Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.
RGL e-Book Cover
Based on an image created with Microsoft Bing software
"Die tote Stadt," Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1923
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
"Die tote Stadt," Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 1923
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
Die Tote Stadt in ihren zwei Teilen, deren zweiter die Überschrift »Der letzte Atlantide« führt, ist mein erster Versuch aus dem Gebiete der Jugenderzählung, der infolge verschiedener Umstände erst jetzt zur Buchausgabe gelangt. Die Tote Stadt entstand zu einer Zeit, da die Südpolarforschung völlig vernachlässigt wurde. Ich vertrat damals die Ansicht, daß der Südpol auf einer größeren, zusammenhängenden Festlandmasse liege, daß seine Erreichung am leichtesten von Viktorialand oder vom Weddellmeere aus möglich wäre und viel weniger Schwierigkeiten biete, als die Erreichung des Nordpols. Diese schon 1899 veröffentlichte Überzeugung wurde inzwischen, nachdem die Südpolforschung einen erneuten Aufschwung nahm, durch die Erfolge von Scott, Shakleton, Amundsen und Filchner bestätigt. Bei einer gründlichen Neubearbeitung der Erzählung berücksichtigte ich die neuesten Forschungsergebnisse.
Die vielfach von ernsten wissenschaftlichen Forschern erörterte Möglichkeit eines warmen, ja tropischen Klimas am Südpol mit Urweltlandschaft und Urwelttieren, schien mir wert, der Schilderung zu Grunde gelegt zu werden, obgleich ich ihre Bestätigung nicht erwartete. In der Tat hat sie sich auch nicht bestätigt, was mich durchaus nicht überraschte. Ich hatte daher von Anfang an im zweiten Teile dafür gesorgt, daß der plötzliche Untergang dieser Urwelt und die rasche völlige Vergletscherung der Südpolargegenden vorausgesehen werden müßten, so daß bei der Entdeckung des Poles nur noch die Eiswüste vorgefunden würde, wie sie sich tatsächlich dort fand.
Im übrigen will die Erzählung unterhalten, gediegene Kenntnisse vermitteln, die Phantasie in gesunder Weise anregen und die Jugend für tüchtige und edle Vorbilder erwärmen. Gelingt ihr dies, so ist ihr Zweck erfüllt.
Stuttgart 1923
Friedrich Wilhelm Mader
Professor Frank
Ernst Frank, sein Sohn
Georg Werner, Ernsts Freund
Baron von Münkhuysen
Eva, seine Tochter
Kapitän Hugo von Münchhausen, sein Vetter
Professor Heinrich Schulze aus Berlin
Professor Michael Mäusle
Neeltje, geb. Van Rijn, seine Frau
Raimund, Professor der Physik aus Württemberg
Holm, schwedischer Ingenieur
Dr. Maibold, Arzt
Cavini, Geloso, italienische Steuermänner
Luigi, Carlo, Pietro, Antonio, Enrico, italienische Matrosen
»Ich hab's!« rief Professor Frank befriedigt aus und überlas noch einmal die Zeilen, die er niedergeschrieben hatte.
Welche Mühe hatte es ihn gekostet, das rätselhafte Schriftstück zu entziffern und hernach die fremdartigen Worte einer völlig unbekannten Sprache zu deuten! Es waren nur wenige Zeilen, und doch hatte ihre Enträtselung mehrere Wochen in Anspruch genommen. Ja, eben die Kürze der Botschaft hatte die Schwierigkeit ihrer Übersetzung gesteigert, weil sie umso weniger Vergleichspunkte bot.
Daß es sich um eine Buchstabenschrift handelte, hatte Professor Frank bald erkannt, und da er in den ältesten Sprachen wohlbewandert war, fiel ihm auch sofort auf, daß die Zeichen einige Ähnlichkeit mit dem Sanskritalphabet aufwiesen. Je älter die Sprache, desto vollkommener ist sie, sowohl in der Reichhaltigkeit der Formen, als in der Fülle der schriftlichen Unterscheidung verschiedener Laute. Das Sanskritalphabet enthält nicht weniger als neunundvierzig Buchstaben, also mehr als das Doppelte unserer heutigen Alphabete. In dem vorliegenden Schriftsatz waren fünfzig verschiedene Zeichen erkennbar, und da er keinesfalls alle Buchstaben der unbekannten Sprache enthielt, war auf eine noch größere Fülle zu schließen. Der Professor schloß daraus, daß es sich um eine Sprache handeln müsse, die noch älter sei als die heilige Sprache Indiens, und höchst wahrscheinlich deren Urform darstellte. Diese Erkenntnis half ihm nach und nach, die Bedeutung der einzelnen Zeichen mit ziemlicher Sicherheit festzustellen.
Es ergaben sich hieraus Worte, die vielfach in Form und Laut an Wortstämme des Sanskrit, zum Teil auch an ägyptische und chaldäische erinnerten. Durch angestrengtes Nachsinnen und scharfsinnige Schlußfolgerungen brachte Frank allmählich die Bedeutung einzelner Worte mit großer Wahrscheinlichkeit heraus. Dabei kam es ihm zustatten, daß er die meisten toten Sprachen beherrschte und zum Vergleich heranziehen konnte. Die Bedeutung völlig fremdartiger Wörter erriet er schließlich nach vielem Tasten aus dem Zusammenhang. So kam allmählich Sinn in die geheimnisvollen Sätze und es blieben nur noch wenige Unklarheiten übrig, die jedoch die Deutung des Ganzen nicht mehr wesentlich beeinträchtigen konnten.
Jetzt war er endlich so weit und besah sich noch einmal kopfschüttelnd die Urschrift: was für eine seltsame Urkunde war das! Schon das Blatt, auf dem die Schrift stand, war etwas völlig Fremdartiges — kein Papier, kein Pergament, kein Papyrus oder sonst ein pflanzlicher Stoff! — Glatt und hart war es, wie Stein oder Metall, und doch so biegsam, daß es sich rollen und falzen ließ und beim Entfalten keine Spur eines Knicks zeigte. Dabei war es zäh, geradezu unzerreißbar und unzerbrechlich.
Ebenso merkwürdig war die Art und Weise, wie der Professor zu diesem Schriftstück gelangt war: ein Freund in Kapstadt hatte es ihm zugesandt und dazu geschrieben, er habe es in den Schwanzfedern einer Kaptaube entdeckt, die er in Südgeorgien erlegt habe.
Aber woher und von wem stammte dieses rätselhafte Blatt? Nun, darüber schien der Inhalt des Schreibens alle wünschenswerte Auskunft zu geben, doch eben diese erschien noch das Allerseltsamste von allem.
»Es sind Verse,« sprach Professor Frank vor sich hin: »Ich will versuchen, meine Übersetzung in deutsche Verse zu bringen, um der Vorlage völlig gerecht zu werden.«
Damit machte er sich wieder an die Arbeit, wenn man das Dichten, das er oft übte, eine Arbeit nennen darf.
Er kam rasch damit zustande und hatte soeben die letzte Zeile niedergeschrieben, als sein Sohn eintrat.
Dieser war ein schlanker Jüngling von zweiundzwanzig Jahren. Er hatte vor kurzem seine naturwissenschaftlichen Studien auf der Hochschule beendet und schickte sich nach glänzend bestandener Prüfung an, sich an einer Forschungsreise zu beteiligen.
»Ich bin am Ziel, Ernst!« rief ihm der Vater zu: »Endlich, endlich ist Licht in die Sache gebracht: das heißt, das Schriftstück konnte ich entziffern, der Inhalt jedoch bleibt mir völlig unerklärlich.«
»Wie lautet er denn?« fragte Ernst in höchster Spannung.
Der Professor nahm seine Übersetzung zur Hand und las:
»Im Lande umgürtet vom ewigen Eis,
Wo die Sonne sechs Monden den goldenen Kreis
Am Himmel hinführt, — welch ein trauriges Los
Erduldet Atlanta im Erdenschoß!
Sind Menschen noch sonst auf der Erde Rund,
O Taube, so tue doch du ihnen kund.
Daß hier im Gefängnis von ewigen Eis
Nach Menschen sich sehnt eine Seele so heiß!
Wohl blühen die Fluren dort oben im Licht,
Doch trösten die Blüten die Einsame nicht;
Wohl wimmeln die Wälder von grausem Getier,
Doch grüßet kein Mensch, keine Jugend mich hier.
Rings starret von ragenden Gletschern die Wand:
Wagt Keiner die Fahrt ins verschlossene Land?
O! leben noch Menschen auf Erden so weit.
Ich rufe euch, daß ihr Atlanta befreit!
Atlanta, im fünften Jahre vor der Rückkehr des fünfundsiebzigjährigen Schweifsterns.«
»Ein Notschrei aus dem ewigen Eis!« rief Ernst, aufs höchste erstaunt: »Vom Südpol natürlich, da die Kaptaube in dessen Nähe erlegt wurde. Sollte es eine Schiffbrüchige sein?«
»Das ist undenkbar,« entgegnete der Professor: »Es handelt sich, wie wir hören, um ein weibliches Wesen, das sich ganz vereinsamt fühlt. Es scheint ein junges Mädchen zu sein, dem es völlig unbekannt ist, ob überhaupt noch sonstwo Menschen auf Erden leben. Der Südpol muß also wohl ihre Heimat sein, wo sie ausgewachsen ist und die Bewohner am Aussterben oder eher schon ausgestorben sind bis auf diese Eine.«
»Nein! Wie schrecklich!« sagte der Jüngling teilnahmsvoll. Sein Vater aber fuhr fort: »Auch die bisher völlig unbekannte Schrift und Sprache beweisen, daß es sich um ein noch nicht entdecktes, in unzugänglichen Gegenden abgeschieden lebendes Volk handeln muß. Darauf weist auch der Stoff hin, aus den die Schriftzüge mit unverwüstlicher Farbe gemalt sind, und der von allen uns bekannten Stoffen wesentlich verschieden ist.«
»Höre, Papa!« rief nun Ernst lebhaft: »Ist das nicht eine ganz merkwürdige Fügung, daß uns diese Botschaft in die Hände gelangt gerade in dem Augenblick, da ich im Begriffe bin, die Südpolargegenden aufzusuchen? Vielleicht entdecken wir die Schreiberin und können sie aus ihren Nöten befreien. Ist wohl die Handschrift schon alt?«
»Durchaus nicht! Sie stammt aus diesem Jahre, wie die Zeitbestimmung beweist. Denn mit dem fünfundsiebzigjährigen Schweifstern, der in fünf Jahren wiederkehren soll, kann nur der Halleykomet gemeint sein, der im Jahre 1910 der Erde wieder erscheinen muß. Wir ersehen daraus, daß die Schreiberin einem Volke angehört, das auf einer hohen Bildungsstufe steht, denn seine astronomischen Kenntnisse befähigen es, die Kometenbahnen genau zu berechnen. So weit sind wir selber erst seit zweihundert Jahren gekommen. Zugleich erkennen wir, daß die Schreiberin scharfen Verstand und klare Überlegung besitzt: sie bestimmt nämlich das Jahr nicht nach einer Zeitrechnung, die vielleicht ihrem Volke eigen ist, von der sie jedoch denken muß, sie könne anderen Völkern unbekannt sein, sie wählt vielmehr eine Zeitrechnung, die allgemein gültig ist, und von der sie vermuten durfte, sie müsse von gebildeten Menschen auf der ganzen Erde verstanden werden.«
»Hurra!« jubelte Ernst: »Diesem klugen Geschöpfe müssen wir Hilfe bringen! Du gibst mir doch das Schreiben mit, Papa?«
»Unter keinen Umständen! Es ist eine so ungewöhnliche und ganz einzigartige Urkunde, daß ihr Verlust unersetzlich wäre. Doch habe ich sie bereits photographiert, um sie anderen Gelehrten zugänglich zu machen, und du kannst Abzüge von meiner Aufnahme haben, soviel du willst. Auch die Übersetzung kannst du hektographisch vervielfältigen.«
Der Jüngling ließ sich das nicht zweimal sagen: er bat sich drei Abzüge aus und ging dann an die Vervielfältigung der deutschen Verse.
Sowie er mit dieser Arbeit fertig war, begab er sich zu seinem besten Freunde, Georg Werner, der sich lebhaft für die geheimnisvolle Schrift interessierte, und teilte ihm mit, daß die Entzifferung geglückt sei.
Georg war um vier Jahre jünger als Ernst; er zählte achtzehn Jahre und hatte soeben die Reifeprüfung des Gymnasiums bestanden. Er war eine elternlose Waise und lebte im Hause eines Onkels, wo er sich gar nicht wohl fühlte und eine trübe Jugendzeit verbracht hatte. Sein Oheim selber war zwar ein edler, gutherziger Mann, der ihn stets väterlich behandelt hatte; allein die übrigen Hausgenossen ließen es ihn jederzeit empfinden, daß er ein Fremdling in der Familie sei.
Da hatte ihm Ernsts Freundschaft ganz besonders wohlgetan. Die beiden waren trotz des Altersunterschieds ein Herz und eine Seele. Georg war, vielleicht eben wegen seiner Heimatlosigkeit und seiner bitteren Erfahrungen, frühe gereift, und Ernst Frank konnte mit ihm verkehren wie mit einem Altersgenossen.
Nun vernahm der Freund die Deutung des rätselhaften Schriftstücks mit großer Freude und höchstem Staunen.
Die Freunde malten sich die Lage der Schreiberin aus: eine Prinzessin mußte es sein; tief unter der Erde in einem mittelalterlichen Burgverließ schmachtend, in einem einsamen Turme mitten im Gletschereis des Südpols. Um den Turm her blühten Gärten und grünten Wälder, durch geheimnisvolle Künste eines weit fortgeschrittenen Volks in den Eiswüsten hervorgezaubert. Vom Gitterfenster ihres Gefängnisses konnte die Königstochter die Pracht schauen und empfand es doppelt schwer, daß ihr das freie Streifen durch Wald und Flur versagt blieb.
Georg ließ sich einen Abzug des Originals und der Übersetzung geben und sagte: »So! Nun will ich die Sprache der verzauberten Prinzessin lernen: ich habe alles, was ich dazu brauche.«
Ernst lachte: »Du bist kühn! Das Alphabet wirst du dir ja so ziemlich einprägen können, da die meisten Buchstaben in dem Schriftstück vorkommen werden, so daß du die fremde Sprache lesen und schreiben lernen magst. Auch eine Reihe von Wörtern und Formen kannst du dir aneignen. Aber weiter in das Verständnis der geheimnisvollen Sprache eindringen zu wollen, wäre ein aussichtsloses Unternehmen: dazu ist der Wortschatz des Zettels denn doch zu gering.«
»Gewiß! Aber einen guten Anfang werde ich gemacht haben, eine ganze Reihe von Ausdrücken inne haben und vieles vom Satzbau und der Formenlehre kennen. Vielleicht finde ich dann späterhin Gelegenheit, meine Kenntnisse zu erweitern und werde dann nur noch auf geringe Schwierigkeiten stoßen. Aber wie beneide ich dich! Du darfst nach dem Südpol reisen und wirst hundert merkwürdige Abenteuer bestehen, vielleicht gar unsere Prinzessin erlösen. Und ich muß daheim bleiben! Nun, ich gönne dir dein Glück von Herzen; aber wenn ich mit könnte! Nicht rasten und ruhen wollte ich, bis ich das Rätsel des Südpols und seiner Bewohner gelöst hätte, und müßte ich tausend Gefahren und Schrecknisse überwinden!«
Allein für Georg Werner bestand keine Aussicht, daß seine Sehnsucht Befriedigung fände.
Bald kam der Tag, da Ernst von seinem Vater Abschied nehmen sollte.
Der Professor war kein Mann vieler Worte; dennoch glaubte er, seinem Sohne auf eine so weite und gefahrvolle Reise einige Ratschläge mitgeben zu müssen und schärfte ihm noch besonders ein: »Die größten Gefahren des Aufenthaltes in völliger Abgeschiedenheit, wie sie eine Fahrt in die Polargegenden mit sich bringt, sind die üble Laune und die Langeweile. Letztere ist oft ein Anlaß zu ersterer, und dann leiden alle schwer unter den meist kleinlichen Zwistigkeiten, die doppelt verhängnisvoll wirken, wenn sie Menschen entzweien, die so ganz und gar aufeinander angewiesen sind. Man ist in seiner, vielleicht grundlosen Verstimmung gar zu leicht versucht, sich über die anderen zu ärgern, ihnen alles zu mißdeuten und übel zu nehmen und wegen der geringfügigsten Ursachen Streit anzufangen.
»Darum sei immer tätig, freundlich, entgegenkommend und dienstbereit, auch wenn es dich Selbstüberwindung kostet. Gibt es nichts zu tun, vielleicht während wochenlang andauernder Schneestürme in der Polarnacht, die den Aufenthalt im Freien verbieten, so schaffe dir eine Arbeit, und auch der geringste Dienst sei dir nie zu schlecht; müssen doch auch alle Knechts- und Magdarbeiten von den Mitgliedern der Expedition verrichtet werden.
»Vor allem benutze fleißig die guten Bücher, die ich dir mitgab, teils zur Belehrung, teils zur Unterhaltung. Und wenn du bemerkst, daß andere an Langerweile oder gar mürrischem Wesen leiden, so suche sie aufzuheitern, statt dich anstecken zu lassen. Lies dann etwas Anregendes vor oder bitte die Gelehrten der verschiedenen Fächer um Belehrung über dieses und jenes aus ihrer Wissenschaft, selbst wenn dir solche Belehrung nicht nötig erscheint: das stimmt sie immer gut und kann dir von Nutzen sein. Sei recht bescheiden und bilde dir ja nie ein, alles zu wissen: kein Mensch ist widerwärtiger als derjenige, der auf allen Gebieten mitreden und dabei gar alles besser wissen will. Man kann immer und von jedermann etwas Brauchbares lernen, wenn man zu fragen und zu hören versteht, statt immer das große Wort zu führen.
»Vor allem zeige dich gegen den Leiter des Unternehmens, meinen edlen Freund, Baron von Münkhuysen, stets ehrerbietig und vertrauensvoll. Er verdient vollkommenes Vertrauen, und das merke dir, denn er ist ein so außergewöhnlich genialer Mann, daß man von ihm Dinge zu sehen und zu hören bekommt, die einem oft unglaublich erscheinen, so daß man leicht versucht ist, seine Aussagen für zum mindesten stark übertrieben zu halten. Ich kenne ihn aber, und lege dir ans Herz, ihm stets unbedingt Glauben zu schenken.
»Deine Reise wird, wie ich zuversichtlich hoffe, für dich von größtem Nutzen sein; du wirst viel Neues sehen, zum Teil noch gänzlich Unbekanntes; du wirst lernen, dich auch in den ungewohntesten Lagen zurechtzufinden. Aber auch großen Gefahren gehst du entgegen. Du weißt, ich bin kein Gespensterseher und verstehe es, den Wert eines auch gefährlichen Unternehmens, wenn es nur wertvollen Zwecken dient, vollauf zu schätzen, als ein Mittel zur Stählung des Leibes und des Charakters. Dennoch ließe ich dich nicht ohne Sorge ziehen, wenn ich nicht in Münkhuysens Fähigkeiten, Geistesgegenwart und Findigkeit das größte Vertrauen setzte.«
Mit diesen Worten entließ Professor Frank seinen Sohn.
In Amsterdam angelangt, begab sich Ernst sofort zu Münkhuysen, der einen jener alten, herrlichen Paläste bewohnte, welche an die vergangene Größe der Stadt erinnern.
Ein einfach gekleidetes junges Mädchen von etwa vierzehn Jahren öffnete ihm das Tor. Das Gesichtchen war von einer weit vorstehenden holländischen Haube umrahmt, eine äußerst anmutige und reizvolle Tracht. Von den Ohren und Haaren sah man nichts, bis auf ein paar krause blonde Löckchen, die über die Stirn hervorquollen.
Der Jüngling hielt das Kind für ein kleines Dienstmädchen. Er raffte seine spärlichen Kenntnisse der holländischen Sprache zusammen und redete sie nur so von oben herab an: »Ist Baron von Münkhuysen zu sprechen. Kleine?«
Das Mädchen lachte ihm hell ins Gesicht: »Nein! Wie sonderbar Sie das Holländische sprechen!« erwiderte sie, ebenfalls in ihrer Muttersprache: »Sie sind wohl ein Deutscher?«
Ernsts zweiundzwanzigjähriger Stolz fühlte sich nicht wenig beleidigt: eine freche Kröte das! Wie darf eine einfache Hausmagd sich's herausnehmen, einen jungen Herrn auszulachen? Er zog die Brauen zusammen und entgegnete: »Jawohl, ich bin ein Deutscher, und es kann niemand erwarten, seine Muttersprache von einem Fremden tadellos sprechen zu hören!«
Jetzt überzog eine dunkle Röte das liebliche Gesicht, und die Kleine sagte kleinlaut, diesmal auf Deutsch: »Ach! Es war wohl recht unverschämt von mir, so über Sie zu lachen: Sie sprechen zu komisch und ich lache über jede Kleinigkeit. Wissen Sie, wir Mädchen in Holland lachen gar zu gerne und meinen es gewiß nicht böse. Sie dürfen mir's nicht übel nehmen und Papa nichts sagen, sonst zankt er. Er meint immer, ich sollte schon viel ernster sein, und ich bin doch noch so jung. Aber sprechen Sie nur Deutsch: mein Papa stammt ja aus Deutschland, und wir sprechen fast immer Deutsch, besonders jetzt, wo so viele fremde Herren im Haus sind, die alle Deutsch reden.«
»O, entschuldigen Sie, Baronesse, Sie sind die Tochter des Hauses?« fragte Ernst, nun seinerseits beschämt, sie mit »Du« und als »Kleine« angeredet zu haben.
Sie kicherte, das Lachen unterdrückend: »Nein! Wie nennen Sie mich jetzt! Baronesse? So heißt mich doch niemand! Ich heiße Eva und Du. Bei uns sagt man zu einem Kind immer ›Du‹, und ich bin ja noch ein Kind. Wenn Sie nicht ein Fremder wären, würde ich auch so zu Ihnen sagen. Mich dürfen Sie aber nicht ›Sie‹ nennen, das klingt gar zu sonderbar, da Sie doch so viel größer sind als ich.«
»Nun, meinetwegen! Aber dann mußt du eben auch ›Ernst‹ und ›Du‹ zu mir sagen. Ich bin dann eben dein Vetter und du bist meine Base.«
»Desto besser! Dann bist du wie ein Holländer. Aber was schwatze ich da, anstatt dich hinaufzuführen? Komm nur schnell, Papa schilt sonst.«
Unser Freund folgte der kleinen Eva in das erste Stockwerk. Sie führte ihn in ein großes Zimmer und bat ihn, Platz zu nehmen; sie werde den Papa gleich holen.
Ernst glaubte sich in einem Museum, so viele Merkwürdigkeiten aus aller Herren Ländern waren hier zu sehen, meist ihm ganz unbekannte Dinge. Doch fand er wenig Zeit, sie zu betrachten, denn bald trat ein hochgewachsener Mann von etwa fünfzig Jahren ein. Der edle Ausdruck seiner feingeschnittenen Züge machte sofort den gewinnendsten Eindruck. Zugleich fiel aber auch ein gewisser heiterer Zug auf, der in unaufhörlichem Wechsel um die Mundwinkel spielte.
Ernst brauchte nur seinen Namen zu nennen, um von Münkhuysen auf das herzlichste willkommen geheißen zu werden. Der Baron erkundigte sich lebhaft nach seinem Vater und bedauerte, daß er den Jüngling nicht einladen könne, längere Zeit sein Gast zu sein, da er in den nächsten Tagen schon abreise, um eine Entdeckungsreise nach dem Südpol zu unternehmen.
Ernst sprach nun seine Bitte aus, an der Fahrt teilnehmen zu dürfen, und erzählte, daß sein Vater ihn eben aus diesem Grunde hierher geschickt habe. Er war ganz beschämt über die aufrichtige Freude, die Münkhuysen bei dieser Mitteilung bezeugte: wahrhaftig! er tat, als ob er an dem jungen, unerfahrenen Manne eine wertvolle Errungenschaft mache, und lud ihn ein, im Speisesaal sofort die Bekanntschaft einiger seiner Reisebegleiter zu machen.
Hier fand der junge Gast mehrere Herren verschiedenen Alters und offenbar auch verschiedenen Berufs, zugleich aber auch eine reiche Auswahl auserlesener Speisen, denen er, nach erfolgter Vorstellung seiner unbedeutenden Person, vom Baron freundlich gedrängt, zusprechen mußte.
Unter den Anwesenden fiel ihm besonders ein wohlbeleibter Herr auf, dessen rundes Gesicht stets von Heiterkeit strahlte; es zeigte eine unverkennbare Familienähnlichkeit mit Münkhuysen. Der einnehmende Mann wurde als »Kapitän Münchhausen« angeredet und war ein Vetter des Barons aus Deutschland.
Inzwischen nahm das Gespräch der Anwesenden seinen Fortgang. Man sprach soeben von musikalischen Dingen und zwar von den Klangfarben verschiedener Instrumente, wobei erörtert wurde, welches wohl den Preis als das angenehmst klingende verdiene. Natürlich waren die Meinungen hierüber geteilt, da es sich hierbei nur um persönliche Geschmacksurteile handeln konnte.
Kapitän Münchhausen nahm nun das Wort und erklärte, ihn habe nie eine Musik so sehr angesprochen, wie ein Glockenspiel, das er einst auf einer Schweizeralm im Freien gehört habe.
»Sie scherzen, Kapitän!« sagte ein junger Professor der Physik, namens Raimund. »Ein Glockenspiel auf einer Schweizeralm! Nein, verzeihen Sie, das klingt doch etwas unglaublich, es sei denn, daß Sie das regellose Durcheinanderklingen der Kuhschellen, das ja für den Naturfreund etwas poetisch Anmutendes hat, für Musik erklären wollten.«
»Kuhschellen waren es in der Tat,« erwiderte der Kapitän lachend; »und dennoch ein vollkommenes Glockenspiel! Lassen Sie sich das Erlebnis erzählen, meine Herren!
»Es war im Sommer 1895, als ich eine Wanderung durch das Berner Oberland unternahm. In ziemlicher Höhe auf einer weltverlorenen Matte traf ich einen Hirten an, der eine Herde von etwa zwei Dutzend Kühen beaufsichtigte. Ich ließ mich mit dem Mann in ein Gespräch ein; denn ich habe immer meine Freude an dem naturwüchsigen Humor und an dem gesunden Urteil, die beide für gewöhnlich bei diesen unverdorbenen Menschenkindern sich vereinigt finden. Da ich den Mann weder mit Schnitzen noch mit sonst etwas beschäftigt fand, fragte ich ihn unter anderem, mit was er sich eigentlich unterhalte: die Zeit müsse ihm doch oft lang werden.
»›Wenn mir's langweilig werden will, so lasse ich meine Kühe ein Konzert aufführen‹, erwiderte er.
»Ha, ha! lachte ich, das muß ein schönes Konzert geben! Aber Ihr tut ja ganz, als ob die Kühe es auf Euern Befehl hin erschallen ließen.
»›Gewiß tun sie das, und es hat mich weiter gar keine Mühe gekostet, es ihnen beizubringen, denn sie waren schon vorher gewohnt, auf ihren Namen zu hören. Geben Sie einmal acht!‹
»Und nun rief er: ›Bläs!‹ Sofort hob eine der Kühe den Kopf und ihre Schelle erklang dabei klar und laut. Rasch hintereinander rief der Hirte nun teils verschiedene, teils die gleichen Kühe wieder auf, und jedesmal erklang eine Schelle. Zu meiner größten Verwunderung vernahm ich auf diese Weise den Choral: ›Geh aus mein Herz und suche Freud‹ in tadellosem Takt und vollkommener Reinheit. Der Hirte hatte die Kuhschellen derart ausgewählt, daß er zwei Oktaven mit sämtlichen Zwischentönen besaß, und nun war es ihm ein leichtes, alle möglichen Weisen durch Aufrufen der Kühe in der richtigen Reihenfolge hervorzuzaubern. Dieses lebendige Glockenspiel gefiel mir so ausnehmend, daß ich mir noch mehrere Stücke vorspielen ließ, und ich kann sagen, nie hat eine Musik einen solchen Zauber auf mich ausgeübt, wie dieses einfache Kuhschellenkonzert; dazu mag freilich zum Teil das Originelle dieser Vorführung beigetragen haben, denn Sie wissen, ich bin ein ausgesprochener Freund alles Originellen, so wenig ich selber Originalität besitze.«
Was nun das Letztere betraf, so sollte Ernst in der Folge erfahren, daß Kapitän Münchhausen womöglich noch weniger an Originalitätsmangel litt, als der Baron. Für diesmal war er im Zweifel, ob das eigentümliche Glockenspiel wirklich auf einer Tatsache beruhte oder nicht.
Erst später erkannte unser Freund, daß Münchhausen seinem Namen alle Ehre machte und ein Schalk war, der mit ernstester Miene die fabelhaftesten Erlebnisse zu erzählen wußte, nicht um die anderen zu täuschen, sondern um sie mit seiner humorvollen Phantasie zu erheitern.
Man war auf die Musikinstrumente des Altertums zu sprechen gekommen, auf Davids Harfe und noch ältere verschollene Instrumente. Münkhuysen erwähnte, die Hebräer hätten die Musik aus Ägypten mitgebracht und Joseph sei der erste ihres Volkes gewesen, der in Ägypten sich zu einem tüchtigen Musiker herangebildet habe.
Ernst war bei dieser Behauptung anfangs ganz sprachlos; denn er hatte auf der Universität aus Liebhaberei Vorlesungen der verschiedensten Fakultäten belegt, und so auch die alttestamentliche Geschichte nach den neuesten Forschungen gehört und studiert; als er die Sprache wiederfand, sagte er: »Sie können unmöglich im Ernste sprechen, Herr Baron; hat doch die moderne Wissenschaft unwiderleglich nachgewiesen, daß Joseph und die Patriarchen überhaupt nur sagenhafte Gestalten und Versinnbildlichungen von Stammesgruppen und Stammeseigenschaften sind.«
»Sie vergessen, junger Freund,« erwiderte Münkhuysen, »daß die Wissenschaft uns nur Wahrscheinlichkeiten auftischt, niemals aber unumstößliche Wahrheiten. Die Wahrheit deckt sich aber äußerst selten mit der Wahrscheinlichkeit; ja sehr häufig ist gerade das Unwahrscheinlichste das Wahre. Der sogenannte wissenschaftliche Beweis ist im Grunde nichts mehr, als der Versuch, durch scharfsinnige Schlußfolgerungen eine Vermutung einleuchtend zu begründen; die Tatsächlichkeit derselben wirklich sicher zu stellen, ist ihm nicht möglich. Deshalb wechselt die Wissenschaft gleich einem Chamäleon die Farbe, und was heute als erwiesen galt, wird vielleicht schon morgen wieder durch neue Entdeckungen widerlegt. Eigentliche Gewißheit gibt nur die sinnliche Wahrnehmung, die freilich auch noch groben Täuschungen unterworfen sein kann. Meine Behauptung von vorhin gründet sich einfach darauf, daß ich mit eigenen Augen öfters gesehen habe, wie sich Joseph in Ägypten in der Musik übte.«
Nun dachte unser Freund wohl daran, daß ihm sein Vater unbedingtes Vertrauen zu Münkhuysen eingeschärft hatte; allein das war denn doch zu viel! Das neunzehnte Jahrhundert hat ja gewiß Wunder gezeitigt, die unseren Vorfahren märchenhaft erscheinen müßten; wenn es aber einer wagt, einem gebildeten jungen Menschen gegenüber zu behaupten, er habe selber gesehen, wie Joseph in Ägypten Musik trieb, wer wird es diesem jungen Menschen verargen, wenn er sich ernstlich darüber ärgert, daß man sich gestattet, ihm so etwas zu bieten?
Sah ihn denn dieser Münkhuysen für ein Kind oder einen Einfaltspinsel an, der sich jeden Bären aufbinden läßt? Ernst vergaß in seinem Ärger alle Rücksichten und fragte den Baron, ob er etwa mit dem bekannten Freiherrn von Münchhausen blutsverwandt sei?
Münkhuysen erwiderte mit feierlichem Ernst: »Junger Mann, obgleich ich die Meinung Ihrer Frage verstehen muß, nehme ich sie Ihnen doch nicht übel. Sie sind im Glauben an unsere moderne Wissenschaft erzogen, die wie die Wissenschaft aller Zeiten, sich für gewissermaßen abgeschlossen hält und alles für unmöglich erklärt, was über ihre gegenwärtigen Erkenntnisse der Möglichkeiten hinausgeht. Zunächst aber die Antwort auf Ihre Frage: mein Großvater hieß Münchhausen; er war ein Deutscher und ließ sich in Amsterdam nieder. Mein Vater nahm, als geborener Niederländer, auf Wunsch der Verwandten meiner Mutter, den Namen Münkhuysen an. Kapitän Münchhausen hier ist der Sohn des deutschen Vetters meines Vaters. Der bekannte Freiherr von Münchhausen ist mein Urgroßvater; er war ein durchaus wahrheitsliebender Mann, hatte aber so außerordentliche Erlebnisse, daß er mit seinen Berichten immer wieder das ungläubige Lächeln, ja die spöttischen Bemerkungen der Übergescheiten herausforderte, die nie über ihre Grenzpfähle hinausgesehen hatten.
»Ich habe immer die Erfahrung gemacht, daß vielgereiste Männer in der Heimat von Leuten mit engem Horizont und geringen Kenntnissen für Schwindler und Aufschneider gehalten werden.
»Ganz die gleiche Erfahrung machte mein Ahnherr, der Freiherr von Münchhausen: seinen wahrheitsgetreuen Erlebnissen wurde kein Glaube geschenkt; dies brachte den humorvollen Mann darauf, seine phantastischen Märchen zu erfinden, und, siehe da! zu seinem Ergötzen machte er die Wahrnehmung, daß eben die Übergescheiten, die seinen tatsächlichen Erlebnissen so mißtrauisch begegnet waren, sich des öfteren die größten Bären aufbinden ließen und geneigt waren, die unglaublichsten Geschichten für wahr zu halten.
»Was übrigens die Stammesmythen betrifft, so stellt diese Hypothese die bekannten Tatsachen geradezu auf den Kopf, wie es ja bei wissenschaftlichen Ausheckungen nicht selten ist. Die Geschichte lehrt uns auf Schritt und Tritt, daß hervorragende Persönlichkeiten als Stammväter ihren Namen einem Stamme gaben. Es ist ein geradezu unsinniger Gedanke, der auch durch keine einzige Tatsache gestützt wird, daß umgekehrt aus dem Namen eines Stammes eine Persönlichkeit erdichtet worden sein soll und dieser fabelhaften Persönlichkeit die Schicksale des Stammes angedichtet worden seien. Solch weltfremdes Denken lag den Völkern des Altertums womöglich noch ferner als uns. Eine Völker- oder Stammesgeschichte kannten sie nicht, sondern die Geschichtschreibung und Überlieferung knüpfte sich immer an hervorragende, führende Persönlichkeiten an. Gerade so gut könnte man fabeln, Karl der Große sei nichts weiter als eine Versinnbildlichung des Stammes der Franken und seine Taten seien eben nur die Taten dieses Stammes, die dem erfundenen Helden angedichtet worden seien!
»Übrigens, Tatsachen beweisen und der Augenschein überzeugt. Was meine Ihnen so unglaublich klingende Bemerkung von vorhin betrifft, so sollen Sie morgen früh mit eigenen Augen sehen, wie Joseph in Ägypten Musik übte.«
Offen gestanden, so einleuchtend Münkhuysens Ausführungen waren, was den letzteren Punkt betraf, glaubte Ernst immer noch, er wolle seinen Scherz mit ihm treiben.
Am Nachmittag wurde ein kleiner Ausflug unternommen nach einem Hügel, den Baron von Münkhuysen angekauft hatte, und auf dessen Gipfel er sich ein Landhäuschen hatte erbauen lassen. Zwar erhob sich die Anhöhe kaum dreißig Meter über das Flachland, immerhin aber war sie in dieser ebenen Gegend eine Merkwürdigkeit.
Unterwegs beklagte sich die Gesellschaft, daß in diesem Lande von einer richtigen Aussicht keine Rede sein könne; auch von solch einem Maulwurfshügel aus könne man eben höchstens einige Dörfer in nächster Nähe erblicken. Dahinter sei der weitere Ausblick durch Dämme behindert, über die im besten Falle eine Windmühle rage.
»Dennoch sollen sie heute eine richtige Fernsicht genießen,« erklärte Münkhuysen mit geheimnisvollem Lächeln.
Alles war infolgedessen in gespannter Erwartung; denn man war gewohnt, dem Baron unbedingt Glauben zu schenken, und doch konnte sich niemand erklären, woher die versprochene Fernsicht plötzlich kommen solle.
Im Landhaus angelangt, führte der Hauswirt die Gesellschaft sofort in ein rundes, fensterloses Türmchen hinauf, das sein Licht von oben durch eine Glaskuppel empfing, und in dessen Wände ein Kranz von Doppelgläsern, gleich Feldstechern, eingelassen war.
»Schauen Sie einmal durch diese Operngläser,« forderte Münkhuysen seine Gäste auf. Und wahrhaftig! Was erblickten sie? Eine Aussicht, die sich in unabsehbare Fernen dehnte: da sah man entlegene Dörfer und Windmühlen, endlos sich hinziehende Kanäle und erst ganz fern am Horizont die Dämme als kaum sichtbare Streifen.
»Da hört sich doch alle Wissenschaft auf!« eiferte Professor Schulze, ein Naturforscher aus Berlin: »Wie war es Ihnen nur möglich, Baron, eine solch großartige Fernsicht hierher zu zaubern? Denn daß es sich nicht um ein täuschendes Panorama handeln kann, beweisen die Fuhrwerke, Schiffe und Menschen, die wir in voller Bewegung ihres Weges dahinziehen sehen.«
Während noch alle schauten und staunten, sagte Münkhuysen lachend: »Die Sache ist kindlich einfach: sehen Sie, ich ließ diese Operngläser einfach verkehrt in die zu diesem Zwecke ausgesparten Maueröffnungen einfügen, die großen Gläser vorn, nach innen, und die kleinen nach außen. Das ist der ganze Zauber, der Sie entzückt. Ist es nicht eine merkwürdige Sonderbarkeit von uns Menschenkindern, daß wir auf eine weite Fernsicht so viel Wert legen und uns, um sie genießen zu können, mit dem Erklettern hoher Berge abplagen, oft unter Lebensgefahr? Was ist denn das im Grunde für ein so erstrebenswerter Vorzug, wenn wir von einem himmelhohen Berg so weit in die Welt hinaus sehen, daß wir Wälder und Hügel, Dörfer und Städte kaum mehr zu erkennen vermögen und oft im Zweifel sind, ob ein Kirchturm oder eine Tanne am Horizont emporragt. Wem das ein solcher Genuß ist, der kann ihn sich überall dadurch verschaffen, daß er einfach seinen Feldstecher verkehrt an die Augen hält.«
Das Gelächter über diesen verblüffenden Scherz war allgemein; doch mußte man, wie immer, dem Baron rechtgeben; denn die Fernsicht machte tatsächlich einen ebenso großartigen Eindruck, als wenn sie Tatsache gewesen wäre.
Vergnügt kehrten alle wieder in die Stadt zurück, vollbefriedigt, ohne erhebliche Anstrengung einen so erhabenen Aussichtspunkt erklommen zu haben.
So stolz der junge Frank bisher auf seine vielseitigen Kenntnisse gewesen war, mußte er sich doch immer mehr eingestehen, daß er bei Münkhuysen so viel Neues lernte, daß der Wahn, als habe er seine Lehrjahre schon hinter sich, rasch verflog. Er fing an, zu merken, daß sie erst jetzt so recht begannen. Das Leben und der lebendige Verkehr mit bedeutenden Männern fügte seiner Hochschulbildung noch vieles Wertvolle hinzu und gab ihr erst den rechten Wert.
Es fanden sich aber auch hier in des Barons Umgebung tüchtige und bewährte Männer der verschiedensten Berufe, Männer der Wissenschaft und der Technik. Es gab kaum einen Gegenstand, der im Laufe der Zeit nicht irgendwie berührt und von allen Seiten beleuchtet worden wäre. Als man einmal von neuen Erfindungen auf dem Gebiete des Kriegswesens redete, bedauerte Münkhuysen, daß der Dowepanzer so kurzerhand abgetan worden sei.
»Mochte er auch für den Soldaten zu schwer sein,« meinte er, »so hätte er doch für Verschanzungen gute Dienste leisten können; ja die Wiedereinführung der Kriegselefanten hätte er ermöglicht: ein mit dem Dowepanzer geschützter Elefant, mit einem Dowepanzerturm, in welchem nur wenige Krieger sich aufhielten, gliche einer unverletzbaren wandelnden Festung, die dem feindlichen Heere unabsehbaren Schaden zufügen könnte. Auch Automobile ließen sich mit dem leichten Panzerstoff überkleiden und so in der Schlacht wirksam verwenden.«
Am meisten beschäftigten sich Ernsts Gedanken mit dem merkwürdigen Versprechen seines Gastherrn, ihm Joseph in Ägypten leibhaftig zu zeigen. Noch am Abend versicherte ihn der Baron, er solle zu sehen bekommen, was sich vor Tausenden von Jahren auf der Erde begeben habe.
Der Jüngling sprach die Vermutung aus, Münkhuysen befinde sich vielleicht im Besitz von Wiedergaben uralter, neuentdeckter Steinreliefs, auf denen sich Darstellungen zeigten, die solche Vorkommnisse zum Vorwurf hätten und mit Bestimmtheit zu deuten seien, etwa durch beigefügte Hieroglyphen. Als ihm jedoch der Baron erklärte, er werde ihm die Vorgänge selber zu Gesicht führen, so daß sich alles lebendig vor seinen Augen abspielen werde, konnte Ernst doch wieder nur noch an einen Scherz denken, wie mit den berühmten Ferngläsern, vielleicht bewegliche Lichtspiele mit altertümlich gekleideten Darstellern.
Erwog er anderseits den feierlichen Ernst der Versicherungen Münkhuysens, so konnte er sich sogar des Gedankens nicht erwehren, ob nicht vielleicht des Barons zweifellos geniale Anlagen teilweise schon die Grenzen des gesunden Verstandes überschritten hätten? Nun, das würde er ja bald beurteilen können!
Als Ernst am andern Morgen das fürstliche Schlafzimmer verließ, das ihm der Hausherr zur Verfügung gestellt hatte, begegnete ihm Professor Raimund, der Physiker, der sich anscheinend auch erst erhoben hatte, denn er sah noch ganz verschlafen aus. Als der junge Mann ihn jedoch fragte, was es wohl mit Münkhuysens Versprechen vom vorhergehenden Tage auf sich habe, da kam Leben und Feuer in den Gelehrten.
»Herr Frank,« sagte er eifrig, »Sie halten ihn natürlich für verrückt? Haben wir alle getan! Denken Sie sich, wir wären den Weisen des achtzehnten Jahrhunderts mit Berichten und Beschreibungen gekommen von Telegraphen, Telephon, Phonographen, Kinematographen; wir hätten ihnen von der Photographie, den Eisenbahnen, den Röntgenstrahlen und dergleichen vorgeplaudert, — was meinen Sie, hätten die für ein Urteil über den Zustand unseres Gehirns gefällt? Wir natürlich lächeln über den beschränkten Horizont unserer Vorfahren, und dabei zeigen wir die gleiche Beschränktheit wie jene, indem wir noch Tausende von Dingen für unmöglich erklären.
»Nachdem wir gesehen, wie viel geworden ist, das noch vor kurzer Zeit als verrückte Phantasie und reine Unmöglichkeit erklärt worden wäre, sollten wir uns hüten, noch irgend etwas für unmöglich zu halten, da wir nie wissen können, welche ganz neuen Bahnen die Entdeckungen und Erfindungen der Zukunft eröffnen können.
»Was nun Münkhuysen betrifft, so ist sein Geist unserer Zeit weit voran und er hat in der Tat Erfindungen gemacht, an die niemand glauben wird, bis sie allgemein bekannt geworden sind.«
Da sie inzwischen im Speisesaal angekommen waren, wo die anderen Herren schon um den Frühstückstisch versammelt saßen, und ihnen Münkhuysen guten Morgen wünschend, entgegenkam, konnte Ernst nicht weiter fragen.
Er sollte aber bald aus allen Zweifeln in das größte Erstaunen versetzt werden; denn gleich nach dem Morgenimbiß lud ihn sein liebenswürdiger Wirt ein, ihn zu seiner Tagessternwarte zu begleiten. Sie stiegen in den Keller des Hauses hinab und von dort auf einer Wendeltreppe in eine tiefe Grube unter freiem Himmel. Hier sah man die Sterne am hellen Tage.
Münkhuysen zog ein achteckiges Rohr aus der Tasche, ziemlich kurz und dick, und schraubte es auf ein in den Erdboden eingelassenes Gestell fest. Nun begann er durch dieses ganz unbekannte Instrument nach den Sternen zu sehen. Mittels einer kleinen Kurbel stellte er sein Fernrohr ein, das er Paläoskop nannte, weil es, wie er sagte, gestatte, Blicke in uralte, vergangene Zeiten zu tun. Nach wenigen Minuten sagte er: »Jetzt habe ich ihn!« und ersuchte Ernst, durch das Okular zu schauen.
Ein unwillkürliches »Ah!« staunender Bewunderung entschlüpfte des Jünglings Lippen: er sah, wie aus der Vogelschau, mitten hinein in eine altägyptische Stadt. Die Sonne neigte sich zum Untergang und beleuchtete die mit bunten Figuren bemalten westlichen Wände der Häuser, alles in rosigen Schimmer tauchend. Überall ragten aus dem Häusermeer die zierlichen Wipfel hochaufgeschossener Palmen hervor und gaben dem Stadtbild einen besonders malerischen Reiz. Dort erhoben sich majestätische Tempelhallen, deren Dächer von Riesensäulen getragen wurden. Ihre Eingänge waren bewacht von ernsten, gewaltigen Bildnissen sitzender Menschen, deren ungeschlachte Hände auf den Knien ruhten. Hier ragten Paläste von fremdartiger, phantastischer und doch märchenschöner Bauart empor.
Die Straßen waren äußerst belebt. Sie wimmelten von Fußgängern und Wagen, die gleich lebendig gewordenen Hieroglyphen durcheinanderwogten. Die bunten Farben der Gewänder und der reich verzierten Brüstungen und Räder der Fuhrwerke verliehen dem Bilde eine Pracht, wie sie unserer Zeit völlig unbekannt ist.
Weiter schweiften Ernsts Augen zum Nilstrom, der langsam an der Stadt dahinglitt, von Handelsschiffen und zierlichen Vergnügungsgondeln belebt. Silbern glänzte das Wasser und die Rosen des Abendhimmels mischten sich darein.
Weiter oben, wo das Ufer still und einsam lag, sah er grünschillernde Krokodile ans Ufer steigen oder gähnend daliegen und das schreckliche Gebiß des ungeheuren Rachens zeigen.
Der junge Mann konnte sich an dem Bilde nicht satt sehen und Münkhuysen störte ihn lange Zeit nicht in seiner Betrachtung; dann aber sagte er: »Nun bitte ich Sie, schauen Sie nach dem Palaste in der Mitte der Stadt; er ragt bedeutend über die anderen Gebäude empor.«
»Ich sehe ihn!«
»Dann blicken Sie auf das Dach des etwas niedrigeren, palastähnlichen Hauses, das daneben steht: was sehen Sie da?«
»Ich sehe einen jungen Mann von einnehmenden Gesichtszügen; er ist sehr reich gekleidet und scheint auf einem eigentümlichen Saiteninstrumente zu musizieren. Ein alter ehrwürdiger Priester steht ihm zur Seite und zeigt ihm von Zeit zu Zeit die Handgriffe; zuweilen nickt er zufrieden, zuweilen schüttelt er den Kopf und spricht einige Worte, wobei der andere sein Spiel unterbricht, um hernach wieder fortzufahren. Offenbar gibt der Priester dem vornehmen Jüngling Musikunterricht.«
»Sie haben recht gesehen!« sagte Münkhuysen feierlich. »Der Jüngling aber heißt Joseph, Sohn Jakobs, des Sohnes Isaaks, des Sohnes Abrahams, zum Trotz aller erhabenen Mythenweisheit!«
»Wie wollen Sie das wissen?« rief Ernst aus.
»Ich habe seine Lebensgeschichte mit dem Paläoskop verfolgt, sowie die seiner Vorfahren, und fand die Berichte des Alten Testamentes bestätigt; natürlich sah ich noch ungleich mehr, als uns schriftlich überliefert wurde.«
Unser Freund befand sich in einem Sturme der Aufregung; sein Verstand drohte stille zu stehen; er konnte nicht glauben, daß er nicht träume.
Münkhuysen bemerkte das wohl und sagte daher: »Kommen Sie herauf; Sie haben für das erste Mal genug gesehen, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.«
Er führte Ernst in den Garten, der in herrlichen Anlagen sich an seinen Palast anschloß. Sie setzten sich in eine schattige Laube, von Blumen umduftet. Der Baron ließ eine Flasche Rheinwein bringen und bot dem Jüngling eine Havanna an, sich gleichzeitig eine solche ansteckend.
»Es ist bekannt,« begann er, »daß das Licht rund dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde zurücklegt. Nun gibt es Sterne, die so weit von unserer Erde entfernt sind, daß ihr Licht tausend und noch mehr Jahre gebraucht hat, um bis zu uns zu dringen. Nehmen Sie an, Sie besäßen ein so scharfes Fernrohr, daß es Ihnen möglich wäre, zu beobachten, was auf einem solchen Sterne vorgeht. Dann würden Sie nicht etwa sehen, was heute auf ihm geschieht, sondern was vor etwa tausend Jahren dortselbst geschehen ist. Das Licht trägt die Bilder von allem, was da ist und geschieht, unaufhörlich durch den Raum; die Strahlen werden immer schwächer, weil sie sich auf immer größere Kreise verteilen, aber völlig verschwinden können sie nie oder doch erst in der Unendlichkeit, was etwa auf das gleiche herauskommt.
»Diese Erwägungen machten mich neugierig, die Vorgänge vergangener Jahrtausende auf den entferntesten Welten zu studieren; dazu benötigte ich aber ein Teleskop, gegen welches die größten Fernrohre unserer Zeit, das Lickfernrohr und das der Nizzaer Sternwarte, Zwerge sind. Ich sagte mir, daß in der Herstellung von Teleskopen nach dem bisherigen System ein bedeutender Fortschritt nicht mehr möglich sei. Die Linsen, die gegenwärtig für solche Instrumente geschliffen werden, sind so ungeheuer groß und ihre Herstellung erfordert so viel Zeit, Mühe und ängstliche Sorgfalt, daß man sich denken kann, es möchte noch die doppelte, die vierfache, vielleicht gar die zehnfache Größe mit der Zeit erreicht werden — aber dann muß es ein Ende haben: hundertfach oder gar tausendfach so große Linsen sind einfach undenkbar.
»Ich erkannte daher, daß es nötig sei, einen ganz neuen Weg einzuschlagen, das System der Zusammensetzung der Teleskope aus Linsen aufzugeben und eine völlig neue Methode zu entdecken. Es ist mir denn auch gelungen, dieses so einfache Instrument herzustellen, durch das Sie einen Blick getan haben, und von dessen Wesen ich Ihnen nur so viel verraten will, daß es unter anderem eine Reihe im Kreise angeordneter Prismen enthält. Ich kann sagen, ich habe die Multiplikation der Vergrößerung durch ganz einfache Mittel erfunden, und wo bisher die Entfernung auf ein Fünfhunderttausendstel verringert wurde, wird sie durch mein Instrument noch viele Millionenmal geringer. Dabei läßt sich mein Instrument so einstellen, daß sowohl näher gelegene als auch weit entferntere Sterne bis auf die Entfernung von etwa hundert Metern nahe gerückt erscheinen; auch läßt das Paläoskop die schwächsten Strahlen in hellem Glanze leuchten. Sie werden begreifen, daß weder der Mars noch ein anderer Planet mehr ein Geheimnis für mich hat; nur die Fülle der Beobachtungen, die ich in der kurzen Zeit gemacht habe, seit ich das Paläoskop erfand, hat mich bisher verhindert, etwas darüber zu veröffentlichen; doch führe ich stets sorgfältig Buch über meine Entdeckungen.«
»Ich begreife nun,« sagte Ernst, »wie Sie, Herr Baron, mittels Ihrer wunderbaren Erfindung die Vorgänge auf den Sternen beobachten können, die sich in grauer Zeit abgespielt haben; aber das erklärt mir durchaus nicht, wie es auch möglich sein soll, in die Vergangenheit unserer Erde und ihrer Bewohner einen Einblick zu gewinnen.«
»Ja so,« erwiderte Münkhuysen, »das ist freilich wieder etwas anderes. Mittels meines Paläoskops entdeckte ich bald Tausende von Welten, die den Astronomen bisher unsichtbar waren, weil sie kein eigenes Licht besitzen. Auf jeden Fixstern kommt durchschnittlich mindestens ein Dutzend Planeten und Monde, die ihn als ihre Sonne umkreisen. Zum Teil sind das ausgestorbene Welten gleich unserem Monde. Solche Planeten, besonders aber ihre Trabanten, zeigen häufig große spiegelnde Flächen, seien es bewegungslose Wassermassen, seien es Meere von geschmolzenem Metall und dergleichen. Diese Flächen werfen das Bild unserer Erde deutlich zurück.
»Fasse ich nun einen solchen Spiegel ins Auge, der tausend Lichtjahre von uns entfernt ist (damit will ich sagen, daß das Licht von ihm zu uns und umgekehrt tausend Jahre zu wandern hat), so brauchen die zurückgeworfenen Lichtstrahlen wiederum tausend Jahre, um zu uns zurück zu gelangen. Das Spiegelbild der Erde wird uns also dort den Anblick bieten, den die Erde vor zweitausend Jahren bot. Will ich nun irgend ein Begebnis der Vergangenheit sehen, so muß ich ausrechnen, in welcher Entfernung von der Erde das Bild desselben am heutigen Tage sichtbar sein muß, und dann einen spiegelnden Weltkörper aufsuchen, der sich in eben dieser Entfernung befindet, das heißt in der Hälfte der Entfernung, die das Bild in ununterbrochenem Laufe zurückgelegt haben würde. Ein solcher Weltkörper ist unschwer zu finden, da dieselben in unzähligen Mengen in jeder denkbaren Entfernung den Raum erfüllen. Eine wesentliche Erleichterung gewährt der Umstand, daß mein Paläoskop sich genau auf jede Entfernung einstellen läßt, so daß ich nur im Raum einen Planeten zu suchen habe, der deutlich sichtbar erscheint, wenn mein Instrument auf die fragliche Entfernung eingestellt ist. Dennoch geht es selten ohne Suchen und Ausprobieren ab, da die Daten sehr entlegener Ereignisse meist sehr unsicher sind. Habe ich aber gefunden, was ich suche, so kann ich sofort den Zeitpunkt des betreffenden Vorgangs aufs genaueste feststellen. Ich habe mir daher auch eine Zeittafel angelegt, in der ich eine große Anzahl wichtiger Ereignisse vergangener Zeiten nach Jahr, Tag und Stunde eingetragen habe.
»Leider stoße ich öfters auf Hindernisse; es bleibt mir nämlich verborgen, was sich hinter den Mauern der Häuser, unter dem Laubdach der Bäume und an anderen verborgenen Plätzen oder bei mondscheinloser Nacht abspielte. Wenn der Himmel zur Zeit des Ereignisses, das ich zu beobachten wünsche, bewölkt war, so ist überhaupt nichts zu sehen. Selbstverständlich ist für mich auch nur die Erdhalbkugel sichtbar, die zur Zeit des Vorgangs dem spiegelnden Sterne zugekehrt war, und wenn mir infolge der Umdrehung der Erde das beobachtete Bild am Horizont des Gesichtskreises entschwindet, so muß ich eben sehen, ob ich es auf einem anderen Sterne wieder auffinde. Glücklicherweise spielte sich das Leben in der Urzeit meistens im Freien und unter einem vorwiegend klaren Himmel ab.
»Übrigens kennen wir ja schon in den Röntgenstrahlen solche Lichtwellen, die das Hindernis von Mauern und Wolken zu durchbrechen vermögen, weshalb ich hoffe, daß ein vervollkommnetes Paläoskop seinerzeit gestatten wird, auch durch Mauern und Wolken hindurchzusehen.«
»Herr Baron!« rief Ernst begeistert aus, »ich bin bekehrt und werde fortan nichts mehr für unmöglich halten.«
Die derzeitigen Bewohner des Münkhuysenschen Schlosses waren im Speisesaal versammelt. Es waren dies, außer Ernst Frank, der dicke Kapitän Münchhausen, Professor Heinrich Schulze aus Berlin, Naturwissenschaftler und Forschungsreisender, der namentlich Südamerika und Innerafrika erkundet hatte und sich auch für einen gewaltigen Jäger hielt, der sich auf seine »niefehlende Büchse« viel zugute tat. Ferner: Professor Raimund, Physiker aus Württemberg, der Arzt Doktor Maibold und der schwedische Ingenieur Holm.
Ernst berichtete soeben dem letzteren begeistert über das, was er durch das Paläoskop geschaut hatte, als der Baron mit zwei neu angekommenen Gästen eintrat, die sich ebenfalls seinem Unternehmen anschließen wollten.
Es war ein junges Ehepaar. Er trug einen blonden, kurzgeschnittenen Bart und lange Künstlerlocken. Sein Gesicht hatte einen äußerst freundlichen und dabei bescheidenen, fast schüchternen Ausdruck. Die blühende junge Frau mit dem üppigen, hochgetürmten rotgoldenen Haar war eine wirkliche Schönheit, doch nicht von kalter, hoheitsvoller Art, sondern von herzgewinnender Lieblichkeit und Anmut. Vor allem fielen ihre großen, geistvollen, sonnigen Augen auf, die wohl das Anziehendste an ihrer bezaubernden Erscheinung waren.
»Ich habe die Freude, Ihnen hier zwei liebe Freunde vorstellen zu dürfen,« sagte Münkhuysen beim Eintreten: »Professor Michael Mäusle mit seiner Gattin. Er ist ein hervorragender, vielgereister Philologe und Dichter aus Württemberg.«
»Aus Gschlachtenbretzingen,« ergänzte der Schwabe bescheiden: »Und von ›hervorragend‹ ist keine Rede.«
Kapitän Münchhausen und Professor Schulze schnellten von ihren Sitzen empor und eilten auf die Ankömmlinge zu, sie mit erstaunten und neugierigen Augen musternd. Dann bestürmten sie den jungen Gelehrten abwechselnd mit ihren Fragen, ohne ihn in ihrem Eifer zum Wort kommen zu lassen.
Schulze begann: »Sind Sie der Mann, der die Löwen mit dem Flintenkolben angreift und mit dem Donner seiner schwäbischen Anrede in feige Flucht jagt?«
Der Kapitän fiel ein: »Sind Sie der Held, der trockenen Fußes die breitesten Ströme überschreitet, indem er lebendige Krokodile als Sprungbrett benutzt?«
Schulze rief wiederum: »Sind Sie es, dem das unbändige Kudu als gefügiges Reittier dienen muß, und der den Löwen, unter dessen Pranken er liegt, mit dem Dolchmesser besiegt?«
Worauf Münchhausen fortfuhr: »Steht vor unseren staunenden Augen der Herkules, der den stärksten Büffel lebendig bei den Hörnern fängt und den Vogel Strauß bei den starken Beinen packt, so daß der Riesenvogel zu Boden stürzt und seine hilflose Beute wird?«
Gleich kam Schulze wieder an die Reihe: »Erblicken meine begnadeten Augen den gewaltigen Geist, der Mittel ersinnt, die Strauße in ganzen Herden zu fangen, und der noch todwund den Weg aus den Wirrnissen des Urwaldes findet, in dem er sich verirrte, und wo jeder andere Sterbliche zugrunde gegangen wäre?«
Und der Kapitän: »Haben wir vor uns den König aller Schützen, der das Gnu auf kilometerweite Entfernung ins Herz trifft und den unbesiegbaren Hünen, der den Rüssel des Elefanten durchschneidet, von dem er gepackt war?«
Worauf der Professor noch hinzufügte: »Sind Sie es, der im Burenkriege all die Wunder der Tapferkeit verrichtete, die der englischen Übermacht den Sieg aus den Händen zu winden drohten?«
»Aber ich bitte Sie, meine Herren!« sagte nun Mäusle, als er endlich zu Worte kam: »Ich bin nichts weiter als der Michael Mäusle aus Gschlachtenbretzingen, der allerdings in Afrika einige ungewöhnliche Erlebnisse hatte, ohne jedoch selber irgendwie Hervorragendes geleistet zu haben. Ich kann wirklich nichts dafür, daß meine harmlosen Taten so aufgebauscht wurden.«
»Es ist wirklich der sagenhafte Held, den mit leiblichen Augen zu erblicken ich mir so lange gewünscht habe!« frohlockte der Dicke. »Gestatten Sie, daß Kapitän Münchhausen Ihnen die wackere Rechte schüttelt.«
»Und auch ich bitte um diese Ehre: ich nenne mich Heinrich Schulze, Professor der Naturwissenschaften.« Und beide schüttelten nacheinander aus Leibeskräften die dargebotene Hand.
Der Schwabe aber fragte: »Sagen Sie mir doch nur, meine verehrten Herren, wie Sie dazu gekommen sind, so viel von meinen bescheidenen Abenteuern zu erfahren.«
»An den Lagerfeuern Afrikas vernahm ich Ihren Ruhm,« erwiderte Münchhausen feierlich: »Hendrik Rijn, Sannah, Mietje und Frans plauderten am liebsten von ihrem heldenmütigen Lehrer.«
Mäusles Gattin stieß einen Schrei der Überraschung aus, während Schulze seinerseits Antwort gab: »Und ich habe schon zuvor in Oranjehof von Ihnen gehört: der alte biedere Piet van Rijn hat mir so manches von Ihren Wunderwerken mitgeteilt.«
»In Oranjehof waren Sie?« rief nun die junge Frau erregt. »Zog mein Vater zurück nach Transvaal und hat unser altes Heim wieder bezogen?«
»Nein! Piet Rijn lebt mit den Seinigen in Ostafrika, zu Füßen des Runsoro aus seiner neuen Pflanzung, die er, wie die alte, ›Oranjehof‹ taufte. Aber Ihr Vater kann er unmöglich sein.«
»Wieso?« entgegnete die Angeredete auf diese Bemerkung des Professors: »Ich bin doch Neeltje, geborene Van Rijn.«
»Da irren Sie sich,« widersprach Schulze hartnäckig: »Neeltje, von der wir freilich auch viel Gutes vernahmen, war allerdings die Braut des berühmten Michael Mäusle, dieses echten deutschen Michels. Allein sie ist mit ihrer Mutter und ihren Schwestern im Hungerlager gestorben. Noch heute wird sie in Oranjehof betrauert.«
»Ich bin's, ich bin's! O welche Freude! Nun haben wir doch gewisse Kunde vom Aufenthalt unserer Lieben, nach dem wir so lange vergeblich forschten!«
Der Professor schüttelte den Kopf: »Ich wiederhole es, Sie befinden sich im Irrtum, denn Neeltje starb leider, daran ist gar kein Zweifel, ich habe es aus sicherster Quelle, von ihrem Vater und ihren Geschwistern selber.«
»Mann der Wissenschaft!« mahnte der Kapitän: »Blamiere dich doch nicht schon wieder. Die junge Dame muß doch schließlich am besten wissen, wer sie ist!«
»In der Tat,« ergriff Mäusle nun wieder das Wort: »Meine liebe Gattin wäre wohl auch im Konzentrationslager zugrunde gegangen, doch gelang es mir noch rechtzeitig, sie heimlich daraus zu befreien und vor dem gräßlichen Schicksal zu bewahren.«
»Dann seien Sie mir aufs Herzlichste willkommen!« rief Schulze, endlich überzeugt, und ergriff die zarte Hand, die er lebhaft schüttelte.
»Und mir desgleichen!« sagte Münchhausen und folgte des Freundes Beispiel.
»Und Frans lebt?« fragte Neeltje: »Wir hörten, er sei einer Verwundung erlegen. Und auch Mietje ist noch am Leben?«
»Sie leben beide,« bestätigte der Professor: »Wir waren so glücklich, sie aus schlimmen Lagen zu befreien und sie zu den Ihrigen zurückzuführen, mit Hilfe des edlen Lords Flitmore, dessen Gattin Mietje jetzt ist.«
»Lord Flitmore!« rief Frau Mäusle: »O welche Freudenbotschaften wir Ihnen verdanken! Nun können wir die Unsrigen gleich aufsuchen, sobald wir von dieser Reise zurückkehren!«
Alle Anwesenden hatten mit größtem Erstaunen und lebhafter Teilnahme diesem seltsamen Gespräche gelauscht und begrüßten nun ihrerseits die neuen Gäste herzlichst.
Münchhausen und Schulze mußten nun vor allem ihre Erlebnisse aus Oranjehof berichten und erzählen, wie sie Lord Flitmore im Lande der Zwerge getroffen hatten, wobei Hendrik und Sannah, Neeltjes Geschwister, eine so hervorragende Rolle gespielt hatten. Ferner, wie sie mit diesen beiden und dem Lord, Doktor Leusohn und seiner Schwester Helene, sowie der kühnen Zwergprinzessin Tipekitanga, Mietje van Rijn in den Mondbergen fanden und schließlich Frans in Ophir befreiten.
Diesen merkwürdigen Abenteuern lauschten alle mit gespanntestem Interesse, vor allem natürlich Mäusle und seine Gattin, die dadurch so vieles Neue und Gute von ihren nächsten Angehörigen erfuhren, und daß sie in Doktor Leusohn, Sannahs Gatten, einen so trefflichen Schwager, in Helene eine so liebe Schwägerin gewonnen hatten, nach deren Hochzeit mit Hendrik.
Noch während des Mittagsmahls und lange darüber hinaus wurden die Berichte fortgesetzt. Zuletzt mußte Mäusle erzählen, wie ihm Neeltjes Befreiung gelang, und wie sich der beiden fernere Schicksale gestaltet hatten.
Der Baron hatte mit den Vorbereitungen zu seiner Reise noch alle Hände voll zu tun. Als daher das Wesentliche zwischen Münchhausen und Schulze einerseits, Mäusle und Neeltje anderseits ausgetauscht war, entschuldigte er sich, daß er seine werten Gäste einige Zeit sich selbst überlassen müsse.
Ernst bat um die Erlaubnis, die herrlichen Parkanlagen näher in Augenschein nehmen zu dürfen.
»Bitte!« sagte Münkhuysen: »Mein Besitztum steht selbstverständlich meinen lieben Gästen zur freien Verfügung; machen Sie nur Entdeckungsreisen nach Ihrem Belieben, und ich hoffe, daß Sie an meinen bescheidenen Anlagen einiges Vergnügen finden.«
Die »bescheidenen Anlagen« waren eine Redensart. War das Wohngebäude bei aller Einfachheit doch ein Palast, so war der ausgedehnte Park einfach fürstlich. Er dehnte sich eine halbe Stunde weit mit seinen gewundenen Fahrstraßen und lauschigen Fußwegen. Künstliche Hügel, enge Felsschluchten mit schäumenden Bächen, ebenfalls künstlich angelegt, machten den Eindruck einer natürlichen Gebirgslandschaft im Kleinen. Prächtige Baumgruppen, schattige Wäldchen wechselten ab mit reichblühenden Blumenbeeten, in denen frische Springbrunnen plätscherten. Geheimnisvolle Tropfsteingrotten führten tief in das Innere der Hügel und ließen sich mittels buntfarbiger elektrischer Glühbirnen nach Belieben feenhaft erleuchten.
Bald hatte der Jüngling einen reizenden See entdeckt, an dessen stillen Ufern sich's im weichen Rasen unter himmelhohen Bäumen herrlich ruhen und träumen ließ. Hier lagerte sich Ernst und genoß den duftigen Frieden der schweigenden Natur. Zuweilen unterbrach ein leises Säuseln der Wipfel die Stille, auch wohl eine liebliche Vogelstimme. Weit draußen im See lockte eine üppig bewachsene Insel, aus deren Gebüsch ein altersgrauer Turm ragte, zu einer Entdeckungsfahrt, und da der Jüngling einen halb im Schilfe versteckten Kahn am Ufer gewahrte, gedachte er schon, ihn zu lösen und auf den klaren Spiegel hinauszurudern, als er einen leichten Elfenschritt über die Kieswege nahen hörte.
»So, so! Da steckst du?« rief Evas helle Stimme: »Ich habe alles nach dir ausgesucht. Papa schickt mich, um dir in deiner Verlassenheit Gesellschaft zu leisten, falls dir das nicht lästig ist. Aber paß nur einmal auf! Ich habe etwas ganz Besonderes im Sinn. Ich will dich nämlich in ein Geheimnis einweihen, das ich allein weiß. Nicht einmal der Papa ahnt etwas davon, denn ich bin ganz von selber darauf gekommen. Ja, ja, so dumm bin ich nicht, wie ich aussehe!«
»Und ich soll in dieses tiefe Geheimnis eingeweiht werden?«
»Jawohl, du, — du ganz allein!«
»Das ist ja eine ungeheure Ehre! So viel Vertrauen flöße ich dir also ein?«
»Halt! Zuerst mußt du mir feierlich versprechen, daß du keiner Seele ein Sterbenswörtchen davon verrätst. Wenn die Zeit gekommen ist, will ich selber mit meiner Weisheit glänzen können. Und wenn du ein Tagebuch führst, darfst du ja nichts davon hineinschreiben, sonst könnte es jemand zu lesen bekommen, wenn du es einmal herumliegen läßt. Ich habe mich auch gehütet, das Geheimnis meinem Tagebuch anzuvertrauen, denn ich vergesse manchmal, es einzuschließen.«
»Also! Ich gelobe dir heiligstes Schweigen!«
»Gut! So komm nur gleich mit mir.«
Dabei faßte sie ihn bei der Hand und führte ihn dem Hause zu. Unterwegs plauderte sie weiter: »Weißt du, mein Papa geht an den Südpol.«
»Jawohl, und ich gehe mit!«
»Ach! Das ist nett,« sagte sie und klatschte in die Hände: »Ich gehe auch mit.«
»Was?! Du, Kind, willst in die schrecklichen Eiswüsten, und dein Vater gestattet es?«
»Ach, was! schrecklich? Wo Papa ist, ist's nirgends schrecklich; und meinst du, ich wolle hier sitzen bleiben, wenn andere viele Abenteuer erleben und merkwürdige Dinge sehen? — Und dann bin ich dem Papa sein einziges Kind und sein Liebling, jawohl! Da wird er mich doch nicht allein zu Hause lassen, wenn er so weit fortreist! Nein! da ist ja überhaupt keine Rede davon!
»Aber jetzt merke einmal auf, Vetter Ernst: Papa ist furchtbar gescheit und auch wohlüberlegt und er denkt beinahe an alles, wo sonst andere nicht dran denken.«
»Das habe ich gemerkt, und ich habe allen Respekt vor ihm.«
»Und siehst du,« triumphierte sie: »An das Allernächstliegende, was ganz selbstverständlich wäre, hat er eben doch nicht gedacht; da habe ich ganz allein dran gedacht und sonst gar niemand!«
»Das wäre!« sagte Ernst halb neugierig, halb belustigt durch ihren Eifer. Im Grunde dachte er, das hochwichtige Geheimnis werde sich als etwas sehr Unwichtiges entpuppen: was erscheint nicht solch kleinem Mädchen wertvoll und bedeutsam!
Inzwischen waren die beiden in den Keller gelangt, wo das Paläoskop noch auf seinem Stativ festgeschraubt war.
Eva begann es zu richten und einzustellen: »Ich weiß damit umzugehen,« sagte sie: »Ich darf durchsehen, wann ich will. — Schau, jetzt sollst du das Geheimnis sehen.«
Der Jüngling blickte durch das Instrument und es wurde ihm ein höchst merkwürdiger, hochinteressanter Anblick. Eva erklärte ihm eifrig, was er da erschaute, und er bekam nun ordentlich Respekt vor der Klugheit des lieben kleinen Mädchens, das offenbar weit über seine Jahre hinaus entwickelt war, zumal in geistiger Beziehung. Er war jetzt ganz stolz darauf, ihr wichtiges und wirklich bedeutsames Geheimnis teilen zu dürfen und freute sich mit ihr im voraus auf Münkhuysens und der anderen gelehrten Herren Verblüffung, wenn der Tag erschienen sein würde, an dem Eva ihnen eine Mitteilung machen würde, die sie alle höchlichst überraschen mußte. Um diesen Triumph zur gegebenen Zeit voll genießen zu können, mußte die Entdeckung, die dem Scharfsinn des Mädchens zu verdanken war, tiefstes Geheimnis bleiben.
»Und nun will auch ich dir ein Geheimnis verraten,« sagte Ernst zu seiner kleinen Freundin, »von dem ich weder deinem Vater noch irgend einem der anderen Herren etwas gesagt habe: ein Vertrauen ist des andern wert.«
»Oho!« rief Eva begierig: »Du weißt auch ein Geheimnis? Schnell, sage mir's: ich werde verschwiegen sein wie das Grab!«
Nun teilte ihr der Jüngling mit, welch rätselhafte Botschaft vom Südpol auf so merkwürdige Weise in seines Vaters Hände gelangt war. Er zog seine Brieftasche und zeigte ihr die Photographie des Schriftstücks und las ihr die Übersetzung vor. Dann fragte er: »Glaubst du nicht auch, daß wir die Ärmste finden und erlösen werden?«
»O gewiß glaube und hoffe ich das!« erwiderte Eva eifrig: »Ach! Wie dauert mich das verlassene Wesen!«
Und nun malten sie sich miteinander aus, wie sie die geheimnisvolle Prinzessin suchen und auffinden wollten; denn daß es eine Prinzessin sei, stand auch für Eva fest.
Von ihren so hochwichtigen Geheimnissen plaudernd, stiegen die beiden wieder ans Licht empor, und das Mädchen schlug dem Freunde vor, ihm jetzt auch das ganze Haus zu zeigen, nachdem er den Park einigermaßen erforscht hatte. Gerne war er damit einverstanden, und Eva führte ihn überall herum, ihm jedes Bild und jeden Gegenstand in Zimmern und Fluren sachkundig erklärend.
»Dies hier ist mein Stübchen,« sagte sie zuletzt, die Türe zu einem reizenden kleinen Zimmerchen öffnend, das ganz in rosigem Licht erstrahlte.
»Du, da ist es einmal lustig!« bemerkte Ernst: »Diese feenhafte Beleuchtung stimmt einen ja doppelt fröhlich, wenn man auch vorher schon ganz vergnügt war.«
»Ja, siehst du, das hat auch mein lieber Papa entdeckt,« lachte sie schelmisch und schob die Vorfenster mit den rosa Scheiben in die Mauer zurück, so daß das gewöhnliche weiße Tageslicht den Raum erhellte. Hierauf zog sie ein zweites Vorfenster aus der dicken Einfassungsmauer, die eine ganze Reihe von Spalten aufwies, in denen die verschiedenen Rahmen verborgen steckten. Dasselbe tat sie beim zweiten Fenster der Stube, und nun war alles in leuchtendes Grün getaucht.
»Das benutze ich, wenn ich einmal ganz niedergeschlagen und hoffnungslos bin, was aber selten vorkommt,« erklärte Eva, »und hier das dunkelbraune, wenn ich mich zu ausgelassen und übermütig fühle. Siehst du, das braune Licht stimmt einen ganz demütig, nicht?«
Ernst war überrascht, in der Tat die Wirkung der verschiedenartigen Beleuchtung alsbald an seinen langsam wechselnden Stimmungen zu bemerken.
In diesem Augenblicke öffnete sich die Türe, und der Baron erschien.
»Aha! hier finde ich euch,« sagte er lächelnd: »Seid ihr so gar aus Rand und Band gekommen, daß ihr in vernünftiger Selbsterziehung euren Übermut durch braunes Licht dämpfen müßt?
»Sehen Sie,« fuhr er, zu Ernst gewendet, fort: »Ich habe meine kleine Eva gelehrt, das Fehlerhafte in ihren Stimmungen selbst zu prüfen und zu erkennen, und durch Selbstzucht unter Mitwirkung geeigneter Beleuchtung zu beseitigen.«
Der Jüngling aber fragte: »Sollte verschiedenfarbiges Licht wirklich auf die Dauer einen so ausgesprochenen Einfluß ausüben können?«
»Gewiß!« war die Antwort: »Ich habe das gründlich ausstudiert und ausprobiert: es läßt sich sogar hoffen, durch geeignete Ausbildung und Anwendung dieser Entdeckung ein tüchtiges, zufriedenes und glückliches Geschlecht heranzubilden.
»Es ist schon Tatsache, daß Kinder, die in düsteren, lichtlosen Wohnungen aufwachsen, zu allen Lastern und Verbrechen hinneigen, während die Erziehung in Licht und Sonne heitere und tugendhafte Charakterentwicklung begünstigt. Da jedoch das Sonnenlicht sowohl günstig als auch ungünstig wirkende Farben in sich vereinigt, so ist es je nach den Charakteranlagen eines Menschen von Wert, die seine besondere Veranlagung nachteilig beeinflussenden Strahlen auszuscheiden und zu bestimmten Besserungszwecken auch zuweilen die Einwirkung einer besonderen Lichtfärbung anzuwenden.
»Rosiges Licht zum Beispiel stimmt heiter und zufrieden; Grün erweckt hoffnungsvollen Mut und Unternehmungslust; Hellblau macht gutmütig und befördert eine ehrenhafte Gesinnung. Diese Beleuchtungsarten wären in zweckmäßiger Abwechslung für Gefängnisse, Rettungsanstalten und dergleichen Institute von größtem Wert. In Irrenhäusern sollte das zugleich beruhigende blaue und grüne Licht vorherrschen, Schwermut ist mit Rosa zu behandeln.
»Rot reißt zu Begeisterung und lebhaftem Streben fort; bei zu starker und häufiger Anwendung aber auch zur Leidenschaftlichkeit, namentlich zu Haß, Grausamkeit und Blutgier. Phlegmatische und arbeitsscheue Leute wären mit roter Beleuchtung wirksam zu behandeln, immerhin mit aller Vorsicht.
»Gelb wirkt in allen Schattierungen schädlich: es begünstigt besonders den Neid, den Geiz und die Unzufriedenheit. Aber eben deshalb kann ein allzu gutmütiger Mensch, der sich zuviel gefallen läßt, ebenso der zur Verschwendung und zum Leichtsinn geneigte, durch die Einwirkung gelber Strahlen vorteilhaft beeinflußt werden.
»Dunkelblau gilt mit Unrecht als Farbe der Treue; es begünstigt vielmehr ein flatterhaftes, treuloses Wesen und wäre ein Heilmittel, für den, der sich in blinder Anhänglichkeit zu sehr dem schlechten Einfluß eines schwärmerisch geliebten Menschen hingibt.
»Grau ist die wahre Farbe der Treue und Beständigkeit: deshalb gedeiht auch die Treue viel mehr unter dem grauen Himmel des Nordens, als unter dem dunkeln Blau des südlichen Himmels.
»Violett ist an und für sich eine ganz böse Farbe: sie erzeugt Eitelkeit, Hochmut und spöttisches Wesen. Für einen Menschen ohne Ehrgefühl und Selbstbewußtsein ist aber eben auch wieder die violette Beleuchtung ganz vorzüglich.
»Orange stimmt zu heiterem Lebensgenuß, in der Folge aber auch zu Leichtfertigkeit, Verschwendung und Sinnlichkeit: der Geizhals, der Pedant und Aszet kann durch diese Farbe geheilt werden.
»Braun wiederum ist die Farbe der Schlichtheit, Einfachheit, Bescheidenheit und Demut und ist bei hochmütigen, eiteln und übermütigen Charakteren oder Stimmungen angebracht.
»Natürlich wirken alle diese Farben in verschiedenen Schattierungen und Mischungen wieder verschieden, und so lassen sich alle nur denkbaren Wirkungen erzielen. Ich bin daran, auch die verschiedenen Düfte und ebenso die Speisen nach ihrem Geschmack und ihrer Schärfe in ihren Wirkungen auf die Stimmung und die Charaktereigenschaften zu studieren, und ich bin überzeugt, daß die richtige Beleuchtung, unterstützt durch entsprechende Parfüms und Ernährung, ganz großartige Erziehungserfolge verspricht, wenn man auch gewiß nicht alles von solch äußerlichen Mitteln erwarten darf: eine gute sittliche Einwirkung durch weise Belehrung und namentlich durch lebendiges Vorbild wird immer die Hauptsache bleiben, aber ihr Erfolg kann wesentlich unterstützt, ja oft erst überhaupt ermöglicht werden durch diese wertvollen Hilfsmittel.«
»Jetzt begreife ich,« sagte Ernst lächelnd, »warum Base Eva einen so tadellosen Charakter besitzt.«
»Oho! Du kennst mich noch lange nicht,« rief sie, und der Schalk blitzte aus ihren blauen Augen.
Eines Abends war von großen Dichtern und hervorragenden Dichtungen die Rede, und Ernst äußerte sein Bedauern, daß so viele großartige Werke des Altertums, von denen wir vielleicht nicht einmal mehr etwas wissen, unwiederbringlich verloren seien. Er fügte bei: »So mancher Name und so manche Sage, die sich an einen solchen knüpft, verbürgen uns, daß herrliche Dichtungen für uns verloren gegangen sind, die wahrscheinlich niemals aufgezeichnet wurden, man denke nur an Orpheus oder Horant!«
»Da brauchen wir gar nicht so weit zurückzugreifen,« sagte Mäusle, der neben seinem Beruf als Jugenderzieher selber auch Dichter war, und zwar ein völlig ungedruckter und daher in den weitesten Kreisen unbekannter: »Was besitzen wir beispielsweise von Heinrich von Ofterdingen, den das Mittelalter so überaus hoch schätzte? Und, glauben Sie, es mag heute noch vorkommen, daß das größte Dichtergenie unbekannt verkümmert, aus dem einfachen Grunde, daß die Herren Verleger glauben, mit seinen Werken kein Geschäft machen zu können!«
»Immerhin ist Hoffnung vorhanden,« mischte sich Münkhuysen in das Gespräch, »daß wenigstens solche Dichtungen, die gesungen oder vorgetragen wurden, wieder entdeckt werden können; denn sicher verliert sich der Schall ebensowenig im Raum wie die Lichtwellen, und warum sollte nicht, ähnlich dem Paläoskop, ein Instrument erfunden werden, welches die Töne vernehmbar macht, die durch irgend einen entfernten Weltkörper uns zurückgeworfen werden?
»Da Sie sich aber für die Dichtungen grauer Zeiten so sehr interessieren, mein junger Freund,« wandte sich Münkhuysen an Ernst, »so wird es Sie gewiß freuen, einen Dichter der Urzeit wenigstens sehen zu können, da es uns noch nicht vergönnt ist, ihn zu hören.«
Schon lange gelüstete es den jungen Mann, wieder einen Blick durch das Paläoskop zu tun. Er glaubte, er hätte sein Leben lang nichts anderes tun mögen, als mit eigenen Augen die Geheimnisse der Weltgeschichte zu erforschen und die vielleicht noch viel interessanteren Begebenheiten, die der großen Geschichte nicht angehören. Mit Freuden erklärte er daher sein Einverständnis, und Münkhuysen führte ihn diesmal auf die Altane seines Palastes, da es in der nächtlichen Dunkelheit nicht nötig war, den Keller aufzusuchen.
Bald hatte der Baron sein Instrument herbeigeholt, schraubte es auf und begann es zu richten und einzustellen.
Ein äußerst sinnreicher Mechanismus, ähnlich einem Miniaturuhrwerk, gestattete, das Paläoskop nach allen Richtungen um weniger als ein Millionstel Millimeter weiter zu bewegen; ohne dies wäre eine genaue Einstellung auf einen bestimmten Punkt nicht möglich gewesen, bei den ungeheuren Entfernungen, um die es sich handelte.
»Sie sollen erst eine kleine Reise durch die Urwelt machen,« sagte Münkhuysen. »Was sehen Sie?«
»Ich sehe eine breite Landenge, ganz mit mächtigem Urwald bedeckt, aus dem hohe Felstürme emporragen.«
»Das sind die Säulen des Herkules! Geben Sie acht, jetzt werden Sie die Mittelmeerküste entlang bis nach Asien reisen; das Mittelmeer ist, wie Sie sehen, noch ein Binnenmeer.«
Ernst sah nichts als Urwald am Meeressaum; zuweilen erhob sich der Kopf irgend eines unbekannten Ungeheuers über den Meeresspiegel; hie und da erschien die Mündung eines Flusses oder ragte ein Gebirge empor. Die Küste Frankreichs erschien bedeutend tiefer eingeschnitten, als sie auf den heutigen Karten sich darstellt. Nun ging es über Oberitalien weg. Man sah die mächtigen Schneehäupter der Alpen; es zeigten sich aber nur einzelne ungeheuer hohe und ausgedehnte Gletscher, wie wenn mehrere der jetzigen Alpenriesen unter einer Eismasse vereinigt wären. Die Schnee- und Eisregion begann übrigens erst in weit beträchtlicherer Höhe als heutzutage.
Zugleich fiel Ernsts Blick auf die Seen, die einen bedeutend höheren Wasserstand und eine zugleich größere Ausdehnung zeigten, als sie ihnen gegenwärtig eignen.
»Oho! Was hängt denn da?« rief der Jüngling aus: »Da hängt ein Tier von nie gesehener Größe und Dicke mit allen Vieren am Aste eines Riesenbaumes über dem Seespiegel.«
»Das wird ein Megatherium sein, das Riesenfaultier der Urzeit,« antwortete Münkhuysen.
»Und da kommen sie an das Ufer zur Tränke,« erscholl es wieder aus Ernsts Munde: »Dinotherien und Mastodonten — o — o — o —!« Er sah eine solche Menge vorsintflutlicher Riesentiere, daß er nur noch Ausrufe des Staunens hatte.
Aber unaufhaltsam zog Landschaft an Landschaft vor seinem Auge vorbei. Jetzt kam das Adriatische Meer, auch nur ein See, nach des Barons Aussage; dann Griechenland, das Marmarameer zwischen zwei Landengen eingeschlossen, das Schwarze und endlich das Kaspische Meer.
Hier war wieder genug zu beobachten; gigantische Saurier erhoben die Häupter über die Fluten; gleich einer Riesenschlange mit unverhältnismäßig großem Kopf wiegte sich der Hals des Plesiosaurus hoch über dem Wasser. Einem Walfisch mit Krokodilsrachen glich der schreckliche Ichthyosaurus und über ihren Häuptern flatterte unheimlich der Pterodaktylus mit seinem unförmlichen Kopf.
Als auch dieses Schauspiel vorübergezogen war und wieder undurchdringliche Urwaldwipfel alles bedeckten, bemerkte Ernst zu Münkhuysen: »Wir haben offenbar hier eine Weltperiode vor uns, wo noch kein Mensch auf Erden lebte; immerhin wundert es mich, daß gleichzeitig mit den Sauriern der Juraperiode Dinotherium und Mastodon leben und statt der Schachtelhalme jener Zeit richtige Laubwälder die Erde bedecken.«
»Ihre Verwunderung hat ihren Grund in Ihrem bisherigen Glauben an die Trugschlüsse der Wissenschaft. Die Wissenschaft arbeitet eben mit Induktionsschlüssen, die immerhin sehr zweifelhaft sind. So fand man bisher Überreste von Sauriern nur in den Juraschichten; daraus wurde der Schluß gezogen, daß diese Tiere nur in der Jurazeit lebten; das hindert nicht, daß sie am Kaspischem Meer, im Inneren Afrikas und Australiens, ja auch im nördlichsten Amerika noch in viel späteren Perioden zu finden sind. Ebenso erklärt die Wissenschaft, daß der Mensch erst in einer viel späteren Zeit auf der Erde auftrete. Woher diese Behauptung? Weil bisher noch nicht mit Sicherheit menschliche Überreste in den Schichten nachgewiesen werden konnten, in welchen die Spuren jener gewaltigen Urtiere sich finden.
»Der ganz naheliegende Gedanke, daß die Menschheit in jenen Zeiten noch wenig über die Erde verbreitet gewesen sei, lag der Wissenschaft stets ferne. Man grabe in den Wüsten West- und Zentralasiens nach oder auf dem mongolischen Hochplateau, so wird man menschliche Überreste genug in jenen Schichten finden.
»Auch hat die Wissenschaft jene Zeiten, die um wenige Jahrtausende zurückliegen, in eine Vorzeit von Millionen von Jahren zurückverlegt, weil sie den Maßstab der trägen Veränderungen unserer Tage anlegt, ohne zu ahnen, welche ungeheuren Kräfte damals die Erde umgewandelt haben.«
Inzwischen sah Ernst bereits lachende Fluren, angebaute Kulturstätten mit wohnlichen Hütten durchsät und durchzogen von schimmernden Flüssen und glitzernden Bächen. Große Herden riesenhafter Haustiere weideten im Grünen, und fröhliche, schöne Menschen von hünenhafter Größe ergingen sich plaudernd und lachend im Schatten der tropischen Bäume; sie waren fast gar nicht bekleidet und ihre wohlgeformten Glieder zeugten gleichmäßig von Kraft wie von blühender Schönheit.
Lockige Kinder spielten unter Blumen oder plätscherten in den kühlen Wellen; Jünglinge und Jungfrauen lustwandelten in Scharen singend und jauchzend oder trennten sich in Paaren von den lustigen Genossen, um liebeflüsternd geheime Pfade des Urwaldes aufzusuchen.
Als unser Freund Münkhuysen seine Beobachtungen mitteilte, erklärte dieser: »Das ist die Wüste Kysyl-Kum im jetzigen Turkestan; der Fluß, den Sie nun sehen, ist der Sir Darja; und nun geht es über das Kara-tau-Gebirge in die Wüste Ak-Kum, welche Ihnen das gleiche lachende und belebte Landschaftsbild bieten wird.
»Nicht lange nach der Zeit, in die Sie sich jetzt versetzt sehen, hat das mongolische Meer diese gesegneten Länder überflutet, die Bewohner daselbst verschlungen und nichts als eine salzige Sandwüste und einige Salzseen hinterlassen, nachdem es, ins Mittelmeer stürzend, den Bosporus, die Dardanellen und die Meerenge von Gibraltar eröffnet hatte.«
Inzwischen erhob sich vor Ernsts Augen eine mächtige Gebirgswand, welche immer näher kam, bis er in einen Wald von seltsam geformten Berggipfeln hineinsah; dann fielen grüne Abhänge gegen Osten abwärts und hier hielt Münkhuysen das Paläoskop in seiner östlichen Bewegung auf; es stand still.
Ernst konnte einen Ausruf des Entzückens nicht unterdrücken, so seltsam und herrlich erschien ihm, was er nun sah: Zwischen hohen Gebirgsketten dehnte sich hier ein Binnenmeer aus, dessen Spiegel wohl tausend Meter über den vorhin geschauten Gefilden liegen mußte. Die dunkle Bläue des Wassers war von bezaubernder Lieblichkeit. Grüne Matten und dichte Wälder bedeckten die Abhänge der Ufer, welche mit Dörfern und Städten dicht besetzt waren. Aber auch an den Abhängen kletterten viele Ortschaften empor, größere und kleinere, alle in einen reichen Blumenflor gebettet und von blühenden Bäumen umkränzt. Die Häuser bestanden nur aus geflochtenen Wänden mit einem kegelförmigen Dach aus dürren Gräsern, alles an einem Gerippe von Schilfrohrstangen befestigt. Jede einzelne dieser Hütten aber war mit blühenden Schlingpflanzen derart überwachsen, daß sie erschien, als trage sie einen festlichen Schmuck von Blumengirlanden.
Niemals hatte der Jüngling ein Landschaftsbild von nur annäherndem Reize weder in Natur noch in Abbildungen gesehen.
Münkhuysen hatte kurz zuvor, beim Passieren des Paläoskops über den Gebirgskamm, an einer kleinen Kurbel gedreht, so daß der Erdboden dem Auge etwas ferner gerückt erschien und Ernst die Gegend wie aus großer Höhe, aus der Vogelschau unter sich liegen sah. Nun drehte der Baron in entgegengesetzter Richtung, und Ernst sah eine große Stadt am Meeresufer immer näher rücken, bis er aus nächster Nähe auf einen großen ebenen Platz blickte, der hart neben jener Stadt am Strande sich hinzog.
Zu beiden Seiten dieses Platzes waren Sitze aus Rasen amphitheatralisch aufgebaut, welche dicht besetzt waren mit einer Menge schöngestalteter weißer Menschen, deren Leiber mit Blumengirlanden so dicht überwunden waren, daß sie bis zur Brust in Blumen gekleidet erschienen. Ketten von bunten Edelsteinen, Diamanten und Perlen hingen von ihren schlanken Hälsen hernieder und funkelten in tausend Strahlen und Farben im Sonnenschein. Männer und Knaben, Frauen und Mädchen saßen hier in Eintracht nebeneinander, und das ungezwungene, freundliche Plaudern und Verkehren dieser Menschen miteinander ließ sie als eine große, durch herzliche Liebe verbundene Familie erscheinen. So wenig im Äußeren hier etwas Unschönes zu erblicken war, so wenig schien auch das innere Gleichgewicht der Seelen durch häßliche Leidenschaften und Laster gestört zu werden.
Am oberen Ende des viereckigen Platzes fielen zwei vereinzelt stehende, besonders hohe Sitze auf, zu welchen einige Stufen hinaufführten. Auf dem einen saß ein älterer, ehrwürdiger Mann von stattlicher Gestalt, ganz mit roten Blumen geschmückt; dicht neben ihm auf dem anderen Sitze saß ein junges Mädchen von ausnehmender Schönheit und Lieblichkeit; ihre Gesichtszüge hatten den Ausdruck kindlicher Sanftheit und Unschuld, und ihre dunklen Augen strahlten in himmlischer Milde; sie allein war mit weißen Rosen geschmückt. Diese beiden waren die einzigen, welche auch auf dem Kopfe einen strahlenden Kranz von Edelsteinen trugen, und es war leicht zu ersehen, daß es der König und sein Töchterlein sein mußten, die sowohl durch ihre edleren Züge und ihre größere Anmut als auch durch ihren besonderen Platz und eigenartigen Schmuck vor allem Volk ausgezeichnet waren.
Nun erhob sich mitten aus dem Volke ein Jüngling, der ein mit Saiten überspanntes primitives Musikinstrument in der Hand hielt. Lange Locken spielten in weichen Wellen um sein männlich schönes Antlitz. Er bestieg eine Erhöhung in der Mitte des Platzes und begann die Saiten zu schlagen und dazu zu singen.
Unser junger Freund konnte sich nicht denken, jemals eine solch gewaltige Wirkung gesehen zu haben, die ein Mensch auf andere ausübte, oder von einer gehört und gelesen zu haben, die sich mit derjenigen hätte vergleichen lassen, die er nun zu beobachten Gelegenheit hatte. Anfangs verhielt sich alles still und regungslos. Dann kam eine unwillkürliche Bewegung in die Massen der Zuhörer. Einige öffneten den Mund, andere sprangen plötzlich auf, erhoben wie begeistert die Arme, um gleich wieder auf ihre Sitze zu sinken und wie Kinder zu weinen. Dann wieder ging ein seliges Lächeln über aller Lippen; eines umschlang das andere mit den Armen und ein helles Jauchzen des Glücks schien aus allen Kehlen gen Himmel zu steigen; und als nun der Jüngling schwieg, sprangen alle auf und umringten ihn jubelnd unter Lachen und Weinen; einige Männer hoben ihn auf die Schultern empor und trugen ihn vor die Stufen des Königsthrones, während die Mädchen ihm Blumen zuwarfen. Als er aber, von den Männern abgesetzt, vor dem Throne kniete, erhob sich der König, faßte sein errötendes Töchterlein an der Hand und stieg die Stufen herab. Die Königstochter aber nahm den Kranz von Edelsteinen aus ihren Seidenlocken und drückte ihn dem Jüngling aufs Haupt.
Die Menge umringte laut rufend die Gruppe und führte sie im Triumphe in die Stadt.
Dann ging die Sonne im Westen hinter den Bergen zur Rüste, und in kurzer Zeit hüllte nächtliche Dämmerung die Gegend ein; nirgends erglänzte ein Licht, und wie ein entflogenes Traumbild war alles den Blicken des verzückten Bewunderers entschwunden.
Des Jünglings Seele war von dem Geschauten so ganz erfüllt und hingerissen, daß er kein Wort zu äußern, keine Frage zu stellen vermochte, als er das Paläoskop verließ.
Auch Münkhuysen schwieg, und friedlich flimmerten über ihnen die himmelfernen Sterne, die Ernst soeben noch so nahegerückt gewesen waren.
Endlich unterbrach Münkhuysen die Stille: »Den Sie vorhin erblickt haben, bin ich versucht, für den größten Dichter aller Zeiten zu halten. Ich habe gesehen, wie ein Lied von ihm die grausamen Feinde dieses friedlichen Volkes entwaffnete und sie zu Tränen rührte — ja ich habe Wunder gesehen, die sein Sang vollbrachte, und ich könnte ein Buch darüber schreiben, wollte ich alles berichten: niemand hat seinem Zauber widerstehen können; aber immer hat er seine Gewalt zu edlen Zwecken gebraucht, und niemals konnte ich bemerken, daß seine Gabe ihn hochmütig gemacht hätte, obgleich sie ihm eine Königstochter und eine Königskrone einbrachte. Seine holde Gattin wurde ihm späterhin von den Erbfeinden seines Volkes geraubt und in einer schauerlichen Höhle verborgen gehalten. Aber er fand den Weg zu ihr und bezauberte die Wächter durch seinen Gesang, so daß sie die Gefangene freigeben mußten. Freilich wurde sein Glück dadurch nicht neu begründet, denn eben in diesem Augenblicke trat die furchtbare Weltkatastrophe ein, welcher auch die junge kaum befreite Königin zum Opfer fiel.
»Aber sagen Sie, werden Sie hierdurch nicht an die Sage von Orpheus und Eurydice erinnert? Ich sage Ihnen aus vollster Überzeugung: Sie haben Orpheus selber gesehen.«
»Ich kann es nicht leugnen, daß mir nach dem, was Sie sagten, kein Zweifel daran mehr übrig bleibt. Aber ach! wie weckt ein solches Schauen die Sehnsucht, die zauberischen Lieder auch mitanhören zu dürfen!«
»Ja, bis jetzt gleichen wir den Tauben; aber seien wir zufrieden, daß uns wenigstens das Sehen solcher Wunder vergönnt ist!«
»Sie sprachen von einer Weltkatastrophe,« begann Ernst wieder, als beide sich ins Haus zurückgezogen. »Was meinten Sie damit?«
»Das mongolische Meer, das Sie soeben zum Teil gesehen haben, muß an seinem westlichen Rande durch eine plötzlich entstandene Öffnung unter dem Wasserspiegel große Wassermassen in das Innere eines Vulkans ergossen haben. Die dadurch hervorgerufene Explosion öffnete dem Meer einen tiefen und breiten Ausfluß in die asiatische Tiefebene, wo es mit einer mächtigen Welle alles überflutete, die Menschen ertränkte und die reiche Landschaft in eine Wüste verwandelte.
»Zugleich waren die Wasser durch die Öffnung in den Flanken des Vulkans nach der ersten Explosion tief in die Geklüfte der Erde eingedrungen und sprengten, zur Siedehitze gekommen, den Boden über sich, so daß sich dort unten die Brunnen der Tiefe öffneten und Ströme kochenden Wassers auswarfen, noch ehe die Überflutung durch die von oben kommende Welle vollendet wurde. Es ist dies die größte und schrecklichste Katastrophe, die je die Erde betroffen, und fast alle Völker bewahren ihr Andenken in den Sagen von der Sintflut.«
»Und Eurydice?« frug Ernst gespannt.
»Eine durch die Gewalt der Explosion emporgeschleuderte hohe Welle riß sie mit sich weg, als sich Orpheus, der ihr voranschritt und dem sie nachgeführt wurde, eben nach ihr umsah. Vergebens stürzte er ihr nach in die kochenden Fluten; er sah sie nicht wieder; ihn aber spie das Meer aus. Die aufspritzenden Wasser hatten auch viele Dörfer und Städte am Ufer mit fortgerissen oder überschwemmt. Mit den Resten seines Volkes wandte sich Orpheus der indischen Niederung zu, denn durch das Verschwinden des mongolischen Meeres wurde die Gegend wasserarm und unbewohnbar.«
Als man nach der Abendmahlzeit gemütlich im großen Speisesaal versammelt saß, äußerte sich unser junger Freund ganz begeistert über Münkhuysens Erfindung des Paläoskops.
»Ist eine höchst mangelhafte und völlig zwecklose Erfindung!« bemerkte Kapitän Münchhausen trocken.
»Wieso?« rief Ernst erstaunt und entrüstet, während Baron Münkhuysen herzlich lachte, da er seinen Vetter als Schalk kannte. Diesmal jedoch war es diesem anscheinend ernst.
»Verstehen Sie etwas von der Optik, junger Mann?« fragte er zurück.
»Besondere Fachkenntnisse besitze ich auf diesem Gebiet allerdings nicht; aber ich weiß doch immerhin so viel davon, als zur allgemeinen Bildung nötig ist.«
»Genügt vollkommen! Sie werden mir also erklären können, warum uns die Gegenstände, die wir durch ein Vergrößerungsglas betrachten, größer und dementsprechend näher gerückt erscheinen?«
»Gewiß! Die Lichtstrahlen, die von dem Gegenstand ausgehen und unser Auge treffen, werden durch das gewölbte Glas der Linse stark gebrochen, so daß sie uns als aus einer ganz anderen Richtung kommend erscheinen, und zwar von viel weiter auseinanderliegenden Punkten. Dadurch erscheint die durch das Glas betrachtete Sache nach allen Richtungen weit ausgedehnter, folglich viel größer, als sie in Wirklichkeit ist.«
»Gut gebrüllt, Löwe!« lachte der Kapitän. »Demnach ist die Vergrößerung nur Schein und keine Wirklichkeit, da die Strahlen nicht tatsächlich aus der Richtung kommen, aus der sie uns infolge der Brechung zu kommen scheinen?«
»Selbstverständlich!«
»Verstehen wir uns recht! Das Bild des Gegenstandes scheint uns bloß größer, der Gegenstand selber ist aber nicht etwa tatsächlich größer geworden oder wirklich vergrößert?«
»In der Tat!«
»Demnach handelt es sich also nur um eine Einbildung, eine sogenannte optische Täuschung. Wir bilden uns lediglich, durch die Brechung getäuscht, ein, die Strahlen kämen aus einer Richtung, aus der sie in Wahrheit gar nicht kommen, und infolgedessen bilden wir uns ebenso irrtümlich ein, den Gegenstand größer zu sehen, als er tatsächlich ist.«
»Man wird das wohl zugeben müssen«
»Nun also, Herr Frank: durch eine armselige Glaslinse lassen wir uns so foppen und nehmen eine grobe Täuschung wie Wirklichkeit hin. Wozu brauchen wir eine Linse? Weg mit ihr! Sollten wir es nicht fertig bringen, auch ohne das überflüssige Glas uns genau das gleiche einzubilden? Dann sind wir nicht mehr abhängig von dem äußerst beschränkten Brechungsvermögen der Linse, sondern wir können uns einbilden, die Strahlen kämen aus einer tausendmal, millionenmal, milliardenmal seitwärts entfernteren Richtung, und sofort werden wir den Gegenstand auch um ebensoviel vergrößert und nähergerückt sehen. Mittels der einfachen Einbildungskraft, die ja auch allein die optische Vergrößerung bedingt, könnten wir uns die entferntesten Sterne in greifbare Nähe rücken, so daß wir die kleinste Mücke daraus zu erkennen vermöchten. Sie werden zugeben müssen, daß diese Erkenntnis all die mangelhaften Hilfsmittel, wie Mikroskop, Teleskop und Paläoskop völlig entbehrlich machen und die Welt keine Schranken noch Grenzen mehr für unser Auge haben könnte, sobald wir nur lernten, uns unserer Einbildungskraft zweckmäßig zu bedienen, unabhängig von jenen plumpen optischen Täuschungsmitteln.«
Ernst war ganz verblüfft, wagte jedoch nur einzuwenden: »Das mag ja theoretisch richtig sein, aber praktisch...«
»Ach was, praktisch!« unterbrach ihn der Kapitän. »Sagen Sie mir einmal, was sehen Sie, wenn Sie in der Dunkelheit mit der Stirne an einen Kasten stoßen?«
»Ich sehe Funken.«
»Wirkliche oder eingebildete?«
»Eingebildete, natürlich.«
»Und doch so deutlich, wie wirkliche?«
»In der Tat!«
»Und nun, lieber Freund, ist es Ihnen noch nie vorgekommen, daß Sie in der Dunkelheit durch den Flur gingen und plötzlich zurückprallten, weil Ihnen auf einmal einfiel: ›Halt! Da steht ja ein Kasten! Beinahe wäre ich mit dem Kopf daran gestoßen!‹ Und, siehe da! im Augenblick, da Sie in diesem Gedanken zurückweichen, sehen Sie deutlich jene gleichen eingebildeten Funken, obwohl Sie sich gar nicht stießen, sondern bloß dachten, Sie hätten sich stoßen können?«
»Allerdings ist mir auch dies schon öfters begegnet.«
»Also, was wollen Sie?« schloß Münchhausen: »Sie sehen, daß die Einbildung auch ohne den mechanischen Reiz, nämlich den Stoß, genau das gleiche Bild hervorzubringen vermag, wie der Stoß selber. Das ist ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß die Einbildung auch ohne Linse das vergrößerte Bild erzeugen könnte, wenn wir nur unsere Einbildungskraft in dieser Richtung üben und ausbilden wollten.«
Diese Behauptungen hatten etwas so Einleuchtendes, daß sich ein lebhafter Meinungsaustausch darüber entspann, wobei mehrere der Herren des Kapitäns Aufstellung als durchaus wahrscheinlich verteidigten, während die Zweifler keine triftigen Gründe vorzubringen wußten, um sie wirksam zu widerlegen.
Münchhausen selber machte dem Streit ein Ende, indem er sagte: »Beruhigen Sie sich, meine Herren, in der Überzeugung, daß ein Mann wie ich unbedingt recht haben muß. Übrigens ist diese Frage für uns nicht so wichtig. Viel wertvoller ist es, angesichts unserer Pläne, das praktischste Mittel zu erörtern, zum Südpol zu gelangen. Ich als alter Polarforscher könnte Ihnen auch da die Wege zeigen; ich habe einmal einen Vortrag über die Entdeckung des Nordpols und die Lösung der sozialen Frage ausgearbeitet, und da der Südpol genau auf die gleiche Art am leichtesten zu erreichen ist, möchten Sie Vorteil daraus ziehen können.«
Alsbald erscholl der Saal von den Rufen: »Aufs Podium, Kapitän! Hinauf an das Rednerpult! Halten Sie Ihren Vortrag! Wir sind ganz Ohr!«
Am einen Ende des Speisesaals stand auf einer kleinen Bühne ein Rednerpult, und Münchhausen, durch die lebhaften Zurufe anscheinend geschmeichelt, bewegte gemessenen Schrittes und stolz zurückgeworfenen Hauptes seine Körperfülle nach der Empore, verschanzte sich hinter dem Pult und begann ohne weitere Vorbereitung folgendermaßen:
»Meine Herren!...«
Weiter kam er für diesmal nicht, denn er wurde jäh unterbrochen durch zwei Schüsse, die im Park hinter dem Hause fielen, unmittelbar unter den Fenstern des Speisesaales. Dann hörte man staunend Michael Mäusles Stimme eine schwäbische Donnerrede halten.
Als die Gesellschaft sich von ihrer Verwunderung etwas erholt hatte, stürmten alle hinaus, den verdächtigen Vorgängen auf den Grund zu kommen.
Michael Mäusle hatte sich vor etwa einer Stunde in den nächtlichen Garten begeben. Ihn beschäftigte der Entwurf zu einem großartigen Drama, dem er in der Einsamkeit nachhängen wollte.
Immer greifbarer gestaltete sich der Plan in seinem Dichtergeist, als er plötzlich vier verdächtige Gestalten daherschleichen sah. Er saß auf einer im dichten Gebüsch verborgenen Bank, von der aus man durch die Zweige blicken konnte, ohne von außen her bemerkt werden zu können, zumal jetzt bei Nacht, wo es im Gebüsch noch weit dunkler war als im lichteren Gehölz.
Die Männer hielten hart an der Hecke an, ehe sie vollends unter den Bäumen vortraten auf den freien Platz, der das Haus umgab. Mäusle besaß ein außerordentlich scharfes Gehör. Er hätte dessen kaum bedurft, um aus solcher Nähe jedes Wort zu verstehen, das die Eindringlinge miteinander flüsterten, ohne natürlich zu ahnen, daß ein Lauscher in der Nähe sei.
Der Schwabe mußte die Fremden für Spitzbuben halten, da sie offenbar über die Parkmauer gestiegen waren, und Spitzbuben darf man mit gutem Gewissen belauschen, ja es ist sogar Pflicht, wenn man Gelegenheit dazu hat, denn es kann einem ermöglichen, einen Schurkenstreich zu verhindern.
Das leise Gespräch der Kerls ließ keinen Zweifel über ihre Absichten übrig.
»Der Saal ist hell erleuchtet,« sagte der eine.
»Tut nichts!« erwiderte ein anderer: »Wir können unmöglich warten, bis sich die Herren zu Bett begeben, denn wir müssen das Schiff vor seiner Abfahrt erreichen, um sofort unsere Beute in Sicherheit zu bringen. Übrigens kenne ich als früherer Diener des Barons die Gelegenheit genau und habe vor meinem Abgang die Gitterstäbe soweit durchfeilt, daß wir sie geräuschlos ausbrechen können, die Einschnitte füllte ich mit geknetetem Weißbrot aus und rieb sie mit Eisenrost ein, so daß auch das schärfste Auge keine Spur meiner Tätigkeit entdecken kann.«
»Also, du führst uns,« entschied der Dritte, offenbar das Haupt der sauberen Gesellschaft. »Der Peter bleibt hier als Wache zurück. In einer Viertelstunde ist der Geldschrank durchgeschmelzt und einige Millionen sind unser, denn der Baron hat das bare Geld bereit, um die hohen Rechnungen für seine Einkäufe bar zu bezahlen, ehe er abfährt.«
»Das wissen wir alles schon lange,« brummte der Vierte: »Verlieren wir keine kostbare Zeit mit unnützen Reden. Und das Anstecken der Bude würde ich unterlassen, es nützt uns nichts.«
»Es kann uns aber auch nichts schaden,« zischte der frühere Diener eifrig: »Ich habe auch hierfür sorgfältige Vorbereitungen getroffen und will dem Baron einen Denkzettel dafür geben, daß er mich so schmählich fortgejagt hat.«
»Womit er sehr recht und weise handelte,« kicherte der Anführer.
Mäusle hätte sich unter den Bäumen unbemerkt auf die andere Seite des Schlosses schleichen können, um den Einbruch zu verraten und noch beizeiten durch die Dienerschaft des Barons vereiteln zu lassen. Aber dieser Gedanke kam dem Dichter gar nicht, während es ihm feststand, es sei seine Pflicht, die Gauner an der Ausführung ihres Vorhabens zu verhindern.
Weitsprung und Hochsprung waren seine ganz besondere Fertigkeit: mit einem Satz sprang er über das nicht allzuhohe Buschwerk und stand wie vom Himmel gefallen vor den Verbrechern. Trotz ihrer grenzenlosen Überraschung waren zwei derselben geistesgegenwärtig genug, sofort ihre Revolver aus dem Gürtel zu ziehen. Allein zwei blitzschnelle Faustschläge schmetterten auf ihre Handgelenke nieder, so daß ihnen die Waffen entfielen und sie vor Schmerz laut aufstöhnten.
Inzwischen hatten sich auch die beiden anderen rasch von ihrer anfänglichen Erstarrung erholt und drückten fast gleichzeitig ihre Drehpistolen auf Mäusle ab. Das waren die beiden Schüsse, die man im Speisesaal gehört hatte.
Aber Mäusle war im Augenblick, da die Schüsse aufblitzten, wie vom Erdboden verschwunden. Die Räuber starrten geradeaus und wußten nicht, wo er geblieben war, bis einer um den andern rücklings zu Boden stürzte.
Der Schwabe hatte einen japanischen Kunstgriff angewendet, den er in seiner Jugend gelernt und oft geübt hatte: er hatte sich mit solcher Behendigkeit zu Boden geduckt, daß seine Gegner in der Dunkelheit die Bewegung gar nicht hatten erkennen können. Einen um den anderen hinter den Knien umfassen, diese mit scharfem Ruck an sich reißen, mit einem Kopfstoß in den Bauch nachhelfend, war das Werk weniger Sekunden. Aus diese Art wird der stärkste Mann hilflos zu Boden geschmettert, wenn ihm diese Kampfweise nicht bekannt ist und er sich nicht rechtzeitig am Kopfe des Angreifers festklammert.
Die vier Schurken schlugen mit dem Kopf hart auf den Boden und wurden dadurch zunächst etwas betäubt, so daß Mäusle den beiden Schützen ihre Revolver entreißen konnte. Nun hielt er in jeder Hand eine Waffe, die er den Gestürzten drohend entgegenblinken ließ, indem er sie andonnerte: »So! Hent ihr denkt, ihr könnet de Michel Mäusle aus Gschlachtebretzinge nur so mir nex dir nex abmurkse? So ebbes laßt der se net g'falle! Ihr seid mer e saubere Bande! Einbreche, Geld raube, wo für bessere Zweck b'schtimmt isch, wie ihr se heget, und z'letschte no dees Schlößle a'brenne! Daderfür sott mer euch glei an'n Galge hänge. Oho! ufschtehe möchtet ihr? Dees tät euch passe! Aber mir paßt's net. Wer se regt, kriegt e blaue Bohn, dees merket euch: da gibt's keine Würschtle!«
Jetzt stürzte Neeltje heran mit Eva und ihnen folgten die Herren und die gesamte Dienerschaft des Schlosses mit Lichtern und Laternen.
»So ischs recht!« rief ihnen der Schwabe entgegen. »Do hau i so e paar elende Schpitzbube unschädlich g'macht. Ich wollte sagen: hier liegen vier Schurken, die einbrechen, rauben und das Schloß in Brand stecken wollten. Es wird am besten sein, sie sofort der Polizei zu übergeben.«
»Was!« rief der Baron. »Vier Kerle haben Sie überwältigt, und noch dazu so stämmige Bursche? Wie konnten Sie das nur fertig bringen? Sind Sie verwundet?«
»Das glaube ich nicht, wenigstens spüre ich nichts dergleichen. Ich bin den Kugeln wohl noch rechtzeitig ausgewichen. Im übrigen war die Sache ganz einfach: ich konnte die Kerls zufällig belauschen und da ich natürlich ihre schwarzen Pläne vereiteln mußte, habe ich sie so plötzlich als möglich zu Boden geworfen. Es ist dies eine ganz leichte Sache, ein kleiner Kunstgriff, der gar keine besondere Kraft erfordert.«
»Nanu, hören Sie mal!« rief Professor Schulze. »Da hört sich doch alle Wissenschaft auf! Dem Manne da ist die Überwältigung von vier baumstarken Burschen nur ein kleiner Kunstgriff!«
»So ist mein Mann,« sagte Neeltje strahlend, da sie sah, wie glücklich die Sache wieder für ihren Gatten abgelaufen war: »Er verübt geradezu tollkühne Heldentaten, ohne der Gefahr die geringste Beachtung zu schenken, und hernach behauptet er, da sei überhaupt nichts dahinter.«
»Und dabei waren die vier mit Revolvern bewaffnet und Professor Mäusle war waffenlos!« bemerkte der Kapitän bewundernd.
»Solche ganz einfache Kunstgriffe macht Ihnen kein anderer nach!« meinte Raimund, und Doktor Maibold fügte hinzu: »Sie lehren einen die echten Schwabenstreiche kennen und zeigen uns, daß Sie in den Niederlanden der gleiche Held sind, als der Sie uns aus Ihren sagenhaften afrikanischen Taten bekannt wurden.«
»Das ist mein leidiges Schicksal,« seufzte Mäusle, »daß man meine einfachsten Erlebnisse zu fabelhaften Heldentaten stempelt, weil Umstände, für die ich rein nichts kann, ihnen etwas Ungewöhnliches zu verleihen pflegen. Aber ich bitte Sie, mich mit weiteren Redensarten zu verschonen.«
Inzwischen trafen die Schutzleute ein, die der Baron sofort hatte herbeirufen lassen, legten den Spitzbuben Handschellen an, nahmen den Sachverhalt zu Protokoll und zogen dann mit den Gefangenen ab.
Am folgenden Abend wurde Kapitän Münchhausen bestürmt, den Vortrag zu halten, den er gestern infolge der jähen Unterbrechung nicht hatte zum besten geben können. Feierlich bestieg er die Rednertribüne, warf sich selbstbewußt in die Brust und begann:
»Meine Herren!
Ihr Interesse verbürgt mir, daß ich mit meinem Thema zwei Lebensfragen der Gegenwart berühre. In der Tat, was beschäftigt am meisten die fühlenden Herzen unserer Zeit? Ohne Zweifel die soziale Frage, die da lautet: ›Wie kann der Menschheit aus dem Sumpf geholfen werden, in welchen sie geraten ist?‹
Und was erhitzt die denkenden Gehirnmassen aller Forscher und Gelehrten? Nichts anderes als die Nordpolfrage, welche sich also formulieren läßt: ›Wo steckt der Nordpol, und wie sieht es daselbst aus?‹
Es ist nicht zu glauben noch aufzuzählen, wieviel Scharfsinn, Vorträge, Broschüren, Kongresse, Konferenzen, Reichstagsbeschlüsse, Gesetze, Wohlfahrtseinrichtungen, Vorschläge, Utopien, Phantasien, Expeditionen, Geldmittel, Begeisterung verschwendet werden, diese beiden Fragen zu lösen — und alles ohne nennenswerten Erfolg.
Und doch ist eine schleunigste Lösung beider Fragen aufs dringendste zu wünschen. Oder ist es angebracht, noch mehr große Geister und kühne Unternehmer in Nacht und Eis den größten Gefahren, ja vielleicht einem unwiederbringlichen Verluste auszusetzen? Können wir die Unsummen, die für solche Expeditionen ausgegeben werden, zu gar nichts Besserem verwenden?
Und erst die soziale Frage. Wird sie nicht bald auf vernünftige Weise gelöst, dann adieu, meine Herren! Die Umsturzparteien — äußerst ungemütliche Parteien, meine Herren! brennen darauf, unsere Kultur mittels Dynamits in die Luft zu sprengen, um ihre Zukunftsideale ungestört verwirklichen zu können.
Unsere Zeit hascht nach Unterhaltung; viele von Ihnen haben vielleicht auch in meinem Vortrag nur Unterhaltung gesucht. Uns ist es aber um Erhaltung der Menschheit und unserer Kultur zu tun, und ohne Erhaltung ist alle Unterhaltung wertlos.
Meine Herren! Ohne unbescheiden zu sein, lassen Sie mich's gleich verkündigen: ich stehe heute vor Ihnen als der Retter der Kultur, der Zivilisation und des Humors, als der Beglücker der Menschheit und der Wissenschaft. Denn ich habe die Lösung der sozialen Frage gefunden und der Nordpol ist so gut wie entdeckt, und damit auch der Südpol!
Glauben Sie nicht, ich wolle Sie mit abgedroschenen Schlagwörtern und utopischen Phantasien unterhalten: nein! ich zeige Ihnen den einzigen Weg, auf dem der Menschheit wirklich, und zwar in kurzer Zeit, ohne besondere Mühen und Kosten aus der Patsche geholfen werden kann; wenn auf diesem Wege nebenbei, gleichsam spielend, der Nordpol entdeckt wird, so mag dies zwar verblüffend erscheinen, ist aber nur ein neuer Beweis für das Geniale meiner Idee, welche als ungesuchten Nebenerfolg eine solch wichtige Entdeckung ermöglicht.
Meine Gedanken sind übrigens so einfach und selbstverständlich, daß sie dem gesunden Menschenverstand ohne weiteres einleuchten müssen, und dies ist auch der Grund, warum kein Sozialpolitiker noch Nationalökonom, kein Gelehrter noch Forscher je darauf gekommen ist.
Nun, meine Herren! Ich zweifle durchaus nicht daran, daß es der bloßen Anregung bedarf, um Sie und die ganze gebildete Welt für meinen genialen Plan zu begeistern und durch Ausführung meiner Idee ein goldenes Zeitalter heraufzubeschwören.
Zunächst lassen Sie uns einen Blick werfen auf die
Ursachen der sozialen Notlage.
Meine Herren! Was nennen wir Notlage? Wenn der Mensch nicht hat, was er braucht. Was braucht aber ein Mensch? 1. Bier, Brot, Rettich oder Wurst und dergleichen, wissenschaftlich ›Nahrung‹ genannt; 2. zwei Paar Stiefel, ein Hemd, Strumpfbänder, Krawatte, beziehungsweise Korsett, einen Zylinderhut, Manschettenknöpfe und so weiter, nämlich alles, was man wissenschaftlich unter dem Namen ›Kleidung‹ zusammenfaßt; 3. eine Kammer mit einer Pritsche und einem Spiritusschnellkocher, das heißt wissenschaftlich ›die Wohnung‹ und poetisch ›der häusliche Herd‹; und schließlich 4. Koks und Gas, Petroleum oder Elektrizität zur Beleuchtung und Heizung (in kaltem Klima) eventuell auch zum Kochen, wenn kein Spiritusschnellkocher vorhanden sein sollte, oder der Betreffende nicht kalte Küche mit Schnaps vorzieht.
Wo die Fruchtbarkeit des Landes alle diese Bedürfnisse deckt, kann keine Notlage herrschen, überdies bleibt das Geld im Lande, da man nicht auf ausländische Einfuhr angewiesen ist.
Fatal ist es aber, wenn man so weit nördlich wohnt wie wir; denn einmal bringt unter solchen Breitegraden der Boden weniger hervor, und sodann werden die Bedürfnisse gesteigert, wie Sie sich durch einen einzigen Blick auf diese Tafel überzeugen können.«
Hierbei wies der Kapitän auf ein Bild, das an der Wand hing und eine Gruppe von Eingeborenen aus Zululand darstellte. Dann fuhr er folgendermaßen in seinem Vortrage fort: »Sie sehen da, wie ungeheuer viel die Tropenbewohner an Schneiderrechnungen ersparen; dem Manne genügt ein Papierstehkragen, der Frau und Jungfrau eine Tournüre, um die luxuriösesten Ansprüche zu befriedigen. Überdies gestattet das Klima die größten Ersparnisse an Baumaterial, Maurer- und Schreinerarbeit, so daß jeder in der Lage ist, sich eine bequeme Wohnung selber kostenlos herzustellen. Endlich braucht man kein Heizungsmaterial, während wir neun bis zehn Monate im Winter, und oft noch zwei bis drei Monate im Sommer auf künstliche Wärme angewiesen sind. Wie oft erschallte und erschallt nicht noch der Schreckensruf: ›Mutter der Mann mit dem Koks ist da!‹ und die verzweifelte Antwort: ›Ich hab' kein Geld!‹ Das ist die soziale Notlage im Norden!
In früheren Jahrhunderten half man dieser Notlage auf die einfachste Weise der Welt ab, indem man eine sogenannte Völkerwanderung veranstaltete und in ein besseres Klima auswanderte. Dadurch wurden aber nach und nach die glücklicheren Gegenden derart übervölkert, daß auch dort die soziale Not ausbrach, weshalb denn heutzutage eine Völkerwanderung nichts mehr nützen könnte.
Und nun, meine Herren, erheben wir die Frage:
Wie kann der Notlage abgeholfen werden?
Platz für alle hat die Erde! — aber welch' ungeheure Landstrecken erfreuen sich gegenwärtig noch einer völligen Unbewohnbarkeit, so daß der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual; andere haben eine sehr dünn gesäte Bevölkerung, weil sie wegen allzuviel Grad Celsius oder allzuwenig Fahrenheit wüste und unfruchtbar sind.
Dem muß abgeholfen werden. Das Klima unseres Erdballs muß reguliert und gleichmäßiger über die Oberfläche verteilt werden. Warum wurde in dieser Hinsicht noch nie etwas getan? Sie lächeln, meine Herren? Doch die Sache ist viel einfacher, als Sie zu denken belieben!
Werfen Sie gefälligst einen Blick auf die Karte der unentdeckten Polarregionen. Drängt sich Ihnen nicht unwillkürlich der Gedanke auf: ›Hier liegt der Hase im Pfeffer!‹ obgleich der Pfeffer nur in gemäßigteren Zonen wächst und Füchse und Hasen sich bereits in milderen Gegenden ›gute Nacht!‹ sagen?
Unser einziger Feind ist der Nordwind; er ruiniert das Klima. Wo ihm etwa durch hohe Berge der Zutritt abgeschnitten wird, da ist das Klima milder als in weit südlicheren Lagen, die nach Norden oder Westen hin offen stehen. Haben Sie das begriffen?
Den Nordwind also gilt es zu bekämpfen, zu vernichten! Sollte die Menschheit mit diesem einzigen Feinde des sozialen Wohlstandes nicht fertig werden können?
Merken Sie etwas? Die nördlichen Luftströmungen verdanken bekanntlich ihre Kälte den Eismassen, die am Nordpol lagern.
Meine Herren! Wo spürt nicht die Nase unserer weisen Politiker und Nationalökonomen herum? Einmal heißt es: die Gefahr droht von Osten! ein andermal: im Westen sitzt der Erbfeind! oder aber: von Süden aus werden wir mit ausländischen Arbeitern überflutet. Aber in die nördlichen Regionen, in das Polareis stecken sie ihre Nasen nicht, und doch liegt dort einzig und allein die Quelle aller Not, die Gefahr der Vernichtung!
Unser Klima wird immer kälter und infolgedessen die soziale Not immer größer: natürlich! schreitet doch die Vergletscherung des Poles immer weiter vor.
Vor Zeiten war zum Beispiel Grönland, wie sein Name ausweist, ein grünes Mattenland mit anständigem Klima und christlicher Bevölkerung. Als aber im Jahre 1408 der neuerwählte Bischof Andreas seinen Stuhl daselbst einnehmen wollte, fand er ihn samt dem ganzen Land vergletschert: die Eismassen verschlangen die christliche Kultur, Wohlstand und Klima.
Was Wunder, wenn in den Polargegenden das Eis sich immer höher auftürmt, sich immer weiter ausdehnt, friert doch in der entsetzlich langen Polarnacht Stein und Bein zusammen, während der kurze Polarsommer bei der Schwäche seiner schräg auffallenden Sonnenstrahlen lange nicht soviel wieder auftauen kann, als im Winter hinzufror.
Meine Herren! Gegen die Fluten baut man Dämme, gegen den Regen spannt man ein Parapluie auf, aber der wachsenden Vergletscherung des Poles sieht die gebildete Menschheit untätig, ja gedankenlos zu! Unglaubliche Verblendung, unverantwortlicher Leichtsinn!
Das kann und muß anders werden! Weg mit den Eismassen am Nordpol!
Wie aber soll das ausgeführt werden? Machen wir uns das an einem Beispiele klar. An einem Bergabhang liegen zwanzig große Felsblöcke, die aus Zweckmäßigkeitsgründen entfernt werden sollen. Eine Abteilung von zwanzig Soldaten wird unter dem Kommando eines Unteroffiziers zu diesem Zwecke ausgesandt. Mit lustigem Gesang ziehen sie aus, in der Meinung, die Arbeit werde in kurzer Zeit vollbracht sein. An Ort und Stelle angekommen, hält der Unteroffizier folgende patriotische Ansprache: ›Jungens, seht ihr die Felsblöcke? Das ist der Feind! Den sollt ihr ins Tal befördern: das ist eine Kleinigkeit für euch; zwanzig gegen zwanzig — der Sieg ist uns gewiß!
›Nun nimmt sich jeder einen Felsblock aufs Korn und dann los! Marsch, marsch! Hurra!‹ Voll Siegesgewißheit stürzen die Soldaten, ein jeder auf einen der Felsblöcke, stemmen sich dagegen und schieben, stoßen, heben, was hast du, was kannst du? Der Schweiß fließt in Strömen, aber keiner der Felsblöcke tut einen Ruck! Ich sage Ihnen, meine Herren, wenn die Kerls sich ihr Leben lang abrackerten, sie würden keinen der Blöcke auch nur um ein Haar breit bewegen!
Als intelligenter Unteroffizier sieht dies der Befehlshabende alsbald ein und sinnt auf Abhilfe. Plötzlich durchblitzt ein genialer Gedanke sein Hirn. ›Aufgepaßt! Angetreten! — Nun macht ihr euch einmal alle zusammen hinter einen Block!‹ Gesagt, getan! Mit vereinten Kräften wird der Koloß in Angriff genommen, und siehe da! er bewegt sich, schwebt, und in weniger als zwei Minuten rollt er den Abhang hinab, über die bereitgelegten Walzen. Ich sage Ihnen, in einer knappen Stunde ist die ganze Arbeit getan!
Genau so am Nordpol; was den zerstreuten Sonnenstrahlen nicht möglich ist, nämlich die Eismassen aufzutauen, das würde in kürzester Frist gelingen, wenn wir mehrere Sonnenstrahlen mittelst einer Linse auf einen Punkt vereinigten. Schritt für Schritt könnten wir das Eis schmelzen, und jedenfalls im Polarsommer soviel davon zu Wasser machen, daß der Winter nicht annähernd soviel wieder zum Gefrieren brächte.
Nun, meine Herren! Wie werden doch so viele Linsen in der Welt zu optischen Zwecken konstruiert; in neuerer Zeit stellt man Teleskope her, deren Riesenobjektive, als Brenngläser benutzt, von geradezu haarsträubender Wirkung sein müßten. Und diese wichtigen Hilfsmittel zur Enteisung des Poles dienen bislang bloß einer wertlosen Spielerei; denn es mag ja für Leute, die sonst nichts zu tun haben, ganz unterhaltend sein, den Gang der Gestirne und ihre Eigentümlichkeiten zu beobachten, aber einen praktischen Wert hat es doch nicht! Sollte schließlich auch so ein Sterngucker entdecken, daß unsere Erde in so und so viel Jahren mit dem Kometen Modell 70 auf 71 oder sonst einem zusammenstoßen werde, so könnte das nur unnötigen Schrecken Hervorrufen, ohne daß die Katastrophe sich vermeiden ließe.
Darum sage ich: Fort mit den Linsen! Fort damit an den Nordpol! Dort werden sie der Menschheit unschätzbare Dienste leisten!
Bald wird das geschmolzene Eis in Bächen und Strömen ins Meer sich ergießen, neue Polarströme werden entstehen und eilen, die Äquatorküsten abzukühlen, während neue Gegenströmungen aus den tropischen Gewässern dem Pole zustürzen werden, die Arbeit der Menschen zu unterstützen.
Aber noch mehr, meine Herren! Welche ungeheure Menge von Kriegsschiffen aller Nationen durchqueren, nur um zu fahren, die Gewässer aller Breitengrade? Schicken wir sie an die Grenzen des Polareises, dort werden sie der gesamten Menschheit zum Nutzen werden, statt ihr wie bisher zu schaden! Befördern wir das Heer der Arbeitslosen und Nörgler auf diesen Schiffen dorthin; da gibt es Arbeit in Hülle und Fülle; da können sich die Hitzköpfe abkühlen; mit allen Werkzeugen und Maschinen moderner Technik ausgerüstet, mögen sie den Kampf mit dem Polareise aufnehmen.
Schon dadurch können wir die soziale Frage auf Jahre hinaus als gelöst betrachten. Mangel an Arbeit gibt es nicht mehr, und allen Klassen der Unzufriedenen und Umstürzler wird eine angemessene und willkommene Beschäftigung geboten. Man denke einmal, die Lust für die Spartakisten, ihrer Vorliebe, mit Dynamit usw. zu knallen, ungestraft frönen zu dürfen. Den ganzen Tag können sie dort oben Bomben werfen, Minen anlegen, Eisberge in die Luft sprengen! So werden die verderblichen Elemente und Kräfte in den Dienst der Menschheit gestellt.
Die losgelösten Blöcke werden aus den Schiffen nach dem Süden geführt, größere Eisberge und schwimmende Eisfelder ins Schlepptau genommen. Sowie sie in die wärmeren Zonen gelangen, schmilzen sie von selbst und führen der Luft der Tropen die so hochnötige Abkühlung und Feuchtigkeit zu. Auch die Sahara und andere Wüsten können als Ablagerungsstätten für die Eismassen dienen, bis sie durch andauernde Befeuchtung und Abkühlung in fruchtbare Landstrecken verwandelt, neue Kolonisationsgebiete abgeben.
Ich verhehle mir nicht, meine Herren, daß viel, sehr viel Eis in den Polargegenden ist; aber bedenken Sie, daß bisher gar nichts, auch rein gar nichts dagegen unternommen wurde. Wir aber setzen soviel Hilfsmittel und Arbeitskräfte in Bewegung, daß es sonderbar zugehen müßte, wenn der Nordpol nicht binnen weniger Jahre vom Eise gesäubert sein würde.
Und dann, meine Herren, ist der Nordpol entdeckt! Die Reise dorthin wird eine Vergnügungstour sein; ja die arktischen Regionen werden aufblühen, wir werden eine Sommerfrische am Nordpol haben, ein Hotel zur Erdachse, und die Gefahren und Entbehrungen in Nacht und Eis sind ein für allemal zu Ende.
Ist die Arbeit am Nordpol vollbracht, so werden durch klimatischen Ausgleich so viele neue Kulturländer der Menschheit erschlossen sein, in soviel öden Gefilden wird der Wohlstand aufblühen, so viele neue Existenzmittel werden geschaffen sein, daß die Arbeiter entlassen werden könnten, ohne daß man neue Notlagen befürchten müßte. Jedenfalls wird aber der großartige Erfolg es nahe legen, sofort das gleiche weltverbessernde Werk auch am Südpol zu beginnen.
Auch zweifeln wir nicht, daß im Laufe dieser segensreichen Arbeiten ein solch begeistertes Friedensband die Nationen umschlingen wird, daß bald alle stehenden Heere, alle Vorräte an Schießpulver und anderen Sprengstoffen, die man bisher nur hielt, um einander bange zu machen, in den Dienst der Entgletscherung der Pole gestellt werden, um das menschheitsbeglückende Werk so rasch als möglich zu fördern.
Meine Herren, ich eile zum Schluß und erhebe nun noch die Frage:
Wie wird es dann aussehen?
Es ist schwer, auch nur annähernd ein Bild davon zu entwerfen, welche Segnungen die Säuberung der Polargegenden vom Eise unserer Erde bringen werden.
Durch die Ausgleichung der klimatischen Gegensätze wird einmal den so überaus verheerenden Stürmen, Orkanen und Zyklonen ein dauerndes Ziel gesteckt; in Amerika wird keine Stadt mehr vom Erdboden weggeblasen werden, die Schiffahrt auf allen Meeren wird vollkommen gefahrlos sein, zumal auch die Meeresströmungen an Gewalt verlieren; ein Ausflug eines Ruderklubs nach Amerika oder Australien wird bald in Sportkreisen nichts Auffallendes mehr haben.
Auch schadenbringende Gewitter und Hagelschlag werden kaum mehr vorkommen. Die Temperaturunterschiede auf der Erde werden gerade noch genügen, um sanfte, reinigende und befeuchtende Luftströmungen zu erzeugen. Dann steht auch zu erwarten, daß Regen und Sonnenschein sich gleichmäßiger über die Erdoberfläche verteilen und regelmäßiger abwechseln, so daß nirgends und nie verderbliche Trockenheit oder Nässe eintritt, von Überschwemmungen gar nicht zu reden. Schon dadurch werden wesentliche Verlust- oder Notstandsquellen abgeschnitten und sichere Wohlstandsquellen eröffnet; aber auch den schrecklichsten Krankheiten und Seuchen wird jede Existenzbedingung genommen.
Vor allem aber wird der bitterböse Nordwind seine Schärfe und Rauheit einbüßen; wie ein mildes Frühlingswehen wird er vom Pol herübersäuseln, wo die neuen Ansiedler auch in der Polarnacht keine größeren Eismassen mehr aufkommen lassen. Da natürlich die Gletscher der Alpen verschwinden und auch im nördlichsten Europa die Temperatur nie mehr den Nullpunkt erreicht, muß der Pol sämtlichen Eiskellern der Welt ihren Bedarf liefern.
Schon im Beginne des großen Werks wird unser Klima von Jahr zu Jahr wärmer. Die Bedürfnisse verringern sich, während sich die Wohlstandsquellen vermehren. An Nahrungsmitteln ist Überfluß, Heizungsmaterial wird nur noch zu technischen Zwecken gebraucht; der Mensch muß nicht mehr mühevoll um ein entbehrungsreiches Dasein kämpfen, sieht sich auch nicht mehr durch schreckliche Naturereignisse der Früchte seiner Mühen beraubt; mit leichter Arbeit kann sich auch der Ärmste ein behagliches Leben schaffen, Wohlstand und Zufriedenheit blühen überall empor, die Schutzzölle fallen mit großem Gepolter, und ein brüderliches Band umschlingt die beseligten Nationen.
In den deutschen Palmenhainen reichen Affen und Papageien dem biederen Staatsbürger die Bruderhand. Kokosbutter wächst im Land, ebenso Samt und Baumwolle, Südfrüchte und Kolonialwaren; die Seidenzucht wird großartig betrieben, der Vogel Strauß wird mit anderem Federvieh gezüchtet, keine Ohnmachten, keine Tränenströme mehr, um dem Gatten eine neue Toilette oder einen teuren Hut abzuringen!
In den sumpfigen Niederungen reift der Reis dem köstlichen Risotto entgegen; dem früher so geplagten Arbeiter nimmt sein Haustier, der Elefant, die schwere Arbeit ab; und da der Kampf ums Dasein aufhört, können die meisten Arbeitskräfte in den Dienst des Luxus und der Behaglichkeit gestellt werden.
Ja, meine Herren! Die soziale Frage ist gelöst! Neid, Eifersucht und Parteihader weichen der Zufriedenheit und Eintracht, die Nationen leben im ewigen Frieden nebeneinander, wer wird sich und anderen das Leben zwecklos verbittern wollen, wer wird noch den Weg des Verbrechens betreten?
Auch der Geringste wird von den Genüssen des Lebens nicht mehr ausgeschlossen sein, in seinem geschmückten Heim ergibt er sich der sorglosen Behaglichkeit, dem sonnigen Humor. Die holde Poesie findet eine Stätte bei ihren früheren Verächtern.
Meine Herren! Die Rührung übermannt mich, und, wie ich sehe, auch Sie! Schämen wir uns nicht dieser Tränen: es sind Tränen edelster Freude! Sind es doch nicht utopische Träume oder Zukunftsbilder fernster Jahrhunderte, die ich vor Ihnen entrollt habe: in wenigen Jahren kann das alles Wirklichkeit sein!
Ja, meine Herren! Ich zweifle nicht daran, daß von heute ab, da ich meine ausgereifte Idee der Öffentlichkeit übergeben habe, der unfruchtbare Streit der Sozialpolitiker und Nationalökonomen ein für allemal einer fruchtbaren Arbeit am Nordpole Platz machen wird.
Das Land dort soll bald eine blühende deutsche Kolonie sein; denn ich, als Urheber des völkerbeglückenden Gedankens, nehme es schon heute für mein Vaterland in Besitz.
Laut aber wollen wir es hinausrufen in die staunende Welt: ›Alles, was Bildung hat, alles, was ein Herz hat für die Not der Zeit, alle unzufriedenen und hadernden Parteien, alle Männer der Wissenschaft, die für den Nordpol sich so sehr erwärmen, alle eifersüchtigen Großmächte Europas, Asiens und Amerikas, ja selbst du, Jungafrika, findet euch zusammen zu dem größten Friedenswerk!‹
Und wenn die letzte Eisscholle des Nordpols am Äquator schmilzt, und wenn der letzte kalte Hauch des Nordens sich in mildem Frühlingswehen auflöst, dann mögen sich die jubelnden Nationen am entdeckten Pole die Hand reichen zum ewigen Völkerfrieden!
Ein Eisblock aber bleibt stehen, als nordpolisches Nationalheiligtum, und an diesem wird zur dauernden Erinnerung und zum Schutze gegen das Publikum ein Plakat angebracht mit folgendem Wortlaut:
›Der letzte Eisberg des Nordpols. — Notabene! so sah es früher hier überall und durch die Bank aus. Es ist strengstens verboten, sich Eisstücke zum Andenken abzusplittern oder den Eisberg zu berühren, da er unter der Wärme der Hand schmilzen würde und dann nicht mehr da wäre.‹«
Unter dem jubelnden Beifall der Zuhörer verließ Kapitän Münchhausen stolz die Rednertribüne, um sich durch einen guten Trunk zu stärken, den Eva ihm lachend kredenzte.
Als die Gesellschaft nach dem großartigen Vortrag sich noch im Parke erging, wurde ihr dort ein ganz eigenartiges reizvolles Schauspiel zuteil: den Tag über hatte es geregnet, und nun hüpften in den regenfeuchten Beeten und Wegen des Gartens Frösche und Kröten umher, die am ganzen Körper leuchteten, und zwar drang der phosphoreszierende Schein aus dem Innern ihres Leibes durch die Haut hervor.
»Nein, so etwas!« rief Raimund aus: »Leuchtkäfer, leuchtende Fische und Krebse, ja leuchtende Schnecken habe ich schon gesehen; aber Amphibien, die zu Beleuchtungszwecken in einem Parke verwendet werden, das ist mir neu. Wie haben Sie das wieder zustande gebracht, Baron?«
»Ganz einfach!« schmunzelte Münkhuysen: »Ich spritze den Tieren Leuchtbakterien unter die Haut ein, und so erscheinen sie durchsichtig illuminiert. Dieser Zustand wird drei Tage andauern, dann ist es mit dem Leben und der Leuchtkraft der Bakterien zu Ende.«
Am nächsten Tage wurde nach dem Mittagsmahle das übliche Plauderstündchen im Speisesaal gehalten. Unter allen Gesprächsstoffen stand natürlich stets in vorderster Linie das großartige Unternehmen, welches die verschiedenen Gäste bei Münkhuysen Versammelt hatte, die Expedition nach dem Südpol.
Selbstverständlich wurde viel über die Erfahrungen und Entdeckungen geredet, welche bei früheren Reisen in die Polargegenden gemacht wurden.
Man kam auch auf Andrées tollkühnen Versuch zu sprechen, den Nordpol im Luftballon zu erreichen. Als alle Vermutungen über sein trauriges Schicksal erschöpft waren, nahm Doktor Maibold noch das Wort und sagte: »Es ist schrecklich, denken zu müssen, daß solche mutige, kraftvolle Männer, von aller menschlichen Hilfe entfernt, vielleicht einen langsamen Tod erleiden mußten und alle Stadien der Verzweiflung durchgemacht haben. Und was ist ihr Lohn? Die Welt war voll von Andrées Unternehmen, solange der Erfolg noch möglich schien; heute schon nennt man ihn ›den Idealisten unter den Nordpolfahrern‹. Aber sei es noch um ein bis zwei Jahre, wenn die letzte Hoffnung auf seine Wiederkehr erloschen ist, so wird er bald in Vergessenheit geraten und kein Mensch wird mehr von ihm sprechen, oder wenn sein Name noch einmal zufällig erwähnt würde, so wäre es nur, um ihn einen Phantasten, einen tollkühnen Abenteurer zu heißen.«
»Ja,« sagte Professor Raimund, »und wenn seine Ballonfahrt glücklich abgelaufen wäre, so hätte er der gefeiertste und berühmteste Mann des neuen Jahrhunderts werden können; so hängt der menschliche Ruhm oft von dem ab, was man einen ›Zufall‹ heißen kann.«
»Ist denn die Erreichung des Pols mittels eines Luftballons überhaupt denkbar?« frug Ernst Frank.
»Nein!« sagte Münkhuysen. »Mit dem Luftballon nicht, wohl aber mit dem lenkbaren Luftschiff. Wer einen bestimmten Punkt erreichen will, vollends in solch öden Gegenden, und dann noch die Rückkehr in bewohnte Länder zu bewerkstelligen gedenkt, der muß ein lenkbares Beförderungsmittel benutzen; ein Ballon aber ist, als eine große Masse ohne Festigkeit, stets von den wechselnden Luftströmungen abhängig, und es kann niemals gelingen, eine solche unbeholfene Masse zu lenken; das erste Erfordernis für ein lenkbares Luftschiff ist, daß es aus einer festen Masse besteht, wie das Schwarzsche Luftschiff.«
»So würden Sie dem Schwarzschen Luftschiff eine Zukunft versprechen?« fragte Professor Schulze.
»Doch nicht!« meinte Münkhuysen, »auch ihm haften noch einige wesentliche Mängel an, nämlich die Füllung mit Gas und die Anbringung der Gondel unterhalb des Schiffskörpers. Lange ehe man etwas von Schwarz wußte, war ich mit dem Gedanken meines Luftschiffes fertig und ich bin überzeugt, daß ich den einzigen Weg zur Lösung dieses großen Problems gefunden habe.«
»Neuerdings haben ja Major Parseval und Graf Zeppelin große Erfolge mit lenkbaren Luftschiffen aufzuweisen,« bemerkte Ernst.
»Gewiß!« bestätigte der Baron, »doch bleibe ich dabei: erst dann wird ein vollkommen befriedigendes lenkbares Luftschiff hergestellt sein, wenn man sich vom Gas völlig unabhängig gemacht hat und wenn an Stelle der unteren Gondel eine obere Plattform, wie das Deck eines Schiffes, zum Aufenthalt für die Passagiere dient.
»Solange Gas zur Füllung der Luftschiffe gebraucht wird, ist eine dauernde Brauchbarkeit derselben nicht denkbar; denn die sehr kostspielige Füllung muß immer wieder erneuert werden, und die Ballonhüllen, auch in einem starren Gerippe, wie bei Graf Zeppelin, sind leicht verletzbar. Hierin war das Schwarzsche, ganz starre Luftschiff praktischer. Aber er füllte es ebenfalls mit Gas, statt den luftleeren Raum zu benutzen, der selbstverständlich viel leichter ist als Gas, da er überhaupt kein Gewicht hat. Hievon nun gehe ich aus.
»Stellen wir eine zylinderförmige Röhre her, die vorne in einen Kegel, hinten in eine Halbkugel ausläuft; diese Riesenzigarre muß luftleer sein, also entweder durch das Mannesmannsche Verfahren hergestellt oder nachträglich ausgepumpt werden. Wenn eine solche Röhre ein größeres Gewicht Luft verdrängt, als sie selber wiegt, so wird sie von selber in die Luft steigen. Sie muß daher aus einem sehr leichten Metall hergestellt werden, das zugleich dem Luftdruck genügenden Widerstand bietet. Ob das Aluminium hierzu ausreicht, können nur Versuche ergeben, da alle Berechnungen oft trügen. Sollten die Versuche mit Aluminium mißglücken, so müßte die Entdeckung eines geeigneteren Metalls oder einer neuen Legierung abgewartet werden.
»Vereinigen wir einige solcher fliegenden Röhren und löten wir sie in Form eines Zigarrenbündels zusammen, so daß wir unten und oben zwei, in zweiter Reihe je drei, in dritter Reihe je vier und in der Mitte fünf Röhren haben, wobei die Kernröhren des Bündels länger sein müssen als die äußeren, so haben wir ein Luftschiff, bestehend aus dreiundzwanzig Röhren, das eine große Tragfähigkeit aufweisen wird; da ein solches Luftschiff die Luft zwischen den zusammengeschweißten Röhren durchläßt, wird der Widerstand der Luft, selbst gegen den Wind, leicht überwunden; auf der Oberfläche befindet sich die Plattform für Mannschaft und Passagiere, so daß auch bei einem raschen Sturz höchstens einige der leichten Röhren zerdrückt werden können, die oben befindlichen Menschen aber kaum etwas von dem Aufprall spüren dürften.«
»Wie denken Sie sich aber die Lenkung eines solchen Schiffes?« nahm Doktor Maibold wieder das Wort.
»Ganz ähnlich wie bei den Dampfschiffen: zwei oder drei Luftschrauben, die durch Dampf oder besser Elektrizität getrieben werden, ein leichtes Steuerruder, das wäre alles.«
»Und das Auf- und Absteigen?« ließ sich Ernst vernehmen.
»Die beiden äußersten Seitenrohre sind in zwei Abteilungen getrennt, welche jede mit einer Luftpumpe auf der Plattform in Verbindung stehen. Je nachdem nun Luft eingelassen oder ausgepumpt wird, sinkt oder steigt mein Luftschiff. Eine stärkere Füllung der vorderen Abteilungen bewirkt eine Richtung der Spitze nach unten; eine stärkere Füllung der hinteren Kammern aber gibt dem Schiff eine zum Aufstieg geeignetere Richtung. Überdies ist noch dafür gesorgt, daß der Schwerpunkt dauernd nach unten verlegt bleibt und das Schiff nicht etwa umkippen kann. Außerdem bringe ich auch Höhensteuer an.«
»Das alles leuchtet mir ein,« sagte Raimund nachdenklich; »aber von der Plattform aus muß es schwer fallen, die Erde zu beobachten.«
»Will man dem nicht durch entsprechend angebrachte Spiegel abhelfen,« sagte Münkhuysen hierauf, »so muß freilich unter dem Luftschiff ein Beobachtungskorb angebracht werden, der durch eine den Schiffskörper im Zentrum durchschneidende Röhre mit der Plattform in Verbindung stünde.
»Ich habe übrigens die Idee dieses Luftschiffes schon vor Jahren in einem technischen Blatte veröffentlicht, das sich lebhaft dafür interessierte. Und nun denken Sie sich, geht da ein hochweiser sogenannter Sachverständiger her und veröffentlicht im gleichen Blatte einen Gegenartikel, in dem er behauptet, theoretisch seien meine Ausführungen ganz richtig und einleuchtend, aber in der Praxis sehe es ganz anders aus und würden sich unüberwindliche Schwierigkeiten ergeben. Dieser Mann konnte also nicht einmal Theorie und Praxis unterscheiden; denn es ist klar, daß von praktischen Ergebnissen erst dann die Rede sein kann, wenn der Gedanke ausgeführt und das Luftschiff praktisch ausprobiert wurde. Bis dahin waren jenes Herren Bedenken eben auch nichts anderes als unbewiesene Theorie. Hierauf wollte ich ihn in einer Erwiderung aufmerksam machen und widerlegte schlagend seine schwächliche Kritik. Allein das Blatt hatte einen zu heiligen Respekt vor dem Sachverständigen, als daß es überhaupt gewagt hätte, meine Entgegnung zu veröffentlichen: es durfte doch einen anerkannten Fachmann nicht so schrecklich bloßstellen!«
»Ähnliches habe auch ich schon erfahren,« brummte Raimund. »Aber ich tröste mich damit, daß es Größeren nicht besser ging: Männer wie Robert Mayer, Graf Zeppelin und tausend andere haben die gleichen traurigen Erfahrungen mit Sachverständigen machen müssen, die im Grunde nichts verstehen, weil sie außer dem, was sie gelernt haben, nichts für möglich halten.«
»Ich wollte mich übrigens auch anheischig machen, den Nordpol im Fluge zu erreichen,« fuhr der Baron fort.
»Wie?« rief Ernst aus. »Bisher schien es doch nur möglich, mit künstlichen Flügeln von einer Anhöhe abwärts zu fliegen, und hierbei sogar fand der berühmte Flugtechniker Lilienthal ein so klägliches Ende.«
Münkhuysen erwiderte: »Ich habe nur eine ganz einfache und so selbstverständliche Verbesserung an dem Flugapparate Lilienthals angebracht, daß ich mich stets gewundert habe, daß sonst niemand darauf kam. Ich war im Begriff, meine Idee dem Erfinder mitzuteilen, als ihn der traurige Unfall der Welt entriß. Sie sollen meinen Flugapparat selbst sehen — jetzt ist er bereits verpackt —, ich gedenke ihn aber zu einem Fluge nach dem Südpol zu benutzen; daher erspare ich mir jetzt weitere Auseinandersetzungen hierüber. Zurzeit sind auch schon andere auf brauchbare Gedanken in dieser Richtung gekommen, und einige kühne Männer beginnen, mit sogenannten Aeroplanen, einer Art Drachen mit Motoren, Flugversuche anzustellen, und auch das dürfte ohne Zweifel Erfolg haben.«
»Ich lobe mir den guten alten Luftballon!« sagte Kapitän Münchhausen. »Ich selber habe mit ihm so manche Fahrt gewagt, die stets glücklich ablief und mich immer dahin brachte, wo ich wollte.«
»Oho!« rief Ingenieur Holm: »Sollten Sie das Problem der Lenkbarkeit gelöst haben?«
»Ach was!« entgegnete der Schalk: »Für mich ist das nie ein Problem gewesen: nur die Sachverständigen, die nie an das Nächstliegende denken, stoßen immer auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Ich, als erfahrener Kapitän, versah meine Luftgondel einfach mit einem Steuer aus Adlerfedern und mit Segeln, die ich ja zu handhaben verstehe, um auch gegen den Wind zu kreuzen, und bei Windstille benutzte ich leichte Luftruder mit breiten Ruderflächen, die aus einem mit Seidenstoff überspannten Rahmen bestanden. Es ist haarsträubend, wie beschränkt die Luftschiffer sind, die nie auf den einfachen Gedanken kamen, die Luft wie das Wasser zu befahren, zumal die Luft ja Wasserstoff genug enthält!
»Bei diesen Luftfahrten verlegte ich mich auch aufs Wettermachen, das eine ganz einfache Sache ist. Mit einem großen Ventilator oder Blasebalg trieb ich die Wolken vor mir her, entfernte sie aus den Gegenden, die unter allzu großer Nässe litten, und lotste sie dorthin, wo die Dürre verderblich zu werden drohte.
»Einmal freilich wäre ich auf einer solchen Fahrt fast verunglückt. Ich jagte gerade ein heftiges Gewitter vor mir her, als ein rachsüchtiger Blitz zurückfuhr und mir das Steuer zerschmetterte. Dummerweise hatte ich schon allen Ballast ausgeworfen, von dem ich eine ungenügende Menge mitgeführt hatte. Mit dem zersplitterten Steuerruder konnte ich natürlich nicht aufwärts steuern und befand mich daher in einer sehr gefährlichen Lage. Mir wurde das Herz so schwer, daß der Ballon immer schneller zu sinken begann. Zum erstenmal im Leben geriet ich in eine mir sonst fremde Geistesverwirrung und zog die Reißleine. Jetzt stürzte ich mit rasender Geschwindigkeit. Das brachte mich wieder zur klaren Besinnung, und mit genialem Scharfblick erkannte ich, daß ich eine Dummheit begangen hatte. Nun klammerte ich mich am Netzwerk an und schnitt die Gondel los. Die erleichterte Hülle senkte sich nun mit mäßiger Geschwindigkeit. Da fiel mir ein Stein vom Herzen und sauste in die Tiefe. Das erst war meine Rettung, denn jetzt wurde der Sturz so milde, daß ich nicht mehr befürchten mußte, unten zu zerschmettern. Rasch kletterte ich im Netzwerk empor und setzte mich auf die beinahe entleerte Hülle, die in eben dem Augenblick den Erdboden erreichte. Sie knickte unter meinem Gewicht vollends zusammen, doch milderte sie meinen Fall so sehr, daß er mir keinen Schaden brachte. Sie sehen, Geistesgegenwart ist alles: sie hilft aus den verzweifeltsten Lagen.«
Die lachenden Zuhörer kargten denn auch nicht mit ihren Lobsprüchen über des Kapitäns fabelhafte Geistesgegenwart.
Der Tag der Abfahrt nahte. An seinem Vorabend wandelte Ernst einsam durch den Park, während alle anderen Teilnehmer an dem Unternehmen noch mit den letzten Zurüstungen beschäftigt waren. Er war bereit; er nahm auch nicht viel mit, und für die unentbehrliche Ausrüstung zu einer Polarfahrt hatte Münkhuysen väterlich für ihn gesorgt.
Auf einer Bank am Gestade des Waldsees erblickte der junge Mann Eva. Sie hatte eine Puppe auf dem Schoß — und weinte!
Als sie ihn kommen hörte, schrak sie auf und trocknete rasch ihre Tränen. Doch gelang ihr der Versuch nicht mehr, die Puppe vor seinen Augen zu verbergen. Schon stand er vor ihr.
»Ach! wie schäme ich mich,« flüsterte sie kleinlaut.
»Wegen der Puppe? Vor mir brauchst du dich nicht zu schämen: ich finde es schön, wenn junge Mädchen recht lange mit Puppen spielen und nicht so früh schon blasierte Fräulein sind, die verächtlich auf kindliches Spiel herabsehen.«
»Ach, du bist lieb! Schau, es ist meine Lieblingspuppe: sieh doch nur, das liebe Gesichtchen! Der Abschied fällt mir gar zu schwer!«
»Ja, warum nimmst du sie nicht mit?«
»Ach, das geht doch nicht! Denke dir, wie mich all die gelehrten Herren auslachen würden: ›so was will an den Südpol und spielt noch mit Puppen! Was soll eine Puppe am Südpol?‹ So würden sie spotten, und über meine Puppe spotten hören, das ertrage ich nicht!«
»Ach was! es braucht sie ja niemand zu sehen, und kommt es je heraus, so stehe ich wacker auf deiner Seite. Die gescheiten Herren haben alle auch ihre eigenen Liebhabereien, mit denen sie spielen: das sind ihre Puppen.«
»Meinst du wirklich, ich soll sie heimlich mitnehmen?« fragte sie und ihre Augen leuchteten.
»Aber freilich! In den Polargegenden ist es oft so langweilig, daß man nicht weiß, wie sich die Zeit vertreiben: gib acht, da wirst du noch von den Herren gebeten, sie mit deiner Puppe spielen zu lassen. Jedenfalls spiele ich mit dir.«
»Hurra!« rief Eva fröhlich: »Du bist doch ein vernünftiger Mensch! Also, mein Dorchen darf mit! Freue dich, mein Liebling: was wirst du nicht alles erleben! Und heute abend nähe ich dir noch einen warmen Pelz und eine Polarmütze. Aber jetzt muß ich noch von meinem zahmen Reh und von meinen Vögeln Abschied nehmen.«
Da Ernst der kleinen Eva Vertrauen und Liebe so völlig gewonnen hatte, durfte er Zeuge dieses rührenden Abschieds sein. Wie innig schmiegte sich das zierliche Reh an seine Herrin und wie flatterten die bunten Vögel und die girrenden Tauben ihr auf die Schultern und Hände. Man sah, welche sorgsame Pflegerin sie allen gewesen war, so daß sie sich ihrer zärtlichsten Anhänglichkeit erfreuen durfte.
Als sie nun zum letztenmal für lange, lange Zeit das braune Samtfell ihres Rehleins und das seidene Gefieder ihrer Vögel streichelte, mußte sie wieder mit den Tränen kämpfen: es war ein schwerer Abschied! Doch tapfer schluckte sie die Rührung hinunter und riß sich los. Sie mußte ja ihrer Puppe noch für eine warme Polarausrüstung sorgen.
Zum letztenmal war die Gesellschaft im trauten Speisesaale versammelt und besprach die bevorstehende Reise. Hiezu hatte man Zeit, denn alle hatten ihre Vorbereitungen abgeschlossen, und es gab für sie nichts mehr zu tun, als am anderen Morgen das Schiff zu besteigen. Dieses sollte sie zunächst nach Australien führen, wo Münkhuysen für die weitere Fahrt ein Fahrzeug bauen ließ, wie er es sich für den Zweck einer Polarreise ausgesonnen hatte.
»Warum lassen Sie denn das Schiff in Australien herstellen,« fragte Michael Mäusle, »statt auf einer unserer vorzüglich bewährten deutschen Werften?«
»Das gab sich von selbst,« erwiderte der Baron: »Mein Schiff sollte nach dem Vorbild von Nansens ›Fram‹ gebaut werden; denn die größte Gefahr in den Polargegenden für ein Schiff ist, daß es durch Eispressung zermalmt wird. Ist das Eis um das Schiff geschlossen und fängt an zu schrauben, so wird das Fahrzeug zunächst gehoben, weil die glatten, schrägen Schiffswände unter dem Druck an den Eiswänden hinaufgleiten.«
»Was bedeutet denn das,« unterbrach Ernst den Baron, »was Sie ›Schrauben des Eises‹ nennen?«
»Das will ich Ihnen zu erklären versuchen,« erbot sich Raimund: »Wenn große Eismassen durch Stürme getrieben und durch starken Frost vermehrt eine Pressung aufeinander ausüben, so werden einzelne Teile oder kleinere Schollen, inmitten der Eispressung, nach oben getrieben oder ›emporgeschraubt‹; ebenso ergeht es dem unglückseligen Schiff, das sich etwa im Schoße dieser drängenden Eismassen befindet.«
»Nun gut,« fuhr Münkhuysen fort: »Ist das Fahrzeug stark genug, einen gehörigen Druck zu ertragen, so wird es, wie gesagt, emporgeschraubt; der Kiel jedoch wird in des Eises Schraubstock gezwängt, da er nicht die schrägen Gleitflächen besitzt, und da ist es denn erklärlich, wenn er schließlich abgedrückt und der Schiffsboden völlig aufgerissen wird.
»So ging es dem Schiff der schwedischen Südpolexpedition, der ›Antarctic‹, das im südlichen Eismeer unterging, nachdem ihm das Schraubeis den Kiel abgepreßt hatte. Wäre es kiellos gewesen, so wäre es mit Verlust des Steuers davongekommen; so aber mußte es untergehen und die Besatzung wurde zu einer unvorhergesehenen Überwinterung auf der Pauletinsel gezwungen.
»Nansens ›Fram‹ ist besonders für solche Schraubeispressungen eingerichtet gewesen und besaß keinen Kiel; außerdem waren die Schiffswände durch ein Gewirr von Balken im Innern gestützt, so daß sie ohne Beschädigung große Pressungen auszuhalten vermochten.
»Aber eben dieses System von Balken im Innern des Schiffes gefiel mir nicht. Ich sagte mir, daß sich ein Fahrzeug von unbegrenzter Widerstandskraft viel einfacher herstellen lasse, wenn es massiv aus einem gewaltigen Holzblock gearbeitet würde, statt aus Planken zusammengesetzt zu sein. Bäume aber, die groß genug sind, um ein solches Schiff aus einem Stück zu liefern, finden sich in Australien: das sind die Eukalypten oder Blaugummibäume.
»Das Holz des Eukalyptus fault nicht und gehört zum härtesten Holz, das es gibt; für den Schiffbau gibt es kein vorzüglicheres Material. Ich begab mich daher persönlich nach Australien und suchte einen Baum aus, der sich für meine Zwecke eignete. Aus dem Stamm dieses Riesen wird nun mein Polarschiff, das ›Südkreuz‹, herausgearbeitet; es erhält eine Länge von 50 Metern, bei 12 Meter Deckbreite und allerdings nur geringem Tiefgang. Letzteres jedoch ist für eine Fahrt im Eise nur von Vorteil.
»Die Innenräume des ›Südkreuz‹ werden ausgebohrt und lassen überall meterdicke Wände übrig: im Verhältnis zu dem ungeheuren massiven Block bilden sie nur unwesentliche Hohlräume. So kann der stärkste Eisdruck meinem Schiffe nichts anhaben, und bei seiner glatten, abgerundeten Außenform wird es im Schraubeis mit Leichtigkeit emporgetrieben. Einen Kiel, der ihm angesichts seiner Blocknatur nicht einmal gefährlich werden könnte, besitzt es nicht. Es kann auf unterseeische Riffe auffahren oder von einem Orkan gegen Felsen geschmettert werden, ohne daß es leck werden könnte; höchstens verliert es einige Späne und erhält einige bedeutungslose Schürfungen.«
»Immerhin können die Schiffsschrauben und das Steuerruder abgeschlagen werden,« gab Holm zu bedenken.
Münkhuysen lachte: »Ja, wenn ich mein ›Südkreuz‹ mit solchen veralteten Auswüchsen versehen würde. Ich sage Ihnen aber, das Schiff ist an seinen Außenwänden so glatt wie eine Haselnußschale.«
»Gewiß haben Sie auch eine neue Art der Fortbewegung und Steuerung des Schiffes ersonnen,« vermutete Mäusle, »da es, wie Sie sagen, weder Steuer noch Schrauben besitzt?«
»Selbstverständlich! Vorne am Bug des Schiffes befindet sich eine runde Öffnung mit einem Kanal, darinnen eine Röhre sich mäßig nach rechts oder links wenden läßt; ebenso hinten am Schiff: beide Kanäle stehen miteinander in Verbindung. Die Maschine des ›Südkreuz‹ zieht das Wasser vor dem Schiffe ruckweise ein und stößt es hinten wieder aus; hiedurch wird gleichzeitig der Wasserdruck vorne vermindert und hinten verstärkt, wodurch das Schiff ganz von selber vorwärts getrieben wird. Meine Versuche mit diesem neuen System haben ergeben, daß mit geringerer Dampfkraft eine viel größere Fahrgeschwindigkeit erzielt wird als bei unseren schnellsten Schraubendampfern; selbstverständlich muß durch ein Schutznetz an der vorderen Öffnung das Ansaugen von Seepflanzen, Seetieren und so weiter verhindert werden, die imstande wären, den Kanal zu verstopfen. Dieses Netz bewegt sich beständig und wird automatisch von anhaftenden Substanzen gereinigt.
»Was das Steuern anbelangt, so geschieht dies auf einfachste Weise dadurch, daß der Einzugs- und Abgangsröhre eine andere Richtung gegeben wird. Übrigens hätte ich statt der Dampfkraft lieber die Elektrizität angewendet; ich müßte aber damit erst noch umfassende Versuche anstellen, durch welche unsere Abfahrt wesentlich verzögert würde.«
Da der Baron unseren jungen Freund, Ernst Frank, tatsächlich wie seinen Sohn behandelte und stets bereit war, seine Wißbegier in liebenswürdigster Weise zu befriedigen, bat ihn der Jüngling, ihn näher in seine Reisepläne einweihen zu wollen und ihm überhaupt einige Aufklärungen über die Südpolargegenden zu geben. Er selbst wußte zwar etwas von dem Südpol selber und seiner nächsten Umgebung, von dem Münkhuysen noch keine Ahnung hatte, so wenig wie irgend jemand anders auf Erden. Das war nur Eva und ihm bekannt und ihr großes Geheimnis. Allein sonst hatte Ernst wenig Kenntnisse von den antarktischen Gebieten und lauschte daher begierig den Ausführungen des Barons, als dieser folgendermaßen begann: »Bis auf den heutigen Tag sind verhältnismäßig wenige Entdeckungsfahrten in die Gewässer des südlichen Eismeeres unternommen worden, und der Strand der Antarktis wurde in jüngster Zeit, am 23. Januar 1895, zum allerersten Male von Menschen betreten. Dies geschah, als Egeberg Borchgrevingk mit seinen Begleitern auf Kap Adare landete. Aber auch hier handelte es sich nur um ein kurzes Verweilen am eisigen Strande. Erst Borchgrevingk aus seiner zweiten Reise und nach ihm die letzten großen Südpolexpeditionen haben sich das Verdienst erworben, das Festland genauer untersucht zu haben. Die Schweden betraten es an mehreren Stellen, die Deutschen und die Engländer überwinterten auf demselben, und letztere drangen auch eine ziemliche Strecke in das Land ein.
»Es ist kaum glaublich, daß auch nicht ein einziger Forscher bis dahin einen Versuch gemacht hatte, landeinwärts zu dringen. Freilich ist die große Eismauer oder Bankise, wie die Franzosen sie nennen, mit schuld an diesem Umstand. Es ist Ihnen ja zweifellos bekannt, daß die Küste der Antarktis überall, wo sie bisher erblickt wurde, von jener unheimlichen, endlosen und nur wenig zerklüfteten Eisterrasse eingeschlossen ist. Dumont d'Urville und Wilkes verfolgten diese Eismauer auf Hunderte von Kilometern westlich von Viktorialand; Roß segelte östlich von Viktorialand ebenfalls mehrere hundert Kilometer an dieser Bankise hin. Sämtliche Gletscher des Binnenlandes sowie das übrige Inneneis fallen nämlich schroff gegen das Meer ab und bilden auf diese Weise eine Mauer von fünfundvierzig bis sechzig Meter Höhe; an anderen Stellen erreicht sie sogar eine Höhe von neunzig bis hundertfünfzig Metern; und nur eine Stelle wurde von Roß beobachtet, wo die Mauer nur fünfzehn Meter hoch war.
»Es muß allerdings betont werden, daß die Südpolarforschung verhältnismäßig jung ist und wir dem Nordpol weit näher liegen als der Antarktis, so daß sich selten eine Forschungsreise dem südlichen Eismeere zuwendete. Anderseits bietet die Nordpolforschung weit größere Hindernisse und Gefahren, denn hier befindet sich ein ausgedehntes Eismeer mit heimtückischen Spalten und unsicheren Eisebenen, die auf dem Wasser schwimmen und unversehens abbröckeln können. Der Südpol scheint hingegen auf einem großen Festlande zu liegen.
»Schon Ptolemäus vertrat die Ansicht eines Südpolarkontinents, doch wollten bis in die neueste Zeit die meisten Männer der Wissenschaft nicht an ihn glauben, obwohl alles für und nichts gegen ihn sprach. Aber die Wissenschaft ist eben persönliche Meinungssache, die sich wenig um die Tatsachen zu kümmern pflegt.
»Während nun Grönland schon im vierzehnten Jahrhundert eine dänische Kolonie war, sind die ersten antarktischen Inseln erst 1501 durch Amerigo Vespucci entdeckt worden, nämlich Südgeorgien, wenn man diese Inselgruppe überhaupt schon zur Antarktis rechnen will.
»Allein beinahe zweihundert Jahre lang konnte kein Seefahrer mehr diese Inseln auffinden, so daß man nicht mehr recht an sie glauben wollte, bis Antonio de la Roché sie 1675 neu entdeckte. Wieder vergingen zweiundsechzig Jahre, bis eine weitere Entdeckung folgte: 1738 fand der französische Admiral Lozier Bouvet die Inselgruppe, die seinen Namen trägt. Freilich erkannte er ihre Inselnatur nicht und glaubte, ein Vorgebirge des Festlandes gesehen zu haben.
»Dann entdeckte Marion du Frezne im Jahre 1772 die Prince-Edwards- und die Crozetinseln und der Bretagner Kerguelen die nach ihm benannten Eilande.
»Aber erst der berühmte Weltumsegler James Cook ist bis zum Polarkreis vorgedrungen und hat ihn dreimal überschritten. Er entdeckte die Südsandwichsinseln und umfuhr das ganze Südpolargebiet, so daß seither viele glaubten, der vermutete Weltteil sei überhaupt nicht vorhanden, während doch nur feststand, daß er so ausgedehnt nicht sein konnte, wie ihn die mittelalterlichen Karten darstellten unter dem Namen ›Terra Australis nondum cognita‹, das heißt ›bisher noch unbekanntes Australland‹.
»Fünfzig Jahre lang ließ man den Südpol wieder in Ruhe, bis am 19. Februar 1819 der englische Kapitän William Smith die wirklich antarktischen Inseln durch einen Zufall entdeckte, denen er den Namen Neusüdshetland beilegte. Am 18. Oktober des gleichen Jahres landete er an der König-Georg-Insel, als erster, der eine Landung in der Antarktis gewagt hatte.
»Als nun bekannt wurde, daß diese Gegenden von Pelzrobben wimmelten, machten sich alsbald die englischen und amerikanischen Robbenschläger dorthin. Von diesen scheint der Amerikaner Pendleton zum ersten Male das antarktische Festland erblickt zu haben, das sodann von Kapitän Nathaniel Palmer näher in Augenschein genommen und an dieser Stelle nach ihm Palmersland benannt wurde.
»Der englische Seehundsfänger Powell ist der Entdecker der Südorkneyinseln. Unter allen aber hat sich James Weddell den berühmtesten Namen gemacht. Er erreichte mit dem 74. Grad die südlichste Breite, an die je ein Mensch, außer Roß, bis zum Jahre 1902 gelangt ist. Weddell war mit seinem Fangschiff durch das Packeis gedrungen und kam in ein weites offenes Meer, das Weddellmeer. Für eine Entdeckungsfahrt war er leider nicht ausgerüstet, und aus Sorge, die Lebensmittel möchten ihnen ausgehen, zwang ihn seine Mannschaft zur Umkehr, während nach Süden zu nichts als freie See zu sehen war, die einem weiteren Vordringen kein Hindernis bot. Schmählicherweise hat bis zum heutigen Tag noch kein Mensch das so aussichtsreiche Weddellmeer näher erforscht oder den Punkt wieder erreicht, wo Weddell am 20. Februar 1821 gegen seinen Willen wieder umkehren mußte.
»In den Jahren 1819 bis 1821 umfuhr eine russische Regierungsexpedition unter Fabian Gottlieb von Bellingshausen den Polarkreis und entdeckte die Insel Peters des Ersten, sowie Alexander-des-Ersten-Land.
»Eine kühne Fahrt unter widrigsten Umständen und mit ganz mangelhaften Mitteln vollführte John Biscoe, der 1831 und 1832 den Pol umsegelte, Enderbyland sichtete, Grahamland berührte und die Biscoeinseln entdeckte. Kemp fand das hohe Kempland und Balleny die vulkanischen Ballenyeilande. Eines der beiden Schiffe Ballenys ist mit seiner Besatzung spurlos verschwunden.
»Einen ganz gewaltigen Aufschwung nahm die Südpolarforschung in den Jahren 1838 bis 1843. In diesem Zeitraum besuchten drei wissenschaftliche Unternehmungen die Antarktis: eine amerikanische mit fünf Schiffen unter Charles Wilkes, eine französische mit zwei Schiffen unter Dumont d'Urville, und eine englische, ebenfalls mit zwei Fahrzeugen, unter dem berühmten Nordpolfahrer James Roß.
»Wilkes fuhr auf einer Strecke von zweitausenddreihundert Kilometern das Wilkesland entlang, dessen Küste genau Australien gegenüberliegt. Doch zweifelte man bis in neueste Zeit, ob Wilkesland einem Festlande angehöre oder nur eine Inselkette bilde, da der Amerikaner in respektvoller Entfernung vom Lande dahinfuhr und somit die Frage nicht mit Sicherheit zu entscheiden vermochte.
»Der Franzose Dumont d'Urville sichtete einzelne Teile desselben Landes, nämlich Adélie- und Clarieland, er fand, daß die äußerste Spitze von Grahamland eine Insel war, die er Joinvilleinsel nannte, während er das Land selber Louis-Philippe-Land taufte. Überhaupt nahm er sich's als echter Franzose heraus, den von anderen schon entdeckten und benannten Küsten, Inseln, Buchten und Vorgebirgen neue französische Namen zu geben, nach seinem Belieben. Er hat das Verdienst, eine gute Karte der Umgebung der Joinvilleinsel entworfen zu haben; im übrigen entsprachen seine Leistungen bei weitem nicht seiner Anmaßung und seiner Selbstüberhebung, obgleich seine Reisebeschreibung nicht weniger als achtundzwanzig Bände füllt! Der Franzose hatte eine gewaltige Angst vor dem Packeis, in das er sich nie hineinwagte: er hielt sich wohlweislich stets an dessen nördlichem Rand.
»Ganz anders waren die Erfolge von James Clarke Roß, dem kühnen Engländer. In drei aufeinander folgenden Wintern, die auf der südlichen Halbkugel die Sommerzeit bilden, drang er durch das Packeis. Seine Hauptentdeckung war das Viktorialand mit den beiden Vulkanen, die er mit den Namen seiner Schiffe, Erebus und Terror, benannte. Letzterer schien erloschen, während ersterer sich in vollster Tätigkeit befand.
»Im Norden hatten die Normannen schon im Mittelalter bei Upernivik in Westgrönland den 73. Breitegrad erreicht, im Süden war bisher nur Weddell so weit vorgedrungen, der bis 74 Grad 15 Minuten kam. Roß aber gelangte in der Nähe von Viktorialand bis zu 78 Grad 10 Minuten, ganz in die Nähe des magnetischen Südpols; den magnetischen Nordpol hatte er selber schon früher entdeckt.
»Die fünfzig bis hundert Meter hohe Bankise, die Eismauer, in welche die Küste der Antarktis ausläuft, gebot seinem Vordringen halt. Er verfolgte sie Hunderte von Kilometern weit, ohne ihr Ende absehen zu können: in starrer Einförmigkeit, glatt und ungespalten, wenn auch mit wechselnder Höhe, dehnte sie sich aus. Vergeblich versuchte Roß, auch noch Weddells Kurs zu verfolgen: undurchdringliches Packeis verwehrte ihm die Durchfahrt in das offene Meer. Dagegen verdanken wir ihm noch eine nähere Untersuchung von Louis-Philippe-Land.
»Erwähnenswert sind noch die Fahrten des amerikanischen Robbenschlägers William Smiley und des Walfisch- und Seehundfängers Kapitän Eduard Dallmann aus Hamburg, die noch nähere Kenntnis von Graham- und Palmerland, sowie der vorgelagerten Inseln vermittelten.
»Die Challengerexpedition unter Nares sichtete flüchtig das Westende von Wilkesland. Dann vergingen wieder zwanzig Jahre, bis der norwegische Kapitän Larsen mit dem ›Jason‹ und Kapitän Evensen mit der ›Hertha‹ die ersten antarktischen Versteinerungen von der Seymourinsel heimbrachten und auf der Ostküste des Grahamlandes im Jahre 1893 das hohe König-Oskarland entdeckten. Auch zwei tätige Vulkane fand Larsen, den Christensenvulkan und Lindenbergs Zuckerhut. Seine äußersten südlichen Entdeckungen sind Jasonland und Foynsland.
»Das Viktorialand war seit seiner Entdeckung durch Roß vor fünfundfünfzig Jahren nicht wieder gesichtet worden, bis es der norwegische Walfischfänger Kapitän Bull 1894/1895 besuchte. Der junge norwegische Gelehrte Egeberg Borchgrevingk hatte sich als Matrose auf seinem Schiffe verdingt, um die Fahrt mitmachen zu können, und betrat hier als erster das antarktische Festland. Da jedoch das Unternehmen lediglich praktische Zwecke verfolgte, kam die wissenschaftliche Forschung nicht zu ihrem Recht. Immerhin konnte Borchgrevingk Gesteinsproben sammeln und die ersten Pflanzen des bisher für vegetationslos gehaltenen Kontinentes pflücken, eine Art Leberkraut und einige Kryptogamen.
»1897/98 ging eine belgische Expedition unter Adrien de Gerlache auf der ›Belgica‹ nach Grahamland ab, dessen Westküste sie untersuchte, wobei der Gerlachekanal bei Dancoland entdeckt wurde. Allein die ›Belgica‹ geriet im Eise fest und trieb über ein Jahr lang in einer Eisscholle umher, ohne bedeutendere Entdeckungen machen zu können.
»Die erste Überwinterung am Südpolarkontinent führte Borchgrevingk 1898 bei Kap Adare aus, der Nordspitze von Viktorialand. Hier lernte er die furchtbaren Winterstürme der Antarktis kennen. Er machte mehrere Schlittenfahrten längs der Küste, während ein Vordringen nach Süden, ins Innere des Landes, sich als unmöglich erwies, da hier gewaltige Gletscher und mächtige Felswände schroff bis zu viertausend Meter Höhe emporragten. Im Sommer jedoch fuhr Borchgrevingk mit seinem Schiff nach Süden und fand, daß die Bankise seit Roß' Zeiten ganz bedeutend abgenommen hatte und zurückgewichen war. Dies ermöglichte ihm eine Landung, und nun erreichte er im Schlitten 78 Grad 50 Minuten südlicher Breite, kam also über Roß hinaus, den in siebenundfünfzig Jahren niemand erreicht hatte.
»Fragt man mich, welches bis heutzutage die glänzendsten Namen auf dem Gebiete der Südpolforschung sind, so würde ich unbedingt die drei James nennen: James Cook, James Weddell, James Roß. Ihnen gesellt sich in neuester Zeit Borchgrevingk zu.
»Im Jahre 1901 wurde nun ein neuer großer Vorstoß nach dem Südpol unternommen, wobei drei Unternehmungen zusammenwirkten: die deutsche unter Drygalski auf der ›Gauß‹, die englische auf der ›Discovery‹ unter Scott und die schwedische auf der ›Antarctic‹ unter Otto Nordenskjöld, dem Neffen des berühmten Nordpolarforschers.
»Ich habe Drygalski damals meine Ansicht mitgeteilt, daß die aussichtsvollsten Ausgangspunkte für ein Vordringen gegen den Südpol Viktorialand und das Weddellmeer seien. Er gab dies zu, meinte aber, es habe auch seinen besonderen Reiz, völlig unbekannte Gegenden zum Ausgangspunkt zu wählen. Er vergaß, daß auch dies für das deutsche Unternehmen nicht zutraf. Allein die Rollen waren verteilt, und England hatte die aussichtsreichste für sich beansprucht.
»Der Erfolg hat mir recht gegeben: die englische Expedition in Viktorialand und die schwedische im Weddellmeer wiesen die geographisch glänzendsten Ergebnisse auf. Eine eigentliche Entdeckung neuer Länder wurde zwar nicht erzielt; doch Scott drang mit Schlitten vierhundertvierzig Kilometer weit ins Land ein, während Armitage und Shakleton eine Wasserscheide von zweitausendsiebenhundert Meter Höhe überschritten. Nordenskjöld untersuchte die Küsten von König-Oskar-Land und entdeckte den Kronprinz-Gustav-Kanal. Die romanhaften Schicksale des schwedischen Unternehmens gehören zum Seltsamsten und Interessantesten, was die Geschichte der geographischen Forschung je gezeitigt hat.
»Ihre großen Erfolge erzielten beide Expeditionen mit einer für Schlittenfahrten denkbar schlechtesten Ausrüstung. Drygalski dagegen besaß ein vorzügliches Hundematerial und war reichlichst mit Lebensmitteln versehen. Er hätte auf einer Schlittenfahrt, der sich weithin keinerlei Hindernisse boten, viel weiter vordringen können als die Engländer, selbst wenn er es nicht gewagt hätte, an die Erreichung des Poles selber zu denken. Unbegreiflicher-, ja schmählicherweise unterließ er jedoch jeglichen ernsten Vorstoß nach Süden und entschuldigte sich damit, daß so etwas wenig Reiz habe, wenn man im voraus wisse, daß man nur Eis, nichts als Eis zu sehen bekomme, und dies habe er an der Aussicht von der Höhe seines Fesselballons feststellen können.«
Professor Schulze bemerkte entrüstet, als der Baron hier innehielt: »Wenn das Eis diesen Mann so sehr schreckte, hätte er füglich zu Hause bleiben können! Hatte er etwa erwartet, eine Rivierapromenade und Palmenallee zu finden, die zum Südpol führte?«
Und Michael Mäusle erklärte: »Ein Mensch, dem es so völlig an Unternehmungslust, Wagemut und geographischem Interesse fehlt, eignete sich am allerwenigsten für ein solches Unternehmen, zumal es einen nationalen Wettbewerb galt. Wir Deutsche haben allen Grund, uns zu schämen, daß eine so schlafmützige Persönlichkeit unserem bewährten Forscherruhm nur Eintrag getan hat, vollends bei einer so besonders schönen und günstigen Gelegenheit, sich glänzend hervorzutun!«
»Nun!« sagte der Baron gutmütig: »Immerhin hat die deutsche Gaußexpedition feststellen können, daß Viktoria-, Wilkes- und Kempland eine zusammenhängende Festlandküste bilden, wie ich dies schon in meinen Veröffentlichungen vom Jahre 1899 erklärte. Auch hat sie wacker physikalische, meteorologische und dergleichen Untersuchungen angestellt, wenn sie auch keine geographische Unternehmungslust betätigte, die allerdings bei einer Forschungsreise das wichtigste und unentbehrlichste Erfordernis wäre.«
Professor Raimund erhob nun die Frage: »Wie kamen Sie zu der Vermutung, daß die genannten Polarländer zusammenhängen, als Bestandteile einer Festlandküste?«
»Das war weniger eine Vermutung,« erklärte der Baron, »als vielmehr eine Berechnung. Ist es Ihnen nie aufgefallen, was für eine merkwürdige Ähnlichkeit die Gestaltung der südlichen Landmassen aufweist? Es scheint da tatsächlich ein Naturgesetz obzuwalten. Am einfachsten finden wir diese bezeichnende Form bei Afrika. Die Hauptmerkmale sind folgende: der Weltteil läuft im Süden, genauer im Südosten, in eine Spitze aus; im Nordwesten schiebt er sich in breiter Ausbuchtung ins Meer vor; unter dieser Ausbuchtung erscheint eine tiefere Einbuchtung, etwa in der westlichen Mitte; dieser Einbuchtung entspricht in der östlichen Mitte ein Landvorsprung, während der südöstlichen Spitze wiederum ein Einschnitt in der nördlichen Küste entspricht.
»Bei Afrika ist die Südspitze Kapland, der nordwestliche Vorsprung endigt im Kap Verde, die westliche Zentralbucht ist der Golf von Guinea, der östliche Zentralvorsprung, Somaliland mit Kap Guardafui, die nördliche Einbuchtung sind die beiden Syrten über Tripolis.
»Südamerika weist genau die gleiche Gestaltung auf: die Südspitze, Patagonien mit Feuerland bis Kap Horn, den nordwestlichen Landvorsprung von Ecuador und Peru, darunter die Einbuchtung an der Grenze von Peru und Chile, der östliche Landvorsprung, Kap San Roque, und die nördliche Bucht, der Golf von Maracaibo.
»Australien läßt die gleiche Form erkennen: Tasmanien mit dem Südkap südöstlich, Westaustralien als Ausbuchtung mit der großen Bucht von Kap Arid bis Kap Wiles darunter, Kap Byron im Osten und den Golf von Carpentaria im Norden.
»Nordamerika bietet das gleiche Bild in etwas verzerrter Form: der Isthmus von Panama, Alaska mit der Einbuchtung darunter, die Ausbuchtung von Labrador und die Hudsonbai.
»Die großen nördlichen Landmassen Europas und Asiens lassen diese sonst so gesetzmäßige Gestaltung kaum noch erkennen, doch finden wir die südlichen Spitzen und zum Teil die nordwestlichen Ausbuchtungen in einzelnen ihrer Teile wieder. So bei Schweden und Norwegen, Spanien, Italien, Griechenland, Kleinasien mit Arabien, Vorderindien und Hinterindien. Auch größere Inseln scheinen nach demselben Naturgesetz gebildet.
»Was liegt näher, als anzunehmen, daß auch der Südpolarkontinent ähnlich gestaltet sein muß, zumal gerade im Süden die Landformen so auffallend diesem Gesetz unterliegen? Allerdings hören hier die Himmelsrichtungen auf, da alles nördlich vom Kern des Festlandes liegt. Aber die Südostspitze des Weltteils ist ja schon entdeckt, nämlich Louis-Philippe-Land. Daraus ergibt sich das übrige von selbst: der nordwestlichen Ausbuchtung müssen Enderby- und Kemp-Land entsprechen, der westlichen Zentralbucht, das Weddellmeer. Die gegenüberliegende Ausbuchtung ist noch zu entdecken, während das Roßmeer bei Viktorialand die Nordbucht darstellt.«
»Haben Sie diese einleuchtende Theorie nie veröffentlicht?« erkundigte sich Holm.
Münkhuysen lachte: »Aufgestellt habe ich sie bereits im Jahre 1887; aber die wissenschaftlichen Fachblätter stehen allem Ungewohnten so ratlos gegenüber, daß nicht eines es gewagt hat, meine Gedanken zu veröffentlichen. Inzwischen haben sämtliche seitherigen Entdeckungen in der Antarktis die Richtigkeit des Kartenbildes bestätigt, das ich schon damals auf Grund jener Beobachtungen und Erwägungen entwarf.«
Ernst Frank wandte sich nun wieder an den Baron mit den Worten: »Sie würden also wohl zunächst im Weddellmeer oder im Roßmeer vordringen?«
»Gewiß! und zwar beabsichtige ich zuvörderst eine Landung bei König-Eduard VII.-Land, und gedenke von da aus einen Vorstoß nach dem Südpol zu unternehmen.«
»Und es bietet keine Schwierigkeiten, die Küste zu erreichen und dort zu landen?«
»Die Bankise ist freilich ein Hindernis, aber kein unüberwindliches. Da jedoch des Küsteneises wegen ein Schiff nicht leicht bis zur Küste gelangen kann, ist eine Überwinterung notwendig, wenn die Küste untersucht werden soll. Das Schiff muß in einer Bucht einfrieren, dann kann man gefahrlos den Eisboden betreten, die Bankise ersteigen und ins Innere vordringen. Hinter der Eismauer scheint sich die eisbedeckte Küste meist eben auszudehnen oder doch nur langsam anzusteigen; dann aber wird ein weiteres Vordringen durch ungeheure Gebirgszüge erschwert; stellenweise befinden sich auch hohe Berge ganz in der Nähe der Küste.
»Soviel wurde bis jetzt beobachtet; eine Überwinterung in jenen Breiten hat aber bis auf die letzten Expeditionen noch nie stattgefunden. Roß, der größte aller Südpolarforscher, hätte eine solche gewagt, fand aber keinen geeigneten Hafen, da er mit seinen Segelschiffen nicht weit genug ins Küsteneis vordringen konnte. Mit unseren jetzigen Dampfern und Eisbrechern jedoch ist es eine Kleinigkeit, sich der Küste zu nähern. Eine wahre Schmach ist es, daß die ›Belgica‹ diese Leistung nicht vollbracht hat; freilich griff sie die antarktischen Länder auch von der ungünstigsten Seite an und trieb über ein Jahr in einer Eisscholle eingefroren langsam dahin.
»Die Eisverhältnisse sind übrigens in den antarktischen Meeren sehr verschieden; meistens aber kann man sich der Küste in eisfreiem Meer bedeutend nähern, wenn man das brüchige Packeis, das im Polarsommer nordwärts treibt, durchschifft hat.«
»Gestatten Sie,« unterbrach hier unser junger Freund den Baron: »Was versteht man eigentlich unter ›Packeis‹, von dem so viel die Rede ist?«
»O Sie Neuling!« rief Raimund lachend: »Das Eis, das sich von der Küste löst, treibt gegen Norden in großen und kleineren Schollen, oft durchsetzt mit tafelförmigen Eisbergen, die von den Gletscherrändern, welche die Bankise bilden, abbröckelten. Während im Norden die Eisberge aus Meereis bestehen und die phantastischsten gezackten Formen aufweisen, sind die südlichen Eisberge abgerissene Stücke des terrassenförmig ins Meer vordringenden Landeises oder Gletschereises. Sie gleichen daher ungeheuren Würfeln, quadratisch oder länglich geformt, mit senkrechten Wänden und flacher Oberfläche: es sind Tafelberge. Wenn so ein Gletscher seine Eismassen ins Meer vorschiebt und dort bröckeln sie ab, so sagt man: ›Der Gletscher kalbt‹. Nun, diese treibenden Massen von Landeis und Meereis nebst Eisbergen nennt man, solange sie dicht gepackt sind, ›Packeis‹; sind sie in kleinere Schollen aufgelöst, die der Schiffahrt kein wesentliches Hindernis bieten, so heißen sie einfach ›Treibeis‹. Die Eisberge der Antarktis messen oft mehrere Quadratkilometer: es sind gefährliche Riesen.
»Das Packeis weist gewöhnlich zwischen seinen Schollen Kanäle auf: da muß sich der Polarfahrer hineinwagen. Gelingt es ihm, die Eismassen zu durchqueren, so findet er dahinter meist offenes Meer bis zur Küste. Freilich ist die Fahrt durch das Packeis nicht ohne ernste Gefahren. Mancher Kanal erweist sich als Sackgasse oder er schließt sich vor dem Schiffe, sei es, daß die Schollen dicht aneinander gedrängt werden, sei es, daß bei eintretender verschärfter Kälte die Zwischenräume zufrieren. Dann kann es vorkommen, daß die Rückkehr durch die gleichen Umstände unmöglich gemacht wird, und das Schiff bleibt festgefroren in dem Eisfeld, wobei es durch schraubendes Eis zusammen gedrückt und vernichtet werden kann.
»Immerhin kann ein gutes Polarschiff in solcher Bedrängnis oft noch das Eis brechen. Ein Wagnis bleibt es immerhin, und Kühnheit und Unternehmungslust gehören dazu. Wer jedoch diese Eigenschaften nicht besitzt, und sich vor dem Eis fürchtet, wie Dumont d'Urville, der soll sich eben den Eismeeren fern halten.«
Jetzt nahm Münkhuysen wieder das Wort und erklärte: »Fast jeder, der es bisher wagte, in das Packeis einzudringen, sah sich belohnt, indem er bald in eisfreie Gewässer gelangte. Wer Glück hat und den nötigen Mut besitzt, kann sich im Polarsommer fast überall der antarktischen Küste nähern.
»Die Eisverhältnisse in den Südpolargegenden sind nämlich durchaus nicht immer dieselben, sondern wechseln vielmehr außerordentlich. Hiefür will ich Ihnen einige Beispiele mitteilen: am 14. Februar 1823 drang Weddell unter 68½° S. und 32½° W. durch zahllose Eisberge hindurch; am 18. Februar war in einer Breite von 72° 38' S. kein Stück Eis mehr zu sehen; die Sonne schien hell vom wolkenlosen Himmel und das Meer war buchstäblich bedeckt mit Vögeln, hauptsächlich Sturmschwalben. Dieser Zustand dauerte fort, und am 20. Februar waren unter 34° 17' W. und 74° 15' S. nur vier kleine Eisberge sichtbar. Leider mußte Weddell die Rückfahrt antreten ohne weiter vorzudringen, da der Zustand seiner Schiffe, seiner Mannschaft und seines Proviants ihn zur Umkehr nötigten. Erst über dem Polarkreis traf er wieder auf Eisberge. Im Oktober desselben Jahres fand Weddell zu seinem größten Erstaunen die sonst um diese Zeit leicht zugänglichen Süd-Shetlandsinseln von einem derart breiten Packeisgürtel umgeben, daß eine Landung unmöglich war.
»Dumont d'Urville und Roß (Februar 1838 und März 1842) konnten wegen des schweren Packeises Weddells Kurs nicht verfolgen.
»Wiederum trafen im November und Dezember 1892 Larsen auf dem ›Jason‹ und Evensen auf der ›Hertha‹ auffallend eisfreies Meer östlich von König-Oskar-Land bis 68° S. und westlich von Grahamland und Alexanderland bis 69° S.
»Am 24. Januar 1902 versuchte Nordenskjöld in das Packeis des Weddellmeeres einzudringen, dessen Kante er in der Nähe des 63. Breitegrads erreichte. Er drang bis 63° 30' vor, mußte aber am 2. Februar wieder umkehren, ohne es durchquert zu haben; dies war unter 45° 7' westlicher Länge. Zu gleicher Zeit lag unter dem 54. und 60. Grad westlicher Länge die Packeisgrenze weit südlicher, nämlich beim 66. Breitegrad. Die Snow-Insel, auf der Nordenskjöld seine Winterstation errichtete, befand sich damals in eisfreiem Meer.
»Am 16. September 1902, also noch im Polarwinter, war der, wärmste Tag des ganzen Jahres mit 2° über Null, und nach Norden und Süden zu war von Snow-Hill aus nur offenes Wasser zu sehen. Im folgenden Sommer jedoch wurde zwar an einzelnen Tagen eisfreies Meer gesichtet und ein solcher offener Meeresarm hinderte zum Beispiel Gunnar Andersson, von der Hoffnungsbucht aus auf Schneeschuhen die Winterstation zu erreichen. Anderseits hemmten gleichzeitig solche Packeismassen die nördliche Durchfahrt, daß es der ›Antarctic‹ nicht gelang, sie zu durchbrechen, um die Mitglieder der Winterstation zur Heimfahrt abzuholen. Der Durchbruchversuch endete mit dem Untergang des Schiffes im Schraubeis, und Nordenskjöld mit seinen Gefährten mußte unvorbereiteter Weise einen zweiten Winter im Eise zubringen.
»Im folgenden Jahre wiederum war das Weddellmeer derart eisfrei, daß die argentinische Hilfsexpedition ohne Schwierigkeit schon am 8. November, also vor Beginn des eigentlichen Sommers, bis zur Snow-Hill-Insel vordrang. Ein Vorstoß weiter nach Süden wäre damals sehr aussichtsvoll gewesen.
»Im Februar 1903 traf die schottische Expedition unter Bruce mit der ›Scotia‹ schon bei 61° südlicher Breite auf undurchdringliches Packeis und konnte erst 20 Längengrade weiter östlich nach Süden vordringen, mußte aber dort umkehren, wo Roß 1843 ebenfalls an der Weiterfahrt gehindert worden war. Am 7. März 1904 hingegen konnte Bruce beinahe Weddells Höhe erreichen, doch zwang ihn das Einbrechen des Winters zur Umkehr, da er zu einer Überwinterung nicht eingerichtet war.
»Soviel von den wechselnden Eisverhältnissen im Weddellmeer. Anderwärts in der Antarktis ist es nicht anders. Hören Sie noch einige Beispiele:
»Genau an der Stelle, wo Bellingshausen Ende Dezember 1820 durch schweres Packeis zur Umkehr genötigt wurde, drang Balleny am 28. Januar 1839 ohne wesentliches Hindernis bis 65° 30' S. durch, unter 178° 13' O. Am 1. Februar traf er unter 69° S. und 172° 11' O. auf die Packeiskante.
»Ziemlich an der gleichen Stelle drang Roß im Januar 1840 bedeutend weiter vor. Unter 171° 50' O. überschritt er den Polarkreis und traf bald darauf auf Packeis, das er vom 4. bis 9. Januar durchbrach, um sich unter 69° 15' S. und 176° 15' O. im offenen Meer zu befinden. Bei 70° 23' S. und 174° 50' O. konnte am 10. Januar selbst vom Mast aus kein Stück Eis mehr gesehen werden. Roß drang hier an der Küste des Viktorialandes bis 77° S. vor und wurde erst in der Nähe der Mac-Murdo-Bai durch das Eis aufgehalten.
»Borchgrevingk traf am 7. Dezember 1894 schon bei 62° 45' S. unter 171° 30' O. auf Packeis und erreichte das offene Meer am 14. Januar 1895 unter 69° 55' S. und 177° 50' O. Er gelangte bis 74° S. und der Weiterfahrt stellten sich keine Hindernisse entgegen; da aber das Schiff, auf dem sich der junge Gelehrte als einfacher Matrose verdingt hatte, nur auf den Walfischfang ausgegangen war und kein Walfisch sich zeigte, kehrte der Kapitän um.
»Wenn uns all diese Erfahrungen lehren, daß die Ausdehnung und die Lage des Packeises von Sommer zu Sommer wechselt — Sie wissen, daß der Südpolarsommer in unsere Wintermonate fällt — so zeigen sie auf der anderen Seite, daß, einmal das Packeis durchbrochen, eine große Annäherung an die Küste möglich ist.
»Die so auffallend wechselnden Packeisverhältnisse erklären sich übrigens sehr einfach. Das Packeis ist nämlich nur in dichten Massen auftretendes Treibeis. Die Gletscherwand der Küste schiebt ihre Eismengen im Winter beständig ins Meer vor, bis sie losbrechen. Man nennt dies das ›Kalben‹ der Gletscher, die sozusagen junge, abbröckelnde Gletscher erzeugen. Mit ihnen zerbröckelt das Meereis am Strande, und diese brüchigen Eisgefilde treiben nordwärts, bis sie mehr oder weniger zergehen. Je nach den winterlichen Witterungsverhältnissen sind diese treibenden Rieseninseln aus Eis ausgedehnter oder kleiner. Einmal ziehen sie rascher dahin, ein andermal langsamer, eisfreies Meer bis zur Küste hinter sich zurücklassend. Auch ihre Zerbröckelung ist mehr oder minder stark, so daß sie von mehr oder weniger zahlreichen, breiteren und schmäleren Kanälen durchfurcht sind, Rissen, die zum Teil die ganze Packeisfläche durchspalten, zum Teil nur kürzere oder längere Einschnitte in dieselbe darstellen.
»Übrigens sind auch die Witterungsverhältnisse in jenen Breiten sehr verschieden; während Roß in drei Reisen 1839 bis 1842 innerhalb 60° S. meist dichte Bewölkung und Nebel vorfand und nur einmal fast wolkenlosen Himmel hatte, genossen andere Forscher häufig sehr klares Wetter.
»Für mich kommen nur drei Punkte in Betracht, wo ich mit meinen Forschungen einsetzen könnte: erstens das Weddellmeer, das sich möglicherweise noch mehr dem Pole nähert als das Roßmeer; aber die Küstenverhältnisse dort sind noch unbekannt; zweitens die Mac-Murdo-Bai bei Viktorialand; aber da ist mir die englische Expedition zuvorgekommen; drittens die Stelle unter 167° W., wo Roß über die nur fünfzehn Meter hohe Bankise wegsehen konnte und der südlichste Punkt erreicht wurde; hier ist es, wo ich einsetzen will. Übrigens liegt jetzt, wie die Engländer überraschenderweise entdeckten, die Bankise fünfundvierzig Kilometer südlicher als zu Roß' Zeiten; sie ist also in diesen sechzig Jahren jährlich um sieben- bis achthundert Meter zurückgewichen und hat auch ihre Höhe geändert. Ich nehme an, die Eismauer ist dort keine zwanzig Meter hoch; für alle Fälle jedoch halte ich mich darauf gerüstet, auch eine Mauer von sechzig Metern zu ersteigen. Dort würde ich überwintern und dann den Versuch machen, den Südpol von da aus zu erreichen.«
»Und Ihnen wird es gelingen!« rief Ernst überzeugt aus; »und nichts wird Sie hindern, auch den weiteren Verlauf der Küsten festzustellen.«
»Nein!« erwiderte Münkhuysen ernst. »Ich setze mir kein anderes Ziel, als den Südpol zu entdecken; andere mögen nach mir kommen und weitere Lorbeeren ernten, selbst die Entdeckung des magnetischen Poles überlasse ich einem anderen; auf eine einzige große Aufgabe will ich mich beschränken; wollte ich gleich alle wichtigeren Fragen lösen, die der antarktische Kontinent uns noch bietet, so käme ich mir vor wie ein Kind, das seinen Geschwistern den ganzen Kuchen wegißt, so daß diese betrübten Blickes das Nachsehen haben. Auf Philipp muß noch ein Alexander folgen können,« fügte er bescheiden hinzu.
»Der Alexander sind jedenfalls Sie!« sagte Ernst lachend. »Lassen wir Roß den Philipp sein; nach Ihnen kommen nur noch Epigonen.«
Münkhuysen fing nun auch an zu lachen, indem er sagte: »Wir tun ganz, als ob wir das Ziel schon erreicht hätten, und verkaufen bereits das Fell des großen Eisbären, ehe wir ihn erlegt haben. Geduld! Wir sind doch nichts als Eintagsfliegen, die der nächsten Zukunft nicht gewiß sind.«
»Aber Pläne dürfen und müssen wir schmieden,« entgegnete unser junger Freund, »und Sie haben zweifellos noch weitere Pläne, die nach der gegenwärtigen Expedition zur Ausführung kommen sollen.«
»In der Tat, ich möchte dann auch noch den Nordpol entdecken; und zwar gedenke ich die Fahrt dorthin im Luftschiff zu unternehmen!«
»Also glückauf! Ich hoffe, Sie auch dorthin zu begleiten.«
Es war ein herrlicher Sommertag, als Münkhuysens Jacht den Hafen von Amsterdam verließ.
Die ganze Reisegesellschaft befand sich in gehobenster Stimmung, ja eine gewisse Heiterkeit hatte sich ihrer bemächtigt, als man im letzten Augenblick vor der Abfahrt noch den biederen Michael Mäusle angekeucht kommen sah, der eine ziemlich schwere Kiste herbeischleppte. Neeltje befand sich schon an Bord und hatte sein baldiges Erscheinen in Aussicht gestellt, als er allein noch vermißt worden war.
»Hätte ich in meiner Zerstreutheit beinahe vergessen!« rief er atemlos, die Kiste an Bord werfend.
»Sie hätten nicht so eilen sollen,« sagte der Baron: »Ohne Sie wären wir keinesfalls abgefahren.«
»Ich wäre aber trostlos gewesen, hätte ich mir sagen müssen, daß durch meine Schuld die Entdeckung des Südpols um eine einzige Minute verzögert worden wäre.«
Die Äußerung dieser Befürchtung verstärkte die Heiterkeit. Und nun wurden allerlei Vermutungen angestellt über den Inhalt der Kiste, der dem schwäbischen Professor so wertvoll erschien, daß er darüber beinahe die Abfahrtszeit versäumt hätte.
»Thomasuhr!« sagte Schulze düster. Damit erinnerte er an den gewissenlosen Massenmörder Thomas, der mit Sprengstoffen gefüllte Kisten, die er mit hohen Summen versicherte, an Bord der Schiffe bringen ließ. Ein in der Kiste in Gang befindliches Uhrwerk verursachte dann eine furchtbare Explosion, während das Schiff sich auf hoher See befand, und es ging mit Mann und Maus unter. Der kaltherzige Schurke strich dann die Versicherungssumme ein, unbekümmert um die Tausende von Menschenleben, die seine Geldgier einem gräßlichen Tode preisgegeben hatte. So waren schon zahlreiche Schiffe in unerklärlicher Weise spurlos verschwunden, bis einmal eine solche Kiste infolge Stolperns der Träger schon in Bremerhaven explodierte, wobei ebenfalls viele Menschenleben zugrunde gingen. Die hierauf angestellte Untersuchung enthüllte die Verbrechen des Absenders, und man nannte fortan derartige verborgene Zeitzünder nach ihrem unmenschlichen Erfinder »Thomasuhren«.
Diese unheimliche Erinnerung war dem Berliner Professor beim Anblick der geheimnisvollen Kiste aufgestiegen, und er fügte seinem Ausruf hinzu: »Hat sich der gutmütige Schwabe aufschwatzen lassen, dieses verderbliche Gepäckstück zu besorgen, mit dem uns eine eifersüchtige Gelehrtenbande unterwegs in die Luft befördern will, um unsere berühmten Entdeckungen zu verhindern.«
»Unglücksrabe!« rief der allezeit zu Widerspruch und Spott aufgelegte Doktor Maibold: »So schwarze Ahnungen kann doch nur eines weltfremden Professors Seele ausbrüten. Die Sache ist sicher ganz harmlos, und ich vermute, daß Professor Mäusle in dieser Kiste etliche Blindschleichen, Frösche, Eidechsen, Spinnen und anderes Ungeziefer verstaut hat, um mit diesen einheimischen Haustieren Akklimatisationsversuche am Südpol zu unternehmen.«
Ernst glaubte nun seinerseits, auch eine außerordentliche Vermutung aussprechen zu müssen, doch Eva legte ihm ihre kleine Hand auf den Mund und flüsterte ihm zu: »Sei still und blamiere dich nicht wie die anderen: Herr Mäusle ist doch gescheiter als sie alle und wird sie zuletzt beschämen.«
Eva hatte recht, das mußte sich der junge Frank im stillen eingestehen: der gute Mäusle mußte sich als Schwabe mancherlei Hänseleien gefallen lassen, obgleich er sowohl an Schärfe des Verstandes als auch an umfassenden und gründlichen wissenschaftlichen Kenntnissen alle anderen bei weitem überragte, ausgenommen etwa Münkhuysen, und als außerordentlicher Held sattsam bekannt war. Sein Landsmann, Professor Raimund, wußte mehr aus sich zu machen und wurde daher weniger die Zielscheibe überlegener Witzeleien. Mäusle jedoch war langsam und bedächtig im Reden und dazu von echt süddeutscher Herzensgüte; das forderte den geflügelten Witz der Nordländer heraus: bis er allemal eine treffende Antwort gesucht hatte, die ja nichts Verletzendes haben sollte, war er schon vom allgemeinen Gelächter besiegt, und es blieb ihm nichts übrig, als in seiner Gutmütigkeit selber herzlich mitzulachen.
So hatte er auch dem Spötter Maibold noch nichts erwidern können, und alle lachten noch über die heiteren Anpassungsversuche, als sich auch schon ein Dritter vernehmen ließ, der junge schwedische Ingenieur Holm: »Geben Sie acht, meine Herren,« sagte dieser, »ich hab's erraten! Herr Mäusle hat jedenfalls einen herrlichen Gedanken, uns freie Durchfahrt bis an die antarktische Küste zu verschaffen: ich wette, daß die Kiste Kochsalz oder Viehsalz enthält, bestimmt, das schwere Packeis aufzulösen.«
»Halt, Halt!« ereiferte sich Kapitän Münchhausen in komischer Entrüstung: »Das wäre Raub meines geistigen Eigentums: die Enteisung der Pole habe ich erfunden!«
Aber seine Verwahrung wurde durch die schrille Stimme Doktor Maibolds übertönt, der rasch auf die neue Vermutung einging und dazwischenschrie: »Köstlicher Gedanke das! Den Südpol mit Kochsalz bestreuen! Hurra! Die Eisdecke muß schmilzen, und wir machen einen Sommerausflug auf durchweichtem Lehmboden statt auf Gletschereis! He, Baron! Werfen Sie schleunigst allen Ballast über Bord und nehmen Sie Steinsalz ein: das ist das sicherste Mittel, den Südpol gefahrlos zu erreichen.«
Währenddessen hatte Mäusle schweigend die Kiste erbrochen und die Verblüffung aller war groß, als ihnen daraus die feinsten Toiletteseifen in allen Regenbogenfarben entgegenschimmerten. Natürlich folgte dem ersten Erstaunen ein umso schallenderes Gelächter.
»Aha!« rief Raimund, der nun auch mit einer Bemerkung nicht zurückhalten konnte: »Herr Mäusle ist sehr für Reinlichkeit und fürchtet, wir könnten am Südpol Eskimogewohnheiten annehmen.«
Der Schwabe aber entnahm der Kiste eine Seife um die andere und bot sie den Fahrgästen der Reihe nach an. Mit der ernstesten Miene der Welt ersuchte er sie, je ein Stück in die Westentasche zu stecken: »Für den Fall eines Schiffbruchs,« fügte er hinzu.
»Sehr verbunden!« äußerte Professor Schulze: »Ihre freundliche Fürsorge ist ja recht liebenswürdig. Aber denken Sie, ich werde als Schiffbrüchiger Seife knabbern? Wenn es wenigstens noch Schokolade wäre!«
Der Schwabe blieb unerschütterlich in seiner Ruhe und redete jedem so freundlich und bestimmt zu, die Seife einzustecken, als bewährtes Hilfsmittel bei Schiffbrüchen, daß ihm alle, wenn auch kopfschüttelnd, den Gefallen taten.
Münkhuysen beschämte die Spötter, indem er bemerkte: »Ich hoffe zwar, Professor, daß wir nicht Schiffbruch leiden werden, kann mir auch nicht denken, was mir in solchem Falle die Seife nützen sollte; allein ich setze so unbedingtes Vertrauen in Ihre Einsicht, Erfahrung und wissenschaftliche Tüchtigkeit, daß ich die Seife als ein wertvolles Hilfsmittel mit Dank annehme und sie stets bei mir tragen werde.«
Mäusle verweigerte übrigens in vornehmem Stolze jede weitere Erklärung, und so sollte die allgemeine Neugier erst später befriedigt werden.
Glücklich durchsteuerte die Jacht den Kanal und kreuzte bald auf hoher See, während Albions Kreidefelsen den Blicken entschwanden.
Die Fahrt ging rasch vonstatten, und obgleich man sich erst bei Gibraltar der Küste wieder näherte, mangelte es doch nie an Unterhaltung auf dem fürstlich eingerichteten Fahrzeug. Auch wäre es undenkbar gewesen, in solch auserlesener Gesellschaft, wie sie sich an Bord befand, daß jemals Langeweile hätte aufkommen können.
Der schroffe Fels von Gibraltar zeigte drohend seine Altweiberzähne, wie man die englischen Geschütze in den Felslöchern der mächtigen Wand nennt. Nachdem er den Blicken entschwunden war, entfernte sich das Schiff vom Strande, den man erst in der Nähe von Antibes wieder zu Gesicht bekam.
»Die Riviera sollen Sie bewundern,« sagte Münkhuysen, »denn auf meinen weiten Weltfahrten habe ich nirgends einen Anblick genossen, der an Mannigfaltigkeit landschaftlicher Reize mit der Küste von Nizza bis Genua wetteifern könnte.«
Als die Engelsbucht sich vor den Blicken unserer Freunde öffnete und sie den leuchtenden Anblick der Großstadt Nizza genossen, die sich in ihrem Doppeltale bis gegen die mächtigen Ausläufer der Seealpen erstreckt, war nicht einer unter ihnen, den nicht dieses Bild bezaubert hätte. Die Stadt mit ihren weißen Häusern und säulenreichen Palästen schmiegt sich überall an das blaue Meer; der Felskoloß des Schloßbergs mit seinen Parkanlagen, Festungsruinen, Friedhofdenkmälern und dem gewaltigen Rundturm Bellanda trennt sie vom Hafen und den neueren Teilen der Altstadt, während die hohen grauen Häuser der ältesten Ansiedlung mit ihren engen Gassen am westlichen Abhang des Schloßberges emporklettern. Auf den grünen Hügeln ringsumher und inmitten der Stadt lachen bunte Landhäuser aus üppigen Gärten. Aus dem Häusermeer der Neustadt ragen überall die grünen Wipfel von Baumriesen empor.
Schlanke Palmen wiegen ihre zierlichen Kronen im Winde, alte Ruinen aus der Römerzeit schauen von den Höhen herab und im Hintergrund des unvergleichlichen Landschaftsbildes erhebt sich hoch ins Blaue der Felskegel eines erloschenen Vulkans. Rechts grüßt die weißleuchtende Sternwarte herunter, die ein Fernrohr besitzt, welches das Lickfernrohr in Kalifornien in mancher Beziehung an Größe übertrifft, und daher mit das größte Teleskop der Welt ist.
Man näherte sich dem Strande so sehr, daß man überall den reichen Blumenflor herüberschimmern sah, und der Landwind wehte einen betäubenden Duft von Rosen, Orangeblüten, Oleander, Nelken und zahllosen anderen Wohlgerüchen aus den Gärten herüber.
Dieses herrliche Klima hat nicht bloß einen Winter ohne Schnee und Eis, sondern auch einen viel milderen und angenehmeren Sommer als der Norden, und da sich die Reisenden die Fülle köstlicher Früchte, welche diese Jahreszeit hier zeitigt, munden lassen wollten, sandten sie ein Boot an den Strand, das sie reichlich damit versorgte. Dann aber fuhren sie weiter um den Mont Boron herum, und bald entschwand vor ihren Blicken die Geburtsstadt Massénas, Garibaldis und Gambettas, und vor ihnen öffnete sich der weite natürliche Hafen von Villafranka, berühmt in der Weltgeschichte und noch heute ein Sammelplatz von Kriegsschiffen aller Nationen.
An dem Kap Ferrat und Sankt Hospice vorbeifahrend, bewunderte man die Halbinsel von Sankt Jean, die, selber von einer Halbinsel ausgehend, einen unvergleichlich lieblichen Anblick gewährt; besonders fällt der runde Sarazenenturm auf dem äußersten Hügel malerisch ins Auge.
Im Hintergrund liegt die Villenkolonie Beaulieu, in Olivenwälder gebettet und von leisen Meereswellen umspült, träumerisch in der Mittagsonne da, und hoch oben auf einem schroffen Felskegel schaut drohend das sarazenische Seeräubernest Eza herab, in seiner Bauart an den Orient gemahnend.
Nun fuhr die Jacht an den ungeheuren Felswänden vorbei, welche so schroff in das Meer abfallen, daß selbst die Straße durch einen Tunnel geführt werden mußte, während die Bahnlinie auf einer Strecke von zweihundert Kilometern von Nizza bis Genua etwa fünfundneunzigmal durch Hügel und Berge hindurchgeht. Ungefähr dreihundert Meter hoch über der Meeresküste führt die alte Römerstraße hin, die wohl auf Erden an prächtiger und lieblicher Aussicht nicht ihresgleichen haben mag; unsere Freunde sahen dort oben den von Kaiser Augustus erbauten Turm der Turbia; dann kam wieder ein Kap, und vor ihnen lag der Fels von Monako, weit ins Meer vorspringend, und dahinter Monte-Carlo mit seinem monumentalen Kasino, der Spielhölle.
»Wir fahren über Leichen hinweg!« sagte Münkhuysen, »während wir uns am herrlichen Anblick dieses Paradieses berauschen.«
»Arme Narren!« seufzte Professor Raimund, »die der Spielbank ihr Vermögen zubringen. Wenn ein Mensch mit gesundem Menschenverstand erwägt, daß diese Spielbank mit einem Aufwand von Millionen und aber Millionen dieses ganze Fürstentum unterhält mit seinen großartigen Bauten und märchenhaften Anlagen, so daß die Einwohner steuerfrei sind; wenn man weiter bedenkt, daß diese unwürdige Anstalt, trotz solcher ungeheurer Ausgaben, noch an die vierzig Millionen Reingewinn jährlich unter ihre Aktionäre verteilt, so sollte man meinen, jedermann müsse einsehen, hier sei wenig zu gewinnen und sehr, sehr viel zu verlieren.«
»Neunzig Eisenbahnzüge verkehren täglich zwischen Cannes und Mentone,« bemerkte Kapitän Münchhausen: »Das ist die Anziehungskraft der Spielhölle. Auch die vielen Luxuszüge, die von Paris nach der Riviera eilen, dienen meist den Spielern; dazu kommen noch die elektrischen Straßenbahnen von Nizza nach Monte-Carlo, die regelmäßigen Schiffsverbindungen und die zahlreichen Automobile: ja, die unseligste Leidenschaft erzeugt einen größeren Verkehr, als ihn Handel und Industrie zuwege brächten.«
Die grauen Felsen trotzten und zu ihren Füßen lachten die Palmengärten im goldenen Sonnenlicht, und das blaue Meer umkoste das Ufer: nirgends vereinigt sich reizvollere Schönheit mit wüsterem Treiben!
Es ist unmöglich, alle die unvergeßlichen Eindrücke näher zu schildern, welche den Südpolfahrern an dieser Küste ohnegleichen zuteil wurden: Rokkabruna auf halber Höhe der starrenden Felswand, Mentone mit seiner reizvollen Lage, die italienische Grenzstadt Ventimiglia mit ihren alten Burgen, Bordighera in seinen üppigen Palmengärten, die Scheffelspalmen und Ospedaletti, das großartige San Remo — sie alle wären eingehenderer Beschreibung wert. Als eine Perle der Riviera ist noch Porto Maurizio zu bezeichnen, das einen auf drei Seiten vom Meer umgebenen Hügel bedeckt — ein prächtiger Anblick!
Aber wo sollte man aufhören? Oneglia, Diano Marina, Cervo, Andora, Alassio, Albenga, das turmreiche; Loano, Pietra Ligure, Finale Marina und Final-Borgo, Noli, Savona und dann die blumenreichen Kurorte, die sich bis nach Genua in ununterbrochener Reihe fortziehen, gleichsam eine Kette genuesischer Vorstädte — jede dieser Perlen hat ihren besonderen Reiz.
Stellenweise treten die himmelhohen, wilden Felswände bis ans Ufer vor, so daß sich, wie gesagt, sogar die Landstraße in einem Tunnel hindurchbohren muß; dann wieder öffnen sich tiefe Buchten und weiteingeschnittene Täler, von grünen Hügeln umrahmt, im Hintergrunde aber ragen überall die Hochgipfel der Seealpen, teilweise mit ewigem Schnee bedeckt ins Blau.
Außer dem öden und doch großartig schönen Küstenvorsprung von San Stefano und San Lorenzo al mare sah man nichts als eine Kette blühender Städte und Winterkurorte in Gärten gebettet und durch Olivenwälder, Hügel und Felsmassen voneinander getrennt. Eine einzige Bucht lag noch still und weltabgeschieden dazwischen.
»Hier möchte ich mein Landhaus bauen!« sagte Mäusle zu Ernst. »Das ist mein schönster Erdentraum, der freilich keine Aussicht auf Verwirklichung hat, denn ich bin im Grunde doch eben nur ein armer Dichter, dem kaum Lorbeeren, gewiß aber keine Reichtümer winken. Ja, wollte ich mit den öden Modedichtern wetteifern! Aber ich bringe es nie übers Herz, um klingenden Lohnes willen Pegasus ins Joch zu zwängen.
»Sehen Sie, hier in dieser einsamen Bucht gehen die Gärten bis hart ans Meeresufer: da sollte mein Heim stehen, unter Palmen und Eukalypten, Feigen und Orangen, Ölbäumen und zierlichen Pfefferbäumen, duftenden Karuben, Zitronen und Nespeln, wie sie hierzulande die köstliche, zuckersüße goldgelbe japanische Mispel nennen; eine Blumenpracht sondergleichen, alle Mauern von bunten Kletterrosen überrankt, kurz, was der Süden an Herrlichkeiten besitzt, das wäre mein Park! Und die Wellen des blauen Meeres rauschten mich nachts in Schlaf.«
»Da sollten Sie doch Ihr Glück in Monte-Carlo versuchen!« meinte Ernst: »Einige Hunderttausend könnten Sie, wenn der Zufall Ihnen günstig wäre, in einem Tage schon gewinnen, und das dürfte bei Ihren bescheidenen Ansprüchen wohl genügen, um Ihren Traum zu verwirklichen und Sie unabhängig zu stellen, so daß Sie ganz Ihrer Muse leben könnten.«
»Und wüßte ich gewiß, daß ich eine Million gewönne,« erwiderte Mäusle, von Ekel geschüttelt, »ich wollte doch nicht spielen; es würde mich der Gedanke mit Grausen erfüllen, daß ich durch ein Vermögen reich werden sollte, das andere verloren haben, die sich vielleicht aus Verzweiflung darüber das Leben nahmen. Gewiß! ein Paradies auf Erden mag man jenes Monako mit Recht heißen, wenn man seine Natur bewundert. Im Innern aber ist es eine Hölle. Seine Paläste sind mit Blutgeld aufgebaut, die Anlagen sind mit Blut gedüngt: nur der Abschaum der Menschheit, und stolziert er auch in Samt und Seide, mit Titeln und Orden, kann es über sich bringen, an solch menschenunwürdigem Treiben auch nur versuchsweise teilzunehmen.«
Der schwäbische Dichter stieg noch bedeutend in unseres jungen Freundes Achtung bei diesen, von ehrlichstem Abscheu eingegebenen Worten.
In Genua lief Münkhuysen zum erstenmal in einen Hafen ein, und zwar weil er für seine Südfahrt italienische Matrosen anwerben wollte.
Ernst wunderte sich hierüber nicht wenig und konnte die Bemerkung nicht unterdrücken: »Denen wird es im Eise sonderbar zumute werden, da sie ein so warmes Klima gewöhnt sind!«
»Da täuschen Sie sich, junger Freund!« entgegnete der Baron: »Die Italiener zeigen sich am unempfindlichsten gegen hohe Kältegrade; daher äußerte sich schon Nansen, er nehme am liebsten italienische Matrosen auf seine Nordpolfahrten mit, und aus eben diesem Grunde wähle ich auch solche.«
»Das klingt fast unglaublich,« mischte sich der zweifelsüchtige Doktor Maibold in diese Erörterung. Münkhuysen jedoch erwiderte ihm: »Und doch ist es so: Sehen Sie, diese Oberitaliener gehen sommers und winters leicht gekleidet umher; die Temperatur mag auf den Nullpunkt und darunter sinken, so setzen sie doch ihren kaum bedeckten Leib der Luft aus. Dadurch wird die Haut sehr abgehärtet und unempfindlich gegen Temperaturwechsel. Zudem wohnen die Leute in Steinhäusern mit Ziegelböden, und ihre Zimmer besitzen keine Öfen, höchstens Kamine, die nur auf kurze Entfernung etwas Wärme abgeben.
»Wir Nordländer dagegen hüllen uns im Winter derart ein, daß keine kalte Luft an die Haut dringt; unsere Stuben sind gemütlich durchwärmt und unsere Haut ist daher sehr verweichlicht und empfindlich. In noch höherem Maße findet eine solche Verweichlichung im hohen Norden statt, und niemand klagt so sehr über die Winterkälte in den südlichen Kurorten als die Sankt Petersburger, die ihre mächtigen Pelze zu Hause gelassen haben, in der Meinung, sie könnten im Lande des ewigen Frühlings keine Kälte empfinden.«
Ernst fand späterhin Münkhuysens Beobachtungen vollauf bestätigt: die italienischen Matrosen hatten unter der Polarkälte am wenigsten zu leiden.
Nur schweren Herzens fuhr unser junger Freund am Gestade Ägyptens vorbei, denn gar zu gerne hätte er die Wunder der Pharaonenwelt geschaut.
»Ach, Herr Mäusle!« seufzte er, da er gerade mit dem Schwaben an der Brüstung stand: »Hier so vorbeifahren zu müssen! Seit meiner Kindheit weile ich in meinen Träumen an den Ufern des Nils: wie verlangte es mich, die Pyramiden, die Sphinx und die Riesentempel zu bewundern — und die Insel Philä — ich darf gar nicht daran denken. Wie viele besuchen diese Länder ohne inneres Interesse und ohne rechtes Verständnis, und dem, der ihre Wunder recht genießen könnte, fehlt es an den leidigen Mitteln, seine Reiselust zu befriedigen.«
Was half das Bedauern und das Klagen? Das Ziel des Unternehmens duldete keinen längeren Aufenthalt unterwegs, und so ging es weiter durch den Suezkanal und das Rote Meer. Eine kurze Landung in Aden, um Kohlen einzunehmen, und bald tauchten Indiens Gestade im Osten auf.
Jetzt war es Mäusle, der sein Klagelied anstimmte: »Indien, du Land meiner Sehnsucht, du Märchenreich aus Tausendundeiner Nacht, du Wiege der Menschheit und du Heimat aller Wunder, umgeben vom zauberischsten Reiz! Du Land der geheimnisvollen Felsentempel, der schlanken Bajaderen und der nächtlich duftenden Lotosblumen, du Paradies der Welt! Laß mich in deinen undurchdringlichen Dschungeln das Stampfen deiner Elefanten, das Brüllen deiner Tiger und das Rascheln deiner Schlangen vernehmen — und ich will glücklich sein! Laß mich träumen an den Ufern der heiligen Ganga und die schillernden Häupter der Krokodile bewundern, die aus ihren Fluten hervorlugen! Laß mich den Duft deiner Riesenblumen einsaugen in die lechzende Brust, nachts, wenn der silberne Mond deine Märchenhaine in gespenstisches Licht taucht! O welche Wonne, welche Seligkeit! Aber hier fahre ich nach dem frostigen Südpol, vorbei an deinen glühenden Ufern, und darf sie nicht betreten. Arm ist die Poesie, und dem Reichen dient sie zum Ergötzen: ihre Sehnsucht unterhält ihn, aber er versteht sie nicht, und vergißt, sie zu stillen.«
Münkhuysen war hinzugetreten und hatte diesen Ergüssen gelauscht, die nur Neeltjes Ohr hatte vernehmen sollen. »Ich will mir das gesagt sein lassen, Herr Mäusle,« sagte er lächelnd: »Nächstes Jahr sollen Sie in meinem Auftrage eine Forschungsreise durch Indien unternehmen. Allein hüten Sie sich vor den Tigern und den giftigen Schlangen, die alljährlich Tausende von Menschenleben zum Opfer fordern. Doch, was sage ich? Sie sind ja der Held, der solches Gezücht mit dem Donner seiner schwäbischen Rede in die Flucht jagt!«
»Ach!« meinte Mäusle beschämt: »Nehmen Sie doch die Sehnsuchtsklage eines Dichters nicht so blutig ernst: ich weiß zu verzichten und zu entsagen, und eben das dient zur Förderung der Poesie.«
Neeltje aber bemerkte: »Liebster, wenn dein Verlangen nach den anmutigen indischen Bajaderen und den nicht minder reizenden Tigern und Schlangen der Dschungeln so groß war, warum reistest du nicht lieber in dies Wunderland, statt zu uns nach dem nüchternen Südafrika?«
Ihr Gatte belehrte sie alsbald: »Weil ich Diamanten und Gold suchen wollte, wie dir bekannt sein dürfte, und zwar nicht aus schnöder Habsucht und Geldgier, sondern aus edleren Gründen und zu höheren Zwecken. Nun fand ich dort freilich weder Gold noch Edelsteine; dennoch wird mich die Reise nie reuen, denn ich fand viel mehr, ungleich besseres, einen Schatz, den ich selbst im Märchenparadies Indiens niemals gefunden hätte, nämlich die allerköstlichste Perle — und das bist du!«
»Schmeichler!« schmollte die junge Frau, doch mit einem Lächeln, das zur Genüge bewies, wie wenig sie ihm ob dieser Schmeichelei zürnte.
Hatten unsere Freunde bisher immer günstige Fahrt gehabt, so sollte dies im verrufenen Malaiischen Archipel plötzlich anders werden: dort überfiel sie unversehens ein wütender Taifun, einer jener gefürchteten Orkane, die ganz unerwartet losbrechen und sofort mit unwiderstehlicher Gewalt einsetzen.
Wie manches stolze Schiff ist ihnen schon zum Opfer gefallen!
Auch Münkhuysens treffliche Jacht befand sich in nicht geringer Gefahr, als der Sturm sie jagte und die haushohen Wellen Fangball mit ihr spielten. Alle bewunderten hiebei die Gewandtheit der Matrosen, die auch ohne sich festzuhalten das Gleichgewicht auf dem schlingernden Deck nie verloren. Münkhuysen brachte dies ebenso fertig. Daß sein Vetter, Kapitän Münchhausen, als alter Seebär, ihm hierin nichts nachgab, war selbstverständlich. Außer ihnen war Michael Mäusle der einzige, der mit seiner schmächtigen Gestalt wie ein Hüne den Schwankungen standzuhalten vermochte, zu aller Erstaunen: doch dieser außerordentliche Held konnte ja einfach alles, zu Wasser, wie zu Lande!
Doktor Maibold freilich, der übermütige Spötter, glaubte auch, sich auf seine starken Stelzen verlassen zu können und lachte die »Kletten« aus, wie er die sich krampfhaft festklammernden Genossen zu nennen beliebte. Sie wurden nicht bloß von sprühendem Salzwasser, sondern auch von seinem ätzenden Spott übergossen.
Vergebens riet ihm Münkhuysen zur Vorsicht. »Was Sie können und dieser leibarme Schwabe, ganz abgesehen von den Wasserratten, das kann ich auch, und zehnmal besser mit meinem muskelstarken Beinwerk!« meinte er lachend. Allein er sollte sein allzugroßes Selbstbewußtsein bald büßen, denn eine gewaltige Sturzsee spülte den Übermütigen fast im gleichen Augenblick über Bord, und schon befand er sich inmitten der kochenden Strudel.
»Mann über Bord!« erscholl der Schreckensruf ringsum, sobald das Wasser sich von Deck verlaufen hatte und ein freier Ausblick möglich wurde.
Weit draußen sah man den Doktor den Verzweiflungskampf mit den stürmenden Wogen kämpfen: der Unglückliche schien unrettbar verloren; denn wer hätte ihm Hilfe bringen wollen? Ein Boot auszusetzen war vorerst ein Ding der Unmöglichkeit, und der beste Schwimmer hätte sich nicht in diese wildwütende See getraut.
Münkhuysen ließ sofort stoppen und dann die Jacht, so gut oder schlecht es eben ging, dem Verunglückten nahe bringen. Doch gelang es nicht, ihm ein Tau zuzuwerfen, und der Baron erwog dennoch die Tollkühnheit, das Rettungsboot auszusetzen, um auch das Unmögliche nicht unversucht zu lassen, statt den Gefährten hilflos untergehen zu sehen.
Mäusle allein bewahrte seine sorglose Gelassenheit und mahnte: »Geduld, Geduld! Die Gewalt der Wellen wird sich schon legen.«
Holm war ernstlich empört über diese vermeintliche Gleichgültigkeit, wo es sich um das Leben eines Kameraden handelte: »Gewiß wird dieser Sturm nicht ewig wüten; aber Maibold kann sich niemals so lange über Wasser halten bis die See sich beruhigt, was oft erst Stunden nach Aufhören des Orkans eintritt. Der Doktor hält es keine Viertelstunde mehr aus. Selbst ein geübterer Schwimmer wäre kaum imstande, es viel länger in diesem rasenden Elemente auszuhalten.«
»Sehen Sie nur!« sagte der Schwabe seelenruhig, und in der Tat sah man jetzt das Meer um den Schiffbrüchigen herum sich allmählich glätten, und bald dehnte es sich in einem kleinen Umkreis um ihn her spiegelglatt aus, während ringsum der Sturm die See immer noch bis auf den Grund aufzuwühlen schien.
Alle waren starr vor Erstaunen und niemand vermochte sich dieses Wunder zu erklären: völlig unglaubwürdig sah diese glatte Fläche inmitten der tosenden Gewässer aus.
Mäusle erkannte jedoch, daß es mit des Doktors Schwimmkunst herzlich schlecht bestellt war, und daß es ihm auch an dem hier notwendigen Mut und der Tatkraft fehlte, um selbst im ruhigen Fahrwasser rüstig vorwärts zu kommen. Sein sonst so übergroßes Selbstvertrauen hielt in der wirklichen Lebensgefahr nicht stand, und er traute sich nicht aus seinem glatten Gewässer hinaus in die gewaltigen Wogen, die ihn noch von der Jacht abschnitten.
Als der Schwabe dies erkannte, warf er den Rock ab und sprang mit einem Satz über die Rampe ins Wasser. Wieder waren alle schreckensstarr, denn sie hielten sein Beginnen für aussichtslos und waren überzeugt, es würden jetzt nur zwei Opfer, statt eines zu beklagen sein. Zugleich erkannten sie freilich, wie schwer sie Mäusle Unrecht getan hatten, als sie ihm in Gedanken Gleichgültigkeit gegenüber Maibolds Todesgefahr vorwarfen.
Alle Rufe und Schreie des Entsetzens und der Warnung kamen jetzt zu spät: schon kämpfte der Held mit den schaumgekrönten Wellen, die ihn jeden Augenblick zu verschlingen drohten. Es schien, als werde er hilflos auf und ab geschleudert, oft verschwand er unter Wasser, doch tauchte er allemal wieder prustend auf und warf sich mit übermenschlich erscheinender Kraft gegen die auf ihn einstürmenden Fluten. Mit Staunen sahen alle, was für ein vorzüglicher, gewandter und kräftiger Schwimmer er war: keiner der anderen hätte sich in diese Strudel gewagt, nicht einmal die italienischen Matrosen, die doch vorzüglich schwammen.
Ein harter, beinahe verzweifelter Kampf war es aber doch, bis sich Mäusle in Maibolds ruhiges Fahrwasser durchgerungen hatte. Der Doktor wollte sich gleich an ihm festklammern, da er völlig erschöpft und dem Untersinken nahe war; doch erklärte ihm der Schwabe, dies wäre ihrer beider Verderben, er solle sich vielmehr ruhig auf den Rücken legen, dann könne er für die sichere Rettung Gewähr leisten, soweit dies in menschlicher Voraussicht liege. Maibold gehorchte, und der Schwabe schob ihn nun stoßweise vor sich her bis zur Jacht. Dies machte keine weitere Schwierigkeit mehr, da die See sich stets vor den Schwimmern glättete.
Bald waren sie so weit, daß ihnen von dem Schiffe aus ein Tau zugeworfen werden konnte, an dem sie nacheinander emporgehißt wurden.
Nachdem sie sich umgekleidet hatten, begaben sie sich in den Schiffssalon, wo die anderen versammelt waren und ihrer harrten. Maibold wurde zu seiner Rettung beglückwünscht, zeigte sich jedoch sehr kleinlaut, war auch recht erschöpft und angegriffen. Er mußte sich sagen, daß sein Übermut, der nur der Eitelkeit entsprang, nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch dasjenige seines edelmütigen und tapferen Retters, der zuvor immer die Zielscheibe seines wenig gerechtfertigten Spottes gewesen war, in die schwerste Gefahr gebracht hatte. Mäusle seinerseits konnte sich der bewundernden Lobsprüche kaum erwehren.
Ein steifer Grog stand dampfend bereit, um die beiden zu erwärmen und zu beleben. Der Schwabe hatte dies kaum nötig, der Doktor umso mehr. Aber auch die anderen taten ihnen fleißig Bescheid.
Der Taifun hatte inzwischen nachgelassen, die See beruhigte sich rasch und die vorzüglich gebaute Jacht schwankte nur noch wenig. In dem prächtig ausgestatteten Raume, auf den weichen Polstern, vor sich die dampfenden Gläser, fühlten sich alle recht behaglich auf den ausgestandenen Schrecken hin.
Maibold wurde mit Fragen bestürmt: jedermann wollte wissen, aus welchem rätselhaften Grunde die Wellen sich rings um seine werte Persönlichkeit her so plötzlich geglättet hatten. Diesem wunderbaren Umstande allein hatte er ja sein Leben zu danken, da er es in den tobenden Wellen keinesfalls so lange ausgehalten hätte, bis Mäusle ihn erreichen konnte, um ihn herauszuholen. Der Doktor mußte jedoch erklären, daß er selber keine Ahnung davon habe, was für ein Geheimnis hinter diesem unerhörten Vorgange stecke.
Zur großen Verwunderung der Gesellschaft sagte Mäusle bescheiden: »Die sehr einfache und natürliche Erklärung dieser Ihnen so unerklärlich erscheinenden Sache vermag ich Ihnen zu geben, falls Sie die Geduld haben, der Erzählung eines kleinen Erlebnisses aus meinen früheren Irrfahrten zu lauschen.«
Man kann sich denken, daß er von allen Seiten lebhaft gebeten wurde, sein angedeutetes Abenteuer zu berichten, und so begann er folgendermaßen: »Es sind nun bald fünf Jahre her, daß ich im berüchtigten Kanal den heftigsten Sturm erlebte, der mich je bei einer Seefahrt in Erstaunen versetzte. Ich möchte zwar nicht behaupten, daß der heutige das reinste Zephirsäuseln dagegen gewesen sei, doch scheint es mir, daß er doch die Kraft und Wut des damaligen nicht erreichte.
»Die Dunkelheit war schon eingebrochen und es war stockfinstre Nacht; ein Gewitter stand am Himmel, und beim Aufleuchten der Blitze sah man Englands Kreidefelsen wie blasse Gespenster in nächster Nähe herüberschimmern. Es gelang nicht mehr, die hohe See zu erreichen, unser Schiff wurde gegen einen Felsen geschleudert und bekam ein Leck.
»Wären wir auf dem Felsen aufgesessen, so hätten wir schwache Hoffnung gehabt, ein Nachlassen des Orkans abwarten zu können, oder durch Notsignale Hilfe herbeizurufen; die Gewalt der Wogen riß aber sofort das Schiff mit sich zurück, und das Wasser strömte so rasch ein, daß alles Pumpen vergeblich erschien.
»Der Kapitän ließ zwar einige Raketen abbrennen, aber wir hatten keine Hoffnung, daß uns bei solcher See Hilfe nahen könne; auch mußten wir das rasch sinkende Schiff unverzüglich verlassen. Die Rettungsboote wurden klar gemacht und dem wütenden Elemente anvertraut. Es gelang, alle Passagiere und die ganze Mannschaft in die Boote zu bringen, und den ersten Booten glückte es auch, einen ganz in der Nähe befindlichen Hafen zu erreichen.
»Der Kapitän und ich waren mit einigen Matrosen die letzten, die das Schiff verließen; für uns war es zu spät: wir konnten uns nicht mehr weit genug von dem sinkenden Schiffe entfernen, und als die Wellen über dem Deck zusammenschlugen, riß die Gewalt des entstandenen Strudels im Verein mit den berghohen Wellen unser Boot so stark auf die Seite, daß es sich mit Wasser füllte und uns in die Tiefe hinabzog.
»Als ich wieder emportauchte, sah ich nur wenige meiner Unglücksgefährten mit den Wogen kämpfen, darunter den braven Kapitän. Merkwürdigerweise kam es mir vor, als ob die Wellen, die mich emporschleuderten und wieder hinabrissen, bei weitem nicht so hoch seien, wie diejenigen rings um mich her; ja das Meer beruhigte sich sichtlich in meiner Nähe, so daß ich ohne große Anstrengung schwimmen konnte, während ich einen um den anderen der übrigen Schiffbrüchigen erschöpft den aussichtslosen Kampf aufgeben sah: sie versanken im kochenden Elemente — als letzter der Kapitän.
»Die Beruhigung der Wogen um mich her nahm immer mehr zu, und bald befand ich mich in einem spiegelglatten Kreise, der sich langsam erweiterte, während ringsum die Wellen noch ebenso hoch gingen wie zuvor.
»Obgleich ich wacker schwimmen mußte, um das Ufer zu erreichen, zerbrach ich mir doch den Kopf, woher diese Glättung des Meeres kommen möge. Es war dies so rätselhaft, daß ich, wenn ich die Gewohnheit gehabt hätte, meine Haare stark zu ölen, meine Rettung diesem Umstande zugeschrieben hätte, so unwahrscheinlich es auch gewesen wäre.
»Zuletzt, da ich die Küste erreichte und das Glück hatte, eine Stelle zu finden, die zum Landen nicht zu steil war, gewann ich meinen alten Humor wieder und sagte mir: du bist eben ein Ölkerle (so nennt man bei mir zu Hause gewandte Menschen) und daher glättest du das Meer.
»Die Landung war übrigens nicht so leicht, als ich mir gedacht hatte: hier am Ufer schlugen doch die Wellen ziemlich stark gegen die Felsen, wenn auch entfernt nicht mit solcher Gewalt, wie sie rechts und links von mir kirchturmhoch an den Blöcken hinaufschäumten: dort hätten sie jeden Schwimmer rettungslos zerschmettert. Ich kam jedoch mit einigen Schürfungen davon. Als ich das Ufer erklommen hatte und mich außer dem Bereich der Brandung befand, befühlte ich mich am ganzen Leib, wie man in solchen Fällen unwillkürlich tut, um sich zu überzeugen, daß man nirgends ernstlich Schaden genommen hat.
»Bei dieser Betastung spürte ich etwas in der Westentasche, die sich von außen schmierig anfühlte, und fand darin ein ziemlich zusammengeschmolzenes Stückchen Seife vor. Alsbald entsann ich mich, daß ich gegen Abend in meine Kajüte geeilt war, um die Seife zu holen und einer Dame auf Deck damit auszuhelfen, die todunglücklich war, weil sie ein wenig Teer an die sorgfältig gepflegten Finger gebracht hatte. Um nicht wieder hinab zu müssen, schlug ich hernach die Seife in ein Stück Seidenpapier ein, das ich zufällig in meiner Brieftasche fand, und steckte sie in die Westentasche.
»Nun war mir alles klar: Neuere Versuche haben ja zur Genüge dargetan, wie rasch und gründlich Öl, auch in starker Verdünnung, eine glättende Wirkung auf die stark bewegte See ausübt. Das war ja schon im Altertum allgemein bekannt und bei uns sogar sprichwörtlich; doch, wie unsere Wissenschaft eben ist, sie schenkte dieser Tatsache nie Beachtung, bis ein gescheiter Kopf in jüngster Zeit sich zu einer Prüfung der Frage entschloß. Weitere Versuche ergaben, daß Seifenwasser, selbst in stärkster Verdünnung, eine womöglich noch gründlichere Glättung der Wellen bewirkt. Man stellte fest, daß eine Seifenwasserschicht von der Dicke eines halben hunderttausendstel Millimeters genügt, um auch den gefährlichsten Brecher augenblicklich machtlos in sich selbst zusammenfallen zu lassen. Ähnliche Untersuchungen stellte der österreichische Ingenieur Großmann auf dem Bodensee an, dessen Wogen bekanntlich den Meereswellen oft nichts nachgeben, weshalb er mit Recht ›Das Schwäbische Meer‹ genannt wird. Großmann vermochte eine Wasserfläche von fünfzehntausend Quadratmetern mittels nur fünfzig Kubikzentimetern Rüböl vollständig zu glätten, inmitten der wild tobenden Fluten.
»Wie die gewaltigsten Kraftäußerungen der Natur durch solch unendlich geringe Gegenkräfte lahmgelegt werden können, bleibt freilich unbegreiflich; doch das ändert nichts an der unbestreitbaren Tatsache. Die Wissenschaft steht eben hier wieder vor einem der zahllosen Rätsel, die sie, wo es irgend angeht, einfach hartnäckig leugnet, um ihre Unzulänglichkeit nicht eingestehen zu müssen; dies tut sie beispielsweise der Homöopathie gegenüber. Das ist freilich das einfältigste und unwissenschaftlichste Auskunftsmittel, das sie unerklärlichen Erscheinungen gegenüber zu ersinnen vermag: es ist der Standpunkt geistig beschränkter Verbohrtheit und nichts weniger als Wissenschaftlichkeit. Wo aber dieses billige Leugnen durchaus nicht möglich ist, stellt sie die widersprechendsten Hypothesen als Erklärungsversuche auf, ohne dadurch der wirklichen Lösung derartiger Rätsel näher zu kommen; vermag sie doch bis heute nicht einmal den anscheinend so einfachen und natürlichen Vorgang der Sturzseen zu erklären. Überhaupt versagt ja die wissenschaftliche Deutung am auffallendsten gerade dem Alltäglichsten und Natürlichsten gegenüber: ich erinnere nur an Leben, Denken, Schlaf, Traum und dergleichen, die noch keine Wissenschaft befriedigend zu enträtseln vermochte.
»Nun, mir konnte es damals völlig einerlei sein, ob der Vorgang wissenschaftlich begründet werden könne oder nicht. Es genügte mir vollkommen, unleugbar feststellen zu können, daß die schmilzende Seife in meiner Westentasche ihre Kraft bewährt hatte, die wildesten Wogen zu glätten und mir dadurch mein kostbares Leben zu retten. Dies ist der Grund, warum ich mich nie mehr zur See begebe, ohne ein Stück Seife bei mir zu tragen und sämtliche Mitfahrende mit diesem billigen und doch so sicheren Hilfsmittel zu versehen. Ich hatte schon öfters die Freude, sichtliche Erfolge damit zu erzielen, denn es versagt nie. Da ich jedoch mit meiner Belehrung meist auf ungläubige Mienen stieß, obgleich ich kein Oberförster bin, machte ich Ihnen gegenüber aus meinen Gründen ein Geheimnis, um Ihnen eine Blamage zu ersparen. Heute konnten Sie sich jedoch durch den Augenschein überzeugen, wie wertvoll meine Vorsicht ist.
»Diesmal bin ich allerdings selber meiner leider nicht seltenen Zerstreutheit zum Opfer gefallen, was mir tatsächlich lebensgefährlich wurde. Während ich es mir nämlich so angelegen sein ließ, Sie alle mit Seife zu versehen, vergaß ich unglaublicherweise, selber welche einzustecken. Darum kostete es mich solche Mühe, im Kampf mit den heftigen Wogen bis zum Doktor zu gelangen.«
Die Zuhörer spendeten dem Erzähler lebhaften Beifall und baten ihm ihren voreiligen Spott ab; vor allem tat dies Doktor Maibold, den der Grog wieder völlig hergestellt hatte, und der von Dank überströmte. Alle erklärten auch, fortan nie mehr ohne Seife in der Tasche in See stechen zu wollen, auch alles zu tun, um diesem einfachen und so sicheren Rettungsmittel Eingang in den weitesten Kreisen zu verschaffen.
Ohne weitere Zwischenfälle lief man am 1. September in Port Phillip ein und betrat in Melbourne den australischen Weltteil.
Der Kapitän der Jacht erhielt Befehl, nach achttägiger Rast in Melbourne, nach Sidney zu steuern und die Zurückbleibenden dort zu erwarten. Zu Ernsts Verwunderung wurden die Kisten, welche die Dampfmaschine für das Polarschiff enthielten, ausgeladen und auf die Bahn verbracht. Wozu doch konnte Münkhuysen sein Schiff mit der Maschine versehen wollen, ehe es den Meeresstrand erreicht hatte?
Während die meisten Fahrgäste mit der Jacht nach Sidney fahren sollten, begleiteten Ernst Frank, Münchhausen, Schulze, Mäusle und Neeltje den Baron und sein Töchterlein in das Innere. Dort wollte Münkhuysen sein im Bau befindliches Polarschiff besichtigen und dessen Verbringung zur Küste leiten.
Sie fuhren mit der Bahn bis Young, wo sie ausstiegen, um zu Pferde den australischen Urwald zu erreichen. Die Maschine wurde auf drei Ochsenwagen nachgeführt.
Die kleine Eva erwies sich als gewandte und geübte Reiterin, die auch den erforderlichen Mut zu schwierigeren Reiterstücken besaß. Ernst ritt meist an ihrer Seite, während die älteren Herren um einige Pferdelängen voraus waren. So konnten die beiden Vertrauten ungestört von ihren Heimlichkeiten reden, von der gefangenen Prinzessin am Südpol, von dem Wunder, das sie durch das Paläoskop entdeckt hatten, und von Evas Puppe, die noch im Koffer ihrer Erlösung harrte, — auch eine gefangene Prinzeß!
Bald gelangten die Reiter in eine endlose Ebene, die mit einem grünen Teppich bedeckt war; dieser Grasteppich war mit einer solchen Fülle bunter Blumen durchwirkt, daß er einen unbeschreiblich reizenden Anblick gewährte und niemals durch Eintönigkeit das Auge ermüdete.
Die Prärie befand sich im vollsten Frühlingsschmuck, denn der September in diesen Breiten entspricht unserem Februar, und im Süden beginnt der Lenz einige Monate bälder als bei uns. In der Ferne sah man eine ausgedehnte Baumgruppe, die nach zweistündigem Ritte erreicht wurde.
Der Wald bestand aus mächtigen Blaugummibäumen ( Eucalyptus globulus), deren einzelne Stämme so weit voneinander entfernt standen, daß fünfzig Reiter bequem nebeneinander hier durchreiten konnten; da überdies die säbelförmigen Blätter des Eukalyptus senkrecht herabhängen, war hier wenig Schatten zu finden, und Ernst war anfangs sehr enttäuscht, da er die geheimnisvolle Dämmerung des Urwaldes vermißte, von der er geträumt hatte. Durch Münkhuysen erfuhr er, daß Australiens Urwälder überall den gleichen Charakter tragen und eigentlich nur aus einer Kette großer Baumgruppen bestehen, die sich durch eine unabsehbare Grasebene hindurchschlängelt.
Was unseren jungen Freund übrigens mit diesem sonnigen Urwald aussöhnte, war die Pracht der weißen, gelben und violetten Syringen, welche die Luft mit den lieblichsten Düften erfüllten. Merkwürdig erschien es ihm, daß auch rote Syringen zu sehen waren, welche aber sämtlich schlaff und welkend herabhingen.
Kapitän Münchhausen besaß in Adelaide ein eigenes Landhaus, das er bewohnte, wenn er nicht, wie gewöhnlich, auf Forschungsreisen abwesend war. Als genauer Kenner Australiens konnte er daher Ernst Frank belehren, daß die rote Syringe die Nachtblume dieser Wälder sei und ähnlich der indischen Lotosblume erst mit der Abenddämmerung beginne, ihre Frische und ihren Wohlgeruch zu entfalten, während sie tagsüber matt und kraftlos traure.
Jenseits der Waldinsel begann wieder die blumenreiche Ebene. Am Waldrande wurde gerastet, hauptsächlich, um den Pferden Ruhe zu gönnen und einen Imbiß einzunehmen.
Während die anderen rauchend im Grase ruhten, nachdem das Mahl beendigt war, erging sich Michael Mäusle ein wenig in der farbenstrahlenden Wiese. Es freute ihn, zu beobachten, wie leicht und lautlos es sich hier schreiten ließ, wenn man in langsamen Schritten dahinwanderte, und er mußte denken, hier wäre es unschwer, ein ahnungsloses Wild zu beschleichen, das einem den Rücken zukehre, vorausgesetzt, daß man gegen den Wind gehe, wie er es jetzt tat, so daß man nicht durch die Witterung verraten werden könne.
Ein kleiner, mit struppigem Gras bewachsener Erdhügel lud ihn zum Sitzen ein und er ließ sich darauf nieder, ohne ihn genauer zu besichtigen. Es war einer seiner Fehler, daß er, der einen besonders scharfen Blick besaß, wo es galt, zu beobachten und Vorsicht zu üben, achtlos, ja leichtsinnig handeln konnte, wenn er sich keiner Gefahr bewußt war, und vornehmlich, wenn er in poetischen Träumereien schwelgte.
Kaum hatte er sich auf den vermeintlichen Erdhügel gesetzt, als ein breitgeschnäbelter Vogelkopf zwischen seinen Beinen emporfuhr, so hoch, daß er Mäusles Haupt überragte, denn der Kopf saß auf einem außerordentlich langen, dünnen Hals. Gleichzeitig erhob sich der Sitz unter dem verblüfften Schwaben zu ansehnlicher Höhe und er fand sich regelrecht auf einem merkwürdigen Vogel reitend.
»Aha!« dachte er: »Das ist ein Kasuar, der australische Vogel Strauß. Ich habe ja in Reisebeschreibungen von ihm gelesen, daß er oft für einen grasigen Erdhügel gehalten wird, wenn er schlafend oder brütend am Boden kauert, Kopf und Hals unter den Flügeln bergend. Da ist mir wieder so ein ahnungsloser Streich begegnet, wie damals mit dem Krokodil auf Oranjehof, das ich für einen treibenden Baumstamm hielt, und jetzt gibt es wieder einen unfreiwilligen Ritt, wie bei Barberton, doch glücklicherweise ist es nicht so gefährlich wie in jenen beiden Fällen.«
Während er so dachte, hatte sich der erschreckte Vogel mit dem ungewohnten Reiter in eiligsten Trab versetzt und jagte dem Eukalyptuswald zu; Mäusle umklammerte indessen seinen Hals, um sich festzuhalten.
Es ritt sich ganz angenehm auf dem weichen Rücken des Kasuars, und Gefahr war dabei keine vorhanden, selbst wenn es in den lichten Wald ging, da die schlanken Stämme der Eukalypten sich erst in bedeutender Höhe verästelten und meist überhaupt keine wagrechten Äste besaßen. Ein Anstoßen an irgend ein Hindernis war also nicht zu befürchten.
Allein es ging außerordentlich schnell dahin, und, so herrlich dies auch sein mochte, der Schwabe wollte doch nicht auf unbestimmte Entfernung von den Gefährten entführt werden, auf die der Ritt geradewegs zuging, denn der Riesenvogel achtete in seiner erklärlichen Angst auf nichts und dachte nur an eiligste Flucht, ohne zu begreifen, daß ihn diese im vorliegenden Falle nichts helfen konnte.
Um der Sache ein rasches Ende zu machen, preßte Mäusle den dünnen Hals mit seinen kräftigen Fäusten so fest zusammen, daß der Kasuar verzweifelt nach Luft schnappte.
Neeltje, die sich erhoben hatte, um nach dem Gatten auszuschauen, stieß einen Schrei aus, als sie ihn auf dem kurzgeflügelten Reittier daherjagen sah. Alle sprangen auf und ließen Rufe höchsten Erstaunens vernehmen.
Inzwischen war der seltsame Reiter angelangt, und der Vogel brach unter ihm zusammen, da ihm der Atem bereits völlig ausgegangen war. Mäusle sprang ab und zeigte sich so seelenruhig, als ob sein Erlebnis das alltäglichste der Welt gewesen sei. Münkhuysen aber rief ihm zu: »Holla! Da sehen wir ja den berühmten Antilopenreiter auch in Australien die Reitkünste üben, die ihm kein Sterblicher nachmacht!«
Der Schwabe hielt noch immer den Hals umklammert, ließ ihn aber jetzt los. Schlaff fiel er herab: der Vogel war erstickt. Das hatte der gute Mann nicht beabsichtigt, und es tat ihm leid. Er stellte Wiederbelebungsversuche an, die jedoch erfolglos blieben.
»Sie haben Ihr Reittier zuschanden geritten,« tadelte der Kapitän: »Sie müssen wilde Geschöpfe, die keinen Reiter gewohnt sind, rücksichtsvoller behandeln. Aber Ihr Ruhm wird bald durch ganz Australien schallen, wie er bereits Afrika erfüllt. Dorthin muß ich einmal mit Ihnen reisen; dann werde ich es erleben, daß Sie Nashörner, Nilpferde und Löwen besteigen und ins Lager hetzen, um sie dann Hagenbeck zu übersenden. Es ist scheint's Ihre Gewohnheit, Geschöpfe mit den bloßen Händen lebendig zu fangen, mit deren Fang die kühnsten und listenreichsten Jäger sich meist vergeblich abmühen.«
»O!« wehrte Mäusle ab: »Es war der reinste Zufall und ich habe gewiß keinerlei Verdienst dabei; am wenigsten handelt es sich um eine Heldentat: zum Helden habe ich nicht die geringste Anlage; vielmehr war es reiner Leichtsinn und im Grunde eine der zahlreichen Dummheiten, die ich zu machen pflege. Aber schön war der Ritt doch, herrlich sogar! Und wenn ich auch jedermann ernstlich davon abrate, mir den höchst bedenklichen Kuduritt nachzumachen, einen Kasuarritt kann ich Ihnen allen mit dem besten Gewissen empfehlen!«
Alle lachten, und Schulze meinte: »Sie haben gut reden; aber es gibt nur einen Michael Mäusle in der Welt, und die Leistungen, die er so kaltblütig vollbringt, sind für jeden anderen ausgeschlossen.«
»Oho!« eiferte Münchhausen: »Mich müssen Sie ausnehmen. Wenn ich an meinen Walroßritt denke...!«
»Wie? Auf einem Walroß sind Sie geritten?« fragte Ernst erstaunt, und Eva bat: »O bitte, erzählen Sie uns das!«
»Gerne,« sagte der Kapitän und begann, während Münkhuysen den Kasuar mit Ernsts Hilfe der Federn und der besten Fleischstücke beraubte.
»Also, das war in Grönland bei den mir befreundeten Eskimos. Ich plätscherte zum Vergnügen in einem Kajak, einem ihrer leichten Boote, zwischen Eisschollen umher, als ein besonders starkes Walroß so unverschämt war, mich anzugreifen. Ich war unbewaffnet, und das Vieh brachte, wie es mit Vorliebe zu tun pflegt, meinen Kahn zum Kentern mittels seiner mächtigen Zähne. Wäre ich ins Wasser gefallen, so wäre es mir sicher mit seinen scharfen Waffen zu Leibe gegangen und ich wäre verloren gewesen. Glücklicherweise fiel mir ein: Wozu werden diese Geschöpfe Rosse genannt? Zweifellos, weil sie zum Reiten bestimmt und geeignet sind.
»Im Augenblick, da mein Fahrzeug umkippte, sprang ich daher auf den glatten Rücken des Tieres, drehte mich um und faßte es bei den Zähnen, um mich festzuhalten, von wegen seiner großen Schlüpfrigkeit, denn es war ungesattelt. Da hätten Sie die Wut des Seeungetüms sehen sollen! Es wollte mich abschütteln, — vergebens! Es tauchte ein paarmal unter, allein ich bin ein geübter Taucher und hielt es länger unter Wasser aus als das aufgeregte Tier. Endlich schwamm es an Land und wälzte sich auf dem Boden. Nun glitt ich wohl ab, ließ jedoch die Zähne nicht los, sondern drehte mich blitzschnell mit ihnen im Kreise um das Vieh herum, so daß ihm der Hals zugedreht wurde und es elend erstickte. Das war natürlich eine ganz andere Leistung als diejenige Herrn Mäusles, denn ein Kasuar mit seinem dünnen Halse läßt sich spielend erwürgen, nicht aber ein dickhalsiges Walroß. Die Eskimos, sage ich Ihnen, fielen vor Staunen alle auf den Rücken, Männer, Weiber und Kinder. So etwas hatten sie nicht für möglich gehalten. Erst mein Abenteuer mit dem riesigen Eisbären ließ sie erkennen, daß sie einen Mann beherbergten, dessen Kühnheit, Kraft, Gewandtheit und List allen Gefahren gewachsen sei.«
»Wie war das mit dem Eisbären?« fragte nun Ernst, während die anderen lachten.
»Ja, das war fast noch gefährlicher. Als wir eines Morgens aus der Schneehütte krochen, sahen wir einen riesigen Eisbären am Strande stehen. Er hatte sich eben an einem erlegten Seehund gesättigt und schenkte uns daher nicht die geringste Beachtung, vielmehr schien er tief in Gedanken versunken.
»Ich hatte meine Flinte zur Hand und schoß ihn in den Rücken. Das war ein großes Wagnis, denn ein tödlicher Schuß war bei seiner Stellung nicht möglich, und ich mußte einen Angriff des fürchterlichen Raubtiers gewärtigen. Doch bin ich ein schlauer Kamerad und hatte meinen Plan schon gefaßt.
»Wütend sah sich der Eisbär nach mir um. Allein ich hatte blitzschnell mein Gewehr abgesetzt, stützte mich auf den Lauf und blickte wie geistesabwesend in eine ganz andere Richtung, nur in den Augenwinkeln durch die Wimpern nach dem Bären schielend. Er mußte daher glauben, ich sei es nicht, der auf ihn geschossen habe, und sah sich nun nach den Eskimos im Kreise um. Sobald er mir die Flanke bot, traf ihn meine zweite Kugel. Brüllend wandte er sich wieder mir zu. Indessen stand ich schon wieder ganz harmlos in der gleichen unschuldigen Stellung da, so daß er rein nicht wußte, wo er daran war. Seine rotunterlaufenen Augen suchten nach dem geheimnisvollen Schützen und ich fand Zeit, von ihm unbemerkt, neu zu laden und ihm eine dritte Kugel zu geben, die diesmal vorzüglich saß. Jetzt aber ließ er sich nicht mehr foppen und trabte in rasender Wut auf mich zu. ›Halt!‹ rief ich: ›Dort steht der Schütze!‹ und wies zur Seite. Das dumme Tier ließ sich richtig täuschen und äugte in der angedeuteten Richtung. Dieser Augenblick des Zögerns war sein endgültiges Verderben: meine vierte Kugel gab ihm den Rest.
»Ich war schon damals ein vorzüglicher Schütze und mußte mich wundern, daß er ein so zähes Leben gezeigt hatte. Die über meine Kaltblütigkeit und List sprachlosen Eskimos halfen mir, ihn zu zerlegen, und da löste sich das Rätsel: das Tier hatte zwei Herzen! Darum war es so außergewöhnlich groß! Meine erste Kugel war im Fleisch stecken geblieben und an einer Rippe abgeprallt. Die beiden anderen hatten das linke Herz durchbohrt, was ihm nichts weiter schaden konnte, da das rechte noch unverletzt war. Erst als die vierte Kugel auch dieses durchschlug, war es mit seinem Leben endgültig zu Ende. Es ist dies übrigens das einzige Mal in meinem Leben, daß ich ein Tier mit zwei Herzen erlegt habe: es scheint dies ein ungemein seltenes Naturspiel zu sein!«
»Bravo!« rief Schulze: »Hieran erkenne ich Sie wieder, Kapitän: wenn unser Mäusle Taten verübt, die niemand ihm nachahmen kann, so erleben Sie dafür so Haarsträubendes, daß niemand anders es sich aussinnen könnte. Auch Sie sind ein hervorragender Dichter: es lebe die Dichtkunst!«
Auch die übrigen Zuhörer lohnten dem phantasiereichen Erzähler mit heiterem Beifall.
Dann wurde die Rast abgebrochen, und man bestieg wieder die Pferde zum Weiterritt durch die blühende Ebene und die himmelhohen Eukalyptuswälder, die immer wieder inselgleich aus dem flachen Land sich erhoben, mit ihrem eigenartigen, durchdringenden Geruch die Riechorgane erfreuend.
Auf ihrem Ritt durch den australischen Busch kamen unsere Freunde einige Male an Lagern von Eingeborenen vorbei; denn eigentliche Ansiedelungen kennen diese von den Weißen gehetzten Wilden nicht.
Einmal sahen sie mit an, wie ein solcher Australier einen Baum erklomm. Der Mann hatte eine Bastschlinge zugleich um den Baumstamm und um seinen Leib geschlungen und stemmte die Füße an den Stamm, mit dem Rücken in der Schlinge zurückliegend, so daß diese straff gespannt wurde. So kletterte er Schritt für Schritt empor, sich jedesmal wieder vorneigend, um die Schlinge am Baume höher hinaufzustreifen.
»Sehen Sie,« sagte Münkhuysen zu Ernst: »Aus dieser Art des Kletterns wollen einige Gelehrte die Fußbildung des Menschen erklären. Der aufrechte Gang hätte nämlich, wie sie sagen, eine Erstarkung der mittelsten Zehe herbeiführen müssen, aber niemals die der innersten Fußzehen. Dagegen würde bei Menschenaffen, die diese australische Kletterweise übten, die innere Zehe erstarkt sein, wie dies tatsächlich der Fall ist. Auch die ganze Form unserer Fußsohle, die gerade für diese Kletterart besonders geeignet ist, hätte sich dadurch herausgebildet, daß Männer, Frauen und Kinder jahrhundertelang diese Kletterbewegungen ausführten.«
»Wahrhaftig wunderbar!« rief Mäusle aus: »Wer will uns jetzt aber beweisen, daß dieses australische Klimmsystem wirklich durch ganze Zeitalter hindurch die einzige oder hauptsächlichste Fußübung der Menschen war? Und dann, warum hat der seit Jahrtausenden übliche aufrechte Gang hernach gar keinen Einfluß mehr auf die Entwicklung der Fußform ausgeübt? Es wäre doch völlig unbegreiflich und unerklärlich, warum wir Europäer heute noch die gleiche Fußform besitzen wie diese australischen Kletterer, obgleich wir seit dem Altertum diese Art der Baumbesteigung nicht mehr üben und sich bei uns, nach den gleichen Entwicklungsgesetzen, die mittlere Zehe zur großen Zehe hätte entwickeln müssen?«
Professor Schulze stimmte dem Schwaben bei und fügte hinzu: »Man sollte meinen, wenn der Mensch von einem affenähnlichen Tier, dem Menschenaffen, wie diese neunmal Gescheiten behaupten, abstammte, müßten seine Füße ohne solche Hilfsmittel vortrefflich zum Klettern geeignet gewesen sein. Nicht die Spur! Durch den aufrechten Gang sollen sich seine Füße zunächst derart verändert haben, daß er seine bisherige Fähigkeit verlor, wie ein Affe zu klettern. Er müßte also das Klettern jahrhundertelang gar nicht mehr geübt haben, — ganz undenkbar! Plötzlich fühlte dieser Mensch mit den unpraktisch entwickelten Füßen wieder ein unabweisliches Bedürfnis, andauernd Bäume zu ersteigen. Er mußte nun erst wieder die Kletterei mühsam erlernen und wählte hierzu diese australische Methode, obgleich seine Fußform durchaus nicht für sie geeignet war, vielmehr sich erst durch diese neue Übung im Laufe von weiteren Jahrhunderten so ausbilden mußte, daß sie vorzüglich für diese Klimmweise paßte. So entstand die heutige Fußform des Menschen, und dann versagten urplötzlich alle Entwicklungsgesetze: aufrechter Gang, Sandalen, Schuhwerk, die bei völliger Vernachlässigung der so einflußreichen Kletterart längst hätten Plattfüße entwickeln müssen, konnten im Laufe der Jahrtausende die einmal festgelegte Fußform nicht im geringsten mehr ändern. Jeder Mensch in jedem Weltteil wird noch heute mit dem ›Kletterfuß‹ geboren, den er dieser Urform des Baumbesteigens verdanken soll. Auch keine spätere Art des Kletterns vermochte ihn mehr in anderer Richtung weiter zu entwickeln. Solche Aufstellungen sind derart tatsachenfremd und widersinnig, daß ein Kind ihre Unhaltbarkeit einsehen muß; und doch wird die Entwicklungslehre von Menschen geglaubt und verteidigt, die sich für ernste und vernünftige Denker halten!«
»Wissen Sie, was mir als das Natürliche, ja Selbstverständliche erscheint?« mischte sich nun Kapitän Münchhausen in die Erörterung: »Der Australier kam auf seine Klettermethode eben deshalb, weil der Bau des menschlichen Fußes sich für sie eignete. Das Umgekehrte anzunehmen, daß der Fuß sich erst im Laufe der Zeit dieser Methode anpaßte, ist einfach vernunftwidrig. Die Katze erklettert die Bäume in anderer Weise, nämlich so, wie es sich für ihre krallenbewehrten Füße paßt, die Fliege klettert nach ihrer Art, wie es ihrer Natur entspricht, und weder die Krallen der Katze noch der Fußleim der Fliege verdanken erst ihren Klimmversuchen die nachträgliche Entstehung. Der Mensch kann nähen, weil seine Finger sich dazu eignen, die Kröte macht keinerlei Versuch, das Schneiderhandwerk zu erlernen, weil ihren Pfoten die Vorbedingungen dazu fehlen. Allein die hochweise Entwicklungslehre sagt: ›Halt! Die Finger des Menschen bildeten sich zur Fähigkeit aus, die Nadel zu führen, weil der Mensch sich im Nähen übte.‹«
»Sehr richtig!« stimmte der Baron zu: »Es ist so: die Entwicklungslehre stellt alle Tatsachen und Erfahrungen gewaltsam auf den Kopf: zuerst soll der Primat oder das Urvieh irgend etwas Neues begonnen haben, und dann entwickelten sich bei ihm infolge dieser neuen Tätigkeit erst die Fähigkeiten, dieselbe auszuüben, obgleich er sie ja schon ausübte, ohne die Entwicklung abzuwarten, die erst durch seine Übungen bedingt war.«
»Ja,« bemerkte nun die kleine Eva zu aller Überraschung: »Weil der Fisch keine Lungen hat, stirbt er an der Luft. Vor grauen Zeiten aber fiel es einigen Fischen ein, sich das Leben in freier Luft anzugewöhnen, und sie starben mit nichten, sondern ihre Kiemen entwickelten sich im Lauf von Jahrmillionen zu Lungen, und das Landtier war fertig, das fortan im Wasser ertrinkt. Ich möchte nur, diese weisen Gelehrten versuchten einmal, sich das Leben im Wasser anzugewöhnen: da müßten sich ja ihre Lungen wieder zu Kiemen zurückbilden, wenn auch ganz allmählich in Millionen von Jahren, und das hätte den unschätzbaren Vorteil, daß sie nicht mehr schwatzen könnten.«
»Hören Sie, Ihre kleine Eva spricht ja wie eine Gelehrte!« sagte Neeltje erstaunt zum Baron.
»Das kommt daher, daß sie ihre Mutter so früh verlor,« meinte dieser: »Ich mochte sie keinem Kindermädchen anvertrauen und hielt sie unter meiner beständigen Obhut. So lauschte sie von Kind auf den Gesprächen der Erwachsenen und nahm frühzeitig daran teil, erst fragend, dann gelegentlich auch eigene Gedanken äußernd.«
»Aber recht hat sie!« nahm Mäusle wieder das Wort: »Durch Übung wird eine Fähigkeit zur höchsten Vollkommenheit gesteigert, das wissen wir alle. Niemals aber wird eine zuvor gar nicht vorhandene Fähigkeit entwickelt durch eine Übung, die ja erst durch ihr Vorhandensein ermöglicht wird. Die Vernunft sagt: jedes Geschöpf, auch der Australier, erklettert die Bäume in einer Art, wie sie ihm durch seinen Körperbau ermöglicht wird. Die Gedankenlosigkeit und Weltfremdheit, auch wenn sie sich ›Wissenschaft‹ nennt, behauptet, der Körperbau entwickelte sich entsprechend der gewählten Kletterweise, — und so in allen ähnlichen Fällen. Der Hund mag noch so oft versuchen, der Katze auf den Baum nachzuspringen, das Klettern wird ihm nie gelingen, weil die Natur ihn nicht dazu befähigte, und da hilft ihm die schönste Entwicklungslehre rein gar nichts. Letztere erweist sich als eine künstliche, phantastische Aufstellung, die sich auf keinerlei Tatsachen stützen kann. Sie behauptet, daß sich Organe veränderten, entwickelten, oder daß solche allmählich neu entstanden, weil ein Geschöpf ein Bedürfnis in dieser Richtung fühlte und Versuche anstellte, denen sich sein Körperbau anpaßte. Durch Jahrtausende mußte es dann solche unfertige Organe mit sich herumschleppen, die in ihrer Unfertigkeit völlig zwecklos und unbrauchbar waren.«
»Überhaupt diese Jahrmillionen!« spöttelte Schulze: »Man hat sie erfunden, um das Unwahrscheinliche einleuchtender zu machen, sie erreichen diesen Zweck jedoch nur bei der Beschränktheit. In unseren Tagen vollzieht sich jede körperliche Entwicklung stets in kurzer Zeit und ausnahmslos im Zeitraum des Lebens eines einzelnen Geschöpfs. Niemals ist zu beobachten, daß eine begonnene Entwicklung sich unfertig auf die Nachkommen vererbt und in diesen weiter entwickelt wird. Läge der Entwicklungslehre eine Spur von Tatsächlichkeit zugrunde, so müßten wir Tausende und Abertausende versteinerter Geschöpfe oder Überreste von vorzeitlichen Tieren finden in allen denkbaren Entwicklungsstadien: beispielsweise Fische, Amphibien oder Säugetiere mit Ansätzen zu Flügeln von den ersten Anfängen bis zur vollkommenen Entwicklung. Wir müßten aber auch in der heutigen Tier- und Pflanzenwelt alle möglichen Zwischenstufen in ihrer Entwicklung und ihren allmählichen Übergängen vor Augen haben, da die Entwicklung doch unaufhörlich im Gang sein müßte. Aber es zeigt sich von alledem keine Spur: wir finden in der Vorwelt wie heute stets nur fertige Geschöpfe, wenn sie uns auch nicht in allen Teilen ihres Körperbaus ganz verständlich sind. An Tatsachen, die für eine allmähliche Entwicklung sprächen, fehlt es durchaus, und einige spärliche Behauptungen vermögen diesen wesentlichen und entscheidenden Mangel nicht zu ersetzen.«
»Es ist wahr,« sagte nun auch Ernst: »Wenn ich über die Entwicklungslehre nachdachte, mußte ich immer denken, wenn sie recht hätte, müßte der Mensch längst Flügel besitzen oder schon hochentwickelte Ansätze dazu, denn wie lebhaft war seit Jahrtausenden sein Bedürfnis und seine Sehnsucht, fliegen zu können!«
»Das meine ich auch,« schloß Eva diese Unterhaltung: »Und die Perlenfischer, Schwämmesucher und andere Taucher müßten längst Kiemen haben und amphibisch leben können. Ihre Tätigkeit und Übung befähigt sie, minutenlang ungeatmet im Wasser zuzubringen, aber über eine bestimmte Grenze kam nie einer hinaus: da hört jede Entwicklung auf und der Erstickungstod tritt unfehlbar ein. Ebensowenig vererbt sich der Erfolg ihrer Übung im geringsten Maße, sondern ihre Kinder und Nachkommen müssen alle wieder immerzu ganz von vorn anfangen, bis sie so weit kommen wie ihre Väter und Voreltern, ohne je darüber hinauskommen zu können, wie es nach den angeblichen Entwicklungsgesetzen doch unbedingt sein müßte.«
Unter solchen Gesprächen erreichte man die Stelle, wo Münkhuysens Südpolfahrer, das »Südkreuz«, aus dem Stamme eines Riesenbaumes herausgearbeitet wurde.
Er war beinahe vollendet. Da die äußere Abrundung mit Säge, Beil und Hobel wenig Mühe machte, kostete die Herstellung des »Südkreuz« ungleich weniger Zeit und Arbeit als die eines gewöhnlichen Schiffes, das aus so vielen einzeln gearbeiteten und zusammengefügten Brettern besteht.
Die Dampfmaschine war inzwischen eingetroffen und wurde dem Schiffe einverleibt. Mittels mächtiger Winden wurde dann das »Südkreuz« auf ein Gestell mit walzenförmigen Rädern gehoben, das reinste Trockendock, und fest mit demselben verbunden. Dann bestiegen unsere Freunde sämtlich mittels einer Strickleiter das Verdeck; Münkhuysen ließ die Kessel heizen und die Maschine in Bewegung setzen, und — siehe da! majestätisch rollte das »Südkreuz« auf seinen zwanzig Rädern durch den Urwald, wie wenn es für Landfahrten gebaut worden wäre.
»Ich begreife jetzt!« sagte Professor Schulze, nachdem er sich von seinem anfänglichen Staunen einigermaßen erholt hatte: »Die Maschine ist darauf eingerichtet, das Wasser vor sich durch die vordere Röhre einzuziehen und somit seinen Druck zu vermindern, indem es gleichzeitig hinten das Wasser ausstößt und so den Druck hinter sich verstärkt: so bewegt es sich im Wasser fort. Ganz ebenso muß es sich vorwärts bewegen, wenn es Luft einzieht und ausstößt, da der Luftdruck vorne verringert wird, während er hinten zunimmt.«
»So ist es,« sagte Münkhuysen, der persönlich das Schiff zwischen den Bäumen durchsteuerte, indem er der Einzugs- und Ausstoßröhre eine andere Richtung gab, wenn das Schiff eine Wendung machen sollte: »In spätestens vierzehn Tagen soll mein Schiff in Sidney vom Stapel laufen.«
In der Tat erreichten unsere Freunde Sidney schon nach zwei Wochen, und das »Südkreuz« fuhr unter dem Staunen der Bevölkerung durch die breiteste Straße der Stadt an den Meeresstrand.
Eine ungeheure Menge versammelte sich anderen Tags zum Stapellauf, der unter ihren Jubelrufen glücklich vonstatten ging.
Am gleichen Tage langte auch die Jacht an, die so lange in Melbourne verweilt hatte. Es wurden noch allerlei für das Unternehmen nötige oder wünschenswerte Vorräte und Gegenstände eingekauft und auf das Polarschiff verladen. Die Hauptausrüstung, die auf der Jacht mitgeführt worden war, verstaute man auf einem großen Dampfer, der bis zur Packeisgrenze mitfahren sollte, in Gesellschaft von zwei Kohlenschiffen, da das »Südkreuz« viel zu beschränkt im Raum war, um alles Nötige aufnehmen zu können.
Dies alles nahm noch einige Zeit in Anspruch, und so kam der 20. Oktober, bis unsere Freunde zur Abfahrt klar waren.
Etwas schwierig gestaltete sich die Überführung der mandschurischen Ponys an Bord des Schiffes. Münkhuysen hatte nämlich acht dieser trefflichen, äußerst abgehärteten und ausdauernden kleinen Pferde kommen lassen. Er hoffte, daß sie bei Schlittenfahrten in das Innere des Südpolarfestlandes bessere Dienste leisten sollten als die Grönlandhunde, von denen er nur vierzig Stück mitgenommen hatte, eine kleine Zahl angesichts eines so wohl ausgerüsteten Unternehmens.
Endlich war alles an Bord, und die Schiffe stachen in See. Wieder hatte sich eine gewaltige Menschenmenge auf den Hafendämmen Sidneys angesammelt, und ein vieltausendstimmiges »Hipp, hipp, hurra!« erscholl, als das »Südkreuz« den Hafen verließ und das offene Meer gewann.
Als verhältnismäßig kleines Schiff konnte das »Südkreuz« keine große Bemannung haben: die ganze Besatzung zählte nur fünfzehn Mann, eine junge Frau und ein kleines Fräulein.
Außer Münkhuysen und seiner Tochter Eva befanden sich an Bord: Michael Mäusle und seine Frau Neeltje, Ernst Frank, Professor Schulze und Professor Raimund, Ingenieur Holm und Doktor Maibold, als Passagiere. Den Oberbefehl über das Schiff führte Kapitän Hugo von Münchhausen; ihm zur Seite standen die beiden genuesischen Steuermänner Cavini und Geloso nebst fünf italienischen Matrosen, die nur mit ihren Vornamen benannt wurden: Luigi, Carlo, Pietro, Antonio und Enrico. Diese wenigen Kräfte genügten bei der Einfachheit der Bauart des Polarfahrzeugs, das meist gar keine Segel führte und deren überhaupt nur wenige besaß. Zwei der Matrosen dienten abwechselnd als Heizer, und im Notfall waren auch die Mitglieder des Unternehmens genügend angelernt, um Hand anlegen zu können.
Münchhausens großartige Phantasie erheiterte die Gesellschaft oft während der sonst etwas langweiligen Fahrt. Es gab keine noch so außergewöhnliche Lage, in der er sich nicht schon einmal befunden haben wollte, und dann wußte er Wunder davon zu erzählen, wie er sich aus den größten Bedrängnissen herauszuhelfen verstanden habe. Er behauptete sogar, schon nach dem antarktischen Strande eine Forschungsreise ausgeführt zu haben, und was er da alles erlebt und geleistet haben wollte, war fabelhaft. Übrigens nahm er es nie übel, wenn man über sein Seelatein aus vollem Halse lachte; vielmehr freute ihn dies, da es ja der Hauptzweck seiner lustigen Erfindungen war, und er schmunzelte oder lachte herzlich mit und mutete niemand zu, ihm unbedingten Glauben zu schenken.
Schulzes Ungeduld konnte es kaum erwarten, bis das Festland in Sicht kam. So fragte er eines Tages den Kapitän, wie weit es eigentlich noch bis zum Lande sei?
»Rund fünfhundert Meter,« war Münchhausens ernsthafte Antwort.
»Wie? Nicht weiter als ein halber Kilometer?« fragte der Professor verblüfft und seine Sehwerkzeuge vergeblich anstrengend: »Ich kann ja keine Spur davon sehen! In welcher Richtung liegt es denn?«
»Senkrecht unter uns,« erwiderte Münchhausen trocken: »Die Lotungen ergeben eine Tiefe von fünfhundert Metern.«
Schulze blickte nicht gerade geistreich bei diesem unerwarteten Bescheid, weshalb sein schalkhafter Freund lachend bemerkte: »Machen Sie kein so schafsdummes Gesicht, Mann der Wissenschaft!«
»Bitt' schön! Dazu habe ich ein Recht, als deutscher Professor,« entgegnete der Gelehrte: »Sie sehen auch nicht gerade aus, wie ein Ausbund von Weisheit. Der Esel sollte sich nicht über das Schaf erheben.«
»Professor, Sie werden beleidigend! Ich breche jeden gesellschaftlichen Verkehr mit Ihnen ab. Fortan sind Sie Luft für mich: Sehen Sie zu, wie Sie sich damit abfinden.«
»Bin ich Luft für Sie, so sind Sie für mich Wasserstoffgas, Sie aufgeblähter Luftballon!«
Man kann sich denken, daß die Gefährten mit Vergnügen lauschten, wenn die beiden sich in derart scherzhafter Weise stritten und einander zu überbieten suchten.
Als der Wind, aus Norden wehend, auffrischte, ließ der Kapitän die Segel entfalten, um Kohle zu sparen. Als man dann abends zum Plauderstündchen versammelt war, sagte er: »Schade, Baron, daß Ihr Schiff ein so schlechter Segler ist. Ha! Wenn ich an meinen ›Sturmvogel‹ denke, den schnellsten Segler, den das Salzwasser je gesehen hat! Da war es ein Vergnügen, Kapitän zu sein; er segelte bedeutend schneller als der Wind, und der größte Dampfer vermochte nicht, ihn einzuholen.«
»Schneller als der Wind?« fragte Doktor Maibold spöttisch: »Ich meine, ein Segelschiff wird vom Winde getrieben, ist also in seiner Schnelligkeit von derjenigen des Windes abhängig?«
»Für einen Laien ist dies keine so widersinnige Behauptung,« meinte der Dicke; »allein mein ›Sturmvogel‹ glitt so leicht über das Wasser, daß er, wenn er recht im Schuß war, weit vor dem Wind herlief. Das läßt sich einfach erklären. Denken Sie sich, Sie schöben einen leichten vierräderigen Karren auf einer asphaltierten Bahn. Diese glatte Bahn stellt die Meeresfläche dar, Sie, Doktor, als die treibende Kraft, verkörpern den Wind oder, wenn Sie recht wacker schieben, den Sturm. Das Gefährt versinnbildlicht meinen ›Sturmvogel‹. Nun geben Sie dem Karren, den Sie nicht festhalten, wie ja auch der Wind das Schiff nicht festhalten kann, einen kräftigen Stoß, so wird er unbedingt weit vor Ihnen herrollen, bis die Wirkung des Anstoßes nachläßt, seine Fahrt sich verlangsamt, und er zuletzt stille steht. Sie aber sind, trotz Ihrer Eile, weit zurück und haben Mühe ihn einzuholen. Genau so wirkten die Windstöße auf mein unvergleichliches Fahrzeug.
»Natürlich kam es bei solchen Gelegenheiten schließlich auch zum Stillstand. Da sagte mir einmal mein neuangeheuerter Steuermann, der mein Schiff noch nicht kannte: ›Kapitän, wir sind in eine Region völliger Windstille geraten; die Segel hängen schlaff und kein Lüftchen will sie blähen.‹
»›Geduld, Geduld!‹ tröstete ich ihn. ›Mein ›Sturmvogel‹ segelt eben schneller als der Wind, und so habe ich das vorausgesehen und nicht anders erwartet. Der Wind konnte mit uns nicht Schritt halten und ist nun um mehrere Seemeilen zurück: wir haben ihn im Schuß weit überholt und müssen nun einfach warten, bis er uns nachkommt.‹ In der Tat dauerte es kaum eine Viertelstunde, so kam der Sturm ganz atemlos hinter uns angekeucht. Zweifellos hatte ihn die völlig ungewohnte Tatsache, daß ein Segler ihm so weit vorauseilte, geärgert, und er hatte alle Kraft aufgewendet, ihn einzuholen. Er war dabei förmlich zum Orkan angewachsen und blähte unsre Segel zum Zerspringen. Der ›Sturmvogel‹ flog wieder pfeilschnell dahin und war bald aufs Neue dem Freund Blasius außer Reichweite. So mußten wir alle Viertelstunden beidrehen und abwarten, bis der Wind uns nachkam.
»Dieses beständige Auf-den-Wind-Warten wurde mir aber doch langweilig, zumal dadurch die herrliche Eigenschaft meines Fahrzeugs, schneller zu segeln als der Wind, gar nicht ausgenützt werden konnte. Ich sann daher auf Abhilfe. An Land hätte man ja etappenweise Winddepots anlegen können, das heißt, mit Wind gefüllte Vorratshäuser in geeigneten Abständen; man hätte sie nach Bedarf geöffnet und gleich wieder vollwehen lassen, ehe man sie wieder abschloß. Auf dem Meer ging das nicht an: man hätte viele Windbojen gebraucht, die infolge ihrer Leichtigkeit leicht abgetrieben worden wären. Ich ließ daher große Säcke aus Segeltuch anfertigen, die luftdicht geteert wurden. Bei guter Brise wurden sie gegen den, Wind geöffnet, und sobald er sich darin verfangen und sie vollständig aufgebläht hatte, band man sie zu und verstaute sie im Schiffsraum. Auf diese Weise konnte ich große Vorräte an Nordwind, Westwind, Südwind, Ostwind, Nordwest, Südost und allen andern Abarten beständig mit mir führen und nach Bedarf verwenden. So wurde ich nicht nur von Windstille, sondern auch von ungünstigen Luftströmungen unabhängig. Leider gelang es mir nicht, die Säcke völlig luftdicht zu verschließen, so daß die Vorräte alle drei bis vier Wochen erneuert werden mußten, was oft langen Aufenthalt verursachte, da die Winde leider nicht täglich aus allen Himmelsrichtungen blasen. Schade, daß die Segelschiffe so ganz in Abgang kommen, sonst hätte ich mir mein so einfaches und doch unschätzbares Verfahren patentieren lassen!«
Selbstverständlich staunte die ganze heitere Gesellschaft über Münchhausens Schnellsegler und noch mehr über seine geniale Erfindung, die erforderlichen Winde mit sich zu führen.
Zwischen 155 und 160 Grad östlicher Länge von Greenwich steuernd, bekam man am 2. Dezember bereits unter 60 Grad S. den ersten Eisberg zu sehen, dessen Tafelform und senkrecht abfallende Wände ganz den Charakter der antarktischen Eisberge trug. Zwei Tage darauf war unter 65° 20' S. die Packeiskante erreicht.
Hier mußte der große Dampfer mit den Kohlenschiffen zurückbleiben, während das »Südkreuz« sich kühn in das Eis begab.
Holm machte Ernst auf einen dunklen Widerschein am südlichen Himmel aufmerksam: »Ein günstiges Vorzeichen!« meinte er: »Wissen Sie, was dieser eigentümliche Schatten bedeutet?«
»Nein!« entgegnete unser Freund neugierig.
»Es ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß sich hinter dem Packeise offenes Meer befindet.«
Vorerst aber befand man sich im Eis, und wenn es anfangs auch durch breite Rinnen flott vorwärts ging, so schien es doch bald anders zu werden: die Temperatur sank plötzlich und das Wasser erstarrte rings um das »Südkreuz«. Dazu kam ein heftiger Orkan, der die Schollen gegeneinander trieb. So geriet ein Teil der Eismassen in Bewegung.
Die Eisberge boten einen großartigen Anblick. Die meisten zeigten die Würfel- oder Tafelform, die für das antarktische Gebiet, im Gegensatz zum arktischen, bezeichnend ist.
»Woher kommt es eigentlich, daß diese Eisberge so viereckig sind?« fragte Eva: »Auf Abbildungen sieht man sie doch meist als phantastisch gezackte Gebilde.«
»Wenn es sich um Eisberge des hohen Nordens handelt, ja!« erläuterte Raimund: »Denn dort herrscht das Meer vor und das im Wasser gebildete Eis erscheint zerfressen und voller Spitzen und Kanten. Am Südpol dagegen befindet sich zweifellos ausgedehntes Land mit gewaltigen Gletschern, die in einer mächtigen Eismauer über die Küste ins Meer abfallen. In diesem Gletschereis entstehen, teils durch Temperaturwechsel, teils durch die Hebung und Senkung des Meeres durch Ebbe und Flut, Risse und Spalten. Fortwährend lösen sich hiedurch mehr oder minder große Blöcke los, um dann frei im Wasser schwimmend nordwärts zu treiben.
»Das gibt diese gleichmäßig geformten Tafelberge, die oft ungeheure Größenverhältnisse aufweisen. Dieser dort ragt zum Beispiel etwa fünfzig Meter über den Wasserspiegel empor und mag dreieinhalb Kilometer in der Länge messen. Hier rechts ist noch ein größerer Koloß: ich schätze ihn auf fünf Kilometer Länge und siebzig Meter Höhe. Da nun das Eis, infolge seines geringen spezifischen Gewichtes, siebenmal so tief unter Wasser taucht, als es darüber ragt, so läßt sich leicht ausrechnen, daß die Gesamtdicke des Blocks gegen sechshundert Meter betragen muß. Dieser Umstand bringt es mit sich, daß solche Eismassen in seichtem Wasser häufig auf Grund stoßen und zeitweise die Küste absperren, wohl gar ein Schiff einschließen.«
»Nein! Ist das dort drüben ein prächtiger Eisberg!« rief nun Eva aus, auf einen Riesen weisend, der sich langsam dem Schiff näherte: »Das ist einmal ein echter Nordländer: sollte der sich vom Nordpol hierher verirrt haben?« und sie lachte.
»Das nun gerade nicht,« sagte Kapitän Münchhausen: »Der sah in seiner Jugend auch nicht anders aus, wie die übrigen; allein er ist ein alter Kracher, verwittert und zerfressen durch die Schmelzkraft der Sonne.«
Der bezeichnete Eisberg bot wirklich einen märchenschönen Anblick mit seinen Spitzen und Zacken, Türmen und Türmchen, mit seinen Zinnen und Nadeln, Bogen und Höhlungen, von denen wiederum Zapfen in allen Größen niederhingen. Die Strahlen der Sonne brachen sich tausendfach im Regenbogenglanz im Kristall dieser Eisburg, deren gewaltige Wände blitzten und flimmerten, als seien sie mit Edelsteinen übersät. Unten aber schäumten die Eisschollen wie Wogengischt an den starren Mauern empor und zersplitterten daran mit donnerndem Getöse.
»Oho!« rief Maibold: »Der Kerl droht, uns gefährlich zu werden! Ich habe zwar das größte Vertrauen zu der Widerstandskraft Ihres Fahrzeugs, verehrter Baron; aber der Riese steuert geradewegs aus uns los, und ein Zusammenstoß mit ihm möchte doch bedenklich ausfallen.«
Das »Südkreuz« befand sich mitten im Packeis in einer offenen Rinne, deren Eingang schmal und vielfach gewunden gewesen war. Es schien darum nicht möglich, durch einen Rückzug dem rasch herantreibenden Eisberg ausweichen zu können.
Münkhuysen erwiderte dem Doktor: »Bedenklich ist die Sache, und ihr Ausgang nicht abzusehen; doch hoffe ich, unser Schiff hält den Stoß aus.«
Gleich darauf kam der Koloß heran, das Packeis vor sich herschiebend und zersplitternd. Im letzten Augenblick jedoch, als schon alle bangten, er möchte das Schiff zu Staub zermalmen, glitt er vorüber und streifte nur leicht die Bordwand. Weiter hinten aber blieb der rücksichtsvolle Schwimmer im dichteren Packeise stecken und versperrte dadurch dem »Südkreuz« den Rückweg.
Das war recht unerfreulich, denn die offene Wasserstraße erwies sich als eine Sackgasse, da eine ausgedehnte Eisscholle den Weg nach Süden verlegte.
Mit voller Wucht prallte das Schiff aus dieses Hindernis. Wer sich auf den Beinen befand, wurde durch den jähen Stoß zu Boden geschleudert. Die Scholle knisterte und krachte, doch hielt sie stand.
Das »Südkreuz« mußte zurück, so weit es ging, und einen neuen Anlauf nehmen. Als es dann zum zweitenmal gegen die Scholle stieß, barst diese auseinander. Wasser und Eissplitter sprudelten an den Flanken des Fahrzeugs empor, das sich nun zwischen den Trümmern hindurch weiterarbeitete.
Nach kurzer Zeit saß es aber wieder fest im Eise, und diesmal konnte es weder vor noch zurück. Die Insassen sollten nun aus eigener Erfahrung kennen lernen, was man unter »Schraubeis« versteht. Das Eis, das sich um das Schiff drängte, begann nämlich zu schrauben: große Blöcke schoben und türmten sich aufeinander in drehender Bewegung, und schraubten sich so an den Schiffswänden empor.
Hätte das »Südkreuz« einen Kiel besessen, so wäre dieser durch das zusammengepreßte Eis festgeklemmt und abgedrückt worden, und dann wäre das Schiff unrettbar verloren gewesen; nun aber bewährte sich seine Bauart aufs trefflichste: die gewaltige Pressung drückte es allmählich mit seinen glatten, gerundeten Wänden aus dem Eise heraus; es hob sich empor über die Eismassen, die gedroht hatten, es zu zerquetschen und zu begraben, und nun bestand nur noch die Gefahr, daß es Jahr und Tag auf dem Eise sitzen bleiben müsse und willenlos mit ihm dahintreiben werde, wie einst die »Belgica«.
Zum Glück erhob sich in der Nacht ein tobender Blizzard, wie man die Schneestürme der Südpolargegenden nennt, und brach das nicht allzudicke Eis. Das Schiff hatte wieder offenes Fahrwasser; allein der hochausspritzende Gischt, der sofort in der eisigen Luft gefror, bedeckte Masten und Takelwerk, Verdeck und Wandungen mit einer dichten Eisschicht, die das »Südkreuz« beinahe zum Sinken gebracht hätte.
Mit Beilen und Äxten mußten die Eismassen abgesplittert und über Bord geworfen werden, namentlich galt es, die Steuerrohre vom gefrorenen Seewasser zu befreien, da sie ihren Dienst versagten, und unbeweglich waren.
Dann aber ging die Fahrt wieder flott vorwärts durch offenes Wasser.
Am folgenden Tag brachte jedoch ein schneidender Wind auch dieses Wasser zum Gefrieren, so daß es den Anblick einer Suppe bot, auf der Fettaugen schwimmen, oder, in diesem Falle »Eisaugen«. Diese runden Gebilde schmolzen zusammen und bildeten tellerartige runde Scheiben von dreißig Zentimetern bis zu einem Meter Durchmesser und mit rings aufgebogenen Rändern.
»Nein, wie drollig!« bemerkte Eva bei diesem Anblick: »Da schwimmen ja lauter Fruchttörtchen!«
»Oder Eierkuchen,« belehrte sie ihr Vater: »Diese Art der Eisbildung nennt man ›Eierkucheneis‹.«
Die »Eierkuchen« vereinigten sich bald zu einer Eiskruste. Ein wesentliches Hindernis konnte diese nicht bilden, weil sie zu dünn war: man gelangte rasch hindurch, und zwar diesmal in völlig, eisfreies Meer.
Hier tummelten sich zahlreiche Raubwale oder Potfische, und Riesensturmvögel flogen über die blaue Fläche hin. Einer derselben geriet auf das Schiff, wo er vollständig hilflos war; denn zwischen den Masten und dem Tauwerk ist es diesen Vögeln unmöglich, sich in die Luft zu erheben, da sie zum Anflug eines größeren, völlig freien Raums benötigen.
Der Sturmvogel war ein Albatros mit krummem Schnabel, Schwimmhäuten und einer erstaunlichen Flügelspannweite. Der Albatros ist der größte fliegende Vogel der heutigen irdischen Vogelwelt.
Man schrieb den 6. Dezember, als das Packeis hinter dem »Südkreuz« zurückblieb, das sich nun aus 68° 45' Süd und 170° 5' Ost befand, also bereits den Polarkreis überschritten hatte.
Münkhuysen ließ jetzt einen streng südlichen Kurs einhalten und unmittelbar auf Kap Adare zusteuern, das am 8. Dezember in Sicht kam. Nun ging es östlich an der Possessioninsel vorbei, während sich zur Rechten deutlich die Küste von Viktorialand mit der Eismauer oder Bankise und dem hohen Mount Sabine zeigte.
Am 9. Dezember ließ man die Coulmaninsel rechts liegen und konnte bei schönstem Wetter die Gipfel des Mount Murchison und des Mount Melbourne erkennend Am 10. war die Franklininsel erreicht und im Westen erschien die hohe Kette der Prince-Albert-Berge auf Viktorialand.
Am Morgen des 11. Dezember verkündete ein heller Eisblink im Süden die Nähe des Küsteneises, das vor dem Strande lagerte.
Als der Kapitän dies meldete, fragte Ernst, was unter »Eisblink« zu verstehen sei?
»Nun,« sagte Münchhausen: »Sie sehen doch hier am dunsterfüllten Himmel einen hellen Widerschein? Das deutet auf die Strahlung einer sonnenbeschienenen glatten Eisfläche hin, in diesem Falle zweifellos aus das der Küste vorlagernde Meereis.«
In der Tat erreichten unsere Freunde noch am gleichen Tage die Kante dieses Strandeises, und im Scheine der Mitternachtsonne breitete sich vor ihnen die herrliche Landschaft aus, die James Roß als erster erschaut hat.
Hinter der rundlichen Beaufort-Insel ragte der Vulkan Erebus am Festland und warf schwarze Rauchwolken zum Himmel empor, die von gelben und blauen Flammen durchzuckt wurden; glühende Lava floß rotschimmernd an seinen Flanken herab. Neben ihm stand in starrer Ruhe der Mount Terror, an den sich die Kette der Parryberge anschloß. Rechts waren die Prince-Albert-Berge deutlich zu erkennen. Auch die Bankise zeigte sich die ganze Küste entlang. Was jedoch hinter der Mac-Murdo-Bay, zwischen dem Erebus und den Prince-Albert-Bergen sein mochte, ließ sich nicht erkennen, da die Luft ziemlich dunstig war.
Das »Südkreuz« fuhr nach Osten, die Bankise oder Eisterrasse entlang, die in wechselnder Höhe von fünfzehn bis sechzig Metern und darüber den Südpolarkontinent umgürtet, als letzter Ausläufer der Inlandgletscher. Vorbei an Kap Bird, der äußersten Spitze der vom Erebus ausgehenden Hügelkette, strebte man König-Eduard-des-Siebenten-Land zu.
Die Eismauer erschien stellenweise völlig glatt, wies jedoch an anderen Stellen senkrechte Brüche und tiefe Höhlenbildungen auf, die aus dem hellschimmernden, durchsichtigen Blau des Eises in ein tiefes Saphirblau übergingen. Große schwarze Flecken an den Flanken der weißen Wand erwiesen sich als ungeheure Höhlungen, die teilweise unter der Wasserlinie lagen. Einzelne davon waren so geräumig und hoch, daß der größte Dampfer bequem hätte einfahren können. Da und dort hing ein Schneegesims, eine sogenannte Mächte, über den Terrassenrand herab.
Als das Land König Eduards VII. erreicht wurde, fanden unsere Freunde dort eine Bucht, die zwar eine Eisdecke aufwies, doch zum Landen geeignet erschien.
Diesmal war die Luft außerordentlich klar, und gegen Süden entdeckte man eine seltsam geformte Bergkette, die zum Teil aus hohen Gletschern, zum Teil aus düstern, schneefreien Felswänden bestand, die nur an wenigen, nicht so abschüssigen Stellen Schneeflecken zeigten.
»Sehen Sie, meine Herren!« sagte Münkhuysen feierlich: »Schon beginnen unsere Entdeckungen; denn wir sind die ersten, die diese Berge erschauen.«
»Hurra! Die Münkhuysenberge,« rief Raimund begeistert aus, und alle wiederholten den Ruf.
Der Baron lehnte zwar in seiner Bescheidenheit diese Benennung ab; allein seine Gefährten erklärten, diesem Höhenzuge keinen anderen Namen geben zu wollen, und so ließ er es sich schließlich gefallen.
Mit voller Dampfkraft wurde nun in das Küsteneis eingedrungen. Bald hob sich das »Südkreuz« empor, und nun bewährte sich die Erfindung Münkhuysens in ihrem vollen Glanze; denn die Maschine trieb das Schiff weiter, obgleich die Saugröhre jetzt nur noch Luft statt des Wassers einziehen konnte.
Da der günstige Nordwind gestattete, auch die Segel auszuspannen, drang das »Südkreuz« rasch in der Bucht vor. Kaum fünfhundert Meter vom Strande machte es halt. Noch wenige Meter weiter, und es wäre ganz aus dem Eise gehoben worden, so daß es sich auf die Seite gelegt hätte. Nun steckte es noch einigermaßen in dem hier ziemlich dicken Eis und mußte durch seine eigene Schwere allmählich wieder bis in den Wasserspiegel sinken.
Es war um die Mittagszeit, als der Baron Strickleitern am Rumpfe des Schiffes herabzulassen befahl, und alle hinab auf die Eisfläche stiegen.
»Die Eisebene, auf der wir uns hier befinden,« erklärte Münkhuysen, als die ganze Gesellschaft unten versammelt war, »breitet sich nur zum geringsten Teile über dem Meere aus. Wir haben offenbar einen Landstreifen vor uns, der sich vom Fuße der Bankise bis zum Wasser der Bucht erstreckt, in einer Breite von etwa vierhundert Metern. Das beweisen uns die zahlreichen Felsblöcke, die aus dem Eise hervorschauen und mit Flechten bewachsen sind, was darauf hinweist, daß sie nicht aus dem Salzwasser emporragen. Wir können uns also getrost am Fuße der Eismauer lagern und unsere Waren und Vorräte ausschiffen, ohne befürchten zu müssen, daß ein Eisbruch uns über Nacht vom Lande losreißen könnte, und wir auf einer schwimmenden Eisscholle hinaustrieben. Aber wie wir auf die hier vierzig bis fünfzig Meter hohe Terrasse mit ihren glatt abfallenden Wänden gelangen sollen, das müssen wir erst noch ausfindig machen.«
»Herr Baron!« rief plötzlich Professor Schulze aus: »Da habe ich eine ganz unglaubliche Entdeckung gemacht: aus der Rinne, die unser »Südkreuz‹ in das Eis geschnitten hat, schauen richtige Meeresalgen heraus! Da hört sich doch alle Wissenschaft aus!«
»Nun, warum soll es denn hier keine Algen geben?« fragte Münkhuysen.
»Weil das allen Naturgesetzen widerspricht!« eiferte der Mann der Wissenschaft: »Ohne Licht gibt es unbedingt kein Pflanzenleben. Unter dieser dicken Eisdecke herrscht aber ewige Finsternis, folglich können darunter auch keine Algen wachsen!«
Der Baron lachte: »Da sie nun aber doch unleugbar da sind, so dürfte dies der unwiderleglichste Beweis dafür sein, daß sie da sein können? Müssen Sie das nicht zugeben?«
»Ich weiß nicht...« sagte Schulze zögernd: »Die Naturgesetze sind doch ewig und unabänderlich, alles beherrschend und allgemein gültig, sie müssen am Südpol genau so gelten, wie sonst überall.«
»Ich will Ihnen etwas sagen: Tatsachen beweisen, Naturgesetze aber beweisen nichts. Die Tatsachen haben sich nie und nirgends nach den Naturgesetzen zu richten, sondern umgekehrt die Naturgesetze nach den Tatsachen. Vergessen Sie nur nicht, daß alles, was die Wissenschaft ›Naturgesetze‹ nennt, einfach Folgerungen darstellt, die sie aus der Fülle der bekannten Tatsachen abgeleitet hat. Daß es auch wirklich Naturgesetze seien, können wir keineswegs behaupten. Es sind lediglich menschliche Formeln, die sich als falsch erweisen können, wenn uns Tatsachen bekannt werden, die ihnen widersprechen. Vollends haben wir keinerlei Beweis und Gewähr dafür, daß diese von uns erfundenen Naturgesetze ewig, unabänderlich und allgemein gültig seien. Das ist nichts als eine Behauptung und eine Vermutung, die stimmen, aber ebensogut ein Irrtum sein kann. Wirklich wissenschaftliches Denken und klare Vernunft muß sich allezeit bewußt bleiben, daß wir von keiner wissenschaftlichen Aufstellung behaupten können, sie sei unfehlbar oder gar ein unwandelbares Naturgesetz. Wir erlauben uns nur, diesen letzteren Namen solchen Sätzen zu geben, die wir aus Grund der uns bekannten Tatsachen, die weit nicht lückenlos, geschweige denn unbedingt sicher sind, vermutungsweise als größte Wahrscheinlichkeit ausgesonnen haben. Sobald augenscheinliche Tatsachen mit irgend einem dieser angeblichen, aber doch nur vermeintlichen Naturgesetze unvereinbar sind, wäre es nicht wissenschaftlich, sondern kindisch, die Tatsachen anzuzweifeln, vielmehr müssen wir das sogenannte Naturgesetz fallen lassen oder der neuen Erkenntnis entsprechend abändern, übrigens erinnere ich mich, daß schon Kjellmann auf Nordspitzbergen ein reiches Pflanzenleben beobachtete unter Eisdecken, die keinen Strahl des Lichtes durchlassen.«
Tausende von Pinguinen belebten die Eisfläche unter der Bankise. Ernst und Mäusle begleiteten Maibold, als sich dieser mitten in die dichten Scharen hineinwagte. Die drei mußten sich förmlich durchdrängen, so dicht standen die brütenden Vögel beieinander; denn Stehen und Sitzen ist für diese merkwürdigen Geschöpfe eins: sie brüten sozusagen stehend.
Der menschliche Besuch setzte sie in nicht geringe Aufregung: sie schnatterten ohrenbetäubend, wichen aber nicht vom Platz. Drängte man sie von ihren Nestern weg, so sah man teils Eier, teils struppige, beflaumte Junge. Es war übrigens nicht besonders angenehm, sich in die dicke, klebrige und stinkende Guanoschicht zu begeben, die den ganzen Boden bedeckte.
Als der rücksichtslose Arzt ihnen ihre Eier wegnahm, konnten sich diese harmlosen Vögel nur mit wirkungslosen Schnabelhieben dagegen wehren. Ernst und Mäusle taten sie leid, und die beiden eigneten sich keines der Eier an. Sie freuten sich an dem drolligen Anblick, den die Pinguine boten. Sie waren etwa vierzig Zentimeter hoch, auf zwei Entenfüßen stehend, mit großem, rundem Kopf, glänzend schwarzem Rücken und weißer Brust. So konnte man sie von ferne für kleine, elegante wohlbeleibte Herren in schwarzem Frack und weißer Weste halten. Der Bauch steht vor, und ein schwarzer Streifen am Hals stellt die Krawatte dar; die verkümmerten, zu beiden Seiten herabhängenden Flügel kann man für Arme ansehen. Wenn sie gar umhertrippeln mit ihrem watschelnden Gang und ihrem hochnäsigen aber würdevollen Ausdruck, kann man sich eines Lächelns nicht erwehren.
»Dies hier ist die gewöhnlichste Art der Pinguine, Pygoscelis antarctica,« erklärte Maibold. »Diese bezeichnet man auch als Adelie-Pinguine. Wir werden aber auch noch die etwas größeren und noch viel unbeholfeneren Pygoscelis papua kennen lernen, die wegen ihrer schreienden Stimme ›Eselpinguine‹ genannt werden; diese tragen ein weißgraues Federkleid und sind mit roten Schnäbeln geziert. Seltener sind die Kaiserpinguine, die größte Art, und die Eudyptes, die an den Seiten des Kopfes reizende orangegelbe Federbüschel tragen.«
Die Nester der behäbigen Vögel bestanden aus zusammengetragenen Steinen. Der Doktor entnahm ihnen so viele der frischesten Eier, als er tragen konnte. Im übrigen belästigten unsere Freunde die Pinguine nicht weiter. Die erbeuteten Eier wurden als ungewohnte Leckerbissen beim Nachtessen mit besonderem Vergnügen verspeist: das Weiße erschien in gekochtem Zustande noch durchsichtig und bläulich, der Dotter rötlich. Sie schmeckten köstlich, wie Hühnereier.
Die Matrosen sammelten in den nächsten Tagen die Pinguineier in Massen und verzehrten sie roh, gekocht, gebacken, in der Suppe, im Kaffee und im Tee, kurz, wo sie nur anzubringen waren. Der Steuermann Cavini brachte es auf vierzig Eier in einem Tag! Auch Pinguinsuppe, Pinguinbrust und Seehundsbraten bekam man bald zu kosten, lauter erstklassige Genüsse: frisches Fleisch, frisches Geflügel — wie herrlich schmeckte das nach den gesalzenen Konserven!
Das Fleisch hält sich hier in gefrorenem Zustande monatelang frisch. Nordenskjöld bedauerte deshalb sehr, seine Vorräte aus Unkenntnis dieser Tatsache eingesalzen zu haben, und die schwedische Abteilung unter Kapitän Larsen, die auf der Pauletinsel überwinterte, bekam zuletzt verdorbenes Fleisch zu essen, weil sie es frostfrei im Schnee aufbewahrt hatte.
Gesalzenes Pinguinfleisch wird hart und zäh wie Leder, und die daraus bereitete Suppe ist die reinste Salzlake.
Unter den Seehunden, die durch die Matrosen hier am Strande mühelos erlegt wurden, befanden sich einzelne Seeleoparden; die meisten jedoch waren Weddellseehunde, eine ganz seltsame Robbenart, deren Anblick zum Lachen reizt. Der kleine runde Kopf sitzt unmittelbar, ohne irgend eine Spur von Hals, am großen viereckigen Leib, der nur am Schwänze zugespitzt ist, und hebt sich kaum von der Brust ab. Sie sind graugrün mit helleren Flecken. Während der sogenannte Krabbenfresser das Treibeis aus dem Meere bevorzugt, hält sich der Weddellseehund mit Vorliebe auf dem Landeise auf und begibt sich oft ziemlich weit landeinwärts.
Die Seehunde sind völlig harmlos und verteidigen nicht einmal ihr Leben. Nur eine Ausnahme erlebten unsere Freunde; als Mäusle ahnungslos einen jungen Seehund mit seinen Dichteraugen bewunderte, wurde er plötzlich hinterrücks von der Mutter angegriffen und zu Boden gerissen. Das wütende Tier wollte nicht von ihm ablassen; aber der Schwabe stand rasch auf den Beinen und gerbte ihm das Fell, indem er rief: »Holla! Du bisch jo e ganz frechs Luder, so isch mer net emol en Elefant oder e Nashorn in Afrika komme. Jetz schpürsch's, daß du's mit em Michel Mäusle aus Gschlachtebretzinge z'tun hosch. Gell, dees hosch net denkt, daß e fotter Kerle am Südpol schpaziere geht! I könnt di jetz totschlage, wann i wollt', aber wege dei'm herzige Kindle will i di lebe lasse. Merk der's aber: mit em Michel Mäusle aus Gschlachtebretzinge isch böß a'bändle.« Beschämt schlich sich der Seehund von dannen.
An das Seehundsfleisch wollten sich unsere Freunde anfangs gar nicht recht wagen, denn sie fürchteten den tranigen Geschmack, zumal es auch in Seehundsfett gebraten wurde. Allein schon die ersten Bissen überzeugten sie, daß ihr Vorurteil unbegründet war: der Braten schmeckte vorzüglich und wies keine Spur von Beigeschmack auf; nicht einmal das Pinguinfett lieferte so schmackhafte Braten.
Auch der Fischfang war ergiebig und diente zur Vermehrung der Tafelfreuden.
Außer den Pinguinen und Seehunden belebten zahlreiche Sturmvögel den Strand, darunter der Riesensturmvogel und der Schneesturmvogel. Besonders zahlreich fanden sich auch die Skuamöven ein; aber auch Sturmschwalben und sogar Kaptauben bekam man zu Gesicht.
Schulze besann sich häufig darauf, daß er Naturforscher von Beruf war, und da seine nie fehlende Büchse, wie er sie gerne nannte, an den Vögeln im Flug hartnäckig vorbei traf, und sich sonst kein jagdbares Wild für sie hier vorfand, denn Seehunde und Pinguine schießt man nicht, da man sie einfach mit Prügeln totschlagen kann, so ging er gerne bis ans offene Meer und fischte daraus kleine Meerkrebse, Korallen, Seeigel, Schlangensterne und sogar den Grundfisch Lykodes, der seiner Ansicht nach in diesen Eisgewässern unmöglich vertreten sein konnte!
Evas Lieblinge waren die Kaptauben, und sie sagte verstohlen, zu Ernst: »Hier sind ja die Boten unserer verzauberten Prinzessin vom Südpol!«
»Vielleicht fliegen sie auch über die Berge und durch die Gitter ihres Gefängnisses, um die Verlassene zu trösten in ihrer Einsamkeit,« meinte Ernst.
»Wollen wir ihr nicht eine Botschaft senden?« fragte Eva eifrig.
»Das wäre ein Gedanke! Wenn wir nur ihrer Sprache mächtig wären!«
»Oh, das braucht's gar nicht! Ich zeichne auf ein Blatt Papier einen Ritter mit Schwert und Bogen. Dein Gesicht soll er haben, und die Gegend habe ich auch noch deutlich im Kopf, du weißt ja — unser Geheimnis? Der Ritter sprengt die Türe eines Verließes, in dem ein schönes Mädchen gefangen sitzt. Wenn sie das erblickt, dann weiß sie sofort, daß es noch andere Menschen auf Erden gibt, daß ihre Botschaft in gute Hände gelangte, und daß ihr Hilfe nahe ist.«
»Herrlich, ausgezeichnet!« lobte Ernst.
Mit dem ihr eigenen Geschick entwarf Eva die Zeichnung, wie sie dieselbe beschrieben hatte: es gab ein hübsches kleines Kunstwerk. Nun handelte es sich nur noch darum, sie an einer Kaptaube zu befestigen, und diese mußte dann ihren Weg zu dem geheimnisvollen Wesen finden. An letzterem zweifelte Eva zwar gar nicht; allein die Kaptauben waren so scheu, daß es mit keiner List gelingen wollte, eine lebendig zu fangen.
»Einem Pinguin können wir das Bild mit Leichtigkeit anhängen,« meinte Eva.
»Allerdings!« erwiderte Ernst: »Aber das hat keinen Zweck, denn er kann nicht fliegen, und wenn er auch ein vorzüglicher Schwimmer ist, so ist er doch an Land zu schwerfällig und kann so weite Reisen nicht machen: du siehst ja, wie unbeholfen sie watscheln. Doch die dummen Skuamöven lassen sich gewiß leicht überlisten und einfangen.«
»Ach was! Das sind Meervögel, die ziehen auch nicht ins Innere.«
»Wer weiß? Vielleicht fliegen sie über die Berge nach einem anderen Meer.«
»Also! Dann fangen wir einmal eine Skuamöve und sehen dann weiter zu!«
Auf einmal erhob sich ein lautes Geschrei und Hallo. Eva und Ernst eilten zu der Stelle, von der das Rufen erscholl. Da stand Professor Schulze mit seinem Angelgerät und Schleppnetz am Rande des Eisstreifens, der von der Küste aus ins Meer hinausragte.
Verschiedenes interessante Getier hatte er schon herausbefördert und in ein mit Seewasser gefülltes Gefäß geworfen, als ihn ein plötzlicher gewaltiger Schreck zu den lauten Rufen veranlaßte.
Neben ihm auf dem Eise lag ein starker Kaiserpinguin, der sich mühsam aufrichtete.
»Denken Sie sich mein Entsetzen,« sagte der Professor atemlos zu den jungen Freunden: »Gehe ich da ganz harmlos meinem zoologischen Berufe nach, fische den Meeresgrund ab und denke an nichts, wie ich meist zu tun pflege — das heißt, ich bin mit tiefgründigen wissenschaftlichen Grübeleien völlig beschäftigt und ahne nichts Arges; auf einmal — schießt da nicht ein dickes Geschöpf in den preußischen Landesfarben aus dem Wasser hinauf in die Luft, drei Meter sage ich Ihnen, just über mein unschuldiges Haupt. Ich denke nicht anders, als: ›da ist der sagenhafte Meerbischof im Zorn emporgefahren, weil du seine Schützlinge mordest!‹ Sie kennen ja doch die ähnliche Geschichte im Tell: ›Willst du nicht das Lämmlein hüten‹, wo der Geist, der Bergesalte, die Gemse vor dem Jäger in Schutz nimmt und grollt: ›Platz für alle hat die Erde, was verfolgst du meine Herde?‹ Nun, das flog mir so durch den Kopf bei der gespenstischen Erscheinung, und ich male mir aus, wie dieser Meeresalte, der Meerbischof, mir aus den Kopf springen wird, um mich ins Meer und zur Rechenschaft zu ziehen. Natürlich schreie ich Zetermordio!
»Na! Ich konnte mich gerade noch durch einen kühnen Seitensprung retten, in meiner großen Geistesgegenwart, und da plumpst auch schon dieses Geschöpf vor mir nieder, hart an meiner Nase vorbei, so daß ich nochmals erschreckt zurückwich. Mit wissenschaftlichem Scharfblick erkannte ich sofort, daß ich es hier nicht mit dem Meerbischof zu tun hatte, der überhaupt nur ein Fabelwesen ist, sondern mit einem ganz gewöhnlichen Pinguin von Riesengröße. Aber drei Meter hoch ist er aus dem Wasser emporgeflogen, weit über mein Haupt: ist das nicht eine märchenhafte Leistung für so einen unbeholfenen Vogel, der überhaupt gar nicht fliegen kann? Da hört sich ja geradezu alle Wissenschaft auf!«
Inzwischen kam Kapitän Münchhausen herbei, der auch nicht ferne gewesen war und Schulzes Notschrei vernommen hatte.
Arglos trat er vom Küsteneise herab auf das Meereis, das etwas niederer lag, und begab sich zu den Dreien, die dem Pinguin zusahen, wie er sich watschelnd davon machte.
Das Eis knarrte und schwankte unter den Füßen des dicken Kapitäns, doch was machte dies einem Seebären aus, der die viel heftigeren Schwankungen der Schiffsplanken gewohnt war?
»Was? Nichts als ein Pinguin?« lachte er: »Und vor dem haben Sie ein solches Entsetzen gespürt, daß Sie brüllen, als gehe es Ihnen an den Kragen?«
»Jetzt ist es freilich nur ein harmloser Vogel, aber aus dem Wasser schoß er als Gespenst und Meerbischof. Allein, Verehrtester, machen Sie sich schleunigst auf festen Boden, für Ihr Körpergewicht ist diese dünne Eistafel nicht geschaffen! Schnell, Schnell! Sie stürzen uns noch alle ins Verderben!«
Es war jedoch schon zu spät: das Eis, das infolge der Ebbe hohl lag, bog sich unter der Last des Dicken, krachte, und brach hinunter.
Alsbald zappelten alle Vier im eisigen Wasser und riefen um Hilfe.
Ernst erfaßte Eva und schwamm mit ihr der Eiskante zu, von der sie gleich abgetrieben waren. Als das triefende Mädchen, das übrigens selber eine gute Schwimmerin war, sich hinaufschwingen wollte, bröckelte der Rand ab, und es sank zurück. Noch mehrere Versuche hatten den gleichen Mißerfolg. Endlich gelang es ihr, sich mit aller Vorsicht hinaufzuschieben. Ernst schob nach, und die nasse Maus kroch weiter, bis sie den Absatz erreichte, der zum Landeis hinaufführte. Der junge Frank aber wendete sich, obgleich schon halb erstarrt, um: er sah nach den anderen, um ihnen nötigenfalls Hilfe zu bringen.
Münchhausen schwamm wie ein Fisch oder vielmehr wie eine Tonne. Untersinken würde er nicht so gleich; das Schwimmen verstand er ja auch vorzüglich. Doch schimpfte und jammerte er dabei entsetzlich über das kalte Bad, an dem doch niemand anders schuld war, als er selber. Darum rief ihm auch der Professor keuchend zu: »Sind nur Sie ganz stille und kleinlaut, Kapitän! Wer ist denn schuld an der ganzen Katastrophe als Sie, Unglückswurm? Und wir müssen nun Ihren sträflichen Leichtsinn ausbaden!«
Schulze hielt sich nur mit Mühe über Wasser; des Schwimmens war er wenig kundig, und die Kälte der See erstarrte ihn bis auf die Knochen.
Da kam Ernst herbeigeschwommen und brachte ihm Hilfe, obgleich er sich selber kaum mehr regen konnte. Er lotste ihn an Land und kroch dann selber hinauf. Beides gelang auch wieder erst nach öfteren vergeblichen Versuchen, bei denen der äußerste, dünnste Eisrand mehrmals abbröckelte.
Der junge Frank war am Ende seiner Kräfte infolge der lähmenden Kälte; auch dachte er, der Kapitän als alte Seeratte könne sich am ehesten ohne fremde Beihilfe herausretten, und ihm fehle es überhaupt an der erforderlichen Stärke, diese Masse zu bugsieren.
Münchhausen erreichte wohl die Eiskante — aber, aber! Sowie er einen Versuch machte, sich hinauszuschwingen, gab es einen Krach und das Eis brach hinunter: solch einem Gewicht war es nicht gewachsen!
Die Sache begann für den braven Kapitän ein bedenkliches Aussehen zu bekommen; zwar schützte ihn sein Fettpolster vor allzurascher Abkühlung, doch schon fühlte er sich steif werden. Seine wiederholten Versuche hatten zur Folge, daß er allmählich eine tiefe Bucht in das Meereis brach und sich dem Festland immer mehr näherte; aber immer noch fand er keinen Grund unter den Füßen. Da erschienen vier Matrosen, von Eva und Ernst gesandt, und warfen ihm ein Tau zu. Sie wagten nicht, bis zu ihm vorzudringen, da sie fürchteten, zu viert das Eis zu sehr zu belasten und ebenfalls einzubrechen. So blieben sie an Land und mußten trotz des Ernstes der Lage lachen, wie sie den Dicken sich immer wieder auf den Eisrand stützen sahen, der jedesmal »krach, krach!« machte und absplitterte, so daß der Ärmste zurücksank und untertauchte.
Der Kapitän klammerte sich mit steifen Fingern an das Seil, und nun zogen die Italiener aus Leibeskräften. Es gab noch einige Schollen, aber schließlich kam so dickes Eis in der Nähe des Strandes, daß die Last darauf Halt fand, wenn es sich auch unter Ächzen bedenklich senkte. Es hielt wirklich aus, bis der dicke Hugo auf das festgegründete Landeis gehißt war und nun gleich einem Riesenpinguin zum Lager watschelte.
Die vier unfreiwilligen Badegäste mußten schleunigst die Kleider wechseln, die ihnen am Leibe angefroren waren und sich in ihre Schlafsäcke begeben, wo ein steifer Grog die Blutwärme wieder in ihre Haut trieb. So lagen sie in ihren verschiedenen Zelten, die bereits aufgerichtet worden waren, und erholten sich allmählich.
Auch die übrigen Polarfahrer zogen sich in ihre Zelte zurück, denn der Aufenthalt im Freien wurde ungemütlich, als der Sturm begann, die kleinen runden, trockenen und harten Kügelchen, aus denen der antarktische Schnee besteht, schmerzhaft in ihre Gesichter zu peitschen.
Bald lag alles im Schlaf, während die Mitternachtsonne am dunstigen Himmel glühte, nachdem das Schneegestöber aufgehört hatte.
Wie sollte die Eisterrasse erklommen werden? Das war die Frage, die sich alle vergeblich vorlegten. Schließlich trösteten sie sich in dem Vertrauen, daß Münkhuysen schon ein Auskunftsmittel aushecken werde, und hierin täuschten sie sich nicht.
Am anderen Morgen ließ er nämlich eine Eisenkugel, an der eine lange eiserne Kette befestigt war, bis zur Rotglut erhitzen und an das Ende der Kette eine Strickleiter von sechzig Meter Länge befestigen. Mit einer Kanone wurde die Kugel über die Eismauer geschossen. Der Schuß war so wohl berechnet, daß die Strickleiter an der Wand bis zum Boden herabhängen blieb. Die Kugel bohrte sich droben natürlich tief in das Eis ein, die Kette nach sich ziehend.
Dann wurde eine Stunde gewartet, nach deren Verlauf man sicher sein konnte, daß das Geschoß mit einem Teil der Kette völlig erkaltet im Eise eingefroren sei. Der Baron erstieg hierauf als erster die Bankise mit Hilfe der Strickleiter. Er nahm ein Seil mit, das er oben an der Kette befestigte, während er das andere Ende herabließ. Die gewandtesten und schwindelfreisten Kletterer folgten ihm. Die anderen banden sich nacheinander das Ende des Stricks um den Leib und konnten nun gefahrlos die nicht so einfache Kletterei wagen, da die oben Stehenden das Tau stets straff gespannt hielten, bis sie glücklich auf der Höhe anlangten und das Seil für den Nachfolgenden wieder hinabgelassen wurde.
Insbesondere mußte beim Kapitän diese Vorsichtsmaßregel geübt werden, und man befleißigte sich droben, aus Leibeskräften zu ziehen, damit sein Gewicht die Strickleiter nicht zu sehr belaste, obgleich Münkhuysen sie gerade im Hinblick auf seines Vetters Körperfülle besonders stark hatte anfertigen lassen. Sie hielt denn auch die Belastungsprobe vorzüglich aus, wenn auch die Sprossen stöhnten.
Die Terrasse bildete eine breite Eisfläche, die ganz allmählich gegen die Münkhuysenberge anstieg. Rechts und links dehnte sie sich in unabsehbare Fernen aus.
Hier wollte man sich vorläufig häuslich niederlassen, um zu erkunden, wie sich von hier aus am besten die Entdeckungsreise ins Innere bewerkstelligen lasse. Es wurden Hütten gebaut, die Vorräte und Gerätschaften aus den: Schiff allmählich heraufgeschafft, — Arbeit genug für einige Wochen.
Zuallererst wurde die Ladung des »Südkreuz« gelöscht. Die Kisten und Ballen wurden auf Schlitten an den Fuß der Bankise geführt, wobei die zugkräftigen grönländischen Hunde und vor allem die vorzüglichen Mandschuponys die trefflichsten Dienste leisteten. Mittelst einer starken Winde wurde dann alles auf die Eisterrasse befördert. Alle Hände waren hiebei tätig, und selbst Neeltje und Eva leisteten, was sie konnten.
Unterdessen fuhr das »Südkreuz« durch das Packeis zurück, um nach und nach die Ladung des Begleitdampfers herüberzuschaffen, sowie einen genügenden Kohlenvorrat zur Heizung, den die Kohlenschiffe lieferten.
Das Packeis war schon weit weniger dicht als bei der ersten Durchfahrt, so daß es kein ernstliches Hindernis mehr bot, und das »Südkreuz« innerhalb drei Wochen alles herbeizuschaffen vermochte, was irgend vonnöten war.
Hier oben aus der Bankise herrschte ein reges Vogelleben. Den Pinguinen war freilich diese Höhe so unzugänglich wie den Seehunden; dafür aber umflatterten zahlreiche kleine rotbeinige Seeschwalben und namentlich auch Seetauben die fremden Eindringlinge.
Die Seetauben erwiesen sich als Diebe von ganz unglaublicher Frechheit: sie stibitzten einem das Essen beinahe unter der Hand weg, wenn man im Freien tafelte, was gewöhnlich geschah; denn, obgleich die Temperatur selten über dem Nullpunkt stand, brannte die Sonne meist so glühend herab, daß jedermann es vorzog, hemdärmelig in freier Luft zu arbeiten und zu essen, statt in den vorläufigen Hütten, welche die Schlafsäcke und Vorräte bargen.
Die erwähnten kecken Seetauben, auch Chinois genannt, find schneeweiß und leben von Fleisch und Eiern. Auch die große braune Megalestris mit ihrem scharfen Schnabel und ihren Raubvogelkrallen ließ sich hier blicken. Sie gleicht der Möve und zeigt keinerlei Scheu.
Da man öfter an den Strand hinabstieg, zur Pinguin- und Seehundsjagd oder um sich mit den köstlichen Pinguineiern zu versorgen, hatten sich auch die zu Schwindel geneigten Mitglieder der Gesellschaft bald diese Untugend abgewöhnt und sich eine große Gewandtheit im Auf- und Abklettern an der schwanken Strickleiter angeeignet, eine Übung, die ihnen späterhin sehr zustatten kommen sollte. Neeltje und Eva kletterten wie die Katzen, und nur Doktor Maibold konnte den Schwindel nie ganz überwinden.
Wurden nun unten am Strande Pinguine oder Seehunde abgezogen, so flatterten die Megalestris alsbald herbei, um sich Fleisch zu holen. Man wehrte sie mit Stöcken ab. Dann flogen sie auf, umschwebten die Köpfe der unfreundlichen Menschen, um sich sofort wieder auf die toten Tiere niederzulassen.
Zu ihnen gesellten sich die weniger zudringlichen Sturmschwalben, die Riesensturmvögel, die Schulze »Osfifraga« benannte, um sich als Gelehrten auszuweisen, und die Eissturmvögel, die er »Pagodroma« hieß. Letztere sind die schönsten Vertreter der antarktischen Vogelwelt.
Neben der großen Dominikanermöve fanden sich auch Kormorans ein, die auf der Eisterrasse nisteten. Ihre Nester waren weit kunstvoller als diejenigen der Pinguine, prächtige, hoch aufgemauerte weiße Kegel. Auch das Fleisch dieser Vögel wurde versucht und vorzüglich befunden.
Um alles mögliche für den Fall der Not auf seine Eßbarkeit hin zu prüfen, überwanden sich unsere Freunde sogar soweit, die aasfressende Megalestris einer Kostprobe zu unterziehen, und bereuten es nicht, da sie den Geschmack des Auerhahnes aufwies.
Hoch oben um die Felszinnen flatterten zierliche kleine Sturmvögel. Professor Schulze, der Sachkundige und Lateiner, bevorzugte für sie den Namen Pagodroma nidea, was der Kapitän in seiner Weise mit »die niedlichen Patrone« übersetzte. Es waren ganz wunderhübsche Vögel mit langen, spitzigen Schwingen, schneeweißen, seideglänzenden Federn und ebenholzschwarzen Füßen und Schnäbeln. Ihr lustiges, helles Gezwitscher klang besonders lieblich.
Die größten Schwierigkeiten bereiteten die Versuche, die mandschurischen Ponys auf die Bankise zu hissen. Es waren nur noch sechs an der Zahl, da zwei während der Seefahrt eingegangen waren. Man fertigte besondere Käfige zu diesem Zwecke an, und es gelang endlich, sie in diesen auf die Höhe zu ziehen. Aus den Käfigen, die aus Holzkisten gezimmert waren, stellte man ihnen dann einen vorläufigen Stall her.
Kapitän Münchhausen ärgerte sich ganz wütend über die Skuamöven, die an Frechheit die Seetauben womöglich noch übertrafen. Eines Tages stibitzte ihm einer jener Vögel gar ein brodelndes Stück Seehundsfleisch mitten aus der Bratpfanne heraus vor der Nase weg: und er hatte sich so sehr auf den köstlichen Bissen gefreut, der ihm nun durch die Lüfte entführt wurde! Mit liebendem Blick hatte er sein Garwerden verfolgt, und nun er ihn gerade herausfischen wollte, um ihn sich zu Gemüte zu führen, muß so ein Tropf kommen und ihn darum betrügen!
Es war ihm gewiß nicht zu verdenken, daß er blutige Rache brütete; und so ersann er eine heimtückische Methode, um der Räuber habhaft zu werden: sie war äußerst einfach und erwies sich als erfolgreich. An einer langen Leine befestigte er einen Haken mit einem Köder, der schon nach wenigen Minuten von einer Möve gierig verschlungen wurde. Mit grimmiger Schadenfreude zog er den zappelnden Vogel heran, um ihm den Garaus zu machen.
Die anderen Skuas merkten in ihrer Einfalt gar nicht, wie schlimm ihre Gefährtin daran war, vielmehr suchten sie ihr voll tadelnswerter Gier und Eifersucht noch den verhängnisvollen Bissen im Schnabel streitig zu machen, bis der Kapitän die Hand nach dem herangeholten Opfer ausstreckte. Münchhausen fand den Skuamövenbraten ausgezeichnet und erklärte: »Es ist weit angenehmer, diese Raubvögel zu verspeisen, als sich von ihnen sein Mahl verzehren zu lassen!«
Mit seiner Jagdmethode, auf deren Genialität er sich viel zugute tat, betörte er noch manchen der arglosen Vögel. Eva bat sich einen davon aus, den sie lebend erhielt. Mit Ernsts Hilfe befestigte sie heimlich ihre Zeichnung in dessen Schwanzfedern und ließ ihn fliegen. Merkwürdigerweise nahm die erschreckte Möve ihren Flug über die Münkhuysenberge, was Eva als gutes Vorzeichen für die pünktliche Besorgung der Botschaft ansah. Auch Ernst freute sich darüber.
Mehr als zwei Dutzend Skuamöven hatte der listenreiche Kapitän mit seiner Angel geködert; dann aber hörte es plötzlich auf: die Vögel schienen nun endlich gemerkt zu haben, was die Uhr geschlagen hatte, und fortan ließ sich auch nicht ein einziger mehr auf die Sache ein.
»Daran sind Sie schuld,« sagte Münchhausen zu Eva: »Sie haben zweifellos in Ihrer edlen, aber hier völlig unangebrachten Gutherzigkeit dem Vogel, den ich mir von Ihnen abschwatzen ließ, die Freiheit geschenkt, und der hat natürlich das ganze Geheimnis ausgeplaudert und die anderen gewarnt.«
Dies schien tatsächlich der Fall zu sein, denn die Angeljagd erwies sich seither dauernd als erfolglos, zum großen Verdrusse des Kapitäns, der nun einen neuen Grund hatte, über die Skuas zu schimpfen, die den Schnabel nicht halten konnten.
Trotz der Hitze, welche die Sonne entwickelte, fühlten sich alle unsäglich erquickt durch die wonnige Frische der Antarktis, die das ganze Sein durchdringt und jeden, der sie einmal gekostet, mit unauslöschlichem Heimweh nach den Südpolgestaden erfüllt.
Auf der endlosen Eisterrasse befanden sich zahlreiche Süßwasserseen von verschiedener Größe und Färbung, in denen sich prächtig gefärbte Algen und Schwämme fanden. Man befand sich jetzt, im Dezember, mitten im Sommer dieser Gegenden, und so zeigten sich größere felsige Flecken, an denen die Sommersonne die Schnee- und Eisdecke weggetaut hatte, und die mit Vulkansand bedeckt waren. Leider war der Ponystall gerade auf einer solchen Stelle errichtet worden, und dies hatte den Verlust zweier weiterer Pferde zur Folge. Man hatte es nämlich versäumt, den Tieren Salz zu verabreichen, und da fraßen sie den salzig schmeckenden Vulkansand, der schädlich für sie war. Als die Ursache ihrer Erkrankung entdeckt wurde, war es schon zu spät, die beiden zu retten. Noch ein drittes ging ein infolge des Genusses giftiger Hobelspäne, in welche Chemikalien verpackt gewesen waren. So blieben zu Münkhuysens Leidwesen nur noch drei der hübschen Tiere übrig, allerdings die schönsten und kräftigsten.
Bei der Landung der Vorräte aus dem Schiffe war ebenfalls ein leidiger Unfall vorgekommen, der glücklicherweise kein Menschenleben forderte, aber doch mehrere wertvolle Kisten kostete. Die Matrosen hatten diese auf dem Küsteneise abgestellt, und zwar auf dem Seeeis, und unterließen es, sie sofort auf das feste Land zu schaffen, wie der Baron ein für allemal angeordnet hatte. Das Eis erschien an dieser Stelle so fest, daß sie nichts befürchteten. Aber plötzlich, ohne irgend ein vorheriges warnendes Anzeichen, zerbröckelte das Eis in unzählige Schollen, und die darauf aufgestapelten Vorräte versanken ins Meer.
Kleinlaut berichteten die Missetäter den Vorfall dem Baron. Dieser, gelassen und milde wie immer, erging sich nicht in heftigen Vorwürfen, sondern begnügte sich mit der eindringlichen Mahnung: »Dies wird euch lehren, fortan immer genau meine Anweisungen zu befolgen. Diesmal ist es noch glimpflich abgelaufen; aber es drohen uns hier überall Gefahren, die euch unbekannt sind, und ein kleiner Fehler, eine geringfügige Sorglosigkeit kann ebensowohl Menschenleben kosten, wie diesmal kostbare Güter.«
Zu seinen Gefährten gewendet, fuhr Münkhuysen fort: »Namentlich das Küsteneis hat hier seine Tücken; selbst von der Bankise bröckeln oft unversehens mächtige Stücke ab, soweit dieser Eiswall nicht auf dem Festland aufruht. Diese Bruchstücke bilden ja die kilometerlangen Tafelberge, die wir kennen.«
Professor Raimund bestätigte dies: »Es läßt sich nachweisen,« sagte er, »daß die Bankise seit Roß' Zeiten an vielen Stellen um mehrere Kilometer zurückgewichen ist. Durch dieses Abbröckeln ausgedehnter Bestandteile der Terrasse verschwinden oft innerhalb Jahresfrist große Buchten, die auf den Karten eingezeichnet und benannt sind, mit ihrer Küste, die eben nur durch die in das Meer vorgeschobene Eismauer gebildet war. Statt einer Küstenlinie findet man alsdann offenes Meer an der betreffenden Stelle.«
»Aber auch umgekehrt,« fügte Münkhuysen hinzu, »öffnen sich neue Einbuchtungen in südlicherer Lage: so ist zum Beispiel gerade hier unsere Landungsbucht durch den Rückgang der Bankise neu entstanden. Verschwinden kann sie nun freilich nicht wieder, weil es sich jetzt um eine Küste des Festlandes handelt und nicht mehr um wechselndes See-Eis. Und nur weil hier der Eiswall auf dem Festlande aufruht, durften wir es wagen, uns auf ihm niederzulassen.
»An anderen Stellen, wo die Terrasse über das Wasser hinausragt, müßte man jeden Augenblick gewärtig sein, plötzlich losgerissen zu werden und mit Hütten und Zelten auf einem Eisberg nach Norden zu treiben, wenn nicht gar sofort ins Meer zu stürzen. Eine auch nur vorübergehende Niederlassung oder Aufstapelung von Vorräten auf der Bankise ist daher stets zu vermeiden, wenn man nicht, wie wir, versichert ist, sich auf dem Festlande zu befinden.«
Da die Münkhuysenberge ein unmittelbares Vordringen nach Süden hinderten, und der Baron seine Winterstation nicht den schrecklichen Stürmen aussetzen wollte, die Winters die Küste umtoben, und von denen man schon mitten im Sommer zuweilen einen unliebsamen Vorschmack bekam, beschloß er, zunächst die Gegend jenseits des Gebirges zu erkunden, um festzustellen, ob sie zur Anlage der Station und zum Vorstoß nach dem Pole geeigneter erschiene. Bis diese Frage entschieden war, mußte das »Südkreuz« in der Bucht bleiben und der Begleitdampfer mit den Kohlenschiffen jenseits des Packeises abwartend kreuzen.
Aber die schroffen Gletscherwände schienen so wenig zugänglich wie die jähen Felsmauern des Gebirges.
Eines Abends, wenn man überhaupt diese Bezeichnung der Tageszeit bei dem fast ununterbrochen herrschenden Tage der Polarregion beibehalten will, saß der engere Kreis von Münkhuysens Begleitern in des Barons bequem eingerichteter Wohnung, um das traulich wärmende Feuer, als Ingenieur Holm begann: »Herr Baron, Sie hätten doch den genialen Gedanken aufgreifen und Salz mitnehmen sollen, wir könnten uns dadurch einen Paß durch die Münkhuysenberge tauen, die uns sonst noch eine harte Nuß zu knacken geben werden, denn unsere Strickleitern reichen bei solcher Höhe doch nicht aus!«
»Geduld!« mahnte Münkhuysen, »morgen werden wir den Anfang machen!«
So war es denn auch: schon am folgenden Morgen sollten die Münkhuysenberge überstiegen werden. Der Baron hatte sich auf derartige Hindernisse gefaßt gemacht und daher ein dreitausend Meter langes Seil mitgenommen, welches in kleinen Zwischenräumen mit Knoten versehen war. Nun boten die Münkhuysenberge einen Paß, der höchstens sechshundert Meter hoch sein konnte; rechnete man tausend Meter wegen der Unebenheiten des Abhangs, und zweitausend Meter auf den möglicherweise viel weniger steilen südlichen Absturz, so reichte das Seil aus.
Münkhuysen ließ dieses Seil wiederum mittels einer Kanone über den Bergsattel schießen. Die Kugel, an der das Seil befestigt war, rollte auf dem südlichen Abhang hinunter, das Seil nach sich ziehend, und als sie in ihrem Laufe einhielt, fand es sich, daß noch fünfhundert Meter Seil übrig waren.
An der Erkundungsreise über das Eisgebirge wollten Kapitän Münchhausen, Professor Schulze, Mäusle, Raimund, Holm und Ernst teilnehmen, sowie der erste Steuermann, Cavini. Doktor Maibold, der, wie die meisten überlegenen Spötter, im Ernstfall nichts weniger als ein Held war, zog es vor, den Damen Gesellschaft zu leisten und auf dem erprobten sicheren Grund zu bleiben.
Jeder Teilnehmer am Überstieg mußte sich mit einem Eispickel versehen, da man nicht wissen konnte, ob die Kugel den jenseitigen Talgrund erreicht hatte oder durch irgend ein Hindernis aufgehalten worden war, so daß unter Umständen der völlige Abstieg durch einzuhauende Stufen ermöglicht werden müßte. Wahrscheinlich war das nicht, und im Notfall konnte man ja das Seil mit der Kugel noch volle fünfhundert Meter weiter hinablassen, und so tief konnte doch das jenseitige Tal unmöglich sein, da es sonst tief unter dem Meeresspiegel hätte liegen müssen. Aber Münkhuysen gebrauchte lieber zu viel als zu wenig Vorsicht, und die Wertzeuge konnten auch für andere Fälle von Nutzen sein. In der Tat sollte sich dies in ganz unvorhergesehener Weise bestätigen.
Leider dachte weder der Baron noch irgend ein anderer daran, daß sie gerade die allereinfachste, selbstverständlichste und nächstliegende Vorsichtsmaßregel außer acht gelassen hatten, ein Fehler, der hintennach allen unbegreiflich erschien und der ihnen bald verhängnisvoll werden sollte.
Münkhuysen war der erste, der am Seile emporkletterte: die schwere Kanonenkugel auf der anderen Seite reichte als Gegengewicht für seine Körperschwere aus, und das Seil war auch auf dem Bergsattel ziemlich fest zwischen vorragende Felsblöcke eingeklemmt.
Als der Baron die Höhe glücklich erreicht hatte, begann Mäusle den Aufstieg, und als auch dieser über den Grat turnte, folgten Schulze und Raimund kurz hintereinander. Es war nun anzunehmen, daß Münkhuysen auf der anderen Seite längst unten war, da der Abstieg naturgemäß ungleich rascher vonstatten gehen mußte als das mühsame Hinaufklettern. Es war verabredet, daß der Baron das Ende des Seils derart befestigen sollte, daß die Nachfolgenden keines weiteren Gegengewichtes bedurften. Als Schulze oben anlangte, rief er herab, dies sei geschehen, das Strickende sei an einem Felsblock verankert.
So konnten Holm, Ernst, Cavini und Münchhausen gleichzeitig, einer hinter dem anderen, emporturnen. Der Abhang, so steil er war, bot doch unterwegs Absätze und sanfter geneigte Hänge genug, die ein Ausruhen ermöglichten und meist frei von Schnee und Eis waren, dank der Sommersonne, die hier ganz besonders kräftig wirkte. Über die Hälfte des Berges konnte zu Fuß erstiegen werden mit Hilfe des Seils, an dem man sich hielt, nachdem der unterste, völlig unersteigliche Teil am Seil überschritten war. So konnte der Aufstieg in knapp dreiviertel Stunden bewältigt werden.
Als Holm den Grat erreichte, sah er, daß auch auf der anderen Seite der Berghang vielfach zu jäh war, als daß ein Erklettern oder ein Abstieg ohne Seil möglich gewesen wäre. Der Grund war ein Hochtal, das gegen Osten durch jähe Wände abgeschlossen war, nach Westen zu sich senkte und hier nur etwa halb so tief war als der Meeresspiegel auf der Nordseite.
Der Baron, Mäusle, Schulze und Raimund waren schon unten, als Holm seinen Abstieg begann. Unmittelbar hinter ihm folgten Ernst und Cavini und zuletzt der dicke Kapitän.
Nun sollte sich bald die vorhin angedeutete Unvorsichtigkeit rächen: unsere Freunde hatten nämlich, was kaum zu glauben war, vergessen, das Seil auf der Nordseite, der Seite des Aufstiegs, fest zu verankern: es hing da lose hinab. Wie gesagt, hatte es sich auf dem Sattel zwischen zwei Felsen eingeklemmt und einer seiner Knoten hielt es dort an der engsten Stelle fest. Diese Verengung wurde jedoch bloß durch eine dünne vorspringende Felszacke gebildet, die bald absplitterte, als das volle Gewicht der vier Männer aus der Südseite des Seiles hing, ohne irgend ein Gegengewicht auf der Nordseite.
Das Seil gab nach. Die daran Hängenden kamen ins Gleiten. Das Seil rutschte über den Bergsattel, erst langsam, dann immer schneller, je weniger davon auf der anderen Seite als schwaches Gegengewicht herabhing. Münchhausens Last war natürlich bei dem Unfall das Ausschlaggebende.
Als die vier Abgestürzten unten anlangten, noch immer das Seil haltend, waren sie ganz verwundert, daß keiner ein Glied gebrochen noch sonst Schaden genommen hatte. Die Untenstehenden, die mit Schrecken und großer Sorge den Absturz mitangesehen hatten, waren bei dieser Feststellung hoch erfreut.
Einigermaßen erklärte sich ja der glückliche Ablauf daraus, daß alle in dicker Polarkleidung steckten, und daß der Abhang, über den sie herabgesaust waren, viel weniger steil war als die oberste schroffe Wand. Aber ohne göttliche Bewahrung hätte der Unfall schlimm ablaufen können, und der Umstand, daß der Strick erst nachgab, als auch Münchhausen schon über die schlimmste Stelle hinweg war, konnte tiefer denkenden Menschen, wie sie sich hier fanden, unmöglich als blinder Zufall gelten.
Das Ende des Seiles hing noch auf der Nordseite des Berges hinab, aber jedenfalls zwei- bis dreihundert Meter über der Eisterrasse, also unerreichbar für die Zurückgebliebenen. Hier, von der Südseite aus, ließ sich die Bergwand wohl bis zu halber Höhe unschwer erklettern, aber dann hörte jede Möglichkeit des Weiterklimmens auf: das war augenscheinlich. Das Seil konnte keinen Halt gewähren, da es lose über den Sattel hinabhing. So sahen sich unsere Freunde von ihren Genossen und allen Vorräten und Hilfsmitteln abgeschnitten, hilflos inmitten einer Eiswüste.
Das Tal, in dem sie sich befanden, war im Osten und Süden von ebenso unersteiglichen Wänden abgeschnitten. Nach Westen zu führte es bergab in unabsehbare Ferne. Vielleicht gab es weiter westlich eine Stelle, wo die Münkhuysenberge überstiegen oder umgangen werden konnten; allein das hätte zweifellos mehrere Tagemärsche in Anspruch genommen, und daran war, entblößt von allen Lebensmitteln, nicht zu denken. Und wer konnte wissen, ob es von der Stelle aus, an der man die Küste erreicht hätte, überhaupt möglich gewesen wäre, zu den Kameraden zu gelangen.
Münkhuysen klagte sich selbst an, daß seine Gedankenlosigkeit diese bedenkliche Lage geschaffen habe, und bedauerte, daß er nicht wenigstens seinen Flugapparat mitgenommen habe, der jetzt alle Schwierigkeiten beseitigt hätte.
»Ich hätte überhaupt das Gebirge überfliegen können,« sagte er: »Ich dachte selbstverständlich auch daran; doch wollte ich die Mühen und Gefahren des Übersteigens mit Ihnen teilen.«
»Sie haben kein Recht, sich Vorwürfe zu machen, Baron,« sprach Mäusle ihm zu: »Wir alle tragen die gleiche Schuld an dem Versäumnis, denn jeder von uns hätte an diese naheliegende Vorsichtsmaßregel denken können und sollen: es kann nicht einer immer an alles denken.«
»Doch, doch! Ich allein bin schuld: als Leiter des Ganzen bin ich verpflichtet, an alles zu denken und für die Sicherheit meiner Gefährten Sorge zu tragen.«
Übrigens war Münkhuysen nicht der Mann, sich fruchtlosen Klagen hinzugeben: er faßte sich schnell wieder und hub an: »Das erste, was uns not tut, ist eine warme Unterkunft: wir müssen sofort an den Bau eines Hauses gehen.« Alsbald wies er auch jedem seine Tätigkeit an: die einen mußten Eisblöcke loshauen, andere gaben ihnen eine möglichst rechteckige Form, und die übrigen türmten diese Bausteine nach den Angaben des Ingenieurs Holm aufeinander. Münkhuysen selber war der eifrigste bei der Arbeit. Nach einigen Stunden war denn auch eine kunstlose, aber praktische Hütte zustande gebracht, und da eine mildere Luftströmung einen reichlichen Schneefall brachte, konnte man dieselbe zu besserem Schutze mit dicken Schneelagen umgeben und bedecken und auch mit einem engen und niederen Schneetunnel vor dem Eingang versehen.
Als unsere Freunde ihren neuen Eispalast betraten, mußten sich ihre Augen zunächst an die Dunkelheit gewöhnen; denn die Polarsonne stand schon tief am Horizont, und die kleinen, mit Eisscheiben versehenen Fenster ließen nur wenig von ihrem matten Lichte herein. Doch was wollte diese Unannehmlichkeit sagen gegen die schrecklichen Gefahren, die ihnen drohten: die Kälte im Innern des Gebäudes kam ihren durch die Arbeit erhitzten Gliedern doppelt grimmig vor, und der Hunger war durch die mehrstündige Anstrengung in solchem Maße bei allen geweckt worden, daß der Gedanke daran, daß ihnen jegliche Möglichkeit fehlte, ihn zu stillen, sie mit einem höchst peinlichen Unbehagen erfüllte.
»Jetzt sollten wir einen tüchtigen Hypnotiseur bei uns haben,« meinte Münchhausen, »einen Mann, der uns durch die Gewalt seiner Persönlichkeit und die Überzeugungskraft seiner Rede in die Einbildung wiegte, wir hätten soeben eine reichliche Mahlzeit zu uns genommen und verspürten weder Hunger noch Kälte.«
»Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen,« bestätigte Professor Raimund: »Die Macht der Einbildung wirkt tatsächlich Wunder. Bekanntlich kann man aus reiner Einbildung krank werden, ja sterben; denn was ist der so oft tödlich wirkende Schreck im Grunde anderes als leere Einbildung? Mag er noch so begründet sein, so ist er doch nur eine Vorstellung dessen, was kommen könnte, vielleicht auch wirklich kommen wird, einen jedoch noch nicht im geringsten wirklich betroffen hat. Ebenso vermag die Einbildung anderseits Kranke gesund zu machen, sogar solche, die an einer sonst unheilbaren Krankheit leiden. Und denken Sie nur daran, welches behagliche Gefühl der Wärme uns beschleicht, sobald wir das Feuer flackern sehen, obgleich es vorerst in der Stube noch so kalt ist wie zuvor. Lauscht man mit gespanntem Interesse einem Vortrag, so achtet man nicht der Kälte im frostigen Raum und infolgedessen erkältet man sich auch nicht; man vergißt darüber Hunger und Durst und wird bei der schwülsten Hitze nicht schläfrig, und wenn man vorher vor Müdigkeit kaum mehr die Augen offen halten konnte. Ebenso läßt ein spannendes Buch kein Frostgefühl, keinen Hunger noch Durst und keine Schläfrigkeit aufkommen, solange man sich ganz seinem Zauber hingibt.«
»Schön!« sagte Schulze: »Aber wer will es unternehmen, uns die Suggestion oder Einbildung beizubringen, wir seien satt und unser Eispalast wohlgeheizt?«
»Eigentlich wäre das mein Fall,« erklärte der Kapitän: »Ich habe selber schon häufig Versuche mit der Hypnose angestellt und in Australien sogar einen wilden Dingo durch sie gezähmt.« Und nun begann er mit großer Beredsamkeit auf die Gefährten einzureden, es sei hier innen gar nicht so kalt, und der Hunger könne unmöglich so groß sein, daß tatsächlich über seinen lebhaften Vorstellungen und dem Gelächter, das seine gelungenen Redewendungen oft erweckten, Hunger und Frost einigermaßen vergessen wurden.
Leider war er selber zu wenig von seinen Ausführungen überzeugt, um voll überzeugende Wirkung ausüben zu können. Doch hatte er noch ein besseres Mittel auf Lager, nämlich einige seiner angeblichen Erlebnisse zu erzählen, durch die er die Aufmerksamkeit seiner Leidensgefährten zu fesseln hoffte. Und so begann er: »Die Macht der Einbildung ist viel größer, als beschränkte Geister annehmen, die blind an den großen Rätseln des Lebens vorübergehen. Ich könnte Ihnen da Beispiele aus meinem eigenen Leben erzählen...«
»Tun Sie das!« ermunterte ihn der Baron.
»Nun denn! Sie wissen alle, daß ein Seemann so gut wie alles verstehen muß, insbesondere auch die Nähkunst. Er muß nicht bloß Segel flicken, sondern auch seine Kluft instand setzen, da wohl ein Schiffszimmermann zum Flicken des Schiffs, nie aber Schneider und Nähterinnen zur Ausbesserung der Kleider geheuert werden. Diese Kunst war meine besondere Stärke; namentlich verstand ich das Einfädeln vorzüglich, selbst wenn der Faden dicker war als das Ohr.
»Eines Tages wollte ich auch gerade ein Loch in meinem Wams kalfatern. Es war am Äquator und die Sonne blendete mich derart, daß ich mit dem Einfädeln durchaus nicht zustande kam. überdies dämmerte es schon, und da in den Tropen so gut wie keine Dämmerung herrscht, war es sehr dunkel. Endlich wurde mir die Sache zu dumm und ich rief den Faden zornig an: ›Hinein mußt du, ob du willst oder nicht!‹ Das half: mit einem Ruck fuhr der widerspenstige Faden durch die Nadel. Wie ich nun aber mit dem Stopfen beginnen will, was merke ich? Denken Sie sich, ich hatte die Nadel an der Spitze eingefädelt statt am Ohr! Jetzt war es mir klar, warum mir die Sache solche Schwierigkeiten bereitet hatte. Aber Sie sehen daraus, was Ausdauer und Willenskraft, gepaart mit Einbildung, auszurichten vermag: hätte ich mir nicht eingebildet, das Ohr vor mir zu haben, so wäre es mir gewiß nie gelungen, den Faden durch die Spitze zu treiben.«
»Großartig!« lobte Schulze lachend: »Sie brächten es auch fertig, mit einem Tau zu nähen, Kapitän.«
»Das will ich meinen! Ähnliches habe ich noch öfters erlebt. Ein anderes Mal — das war an Land — wollte ich ein Feuer anzünden und sammelte umherliegendes Holz. Es war nasses Wetter und das Holz war mit Schmutz überzogen. Da lag auch eine Stange, völlig mit klebrigem Lehm bedeckt. Ich wollte sie zerbrechen, allein sie setzte mir einen unerwarteten Widerstand entgegen. Das reizte mich, und mit einiger Anstrengung brach ich sie mitten durch. Zu meiner Überraschung erkannte ich am Bruch, daß es kein Holz war, sondern eine fünf Zentimeter dicke Eisenstange. Ihr Gewicht war mir gleich aufgefallen, doch ich hatte gemeint, es sei eben Eisenholz. Ich sage Ihnen, hätte ich gewußt, daß es Metall war, meine Kraft hätte nie ausgereicht, das Ding auch nur zu biegen. Auch hier war der Erfolg lediglich durch die Macht der Einbildung bedingt. Das war übrigens am gleichen Tage, an dem ich vom Blitz verfolgt wurde und ihm mit knapper Not entrann.«
»Oho! Wie war das?« fragte Holm begierig.
»Ja, das war eine böse Geschichte. Ich fuhr nämlich Rad, und zwar war ich, wie in so vielen Künsten, auch hierin ein Meister: der schnellste Segler hätte mich nie eingeholt. Nun brach ein Gewitter aus, als ich gerade aus topfebener Strecke dahinrollte. Sie wissen, daß der Blitz mit Vorliebe schnellfahrende Radler zu treffen sucht, vielleicht weil ihre Geschwindigkeit ihn reizt, zu beweisen, daß er noch flinker ist. Richtig sehe ich einen besonders dicken Blitz herniederfahren, gerade auf mich zu. Ich trat, was ich konnte, und so schnell der Strahl auch herabzuckte, bis er den Erdboden erreichte, war ich schon ganz wo anders. Er biegt also hart über der Erde ab, um mich zu verfolgen. Das war eine tadelnswerte Bosheit. Ich war mir, zurückblickend, der Gefahr bewußt und sauste mit verdoppelter Geschwindigkeit davon — er mir nach. Das war eine tolle Hetzjagd, ein Wettlauf zwischen mir und dem Donnerkeil! Der Blitz mußte sich immer länger strecken und wurde infolgedessen immer dünner, schließlich in der Mitte so dünn, daß er abbrach in dem Augenblick, als er schon glaubte, mich erreicht zu haben. Hilflos fiel er zu Boden. Ich sprang ab und zündete mir noch behaglich eine Virginia an seiner glühenden Spitze an, ehe er erlosch: das war meine Rache. Sie war äußerst milde, erfüllte mich aber doch mit Genugtuung. Als der Blitz völlig erkaltet war, brach ich mir ein Stück zum Andenken ab. Ich bewahre es noch in Adelaide auf zur Erinnerung an dies gefährliche Wettrennen. Jeder Besucher bestaunt es, denn es ist bisher noch niemand gelungen, ein echtes Blitzstück zu erbeuten, weil der Blitz tief in die Erde zu fahren pflegt oder ins Wasser, wo er sich rasch auflöst.«
Diese seltsamen Erlebnisse erheiterten die Gesellschaft derart, daß tatsächlich Hunger und Kälte vergessen wurden, bis sich alle zur Ruhe legten und sich einem erquickenden Schlafe Hingaben.
Am anderen Morgen erzählten sie einander ihre nächtlichen Träume; denn fast jedem hatte etwas geträumt, und, wie es zu gehen pflegt, wenn man sich mit knurrendem Magen niederlegt, die Träume bezogen sich alle auf üppige Mahlzeiten.
»Oh, ich träumte von Wurst und Brot! Es war ein herrlicher Traum!« rief Ernst aus.
»Und ich von Butter und Käse!« übertrumpfte ihn Holm.
»Das war noch gar nichts gegen meinen Traum,« behauptete Mäusle: »Man sagt, der erste Traum in einer neuen Wohnung gehe in Erfüllung. Ach! daß es so wäre! Mir träumte nämlich, ich sei beim Fürsten von Hohenlohe zur Tafel eingeladen und da wurde ein Mahl von zwölf Gängen aufgetragen: Krebssuppe, Kabeljau, Pasteten, Rehbraten, Gänseleberpastete, Gansbraten, alles mit den dazugehörigen köstlichen Mehlspeisen und Salaten sowie den schmackhaftesten Tunken, gefüllte Tomaten, Reis und Kartoffelbrei, Pfannenkuchen mit Apfelmus, Spargeln, Spinat mit Eiern; zuletzt Schweizerkäse, Obst, Torten und eine Eisbombe, dazu Südweine und Sekt in Strömen.«
»Halten Sie ein, halten Sie ein!« rief Kapitän Münchhausen entsetzt, während ihm das Wasser im Munde zusammenlief: »Sie Grausamer! Wollen Sie uns mit Tantalusqualen foltern? Auch mir hat ja Ähnliches geträumt — leider, leider! Aber Sie als Poet sollten über solche leibliche Genüsse erhaben sein.«
»Oho!« verwahrte sich der Schwabe: »Ein leckeres Mahl, zumal bei hungrigem Magen, gehört zum Poesievollsten, was es geben kann. Das habe ich nie so sehr empfunden wie gerade jetzt, wo ich für ein üppiges Frühstück Shakespeares sämtliche Werke opfern würde.«
»Shakespeares sämtliche Werke!« rief Raimund empört, denn er war ein großer Shakespeareverehrer: »Sie Ketzer, Sie Barbar, Sie Vandale, Sie Unmensch! Und Sie wollen Dichter sein?«
»Jawohl, den ganzen Shakespeare und noch Schiller und Goethe dazu gäbe ich für einen einzigen ausgiebigen Morgenimbiß!« erklärte Mäusle hartnäckig.
»Suggerieren Sie uns lieber ein gutes Frühstück!« seufzte Münchhausen: »Ich verspüre gewaltigen Appetit.«
»Das wäre eher Ihre Sache,« klagte der Schwabe: »In meiner Verfassung lassen sich schwerlich große Genüsse suggerieren.«
Holm fragte Ernst, da er doch hauptsächlich Chemie studiert habe, ob er nicht aus den überall vorhandenen Grundstoffen eine chemische Nahrung zu bereiten verstehe, erhielt aber zu seiner Enttäuschung die Antwort, so weit sei die Chemie leider noch nicht, und es fehle ihm auch an allen nötigen Geräten und Mitteln, um derartige Versuche anzustellen, die übrigens auch aussichtslos wären.
»Ach!« seufzte der Ingenieur: »Wie bald vielleicht trägt der Mensch seinen Nahrungsvorrat für viele Wochen in der Westentasche bei sich — und wir sollen verhungern, nur weil die faule Chemie eben zufällig jetzt noch nicht so weit ist!«
»Geben Sie sich keinen Täuschungen hin,« sagte Münkhuysen: »Die chemische Nahrung ist meines Erachtens ein ebensolches Unding, wie die hygienischen Häuser es sind, von denen verschrobene Köpfe träumen, welche durch falsch verstandene Wissenschaft den gesunden Menschenverstand eingebüßt haben. Unser Verdauungsapparat ist darauf eingerichtet, eben die Nahrung aufzunehmen, die uns in der Natur geboten wird; wollten wir nur die zum Bau des Körpers nötigen Nährstoffe aufnehmen, so müßte unser Organismus aus Mangel an natürlicher Tätigkeit zugrunde gehen; gelänge es aber, ihn an eine solche Nährweise zu gewöhnen, so würde ein Teil des Verdauungsapparates als überflüssig absterben, und dann müßte auch der kleinste Bissen, der einen für unseren Körper nicht anzugleichenden Stoff enthielte, zum Beispiel ein Stück Brot, eine Frucht, eine Beere und so weiter, wie das schärfste Gift tödlich auf uns wirken. Wollten wir vollends nur chemisch reine Luft einatmen — und das wird in den sogenannten hygienischen Häusern‹ angestrebt —, so würde unser Atmungsapparat aller schädlichen Stoffe derart entwöhnt, daß wir entweder an den Veränderungen, die er erleiden müßte, zugrunde gingen, oder aber das Einatmen natürlich beschaffener Luft gar nicht mehr ertrügen. Unser Leib ist eben für den Kampf ums Dasein eingerichtet und befähigt, das ihm Schädliche zu überwinden; hält man es ihm völlig fern, so verkümmert er und verliert die Kraft, sich gegen verderbliche Einflüsse wirksam zu wehren.«
»In der Tat,« fügte Ernst hinzu: »Die Chemie scheint mir nicht dazu berufen, die Natur auszuschalten und zu ersetzen. Versuchen Sie es doch einmal, Ihren Durst mit destilliertem Wasser zu löschen! Da schlotze ich doch noch lieber Eis!«
»Aber die Wissenschaft beschäftigt sich doch ernstlich mit den angeregten Fragen,« beharrte Holm. »Man wird sie doch nicht so kurz von der Hand weisen können.«
»Gehen Sie mir weg mit dieser Art von Wissenschaft, die wirklichkeitsfremde Theorien aufstellt und die Natur außer acht läßt,« warnte Mäusle. »Sucht nicht auch die Medizin nach Mitteln, die schädlichen Bazillen zu vernichten, ohne der leiblichen Gesundheit zu schaden? Ich halte das für undenkbar: der Schaden muß immer größer sein als der Nutzen; denn die Bazillen, die überall in zahllosen Mengen vorhanden sind, würden den ihnen günstigen Nährboden sofort wieder besiedeln. Wie können wir ihnen entgehen? Die Ärzte warnen vor dem Genuß ungekochter Speisen und Getränke, und das ist gewiß das Richtige in allen Fällen, wo Nahrungsmittel und Wasser außerordentlicherweise durch Krankheitskeime verseucht sind. Sie empfehlen peinliche Sauberkeit, und auch dies ist vom gesundheitlichen Standpunkt, wie schon vom rein appetitlichen, durchaus angebracht. Aber da gibt es Fanatiker der Vorbeugungsmaßregeln, die eine Unmenge von Vorschriften geben, die sich einfach nicht durchführen lassen, um zu verhindern, daß ein Bazillus in unseren Körper dringe. Jedes Buch, jede Zeitung soll desinfiziert werden, ehe man sie zur Hand nimmt, denn sie wimmeln von Bazillen. Das Küssen soll gefährlich sein, weil Bazillen die Lippen bevölkern, und so geht es fort. Mikrokokken haften an den Händen, daher ist kein Bissen Brot von ihnen frei, denn das Brot wurde vom Bäcker und Bäckerjungen mit den Händen berührt. Die Bazillen schweben in der Luft, also müßte man uns das Atmen verbieten. Sterilisieren wir das Brot und desinfizieren wir unsere Hände, ehe wir es zum Munde führen, so hilft uns das nichts, denn das Berühren einer Türklinke, einer Stuhllehne, unserer Kleidung oder gar des Taschentuchs führt sofort wieder die Kleinlebewesen zu Millionen auf unsere Finger. Gelänge uns jedoch die Vermeidung aller dieser Gefahren, so wäre auch damit nichts gewonnen, weil die Scheusäler an unseren Lippen hasten und unsere Mundhöhle bevölkern. Und zuletzt würden wir an unserer übertriebenen Vorsicht selber sterben, weil mit den schädlichen Bazillen auch diejenigen vernichtet würden, die wir zum Leben unbedingt nötig haben. Daher sterben auch die Säuglinge, die ausschließlich mit sterilisierter Milch ernährt werden, während diejenigen gedeihen, die an der undesinfizierten Mutterbrust zahllose nützliche und schädliche Bazillen in sich ausnehmen. Vernichten Sie die Würmer auf einem Aas, Sie werden den Verwesungsprozeß dadurch nicht hindern, weil sofort wieder neue Würmer auf dem ihnen zusagenden Nährboden entstehen. Verwandeln Sie jedoch das Fleisch in einen für die Würmer ungeeigneten Nährboden, so verschwinden diese von selbst. Daraus ergibt sich, daß nicht das Töten der Mikrokokken Heilung bringen kann, sondern allein die Kräftigung und Gesundung der von ihnen befallenen Organe. Ist unser Leib stark und gesund, so können ihm noch so viele Bazillen nichts schaden: ihn hermetisch vor ihnen verschließen können wir niemals. Alles sogenannte Immunisieren, das heißt Feien der Organe gegen Ansteckungsstoffe, schadet, vergiftet und schwächt, begünstigt also die Erkrankung, während die Kräftigung der Organe allein vor ihr schützt oder befähigt, sie zu überwinden. Darum sind die Bazillenjäger auf einem verhängnisvollen Holzweg.«
»Bravo!« sagte Münkhuysen: »Das ist auch meine Überzeugung. Aber jetzt heißt es arbeiten, sonst verhungern wir!«
Der Baron wies nun die ganze Gesellschaft an, das Eisgebirge im Norden mit ihren Eispickeln anzugreifen und eine Höhlung hineinzugraben. Offen gestanden fürchteten die meisten, die Aufregungen und Entbehrungen der letzten Zeit hätten den sonst so klardenkenden Mann in geistige Verwirrung versetzt. Denn das Beginnen, das er von ihnen verlangte und bei dem er selbst kräftig Hand mit anlegte, konnte doch nur den Zweck haben, einen Tunnel durch die Münkhuysenberge hindurchzugraben, ein Werk, das für die wenigen geschwächten Männer ein Ding der Unmöglichkeit scheinen mußte, auch wenn sie monatelang hätten arbeiten können.
Sie waren aber gewohnt, Münkhuysens Anordnungen blindlings zu folgen, und auch diesmal sollten sie es nicht bereuen.
Ein lautes »Hurra!« erscholl, als man nach mehrstündiger Arbeit auf den Riesenkörper eines Mammut stieß. Münkhuysen hatte ganz richtig geschlossen, daß hier, wie im Norden, noch manche Tiere früherer Jahrtausende eingefroren und gut erhalten zu finden seien. In der Tat war das Mammut bis auf den behaarten Pelz so frisch und unversehrt, als wäre es soeben erst von einer tödlichen Kugel getroffen worden.
Rasch wurden mächtige Stücke Fleisch aus dem Riesenkörper gehauen; aber die Ausgehungerten kamen alsbald in eine neue Verlegenheit: wie sollte das kostbare Fleisch zum Genuß zubereitet werden? Fehlte es ihnen doch vollständig an Brennmaterial, da sie die Stiele ihrer Pickel nicht opfern durften; wer konnte wissen, wie nötig ihnen diese ihre einzigen Wertzeuge noch werden konnten?
Sie zogen sich zur Beratung in den Eispalast zurück, den sie »Holmheim« genannt hatten, da Holm als Ingenieur den Plan entworfen und den Bau geleitet hatte. Der Raum war nun angenehm durchwärmt, da die von neun Personen während des Schlafes entwickelte Körperwärme noch darin vorhielt.
Die Beratung schien übrigens vergeblich, denn niemand wußte einen anderen Rat als den, die Pickelstiele zur Feuerung zu benutzen. Zündhölzer waren genug vorhanden, da die Gesellschaft meist aus tüchtigen Rauchern bestand.
Münkhuysen hatte bisher nachdenklich dagesessen; nun rief er aus: »Ich hab's! Braten wir das Mammut mit Hilfe seines eigenen Fetts!«
»Das ist ein Gedanke!« rief Raimund: »Ein Glück, daß Sie darauf kamen, Baron: es kommt immer alles darauf an, daß einem im rechten Augenblick das Richtige einfällt, sonst geht man zugrunde, wo man es durchaus nicht nötig hätte. Warum sollte das Mammutfett nicht brennen, da doch der Seehundspeck ein so treffliches Feuerungsmittel ist? Wie viele Polarreisende haben sich mühsam behelfen müssen oder sind gar elend umgekommen, nur weil sie diese Eigenschaft des Robbenfettes nicht ahnten und nicht darauf kamen, einen Versuch damit zu machen.«
»Also ans Werk!« mahnte Kapitän Münchhausen, der Hungrigste der Hungernden: »Fertigen wir Dochte an aus einem Endchen unseres unendlichen Seiles.«
»Nicht einmal das wird nötig sein,« meinte Mäusle: »Ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß der Seehundspeck ohne Docht viel besser brennt als mit einem solchen.«
Alsbald wurde in der Eishütte ein kleiner Herd aus Steinen errichtet, Mammutfett in die Feuerstelle gebracht und entzündet. Der Speck brannte, nachdem er aufgetaut war, mit starker Flamme. Fleischstücke wurden darüber befestigt und gewendet, und es währte nicht lange, bis sie sich in saftige Braten verwandelten.
Niemals hatte irgend einem aus der Gesellschaft ein Mahl so köstlich gemundet wie dieses mehrere tausend Jahre alte und doch so wohlerhaltene Fleisch, das dem frischesten und feinsten Wildbret an Wohlgeschmack nichts nachgab.
Der Kapitän hieb am wackersten ein; als er aber endlich gesättigt war, streichelte er voller Wohlbehagen die stattliche Wölbung seines Leibes und ergriff das Wort.
Wir haben schon vernommen, daß er zu behaupten liebte, sich auch in den außerordentlichsten Lebenslagen schon einmal befunden zu haben, und so war es auch diesmal wieder.
Meine Herren!« begann Münchhausen: »In einer ganz ähnlichen Verlegenheit, wie diejenige, in der wir eben vorhin steckten, befand ich mich schon früher einmal am antarktischen Kontinente. Bei meiner ersten Südpolexpedition, die ich vor nunmehr zehn Jahren auf eigene Faust unternahm, hatte ich mit unglaublichen Schwierigkeiten zu kämpfen, worunter nicht die geringste war, daß ich, ein zweiter Kolumbus, einer Meuterei unter meiner Mannschaft entgegentreten mußte.
»Als nämlich meine Mannschaften den ungeheuren Eisgürtel erblickten, welcher den Südpolarkontinent umschließt, verlangten sie durchaus nach dem Nordpol. Nur meinem energischen Auftreten war es zu verdanken, daß die Meuterer alsbald überwältigt wurden. Statt nun dieselben grausam zu bestrafen, ließ ich meine angeborene Milde walten und sammelte feurige Kohlen auf ihre Häupter; dieses edelmütige Verfahren hatte denn auch den Erfolg, daß die Leute ihr Unrecht einsahen und bereuten und mir fortan mit blinder Ergebenheit zugetan waren.
»Bekanntlich betraten wir den antarktischen Kontinent zwischen Wilkes-Land und Kemp-Land und hatten das Unglück, daß während unserer Landung unser Schiff mit den wenigen zurückgebliebenen Matrosen durch einen plötzlichen Sturm verschlagen wurde. Wir sahen uns daher auch gezwungen, eine Eis- und Schneehütte zu errichten. Pinguine, Pelzrobben und Seeelefanten gab es an jener Küste noch genug, aber es fehlte uns an Feuer. Ich erinnerte mich, daß solches durch Reibung erzeugt werden kann. Wir rieben daher fleißig Eisstücke aneinander, dieselben wurden aber rasch zu Wasser, ohne Funken von sich zu geben. Nun war guter Rat teuer! Plötzlich fielen mir die glühenden Kohlen ein, die ich auf die Häupter der Meuterer gesammelt hatte: ich bat um dieselben, und sie wurden mir bereitwilligst zur Verfügung gestellt, so daß wir uns bald an einem herrlichen Braten erlaben konnten, der uns mit frischer Kraft und neuem Mute erfüllte.
»›An feurigen Kohlen soll es uns ferner nie mehr fehlen!‹ schwuren meine Getreuen in aufwallender Begeisterung; und sie hielten Wort: in edlem Wetteifer bemühten sie sich seither, einander allerlei Böses zuzufügen, um dasselbe hernach mit Gutem zu vergelten, so daß wir stets Feuer bei der Hand hatten.«
Über diese echte Münchhauseniade, die der Kapitän mit der ernstesten Miene völligster Wahrhaftigkeit vortrug, wurde herzlich gelacht, und allgemein wurde er gebeten, noch weitere Abenteuer zur Unterhaltung und Belehrung mitzuteilen.
»Hm!« sagte er, »bei unserer elenden Mammuttranbeleuchtung gedenke ich mit Bedauern des märchenhaften Glanzes, der unsere Eishütte erhellte. In dieser herrschte nämlich anfangs die stockfinsterste Nacht, da wir sie, der besseren Erwärmung halber, vergessen hatten, mit Fenstern zu versehen. Wir hätten uns gerne mit leuchtendem faulen Holze begnügt, wenn solches zu haben gewesen wäre. Ich bat alle Forscher und Gelehrten, die an meiner Expedition teilgenommen halten, ein Mittel zu ersinnen, um Licht zu schaffen; aber sie erklärten es für ein Ding der Unmöglichkeit; und so sehr ein jeder bemüht war, sein Lichtlein leuchten zu lassen, so zeigten sich diese Leuchten der Wissenschaft doch machtlos der natürlichen Finsternis gegenüber.
»So blieb mir nichts übrig, als selber nachzudenken, was ich nur ungern tue, jedoch niemals ohne Erfolg. Bald hatte ich auch einen Gedanken: ich ließ aus einem Eisblock eine zwei Meter hohe Kiste aushauen und die Außenwände lichtdicht mit Robbenpelzen besetzen; den beweglichen Deckel bildete ein festgefrorenes Robbenfell, das glatt und lichtdicht schloß.
»Nun sagte ich mir: das Licht hat eine Geschwindigkeit von etwa 300 Millionen Meter in der Sekunde (genau wußte ich die Zahl nicht mehr, aber ungefähr mußte das stimmen).«
»Ganz richtig!« bestätigte Raimund: »Man berechnet 299 900 Kilometer.«
»Also!« triumphierte Münchhausen: »Aus 100 Kilometer kommt es da nicht an. Sagen wir also rund 300 Millionen Meter; lasse ich nun die Sonne in meine Kiste scheinen und gelingt es mir, den Deckel in einer dreihundertmillionstel Sekunde zu schließen, so kann in dieser Zeit nur der oberste Kubikmeter Licht entweichen, und ich habe immer noch einen Kubikmeter Sonnenlicht in dem Kasten gefangen!
»Von wegen der herrschenden unmenschlichen Kälte war das Eis eisenhart gefroren; ich ließ nun sorgfältig acht große Zahnräder, ähnlich den Rädern der Taschenuhren, aus dem Eis aushauen. Jedes Rad hatte hundert Zähne, während es an der Achse einen fünfzahnigen Auswuchs besaß, in welchen das nächste Rad eingriff; die Achsen, um welche die Räder sich drehten, und die Kurbel des achten Rades gaben die Stiele unserer Werkzeuge ab.
»Da immer ein hundertzahniges Rad in die fünfzahnige Achse des folgenden eingriff, so ist es klar, daß jedes Rad zwanzig Drehungen machen mußte, wenn das vorhergehende eine Drehung machte; auf eine Umdrehung des achten Rades kamen daher 207 = 1 280 000 000 Umdrehungen des ersten Rades. Führte also das achte Rad in einer Sekunde eine Drehung aus, so machte das erste in derselben Zeit 1 280 000 000 Umdrehungen; demnach vollführte es eine Umdrehung in einem Eintausendzweihundertundachtzigmillionstel einer Sekunde. Ich brachte nun das erste Rad mit dem Deckel der Kiste derart in Verbindung, daß eine halbe Drehung des Rades den Deckel schließen mußte; somit gelang es, die Kiste so rasch zu schließen, daß fast alles Sonnenlicht darin gefangen blieb.
»Aber, was meinen Sie, meine Herren? Als wir beim ersten Versuch die Kiste in unserer Hütte öffneten, war nichts vom erhofften Sonnenglanz zu sehen; es blieb so dunkel, wie zuvor! Ich sann über die Ursache dieses Rätsels nach; meine Berechnungen waren richtig, wie ich mich durch Nachrechnung überzeugte, auch die Kiste wies keinen Mangel aus: woran konnte der Fehler liegen?
»Ich kam bald daraus: das freigelassene Sonnenlicht hatte sich durch unseren Eingangstunnel wieder entfernt, und zwar so rasch, daß es nicht einmal einen blitzartigen Eindruck auf die Augen machen konnte. Um Abhilfe war ich nicht verlegen: bekanntlich bewegen sich die Lichtstrahlen nur gradlinig fort; ich ließ daher unseren Tunnel abbrechen und einen neuen in vielen möglichst spitzwinkligen Windungen anlegen. Zu größerer Vorsicht brachte ich noch mehrere Vorhänge aus weißen Robbenfellen im Gange an, die etwa entweichendes Licht zurückwerfen mußten. Und siehe da! der nächste Versuch zeigte, wie menschliche Schlauheit selbst die Geschwindigkeit des Lichts überwindet: aus der geöffneten Kiste fluteten diesmal die Sonnenstrahlen leuchtend heraus, verteilten sich im Raum, tausendfach gespiegelt und zurückgeworfen von den Kristallwänden; sie konnten nicht mehr hinaus.
»Ich füllte die Kiste noch mehrmals mit Sonnenschein, den ich auf gleiche Weise in unser Heim verbrachte und dort ausströmen ließ, und nun funkelte und glitzerte dadrinnen alles, wie in einem Feenpalast. Da wir ängstlich vermieden, irgend etwas Schwarzes in unserer Hütte anzubringen, das etwa Lichtstrahlen hätte auffangen können, strahlte uns das Sonnenlicht ungeschwächt in unserem Palast den ganzen Polarwinter hindurch, was von großem Werte war, da an eine Erneuerung des Lichts in der herrschenden Nacht nicht zu denken gewesen wäre.
»Nun stellen Sie sich vor, meine Herren, welch ein märchenhafter Anblick es war, wenn wir von unseren Jagdzügen im nächtlichen Dunkel, das höchstens vom blutigen Glanz des Südlichtes durchdämmert wurde, zurückkehrten und fanden in unserer Wohnung den lachendsten Sonnenschein!«
Unter großer Heiterkeit wurde der Kapitän allgemein zu seinem großartigen Gedanken beglückwünscht, und Holm fügte hinzu: »Kapitän, solange wir Sie in unsrer Mitte haben, droht uns keine Verlegenheit!«
Münchhausen aber tat, als nehme er dieses Scherzwort für bare Münze, wie sein selbstgefälliges Schmunzeln bewies. Überhaupt gab er sich stets den Anschein, als schmeichle er sich, man glaube ihm alles aufs Wort.
Darüber, daß in den Breiten, in welchen der Kapitän überwintert haben wollte, überhaupt noch keine lang andauernde Polarnacht herrschte, wurde kein Wort verloren, denn es wäre einfältig gewesen, solche Scherze auf die Goldwaage streng wissenschaftlicher Kritik zu legen: Unwahrscheinlichkeiten mußte man mit in Kauf nehmen, und tat es gerne, um der angenehmen Unterhaltung willen, die einem solche phantastische Stückchen gewährten.
»An eine andere Art der Erleuchtung habe ich schon gedacht,« sagte Münkhuysen: »Ist nicht der Mond ein großer matter Spiegel, der trotz seiner mangelhaften Widerspiegelung unsere Nacht zu erhellen vermag? So sollte doch auch das Sonnenlicht mittels Spiegelung von den erleuchteten Teilen der Erde den umnachteten zugeführt werden können. Ich glaube, es wird noch so weit kommen, daß man teils die Telegraphenlinien, teils die Spitzen der Bergzüge dazu benutzt, ununterbrochene Reihen von Spiegeln aufzustellen, welche das Sonnenlicht über die ganze Erdoberfläche verteilen.«
Über die Ausführbarkeit dieses Gedankens entspann sich ein lebhafter und anregender Gedankenaustausch.
Unsere Freunde befanden sich übrigens immer noch in einer recht bedenklichen Lage. Der Polarwinter drohte hereinzubrechen, und im besten Falle waren sie zu einer unfruchtbaren Überwinterung verdammt, wenn es ihnen nicht gelang, eine Verbindung mit dem »Südkreuz« herzustellen.
Die »Kameraden an der Küste hätten zwar die Verbindung mit ihnen zustande bringen können, wenn sie alle noch vorhandenen Seile zusammenbanden. Aber ob sie auf diesen Gedanken kamen, war die Frage.
Kapitän Münchhausen schlug vor, große Brenngläser aus Eis herzustellen, und mit ihrer Hilfe die Gletscher aufzutauen, das heißt, ein Loch durch sie zu brennen. Daß sie nicht durch und durch aus Eis bestanden, sondern in der Hauptsache aus Erde und Felsen, kümmerte ihn wenig.
Zum Bohren eines Tunnels durch die Münkhuysenberge fehlte es an Bohrmaschinen und Sprengmitteln, abgesehen davon, daß dies eine Arbeit von Monaten oder gar Jahren bedeutet hätte. Das einfachste wäre immerhin gewesen, Stufen in die obere, unzugängliche Felswand zu hauen. Allein vor Einbruch der Polarnacht wäre man keinesfalls damit fertig geworden.
Während die anderen beratschlagten, was zu tun sei, saß Michael Mäusle abseits, in tiefes Nachsinnen versunken.
Plötzlich rief er aus: »Heureka! Ich hab's! Heda, Baron, ist viel Schnur vorrätig?«
»Gibt's nicht!« erwiderte Münkhuysen: »Drüben über dem Gebirge genug, bei uns hier aber kein Endchen, abgesehen natürlich von unserem Seil.«
»Das hilft uns nichts, denn das können und dürfen wir nicht aufdrehen. Und doch brauche ich notwendig einige hundert Meter Bindfaden. Ist keiner da, so muß Ersatz geschafft werden.«
»Nun,« sagte der Baron, »aus der Haut und den Sehnen des Mammut lassen sich schmale und doch zähe Streifen genug schneiden.«
»Das gibt zu gewichtige Ware,« meinte Mäusle: »Dagegen sind die Gedärme wohl geeignet. Also, alle Mann ans Werk, und die Därme in möglichst schmale und lange Streifen geschnitten!«
»Was haben Sie vor?« fragte Ernst neugierig.
»Einen Drachen will ich bauen, den wir mit vernünftigen Anweisungen über das Gebirge zu unseren Kameraden fliegen lassen.«
»Das läßt sich hören!« meinte Holm: »Ich will unterdessen ein großartiges Gestell zimmern, als Ingenieur, der ich bin. Aber wo nehme ich das Material her?«
Doch auch da wurde bald Rat geschafft: Der Stiel eines Eispickels wurde gespalten und in dünne Leisten zerlegt.
Mit Hilfe einiger Lederstreifen aus Mammuthaut wurde nun das Gerippe des Drachen hergestellt. Zur Überkleidung desselben dienten die Därme des Urwelttieres, die, aufgeschlitzt, breite und äußerst leichte Bänder gaben; diese wurden der Länge nach aneinander genäht mit Fäden, die aus ganz feinen Darmstreifen gefertigt wurden. Dann wurde das Gestell mit diesem für den Zweck vorzüglichen Material überspannt.
Als nun auch eine genügend lange Schnur bereit lag, schrieb Mäusle auf mehrere Blätter seines Notizbuches die gleichlautende Weisung: »Bindet Taue zusammen und schießt sie herüber; befestigt aber zuvor das andere Ende.« Dieses Rettungsmittel war so einfach, daß die Kameraden drüben eigentlich hätten von selber darauf kommen sollen.
Die gleiche Weisung wurde nun noch mit großer Schrift auf den Drachen gemalt. Als Tinte mußte Blut dienen, das sich in gefrorenem und geronnenem Zustand reichlich im Leibe des Mammut befand.
»So!« sagte der Schwabe: »Gelangt der Drache hinüber, dann ist es gut. Wenn nicht, so müssen wir hoffen, daß der Wind den einen oder anderen Zettel unseren Freunden zuweht.«
Um dies zu ermöglichen wurden die Zettel mehr oder weniger angerissen und an den teilweise abgerissenen Streifen am Drachen festgebunden. So konnte der Wind nach und nach das völlige Losreißen der Blätter bewirken, die dann auf gut Glück hinabfliegen sollten.
Bei günstigem Wind stieg der mit einem Schwanze versehene Drache vorzüglich. Immerhin dauerte es lange, bis er den Gipfel der Münkhuysenberge erreichte. Zwei Zettel hatten sich schon zuvor gelöst und wurden in das diesseitige Tal herabgewirbelt. Drei andere aber, flogen zur rechten Zeit über das Gebirge, und auch der Drache nahm schließlich die Richtung nach Norden.
Als der günstige Augenblick gekommen schien, wurde die Schnur losgelassen. Noch eine Weile schwankte das Ungetüm in den Lüsten, dann stürzte es rasch und verschwand jenseits des Berges.
Nun kam alles darauf an, ob die Botschaft ihr Ziel erreichte. Nach dreistündigem, langem Warten wurde unseren Freunden endlich die gewünschte Gewißheit: eine Kugel kam über den Paß geflogen und brachte ein Seil, das nun zu beiden Seiten des Gebirges herabhing.
Cavini, als der gewandteste Kletterer, wurde hinaufbeordert. Mit Hilfe des Taues erklomm er mit einiger Schwierigkeit die Gletscherwand. Auf dem Grade angekommen, zog er das große verknotete Seil aus dem Talgrund zu sich herauf, nachdem dieses an den neuerdings herübergeschossenen Strick befestigt worden war. Dann ließ der Steuermann das Ende des Riesenseiles, mit einem angebundenen Felsstück beschwert, auf die Seeseite hinab. Hüben und drüben wurden die Enden fest verankert.
So war die Verbindung von Holmheim mit dem »Südkreuz« gesichert, und weitere ähnliche Zwischenfälle, wie der glücklich überwundene, schienen fortan ausgeschlossen.
Es wurde beschlossen, in dem Tale jenseits der Münkhuysenberge, wo sich der »Eispalast« befand, zu überwintern. Dort war man vor der Wut der Stürme gut geschützt und hatte einen bequemen Ausgangspunkt für weitere Forschungen und das Vordringen gegen den Pol nach Wiedererscheinen der Sonne.
Um die Vorräte und Werkzeuge über das Gebirge zu schaffen, richtete Holm mittels Tauen und einer Welle eine regelrechte Seilbahn ein, die über den Paß sämtliche Ballen und Kisten herüberbeförderte, wobei das nötige Übergewicht auf der einen Seite durch die mit Eisblöcken gefüllten leeren Kisten hergestellt wurde. So bekam man nach und nach alle nötigen Vorräte nach Holmheim.
Hatten die Südpolfahrer bisher in ihrem Tale keine Spur von Wild entdeckt, was Münkhuysen seinerzeit veranlaßt hatte, nach dem Mammut zu graben, so wurden durch ihre Anwesenheit nach und nach Eisbären angelockt, schreckliche Ungetüme, bedeutend größer als ihre nordischen Vettern. Sie gaben ihnen den Namen »Schwanzbären«, wegen ihres langen Schweifes. Diese gefährlichen Raubtiere, denen einer der italienischen Matrosen beinahe zum Opfer fiel, schienen sich nur im antarktischen Binnenlande aufzuhalten, da sie an der Küste nie beobachtet wurden. Vor ihren Angriffen schützte unsere Freunde Professor Raimund, indem er eine starke elektrische Batterie aufstellte und den Strom durch einige dicke Drähte leitete, mit denen er ganz Holmheim umgab. Die Eingangstüre zu dem Zaun war mit gläsernen Handgriffen versehen, um einen Unfall zu verhüten.
Diese Einrichtung lieferte manchen der feisten Bursche in die Küche. Die Eisbären umklammerten nämlich öfters den Draht mit ihren Tatzen, um die Umzäunung niederzureißen. Durch den Strom festgehalten und geschüttelt, brüllten sie vor Entsetzen und Schmerz. Dann eilte man herbei, um den wehrlosen Gefangenen mit Äxten und Messern den Garaus zu machen, da mit der Munition sparsam umgegangen werden sollte.
An Unterhaltung fehlte es der Gesellschaft in Holmheim nicht. Waren die Sterne sichtbar, so konnte man sich stundenlang mit dem Paläoskop beschäftigen, da Münkhuysen mehrere dieser Instrumente mitgenommen hatte. Die Beobachtungen wurden dann ausgetauscht und boten einen äußerst anregenden Gesprächsstoff, sah man doch der Wunder genug. Ernst, der alles fleißig aufzeichnete, füllte einen dicken Band allein mit den erstaunlichen Enthüllungen, die man dem Paläoskop verdankte.
Viel Zerstreuung gewährte auch der von Münkhuysen erfundene Radiograph, ein Instrument, das in gleicher Weise die Lichtwellen aufbewahrte und wiedergab, wie es der Phonograph mit den Schallwellen tut. Mit diesem Instrumente führte Münkhuysen eine Anzahl der interessantesten Ereignisse der jüngsten Tage vor, die er persönlich ausgenommen hatte; er eröffnete die herrlichsten Panoramen der berühmtesten Aussichtspunkte der Welt, er ließ Zirkus- und Theateraufführungen vor unsrer Freunde Augen sich abspielen. Die Täuschung war hiebei so vollkommen, daß man in der Tat Theater, Aussichtspunkte und so weiter besuchen konnte, wann man Lust dazu hatte.
Selbstverständlich hatte Münkhuysen auch die ganze Reise radiographisch aufgenommen, und ganz besonderes Vergnügen gewährte es, den Kampf Maibolds mit den Wogen und die allmähliche Glättung der See durch die Seife wieder an ihrem Auge vorüberziehen zu sehen; denn der Apparat hatte, automatisch arbeitend, dies alles mit ausgenommen.
Raimund war beim letzten Scheine der Sonne auf den Gedanken gekommen, auf einem dieser Instrumente die Schwingungen der Sonnenstrahlen aufzunehmen, und Holm hatte den Apparat mit einem Uhrwerk versehen, so daß man nun auch beständiges Sonnenlicht in Holmheim genoß, statt der etwas düsteren Tranbeleuchtung. Aus dieser neuen Verwendung des Radiographen war somit der Heliograph entstanden, und was Kapitän Münchhausen so kühn gefabelt hatte, war hier zu Wirklichkeit geworden, wenn auch in anderer, nicht so abenteuerlicher Weise: man hatte die Sonnenstrahlen dauernd gefangen und konnte die Eindrücke auf der Platte, so oft man wollte, in strahlendes Licht umsetzen.
Nimmt man zu alledem die gelehrten, wissenschaftlichen, poetisch anregenden Gespräche, die in diesem auserlesenen Kreise geführt wurden, die heitern und mehr als abenteuerlichen Erzählungen von Kapitän Münchhausen, — so kann man sich vorstellen, daß die tödliche Langeweile, die eine der größten Gefahren bei einer Überwinterung in der Nähe der Pole bildet, die Gesellschaft dauernd verschonte.
Als man wieder einmal durch das Paläoskop teils die Rätsel ferner unbekannter Welten, teils die Geheimnisse der irdischen Vergangenheit bewundert hatte, sagte Neeltje: »Wenn wir erwägen, welche unerschöpfliche Fülle von Unterhaltung, Belehrung und Anregung uns allein des verehrten Barons märchenhafte Erfindungen gewähren, so brauchen wir die Gefahr irgendwelcher Langerweile nicht mehr zu befürchten, weder hier im Polareis und in der monatelangen Nacht, noch in der endlosen Ewigkeit, der wir entgegensehen. Ich erwähne nur, daß wir uns Tausende von Jahren damit beschäftigen könnten, die vergangene Völkergeschichte der Erde und die nicht minder interessanten Erlebnisse aller einzelnen Menschen zu studieren. Ich glaube, tausend und noch mehr Jahre würden nicht hinreichen, um nur alles Interessante zu beobachten, was sich in einem einzigen Jahre gleichzeitig aus unserer kleinen Erde abgespielt hat. Und wenn ich nun bedenke, daß Millionen von Erden im Weltall kreisen, die größtenteils hundert- und tausendmal größer sind, als unser Planet, Welten, die zweifellos auch mit vernünftigen Wesen bevölkert sind und eine noch weit ältere und fesselndere Geschichte besitzen dürften, wie ist da überhaupt an ein Fertigwerden zu denken, wenn man auch nur die Vergangenheit kennen lernen will. Aber während wir so von einem Staunen und Entzücken ins andere geraten, läuft die Geschichte dieser Millionen Welten unaufhörlich weiter. Mögen einzelne auch untergehen, so werden doch noch viel mehr neue entstehen und mit ihrer Geschichte beginnen.«
»Sie haben recht!« sagte Professor Schulze begeistert: »Das ist aber erst eines. Nun aber stellen Sie sich vor: wir werden auch all die herrlichen Landschaftsbilder der Erde und ferner Planeten bewundern können, eins nach dem anderen in ihrem beständigen Wechsel durch die Jahrhunderte. Wir werden die gesamte Tier- und Pflanzenwelt aller Zeitalter hier und in höheren Welten zum Gegenstand unserer Forschung machen. Und wer weiß, ob nicht die Tiere, bis zu den kleinsten Insekten, jedes seine besondere Lebensgeschichte hat, die in ihren merkwürdigen Schicksalen den Erlebnissen der Menschen nicht nachsteht. Das wäre Beschäftigung für Milliarden von Jahren, während derer die beständige Weiterentwicklung unaufhörlich neuen Beobachtungsstoff schaffen würde.«
Michael Mäusle war Feuer und Flamme für diese Gedanken und sagte lebhaft: »Wenn ich an die Schöpfungen des Menschengeistes denke, an die Werke der Dichtkunst, Bildkunst und Tonkunst, so ergreift mich ein unsagbares Entzücken bei der Vorstellung, daß ich sie alle in der Ewigkeit genießen soll, und zwar nur diejenigen, die es wirklich wert sind. Ich darf trunkenen Auges bewundern, was je die besten Künstler, Maler, Bildhauer und Baumeister auf Erden schufen; ich darf von Meistern die größten Werke der Musiker spielen hören, von Engelschören ihre schönsten Lieder vernehmen; ich darf mich vertiefen in die herrlichen Werke aller Dichter und Schriftsteller, die je gelebt haben. Aber damit bin ich nicht fertig: diese begnadeten Künstler haben zweifellos in der Ewigkeit neue und ungleich vollkommenere Werke geschaffen in unendlicher Fülle. Wer wollte dieses Meer der edelsten Genüsse jemals ausschöpfen? Und dann kämen erst die zahllosen anderen Welten mit ihrer Kunst und Literatur durch Jahrmillionen hindurch.«
»Ich freue mich besonders,« begann nun Ernst Frank, »die Naturgesetze aller Welten ergründen zu dürfen und zu lernen, welche unerschöpfliche Fülle von Stoffen durch alle Arten von Mischung der Grundstoffe erzeugt werden können.«
Auch Holm und Raimund äußerten noch ihre Wünsche und Erwartungen.
Als nun alle nachdenklich schwiegen, erklärte Eva: »Mehr als alles andere reizt mich der Gedanke, Millionen bedeutender und guter Menschen der Erde und der höheren Welten, auch höhere Wesen, Engel und Geister, persönlich kennen zu lernen und Freundschaft mit ihnen schließen zu dürfen. Wie wird man da plaudern können, sich ihre Schicksale erzählen lassen und so vieles Neue, Hohe und Tiefe aus ihrem Munde vernehmen, wenn ich mir nur vorstelle, daß ich etwa mit Abraham, David, Paulus, Sokrates, Luther und anderen mich unterhalten darf, was muß das für unaussprechliche Wonne sein!«
»So viel Herrliches gesagt wurde über die unendliche Fülle von Beschäftigungen, Genüssen und neuen Erkenntnissen, für die selbst die Ewigkeit nie zu lang werden kann,« nahm zuletzt Münkhuysen das Wort, »so möchte ich doch noch etwas hinzufügen, was mir eine Hauptsache scheint, und das ist — die Tätigkeit. Wir werden alle auch unsere Arbeit haben und neue herrliche Werke schaffen, jeder nach seinen stets vollkommener werdenden Gaben. Und diese Tätigkeit allein schon würde genügen, die Ewigkeit für uns auszufüllen und zu einer unerschöpflichen Quelle der Seligkeit zu machen. Denn diese Arbeit wird uns nie ermüden oder gar verdrießen, sondern unsere höchste Wonne sein«
»Und alles wird die heilige, selige Liebe aller zu allen verklären, und das wird neben der göttlichen Liebe noch das allerschönste sein,« fügte Neeltje hinzu, und damit nahm dieses Gespräch über die höchsten Fragen und Erwartungen sein Ende, denn alle erkannten, daß damit das Köstlichste ausgesprochen sei.
Eines Tages kam ein merkwürdiger Streitfall zwischen zweien der italienischen Matrosen vor.
Münkhuysen hatte im Laufe eines wissenschaftlichen Gesprächs die Behauptung ausgestellt, einen wissenschaftlichen Beweis gebe es überhaupt nicht.
»Das meinen Sie doch nicht im Ernst!« wandte Doktor Maibold mit seinem spöttischen Lächeln ein.
»Wieso nicht im Ernst?« entgegnete der Baron: »Was kann denn die Wissenschaft mehr, als Gründe anführen, die eine ihrer Aufstellungen wahrscheinlich machen? Diese Gründe sind meist sehr zweifelhafter Natur; sie genügen aber vielleicht, um anderen einzuleuchten, namentlich solchen, die das Pulver nicht erfunden haben; dann wird gleich geschrieen: ›Dies ist ein feststehendes, bewiesenes wissenschaftliches Ergebnis!‹ Später kommt einer mit noch besseren Gründen und stößt das gesicherte Ergebnis um, bis man nach einiger Zeit wieder erkennt, daß auch seine ›Beweise‹ nicht stichhaltig waren. Dann kommt man auf etwas Neues oder greift wieder auf das Alte, angeblich Widerlegte, zurück. Jedesmal aber sehen die überzeugten Anhänger einer solch wackligen wissenschaftlichen Behauptung mit spöttischer Verachtung auf alle herab, die es noch wagen, an dem ›allgemein anerkannten Ergebnis‹ zu zweifeln, und das sind eben die Klügeren.«
»Aber einen mathematischen Beweis gibt es doch!« wandte Holm ein: »Und dieser hat den unbestreitbaren Vorzug, durchaus zuverlässig zu sein.«
»Schöner Beweis das!« lachte der Baron: »Sie sagen: eins und eins wollen wir der Kürze und Bequemlichkeit halber ›zwei‹ nennen, also ist eins und eins — zwei! Zwei und zwei nennen wir vier, also ist zwei und zwei oder zweimal zwei gleich vier. Ist das ein Beweis? Das ist lediglich eine Übereinkunft. Nie wird es jemand einfallen, zu behaupten, der Satz ›Äpfel und Birnen sind Obst‹, sei ein wissenschaftlicher Beweis. Es ist doch nur ein Übereinkommen, daß wir verschiedenartige Baumfrüchte unter dem Namen ›Obst‹ zusammenfassen. Die gesamte Mathematik beruht auf nichts anderem, als auf dieser Übereinkunft, die für jede Summe von Einheiten besondere Namen ausgemacht hat, um durch dieses vereinfachte Verfahren eine mühsame, bis ins Unendliche gehende Aufzählung von Einheiten zu ersparen. Sehen Sie, das sind die einzig sicheren Beweise, die wir haben, Übereinkünfte, weiter nichts. Von einem mathematischen Beweis kann im Ernste nur der reden, der nicht die geringste Ahnung vom eigentlichen Wesen der Mathematik hat. Es ist im Grunde durchaus falsch, zu sagen ›zweimal zwei ist vier‹ und gar zu wähnen, es handle sich hierbei um eine erwiesene wissenschaftliche Tatsache. Richtig hieße es: ›Man ist übereingekommen, zweimal zwei, oder besser eins und eins mal eins und eins Vier zu nennen‹. Können Sie etwa beweisen, daß das bekannte langohrige Grautier ein Esel ist? Nein! Sie können lediglich feststellen, daß man ihm diesen Namen beigelegt hat, und damit fertig!«
»Das ist richtig!« mischte sich Mäusle in die Erörterung: »Niemand kann beweisen, daß ein Gaul ein Pferd ist, sondern nur feststellen, daß er auch Pferd genannt wird. So ist der fälschlich als Beweis bezeichnete sogenannte mathematische Beweis nur deshalb unanfechtbar, weil seine Voraussetzungen durch allgemeine Abmachung anerkannt werden.«
»Was ist dann aber überhaupt gewiß?« fragte Neeltje.
»Eigentlich gar nichts,« erklärte Münkhuysen: »Glauben allein bringt Gewißheit, das heißt persönliche Überzeugung, die an und für sich keinerlei Gewähr der Wahrheit bietet. Vor allem gilt es für den angeblichen wissenschaftlichen Beweis, daß er Beweiskraft nur für den hat, der ihm Glauben schenkt. Immerhin, Tatsachen bieten die größte Sicherheit. Das, was wir sehen und hören, mit den Sinnen wahrnehmen, sind Erfahrungstatsachen. Sie bieten uns die größtmögliche Sicherheit, ohne jedoch völlige Gewißheit gewähren zu können, weil Irrtum nie ausgeschlossen ist, auch Massenirrtum nicht. Einesteils sind wir häufig Sinnestäuschungen unterworfen, andernteils bilden wir uns oft schon nach ganz kurzer Zeit ein, etwas völlig anderes wahrgenommen zu haben, als tatsächlich der Fall war. Endlich ziehen wir vielfach ganz verkehrte Schlüsse aus unseren Wahrnehmungen und halten dann diese falschen Schlußfolgerungen für die Tatsache selbst. Auch Suggestion spielt eine ausschlaggebende Rolle bei den meisten Überzeugungen. So kommt es denn häufig vor, daß auch die wahrheitsliebendsten Zeugen übereinstimmend mit bestem Gewissen beschwören, was dem wirklichen Tatbestand in keiner Weise entspricht.«
So weit war das Gespräch gediehen, als ein heftiger Wortwechsel im Hintergrund des Raumes die Aufmerksamkeit ablenkte. Zwei der italienischen Matrosen waren in lebhaften Streit geraten, und der Baron erkundigte sich sofort nach der Ursache des Zwistes.
»Mir ist vorhin ein Goldstück zu Boden gefallen,« berichtete der eine der Streitenden, namens Luigi: »Carlo hob es auf und behauptet nun, es gehöre ihm.«
Der Matrose Carlo erklärte seinerseits: »Das Goldstück ist mir aus der Westentasche entglitten. Ich hatte es darinnen aufbewahrt, und finde nun, daß es nicht mehr drin ist, wohl aber ein Loch, das ich bisher nicht bemerkt hatte.«
»Sind Zeugen vorhanden?« fragte Münkhuysen ruhig.
»Gewiß!« sagte Professor Raimund: »Ich sah deutlich, wie dies Goldstück aus Luigis Hosentasche fiel, als er sein Taschentuch zog; es rollte dann am Boden hin, wurde aber gleich von Carlo gefunden.«
»Wir können das bestätigen,« versicherten die Steuermänner Geloso und Cavini übereinstimmend: »Denn wir sahen es auch.«
»Somit ist der Streit entschieden,« urteilte der Baron: »Ich hoffe, Carlo, daß du dich nicht etwa aus niederer Gewinnsucht zu einer häßlichen Lüge hast verleiten lassen, sondern daß du dich nur getäuscht hast und dein Goldstück in einer andern Tasche finden wirst. Dieses jedoch gehört auf Grund des Zeugnisses dreier zuverlässiger Augenzeugen dem Luigi.«
»Und es ist doch das meinige!« trotzte Carlo.
»Du wirst doch nicht die Aussage dieser ehrenwerten und unparteiischen Zeugen Lügen strafen wollen?« entgegnete Münkhuysen ernstlich aufgebracht über diese vermeintliche Frechheit.
»Sie irren,« behauptete der Matrose: »Ich habe alle meine Geldstücke mit einem Kreuz bezeichnet: sehen Sie nach, ob das Goldstück, das Luigi mir nahm, nicht ein solches eingekratztes Kreuz aufweist!« Dabei zog er eine Handvoll Münzen aus der Tasche, die tatsächlich so gezeichnet waren, und das gleiche Zeichen fand sich auf dem Stück, das Luigi in Händen hielt.
Jetzt wurde der Fall rätselhaft, denn die Zeugen erklärten, alles habe sich so rasch unter ihren Augen abgespielt, daß Carlo nicht etwa in der Lage gewesen sei, heimlich sein Messer zu ziehen und dem gefundenen Geldstück ein Kreuz einzuritzen. Auch Luigi mußte dies zugeben.
In diesem Augenblick kam Eva aus einer dunkeln Ecke, in der sie heimlich mit ihrer Puppe gespielt hatte: »Da habe ich ein Goldstück entdeckt!« sagte sie.
»Richtig! Das ist das meinige,« erklärte nun Luigi: »Ich erinnere mich wieder, daß es die Jahreszahl 1900 trug; auf dem anderen steht aber, wie ich eben erst bemerke, 1897.«
»Meine Herren!« triumphierte der Baron: »Hier sehen Sie ein klassisches Beispiel dafür, wie sehr der Augenschein täuschen kann, und wie leicht wir falsche Schlußfolgerungen ziehen können, indem wir eine Wahrscheinlichkeit, an deren Wahrheit wir nicht zweifeln, für eine erwiesene Tatsache halten. Gerade das Unwahrscheinlichste ist hier die Wahrheit, und die übereinstimmende Aussage durchaus gläubiger und streng wahrhaftiger Augenzeugen erweist sich als ein ganz unerwarteter Irrtum. Luigi verlor ein Goldstück: das haben mehrere Zeugen beobachtet. Carlo hob ein Goldstück auf, das haben auch alle gesehen. Nun nahm Luigi ohne weiteres an, daß dies sein Goldstück sein müsse, und auch die Zeugen zögerten in keiner Weise, zu bezeugen, daß Carlo Luigis Goldstück aufgehoben habe. Es kam ihnen gar nicht zum Bewußtsein, daß sie nur gesehen hatten und demnach bezeugen konnten, Carlo habe ein Goldstück gefunden, und daß sie nicht wissen konnten, ob es dasselbe war, das der andere verloren hatte. An den seltsamen Zufall, daß beiden fast gleichzeitig eine Münze entfallen sein könnte, dachte keiner: das lag zu ferne. Die Zeugen waren so fest überzeugt, daß es Luigis Goldstück sein müsse, das Carlo fand, daß sie dies wohl unbedenklich auch unter Eid vor Gericht bestätigt hätten, ohne auf den Gedanken zu kommen, ihre Überzeugung könne auf einem Trugschluß beruhen, der daher rührte, daß sie eine fernliegende Kleinigkeit außer acht ließen, nämlich, daß das unter ihren Augen aufgelesene Geld ein anderes Stück sein könnte als das unter ihren Augen zu Boden gerollte. Carlos Behauptung hätte, angesichts des anscheinend so klaren Tatbestandes und der bestimmten Zeugenaussagen, vor keinem Gerichte Glauben gefunden, so wenig ich ihm Glauben schenken konnte. Und nun denken Sie sich, der Vorfall hätte sich an anderem Ort ereignet, Carlo hätte seine Münzen nicht gekennzeichnet und Luigis Münze wäre spurlos verschwunden, etwa in einem Mausloch, so wäre ihm Carlos Eigentum unbedenklich zugesprochen worden und der ehrliche Finder wäre im Verdacht der Lüge und des Diebstahls geblieben. Ähnliches geschieht unzähligemal im Leben; darum sollten wir uns hüten, auch die bestbezeugten Vorkommnisse für zweifelsfrei feststehend und unerschütterlich zu halten.«
»Da hört sich allerdings alle Wissenschaft auf!« meinte Schulze, »und alles wird unsicher und zweifelhaft. Allein die Sache stimmt leider! Meist macht man ja die Erfahrung, daß selbst die neuesten Zeitereignisse von durchaus glaubwürdigen Augenzeugen ganz verschieden dargestellt werden. Es sieht eben jeder mit seinen Augen und dazu mit seiner Phantasie, jeder urteilt von seinem Standpunkt und zieht seine Art von Schlußfolgerungen, an deren Richtigkeit er nicht zweifelt. Der eine übersieht, was gerade dem anderen auffällt, und leugnet es hernach im besten Glauben. Einer steigert und übertreibt ganz unbewußt, was ihm besonders ins Auge fiel, und ein anderer, dem das Gleiche nebensächlich erschien, verkleinert es, ebenfalls ohne schwindeln zu wollen: so ist es eben ihm erschienen. Wenn nun schon auf die Richtigkeit dessen kein Verlaß ist, was alle Zeugen übereinstimmend bekunden, wie soll die Wahrheit mit irgendwelcher Zuverlässigkeit ermittelt werden, wo sich die Zeugnisse widersprechen, wie es meist der Fall ist? Da neigt man sich immer der größten Wahrscheinlichkeit zu, während die Wahrheit häufig, ja man kann sagen meist, auf seiten der größten Unwahrscheinlichkeit liegt. Und nun, welch lächerlicher Wahn, sich einzubilden, die Wissenschaft sei imstande, die Wahrheit über Jahrtausende zurückliegende Tatsachen herauszuklügeln, verschiedene Quellen in den Urkunden richtig zu unterscheiden und sie nach ihrer Glaubwürdigkeit werten zu können. Diese ganze Spielerei steht ja doch nur im Dienst der Voreingenommenheit. Ja, wer an unanfechtbare Ergebnisse der Wissenschaft glaubt, der steckt noch in der Weisheit Kinderschuhen. Das habe ich übrigens an mir selber erlebt.«
Selbstverständlich war Holmheim, der Eispalast, nur ein Notbehelf als vorläufige Wohnung. Waren die von außen durch Schneewälle geschützten Eiswände auch für die Außentemperatur undurchlässig, so strahlten sie doch selber Kälte aus oder verschluckten große Wärmemengen, was auf dasselbe herauskommt. Heizen konnte man nicht, und beim ersten Tauwetter wäre das Dach über den Köpfen der Bewohner zusammengeschmolzen.
Münkhuysen hatte genug Material mitgenommen, um zwei Winterstationen daraus zu bauen. Sobald daher die Verbindung mit der Küste wieder hergestellt worden war, hatte man als Hauptarbeit die Errichtung eines widerstandsfähigen Wohnbaus in Angriff genommen.
»Man muß immer aus den Erfahrungen und Fehlern seiner Vorgänger lernen,« sagte der Baron: »Das erste Erfordernis für ein angenehmes Wohnen in diesen Breiten ist Schutz vor den furchtbaren Stürmen, die wir allerdings in diesem Tale nicht in ihrer ganzen Heftigkeit zu befürchten haben. Sodann müssen die Mauern so dicht sein, daß kein Schnee hindurchwehen kann, der auch durch die kleinsten Fugen und engsten Ritzen dringt.«
»Ich meine, diese von hohen Gletschern umgebene Schlucht wird den Stürmen überhaupt nicht ausgesetzt sein,« bemerkte Holm.
»Das mag sein,« erwiderte Münkhuysen, »aber eine Gewähr dafür haben wir nicht. Das Tal ist ja auch sehr breit und kaum eine Schlucht zu nennen, und dann steht es nach Westen zu offen. Jedenfalls wollen wir keine Vorsicht außer acht lassen. Nordenskjöld hatte ja eine feste Holzhütte; allein er versäumte es, sie durch Anhäufung von Schnee an den Außenwänden vor Sturm, Kälte und Schneewehen zu schützen, was ihm und seinen Begleitern große Unannehmlichkeiten brachte. Gunnar Andersson, Duse und Grunden errichteten sich ein Steinhaus in der Hoffnungsbucht; aber der Schnee drang durch die meterdicken Wände, und dies wurde erst besser, als die Hütte ganz dicht eingeschneit war. Die englische Expedition in Viktorialand hat gleich von Anfang an ihr Haus mit einem förmlichen Schneeberg umgeben. Die Fenster gingen in einen Korridor hinaus, der sein Licht durch Dachfenster empfing. Das Dach mußte natürlich schneefrei gehalten werden. Dies ist auch sonst notwendig, denn unter dem Schneedruck könnte es einbrechen, und bei Tauwetter würde das Schmelzwasser in die Wohnräume dringen.
»Unser Haus soll aber auch das englische in seiner praktischen Einrichtung noch übertreffen: wir bauen zunächst ein inneres Haus mit doppelten Holzwänden; dieses enthält unser gemeinsames Wohn- und Eßzimmer, das Platz hat für uns alle und den Mittelpunkt des Gebäudes einnimmt. Rings um diesen Hauptraum herum sind unsere verschiedenen Schlafkojen angeordnet, zwölf an der Zahl; denn es ist eine Annehmlichkeit sondergleichen, wenn jeder sein Schlafkämmerlein für sich hat.
»Um dieses ganze innere Haus, durch einen schmalen Gang von ihm getrennt, läuft rings ein zwei Meter breiter Vorraum, der in einzelne mit Türen versehene Abteilungen zerfällt. Hier haben wir die Vorratskammern für alles, was nicht ganz kalt aufbewahrt werden muß, sowie die Küche. Diese befindet sich neben der Eingangstüre, so daß von ihr aus Wasser oder Schnee zum Kochen leicht geholt werden kann. Der Eingang zur inneren Wohnung befindet sich am Ende des Ganges der entgegengesetzten Seite. Durch ihn kann also weder Schnee noch Kälte von der Haustüre her, noch der lästige Qualm und Ruß von der Küche in die Zimmer dringen. Die Fenster der Wohnräume gehen auf den sie umschließenden Flur hinaus, der sein Licht vom Dach her empfängt. Da wir jedoch, so lange wir hier wohnen, fast beständig Nacht haben werden, sind wir meist auf künstliche Beleuchtung angewiesen.
»Die zweite Hauptsache ist der Schutz vor Feuchtigkeit, mit der die früheren Überwinterer in diesen Gegenden die unangenehmsten Erfahrungen gemacht haben. Nordenskjöld zum Beispiel berichtet, daß der Wasserdampf sich an den Wänden und der Decke niederschlug, so daß sie von Eiskristallen glitzerten, die bei Tag unter der Ofenwärme schmolzen und die Dachpappe, mit welcher die Wände bekleidet waren, in eine schlüpfrige Masse verwandelten. Alles schimmelte. Nur Filz und Decken schützten die Wände vor Feuchtigkeit; aber Nordenskjöld besaß nicht genügend von diesem Material, um alles damit zu überkleiden. Auf dem Fußboden bildete sich eine dicke Eismasse, in der alles einfror. So war es an den Füßen kalt, wenn der Kopf beinahe zu heiß hatte, und der Unterschied in der Temperatur des Fußbodens und der Decke betrug meist 10 bis 12 Grad.
»Bei Tauwetter tropfte es beständig von der Decke herab und am Fußboden bildete sich ein dicker schmutziger Brei. Dazu kam, daß auf dem Bodenraum allerlei Flüssigkeiten aufbewahrt wurden, von denen viele gefroren und ihre Flaschen sprengten, so daß bei warmem Wetter auch Wein, Schnaps, Tinte und ätzende photographische Entwickler durch die Decke sickerten.
»Alles Metall rostete, das Bettzeug und die Papiere vermoderten. In Nordenskjölds Bett trieb eine Erbse kräftige Wurzeln und einen langen Stengel; die Matratze wurde zu einer modrigen Masse.
»Noch schlimmer stand es bei den Verschollenen in der Hoffnungsbucht und den Schiffbrüchigen auf der Pauletinsel, die zu allem hin kein wasserdichtes Dach besaßen.«
»Da bin ich nur begierig, wie Sie all diese Übelstände vermeiden wollen,« fragte Raimund.
»Auf ziemlich einfache Weise,« erwiderte Münkhuysen. »Schon die englische Expedition hat die Vorsicht gebraucht, unter dem Fußboden ihres Hauses einen leeren Raum zu lassen. Dadurch hielt sich der Boden wärmer und das Schmelzwasser konnte nach unten abfließen. So bauen wir auch unser Haus: Der Fußboden des ganzen Baus, auch der Küche und Vorratskammern befindet sich einen Meter über dem Erdboden.
»Noch viel wichtiger aber ist eine Neuerung, die meine eigenste Idee ist: ich führe sozusagen Zentralheizung ein. Während Küche, Vorratskammern und Korridore auf dem unteren erhöhten Fußboden sich befinden, liegt der Fußboden der Wohnräume noch anderthalb Meter höher; unter ihnen befindet sich der Heizraum, in dem meine beiden Dauerbrandöfen aufgestellt werden. Aus diesem Heizraum gehen Seitenöffnungen in die Vorräume, während zweckmäßig verteilte Löcher in der Decke die Wärme allen Wohn- und Schlafräumen zuströmen lassen.
»Auf diese Weise sind die Wände der inneren Wohnung, und, da die Wärme bis zum Bühnenraum dringt, auch deren Plafonds von außen wie von innen gewärmt, nehmen also keine Niederschläge an, während Eisbildung ganz ausgeschlossen ist; überdies sind die Fußböden warm und die Temperatur gleichmäßig verteilt. Etwaige Feuchtigkeit fließt nach unten ab, und ein Gefrieren der Vorräte des Dachraums ist ausgeschlossen. Zu aller Vorsicht, und um die Wärme besser zu halten, werden Decken und Wände mit Wollteppichen ausgeschlagen. Die Fenster gehen alle nach den Außenräumen, die wiederum ihr Licht durch Dachfenster erhalten. Solche Vorräte, die unter der Wärme leiden würden, werden außerhalb des Hauses aufbewahrt. Für die meteorologischen und magnetischen Instrumente errichten wir auch besondere Hütten.«
An dem Bau des Hauses beteiligten sich alle, und nach drei Wochen war es vollendet und rings mit dichten Schneewällen umgeben, die schräg zum Dach aufstiegen, so daß letzteres nach jedem Schneefall bequem von seiner Schneelast befreit werden konnte.
Der Umzug war ein Fest: es wurde ein üppiges Festmahl eingenommen mit Champagner und Reden.
Den ganzen Winter über befanden sich unsere Freunde in ihrer »Südburg« behaglich und vor allem vollkommen gesund. Unter Kälte und Feuchtigkeit hatten sie nie zu leiden; selbst in der Küche herrschte die angenehmste Wärme. Hier freilich war der wollene Überzug der Wände bald mit schmierigem Ruß bedeckt; doch war der Raum so gut abgeschlossen und gelüftet, daß der Qualm nie bis in die Wohnräume drang.
Als das Haus vollendet war, mußte das »Südkreuz« noch eine ordentliche Ladung Kohlen von den Kohlenschiffen holen, damit das Heizmaterial nicht ausgehe und man nicht mit qualmenden Seehundsfellen heizen müßte. Hierauf ernannte Münkhuysen den tüchtigen ersten Steuermann zum Kapitän seines Polarschiffs und gab ihm Geloso als Steuermann und die drei Matrosen Pietro, Antonio und Enrico mit, während die beiden anderen, Carlo und Luigi auf der Winterstation blieben.
Cavini erhielt den Auftrag, gegen Ende des nächsten Sommers durch das Weddellmeer bis zur südlichen Festlandsküste vorzudringen, falls die Eisverhältnisse es gestatteten, andernfalls an der Nordspitze von Louis-Philippe-Land zu warten. Falls die Überwinternden bis Ende Januar dort nicht einträfen, sollte er an der Küste von König Eduard VII.-Land nachsehen, ob sie nicht nach einem mißlungenen Vorstoß an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt seien. Die Kohlenschiffe und der Reservedampfer würden ihn bis zur Packeisgrenze begleiten.
Mit diesen Verhaltungsmaßregeln dampfte Cavini ab. Die Kohlenschiffe und der Begleitdampfer hatten auf der Fahrt nach den Falklandsinseln den Rest ihrer Ladung in drei Depots oder Niederlagen an der Küste von Enderby-Land, Coats-Land und in der Hoffnungsbucht niederzulegen, wobei das »Südkreuz« die Ladung durch das Packeis an Land zu schaffen und die Depots zu errichten hatte. Hernach sollten die vier Schiffe im Hafen von Port Stanley auf den Falklandsinseln den Winter zubringen, um alsdann neu verproviantiert ihre instruktionsmäßige Südfahrt auszuführen.
Obgleich in Südburg zwölf Personen waren, brauchten sie eine Hungersnot nicht zu befürchten, auch wenn sie dreimal hier hätten überwintern müssen: so reichlich hatte Münkhuysen für Lebensmittelvorräte gesorgt. Wenn man trotzdem sich mit Seehundsfleisch, Pinguinbrüsten und Geflügel in großen Mengen versah, so geschah dies hauptsächlich, um täglich frisches Fleisch genießen zu können; denn nur von Konserven leben ist weder angenehm noch gesund.
Das Fleisch wurde zum Teil im Freien aufgehängt, wo es allerdings von den räuberischen Skuamöven trotz seines hartgefrorenen Zustandes, stark zerhackt wurde. Die größten Vorräte bargen unsere Freunde unter Steinhaufen in der Nähe von Südburg und hieben allemal mit dem Beil so viele eisige Stücke los, als sie die nächsten Tage brauchten.
Jeder Italiener kann kochen: Carlo und Luigi waren die Köche und machten ihrer Aufgabe alle Ehre. Aber Eva ließ es sich nicht nehmen, ihrerseits in der Küche trotz des Tranqualmes zu walten. Sie erfand immer wieder neue Gerichte von ganz besonderem Reiz, und wußte selbst Seehundsspeck in einer Weise zu braten, die ihn zu einem Leckerbissen machte.
Neben der Küche befand sich ein Backofen. Da frisches Brot am allerbittersten vermißt wird, wenn man auf Schiffszwieback angewiesen ist, hatte Münkhuysen besonders viel Mehl mitgenommen, aus dem Luigi herrliches Brot und Eva vorzügliche Kuchen und Torten zu bereiten verstanden.
Auch eine Schmiede fehlte nicht. Hier waltete namentlich Ingenieur Holm.
Da gute Schuhe in den Polargegenden besonders not tun und Schuhwerk und Kleidung sich rasch abnützen, besaß jedermann drei Paare pelzgefütterter Stiefel und zwei Paar Galoschen zur Schonung der Sohlen, außerdem zwei Reserveanzüge, viel Unterkleidung und Leibwäsche. Alle vierzehn Tage wurde die mitgebrachte Waschmaschine in Tätigkeit gesetzt und wöchentlich durfte sich jeder ein warmes Vollbad gestatten.
So kamen unsere Freunde nicht in die Lage Gunnar Anderssons, der nach sechs Wochen den ersten Hemdwechsel wagte, sein zweites Hemd aber siebeneinhalb Monate am Leibe behalten mußte, worauf er wieder das erste anzog, das nun im Vergleich zum anderen als rein gelten konnte.
Jeder war noch mit den so nötigen Schneebrillen und einem warmen Schlafsack ausgerüstet, in den leinene Einsätze geschoben wurden, die öfters gewechselt und zur Wäsche gegeben werden konnten. Auf diese Weise erhielten sich die Schlafsäcke in bestem Zustand.
Schon zu Beginn des Winters wurde Südburg vollständig eingeschneit, während man von den Stürmen in dem geschützten Tal wenig zu leiden hatte.
Trotz des tiefen Schnees arbeiteten sich die pflichtgetreuen Gelehrten Schulze und Raimund, abwechselnd mit Mäusle, alle zwei Stunden zu den Instrumenten durch, um die magnetischen und meteorologischen Beobachtungen ununterbrochen durchzuführen. In besonders anstrengenden Zeiten lösten Münkhuysen und Ernst sie zuweilen ab; auch Münchhausen und Maibold beteiligten sich an den Observationen, die nachts mit der Laterne gemacht wurden, so daß keiner mehr als höchstens zweimal in der Woche seine Nachtruhe opfern mußte.
Die Haustüre öffnete sich nach innen, sonst hätte man sie nicht aufgebracht, wenn sich der Schnee vor ihr anhäufte. Der Koch war morgens der erste, der den Neuschnee wegschaffte, da er zum Kochen ganze Schneemassen brauchte, weil bekanntlich auch große Schneemengen nur wenig Wasser geben.
Die Grönlandhunde, die oft selbständig auf die Jagd gingen, sonst mit Abfällen und Hundepemmikan gefüttert wurden, lebten Tag und Nacht im Freien und wühlten sich meist in den Schnee ein.
An einem schönen sonnigen Tage machten Professor Schulze und Michael Mäusle einen Ausflug in die weitere Umgegend und Ernst Frank schloß sich ihnen an. Schulze wollte als Zoologe oder Tierkundiger das Tierleben, namentlich die Insektenwelt der Eisgefilde näher kennen lernen; der Schwabe, der in der Geologie oder Gesteinskunde ziemlich bewandert war, gedachte für diese eine seiner vielen Liebhabereien allerlei Merkwürdigkeiten einzusammeln.
An den Berghängen entdeckten sie bald einige Moose, die von Insekten, kleinen Poduriden, belebt waren. Auch eine kleine Fliege ohne Flügel verleibte Schulze seiner Sammlung ein, sowie etliche spinnenartige winzige Insekten von der Art der Akariden, die in dichten Haufen in den Felsspalten wimmelten.
Mäusles Ausbeute war noch bei weitem reicher: er fand eine Menge Versteinerungen, und zwar nicht bloß die schon bekannten Ammoniten, Muscheln, Schnecken, Krebse und Seeigel oder die Steinabdrücke von Farnen, Araukarien, Buchenblättern usw., sondern er entdeckte fossile Knochen von Sauriern und Versteinerungen einer tropischen Pflanzenwelt.
»Demnach scheint früher ein tropisches Klima am Südpol geherrscht zu haben,« bemerkte Schulze.
»Herrscht vielleicht noch heute,« erwiderte Mäusle.
»Sie scherzen!« lachte der Zoologe, »tropisches Klima am Südpol?«
»Ich scherze durchaus nicht: die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen. Wissen Sie nicht, daß bei der Seymourinsel ein großer grüner Grashüpfer sich auf einem Boot der ›Antarctic‹ niederließ? Woher sollte der kommen, wenn nicht aus einem wärmeren Klima im Inneren?«
»Ich erinnere mich, gelesen zu haben,« begann Ernst, »daß der große Polarforscher Adolf Erik Nordenskjöld die Anschauung darlegte, im Inneren Grönlands könnte ein warmes, bewohnbares Land mit reichem Pflanzenwuchs sich finden. Und er gab eine ganze Reihe schlagender Beweise für diese Möglichkeit. Hinterher haben jedoch seine eigenen Forschungsreisen dargetan, daß ein solches Land dort nicht besteht.«
»Wohl,« wandte der Schwabe ein, »aber die Möglichkeit mußte man zugeben. Grönland ist jedoch klein im Vergleich zu dem vielmal so großen Südpolarkontinent. Was man dort nicht fand, kann man hier noch finden. So äußert sich beispielsweise Dr. Otto Nordenskjöld: ›Das Innere der Polargegenden bildet den einzigen Fleck auf der Erde, auf dem noch Möglichkeiten für geographische Entdeckungen solcher Art vorhanden sind, daß nicht einmal die Phantasie sie vorauszusagen vermag‹. Im Weddellmeer entdeckte Nordenskjöld eine tote Eiswüste bei König-Oskar-Land, und doch erklärt er selber, weiter südlich im Weddellmeere müsse sich eine zugängliche Küste finden; denn die zahlreichen Kaiserpinguine, die zuweilen angetroffen wurden, mußten doch in nicht allzugroßer Ferne Brutplätze haben.«
»Nun, damit haben wir noch lange kein tropisches Klima!« warf der eigensinnige Schulze wieder ein.
»Erlauben Sie,« wiedersprach Mäusle: »Der große Südpolarkontinent ist von einer hohen Gletscherkette umgeben. Außen um dieses Hochalpengebiet brausen eisige Stürme. Wie sieht es aber hinter dieser Mauer aus? Wir selber bewohnen ein geschütztes Tal hinter der Gletscherkette, aber immer noch in der Eisregion. Hier toben, soviel wir erfahren durften, keine Orkane. Die tiefste Temperatur, die Nordenskjöld draußen auf Snow-Hill gemessen hat, betrug 41½º unter Null; doch waren 30 bis 35º noch selten, und die strengste Winterkälte bewegte sich meist zwischen 25 und 30º. Zwischenhinein aber herrschte selbst im Winter oft Tauwetter, es fiel sogar Regen!
»Nordenskjöld redet von warmen, eigentümlich weichen Südwinden, deren Entstehung er niemals aufzuklären vermochte. Der argentinische Leutnant Sobral, Nordenskjölds Gefährte, sagte einmal, als die Sonne recht heiß brannte: ›Ich finde, es ist hier genau so wie in Buenos Aires, wenn es dort im Sommer warm ist.‹ Dabei erlebten sie einen ganz besonders kalten Sommer, sodaß der nächste Winter sogar verhältnismäßig milder erschien.
»Die Temperatur konnte so ungeheuer rasch steigen, daß zum Beispiel der 17. Juli, also ein Tag mitten im strengsten Winter, morgens 30º unter Null, abends 4º über Null brachte. Am 5. August hatte Nordenskjöld +9,3º. Ist das eine Wintertemperatur für antarktische Gebiete? In der Regel kamen allerdings die warmen Winde von Norden; aber es gab eben auch warme Südwinde, und woher sollten die kommen, wenn nicht von einem warmen Südland?«
»In der Regel waren die Südwinde eisig,« höhnte Professor Schulze: »Woher sollten sie kommen, wenn nicht von einem eisigen Südland?«
»Sie gewinnen's nicht,« sagte Mäusle ruhig: »Habe ich nicht schon erwähnt, daß der Gletschergürtel des antarktischen Kontinents von eisigen Stürmen umbraust wird? Nun, das sind die Stürme, die von Osten ins Weddellmeer kommen und dort an der unbekannten Küste oder an den Gletschern von König-Oskar-Land sich brechen und dann als kalte Südwinde über Snow-Hill dahinbrausen. Die Winde aber, die geradeaus vom Süden kamen, das waren die warmen, weichen Südwinde.
»Und nun bitte, überlegen Sie. Trotz des warmen, beinahe lästigen Sonnenscheins haben wir heute den kältesten Tag, den wir in unserem Tal erlebten, obgleich wir schon tief im Winter stehen. Nun, wie kalt ist es denn? 26º unter Null! Ist das eine Kälte, eine Winterkälte für Polarregionen? Ich sage Ihnen, ich bin in den verschneiten Tannenwäldern des Württembergischen Schwarzwaldes vierzehn Tage lang bei 25 bis 27º Kälte umhergewandert. Wir können also sagen, hier in der Nähe des Südpols herrscht eine richtige Schwarzwaldkälte.«
Ernst mußte über den Eifer des schwäbischen Dichters lachen und mischte sich nun auch in den Streit ein, indem er sagte: »Das tropische Klima haben Sie uns immer noch nicht bewiesen; zunächst nur ein Schwarzwaldklima.«
»Jawohl, für Südburg. Aber ist es hier schon so viel wärmer und windstiller als gleich dort drüben an der Küste über den Münkhuysenbergen, so kann es dem Pole zu noch weit wärmer werden. Nehmen Sie an, weiter unten nach Süden, vielleicht noch einmal durch einen Ring hoher Berge geschützt, befindet sich eine Gegend mit geringen Niederschlägen und vorherrschender Windstille, vielleicht noch dazu mit großen Binnenseen. Die Erde ist am Pol abgeplattet, folglich die feste Erdkruste, welche die Oberfläche von der inneren Glut trennt, dünner. Dort wird nicht bloß die beständige Sonnenglut am sechsmonatelangen Poltage, sondern auch die Erdwärme während der Polarnacht ein wahrhaft tropisches Klima ermöglichen.«
Unter diesen Gesprächen waren die Wanderer an den Felsen hoch hinausgeklettert. Plötzlich blieb Schulze mit dem linken Fuße in einer Felsspalte stecken. Mit einem scharfen Ruck versuchte er sich zu befreien. Dies hatte zur Folge, daß er nicht nur den Fuß aus dem Stiefel brachte, welch letzterer fest eingeklemmt blieb, sondern, daß er auch mit dem rechten Fuß ausglitt und den steilen Abhang hinabkollerte.
Ohne sich um den steckenden Stiefel zu kümmern, eilten die Gefährten dem Stürzenden nach, in dem törichten Wahn, ihm Hilfe bringen zu können. Ein eiliges Bergabrennen aus steilen Felswänden ist aber zum mindesten unklug. So kamen bald alle beide ins Gleiten und sausten rutschend in die Tiefe hinab.
Schulze hatte sich im Fallen an einem Felsblock vorübergehend anhalten und aufrichten können; dadurch wurde die Eile seiner Talfahrt gemäßigt, und er führte sie vollends sitzend aus wie die beiden anderen.
Ziemlich gleichzeitig kamen sie unten an, etwas zerschunden und Zerbeult, doch mit heilen Gliedern, wenn auch zerfetztem Hosenboden.
Den Stiefel aus einer Höhe von zweihundert Metern herabzuholen, daran war nicht zu denken, zumal die Sonne ihren kurzen Tageslauf schon vollbracht hatte und es zu dämmern begann.
Auf dem Heimweg hatten die Wanderer eine merkwürdige Erscheinung, die sie derart entzückte, daß sie trotz der empfindlichen Kälte lange in Bewunderung stille standen. Hoch über den Bergen im Westen leuchteten Iriswolken in allen Regenbogenfarben, während das Tal schon in tiefste Finsternis gehüllt war. Dieses Leuchten hielt, wie sie später beobachteten, mehrere Stunden an; denn die Wolken standen so hoch, daß sie noch lange von den Strahlen der untergegangenen Sonne getroffen wurden. Ein ähnliches Schauspiel genossen sie in der Folge noch öfter.
Für Schulze sollte aber die strümpfige Wanderung und namentlich das minutenlange Stehen im eisigen Schnee verhängnisvoll werden. Als die drei heimkamen, zog er mit Mühe den festgefrorenen Strumpf vom linken Fuße, und erklärte mit bestürzter Miene: »Der Fuß ist wohl hin!«
Doktor Maibold, der mit seinem überlegenen, spöttischen Lächeln Zugehört hatte, als Ernst von Mäusles Ausführungen berichtete, sagte lachend zum Schwaben: »Da haben Sie nun Ihr tropisches Südpolarklima, das leider nur in Ihrer Phantasie existiert! Man erfriert sich dabei hübsch die Füße!«
Als er jedoch des Professors Fuß näher in Augenschein nahm und sachkundig befühlte, erschrak ersichtlich; denn das Glied glich einem starren Eisblock und Schulze erklärte, keinerlei Empfindung mehr darin zu haben und vom Betasten rein nichts zu spüren.
»Ein Unglück kommt selten allein!« brummte der Arzt: »Erst vorhin mußte ich Carlos schrecklich verbrannte Hand in Behandlung nehmen: der Unglücksmensch hat für ein paar Wochen damit zu tun.«
»Wie ging das zu?« fragte Schulze teilnahmsvoll, über dem Mitleid mit dem Matrosen seinen eigenen bedenklichen Zustand vergessend.
»Die Pfanne mit siedendem Seehundsspeck glitt ihm vom Herd herunter und die kochende Masse ergoß sich über seine rechte Hand. Er kann von Glück sagen, wenn sie keinen dauernden Schaden nimmt; aber diese Italiener sind zäh, und er erträgt die rasenden Schmerzen wie ein Held.«
»Lassen Sie ihn doch die Hand in Eiweiß tauchen,« riet Ernst.
»Davon habe ich noch nichts gehört,« erklärte Maibold: »Das ist wieder so eins der berüchtigten Hausmittel, mit denen die Laien sich eine vernünftige ärztliche Behandlung ersparen wollen, und die zur Folge haben, daß sie dann meist erst zum Doktor rennen, wenn es zu spät ist. Derartige Mittel werden in den medizinischen Kollegien nicht erwähnt, oder höchstens um vor solchem Unsinn zu warnen.«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor,« wagte Ernst einzuwenden: »Ich wandte das Mittel schon öfters mit Erfolg an. So zum Beispiel bei einer jungen Dame, die ihren ganzen Arm in siedendem Dampf verbrüht hatte und vor Schmerzen schrie. Sobald die verbrannte Haut mit Eiweiß bedeckt war, hörten die Schmerzen auf. Leider erschien die barmherzige Schwester und erklärte, von diesem Mittel hätte sie in ihrem Kurs nichts gehört, es sei also nicht wissenschaftlich. Demzufolge wusch sie das erstarrte Eiweiß weg und wandte ihre wissenschaftlichen Mittel an, was zur Folge hatte, daß die Schmerzen alsbald wiederkehrten und tagelang andauerten.«
»Nun,« meinte Maibold: »Versuchen Sie es bei Carlo mit Ihrem Eiweiß. Ich habe nichts dagegen, es scheint mir sogar ein ganz vernünftiger Gedanke, da es jedenfalls die verbrannten Stellen gegen die Luft abschließt.«
Ernst zerschlug denn ein paar Pinguineier und bestrich Carlos Hand mit dem Eiweiß. Dieser war ihm ungeheuer dankbar, da seine kaum erträglichen Schmerzen fast augenblicklich nachließen.
Unterdessen rieb Maibold Schulzes erfrorenen Fuß kräftig mit Schnee. Nach einer Viertelstunde löste Ernst den Doktor ab, bis auch er erschöpft war; dann begann wieder Maibold mit der Einreibung.
»Lassen Sie nur sein!« seufzte der Professor ergeben: »Ich merke schon, es hat keinen Zweck. So sehr Sie sich anstrengen, ich fühle auch nicht die Spur; es bleibt nichts übrig, als daß Sie das erfrorene Glied abnehmen.«
»Nur Geduld, Freund!« widersprach der Doktor. »Man darf nicht so schnell verzweifeln. Wir werfen die Flinte noch lange nicht ins Korn; eine solche Behandlung kann, unermüdlich fortgesetzt, noch nach Stunden Erfolg haben.«
Richtig, nach fünfviertelstündiger Einreibung kehrte allmählich die Blutzirkulation zurück, der Fuß taute auf, wurde weich und warm und war gerettet. Freilich traten später Frostblasen auf und es dauerte noch drei Wochen, bis das erfrorene Glied wieder völlig hergestellt war.
Schulze hatte sich überdies einen richtigen Schnupfen geholt; das erschien ihm ganz unerklärlich: »Hören Sie, Doktor,« meinte er, »ich habe immer gehört, Schnupfen, das gebe es nicht in den Polarregionen, weil die Luft bazillenrein sei.«
»Erkältungen sind hier allerdings selten,« erläuterte Maibold: »Ich schreibe dies aber mehr der Abhärtung zu, welche die großen Temperaturunterschiede, die man in diesen Gegenden oft in kürzester Zeit durchzumachen hat, rasch bewirken. Mit der Bazillentheorie kommt man beim Schnupfen am wenigsten aus, das gestehe ich selber auf Grund meiner Beobachtungen und Erfahrungen. Der eine hat jeden Augenblick einen heftigen Katarrh, während sein weniger verweichlichter Gefährte sich nicht erkältet, obgleich er unter genau denselben Umständen sich befindet und die gleichen Bazillen einatmet.
»Der Glaube, daß gewisse Grade von Abkühlung oder rascher Temperaturwechsel, die bei dem einen einen Schnupfen erzeugen, bei dem anderen aber nicht, bei dem ersteren das Eindringen der Katarrhbazillen bezweckt habe, ist derart unvernünftig, daß ein neuerer Gelehrter aus eine ganz verrückte Theorie geraten ist. Dieser geniale Mann erklärt: Neugeborene Kinder erkälten sich erfahrungsgemäß nicht, selbst bei schärfstem Temperaturwechsel.
»Dies ist allerdings eine unleugbare und sehr merkwürdige Tatsache; ich erkläre sie aber daraus, daß die Neugeborenen noch nicht verweichlicht sind und erst durch allzuwarme Behandlung empfindlich werden. Jener Gelehrte aber sagt, es komme daher, daß die Neugeborenen noch keine Bazillen in sich haben. Ja wieso nicht? wenn doch diese Bazillen überall vorhanden sein müssen, da man doch überall einen Schnupfen kriegen kann!
»Weiter behauptet jener kühne Denker: sobald einmal die Schnupfenbazillen in den menschlichen Körper eingedrungen sind, bleiben sie lebenslang darin, treten aber nur bei Erkältungen in Tätigkeit. Also wochenlang können diese Lebewesen untätig, wie leblos im Leib existieren, ja monate- und jahrelang. Sie lauern bis man sich erkältet, dann fabrizieren sie den Schnupfen, aber auch dann nicht immer und nicht bei jedem! Es ist da nur rätselhaft, wie man den Schnupfen wieder los werden kann, da die Herren Bazillen doch ständig in einem bleiben, und wie so mancher bei vernachlässigtem Katarrh erfuhr, von selber in ihrer schnupfenerzeugenden Tätigkeit nie ermatten.
»Übrigens, Sie haben einen Schnupfen, und zwar infolge leichtsinniger Erkältung: das genügt! Ich glaube eher, die Bazillen siedeln sich bei dem mit Schnupfen behafteten Menschen erst an, als daß sie die Ursache einer Erscheinung wären, die nur bei Erkältung auftritt!«
Leider trug auch Mäusle von dem Ausflug ein schlimmes Andenken davon: unvorsichtigerweise hatte er die Schneebrille längere Zeit abgenommen, um einzelne Abdrücke im Gestein genauer untersuchen zu können. Nun traf ihn die unvermeidliche Strafe in Gestalt eines Anfalles von Schneeblindheit. Der blendende Glanz des aus Millionen von Kristallen widergestrahlten Sonnenlichts verursachte eine Überanstrengung der Sehnerven. Die Augen müssen unbedingt durch die Schutzbrille mit ihren roten und grünen Doppelgläsern, die alles in gedämpftem Lichte erscheinen lassen, geschützt und geschont werden. Eine auch nur vorübergehende Abnahme dieses Augenglases, wenn man etwa bei großer Hitze die angelaufenen Gläser wiederholt putzt, ohne dabei die Augen zu schließen, rächt sich in schlimmster Weise.
Davon wußte nun der bedauernswerte Schwabe ein trauriges Lied zu singen!
Das erste Anzeichen des qualvollen Leidens war ein Laufen der Nase, wie bei einem Schnupfen. Dann begann Mäusle, alles doppelt zu sehen, bis seine Sehkraft völlig erlosch. Das Geäder im Augapfel schwoll schmerzhaft an, und es war ihm, als hätte er Sand in den Augen. Endlich fingen die erkrankten Sehwerkzeuge an, unaufhörlich zu tränen und die Lider wollten sich nicht mehr öffnen lassen.
Drei Tage litt er an diesem peinigenden Zustand, der am häufigsten eintritt, wenn die Sonne überwölkt ist, so daß der Lichtschein gleichmäßig von allen Seiten in die Augen dringt.
Die mandschurischen Ponys waren in einem Verschlage neben Südburg untergebracht. Sie vertrugen die Kälte sehr gut; dagegen machte ihre geriebene Schlauheit unseren Freunden viel zu schaffen.
Zunächst durchnagten die pfiffigen Tiere immer wieder das Führerseil und machten sich an die hinter ihnen verstauten Futtersäcke. Man kettete sie daher über Nacht an. Das verschmitzteste unter den dreien, Gulliver benannt, leistete sich nun den Spaß, mit der Kette heftig gegen die Wand zu schlagen, und so die Nachtruhe zu stören; denn die metallenen Schläge hallten trotz der mehrfachen Zwischenwände in ganz Südburg wider. Holm spannte hierauf ein Drahtseil durch den Stall, an das er die Pferde band. Was tat nun Gulliver? Er packte das Drahtseil mit den Zähnen, zog es zurück, so weit er nur konnte, und ließ es dann losschnappen. Mit großer Gewalt schnellte das Seil an die Rückwand und erzeugte einen Knall, gleich einem Donnerschlag, der durch alle Räume scholl. Das machte dem spaßhaften Pony ungeheures Vergnügen, nicht aber den jäh aus dem Schlummer erweckten Schläfern.
Kam dann einer ärgerlich in den Stall gerannt, um den Missetäter zu strafen, so machte dieser ein so unendlich spitzbübisches Gesicht, daß man lachen mußte, und ihm nicht länger böse sein konnte. Er wurde jedoch an den Füßen gefesselt, und der Halfter an die Kette gebunden. So war ihm das Handwerk gelegt, und nun endlich konnten sich unsere Freunde einer ungestörten Nachtruhe erfreuen.
Täglich wurden die Ponys an Schlitten gespannt, und zur Übung ein bis zwei Stunden hinausgeführt. Das gleiche geschah mit den Grönlandshunden. Im übrigen ließ man die Tiere sich reichlich im Freien tummeln. Dies war zu ihrer Gesunderhaltung und zu ihrer Erziehung für spätere Schlittenreisen unumgänglich.
Auch den Menschen tat es gut, tägliche Spaziergänge ins Freie zu unternehmen. Namentlich während der Polarnacht führte man solche Übungen regelmäßig aus.
Solange die Sonne noch am Himmel stand, litten auch die Hunde häufig an Schneeblindheit. Dann gruben sie jedesmal ein Loch in den Schnee und steckten den Kopf tief hinein, worauf sie sich rasch von den Anfällen erholten.
Maibold war von seiner stolzen Wissenschaft zu sehr geblendet, um von den Hunden zu lernen. Erst als Münkhuysen von dem schmerzhaften Leiden befallen wurde und als scharfer Beobachter und großer Verehrer der Natur dem Beispiel der Hunde folgte und sofortige gründliche Heilung fand, ließ sich der Arzt herbei, dies einfache Mittel den Menschen anzuempfehlen, denen es gerade so gut half, wie den Hunden.
Bei den Ausflügen mußte man sich erst daran gewöhnen, die Entfernungen richtig einzuschätzen, denn in der klaren Lust erschien alles ungleich näher, als es in Wirklichkeit war.
Ein unbeschreibliches und wundervolles Schauspiel bot die Sonne, als sie Anfangs April unterging: flammende Bögen in allen Farben, purpurne und goldglühende Wolken standen fast den ganzen Tag am Himmel, und das übrige Gewölk erschien als ein wirkliches Meer von Regenbogenfarben.
Nach Sonnenuntergang zog sich das Tauwasser zu Eis zusammen mit einem Geknatter gleich einem Pistolenschnellfeuer. Mitunter brachen die dünnen Eisscheiben, und die Stücke flogen wie klirrendes Glas nach allen Richtungen.
Während der Nacht verirrte sich einmal ein regelrechter Blizzard, ein Schneesturm, in dieses geschützte Tal.
Kapitän Münchhausen hatte seine fünf Pfund schweren russischen Filzschuhe draußen im Freien stehen lassen und der Orkan hatte sie entführt. Er suchte lange vergeblich nach ihnen in der Richtung, nach der sie der Sturm geweht haben mußte. Endlich entdeckte er sie in einer Entfernung von anderthalb Kilometern. Schulze, der ihn begleitet hatte, untersuchte die Schuhe genau und rief dann aus: »Da hört sich doch alle Wissenschaft auf! Diese gewichtige Bekleidung Ihrer Elefantenfüße hat die ganze lange Strecke in der Luft zurückgelegt, denn sie weist keinerlei Schrammen, keine Spur von Reibung auf. Wäre sie nur eine kleine Weile am Boden hingetrieben, so müßten wir die Spuren solcher Schlittenfahrt ihr ansehen. Hieraus können Sie auf die Gewalt schließen, die der Orkan entwickelte.«
In Südburg hatte, wie gesagt, jeder Bewohner sein eigenes, wenn auch sehr bescheidenes und enges Schlafkämmerlein, darin sich jeder eine Bettstelle nach seinem eigenen Geschmack und Belieben errichten konnte, aus Brettern, Kisten, Hängematten oder was ihm am geeignetsten erschien.
Münchhausen hatte einen Schlafraum angewiesen bekommen, der besonders in Rücksicht auf seine Körperverhältnisse gebaut worden war, doppelt so breit, wie die anderen, in die er sich nicht hätte hineinzwängen können. Er tat sich viel zugut auf eine herrliche Erfindung: um recht bequem in einer weichen, nachgiebigen Bettstatt zu liegen, hatte er sich eine solche aus starken Bambusstäben geflochten, die Rohre mit dicken Schnüren kunstvoll und dauerhaft zusammenschnürend. Das Gestell vermochte, seine Last zu tragen, da diese sich auf mehrere der äußerst widerstandsfähigen Rohre verteilte.
Die Enden dieser prächtigen Matte lagen auf zwei Kisten auf, die er in seiner Kammer verstaut hatte.
Stolz und profitlich, lud er jedermann ein, sein Prunkbett zu besichtigen: »Dank meiner nie versagenden Erfindungsgabe, werde ich am bequemsten ruhen von euch allen!« behauptete er, von Selbstzufriedenheit strahlend.
Holm sah die Vorrichtung kopfschüttelnd an und warnte dann: »Kapitän, das gibt ein Unglück!«
»I woher!« widersprach der geniale Erfinder: »Der gelbe Neid trübt Ihren Ingenieurblick, oller Schwede! Die Bambusstäbe sind haltbar und ertragen meine Last. Das habe ich vorsichtigerweise zuvor erprobt.«
»Denken Sie an mich, Kapitän!« beharrte Holm hartnäckig, doch ohne Eindruck auf den Dicken zu machen.
Als man sich zur Nachtruhe begeben hatte, vernahm man plötzlich ein großes Gepolter und hierauf klägliche Hilferufe.
Alles rannte in den Gang, und der Ingenieur sagte: »Das ist des Kapitäns Stimme; das Unglück ist keinesfalls groß: ich sah es kommen und habe es ihm vorausgesagt, allein in seiner Verblendung ließ er sich nicht warnen.«
Als man die Türe zu Münchhausens Kabine öffnete, sah man beim Scheine der mitgebrachten Kerzen zwischen den beiden Kisten ein Gewirr von Kissen, Decken und zappelnden Gliedern.
»Zu Hilfe, zu Hilfe! Ich ertrinke, ich ersticke!« scholl es dumpf unter den wogenden Bettstücken hervor. Münchhausen hatte sich in die Laken verwirrt und vermochte sich bei seiner Schwerfälligkeit nicht aus seiner beengten Lage herauszuhelfen.
Ein paar kräftige Arme griffen in die verworrenen Massen, packten den darunter sich wälzenden Riesenkörper und stellten ihn auf die Beine, worauf sie ihn von den deckenden Tüchern befreiten. Die Zuschauer waren voller lachender Heiterkeit über den in seinen Betten ertrinkenden Seebären.
»Sehen Sie, Kapitän,« sagte Holm, als der Verunglückte im Nachtgewande, von den erstickenden Hüllen befreit, vor ihm stand: »Genau so dachte ich mir's, und habe Sie daher gewarnt; aber Sie wollten in Ihrer Siegesgewißheit nichts hören. Daß die Bambusstäbe Ihr beträchtliches Gewicht aushielten, hatten Sie ja festgestellt, und ich bezweifelte es nicht, so wunderbar es erscheint. Allein ich sagte mir, daß die biegsame und nachgiebige Masse, wenn sie mit Ihrem ungeheuren Gewicht beschwert werde, das den Hauptdruck auf ihre Mitte ausüben mußte, sich senken und stark nach unten wölben werde. Die hierdurch stark verkürzten Stäbe mußten mit ihren auf den Kisten lose aufruhenden Enden den Halt verlieren, hinunterschnappen und Sie mit dem ganzen Bett in der Versenkung verschwinden lassen. Abgesehen von diesem einen Mangel, ist übrigens Ihre Erfindung wirklich tadellos, und aus Anerkennung will ich sie Ihnen auch praktisch verwendbar gestalten.«
Der Schwede holte alsbald Hammer und Nägel herbei und nagelte an den Enden des Geflechts jeden einzelnen Stab mit mehreren Nägeln fest auf die tragenden Kisten, so daß sie nicht wieder weichen und den Halt verlieren konnten.
Fortan hatte Münchhausen in der Tat das bequemste Lager der ganzen Gesellschaft, so daß Neeltje und Eva ihn baten, auch ihnen zwei gleiche anzufertigen, ein Wunsch, dem er mit Vergnügen entsprach, schmeichelte er doch seinem berechtigten Erfinderstolze ausnehmend.
Die größte Mühe bereitete die Beschaffung von genügendem Trinkwasser für die zahlreichen Bewohner von Südburg und für die Ponys. Da die auch hier im Tale vorhandenen Seen zugefroren waren und ohnedies ein Wasser enthielten, das kaum trinkbar zu nennen war, mußte Schnee geschmelzt werden, und auch gewaltige Schneemassen liefern bekanntlich nur wenig Wasser. Man mußte daher am Wasser sparen, obgleich der große Schmelzkessel den ganzen Tag über dem Feuer stand, und jeder bekam nur eine streng abgemessene Menge.
Mäusle kam auf den Gedanken, aus den in genügenden Mengen vorhandenen Seehundsfellen Wasserschläuche anzufertigen, die an Leinen im unteren Heizraum ausgehängt und immer wieder mit Schnee gefüllt wurden. Die Erwärmung der oberen Räume wurde hiedurch nicht merklich beeinträchtigt, und alle waren dem Schwaben dankbar dafür, daß seine Erfindung der Wassernot gründlich und dauernd steuerte.
Der Matrose Luigi hatte entdeckt, daß kleine Stücke Salz, in Kaliko gewickelt, leidlich brennen, und so stellte er eine Menge solcher Salzdochte her, wodurch wesentlich an Feuerungsmaterial gespart wurde.
Carlo seinerseits hatte das »Skuamövenspiel« ausgeheckt, zur Belustigung der Zuschauer und zu seinem eigenen Ergötzen und Vorteil. Er warf Stückchen gebratenen Seehundfleisches in die Luft und fing sie äußerst geschickt und mit unfehlbarer Sicherheit mit dem Munde auf: das konnte ihm keiner nachmachen. Seine gewandten Sprünge und drolligen Kopfverrenkungen bei diesem eigenartigen Ballspiel erregten stets große Heiterkeit, und so gönnte ihm jedermann gerne die Extrabissen, die er sich auf diese Weise verschaffte, um seinen unersättlichen Appetit zu stillen. Das war ja der eigentliche Zweck der Übung für diesen schlauen Kumpan.
Eines Tages gab er wieder eine solche Vorstellung; plötzlich aber brach er sie ab, würgte mit komisch verzerrten Zügen und zeigte sich sehr kleinlaut und niedergeschlagen. Er zog sich zurück, erschien aber nach einer halben Stunde wieder und bat kläglich, man möchte ihm doch noch eine Portion Wasser verwilligen, er sterbe vor Durst und habe seinen Krug schon bis auf den Grund ausgetrunken.
Dies war eine hochbedeutsame Angelegenheit, denn damals hatte Mäusle seine Erfindung noch nicht gemacht, und eine außerordentliche Bewilligung von Wasser ging auf Kosten der Allgemeinheit. Münkhuysen berief daher eine Generalversammlung, zur Beratung des kühnen Ansinnens.
Carlo wurde nun natürlich zunächst nach den Gründen gefragt, die ihn zu seinem ungewöhnlichen Gesuche veranlaßten.
»Ach, meine Herren!« gestand er ganz zerknirscht: »Als ich vorhin Skuamöve spielte, habe ich aus Versehen zuletzt statt eines Fleischstücks einen von Luigis niederträchtigen Salzdochten erwischt. Und wahrhaftig! ich habe ihn hinuntergeschluckt. Das war ein ganz abscheulicher Bissen und er verbrennt mir Schlund und Magen.«
Ein allgemeines Gelächter erhob sich auf diese Beichte hin; Carlo aber jammerte: »Ich habe all mein Wasser ausgetrunken, aber ich verdurste, ich verbrenne! Seien Sie doch so barmherzig und füllen. Sie noch einmal meinen Krug!«
»Nimm Rizinusöl!« verordnete Doktor Maibold.
»So viel Sie befehlen, Herr Doktor; aber bitte auch Wasser!«
Nach vielem Hin- und Herreden wurde auf Neeltjes und Evas warme Fürsprache hin dem Ärmsten noch ein Krug Wasser bewilligt, doch unter ausdrücklicher Hervorhebung, daß dies kein Präzedenzfall sein solle.
Um die Unterhaltung möglichst abwechslungsreich und gewinnbringend zu gestalten, faßten unsere Freunde den Beschluß, daß jeder abwechselnd etwas zur Belehrung oder Erheiterung der Gesellschaft vortragen solle. Beinahe jeden Abend fand ein solcher Vortrag statt. Da bekam man interessante Abhandlungen aus den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft zu hören oder merkwürdige Erlebnisse und wertvolle Belehrungen aus eigener Erfahrung. Hie und da erzählte einer einen ganzen Roman, den er früher gelesen hatte, aus dem Gedächtnis. Eine solche Erzählung füllte oft mehrere Abende aus und ermüdete nie: in dieser kulturfernen Wildnis erschien einem eigentlich alles hochinteressant, was einem daheim vielleicht kaum beachtenswert erschienen wäre. Aber der Geschmack und die Bildung der Erzähler bürgte dafür, daß nur wirklich Gediegenes geboten wurde, und man machte die Erfahrung, daß die freie Wiedergabe aus dem Gedächtnis sich als ungleich anregender erwies, als das Vorlesen aus Büchern, das übrigens auch reichlich zu seinem Rechte kam, da nicht nur der Baron für eine reichhaltige Bücherei gesorgt hatte, sondern auch die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft sich mit den Werken versehen hatten, die ihnen besonders am Herzen lagen.
Als Mäusle an die Reihe kam, überraschte er die Genossen mit einem nagelneuen Drama, das er in aller Stille hier gedichtet hatte. Alle waren entzückt und hingerissen von dem Glanz der Bilder, der Tiefe der Gedanken und des Gemütes, dem poetischen Reiz seiner Verse und dem wuchtigen Fortschritt der Handlung. Vom ersten Auftritt bis zum letzten wurden die Zuhörer in atemloser Spannung gehalten.
»Das muß gedruckt werden, das muß zur Aufführung gelangen!« rief Münkhuysen begeistert aus, als Mäusle geendet hatte und die anfängliche Stille im Banne tiefster Ergriffenheit einem allgemeinen Beifallsstürme gewichen war: »Das ist doch wieder einmal ein wirkliches Trauerspiel und kein so mattes, trostloses modernes Machwerk!«
Der schwäbische Dichter lächelte wehmütig und sagte: »Wer druckt denn heutzutage noch so etwas oder welche Bühne würde es wagen, derartiges aufzuführen? Es ist eben nicht modern! Ich habe mehr als ein Dutzend solcher Schauspiele gedichtet; sie sind alle mit meinem Herzblut geschrieben: für keines konnte ich einen Verleger oder Theaterleiter finden, die sie angenommen hätten. Immer heißt es, bei aller Anerkennung: ›Es ist leider in der ganz veralteten Art eines Shakespeare, Schiller und Goethe geschrieben!‹«
»Was? Das Nieveraltende nennen diese Simpel veraltet!« tief Raimund, der Shakespeareverehrer, entrüstet.
»Die Werke dieser drei Dichterfürsten werden aber doch noch immer aufgeführt, und zwar vor vollen Häusern,« wandte Ernst ein.
»Gewiß!« bestätigte Mäusle: »Ihr großer, unerschütterlicher Ruf als Klassiker des Dramas gestattet dies. Allein wer heute dichten will, muß sich der herrschenden Richtung anbequemen und darf sich nicht an diese veraltete Weise halten, sonst kommt er nicht an. Mir ist es jedoch nicht möglich, meine Überzeugung, meinen Geschmack und meine Eigenart zum Opfer zu bringen um des Erfolges willen.«
»Sie sind ein törichter Schwärmer!« spöttelte Maibold.
Aber Holm nahm den Schwaben in Schutz: »Nein! Sie tun recht daran. Ich weiß wohl, wie der Hase läuft: wir haben heule keine großen Dichter, keine Genies, die irgend ein gewaltiges Schauspiel zustande brächten, das sich neben den Werken jener Klassiker bescheiden blicken lassen dürfte. Sie nehme ich aus, Herr Mäusle, nachdem ich eine Probe Ihrer Kunst vernehmen durfte. Die Dichterlinge von heutzutage mußten, um die Schwäche ihrer Erzeugnisse zu verschleiern und mit ihnen anzukommen, alles wahrhaft Große herunterreißen und eine neue Richtung verkündigen. In Wahrheit ist die Richtung nichts weniger als neu, es ist weiter nichts als Unfähigkeit und Poesielosigkeit. Aber die Poesie, die ihnen versagt ist, verlästern sie als ›hohles Pathos‹, und die Kritik, die ebenfalls immer nach neuem ausschaut, gibt ihnen recht und hebt ihre jämmerlichen Werke zum Himmel empor. Das Publikum langweilt sich bei diesen Schaustücken oder es wird gar von ihnen angewidert und angeödet; allein es glaubt, Beifall klatschen zu müssen und stimmt heuchelnd in das Lob der Kritik ein, aus Furcht, für ungebildet und verständnislos zu gelten. So seid ihr Deutsche: ihr habt nicht den Mut der eigenen Meinung. Gestern habt ihr ein Schauspiel begeistert beklatscht, das euch ergriff und zu Herzen ging; heute lest ihr in der Zeitung, es sei Kitsch. Und nun glaubt ihr, auch nicht anders über das wirklich hervorragende Werk urteilen zu dürfen, denn der Sachverständige hat euch belehrt, und seiner angebeteten Autorität gegenüber wagt ihr nicht mit der eigensten Meinung herauszurücken. Der unmoderne und daher wirkliche Dichter ist ein für allemal abgetan. Aus dem gleichen Grunde heuchelt ihr Entzücken über das Erbärmliche, und freut euch nur, daß ihr wenigstens die alten anerkannten Klassiker ehrlich bewundern dürft, ohne befürchten zu müssen, euch zu blamieren.«
»Ja!« bestätigte Neeltje: »Der ewige Schwindel mit alleingültigen modernen Richtungen hindert, daß uns geboten wird, was uns wahrhaft unterhalten, begeistern und erheben könnte; dafür müssen wir das Kleine bewundern, weil eine abscheuliche Mode alles tyrannisiert.«
Bald darauf hielt Kapitän Münchhausen einen Vortrag und jedermann glaubte wieder einige seiner fabelhaften Abenteuer vernehmen zu dürfen. Er aber verblüffte die Gesellschaft durch die Erklärung, er habe einen wissenschaftlichen Stoff gewählt, nämlich eine philologisch-kritische Erklärung der Siegfriedsage. Bald jedoch merkte man, daß auch hier der alte Schalk zutage trat, und daß fein angeblich wissenschaftlicher Vortrag nichts anderes war als eine blutige Satire, eine derbe Verhöhnung der Manie gewisser Jünger der Wissenschaft, aus den alten Sagen den angeblichen dürftigen Wahrheitsgehalt herauszuschälen, unter Anwendung einiger billiger Kunstgriffe und vermeintlich scharfsinniger Erwägungen. Dieser lehrreiche Vortrag lautete:
»Meine Herren und Damen!
»Entschuldigen Sie zunächst diese Anrede. Der Deutsche liebt es, dem Franzosen alles nachzumachen, und so hat er sich neuerdings angewöhnt, gleich ihnen bei seiner Anrede sowie in Verlobungsanzeigen und dergleichen die Dame voranzustellen aus französelnd windiger Galanterie. Ich kann mich dieser verächtlichen Fremdtümelei nicht anschließen, schon weil sie undeutsch, dann aber auch widernatürlich und läppisch ist. Ich bin überzeugt, daß kein echtes deutsches Weib mir dies verübeln wird.«
»Nein, nein! Gewiß nicht!« riefen Neeltje und Eva gleichzeitig.
»Also denn, meine Herren und Damen, ich beginne!« fuhr der Kapitän befriedigt fort: »Alle alten Überlieferungen müssen als sagenhaft angesehen werden, weit keine Augenzeugen mehr leben, noch Nachkommen von Leuten, die solche Augenzeugen persönlich gekannt haben. Man nennt daher Berichte aus alter Zeit, namentlich solche, die einem nicht in den Kram passen und sich nicht mit der Voreingenommenheit vereinigen lassen, auf die man seine eigenen neuesten unfehlbaren wissenschaftlichen Ergebnisse aufzubauen beliebt, kurzweg: Sagen. Auch kann man solche Überlieferungen, an denen man hoffen kann, der Mitwelt seinen glänzenden Scharfsinn beweisen zu können, getrost in das Reich der Sage verweisen. Es kostet nichts, irgend ein älteres Ereignis als wissenschaftlich unhaltbar und sagenhaft zu erklären, im Gegenteil klingt dies immer besonders wissenschaftlich und macht auf wissenschaftliche Kreise sowie auf die Laien den besten Eindruck.
»Sagen brauchen natürlich schon wegen ihres mehr oder weniger hohen Alters von keinem Menschen mehr geglaubt zu werden, im Gegenteil macht es einen ungemein gebildeten Eindruck und verleiht einem einen blendenden wissenschaftlichen Anstrich haltbarsten Glanzlackes, wenn man möglichst viel bezweifelt und sich als Ungläubigen, zu deutsch ›Skeptiker‹, brüstet. Man gewinnt durch diese Anzweiflung wertvolle und hochwillkommene Übungsstoffe, zu deutsch ›Objekte‹ um sich durch ihre mehr oder weniger geistreiche Deutung einen geachteten Namen in der Wissenschaft zu verschaffen. Für stoffarme und geistesschwache, aber strebsame junge Leute, die sich als Gelehrte aufzuspielen wünschen, gibt es kaum ein aussichtsreicheres und einfacheres Hilfsmittel.
»Dieser Stoff hat zugleich den Vorzug der größten Reichhaltigkeit, ja der Unerschöpflichkeit; denn alles, was aus alter Zeit überliefert ist, darf unbesorgt angezweifelt werden und ist damit ohne weiteres der wissenschaftlichen Untersuchung, zu deutsch ›Kritik‹, verfallen. Diese ist imstande, alles mit unfehlbarer Bestimmtheit und allgemeingültiger Sicherheit nachzuweisen.
»Diese wissenschaftliche Kritik ist berufen und befähigt, Tatsachen aus grauester Vorzeit festzustellen, die selbst von den Zeitgenossen nicht geahnt wurden, und Fäden zu entwirren, die sie mit schlagenden Gründen, inneren und äußeren, in die prächtigste Verwirrung gebracht hat. So schafft sie Fragen und Rätsel, zu deutsch ›Probleme‹, wo dem blöden Laien alles ganz einfach und klar zu liegen schien, und vermag dann mit der Lösung dieser so scharfsinnig geschaffenen Schwierigkeiten zu glänzen. Wer Anspruch auf Bildung macht und von den Zeitgenossen für voll genommen werden will, hat sich an die Behauptungen der Kritik bedingungslos zu halten und ihnen so lange kindlichen Glauben zu schenken, bis sie selber nachweist, daß ihre bisherigen, für ewige Zeiten feststehenden Ergebnisse unhaltbar sind, und andere, ebenso unumstößliche an ihre Stelle setzt, die nun jedermann bis auf weiteres anerkennen muß, falls er zu den Gebildeten gerechnet sein will.
»Die Wissenschaft kennt zwei Wege oder Art und Weisen, zu deutsch ›Methoden‹, eine Sage zu erklären: die sinnbildliche, zu deutsch ›symbolische‹, und die geschichtliche, zu deutsch ›historische‹. Erstere weist nach, daß die geschichtliche Einkleidung Naturvorgänge versinnbildlicht, während die geschichtliche Deutung klarlegt, daß zwar ein geschichtlicher Kern der Sage, zu deutsch dem ›Mythus‹, zugrunde liegt, aber nur ein magerer, mißverstandener, durch Übertreibungen und phantastische Erfindungen ausgeschmückter und verdunkelter, den allein die Wissenschaft, zu deutsch ›Omniszienz‹, einwandfrei klarzustellen vermag.
»Die sinnbildliche Erklärung ist die ungleich leichtere. Sie läßt sich ohne weiteres auf alle Sagen und geschichtlichen Tatsachen anwenden und erfordert nur einige kunstgriffliche Kenntnisse und Übung in der Mache. In der Weltgeschichte herrscht ja bekanntlich der Zug nach dem Westen vor. Da nun zufällig auch die Sonne von Osten nach Westen läuft, so läßt sich die ganze Weltgeschichte mit größter Leichtigkeit als Sonnenmythus deuten und wissenschaftlich nachweisen. Dabei kann man die einzelnen Tatsachen, die man umzudeuten wünscht, nach Belieben entweder auf den Tageslauf oder auf den Jahreslauf der Sonne beziehen. Die Tageszeiten entsprechen ja den Jahreszeiten: Morgen oder Frühling, Mittag oder Sommer, Abend oder Herbst, Nacht oder Winter. Sehr leicht ließe es sich wissenschaftlich einwandfrei nachweisen, daß es in Wirklichkeit überhaupt keine vier Jahreszeiten gibt, sondern daß diese bloß als eine Versinnbildlichung der vier Tageszeiten anzusprechen sind, oder auch umgekehrt. Die vier Lebensalter, Jugend, Mannheit, Alter und Greisenhaftigkeit können genau so als Versinnbildlichung der vier Jahres- oder Tageszeiten gefaßt werden oder diese als ein Sinnbild für jene.
»Die Weltgeschichte ist aber auch eine Geschichte des Kampfes und des Krieges, des Ringens verschiedener Völker oder verschiedener Mächte in ein und demselben Volke miteinander. Das bedeutet dann ausnahmslos entweder den Kampf des Tageslichts mit der nächtlichen Finsternis oder das Ringen des Frühlings mit den eisigen Heerscharen des Winters.
»Diese so äußerst bequeme Deutungsmethode läßt sich auch unbedenklich aus die Überlieferungen südlicher Länder anwenden, in denen Tag und Nacht kampflos, nämlich ohne Dämmerung, in einander übergehen und ebensowenig ein Kampf zwischen kalter und warmer Jahreszeit bekannt ist, weil sie keinen eigentlichen Winter haben. Dies läßt sich deshalb gut machen, weil die Ergebnisse, zu deutsch ›Resultate‹, der wissenschaftlichen Kritik fast ausschließlich für die demütig gläubigen Jünger der Wissenschaft in den nordischen Ländern bestimmt sind, die nicht so weit denken, daß ihnen ein solcher Bock zum Bewußtsein käme.
»In Geschichte oder Sage pflegen auch Liebes- und Heiratsgeschichten eine Rolle zu spielen. Diese werden auf das gedeihliche Verhältnis der Sonne zur Erde gedeutet.
»Dies sind die allgemeinen Grundsätze, zu deutsch ›Prinzipien‹, für die sinnbildliche Deutung einer Sage; die Einzelheiten vermag auch ein mittelmäßiger Kopf in das System einzupassen. Überhaupt ist alles so klar gegeben, daß von irgendwelcher Schwierigkeit nicht die Rede sein kann.
»Umständlicher und weniger leicht ist die geschichtliche Deutung. Da muß man zuerst beschließen, wie viel man als einen Kern geschichtlicher Wahrheit gelten lassen will, von dem dann alle Züge künstlich abgelöst werden, die man als sagenhaft auszuscheiden gewillt ist. Es erfordert dies schon einen gewissen Aufwand von Scharfsinn, zu deutsch ›Intelligenz‹, wenn man recht einleuchtend, zu deutsch ›plausibel‹, machen will, warum das, was einem nicht paßt, sagenhafte Ausschmückung sei, das, was man gelten lassen möchte, dagegen geschichtliche Wahrheit.
»Eigennamen muß man immer deuten, und so tun, als ob es in alter Zeit überhaupt keine Namen gegeben hätte. Hier ist ängstlich zu vermeiden, eine naheliegende Erklärung zu wählen, da dies in den Verdacht bringen könnte, man leide an Mangel an Scharfsinn und Originalität. Überhaupt bestreite man möglichst alles, was auf der Hand zu liegen scheint oder was frühere Erklärer behauptet haben, und greife zum Fernliegendsten, auf das nicht so leicht ein anderer gekommen wäre; denn da kann man mit seinem hervorragenden Spürsinn erstaunlich glänzen. Dagegen erwähne man mit hoher Anerkennung die Arbeiten neuerer Forscher, an deren günstigem Urteil einem gelegen ist. Dadurch erst wird die ganze Arbeit wissenschaftlich beachtenswert, weil man bedeutende Gönner unter den anerkannten Größen der Wissenschaft gewinnt.
»Was nun unsere Siegfriedsage betrifft, so ist sie schon des öfteren sinnbildlich gedeutet worden, und so ziemlich alle verschiedenen Möglichkeiten solcher Auslegung wurden erschöpft. Eine solche allzu leichte Erklärung verschmähe ich selbstverständlich und wähle mir dagegen die ungleich schwerere geschichtliche Deutung, da mir dies infolge meines außergewöhnlichen Scharfsinns besonderen Spaß macht.
»Aus dem Wust der sagenhaften Ausschmückungen, die in dieser Sage alles Geschichtliche überwuchert und möglichst entstellt haben, ist es eine szientisische Herkulesarbeit, die nackten Tatsachen herauszuschälen.
»Mit Absicht sage ich ›szientistisch‹, denn ich halte es für eine Schande, daß die deutsche Wissenschaft immer noch einen so unwissenschaftlichen Ausdruck wie ›wissenschaftlich‹ benutzt, für den sie viel schöner und gebildeter ›szientisisch‹ sagen kann, wie sie ja auch ›historisch, symbolisch, hypothetisch, absolute und dergleichen gebraucht, an Stelle der laienhaft ungebildeten Ausdrücke ›geschichtlich, sinnbildlich, vermutlich und unbedingt oder durchaus‹.
»Unter den vielen Entstellungen, welche die Siegfriedgeschichte, zu deutsch ›Historik, erlitten hat, ist vor allem das sogenannte Nibelungenlied zu brandmarken, dessen Name schon die ›umnebelnde‹ Absicht, zu deutsch ›Tendenz‹, verrät. Mir ist es vollkommen gelungen, den sicheren Sachverhalt herauszuklügeln, und jedermann, der Anspruch auf wissenschaftliche Bildung erhebt, hat fortan folgende unumstößliche Ergebnisse als wissenschaftlich feststehend hinzunehmen, die ich durch stundenlanges angestrengtestes Nachdenken gewann. Alle anderen Erklärungsversuche, zu deutsch ›Explikationsessays‹, haben selbstverständlich von nun an als hinfällig und als überwundener Standpunkt zu gelten.
»Der Name Siegfried ließe sich aus Sieg und Frieden ableiten, wenn dies nicht gar zu nahe läge, um wissenschaftliche Beachtung zu verdienen. Vielmehr besaß Siegfrieds Vater zweifellos einen umfriedeten Hof an der Sieg, heute Siegburg bei Köln. Daher nannte sich schon sein Vater Siegbert, eigentlich Siegbärt, was auf seinen stattlichen Bartwuchs hinweist, wie es ja dazumal beliebt war, die Leute nach äußerlichen, ins Auge fallenden Kennzeichen zu benennen. Zufällig fiel mir nach Ausarbeitung meines Vortrags das Nibelungenlied in die Hände, aus dem ich ersah, daß Siegfrieds Vater nicht Siegbert, sondern Siegmund hieß; es ist mir jetzt in der Eile nicht möglich, eine treffende Erklärung dieses Namens zu geben, doch werde ich es späterhin nachholen.
»Siegfrieds Mutter, Sieglinde, war die Wirtstochter ›Zur Linde‹ an der Sieg.
»Siegfrieds Vater war ein höherer Beamter. Die Sage stempelt ihn zum König, aber das ist natürlich sagenhafte Übertreibung, da ein König seinen Sohn keinem Schmiede in die Lehre gegeben hätte. Ganz niedriger Herkunft konnte Siegfried aber auch nicht sein, folglich war er ein höherer Beamtensohn.
»Da Siegfried ein kräftiger Bursche war und, wie sich während seiner Lehrzeit zeigte, ein gut Teil angeborener Grobheit zur Schau trug, bestimmte ihn sein Vater zum Grobschmied.
»Als Lehrling bewies Siegfried wenig Lerneifer, vielmehr mißbrauchte er seine Körperkräfte, um seine Mitgesellen jämmerlich durchzuprügeln, und sogar den krüppeligen Meister, wahrscheinlich auch die Frau Meisterin (das ist ihm wohl zuzutrauen!) tätlich zu beleidigen, und in der Werkstatt alles kaput zu machen.
»Die armen Leute wagten es nicht, dem adligen Junker offen entgegenzutreten. Man scheute es damals so sehr, sich mit großen Herren einzulassen, daß man sich sogar fürchtete, mit ihnen Kirschen zu essen; aus welchem Grunde, ist noch nicht aufgeklärt. (Vielleicht Tollkirschen?)
»Der Schmiedemeister war früher Schauspieler gewesen, deswegen wird er auch kurzweg ›Mime‹ genannt. Er vermummte sich daher mit seinen Lehrlingen und lauerte dem ungeratenen Bürschchen auf, um ihm unerkannt einen gehörigen Denkzettel zu verabfolgen. Siegfried roch aber Lunte und brannte heimlich durch.
»Die Sage ergeht sich nun in fabelhaften Berichten von Kämpfen mit Drachen, Riesen und Zwergen, die Siegfried siegreich bestanden haben soll. Mittelalterliche Leser, die noch in den Kinderschuhen des Aberglaubens steckten, ließen sich ja solche Bären ohne weiteres aufbinden. Der wahre Sachverhalt läßt sich aus diesen albernen Erfindungen und Übertreibungen unschwer ermitteln: daß der Kerl überall Händel anfing, ist bei seinem geschilderten Charakter wohl begreiflich; daß er kleinere Knaben (›Zwerge‹) mit Leichtigkeit überwand, versteht sich von selbst; daß er auch mit größeren und älteren (›Riesen‹) anbändelte, ist seiner Frechheit wohl zuzutrauen. Unter den ›Drachen‹ werden wir nicht fehlgehen, Eidechsen, Blindschleichen, höchstens noch Kreuzottern zu verstehen, die er unterwegs, und zwar — unbekümmert um den Waldfrevel, — mittels ausgerissener junger Bäume erschlug.
»Solch zügelloser roher Übermut aber imponierte dem damaligen rohen Geschlecht, so daß derartige ›Heldentaten‹ bewundert und, natürlich möglichst übertrieben, besungen wurden.
»Nun sind wir beim Wendepunkt in Siegfrieds Leben angelangt: bei einer Feuersbrunst rettete er ein junges Mädchen namens Brunhilde aus den Flammen. Die meisten Heldinnen der alten Sagen haben irgend einen auf ›Hilde‹ endigenden Namen. Hilde ist also die ›Heldin‹. Die erste Silbe von Brunhildens Namen leiten unbedeutende Forscher von ›Brünne‹ ab. Ich denke eher an ›Brunnen‹. Unzweifelhaft aber bedeutet der Name ›die braune Heldin‹ (vergleiche ›Bruno‹, der Braune, ›Brunswig‹, Braunschweig), denn Hilde erschien durch Feuer und Rauch gebräunt und rußig.
»Das Fräulein erwartete nun mit Recht, ihr Retter werde sie heiraten, wie das ja sonst bei Lebensrettungen üblich ist. Dies versprach er ihr auch, doch unterblieb vorerst eine öffentliche Verlobung: das heißt, sie unterblieb überhaupt, wahrscheinlich weil Brunhilde kein Geld hatte, war sie doch völlig abgebrannt!
»Es wird daher auch heutzutage niemand wundernehmen, daß Siegfried, als sich ihm Gelegenheit bot, eine steinreiche Fürstentochter zu ehelichen, seine Braut einfach sitzen ließ.
»Seine Erkorene hieß Krimhild, was nicht etwa ›die grimme Heldin‹ bedeutet, sondern von der Halbinsel Chrim (Krim) abzuleiten ist, wohin sich Krimhilde als Witwe an den König Etzel (der ›Hetzer‹) verheiratete.
»Bei der Verlobung steckte Siegfried seiner Braut einen kostbaren Ring an den Finger, den er irgendwo gestohlen (›erbeutet‹) hatte: dies ist der berüchtigte › Ring der Nibelungen‹.
»Als Mitgift bekam Krimhilde einen großen ›Hort‹ mit, das heißt eine Menge Gold- und Silbergeschirr für die Haushaltung, das aber später bei einer Rheinüberschwemmung verloren ging.
»Wie gesagt, hatte Siegfried Brunhilde sitzen gelassen, was freilich seit Anbeginn der Welt schon unzähligemal vorkam. Die Sache hatte aber einen Haken, nämlich die Eifersucht, den Neid, die Rachgier der Betrogenen.
»Diesen ›Haken‹, der Siegfried das Leben kosten konnte, macht das Nibelungenlied zu einer sinnbildlichen Persönlichkeit, namens Hagen.
»Brunhilde war in ihren berechtigten Hoffnungen betrogen; denn wenn Siegfried keine ernsten Absichten hatte, hätte er nicht ihr Lebensretter werden sollen. In ihrer Verzweiflung machte Brunhilde, am Hochzeitstage ihrer Nebenbuhlerin, dieser die größte Skandalszene vor der Kirchentüre; doch konnte dieser peinliche Auftritt an der Sachlage nichts mehr ändern.
»Übrigens sollte Siegfried bald sein Geschick ereilen: bei einer Jagdpartie langte er äußerst erhitzt an einer Waldquelle an und trank unvorsichtigerweise, ohne vorangegangene Abkühlung, von dem eiskalten Wasser. Diesen Leichtsinn mußte er mit dem Leben büßen.
»Die Sage läßt es sich natürlich nicht nehmen, auch diese einfache Tatsache romanhaft zu entstellen: Brunhilde soll Siegfried durch einen Meuchelmörder, jenen schon genannten Hagen, aus der Welt geschafft haben, in eben dem Augenblick, wo er durch den kalten Trunk sowieso sein Leben eingebüßt hätte. Aber Meuchelmörder dingt ein Frauenzimmer nicht so mir nichts dir nichts, namentlich wenn es kein Geld hat.
»Auf diese Mordgeschichte baut dann das Nibelungenlied noch einen bluttriefenden zweiten Teil auf, in dem Krimhilde wiederum ihren ermordeten Gatten rächt, statt die Sache einfach dem Staatsanwalt zu übergeben.
»Sie sehen, meine Herrn, wie einfach und natürlich sich diese ganze Sage im läuternden Lichte unparteiischer Wissenschaftlichkeit darstellt.«
Münchhausens Vortrag erregte große Heiterkeit und blieb nicht ohne Eindruck auf diejenigen, die sich von den »Ergebnissen« wissenschaftlicher Forschung oft blenden ließen und für erwiesene Wahrheit zu halten gewohnt waren, was meist nichts weiter als mehr oder weniger scharfsinnige Vermutungen, im Grunde haltlose Erfindungen in wissenschaftlichem Flittergewande sind.
Ernst, der auch noch nicht ganz frei von solchem Irrtum war, fragte den Kapitän: »Was bezwecken Sie eigentlich mit dieser Parodie auf das Nibelungenlied? Dieser herrliche Heldensang erscheint mir so erhaben, daß es mich peinlich berührt, ihn in solcher Weise ins Lächerliche gezogen zu sehen.«
Münchhausen erwiderte ernst: »Seien Sie überzeugt, daß niemand eine höhere Ehrfurcht vor dieser großartigsten Schöpfung deutscher Dichtkunst empfinden kann als ich. Merken Sie sich wohl: es gibt zwei grundverschiedene Arten der Parodie: die eine will ein schwaches Machwerk in seiner Erbärmlichkeit enthüllen, dadurch, daß sie seine Schwächen übertreibt und dem Gelächter preisgibt. Die andere will Mißstände geißeln, die mit der gewählten Unterlage nichts zu tun haben. Zu einer solchen Satire muß, wenn sie recht wirksam sein soll, eine Unterlage gewählt werden, die allgemein bekannt ist, also klassisch genannt werden darf. Nichts liegt dann dem Satiriker ferner, als seine Vorlage irgendwie verhöhnen oder herabsetzen zu wollen: sie ist lediglich das klassische Gewand, in das er seine Satire kleidet. Es gibt keine größere Ehre für eine Dichtung, als häufig zu einer Parodie solcher Art benutzt zu werden; darum sehen wir, daß unsere besten Dichtungen, wie die Glocke und des Sängers Fluch am häufigsten parodiert worden sind. Wer darin eine Verhöhnung dieser vorzüglichsten Werke erblickt, ist ein beschränkter Geist, der keine Ahnung von dem Wesen der Parodie in ihrer zweiten, vornehmsten Art besitzt. Ein solcher muß auch vor Shakespeares Troilus und Cressida verständnislos stehen. In der Tat gibt es genug solcher Nichtswisser, die eine Verspottung der Ilias dahinter wittern. Wer jedoch das rechte Verständnis besitzt, der wird sich harmlos an einer gelungenen Parodie freuen, ohne so einfältig zu sein, sie für ein Verbrechen an einer von ihm hochgeschätzten Dichtung zu halten.
»So wählte ich auch die Nibelungen zur Unterlage für meine Satire, nicht etwa um dieses von mir so hochverehrte Heldengedicht lächerlich zu machen, sondern um die lächerliche Sucht irregehender Gelehrter bloßzustellen, die jede Sage und auch geschichtliche Tatsachen, die sie zur Sage stempeln, als Sonnenmythen oder anderswie deuten wollen. Ich wollte zeigen, wie billig und schwachsinnig dieser Wahn im Grunde ist, der keine Scheu trägt, uns Homers Werke, die Nibelungen und so viele andere Erzeugnisse des menschlichen Genies durch eine sich wissenschaftlich gebärdende Deutelei zu entkleiden.
»Wollte man dieser kläglichen Sorte von Gelehrten Glauben schenken, so müßte man annehmen, daß in alten Zeiten sich überhaupt nichts begab und unsere Altvordern keinerlei Phantasie besaßen, nichts zu ersinnen und zu erdichten vermochten, sondern sich stumpfsinnig damit beschäftigten, alle Naturvorgänge in mythisches Gewand zu kleiden und geringfügige Ereignisse und Taten maßlos zu übertreiben, aus Mücken Elefanten machend.
»Wie lächerlich ist doch die Sucht, den geschichtlichen Kern alter Sagen ohne irgendwelche urkundliche Unterlagen ermitteln zu wollen, und der Wahn, es könne dabei wirklich etwas wissenschaftlich Wertvolles herauskommen! Kleine Geister verschwenden oft ihre ganze Lebensarbeit an solche Läppischkeiten. Im Grunde ist es ihnen nur darum zu tun, sich einen Namen zu machen. Die Menschheit und die Wissenschaft gewinnen nichts dabei, sondern verlieren bloß.
»Denken Sie nur, wie die schlichten Patriarchengeschichten der Bibel als Sagen, als sogenannte Stammesmythen gedeutet wurden. Diese nüchternen und schmucklosen Erzählungen machen auf jeden Unbefangenen den Eindruck kindlichster Wahrhaftigkeit: da ist alles so echt menschlich und natürlich, daß es noch heute ganz heimatlich anmutet, obwohl seither Tausende von Jahren verflossen sind. Die Helden werden in keiner Weise verklärt dargestellt, wie es bei Sagen ausnahmslos der Fall ist, da ist keine sichtliche Übertreibung, weder nach der guten noch nach der schlechten Seite, ihre Schwächen und Fehler werden nicht entschuldigt oder gar beschönigt, ihre Taten nicht ins Fabelhafte gesteigert. Erst die wissenschaftliche Kritik bringt fremdartige Färbung in diese menschlich-heimischen Bilder und verweist die schlichte geschichtliche Wahrheit ins Reich der Fabel. Unsere Erkenntnis gewinnt durch diese wertlose Spielerei nichts, wir werden vielmehr durch sie in Wahn verstrickt.«
Ernst gedachte jetzt seines ersten Blicks durch das Paläoskop, da er Joseph in Ägypten erschaute, und erinnerte sich an Orpheus, den er auch für sagenhaft gehalten hatte, bis er mit eigenen Augen die geschichtliche Wahrheit der Berichte über ihn erkennen mußte, und er gab dem Kapitän recht.
Sowohl um stets mit frischem Fleische versehen zu sein, als auch um sich und den Hunden gesunde Bewegung zu verschaffen, machten die Mitglieder der Polarexpedition häufige Jagdausflüge, die sie ziemlich weit aus ihrem Tale hinausführten.
Da ging es denn meist auf Schlitten hinaus, gezogen von den treuen Grönlandhunden, die sich auch als Jagdhunde bewährten.
Münkhuysen hatte ausschließlich Grönlandhunde mitgenommen. Zwar fand Nordenskjöld, daß auch Falklandshunde in der Antarktis ganz brauchbar sind; doch scheinen sie nicht so widerstandsfähig und ausdauernd zu sein und werden von den nordischen Hunden totgebissen, wenn man beide Arten mit sich führt. Nordenskjöld konnte von seinen acht Falklandshunden auch nicht einen einzigen am Leben erhalten, während sich seine grönländischen Hunde vorzüglich erhielten.
Bei den Schlittenfahrten unserer Freunde machten sich die vielen Sastrugis sehr unangenehm bemerkbar. Sastrugis nennt man die Schneedünen, die sich an Löchern und Furchen anhäufen, welche der Sturm in den weichen Schnee gräbt. Oft glich die Landschaft einem tief gepflügten Ackerland, und das schlimmste war, daß man diese Schneewälle in dem blendenden, eintönigen und schattenlosen Weiß der Ebene gar nicht bemerkte, bis der Schlitten sie erreichte und durch die jähe Erschütterung nur zu häufig zum Umkippen gebracht wurde.
War dies eine Unannehmlichkeit, so waren die zahlreichen Gletscherspalten geradezu lebensgefährlich. Diese oft unergründlich erscheinenden Risse und Sprünge im Eise nötigten zu den umfassendsten Vorsichtsmaßregeln, zumal sie für gewöhnlich durch trügerische Schneebrücken und Schneedecken unsichtbar gemacht wurden. Man durfte sich daher nur angeseilt und in langer Reihe auf unbekannten Boden wagen. Wer dann in einen Spalt stürzte, was nicht so selten vorkam, versank doch nicht in der Tiefe des Abgrunds und konnte am Seil wieder emporgezogen werden.
Keinem blieb es erspart, zum mindesten einmal ein derartiges unheimliches Abenteuer zu erleben, und auch die vordersten Zughunde am Schlitten brachen manchmal ein, wenn die gefrorene Schneebrücke besonders dünn war.
Einmal kamen die schnellfüßigen Hunde mit ihrem geringen Gewicht ohne Unfall über eine solche oberflächlich zugewehte Spalte. Das Gewicht des nachfolgenden Schlittens jedoch brachte die Schneedecke zum Einsturz und er stürzte so jach in die Tiefe, daß die Leine riß und er verloren ging. Glücklicherweise war kein Mensch darauf gesessen. Doch traf nun Münkhuysen die Anordnung, daß künftig je zwei Mann sich in gehörigen Abständen hinten an den Schlitten anseilten, um ihn zurückzuhalten, wenn er einbräche.
So kalt es meist war, so war die Jagd doch ein Vergnügen: selbst bei neununddreißig Zentigrad unter Null, der niedrigsten Temperatur des ganzen Winters, wurde die Kälte nicht als lästig empfunden. Schlimm waren nur die schneidenden Schneestürme, die übrigens selten mit größerer Heftigkeit das geschützte Tal heimsuchten, und vor allem das zeitweilige Tauwetter, bei dem man zum mindesten nasse Füße bekam und mehr fror als bei strenger Kälte. Da blieb man dann, wenn möglich, lieber hinter den schützenden Wänden der wohldurchwärmten Südburg.
Außer den geschwänzten Eisbären erlegten die Jäger hauptsächlich viele Pelzrobben und Seeelefanten, Tiere, welche in den bisher erforschten Breiten durch eben so grausame wie törichte Schlächtereien fast vollständig ausgerottet sind. Diese Seehunde hielten sich aber bloß an der Küste auf, wo sie sich den ganzen Winter über runde Löcher im Eise offen hielten. Sie waren in dieser Jahreszeit nur vereinzelt zu finden; doch wurden öfters ein oder zwei Exemplare erbeutet, wenn man bei sonnigem, windstillem Wetter sich über die Münkhuysenberge wagte.
Weiter im Innern traf man einige bisher ganz unbekannte Geschöpfe, welche die Jagd besonders anregend gestalteten.
Obgleich mit Schießpatronen reichlich versehen, beschlossen unsere Freunde doch, diese Vorräte möglichst zu sparen, als wichtige Hilfsmittel in der Zeit der Not, falls eine solche unerwartet eintreten sollte.
»Man weiß nie,« sagte der Baron, »wann man aus dem Eis wieder herauskommt, wenn man einmal darinnen steckt. Nordenskjöld und seine Genossen mußten an drei verschiedenen Stellen ganz unvorbereitet überwintern, als sie gedacht hatten, die Heimfahrt antreten zu können. Richten wir uns daher vorsichtshalber so ein, als müßten wir jahrelang mit unsern Hilfsmitteln haushalten, so werden wir keine unliebsame und lebensgefährliche Überraschung erleben.«
Darum verlegten sich auch die Jäger förmlich darauf, neue Jagdmethoden zu erfinden und allerlei schlaue Listen auszuhecken, um sich ohne einen Schuß Pulvers in den Besitz des kostbarsten Wildes zu setzen.
So führte beispielsweise Ernst Frank immer chemische Stoffe bei sich, die er in einem kleinen Kolben zu einer Kältemischung ansetzte, sobald ein Schwanzbär oder ähnliches Wild in Sicht kam. Das Fläschchen steckte er in ein Stück Fleisch und warf es dem Tiere entgegen. Da diesen Geschöpfen jede Scheu fremd war, verschlangen sie sofort den Köder und verendeten in kurzer Zeit, weil ihnen der Mageninhalt zu Eis gefror.
»Ganz Ähnliches,« sagte Kapitän Münchhausen, der sich über diese »chemische Jagdmethode« vor Lachen ausschütten wollte, »ganz Ähnliches nahmen wir bei meiner Südpolexpedition mit den Luftkröten vor, nur daß bei diesen die Wirkung der Magenerkältung sich anders äußerte. Wir fanden nämlich dort ein Tier vom Aussehen einer Kröte, jedoch in der Größe eines Mastschweins; die zähe Haut dieser Kröten hing schlaff und in unzähligen Falten herab, wenn sie sich schwerfällig auf dem Eise fortbewegten. Wir beobachteten, daß diese merkwürdigen Tiere zuzeiten große Mengen Schnee und Eis verschluckten; dann blähten alsbald die durch die innere Erkältung entstehenden Gase die Haut auf, die sich straff anspannte. Die Kröten erreichten auf diese Weise die Größe von Mastochsen und erhoben sich, gleich einem Luftballon, langsam und majestätisch in die Höhe. Mit Hilfe der mit Schwimmhäuten versehenen Füße steuerten sie, wohin sie wollten, bis die Spannung durch Entweichen der Gase nachließ, und sie langsam zusammenschrumpfend wieder zur Erde sanken.
»Diese Luftkröten waren äußerst schwer zu fangen: durchlöcherte eine Kugel ihre Haut, so wurden sie zu einer unförmlichen Masse, da ihnen das Knochengerüste fehlte. Dabei machten sie trotz ihrer scheinbaren Schwerfälligkeit, wenn man sich ihnen nahte, so kolossale Sprünge, daß man ihnen unmöglich beikommen konnte. Schließlich kamen wir auf folgende List: wir ließen schwere Kugeln in Eisstücke oder Schneeballen einfrieren; verschluckte nun eine Luftkröte solch einen Brocken, so hinderte sie die Schwere des Eisens am Fliegen und am Springen, und sie war leicht einzufangen. Wenn man sie nun hinten packte, emporhob und schüttelte, so kollerte ihr die Kugel zum Maul heraus. Wir benutzten diese Tiere, um regelrechte Luftreisen zu machen, indem wir sie mit Eis fütterten und uns an ihren Pfoten festbanden.«
»O Kapitän!« sagte Ernst: »Wir müssen von vornherein darauf verzichten«, bei unserer gegenwärtigen Expedition nur entfernt so Wunderbares zu erleben, als Sie bereits erlebt haben.«
»Oho!« erwiderte er lachend: »Was halten Sie denn von mir? Von ungleich größeren Wundern und fabelhafteren Erlebnissen gedenke ich in der Heimat zu berichten, wenn ich erst diese zweite antarktische Reise vollendet habe! Aber hören Sie weiter:
»Auf unseren Jagdausflügen entdeckten wir häufig größere Löcher in der Eisdecke, die offenbar ein Binnenmeer bedeckte. In diesen Gumpen hielten sich Eiskrokodile auf. So benannten wir eine bisher unbekannte Art von Amphibien, die sich, gleich den Seehunden, in dem sonst zugefrorenen Meere stets offene Stellen erhalten. Die Eiskrokodile ähneln dem Krokodil, nur erreichen sie die dreifache Größe desselben, haben Krallen wie die Tiger und einen Schwanz, der wie eine Boa constrictor die größten Fische, Schwanzbären und andere Opfer umschlingt und zermalmt; dabei tragen diese entsetzlichen Tiere ein scharfes, gefährliches Horn über dem Oberkiefer, das sie auch dazu benutzen, das Eis von unten aufzustoßen.
»Lange Zeit mühten wir uns vergebens ab, den Eiskrokodilen beizukommen, und nur die Langsamkeit ihrer Bewegungen auf dem Eise machte es überhaupt möglich, daß wir bei einer Begegnung mit ihnen mit dem Leben davonkamen. Der rostbraune eisenharte Schuppenpanzer, den sie, wie die urweltlichen Krokodile, auch auf dem Bauch trugen, schützte sie vor jeder Verwundung; selbst die Augen- und die Rachenschleimhäute waren so hart und zäh, daß keine Kugel durchdrang, und meine Kältemischungen verloren bei diesen kaltblütigen Tieren jede Wirkung.
»Ich selber erfand eine gelungene Methode, die schrecklichen Geschöpfe zu überwältigen: es wurde eine Pumpe an einen offenen Gumpen gestellt; kroch nun eines der Tiere aufs Eis, so wurde heftig gepumpt, und der Wasserstrahl mittels eines Spritzenschlauchs auf den Kopf des Tieres gerichtet; da das Wasser bei der heftigen Kälte sehr schnell an der Luft gefror, wurde der Kopf des Ungetüms trotz seiner krampfhaften Anstrengungen bald mit einem starren Eispanzer umgeben, darinnen der Drache jämmerlich erstickte. Das Fleisch dieser Amphibien gehörte übrigens zu den köstlichsten Leckerbissen, die wir je genossen.«
Von des Kapitäns berühmten Luftkröten und Eiskrokodilen bekamen unsere Freunde nichts zu sehen, wohl aber anderes seltsames Getier. Da war ein gewaltiger Dickhäuter, doppelt so groß als ein Elefant, gleich dem Mammut mit einem dichten Pelz versehen und zwei starken, nach unten gerichteten Hauern. Einen Rüssel besaß er jedoch nicht.
Als die Jäger diesem furchtbaren Riesen zum ersten Male begegneten, meinte Schulze: »Ich würde das Tier als urweltliches Dinotherium ansprechen, das sich dem hiesigen Klima durch starken Haarwuchs anpaßte, wenn es nur nicht des Rüssels ermangelte.«
»Ach was!« widersprach Münchhausen: »Ein hochbeiniges Walroß ist das: ich kenne es gut von meiner ersten Südpolarfahrt her. Da es jedoch nicht in der See haust, sondern auf dem Landeis, und sein Haupt etwas ungemein Löwenähnliches aufweist, nannten wir es Eislöwe, wonach man sich zu richten hat!«
Obgleich die anderen nie recht an die sagenhafte Südpolexpedition des Spaßvogels glaubten, so nahmen sie doch den Namen an, denn der Kopf des Tieres sah wirklich dem eines Löwen in vergrößertem Maßstabe auffallend ähnlich, abgesehen von den walroßartigen Hauern. Im übrigen war es freilich ein Dickhäuter, der auf massigen Beinen einhertrabte, und auch sein dichter Pelz unterschied es wesentlich vom König der Tiere, doch das war ja für die Benennung belanglos, da man ja sogar eine Robbe »Seelöwe« heißt. Der Eislöwe bekundete übrigens keinerlei feindliche Absichten, so heimtückisch er auch die ihm unbekannten Eindringlinge anglotzte. Darum zog man es vor, ihn in Ruhe zu lassen: es schien auch nicht ratsam, ohne Not mit ihm anzubändeln. Ein Pflanzenfresser konnte er nicht sein, aus dem einfachen Grunde, daß es hier keine Pflanzen gab. Beim Öffnen des Maules zeigte er denn auch ein scharfes Raubtiergebiß, so daß Schulze den Kopf schüttelte und murmelte: »Da hört sich doch aber wirklich alle Wissenschaft auf: dieser Eislöwe ist eine zoologische Unmöglichkeit!«
Bei einer zweiten Begegnung mit einem Raubtier gleicher Art kam es zum Kampf, denn diesmal schritt es zum Angriff vor und an Flucht war bei seiner Geschwindigkeit nicht zu denken. Einige gutgezielte Kugeln reizten nur seine Wut, ohne es ernstlich zu schädigen.
Der Eislöwe stürzte auf Münkhuysen und Raimund los, die verloren schienen. Inzwischen hatte jedoch Mäusle die Grönlandhunde, die den mitgenommenen Schlitten zogen, rasch ausgeschirrt. Er wußte von Afrika her, daß der stärkste Elefant durch den kleinsten Kläffer völlig aus der Fassung gebracht wird, und hoffte, auch dieses Tier durch die Hunde schrecken zu können. Die mutigen Grönländer stürzten mit wütendem Gekläff auf den Feind zu, der verblüfft im Laufe innehielt und Versuche machte, sie unter seinen Füßen zu zerstampfen, da er mit seinen Stoßzähnen nichts ausrichten konnte gegen so tief unter ihm stehende Feinde.
Die behenden Tiere wichen den Fußtritten mühelos aus und sprangen von allen Seiten an dem Eislöwen empor. Es gelang ihnen nicht, die dicke Haut mit den Zähnen zu packen, dagegen rissen sie ihm ganze Büschel Haare aus. Das war offenbar schmerzhaft, denn das Riesentier drehte sich mit schauerlichem Gebrüll ganz rasend auf den Hinterbeinen im Kreise herum, immer wieder mit den Vorderfüßen niederfahrend, in der Absicht und Hoffnung, die unliebsamen Angreifer nach und nach zermalmen zu können.
Da trabten drei Schwanzbären heran. Ernst wollte auf sie schießen, aber Mäusle, der neben ihm stand, hielt ihn zurück, und als er sah, daß auch Münchhausen und Schulze auf sie anlegten, rief er ihnen zu: »Lassen Sie die Bären ungeschoren! Sehen Sie nicht, daß sie auf das Untier losgehen? Sollen wir uns auch sie noch zu Feinden machen, während sie vielleicht unsere einzigen Retter sind?«
Der bedächtige Kapitän setzte die Flinte ab, doch der eifrige Professor hatte schon abgedrückt. Die Kugel, die einem der Bären gegolten hatte, traf den Eislöwen ins Ohr, denn sie kam ja aus Schulzes nie fehlender Büchse.
Dieser Schuß schien dem Dickhäuter besonders empfindlich zu sein, denn er riß das Maul auf wie ein Scheunentor und brüllte ganz entsetzlich. Im gleichen Augenblick machte einer der Schwanzbären einen mächtigen Satz, erhaschte die dicke Unterlippe zwischen den Stoßzähnen und verbiß sich darein. Die beiden anderen Bären, die ebenfalls der Hunde nicht achteten, sprangen an den Seiten des Kolosses empor, sie mit ihren starken Krallen zerfetzend. Die dicke Haut war diesen Angriffen nicht gewachsen und bald floß das Blut aus beiden Flanken.
Der Eislöwe hatte bald den Bären von seinem blutenden Unterkiefer abgeschüttelt, neigte das grimmige Haupt und biß ihm mit einem Biß den Kopf ab. Dann wandte er sich gegen den Feind zu seiner Rechten.
Die Bären sprangen immer noch an den beiden Seiten hinauf und rissen jedesmal mit den Zähnen einen Fetzen des bloßgelegten Fleisches aus dem Bauche des Ungetüms, das ganze Ströme Bluts verlor.
Den einen aber ereilte jetzt sein Schicksal: Der Eislöwe stieß ihm die mörderischen Hauer in den Rücken, sank jedoch selber neben ihm zu Boden.
Dies benutzte der dritte Schwanzbär, um dem übermächtigen Feinde die Klauen in die Kopfhaut zu schlagen, die er jetzt erreichen konnte. Bald hatte er zwischen Ohr und Auge einen ganzen Streifen heruntergerissen. Der Eislöwe erhob sich mühsam, offenbar vom großen Blutverluste geschwächt, und strebte nun, den letzten Feind zu erlegen. Gleichzeitig griffen ihn die Hunde an den wunden Stellen in beiden Flanken an.
Während die anderen Jäger untätig dem grausigen Ringen zusahen, glaubte Schulze den rechten Augenblick gekommen, um den ruhmreichen Sieg durch eine letzte Kugel aus seiner niefehlenden Büchse zu erringen. Er zielte auf das linke Auge des Dickhäuters und traf den Schwanzbären so trefflich, daß er sofort tot zu Boden sank.
So hatte des Professors, von ihm selber so gerühmte Schießkunst den Eislöwen von seinem gefährlichsten Gegner erlöst, und das Ungetüm stapfte schwerfällig auf seinen Retter zu, um ihn aus Dankbarkeit zu fressen.
Schulze stand starr: er hatte ja zwar den Dickhäuter treffen wollen, nun er aber statt seiner seinen Angreifer erlegt hatte, war es doch empörend, daß er zum Lohn dieser edlen Tat selber angegriffen werden sollte. Es wäre ihm sicher ans Leben gegangen, wenn ihn nicht noch rechtzeitig zwei starke Schwabenfäuste ergriffen und weit zur Seite geschleudert hätten.
Mäusle sprang ebenfalls zur Seite, nachdem ihm das gefährliche Rettungswerk geglückt war. Er gab dem Riesentier eine Kugel in den klaffenden Rachen und rief ihm zornig zu: »Hosch no net g'nug, du Dickschädel, du fürchtiger. Guck, do isch der Michel Mäusle aus Gschlachtebretzinge, der fürcht se net vor so eme Goliäthle. Was glotscht me so a'? Willsch no meh blaue Bohne, du Nimmersatt?«
Aber der Eislöwe hatte genug, ja zu viel für seine Kräfte: die Kugeln hätten ihm wohl kaum das Lebenslicht ausgeblasen, aber die mehrfache Anzapfung hatte ihn mehr Blut gekostet, als er entbehren konnte, und so krachte er endgültig zusammen. Als er völlig verendet war, wurde er der prächtigen Stoßzähne beraubt, die zweimal so groß waren als die schönsten Elefantenzähne. Auch große Stücke seines Fleisches wurden auf den Schlitten geladen.
Von Südburg aus wurden nach der Rückkehr der Jäger sämtliche Schlitten ausgeschickt, um die drei Bären mit ihren prächtigen Fellen und den zerstückelten Eislöwen zu holen. Man konnte seine Haut gut verwerten und auch sein Fleisch gab, wie das Bärenfleisch, vorzügliche Braten. Man dörrte daher noch reiche Vorräte davon. Die Reste verschafften den tapferen Hunden gute Tage.
Doktor Maibold pflegte nicht mit auf die Jagd zu gehen. Er hatte jedesmal eine andere Entschuldigung. Er wurde jedoch durchschaut, denn das Ganze war, daß er sich ungern in Gefahr begab. So mußte er manche anzügliche Bemerkung einstecken, bis er sich endlich einmal entschloß, seinen Heldenmut glänzend zu beweisen und sich an einer Jagd zu beteiligen.
Es war ein verhältnismäßig heller Tag; denn man darf nicht denken, daß die Polarnacht das Land in beständige Finsternis hüllte. Tag und Nacht wechselten ab, wenn auch die Tage äußerst kurz waren und bei heftigen Schneestürmen undurchdringliches Dunkel herrschen konnte. Bei gutem Wetter brachte der Tag ein mehr oder weniger klares Dämmerlicht, und die endlosen Schnee- und Eisflächen verstärkten die Helligkeit derart, daß man ziemlich weit sehen konnte. Bei klarem Himmel waren aber auch nachts bei Mondschein oder im rosigen Glanze des Polarlichts Jagdausflüge möglich: die reine Luft und das glitzernde Weiß der Schneedecke verstärkten das nächtliche Licht in einer Weise, daß die der Sonne entwöhnten Augen so gut zu sehen glaubten, wie an einem bewölkten Wintertag in der Heimat.
Der Doktor sollte seinen kühnen, höchst ungern gefaßten Entschluß bitter bereuen, denn gerade heute wurde den Jägern die unheimlichste Begegnung, die sie je gehabt hatten.
Schulze legte soeben seine niefehlende Büchse auf einen Schwanzbären an, als aus einer dunklen Höhle ein riesiges Geschöpf hervorschoß, dessen Anblick alle mit Grauen erfüllte, außer vielleicht Münkhuysen und Michael Mäusle, bei denen das Interesse für alles Unbekannte so lebhaft war, daß es kein Gefühl des Entsetzens aufkommen ließ, zumal beide keinerlei Anlage zur Furchtsamkeit hatten, sondern auch in den ungewohntesten und gefahrvollsten Lagen ihre unerschütterliche Kaltblütigkeit bewahrten.
Das Wesen, das alle anderen mit Abscheu und Schrecken erfüllte, ließ sich auf den ersten Blick als eine Spinne erkennen, als eine Art Kreuzspinne. Aber gleich den Riesen der Urwelt wies sie ganz ungeheure Formen aus. Die verhältnismäßig dünnen Beine, sechs an der Zahl, waren immerhin noch so dick wie die Gliedmaßen eines schweren Gaules. Die Füße liefen in dreizehige Zangen aus. Sie zeigten sich dichtbehaart und maßen bis zum Knie stark zwei Meter, also mehr als Mannshöhe. Vom Knie ab waren sie nach innen und abwärts eingeknickt, wie wir es auch bei unseren zwerghaften Spinnen beobachten. Die allmählich sich verdickenden Schenkel trugen den widerlichen Leib in der Schwebe. Dieser Leib glich einer borstigen Kugel von Nilpferdgröße, etwas abgeplattet am Rücken, vorn mit apfelgroßen, vorquellenden und boshaft glühenden Augen versehen, unter denen ein breites Maul die ganze Vorderseite des Leibes spaltete.
Blitzschnell war dieser Spinnendrache, wie ihn Mäusle alsbald benannte, auf den Bären gestürzt. Es sah aus, als reite er auf ihm, denn der unförmliche Körper ruhte auf seinem Rücken, während die Beine, je drei zur Rechten und zur Linken, auf dem Boden standen. Das überfallene Raubtier heulte ängstlich und schlug mit dem langen Schweife um sich. Da sah man aus den Mundwinkeln der Spinne starke Stachel hervorzucken, jeden etwa vierzig Zentimeter lang. Am Ansatz mochten sie fünf Zentimeter im Durchmesser messen, dann verjüngten sie sich kegelförmig und liefen in eine scharfe Spitze aus. Diese »Kiefer« bohrten sich rasch in beide Seiten des Opfers ein, so tief, daß sie völlig darin verschwanden. Der Bär machte verzweifelte Anstrengungen, sich zu befreien, sank aber bald kraftlos in sich zusammen und zuckte nur noch schwach im Verenden.
Alle sahen dem gräßlichen Schauspiel zu, ohne sich zu regen, gebannt, teils von niegeahntem Grauen, teils von schauderndem Interesse, gepaart mit Mitleid für das gequälte Tier, dem nicht mehr zu helfen war.
Jetzt zog der Spinnendrache seine Zangen aus den Flanken des ausgesaugten Bären: sie glänzten in feuchtem Rot, und von den Spitzen tropfte das Blut herab. Aber das Ungeheuer war noch nicht gesättigt: es schoß auf Maibold zu, der keiner Bewegung fähig war.
Bei diesem Anblick rissen sich die Jäger aus ihrer Erstarrung: Schüsse krachten und mehrere Kugeln durchbohrten den massigen Leib. Ein dicker, rötlicher Brei quoll aus den Wunden.
Allein das Scheusal ließ sich dadurch nicht behindern: in seinem erstaunlich schnellen Lauf prallte es mit dem Kopf an den Doktor, der auf den Rücken fiel und wild zappelte in Todesangst, vergeblich suchend, sich aufzurichten, denn schon hielt ihn der Spinnendrache mit den Zangen der beiden Vorderfüße fest, wie in einem Schraubstock.
Wieder fielen mehrere Schüsse ohne erkennbare Wirkung, als daß die quellenden Wunden sich mehrten. Die austretende blutige Masse gerann jedoch sofort an der Luft und verschloß die kleinen Löcher.
Es schien keine Möglichkeit zu geben, Maibold zu retten. Aber Mäusle bedachte sich nicht lange, wie er stets in Augenblicken höchster Gefahr blitzschnelle Entschlüsse faßte, meist solche, an die kein anderer gedacht oder die keiner gewagt hätte, die sich aber nachträglich als äußerst zweckmäßig zu erweisen pflegten.
Zu aller Erstaunen und Entsetzen machte der Schwabe einen gewaltigen Satz und schwang sich auf den Rücken des Blutsaugers: Weitsprung und Hochsprung waren Mäusles besondere Fertigkeiten, das erkannte man hier wieder, denn niemand hätte ihm diesen Sprung aus ziemlicher Entfernung nachgemacht.
Der Leib des Untiers wurde durch das Gewicht des Reiters und die Wucht seines Auffallens niedergepreßt, so daß er auf seinem Opfer ruhte; denn die Spinnenbeine vermochten einem solchen Anprall nicht genügend Widerstand zu leisten. Schon waren die Stacheln aus den häßlichen Mundwinkeln gefahren, um sich in des Doktors Seiten zu bohren, als der unerwartete und ungewohnte Angriff die Spinne erschreckte und zunächst zu einem krampfhaften Versuch veranlaßte, sich wieder aufzurichten.
Dieses Zögern benutzte der kühne Angreifer: er hatte sein Messer gezogen und packte nun den einen Kiefer mit festem Griff. Im Nu hatte er ihn hart am Ansatz abgeschnitten. Schnell zog der Drache den anderen zurück und kroch mühsam vorwärts, bemüht, sich von der Last zu befreien.
Schießen konnte natürlich niemand mehr, wegen der Gefahr, den Schwaben statt der Spinne zu treffen. Mäusle aber bearbeitete seinen weichen Sitz mit dem Jagdmesser. Zuerst schnitt er mit zwei raschen Hieben die vorquellenden Augen ab, dann zog er lange Schnitte in den Rücken, und als dies nicht schnell genug zu einem befriedigenden Ergebnis führte, packte er ein Bein um das andere und trennte es los.
Der Spinnendrache war über Maibolds Leib weggekrochen und sein nurmehr dreibeiniger Körper sank zu Boden. Der Schwabe sprang herunter und begann ihn unter Steinen zu begraben, die er wuchtig in die blutende breiige Masse warf. Diesem Beispiel folgten die anderen, bis die letzte Zuckung der zappelnden Glieder aufhörte.
Der Doktor erhob sich langsam und schwankend. Man stärkte ihn mit einem Schluck Kognak, und nun vermochte er seinem Retter zu danken und zu schwören, daß dies das erste und letzte Mal sei, daß er sich zur Teilnahme an einer Jagd in diesen unheimlichen Revieren habe verleiten lassen.
Eines Abends waren Eva und Ernst in Begleitung von Michael Mäusle ins Freie getreten, da der Himmel sich aufgehellt hatte, nachdem er den ganzen Tag über trübe gewesen war.
Eva, für deren jugendlich lebhafte Phantasie es keine Unmöglichkeiten gab, hoffte immer im stillen, ihre bildliche Botschaft möchte in die Hände der rätselhaften Jungfrau gelangt sein, von der sie mit Ernst so oft im geheimen plauderte. Wenn sie eine Kaptaube erblickte, was jetzt freilich kaum mehr vorkam, dachte sie, ob ihr der Vogel keine Antwort bringe.
Heute rief sie plötzlich: »Sieh dort, Ernst! Eine Kaptaube, eine Kaptaube! Die mußt du schießen!«
Der junge Frank blickte in der bezeichneten Richtung und erwiderte: »Das ist unmöglich, sie ist zu weit entfernt. Aber Herr Mäusle kann ja alles, der wird dir deinen Wunsch gewiß erfüllen.«
Mäusle sah den Vogel weit ab auf einer Felsspitze sitzen und schüttelte lachend die Dichterlocken: »Im Grunde kann ich gar nichts,« behauptete er in ehrlicher Überzeugung: »Nur merkwürdige Zufälle haben mich in den schmeichelhaften Ruf gebracht, als könne ich etwas leisten. Allerdings im Weitsprung und im Hochsprung habe ich ziemliche Übung: das ist aber auch alles. Im Schießen bin ich ein Stümper; doch habe ich oft unverdientes Glück dabei, deshalb will ich den aussichtslosen Versuch wohl wagen.«
Er legte an, zielte und schoß. Die Taube stürzte flügelschlagend vom Felsen ins Tal und blieb regungslos liegen.
Eva klatschte jubelnd in die Hände, während Ernst sagte: »Ich habe es ja gewußt: Herr Mäusle kann alles!«
Die Drei eilten nun zu der Stelle, wo die verendete Kaptaube lag.
Eva untersuchte sofort die Schwanzfedern und rief außer sich: »Die Antwort, die Antwort!« Dabei riß sie eine in den Federn befestigte kleine Rolle los.
»Holla!« sagte Mäusle verwundert: »Haben Sie eine Taubenpost eingerichtet? Was soll das bedeuten? Mit wem tauschen Sie heimliche Liebesbriefe? Und das hier in der Eiswüste!«
Inzwischen hatte das Fräulein das Blatt entfaltet. Ernst warf einen Blick hinein und rief: »Der gleiche Stoff, die gleiche Schrift! Wir müssen Herrn Mäusle ins Geheimnis ziehen, denn ich könnte unmöglich den Sinn entziffern, aber er gibt sich ja mit Vorliebe mit Sprachforschung ab, und da er überhaupt alles kann, wird ihm die Deutung keine Schwierigkeiten machen.«
Nun teilten sie dem hochaufhorchenden Schwaben das wichtige Geheimnis mit, und Ernst übergab ihm einen Abzug der ersten Nachricht mit der Deutung der Schriftzeichen und der Übersetzung, die sein Vater ihm mitgegeben hatte.
»Das ist ja hochinteressant!« meinte der Dichter: »Geben Sie mir alle diese Urkunden für einige Zeit. Ich will sehen, ob die neue Mitteilung für mich entzifferbar ist.«
»Aber strengste Geheimhaltung!« mahnte Eva mit erhobenem Finger.
»Daraus können Sie sich verlassen! Überhaupt werde ich mich doch nicht selber der Ehre und des Vorzugs berauben, der einzige Mitwisser Ihres kostbaren Geheimnisses zu sein!«
Die nächsten Tage wurde Mäusle insgeheim immer wieder von seinen Mitverschworenen mit Fragen bestürmt.
»Geduld, Geduld!« sagte er: »Die Sache hat ihre Schwierigkeiten, doch die Entzifferung macht Fortschritte: ich hoffe bald damit zustande zu kommen.«
Nach fünf Tagen konnte er ihnen in einem stillen Winkel seine Übersetzung vorlesen, die er, entsprechend der Urschrift, in Verse gefaßt hatte. Sie lautete:
»Die Botschaft brachte der Falke, der wilde.
Atlanta las aus dem Rätselbilde,
Daß ihre Bitte ein Mensch vernommen;
Doch ist die Stunde noch nicht gekommen,
Da ungefährdet ihr mir könnt nahen:
Drum weichet alle, die dieses sahen!
Der Tod umlauert die Tote Stadt;
Doch wer die Schrecken durchdrungen hat,
Ist hier von noch größrer Gefahr bedroht
Und kann mir nicht helfen aus meiner Not.
Drum weichet zurück und kommt erst übers Jahr,
Da kann ich euch schützen vor jeder Gefahr.«
»Es war eine Skuamöve und kein Falke, der ich meine Zeichnung anvertraute,« meinte Eva nachdenklich.
»Das macht nichts,« erwiderte der Schwabe: »Das Wort Foliku in der Schrift schien mir eben »Falke« zu bedeuten, klingt es doch auch an die lateinische Bezeichnung dieses Vogels an. Aber Namen sind immer am unsichersten für die Deutung, und es ist sehr wohl möglich, daß in der Sprache der Schreiberin eben die Skuamöven »Foliku« benannt werden, zumal es hierzulande überhaupt keine Falken gibt. Freilich mutet anderseits die Bezeichnung »wild« für die zutrauliche oder wenigstens freche Skuamöve sonderbar an. Aber das geheimnisvolle Fräulein warnt uns ernstlich vor unbekannten Gefahren, und es klingt rätselhaft, warum diese uns nur dieses Jahr drohen sollen, während sie glaubt, uns kommendes Jahr davor schützen zu können.«
»Ach was!« rief Eva kühn: »Wir fürchten uns nicht und werden uns dadurch nicht abhalten lassen.«
»Daß es hier an Gefahren nicht fehlt, wissen wir ja bereits zur Genüge,« fügte Ernst hinzu: »Aber wir haben ja bewiesen, daß wir selbst mit Ungeheuern, wie Eislöwen und Spinnendrachen fertig werden.«
»Das stimmt!« pflichtete Mäusle bei: »Und viel schlimmeres Ungeziefer wird ja wohl da herum nicht Hausen. Vielleicht ist auch die gefangene Prinzeß ein verzagtes Frauenzimmer, das nicht ahnt, was für Helden beiderlei Geschlechts ihr nahen.«
»Jedenfalls werden wir ihr zu Hilfe eilen,« schloß Eva in bestimmtem Ton.
Die italienischen Matrosen waren Kochkünstler wie die meisten Italiener, und die Besorgung der Mahlzeiten wurde, wie wir wissen, meist einem von ihnen anvertraut.
Nur Michael Mäusle, der ja bekanntlich alles konnte, übertraf sie auch in dieser Kunst und löste sie oft ab oder gab ihnen gute Ratschläge. Er lehrte sie auch Spätzle, Eierhaber, Flädle und andere schwäbische Leibgerichte sachkundig zubereiten. Er erfand aber auch neue Leckerbissen unter Verwendung der Hilfsmittel, die gerade hier geboten wurden.
Aus feingehacktem Pinguinfleisch hatte er eine köstliche Geflügelsuppe eingeführt; aus dem gleichen Fleische, das anfangs für ungenießbar gehalten wurde, verstand er es, schmackhafte Braten zu bereiten, in Seehundsfett geschmort, um die Margarinevorräte zu sparen. Im Grunde der Brotfässer sammelte sich eine Masse Brosamen aus zerbröckeltem Schiffszwieback an. Um nichts unnütz verkommen zu lassen, wendete er die Fleischstücke in diesem Gebrösel, und das ergab panierte Koteletts von einem Wohlgeschmack, der geradezu Jubel erregte.
Alles wurde in dem schmackhaften Seehundspeck gebraten. Wenn das Fett aus den Speckscheiben ausgelaufen war, schrumpften die Überreste zu kleinen knusprigen Stücken zusammen, die der Schwabe »Grieben« nannte und als Leckerbissen zum Brot verzehrte. Den anderen redete er anfangs vergebens zu, diese herrliche Speise zu kosten, um nichts Eßbares zu vergeuden: Eva entschloß sich zuerst zu einem Versuch, Ernst folgte ihr. Und da beide den Wohlgeschmack begeistert priesen, faßten auch die anderen Mut und bereuten es nicht, hierdurch eine Bereicherung ihrer Genüsse gefunden zu haben.
Eines Abends saß Ernst allein in einem Winkel der geräumigen Wohnstube in Südburg, während die anderen teils lasen, teils um den erleuchteten Tisch versammelt Schach oder ein anderes edles Spiel spielten.
Da schlich sich Eva zu ihm und flüsterte ihm betrübt zu: »Du! Denke nur, das Unglück! Ich habe meine Puppe verloren und kann sie nirgends mehr finden.«
»Tröste dich nur,« sagte der Jüngling teilnahmvoll: Wirklich verloren gehen kann hier nichts, und auch die Puppe muß sich demnach bald wieder finden. Wir sind die einzigen Bewohner des weiten Landes umher; Diebe und Räuber kommen also nicht in Betracht. Unser Palast ist nicht so umfangreich, daß er nicht in wenigen Stunden gründlich durchsucht werden könnte. Hättest du die Puppe draußen gehabt, so könnte sie höchstens zugeschneit worden sein, denn eine Skuamöve, wenn sich solche zurzeit hier herumtrieben, würde sie gewiß nicht als Leckerbissen entführt haben, und ebensowenig ist zu befürchten, daß sie von einem Schwanzbären, Eislöwen oder Spinnendrachen verschlungen wurde.«
»Ich habe sie nie mit ins Freie genommen. Du weißt ja, ich ließ sie niemand sehen und spielte nur mit ihr wenn ich ganz allein war. Gestern saß ich mit ihr in einer der Vorratskammern auf einer Kiste, als plötzlich die Türe aufging und der schwedische Ingenieur eintrat. Da versteckte ich sie schnell hinter der Kiste und tat ganz unschuldig. Aber heute, wie ich sie hervorholen wollte, ist sie nicht mehr da, und ich habe alles durchsucht, allein sie ist und bleibt verschwunden.«
Ernst ging nun mit der Freundin hinaus in die Vorratskammer und half ihr, nochmals alles durchsuchen, jedoch ohne Erfolg.
»Weißt du ganz sicher, daß es in dieser Kammer war, und daß du sie nirgends anders verstecktest?« fragte Ernst.
»Ganz bestimmt weiß ich das! Hier auf dieser großen Kiste saß ich, als Herr Holm eintrat, und ich ließ sie rasch dort hinten hinunter gleiten. Ich fürchtete schon, er habe sie bemerkt, er lachte mich aber nur aus, daß ich so einsam auf den Kisten brüte, wo doch gar keine Eier darin seien, so daß ich mich umsonst abmühe.«
Sie suchten nun emsig weiter. Alle Kisten und Ballen wurden weggerückt, bis es feststand, daß die Verlorene sich unmöglich in diesem Raume befinden könne.
»Wir müssen Umfrage halten,« erklärte Ernst: »Irgend jemand muß sie zufällig hier entdeckt und entführt haben.«
»Das glaube ich jetzt auch, aber du darfst den Verlust unter keinen Umständen an die große Glocke hängen: ich verginge vor Scham, wenn alle erführen, daß ich großes erwachsenes Mädchen noch mit Puppen spiele und heimlich eine mitnahm. Ach, mein Dorchen, mein armes liebes Dorchen! Wer begriffe denn meine Liebe zu dir? Aber laß uns alles durchsuchen: wenn jemand sie gefunden hat, muß er sie doch irgendwo abgelegt haben. Eingeschoben hat sie gewiß keiner: dazu wäre sie auch viel zu groß.«
Aber wo sollte nun gesucht werden? Der Räume waren viele da, voll Kisten, Körben und Ballen. Ernst hatte keine Lust, stundenlang alles zu durchstöbern. Er spielte sich daher als mohammedanischen Fatalisten auf und sagte: »Hat das Schicksal bestimmt, daß wir dein Püppchen wieder finden sollen, und das muß es gewiß bestimmt haben, wenn es nicht grausam und ungerecht ist, so werden wir es auch finden, ob wir suchen oder nicht, und zwar zur vorherbestimmten Zeit, keine Minute bälder oder später. Es hat also gar keinen Zweck, sich unnütz abzumühen, denn des Schicksals Bestimmungen sind unabänderlich.«
Eva war mit diesem höchst anfechtbaren Bescheid durchaus nicht zufrieden: sie schmollte und sagte, er sei kein aufopfernder Freund, und in der Bibel stehe doch »Suchet, so werdet ihr finden!« Also sei es Pflicht und Notwendigkeit zu suchen, wenn man finden wolle.
»Mag sein!« entgegnete der Jüngling: »Allein wir haben gründlich gesucht und nicht gefunden. Vielleicht finden wir nun, ohne zu suchen: das kommt nämlich gar nicht so selten vor.«
Eva drang für heute nicht weiter in ihn, suchte aber heimlich auf eigene Faust weiter. Das ging jedoch nicht recht vonstatten, da sie die schweren Kisten und anderen Behälter meist nicht beiseite rücken konnte.
Am anderen Morgen suchte Eva den Freund mit Tränen in den Augen auf und bat ihn, ihr doch wieder suchen zu helfen.
Ihr Schmerz ging Ernst zu Herzen und er konnte ihr die Bitte nicht abschlagen. Nun begann eine gründliche Durchforschung eines Raumes nach dem anderen, was keine Kleinigkeit war, denn in den engen Gelassen war alles mit hunderterlei Gegenständen vollgepfropft, die vielfach hoch aufeinandergetürmt standen und einen mühsamen Abbau und Wiederaufbau nötig machten.
Ein solch emsiges, stundenlanges Suchen konnte unmöglich unbemerkt bleiben, und immer wieder wurden die beiden gefragt, was sie verloren hätten, und jedermann bot sich an, bei der Suche behilflich zu sein. Sie lehnten jedoch alle Hilfe dankend ab und wahrten ihr Geheimnis, so daß allmählich die Neugier allgemein rege wurde.
Noch zwei Tage dauerte diese rastlose und doch erfolglose Sucherei. Dann war Südburg so gründlich durchforscht, daß Eva traurig meinte: »Gewiß ist meine unglückliche Puppe von irgend einem Unmenschen zu den Kohlen geworfen worden und in den Ofen geraten. Lebendig verbrannt! Welch gräßlicher Tod für ein so braves, unschuldiges Wesen!«
Holm war die letzten Tage von morgens bis abends unsichtbar gewesen und hatte als einziger nichts von der Suche gemerkt. Er hatte sich einen der Verschläge von Anfang an als Werkstatt eingerichtet, und hier arbeitete er bei verschlossener Türe. Er tat sehr geheimnisvoll, wenn man ihn fragte, an was für einer umwälzenden Erfindung er denn so eifrig arbeite.
Am Abend des dritten Tages waren unsere Freunde nach dem Abendessen im Wohnsaal versammelt, als der schwedische Ingenieur eintrat, die Stühle im Halbkreis an der Wand aufstellte, den Tisch beiseite rückte, und bat, alle möchten sich auf den »Sperrsitzen« niederlassen, er beabsichtige nämlich eine kleine Vorstellung zu geben.
Alle waren gespannt, was Holm vorführen werde; zweifellos hing diese Vorstellung mit der geheimnisvollen Arbeit zusammen, die ihn die letzten drei Tage so sehr in Anspruch genommen hatte. Die Neugier stieg aber noch, als er bemerkte:
»Eigentlich werde nicht ich die Ehre haben, Sie durch die Vorstellung zu unterhalten, sondern eine reizende kleine Tänzerin aus Holland. Also nur immer Platz genommen, meine Herrschaften: die Sache wird gleich beginnen!«
»Na, so was!« lachte Kapitän Münchhausen: »Wie haben Sie es fertig gebracht, ein solches Wesen in diese Breiten zu befördern? Mitgenommen wurde sie wohl nicht, denn wo hätte sie sich die Zeit her verborgen gehalten, und telegraphisch konnte sie auch nicht hierher eilen, da wir leider versäumt haben, ein Kabel zu legen, was freilich ein Fehler war. Oder sollte Fräulein Eva...?« weiter kam er nicht.
»Passen Sie mal auf!« mahnte der Schwede und begab sich auf den Flur hinaus.
Nach einer Weile erschien er wieder, und hinter ihm — Evas Puppe.
Aber was war das? Mit zierlichen Schritten begab sich das reizende Püppchen selbständig in die Mitte des Zimmers, während Holm die Türe schloß.
Eva stieß einen Schrei der Überraschung und Freude aus. Sie war jedoch so sehr verblüfft darüber, daß ihre Puppe lebendig geworden war, daß sie sitzen blieb und die Wiedergefundene nur mit leuchtenden, erstaunten Augen ansah.
Nun ertönte eine ganz feine, liebliche Tanzmusik, und die Puppe begann ein Füßchen nach dem anderen zu heben und tanzte den Zuschauern etwas vor, wie eine geschulte Tänzerin.
Es war gar zu nett, und selbst die Männer der Wissenschaft sahen mit größtem Interesse und Vergnügen dem ebenso anmutigen wie seltsamen Schauspiel zu.
Fünf Minuten etwa dauerte der Tanz; dann stand die Puppe still und sagte mit deutlicher, aber etwas männlicher Stimme:
»Liebe Mama Eva, da bin ich wieder! Hast du gesehen, wie viel ich gelernt habe in der kurzen Zeit, seit du mich verloren hast? Aber nun bitte, verstecke mich nicht mehr, sonst vergehe ich vor Langerweile, und ich mag gar nicht hinter der großen Kiste liegen, wo es so dunkel und staubig ist. Und du sollst mich nicht immer nur ganz heimlich für dich allein haben wollen: andere Leute mögen auch mit mir spielen!«
»Wieso sagt sie ›Mama‹ zu Fräulein Eva?« fragte Schulze: »Ich denke, es ist Ihr Fräulein Tochter, Herr Holm, obgleich Sie sich für einen Junggesellen ausgegeben. Die Stimme der kleinen Tänzerin ist nämlich der Ihrigen ganz ausfallend ähnlich, wenn auch viel seiner, und sie spricht das Deutsche genau so schwedisch aus, wie Sie.«
»Woher kommt überhaupt diese entzückende Puppe?« fragte Neeltje.
»Und wie zum Kuckuck haben Sie das hübsche Ding tanzen und gar sprechen gelehrt. Sie Erzzauberer?« erkundigte sich Kapitän Münchhausen: »Bisher lebte ich in der Meinung, derartiges könne überhaupt nur in den wahrheitsgetreuen Berichten über meine höchsteigenen Erlebnisse vorkommen!«
Die arme Eva befand sich in der größten Verlegenheit: von Glut übergossen saß sie da, mit zu Boden geschlagenen Augen. So flüsterte sie dem neben ihr sitzenden Ernst Frank zu: »Du hast mir versprochen, mir zu helfen: Jetzt mußt du mein Ritter sein und mich in Schutz nehmen, denn alle werden mich auslachen, wenn sie nun erfahren, daß ich heimlich noch mit Puppen spiele.«
So ergriff denn der Jüngling das Wort und gab folgende Erklärung ab: »Meine Herren! An der Anwesenheit dieser Puppe bin ich schuld. Ich überredete nämlich Fräulein Eva, sie mitzunehmen, damit wir beide außer den wissenschaftlichen Unterhaltungen eine harmlose Spielgelegenheit hätten.«
»Wieso? Sie spielen mit Puppen, Herr Frank?« fragte Maibold spöttisch.
»Warum nicht?« erwiderte Ernst ruhig: »Ich kämpfe ja ganz gern mit Schwanzbären und Eislöwen, aber zwischenhinein erhole ich mich mit Vorliebe in heiterm Spiel. Scherz und Ernst, Spiel und Kampf liegen meines Erachtens nicht so gar weit auseinander. Jedem seine Liebhaberei! Haben Sie nicht selber letzthin mit dem Spinnendrachen gespielt oder sich ihm als Spielzeug zur Verfügung gestellt, während Sie es sonst vorziehen, wenn wir zur Jagd gehen, sich einer harmloseren Beschäftigung hinzugeben?«
Der Hieb saß! Der Spötter schwieg beschämt, denn er wurde nicht gerne an den Kampf mit dem Drachen erinnert, bei dem er eine so untätige und wenig heldenmäßige Rolle gespielt hatte.
Alle lächelten, denn sie gönnten ihm die wohlverdiente Abfuhr. Ernst aber fuhr fort: »Wer sich gerne mit Kindern abgibt, wie ich es stets getan habe, der wird sich auch nie in eitlem Hochmut über das kindliche Spiel erhaben fühlen, vielmehr hat er seine herzliche Freude daran und beteiligt sich selber fröhlich an dem Vergnügen seiner Lieblinge. Ich sage Ihnen, ein Mädchen, das, sobald es konfirmiert wurde, zu blasiert ist, um mit Puppen zu spielen, kann ich nur bedauern: solche dumme Fratzen habe ich nie ausstehen können!«
»Bravo!« rief Eva halblaut: sie war mit ihrem Ritter zufrieden. Ihr Vater aber sagte, ebenfalls zustimmend:
»Recht haben Sie, junger Freund! Sobald wir wieder in zivilisierten Gegenden sind, bekommt mein Töchterlein eine neue Puppe, und Sie auch eine!«
»Soll mich freuen!« erklärte Ernst unbefangen.
»Herr Frank ist ein großer Geist!« rühmte Professor Raimund: »Denn gerade diese Gesinnung kennzeichnet die wahre Geistesgröße im Gegensatz zu den beschränkten Köpfen, die kindliches Spiel verachten und verständnislos verlachen, weil sie sich in ihrem Größenwahn hoch erhaben darüber dünken. Ein großer Geist fühlt immer wieder das Bedürfnis, sich gründlich auszuspannen und sucht Erholung in harmlosem Spiel. Die Mittelmäßigkeit und Hohlköpfigkeit hat das nicht nötig. König Heinrich IV., Frankreichs größter Herrscher, wurde einmal von einem fremden Gesandten angetroffen, wie er auf allen vieren auf dem Fußboden herumrutschte und sein Söhnlein auf sich reiten ließ. »Haben Sie auch Kinder?« fragte er den Botschafter, den Kopf erhebend. Als die Antwort bejahend lautete, sagte der König: »Dann erlauben Sie wohl, daß ich meinen Ritt zu Ende führe!« So schämte sich auch der Weiseste der Weisen, der große Sokrates nicht, auf offener Straße in Athen mit kleinen Knaben Schusser zu spielen. Als ihn ein Hohlkopf deswegen spöttisch zur Rede stellte, legte er seinen Bogen auf die Straße und fragte: »Was meinst du, würde geschehen, wenn ich die Sehne dauernd gespannt ließe?« — »Schlaff würde sie werden,« erwiderte der andere. — »So muß ich auch meinen Geist ausspannen, daß er nicht schlaff wird,« erklärte Sokrates. Darum soll man ein harmloses Spiel nicht verachten; wer seinen Geist viel anstrengt, dem ist es ein notwendiges Bedürfnis.«
»Das ist keine Frage,« erklärte Mäusle: »Fräulein Eva soll hoch leben: wir haben uns alle an ihrer hübschen Puppe erfreut. Aber Holm ist uns noch die Erklärung schuldig, wie er dem anmutigen Geschöpf Leben einhauchte.«
»Die Sache ist einfach,« lachte der Schwede: »hat aber immerhin ordentlich Arbeit gemacht. Material hat ja nicht gefehlt, aber ich mußte alles in Miniatur ausführen und genau arbeiten. Ein Mechanismus für die Tanz- und Gehbewegungen, eine winzige Spieldose und ein putziger kleiner Phonograph, dazu drei Uhrwerke, die das alles in Gang setzen, habe ich in den kleinen Körper hineinpraktiziert. Ich hatte Fräulein Eva ertappt, wie sie das Püppchen hinter einer Kiste versteckte, tat aber nicht dergleichen, und habe die Docke hinterher entwendet, um diese kleine Überraschung zu inszenieren. Das ist alles. Hoffentlich verzeiht mir Fräulein Eva mein eigenmächtiges Verfahren mit ihrem Eigentum.«
»O ich danke Ihnen, daß Sie mein Püppchen in so ein herrliches Kunstwerk umwandelten,« rief Eva eifrig: »Kann es aber auch noch andere Dinge reden, als es vorhin sprach?«
»Was Sie wollen, verehrtes Fräulein,« erwiderte der Ingenieur: »Sie können die Walze auswechseln: ich stelle Ihnen ein Dutzend Miniaturwalzen zur Verfügung und einen Aufnahmeapparat, so daß Sie Ihre Puppe reden und singen lassen können, was Sie nur wünschen. Die Walzen lassen sich auch wieder abschleifen und sie können dann neue Texte aufnehmen.«
»Ach, das ist reizend, Herr Holm! Ich danke Ihnen vielmals!«
Fortan brauchte Eva ihre Puppe nicht mehr zu verheimlichen, vielmehr gab sie noch manche gelungene Vorstellung mit ihr, die allgemeinen Beifall fand.
Ernst aber sang der kleinen Eva den berühmten Gackeleia-Vers ins Ohr:
»Keine Puppe! es ist nur
Eine schöne Kunstfigur!«
Herr Mäusle,« sagte Ernst eines Tages zum schwäbischen Dichter: »Wenn ich nur ein wenig von Ihrer Dichter- und Schriftstellergabe hätte!«
»Gabe?« seufzte Mäusle: »O Sie junger Idealist und Schwärmer, wünschen Sie sich doch das nicht! Was fangen Sie mit dichterischer Begabung an? Wünschen Sie Erfolg, zumal klingenden, so kann sie Ihnen nur hinderlich sein statt förderlich. Genie, Talent, Begabung, echte Poesie, das alles ist unmodern, weil unsere heutigen Dichter nichts davon besitzen und es daher in Acht und Bann getan haben. Unmodernes aber kann keinen Erfolg bringen. Heutzutage schriftstellert jeder ordentliche Staatsbürger; besondere Begabung ist dazu nicht mehr erforderlich, im Gegenteil, sie hindert bloß den Erfolg: Die Mache muß man verstehen, weiter nichts, und die läßt sich lernen. Man braucht nur das richtige Moderezept für irgend eine Literaturgattung, und mit etwas Gewandtheit bringt man Werke zustande, die ihre Verleger finden und Geld eintragen. Wäre ich nicht so töricht, aus dem Herzen und der Seele heraus zu dichten, statt nach bewährten Rezepten, so hätte ich mir längst meinen Platz in der modernen Literatur erobert.«
»Ein Kochrezept, nach dem eine literarische Suppe gekocht wird, das ist famos!« rief Ernst: »Können Sie mir kein solches Rezept geben?«
»Mit Leichtigkeit und mit Vergnügen! Sagen Sie nur, was Sie schreiben wollen.«
»Für die Jugend schriebe ich am liebsten: so recht abenteuerliche Geschichten, wie die Knaben sie gerne lesen.«
»Da rate ich zu Indianergeschichten, die ziehen am meisten und haben den Vorzug, daß man nicht unnötig seine Phantasie anzustrengen braucht, um recht haarsträubende Abenteuer zu erfinden; denn es gibt so viele Tausende von Indianergeschichten, daß man sich alles nötige daraus zusammenlesen kann.«
»Aber Abschreiben will ich doch nicht.«
»Gewiß nicht: Sie suchen sich nur die zusagendsten Abenteuer aus, verändern sie ein wenig nach Ihrem Geschmack und kochen sie dann nach folgendem Rezept zusammen: Der Schauplatz ist der ›wilde Westen‹ mit ›Prärien‹ und ›Urwald‹. Die Prärien geben Gelegenheit zu einem stets beliebten Präriebrand, auch jagt man dort den Bison und fängt wilde Pferde. Im Urwald erlebt man Abenteuer mit Schlangen und Raubtieren, auch mit verfaulten Stämmen, die den Weg versperren. Die Felsenberge oder Rocky mountains kann man ebenfalls benutzen, wo der Grislybär haust, desgleichen Flüsse, in denen man Biber fängt.
»Man braucht einige Blockhäuser, in denen Weiße hausen, Trapper oder Fallensteller, Ansiedler, die den Wald ausroden, oder auch Jäger. Vorteilhaft ist es, die Ansiedlung mit Pallisaden zu umgeben, die für eine heldenmütige Verteidigung geeignet sind, und die der Feind mit dem Lasso niederreißt.
»Dann braucht man einige Indianerstämme, und zwar solche, die den Weißen befreundet sind, und solche, die sich ihnen feindlich gesinnt zeigen. Letztere sind die ›teuflischen Sioux‹, die ›blutdürstigen Mingos‹, die ›Creeks‹ und andere. Die freundlichen Stämme sind die Delawaren, Pawnees, Tschippewäs, Cherokesen: Stämmenamen findet man mit Leichtigkeit in der vorhandenen Literatur.
»Der Indianer wird ›Rothaut‹ genannt; zuweilen raucht er die ›Friedenspfeife‹ am ›Lagerfeuer‹, wenn er das ›Kriegsbeil‹ begraben hat. Meist aber befindet er sich auf dem ›Kriegspfad‹ in schrecklicher, greller Bemalung. Zuvor ordnet er stets seine Skalplocke, damit er im Falle des Unterliegens dem Feinde das Skalpieren erleichtere.
»Seine Waffen sind der ›Tomahawk‹ und das ›Skalpiermesser‹; auch mit Pfeilen und ›Feuerrohren‹ schießt er aus dem Hinterhalt.
»Der Häuptling trägt ›Adlerfedern‹ auf dem Haupt, und an seinem Gürtel hängen zahlreiche ›Skalpe‹ seiner Feinde, die oft noch blutig sind und rauchen. Er heißt ›Falkenauge‹ oder ›Der graue Bär‹, der ›Weiße Wolf‹ oder so ähnlich. Der Name ist leicht zu erfinden.
»Das Weib des Indianers ist die ›Squaw‹ und haust in den ›Wigwams‹. Ein schönes Indianermädchen heißt durchschnittlich ›Prärieblume‹.
»Der Indianer redet stets in seiner ›bilderreichen‹ Sprache, und gebraucht immer die dritte Person, etwa. ›Hat mein Bruder Hunger?‹ Mein Vater hat sich weit von den Wigwams seiner Brüder entfernt‹. Einige Übung macht einen bald zum Meister in dieser Sprechweise.
»Die Weißen heißen ›Bleichgesichter‹, auch ›Blaßgesichter‹. Sie verdrängen den ›roten Sohn der Wildnis‹ aus seinen ›Jagdgründen‹ und betören ihn durch ihr ›Feuerwasser‹, weil der ›Große Geist‹ seinen ›roten Kindern‹ zürnt.
»Der Indianer ist schweigsam, verschlagen und lacht nie: oder hat man je von einem lachenden Indianer gelesen? Dagegen läßt er zuweilen ein verwundertes ›Hugh!‹ ertönen.
»Auf dem Kriegspfade geht einer hinter dem anderen in der sogenannten Indianerreihe und jeder tritt in die Fußtapfen des Vordermanns, die der letzte sorgfältig verwischt. Oft gehen sie weite Strecken in einem Bach, um keine Fährte zu hinterlassen oder ziehen die ›Mokassins‹ verkehrt an, um den Gegner irre zu führen; zu dem gleichen Zwecke werden auch absichtlich falsche Fährten hinterlassen: so schlau ist der Indianer!
»Während er sich lautlos und unhörbar fortbewegt und sich oft gleich einer Schlange durchs Gebüsch windet, verrät ihm das Knacken eines dürren Astes die Annäherung des Feindes. Der Schrei der Nachteule und des Prärievogels täuschen ihn nicht: er erkennt darin sofort ein verabredetes Zeichen. Nur wenn der Schrei schlecht nachgeahmt ist, weiß er, daß es ein wirklicher Vogelschrei war.
»Unmöglich ist es, den Sohn der Wildnis zu überlisten oder zu überrumpeln: er sieht mit seinem scharfen Auge Spuren, die gar nicht da sind, und wittert die Nähe des unsichtbaren Feindes. Das gilt aber bloß von der befreundeten Partei; denn die Gegner lassen sich oft überlisten, sie versäumen die einfachsten Vorsichtsmaßregeln und merken nicht, wenn man ihr Lagerfeuer umschleicht. Oft schlafen die Wachen ein, und man kann Gefangene unbemerkt befreien, bis das wilde Geheul im Lager anzeigt, daß die Flucht entdeckt ist und die Verfolgung beginnt.
»Überhaupt lassen sich nur die Feinde durch falsche Vorspiegelungen täuschen, welche von den Freunden alsbald durchschaut werden, die dann sagen: ›Das ist wieder so eine indianische Teufelei!‹
»Die Helden der Geschichte geraten gewöhnlich in Gefangenschaft und werden in das Lager der Sieger geschleppt. Nach längeren Beratungen bindet man sie an den Marterpfahl und umtanzt sie mit schrecklichem Siegesgeheul. Die Squaws versuchen durch allerlei Schmähungen und Drohungen, die Todgeweihten aus der Fassung zu bringen, was ihnen aber zu ihrem großen Ärger nie gelingt, denn die Gefangenen verharren in stolzem Schweigen.
»Dann beginnen die Jünglinge des Lagers ihr grausames Spiel: sie fuchteln mit dem Tomahawk vor den Augen des Gefesselten umher, sie schießen ihre Pfeile dicht an seinen Ohren vorüber in den Pfahl, sie werfen ihre Beile gegen seinen Kopf, daß die scharfe Schneide eine Haarlocke vom Haupte trennt; zuletzt stecken sie ihm Holzsplitter ins Fleisch, die sie zuvor in Schwefel getaucht haben, und zünden sie an, daß der Schwefel weit umherspritzt.
»Dies alles bezweckt, den Ärmsten Zeichen der Angst oder Schmerzensschreie zu entlocken; es ist aber ein ganz müßiges Beginnen, und die grausamen Teufel sollten aus Erfahrung wissen, daß sie damit niemals ihren Zweck erreichen; denn der Gefangene ist bekanntlich kein ›altes Weib‹ und zuckt mit keiner Wimper.
»Dies nötigt den Feinden unwillkürlich Achtung und Bewunderung vor der Standhaftigkeit des Helden ab, steigert jedoch gleichzeitig ihre Wut und ihren Blutdurst aufs äußerste.
»Aus unbekannten Gründen jedoch zögert der Häuptling so lange, das Zeichen zum Beginn der martervollen Abschlachtung zu geben, bis es dem Opfer gelingt, zu entkommen oder seine Freunde es befreien.
»Im Kampfe sucht der Indianer immer Deckung und huscht von Baum zu Baum, wobei sich jedoch die Feinde oft verderbliche Blößen geben. Zuletzt wird der feindliche Stamm in der Regel völlig vernichtet, falls man ihn nicht mehr für spätere Erzählungen braucht.
»Verliert ein befreundeter Indianer seinen Skalp, so singt er sein Totenlied und geht mit Würde in die ›seligen Jagdgefilde‹, wohin die ›Stimme des Großen Geistes‹ ihn ruft.
»Das ist so in Kürze alles, was Sie zu einer landläufigen Indianergeschichte in Dutzendware brauchen. Sie haben nur noch dieses Gerippe mit einigen haarsträubenden Abenteuern und blutrünstigen Grausamkeiten zu umkleiden.«
»Ausgezeichnet!« rief Ernst lachend, denn er hatte die scharfe Satire sofort erfaßt: »Nun getraue ich mich, gleich ein Dutzend echter, glänzender Indianergeschichten zu schreiben!«
»Ja!« seufzte Mäusle: »So einfach ist die jämmerliche Mache, mit der nicht nur die Indianergeschichten, sondern auch Tausende anderer Jugenderzählungen in Massen zu billigen, lockenden Preisen zusammengestoppelt werden, lediglich um Geld zu machen, der einzige Zweck des Verfassers und Verlegers! Es kümmert sie dabei nicht im geringsten, daß sie den Geschmack der Jugend verderben, ihre Phantasie und ihren Charakter vergiften. Wer gelernt hat, sich mit Gier auf dieses ungesunde Lesefutter zu werfen, verliert den Geschmack an jedem gesunden und edlen Lesestoff, sein Gemüt verroht, und er findet nur noch Gefallen an Grausamkeiten und blutigen Abenteuern, das heißt an ungesunder Aufregung.«
Endlich brach der heißersehnte Tag wieder an. Immer heller war das Dämmerlicht der Tage geworden, und nun stand die ganze Gesellschaft vor Südburg, den ersten Sonnenaufgang erwartend. Wundervolle Farbenspiele am Himmel zeigten ihn an. Schnee und Eis warfen die feinsten und zartesten Farbenabtönungen zurück, mit einem Reiz, den keiner für denkbar halten würde, der noch nie eine Polarlandschaft gesehen hat. Dann stieg das goldene Gestirn langsam über den Horizont empor, begrüßt von allgemeinem Jubel.
Freilich dauerte vorerst die Sonnenherrlichkeit nicht lange; aber auch der Sonnenuntergang entzückte durch ein gleiches prächtiges Farbenspiel.
Ernst machte nun mit Mäusle, Neeltje und Eva beinahe tägliche Ausflüge, bei denen der Schwabe, der, wie wir wissen, sich besonders auch mit Geologie oder Erd- und Gesteinskunde befaßte, höchst interessante Gesteinsbildungen entdeckte.
Am schönsten erschien ein dunkelgrüner Stein voll großer, rosafarbener Kristalle, die mit kleinen schwarzen Kristallen überstreut waren.
Die Tage nahmen zu und es war viel die Rede von einem baldigen Aufbruch, um womöglich den Südpol zu erreichen.
Überraschenderweise zeigte der Baron gar keinen besonderen Eifer und äußerte sogar, es wäre wohl geratener, sich mit den bisherigen außerordentlichen Entdeckungen zufrieden zu geben und den Polarsommer zur Rückreise zu benutzen.
Eva war außer sich, denn sie freute sich so sehr auf die Befreiung der Prinzessin, von der ihr Vater freilich noch nichts wußte. Sie war es, die ihn besonders zur Weiterreise drängte.
»Kind!« sagte er: »Deinetwegen vor allem habe ich Bedenken, weiter vorzudringen ins Unbekannte. Sieh, wir haben hier schon eine Anzahl ganz unheimlicher und gefährlicher Tiere entdeckt, und ich fürchte, daß sie weiter südlich noch in größeren Mengen auftreten. Wer weiß, dort gibt es vielleicht noch furchtbarere Geschöpfe. Soll ich meine Gefährten und namentlich Frau Professor Mäusle und dich solch entsetzlichen Gefahren aussetzen, nur um der Eitelkeit willen, als Entdecker des Südpols gefeiert zu werden?«
»Ach was! Bisher haben wir die gefährlichsten Raubtiere und Drachen besiegt, und überhaupt, Lebensgefahr ist überall, besonders aber bei einer Polarfahrt. Der Sturz in eine Gletscherspalte, in deren Grund man mit gebrochenen Gliedern erfriert oder verhungert, ist wohl noch schlimmer als der rasche Tod durch ein reißendes Tier. Lassen wir uns durch die Gefahren von der Verfolgung unseres Zieles abschrecken, so müssen wir uns ja vor der ganzen Welt schämen.«
»Ich weiß nicht, wie es kommt, aber mich quälen schlimme Vorahnungen, die mir sonst ganz fremd sind.«
»O Papa, schlage dir solche Gedanken aus dem Kopf und nimm dir ein Beispiel an uns: wir alle, außer etwa Doktor Maibold, brennen darauf, den Südpol zu entdecken und scheuen weder die Gefahren, die wir schon kennen, noch diejenigen, die uns möglicherweise noch unbekannt sind. Hast du haltlose Ahnungen, so habe ich vielmehr sichere Kenntnisse: wir werden am Südpol ein schönes, warmes, sonniges Land finden mit herrlichen Auen und Wäldern, und inmitten eines Kranzes von Bergen eine tote Stadt. Auch von denen, die sie kennen, wird sie ›Die Tote Stadt‹ genannt. Aber ich sage dir, diese Stadt des Todes ist von einer Pracht, wie du sie nie geschaut hast. Sie ist bewohnt von steinernen Menschen und mit steinernen Blumen geschmückt.«
Münkhuysen lachte: »Mädel, du entwickelst ja eine großartige Phantasie! Es ist allerdings schon von ernster wissenschaftlicher Seite aus von der Möglichkeit eines warmen, ja tropischen Klimas am Südpol gesprochen worden und man hat starke Gründe dafür beibringen können. Nun, das wird dir einer der Herren vorgeschwatzt haben, aber du nimmst es gleich für erwiesene Tatsache und malst dir ganze Märchenbilder aus.«
»Nichts da, Phantasie!« ereiferte sich Eva: »Was ich dir vorhersage ist nüchterne, wenn auch märchenschöne Wirklichkeit und ich leiste jede Gewähr für das Eintreffen meiner Prophezeiung.«
»Und ich kann es bestätigen, Herr Baron,« erklärte Ernst feierlich: »Sie werden am Südpol alles genau so finden, wie es Fräulein Eva beschrieb.«
»Da hört sich doch aber alle Wissenschaft auf!« rief Schulze kopfschüttelnd; denn allmählich hatten sich alle um den Baron versammelt, um dem lebhaften Gespräch zu lauschen.
Inzwischen wanderten Münkhuysens verdutzte Blicke zwischen seinem Töchterlein und Ernst hin und her. Endlich sagte er: »Ihr sprecht in Rätseln! Denn daß ihr nicht scherzt, sieht man euch an. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich denken soll!«
»Auf zum Südpol!« lachte Eva: »Dort wirst du sehen, daß wir mehr wissen als du, und zwar bin ich die Entdeckerin und Ernst wurde nur durch mich in mein Geheimnis eingeweiht.«
»Heraus mit der Sprache!« begehrte ihr Vater.
»Nein, wir wollen unser Geheimnis wahren, bis ihr mit eigenen Augen sehet, daß ich genau wußte, was keiner von euch ahnte.«
»Habt ihr etwa einen verschollenen Papyrus aufgefunden und entziffert? Wie in so vielem anderen, wußten die Alten vielleicht auch vom Südpol mehr als wir. So behaupteten sie, der Südpolkontinent weise die Umrisse Afrikas auf, was zu meiner Philosophie der Geographie stimmen würde. Immerhin wäre es nicht wahrscheinlich, daß eine Gegend und eine Stadt, wie du sie beschreibst, nach Jahrtausenden noch geradeso zu finden wären, wie die Alten sie vielleicht kannten.«
»Nichts haben wir gelesen,« widersprach Eva: »Gedulde dich nur! Und dann hat auch Ernst sein besonderes Geheimnis, das er mir schon in Amsterdam offenbarte, nachdem ich ihn in das meinige eingeweiht hatte. Herr Mäusle ist in der Lage, seine urkundliche Richtigkeit zu bestätigen, da wir ihn zum Mitwisser machten und er die Beweise in Händen hielt, zum Teil sogar selber entzifferte. Wir sind nämlich einer gefangenen Prinzessin am Südpol in der Toten Stadt Hilfe und Erlösung schuldig, die wir ihr telegraphisch zugesagt haben. Ihre Antwort erhielten wir hier.« Eva hütete sich wohl, zu erwähnen, wie wenig ermutigend diese Antwort lautete.
»Die Sache wird immer fabelhafter!« sagte der Baron: »Da ihr aber so hartnäckig auf dem Wagnis besteht, und auch die anderen auf eurer Seite zu stehen scheinen, füge ich mich der Mehrheit.«
»Hurra! Wir haben gesiegt!« jubelte die junge Dame, und allseitig wurde die Befriedigung über diesen willkommenen Entschluß geäußert. Nur Maibold verhielt sich still.
Nun wurden die Vorbereitungen zur Reise ernstlich getroffen.
Evas Voraussage, daß am Südpol ein warmes Land anzutreffen sei, stimmte nicht nur zu der oft erörterten und besonders von Raimund und Mäusle verfochtenen Theorie, sondern auch mit den Beobachtungen, die unsere Freunde selber bei weiter ausgedehnten Jagdausflügen gemacht hatten. Man war in mildere Landstriche gelangt und hatte in der Ferne sogar eis- und schneefreie Gipfel gesichtet. Man durfte sich also darauf gefaßt machen, bald in sommerlichere Gegenden zu geraten, und mußte daher in Aussicht nehmen, daß man, wenn sich dies bestätigte, mit den Schlitten nicht mehr weit kommen werde.
Münkhuysen hatte denn auch andere Mittel ersonnen, mit denen man rasch vorankam. Der notwendigste Proviant, Zelte, Schlafsäcke und Ausrüstungsgegenstände, wurden zwar zunächst auf die Schlitten geladen, doch führte man ebensoviele kleine Wagen auf Rädern mit, vor welche die Hunde gespannt werden konnten, wenn die Schlittenbahn aufhörte.
Die Wärme der südlichen Luftströmungen war ganz auffallend, und Mäusle wetteiferte mit Raimund in der Aufstellung von Vermutungen, die schließlich auf folgendes Ergebnis hinauskamen: »In der Nähe des Südpols befindet sich ein warmes Land, das vielleicht sogar im Winter eisfrei sein dürfte. Wahrscheinlich ist es rings von einem Binnenmeer umgeben. Dieses weist eine sehr hohe Temperatur auf, da infolge der Abplattung des Poles der Meeresgrund dem inneren Glutkern der Erde sehr nahe steht. Das erwärmte Wasser steigt fortwährend an die Oberfläche und strahlt eine solche Wärme aus, daß ein tropisches Klima der Küsten nicht unwahrscheinlich ist. Im Norden dieses warmen Polarmeeres befindet sich ein hoher Gebirgsgürtel, der durch einen Kreis von Gletschern seinerseits eingeschlossen ist, so daß die nördlichen Küsten der Antarktis von den warmen Luftströmungen des Zentralkontinentes nicht berührt werden. Südburg befindet sich an einer Stelle, wo der Gletscherring sich verdoppelt, zwischen zwei Gletscherketten mit einem Talausgang gegen Südwesten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Gletschergürtel keinen vollkommenen Kreis bildet; in diesem Falle müßte es einen eisfreien Landweg zum Südpol geben; dieser Zugang würde sich dann vermutlich im Süden des Weddellmeeres befinden.«
Wie unsere Freunde vorausgesehen hatten, konnten sie bald ihre Schlitten nicht mehr gebrauchen und mußten geeignetere Beförderungsmittel anwenden. Mit solchen versah sie Münkhuysens erfinderisches Genie. Der Baron selber benutzte seinen Flugapparat. Es war dies eine mit zwei Flügeln versehene Maschine. In Erwägung, daß die Vögel sich in die Luft erheben können, dadurch, daß die Federn ihrer Flügel sich dachziegelartig eng aneinander legen, sobald ein Flügelschlag nach unten erfolgt, hingegen sich voneinander trennen und die Luft durchlassen, wenn sie nach oben bewegt werden, hatte Münkhuysen seine Flügel mit einer Unzahl kleiner Ventile versehen, die sich nur nach unten öffneten. Sie gestatteten so ein fast müheloses Emporheben der Fittiche, während der Flügelschlag nach unten die Schließung sämtlicher Klappen bewirkte und damit, infolge des Luftwiderstandes, den Aufschwung ermöglichte. Die Bewegung der Flügel erfolgte durch Treten mit den Füßen, wie beim Fahrrad. Die Hände des Fliegers, der auf bequemem Sitze saß, blieben frei zur Regierung des Steuers und des Fallschirms, der gleich einem Mast über die Maschine emporragte, und sich mit Leichtigkeit öffnen und schließen ließ. Ein mit starken Federn versehener Unterbau sorgte dafür, daß ein Absturz auch dann ungefährlich blieb, wenn je der Fallschirm versagen sollte. Mit diesem motorlosen Flugzeug konnte man sich einem Vogel gleich in die Lüfte erheben und sich durch geeignete Flügelschläge längere Zeit an ein und derselben Stelle in der Schwebe halten.
Die Italiener leiteten die Hunde- und Ponykarawane, teils zu Fuß neben den Wagen hergehend, teils auch aufsitzend, wenn die Bodenverhältnisse dies gestatteten. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft wurden vom Baron mit Ballonstelzen versehen, die er ebenfalls selber erfunden hatte.
Dieses eigenartige Beförderungsmittel bestand aus starken Stelzen von dreißig bis fünfzig Meter Höhe. Sie waren mit beiderseits herausstehenden Querleisten versehen, die ein bequemes Auf- und Absteigen ermöglichten. Diese Stelzen wurden an die Beine geschnallt, und nun konnte man mit denselben nicht nur ungeheure Schritte machen, sondern auch die gefährlichsten Bodenschwierigkeiten sicher überwinden, hohe Berge mit wenigen Schritten übersteigen, und durch nicht allzutiefe Gewässer mühelos hindurchwaten. Zudem genoß man von der Höhe dieser Stelzen aus die herrlichste Fernsicht. Natürlich hätte das Gewicht solcher hoher Stangen das Gehen sehr ermüdend gemacht; daher mußte jeder Stelzenwanderer einen Luftballon unter den Schultern festschnallen, dessen Tragfähigkeit das Gewicht der Stelzen nebst dem Körpergewicht des Inhabers um einiges übertraf. Die Ausgleichung erfolgte durch mitgenommenen Ballast, der verhindern sollte, daß man über den Boden erhoben werde, da ein Schweben das Vorwärtsschreiten unmöglich gemacht hätte. Es ist selbstverständlich, daß man auf diese Weise mit den Stelzen stundenlang wandern konnte, ohne irgendwelche Ermüdung zu fühlen, da man nicht, wie der gewöhnliche Fußgänger, sein volles eigenes Körpergewicht zu tragen hatte.
Um noch sicherer zu marschieren, waren die Ballonstelzenwanderer mit langen Alpenstöcken versehen; dieselben hatten unten einen starken Widerhaken und dienten zugleich als Waffen.
Ernst machte eine Erfindung, welche die Querhölzer zum Auf- und Absteigen entbehrlich machte. Reichlich mit Ballast versehen, schnallte er sitzend die auf dem Boden liegenden Stelzen an und befestigte den Ballon unter seinen Armen; dann hakte er in den Widerhaken seines Alpenstockes ein Ballastsäckchen ein; hierauf warf er allen übrigen Ballast weg: nun hob ihn der Ballon samt den Stelzen langsam empor; sobald er auf den Stelzen aufrecht stand, zog er mit dem Alpenstock sein Balastsäckchen empor, um es umzuhängen. Zum Absteigen genügte es, den Haken irgendwo festzurennen und sich dann am Stocke zu Boden zu ziehen.
Zur Herstellung des Wasserstoffgases hatte Münkhuysen eine Anzahl Behälter mitgenommen, in denen sich Metallabfälle befanden. Mit Schwefelsäure und Wasser übergossen, entwickelte das Metall den Wasserstoff, den er so nach Bedarf erzeugen konnte.
Natürlich wußte Kapitän Münchhausen zu erzählen, welch hervorragende Beförderungsmittel er selber erfunden und seinerzeit auf dem antarktischen Kontinent verwendet habe.
»Wir versahen uns,« sagte er, »mit ›Ballschuhen‹, so nannte ich treffend die Siebenmeilenstiefel, die ich mir ausgedacht hatte, und die sich vorzüglich bewährten. Die ›Ballschuhe‹ waren große, sehr elastische Gummibälle mit einem Durchmesser von fast einem Meter; oben waren sie mit einer Art Schuh versehen, der an den Fuß geschnallt wurde. Der Gang mit diesem Apparat ist äußerst elastisch und leicht und ermöglicht bei gewöhnlichem Gehen mehr als doppelt so große Schritte als sonst. Sobald man jedoch einen kleinen Anlauf zum Springen nimmt, und dabei fester auftritt, macht man mit diesen federnden Bällen Sprünge von so gewaltiger Ausdehnung, daß es ans Unglaubliche grenzt: breite Flüsse und andere Hindernisse werden mit einem Satze genommen und es ist eine Kleinigkeit, in der Stunde ohne Anstrengung fünfzig bis sechzig Kilometer zurückzulegen. Ein besonderer Vorzug dieser Ballschuhe ist ferner, daß sie sich über Wasser halten und daher ein sicheres Gehen auf dem Meere, den Flüssen und Seen ermöglichen, wobei man wie mit Schlittschuhen schleift und dabei die Geschwindigkeit eines kleinen Vergnügungsdampfers erreichen kann.«
Diese so praktischen Ballschuhe wurden von der Mehrzahl der Hörer, Maibold voran, stark in Zweifel gezogen. Andere hielten sie für kein Ding der Unmöglichkeit und hätten gerne Versuche damit angestellt, wenn sie nur vorhanden gewesen wären.
Inzwischen erreichte die Reisegesellschaft das Binnenmeer, das ihr von ihren Jagdausflügen her schon bekannt war.
Das Binnenmeer, das inzwischen völlig aufgetaut war, erwies sich bei näherer Erforschung als von mäßiger Ausdehnung. Es war ein Salzwassersee in der ungefähren Größe des Bodensees und zeigte eine Höchsttiefe von dreißig Metern, abgesehen von einigen schmalen Abgründen, die bei einiger Vorsicht leicht zu überschreiten waren.
Mäusle schritt, als der mutigste voran, ein zuverlässiger Pfadfinder. Ihm folgte seine treue Gattin Neeltje. Den Schluß bildete der am wenigsten beherzte Doktor Maibold. Aber gerade er sollte einen Unfall erleiden. Der Schwabe hatte eine besonders breite Spalte angezeigt, und jeder der im Gänsemarsch folgenden gab seinem Hintermann die Warnung weiter, sobald er an die gefährliche Stelle kam. Raimund, als der Vorletzte rief dem Nachzügler zu: »Aufgepaßt, Doktor! Jetzt kommt der Abgrund, acht Meter Schrittweite!«
Maibold in seiner Ängstlichkeit versäumte es, den Grund abzutasten und machte den weitesten Schritt, der ihm möglich war, noch ehe er an den Rand des Spalts gelangt war. Er erreichte mit der vorgesetzten Stelze gerade noch den jenseitigen Rand, aber so knapp, daß er abglitt und ins Wasser stürzte. Die schwimmenden Stelzen hielten ihn zwar über Wasser, aber er lag mit dem Gesicht nach unten und sein Kopf tauchte immer wieder unter, so daß er gehörig Wasser schlucken mußte. Seine Bemühungen, sich aufzurichten, waren vergeblich, denn mit den dreißig Meter langen schwimmenden Stangen an den Beinen war dies ein Ding der Unmöglichkeit.
Raimund allein hatte den Unfall bemerkt. Allein guter Rat war teuer: sollte er abschnallen und absteigen, um den Unglückswurm schwimmend zu retten? Das war mitten im Wasser bei unsicherem Stand auf dem schlüpfrigen Grunde ein gewagtes Unternehmen.
Der Professor hatte sich umgewendet und besah sich den Fall. Er entschloß sich, den Schwimmer mit dem Haken seines Alpenstockes zu angeln und mit sich ans Ufer zu ziehen, das glücklicherweise nicht mehr fern war. Die Angelung gelang, nicht aber ein Emporheben des Körpers über Wasser. So schleifte er den bedauernswerten Arzt hinter sich her, wobei dessen Haupt meist unter Wasser blieb. Endlich hatte er den Halberstickten am Ufer, wo die anderen bereits standen und dem Rettungswerk zusahen, bereit, wenn erforderlich, Hilfe zu leisten. Doch war ein Eingreifen nicht vonnöten.
»Das war eine Heldentat, Professor Raimund!« sagte Münkhuysen anerkennend: »Wie leicht hätten Sie selber den Halt verlieren können, da Sie sich nicht mehr auf den Stock stützen konnten. Dies Meer soll zu Ihren Ehren fortan den Namen ›Raimundmeer‹ tragen.«
Dieser Beschluß fand den allgemeinen Beifall, und Holm, der die Kartenaufzeichnungen übernommen hatte, trug den Namen sofort in die Skizze ein, die er nun entwarf.
Das südliche Ufer des Raimundmeeres war mit Kiefernwald bestanden und stieg rasch an. Die Wanderer mußten ein hohes Gebirge überschreiten. Der Wald zeigte sich anfangs ziemlich hinderlich, da man über die Baumwipfel hinwegschreiten mußte und die Schritte genau zu berechnen hatte, um nirgends hängen zu bleiben. Zum Glück gewinnt man bald eine große Übung in solchen Berechnungen, so daß sie in der Folge unbewußt, sozusagen instinktmäßig, mit kaum fehlender Sicherheit angestellt werden, und bald bewegten sich alle zwischen den verhältnismäßig niederen Bäumen hindurch, sicher und gewandt, als seien keine Hindernisse vorhanden.
Jenseits des Gebirgszuges, harrte unserer Freunde eine großartige Überraschung: sie betraten einen Urwald von Farnkräutern und Schachtelhalmen von solch riesenhafter Höhe, daß sie selbst auf den hohen Stelzen noch weit unter den höchsten Wipfeln dahinmarschierten. Der Wald war übrigens so licht, daß es ohne wesentliche Schwierigkeit gelang, sich hindurchzuwinden.
Der Baron ließ sich in einer Lichtung mit seinen Flügeln zur Erde nieder und schlug vor, hier Rast zu halten, da ein Ausruhen und eine Stärkung notwendig seien, und er glaube, dieser Urwald verspreche eine reiche wissenschaftliche Ausbeute.
Mit diesem zeitgemäßen Vorschlag waren alle einverstanden, ja Professor Schulze war entzückt darüber, denn er war überzeugt, daß sich hier wieder einmal alle Wissenschaft aufhören werde, und er hätte nur mit größtem Bedauern darauf verzichtet, dies eingehend feststellen zu können.
Und wahrhaftig! er hatte sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht, denn es zeigte sich bald, daß in dieser außerordentlichen Gegend die Wunder der Tierwelt den Wundern der Pflanzenwelt die Wage hielten.
Die Reisegesellschaft lagerte sich auf der Lichtung und befriedigte zunächst die leiblichen Bedürfnisse, wobei Kapitän Münchhausen, wie gewöhnlich, die größten Heldentaten verrichtete. Schon hier konnte man neben den seltsamen Pflanzenformen der Urwelt merkwürdige Insekten von lebhafter Farbenpracht und völlig unbekannte Vogelarten bewundern.
Nach einer Stunde wurde aufgebrochen. Bald lichtete sich der Wald und ein ausgedehntes Meer zeigte sich den entzückten Blicken mit seiner tiefblauen, leicht gekräuselten Fläche, die im Sonnengold blendend flimmerte. Man konnte bis zum jenseitigen Ufer hinüberschauen, rechts und links aber verloren sich die unabsehbaren Wasser im Horizont. Das flache, mit Gras und Kräutern bewachsene Ufer hatte eine Breite von einem halben Kilometer, und bot den staunenden Augen ein Schauspiel, wie es vielleicht vor ihnen kein menschliches Auge genossen hatte, es sei denn vor ungezählten Jahrtausenden. Hier lagerten mächtige Pelzelefanten und Pelznashörner; dort weideten Büffel von ungeheurer Größe: Megatherien oder Riesenfaultiere, wiegten sich an den überhängenden Ästen des Waldsaums, denn hier gab es auch stark verästelte Laubbäume von riesenhafter Ausmessung. Das Mammut und das Dinotherium wateten im Wasser, den unförmlichen Leib zu kühlen. Riesenvögel, die an den fabelhaften Vogel Rock aus Tausendundeinernacht gemahnten, überschatteten die sonnigen Gewässer. Pterodaktylen flatterten umher und klapperten unheimlich mit dem zahnbewehrten Riesenschnabel. Schwäne von der Größe des Vogels Strauß schwammen dahin und zuweilen tauchten die riesenschlangenartigen Fangarme eines ungeheuren Tintenfisches auf, die ein Opfer vom Wasserspiegel oder aus der Luft erhaschten und hinunterzerrten.
Sümpfe und Süßwasserlagunen unterbrachen stellenweise die Küstenwiese: da schwebten lautlos farbenschillernde Libellen von märchenhafter Pracht. Ihre durchsichtigen Flügel waren etwa einen Meter lang und der dicke, biegsame Leib war noch länger, so daß er trotz seines stattlichen Umfangs den Eindruck anmutiger Schlankheit erweckte. Aus runden Löchern im Erdboden lugten die rötlichen Köpfe von Regenwürmern hervor. Oft schoß der Oberleib eines solchen Wurmes zwei bis drei Meter hoch in die Luft und erhaschte eine tieffliegende Wasserjungfer beim Flügel, um das verzweifelt zappelnde Geschöpf unter die Erde zu ziehen: man glaubte Riesenschlangen vor sich zu sehen und keine harmlosen Regenwürmer. Harmlos konnte man sie ja auch nicht nennen, zumal sie sich nicht ausschließlich von Pflanzen nährten, wie ihre Jagd auf Insekten bewies.
Hie und da huschten Ratten und Mäuse durch das Gras, so groß wie Hasen und Wildschweine. Ganz entzückend erschienen die buntgefleckten Schmetterlinge, die vielfach die Libellen an Größe übertrafen.
Aber wirklich unheimlich wurde unsern Freunden zumute, als sie auf der Meeresfläche Plesiosauren und Ichtyosauren einherschießen sahen. Bergen gleich, und hohe schäumende Wellen vor sich hertreibend.
Die Tierwelt verschiedener Weltperioden zeigte sich hier vereinigt, doch tobte nicht der gräßliche Vernichtungskampf, wie man ihn sich gewöhnlich in der Urzeit vorstellt. Im allgemeinen schien alles friedlich und freundschaftlich seiner Wege zu gehen, und nur dann zuzuschnappen, wenn der Hunger es erforderte. Dennoch beschlich einen das Gefühl schaudernden Unbehagens in der Nähe dieser furchtbaren Kolosse.
Mäusle gestand, daß seine kühnste Phantasie so etwas nicht hätte aushecken können; Raimund und Schulze erklärten, eine derartige Landschaft hätten sie bisher für unmöglich gehalten, während Maibold schaudernd fragte, ob man angesichts solch höllischer Geschöpfe nicht lieber umkehren sollte?
Ernst, der sich als Zeichner hervortat, brachte all diese Wunder im Bilde zu Papier. Natürlich wurden auch photographische und kinematographische Aufnahmen in großer Zahl gemacht.
Als der Abend dämmerte, machte Mäusle auf eine seltsame Erscheinung aufmerksam: in der Ferne sah man in gleichmäßigen Abständen Rückenwölbungen aus dem Wasser tauchen, als ob eine Herde riesenhafter Delphine, nach ihrer Art, im Gänsemarsch vorbeiziehe. Sie befanden sich auch in beständiger, rascher und schlängelnder Bewegung.
»Delphine können das nicht sein,« bemerkte Münkhuysen: »Denn man sieht weder Köpfe noch Schwänze auftauchen, so schnell auch die Wellenbewegung sich fortpflanzt.«
»Folglich,« sagte Kapitän Münchhausen, »müssen diese Körperteile alle ein und demselben Tiere angehören, und dann kann es kein anderes sein, als die weltberühmte Seeschlange, die ich auf meinen Fahrten mehr als einmal getroffen habe. Zwei Exemplare habe ich sogar erlegt, eines dadurch, daß ich es zwang, sich selber zu erwürgen, ein anderes in heftigem Kampfe, Mann gegen Wasserschlange.«
»Erzählen, erzählen!« riefen mehrere Stimmen.
Da es inzwischen Nacht wurde, begab man sich in das große Gesellschaftszelt, und Münchhausen ließ sich erbitten, eines seiner Abenteuer zum Besten zu geben.
»Es ist Ihnen allen bekannt,« begann er, »daß beschränkte Geister das Dasein der Seeschlange immer noch bezweifeln, ja hartnäckig leugnen, obgleich es dutzendfach von den glaubwürdigsten Persönlichkeiten bezeugt wird.«
»Zu diesen Zweiflern gehöre auch ich, als wissenschaftlich gebildeter Mann,« warf Maibold spöttisch ein.
»Das habe ich nicht anders erwartet«, entgegnete der Kapitän mit überlegener Ruhe. »Solche Unbelehrbare glaubten früher auch nicht an Riesenkraken und verspotten heute die Wünschelrute, das Fernsehen und andere Tatsachen, die kein verständiger und einsichtiger Mensch mehr zu leugnen wagt. Ich muß gestehen, ich selber war von der Wirklichkeit des Meerungeheuers nicht völlig überzeugt, bis ich meine erste Begegnung mit ihm hatte.
»Das war im malaiischen Archipel, der sowohl seiner Stürme als der Seeräuber wegen mit Recht so berüchtigt ist. Ich hatte soeben meinen weltberühmten Sieg über den gefürchteten Piraten Kakairuli erfochten, der meinen bekannten Schnellsegler, den Sturmvogel, der den Wind überflügelte, angegriffen hatte. Ich hätte ihm leicht entkommen können mit meinem unvergleichlichen Schiffe, aber Durchbrennen war nie meine Sache, und ich zog es vor, die See von ihrer schlimmsten Pest zu befreien. Es fehlte mir zwar an genügender Mannschaft und vor allem an Waffen, um die zehnfache, bis an die Zähne bewaffnete Übermacht mit Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen. Allein, da gerade ein heftiger Orkan wütete, kam ich auf ein ungewöhnliches Auskunftsmittel: ich ließ die gerefften Segel ausspannen, aber nur das starke Sturmsegel in der üblichen senkrechten Art, die anderen alle wagrecht. So steuerte ich auf die große Seeräuberdschunke los. Der Sturm, der meine Segel von unten blähte, hob, wie ich berechnet hatte, meinen leichten Sturmvogel über Wasser und ich segelte über das Verdeck des feindlichen Schiffes weg. Ich hatte es von vorn gefaßt und mein Segler hatte einen niederen Kiel, so daß er nicht nur die Masten und Raen des Seeräubers zersplitterte, sondern sein ganzes Deck rein fegte. Die Räuber, soweit sie nicht zerquetscht worden waren, stürzten ins Wasser und ertranken bis auf den letzten Mann. Schnell ließ ich meine Segel wieder einziehen, so daß der Sturmvogel ins Meer zurücksank.
»Der Taifun blies immer noch, wenn auch weniger heftig, als wir uns einer Inselgruppe näherten. Da meldete der Matrose auf dem Ausguck, er sehe eine Anzahl Walfische hintereinander durch das Meer sausen, gerade auf uns zu. Mir schien dies unglaublich, und ich setzte mein Glas ans Auge.
»Was sah ich? Einen ungeheuren Pferdekopf mit wallender weißer Mähne, sitzend an einem Schlangenleib von etwa vier Metern Durchmesser, der in zahllosen Windungen hinterherglitt. Das Ungetüm nahte mit einer solch fabelhaften Geschwindigkeit, daß ich, ob Sie es glauben oder nicht, erkennen mußte, an ein Entkommen sei selbst mit dem Sturmvogel nicht zu denken. Wollte ich ihm nicht in den Rachen rennen, so mußte ich mich in die engen Kanäle zwischen den Inseln begeben, und was das bei einem Orkan bedeutet, wird sich selbst ein Laie sagen können.
»Aber mir blieb keine Wahl: ich mußte in eine der verderbendrohenden Wasserstraßen einlaufen, denn die Seeschlange schnitt mir den Rückweg ab. Ich habe ja schon gesagt, daß mir das Durchbrennen zuwider ist; aber ich wußte aus früheren Berichten, daß so ein Ungetüm ein Schiff umringelt und in die Tiefe zieht und ich durfte meine zitternde Mannschaft einer solchen Gefahr nicht aussetzen: lieber an den Riffen zerschellen, — das ist doch wenigstens etwas, worauf ein ehrlicher Seemann gefaßt ist und das ihm daher weniger gräßlich erscheint.
»Ich lasse also mein Boot zwischen die Inseln steuern. Da sehe ich, daß sich die Meerenge in der Ferne zu schließen scheint. Ich werde doch nicht in einen Fjord, eine Sackgasse geraten sein? denke ich besorgt. Ich schaue durchs Glas und entdecke, daß der Kanal zwar nicht aufhört, aber sich zwischen zwei vorspringenden Felszungen derart verengt, daß die Durchfahrt unmöglich ist. Da blitzt mir aber auch gleich ein Rettungsgedanke durch mein unermüdliches Hirn. Ich lasse die Segel wieder als Höhensteuer ausspannen, wie vorhin. Richtig! Der Sturmvogel wird vom Taifun emporgehoben und segelt frei über die gefährliche Stelle hinweg. Dann plumpst er aber wie ein Sack ins jenseitige Wasser, denn der Orkan ließ auf einmal mit der gleichen Plötzlichkeit nach, mit der er gekommen war. Die Meerenge war hier immer noch so schmal, daß sie kaum Platz für das Schiff bot. Im Niederstürzen streifte es die Felsen zur Linken und bekam ein ordentliches Leck. Ich mußte alle Mann an die Pumpen kommandieren, wenn wir nicht sinken wollten. Weiter konnten wir sowieso nicht bei der nun eingetretenen völligen Windstille.
»Aber jetzt kam das Ungeheuer heran mit hocherhobenem Haupt. Dieses, sowie der Vorderleib überragte die Felsenge beträchtlich. Zugleich trat aber auch ein, was ich erwartet hatte: der dicke Leib keilte sich im blitzschnellen Daherschießen zwischen den Felsen fest: Da gab es kein Vorwärts- noch Rückwärtskommen mehr. Doch wiegte sich das entsetzliche Haupt gerade über mir und der grausige Rachen öffnete sich, um mich zu verschlingen.
»Was nun? Wir besaßen eine Schiffskanone, und Munition war an Deck aufgestapelt, da wir mit der Notwendigkeit hatten rechnen müssen, auf den Seeräuber zu schießen.
»Ich ergreife also rasch eine Bombe und werfe sie in den gähnenden Schlund. Die Seeschlange schluckte den Brocken ohne weiteres und schon beförderte ich eine zweite Granate in den Rachen. Hastig würgte sie dieselbe hinunter und schnappte nach mir, ehe ich eine dritte ergreifen konnte. Allein die so rasch geschluckte zweite Bombe traf auf den Zünder der ersten: es erfolgte eine heftige Explosion, Kopf und Hals der Seeschlange flogen in Fetzen umher und ich wurde durch den Luftdruck aufs Hinterdeck geschleudert. Sonst nahm ich keinen Schaden. Der Zimmermann konnte auch bald das Leck kalfatern und wir fuhren aus dem sich nun beständig erweiternden Kanal ins offene Meer, da sich eine günstige Brise erhoben hatte.«
»Wenn der Kapitän die Seeschlange derart aus eigener Erfahrung kennen lernte,« sagte Mäusle, »so dürfen wir an ihrem tatsächlichen Vorkommen nicht mehr zweifeln.« Das sagte er lachend, denn Münchhausens Bericht hatte allgemeine Heiterkeit erregt.
»Ja, ja! Wenn...!« spöttelte Doktor Maibold.
»Hören Sie,« tadelte ihn Neeltje: »Sie haben doch heute eine Tierwelt kennen gelernt, die fabelhaft und unheimlich genug ist, und die uns auf der Weiterreise noch gefährlich werden kann. Wer weiß, was für andere Fabelwesen uns fernerhin begegnen können? Vorerst halte ich es für höchst unangebracht an Unbekanntem zu zweifeln, das uns vielleicht bald unangenehm bekannt werden könnte.«
»Nun ja,« meinte Maibold: »Wir haben unerwarteterweise noch lebende Urwelttiere angetroffen, darunter sogar manche der Wissenschaft bisher unbekannte Geschöpfe. Aber wirkliche Fabeltiere haben wir keine entdeckt und werden auch nie welche entdecken.«
»Was nennen Sie Fabeltiere? fragte Eva kampflustig.
»Nun, zum Beispiel die sagenhaften Drachen,« erwiderte der Doktor.
»Glauben Sie nicht,« frug Eva, »daß so ein Pterodaktylus oder ein Plesiosaurus und ähnliche entsetzenerregende Tiergestalten den Namen »Drachen« verdienen und zum Teil auch zu den Beschreibungen passen, die uns von allerlei Lindwürmern überliefert wurden?«
»Das mag sein,« gab Maibold zu: »Da wir selber gesehen haben, daß es noch heutzutage in weltfernen Erdenwinkeln solche vorsintflutlichen Riesen gibt, liegt ja die Vermutung nahe, daß einzelne Exemplare davon sich auch in Europa, Afrika und Asien noch bis ins Mittelalter erhielten und als gefürchtete Drachen Schrecken verbreiteten, bis sie durch die drachentötenden Ritter völlig ausgerottet wurden. Immerhin berichtet uns das Altertum und das Mittelalter noch von anderen Fabelwesen, die rein als Erzeugnisse einer ausschweifenden Phantasie gelten müssen.«
Eva schien gesonnen, hierüber zu streiten und fragte weiter: »Also, was belieben Sie zu diesen Ausgeburten der Phantasie zu rechnen?«
»Da ist in erster Linie das Einhorn,« erklärte der Doktor, »das englische Wappentier. Hörner von diesem Untier kamen nach Europa; es waren dies aber wahrscheinlich Stoßzähne des Narwal. Indien, Arabien und Mohrenland galten als die Heimat des Einhorns, das übrigens sehr selten sein sollte, da es zwar gegen andere Tiere »mild, zahm und gütig« war, sonst aber als ganz »freches, wildes und unzahmes« Tier geschildert wird, das seinesgleichen nicht duldete.«
»Sollte nicht eine Verwechslung mit dem Nashorn vorliegen?« vermutete Holm.
»Unmöglich!« widersprach Maibold: »Denn einmal war das Nashorn neben dem Einhorn bekannt, und dann schildert Ludwig Roman, der das Einhorn in Mekka gesehen haben will, das Ungetüm als rauhaarig wie ein Reh, mit gespaltenen Klauen wie eine Ziege, einem Kopf wie ein Hirsch und einer dünnen einseitigen Mähne. Sein Horn trug es auf der Stirn und dieses maß anderthalb Meter. Dazu hatte es eine »grausame, erschröckliche Stimme,« die sich von allen anderen Tierstimmen unterschied. Kurzum ein richtiges Fabeltier!«
»Wer gibt Ihnen das Recht,« fragte Eva feierlich, »einen Ludwig Roman ohne weiteres für einen Schwindler zu erklären? Vielleicht werden Sie morgen dem leibhaftigen Einhorn begegnen.«
Der Arzt lächelte nur spöttisch und fuhr fort: »Ebenso fabelhaft ist der Vogel Greif, ein ganz »scheußlicher und grausamer Vogel«, der Elefanten und Drachen überwindet und so groß wird wie acht Löwen. Der Greif ist vorn rot, hinten schwarz, an den Flügeln weiß, trägt also die deutschen Reichsfarben. Er hat Fledermausflügel und Löwenklauen mit Krallen, wie eines starken Mannes Finger.«
»Vielleicht entpuppen sich die unbekannten Riesenvögel auf Madagaskar noch als Greifen,« beharrte Eva hartnäckig.
Maibold würdigte sie keiner Antwort, sondern ging zur Beschreibung des Basilisken über: »Dies ist der König der Schlangen oder die »Erzschlang«. Auf dem Kopfe trägt er ein sechszinkiges Krönlein, an der Zunge eine Pfeilspitze. Er ist so giftig, daß kein Baum noch Halm mehr wächst, wo er hinkriecht. Außerdem gab es Meermönche, Meerbischöfe, Meerfräulein und Meerteufel, die eine gräßliche Menschenähnlichkeit aufwiesen; dementsprechend auf dem Lande: Forstteufel, Baalen-Strobelkopf, wahrscheinlich der Gorilla, und die furchtbare Hydra mit sieben gekrönten Köpfen. Ich habe diese Fabeln mit Vorliebe studiert und sie bereiteten mir köstlichen Spaß!«
»Sie vergessen den Vogel Phönix,« ergänzte Mäusle.
»Nun, das ist ein Fabelwesen für euch Poeten,« lachte der Doktor, »und kein Ungeheuer. Er lebte in Arabien, und zwar gleich Hunderte oder gar Tausende von Jahren, war so groß wie ein Adler, hatte einen Pfauenkopf und ein wunderbar goldglitzerndes Gefieder mit schönen, runden Zirkeln, wie Augen anzusehen. Wenn er sich altersschwach fühlte, baute er sich über einer Quelle ein Nest aus Weihrauch, Myrrhen, Zimt und anderen kräftigen, köstlichen Gewürzen. Dieses Nest entzündete er an der Sonne durch die Augen seines Gefieders, die wie Brenngläser wirkten, und fachte das Feuer mit Flügelschlägen an. So verbrannte er mitsamt dem Neste. Aus der Asche aber wuchs ein Würmlein, das am dritten Tage sich beflügelte und aus dem der Phönix wieder erstand.«
»Das ist ein wahrhaftiges Fabeltier, das muß man zugeben!« stimmte Schulze bei.
»Nun aber noch das gräßlichste und phantastischste aller Ungeheuer, die Seeschlange,« fuhr Maibold abschließend fort: »Von dieser sollte es kleine Exemplare, zehn bis fünfzehn Meter lang, geben, die ›Wallschlange‹ aber erreichte neunzig Meter und umschlang ganze Schiffe, die sie zermalmte. Schrecklich waren die Windungen ihres Leibes anzusehen, die sich über den Wasserspiegel erhoben.
»Jeder Gebildete weiß heute, daß die Seeschlange, wie alle anderen genannten Fabeltiere, eine Ausgeburt überhitzter oder schwindelhafter Phantasie ist, so daß, wie Andrew Wilson berichtet, ein Schiffskapitän, den man an Deck rief, weil eine Seeschlange zu sehen sei, antwortete: ›Lieber beide Augen zudrücken! Denn wollte ich später erzählen, ich habe die Seeschlange gesehen, so gälte ich zeitlebens für einen entlarvten Schwindler.‹«
Nun aber ergriff Münkhuysen das Wort: »Herr Doktor,« sagte er ernst: »Ein Fabeltier haben Sie wohlweislich nicht genannt, und das ist der Riesenkrake mit seinen meterlangen Fangarmen, die ganze Boote umklammern und zum Kentern bringen, und von denen schon zu Plinius' Zeiten gefabelt wurde.«
»Ja,« rechtfertigte sich Maibold: »Diese Riesentintenfische gibt es eben in der Tat: das war schon längst erwiesen, ehe wir heute ihre Fangarme leibhaftig erschauten. Sie gehören also durchaus nicht zu den Fabelwesen, an die ich nun einmal nicht glaube und nie glauben werde, so wenig wie andere vernünftige Menschen, die auf der Höhe wissenschaftlicher Bildung stehen.«
Der Baron überhörte absichtlich die Unart, die in diesen Worten lag: eitle Spötter werden leicht ungezogen. Er fuhr ruhig fort: »Wohl! Aber jahrhundertelang wurden sie genau so zu den Fabeltieren gerechnet, wie der Greif, Drache, Basilisk und die Seeschlange. Die Wissenschaft hatte nur Spott und Hohn für solche Berichte, und erklärte, man müßte doch schon irgendwie Überreste dieser Tiere gefunden und erbeutet haben: daß dies niemals der Fall gewesen sei, beweise zweifellos, daß es keine solchen Ungeheuer gebe. Als nun aber am 30. November 1861 der Avisodampfer ›Alecto‹ bei Teneriffa einen Riesenkraken von 2000 Kilogramm Gewicht harpunierte und teilweise an Bord schaffte, sah die Sache plötzlich anders aus. Nun auf einmal konnte man alle früheren und seitherigen Berichte über das Antreffen der fabelhaften Polypen nicht mehr bezweifeln, und genau so kann es mit der Seeschlange auch gehen. Ja, ich halte es einfach für ein unwissenschaftliches Verfahren, ein Ungeheuer, das so oft von glaubwürdigen Zeugen erblickt wurde, aus eigensinniger Zweifelsucht ins Reich der Fabel zu verweisen.
»Es gibt ja leider eine Sorte von Wissenschaft, die im Wahne lebt, der wissenschaftlich Gebildete müsse alles Außerordentliche bezweifeln und belächeln, und es sei ungebildet, daran zu glauben. Aber das ist doch nur beschränkte Kurzsichtigkeit, Hohlköpfigkeit und eigentlich das Gegenteil von ernster, wirklicher Wissenschaftlichkeit. Damit meine ich gewiß nicht Sie, verehrter Doktor, so wenig Sie mich mit Ihrem vorigen Trumpf gemeint haben werden. Ich hoffe nur, Sie von Ihren überlegenen Zweifeln zu bekehren.«
»Wird Ihnen schwerlich gelingen!« lachte Maibold.
»Immerhin, hören Sie einmal,« fuhr der Baron fort: »Man hat ja wohl vom Studiertisch aus allerlei scharfsinnige Bedenken vorgebracht, aus denen das Nichtvorhandensein der Seeschlange hervorgehen sollte.
»Wenn Robert Owen 1848 erklärte, die Seeschlange könne nicht existieren, weil sonst wenigstens Überreste ihres toten Körpers gelegentlich hätten gefunden werden müssen, so ist dies nicht nur durch die Riesenkraken widerlegt, deren Vorkommen erwiesen ist, obgleich man zuvor auch nie etwas von ihnen erbeutet hatte, sondern Gosse wies schon 1860 aus die ›Seekuh‹ hin, die einst massenhaft vorkam, und von der wir nur verschwindend wenige Skelettüberreste besitzen, und auf den 1825 bei Havre gestrandeten zahnlosen Wal, von dem man nie ein zweites Exemplar gefunden hat. Ich erinnere auch noch an die bekannten ›See-Elefanten‹, die Riesen unter den Robben, die ebenfalls lange Zeit für Fabelwesen galten. Derartige angeblich ›wissenschaftliche‹ Folgerungen sind dadurch in ihrer ganzen Schwäche und Haltlosigkeit entlarvt.
»Und nun hören Sie die Zeugen für die Seeschlange, von denen ich nur die neueren erwähnen will, weil diese merkwürdigerweise doch für glaubwürdiger gehalten werden, als die älteren, wozu man, genau betrachtet, gar kein Recht hat. Der berühmte Grönlandmissionar Hans Egede erblickte mit den Matrosen seines Schiffes am 6. Juli 1734 ein ungewöhnlich fürchterliches Tier, das sich so hoch über das Wasser erhob, daß sein Kopf den Mastkorb überragte. Der Leib erschien weich und runzelig und hatte breite, herunterhängende Tatzen. Dreimal kam es über Wasser, der Schwanz war mehr als eine Schiffslänge vom Körper entfernt. Missionar Bing zeichnete die Schlange.
»Im August 1746 sah der Lotsengeneral und Kommandant der Stadt Bergen, Lorenz von Ferry, bei Molde die Seeschlange. Zwei Matrosen bestätigten den beeidigten Bericht, den er darüber dem Staatsrat erstattete. Die Schlange hatte einen Kopf wie ein Pferd mit weißer Mähne, war etwa fünfunddreißig Meter lang, und schwamm in acht Windungen schneller als das Schiff dahin. Der General verwundete sie durch einen Schuß und sie sank blutend unter.
»Im August 1817 wurde bei Gloucester und Kap Ann in der Nähe von Boston eine Seeschlange zu verschiedenen Malen gesehen, und dank dem Interesse der Gelehrten wurden genaue Beobachtungen und Beschreibungen erzielt. Zwei Jahre später erschien das Tier in derselben Gegend bei Nasant und wurde von Hunderten von Zuschauern beobachtet, während es die Bucht durchschwamm.
»Am 6. August 1848 erblickte das englische Schiff ›Dädalus‹, Kapitän M' Quhoe, die Seeschlange zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und St. Helena. Sie wurde von der ganzen Besatzung betrachtet und mehrfach gezeichnet; dunkelbraun am Leib, mit weißer Kehle, wies das Tier ebenfalls eine helle Mähne auf.
»Ferner begegneten die › Imogen‹ am 30. März 1856, die Yacht › Osborne‹ am 2. Juli 1877 bei Sizilien, der Dampfer »City of Baltimore* am 28. Januar 1879 im Golf von Aden, die ›Pauline‹ im Juli 1875 je einer Seeschlange. Letzteres Schiff sah das Ungeheuer im Kampfe mit einem Walfisch, dessen Leib es umringelte.
»Ähnliche Berichte sind überaus zahlreich, und ich hebe nur einige wenige hervor, die ich mir aufgeschrieben habe, und deren Einzelheiten ich, wie Sie sehen, dem kleinen Büchlein entnehme, in das ich allerlei Merkwürdigkeiten einzutragen oder in Zeitungsausschnitten einzukleben pflege, und das ich aus diesem Grunde stets mit mir führe, um es vorkommendenfalls zur Hand zu haben. Hören Sie also noch folgendes aus meinen Einträgen: Die deutsche Korvette ›Elisabeth‹ traf am 26. Juli 1883 um 5 Uhr auf die Seeschlange. Kapitänleutnant Wislicenus erblickte sie zuerst und beobachtete sie zwanzig Minuten lang. Das Tier hatte einen schwarzen, lanzettförmigen Kopf und einen schwarzen und weißen Doppelschwanz von etwa sieben Meter Länge; das ganze Tier mußte eine Länge von zwanzig bis vierundzwanzig Metern haben. Kapitän Hollmann, der jetzt Admiral ist, beobachtete die Seeschlange mit dem Fernrohr und fügt noch hinzu, daß der Kopf sich bis zu sechs Meter über die Wasserfläche erhob, während der Leib in mehrfachen Windungen das Wasser aufwühlte. Nachdem das Tier untergetaucht war, sprudelte das Wasser plötzlich garbenförmig auf, als sei eine Seemine gesprengt worden. Natürlich beobachtete auch die Mannschaft des Schiffes das seltene Schauspiel.
»In Indochina, in der Bai von Alang, wurde die Seeschlange in neuester Zeit zweimal gesichtet; das erstemal von Leutnant Lagreville, Kommandant der ›Avalanche‹, im Juli 1897; das zweitemal am 25. Februar 1904 von Leutnant Cost, dem Kommandanten der ›Décidée‹. Den Bericht des letzteren hat die ganze Schiffsmannschaft unterzeichnet. Demnach maß das Ungetüm etwa fünfunddreißig Meter; sein Leib hatte den ungeheuren Durchmesser von drei bis vier Metern und wand sich in wellenförmigen Ringeln mit großer Geschwindigkeit vorwärts. Die schwarze Haut war gelb gefleckt, der Kopf grau und schuppig und spritzte eine große Wasserdampfsäule aus. Das Tier schwamm unter dem Schiff durch.«
Maibold war von seiner geistigen Überlegenheit viel zu sehr eingenommen, als daß er sich durch die Wucht und Menge solcher unanfechtbarer Zeugnisse hätte belehren lassen, vielmehr brachte er jetzt den schwächsten aller Einwände vor, die von verbohrten Zweiflern den erwiesenen Tatsachen entgegengehalten wurden, indem er sagte: »Man hat alle diese Beobachtungen für Täuschungen erklärt: es wurden im Meere schon schlangenförmige Gewirre von Algen gesehen, die aus der Ferne und mit einiger Phantasie wohl für ein fabelhaftes Schlangenungeheuer angesehen werden konnten und, von den Wellen bewegt, dem oberflächlichen Beobachter selbsttätige Bewegungen vorgetäuscht haben mögen.«
Der Baron lächelte und wandte sich an die Allgemeinheit, sprechend: »Ich überlasse es Ihnen, meine Herren, ob Sie wirklich geneigt sind, zu glauben, bei den soeben gehörten genauen Berichten und eingehenden Schilderungen könne es sich um ein Gewirr harmlos dahintreibender Seepflanzen handeln, Algen, die einen pferdeähnlichen, weißmähnigen Kopf hoch über die Schiffsmasten erheben und mit Walfischen kämpfen! Nicht einmal soviel traue ich dem Seetang zu, daß er sich dahinschlängelnde Rückenwölbungen vorzutäuschen vermag. Im übrigen bin ich der Meinung, der Stubengelehrte, so unfehlbar er sich dünkt, täte wohl daran, sich nicht der Einbildung hinzugeben, er habe das Recht und den Beruf, über all diese Berichte nüchterner, scharfsichtiger, vernünftiger und glaubwürdiger Männer der Wirklichkeit mit einem Achselzucken hinwegzugehen, nur weil ihn in seinem engbegrenzten Studierzimmer noch nie eine Seeschlange besuchte und weil er sie mit dem schärfsten Mikroskop noch in keinem Wassertropfen zu entdecken vermochte!«
»Verzeihen Sie, Herr Baron,« sagte Mäusle, der belustigt des Doktors Kopfschütteln und überlegenes Lächeln beobachtete: »Verzichten Sie darauf, durch Tatsachen Vorurteile erschüttern zu wollen. Ich weiß es leider aus eigener schmerzlicher Erfahrung, daß Götter selbst vergeblich kämpfen würden gegen die Hartnäckigkeit eines voreingenommenen Gelehrten, der an nichts glaubt als an das, was er selber ausgeheckt oder auf der Hochschule und aus seinen wissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften gelernt hat, während er allem anderen gegenüber spricht: ›Es sei denn, daß ich es zuvor gesehen und mit Händen betastet habe, so will ich es nicht glauben‹. Solcher ungläubiger Thomasse gibt es leider noch manche in der Gelehrtenwelt.«
»Und mit ihnen halte ich's,« erklärte der Doktor bestimmt und selbstbewußt: »Zeigen Sie mir die Seeschlange, dann glaube ich vielleicht an sie, bis dahin ist sie einfach nie und nirgends vorhanden.«
Kapitän Münchhausen bemerkte noch: »Ich habe geschwiegen, obgleich Maibolds Zweifel, nach dem, was ich vorhin über meinen Kampf mit der Seeschlange berichtete, geradezu beleidigend für mich sind, als schnöde und durch nichts gerechtfertigte Anzweiflung meiner Wahrheitsliebe und Glaubwürdigkeit. Wenn jedoch Herr Mäusle meinte, der Doktor werde nicht überzeugt werden, ehe er die Seeschlange gesehen und mit Händen betastet habe, so mache ich die größte Wette, daß ihm der bloße Anblick genügen wird, und er sich wohl hüten wird, sie zu betasten oder auch nur sich ihr zu nähern.«
Eva wollte das letzte Wort behalten und fügte hinzu: »Wir haben sie doch heute abend schon gesehen: das war kein Gewirr von Algen! Hüten Sie sich, Herr Doktor, die Schrecken des Urweltmeers herauszufordern: ich weiß, was ich weiß!«
In den nächstfolgenden Tagen konnten unsere Freunde immer noch staunend aus respektvoller Entfernung die Ungeheuer der Urwelt beobachten und auch manches neue bekamen sie zu Gesicht.
Um ihre Zelte hatten sie einen hohen, dicken Steinwall errichtet, der von innen zu bequemer Ausschau erstiegen werden konnte. Ohne solchen Schutz hätten sie in beständiger Sorge leben müssen, daß sie eines schönen Tages oder eines Nachts von den plumpen Riesen zermalmt würden, die den Wald und den Meeresstrand belebten.
Der Aufenthalt war notwendig, weil auf die Italiener gewartet werden mußte, die mit den Hundewagen nachkamen und mehrere Tage brauchten, um den Weg zurückzulegen, der mit den Ballonstelzen so wenig Zeit in Anspruch genommen hatte.
Es galt, das sämtliche Gepäck über das Binnenmeer zu schaffen. Münkhuysen hatte, in Voraussicht derartiger Hindernisse, ein zerlegbares Boot mitgenommen, das in einigen Fahrten alles hinüberbringen konnte. Freilich konnte hier nicht daran gedacht werden, Menschen und Güter einer solchen Nußschale anzuvertrauen, angesichts der furchtbaren Geschöpfe, die dieses Meer der Schrecken unsicher machten.
Da war aber in der Nähe eine Landzunge, die beinahe bis zum jenseitigen Ufer vorsprang: das Meer verengte sich an dieser Stelle bis auf einen schmalen Seearm von etwa achtzig Meter Breite. Die so gelegen kommende Landzunge war offenbar ein uralter Damm, der als Brücke über das Meer führte, denn man fand darauf deutliche Spuren früherer Pflasterung. Dies war das erste sichere Zeichen dafür, daß die Gegend vorzeiten von Menschen bewohnt war, die eine gewisse Kulturstufe erreicht haben mußten. Die letzte Strecke dieses gewaltigen Werkes war von den Wellen, vielleicht auch von einem Erdbeben zerstört, ins Meer gesunken. Einzelne Bäume hatten auf dem fünfhundert Meter breiten Damme Wurzel geschlagen, und gerade an seiner Spitze ragte ein Baumriese von über hundert Meter Höhe und ganz gewaltigem Umfang.
Münkhuysen beschloß, ihn zu fällen, so daß er sich als Brücke über die Meerenge legte. Diese mächtige Brücke vermochte kein Saurier zu zerstören; allerdings drohte immer noch die Gefahr, daß ein Plesiosaurus mit seinem langen Halse einen oder den anderen während des Überganges herunterschnappen könnte: es würde also immerhin gelten, Vorsicht zu üben.
Äxte und Sägen waren auf alle Fälle auf den Ballonstelzen mitgenommen worden; an den Sprossen ließ sich ja viel befestigen, ohne den Läufer zu beschweren, da er nur entsprechend weniger Ballast aufzunehmen hatte. Die amerikanischen Baumsägen, welche Münkhuysen vorsorglich gewählt hatte, waren zum Niederlegen von Riesenbäumen besonders geeignet. Vier Tage lang dauerte die Arbeit des Einsägens, denn der Stamm war unten über fünfzehn Meter breit und dick.
Als man annehmen konnte, die Lücke sei groß genug, füllte man sie mit Schießpulver, legte eine Lunte und zog sich zurück. Bald erfolgte eine heftige Explosion, der Stamm neigte sich und stürzte dann mit Donnergekrach gegen das jenseitige Ufer. Er fiel genau so, wie Holm es berechnet hatte, und bildete nun eine Brücke, wie sie nicht besser gewünscht werden konnte. Sie war an der schmalsten Stelle, dreißig Meter unter dem Gipfel, noch vier Meter breit, so daß die Wagen bequem darüber fahren konnten. Nun wurde noch in der Mitte eine vertiefte, drei Meter breite Rinne eingeebnet, die eine geeignete Fahrstraße bildete.
Mittlerweile waren die Italiener mit dem Gepäck eingetroffen und wurden sofort über die Brücke geschickt, während die anderen es vorzogen, auf ihren Ballonstelzen das Meer zu durchwaten, das am Ende der Landzunge nur fünfundzwanzig Meter tief war. Sie konnten mit wenigen Schritten hinübergelangen und ersparten sich die Mühe, die Stelzen besonders hinüberzuschaffen.
Plötzlich stieß Doktor Maibold einen gellenden Schrei aus: »Sehen sie dort, dort!« rief er schreckensbleich und deutete nach rechts ins Meer hinaus. Alle wandten sich dorthin und da wurde ihnen ein Anblick, der ihre Nerven aufs äußerste erschütterte: über den Meeresspiegel erhob sich ein Kopf, gleich dem eines Krokodils, nur geschmeidiger und von nie gesehener Größe, umwallt von einer weißen Mähne, so daß er sich auch mit einem riesigen Pferdehaupt vergleichen ließ. Aus dem aufgesperrten, wohl zwei Meter langen Rachen starrten drei Reihen scharfer Zähne; die grünschillernden, widerlichen Augen drängten sich gleich Kürbissen hervor. Und dieses unförmliche Haupt erhob sich höher und immer höher über dem Wasserspiegel und wiegte sich an einem Schlangenleib, der einem Urwaldbaum an Dicke glich und sich nach allen Seiten hin bog, neigte und wand in blitzschnellen Bewegungen.
Die ganze Tierwelt auf dem Wasserspiegel ergriff alsbald die Flucht; doch schon hatte das entsetzliche Gebiß einen Plesiosaurus geköpft, einen Ichthyosaurus mitten durchbissen und selbst von einem Uferbaum ein Megatherium gezerrt. Und nun zerriß es die gemordeten Opfer und verschlang ihre Leiber in großen Brocken.
Dieser unerfreuliche Anblick machte den Zuschauern große Lust, sich in eine minder belebte Gegend zurückzuziehen, und doch mußten sie durch dieses Schreckensmeer hindurch, wollten sie ihr Ziel erreichen. Die Erkenntnis der grausigen Gefahren, denen sie entgegengingen, ließ auch die Mutigsten unter ihnen erzittern, und nur der Baron und Mäusle waren nicht aus ihrer kaltblütigen Ruhe zu bringen. Eva ihrerseits schien mit mehr Neugier als Entsetzen das gräßliche Ungeheuer zu betrachten.
Schon war die Seeschlange mit ihrem blutigen Mahl zu Ende und wiegte ihr Riesenhaupt hoch über den Menschenzwerglein, ausspähend, was sie zunächst erhaschen solle.
Die Italiener und die Hunde auf der Brücke schienen am meisten gefährdet. Die mandschurischen Ponys scheuten und stürzten sich ins Meer. Das war ihr Verderben, denn dadurch erregten sie die Aufmerksamkeit des Ungeheuers, das sie rasch hintereinander verzehrte. Dies mochte die Rettung der Italiener sein.
Kapitän Münchhausen schien sich zuerst gefaßt zu haben: »Meine einzige Hoffnung ist die,« sagte er, »daß dies unangenehme Vieh so kleine Wesen, wie wir sind, nicht beachten wird.«
Maibold konnte trotz seiner Angst eine spöttische Bemerkung nicht unterdrücken: »Na!« meinte er: »Einen so fetten Brocken, wie Sie einer sind, wird es sich schwerlich entgehen lassen: seien Sie auf der Hut, Kapitän!«
»Bin ich auch,« brummte dieser: »Ich gehe keinen Schritt voran, ehe Sie nicht das abscheuliche Reptil unschädlich gemacht haben, und das können Sie ohne Sorge tun, da es bekanntlich für Sie überhaupt nicht vorhanden ist.«
Der Doktor bezeigte jedoch nicht die geringste Lust, mit dem so hartnäckig geleugneten Fabeltier anzubändeln; er getraute sich unter solchen Umständen nicht einmal, den Übergang zu unternehmen und begann, sich eiligst zurückzuziehen, da das Haupt der Seeschlange sich bedenklich der Stelle näherte, auf der er stand.
Münkhuysen hatte einen Alpenstock erfaßt und erhob sich mit seinem Flugzeug in die Lüfte. Er sah seine Gefährten in dringender Gefahr und war entschlossen, den Kampf mit dem Ungetüm aufzunehmen, obgleich ihm stürmische und flehende Rufe nachschollen, von solchem aussichtslosen Wagnis abzustehen.
Maibolds rasche Flucht schien der Schlange den Entschluß eingegeben zu haben, gerade dieses Menschenkind zum nächsten Opfer zu wählen. Sie streckte den Hals über die Landzunge, und schon glaubten alle den Flüchtling verloren, als der Baron gerade noch rechtzeitig die Spitze seines Stockes in das eine Auge des Reptils stieß. Zischend schoß die lange, gespaltene Zunge weit aus dem Rachen hervor, während Münkhuysen seine Waffe zu neuem Stoß zurückzog und dadurch mit deren Widerhaken das getroffene Auge völlig zerfetzte.
Alle sahen in starrer und ängstlicher Spannung dem Kampfe zu: das Entsetzen lähmte sie. Nur Mäusle bestieg seine Stelzen und rief: »Ein Schuft, wer unseren kühnen und opfermutigen Führer in seiner Bedrängnis im Stiche läßt!« Da raffte sich Ernst auf und folgte seinem Beispiel; Raimund und Holm taten desgleichen.
Im Augenblick, da das Auge des Untiers zerstört wurde, ging ein wütendes Schnauben aus seinem Schlunde, das gleich einem Sturmwind die Wipfel der Uferbäume umbog. Grünliches, schleimiges Blut quoll aus der Wunde, zugleich aber geschah etwas, das niemand für möglich gehalten hätte. Der Baron schwebte fast zwanzig Meter hoch über dem Scheusal und schickte sich an, mit seiner ebenso langen Lanze, als welche der Alpenstock gelten durfte, einen zweiten Stoß zu führen, womöglich in das andere Auge, — da fuhr das Reptil wie ein Blitz in die Höhe, so daß sein Kopf volle dreißig Meter über den Meeresspiegel ragte. Jedermann hatte geglaubt, es habe sich bisher schon so weit, als ihm möglich war, über das Wasser erhoben, und nun wuchs der Leib mit einem Schlag um das Dreifache empor! Wie lang mußte er sein, da er doch zum größten Teil im Wasser ruhen mußte!
Münkhuysen flog zur Seite; doch schon erfaßte der herabschießende Kopf mit seinem Gebiß einen der Flügel und zermalmte ihn knirschend und krachend: da hing der Baron, einer Mücke gleich, vollständig wehrlos in der Gewalt des Ungetüms.
Mäusle war schon ins Meer gestiegen, und Ernst folgte ihm klopfenden Herzens. Die Seeschlange hob das Haupt, um sein Opfer in den Schlund gleiten zu lassen, als Mäusle ihr rechtes, noch unverletztes Auge mit dem Widerhaken seiner langen Stange faßte und aufschlitzte. Das geblendete Tier stieß einen wütenden Pfiff aus und ließ den erfaßten Flügel los, so daß Münkhuysen ins Meer fiel, den Sturz durch die schwachen Bewegungen seines noch heilen Flügels mildernd.
Inzwischen waren zwei junge Seeschlangen aufgetaucht, etwa einen Meter dick, mit Köpfen größer als die ausgewachsener Krokodile, und Augen gleich stattlichen Äpfeln. Sie wanden sich an Ernsts und Mäusles Stelzen empor, und die beiden mußten sich diesen neuen Angreifern zuwenden. Als jedoch des Barons Leib ins Wasser klatschte, glitten die Schlangen rasch hinab, um sich des hilflosen Opfers zu bemächtigen.
Der Schwabe und der junge Frank hatten genug zu tun, sich der alten Schlange zu erwehren, die das Meer aufpeitschte und aufwühlte und mit ihrem Kopf so rasend hin und her fuhr, daß sie jeden Augenblick gewärtig sein mußten, von ihm getroffen und zerschmettert zu werden. Glücklicherweise war sie ja blind, und so gelang es den beiden Helden, ihr auszuweichen und ihr Kopf und Hals unaufhörlich mit kräftigen Stichen zu durchbohren.
Raimund und Holm waren dem Baron zu Hilfe geeilt und stachen auf die jungen und doch so riesigen Seeschlangen so heftig ein, daß diese ihre Absichten auf Münkhuysen aufgeben mußten, um sich der eigenen Haut zu wehren. Dies benutzten die Kameraden am Strande, um den völlig erschöpften und dem Ertrinken nahen Münkhuysen mit ihren Haken ans Ufer zu ziehen. Eva schwang einen Alpenstock, von dem man hätte meinen sollen, sie könne ihn kaum emporheben, und beteiligte sich tapfer am Rettungswerk. Die Aufforderung, sich in Sicherheit zu bringen, hatte sie mit Verachtung zurückgewiesen.
Ehe Münkhuysen geborgen war, tauchte eine dritte junge Schlange auf und wollte nach ihm schnappen. Dies wäre ihr sicher gelungen, und der Verunglückte wäre noch im letzten Augenblick verloren gewesen, wenn nicht Evas Geistesgegenwart, Behendigkeit und Furchtlosigkeit sein Leben gerettet hätte. Das junge Mädchen stieß ihre Lanze in den offenen Rachen. Der wohlgezielte Stoß drang so tief ins Fleisch, daß Eva die Waffe infolge des Widerhakens nicht mehr frei bekam, vielmehr riß die Seeschlange, zurückschießend, das kleine Fräulein, das den Schaft nicht losließ, ins Wasser.
Mäusle und Ernst Frank hatten nach heftigem Kampf die alte Seeschlange erledigt. Münchhausen und Neeltje hatten sie vom Ufer aus wacker unterstützt, jeden Augenblick benutzend, da sie Gelegenheit hatten, ihr eine Kugel in den Kopf zu senden, ohne Gefahr, die Kämpfer im Wasser zu treffen. Das Ungeheuer sank schließlich, vom Blutverlust erschöpft, ins Wasser zurück, und der Schwabe gab ihm den Rest, während Ernst sich nach neuer Arbeit umsah.
Da bemerkte er Evas Unfall und eilte ihr zu Hilfe. Das mutige Mädchen hielt immer noch ihren Alpenstock fest und wollte ihn nicht preisgeben. Die junge Seeschlange war mit dem festsitzenden Haken im Rachen wehrlos und strengte sich umsonst an, loszukommen. Als nun aber Ernst von seiner Stelzenhöhe aus ihren Kopf mit Stichen bearbeitete, machte sie einen neuen verzweifelten Versuch, der sie endlich befreite, wenn auch mit einer klaffenden Wunde im Schlund. Das Reptil zog es nun vor, im Wasser zu verschwinden, statt sich auf weitere Kämpfe mit diesen unbekannten Insekten einzulassen, die mit so scharfen Stacheln bewehrt waren und sie in solch empfindlicher Weise zu benutzen verstanden.
Eva schwamm nun mit ihrer Stange ans Ufer zurück, das sie triefend erkletterte.
Inzwischen tobte der Kampf auf dem Meere weiter, denn Raimund und Holm konnten sich nur mit Mühe der Bisse erwehren, mit denen sie beständig durch die beiden Reptile bedroht wurden, mit denen sie im Handgemenge standen, wenn man so sagen darf.
Mäusle und Ernst, die nunmehr freie Hand hatten, wollten ihnen beispringen, als plötzlich ein gewaltiger Flügelschlag daherrauschte. Das Geschöpf, das jetzt durch die Lüfte nahte, war wohl geeignet, neues Entsetzen hervorzurufen. Einen Vogel konnte man es nicht nennen: es war ein geflügeltes Reptil mit Schwingen von mehr als vier Metern Länge. Während Raimund und Holm zurückwichen, schoß das Ungetüm herab, schlug die mächtigen Krallen in den Hals der einen Schlange und flog mit ihr in den Fängen auf die andere zu, der es den Kopf abbiß.
»Das ist jetzt der richtige Drache, wie ihn uns die sogenannten Sagen schildern, der fliegende Lindwurm!« sagte Münchhausen zu Neeltje, die schaudernd dem neuen Kampfe zusah: »Ich möchte ihm nicht in die Klauen geraten oder gar zwischen die mörderischen Zähne!«
»Jetzt erst bewundere ich die Ritter, die sich in den Kampf mit einem Drachen wagten,« erwiderte Frau Mäusle.
»Nun,« meinte der Kapitän: »Solche tapfere Ritter haben Sie ja vor Augen, und Ihr Gatte ist noch der mutigste und erfolgreichste von allen.«
»Daß er ein Held ist, weiß ich, seit ich ihn kenne,« entgegnete Neeltje: »Sie hätten, wie ich, miterleben sollen, was er in Afrika geleistet hat, so daß sein Name bei Negern und Weißen in unsterblichem Ruhme erstrahlt. Ich sehe aber nun, daß es der todesmutigen Ritter noch mehr gibt, wenn auch keiner meinem Michael gleichkommen dürfte.«
»Es gibt auch noch eine andere Art von Helden, Maulhelden und Spötter,« sagte der Dicke, nach dem Doktor zurückblickend, der als einziger sich der Gefahr nicht ausgesetzt hatte und in sicherer Entfernung stand.
Jetzt erspähte Maibold den günstigen Augenblick: er sah, daß die Brücke zurzeit von keiner Seite her bedroht war, und rannte mit außerordentlicher Behendigkeit herbei, um über die gefährliche Strecke zu gelangen, solange kein Saurier und keine Seeschlange in der Nähe war.
Aber der Mann hatte Pech! Das geflügelte Reptil, das sich an den Seeschlangen gesättigt hatte, erspähte den flüchtigen Hasen, flog auf ihn zu und erfaßte ihn mit den fürchterlichen Klauen.
Mäusle war jedoch der Brücke nahe. Zwar konnte er den Drachen nicht erreichen, der sich anschickte, mit seiner Beute aufzufliegen, wohl um sie seinen Jungen als Abendbrot vorzusetzen, doch warf er seinen Alpenstock gleich einem Wurfspeer so wuchtig und glücklich, daß dieser den einen Flügel durchbohrte und schwer daran hängen blieb. Trotzdem vermochte das gewaltige Reptil sich in die Luft zu erheben, wenn auch nur mühsam.
Ernst war herbeigeeilt und der Schwabe entriß ihm schnell seinen Stock. Im nächsten Augenblick haftete auch diese zweite Lanze im Flügel. Jetzt ließ der Lindwurm den Doktor fahren, da er diese Last nicht mehr emporzutragen vermochte, und flatterte zum drittenmal auf, da der zweite Lanzenwurf ihn wieder hatte zurücksinken lassen.
»Holla! Er will uns unsere kostbaren Alpenstöcke entführen!« rief Mäusle: »Wurfspieße her!«
Holm und Raimund, die nun ebenfalls herbeigekommen waren, reichten ihm bereitwilligst ihre Stöcke, da sie sich bewußt waren, sie nicht so sicher handhaben zu können, wie der Schwabe.
Der Drache dachte aber nicht an Flucht, sondern offenbar an blutige Rache.
Trotz der beiden zwanzig Meter langen Stangen im linken Flügel flog er heran. Doch ein drittes Wurfgeschoß lähmte seinen Fittich, so daß er auf den Wasserspiegel sank, wo ihm der vierte Speer den Hals durchbohrte. Tot war er noch nicht, allein jetzt schossen Neeltje und Münchhausen auf ihn und durchlöcherten mehrfach seinen Kopf, bis sein rasendes Umsichschlagen nachließ.
»Ist der Kerl wohl tot?« fragte Mäusle und nahte sich dem Unhold.
»Bleiben Sie, bleiben Sie, tollkühner Mensch!« rief ihm Raimund warnend und besorgt zu, denn der Lindwurm erhob den rechten Flügel.
»Ach was!« erwiderte der Schwabe kühl: »Mit einem Flügel kann er nicht fliegen und unsere Alpenstöcke müssen wir ihm wieder abnehmen. Heda, Fräulein Eva, Sie Wassermaus, reichen sie mir den Ihrigen.«
Eva, die allerdings einer triefenden Maus nicht unähnlich sah, streckte ihm ihren Stab hin und Mäusle zog mit dem Haken das immer noch zappelnde Getier ans Ufer. Dort stieg er von den Stelzen herab und riß die Lanzen aus dem endlich regungslosen Körper.
Der Baron hatte sich wieder erholt, und nun begaben sich alle über die Baumbrücke ans andere Ufer, solange die durch das Erscheinen der Seeschlangen verscheuchten Saurier noch ferne blieben.
Drüben stand Maibold bei den Wagen. Er war wieder ganz munter, da er jede augenblickliche Gefahr beseitigt sah und sich inzwischen auch gründlich gestärkt hatte mit Speise und einer Flasche Wein. Eigentlich hätte er sich bei Mäusle bedanken sollen, dessen mutiges Eingreifen ihn zweimal aus dringendster Lebensgefahr errettet hatte, mit Einsetzung des eigenen Lebens; doch dachte er nicht mehr daran, das heißt, an die überstandene Gefahr dachte er wohl zeitlebens, nur das vergaß er, daß er dem Schwaben sein Leben verdankte.
»Sie können Gott danken, daß Sie mit einigen Schrammen davongekommen sind,« sagte Mäusle: »Oder haben die Drachenklauen Sie ernstlich verwundet?«
»Nicht der Rede wert! Ich habe die kleinen Löcher schon verpflastert und verbunden.«
»Also danken Sie Gott, sage ich noch einmal, denn die Sache hätte schlimm für Sie ablaufen können, da Sie an keine Gegenwehr dachten.«
In seiner alten Art wollte der Doktor durch spöttische Überlegenheit imponieren, nachdem er sich so kläglich benommen hatte: »Gott danken?« sagte er: »Die moderne Wissenschaft hat erwiesen, daß es einen Gott nicht gibt und alles sich allmählich aus dem ewigen Stoff nach ewigen Naturgesetzen entwickelt hat. Wer aus der Höhe des Fortschritts und der Ergebnisse der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse steht, kurzum, wer gebildet sein will, glaubt an keinen Gott, noch an biblische Ammenmärchen mehr.«
»Meinetwegen glauben Sie an ewige Naturgesetze, die sich selbst erfunden und aufgestellt haben, und an einen ewigen Stoff, der sich von selber ohne Verstand und Leben zum geordneten Weltsystem entwickelte. Wenn Sie jedoch meinen, dieser kindliche Glaube sei das Ergebnis neuester wissenschaftlicher Forschungen, so haben Sie dies Ihren mangelhaften Kenntnissen zuzuschreiben. Lesen Sie doch einmal den vierzehnten Psalm, so werden Sie finden, daß Ihr Glaubensbekenntnis schon mehrere Tausend Jahre alt ist, also keinesfalls als Fortschritt gerühmt werden kann, denn schon dort heißt es: »Die Toren sprechen in ihrem Herzen, es ist kein Gott!« übrigens ist meine persönliche Überzeugung die, daß es wohl keinen Menschen auf Erden gibt, der wirklich so einfältig ist, zu glauben, die ganze Welt sei von selbst entstanden, während er jeden auslachen würde, der behaupten wollte, ein elender Stuhl oder ein erbärmlicher Tisch sei das Ergebnis einer ursachlosen Entwicklung. Wer behauptet, er glaube an keinen Schöpfer, tut dies nur, weil er an keinen Gott glauben will, weil ein solcher Glaube ihm unbequem wäre. Im tiefsten Innern ist er, meiner Überzeugung nach, seiner Sache durchaus nicht gewiß. Und eben deshalb nennt die Schrift solche Gottesleugner »Toren«. Sie gleichen dem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, denn sie leben im Wahn, durch ihr Leugnen den ihnen so unbequemen Gott und das ewige Gericht aus der Welt schaffen zu können. Was kann sie das helfen? Gott ist doch da, und wird auch sie zur Rechenschaft ziehen. Ihre Torheit ist nur ihr eigener Schade und ihr Verderben. Darum dauern mich diese Ärmsten im tiefsten Herzen, die sich so schwer selbst betrügen. Aber eines dürfen Sie sich sagen, wenn ich an keinen Gott glaubte, so würde ich mein kostbares Leben ängstlicher in acht nehmen, wie Paulus sagt: dann wäre die beste Weisheit »lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!« Keinesfalls wäre ich dann so unvernünftig gewesen, mich um Ihre Lebensgefahr zu kümmern. Wenn Sie also zu gebildet sind, um Gott zu danken, der Ihr Leben schützte, so danken Sie der toten Natur, an die Sie glauben, daß es noch Menschen gibt, die am Gottesglauben festhalten.«
Der Schwabe hatte dies in ehrlicher Entrüstung gesprochen, weil er am allerwenigsten leiden konnte, wenn sich einer mit seinem Unglauben brüstete, als sei der Blödsinn eine höhere Stufe der Weisheit.
Bei den letzten Worten war Eva herangetreten, die sich im ersten aufgeschlagenen Zelte umgezogen hatte, um aus den nassen Kleidern zu kommen. Sie wandte sich nun auch an den etwas kleinlaut gewordenen Doktor, indem sie sprach: »Darf ich mir gestatten, Sie daran zu erinnern, daß ich Ihnen ein Zusammentreffen mit der Seeschlange vorhersagte. Sie glaubten jedoch nur an ein Gemenge von Seetang? Wie konnten Sie doch heute vor einem Gewirr von Algen sich fürchten, während die anderen es furchtlos bekämpften? Glauben Sie nicht, Herr Doktor, ich wolle mir herausnehmen, Sie zu tadeln, es würde mich bloß interessieren, Ihre Gründe zu hören.«
»Die Sache ist einfach,« erwiderte Maibold unwirsch: »Ich habe die Seeschlange gesehen und nach den Beschreibungen erkannt. Ich glaube daher als vernünftiger Mensch an die Seeschlange...«
»An die Sie bisher als vernünftiger Mensch nicht glaubten,« fiel Schulze ein, der auch herbeigekommen war, nachdem er während des aufregenden Kampfes treulich und eifrig mit seiner nie fehlenden Büchse unzähligemal vorbeigetroffen hatte.
»Jawohl!« sagte Maibold ärgerlich: »Aber an das Einhorn und andere Fabeltiere glaube ich als vernünftiger Mensch nun und nimmermehr!«
Das Ufer war auf dieser Seite nur im Osten mit Wald bestanden, westlich dagegen zeigte sich eine weite, sanftansteigende Ebene, und hier, in sicherer Entfernung vom Strande und vom Wald wurden die Zelte aufgeschlagen und mit einem Schutzwall umgeben. Die heutigen Anstrengungen und Aufregungen machten eine frühe Rast notwendig, und nach einem kräftigen Imbiß begab man sich bald zur Ruhe.
Am anderen Morgen ging es weiter, über einen Hügelrücken weg und dann wieder auf lieblichen, mäßig ansteigenden Wiesen auswärts. Nur einzelne Baumgruppen unterbrachen die Prärie. Aber was für eine herrliche Gegend war das! Alle erklärten, noch nie in ihrem Leben einen Anblick genossen zu haben, der sich irgendwie an Reizen und Wundern mit dieser Landschaft hätte vergleichen lassen. Hier, wo die Pflanzen sich seit Vorzeiten unter günstigen Bedingungen ungestört entwickelten, erreichten sie einen geradezu fabelhaften Umfang, und ihre Blüten strahlten in märchenhafter Farbenpracht. Die Stengel der Gräser und Blumen glichen jungen Baumstämmen und die Blumen selber hatten meist so ungeheuer große Kelche, daß sich ein Mann bequem darin verbergen konnte. Unbeschreiblich lieblich und beinahe betäubend war der Duft, der diesen Gefilden entströmte.
Eine milde Wärme umspielte unsere Freunde, die schon lange ihre Pelze abgelegt und an die Stelzen gebunden hatten; ein frischer, salziger Wind wehte kühlend vom Meere her, kurz, es war ein wahres Paradies, das sie durchwanderten. An Vierfüßlern sah man hier nur Schafe, Antilopen und ähnliche harmlose Geschöpfe, allerdings sämtlich von unerhörter Größe; mächtige Vögel mit glänzendem Gefieder und strahlenden Farben erfreuten das Auge sowohl, wie auch das Ohr, so daß sogar der wenig musikalische Professor Raimund äußerte: »Im Vergleich mit diesen paradiesischen Tönen, erscheint selbst Nachtigallenschlag wie das eintönige Gezwitscher der Sperlinge!«
Am meisten entzückten jedoch die Riesenschmetterlinge, die nicht in beständig flatterndem Flügelschlag sich fortbewegten, wie ihre kleinen Artgenossen im Norden, sondern gleich Vögeln schwebend die Luft durchschnitten, nur von Zeit zu Zeit sich flatternd in der Höhe haltend oder höher steigend. Ihre Flügel erreichten bis zu drei Meter Spannweite und wiesen eine Farbenpracht und Feinheit der Zeichnung auf, die wirklich traumhaft erschienen. Und wie anmutig wiegten sie sich auf den bunten Blumenkelchen, deren Größe der ihrigen so harmonisch entsprach, daß der Eindruck des Ungeheuerlichen den Genuß des Auges nicht zu beeinträchtigen vermochte!
Wie wohl tat der Friede dieser Märchengefilde nach den kaum überstandenen Schrecken des Urweltmeers!
Mitten in dieser köstlichen Ebene stieß der Wanderzug auf einen Streifen erstarrter Lava.
Er ging aus von einer fernen Hügelkette, die ziemlich niedrig erschien, und zog sich hin bis zum Meer der Schrecken, wie das Binnenmeer genannt worden war.
Die Karawane folgte diesem schwarzglänzenden Walle bis zu den Höhen, die sämtlich vulkanischer Natur zu sein schienen: es waren Bergkegel von kaum achtzig bis hundert Meter Höhe, die alle durch etwas niedrigere Sättel miteinander verbunden waren und, wie sich später erwies, einen ziemlich regelmäßigen Kreis bildeten, der einen Durchmesser von zehn Kilometern haben mochte. Man zählte in der Folge dreiundsechzig dieser kleinen feuerspeienden Berge, von denen viele zurzeit in Tätigkeit waren und hie und da Rauchwolken, zuweilen auch Feuergarben ausstießen. Andere schienen erloschen oder doch wenigstens gegenwärtig in Ruhe zu sein. Die tätigen arbeiteten offenbar ruhig und regelmäßig. Von jedem zogen sich Lavastreifen zum Meer der Schrecken, das sie in einem weiteren Kreise umschloß.
Am Fuße der Vulkankette wurde das Lager aufgeschlagen, denn Münkhuysen erklärte, der Ring dürfe erst überschritten werden, wenn die ganze Gesellschaft beieinander sei, denn hier erwartete er die wichtigste Entdeckung der Forschungsreise.
Holm stellte nun eine genaue Berechnung an, die ergab, daß sich der Südpol ungefähr im Mittelpunkt des Hügelkreises befinden müsse, und diese Tatsache bestätigte schon zur Genüge die Richtigkeit der Vermutung des Barons, denn welche wichtigere Entdeckung konnte gemacht werden, als eben diejenige des Pols?
Alle brannten vor Begierde, die Höhen zu ersteigen, um den ersehnten Anblick zu genießen, von dem niemand wissen konnte, wie er ausfallen werde; aber sie zügelten ihre Ungeduld, weil Professor Schulze mit den Italienern noch zurück war. Er hatte nämlich seine Ballonstelzen dem Baron abgetreten, dessen Flugzeug vorerst unbrauchbar geworden war.
An der Stelle des Lagerplatzes war der Sattel, der die beiden nächstliegenden Vulkane verband, über sechzig Meter hoch, so daß auch von der Höhe der Stelzen nicht darüber hinweggesehen werden konnte; doch sah man, wenn man die Stelzen bestieg, in ziemlicher Entfernung eine Säule emporragen, die den Mittelpunkt des Kreises bezeichnen mochte.
»Das ist die Erdachse!« erklärte Kapitän Münchhausen mit Bestimmtheit.
»Aber, mein Lieber!« sagte Maibold überlegen, denn er verfiel immer noch in den Fehler, Münchhausens Scherze für Ernst zu nehmen: »Was haben Sie für eine Vorstellung von der Erdachse! Dieselbe ist doch bloß eine gedachte Linie und kein wirklicher Gegenstand!«
»Was?!« eiferte der Kapitän, »die Wissenschaft nimmt an, daß die Erdachse eine Art Balken ist und am Nord- und Südpol etwas über die Erdoberfläche emporragt! Und sollte die Wissenschaft das nicht annehmen, so irrt sie, denn es ist doch für den gesunden Menschenverstand klar, daß die Erde sich um eine wirklich vorhandene Achse drehen muß. Ist die Drehung der Erde etwa nur eine eingebildete? Nein! Also muß auch die Achse vorhanden sein. Übrigens war ich ja, wie Sie wissen, schon einmal am Südpol, und kenne die Sache genau. Wenn ich nicht gewußt hätte, welcher fabelhaften Zweifelsucht man bei euch sogenannten »Männern der Wissenschaft« begegnet, hätte ich voraussagen können, welch herrliches Stück Urwelt und welche fabelhaften Geschöpfe in diesen Breiten anzutreffen sind.«
Bis die Kameraden eintrafen, wollte man einen Ausflug unternehmen, am Fuße der Hügelkette hin, und zwar zu Fuß, um nicht mit einem Blick in die Geheimnisse des Kreises von der Höhe der Stelzen aus den Zurückbleibenden und Professor Schulze zuvorzukommen. Die Wanderung bot keine Hindernisse, denn die glühenden Lavastreifen, die von den tätigen Vulkanen ausgingen, erwiesen sich alle so schmal, daß sie gefahrlos übersprungen werden konnten.
An einem besonders niedrigen Bergsattel konnte die vorhin erblickte Säule genauer betrachtet werden. Sie war etwa hundert Meter hoch und konnte zwanzig Meter im Umfang messen. Sie reizte die Neugier der Wanderer aufs äußerste, und es gehörte viel Selbstüberwindung dazu, sich den Aufstieg um der Freunde willen zu versagen, statt die Geheimnisse des inneren Kreises zu erkunden.
Als unsere Freunde von ihrer kurzen Wanderung ins Lager zurückkehrten, fanden sie Schulze mit den Italienern und den Hundewagen schon eingetroffen. Auch die Mahlzeit stand dampfend bereit, die man einnehmen wollte, ehe der große Schritt über die Berge unternommen wurde, denn Münchhausen sagte mit Recht: »Es taugt nichts, wenn wir unsere großen Entdeckungen mit leerem Magen machen wollen: nur wohlgesättigt und gut ausgeruht werden wir einen ungetrübten Genuß davon haben.« So wurde gelagert und getafelt.
Während des Essens kam das Gespräch auf das Paläoskop, und der Kapitän bemerkte: »Es ist allbekannt, daß feste Stoffe die Lichtwellen nicht durchlassen, es sei denn, daß sie durchsichtig wären. Aber auch im letzteren Falle verschlucken sie einen Teil der Wellen oder absorbieren sie, wie der Mann der Wissenschaft sagen würde, der die deutsche Sprache als unwissenschaftlich verachtet. Auch die Schallwellen werden nicht ungeschwächt durch den Stoff weiter geleitet. Ich schließe daraus, daß die festen Stoffe die Schallwellen und noch vollkommener die Lichtwellen zurückhalten und aufspeichern, und zwar in endloser Fülle: da harren denn Licht und Ton auf ihre Erlösung. Zweifellos wird man noch ein Mittel entdecken, diese Wellen frei zu machen und phonographisch und radiographisch für alle Zeiten festzuhalten: »jede Zimmerwand, jedes Möbelstück, jeder Stein muß uns dann alles offenbaren, was er durch die Jahrtausende geschaut und gehört hat, ja die Steine werden reden und uns erzählen, was sich je in ihrer Nähe begeben hat: was laut wurde, wird durch sie wieder laut werden, und was sichtbar wurde, wird uns wieder deutlich zu Gesichte kommen, so daß wir Augen- und Ohrenzeugen der Vorgänge aller Zeiten werden.«
»Diesmal glaube ich, der Kapitän hat einen glaubwürdigen Gedanken ausgesprochen,« meinte der Baron, »und er eröffnet uns damit ungeahnte Aussichten.«
Dann sprach man von den zu erwartenden Entdeckungen und der rätselhaften Säule, die Münchhausen für die Erdachse erklärt hatte.
Münkhuysen war nachdenklich geworden und sagte dann plötzlich: »Eva, ich fange an zu glauben, daß du auf irgend eine geheimnisvolle Weise zu Kenntnissen gelangt bist, die uns abgehen. Du hast vorhergesagt, wir würden ein warmes Land mit herrlichen Auen und Wäldern entdecken, wie wir es tatsächlich fanden. Auch der Kranz von Bergen ist da, den du erwähntest, und die steinernen Blumen sehen wir schon an der geheimnisvollen Säule. Ich würde mich nun kaum mehr wundern, wenn auch der letzte Teil deiner Prophezeiung sich als Tatsache herausstellte, und wir im inneren Kreis dieser Vulkane eine tote Stadt mit versteinerten Menschen entdeckten.«
»Das ist nicht schön von dir, Papa,« schmollte das Mädchen, »wenn du je an meiner Aussage gezweifelt hast! Übrigens schauet einmal dorthin: nun muß wohl der hochverehrte und hochgelehrte Herr Doktor, der die Seeschlange, an die er nicht glauben wollte, wissenschaftlich studieren konnte, während wir mit ihr kämpften, auch noch an das Einhorn glauben müssen, so heilig er gestern noch schwur, sein Dasein niemals zuzugeben, so wenig wie dasjenige anderer Fabeltiere.«
Alle blickten nach der angegebenen Richtung und Maibold rief aus: »Ich bekenne mich geschlagen, ich gestehe öffentlich, daß ich ein Tor und ein Einfaltspinsel gewesen bin, und erkläre fortan jeden Zweifler für ebensolche! Was mich betrifft, so schwöre ich jetzt feierlich, an alle Lindwürmer, Drachen und Basilisken zu glauben; ich bin der festen Überzeugung, daß es Meerbischöfe, Meerfräulein, Seeteufel und Waldteufel gibt, meinetwegen auch Zentauren, Nymphen und Faune, Feeen und Elfen und was Sie wollen. Ich stehe ein für die Wirklichkeit des Vogels Rock und des Phönix, sowie der siebenköpfigen Hydra: ich bin blamiert, aber ich will mich nie wieder durch Unglauben blamieren!«
Diese übertriebenen und sicher nicht ernst gemeinten Versicherungen des Spötters hatten wohl nur den Zweck, einigermaßen zu verschleiern, wie schwer er wieder einmal mit seiner blöden Zweifelsucht hereingefallen war. Sie wurden veranlaßt durch den Anblick eines in der Ferne friedlich weidenden Tieres, das einem Pferde von mehr als natürlicher Größe glich, und auf der Stirne ein gerades Horn trug, ähnlich dem Stoßzahne eines Narwals und weit über einen Meter lang.
Dies war übrigens das einzige gefährliche Tier, wenn es überhaupt gefährlich war, das man in dieser paradiesischen Flur zu Gesichte bekam: alle die schrecklichen Ungeheuer der Urwelt schienen sich in den Urwäldern und im Binnenmeere aufzuhalten.
Was aber würde man nun noch entdecken, dort hinter den Vulkanen, die den Südpol umschlossen? Unsere Freunde hatten sich lange genug Zurückhaltung auferlegt, jetzt aber war der große Augenblick gekommen! Sie brachen auf und erstiegen gleichzeitig die Anhöhe mit raschen Schritten, von der Neugier beflügelt.
Kaum hatten sie den Sattel erreicht, entrangen sich Ausrufe staunender Bewunderung aller Lippen, denn der Anblick, der sich nun zu ihren Füßen zeigte, überbot an Pracht und Seltsamkeit alles, was sie jemals geschaut hatten!
Da ragten steinerne Paläste empor, reich an blumenumwundenen Säulen. Die Blumengewinde waren sämtlich aus dem Stein der Säulen gemeißelt und trotz ihrer Riesengröße so zart und durchsichtig und in so frischen, naturgetreuen Farben leuchtend, daß man sie für echte, kaum gepflückte Blumen halten konnte. Hallen und Vorhallen, Torbogen, Mosaikfußböden auf Terrassen und flachen Dächern, zierliche Fenster und Türmchen, schlanke Pfeiler und durchbrochene Geländer zeugten von einer hochentwickelten Kunst, der die alte Welt auch nicht entfernt Gleichwertiges an die Seite stellen könnte.
Von Häusern konnte man hier gar nicht reden: es waren lauter Schlösser und Paläste von mehr als königlicher Pracht, die das ganze weite Tal um den Südpol her ausfüllten.
»Das ist die Tote Stadt!« sagte Eva: »So wird sie von denen genannt, die sie kennen.«
»Ja, eine tote Stadt war es, trotz ihrer lebensvoll strahlenden Farben und der Unversehrtheit ihrer Bauten, die beinahe neu erschienen; tot, denn in dem Meer von blühendem Stein regte sich kein Leben, und dennoch lebendig, weil die blumenreichen Steine selber voller Leben schienen.
Die Hauptstraßen der Stadt, obgleich sie nicht geradlinig verliefen, vereinigten sich doch alle auf dem großen Platz, auf dem die hohe Säule ragte, deren Spitze zuerst erschaut worden war. Sämtliche Straßen waren gepflastert, und zwar ebenfalls mit buntfarbigen, glänzenden Steinen. Die Farbenpracht war ganz unbeschreiblich. Bei den meisten Häusern herrschte eine bestimmte Farbe vor: Rot, Blau, Violett, Gelb, Orange, Grün, Weiß, Schwarz, Silbergrau, Braun — ein bunter Anblick von entzückender Wirkung. Bei anderen hatte jedes Stockwerk seine besondere Farbe, und wieder andere strahlten in allen Regenbogenfarben, überall aber war das Gesamtbild ein vollkommen harmonisches. Einzelne Paläste waren aus Gold, Silber und Bronze erbaut, bei manchen fanden sich verschiedene Edelmetalle künstlerisch vereint. Ganz feenhaft aber erschienen Bauten aus glitzerndem Bergkristall und aus Glas, mit bunten Edelsteinen aufs reichste verziert. Auch verschiedenfarbiges Glas hatte da und dort Verwendung gefunden und offenbarte seine besonderen Reize.
Nachdem sich unsere Freunde von ihrem ersten Staunen etwas erholt hatten, sagte Münkhuysen: »Es gibt nichts Neues unter der Sonne! so spricht der Prediger im Alten Testament; denn Ben Akiba, der von den Halbgebildeten so viel zitiert wird, ist nicht der erste, der diesen Gedanken aussprach. Für uns ist freilich der Anblick dieser uralten Stadt etwas Neues — aber wir gedachten, als die ersten Sterblichen den Südpol zu schauen, und nun sehen wir, daß er in grauer Vorzeit schon bekannt, ja bewohnt war. Und diese Stätte herrlicher Baukunst, muß sie nicht unsere Eitelkeit beschämen? Predigen uns nicht diese leuchtenden, unvergänglichen Farben: vor Jahrtausenden stand die Menschheit auf einer viel höheren Kulturstufe als heutzutage, und die Kultur schreitet nicht mit Riesenschritten vorwärts, sondern: bergauf — bergab, das ist die Geschichte der menschlichen Entwicklung!«
Langsam und in schweigender Ehrfurcht schritten unsere Freunde den sanft geneigten Hang hinab und betraten die Märchenstadt. Aber neue Wunder erwarteten sie hier! Überall standen und saßen in den verschiedensten Stellungen lebensfrische Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen, Kinder und Greise von solch vollendeten Körperformen und solch herrlichen Gesichtszügen, daß kein Volk der Erde, weder in der Gegenwart noch in dem uns bekannten Altertum, sich ähnlicher Schönheit rühmen könnte. Und das alles waren tote Steinbilder, doch bemalt mit unverwüstlichen, leuchtenden Farben!
»Jetzt, Eva,« sagte Münkhuysen, als erster das Schweigen brechend, »haben wir alle deine Sehergabe bewährt gefunden; denn hier erschauen wir auch die steinernen Menschen deiner Toten Stadt. Nun aber erkläre uns endlich, wieso du das alles so genau vorherwissen konntest? Du kannst doch diese Gegend und diese Stadt nicht etwa in einem Traumbild geschaut haben?«
Eva lachte herzlich. Wer hätte geahnt, daß es das letztemal sein sollte, daß sich ihr schelmisches, silbernes Lachen hören ließ! »Papa,« rief sie, »ich will deine Neugier nicht länger auf die Folter spannen, wenn ich dabei auch den Nimbus einer Prophetin einbüße. Es ist doch zu gelungen, daß weder du, noch einer der gelehrten Herren zu Hause darauf kam, durch das Paläoskop zu erkunden, wie es am Südpol aussieht! Ich habe ganz einfach daran gedacht und mir den Südpol, wie er ist, herangedreht. Ernst habe ich's gezeigt, sonst wußte niemand darum.«
»Blitzmädel!« rief Münkhuysen: »Da warst du freilich praktischer als wir alle. Fabelhaft, daß ich daran nie gedacht habe! Wie ganz anders wären wir auf diese Reise vorbereitet gewesen, wenn wir alles zuvor mit dem Paläoskop untersucht hätten. Dennoch danke ich dir besonders, wie auch Herrn Frank, daß ihr das Geheimnis wahrtet, denn unsere Entdeckungsfahrt hätte unendlich viel an Reiz eingebüßt, wenn sie uns keine Überraschungen geboten hätte, weil wir alles zuvor wußten.«
»Das dachte ich mir,« sagte Eva, »und deswegen taten wir so geheimnisvoll, übrigens, die Schrecken des Urwaldes und des Meeres waren uns auch unbekannt; nur ein Einhorn hatte ich durchs Paläoskop schon gesehen. Unsere Freude aber war, daß wir etwas wußten, von dem ihr noch keine Ahnung hattet.«
Inzwischen wurde die Wanderung durch die ausgestorbene Stadt fortgesetzt.
»Sehen Sie, wie malerisch diese Stadt angelegt ist,« bemerkte der Baron: »Die Straßen verlaufen nirgends in der öden, langweiligen und geistlosen geraden Linie: überall ruht das Auge auf einem entzückenden Abschluß aus, überall wird die Phantasie angeregt durch die Neugier, was sich wohl hinter der nächsten Biegung verberge. Die Alten wußten so gut, wie wir, daß die gerade Linie der kürzeste Weg ist, aber besser als wir Modernen erkannten sie auch, daß sie der Tod aller Schönheit, allen Reizes ist.«
»Aber auch praktisch ist ihre Anlage,« fügte Mäusle hinzu: »Ganz nach den wissenschaftlichen Grundsätzen, die Vitruv schon vor zweitausend Jahren uns überlieferte: die Gassenfluchten sind nämlich stets in der Halbierungslinie des Winkels zwischen zwei herrschenden Windrichtungen angelegt, so daß kein Wind mit seiner vollen Stärke sie durchfegen kann. Die Mißachtung dieser einfachen Gesundheitsmaßregel, die beim heutigen Städtebau aus Unwissenheit und Gleichgültigkeit völlig außer acht gelassen wird, tadelt Vitruv an der Stadt Mytilene auf Lesbos, die zwar prächtig und fein gebaut sei, aber unklug angelegt. Aus diesem Grunde seien die Einwohner bei Südwind alle krank, bekämen den Husten bei Nordwestwind, und der Nordsturm, der zwar gesund sei, mache wegen seiner Heftigkeit und Kälte den Aufenthalt in den Straßen unerträglich.«
Überall befanden sich Inschriften in der Sprache und den Zeichen der geheimnisvollen Botschaft, die Ernst stets in der photographischen Nachbildung bei sich trug, zusammen mit der zweiten Kunde in der Urschrift.
Vorerst ließen sich diese Inschriften nicht entziffern, doch wurden sie fleißig photographiert.
Die Krater der Vulkane rings umher waren gegen die Stadt zu mit hohen Schutzmauern versehen, offenbar um die Lava nach dem Meere der Schrecken hin abzuleiten und sie zu verhindern, sich nach innen zu ergießen, wo sie der Stadt und ihren Einwohnern hätte verderblich werden können.
Zahlreiche Vögel, vor allem Kaptauben, belebten die Öde der Stadt, und letztere wurden von Eva, Ernst und Mäusle verständnisinnig begrüßt: sie weckten den Gedanken an die geheimnisvolle Prinzessin, die nun zweimal einen solchen Vogel als Boten erwählt hatte. Wo mochte sie weilen und würde man sie finden? Es schien ja außer den Vögeln kein lebendes Wesen sich in diesen Mauern aufzuhalten.
Zuweilen schoß ein Sturmvogel oder eine Skuamöve in hoher Luft vorbei nach Norden. Jede Himmelsrichtung war ja hier Norden.
Einmal stieß ein großer Raubvogel herab und packte eine Möve. Mäusle schoß auf ihn, und er fiel mit seiner Beute gerade vor des Schwaben Füße: »Das ist der Falke!« flüsterte der Schütze seinen Mitverschworenen zu: »Jetzt ist mir auch diese Stelle der Geheimbotschaft klar. Ein solcher Raubvogel überbrachte der Prinzessin die Skuamöve, der Sie Ihre Zeichnung anvertrauten, Fräulein Eva, sonst wäre sie wohl nie in ihre Hände gelangt.«
»Atlanta, ich werde dich finden und wir werden dich erlösen!« sagte Eva leise aber bestimmt und zuversichtlich.
So ging es unter beständigem neuen Staunen und Bewundern durch die Straßen und Gassen der schweigenden Stadt ihrem Mittelpunkte zu.
Eva war ein wenig zurückgeblieben und Ernst Frank blickte sich nach ihr um, ehe er, den anderen nach, in die nächste Straße einbog. Als das Mädchen ihn warten sah, kam es herbei, neigte das rosige Mündchen zu seinem Ohr und flüsterte leise, als könnten die anderen es sonst hören: Du! Denke nur, ich habe meine Puppe verloren! Ich bog vorhin dort in die Seitengasse ein, um die schönen Steinbilder genauer zu betrachten, die ich darin erblickte. Schon von weitem ganz in den reizenden Anblick versunken, achtete ich nicht auf den Weg. Da stolperte ich und geriet mit einem Fuß in eine Öffnung im Pflaster, die wahrscheinlich in einen Abwasserkanal führt, denn ich sah einen dunkeln Gang gähnen, der schräg hinab unter die Erde führte. Dort muß mir die Puppe entfallen sein, die ich unter meiner Bluse trug, an meinem Herzen. Eben erst habe ich den unersetzlichen Verlust bemerkt und gehe, sie holen.«
Sie sagte dies jetzt laut mit schelmischer Stimme, denn sie sah, daß niemand mehr in der Nähe war. O diese liebe, lustige Silberglockenstimme! Wie lange hallte sie noch in Ernsts Ohren nach, als er sie nicht mehr vernehmen durfte!
Natürlich wollte er Eva begleiten und ihr suchen helfen; aber sie bat ihn, rasch die übrige Gesellschaft einzuholen und die Herren zu unterhalten, damit ihr Zurückbleiben nicht bemerkt werde. »Ich bin ja gleich wieder da,« fügte sie hinzu: »Es soll niemand wissen, daß ich mein Püppchen immer so bei mir trage. Ich muß es doch sofort wieder finden, und in der ganzen Stadt ist ja kein lebendes Wesen außer uns und den Vögeln auf den Dächern: Schutz brauche ich also keinen.«
Das waren die letzten Worte, die Ernst aus Evas Mund vernahm. Er glaubte, es lasse sich nichts dagegen einwenden und tat ihr den Gefallen, vorauszueilen. Wie bitter bereute er das hernach, als es leider zu spät war!
Bald war der Hauptplatz in der Mitte der Stadt erreicht, und Münkhuysen nahm wieder das Wort: »Sehen Sie, meine Herren,« sagte er: »Wie groß ist doch dieser Platz, und trotzdem, welch traulichen, anheimelnden Eindruck erweckt er! Nach allen Seiten hin scheint er abgeschlossen, nirgends sieht man in eine Straße hinein, so viele ihrer auch hier münden. An einzelnen Stellen dringt der Blick in diese Mündungen, aber nie mehr als in eine aus einmal, und dann verliert er sich nicht in einer endlosen Zufahrt, sondern findet auch hier sogleich einen wohltuenden Abschluß, weil die Straßen nicht geradlinig verlaufen. Keine gähnende Leere lenkt das Auge von den herrlichen Bauten ab, die den Platz umkränzen. Und das ganze Geheimnis dieser anmutenden und wahrhaft künstlerischen Wirkung ist, daß die Zugänge alle in verschiedener Richtung auf den Platz münden, einander nirgends gegenüberliegen und daß die Verlängerung ihrer Linien nirgends seinen Mittelpunkt schneidet, so daß dieser vom Verkehr unberührt blieb und ein ungestörtes Sichversenken in all die Schönheit ringsum ermöglichte. Auch haben die kunstsinnigen Erbauer die Brunnen, Säulen und Denkmale nicht aus die Fläche verlegt, sondern an ihre Ränder, so daß sie selber frei blieb und unbehinderte Ausschau nach allen Seiten gestattet; darum wirkt auch die Pracht des Hintergrundes so ruhig und umso überwältigender.«
An dem einen Ende dieses großartigen Platzes ragte die bekannte hohe Säule, umgeben von einem kunstvoll gearbeiteten Gitter aus gediegenem Golde. Es stellte sich bald heraus, daß diese Säule den genauen Punkt des Südpols bezeichnete, und der Kapitän also gar nicht so unrecht hatte, sie als die Erdachse zu bezeichnen, abgesehen davon, daß sie eben nur auf dieser ruhte und nicht die Erde bis zum Nordpol durchdrang.
Mit dem erhebenden Gefühl, ein langersehntes Ziel erreicht zu haben, näherten sich unsere Freunde diesem außerordentlichen Wahrzeichen.
»Hier, meine Herren, ist die Erdachse,« erklärte Kapitän Münchhausen feierlich: »Aber ich warne Sie, daß keiner aus Vorwitz das goldene Gitter überklettere. Bei meiner ersten Südpolexpedition, bei welcher ich als erster den Südpol erreichte, was mir hernach die wissenschaftliche Welt nicht glauben wollte, war einer meiner Matrosen so unvorsichtig und eitel, daß er den Ruhm in Anspruch nehmen wollte, als Erster die Erdachse erklettert zu haben. Glücklicherweise kletterte ihm noch ein zweiter in die Umfriedigung nach; denn kaum hatte der erste die Erdachse erreicht und rief aus: ›Ich als erster...‹ so stand ihm auch schon die Sprache und der Verstand still und sein Herzschlag stockte. Ich hatte die Geistesgegenwart, seinem Kameraden sofort zuzurufen, er möge den Unglücklichen schleunigst aus der Nähe des toten Punkts wegreißen. Dies geschah, und so kam der naseweise Bursche von der Stätte des völligen Stillstandes noch mit dem Leben davon, und beide kletterten schleunigst über das Schutzgitter zurück.«
»Ja was soll denn da lebensgefährlich sein?« fragte Maibold spöttisch.
Der Kapitän aber erwiderte dumpf: »Die Erdachse ist der Punkt des Todes! Da gibt es keine Bewegung, folglich auch kein Denken, keinen Pulsschlag, kein Leben mehr: sie ist die einzige bewegungslose Linie der Erde; hingegen muß die Lebensdauer in der Nähe des Pols eine ungeheuer lange sein, weil sich hier die Erde am langsamsten dreht; findet man doch umgekehrt die frühreifsten und raschlebigsten Völker in den Breiten, wo sich die Erdoberfläche am schnellsten bewegt, weil sie von der Achse am weitesten entfernt ist.«
Allgemeine Heiterkeit belohnte diesen neuen Scherz des Schalks, Maibold aber meinte: »Ich denke, die Erde dreht sich hier mit rasender Geschwindigkeit!«
»Ein Trugschluß, mein lieber Doktor,« sagte Münkhuysen lächelnd: »Mein Vetter hat recht. Bekanntlich dreht sich die Erde in etwa vierundzwanzig Stunden um sich selbst, oder um ihre Achse, wie man sich auszudrücken pflegt. Jeder Stab dieses Gitters, das etwa dreißig Meter im Umfang hat, braucht also vierundzwanzig Stunden, um die Achse zu umkreisen, das heißt um die kurze Strecke von dreißig Metern zu durchmessen. Die Säule dreht sich natürlich mit und braucht die gleiche Zeit zu einer völligen Wendung. Die Mittellinie der Säule jedoch, die freilich nur eine gedachte Linie ist und die der verlängerten Erdachse entspricht, haben wir uns als völlig unbeweglich zu denken. Je näher ein Punkt dieser Mittellinie steht, desto geringer ist der Kreis, den er innerhalb vierundzwanzig Stunden zu beschreiben hat, desto langsamer verläuft demnach seine tägliche Umdrehungsbewegung. Umgekehrt, schlagen Sie etwa einen Pfahl in die Äquatorlinie ein, so braucht er zwar ebenfalls vierundzwanzig Stunden, um eine völlige Umdrehung der Erdkugel mitzumachen; da jedoch die Erde hier vierzigtausend Kilometer Umfang hat, so legt er in dieser Zeit die ungeheure Strecke von vierzigtausend Kilometern zurück. Dort ist die Geschwindigkeit der drehenden Fortbewegung der Erdoberfläche mit allem, was darauf ist, eine geradezu rasende, nämlich mehr als sechzehnhundertsechsundsechzig Kilometer in der Stunde und gegen achtundzwanzig Kilometer in der Minute.«
»Aber natürlich!« rief jetzt der Doktor: »Nein! wie konnte ich nur so dumm sein! Die Sache ist ja ganz klar, das ist ja selbstverständlich!«
»Trösten Sie sich,« sagte Mäusle: »Genau so dumm, wie Sie sich schelten, sind auch noch andere, die unüberlegte Behauptungen aufstellen oder wirrköpfig sind. So las ich im ›Simplizissimus‹ sowohl wie auch im ›Kladderadatsch‹ von der rasend schnellen Bewegung der Erde an den Polen, die nichts deutlich erkennen lasse, und das war unfreiwillige Komik in beiden Blättern: die Verfasser dieser lächerlichen Scherze stellten sich tatsächlich vor, die Drehung der Erdachse sei eine überaus geschwinde und die Ruhepunkte befänden sich am Äquator. Und die Schriftleiter der beiden ätzenden Witzblätter, die jeden kleinen Irrtum und jede wissenschaftliche Entgleisung, die unter Umständen wissenschaftlicher ist als die herrschende wissenschaftliche Meinung, mit Spott und Hohn zu übergießen pflegen, zeigten sich auch nicht befähigt, den groben Bock zu erkennen, sonst hätten sie sich gehütet, sich durch Veröffentlichung eines derartigen Blödsinns bloßzustellen. Eigentlich ist es ja unbegreiflich, wie man auf einen solchen Irrtum verfallen kann, aber solche unklare Begriffe über die einfachsten Verhältnisse unseres Planeten sind weiter verbreitet, als man denkt, auch unter denen, die sich für gebildet halten.«
So! Da konnte sich der windige Doktor wieder dran halten! Der Schwabe, den Maibolds Spott über den Schöpferglauben im Heiligsten gekränkt hatte und der mit seinem scharfen Geiste die ganze Beschränktheit der Gottesleugnung klar erkannte, verschonte den Spötter nicht mehr mit bissigen Bemerkungen, so gutmütig er sonst war.
Ernst geriet unterdessen in immer größere Unruhe, weil Eva so lange ausblieb. Immer wieder schaute er in der Richtung aus, von der man gekommen war, ob sie noch nicht erscheine, aber vergeblich. Sollte sie sich verirrt haben in der großen Stadt, die sich vom Hauptplatze aus nach allen Richtungen fünf Kilometer, also eine Stunde weit ausdehnte? Aber sie wußte ja, daß man die Säule aufsuchte, und die mußte ihr den Weg weisen, weil man sie immer wieder über die Häuser ragen sah.
Auch dem Baron fiel jetzt die Abwesenheit seines Töchterleins auf: »Wo ist denn Eva geblieben?« fragte er verwundert und mit einem Anflug von Besorgnis.
»Sie blieb zurück, um etwas zu suchen, das sie unterwegs verlor,« antwortete Ernst Frank: »Ich wollte sie begleiten, aber sie bat mich dringend, kein Aufsehen zu erregen.«
Es wurde noch eine halbe Stunde gewartet; denn das Mädchen mußte doch den Weg zum Hauptplatz finden, auf den alle Hauptstraßen mündeten.
Als jedoch die Vermißte immer und immer nicht kommen wollte, machten sich alle auf, nach ihr zu suchen.
Ernst konnte genau angeben, wohin sich Eva gewendet hatte. Allein in der von ihr bezeichneten Gasse war nirgends eine Öffnung im Pflaster zu finden. Dieses Pflaster war mit einer durchsichtigen Masse überzogen, die ihm unbegrenzte Haltbarkeit verlieh, es wies daher überhaupt keine Lücken oder auch nur Unebenheiten auf. Da war also keinerlei Loch, in das die Puppe hätte fallen können; denn Ernst hatte es für das beste befunden, den Sachverhalt ehrlich zu berichten, um die Suche zu erleichtern.
Weder in den Häusern, welche die Gasse einfaßten, noch in den benachbarten Straßen war eine Spur von dem Mädchen zu entdecken, auch alles Rufen blieb unerwidert.
Nun geriet Münkhuysen in ernstliche Sorge, wie es wohl begreiflich ist. Er wies jedem der Gefährten ein bestimmtes Revier zu, das er vorerst in aller Eile spähend und rufend durchziehen sollte. Man war der Speise und Ruhe zu sehr bedürftig, als daß für heute ein gründliches Durchforschen aller Seitengassen und Gebäude noch möglich gewesen wäre. Doch durfte man hoffen, wenn alle Hauptstraßen mit lautem Rufen nach der Verschwundenen durcheilt würden, müsse sie die Rufe hören und beantworten, wo sie auch stecken mochte.
Daß Eva sich verirrt haben müsse, stand jetzt allen fest, dann aber war es nicht denkbar, daß sie in einem Hause verborgen sei: das hätte ja gar keinen Sinn gehabt. Tiere waren überhaupt hier nicht vorhanden, auch keinerlei Spuren von solchen, und das war selbstverständlich, da es ihnen in den gepflasterten Straßen an jeglicher Nahrung oder Beute fehlte. Hätte sich ein Riesenraubvogel herniedergelassen und das Mädchen geraubt, so hätte man ihn unbedingt beim Daherfliegen durch die Luft bemerken, auch das Rauschen seines Flügelschlags vernehmen müssen.
Nach drei Stunden fanden sich alle verabredetermaßen im Lager vor den Vulkanen zusammen. Wunderdinge hatte jeder entdeckt, nirgends aber eine Spur von irgend einem lebenden Wesen, am wenigsten irgend etwas, das über Evas Verbleib hätte Auskunft geben können. Auch keinerlei Öffnung im Pflaster der Straßen und Gassen war zu finden gewesen, wie man sie nach Evas letzten Äußerungen hätte annehmen müssen. Ebenso war auf alles Rufen keine Antwort erfolgt. Auch die schwache Hoffnung, die Verlorene könnte sich ins Lager zurückbegeben haben und würde dort angetroffen, erwies sich als trügerisch.
Münkhuysen war in Verzweiflung und Raimund suchte ihn zu trösten: »Verlieren Sie den Mut nicht, Baron,« sagte er: »Es ist doch ganz undenkbar, daß Fräulein Eva spurlos verschwunden sein sollte! Irgendwo müssen wir sie noch auffinden. Sicher hat sie sich aus Neugier in eines der Häuser begeben. Wir kennen die Anlage dieser Bauten noch nicht: vielleicht gibt es da so labyrinthartige Räume, daß es schwer wird, sich wieder herauszufinden. Jedenfalls müssen wir unsere Nachforschungen auch auf das Innere der Häuser ausdehnen, und dann dürfen wir sicher sein, daß sie von Erfolg gekrönt werden.«
Der gute Professor war wohl selber nicht so zuversichtlich wie er sich den Anschein gab; denn irgend ein Rätsel mußte hinter diesem geheimnisvollen Verschwinden verborgen sein. Aber schließlich mußte es sich doch wohl lösen!
Ernst hatte sich nur wenige Stunden Ruhe gegönnt und erhob sich als erster vom Lager, um das Suchen wieder aufzunehmen.
Die Sonne strahlte vom Himmel: sie ging ja überhaupt nicht mehr unter, bis die sechs Monate des Polarsommers um waren.
Der Baron hatte kein Auge zugetan; er hatte sich überhaupt nicht gelegt, sondern immer ausgespäht, ob sein Töchterlein nicht doch endlich auftauche, nachdem es den Weg zum Lager zurückgefunden habe.
»Genießen Sie etwas zur Stärkung,« sagte er zu seinem jungen Freunde: »Dann wollen wir uns miteinander auf den Weg machen. Die anderen werden uns wohl bald folgen und jeder das ihm zugewiesene Revier gründlich durchsuchen.«
Rasch und schweigend nahmen sie einen kargen Imbiß ein und versahen sich mit einigen Eßvorräten, damit nicht der Hunger sie zur Unterbrechung ihrer Nachforschungen zwingen könne. Dann verließen sie miteinander das Lager.
Als sie sich der Vulkankette näherten, schoß plötzlich aus einer Felskluft ein grauenhaftes Ungetüm hervor. Es ließ sich in seiner furchtbaren Größe kaum übersehen. Der Hals mit dem verhältnismäßig kleinen Kopf glich einer Riesenschlange in vergrößertem Maßstabe, der Schwanz einem Krokodil, und dazwischen erhob sich haushoch der plumpe Leib auf vier massigen Beinen. Die ganze Länge dieses Ungeheuers betrug mindestens fünfunddreißig Meter.
Münkhuysen erkannte sofort in diesem Riesendrachen ein Atlantosaurus; aber zu Betrachtungen blieb hier keine Zeit, war auch gewiß keine Lust vorhanden, denn jetzt handelte es sich um Tod und Leben. Der scharfgezahnte Rachen des Untiers schoß mit einer blitzschnellen Bewegung des Halses herab und faßte den zu Tode erschrockenen jungen Frank mitten um den Leib; dann streckte sich der Nacken wieder und Ernst glaubte, kirchturmhoch in der Luft zu schweben.
Der Baron erkannte sofort, daß hier alles aus rasches Handeln ankomme: er mußte das Wagnis in den Kauf nehmen, seinen jungen Freund zu treffen; Vorsicht und Bedenken waren da nicht am Platze. So sandte er denn eine Sprengkugel um die andere in den Hals des Drachen, möglichst nahe am Hinterkopf. Das dritte Geschoß traf einen Halswirbel derart, daß die explodierende Kugel das Genick zertrümmerte. Der Kopf senkte sich mit dem gebrochenen Halse schlaff zur Erde herab, doch hatte das Tier noch die Kraft, einige gewaltige Sätze zu machen, die es über hundert Meter weit von dem Standpunkt des Schützen wegführten.
Münkhuysen eilte ihm nach und sandte im Lauf noch mehrere Kugeln in den Leib des Atlantosaurus, die jedoch zwecklos gewesen wären, wenn nicht das gebrochene Genick seinen Tod herbeigeführt hätte.
Das Tier bäumte und krümmte sich entsetzlich bis auch der unverletzte Teil seines Halses im Todeskrampf erschlaffte und der widerliche Kopf schwer auf dem Boden ausschlug.
Der Baron schob seinen Gewehrschaft hinter Ernsts Körper zwischen den Kiefern des Drachen hindurch und brach sie mit großer Kraftanstrengung auseinander, die Flinte als Hebel benutzend. So gelang es ihm, den jungen Freund aus dem Gebisse zu befreien. Die Wunden schienen an und für sich nicht lebensgefährlich, denn der Saurier hatte die Kinnladen nicht fest geschlossen, sonst hätte er sein Opfer vollständig zermalmt. Immerhin waren die Verletzungen ziemlich tief und zahlreich, und es entströmte ihnen so viel Blut, daß eine Verblutung des Unglücklichen drohte.
Im Lager war es unterdessen lebendig geworden und das Krachen der Schüsse lockte Mäusle und Schulze hinaus, die mit größter Teilnahme von dem Unglück erfuhren, und halfen, den Bewußtlosen schnellstens ins Lager zu tragen, wo Doktor Maibold seine Wunden pflegte und verband.
Aus der Ohnmacht erwachend, verfiel Ernst in ein heftiges Wundfieber. Während Maibold und Neeltje an seinem Lager zurückblieben, begaben sich die anderen alle in die Tote Stadt, um eine planmäßige und sorgfältige Suche nach Eva zu unternehmen.
Volle acht Tage wurden die angestrengten Forschungen fortgesetzt, bis kein Haus, kein Winkel mehr übrig blieb, die nicht aufs genaueste untersucht worden waren: allein auch nicht das geringste Anzeichen über den Verbleib der Entschwundenen konnte entdeckt werden.
Münkhuysen war ganz gebrochen, und auch seiner Gefährten hatte sich die größte Niedergeschlagenheit und völlige Hoffnungslosigkeit bemächtigt.
Endlich erklärte der Baron tonlos: »Es hat keinen Zweck, länger hier zu verweilen und unser aller Leben aufs Spiel zu setzen in einer Gegend, die von mörderischen Ungeheuern heimgesucht wird. Was könnte es helfen, nochmals zu überwintern und monatelang weiter zu suchen, da wir nun doch die traurige Gewißheit haben müssen, daß mein teures Kind nicht mehr unter den Lebenden weilt? Daß so gar keine Spur von meinem armen Töchterlein übrig blieb, hat meine Befürchtung zur Gewißheit erhoben: Eva wollte zum Lager zurückkehren und ist unterwegs von einem der ungeheuerlichen Saurier verschlungen worden, die hier herum hausen, wahrscheinlich von dem gräßlichen Atlantosaurus, der ihr beinahe auch Ernst Frank zugesellt hätte. Es ist mir ein geringer Trost, daß ich den Lindwurm für seinen Mord bestrafen konnte. Jedenfalls habe ich alle Hoffnung aufgegeben, und morgen wollen wir diese Unglücksstätte verlassen, um den Heimweg anzutreten.«
Neeltje machte Einwände und meinte, man solle weiter suchen, vielleicht möchte das liebe Kind doch noch aufgefunden werden. Freilich glaubte sie selber nicht recht daran.
Man beriet noch eine Weile hin und her, schließlich gaben aber alle zu, es gäbe den Umständen nach keine andere Lösung des traurigen Rätsels, als die Annahme, daß Eva einem Schreckenstier zum Opfer gefallen sei.
Am folgenden Tage fand der Aufbruch statt.
Ernst, der immer noch in Fieberphantasien lag, wurde auf einem eigens für ihn gezimmerten Krankenwagen mitgenommen.
Der Weg führte durch unbekanntes Land dem Weddellmeere zu. Er bot keinerlei Schwierigkeiten: es war eine fruchtbare sanft geneigte Niederung mit zahlreichen, meist vorzüglich erhaltenen Überresten einer untergegangenen Kultur. Die Ebene mit ihrem tropischen Pflanzenwuchs war reich an eßbaren Früchten aller Art, köstlichem Obst, das wie die Wunderblumen zu riesenhafter Größe entwickelt war. überall fand man jagdbares Wild, und nur ausnahmsweise begegnete man reißenden Tieren oder einzelnen der gewaltigen Saurier. Zum Kampfe mit solchen kam es nur noch zweimal, wobei der Sieg ohne Verluste noch Verletzungen gewonnen wurde.
Als das Meer der Schrecken erreicht wurde, das sich in weitem Kreis um den Südpol zog, fand es sich, daß es keinen geschlossenen Gürtel bildete, sondern aus dieser Seite von einem kilometerbreiten Landstreifen unterbrochen wurde, der unbewaldet war. Zweifellos handelte es sich auch hier, wie auf der entgegengesetzten Seite, um einen künstlichen Damm, der im Meer ausgeschüttet worden war, um eine fahrbare und sichere Landverbindung herzustellen. Er war aus mächtigen Lavablöcken hergestellt und führte unversehrt bis zum anderen Ufer.
Auf dem Wasser zeigten sich auch hier die Riesenechsen der Urwelt, aus dem Lande jedoch traf man keinerlei Ungeheuer mehr an. Da man sich diesmal dem gefährlichen Elemente nicht zu nähern, geschweige denn sich ihm anzuvertrauen brauchte: angesichts des breiten Übergangs, kam man unbehelligt hinüber.
Das Land wurde jetzt hügelig, behielt aber seinen ungefährlichen Charakter bei, bis nach Überwindung einer letzten Hügelkette die Küste des Weddellmeeres erreicht wurde.
Von der Höhe der grünen Hügel sah man vor sich eine liebliche Bucht in stiller Bläue lachen. Hier ankerte nicht bloß das Südkreuz, sondern zu aller Überraschung auch der Begleitdampfer mit den beiden Kohlenschiffen.
Die Entfernung vom Südpol bis zu dieser Küste war wesentlich geringer als diejenige von König-Eduard-Land bis zum Pole. Offenbar drang hier das offene Meer am weitesten in den antarktischen Kontinent ein, denn das Weddellmeer erstreckte sich bis zu 84 Grad südlicher Breite. Wie man jetzt aus Erfahrung wußte, führte von diesen Ufern ein völlig eisfreier, gefahrloser, ja nicht einmal beschwerlicher Weg zu dem so lange unbekannt gebliebenen südlichen Ende der Welt.
Während der Reise hatte Ernsts Genesung rasche Fortschritte gemacht, und als die Küste erreicht wurde, fühlte er sich fieberfrei und verhältnismäßig wohl.
Mit der, seiner Ansicht nach übereilten, Rückreise vom Pol zeigte er sich durchaus nicht einverstanden: »Ich wäre nicht von der Stelle gewichen, ehe ich Gewißheit über Evas Schicksal gehabt hätte,« erklärte er: »Warum mußte ich auch bewußtlos sein!«
Immer wieder mußte er an die gefangene Prinzessin und ihre seltsamen Botschaften denken: lag da nicht ein unentschleiertes Rätsel verborgen, mit dem vielleicht Evas Schicksal irgendwie zusammenhing? Warum fand man keine Spur von Atlanta, die doch am Südpol in der Toten Stadt leben mußte? War sie unentdeckt geblieben, so konnte auch Eva noch leben, obgleich sie unauffindbar blieb, und zwar schien es aus diesen Gründen geradezu wahrscheinlich, daß sie sich eben bei Atlanta befand. So überlegte Ernst, und er konnte es nicht übers Herz bringen, diese Küste zu verlassen ohne weitere Versuche gemacht zu haben, Licht in dieses Dunkel zu bringen.
Jedenfalls war er fest entschlossen, nicht mit den anderen heimzukehren, sondern zurückzubleiben, um allein wieder die Tote Stadt aufzusuchen und dort nach seiner jungen Freundin zu forschen. Da er sich aber lebhaft denken konnte, daß man ihn unter keinen Umständen zurücklassen würde, hielt er seine Absichten geheim.
Am Strande trafen unsere Freunde mit den Kameraden vom Südkreuz und von den drei Dampfern zusammen und ließen sich von ihnen ihre Erlebnisse berichten. Sie hatten die Küste zwischen Kaiser-Wilhelm-des-Zweiten-Land und Kemp-Land zwischen dem sechzigsten und achtzigsten östlichen Grade festgestellt und ihr den Namen Caviniland beigelegt. Zwischen 10 Grad West und 50 Grad Ost, von Enderby- bis Coats-Land, erstreckte sich die Küste von Geloso-Land und bog dann südwestlich ins Weddellmeer ein. An das 1904 von Bruce entdeckte Coats-Land schloß sich Münkhuysen-Land an.
Depots und Kohlenlager waren nach des Barons Weisung bei Enderby-Land, Coats-Land und in der Hoffnungsbucht errichtet worden. Den Winter über waren die Schiffe bei den Falklandsinseln vor Anker gelegen und waren nun mit frischer Ladung ins Weddellmeer vorgedrungen. Die Eisverhältnisse zeigten sich diesen Sommer so günstig und das Packeis war so licht und brüchig und von breiten Kanälen durchfurcht, daß der Begleitdampfer und die Kohlenschiffe es unbedenklich wagen konnten, dem Südkreuz durch das Eis zu folgen. So waren sie vor kaum acht Tagen nach ungewöhnlich rascher Fahrt hier angelangt.
Die südliche Küste des Weddellmeeres, an der man weilte, und die so besonders reizvoll war, wurde auf des Barons Wunsch in allgemeiner Übereinstimmung »Eva-Land« getauft.
Münkhuysen hatte, wie erwähnt, schon drei großartige Niederlagen, die man gewöhnlich als »Depots« bezeichnet, und reiche Kohlenlager durch die Hilfsschiffe an den Küsten des Südpolarfestlandes errichten lassen, zum Vorteil künftiger Unternehmungen, die etwa unter ungünstigeren Umständen zur Überwinterung in diesen Breiten genötigt sein würden. Vielleicht konnten die kostbaren Vorräte auch Schiffbrüchigen zur Rettung und Erhaltung des Lebens dienen. Hierzu kam noch Südburg im Münchhausental, wie das Tal der letzten Überwinterung zu Ehren des heiteren Kapitäns benannt worden war.
Südburg war eine ganz vorzügliche Winterstation, dauerhaft gebaut und mit viel Vorräten an Lebensmitteln, Kohlen, Werkzeugen, Geräten und Instrumenten ausgestattet, die Münkhuysen dort hinterlassen hatte: hier konnte ein Dutzend Polarfahrer sorgenlos überwintern, wenn sie auch selber aller Hilfsmittel entblößt gewesen wären
»Derartige Depots,« meinte Kapitän Münchhausen schalkhaft, »werden übrigens späterhin ganz überflüssig werden, wenn man erst elektrische Kabel nach den Polargegenden gelegt haben wird und entdeckt hat, aus welche Weise sich Klima und Existenzbedingungen auf elektrischem Wege in die weitesten Fernen übermitteln lassen. Dann werden die herrlichen klimatischen Verhältnisse der Riviera durch den elektrischen Strom an die eisigen Küsten gesandt und das unbequeme Eis schmilzt von selber. Lebensmittel braucht man nicht mehr, weil einem alle Lebensbedingungen mittelst Kabels nach Bedürfnis postwendend zugestellt werden. Die Ausrüstung einer Polarexpedition wird dann fast gar nichts mehr kosten und im wesentlichen nur aus einigen Transformatoren bestehen, die den elektrischen Strom in Wärme, Licht, Nährstoffe, Lebenskraft und dergleichen mehr zurückverwandeln.«
Trotz der niedergedrückten Stimmung erregten diese kühnen Phantasien des Kapitäns doch ein heiteres Lächeln.
Aus den überreichen Vorräten, mit denen die Schiffe beladen waren, ließ Münkhuysen an der Küste von Evaland noch ein besonders umfangreiches Depot errichten. Für Ernst war dies eine heimliche Beruhigung und Befriedigung, denn nun war er der Sorgen enthoben, wie er, allein in unbewohntem Land, sein Leben fristen könne: hier hatte er jetzt Lebensmittel in Hülle und Fülle, einen großen Handwagen zur Beförderung alles Nötigen nach Polstadt, wie die Tote Stadt auch geheißen wurde, und überhaupt alles, was er brauchte, um als Einzelner auch mehrere Jahre auskommen zu können, gab es doch auch eßbare Früchte und jagdbares Wild genug, und Munitionsvorräte fanden sich besonders reichlich in der Niederlage. Brennholz lieferten die Wälder zur Genüge, da Ernst doch keine Kohlen mitnehmen konnte, wollte er die Reise nicht mehrmals machen.
Als die Einrichtung des Depots vollendet war, begab sich alles an Bord des Südkreuz, Ernst Frank natürlich so gut, wie die anderen.
Es war Abend, und am anderen Morgen sollten die Anker gelichtet werden.
Der Herbst war herangekommen, und in diesen Breiten fand jetzt bereits ein Wechsel von Tag und Nacht statt.
Als völlige Dunkelheit eingetreten war, schlich sich Ernst an Deck und sprang über die Brüstung in die See
»Mann über Bord!« schrie die Schiffswache, die den Fall gehört hatte, und alsbald ward es im Schiff lebendig: Laternen wurden entzündet und der Meeresspiegel abgeleuchtet.
Der Flüchtling hatte dies vorausgesehen und schwamm unter Wasser bis er sich außer Bereich der Lichtstrahlen befand. Dann tauchte er auf und strebte aus allen Kräften dem Ufer zu. Man durfte ihn nicht entdecken, man sollte glauben, er sei ertrunken: so allein konnte er hoffen, seinen Plan durchzuführen.
»Wer fehlt?« fragte indessen Münkhuysen an Bord.
»Ernst Frank! Wo ist Ernst?« rief Mäusle.
»Mein Gott!« jammerte der Doktor, der behauptete, an keinen Gott zu glauben und doch stets seinen Namen im Munde führte: »Gewiß ist ein Rückfall des Fiebers bei ihm eingetreten; ich habe das immer befürchtet. Und da ist er im Delirium über Bord gesprungen!«
»Alle Boote klar!« befahl der Baron: »Laßt die elektrischen Scheinwerfer spielen und fischt das Meer ab, rings um das Schiff herum!«
Unterdessen hatte Ernst das nahe Ufer erreicht. Er war völlig erschöpft, denn seine Kräfte waren doch noch gar zu geschwächt.
Da blitzten die Scheinwerfer auf, deren weiße Strahlen über die See hinglitten und bis zum Strande drangen. Aus Sorge, entdeckt zu werden, eilte der Jüngling rasch in die Depothütte und verkroch sich in seinen nassen Kleidern hinter den Kisten und Ballen im tiefsten Hintergrund.
So wurde die Bucht vergeblich nach ihm durchsucht, und auch die Landungsmannschaft, die nachforschen sollte, ob er vielleicht an die Küste getrieben worden sei, konnte ihn nirgends finden.
Am Nachmittage des folgenden Tages hatte Münkhuysen die Hoffnung aufgeben müssen, den allerseits so schmerzlich Vermißten tot oder lebendig wiederzufinden, und gab schweren Herzens den Befehl zur Abfahrt. Er war trostlos über dies zweite Opfer, das der Südpolarkreis von ihm gefordert hatte.
Das Südkreuz verließ die Bucht und dampfte am westlichen Ufer entlang nach Norden.
Zunächst war die Küste noch grün, je weiter man fuhr, desto mehr nahm ihre Vergletscherung zu und bald zeigte sich auch wieder die Bankise, vorerst nur als niedrige Eisbank, die vielfach auf weite Strecken hin unterbrochen war und einer Landung nur stellenweise hinderlich sein konnte. Später bildete sie wiederum die starre hohe Mauer, die unendlich fortzulaufen schien.
Weiter nördlich gelangte das Südkreuz an eine Stelle, die eine besonders breite und tiefe Lücke in der Terrasse aufwies. Hier hatte sich offenbar das Eis der kalbenden Gletscher in größeren Massen losgelöst und war in Form von Packeis und treibenden Eisschollen nach Norden gewandert, bis es in wärmeren Gewässern geschmolzen war.
An dieser besonders geeigneten Stelle hatte Cavini eine richtige Überwinterungsstation errichtet, ganz nach der Art von Südburg; denn Münkhuysen hatte ihn beauftragt, womöglich an der Westküste des Festlandes eine solche einzurichten.
Der Bau war freilich viel kleiner als Südburg, enthielt jedoch immerhin in der Mitte einen Wohnraum von fünf Metern im Quadrat mit drei anschließenden, vollständig eingerichteten Schlafkojen. Um diesen Mittelpunkt lief der Flur, nach außen eingefaßt von Vorratsräumen und einer Küche. Alles stand erhöht über einem größtenteils in den Erdboden gegrabenen Unterraum, in welchem zwei Dauerbrandöfen aufgestellt und reiche Kohlenvorräte gelagert waren.
Die Vorratskammern waren noch leer.
Der Baron beschloß, hier alles zurückzulassen, was auf der Heimreise irgend entbehrt werden konnte, und bemerkte: »Sollten jemals Polarfahrer hier Schiffbruch leiden oder, aller Hilfsmittel beraubt, landen, so sollen sie es so bequem wie möglich finden, um sich für mindestens zwei Überwinterungen einrichten zu können.«
So wurden in den Kammern ganze Kisten mit Schiffszwieback und Konserven aufgestapelt, dazu Weingeist, Erdöl, Zündhölzer, Tabak, Kaffee, Tee, Schokolade und Kakao, Zucker, Salz, Ölsardinen, Sprotten, Datteln und Nüsse, Kognak und Weine, Gewehre und Munition, sämtliche Schlitten und Hundewagen. Ferner eine Schmiede mit Esse, Eisenstäben und großen Eisenplatten, Angelgeräte, Balken und Bretter, sowie zwei starke Winden und Handwerkzeug nebst Nägeln.
Besonders reichlich waren die Mehlvorräte mit dem dazu gehörigen Backpulver. Endlich Geschirr aus Metall und Porzellan, Bestecke, Spiritus- und Erdölkocher und allerlei Kleinigkeiten und praktische Gebrauchsgegenstände, die ein geradezu üppiges Leben ermöglichten.
Fast hätte man wünschen mögen, es möchte hier bald ein Schiff stranden, um sich Münkhuysens großartige Fürsorge zunutze machen zu können.
An dieser Niederlage wurde die übliche Tafel angebracht mit einer Inschrift, die besagte, daß diese Winterstation vom Südkreuz zu Anfang des Jahres 1907 errichtet worden sei, zur freien Benutzung aller, die etwa darauf angewiesen sein könnten.
Holm besorgte stets die Anbringung derartiger Inschriften, denn er war sehr für Ordnung. Selbst am Südpol hatte er sich's nicht versagen können, über dem Haupteingangstor der geheimnisvollen Stadt ein Plakat aufzuhängen, das in mächtigen Buchstaben ihren Namen »TOTE STADT« verkündigte.
Die Schiffe fuhren nun weiter. Auf der Snow-Hill-Insel war noch Nordenskjölds Winterstation zu erkennen und auf der Pauletinsel die Steinhütte der Schiffbrüchigen der Antarctic, wo deren Depot noch ruht.
Die günstigen Eisverhältnisse wurden benutzt, um an den gefährlichen Dangerinseln vorbei auf dem kürzesten Wege die Eisregion zu verlassen.
Die Fahrt verlief glücklich, ohne Unfälle oder bemerkenswerte Zwischenfälle, bis in Amsterdam gelandet wurde. Hier trennte man sich, und jeder suchte seine Heimat wieder auf. Mehrere der Gefährten versprachen dem Baron, sich im nächsten Herbst wieder bei ihm einzufinden.
Von Kapitän Münchhausen jedoch verabschiedeten sich unsere Freunde ohne Aussicht, ihn übers Jahr wiederzusehen: er besaß ein Landhaus in Adelaide in Australien und gedachte, sich dort der wohlverdienten Ruhe hinzugeben.
Professor Schulze versprach, ihn dort zu besuchen, und fügte hinzu: »Vielleicht gelingt es mir dabei, Sie aus Ihrer faulen Ruhe aufzurütteln und Sie wieder zu einer unserer berühmten Forschungsreisen zu bewegen. Ich gedenke nämlich, mir noch mehr Lorbeeren auf diesem Gebiet zu holen, die ich besonders gerne mit Ihnen, meinem altbewährten Kameraden, teilen würde.«
Ernst Frank lag inzwischen fiebernd in der Depothütte der Küste von Evaland. Das kalte Bad und das stundenlange Verweilen in durchnäßten Kleidern hatten einen heftigen Rückfall zur Folge gehabt.
Ein Glück, daß er die nötigen Lebensmittel so nahe zur Hand hatte und auch Wein genug, denn es dauerte lange, bis er so viel Kraft fand, sich vor die Hütte zu begeben, um Schnee zum Schmelzen herein zu holen und sich auf einem Petroleumkocher einen warmen Tee oder Kakao zu bereiten.
So lag er wochenlang, matt und teilnahmslos. Oft glaubte er, nicht mehr genesen zu können, und wenn nicht der Gedanke an Eva gewesen wäre, an deren Tod er nicht glauben konnte, hätte er sich aus einem stillen Einschlafen, um auf Erden nicht mehr zu erwachen, nichts gemacht.
So aber lebte ein Wille zum Leben in ihm, der seiner Erholung förderlich war.
Kurz vor Einbruch der Winternacht kehrten seine Kräfte langsam wieder zurück, so daß er sich erheben und zum erstenmale wieder ins Freie begeben konnte. Da grüßte ihn, gleichsam als glückverheißender Vorbote, das märchenschöne Südlicht mit seinen zauberhaften Strahlen und seinen leuchtenden Lichtbogen
» Aurora australis!« rief Ernst entzückt und genoß trunken den überwältigenden Anblick.
Dann wankte er zurück in die Hütte, einen Eimer voll frischen Schnees mitnehmend, um sich den ersten warmen Trank zu bereiten. An eine Reise in die Tote Stadt konnte er nicht denken, ehe die nun versinkende Sonne wieder über dem Horizont erschien.
Aber dann? Er gedachte der geheimnisvollen Botschaften der einsamen Jungfrau vom Südpol, er gedachte seiner so rätselhaft verschwundenen lieben Freundin, — und mit hoffnungsvoller Überzeugung murmelte er vor sich hin: »Ich werde euch beide finden und erlösen, — Atlanta und Eva!«
Die Buchstaben vor den einzelnen Werken bezeichnen die Abkürzung, unter welcher das Werk in den Einzelnachweisen angeführt wird.
1. B. — Friedr. Bidlingmaier: Zu den Wundern des Südpols. Stuttgart, Steinkopf. 1905.
2. K. B. — Dr. Karl W. Braun: Der Erdball, seine Entdecker und seine Wunder. Berlin und Leipzig. Uranus-Verlag.
3. Br. — Alfred Brehm: Illustriertes Tierleben. 1865.
4. D. — Erich von Drygalski: Allgemeiner Bericht über den Verlauf der deutschen Südpolexpedition. Berlin, Mittler. 1903.
5. I. D. — Ignatius Donnelly: Atlantis. Leipzig, Schnurpfeil.
6. F. — Dr. Karl Fricker: Antarktis. Berlin, Schall und Grund. 1898. (Bibliothek der Länder- und Völkerkunde, herausgegeben von Alfred Kirchhoff, Professor der Erdkunde an der Universität zu Halle, und Rudolf Fitzner, Chefredakteur. Bd. 1.)
7. H. — Heer: Die Urwelt der Schweiz. 1865.
8. N. — Dr. Otto Nordenskjöld: Antarktik. 2 Bde. Berlin, Reimer. 1904.
9. P. I. — Prochaska: Ill. Jahrbuch der Weltreisen und geograph. Forschungen Von Wilh. Berdrow. 1903.
10. P. II. — Desgleichen 1905.
11. P. III. — Prochaska: Ill. Jahrbuch der Naturkunde. Von Herm. Berdrow. 1903.
12. P. IV. — Desgleichen 1908.
13. M. R. I. — M. Reymond: Das Weltall. Berlin, Deutsche Volksbibliothek, A G.
14. M. R. II. — M. Reymond: Ill. Länder- und Völkerkunde. Unter Mitwirkung von Fachschriftstellern. Berlin, Deutsche Volksbibliothek, A.G.
15. G. R. — Gustav A. Ritter: Die Wunder der Urwelt. Berlin, Herlet.
16. S. — Prof Dr. W. Sievers: Australien und Ozeanien. 1905.
17. Sh. — Shakleton: 21 Meilen vom Südpol. 2 Bde. Berlin, Süßerott. 1909.
18. W. — Dr. Ludwig Wilser: Tierwelt und Erdalter. Stuttgart, Strecker und Schröder.
19. — Noroff: Die Atlantis. 1854.
20. — Verschiedene Artikel und Aufsätze aus Zeitungen und Zeitschriften.
Für gewöhnlich werden hier nur die Hauptquellen für den betreffenden Gegenstand angegeben und diejenigen Stellen, nach denen am besten die Richtigkeit meiner Schilderungen nachgeprüft werden kann.
Kapitel 7. — Der Gedanke über die Wirkungen von verschiedenfarbigem Licht wurde vom Verfasser im Jahre 1892 in einem ausführlichen Aufsatz erörtert, so wie er kurz in der Erzählung wiedergegeben ist, lange ehe dem Verfasser irgend etwas über frühere Aufstellungen dieser Idee oder gar über Versuche und Erfahrungen darüber bekannt war. Erst im Jahre 1903 ersah er aus P. III, daß seither die Wirkungen verschiedener Farben in Nervenheilanstalten erprobt wurden.
Interessant ist ein diesbezüglicher Aufsatz von Dr. Kl. in Nr. 193 der Württemberger Zeitung, Stuttgart, vom 19. August 1922: »Farbiges Licht als Kraft- und Heilquelle. — Schon 1876 wies der amerikanische Forscher Prof. Babbitt in seinen Studien über Farbenwirkungen nach, daß Farben von großem Einfluß auf das Gedeihen von Pflanzen und Tieren sind. Er erregte in Chikago und Neuyork großes Aufsehen, wurde jedoch in Deutschland nicht beachtet. (Echt deutsch!) Erst neuerdings hat man bei uns die von Babbitt mitgeteilten Beobachtungen nachgeprüft und gefunden, daß es sich hier um Erscheinungen handelt, die sich in praktischen Betrieben in hohem Maße nutzbar machen lassen. Wir wissen aus neueren Versuchen z. B., daß Rotlauf bei Menschen vorzüglich durch Rotlicht geheilt wird. Babbitt zeigte schon, wie man das Wachstum von Kindern und Tieren durch Blau und Weiß fördern kann. Ewald Paul in München, der sich diesen Fragen eingehend widmete, fand, daß der Mensch im Blaulicht neue Kräfte sammele, daß Erregungszustände schwinden und mehr Fett umgesetzt werde. Auf Tiere angewendet, haben diese Versuche namentlich beim Schwein günstige Ergebnisse gezeigt. Das Schwein ist ein nervöses Tier und geht dem Rot, das erregend wirkt, aus dem Wege. Zwischen Schwarz und Weiß wählend, entscheidet es sich für Weiß. Es ist also falsch, Schweine in dunklen Ställen zu halten, wie es fast die Regel ist. Am besten befindet sich das Schwein in einem Stall mit gelben Wänden und blauen Fenstern. Gelb ist eine erregende, dabei aber eine nervenstärkende, und Blau eine durchaus beruhigende Farbe. Es regt den Stoffwechsel an und wirkt dadurch fördernd auf schwache Tiere. Ein anderer amerikanischer Forscher, Pleasanton, züchtete gleichzeitig Ferkel in violettem und weißem Licht. Die violett bestrahlten Tiere entwickelten sich deutlich besser. Anderseits zeigen wiederholte Versuche, daß Fliegen und lästige Insekten unter blauem Glas zugrunde gingen. Jeder kann beobachten, daß Fliegen blaue, blauviolette, dunkelbraune oder zitronengelbe Räume meiden, während sie Hellgrün, Rosa, Hellgelb, Dunkelgrün, Dunkelrot, Weiß und Schwarz bevorzugen. Man kann sich also durch richtige Farbenwahl vor Fliegen schützen. Auch Pflanzen zeigen mannigfache Reizäußerungen bei farbiger Bestrahlung. Manche gedeihen besonders üppig in rotem Licht. Unter seiner Einwirkung gezogene Erdbeeren sollen ein vorzügliches Aroma besitzen, und Crassulablüten, die in gewöhnlichem Sonnenlicht nur wenig Duft enthalten, strömten unter rotem Licht einen zarten, bananenähnlichen Geruch aus. Wahrscheinlich stehen uns auf diesem Gebiete noch allerlei Entdeckungen bevor, die auch praktischen Wert gewinnen können.«
Kapitel 13. — Ohne Kiel wäre die »Antarctic« nicht untergegangen. N. II. 313. Eukalyptusholz, das beste für den Schiffsbau usw. (außerordentlich hart und keiner Fäulnis ausgesetzt); 143 Meter hoher Eukalyptus von 30 Meter Umfang: »Rundschau« 1898/99, Heft VI: »Die Dauer des Lebens«, von Eduard Straßburger. — Das Geschichtliche über die Südpolarforschung im wesentlichen nach Fricker und Nordenskjöld (I, 85-98), sowie Braun (S. 118-125) dargestellt. — Beste Form der Polarschiffe: N. II. 313.
Kapitel 14. — Die Philosophie der Geographie beruht auf Schlußfolgerungen, die der Verfasser schon in seiner Schulzeit machte, scheint aber schon im Altertum geahnt worden zu sein. So sagt Fritz Regel in »Die Erforschung des Südpolargebietes« (Westermanns Monatshefte, Juli 1906, Heft 598, S. 521): »Seit dem Altertum ging die Sage von einem großen Südkontinent, terra incognita australis, dem man die Umrisse von Afrika andichtete.« Was Fritz Regel in der überlegen absprechenden Weise der Unwissenheit für ein aus der Luft gegriffenes »Andichten« hält, dürfte, wenn nicht aus tatsächlicher Kenntnis und richtiger Überlieferung, so doch auf ganz richtiger Schlußfolgerung beruhen, ob nun Australien oder der Südpolarkontinent unter dem großen Ausstralland zu verstehen ist.
Kapitel 15. — Die wechselnden Eisverhältnisse der Antarktis: F. 191/200; P. I. 36 und II. 52 (die Bankise seit Roß um 45 Kilometer nach Süden zurückgewichen); Sh. I. 80. 103. 112. 155 (eisfreies Meer oder leicht zu durchdringendes Packeis vor den Küsten des Südpolarfestlandes); N. I. 44. 45. 218. II. 142. 167. 168. 234. 244. 296. 297. 298. 325. 326. 329. 393. — Tafeleisberge, Packeis usw. siehe Kapitel 22. — Kalbende Gletscher: N. II. 38. 72. 76.
Kapitel 17. — Die Riviera, an der der Verfasser geboren wurde und aufwuchs und über die er einen ausführlichen Führer schrieb, ist selbstverständlich völlig zuverlässig geschildert. Wie angenehm der gleichmäßig warme Rivierasommer ist, im Gegensatz zu den oft schwülen und lästig heißen und dazwischenhinein wieder empfindlich kalten nordischen Sommertagen, bestätigt unter anderen auch Prof. Dr. K. Miller (Staats-Anz. s. Württ., 29. April 1907, Nr. 99). — Reingewinn der Spielbank von Monte-Carlo 1893: 37 Millionen (Pforzheimer Beobachter, 17. März 1894). Seither noch bedeutend gestiegen.
Kapitel 18. — E. Förster: »Brechseedämpfung durch Öl« (Daheim, 25. Mai 1901, Nr. 34, S. 18/19) u. a. Ebenso durch Seifenwasser. Festgestellt wird in obigem Artikel die wissenschaftliche Unerklärbarkeit der Erscheinung.
Kapitel 19. — Eukalypten (dem Verfasser von Kind auf vertraut), Syringen usw.: Sievers und andere Werke über Australien, in der Erzählung des Verfassers »Der König der Unnahbaren Berge« aufgezählt. Siehe auch Kapitel 13.
Kapitel 20. — Kletterhypothese von Prof. Klaatsch: P. III. 255 (»Der Mensch der Vorzeit. Die Urheimat des Menschengeschlechts«). — Mandschurische Ponys: Sh. I. 210/213 u. a.
Kapitel 22. — Eisberge der Antarktis: Sh. I. 73. 79. 87. 88. 92. 95. 103 (50 Kilometer lang, 70 Meter hoch). 105. 138. 158 usw. B. 75. 78. 79. 80. 82. 86. 87. 143. 147. 149. 150. 153. N. I. 116. II. 108 usw. F. 194/198. 200/206. — Verwitterte Eisberge mit phantastischen Formen: Sh. I. 80. — Eisberge siebenmal so tief unter dem Wasser, als darüber: B. 86. — Packeis: Sh. I. 79. 80. 86. 92. 100. 102. 104. II. 57. 58. 70. 106. 124. 127. 138. 140. 166. 273. 274. 278. 289. 292. 294. 295. F. 192. 208 usw. B. 76. 80. 87. 131. 136. 150. N. I. 112 usw. II. 131 usw. — Bankise: Sh. I. 90/106 usw. B. 79. 86. N. I. 116. 340. 350. 352 usw. F. 75. 153. 158. 159. 161. 174. 194 usw. — Walfische und Raubwale: Sh. I. 95. 98. 101. 108. 115. 116. 304. II. 272. N. I. 54. 55. F. 212. 213. — Delphine: N. II 15. F. 213. — Schraubeis: B. 153. Sh. II. 70. 138 278. N. I. 112. 370. II. 130. 149. 299 usw. — Blizzard und Vereisung des Schiffs: Sh. I. 157. 158. — Eierkucheneis: Sh. I. 81. II. 134. 179. B. 76. 77. N. II. 129. — Sturmvögel: Sh. I. 86. 88. 108. II. 196. B. 58. N. I. 273. II. 258. F. 214. — Riesensturmvogel: Sh. I. 88. B. 71. 142. — Schneesturmvogel: Sh. I. 88. II. 166. — Kap Adare: F. 151. 153. 155. 161 usw. — Viktorialand: F. 79. 151/161 usw. K. B. 123. 124. — Possessioninsel: F. 151.153. 155 usw. — Mount Sabine: F. 154. K. B. 123 usw. — Mount Melbourne: F. 152. 156 usw. — Franklininsel: F. 153.157. K. B. 123 usw. — Beaufortinsel: F. 153.157. — Prince-Albert-Berge: F. 157 usw. — Parry-Berge: F. 158 usw. — Landeis: F. 192. 193. 194. 198 usw. — Meereis: F. 192. 206. 207. 208 usw. — Mac-Murdo-Bay: Sh. I. 110. 155. F. 152. 153. 157. 161 usw. — Eisblink: Sh. I. 104. 110. II. 57. 58 usw. — Mount Erebus: Sh. I. 108. 168. 172. 223. 273. 302. 305. 307. 386. 492. H. 36. 40/50. 72. 132. 168. 302. F. 153. 157. 158 usw. — Mount Terror: Sh. I. 108. F. 153. 158 usw.
Kapitel 23. — Kap Bird: F. 153. 157 usw. — Bogenformen der Bankise: Sh. I. 90. — Höhlungen in derselben: Sh. I. 90/92. — Schneeflecken: N. I. 56 usw. — Algen: Sh. I. 285/286. N. I. 273. II. 137. F. 211 usw. — Algen ohne Licht: N. II. 150. — Pinguine, Pinguineier, Pinguinfleisch, Pinguinbrust, Pinguinfett: N. I. 49. 50. 51. 52. 273. 274. 300. 301. 303. 304. 306. 310. 327. 328. II. 334. 360. 386. B. 66. 71. 96. Sh. I. 101. 110. 120. 126. 131. 151. 168. 216. 301. 502. II. 32. 33. 37. 55. 64. 106. 113. 280. 315. F. 214 usw. Ferner: Brehm, Tierleben, und Carsten Borchgrevingk: »Das Festland am Südpol«, Breslau, Schottländer. Pinguingeniste: Sh. I. 110. 126. II. 64. 314. N. H. 110. 111. 122 usw. usw. — Adeliepinguine: Sh. I. 84. 87. 101. 116. 384. 385. 386. II. 38. 193. B. 142 usw. — Kaiserpinguine: Sh. II. 38. 116. 126. 182. 258. 264. 265. B. 103 bis 106. 108. 109. 142. 146. F. 214 (Königspinguine). — Eselpinguine: F. 214 usw. — Eudyptes: F. 214 usw. — Seehunde: Sh. I. 87. 102. 116. 365. 366. 367. 368. II. 34. 37. 38. 57. 98. 113. 116. 137. 142. 143. 148. 150. 170. 173. 175. 176. 182. 192. 193. 258. 264. 274. 280. 282. 289. 290. B. 66. 91.141.142.145.146. N. I. 235. 349 usw. F. 213 usw. — Seeleoparden: Sh.1.308. F. 213. N. I. 105.108. II. 340 usw. Siehe auch Brehm. — Weddellseehunde: N. I. 48. 49. 316. 317. 325. 370. II. 148. 242. 244. F. 213. Sh. I. 84. II. 38. 125. 126. Br. usw. — Krabbenfresser: Sh. I. 84. II. 57. 93. 98. F. 213. N. I. 61. Br. usw. — Seehundfleisch und -fett: N. I. 105. 235. II. 191 usw. usw. — Sturmvögel: siehe Kapitel 22. — Vögel: N. I. 50. 52. 108. 272. 273. II. 352 usw. — Skua- und Raubmöven: Sh. I. 121. 126. 171. 301. 424. II. 38. 87.141. 166.172.196. 224. B. 142 usw. — Skuamöveneier: Sh. II. 55. 87 usw. — Sturmschwalben: B. 142 usw. — Kaptauben: B. 142. N. I. 52. II. 131 usw. — Meerkrebse, Korallen, Seeigel, Schlangensterne, Lykodes: B. 92. 93. — Fischfang: N. II. 231 usw. — Drei Meter hoch aus dem Wasser emporschießende Pinguine: Sh. I. 151. Südpolarschnee in harten, trockenen Kügelchen: Sh. I. 86.
Kapitel 24. — Frechheit der diebischen Seetauben: N. II. 204. — Arbeit in Hemdärmeln, wegen der Sonnenhitze: N. I. 230. 320. 322. 324. II. 245. 258. — Megalestris: N. I. 52. 272. 273. — Chinois: N. I. 52. — Pagodroma und Ossifraga: N. I. 108. 208. II. 352. — Meerschwalbe, Dominikanermönch, Kormoran: N. I. 272. 273. II. 258. F. 214. — Skuamöve stiehlt brodelndes Seehundsfleisch aus der Bratpfanne: Sh. II. 172. — Fang von Skuamöven mit einer Leine: Sh. I. 121. — Herrliche Frische der Antarktis: Sh. I. 87. — Zahlreiche Süßwasserseen mit bunten Algen und Schwämmen: Sh. I. 170. 171. 286. — Vulkansand: Sh. I. 210. 285. — Eingehen von Ponys infolge Genusses von salzigem Vulkansand und giftigen Hobelspänen: Sh. I. 210/213. — Plötzliches Abbröckeln der Bankise: Sh. I. 97. 98. N. I. 340. — Zurückweichen der Bankise, Verschwinden und Entstehen von Buchten: Sh. 1.97. 98. — Kleine Flechten und eigentümliche, im Vulkansand wachsende Algen: Sh. I. 285. F. 210/212.
Kapitel 25. — Lukullische Träume: Sh. I. 491 (von Butter und Käse) u. ö.; II. 6 (von Zucker und Brot) 12. 184. 225. 228 (die Unterhaltung der Darbenden dreht sich nur noch um das Menü früherer oder künftiger herrlicher Mahlzeiten). N. I. 245. 336. — Robbenfett als vorzüglichstes Brennmaterial: Sh. I. 289. II. 151. N. II. 192. 193 usw. — Seehundsfelle als Brennmaterial: N. I. 312. 318. 332. 333. B. 92 (Fettlage 10 Zentimeter dick!) usw.
Kapitel 30. — Feuchtigkeit und Tauwetter: N. I. 172. 173. 176 212. 333. 334. Sh. II. 203. 209. 217. 255 usw. — Falklandsinseln: N. II. 8/11 usw. — Enderbyland: F. 173. 174 usw. — Antarktische Konserven: N. II. 235. — Seehundsspeck als Leckerbissen: N. II. 191. 228. 340 usw. — Schmiede: N. II. 323. — Backofen, Mehl, Brotbacken: N. I. 328. II. 248. 358. — Schuhwerk: N. II. 206. — Galoschen: N. II. 356. — Anzüge: N. I. 330. — Gunnar Anderssons Hemdwechsel: N. II. 237. 355. — Schlafsäcke: N. II. 238 usw. — Schneebrillen: N. II. 147. 149. Sh. I. 379. 380 usw. — Pemmikan: N. I. 241. 364 usw.
Kapitel 31. — Moose, Insekten, Versteinerungen: N. I. 277, 278. II. 121. F. 141, 210/212 usw. — Annahme eines tropischen Klimas am Südpol: N. I. IX. XII. 77 (Grashüpfer). — Höchste und niedrigste Temperatur: N. II. 208, 209, 210, 365. Sh. I. 236, 261, 306, 316, 321. F. 181/183. — Warme Südwinde: N. I. 150, 285, 316. — Leuchtende Iriswolken: N. I. 218, 219. — Erfrorene Füße: N. II. 246, 248. — Verbrannte Hand: N. II. 267, 268. — Schnupfen: N. I. 256. B. 94 usw. — Schneeblindheit: Sh. I. 379, 380, 386, 387. N. I. 256. II. 147, 149.
Kapitel 32. — Streiche der mandschurischen Ponys: Sh. I 210 bis 213. — Wie sich die schneeblinden Hunde heilen: Sh II. 86. — Täuschende Luftspiegelung, die alles näher erscheinen läßt: Sh. I. 172, 173 usw. — Sonnenuntergang: Sh. I. 304, 305. — Pistolenschnellfeuer des gefrierenden Tauwassers: Sh. II. 94. — Ein Schneesturm entführt einen fünf Pfund schweren Filzschuh durch die Luft: Sh. I. 180. — Des dicken Mackay Bambusbett schnappt aus: Sh. I. 190. — Salz in Kaliko gewickelt als Brennmaterial: Sh. I. 154. — Das Mövespiel und seine Folgen: Sh. I. 160.
Kapitel 34. — Falklandshunde und Grönlandshunde, bzw. sibirische Hunde: N. I. 317, 318 usw. — Sastrugis: Sh. I. 235, 236, 254, 257, 270, 321, 328, 334, 342, 343, 379, 384, 388, 393, 396, 398, 401, 404, 409, 446, 457, 459, 466, 473, 478, 488, 490. II. 16, 19, 24, 76, 113, 114, 116, 118, 124, 125, 138, 145, 166, 168, 182, 183, 186, 189, 205, 223, 226, 231, 236, 242, 244, 245, 280. — Alles erscheint bei zerstreutem Licht eben: Sh. I. 379. — Gletscher- und Eisspalten: N. I. 246, 248. II. 126 usw. usw. Sh. I. 376, 381, 382, 417, 418, 426, 428, 429, 430, 431, 435, 436, 439, 444, 445, 446, 448, 449, 450, 452, 455, 456, 457, 476, 478, 480, 482, 484, 503. II. 22, 24, 25, 52, 64, 65, 66, 76, 77, 78, 84, 107, 187, 189, 190, 193, 194, 198, 205, 207, 208, 209, 214, 220, 244, 246, 247, 251, 254, 255, 269, 275. — Seeelefanten: N. II. 64/66. Br. B. 65, 71. Sh. II. 314. F. 213 usw. usw. — Winterseehunde: N. I. 316, 317, 325. II. 230 usw.
Kapitel 38. — Wunderbare Farbenspiele bei Sonnenaufgang und -untergang: Sh. I. 338/340. — Gesteinsbildungen: Sh. II. 135, 136.
Kapitel 39. — Mammut: M. R. I. 651, 652. G. R. 101/104, 554, 555. W. 89, 94. P. IV. 106. — Dinotherium: M. R. I. 443/446. G. R 495. W. 73, 74. — Pterodaktylus: M. R. I. 432. G. R. 366. W. 60. K. B. 618, 624. — Riesentintenfisch: M. R. I. 498, 584. G. R. 347/352. — Plesiosaurus: M. R. I. 433/435. G. R. 357, 358. W. 53, 59. K. B. 614, 618, 622, 624. — Ichthyosaurus: M. R. I. 431/435. G. R. 355/357. W. 53, 54. K. B. 614, 618, 622, 624. — Über die Urwelttiere siehe ferner: Heer, »Die Urwelt der Schweiz«, Dr. Fritz Halden, »Ausgestorbene Riesen der Tierwelt« (»Von Land zu Land« 1907, Heft 3.) — In Deutsch-Ostafrika wurde ein Diplodocus ausgegraben, dessen Oberarm 2,10 Meter, ein Halswirbel 1,20 Meter, eine Rippe 3,50 Meter, bei 15 Zentimeter Breite, in der Länge maßen (Gen.-Anz. Pforzh. Nr. 303, 28. Dez. 1910). — Der Franzose Dupuy mit vier anderen Forschern sahen nördlich von Klondyke einen lebenden Keratosaurus, 8 Meter hoch, den Kopf 13 Meter hoch tragend, und etwa 23 Meter lang: seine Stimme habe wie Donner geklungen. Von diesem Ungetüm liegen zahlreiche Berichte aus Alaska vor, unter anderen sah es auch der Jesuitenpater Levagneux (Pforzh. Gen.-Anz. Nr. 122, 25. Mai 1908). — Als Längenmaße werden ferner angegeben: Stegosaurus 10 Meter, Ichthyosaurus 12 Meter, Brontosaurus 22 Meter usw. (Hohenloher Bote, Öhringen, 1. Okt. 1910: »Urweltriesen«). — »Wie die Vögel der Urzeit flogen« (Stuttg. Neues Tagblatt Nr. 616, Morgenausgabe, 4. Dez. 1918): »In den fernsten Zeiten der Erdgeschichte lebte ein geflügeltes Reptil, das eine Spannweite von über 8 Meter hatte, und trotz seiner riesigen Größe, wie paläontologische Forschungen jetzt gefunden haben, imstande war, Flüge von 150 Kilometern auszuführen. Man hat außerdem Spuren von riesigen Wasserjungfrauen gefunden, deren Flügel etwa einen Meter maßen.«
Kapitel 40. — über die »Fabeltiere«, die jedoch kein vernünftiger Mensch alle ohne weiteres in das Reich der Fabel verweisen wird, siehe insbesondere »Gartenlaube« 1907, Nr. 1.
Kapitel 41. — Die Berichte über die Seeschlange, die Münkhuysen anführt, sind durchweg authentisch. Angesichts solcher zahlreicher Zeugnisse sämtlich glaubwürdiger, nüchterner Männer, ist es wirklich ein bedenkliches Zeichen, daß zweifelsüchtige geistige Beschränktheit heutzutage noch hartnäckigst die Tatsachen leugnen kann, wie so lange Zeit in bezug auf die Riesenkraken, und daß derartige unwissenschaftliche Auslassungen in Blättern Aufnahme finden, die auf der Höhe wissenschaftlicher Bildung stehen wollen. So lesen wir im »Daheim« vom 25. Mai 1907, Nr. 34, S. 9 (»Karl von Linné, der Reformator der Naturwissenschaften«, von Gustav Thormälius): »Die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur ist noch sehr jung. Es bedurfte vieler Jahrhunderte, ehe sich die Mythen, Märchen und Wundergeschichten davon loslösten; die ›Seeschlange‹ ist sogar heute noch nicht ganz überwunden.« Man kann im voraus sagen, wie ein solch überlegener Zweifler über die Wünschelrute und andere allmählich von der ernsten Wissenschaft anerkannte Tatsachen süffisant und spöttelnd aburteilen wird. Diese blöde Zweifelsucht ist einer der wesentlichsten Hemmschuhe gesunden wissenschaftlichen Fortschritts. — Über die Seeschlange siehe ferner: »Daheim« Nr. 49, 8. Sept. 1906. Im Staatsanzeiger für Württemberg Nr. 218, vom 16. Sept. 1912, lesen wir: »Sollte die Seeschlange wirklich existieren? Kapitän Ruser vom Dampfer ›Kaiserin Auguste Viktoria‹ berichtet in seinem meteorologischen Tagebuch vom 5. Juli 1912, daß er eine Seeschlange im Englischen Kanal beobachtet habe. Er schreibt: Um 6 Uhr 30 Minuten vormittags sichteten wir eine etwa 20 Fuß lange Seeschlange, die sich scheinbar im Kampfe mit einem anderen Tiere befand, da sie mit dem etwa 10 Zoll im Umfang dicken Schwanzende heftig das Wasser peitschte. Das Schiff befand sich derzeit bei Prawle Point. Das Tier war unmittelbar längsseits des Schiffes und wurde gleichzeitig vom Kapitän, ersten Offizier und dem an Bord anwesenden Elbelotsen beobachtet. Die Färbung schien graublau auf dem Rücken und weißlich unter dem Bauch, der Durchmesser etwa 1 bis 1½ Fuß. Ein Verwechseln mit hintereinander schwimmenden Delphinen ist ausgeschlossen. Das Tier konnte in seiner ganzen Länge beobachtet werden.« — Weitere Zeugnisse führt C. K. in der Württemberger Zeitung, Stuttgart, 20. Juni 1908, S. 8, an: »Wenige historische Fakten des Altertums mag es geben, die so viel Geschichtschreiber zu Gewährsmännern haben und so genau geschildert werden, wie das Auftreten einer riesigen Schlange im Flusse Bagrada 256 v. Chr. Das römische Heer bei Karthago war genötigt, das riesige Tier, das eine Länge von 120 Fuß gehabt haben soll, mit Ballisten und Katapulten zu beschießen, und als das Ungeheuer schließlich von einem großen Felsblock zerschmettert wurde, da schickte man die Haut als Wahrzeichen nach Rom und hing sie im Tempel auf. Die berühmte Seeschlange aber kann sich nicht nur auf das Zeugnis des Altertums berufen, bis in die jüngste Zeit hinein hat es nicht an Fällen gefehlt, da ganz und gar nicht abergläubische Reisende ein rätselhaftes schlangenähnliches Tier auf den Wasserwogen gesehen haben wollen; erst vor wenigen Monden beobachteten zwei Passagiere an Bord der Jacht ›Walhalla‹, Meade Waldo und M. Niaoli, an den Küsten Brasiliens ein wunderliches Meeres ungeheuer und statteten, wie die Lectures pour Tous zu berichten wissen, der Pariser Zoologischen Gesellschaft einen genauen Bericht ab. Das Tier hatte eine Länge von etwa 20 Meter, grüne Farbe, und auf einem schlanken, beinahe 3 Meter langen Hals ragte ein großer Kopf, in seiner Form dem der Schildkröte verwandt, empor. 1904 gab der französische Schiffsleutnant L'Eost, der Kommandant des Kanonenbootes Décidée, Bericht von einer ähnlichen Erscheinung, die er in der Bai von Along wahrnahm. ›In einer Entfernung von etwa 300 Meter sah ich den Rücken des Tieres. Kurz darauf kam die Masse in Bewegung, sie glich einer Schlange von vielleicht 30 Meter Länge und etwa 4 Meter Dicke. Der Kopf ähnelte dem einer Schildkröte. Flossen konnte niemand beobachten.‹ Sechs Jahre früher hatte der Kommandant des französischen Schiffes ›L'Avalanche‹ eine ähnliche Erscheinung zu melden; das Tier bewegte sich in schlangenartigen Windungen und zeigte eine Länge von etwa 20 Meter. 1877 berichtete die Mannschaft der Barke ›Pauline‹ übereinstimmend von dem Auftauchen des rätselhaften Meerungeheuers, und kurz darauf kam vom Dampfer ›City of Baltimore‹ vom Golf von Aden und von der Königlichen Jacht ›Osborne‹ vom Kap Vigo eine ähnliche Meldung.«
Kapitel 42. — »Über die Anlage von alten städtischen Plätzen«: Pforzheimer Beobachter, 11. August 1894. — »Vom Städtebau bei den Alten« (Vitruv): Deutsche Reichspost, Stuttgart, Nr. 271, 18. Nov. 1907.
Kapitel 43. — Über die verwirrten Begriffe des Simplizissimus betreffend die »rasend schnelle« Umdrehung des Pols, siehe Pforzheimer Familienblatt (zum Generalanzeiger Pforzheim) Nr. 3, 23. Januar 1910. — Ganz der gleiche Unsinn findet sich auch — allen Ernstes! — im Kladderadatsch. Beide Notizen blieben unwidersprochen!
Kapitel 44. — Atlantosaurus: W. 67. G. R. 362.
Kapitel 45. — Kemp-Land: F. 173,174. — Richthofental: N. I. 252. — Snow-Hill-Insel: N. I. 122, 135, 136 usw. — Paulet-Insel: N. I. 60, 64, 66/68, 70, 72. II. 310, 328 ff. F. 136. — Aurora australis: Sh. I. 304. B. 109/111.
Zu Kapitän Münchhausens Theorie der Aufspeicherung von Licht- und Schallwellen in festen Stoffen, finde ich nachträglich eine interessante Tatsache in »Das Buch der 1000 Wunder« von Artur Fürst und Alexander Moskowski, München, Albert Langen, 6.-15. Tausend, S. 296: »Das festgehaltene Telephongespräch«. Hier wird die Erfindung des dänischen Ingenieurs Paulsen beschrieben, durch die Telephongespräche auf elektrisch-magnetischem Wege festgehalten werden. Es heißt dann hierüber: »Die Veränderungen in der Kraft des Magneten übertragen sich auf den Stahldraht, und so werden aus diesem die Telephonschwankungen gewissermaßen in Form von magnetischen Hügeln und Tälern ausgezeichnet. — Läßt man dann später den magnetisierten Draht unter einem anderen Elektromagneten hindurchlaufen, in dessen Stromkreis ein Telephon geschaltet ist, so wird dessen Membran genau in dieselben Schwingungen versetzt, wie es bei dem Ursprungsapparat durch den Mund des Sprechers geschah, und man hört das einstmals geführte Telephongespräch von neuem und kann es so oft abhören, wie man will. Dabei erlebt man die angenehme Überraschung, daß dieser elektrische Phonograph ohne jedes Nebengeräusch spricht, ja, daß er das aufgenommene Gespräch deutlicher wiedergibt, als es durch den Telephonhörer direkt zu vernehmen war.« Dieser sinnreiche Apparat wird Telephonograph oder Telegraphon genannt.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
Go to Home Page
This work is out of copyright in countries with a copyright
period of 70 years or less, after the year of the author's death.
If it is under copyright in your country of residence,
do not download or redistribute this file.
Original content added by RGL (e.g., introductions, notes,
RGL covers) is proprietary and protected by copyright.