unter diesen Umständen müsse er wohl darauf verzichten, heute nacht wieder nach Hause zu eilen, wie er im Sinne gehabt habe.
Hieraus erkannten alle, wie richtig Hendrik geraten hatte.
Der Führer nahm den Mund sehr voll; er werde sie, sagte er, einen Weg führen, der durch blühende angebaute Länder hindurchgehe, wo jede halbe Stunde ein reiches Dorf zu finden sei.
Inzwischen führte er sie durch die öde Steppe den Urwald entlang, der auch keine eßbaren Früchte zu bergen schien.
Um die Mittagszeit sahen unsere Freunde zwei Elefanten am Saum des Waldes; sie schienen eifrig damit beschäftigt, von einem Baume Früchte zu pflücken, die sie mit Behagen verschlangen.
»Das werden Mokorongafrüchte sein,« erklärte Schulze, »die bei den Elefanten sehr beliebt sind; sie beschäftigen sich oft stundenlang mit dem Pflücken und Verzehren dieser ausgezeichneten Beeren, von denen natürlich ganze Bäume voll nötig sind, um einen Elefantenmagen zu sättigen.«
Bei der Annäherung der Karawane schlugen sich die Elefanten seitwärts in den Urwald.
Flitmore sagte nun zum Professor: »Es wäre gut, wenn wir einen Elefantenbraten bekämen; so ein Dickhäuter gibt aus. Ich will mit John der Spur folgen und Ihnen die Tiere zutreiben, womöglich auch selber einen erlegen; der Wald wird nicht bloß diese zwei beherbergen.« Damit ging er mit Johann ostwärts in den Wald.
Inzwischen war der Baum erreicht, an dem sich die Elefanten soeben noch gütlich getan hatten.
Mit dem Ruf »Mokoronga!« stürzten sich die Schwarzen auf ihn und plünderten ihn, ganze Äste abreißend.
»Ah!« riefen sie, die kirschengroßen, schwarzen Beeren verzehrend. »Es ist das reinste Fett!« Denn Fett ist ihnen der Inbegriff aller wohlschmeckenden und nahrhaften Speisen.
Die Europäer erhielten nur wenig mehr von den Früchten zu kosten, die einen violetten Saft enthielten und einen übertrieben großen Stein, wie die meisten wilden Früchte.
Hendrik und Leusohn horchten scharf auf, ob nicht Flitmore ihnen die versprochene Beute zutreibe; aber im Walde blieb es totenstill.
Auch die Steppe zeigte keine Spur von Wild, nicht einmal Antilopen. Letzteres war übrigens nicht auffallend, da diese selten zu finden sind, wo sich Elefanten in der Nähe aufhalten.
Auf einmal vernahm man ein fernes Stampfen und Krachen im Walde.
»Aha! Da treibt uns der Lord Elefanten zu!« rief Hendrik aufspringend.
Auch Schulze und Leusohn griffen zu den Gewehren.
Es dauerte nicht lange, so brach ein Rudel von sieben ungeheuren Elefanten aus dem Walde.
Die Jäger hatten Sorge getragen, sich der Stelle zu nähern, wo sie dem Geräusch nach vermuten durften, daß die Dickhäuter erscheinen würden.
Sie hatten die Stelle nur zu genau erraten; denn die Elefanten kamen geradenwegs auf sie zu. Und zwar erfolgte ihr Erscheinen so plötzlich, daß die Weißen nur Not hatten, rasch Deckung zu suchen, wenn sie nicht zerstampft werden wollten.
Leusohn erhielt auf der Flucht einen so wuchtigen Rüsselhieb zwischen die Schultern, daß ihm das Blut aus der Nase stürzte und er ins Gras flog.
An ihm vorbei donnerten die schwerfälligen und doch so raschen Tritte, und um ein Haar, so wäre er zu Brei zermalmt worden.
Schulze war es gelungen, sich hinter einen Baum zu bergen. Hendrik aber wurde von den Tieren verfolgt, die aus den hocherhobenen Rüsseln kriegerische Trompetentöne ausstießen.
Es blieb ihm keine Zeit, sich umzuwenden, um zu zielen und zu schießen; denn die grimmen Feinde waren ihm dicht auf den Fersen.
Juku, der den Weißen aus Neugier gefolgt war, sprang in anderer Richtung leichtfüßig durch das hohe Gras davon.
Der Professor hinter seinem Baum war übrigens nicht gesonnen, Freund Hendrik im Stich zu lassen; er zielte auf den vordersten Bullen und traf ihn hinter das hochgestellte Ohr, der beste Schuß, der ihm überhaupt möglich war, da ihm der Elefant den Rücken kehrte.
In diesem Augenblick aber hatte das nun nur noch mehr gereizte Tier Hendrik mit dem Rüssel am Arm gepackt und emporgerissen, um ihn alsbald zu Boden zu schleudern.
Im Sturze streifte Hendrik mit dem Rücken den einen Stoßzahn des Elefanten, so daß er mit dem Rock eine Sekunde hängen blieb, bis dieser zerriß und der Jüngling vollends zu Boden sank.
Ohne diesen Zufall, der den Sturz wesentlich milderte, hätte der gewaltige Schwung ihn wohl am Boden zerschmettert. Immerhin fiel er noch unsanft genug, um das Bewußtsein zu verlieren.
Der Elefant blieb nun neben dem Regungslosen stehen; hätte er sich im mindesten bewegt, so hätte ihn das Tier sicher zerstampft, da der mächtige Fuß die Hauptwaffe des Elefanten bildet.
Im Lager waren diese Vorgänge nicht unbemerkt geblieben, da sie sich in nächster Nähe abspielten.
Die Neger und besonders die Weiber erhoben ein hundertstimmiges Geschrei, das die sechs andern Elefanten in die Flucht trieb, während der bei Hendrik stehende sich begnügte, ein drohendes Trompeten aus dem ausgestreckten Rüssel ertönen zu lassen.
Helene und Sannah, gefolgt von der allezeit furchtlosen kleinen Jägerin Tipekitanga, eilten auf das gefährliche Tier zu. Sobald sie die furchtbare Gefahr erkannt hatten, die Hendriks Leben bedrohte, waren sie nach ihren Büchsen gestürzt; doch hatte sich alles so rasch vollzogen, daß sie Hendriks Unglück nicht abzuwenden vermochten.
Nun wußten sie nicht, ob er noch lebte oder tot war; auf alle Fälle aber waren sie gewillt, den mörderischen Dickhäuter zu züchtigen, sollte dies auch sie selber in Lebensgefahr bringen.
Schulze war ebenfalls kühn herbeigeeilt und richtete nun seine Büchse von der Seite her auf das Ohr des Elefanten; doch die Niefehlende traf diesmal trotz der größeren Nähe leider vorbei.
Mit seinen kranken Beinen wurde dem Professor das feste Stehen überhaupt sauer und das beeinträchtigte auch die Sicherheit seiner Hand, die übrigens nie hervorragend gewesen war.
Schulzes Kugel hatte nur den äußersten Rand des Ohres durchbohrt; nun aber wandte sich der Koloß dem neuen Gegner zu, wobei er Hendrik unfehlbar zertreten haben würde, wenn nicht Helene sich blitzschnell zu Boden geworfen und mit einem kräftigen Ruck den immer noch regungslosen, blutüberströmten Körper aus dem Bereich der alles zermalmenden Füße gerissen hätte.
Sannah zielte nach dem kleinen Auge des Elefanten, das sie jedoch verfehlte, so daß ihre Kugel am Schädelknochen wirkungslos abprallte.
Tipekitangas Pfeil dagegen saß fest im Ohre, so daß das getroffene Tier furchtbar aufbrüllte, den Professor Professor sein ließ und sich den gefährlicheren Gegnerinnen zukehrte.
Die kleine Prinzessin war aber die reinste Kunstschützin, sie verfehlte kein erreichbares Ziel. Sie hatte es in der Gewohnheit, gefährliche Tiere womöglich zu blenden, zumal ein Schuß ins Auge am ehesten tödlich wirkt; kaum hatte daher der wütende Dickhäuter das Riesenhaupt gewendet, so stak ihm auch schon ein zweiter Pfeil im linken Auge und diesmal war auch Sannahs Kugel glücklicher und bohrte sich hart neben dem gleichen Auge in den gewaltigen Kopf, während der Professor die große Ohrmuschel, die ihm zugekehrt war, offenbar in ein Sieb zu verwandeln beabsichtigte, da seine Kugeln sie unaufhörlich durchlöcherten.
Aber der Pfeil im Auge und die Kugel daneben waren tödlich; noch einmal hob sich der Elefant auf die Hinterfüße, als wollte er vorwärts stürzen, dann krachte er zusammen.
Leusohn kam etwas schwankenden Schrittes eben herzu, um diesen letzten Auftritt des Trauerspiels noch zu sehen.
Er fühlte heftige Schmerzen im Rücken und ihm war etwas schwindelig, im übrigen aber war er unverletzt und seine Kräfte kehrten rasch zurück.
»Es hat's scheinbar auf sich mit mir,« meinte er, lächelnd herzutretend. »Die gefährlichsten Tiere der Wildnis behandeln mich verächtlich, wie einen Gegner, der nicht recht ernst zu nehmen ist. Der Soko hat mich geohrfeigt, daß mir Hören und Sehen verging, und nun macht es der Elefant ähnlich.«
»Oh, bitte, sehen Sie nach meinem Bruder, Herr Doktor!« bat Sannah.
»Wie? Was? Ist Hendrik etwas zugestoßen? Ich will nicht hoffen!« rief Leusohn erschreckt und sah sich um.
Nun erst entdeckte er Helene, die sich am Waldsaum, von Schulze unterstützt, um den jungen Buren bemühte, während Sannah in der Sorge, der Elefant möchte sich noch einmal erheben, diesen noch nicht aus dem Auge hatte lassen wollen.
Leusohn untersuchte alsbald den Ohnmächtigen und fand nur eine lange Fleischwunde auf dem Rücken, die glücklicherweise nicht tief ging und bereits durch geronnenes Blut geschlossen war.
»Eine Betäubung infolge der Erschütterung,« erklärte er. »Der Blutverlust ist unbedeutend.«
Damit wollte er die andern beruhigen, denn die Möglichkeit einer inneren Verletzung oder einer Gehirnerschütterung war nicht ausgeschlossen.
Da Schulze mit seinen kranken Beinen und Leusohn in seiner noch nicht völlig gehobenen Schwäche unfähig waren, den Bewußtlosen zu tragen, wurden aus dem nahen Lager zwei Schwarze herbeigerufen, die ihn hinüberschafften.
Hier kam Hendrik bald wieder zu sich und es erwies sich, daß er, abgesehen von der ungefährlichen Wunde und einigen Quetschungen, keinen Schaden genommen hatte.
Die Rückenwunde, die von dem Vorbeistreifen an dem scharfen Fangzahn des Elefanten herrührte, wurde nun ausgewaschen, antiseptisch behandelt und überpflastert und der junge Bure war bald wieder munter.
Das Zerlegen des Elefanten besorgten unterdessen die Neger, und als es Nacht wurde, war die Arbeit geschehen.
Außer Elefantenbraten gab es zum Nachtessen auch Elefantenfleischklöße, die aus den letzten Maismehlvorräten und gehacktem Elefantenfleisch bereitet wurden.
»Ein herrlicher Bissen!« schmunzelte Schulze. »Geschieht Flitmore ganz recht, wenn er um dieses Festmahl kommt; was läßt er sich auch von seinem Jagdeifer so weit fortreißen, daß er nicht zur Zeit zurückkehrt.«
So scherzte der Professor und ahnte nicht, in welch schlimmer Lage sich der Engländer und sein Diener befanden, und wie verhängnisvoll ihr Ausbleiben der Reisegesellschaft selber werden sollte.
Durch die Stille der Nacht erschollen plötzlich mächtige, fremdartige Töne, die wohl geeignet waren, die stärksten Nerven zu erschüttern.
Unheimlicher als das widerliche Geheul der Hyäne, das dem Gelächter eines Blödsinnigen gleicht, mark- und beindurchdringender als das grollende Brüllen des Löwen, klang die tieftraurige, wunderbar ergreifende Klage, welche die Elefanten um ihren gefallenen Gefährten anstimmten, dessen Schweiß sie bei ihrer Rückkehr witterten.
Die dröhnenden und doch so schwermütigen Töne durchzitterten die Luft und die Weißen, die noch um das Feuer versammelt waren, auf Flitmores Rückkehr wartend, fühlten sich ganz erschüttert.
»Es ist wahr,« sagte Schulze endlich, als stimme er der Anklage der Tiere zu, »ein so gescheites und brauchbares, von Natur gutmütiges Tier wie den Elefanten sollte man nicht jagen, man sollte es pflegen und zähmen. Warum sollten wir nicht in unseren afrikanischen Kolonien ein ebenso unschätzbares Haustier aus ihm machen können, wie die Engländer in Indien es dort schon vorfanden?«
»Man sagt aber, der afrikanische Elefant lasse sich nicht zähmen, wie der indische,« warf Leusohn ein.
»Unsinn! Man muß die Sache nur verstehen. Die Alten haben es fertig gebracht, denken Sie doch an die karthagischen Kriegselefanten. Nun, was den Alten möglich war, sollten wir selbstbewußten Kinder der Neuzeit auch vollbringen können, wenn wir auch in so mancher Beziehung hinter den Leistungen vergangener Geschlechter zurückbleiben.«
»Der Lord scheint heute im Walde übernachten zu wollen,« meinte der Doktor nach einer Pause. »Wir wollen uns jetzt doch zur Ruhe begeben, es wird spät. Übrigens, Professor, da habe ich noch etwas Palmöl; salben Sie damit Ihre kranken Gestelle ein, es soll ein vorzügliches Heilmittel sein.«
Schulze befolgte den Rat mit dem glänzenden Erfolg, daß schon nach wenigen Tagen seine Beine geheilt waren.
Der Lord war über Nacht nicht heimgekehrt. Nun wurden unsere Freunde ernstlich besorgt. Sie sandten die Schwarzen aus, um den Wald nach allen Richtungen zu durchsuchen. Die Leute bewaffneten sich mit Beilen, um sich Zeichen in die Bäume zu hauen, nach denen sie den Rückweg finden könnten; aber all ihr Suchen und Rufen war umsonst; als die Letzten abends heimkehrten, war die Spur der Vermißten nicht entdeckt worden.
»Für derartige Fälle sollte man stets auch Spürhunde auf solch einer Reise mit sich führen,« meinte Schulze. »Ein Dachshund taugt da nichts, so tüchtig Nigger sonst ist.«
Den folgenden Tag wurden die Nachforschungen ebenso erfolglos fortgesetzt.
Die Lebensmittel waren zu Ende, heute hatten die Neger das letzte Elefantenfleisch verzehrt, das, in Verwesung übergegangen, einen abscheulichen Gestank verbreitete, so daß die Weißen lieber hungerten.
»Man sollte denken, so ein Elefant versorgt einen reichlich mit Fleisch,« sagte Leusohn, »aber eine Karawane von über zweihundert Personen ist rasch damit fertig, und leider läßt sich jetzt kein Wild mehr blicken.«
»Länger dürften sie auch nicht von dem Fleische essen,« meinte Helene. »Für uns ist es schon heute ungenießbar.«
»Oh, das macht den Schwarzen nichts aus,« warf Hendrik ein. »Die zehren acht Tage oder länger von einem verwesenden Aas.«
»So mögen sie dabei fett werden!« rief Helene schaudernd. »Wir aber müßten daneben verhungern; denn bei aller Selbstüberwindung zögen wir uns doch nur durch den Genuß des verdorbenen Fleisches eine tödliche Vergiftung zu.«
»Ja, ja,« bestätigte Schulze. »Der Löwe verhungert, wo der Esel fett wird! Aber die Sache wird ernst: auch die Schwarzen haben nichts zu essen mehr, wir müssen unbedingt morgen eine angebaute Gegend erreichen, sonst sind wir alle des Todes.«
Das war eine Wahrheit, der sich niemand verschließen konnte, und es durfte nicht daran gedacht werden, das anscheinend aussichtslose Suchen nach Flitmore länger fortzusetzen.
So wurde denn in aller Frühe aufgebrochen und der gefesselte Führer versprach, die Karawane bis Mittag in eine dichtbevölkerte Landschaft zu bringen.
Er schlug eine südwestliche Richtung ein, den Waldsaum verlassend, und immer tiefer ging es hinein in eine trostlose Wüste.
Der Abend kam, und die von Hunger und Durst erschöpfte Karawane lagerte in der endlosen Einöde.
Der Führer wurde ernstlich zur Rede gestellt.
Er blieb dabei, man sei der fruchtbarsten, bevölkertsten Gegend ganz nahe; in zwei Stunden könne man dort sein.
»Der Kerl lügt doch gar zu frech!« rief Leusohn entrüstet. »Man überschaut ja diese Ebene auf Stunden weit hinaus, und nirgends im ganzen Umkreis zeigen sich Anzeichen angebauten Landes. Er ist ein vollendeter Schurke und führt uns offenbar mit Absicht ins Verderben, vielleicht aus Rache dafür, daß wir ihn fesselten und so seine beabsichtigte Flucht verhinderten.«
»Das glaube ich doch nicht,« widersprach Hendrik. »Der Mann ist so übel daran, wie irgend einer von uns. Rachsüchtig sind die Neger überhaupt nicht, geschweige denn, daß sie sich selber ihrer Rache opferten. Aber so sind die Schwarzen. Der Mann kennt die ganze Gegend offenbar ebensowenig wie wir. Er bot sich uns als Führer an, nur um uns gefällig zu sein, er vertröstet uns mit Dingen, die er selber hofft und wünscht, von denen er aber gar nichts Bestimmtes weiß, nur um uns Freude zu machen.
»Merkt so ein Führer, daß der Weiße begierig ist, die Namen von Ortschaften, Flüssen und Bergen zu erfahren, so sagt er nie: ›Ich bedaure, das weiß ich nicht!‹ Denn das würde den weißen Herrn betrüben. Vielmehr nennt er sofort einen Namen, wie er ihm gerade einfällt, und hat dann die Genugtuung, den Weißen befriedigt zu sehen. Auch dies ist vielfach Schuld an der Verwirrung geographischer Bezeichnungen in Afrika.«
»Sie haben recht,« bestätigte Schulze. »Der Neger lügt nicht, um zu lügen, auch nicht aus Bosheit und arger List, sondern aus reiner Gefälligkeit. Aber das kann uns jetzt nicht trösten, denn es ist unser Verderben; es hilft nun nichts, die beiden Reitstiere und die beiden Reitesel müssen geopfert werden.«
So wurden denn die treuen Tiere geschlachtet; aber sie waren recht abgemagert und konnten den grimmigen Hunger der großen Karawane nur notdürftig stillen.
Bis zum anderen Mittag sah die Gegend nicht anders aus als bisher. Der Marsch wurde aufgegeben; denn die Hälfte der Leute kam einfach nicht mehr weiter. Die kleineren Kinder mußten schon alle getragen werden; aber auch die Erschöpfung und Entkräftung der Erwachsenen war zu groß, als daß sie noch ferner hätten weiter wandern können, da man, so weit das Auge blickte, nur immer dieselbe öde Wüstenei schaute.
Schulze wunderte sich im stillen schon lange darüber, daß keine Klage oder gar Verwünschung über die Lippen der Schwarzen kam.
Nachdem nun das Lager aufgeschlagen worden war, machte der Professor einen Gang durch dieses wahrhaftige Hungerlager.
»Kinder, es geht uns schlecht!« sagte er zu einigen Weibern, die, vom Hunger geschwächt, sich kaum mehr regen konnten.
»O Bwana!« erwiderten die Weiber mit mattem Lächeln. »Die weißen Herren werden schon für uns sorgen und uns dahin bringen, wo kein Mangel ist.«
Dieses rührende Vertrauen angesichts des nahen Todes, diese unbegrenzte Zuversicht, die er nicht rechtfertigen konnte, schmerzten den Professor und er wandte sich ab.
Von einer Stelle des Lagers her ertönte lustiger Gesang, unterbrochen durch Scherze und Gelächter; dorthin lenkte Schulze den Schritt.
»Habt ihr keinen Hunger, Kinder, daß ihr so vergnügt seid?«
»Oh, Bwana Bawessa, wenn wir haben Hunger, dann wir singen. Singen alles schöner machen, auch Hunger schöner machen!«
Ein anderer bemerkte: »Bwana Maua hier keine Blätter finden zu essen, auch müssen Hunger haben wie wir. Wenn Bwana etwas haben, uns alles auch geben — wir aber nichts haben zu geben Bwana Bawessa und Bwana Dakta und Bwana Hendrik und Fräulein!«
Anderwärts traf Schulze einige, die sich noch einen Bissen vom gestrigen Rinds- oder Eselsbraten vom Munde abgespart hatten. Aber keiner verzehrte das kostbare Gut, ohne andere zum Mithalten einzuladen; denn allein zu schmausen, wenn andere darben, ist für eine Negerseele ein Ding der Unmöglichkeit.
Kurz, überall fand er so viel Geduld, Edelmut und Opferwilligkeit, daß er davon tief gerührt wurde.
Diese Beobachtungen, die ihn beschämten, teilte der Professor den Gefährten mit und fügte hinzu: »Wenn man satt ist, fällt es einem nicht schwer, von edlen Gefühlen beseelt zu sein und sich Notleidender zu erbarmen; aber lechzend vor Durst und verschmachtend vor Hunger, wenn nur noch die rasende Gier nach Speise und Trank in uns fiebert, — dann übe Entsagung, und du bist ein Held!«
Hiezu bemerkte Hendrik: »Sie werden auch schon beobachtet haben, wenn den Negern ihre Rationen ausgeteilt werden, daß sie selbst beim größten Hunger geduldig warten, bis die Reihe an sie kommt, und daß sie es für die größte Ungezogenheit und ein verächtliches Beginnen halten würden, wollte sich einer vordrängen.«
»Wie es bei uns in den feinsten Kreisen Sitte ist,« ergänzte Leusohn. »Wenn etwa bei einer vornehmen Abendgesellschaft das Büfett gestürmt wird mit Drängen und Stoßen, und jeder nur an sich und seinen hochachtbaren Magen denkt.«
»Ach, so ein Büfett!« seufzte Helene. »Daß du einen auch an so etwas erinnerst. Wenn uns eine gütige Fee eines hierherzauberte! Mit Schinken und Stullen — — —«
»Sardellen- und Kaviarbroten,« fügte Schulze hinzu.
»Vielleicht etwas Schweizerkäse oder kalter Braten gefällig?« machte der Doktor.
»Oh,« sagte Helene. »Wenn ich an das Hochzeitsmahl meines Bruders Fritz denke, was es da alles gab, und wie viel übrig blieb! Wie froh wären wir jetzt an den geringsten Überresten, ja nur an dem, was die Gäste auf den Tellern liegen ließen!« Und nun zählte sie alle die Herrlichkeiten auf, die damals auf die Tafel kamen, und alle schwelgten in der Erinnerung an solch auserlesene Genüsse.
Zum Überfluß zog Schulze noch eine alte Nummer der »Times« hervor, die Flitmore ihm zum Einwickeln von Präparaten abgetreten hatte, und las Berichte über Einladungen und Festessen vor, und zuletzt stellten sie sich noch aus den Anzeigen der Kolonialwarenhändler, Metzger und Zuckerbäcker Speisenfolgen zusammen, die ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen.
»Wir halten da Mahlzeiten, wie Schakabak, der Bettler,« sagte Leusohn, wehmütig lächelnd. »Was meinen Sie, Professor, befänden wir uns nicht besser im Universitätskarzer als hier in dieser Wüste?«
»Im Karzer? Bei Wasser und Brot?« griff Schulze eifrig auf. »Himmlisch, Doktor! Für einen Laib Brot gäbe ich, und wenn es Kommisbrot wäre, den schönsten Käfer aus meiner Sammlung!«
»Natürlich! Das wäre ein unerhörtes Opfer!« spottete der Doktor. »Einen ganzen Elefanten gäbe ich dafür, — wenn wir nur einen hätten! Nein, nein! den Elefanten doch nicht, der gibt doch Nahrung; aber sein Elfenbein für eine einzige Semmel!«
Solche Gespräche machten nun zwar nicht satt, aber sie lösten doch während des Schlafs herrliche Träume aus. Schulze und Leusohn träumten von einem Festessen und von einer Bahnhofrestauration, und Helene gar nannte im Traume ein echtes Weizenbrot ihr eigen.
Diese üppigen Träume erzählten sie einander am andern Morgen anstelle des mangelnden Frühstücks.
Lord Flitmore war mit Johann den Spuren der beiden Mokorongafresser gefolgt, die deutlich genug waren und schon durch die Bahn sich verrieten, welche die Dickhäuter sich durch das Dickicht gebrochen hatten.
Bald aber kreuzten sich verschiedene Elefantenspuren im Wald, und die richtige war nicht mehr zu erkennen, da alle frisch aussahen
Bei dem Suchen nach der Fortsetzung der ersten Fährte waren die beiden Jäger mehrmals im Kreise herumgegangen und schließlich konnte Flitmore nicht mehr unterscheiden, welches die Spur sei, der sie bisher gefolgt waren.
»Es ist einerlei!« sagte er. »Wenn wir nur irgendwelche Elefanten aufspüren; es ist nicht nötig, daß es eben die beiden seien, die wir am Waldsaum sahen. Folgen wir also einer beliebigen Fährte.«
Im Jagdeifer kam ihm, was für einen praktischen Mann, wie er einer war, kaum glaublich erschien, nicht einmal die Überlegung, daß er mit der ersten Spur den sicheren Rückweg verloren hatte.
Noch öfters kreuzten sich Elefantenwechsel, und der Engländer entschied sich stets für die, welche ihm als die frischeste erschien. Und so ging es die Kreuz und Quer, einmal rechts, einmal links, auf geraden und gewundenen Pfaden, — kurz, daß noch einer gewußt hätte, nach welcher der vier Himmelsrichtungen sie marschierten, davon war keine Rede, und vom Stand der Sonne war unter dem drei- und vierfachen Blätterdach nichts zu sehen.
Aber daran dachte Flitmore überhaupt nicht; er trug ja immer einen Kompaß bei sich, und die Steppe lag im Westen, — das genügte.
Außer den vielen Elefantenstapfen sah man keine Spur von etwas Lebendigem in diesem schweigenden Walde, abgesehen freilich von den zahlreichen Insekten, die am Boden hinkrochen; da waren zunächst braune, schwarze und gelbe Ameisen, die in langen, dichtgedrängten Reihen marschierten, hellglänzende, schokoladebraune oder tiefschwarze Tausendfüßler mit langgestreckten, schlangenähnlichen Leibern. Sonderbar gestaltete Fangheuschrecken, ölichte Erdraupen, die einen spiegelglatten, biegsamen Schleim absonderten, fielen sodann dem Beobachter ins Auge. Der Sonnenkäfer, mit seinem glänzenden Rot und seinen schwarzen Flecken, erschien von geradezu aufdringlicher Schönheit, und noch manche andere Käfer, Raupen, Spinnen, Wanzen und dergleichen mehr konnten dem Auge, das auf die Elefantenspuren achtete, nicht entgehen.
Plötzlich hielt der Lord Johann durch ein Zeichen zurück; wenige Schritte vor ihnen öffnete sich eine kleine Lichtung, auf der sich eine Elefantenmutter mit ihrem Jungen tummelte. Letzteres schien bereits dem Säuglingsalter entwachsen.
Vorsichtig pirschte sich der Lord näher heran, und als der Elefant zufällig ihm den Kopf zuwendete, konnte er, durch das Buschwerk gedeckt, aus nächster Nähe nach dem Auge zielen.
Die Wirkung des Schusses war eine blitzartige: das Tier brach sofort zusammen.
Als jedoch Flitmore nun vorsichtig, von Johann gefolgt, auf die Lichtung hinaustrat, fuchtelte der tödlich getroffene Elefant so wütend mit dem Rüssel umher, daß sie ihm ausweichen mußten.
Aber so viel Kraft besaß das sterbende Tier noch, daß es sich auf die Vorderfüße aufrichtete und sich seinem Mörder zuwandte, und obwohl dieser mit seinem Diener mit großer Gewandtheit dem drohenden Rüssel auswich, jagte der Elefant durch seine kreiselnden Drehungen die beiden mehrere Male um die Lichtung herum, ohne ihnen Muße zu lassen, einen zweiten Schutz abzufeuern.
»Das ist spaßhaft!« sagte der Lord gutgelaunt; aber er sollte es bald nicht mehr spaßhaft finden.
Der Elefant verlor in kurzer Zeit seine letzten Kräfte und dann fiel er tot um.
Rührend war es nun zu sehen, wie der junge Elefant, der bisher bloß als erstaunter Zuschauer dagestanden war, die tote Mutter mit dem Rüssel befühlte und vergebens suchte, sie zum Ausstehen zu bewegen oder sie auf die Beine zu ziehen.
»Wir müssen gleich zurück ins Lager,« sagte Flitmore, »es beginnt schon zu dunkeln. Morgen früh mögen die Schwarzen unsere Beute abholen. Hyänen und Schakale gibt es hier nicht, und Geier werden auch keine eindringen, das Fleisch ist uns also sicher. Aber dem Kleinen da haben wir die Mutter geraubt, wir sind ihm Fürsorge und Verpflegung schuldig; nehmen wir ihn mit.«
Das behagte John, denn es war ein reizendes, klug und treuherzig aussehendes Tier, dieses Waisenkind. Schnell schnitt er eine biegsame Schlingpflanze ab und band das eine Ende dem neuen Pflegling um den dicken Hals.
Der junge Elefant hielt dabei ganz still und ließ sich dann auch willig führen.
»Jetzt, wo sind wir hergekommen?« fragte der Lord seinen Diener.
Dieser sah sich im Kreise um und machte ein dummes Gesicht.
»Ja, Mylord,« erwiderte er, »das mag der Kuckuck wissen, da kommen so viele Elefantenpfade auf diese Lichtung heraus und einer gleicht dem andern aufs Haar. Wenn uns der Alte nicht so oft im Kreise herumgetrieben hätte! — — — Aber jetzt ist es unmöglich, herauszufinden, wo wir herausgetreten sind.«
»Ist auch nicht nötig,« meinte der Lord, indem er zu seinem Kompaß griff. »Wir haben auf dem Herwege hundert Umwege gemacht, wir würden sie doch nicht ausfindig machen; es ist auch besser, wir gehen auf dem geradesten Weg ins Lager. Aber wo habe ich nur meinen Kompaß?«
Ja, der fand sich nicht! Nicht in der linken Westentasche, wo er immer mit seinem heraushängenden Kettchen stak, nicht in einer der anderen Taschen, in denen er sich niemals befand.
Ein streifender Zweig mußte das Kettchen erfaßt und den Kompaß entführt haben!
Und das gerade jetzt, wo das kleine Instrument unentbehrlich war! Durch wieviel dornen- und rankenreichere Dickichte war der Lord schon durchgedrungen, ohne daß ihm sein Kompaß hängen geblieben wäre, dessen Verlust er hätte verschmerzen können, solange er in Gesellschaft war und landeskundige Führer hatte.
Nun erst, wo der Verlust das Leben kosten konnte, mußte er eintreten!
Aber da halfen keine tiefsinnigen Betrachtungen!
»Wo ist Westen?« fragte Flitmore wieder.
»Wenn Sie es nicht wissen, Mylord, dann kann es meiner Ansicht nach sowohl rechts als links, vor oder hinter uns liegen.«
»Ganz meine Meinung!« sagte der Lord äußerlich ruhig. »Aber eben das ist fatal, sehr fatal sogar! Wenn ich das geahnt hätte, dann hätte ich jeden andern auf die Jagd geschickt, ehe ich selbst gegangen wäre. Wer solche Eile hat, wie ich, sollte nur das eine, drängende Ziel im Auge haben. Aber der Fehler ist gemacht, vorwärts also!« und damit schlug er die Richtung ein, die er für die westliche hielt, die ihn aber südwärts führte.
Als die Nacht anbrach, baute Johann eine niedere Schutzhütte aus Zweigen und umgab sie mit Dornen. So schliefen die beiden im Urwald.
Die ganze Nahrung der beiden Verirrten im Laufe des folgenden Tages bestand aus wilden Früchten, die im Walde auch nur spärlich vorkamen; eine prachtvolle wilde Pflaume, eine grüne, birnenförmige Frucht mit weißem, süßem, birnenähnlichem Fleisch, die beide am Boden wuchsen, die roten Amomumfrüchte, Kornelkirschen, wilde Ananas, hartschalige Strychnusäpfel und eine glasig gelbe Beere, die nach Weintrauben schmeckte, — das waren die Genüsse, die notdürftig den Hunger stillen mußten.
Am Spätnachmittag wurde eine größere Lichtung erreicht, wo der Stand der Sonne festgestellt werden konnte.
»Wir müssen zurück!« sagte Flitmore. »Wir sind eine ganze Tagereise nach Süden zu marschiert. Jetzt gilt es, mindestens fünf Stunden nach Norden zurückzuwandern und dann links abbiegen, nach Westen; so treffen wir ungefähr auf unsern gestrigen Lagerplatz.«
Die Sache stimmte, nur war es eben im dichten Urwald so gut wie unmöglich, eine bestimmte Richtung einzuhalten.
Noch eine Stunde verfolgten sie ihren Weg rückwärts, dann mußten sie ihr zweites Nachtlager im Walde halten.
Der junge Elefant trabte nun immer voran und bahnte die Wege; Johann konnte ihn mit Leichtigkeit am Stricke lenken.
»Er muß einen Namen haben,« sagte Flitmore. »Ich will ihn ›Mietje‹ nennen; es ist ein Weibchen.«
Als etwa vier Stunden am nächsten Tage zurückgelegt waren, bog Flitmore links ab, nach Westen, wie er dachte, in Wirklichkeit aber stark nordwestlich, denn unvermerkt hatte sich ihre bisherige Marschrichtung, statt scharf nördlich, nach Nordosten gewendet.
Auch in dieser Richtung wollte der Wald kein Ende nehmen und der Hunger quälte die Wanderer empfindlich.
»Was sagst du dazu, John? Wir werden wohl Mietje schlachten müssen, um unser Leben zu erhalten?«
»O nein, Mylord!« rief Johann. »Lieber verhungere ich oder nähre mich von Blättern und Baumrinde: Es wäre sozusagen grausam, das freundliche, unschuldige Tier zu töten.«
»Das ist eine schöne Gesinnung,« lobte der Lord. »Ich könnte es auch niemals übers Herz bringen, und wäre es auch nur, weil es Mietje heißt. Aber Mietje muß verhungern, wenn wir verhungern müssen.«
»Oh, Mietje kann sich schon selbst ernähren.«
»Du verstehst mich falsch, John! Du kannst nicht verstehen, was ich meine. Ich denke nicht an unsern kleinen Elefanten.«
An diesem Tage nährten sich die beiden, außer von den seltenen Früchten und Beeren, tatsächlich von Blättern und Rinden, dazu von Käfern und Fangheuschrecken, die allerdings eine ganz magere Kost abgaben.
Der dritte Tag brach an; es war der Morgen, an dem die Karawane abzog, den unheilvollen Hungermarsch antretend.
Auch Flitmore und Johann litten schwer unter dem Hunger und bei ihrer zunehmenden Entkräftung ging der Marsch langsam voran. Den Elefanten zu besteigen, war im Walde unmöglich, da sie sonst mit Zweigen und Ästen in gefährliche Zusammenstöße geraten wären.
Und der Wald wollte und wollte kein Ende nehmen! Der Lord begann zu ahnen, daß er auch diesmal die westliche Richtung verloren habe, sonst hätten sie schon längst die Steppe erreicht haben müssen.
Als sie mittags, vom Hunger gequält, rasteten, schrie Johann plötzlich laut auf.
Flitmore öffnete die Augen und erblickte eine ungeheure Riesenschlange, die ihre Ringe um des Dieners Leib schlang, in gegen den Baum pressend, an den er sich gelehnt hatte.
Ein Schuß war selbstverständlich unmöglich. Aber der Lord sprang auf und zog sein Jagdmesser, um zu sehen, wie er mit dem Python fertig werden könnte, der dem Herbeieilenden seinen scharfbewehrten weitgeöffneten Rachen entgegenstreckte.
Auch ein wuchtiger Messerstich schien hier nichts zu nützen; von oben geführt, hätte er den schwanken, nachgebenden Kopf nur hinuntergestoßen, ohne ihn wesentlich zu verletzen, von vorn aber hätte er wohl den Hals der Schlange durchbohren können, indem er gegen Riegers Brust gedrückt worden wäre, aber dann wäre auch dieser selbst schwer, vielleicht tödlich verwundet worden.
Einen Augenblick stand der Lord ratlos und dachte daran, sich auf die Rückseite des Baumes zu begeben, um dort die Ringe des Schlangenleibes zu durchschneiden.
Aber das Reptil war behende und drohte, ihn selber mit seinem sich blitzschnell immer länger nach vorwärts dehnenden Oberleib zu umschlingen.
Es war aber ein Retter da, an den weder der Engländer noch sein Diener gedacht hatten.
Mietje, der Elefant, war aufmerksam geworden, und kaum hatte er die Schlange erblickt, so streckte er, von der Seite kommend, seinen Rüssel kerzengerade aus und ließ einen wütenden Trompetenton erschallen.
Im nächsten Augenblick hatte er seinen Rüssel um den Hals der Riesenschlange gewickelt und preßte ihn mit seiner gewaltigen Muskelkraft zusammen.
Vergeblich wand sich das Scheusal in dieser tödlichen Umarmung; die Ringe lösten sich von Johanns Körper und der Halberstickte atmete auf. Dem Lord aber war es nun ein leichtes, den festgehaltenen Kopf des Reptils mit seinem scharfen Fänger vom Rumpfe zu trennen.
Es wäre dies nicht einmal nötig gewesen, denn der Erstickungstod war dem Python sicher.
»Ah!« sagte Johann, sich streckend und dehnend. »Das war die höchste Zeit, Mylord; mein Schnaufer war mir schon sozusagen ausgegangen. Ich muß ganz blau sein! Doch nun habe ich den Dank, daß wir das Tier nicht geschlachtet haben; aber es soll es auch gut haben in meiner Pflege, das will ich schwören!«
»Es ist gut abgelaufen!« sagte der Lord, »und wir haben vorzügliches, zartes Fleisch, das für ein paar Tage ausreicht, wenn wir uns nicht scheuen, es auch dann zu verzehren, wenn es etwas stark zu duften anfängt.«
»O Mylord,« versicherte Johann, »ich denke, wir werden sozusagen nicht zimperlich sein, wenn wir nur etwas für den Magen haben.«
»Gut! Häute die Schlange ab.«
Johann besorgte dieses Geschäft und lud Haut und Leib der Schlange dem Elefanten auf; dann wurde weitermarschiert, um eine Lichtung zu suchen.
Bald fand sich auch eine solche, und zwar eine so ausgedehnte, daß sich auch die Sonne wieder blicken ließ.
Flitmore erkannte sofort, daß sie bisher zu sehr nach Norden gehalten hatten, und beschloß nun, ziemlich scharf nach links abzubiegen, um nun durch einen Marsch nach Südwesten die Steppe sicher zu gewinnen.
»Es ist ein Glück, daß die Sonne hier herein scheint,« sagte er. »Nun können wir Feuer machen und brauchen uns nicht mit rohem Schlangenfleisch zu begnügen.«
Alsbald raffte der Diener dürre Zweige und trockenes Laub zusammen; der Lord aber zerfaserte das Ende einer abgestorbenen Liane und griff zu seinem Brennglas.
Zündhölzer hatte er keine bei sich, das große Brennglas war jedoch sein ständiger Begleiter und oft hatte er es dazu benützt, seine kurze Pfeife damit in Brand zu stecken.
Dieser Zauber versetzte die Neger stets in das größte Erstaunen und sie riefen dann wohl: »Bwana Mkubua das Feuer von der Sonne herabziehen! Auch die Sonne ihm gehorchen und seinen Tabak anzünden!«
Hier im Wald war ihm freilich das Glas nutzlos gewesen, solange kein Sonnenstrahl die dichten Wipfel durchdrang; er hatte aber auch kein Feuer benötigt, da es bisher nichts zu kochen und zu braten gab.
Nun aber wurde ein lustiges Feuer entzündet, nachdem Flitmore den Lianenbast in Glut versetzt hatte. Die ganze Schlange wurde gebraten und ein ansehnliches Stück davon labte die ausgehungerten Mägen. Der Rest, der immer noch sechs ausgiebige Mahlzeiten für zwei Personen abgeben mochte, wurde in Blätter und Rindenstücke verpackt und Mietje samt der Schlangenhaut aufgeladen.
Aus letzterer hatte Flitmore zwei Stücke geschnitten, die Johann, der immer Nähzeug mit sich führen mußte, nach des Lords Anweisung um die Griffe ihrer beiden Gewehre nähte. Am Griffe trocknend umschließt ihn die starke und zähe Schlangenhaut fest und haltbar wie Bandeisen: dadurch wird das Abbrechen des Schaftes verhindert, das bei den allzudünn gearbeiteten Griffen sonst häufig erfolgt.
Noch einmal mußte im Walde übernachtet werden; aber fernes Löwengebrüll, wie sie es in den Steppen beinahe allnächtlich zu hören bekamen, kündete den Verirrten an, daß der Wald bald ein Ende haben würde.
Und so war es auch: schon in der nächsten Morgenfrühe schimmerte es ihnen licht entgegen durch die Bäume, die den ungeheuren Urwald gegen die Steppe abgrenzten.
»Mylord, ein Leopard!« flüsterte Rieger seinem Herrn erregt zu, als sie sich anschickten, den heillosen Wald zu verlassen.
Er hatte das gefürchtete Raubtier auf einem Baume entdeckt, an dem sie eben im Begriffe waren vorüberzuschreiten. Wie leicht hätte da einer von ihnen das Opfer seines heimtückischen Überfalls werden können!
Flitmore sah in der angegebenen Richtung empor und legte an.
Da kletterte der erschrockene Leopard blitzschnell am Baum herunter und warf sich dem Lord zitternd zu Füßen.
»Holla!« rief dieser lachend. »Da hätten wir bald eine arme Negerseele ins Jenseits befördert! So geht's, wenn man sich so grausam vermummt!«
Er beruhigte den geängstigten Schwarzen, der sich in ein Leopardenfell gehüllt hatte, und fragte, ob er nichts von einer großen, von Weißen geführten Karawane wisse.
Der Eingeborene berichtete, daß eine solche gestern nachmittag hier vorbeigezogen sei, aber so weit westlich, daß er nicht erkennen konnte, ob Weiße dabei waren.
Die Leute seien südwestlich gewandert, in welcher Richtung auf Tagereisen hin kein angebautes Land zu finden sei, während im Südosten, hinter einem schmalen Streifen des Waldes, der hier auch sein südlichstes Ende erreiche, sein Dorf sich befinde in fruchtbarer und bevölkerter Gegend, kaum zwei Stunden von hier entfernt.
Der Lord besann sich einen Augenblick, ob er sich in diesem Dorfe erst mit Lebensmitteln versehen sollte. Aber umsonst würde er kaum welche bekommen haben, Tauschmittel besaß er keine, und mit Gewalt sich in den Besitz von Bananen und Getreide zu setzen, dazu waren zwei Mann nicht imstande, selbst wenn Flitmore solchen Raub, auch aus Not, nicht verabscheut hätte.
Überdies war keine Zeit zu vergeuden, wenn er die Karawane einholen wollte, die einen Tagemarsch Vorsprung hatte.
Zu zweit kamen sie natürlich viel rascher voran, als die große, schwerfällige Karawane, zumal jeder nun abwechselnd auf dem Elefanten reiten konnte, während der andere ihn führte. Auf diese Weise konnte ein rascher Trab angeschlagen und beinahe ohne Unterbrechung weitergeeilt werden. So hoffte Flitmore, wenn er sich nicht aufhalte, am dritten Tage die Freunde zu erreichen, und bis dahin reichte der Schlangenbraten bei einiger Sparsamkeit aus.
In Wirklichkeit sollten sie bälder an ihr Ziel gelangen, als der Lord dachte; denn die erschöpfte Karawane war, wie wir wissen, am dritten Marschtag liegen geblieben, und da Flitmore ziemlich südlich vom Lagerplatz, wo die Elefanten gejagt worden waren, aus dem Walde kam, konnte er von hier aus in anderthalb Tagen die Strecke bewältigen, zu der die Freunde einen und zwei halbe Tage gebraucht hatten.
Zunächst schlug der Lord eine beinahe westliche Richtung ein, um sobald wie möglich die Spur des Wanderzuges zu finden und dann auf sicherem Wege ihm zu folgen.
Um die Mittagszeit war denn auch der breite Weg erreicht, den die Karawane getreten hatte.
Unsere Freunde hatten einander ihre Träume erzählt, die ihnen, wie gesagt, das nicht vorhandene Frühstück ersetzen sollten. Dann aber berieten sie in gedrückter Stimmung, was nun zu beginnen sei?
Eine schwierige Frage! Der größte Teil der Karawane war einfach nicht mehr marschfähig. Von den Weißen waren der zähe Hendrik und etwa noch Sannah die einzigen, die noch einen größeren Marsch zu unternehmen sich getrauten.
Es wurde daher beschlossen, daß Hendrik sich die rüstigsten unter den Schwarzen auslesen solle, um mit den nötigsten Tauschwaren, in ganz leichte Lasten verteilt, zu suchen, ob er bewohntes Land zu erreichen vermöchte, um von dort den Verhungernden mit neuangeworbenen Trägern Lebensmittel zu bringen.
Daß dieser einzige Rettungsweg ein ziemlich aussichtsloser war, verhehlte sich niemand: denn, wenn Hendrik nicht innerhalb eines Tages das Ziel erreichte, dann war es zweifellos, daß nur wenige mit dem Leben davonkommen würden: länger als zwei Tage würden die meisten das Hungern nicht mehr ertragen, und schon der heutige Tag würde ohne Frage seine Opfer fordern.
Aber was war zu machen? Einen andern Ausweg wußte niemand anzugeben.
Da hörte man eine Unruhe im heute morgen so stillen Lager, laute Rufe erschollen, die wie Jubelgeschrei erklangen; Nigger, der Dachshund, der Hamissis Obhut anvertraut war, sprang auf und eilte mit lautem Freudengekläff davon.
Die Weißen erhoben sich; nahte irgendwoher eine unverhoffte Hilfe, Rettung in der äußersten Not? Es war undenkbar!
Da kamen ihnen Flitmore und Johann entgegen; letzterer führte Mietje, den Elefanten, während Nigger unermüdlich an ihm emporsprang und winselte in der Wonne des Wiedersehens.
Mit Jubel empfingen auch die Weißen die längst verloren Geglaubten.
Freilich, Rettung war das keine, vielmehr würden die beiden im Hungerlager selber einem schrecklichen Ende entgegensehen.
Aber wie die Schwarzen in uneigennütziger Freude frohlockt hatten, die beiden Weißen am Leben zu sehen, so empfanden auch unsere Freunde zunächst nichts weiter als das Glück eines unverhofften Wiederfindens.
Flitmore hatte am vergangenen Abend sein Nachtlager am Fuße einer kleinen Bodenwelle aufgeschlagen, nicht ahnend, daß ihm diese das Lager der Reisegenossen verbarg, dem er zustrebte und das kaum eine halbe Stunde mehr entfernt war. Nun hatte er es in aller Frühe erreicht.
»Ich sehe, daß Sie in der größten Gefahr sich befinden,« erklärte der Lord; »es war offenbar die höchste Zeit, daß ich ankam, Ihnen Rettung zu bringen.«
»Rettung?« fragte Leusohn zweifelnd. »Wie wollen Sie das anfangen, Lord? Bringen Sie etwa eine Karawane mit Lebensmitteln oder ist eine solche unterwegs?«
»Das nicht,« erwiderte Flitmore. »Wir selber haben nicht schlecht Hunger gelitten, bis wir eine Riesenschlange erlegen konnten, die nun aber aufgezehrt ist.«
»So wollen Sie den jungen Elefanten schlachten? Aber was soll das unter so viele?« nahm Schulze das Wort. »Immerhin kann sein Fleisch unser Leben um einen Tag verlängern, und das ist schon etwas.«
»Nein, nein!« wehrte Flitmore. »Mietje wird nicht geschlachtet, so lange ich Leben habe.«
»Wie?« rief Sannah. »Mietje haben Sie das reizende Tier genannt? Das taten Sie gewiß dem Andenken meiner verstorbenen Schwester zu lieb, die Ihnen so dankbar war.«
»Allerdings,« bestätigte Flitmore; »Ihre liebenswürdige Schwester schwebte mir dabei vor Augen; ich habe sie nie vergessen und werde sie nie vergessen, davon sollen Sie noch Beweise empfangen. — Aber ans Werk! Eile tut dringend not. John, bringe mir die Kiste mit dem Nährapparat.«
Unsere Freunde waren aufs höchste erstaunt und neugierig, als sie diesen seltsamen Auftrag vernahmen, und verfolgten nun begierig alles, was der Lord weiterhin unternahm.
Die Kiste, die Johann herbeischleppte, enthielt eine eigentümliche Maschine von höchst verwickelter Bauart, aus der niemand klug wurde.
Eine zweite Maschine wurde aus des Lords Gepäck herbeigeschafft; das war die unseren Freunden schon bekannte, so außerordentlich starke elektrische Batterie, die Flitmore erfunden hatte, und endlich kam noch eine Luftpumpe hinzu, das heißt nicht das, was man sonst unter einer solchen versteht, sondern eine Pumpe, die Luft einsog und preßte und sie in Verbindung mit dem elektrischen Apparat und anderen Vorrichtungen in ihre Bestandteile zerlegte.
Nun ließ Flitmore Erde herbeischaffen, die in möglichster Tiefe ausgegraben werden mußte. Diese brachte er in seine Maschine und setzte sie mit den beiden anderen Apparaten in Verbindung.
Nach weniger als einer Viertelstunde traten aus einer Öffnung der Maschine, die Flitmore als »Nährapparat« bezeichnet hatte, hellbraune Tafeln hervor, die man für Schokolade halten konnte. Eine andere Öffnung stieß die unbrauchbaren Abfälle aus; in den Aufnahmetrichter aber wurde stets neue Erde nachgefüllt.
»Kosten Sie,« sagte Flitmore und reichte den verblüfften Freunden die ersten Täfelchen hin, die seine Maschine erzeugt hatte.
Im Vertrauen auf Flitmores Genie ließen sich die Ausgehungerten nicht lange nötigen: sie aßen und fanden, daß die merkwürdigen Kuchen nicht nur angenehm schmeckten, sondern den Hunger vorzüglich stillten. So sättigend wirkten sie, daß eine Tafel völlig genügte, um den leeren Magen zu befriedigen, als sei ihm die ausgiebigste Mahlzeit zuteil geworden.
Nach einer Stunde waren so viele Tafeln erzeugt, daß sämtliche Träger und Askaris, Weiber und Kinder damit versorgt werden konnten. Flitmore aber arbeitete weiter, um noch einen großen Vorrat anzufertigen.
Für jedes Mitglied der Karawane wurden an diesem Tage zwölf solcher Tafeln hergestellt, für die Kinder acht, und als der Lord abends seinen Wunderapparat außer Tätigkeit setzte, erklärte er, auf drei Tage sei nun die ganze Gesellschaft mit ausreichender Nahrung versehen, so daß am nächsten Tage getrost der Weitermarsch angetreten werden könne.
In der Tat übte diese Kost auch eine auffallend erfrischende und kräftigende Wirkung aus.
Da der Engländer während der Arbeit jede Auseinandersetzung abgeschlagen hatte, bat Schulze ihn nun, als sie am Abend wohlgesättigt beieinander saßen, um eine Erklärung seiner rätselhaften Erfindung, die die kühnste Märchenphantasie in Schatten stellte.
»Viel zu erklären ist da eigentlich nicht,« hub nun Flitmore an. »Im Grunde ist die Sache einfach und der Gedanke sehr naheliegend. Allerdings habe ich Jahre gebraucht, um den Weg und die Mittel ausfindig zu machen, ihn zu verwirklichen; ich mußte die Werkstätte der Mutter Natur gründlich prüfen und auf die kleinste Kleinigkeit achten; daher ist die Maschine ziemlich verwickelt; die Natur arbeitet mit einfacheren Mitteln, wir bleiben nur plumpe Nachahmer.
»Haben Sie nie darüber nachgedacht, daß alle unsere Nahrungsmittel, Gemüse, Früchte und Getreide zu ihrem Aufbau nichts anderes brauchen als die Stoffe, die sie dem Erdboden entnehmen?
»Nun sagte ich mir: bringt es eine Pflanze fertig, die der Erde entnommenen Stoffe in Stärkmehl, Eiweiß, Zuckerstoff, Nährsalze, kurz in Nährstoffe umzuwandeln, sollte das nicht auch durch einen sinnreich erdachten Apparat möglich sein, der die einzelnen Tätigkeiten der Nährpflanze nachahmt und in sich vereinigt? Sehen Sie, das ist mir gelungen; es ist eigentlich fabelhaft einfach und natürlich.
»Den nötigen Stickstoff, sowie die Feuchtigkeit entnehme ich der Luft, wo mir nur trockene stickstoffarme Erde zur Verfügung steht.«
»Schön,« sagte Schulze, »aber die Pflanze braucht doch Monate, unter günstigen Bedingungen mindestens Wochen, um ihre nährende Frucht zu erzeugen, und Sie sollten das in einer Viertelstunde fertig bringen?«
»Was ist da auffallend?« gab der Lord zurück. »Die Natur braucht vielleicht hundert Jahre, um einen Felsblock loszusprengen, den Sie mit ein wenig Dynamit in einer Sekunde vom Muttergestein lösen. Übrigens sind Sie im Irrtum. Die Verwandlungsvorgänge, welche die Pflanze bewerkstelligt, gehen ungeheuer rasch vor sich.
»So habe ich zum Beispiel gemessen, daß eine Feuerbohne in einer Viertelstunde um einen Millimeter wächst, und zwar in all ihren Ausläufern. Gleichzeitig nehmen Blätter und Früchte beständig zu; sie wachsen in jeder Minute, wenn auch weniger merklich. In den Tropen vollzieht sich der Prozeß noch ungleich geschwinder.
»Das beweist, daß die Pflanze die dem Boden entnommenen Bestandteile ungeheuer rasch in die zu ihrem Aufbau nötigen Stoffe umwandelt, nur daß die Pflanze verhältnismäßig geringe Mengen auf einmal aufnimmt, während meine Maschine der Erde, die sie verarbeitet, ihre Nährstoffe sämtlich auf einmal entzieht, um sie sofort umzuwandeln in genießbare Nahrungsmittel.«
»Fabelhaft!« rief Leusohn aus.
»Das ist noch gar nichts,« lachte Flitmore. »Auch das Geheimnis der Entstehung der Kohle lauschte ich der Natur ab; ich bin imstande, Ihnen mit einer anderen Maschine innerhalb einer Viertelstunde einen Felsblock in reine, brennbare Kohle umzuwandeln. Sobald ich mein Verfahren der Öffentlichkeit preisgebe, wird die gefährliche, mühsame und kostspielige Arbeit in den Bergwerken aufhören und man wird mit geringeren Kosten und ohne anstrengende Arbeit Granit, Gneis und Porphyr zu Kohle verarbeiten.«
Angesichts der heutigen Probe von Lord Flitmores »Schwarzkunst«, wie Schulze sich ausdrückte, konnte auch diese neue, erstaunliche Behauptung von unseren Freunden nicht in Zweifel gezogen werden.
Am nächsten Tage wurde ein starker Marsch nach Südwesten ausgeführt und auch der übernächste Tag neigte sich seinem Ende zu, ehe die Wüste endlich aufhörte: daraus ersahen unsere Freunde deutlich, daß sie ohne Lord Flitmores Hilfe rettungslos sämtlich dem Hungertode verfallen wären.
Mit sinkender Sonne jedoch wurde ein grüner Galeriewaldstreifen erreicht und man sah Taubenschwärme hin und her fliegen.
Die Schwarzen jauchzten auf und auch der Weißen bemächtigte sich eine freudige Aufregung; denn die Anwesenheit von Tauben war ein untrügliches Zeichen der Nähe von Wasser.
Nun verstand zwar Lord Flitmore auch der Luft Wasser zu entziehen, aber es rann nur spärlich, und wenn es auch vor dem Verdursten schützte, so ermangelte es doch der köstlichen Frische und des labenden Wohlgeschmacks, die das natürliche Wasser dem Dürstenden zu einem solch unvergleichlichen Genuß gestalten.
Es erwies sich, daß der Waldstreifen tatsächlich einen kleinen Flußlauf säumte.
In wonnigen Zügen löschten die Lechzenden ihren Durst in dem kristallklaren Wasser.
Hier wurden auch eine Menge wilder Früchte mit Jubel begrüßt; denn wenn auch des Engländers Nährtafeln schmackhaft und äußerst nahrhaft waren, konnte man sich doch nicht verhehlen, daß ihnen ein gewisses, unbestimmbares Etwas fehlte, das die Erzeugnisse der Natur besitzen.
So wurden denn mit Eifer die Früchte eines Waldbohnenbaums gepflückt, deren herzförmige Bohnen in langen Hülsen eingeschlossen waren und zerstampft und gekocht eine vorzügliche Speise abgaben; ebenso die gelbe, wohlriechende Schweinepflaume mit ihrem großen Stein, Beeren des Rottangs, kirschenähnliche Phryniumbeeren, Nüsse, die wilden Kastanien glichen, blutrote Amomumfrüchte und besonders eine melonengroße wilde Brotfrucht, die sehr schmackhaft und gesund ist. Auch ein Erbsenbaum wurde entdeckt.
Köstlich war es, mit anzusehen, wie Mietje im Flusse den Rüssel voll Wasser sog, um den eigenen Körper mit dem Strahl mehrmals gründlich zu überspritzen und sich so vom Reisestaub zu reinigen.
Der junge Elefant, der schon aller Liebling geworden war, schwärmte für Reinlichkeit und nahm bei jedem Wasser, das fortan erreicht wurde, die gleiche Abspülung vor.
Er ließ sich auch gerne reiten, was Sannah und Helene oft gemeinsam mit Tipekitanga ausnützten, nachdem ihre armen Reitesel der Hungersnot zum Opfer gefallen waren.
Tipekitanga mit ihren Pfeilen und Hendrik mit seinen Schrotpatronen schossen mehrere wilde Tauben zum Abendimbiß.
Auf dem anderen Ufer dehnte sich der Wald einen Tagmarsch weit aus. Wasser wurde dort nicht mehr gefunden; doch bot der Mukuri dafür Ersatz, diese unschätzbare Pflanze Zentralafrikas, die schon manchen vor dem Verdursten bewahrte.
Die Neger gingen langsam in immer größeren Kreisen um den Stamm herum, mit einem Knüttel auf den Boden schlagend; ein dumpfer, hohler Klang verriet jede Stelle, wo sich die großen Wasserwarzen befanden, die sich an den Wurzelenden bilden. Da wurde dann nachgegraben und aus den schwammigen Knoten der reichliche, durststillende Saft ausgesogen.
Zahlreiche Geierperlhühner belebten das Unterholz und unsere Freunde ließen sich die köstlichen Braten nicht entgehen, die dieser gewöhnlichste Vogel Afrikas liefert.
Im Walde versäumte der Vortrab nicht die übliche Wegbezeichnung; die abzweigenden Pfade, welche die Nachzügler hätten irreführen können, wurden durch einen Strich gekennzeichnet und »gesperrt,« der quer über sie in den Erdboden gekratzt wurde.
Als am dritten Tage der Wald sich lichtete, grüßte seit langer Zeit das erste Negerdorf wieder unsere Karawane.
Es mußte massenhaft Elefanten geben in dieser Gegend, dem Reichtum an Elfenbein nach zu urteilen, den das Dorf aufwies.
Gleich am Eingang fiel ein Elfenbeintempel auf, dessen kreisrundes Dach auf etwa fünfzig riesigen Elefantenzähnen ruhte. Ein menschenähnliches Götzenbild zierte oder verunstaltete vielmehr das Innere des Heiligtums.
Auch der Palast des Häuptlings ruhte auf solchen Elfenbeinsäulen.
Beinahe sämtliche Gerätschaften der Einwohner bestanden aus dem gleichen kostbaren Stoffe. Mörserkeulen, Hämmer, Kugeln und andere Dinge waren aus Elefantenstoßzähnen geschnitzt, und die Frauen schmückten Arme und Beine mit Elfenbeinringen.
Als die Fremden in Sicht kamen, erhob sich ein großes Tuten auf Elfenbeinhörnern; der Häuptling erschien mit zahlreichem Gefolge, und wohl die ganze Einwohnerschaft versammelte sich im Hintergrund.
Dann traten schlanke Negerweiber vor, die einen seltsamen, wilden Tanz vor dem weißen Häuptling, als welcher Leusohn bei dieser Gelegenheit auftrat, ausführten. Man glaubte Wahnsinnige vor sich zu sehen, so fuchtelten die Tänzerinnen mit ihren langen Armen in der Luft umher, lachten und schlenkerten die Beine empor, den Leib nach allen Seiten krümmend, daß man sich nur wunderte, wie sie dabei das Gleichgewicht zu halten vermochten.
Da Schulze im Gefolge des Häuptlings einen Fettschwanzhammel entdeckte, der ihm ganz gewaltig in die Augen stach und ihm im Gedanken an einen so lang entbehrten saftigen Hammelbraten das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ, beeilte er sich, dem Häuptling aufs eifrigste seine Freundschaft zu versichern und ihm Perlen und Zeuge zu verehren.
Als er hierauf dem entzückten Fürsten ein Lob des Hammels sang, ging dieser alsbald in den Besitz des erfreuten Professors über.
Es dunkelte, als der Häuptling sich entfernte und das Volk herbeiströmte, um einen lebhaften Handel mit Nahrungsmitteln, Ziegen, Hühnern, Eiern und Honig zu eröffnen.
Die Preise, die sie forderten, waren aber ganz unverschämt. Offenbar mußte in letzter Zeit ein törichter und ungewitzigter Europäer hier durchgereist sein und durch seine tadelnswerte Freigebigkeit den Markt für seine Nachfolger verderbt haben.
Sobald die Neger sehen, daß sie für ihre Ware unter Umständen höhere Preise bekommen können, steigern sie unbedingt ihre Forderungen ein für allemal. Daher mag der reiche und freigebige Reisende ihnen schenken, so viel er will, aber ja nicht beim Einkauf großartig bezahlen; denn dadurch schädigt er alle anderen, die mehr auf Sparsamkeit angewiesen sind, als er.
Da unsere Freunde nicht so verschwenderisch mit ihren Tauschmitteln umgehen durften, ließ Lord Flitmore eine Rakete steigen, um die Preise zu drücken, wie er sich ausdrückte.
Und wirklich, die feurige Schlange, die aus dem Lager der Weißen zum nächtlichen Himmel emporzischte und dort eine rote Feuerkugel ausspie mit schrecklichem Knall, machte einen solch niederschmetternden Eindruck auf die Eingeborenen, daß sie ganz kleinlaut wurden und sich fortan den Angeboten der weißen Feuerzauberer widerspruchslos fügten.
Nicht fern vom Elfenbeindorf dehnte sich der reizende Moerosee oder Mweru aus, der an Lieblichkeit beinahe mit dem Kiwu wetteifern konnte.
Von allen Seiten war er zwischen hohe Berge eingeschlossen, wie der Luganosee; aber diese Berge waren mit dem üppigsten tropischen Pflanzenwuchs bekleidet, der bis an die Ufer reichte. Durch einen tiefen Spalt im Gebirge donnerte sein Abfluß gleich einem Wasserfall dahin.
Lord Flitmore erfuhr übereinstimmend von den Eingeborenen, daß der See mit dem Itawa oder Moerosumpf in Verbindung stehe und somit auch mit dem Tanganjika.
Vorausgesetzt, daß dieser tatsächlich einen Abfluß nach dem Albert-Edward-See durch den Kiwu besessen habe, war also gewiß, daß der alte Nilursprung in einem südlichen Zufluß zum Moerosee oder aber zum Bangweolosee zu suchen sei, wenn der Bangweolo einen Abfluß in den Moero besaß.
Da der Weitermarsch an den Ufern zu schwierig schien, zog sich die Karawane östlich hinter die Uferberge zurück und marschierte dort auf das südliche Ende des Moerosees zu.
Der Weg ging durch dürres Gras; Hamissi ging neben dem Professor hin und rief plötzlich: »Tschirombo!«
Schulze, der wußte, daß damit ein Tier gemeint sei, das man nicht essen könne, witterte gleich eine Naturmerkwürdigkeit und sah sich überall um, konnte aber nichts entdecken.
Der Suaheli aber deutete auf des Professors Ärmel und wiederholte: »Tschirombo!«
Da war aber nichts zu sehen, als ein Stückchen dürres Gras, und der enttäuschte Gelehrte rief ärgerlich: »Du selbst bist ein Tschirombo! Was willst du denn? Da ist ein Flocken Heu, weiter nichts!«
Hamissi grinste und sprach: »Bwana, das lebt!«
Schulze nahm nun das »dürre Gras« von seinem Ärmel und betrachtete es näher; es schien weiter nichts als eine gelbe Grasspitze, stark zerknittert, von der sechs paarweise einander gegenüberliegende geknickte Rispen ausgingen. Alles Drehen und Wenden konnte das Insekt nicht veranlassen, seinen Leib oder seine Beine zu bewegen und irgend etwas an seiner Stellung zu verändern; denn ein Insekt war es, das offenbarte dem Professor seine scharfe Brille. Nun wurde ihm klar, warum die Gespensterheuschrecke so selten zu finden ist; denn wahrhaftig! ein scharfes Auge und eine außerordentliche Beobachtungsgabe gehörten dazu, in diesem dürren Stengelchen ein lebendes Wesen zu erkennen.
Natürlich mußte diese absonderliche Merkwürdigkeit in Schulzes Sammlung wandern; aber vergebens bemühte er sich, die dünne Heuschrecke zwischen den Fingern totzudrücken; erst als er sie zwischen zwei Steine preßte, gelang es ihm, ihr das Lebenslicht auszublasen.
In dieser Gegend lernten unsere Freunde die gefürchtetste Plage Afrikas kennen, die Tsetsefliege; sie hatten sie freilich schon öfters angetroffen, nie aber in solchen Mengen wie hier.
Dieses mörderische Insekt glich einer kleinen Biene, kaum größer als eine gewöhnliche Stubenfliege; sein Stich ist namentlich für Pferde und Rinder tödlich und wirkt sehr rasch. Bei Menschen ruft er in manchen Gegenden die schreckliche, verheerende Schlafkrankheit hervor.
Von den fünf Rindern, die im letzten Dorfe erhandelt worden waren, fielen vier Stück dem Biß der unansehnlichen Mörderin zum Opfer; das fünfte rettete Leusohn durch ein einfaches Mittel: er rieb es mit Salmiak ein, worauf die Stiche keine tödliche Wirkung mehr ausübten.
»Ein scheußliches Biest, diese Glossina morsitans!« meinte Schulze. »Sie vernichtet ganze Rinderherden und bewirkt das Aussterben dichtbevölkerter Landstriche.«
»Wissen Sie, wie es dem Missionar Moffat mit der Tsetsefliege ging?« fragte der Lord.
»Nee!« erwiderte der Professor. »Das steht in keinem meiner wissenschaftlichen Werke.«
»Nun also. Der Matabelehäuptling Moselikatse war ein ausgeprägter Schurke, dazu aber ein Schlaukopf. Moffat gewann einen so großen Einfluß auf den gefürchteten Herrscher, daß dieser es nicht wagte, ihm irgendeinen Wunsch abzuschlagen; nur wollte er ihn immer bei sich behalten und durchaus nicht weiterziehen lassen, da er überzeugt war, der weiße Zauberer könne ihn von seiner Lähmung heilen, wenn er nur wolle.
»Als nun der Missionar nach dem Sambesi ziehen wollte, wagte es Moselikatse nicht, ihn geradezu daran zu hindern; allein er gab seinen Leuten, die als Führer dienen sollten, insgeheim den Befehl, die Karawane in die von der Tsetsefliege heimgesuchten Gegenden zu führen.
»Moffat reiste nach Burenart mit Ochsenwagen: kaum gelangten die Gespanne in die gefährliche Gegend, als die Zugochsen in kurzer Zeit sämtlich fielen und der Missionar sich genötigt sah, im Lande zu bleiben. So groß war jedoch der Respekt des Matabelehäuptlings vor dem würdigen Greise, daß er ihn später durch ein königliches Geschenk entschädigte; er verehrte ihm eine ganze Wagenladung Elfenbein nebst fünfzig Zugochsen, mit denen Moffat dann nach langer, mühseliger Reise glücklich wieder Natal erreichte.«
In der Nacht wurde das Lager durch einen großen Tumult aufgestört.
Als die Weißen aus den Zelten eilten, berichteten die Wächter, ein Leopard sei über das Gehege gesprungen und habe sich in Lord Flitmores Zelt geschlichen. Der mutige Dackel Nigger habe aber das freche Tier an der Gurgel gepackt, worauf es erschreckt zurückgesprungen sei, ohne daß der Hund es losgelassen hätte.
Draußen vor dem Verhau vernahm man die klagende Stimme Niggers und bald erschien der treue Wächter und Held. Aber wie war er zugerichtet! Am Halse war er so zerbissen, daß das Blut wie aus einer Sprengkanne nach allen Seiten spritzte.
Der Doktor schüttelte den Kopf und meinte, man solle den Bejammernswerten durch eine Kugel von seinen Leiden befreien, zu retten sei er doch nicht mehr.
Johann Rieger, als Herr des Hundes, wollte davon nichts wissen, ebensowenig Hamissi, Niggers besonderer Freund und Pfleger. Ihnen schlossen sich Helene und Sannah mit ihrer Fürbitte an.
»Dann ist es am besten, wenn er sich möglichst rasch verblutet,« erklärte Leusohn ärgerlich, daß seinem sachverständigen Urteil und seiner ärztlichen Unfehlbarkeit von Laien widersprochen wurde. »Doktern ist angesichts solcher Wunden Unsinn, und ich gebe mich nicht dazu her, seine Leiden zu verlängern.«
»Was sagt der Bwana Dakta?« fragte Tipekitanga, die Niggers Verbluten mitleidig beobachtete.
»Mein Bruder will die Wunden nicht verbinden, weil dem armen Tiere doch nicht mehr geholfen werden könne,« erklärte ihr Helene.
Stillschweigend legte die Zwergprinzessin Lehm auf die Löcher in des Dachshunds Gurgel und verband seinen Hals mit einem Streifen Zeug.
Hamissi nahm fortan den Hund auf dem Marsche mit, weich gebettet auf seiner Traglast. Vier Tage lang schien es, als müsse Nigger eingehen; dann aber brach eine Geschwulst an dem heißen, steifen Hals auf, eine Menge Eiter entleerend. Hierauf heilten die Wunden rasch, nur die Narben, die fortan kahl blieben, zeugten Zeit seines Lebens von der neuen lebensrettenden Heldentat, die der edle Dachshund geleistet hatte.
Am Tage nach dem nächtlichen Leopardenüberfall ging der Weg durch eine Steppe, in der sich ein Giraffenrudel von ferne zeigte; nachmittags traf man mit einer Araberkarawane zusammen, die ihr Lager ganz in der Nähe unserer Freunde aufschlug.
Am liebsten hätten unsere Freunde die Araber mit den Waffen angegriffen und zu Gefangenen gemacht, so weit sie nicht im Kampfe gefallen wären; denn sie erkannten bald, daß diese Unmenschen das schändliche Gewerbe von Sklavenjägern betrieben; welches namenlose Elend würden sie über die Gegend bringen, die sie zum Ziel ihrer Raubgelüste erwählt hatten! Wie viel Negerblut würden sie vergießen, alles schlachtend, was Widerstand leistete, die Dörfer niederbrennend und Weiber und Kinder zu einem unseligen Lose in ferne Länder verschleppend!
Aber an ein gewaltsames Verhindern der Menschenjagd war nicht zu denken, denn die Karawane zählte über dreihundert Gewehre; es waren hundertzehn Araber und etwa dreihundert Neger, die größtenteils ebenfalls mit Schußwaffen versehen waren.
Vorstellungen halfen diesen verhärteten Menschen, diesen Tigern in Menschengestalt gegenüber nichts, das stand von vornherein fest.
Dagegen drohte umgekehrt, daß die Scheusale die Schwarzen der Karawane Flitmores noch beschwatzten, sich ihnen anzuschließen.
Während die Neger in der Umgegend Holz hieben und Wasser holten, nahten sich ihnen die Araber in freundschaftlichster Weise, und einige Träger und Askaris berichteten hernach, welche Anträge ihnen gestellt worden seien.
»Ist euer karger Lohn der Mühen wert, mit denen ihr euch abplagt?« hatten die Araber gesagt. »Werft den ungläubigen Hunden ihre Ballen vor die Füße und kommt mit uns; wir plündern ganze Dörfer, Elfenbein und Sklaven sind unsere Beute; wer es mit uns hält, wird reich, ohne Mühe.«
»Und zuletzt verkaufen sie euch selber noch als Sklaven, nachdem ihr euer Leben für sie gewagt und ihre Beute zur Küste schleppen halft,« meinte Hendrik finster.
Am andern Morgen wurde gemeldet, daß drei Träger und ein Askari durchgegangen seien. Sie hatten sich zweifellos den Sklavenjägern angeschlossen, die schon aufgebrochen waren.
Lord Flitmore zeigte hierüber eine Erregung, die man nicht an ihm gewohnt war. Wenn etwas ihn aus der Fassung bringen konnte, so war es die Empörung über die Greuel des Sklavenhandels.
Als Achmed ihm das Entweichen der vier Männer hinterbrachte, rief der Engländer mit donnernder, vor Ingrimm bebender Stimme: »Inschallah! Ihre Gebeine werden die Geier zerhacken!«
Diese furchtbare Prophezeiung aus dem Munde des sonst so kaltblütigen Lords machte einen tiefen Eindruck auf die versammelte Mannschaft, und die folgenden Ereignisse sorgten dafür, daß keiner, der sie gehört hatte, sie je wieder im Leben vergaß.
Nur einer der Träger entzog sich dem Bann dieser Worte. Was konnte den Arabern zustoßen, die über eine so überwältigende bewaffnete Macht verfügten? Es reute ihn, daß er sich den Fahnenflüchtigen nicht angeschlossen hatte, und er erspähte im Laufe des Tages die Gelegenheit, zurückzubleiben, zu entweichen und die Araberkarawane einzuholen.
Dort fand er seine Kameraden und wurde wie sie von den Sklavenjägern in ihre Mannschaft eingereiht. Er verfehlte auch nicht, zu berichten, welchen Fluch der weiße Lord ausgesprochen habe. Die Araber natürlich lachten und spotteten über diese ohnmächtige Äußerung der Wut, als welche sie die Prophezeiung ansahen, die niemals Aussicht auf Erfüllung haben konnte.
Wir wollen die Schicksale der Sklavenkarawane im voraus gleich hier berichten, wie sie unsere Freunde erst einige Tage später erfuhren.
Es war nicht das erstemal, daß Mohamed Heri, der Führer der Araber, in der Nähe des Moerosees auf Raub ausging.
Bei der Kunde seiner Annäherung mit so großer bewaffneter Macht vergaßen die Negerstämme der Gegend ihre Zwistigkeiten und beschlossen, sich nicht überrumpeln und wehrlos niedermetzeln oder zu Sklaven machen zu lassen, sondern gemeinsam Widerstand zu leisten.
Die Seele dieses kühnen Unternehmens war der Häuptling Werdella, ein außerordentlich mutiger Mann. Er selber war früher im Dienste der Araber gestanden und hatte das Schießen gelernt; mit scharfem Blick und natürlicher Gewandtheit begabt, hatte er sich sogar zu einem Schützen ausgebildet, der mit einer Ruhe und Sicherheit schoß, wie es bei einem Neger nicht zu erwarten gewesen wäre; er hätte den Buren keine Schande gemacht mit seinen Treffern.
Dieser Werdella schlich sich mit seinen wohlgeschulten Leuten nachts in die Nähe des Araberlagers und trieb den Feinden sämtliches Vieh weg.
Das geschah in solcher Stille, daß im Lager nichts davon gemerkt wurde. Gleichzeitig hatte der kühne Negerhäuptling zwei seiner Krieger angewiesen, in das Lager selber zu schleichen, um dort Patronen zu stehlen, da es ihm an Munition für seine zwei Gewehre fehlte.
Es glückte denn auch den behutsamen Eindringlingen, eine Kiste mit tausend Patronen zu entwenden.
Am andern Morgen sandte er den Arabern eine unverschämte Botschaft, in der er sie höhnisch aufforderte, ihr Vieh aus den Bergen wieder zu holen.
Mohamed Heri schäumte vor Wut und beschloß, den frechen Häuptling mit seinem ganzen Volk nach seiner Weise zu züchtigen.
Als er mit seinen vierhundert Mann ins Gebirge hinaufstieg, um Werdellas Dorf zu überfallen, merkte er mit Schaudern, wie gefährlich dieser Weg sein mußte, wenn nur wenige beherzte Männer ihn verteidigten; er führte an schroffen, wild zerrissenen Felsen hin, an Schluchten und Abgründen und machte so viele scharfe Wendungen, daß die Araber stets fürchteten, hinter dem nächsten Vorsprung auf die Feinde zu stoßen, die durch ihren kühnen nächtlichen Überfall bewiesen hatten, daß sie mehr leisteten als gewöhnliche Neger.
Mohamed Heri frohlockte, daß sich ihm niemand entgegenstellte und atmete auf, als der Pfad sich weitete und ein breites Hochtal mit Wald und Gebüsch sich vor ihm öffnete. Er wähnte nun alle Gefahr überwunden und ahnte das Schreckliche nicht, das ihm bevorstand.
»Maschallah!« rief er. »Stehlen können die Wilden, aber kämpfen können sie nicht. Ihr Herz ist feige, sonst hätten sie uns den Zugang zu ihren Höhen leicht unmöglich machen können. Jetzt gibt sie Allah in unsere Hand; ihre Krieger werden sterben von den Kugeln unserer dreihundert Gewehre, ihre Weiber und Kinder, ihre Jünglinge und Jungfrauen werden wir als Sklaven forttreiben; ihre Greise wollen wir verstümmeln, ihre Hütten verbrennen und all ihre Habe gehört uns. Den frechen Häuptling aber peitsche ich selber zu Tod! Er soll es erfahren, was es einträgt, einen Araberscheich zu verhöhnen.«
In diesem Augenblick flog ein Hagel von Pfeilen und Wurfspeeren aus dem Buschwald, und zu Tode getroffen sanken viele der Araber in den vordersten Reihen nieder.
Erschreckt durch diesen unerwarteten Angriff wichen die Sklavenjäger zurück; doch Mohameds Zuruf brachte sie zum Stehen.
Da blitzte es hinter einem Felsen auf und der Scheich stürzte tot zu Boden: eine Kugel hatte ihm die Schläfe durchbohrt.
Zum zweitenmal krachte ein Schuß, und der Flaggenträger warf die Hände in die Luft; ein Blutstrom quoll aus seinem Munde, er war in den Hals getroffen und hauchte alsbald sein Leben aus.
Ein mutiger Kamerad bückte sich nach dem Banner; da zerschmetterte ihm ein Schuß das Rückgrat.
Wieder zwei Schüsse, und in Brust und Kopf getroffen sanken zwei Araber nieder.
Da packte die Sklavenjäger blasses Entsetzen! Fünf Schüsse waren gefallen und fünf Mann waren durch sie ums Leben gekommen, darunter ihr stolzer Anführer. Und dort lagen an die Zwanzig von Pfeilen und Assegais durchbohrt, teils tot, teils schwer verwundet.
Gegen Speere und Pfeile wären sie wohl vorgedrungen; aber Werdellas Büchse, die kein Ziel verfehlte, jagte vierhundert Mann in die Flucht: denn daß Werdella der unheimliche Schütze sei, der sich hinter den unzugänglichen Felsen verbarg, war ihnen klar; er allein war des Schießens kundig unter den Wilden dieses Landes.
Die Flüchtlinge rannten um den Felsvorsprung herum; der Weg machte einen weiten Bogen.
Werdella kletterte inzwischen über den Bergrücken und kam seinen Feinden zuvor. Als sie wieder um einen Felsen bogen, fielen nacheinander die drei Vordersten und versperrten den Weg; drei Schüsse — drei Leichen! Welch ein furchtbarer Gegner war dieser verachtete Negerhäuptling.
Und siehe! Dort sah man deutlich seinen Kopf, der sich grinsend über den Felsblock erhob, hinter welchem er sich gedeckt hatte.
Sofort feuerte alles nach dem verhaßten Ziel.
»Er ist gefallen!« brauste der Jubel, als der Kopf alsbald hinter dem Felsen verschwand.
Die Antwort kam in einem Rauchwölkchen, das neben dem Felsen erschien: ein Knall, und ein neues Opfer rollte auf den Boden.
Jetzt war kein Halten mehr! In atemlosem Lauf rannten die Entsetzten um ihr Leben; aber Werdellas Büchse traf noch mehrere von ihnen auf der Flucht.
Endlich waren sie alle hinter dem nächsten Vorsprung vor den unheimlichen Kugeln geborgen.
Aber — was war das? Ein Rollen und Donnern zu ihren Häupten! Felsen und Steinblöcke stürzten hernieder, alles zerschmetternd, was sie trafen; dazwischen flogen Lanzen und Pfeile aus der Höhe herab.
Der Rückweg war ihnen versperrt; hinter jedem Felsen lauerte ein schwarzer Feind. Vergebens schossen die Araber in Wut und Verzweiflung nach den unsichtbaren Gegnern; die Kugeln prallten ab am deckenden Gestein.
Schon rannten die Neger der Sklavenkarawane in wirrem Knäuel den steilen Abhang hinab, da das Weiterverfolgen des Weges ihnen sicheres Verderben schien. Nun folgten ihnen auch die mutigeren Araber über Geröll und Steine in der Hoffnung, auf diesem gefährlichen Wege die rettende Ebene zu erreichen.
Da plötzlich erhob sich ein gellendes Geschrei in den vordersten Reihen; ein zweihundert Meter tiefer, jäher Abgrund öffnete sich zu ihren Füßen und mehrere der flüchtenden Neger stürzten brüllend in die unheimliche Tiefe; sie hatten die Gefahr zu spät erkannt, um noch rechtzeitig ihren wilden Lauf hemmen zu können.
Jetzt war das Schicksal der Sklavenjäger besiegelt: heulend erschienen Hunderte von Schwarzen, aus ihrer Deckung hervorspringend; mit Steinen und Speeren bewaffnet rannten sie den Abhang hinab. Wohl fielen manche von ihnen unter den Schüssen ihrer verzweifelten Opfer; aber die Lage der letzteren war hoffnungslos. Am Fuße einer steilen Halde, am Rande eines furchtbaren Abgrundes, rings von nachdringenden Feinden umzingelt, wurden sie schon durch den reinen Druck der auf sie stürzenden Massen über den Rand der Klippe getrieben und zerschmetterten in der Tiefe.
Von mehr als vierhundert Mann entkam kaum ein halbes Dutzend derjenigen, die es gewagt hatten, auf dem Todesweg weiterzueilen, statt die verhängnisvollen Hänge hinabzuflüchten.
Das war das Schicksal derer, die kein Erbarmen gekannt hatten und ihre unglücklichen Mitmenschen grausamer behandelt hatten als reißende Tiere es selbst ihren Feinden gegenüber tun.
Unter den Toten, die im Abgrunde lagen oder den Weg bedeckten, befanden sich auch die fünf Fahnenflüchtigen, die sich durch die lockenden Verheißungen der Araber hatten verführen lassen, an ihrem schändlichen Vorhaben teilzunehmen.
In der Ebene irrten ein paar verstörte Gestalten umher, vier Schwarze und zwei Araber.
»Wie sagte der Mann, der zuletzt aus dem Lager der Weißen zu uns kam?« fragte der eine der Mohamedaner seinen Gefährten. »Wie lautete der Fluch, den der weiße Häuptling über sie und uns ausrief?«
»Maschallah! Ihre Gebeine werden die Geier zerhacken!« erwiderte der andere, sich vor Grauen schüttelnd.
»Maschallah! Seine Flüche haben Geltung beim Herrn des Himmels und der Erde: es erfüllt sich, was er gesprochen. Schnell, furchtbar schnell ist die Wirkung seiner Prophezeiungen; Allah bewahre uns vor seinem vernichtenden Zorn, die wir allein entronnen sind von mehr als vierhundert!«
Ehe sich noch das schreckliche Geschick der Sklavenjäger erfüllt hatte, waren unsere Freunde an das südliche Ende des Moerosees gelangt.
»Um unser Ziel mit Sicherheit zu erreichen,« sagte hier Lord Flitmore, »müssen wir dem bedeutendsten Gewässer folgen, das sich auf dieser Seite in den See ergießt.«
So zog denn die Karawane, auf des Engländers Wunsch, am stärksten südlichen Zufluß des Moerosees hin, immer weiter nach Süden.
Wie sich später herausstellte, war dieser Zufluß kein anderer als der Luapula, der den Bangweolosee mit dem Moero verband, so daß diese ganze Reise Lord Flitmores Behauptungen aufs glänzendste bestätigte.
Zunächst ging es durch eine Buschsteppe: sechzig Meter hoch und noch höher strebten hier dicke Fikusstämme kerzengerade empor, einen schroffen Gegensatz bildend zu den glanzblättrigen, niedrigen Bäumen, Dornsträuchern und Riesengräsern des dicht daran anschließenden Buschwalds.
Eintönig rief der helmköpfige Turako sein tiefes »Wau-Wau« von den Bäumen.
Elefantenspuren und Nashornfährten waren überall zu sehen und in der Parklandschaft zeigten sich Perlhühner in Menge.
Man nahte sich nun dem Gebiet eines äußerst selbstbewußten Häuptlings, dessen Gewalttätigkeit weit und breit gefürchtet war, und hier sollte Hendrik Rijn noch besondere Gelegenheit finden, seine Kenntnis des Negercharakters und sein diplomatisches Geschick im Umgang mit den Eingeborenen glänzen zu lassen, wie er es auf der Reise schon manchesmal getan hatte.
Einige Eingeborene warnten die Ankömmlinge dringend vor der Überschreitung der Grenze, denn der mächtige Fürst sei unerbittlich gegen alle, die ohne seine Erlaubnis sein Gebiet beträten. Die Erlaubnis zum Durchzug aber könne man nur mit hohem Hongo erkaufen.
Professor Schulze schlug vor, das Land des ungastlichen Tyrannen zu umgehen.
»Nein!« erwiderte Flitmore bestimmt. »Das würde unsere Reise um zwei Tage verlängern, und überdies würden wir unseren einzigen sicheren Wegweiser, den Fluß, aus den Augen verlieren.«
»Immerhin besser, als wenn wir's Leben verlieren! Der Negerhäuptling soll heimtückisch sein, und manche Karawane, die sich durch hohen Hongo freien Durchzug durch sein Reich erkaufte, metzelte er treubrüchig nieder, um ihre Schätze zu rauben.«
»Wir werden uns wehren!« meinte Flitmore. »Im Notfall verschanzen wir uns hinter starkstromgeladenen Drähten. Ich meinesteils wähle unbedingt den kürzesten Weg; denn Eile tut not. Wir haben schon allzuviel Zeit gebraucht seit unserm Aufbruch vom Tanganjika.«
»Wenn wir nur wüßten, warum wir so eilen sollen,« entgegnete Schulze etwas ärgerlich; »kommt uns etwa ein anderer bei unseren berühmten Entdeckungen zuvor? Und woher wollen Sie das so plötzlich erfahren haben? Etwa durch Ihre Telephonie ohne Draht? Da hätte John doch auch etwas davon vernommen. Übrigens sagten Sie ja selber, daß niemand außer Ihnen einen derartigen Apparat besitze, also auch niemand Ihnen eine derartige Mitteilung machen kann. Ja, wenn es einen Zweck hat, da setze ich auch mein Leben ein; das wissen Sie ja aus Erfahrung. Aber unser aller Dasein aufs Spiel setzen, nur um ein paar Tage bälder festzustellen, daß die achtundfünfzig Kupferbilder des Königs Hermes nicht bestehen, nee, dazu bin ich nicht zu haben!«
»Hören Sie,« sagte Flitmore ernst, »Sie, Herr Professor, haben vor kurzem mit Leusohn und Hendrik Ihr Leben gewagt, um mich aus der Gewalt der heimtückischen Zwerge zu befreien. Nun denn, auch jetzt handelt es sich um ein Menschenleben, das vielleicht gerettet werden kann, wenn wir zu rechter Zeit die Nilquellen erreichen, das vielleicht verloren ist, wenn wir um einen Tag später ankommen. Übrigens sollen Sie bei dieser Gelegenheit auch die achtundfünfzig kupfernen Bildsäulen bewundern, das verspreche ich Ihnen, wenn wir nur unser Ziel erreichen; denn ich weiß es nun gewiß, daß sie tatsächlich vorhanden sind, und zwar bis auf den heutigen Tag.«
»Da steht mir der Verstand still!« rief Schulze. »Was? Vor kurzer Zeit am Tanganjika wollten Sie noch gemütlich verweilen, Mylord, wußten noch nichts von einem gefährdeten Menschenleben, konnten von den Nilquellen nur so viel vermuten, als die Schriftbinden Ihrer Mumie vom Meroësee Ihnen vorfabelten? Und dann plötzlich Hals über Kopf fort; Sie wissen Geheimnisse von bedrängten Menschen, das Rätsel der Nilquelle ist Ihnen mit Gewißheit enthüllt! Stehen Sie mit Geistern in Verbindung?«
»Mag sein!« erwiderte Flitmore trocken. »Jedenfalls ziehe ich durch Tschitambos Reich, und wer Angst hat, mag sich außen herumdrücken.«
Damit war die Streitfrage entschieden, denn Angst wollte keiner der Weißen kennen.
»Jedenfalls werden wir suchen, den Herrscher günstig zu stimmen,« schlug Leusohn vor, »und seine Forderungen ohne Murren befriedigen, wenn sie noch so unverschämt sein sollten.«
Dagegen erhob jedoch Hendrik Einwände, indem er sagte: »Wenn Sie mir glauben wollen, so handeln wir gerade umgekehrt am besten. Man muß solche Tyrannen verblüffen; ich kenne das aus Erfahrung. Zeigen wir uns nachgiebig, so setzen wir uns erst den schlimmsten Gefahren aus; denn der Neger wird übermütig. Je frecher so ein Häuptling sich gebärdet, desto leichter läßt er sich durch energisches Auftreten imponieren, Nachgiebigkeit aber hält er für Furcht und Schwäche; dadurch gewinnt er dann Mut zur schamlosesten Ausbeutung und unter Umständen zu einem blutigen Angriff.«
»Meine Meinung ist,« nahm Flitmore das Wort, »Mister Hendrik hat so viel Erfahrung und Geschick im Umgang mit Schwarzen bewiesen, daß wir ihm die ganze Sache überlassen sollten.«
»Es sei!« lachte Schulze. »Also in Tschitambos Reich sollen Sie, Hendrik, der Führer der Expedition sein.«
Nach einigen bescheidenen Einwänden nahm Hendrik an, und gab dann den Befehl zum kühnen Einmarsch in das feindliche Gebiet.
Noch nicht weit waren unsere Freunde vorgedrungen, als ein stolzer Unterhäuptling mit mehreren Bewaffneten ihnen als Gesandter des Negerfürsten entgegenkam.
Hendrik fiel es nicht ein, abzuwarten, bis der wütend blickende Neger mit seinen Drohungen wegen der unerlaubten Grenzüberschreitung und mit der unvermeidlichen Hongoforderung begann; er ließ ihn gar nicht zu Worte kommen, sondern mit finsterer Stirn und grollenden Worten schrie er den Verdutzten an: »Wie kannst du es wagen, mit leeren Händen zu uns zu kommen? Weiß dein Herr nicht, daß er mir Hongo schuldig ist?«
Dieser völlig unerwartete Empfang brachte den Häuptling so aus der Fassung, daß er selber keine Worte fand, hilflos im Kreise umhersah und den Mund weit aufsperrte.
Zufrieden mit der Wirkung seiner kühnen Worte, fuhr Hendrik fort: »Gehe hin zu deinem Könige und sage ihm: So spricht der mächtige Häuptling der Weißen: willst du geschlagen werden, so komme und werde geschlagen. Willst du Frieden, so will ich auch Frieden. Darum eile und bringe deine Geschenke. Dieses ist meine Rede.«
Verwirrt und bestürzt hörte der Häuptling diese stolzen Worte und kehrte schnurstracks um, seinem Herrn Bericht zu erstatten und sich für diesen ganz unerhörten Fall Verhaltungsmaßregeln geben zu lassen.
»Ich bin starr über Ihre Frechheit,« sagte Schulze zu Hendrik, als die Schwarzen davoneilten. »Da haben Sie uns eine schöne Suppe eingebrockt! Das läßt sich der Tyrann unter keinen Umständen bieten; er wird uns sofort mit seinen Kriegern überfallen.«
»Warten Sie nur ab,« lachte Hendrik. »Inzwischen wollen wir uns hier lagern.«
»Tun wir das,« stimmte Flitmore bei. »Die mächtigen Felsblöcke, die hier aufeinandergetürmt sind, gewähren uns Schatten und Rückendeckung. Für alle Fälle können wir uns hier verschanzen. Ich stelle meine elektrischen Batterien auf, und wir ziehen Drähte um das Lager; sowie Gefahr droht, schicke ich einen starken Strom durch den Zaun, und wir decken uns hinter den Blöcken.«
»Wie Sie wollen,« meinte Hendrik. »Aber Sie werden sehen, es ist überflüssig; Tschitambo kriecht zu Kreuze.«
Die Vorbereitungen waren rasch getroffen und bereits vollendet, als nach etwa einer Stunde die Gesandtschaft des Häuptlings wieder erschien und zwei Ziegenböcke brachte.
Hendrik setzte nun eine höchlichst beleidigte Miene auf. »Ich glaubte, dein Herr sei ein Fürst,« fuhr er den zitternden Unterhäuptling an, »nun sehe ich aber, daß er ein Bettler ist; gehe, bringe ihm seine armseligen Böcklein wieder und sage ihm, von armen Leuten nehme ich kein Hongo.«
Zerknirscht zogen die Gesandten mit ihren Böcken wieder ab.
Wieder verging eine Stunde; da erschien ein langer Zug: der Fürst bemühte sich in Person von seinem Bergsitze herab, umgeben von Dienern und Weibern, mit großem Trommelschall und Beckengerassel. Zwei Stiere und ein Dutzend Schafe und Ziegen führte er mit sich und bat Hendrik, sie als Hongo anzunehmen.
Nun zeigte sich der junge Bure gnädig und ließ Gegengeschenke herbeiholen: einige Kinderpistolen, Messingarmbänder, Halsbänder von Glasperlen, eine Spieldose, ein paar grell bemalte Masken und einige Ellen Tuch nebst bunten Taschentüchern — alles in allem ein Schatz im Werte von wenigen Mark.
Der schlaue Negerfürst wollte nun seinerseits, wie es Sitte und Politik gebot, eine unzufriedene Miene aufsetzen, um womöglich noch mehr herauszuschlagen; allein seine entzückten Weiber brachen in einen solchen tollen Jubel aus bei dem Anblick der nie geschauten Herrlichkeiten, daß Tschitambo aus der Rolle fiel und es nicht mehr zuwege brachte, seine strahlende Freude zu verbergen. Die glänzenden Reichtümer und namentlich der große Zauber in der Spieldose überwältigten ihn.
Nun lagerte er sich bei seinen neuen Freunden und ließ Bananenbier herbeischaffen, einen wirklich köstlichen Trank. Die Stimmung wurde sehr lebendig, und der Fürst lernte, als die Deutschen ihm zutranken, das klassische Wort »Prosit!« aussprechen, dessen Gebrauch ihm viel Vergnügen machte.
Besonders neugierig schielte Tschitambo nach Helene und Sannah hinüber, die über den komischen Anblick des sich so anmaßend gebärdenden und schroffem Auftreten gegenüber doch so hilflosen Tyrannen zu Tränen gerührt waren, weil sie krampfhaft das Lachen verbissen, das bei einer solch feierlichen Gelegenheit unpassend erschien.
Als aber der Häuptling mit großartiger Armbewegung seinen Becher gegen sie erhob und ihnen sein neugelerntes »Broasit!« entgegenbrüllte, platzten beide heraus, worüber Tschitambo in solche Verlegenheit geriet, daß er ängstlich im Kreise umhersah, ob er nicht eine unbewußte Ungeschicklichkeit begangen und die »Weiber« der Weißen tödlich beleidigt habe. Aber er konnte keinen Groll in den Mienen Hendriks, Leusohns und Schulzes gewahren, die eine unerschütterliche Würde und Ruhe heuchelten, so daß sich der Häuptling wieder faßte.
Da kam Hamissi und klagte, es sei mit Pfeilen auf die friedlich kneipenden Träger geschossen worden.
Sofort stellte Hendrik den Häuptling zur Rede.
»O,« entschuldigte sich dieser grinsend, »das ist nur ein kleiner Scherz, den meine Leute gewöhnt sind, sich fremden Durchreisenden gegenüber zu erlauben.«
Hendrik bat nun Leusohn heimlich, er möchte mit einigen Askaris ausziehen und die launigen Schützen einfangen. Als Leusohn zurückkehrte und berichtete, es sei geschehen, gab Hendrik ihm weitere Verhaltungsmaßregeln und ersuchte darauf Lord Flitmore, einen schwachen elektrischen Strom durch die Drähte zu lassen.
Hierauf führte er Tschitambo mit seinen vornehmsten Negern hinter die Felsen. Da sah man die Schützen gefesselt stehen mit ausgestreckten Armen, die in diesem Zustande festgebunden waren an hinter den Schultern wagrecht laufenden Stecken. Die Gefangenen waren so gestellt, daß sie einander mit den Fingerspitzen beinahe berührten; sie standen vom Boden isoliert auf Kautschukplatten, nur der letzte stand auf dem Erdboden. Der erste aber hielt den Draht der Umzäunung in einer Hand, die an den Draht festgebunden war.
Nun wurde die elektrische Batterie in Tätigkeit gesetzt, und da es dämmerte, sah man blitzende elektrische Funken von einer Hand zur anderen überspringen. Die elektrisierten Bogenschützen heulten vor Entsetzen. Gefährlich war die Sache nicht und eine eigentliche Schmerzempfindung konnten sie bei der Schwäche des Stroms nicht haben; aber ein abergläubischer Schrecken überfiel diese Naturkinder, als sie ihrem eigenen Leibe leuchtendes Feuer entspringen sahen und das Überspringen der Funken gleich Nadelstichen fühlten.
»Was soll das sein?« stammelte Tschitambo. »Wie könnt ihr es wagen, meine Untertanen in meinem eigenen Lande so zu mißhandeln?«
»O,« erwiderte Hendrik, »das ist nur ein kleiner Scherz, den wir uns mit Leuten erlauben, die auf uns Pfeile schießen. Wenn sie dabei jemand treffen, haben wir noch ganz besondere Scherze im Gebrauch. Du siehst, o Häuptling, wir haben den Blitz in unserer Gewalt und lassen ihn durch diese Leute fahren; wenn wir stärkere Blitze benutzen wollten, so kämen sie ums Leben und müßten verbrennen; doch diesmal handelt es sich ja bloß um einen kleinen Spaß.«
Damit ließ er die geängsteten Neger los, und Tschitambo konnte sich überzeugen, daß sie keinerlei Schaden gelitten hatten.
Der Fürst erholte sich nur langsam von seinem Entsetzen; nun aber verlangte er mit dem großen Zauberer und Herrn des Blitzes ein Schauri abzuhalten.
»Schauri« wird in Ostafrika eine Verhandlung, eine Beratung oder Unterredung geheißen; in Westafrika nennt man das »Palaver« und in der europäischen Diplomatie »Konferenz«.
Das Pombe wurde vorläufig beiseite geschafft und nun setzten sich Tschitambo, sein Unterhäuptling und seine Würdenträger den weißen Männern gegenüber.
Tschitambo stellte verschiedene Fragen, aus denen nicht recht klar wurde, auf was er hinauswollte, und die deshalb von den Weißen ebenso diplomatisch unklar und zweideutig erwidert wurden.
Man kam auf diese Weise nicht vom Fleck und Schulze flüsterte Leusohn zu: »Das ist ja Blödsinn, geradezu schauerlich!«
»Daher der Name Schauri,« flüsterte der Doktor zurück, denn er liebte es, schauerliche Kalauer zu machen.
Endlich rückte Tschitambo mit dem eigentlichen Zweck des Schauris heraus: er habe die Macht und Weisheit seiner Brüder erkannt, und begehre ein festes und dauerndes Freundschaftsband mit ihnen zu knüpfen. Er wünschte daher mit dem großen Häuptling Hendrik Blutsbrüderschaft zu schließen.
»Nur mit wirklichen Königen schließe ich Blutsfreundschaft,« erwiderte Hendrik stolz; denn er hatte keine Lust, diese ihm wenig sympathische Feierlichkeit über sich ergehen zu lassen. »Aber hier mein Unterhäuptling Hassan soll dir an meiner Statt willfahren.«
Tschitambo begriff zwar nicht, warum er, der gewaltige Häuptling, in den Augen der Weißen kein »wirklicher König« sein sollte; doch ahnte er, daß es bei den Weißen Könige gebe, die ihn an Glanz und Macht überstrahlten, und so erklärte er sich mit Hendriks Anerbieten zufrieden.
Nun wurde ein Ziegenbock herbeigeschleppt, dem der Negerfürst auf die Stirne spuckte, unter gräßlichen Verwünschungen über die Fremden, falls sie ihm nicht treue Freundschaft hielten. Hierauf spuckte Hassan, unter womöglich noch stärkeren Verwünschungen für den Treubruch der Gegenpartei, auf die gleiche Stelle.
»Da geht es ja recht spuckhaft bei zu,« meinte Schulze, der sich halb krank lachen wollte.
»Ja,« pflichtete Leusohn bei, »solch eine Spuckgeschichte habe ich bis jetzt auch noch nicht erlebt!«
Dem Ziegenbock wurde nun der Kopf abgeschnitten, und aus der bespuckten Haut schälte man zwei Streifen los, die Hassan und Tschitambo um den Mittelfinger wickelten.
Nun folgten aufs neue die üblichen Verwünschungen: »Wenn du den Blutsbund nicht hältst, du und dein Herr und die Deinigen,« kreischte Tschitambo, »so sollen die Elefanten eure Felder zerstampfen und der Blitz eure Häupter treffen.«
Und Hassan brüllte noch viel lauter: »Und wenn du die Blutsfreundschaft brichst, du und deine Unterhäuptlinge und deine Leute, so sollen die Löwen deine Kinder holen und die Hyänen dir Nase und Ohren abbeißen, und der schwarze Geist von Mitternacht wird deine Seele stückweise aus deinem faulenden Leibe reißen und zu Brei zerstampfen wie die Weiber den Mais.«
Tschitambo standen die Haare zu Berge: der Unterhäuptling der Weißen war ihm in den Verwünschungen noch über!
»Wissen Sie, wie Hans Meyer bei einem ähnlichen Anlaß über den Aberglauben der Neger urteilt?« fragte Schulze den Doktor.
»Wie sollte ich?« lautete die Gegenfrage.
»Nun, er wundert sich, daß die Neger immer noch an solchem Wahne festhalten, obgleich sie sich doch jedesmal praktisch von seiner Wirkungslosigkeit überzeugen müßten. Dieser menschliche Zug aber, meint er, gehe durch alle Religionen; denn mit dem christlichen Gebet sei es nichts anderes.«
»Was? Mit dem Gebet?« rief Sannah empört. »Hat er wohl so viel Erfahrung auf diesem Gebiet, daß er ein solch völlig unzutreffendes Urteil wagen darf?«
Schulze mußte über den Eifer des Burenmädchens lächeln, würdigte ihn aber vollkommen, tastete man doch hiermit ihr Heiligstes an.
»Nein!« erwiderte er. »Erfahrung besitzt er hierin wohl gar keine, oder, wenn er auf Grund eigener Versuche mit dem Gebet urteilen sollte, so waren es jedenfalls ganz ungenügende Versuche und es geht ihm hiebei wie jenem Gelehrten, der glaubte ein Dasein Gottes leugnen zu können, weil er mit dem Fernrohr im ganzen Himmelsraum keinen Gott entdecken konnte; und dabei zeigt uns heute die photographische Platte, daß es sogar Welten im Raume gibt, die kein Fernglas uns zeigt.«
»Natürlich,« lachte Leusohn, der gerne Sannahs Partei nahm. »Mit solchen Schlüssen läßt sich alles leugnen; es ist fabelhaft, wie vernünftige Menschen überhaupt wagen, derartige Begründungen vorzubringen. Mit dem gleichen Recht kann man sagen: es gibt keinen Duft, weil man ihn nicht sehen kann, und es gibt keine Farbe, weil man sie nicht riechen kann.«
»Das ist gewiß!« sagte nun Hendrik. »Man macht seine Versuche mit ganz verkehrten und ungeeigneten Mitteln, und dann leugnet man den Erfolg, den andre auf dem richtigen Wege tatsächlich erzielten.«
»So wahr das auch ist,« begann nun Schulze wieder, »von Hans Meyer glaube ich nicht, daß er sein absprechendes Urteil auf solch schwachsinnige Trugschlüsse aufbaut. Er ist ein bedeutender, hochverdienter Gelehrter und ein äußerst liebenswürdiger Mensch; auch besitzt er den hervorragenden Verstand, der nicht an die Unfehlbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse glaubt. Vergessen wir nicht, daß die Religion dasjenige Gebiet ist, auf dem die meisten glauben, ein vollwichtiges, oft vernichtendes Urteil fällen zu dürfen, ohne irgendwelche eigene Erfahrungen darin gemacht zu haben. Andrerseits gestatten sich manche genau das Gleiche auf andern Gebieten, übrigens ist Hans Meyers Urteil in diesem Falle schon deshalb hinfällig, weil die Neger ja durchaus nicht die Erfahrung machen, daß die Zeremonie der Blutbundschließung wertlos ist; im Gegenteil ist sie von größter Wirksamkeit und der Bund wird unverbrüchlich gehalten.«
»Ich erinnere mich,« sagte Helene, »Lord Flitmore erzählte von einem Geographen Cooley, der das Vorkommen eines Gletschers in den Tropen für Wahn erklärte, obgleich mehrere einwandfreie Zeugen den Gletscher des Kilimandjaro mit eigenen Augen gesehen hatten. Das ist ja ein ganz ähnliches Vorgehen auf einem andern Gebiete.«
»Das erzählte ich in der Tat,« bestätigte der Engländer. »Und das Gleichnis stimmt: wer die Erfolge zu leugnen wagt, die richtige Beter erfahrungsgemäß mit dem christlichen Gebete erzielten, der tut auf religiösem Gebiete genau das Gleiche, was Cooley auf geographischem Gebiete tat: er erklärt die tatsächlichen Erfahrungen anderer für Wahn, ohne einen anderen Anhaltspunkt zu haben, als seinen eigenen Mangel an Erfahrung. Übrigens dürfen sich die Damen beruhigen, es gibt hervorragende Gelehrte genug, die auch über das christliche Gebet das richtige Urteil besitzen.«
»So äußerte zum Beispiel Emin Pascha gegen Stuhlmann,« schloß der Professor, »welche Beruhigung es ihm gewähre, im Gebet neue Kraft zu finden.«
Über diesen ernsten Gesprächen, die Dinge berührten, in welchen sich die anwesenden Weißen alle einig fühlten, hatten sie die weiteren Verwünschungen, mit denen Tschitambo und Hassan einander bange machten, überhört, was gerade kein Verlust war.
Die Blutsbrüderschaft war nun feierlich geschlossen und unsere Freunde hatten in des großen Tyrannen Gebiet nichts mehr zu befürchten.
An die Feierlichkeit des Blutbunds schloß sich erneutes Pombe-Trinken an und die Untertanen Tschitambos führten auf Befehl des Häuptlings den Weißen ihre kunstvollen Kriegs- und Friedenstänze vor.
So oft unsere Freunde derartige, übrigens in jedem Lande wieder ihre besondere Eigenartigkeit aufweisenden Tänze gesehen hatten, das reizvolle Schauspiel fesselte sie doch immer wieder. Besonders großartig waren die Waffentänze mit ihren Scheinangriffen und Lufthieben, mit angedeutetem Beil-, Keulen- und Messerfechten; sodann das Speerwerfen mit den vorgestreckten bemalten Schilden und das Pfeilschießen. Dabei zeigten die Krieger eine bewundernswürdige Muskelkraft und fabelhafte Gewandtheit in Seitensprüngen, Ducken, Niederwerfen, Schlangenwindungen und andern Bewegungen und Künsten, die mit unfehlbarer Sicherheit durchgeführt wurden.
Auf einmal entstand eine Unruhe unter den Schwarzen.
Als Hendrik nach der Ursache fragte, erfuhr er, es seien zwei Araber und vier Neger erschienen, die bei Tschitambo Schutz suchten.
Ein Unterhäuptling führte die Leute heran, die mit scheuen Blicken auf Lord Flitmore sahen.
Sie berichteten Tschitambo von ihrem Kampf mit Werdella und dem Untergang Mohamed Heris und seiner großen Karawane.
Mit Schaudern hörten alle den entsetzenerregenden Bericht mit an.
Zuletzt wies der Wortführer auf den Engländer und erzählte von der Prophezeiung, die der Lord ausgesprochen habe, und die so furchtbar in Erfüllung gegangen sei.
Dann wandte er sich an Flitmore und bat: »Herr, wende deinen Zorn von deinen Sklaven, die nie mehr einen Schwarzen zum Sklaven machen werden, sei uns gnädig, wie Allah dir gnädig ist!«
»Wo sind die Leute, die uns treulos geworden sind, um euch auf dem Wege des Verbrechens zu folgen?« fragte der Lord.
»Ein Fraß der Geier sind sie, die Geier zerhacken ihre Gebeine; denn wer konnte sie begraben?« erwiderte der Araber düster.
»Gott erbarme sich ihrer und lehre alle Menschen sich ihrer Brüder erbarmen,« sagte Flitmore ernst.
Ein Flüstern ging durch die Reihen der Träger und Askaris, sowie der Leute Tschitambos. Mit zitternder Ehrfurcht sahen sie den Lord an, der ihnen mit göttlichen Mächten im Bunde zu stehen schien.
Tschitambo aber fragte: »Befiehlt der weiße Häuptling, daß auch diese den Geiern zum Fraße gegeben werden?«
»Nein, nein!« sagte Flitmore. »Sie sollen leben und ihren Brüdern verkünden, wie schrecklich Allah die Menschenräuber richtet. Schütze sie vor ihren Verfolgern, das ist mein Wille.«
Der Häuptling versprach dies um so lieber, als er Werdella zu seinen Feinden zählte.
Als die Reisegesellschaft am nächsten Morgen weiterwanderte, sangen die Träger ein neues Lied, das etwa folgendermaßen lautete:
»Wir sind den Watongwe entgangen, ha, ha!
Antari wird keinen mehr fangen, he, he!
Tschitambo kriegt von uns nicht Perlen noch Tuch, hi, hi!
Und Bwana Keleles prophetischer Fluch
Hat Mohamed Hrei Verderben gebracht,
Wer läuft noch über zu ihm in der Nacht? Ho, ho!«
Dank der Freigebigkeit Tschitambos, die durch Hendriks weise Einschüchterungspolitik veranlaßt worden war, besaßen jetzt Schulze und Leusohn wieder Reitstiere und Uledi eine kleine Herde von Ziegen und Fettschwanzschafen, über die er sich königlich freute.
Eine der Ziegen jedoch hatte sich Hamissi angeschlossen und folgte ihm auf Schritt und Tritt. Ach! sie ahnte nicht, daß sie ihrem Todfeinde sich anvertraute, dem Koch und Ziegenmörder, dem schon einmal Uledis ganze Herde zum Opfer gefallen war.
Der Suaheli hatte übrigens eine Freude an dem anhänglichen Tier und empfand eine zärtliche Zuneigung für dasselbe, so daß er es schonte, bis alle andern geschlachtet waren.
Die Untertanen eines Häuptlings, der den üblichen Hongo erhielt, haben nach afrikanischen Sitten die Verpflichtung, die Reisenden, die diese Abgabe zahlten, zu schützen und ihnen jede Erleichterung des Durchzugs zu gewähren. Noch weit größer sind ihre Verpflichtungen, wenn ein Blutbund den Häuptling mit den Durchziehenden verbindet.
Die Blutsfreundschaft mit Tschitambo brachte daher unseren Freunden die größten Vorteile beim Durchmarsch durch sein ganzes Gebiet.
Sie hatten vom Häuptling einen Führer erhalten und gaben ihren gefesselten Führer frei, der sie so schlecht geführt hatte und nun gewiß einen besseren Weg nach seinem Dorfe zurück erfragte.
Durch den neuen Führer wurde überall kund, in welch enges Verhältnis die Weißen zum Fürsten des Landes getreten waren, und das ersparte ihnen nicht nur alle Feindseligkeiten, die ihnen in diesem verrufenen Lande sonst gedroht hätten, sondern es trug ihnen auch Lebensmittel in Hülle und Fülle ein, die den Freunden des Landesherrn unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden, und Uledis Herde wuchs rasch an.
Manchmal freilich drängten sich die Leute gar zu frech auf und gingen so weit, — aus lauter Freundschaft natürlich, — die merkwürdigen weißen Männer mit Händen zu betasten. In solchen Fällen wurde dann unversehens der Revolver gezogen und in die Luft abgefeuert, was jedesmal die Folge hatte, die Zudringlichen in wilde Flucht zu jagen.
»Ich weiß nicht, was das ist, Hendrik,« sagte Leusohn einstmals: »Schauen Sie doch einmal nach Uledis Herde. Mir ist, als ob seine Fettschwanzhämmel eine Art Geflügel sind und ihm nach und nach durch die Lüfte entfliegen; immer wieder höre ich so ein klägliches Geblök über mir.« Und wieder schaute er aus nach dem fliegenden Hammel, der ihm über seinem Haupte zu schweben schien.
Hendrik lachte: »Das ist ein Schreiadler, Herr Doktor; er schreit allerdings einem Schafe ganz täuschend ähnlich.«
»So, so! Das ist also das ganze Wunder der fliegenden Hämmel,« lachte nun auch Leusohn. »Es findet sich doch für jedes Rätsel eine ganz natürliche Erklärung.«
»Allerdings,« stimmte Flitmore bei, »denn das Natürliche selber ist rätselhaft und wunderbar, sobald es mit Verstand und nicht bloß oberflächlich betrachtet wird, und aus diesem Grunde finden Rätsel und Wunder ihre natürliche Erklärung, die freilich nur der großen Menge als Lösung des Rätsels und Auflösung des Wunders erscheint.«
Als die Grenze von Tschitambos Gebiet überschritten war und der Führer entlassen, bemächtigte sich des starken Juku eine gewaltige Aufregung, die mit jeder Wegstunde wuchs. Er trat zu Schulze.
»Bwana Bawessa,« sagte er mit ungewohntem Zittern in der Stimme: »Ich hier kennen das Land, erkennen die Berge, erkennen die Wälder; dort drüben über dem Fluß müssen sein mein Heimatdorf.«
»Wie? Bist du nicht ein Suaheli aus Sansibar?«
»Ich nicht sein in Sansibar geboren; ich hier geboren, aber als ich acht Jahre alt, Araber mich haben fortgeschleppt nach Sansibar und verkauft. Dort ich habe Pocken bekommen und mein Herr mich haben in Spital geschickt und freigelassen; so ich Träger und Askari geworden sein.«
»Warum kehrtest du nicht in deine Heimat zurück?«
»Ich nicht wissen den Weg und das Land, nur wissen, daß sehr weit, sehr weit; aber den Namen von meinem Dorf noch wissen und von meinem Vater und Mutter und großen Bruder, und noch sehen vor mir, wie sie ausgesehen. Und jetzt auch wieder kennen Berge und alles.«
»Das ist merkwürdig!« sagte Leusohn, der das Gespräch mit anhörte, kopfschüttelnd.
Als der Fluß erreicht war, sah man drüben ein Dorf. Die Einwohner, besonders stark gebaute Gestalten, standen am Ufer oder ruderten in Kanus auf dem Fluß.
Achmed rief hinüber, sie sollten ihre Kanus herüberführen und die Karawane übersetzen.
Die Antwort klang schroff und drohend: »Die Fremden sollen bleiben, wo sie sind, wir lassen keinen lebendig unsern Strand betreten!«
Die Leute hatten, wie sich später herausstellte, Grund zu ihrer scharfen Zurückweisung, hatten doch schon öfters hier Araber, die mit geheuchelten friedlichen Absichten eindrangen, Männer, Weiber und Kinder aus der Gegend als Sklaven mit sich fortgeschleppt.
Auf einmal schrie Juku einen etwa dreißigjährigen Burschen in einem Kanu an: »Baruti!«
Überrascht wandte sich der Ruderer dem Ufer zu: »Wie kannst du meinen Namen wissen?«
»Du bist mein Bruder.«
»Was ist das für eine Torheit!«
Juku nannte dem jungen Manne nun den Namen des Dorfes und seiner Eltern.
Sichtlich verblüfft ruderte Baruti näher heran.
»Wie kannst du mein Bruder sein?«
»Vor achtzehn Jahren haben mich die Araber geraubt.«
Nun zeigte Baruti ein aufmerksames Interesse für den, der ihn in seiner Muttersprache so fließend anredete und der so auffallende Tatsachen anzuführen wußte.
»Wenn du mein Bruder wirklich bist, so nenne mir etwas, was du von mir weißt.«
»Hinten an deinem rechten Bein hast du eine große Narbe; denkst du noch an das Krokodil?«
Da stieß Baruti einen Freudenschrei aus, seine letzten Zweifel waren geschwunden. Er rief den Leuten am Ufer seine Entdeckung zu und ruderte heran, seinen Bruder aufs zärtlichste zu begrüßen.
Zum ersten Male standen dem starken Juku Tränen in den Augen und auch Barutis Augen glänzten feucht.
»Diese Wilden haben doch ein Gemüt!« rief Leusohn gerührt.
»Haben Sie das jemals bezweifelt?« fragte Flitmore.
Nun ruderten auch die Leute des Dorfes herbei und freuten sich des Wiedersehens; Jukus Eltern freilich konnten an der Freude nicht teilnehmen, sie waren schon beide gestorben.
Bereitwillig führten nun die Eingeborenen die ganze Karawane über den Fluß und kamen ihr in jeder Weise entgegen, denn Jukus Zeugnis machte sie der friedlichen Absichten der Weißen gewiß.
Schulze stellte es Juku frei, ob er in seiner Heimat bleiben wolle oder ihm weiter folgen. Juku wählte ohne langes Besinnen das letztere; denn so sehr ihn das Wiedersehen des Heimatdorfes und des Bruders gefreut und so freundliche Aufnahme er bei allen gefunden hatte, er war nun doch nicht mehr so recht heimisch hier, nachdem er achtzehn Jahre an der Küste gelebt hatte.
Dem Lauf des Luapula folgend, den Flitmore für Kongo und Nil »in einer Person« erklärte, sahen unsere Freunde in der Ferne schon die gewaltigen Massen des Lokinga- oder Muchingagebirges gen Himmel ragen.
Im Schatten der Raphiapalmen wandelte es sich kühl; dann aber säumte ein gluterfüllter Dumpalmenhain das Ufer und nur die apfelgroßen hellbraunen Früchte dieser Palmen, deren faserig-holzige Kernhülle nach Johannisbrot schmeckt, söhnten einigermaßen aus mit diesem schattenarmen Wald.
In den Fächerwipfeln der Dumpalmen saßen Dutzende von Pavianen truppweise und schmausten mit gefüllten Backentaschen.
Der Palmenwald nahm ein Ende und eine grasige Steppe nahm die Karawane auf. Hier gab es überhaupt keine Früchte und Pflanzenkost mehr, so daß man ganz auf Fleischkost angewiesen war und Uledis Herde zu dessen größtem Bedauern nach und nach dem Schlachtmesser Hamissis verfiel.
Zuletzt mußte auch die treue Ziege daran glauben, die den Suahelikoch wie ein Hündlein begleitete. Es fiel ihm sehr schwer, das Tier zu opfern, aber der Wunsch, seine weißen Herren mit gutem Braten zu versorgen, ließ ihn alle andern Rücksichten beiseite setzen.
Die Träger, die, wenn es irgend möglich war, sich bloß von Pflanzenkost nährten und nur im Notfall Fleisch genossen, litten sehr unter der ausschließlichen Fleischkost.
Das hohe Gras, das morgens vom nächtlichen Tau oder Regen triefte, durchnäßte die Träger und die Weißen, deren Kleider oft bis auf die Haut durchtränkt waren, bis die höher steigende Sonne sie trocknete.
Da fror man denn empfindlich und verwünschte diese Feuchtigkeit der Gräser noch mehr als ihre Schärfe, die den Negern häufig Schnittwunden an den nackten Füßen und Beinen eintrug.
Die Nässe, verbunden mit dem Mangel an Pflanzennahrung, erzeugte zahlreiche Ruhranfälle.
Leusohn verfiel darauf, den Kranken Brennesselspinat verabreichen zu lassen, das einzige Gemüse, das die Steppe lieferte, und sie durften nur noch gekochtes Wasser trinken.
Durch diese einfachen Mittel heilte er sich selbst und alle andern Erkrankten in kürzester Zeit.
Aber viele der Leute begannen sich immer widerspenstiger zu zeigen, wobei die ihnen nicht zusagende Fleischernährung mitwirken mochte.
Eines Morgens warfen sich während des Marsches einige Träger ins Gras und erklärten, nicht mehr weiter zu gehen.
Da weder Versprechungen noch Drohungen, weder Überredung noch Vorstellungen etwas fruchteten, entschloß sich Schulze aus Mitleid mit den verblendeten Toren, die hier unbedingt verhungert wären, Hendriks Rat zu folgen und ihnen ein paar Peitschenhiebe verabreichen zu lassen, was sie denn auch bewog, aufzuspringen und ihre Lasten wieder aufzunehmen.
Auch die beiden Reitstiere zeigten aufrührerische Gelüste; der Nacht begannen sie einen so wilden Kampf, daß ihre Hörner aufeinanderkrachten. Brüllend und tobend stießen sie einander im Lager umher und rannten einige der Lagerhütten um, so daß die in ihrem Schlafe gestörten Insassen sich kaum retten konnten.
Mit Steinwürfen, Wassergüssen und Feuerbränden brachte man endlich die Wütenden auseinander.
Am andern Morgen schienen die Träger überhaupt nicht zum Aufbruch geneigt zu sein. Vergebens rief Schulze sein Kommando, vergebens rüttelte er die Ungehorsamen und redete auf sie ein; sie glotzten ihn dumm an, als ob sie kein Wort verstünden. Das war offenbar Verabredung.
Dem Doktor, der dabei stand, riß der Geduldsfaden, er packte die Peitsche, die der Knabe Uledi als Hirte in den Händen hielt, und bearbeitete damit einen baumlangen Träger, der schreiend um Gnade bat.
Und siehe da! Schon war das ganze Lager auf den Beinen und es konnte sofort abmarschiert werden.
Aber es sollte noch schlimmer kommen.
Selbst Hassan, der treue Somali, begann sich mürrisch und unbotmäßig zu zeigen.
Als Hamissi ihm Vorstellungen machte, gab es einen Streit. Im Verlauf desselben riß Hassan in sinnloser Wut sein Messer aus dem Gürtel und stieß zu.
Der Koch deckte noch rechtzeitig seine Brust mit dem Arm und erhielt einen tiefen Stich in diesen.
Hassan war zerknirscht, und als er nun eine Tracht Prügel empfing, die unumgänglich notwendig war, wenn sein böses Beispiel keine Nachahmung finden sollte, erklärte er: »O, Bwana Bawessa, es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich geschlagen werde; aber ich habe es verdient.«
Als Leusohn Hamissis Wunde verband, wunderte er sich über dessen Gelassenheit.
»Hast du keinen großen Groll gegen Hassan,« fragte er, »der dich so grundlos und heimtückisch gestochen hat?«
»O nein, Bwana!« entgegnete der Suaheli. »Siehe, dieser Arm hat das Messer geführt, um die Ziege zu treffen, die mir nachlief wie ein Kind; nun hat Hassans Messer diesen Arm getroffen, das ist ganz recht!«
Immer näher rückte das Lokingagebirge und immer unwilliger schritten die Askaris und Träger voran. Schon Tschitambo hatte mit allen Zeichen des Entsetzens seine warnende Stimme erhoben, den Bergen ja nicht zu nahe zu kommen, und überall wußten die Eingeborenen schreckliche Dinge zu erzählen von dem Verschwinden der kühnen Besteiger des Djebel el Gumr. Allerdings waren dies lauter alte Überlieferungen; denn seit Menschengedenken hatte es niemand mehr gewagt, das verderbliche Abenteuer zu bestehen.
Dies war der Hauptgrund, warum die Leute nicht weiter wollten, und nicht etwa die mangelhafte Verpflegung und sonstige Strapazen.
Weil nun aber niemand gern seine Feigheit eingesteht, machten es die Neger, wie es der zivilisierte Mensch in ähnlichen Fällen zu machen pflegt, sie suchten und fanden Gründe, die weniger schimpflich erschienen.
Den äußeren Anlaß gab ein kalter Regentag, der die tropische Hitze unliebsam unterbrach.
»Wir Askaris sind doch recht dumm,« hub einer an. »Warum lassen wir uns von den Weißen beschwatzen, weit fort zu wandern in fremde, böse Länder? Sowie nur der Fremde marschieren will, müssen wir gleich hinterdrein. Sind wir nicht wie die Affen? Sind wir nicht wie die Hunde, die allemal hinterdreintrotteln, sowie der Herr die Hütte verläßt? O, wenn wir doch zu Hause geblieben wären, so könnten wir trocken und warm sitzen und schwatzen, und die Weiber brächten uns Maisbrei, Fleisch, saure Milch und viel Pombe. Hier aber sitzen wir gerade so trocken wie mitten im Fluß und ich bin hungrig, und wo ist Pombe?«
Hassan erwiderte empört: »Höret, ihr Askaris, was ich euch sage. Ihr sprecht: wir sind Männer, wir sind Krieger; aber ihr habt nicht einmal so viel Mut wie im Somalilande die kleinen Jungen! Wißt ihr nicht, wie ihr gesagt habt: wir wollen mit dem weißen Mann ziehen, sein Fleisch essen, sein Geld verdienen und so viel Neues sehen, daß wir zu Hause ein Jahr lang davon erzählen können? Wenn ihr trocken sitzt und genug zu essen und zu trinken habt, dann brüllt ihr wie die Löwen; jetzt aber könnt ihr nur winseln wie die Hyänen. O, ihr seid armselige Menschen; eure Mütter gaben euch nicht genug Milch zu trinken.«
Hierauf erhob sich ein Sturm des Widerspruchs gegen den Somali, und die Askaris steigerten sich dabei so sehr hinein, daß sie erklärten, sie würden keinen Schritt weitergehen und sämtlich auszukneifen.
Dieser Erklärung schlossen sich auch die meisten Träger an.
Als Schulze durch Hassan erfuhr, daß die Askaris größtenteils beschlossen hätten, durchzubrennen, fragte er Hendrik, was da zu tun sei.
Hendrik gab den Rat, den Leuten vor allem die Gewehre abzunehmen, da sie ohne Waffe kaum einen Fluchtversuch durch Länder voller wilder Tiere und Menschen wagen würden.
Diese weise Maßregel wurde sofort befolgt, und die Schutztruppe machte lange Gesichter, als sie sich entwaffnet sah.
Hendrik versäumte nicht, während er sich die Gewehre ausliefern ließ, die Askaris zu verspotten, daß sie das Hasenpanier ergreifen wollten, und hatte den Erfolg, daß auch die Träger größtenteils in das Gelächter und den Hohn einstimmten, der sich nun von seiten der Treugebliebenen über die Fluchtsüchtigen ergoß.
Doch auch das hatte keine nachhaltige Wirkung.
Die meuterische Stimmung der Karawane blieb den Weißen ein Rätsel, bis endlich Hassan, scharf ins Gebet genommen, den wahren Grund angab, nämlich die unüberwindliche Furcht vor der Annäherung an das Lokingagebirge, den unheimlichen Geisterberg.
Schulze lachte, als er diese Erklärung hörte. »Also elender, kindischer Aberglaube!« rief er. »Na, wenn's weiter nichts ist, passen Sie einmal auf, Hendrik, wie ich den Sturm beschwören werde, den Leuten die Flausen ausrede und sie für unsre Sache begeistre.«
Er ließ die Träger und Askaris versammeln und hielt folgende großartige Ansprache an sie: »Steinkohlenfarbige Söhne der Wildnis,« hub er an, »Helden mit der nachtglänzenden Haut! In eurem muskelreichen Zellengewebe thront eine bildungsfähige Seele. Zu Großem ist sie berufen! Von Lobisa bis Uganda, von Urundi bis Sansibar, aber auch in den fernen Ländern der Weißen gegen Mitternacht wird man das Lob singen der furchtlosen Askaris und Träger, die mit uns bis zu den Kupferbergen vordrangen. Wunder werdet ihr schauen und eure Brüder am Mutansige werden sich auf ihren lockigen Kopf stellen, wenn ihr davon erzählet. Reis und Bananen werdet ihr erhalten in Fülle, und Pombe, euer geliebtes Hirsebier, soll in Strömen eure unersättlichen Kehlen hinabfließen gleich den Quellen des Nils, die wir entdecken werden. Perlen und viele Mikono sind euer Lohn, und wie Fürsten werdet ihr leben. Hanf, euern Leibknaster, den jedenfalls die Teufel in der Hölle zu rauchen verdammt sind, sollt ihr paffen, bis eure holden Angesichter so weiß sind wie die Milch eurer Ziegen; denn unsere eigenen Antlitze kann ich zum Vergleich nicht heranziehen, sintemal die Sonne eurer Heimat sie so braun geröstet hat wie Kaffee. Und nun frage ich euch, wollt ihr mit uns ziehen als weltberühmte Helden, oder seid ihr Weiber, die vor nicht vorhandenen Dämonen zittern und schnöde ihre Herren im Stich lassen?«
Hatte Schulze auf dieses Meisterwerk zündender Beredsamkeit den einstimmigen begeisterten Ruf erwartet: »Bis an das Ende der Welt ziehen wir mit unseren weißen Bwanas!« so täuschte er sich gewaltig. Auf diese stumpfen Gemüter machte seine rednerische Leistung nicht den geringsten Eindruck. Schwer enttäuscht und völlig geknickt mußte er vernehmen, daß die große Mehrzahl entschlossen blieb, keinen Schritt weiter zu marschieren, vielmehr umzukehren.
»Es hilft nichts, Professor,« sagte Hendrik, »so leid es mir selber tut, diese verblendeten Kinder zu züchtigen, die nicht aus Böswilligkeit, sondern aus abergläubischer Furcht den Gehorsam verweigern, es ist nicht länger zu umgehen: wir müssen ein abschreckendes Beispiel ausrichten und sämtliche Meuterer durchprügeln, bis sie ihre Meinung ändern.«
Schulze sah ein, daß hier nicht viel anderes zu machen sein werde und rief mit möglichst donnernder Stimme: »Wer mit uns gehen will, trete vor!«
Sofort traten Hamissi und Hassan, der seine Prügel schon weg hatte, vor, und zu des Professors freudiger Überraschung folgte nahezu die Hälfte der Schwarzen diesem mutigen Beispiel, unter ihnen auch Kaschwalla und Juku.
»Gut!« sagte Schulze. »Jeder von euch Getreuen schneide sich einen Stecken und haue die elenden Feiglinge durch, die ihre Herren verlassen wollen, um töricht in ihr eigenes Verderben zu rennen.«
Nie wurde ein Befehl so rasch und freudig ausgeführt wie dieser.
Nach zehn Minuten schon sausten die Stecken auf die Rücken der Empörer, deren Schmerzgeheul das Lager erfüllte.
Der Neger kennt nicht die stolze Ruhe des Indianers im Ertragen von körperlichen Schmerzen; er brüllt, wie ein Kind, schon vor dem Streich, und viel ärger, als es die tatsächliche Schmerzempfindung rechtfertigen könnte.
Schulze wunderte sich am meisten darüber, daß die Gezüchtigten dabei keinerlei Versuch machten, sich zu wehren, zu entfliehen oder auch nur den Streichen auszuweichen; sie schrien Zeter Mordio, aber sie hielten still, als ob es so sein müßte.
Nach einer Weile gebot der Professor, den Strafvollzug einzustellen und fragte mit erhobener Stimme: »Meine Kinder, wie denkt ihr jetzt über die Sache? Wollt ihr immer noch umkehren?«
»O nein, Bwana Msuri!« erscholl die mit freundlichem Grinsen gegebene Antwort. »Wir haben jetzt unsere Prügel, das genügt uns; wir wollen euch weiter folgen, so weit ihr geht.«
Also »Bwana Msuri«, das heißt »guter Herr«, nannten ihn jetzt diese großen Kinder, nachdem er sie hatte prügeln lassen.
Befriedigt entließ Schulze die Schwarzen und versammelte sich mit seinen Genossen und Gefährtinnen um das bescheidene Nachtessen.
»Ich muß gestehen,« sagte er zu Hendrik, »Sie verstehen sich auf Negererziehung, und ich glaube nun selber, ein paar kräftige Hiebe zur rechten Zeit können für diese merkwürdigen Charaktere der größte Segen sein.«
»Gewiß!« erwiderte Hendrik. »So töricht und grausam es ist, für die Neger nichts übrig zu haben, als Prügel, so muß man diese, wenn sie notwendig werden, unbedingt in Anwendung bringen. Die Leute haben einen außerordentlich feinen Sinn für Recht und Unrecht. Durch ungerechte Züchtigung und unnötige Gewalttat reizt man sie; verdiente Strafe aber empfinden sie als etwas Gerechtes und werden sie ihren Herren nie nachtragen; unterbleibt aber die fühlbare Strafe, wo sie am Platze wäre, dann werden die Schwarzen frech und unbotmäßig und es kann großes Unheil und Blutvergießen daraus entstehen; wollen Sie den Schwarzen nicht schlagen, so werden Sie ihn unter Umständen in der Notwehr niederschießen müssen. So kommen im Kapland Hunderte von Negern ins Zuchthaus und an den Galgen, weil eine dumme Gefühlsduselei die Prügelstrafe für diese Kinder abgeschafft hat. Der Bure huldigt dem Grundsatz: mäßige Züchtigung erspart dem Neger den Galgen.«
»Und was sagen Sie dazu, Fräulein Sannah?« wandte sich Leusohn an Hendriks Schwester.
»Ich kann nur bestätigen, was mein Bruder sagt; die Buren sagen: die Neger sind unsre Kinder, und wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es. Freilich, man muß sie dabei als Kinder lieben; denn sie grausam behandeln und ungerecht, wie so mancher weiße Wüterich es tut, das ist Niedertracht.«
»Das kommt vom Tropenkoller,« behauptete der Doktor.
»Was verstehen Sie unter Tropenkoller?« fragte Flitmore ernst.
»Nun, eine ausschließlich afrikanische Krankheit, die den Weißen zum grausamen Tyrannen macht, so feinfühlig und sanft er in Europa war.«
»Ausschließlich afrikanisch nennst du diese Krankheit, Otto?« wendete Helene ein. »Franz Pizarro hat, meine ich, in Amerika genau so gewütet, und zahllose andere Weiße auch. In Australien und anderwärts ging es um kein Haar besser.«
»Ich will Ihnen diesen sogenannten Tropenkoller erklären,« sagte Flitmore. »Hat es Sie nie Wunder genommen, daß noch kein Missionar je von der vermeintlichen Krankheit ergriffen wurde? Es ist eben keine Krankheit, sondern ein Mangel an sittlicher Selbstzucht.
»Jeder Mensch hat seine grausamen Triebe. Erziehung, Sitte und Gesetze halten diese bei uns in Europa in Schranken, und sie äußern sich höchstens darin, daß man mit wahrer Gier schauerliche und grausame Geschichten verschlingt, in den Zeitungen mit Vorliebe die Berichte über Unglücksfälle und Verbrechen liest, in Wachsfigurenkabinetten, kinematographischen Vorstellungen und dergleichen mit wollüstigem Schaudern das Gräßliche betrachtet, und wo ein gräßlicher Unfall eintrat, ein Brand oder ein Eisenbahnunglück zum Beispiel, in Scharen herzuströmt, um die Verheerungen neugierig zu besichtigen, und womöglich am Anblick entstellter Leichen oder verstümmelter Menschen sich ein wollüstiges Gruseln zu verschaffen.
»Fallen die Schranken der Ordnung, wie etwa bei der französischen Revolution, ja, da werden Weiber zu Hyänen, wie Ihr großer Schiller sagt. Ich sage Ihnen, die meisten Menschen wissen nicht, was in ihnen steckt und zu was sie fähig wären, wenn keine heilsamen Schranken sie im Zaum hielten. Mancher hält sich für den gutmütigsten Kerl der Welt, der keiner Mücke etwas zuleide tun könnte; geben Sie ihm aber die Freiheit, seinen Leidenschaften ungehinderten Lauf zu lassen, so entwickelt er sich bald zum grausamen Wüterich.«
»In der Tat,« bestätigte Schulze. »Nero war ein edler Jüngling; als er jedoch zu unumschränkter Herrschaft gelangte, gab er sich bald seinen blutdürstigen Trieben hin.«
»Es ist wahr,« meinte Leusohn, »es darf einen nicht Wunder nehmen, daß unumschränkte Gewalthaber so oft eine teuflische Grausamkeit entwickelten nur das ist zu verwundern, daß so viele, die die Macht der Willkür besaßen, sie nicht mißbrauchten und sich selber derart zu bändigen verstanden, daß sie wirklich edle Herrscher und Väter ihrer Untertanen wurden.«
»Ein Nero,« fuhr Flitmore fort, »war auch der bekannte Hauptmann Lothaire; als er den Kongostaat betrat, war er der sanftmütigste, liebenswürdigste Mensch der Welt, allmählich aber entwickelte er sich so schlimm, daß er die gräßlichen Schandtaten beging, die so großes Aufsehen erregten.
»Sehen Sie, hier in Afrika ist jeder Karawanenführer unumschränkter Herr seiner Leute und noch dazu aller Eingeborenen, denen er mit seiner Macht gewachsen ist; Sie können Ihren Askaris befehlen zu erschießen, zu hängen, zu rauben, zu morden, sie werden Ihnen gehorchen, Professor. Sie können auch jeden Askari oder Träger nach Belieben erschießen, hängen oder zu Tode prügeln lassen.
»Allerdings werden Sie dadurch noch mehr Fahnenflucht veranlassen und noch mehr Not mit Ihrer Karawane haben, als wenn Sie gerecht und milde sind; aber wirkliche Gefahr laufen Sie nicht; denn die Neger sind nicht rachsüchtig noch heimtückisch. Höchstens können Sie in der Heimat zur Rechenschaft gezogen werden, und das ist meist ziemlich ungefährlich. Und diese Macht ist es, dieses Gefühl der Freiheit von hindernden Gesetzen und der Unwahrscheinlichkeit, für Ausschreitungen bestraft werden zu können, die so vielen zu Kopfe steigen und ihre grausamen Triebe entfesseln.
»Mein eigener Landsmann Stanley, der ja, wenngleich Amerikaner, doch geborener Engländer ist, hat seine tyrannischen Gelüste in Afrika nicht zu zügeln gewußt. Er redet zwar in seinen Werken mit Vorliebe und vielen Worten von seiner eigenen Sanftmut, Milde und Lammesgeduld; aber nicht bloß erscheint er in ganz anderem Licht, wenn wir seine Ausführung nach den übereinstimmenden Berichten Casatis, Vita Hassans, Stuhlmanns, Peters und anderer lesen, sondern er selbst berichtet uns gelegentlich ganz harmlos von Ausschreitungen, die wahrhaft haarsträubend sind.«
»Stimmt!« bestätigte der Professor. »So erinnere ich mich, wie Stanley mit Hochgenuß einen Knüppelkampf schildert, den er zwischen einigen seiner Leute veranstaltete, weil sie Streit miteinander hatten, und wobei er mit Seelenruhe zusah, wie der Stärkere den Schwächeren einem um den anderen die Schädel spaltete. Waren die Träger erschöpft durch anstrengende Märsche im Sumpfland, so fand er, daß die Nilpferdpeitsche das beste Mittel sei, sie zum Weitermarschieren zu bewegen. Die Zusammenbrechenden ließ er einfach am Wege liegen, wo sie verhungerten oder den wilden Tieren zur Beute fielen. Die Kranken erklärte er allemal für Heuchler und ließ sie peitschen, bis sie sich aufrafften. Nicht einmal seinen weißen Begleiter Shaw auf seiner ersten Reise zur Auffindung Livingstones behandelte er besser.
»Während Stanley selber alle Augenblicke vom Fieber gepackt wurde und erzählt, er sei am Rande des Grabes gelegen, wobei dann natürlich gerastet werden mußte, bis er sich wieder wohl fühlte, erklärte er Shaw stets für einen Heuchler, wenn dieser sich erlaubte, ebenfalls fieberkrank zu sein; und als der arme Mann es wagte, sich über die schlechte Behandlung zu beklagen, die Stanley ihm und den andern zuteil werden ließ, streckte ihn der Wüterich einfach durch einen Faustschlag zu Boden und fragte: ›Ist es nötig, daß ich noch weitergehen muß, um Sie zu lehren?‹ Shaw starb schließlich an dem Fieber, das jedenfalls durch Stanleys Rücksichtslosigkeit sich so verschlimmert hatte. Bis zum letzten Augenblick aber erklärte Stanley seine Krankheit für erheuchelt, obgleich ihr tödlicher Ausgang ihm hätte sagen können, wie schwer er sich durch dieses Urteil blamiere und belaste. Nun wurde Stanley weich, soweit dies aus seiner letzten Bemerkung über den Verstorbenen geschlossen werden kann, die da lautet: ›Armer Shaw! Er war zwar ein schlechter Mensch, aber trotzdem dauert er mich sehr!‹ Hätte dieser ›schlechte Mensch‹, von dem übrigens Stanley auch nicht eine Schlechtigkeit zu berichten weiß, abgesehen von der angeblichen Erheuchelung des Krankseins, den rohen Herrn nur früher gedauert, so lange ihn gute Pflege noch hätte retten können!
»Wie Stanley völlig grundlos gegen die Eingeborenen wütete, dafür nur ein Beispiel: er erzählt uns ganz trocken, daß er kaltblütig die Dörfer der Eingeborenen anzündete, die ihm rein nichts zuleide getan hatten, nur um einem anderen Negerstamme zu beweisen, daß er nicht der Freund jener Leute sei!«
»Sehen Sie,« sagte Flitmore, »wenn Sie solche unwillkürliche Selbstbekenntnisse lesen, so wird es Sie nicht wundern, daß Stanley mit seiner großen Karawane so viele feindselige und angriffslustige Stämme fand, über die er sich bitter beklagt, während zum Beispiel Wißmann mit ganz wenigen Leuten die gleichen Gegenden völlig unangefochten durchreiste. Natürlich berichtet uns der edle Henry Morton nicht, durch welche Greueltaten er die Leute zur Notwehr reizte.«
»Ja, Wißmann!« sagte Schulze mit Wärme. »Das ist der Mann, von dem Bismarck gesagt hat: ›Der hat zweimal Afrika durchquert und niemals eine Dummheit gemacht, und ist mit fleckenlos weißer Weste zurückgekommen.‹ Übrigens hat Samuel Baker sich in ähnlich roher Weise aufgeführt wie Stanley.«
Noch eine Weile lauschten die Weißen den lustigen Stegreifgesängen der Neger, die stets unterhaltend und belehrend waren; heute witzelten sie besonders mit gutem Humor über die Fluchtgelüste und deren rasche Beseitigung durch die brühheiße Prügelsuppe.
Die Leute, einschließlich der Geprügelten, ja besonders diese letzteren, schienen heute so gut aufgelegt, wie schon lange nicht mehr.
Endlich zogen sich die Weißen in ihre Zelte zurück.
Mitten in der Nacht erwachte Schulze. Mit Verwunderung vernahm er Geplauder hart vor seinem Zelt.
Da saßen drei Träger und zwei Askaris, alle fünf solche, die heute abgestraft worden waren.
»Was tut ihr hier?« herrschte sie der Professor an.
»O, Bwana Msuri,« lautete die Antwort, »der Askari Selim hat gedroht, er wolle sich für die Prügel an dir rächen, da haben wir beschlossen, eine Wache vor dein Zelt zu setzen heute nacht; morgen hat er es gewiß vergessen.«
Ganz gerührt über diesen Beweis treuer Anhänglichkeit legte sich Schulze wieder.
Das waren also die Leute, die heute auf seinen Befehl geprügelt worden waren!
Selim hatte seine Drohung auch nicht ernst gemeint, er war bloß ein Prahler und zeigte sich seither stets zahm.
Als, wie gewöhnlich, über die heißeste Zeit Mittagsrast gehalten wurde, wollten Schulze und Hendrik den Versuch machen, eine Giraffe zu beschleichen, da sich heute mehrere der schönen Tiere in der Ferne blicken ließen.
Leusohn, der von seiner Ruhr noch nicht völlig wiederhergestellt war, blieb im Lager, während Flitmore sich den Jägern anschloß.
Johann natürlich begleitete den Lord: Herr und Diener waren schier unzertrennlich, und es war stets ein erfreuliches Bild, zu sehen, wie der Engländer seinen deutschen Diener schätzte und beinahe kameradschaftlich behandelte, während dieser dadurch niemals zu unziemlicher Vertraulichkeit sich verführen ließ, sondern stets mit bewundernder Verehrung zu seinem Herrn emporblickte.
Da es galt, wenn es gelingen sollte, sich einem der vorsichtigen und scheuen Tiere zu nähern, demselben möglichst alle Wege zur Flucht zu verstellen, wurden auch Hassan und Juku mitgenommen.
Hassan ging hinter dem Professor her, und Schulze mußte denken, daß er kaum so sorglos einen Weißen, den er zum erstenmal in dessen Leben hätte prügeln lassen, mit geladenem Gewehr in seinem Rücken geduldet hätte, zumal die Freunde sich bald trennten und er, von Hassan gefolgt, allein dem nahen Wäldchen zuschritt.
Die Giraffen sehen und hören ausgezeichnet, und da sie, vermöge ihrer hohen Gestalt, ein weites Gebiet zu überschauen vermögen, ist es sehr schwierig, sie anzuschleichen. Aber auch die Jagd zu Pferd ist äußerst anstrengend und selten erfolgreich und nimmt in jedem Fall viel Zeit in Anspruch; denn kaum ein anderes Wild ist so schnell und so unermüdlich wie die schlanke Giraffe.
In einer Gegend jedoch, wo die Giraffe noch nicht gejagt wird und die Tiere daher keine Scheu vor den Menschen haben, ist die Jagd umgekehrt die denkbar leichteste, und es können viele Schüsse abgefeuert werden, ehe eine Herde dieser schönen Tiere daran denkt, zu flüchten.
Unsere Freunde konnten zwar annehmen, daß noch keine weißen Jäger diese Jagdgründe betreten hatten; doch gebrauchten sie für alle Fälle jede mögliche Vorsicht.
Mit dem Fernrohr hatte Flitmore drei Giraffen erblickt, die am Waldsaum junge Zweige abweideten.
Schulze sollte sich nun mit Hassan in den Wald begeben und bis zu der betreffenden Stelle vordringen. Er hatte den kürzesten Weg, aber auch den beschwerlichsten, da es galt, das Gestrüpp zu durchbrechen und in der Nähe der Giraffen jedes Geräusch zu vermeiden.
Die übrigen Jäger gingen im hohen Grase gedeckt vorwärts; Flitmore und Johann stellten sich vor den Giraffen auf, Hendrik und Juku umgingen sie in großem Bogen, worauf alle vier in gleichmäßigen Abständen bis auf Schußweite dem Wilde sich näherten, das dann an seinen Feinden vorbei mußte, nach welcher Seite es auch den Durchbruch versuchen mochte.
Noch hatten Hendrik und Juku ihre Posten nicht erreicht, als plötzlich die Giraffen zu erschrecken schienen und mit flüchtigen Sätzen davon eilten, und zwar just auf dem Wege, der ihnen allein noch offen stand.
Trotz der großen Entfernung schoß Hendrik auf das größte der Tiere, das nahezu sechs Meter hoch war, und, siehe da! er traf es in den Hals.
Der Schuß saß gut und das Tier mußte verbluten; ein Meisterschuß in Anbetracht der Entfernung und des flüchtigen Laufes, in dem die Tiere davongaloppierten.
Vorerst jagte die getroffene Giraffe noch weiter, und Hendrik hatte keine Zeit zu beobachten, ob und wo sie stürze; denn nun sollte er sehen, was es war, das die Tiere in solchen Schrecken versetzt hatte.
Aus dem Wäldchen brach nämlich ein massiges, zweigehörntes Nashorn hervor.
Schulze und Hassan hatten den Koloß sehr gegen ihren Willen aufgestört, und letzterer sandte ihm noch einen Schuß nach, der jedoch das Tier nur unbedeutend verletzte.
Es stürmte gerade zwischen Johann und Flitmore durch, und der Lord konnte ihm aus nächster Nähe eine schlimme Wunde im Kopfe beibringen, die jedoch den Lauf des rasenden Tieres nicht hemmte.
Nun setzten sich sämtliche sechs Jäger in scharfen Trab, um dem Dickhäuter zu folgen, der geradewegs dem Lager zustürzte.
Durch Schüsse und Rufe machten die Nachsetzenden die Lagernden auf die nahende Gefahr aufmerksam. Ein ungeheurer Aufruhr entstand unter den Schwarzen, als sie den furchtbaren Feind auf sich zukommen sahen; nach allen Seiten stoben sie auseinander.
Leusohn und die Mädchen ergriffen wenigstens ihre Flinten, ehe auch sie aus der Bahn des Rhinozerosses wichen.
Dieses schien ganz von Sinnen; statt seine Flucht fortzusetzen, wütete es im Lager umher, rannte die Zelte um, zertrat sie und zerriß sie mit dem scharfen Horn, spießte einen Ballen auf und warf ihn in die Luft und rannte schließlich den flüchtenden Schwarzen nach.
Der schwerfällige Kaschwalla, der wieder allzusehr dem Pombekruge zugesprochen hatte, war weit hinter den andern zurück; nur sein treues Weib Sangula hielt sich an seiner Seite. Nun schnaubte das Nashorn dicht hinter den beiden, den Kopf zur Erde gebeugt, um im nächsten Augenblick den unglücklichen Baba Pombe auf seine furchtbaren Hörner zu laden und ihn durchbohrt in die Luft zu schleudern.
Aber Sangula war nicht gewillt, das Leben ihres Gatten dem Ungetüm preiszugeben.
Die Flucht wäre ihr leicht geworden, wenn sie Kaschwalla seinem Schicksal überlassen hätte, aber sie zeigte sich bereit, ihr eigenes Leben für seines hinzugeben; sie packte mit raschem und festem Griffe das vordere Horn des Nashorns, das schon den Rücken Kaschwallas berührte, und umklammerte es mit beiden Händen, ein verzweifeltes Hilfsmittel, das namentlich dem Büffel gegenüber in der höchsten Gefahr häufig angewendet wird.
Wütend schleuderte der Dickhäuter den häßlichen Kopf in die Höhe, vermochte aber Sangula nicht gleich abzuschütteln, obgleich sie unsanft in der Luft geschwenkt wurde.
Ein zweiter gewaltiger Ruck jedoch ließ ihre Hände vom Horn abgleiten und sie fiel zu Boden, dem Nashorn vor die Füße.
Nun traf sie alsbald das scharfe Horn und schleuderte sie hoch empor.
Flitmore, der als Engländer in körperlichen Übungen Meister war, überdies von vornherein vor Hendrik, Hassan und Juku einen Vorsprung hatte, — Schulze kam als Schnelläufer nicht in Betracht — war der erste, der von hinten her in Schußweite an das Tier herankam. Leusohn nahte zwar auch mit Sannah und Helene, war aber noch nicht so weit herangekommen; denn das Rhinozeros war gerade in entgegengesetzter Richtung davongestürmt, als die war, in der die drei ihm ausgewichen waren.
Der Lord sah, wie Sangula emporgeschleudert wurde und zögerte keinen Augenblick, einen Schuß abzugeben. Auch dieser Schuß saß und hatte wenigstens die Wirkung, daß das rasende Nashorn stutzte und das blutende Weib zunächst liegen ließ.
Flitmore war sofort, nachdem er gefeuert, noch ein paar Schritte vorgesprungen und schoß dann zum zweitenmal. Diesmal war die Kugel tödlich und das Tier stürzte augenblicklich zu Boden: die Kugel saß im Gehirn.
Nun war auch Leusohn zur Stelle und untersuchte kopfschüttelnd Sangulas Rückenwunde.
»Da ist nichts zu machen,« erklärte er.
Helene riß sofort einen Streifen ihres Kleides ab, mit dem die Wunde vorläufig verstopft und verbunden werden konnte, damit der Gefahr einer Verblutung wenn möglich vorgebeugt würde, bis Sannah die antiseptischen Mittel und das Verbandzeug herbeibrächte. Doch gab der Doktor keinerlei Hoffnung auf Erhaltung von Sangulas Leben; zu furchtbar war die Wunde. Das ganze Trauerspiel hatte sich in wenigen Sekunden abgespielt.
Kaschwalla in seiner Trunkenheit und Todesangst hatte das Beginnen seines Weibes gar nicht bemerkt, bis er nach einigen weiteren Schritten sich umblickte, weil er sie nicht mehr an seiner Seite sah. Da lag sie aber schon blutend am Boden.
Nun stürzte er zurück, — in sein sicheres Verderben, wenn nicht Flitmores Schüsse der Gefahr rechtzeitig ein Ende gemacht hätten.
Da stand er jetzt und jammerte, und Uledi, der inzwischen auch herbeigeeilt war, warf sich klagend über seine arme Mutter.
Sangula liebkoste ihn; dann streckte sie noch einmal ihre Arme nach Kaschwalla aus und umarmte zärtlich den sich Niederbeugenden, lächelte ihn zum letzten Male an und starb.
Kaschwalla gebärdete sich ganz verzweifelt, und teilnahmsvoll sprachen ihm seine schwarzen Kameraden Trost zu; er aber jammerte an einem fort: »O, ich schlechter Mensch! Weil ich so viel Pombe trinken, Sangula tot sein! Kaschwalla nie mehr Pombe trinken! O, Sangula, Sangula!«
»Und da gibt es Afrikareisende, die behaupten, dem Neger sei die Liebe fremd!« rief Flitmore aus, als die Weißen zum Lager zurückkehrten.
»So sagt zum Beispiel Stanley von schönen Negerinnen,« fügte Schulze hinzu: »›Die dunkeln Augen, welche nie das blendende Liebeslicht ausstrahlen, das die armen Menschenkinder erst schön macht.‹ Und dabei muß er selber rührende Beispiele von der Gattenliebe der Negerinnen berichten. Ebenso urteilt Hans Meyer: Was wir Europäer unter Liebe verstehen, sei den Wadschagga fremd. Er hat da freilich bloß einen Volksstamm im Auge, aber ich bin überzeugt, er urteilt nur so, weil er ihn nicht genügend kennen lernte.«
»Man lernt sogar seine Rassengenossen nicht so rasch kennen,« sagte Leusohn. »Gar zu schnell glauben die Reisenden, den Charakter eines fremden Volkes ergründet zu haben und beurteilen zu können, und schießen meist gründlich daneben. So erinnere ich mich, daß Hans Parlow schreibt, er habe vor zwölf Jahren einige Bücher über Spanien und die Spanier geschrieben, als Frucht eines mehr denn vierjährigen Aufenthalts in diesem Lande, müsse aber vor deren Ankauf warnen, weil er nach weiterem zwölfjährigen Aufenthalt in Spanien erkannt habe, daß genau das Gegenteil von dem wahr sei, was er damals in völliger Verkennung des tatsächlichen Charakters der Spanier geschrieben habe.«
»Ja, das vorschnelle Urteil!« seufzte Schulze. »So reist zum Beispiel ein Professor Küttner einige Wochen in China herum und schreibt dann über die chinesische Mauer, sie sei ein ebenso großartiges wie zweckloses Gebild von Menschenhand. Na, der muß das auf den ersten Blick erkennen, ohne eine Ahnung der Geschichte des chinesischen Reiches zu besitzen! Denn, ich bitte Sie, wann hat je ein Menschenwerk seinen Zweck großartiger erfüllt als diese Mauer; ohne sie hätte dies mächtige Reich niemals so lange unberührt bestehen und seine uralte Kultur retten können.«
»Genau so,« begann der Doktor wieder, »haben naive und unkundige Kritiker Georg Ebers ägyptische Romane bespöttelt, weil er da moderne Menschen in altertümlichen Gewandungen male. Wenn solche Weise nur einmal die Odyssee oder die Bibel oder die indische Mahabharatta mit offenen Augen lesen würden, sie müßten zugeben, daß die Menschen überall und zu allen Zeiten sich gleich bleiben, was ihre Empfindungen, Gefühle und Charaktereigenschaften anbetrifft. Auch was Aristophanes, Horaz, Lucian und andere unter den Alten uns schildern, mutet uns ganz modern an.«
»Sie haben recht,« sagte Flitmore; »die Menschen sind überall gleich. So urteilen auch Afrikakenner, wie Ihr Ernst Vohsen, der nach zehnjährigem Aufenthalt in Afrika die Überzeugung gewann, daß der Neger sich vom Europäer im wesentlichen nur durch die Farbe unterscheide.«
»Ähnliches sagen Stuhlmann, Stanley, Casati und andere,« begann Schulze wieder. »Und wir müssen nach unsern eigenen Erfahrungen gestehen, daß nur ein unwissender und aufgeblasener Mensch auf die Neger als eine minderwertige Rasse herabsehen kann. Alle Afrikakenner, die durch liebevolles Studium wirkliche Kenner wurden, sprechen mit einer gewissen Zärtlichkeit, ja Bewunderung von den Schwarzen.«
»Man braucht nur zu sehen, was unsere Träger leisten,« meinte Hendrik. »Wir finden bei ihnen nicht bloß Arbeitskraft, Tüchtigkeit, Leistungsfähigkeit und Ausdauer, sondern auch Arbeitslust.«
»Und manche sind wahre Helden an Mut,« sagte Sannah.
»Und wie gutmütig sie sind,« fügte Helene hinzu; »opferwillig und hilfsbereit.«
»Und vor allem, sie klagen nicht,« rühmte der Professor wieder. »Nicht bei der angestrengtesten Arbeit, nicht wenn sie am Verhungern sind, nicht wenn man ihren Übermut gezüchtigt hat; nein, sie sind bereit, ihr Leben für ihre weißen Herren zu opfern, wie Stanley zum Beispiel erfuhr, der der beste Herr nicht war. Aber sie sagten ihm: wenn wir sterben, macht es nichts, es ist wichtiger, daß du am Leben bleibst als wir.«
»Und wer zu bezweifeln wagt, daß sie lieben können, so gut wie irgend ein Europäer,« eiferte wieder Helene, »der soll nur einmal die Lebensgeschichte des Negerkönigs Zamba von Gottlob Barth lesen.«
»Oder,« lachte Schulze, »soll er zusehen, wie die Weiber aus Liebe zu ihren Gatten sich jahre-, ja jahrzehntelang der schmerzhaften Prozedur der Tätowierung unterziehen, lächelnd und ohne ein Wort der Klage.«
»Wenn wir so fortmachen,« meinte Leusohn, »so machen wir aus den Schwarzen noch die reinsten Engel, gespickt mit Tugenden und ohne Fehler.«
»Ihre Fehler,« sagte Flitmore, »kennen wir ja alle zur Genüge; aber wir wollen bekennen, sie wiegen nicht schwerer als die unsrigen, während ihre Vorzüge uns wohl beschämen dürfen.«
Die von Hendrik erlegte Giraffe war von einigen Trägern herbeigeschafft worden; aber nicht ihr dem Kalbfleisch vergleichbares zartes Fleisch und nicht einmal die köstliche Zunge wollten heute unseren Freunden recht munden: Sangulas Opfertod ging ihnen doch gar zu nahe.
Karte zu Kapitel 41.-45.
Der Luapula wurde bis zum Bangweolosee verfolgt.
Dieser See lief im Süden in gewaltige Papyrussümpfe aus, die eine Fläche von zehntausend Quadratkilometern bedecken.
Hier lernten unsere Freunde das merkwürdige Sumpfvolk der Batua oder Watua kennen. Ihre bienenkorbartig zusammengedrängten Hütten ruhten auf Schilfbündeln, die auf dem Moraste schwankten. Die zwei Meter hohen kleinen Wohnungen hatten kaum achtzig Zentimeter hohe Türöffnungen, vor denen Männer und Frauen auf schön geflochtenen Grasmatten hockten, während die Kinder wie große Kröten im Sumpfe herumkrabbelten.
Die Batua lebten von der Jagd und dem Fischfang und hatten mit den Riesenschlangen, die im Moraste hausen, auf Leben und Tod zu kämpfen. Vergiftete Pfeile, mit haarscharfen Widerhaken versehen, Harpunen und lange Wurfspieße waren ihre Waffen. Die Frauen trugen Tierfelle als Mäntel, die Männer Schurzfelle. Diese Kleidungsstücke waren mit außerordentlich schönen und kunstvollen Verzierungen geschmückt. Auch Tontöpfe, Löffel und Näpfe verstanden die Leute anzufertigen aus Muschelschalen, Schildkröten und Kürbissen.
Prächtige Seerosen, in allen erdenklichen Farben schimmernd, verwandelten die Papyrussümpfe in märchenschöne Gärten.
Auch musikalisch waren die Batuas; sie besaßen Musikinstrumente mit Saiten aus gedrehtem Gras und hohe, schmale Holztrommeln, zu deren eintönigem Gebrumm sie merkwürdige Tänze auf dem schaukelnden Moorboden aufführten.
Doch Flitmore hatte Eile und hielt sich bei dem interessanten Volke nicht länger auf, vielmehr verfolgte er den stärksten Zufluß des Bangweolosees quellaufwärts nach Süden.
Dieser Fluß entströmte dem nun ganz nahen Lokingagebirge.
Am Fuße des Gebirges wurde das Lager aufgeschlagen und ein Aufenthalt von mehreren Tagen in Aussicht genommen, während welchem die Quellen des Flußes, den Flitmore für den südlichsten Quellfluß des Nils hielt, aufgesucht werden sollten.
Die Neger errichteten wie gewöhnlich ihre Fundos, das heißt ihre Lagerhütten aus Ästen, Zweigen und Laub,« nur daß sie dieselben, angesichts des längeren Aufenthalts, sorgfältiger und haltbarer herstellten.
Auch für die Weißen mußten Fundos gebaut werden; denn die Zelte waren nicht mehr zu brauchen. Schon zuvor stark mitgenommen von der Reise im Regen und Sonnenschein, waren sie durch das wütende Nashorn vollends zugrunde gerichtet worden.
»Wollten wir den Mund so voll nehmen, wie Stanley,« sagte Flitmore, auf das Gebirge weisend, »so könnten auch wir, und vielleicht mit mehr Recht, als er, sagen, daß hier ›zum ersten Male, seitdem die Sintflut verschwand, die Meere sich sammelten und die Erde trockenes Land wurde, den Blicken und der Kenntnis des zivilisierten Menschen sich eine durchaus unbekannte Gegend eröffnete‹. Aber halten wir Freund Stanley seine Unkenntnis zu gut, die ihn zu der Behauptung verführen konnte, der erste sich für zivilisiert haltende Mensch zu sein, der unbekannte Länderstriche entdeckte, und seien wir weniger anmaßend.«
»Immerhin glaube ich versichern zu dürfen, daß wir alte Wunder wiederentdecken werden, von denen nur noch dunkle Sagen auf uns gekommen sind, die allgemein für Fabeln gehalten werden. Aber nicht solche Entdeckungen sind unsere wichtigste Aufgabe, sondern ein Rettungswerk; gebe Gott, daß wir nicht zu spät kommen und lasse er es uns gelingen!«
Nach diesen Worten nahm Flitmore Hendrik Rijn beiseite, um sich mit ihm über einen Gegenstand zu besprechen, der ihm besonders am Herzen liege.
»Hören Sie, junger Freund,« begann er, »als ich seinerzeit Gelegenheit hatte, Ihre Farm vor den Tommies zu schützen, waren außer Ihnen und Ihrer Mutter noch fünf Schwestern von Ihnen anwesend. Nun sagte Ihr Vater, außer Sannah seien alle im Konzentrationslager zugrunde gegangen. Ist das sicher?«
»Als meine arme Mutter und meine Schwestern in das Konzentrationslager geschleppt wurden,« entgegnete Hendrik düster, »gelang es mir, mit Sannah zu entfliehen. Wir begaben uns zu Vater an die Front; ich kämpfte mit, und Sannah begleitete uns auf allen Kreuz- und Querzügen. Als wir endlich nach dem Friedensschluß nach der Mutter und den Schwestern forschten, erfuhren wir nur, daß keine mehr am Leben sei. Wir besuchten ihr Grab, das sie mit vielen anderen teilten, ehe wir auswanderten.«
»Einzelheiten erfuhren Sie nicht?«
»Wenig. Hunger und Krankheiten, die so schrecklich in den Lagern wüteten, rafften die Meinigen hinweg, wie so viele Tausende anderer —.«
»Merkwürdig!« murmelte der Lord. »Höchst merkwürdig und sehr traurig! Ach, wenn ich an die blühenden Mädchen denke!«
Damit endete dieses Gespräch.
In der Morgenfrühe des folgenden Tages wollten die Weißen gemeinsam ihre Entdeckungsfahrt antreten.
Vergebens ließen ihnen die Schwarzen durch eine Abordnung, bestehend aus Achmed, Hassan, Kaschwalla und Juku, vorstellen, wie gefährlich ihr Unternehmen sei. Achmed, der Hauptsprecher, sagte unter anderem: »Unsere Väter haben uns gräßliche Dinge erzählt von diesem Berge Gumr; noch keiner, der ihn bestiegen hat, ist je zurückgekehrt; der Mondsee hat alle verschlungen. Von Djinns und bösen Geistern sind die Mondberge bewohnt, ja, man sagt, sie seien die Behausung von Iblis selber, dem Vater alles Bösen. Aber das ist gewiß, verzaubert sind sie und verhext, darum bitten wir unsere weißen Herren und flehen sie an, Allah nicht zu versuchen und den Berg zu meiden.«
Hierauf erwiderte Flitmore im Stile der Araber: »Es gibt keinen Schutz und keine Macht, als bei Gott dem Erhabenen. Uns ruft gebieterisch eine heilige Pflicht. Gott wird unser Schutz sein; denn er ist mächtig auch wider die bösen Djinns und Iblis, den Erzfeind. Und nun ihr seht, daß unser Entschluß unabänderlich feststeht, fragen wir euch: wer will uns begleiten? Wir bleiben vielleicht einige Tage dem Lager fern, und müssen mindestens eine Traglast mit Lebensmitteln mitnehmen.«
Außer Amina und Tipekitanga, welche schon zuvor erklärt hatten, ihre Herrinnen nicht verlassen zu wollen, und ginge es in das finstere Reich der Dämonen hinein, meldeten sich nur Hamissi und Kaschwalla.
Letzterer erklärte, er hänge nicht mehr am Leben, seit Sangula von ihm gegangen sei, und wie sie für ihn den Tod erlitten habe, so sei er mit Freuden bereit, auch sich zu opfern für seine weißen Herrn.
Hamissi sagte einfach: Da eine Last mitzunehmen sei, brauchen die Herren einen Träger, und da die andern Furcht hätten, so werde er der Träger sein, auch könnte den Weißen vielleicht ein geschickter Koch nützen im Reiche der Gespenster.
Kaschwallas Anerbieten wurde abgelehnt. Der Mann wäre als Träger keine große Hilfe gewesen, besonders bei einem steilen Aufstieg, wo er Mühe gehabt hätte, den eigenen Leib hinaufzuschleppen.
So war denn Hamissi der einzige, der von den schwarzen Männern den Weißen folgte, und da ein Träger genügte, verzichtete Schulze darauf, noch andere zu einem Unternehmen zu befehlen, vor welchem so blasses Entsetzen sie erfüllte.
Vor Sonnenaufgang brach die kleine Gesellschaft auf, um die Quellen des geheimnisvollen Nils zu suchen.
Schulze und Leusohn dachten sich die Sache einfach; sie meinten, es handle sich nur darum, dem Laufe des Flusses bis zu seiner Quelle entgegenzufolgen, dann müsse sich zeigen, was von den alten Sagen zu halten sei.
»Das werden wir allerdings zuerst versuchen müssen,« entgegnete Flitmore; »aber ich fürchte, die Sache hat einen Haken.«
Nigger, der treue Dachshund, begleitete unsre Freunde, als sie nun flußaufwärts wanderten in ein enges Gebirgstal hinein.
Nach fünfstündiger mäßiger Steigung im Flußtale befanden sie sich in einem Felsenkessel, dessen Hintergrund durch einen hohen, sichtlich von Menschenhänden aufgetürmten Wall verschlossen war. Die Mauer bestand aus ungeheuren aufeinandergeschichteten Steinblöcken und gebot jedem menschlichen Fuße halt. Unten an der Talsohle war das Hindernis von einem Tunnel durchbohrt, den die hindurchströmenden Wasser des Flusses vollständig anfüllten.
»Sehen Sie, das sah ich voraus!« sagte Flitmore, als alle stumm bewundernd vor den überwältigenden Felsmassen und dem aus finsterem Schoß hervorbrausenden geheimnisvollen Wasser standen. »Alle die kühnen Reisenden, von denen das Altertum und das Mittelalter zu erzählen wissen, daß sie diese Stelle erreichten, stimmen in der Behauptung überein, daß der Nil unter dem Berge Gumr hervorfließe.«
»So sind wir denn am Ziele!« rief Schulze entzückt. »Die auffallende Übereinstimmung der Tatsachen mit den sagenhaften Berichten der Alten haben nun auch mich überzeugt, daß wir tatsächlich hier die wahrhaftige Nilquelle schauen; ich wünsche Ihnen Glück, Lord Flitmore, Sie haben das Geheimnis der Jahrtausende gelichtet.«
Der Engländer schüttelte den Kopf. »Unsere Aufgabe ist noch nicht gelöst,« entgegnete er. »Die Stärke der hier hervorquellenden Wassermassen zeigt an, daß mehrere Quellbäche im Innern des Gebirges sich zu diesem Flusse vereinigen. Diese Quellen wollen wir finden, und erst hinter dieser Zyklopenmauer winkt uns die Lösung des Rätsels. Da aber hier ein Aufstieg unmöglich ist, müssen wir dem Geheimnis auf einem anderen Wege beizukommen suchen.«
Abends trafen die Nilforscher wieder im Lager ein, mit Jubel begrüßt von den Schwarzen, die nicht geglaubt hatten, ihre Herren wiederzusehen.
Gleich in der nächsten Morgenfrühe wurde nun die unmittelbare Besteigung des Geisterberges unternommen. Den zurückbleibenden Schwarzen gebot Flitmore, fünf Tage auf ihre Rückkehr zu warten.
Hendrik, von Nigger gefolgt, war den anderen voran, als der Leichtfüßigste. Er erreichte zuerst den Gipfel des Berges. Einen lauten Ausruf der Überraschung ausstoßend, winkte er den Nachkommenden lebhaft mit den Armen. Plötzlich aber stieß er einen Schrei aus und war verschwunden. Ein klägliches Geheul des Entsetzens scholl vom Lager unten herauf, wo die Askaris und Träger unter Achmeds Oberbefehl zurückgeblieben waren. Man konnte von dort unten den nächsten Gipfel des Berges sehen, und alle hatten den Aufstieg mit ängstlich gespannten Blicken verfolgt. Nun waren sie Augenzeugen von Hendriks plötzlichem Verschwinden, und es bestätigten sich damit die schauerlichen Sagen, die ihnen überall zur Warnung erzählt worden waren.
Atemlos keuchten die anderen Bergsteiger den Gipfel vollends hinauf, um zu sehen, was aus Hendrik geworden sei. Johann und Flitmore waren die ersten, die oben ankamen; auch sie verschwanden, wie vom Boden verschlungen.
Helene und Sannah, die Leichtfüßigen, folgten unmittelbar darauf mit Amina und Tipekitanga zu ihrer Seite.
Der Professor rief ihnen noch nach, vorsichtig zu sein, innezuhalten und einen Augenblick auf den Doktor und ihn zu warten, ehe sie den unheimlichen Gipfel beträten.
Aber schon standen sie droben.
Ein Ausruf des Entzückens ließ sich aus Helenes Mund vernehmen; dann aber versanken die vier Mädchen gleichzeitig vor den Augen der entsetzten Männer, die nur noch wenige Schritte vom Gipfel entfernt waren.
»Entsetzlich!« stöhnte Schulze. »Lassen Sie uns vorsichtig sein, Doktor; dort oben lauert irgend ein unheimliches Rätsel, vielleicht ein Felsüberhang, von dem man abgleitet, um auf der andern Seite in die Tiefe zu stürzen.«
Langsam betraten die beiden die Höhe. Hamissi, der seinen schweren Ballen mit Lebensmitteln auf dem Kopfe trug, war noch um einiges zurück.
Der Gipfel des Berges war äußerst schmal. Eine Plattform aus einer einzigen gewaltigen, stark verwitterten Granitquader bedeckte den Boden. Sie war kaum zwei Meter breit und erhob sich nur wenig aus der Erde, so daß Schulze und Leusohn bei ihrem vorsichtigen Nahen über sie hinweg in die zur Linken gähnende Tiefe blicken konnten, noch ehe sie die Steinfließen betraten. Gebannt blieben sie stehen: da unten war ein tiefeingeschnittenes, steilwandiges, aber sehr breites Tal, in dem ein halbzerfallener ägyptischer Tempel mit seinen ungeheuerlichen Riesensäulen aufragte. Der Grund um ihn her war mit mächtigen kohlschwarzen Basaltblöcken gepflastert. Die Blöcke aber waren unbehauen, und ihre unregelmäßigen runden Formen erweckten ganz den Eindruck, als sähe man vor sich ein schwarzes Meer, das mitten im wildesten Wellenschlage plötzlich erstarrt sei. Zwischen diesem Steinmeer hindurch schäumte ein Fluß, weißglänzend wie Schnee.
»Beim Himmel, die alten Sagen behalten recht!« rief Leusohn aus.
»Lassen Sie uns ganz vorsichtig auf der Plattform vorgehen,« schlug der Professor vor, »damit mir uns überzeugen können, ob unsere unseligen Freunde dort abgestürzt sind. Vielleicht sind sie am Leben und man könnte ihnen Hilfe bringen. Ich meine, ich höre gedämpfte Rufe aus der Tiefe.«
»Es ist so,« bestätigte der Doktor, »aber der Ton kommt von links.«
»Wahrhaftig!« rief Schulze. »Dort weiter links scheint sich auch ein Abgrund zu öffnen, eine ganz enge Schlucht.«
Damit hatten sie die Plattform betreten und gingen vorsichtig gegen den Rand vor, während Hamissi soeben den Gipfel des Berges hinter ihnen erreichte.
Da geschah etwas Schreckliches: die breite Granitplatte wich unter des Professors und Leusohns Füßen; sie kippte nach unten um, und die beiden stürzten in eine Höhlung, die anfangs gleich einem Brunnenschacht senkrecht abfiel, dann aber als sehr stark geneigter, gewölbter Gang abschüssig in das Innere des Berges führte.
Als der treue Hamissi seine Herrn hinabgleiten sah, besann er sich nicht lange, sondern warf seinen Ballen ab und folgte ihnen mit einem Sprunge, über ihm kehrte die dicke Platte in ihr Gleichgewicht zurück, den Zugang verschließend, und in dichter Finsternis sauste Hamissi den andern nach.
Auf glatter Bahn ging es mit rasender Schnelligkeit hinunter in die nachtschwarze Tiefe; nach einiger Zeit jedoch wurde die Neigung der Abschußfläche zunehmend geringer, die Geschwindigkeit der Rutschfahrt nahm ab, und rauhe Unebenheiten des Bodens gestatteten, durch Anstemmen der Füße nach und nach anzuhalten. Gleichzeitig drang von unten ein Lichtschimmer heraus, und als Hamissi sich vollends hinabgleiten ließ, fand er eine mannshohe Öffnung, die ins Freie führte.
Ein ohrenbetäubendes Brausen empfing den Suaheli, als er mit blutenden Füßen aus dem Felsloch trat. Vor ihm schäumte ein wildes Gewässer, das sich etwa hundert Schritte nordwärts in einer von Menschenhand gewölbten Höhle verlor und etwa dreihundert Schritte weiter oben im Süden einem ebensolchen Gewölbe entströmte. Beide Tunnel waren sehr niedrig, und der nördliche war bis oben vom Wasser angefüllt. Über den Wasserhöhlen türmten sich jähe Mauern empor, Talsperren, von Menschenhand errichtet und unerklimmbar. Ebenso unersteiglich erschienen die himmelhohen, zum Teil überhängenden Felswände zu beiden Seiten der Schlucht. Diese selber war an ihrer breitesten Stelle kaum zehn Meter breit, wovon zwei Meter auf den Bachlauf kamen, während die Breite der Zufluß- und Abflußhöhlen etwa einen Meter betrug.
Hamissi stellte natürlich diese Betrachtungen nicht an; er freute sich, seine weißen Herren alle wohlbehalten hier unten zu treffen.
Diese schienen zunächst sämtlich nur von dem gleichen Gedanken erfüllt zu sein, daß sie lebendig und mit heilen Gliedern die unheimliche Talfahrt überstanden hatten; aber der Schrecken wirkte noch nach, und in erstauntem Schweigen starrten sie an den himmelhohen Felsmauern empor.
Nur das Brausen der Wasser und Niggers Gebell störten die Stille.
Der Hund sprang von einem zum andern, und man wußte nicht recht, bellte er aus ängstlicher Aufregung oder aus Freude, alle miteinander aus der stockfinsteren Nacht befreit und wohlbehalten im Lichte zu sehen.
»So hat uns alle das gleiche Schicksal ereilt,« unterbrach Lord Flitmore zuerst das Schweigen. »Wir befinden uns in einer gefährlichen Lage und werden unsern Geist anstrengen müssen, einen Ausweg zu finden.«
Schulze, als Gelehrter, dachte aber zunächst weniger an einen Ausweg, als an die wissenschaftliche Untersuchung der merkwürdigen Schlucht.
»Wie genial sind die Anlagen!« rief er aus. »Sehen Sie, der Zuflußkanal ist ziemlich breiter als der Abflußtunnel. Bei heftigen, andauernden Regengüssen muß sich das Wasser zuerst in dieser Schlucht stauen, späterhin auch in der nächst höher gelegenen; es dürfte ein Jahr lang fortregnen, und doch würde kein Tropfen Wasser mehr dieser Sperre entfließen als zurzeit.«
»Wirklich staunenswert,« bemerkte Leusohn dumpf; »aber wir befinden uns in einer Mausefalle, Professor, und dort grinst uns unser Schicksal entgegen!«
Dabei wies er auf ein Gerippe, das in der Nähe an einem Felsblock lehnte.
Mit Entsetzen sahen jetzt die Eingeschlossenen, daß zahlreiche Schädel und menschliche Gebeine zerstreut umherlagen. Einzelne Gerippe hingen hoch in den Felswänden, und man erkannte, wie die Unglücklichen in der Verzweiflung versucht hatten, die steilen Mauern zu erklimmen, bis sie ihr Schicksal ereilte.
»O, Bwana Bawessa,« sagte nun Hamissi, dem bei diesem Anblick ein Licht aufging über das Verzweifelte ihrer Lage. »Wir alle sein verloren, wenn hier wäre Weg heraus, andere nicht hier wären verhungert.«
Sannah verlor den Mut nicht so leicht. »Aus diesen Schädeln grinst uns freilich ein schreckliches Los entgegen, und man sollte meinen, wenn ein Entkommen möglich wäre, unseren Vorgängern müßte es auch gelungen sein; oft aber bringt ein guter Gedanke Rettung, wo andere zugrunde gingen, weil sie auf den Ausweg nicht verfielen; und schließlich sind wir in Gottes Hand, der noch Wege hat zu helfen, wenn alles verloren scheint.«
»Jedenfalls werden wir alles versuchen müssen,« sagte jetzt Helene, »auch das scheinbar Aussichtslose, ehe wir uns in das Schicksal dieser Unglücklichen ergeben, die hier ein schauerliches Ende fanden.«
Amina und Tipekitanga zeigten keine große Besorgnis. »O,« sagte die Zwergprinzessin, »mir ist gar nicht bange; so weise sind die Weißen, daß sie immer etwas finden, und so geschickt, daß sie zustande bringen, was niemand geglaubt hätte.«
Schulze blickte empor, bis wo in unheimlicher Ferne ein Streifen blauen Himmels in die dämmernde Schlucht herableuchtete. Hoch, hoch dort oben schwebte ein Geier; er erschien nicht größer als eine Mücke, obgleich er sich noch weit unter dem Kamm der Felswand befand. Lauerte der Aasvogel schon auf die Opfer, die sein scharfes Auge tief unten entdecken mochte?
Am Fuße der starrenden Wand zog sich ein schwarzer Streifen empor, ein lebendiges Band, das in der Höhe zu einem Strichlein wurde, bis es nicht mehr zu unterscheiden war. Das war ein Zug schwarzer Ameisen, die ihren Pfad auch über das Unersteigliche fanden. Bei ihrem Anblick rief der Professor aus: »Ja, da kommt niemand ohne Flügel hinauf, es sei denn ein Insekt. Glückliche Insekten, was habt ihr vor uns Menschen voraus!«
Lord Flitmore aber sagte ruhig: »Meine Herren, die Unmöglichkeit, diese Felswände zu erklimmen, haben Sie soeben festgestellt; es bleiben uns also noch drei Wege. Erstens der Schacht, durch welchen wir hinabglitten.«
»Damit ist es nichts,« unterbrach Leusohn; »der ist so steil, daß nur der Wahnsinn versuchen könnte, auf seinem glatten Boden emporzuklimmen; überdies ist er oben ein gut Stück senkrecht, und schließlich, wer vermöchte den Block aus seiner Lage zu bringen, der sich nur nach unten zu öffnen scheint?«
»Der Versuch muß gemacht werden,« sagte Flitmore trocken. »Der zweite Ausweg ist der südliche Zuflußkanal.«
»Auch nichts,« erwiderte Schulze kopfschüttelnd; »er ist zwar nicht bis oben mit Wasser angefüllt, aber gegen die gewaltige Strömung des durchbrausenden Wassers würde ein Herkules vergebens ankämpfen.«
»Drittens,« fuhr der Engländer unbeirrt fort, »der nördliche Abflußkanal.«
»Da muß man gut tauchen können,« lachte Leusohn bitter: »man wird wohl durchkommen, aber erstickt und ersäuft.«
»An die beiden ersten Wege glaube ich auch nicht,« sagte Flitmore wieder, »aber die Probe müssen wir machen. Sie, Hendrik, als der gewandteste Kletterer, versuchen es einmal mit dem Gang; aber tun Sie Ihr Äußerstes; du, Hamissi, als der Kräftigste, versuchst einmal gegen den Strom durch den Tunnel zu kriechen.«
Hendrik verschwand alsbald in der Seitenhöhle, während die anderen den Suaheli bis zum Eingangstunnel begleiteten. Dort stieg Hamissi ins Wasser, indem er sich an die Felsen klammerte. Es gelang ihm auch, in den Tunnel einzudringen, sich gewaltig gegen die Seitenwände anstemmend. Aber der Druck der ungeheuren Wassermassen, die sein Leib in dem Gange staute, den er zu einem großen Teil anfüllte, riß ihn alsbald los und schwemmte ihn hinaus.
»Es ist nichts!« sagte Flitmore kurz.
Bald kehrte auch Hendrik wieder und stattete Bericht ab: »Im Anfang,« sagte er, »bis zu etwa dreißig Meter Höhe, geht es zwar steil, aber doch ganz gut hinauf. Hernach aber ist gar kein Halt mehr, und so oft ich auf der abschüssigen Bahn hinaufkriechen wollte, so oft glitt ich wieder hinab.«
»Ich dachte mir's,« meinte der Lord.
»Es ist, wie Hamissi sagte,« fügte der Doktor hoffnungslos hinzu; »wäre hier überhaupt ein Ausweg möglich, so lägen nicht so viele menschliche Gebeine umher.«
»Otto!« mahnte Helene. »Laß uns nicht von vornherein verzagen; ich kann's nicht glauben, daß wir ein solches Ende nehmen sollten, nachdem wir durch so viel Schwierigkeiten und Gefahren glücklich hindurchgekommen sind.«
»Sie berufen sich immer auf die Gerippe,« wandte sich Flitmore an Leusohn, »um die Aussichtslosigkeit jedes Rettungsversuchs von vornherein zu beweisen. Aber bedenken Sie, diese Unseligen werden größtenteils allein oder zu zweit da herabgestürzt sein, da der Berg seit uralten Zeiten verrufen ist, und nur vereinzelte kühne Helden den Aufstieg gewagt haben werden. Wir nun sind sechs kräftige Männer und drei Damen, die auch über ein ziemliches Maß gesunder Körperkräfte verfügen, ganz abgesehen von Prinzeß Tipekitanga, die durch ihre Gewandtheit und Kühnheit ersetzt, was ihr an Arbeitskraft uns gegenüber fehlen mag. Wo andere untergehen mußten, die auf sich allein angewiesen waren, sind wir nicht notwendig verloren, die wir zu zehnt sind. Wir könnten wohl etwas unternehmen, was einzelnen unmöglich war.«
»O, Mylord,« sagte Johann, der auch um sein Leben besorgt war und nun aus seines Herren mannhaften Worten neuen Mut zu schöpfen begann, »seien Sie doch sozusagen so gnädig, uns nur mitteilen zu wollen, was wir unternehmen können; an mir soll es nicht fehlen, soweit nämlich meine Muskulaturkräfte ausreichend sind, bis aufs Blut zu arbeiten, um uns zu retten, selbst mit größter Überanstrengung.«
»Jawohl,« fügte Leusohn etwas spöttisch hinzu. »Entwickeln Sie uns Ihre Rettungspläne, Lord, und wenn sie irgend ausführbar sein sollten, so wollen wir alles daran setzen, um sie zu verwirklichen.«
»Nur ein Ausweg bleibt uns,« erwiderte der Lord, »nämlich der untere Kanal; aber zuerst: gibt es etwas zu essen? Wir sollten unsere Kräfte zur Arbeit stärken.«
»Hamissi, wo hast du deinen Ballen?« fragte Schulze.
»O, Bwana Bawessa, den ich haben abgeworfen; ich nicht anders können, ich euch wollen folgen, halten, retten; darum schnell alles weggeworfen!«
»Du verdienst alles Lob!« beschwichtigte der Professor die zerknirschte Seele. »Du hast mehr getan, als irgendwer von dir erwarten konnte; aber unsere Lage ist schlimm.«
»Wenn ich meine Nährmaschine bei mir hätte,« seufzte Flitmore, »ich wollte uns monatelang erhalten aus dem Schlamm, den der Fluß unter dem Geröll abgesetzt haben muß. Aber das hat nun keinen Zweck! Ich habe wohl einige meiner Täfelchen in der Tasche: allein da wir nicht wissen, wie lange wir ohne Hilfsmittel aushalten müssen, ist es notwendig, sie für die Stunde höchster Not aufzusparen. Selbst wenn es uns gelingt, durch den Abflußtunnel zu dringen, so wissen wir ja nicht, wohin er führt; vielleicht geraten wir nur in eine neue Falle, wo uns der Hungertod genau so schrecklich entgegengrinst, wie hier.«
»Aber wie wollen wir denn durch diesen bis oben mit Wasser gefüllten Kanal überhaupt hindurch gelangen?« fragte jetzt Schulze. »Ja, wenn wir Fische oder wenigstens Amphibien wären, dann!«
»Wir dämmen den Fluß ab!« erwiderte Flitmore einfach.
Leusohn und Schulze blickten überrascht umher; ja, das war ein Gedanke! Überall lagen Felsblöcke zerstreut; gelang es, einen festen, möglichst dichten Damm zu errichten, so konnte unter günstigen Umständen das Wasser so lange aufgehalten werden, bis der Tunnel durcheilt war, falls er sich nicht gar zu sehr ausdehnte. Die Enge der Schlucht ermöglichte die Herstellung eines solchen Dammes, und so wurde unverzüglich zur Ausführung geschritten.
Hamissi, Johann und Hendrik, als die kräftigsten, mußten die Blöcke herbeiwälzen; Schulze, Leusohn und Flitmore schichteten sie auf; Sannah und Amina gruben Lehm aus dem Flußbett, Helene und Tipekitanga dichteten mit diesem Lehm und kleinen Steinen die Lücken in der Dammmauer ab, erstere auf der Vorderseite, letztere auf der Rückseite gegen die Abflußhöhle zu.
Am Fuße des Dammes wurden zunächst zwei Löcher offen gelassen, damit das Wasser sich nicht vorzeitig staue.
Der Damm wurde errichtet an der schmalsten Stelle der Schlucht, wo die Felswände sich bis auf drei Meter einander näherten; diese Stelle war vom Einflußkanal so weit entfernt, daß die Wasser Platz hatten, sich hinter dem Damm zu einem langgestreckten See zu sammeln und nicht gar zu rasch zu steigen.
Nach vierstündiger, erschöpfender Arbeit hatte der Damm eine Höhe von drei Metern erreicht.
Nun kletterte Helene hinüber, während die Männer die bereitgelegten Felsblöcke vor die ausgesparten Öffnungen wälzten, und dann ebenfalls hinüberturnten nach der Seite, die trocken gelegt werden sollte.
Nur noch dünne Wasserfäden quollen durch die Stauwand, die unten mit großen Blöcken gestützt war; in ihrem oberen Teile jedoch unmöglich lange standhalten konnte, wenn die gestauten Wassermassen ihren gewaltigen Druck auf sie ausübten.
Es war also keine Zeit zu verlieren, zumal das Wasser hinter dem Damme schon bedenklich stieg.
Sobald daher im nördlichen Tunnel das Wasser sich soweit verlaufen hatte, daß hindurchgewatet werden konnte, drangen alle unverzüglich in den dunkeln Schacht ein.
Jetzt galt es einen Marsch auf Leben und Tod; denn wurde der Ausgang nicht erreicht, ehe der Damm überflutet wurde oder zusammenbrach, so mußten die Ärmsten elendiglich ertrinken.
Leider zeigte es sich, daß es sich um eine sehr ausgedehnte Höhle handelte. Offenbar war nur der Eingang außen durch eine Mauer verstärkt, im übrigen war der Abflußkanal durch den Berg gegraben und durchbrach nicht etwa bloß die Mauer einer künstlichen Talsperre.
Da sich in dem niederen Tunnel nur gebückt gehen ließ, ging es nicht so schnell mit dem Vordringen, zumal es stockfinster war. Hendrik schritt mit Nigger kühn voran, sich an den nassen Wänden hintastend. Oft stieß er mit dem Kopfe an herabhängendes Gestein und warnte die nachfolgenden, daß sie sich beizeiten noch tiefer bückten; hie und da galt es, mit Wasser gefüllte Vertiefungen zu durchwaten, einmal sogar einen unterirdischen See zu durchschwimmen.
Das war ein schlimmes Hindernis! Aber da gab es kein Bedenken: sie mußten alle hinein, Nigger nach, der tapfer voranschwamm. Das Wasser war eiskalt und lähmte die Glieder. Flitmore, Hendrik und Leusohn geboten Helene, Sannah und Amina, sich an sie zu klammern; sonst wären die drei Mädchen in ihren Kleidern niemals über den See gelangt.
Tipekitanga aber warf kurz entschlossen ihr Gewand ab, das ihr immer noch ungewohnt war und ihr in ihren Bewegungen hinderlich gewesen wäre. So eitel war die kleine Prinzeß aber doch schon auf ihre europäische Tracht, daß sie sich erst von den weißen Damen ein neues Kleid versprechen ließ, ehe sie mitten in der dringendsten Todesgefahr, in Nacht und Finsternis begraben, sich entschloß, im Stiche zu lassen, was ihr Stolz und ihre Freude war!
So warf sich die Kleine als letzte in die kalten Fluten, die Kunst zu üben, die sie erst vor kurzem im Kiwusee mit bewundernswerter Entschlossenheit gelernt hatte, und die ihr jetzt das Leben retten sollte. Dabei hielt sie ihre Pfeile krampfhaft in der einen Hand, während sie den unvermeidlichen Bogen über der Schulter hängen hatte; von ihren Waffen hätte sie sich um keinen Preis getrennt. Und dennoch entwickelte sie eine solche Kraft und Behendigkeit, litt auch so wenig unter der erstarrenden Frische des Wassers, daß sie als erste das jenseitige Ufer erreichte, nachdem sie als letzte das Wagnis begonnen.
Es waren unheimliche Minuten für unsere Freunde, als sie so mit der Eile der Verzweiflung in stockfinstrer Nacht den unsichtbaren See durchschwammen, dessen Ausdehnung niemand übersehen konnte. Immer wieder glaubten ihre aufs äußerste gespannt horchenden Ohren das Brausen der Wasser zu vernehmen, die jeden Augenblick den Damm durchbrechen konnten, um ihre Opfer einzuholen und zu ertränken.
Doch noch war es Täuschung, und es herrschte Todesstille um sie her.
Endlich hatten alle wieder festen Boden unter den Füßen und von neuem begann die wilde Jagd um das Leben; gehetzt vom schrecklichsten Tode, der hinter ihnen her drohte, gönnten sie sich keine Sekunde Einhalt, um Atem zu schöpfen.
So ging es noch eine Viertelstunde dahin auf schlüpfrigem Grunde, und mehrmals glitt eines oder das andere aus, doch rafften sie sich blitzschnell wieder empor, um unaufhaltsam weiterzustürmen.
Da, endlich! schimmerte ihnen bei einer letzten Wendung der schrecklichen Höhle von ferne das rettende Tageslicht entgegen.
Bald darauf hörten die entsetzten Flüchtlinge ein dumpfes Rauschen hinter sich: diesmal war es keine Täuschung, es war das heranbrausende Verderben!
»Der Damm ist gebrochen!« schrie Leusohn. »Rasch, rasch!«
Ein immer wachsendes donnerndes Getöse trieb die Gehetzten zur höchsten Eile. Sie erreichten den Ausgang und erkletterten atemlos und zu Tode ermattet die steilen Ufer des Talgrundes, in den sie hinausgelangt waren. Kaum stand der letzte auf sicherer Höhe, so wälzte sich eine brausende Wassermasse aus dem Tunnel, große Felsblöcke mit sich fortreißend und hoch über das Flußbett emporschäumend.
Nigger, dem das Klettern schwerer fiel als das Schwimmen, war von Hamissi mit emporgeschleppt worden.
Tipekitanga aber kletterte gleich einer Katze, wie sie auch gleich einem Fisch den unterirdischen See durchschwommen hatte.
Nun war die dringende, entsetzliche Gefahr überstanden. Aufatmend lehnten sich die Geretteten an die Felsen und schauten hinab in die wildwütenden Wassermassen; sie schienen vor Wut zu rasen, diese donnernden Strudel, daß ihnen im letzten Augenblick noch die Opfer entronnen waren, die sie hatten verschlingen wollen.
Aber die Fluten, die noch vor einer Minute das allgemeine Verderben bedeutet hätten, boten nun in ihrem ohnmächtigen Toben nur noch ein großartiges Schauspiel den Menschenkindern, denen sie nun nichts mehr anhaben konnten, und die mit heißem Dank für den göttlichen Schutz sich glücklich fühlten, geborgen zu sein, ohne einen Verlust ihrer Lieben beweinen zu müssen.
Nur kurz ließen sich die Geretteten durch dieses Schauspiel erhabener Wildheit aufhalten. Der nach all den Aufregungen und Anstrengungen sich mit doppelter Stärke geltend machende Hunger mahnte sie, daß sie noch nicht von allen Nöten erlöst seien. Sie schritten den Bach entlang, der sich bald wieder auf sein gewöhnliches Bett beschränkte.
Plötzlich standen sie am Ausgange des Tales an einem ziemlich steil abfallenden Hang. Der Fluß stürzte hier nicht in die Tiefe, sondern wurde durch einen großartigen, aus Riesenpfeilern ruhenden Aquädukt weitergeleitet nach einem merkwürdigen Bau, der aus dem Talgrund vor ihnen emporragte.
»O, Mutter!« schrie Amina entsetzt auf. »Das ist die Behausung der Djins!«
Die »Djins« sind nach arabischem Glauben böse Geister oder Dämonen, und das seltsame grüne Schloß, das sich den erstaunten Blicken zeigte, konnte ganz den Eindruck eines Geisterschlosses machen. Daher rief auch Hamissi fast gleichzeitig mit Amina: »O, Mama, o, Mama! Das muß die Wohnung Iblis', des Bösen, sein, vor dem uns Allah in Gnaden bewahre.«
Denn der Suaheli hatte, ohne gerade zum Islam übergetreten zu sein, doch, wie die meisten Schwarzen Sansibars, die mohammedanischen Glaubensbegriffe, Lehren und Namen angenommen. Iblis ist bei den Arabern der Name des Satans.
Aber auch die Weißen standen starr, bis auf Flitmore, der keinerlei Überraschung wenn auch staunende Bewunderung zeigte.
»Der Kupferpalast!« rief Hendrik aus.
Einem altägyptischen Tempel gleich in seinen riesigen Verhältnissen, so stand es vor ihren Augen, dieses sagenhafte Schloß König Hermes des Ersten. Zum Teil war es freilich eingestürzt, im großen ganzen aber hatte es den Jahrtausenden getrotzt. Einen geradezu märchenhaften Eindruck machte es in seinem tiefgrünen Überzug, der Patina, die das Metall so wirksam vor der Verwitterung schützt. Dennoch sah es an vielen Stellen stark zerfressen aus; allein die Mauern waren so gediegen, daß sie noch manchem Jahrhundert Trotz bieten mochten.
Welche Riesenwände, bedeckt mit erhabenen Bildwerken und Verzierungen! Wie großartig die hohen Bogenfenster, wie kunstvoll die durchbrochenen Galerien der grünen Zinnen! Massige und doch so zierlich gegliederte Säulen trugen die einzelnen Stockwerke und bildeten übereinandergetürmte Wandelgänge, herrliche Terrassen, die rings um den Märchenbau liefen und hinter denen sich erst die dicken Wände mit ihren unzähligen Fensteröffnungen erhoben.
Es war ein ausgedehnter, kreisrunder Talkessel, in dessen Mitte der wunderbare Palast zum Himmel emporstarrte.
Man sah hier verschiedene Seitentäler einmünden, und aus jedem waren die Wasserläufe auf Aquädukten dem Schlosse zugeführt worden, das heißt auf Hochwasserleitungen, die auf Pfeilern ruhten. Vollständig erhalten war aber nur die eine Zuleitung, an der unsere Freunde standen. Die anderen, sechs an der Zahl, waren teilweise oder ganz eingestürzt, und von den Ruinen rann und troff das Wasser an langen, herrlichen Moostuffen hernieder.
Lange Zeit hielt der wunderbare Anblick die Beschauer gebannt; dann aber eilten sie hinab ins Tal, und bald betraten sie mit ehrfürchtigem Schauern das Kupferschloß, nachdem sie noch von außen die herrlichen Bilderszenen und Inschriften in Bilderschrift bewundert hatten, mit denen die Wände bedeckt waren.
So hoch der Bau emporragte, so stak er doch über die Hälfte im Erdboden; das war das Werk der Jahrtausende, die Schicht um Schicht von Sand und Geröll absetzten, um das großartigste Werk menschlichen Unternehmungsgeistes zu begraben.
Der Eingang in das Schloß erfolgte durch ein Fenster, das vielleicht zum zweiten Stockwerk gehörte, da das Portal und das unterste Stockwerk nunmehr unterirdisch geworden waren. Hohe, reichverzierte Säle und prachtvolle Prunkgemächer befanden sich dort innen, und als unsere Freunde auf der anderen Seite zu den Fenstern hinaussahen, erblickten sie unter neuem überwältigendem Staunen die altberühmten kupfernen Statuen vor dem Schlosse im Halbkreis aufgestellt.
Viele davon waren freilich umgestürzt und lagen im Sande begraben, einigen fehlte der Kopf, andere aber waren noch völlig gut erhalten, und siehe! aus einem dieser Riesenmäuler floß noch wie vor Jahrtausenden das Wasser in mächtigem Bogen hinab, um sich mit den am Boden hinfließenden anderen Zuflüssen zu vereinigen.
Die Gewalt der strömenden Wasser hielt sich noch einen Schacht frei, in den sie hinabstürzten, sich mit Sand und Steinen vermischt durch den uralten Tunnel nach außen zu ergießen. Wenn sich bei Hochwasser hier die Fluten stauten, so mußte das Schloß zum Teil unter Wasser stehen und die Standbilder würden bis zu den Knien bedeckt sein. Welch herrliches Bild mochte das abgeben!
Und wie überwältigend reckten sich die kupfernen Kolosse empor! Da saßen sie auf ihren Thronen, die Hände auf die Knie gelegt; die erhabenen Häupter blickten ernst und ehrfurchtgebietend drein und der weitaufgesperrte Mund verlieh ihnen etwas Drohendes und Schreckliches.
»Meine Herren!« sagte Lord Flitmore feierlich, nachdem der erste Eindruck einigermaßen überwunden war. »Wir schauen als die ersten Sterblichen seit Jahrhunderten, wohl mit einer einzigen Ausnahme, ein Weltwunder, nach dessen Anblick sich die kühnsten und edelsten Geister vergeblich gesehnt haben; ein Cäsar hätte gerne seinen ganzen Kriegsruhm geopfert, wenn er hätte sehen dürfen, was wir sehen; wir bewundern, was menschliches Genie vor unvordenklichen Zeiten auszuführen vermochte, ein Wunderwerk, an dessen Dasein die übergescheite Gelehrsamkeit Europas gar nicht glaubt, Gebilde, deren Wucht uns hochmütige Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts vernichtet, weil vor ihnen unser ganzer Fortschrittswahn beschämt zerfließt! Wie blähen wir uns doch mit unserer Kultur, unseren Erfindungen, mit unserer glorreichen Bezwingung der Naturkräfte. Und siehe da! Mit all unserem Witz, mit all unseren gewaltigen Hilfsmitteln könnten wir nicht einmal eine geistlose Nachahmung solcher genialen Schöpfungen zustande bringen, die durch die Kraft verschollener Titanen vor Jahrtausenden geschaffen wurden. Das sind Wunder, die nicht bloß unsere Fähigkeiten übersteigen, sondern die über die kühnsten Gedanken unserer geistvollsten Köpfe weit, weit hinausragen.
»Preisen wir uns glücklich, daß wir schauen durften, was uns verwirrt und zugleich erhebt; aber entreißen wir uns dem Banne dieses Wunderwerks und kehren wir in die Wirklichkeit zurück.«
»Ja!« rief Schulze. »Sie haben recht, wie immer. Das Leben mahnt uns gebieterisch, und wenn wir seiner Stimme nicht gehorchen, wird niemand Kunde erhalten von diesen Geheimnissen und Wundern, die wir entdeckten, und nur eine blasse Sage wird gehen, der Berg Gumr habe neue Opfer gefordert und Menschen verschlungen wie vor Zeiten.«
Der Lord aber begann wieder: »Auch das hat seine Richtigkeit; aber nicht bloß unser eigenes Leben fordert sein Recht, nein! noch ein anderes Leben hängt von uns ab; in diesen Tälern lebt noch ein armes Menschenkind eingeschlossen, ohne Hilfe und Ausweg, wenn es nicht schon seinen Leiden und Entbehrungen erlegen sein sollte, was Gott verhüte.«
Diese letzten Worte rüttelten unsere Freunde vollends auf aus ihrer träumenden Verzücktheit. Sie bestürmten Flitmore mit Fragen, er aber sagte nichts als: »Suchen wir!«
Da im Kupferschlosse keine Spur von einem lebenden Wesen zu finden war, wandten sich unsere Freunde den Seitentälern zu, aus denen die verschiedenen Quellflüsse des Nils kamen. Weil aber alle infolge des Hungers, der Aufregungen und Anstrengungen von Kräften gekommen waren, verabreichte Lord Flitmore einem jeden eine Nährtafel aus seinem geringen Vorrat. Dazu konnte Schulze einen Schluck aus seiner dickbauchigen Feldflasche spenden, die mit Tembo gefüllt war.
So karg dieser Imbiß war, so genügte er doch Menschen, die sich getrieben fühlten, einem bedrängten Mitmenschen Hilfe zu bringen, die nötige körperliche Spannkraft wiederzugeben.
Die Seitentäler im Osten und Süden zeigten sich sämtlich unzugänglich; überall erhoben sich natürliche Felswände oder künstliche Talsperren, aus denen das Wasser durch einen gewölbten Kanal hervorströmte. Nur der letzte westliche Zufluß erwies sich als völlig versiegt.
Es mußte dies überhaupt von jeher ein ganz unbedeutender Wasserlauf gewesen sein; denn das Tal, aus dem er floß, war nur durch eine Mauer von zwei Meter Dicke abgeschlossen, und die Öffnung in dieser Mauer war so gering, daß man nur kriechend hindurchgelangen konnte.
Hinter der Mauer befand sich ein Tal, dessen hoher Graswuchs den Männern hoch über die Köpfe ging. Durch das Gras aber war ein Pfad getreten, der deutlich anzeigte, daß noch vor kurzem ein menschliches Wesen hier durchgewandelt war.
Nachdem unsere Freunde klopfenden Herzens den Weg eine Viertelstunde weit verfolgt hatten, lichtete sich der Graswald und sie erblickten einen ungeheuren Baobab oder Affenbrotbaum, den ersten und einzigen Baum, den sie in diesen Gründen schauten.
Das Alter der größten Baobabs wird auf fünf- bis sechstausend Jahre geschätzt, eine Schätzung, die freilich auch angezweifelt wird. Ein solches Alter mochte dieser Riese haben; denn er gehörte zu den größten Vertretern seiner Gattung. Der Stamm war allerdings nur vier Meter hoch; das ist aber auch die höchste Höhe, die er erreicht; dafür hatte er den kolossalen Umfang von über fünfzig Metern. Die Äste und Zweige strebten bis zu einer Höhe von fünfundzwanzig Metern und bildeten ein herrliches Laubdach, das sich auf allen Seiten etwa fünfzehn Meter weit vom Stamme ausdehnte.
Hier fanden sich frische Fußspuren, die in das Innere des hohlen Stammes führten. »Gehen Sie voran, Sannah!« sagte Lord Flitmore, und seine Stimme zitterte diesmal vor unverhehlbarer Aufregung. »Ja, gehen Sie, und wappnen Sie Ihr Herz mit so viel Mut, als Sie besitzen.«
Sannah ging und alle folgten ihr. Im Innern des Baumes zeigte sich ein ausgedehnter Hohlraum, der wohl zwanzig Mann hätte fassen mögen. Und da lag am Boden hingestreckt, anscheinend leblos, eine jugendliche Frauengestalt.
»Mietje!« rief Sannah und warf sich auf die wiedergefundene Schwester, die sie längst im Konzentrationslager gestorben wähnte.
»Sie lebt, sie lebt! O, helft ihr!« rief sie aus, als sie den schwachen Schlag ihres Herzens wahrnahm.
»Mietje, Mietje!« rief auch Hendrik mit zärtlicher Stimme die Schwester an, neben der er auf die Knie gesunken war, und deren schneeweiße Wangen er, abwechselnd mit Sannah, mit Küssen bedeckte. »O, welch ein Wunder, daß wir dich Totgeglaubte wieder haben!«
»Ach, wenn du nur erwachen wolltest, Schwester, Schwester!« schmeichelte Sannah. »Wie furchtbar, hätten wir dich nur gefunden, um dich gleich wieder zu verlieren!«
Alle waren erschüttert von der ergreifenden Szene. Schulze aber flößte den bleichen Lippen des Mädchens etwas Bananenwein ein; da schlug sie die Augen auf, richtete sich mühsam empor, und ein Strahl der Freude verklärte ihr Antlitz.
»O, Sannah, Hendrik!« flüsterte sie kaum hörbar. »Ach! nun ist alles gut! Seid ihr denn auch schon gestorben? Wie lieb, daß ihr als die ersten mir in der Ewigkeit entgegenkommt! Wo ist Mutter, und wo sind die anderen Geschwister, die vor uns hinübergingen? Und Vater und Klaas und Dame, leben sie noch unten auf der Erde, und wie geht es ihnen?«
»O, Mietje!« sagte Sannah. »Wir sind ja alle noch auf der Erde. Wir sind hierhergekommen in dieses schreckliche Tal und haben dich gefunden.«
Nun riß das Mädchen, das geglaubt hatte, im Jenseits zu erwachen, die Augen weit auf, und sah die vielen fremden Gesichter, darunter aber auch ein bekanntes.
»Der Lord, der edle Lord!« rief sie mit lauterer Stimme. »Sie sind es wirklich, dessen Namen wir nicht einmal erfuhren! O, nun weiß ich, wie alles gekommen ist: Sie haben mich gesucht und mir zum zweitenmal Hilfe gebracht. Ach! ich meinte, ich sei tot; ich glaubte nicht wieder auf der Erde zu erwachen. Aber jetzt begreife ich, warum ich mich noch so schwach und elend fühle. O, ich sterbe vor Hunger!«
Schnell reichte Flitmore der Ärmsten die beiden letzten Tabletten, die er für diesen Fall zurückbehalten hatte.
Das junge Mädchen, das vor rasendem Hunger alles andere vergaß, griff begierig danach; doch genügten ihr einige Bissen der wunderbar stärkenden Kost, um ihr dringendstes Bedürfnis nach Speise zu stillen, und sie zähmte ihr Verlangen, weiter zu essen, da sie wohl wußte, vom schrecklichen Hungerlager her, wie gefährlich es ist, dem ausgehungerten Magen zu viel Speise auf einmal zuzuführen.
Schulze bot dem Mädchen noch einmal seine Feldflasche und sie tat einen tiefen Zug, dann fiel sie zurück und schlief ein. Die Männer entfernten sich nun, um auch ihrerseits der nötigen Ruhe zu pflegen; Sannah aber und Helene blieben mit Amina und Tipekitanga zurück, um den Schlaf der Erschöpften zu bewachen.
Sie wechselten dabei ab, denn auch ihre geschwächten Kräfte forderten gebieterisch erquickenden Schlummer.
Tipekitanga allein zeigte sich noch munter, als ob sie keinerlei Anstrengungen hinter sich hätte; so wurde ihr denn auf ihre Bitte die erste Nachtwache überlassen.
Nach einigen Stunden erwachte Mietje und seufzte: »O, mich hungert so sehr!«
Schnell reichte ihr die kleine Prinzessin die übrigen anderthalb Nährtafeln nebst der Feldflasche, die Schulze zurückgelassen.
Das Burenmädchen aß nun alles auf, trank auch den kargen Rest Bananenweins und schlief dann sofort wieder ein.
Überdem war Sannah erwacht und befahl der sich erst sträubenden Tipekitanga, sich nun ihrerseits zur Ruhe zu legen. »Du mußt morgen ganz frisch und munter sein,« sagte sie. »Wir wissen nicht, was für Anstrengungen noch auf uns warten. Ich habe jetzt ausgeschlafen, und Mietje ist meine Schwester, du darfst mir nicht mein Recht nehmen, nun auch allein bei ihr zu wachen, nachdem du die erste Wache bekamst und so brav gehalten hast.«
Die kleine Prinzessin, des Lobes froh, gehorchte ihrer Herrin, legte sich und schlief augenblicklich ein, mit der wertvollen Gabe der Naturkinder, den Schlaf zu jeder Zeit sofort zu finden, wenn sie sich ihm hingeben wollen, und ebenso zu erwachen nach genau der Zeit, die sie sich vornahmen, der Ruhe zu opfern.
Als die Männer den Baum verlassen hatten, um sich einen geeigneten Ruheplatz zu suchen, bat Hendrik den Lord um Aufklärung über das rätselhafte Auffinden seiner Schwester, das, wie er nun nicht mehr bezweifeln konnte, von Flitmore beabsichtigt gewesen war.
»Woher konnten Sie wissen,« fragte er, »daß Mietje noch lebe, und daß sie hier zu finden sei? Kein Mensch konnte doch Kunde davon haben.«
»Viel weiß ich nicht zu sagen,« erwiderte der Engländer. »Als ich vor Jahren in dem unseligen Burenkrieg Rijns Farm vor den mordbrennerischen Soldaten schützte, befanden sich in derselben Sie, Hendrik, mit Ihrer Mutter und fünf Schwestern. Die beiden jüngsten, Mietje und Sannah, fand ich von rohen Tommies bedrängt und bedroht, während Sie die anderen gegen eine Anzahl der schlimmen Gesellen verteidigten. Ich hatte Gelegenheit, die beiden Mädchen und hernach auch die anderen und ihre Farm zu retten und hielt mich einige Tage zu ihrem Schutze bei ihnen auf. Ich bin ein großer Tierfreund und züchte namentlich Brieftauben. Ich führte deren mehrere bei mir, um interessante Versuche über ihr Zurechtfindungsvermögen und ihren Flug zu machen. Damals nun hatte ich noch eine einzige übrig. Ich schenkte sie Mietje. Das ist die Taube, die mein Diener John am Tanganjika schoß; ihr Federkleid hängt hier an meinem Gürtel.
»Ich erkannte die Taube sofort und vermutete, sie könne irgend eine Botschaft tragen, wenn ich auch gehört hatte, daß Mietje tot sei. Nun fand ich richtig bei dem Vogel ein fein zusammengerolltes Batisttaschentuch, auf dessen weißen Stoff mit grünem Pflanzensaft eine Nachricht gemalt war, die mich tief erschütterte. Sehen Sie hier! Es steht folgendes auf dem Tüchlein: ›In einer unzugänglichen Schlucht des Lokingagebirges Südafrika eingeschlossen, wo ein kupferner Palast steht und kupferne Riesenbilder. Mietje Rijn. Helft!‹
»Wie das arme Mädchen hierherkam, ist mir ein Rätsel. Von den Früchten des Baobab wird sie sich genährt haben, bis diese erschöpft waren. Und nun fanden wir sie gerade noch zur rechten Zeit! Die Arme! Was mag sie gelitten haben in grauenvoller Einsamkeit und von nagendem Hunger verzehrt! Wenn wir ihr nur Rettung brächten! Aber uns selber droht der Hungertod in diesem Gefängnis!«
Nach einem langen erquickenden Schlafe begaben sich Flitmore, Schulze und Leusohn, von Johann und Hamissi begleitet zum Baobab.
Hendrick war früher aufgestanden. Die freudige Erregung hatte seinen Schlaf gekürzt.
Er fand Mietje wach und nun ganz frisch und munter; sie konnte wieder lachen und scherzen und plauderte lebhaft mit Sannah und Helene, mit welch letzterer sie rasch Freundschaft geschlossen hatte.
Als Hendrik erschien, sprang sie auf, eilte ihm entgegen und umarmte den geliebten Bruder stürmisch unter zärtlichen Küssen.
Hendrik setzte sich zu den Mädchen und nun erzählte die wiedergefundene Schwester auch ihm ihre Schicksale.
Mitten in ihrer Erzählung brach sie plötzlich ab; sie sah die Männer kommen, mit denen sie inzwischen durch Sannahs Berichte bekannt geworden war. Auch des Lords Namen hatte sie nun von der Schwester erfahren, und so viel Schönes und Gutes von allen, daß sie sich auch mit dem Professor und Doktor schon ordentlich befreundet fühlte, während der edle Lord bereits von früher her ihr ganzes Herz besaß.
»O, Ihnen muß ich danken!« rief Mietje, als sie Lord Flitmore erblickte. »Ich erzählte Hendrik von der Taube, die ich gleich Noah aussandte. Aber das arme Täubchen! Es mußte sein Leben lassen für mich!«
»Ja, das mußte wohl sein,« sagte Flitmore, »und es ist ein merkwürdiger Zufall, daß die Taube uns in die Hände fiel. Sie hätte ebensogut irgendeine andere Richtung einschlagen können; denn aus über fünfzehnhundert Kilometer Entfernung scheint auch die beste Brieftaube ihre Heimat nicht wieder zu finden, und bei meinen Versuchen war die höchste Leistung einer in Kapstadt gezüchteten Taube der Flug von dreizehnhundert Kilometern von Pretoria bis zum Kap. Wir müssen es als eine besondere Fügung betrachten, daß die Taube ihren Weg nach dem Tanganjika nahm, sonst wären wir zu spät gekommen und hätten nur Ihre Leiche gefunden. Freilich sieht es nun aus, als ob wir alle verhungern müßten; denn einen Ausweg wissen wir nicht und Lebensmittel haben wir keine.«
»O, der Baum hat noch so viel Früchte,« erwiderte Mietje, »aber ganz oben, ich konnte sie nicht mehr erreichen, obgleich der Hunger mich klettern lehrte wie eine Katze.«
»Hamissi, steige du hinauf,« befahl der Lord rasch. »Wir brauchen alle Nahrung.«
Hamissi verstand sich aufs Klettern wie nur ein Neger; er konnte zwar auch nicht die äußersten Zweige erreichen; aber er schnitt sie mit seinem Dolchmesser ab, und es fielen so viele der großen, melonenartigen Früchte zu Boden, daß sich die ganze Gesellschaft an ihrem mehligen Marke völlig sattessen konnte.
Nun mußte Mietje den versammelten Freunden ihre Schicksale ausführlich berichten.
»Nachdem meine arme Mutter und meine unglücklichen Schwestern im Konzentrationslager gestorben waren,« begann sie, »gelang es mir, mit einigen anderen Frauen bei einer günstigen Gelegenheit zu entfliehen, unter Beihilfe eines mitleidigen Wächters. Ich wurde aber auf der Flucht schwer krank, und edeldenkende Seelen nahmen mich in ihre Farm auf und pflegten mich treulich, während ich wochenlang im Fieber lag. Als ich endlich soweit hergestellt war, um weiter zu können, war der Friede schon lange geschlossen. Ich reiste mit einer Familie, die denselben Weg hatte, nach Hause, und erfuhr dort, daß Vater mit meinen überlebenden Brüdern und Sannah nach dem Mutansige getreckt sei. Ich wußte nicht, wie ich dorthin kommen sollte, bis ich erfuhr, daß einige Familien einen Treck nach Deutsch-Ostafrika unternahmen; denen schloß ich mich an.
»Mein Täubchen, das Ihr, edler Lord, mir geschenkt habt, nahm ich immer in seinem Käfig mit mir; ich fütterte es im Konzentrationslager, wenn ich selber Hunger litt; ich hatte es bei mir auf der Flucht; meine Pfleger unterhielten es während meiner Krankheit, und nun sollte es mich zu den Meinigen begleiten. Oft war ich versucht, dem Vogel die Freiheit zu schenken, ich brachte es aber doch nie übers Herz, mich von ihm zu trennen.
»Wir zogen durch Khamas, Matabele- und Mambunda-Reich über den Sambesi bis an den Fuß des Lokingagebirges; es war eine lange, lange Reise! Dann wandten wir uns dem Njassa zu. Da aber wurde unser Treck von Eingeborenen überfallen und alle wurden niedergemacht bis auf mich und einen achtzigjährigen Greis, der sich meiner immer väterlich angenommen hatte. Wir beide befanden uns nämlich gerade in einer Farm, deren Besitzer der Alte kannte, während der Überfall stattfand.
»Als wir, zum Lager zurückkehrend, von ferne das Schreckliche sahen, versteckten wir uns im Gebüsch. Die blutdürstigen Mörder aber zogen nun weiter, überfielen auch die einsame Farm, die wir eben verlassen hatten, und brannten sie nieder. So befanden wir uns als einzige Weiße inmitten der Einöde, der alte Lukas und ich.
»Er meinte, wir sollten über die Berge nach dem Kongo, da träfen wir am ehesten auf Weiße. Aber er war alt und gebrechlich, und die Ermordung der Seinigen hatte ihn tief erschüttert. Er starb, ehe wir den Gipfel erreichten; als wir ausruhten, schlief er ein und wachte nicht mehr auf. Nun war ich ganz allein und verzweifelte beinahe nach all dem Furchtbaren, das ich erlebt hatte.
»Doch ich vertraute auf Gott!
»Als ich die Höhe des Bergsattels erreichte, entschloß ich mich, zunächst den freien Gipfel zu ersteigen, zu dem es nicht mehr weit empor war. Dort hatte ich jedenfalls eine weite Aussicht, konnte das Land übersehen, und mir einige Kennzeichen des Weges merken, wie etwa Wälder und Seen, Bäche und Flüsse, denen ich folgen oder auf die ich zuhalten mußte.
»Auf der schmalen Bergspitze fand ich zu meiner Verwunderung eine große steinerne Platte gelegt, unzweifelhaft ein Werk von Menschenhand. Als ich sie jedoch betrat, wich der Boden unter meinen Füßen und ich stürzte hinab in die enge Felsschlucht, in die auch ihr gestern gelangtet. Es hatte damals eine ganz außerordentliche Trockenheit geherrscht, und das Wasser des Flusses rann nur spärlich; so konnte ich, im Flusse aufwärts watend, durch den gemauerten Gang dringen; flußabwärts wagte ich es nicht, denn der Tunnel dort war enger und schien mir unendlich zu sein, als ich hineinschaute und nichts sah als schwarze Nacht.
Ich kam zu dem Tempel in der schwarzen Steinwüste, und von dort führt das Tal im Bogen durch einen langen gewölbten Gang ohne Wasser in dieses Tal, sonst kann man nirgends hinaus. Ich kam dann noch bis zum Kupferschloß, aber weil nirgends ein Ausgang war, kehrte ich hierher zurück, wo der einzige Baum steht, der hier unten zu finden ist. Von seinen Früchten habe ich mich vier Monate lang genährt und meine Taube. Als ich aber sah, daß alle Früchte, die ich erreichen konnte, zu Ende gingen, entschloß ich mich zu dem verzweifelten Versuch, mein Täubchen mit einer Botschaft fliegen zu lassen. Dann habe ich bald hungern müssen. Nun, das habe ich schon im Konzentrationslager gelernt. Aber länger hätte ich es jetzt doch nicht mehr ausgehalten.«
Hendrik erzählte nun Mietje, was er von den Buren in der Nähe des Kiwusees erfahren hatte, daß Frans von seiner Wunde genesen, einem Treck nachgereist sei, dem er sich anschließen wollte, und der in der Sambesigegend vollständig niedergemacht wurde.
»Damit kann kein anderer Treck gemeint sein als der unsrige!« rief Mietje erregt. Die Zeit stimmt. Aber Frans kam nicht bis zu uns, ehe der große Mord geschah. Und er hat sein Ziel nicht erreicht?«
»Niemals! Man hat nichts mehr von ihm gehört.«
»Mein Gott, was mag aus dem armen Frans geworden sein!« seufzte Mietje.
Obgleich Mietje versicherte, sie habe in ihrer langen Gefangenschaft alles durchsucht und nirgends einen Ausgang gefunden, so wurde doch beschlossen, nach einem solchen zu fahnden; denn was blieb sonst übrig, als ohnmächtiges Verzweifeln?
Zunächst wurde das Tal auswärts untersucht; zur Rechten und Linken waren stets die gleichen unersteiglichen Wände. Im Hintergrund führte der von Mietje erwähnte Tunnel in das Tal mit der Tempelruine hinab.
Hier wurde über die schwarzen Basaltfelsen hinweg der weißschäumende Wasserlauf quellauf verfolgt. Bald aber hörte auch hier die Welt auf; eine hohe Wand schloß das Tal ab, von der sich das Wasser in einem mächtigen Wasserfall frei herabstürzte. Damit war auf dieser Seite alle Hoffnung auf einen Ausweg abgeschnitten, und enttäuscht gingen die Wanderer zum Baobab zurück. Hamissi mußte wieder einige Zweige abschneiden; doch wurde nur eine sehr sparsame Mahlzeit gehalten; denn der Rest der Früchte auf dem Baumriesen konnte eine Gesellschaft von elf Personen höchstens noch einige Tage ernähren.
Nachmittags ging es zum Kupferpalast zurück. Die aus sechs Quellen strömenden Wassermassen in dem weiten Tale zu stauen, so daß der tiefgelegene Abflußkanal trocken gelegt worden wäre, daran war hier nicht zu denken.
Die übrigen Seitentäler aber, aus denen die Wasserläufe kamen, boten alle denselben hoffnungslosen Anblick: überall schroffe, unersteigliche Wände, überall Staumauern mit einem Kanal, aus dem eine rasende Flut hervorschoß, jedes Vordringen zur Unmöglichkeit machend.
»Ich sehe nur ein Mittel, uns zu befreien,« sagte Flitmore düster, »und dieses ist so langwierig und anstrengend, daß es unsere Kräfte leider weit übersteigen dürfte, zumal wir nur noch auf wenige Tage Nahrung haben.«
»Und das wäre?« fragte Hendrik.
»Alle die Wasserkanäle derart zu verstopfen, daß sich das Wasser hinter ihnen staut und uns den Ausgangstunnel vor dem Kupferpalast freigibt.«
»Erstens,« sagte Leusohn, »würde uns die Gewalt der Strömung einzelner dieser Kanäle die Blöcke unter der Hand fortreißen.«
»Zweitens,« ergänzte Schulze, »wäre das eine Arbeit von mindestens drei Wochen, während wir in längstens drei Tagen nichts mehr zu essen haben.«
Flitmore zuckte die Achseln. Beide Bedenken waren nur zu sehr gerechtfertigt.
Sie standen während dieses Gesprächs auf der Westseite des Kupferpalastes und schauten an der glatten Felswand empor, die keinem menschlichen Fuß einen Halt bot, abgesehen von kleinen schwarzen Löchern, auf die niemand sonderlich achtete, weil sie bei ihrer großen Entfernung voneinander zum Erklettern der Wand nicht dienlich sein konnten.
Dennoch boten eben diese wohlgerundeten Löcher von der Größe eines Tellers einen Anblick, der jedem scharfsinnigen Beobachter hätte zu denken geben sollen.
Befangen in ihren trübseligen Betrachtungen und nur nach den Auskunftsmitteln forschend, mit denen ihre Gedanken sich beschäftigten, sannen jedoch die Weißen gar nicht weiter über die Öffnungen nach, ja ihre Blicke glitten ganz gedankenlos über diese für sie anscheinend so wertlose Merkwürdigkeit weg.
Was ihnen hätte auffallen sollen, war, daß jene Löcher, wie gesagt, gleichmäßig abgerundet waren, ferner in regelmäßigen Abständen voneinander Reihen bildeten, die im Zickzack an der Felswand hinaufliefen.
Das erste Loch befand sich rechter Hand, etwa drei Meter über dem Erdboden; ihm folgten in einer schräg ansteigenden Reihe fünf weitere ganz gleiche Öffnungen in regelmäßigen Abständen von etwa fünf Metern. Das letzte dieser Löcher konnte zwölf bis vierzehn Meter vom Talgrund entfernt sein.
Von ihm aus ging wieder eine Reihe, ebenfalls ansteigend, nach rechts, deren letzte Öffnung etwa zwanzig Meter über der ersten stehen mochte oder dreiundzwanzig Meter über dem Erdboden.
So liefen sieben Linien im Zickzack empor, bis das letzte Loch sechzig bis achtzig Meter über der Talsohle zu linker Hand herabgähnte.
Tipekitanga war die einzige, die das alles beobachtete, darüber nachdachte, und ihre Schlüsse daraus zog.
Plötzlich riß sie zwei meterlange Grashalme aus dem Boden, Land sie zusammen und knüpfte sie an einen Pfeil.
Kopfschüttelnd bemerkte Lord Flitmore dieses merkwürdige Gebaren. War es der Kleinen noch um kindische Spielereien zu tun?
Da schwirrte der Pfeil ab, und, seinen langen Schweif nach sich ziehend, verschwand er im untersten der Löcher, und siehe da! Die Grasschnur verschwand ebenfalls bis auf ein Endchen, das noch heraushing, während der Pfeil im Innern der Felswand dumpf aufschlug
»Hu!« rief die Zwergprinzessin frohlockend.
Und »Hurra!« rief der Lord. »Wer sollte es glauben? Diese Kleine hat mehr Beobachtungsgabe und Scharfsinn bewiesen als wir alle miteinander.«
»Was ist los?« fragte Schulze, dem die Sache noch nicht klar war.
»Sehen Sie,« sagte Flitmore, »hinter jener Öffnung befindet sich ein Hohlraum von beinahe zwei Meter Breite, da fast die ganze Grasschnur an Tipekitangas Pfeil darin verschwand. Was bedeuten nun diese regelmäßigen Löcher, die in Zickzacklinien emporsteigen?«
»Hurra!« rief nun auch Hendrik. »Die Löcher sind die Fensteröffnungen eines Ganges, der in der Felswand hinaufführt.«
»Kein Zweifel,« stimmte nun Leusohn bei. »Ich habe doch immer gedacht, die alten Ägypter müssen einen vernünftigen Zugang zu diesen Wunderwerken gehabt haben, falls sie noch keine lenkbaren Luftschiffe besessen haben sollten.«
»Aber wo ist der Eingang?« forschte Helene.
»Jedenfalls im Sande begraben,« erwiderte Schulze.
»Eben diesen Zugang gilt es zu finden,« sagte Flitmore. »Wir müssen nachgraben. Aber nicht planlos wollen wir ans Werk gehen, sondern zunächst überlegen, wo die meiste Aussicht ist, ihn zu finden. Wer kann am besten Entfernungen schätzen?«
»Darauf meine ich mich etwas zu verstehen, wenn Sie's erlauben, Mylord,« sagte Johann; »beim Militärdienst nämlich brachte ich's immer sozusagen am besten heraus.«
»Gut! Wie hoch meinst du, daß die erste dieser Öffnungen über dem Boden liegt?«
»Rund drei Meter,« sagte der Bursche nach kurzem Besinnen.
»Und wie hoch gerade über diesem das letzte Loch der zweiten Reihe?«
»Sozusagen zwanzig Meter, wenn ich mir nicht gestatten sollte, mich zu irren.«
»Und von dieser Öffnung bis zu der darüber befindlichen letzten Öffnung der vierten Reihe?«
»Das sieht weniger aus, aber sozusagen nur von wegen der perspektivischen Verkürzung, die man nicht unterlassen darf in erwägende Betrachtung zu ziehen: es werden auch wieder zwanzig Meter sein mögen.«
»Gut!« sagte der Lord: »Schon hieraus erkennen wir die Regelmäßigkeit der Anlage. Die erste Reihe von Öffnungen über dem Erdboden ist in Wirklichkeit die zweite der ganzen Anlage; die erste Reihe ist unter dem Sand begraben. Da dieser, wie wir im Kupferschloß feststellen konnten, sechs bis acht Meter hoch die ursprüngliche Talsohle deckt, so muß in dieser Tiefe der Eingang zu der inneren Felsengalerie sich befinden.
»Nun ist zwischen den senkrecht übereinanderstehenden Endlöchern der Reihen ein regelmäßiger Abstand von etwa zwanzig Metern; das letzte Loch der ersten sichtbaren Reihe, das sich ungefähr dreizehn Meter über dem Erdboden befindet, steht daher ebenfalls zwanzig Meter über der ersten Öffnung der vergrabenen Reihe. Diese muß sich also in sieben Meter Tiefe befinden, und da wir damit die ursprüngliche Talsohle erreichen, ist jedenfalls hier der Eingang zum Ganzen zu finden. Wir müßten also hier links einen sieben Meter tiefen Schacht ausheben.«
»Stimmt!« sagte Schulze. »Die Schlußfolgerung leuchtet mir ein. Auf zur praktischen Feststellung!«
Dies war nun nicht so einfach, weil es an Schaufeln und irgendwelchen Werkzeugen fehlte und die Arbeit mit bloßen Händen doch gar zu langwierig gewesen wäre. Auf Hendriks Rat wurden zunächst im Kupferpalast abgebrochene Metallstücke gesucht, und man fand denn auch nach und nach fünf Bruchstücke, die schließlich Schaufeln ohne Stiel abgaben. Dann kehrte man zum Baobab zurück und schnitzelte aus den abgeschnittenen Zweigen die Stiele, die unten gespalten wurden, so daß sich die Metallstücke fest einklemmen ließen. Inzwischen wurde es Nacht und nach kärglichem Mahle begab man sich zur Ruhe.
In der ersten Morgenfrühe wurde ein Frühstück eingenommen und dann ging es hoffnungsvoll an die Arbeit. Tatsächlich fand sich der Eingang zur Galerie in sieben Meter Tiefe; da aber der ganze Gang, soweit er unter dem Erdboden lag, sich mit Sand und Geröll angefüllt zeigte, mußte er in seiner ganzen Länge bloßgelegt und dann ausgeschaufelt werden, eine Arbeit, die bei allem Fleiß und Eifer drei Tage in Anspruch nahm.
Nun aber war der Weg frei, der im Innern der Wand emporstieg, bis ganz oben eine vielfach gewundene Höhle durch den Felsen selber nach der anderen Seite des Bergabhangs ins Freie führte.
Der Ausgang der Höhle auf dieser Seite war so dicht mit Gebüsch überwachsen, daß es große Mühe kostete, hinauszugelangen; von außen wäre es einem Unkundigen überhaupt unmöglich gewesen, ihn zu entdecken.
Hier befanden sich die glücklich Geretteten nur wenig über ihrem Lager, wo die Schwarzen an ihre Rückkehr nicht dachten.
Sie hatten gesehen, wie der Gipfel des Gespensterbergs die Besteiger nacheinander verschlungen hatte und waren fest überzeugt, daß diese das schreckliche Schicksal so vieler Vorgänger geteilt hätten und nie wieder etwas von ihnen gehört werden würde.
Deshalb drängten sie auch zum sofortigen Aufbruch, fort aus der unheimlichen Nähe des dämonischen Berges.
Nur Achmeds Festigkeit, der hierin von Hassan, Kaschwalla und Juku unterstützt wurde, hatten es die Weißen zu danken, daß sie ihre Karawane überhaupt noch antrafen.
Die vier Genannten waren zwar ebenso fest überzeugt, wie alle andern, daß keinerlei Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Herren bestehe, aber sie sagten: »Fünf Tage hat der Bwana gesagt, sollen wir warten. Fünf Tage müssen wir bleiben; dann kehren wir um.«
Und siehe da, gerade am Abend des fünften Tages erschienen plötzlich die Totgeglaubten auf dem Berge, kaum hundert Meter über dem Lager.
Achmed und Hassan hatten just mit scheuen Blicken den unheimlichen Berg beobachtet, wie schon oft, den Geisterberg, der die guten Herren und die lieben Damen, Hassans treue Schwester und die edle Zwergprinzessin dazu verschlungen hatte. Und siehe, da tauchten sie plötzlich auf: sie kamen nicht von oben herab, nein, sie stiegen aus der Flanke des Berges heraus.
Ein brausendes Jubelgeschrei erhob sich im Lager, als die Nachricht bekannt wurde, und alle mit eigenen Augen das Wunder erblickten.
Rauschende Freude, gemischt mit scheuer Ehrfurcht, empfing die Rückkehrenden, und noch lange sangen die Schwarzen von den mächtigen weißen Zauberern, die selbst die Djinns des verrufenen Berges Gumr besiegt hätten, und denen nicht einmal Iblis, der Satan, und alle Scheitans, die Teufel, etwas anzuhaben vermöchten, weil sie mit Allah im Bunde stünden.
Flitmore ließ den jungen Elefanten herbeiführen: »Er gehört Ihnen, Mietje!« sagte er: »Nehmen Sie ihn an, er trägt Ihren Namen.«
Mietje war hocherfreut und dankbar über dieses liebenswürdige Geschenk.
»Und nun,« sagte Flitmore weiter: »Nun werden wir eilen, Sie und Sannah mit Hendrik in die Arme Ihres Vaters und Ihrer Brüder zurück zu führen. Unsere weitere Forschungsreise hat Zeit und ist nicht so wichtig.«
»Nein!« erwiderte Mietje: »Sie gedachten nach dem Sambesi weiter zu ziehen. Nun, ich habe mich fest entschlossen, nicht eher heimzukehren, als bis ich sichere Kunde habe über das Schicksal meines Bruders Frans. Es läßt mir keine Ruhe, seit ich weiß, daß er genas, während wir ihn schon längst begraben wähnten, seit ich weiß, daß er nach dem Sambesi unserem unseligen Treck nachzog. Mein Gott! wenn er noch lebte und der Hilfe bedürfte, wie es mir erging! Sollten wir ihn ganz vergessen und verlassen? Und ob er tot ist: Gewißheit muß ich haben, ehe ich darauf verzichte, ihm nachzuforschen. Ich habe in der Stille ein Gelübde getan, da mir so wunderbar geholfen wurde: das Gelübde will ich halten! Darum bitte ich, nehmen Sie mich mit an den Sambesi!«
Auch Sannah und Hendrik erklärten, nicht umkehren zu wollen, und so wurde denn der Gedanke an eine Rückkehr nach Oranjehof vorläufig aufgegeben und die Losung hieß nach wie vor: »Nach Ophir!«
Die Buchstaben vor jeder Quelle bezeichnen die Abkürzung, unter welcher das Werk in den Einzelnachweisen angegeben wird.
1. A. Afrika in Wort und Bild. Calw und Stuttgart, Verlag der Vereinsbuchhandlung. 414 S.
2. O. B. a. Dr. Oskar Baumann. In Deutsch-Ostafrika während des Aufstandes. Reise der Dr. Hans Meyerschen Expedition in Usambara. Wien und Olmütz. Eduard Hölzel. 1890. 219 S.
3. O. B. b. Derselbe. Usambara und seine Nachbargebiete. Berlin. Dietrich Reimer. 1891. 363 S.
4. O. B. c. Derselbe. Durch Massailand zur Nilquelle. Reisen und Forschungen der Massai-Expedition des deutschen Antisklaverei-Komitees in den Jahren 1891-1893. Berlin. Dietrich Reimer. 1894. 377 S.
5. S. B. Samuel White Baker. Der Albert Nyanza, das große Becken des Nil und die Erforschung der Nilquellen. Autorisierte vollständige Ausgabe für Deutschland. Aus dem Englischen von J. E. A. Martin. Jena. Hermann Costenoble. 1867. Bd. I. 838 S. Bd. II. 303 S.
6. H. B. Dr. Heinrich Barth. Reisen und Entdeckungen in Nord- und Zentralafrika in den Jahren 1849-1855. Gotha. Justus Perthes. 1857. Bd. I. 622 S. Bd. II. 755 S. Bd. III. 584 S. Bd. IV. 671 S. Bd. V. 734 S.
7. C. Major Gaetano Casati. Zehn Jahre in Äquatoria und die Rückkehr mit Emin Pascha. Aus dem Italienischen von Prof. Dr. Karl Reinhardstöttner. Bamberg. C. C. Buchner. 1891. Bd. I. 314 S. Bd. II. 292 S.
8. A. F. Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg. Ins innerste Afrika. Bericht über den Verlauf der deutschen wissenschaftlichen Zentral-Afrika-Expedition 1907-1908. Leipzig. Klinkhardt und Biermann. 1909. 476 S.
9. H. Dr. Kurt Hassert. Deutschlands Kolonien. Leipzig, Dr. Seele u. Cie. 1899.
10. J. Dr. Wilh. Junkers Reisen in Afrika 1875-1886. Wien und Olmütz. Eduard Hölzel. 1889. Bd. I. 585 S. Bd. II. 560 S. Bd. III. 708 S.
11. K. Dr. phil. J. L. Krapf. Reisen in Ostafrika, ausgeführt in den Jahren 1837-1855. Kornthal 1858. Bd. I. 505 S. Bd. II. 521S.
12. K. u. H. Kolonie und Heimat in Wort und Bild. Berlin, 16. Jan. 1910. Nr. 9. »Ostafrikanische Charakterbäume«. S. 4.
13. L. David et Charles Livingstone. Exploration dans l'Afrique australe et dans le Bassin du Zambèse. Depuis 1840 jusqu'à 1864. Ouvrage traduit par Mme. Henriette Loreau. Paris. Hachette et Cie. 1874. 334 S.
14. H. M. a. Prof. Dr. Hans Meyer. Ostafrikanische Gletscherfahrten. Forschungsreise im Kilimandjarogebiet. Leipzig. Duncker und Humblot. 1890. 355 S.
15. H. M. b. Derselbe. Der Kilimandjaro. Reisen und Studien. Berlin. Dietrich Reimer. 1900. 429 S.
16. v. M. a. Heinrich Freiherr von Maltzan. Drei Jahre im Nordwesten von Afrika. Reisen in Algerien und Marokko. Leipzig. Dürr. 1868. Bd. I. 285 S. Bd. II. 314 S. Bd. III. 314 S. Bd. IV. 304 S.
17. v. M. b. Derselbe. Reise in den Regentschaften Tunis und Tripolis. Leipzig. Dyk. 1870. Bd. III. 374 S.
18. E. M. Eduard Mohr. Nach den Viktoriafällen des Zambesi. Leipzig. Ferdinand Hirt und Sohn. 1875. Bd. I. 327 S. Bd. II. 212 S.
19. P. a. Dr. Karl Peters. Die deutsche Emin-Pascha-Expedition. München und Leipzig. R. Oldenbourg. 1891. 553 S.
20. P. b. Derselbe. Im Goldland des Altertums. Forschungen zwischen Sambesi und Sabi. München. J. F. Lehmann. 1902. 377 S.
21. S. P. Serpa Pinto's Wanderung quer durch Afrika vom Atlantischen zum Indischen Ozean. Frei übersetzt von H. v. Wobeser. Leipzig. Ferdinand Hirth und Sohn. 1881. Bd. I. 349 S. Bd. II. 326 S.
22. R. Gerhard Rohlfs. Drei Monate in der Libyschen Wüste. Cassel. Theodor Fischer. 1875. 340 S.
23. S. Prof. Dr. Wilh. Sievers. Afrika. Bibliographisches Institut. Leipzig und Wien.
24. H. S. a. Henry M. Stanley. Durch den dunkeln Weltteil oder Die Quellen des Nils. Reisen um die großen Seen des äquatorialen Afrika und den Livingstone-Fluß abwärts nach dem Atlantischen Ozean. Autoris. deutsche Ausgabe aus dem Englischen von Prof. Dr. C. Böttger. Leipzig. F. A. Brockhaus. 1878. Bd. I. 552 S. Bd. II. 600 S.
25. H. S. b. Derselbe. Im dunkelsten Afrika. Aufsuchung, Rettung und Rückzug Emin Paschas, Gouverneurs der Äquatorialprovinz. Leipzig. F. A. Brockhaus. 1890. Bd. I. 515 S. Bd. II. 435 S.
26. H. S. c. Derselbe. Wie ich Livingstone fand. Reisen, Abenteuer und Entdeckungen in Zentral-Afrika. Autoris. deutsche Ausgabe. 2. Aufl. Leipzig. F. A. Brockhaus. 1885. Bd. I. 342 S. Bd. II. 356 S.
27. F. S. Dr. Franz Stuhlmann. Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika. Berlin. Dietrich Reimer. 1894. 868 S.
28. L. S. Erzherzog Ludwig Salvator. Eine Jachtreise an den Küsten von Tripolitanien und Tunesien. Würzburg. Leo Wörl. 1874. 376 S.
29. P. S. Prof. Dr. P. Samassa. Wanderungen am Kilimandscharo und Meru. Daheim, 6. Noo. 1909, Nr. 6.
30. Sch. Dr. Georg Schweinfurth. Im Herzen von Afrika. Reisen und Entdeckungen im zentralen Äquatorialafrika während der Jahre 1868 bis 1871. Leipzig. F. A. Brockhaus. 1874. Bd. I. 599 S. Bd. II. 545 S.
31. B. Vita Hassan. Die Wahrheit über Emin Pascha, die ägyptische Äquatorialprovinz und den Sudan. Aus dem Französ. von Dr. B. Moritz. Berlin. Dietrich Reimer. 1893. Bd. I. 223 S. Bd. II. 246 S.
32. W. a. Hermann Wihmann. Unter deutscher Flagge quer durch Afrika von West nach Ost. Von 1880 bis 1883 ausgeführt von Paul Pogge und Hermann Wißmann. Berlin. Walther und Apolant. 1889. 406 S.
33. W. b. Hermann von Wißmann. Meine zweite Durchquerung Äquatorial-Afrikas vom Kongo zum Zambesi während der Jahre 1886 und 1887. Frankfurt a. O. Trowitzsch und Sohn. 254 S.
34. X. Kurze Notiz über die Expedition des Britischen Museums unter Wollaston und Carruther. Deutsche Reichspost. Stuttgart, 4. Juni 1907. Nr. 126.
35. Verschiedene Aufsätze und Berichte aus Zeitungen und Zeitschriften.
Zur zweiten Auflage:
36. G. Graf von Götzen. Durch Afrika von Ost nach West. Berlin. 1895. Dietrich Reimer. 406 S.
37. R. K. Richard Kandt. Caput Nili. Berlin. 1904. Dietrich Reimer. 530 S.
Um Wiederholungen zu vermeiden, habe ich in der Regel Nachweise, die in den andern beiden Bänden schon ausführlich gegeben sind, übergangen, dagegen gelegentlich aus diese verwiesen; dabei bedeuten die Abkürzungen:
Zw. — »Im Lande der Zwerge«.
O. — »Ophir«.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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