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"Die Flucht aus dem Sudan,"
Adler Bibliothek, Band 5, Verlag W. Herlet, Berlin, 1903
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
"Die Flucht aus dem Sudan,"
Adler Bibliothek, Band 5, Verlag W. Herlet, Berlin, 1903
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
"Die Flucht aus dem Sudan,"
Union Deutsche Verlagsgesellschaft,
Stuttgart, Berlin, Leipzig, 1925
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
"Die Flucht aus dem Sudan,"
Union Deutsche Verlagsgesellschaft,
Stuttgart, Berlin, Leipzig, 1925
(Aus dem Archiv von Walter Mayrhofer)
Die drei Erzählungen »Die Flucht aus dem Sudan«, »Die Messingstadt« und »Die Fremdenlegionäre« gehören insofern zusammen, als die letzte den Schluß der beiden ersteren enthält, doch nicht so, daß nicht auch jede für sich gelesen werden könnte.
Statt eines Vorworts will ich hier einige Grundsätze namhaft machen, die ich in meinen Erzählungen befolge.
Ich vermeide alles, was mich beim Lesen anderer Bücher geärgert hat: Dazu gehören die völlig nichtssagenden Überschriften »Erstes Kapitel«, »Zweites Kapitel« usw. Freilich ist es oft leichter, ein Kapitel zu schreiben, als eine wirklich passende Überschrift dafür zu finden; allein der Leser hat von solchen geistlosen Numerierungen — nichts! Jeder Abschnitt soll eine Überschrift haben, die das Wesentliche seines Inhalts kurz und klar ausdrückt, so daß der Leser weiß, was er zu erwarten hat, ohne daß ihm zu viel verraten wird.
Es gibt ferner einen äußerst billigen Kunstgriff, die Spannung des Lesers zu erhöhen, ja sozusagen ihn auf die Folter zu spannen. Man bricht einfach da ab, wo eine Lösung erwartet wird, auf die man begierig machte, und bringt etwas ganz Neues oder die Fortsetzung eines früher abgebrochenen Fadens, um erst später die sehnlichst erwartete Lösung zu geben.
Dieses Verfahren hat mich immer unangenehm berührt und scheint mir ungesund. Ich führe daher die einzelnen Ereignisse bis zu einem Abschluß, einem Ruhepunkt, ehe ich mit einem neuem beginne. Den Zusammenhang unnötig zu zerreißen, halte ich für eine verwerfliche Künstlichkeit — keine Kunst! —, die eine ungesunde Aufregung erzeugt, nur um eine stärkere Wirkung zu erzielen und das Werk dadurch interessanter scheinen zu lassen.
Schließlich fühle ich mich verpflichtet, alles zu erzählen und zu beschreiben, und zwar so vollständig, als es der Leser mit Recht beanspruchen kann geschildert zu finden. Es ist äußerst einfach, wenn einem eine Schilderung Schwierigkeiten macht, zu behaupten, die Feder sträube sich, das weitere zu berichten, oder es sei unmöglich, es zu schildern und was dergleichen Ausflüchte noch mehr sind, oder gar zu erklären, es müsse dem Leser selber überlassen bleiben, sich das Fehlende auszumalen. Soll der Leser leisten, was man bekennen muß, selber nicht leisten zu können? So stellt man eine weiße Leinwand auf die Staffelei und überläßt es dem Beschauer, sich das Bild auszumalen, das darauf gemalt sein könnte! Ist das Kunst, ja ist es auch nur Vernunft?
Ich halte es für ehrlicher und anständiger, die Arbeit selber zu leisten und sich nicht zu dem zu versteigen, dem man sich nicht gewachsen fühlt. Fällt aber eine Schilderung schwächer aus, als der Leser es erwartet hat oder als er sie selber hätte niederschreiben können, so hat der Verfasser doch das Seinige nach Kräften getan und muß es sich eben gefallen lassen, wenn er nicht jeden Leser befriedigen konnte.
Vollkommenes zu schaffen, ist keinem Sterblichen gegeben. Ist es nicht genug, wenn man Vielen eine Freude machen konnte und vielleicht einigen Gewinn brachte, nicht mit jeder Seite, nicht mit jedem Abschnitt seines Werkes, aber doch mit einzelnen seiner Teile und schließlich mit dem gesamten Werk im großen ganzen, unbeschadet daß es nicht auf Schritt und Tritt jeden zu befriedigen vermochte? Und dann bleibt noch der Trost, daß nicht selten eben das einem andern gefällt, was des einen Widerspruch herausforderte.
Stuttgart, Am Kochenhof 1 Friedrich Wilhelm Mader
Siegmund von Helling, Leutnant (Ismain el Heliki)
Albert Sieger, Ingenieur (Abd el Ziger)
Ella, seine Frau
Johannes, sein Sohn (Osman)
Fanny, seine Tochter (Fatme)
Josef, sein Diener (Jussuf)
Emin Gegr um Salama
Mohamed Achmed, der Mahdi
Abdullahi, sein Kalifa
Farag Pascha
Abu Karga, Emir des Mahdi
Petrus Polus, Schreiber.
Mohamed, ein Somali
Hassan, sein Sohn
Amina, seine Tochter
Ali bin Said, ein arabischer Schütze
Raschid bin Karam, Bimbaschi der Wache
Selim, Wächter
Halef, Wächter
Hussein, Wächter
Mambanga, ein Negersklave
Omar, ein Sudanese in Gedid
Hassan Bey Omkadok, Mulazem des Kalifa
Ismain, sein Bruder, Bimbaschi der Wache
Idris el Seier, Gefängnisaufseher
Abdullahi Dud Benge, Sultan von Niurnja
Jack I., Kaiser der Sahara
Asawa, ein Negerkönig
Es war am Sonntag, den 25. Januar 1885. Glühend brütete die Mittagsonne über Khartum, der Hauptstadt des ägyptischen Sudans.
Ein Offizier in europäischer Uniform stand hochaufgerichtet am äußersten Ende des Walles, den Abd el Kader zum Schutze der Stadt errichten ließ, im Westen gegen den Weißen Nil zu. Unbeweglich stand der Mann mit gekreuzten Armen da und schien sich nicht im geringsten um die Kugeln zu bekümmern, die oft in seiner nächsten Nähe in das Mauerwerk einschlugen. Trübe schweifte sein Blick hinaus in die weite Ebene. Dort lagerten in unabsehbaren Scharen die Derwische, wie die Araber und Sudanesen genannt wurden, die dem Rufe des Mahdi gefolgt waren, um unter seiner heiligen Fahne die Welt zu erobern und die Ungläubigen zu bekehren oder auszurotten.
Was hatte diese Massen in Bewegung gebracht? Was erfüllte sie mit solcher Begeisterung und Todesverachtung, daß selbst europäische Kriegskunst ihnen nicht gewachsen war? Und was würden die nächsten Tage bringen, — Rettung oder Vernichtung?
Die fanatischen schwarzen und braunen Horden, Neger und Araber, die mit Weibern und Kindern zu Hunderttausenden die Stadt umlagerten, erfüllten für gewöhnlich die Lüfte mit ihrem wilden Geheul, dessen Schall wie Meeresbrausen nach Khartum herüberdrang. Heute aber war es still; eine bedrückende, unheimliche Stille. Ein Befehl des vergötterten Herrschers hatte den Massen Schweigen auferlegt, und nur das Donnern der Geschütze ließ sich vernehmen.
Langsam ließ der Offizier seine Blicke umherschweifen: dort über dem Fluß grüßte die Feste Omderman herüber, die vor zehn Tagen, durch den Hunger gezwungen, sich dem Mahdi hatte übergeben müssen. Dahinter ragte in der Ferne der Berg Margaya. Im Norden leuchteten die flachen Dächer von Khartum, über welchen die Palmenwipfel der Insel Tuti am Zusammenfluß des Weißen und des Blauen Nils sichtbar wurden.
Im ganzen war es ein malerisches Panorama: die Stadt mit ihrem orientalischen Charakter, die beiden Flüsse mit der verschiedenen Färbung ihres Gewässers, die zierlichen Palmenwipfel, das unabsehbare Lager des Mahdi und der tiefblaue Himmel darüber, von welchem aus sich flimmernder Sonnenschein über das ganze Bild ergoß.
Der junge Offizier aber schien kein Auge für die Schönheit der Aussicht zu haben, denn sein Antlitz blieb düster und traurig.
Da schlug eine Kugel hart neben ihm in den Wall; Lehm und Steine bröckelten ab und fielen polternd in den Graben, den die Mauer säumte.
»Zurück, Herr Baron!« rief in diesem Augenblick eine männliche Stimme in deutscher Sprache, »wollen Sie diesen elenden Derwischen Ihr Leben umsonst opfern?«
»Was liegt daran, Herr Ingenieur?«
»Was daran liegt?« entgegnete der andere, den Offizier freundschaftlich am Arm fassend und von der Brüstung herabziehend. »In dieser Zeit gilt jedes Menschenleben viel für eine bedrängte Stadt, deren Männer dahinsterben wie die Fliegen; am wertvollsten aber ist für uns das Leben eines europäischen Offiziers. Hätten wir noch ein Dutzend solcher, wir wären um unser Schicksal nicht mehr bange!«
Ingenieur Albert Sieger, der diese Worte sprach, war ein hochgewachsener Mann; sein Antlitz war von der Sonne gebräunt, wie übrigens jedes Antlitz in diesem Glutklima; der blonde Vollbart jedoch, der dieses dunkle Gesicht umrahmte, ließ auf deutsche Abkunft schließen.
Leutnant Siegmund von Helling war offenbar um mehrere Jahre jünger als sein süddeutscher Landsmann. Fünfundzwanzig Jahre mochte er zählen. Ein glänzend schwarzer Schnurrbart schmückte sein männlich schönes Antlitz, das trotz seines schwermütigen Ausdrucks einen Zug gewinnender Freundlichkeit nicht zu verhehlen vermochte. Anscheinend widerwillig folgte er seinem Begleiter und ließ sich von ihm der Stadt zuführen.
Da Helling schweigend verharrte, begann Sieger aufs neue das Gespräch. »Ich entdeckte Sie auf dem Wall, als ich vom Dach meines Hauses mit dem Fernrohr Umschau hielt, und bin sofort herbeigeeilt, Sie von diesem gefährlichen Standpunkte wegzuholen: Wissen Sie, welchen Eindruck Ihre Tollkühnheit macht? — Als suchten Sie den Tod!«
»Kann sein!« erwiderte Helling achselzuckend.
»Hören Sie einmal! Ein junger Mann wie Sie, der ein reiches Leben vor sich hat ...«
»Mir hat das Leben nichts mehr zu bieten: Ehre verloren — alles verloren!«
»Wer Ihnen in die Augen sieht, wird Sie keiner ehrlosen Handlung für fähig halten.«
Helling lachte trocken auf: »Beweis, daß der Schein trügt. Aber ich weiß nicht, wie ich dazu komme, Ihnen das zu sagen, ich gedenke nicht zu beichten.«
»Ich will nicht in Ihr Geheimnis dringen, und weiß wohl, wie streng die Ehrbegriffe Ihres Standes sind. Aber soll der, welcher einmal gefehlt hat, ein junges, aussichtsvolles, tatkräftiges Leben einfach wegwerfen? Ist es nicht viel ehrenvoller, den Fehler durch ein männliches Aufraffen, durch ein neues Leben voll edler Taten wieder gut zu machen? Verzeihen Sie mir, aber Sie und Ihre Gesinnungsgenossen kommen mir vor, wie Leute, die jeden noch so tragfähigen Obstbaum zum Gefälltwerden verurteilen, weil er einmal eine faule Frucht getragen! Weg mit den faulen Früchten, junger Freund, und vorn anfangen!«
»Sie haben gut reden,« erwiderte der Offizier freundlicher, aber tieftraurig. »Für mich aber liegt der Fall anders.«
»Mag sein! Ich kann mir wohl denken, daß ernste Gründe Sie bewogen haben, Ihre deutsche Heimat und den vaterländischen Heeresdienst in so jungen Jahren zu verlassen. Möglich, daß irgendein Verhängnis Ihnen die Rückkehr, wenigstens vorläufig, verwehrt. Aber jetzt sind Sie im Sudan: da fragt niemand nach Ihrer Vergangenheit, und jedem tüchtigen Europäer winkt hier die glänzendste Zukunft — vollends dem Offizier. Sehen Sie, da ist Giegler Pascha, war ein einfacher Telegraphenbeamter, wurde Generalgouverneur des Sudans; da ist Emin Bey, ein Arzt, dessen Vergangenheit auch ein dunkles und trauriges Geheimnis birgt: er ist Gouverneur von Hat-el-Estiva, der Äquatorialprovinz, ein geachteter Beamter und ein berühmter Mann.«
»Wenn auch solche Aussichten mich locken könnten, damit ist es aus: der Sudan ist verloren und uns allen steht ein trauriges Geschick bevor.«
»Oho! So schlimm ist es doch noch nicht: jeden Tag können die Dampfer mit den Entsatztruppen erscheinen.«
»Wie lange hofft man nun schon darauf! Ich sage Ihnen, Wolseley geht viel zu langsam vor: Ich weiß nicht, was er sich einbildet, aber ich fürchte, er wird endlich ankommen, wenn es zu spät ist.«
»Er kann unmöglich mehr lange ausbleiben, und ein paar Tage halten wir noch aus, trotz Hungersnot und Derwischkugeln.«
»Wenn der Mahdi uns noch ein paar Tage Frist läßt! Aber mir ahnt Schlimmes: die unheimliche Stille heute —: es bereitet sich etwas vor. Und noch mehr! Gordon ist von Verrätern umringt: sehen Sie dort die Stelle? Da ist die größte Bresche im Wall: warum wird sie nicht ausgebessert? Dort kommandiert Farag Pascha: ich traue dem Kerl nicht.«
»Also! Rasch zu Gordon: der Wall muß noch heute ausgebessert werden. Da sehen Sie, wie nützlich Sie sich noch machen können mit Ihrem strategischen Scharfblick. Und Sie wollen Ihr Leben wegwerfen? Soll es gestorben sein — schauen Sie dort die Massen der Derwische: da gibt es nützliche Arbeit für einen, der ehrenvoll und nicht umsonst sterben will!«
»Sie haben recht! Ich habe viel wieder gut zu machen, wenn überhaupt von Wiedergutmachen die Rede sein kann. Ich suche den Tod, als Sühne für meine Verirrungen: das will ich nicht verhehlen. Allein nutzlose Aufopferung wäre in der Tat eine schlechte Sühne. Kämpfend will ich sterben, als ein Held, und das Bewußtsein treuer Pflichterfüllung soll mir im Tode den Trost gewähren, den ich vom Leben nicht mehr erhoffen darf.«
Als Sieger mit Helling die Straßen von Khartum durcheilte, um General Gordon aufzusuchen, kam ihnen ein hagerer Mann in arabischer Tracht entgegen. Kaum hatte er die beiden erblickt, als er rasch mit der Hand gegen den Turban fuhr, als wolle er ihn zurechtrücken. In Wirklichkeit war es ihm nur darum zu tun, seine Gesichtszüge zu verbergen, um nicht erkannt zu werden. Diese waren von abschreckender Häßlichkeit. Schon von Natur mochten die groben Formen, die dicke Nase und die wulstigen Lippen nichts Anziehendes haben. Nun aber war die eine Gesichtshälfte überdies grauenhaft entstellt durch eine tiefe Narbe, die sich von der linken Augenhöhle bis zu dem mit spärlichen Barthaaren bewachsenen Kinn herabzog: das linke Auge selber war nicht mehr vorhanden.
Von den eilig einherschreitenden Männern wurde der Orientale nicht weiter beachtet. Er bog schleunigst in eine Seitengasse ein, bevor er mit ihnen zusammentraf. Dann wandte er sich zu einem hinter ihm herkommenden Fellachen: »Kennst du die beiden Herren?« fragte er ihn.
»Das ist der Leutnant Helling und sein Freund, der Ingenieur Sieger,« antwortete der Mann und ging seines Weges weiter.
Der Einäugige trat zurück an die Straßenecke und spähte den beiden nach.
»Sieger?« murmelte er höhnisch auflachend: »Otto von Helling, du hast dir vergeblich den Bart wachsen lassen und einen anderen Namen angenommen! Das eine Auge, das mir dein Bruder gelassen hat, ist scharf genug, dich zu erkennen. An deinem Bruder Siegmund wollte ich mich rächen: nun führt mir das Schicksal auch dich in die Hände, der für tot galt und den ich noch mehr hasse als den anderen. Du hast mir das Liebste geraubt, und sie hat dich mir vorgezogen und sich dadurch den Freund zum Feind gemacht. Sie soll das erste Opfer meiner Rache werden, und damit treffe ich auch dich ins Herz. Dann aber kommen die sauberen Brüder an die Reihe! Ihr ahnt mein Hiersein nicht, aber bald sollt ihr es inne werden, daß der Geiger euch nicht vergessen hat und sich zu rächen versteht an seinen Todfeinden!«
Auf Umwegen verließ der verkappte Deutsche die Stadt und eilte der Stelle des Walles zu, in der die Bresche gähnte, deren sofortige Ausbesserung Helling und Sieger veranlassen wollten. Dort traf der verdächtige Schleicher mit dem Kommandanten Farag Pascha zusammen, wie er beabsichtigt hatte. Im Flüstertone unterhielt er sich mit diesem eine geraume Weile. Dann begab er sich durch das Kalakle-Tor vor die Mauer hinaus. Am Dorfe Kalakle vorbei eilte er auf den Baum des Muha Bey zu.
In Khartum hatte sich niemand weiter um den Mann gekümmert, so ausfallend auch sein ganzes Benehmen erscheinen mußte, zumal der Umstand, daß er die belagerte Stadt allein verließ. Aber einmal war die Aufmerksamkeit der Wächter auf den Wällen durch Hunger, Überanstrengung und Hoffnungslosigkeit eingeschläfert; sodann kam es hie und da vor, daß Botschaften zwischen dem Lager des Mahdi und der belagerten Stadt getauscht wurden, und wer etwa den Vorgang beobachtet hatte, mußte denken, um eine solche Botschaft handle es sich in diesem Fall; denn wer wollte sonst wagen, bei lichtem Tage sich in das feindliche Lager zu begeben? Und wie wäre es denkbar gewesen, daß einem Unbefugten das Tor überhaupt geöffnet worden wäre?
Freilich, hier handelte Farag Pascha auf eigene Faust: er kannte Gordons sorgloses Vertrauen zur Genüge, um zu wissen, daß er es ohne Bedenken und ohne Gefahr mißbrauchen konnte.
Am Ufer des Weißen Nils landete eine Barke, die den Boten aufnahm und übersetzte. Dann wurde er sofort zum Mahdi geführt, denn er war bereits eine bekannte Persönlichkeit im Lager der Derwische.
Mohamed Achmed, der Mahdi, war ein großer, breitschulteriger Mann von lichtbrauner Hautfarbe; seine großen, schwarzen Augen leuchteten in eigentümlichem Glanz, und der feingeformte Mund ließ in ewigem Lächeln die weißen Zähne sehen, deren Schmelz durch die Schwärze des Bartes, der das Gesicht umrahmte, gehoben wurde.
»Was bringst du mir für Kunde, Emin Gegr?« frug der Mahdi den Ankömmling, der sich vor ihm niedergeworfen hatte und die dargebotene Hand küßte.
»Alles ist bereit, Herr! Farag wird euch ohne Widerstand einlassen!«
»Es ist gut! Wir werden sehen. Verrätern ist nie zu trauen: doch wehe dem, der Allahs Gesandten zu täuschen sucht. Der Prophet wird mir eure Gesinnung offenbaren, und auch ohne eure Hilfe werde ich Khartum und die Welt erobern.«
»Doch will sich der Prophet seiner unwürdigen, aber treuen Diener bedienen, o Herr, und wir hoffen auf den Lohn, den deine Großmut uns gewähren wird.«
»An reichen Schätzen, treue Helfer zu belohnen, wird es mir nie mangeln.«
»Ich trachte weniger nach irdischen Gütern, als nach der Ehre, dir fernerhin dienen zu dürfen: lasse mich als Emir in deiner Nähe bleiben, und es wird mein Glück sein, die Sonne deines Angesichts zu schauen, und meine Wonne wird es sein, deine Feinde zu vertilgen.«
»Der Lohn wird euren Taten entsprechen,« erwiderte der Mahdi, immer lächelnd. »Haltet euch bereit beim ersten Morgengrauen!«
Nachdem der Herrscher noch die wichtigsten Einzelheiten des verräterischen Planes mit dem gewissenlosen Schurken besprochen hatte, entließ er ihn mit seiner gewöhnlichen leutseligen und doch so rätselhaft zweideutigen Freundlichkeit.
Emin Gegr um Salama, wie der Verräter vom Mahdi genannt wurde, entfernte sich auf dem Wege, den er gekommen war. Es war bereits Nacht, als er innerhalb der Umwallung mit Farag wieder zusammentraf.
»Es ist Befehl vom Mudir gekommen, den Wall hier auszubessern,« sagte Farag mit boshaftem Lächeln, nachdem er Emins Bericht angehört.
»Haha! Gordon ist etwas spät daran! morgen wird die Arbeit überflüssig sein.«
»So scheint es nach Allahs Rat. Aber wie wird es uns gehen?«
»Wir beide haben nichts zu fürchten: der Mudir hat keinen Verdacht. Sein Untergang ist sicher: die Aasgeier schwebten über seinem Schiff, als er den Nil herauffuhr, genau wie sie die Armee des Hicks Pascha auf ihrem Zug ins Verderben begleiteten.«
»Von Gordon fürchte ich nichts, aber von den Derwischen: die Nacht ist dunkel, und mein Geist sieht noch schwärzere Nacht; doch was Allah bestimmt hat, läßt sich nicht ändern.«
»Morgen wird es Tag auch in deinem Geiste,« spottete Emin mit widerlichem Lachen. »Die Sonne wird rot aufgehen! Aber jetzt muß ich in die Stadt und wachen, daß nichts geschieht, was unsere Pläne durchkreuzen könnte.«
Mit diesen Worten verabschiedete er sich von seinem Spießgesellen und begab sich in die Stadt zurück. Hier lagen die meisten Einwohner schon in tiefem Schlaf und so düster und sorgenschwer ihnen die Zukunft auch erscheinen mußte, so ahnten sie doch nicht, wie schauerlich schon ihr nächstes Erwachen sein sollte.
Schon über ein Jahr war Khartum von den Mahdisten belagert. Im November 1883 hatte Hagg Mohamed Abu Karga im Auftrag des Mahdi mit der Einschließung begonnen. England gab der Regierung in Kairo den Rat, den Sudan aufzugeben und den früheren Statthalter der Provinz, den General Gordon, mit der Räumung zu betrauen. Infolgedessen rief der Khedive den tüchtigen General-Statthalter Abd el Kader Pascha ab, dessen Tätigkeit nur zu kurz gedauert hatte, und Gordon erschien an seiner Stelle in der Hauptstadt. Das war im Februar 1884.
Gordon täuschte sich völlig über den Ernst der Lage und besaß allzuviel Selbstvertrauen. Er gedachte, die Ruhe wiederherzustellen durch Zurückziehung der ägyptischen Besatzungen und durch Gewährung der Selbstregierung an die Sudanesen unter seiner eigenen Oberhoheit.
Schon am Tage seiner Ankunft erklärte er den Sudan für unabhängig, ernannte den Mahdi zum Sultan von Kordofan, hob die Steuern auf, verkündete allgemeine Straflosigkeit und gestattete den Sklavenhandel wieder.
Allein Mohamed Achmed biß an diesem Köder nicht an: der Sudan befand sich in seiner Hand, bis auf Khartum, — er wollte nicht Herrscher von Gordons oder Englands Gnaden sein. An der Räumung des Landes durch Ägypten konnte ihm nichts gelegen sein, da sich die ägyptischen Besatzungen in seiner Gewalt befanden, soweit sie nicht niedergemetzelt worden waren. Er beantwortete daher Gordons Angebot mit der Forderung der Übergabe Khartums.
Der Engländer hinwiederum schritt zur Neubildung und Verstärkung seines Heeres und zur Anlage neuer Befestigungen.
Die Lage der Stadt verschlimmerte sich von Monat zu Monat. Die Bevölkerung bestand aus den verschiedenartigsten Elementen: da waren europäische und einheimische Kaufleute, ägyptische und sudanesische Beamte, und vor allem zahlreiche Araber aller Stämme, deren Zuverlässigkeit äußerst zweifelhaft war.
Die einheimische Bevölkerung machte gar kein Hehl aus ihrer Hinneigung zu den Aufständischen, und diese wurden jederzeit über die Vorgänge in der Stadt auf dem laufenden erhalten. Allerdings wurde jeder auf frischer Tat betroffene Verräter erbarmungslos hingerichtet, so daß die Furcht die anderen vielfach im Zaume hielt. Trotzdem mußte man vor den inneren Feinden fast noch mehr auf der Hut sein als vor den äußeren.
Die Stadt war von der Außenwelt völlig abgeschlossen, soweit nicht ihre Nildampfer noch einigen Verkehr aufrecht erhalten konnten. Diese unternahmen freilich häufige Fahrten, zuweilen kamen sie sogar bis Berber. Und doch half das wenig, weil die Stromufer größtenteils mit Rebellenhaufen besetzt waren und die ganze Bevölkerung sich feindselig zeigte, so daß nur unter den größten Schwierigkeiten und Gefahren von Zeit zu Zeit einige wenige Lebensmittel eingebracht werden konnten. So wütete schon zu Ende 1884 die bitterste Hungersnot in der Stadt: Gummi, gekochte Felle und noch zweifelhaftere Nahrungsmittel bildeten fast die einzige Kost.
Um diese Zeit erschien der Mahdi persönlich mit seiner Hauptmacht vor Khartum und umschloß das von Hicks Pascha befestigte Omderman so eng, daß der Hunger die Besatzung Mitte Januar 1885 zur Übergabe zwang. Sie wurde von Mohamed Achmed gütig aufgenommen, wie er sich überhaupt stets menschlich und zugänglich erwies, außer gegen Verräter. Die furchtbaren Greuel, die von seinen unbändigen Beduinenhorden verübt wurden, geschahen wider seinen Willen: weder seine noch irgend eine andere menschliche Macht hätte diese Fanatiker im Zaume halten können.
Inzwischen hatte sich England entschlossen, General Gordon Hilfe zu senden. Ein Heer von fünftausend Mann rückte unter General Wolseley vor. Aber so dringend und verzweifelt Gordon um Hilfe rief, wurde der Vormarsch mit unglaublicher Langsamkeit betrieben. Mitte November hatte das Entsatzheer Dongola verlassen und erst Mitte Dezember Korti erreicht.
Der Mahdi sandte ihm eine Abteilung Derwische nach Metamme entgegen, um es aufzuhalten. Es kam zur Schlacht, und die Verluste waren auf beiden Seiten bedeutend; doch behielten die Engländer den Sieg. Aber leider sollte das nichts helfen.
Das waren die Gegenstände, über die sich Sieger und Helling in der Wohnung des Ingenieurs unterhielten, nachdem sie Gordon bewogen hatten, den Befehl zur sofortigen Ausbesserung der Umwallung zu erteilen.
Wenn auch Not und Sorge das Gespräch beherrschten, so war es doch ein trauliches Stündchen, das der Leutnant im Kreise der kleinen Familie verbrachte: Siegers jugendliche Gattin sorgte für Behaglichkeit, und seine kleinen Kinder, der fünfjährige Johannes und die dreijährige Fanny, die trotz aller Entbehrungen von dem Ernst und den Gefahren der Lage noch nichts begriffen, sorgten durch ihre kindlichen Einfälle und drolligen Fragen für Erheiterung.
»Ich wollte, Gordon hätte meiner Warnung vor Farag Pascha Gehör geschenkt,« sagte Helling nach einer nachdenklichen Pause im Gespräch.
»Nun, jedenfalls haben wir den Befehl erwirkt, daß die Befestigungen gründlich wiederhergestellt werden.«
»Gegen Verrat wird das nicht viel helfen.«
»Glauben Sie mir, unsere Leiden gehen bald zu Ende: der große Sieg, den die Entsatzarmee über die Derwische erfocht, die ihren Marsch aufhalten sollten, hat dem Mahdi gewiß so viel Respekt eingeflößt, daß er keinen Angriff auf uns wagt.«
»Im Gegenteil, er wird schlau genug sein, sich zu sagen, daß seine ganze Sache verloren ist, falls er Khartum nicht einnimmt, ehe Lord Wolseley erscheint.«
Als nun Frau Sieger sich mit den Kindern zur Ruhe begab, wollte auch Helling sich verabschieden. Doch der Ingenieur hielt ihn zurück, indem er sagte: »O bitte, leisten Sie mir noch etwas Gesellschaft. Ich könnte jetzt doch noch keinen Schlaf finden, und Sie erweisen mir einen Dienst und Gefallen, wenn Sie noch eine Weile mit mir plaudern wollten.«
»Hören Sie!« begann Helling die Unterhaltung, nachdem sich Frau Sieger mit den Kindern zurückgezogen hatte: »Sie sind nun schon lange in Khartum und kennen gewiß die Geschichte des Sudans, seit er unter die Oberhoheit Ägyptens kam, und auch über den Aufstand des Mahdi sind Sie zweifellos gut unterrichtet. In Europa, wenigstens in Deutschland, hat man sich wenig um diese Vorgänge gekümmert, und wenn die Zeitungen Nachrichten darüber brachten, blieben sie unsereinem ziemlich unverständlich, weil uns die Vorgeschichte und die Zusammenhänge unbekannt waren. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich über das alles aufklären wollten.«
»Gerne!« erwiderte der Ingenieur: »Nur fürchte ich, daß ich Ihnen nicht viel mehr sagen kann, als Sie schon wissen dürften. Denn einigermaßen müssen Sie doch auf dem laufenden sein: Sie können sich doch unmöglich entschlossen haben, für eine Sache zu kämpfen, über die Sie nicht genügend unterrichtet sind?«
»Und doch ist es so! Ich muß mich ja schämen, es zu gestehen: ich stehe da mitten drinnen, ohne recht zu wissen, um was es sich handelt. Die Ereignisse, die mich aus der Heimat trieben, kamen so plötzlich, daß ich ohne viel Überlegung die nächste Gelegenheit ergriff, die sich mir bot, an einem Feldzuge im Ausland teilzunehmen. Ich hörte, daß General Gordon gegen die Aufständischen im Sudan ziehe und tat sofort erfolgreiche Schritte, mir die Erlaubnis zum Kämpfen unter seinen Fahnen zu erwirken. Was sich aber eigentlich im Sudan begeben hat, wer die Rebellen sind und warum sie sich empörten, war mir äußerst unklar und kümmerte mich, offen gestanden, in meiner Stimmung auch nicht viel. Nun jedoch würde mir einige Aufklärung hierüber sehr willkommen sein.«
»Was ich weiß, steht Ihnen gerne zu Diensten. Ich erzähle es am besten im Zusammenhange; Zeit genug haben wir ja. Was Ihnen etwa schon bekannt ist, mag dann immerhin noch verständlicher für Sie werden, wenn Sie es in seinen Ursachen und Folgen zu hören bekommen.«
»Das ist es eben, was ich wünsche. Doch dürfen Sie überzeugt sein, daß mir fast gar nichts von dem bekannt sein wird, über das Sie mich belehren werden.«
»Nun denn! Mohamed Ali Pascha war, wie Sie zweifellos wissen, der erste Khedive oder Vizekönig von Ägypten, der Begründer des heutigen Herrscherhauses. Er war ein tatkräftiger und weitblickender Mann. Als er in seinem Lande geordnete Zustände geschaffen hatte, faßte er den Plan, seine Herrschaft weiter nach Süden auszudehnen und das ungeheure Gebiet des Sudans zu erobern und seinem Reiche einzuverleiben. Er strebte nach dem Ruhm, Länder aufzuschließen, die noch in rätselhaftem Dunkel lagen und deren Besitz für Ägypten von unschätzbarem Werte sein mußte. Unerschöpfliche Hilfsquellen, Schätze an Mineralien, einen gewaltigen Aufschwung von Handel und Industrie versprach er sich mit Recht von dieser Erwerbung.
»Im Juli 1820 sandte er seinen Sohn, den Prinzen Ismail Pascha mit einem Heere von 6000 Mann, das meist aus Tscherkessen bestand, den Nil hinauf. Von Assuan bis Dongola begegnete der Zug keiner Schwierigkeit, und erst an der Grenze des Gebiets von Berber leistete der Stamm der Schaikije den ersten Widerstand, mußte sich jedoch mit großen Verlusten zurückziehen, da er der ägyptischen Bewaffnung nicht gewachsen war.
»Ismail klärte sodann das ganze Land zwischen dem Weißen und Blauen Nil auf und trat hierauf den Rückmarsch an. In Schendi schlug er ein Lager auf und erpreßte Lieferungen von den Eingeborenen, namentlich Holz und Stroh. Der König Nemr, das heißt ›Tiger‹, war ein schlauer Neger, der seinem Namen Ehre machte: er ließ das Brennmaterial absichtlich rings um die große Hütte des Prinzen aufhäufen und im Dunkel der Nacht an mehreren Stellen gleichzeitig in Brand stecken. In einem Augenblick umschloß ein gewaltiger Flammengürtel Ismail Paschas Wohnung. Vergeblich taten die Seinigen alles, um ihn zu retten: er fiel dem Feuer zum Opfer. König Nemr aber floh an die Grenze von Abessinien.«
»Gräßlich!« rief Helling aus.
»In der Tat,« stimmte Sieger bei. »Aber an derartige Greuel muß sich gewöhnen, wer die Geschichte dieses unseligen Landes vernehmen will. Die Rache folgte der Untat bald und war noch gräßlicher. Mohamed Ali Pascha beauftragte den Mohamed Bey el Defterdar, der mit 5000 Baschibosuks zurzeit in Kordofan stand, die Mordbrenner zu züchtigen. Mit Feuer und Schwert verheerte dieser grausame Mensch das Land, weder Weiber noch Kinder und Greise verschonend. So eroberte er das ganze Stromgebiet des Weißen Nils und die Bayudawüste einschließlich Kordosans für Ägypten.
»Im Jahre 1840 reiste der Vizekönig selber nach Khartum und richtete eine geordnete Verwaltung für den Sudan ein, mit dieser Stadt als Mittelpunkt. Zugleich verkündete er die Abschaffung des Sklavenhandels und das Regierungsmonopol für den Handel mit den wichtigsten Landeserzeugnissen, nämlich Elfenbein und Straußenfedern. Dies war ein verhängnisvoller Mißgriff.«
»Wieso?« unterbrach Helling den Hausherrn: »Die Abschaffung des Sklavenhandels, dieser Pest Afrikas, werden Sie doch nicht als Mißgriff bezeichnen?«
»Verstehen Sie mich recht: diese Maßregel machte gewiß dem Edelsinn des Fürsten alle Ehre, und jeder anständige Mensch muß die Vernichtung des Sklavenhandels mit seinen entsetzlichen Greueln wünschen und fördern. Allein eine solch tief einschneidende Neuerung verlangt die sorgfältigste Vorbereitung und darf nicht so Hals über Kopf verhängt werden. Die Araber, ob sie nun Eigentümer von Herden, Händler oder Ackerbauer waren, konnten die Sklaven nicht entbehren, ehe Ersatz beschafft war. Sie wurden durch die unvorbereitete Maßregel unmittelbar vom Reichtum an den Bettelstab gebracht. Dazu kam die Vernichtung des einträglichsten Handels, den die Regierung ohne weiteres an sich riß. Hier liegen die ersten Wurzeln der Verbitterung, die im Mahdistenaufstand zum Ausbruch kam.
»Nach seiner Rückkehr ernannte der Vizekönig zum ersten Statthalter des Sudans — Ahmed Pascha, der später den Beinamen Abu Beidan el Gasar erhielt, infolge seiner Grausamkeit. Die grausame Züchtigung der Eingeborenen in Khartum erwarb ihm den Zunamen Abu Beidan, und das Hinschlachten einer Menge von Einwohnern bei einer Reise durch die Berge von El Taka trug ihm die zweite Bezeichnung »el Gasar«, der Schlächter, ein.
»Vergeblich rief ihn der Vizekönig wiederholt ab und sandte zuletzt einen Bevollmächtigten, ihn zurückzuholen: Ahmed gehorchte nicht. Schon wollte Mohamed Ali mit Gewalt gegen den Rebellen vorgehen, als dieser von seinen mißhandelten Frauen vergiftet wurde.«
»Das ist allerdings eine Kette von Blut- und Mordtaten!« sagte Helling schaudernd.
Sieger aber fuhr fort: »Es folgte nun eine friedliche Zeit, und als der Khedive Abbas Pascha das Handelsmonopol wieder abschaffte, blühte der Handel des Sudans auf. Kaufleute und Industrielle aller Völker durchzogen das Land und brachten ihm die Erzeugnisse europäischer Kultur. Mit dem Elfenbeinhandel kam jedoch auch der Sklavenhandel wieder auf.
»Said Pascha, Mohamed Alis Enkel, teilte das Land in die fünf Provinzen Khartum, Kordofan, Taka oder Kassala, Berber und Dongola. Zugleich ergriff er strenge Maßregeln gegen den Sklavenhandel, im Sinne seines Großvaters. Er dachte auch an den Bau einer Eisenbahn von Kairo nach Khartum, ein Plan, der später noch öfter auftauchte, aber stets an den ungeheuren Kosten scheiterte. Und doch hätten die Vorteile einer solchen Bahnverbindung alle Opfer reichlich aufgewägt.«
»Das meine ich auch!« sagte der Leutnant: »Hätten wir heute diese Bahnverbindung, so hätten wir längst Entsatztruppen in der Stadt, und der Sudan bliebe Ägypten erhalten.«
»Hoffen wir, daß er auch so nicht verloren geht: in zwei bis drei Tagen spätestens muß der Entsatz da sein.«
»Und dann ist es vielleicht zu spät!« erwiderte Helling düster. »Doch fahren Sie nur fort.«
»In der Folgezeit trat die Türkei die Häfen Massaua, Suakin und Seila an den Sudan ab. Dann wurde das Gebiet von Harar und das große Königreich Darfur hinzugebracht. Letzteres wurde durch einen Händler, Sobeir Rahmi, erobert, der sich zum Herrn des Landes machte. Er ließ sich jedoch überreden, nach Kairo zu kommen, wo er gefangen gesetzt wurde. Hierauf nahm Ismail Pascha Ajub Darfur fast ohne Schwertstreich in Besitz.
»Auf Ismail folgte Gordon Pascha als Statthalter des Sudans. Seine Verwaltung war so widerspruchsvoll und ungeschickt, daß die Unzufriedenheit den höchsten Grad erreichte. Zunächst führte er das Handelsmonopol der Regierung wieder ein und hob den Sklavenhandel, der wieder zur Blüte gekommen war, neuerdings auf. Allein auch hierin zeigte er kein folgerichtiges Vorgehen, sondern drückte gelegentlich beide Augen zu. Gordon entließ alle alten ägyptischen Beamten und setzte an ihre Stelle wahllos einheimische Leute, die keinerlei Ahnung vom Geschäftsgang hatten und völlig unfähig waren. Sie waren die ersten, die beim Aufkommen der mahdistischen Bewegung die Regierung verrieten.
»Je nach seiner Laune setzte er Beamte ab und ein, machte irgend einen Privatmann zum Obersten, verdoppelte Gehälter und schlug Beförderungen vor: alles, was er begehrte, wurde von der ägyptischen Regierung ohne weiteres genehmigt. Beispielsweise erhielt ein Beamter in Lado von Gordon eines Tages nicht weniger als elf Befehle zu Beförderungen und Absetzungen, die einander derart widersprachen, daß ihre Befolgung unmöglich war, zumal sie alle das gleiche Datum trugen. Mit vollen Händen teilte Gordon Ämter und Orden an Eingeborene aus, an Kaufleute, Jäger, Fleischer und so fort, ohne Grund und Wahl. Dadurch zog er Anmaßung und Unbotmäßigkeit groß. Da er die Landessprache nicht verstand, war er von seiner Umgebung völlig abhängig und ahnte die Mißbräuche nicht, die den schwergeprüften Sudan vollends zur Verzweiflung brachten. Sehen Sie, ich habe hier die Abschrift einer Eingabe der angesehensten Bürger des Landes an den Khediven Ismail Pascha, aus der ich Ihnen einiges vorlesen will, um Ihnen zu zeigen, welche Zustände die Gordonsche Verwaltung zeitigte.
»Es heißt da: Die Bevölkerung des Sudan, die einheimischen Kaufleute und Industriellen flehen hiermit den erhabenen Schutz und die wohlwollende Fürsorge Seiner Hoheit Ismail Paschas, Vizekönigs von Ägypten, an, damit ihrer beklagenswerten Lage und den Leiden, die sie seit der Ernennung Gordon Paschas zum Generalstatthalter des Landes zu erdulden haben, gnädigst ein Ende gemacht werde. Denn tatsächlich sind wir in den fünfzig Jahren, seit welchen der Sudan zu Ägypten gehört, niemals so schwer bedrückt worden wie unter Gordon.«
»Das will viel heißen!« bemerkte Helling, »nach all den Greueln, von denen Sie schon zu berichten wußten.«
»Allerdings,« bestätigte Sieger, »doch ist es leider nicht übertrieben, wie Sie aus den Tatsachen ersehen werden, die in der Bittschrift enthüllt werden. Hören Sie weiter: Dank seiner käuflichen und bestechlichen Umgebung, die aus Leuten, wie Konsul F. (hier wird noch eine ganze Reihe von Persönlichkeiten mit Namen angeführt), besteht, dank dem hohen Einflusse, welchen diese auf Gordons Entschließungen ausüben, werden die wichtigen Ämter der Mamurs und Mudirs Verbrechern und Erzspitzbuben anvertraut (auch hier wird wieder eine Anzahl solcher genannt). Räuber und Verbrecher dürfen sich unter dem Schutze derselben, die ihre Helfershelfer sind, ungestraft alle Schandtaten erlauben. So vergeht denn auch kein Tag, ohne daß man von Diebstahl sprechen hört. Die öffentliche Sicherheit fehlt vollständig, die Heerstraßen sind in wahrhafte Halsabschneideplätze verwandelt, der Handel ist vernichtet und Gordon Pascha durch seine Umgebung derart abgeschlossen, daß er von dem, was außerhalb seiner Residenz vorgeht, fast gar nichts erfährt. Die Erpressungen dieser Beamten haben den höchsten Grad erreicht, und das Volk seufzt unter dem Joche der Willkür. So erheben diese Satrapen, unter dem Vorwande einer durch Gordon angeordneten Rekrutierung, nicht bloß eine Steuer von fünf bis zehn Talern auf den Kopf der Sklaven, welche die Felder der Vornehmen und der größten Grundbesitzer bebauen, sondern entreißen auch diese Leute ihrer Arbeit, ohne sie jedoch zum Heeresdienste zu verwenden. Die Soldaten und Beamten erhalten keinen Lohn und können uns deshalb ihre Schulden nicht bezahlen, und wir haben alle Hoffnung verloren, unsere Forderungen eintreiben zu können. Und dabei begnügen sich die Soldaten nicht mit der Nichtbezahlung ihrer Schulden, sondern nehmen uns auch noch unsere Vorräte und Waren mit Gewalt weg, und einen Offizier, der sie zur Ordnung bringt, gibt es nicht. Kurz, es ist die volle Zucht- und Rechtlosigkeit und der allgemeine Ruin. Jede Klage bleibt unnütz, da sich Gordon Pascha nur mit der Absetzung und Ernennung von Beamten beschäftigt. Diese Absetzungen und Ernennungen sind so häufig, daß wir nicht mehr wissen, mit wem wir es zu tun haben. Alle anständigen und gesinnungstreuen Paschas werden auf die falschen Berichte der habgierigen Ratgeber hin entfernt und verabschiedet. Diese Schurken, die Gordons Umgebung bilden, teilen sich in die Ausbeutung der unterdrückten Bevölkerung mit ihren Freunden, die sie zu allen wichtigen Ämtern ernennen lassen. Die Interessen des Staatsschatzes werden so wenig berücksichtigt wie die unserigen. Dank der sträflichen Nachsicht von Gordons Günstlingen dürfen die Dorfscheichs die Steuern und Abgaben zu ihrem eigenen Nutzen erheben und den Eintrag der Beträge in die Bücher unterlassen, indem sie dem Statthalter vorspiegeln, der Einzug sei bei der Zahlungsunfähigkeit der Steuerpflichtigen unmöglich gewesen. So werden die öffentlichen Kassen leer und die unserer Blutsauger voll. Der Statthalter beschützt die Verbrecher und bedrückt die Unschuldigen, die von seinen Günstlingen verleumdet werden.
»Hier ist das Gerücht verbreitet, Seine Hoheit der Khedive, unser erhabener Herr, habe den Sudan den Engländern abgetreten, und diese hätten Gordon Pascha zu ihrem Vertreter ernannt. Was diesem Gerücht eine gewisse Wahrscheinlichkeit verleiht, ist der Umstand, daß Gordon Pascha alle höheren Beamten und die treuesten Diener der Regierung nach Kairo zurückschickt, weil sie den Mut haben, seinem Vorgehen keine Begeisterung entgegenzubringen. Er ersetzt sie durch einheimische Nullen, deren einziger Befähigungsnachweis im blinden Gehorsam für seine Befehle besteht. Seine willkürliche, eigenmächtige Verwaltung und Mißregierung geben der Vermutung Raum, als ob eine Besitzergreifung des Sudans durch Gordon Pascha stattgefunden habe. Wenn dies auch nicht der Fall sein sollte, wie wir gern glauben möchten, so steht doch zu befürchten, daß Gordon Paschas Vorgehen in kurzer Zeit den Verlust des ganzen Sudans für Ägypten herbeiführen wird. Dies ist das Unheil, das wir befürchten.«
»Diese Befürchtung scheint sich jetzt bewahrheiten zu wollen,« bemerkte der Leutnant.
»Gewiß! Aber schon damals war sie wohl begründet, und die Eingabe führt zu ihrer Bekräftigung eine ganze Anzahl von Aufständen und Unruhen an, die wegen Gordons Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit nicht unterdrückt werden konnten. Mehrfach wurden die zu schwachen Grenzbesatzungen niedergemetzelt, und schon hatte der Sudan mehrere Gebietsverluste zu beklagen, und dem allem sah der Engländer untätig zu. Die Eingabe schließt mit den Worten: ›In dieser traurigen Lage bitten wir Seine Hoheit den Khedive, die schleunigsten und wirksamsten Maßregeln zur Vorbeugung aller drohenden Gefahren anordnen und das Leben und die Habe seiner getreuen Untertanen im Sudan gegen Räuber und Meuchelmörder gnädigst schützen zu wollen, bevor es zu spät ist und der Sudan für Ägypten vollständig verloren geht. Sollte dagegen die Behauptung der Scheichs und Beamten, die ihre Stellungen Gordon Pascha verdanken, wahr sein, daß nämlich Seine Hoheit der Khedive den Sudan diesem Generalstatthalter wirklich übergeben hat, um daraus einen unabhängigen Staat zu bilden und dort als unumschränkter Herr zu herrschen, so bitten wir, daß man es uns offen sage, damit wir unseren Herd verlassen und in einem anderen Lande leben können, wo wir Schutz finden vor solchen Quälereien und Tyranneien.‹«
»Das spricht allerdings Bände!« sagte Helling, als Sieger die Urkunde beiseite legte: »Wenn die Leute lieber Herd und Heimat verlassen wollten, als eine solche Mißwirtschaft länger zu erdulden, so mußte sie allerdings unerträglich geworden sein.«
Sieger aber schloß: »Ich habe Ihre Aufmerksamkeit mit dieser Leidensgeschichte und namentlich mit der umfangreichen Bittschrift lange in Anspruch genommen. Aber diese haarsträubenden Tatsachen muß jeder kennen, der richtig begreifen und würdigen will, wie die Stimmung im Sudan eine so erbitterte und verzweifelte werden konnte, daß der Aufstand des Mahdi überhaupt möglich wurde und in so kurzer Zeit einen so gewaltigen Umfang annehmen konnte. Denn leider hatte auch der Notschrei, den Sie soeben vernahmen, keinerlei Erfolg. Jedenfalls war der Khedive ohnmächtig, weil das edle England hinter Gordon, seinem würdigen Vertreter, stand.«
»Nach alle dem,« sagte Helling nachdenklich, »ist ja Gordon selber eigentlich und wesentlich schuld an den Schrecken, die uns hier umtoben. Und sagen, daß nun eben diesem, offenbar unfähigen Manne die Rettung der Lage anvertraut wurde! Da ist freilich nicht viel zu hoffen.«
Hier fand die Unterhaltung der beiden Freunde eine Unterbrechung durch den Eintritt Josefs, des Dieners der Familie Sieger.
Josef stand bereits seit acht Jahren in Siegers Diensten. Schon vor seiner Verheiratung hatte der Ingenieur sich bewogen gefühlt, sich einen dienstbaren Geist einzutun, der ihn auf seinen Reisen begleitete und ihm die Sorge für all die tausend Kleinigkeiten abnahm, um die er sich zu wenig bekümmern konnte, wenn ihn seine Fachtätigkeit ganz in Anspruch nahm, und deren Vernachlässigung doch peinlich und oft schädigend geworden wäre.
So hatte ihn Josef nach Nordamerika und dann nach Ägypten begleitet. Da galt es, sich oft tage- und wochenlang in wenig bevölkerten Gegenden, ja Wildnissen aufzuhalten, um Vermessungen und Untersuchungen für geplante großzügige Unternehmungen und Anlagen vorzunehmen. Dort fehlte es meist an Gasthöfen oder sonstiger Gelegenheit zu Unterkunft und Verpflegung, und in solchen Fällen erwies sich der anstellige, begabte und willige Diener als geradezu unentbehrlich und wurde seinem Herrn zum Freund.
Hatten sie sich in gemeinsamer Arbeit eine Hütte errichtet, so sorgte Josef für das tägliche Behagen, Ordnung und Beköstigung: er machte die Betten, wichste die Stiefel, säuberte die Kleidung, unterhielt im Winter das wärmende Feuer. Er handelte Lebensmittel ein, oder, wo hiezu keine Gelegenheit war, sammelte er Früchte, ging auf die Jagd nach Wild und Geflügel, kochte die schmackhaften Mahlzeiten, fällte Holz, trug Reisig zusammen, verpflegte die Pferde oder Maultiere, — kurz, er besorgte aufs pünktlichste alles, was notwendig oder wünschenswert war. Dabei fand er noch Zeit, seinem Herrn an die Hand zu gehen.
Nach seiner Verheiratung mochte sich Sieger von der treuen Seele nicht trennen: Josef blieb sein stets brauchbarer Gehilfe und ersetzte zugleich der Hausfrau die Magd und das Kindermädchen, verstand er es doch prächtig, mit Kindern umzugehen und sie mit allerlei Geschichten zu unterhalten, sie lustige Spiele zu lehren, sie auf Spaziergängen zu begleiten, kurzum ihr Freund und Beschützer zu sein.
Heute abend hatte er einen Rundgang auf den Wällen unternommen, um nach dem Stande der Dinge zu sehen.
Da fand er nicht viel Erfreuliches! Die vom Hunger und den Nachtwachen erschöpften Wächter, die infolge von Gordons Nachlässigkeit viel zu wenig Ablösung fanden, zeigten sich schläfrig und unaufmerksam, zum Teil lagen sie schon schnarchend einzeln oder in Gruppen zusammen.
Josef, von feinem Tagewerk ermüdet, setzte sich auf die Mauer nieder und ließ seine Blicke ins nächtliche Dunkel schweifen. Dort drüben ragte als finstere Masse die Festung Omderman, die vor zehn Tagen den Aufständischen in die Hände gefallen war, und jetzt die Hauptmacht der Mahdisten beherbergte. Alles war still und regungslos, Gefahr schien keine zu drohen.
Die Gedanken des jungen Mannes schlugen die Pfade der Erinnerung ein: wie merkwürdig war doch sein Lebensgang gewesen. Seine Heimat lag auf der schwäbischen Alb: ein frisches, liebliches Tal, umrahmt von grünen Hügeln, stieg vor seinem Geiste auf. Da schmiegte sich ein freundliches Dörflein mit weißgetünchten schmucken Häusern und hellen roten Dächern an die sanft ansteigenden Höhen. Ein klares Bächlein floß lustig plätschernd hindurch. Hier hatte er seine sonnige, wenn auch arbeitsreiche Jugendzeit verbracht.
In den grünen Matten, die sich an den Hängen hinaufzogen, weideten die Schafe, da und dort ragten Felsblöcke aus den Wiesen empor und boten Klüfte, Höhlen und Verstecke, die sich zu den herrlichsten Räuberspielen eigneten. Droben aus der Höhe im Süden stand eine einsame, riesige Buche auf der »Wacht«, von dort aus sah man bei hellem Wetter die gewaltigen, weißschimmernden Firnen der Schweizeralpen, die zum erstenmal die Sehnsucht nach den lichten Fernen in des Knaben Seele geweckt hatten, nach den geheimnisvollen Wundern, die dem Auge so nah erschienen.
Auf der gegenüberliegenden Höhe saß die Gänseliesel mit ihrer weißen Herde. Kam der Abend, so erhob sich ein Gekreisch und Geschnatter, und wie auf Kommando schwang sich die ganze Schar flatternd in die Lüfte. In weniger als einer Minute hatte sie den Talgrund erreicht: das war ein prächtiger Anblick, wie die leuchtende Wolke mit wogendem Flügelschlag aufstieg und sich dann schwebend niedersenkte in die Gassen des Dorfes, wo jedes der gefiederten Geschöpfe seine Heimstätte aufsuchte, während ihre Hirtin mühsam auf steilen Pfaden hinabklettern mußte und wohl eine Viertelstunde brauchte, um die Strecke zu durchmessen, die ihre Pflegebefohlenen so mühelos zurücklegten.
Dort hinten starrten düstere Tannenwälder und da vorn lachten Buchenforste, wo es schmackhafte Bucheln und köstliche Erdbeeren gab. Schlehen und Brombeeren wuchsen in dichten Hecken am Waldsaum: oh! da gab es der Herrlichkeiten genug! Aber noch verlockender waren die süßen, gelben Habermarken in den Wiesen. Freilich, die durfte man nicht pflücken, weil man sonst das schöne Gras zertrat, — aber man tat es doch. Ja, wie sie eben im schönsten Naschen waren, kam der geizige Onkel zornglühend herbeigerannt: da galt es, Reißaus nehmen! Allein der Oheim hatte die meisten erkannt und eilte zum Schultheißen, dem er zuschrie: »Die Buben haben mir wieder Habermarken gestohlen, und dein Josef war auch dabei!« Nun wurden die Missetäter auf sechs Stunden in den Ortsarrest gesteckt. Aber der Philipp hatte einen Ball in der Tasche, mit dem vergnügten sie sich so lustig, daß die Zeit wie im Fluge vorbeistrich.
Noch einmal hatte ihn sein gestrenger Vater mit anderen Missetätern eingesperrt. Das war ja wohl ein schlimmerer Fall. Gar zu gern spielten sie auf dem Kirchhof Bockspringen. Das war dem dicken Meßner ein gewaltiges Ärgernis. Und er mochte recht haben, denn der Friedhof war nicht der Ort zu tollen Knabenspielen. Doch so weit dachten sie damals nicht. Eines Tages hatten sie sich wieder auf den Gottesacker begeben. Einer von ihnen lehnte sich gegen das große Tor, der nächste sprang ihm auf den gekrümmten Rücken, der Dritte wieder auf den Rücken des Zweiten und so fort. Aber der wachsame Meßner vernahm den Lärm und rannte wütend herzu. Rasch riß er das Tor auf, das sich nach außen öffnete, und die ganze Pyramide stürzte unversehens nach außen, den Dicken auf den Rücken werfend und ihn unter sich begrabend. Schaden erlitt keiner, aber dem Meßner taten noch drei Tage alle Glieder weh.
Josefs Vater, der Schultheiß, hielt strenge Zucht im Ort. Vor allem war er der Trunksucht feind. Nun gab es einen unverbesserlichen Säufer im Dorf. Den drei Wirten zur Krone, zum Rößle und zum Hirsch wurde verboten, ihm irgendwelche geistigen Getränke zu verabreichen. Aber der Mann ging nun einfach in das nur zehn Minuten entfernte Städtchen Trochtelfingen und holte sich dort seinen regelmäßigen Rausch. Als er nun eines Nachts durch den Wald, der die beiden Orte trennte, heimschwankte, erschien ihm ein fürchterliches Gespenst in weißem Leichentuch, warf ihn zu Boden und verprügelte ihn jämmerlich, ihm mit hohler Stimme ins Gewissen redend. Von da an wagte es der Geängstigte nicht mehr, ein auswärtiges Wirtshaus aufzusuchen: er war von seiner Trunksucht geheilt und besserte sich. Lange Jahre nachher erfuhr Josef von seinem Vater, daß der Amtsdiener das Gespenst dargestellt und im Auftrag des Schultheißen gehandelt habe.
In der Schule war der Schulzensohn immer der erste, besonders im Rechnen tat es ihm keiner gleich. Einmal gab der junge Hilfslehrer seinen ältesten Schülern eine Rechnung auf, die so schwer war, daß Josef allein sie richtig löste. Alle anderen begriffen überhaupt nicht, wie sie anzugreifen sei. Der Lehrer fragte nun den Knaben, auf welchem Wege er die Lösung gefunden habe. Dieser aber hatte seinen Stolz und verweigerte ihm rundweg die Auskunft. Da beschwerte sich der Lehrer beim Ortsvorsteher. Der Schultheiß rief seinen Buben und fragte ihn nach dem Grund seiner Weigerung. Josef antwortete: »Ich habe gleich gesehen, daß dies eine Rechnung ist, die man Volksschülern gar nicht geben kann, weil sie weit über das hinausgeht, was wir im Rechnen lernen. Ich habe auch wohl gemerkt, daß der Herr Lehrer selber nicht weiß, wie sie gelöst werden muß, und jetzt möchte er es nur von mir erfahren. Aber die Lehrer sind doch dazu da, die Schüler zu belehren, und nicht umgekehrt.«
Hierauf gestand der Lehrer: »Ich will es nur gleich bekennen, es ist so, wie der Bube sagt. Wir haben die Aufgabe in der zweiten Prüfung bekommen und keiner von uns vermochte sie zu lösen. Nun möchte ich gar zu gern wissen, wie sie behandelt werden muß.«
Da ließ sich Josef dazu herbei, auseinanderzusetzen, was ihm sein scharfer Verstand ohne Belehrung geoffenbart hatte, und heute noch mußte er heimlich lachen, wie demütig sein Lehrer ihn um Belehrung gebeten hatte.
Schon während der Schulzeit hatte der Knabe viel bei den Feldarbeiten helfen müssen. Nach seinem vierzehnten Jahr ersparte er dem Vater einen Knecht. Es war eine harte Arbeit, vor allem das Ackern auf dem steinigen Boden der Alb. Wie oft geriet der Pflug auf eine Felsplatte und wurde aus der Bahn geworfen: da galt es, auf der Wacht zu sein und ihn augenblicklich mit festem Griff wieder zurückzuwerfen, um eine gerade Furche zu ziehen.
Aber auch in diesen Jahren saurer Anstrengung gab es manches Vergnügen. Da war vor allem das Osterfest. Nachmittags versammelten sich die jungen Burschen auf der Wiese gegen Trochtelfingen. Die Mädchen und auch viele Erwachsene kamen als Zuschauer. Es galt einen Wettkampf, und jeder, der sich daran beteiligen wollte, mußte eine Anzahl buntgefärbter Ostereier stiften, so daß es im ganzen gerade hundert gab. Waren es also zwanzig Burschen, so mußte jeder fünf Eier mitbringen. Dann bildeten sich zwei Parteien; die eine stellte den Läufer, die andere den Werfer und Fänger.
Die Eier wurden in einer Reihe auf der Wiese niedergelegt. Drei Schritte vom untersten entfernt stellte sich der Fänger auf. Der Werfer warf ihm ein Ei um das andere zu, bei dem entferntesten anfangend. Der andere fing sie auf und legte sie sorgsam in einen großen Korb zu seinen Füßen.
Das mußte aber rasch und Schlag auf Schlag gehen, wenn nicht die Partei des Läufers siegen sollte. Zum Läufer wurde meist Josef erwählt, weil seine Füße so behende waren wie sein Geist: keiner konnte im Wettlauf mit ihm Schritt halten. Sowie des erste Et geworfen wurde, mußte er durch den Wald nach Trochtelfingen jagen. Dort waren zwei oder drei Burschen der Gegenpartei aufgestellt, von denen er ein Fähnchen in Empfang zu nehmen hatte, als Wahrzeichen, daß er den Lauf wirklich und vollständig ausgeführt habe. Dann raste er wieder zurück. Erschien er wieder auf der Wiese am Waldsaum, ehe das letzte der hundert Eier im Korbe war, so hatte seine Partei es gewonnen. Waren jedoch bei der Gegenpartei durch ungeschicktes Werfen oder Auffangen mehr als drei Eier zerbrochen, so war für sie das Spiel verloren, auch wenn sie vor der Rückkehr des Läufers fertig wurde. Dadurch wurde ein gar zu hastiges Vorgehen ausgeschlossen.
Wenn Josef der Läufer war, hatte seine Partei immer gesiegt, und wenn er nicht die Fahne geschwungen hätte, die bewies, daß er am Ziel gewesen war, hätte kein Mensch geglaubt, daß er den Weg in so kurzer Zeit habe zurücklegen können.
O du schönes Heimattal und du biederes, lustiges Volk mit deinen harmlosen und doch so herrlichen Vergnügungen!
Dann kam der Dienst im Heere fürs teure Vaterland: auch das war eine schöne Zeit für den gesunden, an harte Arbeit gewöhnten Dorfschulzensohn.
Da lernte ihn im Manöver der Reserveleutnant Sieger kennen und fand Wohlgefallen an seinen Kenntnissen und Fähigkeiten und an seiner ganzen Art. Josef selber war ganz begeistert für den allgemein beliebten Offizier, und als dieser ihm vorschlug, in seine Dienste zu treten und zunächst ihn nach Amerika zu begleiten, da erwachte die alte Jugendsehnsucht nach fernen Ländern und wundersamen Abenteuern mächtig in ihm, und er schlug freudig ein.
Und wahrhaftig! An Abenteuern hatte es nicht gefehlt dort über dem großen Wasser und dann im alten Lande der Pharaonen! Ja, und jetzt? Da saß er, von vergangnen Tagen träumend, auf dem Wall von Khartum, umzingelt von wilden, grausamen Feinden: was würde er wohl noch in den nächsten Tagen erleben?
So zogen die Bilder des ereignisreichen Lebens in der nächtlichen Stille an Josefs Geist vorüber, als ihm plötzlich eigentümlich zumute wurde. War er noch allein? War noch alles so lautlos wie zuvor? Bewegte es sich nicht weit umher in der jetzt undurchdringlich gewordenen Finsternis und drangen nicht gedämpfte Geräusche an sein scharfes Ohr?
Jetzt glaubte er dunkle Schatten über dem tiefen Wallgraben zu erblicken, der die ganze Stadtmauer umgab, den Feinden die Annäherung zu erschweren. War es nicht, als ob sie vorsichtig und möglichst geräuschlos allerlei große Gegenstände herbeischleppten und in die Tiefe gleiten ließen?
Josef weckte den nächsten Wächter und teilte ihm seine Beobachtungen mit. Unwillig und schlaftrunken lauschte der eine Weile, brummte dann, es sei nichts, und legte sich wieder zur Ruhe.
Auf dem Posten Farag Paschas war Licht. Dorthin eilte nun der Diener. Farag saß dumpf brütend, aber doch vollkommen wach, in der Hütte. Er nahm die Mitteilungen mit Ruhe entgegen und versprach, einige Aufklärungsabteilungen auszusenden.
Hierauf begab sich Josef zu seinem Herrn zurück und erstattete Bericht. Sieger meinte, wenn er Farag gewarnt habe, so genüge dies. Helling freilich schien anderer Ansicht zu sein. Doch begab sich der Diener auf seines Herrn Geheiß in seine Schlafkammer im oberen Stockwerk, um für den morgenden Tag im Schlafe neue Kräfte zu sammeln.
»Sollten wir uns nicht selber nach den Wällen begeben, um nachzusehen, ob nichts Verdächtiges im Gange ist?« fragte Leutnant Helling.
»Ich glaube nicht, daß wir etwas zu befürchten haben,« erwiderte Sieger, »auch mangelt es ja nicht an Wächtern.«
»An Wächtern, die schlafen!«
»Alle werden sie ja kaum schlafen. Übrigens ist die Nacht schon weit vorgeschritten, und ich habe kein Bedürfnis zu schlafen. Sie anscheinend auch nicht. Da bin ich gerne bereit, einen Gang mit Ihnen zu machen. Doch dürfte das jetzt wenig Wert haben, denn man sieht draußen wirklich nicht die Hand vor den Augen. Plaudern wir noch ein Stündchen und begeben wir uns dann hinaus. Die Dämmerung wird bald eintreten, und es wird möglich sein, festzustellen, ob etwas an Josefs Vermutungen ist oder nicht.«
»Wäre es nicht geratener, keine kostbare Zeit zu verlieren?«
»Sie sind wirklich gar zu ängstlich! Mein Diener meinte, die Feinde möchten damit beschäftigt sein, den Umwallungsgraben auszufüllen. Glauben Sie wirklich, daß ihnen dies so geräuschlos gelingen könnte, daß niemand etwas davon merken würde? Und wenn auch — halten Sie es für menschenmöglich, daß sie dieses ungeheure Werk in wenigen Nachtstunden vollenden könnten?«
»Ich muß zugeben, daß dies undenkbar scheint.«
»Also ist die Gefahr, wenn sie vorhanden sein sollte, keinesfalls so dringend.«
»Nun denn, so warten wir noch eine Stunde. Inzwischen können Sie mir noch berichten, was nach Gordons Abgang von seinem Statthalterposten im Sudan vorging. Haben seine Nachfolger die Beschwerdepunkte nicht abgestellt?«
»Leider dauerte die Mißwirtschaft fort. Allerdings hat Reus Pascha, der 1879 Gordons traurige Erbschaft antrat, alle Maßnahmen seines Vorgängers ausgehoben; aber er ging viel zu rücksichtslos und überstürzt vor. Er entließ sofort alle eingeborenen Beamten und schuf damit ein neues Heer von Unzufriedenen. An ihrer Statt setzte er durchweg ägyptische Beamte ein. Um die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen, setzte er alle Gehälter erheblich herab und trieb die Steuern unnachsichtlich ein. Die zu gering besoldeten Beamten waren nun umso mehr auf Erpressungen angewiesen, und die Eingeborenen, welche die rückständigen Steuern zugleich mit den laufenden bezahlen sollten, wurden noch mehr verbittert. Wer nicht zahlen konnte, erhielt die Bastonade, was die Stimmung in keiner Weise verbessern konnte.
»Die Sandjaks, die Offiziere der Baschibozuks, hatten die Steuern einzutreiben. Zu diesem Zwecke quartierten sie sich mit ihrer Mannschaft in den Ortschaften ein. Sie ließen sich beherbergen, verköstigen und beschenken, wenn erpreßte Gaben noch Geschenke genannt zu werden verdienen. Sie waren die Herren im Hause, denen alles zu Gebote stehen mußte, selbst die Angehörigen des unglücklichen Hausherrn. Der Sandjak erhöhte die Steuerbeträge nach Belieben, und die Zahlung hatte unweigerlich zu erfolgen. Sich über diese Erpressungen zu beklagen, wäre nicht nur aussichtslos, sondern lebensgefährlich gewesen.
»Alle Arbeiter, die zu öffentlichen Arbeiten benötigt wurden, und die Mehrzahl der Soldaten hatten die Eingeborenen zu stellen, ohne Rücksicht darauf, ob ihnen die nötigen Arbeitskräfte verblieben. Es wurden aber mehr als vorgeschrieben eingezogen. Die Überschüssigen mußten sich dann mit hohen Summen loskaufen.
»Der Sklavenhandel war streng verboten. Dennoch konnte jeder Sklavenhändler ihn ungestört betreiben, wenn er die Überwachungsbeamten bestach. Tat einer dies nicht, so wurde mit der ganzen Schärfe des Gesetzes gegen ihn eingeschritten. Seine Sklaven wurden unter die Beamten verteilt und von diesen verkauft!
»Ebenso käuflich waren Polizei und Richter: gehörig geschmiert, öffneten sich die Schlösser der Gefängnisse und löste sich die Schlinge des Henkerstrickes vom Halse des Verbrechers.
»Gewiß gab es viele rechtlich denkende Beamte. Allein sie erlagen nur zu bald den Versuchungen, und wenn einer je standhaft blieb, so wurde er in kurzer Zeit gestürzt. Nur ein Beispiel: da kam ein neuer Statthalter in eine Sudanprovinz. Er war das Urbild der Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit. Es galt, ihn zu Fall zu bringen. Man sandte einen Abgeordneten an ihn ab. Vor dem Aufbruch bat er den Statthalter um die Gunst, sein Töchterlein sehen zu dürfen. Er zeigte sich ganz entzückt von dem Kind, liebkoste es und schmeichelte ihm auf jede Weise. Dann ließ er seinen Diener hereinkommen, der ein großes Paket brachte. Da kam denn eine schön verzierte Silberplatte zum Vorschein, auf der ein Huhn mit vierundzwanzig Küchlein stand, alles in Lebensgröße und aus feinstem Golde. Ein Druck auf eine Feder, und die Vögel bewegten sich und schlugen mit den Flügeln.
»Natürlich wollte der Statthalter dieses kostbare Geschenk nicht annehmen. Allein der Besucher versicherte ihn, Gott solle ihn bewahren, daß er dem Herren ein Geschenk machen wolle. Nur dem reizenden kleinen Fräulein, das sein ganzes Herz gewonnen habe, wolle er dies kleine Spielzeug zur Unterhaltung verehren. Solcher Bitte vermochte der Vater nicht zu widerstehen, und der Abgesandte konnte seinen Auftraggebern berichten: ›Das Kamel hat die Alika gefressen, jetzt könnt ihr ihm die eure geben.‹ Der neue Statthalter war seitdem gleich den anderen und wurde ein reicher Mann.
»Veranlaßten die Klagen über Mißwirtschaft die Regierung, eine Untersuchung gegen einen Beamten einzuleiten, so ging es, wie meist auch bei uns: die Beschwerden ›erwiesen sich‹ als durchaus unbegründet und als böswillige Verleumdung. Bei uns pflegt man in solchen Fällen die Beschwerdeführer obendrein noch zu strafen oder öffentlich bloßzustellen. Auf diesen Punkt will ich daher kein besonderes Gewicht legen. Aber alles übrige wird Sie schon überzeugt haben, daß sich des Zündstoffs genug angesammelt hatte, so daß ein Funke ihn zur Entladung bringen konnte. Den Anstoß zur Entzündung brachte der Mann, vor dem jetzt Khartum zittert.«
Als Sieger hier innehielt, nahm Helling das Wort. »Sie sehen mich aufs höchste gespannt, Näheres von diesem eigentümlichen Genie zu vernehmen und zu erfahren, durch welche Mittel es ihm gelang, Tausende und Abertausende von Anhängern zu gewinnen, den ganzen Sudan in Flammen zu setzen und unter seine Herrschaft zu bringen.«
»Was ich von dem Propheten und seiner Geschichte weiß, läßt sich kurz berichten. Mohamed Achmed ibn Abdullahi ist von Geburt ein Nubier aus Dongola, wo er um 1839 das Licht der Welt erblickte. Er gehörte zur Familie Essuar el Sahab, das heißt ›mit dem goldenen Armband‹, weil ihr Ahnherr angeblich mit einem goldenen Armband geboren wurde. Zunächst ging er bei seinem Onkel, einem Zimmermann, in die Lehre, bevorzugte jedoch von Kind auf religiöse Studien. In Karrari bei Khartum, wohin sein Vater später zog, studierte er unter dem Scheich Nur el Daim, Sohn des berühmten Scheich el Tajib. Dann trat er in die Sekte der Sammanije ein, überwarf sich aber mit seinem Oberscheich Mohamed Scherif, weil er diesem vorwarf, sein Treiben sei gegen die göttlichen Gesetze. Der erzürnte Scheich stieß ihn aus seiner religiösen Gemeinschaft aus, und als Mohamed Achmed wiederholt Abbitte leistete, verweigerte er ihm hartnäckig die Verzeihung. Erbittert hierüber ließ sich der junge Derwisch in die Sekte der Kasirje aufnehmen, deren Oberhaupt, der Scheich el Gureschi, ein eifersüchtiger Nebenbuhler des Mohamed Scherif war. Jetzt bot ihm letzterer, zu spät, die Vergebung an: Mohamed Achmed schlug sie aus. Dies war unerhört und erregte daher das größte Aufsehen: mit einem Schlage wurde Mohamed Achmed im ganzen Sudan berühmt; man gab ihm allgemein recht, weil er gegen sein früheres Oberhaupt für die Religion eingetreten sei. Man pilgerte zu ihm, und er sah sich unversehens zum einflußreichen Manne werden.
»Er trat nun eine Pilgerreise an, besuchte die Moscheen und hielt sich einige Zeit im Dorfe Gabsch auf, um unter dem Scheich Mohamed el Cheir zu studieren. Als er nach Karrari zurückkehrte, starb sein Vater Abdullah Bakri. Hierauf siedelte Mohamed Achmed mit seiner Familie nach Khartum über. Empört über das sittenlose Leben in der Hauptstadt, die Ungerechtigkeiten, Tyranneien, Ausbeutungen und Mißbräuche, begann er die Rückkehr zur Frömmigkeit und die Empörung gegen die Regierung zu predigen. Von seinen besonneneren Freunden vor solch gefährlichem Treiben inmitten der Hauptstadt gewarnt, zog er sich mit seiner Mutter und seinen Schülern auf die Insel Aba zurück.
»Hier ließ er eine Masgid oder Moschee errichten, in der er eine Ghar, das heißt eine Höhle, anlegte, woselbst er monatelang unter Gebet und frommen Betrachtungen weilte, sich nur von Datteln und getrockneten Weinbeeren nährend. Kam er nach drei bis vier Monaten für kurze Zeit hervor, so glich er einem dem Grabe entstiegenen Gerippe und seine Reden hatten etwas derart Begeistertes, daß man ihm mit Andacht und Ehrfurcht lauschte. Dann strömten die Eingeborenen von allen Seiten herbei, um ihn zu hören. Er predigte eine neue soziale Gesellschaftsordnung, die den Unzufriedenen glückverheißend klang, obgleich sie dem nüchternen Verstand als undurchführbar erscheinen mußte.
»Er kam nie länger als auf zwei bis drei Tage aus seiner Höhle hervor, und der Ruf seiner Heiligkeit verbreitete sich derart, daß weder ein Privatschiff noch ein Staatsdampfer an der Insel vorüberfuhr, ohne anzuhalten und Zeichen der Verehrung abzugeben. Aus Furcht und abergläubischer Verehrung wagte es kein Beamter, einen Steuerrückständigen, einen Flüchtling oder Verbrecher, der auf Aba Schutz gesucht hatte, bis hierher zu verfolgen. So wurde die Insel zu einer Zufluchtstätte und Freistatt. Die Schüler des neuen Scheichs vermehrten sich zusehends, und Gaben und Geschenke flossen ihm von allen Seiten reichlich zu. Seine Anhänger bestanden teils aus religiösen Schwärmern, teils aus den vielen Unzufriedenen und Bedrückten, die bessere Zeiten herbeisehnten, vor allem aber aus den Opfern der Ungerechtigkeit und der Erpressungen, die hier vor jeder Verfolgung sicher waren. Diese Flüchtlinge nannte man Mutassahabin.
»Seine soziale Lehre verkündete die Aufhebung alles Eigentums, die Gleichheit aller seiner Jünger, die Ehelosigkeit für alle und die Verpflichtung zur Arbeit. Ruhe und Vergnügen dürfe man erst im Paradiese erwarten.
»Die Zunahme seiner Anhänger und die Verehrung, die ihm selbst von den Regierungsbeamten entgegengebracht wurde, steigerten sein Selbstvertrauen ungemein. Er begann nun Reisen zu machen und offen zur Empörung aufzureizen. Er sagte, Mohammed sei ihm öfters erschienen und habe ihn auf seinem Lichtthron sitzen lassen, wobei er ihm gesagt habe: ›Du bist der Mahdi, der verheißene Erlöser; wer dir nicht gehorcht, ist gottlos; sein Blut soll vergossen werden und seine Habe einem Andern zufallen.‹
»Nun kamen auch allerlei Wundergeschichten in Umlauf. Auf Blättern der Bäume und auf Eierschalen sollte man Inschriften gefunden haben, wie › La ilah illah allah we mohamed achmed mahdi min allah.‹ Das bedeutet, wie Sie wissen: ›Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohamed Achmed ist sein Prophet.‹
»Im Jahre 1880 wurden Brandreden gedruckt und in Tausenden von Exemplaren öffentlich verbreitet, ohne daß die Regierung einschritt. Erst ein ernstes Warnungsschreiben veranlaßte Reuf Pascha, den Generalstatthalter, einen Boten zu Mohamed Achmed zu senden, um ihn nach Khartum zu berufen. Der Prophet jedoch erwiderte, wenn der Statthalter etwas von ihm wolle, solle er zu ihm kommen, denn der Tag sei noch nicht da, an dem er in Khartum einziehen solle. Hierauf schickte der Statthalter zweihundert Mann ab, um den Widerspenstigen mit Gewalt zu holen.
»Das Schiff warf am Abend des 27. Juli 1881 vor Aba Anker. Eine Abordnung forderte den Propheten auf, an Bord zu kommen. Er saß gerade betend auf einem Fell, seine Derwische bildeten in seiner Nähe einen Kreis und verrichteten ebenfalls ihre Andacht. Mohamed Achmed erwiderte den Abgesandten, wer ihn sehen wolle, möge zu ihm kommen, er werde sich nicht hinbemühen. Die Derwische aber erteilten den Soldaten eine Tracht Prügel.
»Hierauf landete die Mannschaft, rückte vor und gab Feuer. Beim ersten Schuß zog der Mahdi sein Schwert und stieß zum erstenmal den Schlachtruf aus, der seither so manchesmal die Vernichtung seiner Feinde einleitete: › La ilah illah allah! Fi sabil allah!‹ — ›Es gibt keinen Gott außer Gott! Für Gottes Sache!‹ Im Augenblick stürzte sich die wütende Menge auf die Soldaten, von denen nur einige wenige dem Gemetzel entrannen.
»Immerhin fühlte sich der Mahdi in Aba nicht mehr sicher und zog mit seiner Familie und allen seinen Anhängern in die Provinz Faschoda auf den Berg Gadir. Lupton Bey sah den ungeheuren Zug bei Kawa den Nil überschreiten und berichtete Emin Pascha über die Vorfälle. Dieser schrieb sofort nach Khartum und warnte die Regierung, denn er sah die ganze Tragweite dieser Vorgänge voraus.
»Der Statthalter von Faschoda wollte die unwillkommenen Gäste unverzüglich vernichten. Als er jedoch mit seiner erschöpften Mannschaft am Berge Gadir anlangte, wurde er sofort von den Derwischen umzingelt. Die Schar wurde vollständig aufgerieben, und alle ihre Waffen und Munition fielen den Feinden zur Beute. Der Statthalter Raschid Bey war auch gefallen.
»Die Kunde von diesem Sieg war das Zeichen zur Erhebung für ganz Kordofan und die Beduinen von Darfur. Der Statthalter von Dara, Slatin Bey, der österreichische Held, der sich jetzt in der Gefangenschaft des Mahdi befindet, hatte schwere Arbeit und wurde am Brunnen Nemeir von überlegenen Derwischtruppen geschlagen.
»Kurz darauf rückte der Statthalter von Kordofan, Mohamed Said Pascha, mit zweitausenddreihundert Soldaten gegen die Aufrührer vor. Eine Abteilung von zweitausend Derwischen vernichtete auch dieses Heer. Ebenso wurde Ali Bey mit dreitausend Mann geschlagen und verlor sein Leben in dem Kampf.
»Infolge dieser glänzenden Waffenerfolge strömten immer neue Scharen dem Heere des Mahdi zu, immer mehr Häuptlinge ließen sich in seine Sekte aufnehmen und erhielten von ihm Befehle und die Anweisung zum Vernichtungskampf. In Khartum erwarteten wir die Ankunft des neuen Generalstatthalters Abd el Kader Pascha. Zu dieser Zeit verbreiteten sich die tollsten Gerüchte in der Stadt, man befürchtete einen Angriff der Derwische, kurz, alles war von Furcht und Entsetzen ergriffen.
»Der neue Generalstatthalter war ein energischer Mann mit weitem Gewissen. Es kam ihm nicht darauf an, einen widerspenstigen Beamten spurlos verschwinden zu lassen, über dessen Schicksal nur die Krokodile des Nil berichten könnten. So erging es zum Beispiel dem Araber Sobeir, den er verlockte, sich nach Khartum einzuschiffen, der aber nie dort ankam. Abd el Kader Pascha hätte vielleicht den Aufstand noch niederwerfen können, wenn er die Verstärkungen bekommen hätte, die er dringend von Kairo erbat. Aber Ägypten war durch die Empörung Arabi Paschas zu sehr geschwächt, um Hilfe bringen zu können.
»Inzwischen war Jussuf Pascha el Schallali mit 7000 Mann aus Khartum zum Berge Gadir vorgerückt. Mohamed Achmed breitete seinen Gebetsteppich zwischen beiden Heeren aus und kniete betend darauf nieder. Jussuf Pascha befahl dem berühmten Schützen Abdallah Wad Dafallah, den Mahdi niederzuschießen. Doch dessen drei Schüsse gingen fehl. Dieses Wunder erhöhte die Begeisterung und das Vertrauen der Derwische. Mohamed Achmed sprang auf, zog sein Schwert und stieß seinen Schlachtruf aus: » Fi sabil allah!« Trotz ihrer Stärke und überlegenen Bewaffnung wurde die ägyptische Armee in kurzer Zeit aufgerieben, und Jussuf Pascha selber verlor dabei sein Leben. Die Mahdisten, die bisher außer Säbel und Lanzen nur alte Perkussionsflinten besessen hatten, erbeuteten hier Schnellfeuergewehre und Munition in Massen.
»Auch dieser Sieg brachte dem Mahdi wieder neue Anhänger. Slatin Bey lieferte inzwischen den Derwischen unaufhörlich Gefechte und Schlachten mit wechselndem Erfolg, niemals aber zogen diese in einem bedeutenderen Treffen den kürzeren: sie hielten sich für unbesieglich und verachteten den Tod, gewiß, für Gottes Sache zu kämpfen und das Paradies zu gewinnen.
»Mohamed Achmed rückte nun mit seinem Heer vom Berge Gadir nach Kaba vor und griff El Obeid an. Die Stadt aber war mit Geschützen wohl versehen und schlug die immer wiederholten wütenden Stürme ab. An einem Tage verlor der Mahdi fast 10 000 Mann. Doch wütete der Hunger in der Stadt, in der ein Eselskopf schon 200 Taler kostete.
»Am 17. Januar 1883 mußte der tapfere Verteidiger von El Obeid, Iskander Bey, die Stadt übergeben. Der Mahdi schonte sein Leben, obgleich er drei seiner Unterhändler, die ihn zur Übergabe aufforderten, hatte hängen lassen. Mohamed Achmed war nun der Herr auch über ganz Kordofan.
»Unterdessen hatten die Engländer den Aufstand Arabi Paschas niedergeworfen, und der Khedive sandte ein 16 000 Mann starkes Heer mit 70 Geschützen, darunter 30 Kruppkanonen, nach Khartum. Der englische General Hicks Pascha war der Oberbefehlshaber. Unerträgliche Hitze und Wassermangel erschwerten den Vormarsch außerordentlich: die Derwische hatten alle Brunnen verschüttet. Überall fanden die Soldaten Briefe des Mahdi auf dem Weg und an den Bäumen, in denen sie zur Übergabe ausgefordert wurden, widrigenfalls sie bis auf den letzten Mann vernichtet würden.
»Tag und Nacht wurde das Heer von feindlichen Scharen umschwärmt und angegriffen, bis es ganz erschöpft am 6. November bei El Birke anlangte. Hier wurde es von den Horden des Mahdi umzingelt und in weniger als einer Stunde vollständig aufgerieben. Hicks Pascha und sämtliche Offiziere, darunter dreizehn Europäer, fielen. Aus den Köpfen der Gefallenen ließ der Sieger eine gewaltige Pyramide auf dem Schlachtfeld errichten.
»Immer noch hatte sich Slatin Bey in Darfur behauptet. Hicks Niederlage zwang ihn, die Waffen zu strecken und den mohammedanischen Glauben anzunehmen.«
Bisher hatte Leutnant Helling der Schilderung des gewaltigen Ringens stillschweigend zugehört, mit lebhaft gespannter Teilnahme. Jetzt nahm er das Wort und sagte: »So hoch ich den tapferen Slatin schätze, die Verleugnung seines Christenglaubens gefällt mir nicht: ich würde mich nie zu einer solchen Demütigung verstehen, die auch mein Gewissen nicht zuließe.«
»Das ist ganz mein Standpunkt,« versicherte Sieger. »Slatin glaubte aber wohl, zum Schein nachgeben zu sollen, um schlechter Behandlung, vielleicht auch dem Tode zu entgehen. Denn die Derwische scheuten vor den entsetzlichsten Greueln und Grausamkeiten nicht zurück. Der Sieg über Hicks Pascha steigerte Mohamed Achmeds Ansehen, wie sich denken läßt, wieder ganz gewaltig, und neue Scharen strömten seinen Fahnen zu. Berber und Kassala erhoben sich. Osman Digma, ein früherer Sklavenhändler, wiegelte die Araber der Gegend von Suakin auf. Vom Mahdi zum Emir von Suakin ernannt, schlug er die Regierungstruppen bei Tokar und Suakin, und als General Baker Pascha mit einem neuen Heere gegen ihn anzog, zerstreute er auch dieses beim Brunnen el Teb.
»In Berber siegte Mohamed el Chair, der vom Mahdi zum Emir von Berber erhoben worden war, über den Statthalter Hussein Pascha Kalifa. Da bestimmten die Engländer den Khedive, den Sudan aufzugeben und Gordon mit der Aufgabe der Räumung zu betrauen. Gordon aber täuschte sich trotz aller traurigen Erfahrungen vollständig über den Ernst der Lage und besaß viel zu viel Selbstbewußtsein. Er nahm den Auftrag an, unter der Bedingung, freie Hand zu haben, eine unabhängige Regierung im Sudan aufzurichten. Er gedachte wohl, den Mahdi spielend zu besiegen, und, da Ägypten seinen Besitz aufgab, sich selber ein großes Reich zu errichten, das dann später wohl an England übergehen sollte. Das weitere wissen Sie ja selber, da Sie mit General Gordon hier ankamen.«
»Ja, und Gordon wird nun auch erkennen, daß seine törichten Träume zerrinnen. Ihre Berichte haben mich erst völlig über die Lage aufgeklärt, und ich muß sagen, ich habe keine geringe Meinung von diesem Mahdi gewonnen, den ich bisher nur für einen religiösen Schwärmer und Fanatiker ansah, dessen Erfolge mehr auf glücklichen Zufällen und Fehlern seiner Gegner beruhten. Nach allem Gehörten scheint er mir ein gewaltiger Krieger, wohl gar ein bedeutender Feldherr zu sein.«
»So viel möchte ich doch nicht behaupten. In dieser Beziehung ist ihm sein Vetter Abdalla Walad Mohamed oder Abdullahi weit überlegen. Für ihn hat der Mahdi stets eine besondere Zuneigung gehegt und ihn zu seinem Kalifa, das heißt Stellvertreter und Nachfolger ernannt. Dieser tapfere, aber grausame Mann ist überhaupt sozusagen seine rechte Hand.«
»Nun aber wollen wir doch aufbrechen,« drängte der Leutnant. »Der erste Schimmer der Morgendämmerung zeigt sich bereits am östlichen Horizont, und ich fühle eine ganz unerklärliche Unruhe in mir, umso unerklärlicher, als ich ja eigentlich hierher kam, um einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfelde zu suchen, und es für einen, dem der Tod als Erlöser willkommen ist, keine Ursache zu irgendwelchen Befürchtungen mehr geben sollte.«
Die beiden Freunde erhoben sich und verließen das Haus. Freilich, hätte Sieger ahnen können, wie verhängnisvoll dieser Gang für sein Lebensglück werden sollte, keine Macht der Welt hätte ihn vermocht, seine sorglos schlummernden Lieben in dieser Stunde allein zu lassen.
Die beiden traten in die Nacht hinaus. Noch lag alles in Schweigen und tiefe Finsternis gehüllt, und erst ein schmaler grauer Streifen am Himmelsrande ließ erkennen, daß der Morgen nicht mehr fern sein konnte.
Die nächtlichen Wanderer schlugen den Weg nach den Gärten ein, die zwischen der Stadt und der Festungsmauer sich hinzogen in der Richtung auf Omderman zu.
In dieser folgenschweren Nacht regte sich ein geheimnisvolles, beinahe lautloses Treiben rings um die Mauern der bedrängten Hauptstadt des Sudans. Mit solcher Vorsicht wurde dabei zu Werke gegangen, daß außer Josefs scharfem Ohr kein anderes das geringste davon wahrgenommen zu haben schien. Dem Kommandanten Farag Pascha hatte der Diener seine Beobachtungen mitgeteilt, ohne freilich zu ahnen, daß er ihm nichts Neues sagte, und daß seine Warnung der gefährdeten Stadt nichts nützen konnte, weil er sie an einen Mann gerichtet hatte, der im geheimen Einverständnis mit dem Feinde stand. Wohl hatte er auch seinem Herrn Mitteilung gemacht, aber leider glaubte dieser an keine dringende Gefahr und hatte daher die kostbarste Zeit verstreichen lassen, ehe er sich selber mit Helling auf den Weg machte, zu erkunden, was sich vor den Mauern vorbereitete.
Um zu verstehen, was sich da in der Stille abspielte, wollen wir die Vorgänge des verflossenen Tages im Lager der Derwische kennen lernen.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Sieger seinen Freund Helling bewog, den gefährlichen Platz auf der Umfassungsmauer zu verlassen, begab sich der Kalisa Abdullahi in das Zelt des Mahdi.
»Wie lange sollen die Ungläubigen noch dem Erwählten Allahs trotzen dürfen?« fragte er. »Was hindert uns, noch diese Nacht Khartum zu überrumpeln? Dann ist das letzte Bollwerk gebrochen und du bist der Herr des ganzen Sudans.«
»Und wie gedenkst du dies Ziel zu erreichen?« lautete Mohamed Achmeds Gegenfrage.
»Du weißt, daß Farag Pascha uns das Tor öffnen will, das seiner Verteidigung anvertraut ist. Da können wir ungehindert eindringen. Sind wir einmal im Innern der Stadt, so werden wir sie leicht überwältigen; wir haben ja Freunde genug in ihren Mauern, die darauf brennen, sich uns anschließen zu dürfen.«
»Farag ist ein Verräter. Jeder Verräter ist mir verächtlich und verhaßt, auch wenn er meine Feinde verrät. Aber wer klug ist, traut auch keines Verräters Versprechungen. Es wäre nicht unmöglich, daß uns der Schurke eine Falle stellt. Doch wenn wir das auch nicht befürchten, so stünden uns noch schwere und verlustreiche Kämpfe bevor, wenn wir nur von einer Seite in die Stadt eindrängen. Ich gedenke, die Wälle von allen Seiten zugleich zu erstürmen, und so die ganze Stadt zu überfluten. Dann wird aller Widerstand in kürzester Frist gebrochen, und den Feinden bleibt kein Ausweg zur Flucht.«
»Wird uns nicht die Erstürmung der Mauer mehr Opfer kosten? Noch ragt sie aus der Tiefe des Grabens, in den wir zuvor hinabklettern müssen.«
»Nichts soll uns aufhalten: morgen ist der Tag, an dem ich in Khartum einziehen soll, nach der Verheißung des Propheten. Berufe die Emire, daß ich ihnen meinen Willen kund tue.«
Gehorsam entfernte sich der Kalifa und versammelte die Befehlshaber. Mit ihnen begab sich Mohamed Achmed auf das Ostufer des Nils, wo der Mahdi sie folgendermaßen anredete:
»Die Zeit ist gekommen, da Allah die letzte Burg der Ungläubigen in unsere Hände gibt. Morgen ist der Tag, da Khartum in unsere Hände fallen wird, und morgen schon werde ich als Herr dort einziehen, denn also hat es mir der Prophet des Höchsten geoffenbart. Jeder von euch wird das seinen Kriegern verkünden und dafür sorgen, daß pünktlich geschehe, was ich jetzt anordne.«
Er wies nun jedem Emir seinen Platz an, von dem aus er den Wall erstürmen solle. Nach Eintritt der Dunkelheit sollten alle Hütten und Gebäude zwischen dem Lager und der Stadt niedergerissen werden. Sobald der Mond unterging, sollte in der Finsternis unter tiefstem Schweigen und völliger Lautlosigkeit der Wallgraben mit den Trümmern ausgefüllt werden. Dies mußte so rasch geschehen, daß die ganze Arbeit vor Tagesanbruch beendet wäre. Ehe es tagte, sollte Abu Karga mit seiner Abteilung durch die Bresche und das Kalakletor eindringen, wo der Verräter Farag mit seinen Leuten stand und sie nicht aufhalten würde. In bezug auf diese erteilte der Mahdi dem Emir noch besondere geheime Befehle.
Beim ersten Schimmer der Dämmerung sollten alle anderen Abteilungen gleichzeitig die Mauer ersteigen, was nach Ausfüllung des Grabens keine nennenswerte Schwierigkeit mehr bot, wenn es gelang, die Vorbereitungen unbemerkt zu treffen und die Wächter zu überraschen. Wer Widerstand leistete bei der nun folgenden Eroberung der Stadt, sollte niedergemacht, wer sich ergab, gefangen genommen, Frauen, Kinder und Wehrlose aber schonend behandelt werden.
Letzteres ordnete Mohamed Achmed an, um sein Gewissen von den zweifellos erfolgenden Greueltaten zu entlasten. Denn daß die entfesselten Beduinenhorden ihre grausamen Triebe nicht zähmen würden, wußte er aus Erfahrung nur zu wohl.
Nach diesen Anordnungen kehrte der Mahdi in seine Wohnung zurück, wo ihn gegen Abend Emin Gegr um Salama aufsuchte, wie wir bereits wissen.
Kaum dämmerte die Nacht, als tausende von Händen sich daran machten, nach dem Befehl des Herrschers alle Hütten in der Nähe der Stadt abzubrechen. Der Mond stand im ersten Viertel und verbreitete wenig Licht. Sobald er untergegangen und alles in undurchdringliche Finsternis gehüllt war, wurden Bretter, Balken und Schutt nach dem Stadtgraben gebracht. Dieser wurde nun an möglichst zahlreichen Stellen derart aufgefüllt, daß der breiten Brücken genug waren, die ein leichtes Erklimmen der Schanzen ermöglichten.
Obgleich nun die Arbeit mit einer geradezu unglaublichen Geschwindigkeit vor sich ging, so daß sie tatsächlich noch vor Tagesgrauen beendigt war, geschah sie mit solcher Geräuschlosigkeit, daß niemand etwas von den Vorgängen merkte, außer Siegers Diener. Das wäre freilich kaum möglich gewesen, wenn alle Wächter auf ihrem Posten gewesen wären und gewacht hätten.
Nun aber lag alles im Schlummer, auch die pflichtvergessenen Hüter der belagerten Stadt. Wohl waren sie erschöpft von den Anstrengungen und Entbehrungen der letzten Wochen: aber konnten sie damit eine so gröbliche Verletzung ihrer Aufgabe entschuldigen? Und doch war ihr Leichtsinn erklärlich, wenn nicht entschuldbar: es fehlte an der wachsamen Aufsicht und daher an der notwendigen Zucht. Hätte der Statthalter nach dem Rechten gesehen und sich mehr darum bekümmert, ob seine Beamten und Offiziere auch ihre Pflicht erfüllten, so wären solche Nachlässigkeiten angesichts einer so drohenden Gefahr undenkbar gewesen.
Nun aber schlummerte Khartum, nicht ahnend, wie nahe ihm ein gräßliches Geschick war, und die es bewachen und schützen sollten, lagen auch in den Banden des Schlafes und sollten nur erwachen, um in einen noch tieferen Schlummer versenkt zu werden, aus dem es kein irdisches Erwachen mehr gab. Fand sich kein Warner, fand sich kein Retter?
An einer Stelle war die Wachsamkeit nicht erloschen, aus einer Wachstube strahlte noch helles Licht. Da saß finstern Angesichts und dumpf vor sich hinbrütend Farag Pascha und wachte, — doch nicht zum Heile, sondern zum Verderben der Stadt. Seine Leute waren auch auf dem Posten: an der Bresche, am Tor und auf dem Walle kauerten sie oder schritten auf und ab. Wer sie gesehen hätte, würde sich gefreut haben, so pflichtgetreue Wächter zu finden, wo alle anderen ihre Aufgabe so schmählich vernachlässigten.
Das waren die Leute, die wußten, daß noch heute nacht das Verderben über die Stadt hereinbrechen werde, und die es förderten, statt ihm zu wehren. Doch schien es ihnen nicht wohl zu sein bei der Sache. Düster starrten sie ins Dunkel hinaus, als hätten sie eine Vorahnung des Loses, das ihnen bevorstand, und des Lohnes, den sie für ihren Verrat ernten sollten.
»Die Stunde naht!« murmelte Farag Pascha vor sich hin. »Noch möchte es Zeit sein, Gordon zu warnen, und wer weiß, vielleicht würde ich besser dabei fahren, denn dieser Mahdi hat etwas in seinem Betragen gegen mich, das mir nicht gefällt, ja geradezu unheimlich erscheint.«
Da nahten sich Schritte. Ein Mann in arabischer Tracht trat ein.
Farag sah ihn unwirsch an. Der Besuch schien ihm nicht willkommen: vielleicht hinderte er ihn noch im letzten Augenblick, einen Entschluß zu fassen, der sein Gewissen beruhigt und das Leben Tausender gerettet haben würde.
»Was willst du, Emin Gegr um Salama?« fragte er unfreundlich.
»Sehen, ob alles in Ordnung ist. Die Arbeit dort draußen ist nahezu vollendet. In weniger als einer Stunde wird sich der Ungläubigen Geschick erfüllen.«
»Der Ungläubigen? Bist denn du ein Gläubiger? Du bist kein Sohn der Wüste, wie du vorgibst: falsch ist dein Sinn, wie deine Gestalt. Weh mir, daß ich mich von dir verführen ließ, die Wege der Finsternis zu betreten, du Scheitan!«
»Reut dich dein Entschluß?« zischte der Einäugige. »Soll ich zum Mahdi hinüber und es ihm künden?«
Farag lachte bitter und höhnisch auf. »Glaubst du, du könnest die Stadt verlassen, wenn ich es hindern will? Was hindert mich, dich sofort zu durchbohren und den Statthalter zu warnen?«
Emin Gegr wich erschrocken zurück. Doch verächtlich winkte ihm der Pascha, zu bleiben. »Du bist ein elender Feigling, wie alle deines Gelichters,« sagte er, auf den Boden spuckend. »Ich aber will mich nicht mit deinem Blute beflecken. Ich überlasse es Allah und deinem Gewissen, dich zu strafen. Deine Seele möge sich beruhigen, ich lasse dem Verderben seinen Lauf: es naht sich schneller, als du und ich geglaubt haben. Ja, hätte ich noch eine Stunde Zeit —, aber ich höre sie nahen: es ist zu spät!«
»So will ich eilen, meine Freunde in der Stadt aufzusuchen, die darauf brennen, sich zu vereinigen mit denen, die von Allah zum Werke der Rache erwählt sind.«
»Geh denn zu deinen Teufeln, du Satan!« knirschte Farag Pascha und erhob sich, während sein unheimlicher Besucher in die Stadt zurückeilte.
Kaum hatte Farag seine Hütte verlassen, als Abu Karga mit seinen Leuten durch die Bresche und das geöffnete Tor eindrang. Das erste, was die Eindringlinge taten, war, daß sie den verräterischen Pascha gefangen nahmen und banden und dann die ganze Wache niedermetzelten, die ihnen die freie Bahn geschaffen hatte. Sie handelten nach dem geheimen Befehl des Mahdi. So hatten den Verräter seine trüben Ahnungen nicht betrogen. Er selber überlebte seine schwarze Tat nicht lange, denn kaum drei Tage nach dem Fall von Khartum ließ ihn Mohamed Achmed enthaupten.
Jetzt wurde die Mauer rings um die Stadt in wenigen Augenblicken von den Derwischen erstiegen. Zu spät schreckten die ungetreuen Wächter aus dem Schlafe auf. Sie konnten sich nicht mehr wehren und fielen unter den Streichen der blutdürstigen Horden.
Mit gräßlichem Geheul drangen fünfzigtausend Krieger von allen Seiten in die Stadt ein, die nicht mehr als vierzigtausend Einwohner zählte, von denen Tausende mit den Mahdisten gemeinsame Sache machten.
Das war ein gräßliches Erwachen!
Schlaftrunken und völlig überrascht kamen selbst die Soldaten kaum zur Gegenwehr. Das ungewisse Licht des erst dämmernden Morgens vermehrte die Verwirrung, so daß es nur selten zu einem Kampfe kam: meist war es nur ein Hinschlachten wehrloser Opfer.
Der Statthalterpalast und die katholische Kirche waren das erste Ziel der wütenden Horden. Auf dem Wege aber wurden von einzelnen Banden die Haustüren erbrochen. Die Einwohner, die durch die gellenden Schreie, das Waffengeklirr und wüste Getümmel aus dem Schlafe geschreckt worden waren, wurden auf die grausamste Weise niedergemetzelt, ehe sie recht wußten, was sich ereignet hatte. Auch der Frauen und Kinder wurde nicht geschont.
General Gordon trat vor die Türe seines Palastes, um die Ursache des ungewohnten Lärmes zu erfahren. Im Augenblick war er von mehr als zwanzig Lanzen durchbohrt, sein Haupt wurde vom Rumpfe getrennt, auf eine Speerspitze gesteckt und im Triumphe zum Mahdi getragen. Mord und Plünderung waren die Losung, und alles wurde verwüstet und zerstört.
Sieger und Helling befanden sich inmitten der Gärten in der Nähe der Festungsmauer, die sie noch nicht erreicht hatten, als plötzlich die nächtliche Stille durch das Gebrüll der einströmenden Derwische unterbrochen wurde. Sie begriffen alsbald, was geschehen war, und daß es für die Stadt keine Rettung mehr gebe, denn von allen Seiten, in der Nähe und aus der Ferne, wurde nun das Geschrei vernehmbar.
Von Entsetzen und bangen Ahnungen ergriffen, stürzten sie atemlosen Laufes zurück nach der Wohnung des Ingenieurs.
Sie kamen zu spät!
Kaum zehn Minuten vorher war eine blutgierige Bande in das Haus eingedrungen, unter Führung von Emin Gegr um Salama. Die kaum aus dem Schlafe erwachte, zu Tode erschrockene junge Frau warf sich auf das Bett ihres Söhnleins, über welchem der Schurke schon die Lanze gezückt hatte. Kalten Herzens durchbohrte Emin die unselige Mutter, die wenigstens nicht viel zu leiden hatte, denn sie war ins Herz getroffen und sofort tot. Nun wollte der Unhold auch die beiden Kinder hinmorden. Doch daran hinderten ihn seine menschlicheren Begleiter.
Emin schäumte vor Wut, daß er den Ingenieur selbst nicht zu Hause angetroffen, wenn er auch eine genügend grausame Rache an ihm genommen, indem er ihn seines geliebten Weibes beraubt hatte. Töten wollte er ihn nicht, das wäre ihm als eine zu gelinde Strafe erschienen. Aber in seine Gewalt wollte er ihn bringen, sich ihm zu erkennen geben, ihm triumphierend berichten, wie er seine Frau erstochen und nicht ruhen werde, bis er auch seine beiden Kinder aus der Welt geschafft habe. Und dann wollte er täglich neue Qualen für sein Opfer ersinnen.
Nun stürmte er mit seinen Begleitern fort, um vor allem Sieger zu suchen und sich seiner zu versichern.
Josef war an dem Lärm erwacht, der im Schlafzimmer seiner Herrin entstanden war. Er vernahm einen verzweifelten Schrei, der ihm durch alle Glieder fuhr. Rasch warf er sich in seine Kleider und eilte hinunter. Er hörte noch die Mordbande die Stiege hinunterpoltern. Die Türe des Schlafzimmers, in dem ein Nachtlicht brannte, stand weit offen. Starr vor Schrecken blieb der Diener auf der Schwelle stehen, als er seine junge Herrin entseelt in ihrem Blute liegen sah.
Er erinnerte sich gleich des verdächtigen Treibens vor dem Stadtwall und sagte sich, daß die Derwische eingedrungen seien und eine allgemeine Metzelei begonnen hätten. Wie leicht konnte eine andere Bande erscheinen und auch die Kinder noch umbringen. Er mußte sie in Sicherheit bringen, aber wohin? Da entsann er sich, daß der Schreiber Petrus Polus erst gestern dagewesen war und die Befürchtung, ausgesprochen hatte, daß Gordons unbelehrbare Sorglosigkeit eine unvermutete Überrumpelung der Stadt durch die Mahdisten zur Folge haben könne. Er habe daher auf eigene Faust sein massiv aus Stein gebautes Haus in Verteidigungszustand gesetzt und lade den Freund ein, im Falle der Not sich mit den Seinigen zu ihm zu begeben. Sieger hatte ihn noch ausgelacht, daß er allzu ängstlich sei und Gespenster sehe. Nun aber hatte der Schreiber doch recht behalten.
Josef zögerte nicht: mit dem rechten Arm hob er den weinenden Johannes aus seinem blutbespritzten Bettchen, mit dem linken riß er die noch schlummernde kleine Fanny empor, die kaum die Augen aufschlug und dann an seiner treuen Brust weiterschlief.
So stürzte er hinaus und erreichte bald des Schreibers Haus, wo er die Insassen durch sein heftiges Pochen an die Türe weckte. Petrus Polus öffnete ihm selber, als er seinen Namen nannte.
Noch war es stille in der Stadt, denn Emin hatte mit seinen Spießgesellen das Blutwerk begonnen, als die Feinde noch nicht weit in die Stadt vorgedrungen waren. Man hörte aber schon ein dumpfes Brausen in der Ferne und einzelne schrille Rufe. Josefs Bericht erfüllte die Bewohner des Hauses mit Schrecken und lebhafter Teilnahme. Unverzüglich wurden die Insassen der benachbarten Häuser geweckt und veranlaßt, sich in das feste Haus zu flüchten.
Der Diener hatte kaum die Wohnung seines Herrn verlassen, als dieser mit Helling eintraf und die Treppe hinaufflog. Obgleich er sich sagte, daß die Derwische unmöglich schon so weit ins Innere der Stadt vorgedrungen sein könnten, weissagte ihm doch die weitoffene Haustüre nichts Gutes.
Und nun stand er auf der Schwelle seines Schlafgemachs, wie vom Donner gerührt. Dann warf er sich mit einem Aufschrei auf die Leiche seines geliebten Weibes. Tief erschüttert stand der Leutnant unter der Türe.
Als aber Helling mit einem raschen Blicke entdeckte, daß die beiden Kinder fehlten, rief er: »Armer Freund! Raffe dich auf: deine Kinder sind aus den Betten gerissen. Laß uns eilen, sie zu suchen: vielleicht können wir sie noch vor einem gräßlichen Schicksal bewahren!«
Diese Worte brachten den verzweifelnden Gatten und Vater zur Besinnung. Er raffte sich auf, warf einen verstörten Blick umher und sagte dann mit gebrochener Stimme: »Du hast recht! Verlieren wir keine kostbare Minute! Gebe Gott, daß Josef sich mit den teuren Kleinen zu flüchten vermochte. Doch ich habe keine Ruhe, bis ich Gewißheit über ihr Schicksal habe.«
Obgleich nun die Stadt schon von wildem Geheul und Getobe widerhallte, konnten die beiden Freunde doch noch unbehelligt die nächsten Gassen durcheilen.
Da plötzlich rief durch die geschlossenen Fensterläden eines freistehenden Hauses eine Stimme: »Rasch hierher, Sieger! Dein Diener hat sich mit deinen Kindern zu mir geflüchtet. Hier seid ihr am sichersten für die nächste Zeit.«
Der Ingenieur sah empor. Er konnte wegen der geschlossenen Läden niemand sehen; doch hatte er die wohlbekannte Stimme seines Freundes, des ersten Schreibers der Finanzabteilung, erkannt, dem ja auch dieses Haus gehörte.
Schon öffnete Josef die Haustüre. Sieger und Helling eilten hinein, worauf die feste Türe wieder verrammelt wurde.
Es war die höchste Zeit, denn schon rasten wutbrüllende Derwische in die Gasse.
Sieger wankte die Treppe hinauf, gefolgt vom Leutnant und seinem Diener. Droben fand er seine geliebten Kinder, in einem Bettlein ruhig schlummernd. Tränenden Auges küßte er sie. Dann brach der starke Mann halb ohnmächtig zusammen.
Petrus Polus hielt mit seinen Dienern und den aufgenommenen Männern aus den Nachbarhäusern die Fenster besetzt. Den Anstürmenden unsichtbar, konnten sie durch die Öffnungen der Läden auf die nahenden Derwische schießen, die infolgedessen, nachdem einige von ihnen tödlich getroffen waren, ihre Versuche aufgaben, die Haustüre zu erbrechen.
Helling schloß sich sofort den Verteidigern an. Sobald Sieger sich einigermaßen erholt hatte, griff auch er zu einer Schußwaffe. Die männliche Besatzung des Hauses genügte jetzt vollkommen zu dessen wirksamer Verteidigung, und es konnten zu diesem Behufs drei Abteilungen gebildet werden, die einander ablösten; mußte man sich doch auf eine langwierige Belagerung gefaßt machen.
Emin Gegr um Salama war um den Weg, als Sieger mit Helling in das Haus des Schreibers aufgenommen wurde, und hatte den Vorgang von ferne beobachtet. Er war der erste gewesen, der die Derwische veranlaßte, die hier Verschanzten anzugreifen. Er selber wagte sich nicht in die Nähe, weil er die wohlgezielten Kugeln fürchtete; doch behielt er, hinter guter Deckung vorspähend, das Haus immer im Auge. So oft ein Trupp Derwische des Weges kam, hetzte er sie auf den Steinbau, unter der Vorspiegelung, daß hier die vornehmsten Persönlichkeiten und die reichsten Schätze verborgen seien. Das klang sehr einleuchtend, denn es war eines der festesten Steinhäuser Khartums, und das Gebäude war entschieden das stattlichste nach dem Statthalterpalast. Anfangs stürmten auch die Mahdisten mit Todesverachtung gegen den Eingang. Als sich aber vor diesem die Leichen türmten und einen förmlichen Schutzwall bildeten, der die Annäherung an das Tor hinderte, begann ihnen das Unterfangen doch unheimlich zu werden, und sie mieden die gefährliche Nähe der Festung.
Ringsum durchgellte die Luft das Wehgeschrei vieler Tausender, die gemartert, gemordet oder in die Sklaverei geschleppt wurden. Nur um dies eine Haus herum herrschte Ruhe, waren doch auch die Nachbarhäuser geräumt und ihre Bewohner bei Polus geborgen.
Nur selten gelang es noch Emin Gegr, einzelne besonders beherzte Beduinen zu einem Angriff zu vermögen. Aber sie büßten ihre Tollkühnheit mit dem Leben.
»Es wird uns leider nicht viel helfen,« meinte Leutnant Helling düster: »Die Rebellen sind Herren der Stadt, und wenn sie mit Gewalt nichts gegen uns ausrichten können, so werden sie uns bald durch den Hunger zur Übergabe zwingen.«
»Seien Sie ohne Sorge,« beruhigte ihn der Hausherr: »Ich habe beizeiten vorgesorgt, denn ich sah das Unheil kommen. Gleich zu Anfang habe ich die ausgedehnten Keller- und Bühnenräume meiner Behausung mit Lebensmitteln gefüllt. In den letzten Tagen, als die Hungersnot in gefährlicher Weise überhand nahm, habe ich unzählige Hungernde aus meinen Vorräten gespeist und hätte dies immerhin noch acht Tage fortsetzen können. Nun es sich aber nur noch darum handelt, etwa dreißig Leute zu ernähren, reichen die Lebensmittel für mehrere Monate aus, die für Hunderte nur noch wenige Tage genügt hätten. Daß die Derwische aber monatelang eine so gefährliche Festung in ihrer Mitte dulden sollten, ist undenkbar. Sie werden bald mit uns wegen der Übergabe in Unterhandlungen treten und uns dann alle gewünschten Zugeständnisse machen. Als Herren des ganzen Sudans haben sie weniger Interesse an der Vernichtung einer Handvoll Leute, als an der Einnahme dieses letzten Bollwerks, das sie nur unnütz die größten Opfer kostet.«
»Bedingungen werden wir ja wohl stellen können,« warf Sieger bedächtig ein: »Sie werden voraussichtlich auch angenommen werden. Aber dürfen wir den Versprechungen dieser Leute Vertrauen schenken? Sie sind imstande, den Vertrag hohnlachend zu brechen, sobald sie uns in ihrer Gewalt haben, zumal unser hartnäckiger Widerstand ihre Rachgier aufs äußerste gereizt haben wird.«
»Lassen Sie das meine Sorge sein,« entgegnete Polus: »Ich habe auch diese Möglichkeit ins Auge gefaßt und werde Vorkehrungen treffen, die den Mahdi zwingen, um seines Ansehens willen seine Zusagen zu halten.«
»Wie steht es aber mit der Munition?« forschte der Leutnant weiter.
»Auch mit solcher habe ich mich wohl versehen. Freilich, wenn es so fortginge wie heute, so dürfte sie in acht Tagen erschöpft sein. Aber das ist nicht zu befürchten. Die Derwische haben schon eingesehen, daß ihre Anläufe ihnen nur blutige Verluste eintragen. Vielleicht werden sie noch einige Male den Versuch machen, uns unversehens zu überraschen, besonders bei Nacht. Machen sie jedoch die unliebsame Erfahrung, daß unsere Wachsamkeit sich nicht einschläfern läßt, so werden sie die vergeblichen Bemühungen bald einstellen. Ich sage Ihnen, wenn nur wir auf der Hut bleiben, so kann der Feind mit Gewalt nichts ausrichten. Mit Kanonen ließe sich ja das Haus zusammenschießen, aber wo wollen sie die Geschütze aufstellen? Ganz in der Nähe? Da würden wir die Bedienungsmannschaften wegputzen, ehe sie die Rohre richten könnten. Sie müßten unter großen Verlusten ganze Häuserviertel niederlegen, um uns aus sicherer Ferne beschießen zu können, und ein solch wahnwitziges Verfahren wird der Mahdi nicht einschlagen.«
In der kommenden Nacht versuchten die Derwische in der Tat in aller Stille, den Eingang zu erzwingen. Sobald sie aber an den todbringenden Schüssen merkten, daß die Wachsamkeit der Belagerten sich nicht täuschen ließ, standen sie von ihrem Vorhaben ab.
Den ganzen Tag hatte das Morden und Plündern gewährt. Nun aber war nicht viel mehr zu holen, und die ganze Einwohnerschaft, bis auf die Insassen des einen Hauses, befand sich in Gefangenschaft, soweit sie nicht niedergemetzelt war. Nur noch wenige Überlebende mochten sich in Verstecken verborgen halten, die dem Spürsinn der Sieger entgangen waren. Da erließ der Mahdi eine allgemeine Amnestie: das heißt, wer dem Blutbad entgangen war, sollte seines Lebens und seiner Straflosigkeit versichert sein.
Dieser Erlaß wurde auch vor dem Hause des Petrus Polus bekannt gemacht mit der nochmaligen Aufforderung zur Übergabe. Er genügte jedoch dem vorsichtigen Schreiber nicht, und er erklärte, nur auf Grund besonderer Verhandlungen zum Nachgeben bereit zu sein.
Mohamed Achmed verteilte die Beute unter seine Krieger, der größte und wertvollste Teil derselben wurde jedoch, wie üblich, in das Beit el Mal oder Schatzhaus des Herrschers abgeliefert. Dann gab dieser den Befehl, die Leichen zu begraben. Allein die Derwische pflegten nur dann unbedingten Gehorsam zu leisten, wenn es sich um Kampf oder Plünderung handelte. So gaben sie dieser Anordnung keine Folge, sondern begnügten sich damit, die Toten teils zu verbrennen, teils in Brunnen oder in den Nil zu werfen.
Am gleichen Tage, den 26. Januar 1885, erschien Oberst Wilson mit zwei Dampfern im Angesichte der Stadt. Ihm folgte auf dem Fuße General Carle, der die Vorhut des Entsatzheeres befehligte. Als sie Khartum in den Händen der Derwische sahen, kehrten sie wieder um: ihre Aufgabe war gescheitert!
Hätte sich die Stadt nur noch zwei Tage gehalten, so wäre sie gerettet gewesen. Und wie leicht hätte sie noch so lange Widerstand leisten können! Wäre Gordon achtsamer gewesen und hätten die Wachen ihre Pflicht getan, so wäre dem Mahdi keine Überrumpelung geglückt.
Nun, die Schuldigen hatten ihre Nachlässigkeit mit dem Leben bezahlen müssen, aber auch zahllose Unschuldige mit ihnen.
Am nächsten Tage ließ sich Mohamed Achmed in Unterhandlungen mit Petrus Polus ein.
Dieser forderte eine öffentliche Verkündigung, in welcher der Mahdi bei seiner göttlichen Sendung erklären sollte, allen Insassen des Hauses Leben, Freiheit und gänzliche Straflosigkeit zu gewähren.
Der Kalifa Scherif, der die Verhandlungen im Namen des Herrschers leitete, erwirkte bei diesem durch seine vernünftigen Vorstellungen die Gewährung dieser Bedingungen. Auf Verlangen des Polus wurde die Urkunde im ganzen Lager verlesen, und so konnte der Mahdi nicht wortbrüchig werden, wenn er nicht seinem Ansehen bei seinen eigenen Anhängern in gefährlicher Weise schaden wollte.
Die Geretteten atmeten auf, als es so weit gekommen war, und alle dankten dem Hausherrn und spendeten seiner Weisheit und Vorsicht das anerkennendste Lob.
In einem Punkte freilich hatte sich Petrus Polus verrechnet: neben Schonung des Lebens und völliger Straflosigkeit hatte er vor allem Freiheit als Bedingung der Übergabe für sich und seine Freunde gefordert. Darunter hatte er, wie selbstverständlich, verstanden, daß ihrem Abzug nach Ägypten keine Hindernisse entgegengestellt würden.
Es erwies sich jedoch, daß der schlaue Mahdi seine eigenen, ganz eigentümlichen Begriffe von Freiheit hatte: er gestattete keinem, sich aus seinem Lager zu entfernen.
Der Schreiber versäumte nicht, ihm persönlich Vorstellungen über diesen Wortbruch zu machen. Der Herrscher aber erwiderte ihm in freundlichster Weise: »Allah verhüte, daß ich euch nicht Wort halten sollte! Ich habe euch Freiheit zugesagt: habe ich euch in Ketten legen lassen? Habe ich euch ins Gefängnis geworfen? Seid ihr nicht frei, euch ungehindert in meinem Lager zu bewegen?«
»Gewiß! Aber wir möchten frei sein, es zu verlassen und uns zu unseren Glaubensgenossen zu begeben.«
»Wie könnte ich euch das erlauben, ohne wortbrüchig zu werden? Ich habe euch Sicherheit des Lebens versprochen. Hier ist euer Leben sicher, denn alle meine Untertanen haben strengsten Befehl, es nicht anzutasten. Ließe ich es aber zu, daß ihr das Lager verlasset, so wäre es mir unmöglich, euer Leben zu schützen: ihr würdet unterwegs von den Derwischen erschlagen, die nicht unter meiner persönlichen Aufsicht stehen. Ich darf euch also um eurer selbst willen nicht aus meinen Augen lassen.«
»Wir entbinden dich gerne aller Verantwortlichkeit: laß uns nur ziehen. Wir werden selber dafür Sorge tragen, unser Leben auf der Reise zu schützen.«
»Wie könntet ihr mich meines Eides entbinden? Allah hat ihn gehört, und ihm bin ich für euer Leben verantwortlich. Preiset ihn, daß ich eurer Torheit nicht nachgebe, die euch Verderben bringen würde.«
Da half nichts: unsere Freunde mußten Gefangene im Lager des Mahdi bleiben und froh sein, daß sie sich wenigstens hier ungehindert und ungefährdet bewegen konnten.
Omderman, vielfach auch Omdurman genannt, blieb die Residenz des Beherrschers des Sudans. Aus der kleinen Festung vor Khartums Toren wurde eine Stadt von geradezu riesenhaften Ausmessungen: fast alle Anhänger des Mahdi ließen sich hier nieder, und in der Folge siedelte sein Nachfolger noch zahlreiche Stämme hier an. Dadurch wurde der Keim zu ungeheurer Not und himmelschreiendem Elend gelegt, und es sollte eine Hauptursache des späteren schrecklichen Unterganges der Derwische werden.
Vorerst ahnte man noch nichts von solchen Folgen. Die Macht des Propheten hatte ihren Höhepunkt erreicht, und das gewaltige Anwachsen seiner Hauptstadt schien sie nur zu stärken.
Es befanden sich noch andere europäische Gefangene in Omderman, vor allem Slatin Bey, der Pater Ohrwalder und der deutsche Kaufmann Neufeld. Aber es war sehr schwer, mit ihnen zusammenzutreffen bei der ungeheuren Ausdehnung der Stadt. Der Mahdi hatte allen ihre besonderen Wohnplätze angewiesen, und jeder ihrer Schritte wurde überwacht. Es wurde Sorge getragen, daß sie einander entfernt blieben, um nicht etwa miteinander eine Verschwörung anzetteln oder Fluchtpläne beraten zu können.
Auch Petrus Polus und die Nachbarn, die in seinem Hause Zuflucht gefunden hatten, wurden von unseren Freunden getrennt, und sie bekamen sie nur noch äußerst selten zu Gesicht. Sie waren froh, daß sie selber wenigstens beieinander bleiben durften, nämlich Sieger mit seinem Diener Josef und seinen beiden Kindern, sowie Onkel Helling, wie Johannes und Fanny gelehrt wurden, den Leutnant zu nennen.
Auch ihnen hatte der Mahdi einen bestimmten Platz im Lager angewiesen, wo sie sich eine Hütte erbauen mußten.
Als Eiferer für seinen Glauben, ließ es sich der Prophet angelegen sein, sie zum Islam und zu seiner Sekte zu bekehren. Oft wurden sie zum Gebete befohlen. Da mußten sie stundenlang knieend die Lehren des Mahdi anhören, so daß sie hernach vor Schmerzen in den Füßen kaum noch gehen konnten. Allein zum großen Ärger des Gewalthabers widerstanden sie tapfer allen seinen Bemühungen, sie von ihrem Christenglauben abzubringen.
Hatte Farag Pascha seinen Verrat mit dem Tode büßen müssen, so ging es Emin Gegr um Salama wenig besser. Er wurde in Ketten gelegt und im Seier gefangen gehalten. Das hatte er nun von seinen stolzen Träumen, eine ehrenvolle Machtstellung beim Mahdi einnehmen und denjenigen, den er so tödlich haßte, nach Willkür quälen zu können.
Es war eine harte Gefangenschaft, wenn auch der Kerker, den man den »Seier« hieß, die Schrecken noch nicht hatte, die ihm später einen so furchtbaren Ruf eintrugen, daß er allgemein »Der Vorhof der Hölle« genannt wurde.
Inzwischen waren auch Galabat und Senaar in die Hände der Mahdisten gefallen. Senaar, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, hatte den hartnäckigsten Widerstand geleistet. Sie wurde grausamer behandelt als alle anderen Eroberungen. Ohne Gnade und Barmherzigkeit wurden sämtliche Einwohner niedergemetzelt und die Stadt von Grund aus zerstört. Um ihren Wiederaufbau zu verhindern, erließ der Mahdi, erbittert über den langen Widerstand, ein Rundschreiben, in dem er Senaar verfluchte und jeden für einen Feind Gottes und des Propheten erklärte, der sich fürder dort niederlassen würde.
Im Mai 1885 verkündete Mohamed Achmed, daß er nunmehr Ägypten erobern werde. Mit der Eroberung betraute er Hussein Pascha Kalifa, den früheren Statthalter von Berber, der zu ihm übergegangen war und zum Emir von Barr el Rif, das heißt Ägypten, bis Wadi Halfa ernannt wurde.
»Wenn die Zeit gekommen ist,« weissagte der Mahdi, »werde ich mit nur sechs Mann Kairo einnehmen, denn Allah wird ohne Hilfe von Kriegern seiner Religion den Sieg verleihen, und bei meiner Ankunft in Kairo werden mir die Einwohner von selbst entgegenkommen und mir ihre Unterwerfung anzeigen.«
Allein, anstatt Ägypten zu erobern, verließ Hussein Pascha Kalifa die Mahdisten an der Grenze und floh nach Kairo. Mohamed Achmed hatte ihm allzuviel Vertrauen geschenkt.
Aber noch ein härterer Schlag traf die Rebellen: im Juni desselben Jahres starb der große Mahdi plötzlich am Typhus.
Die Nachricht vom Tode des Mahdi, des Propheten oder Erlösers, wie ihn seine Anhänger nannten, des Mutamahdi oder falschen Propheten, wie er bei seinen Gegnern hieß, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Omderman und erregte die größte Bestürzung.
Bald drang sie auch in die entlegene Hütte Siegers, wo sie ganz anders aufgenommen wurde.
»Wer hätte das gedacht!« rief Helling aus: »Jetzt, wo er auf dem Gipfel seiner Macht stand und sich Ägypten zu unterwerfen gedachte, stirbt der Mann nach einer Krankheit von wenigen Tagen! Nun wird auch sein Werk bald zerfallen, seine Anhänger werden sich zerstreuen und dann schlägt auch für uns die Stunde der Befreiung.«
»Ob der Tod ihres Oberhauptes die Derwische von ihrem Wahne heilen wird, bezweifle ich sehr,« wandte Sieger ein: »Immerhin dürfte wohl zunächst eine solche Verwirrung unter ihnen entstehen, daß wir nicht mehr so streng überwacht werden und ein unbemerktes Entkommen möglich sein kann, falls wir die günstigste Gelegenheit ungesäumt benutzen. Seien wir also auf der Wacht und bereiten wir alles zur Flucht vor.«
Nur zu bald jedoch sollten unsere Freunde erkennen, daß sie nur vom Regen in die Traufe gekommen waren und ihr Schicksal sich fortan gefährlicher als zuvor gestalten sollte. Die Aussicht auf ein Entweichen wurde seit Mohamed Achmeds Tode geringer denn je.
Der Mahdi wurde gleich an seinem Todestage in seinem Hause zu Omderman begraben. Diese Stätte wurde nun das Wallfahrtsziel der Mohamedaner des Sudans und trat für sie an Stelle der Wallfahrten nach Mekka zum Grabe des Propheten Mohamed. Schon bei seinen Lebzeiten war ja Mohamed Achmed für seine Anhänger der Prophet Allahs, der ihnen mehr galt als Mohamed selber.
Abdallah Walad Mohamed oder Abdullahi, der Kalifa, verlor jedoch keine Zeit. Kaum war sein Vetter gestorben, als er die vornehmsten Häuptlinge berief und sie folgendermaßen anredete:
»Es hat Allah in seiner Weisheit gefallen, unser verehrtes Haupt, den großen, unbesiegbaren Mahdi el Monteser, in sein Paradies abzuberufen. Sollen wir nun den Mut verlieren und jeder seine eigenen Wege gehen, so daß sein Reich zerfällt und sein gewaltiges Werk dem Untergange geweiht wird? Das wäre Gottes Wille nicht! Erinnert euch, als der Prophet Mohamed starb, sollte das seinem Werk keinen Schaden bringen, vielmehr traten seine Nachfolger, die Kalifen, an seine Statt, denn Gott gab ihnen den Auftrag und die Macht, sein Werk fortzusetzen. Sie wurden seine Erben und haben die Lehre des Propheten ausgebreitet, die Ungläubigen bekämpft und mächtige Reiche erobert. So soll es auch jetzt sein nach Allahs Willen. Wir sollen das Werk und die Eroberungen des Mahdi fortsetzen, bis alle Völker der Welt sich beugen unter dem allein wahren Glauben.
»Ihr wisset, daß Mohamed Achmed mich zu seinem Kalifa ernannt hat. Ich bin sein von ihm selbst erwählter Stellvertreter und Nachfolger nach Allahs Willen. Darum säumet nicht, mich als solchen anzuerkennen, wenn ihr nicht den Zorn des Allerhöchsten herausfordern wollt. Huldiget mir als eurem Herrn und leistet mir das Gelübde des Gehorsams und der Treue. Bedenket euch nicht lange, denn jedes Zögern bringt die Gefahr verderblicher Spaltungen, die euch allen nur Schaden bringen könnten.«
Hierauf bestieg der Kalifa den Stuhl, von dem herab der Mahdi seine Ansprachen gehalten und seine Gesichte und Weissagungen verkündigt hatte, und alle Emire und vornehmsten Häuptlinge, so wie sie um ihn versammelt waren, leisteten ohne Widerspruch den verlangten Eid:
»Wir glauben an Gott, an seinen Propheten Mohamed und an den Mahdi. Wir schwören bei der Einheit Gottes, dir zu gehorchen und treu zu bleiben, nicht zu stehlen, nicht Ehebruch zu treiben, nicht zu lügen oder zu verleumden. Wir geloben, der Welt zu entsagen, unser Dasein Gott zu weihen, den heiligen Krieg nicht zu fliehen, — alles aus Liebe zu Gott, um das Paradies zu verdienen!«
Die Nachricht von der Anerkennung des Kalifa Abdullahi als rechtmäßigen Nachfolger des Mahdi wurde schnell im ganzen Sudan bekannt gemacht, und ein Stamm um den anderen erklärte seine Zustimmung.
Das rasche, besonnene Zugreifen des Kalifa hinderte so von Anfang an den Ausbruch irgendwelcher Unruhen und Spaltungen, die des Mahdi Tod hätten befürchten lassen können. Aber eben dadurch wurden auch die Hoffnungen unserer Freunde vereitelt. Ihre Bewachung wurde noch schärfer, als sie bisher gewesen war, und an eine heimliche Flucht war vorerst nicht zu denken.
Für gewöhnlich entfernten sie sich nicht weit von ihrer Hütte, in der sie ein beschauliches Leben führten und nur den Mangel an Tätigkeit schmerzlich empfanden. Umso eifriger widmete sich Sieger der Erziehung seiner Kinder, denen er auch die Mutter zu ersetzen hatte, und Helling, dem die lieblichen Kleinen ans Herz gewachsen waren, unterstützte ihn nach Kräften.
Besonders lag es dem Ingenieur am Herzen, die Seinen im christlichen Glauben fest zu gründen, damit sie nicht in Gefahr kämen, ihn zu verleugnen, wenn die Versuchung an sie herantreten sollte. Wer konnte wissen, wie lange diese Gefangenschaft im Sudan dauern würde, und ob die Kinder nicht frühzeitig ihres Vaters und ihres väterlichen Freundes beraubt würden? Dann sollten sie so gefestigt dastehen, daß sie selbständig ihren Glauben bezeugen, bewahren und, wenn es sein sollte, für ihn sterben konnten.
Von seiner Bibel hatte sich Sieger nie getrennt: sie war das einzige Buch, das er aus seinem geplünderten Hause in Khartum noch hatte retten können. Da wurde täglich daraus vorgelesen, und der Hausvater erklärte das Gelesene in einer für die Kinder leicht verständlichen Weise. Sie fragten auch viel mit lebhaftem Interesse und wurden dann über alles belehrt, was sie noch wissen wollten oder nicht recht begriffen hatten.
Helling nahm eifrig Teil an diesen unterhaltenden und fördernden Unterrichtsstunden und äußerte frei die Gedanken, die ihm dabei kamen und die stets einen wertvollen Beitrag zur Erkenntnis des Gegenstandes lieferten.
»Nichts vermisse ich so sehr, zumal bei meiner erzwungenen Untätigkeit,« sagte Sieger zu seinem Freund, »als den Mangel an Büchern. Welcher Genuß und welcher Gewinn, wenn wir jetzt Shakespeare, Schiller, Goethe, Homer und andere Klassiker zur Verfügung hätten, vor allem auch geschichtliche Werke, Reisebeschreibungen und allerlei wissenschaftliche Bücher. Allein, da mir nur ein einziges Buch vergönnt ist, so bin ich voll dankbarer Freude, daß dieses eine die Heilige Schrift ist. Wenn man jahrelang auf die gleichen Lesestoffe angewiesen ist, so müssen einem selbst die großartigsten Erzeugnisse menschlichen Geistes langweilig und zuletzt zuwider werden. Hat man sie ein dutzendmal gelesen, so bieten sie einem kaum etwas Neues mehr und man muß ihrer überdrüssig werden. Ebenso ist es mit den wissenschaftlichen Werken; so wertvolle und interessante Kenntnisse sie einem vermitteln, es kommt schließlich die Zeit, wo man sie ganz inne hat, geradezu auswendig kann, und dann hat es keinen Zweck mehr, sie wieder und wieder zu lesen, geschweige denn, daß man noch Vergnügen daran finden und Genuß davon haben könnte.
»Die Bibel ist das einzige Buch der Weltliteratur, das demjenigen, der es mit offenem Gemüt und lernbegieriger Seele genießt, niemals langweilig werden kann, weil es unergründlich und unerschöpflich ist. Immer entdeckt man wieder neue Schätze darin, und neue Erkenntnisse gehen einem auf. Das ist für mich der untrüglichste Beweis, daß wir hier nicht bloßes Menschenwerk, sondern Gottes Geist, göttliche Offenbarung finden. Halten wir etwa den Koran, die Lehren Buddhas oder andere angebliche Offenbarungen dagegen, so tiefsinnig und auch sittlich erhaben sie oft sein mögen, so kommt uns ein Vergleich geradezu lächerlich vor.«
»Ich stimme dir hierin vollkommen bei,« sagte Helling, denn die Freunde hatten das trauliche Du statt des steifen Sie eingeführt: »Ich nehme dabei an, daß du nicht jedes einzelne Buch der Heiligen Schrift im Auge hast; denn da kommen zum Beispiel in den Büchern Mose manche Gesetzesvorschriften oder Angaben über die Geräte und Ausmessungen der Stiftshütte, sowie endlose Geschlechtsregister, die uns nicht mehr viel zu sagen haben. Auch rein geschichtliche Berichte, so unterhaltend und lehrreich sie sind und so hoch sie zum Teil alle anderen Geschichtsurkunden überragen, könnten auf die Dauer den Geist nicht befriedigen, wenigstens soweit es sich um das Alte Testament handelt. Was jedoch die Psalmen, die Propheten und das Neue Testament betrifft, so unterschreibe ich, was du gesagt hast, aus vollster Überzeugung: kein Dichter erreichte je diese Poesie und kein Genie diesen Geist. Wie arm und armselig sind die Toren, die hier den Buchstaben unter die Lupe nehmen und dabei nichts spüren von dem gewaltigen Wehen des ewigen Geistes.«
Josef lernte mit größtem Eifer zugleich mit den Kindern. Oft aber erzählte er ihnen auch von seiner Jugendzeit und der herrlichen Schwäbischen Alb, von seinen Fahrten und Abenteuern, oder wußte er ihnen allerlei Märchen und Geschichten mitzuteilen. Ihm lauschten sie besonders gern, und auch Sieger und Helling liehen ihm willig das Ohr. In seiner Einfalt verstand er es, ohne Absicht und Mühe, alles so frisch und lebendig darzustellen, daß auch oft Wiederholtes immer neue Reize offenbarte.
Wenn er sich jedoch zu wissenschaftlichen Belehrungen verstieg, und das tat er nicht ungern, dann wirkte sein Vortrag öfters erheiternd auf die älteren Zuhörer.
So erklärte er zum Beispiel den Kindern die leuchtenden Sternbilder, wenn sie abends vor der Hütte saßen. Er selber hatte sich dieselben wißbegierig in den Wildnissen Amerikas von seinem Herrn nennen lassen. Aber so mancher fremdartige Name hatte in seinem Gedächtnis eine näherliegende Form angenommen. Da war es köstlich, seiner Weisheit zu lauschen!
»Sehet,« sagte er wichtig: »Die zwei hellen Sterne dort sind die Zwillinge Kaspar und Pollack. Rechts davon, die Sterne, die einen spitzen Winkel bilden, Regenschirm (er meinte die Regengestirne) im Stier. Sie sehen ja gerade so aus wie ein halb aufgespannter Regenschirm, aber ohne Stiel. Ich habe freilich sonst noch nie einen Stier mit einem Regenschirm gesehen, doch bei den Sternen kommen solch seltsame Dinge vor, gerade wie in den Märchen, wie zum Beispiel der Spickaal (Spica) in der Jungfrau, die aber jetzt nicht zu sehen ist. Aber im Regenschirm seht ihr einen hellen roten Stern, das ist der Alte Baron (Aldebaran) und darüber der glänzende weiße ist die Kapelle (Capella) im Fuhrmann. Deswegen heißt es auch in dem schönen Lied: ›Droben stehet die Kapelle‹.
»Aber jetzt müßt ihr auf die andere Seite sehen. Den großen Bären kennt ihr ja schon. Weiter links unten ist wieder ein großer roter Stern, das ist der Arthur (Arctur) im Boote (Bootes). Wahrscheinlich fährt er mit dem Boot über den Neckar, denn da ist gleich auch ein Stern, der Neckar heißt. Und neben dem Boot ist ein Halbkreis, wie ein königliches Diadem. Es sind kleinere Sterne, aber sie schimmern wie Edelsteine: das ist die Krone, und der hellste in der Mitte unten ist die Emma (Gemma) in der Krone. Ich denke, die Krone ist sozusagen das Wirtshausschild, und die Emma ist die Wirtstochter, denn bei mir zu Haus war auch gerade eine Emma in der Krone, und sie war die Tochter vom Kronenwirt, und auch ganz schön. Und so kann es auch schon in alten Zeiten eine Emma in der Krone gegeben haben, die berühmt war, und die man dann zur Ehre unter die Sterne versetzte, denn das tat man damals gern, wovon viele Sterne ihre Namen haben.«
So zeigte sich der biedere Josef als echter Mann der Wissenschaft, denn die Wissenschaft sucht immer nach einer natürlichen Erklärung, und genau so suchte er auch nach einer natürlichen Erklärung für die ihm so merkwürdig erscheinenden Namen der Sternbilder und der Sterne, und daß sein heller Kopf und scharfer Geist eine solche auch spielend fand, beweist die Probe aus seinem Vortrag, die wir soeben vernahmen.
Josef kam öfter in die Stadt, denn er besorgte die Einkäufe auf dem Markt. Er verstand schon einiges Arabisch und konnte sich zur Genüge verständlich machen.
So erblickte ihn eines Tages der Kalifa und erinnerte sich gleich der Deutschen, die geholfen hatten, das Haus des Petrus Polus so wirksam zu verteidigen.
Abdullahi machte sich gern die Dienste eines jeden zunutze, der ihm irgendwelche Vorteile bringen konnte. So hatte er Petrus Polus als Schreiber und Rechner bei sich angestellt, sobald er erfahren hatte, daß er Schreiber beim Finanzamt gewesen war. Er war für ihn eine wertvolle Kraft, denn die Araber pflegen im Rechnen schwach zu sein, wenngleich ihre Ahnen die Algebra erfunden haben.
Nun wußte der Kalifa, daß die Europäer, vor allem die Deutschen, in manchen Dingen erfahren sind, von denen ein Beduine oder Sudanese nichts versteht. Konnte er da nicht eine nützliche Hilfskraft finden, die es töricht gewesen wäre, brach liegen zu lassen?
Er ließ daher Josef sofort vor sein Antlitz befehlen.
Mit gemischten Gefühlen folgte der Schwabe diesem ehrenvollen aber bedenklichen Befehl, denn er traute dem Tyrannen nichts Gutes zu.
»Wie geht es deinem Herrn, Jussuf?« fragte ihn der Kalifa mit aller Leutseligkeit, die er bei seinem finstern Wesen aufzubringen vermochte.
»Gut, Herr! So lange ihm die Sonne deiner Gnade scheint,« erwiderte der Diener, der sich in jeder Lage zurechtzufinden wußte und sich sagte, daß ein Tyrann am besten mit höflichen und schmeichelhaften Reden zu behandeln sei.
»Was versteht Abd el Ziger? Was für ein Amt hat er bei den Ungläubigen versehen?«
Der Herrscher übersetzte jeden ausländischen Namen grundsätzlich, oder weil er ihn nicht anders aussprechen konnte, ins Arabische: so nannte er Josef »Jussuf« und Albert Sieger »Abd el Ziger«.
Die Antwort, die er erhielt, war ihm jedoch unverständlich, denn sie lautete: »Er war Ingenieur.«
Er fragte daher weiter: »Was bedeutet das?«
»O Herr, das ist einer, der alles kann: mein Herr weiß sowohl Brot zu backen, als Salz zu gewinnen oder Maschinen und Kanonen zu bauen.«
Josef bedachte in der Freude, die Fähigkeiten seines Herrn in hellstem Lichte leuchten zu lassen, nicht, in welche Verlegenheiten er den guten Sieger bringen konnte.
»Gut,« sagte der Kalifa, »hast du wahr gesprochen, so soll dein Herr es gut haben: er soll über Sklaven gebieten, die nach seinen Befehlen alle Arbeiten ausführen werden, die ich ihm auftrage.«
Gleich darauf mußte Sieger vor dem Kalifa erscheinen.
»Kannst du Kanonen bauen?« frug Abdullahi streng.
»Herr!« erwiderte der Ingenieur, »solche künstliche Arbeiten lassen sich nicht ausführen wie ein Hausbau. Ich weiß wohl, wie Kanonen gemacht werden, aber zur Ausführung bedarf es großer Fabrikbauten und zahlreicher Hilfsmaterialien, so daß die Vorarbeiten allein Jahre in Anspruch nähmen.«
»Malesch! (tut nichts!) Ich will Kanonen! Wir haben zwar den Engländern viele abgenommen; aber alle großen Städte meines Reiches, besonders an den Grenzen, sollen mit Kanonen versehen werden, daß ich die Geschütze nicht von einem Ort fortnehmen muß, wenn ich an einem anderen Krieg führe. Und warum sollten wir nicht das ebensogut herstellen können, was die Ungläubigen verstehen, die wir besiegt haben? Beginne also gleich mit dem Bau deiner Werkstätten.«
»O Herr, das geht nicht hier in Omderman,« erwiderte Sieger, in welchem die Hoffnung aufblitzte, er könne auf diese Weise sich aus der Nähe des Kalifa entfernen und leichter Gelegenheit zur Flucht finden. »Da brauche ich zunächst Wasserkraft.«
»Allah ist groß! Was nennst du die Kraft des Wassers?«
»Das ist ein Wasser, das von steilen Bergen hoch herabstürzt.«
»So suche den Platz: du wirst ihn im Westen, in den Margayabergen finden.«
Als Sieger, in seine Wohnung zurückgekehrt, Leutnant Helling berichtete, was der Kalifa von ihm verlangte, fuhr dieser auf: »Du wirst doch den Schurken nicht mit Geschützen versehen?«
»Nur ruhig!« lachte der Ingenieur, »eine Weigerung würde mich das Leben kosten, und Not bricht Eisen: haben doch sogar Missionare dem grausamen Negus von Abessinien, Theodorus II., Mörser gebaut, um ihr Leben zu retten. Aber bedenke: bis ich einen Hochofen und die ganze Fabrikanlage zustande gebracht habe, vergehen Jahre; sodann wird mir die Kanonenfabrikation nicht sobald gelingen, damit habe ich mich noch nie befaßt; endlich, brächte ich je ein brauchbares Geschütz zustande, so werde ich schon dafür sorgen, daß es nach einigen Probeschüssen völlig unbrauchbar wird. Auf der anderen Seite werden meine Bemühungen und zeitweisen Erfolge mich im Vertrauen des Kalifen befestigen; ich werde mehr Freiheit genießen, und so werden wir im Laufe der Jahre Gelegenheit zur Flucht finden, wenn nicht die ganze Mahdia vorher zugrunde geht und eine neue Revolution oder eine europäische Armee uns befreit.«
»So lasse ich mir's gefallen, Abd el Ziger,« sagte Helling beruhigt.
Unter Begleitung einiger Leute des Kalifa zog der Ingenieur anderen Tags aus, um einen geeigneten Platz zur Fabrikanlage ausfindig zu machen.
Am Chor (Gebirgsbach) entlang gehend, der bei Omderman sich in den Nil ergießt, erreicht man in etwa zweistündigem, zuerst westlichem, dann nördlichem Marsche das tiefeingeschnittene Quelltal des Baches im Margayagebirge. Im Hintergrunde der Schlucht stürzt sich das Wasser von einer etwa fünfzig Meter hohen, überhängenden Felswand frei herab.
Mit großem Interesse besichtigte Sieger das wilde Felstal, das in einem Kessel endete. Rings umher war es von himmelhohen, stark zerklüfteten Felswänden eingeschlossen. Felsblöcke, Geröll und steinige Abhänge gestatteten an einzelnen Stellen ein Emporklimmen bis etwa zu halber Höhe, dann aber erhoben sich die drohenden Wände so schroff und teilweise überhängend, daß ein weiterer Aufstieg dem verwegensten und geübtesten Bergsteiger unmöglich gewesen wäre.
Wer in dieser Kluft durch Versperrung des einzigen schmalen Zugangs eingeschlossen worden wäre, hätte keine Aussicht gehabt, über die Höhen entkommen zu können. Insofern bot der Platz dem Ingenieur anscheinend keinerlei Gelegenheit zu einer heimlichen Flucht, wenn er hier seine Bauten anlegte. Dennoch blitzte ein kühner Gedanke in seinem unternehmenden Geiste auf, und er erwog Möglichkeiten, die einem anderen wohl als Unmöglichkeiten erschienen wären.
Jedenfalls ließ sich kein besserer Platz für die geplanten Werke denken, und Sieger erklärte, dies sei ein ungemein günstiger Ort für die Fabrikanlage, insbesondere lasse sich die ungeheure Wasserkraft nach den verschiedensten Richtungen hin ausnützen: sie erspare kostspielige Maschinen, Betriebsmittel und tausende von Arbeitskräften.
Als der Ingenieur dem Kalifa hierüber Bericht erstattete, begleitete ihn dieser persönlich in das Margayatal und nahm die Schlucht eingehend in Augenschein, wobei er sich genau beschreiben ließ, wie Sieger sich die Anlage dachte.
»Hier am Eingang des Tales,« sagte Sieger, »würde ich die Fabrik erbauen. Sie wird von einer Felswand zur anderen reichen und somit die Kluft völlig abschließen. Dort, zur Linken, zieht sich ein senkrechter, ziemlich regelmäßiger Einschnitt in dem Felsturm empor, ein natürlicher Kamin, den ich als Schlot für den Hochofen benutzen kann. Er braucht nur ausgemauert und auf der offenen Seite zugemauert zu werden, und er ersetzt vollkommen einen freistehenden Kamin, dessen Errichtung ungleich größere Schwierigkeiten und Zeitaufwand kosten würde. Der Wasserfall dient mir zur Erzeugung der elektrischen Kraft, und seine geringe Entfernung von der Fabrik erspart mir eine Fernleitung. Das Tal bietet überflüssig Raum für die nötigen Nebenbauten und Schuppen, seine Geröllhalden mit den zahllosen kleineren und größeren Blöcken liefern das nötige Baumaterial, ohne daß wir eines Steinbruchs benötigen: kurz, alle Vorteile finden sich hier vereinigt, und die Umstände sind so günstig, wie man sie nur wünschen kann.«
»Und die Felswände sind in der Tat unersteiglich,« fügte der Kalifa hinzu, dessen persönliche Besichtigung mehr den Zweck hatte, sich zu überzeugen, daß sein unentbehrlicher Kanonenfabrikant bei genügender Überwachung keine Gelegenheit zur Flucht fände.
»Gewiß!« bestätigte Sieger, der die Gedanken des Tyrannen erriet: »Das Tor meines Fabrikgebäudes wird den einzig möglichen Ausgang aus der Felsenschlucht bilden, wie es auch ihr einziger Zugang sein wird.«
Der Kalifa genehmigte nun den Fabrikbau an dieser Stelle, ließ aber den Ingenieur während seiner ganzen Tätigkeit hier draußen so streng überwachen, daß an irgendwelche Fluchtpläne vorerst nicht zu denken war.
Ganz in der Nähe, bei El Fetaihat, fanden sich reiche Tonlager. Hier richtete Sieger zunächst eine große Ziegelei ein, um Backsteine und Dachziegel in großen Mengen herstellen zu lassen, die das Baumaterial für den Hochofen und die Gebäude abgaben, soweit diese nicht massiv aus Felsgestein errichtet waren. Die starke Sonnenhitze des Sudan gestattete ein rasches Trocknen der Erzeugnisse des Ziegelwerks und machte jeden Ofen zu ihrer Bereitung überflüssig.
Auf der anderen Seite des Chors, bei Abu Zeriba, wurde rein weißer Sand entdeckt, der sich zur Herstellung von Glaswaren als vorzüglich geeignet erwies. Hier erstellte der Ingenieur eine Glashütte, deren erste Erzeugnisse dem Kalifa eine hohe Meinung von seiner Kunst und Leistungsfähigkeit beibrachten.
Der Kalifa Abdullahi war unbeschränkter Herr in Omderman und im ganzen Sudan. Es schien jedoch, als wollte er seine sämtlichen Untertanen in seiner Hauptstadt vereinigen, um sie stets unter seiner unmittelbaren Aufsicht und in der völligen Gewalt seiner Willkür zu haben. Immer mehr Einwohner aus Dörfern und Städten nötigte er zur Übersiedelung nach Omderman, ganze Araberstämme zwang er, sich hier niederzulassen, so daß die Ausdehnung der Stadt immer ungeheuerlicher wuchs.
Infolgedessen wütete beständige Hungersnot in den entvölkerten Provinzen.
Abdullahi war kein gebildeter, geschweige denn gelehrter Mann, wie Mohamed Achmed; er konnte weder lesen noch schreiben. Sein Gesicht war dunkelbraun und voller Pockennarben; es hatte meist einen finstern, furchteinflößenden Ausdruck.
Der Mahdi war persönlich kein herzloser Wüterich gewesen, wenn auch seine Derwische entsetzliche Greueltaten begingen. Der Kalifa aber war ein wahrhaft blutdürstiger Tiger von teuflischer Grausamkeit, die sich mit der Zeit nur zu steigern schien. Er wurde des Schlachtens nicht müde. Er bedurfte dazu keines Grundes oder Anlasses, es schien eben seine Lust und sein Vergnügen zu sein. Daß er sein eigenes Reich durch sein blindes Wüten zugrunde richtete, schien ihm gar nicht zum Bewußtsein zu kommen oder ihn doch völlig gleichgültig zu lassen.
Der entsetzlichste Zug im Charakter dieses finstern Mannes war, daß er es ganz besonders auf die Ausrottung der Kinder abgesehen zu haben schien, oft um die Eltern besonders empfindlich zu treffen, oft ohne irgend einen ersichtlichen Grund.
In einem großen Teil der Ortschaften des Sudans wurde buchstäblich jedes Kind ermordet, das nicht dem Hunger oder sonstigen Leiden erlag.
Präsident Roosevelt, der den Sudan nach der Niederwerfung des Aufstandes persönlich bereiste, sagt: »Furchtbare Verbrechen sind hier begangen worden, Verbrechen so dunkler und gräßlicher Art, daß es sich verbietet, sie zu beschreiben. Während der mahdistischen Herrschaft hat eine Tyrannei, Grausamkeit, Blutdürstigkeit und zügellose Zerstörungswut geherrscht, die alles übertrifft, was die kühnste Einbildungskraft eines zivilisierten Volkes sich auch nur vorstellen kann.«
Begreiflicherweise war die Riesenstadt Omderman der Raserei des Unmenschen am meisten ausgesetzt: Köpfen, Hängen und Verstümmeln war hier an der Tagesordnung. Keiner war seines Lebens auch nur einen Tag sicher, und ebenso mußte er für das Leben von Weib und Kindern stündlich zittern.
Was unter solchen Umständen die langjährige Gefangenschaft für Sieger bedeutete, läßt sich leicht ermessen. Er konnte nur auf Schonung hoffen, weil der Kalifa ihn für unersetzlich und daher unentbehrlich hielt, um sich mit todbringenden Geschützen reichlich versehen zu können, um einem Angriff europäischer Heere, den er immer befürchten mußte, wirksam begegnen zu können.
Immer wieder versicherte der Ingenieur den Tyrannen, daß Helling seine rechte Hand sei, dessen Hilfe und vielseitige Kenntnisse besonders auf dem Gebiet der Heeresbewaffnung er nicht entbehren könne. Dadurch hoffte er mit Recht, auch den Freund am sichersten schützen zu können.
Unter sich nannten sie den Kalifa nur noch »Herodes«.
»Eigentlich tun wir dem König Herodes Unrecht,« bemerkte Helling einmal: »Seine abscheulichste Tat war der Bethlehemitische Kindermord, der ihn in aller Welt und für alle Zeiten in Verruf brachte. Doch ließ er es bei diesem einen Massenmord bewenden, für den er seine besonderen Gründe hatte, und dem nur die Kleinsten zum Opfer fielen. Unser Herodes von Omderman läßt fortgesetzt Kinder jeden Alters umbringen und die Erwachsenen dazu.«
»Das ist leider nur zu wahr,« bestätigte Sieger: »Es muß eine besondere Art von Verbrecherwahnsinn sein, von der dieser Henkerfürst besessen ist. Bliebe ihm ein Funke Vernunft übrig, so müßte er doch einsehen, daß die Entvölkerung seines Reiches nur seine eigene Macht untergräbt und daß sein Wüten auf die Dauer viele seiner Anhänger zu seinen Todfeinden machen muß, was wiederum seine Herrschaft der besten Stützen beraubt.«
Wie es bei grausamen Tyrannen der Fall zu sein pflegt, konnte sich auch Abdullahi zuweilen äußerst leutselig, ja großmütig zeigen und seine Günstlinge reich beschenken. Doch keiner, der heute seine Gunst besaß, war sicher, ob er nicht morgen in Ungnade fiele, ohne irgendwelche Schuld seinerseits. Und dann verfiel er gewöhnlich dem Schwert oder Strick des Henkers.
Unsere Freunde waren froh, verhältnismäßig weit entfernt vom Palaste des Herrschers zu wohnen, und es läßt sich begreifen, daß sie die Kinder nie aus den Augen ließen. So wuchsen auch Johannes und Fanny in Gefangenschaft auf: in das Innere der Stadt durften sie überhaupt nie, und vor die Stadt hinaus kamen sie nur selten und dann stets in Begleitung ihres Vaters und Onkel Hellings. Josef wurde gewöhnlich bei solchen Spaziergängen mitgenommen.
Wie die Wohnung unablässig von einem bewaffneten Doppelposten bewacht wurde, so konnten auch diese kurzen Ausflüge nicht unternommen werden, ohne daß stets zwei Wächter mitgingen. Man fühlte sich als Zuchthäusler und hatte keinen rechten Genuß von den kurzen Wanderungen, die nur noch der Gesundheit wegen unternommen wurden.
Josef war der einzige im Haus, der sich frei bewegen durfte.
Wie viel mußten Johannes und Fanny entbehren. Und doch, umgeben von der Liebe und zärtlichen Fürsorge des Vaters, des Onkels und des treuen Dieners, empfanden sie nichts von diesen Freiheitsbeschränkungen, weil sie es eben nicht anders gewohnt waren und nicht wußten, was andere Kinder vor ihnen voraus hatten, die unter glücklicheren Umständen aufwuchsen.
Wir lassen einen Schleier fallen über das, was sich in Omderman und im übrigen Sudan unter der Schreckensherrschaft des arabischen Herodes begab und begnügen uns mit den kurzen Andeutungen, die wir gaben, denn die Beschreibung all der Greuel in ihren Einzelheiten könnte nur Grauen erregen. So schließen wir lieber dieses trübe Kapitel mit Ludwig Uhlands Worten:
»Das Lied, es folgt nicht weiter: des Jammers ist genug!«
Eine wahre Erholung für Sieger waren die Arbeiten im Margayatale. Wurde er auch hier, wie überall, streng überwacht, so befand er sich doch in der freien Natur, die ihn auch in ihrer erhabenen Wildheit mächtig anzog. Und dann vor allem, er hatte wieder eine Tätigkeit, die ihn von Morgens bis Abends beschäftigte.
Öfter nahm er seine Kinder mit hinaus, die sich hier frei bewegen durften und die sich meist in der Schlucht am Bach und beim Wasserfall aufhielten oder in den Felsen umherkletterten und so ihre jugendlichen Kräfte stärkten. Sie gewannen auch bald ein viel blühenderes Aussehen.
Meistens ließ sie zwar Sieger bei Onkel Helling zurück, für den er trotz aller Bemühungen vom Kalifa keine Erlaubnis erwirken konnte, an den Arbeiten teilzunehmen. Abdullahi mochte befürchten, wenn die beiden zusammen verhältnismäßige Freiheit genössen, möchte ihnen trotz aller Überwachung ein Fluchtversuch gelingen. Das mochte eine müßige Sorge scheinen; aber Tyrannen pflegen übertrieben mißtrauisch und ängstlich zu sein.
Der Ingenieur wollte seinen Freund nicht so vereinsamt lassen, auch sollte er den Unterricht der Kinder fortsetzen. Dienstag und Donnerstag aber waren ihre Ferientage, die sie beim Vater zubrachten, und der Sonntag vereinigte alle wieder in Omderman.
Sieger hatte sich eine Hütte auf dem Bauplatz errichtet, da es viel zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte, wenn er alle Tage die Wanderung dorthin hätte unternehmen müssen, um Abends wieder heimzukehren. Die Arbeiter hatten natürlich ebenfalls ihre Hütten draußen, sowie die vom Kalifa bestellten Wächter.
Josef brachte die Kinder jedesmal früh Morgens hinaus und gab sich zum Teil mit ihnen ab, zum Teil half er bei den Arbeiten, und auch ihm war es eine Lust und Erholung, wenigstens zwei Tage in der Woche außerhalb des verhaßten Häusermeeres von Omderman verweilen zu können.
Der Kamin des Hochofens wurde in der Felsrinne angelegt, indem diese mit Backsteinen ausgemauert und abgeschlossen wurde. Die Fabrikbauten selber waren übertrieben großartig angelegt. Ganz gewiß war ihre Ausdehnung in solchem Maße überflüssig. Doch einmal lag es dem Ingenieur daran, den Bau so lange wie möglich hinauszuziehen, um mit der Herstellung von Kanonen so spät zu beginnen, als es nur anging, und um eine andere Arbeit zu fördern, die er ganz im Geheimen betrieb; sodann hatte er die Absicht, den Taleingang durch das Gebäude vollständig abzuschließen. Auch damit verfolgte er besondere Zwecke. Die Vorderseite der Fabrik glich eher einer Festung, und das sollte sie auch werden. Dem Kalifa konnte das nicht auffallen, weil er von der Sache so wenig verstand, wie irgend ein anderer Sudanese, so daß er Sieger völlig freie Hand lassen mußte.
Das nötige Holz wurde in den Wäldern der Margayaberge geschlagen. Die Ziegelei und die Glashütte waren in ständigem lebhaften Betrieb.
Die größte Freude war es für Johannes und Fanny, wenn ihre kleinen Freunde, Hassan und Amina, sie im Margayatale besuchten. Das waren keine Sudanaraber, sondern Somalineger, so schlank und schön gewachsen und mit so anmutigen Gesichtern, wie sie ganz besonders beim Somalistamme zu finden find.
Ihr Vater hieß Mohammed, der bei den Moslem gewöhnlichste Name, da sie es für eine besondere Ehre halten, sich nach ihrem verehrten Propheten zu nennen. Als Händler war er mit seiner Familie nach dem Sudan gekommen und hatte sich in Khartum aufgehalten. Er war eben im Begriff gewesen, in seine Heimat zurückzukehren, als der Aufstand des Mahdi ihn daran hinderte. Bei dem Fall von Khartum war er mit den Seinigen in die Gefangenschaft geraten und wohnte in Siegers nächster Nachbarschaft. Vor kurzem war seine Frau gestorben.
Mohammeds aufgeweckte Kinder hatten bald Freundschaft mit Fanny und Johannes geschlossen, die für sie, wie für alle Einwohner Omdermans Fatme und Osman hießen, während Siegmund Helling, eigentlich von Helling, Ismain el Heliki genannt wurde.
Hassan war nur um ein Jahr älter als Johannes, und Amina zählte kaum fünf Monate mehr als Fanny.
Der kleine Hassan bin Mohammed war für seine Heimat, das Somaliland, so begeistert, daß er am liebsten von ihr erzählte, vor allem aber von dem blauen Meer, nach dessen Rauschen er das größte Heimweh hatte; denn wer am Meer geboren ist, wird immer von der Sehnsucht nach ihm verzehrt, solange er ihm ferne weilen muß.
Sah er etwas besonders Schönes oder erlebte er etwas besonders Merkwürdiges, so pflegte Hassan zu sagen: »Das ist gerade so wie im Somalilande.« Im übrigen war er heiteren Gemüts und verstand es, die ganze kleine Spielgesellschaft in fröhlicher Laune zu erhalten.
Es war im dritten Jahre des Fabrikbaus, den Sieger absichtlich möglichst lässig betrieb. Hassan zählte zehn Jahre, Johannes neun, Amina und Fanny etwas über sieben. Sie spielten, wie so manchesmal, in den Felsen des Margayatales.
Hassan und Osman, wie Johannes genannt wurde, hatten ein Rinnsal unter dem Hauptwasserfall durch einen schön angelegten Graben unter der Felswand am Abhang hingeleitet. Mit Rinnen aus Baumrinde wurde der Kanal von Felsblock zu Felsblock geführt, bis er von einem Stein als rauschender kleiner Wassersturz herabschoß und ein reizendes kleines Mühlrad trieb. Unten floß das Wasser als kleiner Bach weiter in ruhigem Lauf. Hier schwammen sauber geschnitzte Schifflein dem künstlichen See zu, in den das Flüßchen mündete.
Jetzt bauten die Knaben an den Ufern des Sees eine kleine Stadt aus allerlei Holzabfällen vom Bauplatz und die Mädchen schauten staunend und andächtig zu, welche Wunder unter den geschickten Händen ihrer männlichen Spielkameraden entstanden. Oft jubelten sie laut auf, wenn wieder ein besonders gelungenes Kunstwerk vollendet war.
»Das ist jetzt ganz wie im Somalilande,« rief Hassan bin Mohamed: »Das hier ist das Meer und die Stadt ist Baad Ulgaras am Doara. Jetzt müssen wir aber noch eine Fuhre Holz holen, um die Stadt fertig zu bauen.«
»Wir verstecken uns, bis ihr wiederkommt,« sagte Fatme oder Fanny, der ein plötzlicher herrlicher Einfall gekommen schien: »Dann müßt ihr uns aber suchen, ehe ihr weiterbaut.«
»Also!« sagte Osman, gleich einverstanden. »Wir werden euch ja bald gefunden haben!« fügte er siegesgewiß hinzu.
Als die Knaben um die nächste Biegung, dem Talausgang zu, verschwunden waren, sagte Fatme geheimnisvoll zu Amina: »Du, ich weiß ein ganz feines Versteck: ich habe es erst das letztemal entdeckt, als ich euch suchte, und habe natürlich nichts davon gesagt. Sie werden uns dort gewiß nicht finden können.«
Damit führte sie die Freundin, die äußerst neugierig auf das hervorragende Versteck war, dem Wasserfall zu.
Je mehr sie sich diesem näherten, desto ängstlicher wurde das Somalimädchen: »Ich mag gar nicht so nahe zu den fallenden Wassern,« sagte es zitternd, oder schrie es vielmehr, denn der gewaltige Sturz brauste so laut, daß man sich in seiner Nähe nur mit größter Anstrengung vernehmbar machen konnte.
»Warum denn?« schrie Fatme ebenso laut: »Er kann uns doch nichts tun!«
»Ja, aber seine Stimme ist fürchterlicher als die Stimme des Löwen, und er brüllt, als wollte er jeden verschlingen, der ihm zu nahe kommt. Vor dem Löwen und dem Schakal hat Amina keine Angst, aber sie zittert vor den fallenden Wassern.«
Wie sie zitterte, war nur zu augenscheinlich.
»Ach! Sei doch nicht so dumm!« rief ihr Fanny wieder ins Ohr. »Es sind nur noch ein paar Schritte bis zu meinem Versteck. Du bist ja sonst so furchtlos und hast versprochen, mich immer zu beschützen. Wenn ich jetzt mitten in den Wasserfall fiele, würdest du dann aus Angst davonlaufen?«
»Nein! Dann würde Amina zu ihrem Herzen sprechen: du darfst nicht feige sein wie eine Ziege! Und ich würde dir nachspringen und dich herausziehen oder mit dir ertrinken. Denn Amina heißt ›die Treue‹, und mein Vater sagt immer, man muß sein wie man heißt, sonst machen wir unserm Namen Schande.«
»Also, sprich deinem Herzen zu und komm mit mir! Sieh, wir sind schon da.«
Ganz in der Nähe des Falles lag ein Haufe aufgetürmter Felsblöcke kunterbunt übereinander. Kleineres Geröll schien alle Lücken ausgefüllt zu haben. Als jedoch Fatme die braune Gefährtin auf halsbrecherischem Pfade einige Schritte hinunterführte, zeigte sich am Grunde ein schmaler Spalt zwischen zwei Felsblöcken, durch den sich die Mädchen mit Mühe hineinzwängen konnten. Oben, zwischen die Eingangsfelsen eingeklemmt, steckte ein keilförmig nach unten zugespitzter Stein, der weiter oben sich wieder verjüngte und wohl mit einigen kräftigen Hammerschlägen hätte hinuntergetrieben werden können, so daß er das enge Tor völlig verschlossen hätte.
Innen war es dunkel. Die Mädchen schoben sich vor, bis sie sich in sitzende Stellung aufrichten konnten. Die kleine Höhlung bot ihnen bequem Platz.
Da saßen sie schweigend, denn das Brausen des Wasserfalles machte sich in dem geschlossenen Raume noch stärker vernehmbar.
Immer noch heftig zitternd schmiegte sich Amina eng an ihre Freundin.
Als bald darauf Osman und Hassan mit ihrer Ladung Holzabfälle zurückkehrten, machten sie sich sofort auf die Suche. Bald aber mußten sie merken, daß es mit dem Finden nicht so leicht ging, wie sie sich vorgestellt hatten. Sie hatten geglaubt, jeden Winkel der Schlucht genau zu kennen, und entdeckten jetzt, daß sie doch noch ein Geheimnis bergen mußte, das ihnen im Laufe der Jahre entgangen war.
Als sie alles vergeblich abgesucht hatten, fingen sie an, zu rufen. Allein es erfolgte keinerlei Antwort.
»Sie müssen sich in der Nähe des Wasserfalls verborgen halten,« erklärte Osman. »Da hören sie unser Rufen nicht oder können wir ihre Antwort nicht vernehmen.«
»Hassans Schwester fürchtet die brüllende Stimme der fallenden Wasser,« erwiderte der Somali.
Trotzdem untersuchten sie nun die Geröllhalde und entdeckten auch bald den schmalen Zugang. Mit Mühe zwängte sich Osman hindurch, der schlankere Hassan folgte ihm mit weniger Anstrengung. Sehen konnten sie vorerst nichts, da sie aus dem grellen Sonnenschein in die dunkle Höhlung kamen; doch stießen sie gleich an ihre Schwestern, die nun hell lachten und sie neckten, daß sie so lange vergeblich gesucht hatten.
»Das ist ganz wie im Somaliland!« rief Hassan, als er das Versteck musterte, nachdem sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten.
»Aber jetzt geht nur gleich wieder hinaus,« sagte Fanny-Fatme, »daß wir auch wieder ans Tageslicht kommen. Wir waren lange genug in dem engen Gefängnis und Amina fürchtet sich so vor den brausenden Wassern; aber sie hat sich tapfer gehalten.«
Hassan, der dem Ausgang am nächsten war, wollte gleich zurückkriechen, aber Johannes schrie: »Halt! Da schinde ich mich nicht wieder durch: hilf mir erst, das Loch etwas weiter machen. Der Block da links wird sich schon etwas zurückschieben lassen, wenn wir ihn mit vereinten Kräften angreifen.«
Sie stemmten sich aus aller Macht gegen den Felsen, allein er war ihnen viel zu schwer und wollte nicht weichen. Doch schwankte er etwas auf seiner Unterlage, so daß er sich infolge ihrer Anstrengungen in seinem oberen Teil ein wenig nach links neigte. Dies hatte eine unerwartete und verhängnisvolle Folge, denn der oben eingekeilte Block gewann nun Raum, zwischen die beiden Torsteine vollends herabzusinken und so den Eingang völlig zu versperren.
Die Kinder waren sich der Folgen nicht gleich bewußt. Als aber die Knaben sich vergeblich abmühten, einen oder den anderen der sie einschließenden Blöcke zum Weichen zu bringen, erkannten sie zu ihrem Schrecken, daß sie Gefangene waren in einer Höhle, die so wenig Raum bot, daß sie sich kaum darin bewegen und wenden konnten.
Immer verzweifelter wurden die Bemühungen der Knaben. In Schweiß gebadet, mußten sie schließlich einsehen, daß ihre Kräfte nicht ausreichten, um sich wieder einen Ausweg zu schaffen. Die weinenden Mädchen lösten sie ab, aber sie richteten selbstverständlich noch viel weniger aus.
Nun schrien sie alle vier aus Leibeskräften um Hilfe, allein das Tosen des Wasserfalls verschlang die Stimmen, deren Kraft durch die einschließenden Steinmassen so wie so gedämpft wurde.
Völlig erschöpft, verstummten sie endlich. Draußen begann es zu dämmern, und hier innen war es stockfinster. Sie sagten sich alle, daß sie gewiß gesucht würden und zweifelten nicht, daß man sie auch finden werde. So gaben sie der Müdigkeit nach und schliefen nacheinander ein, trotz ihrer unbequemen Lage, in der sie sich nicht einmal recht ausstrecken konnten.
Inzwischen war Josef gekommen, um die Kinder zu holen und nach Omderman zurückzubringen. Als er die ganze Schlucht vergeblich nach ihnen durchsucht hatte, begann er, sie bei Namen zu rufen und durchforschte noch einmal alles mit größter Gründlichkeit. Als er keinerlei Antwort vernehmen konnte und nicht die geringste Spur der Vermißten entdeckte, ergriff ihn eine namenlose Angst.
Die Dunkelheit war rasch hereingebrochen, und nun erschien Sieger, um zu sehen, wo Josef mit den Kindern so lange bleibe. Der Diener traf auf ihn, als er gerade wieder den Neubau betrat, um seinem Herrn die Schreckenskunde mitzuteilen.
»Das ist rätselhaft!« sagte der Ingenieur: »Sie kommen doch sonst immer selber zur Zeit zurück.« Plötzlich blitzte ihm ein entsetzlicher Gedanke auf. Diese Schlucht barg ein Geheimnis, das er bisher noch niemand mitgeteilt hatte, weil er seine guten Gründe hatte, es nicht zu verraten. Auch jetzt wollte er Josef noch nicht darein einweihen. Er sagte daher:
»Eile du sofort in die Arbeiterschuppen, in die Ziegelei und die Glashütte, und frage, ob niemand die Kinder gesehen hat. Vielleicht haben sie unbemerkt von uns beiden das Tal verlassen und sich irgendwo in der Nähe verirrt. Ich selber will unterdessen die Schlucht noch einmal mit der Laterne absuchen.«
Während der Diener nach außen eilte, entzündete Sieger die Laterne und warf einen langen, zusammengerollten Strick über die Schulter. Dann rannte er durch das Felsental, am Wasserfall vorbei, bis dahin, wo sich die steinernen Wände im Halbkreis zusammenschlossen und so den Kessel bildeten, der die Kluft abschloß. Hier befand sich ein starker, rechteckiger Block, der an der Felswand lehnte und sich so dicht an sie anschloß, daß er mit ihr zusammenzuhängen schien. Kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen, daß sich diese Steinmasse bewegen lasse; und wenn auch ein Dutzend der stärksten Männer den Versuch gemacht hätten, sie von der Stelle zu rücken, sie hätte allen ihren Anstrengungen widerstanden und wäre um keinen Zoll breit gewichen.
Und doch war diese Platte, obgleich in ihrem rauhen Naturzustande belassen, der keinerlei Verdacht erregen konnte, nichts anderes als ein Türverschluß, den Siegers Ingenieurkunst ohne Beihilfe anderer für seine geheimen Absichten aufs zweckmäßigste bearbeitet und eingerichtet hatte.
Er griff in eine unauffällige Höhlung des Steins und zog eine fast armsdicke Eisenstange an einer Handhabe heraus. Das war der Riegel, der den Block so unverrückbar an die Felswand fesselte.
Nachdem er das Eisenstück zu Boden geworfen hatte, schob Sieger die Platte ohne Anstrengung zur Seite: sie lief auf Rollen und Schienen, die im Untergrund verborgen lagen. Nun zeigte sich dahinter eine Höhlenöffnung, durch die der Ingenieur gebückt eindrang. Nach zwei Schritten konnte er sich aufrichten und stand am Rande eines Abgrundes, der dunkel und anscheinend unergründlich zu seinen Füßen gähnte.
In der Ferne, aus dem Hintergrund der Höhle, die sich längs des Schlundes hinzog, vernahm man ein eigentümliches knirschendes Geräusch, wie das eines Bohrers, der sich in das Gestein eingräbt.
Sonst war alles totenstill.
Ängstlich rief Sieger in den Abgrund hinab: »Johannes, Fanny! Hassan, Amina!« Aber alles blieb so still wie zuvor.
»Es ist unmöglich, daß sie den Eingang entdeckt und den verborgenen schweren Riegel entfernt haben,« murmelte Sieger vor sich hin. »Und doch! Wo sollten sie sein, wenn nicht hier? Hätten sie sich aus dem Tal entfernt, so müßte ich sie gesehen haben. Es wäre auch ganz gegen ihre Gewohnheit, daß sie an mir vorübergegangen wären, ohne mich zu begrüßen und mir ihre Absicht mitzuteilen. In der offenen Schlucht aber hätte sie Josef finden oder hören müssen. Ich kann mir nichts anderes denken, als daß sie hierhergerieten und in der Dunkelheit in den Abgrund stürzten. Durch meine Türe kamen sie nicht herein, denn sie war wohl verschlossen. Allein es ist immerhin möglich, daß es noch einen anderen, verborgenen Zugang zu dieser Höhle gibt, den ich bisher nicht entdeckte, und den eines der Kinder zufällig fand, eine verschüttete Seitenhöhle, die sich ihnen öffnete, als sie Geröll und Schutt bei ihren Spielen wegräumten. Gott gebe, daß meine Befürchtungen sich nicht bewahrheiten. Es ist auch kaum denkbar, daß alle vier zugleich abgestürzt und tot geblieben sein sollten.«
Während diese Gedanken Siegers Hirn durchkreuzten, hatte er sein Seil an einem Felsen am Rande des Abgrunds befestigt, eine Laterne am Gürtel festgeschnallt, das Ende des Taus in den Schlund geworfen, und nun ließ er sich in das Dunkel hinab.
Bald erreichte er den Grund, der mit Felsbrocken, Schutt und Gesteinstrümmern bedeckt war. Der Spalt war ziemlich lang und breit. Sieger durchwanderte ihn in beschwerlicher Kletterei und leuchtete ihn gründlich ab.
Erleichtert atmete er auf, als er in dieser Tiefe keine Spur der Verlorenen fand. Seine schlimmste Befürchtung, die allerdings sehr wenig Wahrscheinlichkeit für sich gehabt hatte, war ihm jetzt doch endgültig genommen.
Er kletterte wieder am Seil empor. Ohne sich die überflüssige Mühe zu nehmen, den Strick wieder zu entfernen, verließ er die Höhle und verschloß sie wieder mit dem beweglichen Felsen.
Wo aber konnten nun die Kinder sein? Das Rätsel war umso dunkler, und die Sorge um ihr Schicksal, um ihr Leben war nicht vom Herzen des Vaters genommen.
Er leuchtete noch die Schlucht gründlich ab und kam zuletzt unverrichteter Dinge im Fabrikbau an, als eben Josef eintraf und berichtete, keiner der Arbeiter noch der Wächter des Kalifa habe etwas von den Kindern gesehen, ebensowenig hätten sie sich in der Ziegelei und Glashütte blicken lassen.
»Wir müssen alle Mann ausbieten, um die Umgegend abzusuchen,« erklärte Sieger und trat zum vorderen Fabriktor hinaus ins Freie.
Hier schlossen sich ihm sofort die Wächter an, die vor dem Tore Wache hielten. Im Felsental konnte er sich unbewacht bewegen, weil es den Soldaten allzu ermüdend und dazu völlig überflüssig schien, ihn auch da zu begleiten, wo sein Entkommen durchaus unmöglich erschien. So begnügten sie sich weise und faul, vor dem Bau zu lagern und sich nur dann an des Ingenieurs Fersen zu heften, wenn er die Fabrik auf der Vorderseite verließ und einen Gang zur Ziegelei und Glashütte unternahm oder Samstag abends nach Omderman zurückkehrte.
Mit Fackeln und Laternen bewaffnet zogen die aus dem Schlafe geweckten Arbeiter auf die Suche. Sie taten dies willig, denn sie hatten in Sieger einen guten Herrn, den sie verehrten und schätzten, zumal er sie nicht zu rastloser Arbeit antrieb und ihnen nie zu viel zumutete. Die vier Kinder, mit denen sie oft ihren Spaß hatten, waren ihnen auch lieb geworden, so daß sie sich den Nachforschungen mit persönlicher Anteilnahme und größtem Eifer widmeten, sobald sie von ihrem Verschwinden gehört hatten.
Nach allen Richtungen zogen die einzelnen Abteilungen aus, spähend und rufend. Aber keine entdeckte eine Spur.
Ratlos und mit schwerem Herzen begab sich Sieger mit Josef am frühen Morgen in das Felsental zurück, während die soeben zur Ablösung eingetroffenen frischen Wächter sich gemächlich vor den Fabrikmauern lagerten.
Matt, von den vergeblichen nächtlichen Streifen erschöpft und entmutigt, schritten die beiden langsam vor. Sie sagten sich, daß es eigentlich wenig Zweck habe, die Schlucht zum soundsovielten Male zu durchsuchen.
Jetzt bogen sie um den Felsenvorsprung, hinter dem sich der Abschluß des Kessels mit dem Wasserfall befand.
Ohrenbetäubend scholl hier das Brausen in der Morgenstille und hallte dumpf von den umgebenden Wänden nieder.
Da deutete Josef auf die hochgetürmten Blöcke in der Nähe des Falles: »Zwei Geier!« rief er: »Was wollen die Vögel hier, wo es nichts für sie zu finden gibt? Denn es ist eine mir lang bewußte Merkwürdigkeit dieses Steinwüstenloches, daß keine Schlange, keine Kröte und nicht einmal eine Eidechse sich hier sehen lassen mag.«
»Das ist in der Tat auffallend,« antwortete Sieger kopfschüttelnd: »Es ist wahrhaftig das erstemal, daß ich hier Geier sehe.« Nachdenklich starrte er nach den Vögeln hin, die sich schwerfällig erhoben und dann in mäßiger Höhe den Hügel umkreisten.
Plötzlich durchblitzte ihn ein Gedanke: »Sollte das ein Fingerzeig sein? Wittern diese Vögel, was uns verborgen bleibt? Laß uns dort noch einmal gründlich nachforschen!«
Rasch schritten sie auf das Geröll zu und kletterten über die Felsen hinab.
»Hören Sie nichts?« schrie Josef, um das Tosen der Wasser zu übertönen. Und er legte das Ohr an einen Spalt zwischen den Steinen.
Sieger folgte seinem Beispiel und rief hocherfreut: »Wahrhaftig! Da drunten schallen Stimmen! Sie rufen um Hilfe. Gebe Gott, daß sie nicht mit gebrochenen Gliedern zwischen Felsen eingeklemmt liegen.«
»Nein!« erwiderte Josef: »Die Felsen sind schon immer so dagelegen, und einen Felssturz oder Rutsch hat es hier nicht gegeben, das sehe ich unverkennbar. Nur irgendwo muß etwas passiert sein, daß sie nicht mehr heraus können.«
»Hilf mir, den Block da wegwälzen,« rief der Ingenieur in größter Erregung: »Er liegt allein so frei, daß kein Nachsturz zu befürchten ist! Drauf!«
Es war dies eben der Felsen, der den engen Zugang verschlossen hatte. Auch für die beiden starken Männer war es keine Kleinigkeit, den schweren Stein aus seiner eingeklemmten Lage zu bringen. Aber die Sorge um die Kinder verdoppelte ihre Kräfte, und so gelang es ihnen, den Block herauszuwälzen, worauf sie ihn den Abhang vollends hinunterrollen ließen.
Die Kinder waren früh am Morgen erwacht. Alle Glieder schmerzten sie infolge des Schlafes in so gekrümmter Stellung. Ihre schlimme Lage kam ihnen bald wieder zum Bewußtsein. Die Mädchen weinten, die Knaben schrien aus Leibeskräften. Zugleich aber machten sie neue Versuche, den verhängnisvollen Stein herauszudrücken: vielleicht hatte der Schlummer ihre Kräfte so gestärkt, daß es ihnen jetzt doch gelang.
Und wirklich! Der Block begann zu weichen!
Sie schöpften Atem zu einer neuen Anstrengung, da rollte der Stein wie von selber weg und die Türe stand offen. Johannes zwängte sich hinaus und sank in die Arme seines glücklichen Vaters. Hassan folgte ihm und wurde von Jussuf ebenso zärtlich empfangen.
Gleich darauf erschien Fanny in der Öffnung und nach ihr Amina.
Die Wonne war gleich groß auf beiden Seiten, und als die Wiedergefundenen kurz darauf vor dem Fabrikbau erschienen, wurden sie auch von den Arbeitern und Wächtern mit Freudenrufen begrüßt und gedrängt, zu erzählen, wie es ihnen ergangen war.
Dann aber wurde für ein kräftiges Frühstück gesorgt, und sie mußten bis zum Nachmittag dableiben und sich von den ausgestandenen Schrecken und Leiden gründlich erholen, ehe Josef sie wieder nach Omderman brachte, zu Hellings größter Beruhigung und Freude, denn das unerklärliche Ausbleiben der geliebten Kinder hatte ihn mit den schwersten Besorgnissen erfüllt.
Das war das schlimmste Abenteuer, das den Spielgefährten im Laufe der Jahre begegnete, und nun es überstanden war, blieb es für sie lange Zeit das interessanteste Erlebnis und ein beliebter Gesprächsgegenstand. Selbstverständlich war es auch für sie ein Anlaß, sich vor ähnlichen Zufällen vorsichtig, in acht zu nehmen.
Der Fabrikbau schritt langsam voran, weil Sieger, wie gesagt, die Herstellung von Kanonen so lange als möglich hinausschieben wollte und noch andere geheime, aber hochwichtige Gründe hatte, möglichst viel Zeit damit zu verlieren.
Nun hatten die Bauarbeiten sechs Jahre gewährt und es war allerhöchste Zeit, damit zu Ende zu kommen, denn der Kalifa begann ernstlich ungeduldig zu werden, und wenn ein so blutdürstiger Wüterich die Geduld verlor, so war das lebensgefährlich, wie Sieger nur zu gut wußte.
Der Ingenieur hütete sich daher wohlweislich, dem Drängen des Herrschers weitere Ausflüchte entgegenzusetzen; vielmehr machte er vollends rasch voran, und da nicht mehr viel zu tun war, konnte er dem Kalifa bald erklären, der Bau aller notwendigen Anlagen und Räume sei nun vollendet, und er sei jetzt in der Lage, die ersten Versuche mit der Kanonenfabrikation wagen zu können; doch müsse der Kalifa Nachsicht üben, wenn es ihm nicht auf den ersten Wurf gelinge, brauchbare Geschütze zustande zu bringen; denn das gehöre zu den allerschwierigsten Dingen, und er habe sich damit noch nie befaßt, wie er ja gleich zu Anfang gesagt habe. Jedenfalls sei ihm Hellings Rat und Beihilfe unentbehrlich, da dieser zwar nicht mit der Herstellung von Kanonen vertraut sei, dagegen als Artillerieleutnant genau wisse, wie ein fertiges Geschütz auszusehen habe, welche Eigenschaften es besitzen müsse, und wie es zu handhaben sei.
Der Kalifa hatte Verstand genug, um dies einzusehen und Sieger zu versichern, daß ihm keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt werden sollten, daß er vielmehr jede Unterstützung und Förderung genießen solle, die ihm notwendig oder wünschenswert erschienen. Insbesondere sollten ihm Arbeiter zur Verfügung stehen, so viele er wolle, er dürfe sich nach Ermessen die geeignetsten Hilfskräfte aussuchen, nur keine weiteren Europäer.
Um seine Zwecke leichter und schneller zu erreichen, solle er auch unumschränkter Herr in der Fabrik sein und unbedingten Gehorsam von seinen Arbeitern und Angestellten fordern dürfen, über die er nach Belieben Strafen verhängen dürfe, ja das Recht über Leben und Tod seiner Leute solle ihm zustehen. Die nötigen Geldmittel und die Lieferung von Rohmaterialien stünden ihm ebenfalls unbeschränkt zur Verfügung.
Sieger traf demgemäß eine äußerst sorgfältige Auswahl der Männer, die fortan unter seiner Leitung stehen und seine Genossen und Gehilfen im Margayatale sein sollten.
Die Wahl wurde ihm nicht schwer, denn er hatte nun seit sechs Jahren eine große Zahl von Arbeitern beschäftigt, die er in dieser Zeit genau kennengelernt hatte, und die großenteils sehr anhänglich an ihn waren, so daß er sich auf ihre Ergebenheit verlassen konnte.
Zunächst suchte er sich die treuesten und zuverlässigsten aus unter denen, die sich zugleich als die geschicktesten und anstelligsten erwiesen hatten. Neben diesen, die ihm wegen ihres unbedingten Gehorsams nicht gefährlich werden konnten, suchte er sich noch zu den groben Arbeiten die einfältigsten aus, von denen ihm infolge ihrer Dummheit die wenigste Gefahr drohte.
Johannes war inzwischen zu einem kräftigen Jüngling herangewachsen. Zählte er auch erst zwölf Jahre, so hätte man ihn doch schon für vierzehn- oder fünfzehnjährig halten können, so stark hatte er sich körperlich und geistig entwickelt in einem Klima, das eine rasche Reife begünstigt, und unter der sorgsamen Pflege und Anleitung seines Vaters und seines Onkels Helling.
In den letzten Jahren hatte ihn Sieger bei dem Bau und der Einrichtung der Fabrik viel beschäftigt und er war stets mit Eifer und jugendlichem Interesse seinem Vater zur Seite gestanden, so daß er frühe zu gründlichen Kenntnissen und praktischem Geschicke kam.
Fanny zählte nun zehn Jahre, erschien aber auch bereits als eine heranblühende Jungfrau von ungemeiner Lieblichkeit.
Es war November, als Sieger den Kalifa um die Erlaubnis anging, nunmehr mit den Seinigen und Leutnant Helling in die fertiggestellte Fabrik übersiedeln zu dürfen, da die Herstellung der Kanonen die ununterbrochene Anwesenheit beider dort notwendig mache.
Die Genehmigung wurde erteilt. Allein das Mißtrauen des Herrschers gegen die Europäer war gerade jetzt dadurch gesteigert worden, daß es dem Pater Ohrwalder vor wenigen Tagen geglückt war, aus der Gefangenschaft zu entfliehen. Er traf daher noch ganz besondere Vorsichtsmaßregeln, um dem Ingenieur und seinem Freunde ein Entkommen ganz unmöglich zu machen.
Die Fabrikgebäude verschlossen, wie wir wissen, den Taleingang vollständig; doch standen sie in der etwa fünfzig Meter langen Felsenenge, die den äußersten Zugang bildete, um dreißig Meter zurück.
Der Kalifa ließ nun den Engpaß völlig zumauern, dadurch, daß er eine hohe Mauer am äußersten Eingang aufrichten ließ, die also einen Raum von rund dreißig Metern zwischen sich und dem Bau frei ließ, der rechts und links von den unersteiglichen Wänden eingefaßt war.
Durch diese wahrhaftige Gefängnismauer führte ein starkes, wohlverwahrtes Tor, vor dem ein steinerner Vorbau errichtet war, in dem sich die ständigen Wächter aufhielten. Vor der Mauer wurden noch einige weitere Hütten errichtet, in denen Wachen angesiedelt wurden. Niemand konnte von außen in die Fabrik und somit in das Margayatal gelangen, ohne das Wachthaus zu durchschreiten, also mitten durch die Wächter zu gehen. Ebenso war dies der einzige Weg, um aus der Fabrik in die freie Ebene zu gelangen.
Wollten Sieger oder Helling heraus, wenn auch nur um die Ziegelei oder die Glashütte zu besuchen, so schlossen sich ihnen sofort einige bewaffnete Soldaten an, die sie auf Schritt und Tritt begleiteten. So konnte sich Abdullahi versichert halten, daß sie nicht entweichen könnten, da ja das ihnen allein ungehindert zugängliche Felstal keine Möglichkeit des Entkommens bot.
Nachdem Sieger mit Johannes, Fanny und Josef sich häuslich eingerichtet und auch zwei Zimmer für seinen Freund behaglich ausgestattet hatte, hielt auch Helling seinen Einzug. Ihm war die ganze Anlage neu, da er in den mehr als sechs Jahren seiner Gefangenschaft Omderman auch nicht für eine einzige Stunde hatte verlassen dürfen.
Wie atmete er auf, als er nun zum ersten Male aus dem unendlichen Hüttenmeere herauskam, das ihm mit Recht wie ein Zuchthaus erschienen war.
Als er aber den so wohl befestigten und bewachten Taleingang zu Gesichte bekam, äußerte er: »Eine hübsche Lage, doch ein enges Gefängnis! Sei's drum! Viel lieber läge ich hier in Ketten, als daß ich die blutigen Greuel in Omderman länger mit ansähe, von denen ich übergenug habe. Das ewige Hängen, Köpfen und Verstümmeln ist eine Liebhaberei Abdullahis, die beginnt mich nervös zu machen. Auch weiß man nie, wann man selber daran kommt. Nun, mir kann es ja einerlei sein; doch muß ich gestehen, in deiner liebenswürdigen Gesellschaft ist meine erstorbene Lebenslust wieder etwas erwacht und zuzeiten vergesse ich beinahe die düsteren Schatten, die über meiner Vergangenheit lagern.«
Als sie das Tor durchschritten hatten, das durch die Mauer in das Tal führte, bemerkte der Leutnant, daß der Eingang des Tales in einer Breite von zehn Metern vor dem Fabrikgebäude mit Metallplatten gepflastert war.
»Was hat das für einen Zweck?« frug er erstaunt?
»Ja,« lachte Sieger, »darf ich nicht hinaus, so darf auch ohne meinen Willen niemand herein: ich vermag durch diese Platten einen elektrischen Strom zu leiten, der eine Elefantenherde mit einem Schlage töten würde. Auf diese Weise habe ich meine Anlage zu einer uneinnehmbaren Festung gemacht: man weiß nicht, wozu man's noch brauchen kann.«
Mit großem Interesse besichtigte Helling die Fabrikanlage.
»Die Sache ist einfacher, als ich mir gedacht habe,« meinte er.
»Ja, dadurch, daß ich bloß Holzkohle verfeuere, welche auf meine Anordnung in den Wäldern der Margayaberge gebrannt wird, erspare ich mir das Puddeln, das notwendig wird, um dem Eisen den von der Steinkohle angenommenen Schwefel zu entziehen. Ich treibe übrigens reichlich gepreßte Luft durch die schmelzenden Massen, um ein reines, schlackenfreies Eisen zu erzielen: wer weiß, wenn es mir gelingt, gute Kanonen herzustellen, ob wir nicht eines Tages selber damit dem Kalifa seine Residenz zusammenschießen.«
»Na, na! das sind kühne Pläne! Da müssen wir uns wohl mit Neufeld verschwören, der vom Kalifa zur Pulverfabrikation gezwungen wird, aber — ich vermute, mit Absicht — bis jetzt kein brauchbares Erzeugnis erzielte.«
»Das sieht ihm gleich, er ist ein Prachtmensch. So todesmutig, wie er, hat noch keiner dem Tyrannen getrotzt, und er ist imstande, ihn zum Narren zu halten, wenn es auch sein Leben in Gefahr brächte; wenn wir je einmal eine Revolution anzetteln, hält er gewiß zu uns.«
»Und Slatin ist auch dabei!« fügte Helling hinzu, »schade, daß es uns nie gelingt, uns den beiden zu nähern. Ich glaube, sie ahnen überhaupt nichts von unserem Hiersein, so streng hat uns der schurkische Abdullahi von jedem Verkehr abgeschlossen.«
Am höchsten stieg Hellings Bewunderung, als ihn Sieger in den Hintergrund der Schlucht führte, und ihm die großartigen Kraftanlagen zeigte, die durch den tosenden Wasserfall getrieben wurden und namentlich eine Dynamomaschine speisten.
»Was treibt denn dieser kolossale Motor?« fragte der Leutnant.
»Das ist mein Geheimnis,« sagte Sieger. »Glücklicherweise verstehen meine Arbeiter nichts von der ganzen Anlage, sonst müßte er ihnen verdächtig vorgekommen sein. Bis jetzt sind nur Johannes und Josef in meine Pläne und geheimen Vorkehrungen eingeweiht; aber dir werde ich natürlich alles zeigen und erklären, sobald wir eine ruhige Stunde dazu finden.«
Vor dem Wasserfall war ein starker Staudamm von mäßiger Höhe errichtet. Am Fuße desselben, etwa in der Mitte, durchbohrte ihn eine tunnelartige Öffnung, durch die der Bach floß, den der Wasserfall bildete. Das Loch konnte durch ein Schleusentor verschlossen werden. Dann mußte sich das Wasser hinter der Mauer stauen und zu einem kleinen See anwachsen, bis es die Höhe des Dammes erreichte und über diesen abfloß.
Helling fragte auch nach dem Zwecke dieser Anlage.
Sieger antwortete lachend: »Jedem, der von derartigen Anlagen etwas versteht, muß sie völlig überflüssig und zwecklos erscheinen, und deshalb wunderst du dich mit vollem Rechte darüber. Denn der von ungeheurer Höhe herabstürzende Wasserfall stellt eine so gewaltige Kraftquelle dar, daß ich sie gar nicht ausnützen kann, wollte ich auch ganz Omderman mit elektrischer Beleuchtung und Kraft versehen. Für meine bescheidenen Bedürfnisse in der Kanonenfabrik genügt ein geringer Bruchteil derselben. Folglich ist ein Stausee an dieser Stelle ein Unding.«
»So erkläre mir, warum du ihn dennoch anlegen ließest. Denn die gewaltige Mauer muß ordentlich Arbeit gekostet haben, und sicherlich ist das keine bloße Schrulle und Spielerei von dir. Oder war es nur eine Gelegenheit, deine Arbeiter unnötig zu beschäftigen, um die Fertigstellung der ganzen Anlage in die Länge zu ziehen?«
»Doch nicht,« erwiderte der Ingenieur: »Das gehört auch zu dem Geheimnis, in das ich dich so bald als möglich einweihen will. So lange mußt du dich eben gedulden.«
Hassan und Amina besuchten ihre weißen Freunde oft, seit sie von ihnen getrennt waren.
Sie waren es, die hauptsächlich die Nachrichten aus Omderman mitbrachten, und die meist wenig erfreulich lauteten. Sie berichteten auch die Ereignisse, die aus der übrigen Welt bekannt geworden waren.
Hassan hielt sich besonders gerne bei seinem Freunde Osman auf und interessierte sich sehr für seine Tätigkeit in der Fabrik.
Amina saß dann mit Fatme auf einer Holzbank am Bach, die Johannes zu größerer Bequemlichkeit gezimmert hatte. Zu plaudern hatten sie immer genug.
Heute war das Somalimädchen in großer Aufregung, denn es hatte ein wichtiges Geheimnis mitzuteilen.
»O Fatme!« sagte die Schwarze, als sie mit Fanny auf der Bank saß: »Allah hat mich ersehen, dir einen mörderischen Anschlag zu verraten: deinem Vater Abd el Ziger droht Verderben!«
»Wieso? Woher?« fragte Fanny, aufs höchste erschrocken, mit bebender Stimme.
»Von Iblis selber!«
Fanny atmete wieder auf. Sie kannte den Aberglauben der Neger, von dem sie auch ihre Freundin nie ganz hatte heilen können, so redlich sie, als eine trotz ihrer Jugend schon weitgeförderte Christin, sich schon darum bemüht hatte. Wenn Iblis, der leibhaftige Teufel, ihrem geliebten Vater nach dem Leben trachten sollte, so hatte jedenfalls irgend ein arabischer Astrologe dies Amina vorgeschwatzt, behauptend, er habe es in den Sternen gelesen. Sie erwiderte daher lächelnd:
»Von Iblis? Vor dem kann nur Gott ihn schützen, und er wird es auch tun!«
»Fatme versteht Amina falsch. Du weißt, Zoraide, Abu Kargas Tochter, ist meine beste Freundin nach dir, über die mir nichts geht. Da ist ein Mann, Emin Gegr. Der Seier war seine Wohnung viele Jahre, jetzt aber lacht ihm des Herrschers Huld. Dieser Mann hat ein Antlitz, davor deiner Freundin schaudert. Er hat nur ein Auge, das finster und tückisch blitzt. Wenn ich ihn schaue, denke ich stets: so muß Iblis aussehen, der Verfluchte. Und das sind auch Zoraides Gedanken. Das ist der Grund, warum wir beide ihn nur ›Iblis‹ nennen.«
»Und der steht meinem Vater nach dem Leben? Ein Mensch, den wir gar nicht kennen?«
»Zoraide sagt es, und ihre Rede ist wahr, denn keine Lüge wagt sich über die Rosen ihrer Lippen. Höre, was sie erlauscht, da sie verborgen ruhte in der Laube ihres Gartens in mondloser Nacht. Emin stand an der Hecke mit Ali bin Said, dem besten Schützen von Omderman. Er hat ihm viel Geld versprochen, wenn er Abd el Ziger mit seiner Büchse erschieße. Er hat ihm auch kundgetan, wie er es tun könne ohne Gefahr.
»Jeden dritten Tag pflegt Abd el Ziger zur gleichen Stunde zur Glashütte zu gehen, gefolgt von den Wächtern des Kalifa. Auf halbem Wege steht ein Fels im Sand, hinter dessen Gipfel sich ein Schütze wohl verbergen kann. Dahinter ragt ein altes Grabmal, in das sich niemand mehr wagt, weil Ghuls darinnen hausen, die Hexen, die sich an Leichenfleisch laben. Zwischen dem Felsen und dem Marabut wird Ali sein Kamel verstecken, auf dem er gleich nach dem Schuß in die Wüste flieht, als sei er ein Wüstenbeduine, um dann auf Umwegen die Stadt wieder zu gewinnen.«
Fanny wußte, daß ein Marabut eigentlich ein mohammedanischer Heiliger ist, daß man aber mit diesem Namen auch sein Grabmal, die Kubba, zu bezeichnen pflegt.
»Das ist freilich eine furchtbare Gefahr, die meinem teuren Vater droht!« rief sie entsetzt: »Das muß ich ihm gleich sagen! Wenn er alles weiß, wird er sich schon davor zu schützen wissen. Es ist nur gut, das Zoraide alles erlauscht und dir gleich mitgeteilt hat, und darin sehe ich allerdings eine Fügung der Güte Gottes. Denn ich weiß, daß man von Ali bin Said sagt, daß seine Kugel nie fehle, und so wäre wohl mein armer Vater ums Leben gekommen, wenn du uns nicht hättest warnen können.«
Sie eilte nun, ihrem Vater zu berichten, was sie gehört hatte. Er nahm die Botschaft sehr kaltblütig auf und sagte: »Kind, sei nur ganz ruhig, und sage niemand ein Wort von der Sache. Ich werde schon meine Maßregeln treffen.«
Fanny ging nun zurück zu ihrer braunen Freundin und dankte ihr erst recht für ihre Warnung. Amina wollte jedoch von Dank nichts wissen: »Dein Vater ist mir wie mein Vater,« sagte sie »und wenn Abd el Ziger ein Leid widerführe, so wäre es Amina, als sei es ihrem Vater zugestoßen.«
Noch eine Weile sprachen sie über den Mordanschlag und über die rätselhafte Person Emin Gegrs und seinen ebenso rätselhaften Haß. Dann seufzte Amina: »Es ist ein schreckliches Land! Ich war ganz klein als wir unsere Heimat verließen und weiß nichts mehr von ihr. Nur das große Wasser und sein gewaltiges Rauschen sehe und höre ich noch im Geist, denn ich habe mich immer vor den brausenden Wassern gefürchtet. Aber mein Vater und mein Bruder sagen immer, Somaliland sei ein viel schöneres und besseres Land und da werden die Leute nicht geköpft und in den Seier geworfen und die Kinder nicht getötet; darum möchte ich wieder nach Somaliland. Und höre nur — du wirst es ja niemand verraten ...?«
»Gewiß nicht!«
»Mein Vater will, wenn die Zeit dazu gut ist, mit uns nach Abessinien fliehen, und von dort kommen wir leicht nach Somaliland. Dann sind wir froh. Aber ich werde doch weinen, wenn ich dich nicht mehr sehe. Am liebsten möchte ich immer die Dienerin einer schönen weißen Dame sein, wie du eine bist, am allerliebsten natürlich die deinige. O wenn das sein könnte! Allah ist groß und kann meine Wünsche erfüllen!«
Sieger traf seine Vorbereitungen, um dem Anschlag zu begegnen. Die Sache bot einige Schwierigkeiten, denn er wollte sich nicht damit begnügen, ihn für diesmal zu vereiteln, sondern auch eine künftige Wiederholung möglichst verhindern. Dazu sollte vor allem der Schütze Ali auf frischer Tat ertappt werden, um überführt werden zu können. Wie er ihn dann unschädlich machen wollte, hatte der Ingenieur sich schon ausgedacht.
Seit der Fabrikbetrieb eröffnet war, pflegte Sieger zweimal wöchentlich, Dienstags und Freitags, die Ziegelei und die Glashütte zu besuchen, um den Fortgang der Arbeiten zu besichtigen und die nötigen Anordnungen zu treffen. Der Weg war nicht weit, und er hatte ihn früher stets zu Fuß zurückgelegt, was seinem schlichten Sinn entsprach und ihm auch lieber war.
Nun aber, da er eine wahrhaft königliche Stellung einnahm, als Herr über Leben und Tod seiner Untertanen, wozu freilich seine Behandlung als Gefangener in seltsamem Gegensatz stand, war er es seiner Stellung schuldig, mit der Würde eines Herrn aufzutreten, und so ritt er jedesmal hoch zu Kamel hinüber. Seine Wächter folgten ihm natürlich auch auf Kamelen, so daß sie den Eindruck eines Ehrengeleites machten. In Wirklichkeit mußten sie reiten, weil sie ihn sonst nicht hätten einholen können, wenn es ihm eingefallen wäre, mit seinem schnellen Dromedar durchzubrennen.
Morgen nachmittag sollte die nächste Besichtigung der Hütten erfolgen, und da würde auch Ali sein Vorhaben ausführen: es galt also, die Gegenmaßregeln unverzüglich zu ergreifen.
Sieger beriet sich mit Helling, wie die Sache am zweckmäßigsten anzufangen sei.
»Am einfachsten und sichersten wird es sein,« meinte der Leutnant, »wenn eine genügende Anzahl handfester und wohlbewaffneter Arbeiter in der Nähe versteckt wird, die den Mann überfallen und festnehmen, sobald er angeritten kommt.«
Gegen diesen Vorschlag hegte Sieger verschiedene Bedenken.
»Der Mann ist beritten,« wandte er ein: »Sobald die Häscher hervorbrechen, jagt er davon.«
»Man muß Sorge treffen, daß er umzingelt wird.«
»Das ginge im Gebirge, aber in der Ebene ist es ausgeschlossen. Alle Achtung vor deinen strategischen Fähigkeiten, allein du kennst den Platz nicht. Da ist der einsam aufragende Fels, von dessen Höhe der Schurke mich abzuschießen gedenkt. Er bietet keinerlei Versteck. Oben findet wohl ein Mann Deckung gegen den Weg hin, den ich geritten komme. Von rückwärts aber wäre er jedem Nahenden sichtbar. Hinter dem Felsen steht der Marabut, in dem sich einige Mann verborgen halten können. Aber nach rechts und links bliebe der Weg zur Flucht offen.
»Der Felsen und die Kubba liegen im Osten der Karawanenstraße gegen Omderman. Westlich treten die Ausläufer der Margayaberge ganz nahe an die Straße heran und bieten Schlupfwinkel genug. Hier könnten sich mehrere Arbeiter verstecken. Solange jedoch Ali beritten ist, haben sie keine Aussicht, die wenigen Schritte bis zum Felsen zu durchmessen, ohne daß er entweichen könnte.«
»Wie aber, wenn der Schütze schon abgestiegen ist und seinen Posten auf dem Felsen eingenommen hat?«
»Dann allerdings könnten ihn die am Berge lauernden Mannschaften umzingeln, ehe es ihm möglich wäre, sein Tier wieder zu besteigen.«
»So haben wir ihn also! Der Hinterhalt wird schon zu Mittag gelegt. Ali wird beizeiten am Nachmittag erscheinen, um zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein. Man läßt ihn absteigen und den Fels erklettern. Wenn er dann ahnungslos droben liegt, brechen die Leute unversehens hervor, umkreisen den Felsen und nehmen den Mordbuben fest.«
»Ganz richtig! Aber wer will ihm dann seine mörderischen Absichten nachweisen? So verdächtig die Lage ist, in der er betroffen wurde, so unmöglich wird es doch sein, ihn zu überführen. Wir müssen ihn auf frischer Tat betreffen, das heißt, wenn er den Schuß auf mich schon abgegeben hat.«
»Oho! Das wäre mehr als tollkühn! Du wirst dich doch nicht seiner unfehlbaren Kugel aussetzen wollen, in der verwegenen Hoffnung, sie könne fehlgehen?«
»Gewiß nicht! Aber ich pflege bei der Hitze tief verhüllt zu reiten. Diesmal nun befestige ich eine ausgestopfte, durch Latten gut versteifte Puppe auf meinem Dromedar. Sie wird die tödliche Kugel empfangen.«
»Das läßt sich hören!« sagte Helling nachdenklich. »So wird die Sache wesentlich einfacher und vor allem ungefährlich. Es handelt sich also nur darum, einige Mann im Marabut auf die Lauer zu legen, die sich sofort des Kamels bemächtigen und Ali den Rückweg abschneiden, während die am Berge versteckten Leute vorbrechen und ihm alle anderen Fluchtwege verlegen.«
»Jetzt haben wir's!« erwiderte der Ingenieur befriedigt: »So wird's gemacht, und ich zweifle nicht, daß der Plan gelingen muß.«
Leider erhob sich jedoch eine neue Schwierigkeit.
Sieger teilte den Wächtern, die ihn nach der Glashütte begleiten sollten, mit, was ihm über Alis Anschlag bekannt geworden war, ohne ihnen den Anstifter zu nennen, weil er dies für zwecklos hielt. Sie waren ganz mit seinen Anordnungen einverstanden. Sie erklärten, sie wollten in besonders großem Abstand hinter Siegers Kamel herreiten, damit die Kugel nicht aus Versehen einen von ihnen treffen könne. Der Kameltreiber sei durch das Tier selber gedeckt, da er auf der Seite des Gebirges schreite.
Nun ließ der Ingenieur die Arbeiter kommen, die er in den Hinterhalt legen wollte. Auch sie waren gleich bereit, die ihnen zugedachte Rolle zu übernehmen und sich am Rande des Gebirges zu verstecken. Ja, das Abenteuer freute sie offenbar, als eine aufregende und doch ziemlich gefahrlose Abwechselung in ihrem eintönigen Leben.
Allein, was den unentbehrlichen Posten im Grabmal anbelangte, so wollte auch nicht einer sich dazu, verstehen, ihn einzunehmen. Da halfen keine Versprechungen und keine Drohungen: lieber nahmen sie die schwersten Strafen auf sich, als sich bewegen zu lassen, die Behausung der gefürchteten Ghuls zu betreten.
Helling bot sich zwar sofort an, im Marabut zu lauern, da ein Mann an dieser Stätte vollauf genüge. Das ging aber auch nicht, denn der strenge Befehl des Kalifa gestattete nicht, ihn auch nur vorübergehend ohne Aufsicht zu lassen, und es fand sich unter den Wächtern keiner, der den Mut besessen hätte, ihm an diesem unheimlichen Orte Gesellschaft zu leisten.
Der Leutnant wetterte: »Was seid ihr für Ziegen! Bei den Franken gibt es leider auch solche Toren, die sich vor Geistern und Gespenstern fürchten, aber doch nur bei Nacht. Daß ihr am hellen Tage ein harmloses Grabmal zu betreten euch scheut, ist eine bodenlose Feigheit.«
»Ismain el Heliki,« antwortete der Bimbaschi, der Befehlshaber der Wache, »der Unwissende beschimpft den Tapferen aus Unverstand. Sind diese Männer nicht Helden, die den Tod nicht scheuen? Sind sie nicht im Kugelregen der Ungläubigen furchtlos vorgedrungen, wenn zur Rechten und zur Linken ihre Kameraden fielen gleich den Heuschrecken im Hagelwetter? Aber den Geistern der Finsternis trotzen, ist kein Mut, sondern Verwegenheit und sträfliche Torheit, an der Allah kein Gefallen hat.«
Glücklicherweise war noch Josef da, der ohne Überwachung in der Kubba weilen durfte und stolz darauf war, dieses wichtigen Auftrags gewürdigt zu werden.
Am Freitag zur Mittagszeit nahmen alle ihre Posten ein. Für Josef war die Sache am schwierigsten: der Eingang in den verrufenen, nie betretenen Marabut war verschüttet. Steintrümmer und Sandwehen füllten ihn beinahe aus. Immerhin blieb oben noch eine Lücke frei, durch die sich der hagere Diener hineinzuschlängeln vermochte. So konnte ein Ausräumen vermieden werden, das leicht den Verdacht Alis hätte erwecken können, weil es schwer gefallen wäre, alle Spuren so zu verwischen, daß der Eindruck des Unberührten verblieben wäre.
Durch das Loch konnte Josef den Platz und den nahen Felsen gut übersehen, mußte aber in so unbequemer Lage zusammengekrümmt sitzen, daß es eine wahre Marter war, zwei Stunden fast regungslos so auszuharren.
Endlich kam Ali bin Said gemächlich angeritten. Scharf schaute er nach allen Seiten aus. Öde und verlassen lag die Wüste in der Sonnenglut da. Zwischen dem Marabut und dem Felsen stieg der Reiter ab. Das Dromedar blieb ruhig liegen, unsichtbar für alle, die auf der anderen Seite die Karawanenstraße einherziehen würden.
Ali erklomm den Felsen und legte sich oben nieder. Die äußerste Zinne bot ihm genügend Deckung, und er konnte zwischen den oben aufliegenden Blöcken, welche diese Zinne bildeten, vorlugen und das Gewehr in Anschlag halten, ohne Gefahr, gesehen zu werden.
Josefs Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn noch einmal vergingen anderthalb Stunden, bis Siegers Kamel, geführt von einem Treiber und gefolgt von den Wächtern, die gehörigen Abstand hielten, des Weges kam. Von den Ghuls bekam der Diener nichts zu sehen, das hatte er auch nicht erwartet. Aber ebensowenig konnte er etwas von den Ankömmlingen gewahren, da sich sein Gesichtsfeld auf die Rückseite des Felsens beschränkte.
Plötzlich fiel jedoch ein Schuß, und daran erkannte er, daß jetzt die Zeit zum Handeln für ihn gekommen war. Er beeilte sich, durch das Loch ins Freie zu kriechen und freute sich des Endes seiner Qualen, die kaum mehr auszuhalten waren. Doch hatten sie eine verhängnisvolle Folge, die er nicht vorausgesehen hatte.
Als das vorderste Kamel mit der verhüllten Gestalt Siegers, wie Ali meinte, am Felsen vorbeitrabte, gab der Beduine seinen wohlgezielten Schuß ab. Auf kaum fünf Schritte Entfernung wäre ein Fehlen auch eines wenig geübten Schützen nicht wohl möglich gewesen.
Die nachfolgenden Wächter erhoben ein wildes Geschrei, aber die vermummte Gestalt auf dem vorderen Dromedar gab keinen Laut von sich. Das war nicht zu verwundern, denn sie war jedenfalls durchs Herz getroffen. Um so auffallender jedoch war es, daß sie starr und regungslos sitzen blieb, anstatt herabzustürzen, wie es eine Leiche hätte tun müssen. Das Lattengerüst war eben vortrefflich versteift und haltbar am Sattel befestigt.
Da jedoch Ali unmöglich wissen konnte, daß er es mit keiner menschlichen Gestalt, sondern mit einer vorzüglich, von gewandten Ingenieurhänden gebauten Strohpuppe zu tun hatte, geriet er in höchstes Erstaunen und gab rasch noch einen zweiten Schuß ab, der diesmal den Rücken des unheimlichen Reiters durchbohrte, weil das erschreckte Kamel in wilden Sätzen davonsprang.
Auch jetzt zeigte sich keinerlei Wirkung: hochaufgerichtet blieb der vermeintliche Ingenieur im Sattel sitzen.
Der Mordbube hatte aber keine Zeit, sich über dieses Rätsel den Kopf zu zerbrechen oder weitere Beobachtungen anzustellen, denn mit gellenden Rufen stürzte ein halbes Dutzend flintenschwingender Gestalten hinter den gegenüberliegenden Felsen vor und auch die Wächter jagten herbei.
Eiligst sprang er also hinab und bestieg sein Tier.
Wo aber blieb der treue Josef?
Ja, das war eine böse Geschichte! Als er glücklich aus dem Loche gekrochen war und sich auf die Beine stellen wollte, waren diese beide so gründlich eingeschlafen, daß ihm war, als seien sie überhaupt nicht mehr vorhanden: sie versagten den Dienst und er kollerte zu Boden.
Er wollte sich aufraffen, aber das mißlang ihm gründlich bei seinem stocksteifen, empfindungslosen Fußwerk. Darum kroch er auf Händen und Knien, so schnell es ging, auf das Kamel zu.
Inzwischen war jedoch Ali schon zur Stelle, schwang sich in den Sattel, und das Tier erhob sich mit seinem Reiter.
Josef konnte nur gerade noch den Feind am Bein erfassen, ehe er davonsprengte.
Der Beduine suchte den hinderlichen Anhang abzuschütteln, doch nützte ihn das krampfhafte Schlenkern seines Beines nichts, denn der Schwabe war nicht gesonnen, es fahren zu lassen. Und das war gut, denn die Araber hatten einen dummen Streich gemacht: statt den Felsen zu beiden Seiten zu umgehen und so dem Flüchtling jeden Ausweg zu verlegen, wie Sieger es angeordnet hatte, waren alle beieinander geblieben und ließen ihm den günstigsten Fluchtweg nach Süden offen.
Ali trieb sein Kamel zu höchster Eile an, und Josef wurde geschleift. Zunächst hatte das nicht viel zu bedeuten, da es durch losen Sand ging und seine Füße ohnedies empfindungslos waren. Vielmehr wurde der zurückkehrende Blutumlauf durch die Bewegung beschleunigt.
Die Verfolger wurden ihrerseits gehindert, auf das flüchtige Dromedar zu schießen — den Reiter zu verletzen hatte Sieger strengstens verboten —, solange der Diener durch ihre Schüsse hätte gefährdet werden können.
Dieser blickte empor, denn es ahnte ihm, daß Ali irgend etwas unternehmen werde, um ihn loszukriegen. Richtig! Der Mensch hatte seine Flinte erhoben, um mit einem wuchtigen Kolbenstoß Josef zu betäuben oder ihm die Hirnschale zu zerschmettern.
Des Schwaben Schädel mochte hart genug sein, dennoch war seinem Besitzer die Aussicht auf eine derartige Mißhandlung seines persönlichen Eigentums äußerst unsympathisch. Als daher der Schaft niedersauste, warf Josef den Kopf zurück, ließ das umklammerte Bein fahren und packte blitzschnell die Büchse, die er dem hierauf nicht vorbereiteten Beduinen entriß: er sank im Sand auf die Knie nieder. Aufzustehen vermochte er noch nicht; dagegen gab er sofort mehrere Schüsse auf das enteilende Kamel ab, denn der Meisterschütze war mit einem Schnellfeuergewehr bewaffnet gewesen.
Des freien Gebrauchs seiner Hinterfüße beraubt, stürzte das Wüstenschiff.
Jetzt kamen die Verfolger heran, zuvörderst die berittenen Wächter, und Alis lange Beine halfen ihm nichts mehr: er wurde gefangengenommen.
Sein eigentlicher Besieger machte inzwischen verschiedene Anstrengungen, auf die Füße zu kommen, in denen er tausend Ameisen kribbeln fühlte. Hatte er vorhin, als er geschleift wurde, einen kläglichen Anblick geboten, so gewährte es jetzt ein äußerst komisches Schauspiel, wie er sich immer wieder halb erhob, um immer wieder einzuknicken. Die Araber umringten ihn lachend und ein Spaßvogel fragte ihn: »O Sidi Jussuf, warum machst du diese Freiübungen im Sande der Wüste? Oder dankst du Allah unaufhörlich, weil er dir den Sieg verlieh über Ali bin Said?«
»Keins von beiden,« erwiderte Josef ernst: »Aber ich bin drei Stunden und eine halbe in der Behausung der Ghuls gewesen. Da sind meine Glieder so steif geworden, daß die Leichenfleischfresser meine Füße für Totenbeine gehalten haben und begannen, sie zu benagen. Als sie nun offen waren, sind tausend Ameisen hineingekrochen, und die ersticke ich jetzt nacheinander im glühenden Sand.«
Bei der Erwähnung der Ghuls verging den Spöttern alle Lachlust. Sie bedachten, wie dieser Ungläubige nicht nur den gefährlichen Gegner so kühn angegriffen, besiegt und seine nie fehlende Büchse erobert, sondern zuvor einen noch viel bewundernswerteren Heldenmut bewiesen hatte, da er stundenlang in dem verrufenen Marabut verweilte, den keiner von ihnen zu betreten wagte. Ehrfürchtig und neugierig fragten sie ihn, wie die Ghuls aussähen, und ob sie viele Leichen in die Kubba geschleppt hätten, um dort ihre abscheuliche Mahlzeit zu halten?
»Sie haben lange Nasen,« erwiderte der Held, »so spitz wie eine Lanzenspitze, ihre Augen sind rot wie Blut und liegen tief in den Höhlen, ihre gelbe Haut ist runzelig, wie die einer getrockneten Dattel. Sie haben keine Lippen, so daß ihre scharfen Schakalszähne ihnen aus dem Maul starren. Des Nachts holen sie sich die Leichen der Geköpften und Gehängten, die der erhabene Kalifa, dem Allah nach Verdienst vergelten möge, ins Paradies befördern ließ, und so halten sie ihre üppigen Mahlzeiten im undurchdringlichen Dunkel der Kubba. Ich habe alles deutlich gesehen, und ich will euch gerne hineinführen, damit ihr euch überzeugen könnet, wie wahr ich gesprochen.«
»Wir glauben dir's, wir glauben dir's!« riefen die Araber, deren keinen gelüstete, sich durch den Augenschein zu überzeugen. Die Beschreibung Josefs entsprach so genau der Vorstellung, die sie sich von den aasfressenden Hexen machten, daß sie gar nicht daran zweifelten, daß Jussuf alles so gesehen hatte, wie er es schilderte. Daß ihn das »undurchdringliche Dunkel« an solch eingehenden Beobachtungen nicht gehindert hatte, war ein Umstand, der ihnen gar nicht in den Sinn kam. Ebensowenig argwöhnten sie, daß sie selber es waren, denen der Schalk seine Kenntnis von dem angeblichen Aussehen der Ghuls verdankte.
Ali bin Said wurde nun zu Sieger in die Fabrik geführt, der über ihn Gericht halten sollte.
Daß er das Todesurteil über ihn verhängen werde, stand allen außer Frage.
Auch der Gefangene zweifelte nicht, daß er sein Leben verlieren werde, zweifellos unter ausgesuchten Martern. Nur ahnte er nicht, daß der Ingenieur selber ihm das Urteil sprechen werde, da er immer noch glaubte, ihn erschossen zu haben.
Um so größer war sein abergläubisches Entsetzen, als er ihn lebendig und gesund vor sich stehen sah. Der Mann war offenbar kugelfest, und so gleichgültig und unbewegt er weitergeritten war, mit zwei Kugeln im Herzen, so kaltblütig war er anscheinend heimgekehrt, während sein Angreifer verfolgt und eingefangen wurde.
Finster und drohend blickte Sieger auf den Missetäter herab, dem aller Mut entsunken war.
»Du wolltest mich umbringen?« fragte er mit Donnerstimme.
»Es ist so, wie du weißt,« erwiderte Ali kleinlaut, da er Leugnen für nutzlose Torheit erkannte.
»Ich frage dich nicht, wer dich zum Morde gedungen hat, denn Allah hat es mir geoffenbart. Aber wieviel wurde dir zugesagt für die schändliche Tat?«
»Tausend Piaster, o Herr!«
»Was? Schurke, um diesen schmählichen Preis hast du deine Seele verkauft? Ist mein Leben nicht mehr wert? Da hast du fünftausend Piaster, damit du nicht zu Schaden kommst. Und nun gehe heim und hüte dich, noch einmal auf einen so schlechten Handel einzugehen.«
Sieger war mit Geldmitteln reichlich versehen, denn der Kalifa gab ihm alles, was er brauchte, um seine Arbeiter zu entlohnen und zu beköstigen. So wurde es ihm nicht schwer, eine solche Summe bar auszubezahlen.
Alle Anwesenden waren starr und hielten die Sache für einen grausamen Scherz, dem der entsetzliche Ernst auf dem Fuße folgen werde. Am betroffensten war natürlich Ali selber, der keine Hand ausstreckte, das Geld anzunehmen. Als der Ingenieur ihn dazu drängte, stammelte er:
»Herr, was soll mir das Geld, wenn ich doch sterben muß?«
»Wer sagt denn, daß du sterben mußt? Ich hieß dich doch, nach Hause gehen!«
»Ich — soll — frei — sein? Wie könnte ich das glauben?«
»Hat Abd el Ziger je ein unwahres Wort geredet oder seine Zusage nicht gehalten? Willst du ihn beleidigen, dadurch, daß du an seinen Worten zweifelst? Bei Allah, das Geld gehört dir und du bist frei! Also nimm es und gehe.«
Da fiel Ali auf seine Knie nieder und rief: »O Sidi! Ali wollte dich töten um schnöden Lohnes willen, da du ihm doch nie ein Leid getan, wie auch keinem anderen. Und du willst ihn reich machen und leben lassen und frei von Strafe, statt dich zu rächen und ihn zu richten, wie es gerecht wäre? Gibt es solche Milde und Barmherzigkeit bei Menschen?«
»Bei Christen, ja!« entgegnete Sieger, reichte dem Zitternden die Hand, hob ihn auf, drückte ihm den Beutel in die Linke und sagte noch einmal: »Nun gehe heim, du bist frei. Und wenn du mich wieder erschießen willst, übe mehr Vorsicht.«
»O Sidi, erschießen? Du hast von dieser Stunde an keinen treueren und ergebeneren Sklaven als Ali bin Said. Dein Leben ist meines. O, wenn du mir gestattetest, bei dir zu bleiben, um zu wachen über deine Seele. Aber du kannst dem nicht trauen, der seine Hand wider dich erhob.«
»Doch, ich vertraue dir! So bleibe denn hier in meinem Dienst; du sollst es gut haben.«
Sieger hatte einen Freund gewonnen, der bereit war, jederzeit sein Leben für ihn zu lassen.
Tags darauf sagte Sieger zu Helling: »Willst du mit mir kommen? Ich muß nach meinem Maulwurf sehen und die Fortschritte seiner Arbeit feststellen. Johannes ist schon seit zwei Stunden bei ihm.«
»Du sprichst in Rätseln,« erwiderte der Leutnant: »Ein Maulwurf? Ich habe in dieser Gegend noch nie einen gesehen. Haust einer hier in der Nähe, so begreife ich, daß du ein so seltenes Tier schonst und deine Freude daran hast. Auch mich würde es freuen, es zu sehen: es wäre etwas Heimatliches. Was meinst du aber mit den Fortschritten seiner Arbeit, die du feststellen willst? Das klingt ja fast, als hättest du einen Maulwurf gezähmt, der nun in deinen Diensten arbeite!«
»Ganz richtig bemerkt! Es ist auch so etwas Ähnliches. Dieser Maulwurf ist das Geheimnis, dessen Enthüllung ich dir noch schulde, mit ihm hängt die Dynamomaschine und der Staudamm zusammen.«
»Also, voran! Du siehst mich begierig auf die Lösung dieser Rätsel.«
Sieger führte den Freund in den Hintergrund des Felsentales. Der Weg ging über den Staudamm, vorbei am Wasserfall und den Anlagen zur Ausnützung oder wenigstens teilweisen Ausnützung der Wasserkraft. Dann ging es in das trockene Bett des Stausees hinab und weiter bis zur abschließenden Rückwand des Felsenkessels.
»Was nun?« fragte Helling: »Hier hört ja die Welt auf!«
»Nur scheinbar,« entgegnete der Ingenieur lächelnd. Er griff in eine Höhlung, die sich in einem scharf vorspringenden, beinahe rechteckigen Felsblock befand, und zog ein starkes, zylinderförmiges Eisenstück heraus an einem ringartigen Handgriff. Dann schob er den schweren, anscheinend seit Jahrhunderten hier stehenden Felsen ohne Anstrengung beiseite.
Dahinter öffnete sich eine Höhle in der Felswand. Die beiden traten hinein. Hier konnte man nur gebückt stehen.
An einer eisernen Handhabe schob Sieger den Block wieder vor, so daß er das Grottentor wieder verschloß und es vollkommen Nacht wurde.
Ein eigentümliches knirschendes und stampfendes Geräusch, das aus dem Hintergrunde der Höhle scholl, setzte Helling in das größte Erstaunen.
Sein Freund aber faßte ihn an der Hand und führte ihn zwei Schritte weiter.
»Jetzt kannst du dich aufrichten,« sagte er: »Wir befinden uns in einem hohen Gewölbe. Aber daß du mir ja ruhig stehen bleibst, bis ich Licht gemacht habe: ein einziger Schritt weiter in dieser Finsternis könnte dein sicherer Tod sein.«
Ein Streichholz flammte auf, und Helling sah vor sich einen dunkeln Abgrund gähnen, der unergründlich schien.
Sieger griff in eine Felsennische, in der zahlreiche Fackeln lehnten und entzündete eine derselben, die er seinem Begleiter gab. Sich selber versah er mit einer zweiten, die er an der ersten ansteckte.
»Immer am Rande des Schlundes weiter,« gebot der Ingenieur.
Bald war das Ende des Abgrundes erreicht. Hier stand auf Schienen ein Kippkarren.
Die Schienen liefen weiter in eine enge, tunnelartige Höhle, aus der das rätselhafte Geräusch drang.
»Das ist ja ganz, als ob eine Bohrmaschine dort hinten in Tätigkeit wäre,« sagte Helling kopfschüttelnd: »Dazu das Geleise und der Kippkarren — — —! Mensch! Willst du denn einen Tunnel graben und eine Eisenbahn durch das Margayagebirge bauen?«
»Erraten!« antwortete der Gefragte zur grenzenlosen Verblüffung des Fragenden. »Allerdings bohre ich einen Tunnel und arbeite schon seit Jahren daran: an eine Eisenbahn denke ich freilich dabei nicht, aber ein Weg zur Flucht soll sich uns hier öffnen. Dies ist mein lang gehütetes Geheimnis, in das kein Mensch außer Johannes und Josef eingeweiht ist, deren Hilfe ich brauchte, und das ich nun dir offenbare.«
Sie schritten nun zwischen den Schienen in der Höhle vor. Diese mochte etwa dreihundert Meter lang sein. Ein Lichtschimmer drang ihnen entgegen und zugleich eine Stimme, die rief: »Papa, heute sind wir ein bedeutendes Stück weiter gekommen!«
Helling erkannte sofort die Stimme des jungen Johannes oder Osman, wie ihn die Araber nannten, und jetzt erblickte er ihn auch im Scheine einer Laterne. Gleichzeitig gewahrte er eine regelrechte Bohrmaschine, von allerdings kleinen Abmessungen, in voller Tätigkeit.
»Schau, das ist mein Maulwurf,« erklärte Sieger, auf die Maschine deutend: »Er hat schon großartige Arbeit geleistet, wie du siehst.«
»Und du hoffst wirklich das ganze Gebirge mit ihm zu durchgraben?« fragte der Leutnant zweifelnd.
»Allerdings hoffe ich das, sonst hätte all die Mühe und Arbeit keinen Zweck. Das ganze Gebirge — das klingt ja wohl sehr entmutigend. Aber ich sage dir, das Gebirge ist nicht überall so ausgedehnt, wie du dir vorstellst, und wie es von Omderman aus den Anschein hat. Glücklicherweise besitze ich eine sehr genaue und äußerst zuverlässige Karte der hiesigen Gegend. So konnte ich berechnen, daß in der Richtung, in der ich bohre, ein Seitental des Wadi Chemba bei Abu Umra erreicht werden muß. Das zu durchbohrende Gestein ist vierhundert, allerhöchstens fünfhundert Meter dick. Es bleiben mir also jetzt noch fünfzig bis hundertfünfzig Meter zu durchbohren, die Arbeit von einigen Monaten, wenn das weiche Gestein sich gleich bleibt und zum Schluß nicht noch unerwartete Zwischenfälle den Durchbruch verzögern oder gar in Frage stellen.«
»Was meinst du damit?«
»Nun, es ist nicht ausgeschlossen, daß ich noch zu guterletzt auf eine andere Gesteinsschicht stoße, deren Durchbohrung ungleich schwieriger ist. Noch schlimmer wäre es, wenn ich auf loses, bröckeliges, nachgiebiges Gestein oder Erdreich, wenn nicht gar Sand stieße. Da könnten sich fortwährende Einstürze ereignen, die gefährlich wären und die ich unter Umständen überhaupt nicht bewältigen könnte. Ebenso schlimm oder noch schlimmer könnte das Anschlagen eines stärkeren Wasserlaufes sein. Das alles wären Hindernisse, die unter Umständen Hunderte oder Tausende von Arbeitern erfordern würden, um überwunden zu werden. Doch zeigte sich das Gestein bisher so unwandelbar gleichmäßig, daß ich hoffen darf, es wird vollends so bleiben, zumal mein Tunnel sich dem Ende nähert.«
»Wo hast du aber all den Abraum untergebracht?«
»Hierzu kam mir der breite und ziemlich tiefe Spalt am Eingang der Höhle vortrefflich zustatten. Er ist nun schon zu Dreivierteln ausgefüllt, aber noch immer tief genug, um alle Gesteinstrümmer bis zum völligen Durchbruch aufzunehmen.«
»Natürlich! Ich sah ja den Kippkarren, und die Schienen haben selbstverständlich nur den Zweck, die Abfuhr des Abraums zu erleichtern, da es sich ja bloß darum handelt, den Berg zu durchbrechen und nicht etwa eine Eisenbahn anzulegen, wie ich anfangs beinahe geglaubt hätte.«
»Der Abgrund,« nahm Sieger wieder das Wort, »in den ich beinahe gestürzt wäre, als ich die Höhle entdeckte, war mir von unschätzbarem Wert. Er allein hat es mir ermöglicht, so ganz im Verborgenen mein eigentlich ungeheures Unternehmen zu betreiben. Hätte ich das ausgebohrte Gestein ins Freie schaffen müssen, so hätte ich die Höhle während dieser Arbeit offen stehen lassen müssen und auch die wachsenden Geröllberge hätten meine heimliche Tätigkeit verraten. Ich sorge ja wohl dafür, daß möglichst selten ein Unberufener in die Margayaschlucht kommt, aber ganz verhindern kann ich es nicht: das würde auch notwendigerweise Verdacht erregen. Und dann kommt ja der Kalifa selber von Zeit zu Zeit zur Besichtigung meiner Anlagen und ihn interessieren stets der Wasserfall und die dort aufgestellten Maschinen, wenn er auch glücklicherweise nichts davon versteht: sonst müßte er Verdacht schöpfen.«
Helling bewunderte immer wieder die Bohrmaschine und fragte jetzt: »Wie war es dir nur möglich, dieses Ungetüm hierher zu bringen? Es ist ja wohl verhältnismäßig klein und genügt gerade, ein Loch zu bohren, in dem man aufrecht stehen und gehen kann: mehr brauchen wir ja auch nicht. Aber wenn ich an den engen, niedern Eingang denke, so erscheinen mir die Ausmessungen deines Maulwurfs dennoch riesenhaft. Jedenfalls ist es mir ein Rätsel, wie du ihn da hindurchschaffen konntest.«
»Das wäre freilich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen: ich habe eben die Maschine in der Höhle selber gebaut. Das heißt: die einzelnen Teile stellte ich in der Fabrik her und schaffte sie dann in die Höhle, wo ich sie zusammensetzte. Das alles hat viel Zeit erfordert, da ich unauffällig arbeiten mußte und mich nicht allzuoft auf längere Zeit unbemerkt entfernen konnte.«
»Wie aber wird dein Maulwurf getrieben, um so rastlos und kräftig zu arbeiten?«
»Durch Elektrizität. Die Dynamomaschine dient fast ausschließlich diesem Zweck. Die Leitungsdrähte mußte ich natürlich unsichtbar hierherführen. Ich verlegte sie unterirdisch in dicke Glasröhren, die ich in meiner Glashütte anfertigen ließ. Sie sind vorzüglich isoliert und es hat noch nie Kurzschluß gegeben. Auch diese Anlage war äußerst schwierig und langwierig, angesichts der gebotenen Heimlichkeit. Nun aber liegt die Leitung so verborgen, daß kein europäischer Techniker ihr Vorhandensein ahnen könnte, wenn je einer das Margayatal besuchen würde.«
»Das ist alles wahrhaft bewundernswert! Aber das begreife ich nicht, wie ihr die viele Zeit finden konntet, hier so heimlich zu arbeiten, da doch niemand etwas ahnen durfte und ihr nicht zu lange und zu oft abwesend sein durftet, wenn dies nicht den Arbeitern oder Wächtern auffallen sollte?«
»Das war eben die Hauptschwierigkeit und darauf mußte ich mein Augenmerk beim Bau der Bohrmaschine vornehmlich richten: sie durfte nämlich keine ständige Aufsicht und Bedienung erfordern, sondern, auch sich allein überlassen, selbständig fortarbeiten. Diese vortreffliche Eigenschaft meiner Maschine ist meine eigenste Erfindung und veranlaßte und berechtigte mich, ihr den Namen ›Maulwurf‹ zu verleihen; denn sie wühlt sich ins Gestein, wie der Maulwurf in die Erde. Die elektrische Kraft setzt die Bohrer selbsttätig in Bewegung, so lange der Strom eingeschaltet ist: das ist ja nichts Neues. Aber ich gab meinem Maulwurf so viel Leben, daß er auch nachrückt und so lange fortarbeitet, als seine Arme reichen. Stößt schließlich die Maschine an der angebohrten Felswand an, so schaltet der Druck den Strom von selber aus und die Arme, das heißt die Bohrer, sowie das ganze Werk stehen still. Josef und Johannes haben dann nur den Maulwurf auf dem Schienenweg zurückzuführen, die Bohrlöcher mit dem Sprengstoff zu füllen, die Sprengung vorzunehmen und die Trümmer in den Schlund zu befördern. Gelegentlich kann ich dies auch selber besorgen. Ist dies geschehen, so wird der Schienenstrang um die geräumte Strecke verlängert, der Maulwurf vorgeschoben und in Tätigkeit gesetzt, worauf er wieder bis zur nächsten Sprengung unbeaufsichtigt weiterarbeiten kann.«
»Genial, wirklich genial!« rief der Leutnant begeistert. »Wie ist's aber mit den Sprengungen? Machen sie sich nicht in verdächtiger Weise vernehmbar?«
»In der Höhle selber verursachen sie ein Donnergetöse, daß man das Trommelfell in acht nehmen muß. Aber nach außen dringt der Schall nur in so geschwächtem Maße, daß ihn das Brausen des Wasserfalls völlig übertönt.«
»Ich möchte doch gar zu gern einer solchen Sprengung beiwohnen,« meinte Helling: »Wenn ich die Sache einmal mit angesehen habe, kann ich auch zuweilen Josef und Johannes diese Arbeit abnehmen, da es von Vorteil sein muß, wenn nicht immer die gleichen Personen längere Zeit vermißt werden.«
»Ich habe gerade Zeit,« erwiderte der Ingenieur, »und da es soeben an der Zeit ist, eine Sprengung vorzunehmen, kann dein Wunsch sogleich erfüllt werden.«
Die Bohrmaschine, die nunmehr zum Stillstand gekommen war, weil sie die Löcher so tief gebohrt hatte, als ihre Bohrer reichten, wurde mit leichter Mühe bis gegen den Abgrund zurückgeführt, wo sie auf ein Nebengeleise geschoben werden konnte, das hier, wo die breite natürliche Höhle sich ausdehnte, hatte angebracht werden können. Hier stand der Maulwurf völlig außer Gefahr, von irgend einem Sprengstück getroffen zu werden, zumal er sich nicht einmal mehr in der Linie des Tunnels befand.
Bis Sieger und Helling zurückkehrten, hatte Johannes bereits die Bohrlöcher geladen und die elektrische Zündung vorbereitet.
Alle drei eilten nun bis zum Eingang der Höhle hinter dem Abgrund zurück.
Hier drückte der Ingenieur auf einen Knopf, und alsbald erfolgte ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einem Donnern und Rollen, das den ganzen Berg in den Grundfesten zu erschüttern schien. Obgleich alle die Vorsicht gebraucht hatten, sich die Ohren fest zuzuhalten, tat ihnen das Getöse ordentlich in den Ohren weh. Es dauerte lange, bis sich der Schall verzog.
Als Sieger erklärte, es sei nun möglich, wieder in den Tunnel einzudringen, wurde der Kippwagen hineingeschoben, das gesprengte Gestein mit Schaufeln eingeladen, zum Spalt geführt und hinuntergeschüttet. Dies wurde so lang wiederholt, bis die Sprengstelle geräumt war.
Der Schienenstrang wurde, nachdem der Grund mit dem Pickel etwas eingeebnet und mit Schwellen belegt worden war, durch bereitliegende Schienen verlängert. Zuletzt wurde der Maulwurf wieder vorgeschoben und begann alsbald seine selbsttätige Arbeit von neuem.
Nach einem so langen Aufenthalt im Schoße der Erde atmete der Leutnant, der diese unterirdische Arbeit nicht gewohnt war, tief auf.
Als Sieger das Felsentor wieder verriegelte, fragte ihn Helling: »Wie entdecktest du eigentlich diese Höhle? Jedenfalls hast erst du den Zugang so wohl verwahrt?«
»Selbstverständlich!« lautete die Antwort: »Wäre er von Natur so gut versteckt und verschlossen gewesen, so hätte er niemals gefunden werden können. Er war aber auch so zunächst unauffindbar. Das Eingangsloch war völlig mit Geröll angefüllt, und erst als ich zufällig einmal begann, die Steine an dieser Stelle wegzuräumen, zeigte sich eine Vertiefung, die mich vermuten ließ, hier könne sich der Zugang zu einer Höhle befinden. Dies bestätigte sich nach kurzer Weiterarbeit, und bald hatte ich das Loch bloßgelegt. Dahinter fand ich den weiten dunkeln Höhlenraum. Glücklicherweise drang ich nicht gleich weiter vor, sonst wäre ich im Abgrund zerschellt. Ich war so vernünftig, mir zu sagen, es sei Torheit und Verwegenheit, im Dunkeln ins Unbekannte zu gehen. Und die Richtigkeit dieses Bedenkens bestätigte sich mir, als ich bald darauf mit der Laterne die Höhle untersuchte und den Schlund gleich hinter dem Eingang gähnen sah.
»Ohne noch recht zu wissen, was mich das Geheimnis der Höhle später nützen könne, hatte ich doch eine Ahnung, daß es mir noch von Wert sein werde. Ich beschloß daher, meine Entdeckung zu verheimlichen und den Zugang so zu verbergen, daß ihn niemand ahnen, geschweige denn finden könne. Vor dem Loch befand sich eine Felsrinne, in der ich einen äußerst starken, niedern Rollwagen barg, auf den ich dann den Block wälzte, der jetzt den Eingang verdeckt. Vom Wagen sieht man nichts, weil der Block ihn ganz verbirgt. Er ermöglicht, den schweren Felsen leicht vor- und zurückzuschieben, sobald der geheime Riegel entfernt wird, mit dem ich die Platte fest an die dahinterbefindliche Felswand verankerte.«
»Noch eins!« sagte Helling: »Der Zweck der Staumauer ist mir immer noch unklar.«
»Ja so! Schau, sobald mein Tunnel fertig ist, schließe ich die Schleuse. Es bildet sich dann ein Stausee, dessen Spiegel bald den Höhleneingang erreicht. Der Torfelsen schließt nicht so dicht, daß das Wasser nicht eindringen könnte. Es wird nun zunächst den mit dem Abraum verschütteten Abgrund anfüllen. Ist dies geschehen, so öffne ich das Schleusentor wieder. Unternehmen wir dann die Flucht durch den Tunnel, so wird es im Vorbeigehen geschlossen. Wir begeben uns unbemerkt in die Höhle, schieben den Felsen wieder vor, und entfliehen durch unseren geheimen Gang. Hinter uns steigt das Wasser in der Höhle entsprechend dem Steigen des Seespiegels und füllt den Zugang völlig aus. Die Staumauer baute ich absichtlich so hoch, um diesen Zweck zu erreichen, aber nicht höher. Unser Tunnel liegt höher als der Damm, da die Höhle ziemlich ansteigt. Das Wasser kann also nicht so hoch in der Höhle steigen, daß es den Gang erreicht und uns bei unserer Flucht durch denselben bedrohen könnte. Anderseits macht es, wenn unser Entweichen bald bemerkt werden sollte, eine Entdeckung der Höhle ganz unmöglich.
»Rechnen wir jedoch mit dem Fall, daß irgendwie alle meine Geheimnisse entdeckt oder verraten würden, so müßte erst der See abgelassen werden, ehe man uns durch den Tunnel verfolgen könnte. Das würde die Verfolger so lange aufhalten, daß wir unsere weiteren Vorkehrungen ungestört treffen könnten.«
»Und was für Vorkehrungen sollen das sein?«
»Am Ausgang des Tunnels gegen den Wadi Chemba werde ich eine starke Sprengladung niederlegen. In weniger als zehn Minuten werden wir die achthundert Meter vom Eingang der Höhle bis zur Mündung des Tunnels durchmessen haben. Kaum sind wir im Freien, so stecken wir die Lunte an, und ehe unsere Verfolger den Ausgang erreichen, wird er durch die gewaltige Sprengung verschüttet sein.«
»Da hast du wahrhaftig alle nur denkbaren, ja sogar die fast undenkbaren Möglichkeiten ins Auge gefaßt und ihnen zu begegnen gewußt!« rief der Leutnant bewundernd. »Hoffen wir, daß die Stunde der Befreiung bald schlägt, und Gott schenke deinen Plänen Gedeihen. Also, Glück auf zu deiner Maulwurfsarbeit!«
»Geht alles gut und so wie ich hoffe,« sagte Sieger, »so wird das Entweichen bis hinter das Gebirge keine großen Schwierigkeiten bieten. Aber was dann? Bis zur ägyptischen Grenze ist es noch weit, und bis dahin erstreckt sich das Gebiet der Derwische und die Macht des Herodes.«
»Die Hauptsache wird es doch sein,« tröstete Helling, »daß wir dem Unmenschen einmal aus den Augen und aus den Klauen sind. Vielleicht wird unsere Flucht nicht so bald entdeckt und vor allem bleibt es wohl verborgen, wie sie uns gelang und wohin wir uns gewendet haben. Dann können wir einen Vorsprung gewinnen, der uns vor den Verfolgern sichert. Jedenfalls haben wir noch Zeit genug, auch für die Weiterreise Pläne zu schmieden, und im übrigen dürfen wir Gott sorgen lassen, auf dessen Schutz und Hilfe es schließlich doch allein ankommt.«
»Ja, Papa! Onkel Helling hat recht, wie immer!« sagte Johannes vertrauensvoll.
Eines Sonntags lagerten unsere Freunde nachmittags im Schatten am Bach im Margayatale.
Josef war am Samstag in Omderman gewesen und wußte von neuen Schandtaten und Grausamkeiten zu berichten, die der Kalifa begangen hatte, und über die allen schauderte.
»Papa, warum gibt es denn so böse Menschen in der Welt?« fragte Fanny. »Wenn alle so gut wären wie du und Onkel Helling und Josef, auch wie Hassan und Amina, dann müßte es doch so schön sein, dann würde niemand etwas zu leid getan, man brauchte sich nicht zu fürchten, und alle Menschen wären glücklich.«
»Ja,« fiel Johannes ein. »Und warum gibt es Krankheiten und Schmerzen, wilde Tiere und giftige Schlangen, durch die auch so viele Menschen unglücklich werden, vor denen man sich fürchten muß und die einen töten können.«
»Kinder,« antwortete Sieger, »ihr habt da eines der schwierigsten Welträtsel angeschnitten, jedenfalls das traurigste. Soll ich euch kurz Antwort darauf geben, so muß ich sagen: alles Übel kommt von der Sünde, und die Sünde ist der Menschen Verderben. Damit ist freilich eure Frage nur halb beantwortet, denn warum es böse Menschen gibt, das heißt solche, die sich von der Sünde beherrschen lassen, ist dadurch nicht erklärt.«
Helling meinte nachdenklich: »Man wird auch nicht sagen können, daß alles Übel von der Sünde herkommt: es gibt doch so viele Krankheiten und Unglücksfälle, so viele Plagen, wenn ich nur an Heuschrecken und anderes Ungeziefer denke, die uns unverschuldet treffen. Man kann doch das alles nicht als göttliche Strafe ansehen, wenigstens nicht in allen Fällen, und solch eine Deutung hat Jesus selber verworfen, etwa beim Blindgeborenen oder als er von dem furchtbaren Unglück spricht, dem plötzlichen Einsturz des Turmes zu Siloah, der achtzehn Menschen erschlug. Es ist ja auch eine Tatsache, die oft von der Heiligen Schrift betont und durch die ganze Weltgeschichte gelehrt wird, daß eben die Besten häufig am schwersten heimgesucht werden und daß der Gerechte viel leiden muß um seines Glaubens willen.«
»Das ist wohl wahr,« entgegnete der Ingenieur: »Und dennoch glaube ich, es ließe sich nachweisen, daß im letzten Grunde die Sünde die Ursache alles Übels ist, und daß es ohne Sünde auch kein Übel gäbe. Der Betroffene braucht nicht immer selber schuldig zu sein: er leidet dann eben durch die Schuld anderer.«
»Glaubst du,« fragte der Leutnant, »die Menschheit könne von allem Übel erlöst werden, ehe das Ende der Welt alles vernichtet, um ein Neues, Herrliches an Stelle des Alten, Unvollkommenen zu setzen?«
»Ja, das glaube ich, wenn wir es nur richtig anfingen!«
»Das wäre eine große Sache, ja das Schönste und Erstrebenswerteste, das sich denken läßt. Denn seit Jahrtausenden schreit die Menschheit nach Erlösung und kämpft gegen das Böse an, und doch scheint mir, als hätte weder dieses wesentlich abgenommen, noch seien die Menschen viel besser geworden.«
»Das meine ich auch,« sagte Sieger: »Die Entwicklungslehre, die einen beständigen Fortschritt nach oben annimmt, wenn auch mit unterbrechenden Rückschlägen, gründet sich doch bloß auf haltlose verstandesmäßige Erwägungen und läßt die Tatsachen außer acht, die vernunftgemäß die alleinigen Unterlagen aller wissenschaftlichen Überzeugung sein sollten. Die Tatsachen beweisen keinen wirklichen Fortschritt der Menschheit, weder leiblich, noch geistig, noch sittlich. Umsomehr wir in Erkenntnissen, Entdeckungen und Erfindungen fortgeschritten sind, umso erschreckender erscheint es, daß die Welt seit Jahrtausenden weder gescheiter, noch besser, noch glücklicher geworden ist, obgleich sich die Halbgebildeten, Unwissenden und geistig Beschränkten so laut rühmen, wie herrlich weit wir's gebracht haben.«
»Das ist wahr!« rief Helling: »Denke ich an die Vorschriften des Gesetzes Mosis über das Verhalten gegen Witwen und Waisen, Fremde und Feinde, ja gegen die Tiere, so finde ich selbst in unserer Gesetzgebung keinen Fortschritt gegenüber diesen hochsittlichen Bestimmungen. Denke ich an Josefs Verhalten gegen seine Brüder, an David und Jonathan, an die feinfühligen Züge in den Heldengesängen eines Homer oder gar der indischen Mahabharatta, so frage ich mich, ob wir wirklich Ursache haben, uns für zartbesaiteter, besser und gebildeter zu halten, als diese edlen Seelen, die uns vor Jahrtausenden schon so herrliche Vorbilder gaben? Von den ersten Christen gar nicht zu reden. Übertreffen wir heute an Verstand die großen Denker des Altertums, ist unsere Dichtung gegenüber den Psalmen Davids, der Odyssee, der Mahabharatta, dem Nibelungenlied und schließlich Shakespeare wirklich überragend? Ist unsere Malerei, Bildhauerkunst und Baukunst über alles Frühere hinausgewachsen? Übertreffen unsere Feldherren einen Alexander, einen Hannibal oder einen Kaiser Friedrich den Zweiten?«
»Es ist so,« sagte Sieger: »Die Fülle derartiger Beispiele ist unerschöpflich und demütigend, ja niederschmetternd für unseren Fortschrittswahn. Für mich aber ist die Hauptfrage: sind wir fortgeschritten in menschlichem Empfinden und selbstloser Nächstenliebe? Darin beruht ja die wahre Bildung und Gesittung.
»Ich meine, wir müssen zugeben, daß zum Beispiel die alten Griechen menschlicher fühlten und sich gesitteter zeigten, als die großen Massen unserer heutigen Völker. Sie haben wohl aus Neid einen Sokrates gezwungen, den Giftbecher zu leeren, doch brach auch das ganze Volk von Athen in Tränen aus, als es im Theater an dieses Unrecht erinnert wurde. Die Römer hatten entschieden einen größeren Hang zur Grausamkeit, ebenso das Mittelalter mit seiner Folter und seinen unmenschlichen Todesstrafen. Aber wenn ich sehe, wie gierig unser Volk sich auf bluttriefende Schundliteratur wirft, wie es nichts eifriger in den Zeitungen liest, als von Unglücksfällen und Verbrechen, wie die Leute an die Stätte eines schrecklichen Eisenbahnunfalls, einer Feuersbrunst hinströmen, nicht um zu helfen, sondern aus grausamer Neugier, so bin ich überzeugt, sie würden noch heute in Massen einen Zirkus füllen, in dem ihre Mitmenschen den wilden Tieren vorgeworfen würden, sie würden mit teuflischer Lust einer gräßlichen Hinrichtung und einer Hexenverbrennung zusehen!«
»Leider ist das kaum zu bezweifeln,« sagte der Leutnant nachdenklich: »Ich erinnere mich, daß ich einmal eine Zeitungsausträgerin, die ein durchaus schlechtes Blatt austrug, fragte, ob es viel gelesen werde? ›Freilich!‹ gab sie zur Antwort: ›Es ist das gelesenste Blatt. Es ist aber auch das unterhaltendste: in keinem anderen kommen so viele Unglücksfälle und Verbrechen.‹ Die rohen und grausamen Triebe sind bei uns eher stärker als vor Jahrtausenden, und ich glaube, wenn wieder ein Krieg ausbräche, würden wir erschrecken, wie tief es mit der gepriesenen Gesittung der Völker steht.«
Der Ingenieur seufzte: »Ja, unsere Bildung ist meist nur Tünche. Nur echte, aufrichtige Frömmigkeit vermag wahre Gesittung zu bringen. Das republikanische Frankreich hat damit öfters die Probe gemacht. Es war nämlich immer geneigt, die Religion zu bekämpfen, weil ihm die rein monarchische Ordnung des Gottesreiches zuwider ist. So wurde in Frankreich immer wieder der Religionsunterricht in den Schulen abgeschafft. Jedesmal war die unmittelbare Folge eine steigende Zahl der Verbrechen, während die Wiedereinführung des Religionsunterrichts ausnahmslos einen Rückgang der Verbrechen bewirkte. Das sind Tatsachen, die beweisen, daß alle Hetzer gegen die christliche Religion und den biblischen Unterricht, ob sie sich Religionslose, Freidenker, oder wie auch immer sonst nennen, Verbrecher an Staat, Volk und Vaterland sind. Wehe dem Staat, der ihr Treiben duldet oder ihnen gar Gehör schenkt: der Kampf gegen die Religion ist stets ein Kampf der Schlechtigkeit und geistigen Beschränktheit gegen die Sittlichkeit und Vernunft, der Gemeinheit gegen das Edle, der Halbbildung gegen die wahre Bildung, der Verblödung und Lüge gegen Vernunft und Wahrheit, er richtet sich gegen Freiheit und Glück des Volkes, um seine Versklavung und Verelendung herbeizuführen.«
»Wie denkst du dir aber die völlige Erlösung von allem Übel?« fragte nun Helling.
»Ehe wir darauf eingehen können,« erwiderte Sieger, »müssen wir uns über das Wesen des Übels, seine verschiedenen Arten, seine Wurzeln und eigentlichen Ursachen klar zu werden suchen.«
Sieger fuhr fort: »Die Arten des Übels sind schon schwer auseinanderzuhalten: leibliches Übel wird zumeist auch seelisches sein. So ist zum Beispiel körperlicher Schmerz mit Trauer, Ärger oder Ungeduld verbunden. Wir können aber auch vielerlei Übel unterscheiden, je nachdem es nur in Gedanken besteht oder sich äußert in Mienen und Gebärden, Worten oder Werken. Aber auch da ist eine strenge Trennung nicht möglich. Beispielsweise ist der Zorn zunächst innerlich, doch zeigt er sich in finsteren Blicken, drohenden Bewegungen, heftigen Worten oder feindlichen Handlungen.
»Ebenso schwierig ist die Unterscheidung zwischen vermeidlichem und unvermeidlichem Übel: so kann etwa eine Krankheit, ein Unfall selbstverschuldet sein, aber ebensogut ohne Zutun des Betroffenen ihn befallen. Selbst Sünde und Übel gehen ineinander über, denn die Sünde ist selbst ein fressendes Übel, und alles Übel, das wir anderen zufügen, ist Sünde. Dennoch müssen wir der Ordnung halber Unterscheidungen machen, wenn wir auch nicht vermeiden können, daß sie sich als mangelhaft erweisen.«
»So wollen wir einmal mit den seelischen Übeln beginnen,« schlug Helling vor: »Sie sind ja wohl die zahlreichsten. Forschen wir nach ihren Ursachen, und sage du uns dann, wie du dir die Möglichkeit ihrer Überwindung denkst.«
»Seelische Übel,« sagte Sieger, »sind zunächst solche, unter denen wir allein zu leiden haben, die aber sofort unsere Umgebung in Mitleidenschaft ziehen, wenn wir sie irgendwie äußern, sei es im Ausdruck des Antlitzes, sei es in Klagen oder Handlungen. Wer will uns solche Übel nennen?«
»Kummer und Sorgen!« rief Fanny.
»Ja, das ist schon zweierlei,« erwiderte ihr Vater: »Doch macht Kummer Sorgen und Sorgen bereiten wiederum Kummer. Leid, Betrübnis, Trauer und Traurigkeit können die verschiedensten Ursachen haben. Welche zum Beispiel?«
»Trennung von lieben Freunden,« sagte Johannes, der an die Fluchtpläne Hassans und Aminas dachte.
»Ja, scheiden tut weh! Besonders wenn der Tod uns trennt. Das ist wohl meist ein unvermeidliches Leiden, wenn es sich nicht um verschuldeten Tod oder freiwillige Trennung handelt. Aber gibt es dafür keinen Trost?«
»Wenn Freunde auseinandergehn, so sagen sie auf Wiedersehn!« bemerkte jetzt Josef.
»Das ist's!« stimmte der Ingenieur bei: »Nehmen wir an, die Menschheit wäre so fortgeschritten, daß alle Getrennten die Mittel besäßen, häufig wieder zusammenzukommen, so wäre dem Abschied alle Bitterkeit genommen. Ferner, setzen wir den Fall, daß niemand mehr sterben würde, ehe er ein hohes Alter erreicht hat, und ich hoffe später zu zeigen, daß dies nicht undenkbar ist, so wäre auch die Trennung durch den Tod nicht mehr so schmerzlich. Ja, erreichten wir wieder die hohe Stufe des Glaubens und der Hoffnung, die den ersten Christen ermöglichte, Freudenfeste zu feiern, wenn ihre Lieben ihnen in die Seligkeit vorangingen, wie könnten wir noch traurig sein, wie die Heiden, die keine Hoffnung haben? Ist unsere Trauer nicht im Grunde Selbstsucht, die nur an den eigenen Verlust denkt, statt sich für den Geschiedenen zu freuen, daß er es nun besser hat?«
»Wenn es sich aber um ein unseliges Ende handelt?« warf Helling ein.
»Das ist freilich etwas anderes. Aber das ist ein vermeidliches Übel. Jedem ist es möglich, so zu leben, daß er selig stirbt, und wir können durch Erziehung, Vorbild und Gebet viel dazu helfen. Solche Trauer scheidet aus, sobald jeder seine Pflicht erfüllt.
»Die häufigste Trauer bekümmert sich aber um armselige Nichtigkeiten, vergängliche Verluste, Kränkungen und Enttäuschungen. Sie würde überwunden durch echt christliche Erziehung, die lehrt, auf das Irdische keinen übertriebenen Wert zu legen, sich unverdienter Schmach zu freuen und verdiente zu meiden oder still zu tragen, und vor allem zu glauben, daß uns alles zum besten dienen müsse. Wären aber alle Menschen in christlicher Nächstenliebe verbunden, so würden alle Ursachen zu solchem Leid wegfallen, oder würde einem jeder Verlust ersetzt, jedes Leid verklärt.«
»Besonders schwer scheint mir die Trauer über ungeratene Kinder,« meinte der Leutnant wieder: »Aber ich gebe zu, daß auch diese durch christliche Erziehung vermeidlich wäre. Hat es an dieser nicht gefehlt, so liegt die Schuld an den Kindern selber und zugleich an denen, die sie aufreizen und verführen.«
»Wehe den Verhetzern und Verführern der Jugend!« rief Sieger: »Auch wenn sie es mit schönen Schlagworten, wie ›Jugendbewegung‹ und ›Rechte der Jugend‹, bemänteln. Fluch vor allem denen, die das Kind um eigennütziger Parteizwecke willen zum Klassenhaß reizen oder ihm die höchsten Güter, den christlichen Glauben und Religionsunterricht, stehlen. Von ihnen sagt der größte Kinderfreund: es wäre ihnen besser, daß ein Mühlstein an ihren Hals gehängt und sie ersäuft würden im Meer, da es am tiefsten ist!«
»Noch eine Trauer möchte ich nennen,« sprach Helling düster: »Vielleicht die bitterste und unheilbarste von allen: die Qual und Scham wegen eigener schwerer Schuld.«
»Ja, ein böses Gewissen und peinigende Reue sind besonders drückend. Aber für sie haben wir die Heilmittel Gnade und Vergebung, wie sie selbst einen Schächer am Kreuze beseligten. Sie sind aber auch vermeidlich. Wer sie jedoch verschuldete und die Gnade im Unglauben oder aus Hochmut zurückstößt, verfällt in Trübsinn und Schwermut, die Luther zu ›Schand und Laster‹ rechnet.
»Ist nicht auch alle Furcht und Sorge, die uns so quälen können, nichts als Mangel an Glauben und Gottvertrauen?«
»Oder eine Frucht des Aberglaubens,« ergänzte Helling: »Ich sehe ein: Scham und Schande, Geiz, Habgier und alle Laster, Raub, Diebstahl, Betrug, Lüge, Verleumdung, Mord, Totschlag und alle Verbrechen, Haß, Unfriede, Zank, Streit und Krieg müßten verschwinden, wenn wir alle von christlicher Nächstenliebe beseelt wären.«
»Ach ja! Wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!« sagte Osman und dachte an seine Schwester, Hassan und Amina.
»Und wie häßlich und töricht ist es,« fügte sein Vater hinzu, »wenn Nachbarn oder gar Verwandte und Geschwister sich selber und anderen das Leben verbittern durch Zanksucht und meist so kleinliche Streitereien und boshafte Sticheleien! Zu den schlimmsten Übeln aber gehören Neid und Eifersucht, die Klassenhaß erzeugen und Kriege entzünden.«
»Da muß man Geduld und Zufriedenheit lernen,« meinte Jussuf: »Überhaupt möchte man auch gern reich sein und es besser haben, aber braucht man es dann den Reichen zu mißgönnen, daß sie haben, was man selber möchte? Das ist doch Schlechtigkeit und auch Dummheit; denn wenn man recht hineinsieht, sind sie gar nicht glücklicher, weil sie an nichts eine rechte Freude haben, wie unsereiner schon an Kleinigkeiten und oft andere, viel schwerere Sorgen und Schmerzen leiden müssen.«
»Ja!« bestätigte Sieger: »Und Neid erzeugt Haß, das Häßlichste, was es gibt. Es ist das Teuflischste und Gemeinste, wie die Liebe das Göttlichste und Edelste ist. Liebe beglückt den Gebenden und Empfangenden und bessert beide. Haß macht den Hassenden und Gehaßten unglücklich, er kann weder Menschen noch Zustände bessern, sondern verschlimmert alles und führt zur Verwilderung und Verrohung. Er ist stets ein Zeichen geistigen und sittlichen Tiefstandes, und die verderblichsten Krebsgeschwüre der menschlichen Gesellschaft sind diejenigen, die zum Haß aufreizen oder sich dazu aufreizen lassen.«
»Und der häufigste und giftigste Haß trifft den Schuldlosen,« bemerkte der Leutnant: »Der Böse haßt den Guten, der Dumme den Weisen, und nicht umgekehrt: das Gefühl der Minderwertigkeit und das schlechte Gewissen treiben dazu, den höher Stehenden zu hassen: ach! das habe ich an mir selber erfahren! Auch ich haßte einen, der so viel besser war als ich!«
»Beschwere dich nicht mit dem, was du bereust,« tröstete ihn Sieger. »Aber Tatsache ist, daß Haß ein Zeichen von Schlechtigkeit und Dummheit ist. Manchmal fiel ein Tyrann dem Mordstahl zum Opfer, aber meist waren es die Besten und Schuldlosesten, die der Haß mordete oder zu morden versuchte: ich nenne nur Sokrates, Jesus, Heinrich IV. von Frankreich, Philipp von Schwaben, Ludwig XVI., Marie-Antoinette, Abraham Lincoln, Zar Alexander, König Humbert, Kaiser Wilhelm I. und Kaiserin Elisabeth von Österreich.«
»Solche Fälle,« sagte Helling, »bestätigen uns, daß die schroffen Klassengegensätze von unten, nicht von oben kommen, und erst durch gewissenlose Hetzer, die nur ihren eigenen Vorteil suchen, erzeugt oder verschärft werden! Sie könnten ausgeglichen werden, indem die unteren Volksschichten gehoben würden, wenn in der Schule mehr Gewicht auf wahre Bildung und anständiges Benehmen gelegt würde als auf Vielwisserei. Dies geschieht in anderen Ländern, wo auch so schroffe Gegensätze oder gar ein solcher einseitiger Klassenhaß infolgedessen unbekannt sind. So, wie es bei uns steht, fordert der auf niedrigerer Bildungs- und Sittlichkeitsstufe Stehende von den Höherstehenden, daß sie herabsteigen in seine Gemeinheit, statt daß er den Gegensatz dadurch ausgliche, daß er sich bemühte, eine höhere Stufe der Bildung und Gesittung zu erreichen. Und deshalb eben ist die Kluft so unüberbrückbar und der Haß so giftig und unversöhnlich, weil der Höherstehende, bei allem guten Willen zur Verbrüderung, sich unmöglich dazu verstehen kann, roh und gemein zu werden, nur um die Rohen und Gemeinen mit sich auszusöhnen.
»Und wie dieser künstlich durch Verhetzung erzeugte Klassenhaß ist der Völkerhaß, der auch durch beständige absichtliche Verhetzung geschürt wird: immer ist es das minderwertige, geistig, sittlich und an Bildung niedriger stehende Volk, welches das überlegene, höherstehende haßt, und nie umgekehrt. Das haben wir selber so oft erfahren. Überhaupt hassen diejenigen, die Andern Unrecht zufügten, aus heimlichem Schamgefühl und schlechtem Gewissen, diese viel unversöhnlicher, als sie von ihnen gehaßt werden.
Über all den Gesprächen war die Sonne untergegangen und es dunkelte rasch, so daß Sieger sagte: »Es ist Zeit, daß wir uns heimbegeben: ich sehe schon, daß wir heute doch nicht mit dem Übel in der Welt fertig werden!«
»O Papa!« bat Fanny: »Sieh doch: gerade steigt der Mond so silberhell über den Bergrand. Laß uns noch eine Weile im Mondschein hier weilen und plaudern: das muß herrlich sein!«
Die anderen stimmten ein, und der Ingenieur gab gerne nach. Und das sollte allen das Leben retten.
Sie plauderten noch eine volle Stunde über andere Dinge, als plötzlich ein furchtbarer Schlag erfolgte. Die Felsen erbebten und ein roter Feuerschein blitzte an ihnen auf.
Emin Gegr um Salama war bitter enttäuscht, daß sein Anschlag auf Siegers Leben mißglückt war. Er war überzeugt, daß der Ingenieur kein anderer sei, als Otto, der Bruder des Leutnants Siegmund von Helling.
Otto von Helling war auch Offizier gewesen, aber Emil Geigers Haß hatte ihn aus seiner Laufbahn geworfen unter Umständen, welche die allgemeine Vermutung, er habe freiwillig seinem Leben ein Ende gemacht, äußerst glaubwürdig erscheinen ließen. Auch Geiger hatte das geglaubt. Er hatte aber keine Ruhe, bis er Siegmund ebenfalls aus dem Leben geschafft hätte.
Zu diesem Zwecke hatte er sich an seine Fersen geheftet und war ihm heimlich nach Khartum gefolgt. Die arabische Sprache beherrschte er schon seit jüngeren Jahren, da er viel im Orient gereist war, was ihm seine damaligen Reichtümer gestatteten. Nun hatte er sich ganz in einen Araber verwandelt, um seine Absichten leichter verwirklichen zu können. Der neue Name »Emin Gegr«, den er sich nunmehr beilegte, war ja mühelos aus »Emil Geiger« gebildet, doch, da es ein echter arabischer Name war, konnte gewiß niemand, der ihn nicht kannte und erkannte, aus diesem Namen seinen ursprünglichen erraten. Auch den mohammedanischen Glauben hatte der Schurke leichten Herzens angenommen, wenigstens äußerlich: im Grunde glaubte er ja nichts, und deshalb machte ihm ein Glaubenswechsel keinerlei Bedenken.
Am Abend vor dem Fall von Khartum, zu dem sein Verrat ja mitgeholfen hatte, erblickte er Sieger zum erstenmal. Es stand ihm nun fest, daß Otto von Hellings Verschwinden keinem Selbstmord zuzuschreiben war, und das erklärte ja auch, daß seine Leiche niemals entdeckt wurde. Der frühere Offizier hatte sich, jede Spur seines früheren Daseins verwischend, einfach heimlich in den Sudan begeben, den Namen Albert Sieger angenommen und die Ingenieurslaufbahn ergriffen. Allerlei technische Kenntnisse hatte er sich früher schon angeeignet, da er besonderes Interesse und Geschick dafür besaß. Er war auch, wie sein Bruder Siegmund, jahrelang bei der Luftschifferabteilung gewesen und später bei den Pionieren. Lerneifrig und hochbegabt, wie er war, konnte er sich leicht noch so viel Kenntnisse aneignen, daß er die Rolle eines Ingenieurs spielen konnte, ohne Verdacht zu erregen. Wenigstens hier im Sudan war dies möglich, in Deutschland wäre es wohl erheblich schwieriger gewesen. So konnte man sich alles leicht zurechtlegen.
Übrigens fiel es Emil Geiger oder Emin Gegr nicht ein, über diese Einzelheiten nachzugrübeln: ihm genügte es vollkommen, daß er beide Brüder in der Nähe hatte, unter Umständen, die es ihm wesentlich erleichterten, sich an ihnen zu rächen. Sie waren Gefangene, die nicht vom Platze weichen konnten, und er selber war neuerdings beim Kalifa gut angeschrieben. Zwar wollte Abdullahi vorerst nichts davon wissen, daß ihnen Schaden zugefügt werde; denn eine Kanonenfabrik war für ihn von höchster Wichtigkeit, und er hatte niemand anders zur Hand, von dem er hoffen konnte, daß ihm die Herstellung von Geschützen gelingen könnte. Immerhin konnte Emin die Brüder verdächtigen und verleumden, und so vielleicht später den Wüterich dazu bringen, sie hinrichten zu lassen, namentlich wenn sie keine brauchbaren Kanonen lieferten. Und daß dies, sei es aus Unvermögen, sei es aus Absicht, der Fall sein werde, erschien ihm mehr als wahrscheinlich.
Dennoch verließ er sich nicht auf diese Möglichkeiten, sondern handelte auch selbständig. Es gab für einen findigen Kopf Mittel genug, unter den obwaltenden Verhältnissen sein mörderisches Ziel zu erreichen. Schlug ein Anschlag fehl, so wurde eben ein neuer ersonnen.
Vor allem war es Emil wichtig, einmal die Fabrikgebäude genau auszukundschaften, um besser beurteilen zu können, wie den beiden beizukommen sei, und das war der Grund, warum er sich am heutigen Nachmittage nach dem Margayatale begab.
Er trat in das Wächterhaus, in dem der Bimbaschi träge auf einer Ottomane hingestreckt lag, seine Nargileh, das heißt Wasserpfeife, rauchend. Drei Wächter lungerten auf dem teppichbelegten Boden umher und schmauchten ihre Tschibuks.
»Allah segne deine rastlose, harte Arbeit!« sagte der Eintretende zum Hauptmann.
»Der Prophet schütze jeden deiner Schritte, Emin Gegr um Salama, du würdiger Liebling des Kalifa!« lautete die Antwort.
»Der erhabene Herr sendet mich her mit einem Auftrag an Abd el Ziger, den Vater der Kanonen. Weilt er in der Fabrik oder ergehen sich seine müßigen Schritte in den Gefilden der Margayaberge?«
»O würdiger Vater der leeren Augenhöhle, Abd el Ziger befindet sich nicht in den Stätten der Arbeit, denn es ist heute sein Tag der Ruhe, und weil er der Herr dieser Werke ist, befindet sich auch kein Arbeiter darinnen; denn er schenkt allen Ruhe am Feiertag der Christen. Dein Knecht Raschid bin Karam allein hat keine Ruhe bei Tag und Nacht, denn er ist vom erhabenen Herrscher, dessen Leben Allah erhalte, zum Wächter bestellt. Abd el Ziger lustwandelt auch nicht in den Gefilden der Wüste, sonst wären wir nicht hier, da wir ihm folgen, wie sein Schatten, wenn er seine Behausung verläßt.«
»Deine Rede ist voll Weisheit und Verstand, o Bimbaschi Raschid, doch verzeihe, wenn Emin Gegr keinen so scharfen Geist besitzt, sie zu deuten. Abd el Ziger ist nicht drinnen, aber auch nicht draußen? Geruhe, durch deine lichtvollen Worte mich zu erleuchten, daß ich den Sinn deiner Rede erkennen möge.«
»Der Herr der Fabrik ruht nach seiner Gewohnheit mit den Seinen in der Schlucht der unersteiglichen Felsen, wo er frei ist zu wandeln und zu weilen, ohne daß wir uns mit seiner Aussicht zu bemühen brauchen. Denn nur ein Vogel kann über ihre Mauern entfliegen, der Vater der Kanonen ist aber kein Vater der Flügel.«
»Wann wird er wieder in sein Haus zurückkehren?«
»Sobald das Gestirn des Tages hinter den Felsen versinkt, pflegt er sich in sein Wohngemach zurückzubegeben mit Ismain el Heliki, Osman, Fatme und Jussuf, seinem Diener. Aber bis dahin sind es noch zwei Stunden, und wenn du ihn in der Schlucht aufsuchst, so wirst du in fünf Minuten bei ihm sein.«
»Gut, so werde ich mich zu ihm bemühen, denn ich werde lange mit ihm zu reden haben. Allah sei mit dir, bis ich wiederkehre.«
Emin Gegr durchschritt die Mauer durch das Tor im Hintergrund des Wächterhauses.
»Besser konnte ich es nicht treffen,« sagte er vor sich hin: »Die Fabrik und die Wohngemächer sind leer und zwei Stunden habe ich Zeit, sie unbemerkt zu durchforschen. Werde ich dabei überrascht, so wäre mir dies freilich unangenehm. Aber sie werden mich nicht erkennen, denn keiner von ihnen hat mich gesehen, seit mich Siegmund, der Schuft, so entstellt hat. Er sah mich freilich mit der Wunde, die er mir beibrachte, aber nur einen Augenblick, und seit sie vernarbt ist, würde mich meine eigene Mutter nicht mehr erkennen. Es laufen auch noch mehr Einäugige in der Welt herum, und wie können sie mich im Sudan vermuten?
»Also, kommen sie vor der Zeit ins Haus zurück, so schwindle ich ihnen irgend einen Auftrag vom Kalifa vor und sage, ich habe sie im Gebäude gesucht, oder ich sei neugierig gewesen, die Räume der Fabrik zu besichtigen.«
Unter solchen Selbstgesprächen war er in das weitläufige Bauwerk gelangt. Zu ebener Erde befanden sich die Fabrikräume, in denen schon nahezu fertige Kanonenrohre zu sehen waren. Im ersten Stock zeigten sich Arbeitssäle und Vorratskammern. Emin hielt sich hier nicht lange auf.
Im zweiten Geschosse fand er die Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Speisekammer. Jedes Gemach hatte eine Glastüre, durch die man auf eine breite Altane hinaustrat, von der aus man weit über die niedrigere Sperrmauer des Tales hinwegsehen konnte. Das Torwächterhaus vermochte man natürlich von hier nicht zu sehen: die Mauer entzog es den Blicken.
Auf der Terrasse befand sich ein schattiger Garten: da waren zahlreiche mit Betonmauern eingefaßte Beete, in denen meterhoch Erde aufgeschüttet war. Palmen, Orangen- und andere Obstbäume gediehen hier prächtig.
Die Aussicht dehnte sich bis zum Horizonte aus: im Osten und Norden übersah man das Hüttenmeer von Omderman, die Ruinen von Khartum mit seinen schönen Gärten und üppigen Dattelpalmenwäldern am schimmernden Nil; im Süden breitete sich die Wüste aus, in der man die Ziegelei und die Glashütte erblickte.
Emin Gegr begab sich in das mittlere Zimmer zurück, das durch seine Einrichtung und die umherliegenden Gebrauchsgegenstände unverkennbar als das Wohnzimmer der Familie sich kennzeichnete. Daneben war Siegers Arbeitsstube. Hier fand sich an der Wand ein Schlüsselbrett, an dem fünf große Schlüssel hingen.
Ohne Bedenken nahm sie der Eindringling an sich: er vermutete, sie möchten ihm den Zugang zu den für ihn wichtigsten Räumen eröffnen.
Nun eilte er in die Kellergelasse hinab.
Richtig! Der eine Schlüssel paßte zu der Kellertüre!
Die weiten Hallen, in denen Erzeugnisse der Fabrik, Fässer und Vorräte verschiedenster Art lagerten oder aufgestapelt waren, durchmusterte der Späher nur flüchtig. In der letzten derselben fand sich eine besonders starke Türe in der südlichen Felswand, an die der Fabrikbau stieß. Auch in ihr Schloß paßte einer der Schlüssel.
Emin öffnete. In einer Nische befand sich eine wohlverwahrte Sicherheitslaterne, Streichhölzer lagen dabei. Schnell entzündete der Schurke die Laterne und verfolgte den mäßig ansteigenden Felsengang in einer Länge von etwa fünfzig Metern. Hier bog ein zweiter Gang in scharfem Winkel rechts ab, während der erste noch zehn Meter weiter führte, um in einer hohen, leeren Halle zu endigen.
Auch links zeigte sich noch ein ebenso langer Tunnel, der ebenfalls in ein leeres Gelaß mündete.
Emin untersuchte nun den Korridor zur Rechten. Dieser lief noch zwanzig Meter in den Felsen hinein, etwas stärker ansteigend. Dann verschloß eine schwere Holztüre den Weg.
Aber der Spion besaß den Schlüssel und trat bald in ein besonders hohes, aus dem Felsen gehauenes Gewölbe. Hier stand Faß an Faß und alle waren mit Inschriften versehen, die den Inhalt angaben.
»Aha! Hier werden die Sprengstoffe verwahrt!« murmelte Um Salama.
Von dieser Halle strahlten nach allen Seiten breite und hohe Gänge aus, die sämtlich nach kurzem Verlauf in leere Räume einbogen.
»Äußerst scharfsinnig und vorsichtig!« sagte der Einäugige mit unwillkürlicher Bewunderung: »Diese Sackgassen, wie die beim Hauptgang, sind offenbar alle dazu bestimmt, den Sprenggasen möglichst Raum zu gewähren, wenn durch irgend einen Zufall das ganze Lager in die Luft ginge. Dadurch würde die Gewalt des Luftdrucks derart verteilt und geschwächt, daß der Fabrik keinerlei Gefahr drohen könnte, auch wenn die Türe zum Keller noch gesprengt würde. Wahrhaft genial! Aber halt! Da kommt mir ein ausgezeichneter Gedanke! Deine ganze Vorsicht soll dich nichts nützen, schlauester der Ingenieure: der Geiger wird dich heute noch mit deiner ganzen Sippschaft in die Luft sprengen!«
Er rollte ein Faß zur Türe hinaus, die er für alle Fälle wieder verschloß, während die Tonne langsam den abschüssigen Weg weiter rollte. An der Biegung brauchte er sie nur zu wenden und ihr einen kleinen Anstoß zu geben, und sie kugelte gemächlich bis in den Keller. Hier befanden sich ganze Rollen Lunten.
Emin schnitt ein langes Stück ab, das etwa anderthalb Stunden glimmen mußte. Dann verschloß er die Türe zum Felsengang, rollte das Faß bis zum Mittelraum des Kellers, legte die Lunte und glimmte sie an.
»So!« sagte er mit teuflischer Befriedigung: »Es ist noch eine halbe Stunde bis Sonnenuntergang. Eine Stunde nach Einbruch der Nacht, wenn ihr ganz gewiß alle im Wohngemach gemütlich versammelt seid, werdet ihr eine plötzliche Himmelfahrt antreten!« Und er lachte höhnisch auf.
Nun verließ er die Kellergewölbe, schloß die Türe, begab sich nach oben, brachte die fünf Schlüssel, von denen ihm drei so treffliche Dienste geleistet hatten, wieder sorgfältig an ihren Platz, damit ihr Fehlen keinen Verdacht errege, der leicht eine Nachschau und damit das Scheitern des Mordanschlags zur Folge hätte haben können. An jedem Schlüsselring hing ein viereckiges Stück Pappe mit einer Nummer. Ebenso waren die Haken am Schlüsselbrett numeriert, so daß es leicht war, jeden an den richtigen Platz zu hängen.
Jetzt machte sich der Mordbube rasch aus dem Staube, froh, die ganze Zeit unbemerkt geblieben zu sein.
»Deine Botschaft war nicht leicht auszurichten,« bemerkte der Bimbaschi.
»Wir haben uns auch noch von andern Dingen unterhalten,« erwiderte Emin. »Siehst du Abd el Ziger oder jemand der Seinigen noch, so wünsche ihnen nochmals eine gute Nacht von Emin Gegr um Salama.«
»Oh, mein Auge schaut heute niemand mehr: keiner verläßt mehr das Haus um diese Zeit, zumal am Feiertag der Christen.«
Ein Lächeln der Befriedigung überflog des Einäugigen widerliches Antlitz: das hatte er noch wissen wollen. Jetzt würden sie nichts von seinem Besuch erfahren und ungewarnt ihrem gräßlichen Geschick verfallen.
Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung, davon gesagt ist durch den Propheten Daniel ... Diese Worte Jesu fielen unsern Freunden ein, als sie durch den Donner der furchtbaren Sprengung aus ihrer behaglichen Ruhe im Mondschein aufgeschreckt wurden, der Fabrik zueilten, und beim Biegen um die Felsenecke einen rauchenden Trümmerhaufen vor sich sahen, aus dem einzelne Flammen emporzüngelten.
Der mittlere Teil des Gebäudes war vollständig zerstört, während die beiden Flügel noch aufrecht standen.
»Es ist genau so, wie der Prophet Daniel sagt,« sprach Sieger nach einer geraumen Weile allgemeinen stummen Schreckens: »Und bei den Flügeln werden stehen Greuel der Verwüstung.« Dann aber raffte er sich auf und fuhr fort: »Kinder, das ist eine wirklich wunderbare Bewahrung! Wären wir nicht ganz gegen unsere Gewohnheit noch über eine Stunde in der Nacht draußen geblieben, so wäre keines von uns mehr am Leben. Lasset uns Gott danken für seine gnädige Fügung!« Und nun sprach er ein warmes Dankgebet.
Die aufgetürmten Trümmer machten das Betreten des Hauses unmöglich, und es galt erst, sie wegzuräumen, um sich Bahn zu schaffen. Das war eine schwere Arbeit, denn es gab da einzelne recht große Mauerstücke unter kleineren Brocken und Schuttmassen.
Immerhin gelang es den drei kräftigen Männern, Sieger, Helling und Josef, mit Aufbietung ihrer ganzen Kraft, auch die schwersten Steine wegzuwälzen. Sie arbeiteten die ganze Nacht, während Fanny und Johannes sich unter einem vorspringenden Felsen schlafen legen mußten.
Nach Sonnenaufgang gönnten sich auch die Männer einige Stunden Ruhe, ehe sie ihr anstrengendes Werk fortsetzten, denn es gab noch viel Arbeit, bis der Zugang so weit freigelegt war, daß man das Innere des Gebäudes betreten konnte.
Schon in der Nacht hatten übrigens hundert Hände begonnen, auch auf der andern Seite die Aufräumungsarbeiten in Angriff zu nehmen.
Die faulen Wächter hatten sich gestern frühzeitig zum Schlaf niedergelegt, nachdem sie das Tor, wie üblich, fest verwahrt hatten. Sie konnten des Nachts getrost schlafen, da der einzige Ausgang von der Fabrik her durch ihr Wachlokal führte, und der Bimbaschi zu aller Vorsicht sein Lager immer quer vor die Torflügel rückte.
Kaum aber waren sie eingeschlummert, als der heftige Knall sie jäh auffahren ließ. Das war ein Poltern und Krachen! Einzelne Trümmer flogen weit über die Sperrmauer und ein gewaltiger Stein durchschlug das Dach des Wächterhauses und fiel zwischen den entsetzten Arabern nieder, glücklicherweise ohne einen zu treffen.
Erst als wieder völlige Stille wurde, wagten sie das hintere Tor zu öffnen und nun sahen sie im hellen Mondschein das Bild der Verwüstung. Fast der ganze Zwischenraum zwischen der Mauer und dem Fabrikgebäude war hoch mit Schutt und Trümmerhaufen angefüllt. Auch Flammen sah man emporzüngeln, doch erloschen sie bald, denn alles war aus Stein und Backsteinen erbaut, und die brennbaren Stoffe der Inneneinrichtung waren unter den unverbrennlichen Massen derart verschüttet, daß nur einzelne Teile so viel Luftzutritt hatten, um verbrennen zu können. Die feuergefährlichen Vorräte in den Kellerräumen waren offenbar von der Explosion nicht berührt worden.
»Allah!« rief Raschid bin Karam, als ihm die Sprache wiederkehrte: »Sie sind alle tot, unter dem Schutt begraben. So geht es, wenn die Vermessenheit schwacher Menschen Kanonen bauen will und verderbliche Stoffe anhäuft, in denen die Blitze des Himmels verborgen ruhen. Ein Wink des Höchsten läßt die Blitze herausfahren zu ihrem eigenen Verderben. Es tut mir wahrhaftig leid um die Ungläubigen, denn wenn ihre Seelen auch verdunkelt waren, daß sie den wahren Glauben nicht erkannten, so waren sie doch gut und taten niemand etwas zuleide. Allah sei ihnen gnädig!«
»Es ist wahr,« sagte der Wächter Selim mit aufrichtiger Betrübnis: »Und die Kinder waren wie die Huris des Paradieses: ihr Anblick war Lust den Augen und ihre Rede Balsam dem Herzen.«
Und Halef fügte hinzu: »Osman war wie ein junger Löwe und Fatme gleich der schlanken Gazelle und ihr Gesang beschämte die Stimme Bülbüls.«
»Gehe hin und wecke die Arbeiter!« befahl der Bimbaschi dem Selim: »Und ihr, Halef und Hussein, leget gleich Hand mit mir an: wir müssen die verschütteten Leichen ausgraben, um sie bestatten zu können.«
Selim eilte von dannen. Er brauchte die Arbeiter nicht zu wecken, das hatte schon der erste, erderschütternde Knall besorgt. Als sie jetzt erfuhren, welch furchtbares Unglück sich ereignet hatte, und daß ihr Herr mit den Seinigen ihm zweifellos zum Opfer gefallen sei, trauerten sie alle und beeilten sich, die Aufräumungsarbeiten vorzunehmen.
Raschid bin Karam hatte inzwischen schon damit begonnen, unterstützt von Hussein und Halef. Ganz gegen seine Gewohnheit legte der Bimbaschi selber mit Hand an, während er zugleich die andern anfeuerte, so rasch als möglich zu arbeiten.
»Aber nicht allzu hastig!« rief er den Arbeitern zu: »Traget alles vorsichtig ab, daß kein Stein den Halt verliert und die Trümmer nicht in sich zusammenstürzen. Es gibt Beispiele, da der Schutz Allahs, des Allgütigen, Verschüttete unter den Trümmern ihres Hauses am Leben erhielt, bis sie befreit wurden, und vor allem Kinder unversehrt unter deckendem Gebälk bewahrte.«
So wurde ebenso schnell wie umsichtig gearbeitet, und da der Kräfte so viele am Werk waren, ging es auch rasch voran.
Auch in Omderman war die Explosion vernommen worden, und noch in der Nacht strömten viele Neugierige und auch manche ernstlich Besorgte herbei, Hassan und Amina allen voran. Ihr Schreck und ihre Trauer waren unbeschreiblich, als sie erfuhren, was geschehen war. Hassan machte sich sofort mit an die Arbeit und mancher andere bot seine Dienste an. Wenn nun auch kein Raum für alle Helfer war, sich am Rettungswerk zu beteiligen, so konnten doch die ermüdeten Arbeiter jeweilig abgelöst werden, so daß keine Unterbrechung in der emsigen Tätigkeit eintrat.
Inzwischen hatten auch Sieger, Helling und Josef auf der anderen Seite die Arbeit wieder ausgenommen, gestärkt durch kurzen Schlaf. Johannes und Fanny halfen nach Kräften mit. Ihr Frühstück hatte freilich nur aus einem Trunk frischen Wassers bestanden; doch die Aufregung ließ sie den Hunger kaum empfinden.
Der Lärm und die Rufe im Taleingang belehrten sie, daß ihnen von dort aus zu Hilfe gekommen wurde, und das war für sie ein großer Trost und kräftiger Ansporn.
Sieger benutzte einen Augenblick verhältnismäßiger Stille, um mit lauter Stimme hinüberzurufen: »Wir sind alle am Leben, durch Allahs Gnade! Machet voran, daß die Bahn frei werde.«
Als die Menge bei der Mauer seine Stimme vernahm, trat sofort lautlose Stille ein und Sieger wiederholte seine Worte. Da brach ein Jubel aus, der unseren Freunden warm zu Herzen ging, denn sie ersahen daraus, welche Teilnahme ihr Schicksal erweckt hatte und welche Liebe ihnen von vielen ihrer Leute entgegengebracht wurde.
In der Tat freuten sich die Araber fast alle von Herzen, als ihnen die unerwartete Kunde wurde, daß sämtliche Europäer dem Verderben entronnen seien, und diese Gewißheit trieb sie zu nur um so rüstigerer Tätigkeit an. Einer, dem diese Botschaft eine schwere Enttäuschung sein mußte, hatte sich wohl gehütet, sich an den Ort seiner schwarzen Tat zu begeben. Er sollte noch bald genug das Fehlschlagen seines Mordanschlags erfahren.
Es ist begreiflich, daß der Bimbaschi und seine Wächter über dem jähen Schrecken den Besuch Emin Gegrs völlig vergessen hatten, der ihnen überhaupt kein irgend bemerkenswertes Ereignis gewesen war.
Mit keinem Gedanken hätten sie daran gedacht, daß die Explosion, die sich erst über eine Stunde nach seiner Entfernung ereignet hatte, mit diesem Besuche zusammenhängen könne. Sonst hätten sie sich wohl dieses immerhin ungewöhnlichen Vorkommnisses erinnert. Aber sie dachten eben nur an das Nächstliegende, nämlich, daß der Unfall die Folge einer Unvorsichtigkeit bei der Aufbewahrung der gefährlichen Sprengstoffe sein müsse.
Drüben stieß Sieger einen Jubelruf aus, in den die Seinen alsbald einstimmten: unter dem Schutt hatten sie die Bibel völlig unversehrt gefunden.
»Gott sei Dank!« rief der Ingenieur: »Das war meine größte Sorge, daß wir diesen köstlichsten Schatz verloren hätten. Es ist ja unser einziges Buch, aber eben dasjenige, das uns alle andern am leichtesten vermissen läßt, weil es doch das schönste, beste und unentbehrlichste ist. Alles andere, das der Zerstörung zum Opfer fiel, kann wiederhergestellt oder ersetzt werden, so viel Mühe und Zeit es kosten mag. Unsere Bibel jedoch wäre ein unersetzlicher Verlust gewesen. Sehet, wie gut es der himmlische Vater mit uns meint, daß er uns diese Lebensquelle nicht rauben ließ.«
Am späten Nachmittag wurde die Verbindung mit der Außenwelt so weit frei, daß man über den verbleibenden Schutthaufen hinüber und herüber konnte.
Das war eine Freude auf beiden Seiten: besonders Hassan und Amina lachten und weinten, als sie ihre Freunde wohlbehalten sahen und Osman und Fatme umarmten. Jetzt konnten sich die Geretteten auch mit Speise und Trank stärken und die unversehrten Schlafzimmer wurden vor Abend wieder zugänglich gemacht, so daß sie bezogen werden konnten.
Die Ursache des furchtbaren und doch so glücklich abgelaufenen Unglücks war Sieger völlig rätselhaft, angesichts der so trefflichen Vorsichtsmaßregeln, die er getroffen hatte, um derartige Unfälle unmöglich zu machen. Bald konnte auch festgestellt werden, daß die Kammer mit den Sprengstoffen, sowie ihre Zugänge durchaus unberührt geblieben waren. Alles war wohlverschlossen. Die Schlüssel hatten sich alle mit dem zersplitterten Schlüsselbrett in den Trümmern gefunden.
Erst viel später erwähnte der Bimbaschi Raschid bin Karam einmal zufällig den Besuch Emin Gegrs am Unglückstage, als er ihm infolge irgend eines Umstandes wieder einfiel. Sieger erfuhr nun, daß der Mensch gegen anderthalb Stunden im Fabrikgebäude geweilt hatte. Der Bimbaschi meinte freilich, er sei beim Ingenieur in der Schlucht gewesen, und dieser fand es nicht nötig, dem Araber mitzuteilen, daß dies nicht der Fall gewesen sei, daß er den Einäugigen überhaupt nicht zu Gesicht bekommen habe, von dem er schon so viel Schlimmes gehört hatte, ohne ihn jemals gesehen zu haben. Ihm selber war es nun klar, daß es sich wiederum um einen Anschlag dieses Schurken handeln müßte. Wie er jedoch die Sache bewerkstelligt habe, konnte er nicht erraten, da der Zugang zu den Sprengstoffen so gut verwahrt gefunden worden war, und bei der großen Zahl der im Gewölbe befindlichen Fässer das Fehlen eines einzigen nicht bemerkt wurde.
Da waren nichts als unlösbare Rätsel: Sieger konnte sich gar nicht denken, daß er sich je einen Menschen ernstlich verfeindet habe. Und hier hatte er offenbar einen wütenden Todfeind, den er gar nicht kannte, ja den er nie gesehen hatte. Denn nach der Beschreibung, die ihm von dem Einäugigen gegeben wurde, mußte dieser ein so auffallendes und abschreckendes Äußere haben, daß sein auch nur einmaliger Anblick nicht wieder vergessen werden konnte.
Dieser rätselhafte, unheimliche Mensch war es, der den Scharfschützen Ali bin Said meuchelmörderisch gedungen hatte, Sieger zu erschießen. Derselbe hatte nun einen Teil der Fabrik in die Luft gesprengt, offenbar in der Absicht, die Insassen ums Leben zu bringen. Was für Gründe konnte dieser tödliche Haß haben?
Jedenfalls galt es, vor dem Verfolger auf der Hut zu sein.
Der Wiederaufbau der Fabrik wurde sofort in Angriff genommen. Es dauerte Wochen, bis alles wieder im alten Stande war und auch der Garten auf der Terrasse wieder in seiner vorherigen Pracht, lückenlos und wohlgepflegt das Auge erfreute.
Noch ehe es so weit war, begannen unsere Freunde wieder, ihre Sonntagnachmittage in der Schlucht zuzubringen, was ihnen in der ersten Zeit etwas entleidet war. Es wurde aber fortan stets eine Wache im Fabrikgebäude zurückgelassen, wenn alle Europäer dasselbe verließen. Zu Wächtern wählte der Ingenieur die treuesten und zuverlässigsten seiner Arbeiter aus, namentlich Ali bin Said, der selber darum gebeten hatte, da er ganz besonders für das Wohlergehen seines neuen Herren, den er einst hatte morden wollen, besorgt war.
Das nächste Mal, daß unsere Freunde wieder gemütlich am Bache lagerten, begann Helling: »Wollen wir nicht unser Gespräch über das Übel in der Welt fortsetzen, mit dem wir das letzte Mal nicht zu Ende kamen?«
Sieger lachte: »Zu Ende?« sagte er: »Wir sind schon ganz im Anfang stecken geblieben, denn wir haben im wesentlichen nur vom seelischen Übel geredet, soweit es in Gedanken und Vorstellungen besteht. Und selbst das haben wir weit nicht erschöpfend behandelt. Bei den argen Gedanken, die wir über unsere Mitmenschen hegen, haben wir viele der schlimmsten außer acht gelassen, wie etwa falschen Verdacht, ungerechtfertigtes Mißtrauen, Zweifel, Unglauben und so manches, dessen Aufzählung allein schon zu weit führen würde. Aber es genügt für unsere Zwecke, zu wissen, daß dies vermeidliche Übel sind, wenn alle Menschen so treu, wahrhaftig und zuverlässig wären, daß sie einen nie täuschen und enttäuschen würden, und die rechte Liebe zu Gott und zum Nächsten unsere Herzen beherrschte.«
»Also gehen wir zum Bösen über, das sich in Mienen und Gebärden äußert,« schlug der Leutnant vor. »Wer weiß solches zu nennen?«
»Wenn man einen so finster und böse ansieht, wie die schlechten Menschen,« meinte Fanny. »Oder wenn man einem mit der Faust oder dem Messer oder gar mit der Flinte droht, daß man so Angst bekommt, wenn es auch nur Spaß ist.«
»Ja, das sind schlechte, gottlose Spässe,« sagte Sieger, »die oft zum bittersten Ernst führen und schwere Unglücksfälle im Gefolge haben. Aber alle bösen Gebärden sind vom Übel. Wie weh kann uns schon allein die kalte Miene eines geliebten Menschen tun! Und vollends zur Schau getragene Unfreundlichkeit oder gar spöttische, höhnische Gebärden, und wenn sie sich nur in einem Zucken um die Mundwinkel äußern. Wie war dem Erzvater Jakob zu Mut, da es heißt: ›Und Jakob sahe das Angesicht Labans, und siehe, es war nicht gegen ihn wie gestern und ehegestern.‹ Diese schmerzliche Beobachtung genügte, um ihn in die Flucht zu treiben. Der unwillige, mürrische Ausdruck eines Gesichtes kann die hoffnungsvolle Bitte um einen Gefallen in unserer Kehle ersticken und uns bewegen, auf die Hilfe zu verzichten, die uns so notwendig wäre, uns aber nur so ungern geleistet wird, daß sie uns nur quälen würde.«
»Und nun gar, wenn uns Zorn, Wut oder Haß aus einem Antlitz entgegengewittert,« bemerkte Helling wieder, »wie es vom ersten Brudermörder heißt: ›Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärden verstelleten sich‹«
»Vergessen wir nicht die häßlichen, unanständigen Gebärden, die nicht nur widerlich, sondern gemütsvergiftend wirken können, besonders auf die kindliche Unschuld,« nahm der Ingenieur wieder das Wort, »ferner Trotz und Widerspenstigkeit im Angesicht eines ungehorsamen Kindes, üble Laune oder der beständig schwer leidende Ausdruck, in dem sich gewisse Frauen gefallen, besonders solche, die gar nicht schwer zu leiden haben, mit dem sie nur Mitleid und Bedauern erregen und veranlassen wollen, daß alles sich um ihre Person drehe, und mit dem sie ihrer Umgebung, namentlich dem bedauernswerten Gatten jede Freude vergällen. Solche traurige Geschöpfe mahnt eine sonnige Schriftstellerin: ›Lauf nicht den ganzen Tag umher, Wie ein geschundner Märtyrer!‹«
»Damit kommen wir auf die heuchlerischen Gebärden, die mir vor allen anderen zuwider sind,« rief Onkel Siegmund: »Die süßen, katzenfreundlichen Mienen, denen man die Falschheit ansieht, das ewige Lächeln, das auf manchen Gesichtern versteinert zu sein scheint, frommer Augenaufschlag mit betend bewegten Lippen, die absichtlich zur Schau gestellt werden: das sind die Heuchler in den Schulen und auf den Gassen, von denen Jesus in der Bergpredigt sagt.«
Sieger fügte hinzu: »Das Gesicht ist der Spiegel der Seele. All diese schmerzenden, ängstigenden oder Abscheu erregenden Gebärden würden von selber verschwinden, wenn Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit und Geduld die Gemüter erfüllte. Aber auch eine gesunde christliche Erziehung könnte erreichen, daß jeder sich bemühen würde, seinen Gesichtsausdruck und seine Gebärden so zu beherrschen und zu gestalten, daß sie erfreulich und nie verstimmend auf die Umgebung wirken.«
»Das Gleiche läßt sich von den bösen Reden sagen,« meinte Helling: »Kalte, unfreundliche, spitzige, kränkende, beleidigende Worte, wie können sie so bitter wehe tun, verwunden und einem das Dasein vergällen, Herzen entzweien und unheilbare Feindschaft entzünden! Wo Neid und Zank ist, da ist Unordnung und eitel böses Ding: wie widerlich ist das ewige Streiten und Nörgeln, vor allem zwischen Geschwistern, das beständige Widersprechen und Besser-wissen-wollen, das Trutzen und Maulen oder gar Drohworte, zornige und gehässige Reden, schmutzige Spässe und unanständige Ausdrücke! Ganz besonders aber schnitt mir immer ins Herz das gottlose Fluchen und Lästern, das auf den Kasernenhöfen gang und gäbe ist. Es gibt wahrhaftig Unteroffiziere, die da meinen, sie können sich nur durch greuliche Flüche bei den Soldaten in Respekt setzen, und doch habe ich immer gefunden, daß man sich damit wohl gefürchtet machen kann, aber auch verhaßt. Wirkliche Ehrfurcht vor dem Vorgesetzten und Liebe zu ihm erwächst nur da, wo er sich solcher verwerflicher Mittel enthält, und das ist die Wurzel der besten und haltbarsten Manneszucht. Unser Heeresdienst ist eine gesunde, unentbehrliche Schule für die Jugend, aber sein hoher Wert wird sehr beeinträchtigt, wenn nicht zerstört dadurch, daß er für viele auch eine Schule der Unzucht und der Gottlosigkeit wird, und dagegen hilft zwangsweiser Kirchenbesuch wenig. Ich würde am liebsten jeden Fluch, jedes unsittliche Wort und das Singen unanständiger Lieder in den Kasernen unter schwere Strafe stellen. Es wird genug mit dummen und wahrheitswidrigen Gründen gegen den Militarismus gehetzt. Diese vaterlandsfeindliche Hetze kann aber nur dann Erfolg haben, wenn wir sie stärken, indem wir Fluchen, Sittenlosigkeit und zwecklose Mißhandlung im Heere dulden.«
»Da hast du einen besonders wunden Punkt berührt,« sagte Sieger: »Gebe Gott, daß diese verhängnisvollen Schäden beseitigt werden, ehe sie unsere Heeresmacht, den Schutz und die Hoffnung des Vaterlandes, untergraben und zugrunde richten! Jakobus klagt: ›Die Zunge kann kein Mensch zähmen, das unruhige Übel voll tötlichen Gifts!‹ Ach! was wird doch mit der Zunge gesündigt, Unheil angerichtet und Glück zerstört, das stille und beseligend blühen könnte, wenn wir nur dieses kleine Glied im Zaume zu halten lernten!«
»Da ist eine Hausfrau, die durch ihr ewiges Klagen und Jammern sich und dem ganzen Hause zur Qual wird, oder die durch ihr giftiges Keifen und Zanken ihrem Manne das Leben verbittert. Keine Magd hält es lange bei ihr aus. Die Kinder werden den ganzen Tag gescholten, meist ohne ernstlichen Anlaß, statt daß die Mutter sie besser erziehen würde in mütterlicher Liebe, verbunden mit Festigkeit: aber unter Schelten gibt sie nach, um Ruhe zu haben, sie droht immer, aber nie macht sie mit ihren Drohungen Ernst. Sie sagt: ›Ich sollte dir das nicht geben, dies nicht erlauben‹ — und zugleich gibt und gestattet sie es doch. Sie droht: ›Du darfst morgen nicht mit, du bekommst nichts zu Weihnachten‹ und die Kinder wissen aus Erfahrung, daß das alles nur leere Worte sind. So wird die Jugend verderbt und zu Trotz und Zügellosigkeit erzogen. Das Schlimmste ist noch, wenn sie die Kinder durch Angst zum Gehorsam bringen will, statt durch liebevolle Strenge und Strafe, wo diese nötig ist. Ich hörte einmal in einem Hause, wo ich zu Gast war, ein dreijähriges Kind in der Nacht brüllen: ›Der schwarze Mann kommt!‹ Da half kein Zureden. In Todesangst schrie es an einem fort die gleichen Worte. Schließlich geriet die Mutter in Zorn und schlug das Kind ganz erbärmlich, wodurch sein Geschrei nur heftiger wurde, ohne daß ihm die Angst genommen werden konnte. Ich mußte denken: die Mutter ist es, die Schläge verdient hat, weil sie durch lügnerische Drohung dem Kinde diese abergläubische Furcht vor dem schwarzen Manne einflößte. Wie grausam ist es nun, das arme Kind durchzuprügeln für das, was ihre Torheit an ihm verschuldete!«
Josef wollte nun auch einen Beitrag zum Kapitel der Zungensünden geben und sagte deshalb: »Das mit dem schwarzen Mann ist ja eine Lüge, und am besten wäre es, wenn man uns von Kind auf lehren würde, ja nicht zu lügen. Aber das hilft nichts, wenn uns die Erwachsenen selber anlügen. Manche lügen nur aus Eitelkeit: da prahlen sie und schneiden auf und sagen Sachen, die nicht wahr sind, nur damit man sie recht bewundern soll. Manche lügen, um zu schmeicheln und sich wohl dran zu machen. Viele lügen auch aus Not, wie sie sagen, aber wenn man recht zusieht, war die Lüge gar nicht nötig, denn es ist nie nötig, eine Unwahrheit zu sagen, wenn auch Petrus das glaubte, als er den Herrn verleugnete: das war nicht schön und er hat es auch eingesehen und bitterlich geweint. Und so habe ich oft gesehen, daß das mit der Notlüge nur Heuchelei und leere Entschuldigung ist, und man sich durch die Notlüge oft erst in die Not bringt, statt heraus, weil alles nur daher kommt, daß man den wahren Glauben nicht hat, daß Gott einem helfen kann, wenn man bei der Wahrheit bleibt, und so meint, man müsse lügen, um sich selbst herauszuhelfen. Aber, wenn es auch helfen könnte und man die ganze Welt gewönne, so nimmt man ja doch nur Schaden an seiner Seele. Deshalb ist Notlüge nichts als eine dumme Lüge. Dann lügt man auch aus Heuchelei, um sich besser zu machen als man ist, statt lieber wirklich besser zu werden. Und man lügt, um irdische Vorteile und Geld und Gut zu gewinnen durch Betrug und Schwindel und Hochstaplerei. Schlechte Kerle lügen auch andere an, um sich über sie lustig zu machen oder sie ins Unglück zu stürzen und sie zu verführen, wie die Schlange im Paradies. Und wenn sie etwas Böses getan haben, so wollen sie sich herauslügen, wie Kain, wo er gesagt hat: »Ich weiß nicht, wo mein Bruder ist, soll ich sein Hüter sein!« Oder Josefs Brüder, als sie seinen Rock blutig machten und ihren Vater fragten, ob das der Rock seines Sohnes sei, damit er meinen sollte, ein wildes Tier habe ihn zerrissen. So führt einer den anderen hinters Licht. Aber die ärgsten sind doch die, welche über einen anderen lügen und Böses von ihm sagen, das gar nicht wahr ist oder doch übertrieben und verschlimmert oder ganz falsch verstanden. Wenn es aber auch wahr ist, sollten sie es doch nicht weiterschwatzen, um ihn überall schlecht zu machen, denn was sie selber Böses tun und denken, schwatzen sie auch nicht überall weiter. Und das sind die Verleumder und Verlästerer und die Ehrabschneider, und bei mir zu Haus hat sich einer einmal das Leben genommen, weil ihn ein solcher Tropf verschwätzt hat, und dann wird der Lügner auch noch zum Mörder. Überhaupt warum tut man einem immer so gern weh mit bösen und dummen Reden, mit Necken und Hänseln und Sticheleien und immerfort Ärgern? Da sind die Araber fast alle viel höflicher, wenn es ihnen vielleicht auch nicht immer ganz Ernst ist.«
»Brav so, wackerer Josef!« lobte ihn sein Herr: »Du hast uns da einen Vortrag über Lüge und Verleumdung gehalten, der in aller Kürze doch das Meiste ins Licht stellt, was darüber gesagt werden kann. Nur noch eine Art der Lüge möchte ich hervorheben: die Unzuverlässigkeit, die in Untreue, Treubruch, Meineid und Verrat gipfelt. Treulosigkeit, falsches Schwören und Verrat, besonders Bruch des Fahneneides, Fahnenflucht und Vaterlandsverrat werden ja auch bei uns als besonders ehrlose Verbrechen verabscheut. Aber leider nimmt man es mit dem gewöhnlichen Wortbruch nicht so schwer. Wie viel wird versprochen und nicht gehalten! Besonders mit der Unpünktlichkeit nimmt man es leicht und stiehlt dem besten Freunde seine kostbare Zeit, indem man ihn lange warten läßt.«
»Davon weiß ich auch eine traurige Geschichte,« sagte Josef, »und das war nämlich in Stuttgart. Da hat einer einen Bekannten von mir auf den Marktplatz bestellt um fünf Uhr und ist aber selber erst um sechs Uhr gekommen. Mein Freund hatte so lange auf ihn gewartet, aber weil es ein nasser kalter Abend war und er nicht gedacht hatte, so lange herumstehen zu müssen und darum nicht warm genug an war, hat er sich so schlimm erkältet, daß er nach drei Tagen daran gestorben ist, nur wegen der ganz unnötigen Unpünktlichkeit des Anderen.«
»Merkt euch das, meine lieben Kinder!« sagte Sieger zu Fanny und Johannes: »So schwere Folgen kann sogar eine bloße Unpünktlichkeit haben. Darum und in Rücksicht auf all das andere, das ihr gehört habt, möchte ich euch besonders Robert Reinicks Worte ans Herz legen: ›Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr!‹«
»Sind wir jetzt zu Ende mit den Zungensünden?« fragte Helling.
»Oh, ich weiß auch noch eine,« fiel Fanny ein: »Wenn man so hochmütige Reden führt und den Anderen so verächtliche gibt, als sei man alles und Andere gar nichts wert, wie der Bimbaschi es macht — aber nicht immer — mit Hussein, Selim und Halef. Aber, ich glaube, sie machen sich nichts daraus, nur mir tut es allemal weh für sie, weil sie so gut zu mir sind.«
»Du hast recht,« sagte Onkel Siegmund: »Und da finden wir gleich ein neues Übel, das Mitleid.«
»Dürfen wir das zu den Übeln rechnen?« fragte der Ingenieur: »Es ist doch edel und gut, ein Balsam für die Wunden.«
»Gewiß! Aber herzliche Teilnahme muß dem weh tun, der sie empfindet: er leidet mit dem Leidenden; ohne Leid gäbe es kein Mitleid.«
»Das ist allerdings unbestreitbar: so ist das Übel auch Ursache des Mitleids.«
»Ich weiß auch noch eine Zungensünde,« sagte nun Osman: »Wenn man einen verspottet und verhöhnt, wie David so viel in den Psalmen klagt.«
»Ja, das tun schon die kleinen Kinder so gerne,« warf Josef ein: »Sie machen ›Ätsche!‹ und ›Ätschgäbele‹ gegeneinander und schaben mit den Fingern, und dann sehen sie so häßlich aus. Aber auch die Alten verspotten sie und rufen ihnen nach: ›Großvater!‹ oder ›Alter Kracher‹. Wenn es bei uns noch Bären gäbe, wie die, welche die zweiundvierzig bösen Buben zerrissen haben, die den Propheten Elisa verspotteten, weil er einen Kahlkopf hatte, wir hätten bald keine Kinder mehr.«
»Aber von wem lernen das die Kinder?« fragte Sieger: »Doch nur von den Erwachsenen, die noch darüber lachen, statt ihnen zu wehren. Leider ist diese Unart gerade in Deutschland zu Hause. Da fährt ein Herr auf einem Damenrad, weil dies die einzig vernünftige Radform ist. Nicht nur die Kinder, auch Erwachsene rufen ihm auf Schritt und Tritt spöttische Bemerkungen nach: sie verhöhnen in ihrer Dummheit, was sie nicht verstehen. Überhaupt belästigen sie Unbekannte mit ihren dummen, ungezogenen und vorlauten Zurufen. In keinem anderen Land der Welt begegnet einem das, und deshalb sind wir Deutsche überall als ein rohes, ungebildetes Volk verschrien. Das kommt eben daher, daß wir übertriebenen Wert darauf legen, unserer Jugend möglichst viel, oft zweifelhaftes und eben wegen der geistigen Überladung auch rasch vergessenes und daher nutzloses Wissen einzutrichtern, statt sie vor allem zu Anstand und Bescheidenheit zu erziehen. So züchten wir Halbbildung, Einbildung und ungeschliffene Flegel.«
»Das alles sind Übel, die durch gesunde Erziehung zu vermeiden wären. Genau so ist es mit dem Übel, das sich in der Tat äußert, und von dem wir schon vieles vorweggenommen haben. Weise Erziehung könnte alle Verbrechen aus der Welt schaffen, denn Vererbung und angeborene verbrecherische Anlagen sind ein Wahn, wie sich leicht nachweisen läßt. Schon allein die Geschichte der Meuterer auf Pitcairn, die ich euch später erzählen will, ist ein schlagender Beweis dafür, von den unzähligen anderen ganz zu schweigen. Alle Taten des Zornes, des Hasses und der Bosheit ließen sich ebenso unmöglich machen: Unduldsamkeit, Verfolgung, Bedrückung, Ungerechtigkeit, Knechtung, Roheit, Zerstörungswut, Verwüstung, Beschädigung fremden Eigentums und Vernichtung der Früchte fremden Fleißes ließen sich ausschalten, aber auch Trägheit und Faulheit, Schüchternheit, Ängstlichkeit, Furchtsamkeit, Feigheit und alle daraus entspringenden Übel.«
»Vor allem täte Erziehung zur Bescheidenheit not,« nahm der Leutnant wieder das Wort: »Hochmut ist eine Ursache vieler Übel: er treibt zur Verachtung, Verspottung und schlechten Behandlung der Mitmenschen. Er ist dumm, aber mit Dummheit kämpfen ja bekanntlich Götter selbst vergeblich.«
»Am unerträglichsten ist sie,« erklärte der Ingenieur, »wenn sie uns bei Menschen begegnet, die irgendwie Gewalt über uns haben, als Beamte, Richter und Herrscher. Aber in einem Staate, wie ich ihn im Auge habe, würde kein nach chinesischem Muster übertriebener Wert auf Schulzeugnisse und Prüfungsergebnisse gelegt und nur wirklich vernünftigen und vor allem bescheidenen und einsichtsvollen Persönlichkeiten eine einflußreiche Stellung anvertraut werden, keinem Selbstbewußten und Unbelehrbaren. Übrigens bei einer Erziehung zu Demut und Bescheidenheit, die im Nächstendienst ihre Pflicht und Freude sieht, wird auch die unheilbare Dummheit unschädlich.«
»Was ich vor allem aus der Welt schaffen möchte, ist der teuflische Trieb zur Grausamkeit, zur Quälerei und Mißhandlung der Mitmenschen. Sollte es je Menschen geben, bei denen die beste Erziehung grausame und verbrecherische Triebe nicht auszurotten vermöchte, was ich übrigens für ausgeschlossen halte, so müßten sie unschädlich gemacht werden durch Überweisung in besondere Anstalten für Unverbesserliche.«
Da die Nacht hereinbrach, wurde das Gespräch für heute abgebrochen.
Durch die Wüste im Süden der Siegerschen Ziegelei trabte träge ein einzelnes Kamel, auf dessen Rücken ein Araber saß. Er lenkte das Tier selber, einen Saharin oder Treiber hatte er nicht.
Hätte jemand den Reiter bemerkt, so wäre ihm gewiß sein Erscheinen rätselhaft vorgekommen, denn niemals unternimmt ein Einzelner eine Wüstenreise, und wenn er es täte, so müßte er doch ein Lastkamel mit Lebensmitteln und Wasserschläuchen mit sich führen, und dann wäre zum mindesten ein Treiber unentbehrlich.
Einen einfachen Spazierritt in die Wüste würde aber höchstens ein Europäer unternehmen, obgleich es auch einem solchen kaum zuzutrauen war. In diesem unwahrscheinlichen Falle hätte der unternehmungslustige Sonderling aber auch einen Führer oder einen Lenker seines Tieres mitgenommen. Allein es gab in der Gegend von Omderman keinen Europäer, der frei und unbewacht Spazierritte unternehmen konnte.
Sollte es am Ende ein Flüchtling sein? Auch das mußte als eine Unmöglichkeit erscheinen, am lichten Tage. Und dann hätte der Entweichende gewiß sein Tier zu höchster Eile angetrieben.
Der Mann lenkte sein Dromedar, das außer ihm nur einen Wasserschlauch und ein Bündel mit Lebensmitteln trug, dem Gebirge zu. Als er dieses erreicht hatte, ritt er eine Strecke an dessen Fuße hin gegen Westen, bis er zwischen den Felsen einen sanft ansteigenden Abhang entdeckte, den er nun hinan ritt.
Eine halbe Stunde lang ging es so bergauf zwischen schroffen Wänden, die immer näher zusammenrückten. Dann wurde der Pfad so felsig und steil, daß kein Kamel mehr darauf weiterkommen konnte.
Der Mann ließ sein Baër, wie die Araber ein männliches Dschemel oder Kamel nennen, neben einer verkrüppelten Föhre niederknien, schwang sich aus dem Sattel und schlang das Leitseil um den Stamm des Baumes. Dann öffnete er seinen Schnappsack, füllte einen Becher aus dem Schlauche und stärkte sich durch ein bescheidenes Mahl.
AIs er nach kurzer Zeit damit zu Ende war, kletterte er durch die Felsen zu Fuß höher empor, stets eine östliche Richtung einhaltend.
Nach einer Stunde hatte er einen verhältnismäßig ebenen Sattel erreicht und gelangte bald an den Rand eines Abgrunds. Hier legte er sich auf den Steinen nieder und streckte den Kopf so weit vor, daß er den breiten und ausgedehnten Schlund übersehen konnte.
»Es geht doch nichts über meinen Ortssinn!« murmelte er befriedigt vor sich hin: »Ich hätte selber nicht geglaubt, daß ich die Stelle so rasch finden würde. Dort weiter oben stürzt sich der Wasserfall hinab, und hier links steht die Fabrik. Wie klein das gewaltige Bauwerk aussieht! Kein Wunder bei der ungeheuren Tiefe! Der Wiederaufbau scheint beinahe vollendet: wie Ameisen wimmeln die Arbeiter auf den Mauern.
»Schade um den schönen Anschlag! Weiß der Teufel, wie sie dem Verderben entrannen, da die Explosion doch so pünktlich erfolgte und so kräftig wirkte! Vorerst läßt sich das gleiche Stück leider nicht wiederholen, denn die beiden Hellings sind auf der Hut. Aber mir wird schon etwas anderes einfallen. Der Geiger wird nicht ruhen, bis seine Rache euch vernichtet hat.«
Er erhob sich wieder und schritt am Rande des Abgrunds hin, dem Wasserfalle zu. Nach etwa zweihundert Schritten stand er still und schaute hinab.
»Die Felswand ist überall so jäh, daß keine Katze heraufkönnte,« sagte er. »Aber hier ist ein Absatz, von dem aus zwar keinem Menschen, aber einem gewandten Klettertier der Abstieg bis zum Grunde der Schlucht gelingen könnte. Freilich, von der Höhe ist es noch etwa zwanzig Meter bis zu dem Vorsprung und die Wand ist bis dahin so glatt, daß er nur Vögeln zugänglich ist.
»Aber halt! Da kommt mir ein prächtiger Gedanke! Ja, das ließe sich machen! Vielleicht komme ich euch auf diesem Wege bei.«
Emin Gegr um Salamas entstelltes Gesicht überflog ein widerliches Lächeln, als er so mit sich selbst redete. Er schien befriedigt von seiner Entdeckungsreise, die ja nur den Zweck hatte, eine neue Gelegenheit zu einem Mordanschlag auszukundschaften.
Er zog sich vom Abgrund zurück und schlug die Richtung ein, die er gekommen war.
Bergab ging es schneller und er brauchte nicht viel mehr als eine halbe Stunde, um den Platz zu erreichen, wo sein Baër lagerte.
Nun labte er sich ausgiebig aus seinem Wasserschlauch; denn die Sonne brannte glühend herab, und die steile, beschwerliche Wanderung hatte ihn völlig ausgedörrt.
Dann band er sein Dromedar los und führte es den Abhang hinab, da dieser ihm für einen Ritt doch zu steil und steinig erschien.
Drunten im Wüstensand bestieg er wieder sein Tier und ließ es träge zurück nach Omderman schreiten.
Zu Hause angelangt, übergab er das Kamel seinem Sklaven Mambanga, denn die Freigebigkeit des Kalifa hatte ihm einen Neger zur Bedienung geschenkt.
Nachdem er einen Imbiß zu sich genommen hatte, berief er Mambanga und fragte ihn: »Gibt es hier viele giftige Schlangen?«
»Herr, nicht viele; aber Mambanga ein paar Schluchten am Strom wissen, wo sie zahlreich sein.«
»Getraust du dir, welche lebendig zu fangen?«
»Mambanga nicht!« erwiderte der Schwarze erschrocken. »Aber Männer dort sein, die es tun und sie verkaufen, den Zauberern und Beschwörern und vor dieser Zeit auch den Tierhändlern der Franken, die alle wilden Tiere und Schlangen haben wollen. Diese Schlangenfänger auch es verstehen, den Schlangen die Giftzähne ausbrechen.«
»Gut! So gehe dorthin und siehe, ob du ungefähr ein Dutzend recht giftiger Schlangen für mich kaufen kannst. Aber die Giftzähne dürfen ihnen nicht ausgebrochen werden: merke dir das! Ich nehme sie nicht, wenn sie keine Giftzähne haben.«
»Mambanga gehen wird, und in paar Tagen er gewiß so viel Schlangen bekommen können. Große oder kleine es sein sollen?
»Einerlei! Wenn sie nur recht giftig sind.«
Andern Tags begab sich der Sklave nilaufwärts. Er durfte das Baër seines Herrn reiten, denn der Weg war weit.
Am Abend kehrte er mit der Nachricht zurück, daß er in drei Tagen die gewünschte Anzahl Schlangen abholen könne.
Als diese Zeit um war, sandte ihn Emin Gegr wieder hin, versehen mit einem Ledersack zur Aufnahme der Reptilien, den Mambanga abends gefüllt zurückbrachte.
Emin öffnete vorsichtig die ziemlich tiefe Tasche, sie heftig schüttelnd, um die Schlangen etwas zu betäuben und am Herauskommen zu hindern. Er sah ein buntschillerndes Gemisch von Schlangenleibern, die lebhaft durcheinander krochen. Schnell band er den Sack wieder zu. Er wollte sich nicht der Gefahr eines Bisses aussetzen. Sie gar herauszulassen, um sie zu zählen, dazu hatte er den Mut nicht.
»Sind es richtig zwölf?« fragte er, nicht weil es auf diese Zahl so sehr ankam, als weil er es für wichtig hielt, die genaue Anzahl zu wissen.
»Ja, Herr! Der Mann sie Mambanga vorzählen in den Sack, sechs und wieder sechs.«
Am folgenden Tag versah sich Um Salama mit einem fünfundzwanzig Meter langen Strick, zog den Riemen um den Ledersack fester zu, da er ihm locker schien, band die Tasche an den Sattel des Kamels und ritt in die Wüste hinaus.
Er machte den gleichen Weg wie das letztemal und stand nach drei Stunden mit Sack und Seil am oberen Rande des Margayatales. Hier band er die Leine an den Sack, löste hastig den Riemen und liest die Tasche schnell an der Felswand hinab bis auf den Vorsprung, den er vor fünf Tagen zu diesem Zwecke ausersehen hatte. Der Sack legte sich auf den Stein und bald begannen die Schlangen, hervorzukriechen und dann sich die steile Mauer hinabzuwinden, bis sie den Talgrund erreichten.
Emin Gegr zählte sie, sowie sie ans Tageslicht kamen: »Vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf — — —« Dabei blieb es!
Er schüttelte den Sack so heftig er konnte, ließ ihn auf den Felsen aufschlagen, — allein, kein Reptil kam mehr zum Vorschein.
Sollte er sich verzählt haben? Nein! Außer den ersten vier Stück waren alle einzeln herausgekrochen und er hatte aufmerksam nachgezählt, um sich zu versichern, daß die Zahl auch stimmte.
Waren nur elf statt zwölf in der Tasche gewesen, so hätte das gar nichts weiter bedeutet. Aber, wenn Mambanga die richtige Zahl erhalten hatte und jetzt fehlte eine, so war dies nichts weniger als gleichgültig. Vielleicht war ja dem Sklaven unterwegs eine entschlüpft: das hätte nichts ausgemacht. Allein es bestand die unheimliche Möglichkeit, daß heute Nacht eine herausgekrochen war: hatte er den Riemen nicht erst fester gezogen, weil er ihm zu locker erschien? Dann konnte eine giftige Schlange in seiner Hütte verborgen sein, und er selber schwebte in Lebensgefahr, und das war ihm ein entsetzlicher Gedanke. Sterben wollte er nicht, vor allem keines so gräßlichen Todes.
So rasch wie möglich eilte er heim und nahm seinen Sklaven nochmals ernstlich ins Gebet:
»Bist du ganz sicher, daß es zwölf Schlangen waren und nicht nur elf?«
»Zwölf, Herr! So wahr ich zwölf Finger haben!«
»Schafskopf! Wie viel Finger hast du?«
»Zwölf, wie jeder Mensch!«
Emin seufzte verzweifelt: »Wenn es so mit deiner Rechenkunst steht, dann ist es ja ganz unmöglich, dieser schlimmen Sache auf den Grund zu kommen! Aber der Schlangenfänger wird wohl besser zu zählen verstehen und hatte keinen Grund, mich zu betrügen, da er den Preis machte und sein Betrug doch gleich herausgekommen wäre. Also, Schlingel! sage, ist dir gewiß unterwegs keines der Tiere aus dem Sack entkommen?«
»Unmöglich! Er gewesen sein ganz fest und noch fester zugebunden. Mambanga sich selber überzeugt haben, denn er haben Angst vor Schlangenbiß.«
»So müssen wir die Hütte gründlich durchsuchen, denn es sind nur elf Schlangen im Sack gewesen.«
»Nur elf? Oh, dann zwei vorher heraus sein!«
Nun begann ein ängstliches, gründliches und zugleich behutsames Durchsuchen der ganzen Hütte. Mit langen Haken wurden die einzelnen Gegenstände am Boden weggerückt, jeder Winkel durchstöbert, — ohne Ergebnis!
Dann kam der Nebenraum, Mambangas Schlafstätte, daran: auch hier war keine Spur zu finden. Jetzt blieb noch die Vorratskammer: die war so voller Behälter und Gegenstände aller Art, daß die Suche bedeutend schwieriger und zeitraubender wurde. Nichts war zu entdecken.
Aber das war kein Trost für Emin Gegr: er war überzeugt, daß eine der Giftschlangen entwichen sein müsse und zitterte für sein Leben. Diese Reptilien verstanden es ja so gut, sich zu verbergen!
Wie konnte man da sich noch ruhig in der Wohnung aufhalten und gar schlafen?
Der Einäugige stand eine solche Todesangst aus, daß ihm der kalte Schweiß ausbrach. Im Kugelregen wollte er Stand halten, aber vor diesem schleichenden Gewürm hatte er eine unüberwindliche Furcht und schwur sich, nie mehr etwas damit zu tun haben zu wollen, wenn er diesmal heil davon käme.
Er trat vor die Hütte hinaus. Da zischte etwas zwischen den Balken hervor auf ihn zu.
Er stand starr: es war die gesuchte Schlange.
Glücklicherweise kam in demselben Augenblick Mambanga heraus, stieß einen Schrei des Schreckens aus, aber schlug doch nach dem Tier und traf es glücklich zu Tode. Sonst wäre es um seinen Herrn geschehen gewesen, den das Entsetzen völlig gelähmt hatte.
Aber nun quälte den Schurken der Gedanke, ob es nicht vielleicht dreizehn Schlangen gewesen seien, und noch eine verborgen laure? Der Schlangenfänger konnte ja eine drein gegeben haben, und dann war es eine Unglückszahl!
Es dauerte mehrere Tage, bis Emin wieder unbesorgt in seiner Hütte zu schlafen vermochte.
Am nächsten Sonntag nahmen unsere Freunde ihr Gespräch über das Übel in der Welt wieder auf.
»Wir haben gesehen,« begann Sieger, »daß die seelischen Leiden fast ausnahmslos aus solchen bestehen, die Menschen sich selbst oder anderen zufügen aus Schwäche, Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit oder Bosheit, und daß sie daher mit unserer Sündhaftigkeit eng zusammenhängen und sehr wohl zu vermeiden wären, wenn Glaube und Liebe all unser Denken, Reden und Handeln beherrschte.
»Mit unseren Betrachtungen über die Grausamkeit haben wir schon die leiblichen Leiden angeschnitten, die Menschen einander antun. Denn sie schwelgt zwar auch in Zufügung der ausgesuchtesten seelischen Qualen, wie Freiheitsberaubung, Drohung, Hohn und dergleichen, ihre Hauptlust aber besteht darin, ihre Opfer körperlich zu martern, und darin hat sie stets eine teuflische Erfindungsgabe bewiesen. Aber außer den Schmerzen, die durch böswillige Verletzung und Verstümmelung, Quetschung, Ausrenkung und andere Angriffe auf den Leib ausgeübt werden, gibt es noch der leiblichen Übel genug.«
»Die Hitze,« sagte Josef, sich den Schweiß trocknend.
»Die Kälte,« fügte Johannes hinzu, da ihm gerade der Gegensatz einfiel, unter dem man übrigens nachts auch im Sudan häufig zu leiden hat.
»Hunger und Durst,« ergänzte Fanny.
»Gegen das alles kann sich die Menschheit schützen,« meinte Helling: »Selbst bei Polarreisen vermag man sich gegen den Frost derart zu waffnen, daß man wenig darunter zu leiden hat; gegen die Hitze gibt es Kühlmittel, und es ist wohl denkbar, daß ein Musterstaat geschaffen wird, in dem es keine Not noch drückende Armut mehr gibt und niemand Hunger leiden muß. In der Wüste können Quellen gegraben und schattige, fruchtbare Oasen geschaffen werden, und wenn man bald vielleicht mit Eisenbahnen oder Automobilen alle Wüsten durchreisen kann, hat man auch hierbei nicht mehr unter Hitze und Durst zu viel zu leiden. In einem solchen Musterstaate wird jeder seine behagliche Unterkunft haben, wo er der Kälte durch genügende Heizung, warme Kleidung und Decken begegnen kann. Schattige Gärten und Anlagen, Wasserleitungen und so fort, werden die Hitze erträglich machen und keiner wird so viel arbeiten müssen, daß die Ermüdung durch Überanstrengung und Erschöpfung zur Qual wird. Man wird auch dem Mißwachs, der Nässe und Dürre, dem Hagelschlag und Unwetter, wenn man sie nicht ganz zu verhüten lernt, doch alle Schrecken nehmen, durch weise Fürsorge und gegenseitige Hilfe. Auch des Ungeziefers wird man Herr werden können durch gemeinsames zweckmäßiges Vorgehen. Es kann vielleicht bald so weit kommen, daß Blattläuse, Erdflöhe, Blutläuse, Ratten, Mäuse und andere Schädlinge, sowie alle gefährlichen Raubtiere und giftigen Tiere und Insekten, vor allem die Tsetsefliege, die krankheitverbreitenden Schnaken, Flöhe, Wanzen, Läuse, Guineawürmer und was es derart noch gibt, ausgerottet sind, und Raupen, Schnecken und Regenwürmer so vermindert werden, daß sie keinen wesentlichen Schaden mehr anzurichten vermögen.«
»Oder sie werden alle harmlos und unschädlich, was noch viel schöner wäre,« meinte Johannes, »und uns auch verheißen ist, wie der Prophet Jesaia weissagt: ›Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Pardel bei den Böcken liegen, ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden an der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen. Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter, und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken.‹«
»O, das möchte ich erleben!« rief Fanny: »Das wäre das Paradies auf der Erde!«
»Ja!« sagte Sieger: »Und da wird es keine Wüste mehr auf der Erde geben, keine zu heißen noch zu kalten Länder, keine zu trockenen noch zu nassen Gegenden, keinen Mißwachs, keine Not und kein Elend. Ich glaube an eine solche goldene Zeit nach den Verheißungen der Bibel, aber ich zweifle auch nicht, daß wir sie wenigstens annähernd erreichen könnten, wenn wir so lebten und schafften wie wir sollten.«
»Aber es gibt doch auch solches, wo man einfach nichts dagegen machen kann,« wandte Josef ein: »Krankheit und Krüppelhaftigkeit und Unglücksfälle.«
»Und Schicksalsschläge,« fügte Helling hinzu.
»Letztere gehören meist zu den seelischen Übeln,« sagte der Ingenieur, »und wenn wir genauer zusehen, sind sie oft selbstverschuldet oder durch andere Menschen veranlaßt. Doch wir werden noch von ihnen reden. Betrachten wir zuerst die Krankheiten. Schon jetzt gibt es Menschen genug, die sich rühmen können, ihr Leben lang nie krank gewesen zu sein. Warum sollte dies nicht für alle Menschen möglich gemacht werden? Zunächst können wir uns wohl denken, daß es gelingen wird, alle Krankheiten leicht und schmerzlos zu heilen, sobald die Heilkunde lernt, den einzig vernünftigen Weg der naturgemäßen Behandlung einzuschlagen. Alsdann scheint es nicht unmöglich, daß auf eben diesem Wege die Krankheiten überhaupt aus der Welt geschafft werden können: ja, ich werde euch später schlagende Beweise hierfür liefern, denn solche Zustände wurden tatsächlich schon erreicht.
»Was nun Gebrechen, wie Krüppelhaftigkeit — Buckel, Zwerghaftigkeit, Kropf, Hinken, Fehlen einzelner Glieder —, Taubheit, Blindheit und Stummheit betrifft, so kommt es ja vor, daß solche von Geburt an bestehen, aber das ist äußerst selten und es fragt sich, ob es dann nicht Schuld der Eltern oder Fremder ist, die sich wohl vermeiden ließe. Meistens sind alle diese leiblichen Fehler und Gebrechen durch leichtfertiges oder böswilliges Verschulden verursacht, vielfach durch die Betroffenen selber, vielfach auch durch verkehrte Behandlung von Erkrankungen, die auf richtigem Wege leicht hätten geheilt werden können.
»Bleiben die Unglücksfälle. Denket einmal nach und ihr werdet selber überrascht sein, wie wenig von diesen oft so entsetzlichen Übeln übrig bleibt, wenn wir alle diejenigen ausscheiden, die durch menschliche Schuld veranlaßt wurden, durch Unachtsamkeit, Unvorsichtigkeit, Leichtsinn, Dummheit oder Tollkühnheit, die ja auch Dummheit ist. All die unzähligen Verletzungen, namentlich bei der Bedienung von Maschinen, Transmissionen oder sonst bei der Arbeit, — sind sie etwa unvermeidlich? Alle die oft so viele Opfer fordernden Explosionen, setzen sie nicht stets menschliches Verschulden voraus, mit vielleicht verschwindenden Ausnahmen, sei es, ob es sich um Sprengstoffe, schlagende Wetter und Dampfkessel handle, oder um Gas, Erdöl, Weingeist und Karbid? Unzählig sind die schweren Unglücksfälle, die durch leichtfertiges Umgehen mit Schußwaffen entstehen, und die so leicht vermieden werden könnten durch Erziehung zur Vorsicht und durch Gesetze, die schon die gefährliche Unvorsichtigkeit unter Strafe stellen würden, wie das Richten einer auch ungeladenen Schußwaffe auf Menschen.
»Eisenbahnunfälle, Zusammenstöße von Fuhrwerken, Überfahren von Menschen, Stürze aus dem Fenster, Unfälle beim Rodeln, beim Baden und Schlittschuhlaufen, Abstürze in den Bergen, Verbrennungen, Verbrühungen, Feuersbrünste, Ertrinken, Vergiftungen durch Gift, Nahrungsmittel oder Gas, Blutvergiftungen, Tötungen durch den elektrischen Strom und was dergleichen mehr ist, — wären all' diese Unfälle nicht vermeidbar mit vielleicht ganz wenigen Ausnahmen?«
»Aber wenn einer vom Blitz erschlagen wird oder der Blitz in ein Haus einschlägt und es verbrennt?« warf Fanny ein.
»Gewiß, mein Kind, es gibt auch Unglücksfälle, an denen kein Mensch schuldig ist, aber das sind verschwindend wenige Vorkommnisse. Selbst diejenigen, die durch Blitzschlag verursacht werden, sind in der großen Mehrzahl durchaus nicht unverschuldet. Äußerst selten schlägt der Blitz in Wohnungen, die durch Blitzableiter geschützt sind, und er trifft meist solche Personen, die unter Bäumen oder in engen Hütten Schutz suchten, obgleich ihnen oft gesagt wurde, wie gefährlich das ist.«
»Aber ein Schiffbruch?« fragte jetzt Johannes.
»Selbst Schiffbrüche sind fast immer durch irgend eine Nachlässigkeit oder Unvorsichtigkeit verschuldet.«
»Und Flutwellen?« warf jetzt Helling ein.
»Gegen Flutwellen, Hochwasser und Überschwemmungen kann man sich durch Dämme schützen, die sorgfältig instand gehalten werden. Wo es aber nicht möglich ist, sich genügend davor zu wahren, sollte man sich nicht ansiedeln.«
»Wenn aber ein starkes Erdbeben kommt, da kann man doch gar nichts machen,« triumphierte Josef.
»Fehlgeschossen, mein Lieber! Fast alle die furchtbaren Verheerungen durch Erdbeben wären undenkbar, wenn die Wohnbauten in den erfahrungsgemäß bedrohten Gegenden so ausgeführt würden, daß sie nicht einstürzen können. In Amerika sind ganze Städte durch Erdbeben zertrümmert und zahllose Menschen unter den Trümmern begraben worden, während die Holzhäuser der Indianer daneben unversehrt blieben.
»Allerdings bei der entsetzlichen Katastrophe auf der Insel Martinique, wo die siedenden Schlammfluten aus dem Mont Pelé eine ganze Stadt erstickten, hätten keine Vorsichtsmaßregeln etwas nützen können. Allein die Einwohner waren lange zuvor durch das unheimliche Brodeln und Rumoren in dem feuerspeienden Berge und durch einzelne Ausbrüche gewarnt, so daß sie sich anschickten, auf das Festland zu flüchten. Aber unglückseligerweise kamen europäische Sachverständige, Professoren und Gelehrte, Fachmänner von Ruf, um ihre unfehlbaren Untersuchungen anzustellen und ihr maßgebendes Urteil zu verkündigen. Diese beruhigten die Bevölkerung durch das sichere Ergebnis ihrer Nachforschungen, das lautete: es sei nicht die geringste Gefahr zu befürchten. Dadurch wurden die Einwohner bewogen, zu bleiben und gingen gleich darauf fast alle zugrunde. Hier trägt der Unfehlbarkeitswahn anmaßender und doch so unfähiger Sachverständiger die furchtbare Schuld an dem grausigen Schicksal Tausender.«
»Es bleiben immerhin noch wirklich unvermeidliche Übel,« erklärte der Leutnant: »Nämlich das Alter mit seinen Schwächen und Gebrechen und der Tod.«
»Selbst dagegen habe ich etwas einzuwenden,« widersprach der Ingenieur: »Das Altern scheint unvermeidlich, wenigstens hat man bis jetzt kein Mittel dagegen entdeckt, obgleich nicht ganz ausgeschlossen scheint, daß man auch ein solches noch findet. Aber wie mancher bleibt gesund und rüstig, auch geistig klar bis ins höchste Alter, über hundert Jahre hinaus. Sind Schwäche, Blindheit, Taubheit oder Abnahme des Gehörs und der Sehkraft unzertrennliche Begleiterscheinungen des Alters? Ganz gewiß nicht! Ebensowenig Verblödung, wie ja auch Blödsinn, Wahnsinn und andere Geisteskrankheiten, diese ganz besonders schrecklichen Übel, sicher in vielen Fällen auf eigener und fremder Verschuldung beruhen. Wenn ein Mensch in allem so lebt wie er sollte, so wird er auch ein leiblich und geistig ungetrübtes Alter erreichen können, und dann wird ihm das Alter nicht als Übel erscheinen. Der Tod freilich ist unvermeidlich, aber einem echten Christen, der sein Tagewerk treu vollbracht hat, wird selbst er nicht ein Übel sein, sondern ein solcher wird im Gegenteil mit Paulus sprechen: ›Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, welches auch viel besser wäre.‹ Sein Tod wird ein seliges Entschlafen werden, und auch den Seinigen, die ihn so lange bei sich haben durften, keinen trostlosen Schmerz verursachen.«
»Das ist wahr!« rief Helling warm aus: »Ich sehe schon klarer, was du mit der Erlösung von allem Übel meinst; doch bin ich begierig, wie du sie dir im einzelnen denkst.«
»Nun denn,« sagte Sieger ...
Aber er kam nicht weiter.
Fanny, die eben ihre Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte, um mit den zarten Füßchen im Bach zu plätschern, stieß einen Schrei aus.
Josef sprang auf, erhob einen Stein und zerschmetterte einer buntschillernden Schlange das widerliche Haupt.
Aus Fannys rechtem Füßchen aber quollen Blutstropfen: sie war von der Schlange gebissen worden.
Allgemeine Sorge und großer Schrecken wurde laut.
Hier war wieder ein Beweis, daß es noch weit hin war, bis das Übel aus dieser Welt des Jammers verschwunden sei. Und dies schien nun eines der wenigen unvermeidlichen Übel zu sein. Da war keine Unvorsichtigkeit schuld, denn nie hatte sich ein lebendes Tier in der Schlucht blicken lassen, außer den beiden Geiern letzthin, so daß man an eine derartige Gefahr gar nicht hatte denken können.
Und doch war die Unvermeidlichkeit auch hier nur Schein, handelte es sich doch um einen Anschlag teuflischer Bosheit.
Gerade in diesem Augenblick kamen Hassan und Amina, ihre Freunde zu besuchen. Kaum hatten sie erfahren, was sich ereignet hatte, so stürzte Amina vor Fanny nieder und sog die Wunden aus, um das weitere Eindringen des Giftes zu verhindern.
Sieger aber eilte in die Fabrik, um aus seiner Hausapotheke ein Mittel gegen Schlangenbisse zu holen, nämlich Ammoniak oder Salmiakgeist. Zugleich ergriff er eine Flasche Rum und einen Becher und kehrte dann in fliegendem Laufe zurück.
Er rieb nun die Fußwunden seines Töchterleins mit Salmiak ein, füllte den Becher mit Rum, unter den er ebenfalls Ammoniak mengte, und gab die Mischung Fanny zu trinken. Das Mädchen leerte den Becher auf einen Zug, wie ihr der Vater befahl. Sie tat es mit Widerwillen, doch folgsam, wie die Kinder ja gewohnt waren, widerspruchslos zu gehorchen.
»Salmiak hat sich stets als wirksamstes Gegengift gegen den Biß einer giftigen Schlange erwiesen,« sagte der Ingenieur, »und der Alkohol ist das sicherste Mittel, der Herzlähmung vorzubeugen, die in solchen Fällen den Tod herbeizuführen pflegt. So dürfen wir hoffen, mit Gottes Hilfe den gefährlichen Folgen des Bisses einen Riegel vorzuschieben.«
»Aber wie kommt nur eine Giftschlange hier herein?« fragte Helling: »Bisher hat sich doch nie eine blicken lassen in dieser Schlucht. Auch bietet der Felsengrund rein gar nichts, was die Reptilien anlocken könnte. Ja, der Mangel an jeglichem Pflanzenwuchs und an irgendwelchen lebenden Wesen, die ihnen Nahrung bieten könnten, macht ihnen den Aufenthalt dahier unmöglich.«
»Aber da ist noch eine!« rief Hassan, indem er einen Stein ergriff und mit wohlgezieltem Wurfe eine weit größere Schlange einer anderen Art zerschmetterte, die mit großer Schnelligkeit herangeschlängelt kam.
Amina führte ihre teuere Fatme heim, um sie zu Bett zu bringen, da dem Mädchen von dem ungewohnten Alkoholgenuß der Kopf schwindelte. Währenddessen vollführten die Männer und Knaben eine Streife durch das Tal und entdeckten noch zwei weitere Schlangen, die sie erlegten. Eine von diesen war eine Hornviper, die gefürchtetste Schlangenart der Wüste.
»Mir ist es auch ein ganzes Rätsel, woher dieses Gezücht hereinkommt,« sagte Josef. »Oder vielmehr wie es da herunter kommen konnte. Denn durch das Wächterhaus und die Fabrik ist das ein sogenanntes Ding der Unmöglichkeit und über die Mauern können sie noch viel weniger klettern. Sie müssen also von oben herunter gekrochen sein, aber ganz oben sind die Felsen so steil, daß sie auch das nicht gekonnt haben. Also wie soll das möglich sein?«
»Es mag ja immerhin sein,« meinte Sieger, »daß sich irgendwo eine Stelle befindet, die einem Kriechtier den Zugang ermöglicht. Aber dann ist es gar zu merkwürdig, daß bisher niemals eines sich blicken ließ, und jetzt ganz plötzlich gleich mehrere und zwar von drei verschiedenen Arten! Je mehr ich darüber nachdenke, um so gewisser wird es mir, daß die Schlangen böswillig hier ausgesetzt wurden.«
»Dann müßte es sich um einen neuen schurkischen Anschlag unseres geheimnisvollen Verfolgers handeln!« rief Helling: »Und das scheint mir allerdings die einzig mögliche Lösung dieses schauerlichen Rätsels. Dann aber können wir nicht wissen, wie viele solcher gefährlichen Geschöpfe noch unter den Steinen und dem Geröll verborgen stecken. Wir dürfen uns fortan nur mit der allergrößten Vorsicht in das Tal wagen, und können uns nicht mehr so gemütlich hier lagern, wie bisher.«
»Ich werde die Schlucht säubern von dem gesamten Geschmeiß!« versicherte der Diener: »Denn da ist mir ein guter Gedanke gekommen!«
Alle waren begierig auf den guten Gedanken, doch Josef wollte ihn nicht verraten, ehe er ihn ausgeführt habe.
Für heute begaben sie sich in die Wohnung zurück, getrieben von der Sorge um Fannys Befinden.
Sie schlief ruhig und der Fuß zeigte sich nicht im geringsten angeschwollen, so daß keinerlei Anlaß zu Befürchtungen vorlag; denn sonst hätte längst eine Schwellung eintreten müssen.
Den ganzen Montag Vormittag arbeitete Josef emsig an seiner Erfindung zur Vertilgung der Schlangen.
Fanny erhob sich gegen zehn Uhr gesund und munter. Sie spürte weder Schmerzen, noch irgend welche andere üble Folgen von dem Bisse und die kleinen Wunden, die ja nicht viel größer als Nadelstiche erschienen, waren bereits geschlossen.
Nachmittags konnte der erfinderische Diener schon sein Kunstwerk vollendet vorzeigen. Es bestand aus einem zwei Meter langen Kasten, dessen Seiten mit feinmaschigen Drahtgittern benagelt waren, so daß man überall hineinsehen konnte. Im Hintergrund hatte er einen Napf mit Milch aufgestellt, die bekanntlich die Schlangen besonders anlockt, aber noch allerlei andere Lockspeisen hineinbefördert, sogar zwei lebendige Mäuse: »Damit jede Schlange etwas nach ihrem besonderen Geschmack findet, nämlich ihr vermutliches Leibgericht,« sagte er.
An der Vorderseite befanden sich unten drei schmale runde Öffnungen, von denen fünfzig Zentimeter lange Drahtröhren ins Innere führten, sich beständig verengernd, genau wie bei den Mausefallen aus Drahtgeflecht, nur eben viel länger. An dem in den Kasten ragenden Ende waren die im Kreis vorstehenden starken Drähte scharf zugespitzt. Auch größere Schlangen konnten sich hier durchdrücken und in die Falle gelangen. Wollten sie jedoch wieder heraus, so starrten ihnen die spitzigen Drähte entgegen und mußten sich in ihre Haut bohren, wenn sie den Versuch machten, sich durchzuzwängen.
Zu aller Vorsicht hatte Josef noch in jedem dieser Eingänge etwa in dessen Mitte, eine runde Blechscheibe angebracht, die am obersten Draht lose befestigt war. Kroch eine Schlange hinein, so stieß sie mit dem Kopf an die Scheibe, die nachgab und emporgehoben wurde, so daß sie dem Vordringen kein Hindernis bot.
War das Reptil unter dem Blech durchgeschlüpft, so fiel dieses in seine ursprüngliche Lage zurück.
Wäre es nun einer Schlange gelungen, trotz der scharfen Drahtspitzen sich den Rückweg in die Drahtgeflechtröhre zu erzwingen, was kaum denkbar schien, so wäre sie wieder an die Blechscheibe gestoßen und hätte sie gegen zwei straff gespannte Drähte gedrückt, die an den Seiten der Röhre von oben nach unten liefen, zwischen sich Raum zum Durchschlupfen lassend, um das Eindringen von außen nicht zu hindern. Diese Drähte machten es unmöglich, die blecherne Falltüre von innen nach außen zu öffnen.
»Da kann allerdings kein Geschöpf mehr herauskommen, das einmal hineingelangte,« sagte Helling anerkennend: »Diese Schlangenfalle hast du dir vorzüglich ausgedacht und tadellos ausgeführt!«
»Kein Ingenieur hätte das besser machen können,« lobte auch Sieger: »Aber glaubst du wirklich, daß alle Schlangen, die sich möglicherweise noch in der Schlucht befinden, dir den Gefallen tun, da hinein zu kriechen?«
»Ja!« erwiderte Josef siegesgewiß: »Und zwar deshalb, weil sie nirgends sonst Nahrung finden. Welche nicht da hineingeht muß in ein paar Tagen verhungert sein.«
»So rasch pflegen zwar Schlangen nicht zu verhungern,« sagte der Ingenieur lachend: »Aber die Lockspeise dürfte ihre Wirkung tun. Wir wollen einmal sehen, wie sich deine schlaue Erfindung bewährt: sie hat alle Aussicht auf Erfolg und du kannst dir ein Patent drauf geben lassen.«
Stolz auf diese Anerkennung von maßgebender Seite, stellte der Erfinder seine treffliche Falle in der Mitte der Schlucht auf.
Anderen Tages fanden sich vier Schlangen darinnen, am Mittwoch zwei weitere und am Donnerstag noch eine. Dann war es aus: die Falle blieb noch vierzehn Tage stehen, aber kein Reptil fing sich mehr darinnen, auch ließ sich keines mehr im Tale blicken, so daß man sicher sein konnte, daß keines mehr vorhanden sei, wenigstens kein lebendes.
Als übrigens Sieger die erlegten Tiere genauer untersuchte, sagte er lachend:
»Da hätten wir uns alle Sorge ersparen können, und Fanny hätte es nicht nötig gehabt, den unangenehmen Trank zu schlucken!«
»Wieso das!« fragte Helling verwundert.
»Elf Schlangen haben wir erlegt,« antwortete der Ingenieur. »Von diesen gehören vier einer völlig harmlosen, ungiftigen Art an. Die sieben übrigen sind allerdings äußerst giftig, namentlich die zwei Hornvipern. Allein, die Giftzähne sind ihnen sorgfältig ausgebrochen worden, wie du dich selber überzeugen kannst!«
»In der Tat!« rief der Leutnant erstaunt, als er in die geöffneten Kiefer sah: »Da ist es mir aber unbegreiflich, was der Attentäter überhaupt bezweckt hat. Denn einerseits beweist gerade dieser Umstand untrüglich, daß die Schlangen von Menschenhand hier ausgesetzt wurden, weil keine Schlangen mit ausgebrochenen Giftzähnen in der Freiheit umherlaufen, — anderseits ist es unerfindlich, warum der heimtückische Schurke, dessen bisherige Anschläge zweifellos auf unsere Vernichtung abgesehen waren, plötzlich so zarte Rücksicht auf unser Leben nimmt. Es ist doch nicht zu glauben, daß er uns bloß zu schrecken beabsichtigte?«
»Gewiß nicht! Aber jedenfalls hat er die Schlangen irgendwo erworben, und zwar als todbringende Giftschlangen, und sich nicht zuvor überzeugt, ob sie ihre Giftzähne noch hatten oder überhaupt alle zu giftigen Arten gehörten.«
Mit dieser Vermutung hatte Sieger recht. Auch Emin Gegr hätte sich die Todesangst schenken können, die er wegen des durchgegangenen Reptils ausgestanden hatte. Sein Diener war eben kein zuverlässiger Bote: er hatte wohl richtig ausgerichtet, daß sein Herr zwölf Schlangen begehre, dagegen vergessen, zu bemerken, sie müßten giftig sein.
Der Schlangenfänger hatte daher als vorsichtiger Mann allen Giftschlangen die Giftzähne kunstgerecht ausgebrochen, damit ja kein Unglück ungerichtet würde, das hintennach ihm zur Last gelegt und vielleicht schlimme Folgen für ihn hätte haben können.
Einige Wochen nach dem so erschreckenden und doch so harmlos verlaufenen Vorfall mit den Schlangen, saßen unsere Freunde wieder am Sonntagnachmittag auf ihrem Lieblingsplätzchen am Bach.
Sie unterhielten sich über die Fortschritte, die der Maulwurf gemacht hatte, und die Aussichten auf einen baldigen Durchbruch, der ihnen einen Weg zur Flucht öffnen würde.
Helling fragte seinen Freund: »Wie lange glaubst du, daß es noch dauern kann, bis der Durchschlag erfolgt?«
»Zwei Monate zum mindesten, im schlimmsten Falle deren acht. Der Spielraum ist ziemlich weit, weil mir die nötigen Anhaltspunkte fehlen, um genau zu berechnen, wie weit es von der Höhle bis zum Tale ist, in das mein Tunnel münden soll. Erschwerende Zufälle befürchte ich jetzt nicht mehr: solche könnten allerdings die Vollendung des Werkes um Monate verzögern, wenn nicht ganz in Frage stellen. Für alle Fälle habe ich übrigens jetzt schon alle Vorbereitungen zur Flucht getroffen und die Ballen gepackt, in denen wir das Notwendigste mitnehmen.«
»Wie denkst du dir das eigentlich?« fragte der Leutnant. »Wir können uns doch auf einer Flucht zu Fuße nicht mit allem Bedarf beladen, mit Lebensmitteln und Wasserschläuchen?«
»Daran ist natürlich nicht zu denken; doch werden wir in der Bayudasteppe am Wadi Mokattam gewiß auf Araberstämme treffen, von denen wir Kamele, Speise und Wasserschläuche einhandeln können; denn das betreiben sie dort als Gewerbe. An Geld fehlt es uns ja glücklicherweise nicht. Eine Flucht durch die Wüste ohne Kamele wäre aussichtslos.«
Nachdem sie noch eine Weile über diesen Gegenstand geredet hatten, bat Helling den Ingenieur, nunmehr das so oft unterbrochene Gespräch über das Übel in der Welt zum Abschluß zu bringen, und seinen begierigen Zuhörern auseinanderzusetzen, auf welchem Wege er glaube, daß die Menschheit zu einer Erlösung von allem Übel gelangen könne.
Sieger ergriff alsbald das Wort, indem er begann: »Nach allem, was wir bisher über diesen Gegenstand geredet haben, werden wir zugeben müssen, daß weitaus das meiste und schlimmste Übel dasjenige ist, das wir selber verschuldet haben oder das andere Menschen uns zufügen. Das sind also vermeidliche Übel. Schalten wir diese alle aus und nehmen wir an, daß kein Mensch mehr dem anderen etwas Böses zufügen würde, weder mit der Tat, noch mit Worten oder auch nur Mienen und Gebärden, ja nicht einmal in Gedanken, daß alle einander von Herzen lieben lernten, wie es Gottes und Jesu Gebot ist, daß jeder nur noch bestrebt wäre, dem anderen Freude zu machen, Gutes und Liebes zu erweisen und ihn glücklich zu machen, — was bliebe dann noch übrig an Übel in der Welt?«
»Nichts als die wenigen Gebrechen und Krankheiten, Unglücksfälle und Schicksalsschläge, an denen kein Mensch schuld trägt,« beeilte sich Helling zu erwidern.
»Gut! Es könnte also noch ausnahmsweise einige Blindgeborene, Taubstumme und von Geburt an verkrüppelte Menschen geben. Aber schon jetzt kann man sehen, daß die meisten dieser ›Unglücklichen‹, wie wir sie zu nennen pflegen, durchaus nicht so unglücklich sind. Ich habe mich oft genug gewundert, wie fröhlich, ja wie glücklich gerade Blinde und Taubstumme zu sein pflegen, besonders aber auch Blödsinnige und Geistesschwache. Wenn nun vollends alle ihre Mitmenschen wetteiferten, diesen Armen, sowie den wenigen Kranken oder Verunglückten, die es noch gäbe, alle Liebe zu erweisen, gewiß! auch sie alle könnten glücklich sein: Hilfe, Trost, alle möglichen Erleichterungen, Freundlichkeiten und Freuden würden ihnen in besonders reichem Maße erwiesen.«
»Das ist wahr!« sagte Josef: »Und daß dann auch Alter und Tod keine schlimmen Übel mehr wären, haben Sie schon gesagt und es ist sehr wohl glaubwürdig.«
»Bleiben also noch die Schicksalsschläge,« bemerkte der Leutnant.
»Ja!« sagte Sieger: »Aber was gäbe es noch für schwere Schicksalsschläge? Verluste an Hab und Gut? Die uns liebenden Mitmenschen würden sich beeilen, sie uns zu ersetzen, Krankheit, Unglücksfälle oder der Tod eines unserer Lieben? Unser Glaube, unsere Hoffnung würden sie uns erleichtern und die herzliche Teilnahme und Liebe unserer Nächsten würde ihnen den bitteren Stachel nehmen. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß alle unvermeidlichen Übel von selber verschwinden würden, sobald kein Mensch dem anderen mehr Böses zufügen würde, denn sie stehen ja doch in der Hand unseres himmlischen Vaters, der sie als Zucht- und Erziehungsmittel braucht, und auf sie verzichten könnte und würde, sobald wir dieser Zucht und Züchtigung nicht mehr bedürfen. Da würden Krankheiten, Unfälle und Gebrechen aus der Welt verschwinden, wie Jesaias sagt: ›Ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk: und soll nicht mehr darinnen gehöret werden die Stimme des Weinens, noch die Stimme des Klagens. Es sollen nicht mehr da sein Kinder, die ihre Tage nicht erreichen, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern die Knaben von hundert Jahren sollen sterben.‹«
»Das Schwierige ist es eben, die sündigen Menschen dazu zu bringen, daß sie einander nichts Böses mehr zufügen,« warf Helling ein.
»Gewiß! Zunächst müssen wir lernen, bei uns selber anfangen und nicht immer nur die Anderen tadeln, ermahnen und anders machen wollen. So lange jeder die Welt verbessern will, sich selber aber nicht bessert, wohl auch meint, es nicht nötig zu haben, weil seine Fehler ihm nicht so wehe tun, wie die Fehler der Anderen, so lange wird auch die Welt nie besser, weil jeder einzelne dieser unverbesserlichen Weltverbesserer ein Teil dieser Welt ist. Das ist auch der Fluch unseres Parteiwesens: alle behaupten, bessere Zustände schaffen zu wollen, verfolgen aber nur selbstsüchtige Ziele, wollen ihre Mitmenschen, die Zustände und die Welt so umwandeln, daß sie den Vorteil und Genuß davon hätten, aber sich selber zu bessern, daß auch die anderen eine Freude an ihnen haben könnten, daran denken sie nicht im entferntesten.«
»Ich glaube,« sagte der Leutnant, »wenn wir selber niemand mehr Böses zufügten, so wären wir so glücklich und zufrieden mit unserem guten Gewissen, daß wir fröhlich Unrecht dulden und alle Lasten des Lebens tragen könnten. Ach! hätte ich das nur früher erkannt, so müßte ich keine so schwere Bürde durchs Leben schleppen!«
»Sollen wir nur uns selber bessern?« fragte Josef, »und die Andern sein lassen, wie sie wollen?«
»Nein!« erwiderte Sieger: »Wir sollen Alle mild und liebevoll mahnen und auf den Weg des Guten zu führen suchen, der ja auch für sie der einzige Weg zum Glück ist. Aber, wie Onkel Helling sagte, das ist sehr schwierig. Da müssen wir vor allem an der Jugend arbeiten, die leichter zu lenken, zu belehren und zu überzeugen ist. Die Schule müßte den alten chinesischen Wahn aufgeben, daß alles Heil an Wissen, Wissen und noch mehr Wissen hänge, und daß glänzende Prüfungsergebnisse höheren Verstand, höhere Bildung, höhere Gaben und Fähigkeiten gewährleisten. Das ist zurzeit die herrschende Meinung bei uns, wie sie es in China seit Jahrtausenden ist. Nur haben die Chinesen vor uns den unendlichen Vorzug voraus, daß sie die Erziehung zur Elternverehrung und zur Höflichkeit gegen jedermann noch höher schätzen, als den eitlen Bildungswahn, der auf aufblasender Vielwisserei beruht.«
Hier fiel Helling wieder ein: »Ich glaube auch, wenn unsere Schule zu einer Bildungsanstalt für Geist und Gemüt würde, auf lebendig christlicher Grundlage für alles Edle und Gute begeistern würde, statt sich vor allem mit der Überlastung des Gedächtnisses zu bemühen, so würde bald ein besseres und glücklicheres Geschlecht heranblühen. Allein die Erlösung von allem Übel, wie du sie erträumst, halte ich für ausgeschlossen, so wie die Menschen nun eben leider sind.«
»Nicht aber wenn sie anders werden, und das können sie. Denn zweifellos hat es in grauer Vorzeit Zeiten gegeben, wo die Menschen besser und daher glücklicher waren, oder vielmehr wirklich gut und deshalb auch wirklich glücklich gewesen sind?
»Das ist die Sage vom verlorenen Paradies,« seufzte Onkel Siegmund.
»Es handelt sich nicht um Sagen, sondern um geschichtliche Tatsachen, sonst wären diese Erinnerungen nicht so lebendig bei allen Völkern des Erdballs.«
»O Papa!« bat Fanny: »Erzähle uns doch etwas vom verlorenen Paradies!«
»Das will ich eben tun,« antwortete ihr Vater: »Durch alle Völker der Erde geht das Sehnen nach einem verlorenen Paradiese, von dem die Kunde sich durch die Jahrtausende fortgepflanzt hat von den Eltern auf die Kinder.
»Die Allgemeinheit dieser Berichte und ihre Gleichartigkeit in den wesentlichsten Punkten verbieten es, meiner Ansicht nach, sie in das Reich der Sage zu verweisen: vielmehr dürfen wir sie als vorgeschichtliche, aber deshalb nicht ungeschichtliche Erinnerungen ansprechen. Jedes Volk hat sie freilich in seiner Weise sagenhaft ausgeschmückt.
»Wir haben zunächst den biblischen Bericht über das verlorene Paradies, der sich von allen anderen dadurch unterscheidet, daß er uns von den ersten Menschen erzählt, die durch den Sündenfall ihr Paradies verloren. Bei den Heidenvölkern aber hören wir von einer Zeit, da schon viele Menschen die Erde bevölkerten, die in Unschuld und Glück miteinander lebten. Allen diesen Erinnerungen ist gemeinsam, daß sie betonen, daß die Menschen damals noch harmlos und gut und eben deshalb auch glücklich waren. Sie fassen also das Böse in der Welt als Folge der Sünde auf, unzertrennlich mit ihr im Zusammenhang stehend, und insofern stimmen sie mit dem biblischen Bericht überein.
»Was uns die verschiedenen Völker über das Verlorene Paradies zu erzählen wissen, ist so eigenartig und köstlich, daß es wohl der Mühe wert wäre, alle diese Sagen zu sammeln und in einem Buche zusammenzustellen.«
»Jetzt sagst du aber selbst ›Sagen‹!« bemerkte Johannes.
»Jawohl! Nur müßt ihr wissen, daß ich eben unter Sage kein Märchen verstehe, sondern wirkliche Ereignisse, die nur beim Weiter- und Weitererzählen immer mehr verändert und ausgeschmückt wurden durch die dichterische Phantasie der Erzähler, verbunden mit ihrem heidnischen Götterglauben, soweit dieser bei einzelnen dieser Sagen hereinspielt.
»So erzählten die Ureinwohner Mexikos, daß der Gott Quezalcoatl einst in einer mit Blumengewinden umkränzten Muschel über das Meer nach Mexikos Küsten schwamm. Er kam von Osten, also wohl von Europa, und wird geschildert als ein schöner Mann mit freundlichen blauen Augen und einem blonden Vollbart. Er war mild, voller Sanftmut und Leutseligkeit, und wollte nichts wissen von blutigen Tier- und Menschenopfern: nur Blumen und Früchte durfte man ihm darbringen. Wohlgeruch ging vor ihm her und liebliche Düfte folgten ihm. Vögel von wunderbarer Farbenpracht umflatterten ihn, vor allem der schönste aller Vögel, Quezal.
»Als er das Land beherrschte, da hatten die Menschen alles im Überfluß, ohne anstrengende Arbeit, Liebe und Frieden bereiteten ihnen sonnige Tage. Nachdem er aber wieder zurückgekehrt war in seine unbekannte ferne Heimat, begann das Elend, Mord, Krieg und Blutvergießen für die Kinder Mexikos.«
»Das scheint ja fast wie eine Erinnerung an einen edlen Europäer,« sagte Helling nachdenklich, »vielleicht einen Wikinger deutschen Geblüts, der den roten Söhnen Mexikos Gesittung und Glück brachte, nachdem sie ihn auf den Thron erhoben. Wie anders zeigten sich später die spanischen Eroberer und leider auch die Deutschen!«
Sieger aber fuhr fort: »An einen weißen König, den Mwesi, knüpft sich merkwürdigerweise auch die Erinnerung der Neger Urundis an die verschwundene, selige Zeit. Ein ganzes Geschlecht dieser weißen oder Mond-Könige soll über ein weites Reich im Herzen Afrikas geherrscht haben, und unter ihnen war das Volk glücklich und zufrieden, denn es ging ihm gut. Der letzte dieser Könige kam von einem Kriegszuge nicht zurück, doch glaubt das Volk fest, daß er einst von Norden her wiederkehren werde und mit ihm das verlorene Glück.
»So hatten die alten Griechen und Römer ihre Sagen vom Goldenen Zeitalter, ja zur Römerzeit glaubte man noch an das Vorhandensein der Glückseligen Inseln im Atlantischen Ozean, von denen man wohl sichere Kunde haben mußte, denn ein Römer machte einmal in allem Ernste den Vorschlag, dorthin auszuwandern, um dem unheilvollen Elend in der Heimat zu entrinnen.«
»Vielleicht ist mit diesen Seligen Inseln Amerika selber gemeint,« vermutete der Leutnant, »oder die Antillen. Aber wenn die Römer dorthin ausgewandert wären, hätten sie wohl nur ihr Elend dorthin verpflanzt, ohne es selber los zu werden, wie es später die Spanier taten und die anderen Völker, die Süd- und Nordamerika überfluteten. Denn das herrlichste Land kann kein Paradies sein, wenn schlechte Menschen es bevölkern.«
»Die meisten Völker,« fuhr der Ingenieur fort, »kennen außer diesen seligen Erinnerungen aus vorgeschichtlicher Urzeit noch eine goldene Zeit, die im vollen Glanze der Geschichte strahlt, und auf deren einstige Wiederkehr sie sehnsüchtig hoffen. Das ist für die Israeliten das glanzvolle Reich Salomos, das nach ihrer Hoffnung der Messias wieder aufrichten soll. Für die Indianer Nordamerikas ist es die Zeit, da sie noch frei ihre wildreichen Jagdgründe beherrschten, ehe die Weißen kamen, ihnen ihr Land und ihr Glück zu rauben. Für die Völker Perus ist es die Erinnerung an die Herrlichkeit und das Glück des Inkareiches, das die Spanier zertrümmerten. Für uns Deutsche und noch mehr für die Sizilianer ist es der Glanz der Hohenstaufenherrschaft, namentlich unter Friedrich dem Zweiten, auf dessen herrliche Wiederkunft sie hoffen.«
»Wieso die Sizilianer?« fragte Helling verwundert.
»Gewiß! Die Erinnerung an das Glück, das sie unter dieses größten Kaisers wohlwollender Herrschaft genossen, ist bei den Sizilianern lebendiger als bei uns. Sie glauben jetzt noch nach Jahrhunderten nicht an seinen Tod und erwarten voll Verlangen seine Wiederkunft und die Wiederaufrichtung des strahlenden Königreichs beider Sizilien, als Perle im Heiligen Römischen Reich. Berichtet doch Goethe, wie er den Sizilianern von Kaiser Friedrich erzählen mußte, aber genötigt war, ihnen seinen Tod zu verheimlichen, um nicht ihren höchsten Unwillen zu erregen.«
»Das nenne ich Ghibellinentreue!« rief Helling aus.
Alles, was wir über die Erlösung von dem Übel gesagt haben,« fuhr Sieger fort, »könnte als ein schöner, aber vorerst unerfüllbarer Traum angesehen werden, wenn nicht der Beweis geliefert werden könnte, daß es schon in der Gegenwart tatsächlich möglich ist. Und diesen Beweis will ich jetzt antreten.«
»Ich bin wahrhaftig begierig auf diesen Beweis,« rief Helling aus: »Denn ich muß gestehen, daß ich zwar von einer zukünftigen Entwicklung die Überwindung des Bösen hoffe, daß mir jedoch die Gegenwart noch lange nicht reif dazu erscheint.«
»Diese weitverbreitete Meinung,« erwiderte der Ingenieur, »läßt sich widerlegen durch die einfache Tatsache, daß in mehr als einem Falle die Ausschaltung des Übels nahezu oder ganz gelang. Mir sind hauptsächlich drei merkwürdige Fälle dieser Art bekannt: die Harmonie, Pitcairn und die Insel Felsenburg, und diese möchte ich in aller Kürze schildern.
»Was die Harmonie betrifft, so besitzen wir über sie die verschiedenartigsten Darstellungen aus der Feder von genauen Kennern, die teils selber zu ihren Mitgliedern gehörten oder ausgetretene Mitglieder waren, teils jahrelang in der Ansiedlung weilten. Die einen sprühen leidenschaftlichen Haß und lassen kein gutes Haar am Schöpfer und Leiter der Gesellschaft, den sie mit den gemeinsten Schmähungen überhäufen. Selbstverständlich spricht hieraus eine persönliche Gereiztheit, die es nötig macht, die Berichte mit größter Vorsicht aufzunehmen, so sehr die Verfasser betonen, daß sie nur die reinste Wahrheit berichten. Immerhin wird man sich sagen müssen, daß die Erbitterung dieser Zeugen nicht ganz grundlos gewesen sein dürfte. Die anderen Darstellungen strömen über von Begeisterung und überschwenglichem Lobe. Auch das mahnt zur Vorsicht gegenüber ihrer Glaubwürdigkeit. Aus den beiderseitigen Darstellungen läßt sich ein einigermaßen zuverlässiges Bild dadurch gewinnen, daß die Feinde der Harmonie gewisse Vorzüge, die Freunde gewisse Fehler des Oberhauptes und seiner Regierungsweise zugeben, so daß in solchen Punkten das Zeugnis beider Parteien übereinstimmt.
»Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts lebte im württembergischen Dorfe Iptingen der Landwirt Georg Rapp, der sich viel mit Durchforschung der Bibel und schwärmerischen Schriften abgab. Bald verkündigte er den zahlreichen Zuhörern, die seine Beredsamkeit um ihn sammelte, ein strengeres Christentum mit Enthaltsamkeit von allen sinnlichen Genüssen und Gleichheit aller.
»Im Jahr 1806 erbaute er mit etwa siebenhundert seiner Anhänger die Stadt ›Harmonie‹ in Pennsylvanien. Die fleißigen Schwaben wandelten bald den Urwald in fruchtbare Äcker und saftige Wiesen um.
»Sie lebten in Gütergemeinschaft, das heißt, Rapp verwaltete das Gemeindevermögen und teilte jedem sein bescheidenes Maß an Lebensmitteln und sonstigen Bedürfnissen zu. Die Leute ertrugen ein entbehrungsreiches Leben in harter Arbeit gerne, im Hinblick auf das nahe Ende der Welt, das Rapp ihnen verkündigte. Ja, sie ließen sich sogar von ihm das Joch der Ehelosigkeit auflegen.
»Was mir nicht gefällt, ist, daß Rapp selber für sich das Recht der Vielweiberei in Anspruch nahm, mit den Seinen ein üppigeres Leben, frei vom Arbeitszwang führend.
»Später verkaufte er die Ansiedlung mit großem Gewinn, und die harte Arbeit der Urbarmachung begann von neuem. Als auch die neue Ansiedlung in Blüte stand, veräußerte er sie wiederum und gründete ›Ökonomie‹ am Ohio.
»Auch hier entstanden in der Wildnis bald lachende Fluren.
»Die Ansiedler scheinen sich wohl gefühlt zu haben. Sie waren frei von allen Sorgen wegen ihres Unterhalts, Nahrung und Kleidung. Sie glaubten und gehorchten unbedingt ihrem Oberhaupt, das ihr König, Priester und Prophet war. Nur dieser Ausbau auf streng monarchischer Unterlage ermöglichte es, daß bei ihnen der Versuch einer Gütergemeinschaft nicht so kläglich scheiterte, wie bei allen anderen derartigen Unternehmen. Doch war die Sekte natürlich zum Aussterben verdammt, infolge des Gebots der Ehelosigkeit.«
»Verzeihe!« sagte Helling: »Eine Erlösung von dem Übel kann ich in dieser tyrannischen Willkürherrschaft nicht sehen.«
»Ich auch nicht,« gestand Sieger: »Vor allem ist mir die Unterdrückung des fröhlichen Kinderlebens zuwider, das auch unmöglich nach dem Sinn des großen Kinderfreundes Jesus sein kann. Um so ansprechender scheinen mir die beiden anderen Fälle.«
Meine zweite Geschichte fängt schlimm an,« fuhr der Ingenieur fort: »Im Jahre 1788 hielt sich Kapitän Bligh mit der englischen Brigg ›Bounty‹ in Tahiti auf, um Setzlinge des Brotfruchtbaums zu holen, der in Amerika heimisch gemacht werden sollte.
»Seine Strenge und die Lust, auf der herrlichen Südseeinsel ein ungebundenes Leben zu führen, trieb seine Mannschaft zur Meuterei, nachdem die Rückfahrt angetreten worden war. Der Kapitän und achtzehn Mann, die ihm treu geblieben waren, wurden in einem Boote ausgesetzt, mit so geringen Vorräten an Wasser und Lebensmitteln, daß ihr Untergang unvermeidlich schien, auch wenn das überlastete Boot nicht bald sinken würde, was das wahrscheinlichste war.
»Die Rädelsführer der Meuterer, der Steuermann Fletcher Christian und der Matrose Alexander Smith befürchteten mit Recht, daß eine Rückkehr nach Tahiti ihnen verhängnisvoll werden könne. Viele leichtsinnigere Gefährten forderten sie jedoch so stürmisch, daß Christian, der sich zum Anführer aufgeworfen hatte, ihnen den Willen tun mußte.
»Er selber mit seinen klügeren Gefährten beschloß, die unbewohnte und fruchtbare Insel Pitcairn aufzusuchen, die von allem Schiffsverkehr fern lag und den vorzüglichsten Schlupfwinkel bot. Mehrere Männer von Tahiti schlossen sich ihnen an, aber auch junge Mädchen, die den Matrosen als Gattinnen folgen wollten, darunter die reizende Jucata, die Tochter des Königs der Insel, die Alexander Smith zur Braut gewonnen hatte.
»Fletcher Christian war vorsichtig genug, seinen zurückbleibenden Kameraden nicht zu verraten, wohin er sich wendete. Diese führten nun ein üppiges Leben auf Tahiti, verfeindeten sich jedoch die Eingeborenen durch ihren Übermut und ihre Roheit.
»Wie durch ein Wunder entging Kapitän Bligh mit seinen Unglücksgefährten dem Untergang und gelangte nach schrecklichen Mühsalen nach Timor und von dort nach England. Auf die Kunde der Meuterei wurde ein Kriegschiff nach Tahiti gesandt, dem die dortigen Meuterer durch die verbitterten Insulaner ausgeliefert wurden. Sie wurden in England verurteilt und gehängt.
»Inzwischen hatten sich die anderen Meuterer auf Pitcairn niedergelassen.
»Gleich einer uneinnehmbaren Festung ragen die Felsen dieses Eilands schroff aus dem Meere empor. Nur an einer Stelle springt ein schmales Riff in die See hinaus, gebogen wie ein Horn, und so einen sicheren Hafen bildend, der einem Schiffe die Landung ermöglicht. Hier lag die ›Bounty‹ geborgen.
»Von dieser Bucht führte ein steiler Felspfad durch mehrere Engpässe auf die Höhe. Im Notfall genügten wenige Mann, um diesen einzigen Zugang gegen ein ganzes Heer zu verteidigen, zumal die Schiffsgeschütze hinaufgeschafft wurden und es an Munition nicht mangelte.
»Oben lagen ausgedehnte Matten fruchtbarsten Landes, rings umschlossen von steilen Felswänden. Da wuchsen schattige Brotfruchtbäume, Bananen, Mangos, Kokospalmen und andere Bäume, deren Früchte allein schon genügten, eine zahlreiche Bevölkerung zu ernähren, und es blieb noch Land genug zum Anbau übrig.
»Mehrere Süßwasserquellen sprudelten aus den Felsen hervor und schlängelten sich in kristallklaren Bächen durch die grünenden Gefilde zwischen den jäh abfallenden, schwindelnden Felsenwällen. Hunderttausende brütender Seevögel nisteten im Gestein und lieferten Eier und Geflügelbraten in unerschöpflichen Mengen. Auch an jagdbarem Wilde fehlte es nicht. Unten am Strande gab es reiche Austernbänke und das Meer wimmelte von Fischen.
»Einen günstigeren Platz hätten die Meuterer nicht finden können: es war eine uneinnehmbare Festung und zugleich ein irdisches Paradies. Wären nur die Menschen, die es zum ersten Male bevölkerten, dieses Paradieses würdiger gewesen!«
»Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual,« zitierte Helling.
»Ja, dies sollte sich hier erweisen,« fuhr Sieger fort: »Die Ansiedler bauten sich Hütten auf der Höhe im Grünen. Dann schafften sie alles aus der Brigg an Land, was ihnen dienlich sein konnte, das heißt alles, was die ›Bounty‹ überhaupt barg, denn was hätte es geben können, für das sie keine Verwendung gehabt hätten, abgeschlossen von der ganzen übrigen Welt, ohne Möglichkeit, etwas einzuhandeln?
»Da es schon zu Anfang nicht ohne Streitigkeiten abging, wollte Fletcher Christian seinen Leuten jede Möglichkeit rauben, die Insel zu verlassen, und hoffte auf diese Weise seine Herrschaft über sie zu befestigen. Auch fürchtete er, die in der Bountybucht schaukelnde Brigg könnte einmal einem zufällig vorübersegelnden Schiffe ihre Anwesenheit auf der Insel verraten. Deshalb schlich er sich am 30. Januar 1790 hinab und legte Feuer in das prächtige Fahrzeug, das nun ein Raub der Flammen wurde.«
»Wie schade!« rief Johannes aus: »Wenn das Schiff zerstört werden sollte, hätten sie es doch stranden lassen sollen und es ganz auseinandernehmen. Was hätten sie mit den vielen Planken, Balken und Brettern alles anfangen, besonders sich schöne Häuser daraus bauen können!«
»Vielleicht dachte der Steuermann daran,« meinte sein Vater: »Aber das ging deshalb nicht, weil die meisten andern von einer Vernichtung des Schiffes nichts wissen wollten, das ihnen die einzige Hoffnung gab, später einmal wieder bewohnte Gegenden aufzusuchen. Deshalb erregte die Tat auch allgemeine Empörung. Besonders die Tahitier gerieten in Wut: sie hatten keine Strafe zu fürchten und wollten nicht für immer verhindert sein, ihre schöne Heimatinsel und ihre dortigen Lieben wieder aufzusuchen. Nun ihnen diese Hoffnung geraubt war, gärte ein solcher Groll in ihnen, daß Christian sich in den unzugänglichsten Felsen verbergen mußte. Er hatte durch seine eigenmächtige Tat gerade das Gegenteil von dem erreicht, was er damit bezweckte.
»Nur in der Nacht, von Hunger und Durst getrieben, wagte er sich aus seinem Versteck hervor. Doch die Tahitier erkundeten seine nächtlichen Ausflüge und legten sich in den Hinterhalt. Eines Morgens wurde sein blutiger Leichnam bei der Quelle gefunden, in der er seinen Durst zu löschen pflegte.
»Von da an nahmen die Streitigkeiten und Kämpfe kein Ende. Es dauerte nicht lange, so waren nur noch drei Männer auf der Insel übrig, drei Weiße: Smith, Young und Baker. Außer ihren Frauen waren noch die Witwen und die kleinen Kinder der Erschlagenen und Ermordeten da.
»Baker hatte die unselige Kunst erfunden, aus einer Wurzel ein stark berauschendes Getränk zu bereiten, und gab sich mit zügelloser Gier dem Genuß des betäubenden Gebräus hin. Zuletzt verfiel er in Säuferwahnsinn und stürzte sich von einer Klippe ins Meer.
»All diese grausigen Erlebnisse machten einen erschütternden Eindruck aus die allein überlebenden Männer, Smith und Young. Die Reue, die aus dem Entsetzen und der Furcht vor einem ähnlichen Untergange mit Schrecken hervorwuchs, trieb sie zurück zu ihrem längst vergessenen Gott und zum Gebet. Die Heilige Schrift und manches fromme und gute Buch, das sie mit der Schiffsbibliothek gerettet hatten, gab ihnen Trost und wandelte ihre Herzen von Grund aus um. Dann begannen sie die heidnischen Weiber in der christlichen Lehre zu unterrichten und hatten die Freude, in ihnen verständige Schülerinnen und zugängliche Gemüter zu finden.
»Vor allem Jucata, die Königstochter von Tahiti, Smiths Gemahlin, zeigte einen ganz hervorragenden Verstand, eine ungewöhnliche Begabung und eine kindliche Seele, die für alles Gute und Edle empfänglich war. Sie wurde bald eine so lebendige, in aller Erkenntnis geförderte Christin, daß sie ihrem Gatten ein rechter Trost und eine segenspendende Gehilfin wurde.
»Für die nun heranwachsenden Kinder richtete Young eine Schule ein. Er hatte in seiner Jugend eine vorzügliche Erziehung genossen und verfügte über wirklich hervorragende Kenntnisse. Dazu stand ihm die reichhaltige Schiffsbibliothek zur Verfügung. So konnte er die Kleinen in allem Wissenswerten und Guten unterrichten.
»Smith und Jucata übernahmen den Religionsunterricht; außerdem ließ es sich Smith angelegen sein, die Kinder allerlei Handwerke zu lehren und sie durch leibliche Übungen zu kräftigen. Das Hauptaugenmerk aber richteten die drei darauf, alle sich regenden bösen Triebe im Keime zu ersticken, und ihre eigene Schuld mit den furchtbaren Erfahrungen, die sie gemacht hatten, befähigten sie, ihren eifrigen Schülern und Schülerinnen recht eindringlich klar zu machen, welch ein schlimmes Ding es um die Sünde sei und welchen Jammer sie über die Schuldigen bringe.
»Die Erfolge ihrer redlichen Bemühungen übertrafen ihre kühnsten Erwartungen: unter ihren Augen und ihrer liebevollen Fürsorge wuchs ein junges Geschlecht heran, das in fröhlicher Gottesfurcht nur dem Guten diente und von warmherziger Liebe zu den Eltern und Geschwistern beseelt war: denn sie alle bildeten nur noch eine große, einträchtige Familie.
»Um jede Erinnerung an sein früheres, verabscheutes Leben zu tilgen, nannte sich Smith fortan Adams. Wenn seine alte Schuld ihn drückte und wenn er verzagen wollte über der Größe seiner Aufgabe und seiner Unwürdigkeit, so war es, nächst dem Gebet, seine treue Jucata, die ihn aufrichtete. Vor allem drängte sie ihn immer, daß er sie durch die heilige Taufe in den Bund der Christenheit aufnähme. Er aber sträubte sich gegen den ungeheuerlichen Gedanken, ein so heiliges Amt wie das Priesteramt auszuüben, dessen er sich so unwert fühlte, als ein so großer Sünder, ja Verbrecher.
»Als aber Young an einem Lungenleiden starb, an dem er schon lange litt, stellte es Jucata ihrem Gatten als seine Pflicht dar, der Priester der hirtenlosen Gemeinde zu werden, und hielt ihm vor allem das Beispiel des Saulus vor, der als Paulus die hohen Aufgaben übernahm, zu denen ihn Gott berief, obgleich auch er sich ihrer nicht wert fühlte und das Bewußtsein hatte, der Vornehmste unter den Sündern zu sein.
»Da konnte sich Adams, wie er sich ja jetzt nannte, schließlich der Einsicht nicht verschließen, daß Gottes Fügung ihn tatsächlich dazu berufen habe, auch eine für ihn so schwere Pflicht zu übernehmen, und daß er sich an der großen Gnade, die er erfahren durfte, versündigen würde, wenn er sich länger sträube, den Seelen, die ihm anvertraut waren, als christlicher Priester zu dienen. Er mußte ja schon lange, als der einzige Mann auf der Insel, die sonntäglichen Gottesdienste halten, und es bestand keine Aussicht, daß in absehbarer Zeit ein Missionar oder Geistlicher in diese Einöde gelangen werde.
»So taufte er denn zuerst seine geliebte Jucata, dann die anderen Frauen, die ebenso sehnsüchtig danach verlangten, und die neunzehn Kinder, die bis jetzt den Nachwuchs der Gemeinde bildeten. Später kam die Zeit, da er auch glückliche Ehebündnisse einzusegnen hatte.«
»Das Bild, das du uns von Pitcairn entworfen hast,« sagte Onkel Siegmund, »ist allerdings dasjenige eines irdischen Paradieses. Allein wie gelangte Kunde von diesem weltfernen Eilande nach Europa?«
»Das geschah erst nach fünfunddreißig Jahren, obgleich es schon früher hätte der Fall sein können. Denn schon im Jahre 1803, also im vierten Jahre nach der Besiedelung Pitcairns durch die Meuterer, landete Kapitän Folger auf der Insel. 1814 weilte Kapitän Thomas Staines von der englischen Fregatte ›Breton‹ mehrere Tage als Gast bei Adams und 1821 lief ein amerikanisches Kauffahrteischiff das Eiland an. Aber diese Besucher, die keine Ahnung davon besaßen, daß es die Meuterer der ›Bounty‹ waren, die hier Zuflucht gesucht hatten, veröffentlichten keine Berichte über ihren Besuch, oder, wenn sie es taten, waren sie doch nicht derart, daß sie Aufsehen erregt hätten.
»Erst als im Jahre 1824 der englische Kapitän Beechy auf Pitcairn gelandet war und eine begeisterte Schilderung seiner dortigen Erlebnisse und Beobachtungen entwarf, lief die märchenhafte Kunde durch ganz England und erweckte die allgemeine lebhafteste Teilnahme.
»Beechy kannte die weitverbreitete Beschreibung Pitcairns durch ihren Entdecker Carteret; eine andere Kunde über die Insel hatte er nicht. Er hielt daher das Eiland für unbewohnt, wußte jedoch, daß es reich an herrlichem Trinkwasser war, und weil es seinem Schiff an solchem zu mangeln begann, beschloß er eine Landung, um sich damit zu versehen. Da ihm aber der einzige Zugang unbekannt war, fuhr sein Boot an den Klippen entlang, ohne daß sich eine Landungsmöglichkeit zeigte.
»Höchlichst erstaunt war er, als er sich in bestem Englisch zurufen hörte, er müsse das nördliche Ende des Riffes gewinnen, wo sich die einzige Bucht befinde, die eine Annäherung an die Küste ermögliche.
»Aufschauend, gewahrten der Kapitän und die acht Matrosen, die das Boot ruderten, einen ehrwürdigen Greis mit schönem edlen Antlitz und flatternden weißen Locken, der nach der angewiesenen Richtung zeigte.
»Bald landeten die Engländer im Hafen und sahen sich von einer Schar fröhlicher Kinder umringt, die Beechy zuriefen: ›Vater Adams hat gesagt, wir sollen dich zu ihm führen!‹
»Mit höchster Verwunderung und größtem Wohlgefallen betrachtete der Kapitän diese lieblichen Kinder. Wohl waren ihre Gesichter von der südlichen Sonne bräunlich gebrannt, doch war es unverkennbar, daß alle der weißen Rasse angehörten. Zugleich aber mischte sich in die europäischen Züge, mehr oder weniger hervortretend, der Zauber tahitischer Lieblichkeit. Überhaupt waren all diese Gesichter von einer Schönheit, wie sie in der Alten Welt nur selten das Auge entzückt. Das Gewinnendste an diesem herzerfreuenden Anblick aber war der Ausdruck unschuldiger Heiterkeit, milder Sanftmut und kindlicher Bescheidenheit, der als ein von innen hervorbrechender Glanz die ansprechenden Züge verklärte. Ebenso ausnahmslos zeichneten sich die Gestalten der leichtbekleideten Kinder durch die Zierlichkeit des schlanken und doch kräftigen, vollen Wuchses aus, durch das Ebenmaß der Formen und durch die Blüte der Gesundheit und Frische, die über diese bevorzugten Geschöpfe ausgegossen war. Alle Bewegungen waren ungezwungen und leicht, dabei aber von unbeschreiblicher, natürlicher Anmut.
»Dem Kapitän wie den Matrosen erschienen diese reizenden Knaben und Mädchen wie höhere Wesen; bald sollten sie erfahren, daß auch die erwachsenen Bewohner der Insel, deren keiner, abgesehen von Vater Adams und einigen Frauen, mehr als vierunddreißig Jahre zählte, sämtlich die gleichen Vorzüge leiblicher Schönheit aufwiesen, verbunden mit geistiger Lebendigkeit und herzgewinnendem Wesen.
»Im Triumphe führten die Kinder die Gäste auf die Höhe, wo Beechy aufs Neue erstaunte über die freundlichen Gebäude, die sich in die lachenden, sorgfältig angebauten Fluren schmiegten.
»Der alte Adams und seine nicht minder ehrwürdige und noch immer wunderschöne Gattin Christine, die frühere Königstochter Jucata, empfingen den Kapitän und seine Begleiter mit so aufrichtiger Freude und strahlender Liebenswürdigkeit, daß ihnen allen so wohl ums Herz wurde, als kämen sie zu alten, geliebten Freunden.
»Sie wurden mit einem Festmahl bewirtet, an dem alle Einwohner teilnahmen; selbst die jungen Mütter mit ihren Säuglingen schlossen sich nicht aus.
»Hier sah Beechy eine große glückliche Familie, deren meiste Glieder leibliche Söhne, Töchter, Enkel und Enkelinnen des Vaters Adams waren, der wie ein Patriarch erschien und der wahre König des Inselreiches war, an dem alle mit Ehrfurcht und Liebe emporschauten, und dessen kleinstem Winke sie unbedingten, aber fröhlichen Gehorsam leisteten.
»Im Laufe der nächsten Tage befestigte sich dieser Eindruck. In den herzerhebenden Andachten und Gottesdiensten lernten die Gäste diesen außerordentlichen Mann auch als würdigen und geistesmächtigen Priester kennen, besonders auch bei einer Hochzeitfeier, wo er den Bund seiner Tochter Johanna mit dem hinterlassenen Sohne von Fletcher Christian einsegnete. Dieser ergreifenden Trauungshandlung folgte ein fröhliches Fest, das wie alle nicht seltenen Feste dieser Naturkinder, durch den harmlos frommen Sinn der Feiernden seine köstlichste Weihe empfing.
»Unschuld, Liebe, Friede und Freude verbanden und beseligten dieses wahrhaft glückliche Volk. Und da war Keines, das sich hinaussehnte in die Welt. Die Alten, die sie kannten, waren froh, ihren Mühsalen und Leidenschaften, ihren Versuchungen und Sünden entronnen zu sein. Und die Jungen lauschten staunend auf die Berichte von ihr, wie auf ferne Märchen, hatten aber kein Begehr, ihr Elend näher kennen zu lernen, von dem sie hier nichts empfanden.
»Beechy gewann im Laufe der wenigen Tage, die er hier zubringen konnte, des alten Adams Vertrauen so sehr, daß dieser ihm seine ganze Geschichte erzählte, die zwar ein demütiges Schuldbekenntnis darstellte, zugleich aber auch einen Preis der Allmacht göttlicher Gnade, die ein solches Wunder der Umwandlung vollbracht hatte, daß auf dem durch Streit und Mord mit so viel Blut getränktem Boden ein Paradies des Friedens erblühen konnte.
»Durch des Kapitäns Berichte in der Heimat wurde in England ein lebhaftes Interesse für jene einzigartige Siedlung erweckt. Sie ist seither häufig ausgesucht worden, und als die Bevölkerung so zunahm, daß ihr Pitcairn zu eng werden mußte, verpflanzte ein englisches Schiff einen Teil derselben auf eine andere fruchtbare Insel der Südsee, wohin die neuen Ansiedler ihr Glück und ihren Frieden Mitnahmen.«
»O wenn wir auch dort hin könnten!« rief Fanny sehnsüchtig, als ihr Vater diese Schilderung schloß.
»Oder wenn wir in Afrika ein solches Paradies gründen könnten,« meinte Johannes.
»Ja,« fügte Helling hinzu: »Welche schönere, edlere und beglückendere Aufgabe ließe sich denken? Warum wird sie denn nie verwirklicht, da uns die Geschichte der Meuterer auf Pitcairn lehrt, daß es durchaus im Bereiche der Möglichkeit liegt, schon in der Gegenwart das seit Jahrtausenden vergeblich zurückersehnte Goldene Zeitalter wieder herbeizuführen?«
»Das ist ja wohl nur eine ganze Ausnahme,« meinte Josef. »Anderswo wird man es nicht so zuwege bringen, wie Adams aus Pitcairn.«
»Doch!« widersprach Sieger: »Ich kenne nämlich noch eine ganz ähnliche Geschichte, die ich überschreiben möchte: ›Die Insel Felsenburg‹.«
Ich kann mich kurz fassen,« hub der Ingenieur diesen letzten Bericht an: »Oder vielmehr, ich muß das tun, weil diese Geschichte mir nicht mehr so recht im Gedächtnis ist. Das heißt, die Einzelheiten sind mir entschwunden, doch das, was ich noch zu sagen weiß, ist durchaus zuverlässige geschichtliche Wahrheit. Meine notgedrungene Kürze wird jedoch nichts schaden, da der Fall im Wesentlichen mit dem von Pitcairn übereinstimmt, und ich euch ja diesen so ausführlich schildern konnte.
»Diesmal war es ein Schiff, das an einer unbewohnten, aber fruchtbaren Insel scheiterte. Nur wenigen Insassen gelang es, sich an den Strand zu retten. Die Insel bot ihnen Nahrung im Überfluß, und das dem Ufer nahe liegende Wrack spendete ihnen noch der Hilfsmittel und Vorräte genug. Aber, genau wie auf Pitcairn, gab es zunächst blutige Händel, und zuletzt blieb nur noch ein junger Mann, ein Schwede, wenn ich nicht irre, ein junges Mädchen und die Witwe des Steuermanns übrig.
»Da sich diese Überlebenden darauf gefaßt machen mußten, jahrelang auf dieser einsamen, im Weltmeer verlorenen und weit von jedem Schiffskurse abliegenden Insel verweilen zu müssen, sah der junge Mann ein, daß es angesichts der Umstände zweckmäßig, ja notwendig sei, wenn er die beiden Frauen heirate. Nur so schien Eifersucht und Streit vermeidbar.«
»Eine Doppelehe?« fragte Helling bedenklich: »Das fängt wenig versprechend an! Kann das zu etwas Gutem führen?«
»Ich denke, wir müssen die Umstände vorurteilslos erwägen,« erwiderte Sieger, »übrigens sollten wir eben als Christen hierin nicht zu unerbittlich urteilen; fällt es uns doch nicht ein, dem Erzvater Abraham und andern Frommen des Alten Testaments, in denen wir erhabene Vorbilder sehen, zu verübeln, daß sie mehrere Frauen besaßen. Kommt es uns nicht schön und rührend vor, wie Jakob sieben Jahre um Rahel diente, und es deuchte ihm, es wären einzelne Tage, — so lieb hatte er sie. Laban aber betrog den Jakob und gab ihm seine älteste Tochter Lea. Der Getäuschte hat sie aber nicht etwa verstoßen, sondern er erhielt, auf seinen Einspruch hin, nach acht Tagen auch Rahel zur zweiten Frau, und ließ es sich gefallen, noch weitere sieben Jahre um sie zu dienen.
»Wir hören ferner noch, daß Rahel aus eigenem Entschluß ihrem Gatten ihre Magd Bilha zum Weibe gab, und daß Lea es mit ihrer Magd Silpa ebenso machte. Es fällt uns nicht ein, uns darüber zu entrüsten. Umsoweniger dürfen wir es dem schwedischen Robinson verübeln, wenn er einen Entschluß faßte, den die Lage, in die er sich versetzt sah, beinahe unumgänglich machte.
»Die beiden Frauen waren hiermit einverstanden, doch bedang sich die jüngere, das ledige Mädchen, vorsichtig aus, daß sie die alleinige rechtmäßige Gattin sein solle, wenn sie aus ihrer Einsamkeit erlöst würden und wieder in die Heimat zurückgelangten, wo eine Doppelehe unstatthaft sei, also die eine Verbindung gelöst werden müsse. Die Steuermannswitwe war mit dieser Bedingung einverstanden, die nicht unbillig erschien. Das Schiffswrack lieferte Tinte und Papier, so daß ein förmlicher Vertrag aufgesetzt werden konnte, den alle drei unterschrieben. Da weder Geistlicher noch Standesbeamter zugegen sein konnte, mußte das gegenseitige Gelöbnis vor Gott und die selbstverfaßte Eheurkunde die unmögliche Trauung durch Dritte ersetzen, und zweifellos wäre dies vorkommendenfalls von einer einsichtigen Behörde, in Würdigung der zwingenden Umstände, als der Abschluß einer vollkommen rechtsgültigen Ehe anerkannt worden.
»Die Insel bevölkerte sich rasch mit blühenden Kindern, die eine so gute christliche Erziehung erhielten, wie die Jugend auf Pitcairn. Auch alle notwendigen Handwerke wurden erlernt, vor allem aber Felder angebaut, Gärten angelegt, nach Bedürfnis Wohnhäuser errichtet, und was sich sonst als notwendig und wünschenswert erwies, ausgeführt.
»Die Heiraten fanden unter den Stiefgeschwistern statt, im zweiten Geschlecht aber zwischen Vettern und Basen. Da zeigte sich erst recht, wie notwendig die Doppelehe unter den obwaltenden Verhältnissen gewesen war.
»Es dauerte etwa fünfzig Jahre, bis die paradiesische Insel zum ersten Male von einem Schiffe angelaufen wurde. Da fand sich denn eine blühende, glückliche und zufriedene Bevölkerung, die in die Hunderte ging. Alle waren Nachkommen, Kinder, Enkel und Urenkel des einen Greises, der ihr verehrter König und geliebter Vater war, und mit seinen beiden hochbetagten Gattinnen in Gesundheit, Rüstigkeit und Geistesfrische lebte.
»In diesen fünfzig Jahren war nicht ein einziger Krankheits-, Todes- oder Unglücksfall auf der Insel erlebt worden. Aber auch, was noch mehr wert ist, kein Streit, der die Eintracht getrübt, kein Vergehen, das ein Gewissen beschwert, kein böses Wort oder Werk, das einem Herzen wehe getan hätte, hatte einen Schatten auf das sonnige Glück geworfen, dessen sich alle erfreuten.
»Ich glaube, daß dies in aller Kürze die geschichtlichen Tatsachen sind, die den vielen Robinsongeschichten zugrunde liegen, die sich ›Die Insel Felsenburg‹ nennen.«
»In der Tat,« sagte Helling: »Ich erinnere mich, als Knabe eine solche Erzählung gelesen zu haben, die mich ordentlich begeisterte; doch hätte ich nicht geglaubt, daß sie auf wirklichen Ereignissen beruht.«
»Es wäre mein Traum, ein solches irdisches Paradies zu verwirklichen,« schloß Sieger. »Die Weltgeschichte hat erwiesen, daß hiezu zwei grundlegende Bedingungen unerläßlich sind: erstens und vor allem eine lebendig christliche Grundlage, zweitens eine streng monarchische Verfassung. Das darf freilich keine Rappsche Tyrannei sein, sondern eine väterliche Regierung, fest und zielbewußt, und eine vollkommene aber freiwillige Unterordnung in unbedingtem, fröhlichem Gehorsam ohne viel Gesetze und irgendwelchen Zwang, aus Ehrfurcht und Liebe.«
Der Leutnant wandte nach einigem Nachdenken ein: »Ich begreife, daß auf der sogenannten Insel Felsenburg kein Fall von Widerspenstigkeit und Unbotmäßigkeit vorkam, weil die ganze Bevölkerung aus Kindern und Nachkommen des verehrten Oberhauptes bestand, die von klein auf im rechten Geiste erzogen waren. Ähnlich war es auf Pitcairn, wo nur zwei fromme und treuverbundene Freunde, bald aber ein einziger den Staat leiteten. Die wenigen Frauen, sämtlich Eingeborene aus Tahiti, mochten sich ihnen aus natürlicher Ehrfurcht unterordnen. Im übrigen waren es lauter Kinder, die leicht zu beeinflussen waren.
»Wie aber, wenn ein solches Friedensreich zunächst mit Erwachsenen gegründet wird, wie das Rappsche Unternehmen? Da ist es doch undenkbar, daß nicht einzelne schwierige Elemente sich darunter befinden, die mit der Zeit Unfrieden anrichten.«
»Da müßte allerdings gleich den Anfängen widerstanden werden,« erwiderte der Ingenieur: »Zunächst vernünftiges und eindringliches Zureden, väterliche Ermahnung und ernste Warnung. Falls dies nicht fruchtete, müßte der Störenfried oder Schädling aus der Gemeinde ausgeschlossen werden.«
»Ließe sich nicht ein solches Paradies auch auf demokratischer Grundlage errichten?« fragte Helling wieder.
»Unmöglich! Keine demokratische Regierung kann unter sich völlig eines Sinnes sein: verschiedene Meinungen und Streitigkeiten sind unvermeidlich, wo Mehrere zu regieren und zu entscheiden haben. Nun muß sich freilich die Minderheit der Mehrheit fügen, aber dadurch wird sie weder überzeugt noch befriedigt. Groll, Unwille und heimliche Umtriebe sind die Folge, und die Regierenden werden häufig gestürzt und durch andere ersetzt werden, denen es nicht besser ginge. Ist aber Zwiespalt in der Regierung, so ist Einigkeit bei den Untertanen unmöglich. Das gilt auch für ein demokratisches Reich mit frommer christlicher Unterlage. Wir wissen, daß das Reich Gottes auf streng monarchischer Ordnung aufgerichtet ist, und das ist göttliche Weisheit, die jedem Christen zum Vorbild dienen sollte. Übrigens haben sämtliche Erfahrungen bewiesen, daß alle die vielen Versuche, ein Reich der Eintracht, des Glücks und der Gerechtigkeit ohne religiöse Unterlage oder mit demokratischer Einrichtung zu gründen, ausnahmslos scheiterten: statt des erstrebten und erhofften Glücks brachten sie namenloses Elend, Streit und Blutvergießen, bis sie dem frühen Untergang verfielen.
»Ich würde meinem Friedensstaate nur wenige Gesetze geben, vor allem aber einige Hauptgrundsätze zur verbindlichen Richtschnur machen.«
»Und wie würden die lauten?« fragte. Onkel Siegmund.
»Erstens: Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten, wie dich selbst. — Diese Vorschrift könnte eigentlich genügen, da sie alles andre in sich faßt; doch würde ich noch andere aufstellen, zu ihrer Erläuterung und Einschärfung.
»Also etwa, zweitens: Kindlein, liebet euch unter einander!
»Drittens: Einer achte den andern höher, als sich selbst! — Das muß für die Höchsten wie für die Niedrigsten gelten, nach dem Vorbild des Sohnes Gottes, der sich selbst so tief erniedrigte, und nach seinem Gebot: ›Der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener.‹
»Viertens: Dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat.
»Fünftens: Seid freundlich gegen jedermann, alles, was ihr wollet, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen.
»Sechstens: Seid untertan der Obrigkeit.
»Siebtens: Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern.
»Achtens: Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel.
»Neuntens: Habt mit jedermann Frieden.
»Es ließe sich natürlich noch manches hinzufügen, aber dazu haben wir ja die Heilige Schrift, die allen als Lehrbuch und Richtschnur des Handelns dienen soll, und dann die gottesdienstlichen Predigten, die uns ihre Vorschriften auslegen und einschärfen.«
»Höre,« sagte Helling begeistert: »Wenn uns Gott aus der Hölle von Omderman erlöst, so laß uns beide einen Ort aussuchen, wo wir ein solches Reich der Liebe und des Friedens gründen, in das Alle Ausnahme finden sollen, die sich freiwillig und ernstlich auf diese Grundsätze verpflichten.«
»Inzwischen,« seufzte Sieger, »können wir nichts tun, als zuzusehen, ob wir nicht mit Gottes Hilfe unsere Freiheit gewinnen. Denn hier können wir nicht viel wirken, außer in unserm engsten Kreise. Ach! Was hätte der Mahdi schaffen können und was könnte der Kalifa wirken, wenn sie bei ihrem Einfluß und ihrer Macht für das Reich Gottes gekämpft hätten oder kämpften, statt für den Aberglauben und ihre eigene Macht!«
Osman und Jussuf, wie die Araber Johannes und Josef nannten, wurden nicht so scharf überwacht wie Sieger und Helling. Der Kalifa mochte wohl nicht befürchten, daß sie allein die Flucht ergriffen oder war ihm an ihnen so wenig gelegen, daß ihr Entweichen ihn nicht sonderlich gekümmert hätte. Selbstverständlich hätte jedoch keiner der beiden daran gedacht, eine Gelegenheit, zu entkommen, zu benutzen, wenn sich ihnen eine solche geboten hätte, falls es nicht möglich gewesen wäre, daß der Ingenieur, Fatme und Helling sich ihnen anschlossen.
Osman benutzte seine Freiheit wenig, er zog es vor, bei seinem Vater zu bleiben und ihm an die Hand zu gehen; gab es doch in Omderman wenig Erfreuliches und viel Greuliches zu sehen. Jussuf dagegen streifte viel umher, überall Augen und Ohren offen haltend, um womöglich einmal eine günstige Gelegenheit zur Flucht auszukundschaften. Er sprach zwar nur gebrochen arabisch, doch verstand er so ziemlich alles, und so entging ihm nichts. Freilich konnte er seinem Herrn nie viel Gutes berichten. Die Schreckensherrschaft des Kalifa hielt auch die widerstrebendsten Geister in ängstlicher Zurückhaltung und nach außen hin dehnte sich sein Reich durch glückliche Feldzüge gegen Abessinien und die Äquatorialprovinz immer weiter aus, während keine europäische Macht Lust zu haben schien, mit ihm anzubinden.
Eines Tages kam Jussuf ganz aufgeregt vom Markte in Omderman zurück. »Dieser Salami!« rief er atemlos, als er vor seinem Herrn stand, »dieser schurkische Salami! Was will der Mensch überhaupt von uns? Was haben wir ihm getan? Ich habe doch sonst mein ganzes Leben eine Vorliebe für Salamiwurst gehabt, und nun will uns dieser Salami ins Verderben stürzen.«
Nur mit Mühe konnte Sieger dem Zürnenden entlocken, um was es sich eigentlich handle.
»Da bin ich heute bei meinem Freund Kautschuk-Salat gewesen, und habe Dinge hören müssen, Dinge ...!«
Josef vermochte durchaus nicht, die vertrackten arabischen Namen richtig auszusprechen; so machte er aus Kutschuk woled Salah »Kautschuk-Salat«, und Emin Gegr Um Salama, kurz »Salama« genannt, wurde ihm zu »Salami«.
»Na, was sind es denn für Dinge, die du dort gehört?«
»Der Kalifa hat gedroht, uns alle aufzuhängen, falls nicht baldigst eine brauchbare Kanone die Fabrik verlasse.«
»Und was ist's mit jenem Salami oder wie er heißt?«
»Salami, das ist ein Bösewicht, der den Kalifa gegen uns aufhetzt; man sagt, er habe Khartum verraten helfen; der Mahdi war aber so vernünftig, ihn zum Lohn sofort in den Seier zu sperren; dort brachte er einige Jahre zu. Nun aber ist es ihm gelungen, den Kalifa von seiner Ergebenheit zu überzeugen, er hat sich bei ihm eingeschmeichelt und benutzt die Gelegenheit, uns zu verdächtigen. Gott weiß, was er gegen uns hat! Der Kalifa ist just aufgebracht wegen der mißlungenen Pulverfabrikation, für die er den Karl Neufeld wieder in den Seier gesperrt hat; er ist geneigt, dem guten Willen der Europäer nicht mehr zu trauen, und glaubt, sie führen ihn absichtlich an der Nase herum. So hat Salami mit seinen Verdächtigungen leichtes Spiel. Er schwatzte dem Abdullahi vor, Sie dächten nicht daran, richtige Kanonen zu machen, sonst hätte es Ihnen bei Ihren Kenntnissen schon vor Jahren gelingen müssen, und Herr von Helling sei ein englischer General, der mit Ihnen verschwört, um mittels Ihrer schwarzen Kunst den Tyrannen zu vernichten, und was dergleichen Blödsinn mehr ist.«
Sieger wußte nur zu gut, daß bei dem gewalttätigen Charakter Abdullahis und bei dessen gegenwärtiger Stimmung derartige Einflüsterungen eine Lebensgefahr für ihn und die Seinigen bedeuteten. Er suchte Leutnant von Helling auf.
»Bitte schaue nach Osman; er ist beim Maulwurf in unserem Fluchttunnel; er möge genau berechnen, wie weit die Arbeit gediehen ist, und wie lange es noch bis zum Durchbruch dauern kann. Es scheint, als ob wir uns mit der Flucht beeilen müssen.«
Nach etwa einer Stunde kam Helling mit Johannes zurück. »Ich bleibe mit meinen Berechnungen täglich auf dem Laufenden, Papa,« sagte der Jüngling, »wenn deine Schätzung richtig war, so haben wir noch etwa fünfzehn Meter zu durchbohren, und das würde bei angestrengtester Arbeit noch vier Wochen in Anspruch nehmen, wenn wir von allen unvorhergesehenen Zwischenfällen absehen.«
»Das ist schlimm!« rief Sieger: »So lange wird sich der Kalifa, nach dem, was mir Josef soeben berichtet hat, kaum mehr hinhalten lassen. Und dabei ist es sehr leicht möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß diese meine günstigste Schätzung um ein Bedeutendes zu niedrig gegriffen ist! Übrigens weißt du etwa, wer ein gewisser Salami ist, der uns beim Herrscher zu verdächtigen scheint?«
Osman lachte: »Das ist ja der Schurke, der rätselhafte Emin Gegr um Salama, dessen Namen unser guter Josef sich auf diese Weise mundgerecht gemacht hat.«
»Das macht die Sache um so bedenklicher. Dieser Mann scheint uns oder wenigstens mir den Tod geschworen zu haben, obgleich ich ihn gar nicht kenne und keine Ahnung habe, was er wider mich hat. Ali bin Said, der Scharfschütze, hat mich eindringlich vor ihm gewarnt. Er hat gestanden, daß dieser Mann es ist, der ihn bestach, mich zu erschießen, was wir ja freilich schon wußten. Durch Raschid bin Karam erfuhren wir, daß der gleiche unheimliche Kamerad sich stundenlang in der Fabrik aufhielt, an dem Tage, da die Explosion stattfand, so daß nicht daran zu zweifeln ist, daß er ihr Urheber war. Ebenso steht es mir fest, daß er die Schlangen in die Schlucht beförderte, um uns durch sie zu vernichten.
»Er scheint unaufhörlich tätig zu sein, um uns irgendwie ins Verderben zu stürzen und wird dem so wie so zum Mißtrauen geneigten Kalifa keine Ruhe lassen, bis er uns hinrichten läßt, was ja bei dem Tyrannen die Laune eines Augenblicks zu veranlassen vermag. Wenn nur der Durchbruch vollendet wäre, heute Nacht noch würde ich mich mit euch auf die Flucht machen: es ist ja alles dazu gerichtet.«
In diesem Augenblick kam der junge Hassan und berichtete:
»Mein Vater, Mohammed, läßt Ab del Ziger sagen, daß er um Mitternacht mit Amina und mir beim Marabut der Ghuls sein wird. Wir fliehen über Abessinien nach Somaliland. Er hat alles gut vorbereitet und dafür gesorgt, daß unsere Abwesenheit in den nächsten Tagen keinen Verdacht erregt. Er läßt euch fragen, ob ihr keine Möglichkeit habt, euch ihm anzuschließen?«
»Dein Vater ist sehr edel,« erwiderte Sieger: »Denn unser Anschluß würde euch nur Gefahr bringen, weil unsere Flucht nicht so lange verborgen bleiben könnte. Aber leider sind wir zu gut bewacht, um an ein Entkommen denken zu dürfen.«
»Deine Worte machen Hassans Herz schwer und werden nicht minder seinen Vater betrüben, vor allem auch Amina, deren Tränen unaufhörlich fließen, da ihr die Trennung von euch so schwer fällt. Sie läßt euch zum letztenmal grüßen, wenn unsere Hoffnung auf eure Begleitung sich nicht erfüllen kann.«
Nassen Auges verabschiedete sich der treue Hassan von seinen Freunden und begab sich zu den Seinen zurück.
Im Hofraum zwischen der Fabrik und der Sperrmauer traf Hassan auf Ali bin Said, der sein freiwilliges Wächteramt getreulich ausübte und eben einen seiner zahlreichen Rundgänge gemacht hatte, um festzustellen, daß nirgends etwas Verdächtiges zu sehen war.
Er kam soeben aus dem Wärterhaus, wo Hussein über Unwohlsein klagte und ihn gebeten hatte, seinen Herrn zu rufen, der als großer Hakim oder Arzt galt. In der Tat hatte sich der Ingenieur einige Übung in der Behandlung der gewöhnlichsten im Sudan auftretenden Krankheiten angeeignet und besaß eine reichhaltige Hausapotheke, die in einem Kasten an der Wand seines Arbeitszimmers hing. Sie war stets sorgfältig abgeschlossen, da sie auch einige gefährliche Mittel enthielt, namentlich Betäubungsmittel für den Fall einer notwendig werdenden Operation. Unglücksfälle in der Fabrik gehörten zwar zu den größten Seltenheiten, weil Sieger immer die peinlichste Vorsicht übte und einschärfte. Aber ein oder das andere Mal gab es doch Verletzungen, die etwa die Abnahme eines Fingers oder die Entfernung eines tief eingedrungenen Splitters notwendig machten. Für solche Fälle war der Ingenieur mit allen nötigen Instrumenten und aseptischen Mitteln versehen, hatte sich auch die nötigsten chirurgischen Kenntnisse erworben.
Während Hassan durch das Torhaus sich entfernte, begab sich Ali zu Sieger, der sofort mit ihm ging, nach dem Erkrankten zu sehen.
Er fand Hussein von heftigem Fieber befallen, wie er durch Messung feststellen konnte, denn sein Fieberthermometer hatte er vorsorglich mitgenommen.
»Geh und hole meine Hausapotheke,« befahl er Ali: »Josef wird sie dir geben.«
»Fühlst du dich schon länger krank?« fragte er Hussein, während Ali eilte, das Verlangte herbeizuschaffen.
»Meine Glieder waren matt und ein Nebel ist in meinem Kopf seit gestern; aber erst seit einer Stunde ist die Hitze in meinen Leib gefahren.«
»Dann werden wir dich wohl bald geheilt haben durch einige Gaben Chinin: rechtzeitig angewendet, pflegt es Wunder zu wirken. Leider habe ich selber mit der Behandlung des Fiebers, das mich schon mehrere Tage plagt, zu lange zugewartet, sonst wäre ich es gewiß gleich los geworden. Jetzt muß ich eben umsomehr von der berühmten Arznei schlucken.«
Als Ali mit dem ziemlich großen und schweren Kasten erschien, öffnete ihn Sieger mit dem Schlüssel, den er immer bei sich führte und verabreichte dem Leidenden eine kleine Menge des Heilmittels. Dann unterhielt er sich noch längere Zeit mit dem Bimbaschi Raschid, während Ali einen Gang vor die Mauer unternahm, um sich zu vergewissern, daß auch von außen keine Gefahr drohe. Er kannte Emin Gegr und wußte, daß man vor seinen tückischen Anschlägen nicht genug auf der Hut sein könne.
Der Ingenieur befand sich noch in lebhafter Unterhaltung, als Johannes kam und ihn zum Nachtessen rief.
»In einer Stunde werde ich wieder nach dem Kranken sehen,« sagte Sieger: »Gehabt Euch wohl inzwischen.«
Während des Nachtessens rief er plötzlich aus: »Jetzt habe ich meinen Arzneikasten im Wächterhaus stehen lassen und nicht einmal abgeschlossen! Nun, Ali wird ja bald zurückkehren und ihn mitbringen: die Araber werden schon so vernünftig sein, meine Kolben in Ruhe zu lassen.«
Hierin täuschte er sich freilich.
Bekanntlich ist den Mohammedanern der Genuß berauschender Getränke verboten. Viele machen sich nicht viel aus diesem Verbot und lassen sich durch die Lust leicht verführen, es zu übertreten. Andere suchen Ersatz im Rauchen von Opium oder Haschisch, die ja auch berauschend wirken, aber noch viel verheerendere Folgen zeitigen als der Alkohol. Die Frömmsten und Schlauesten jedoch suchen, sich den Genuß des verbotenen Getränkes in einer Form zu beschaffen, die es ihnen ermöglicht, ihr Gewissen zu beruhigen, nämlich in der Form einer Arznei.
Den Torwächtern war wohl bekannt, daß die Europäer den Weingeist zu den verschiedensten Zwecken benutzen, daß er in allerlei wohlriechenden »Wassern«, die oft keinen Tropfen Wasser enthalten, reichlich vorhanden ist, daß sie ihn in allerlei Zuckerwaren und Schokoladeplätzchen einzukapseln wissen, und daß auch viele ihrer Heilmittel nicht frei davon sind, wäre es auch nur der größeren Haltbarkeit wegen.
Als nun der Bimbaschi Raschid bin Karam entdeckte, daß Sieger seine Hausapotheke offen zurückgelassen hatte, sprach er:
»Allah sei gepriesen! Auch ich fühle einen Geist der Krankheit in mir. Vielleicht birgt dieser Zauberkasten ein Gegengift, das die wankenden Säulen meiner Gesundheit zu stärken und zu befestigen vermag.«
Selim und Halef beeilten sich zu versichern, daß auch sie sich nicht wohl fühlten und einer Medizin bedürften, die möglichst stark sein müsse.
»So laßt uns prüfen, was diese Kolben enthalten,« erklärte Raschid mit Würde: »Die kleinen sind nichts wert; aber die großen könnten uns heilsam sein.«
Er entstöpselte eine Flasche um die andere und roch daran mit Kennermiene, gab sie dann seinen Untergebenen weiter, die ebenfalls den daraus aufsteigenden Duft prüften. Aber da quoll nirgends der bekannte und begehrte Lebensgeist hervor: die meisten dieser Flüssigkeiten rochen geradezu abscheulich und luden nicht zum Kosten ein.
Nun eröffnete der Bimbaschi eine kleinere Flasche, deren Glasstöpsel so fest saß, daß es ziemlicher Anstrengung bedurfte, um ihn zu lösen.
Was war das für ein eigentümlicher süßlicher Geruch, der ihm aus dem Behälter in die Nase stieg! Er gab den Kolben an Selim weiter, der roch, den Kopf schüttelte und Hussein aufforderte, seine Meinung darüber zu sagen.
Dieser prüfte den unbekannten Duft eingehend. Plötzlich entfiel die Flasche seinen Händen und zerschellte auf den Steinfliesen, über die sich ihr Inhalt ergoß.
Erschrocken sprangen die beiden andern auf, um aber alsbald wieder zurückzusinken.
In diesem Augenblick kehrte Ali von draußen zurück. Ein sonderbarer Geruch strömte ihm entgegen, der ihm so widerlich erschien, daß er den Atem anhielt. Zugleich bot sich ihm ein überraschender und beängstigender Anblick: Hussein lag wie tot auf seinem Lager, Raschid, Halef und Selim ruhten ebenso starr und regungslos am Boden, als wären alle eines plötzlichen Todes gestorben.
Entsetzt rannte Ali zu Sieger, in der Eile beide Türen des Wächterhauses offen lassend.
Auf seinen stammelnden Bericht hin folgte ihm der Ingenieur sofort nach der Stätte des rätselhaften und unheimlichen Ereignisses. Ein Blick auf die zerbrochene Flasche erklärte ihm alles.
»Mein Morphiumkolben!« rief er erschrocken. »Ali, wische sofort die Nässe auf, aber halte den Atem an, sonst verlierst auch du das Bewußtsein.«
Er selber hütete sich ebenfalls, den Dunst einzuatmen, der die Luft erfüllte. Rasch untersuchte er die Betäubten und winkte dann dem Schützen, der den Lumpen, mit dem er die Flüssigkeit aufgetrocknet hatte, ins Freie warf, ihm zu folgen.
Sie gingen in die Fabrik zurück, während Sieger sagte: »Es ist ein Glück, daß du beide Türen offen ließest, sonst wären die Unglücklichen nie mehr zum Leben erwacht. Es wird lange dauern, bis sie wieder zu sich kommen, und dann wird noch eine geraume Zeit vergehen, ehe sie ihrer Sinne völlig mächtig werden. Ali, was wirst du tun, wenn wir diese uns von Allah gesandte Gelegenheit zur Flucht benutzen?«
»Dein Knecht wird euch helfen, rasch zu entfliehen, und dafür sorgen, daß eure Abwesenheit nicht so bald entdeckt wird.«
»Morgen ist Sonntag,« bemerkte der Ingenieur nachdenklich: »Da kommt kein Arbeiter in die Fabrik. Gelingt es dir, auch die Wächter zurückzuhalten, daß sie nicht nach uns sehen, so gewinnen wir einen vollen Tag Vorsprung. Sie pflegen ja überhaupt selten die Fabrik zu betreten, am wenigsten gerade Sonntags. Aber diesmal könnten sie eine Ausnahme machen, weil sie die Nacht über nicht Wache halten konnten.«
»Ali wird ihnen sagen, Abd el Ziger sei krank, denn das ist wahr: du hast das Fieber. Er wird ihnen auch sagen, sie müssen den ganzen Tag ruhen, damit das Gift ihnen keinen Schaden bringe. Dann wird er sie pflegen und ihnen die Mahlzeiten bereiten.«
»So ist es gut.«
Großer Jubel erhob sich, als Sieger den Seinigen verkündete, daß sie heute Nacht entfliehen würden, da die Wächter bewußtlos lägen in Morphiumbetäubung. Eine fieberhafte Tätigkeit begann ohne Verzug.
Es war ein Glück, daß schon alles zur Flucht vorbereitet war. Ali und Josef führten sofort fünf Kamele aus dem Stall, für jeden eines. Auf besondere Lastkamele wurde verzichtet, da kein Treiber mitgenommen wurde und Josef, der diesen Dienst hätte versehen können, auch retten sollte, damit der Ritt in höchster Eile bewerkstelligt werden könne. Die Packe mit Lebensmitteln und sonstigem Bedarf, sowie die Wasserschläuche konnten auf die Reitkamele verteilt werden.
Um elf Uhr war alles zum Ausbruch bereit.
Ali blieb zurück. Von Zeit zu Zeit sah er nach den Bewußtlosen. Die Türen ließ er offen, damit sich der Morphiumgeruch vollends gründlich verziehen konnte. Erst gegen Morgen, als Raschid bin Karam sich zu regen begann, verschloß er sie, damit kein Verdacht erregt würde. Jetzt war aber auch keine Spur mehr des betäubenden Dunstes zurückgeblieben.
Als der Bimbaschi nach längerer Zeit wieder zu klarem Denken fähig war, und auch seine Gefährten ihrer Sinne wieder mächtig wurden, begann der Scharfschütze folgendermaßen mit seinen Erklärungen:
»Allah sei gelobt! Ihr waret tot und seid wieder lebendig geworden!«
»Nacht war in meinem Geiste,« erwiderte der Bimbaschi: »Jetzt wird es wieder Tag. Was ist mit mir vorgegangen?«
»Ihr habt eine Flasche zerbrochen, in welcher der Geist des Schlafes und des Todes gefangen war. Sobald er befreit wurde, hat er euch in tiefen Schlummer versenkt und hätte euch getötet, wenn ich nicht zur rechten Zeit gekommen wäre, um Abd el Ziger zu Hilfe zu rufen.«
»Ist er zu uns gekommen?«
»Ja! Und ihm verdankt ihr euer Leben. Denn er hat mich gelehrt und angewiesen, den bösen Geist aus der Hütte zu schaffen, daß er sich aufgelöst hat in den Lüften und niemand mehr gefährlich werden kann.«
»Wo ist Abd el Ziger, daß wir ihm danken und er uns vollends gesund macht mit seiner großen Kunst?«
»Er kann heute nicht wieder kommen, Allah weiß es! Er ist krank und hat das Fieber.«
»Du redest wahr, denn er hat es mir gestern selber gesagt. Sobald ich wieder wohler bin, werde ich mich nach seinem Befinden erkundigen.«
»Siehe morgen nach ihm: heute müßt ihr alle ruhen und euer Lager nicht verlassen, damit ihr von dem Gifte des bösen Geistes ganz befreit werdet. Ich bin von Abd el Ziger angewiesen, euch zu pflegen und euch die Kost zu bereiten, die euch zur Genesung dienlich ist. Allah schenke auch ihm Gesundheit und sei ihm nahe mit Schutz und Hilfe, denn er bedarf ihrer. Ich selber bleibe diesen Tag ganz bei euch, nach seinem Willen und Befehl. Ismain el Heliki, Jussuf, Osman und Fatme sind bei ihm: er bedarf meiner nicht.«
»Er ist ein guter Mann und hat treulich für uns gesorgt, da er dich zu unserer Pflege bestellt hat. Allah segne seine Arznei, daß er bald genese, und schütze ihn und die Seinen heute und allezeit!«
Ali hatte alle seine Reden so zu wenden gewußt, daß sie keine Unwahrheit enthielten, obgleich sie zugleich die Wahrheit verbergen mußten, um keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen. Er nahm es ernst mit der Wahrheit, aber in Verrat durfte sie nicht ausarten, und dies zu vermeiden, dazu war er klug genug.
Am nächsten Morgen, da er wußte, daß nun eine Entdeckung unvermeidlich sein mußte, begab er sich in aller Frühe in die Fabrik, ehe die Arbeiter kamen. Gleich darauf kehrte er wieder und rief:
»O Bimbaschi! Abd el Ziger ist nicht mehr da, und die Andern auch nicht! Sie sind entflohen, während ihr ohne Leben waret und ich draußen weilte. Ich darf nicht säumen, es dem Kalifa zu verkündigen.«
Damit eilte er, die Anzeige selber zu erstatten, um allen Verdacht von sich abzuwenden. Um die eigene Rettung war es ihm zwar nicht so sehr zu tun: wenn es nötig gewesen wäre, hätte er sich auch für Sieger geopfert. Aber er hatte einen scharfen Verstand und sagte sich, daß es gar keinen Zweck habe, sich ins Verderben zu stürzen, daß er vielmehr seinen Freunden eher nützen könne, wenn er am Leben bliebe und kein Verdacht auf ihn falle. Ebenso und eben deshalb erschien es ihm am ratsamsten, selber dem Herrscher Bericht zu erstatten, da ja der Bimbaschi es sonst doch getan hätte.
Dieser eilte in höchstem Schrecken mit Selim und Halef in die Fabrik und überzeugte sich, daß ihre Bewohner tatsächlich nirgends zu finden waren.
Dann begab er sich schweren Herzens mit seinen Leuten zum Kalifa, nicht wissend, was ihrer dort harren würde. Hussein, der kein Fieber mehr spürte, schloß sich an.
Ali hatte es nicht eilig, doch sorgte er, daß er noch vor Raschid bin Karam in Omderman eintraf. Da er erklärte, eine wichtige Botschaft zu bringen, wurde er gleich vorgelassen.
»O erhabener Kalifa des großen Mahdi!« begann er: »Allah erhalte dein Leben! Es ist der Wille des Allmächtigen, daß ich dir böse Botschaft verkündige!« Dann erzählte er, wie die Wächter durch den Geist des Schlafes und des Todes, den der Ingenieur in eine Flasche gebannt habe, betäubt worden seien, und Sieger mit den Seinen die Gelegenheit zur Flucht benutzt habe. Wohlweislich verschwieg er jedoch, daß dies schon in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag geschehen sei.
Inzwischen langten auch die Wächter an und wurden vorgeführt.
Der Bimbaschi, der es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, besonders wenn es galt, das eigene Leben zu retten, stellte die Sache so dar, als habe Abd el Ziger sie absichtlich durch seine Zauberkunst in Schlaf versenkt, um fliehen zu können. Das erschien auch am wahrscheinlichsten. Natürlich sagte auch er nichts davon, daß alles sich schon in der vorletzten Nacht ereignet hatte.
Der erzürnte Kalifa schenkte zwar in Rücksicht auf die Umstände den Missetätern das Leben, ließ sie aber in den Seier, das Gefängnis, werfen. Dann ordnete er an, die Spuren der Flüchtlinge aufzusuchen und die Verfolgung in höchster Eile aufzunehmen.
Ali, der unbeteiligt schien, auch nicht zum Wächter bestellt war, und als Erster die Flucht angezeigt hatte, wurde laufen gelassen.
Es war noch lange nicht Mitternacht, als die Flüchtlinge in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag das Grabmal erreichten. Zwischen ihm und dem einsam ragenden Felsen lagerten sie sich, um auf Mohammed mit seinen Kindern zu warten.
Sieger benutzte die Gelegenheit, um ein Chininpulver einzunehmen, da ihn das Fieber mehr als je schüttelte. Er hatte heute schon viel solcher Pulver geschluckt, denn er war von ihrer Heilwirkung so überzeugt, daß er nicht daran zweifelte, es müsse besser mit ihm werden, wenn er nur genug davon nehme. Völlig unbekannt war es ihm, daß dieses aus der heilkräftigen Chinarinde hergestellte künstliche Erzeugnis äußerst gefährliche Wirkungen auszulösen vermag, zumal wenn es im Übermaß genossen wird, während die einfache Abkochung aus Chinarinde niemals schlimme Folgen zeitigt. Erst in neuester Zeit wurde nachgewiesen, daß eben das Chinin die einzige Ursache des mit Recht so gefürchteten Schwarzwasserfiebers Afrikas ist.
Kurz vor Mitternacht kamen Mohammed, Hassan und Amina angeritten. Auch sie hatten nur drei Reitkamele, um schneller vorwärts zu kommen.
Sie waren hocherfreut, als sie nun ganz unerwartet ihre Freunde dennoch hier antrafen. Sieger teilte ihnen kurz mit, was ihnen die Flucht im letzten Augenblick noch ermöglicht hatte, und dann ging es weiter, dem Süden zu, so schnell die Dromedare auszugreifen vermochten, also mit bedeutender Geschwindigkeit.
Die ganze Nacht ging es auf dem linken Ufer des Bahr el Abiad, des Weißen Nils, immerfort nach Süden, als gälte die Losung, die Äquatorialprovinz zu erreichen, um bei Emin Pascha Schutz zu suchen, der es verstand, der Macht des Kalifa wirksamen Widerstand zu leisten.
Es war den Fliehenden eben darum zu tun, ihre Verfolger bei dieser falschen Meinung zu erhalten.
Gegen Morgen wurde am Ufer eines Flüßchens gerastet, das von Westen her sich in den Nil ergoß: es führte zur Zeit nur wenig Wasser.
Als wieder aufgebrochen wurde, meinte Mohammed, es wäre nun Zeit, sich nach Osten zu wenden, dem Bahr el Asrak oder Blauen Nil zu, um Abessinien zuzustreben. Der Wasserstand des Bahr el Abiad war zur Zeit so niedrig, daß die Kamele den Fluß gefahrlos durchwaten konnten.
Aber Sieger widersprach: »Überschreiten wir jetzt schon den Nil,« sagte er, »so tritt unser Reiseziel für die Verfolger klar zutage. Folget mir! Ich kenne die Gegend genau von früheren Ausflügen her, und habe meinen Plan, der unsere Fährte völlig verwischen wird.«
Nach seiner Anordnung wurde daher der Nebenfluß überschritten und die Reise in südwestlicher Richtung fortgesetzt. Nach einer Stunde stieß man hier wieder auf den Nebenfluß, der weiter unten einen Bogen machte und dessen Oberlauf von Südwesten kam. Eine halbe Stunde ritten unsere Freunde flußaufwärts, am Ufer entlang, dann befahl der Ingenieur, die Kamele in das Flußbett zu lenken. Hier wurde gewendet und man ritt nun wieder zurück, und zwar im Wasser, um keine Fährte zu hinterlassen.
»Wenn die Feinde unseren Spuren folgen,« sagte Sieger, »und etwas anderes können sie nicht tun, so werden sie natürlich entdecken, daß wir im Fluß weitergeritten sind, weil sich die Fußstapfen der Kamele auf dem anderen Ufer nicht zeigen, nachdem sie auf dem rechten Ufer am Strande aufhörten. Weil jedoch unsere bisherige Richtung eine wesentlich südliche war, die ihnen die Überzeugung bringen mußte, daß wir Lado zustreben, werden sie nicht anders denken, als daß wir auch im Wasser flußaufwärts nach Südwesten weitergeritten seien, um uns später wieder südwärts zu wenden, dem Bahr et Ghasal zu, und so die Äquatorialprovinz zu erreichen.«
Das mußte einleuchten.
Der Ritt ging nun immer zurück nach Norden im Flußbett, und, als dieses sich wendete, nach Osten bis in den Weißen Nil. In diesem wurde wiederum eine halbe Stunde flußabwärts geritten, bis ein östlicher Zufluß erreicht wurde, in dem noch zwei Stunden lang, immer im Wasser, in östlicher Richtung gewatet wurde.
Auf diese Weise hatte man sich zwar Khartum wieder bedeutend genähert, durfte aber sicher sein, daß kein Verfolger so bald die Fährte entdecken werde.
Abends wurde zwischen dem Weißen und dem Blauen Nil gerastet.
Am anderen Morgen war Sieger kaum mehr fähig, sein Kamel zu besteigen. Er hatte die Nacht schlaflos in Fieberschauern zugebracht und erkannte nun zu seinem Schrecken an untrüglichen Anzeichen, daß er von dem gefährlichen Schwarzwasserfieber befallen war.
Als nach kurzem Ritt Gedid am Blauen Nil erreicht worden war, erklärte er, unfähig zur Weiterreise zu sein, und bat, ihn hier zurückzulassen, während die Anderen ihre Flucht fortsetzen sollten.
»Sobald ich gesund bin, folge ich euch nach,« sagte er: »So nahe ich hier bei Omderman bin, werde ich doch kaum von den Häschern des Kalifa gefunden werden, die sich zweifellos durch unsere List irreführen lassen. Ich kenne hier einen Sudanesen, Osman, der mich nicht verraten wird. Also ziehet mit Gott! In Baad Ulgaras treffen wir uns wieder.«
»Ich bleibe bei dir, Vater!« rief Fanny entschlossen.
»Und ich auch!« erklärte Johannes ebenso bestimmt: »Niemals werden wir unseren Vater verlassen. Was sollten wir ohne dich anfangen?«
»Onkel Helling wird euch unter seinen treuen Schutz nehmen und für euch sorgen.«
»Onkel Helling bleibt auch hier!« entgegnete dieser: »Das wäre noch schöner, wenn ich einen schwerkranken Freund in seiner Not verließe.«
»Und von mir ist ebendasselbe eine Selbstverständlichkeit,« fügte Josef schlicht hinzu.
Da mochte Sieger sagen, was er wollte. Keines ließ sich von seinem Entschluß abbringen.
Auch Mohammed, Hassan und Amina wollten bleiben. Allein der Ingenieur stellte ihnen vor, daß dies Opfer ihm keinerlei Nutzen bringen könne, da er der hingebendsten Pfleger genug habe, daß vielmehr eine Entdeckung weit eher zu befürchten sei, wenn sich eine allzugroße Gesellschaft in Omars Hause aufhalte. Dies mußte Mohammed einsehen, und tränenden Auges nahmen die Somali Abschied, um ihre Flucht fortzusetzen, die sie auch nach langen Mühsalen glücklich in ihre Heimat führte.
Omar nahm Sieger und die Seinen freudig auf.
Fünf volle Wochen lag der Ingenieur im Fieber und schien in dieser Zeit oft am Rande des Grabes. Endlich aber ging es der Genesung zu, und als die Kräfte langsam wiederkehrten, konnte die Weiterreise erwogen und schließlich der Tag des Aufbruchs bestimmt werden.
Die wohlberittenen Häscher des Kalifa hatten inzwischen am Tage ihrer Aussendung die Fährte der Entflohenen mühelos entdeckt: sie führte von der Fabrik zum Marabut, wo sie sich mit einer anderen, von Omderman kommenden vereinigte. Da Mohammeds Flucht noch nicht bekannt geworden war, konnten die Verfolger nicht wissen, was für geheime Freunde in Omderman die Flüchtlinge hier getroffen und sich ihnen angeschlossen hatten. Das war aber auch einerlei.
Als später die Spuren am Flußufer aufhörten, wurde dort die weite Umgegend bis el Obeid durchforscht. Aber nirgends trat die Fährte wieder zutage, noch fand man irgend jemand, der über die von den Entwichenen eingeschlagene Richtung hätte Auskunft geben können.
So mußten endlich die Verfolger nach einer fruchtlosen Streife von mehreren Wochen ihre Nachforschungen als aussichtslos aufgeben.
Aber da war noch Einer, der auf eigene Faust Nachforschungen anstellte, und der war schlauer als die Bluthunde des Tyrannen!
Emin Gegr um Salama sagte sich, daß die Flüchtlinge sicher nicht der Äquatorialprovinz zustrebten, denn das war ein gar zu gefährlicher Weg bei einer Entfernung von etwa zwölfhundert Kilometern. Nach Ägypten hatten sie am nächsten; aber das war für sie die gefährlichste Strecke, wo sie kaum hoffen durften, unbehelligt hindurchzukommen.
Er war überzeugt, daß ihr Ziel Suakin oder Massaua am Roten Meere sein müsse. Die aufgefundene Fährte sollte natürlich die Verfolger täuschen. Von der ursprünglich eingeschlagenen südlichen und südwestlichen Richtung mußte sich Sieger demnach nach Nordwesten gewendet haben; dann aber hatte er notgedrungen zuerst den Weißen und dann den Blauen Nil durchquert.
Diese wenigstens teilweise richtigen Schlußfolgerungen veranlaßten den Einäugigen, am Bahr el Asrak entlang zu forschen. Dabei kam er bis Rufagh und konnte dort in Erfahrung bringen, daß vier bis fünf Tage nach dem Verschwinden Siegers, dort ein Somali mit einem Sohn und einer Tochter den Fluß überschritten und nach Südosten weitergezogen sei.
Da Mohammeds Flucht inzwischen auch bekannt geworden war, wußte Emin, daß es sich um ihn handeln müsse. Er hatte sich offenbar von den Gefährten getrennt und strebte durch Abessinien seiner Heimat zu. Die Anderen waren zweifellos schon früher ostwärts abgebogen und mußten ihrem Ziele jetzt nahe sein oder es erreicht haben, denn es waren fast sechs Wochen vorübergegangen, bis Emin Gegr so viel erkundet hatte.
Er knirschte mit den Zähnen bei dieser Erwägung. Dennoch war er entschlossen, seine Feinde weiter zu verfolgen, bis nach Europa, wenn es sein müsse, wie er sie schon von dort bis in den Sudan verfolgt hatte.
Er setzte daher seine Nachforschungen fort, um bestimmtere Anhaltspunkte über den Weg zu gewinnen, den sie eingeschlagen hatten. Nach seiner Überzeugung mußten sie den Blauen Nil unterhalb von Rufagh durchquert haben. Dies konnte unbemerkt bei Nacht geschehen sein. Aber vorher oder nachher mußte sie doch irgendwer gesehen haben, denn gar so menschenverlassen waren die Ufer des Stromes in dieser Gegend doch nicht.
Da, als er schon am Erfolg verzweifelte, vernahm er von einem Knaben in Gedid, daß in Omars Hause seit vielen Wochen fremde Gäste sich aufhielten. Trotz aller Vorsicht hatte der brave Sudanese nicht verhindern können, daß im Laufe einer so langen Zeit seine Nachbarn nicht etwas von seiner Heimlichkeit entdeckt hätten. Schon die regelmäßigen großen Einkäufe von Lebensmitteln verrieten, daß er sein stattliches Haus nicht mehr allein mit seinem einzigen Sklaven bewohnte. Und dieser, als geschwätziger Neger, hielt trotz strengsten Befehles nicht immer reinen Mund.
Natürlich erregte die Kunde von solchen Gästen in Omars Hause Emins Verdacht in hohem Grade. Es war ihm freilich unerklärlich, warum die Flüchtlinge so lange hier verweilen sollten, kaum fünfzig Kilometer von Omderman entfernt. Aber er forschte nun alle Nachbarn aus und spionierte selber um das Haus herum, namentlich bei Nacht.
Die Insassen waren jedoch so vorsichtig, daß er außer Omar und dessen Sklaven nie jemand zu Gesichte bekam. Allein das schien eben nur um so verdächtiger.
Als der Einäugige schließlich so viel in Erfahrung gebracht hatte, daß es sich um drei Männer, einen Knaben und ein Mädchen handle, war er seiner Sache so gewiß, daß er unverzüglich nach Omderman ritt und dem Kalifa meldete, daß er die Entwichenen entdeckt habe, und daß sie sich in Omars Hause in Gedid befänden.
Der Tyrann war hocherfreut und sandte sofort einen Trupp Derwische aus, um die Gefundenen gefangen zu nehmen.
Sieger fühlte sich nun kräftig genug, um die Weiterreise zu unternehmen. Er entschädigte seinen Wirt reichlich für seine Mühe und Auslagen und bestimmte die folgende Nacht zum Ausbruch.
Gedid lag in tiefem Schlafe, als unsere Freunde nach wärmstem Dank und herzlichen Abschiedsworten ihre gesattelten und beladenen Kamele bestiegen und in die Nacht hinausritten. Da erhob sich plötzlich ein wildes Geschrei, im Augenblick waren sie von den Tieren gerissen und gefesselt: die Häscher des Kalifa waren eben noch zur rechten Zeit eingetroffen, um ihre weitere Flucht zu verhindern.
Das war ein schwerer Schlag, nachdem sie so lange unangefochten hier geweilt hatten, daß sie glaubten, vor jeder Verfolgung sicher zu sein.
Zwei Tage darauf waren sie in Omderman und wurden vor den Tyrannen geschleppt.
Eine teuflische Freude spiegelte sich in Abdullahis Zügen, als er die Ergriffenen wehrlos in seiner Gewalt sah. Wie abschreckend erschien dieser »Herodes« mit seinem dunkeln, blatternnarbigen Antlitz und seinen boshaft funkelnden Augen!
»Abd el Ziger!« schrie er: »Du hast geglaubt, den Kalifa er Rasul, den Stellvertreter des Propheten täuschen zu können und seiner Macht zu entfliehen. Aber Allah hat deine Hoffnungen vereitelt und dich der gerechten Strafe ausgeliefert. Du wirst sterben, doch zuvor sollst du deine Kinder gemartert und den Tod erleiden sehen: das wird meine Rache sein! Ismain el Heliki und Jussuf sollen ihr Schicksal teilen!«
»Kalifa!« erwiderte Sieger, jeden ehrerbietigen Beisatz verschmähend: »Ist es Gottes Wille, so magst du mich martern und töten; doch verschone die Unschuldigen und bedenke, daß auch du sterblich bist und einst vor Allahs Richterstuhl treten mußt.«
»Deiner Warnungen bedarf ich nicht!« sagte der Herrscher höhnisch: »Also du bekennst dich schuldig und weißt, daß du den Tod verdient hast?«
»Ich weiß nichts von Schuld: ich hörte, daß du unseren Tod beschlossen hattest, und als Gott uns Gelegenheit gab, zu entkommen, benutzte ich sie, um mein und der Meinigen Leben zu retten.«
»Es ist wahr, ich wollte dich töten, weil du mich betrügst und nicht daran denkst, mir Kanonen zu liefern.«
»Herr, das hat dir ein Verleumder ein geflüstert. Ich habe dir gesagt, daß ich die Kunst nicht verstehe, Kanonen zu machen. Doch gebe ich mir alle Mühe, sie zu lernen. Das ist aber nicht leicht, wenn man keinen Lehrmeister hat. Und doch bin ich überzeugt, daß mir Allah das Gelingen bescheren wird, denn ich bin in meinen Versuchen schon so weit fortgeschritten, daß ich hoffen darf, in wenigen Wochen die ersten Geschütze fertig zu stellen.«
Dem Kalifa war so sehr am Besitz einer starken Artillerie gelegen, daß ihn die Aussicht, seinen Wunsch dennoch erfüllt zu sehen, wesentlich milder stimmte.
Er verhielt sich eine Weile schweigend und nachdenklich, dann sah er den Ingenieur mit durchbohrenden Blicken an und sagte:
»Abd el Ziger, wenn ich dir dein Leben und das der Deinigen schenke und noch einmal Geduld mit dir trage, wirst du dann wirklich Kanonen für mich bauen!«
»Ja, ich verspreche, Geschütze herzustellen, wenn Gott es mir gelingen läßt. Ich werde mir alle Mühe geben und all' meine Kunst und Kenntnisse darauf verwenden.«
»Und versprichst du mir, keinen Fluchtversuch mehr zu unternehmen?«
Sieger besann sich einen Augenblick: es handelte sich um sein Leben, und noch mehr um dasjenige seiner Lieben. Aber durfte er auf jeden Versuch zu entkommen verzichten?
Der Kalifa wurde ungeduldig, zugleich aber flößte ihm Siegers Zögern Vertrauen ein. Denn, wollte ihn der Ingenieur betrügen und ihm ein Versprechen geben, das er nicht zu halten beabsichtigte, so hätte er keinen Grund gehabt, mit der Antwort zu zaudern.
»Sprich!« befahl Abdullahi: »Ich weiß, daß du nicht lügen und das halten wirst, was du gelobst.«
»Nun denn, ich verspreche dir, nicht zu fliehen, so lange du unser Leben, unseren Leib und unsere Freiheit nicht bedrohst.«
»Gut! Die Freiheit, wie ihr sie bisher durch meine Gnade genossen habt. Und deine Wächter wirst du nicht wieder durch den Geist des Schlafes betäuben oder durch andere deiner Künste?«
»Das habe nicht ich getan, sondern es war ihre eigene Neugier und Unvorsichtigkeit. Sie haben eine Flasche geöffnet und zerbrochen, als ich nicht dabei war, und in der ein Mittel sich befand, um die Kranken, denen der Arzt Schmerz zufügen muß, einzuschläfern, daß sie nichts empfinden.«
Abdullahi ließ die Wächter rufen, die er schon vor längerer Zeit wieder aus dem Gefängnis entlassen hatte, und angesichts Siegers wagten sie nicht zu leugnen, daß es sich in der Tat so verhalte, wie dieser gesagt hatte.
Da ließ der Kalifa den Ingenieur mit den Seinigen in die Fabrik bringen, um die so lange unterbrochenen Arbeiten wieder aufzunehmen.
Er bestellte ihnen aber neue Wächter, denen er ihre Pflicht unter ernsten Drohungen einschärfte.
Bald war die Fabrik wieder in Gang und Sieger gab sich redliche Mühe, endlich ein paar Kanonen fertigzustellen, wie er es versprochen hatte. Ob sie brauchbar sein würden, war eine andere Frage.
Noch eifriger betrieb er jedoch den Durchbruch seines Tunnels durch die Margayaberge. Er hatte allerdings auch versprochen, nicht zu fliehen, aber nur solange der Kalifa ihn und die Seinigen nicht bedrohen werde.
Dieses Versprechen zu halten, war er fest entschlossen. Doch ebenso fest stand es ihm, daß es nicht lange dauern könne, bis der Tyrann eine solche Drohung wieder ausstoßen werde.
Mit dem Kanonenbau ging es immer noch langsam voran, diesmal nicht sowohl, weil Sieger ihn absichtlich nicht zu eilig betrieb, sondern deswegen, weil dazu noch einige besondere Kenntnisse gehörten, die dem Ingenieur abgingen. Sein Wissen und sein Verstand befähigten ihn gewiß, mit der Zeit alle Schwierigkeiten zu überwinden, und die einzuschlagenden Wege selbständig zu entdecken. Aber vorerst handelte es sich um tastende Versuche, und erst aus den anfänglichen Mißerfolgen konnte er lernen, was besser zu machen sei, und wie es gemacht werden mußte.
Inzwischen lag Emin Gegr um Salama dem Herrscher immer in den Ohren, dem Betrüger nicht zu trauen, der gar nicht daran denke, ihm jemals brauchbare Geschütze zu liefern, sondern ganz andere Dinge plane, die dem Kalifa noch zum Verderben ausschlagen müßten.
Diese Einflüsterungen verfehlten nicht, bald wieder das Mißtrauen des Tyrannen zu wecken, und als ihm die Sache zu lange dauerte, beschloß er, rücksichtslos vorzugehen, wie es ja seinem Charakter entsprach.
So erschien denn eines Tages bei Sieger Hassan Bey Omkadok, ein Mulazem des Kalifa, das heißt, einer von dessen Leibwächtern.
Die außergewöhnlich wohlbeleibte Gestalt mit dem allzeit freundlichen Grinsen auf dem fetten Gesicht machte stets auf unsere Freunde einen angenehmen, erheiternden Eindruck, und trotz des Ernstes ihrer Lage wirkte auch diesmal Hassans Lächeln ansteckend.
»Was bringst du Gutes?« fragte Sieger.
»O Abd el Ziger, die Weisheit des Kalifa fand es für gut, mich bei dieser Mittagshitze zu dir zu senden; mein Fett ist geschmolzen und hat den Weg von Omderman bis zu dir getränkt und meine Zunge ist vertrocknet, daß sie nicht zu reden vermag.«
Die vertrocknete Zunge, die nicht zu reden vermochte, hatte diese verhältnismäßig lange Rede mit großer Geläufigkeit hervorgesprudelt, und Sieger wußte wohl, was der langen Rede kurzer Sinn sei: er kannte Hassans Schwäche für einen guten Trunk und wußte, wie sehr der Araber nach der herrlichen Merisa lechzte, die der Ingenieur so vorzüglich zu brauen verstand, daß sie eine besondere Berühmtheit erlangt hatte. Merisa wird das sudanesische Bier genannt, das meist aus Getreide gebraut wird, und auch sonst in Afrika pflegt man die Negerbiere so zu heißen, die auch aus allerlei andern Stoffen, wie Honig, Bananen und dergleichen bereitet werden.
Am Sonntag Nachmittag teilte Sieger das Getränke freigebig unter seine Arbeiter aus, doch nicht in solcher Menge, daß sie sich daran berauschen konnten.
Nur wenige hielten das Verbot des Propheten so hoch, daß sie den köstlichen Trank verschmähten.
Der Mulazem war sichtlich enttäuscht, als er zur einzigen Antwort das Wort »Kismet!« erhielt, begleitet von einem bedauernden Achselzucken.
Kismet ist das Schicksal, das unabänderlich von Allah vorherbestimmte Geschick, gegen das schlechterdings nichts zu machen ist.
»O Herr!« rief Hassan Bey Omkadok: »Soll es mein Kismet sein, daß ich Durst leide, da doch dieser Qual so leicht abzuhelfen wäre?«
»Freund, denke doch darüber nach: wenn Allah in seiner Weisheit vorherbestimmt hat, daß du heute dürsten sollst, was können wir beide dagegen machen?«
Aber das Verlangen nach dem duftigen Bier schärfte den Geist des Arabers, so daß er um eine Erwiderung nicht verlegen wurde: »Allah weiß alles zuvor und bestimmt alles nach seinem Vorherwissen. Spendest du mir einen labenden Trunk, so hat Allah dies vorhergesehen, und dann hat er eben nicht beschlossen, daß ich Durst leide, sondern daß ich ihn stille. Die Vorherbestimmung des Allmächtigen richtet sich ganz nach dem Verhalten der Menschen.«
»Du willst doch nicht sagen, daß der Erhabene in seinen freien Entschlüssen gebunden sei, daß er abhängig ist von dem, was wir ohnmächtigen Sklaven beschließen? Was er von ewigen Zeiten her in das Schicksalsbuch eingetragen hat, das muß sich erfüllen, und all' unser Wollen und Tun kann nichts daran ändern. So denke, daß im Buche der Geschicke geschrieben steht, daß du heute kein Labsal für deine schmachtende Zunge finden wirst, außer einem Krug Wassers, den ich dir gerne spenden will, und füge dich ohne Murren in den göttlichen Willen, wie es einem gläubigen Moslem geziemt.«
Wasser, schales Wasser, wenn der Gaumen nach prickelnder Merisa verlangte? Das wäre ein allzuhartes Geschick gewesen. Der Mulazem erwiderte daher: »O Abd el Ziger, du irrst! Nimm es mir nicht übel, wenn ich dich darauf aufmerksam mache und dich in unserer erhabenen Religion besser belehre. Allah mag es im Buche des Schicksals eingetragen haben, wie du sagst, daß ich heute nur Wasser zu trinken bekomme. Sobald er aber sieht, daß dein edler Sinn mitleidiger ist, als er dachte, und daß du mir großmütig einen Krug Bier spendest, wird er nicht zögern, die Bestimmung in seinem ewigen Buche abzuändern, und statt Wasser Merisa zu schreiben, denn das wird dann sein gnädiger Wille sein.«
»So sei es denn!« sagte der Ingenieur lachend: »Es macht mir Freude, Allah zu zwingen, seine irrige Vorherbestimmung zu verbessern, und deine Weisheit soll mich nicht umsonst belehrt haben, denn du hast mein Herz zum Mitleid bewegt.«
Er ließ alsbald einen dickbauchigen Krug, voll des schäumenden Getränkes holen, woraus sich Hassan Bey freudestrahlend auf die Metallschwelle vor der Fabrik niederließ, seinen Becher hervorzog und ihn füllte, um den vergossenen Schweiß in langen, durstigen Zügen doppelt und dreifach zu ersetzen.
Wie von einer Ahnung herbeigezogen erschien nun auch Hassans Bruder, der Bimbaschi oder Major Ismain unter der Tür, die aus dem Wächterhaus durch die Sperrmauer in den Vorhof des Gebäudes führte. Er war an Stelle des abgesetzten Raschid bin Karam der Befehlshaber der Wache, die den Eingang des Margayatales besetzt hielt.
Ismain war lang und hager, sein Gesichtsausdruck zeigte eine ernste Würde: so erschien er äußerlich als das genaue Gegenteil seines rundlichen Bruders mit den lustig zwinkernden Äuglein. Doch in seinem unersättlichen Bierdurst glich er ihm aufs Haar.
»Was sehe ich?« rief er mit gut geheucheltem Erstaunen: »Mein Bruder ist hier? Welche angenehme Überraschung!«
Es lag auf der Hand, daß der gute Mann durch die Anwesenheit seines Bruders keineswegs überrascht sein konnte, da dieser an ihm vorbei durch das Wachthaus hatte gehen müssen, weshalb seine Ankunft dem wachsamen Auge des Bimbaschi unmöglich hatte entgehen können.
Sieger lud ihn lächelnd ein, sich auch zu erlaben. Dies ließ sich Ismain nicht zweimal sagen, und nun wetteiferte er in stummem Trunke mit seinem Bruder.
Letzterer konnte jedoch seine geschwätzige Zunge nicht lange im Zaum halten: »Allah ist groß,« begann er, »er segne den Kalifa; aber es geht doch nichts über den Duft deiner Merisa, Abd el Ziger. Seit Gordon nicht mehr ist, habe ich keinen so trefflichen Menschen kennen gelernt wie dich!«
»Ja, Gordon!« seufzte Ismain und trank weiter.
»Gordon hatte Verständnis und Liebe für unsereinen,« fuhr Hassan fort, »nie kann ich es vergessen, wie ich einmal krank war und er mich besuchte. Da klagte ich ihm, daß ich keine geistigen Getränke habe, ohne die ich nicht leben könne. ›Hassan!‹ sagte Gordon, ›was muß ich hören? Du bist Muselman und deine Religion verbietet dir den Genuß geistiger Getränke. Den Vorschriften seiner Religion muß man gehorchen.‹ ›Ach, Herr,‹ erwiderte ich, ›du siehst ja, ich gehorche ihnen, so schwer es mir fällt: seit drei Tagen habe ich keinen Schluck Merisa getrunken, und doch glaube ich nicht, daß ich wieder gesund werden kann, wenn ich so weiter darben muß.‹ Gordon ging und ließ mich enttäuscht zurück; denn ich hatte auf seine Großmut gerechnet, er aber hielt mir eine Moralpredigt. Aber so seid ihr Christen! Nun, Abd el Ziger, denke dir meine Überraschung, wie mir gleich darauf derselbe Gordon drei Flaschen Kognak schickte. Er war ein edler Mensch!«
»Ja,« fiel Ismain gerührt ein, »der Kognak war herrlich; es war kein geistiges Getränk, sondern eine Medizin.«
»Gewiß!« bestätigte Hassan. »Und diese köstliche Medizin machte mich gesund; und so trinke ich auch die Merisa als Medizin: Medizin verbietet der Koran nicht.«
»Du hast aber einen Auftrag des Kalifa an mich?« fragte nun Sieger.
»Wohl dem, der nichts gelernt hat und nichts versteht! O Herr, Abdalla Nofel (so hatte der Kalifa Karl Neufeld benannt) kann Pulver machen und das hat ihn wiederum in den Seier gebracht, weil es ihm mißlang. Du kannst Kanonen machen — Allah bewahre dich vor dem Seier oder noch Schlimmerem!«
»Was läßt mir denn der Kalifa durch dich entbieten?«
»Er will dich heute noch sehen.«
»Weiter nichts?«
»O Herr, dein Mut ist groß! Weiter sagte er nichts; aber wer lange lebt, sieht viel: mögest du noch vieles sehen!«,
Hassan Bey Omkadok erhob sich, so gut es gehen wollte und Sieger folgte ihm alsbald zum Kalifa.
»Wo sind deine Kanonen?« herrschte der Tyrann sogleich den Ingenieur an.
»Herr, es wird fleißig daran gearbeitet; alles hat seinen Anfang, seinen Fortgang und sein Ende.«
»Doch bei dir scheint es beim Anfang zu bleiben; als ich dir erlaubte, die Fabrik zu bewohnen, sagtest du, in einem Jahre werdest du voraussichtlich eine Kanone fertigstellen können, und dann alle Jahre eine ganze Menge. Nun vergeht Jahr für Jahr, und du hast noch nicht eine einzige abgeliefert!«
»Herr, ich habe dir nichts bestimmt versprochen, denn ich sagte dir gleich, daß ich den Kanonenbau nicht erlernt habe.«
»Ja! So oft ich dich frage und dich mahne, bist du voller Ausflüchte! Du betrügst mich, wie Nofel mich betrogen hat, der mir Pulver schaffen sollte. Meine Langmut hat ein Ende: morgen will ich eine brauchbare Kanone sehen, oder ich werde dir und den Deinigen Hand und Fuß abhauen lassen, wie ich es schon Hunderten von Verrätern und Unbotmäßigen tun ließ. So verdienen es alle, die den Nachfolger des großen Mahdi el Monteser zu betrügen wagen.«
»Herr, du würdest dich durch solch ein voreiliges Gericht um einen großen Vorteil bringen. Bedenke, die Engländer werden sicher einmal mit einem großen Heer und vielen Kanonen kommen, um den Sudan wieder zu erobern. Vielleicht dauert es nicht mehr lange. Deine erhabene Einsicht weiß selber, daß du ihnen dann nicht widerstehen kannst, wenn du nicht genug Geschütze besitzst: die wenigen, die du erobert hast, können dir nicht helfen gegen ihre Macht. Gedulde dich nur noch zwei Wochen oder drei ...«
Wütend unterbrach ihn der Tyrann: »Habe ich nicht mehr Geduld bewiesen, als Abu Zaber, der Geduldige? — Drei Tage gebe ich dir noch Frist, aber keine Stunde weiter!«
Jetzt wird's ernst!« sagte Sieger zu Helling, als er in die Fabrik zurückkehrte. »Wenn der Tunnel nicht in drei Tagen vollendet ist, sind wir alle verloren!«
»Was gibt's?« fragte der Leutnant besorgt.
»Der Kalifa steht noch immer unter dem Bann der Enttäuschung, die ihm Neufeld oder Nofel, wie er ihn nennt, bereitet hat, da er, absichtlich oder nicht, kein brauchbares Pulver zustande brachte. Er ließ ja den Ärmsten dafür in den Seier sperren. Nun hegt er auch ein hochgradiges Mißtrauen gegen mich, das immer wieder durchbricht, und wahrscheinlich durch den Schurken Emin Gegr um Salama, der sich bei ihm einzuschmeicheln wußte, beständig genährt wird. Kurzum, wenn ich ihm nicht innerhalb dreier Tage eine brauchbare Kanone liefere, will er uns Hand und Fuß abhauen lassen.
»Daß er vor einer solchen Grausamkeit nicht zurückschreckt, wissen wir zur Genüge, denn solche Verstümmelte sind ja zu Hunderten in Omderman zu sehen, und viele andere sind dieser barbarischen Strafe erlegen. Hinhalten läßt sich der Wüterich nicht länger: ich bat ihn umsonst um drei Wochen Frist. So liegt unser einziges Heil in der Flucht, und diese kann nur durch den Durchbruch des Stollens ermöglicht werden.«
»Aber du hast doch ein Kanonenrohr so gut wie vollendet,« wandte Helling ein: »Das wird ihm doch vorerst genügen, und dann können wir immer noch weiter sehen. Der Kalifa wird nach dieser ersten günstigen Probe deiner Kunst überzeugt sein, daß du ihm noch mehr Geschütze liefern wirst, und dazu muß er dir einige Wochen Zeit lassen, das muß er einsehen, und daß er eine starke Artillerie notwendig braucht, wenn er vorkommenden Falls den Engländern wirksamen Widerstand leisten will, davon ist er überzeugt: sonst hätte er sich nie so lange geduldet. Du bist ihm unentbehrlich, so lange er hoffen darf, durch dich in den Besitz der ersehnten Kanonen zu gelangen.«
»Das ist alles schön und gut,« entgegnete Sieger niedergeschlagen, aber ich habe eine große Torheit begangen. Ich sehe jetzt ein, daß ich für alle Fälle ein dauerhaftes Geschütz hätte herstellen sollen, und dazu wäre ich jetzt nach all den gesammelten Erfahrungen wohl imstande gewesen. Dadurch hätten wir die nötige Frist gewonnen, und die eine Kanone hätte den Derwischen nicht viel nützen können.
»Allein, es widerstrebte mir so sehr, dem Unmenschen eine solche Mordwaffe zu liefern, daß ich das einzige bis jetzt fertiggestellte Rohr absichtlich so schwach baute, daß es nach wenigen Schüssen unfehlbar zerspringen muß. Mit einem Worte: es ist unbrauchbar. Platzt aber das Rohr, so platzt zugleich die Geduld des Kalifa: er wird mehr denn je überzeugt sein, daß ich ihn absichtlich hintergehe und dann wird er im ersten Zorn seine fürchterliche Drohung wahr machen.
»Tag und Nacht muß in der Höhle gearbeitet werden. Ihr müßt einander ablösen, du, Osman und Jussuf. Ich muß hier bleiben und zum Schein an der Kanone weiterarbeiten, obgleich eigentlich nichts mehr daran zu machen ist. Ich darf sie natürlich erst im letzten Augenblick als angeblich vollendet abliefern.«
»Aber du hast dem Tyrannen das feierliche Versprechen gegeben, nicht zu fliehen: dürfen wir es brechen?«
»Ich habe mich vorgesehen; ich gab ihm die Zusage nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß er uns nicht an Leib und Leben bedrohe: das habe ich sorgfältig überlegt. Solange wir uns sicher wußten, konnten wir auf ein Entweichen, wenn auch schweren Herzens, verzichten. Das Versprechen war übrigens damals unerläßlich, um unser Leben zu retten. Nun jedoch, da uns der Kalifa Verstümmelung androhte, und die Unbrauchbarkeit meines Werks uns die Ausführung dieser Drohung in sichere Aussicht stellt, bin ich meines Versprechens ledig, weil er selber die Bedingung brach, an die ich es knüpfte: dies sah ich voraus, und nur deshalb entschloß ich mich damals so rasch, ihm die geforderte Zusage zu leisten.«
Es geschah, wie der Ingenieur es angeordnet hatte: Helling, Johannes und Josef arbeiteten abwechselnd Tag und Nacht in fieberhafter Tätigkeit an der Vollendung des Tunnels.
Jede Nacht begab sich Sieger heimlich in die Höhle, um nach dem Fortschritt der Arbeit und den Aussichten auf den baldigen Durchbruch zu sehen; allein, immer starrte ihm der harte Fels entgegen.
Am dritten Tage mußte er dem Kalifa seine erste Kanone vorführen. Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt, um der Probe anzuwohnen. Der Kalifa befahl, die Kanone zu laden und auf eine alte, zerfallene Hütte fern über dem Nil zu richten. Der Schuß fiel, und die morsche Baracke stürzte in sich zusammen.
Ein ungeheures Jubelgeschrei begrüßte diesen Erfolg. Der Kalifa war überrascht und äußerte seine höchste Befriedigung.
Er verlangte einen zweiten Probeschuß.
Mit großer Sorge willfahrte der Ingenieur, denn er befürchtete, das schwache Rohr könnte schon bei diesem zerspringen, obgleich er noch einige Ringe darum geschmiedet hatte, um ihm größere Haltbarkeit zu verleihen. Er nahm die Pulverladung so schwach als möglich und richtete die Mündung auf eine nahe Palme.
Ein neuer Knall, — und der Wipfel neigte sich: der Stamm war zersplittert und der Baum krachte zur Erde.
Brausender Beifall war die Folge dieses zweiten Beweises von der Vortrefflichkeit des Geschützes.
Jetzt deutete der Herrscher auf eine Mauer, die glücklicherweise auch nicht sehr entfernt war, und verlangte, zu sehen, ob die Kugeln auch steinernes Mauerwerk zu zerstören vermöchten.
»Wenn das so fort geht,« dachte der besorgte Kanonier, »so kommt noch heute alles heraus!«
Er mußte notgedrungen eine etwas stärkere Ladung nehmen, wenn die Kugel die erwartete Wirkung ausüben sollte.
Mit einem heißen Stoßgebet gab er Feuer: die zum Glück schon sehr baufällige alte Mauer erbebte, die getroffene Stelle bröckelte auseinander und es zeigte sich eine ansehnliche Bresche.
Erneuter Jubel belohnte den Schützen, der sich jedoch über den trefflichen Schuß nicht freuen konnte, denn sein scharfes, sachkundiges Auge gewahrte bereits einen kleinen Sprung im überanstrengten Rohr.
»Einen Schuß mag es noch aushalten,« murmelte er: »Aber dann ist es auch Matthäi am letzten! Beim zweiten springt es unfehlbar in Stücke.«
Er atmete auf, als Abdullahi erklärte, für heute habe er genug gesehen, und gnädig hinzufügte:
»Ich sehe, Abd el Ziger, daß du treu und ehrlich bist und dein Versprechen gehalten hast, wenn es auch länger dauerte, als du selber glaubtest. Emin Gregr hat dich verleumdet mit seinen Verdächtigungen. Morgen soll die Kanone noch weiter erprobt werden; da wird sich zeigen, ob sie auch weiter entfernte Steinmauern zu zerstören vermag. Wenn sie aber auch noch nicht so viel leisten sollte, wie die Geschütze, die wir vom Feinde erbeuteten, ich habe deinen guten Willen erkannt, und du wirst noch mehr und bessere zu stande bringen.«
In der Freude seines Herzens befahl der Kalifa alsbald, dem erfolgreichen Techniker eine namhafte Summe aus dem Bet el Mal, dem Schatzhause, auszubezahlen. Er nahm damit eine schwere Sorge von Siegers Herzen. Denn in der letzten Zeit war der Herrscher nicht mehr so freigebig gewesen, wie früher, und die Summen, die er dem Ingenieur auszahlte, reichten knapp zur Beköstigung und Entlohnung der Arbeiter, so daß Sieger befürchtete, seine Flucht könnte schließlich am Mangel an Geldmitteln scheitern, weil er nicht mehr so viel Barmittel besaß, um die unbedingt nötigen Kamele zu kaufen.
Im Triumph wurde die Kanone nach Omderman geführt, und im Palast des Herrschers in Verwahrung genommen, während sich ihr Erbauer im Bet el Mal die gewährte Belohnung auszahlen ließ, um sich dann so rasch wie möglich heimzubegeben.
Das Probeschießen hatte schon ziemlich zeitig am Morgen begonnen, in der freien Ebene zwischen der Stadt und der Fabrik. So war es noch kaum Mittag, als Sieger wieder zurück war.
Er berichtete Helling über den günstigen Erfolg des Probeschießens, und dieser konnte eine ebenso erfreuliche Nachricht verkünden: die Bohrer hatten die letzte schmale Felswand durchbrochen, denn nach Zurückziehung des Maulwurfs schimmerte durch sämtliche Löcher Tageslicht. Johannes war eben dabei, die Sprengung vorzunehmen, durch die der völlige Durchbruch erzielt werden mußte.
Sieger beauftragte Josef und Helling, die Päcke in die Höhle zu befördern, die für den Fall der Flucht zur Mitnahme gerichtet waren, und Fanny sollte die Beiden gleich begleiten. Er würde so bald als möglich nachfolgen, denn jetzt gälte es keine Minute mehr unnötig zu verlieren, um möglichst weit fort zu sein, wenn ihr Entweichen bemerkt und die Verfolgung aufgenommen würde.
Die Päcke waren so leicht bemessen, daß sie ohne zu große Beschwerung getragen werden konnten, bis sich die Möglichkeit bot, Kamele zu erwerben. Sie enthielten die nötigsten Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände.
Dann ordnete der Ingenieur an, daß sämtliche Arbeiten in der Fabrik eingestellt würden, da der Tag gefeiert werden müsse, an dem der erste Erfolg die lange, mühevolle Arbeit gekrönt habe.
Die Arbeiter und die Wächter unter dem Bimbaschi Ismain lagerten sich vor der Sperrmauer am Eingang des Margayatals, und Ali, dem einige Sklaven beigegeben wurden, war beauftragt, sie reichlich mit Speisen und namentlich mit Getränken zu versehen. Die Merisa sollte heute in Strömen stießen.
»Ich selber will mit den Meinen den Tag im Margayatale feiern,« sagte Sieger zu Ismain. »Denn wollten wir uns hier draußen bei euch lagern, so wäret ihr nur im Genusse gestört, weil ihr stets ein scharfes Auge auf uns haben müßtet. Siehe, da kommt ja auch Hassan Bey Omkadok, dein Bruder.«
»Die Biene wird vom Wohlgeruch des Honigs angelockt und Hassan vom Dufte der Merisa, den er von ferne wittert,« erwiderte der Bimbaschi, der seinen Bruder genau kannte. In der Tat schien der Mulazem bis tief nach Omderman hinein den Geruch seines Lieblingsgetränkes wahrgenommen zu haben, der ihn unwiderstehlich zu der Stelle zog, von der er ausströmte.
»Ali, sorge dafür, daß Hassans und Ismains Krüge nie leer sind!« befahl der Gastgeber, wofür die beiden Bevorzugten ihm Allahs Segen wünschten.
Bei dem bunten Treiben und der freudigen Erregung, die hier draußen herrschten, bemerkte niemand, daß sich eine tiefverhüllte Gestalt in das Wächterhaus schlich, und von hier aus durch die Fabrik in die Schlucht, wo sie sich hinter einem Felsen verbarg.
Das war natürlich Emin Gegr um Salama.
»Es sollte mich wundern,« sprach er vor sich hin, »wenn die Gebrüder Helling mit diesem Feste nicht etwas im Schilde führen und irgend eine List dahinter verbergen. Mit der Kanone haben sie den Kalifa wieder in Vertrauen eingewiegt; aber ich werde dafür sorgen, daß sie diesmal nicht entkommen, und wenn es ihnen auch gelingt, sämtliche Arbeiter und Wächter derart in Merisa zu berauschen, daß ihnen die Bahn aus dem Tale offen liegt.«
Sieger hielt sich nicht länger als nötig unter den Schmausenden und Zechenden auf. Sobald er das Gelage so recht im Gange sah, begab er sich in die Fabrik zurück. Er konnte sich jetzt getrost entfernen, ohne daß es auffiel; niemand würde ihn vermissen, da man ihn mit den Seinen ebenfalls feiernd im Tale glaubte.
Alles kam jetzt darauf an, ob sich Helling und Johannes nicht getäuscht hatten und der Tunneldurchbruch bald gelang oder inzwischen schon erfolgt war. Denn morgen, das wußte er sicher, würde die gnädige Stimmung des Kalifa in grenzenlose Wut umschlagen, wenn die unvermeidliche Katastrophe mit der Kanone eintrat.
In höchster Eile lief er durch die verlassenen Fabrikgebäude in die Schlucht hinaus und durch diese bis zu dem Felsen, der den Eingang zur Höhle verschloß. Unterwegs schloß er rasch das Schleusentor. Die Eisenstange, die als Riegel diente, lag in einer Felsspalte verborgen, wie immer, wenn sich jemand in der Grotte befand. Denn von innen konnte der Riegel nicht vorgeschoben werden. Dies erschien auch belanglos, denn wer konnte hinter dem Felsblock ein Geheimnis ahnen, und wenn auch, welcher Uneingeweihte hätte es vermocht, den Stein zurückzuschieben, da er den Kunstgriff nicht kannte, durch den dies allein ermöglicht wurde?
Der Ingenieur hatte bald den Eingang zur Höhle freigelegt und schlüpfte hinein. Da er sich allein in der Schlucht wußte oder wenigstens glaubte, sich völlig unbemerkt zu wissen, hatte er nicht Umschau gehalten, und so war es ihm völlig entgangen, daß ihm in gemessener Entfernung eine Gestalt gefolgt war, die sich hinter jeden Felsvorsprung duckte und dann wieder mit katzenartigen Sprüngen der nächsten Deckung zueilte, sich dahinter zu verbergen und behutsam vorzuspähen.
Zuletzt stand der Spion vor dem Felsblock, der hinter Sieger den Eingang zur Höhle wieder verschlossen hatte.
»Hier ist er im Erdboden verschwunden!« murmelte der Verfolger zwischen den Zähnen: »Was will er da drinnen, was für ein Geheimnis birgt dieser verborgene Zugang? Ich werde ihm doch auf die Schliche kommen! Zu dumm, daß ich ihn gerade im letzten Augenblick nicht beobachten konnte, weil er so scharf zurückschaute und ich den Kopf schnell wieder zurückziehen mußte. Aber als ich wieder nach ihm spähte, war er weg, und es schien mir, als habe sich dieser Fels bewegt.«
Nun versuchte er es auf jede Weise, den Block wegzuwälzen; allein dieser erwies sich als zu schwer und wankte nicht. Da strengte der Einäugige seine ganze, mehr als gewöhnliche Kraft an und siehe, der Stein bewegte sich! Noch ein gewaltiger Ruck, und plötzlich kam die schwere Masse aus dem Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Um ein Haar hätte sie hiebei Emin Gegr zermalmt. Nur ein rascher Sprung rettete den Bedrohten, dessen linker Fuß jedoch von dem Felsen getroffen wurde, derart, daß ein ansehnliches Stück Fleisch aus der Ferse gerissen wurde.
Mit einem abgerissenen Streifen seines Turbans verband Um Salama die blutende Wunde und hinkte dann dem gähnenden Loche entgegen, das sich vor seinen Füßen öffnete.
Als inzwischen der Ingenieur bis an das äußerste Ende des Tunnels vorgedrungen war, empfing ihn ein dreifaches Hurra. »Licht, Licht!« rief Osman, »die Wand ist durchbrochen!«
»Es ist aber auch höchste Zeit,« sagte Sieger, von freudiger Hoffnung belebt, »wenn wir nicht einen ansehnlichen Vorsprung gewinnen, ehe unsere Flucht entdeckt wird, so sind wir bald verloren. Ein Glück, daß ich nun Geld genug habe, um Kamele zu kaufen; aber wo werden wir welche finden? Wenn der Kalifa wüßte, zu was mir seine Spende dienen soll! Doch rasch nun voran!«
»Ich habe schon die Ladung gelegt, um den Ausgang hinter uns zu sprengen,« sagte der Leutnant. »Dort in der Seitennische hängt die Lunte herab.«
»Gut! So laßt uns die Bohrmaschine da hineinschieben, daß wir vorbeikommen. Ihre Bohrer sind schon wieder ganz stumpf, obgleich ich erst vorgestern neue einsetzte. Aber das macht nun nichts mehr; sie hat ihre Schuldigkeit getan und mag nun untergehen. Wir haben keine Zeit, sie in Sicherheit zu bringen, und es wäre auch zwecklos, da wir ihrer nicht mehr bedürfen.«
Während die Männer die Maschine in die Nische schoben, zwängte sich Fanny durch das enge Durchbruchsloch ins Freie.
Noch einige Pickelhiebe und der Ausgang war so weit vergrößert, daß auch die Männer mit ihren Päcken, wenn auch mit Mühe, hindurchgelangen konnten.
Sieger, als der Letzte, glimmte noch die Lunte an, dann folgte er den Anderen.
»Lebe wohl, getreuer Maulwurf!« rief er noch zurück, nicht ohne Wehmut: »Du hast mir jahrelang redlich gedient und uns den Weg zur Freiheit gebahnt, und nun ist Vernichtung dein Lohn. Aber es geht nicht anders!«
Jetzt standen alle draußen in einem engen Felstal, ähnlich der Margayaschlucht am Südende der Höhle, aber bedeutend schmäler.
Sie nahmen ihre Päcke auf und verfolgten die Klinge in ihrem Verlauf nach Norden. Sie hatten Eile, um die nächste Biegung zu kommen, weil die bald zu erwartende Explosion im Innern des Tunnels immerhin einige Gesteinsbrocken und Splitter nach außen schleudern konnte, denen es nicht ratsam schien, sich ohne Not auszusetzen. Außerdem wollten sie keine Zeit verlieren, um so bald wie möglich in den Besitz von Kamelen zu kommen, auf denen sie ihre Flucht beschleunigt fortsetzen konnten.
Als Emin Gegr seinerseits die Höhle betrat, hätte er beinahe das Genick gebrochen, denn er stürzte in den Abgrund, der sich an dieser Stelle befand. Zu seinem Glück war der tiefe Spalt durch die von der Tunnelbohrung herrührenden Trümmer fast ausgefüllt, so daß der Sturz ihm nur einige Schmerzen verursachte.
Um Salama war bald wieder hervorgekrochen und tastete sich nun, vorsichtiger schreitend, der Stelle zu, von der aus ein Lichtschimmer aus weiter Ferne zu ihm drang. Von dort her vermeinte er auch ein dumpfes Geräusch zu vernehmen.
Als er die Stelle endlich erreichte, stand er zunächst starr vor Erstaunen, da er die kunstvolle Bohrmaschine erblickte. »Ein Teufelskerl, dieser Ingenieur!« dachte der verblüffte Schurke. »Wie er das Ding nur daherschaffen konnte? Und jahrelang offenbar hat er nun in aller Heimlichkeit an diesem Tunnel gebohrt. Aber es ist alles umsonst! Helling! Der Geiger ist dir auf der Spur und wird dir ein böses Lied vorgeigen!«
Durch den Ausgang des Tunnels spähend, sah Emin Gegr noch die Flüchtlinge, die eben um eine Ecke bogen; dann eilte er, so rasch es sein hinkender Fuß gestattete, zurück.
Ohne daß er eine Ahnung gehabt hätte, bedeutete dieser rechtzeitige und beschleunigte Rückzug die Rettung seines Lebens; denn noch nicht hatte er den Ausgang des Bohrlochs bei seiner Mündung in die natürliche Höhle erreicht, als ein furchtbarer Knall sich vernehmen ließ, dem das Donnergepolter einstürzender Gesteinsmassen folgte. Der Luftdruck, der sich mit dem rollenden Getöse durch den Schacht fortpflanzte, warf den Erschrockenen jählings zu Boden.
Helling hatte eine außerordentlich starke Mine gelegt, um eine möglichst ausgedehnte Verschüttung des Ganges zu erzielen, damit er nicht so leicht ausgeräumt werden könne, wenn er je entdeckt würde und man versuchen wollte, den Flüchtlingen auf diesem Wege nachzusetzen. Die Ladung betrug die zehnfache Menge an Sprengstoff, wie sie zu gewöhnlichen Sprengungen bei der Bohrarbeit verwendet worden war.
Eine Zeitlang lag Emin halb betäubt am Boden. Als sich jedoch der Geruch der Sprenggase bemerkbar machte, erhob er sich mühsam und mit schmerzenden Gliedern, um das unheimliche Loch zu verlassen, und nicht zu guter Letzt noch den Erstickungstod zu erleiden, nachdem er bei seinem Sturz und der Explosion so glimpflich davongekommen war.
Zu seiner Überraschung sah er durch den Eingang Wasser einströmen, das vorerst noch in dem mit Geröll gefüllten Abgrund verschwand. Draußen aber versperrte ihm ein See den Rückzug, und er mußte ihn durchschwimmen, um die Staumauer zu erreichen.
»Wie das alles ausgeklügelt ist!« dachte er: »Man sollte es nicht für möglich halten!«
Als er auf dem Damme stand, schüttelte er die triefenden Gewänder und zog die Schleusenfalle auf, um dem See einen Abfluß zu schaffen durch das Bachbett, das unter der Fabrik durch in die Ebene hinauslief, wo es einige kleinere Zuflüsse aufnahm, um dann durch Omderman dem Nil zuzufließen.
Wie nun Emin vor dem Eingang der Margayaschlucht die zechenden Arbeiter und Wächter traf, rief er dem Bimbaschi Ismain zu: »Du bist ein schlechter Diener des Kalifa: sie sind alle entflohen, die du bewachen solltest!«
»Malesch! es tut nichts! Wer lange lebt, sieht viel. Die Merisa ist gut; wer sie jedoch nicht verträgt, wird wirr im Kopf davon; es redet aber keiner verständiger als er ist.«
»Dummkopf! wenn ich dir sage, sie sind entflohen! Ich bin kein Merisatrinker wie du, ich achte die Gesetze des Propheten.«
»Deine Worte sind eine mir von Gott auferlegte Prüfung! Seit wann wollen die Muselmaniun, die Verleugner ihres Glaubens, die Gläubigen lehren, was die Gesetze des Propheten von ihnen fordern? Was wir trinken ist Medizin und kein geistiges Getränke.«
»Gut! aber ich werde dem Kalifa berichten, welche Medizin ihr trinket.«
Damit eilte Um Salama weiter und ließ die Zecher in größtem Schrecken zurück; denn die strengen Gesetze des Kalifa bestraften die Merisatrinker zum mindesten mit Einziehung des gesamten Vermögens.
»Malesch!« tröstete Ismain die Genossen, »der Kalifa wird einem Muselmanieh keinen Glauben schenken, trinken wir weiter! Es geht doch alles, wie Allah vorherbestimmt hat. Der Vater des einen Auges ist trunken und hat sich mit Merisa übergossen, denn er trieft gleich einer Wassermaus!«
Des Bimbaschi Weisheit leuchtete den meisten ein und nur wenige zogen sich, aus Furcht vor der Strafe, vom Gelage zurück.
Es dämmerte bereits, als Emin Gegr in Omderman anlangte und sich eine Audienz beim Kalifa erbat. Diese wurde ihm jedoch nicht gewährt, da Abdullahi ihm noch wegen seiner Verleumdung Siegers zürnte. Es half auch nichts, daß Um Salama wiederholt die hohe Wichtigkeit seiner Enthüllungen betonte; er wurde abgewiesen und zog sich grollend zurück.
Anderen Tags wurde die zweite Probe mit dem neuen Geschütz veranstaltet. Der Ingenieur erschien nicht, wurde auch nicht gefunden. Als die Kanone nun abgefeuert wurde, bekam das Rohr schon beim zweiten Schuß einen derartigen Sprung, daß weitere Versuche lebensgefährlich gewesen wären.
Nun wütete der Kalifa gegen Sieger und gewährte Emin Gegr Um Salama bereitwillig Gehör.
Die Nachricht von der Flucht der Weißen brachte ihn zur höchsten Wut. Er ordnete sofort die Verfolgung an. Und da keine Kamele den Weg geführt werden konnten, den die Flüchtigen eingeschlagen hatten, er sich auch derart verschüttet erwies, daß er in absehbarer Zeit nicht zugänglich gemacht werden konnte, übertrug er die Leitung der Verfolgung Um Salama, der versprach, die Flüchtlinge auf dem Weg über Kerreri bald einzuholen oder ihnen gar den Weg abzuschneiden, da sie sich wohl nicht so rasch beritten machen konnten.
Ich wollte, ich hätte den elektrischen Strom in die Metallplatten geleitet,« sagte Sieger, als unsere Freunde durch die Schlucht, in dem sie aus dem Tunnel gelangt waren, dem Uadi Chemba zueilten. »Wie konnte ich nur daran nicht denken! Niemand hätte in das Margayatal einzudringen vermocht, und tagelang hätte man unsere Flucht nicht mit Sicherheit feststellen können. So hätten wir einen Vorsprung gewonnen, der jede Verfolgung aussichtslos gemacht hätte.«
»Malesch!« erwiderte Leutnant Helling, »vielleicht hätte die elektrische Sperre nur Verdacht erregt. Den Eingang zur Höhle hast du doch nicht offen stehen gelassen?«
»Nein, gewiß nicht! Den habe ich wieder sorgfältig verschlossen, wie immer. Nur den Riegel konnte ich natürlich nicht einschieben, weil ja das nur von außen möglich ist.«
»Dann ist keine Gefahr,« bemerkte Jussuf: »Selbst der schlaue Salami würde hinter dem harmlosen Felsen kein Geheimnis wittern, und wenn auch, so könnte er niemals erraten, wie man es angreifen muß, um den Block beiseite zu schieben.«
»Das ist wahr,« stimmte Sieger zu: »Voraussichtlich wird unsere Flucht nicht vor morgen entdeckt, und dann haben unsere Feinde nicht den geringsten Anhaltspunkt, der ihnen verriete, wohin wir uns gewendet haben. Gott ist auch noch da, auf dessen Schutz und Hilfe wir uns verlassen dürfen — also wollen wir uns keine überflüssigen Sorgen machen.«
Als die Nacht hereinbrach, wurde einige Stunden in dem öden Felstale geruht, das den besten Schutz bot. Doch lange vor Tagesanbruch weckte Sieger die Schläfer und mahnte zum Weitermarsch, der nach einem kleinen kalten Frühstück angetreten wurde.
Bald wurde der Ausgang der Schlucht erreicht, man ließ die Margayaberge hinter sich und trat in die weite Bayudasteppe ein, die nur mit spärlichem, jetzt völlig dürrem Grase bewachsen war. Nur an den zahlreichen Chors, den Bächen und Flüßchen, die sie durchschneiden, so wie an einigen nie vertrocknenden Wassertümpeln zeigte sich saftiges Buschwerk und reicherer Pflanzenwuchs.
Den ganzen Tag wanderten unsere Freunde durch die Savanne, ohne ein lebendes Wesen anzutreffen, außer einigen Antilopen und Hyänen. Die Lebensmittel begannen ihnen schon knapp zu werden, da Sieger keine großen Vorräte hatte mitnehmen können, die auf der Fußwanderung zu sehr belastet, und so die Flucht verzögert hätten. Ein Glück, daß man wenigstens immer wieder trinkbares Wasser fand!
Am Ufer eines kleinen Wasserlaufes wurde genächtigt. Doch wurde wieder in aller Frühe bei Mondschein aufgebrochen.
Unsere Freunde fanden auch diese Nachtwanderungen am angenehmsten und zogen es vor, den versäumten Schlaf während der größten Tageshitze nachzuholen.
Gegen Morgen stießen sie auf ein Lager nomadisierender Kababisch. Dieser Völkerstamm, der die Bayudasteppe bewohnt und seine Kamele von einem Weideplatz zum anderen führt, lebt hauptsächlich vom Vermieten und Verkauf von Kamelen an Karawanen. Hier konnte Sieger fünf gute Reittiere erstehen, die mit einigen Wasserschläuchen, einem Vorrat von Datteln und Durrah (Getreide) beladen wurden, und, alsbald bestiegen, die Flüchtlinge in raschem Trabe dem Wadi Mokattam zutrugen.
Tag und Nacht reitend, erreichten sie am vierten Tage jenes Tal, dessen nur in der Regenzeit wasserführender Chor dem Nil bei Dongola zufließt.
Hier mußte den erschöpften Tieren endlich Ruhe gegönnt werden; auch die Reiter bedurften dringend des Schlafes, der sie immer wieder im Sattel zu überfallen drohte. Durch laute Rufe hatten sie einander jedesmal ermuntert; denn ein Sturz von der Höhe eines Kamelrückens herab ist nicht ungefährlich.
Nachdem die Ermatteten den ganzen Nachmittag und die halbe Nacht geschlafen hatten, wurden sie durch ein schreckliches Geschrei und Gebrüll aufgeweckt. Das Blut erstarrte ihnen in den Adern, als sie einen mächtigen Löwen gewahrten, der sich auf eines der Kamele geworfen hatte, das nun in Todesangst aufsprang und hinwegstürmte, seine Fährte mit Blut bezeichnend.
»Das sind schlimme Aussichten für uns, die wir keine Schußwaffen haben,« sagte Sieger bedrückt.
»Wir müssen bei nächster Gelegenheit welche zu kaufen suchen,« meinte Helling.
»Das wird schwer halten, zumal ich wenig Geld mehr übrig habe; doch Gott wird uns schon durchhelfen.«
Fanny mußte nun ein Kamel mit Johannes besteigen. Wiederum wurde Tag und Nacht geritten, bis am sechsten Tage seit der Flucht der Chor el Laban erreicht wurde, ein Nebenfluß des Mokattam.
Da die Wasserschläuche leer waren, sehnten sich unsere Freunde, an den Bir el Bayuda zu gelangen, einen bekannten Brunnen an der Karawanenstraße. Sieger hielt mit dem Fernrohr Ausschau und entdeckte auch bald den Brunnen, der nicht mehr ferne war. Dort durften sie wohl den ermatteten Gliedern wieder einige Stunden Rast gönnen; denn es wäre ihnen nach den Strapazen der letzten Tage ohne eine Erholung nicht möglich gewesen, die Reise fortzusetzen; auch mußten die Tiere geschont werden.
Bald lagerten denn auch unsere Freunde im Schatten der Palmen am Bir el Bayuda am Fuße des Djebel Bayuda, wo der Chor Gandul sich mit dem Mokattam vereinigt.
Wie behaglich war es, hier im Schatten, am kühlen Wasser den erschlafften und von der Gluthitze ausgedörrten Leib auszustrecken. Zwar mochte die »Kühle des Wassers« nur wie eine übel angebrachte Redensart klingen, denn das Wasser des Brunnens war ziemlich lau und dasjenige der beiden Flüsse, das ganz spärlich floß, noch wärmer. Und doch erregte das verdunstende Naß ein angenehmes Gefühl der Frische, zumal unsere Freunde sich immer wieder Gesicht und Kopf wuschen und trinken konnten, so viel sie nur wollten.
Unterwegs mußte das Wasser in den Schläuchen oft gespart werden, wenn man nicht sicher wußte, daß es bald erneuert werden konnte. Und dann, wie heiß und unerquicklich wurde es so bald in den der Sonne ausgesetzten Schläuchen! Da schätzte man es um so mehr, wenn man einen verhältnismäßig kühlen Trunk genießen konnte, und sich keine Beschränkung dieses köstlichen Genusses aufzuerlegen brauchte.
Die Schläuche wurden gefüllt, der Hunger wurde gestillt, und dann gab man sich ganz der wohligen Ruhe hin.
Nur Osman erhob sich zuweilen und spähte nach allen Seiten in die sonndurchglühte Steppe hinaus.
Kaum ein Stündlein mochten unsere Freunde so der Ruhe gepflogen haben, als Osman, der sich eben wieder erhoben hatte, um Umschau zu halten, plötzlich ausrief: »Vater, dort kommen Leute des Kalifa!«
Mit seinen scharfen Augen hatte der Jüngling entdeckt, daß sich ein Trupp Reiter in schnellstem Trab nahte, und trotz der großen Entfernung vermochte er bereits ihre Tracht so sicher zu erkennen, daß er gleich wußte, es könnten nur Derwische im Dienste Abdullahis sein.
»Es ist kaum glaublich, daß man uns schon auf der Spur sein sollte!« meinte Sieger, sich erhebend und das Fernrohr hervorziehend, das er vorsorglich mitgenommen hatte.
Kaum aber hatte er den Feldstecher auf die Nahenden gerichtet und scharf eingestellt, als er in höchstem Schrecken ausrief: »Wahrhaftig! Der Junge hat recht! Auf, auf! Nur die schnellste Flucht kann uns noch retten!«
Es war aber geringe Aussicht, auf den übermüdeten Kamelen den Verfolgern zu entkommen, die jedenfalls unterwegs öfters Gelegenheit gefunden hatten, ihre ermatteten Tiere gegen frische einzutauschen.
Doch es mußte versucht werden.
Alle bestiegen ihre Dromedare, Johannes und Fanny wieder das ihnen gemeinsam gehörige Baër, das kräftigste und schnellste von allen. Nur Josef zögerte noch, was aber von den Anderen nicht gleich bemerkt wurde.
Als jedoch abgeritten werden sollte, sah sich Helling noch einmal um, ob auch Alle bereit seien, und rief in höchstem Erstaunen: »Aber Josef, was fällt denn dir ein? Du läufst ja dem Feind in die Hände! Willst du dich für uns aufopfern? Auf mit dir, und fort! Es hat doch keinen Zweck: du allein kannst die Kerls unmöglich lange aufhalten, waffenlos, wie du bist.«
Nun zögerten auch die Anderen mit dem Antreiben ihrer Dromedare und sahen sich um, was mit dem Diener los sei.
Dieser war durch das Bett des Chor Gandul zurückgegangen, und bald zeigte sich, was er beabsichtigte: während er zurückkehrte und sein Kamel bestieg, sah man an der Stelle, die er soeben verlassen, einen schwarzen Rauch aufsteigen; dann zuckten Flammen auf, die aber bei der flimmernden Sonnenglut kaum sichtbar waren; Josef hatte das dürre Gras der Steppe angezündet, und da der Wind aus Nordwesten blies, entstand in kurzer Zeit ein breiter Flammengürtel, der sich den Häschern des Kalifa entgegenwälzte. Diese waren bisher ahnungslos im schnellsten Trabe weitergeritten; nun aber stutzten sie, dann wandten sie die Kamele und in rasendem Lauf ging es zurück. Gelang es ihnen nicht, den Chor Laban zwischen sich und das Flammenmeer zu setzen, ehe das Feuer sie erreichte, so waren sie unrettbar verloren.
»Das ist grausam!« sagte Sieger zu seinem Diener.
»Herr, es gilt Euer Leben und der Kinder und des Herrn Helling. Meinetwegen dürfen alle entkommen, wenn nur der verräterische Salami, der sicher dabei ist, auf dem Platze bleibt.«
Unsere Freunde dachten im Augenblick an gar keine Flucht mehr: das Schauspiel war zu aufregend, wie die Kamele in verzweifelter Hast mit ihren geängstigten Reitern dahinstoben, während die züngelnden Flammen hinter ihnen her wehten. Bald aber entzog eine Mauer von Qualm mit Funken durchsetzt die Bedrohten den Blicken.
Jetzt erst erwachten unsere Freunde wieder zum Bewußtsein der eigenen, dringenden Gefahr; und nun ging's weiter zwischen den Erhöhungen des Djebel Bayuda hindurch dem Chor el Ghanem zu.
Wie sie jedoch das Gebirge verließen, fielen einige Schüsse aus einem Hinterhalte. Zwei der Kamele stürzten getroffen zu Boden, und dem dritten fiel ein Mann in die Zügel, der hinter einem Felsblock hervorsprang, und dem noch sechs weitere Bewaffnete folgten. Ehe unsere Freunde an eine völlig aussichtslose Gegenwehr denken konnten, waren sie gefesselt, auf Kamele gebunden und wurden den Weg zurückgebracht, den sie eben gekommen waren.
Johannes und Fanny hätten entkommen können, denn sie allein, die etwas abseits ritten, waren nicht angefallen worden, und ihr Tier war, wie gesagt, besonders schnellfüßig: seine Doppellast, die nicht allzuschwer war, behinderte es nicht im geringsten.
Als jedoch die Kinder ihren Vater, Onkel Helling und Jussuf gefangen sahen, kehrten sie freiwillig um. Etwas anderes wäre ihnen gar nicht denkbar erschienen.
Da Emin Gegr wußte, daß Sieger mit den Seinigen durch die Margayaberge geflohen war und von dort an den Wadi Mokattam gelangen mußte, so konnte er ihren Weg mit fast unfehlbarer Sicherheit erraten: sie würden zweifellos den Fluß entlang reiten bis nach Ambukol, wo er sich in den Nil ergießt, und sich dann nach Dongola wenden.
Als es ihm nun nicht gelang, den Kalifa gleich zu sprechen, ihm die Flucht zu verraten und so die sofortige Verfolgung zu veranlassen, bestimmte er eine Anzahl Leute durch Versprechung eines hohen Lohnes, sofort aufzubrechen und in beschleunigtem Ritt diese ihm bekannte Stelle zu erreichen, die ein geeignetes Versteck zu einem Hinterhalte bot, an dem die Flüchtlinge ohne allen Zweifel vorüberkommen mußten.
Seine Berechnung hatte sich als nur zu richtig erwiesen, und somit war sein Anschlag geglückt, der sonst durch Josefs kluge Tat vereitelt worden wäre.
Emin Gegr selber hatte sich diesem Vortrab nicht anschließen können, weil er für alle Fälle eine größere Macht auf die Spur der von ihm so glühend Gehaßten hetzen wollte. Dazu mußte er aber erst dem Kalifa seine Mitteilungen machen, und das gelang ihm, wie wir wissen, erst nach dem zweiten, so kläglich verlaufenen Probeschießen. Er hatte dem Herrscher gleich mitgeteilt, welche Schritte er schon auf eigene Faust unternommen hatte, und dieser billigte gerne seine vernünftige Maßregel, versprach auch den Vorangerittenen die reiche Belohnung zu gewähren, die der Einäugige ihnen versprochen, und die er ihnen aus seinen geringen Mitteln unmöglich hätte auszahlen können. Emin hatte auch in Rechnung gezogen, daß der Kalifa dafür aufkommen werde, hatte er doch in dessen Interesse gehandelt, wenn auch aus durchaus selbstsüchtigen Gründen.
Der Zweck des Hinterhalts war erreicht, und die Häscher ritten mit ihren Gefangenen siegesfroh nach Süden, um sich mit den Leuten des Kalifa zu vereinigen, deren Nahen sie bemerkt hatten. Freilich wußten sie nicht, ob es ihnen gelungen war, dem Flammenmeer zu entrinnen, das die Verfolgten ihnen entgegensandten.
Die Bedrohten hatten aber mit knapper Not den Chor Laban erreicht und ihn überschreiten können, ehe die Glut sie erfaßte; denn die entsetzten Kamele entwickelten eine Schnelligkeit, wie wohl sonst nie in ihrem Leben: die Hitze und der Brandgeruch, den der Wind den Flammen vorausjagte, genügten, sie zur höchsten Eile anzutreiben; es galt ihr Leben, wie das ihrer Retter, und dessen schienen sie sich bewußt zu sein.
Unsere Freunde waren bei dem Ritt, zurück in die Höhle des Tigers, tief niedergeschlagen, denn daß sie nichts Gutes erwartete, war selbstverständlich. Sie konnten nur noch heiß zum Himmel flehen, es gnädig zu machen.
Beim Bir el Bayuda mußte ein Umweg gemacht werden, da der Steppenbrand zur Linken noch wütete und da, wo er erloschen war, rauchende Gluten auf dem Boden zurückgelassen hatte.
Nach einigen Stunden eines angestrengten Rittes erreichten die Häscher des Kalifen ihre dem Steppenbrande glücklich entronnenen Gefährten, deren Führer jedoch der Begegnung mit den Gefangenen auswich und fortan mehrere hundert Schritt vor dem Zuge herritt.
»Es ist gut,« murmelte er, »daß ich eine Vorhut aussandte, sonst wären mir die Vögel am Ende doch noch entgangen; den Wiedersehensauftritt aber mit Freund Helling will ich auf gelegenere Zeit aufsparen.«
Als dem Kalifa die Einbringung der Flüchtlinge gemeldet wurde, befahl er, sie zu fesseln und in den Seier zu schaffen. Um Salama vernahm dies mit teuflischer Freude: »So mögt ihr den Vorhof der Hölle auch kosten, wie ich ihn kennen lernte! Ich bin ihm entronnen, ihr aber sollt nicht so leichten Kaufes davonkommen!«
Der Kalifa war hocherfreut, daß er die Entwichenen wieder in seiner Gewalt hatte, und überlegte sich, ob er nun zur Strafe die angedrohte Verstümmelung anordnen oder die Gefangenen hinrichten lassen solle, oder aber beides, wie Emin Gegrs satanische Bosheit ihm riet.
Bis er zu einem Entschluße gekommen wäre, sollten sie eben im Seier schmachten, was ja schon an und für sich eine entsetzliche Strafe war.
Dabei hinderte ihn noch ein anderer Gedanke, allzurasch eine Gewalttat zu verüben, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte: seine Hoffnung, eine Menge Kanonen zu bekommen, war ihm gar zu sehr ans Herz gewachsen, und es handelte sich dabei um etwas für ihn und den Fortbestand seiner Herrschaft so ungemein Wichtiges, daß er sich nicht so leicht entschließen konnte, denjenigen, der allein imstande war, ihn ans Ziel dieser Wünsche zu bringen, zu töten oder durch eine Verstümmelung seiner selbst oder seiner Kinder und Freunde sich derart zu verfeinden, daß sein tödlicher Haß ihn für immer verhindert hätte, dem Tyrannen zu Willen zu sein.
So rasch er daher sonst mit den unmenschlichsten Strafen bei der Hand war, so gebot ihm doch in diesem Falle die Vernunft, sich vor jeder Übereilung zu hüten.
Idris el Seier, ein roher, grausamer Mensch, war seit des Mahdi Tagen der Gefangenenwärter von Omderman. Das Gefängnis wurde daher »Bet el Seier«, späterhin kurzweg »Seier« benannt.
Wenn es selbst von den harten Sudanarabern, die gewohnt waren, große Qualen stillschweigend zu ertragen, ein Vorhof der Hölle genannt wurde, so mußte der Aufenthalt im Seier schon etwas ganz außergewöhnlich Schauderhaftes sein. Ja, einige erklärten und glaubten, die Hölle könne so schlimm nicht sein wie das Bet el Seier.
Die Gefangenen wurden gekettet in einen niederen Steinbau getrieben, dessen Luft aufs entsetzlichste verpestet war und wie in einem Backofen glühte. Hier standen sie eng aneinander gedrängt; von Sitzen oder gar Liegen konnte keine Rede sein: dazu war der Raum zu überfüllt.
Osman, der stets an frische Luft gewöhnt war, fiel nach wenigen Minuten in Ohnmacht, und hätten ihn sein Vater und Jussuf nicht mit starken Armen aufrecht gehalten, so wäre er zu Boden gesunken und unter den Füßen der Mitgefangenen zertreten worden. Helling wurde vor Hitze und Luftmangel beinahe wahnsinnig. »Die Marter hat der Teufel erfunden!« keuchte er, »dieser Idris scheint mit dem Satan ein und dieselbe Person zu sein. Wie ist mir doch? Nennen die Araber den Bösen nicht Idris?«
»Iblis heißt er in den Märchen von ›Tausend und einer Nacht‹,« erwiderte Sieger.
»Na, Iblis oder Idris, ganz egal! Jedenfalls hat er genau ausgerechnet, wie viel Menschenleiber dieser Höllenraum faßt: es möchte ihm kaum gelingen, noch einen weiteren Insassen hier unterzubringen.«
Darin täuschte sich Leutnant von Helling: die Ketten vor der Eingangstüre rasselten, die Türe öffnete sich und ein weiterer Zug von etwa zehn Gefangenen wurde eingetrieben. Es schien unmöglich, sie in den überfüllten Raum noch einzupferchen, und dennoch fanden die Wächter Mittel und Wege, dies zu ermöglichen!
Vier oder fünf wurden gewaltsam hineingepreßt: dann aber schien es ausgeschlossen, für die Anderen Raum zu gewinnen. Da ließ Idris den Korbatsch, die schreckliche Nilpferdpeitsche, über die Köpfe der Insassen sausen, und das half! Die Vordersten wichen zurück, alles hinter sich zusammenschiebend. Dennoch konnten nicht alle die neuen Ankömmlinge untergebracht werden. Schließlich ist es doch ein Naturgesetz, daß nicht mehr Menschen in einen Raum gebracht werden können, als er zu fassen vermag.
Doch Idris el Seier kümmerte sich um kein Naturgesetz, das ihm nicht paßte: er hatte noch nicht alle seine Mittel erschöpft. Er warf Hände voll brennenden dürren Grases zur Türe hinein, und wirklich gab die Angst vor Brandwunden den Nächststehenden so viel Kraft, daß sie noch einmal zurückzuweichen vermochten, bis alle Gefangenen hineingestopft waren und die Türe sich wieder schloß.
Nun aber begann ein Wüten und Toben, das jeder Beschreibung spottet: Die Männer standen so dicht aufeinander, daß selbst ein genügendes Atemholen zur Unmöglichkeit wurde, und sie fürchten mußten, zu ersticken. Der Selbsterhaltungstrieb veranlaßte sie, alles zu versuchen, um sich gewaltsam ein wenig Luft zu verschaffen. Und obgleich es schien, daß keiner mehr ein Glied zu rühren vermöge, so drängten und stießen sie doch aus Leibeskräften, schlugen wild um sich, bissen und kratzten, wobei das Gebrüll und Kettengerassel einen höllischen Lärm verursachte.
Einige Male noch öffneten die Wärter die Türe und stellten durch sausende Korbatschhiebe die Ruhe wieder her. Allein nach kurzer Zeit begann der Kampf ums Leben wieder so rasend wie zuvor. Wer dabei zusammenbrach, war rettungslos verloren: unter den zahlreichen kettenschweren Füßen seiner stampfenden Leidensgenossen wurde er zertreten und zermalmt.
Diese naturgetreue Schilderung des Gefängnisses des Kalifa Abdullahs in Omderman wird genügen, um klar zu machen, wie sehr es den Namen »Vorhof der Hölle« verdiente: die Wirklichkeit war so entsetzlich, daß die verworfenste menschliche Phantasie nicht vermocht hätte, sie zu überbieten oder nur zu erreichen.
Ein Glück war es für unsere Freunde, daß sie in eine Ecke gedrängt worden waren, wo sie im Rücken und zur Seite die Mauern hatten. So waren sie dem Gedränge bloß von zwei Seiten ausgesetzt, statt von vier und konnten diese schreckliche Nacht wenigstens überleben. Da sich hier auch ein Luftloch in der Mauer befand, erholte sich Osman nach und nach von seiner Ohnmacht.
Hie und da stürzte ein Elender vom Schlage getroffen nieder. »Das Blut hat ihn geschlagen,« sagten die Umstehenden und freuten sich, etwas mehr Raum gewonnen zu haben.
Als am anderen Morgen die Türe sich öffnete, und die schweißtriefenden, halbtoten Jammergestalten ins Freie gelassen wurden, lagen mehr als zehn bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leichen auf der Erde!
»Solche Nächte halten wir nicht viele aus!« sagte Helling zu Sieger, als sie sich im Schatten einer Mauer ausstreckten. »Um mich ist's ja nicht schade, ich habe solches und ähnliches verdient. Aber du tust mir leid und besonders der Knabe Osman.«
»Und an allem ist dieser Salami schuld!« knirschte Jussuf wütend.
Nun erschien Hassan Bey Omkadok, dessen Gesicht auch an dieser Stätte des Elends das Lachen nicht verlernte. »Ich habe vom Kalifa erwirkt, daß Osman befreit werden soll, damit ihr wenigstens nicht Hungers sterbet. Ich werde schon alle Tage etwas übrig haben, das ich euch durch den Knaben zukommen lassen kann.«
Die Gefangenen bekamen nämlich zur Nahrung bloß, was ihnen von Verwandten oder Freunden zugeschickt oder gebracht wurde; aber auch davon nahmen die Wächter mit Gewalt oder unter Drohungen das Beste und Meiste für sich. Diejenigen, die keine oder nur ganz arme Freunde hatten, mußten elend verhungern; wenn ihnen auch das Mitleid der Mitgefangenen manchen Bissen zukommen ließ, so hatten doch diese selbst meist kaum genug, um ihr Leben zu fristen, so daß diejenigen, die auf solche Mildtätigkeit angewiesen waren, über kurz oder lang vor Schwäche zugrunde gingen.
Osman wurde tatsächlich der Fesseln entledigt und freigelassen. Er konnte das Elend der vielen Hungernden nicht mit ansehen. Die Not machte ihn erfinderisch: er suchte da und dort reicheren Einwohnern in Omderman Dienste zu leisten und Arbeiten zu verrichten, um etwas zu verdienen, sei es an Speise, sei es an Geld. Für letzteres kaufte er dann Lebensmittel, so daß er täglich nicht bloß die Seinigen versorgte, sondern auch für die vielen Hungernden im Seier noch etwas übrig hatte.
Dieses edelmütige Handeln machte ihn bald bekannt und beliebt, und die Gaben flossen dem freundlichen, sympathischen Jüngling von allen Seiten reichlich zu, solange er den Seier besuchte, und das tat er fortan täglich; in der ganzen Zeit, da er in Omderman und im Margayatale war, starb kein Gefangener mehr an Entkräftung.
Die Araber, welche, ohne selber die Gebote des Korans mehr als äußerlich zu befolgen, doch einen solchen Edelmut nach dem Sinne des Propheten an Anderen hoch zu schätzen wußten, rühmten überall den jungen Osman als den Engel der Gefangenen.
Ali bin Said hatte sich inzwischen der kleinen Fatme angenommen und väterlich für sie gesorgt. Sie war nicht mit den anderen eingesperrt worden, sonst wäre sie kaum mit dem Leben davongekommen. Nun half sie ihrem Bruder in seinem Liebesdienst, und das anmutige Mädchen fand überall offene Hände, besonders auch unter den Arbeitern ihres Vaters, die jetzt freilich beschäftigungslos waren. Ihr Lohn war jedoch so reichlich bemessen worden, daß fast alle noch für längere Zeit gut zu leben hatten. Sie wußten, daß sie dies ihrem Fabrikherrn zu danken hatten, der stets auf ihr Wohl bedacht gewesen war und mehr für sie als für sich selber sorgte, während es ihm doch leicht gewesen wäre, sich Reichtümer anzusammeln, hätte er niedrigere Löhne ausbezahlt, wie es in seinem Belieben gestanden wäre.
Nun erwiesen sie sich dankbar und freuten sich, ihrem edlen Herrn in seiner Not nach Kräften beistehen zu können.
Helling wurde während seines Aufenthaltes im Seier mehr als je von seiner früheren Schwermut befallen. Er war überzeugt, daß er den furchtbaren Qualen in dieser Pestluft und unerträglichen Hitze nicht mehr lange gewachsen sein werde. Doch nicht die Aussicht auf ein baldiges trauriges Ende war es, was ihn bedrückte, sondern eine Last, die schon lange seine Seele beschwerte, ohne daß er sie jemand anvertraut hatte.
»Sieger,« sagte er eines Tages zum Ingenieur: »Ich fühle, daß es mit meiner Widerstandskraft allmählich zu Ende geht. Du magst vielleicht körperlich nicht kräftiger sein als ich, allein du hast einen starken Halt an deinem guten Gewissen, und die Freude an deinen trefflichen Kindern gibt dir einen Trost und eine Lebenshoffnung, die dich ausrecht erhalten.
»Jussuf bleibt allein schon aus Anhänglichkeit an dich am Leben, aber ich sehe in meinem Leiden bloß die verdiente Strafe für eine schwere Schuld, die nur mit dem Leben zu büßen ist. Daher meine Hoffnungslosigkeit, die mir gegen solche Martern nicht den nötigen Willen zum Leben gewährt, ohne den ein Aushalten nicht möglich sein kann.
»Ein düsteres Geheimnis, eine schwere Schuld, nimmt man nicht gerne mit ins Grab: du bist mir in langen Leidensjahren allezeit ein treuer, aufrichtiger Freund gewesen, und du und die Deinen, ihr habt mit eurer Liebe mein Gemüt so erhellt, daß ich oft beinahe vergaß, was mir die Seele umdüsterte. Nun aber, angesichts des Todes, steigen die Schatten der Schuld wieder finster empor; doch glaube ich, Erleichterung zu finden, wenn ich ein offenes Bekenntnis in ein Freundesherz niederlegen kann: willst du meine Beichte hören?«
Der Freund erwiderte mit herzlicher Teilnahme: »Daß ein trübes Geheimnis dich bedrückt, war dir stets anzumerken; auch hast du ja manchmal selber deutliche Anspielungen darauf gemacht. Ich habe nie mit einem Worte danach gefragt; willst du mir nun aber freiwillig dein Herz erschließen, und hoffst du, durch diese Mitteilung Trost zu gewinnen, so wird dein Vertrauen bei mir das innigste Mitgefühl und die strengste Verschwiegenheit finden. Ich habe in der langen Zeit unseres Beisammenseins dein edles Herz und deinen geraden Sinn kennen und schätzen gelernt: mag auch eine Schuld dein früheres Leben belasten, so bin ich doch gewiß, daß sie nichts ehrloses enthalten kann. Ihre Kenntnis wird weder meiner Liebe zu dir, noch meiner Hochachtung für dich Eintrag tun können.«
»Ach! Daß es so wäre!« seufzte der Leutnant: »Ehrlos, ja niederträchtig habe ich mich benommen, und du wirst eine ganz andere Meinung von mir bekommen, wenn ich dir mein Geständnis abgelegt habe! Doch — es muß sein! also höre:
»Ich wurde nach landläufiger Meinung sehr gut erzogen: mein Vater war höherer Offizier mit äußerst strengen Ehrbegriffen, der mich in allem kurz hielt und, wenigstens nach meiner Meinung, gar zu hart gegen mich war. Das Schlimme dabei ist gewesen, daß er gegen meinen jüngeren Bruder, seinen Liebling, ganz anders gesinnt schien: bei Otto zog er die Zügel nicht so straff an, ihm begegnete er mit einer Milde und Zärtlichkeit, die ich stets vermißte, und das erzeugte in mir eine wahrhaft gehässige Erbitterung gegen den bevorzugten Bruder.
»Ich habe längst eingesehen, wie ungerecht meine Abneigung war: Otto war eben, ganz im Gegensatz zu mir, eine wahre Sonnennatur. Von Kind auf gewann er alle Herzen, nicht nur durch seine schönen und offenen Gesichtszüge, sondern vor allem durch die herzgewinnende Art, mit der er jedermann entgegenkam, so daß man spüren mußte, welche Lust es ihm war, andern Freude zu machen und Dienste zu erweisen. Er war eine durchaus selbstlose Seele, wie man sie unter den Menschen so selten findet, und darum war es begreiflich, daß er überall und besonders bei meinem Vater der Bevorzugte war. Deshalb konnte ihm aber auch eine solche allgemeine Auszeichnung, die so Manchem zum Verhängnis wird, keinen Schaden bringen: er kannte keinen Stolz, keine Eitelkeit und keine Selbstüberhebung.
»Besonders ich hatte seine Liebe und brüderliche Zuvorkommenheit zu genießen und hätte mich darum umsomehr zu ihm hingezogen fühlen sollen, je schmerzlicher ich ein solches Entgegenkommen von seiten Anderer, namentlich meines Vaters, vermißte.
»Allein die Eifersucht verblendete mich, so daß er mein Herz nicht zu gewinnen vermochte. Er schien das nicht zu merken: gut, wie er war, setzte er auch bei Andern stets das Beste voraus, und wenn ich ihn auch oft geflissentlich kränkte und zurückstieß, so blieb doch seine Liebe gegen mich unverändert. Aber eben das vermehrte meinen Groll, weil es mich beschämte; und wenn es mir manchmal schwer fiel, mich seinem gewinnenden Einfluß zu entziehen, so kämpfte ich um so heftiger gegen meine besseren Gefühle und Einsichten an.
»Bei aller Sanftheit seines Wesens war Otto nicht etwa ein Schwächling, sondern auch in allen körperlichen Übungen tat er es mir und andern zuvor. Er zeigte unerschrockenen Mut, Selbstbeherrschung, Charakterfestigkeit, männliches Auftreten, — nur daß bei ihm alle diese Eigenschaften in den Dienst der Nächstenliebe gestellt wurden.
»O daß ich dies alles damals so klar erkannt hätte, wie es mir später die Reue offenbarte!
»Ich muß dir hier etwas Merkwürdiges mitteilen: wenn ich mich von Anfang unserer Bekanntschaft an so seltsam zu dir hingezogen fühlte, so magst du darin die Liebe betrachten, die in mir zu meinem armen Bruder Otto erwachte, als es leider zu spät war. Es ist eines der unerklärlichen Rätsel der Natur, daß manche Menschen einen sogenannten Doppelgänger haben, der ihnen so auffallend ähnlich sieht, daß er stets mit ihnen verwechselt wird, obgleich er oft in gar keinen verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm steht. Die alten Griechen und auch Shakespeare haben diesen Umstand häufig in ihren Lustspielen verwendet. Nun, ein solcher Doppelgänger meines Bruders bist du: ohne deinen Bart könnte man dich für Otto selber halten. Aber nicht bloß äußerlich, auch in deinem ganzen edlen, selbstlosen und herzgewinnenden Wesen gleichst du ihm.«
»Halt, halt!« unterbrach Sieger den Freund: »Da geht deine Freundschaft für mich zu weit: du wirst ein Schmeichler, und das darf ein aufrichtiger Freund nicht sein. Übrigens war dein Bruderhaß offenbar nur Selbsttäuschung: du mußt ihn im Innersten mit aller Wärme geliebt haben, sonst könntest du seine trefflichen Eigenschaften unmöglich so begeistert schildern.«
»Zu spät, zu spät!« klagte der Leutnant: »O daß du recht hättest: aber diese Liebe ist erst in mir erwacht, seit mir die Schuld, die ich ihm gegenüber auf mich lud, zum klaren Bewußtsein kam, und die bittere Reue mir die Augen öffnete!
»Doch laß mich fortfahren: unser Vater forderte von uns unbedingten und widerspruchslosen Gehorsam. Für Otto war das kein Zwang und kein Druck, weil er aus kindlicher Liebe so wie so alles tat, was er ihm an den Augen ablesen konnte. Für meine widerspenstige Natur hingegen war es eine harte Fessel, und doch hätte ich es nie gewagt, Widerspruch oder gar Ungehorsam zu zeigen. Auch hierin sah ich mich ungerechterweise als den Zurückgesetzten an, weil des Vaters oft scharfe Gebote und Verbote sich meist nur an mich wendeten. Ich erkannte nicht und wollte nicht erkennen, daß der ganze Unterschied nur daher rührte, daß mein Bruder eben der Befehle nicht bedurfte, weil er schon von selber tat, was nach des Vaters Sinn war.
»Die Folge des Zwangs, den ich mir antun muhte, war die, daß ich umso unbändiger und zügelloser wurde, wenn ich mich, nicht unter der unmittelbaren väterlichen Aussicht befand.
»Als mein Oheim, der älteste Bruder meines Vaters, starb, fiel diesem die umfangreiche Majoratsherrschaft zu, und er nahm frühzeitig seinen Abschied, um das Gut zu bewirtschaften und wieder auf die Höhe zu bringen; denn es war infolge der Mißwirtschaft stark verschuldet.
»Allein mein Vater, so tüchtig er als Offizier gewesen war, eignete sich wenig zum Landwirt und kam in seinen Vermögensverhältnissen rasch zurück. Die Folge davon war, daß wir Brüder, die wir beide die Offizierslaufbahn ergriffen hatten, uns stark einschränken mußten. Otto fiel das leicht, mir umso schwerer.
»Ich hatte mir zum Busenfreund just den schlimmsten Kameraden ausgewählt, den Sohn eines nachbarlichen Gutsbesitzers, namens Geiger. Der Vater war ein steinreicher Metzger, der sich den Ankauf eines Ritterguts hatte leisten können, im übrigen ein Geldprotz und ein roher, völlig ungebildeter Mensch. Der Sohn Emil hatte auch nicht viel gelernt, obgleich er ein gescheiter Kopf war, oder sagen wir lieber: ein geriebener Bursche. Von Kind auf zeigte er rohe, grausame Triebe und namentlich war Tierquälerei seine Lust. Da sein Vater nur dazu lachte, wenn er Vögel oder Insekten mißhandelte und verstümmelte, so entwickelte sich dieser Trieb ungehindert.
»Der reiche Erbe kam in die Residenz, in der Otto und ich in Garnison standen. Angeblich sollte er hier seine nicht vorhandene Bildung erweitern und als Gast Vorlesungen der Hochschule besuchen. In Wirklichkeit trieb er sich in den Tanzlokalen und Spielsälen herum. Er hat auch mich zum Spiel verführt und zu manchem häßlichen Bubenstreich, dessen ich mich heute noch schäme.
»Emil Geiger teilte meinen Haß gegen meinen Bruder, zunächst wohl aus ähnlichen Gründen: er hatte ein abstoßendes Antlitz, das durch den Ausdruck von Roheit und Bosheit noch häßlicher wurde. Sein Reichtum und seine Verschwendung verschafften ihm zwar manchen Genossen, selbst aus besseren Kreisen, aber keinen wirklichen Freund. Er ärgerte sich, daß Otto überall Eingang fand, wo er sich vergeblich abmühte, Aufnahme zu finden. Dazu kam der Neid des Emporkömmlings dem Edelgeborenen gegenüber. Er hat auch mich jedenfalls aus diesem Grunde gehaßt, wenn er sich auch stets als mein bester Freund aufspielte. Ich glaube jetzt, daß er mich zu allen Schlechtigkeiten verleitete, nur um mich zu verderben.
»Es kam noch etwas dazu, das Emils Haß gegen Otto ins Maßlose steigerte. Geiger bewarb sich um ein junges Mädchen von ausnehmender Schönheit und edler Gesinnung und hoffte, es durch seinen Reichtum zu gewinnen. Als er jedoch in nicht mißzuverstehender Weise abgewiesen wurde, glaubte er, Otto die Schuld daran zuschreiben zu müssen, als dem begünstigten Nebenbuhler. Hierin täuschte er sich, denn Otto war zwar im Hause Ellas gut ausgenommen, wie überall, er dachte aber nicht an eine Verbindung mit ihr, zumal ihm bekannt war, daß sie bereits in der Stille mit einem jungen Ingenieur verlobt war, und das warst du!«
»Was?« rief Sieger erstaunt: »Aber ja, ich entsinne mich, sie hat mir einigemal von Otto von Helling als einem lieben Bekannten gesprochen, und als du in Khartum in unser Haus kamst, fragten wir dich, ob du mit ihm verwandt seist, du aber hast getan, als ob er dir völlig fremd und nur ein unbekannter Namensvetter sei.«
»Ja! Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären. Ich leugnete, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, und meine Schuld verbergen wollte. Ich selber hatte nie im Elternhause deiner Frau verkehrt und kannte sie nicht persönlich, so daß es mir möglich wurde, ihr gegenüber meinen Bruder zu verleugnen. Und nichts beweist besser, wie wenig nahe ihr Otto stand, als daß sie von ihm nicht einmal erfahren hatte, daß er noch einen Bruder habe.
»Emil war jedoch der Überzeugung, daß Ella ihn Ottos wegen abgewiesen habe, und sann nur darauf, sich an meinem Bruder zu rächen. Er kannte meinen stillen Haß und nährte ihn geflissentlich durch allerlei Verleumdungen, denen ich nur zu willig Glauben schenkte, denn nichts ist wahrer, als daß der Haß blind macht.
»Zweimal hatte mein Vater meine Spielschulden bezahlt, dann aber erklärt, er werde unter keinen Umständen ein drittesmal dafür auskommen. Ich hatte ihm auf Ehrenwort versprochen, nie mehr zu spielen: wer diese unselige Leidenschaft kennt, wird sich nicht zu sehr wundern, daß ich mich trotzdem durch Emil wieder in eine Spielergesellschaft führen ließ. Bald drückte mich wieder eine Ehrenschuld und Emils teuflische Überredungskunst verstand es, mich für einen Plan zu gewinnen, Otto zu verderben. Ich klagte dem Bruder meine Notlage. Er machte mir natürlich ernste, doch liebevolle Vorstellungen, war aber sofort bereit, mir zu helfen. Er begleitete mich zu meinem Gläubiger und versprach diesem auf Ehrenwort, die Summe innerhalb dreier Tage zu bezahlen; denn er durfte gewiß sein, daß unser Vater, so schwer es ihm fallen würde, ihm das Geld senden werde, falls er schrieb, er sei eine Ehrenschuld eingegangen, wie es ja jetzt tatsächlich der Fall war.
»Der Gläubiger, den Emil in die Verschwörung gezogen hatte, ließ sich Ottos Versprechen schriftlich geben. Mein Bruder schrieb sofort dem Vater und ich erbot mich, das Schreiben zur Post zu bringen: es ist niemals abgegangen! O über den Schurkenstreich, den ich da an meinem edlen Bruder verübte!
»Otto war nun nicht in der Lage, seine Zusage einzuhalten. Er wartete bis zur letzten Stunde, immer gewiß, das Geld müsse noch eintreffen. Dann suchte er, es aufzutreiben. Allein es handelte sich um eine namhafte Summe. Dennoch hätte er sie wohl noch beschafft, wenn ihm nur Zeit gelassen worden wäre. Doch das lag nicht in unserm schwarzen Plan: er wurde sofort als ehrenwortbrüchig beim Regiment angezeigt, zwar nur durch ein anonymes Schreiben; da er jedoch, wie wir richtig gerechnet hatten, nicht leugnete, war ihm nicht zu helfen. Unsere vielleicht übertrieben strengen Ehrbegriffe machten seine Verabschiedung unumgänglich.
»Ich sah und sprach ihn noch, hatte aber nicht den Mut, ihm meinen Anteil an dem Schurkenstreich einzugestehen. Auch so war meine Schuld noch groß genug, denn nur mein Ehrenwortbruch meinem Vater gegenüber hatte ihn ja ins Unglück gebracht. Die Reue begann nun schon, mein Herz zu zerfleischen: es kam mir der Verdacht, daß alles, was Emil mir von Ottos Umtrieben gegen mich vorgeredet hatte, erlogen sei, namentlich, daß er dem Vater über meinen schlechten Lebenswandel berichtet und ihn so gegen mich eingenommen habe. Durch einige vorsichtige Fragen erfuhr ich auch, daß Otto nie an dergleichen gedacht hatte, obgleich ich es ihm im Grunde gar nicht hätte verübeln dürfen.
Tief zerknirscht verließ ich meinen unglücklichen Bruder. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Von dem Tage an war er spurlos verschwunden. Obgleich man nie seine Leiche auffand, zweifelte ich nicht, daß er freiwillig in den Tod gegangen sei, nachdem er so jäh aus seiner Laufbahn geschleudert worden war. Ich habe seinen Tod auf dem Gewissen!«
»Armer Freund!« sagte Sieger tief ergriffen: »Du hast schwer gefehlt, wer wollte das leugnen? Aber du hast auch schwer gebüßt! Allein, muß denn dein Bruder tot sein? So wie du ihn geschildert hast, kann ich nicht glauben, daß er eines Selbstmords fähig war: es gibt noch andre Wege, spurlos zu verschwinden. Man hätte doch sonst gewiß seine Leiche oder sonstwelche Anzeichen gefunden.«
Helling erwiderte trübe: »Ich habe oft versucht, mich mit solchen Gedanken zu trösten. Sie wollen jedoch nicht recht verfangen, und im Grunde bleibt meine Schuld sich gleich: ich bin und bleibe ein verabscheuungswürdiger Verbrecher.
»Nach Ottos Verschwinden ergriff mich eine grenzenlose Wut gegen Emil, den geistigen Urheber der Schandtat. Um so glühender grollte ich ihm, als ich nun überzeugt war, daß er durch boshafte Verleumdungen meinen Haß gegen Otto geschürt hatte, um mich zum Vollzieher seiner feigen Rache zu machen.
»Ich ging hin und forderte den Schurken auf Säbel, da er ein schlechter Schütze war und ich ihn doch nicht geradezu morden wollte, Ich war ein Narr: ich hätte wissen sollen, daß sich ein solcher Mensch nicht schlägt; er lachte mir höhnisch ins Gesicht und versicherte mich, daß er mich ebenso hasse, wie meinen Bruder, und hoffe, sich auch an mir einmal rächen zu können.
»Sinnlos vor Wut zog ich ihm mit der blanken Waffe eins übers Gesicht. Er stürzte zu Boden, brüllend vor Schmerz. Ich aber entfernte mich, ohne mich nach ihm umzusehen: lebensgefährlich konnte ja die Verwundung keineswegs sein. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er sein Schlemmerleben nicht mehr fortsetzen können, da seine Verschwendung schon damals seinen Vater um Hab und Gut gebracht hatte.
»Mein Vater überlebte das Verschwinden meines Bruders nicht lange. Ich nahm meinen Abschied und ging nach Khartum, einen ehrenvollen Soldatentod zu suchen, der mir leider nicht zuteil wurde.«
Sieger gab sich alle Mühe, seines Freundes Lebensmut wieder zu heben; doch hatte er zunächst wenig Erfolg.
»Niemand kann den Fluch des Brudermörders von mir nehmen!« sagte er immer wieder dumpf.
»Doch!« entgegnete der Ingenieur, als Helling wieder einmal diese hoffnungslosen Worte äußerte: »Hat nicht Gott selber von Kain den Fluch genommen und ihn gezeichnet, damit niemand seine Tat räche, nachdem der Brudermörder seine Schuld bekannt und sein Verzweifeln an der Möglichkeit ihrer Vergebung ausgesprochen hatte.«
»Das Kainszeichen!« sagte der Leutnant schaudernd: »Ja, ich trage es unsichtbar mit mir herum: unstet und flüchtig muß ich sein auf Erden.«
»Freund, du verkennst das Kainszeichen, wie so viele, die es als ein schreckliches Zeichen der Blutschuld ansehen, da es doch vielmehr ausdrücklich als ein Zeichen der Begnadigung dargestellt wird, zum Schutze des Mörders vor Rächerhand. So hat auch Jesus am Kreuz dem reuigen Schächer vergeben. Wozu sind wir Christen, wenn wir an der Gnade verzweifeln wollen? Es hat keinen Zweck, ein lähmendes Schuldbewußtsein durch das ganze Leben gleich einer Kette zu schleppen: der Reuige muß an die Vergebung glauben und in der Kraft dieses Trostes ein neues Leben anfangen. Am Leben verzweifeln und nur den Tod herbeiwünschen, ist eine neue Schuld, die uns nur hindert, die Pflichten zu erfüllen, die Gott uns noch angewiesen hat.
»Denke dir, wenn Paulus in solcher Verzweiflung, wegen seiner Schuld am Tode des Stephanus und so vieler anderer von ihm verfolgter Christen, hätte dahinleben und nur noch den Tod suchen wollen, welch ein herrliches, gewaltiges Werk wäre unvollbracht geblieben!«
»Ja, wenn ich ein Paulus wäre!«
»Du brauchst nur Siegmund von Helling zu sein, der noch so viel für das Wohl seiner Mitmenschen tun kann, der mir und den Meinigen ein solcher Trost, eine so unschätzbare Hilfe und Stütze gewesen ist, in so vielen Jahren der Gefangenschaft, ein treuer Genosse unserer Leiden, ein Lehrer meiner Kinder. Lebe, wolle leben, damit du uns ferner ein Trost sein kannst und später noch vielen Menschen nützen könnest.«
»Wenn ich es recht überlege, so sprichst du wahr,« gab der Leutnant nachdenklich zu. »Meine Sehnsucht nach dem Tode entspringt wohl einer gewissen Selbstsucht, dem Wunsch nach Erlösung von meinen Gewissensqualen, ohne Rücksicht auf meine Mitmenschen und das, was ich für sie noch tun könnte. Ja, männlicher und edler ist es, auch ein schweres Leben geduldig und stark zu tragen und es dem Dienste Gottes und der Nächsten zu weihen, was ja beides auf eines herauskommt. Diese Erkenntnis soll mich aufrecht erhalten und mich befähigen, auch die Qualen dieses schauerlichen Gefängnisses zu ertragen. Wahrhaftig, ich muß mich ja sonst vor dir und Jussuf schämen, die ihr so heldenmütig in dieser Hölle ausharret, obgleich ihr ein solches Schicksal nicht verdient habt, wie ich mir bewußt bin, es verdient zu haben!«
Inzwischen drängte Emin Gegr um Salama den Kalifa täglich, er solle die Gefangenen hinrichten lassen, zuvor aber verstümmeln.
Allein Abdullahi ließ sich nicht dazu herbei, und er hatte zu dieser Weigerung wohlerwogene Gründe.
»O Kalifa,« sprach der Einäugige eines Tages wieder: »Du wirst es noch bereuen, meinem Rate nicht gefolgt zu haben.«
»Emin Gegr spricht nach seinem Verstand, der Nachfolger des Mahdi el Monteser handelt nach seiner eigenen Einsicht. Hinrichten kann ich sie lassen, wenn es mir gefällt. Reut es mich aber hernach, sie getötet zu haben, dann kann ich sie nicht mehr ins Leben zurückrufen. Sage mir, Um Salama: wer wird mir Kanonen bauen, wenn ich Abd el Ziger und Ismain el Heliki köpfen oder hängen lasse?«
»Du hast ja gesehen, daß der Betrüger dir kein brauchbares Geschütz liefern will!«
»Allah sieht die Gedanken der Menschen, Emin Gegr kann sie nicht sehen: wie willst du erkennen, ob er nicht gewollt oder aber nicht gekonnt hat? Ich habe nicht gesehen, daß er mir keine guten Kanonen bauen will, ich habe nur gesehen, daß er mir eine Kanone gebaut hat, und daß diese nicht gut war. Abd el Ziger hat aber nicht gelernt, Geschütze herzustellen. Ist seine erste Kanone zu schwach gewesen, wird er, nachdem er das gesehen, nicht stärkere bauen?«
»Wenn er das wollte!«
»Kann ich ihn nicht zwingen, es zu wollen? Er wird bald genug haben vom Seier!«
»Der Wille des Menschen ist frei, niemand kann ihn zu etwas zwingen.«
»Allah will, was er will; allein die Menschen müssen wollen und tun, was Allah im Buche des Schicksals ausgezeichnet hat. Hat Allah gewollt, daß die Kanone zerspringt, was hat Abd el Ziger dagegen tun können?«
Emin Gegr mochte einwenden, was er wollte, der Kalifa hatte seine eigene Meinung.
Er ließ jetzt die drei Gefangenen alle Tage vor sich kommen und suchte, sie zum Islam zu bekehren. Diese Stunden, die sie außerhalb des Vorhofes der Hölle zubringen durften, waren ihnen eine rechte Erquickung, auch sahen sie die Bekehrungsversuche des Tyrannen als ein immerhin gutes Zeichen an: offenbar war ihre Hinrichtung noch durchaus keine beschlossene Sache, sonst wären diese Bemühungen sinnlos gewesen. Denn daß Abdullahi sie lediglich zum »wahren Glauben« bringen wollte, damit sie nach einem gewaltsamen Tode ins Paradies kämen, war undenkbar.
Andererseits konnte allerdings der hartnäckige Widerstand, den sie allen seinen Versuchen entgegensetzten, ihren Tod zur Folge haben. Dieser Gefahr waren sie sich wohl bewußt, doch hätte sie nie vermocht, sie dazu zu bewegen, ihren Christenglauben zu verleugnen.
Der Kalifa konnte jedoch nicht umhin, ihre Standhaftigkeit, die durch keine Leiden noch Drohungen zu brechen war, innerlich zu bewundern. Mannhaftigkeit und Heldenmut flößten ihm immer Hochachtung ein.
Auch sagte er sich, daß Männer, die ihrem Glauben so treu blieben, daß keine Todesfurcht sie von ihm abbringen konnte, viel vertrauenswürdiger seien als solche, die so leicht, wie Um Salama, ihren himmlischen Herrn verrieten und ihren irdischen nicht minder. Hatte der Einäugige geholfen, Khartum zu verraten, hatte er um irdischer Vorteile willen seinen Glauben gewechselt, so würde er sicher auch den Kalifa verraten, sobald ihm dies vorteilhaft erschien.
Solche Erwägungen bewogen den Herrscher, wieder einen Versuch zu machen, ob Sieger nicht doch noch seine Wünsche bezüglich der Geschütze erfüllen werde.
Er ließ ihn eines Tages allein vor sich bringen und fragte ihn: »Abd el Ziger, meine Gnade und meine Freundschaft leuchteten dir, mein Herz hat dir vertraut. Ich habe dich zum Herrn über viele hundert Sklaven gemacht, ich habe dir Geld gegeben, soviel du brauchtest, — warum hast du mich betrogen und mir eine Kanone gebaut, die nichts wert war?«
»Herr, ich habe dir gesagt, daß ich die Kunst, Geschütze herzustellen, nicht gelernt habe: ist es ein Wunder, daß mein erster Versuch nicht gelang?«
»Das wundert mich nicht, aber warum bist du heimlich entflohen und hast den Berg durchgraben in langer Arbeit, so daß ich sah, du hast immer nur gedacht, zu fliehen und die Flucht vorbereitet.«
»Ich wußte, daß meine Versuche fehlschlagen könnten und daß sich dann dein Zorn gegen mich und meine schuldlosen Lieben wenden werde, darum wollte ich uns einen Weg zur Rettung schaffen.«
»Du hattest mir aber versprochen, nicht zu fliehen: wie soll ich deinen Worten noch trauen?«
»Herr, ich gelobte dir, keinen Fluchtversuch zu machen, solange du uns nicht an Leib und Leben bedrohtest. Nun hast du mir über gedroht, du werdest uns alle verstümmeln und töten lassen, wenn ich dir nicht in drei Tagen eine brauchbare Kanone liefere. Allein ich hatte erkannt, daß mein Werk noch nicht so war, wie es sein mußte, daß ihm noch die nötige Festigkeit fehlte und es bald zerspringen werde. Darum mußte ich suchen, die Meinigen vor deinem Zorn zu retten. Du hast uns bedroht, darum hast du selber unseren Vertrag gebrochen und er konnte mich nicht länger binden.«
»Deine Worte sind Wahrheit! Jetzt aber künde mir: nachdem du erkannt, daß dein erster Versuch fehlerhaft war, könntest du das nächste Mal den Fehler vermeiden und bessere Geschütze bauen, die nicht zerspringen?«
»Ich glaube, daß es mir gelingen würde.«
»Und wenn ich dich frei ließe samt Ismain el Heliki und Jussuf, würdest du mir brauchbare Kanonen schaffen?«
»Ich würde es versuchen und hoffe, daß es mir diesmal gelingt, wenn du Geduld hast und mir die nötige Zeit lässest.«
»So will ich dir noch einmal vertrauen; aber versuche nicht, mich zu täuschen, denn das wäre dein und der Deinen Verderben. Daß ihr nicht wieder entfliehen könnt, dafür werde ich sorgen: deinen Tunnel durch den Margayaberg, den du selber zur Hälfte zerstört hast, werde ich ebenso bewachen lassen wie den Eingang des Tales. Aber du sollst mir auch Gewehre machen.«
»Gut, Herr! Doch gib mir einige zur Probe, daß ich sie zerlege und ihr Geheimnis kennen lerne.«
»Du sollst sie haben!«
Damit endete dieses folgenreiche Gespräch: unsere Freunde wurden wieder in Freiheit gesetzt und bezogen aufs neue die Fabrik, zur größten Freude Osmans und Fatmes, aber auch Alis und der Arbeiter, die wieder ihre Arbeit unter dem geliebten Herrn aufnehmen durften.«
Bald war die Fabrik wieder im Betrieb, und es herrschte die alte rege Tätigkeit in ihren Mauern.
Sieger war entschlossen, diesmal brauchbare Kanonen fertigzustellen, nicht aber, um sie dem Tyrannen zu liefern, daß er damit seine bluttriefende Herrschaft befestige und wohl gar noch europäische Heere zusammenschieße, sondern um ihm womöglich Trotz zu bieten.
So hatte er gleichzeitig mehrere Stück in Arbeit, hütete sich jedoch, eines vor den anderen zu vollenden.
Während so an der Herstellung von Kanonen gearbeitet wurde, sann der Ingenieur zugleich auf neue Mittel zu einer Flucht. Das kostete diesmal viel Kopfzerbrechen. Der Eingang zum Margayatale war scharf bewacht, ebenso der verschüttete Ausgang des Stollens, den Sieger in jahrelanger mühsamer Arbeit hergestellt hatte, eine Herkulesarbeit, die jetzt völlig umsonst erschien. Der Kalifa hatte am nördlichen Ausgang einen Wachtposten aufgestellt und glaubte damit die zweckmäßigste Maßregel getroffen zu haben.
Sieger war froh, daß er wenigstens innerhalb seiner vier Wände und in der Margayaschlucht unbewacht blieb, da Abdullahi überzeugt war, ihm jetzt jeden möglichen Fluchtweg abgeschnitten zu haben.
Das war in der Tat der Fall. Da aber der Ingenieur überlegte, daß ihm keine Aussicht mehr blühte, zu Fuß oder auf Reittieren auf dem Erdboden zu entkommen, blitzte ihm der kühne Gedanke auf, seinen Weg durch die Lüfte zu suchen. Dabei schwebte ihm das starre Schwarz'sche Aluminiumluftschiff vor, und er stellte allerlei Versuche an, was er unauffällig tun konnte; denn er baute stets die verschiedenartigsten Modelle, über deren Zweck und Bedeutung sich seine Arbeiter nicht klar waren, die sie aber für notwendig zur Herstellung von Gewehren, Kanonen und Lafetten hielten.
Mit der Zeit ließ die Wachsamkeit des Kalifa etwas nach, als jedoch Ende Februar 1895 Slatin Bey zu entfliehen vermochte, ordnete er wieder eine strengere Überwachung der Europäer an.
Fanny war jetzt vierzehn Jahre alt, Johannes sechzehn. Meist wurden sie auch von Helling und Josef, zuweilen selbst von ihrem Vater »Fatme« und »Osman« genannt, weil die Araber und Arbeiter sie so hießen und diesen gegenüber diese Namen gebraucht werden mußten, wenn von den Kindern die Rede war. Es waren ja auch schöne und klangvolle Namen.
Osman war äußerst geschickt und anstellig, dazu von scharfem Verstande und erfinderischem Geiste, weshalb ihm sein Vater gerne Arbeiten anvertraute, zu denen es ihm selber an Zeit fehlte.
So trug er ihm auch auf, eine neue Metallverbindung, eine Aluminiumlegierung, zu suchen, deren spezifisches Gewicht, das heißt ihre verhältnismäßige Leichtigkeit, sie besonders geeignet zum Bau eines starren Luftschiffes mache.
Zur Gewinnung des Aluminiums benutzte Sieger das elektrolytische Verfahren. In einem mit Kohlenstoffstein ausgekleideten Metalltiegel hielt er elektrisch verflüssigtes Kupfer, in welches Tonerde gebracht wurde. Aus dieser wurde das Metall durch den elektrischen Strom ausgeschieden und verband sich mit dem Kupfer zu Aluminiumbronze.
Osman schmelzte das reine Aluminium aus und machte Versuche von Legierungen mit verschiedenen Metallen in wechselnden Prozentualverhältnissen.
Eines Tages erhielt er auf diese Weise einen Barren, der ihm so leicht erschien, als könne er von selber in die Luft entschweben. Ein Versuch ergab, daß der Barren auf dem Wasser schwamm, fast ohne einzutauchen, also ein äußerst geringes spezifisches Gewicht besitzen mußte.
Erfreut machte Osman seinem Vater Mitteilung von seiner Entdeckung.
Sieger besah sich das Wunder und rief aus: »Das kann für uns von der größten Wichtigkeit werden! Laß einmal sehen, wie der Bruch aussieht.« Zugleich fischte er den schwimmenden Stab aus dem Wasser und wollte ihn rasch zerbrechen. »Zum Kuckuck! Das ist einmal eine Festigkeit! Da muß man scheint's alle Kraft aufwenden,« und er versuchte den Barren über das Knie abzubrechen. Allein die Aufwendung aller Kraft war vergeblich gegenüber der Stärke des neuen Metalls; selbst mit dem Hammer gelang es nicht, das Stück zu zertrümmern.
»Das ist in der Tat eine hervorragende Entdeckung, die du da gemacht hast!« sagte der Ingenieur voller Freude und klopfte Osman auf die Schulter: »Gib acht, das gibt eine ausgezeichnete Flugmaschine und für uns zugleich eine Fluchtmaschine. Gieße einmal eine ganz dünne Platte aus diesem Metall.«
Osman stellte nun unter Siegers Augen genau die gleiche Legierung her, nur goß er diesmal einen breiten Stab, der, beinahe so dünn wie Blech, höchstens ein Fünftel Millimeter dick war. Auch diese dünne Probe ließ sich von Hand nicht brechen und mit Hammerschlägen wurde nur ein Verbiegen, nicht aber ein Bruch erzielt. Diese außerordentliche Zähigkeit des leichten Metalls berechtigte zu den kühnsten Hoffnungen. Sieger stellte sofort einen dünnen Zylinder aus der neuen Legierung her und entpumpte demselben die Luft. Alsbald stieg das luftleere zugelötete Gefäß mit rasender Geschwindigkeit empor, bis es an der Decke festsaß.
»Ausgezeichnet!« rief der Ingenieur: »Paß auf! in kurzer Zeit ist alles so weit, daß wir flüchten können.«
Sieger arbeitete nun mit fieberhafter Eile an einem Mechanismus, den er sich ausgedacht hatte: ein zigarrenförmiger Behälter aus dünnem Nealuminium — so hatte Sieger die neue Legierung benannt — war zu beiden Seiten mit Rädern versehen; die Pedale befanden sich an der Innenseite der Räder zu beiden Seiten des mittleren Körpers an der Achse, um welche die Räder sich drehten. Die Speichen der Räder setzten sich, die Radreifen durchbohrend, etwa einen Meter über dieselben hinaus fort, und waren an diesem äußeren Teil mit dünnen, breiten Nealuminiumblechstreifen versehen, die zu beiden Seiten der Speiche wagrecht standen und jalousienartig übereinander lagen, dem Gefieder eines Vogels ähnlich.
Ruhte der Apparat auf dem Erdboden, so reichten die Metallfedern nicht ganz auf den Grund, da der Zylinderkörper von der Radachse nach unten zu über zwei Meter hoch war; oben aber ragten sie weit über den Behälter empor, so daß ein aus dem Behälter rittlings sitzender Mann die Pedale mit den Füßen treten und die Räder derart in rasche Drehung versetzen konnte. Die Lust mit ihren Federschaufeln peitschend mußten diese Räder eine starke motorische Kraft in der Richtung der Vorwärtsbewegung ausüben. Als Steuer diente ein am Hinterteile des Zylinders beweglicher Metallflügel, dem Schwanze eines Vogels nachgeahmt.
Sieger stellte drei solcher Luftschiffe her, jedes zweisitzig mit vier Rädern. Da es ihm schwierig schien, die großen Behälter luftleer zu pumpen und er auch fürchtete, sie möchten alsdann dem ungeheuren Luftdrucke nicht widerstehen, beschloß er, sie mit Wasserstoffgas zu füllen. Er machte sich daher zunächst an die Herstellung größerer Mengen von Schwefelsäure und fertigte die nötigen Behälter zur Entwickelung des Gases an.
Sieger hatte gute Gründe, warum er das Werk mit so fieberhafter Eile betrieb.
Emin Gegr um Salama wagte sich zwar nicht in die Fabrik und war noch ängstlich bemüht, sich weder vom Ingenieur noch vom Leutnant erblicken zu lassen. Er hatte aber einige Arbeiter bestochen, ihm Kundschafterdienste zu leisten, so daß er über alle Vorgänge auf dem Laufenden blieb.
Seine Spione konnten ihm freilich keine Auskunft geben über das, was sie selber nicht sahen oder nicht begriffen. Immerhin gewann der Einäugige die Überzeugung, daß Sieger neben der Arbeit an Gewehren und Kanonen noch etwas anderes betrieb, und das konnte doch nur der Vorbereitung eines neuen Fluchtversuchs gelten.
Höchst ärgerlich über die Freilassung der Gefangenen, hörte er nicht auf, den Kalifa vor ihnen zu warnen, und sie zu verdächtigen. Nun war Abdullahi, wie alle Tyrannen, zum Mißtrauen geneigt, so daß es nicht ausbleiben konnte, daß derartige Einflüsterungen auf die Dauer wieder Einfluß auf sein argwöhnisches Gemüt gewannen. Sein Verdacht wurde dadurch bestärkt, daß der Ingenieur, so oft er an die Ablieferung von Kanonen und Gewehren gemahnt wurde, immer wieder neue Entschuldigungen vorbrachte.
Osman und Jussuf, die sich häufig nach Omderman begaben, erfuhren dort so manche Äußerung des »Herodes«, aus der sie ersahen, daß ein neues, drohendes Gewitter sich über Siegers Haupt zusammenzog.
Dieser beeilte sich daher, zunächst eines der Luftfahrräder in etwas kleinerem Maßstab als die andern fertigzustellen.
Als er so weit war, füllte er einen Behälter mit Schwefelsäure und Wasser und warf Metallstücke hinein, so daß sich Wasserstoffgas entwickelte. Der Deckel des Gefäßes hatte in der Mitte eine Öffnung, die in ein Rohr auslief. Von diesem wurde mittels eines Schlauches das Gas in die luftleer gepumpten Abteilungen im Innern des Fahrradkörpers geleitet.
Das Rad war mit soviel Ballast beschwert, daß es sich nicht vorzeitig vom Erdboden erheben konnte.
Es war eine dunkle, mondlose Nacht, als der Ingenieur in der Margayaschlucht die Füllung vornahm. Erwartungsvoll und mit klopfenden Herzen umstanden ihn die Seinigen, Hand anlegend, wo sie helfen konnten.
Endlich konnten die Ventile zugeschraubt werden.
Sieger bestieg das Rad, warf etwas mehr Ballast ab, als sein Körpergewicht betrug und siehe da! das Fahrzeug erhob sich langsam in die Lüfte.
Als es etwa hundert Meter über den obersten Rändern des Abgrunds schwebte, trat der kühne Luftfahrer die Pedale. Die starke Übertragung konnte mit geringer Anstrengung überwunden werden: der Erfinder hatte bei dem Bau seines Gefährts sein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, dies durch sinnreiche Anordnungen zu ermöglichen. Andrerseits bewirkte die Stärke der Übertragung eine ungeheuer rasche Umdrehung der Schaufelräder: sie peitschten die Luft, ohne jedoch viel Geräusch zu verursachen, dank dem dachziegelartigen Übereinandergreifen der einzelnen Flügelteile, zwischen denen die Luft zum Teil entweichen konnte. Unten in der Schlucht hörte man keinen Laut, und das war gut, denn ein größeres Getöse, Rattern und Surren hätte die Wächter darauf aufmerksam machen können, daß in der Luft etwas vorging.
Sieger lenkte sein Fahrrad im Kreise herum und umflog dreimal das ganze Tal. Bei der herrschenden Windstille gelang ihm dies ohne jede Schwierigkeit, und das Treten ging so leicht, daß auch bei stundenlanger Fahrt unter gleichen Bedingungen, das heißt ohne Gegenwind, eine übermäßige Ermüdung ausgeschlossen schien.
Hochbefriedigt von diesem ersten Versuch, steuerte der Ingenieur der Mitte des Abgrundes zu, hielt dort an und öffnete ein Ventil oder eine Luftklappe, wie er sich lieber ausdrückte, um kein Fremdwort zu gebrauchen. Er ließ nur wenig Gas ausströmen, so daß er nur langsam sank und schließlich sanft auf dem Grunde der Schlucht landete.
»Wie war es?« fragte Helling.
»Ganz herrlich!« erwiderte Sieger: »Es ist ein wunderbar beseligendes Gefühl, so leicht durch die Luft zu eilen: da ist kein holperiger Weg, es gibt kein unangenehmes Gerüttel, keinen unliebsamen Stoß, nicht einmal ein leichtes Wellengeschaukel, — es geht so sanft und doch so geschwind dahin, daß der Vogel beim Fliegen kaum eine höhere Wonne empfinden kann. Was jedoch für uns das Wichtigste ist, das Fahrrad steigt, entwickelt eine ungemeine Geschwindigkeit bei geringem Kraftaufwand, läßt sich leicht und sicher lenken und ermöglicht einen langsamen, gefahrlosen Abstieg, ohne stärkeren Aufprall beim schließlichen Landen auf dem Erdboden.
»Darf ich auch einen Versuch machen?« fragte Onkel Siegmund, den es gar zu sehr nach einer solch köstlichen Luftfahrt lüstete.
»Gewiß! Es ist sogar nötig, daß ihr alle heute nacht eure erste Probefahrt macht, damit ihr im Ernstfall schon etwas mit dem Fahrzeug vertraut seid. Ich habe euch ja zu diesem Zweck seit längerer Zeit alles erklärt, so daß ihr die notwendigen Handgriffe kennt, und ich halte den Versuch selbst für Fanny für gefahrlos.«
»O, es ist ja alles so einfach,« meinte Fatme: »Ich habe alles behalten und weiß genau, wie man es machen muß.«
Nun durften Helling, dann Josef, nach ihm Osman und zuletzt Fatme eine kurze Luftfahrt unternehmen, und alle kehrten glücklich und ganz begeistert und entzückt zur Erde zurück.
Die eine Gasfüllung hatte für alle fünf Fahrten genügt, da jedesmal nur wenig Ballast abgeworfen wurde, um einen mäßigen Aufstieg zu ermöglichen, und ebenso beim Abstieg so wenig Gas wie möglich abgelassen worden war.
In den folgenden Nächten wurden noch einige dieser herrlichen Übungsfahrten unternommen, ohne daß je ein Unberufener etwas davon merkte, und bald hatten sich alle die größte Gewandtheit in der Fortbewegung und Lenkung der leichten Fahrzeuge angeeignet.
Ganz besonders wertvoll war es Sieger, durch genaue Messungen feststellen zu können, daß es ihm gelungen war, die Gaskammern so vorzüglich zu dichten und ihre Mündungen so gut zu verschließen, daß selbst nach drei Wochen der Gasverlust kaum merklich erschien.
Das Luftfahrrad war zweisitzig und von Anfang an zur Ausnahme zweier Personen berechnet, von denen die eine das Treten, die andere das Lenken übernehmen konnte. Sie saßen hinter einander, konnten jedoch auch in der Luft ohne Gefahr die Plätze wechseln und so einander beim Treten ablösen.
Allein die Probefahrten ergaben, daß zu wenig Ballast mitgenommen werden konnte, wenn das Fahrzeug mit zwei Fahrern belastet wurde. Sieger beschloß daher, die beiden anderen stärker und größer herzustellen, und dieses erste nur für eine Person zu bestimmen, da sie ja zu fünft waren.
Inzwischen wurden die Mahnungen und Drohungen des Kalifa immer dringender, unter dem Einfluß von Emin Gegrs Verdächtigungen.
Es mußte daher mit größter Beschleunigung an der Fertigstellung der Zweiräder gearbeitet werden, und da war es nicht mehr möglich, zu verhindern, daß nicht einer oder der andere der Arbeiter sie einmal zu Gesicht bekam. Keiner konnte sich zwar den Zweck dieser seltsamen Maschinen erklären, die doch kaum als Lafetten dienen konnten, aber Um Salama erfuhr durch seine Spione von ihnen und sagte sich gleich, daß es sich hier um besonders schnell fahrende Beförderungsmittel handeln werde, die eine Flucht ermöglichen sollten.
Er säumte nicht, dem Kalifa zu verraten, daß Sieger in aller Heimlichkeit ganz eigentümliche Maschinen baue, und teilte ihm seinen Verdacht bezüglich ihrer mutmaßlichen Bestimmung mit.
Die Sache schien Abdullahi so bedenklich, daß er in höchstem Zorn seinen Mulazem Hassan Bey Omkadok mit einem dringenden Auftrag zu Sieger schickte.
»Ich bringe dir eine Botschaft unsres gnädigen Herrn, dessen Leben Allah verlängern möge,« sagte mit freundlichem Grinsen der Dicke.
»Und wie lautet sie?« fragte der Ingenieur, dem nichts Gutes ahnte.
»Möge Allah dich erhalten! Denn niemand versteht es, so köstliche Merisa zu brauen, wie du, und ich wäre trostlos, wenn ich nie mehr ihren Duft zu genießen bekäme!«
»Deine Befürchtung weissagt mir nichts Gutes!«
»Allah hat seinem Knechte die Gabe der Weissagung nicht verliehen, doch der Kalifa, den Gott segnen möge, ist vom Geiste des Grimmes übermannt. Emin, der Vater des einen Auges, — Allah möge ihn auch des andern berauben, das er ihm aus Versehen gelassen! — hat dem Herrscher berichtet, du habest Wundermaschinen erbaut, auf denen ihr fliehen wollet, und die schneller durch die Wüste rollen werden, als das leichtfüßigste Dromedar, so daß euch niemand einholen könne. Auch das wäre meinem Herzen eine unerträgliche Prüfung; denn wenn du entweichst, wer wird dann ein Bier brauen, das die Huris im Paradiese zu kredenzen würdig wären?«
»Und was läßt mir Abdullahi entbieten?«
»O Abd el Ziger! Du sollst ihm erklären, zu was du die Zauberfahrzeuge erbaut hast. Morgen will er sie sehen und du sollst sie ihm geben, daß er sie in Verwahrung nehme und ihren Gebrauch überwache. Er will aber auch gute Kanonen sehen und Gewehre. Das alles sollst du ihm ausliefern zur Stunde des nächsten Sonnenaufgangs.«
»Sage dem Herrn, er solle sich noch einen Tag gedulden.«
»Ich darf ihm das nicht sagen: er läßt dir verkünden, daß er keine Ausflucht mehr hören und keine Stunde länger warten will. Seine Milde ist erschöpft und seine Langmut zu Ende. Wenn du ihm bei Sonnenaufgang nicht deine Redlichkeit beweisest durch Erfüllung seines Begehrs, so will er euch alle verstümmeln und hinrichten lassen.«
»Morgen bei Sonnenaufgang soll dein Herr nicht bloß eine, sondern drei Kanonen bei der Arbeit sehen; er möge selber kommen,« lautete Siegers Antwort.
Als die Arbeiter am Abend bälder als sonst aus der Fabrik entlassen worden waren, redete Sieger mit Helling, Osman und Jussuf: »Es ist alles zur Flucht bereit,« sagte er, »jeder nehme eines der sechs Gewehre, die der Kalifa mir als Modelle sandte. Patronen verlade ich auf unsere Lufträder. Ich bin nicht gewillt, dem Herodes eine brauchbare Kanone zu überlassen. Bei Sonnenaufgang wird er vergeblich Einlaß begehren. Er wird dann unsere Feste stürmen wollen. Ihr müßt sie mit Hilfe der Kanonen verteidigen, bis ich die Luftfahrzeuge zur Abfahrt bereit habe. Dann macht ihr die Kanonen unbrauchbar, und während die elektrische Schwelle unsere Verfolger am Eindringen hindert, steigen wir in die Lüfte empor. Versagen die Fahrräder, dann freilich hat unsere letzte Stunde geschlagen.«
Sofort wurde mit den Vorbereitungen begonnen. Während Jussuf und Helling zu den Kanonen, welche bereits auf dem flachen Dache der Fabrik an günstigem Platze lagen, Munition emporschleppten, trugen Osman und Sieger die soeben vollendeten Flugapparate zur Hintertüre der Fabrik hinaus. Dann wurden sämtliche Vorräte an Schwefelsäure in die hiezu bestimmten Behälter gegossen, Wasser nachgefüllt und die massenhaft vorhandenen Metallabfälle hineingeworfen, hierauf die Gefäße verschlossen und die Schläuche nach einem besonderen Behälter geleitet, in welchem das sich entwickelnde Wasserstoffgas zusammenströmte, um alsbald durch zwei Abzugsschläuche in die Lufträder übergeleitet zu werden.
Die Leichtigkeit der Maschinen hatte es Sieger gestattet, das Innere der Zylinder in mehrere Kammern abzuleiten, die nacheinander luftleer gepumpt und dann mit Gas gefüllt, zuletzt mittels Schraubenventilen verschlossen wurden. Auf diese Weise konnten sie auch eine schwere Beschädigung aushalten, ohne gleich zu sinken.
Aber die Nacht reichte zur Vollendung der Arbeit nicht aus.
Sieger hatte über Nacht alle Leute aus der Fabrik entfernt, außer Ali bin Said, der erklärte, mit ihm leben und sterben zu wollen.
»Wir werden kämpfen gegen die Macht des Kalifa,« sagte ihm der Ingenieur warnend: »Sie werden den Bau erstürmen; vielleicht schenkt Allah mir und den Meinigen Gnade, daß wir entkommen auf den Flügeln des Windes. Was aber wird aus dir werden? Hast du mit uns gekämpft, so hast du keine Gnade von Abdullahi zu erwarten.«
»Dann wird Ali zu sterben wissen!«
»Nein! Das soll nicht der Lohn deiner Treue sein. Es ist noch Raum für dich auf unseren Fahrzeugen: du sollst mit uns entkommen.«
Nun machte Sieger sich daran, mit Alis und Jussufs Hilfe, das Tor in der Sperrmauer von innen zu verrammeln, so daß vorerst niemand durch das Wärterhaus eindringen konnte. Helling und Osman leiteten inzwischen die Füllung der Lufträder mit Wasserstoffgas in die Wege.
Allein, kaum war die Sonne aufgegangen, so nahte schon der Kalifa mit zahlreichen Bewaffneten.
Der Ingenieur sandte Helling auf die Zinne der Sperrmauer, an die zu diesem Zweck eine Leiter angelegt wurde. Der Leutnant sollte mit dem Tyrannen verhandeln, während Sieger in die Schlucht eilte, die Vollendung der Vorbereitungen zu beschleunigen.
Als Abdullahi fand, daß sich das Tor im Wärterhaus mit keiner Gewaltanstrengung öffnen ließ, trat er heraus vor die Mauer, und da er Helling oben erblickte, rief er ihn zornig an:
»Ismain el Heliki! Was soll das heißen, daß ihr das Tor vor eurem Herrn und Gebieter verschlossen habt? Es werde sofort geöffnet, sonst seid ihr des Todes!«
Der Leutnant erwiderte in spöttischem Tone: »Ihr müßt euch schon selber die Mühe geben. Aber ihr seid zu wenig! Du brauchst dein ganzes Heer, um den Eingang zu erzwingen. Wir haben jetzt brauchbare Kanonen, wie du befohlen, und wollen dir gleich beweisen, wie trefflich sie sind, um feindlichen Heeren die Annäherung zu entleiben.«
»Schießt ihn herunter!« schrie der Tyrann, schäumend vor Wut über diese unerhörte Verhöhnung.
Allein Helling hatte nichts anderes erwartet und deckte sich beizeiten hinter den Zinnen der Mauer, so daß keine Kugel ihn treffen konnte.
In diesem Augenblick erschienen Jussuf und Ali mit Gewehren bewaffnet. Sieger sandte sie ihm zur Verstärkung, und sie duckten sich ebenfalls hinter den überragenden Vorderrand der breiten Mauer, die eigens zur Verteidigung des Eingangs gebaut schien, so trefflich bot sie Gelegenheit, aus sicherer Deckung nach außen zu schießen.
»Erstürmt die Mauer!« gebot jetzt der Kalifa seinen Kriegern.
Diese begannen sofort, das Torwärterhaus zu erklettern, von dessen Dach aus die Zinne zu erreichen war.
Doch nicht umsonst stand der beste aller Scharfschützen im Anschlag, unterstützt durch zwei andere Schießkundige: keiner der Derwische gelangte auf das Dach.
Als Abdullahi einen um den anderen seiner Leute zu Tode getroffen oder schwer verwundet herabstürzen sah, zog er sich mit den Übriggebliebenen zurück, um mit seiner ganzen Macht, soweit sie sich in der Eile sammeln ließ, den Sturm zu unternehmen.
Jetzt kam Sieger in den Vorhof, und Helling meldete ihm den Verlauf des ersten Geplänkels.
»Ohne Zweifel,« sagte der Ingenieur, »wird der Kalifa bald mit großer Macht anrücken, denn es läßt sich denken, daß unser Widerstand, den er als Aufruhr ansehen wird, ihn aufs äußerste gereizt haben muß.
»Die Verteidigung der Mauer hat dann keinen Zweck mehr: begebt euch auf das Dach der Fabrik zu den Kanonen. Es gilt, durch Geschützfeuer die Annäherung der Massen solange als möglich aufzuhalten.«
»Sind die Fahrräder noch nicht in Stand?« fragte der Leutnant: »Jetzt wäre der günstigste Augenblick, durch die Lüfte zu entfliehen.«
»Leider, leider sind wir noch nicht so weit. Ich bedaure es auch besonders deshalb, weil wir unnötiges Blutvergießen vermeiden könnten, wenn wir jetzt schon aufzusteigen vermöchten. Allein eines der Räder hat sich als undicht erwiesen, und ich glaube kaum, daß es vor Ablauf von drei Stunden in Stand gesetzt und gefüllt sein kann. Solange müssen wir noch Zeit gewinnen. Dazu helfen uns die Geschütze und hernach meine eiserne Schwelle. Aber es wird viel Tote geben auf feindlicher Seite, und das fällt mir schwer aufs Herz!«
»Laß gut sein, Freund!« tröstete ihn Onkel Siegmund: »Du darfst das nicht als unnötiges Blutvergießen betrachten. Die Derwische hausen so gräßlich im unglücklichen Sudan, daß jede Schwächung ihrer Macht ein gutes Werk ist. Es ist sicher, daß über kurz oder lang europäische Heere gegen sie ausziehen werden, um den Greueln ein Ende zu machen. Sie werden umso weniger Verluste haben, je mehr Feinde wir heute unschädlich machen. Wir wollen daher weniger an Schonung dieser unmenschlichen Horden denken, als an die Rettung so vieler unserer christlichen Brüder, denen unser heutiger Kampf zugute kommt.«
»Du hast recht, Freund Helling! Wir wollen unbeirrt unsere Pflicht tun, sozusagen als die Vorhut des Heeres, das nach uns den Kampf gegen den Wüterich aufnehmen wird. Wenn nur wir ohne Verlust davonkommen! Das gebe Gott!
»Ich sehe jetzt nach Osman, der das Luftrad dichtet, und kehre dann zu euch zurück, da der geschickte Knabe die Arbeit allein vollenden kann, und meine Beteiligung beim Kampfe notwendiger sein wird.«
Unter diesen Reden waren sie in die Fabrik gelangt. Sieger eilte auf der anderen Seite hinaus zu Johannes, dem Fanny zur Hand ging, während die drei anderen das flache Dach der Fabrik erstiegen, wo die Kanonen in guter Deckung aufgestellt waren. Von hier aus konnte man über die weit niedrigere Sperrmauer hinwegschießen.
Helling sah nach der Ladung und stellte noch einmal fest, daß alles zur Aufnahme des Kampfes bereit war.
Noch herrschte Ruhe. Schwer stiegen die herrlichen Wohlgerüche aus dem Dachgarten empor, der auf halber Höhe, auf der Terrasse des ersten Stockes, zu Füßen unserer Freunde lag. Wie bald würde Pulverdampf diese lieblichen Düfte verdrängen!
Jetzt kehrte Sieger zurück und nahm seinen Posten ein.
Bald vernahm man ein gellendes Geschrei in der Ferne, und gleich darauf wälzten sich die Scharen der Krieger des Kalifa von Omderman heran.
Sofort wurde das Geschützfeuer eröffnet.
Stein- und Eisenkugeln, vor allem aber kleinere Metallstücke, mit denen die Rohre geladen waren, richteten große Verheerungen in der anrückenden Truppenmasse an. Sowie eine Kanone abgeschossen war, wurde sie aufs neue geladen: so gab es immer Arbeit genug für die Belagerten, da sie eine ganze Batterie von drei Geschützen zu bedienen hatten.
Der Geschoßhagel trieb die Derwische einigemal zurück; doch da die fanatischen Horden, die so oft ihre Todesverachtung bewiesen hatten, nicht daran dachten, einer Handvoll Gegner zu weichen, sahen sie ein, daß jedes Zögern ihre Verluste nur vermehren konnte, und daß ihr Heil in möglichst beschleunigtem Vorgehen lag.
So stürmten sie bald unaufhaltsam voran, unbekümmert um die klaffenden Lücken, die immer wieder in ihre Reihen gerissen wurden und die rasch wieder durch Nachrückende ausgefüllt wurden. Sie vertrauten auf Allah und ihre große Übermacht und ließen sich durch das verheerende Feuer nicht mehr zurückschrecken.
Als die Derwische so nahe gekommen waren, daß die Kanonen nicht länger gegen sie gebraucht werden konnten, richtete Helling die Rohre auf die Stadt und rief: »Hurra! Jetzt schießen wir Omderman in Grund und Boden und machen der ganzen Mahdia ein Ende!«
Natürlich glaubte er selber nicht an einen solchen Sieg. Dennoch stutzten die Angreifer, als sie sahen, wie die Häuser der Stadt trotz ihrer großen Entfernung beschossen wurden und einstürzten.
Omderman wurde von Entsetzen ergriffen, und eine wilde Flucht der Einwohner begann. Einige kühne Männer benutzten die Verwirrung, um die Gefangenen im Seier zu befreien, unter denen sie Freunde und Angehörige besaßen. Dumpf schallte der Tumult und das Geheul Tausender herüber, und der Kalifa besann sich einen Augenblick, ob die Truppen jetzt nicht notwendiger in der Stadt wären, wo vielleicht ein Aufruhr ausbrechen konnte. Andererseits sagte er sich, daß ein Rückzug neue ungeheure Verluste kosten und den kühnen Feinden eine weitere Beschießung der Häuser ermöglichen würde. Kurz, er hielt es für ratsamer, zuerst hier ein Ende zu machen.
Schon hatten die Derwische das Tor in der Sperrmauer gesprengt und ergossen sich in Scharen auf den Vorhof der Fabrik.
Sie stürmten vor, und die Vordersten betraten die eiserne Schwelle; die in einer Breite von zehn Metern den Boden vor dem Gebäude bedeckte.
Nun aber ereignete sich etwas Wunderbares, etwas Entsetzliches: sowie einer der Eindringlinge den Fuß auf die Eisenplatten setzte, stürzte er, wie vom Blitze getroffen, tot nieder.
Anfangs glaubten die Angreifer, es seien die Flintenkugeln der Belagerten, die derart unter ihnen aufräumten; denn als das Geschützfeuer verstummt war, fielen wieder Gewehrschüsse und streckten manchen der durch das Tor Eindringenden nieder.
Aber die Kugeln flogen nur in die hinteren Reihen, und der Verteidiger der Fabrik waren es so wenige, daß es ihnen unmöglich war, so viele Geschosse zu gleicher Zeit zu versenden.
Schon türmten sich die Leichen auf der Schwelle, und wer eine berührte, sei es, um sie wegzuschaffen, sei es, um über sie wegzusteigen, brach ebenfalls lautlos zusammen, auch wenn gar kein Schuß fiel.
Diese unerhörte Erscheinung erfüllte die Derwische mit abergläubischem Entsetzen: sie drängten zurück, und keiner wagte es mehr, das todbringende Hindernis zu betreten.
Unterdessen hatten die Angreifer an mehreren Stellen die Sperrmauer niedergerissen, um durch die Breschen einzudringen, da das einzige Tor für die Massen zu eng war und den Verteidigern den Vorteil bot, daß sie die meisten der sich Durchzwängenden sofort niederschießen konnten, weil sie nur diesen einen schmalen Durchgang mit ihrem Feuer zu bestreichen brauchten.
Es war keine leichte Arbeit gewesen, die dicke Mauer zu durchbrechen, aber wo so viele Hände, mit starken Brechwerkzeugen bewaffnet, an der Arbeit waren, mußte der Wall schließlich nachgeben.
Jetzt fluteten die dichtgedrängten Scharen unaufhaltsam herein, aber nur bis zu der mörderischen Schwelle, die keiner lebend zu betreten vermochte.
Das Geheul verstummte. Von Schrecken gebannt, starrten die Derwische auf die Leichen, die begannen, den Weg zu versperren und jeden töteten, der sie auch nur zu berühren wagte.
Was brauchten diese weißen Zauberer mit Gewehren und Kanonen zu schießen? Das hatten sie offenbar nur zum Vergnügen getan! Verstanden sie doch, durch ein Hexenwerk, das alles in den Schatten stellte, was die Märchen aus Tausend und einer Nacht zu berichten wußten, ihre Festung unnahbar zu machen für jeden Sterblichen.
Die Belagerten hatten ihr Feuer eingestellt, um abzuwarten, ob die Einsicht, daß jeder Annäherungsversuch das Leben koste, die Angreifer nicht zum Rückzug bewegen werde.
Da drängte sich eine hagere Gestalt vor durch die erstarrten Reihen. »Ich kenne den Zauber der Giaurs,« rief er: »Dem Unkundigen bringt er den Tod, dem Kundigen aber ist er ungefährlich. Folget mir und tut wie ich tue!«
»Nur heran!« rief Helling spöttisch hinter seiner Deckung hervor.
Der Dürre erkannte ihn an der Stimme und brüllte in deutscher Sprache hinauf:
»Kennst du mich noch, Siegmund von Helling?«
Der Leutnant fuhr empor und schaute hinab auf ein abschreckend häßliches Antlitz, entstellt durch eine gräßliche Narbe und ein fehlendes Auge: »Emil!« rief er entsetzt.
»Ja! Emin Gegr oder Emil Geiger, — wie du willst! Die Stunde meiner Rache ist gekommen!«
Eine Kugel fuhr an Hellings Wange vorbei, der noch wie erstarrt dastand. Das brachte ihn zum Bewußtsein der Gefahr, der er sich aussetzte: er verschwand alsbald wieder hinter einer Steinplatte.
Der Einäugige aber sprang über Leichen hinweg mit beiden Füßen zugleich auf die unheimlichen Metallplatten. Er hatte erraten, daß ein hochgespannter elektrischer Strom hindurchgeleitet wurde, der jeden töten mußte, der sie mit einem Fuße betrat, während der andere mit dem Erdboden in Berührung stand, so daß der Körper des Unvorsichtigen zum Leiter des Starkstroms wurde, gleichsam Kurzschluß herbeiführend. Wer jedoch mit beiden Füßen zugleich darauf sprang, wurde zwar selber elektrisch geladen, konnte jedoch keinen Schaden nehmen. Genau so können ja auch die Vögel ohne Gefahr auf den Drähten einer Starkstromleitung sitzen, vorausgesetzt, daß sie nicht zwei Drähte zugleich berühren und so zur Leitung vom einen zum anderen werden, was ihren sofortigen Tod herbeiführen mußte.
Emin schritt auf der isolierten Eisenfläche vor und sprang dann wieder mit einem Satz auf die steinerne Schwelle des Fabrikeingangs. Unter der Türe wandte er sich um und rief den Derwischen zu: »Machet es, wie ich: springet über die Leichen eurer Brüder weg, daß ihr mit beiden Füßen zugleich auf die Schwelle gelangt, und ebenso springet mit beiden Füßen zugleich wieder herunter, dann ist der Zauber machtlos, wie ihr an mir gesehen habt!«
»Jetzt sind wir verloren!« flüsterte Albert Sieger dem Leutnant zu. »Eilen wir in die Schlucht, vielleicht ist Osman doch schon so weit fertig, daß wir durch die Lüfte entkommen können.«
In diesem Augenblick kam Fanny heraufgesprungen: »Papa, Onkel Siegmund! Ihr sollt alle gleich kommen. Die Räder sind bereit, Osman schraubt gerade die letzte Luftklappe zu!«
Helling hatte schon zuvor die drei Geschützrohre überladen, um sie zu sprengen, damit sie nicht in Abdullahis Hände fielen. Er brannte die gelegten Lunten an und sagte: »Schade nur, daß ich dem Schurken nicht eine Kugel gab, solange er auf der Schwelle stand. Jetzt ist es zu spät, weil er gut gedeckt unter dem Torbogen steht. Da wir in offenem Kampfe stehen, hätte ich mit gutem Gewissen aus ihn schießen dürfen, zumal wir uns ihm gegenüber immer in Notwehr befinden. Jetzt ist mir der tödliche Haß dieses Emin Gegr erklärlich, seit ich weiß, daß er kein anderer ist als Emil Geiger, dem mein Hieb damals ein Auge gekostet zu haben scheint. Aber warum er auch dich verfolgt, ist mir ein Rätsel. Oder halt! Es muß wegen deiner unglücklichen Gattin sein, die ihn einst abwies, und die wohl er in jener unseligen Nacht gemordet hat! Und nun soll er wieder entkommen!«
Inzwischen brannten die Lunten und Sieger rief: »Schnell, schnell! Denke jetzt an keine Rache! Jede Sekunde ist kostbar, es handelt sich um unser aller Leben. Es ist die höchste Zeit! Sie erbrechen schon die Haustüre!«
Sie eilten in größter Hast die Treppe hinunter, gefolgt von Jussuf und Ali.
Emin Gegr hatte mit seiner Aufforderung zunächst keinen Erfolg: alle scheuten das lebensgefährliche Hindernis.
Er wiederholte seine Aufforderung dringender, und der Kalifa, der jetzt auch in den Hof getreten war, befahl, ihm zu folgen. Da wagten die Mutigsten den Sprung, und als sie unbeschädigt hinübergelangten, folgten ihnen andere nach und ihre Äxte donnerten gegen das starke Tor, bis es zertrümmert zusammenbrach.
Die Derwische ergossen sich in den Flur.
»Zu spät!« rief Sieger, der eben mit den Seinen das Untergeschoß erreichte.
»Zu spät!« kreischte Emin Gegr in höhnischem Triumph, denn er vernahm den Ausruf durch die dünne Glastüre, die ihn noch allein von seinen Opfern trennte. Er schlug eine Scheibe ein und brüllte hindurch: »Auch dich, Otto von Helling, wird meine Rache jetzt vernichtend treffen, nachdem diese Lanze Ellas Herz durchbohrte!«
Dieser Ausruf gab unseren Freunden den Schlüssel zum letzten Rätsel: Geiger haßte den Ingenieur so glühend, weil er ihn für Siegmund von Hellings Bruder, Siegers Doppelgänger, hielt.
Die Glastüre war in einem Augenblick eingedrückt. Unsere Freunde sahen sich verloren.
Da rief Ali ihnen zu: »Habt ihr einen Weg zur Flucht, wie ihr sagt, so eilet, und Allah sei mit euch!«
Damit schlug er die hintere Haustüre hinter ihnen zu und verriegelte sie blitzschnell. Er selber legte rasch sein Gewehr an und schoß auf die durch die Glastüre drängenden Derwische auf drei Schritt Entfernung.
Die siegesgewissen Verfolger waren auf einen neuen Angriff nicht gefaßt gewesen. Es herrschte ziemliche Dunkelheit im Flur, nachdem die Ausgangstüre geschlossen war. Einen Augenblick zuvor hatte der grell hereinflutende Sonnenschein die Leute geblendet, deshalb konnten sie bei dem jetzigen Düster vorerst nichts erkennen. Sie merkten nur, daß auf sie geschossen wurde und einer um den anderen stürzte. Dann dachten sie, es könne auch hier noch eine lebensgefährliche Schutzvorrichtung auf sie lauern. Kurzum, im ersten Schrecken wichen sie zurück.
»Vorwärts! Vorwärts!« drängte Emin Gegr wütend. »Es ist ein einziger Mann, es ist Ali, der Verräter!« Sein eines Auge sah schärfer als die Augen der Zweiäugigen.
Ali bin Said hatte seine Munition verschossen und schwang drohend seine Lanze.
Die Derwische, die nun auch den einzelnen Mann erkannten, stürmten auf ihn ein. Die beiden ersten durchbohrte Alis Speer. Dann erhielt er selber eine tiefe Wunde. Er lehnte sich zurück an die Türe, die er verteidigte, und wehrte sich mit Löwenmut.
Doch es währte nicht mehr lange: aus zahlreichen Wunden blutend, sank er zuletzt entseelt zu Boden. Er hatte sein Leben für den geopfert, den er einst hatte morden wollen, um schnöden Gewinnes willen, und dessen Großmut sein im Grunde edles Herz gewonnen hatte.
Emin Gegr riß die Riegel zurück, öffnete die Türe und stieß eine gräßliche Verwünschung aus bei dem unerwarteten Anblick, der sich ihm darbot.
Als Sieger mit Fanny, Helling und Jussuf aus der Haustüre trat, die Ali hinter ihnen zuwarf, — um zu sterben, damit sie sich retten könnten, — standen die drei Lufträder zum Aufstieg bereit.
»Ich besteige das kleine Rad,« sagte der Ingenieur: »Mir fällt es am leichtesten, zugleich zu treten und zu steuern, auch bin ich der Kräftigste und bedarf nicht so bald einer Ablösung, Helling und Osman, nehmt ihr das zweite, und du, Jussuf, nimm Fatme mit dir. Sie ist ja gesund und kräftig und kann dich zuweilen ablösen, doch wird sie es nicht so lange aushalten, wie etwa Osman, deshalb teile ich sie dir zu, der du nicht so leicht ermüden wirst.
»Ich gedenke, mich nach Norden oder Osten zu wenden, wo wir am raschesten zivilisierte Gegenden erreichen. Jedenfalls aber müßt ihr euch immer ganz nach mir richten und mir nachfolgen. Viel verständigen werden wir uns unterwegs kaum können.«
Während der Ingenieur so seine letzten Anordnungen traf, hatten alle ihre Sitze eingenommen.
»Jetzt rasch!« rief Sieger: »Ich steige zuerst und wende mich gleich etwas nach rechts. Dann folgen mir, nach etwa zehn Sekunden, Jussuf und Fatme: Fanny, du mußt zunächst ein wenig nach links steuern. Nach weitern zehn Sekunden steigen Helling und Osman empor und halten sich in der Mitte: so gibt es keinen Zusammenstoß. Denn jetzt sind wir viel zu nahe beieinander, um ohne Gefahr gleichzeitig abfahren zu können. Und nun hinauf, mit Gott!«
Während der letzten Worte hatte er schon einige Metallplatten abgeworfen, die als Ballast dienten, und sein Fahrzeug stieg schnell nach oben.
Um mit der Abgabe von Ballast stets sicher gehen zu können, waren die in besonderen, leicht zu erreichenden Drahtkörben mitgenommenen Bleiplatten genau auf je zwanzig Pfund abgewägt. Sieger hatte zehn dieser Platten, also zwei Zentner, abgeworfen und fand, daß damit der gewünschte Auftrieb gewonnen wurde, der, angesichts der dringenden Gefahr, nicht zu gering sein durfte, andrerseits aber auch nicht übermäßig sein sollte.
Er rief daher noch hinab: »Jedes Luftrad werfe sechzehn Platten ab, nicht mehr und nicht weniger! Acht von jeder Seite, daß ihr im Gleichgewicht bleibt!«
Er bog nach Norden aus, während Jussuf und Fanny, die gleich darauf abfuhren, nach Süden hielten.
Nun konnte auch Helling mit Osman folgen, keine halbe Minute nach des Ingenieurs Aufstieg.
Nach drei Minuten wiegten sich schon alle drei Räder über dem oberen Rande der Schlucht, und jetzt war es, daß Emil Geiger die Hintere Haustüre der Fabrik öffnete und zu seiner großen Enttäuschung sehen mußte, daß er wiederum überlistet sei, und seine Feinde einen Ausweg gefunden hatten, von dem er sich nie etwas hätte träumen lassen.
Helling merkte, daß Osman und er ein wenig schwerer wogen, als Jussuf und Fatme, und daher etwas unter den andern zurückblieben, die ziemlich in gleicher Höhe miteinander schwebten. Er warf daher noch ein Bleistück ab, das hart an Emins Nase vorbeisauste.
»Das hätte mich beinahe getroffen!« knirschte der Einäugige, die Handlung mißverstehend: »Noch aus der Höhe greifen uns diese Tropfen an, und wie gut sie dabei zielen können! Das geht beinahe ins Übermenschliche!«
Die Derwische aber starrten mit offenem Munde den Entkommenen nach, und einer rief: »Das sind wahrhaftig Scheitans, Teufel! Nun fliegen sie gar noch durch die Luft! Allah lasse sie nie wiederkehren!«
»Ja,« sagte ein anderer: »Sie haben uns mehr Menschenleben gekostet, als wir in der blutigsten Schlacht verloren: mögen sie uns nie mehr zu Gesicht kommen.«
Als aber die Bleiplatte niederfiel, die sie auch für ein absichtlich geschleudertes Wurfgeschoß hielten, besannen sie sich und feuerten ihre Gewehre auf die Flieger ab. Allein die waren schon außer Schußweite.
Sieger hatte, wie gesagt, nach Norden, Ägypten zu, oder nach Osten, gegen das Rote Meer, steuern wollen. In der Schlucht war es ziemlich windstill gewesen und die Richtung der oberen Luftströmungen hatte bei völlig wolkenlosem Himmel nicht erkannt werden können.
Sobald sich aber die Lufträder über die Margayaschlucht erhoben hatten, und die kühnen Schiffer mit dem Pedaltreten beginnen konnten, merkte der Ingenieur, daß ein Ankämpfen gegen die herrschende östliche Luftströmung aussichtslos sei und daß die einzige Hoffnung auf rasche Entfernung von Omderman darauf beruhte, daß sie mit dem Winde nach Westen steuerten.
In dieser Richtung mußte freilich eine weite Strecke über Feindesland zurückgelegt werden, und dann erst noch über unerforschte, gefährliche Gegenden, vielleicht über schreckliche Wüsten. Das war eine bedenkliche Sache: würden sie rasch genug vorwärtskommen, würden die Maschinen so lange aushalten und vor allem, würde die Kraft der Luftschiffer ausreichen? Denn ein Abstieg war nur zu bewerkstelligen, wenn man Gas ausströmen ließ. Das ausgeströmte Gas konnte aber später nicht mehr ersetzt werden.
Immerhin trugen die Fahrzeuge noch so viel Ballast, daß auch nach einem ersten Abstieg durch Abwerfen aller überflüssigen Belastung ein nochmaliger Aufstieg bewerkstelligt werden konnte; dann aber war es aus und eine dritte Fahrt war unmöglich.
Vorerst jedoch war die Hauptsorge von den Gemütern genommen: der Tyrannei des Kalifen waren sie glücklich entwischt, und sie wollten vertrauen, daß Gott ihnen weiter helfe.
Der Wind wurde zum Sturm und der Sturm zum Orkan. Ein Versuch, gegen diese Naturgewalt ankämpfen zu wollen, wäre Wahnsinn gewesen. Die Luftschiffer mußten sich willenlos mit fortreißen lassen, als ein Spiel der Stürme, die sie, wer weiß wohin, verschlagen konnten.
Abgesehen davon, daß sie nun ihr Landungsziel nicht selber bestimmen konnten, sondern dem Zufall oder vielmehr der göttlichen Fügung überlassen mußten, hatte dieser Umstand einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: es hatte rein keinen Sinn, durch Pedaltreten die Fahrt noch beschleunigen zu wollen, — das sahen sie alle sofort ein. Also konnten sie ihre Kräfte schonen und vermochten um so länger in den Lüften auszuhalten. Überdies entführte sie der Orkan mit einer Geschwindigkeit von siebzig bis achtzig Kilometern in der Stunde. Das hätten sie bei Windstille oder mäßigem Winde durch eigene Anstrengung nicht annähernd erreichen können.
Es war nun freilich ein nicht sehr angenehmer Gedanke, ins Innerste Afrikas verschlagen zu werden, in ein gefährliches Wüstengebiet, wo der Tod in verschiedenen schrecklichen Gestalten drohte, und vielleicht eine monatelange Reise nötig wäre, um die Küste zu erreichen, eine Reise durch wasserlose Öden, durch Wälder und Dickichte voll reißender Tiere und giftiger Schlangen, durch Länder, die von grausamen Wilden oder gar Menschenfressern bewohnt waren. Aber war das schlimmer, als der Willkür eines unmenschlichen Wüterichs preisgegeben zu sein? Und dann waren sie alle von starkem Gottvertrauen beseelt, so daß die Gefahren, denen sie voraussichtlich entgegen gingen, sie nicht entmutigen konnten.
Die Lufträder schwebten in einer Höhe von kaum dreihundert Metern über dem Erdboden. Sieger vermied es absichtlich, höher zu steigen, um Ballast zu sparen, da eine weitere Entlastung die Möglichkeit eines zweiten Aufstieges in Frage gestellt hätte. Obgleich nun die Karawanenstraße von der Linie, welcher die Luftschiffe folgten, bis zu fünfzig Kilometer links lag, wurden die merkwürdigen Fahrzeuge doch von dort aus beobachtet, und in jedem Dorf strömten die Leute zusammen, um die Riesenvögel mit den drehenden Flügeln anzustaunen.
Anfangs entzogen sich die wunderbaren Geschöpfe mit Windeseile den Blicken; dann aber verlangsamte sich ihr Flug. Der Wind schlug nämlich plötzlich um und blies nun aus Südwesten, genau in entgegengesetzter Richtung. Jetzt mußten die Luftschiffer ihre äußerste Kraft einsetzen, um überhaupt vorwärts zu kommen und nicht wieder gegen Omderman getrieben zu werden. Ein Glück, daß sie in fünfstündiger Fahrt etwa dreihundertundfünfzig Kilometer Vorsprung gewonnen hatten. Um diese Strecke zurückzulegen, mußten etwaige Verfolger doch drei Tage und drei Nächte bei äußerster Anstrengung brauchen. Übrigens glaubte Sieger an keine Verfolgung; seine einzige Sorge war, daß die Lufträder in ihren Leistungen nicht ausreichen würden, um die europäischen Ansiedelungen an der Westküste Afrikas zu erreichen.
»Ich wollte, ich hätte eine Vorrichtung erfunden,« dachte er, »um den Auf- und Abstieg ohne Gasverluste zu bewerkstelligen. Wir wären dann im stande in höheren Lagen günstigere Luftströmungen aufzusuchen und könnten unbesorgt landen, so oft wir wollten. Vielleicht wäre es ganz gut gegangen, wenn ich in den Kammern einfach luftleeren Raum hergestellt und durch Einströmenlassen und Auspumpen der Luft Auf- und Abstieg geregelt hätte. Leider aber drängte die Zeit, und ich konnte mich nicht mehr mit unsicheren Versuchen abgeben.«
Nach stundenlangem Kampfe mit dem widrigen Winde war die Erschöpfung unserer Freunde so groß, daß sie mit einbrechender Nacht eine Landung bewerkstelligen mußten, wenn der Sturm sie nicht über Nacht nach Omderman zurückverschlagen sollte.
Sieger, Jussuf und Helling ließen das Gas aus je zwei Kammern der Zylinder ausströmen, und während des Entweichens des Wasserstoffs senkten sich die Fahrzeuge allmählich, bis sie zwischen zwei Hügeln, dem Gebel Katul und dem Gebel Kaga, den Erdboden erreichten.
»Das sind böse Aussichten!« klagte Sieger. »Hier sind wir kaum vierhundert Kilometer in der Luftlinie von Omderman entfernt und haben noch etwa eintausendfünfhundert Kilometer bis zum Tsadsee, von dem aus wir hoffen könnten, zu Fuß zivilisierte Gegenden zu erreichen, wenn auch unter großen Schwierigkeiten.«
Die kleine Gesellschaft brachte die Nacht in ungestörtem, erquickendem Schlafe zu. Osman erwachte zuerst und unternahm den Aufstieg auf den Gebel Kaga. Von der Höhe aus konnte er im Südosten bis El Obeid sehen in einer Entfernung von hundertundfünfzig Kilometern, während die kleine Seriba (Umzäunung, Lager) Kaga etwa fünfzig Kilometer nordwestlich lag. Sehr erfreut aber war Osman, zu entdecken, daß in der Ebene eine Menge Wassermelonen wuchsen, und daß mehrere Dattelpalmen den Fuß des Hügels säumten.
Er eilte den Abhang wieder hinunter, um den Anderen, die sich inzwischen ebenfalls ermuntert hatten, seine Entdeckung mitzuteilen.
»Das ist für uns von hohem Wert,« meinte Sieger, »sammeln wir einen Vorrat Wassermelonen und Datteln, die beide sich monatelang halten, und bleiben wir hier verborgen in dem abgelegenen Tale. Vor Hunger und Durst geschützt, können wir dann, wenn es darauf ankommt, wochenlang abwarten, bis der Wind umschlägt. Bei günstigem Winde sind wohl in einer einzigen Fahrt von dreißig Stunden die eintausendfünfhundert Kilometer bis zum Tsadsee zurückzulegen; steigen wir aber bei schlechten oder mäßig guten Windverhältnissen auf, so könnten wir nur eine geringe Strecke bewältigen, bis die Überanstrengung oder Schläfrigkeit uns zum Abstieg zwänge. Da wir nun für den nächsten Aufstieg fast allen Ballast abwerfen müssen, so haben wir kein Mittel mehr, nochmals aufzusteigen, sobald wir das nächstemal gelandet sind.«
Dieser Rat, der Allen einleuchtete, wurde denn auch befolgt. Um vor einer Entdeckung sicher zu sein, mußte sich übrigens stets einer der vier Flüchtlinge auf der Höhe des Gebel Kaga aufhalten, nach allen Seiten hin auszuschauen. Zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen wurde daher dort oben aus Rohr und Blättern ein Schutzdach errichtet.
Emil Geiger hatte nach seiner ersten Enttäuschung sofort den Plan gefaßt, die Flüchtigen zu verfolgen. Er dachte sich, daß die Luftreise nicht so glatt von statten gehen werde und von nicht allzulanger Dauer sein dürfte, da es sich offenbar um eine ganz neue, noch völlig unerprobte Erfindung Siegers handelte. So konnte er hoffen, wenn er sich beeilte, die Fliehenden einzuholen, wenn sie, auch mit noch so großem Vorsprung, einmal gezwungen wären, ihre Luftschiffe zu verlassen.
Der Kalifa war mit dem Versuch einverstanden, er brannte darauf Rache zu nehmen. So jagte denn Um Salama mit einem Dutzend Begleitern auf den besten Kamelen schon zwei Stunden später auf der Karawanenstraße nach El Obeid dahin.
Unterwegs zog er bei jeder Gelegenheit Erkundigungen ein und vernahm fast überall, daß die Wundervögel mit den drehenden Flügeln im Norden mit großer Schnelligkeit vorbeigeflogen seien. Schon gab er alle Hoffnung auf, sie einzuholen; denn bereits war er mehrere Tage unterwegs, während nach den Berichten die Flüchtlinge die gleiche Strecke in wenigen Stunden zurückgelegt haben mußten. Da endlich, in El Obeid, vernahm er, daß die unheimlichen Geschöpfe sich zwischen dem Gebel Katul und dem Gebel Kaga niedergelassen hätten. Bis dorthin waren es für die Kamele noch beinahe zwei Tagereisen, und Salama hatte wenig Hoffnung, die Verfolgten noch dort zu treffen; dennoch entschloß er sich, vom Wege abzubiegen und in der genannten Gegend nachzuforschen. Er dachte sich, daß nur widrige Umstände, vielleicht eine schwere Beschädigung, eine so frühe Landung erzwungen haben konnten. Der Schade erforderte unter Umständen eine langwierige Wiederherstellungsarbeit, die zu mehreren Tagen Aufenthalt zwang, oder war er überhaupt nicht wieder gut zu machen bei dem Mangel an den nötigen Werkzeugen und Hilfsmitteln.
Auf jeden Fall war es möglich, daß er Spuren entdeckte, die ihm den Weg wiesen, den die Flüchtigen von dort aus eingeschlagen hatten. Waren sie genötigt gewesen, zu Fuß weiter zu wandern, was ja durchaus nicht so unwahrscheinlich schien, so war es ihm zweifellos möglich, sie noch einzuholen, wenn auch erst nach mehreren Tagen.
Unter solchen Gedanken führte Emil Geiger seine Leute dem Bergsattel zu. Sieger hatte soeben Jussuf abgelöst und stand nun Wache auf dem Kaga, als er die kleine Karawane von El Obeid her nahen sah.
Was hatten die Leute vor, daß sie die Karawanenstraße verließen und einen so ungewohnten Weg einschlugen? Das war verdächtig! Auch die rasche Gangart der Kamele weissagte nichts Gutes. Er schaute durch sein Fernrohr und erkannte nun Emin mit Leuten des Kalisa. Mußte der Schurke ihnen schon wieder auf den Fersen sein!
Da gab es kein Abwarten mehr: unverzüglich eilte der Ingenieur ins Tal, wo die Gefährten lagerten, und trieb sie zum Aufbruch, ihnen seine schlimme Beobachtung mitteilend.
»Das ist ein Bluthund!«, zürnte der brave Jussuf: »Wie hätte er sonst unsre Fährte bis hierher verfolgen können, wo wir schon so viele Tage uns verborgen halten?«
»Und dabei sind wir durch die Luft gefahren,« sagte Osman lachend. »Wo auch der beste Spürhund versagt!«
Glücklicherweise blies der Wind seit heute morgen von Osten, nur war er äußerst schwach, und Sieger hatte erst abwarten wollen, ob er nicht an Stärke gewinne. Jetzt aber drängte die Gefahr zu sofortigem Aufstieg, und so besann man sich nicht lange, bestieg die Fahrräder und warf Ballast ab.
Emin Gegr war mit seinen Leuten kaum mehr zwei Kilometer von den Bergen entfernt, als er die Fahrzeuge aufsteigen und gegen El Fascher zu treiben sah. Er erging sich in wilden Flüchen, in der gemeinen, gottlosen Art, wie verworfene Menschen ohne Geistes- und Gemütsbildung ihren wüsten Zorn zu äußern pflegen. So nahe war ihm der Erfolg gewesen, der ihm nun schon so oft im letzten Augenblick entschlüpft war, und wiederum fand er sich genarrt.
Andrerseits gab ihm eben die Nähe dieses Erfolges neue Hoffnung: Trotz ihres gewaltigen Vorsprungs hatte er seine Feinde eingeholt und kannte die Richtung, die sie eingeschlagen hatten. Gewiß! er würde das Ziel, dem er nach jagte, doch noch erreichen und seine Rache kühlen können!
So wandte er sich westwärts gegen Foga hin, die Verfolgung wieder ausnehmend.
Der Ostwind war, wie gesagt, nur mäßig, doch hielt er an und nahm gegen Abend an Stärke zu. Um diese Zeit hatten die Flüchtlinge etwa fünfhundertundfünfzig Kilometer vom Gebel Kaga aus zurückgelegt und schwebten über den Städten Mortal und Mortafal hin. Um über das dortige hohe Gebirge, den Gebel Marrah, hinwegkommen zu können, mußten sie die letzten Ballastvorräte abwerfen, wodurch die Fahrzeuge bis zu einer Höhe von zweitausend Metern stiegen, welche den höchsten Gipfeln jenes Gebirges entspricht. Die Kälte im Gebel Marrah ist nachts oft so groß, daß Slatin Bey, als er dort den Sultan Harun bekriegte, mehrere Leute durch Erfrieren verlor. In den höheren Luftschichten herrschte auch heute eisiger Frost, und da die Luft von Dünsten erfüllt war, schlug sich eine solche Menge Eis auf die Luftschiffe nieder, daß dieselben rasch sanken und bald den Erdboden in einem Gebirgstale berührten.
»Wir werden vom Schicksal verfolgt!« jammerte Helling, als er halb erstarrt, gleich den anderen seinen Sitz verließ.
»Ich halte dieses Ereignis für äußerst günstig,« widersprach Sieger. »Wer weiß, ob uns die Kälte dort oben nicht lebensgefährlich geworden wäre. Jedenfalls hat sie uns eine Landung ohne Gasverlust ermöglicht; sobald das Eis in der Sonnenwärme taut, werden unsere Fahrzeuge wieder von selber emporsteigen. Belasten wir sie sogleich mit Steinen, daß sie uns nicht unversehens zu entweichen vermögen; dann können wir hier der Ruhe pflegen und ein Auffrischen des Windes abwarten. Der Tsadsee mag noch tausend Kilometer entfernt sein; bei günstiger Luftströmung erreichen wir ihn in weniger als zwanzig Stunden; so lange dürften wir es in einer Fahrt wohl aushalten, wenn wir uns nicht durch Treten besonders ermüden müssen oder durch irgendwelche ungünstigen Zwischenfälle behindert werden. Ich habe mehr Hoffnung als je: diese Landung, die uns durch die Vereisung unserer Fahrzeuge ermöglicht wurde, ohne die geringste Gasabgabe, dürfen wir als eine gnädige Fügung Gottes ansehen, der über uns wacht und für uns sorgt, in einer Weise, an deren Möglichkeit wir gar nicht dachten, und die wir getrost zu den Wundern göttlicher Allmacht und Barmherzigkeit rechnen dürfen.«
»Glaubst du an wirkliche Wunder?« fragte Helling.
»Ja! Denn alles ist Wunder. Ich habe nie die Blindheit der Spötter begreifen können, die alle Wunder leugnen, das heißt alle Tatsachen, die über ihren beschränkten Verstand hinausgehen. Was nennt man denn eigentlich Wunder?«
»Nun,« meinte der Leutnant etwas verlegen: »Ich denke, unter Wunder ist alles zu verstehen, was uns unmöglich erscheint, weil es unbegreiflich und unerklärlich ist, alles was gegen den gesetzlichen Lauf der Natur geht.«
»Lieber Freund, du hast wohl recht mit dieser Erklärung; aber bedenke, ist uns denn der gesetzliche Lauf der Natur vollkommen bekannt? Die Leugner der Wunder gehen von dem jeweiligen Stande unserer Erkenntnis aus, ohne zu bedenken, wie unzulänglich unsere Erkenntnis ist. Tausend Wunder, die von solchen Kleingeistern für unmöglich erklärt wurden, sind im Lauf der Zeit durch neue Entdeckungen und Erfindungen verwirklicht worden. Ach! wie stolz sind die Zweifler auf ihre Bildung und ihr Wissen, das sie, wie sie wähnen, befähigt, über alles Unerkannte abzuurteilen. Aber was wissen wir denn?«
»Vieles!« behauptete Helling.
»Nichts!« entgegnete Sieger lachend.
»Oho! Das ist so eine Redensart, die wir dem weisen Sokrates nachsprechen.«
»Besinne dich einmal: wir wissen, daß der Blitz ein elektrischer Funke ist; gewiß! Aber wissen wir nun wirklich etwas Genaues über das Wesen des Blitzes? Nein! weil wir das Wesen der Elektrizität nicht kennen. Kommen wir auch da einen Schritt weiter, so wird es nur sein, um auf ein neues Rätsel zu stoßen. Nehmen wir aber das Nächstliegende: kennen wir uns denn nur selber?«
»Nein!« gestand der Leutnant: »Unser Inneres birgt Tiefen, die wir selber nicht ergründen können. Niemand kann seinen eigenen Charakter richtig beurteilen, noch wissen, zu was er unter bestimmten Umständen fähig wäre.«
»Wir brauchen nicht einmal so weit zu gehen: selbst unsern Leib kennen wir nicht. Das Klopfen unseres Herzens verrät uns sein Dasein, und doch, wer ist imstande, seine genaue Lage und seine Größe zu bestimmen? Unser Magen verrät sich durch das Gefühl, etwa beim Genießen kalter oder warmer Speisen und Getränke und durch allerlei Beschwerden: wer aber weiß, wo etwa seine Leber, seine Milz oder seine Nieren sitzen? Ja, niemand würde vom Vorhandensein dieser Organe etwas ahnen, wenn uns die Anatomie nicht darüber belehrt hätte. Die wirklich wunderbaren, selbsttätigen Arbeiten dieser Körperteile sind aber auch dem gelehrtesten Professor ein Rätsel.
»Was sind wir, was ist der Mensch? Die einen sagen, wir bestehen aus Geist, Seele und Leib, und wissen doch nicht, was Geist und Seele eigentlich für Wunder sind. Andre glauben, wir seien nur zweiteilig und verzichten entweder auf den Geist oder auf die Seele: beide sollen eben ein und dasselbe sein. Die größte Beschränktheit vollends leugnet beides und hält den Menschen für ein nur leibliches, grob stoffliches Wesen, ohne seine geistigen und seelischen Eigenschaften anders erklären zu können, als durch die blöde, nichtssagende Behauptung, sie seien Eigenschaften oder Tätigkeiten des Stoffes!
»Was ist das Leben, das uns zur Selbsttätigkeit befähigt und das Samenkorn zur wunderbaren Entwicklung bringt? Was ist der Schlaf, der so alltäglich ist? Was ist der Tod, der die willkürliche und unwillkürliche Tätigkeit des Leibes und des Geistes auslöscht? Das sogenannte Wissen, das durch Jahrtausende sich entwickelte, Erkenntnisse anhäufte, die im Grunde nichts erklären, und so großartige Fortschritte machte, wie so viele rühmen, daß die Toren staunen vor der Herrlichkeit unserer erhabenen Wissenschaft, dieses gepriesene Wissen versagt vollständig diesen alltäglichsten und nächstliegenden Rätseln gegenüber: sie bleiben unerklärliche Wunder.
»Alle Wunder der Natur werden kurzweg damit abgetan, daß man sie ›natürlich‹ nennt und aus ihnen Naturgesetze ableitet, ohne das wunderbare Wesen dieser vermeintlichen Gesetze zu erkennen. Und dann behaupten die geistigen Schwächlinge, diese Naturgesetze seien unfehlbar und unabänderlich, und was ihnen widerspreche, müsse als Wunder vom Standpunkte des vernünftigen Denkens aus geleugnet werden.
»Ist das vernünftiges Denken? Niemand kann leugnen, daß der Mensch befähigt ist, willkürlich in den Gang der Natur einzugreifen, fördernd oder hemmend, verzögernd oder beschleunigend, unterbrechend und hindernd. Das gehört zu seiner Gottähnlichkeit. Und nun wollen diese übergescheiten Menschlein der Allmacht des Schöpfers die Fähigkeit absprechen, die sie selber in beschränktem Maße besitzen, und deren sie sich so hoch berühmen?«
»Aber die Natur ist Gottes Werk,« wandte Helling ein: »Er wird als ein Gott der Ordnung die von ihm selber bestimmte Ordnung nicht stören, durchbrechen oder aufheben.«
»Ich weiß,« sagte Sieger, »mit diesem Vorwand wird immer der gröbste Unfug getrieben. Kennen wir denn diese göttliche Ordnung? Ist Gott an das gebunden, was wir als die von ihm festgesetzte Ordnung zu erkennen belieben, ohne Rücksicht auf die Schwäche unseres Verstandes, die Geringfügigkeit unseres Wissens und die Mangelhaftigkeit unserer Erkenntnisse? Der Mensch steht selbstherrlich über dem Werk seiner Hände und seines Geistes, ja sogar über den Werken Anderer: er kann in sein Getriebe eingreifen, nach Bedarf und Belieben. Um ein ganz geringes Beispiel zu wählen: du kannst deine Uhr vor- oder nachrichten, entweder um ihren Gang besser zu regeln, oder auch, weil es dir aus irgendwelchen Gründen so paßt, du kannst sie aufziehen und in Gang bringen, aber auch anhalten und stille stehen lassen, so lange es dir beliebt. Dem Schöpfer aller Dinge aber willst du vorschreiben, daß ihm jeder Eingriff in seine Naturordnung unmöglich sei?
»Übrigens ist es eine lächerliche Anmaßung, zu behaupten, das Wunder, das heißt alles, was uns übernatürlich und wunderbar erscheint, weil es außergewöhnlich ist, bedeute eine Aufhebung der Naturgesetze und sei naturwidrig. Einmal kennen wir die göttlichen Naturgesetze gar nicht, sondern nur die menschlichen Sätze, die das ausdrücken, was wir als den regelmäßigen Lauf der Natur erkannt zu haben glauben, auf Grund unserer kurzen, lückenhaften Erfahrung. Anderseits können diese verpönten Wunder gerade zur göttlichen Naturordnung gehören: wer will das wissen oder sich anmaßen, es zu leugnen? Das wäre kindisch!«
»Aber sie stellen dann Unregelmäßigkeiten im natürlichen, gewöhnlichen Verlauf der Dinge dar, deren Zulassung wir Gott doch nicht zutrauen können.«
»Merke auf: Der Weisheitsdünkel der Kleingeister geht immer von Gedanken aus, die er für außerordentlich gescheit hält. Die wahre Vernunft aber muß sich auf die Tatsachen stützen. Nun ist es eben eine Tatsache, ein Naturgesetz, können wir sagen, daß es keine Regel ohne Ausnahme gibt. Die Ausnahme, die also naturgemäß und nicht naturwidrig ist, ist eben das Wunder. Es soll eine Störung des regelmäßigen Verlaufes sein? Nun ja! das eben sollte uns zwingen, es anzuerkennen, statt es blind zu leugnen: denn Unregelmäßigkeiten und Störungen sind ebenfalls eine unleugbare Tatsache, sogar im Laufe der Gestirne. Und schließlich, welchen Mangel an Folgerichtigkeit und vernünftigem Denken beweisen diejenigen, die immer von Entwicklung, Anpassung und dergleichen, als Naturgesetzen prahlen, und dann bei den vermeintlichen Naturgesetzen selber jede Anpassung und Entwicklung für ausgeschlossen erklären, weil ihnen das eben so paßt!
»Gewiß, wir finden in der Natur eine herrliche, staunenswerte göttliche Ordnung, nie aber eine pedantische, philisterhafte Weltordnung, die jede Ausnahme und Unregelmäßigkeit starr ausschlösse. Meine Meinung ist die: Die Leugner der Wunder wollen Gott zu einem kleinlichen Pedanten und erbärmlichen Philister ohne Geist und Genie stempeln, gleich ihnen selber.«
Helling war äußerst nachdenklich geworden und sagte zuletzt: »Ich glaube, du hast nicht so unrecht. Jedenfalls wäre es vernünftiger, nicht etwa zu behaupten: »Es gibt keine Wunder!« sondern vielmehr zu bekennen: »Es gibt nichts in der Welt, das kein Wunder wäre!« Jeder Klardenkende wird das zugeben müssen. Jede Störung in der sichtbaren Weltordnung hat eine natürliche, darum aber nicht minder wunderbare Ursache. So können auch vermeintliche Wunder natürliche Ursachen haben, die wir eben noch nicht kennen.«
Während dieser Unterhaltung waren unsere Freunde nicht untätig geblieben, denn die grimmige Kälte hätte ihnen nicht erlaubt, sich gemütlich niederzulassen und zu plaudern, wenn auch über die anregendsten Fragen und schwierigsten Rätsel der Weltordnung. Sie führten ihr Gespräch, während sie dürres Holz sammelten, das die bewaldeten Abhänge reichlich boten.
Jetzt hatten sie so große Vorräte aufgehäuft, daß sie ein wärmendes Feuer entzünden und unterhalten konnten. Dann schleppten sie noch Steine herbei, um die vom Feuer entfernt stehenden Lufträder, die sie im Dickicht gut verborgen hatten, so zu beschweren, daß sie bei eintretendem Tauwetter nicht von selber emporsteigen und ihnen verloren gehen konnten.
Dann wurden die erstarrten Glieder am hell lodernden Scheiterhaufen erwärmt und ein Mahl gehalten. Mit Lebensmitteln waren sie auf Wochen versehen: sie bildeten einen stets abnehmenden Ballast, der im Notfall durch andersartigen ersetzt wurde.
Während des Nachtessens machte Sieger folgenden Vorschlag: »Als schweren Mangel,« begann er, »habe ich es empfunden, daß wir uns während der Luftfahrt kaum verständigen können. Um einen verhängnisvollen Zusammenstoß zu vermeiden, dürfen wir uns einander nicht zu sehr nähern, und deshalb ist es schwierig, sich durch Zurufe verständlich zu machen, zumal wenn der Sturm uns umbraust. Die Flügelräder machen ja wenig Lärm und wir können sie zum Stillstand bringen, wann es nottut; allein die Erfahrung hat uns gelehrt, daß es trotzdem mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten verknüpft ist, die Stimme von einem Fahrzeug zum andern vernehmlich zu machen. Darum denke ich, wir sollten einige Verständigungszeichen ausmachen.«
»Das ist ein guter Gedanke,« lobte Onkel Siegmund: »Es ging ja bisher; denn wir folgten dir, indem wir nachahmten, was wir dich tun sahen, aber dabei wären immerhin folgenschwere Täuschungen und Mißverständnisse möglich.«
»Also,« fuhr der Ingenieur fort: »Strecke ich beide Arme wagrecht nach rechts und links aus, so bedeutet das: ›Aufgepaßt!‹ Ihr wisset dann, daß ich euch einen Befehl zu geben wünsche und werdet aufmerksam. Ich werde dieses Zeichen so lange wiederholen, bis ihr alle es nachmacht, zum Zeichen, daß ihr es bemerkt habt. Hebe ich beide Arme empor, so bedeutet das: ›Aufstieg‹, und ihr werfet so viel Ballastplatten ab, als ich euch durch Wiederholungen des Zeichens angebe. Stoße ich mit beiden Armen wiederholt nach unten, so soll dies ein Befehl zum Abstieg sein, und wenn ich die Arme gleich darauf nach rückwärts strecke, so will das heißen, daß der Abstieg bis zum Erdboden gehen soll, nämlich, daß wir landen müssen. Wie viel Gas ihr dann ausströmen lassen müßt, wißt ihr ja schon selber.«
»Steige oder sinke ich ohne vorheriges Zeichen, so dürft ihr mir nicht folgen, bis ich euch durch die entsprechende Bewegung dazu auffordere. Denn dann will ich zunächst nur ausfindig machen, ob wir in höheren oder tieferen Luftschichten bessere Windverhältnisse finden. Ich kann mir zuweilen solche außerordentliche Auf- und Abstiege leisten, da ich größere Ballastvorräte habe als ihr, die ihr zu zweit auf einem Rad sitzet.«
»Das ist ja genug und leicht zu merken, weil es nur drei Zeichen sind und so von selbst verständliche,« sagte Jussuf.
Jetzt gaben sich unsere Freunde einem sorglosen Schlummer hin, während abwechselnd einer von ihnen Wache hielt und das Feuer nährte.
Siegers Hoffnungen auf eine glückliche Weiterfahrt sollten nochmals bitter getäuscht werden.
Ohne es zu wissen, lagerten unsere Freunde an einer Stelle, die von den Eingeborenen des Landes bei Tage ängstlich gemieden wurde, weil hier eine eigentümliche, ganz besonders schreckliche Gefahr lauerte, die jedoch eben nur bei Tageslicht zu fürchten war. Bei Nacht konnte das Tal sorglos betreten werden.
Der Schein des hochlodernden Feuers machte nun die Einwohner darauf aufmerksam, daß sich Leute, zweifellos fremde Eindringlinge, in der verrufenen Gegend aufhielten. Eine stattliche Zahl der kriegerischen Neger schlich sich daher im Dunkel der Nacht heran und umstellte den Platz, an dem das Feuer lohte. Der Ring wurde immer enger geschlossen, und als Jussuf, der die Wache gerade hatte, die Gefahr merkte, konnte er kaum noch einen Schuß abgeben, der aber fehlging.
Das war übrigens ein Glück; denn hätte er einen der Schwarzen getroffen, so hätte er die Angreifer, die, kriegsgeübt wie sie waren, nicht so leicht abgeschreckt werden konnten, nur gereizt und zu blutiger Rache herausgefordert.
Der Diener wurde niedergeworfen und gefesselt, und nicht besser erging es seinen schlaftrunken auffahrenden Gefährten.
Die Gefangenen wurden in die Seriba geführt. Seriba bedeutet ursprünglich, wie Kraal, eine Umzäunung und daher den umfriedeten Hof für das Vieh und ebenso die mit einem Schutzgatter umgebene Ansiedelung der Araber oder Neger im Sudan.
Ohne daß sie es ahnten, bedeutete ihre Gefangennahme die Rettung ihres Lebens, da sie nach Tagesanbruch an dem Orte, an dem sie gelagert hatten, zweifellos einem entsetzlichen Tode verfallen wären.
Die wohlverborgenen Luftschiffe wurden glücklicherweise nicht entdeckt.
Noch in der Nacht wurden die Überrumpelten vor den Sultan Abdullahi Dud Benga gebracht.
Dud Benga war einer der vielen Negerfürsten, die mit ihren Untertanen den Glauben des Propheten angenommen hatten, was ja immerhin einen Fortschritt gegenüber ihrem früheren heidnischen Fetischdienste bedeutete.
Er war ein Mann von ungewöhnlicher Begabung, von scharfem Verstand und, was noch besser war, ein hochsinniger und gerechter Herrscher.
Es war ihm unerklärlich, wie es den Ankömmlingen gelungen war, unbemerkt mitten durch sein wohlbewachtes Gebiet bis zu seiner Hauptstadt Niurnja vorzudringen, und überhaupt eine so weite Reise zu Fuß zu vollbringen; denn man hatte keine Kamele noch sonstigen Reittiere bei ihnen gefunden.
Ihrer Kleidung nach schienen sie Leute des Kalifa zu sein, dessen Eroberungssucht auch sein Land bedrohte. Er sagte ihnen daher auf den Kopf zu:
»Ihr seid Kundschafter des Sultans Abdullahi und kamet auf Schleichpfaden, mein Land zu erkunden, damit er die besten Mittel und Wege finde, mich zu überfallen!«
»Herr!« erwiderte Sieger: »Wir waren Gefangene des Kalifa, und er bedrohte uns mit Verstümmelung und Tod. Wir haben gegen ihn gekämpft und ihm große Verluste beigebracht.«
»Ihr wenigen Leute?« fragte der Sultan ungläubig.
»Ja! Abdullahi verlangte, daß ich ihm Kanonen baue zur Vertilgung seiner Feinde. Ich habe die Geschütze hergestellt, aber auf seine Derwische gerichtet und sie niedergemäht wie Heuschrecken. Dann gelang es uns, zu fliehen. Allah führte uns diesen Weg. Wir wollen in deinem Lande nicht bleiben, sondern unsere Flucht fortsetzen, dem großen Tschadsee zu: die Häscher des Tyrannen sind uns auf der Spur, und erst vor kurzem sind wir ihnen mit Mühe entronnen.«
Die Anderen bezeugten das gleiche, doch das konnte ja Verabredung sein. Immerhin war der Fürst Menschenkenner genug, um den Eindruck zu bekommen, dies seien Männer, die keinen Lügnern und Betrügern glichen.
Er pflegte sich jedoch nicht auf Eindrücke, sondern auf Tatsachen zu verlassen und beschloß, die Verdächtigen vorerst in strenger Gefangenschaft zu halten.
Er ließ sie abführen, und sie wurden in eine luftige Negerhütte gebracht, die ihnen als Kerker dienen sollte.
»Gottlob! Ein Seier ist das nicht!« sagte Josef aufatmend, als er sich behaglich auf dem Erdboden niederließ.
Die Blockhütte wurde wohl bewacht, doch litten die Gefangenen keinen Mangel an Speise und Trank.
Der Sultan verhörte sie noch mehrmals einzeln und gewann immer mehr den Eindruck, daß er es mit vertrauenswürdigen Leuten zu tun habe; denn ihre Aussagen stimmten stets überein, auch da, wo er nach geringfügigen Nebenumständen fragte, über die sie sich unmöglich verabredet haben konnten. Besonderes Wohlgefallen gewann Dud Benga an Fatme und Osman.
Leider glaubten unsere Freunde, von ihren Flugzeugen schweigen zu müssen, und so blieb für den Sultan noch ein Rätsel übrig, nämlich auf welche Weise sie hierhergelangten, und deshalb wurde sein Verdacht nicht ganz beseitigt. Und endlich, wo blieben die Verfolger, von denen Sieger gesprochen hatte? Als jedoch diese eintrafen, war er geneigt, seine Zweifel schwinden zu lassen.
Emin Gegr war den Flüchtigen stets auf der Spur geblieben, und als er zehn Tage später den Gebel Marrah erreichte, erfuhr er die Gefangennahme von vier Spionen des Kalifen.
Um Eingang in das feindliche Gebiet zu erlangen, bestätigte er, daß es Kundschafter seien, und erklärte, er selber, als Gegner des Kalifa, sei ausgezogen, die Verräter unschädlich zu machen. Durch solche Lügen gelang es ihm, unbehelligt nach Niurnja zu gelangen.
Sultan Abdullahi wußte nicht, wem er Glauben schenken sollte. Auf der einen Seite versicherten seine Gefangenen, sie seien vom Kalifa in der Gefangenschaft gehalten worden, hätten ihn bekämpft und seien geflohen; auf der anderen schwuren Um Salama und seine Begleiter hoch und teuer, es seien Spione des Kalifen. »Sie haben für den Tyrannen Flugmaschinen erfunden,« fügte der Heuchler bei, »und auf diesen sind sie in dein Land gekommen, auszukundschaften.«
»Schaffe die Flugmaschinen bei, so will ich dir glauben,« erwiderte der Sultan, »und die Gefangenen sollen heute noch sterben.«
Emin Gegr erkundigte sich nach dem Ort, wo die Fremden gefunden worden waren. Man wies ihm ein abgelegenes Waldtal, und er begab sich allein dahin. Als Führer wollte ihm niemand dienen, wenn er bei Tag gehe. Emin sah nicht ein, warum er die Nacht abwarten solle und entfernte sich in der angegebenen Richtung. »Hüte dich vor den fliegenden Lanzenträgern,« riefen ihm die Eingeborenen höhnisch nach. Er glaubte, das sei eine spöttische Anspielung auf die Flugmaschinen, von denen er geredet hatte, und legte weiter keinen Wert auf die Warnung. Die langen Speichen, welche die Radreifen durchbohrten, konnten ja füglich als Lanzen angesehen werden und so den Lufträdern bei den Eingeborenen den Namen »fliegende Lanzenträger« aufgebracht haben.
Aber diese naheliegende Auslegung war ein verhängnisvoller Irrtum!
Sieger war bei der Vernehmung Emin Gegrs zugegen gewesen. Er sah jetzt ein, daß es ein Fehler gewesen war, von den Lufträdern zu schweigen, und daß diese Verheimlichung ihnen jetzt zum Schaden, voraussichtlich zum Verlust des Lebens gereichen werde.
Er wollte dem Sultan, dessen edlen Charakter er erkannt hatte, ein offenes Geständnis ablegen; aber merkwürdigerweise fragte ihn der Herrscher gar nicht, was er zu der letzten Behauptung seines Anklägers zu sagen habe, und als er unaufgefordert reden wollte, gebot ihm Dud Benga in strengem Tone Stillschweigen.
Die Worte: »Schaffe die Flugmaschinen bei, so will ich dir glauben,« hatte der Fürst allerdings in einem seltsamen, spöttischen Tone gesprochen. Doch der Ingenieur erklärte sich dies einfach so, daß er an das Vorhandensein solcher Zauberwerke nicht glaube.
Der Zusatz: »Und die Gefangenen sollen heute noch sterben!« enthielt das Todesurteil für den Fall, daß Geiger, gegen des Sultans Erwartungen, die Beweisstücke zur Stelle schaffen lassen könne.
Als Sieger wieder zu den Seinen zurückgebracht wurde und über Emins Eintreffen, seine Aussage und die Drohung des Herrschers berichtete, bemächtigte sich Aller eine gedrückte Stimmung. Sie konnten nicht daran zweifeln, daß der Schurke die Flugräder auffinden werde, da sie sich der Feuerstelle nahe befanden, und er gewiß deren nächste Umgebung aufs gründlichste durchforschen würde.
Herbeischaffen konnte er freilich keines der Räder, wenn er nicht eine Vorsicht übte, die einem Unkundigen nicht zuzutrauen war: mit den Steinen belastet waren sie zu schwer. Entfernte er aber den Ballast, so flogen sie davon, da schon seit einigen Tagen Tauwetter eingetreten war, und das Eis längst weggeschmolzen sein mußte.
Immerhin mußten alle Möglichkeiten dazu führen, daß Geigers Aussage ihre Bestätigung fand. Diese Möglichkeiten erörterte Helling mit folgenden Überlegungen: »Das Wahrscheinlichste scheint mir, daß Emin, der ein durchtriebener Schlaukopf ist, wenn er die Räder auffindet, woran leider nicht zu zweifeln ist, sie einfach stehen läßt, weil er sich sagt, daß sie ihm zu schwer seien. Dann aber kann er ihren genauen Standort angeben, und Dud Benga wird hinschicken, womöglich sich persönlich hinbegeben und so erfahren, daß Geigers Aussage in diesem Punkte, der zum ausschlaggebenden gemacht wurde, auf Wahrheit beruht.
»Oder aber unser Verfolger wird eines der Fahrzeuge entlasten, um den Versuch zu machen, es mitzunehmen. Hiebei wird er aus Unkenntnis vermutlich die nötige Vorsicht außer acht lassen, zuviel Ballast entfernen und plötzlich sehen müssen, wie das Rad sich in die Lüfte erhebt. Letzteres wird dann zweifellos von vielen Eingeborenen gesehen, die Zeugnis für den Gauner ablegen werden.
»Aber auch wenn dies nicht der Fall sein sollte, wird Emil durch den ersten Mißerfolg gewitzigt sein. Dann gibt es wieder zwei Möglichkeiten: er läßt die beiden anderen Fahrzeuge unberührt und berichtet dem Sultan, was geschehen ist und wo die zurückgebliebenen Maschinen stehen, was wiederum zu ihrer Entdeckung führen muß. Oder aber er entlastet ein zweites mit größerer Umsicht, bis er imstande ist, es mit Leichtigkeit in die Seriba zu befördern, ohne daß es ihm entschlüpfen kann, weil er genügend Ballast darauf ließ, um dies zu verhindern.
»Kurzum, welche Möglichkeit wir auch in Betracht ziehen, alle müssen zu unserem Unheil ausschlagen!«
Die Anderen wußten auch keinen Trost, als die Hoffnung, daß Gott, auf dessen Schutz sie vertrauten, auch in dieser äußersten Not Wege finden werde, sie vor dem drohenden Unheil zu retten.
Und dieses Gottvertrauen sollte sie nicht täuschen. Es gab noch eine Möglichkeit, die sie nicht in Erwägung ziehen konnten, weil sie auf ihnen völlig unbekannten Umständen beruhte. Dud Benga aber kannte sie und sah das Ende voraus.
Während unsere Freunde den Tod vor Augen sahen, war die Gefahr schon von ihnen abgewendet: Emin Gegr kehrte überhaupt nicht von seinem verräterischen Gang zurück!
Als es dunkel geworden, schickte der Sultan Leute mit Fackeln aus. Diese kehrten nach nicht langer Zeit zurück, eine schwere Last schleppend. Sie legten dieselbe zu Boden vor den Sultan, der die Boten vor seiner Seriba erwartet hatte. Abdullahi Dud Benga ließ seine Gefangenen sowie Salamas Begleiter herbeiholen. Ein grausiger Anblick wartete ihrer: da lag Emin Gegr, eine Leiche; aber nur das fehlende Auge und die Narbe machten ihn kenntlich, sonst war das Gesicht so schauerlich entstellt, daß es nichts Menschenähnliches mehr hatte. Der Kopf war zur Größe eines mächtigen Kürbisses angeschwollen, die Zunge quoll wie eine dicke Gurke aus dem Mund.
»Gott hat gerichtet!« sagte Sieger erschüttert. »Welch gräßlicher Unfall mag dieses entsetzliche Ende herbeigeführt haben?«
Auch die Schergen des Kalifa waren von Grauen gepackt worden, und der Sultan redete die Erstarrten an: »Ihr sehet, was nach Allahs Willen euren Führer betroffen hat: erkennet die Macht des Allmächtigen und redet die Wahrheit.«
Die geängsteten Leute, die sich das schauerliche Ende Emin Gegrs nur durch ein Wunder erklären konnten, fielen zitternd nieder und gestanden, daß sie vom Kalifa ausgesandt seien, die Flüchtlinge zurückzubringen. Sofort wurden sie in Ketten gelegt während unsere Freunde befreit wurden.
Sultan Abdullahi bot diesen seine Gastfreundschaft an, sie aber baten, gleich weiterreisen zu dürfen. Auch das Angebot von Kamelen verschmähten sie, indem sie offen eingestanden, darin habe Um Salama nicht gelogen, daß er sagte, sie besäßen Flugmaschinen.
Aufs höchste erstaunt und höchst ungläubig begleitete sie nun der Sultan selber mit seinen Leibwächtern zu der Stelle, wo die Flüchtlinge vor vierzehn Tagen gelandet waren.
Als sie durch den Wald schritten, kamen sie an einem hohen Baume vorbei, in dessen Innern sich ein eigentümliches Summen vernehmen ließ. »Da sind die giftigen Lanzenträger, die euren Feind erstochen haben,« sagte der Sultan. Er belehrte sie, daß es äußerst giftige und reizbare Bienen seien, deren Stiche tödlich wirkten, weshalb sich bei Tage niemand in ihre Nähe wage. Um den Honig zu holen, vertreibe man die Bienen nachts durch starken Rauch.
Dies erklärte unseren Freunden, warum während ihrer Gefangenschaft ihre Lufträder nicht entdeckt worden waren: die gefährliche Gegend wurde allgemein gemieden, und zu einer nächtlichen Streife war kein Grund vorgelegen.
Höchlichst erstaunt war der Sultan, als er die Luftschiffe erblickte. Er wollte mit eigenen Augen sehen, ob sie wirklich sich von der Erde erheben könnten, glauben konnte er es nicht.
So bestiegen denn unsere Freunde ihre Apparate, warfen die Steine herab, und erst langsam, dann immer schneller ging es empor. Sie riefen dem Sultan ihren Dank herab, und mit einem Geheul des Entsetzens und der Bewunderung begleiteten die Schwarzen das wunderbare Schauspiel: der Anblick mußte von unten aus gesehen großartig und zugleich unheimlich sein, da jeder der Luftschiffer eine Fackel mitgenommen hatte und die Fahrzeuge somit gespenstisch beleuchtet in die schwarze Finsternis emporstiegen.
Als die Luftschiffe ihre höchste Höhe erreicht hatten, gerieten sie in einen wahren Orkan, der sie mit rasender Geschwindigkeit fortriß. 120 bis 150 Kilometer wurden in der Stunde zurückgelegt; allein die Richtung war eine nordwestliche, wie Sieger durch Beobachtung der Sterne feststellte.
»Auf diese Art lassen wir den Tsadsee weit links und steuern gegen Algerien oder Marokko,« dachte er bedenklich, »das bedeutet eine Strecke von 3000 bis 4000 Kilometern, die auch bei Anhalten des Sturmes in gleicher Stärke an die dreißig Reisestunden erfordern dürfte. Ich fürchte sehr, wir werden in der Sahara stranden und dann gnade uns Gott! Jedenfalls aber überhebt uns der Sturm wieder des Pedaltretens, und wir werden unsere Kräfte für den äußersten Notfall sparen.«
Als es tagte, schwebten sie über einer endlosen Wüste, etwa 2000 Meter hoch über dem Erdboden, also in der Höhe der höchsten Gipfel des Gebel Marrah, von dem aus sie aufgestiegen waren. Der Orkan wehte in der Wüste ungeheure Sandwolken auf, die nichts von der Landschaft durchblicken ließen; seine Kraft nahm jedoch bald ab, und gegen Mittag trat völlige Windstille ein.
Nun galt es, die Pedale zu treten; doch konnte mit äußerster Anstrengung höchstens eine Geschwindigkeit von 30 Kilometern in der Stunde erreicht werden.
Sieger hoffte in den unteren Luftschichten etwas Wind zu finden; er gab den Gefährten das Zeichen, eine Klappe zu öffnen und tat desgleichen. Die Luftschiffe senkten sich um 1000 Meter, jedoch überall herrschte Windstille. Die Sonne brannte glühend; die Kräfte unserer Freunde erschöpften sich rasch, und als gegen Abend eine fruchtbare Landschaft zu ihren Füßen erschien, rief Sieger: »Hier ist unsere letzte Hoffnung! Wir müssen landen! Gebe Gott, daß wir keinen blutdürstigen Wilden in die Hände fallen!«
Diesen Ausruf konnten zwar die Anderen nicht hören, doch sahen sie seine nach unten stoßenden Arme, nachdem er ihnen das Zeichen zum Aufmerken gegeben hatte, das sie nachahmten, um ihm kund zu tun, sie hätten es gesehen. Da er diesmal zuletzt die Arme nach hinten streckte, begriffen sie, daß es sich um eine Landung handelte, die sie schon lange herbeisehnten, todmüde wie sie waren.
Wieder wurde so viel Gas ausgelassen, als erforderlich war, um ein sanftes Fallen zu bewerkstelligen, und wenige Minuten darauf versanken die Lufträder in über mannshohem Grase und berührten den Erdboden ohne empfindliche Erschütterung.
Bald waren unsere Freunde abgestiegen und hatten sich zusammengefunden.
»Unsere Luftreise findet hier ihr Ende!« sagte der Ingenieur »Unser Ballast ist erschöpft, und wir haben nicht mehr Gas genug in den Behältern, um einen Auftrieb zu ermöglichen. Wo wir uns befinden, können wir nur vermuten. Meiner Schätzung nach haben wir Borku und Tibesti schon hinter uns gelassen und dürften im Süden oder Südwesten von Tripoli sein, zwischen dem zehnten und fünfzehnten Längegrad und dem zwanzigsten und fünfundzwanzigsten Breitegrad.«
»Was fangen wir jetzt an?« fragte Osman.
»Beim Niedersteigen,« sagte Onkel Siegmund, »sah ich Kokospalmen und Bananen, die gar nicht fern von unserem Landungsplatz sein können, wenn auch das hohe Gras uns jetzt die Aussicht darauf verhüllt. Ich meine, wir lagern uns dort, stillen Hunger und Durst an den Früchten und halten dabei Kriegsrat.«
»Das ist ein vernünftiger Vorschlag,« pflichtete der Ingenieur bei: »Ich sah den Hain ebenfalls und habe mir die Richtung gemerkt.«
Josef nahm nun das Wort, indem er äußerte: »Wir sollten aber doch alles mitnehmen, was wir noch brauchen können, daß es uns nicht gestohlen wird, wenn wir es unbewacht auf den Rädern lassen.«
»Du hast recht!« sagte sein Herr: »Einen Diebstahl fürchte ich zwar weniger, obgleich auch ein solcher nicht ausgeschlossen wäre, da diese Oase kaum unbewohnt sein dürfte; immerhin könnte nur ein unwahrscheinlicher Zufall zur sofortigen Entdeckung unserer Räder in dem hohen Grase führen. Für alle Fälle aber ist es gut, wenn wir unsere Gewehre mit uns nehmen, und es ist kein Grund vorhanden, warum wir uns nicht auch gleich mit den geringen noch übrigen Vorräten an Patronen und Lebensmitteln belasten sollten: dann brauchen wir nicht mehr zu den Fahrzeugen zurückzukehren, die wir ja doch nicht mitnehmen können.«
»Es ist nur gut, daß wir uns auf eine Fußreise gefaßt gemacht haben,« meinte Fanny: »Jetzt können wir unsere starken Rucksäcke brauchen.«
Die Rucksäcke wurden von den Fahrrädern genommen und alles darin untergebracht, was mitnehmenswert sein konnte. Dann wurden die Taschen auf den Rücken geschnallt und die Büchsen umgehängt. Auch Fanny besaß eine solche und war schon eine ganz gewandte Schützin: sie hatte sich im Margayatale oft mit Osman im Scheibenschießen geübt, seit ihr Vater vom Kalifa sechs Gewehre zu Mustern erhalten hatte, von denen fünf mitgenommen worden waren. Sie tat es dabei ihrem Bruder ziemlich gleich.
Nach einem Marsch von wenigen Minuten traten die Wanderer aus dem hohen Grase und befanden sich gleich mitten unter Bananen und Kokospalmen. Sie pflückten sich die saftigen Früchte und lasen die milchreichen Nüsse auf. Dann lagerten sie sich im Schatten und hielten ein köstliches Mahl. Die frischen Bananen sind ebenso durstlöschend wie sättigend. Das gleiche gilt von den Kokosnüssen, nur daß hier der erquickende Milchsaft und der nahrhafte Kern gesondert auftreten.
»Wollen wir nicht hier bleiben und ein Schlaraffenleben führen?« fragte Fatme schelmisch, als sich alle die Ruhe und die köstliche Speise so recht schmecken ließen.
»Der Gedanke wäre nicht übel,« meinte Sieger, »vorausgesetzt, daß wir keine feindlich gesinnten Wilden hier träfen, die uns den Aufenthalt verwehren würden. Vielleicht könnte ich in dieser fruchtbaren Oase mein erträumtes Friedensreich verwirklichen.«
»Das wäre herrlich!« rief Osman begeistert.
»Das ist auch meine Meinung,« stimmte Onkel Siegmund bei: »Doch wir müssen mit der Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten rechnen. Ich bin dafür, daß wir noch morgen an diesem auserwählten Fleckchen Erde bleiben, um uns gründlich auszuruhen und herauszufüttern. Dann aber erforschen wir die Oase, um festzustellen, ob wir längere Zeit ohne Gefahr hier verweilen können. Ist dies der Fall, so lassen wir uns wenigstens für die nächsten Wochen oder Monate hier häuslich nieder. Sehen wir jedoch, daß unseres Bleibens hier nicht sein kann, so nehmen wir unsere Rucksäcke wieder auf und wandern weiter.«
»Aber wohin?« fragte Jussuf.
»Wenn wir aus irgendwelchen Gründen dieses Paradies verlassen müssen,« nahm nun Sieger das Wort, »so müssen wir uns nach Norden oder nach Nordwesten wenden, um nach Tripoli oder Algier zu gelangen. Nach Süden oder Westen zu wandern, wäre Torheit; denn da stünde uns eine endlose Reise bevor durch Wüsten und durch Länder, die von reißenden Tieren und grausamen Wilden bevölkert sind. Schon der Mangel an genügender Munition verbietet jeden Gedanken an ein solch tollkühnes Unternehmen.«
»Nach Osten zurückzukehren in das Reich des Kalifa, fällt uns am allerwenigsten ein,« sagte Helling: »Also bleibt nur eine mehr oder weniger ausgesprochene nördliche Richtung übrig. Somit hast du wieder einmal recht.«
»Ja, aber ...,« begann der Ingenieur wieder: »Denn ein großes Aber erhebt sich auch hier: ich fürchte, daß wir auch dort auf so ausgedehnte Wüstenflächen stoßen, daß wir keine Aussicht haben, lebend hindurchzugelangen, vollends zu Fuß. Das steht nämlich leider fest, daß die schreckliche Sahara uns von den Küstenländern trennt.«
»Das sind freilich unangenehme Aussichten,« brummte Onkel Siegmund: »Vorerst aber sind wir noch geborgen und leben in Hülle und Fülle. Morgen können wir weiter beraten. Für heute gedenke ich, mich schlafen zu legen, denn die Nacht bricht herein, und ich fühle mich ordentlich schläfrig.«
Letzteres war allgemein der Fall und so schlug Sieger den Rückzug ins hohe Gras vor, wo sich's am sichersten schlafen lasse. Dieser Rat wurde befolgt, und bald lagen Alle tief versteckt im schönsten Schlummer.
Am anderen Morgen wurde ein naher Bach ausgesucht, der eine gar zu lang entbehrte gründliche Waschung ermöglichte. Dann wurde wieder ein üppiges Frühstück von Kokosnüssen und Bananen eingenommen.
Diesmal aber sollten unsere Freunde sich keinem ungestörten Genusse hingeben können.
Ohne daß sie es bemerkt hatten, waren sie von einem Neger aus der Ferne beobachtet worden. Dieser war fortgeeilt und hatte mit seiner Kunde das ganze nahe Dorf in Aufruhr gebracht.
Ein Mark und Bein durchdringendes Geheul schreckte die arglos Lagernden empor, und sie erblickten eine Schar speerschwingender schwarzer Gestalten, die anscheinend gewillt waren, nach ihrer Art, ohne Verhör noch Urteil, die unberufenen Gäste ins Jenseits zu befördern.
»Wir müssen schießen,« erklärte Helling.
»Leider bleibt uns nichts anderes übrig,« gab Sieger zu: »Allein ich bitte euch, schont das Leben dieser Unwissenden, solange die Notwehr nichts anderes gebietet. Es ist anzunehmen, daß in diesen noch nie erforschten Gegenden die Schußwaffen noch nicht bekannt sind, und daher einige Schreckschüsse genügen, unseren Angreifern eine heilsame Furcht einzujagen.«
Fünf Schüsse krachten und das Wutgebrüll der Wilden verwandelte sich in ein Gewinsel des Entsetzens.
Der Ingenieur hatte dem Häuptling seinen stolzen Kopfputz vom Haupte geschossen: bei seiner Treffsicherheit konnte er sich das leisten. Drei Kugeln waren, der Verabredung gemäß, vorbeigesaust. Nur Josef hatte, ohne es zu wollen, einen der Neger in die Schulter getroffen.
In einem Augenblick war die ganze Bande verschwunden, gescheucht von abergläubischer Angst.
»Hier bleiben können wir unter keinen Umständen,« erklärte nun Sieger: »Ist das erste Grauen dieser Naturkinder überwunden, so wird der Groll und das Verlangen nach Rache die Oberhand gewinnen, und sie werden uns hartnäckiger angreifen als dies erstemal. Sie werden vorsichtiger sein und uns umzingeln oder die Nacht zu ihrem Überfall wählen. Eine Wache wird uns da nicht viel nützen: wir sind zu wenige und sie zu viele.«
»Es ist wahr,« meinte Helling: »Jedenfalls sind wir hier unseres Lebens keine Stunde mehr sicher, und es dürfte das Gebotene sein, sofort aufzubrechen.«
»Nehmen wir so viel Kokosnüsse und Bananen mit, als wir tragen können,« schlug Osman vor.
Dieser Rat wurde einstimmig gutgeheißen und ungesäumt befolgt: es ging ja zweifellos in die Wüste hinaus.
Als alle ihre Rucksäcke gefüllt hatten, wurde der Marsch nach Norden angetreten.
Die Oase erwies sich als wenig ausgedehnt, wenigstens in dieser Richtung: schon nach einer halben Stunde gähnte unseren Freunden die trostlose, sonnendurchglühte Sandwüste entgegen, durchzogen von kahlen Dünen, die ihre Endlosigkeit verschleierten.
Es wurde rüstig fortgewandert, solange die Kräfte in der ausdörrenden Hitze ausreichten.
»Wir müssen gleich von Anfang an unsere Vorräte ängstlich zu Rate halten,« mahnte der Ingenieur: »Hunger und Durst müssen wir ertragen, solange es uns irgend möglich ist, und uns dann mit karger Erquickung begnügen. Denn wir können nicht wissen, wie lange es währt, bis wir Wasser finden, und so beruht die Hoffnung auf Erhaltung unseres Lebens darauf, daß unsere knappen Vorräte möglichst lange vorhalten.«
Mit wahrem Heldenmut wurde dieser Weisung gefolgt. Die bald genug ausgedörrten Bananen und die durststillenden Kokosnüsse wurden nur in solch geringen Mengen und in so großen Zwischenräumen genossen, daß sie gerade genügten, um das Leben und die notdürftigste Kraft zum Weitermarsch zu erhalten.
Gewandert wurde vom Abend bis in den Morgen hinein. In der Tageshitze wurde geruht, da sonst der Durst das nötige Sparen der Vorräte unmöglich gemacht hätte.
So reichten diese fünf Tage aus, fünf Tage voll unsäglicher Qualen in Gluthitze, Durst und Hunger. Aber keines klagte, keines murrte, nur darauf bedacht, der Anderen Mut nicht zu schwächen.
Die sechste Nachtwanderung mußte mit trockener Kehle und leerem Magen vollbracht werden.
Grell stieg die Sonne empor und schien die Erschöpften verbrennen zu wollen. Von der Höhe der Sanddünen bot sich stets die gleiche trostlose Aussicht auf Sand und wieder Sand oder da und dort auch auf kahle, glühende Felsen.
Dieser schreckliche Tag brachte unsere Freunde an den Rand des Verschmachtens. Sie lagen halb ohnmächtig umher, nur selten in fieberhaften Schlummer verfallend, der ihre versagenden Kräfte nicht mehr auffrischen konnte.
In der Nachtkühle wurde noch ein letztesmal versucht, weiterzukommen. Es war aber kein Wandern mehr, nur noch ein mühsames Vorwärtsschleichen, unterbrochen von immer längeren Rastpausen.
Noch vor Tagesanbruch sank Fanny zu Boden und hauchte: »Laßt mich hier sterben! Ich kann nicht mehr!«
Natürlich hätte keiner sie verlassen. Aber alle waren sowieso am Ende ihrer Kräfte, außer etwa Osman, der vielleicht noch eine Stunde oder zwei hätte aushalten können.
»Es ist aus mit uns!« sagte Sieger hoffnungslos: »Nur ein wirkliches Wunder kann uns noch retten.«
Auch Helling und Jussuf hatten die letzte Hoffnung verloren. Wer mochte noch kraftlos und verschmachtend in dieser endlosen Einöde auf Rettung hoffen? Sie konnten nur noch beten um ein unmöglich scheinendes Wunder oder um einen seligen, wenn auch qualvollen Tod.
Als die Sonne blutig auftauchte, erkletterte Osman noch mühsam eine Sanddüne, um festzustellen, daß in der weiten Ferne nirgends ringsum etwas anderes zu sehen war als die erbarmungslose Wüste.
Stumm schlich er wieder herab und legte sich. Den Anderen allen schienen gleich Fanny die Sinne geschwunden. Sie würden wohl nicht mehr zum Bewußtsein kommen und fanden dann ein gnädiges Ende.
Der Jüngling verlor zwar das Bewußtsein nicht ganz, lag aber in einem Dämmerzustand, der kein klares Denken mehr aufkommen ließ.
Zum erstenmal in seinem an Schrecken und Lebensgefahren so reichen jungen Leben empfand er, was es heißt, alle Hoffnung verloren zu haben.
In der Normandie wuchs ein junger Mann auf, der frühe selbständig wurde, da seine Eltern bald starben und ihm ein unermeßliches Vermögen hinterließen, das sich täglich mehrte, weil es ihm unmöglich war, auch nur die Zinsen zu verbrauchen.
Er war jedenfalls ein Abkömmling der alten Normannen, also deutschen Blutes, wie seine blauen Augen und sein blonder Lockenkopf bezeugten, nicht minder seine hochherzige Gemütsart. Auch der alte Normannenstolz beseelte ihn, der Ehrgeiz und die Eroberungslust, die diesen Stamm über die Meere trieb und befähigte, blühende und mächtige Reiche zu gründen, zunächst an Frankreichs Nordküste, dann in England und Sizilien.
Dieser Jüngling nannte sich Jakob, auf Französisch »Jacques«, das »Jack« ausgesprochen wird, wobei das J wie ein weiches Sch lautet, gleich dem G in »Genie« oder dem zweiten g in »Gage«. Der Einfachheit halber wollen wir ihn daher »Jack« nennen.
Ist es verwunderlich, daß die ungeheuren Geldmittel, über die er verfügte, ihm zu Kopfe stiegen? Er wollte sie dazu gebrauchen, seine hochfliegenden und zugleich weltbeglückenden Pläne auszuführen. Sie gestatteten ihm, wie ein König aufzutreten; aber sein Ehrgeiz trachtete nach einer wirklichen Königskrone und einem großen Königreich. Wie seine tapferen Vorfahren wollte er sich ein solches erobern.
Derartige Träume eines jugendlichen Kopfes mochten noch vor tausend Jahren ausführbar und deshalb auch mit klarem Denken vereinbar sein. Aber in unseren Tagen, da die Welt schon vergeben ist, erscheinen sie schon als krankhafter Größenwahn. Trotzdem konnte noch vor hundert Jahren ein Napoleon, ein Jüngling aus niederem Stande und ohne Geldmittel, einen solchen Traum verwirklichen, eine Kaiserkrone erringen und seine Herrschaft über fast ganz Europa ausdehnen. Allein das war eine Ausnahme, und Bonaparte war ein kriegerischer Geist, ein hervorragender Heerführer, der frühe über eine bedeutende Heeresmacht zu verfügen hatte.
Jack war keine Feldherrnnatur, obwohl er sich auch getraute, ein Heer zu befehligen. So phantastisch seine Wünsche den nüchterner denkenden Zeitgenossen erscheinen mochten, so war er doch verständig genug, nicht das Unerreichbare zu erstreben, sondern sich an das zu halten, was die Möglichkeit des Erfolgs verhieß.
Große Armeen konnte er nicht besolden, und wer hätte ihm in Europa gestattet, solche auf eigene Faust anzuwerben, wie es im Dreißigjährigen Kriege noch ein Wallenstein vermochte, der weit nicht so reich war wie er? In den Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht war auch nicht mehr daran zu denken, ein Söldnerheer aufzutreiben, das den stehenden Heeren hätte Trotz bieten können.
Anders lag die Sache in Afrika: da konnten noch mit geringer Truppenmacht Negerreiche erobert werden. Leider aber war in neuester Zeit auch der Schwarze Erdteil in der Hauptsache unter die europäischen Mächte verteilt.
Der Sudan war ja wieder zu erobern, seit der Aufstand des Mahdi ihn der ägyptischen Herrschaft entrissen hatte. Allein auf ihn hatte England längst die Augen geworfen und hätte es nie geduldet, daß ein einfacher Privatmann ihn für sich gewinne. Und um dieses ausgedehnte Gebiet den kriegerischen Derwischen wieder zu entreißen, hätte es blutiger Kämpfe und bedeutender, wohlgeschulter Heere bedurft.
Damit wollte Jack nichts zu tun haben; er warf vielmehr seine Blicke auf die Sahara. Hier waren freilich trostlose Wüsten, die schier endlose Flächen einnahmen. Aber eben deswegen war auch dieses verrufene Land wenig begehrt. Die Wüsten umfaßten andererseits zahlreiche Oasen von ungemeiner Fruchtbarkeit und oft ansehnlichem Umfang. Dabei hoffte Jack mit Hilfe seiner Reichtümer weite Länderstrecken in ertragreichen Boden umwandeln zu können, da es erfahrungsgemäß gelingt, durch Erbohrung von Quellen, die mittels der Wünschelrute entdeckt werden, neue blühende Oasen im toten Sandmeer hervorzuzaubern. Und die schon vorhandenen Oasen lassen sich immer weiter ausdehnen durch Bewässerungsanlagen, die ihre Wasserquellen in die umgebende Einöde weiterleiten.
Abgesehen von alledem, bot das Gebiet, das unter dem Namen der »Wüste Sahara« zusammengefaßt wird, noch außerordentlich reiche Gelegenheit zu neuen Entdeckungen: da war noch so viel unerforscht, daß Hoffnung bestand, Länder genug zu finden, die nichts weniger als eine Wüste waren. Daß es dort solche gab, stand sogar schon vielfach fest.
Aus eigener Machtvollkommenheit nahm der reiche Normanne daher die ganze Sahara für sich in Anspruch, unbekümmert um die Rechte Frankreichs, das sich ja um das Wüstengebiet wenig kümmerte.
Er legte sich fortan den stolzen Titel bei: »Jack I., Kaiser der Sahara.«
Mit Recht glaubte er, sich Kaiser nennen zu dürfen, da viele Königreiche ihm untertan waren.
In der Tat hatte er schon mehrere Negerfürsten, teils mit Waffengewalt, teils durch Überredung und reiche Geschenke, dazu gebracht, seine Oberhoheit anzuerkennen, und gab sich redliche Mühe, die ihm unterworfenen Völker sittlich zu heben, sie zu zivilisieren und ihnen alle Segnungen einer höheren Kultur zu bringen. Seine Freigebigkeit und warmherzige Fürsorge befestigten seine Herrschaft, da die Neger bald einsahen, welche Vorteile und Annehmlichkeiten sie ihnen brachte.
Mit Karawanen, wie sie die Wüste nie gesehen hatte, bereiste der Kaiser der Sahara sein Reich, teils um seine Vasallenkönige zu besuchen, ihnen Ratschläge und Befehle zu erteilen und neue Hilfsmittel und Schätze zuzuführen, teils um noch unerforschte Gegenden zu erkunden und weitere Länder unter seine Botmäßigkeit zu bringen.
Er pflegte Hunderte von Kamelen mit sich zu führen, zählte doch sein wohlbewaffnetes »Heer« allein über hundert Mann. Es bestand aus kühnen Abenteurern aller Länder, die Jack jedoch sorgfältig ausgewählt hatte: Gauner, Feiglinge und gewissenlose, grausame Buben konnte er nicht brauchen und duldete sie nicht. Mehrere besonders tapfere Neger und Beduinen vervollständigten seine Truppe. Er führte stets einige Kanonen mit sich, um besonders wilde und unzugängliche Stämme rasch zur Unterwerfung zu bringen. Das Zusammenschießen einer Hauptstadt wirkte meistens Wunder, selbst bei den blutgierigsten Menschenfressern, und man kam dabei zum Ziele mit weit weniger Blutvergießen, als wenn man eine Schlacht geliefert hätte.
Die zahlreichen übrigen Kamele trugen vor allem Lebensmittel und Wasserschläuche in solcher Menge, daß die vielen Menschen nie Mangel litten, auch wenn sie längere Zeit durch wasserlose Steppen zu reisen hatten.
Endlich führte Jack I. Geschenke und Hilfsmittel für seine Untertanen, sowie zur Gewinnung noch ununterworfener Stämme mit sich.
Der Kaiser der Sahara pflegte an der Spitze seiner schier endlosen Karawane zu reiten. Sein Dromedar zeichnete sich durch besondere Schönheit und Schnellfüßigkeit aus. Es war mit reichen, goldgestickten Teppichen behängen und hob das Haupt so stolz, als sei es sich der Ehre voll bewußt, deren es gewürdigt war.
Jack selber war so prächtig gekleidet, wie es sich für einen Kaiser ziemte: sein schneeweißes Obergewand wurde durch einen goldenen, mit funkelnden Edelsteinen besetzten Gürtel gehalten. Seine ebenfalls weißen, weiten Beinkleider waren mit silbernen Fransen besetzt. Sein breitkrempiger, mit wallenden bunten Federn geschmückter Hut trug statt des Bandes einen blitzenden Goldreif. Ein krummer Säbel in reichverzierter Scheide und ein ebenso kostbares Gewehr verliehen ihm ein kriegerisches Aussehen. Um die Schultern wehte ihm ein leuchtender Purpurmantel, der nur bis zum Gürtel reichte, um ihn nicht zu behindern.
Hinter ihm ritt seine prächtig gekleidete Leibwache in verschiedenfarbigen Gewändern. Dann kamen die Trompeter und Flötenbläser, die Regimentsmusik.
Bunte Fahnen und Wimpel wehten an verschiedenen Stellen des langen Zuges und trugen viel dazu bei, das Malerische des ganzen Bildes zu erhöhen: so zog blühendes, farbenstrahlendes Leben durch den todesgrauen Sand!
Stumm bewegte sich diese gefleckte Riesenschlange in der Sonnenglut dahin. Jetzt schlängelte sie sich zwischen hohen Dünen hindurch, jetzt wieder kletterte sie an einer Felsterrasse empor, die ihr den Weg verlegte.
Soeben hatte die Vorhut eine solche kahle Höhe erreicht, als der Kaiser der Sahara plötzlich stutzte und sein edles Tier anhielt. Schritt für Schritt pflanzte sich diese Bewegung durch den ganzen Zug fort, die Bewegung des Anhaltens und Stillstehens.
Jack I. aber wandte sich an seinen Feldmarschall, der auf einen Wink an seine Seite ritt, und fragte: »Fiel da nicht ein Schuß?«
»Mir schien es auch so, Majestät. Allein ich hielt es für eine Täuschung: wir reiten durch eine unbewohnte und völlig unerforschte Wüste. Feuerwaffen sind hier unbekannt, wir sind die ersten, die solche dieser staunenden Einöde zu Gesichte bringen.«
»Und doch!« rief der Kaiser: »Da fiel ja soeben ein zweiter: das war zweifellos der Knall einer Büchse!«
»In der Tat!« bestätigte der Feldmarschall und sah gleich seinem Gebieter in der Richtung nach Südwesten, woher der rätselhafte Laut gekommen war.
»Dort fern am Horizont schwenkt jemand ein weißes Tuch!« sagte der Kaiser, der seinen Feldstecher zu Hilfe genommen hatte: »Ein Mensch ist in Not oder gar mehrere. Wir reiten dorthin, die Pflicht der Menschlichkeit gebietet es. Überdies ist es kaum ein Umweg für uns, da wir fortan sowieso etwas südlicher halten müssen.«
Damit setzte er sein Kamel wieder in Bewegung und trieb es zu rascherer Gangart an.
Ihm folgten seine Leibwächter, ebenfalls im Trab, und ihnen nach die Soldaten. Die Lastkamele konnten ihren Schritt nicht wesentlich beschleunigen und blieben immer weiter zurück.
Wie tot lag Sieger mit den Seinen im brennenden Sande. Von Zeit zu Zeit öffnete er mühsam die Augen und warf einen Blick auf die andern. Schliefen sie, waren sie tot oder lagen sie im Sterben? Er konnte sich keine Antwort auf diese Fragen geben und war nicht imstande, sich zu erheben, um festzustellen, ob noch Leben in ihnen sei. Was hätte es auch genützt? Einen Trost konnte es ihm nicht bringen, zu erfahren, daß sie den Qualen des Durstes noch nicht erlegen seien: zu retten waren sie ja doch nicht mehr, so wenig wie er selber, wenn sie auch Alle die kommende Nacht noch einmal überleben sollten, was er nicht glaubte.
Zum Weiterwandern waren sie zu schwach. Ja, wenn es sich noch um einen Weg von einer Stunde oder zweien gehandelt hätte, mit der sicheren Aussicht, Wasser zu finden, dann hätten sie vielleicht noch in der Nacht, von der Hoffnung belebt, so weit kriechen können, vorausgesetzt, daß sie bis Sonnenuntergang noch am Leben blieben. Aber im Umkreis von zehn Stunden rüstigen Marschierens war ja kein Anzeichen zu sehen gewesen, daß ein Quell, ein Brunnen oder Tümpel zu finden sei.
Schnell schloß er die müden Augen wieder: der flimmernde Sonnenschein war ihm unerträglich.
Gegen Mittag erwachte Osman noch einmal. Auch ihm wurde es schwer, die Augen zu öffnen und dann hätte er sie am liebsten gleich wieder geschlossen, um weiter hinzudämmern und bald zu sterben. Aber er nahm alle seine Willenskraft zusammen, um völlig aufzuwachen: er wollte noch einmal die Sanddüne ersteigen um eine letzte Ausschau zu halten.
Schwerfällig kroch er zu seinem Vater und griff nach dessen Fernrohr. Dann mühte er sich auf allen Vieren die wenigen Meter auf den Hügel hinauf. Oben blieb er liegen: die Anstrengung hatte ihn so erschöpft, daß er sich unfähig fühlte, sich zu erheben.
Nach einigen Minuten wiederholte er den Versuch und mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, auf die Beine zu kommen, doch schwankte er wie ein Trunkener, zitternd an allen Gliedern.
Langsam drehte er sich im Kreise auf derselben Stelle: überall der gleiche, hoffnungslose Ausblick!
Er setzte das Glas an und stellte es auf den Horizont ein. Das kostete Mühe, da er es nicht unbeweglich zu halten vermochte. Ebenso schwierig war es, den Horizont abzusuchen, ohne das Rohr auch nur eine Sekunde lang in Ruhe bringen zu können.
Doch, was war das dort im Nordosten? Hatte er nicht geglaubt, einen Farbenschimmer blitzartig im schwankenden Glase auftauchen zu sehen, um gleich wieder zu verschwinden? Farben im eintönigen Grau der Wüste!
Es mußte natürlich Täuschung sein, oder irgend etwas durchaus Gleichgültiges: buntes Gestein oder dergleichen. Doch schien die flüchtige Beobachtung so merkwürdig, daß sie die Nerven des Jünglings plötzlich spannte, und es ihm nun wirklich gelang, den Feldstecher eine Weile ruhig zu halten.
Was er nun erblickte, konnte unmöglich Wirklichkeit sein: es erschien ihm wie ein Märchen aus Tausend-und-Einer-Nacht: eine endlose Karawane, hier auftauchend, dort hinter Dünen verschwindend, ein Zug von Kamelen und Reitern, leuchtend in bunten Farben und mit wehenden Fahnen! Das heißt, das Wehen war nur eine Redensart, denn die Wimpel hingen schlaff in der regungslosen Luft. Aber das war ja belanglos: da war der Märchenzug, ja, er war deutlich sichtbar, und er bewegte sich, wenn auch kaum merklich bei der großen Entfernung!
Ein Traum konnte es nicht sein: die furchtbaren Qualen des Durstes, das Stechen der sengenden Sonnenstrahlen waren nur allzu wache Wirklichkeit. Aber eine Fata Morgana mußte es sein, eine Luftspiegelung, wie sie schon so manchen verschmachtenden Wüstenpilger narrte. Allerdings pflegen solche täuschende Erscheinungen alles auf den Kopf zu stellen; allein Osman wußte, daß ihre Bilder zuweilen auch aufrecht zu sehen sind, wenn eine doppelte Brechung stattfindet.
Das war die einzige natürliche Erklärung, die kaum einen Zweifel duldete, das heißt in diesem Falle, keine Hoffnung aufkommen ließ.
Aber konnte es nicht auch ein göttliches Wunder sein, eine Gebetserhörung? Ach! Der Vater hatte gesagt, diese Wüste sei noch ganz unerforschtes Gebiet, fern von allen Karawanenstraßen. Und tagelang waren sie gewandert, und hatten es bestätigt gefunden: keine der Spuren, die jede Karawanenstraße bezeichnen, keine Kamelslosung, kein verlorener oder weggeworfener Gegenstand, keine bleichenden Gebeine hatten sich gezeigt. Und da solche Spuren wochen-, ja monatelang unverwischt den Weg einer Karawane verraten, war es nur zu gewiß, daß kein Mensch diese Einöden zu durchziehen pflegte.
Und doch! War denn keine Ausnahme möglich, wenn Gottes Fügung es so wollte? Oder konnte nicht dort im Norden, wohin sie noch nicht gelangt waren, eine unbekannte Karawanenstraße vorüberführen?
So stritten sich Zweifel und Hoffnung in des Jünglings Gedanken. Doch so viel war ihm gewiß, er mußte alles tun, was getan werden konnte, um sich bemerklich zu machen, für den Fall, daß tatsächlich Menschen dort unterwegs waren.
So riß er seinen weißen Turban vom Kopfe und schwenkte ihn in der Luft.
Vergebliches Bemühen! Ohne Fernglas konnte wohl niemand dieses Zeichen auf solche Entfernung gewahren, und wer würde ganz zufällig und zwecklos mit dem Feldstecher gerade diesen winzigen Punkt in der Unendlichkeit beobachten?
Aber der Knall einer Büchse konnte in der Lautlosigkeit dieser Einöden auf weite Entfernungen hin gehört werden.
»Ach! Hätte ich mein Gewehr zur Hand!« seufzte Osman.
Es half nichts! Er mußte es holen, ob er gleich keinen Schritt mehr gehen konnte. So warf er sich zu Boden und ließ sich den sandigen Abhang hinabrollen. Er erreichte seine Flinte, die geladen war wie immer, und feuerte sie liegend in die Luft ab. Weil er sich jedoch sagte, daß der Schuß weiter hallen müsse, wenn er von der Höhe der Dünen abgegeben werde, in der Richtung auf die rätselhafte Erscheinung zu, schob er sich noch einmal krampfhaft hinauf und gab halb aufgerichtet einen zweiten Schuß gegen Nordosten ab. Dann sank er wieder zurück.
Der erste Schuß, der in ihrer nächsten Nähe gefallen war, hatte die Bewußtlosen und Halbohnmächtigen in der Sandmulde wieder zur Besinnung gebracht. Nur Fatme blieb regungslos liegen.
Siegers sah seinen Sohn an der Düne hinaufkriechen und droben sein Gewehr zum zweitenmal abschießen.
»Was tust du, Osman?« fragte er mit schwacher Stimme.
»Notzeichen abgeben!« scholl es ebenso schwach herab.
Der Vater lächelte schmerzlich: die Leiden mußten seinem Sohne die klare Denkfähigkeit geraubt haben, sonst wäre er nicht auf etwas so Aussichtsloses verfallen.
Onkel Siegmund richtete sich auf: er hatte wirklich geschlafen und war wieder etwas beweglich, so zerschlagen er sich auch fühlte. Er traute Osman auch jetzt keine vernunftwidrige Handlung zu, und rief hinauf:
»Hast du etwas gesehen?«
»Ja! Eine Riesenkarawane oder eine Luftspiegelung.«
»Eher das letztere!« seufzte Helling. Doch erhob er sich und schritt zu Johannes hinauf, der nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen.
Der Leutnant griff nach dem Feldstecher und spähte in der Richtung aus, die der Jüngling ihm angab.
»Gott sei gelobt!« rief er: »Es ist tatsächlich eine Karawane: der vorderste Reiter schaut mit dem Fernrohr herüber: er muß die Schüsse vernommen haben. Jetzt gilt es, sich bemerklich zu machen!«
Rasch bückte er sich zur Erde, legte das Glas nieder und nahm dafür Osmans Gewehr und seinen daneben liegenden Turban auf, welch letzteren er schnell am Büchsenlauf festband. Dann schwenkte er die Flinte hoch in der Luft, so daß der lange weiße Tuchstreifen gleich einer Fahne flatterte.
So zuversichtlich er gesprochen hatte, so war doch auch ihm der wahrhaft märchenhafte Anblick so unwahrscheinlich erschienen, daß er insgeheim noch stark im Zweifel war, ob es sich nicht dennoch um eine Fata Morgana handle.
Mit dem bloßen Auge konnte man auf die weite Entfernung hin nicht erkennen, welche Richtung die kleinen dunklen Punkte, die sich gegen den Horizont abhoben, einschlugen. Wer nicht wußte, daß sie dort vorhanden waren, hätte sie überhaupt nie entdeckt.
Helling nahm daher bald wieder das Glas auf.
»Sie machen eine Wendung!« rief er gleich darauf entzückt: »Sie kommen auf uns zu. Nun kommt es darauf an, daß sie die rechte Richtung nicht verlieren.«
»Er bohrte den Schaft des Gewehres fest in den Sand ein, denn es fehlte ihm die Kraft, es länger zu schwenken. Hing jetzt auch die Notfahne schlaff hernieder, so zeigte ihr leuchtendes Weiß den Nahenden doch ihr Ziel.
Neu erwachte Hoffnung wirkt Wunder bei Verzweifelten, auch noch dann, wenn das Leben schon am Erlöschen scheint.
Osman vermochte allmählich, sich wieder zu erheben, Sieger und Jussuf fühlten auch die Rückkehr eines Schimmers von Kraft. Sie bemühten sich um Fanny, deren Schläfen sie mit heißem Sande rieben, da sonst nichts zur Hand war.
Lange Zeit fürchteten sie, das Mädchen sei nicht mehr ins Leben zurückzurufen. Endlich tat ihnen ein kaum gehauchter Seufzer kund, daß ihre Anstrengungen von Erfolg gekrönt wurden: Fatme schlug die Augen auf und flüsterte: »Wo bin ich?« Das ist ja fast ausnahmslos die erste Frage eines Jeden, der aus langer Ohnmacht erwacht.
Sie wartete keine Antwort ab und hauchte: »Wasser, Wasser!«
»Geduld, mein Kind!« erwiderte Sieger: »Die Rettung naht: man bringt uns Wasser, es wird bald da sein.«
Es war aber noch eine harte Geduldsprobe für Alle: denn volle fünf Stunden währte es, bis der Kaiser der Sahara mit seinem Gefolge zur Stelle war. Seine Soldaten hatten auf seinen Befehl einige Schläuche mit Wasser auf ihre Reittiere geladen, denn er hatte sich wohl denken können, daß die Notzeichen von Verdurstenden herrührten.
Nun wurden die Schmachtenden gelabt und empfanden alle zum erstenmal, welche Herrlichkeit in dem Wort »Lebenswasser« sich birgt. Denn Leben durchströmte sie mit dem Trank, wonniges Leben! Und bei jedem Zuge wichen die Schatten eines qualvollen Todes weiter zurück.
Sie waren nicht imstande, irgendwelche Auskunft zu geben, das sah Jack I. gleich ein. Es waren ja auch schließlich keine Erklärungen nötig.
Die Sonne versank und es dunkelte. Die Geretteten verfielen alle in Schlaf, sobald sie ihr Dürsten gestillt hatten.
Der Kaiser der Sahara und seine Leute verzehrten die Vorräte, die sie bei sich hatten und legten sich dann ebenfalls zur Ruhe nieder.
Die Karawane mit den Lasttieren mußte auch lagern, als es dunkel wurde, weil sie sonst leicht von der Richtung abgekommen wäre. Sobald es tagte, brach sie auf und erreichte nach drei Stunden den Lagerplatz ihres Herren.
Nun konnte ein üppiges Frühmahl bereitet werden, das besonders unsere Freunde wieder zu Kräften brachte.
Jack I. erklärte jedoch, daß sie sich heute erst gründlich erholen müßten, ehe sie an eine Weiterreise denken könnten. Er wollte mit wenigen Leuten bei ihnen bleiben, während die große Karawane langsam vorauszog. Morgen würde man sie bald einholen.
Da in einer langen Wüstenreise ganze Lasten an Mundvorräten verzehrt und zahlreiche Wasserschläuche geleert worden waren, ließen sich leicht fünf Kamele zum Reiten für die Geretteten frei machen. Auch einige weitere Tiere mit Wasser und Lebensmitteln mäßig beladen, blieben zurück. Mit ihnen konnte man morgen eine viel raschere Gangart anschlagen, als es der voranziehenden Karawane möglich war.
Höchstes Erstaunen erfüllte unsere Freunde, als ihr edelmütiger Retter sich ihnen nicht ohne Stolz vorstellte als Jack I., Kaiser der Sahara.
Er gab ihnen bereitwillig die nötigen Auskünfte über seine Person, sein Werk, seine Pläne und bisherigen Erfolge.
Dann mußten sie ihm ihre Schicksale ausführlich berichten, denn der Rasttag gewährte hiezu Zeit genug.
Mit großem Interesse und sichtlicher Teilnahme lauschte der Kaiser der Schilderung ihrer Leiden in Omderman, ihrer mehrfach mißglückten Fluchtversuche und ihres schließlichen Entkommens auf den von Sieger erfundenen Lufträdern. Zuletzt kam noch die Erzählung der Qualen ihrer Fußwanderung durch eine endlose Wüste, in der sie den Tod gefunden hätten, wenn ihnen Gott nicht in wahrhaft wunderbarer Weise den hochherzigen Retter gesandt hätte, dem sie nicht genug zu danken wußten.
»Solche Männer, wie ihr seid, könnte ich gerade brauchen,« sagte Jack I., nachdem er alles vernommen: »Gedenkt ihr nach Europa zurückzukehren oder wäret ihr bereit, in meine Dienste zu treten? Ich würde euch fürstlich besolden.«
Sieger antwortete offen: »Mich zieht eigentlich nichts nach Europa zurück. Ich lebe schon lange in Afrika, wo ich freilich in den letzten Jahren auch viel erlitten habe. Verwandte und Freunde habe ich in Deutschland keine, die mich vermissen würden und nach denen ich mich zurücksehnte. Ich würde daher das Anerbieten annehmen, wenn ich wüßte, was von mir verlangt wird, und daß ich eine Tätigkeit angewiesen bekäme, die mich befriedigen könnte. Meine Kinder sind in Afrika geboren, es ist ihre Heimat, sie werden auch nichts dagegen haben, hier zu bleiben, vorausgesetzt, daß sie nicht von mir getrennt würden, was auch meine erste Bedingung ist.«
»Wir bleiben natürlich bei unserm Vater!« versicherten Osman und Fatme gleichzeitig.
»Und ich fühle mich nur wohl bei meinem gnädigen Herrn!« erklärte Jussuf.
»Das ist das beste Zeugnis für den Herrn, wie für den Diener!« sagte der Kaiser wohlgefällig: »Wenn ihr in meine Dienste tretet, so sollt ihr alle beieinander bleiben. Wie steht es aber mit Ihnen, Herr Leutnant?«
»Was mich betrifft,« erwiderte dieser, »so denke ich an keine Rückkehr in mein Vaterland, und bin entschlossen, in Afrika zu bleiben, nur nicht im Sudan! Auch für meinen Entschluß bezüglich Ihres Anerbietens kommt alles darauf an, was Sie von mir verlangen.«
Der Kaiser der Sahara aber gab folgende Auskunft: »Ich bin im Begriffe, einen der Negerkönige aufzusuchen, der sich unter meine Oberhoheit gestellt hat. Sein Reich ist nicht ferne von hier, und ich bin der erste Weiße, der es betreten hat. Der Fürst zeigt einen ungewöhnlichen Verstand, dazu eine milde, hochherzige Gesinnung. Sein Volk ist gutmütig und fügsam, also leicht zu lenken, zu bilden und zu erziehen. Es ist aber auch kriegerisch. Doch müssen Sie das nicht mißverstehen: im Grunde ist es friedfertig und durchaus nicht angriffslustig; wird es jedoch angegriffen, so zeigt es einen wahren Heldenmut in der Verteidigung seiner Heimatstätte.
»Das Land ist leider von streitsüchtigen Völkern, grausamen Wilden und Menschenfressern umgeben, gegen deren Einfälle es sich beständig wehren muß. Die Tapferkeit der Eingeborenen verstand es bisher, jeden Angriff siegreich zurückzuschlagen. Es bestehen aber Anzeichen, die befürchten lassen, daß sich die feindlichen Nachbarn zu einem gemeinsamen Überfall verbünden, und dann möchte ihnen mein Freund, König Asawa, doch nicht gewachsen sein. Ich bringe ihm daher soeben vier Kanonen, eine Menge Gewehre, Munition, aber auch verschiedene Maschinen, Instrumente und Werkzeuge. Doch besorge ich, das alles wird ihm nicht viel helfen, wenn es an sachverständiger Anleitung, Einübung und Aufsicht fehlt.
»Ich möchte daher Sie, Herr Leutnant von Helling, zum General der gesamten Heeresmacht des Landes ernennen. Sie hätten die äußerst anstelligen Leute zu schulen, sich geeignete Offiziere und Unteroffiziere heranzubilden, ebenso Schützen und Artilleristen, alles nach dem Muster des vorzüglichsten Heeres der Welt, nämlich des deutschen.
»Sie hätten eine durchaus selbstherrliche Stellung, und der König, einsichtig wie er ist, überdies meinen Befehlen treulich Folge leistend, würde sich in Allem Ihren Anordnungen fügen. Kommt es zum Krieg, der wohl unvermeidlich ist, so wären Sie der Oberbefehlshaber, der Feldherr und oberste Kriegsherr und würden es zweifellos verstehen, Ihr tapferes, wohleingeübtes Heer zum Siege zu führen.«
»Das ist eine Aufgabe, wie ich sie mir nur wünschen kann!« rief Helling begeistert: »Ein edles Volk so kriegstüchtig zu machen, daß kein Feind ihm mehr etwas anhaben kann, und daß den endlosen Kämpfen eine Zelt ungetrübten Friedens folgen müßte, nachdem die Feinde niedergeworfen und ihre Reiche vielleicht zum Teil erobert worden sind, so daß auch sie zu gesitteten, friedfertigen Menschen erzogen werden können!«
»So meine ich es!« sagte Jack I. erfreut: »Sie sind mein Mann: ich ernenne Sie zu meinem General und Statthalter in König Asawas Reich. Schlagen Sie ein!«
Der Leutnant zögerte nicht, die dargebotene Rechte zu drücken.
»Und nun, Herr Ingenieur,« fuhr der Kaiser fort: »Sie sollten der erste Minister des Königs werden, sein Großwesir, wenn Sie wollen, dem er auch völlig freie Hand ließe. Ihnen fiele zunächst die Aufgabe zu, Fabriken und Werkstätten einzurichten, für die ich die nötigen Maschinen und Werkzeuge teils schon bei mir habe, teils nach Ihren Wünschen von Europa beschaffen würde. Sie müssen die Arbeiter anlernen und sich einen Stab von Gehilfen heranziehen: Ihr trefflicher Sohn wird Ihnen dabei zur Seite stehen.
»Sie können auch eine Gewehr- und Kanonenfabrik errichten und Lufträder herstellen, darin haben Sie ja schon Übung. Auch eine Munitionsfabrik wäre im Hinblick aus den kommenden Krieg wünschenswert. Dann aber wenden Sie sich Friedens- und Kulturaufgaben zu: heben Sie die Landwirtschaft, das Handwerk, Gewerbe und Handel, und suchen Sie vor allem sittlich aus die Bevölkerung einzuwirken: es wird Ihnen dies bei einem so sanften und lenksamen Volke nicht schwer fallen.
»Alle Hilfsmittel, deren Sie noch bedürfen, werde ich aus Europa herbeischaffen, auch einige tüchtige Hilfskräfte aus Deutschland, da Sie ja beide Deutsche sind und daher mit Landsleuten am besten Zusammenarbeiten werden. Vor allem werde ich einige Missionare mitnehmen, und zwar evangelische, denn ich neige zu diesem Bekenntnis, und das große Werk, das Sie beide zu leiten haben, muß in durchaus einheitlichem Geiste vollbracht werden.«
»Ich schlage ein von ganzem Herzen!« rief Sieger, des Kaisers Hand ergreifend: »Und ich gelobe, alle meine Kräfte mit Gottes Hilfe in den Dienst dieser edlen Lebensaufgabe zu stellen. Das ist die Erfüllung meines Traums, ein Reich der Liebe und des Friedens gründen zu können. Senden Sie mir tüchtige Gehilfen, Herr Kaiser, fromme, selbstlose Menschen, die sich freudig aus meine Grundbedingung verpflichten: Allen alles zu Liebe und nichts zu Leide zu tun, und in diesem Geiste zu wirken und das Volk zu erziehen, an dem Sie zu einer so schönen Arbeit berufen sind.«
»Alles zu Liebe und nichts zu Leide!« sagte Jack I. nachdenklich: »Ich wünsche Ihnen Glück zu diesem Grundsatz und Vorsatz, mein Herr Minister; ich glaube, darin könnte das ganze Geheimnis menschlichen Glückes verborgen liegen. Wirken Sie in diesem Sinne, so bin ich überzeugt, Sie werden meine liebste Provinz bald in den Zustand der Blüte und des Wohlergehens versetzen, in dem ich mein ganzes Reich sehen möchte.«
Andern Tags wurde aufgebrochen und gegen Abend die Karawane eingeholt.
Noch zwei Tage ging es durch die Wüste, südwestwärts. Dann kamen grüne Gefilde, üppige Pflanzungen, ausgedehnte Urwälder, die sich namentlich gegen Norden unabsehbar ausdehnten. Im Süden und Westen war der wildreiche Forst, in dem manches Jagdabenteuer bestanden wurde, auf Schritt und Tritt durch weite Strecken fleißig angebauten Landes unterbrochen, das reich an Städten und Dörfern war.
Die Bevölkerung übertraf an Schönheit des Wuchses und der Gesichtszüge, an Ebenmaß der Glieder, glänzender Schwärze der Haut und blendender Weiße der Zähne selbst den Stamm der Somali. Es waren fast durchweg hochgewachsene, prächtige Gestalten.
Ihre Reize wurden erhöht durch den Ausdruck der Sanftmut und harmlosen Heiterkeit, der das Antlitz verklärte.
Bald war die Hauptstadt erreicht.
König Asawa schien alle Vorzüge des Leibes, des Geistes und des Gemütes dieses bevorzugten Stammes in besonderer Vollkommenheit in sich zu vereinigen.
Man sah es vor Augen, wie er seinen Kaiser verehrte und liebte. Diese Verehrung und Liebe übertrug er auf Sieger und Helling und freute sich über ihre Zusage, bei ihm bleiben und sein Heer und Volk belehren und erziehen zu wollen, weit mehr, als über alle wertvollen Gaben und Hilfsmittel, die Jack I. ihm brachte.
Sein Verstand und seine Einsicht zeigten sich gleich in der Bemerkung, die er machte: »Das alles sind kostbare Schätze, für die ich nicht genug danken kann. Allein sie bekommen ihren rechten Wert erst dadurch, daß du mir diese tüchtigen und guten Männer gebracht hast, die verstehen, damit umzugehen und uns ihren Gebrauch zu lehren.«
Nach einigen Tagen verabschiedete sich der Kaiser der Sahara von Asawa und unfern Freunden, und wandte sich mit seiner Karawane der Küste von Algerien zu, um in Europa Einkäufe zu machen und Hilfskräfte anzuwerben.
Sieger und Helling blieben bei Asawa zurück und begannen ihre hochbefriedigende und segensreiche Tätigkeit. Sie nahmen beide so einflußreiche Stellungen ein, daß sie die eigentlichen Könige des Landes waren, denn der verständige und gutherzige Herrscher richtete sich ganz nach ihrer Meinung und ihren Ratschlägen, und das hatten er und sein Volk nicht zu bereuen.
Auch Jussuf und vor allem Osman und Fatme fühlten sich hier so wohl wie nie zuvor?
Osman half seinem Vater, und konnte auch selbständig die ihm von Sieger übertragenen Aufgaben erfüllen.
Fatme richtete eine Schule ein, in der sie Knaben und Mädchen in Allem unterrichtete, was sie selber gelernt hatte, und das war nicht wenig. Auch mancher Jüngling und manche Jungfrau saßen ihr freiwillig, von Lernbegierde getrieben, zu Füßen.
Fast alle Einwohner verstanden das Arabische, was der jungen Lehrerin ihre Aufgabe sehr erleichterte. Doch lernte sie mit ihrer raschen Auffassungsgabe auch bald die Landessprache beherrschen.
So hatten Alle der Arbeit genug, aber auch ebenso viel Freude, da sie täglich lohnende Früchte ihrer Tätigkeit sehen durften.
Die allgemeine Anhänglichkeit und Liebe, die ihnen zuteil wurde, tat ihnen von Herzen wohl und sie gewannen unter den Schwarzen einige besonders werte Freunde, deren Umgang ihnen zu einem wahren Genuß wurde. König Asawa nahm aber unter diesen dauernd die erste Stelle ein.
Und dazu dieses landschaftlich so reizvolle, fruchtbare Land, die gelegentlichen Jagdausflüge in den Urwald, bei denen sie so manches Abenteuer erlebten, öfters ein recht gefährliches, das aber immer glücklich ablief!
Auch an fröhlichen Festen fehlte es nicht, die Erholung und Erfrischung boten.
Als dann die versprochenen Gehilfen aus Deutschland kamen, vornehmlich die Missionare, konnte die Arbeit über das ganze Königreich ausgedehnt werden.
Von den köstlichen Früchten, die ihre Liebesarbeit an diesen liebenswürdigen »Wilden« trug, werden wir wohl später noch etwas berichten können, zugleich mit einem besonders freudigen Erlebnis, das Leutnant von Helling ganz von der Last befreite, die immer noch sein Gewissen beschwerte und ihn oft hinderte, sich so recht an all dem Schönen und Guten zu erfreuen, das hier ihm wie seinen Freunden das Herz mit Sonnenschein erfüllte.
Die vorangestellten Buchstaben bedeuten die Abkürzung, unter der das betreffende Werk in den Nachweisen angeführt wird.
1. A. = Afrika in Wort und Bild. Calw und Stuttgart, Verlag der Vereinsbuchhandlung. 414 S.
2. B. = Bädeker: Ägypten (Reisehandbuch). 6. Aufl. 1906.
3. C. = Major Gaetano Casati: Zehn Jahre in Äquatoria und die Rückkehr mit Emin Pascha. Aus dem Italienischen von Prof. Dr. Karl Reinhardstöttner. Bamberg, C. C. Buchner. Bd. I: 314 S.; Bd. II: 292 S.
4. C. J. = Clara Jäger: Die Meuterer auf Pitcairn. Stuttgart, Gebr. Kröner.
5. G. = Dr. Alois Geistbeck: Bilderatlas zur Geographie der außereuropäischen Erdteile. Leipzig und Wien, Bibliogr. Institut, 1908.
6. G. R. a. — Gerhard Rohlfs: Von Tripolis nach Alexandrien. Beschreibung der im Auftrage Sr. Majestät des Königs von Preußen in den Jahren 1868 und 1869 ausgeführten Reise. Bremen, I. Kühtmann, 1871. Bd. 1: 197 S.; Bd. II: 148 S.
7. G. R. b. — Gerhard Rohlfs: Drei Monate in der Libyschen Wüste. Cassel, Theodor Fischer, 1876. 340 S.
8. H. = W. O. von Horn: Eine Meuterei im Stillen Meere. Wiesbaden, Julius Niedner.
9. H. B. — Dr. Heinrich Barth: Reisen und Entdeckungen in Nord- und Centralafrika in den Jahren 1849-1865. Gotha, Justus Perthes, 1867. Bd. I: 622 S.; Bd. II: 755 S.; Bd. III: 684 S.; Bd. IV: 671 S.; Bd. V: 734 S.
10. H. M. a. — Heinrich Freiherr von Maltzan: Drei Jahre im Nordwesten von Afrika. Reisen in Algerien und Marokko. Leipzig, Dürr, 1868. Bd. I: 285 S.; Bd. II: 314 S.; Bd. III: 314 S.; Bd. IV: 304 S.
11. H. M. b. — Heinrich Freiherr von Maltzan: Reise in den Regentschaften Tunis und Tripolis. Leipzig, Dyk, 1870. Bd. III: 374 S.
12. H. M. c. = Heinrich Freiherr von Maltzan: Sittenbilder aus Tunis und Algerien. Leipzig, Dyk, 1869. 452 S.
13. J. = Dr. Wilh. Junker: Im Sudan. In der Libyschen Wüste und an den Quellen des Nils. Reisen 1875-1878. Leipzig, Gustav Fock, 1889. 586 S.
14. K. = Dr. J. L. Krapf: Reisen in Ostafrika, ausgeführt in den Jahren 1837-1855. Kornthal 1858. Bd. I: 505 S.; Bd. II: 521 S.
15. Kn. = Die christlich-kommunistische Kolonie der Rappisten in Pennsylvanien. Vortrag von Dr. Karl Knortz (New York). Leipzig, Ernst Wiest, 1892.
16. L. St. = Dr. Ludwig Staby: Emin Pascha, ein deutscher Forscher und Kämpfer im Innern Afrikas. Stuttgart, Südd. Verlags-Institut, 1890. 149 S.
17. M. = Meyer: Das Mittelmeer (Reisehandbuch). 3. Aust. 1907.
18. N. = Karl Neufeld: In Ketten des Kalifen. Zwölf Jahre Gefangenschaft in Omdurman. Berlin und Stuttgart, W. Spemann, 1900. 376 S.
19. O. — Pater J. Ohrwalder, apostol. Missionär: Aufstand und Reich des Mahdi im Sudan und meine zehnjährige Gefangenschaft dortselbst. Herausgegeben vom Zweigverein der Leo-Gesellschaft für Tirol und Vorarlberg. Innsbruck, 1892. 320 S.
20. O. B. — Dr. Oscar Baumann: Durch Massailand zur Nilquelle. Reisen und Forschungen der Massaiexpedition des deutschen Antisklavereikomitees in den Jahren 1891-1893. Berlin, Dietrich Reimer, 1894. 377 S.
21. R. = Elisée Reclus: Nouvelle Géographie universelle. La terre et les hommes. X. L'Afrique Septentrionale. Première partie: Bassin du Nil. Paris, Hachette et Co. 1885. 620 S.
22. S. = Rudolph Slatin Pascha: Feuer und Schwert im Sudan. Meine Kämpfe mit den Derwischen, meine Gefangenschaft und Flucht. 1879-1895. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1896. 586 S.
23. Sch. = Dr. Georg Schweinfurth: Im Herzen von Afrika. Reisen und Entdeckungen im zentralen Äquatortalafrika während der Jahre 1868-1871. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1874. Bd. I: 599 S.; Bd. II: 545 S.
24. St. = Dr. Franz Stuhlmann: Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika. Berlin, Dietrich Reimer, 1894. 868 S.
25. V. H. = Vita Hassan: Die Wahrheit über Emin Pascha, die ägypt. Äquatorialprovinz und den Sudan. Aus dem Französischen von Dr. B. Moritz. Berlin, Dietrich Reimer, 1893. Bd. I: 223 S.; Bd. II: 246 S.
26. W. = Geschichte und Verhältnisse der Harmoniegesellschaft in Nordamerika. Entworfen von Jonathan Wagner. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von W. G. Deininger, Präzeptor. Vaihingen, gedruckt bei C. Burkhardt. 1833.
27. W. M. — Professor Dr. William Marshall: Bilderatlas zur Zoologie der Säugetiere. Leipzig und Wien, Bibliographisches Institut, 1908.
28. L. S. — Erzherzog Ludwig Salvator: Eine Nachtreise an den Küsten von Tripolitanien und Tunesien. Würzburg, Leo Wörl, 1874. 376 S.
29. Vischer: Reise durch die Sahara. Pforzheimer Familienblatt, 2. Mai 1907.
30. Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien. (Herausgegeben unter Mitwirkung von zwölf Fachgelehrten.) Leipzig, Otto Spamer, 1876. 7 Bände. Bd. V und VII.
31. Das Ausland. 1884.
32. Verschiedene Zeitungsausschnitte und Abhandlungen in Zeitschriften.
Die arabischen Laute werden von verschiedenen Forschern sehr verschieden wiedergegeben. Dies mag zum Teil daher rühren, daß sie, namentlich die Vokale, keinen ausgesprochenen Charakter haben und daher je nach dem Gehör des einzelnen Europäers mehr an diesen oder an jenen europäischen Laut anzuklingen scheinen, zum Teil vielleicht auch daher, daß sie in verschiedenen Mundarten verschieden lauten. Es wäre wirklich verdienstlich, wenn die Orientalisten durch Übereinkunft eine einheitliche deutsche Schreibweise für arabische Wörter einführten.
So wird beispielsweise heute geschrieben: bin oder ben; Scheich, Schech oder Schich; Slatin Pascha schreibt: woled; Vita Hassan: walad; Neufeld: wad; Schweinfurth: wod; Ohrwalder: uad und Junker: auad!
Kapitel 1-5. — Das Geschichtliche über die Eroberung des Sudans durch Ägypten und die Belagerung von Khartum gab ich vorzugsweise nach Vita Hassans ausführlicher Darstellung.
Kapitel 6. — Mahdia (der Mahdi, die Entwicklung des Mahdismus und der Verlauf des Aufstandes): O. 9-85; V. H. 182 bis 223; S. 117-141; L. St. 99-104. Auch hier, wie hernach bei der Schilderung des Falles von Khartum, hielt ich mich hauptsächlich an Vita Hassan, der den zuverlässigsten Eindruck macht. Mahdi: S. 274; Kalifa: S. 271.
Kapitel 7 und 8. — Fall von Khartum: O. 85-117; V. H. 216-220; S. 265-349; N. 3-10. (Wenn Neufeld hier im Widerspruch zu allen anderen Quellen General Gordon zum Helden stempelt, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es ihm darum zu tun war, den Engländern etwas zu schmeicheln — captatio benevolentiae. Doch ist dies eben ein persönlicher Eindruck, für den ein entscheidender Nachweis fehlt.)
Kapitel 9-12. — Mit Benutzung sämtlicher Quellen: O., S., N., St., V. H. Die Äußerung Roosevelts in Kapitel 12: Allg. Missionszeitschrift (Professor Dr. G. Warneck, Halle a. S.) 1910, Heft 10, S. 614.
Kapitel 16. — Marabut: H. M. c. 388, 389. Den Kabylen gilt der Marabut für heiliger als der Koran, während die rechtgläubigen (orthodoxen) Muftis und Talebs (Schriftgelehrten) seine Verehrung als Ketzerei betrachten.
Kapitel 28. — Die Harmonie: Kn. und W. Ein anderes Büchlein, das von begeistertem Lob der Harmonie-Gesellschaft überströmte und von einer Dame geschrieben war, las ich vor etwa 15 Jahren, kann mich aber leider des Titels und des Verfassernamens nicht mehr entsinnen, so daß meine Bemühungen, es wieder aufzutreiben, vergeblich waren.
Kapitel 29. — Die Meuterer auf Pitcairn: H. und C. J., beides Darstellungen auf streng geschichtlicher Unterlage, wobei die letztere von den Tatsachen am wenigsten abweicht.
Kapitel 30. — Die aktenmäßige Schilderung dieser geschichtlichen Robinsonade bewahrte ich in einem alten Zeitungsausschnitt auf, den ich aber leider nicht wieder auffinden konnte. Auch konnte mir niemand Aufschluß über dessen Quellen geben. Ich mußte daher aus dem Gedächtnis berichten, glaube aber, daß das Wenige, das ich zu sagen wußte, genau den Tatsachen entspricht. Dankbar wäre ich, wenn mir jemand Auskunft geben könnte, wo der Bericht niedergelegt ist und eingesehen werden kann.
Kapitel 35. — Der dicke Hassan Bey Omkadok mit seinem immer lachenden Gesicht, der sudanesische Falstaff, Mulazem (Leibwächter) des Kalifa, und sein Bruder, der Bimbaschi Ismain, der im Gegenteil lang, mager und ernst erschien. Gemeinsam war ihnen nur ihr unersättlicher Bierdurst: S. 32; — Kismet und Änderungen im Schicksalsbuch: Max Eyth, Hinter Pflug und Schraubstock, S. 187. — Hassan Beys Erzählung über Gordon und die von ihm gesandte »Arzenei«: S. 33.
Kapitel 39. — Steppenbrand: Ausland 114 und Junker.
Kapitel 40. — Idris el Seier: hauptsächlich nach N. 98/99, ebenso Bet el Seier oder kurzweg »Seier«, nach N. 214/216. Da Neufeld selber im Seier litt, ist er der zuverlässigste Darsteller.
Kapitel 43. — Betreffs der Auskleidung des Tiegels mit Kohlenstoffstein, der wegen seiner unübertrefflichen Eigenschaften besonders zur Auskleidung von Futtermauern in Hochöfen, Schmelzöfen usw. verwendet wird, siehe Süddeutsche Zeitung, Stuttgart, Nr. 92, 16. Dezember 1913, »Bausteine aus Kohlenstoff«.
Kapitel 49. — Das schreckliche Aussehen eines durch die Bienen des Gebet Marrah getöteten Mannes: S. 75/76. Tödliche Kälte daselbst. Dort befinden sich die Orte Mortal und Mortafal. Hauptstadt Niurnja des Sultans Abdullahi Dud Benga.
Kapitel 61. — Über Jaques I., Kaiser der Sahara, sei noch folgende interessante Nachricht hier wiedergegeben, die in einer Stuttgarter Zeitung (Württemberger Zeitung? — auf meinem Ausschnitt leider nicht vermerkt) vom 30. Oktober 1909 erschien:
Der »Kaiser der Sahara« kauft Luftschiffe. Aus Paris wird geschrieben: Jaques I., der bisherige Exkaiser der Sahara, gibt wieder ein Lebenszeichen von sich. Anscheinend nimmt er anläßlich der großen Erfolge, welche die Luftschiffahrt im letzten Jahre errungen hat, seine weitausschauenden Pläne zur Besiedelung der Wüste Sahara wieder auf und denkt von neuem an die Errichtung seines Kaiserreiches. Mit allen französischen Luftschiffkonstrukteuren und Luftschiffwerften wurden vor einigen Wochen vertrauliche Verhandlungen auf Abschluß mehrerer Luftschiffverkäufe eingeleitet. Der Auftraggeber wurde in keinem der Fälle genannt, so daß die Luftschifffabrikanten der Ansicht waren, daß es sich entweder um einen Scherz handle, oder um Konkurrenzmanöver. Die Aufträge waren so bedeutend, daß mehrere Beteiligte in einer Konferenz die Angelegenheit erörterten. Man kam schließlich dahin überein, daß es sich bei den Bestellungen um eine fremde Macht handeln dürfte, die vorerst noch nicht sich zu erkennen geben will. Die Bestellung sollte im ganzen 15 Luftschiffe der verschiedenen Systeme und nicht weniger als 36 Flugapparate betragen. Im ganzen hatten die Agenten, wie sie versicherten, die Vollmacht, Luftfahrzeuge im Gesamtwert von 6 bis 7 Millionen Francs zu kaufen. Für Flugapparate sei allein 1 Million Mark ausgeworfen. Schließlich wurden die Siegel des Geheimnisses durchbrochen und man erfuhr, daß Jaques I., Kaiser der Sahara, die Luftschiffe notwendig brauche. Er selbst bleibt vollständig im Hintergrunde. Sogar sein Aufenthaltsort ist allgemein unbekannt. Sicherlich wird er den Negern da unten nicht schlecht imponieren, wenn er plötzlich mit seiner großen Luftschiffflotte angeflogen kommt, während er selbst auf einem Blériotschen Flugapparat vorausreitet, hinter sich seinen ganzen Generalstab. 300-400 Menschen könnte er wohl auf diese Weise befördern.
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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