Roy Glashan's Library
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"Im Königreich Nirgendwom," DvR-Ausgabe
"Menschen von Morgen"
1 Mark-Bibliotek 8. Berlin: Verlag Continent
(Theo Gutmann), o.J. [1905]
"Menschen von Morgen"
Kosmos-Novellen. Stuttgart: Franckh'sche
Verlagshandlung (W. Keller & Co.), o.J. [1907]
Carl Grunert: Menschen von morgen. Zukunfts-Novellen
Stuttgart: Franckh'sche Verlagshandlung (W. Keller
& Co) o.J. [1907], Titelseite (S. 1, Unpaginiert)
In uns'rer Jugend Sonnenscheine
Gabst Du zum Bunde mir die Hand;
In Treue wurdest Du die Meine,
Und vor uns lag der Zukunft Land:
Viel tausend bunte Blumen blühten
Zu unsern Füßen lockend auf,
Und tausend gold'ne Sterne glühten
Herab auf uns'rer Schritte Lauf!
Es barg die Brust ein stolzes Hoffen
Auf dieser Erde Glanz und Ruhm;
Des Glückes Tore sah ich offen
Und bracht' es Dir zum Eigentum:
Mit allen Schätzen wollt' ich schmücken
Dein liebes, blondgelocktes Haupt,
Mit allem Schönen Dich beglücken,
Die fest an meinen Stern geglaubt!
Wir saßen beid' im trauten Zimmer —
Froh schaut' ich Dir ins Angesicht,
Und bei der Lampe goldnem Schimmer
Ward mir das Leben zum Gedicht:
Es füllten sich die weißen Bogen,
Bedeckt von rascher Feder Zug —
Wie die Gedanken wechselnd flogen,
Wohin der schöne Traum sie trug!
So saß und sann und schrieb ich lange —
Und als das Werk beendet war,
Da glühte hoffnungsfroh die Wange —
Nun schien die Zukunft offenbar:
Schnell trug ich meines Geistes Ware
Zum rührigen Verleger hin,
Und viele tausend Exemplare
Sah ich — im Traum — verkaufen ihn — —
Es w a r ein Traum! Z u r ü c k g e g e b e n
Ward mir der langen Mühe Preis! —
Ich klagte nicht: zu neuem Streben
Rafft' ich mich auf mit ernstem Fleiß.
Wie lang' ich klaglos so gerungen —
Es weiß es keiner mehr als Du,
Die, wenn Enttäuschung mich bezwungen,
Mir liebend lachte Tröstung zu...
So ging mir unter manche Sonne
Und mancher Keim in Winternacht!
Es ward mir Weh aus aller Wonne,
Mit der ich einst geschafft, gedacht! —
Nicht konnt' ich Deine Locken schmücken
Mit meines Schaffens gold'nem Kranz;
Nicht konnt' ich jauchzend Dich beglücken
Mit Ruhm und Ehre, Licht und Glanz...
So sind die Jahre hingeschwunden —
Ich habe fest mich aufgerafft:
Den engen Kreis hab' ich gefunden,
wo ich in stiller Pflicht geschafft.
Der Poesie mußt ich entsagen; —
Mir blieb die Liebe zur Natur
Mit ihren großen Rätselfragen,
Und treulich folgt' ich ihrer Spur...
So lebten still wir — ohne Klage
Und aßen friedlich unser Brot. —
Dann kamen böser Krankheit Tage,
An uns'rer Türe stand der Tod!
Der Himmel wurde schwarz vor Sorgen —
Es kreuzte Mißgunst meine Bahn —
Doch endlich brach ein n e u e r Morgen
Mit seinem goldnen Lichte an!
Und neu erwacht zum Sonnenlichte,
Las ich das wundersame Buch,
Das ferner Zukunft Traumgesichte
In meine stumme Seele trug;
Du weißt es, wie ich, neugeboren,
Zur Feder, zur vergess'nen griff;
Zu neuer Hoffnung gold'nen Toren
Trug mich der Dichtung Zauberschiff!
Und als des Buches hoher Meister,
Dem ich die neue Schrift geweiht —
Ein Heros in dem Reich der Geister —
Sie anerkannt mit Freudigkeit,
Da ist aufs neu' der Quell entsprungen,
Der lang' in meiner Brust versiegt:
Ich habe nicht umsonst gerungen,
Wenn diesem Edlen ich genügt! — —
Und nun zum zweiten Male wagen
Will ich der Phantasieen Flug:
»Ins ird'sche Jenseits« soll uns tragen
Das Schiff, das einmal uns schon trug!
Steig' ein! Mit lichtumfloss'nem Buge
Harrt Deiner schon der Wunderbau,
Der Dich und mich im Ätherfluge
Entführen soll, geliebte Frau!
Steig' ein! Schon sausen die Motoren! —
Und wie die Hand den Zeiger rückt,
Liegt unter uns — im All verloren —
Das Irdische, das uns bedrückt...
Und was ich h i e r nicht konnte zimmern,
Ein S e i n , so reich — und groß — und schön —
Blick' auf! Schon siehst Du's leuchtend schimmern:
D o r t baut' ich's Dir — i n l i c h t e n H ö h ' n !
Carl Grunert.
Wir saßen wieder einmal zusammen in dem idyllischen Erholungslokal draußen im äußersten Norden, an der Peripherie der Weltstadt —, wir, d.h. der alte Herr Oberlehrer und seine beiden Töchter, der Großhändler Ludwig Deckers, Rentier Fennmüller, Dr. Mathieu und ich.
Seit Jahren fanden wir uns fast allwöchentlich einmal hier zusammen: Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Lebensstellung, aber gleicher Denkweise, gleicher Weltanschauung. Jeder von uns, auch die beiden Damen, hatte einen Beruf, keiner den gleichen, daher blieb unser Gedankenaustausch frei von sogenannter »Fachsimpelei«, und es waren niemals kleinliche Interessen, die den Stoff unserer Gespräche bildeten.
Wir durften den Ruf für uns in Anspruch nehmen, m o d e r n e Menschen zu sein — im besten Sinn; denn die großen Fragen der Gegenwart, politische und wissenschaftliche, trugen ihre letzten Wellen auch bis an die stillen Ufer unserer Gemeinschaft, namentlich fanden die naturwissenschaftlichen Probleme in uns allen begeisterte Anhänger.
Es war mein bescheidenes Verdienst, in diesem Menschenkreise für meine noch aus den Märchentagen der Jugend stammende Vorliebe für phantastische Romane Stimmung und Interesse erweckt zu haben. Oft hatte ich das Amt eines Vorlesers hier ausgeübt und an den naturwissenschaftlichen Märchen eines K u r d L a ß w i t z , den Romanen eines J u l e s V e r n e immer dankbare, oft begeisterte Zuhörer gefunden.
Heute hatte ich ein Werk des »englischen Jules Verne«, des berühmten Autors H . G . W e l l s , vorgelesen, ein wahres Kabinettstück phantastischwissenschaftlicher Darstellung, betitelt »Die Zeitmaschine«,
Der geistvolle Verfasser erzählt darin von der Erfindung einer wunderbaren Maschine, die so genial konstruiert ist, daß sie dem darauf Sitzenden ermöglicht, a u s s e i n e r Z e i t h e r a u s in eine andere, in Vergangenheit oder Zukunft zu reisen. Der originelle Konstrukteur dieser Zeitmaschine betrachtet die Zeit als die oft gesuchte « v i e r t e « Dimension des Raumes und liefert experimentell den Beweis seiner Behauptung, indem er in wenigen Stunden a c h t h u n d e r t Jahrtausende unserer Erdentwickelung durcheilt, getragen von dem zauberhaften Mechanismus seiner Maschine, und Zeuge wird von den tiefgreifenden Umwandlungen, die unserem Geschlechte im Laufe ungezählter Generationen dereinst beschieden sein werden...
Wir standen alle noch im Banne der wundersamen Dichtung; ein beredtes Schweigen zeigte, wie tief unsere Seelen von der mächtigen Phantasie des Engländers noch immer gefesselt waren.
Großhändler Deckers unterbrach zuerst die Stille.
»Es ist so gut geschrieben, daß man Mühe hat, sich aus dem Buche wieder ins Wirkliche zurückzufinden —«
»Ach, wenn der Traum doch Wahrheit werden könnte!«, seufzte eine der Damen.
»Wenn uns der Herr Verfasser doch wenigstens die Adresse des Lieferanten für ›Zeitmaschinen‹ in einer Fußnote angegeben hätte«, klagte der immer scherzhafte Rentier Fennmüller — »dann würde auch ich noch Automobilist!«
»Und wohin würdest du fahren, Paule?«, redete ihn der Herr Oberlehrer an, auf seinen Ton eingehend.
« I n d a s G r o ß - B e r l i n v o m J a h r e Z w e i t a u s e n d ! « , rief der Rentier — und wir alle mußten lachen; denn wir kannten die von Stolz und Liebe getragene Schwärmerei dieses Urberliners für seine Vaterstadt.
»Ich für mein Teil würde auf dieser Wundermaschine eine Reise in die Vergangenheit antreten«, sagte der Oberlehrer hierauf, »und zwar in meine eigene Vergangenheit. In meiner Jugend würde ich landen, um noch einmal all den Sonnenschein ihrer goldenen Tage in mein altes Herz scheinen zu lassen, all meine Lieben wiederzusehen, — ach, es ist ja alles unmöglich!«, unterbrach er selbst seine Träumerei.
»Ja«, sagte ich, »wenn die Konstruktion einer solchen Maschine möglich wäre, die ›in die Zeit reiste‹, so müßte sie ihre wunderbare Wirkung in diesem Falle auch auf den darauf Sitzenden ausüben, sonst wäre seine Freude am wiedergefundenen Paradies der eigenen Jugend doch nur unvollkommen. Man müßte wieder jung werden —«
»The rejuvenation of Miss Semaphore«, — zitierte die eine der beiden Damen und setzte dann hinzu: »So heißt eine drollige Erzählung von Hall Godfrey, in der die Wirkung eines Verjüngungstrankes auf eine Dame geschildert wird, die in der Sorge um die fliehende Jugend und Schönheit eine zu große Dosis zu sich nahm und — zum Baby wurde —«
»Das Wiederjungwerdenwollen ist eine alte Sehnsucht der Menschen«, warf hier Großhändler Deckers ein — »alle Völker und Zeiten fabeln von solchen Zaubermitteln, und auch im deutschen Märchen spielt der ›Jungbrunnen‹ eine Rolle.«
»Leider — nur im Märchen!«, seufzte die ältere der beiden Damen so schmerzlich, daß wir alle lachen mußten.
»Vergessen Sie nicht«, neckte Rentier Fennmüller, »daß die Kunst der Kosmetik mit ihren Wässerchen und Pülverchen für das Jungbleiben und Jungwerden auch eine Bedeutung hat —«
»Nun, was sagt die Chemie dazu?«, wandte sich nach einer kleinen Pause der Herr Oberlehrer an Dr. Mathieu, der bei all unserem Hin- und Herreden schweigsam geblieben war.
Dr. Mathieu fuhr auf, wie aus einem schweren Traume.
»Sitzen Sie noch immer auf der Maschine des Zeitreisenden, Herr Doktor?«, spöttelte der Rentier. »Bremsen Sie, bitte, und steigen Sie vorsichtig ab — zu uns — in die Wirklichkeit!«
Das ernste Gesicht des Doktors zeigte ein Lächeln.
»Beinahe könnten Sie recht haben, Herr Fennmüller!«, rief er dann aus, sich gewaltsam zur Anteilnahme zwingend.
»Was haben Sie, Herr Doktor?«, fragte nun auch Großhändler Deckers und sah dem Chemiker mit seinen klugen, durchdringenden Augen gerade ins Gesicht.
»Ja, Herr Deckers, wenn das so leicht und so schnell zu sagen wäre!«, entgegnete Dr. Mathieu. »Ich bin nicht so sehr gefesselt von dem originellen Roman des englischen Schriftstellers — als von einer Entdeckung, die ich durch Zufall in diesen Tagen gemacht habe und die in gewissem Sinne das Gegenstück zu den Phantasien Mr. Wells zu bilden scheint —«
»O, erzählen Sie, bitte, erzählen Sie, Herr Doktor!«, baten die beiden Damen.
»Ich weiß eigentlich nicht, meine Herrschaften, ob ich Ihnen meine Beobachtungen als abgeschlossene Tatsachen mitteilen darf — sie sind mir selbst so neu und fremdartig, um nicht zu sagen: wunderbar, daß ich lieber doch noch —«
»Er will noch einmal gebeten sein, meine Damen!«, sagte Rentier Fennmüller — »also, bitte, in unser aller Interesse —«
»Bemühen Sie die Damen nicht, Herr Fennmüller, ich bin auch ohne ›ExtraBitte‹ bereit, den Herrschaften ein wenig von dem rätselhaften Stoff zu erzählen, der mich beschäftigt. — Sie kennen alle die wunderbaren Eigenschaft des R a d i u m s — jenes neu entdeckten Stoffes in dem Mineral der Pechblende: sein geheimnisvolles Selbstleuchten, die alles durchdringende Kraft seiner Strahlen, seine Fähigkeit, elektrisch geladene Körper momentan zu entladen, seine Wirkung auf die lebende organische Zelle —«
»Dank Ihrer freundlichen Belehrung — ja!«, sagte der Oberlehrer in unser aller Sinne.
»Besonders die Wirkung auf die lebende Zelle ist seit kurzem näher studiert worden. Während man zuerst die Wirkung der Radiumstrahlen als eine rein z e r s t ö r e n d e angenommen hatte, zeigte sich bei genauer angestellten physiologischen Experimenten die merkwürdige Tatsache, daß die organischen Zellen unter dem Einfluß der ! "- und Strahlen ihr Wachstum nur verzögern, um sich dann beim Aufhören der Radiumbestrahlung in normaler Weise weiter zu entwickeln. Die Wirkung des Radiums ist also eine retardierende; R a d i u m w i r k t w i e e i n e O r g a n i s m u s b r e m s e ; ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke?«
»Ich denke doch, Herr Doktor, nicht wahr, meine Damen?«, fragte Großhändler Deckers.
»Wie sie wissen, bin ich durch ganz besondere Glücksumstände im Besitze einer größeren Quantität von Radium«, fuhr Dr. Mathieu fort, als die Damen zustimmend genickt hatten, »eines Kristalls von Radiumbromid in solcher Größe, wie ihn kein Institut Europas wahrscheinlich aufzuweisen hat —.«
»Sie sind uns noch immer die Geschichte seiner Erwerbung schuldig, Herr Doktor!«, rief Rentier Fennmüller.
»Ich möchte sie auch heute — schuldig bleiben. Aber, um fortzufahren, ich habe im Laboratorium all die Experimente nachgeprüft, wie sie B o h n in Paris, P f e f f e r in Leipzig mit organischen Gebilden angestellt haben, und kann ihre Ergebnisse von der verzögernden Wirkung des Radiums vollauf bestätigen. Aber«, — hier hob der Doktor seine Stimme — »ich habe eine n e u e Wirkung der Gesamtstrahlung entdeckt, wie sie von einer großen Quantität Radium ausgeht — die völlig rätselhaft ist und einer Zauberwirkung gleichkommt, wenn auch ihre l e t z t e n Ursachen in der Bremswirkung der Radiumstrahlen liegen mögen —«
Wir rückten alle näher um den runden Tisch, und unsere Blicke hingen an des Doktors Lippen.
»Ich will Ihnen einfach erzählen, wie ich meine Entdeckung gemacht habe«, sprach Dr. Mathieu weiter. »Bei meinen Nachprüfungen an Organismen, z. B. Pflanzensamen und keimlingen, SeeigelEiern, Froschlarven usw. mit Radiumbestrahlung hatte ich eines Tages länger im Laboratorium zugebracht. Meiner Schätzung nach hatte ich mehrere Stunden hintereinander gearbeitet, ohne mich um anderes zu kümmern, als um meine Präparate, die alle in zentraler Anordnung um das Radiumkristall gruppiert waren. Es mußte ungefähr neun Uhr abends sein, als ich das Laboratorium verließ. Aber als ich die Tür öffnete, schien mir — die S o n n e ins Gesicht —«
»Nun wird's Tag!«, rief Rentier Fennmüller mit einer Redensart voller Erstaunen aus.
»Ja, es wurde tatsächlich Tag draußen in der Welt — aber w o d i e N a c h t g e b l i e b e n w a r , w a r m i r e i n v ö l l i g e s R ä t s e l ! Sie war fort aus der Zeitfolge meiner Lebensstunden! — Dabei fühlte ich weder Müdigkeit noch Hunger oder Durst, wenigstens nicht für den Augenblick; später forderte mein Organismus wieder in normaler Weise sein Recht. Wie sollte ich mir dieses Rätsel erklären?«
»Wie? — Sie meinen, Sie hätten, ohne es zu bemerken, einen ganzen Abend und eine ganze Nacht über Ihren Experimenten im Laboratorium durchwacht, Herr Doktor?«, sagte die eine der Damen in unverhohlenem Erstaunen.
»Das allerdings meine ich; denn etwas anderes ist völlig ausgeschlossen, etwa eine plötzlich eingetretene und stundenlang anhaltende Bewußtlosigkeit meinerseits oder ähnliches«, entgegnete Dr. Mathieu in voller Bestimmtheit.
»Aber — ich verstehe noch immer nicht«, — fragte der Oberlehrer —
»Ja — ich verstehe es ja eigentlich auch noch immer nicht, Herr Oberlehrer!«, rief der Chemiker halb lachend aus — »das ist's ja eben, was mich so quält und beschäftigt.«
»Und Sie haben keine Ahnung über das Zustandekommen dieses rätselhaften Zeitverschwindens, Herr Doktor?«, sprach nun auch Großhändler Deckers verwundert.
»Hören Sie zu! Ich habe der Sache wissenschaftlich näher zu kommen versucht. Ich habe mich am andern Tage aufs neue ins Laboratorium begeben — die Beobachtung meiner organischen Präparate machte es notwendig — und ich habe mit der Uhr in der Hand gearbeitet, vielleicht eine Stunde lang. Nie in meinem Leben ist mir eine Stunde so rasend schnell vergangen! Es war mir, als stünde ich still und die Zeit sauste ohne mich davon. Die Minuten schienen zu Sekunden geworden zu sein. —«
»Da säßen wir ja auf der ›Zeitmaschine‹!«, rief Rentier Fennmüller belustigt aus.
Wir lachten — aber die allgemeine Spannung ließ uns schnell wieder verstummen.
»Nur im Laboratorium und nur im Strahlenkreis des Radiums zeigte sich diese merkwürdige Zeitbeschleunigung, diese eigentümliche Wirkung auf den Zeitsinn oder — subjektiv gesprochen — diese Verzögerung meiner physiologischen Funktionen; denn nur s o erscheint mir die Sache einigermaßen plausibel. Nur so nämlich: Genau wie auf die niederen Zellenwesen wirkt die kolossale Radioaktivität auch auf den Zellenkomplex des menschlichen Organismus r e t a r d i e r e n d , hemmt oder bremst die Aufeinanderfolge der physiologischen und damit wohl auch der psychologischen Prozesse; — aber wie gesagt, die Sache ist mir selbst noch zu neu, zu seltsam — man müßte unbeeinflußte Kontrollapparate zum Vergleich heranziehen können: aber die erlebte Tatsache bleibt für mich einwandfrei bestehen, und die e i n e Nacht fehlt in meinem Bewußtsein.«
Dr. Mathieu schwieg. Wir waren wohl alle ungläubig. Plötzlich sagte der Oberlehrer: »Hätten Sie nicht Lust, mit uns allen das Experiment zu wiederholen, Herr Doktor?«
Dr. Mathieu mußte auf unseren Gesichtern die Zweifel an seiner Erzählung gelesen haben; er erhob sich unvermittelt und entgegnete:
»Wenn Sie den Mut haben, mit Ihrem Organismus als Versuchsobjekt zu dienen? Ich bitte nur um ein halbes Stündchen Zeit, um das erwähnte Radiumpräparat aus meinem Laboratorium zu holen. Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!«
»Wenn die Straßenbahn schon hier am Lokal vorbeiführe, hätten Sie's bequemer!«, rief ihm Rentier Fennmüller noch nach, dann sich zu uns wendend:
»Gott sei Dank, in drei Tagen brauchen wir nicht mehr zu Fuß hier herauszupilgern — wieder ein Schritt weiter zu G r o ß Berlin!«
Dr. Mathieu war gegangen. —
»— Glauben Sie an die Geschichte?«, wandte sich Fennmüller zu mir.
»Haben Sie Herrn Dr. Mathieu jemals auf einer Flunkerei ertappt?«, war meine Gegenfrage.
»Es ist sicherlich eine ganz unglaubliche Sache, und wenn es nicht unser lieber Doktor wäre, der sie hier vorbrächte, würde auch ich im Zweifel sein —«
»Ein moderner Siebenschläfer, wie weiland die sieben Brüder von Ephesus, die sich in der dezianischen Christenverfolgung in eine Höhle flüchteten«, flocht Großhändler Deckers lächelnd ein, dessen ungewöhnliche Belesenheit wir oft bewundern mußten, — »nur daß diese sogar 200 Jahre verzaubert lagen, indes die Weltgeschichte an ihnen vorbei von Dezius bis zu Theodosius dem Jüngeren eilte — oder ein zweiter »Mönch von Heisterbach«, der in wenig Stunden drei Jahrhunderte älter wurde.«
— »Die Konsequenzen der Entdeckung müßten geradezu u n g e h e u e r sein«, sagte ich — »denn schließlich würde es dem Menschen dadurch möglich sein, in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung im gewünschten Falle einen Stillstand herbeizuführen — ein ›ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht‹ zu bleiben, während rings um ihn die Zeit ihre rastlosen Zirkel beschreibt —«
»Das Problem der ewigen Jugend wäre dann gelöst, meine Damen«, scherzte Deckers, »auch ohne die Kunst der Kosmetik.«
»Es wird — die Entdeckung einmal als vollendete Tatsache angenommen! — wohl auch dann dafür gesorgt sein, daß die Bäume menschlicher Hoffnungen nicht bis in den Himmel wachsen«, meinte der Oberlehrer nach einer Weile. »Es wird wahrscheinlich der Fall eintreten, daß eine zu lange dauernde Bestrahlung mit Radium die anfängliche › B r e m s w i r k u n g ‹ in eine z e r s t ö r e n d e umwandelt, wie dies ja auch bei tierischen und pflanzlichen Organismen niederer Art unter gleichen Bedingungen schon häufig beobachtet worden ist.«
»Verjüngungskuren! Radiumlichtbäder im Institut ›Jungbrunnen‹, G. m. b. H.!«, ulkte Rentier Fennmüller.
»Das J u n g w e r d e n wird Ihnen Herr Dr. Mathieu wohl durch seine Entdeckung nicht garantieren können«, sagte die ältere Tochter des Oberlehrers zum Rentier mit einem schelmischen Blick auf seinen schönpolierten, kahlen Schädel und die Reste weißer Haare an den Schläfen — »höchstens das Jung b l e i b e n — «
»Dann wird aber wenigstens das Ä l t e r w e r d e n für uns Menschen ein Ende haben, und wer sich noch jung fühlt, wie ich, kann auch damit zufrieden sein!«
Eben trat Dr. Mathieu wieder in die Tür.
»Herr Doktor! Geben Sie mir meine Jugend wieder!«, seufzte Rentier Fennmüller so herzbrechendkomisch, daß wir alle in ein homerisches Gelächter ausbrachen.
»Wir haben hier schon die letzten Konsequenzen Ihrer Entdeckung gezogen, Herr Doktor«, sagte Großhändler Deckers, »und wollen die › R a d i u m b r e m s e ‹ zum langsameren Abrollen unserer Lebensmaschinerie benutzen — was sagen Sie dazu?«
Dr. Mathieu sagte nichts. Mit raschem Schritt trat er in unsern Kreis und stellte ein schweres Bleigefäß, einer kleinen Sprengbombe ähnlich, auf den runden Tisch...
Wir alle beugten uns in atemloser Spannung vor.
Dr. Mathieu öffnete einen Augenblick den Deckel des Behälters, und wir erblickten das Kleinod, von dem er uns so oft schon mit dem freudigen Stolze des glücklichen Besitzers erzählt, für das man ihm ungeheure Summen geboten: — es war e i n g e l b l i c h b r a u n e r K r i s t a l l v o n R a d i u m b r o m i d , f a s t v o n d e r G r ö ß e e i n e r F a u s t ! — Ich sah, daß der Kristall von einer durchsichtigen Hülle umgeben war, die ich anfangs für Glas hielt; Dr. Mathieu sagte mir aber, daß dieser Stoff eine Komposition seiner Erfindung sei, welche besser als Glas alle drei Arten der Strahlen, die # !, - und "Strahlen des Radiums durchlasse, und welche gleichzeitig als Schutzmittel gegen die Hautverbrennung und sonstige Schädigung durch das Radium diene. — »Sonst hätte ich längst keine heile Stelle an meinem Körper mehr«, — setzte er hinzu — »und würde es auch nicht wagen, all die lieben, verehrten Anwesenden dem vernichtenden Bombardement der gewaltigen Elektronen auszusetzen!«
»Nehmen Sie unsern herzlichsten Dank, daß Sie unsertwegen Ihren kostbaren Radiumkristall durch die Winternacht und Winterkälte hierhergebracht haben, Herr Doktor!«, sagte der Oberlehrer verbindlich.
»Ich muß offen bekennen, Herr Oberlehrer, daß ich unterwegs einen Augenblick schwankend wurde, ob ich die Herrschaften nicht doch lieber zu mir ins Laboratorium bitten sollte. Aber die Rücksicht auf unsere Damen, denen ich einen unnötigen Spaziergang in der Januarkälte und in der Dunkelheit des heutigen Abends nicht zumuten wollte« — sein Blick glitt weich wie eine heimliche Liebkosung über das Antlitz der einen, ihm Gegenbersitzenden — »ließ mich davon abstehen. Ich bin ja mit meinem Schatz samt seiner schweren Bleihülle glücklich hierhergekommen. — Aber nun, Herr Sandter«, redete er den eben eintretenden Wirt unseres Lokals an, »geben Sie uns, bitte, für heute Abend das kleine Zimmer nebenan, und versorgen Sie uns mit ein paar Ihrer größten Siphons voll dunklen Bräus — wir möchten hier ein großes, geheimnisvolles Experiment anstellen und ein paar Stunden ganz — aber ganz! — ungestört bleiben! Falls unsere Sitzung Ihnen zu lange dauert, gehen Sie ruhig schlafen — wir wissen ja im Hause Bescheid.«
»Schön, Herr Doktor, wird besorgt!«, entgegnete Sandter — und nach kurzer Zeit saßen wir alle sieben in dem kleinen Vereinszimmer.
— — —
Ja — und wie vermag ich das nun zu schildern, was in den nächsten Stunden mit uns geschah?
— Als Dr. Mathieu das geheimnisvolle Radiumpräparat auf den Tisch im kleinen Zimmer gestellt und aus der Bleiumhüllung herausgenommen hatte, wurden die elektrischen Glühlampen an dem Kronleuchter über uns fast momentan dunkel; nur ganz schwach dunkelrot glühten die Kohlenfäden in den Glasbirnen weiter.
»Nanu —«, rief Rentier Fennmüller, »geht‹s schon los?«
Dr. Mathieu stand rasch auf und schaltete am Einschalter an der Tür den Strom aus.
»Das ist die erste der Wirkungen des Radiums«, sagte er, »es entlädt alle elektrischen Spannungen in seiner Umgebung, und dieser große Kristall raubt somit auch den Glühlampen ihre Energie. Aber warten Sie einen Augenblick: das Radium nimmt nicht nur, es gibt auch!«
Und noch während er sprach, geschah etwas Wunderbares: die luftleeren Glasbirnen der stromlosen Glühlampen begannen von selbst aufzuleuchten in einem grünlichweißen, magischen Lichte, ähnlich dem einer Geißler- oder TeslaRöhre! Ein zauberhafter Anblick! — Und als wir unsere gefesselten Blicke wieder von dem Phänomen herniederwandten, da war es, als seien die Märchen aus »Tausend und einer Nacht« Wahrheit geworden: wie das Auge eines Königs der Geister strahlte der Radiumkristall in blendendhellem, bläulich grünem Schimmer! Etwas unsagbar Rätselvolles begleitete diesen Lichtschein, etwas Unwirkliches, Zukünftiges, Geisterhaftes! Wie gebannt starrten wir auf den Kristall in seiner durchsichtigen Hülle und schlossen doch immer wieder die Augen vor seiner durchdringenden Phosphoreszenz — aber das Radiumlicht durchstrahlte auch die Lider wie Glas, es leuchtete auch durch die vorgehaltenen Hände.
»Ein wenig Geduld!«, rief Dr. Mathieu, als er unsere Lichtscheu bemerkte — »die Retina des Auges gewöhnt sich rasch an die Radiumstrahlen. — Im übrigen wollen wir ihr Licht etwas dämpfen!« Er drehte ein paar Zeitungsblätter zu einer Düte zusammen und stülpte sie über das Präparat.
Schweigend saßen wir alle um das geheimnisvolle Element. Es wurde uns nun doch etwas seltsam zumute! Ich glaube, die Damen bereuten längst ihre anfängliche Bereitwilligkeit.
»Ja — aber — nun bitte ich die Herrschaften, ganz wie sonst zu tun: zu plaudern, zu scherzen, zu trinken, zu musizieren — wir müssen doch unter dem Einfluß des Radiums ein paar sogenannte ›Stunden‹ hinbringen, wenn unser Experiment mit der ›Radiumbremse‹ gelingen soll. Seien Sie überzeugt, das Radium wird das Seine schon dazu beitragen!«, scherzte der Doktor, um wieder Stimmung in unsern kleinen Kreis zu bringen. — — — —
Und so kann ich eigentlich von der ersten Zeit unseres Beisammenseins nicht viel Besonderes berichten. Es wurde eine »Abendschule« — so nannten wir scherzhaft unsere wöchentlichen Zusammenkünfte — wie sonst abgehalten; es wurde debattiert, gescherzt, gelacht, gesungen, und Rentier Fennmüller erheiterte uns wie sonst durch seine Zwischenbemerkungen — nur daß dies alles heute bestrahlt wurde von dem Wunderglanze des Radiums!
Ich versuchte auch, an mir selbst ein paar physiologische Beobachtungen anzustellen: Ich zog die Uhr und begann meine Pulsschläge zu zählen, deren Frequenz ich aus alter Erfahrung genau kannte. Ihre jetzige Zahl betrug kaum die Hälfte der sonstigen!
Dr. Mathieu bemerkte die Uhr in meiner Hand und bat uns, nicht nach der Zeit zu sehen; »denn sonst«, sagte er, »laufen Sie mir alle mitten im Experiment davon!« Wir versprachen es.
Als sich unsere Augen aber nach und nach an die geheimnisvolle Beleuchtung gewöhnt hatten, sahen wir Dinge, die vor uns wohl kein Sterblicher geschaut hatte:
U n s e r e A u g e n b e g a n n e n s e l b s t z u p h o s p h o r e s z i e r e n , gleich denen nächtlicher Raubtiere! Unsere Gesichter erhielten dadurch das Aussehen indischer Götzenbilder, deren Augen aus Edelsteinen bestehen. Die beiden Damen machten diese ebenso frappierende wie unheimliche Beobachtung zuerst — unter den Ausrufen des Schreckens.
»Beruhigen Sie sich, meine Damen«, sagte Dr. Mathieu, »es ist dies eine zweite Wirkung der Radiumstrahlen: fast alle Flüssigkeiten, also auch die unseres Auges, werden selbstleuchtend für die Dauer ihrer Bestrahlung!«
»Vater, wie siehst du aus!«, rief trotzdem die jüngere der beiden Damen entsetzt.
»Du siehst auch so aus!«, sagte der Herr Oberlehrer lachend.
Plötzlich fuhr Großhändler Deckers auf:
»Fennmüller, du hast ja einen Heiligenschein!«
Wir alle starrten nach dem blanken Schädel des Rentiers. Und wir sahen — ja, es ist eigentlich unglaublich! — wir sahen ihn leuchten in mattem, geheimnisvoll hin und her wogenden Lichte.
»Er las bei seinem Heiligenschein
Oft tief bis in die Nacht hinein —«,
zitierte Fennmüller, der in Wilhelm Busch seinen Lieblingsdichter verehrte.
Dr. Mathieu beugte sich vor. »Diese Erscheinung ist auch mir neu«, sagte er, »wahrscheinlich, weil ich meist allein im Laboratorium experimentiere.« Er untersuchte das Leuchten genauer. Nach einer Weile richtete er sich auf und sagte bewegt:
»Meine verehrten Anwesenden — das hat kein Sterblicher bisher geschaut! Wir sehen unter dem Einfluß der Radiumstrahlen ein lebendes Menschengehirn arbeiten!«
Und er beugte sich nochmals über Fennmüllers Kopf.
»Gestatten Sie, Herr Fennmüller?«
»Bitte, meine Herrschaften«, sagte der Rentier, »genieren Sie sich nicht! Wenn ich nun schon einmal ›Durchleuchting‹ geworden bin, will ich mich auch gegen mein Volk huldvoll erzeigen!«
— Und wir sahen, von dem orientierenden Finger des Doktors geleitet, deutlich die beiden Gehirnhemisphären unter der Schädeldecke, sahen die Windungen des Großhirns wurmähnlichkriechend sich bewegen, wir sahen hin und wieder phosphoreszierende Lichtpunkte in der mattleuchtenden Gehirnsubstanz aufblitzen — wie aufflammende Funken in glimmender Kohle — —
»O, wer das mikroskopisch untersuchen könnte mit unseren heutigen vollkommenen Apparaten!«, rief Dr. Mathieu begeistert und doch resigniert zugleich. »Welche Perspektiven in die exakten Naturwissenschaften hat uns schon das Radium eröffnet — und nun verdanken wir ihm vielleicht auch die ersten Aufschlüsse über die Rätsel des menschlichen Geistes!«
»Wie kommt es«, fragte eine der Damen, »daß nur der Schädel des Herrn Fennmüller so durchsichtig geworden ist?«
»O, ich glaube, der Ihres Herrn Vaters zeigt diese Eigenschaft auch!«, sagte der Doktor. »Erlauben Sie einen Augenblick, Herr Oberlehrer!« — damit nahm er diesem das schwarzseidene Käppchen von der kahlen Stirn — und auch hier sahen wir, wenn auch nicht ganz so deutlich, die Arbeit des Gehirns vor uns.
»Es ist eine bekannte anatomische Erfahrung, daß die Schädelknochen bei manchen Menschen sehr dünnwandig sind, von sehr feiner Struktur — und Herr Fennmüller gehört eben zu diesen ›feingebauten‹ Köpfen«, sagte der Doktor, als wir ihn über den auffallenden Unterschied befragten.
»Danke für das Kompliment, Herr Doktor!«, quittierte Fennmüller lachend. »Ja, ja, meine Herrschaften, man besitzt Vorzüge, die man nicht einmal ahnt; ich habe bisher immer für ›dickköpfig‹ gegolten!« — —
Und während wir so Fennmüllers Ausspruch belachten und uns wieder und wieder über seinen phosphoreszierenden Schädel beugten, muß das geschehen sein, was unserem Experiment eine so verhängnisvolle Wendung gab!
Irgendeiner von uns muß durch Zufall zu heftig an die durchsichtige Schutzhülle des Radiumkristalls gestoßen haben, so daß sie wohl einen Sprung erhielt — wir sahen nur, daß plötzlich ein weißglänzender elektrischer Funke die Umhüllung mit lautem Knall durchbrach und auf die darunterstehende Bleibüchse überschlug!
Und nun kann ich nicht so schnell erzählen, als das Kommende geschah!
Diesem ersten Funken folgten bald mehrere, anfangs langsam, bald aber so schnell wie an einem riesigen Induktionsapparat. Das Geknatter wurde unerträglich!
Die Damen schrien auf und flüchteten von unserm Tische. Dr. Mathieu versuchte, den Kristall in das darunterstehende dickwandige Bleigefäß zu bringen und zerbrach dabei — unter dem Einfluß der heftigen Schläge, die seine Finger durchzuckten — die glasähnliche Schutzhülle vollends — —
Und nun begann ein wahres »Radiumgewitter«, das uns allen wohl unvergeßlich bleiben wird.
Fast meterlange, grellzuckende Blitze schossen aus dem mächtigen Kristall nach allen Seiten, nach dem Kronleuchter über uns, nach dem Bleigefäß, nach uns selbst, die wir noch am Tische saßen!
Alle sprangen entsetzt auf...
Ich versuchte zu einer Erklärung dieser »nicht programmäßigen« Erscheinung zu gelangen. Schon lange kannte man diese gefährliche Eigenschaft des Radiums, das in einer Glasröhre eingeschlossen ist, die Eigenschaft, sich selbst auf ein hohes, elektrisches Potential im Laufe der Zeit zu laden. Wenige Milligramm, die in einem Glasröhrchen eingeschmolzen waren, waren imstande, einen so starken Entladungsfunken zu erzeugen, daß er die Glaswand durchbrach, als man sie mit einer Feile ritzte! Und was waren ein paar Milligramm gegen diesen Riesen!
Vielleicht war auch die Bauart unseres Zimmers von Einfluß. Vielleicht führten die gewaltigen elektrischen Ausstrahlungen Spannungszustände herbei. Hinterher erfuhren wir, daß der Fußboden eine in Asphalt gebettete Wellblechschicht als Abschluß gegen den darunterliegenden Keller besaß. Ebenso stand der Tisch und unsere Stühle auf einem Linoleumteppich, der da, wo wir saßen, noch mit einem dicken Fell belegt war.
Aber ich hatte nicht länger Zeit, über meine Erklärungsversuche zu grübeln: die Lage wurde unheimlich! All die gewaltige Energie, die der Kristall unter normalen Verhältnissen erst in Milliarden von Jahren abgibt, kam hier in S e k u n d e n zur Entladung.
Noch einmal versuchte Dr. Mathieu den sprühenden, unter den Entladungsschlägen hin und her hüpfenden Kristall in die dickwandige Bleihülle zu bringen — mit einem furchtbaren Schmerzensschrei ließ er ihn fallen!
Und da ertönte plötzlich ein betäubender Knall, und ein Meer von grünlichblauem Licht überflutete uns alle...
— Dann tiefe Dunkelheit und tiefe Stille —
Endlich rafften wir uns auf.
Großhändler Deckers zündete ein Streichholz an. Der eine eilte nach dem Fenster, um die schwere Rolljalousie aufzuziehen, der andere nach der Tür. —
Nun wurde es hell.
Der Bleibehälter war leer...
D e r k o s t b a r e R a d i u m k r i s t a l l w a r i n A t o m e z e r s p r u n g e n !
— — Wir alle blickten auf Dr. Mathieu.
Er saß am Tische und barg das Haupt in den Händen.
Der Oberlehrer legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Lieber Herr Doktor —«
»Ach, bitte — lassen Sie mich — lassen Sie mich allein!«, rief er gequält aus, ohne aufzusehen.
Nochmals versuchten wir, ihn aufzurichten — vergebens!
Er blieb teilnahmslos. —
Rentier Fennmüller war zuerst aus dem Zimmer ins Freie geeilt.
Plötzlich kam er wieder zurück und winkte uns!
Wir folgten ihm und traten aus der Tür — — D r a u ß e n w a r h e l l e r S o n n e n s c h e i n !
»Sehen Sie doch«, sagte der Rentier, »da steht ja ein Straßenbahnwagen vor dem Eingang des Lokals!«
Wir standen alle und staunten den Wagen an.
»Dr. Mathieus Experiment scheint gelungen zu sein!«, sagte der Oberlehrer mit ernster Stimme.
Rentier Fennmüller eilte zum Schaffner des Wagens, wir hinterher —
»Wie kommt es, daß Sie h e u t e schon fahren? Die Linie sollte doch erst am fünfzehnten dieses Monats eröffnet werden —«
Der Straßenbahnschaffner sah uns neugierig spöttisch der Reihe nach an, dann sagte er:
»Ja — ich weiß nicht — woher sind denn die Herrschaften? Heute ist ja doch der f ü n f z e h n t e Januar —«
»Heute ist — der f ü n f z e h n t e ? «
»Ja, denn gestern war der v i e r z e h n t e , mein Herr!«
»Gestern war doch erst der z w ö l f t e ? Aber Schaffnerchen — —«
« G e l u n g e n , g e l u n g e n ! « , rief ich enthusiastisch aus. « D r . M a t h i e u h a t r e c h t m i t s e i n e r E n t d e c k u n g ! D r e i S t u n d e n s i n d z u d r e i T a g e n g e w o r d e n ! D i e R a d i u m b r e m s e hat richtig funktioniert!«...
Unzählige Augen richteten sich im Sommer des Jahres 19.. nach dem deutschen Himmel. —
Es war eigentlich nichts Besonderes an ihm zu bemerken: er war manchmal heiter, manchmal bewölkt — ab und zu tröpfelte es auch von ihm hernieder — aber die Neugier der Erdenkinder, der großen und der kleinen, war nun einmal wachgerufen —
Aber wir wollen hübsch chronologisch erzählen — selbst auf die Gefahr hin, deshalb weitschweifig zu erscheinen.
An der mecklenburgischen Grenze liegt eine jungaufblühende Sommerfrische: B u r g - D a b e r.
Der Schöpfer und Besitzer des lieblichen Fleckchens Erde, ein Oberförster a.D., namens Huth, saß an einem Junitage dieses Jahres auf einer der vielen, lauschig versteckten Bänke des von ihm angelegten Waldparkes und schaute sinnend ins Weite. Ein Gentleman noch aus der alten Schule, ein sonniggütiges Gesicht, ein Paar scharfe und doch gewinnend-freundliche, blaue Weidmannsaugen!
Er war seit einigen Jahren leidend. Ironie des Schicksals! So viele Hunderte hatten schon in seinem Waldpark Erholung und Genesung gefunden — er selber, an einem schweren, organischen Leiden erkrankt, konnte nicht gesunden.
Und doch hatte er die Sonne so lieb — und wärmte sich so gern an ihren Strahlen!
So saß er auch heute. Ganz in seiner Nähe, in einem von Douglas-Tannen umdufteten Rondell, saßen ein paar Kurgäste, ein Herr und eine Dame. Ein heiteres Geplauder flog zwischen ihnen hin und her.
Die beiden waren kein Liebespaar; er trug einen verräterischen Goldreif an der Rechten, sie an der Linken. Aber sie hatten sich hier in der Sommerfrische als gute Kameraden kennen gelernt und plauderten gern zusammen. — Sie spielen auch keine Hauptrolle in unserer Erzählung; diese übernimmt ganz allein das schon im Titel genannte R ä t s e l d e r L ü f t e...
Heute haben Fräulein Schönthal und Walter Klingenberger besondere Veranlassung, zusammen zu konferieren: in wenigen Tagen wird hier im Waldpark Burg-Daber das alljährliche Sommerfest gefeiert — dazu will er einen Festgruß dichten und sie soll ihn in Musik setzen. Sie studiert Musik an der Königlichen Hochschule in Charlottenburg.
Es ist ein Weilchen still gewesen zwischen den beiden. Sie liest in einem Buche — er schreibt eifrig, mit den Fingern der Linken dabei skandierend. — Nun sagt er plötzlich:
»So, Fräulein Schönthal — wenn ich jetzt einen Augenblick um Gehör und nachher um Ihr Urteil bitten darf —«
»Ich bin ganz Ohr!«, sagt sie aufblickend und das Buch beiseite legend
Und er liest die Verse:
»Burg-Daber steht im deutschen Wald
Als deutschen Geistes Zeichen!
Der Obotriten Kampfgewalt
Brach hier vor deutschen Eichen!
Und was die Väter treu gewahrt,
Trotz feindlicher Gewalten:
Im deutschen Walde deutsche Art —
Den Enkeln blieb's erhalten.
So manche Veste, die geglänzt,
Sank längst in Staub und Trümmer;
Vom deutschen Walde traut umkränzt,
BurgDaber steht noch immer!
Und hier, wo unsre Ahnen gut
Einst schwangen deutsche Waffen —«
»Herr Klingenberger!«, ruft der Oberförster dazwischen —
»Hat deutsches Herz und deutscher Mut —«
»Herr Klingenberger, Herr Klingenberger!«
»Ein deutsches Heim geschaffen.«
Fräulein Schönthal legt die Hand auf seinen Arm. »Erlauben Sie, ich glaube, der Herr Oberförster ruft Sie —«
Klingenberger springt auf. »Ach, Pardon, Herr Oberförster«, sagte er, die wenigen Schritte bis zu ihm hineilend — »ich höre, Sie haben mich gewünscht. Ich war eben für zehn Minuten zum Dichter geworden und gerade dabei, Fräulein Schönthal das Erzeugnis meiner Muse vorzutragen —«
»O — habe ich Sie gestört — dann verzeihen Sie. — Ich habe nämlich eine ganz merkwürdige Beobachtung gemacht, Herr Klingenberger, und wollte doch gern nicht meinen zwei Augen allein trauen — darum rief ich Sie — und —«
»Nun und —«
»Sehen Sie dort oben am Himmel die großen weißen Wolken?«
»Die typische Form der Cumuli oder Haufenwolken«, sagte bestätigend Klingenberger.
»Jawohl — schön! Sehen Sie die große Lücke zwischen den beiden großen Haufenwolken — da! Ganz rechts?«
»Gewiß — ich sehe, was Sie meinen, Herr Oberförster! Die Lücke ist nicht ganz wolkenfrei übrigens —«
»Nein — gut, daß Sie das auch schon beobachten! Sehen Sie auch, daß die kleineren Haufenwölkchen —«
»Cirrocumuli«, — wirft Klingenberger dazwischen.
»Meinetwegen — also, sehen Sie, daß diese kleinen Wölkchen alle von links nach rechts durch die Lücke zwischen den beiden großen Wolken ziehen, Herr Klingenberger?«
»Sehe ich — und was ist nun daran sonderbar? Es herrscht da oben wahrscheinlich diese Windrichtung, Herr Oberförster?«
»O — so weit reicht meine Meteorologie auch noch. Aber — sehen Sie einmal recht scharf hin auf die kleinen Haufenwölkchen oder cirrocumuli, Liebster! Sehen Sie — ungefähr in der Mitte jetzt zwischen den beiden großen Wolken — d a s g a n z e i n z e l n e , s c h a r f a b g e g r e n z t e W ö l k c h e n , d a s s i c h e n t g e g e n g e s e t z t w i e s e i n e N a c h b a r n b e w e g t ? «
»Wahrhaftig, Herr Oberförster — als ob es von einer Maschine vorwärts getrieben würde«, antwortete voller Überraschung der junge Mann. Dann rief er nach dem Rondell gewendet: »Fräulein Schönthal, bitte, kommen Sie doch schnell einmal hierher!«
Und die beiden Herren zeigten der jungen Dame das so unscheinbare und doch so seltsame Phänomen.
»So gibt es auch unter den Wolken eigensinnige Naturen — sehen Sie, Herr Oberförster«, sagte dann lächelnd Fräulein Schönthal — »nicht bloß unter uns Frauen!«
»Aber ›die Wolke‹ ist ja auch ein Femininum, mein liebes Fräulein!«, ist die schalkhafte Antwort des alten Herrn. —
Eben geht der junge Sohn und Geschäftsführer an der Gruppe vorüber —
»Fritz«, ruft nun der Oberförster, »schick' mir doch schnell 'mal meinen Krimmstecher heraus!«
»Sofort, Papa!« Und schnell, wie immer, geht er, den Wunsch des Vaters zu erfüllen.
Nun wird der Feldstecher — ein ausgezeichnetes Exemplar — gebracht. Der alte Herr schaut zuerst mit bewaffnetem Auge nach der seltsamen kleinen Wolke, dann reicht er das Glas den andern. — Nach und nach hat sich ein größerer Kreis von Neu- und Wißbegierigen um ihn versammelt; alle fragen — alle schauen — alle staunen!
Der Blick durch den Feldstecher zeigt die ganze Erscheinung etwas vergrößert und deutlicher, sonst aber kein Detail mehr — —
Aller Blicke hängen an der rätselhaften kleinen Wolke, die nun monatelang die Augen Deutschlands, ja ganz Europas, auf sich lenken sollte.
»Wie hoch schätzen Sie die Höhenlage dieser Haufenwolken?«, fragt der Oberförster, sich an Klingenberger wendend.
»Aus meiner Schulzeit weiß ich noch, daß man den größeren Cumuli eine durchschnittliche Höhe von einem Kilometer zuschreibt —«
»Und welche Ausdehnung geben Sie wohl der kleinen Wolke, die anders will, als ihre Genossinnen?«
»Das ist sehr schwer zu sagen, Herr Oberförster. Dabei spielt die optische Täuschung wieder einmal eine störende Rolle. Dazu hätte man wohl erst genauere Messungen am Fernrohr nötig —«
»Jetzt hat die kleine Wolke die große Wolke links erreicht!«, rief einer der Anwesenden.
Noch einmal schauten sie alle mit gespanntester Aufmerksamkeit empor.
In dem Augenblicke, als sie den Rand der großen Haufenwolke erreicht hatte, war die sonderbare Seglerin der Lüfte verschwunden!
Der Postomnibus, der die Briefe der Kurgäste zur nächsten größeren Poststation beförderte, trug am heutigen Abend z w e i Briefe im Postsack von BurgDaber, die beide das kleine Erlebnis des heutigen Tages zum Inhalt hatten.
Der e i n e war an die Redaktion des »Berliner LokalAnzeigers« adressiert und hatte einen gelegentlichen Korrespondenten dieses Blattes zum Absender. Da Zeilen — Geld sind, so hatte in seiner Schilderung das Wolkenphänomen einen beträchtlichen Umfang angenommen; von der Redaktion für ihren Tagesbedarf zurechtgestutzt, erschien die Notiz am andern Tage unter dem nämlichen Titel, den wir unserer Erzählung vorangesetzt haben: »Ein Rätsel der Lüfte«, Am Schlusse seines sensationell geschriebenen Artikels hatte der phantasievolle Verfasser der Vermutung Raum gegeben, daß es sich vielleicht um ein neues meteorologisches Unikum oder — um e i n e v o n M e n s c h e n h a n d e r z e u g t e M a s c h i n e handle. —
Diese letzte Hypothese wurde von anderen Tagesblättern der Reichshauptstadt eifrig aufgegriffen und weiter entwickelt — es war die saure Gurkenzeit für die Politik gekommen, und die Redaktionen freuten sich des neuen, hochwillkommenen Stoffes: nicht die übliche Seeschlange brauchte diesmal aus den geheimnisvollen Tiefen des Ozeans wieder aufzutauchen — die rätselhafte Wolke schwoll zu immer ungeheuerlicheren Dimensionen an, je öfter man sie den gläubigen Lesern vormalte. Das Thema selbst lag fast allen politischen Parteien bequem, und auch die Witzblätter fanden dabei ihre Rechnung.
Die »Vossische Zeitung« zitierte die klassische Komödie des Aristophanes: »Die Wolken« und zog Parallelen zwischen einst und jetzt. Hans Dominik erörterte im »Berliner Tageblatt« die wissenschaftlichtechnische Seite des Problems, indem er die rätselhafte Wolke als ein Luftfahrzeug von eigenartiger Konstruktion betrachtete und ihre notwendig erforderlichen Dimensionen und Kräfte berechnete. —
»Die Staatsbürgerzeitung« erklärte die ganze Sache entweder für eine fette Ente der »sensationslüsternen Judenpresse« — oder für ein von der »goldnen Internationale gebautes Werkzeug zur Beherrschung der Völker«.
Der »Vorwärts«, das Organ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, empfahl die Wolkenresidenz den Fürsten Europas als sicherstes Buen retiro gegen anarchistische Komplotte.
Das Witzblatt »Ulk« brachte die Abbildung der Wolke unter der allbekannten Überschrift: »Wolkenkuckucksheim« und ließ den luftigen Bau bevölkert sein von hirnverbrannten Erfindern alter, neuer und neuester Zeit. —
Eine originelle Zeichnung lieferte schließlich der »Kladderadatsch»: Ein Luftschiff, dessen wolkenähnlich geformte Ballonhülle zum Zerreißen gespannt und mit sozialdemokratischen Schlagworten geschmückt war; auf der Kommandobrücke stand Bebel und suchte mit dem Fernrohr den Zukunftsstaat — Singer saß am Steuer. Das riesige Vehikel war besetzt mit unzähligen Genossen und Genossinnen. Unten auf der Erde aber hockte auf einem Felsen weinend der zurückgelassene derzeitige Reichskanzler Graf Bülow, und vor ihm stand — Büchmann, in der Linken seinen aufgeschlagenen Zitatenschatz »Geflügelte Worte«, mit der Rechten auf die Stelle deutend:
»Du mußt glauben, Du mußt wagen,
Denn die Götter leih'n kein Pfand; —
Nur ein Wunder kann Dich tragen
In das schöne Wunderland!«
(Schiller, »Sehnsucht»).
— Die meisten Tagesblätter forderten jedoch ernstlich ihre Leser auf, selbst Nachforschungen nach der »rätselhaften Wolke« anzustellen; namentlich empfahlen sie den Amateurphotographen das Phänomen als das interessanteste Objekt für ihren »Kodak«, »Heureka«, »Unikum«, »Klapp«, »Alpha«, »Delta«, »Rapid«, »Treff«, »Knipps« etc. während der vor der Tür stehenden Sommerferien. — — —
Das z w e i t e Schreiben aus dem Postsack von BurgDaber war von Walter Klingenberger an seinen Studienfreund Albin Günther gerichtet, den ersten Assistenten am Königlichen Meteorologischen Institut zu Berlin. Etwas weniger phantasievoll als der Bericht im »LokalAnzeiger«, dafür aber etwas sachlicher und präziser gefaßt, schilderte sein Brief die Entdeckung und Beobachtung der kleinen, weißen, interessanten CirrocumulusWolke, die Tageszeit der Auffindung, die Himmelsgegend, die herrschende Windrichtung, die seltsame Eigenbewegung, die ungefähr ermittelte Höhe im Luftmeer usw. — — —
Assistent Günther meldete das kleine Phänomen sofort den befreundeten Instituten im Binnenlande und an der Seeküste, fragte an, ob ein solches Vorkommnis bereits registriert worden und ersuchte um beiläufige Beobachtung und gefälligen Bericht.
So kam es, daß die Frage nach der »rätselhaften Wolke« auch die Gelehrten vom Fach zu interessieren begann — — —
Im Waldpark BurgDaber hatte man vorläufig jedoch keine Zeit mehr, Wolkenstudien zu treiben: die Vorbereitungen zum großen Sommerfest und das Fest selbst absorbierte die Zeit und Kraft der Kurgäste, soweit sie nicht durch vorgeschriebene Bäder, Waldspaziergänge und Mahlzeiten schon verbraucht wurde.
Gerade, als das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, beim Festspiel auf dem Sportplatze, erhielt Walter Klingenberger einen Brief. Die Pflicht des getreuen Chronisten zwingt uns, ihm beim Lesen des Briefes über die Schulter zu sehen — und da steht folgendes:
»Berlin, den 5. Juli 19..
Mein alter Walter!
Besten Dank im Interesse meiner Wissenschaft für Deinen Bericht! Das dort beobachtete Phänomen ist von mir gestern nachmittag auch gesehen worden. Inmitten einer von Cumuli eingeschlossenen freien Zone des Himmels zog ein einzelnes, ziemlich kleines, deutlich abgegrenztes weißes Wölkchen — ein Mittelding >zwischen der typischen Cumulus- und Cirro-Cumulus-Wolke g e r a d l i n i g seine Bahn am östlichen Firmament, indes die kleineren Cirro-Cumuli vom Winde fast senkrecht zu seiner Richtung emporgetrieben wurden. — Also die von euch dort beobachtete Erscheinung! Die Eigenbewegung der rätselhaften Wolke scheint somit sicher festgestellt. — Es ist mir auch gelungen, mit unserm Tele-Objektiv eine photographische Aufnahme der sonderbaren Himmelsseglerin zu machen, von der ich Dir beifolgend einen Abzug übersende...
Und nun zum zweiten Punkte Deines lieben Briefes. Ach, mein Freund — ich habe alles verloren, was mir die Zukunft sonnig erscheinen ließ, alles! Du fragst nach Regina, fragst, ob der Himmel ihrer Blicke nicht tausendmal interessantere Fragen für einen Meteorologen biete, als der andere droben — fragst, wann Hochzeit sei — ach, das alles les' ich — als wär' es nie wahr, nie möglich gewesen!
Mit kurzen Worten: Regina hat mir Ring und Wort zurückgegeben! Warum sie's getan? — Ach, mein Freund — sie ist selbstlos wie eine Heilige! Um meinetwillen! — Das ist ja eben das Furchtbare, daß sie recht hat, wenn sie ihre Trennung von mir als notwendig erklärt. — Denn — sie ist krank geworden in ihrer Sorge für andere, unheilbar krank. Die Frau ihres Bruders, die schon immer etwas hektisch war (Du kennst sie ja auch!) ist hochgradig lungenkrank geworden — ihre Auflösung ist stündlich zu befürchten.
Seit Jahr und Tag liegt die Sorge um das gesamte Hauswesen und die Erziehung der Kinder auf Reginas jungen Schultern. Allerdings hält der Bruder für die Kranke besondere Pflegerinnen — aber Du kennst Regina in ihrem Marthasinn: das Größte und Schwerste bei der Pflege der Schwägerin tut sie schließlich doch allein! — Und nun hat die Starke, Unermüdliche den Todeskeim auch aufgenommen, hat zu lange ihren Zustand nicht beachtet — heute ist sie nach Aussage des Arztes nicht mehr zu retten! — Und da sie mich zu lieb hat, um mein Schicksal an ihr hoffnungsloses zu ketten, da sie mein Leben nicht auch vernichten will (wie sie schreibt) — hat sie mir das Jawort zurückgegeben!
Vergeblich sind alle meine Versuche gewesen, sie umzustimmen, umsonst mein Bitten und Flehen, umsonst mein Einwand, daß sie im umgekehrten Falle meiner eigenen Erkrankung mich auch nicht verlassen würde — sie bleibt fest! Nur dazu hat sie sich bewegen lassen durch meine inständigen Bitten, ein vor einiger Zeit gegründetes Sanatorium am Südwestabhange des Böhmer-Waldes ›Hoffnungstal‹ aufzusuchen. — Ach, warum war ich nicht reich genug, Regina auf ein paar Jahre nach Ägypten zu schicken — vielleicht hätte sie ja doch noch Heilung gefunden, obwohl der Hausarzt auch dazu nur die Achseln zuckte! — Sie hatte mir das Wort feierlich abgefordert, sie im Sanatorium nicht aufzusuchen... Und nun erfahre ich vor ein paar Tagen durch ein Telegramm, daß sie aus dem Sanatorium v e r s c h w u n d e n ist — spurlos verschwunden — unter Zurücklassung eines Briefes, der die Aufschrift trägt: ›An meine Lieben‹ — und dessen Inhalt die wenigen Worte bilden: ›Sucht mich nicht! Meine Liebe bleibt euch, was auch die Zukunft bringe! — Regina!‹ — Alle Nachforschungen nach ihr sind vergeblich gewesen — alle ausgesetzten Belohnungen über ihre Auffindung erfolglos —
Ob sie ihrem dunklen Schicksal selbst ein Ende bereitet hat — Regina, die Tapfere, Mutige? Ich kann es nicht glauben — niemals! —
So liegt die Zukunft vor mir — grau und trostlos — nicht einmal den Trost habe ich, an ihrem Grabe stehen zu dürfen...
— Aber du hast mir für die kommenden Tage und Wochen und Monate mit Deinem Bericht über die r ä t s e l h a f t e W o l k e wenigstens ein neues Arbeitsfeld gewiesen, hast es mir dadurch leichter gemacht, über mein persönliches Geschick hinwegzukommen — dafür nimm meinen herzlichen Dank! Ich erweise mir selbst eine Wohltat, wenn ich das neue meteorologische Phänomen mit allen mir zu Gebote stehenden Kräften und Hilfsmitteln verfolge. Vielleicht krönt der Erfolg einst die Mühe.
Lebe wohl für heut, mein Alter, empfiehl mich Frau Lotte, und behalte lieb
Deinen
Albin Günther.«
— — Wir mußten das Schreiben bis zu Ende verfolgen — weil seine letzten Zeilen den Faden unserer Geschichte weiter spinnen helfen. Wir haben dabei unvermutet einen Einblick getan in ein leidvolles Menschenschicksal. — — — — —
Die mitgesandte Photographie der sonderbaren Wolke ging unter den Sommergästen des Waldparks Burg-Daber von Hand zu Hand. Das Bild zeigte, wie oben erwähnt, in einem Kranze von CumulusWolken eine kleine, auf breiter Basis aufgebaute Wolkenbildung, etwas w e i ß e r , k o m p a k t e r als die übrigen kleinen Wölkchen, von s c h ä r f e r e n Umrissen — sonst aber nichts Absonderliches.
Unwillkürlich richteten sich die Augen der Beschauer vom Bilde empor zum Himmel — aber der strahlte in wolkenloser Bläue hernieder: er kannte seine Schuldigkeit beim heutigen Sommerfeste.
War so die rätselhafte Wolke dem Gesichtskreise ihrer ersten Beschauer entschwunden, so tauchte sie dafür am Horizonte entfernter Meteorologen auf: Kiel und Hamburg meldeten fast gleichzeitig die Beobachtung des Phänomens — einige Tage später lief auch von der meteorologischen Station auf dem Eiffelturm die gleiche Nachricht ein; der hier weilende Beobachter hatte sogar drei Aufnahmen mittelst des Tele-Objektivs gewonnen. Auch aus Italien und der Schweiz kamen etwas später ähnliche Nachrichten. Auch der Kapitän Köppen des Passagierdampfers » A r i a d n e « meldete auf der Höhe von Madeira die Beobachtung der kleinen Wolke, die — bei völlig wolkenlosem Himmel — in schneller Bewegung am Firmament entlanggezogen, dann, und das war ein überraschendes Novum! — plötzlich Halt gemacht und — in entgegengesetzter Richtung weitergeflogen sei, — bis er sie aus dem Gesichtsfeld des Fernrohres verloren habe. — Diese letzte Beobachtung erregte auch in den Kreises der Fachgelehrten Zweifel und Anfechtung. Man stritt sich in den meteorologischen Zeitschriften noch über Köppens Angabe, führte die Umkehr der Richtung auf optische Täuschungen, hervorgerufen durch Änderungen in der Schiffsgeschwindigkeit, zurück — als plötzlich ein französischer Luftschiffer, ein Freund und Gefährte des bekannten Alberto Santos-Dumont, namens Brunaud, die gelehrte und ungelehrte Welt mit einer Reihe von wohlgelungenen Aufnahmen überraschte, die er von der rätselhaften Wolke v o m B a l l o n a u s erzielt hatte. Mr. Brunaud sagte gleich im Eingange der Begleitschrift zu seinen Bildern, daß ihm das nicht gelungen sei, was er sich zu Beginn seiner Studienfahrten zum Ziel gesetzt habe, daß er aber die bisher erreichten Beobachtungsresultate über das neue Luftphänomen nicht länger der Welt und der Wissenschaft vorenthalten möchte, da nach seiner Meinung die rätselhafte Wolke schwerlich ihrem Wesen nach weiter erforscht werden könne. Und nun entwickelte er seine Hypothese über die seltsame Wolkenbildung, die darin gipfelte, daß die noch nie beobachtete Naturerscheinung — elektrischer Art sei. Wir können hier seinen Ausführungen, die zahlreiche Anfechtungen gleich nach ihrer Veröffentlichung erfuhren, im einzelnen nicht folgen und verweisen die Leser auf die betreffenden Berichte in den »Comptes rendus»; nur die folgenden Sätze wollen wir herausgreifen:
»Das Phänomen ist deshalb noch nie beobachtet worden, weil die Bedingungen zu seiner Entstehung vielleicht nicht in ausreichendem Maße vorhanden waren.«
»Besondere Naturereignisse, wie der letzte Ausbruch des Mont Pelé auf der Insel Martinique, gaben wahrscheinlich die letzte Veranlassung zur Entstehung der rätselhaften Bildung.«
« E i n e W o l k e e l e k t r i s i e r t e n S t a u b e s ist vermutlich die geheimnisvolle Erscheinung.«
»Denken wir uns durch irgend eine Ursache beispielsweise durch Reibung der Aschenpartikelchen an den Kraterwänden eine Elektrisierung des ausgeschleuderten Staubes möglich, so wird der Annahme nichts im Wege stehen, daß die aufsteigende Kraterwolke ihre Ladung behält — auch in den Höhen der Atmosphäre, vorausgesetzt, daß die Adhäsionskraft zwischen den Staubteilchen der Wolke aus nahmsweise einen höheren Betrag, als die abstoßende Wirkung der gleichnamig elektrischen Partikelchen beträgt. Recht lose zerpflückte Kollodiumwolle fliegt nach empfangener elektrischer Ladung nach allen Seiten auseinander; etwas mehr zusammengeballt, behält sie ihre Form auch nach dem Elektrisieren.«
»Die fast von allen Beobachtern als ziemlich konstant erwähnte Höhenlage der Wolke (ca. 1000 m) läßt sich vielleicht als Abstoßungserscheinung zwischen der Erde einerseits und der gleichnamig elektrischen Wolke andererseits auffassen.«
»Auch die rätselhafte E i g e n b e w e g u n g der fraglichen Wolke ist wohl
aus dem Fundamentalsatz der elektrischen Anziehung und Abstoßung sicher zu definieren.«
»Das scheinbar Unerklärliche bleibt die ä u ß e r e Erscheinung der rätselhaften Wolke als kleine Cumulus-Wolke, da man eine Wolke aus Staub- oder Aschenteilchen sich nur als d u n k e l gefärbt vorstellen kann. Aber wenn wir die Annahme machen, daß jedes Staubteilchen in den wasserdampfhaltigen Schichten unserer Atmosphäre einen Kondensationskern bildet für die Bildung von Wasserdampfbläschen, so läß sich der Wasserdampfmantel der Wolke und damit ihre Ähnlichkeit mit einer gewöhnlichen kleinen Haufenwolke ebenfalls physikalisch erklären.«
»Wenn oben die Eigenbewegung der Wolke als Wirkung der Abstoßung oder Anziehung benachbarter Wolkenmassen auf die kleine Wolke erklärt wurde, so läßt sich aus dieser Hypothese doch nicht die Erscheinung genügend herleiten, die Kapitän Köppen von der ›Ariadne‹ in der Nähe der Insel Madeira gemacht hat. Aber diese Beobachtung steht bis jetzt allein unter einer großen Zahl anderer, die eine Bewegung der rätselhaften Wolke immer nur in der Nachbarschaft a n d e r e r Cumulus-Wolken festgestellt haben, so daß Zweifel an der Richtigkeit und Genauigkeit der Notiz wohl gestattet sind...«
— Die beigefügten Aufnahmen waren alle an einem Tage gemacht worden. — M. Brunaud befand sich gerade in Marseille, wo er mit einem Ballon aufzusteigen gedachte, als er mitten in einer Umgebung von weißen Wolken die seltsame Wandrerin des Himmels erblickte, die seit vielen Wochen das Interesse der Gelehrten wachgerufen hatte und die auch ihm in ihren seltsamen Eigenschaften bekannt war. Er stieg sofort auf. Das Glück war ihm hold: er erblickte bald über sich die sonderbare Erscheinung, und es gelang ihm, erst e i n e , und einige hundert Meter höher, auch die z w e i t e photographische Aufnahme des Phänomens zu machen.
Dann verschwand die kleine Wolke in einem Schwarme kleinerer Wölkchen und er hatte Mühe, in dem Chaos die die seltsame Seglerin im Auge zu behalten. Als der Wind die einhüllenden Wölkchen verjagt hatte, sah er das Rätsel der Lüfte fast in gleicher Höhe mit seinem Ballon — aber sie schien sich zu entfernen. Schnell nahm er noch einige Aufnahmen, die sämtlich Seitenaufnahmen darstellten; dann ließ er die Propeller seines Luftschiffs arbeiten, um der sich immer weiter entfernenden Wolke näher zu kommen. Aber es gelang ihm nicht, sich ihr auf kürzere Entfernung zu nähern — selbst die Höchstgeschwindigkeit seiner Motoren brachte ihn nicht über einen Mindestabstand hinaus. Er sah aber doch, und die von hier aus gewonnenen Aufnahmen bestätigten seine Beobachtung, daß die dem Bewohner der Erde völlig w e i ß erscheinende Wolke deutlich in ihrem Innern d u n k l e Partien zeigte. Noch einmal steigerte er die Umdrehungsgeschwindigkeit seiner Schrauben durch Belastung der Ventile zum äußersten — noch einmal bannte er das Bild der geheimnisvollen Wolke auf die photographische Platte — dann sah er die Fruchtlosigkeit weiterer Verfolgung ein: die Annahme stand in ihm fest, daß sein Ballon und die Wolke sich wie zwei gleichnamig geladene elektrische Körper verhielten, die einander immer abstießen, und wenn er der seltsamen Erscheinung bis ans Ende der Welt folgte! Das war das Unmögliche: so unmöglich es ist, zwei gleich geladene Goldblättchen im Elektroskop zur Berührung zu bringen (ohne ihre Ladung zu vernichten), so unmöglich war für ihn die Annäherung an das Phänomen! Aber die Probe auf seine Hypothese wollte er doch noch machen: er bremste die Motoren seines Luftfahrzeugs — nach einigen Sekunden standen die Propeller der Vorwärtsbewegung still — u n d a u c h d i e E i g e n b e w e g u n g d e r r ä t s e l h a f t e n W o l k e h ö r t e a u f ; ihre scheinbare Größe verminderte sich nicht — sie schwamm also ruhig in den Schichten der Atmosphäre.
Mit einem Ruck gab er den Bremshebel frei — und wie ein Pfeil sauste sein Fahrzeug auf die ruhende Wolke los; aber ebenso schnell begann auch s i e ihre Vorwärtsbewegung wieder! — — —
Soviel aus dem Bericht des Aeronauten Brunaud...
Im Auftrage des Meteorologischen Instituts lud Dr. Günther M. Brunaud ein, vor einem geladenen Publikum, das sich aus den Spitzen der Wissenschaft und der Gesellschaft zusammensetzte, einen Vortrag über seine »Wolkenfahrt« zu halten. Da die Zahl der Geladenen sehr groß war und man die Photographien Brunauds möglichst stark vergrößert durch den Projektionsapparat zeigen wollte, wählte man das geräumige Institut der »Urania« als Vortragsraum, das auch den größten derartigen Apparat besaß.
Wir befinden uns im wissenschaftlichen Theater der »Urania«, Die Vorderwand des großen Hörsaals wird von einem mächtigen Projektionsschirm ausgefüllt, auf der die projizierten Photogramme in einer Flächenausdehnung von ca. 35 Quadratmetern erscheinen.
M. Brunaud spricht. Er beherrscht das Deutsche ziemlich gut, und die lautlose Stille in dem überfüllten Auditorium beweist, wie sehr seine interessanten Ausführungen seine Zuhörer fesseln. Geradezu frappierend wirkt die treue Wiedergabe der luftigen Wolkengebilde in so riesiger Größe: es ist fast, als ob man durch einen viereckigen Ausschnitt der Saalwand in den Wolkenhimmel selbst hineinblickte! — M. Brunauds Vortrag nähert sich dem Schlußbilde, das diejenige Photographie der r ä t s e l h a f t e n W o l k e als Lichtbild zeigen soll, die er aus der kleinsten Entfernung vom Ballon aus erhalten, in den betreffenden Berichten »das Detailbild« genannt.
Aller Blicke heften sich in erwartungsvoller Spannung auf die Leinwand, als ein leises Signal des Vortragenden das Erscheinen des Bildes ankündet. —
Und nun steht die rätselhafte Wolke g r e i f b a r n a h e vor den Zuschauern!
Ja — Brunaud hat genau gesehen: auf diesem letzten, schärfsten und größten Bilde zeigt die Wolke deutlich dunkle, freilich verschwommene Flecken!
In dieser kolossalen Vergrößerung machen sich natürlich auch die Fehler der photographischen Platte störend bemerkbar, namentlich an dem unteren Rande der Wolke sind einige solcher Präparationsfehler als häßliche Punkte von schwärzlicher Färbung und unregelmäßigen Konturen zu sehen.
Aber danach blickt jetzt keiner; wie gebannt starren alle auf die verschwommenen Schatten innerhalb der Wolke. Man hat die Empfindung, daß hinter dem weißen Wolkenschleier etwas verborgen ist, man wünscht unwillkürlich, daß ein Windstoß die einhüllenden Nebelmassen verjage —
Dr. Günther, der die Leitung der ganzen Sitzung übernommen hat, richtet schnell ein paar französische Worte an M. Brunaud. Dieser nickt; eine kleine Unterbrechung tritt ein; der Vortragende erklärt, daß man zur Aufhellung der rätselhaften dunklen Partien noch einen mikroskopischen Ansatz vor den Projektionsapparat bringen wolle, wodurch die Vergrößerung des Bildes, die jetzt eine etwa hundertfache sei, eine mehr als z w ö l f h u n d e r t f a c h e werden solle. Er fügte hinzu, daß er selbst gespannt sei auf das Resultat, da er eine so ungeheure Vergrößerung noch nicht für seine Aufnahmen angewandt habe...
Ein Weilchen nahm die Montierung des Apparates in Anspruch, während welcher das helle Licht der Bogenlampen das bisher verdunkelte Auditorium mit seinen Strahlen durchflutete. Wir blicken uns um unter den Geladenen und entdecken einige bekannte Gesichter — auch Walter Klingenberger ist unter ihnen.
Ein kurzes Glockensignal — der Saal liegt wieder im tiefen Dunkel. Ein Zeichen M. Brunauds — und auf der riesigen Wand erscheint nun in z w ö l f h u n d e r t f a c h e r V e r g r ö ß e r u n g die rätselhafte Wolke oder genauer ein kleiner Teil von ihr; denn bei d i e s e r Vergrößerung vermag der Apparat immer nur Teilchen davon zu projizieren.
Mittelst einer am Projektionsapparat angebrachten Schlittenvorrichtung lassen sich jedoch nach und nach alle Teile der photographischen Aufnahme in das Projektionsfeld bringen.
Die Mühe scheint vergebens zu sein: auch bei dieser Riesenvergrößerung ist keine größere Klarheit in die Schattenflecken der Wolke zu bringen — ein wenig lichter erscheinen einige Stellen — das ist alles.
Eben gelangt die untere Partie der rätselhaften Wolke auf den Schirm.
In zwölfhundertfacher Vergrößerung sieht man jetzt auch die Fehler der Platte, die Staubpunkte mit ihren unregelmäßigen Konturen.
« E i n P r o p e l l e r ! «, ruft da plötzlich Dr. Günther ganz laut — und dann setzt er ebenso schnell hinzu: « D i e W o l k e h a t j a F l ü g e l s c h r a u b e n !«
Wahrhaftig! Jetzt sehen es alle: Am unteren Wolkenrande sitzen Triebschrauben! Was bei gewöhnlicher Betrachtung und geringer Vergrößerung als Staubpünktchen oder Präparationsfehler in der Bromsilberschicht der Platte erschien, das erhält durch die auflösende Kraft des Projektionsmikroskops nun seine wahre Gestalt! — Wie ein Sturm ging es durch die Reihen der gelehrten Zuhörer, und immer wieder erklang das Wort:
»Die Wolke besitzt Propeller!«
So schien in diesem Falle die ausschweifende Reporterphantasie der Zeitungsschreiber die Wirklichkeit kaum überholt zu haben. Hinter dem schützenden Wolkenschleier verbarg sich ein Etwas — ein Etwas, das Grund und Ursache hatte, sein Dasein geheim zu halten. Gegen dieses Argument ließ sich kaum etwas einwenden, und die Frage nach der rätselhaften Wolke, die bisher nur neugierige Gemüter und Meteorologen beschäftigt hatte, wurde plötzlich zu einer p o l i t i s c h e n.
Am meisten überrascht schien der französische Aeronaut M. Brunaud zu sein! Mit der Existenz eines von Propellern getriebenen Luftfahrzeuges sank seine schöne, so lückenlos aufgebaute Hypothese ins Nichts zusammen. Anfangs versuchte er noch, seine Behauptung eines elektrischen Phänomens dadurch zu retten, daß er das Vorhandensein der Schraubenflügel am Wolkenbilde für ein Spiel des Zufalls, für eine seltsame Ähnlichkeit harmloser Plattenfehler mit dem Bilde von Schraubenflügeln erklärte — schließlich mußte auch er zugeben, daß die Wolke — k e i n e Wolke sei.
Für ihn, den einzigen Beobachter bis jetzt, der das rätselhafte Phänomen aus so großer Nähe geschaut hatte, erwuchs eben durch die veränderte Sachlage eine innere Schwierigkeit: er sollte seiner photographischen Momentaufnahme m e h r glauben als seinen scharfen Augen. In einem Gespräche mit Dr. Günther erwähnte er diesen Widerspruch.
»Und Sie sind überzeugt, keine Spur einer Maschinerie, keine Triebschrauben gesehen zu haben?«, fragte Dr. Günther.
»Keine Spur, Herr Doktor!«
»Aber Ihre Platte ist doch völlig einwandsfrei in diesem Punkte —«
»Ich muß es zugeben. — Mag sein, daß die Propellerflügel nur für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar gewesen sind in dem Wolkenmantel, der den Apparat verbirgt, gerade den Bruchteil einer Sekunde, der mit der Lösung des Momentverschlusses an meiner photographischen Kamera zusammenfiel — i c h s e l b s t habe auch nicht eine leise Andeutung gesehen, Herr Doktor!«
»Auf welche Geschwindigkeit hatten Sie bei der Aufnahme den Momentverschluß gestellt, Mr. Brunaud?«
»Auf eine t a u s e n d s t e l Sekunde — um nicht durch Überexposition bei der Aufnahme der blendendweiß schimmernden Wolke die erwähnten Details zu verlieren —«
»Dann ist die Sache klar: die gewiß mit rasender Schnelligkeit rotierenden Schraubenflügel blieben — wie die eines tätigen Ventilators z. B. — wohl für das A u g e unsichtbar, für die p h o t o g r a p h i s c h e P l a t t e aber genügte der Lichteindruck einer tausendstel Sekunde, um die Propeller abzubilden. Denken Sie an die Photographie eines fliegenden Geschosses, das auch in seiner Flugbahn dem Auge unsichtbar bleibt!«
Die hohe Politik ließ den Himmelsraum durch Militärluftschiffer nach der r ä t s e l h a f t e n W o l k e absuchen.
Eine wahre Parforcejagd aller der europäischen Staaten, die eine Luftschifferabteilung in ihrem Heere besaßen, begann. Noch nie hatten die friedlichen Staatsbürger so viel und so oft Luftballons am Himmel ihrer Heimat auftauchen sehen —
Schade — daß das edle Wild sich plötzlich nicht mehr am Horizonte blicken ließ! Wie manches weiße CumulusWölkchen, das friedlich seine Bahn zog, wurde von unternehmenden Luftschiffern attackiert, ohne ihnen etwas anderes enthüllen zu können als sein kleines, nebelhaftes, wasserdampfhaltiges Nichts!
Die Zeitungen hatten anfangs die öffentliche Meinung bearbeitet, von den Staatsregierungen die nachhaltigste Verfolgung der geheimnisvollen Luftseglerin zu verlangen, nachdem sämtliche Vertreter der europäischen und auswärtigen Diplomatie im Namen ihrer Länder erklärt hatten, von der Existenz der fraglichen Flugmaschine weder offiziell noch inoffiziell Kenntnis zu haben. Der Gedanke lag sehr nahe, in dem Rätsel der Lüfte ein Produkt staatsfeindlicher Gewalten zu erblicken, das im Gewand eines harmlosen Haufenwölkchens schlimmen Plänen zur Ausführung dienen solle. Namentlich in Rußland hatte man das Gefühl, daß die verkappte Wolkenmaschine zur Erzeugung eines verderblichen Bombenregens alle Eigenschaften besitze — aber auch anderswo! — Die Zeitungen waren es auch, die über die Unzulänglichkeit der staatlichen Luftfahrzeuge und die Unfähigkeit der aeronautischen Truppen zeterten und den Parlamenten ihrer Länder die ernstliche Mahnung gaben, für die nächste Zeit etwas mehr — in die Luft als auf die Erde zu schauen und zu bauen.
Trotz aller Bemühungen gelang es aber nicht, die rätselhafte Wolke wieder am Himmel aufzufinden; seit Mitte September war sie aus den Regionen der Atmosphäre verschwunden.
Es gab Gelehrte, die sich jetzt wieder der Hypothese M. Brunauds zuneigten und die auf seiner letzten Photographie bei kolossaler Vergrößerung sichtbar werdenden Propeller für eine Zufallsbildung und die rätselhafte Wolke für ein elektrisches Phänomen erklärten, dessen spurloses Verschwinden gerade der beste Beweis für seine aus elektrisiertem Vulkanstaub gebildete luftige Existenz sei.
Dr. Günther hatte in den ersten Wochen nach der Entdeckung der Propeller mit einem Kollegen im Auftrage des Meteorologischen Instituts ebenfalls Sondierungsfahrten nach der rätselhaften Wolke unternommen. In Ergänzung der von der MilitärluftschifferAbteilung ausgeführten Ballonreisen, die sich hauptsächlich in der Höhenlage der eigentlichen CumulusWolken hielten, hatte er bedeutend größere Höhen durchforscht, ja, auf einer besonders glücklich verlaufenen Fahrt hatte er die ungeheure absolute Höhe von fast 15 000 Metern, also ca. zwei deutschen Meilen, erreicht — natürlich unter Benutzung des vor zwei Jahren erfundenen Aerophors, der dem Luftschiffer durch Einschließung in eine hermetischdichte Umhüllung unter denselben Druck- und Temperaturverhältnissen zu atmen erlaubt, als auf der Erdoberfläche.
Auf dieser Luftfahrt ohnegleichen hatte er eine Fülle ungeahnter Entdeckungen auf dem Gebiete der Meteorologie, der Wolkenbildung, der elektrischen und magnetischen Zustände der Atmosphäre, der Zusammensetzung der Atmungsluft, der Sonnenstrahlung etc. gemacht, so daß sein Name als der eines begabten und erfolgreichen jungen Forschers in den Kreisen der Wissenschaft einen hellen Klang hatte.
Er war nicht stolz — aber doch dem Geschick dankbar, daß es ihn vor vielen anderen begünstigt hatte, und er hätte namenlos glücklich sein können — wenn die E i n e ihm nicht verloren gewesen wäre, Regina. Nie hatte er wieder etwas von ihr gehört, nie eine Spur von ihr gefunden...
— So ging der Herbst vorüber, und der Winter kam. Nach und nach beruhigte man sich über die rätselhafte Wolke — um so eher, als sie trotz fortgesetzter Beobachtung auf den meteorologischen Stationen nicht wieder signalisiert wurde. —
Aber verschwunden, in kosmischen Staub zerflogen war die rätselhafte Wolke dennoch nicht!
Am 18. Januar des nächsten Jahres meldete ein französischer Offizier aus einer Kolonie am Südwestrande der Sahara das Wiederauftauchen der geheimnisvollen Seglerin.
Und Anfang März sandte ein englischer Reisender photographische Aufnahmen an die »Times«, die er an der Grenze Ober-Ägyptens von der seltsamen Wolke mit einem Tele-Objektiv gemacht hatte...
Sie existierte also — trotz alledem! Namentlich betonte der letzte Augenzeuge, daß sie an dem monatelang als wolkenlos bekannten Himmel Ober-Ägyptens geradezu eine frappierende Erscheinung gewesen sei, in ihrer scharfbegrenzten Gestalt und der schnellen Eigenbewegung mit gar keiner ähnlichen Wolkenbildung zu verwechseln. —
Das waren und blieben aber auch die beiden einzigen sicheren Nachrichten über das Wiedererscheinen des Phänomens.
Im Anfang Juni unternahm Günther einen neuen Aufstieg, der den Zweck hatte, einige Resultate seiner großen Höhenfahrt einer Nachprüfung zu unterwerfen. — Die Zeitungen aller Länder hatten nicht verfehlt, auf die bevorstehende Luftfahrt des berühmten jungen Aeronauten hinzuweisen.
Wieder war das Glück und das Wetter ihm und seinem Begleiter günstig: dank des vorzüglich wirkenden Aerophors gelang es ihm, die im Vorjahr erreichte Höhe noch um 1000 Meter zu übersteigen...
Am Abend — beim Abstieg — setzte eine leichte Brise ein, welche das Luftschiff südöstlich trieb.
— Der Himmel glänzte in märchenhafter Wolkenpracht. Die beiden Gelehrten, die das von der Sonne beleuchtete Wolkenmeer schon so oft vom Ballon aus betrachtet hatten, saßen dennoch schweigend in der Gondel und bewunderten die erhabene Schönheit der Szenerie.
So flogen sie dahin, von einem in allen Farben des Regenbogens schimmernden Wolkenmeere getragen.
Es war eine Stunde, da die Natur so groß wird — und der Mensch so klein!
Traumhaft schön war's um sie beide, und sie überließen sich völlig dem köstlichen Zauber.
Eben riß der Wind eine Lücke in den Wolkenteppich zu ihren Füßen —
»Da ist schon der Böhmerwald«, sagte Günthers Begleiter.
»O, dann öffnen Sie, bitte, das Ventil — wir wollen landen, Herr Doktor!«
Es geschah — zischend entwich das Wasserstoffgas aus der Hülle und sie sanken hinab — durch die Wolkenschicht.
Der Begleiter Günthers kontrollierte am Höhenbarometer das zunehmende Sinken des Ballons —
»2800 Meter — — 2500 — 2000 — 1000 Meter —«
Plötzlich schrie Günther auf:
»Da — dort — dort unter uns — d i e r ä t s e l h a f t e W o l k e !«
Beide Männer beugten sich über den Rand der Gondel und blickten starr hinab...
Etwa dreihundert Meter schräg unter ihnen segelte die geheimnisvolle Wandrerin des Himmels in rascher Fahrt südöstlich.
»Lassen Sie unsere Schraube arbeiten, Herr Doktor!«
Von der Kraft seiner Schraube getrieben, flog der Ballon in schiefer Richtung auf die Wolke zu — sie nahm zusehends an Größe zu — ein Beweis, daß der Ballon ihr näher kam.
Ob der Ballon von ihr oder ihren Insassen noch nicht bemerkt worden war? Jetzt schien die geheimnisvolle Seglerin ihre Vorwärtsbewegung ganz eingestellt zu haben.
»Wir haben mehr Glück als M. Brunaud«, sagte Günthers Begleiter — »sie flieht nicht vor uns! Sehen Sie doch, sie scheint unbeweglich —«
»Volle Kraft!«, war das einzige, was Günther dem Kollegen in tiefer Erregung erwiderte.
Nun befanden sich die beiden dicht an dem Ziele ihrer Fahrt. — In scharf abgezeichneten Konturen stand die weiße Wolkenmasse, ihren großen Ballon an Ausdehnung überragend wie ein Riese den Zwerg, vor ihnen. — Ein Zischen wurde hörbar.
»Was wollen Sie tun, Herr Kollege?«
»Mich an die Wolke noch näher heranwagen, die Wolkenhülle durchbrechen, bis ich Bord an Bord mit ihr schwebe — koste es, was es wolle —«
Und er ergriff das Steuer selbst.
»Aber — vielleicht birgt sie Feinde — Gefahren? —«
Günther sagte nichts darauf. Starr den Blick auf die Gegnerin richtend, steuerte er seinen Ballon vorsichtig näher an die geheimnisvolle Wolke heran...
Jetzt berührte das vordere Ende seines zigarrenförmigen Ballons den Saum der Wolke. —
Da — — mit einem Male zerflatterte der weiße Nebelschleier, wie vom Winde verjagt — und nun — nun lag es vor ihnen — das Rätsel, das die Welt und die Wissenschaft ein Jahr lang in Spannung erhalten hatte!
E i n L u f t f a h r z e u g ! Aber von so gewaltigen Dimensionen, wie sie bis heute unerhört waren in der Aeronautik! Schimmernd weiß leuchtete der schiffsähnliche Bau, der auch sonst die Formen und Ausmessungen eines solchen besaß —
Atemlos in staunender Bewunderung standen unsere beiden Luftschiffer.
»Ein Flugschiff!«, sagte Günther.
»Aber was für ein Riesenbau!«, rief der andere, dann setzte er hinzu: »Wollen Sie noch Ihren Vorsatz ausführen?«
»Gewiß — ich bin es der Wissenschaft schuldig, das Geheimnis dieses rätselhaften Fahrzeugs zu lösen, nun es mir ein glücklicher Zufall so nahe gebracht hat!«
Er ergriff einen der Revolver, mit dem sich die Reisenden für alle Eventualitäten versehen hatten und steckte ihn zu sich. Dann warf er ein Seil nach einem der Vorsprünge des feindlichen Bords und zog seine Gondel dicht heran. —
Kein Wesen war auf dem Luftschiff zu erblicken — nur ein gleichmäßiges feines Summen, wie von riesigen Insektenflügeln, durchzitterte die Luft.
Günther wandte sich an seinen Kollegen:
»Sie bleiben hier in unserer Gondel, lieber Herr Doktor! Sollte die Sache nicht glimpflich enden, kappen Sie das Tau und retten sich und unsern Ballon durch schleunigen Abstieg!«
Er drückte seinem Begleiter die Hand — dann sprang er mit einem kühnen Satze vom Rande seiner Gondel hinüber auf das Deck des rätselhaften Luftungetüms — — —
Da trat aus einer Kabine plötzlich ein Mann auf ihn zu, eine greise Gestalt, aber hochaufgerichtet und jugendlich rasch!
Günther griff unwillkürlich nach seinem Revolver.
Der Unbekannte näherte sich ihm und sagte:
»Sie werden erwartet, Herr Doktor!«
Günther sah ihn verständnislos an —
Noch einmal wiederholte der Sprecher seine geheimnisvollen Worte:
»Sie werden erwartet! Bitte, folgen Sie mir!«
Er schritt voran, mechanisch folgte ihm Günther.
Nun öffnete der Führer eine Tür.
In ihrem Rahmen stand — ein Bild der Gesundheit und Schönheit, wie einst, — R e g i n a .
Günther wich bebend vor ihr zurück, wie vor einer Erscheinung. Da sagte sie mit einem seligen Lächeln auf dem lieben Antlitz: »Deine Regina steht vor dir, Geliebter!«
Der Klang ihrer Stimme riß ihn aus seiner Erstarrung —
»Regina — Regina — Du? Du!«
In fassungslosem Schluchzen sank er vor ihr nieder und barg das Haupt in ihrer Hand.
Sie hob ihn auf.
»Fasse dich, Liebling! Ich bin's, bin wieder gesund, bin dein, und alles Leid ist nun zu Ende!«
In wortlosem Glück küßt er sie wieder und wieder —
Nun klingt ein Schritt hinter ihm.
Regina nimmt seine Hand; dann deutet sie mit der Linken auf den greisen Mann, der nähergetreten ist:
»Da steht mein und vieler anderer Kranken Retter und Vater und Arzt. Don Futura, der Erbauer und Leiter dieses fliegenden Sanatoriums, lieber Albin —«
Günther — immer noch wie im Traum — nimmt die Hand des greisen Herrn und stammelt Worte des Dankes...
»Ja — d a s w a r d a s G e h e i m n i s d e r r ä t s e l h a f t e n W o l k e :
Hinter ihren Wolkenschleiern, die durch fortwährend ausströmenden Wasserdampf gebildet wurden, verbarg sich keine Erfindung der Nihilisten oder Anarchisten — sondern ein Bau des Segens, ein Sanatorium für Lungenleidende in Form eines riesenhaften Flugschiffes. — Don Futura war ein spanischer Edelmann von unermeßlichen Reichtümern, der, nach dem Tode seiner heißgeliebten jungen Gemahlin an Lungenschwindsucht, sein Leben der e i n e n großen Aufgabe geweiht hatte, die Menschheit von dieser furchtbaren Geißel der Völker zu erlösen, die alljährlich e i n S i e b e n t e l aller Todesfälle verschuldet.
Schon früher eifrig naturwissenschaftlich tätig, stellte er nach dem Verlust der geliebten Frau all seine Reichtümer und Kenntnisse in den Dienst seiner Idee...
Von dem Gedanken ausgehend, daß die bisher für diese Kranken erbauten Sanatorien bei all ihren Vorzügen und Erfolgen doch immerhin von örtlichen Witterungsverhältnissen und Temperaturschwankungen abhängig blieben, die oft für den erfolgreichen Aufenthalt verhängnisvoll wurden, beschloß er, eine Lungenheilstätte in der Gestalt eines großen Flugschiffes zu erbauen, das, immer in Luft und Sonne sich wiegend, seine Patienten zur Genesung führen sollte. — Auf einer der unbewohnten Kapverdischen Inseln an der Westküste Afrikas entstand unter der Hilfe ihm ergebener Ingenieure und Techniker nach und nach der wundersame Bau, der durch Flügelschrauben gehoben und getrieben wurde.
Alle Einrichtungen und Erfindungen der Hygiene und Technik fanden ihren Platz auf diesem Fahrzeug ohnegleichen — — —
Vor etwas mehr als einem Jahre begann Don Futura seine Genesungsfahrten, auf welchen die Einhaltung möglichst gleichmäßiger Temperatur- und Klimaverhältnisse seine erste und wichtigste Aufgabe war. So kam's, daß im Sommer Deutschland und Frankreich, im Winter das Mittelmeer und die afrikanische Nordküste bis zur Grenze OberÄgyptens aufgesucht wurde.
Seine Patienten sammelte er durch Vermittlung einzelner ihm bekannter Sanatorien, hauptsächlich aus der Zahl der Kranken, die durch direkt nachweisbare Ansteckung sich ihr Leiden erworben hatten. — So war auch Regina durch Vermittlung des Leiters vom böhmischen Sanatorium auf sein Fahrzeug gekommen. Er konnte ihr keine Heilung versprechen, wie all den andern Leidenden auch nicht — aber schon die nächsten Monate zeigten, daß seine Behandlungsmethode die richtige war: a l l e seine Kranken — und das Flugschiff barg eine große Zahl — befanden sich auf dem Wege der Genesung. —
»Aber — warum hast du mir nicht ein Wörtchen der Hoffnung in deinen Abschiedszeilen hinterlassen, Regina?«, fragte Dr. Günther ein paar Stunden später, in deren Verlauf er all das Vorstehende über das geheimnisvolle Luftschiff erfahren und auch seinen Kollegen draußen im Ballon verständigt hatte.
»Gerade dies wollte ich nicht, Liebster! Wie furchtbar wäre dann eine Enttäuschung für uns beide gewesen! Nein — du solltest an mich denken, wie an eine Verlorene, Dahingegangene! Ist es nicht besser so?« —
In seinen Augen las sie die Antwort. — —
»— Wie haben Sie verstanden, die gesamte zivilisierte Welt in Spannung zu halten!«, sagte im Laufe des Abends Dr. Günther zu Don Futura. »Wenn Sie wüßten, wie Ihre ›rätselhafte Wolke‹ gelehrten und ungelehrten Leuten den Kopf warm gemacht hat —«
»Ich wußte es, Herr Doktor — meine Marconistation auf den Kapverdischen Inseln erhielt mich ja immer auf dem laufenden; Ihre Funkendepeschen signalisierten mir auch Ihren für heute beabsichtigten BallonAufstieg, und wir waren schon lange auf Ihrer Fährte.«
»Und die Verfolgung durch den Aeronauten Brunaud?« —
»Kam mir zu früh, Herr Doktor, und darum ungelegen, weil ich ein Bekanntwerden meiner Idee o h n e gelungene Resultate um jeden Preis verhindern wollte — schon um der tausende armer Kranker da unten auf der Erde willen. — Aber er hat uns tüchtig Arbeit gemacht — fragen Sie nur meinen OberMaschinisten Ellis!«
»— Dann benutzen Sie also die Wolkenhülle nur als eine Verkleidung für Ihr Flugschiff, Don Futura?«
»Sie ist eine erwünschte und auch von mir beabsichtigte Nebenwirkung der ausströmenden Wasserdampfstrahlen, die aus einem rings um das Luftschiff netzartig verzweigten Röhrensystem hervortreten; ihr Hauptzweck aber ist, durch Bindung des Staubes eine absolut reine Atmosphäre herzustellen für die Lungen meiner lieben Patienten, daß sie mit Gottes Hilfe alle wieder ins goldne Leben da unten zurückkehren können, in die Heimat, ins Glück — wie Ihre tapfere Braut!«
— Und segnend, wie ein gütiger Vater, strich er mit weicher Hand über Reginas lockigen Scheitel.
Irgendwo im Weltraume — in der Nähe des Erdballes... Zwei ätherische Gestalten, unsichtbar für sterbliche Augen, eine Frauengestalt und ein Jüngling, im Gespräch.
»Aber heute, teure Tante D i f f u s i o , ruhst du dich einmal aus von deinem Tagewerke —«
»Lieber O x y g e n i u s , ich darf es nicht —«
»O, heute darfst du dir schon einmal Ruhe gönnen, Tantchen, heute, wo wir im Erdressort das Jubiläum des funfhundertfünfundzwanzigbillionten Tages feiern —«
»Da sei eine Ausnahme gestattet, meinst du, junger Sausewind! — Aber solange du mir nicht den wahren Grund deiner sonderbaren Bitte sagst — denn um meinetwillen wirst du wohl nicht so besorgt um Erholung sein — solange —«
»Bestes Tantchen — ich will zwei Erdenkinder glücklich machen, und —«
»Du? Seit wann mischest du dich in fremde Sachen? Das ist Amors Reich!«
»Er hat ja auch sein möglichstes getan, Tante Diffusio — aber er hat mir selber erklärt, daß er ohne die Hilfe der Äthergenien diesmal nicht zum Ziel kommt. Und da er mir ausreichende Gewalt in diesem Falle zutraut, bat er mich um Beistand —«
« D u traust dir zu, Menschenherzen zu lenken, zum Glück zu lenken?«
»Das nicht, liebes Tantchen — das müssen sie selber suchen und finden! Aber Hindernisse aus ihrer Lebensbahn zu schleudern mit den chemischen Kräften meiner Molekular-Armee, Hindernisse, die mit menschlichen Kräften nicht zu überwältigen sind — das vermag ich!«
»Und wenn ich mich bereit fände, heute einmal meinen Dienern und damit mir selbst einen Ruhetag zu verschaffen — werdet ihr euch vertragen ohne meine stetige Gegenwart, du und dein Bruder Azote?«
»Deshalb sorge dich nicht, Herzenstantchen! Wir sind uns ja nicht selbst überlassen im Reich der Atmosphäre: Tante G r a v i t a s ist ja doch bei uns!«
»Ich möchte ja deine Bitte nicht ganz abschlagen —«
»Liebstes, bestes Tantchen, ach, bitte, bitte —«
»Aber ich d a r f ja heute doch nicht feiern — es wäre ja gegen alle Naturgesetze, lieber Oxygenius, ich darf's nicht!«
»So halte deine Diener und Getreuen wenigstens von e i n e r Gegend der Erdoberfläche fern! Sieh hinab! —
Ein Wink seiner Hand — und der Wolkenschleier zu ihren Füßen zerriß — auf seiner Bahn erschien mit einer Geschwindigkeit von dreißig Kilometern der Erdball, und in den ersten Frührotstrahlen lag seine westliche Hemisphäre vor den ewigen, alles durchdringenden Augen der Äthergenien —
»Siehst du den schmalen Landstrich gerade unter uns? Zur Linken grenzt er an den Ozean, zur Rechten zieht eben die Dämmerungsgrenze über ihn hinweg —«
»Ich sehe, was du meinst.«
« D i e s e n Bruchteil der Erde besuche heute nicht, — solange ihn die Sonne bescheint, liebes Tantchen, ich bitte dich nochmals —«
»Es sei, wie du verlangst! Aber unter e i n e r Bedingung: kein Menschenleben darf durch dein Vorhaben zerstört werden, keins! Das mußt du mir geloben, Oxygenius!«
»Ich gelobe es — und ich danke dir, Herzenstantchen!«
Und einen ätherischen Kuß auf die Stirne des weiblichen Genius hauchend, ein göttliches Lächeln der Siegeshoffnung auf dem Antlitz, entschwebte er dem Sternenraum und senkte sich hinab — durch das Wolkenmeer auf unsre Erde.
Der Besitzer des California-Eisenwerkes, Mr. Bruckner, war trotz der frühen Morgenstunde schon in seinem Kontor beschäftigt. Es mußten besonders wichtige Dinge sein, die den reichen Deutschamerikaner auf seine gemütliche Morgenplauderei mit Gattin und Tochter für heute verzichten ließen. Er hatte heute, schon vor Tagesanbruch, ein Telegramm erhalten, dessen Wortlaut ihn so früh vom Lager getrieben hatte und seine Stirn auch jetzt immer wieder in düstere Falten zog —
Auf ein Zeichen mit der elektrischen Klingel trat ein schwarzer Diener in die Tür.
»Bell«, redete er den Eintretenden an, »lauf hinauf zu Mr. Ridingers Laboratorium und sieh, ob er schon zu haben ist — ich lasse ihn dringend bitten, zu mir zu kommen!« —
Der schwarze Bell schloß hurtig die Tür und eilte durch die langausgedehnten Fabrikräume. Im dritten Stockwerk, am Ende eines langen Ganges, befand sich eine kleine eiserne Tür. Bell klopfte, sein großes, muschelförmiges Ohr an die Eisenplatten pressend.
»Herein!«, rief es von drinnen.
Mit einem vergnügten Grinsen öffnete Bell die Tür.
Mr. Ridinger war trotz der frühen Tagesstunde schon mitten in seinen chemischen Untersuchungen.
Ein schlanker, junger Mann am Ende der Zwanzig, ein ernstes, frisches, bärtiges Gesicht, kluge, graue, scharfblickende Augen, blondes Haar.
Der Neger richtete seinen Auftrag aus, und Mr. Ridinger versprach, sofort zu erscheinen...
Felix Ridinger war ein Deutscher, der vor einigen Jahren herübergekommen war. Er war aus guter Familie, hatte in seiner Heimat die Naturwissenschaften studiert und war kurz nach der Vollendung seines Studienganges durch traurige häusliche Verhältnisse gezwungen worden, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Rasch entschlossen, nach einigen vergeblichen Bemühungen im Vaterlande, eilte er nach Amerika und hatte, nachdem er einige Zeit in New York und Chicago tätig gewesen, hier im Westen im Eisenwerke Mr. Bruckners eine ihm zusagende Beschäftigung gefunden.
Gerade sein früheres Fachstudium hatte ihn Mr. Bruckner empfohlen, der für deutsches Wesen und deutsche Wissenschaft eine Vorliebe besaß und auch eine Deutsche zur Frau gewählt hatte.
Schon die ersten Wochen hatten dem Hochofenbesitzer gezeigt, daß er mit Mr. Ridingers Anstellung einen glücklichen Griff getan: der junge Chemiker hatte in einem in der Nähe gefundenen, bisher als Abraum behandelten Mineral ein Flußmittel für die Schmelzung der kalifornischen Eisenerze entdeckt, durch dessen Verwendung die Ausbeute an reinem Eisen fast um 10 Prozent stieg. Auch eine Reihe kleinerer Verbesserungen, die alle darauf ausgingen, den Hochofenprozeß ökonomischer zu gestalten, verdankte Mr. Bruckner dem jungen Deutschen.
Seine Dankbarkeit zeigte er ihm in praktischer Form durch die Einrichtung eines reich ausgestatteten Laboratoriums — wobei er wohl den stillen Hintergedanken hegte, durch Ridingers chemische Arbeiten noch manches für »sein Geschäft« zu profitieren. Auch seiner Familie gegenüber lobte er den ernsten, jungen Mann. —
Es gab eigentlich nur einen in dem großen Hüttenwerke Mr. Bruckners, der vom ersten Tage an dem neuen Chemiker mit schlecht verhehltem Mißtrauen entgegentrat: das war der Betriebsinspektor, Mr. Elliot.
Elliot, ein Mann von großer geschäftlicher Routine, hatte in den drei Jahren seiner Tätigkeit bei Mr. Bruckner es verstanden, völlig dessen Vertrauen zu erwerben, ja, die seit zwei Jahren erfolgenden Schienenlieferungen an die große WesternRailway waren zum großen Teil seinen guten Beziehungen zu verschiedenen einflußreichen Persönlichkeiten zu verdanken.
Mr. Elliot galt außerdem seit einigen Monaten als erklärter Bewerber um Miß Maud, Bruckners einziges Kind. — Die Anstellung Ridingers als Chemiker war gegen Elliots Wunsch und Willen erfolgt; aber Mr. Bruckner hielt für unbegründeten nationalen Eigensinn — Mr. Elliot war VollblutYankee — was hier wohl ganz persönliche Antipathie war, und ließ sich diesmal nicht dreinreden. Übrigens fühlte der junge Ridinger die gleiche Abneigung dem Inspektor gegenüber. Zum Glück kreuzten sich ihre Wege in dem weitausgedehnten Werke nicht oft. — —
— Ridinger stand vor seinem Chef.
»Schön, Mr. Ridinger, daß Sie schon so früh auf dem Wege sind! Da — lesen Sie einmal und sagen Sie mir dann Ihre Meinung!«
Er reichte dem jungen Deutschen das oben erwähnte Telegramm. Es lautete:
»OREGON-CITY, 1. 4. 19..
LIEFERUNG BEANSTANDET. SOFORT KOMMEN!
ELLIOT.«
Mr. Ridinger überflog mit ruhigem Auge den Inhalt der Depesche.
»Nun — was sagen Sie dazu?«, fragte der Werkbesitzer ungeduldig.
»Mr. Elliot hat selbst den Proben beigewohnt, die vor Absendung unserer letzten Schienenlieferung, wie immer, mit dem Material angestellt worden sind: Bruchfestigkeit, chemisches Verhalten, Härte der letzten Chargen sind ebenso, wenn nicht noch besser, als die früheren Lieferungen, Mr. Bruckner!«, sagte der junge Deutsche fest und bestimmt.
»Und Sie können sich für die gleichmäßige Güte der letzten Sendung an die WesternRailway verbürgen, Mr. Ridinger?«
»Ich bin bereit, den Direktoren der Gesellschaft den Beweis dafür durch den Augenschein zu liefern, Mr. Bruckner«, entgegnete Ridinger einfach.
»Schön, lieber Mr. Ridinger, ich habe es mir gedacht und nehme Sie beim Wort. In einer Stunde fahren wir beide nach Oregon City, wohin ich Mr. Elliot schon gestern gesandt habe. Halten Sie sich bereit!« — —
Der junge Deutsche verließ das Kontor seines Chefs, um noch einige Vorbereitungen zu der plötzlichen Reise zu treffen.
Gerade, als er das Vorzimmer durchschreiten wollte, öffnete sich von außen dessen Tür, und Miß Maud trat ein, trotz der frühen Tagesstunde in großer Toilette.
Eine stolze Mädchenerscheinung von seltener Schönheit! Eine hohe, schlanke Figur, ein zartes Antlitz von klassisch edlem Schnitt, ein strahlendes Augenpaar, schimmernd wie Amethyst, ein köstlich roter, kleiner Mund!
Ridinger grüßte mit Ehrerbietung und wollte einen Schritt zurücktreten, um ihr die Tür zum Kontor zu öffnen; sie aber ergriff, freundlich seinen Gruß erwidernd, seine Rechte und sagte heiter:
»Hat das böse Telegramm an Papa Sie auch schon so früh hierhergetrieben, Mr. Ridinger?«
Er bejahte lächelnd und schaute, die kleine Hand leise in der seinen drückend, ihr in die leuchtenden Augen.
»Ich bringe Nummer zwei der Hiobsposten; ich habe sie dem Depeschenboten abgenommen; ich war eben im Begriff, eine Morgenpromenade zu machen. Papa wird wohl nicht schelten, daß ich das Telegramm geöffnet habe — es ist ja von Elliot —«
Felix ließ unwillkürlich die zierliche Hand los, die er noch immer gehalten.
»Denken Sie, Elliot telegraphiert, heute ganz früh sei eine Lokomotive durch ihr eigenes Kesselfeuer verbrannt —«
Eben öffnete von innen Mr. Bruckner die Kontortür. Er schien die letzten Worte gehört zu haben und riß seiner Tochter das Telegramm aus der Hand —
»Auch das noch! Aber wie ist denn das möglich? Eine ganz verrückte Geschichte! Wären wir doch nur erst in Oregon-City! —
In wenigen Minuten war Ridinger zur Abreise bereit: Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß von der ihm von seinem Chef gestellten Frist noch ein Viertelstündchen übrig war. So konnte er die eben gehörten Unglücksnachrichten noch einmal in Ruhe überdenken. — Er hatte unwillkürlich den Verdacht, daß Elliot i h m persönlich einen Streich spielen wollte. Zu seiner Beruhigung sagte er sich, daß bei den Stichproben für das letzte Schienenmaterial der Inspektor sich ja selbst von dessen Güte überzeugt hatte — auch bei den früheren Lieferungen, namentlich den im letzten Jahre auf dem Californiawerk erbauten Lokomotiven, waren alle Prüfungsbedingungen im Beisein Mr. Bruckners und des Inspektors erfüllt worden. —
— Soweit in seinen Gedanken gekommen, griff er nach seinem Zigarrenetui, um noch ein paar Züge zu rauchen. Plötzlich bemerkte er etwas Sonderbares.
Das angezündete Streichhölzchen strahlte hell wie ein Stück brennenden Magnesiumdrahtes. Vergebens versuchte er es auszublasen; er mußte es in den metallenen Aschbecher werfen, und hier brannte es in hellem Glanze bis zu Ende.
Er versuchte ein zweites, ein drittes — die eben beobachtete Erscheinung blieb dieselbe.
Kopfschüttelnd blickte er ein Weilchen in die hellleuchtende weiße Flamme der verbrennenden Hölzchen — dann, von der plötzlich über ihn kommenden Erkenntnis überrascht, schlug er sich vor die Stirn und eilte aus dem Laboratorium, es gegen seine sonstige Gewohnheit u n v e r s c h l o s s e n zurücklassend.
Miß Maud war es gewöhnt, von der Männerwelt gefeiert und umschwärmt zu werden, und die reiche, stolze Schönheit durfte sich über einen Mangel an Bewerbern nicht beklagen. Bis jetzt hatte sie jedoch für keinen ein tieferes Interesse empfunden; sie liebte ihre Freiheit und Selbständigkeit über alles.
Erst die Bewerbungen Mr. Elliots, die anscheinend von ihrem Vater unterstützt wurden, hatten sie etwas nachdenklicher gemacht. Mr. Elliot war anders als die meisten jungen Männer ihrer Umgebung. Der Figur nach größer als die Durchschnittsmenschen, war oder schien er auch in seinem Wesen ihnen überlegen. Er war älter, erfahrener, vielseitiger, hatte viel gesehen und gut beobachtet und verstand ausgezeichnet zu erzählen. So wurde er bald ein gern gesehener Gast in der Familie Mr. Bruckners, dem er sich, wie bereits erwähnt, in geschäftlicher Beziehung fast unentbehrlich gemacht hatte. — Seine Werbungen um Miß Maud wußte er so auszudrücken, daß auch die Mutter Mauds von seinem Wesen bestochen wurde. Noch war zwischen dem jungen Mädchen und ihm nicht das bindende Wort gefallen; sie behandelte ihn in ihrer gleichmäßig freundlichen Weise, wie einen angenehmen Gesellschafter, aber in den Augen Fernstehender galt er bereits als ihr Verlobter.
Und er selbst fühlte sich schon als solcher, namentlich, wenn er mit Miß Maud einige Augenblicke allein war. Dann belebten sich seine etwas müden Züge; seine sonst verschleierten Blicke loderten auf, und heiße Worte kaum unterdrückter Leidenschaft klangen in ihr Ohr. — — —
Nach der Anstellung des jungen Deutschen hatte er den ersten Zwist mit Mr. Bruckner gehabt, dem er vergeblich die Meinung aufzudrängen suchte, daß der herübergekommene Fremde zu jung und die ganze Sache zu wenig »Geschäft« sei. — Den zweiten Ärger bereitete ihm wenige Wochen später Miß Maud, die von Mr. Elliot verlangte, in das neu eingerichtete Laboratorium Ridingers geführt zu werden, und — da er spöttisch und geringschätzig lächelnd sich dem widersetzte — in ihrer selbständigen Art allein dem jungen Chemiker mitten in seinen Arbeiten einen Besuch machte...
Und hier ging dem jungen, verwöhnten Menschenkinde eine völlig n e u e Welt auf! Sie kannte vom menschlichen Leben eigentlich nur das sonnige Genießen in Reichtum und Glanz und betrachtete Arbeit und Tätigkeit höchstens als die Mittel, um Dollar auf Dollar zu häufen: — Zum erstenmal lernte sie hier selbstlose Arbeit in ihrer edelsten Form, der wissenschaftlichen Forschung, kennen. — Sie bat um die Erlaubnis, wiederkommen zu dürfen — und sie kam, entweder allein oder mit ihrer Mutter, und fand immer mehr Interesse an Ridingers Arbeiten. Ein Gefühl stiller Bewunderung stahl sich nach und nach in ihre Seele: dieser junge Deutsche, heimatlos und freundlos hier im äußersten Westen Amerikas, war durch seine Wissenschaft gleichwohl hier wie zu Hause, kannte die geologische und mineralogische Formation ihrer Heimat besser als die hier Geborenen, wußte die stummen Gesteinsproben zu beredter Offenbarung ihrer verborgenen Stoffe zu zwingen und arbeitete schon vor der ihm festgesetzten Dienstzeit und noch lange nachher, rastlos, unermüdlich! Und wie zart er ihrer eigenen Unwissenheit in diesen Dingen zu begegnen vermochte! Wie freute er sich, wenn sie ein schwieriges Thema begriffen, ein entscheidendes Experiment verstanden hatte! — Unbewußt fand sein Bild Raum in ihrer stolzen Brust; sie dachte oft an ihn und freute sich im stillen auf die Besuche im Laboratorium.
Mr. Elliot brauchte sich nicht zu bemühen; sie fand den Weg zum Laboratorium allein. Aber Elliot beobachtete jeden ihrer Besuche und — haßte dafür den jungen Deutschen. Äußerlich zeigte er sich gegen Miß Maud aufmerksamer und liebenswürdiger als je. — —
Und Felix Ridinger? Was fühlte und dachte er, wenn dies reizende Geschöpf ihm so oft gegenübersaß, die herrlichen Augen fest auf ihn gerichtet, dankbar wie eine gelehrige Schülerin? — Es ist die Stunde, in der Miß Maud seit Wochen gewohnt ist, dem Laboratorium einen Besuch abzustatten. Sie weiß, als sie ihr Cab eigenhändig zur Besitzung ihres Vaters lenkt, daß »die Stunde heute ausfällt« wegen der Reise Ridingers nach Oregon-City. — Aber die Macht der Gewohnheit läßt sie, wie sonst, die bekannten Wege des großen Etablissements durchschreiten, lenkt ihren Fuß, wie sonst, zu der kleinen eisenbeschlagenen Tür im dritten Stockwerk des Hauptgebäudes.
Sie lächelt über sich selbst, als sie die Klinke faßt: sie weiß, wie pünktlich und sorgsam Ridinger sein Laboratorium gegen Unberufene abschließt —
Aber — ein Schreck durchzuckt sie fast! — Die Tür ist heute nicht verschlossen!
Sie öffnet scheu und wagt erst gar nicht, einzutreten — Nun steht sie in dem ihr schon so vertrauten Raum, dessen Tür sie hinter sich schließt...
Ein ungewohntes Gefühl, das heut schon den ganzen Morgen in ihr wogt, macht sich hier, im stillen Laboratorium, mit vermehrter Kraft geltend. Wie ein Rausch überkommt es sie jetzt: eine ungewohnte Weichheit läßt ihr schönes Auge plötzlich in sanftem Glanze schimmern.
Dann wieder durchzuckt es sie wie neckischer Übermut; sie möchte dem jungen Deutschen einen Beweis zurücklassen, daß sie in seiner Abwesenheit hier gewesen. —
Sie tritt an den Experimentiertisch. Gar vieles ist ihr hier schon bekannt und vertraut, dank Ridingers Belehrung. — Da, auf dem Platze, wo er sonst arbeitet, liegt ein kleines Notizbuch!
Ob sie es öffnen darf? Wahrscheinlich enthält es Formeln und Berechnungen, deren er zu seinen Untersuchungen bedarf. Wenn sie die eine oder andere sich einprägte und ihn bei ihrem nächsten Besuche mit ihrer neuen Weisheit überraschte?
Schon hat sie es in der Hand und blättert darin. Chemische Formeln und Zeichen, wie sie vermutet hat, und so schwer und unverständlich! Da, fast am Ende, mit kurzen Zeilen beschriebene Seiten — Verse, deutsche Verse!
Sie spricht mit ihrer Mutter Deutsch; sie versteht es, und sie liest:
An M...
I.
Leise nur mit flücht'gem Schritt
Küßt Dein Fuß des Bodens Schwelle —
Nahmst mein Herz im Fluge mit,
Schlanke, zierliche Gazelle!
Elfengleiche Huldgestalt,
Dich nur suchen meine Lieder!
Mit des Zaubers Allgewalt
Rufst Du junge Träume wieder.
Um die Stirn im Grazientanz
Schlingen sich die dunklen Locken,
Und wie reiner Himmelsglanz
Grüßt mich Deines Aug's Frohlocken.
Tief in meiner Seele Grund
Regt sich leis' geheimes Fragen:
Roter, süßer Rätselmund,
Wirst Du je mir Antwort sagen?
II.
Wie schön Du bist! Der Wunderblume gleich,
Fern unter Palmen dort in fremden Zonen!
In Deinen Blicken strahlt ein Himmelreich,
Und Liebesgötter auf der Stirn Dir thronen.
Der Paradiese süßestes verschloß
Des Himmels Huld auf Deinen roten Lippen, —
Den Rosen gleichend dort um Schiras' Schloß, —
An denen träumend bunte Falter nippen.
Wie schön Du bist! Um Deine Lippen zieht
Mein Sehnen, wie der Falter, seine runde,
Und ein Gebet aus meiner Brust entflieht:
Nur einmal laß mich ruh'n an Deinem Munde!
Miß Maud hat das schöne Haupt gesenkt und beschattet die Augen mit der Hand —
Als ob er vor ihr stände, sieht sie plötzlich den jungen Deutschen vor ihrem inneren Auge! Wie mild seine scharfen Augen zu blicken verstehen, wenn er s i e angesehen! Wie beredt wird sein Mund, wenn er i h r etwas erklären darf! Und wie gut versteht sie nun den schwermütigen Ausdruck, der in der letzten Zeit so oft in seinen Augen gelegen, die Wolke stummer Trauer, die auf seiner Stirn gestanden!
Mr. Ridinger liebt — liebt sie! Das weiß sie nun, wenn die Lieder auch nicht die Widmung: »An M...« getragen hätten!
Und hier, auf einer der folgenden Seiten, findet sie auch ihren Namen:
Mein Forschen und mein Wissen
Und was ich trieb so gern,
Wie leicht mag jetzt ich's missen,
Wie liegt es mir so fern! —
Mein Sinnen und mein Sorgen
Bangt sich um Dich allein,
Und jeden neuen Morgen
Bin ich von neuem Dein!
Jetzt frag' und prüf' ich nimmer
Der toten Stoffe Kraft; —
Aus Deiner Augen Schimmer
Strahlt bess're Wissenschaft.
Im schnellen Flug der Tage
Nur e i n e s treu mir blieb,
Mein Lied mit seiner Klage:
O Maud, ich hab' Dich lieb!
— Miß Maud hatte das kleine Buch, das so zum Verräter geworden war, wieder an seinen Platz gelegt. Eine wehmütigsüße Freude erfüllte sie — aber auch ein schmerzliches Gefühl, daß sie heute wohl zum letztenmal in Mr. Ridingers Laboratorium gesessen —
Ihre Gedanken wanderten zu Mr. Elliot. Wie jetzt so manchmal, zog ihr Herz Vergleiche zwischen dem Deutschen und ihm. Was er wohl zu den Versen Ridingers gesagt haben würde? Wie um sie vor solcher Entweihung zu schützen, suchte sie nach einem Versteck, wo sie das Buch verbergen könnte. Alle Schubfächer und Schränke waren verschlossen; den Schlüssel zum Laboratorium hatte nur Ridinger selbst — mitten im Suchen hörte sie ein Geräusch an der Tür. Schnell schob sie das Buch in die Tasche ihres Kleides. — Die Tür öffnete sich. Bells schwarzes Gesicht wurde sichtbar. Es erschien fahl, wie vom Schreck verzerrt —
»O Miß, Miß Maud — wo — wo sein Mr. Ridinger?«
Schnell trat sie auf ihn zu.
»Was willst du von ihm — was ist vorgefallen?«
»Der — der Hochofen brennt —«
»Was sagst du? Bist du von Sinnen? Der aus feuerfestem Stein aufgemauerte Hochofen? —«
»Ja — ja, Miß Maud! Er brennt wie ein hölzerner Turm — und niemand kann die Flammen löschen!«
»Ach Gott — und Papa ist in Oregon-City mit Mr. Ridinger —«
Schnell, wie gesagt, eilte sie aus dem Laboratorium, gefolgt von dem jammernden Neger.
Die Naturgesetze schienen auf den Kopf gestellt zu sein. Als Mr. Bruckner mit dem jungen Chemiker auf dem nahen Bahnhof anlangte, um nach Oregon-City zu fahren, fanden sie dort eine heftig schreiende und gestikulierende Reisegesellschaft. —
Es stellte sich heraus, daß die Lokomotive, die ihren Zug befördern sollte, ihren Dienst versagte. Der Heizer hatte zuerst eine merkwürdige Erscheinung beim Anfeuern des Kessels wahrgenommen: Der Rost, auf dem die glühenden Kohlen lagen, wurde nicht nur rotglühend, wie sonst, sondern geriet in helle Weißglut, und die Steinkohlen selbst verbrannten wie hellflammendes Petroleum und wohl dreimal so schnell als sonst! Der Lokomotivführer besaß noch die Geistesgegenwart, die Kesselventile zu öffnen — dann sprang er ab, gefolgt vom Heizer, der im letzten Augenblick die weißglühenden Kohlen zum größten Teil aus dem Feuerungsraum hatte reißen können; denn schon tropfte das flüssig gewordene Eisen des Rostes herab in den Aschenraum der Maschine. Auch diese Maschine hatte Mr. Bruckner geliefert.
Aber die auf dem Perron stehende Menschenmenge wollte nicht an die Gefahr glauben oder verlangte eine andere Maschine — die Gesichter der Leute zeigten alle ein übertriebenes, fast bläuliches Rot, die Augen waren unnatürlich weit geöffnet und besaßen fieberischen Glanz.
»Überschüssiger Sauerstoff in der Atmosphäre!«, murmelte Ridinger für sich; »aber — wie in aller Welt ist das möglich?«
Er brannte nochmals ein Streichholz an — dieselbe schon vorhin in seinem Laboratorium beobachtete Erscheinung! Nun wandte er sich an Mr. Bruckner:
»Mr. Bruckner — wir dürfen vorläufig nicht die Eisenbahn benutzen, müssen hierbleiben.«
»Warum? Glauben Sie auch an den verdammten Unsinn dieser Leute, — oder scheuen Sie nun doch die Fahrt nach Oregon-City?«
Ridinger wurde bleicher, und eine heftige Entgegnung schwebte auf seiner Zunge. Aber die Ruhe des guten Gewissens und das Vertrauen auf seine Wissenschaft gaben ihm seinen Gleichmut zurück.
Mit kurzen Worten berichtete er seinem Chef die heute morgen von ihm gemachten Wahrnehmungen, daß durch eine unerklärliche Ursache über Nacht eine Veränderung des Sauerstoffgehalts in der ErdAtmosphäre eingetreten sein müsse, daß das sonstige Verhältnis des Sauerstoffs zum Stickstoff — wie 1:4 — jetzt umgekehrt zu sein scheine, daß der Überschuß an Sauerstoff oder Oxygen alle die scheinbar naturwidrigen Erscheinungen, das rasend schnelle Verbrennen der Steinkohlen, das Weißglühen, ja, das schließlich eintretende Schmelzen des Maschinenrostes der unbrauchbar gewordenen Lokomotive ihres Zuges verschuldet habe —
Mr. Bruckner lächelte noch ungläubig, dann sagte er ruhiger: »Aber nach Oregon-City müssen wir heute noch, koste es, was es wolle, Mr. Ridinger —«
»Dann lassen Sie uns ein Automobil benutzen —«
Bruckner rief eins der am Bahnhofe haltenden Motorfahrzeuge an; aber Ridinger winkte dem sich bereitmachenden Führer ab, ebenso einem zweiten und dritten —
»Zum Teufel, Mister, was haben Sie an den Leuten auszusetzen?«
»— An den Leuten nichts, aber an ihren Fahrzeugen! Benzinmotoren nützen uns heute nichts auf der langen Fahrt: die Explosivgase des Benzins werden in der heutigen Atmosphäre fast reines Knallgas — und dessen Expansionskräften sind Zylinder und Ventile des gewöhnlichen Automobils nicht gewachsen! — Aber dies hier hat elektrischen Antrieb! Wie groß ist die Fahrzeit Ihrer Akkumulatoren, Mann?«, redete er den betreffenden Fahrer an.
»Zwanzig Stunden, Herr!«
»Das ist mehr als genug, mein' ich, Mr. Bruckner, um uns, selbst auf Umwegen, nach Oregon-City zu fahren.«
Schon hatte Mr. Bruckner im Automobil Platz genommen. Felix Ridinger knöpfte seinen Überrock zu und faßte dabei instinktiv nach seiner Brusttasche. Ein Schreck durchfuhr ihn: er vermißte sein Notizbuch! Und im gleichen Augenblicke fiel ihm ein, daß er das Laboratorium nicht abgeschlossen habe! Er wurde blaß und unruhig. Ob er nicht lieber unter irgend einem Vorwande nochmals nach dem Eisenwerk zurückfuhr? Aber da traf ihn Mr. Bruckners ungeduldig fragender Blick! Schnell setzte er sich an die Seite seines Chefs, und dahin sauste das schnelle Fahrzeug, in der Richtung auf Oregon City. — — —
Im Direktorialgebäude in Oregon-City war man seit dem frühesten Morgen ebenfalls in Aufregung und Bestürzung. Hier hatte man heute früh die Materialproben an der gestern erfolgten Schienenlieferung aus Mr. Bruckners Eisenwerk im Beisein des Inspektors Elliot und der Ingenieure der WesternRailway unternommen. Diese Stichproben bezogen sich auf Schmelzpunkt, Kohlenstoffgehalt und Bruchfestigkeit des gewalzten Eisens.
Dabei trat der von Elliot, halb mit Ärger, halb mit hämischer Freude, bemerkte, unvorhergesehene Fall ein, daß die genommene Eisenprobe, die nach früher angestellten Beobachtungen bei dem vorgeschriebenen Härtegrad eine bestimmte Zeit der Rotglut ohne Deformierung auszuhalten hatte, plötzlich hell weißglühend wurde und unter Funkensprühen verbrannte!
Eine zweite und dritte Materialprobe ergab dasselbe Resultat. Achselzuckend betrachteten die Ingenieure die geschmolzenen Reste des Probestücks; — dann, nach einer kurzen Konferenz mit ihren Direktoren, erklärten sie die ganze Schienenlieferung für unannehmbar.
»Das ist die neue Wissenschaft dieses verdammten Deutschen!«, sagte Mr. Elliot zu den Direktoren der Gesellschaft; »aber ich hoffe, Mr. Bruckner wird an dieser einen Probe germanischer Weisheit genug haben und baldigst Abhilfe schaffen!« — Und er beeilte sich, das anfangs erwähnte Telegramm an den Besitzer der California-Eisenwerke aufzugeben. Eine boshafte Freude erfüllte ihn, wenn er an die Wirkung dachte, die das Vorgefallene in seinen Konsequenzen auf Miß Maud haben würde. Wie haßte er diesen hergelaufenen Alchemisten, von dessen Tätigkeit sie immer so bewundernd sprach, den sie so häufig im Laboratorium aufsuchte, a l l e i n aufsuchte!
Unterdessen lief die andere Nachricht beim Direktorium ein, daß eine Lokomotive, die ebenfalls aus den Werkstätten der California-Eisenwerke stammte, an ihrem Kesselfeuer in Brand geraten sei. Gleichzeitig langten von einzelnen Stationen der WesternRailway Depeschen an, die ähnliche Vorfälle meldeten. Der Verkehr der WesternRailway stockte vollständig: die Lokomotiven der fälligen Züge hielten die Hitze ihrer eigenen Feuerung nicht aus. Zum Unglück waren sie alle neu, erst innerhalb des letzten Jahres von Mr. Bruckners Werken geliefert, gegen den sich die ganze Erregung der Direktoren und der anwesenden Aktionäre der WesternRailway richtete.
Diese schnell konstituierte Versammlung hätte auf einen unbeeinflußten Zuschauer den Eindruck einer Schar von Wahnsinnigen gemacht. Echauffierte, dunkelblaurote Gesichter, übertrieben lebhaftes Mienenspiel, flackernd glänzende Augen, laut kreischende, sich häufig überschlagende Stimmen überall!
Auch das sonst so schlaffe, bleiche, müde Gesicht Mr. Elliots zeigte jetzt eine unheimliche Lebendigkeit und Röte. Jedem, der es hören wollte, erzählte er wieder und wieder von dem »verdammten Deutschen«, der an allem schuld sei — ja, er ließ sich hinreißen, von neugierigen Fragern aufgestachelt, Miß Maud wegen ihres Interesses an dem »hirnverbrannten Narren« zu verspotten. — Stundenlang tobte der Redestreit der immer sinnloser sich gebärdenden Versammlung, die in leidenschaftlicher Wut nach Mr. Bruckner und namentlich nach dem schuldigen Chemiker verlangte! — Und mitten hinein in diese Horde entmenschter Aktionäre trat, drei Stunden nach seiner Abfahrt vom Werk, der junge Deutsche. Er war seinem Chef einige Minuten vorausgeeilt.
Der Lärm im weiten Saale des Direktionsgebäudes verstummte plötzlich, als Mr. Ridinger eintrat, und man hörte Mr. Elliot sagen: »Da ist der Schuldige!«
Furchtlos, die scharfblickenden Augen fest auf die erregte Menge richtend, stand Felix da. Dann sagte er mit lautklingender Stimme:
»Nicht i c h bin schuld an allem Vorgefallenen, Gentlemen, nicht Mr. Bruckner, dessen Werken Ihre Lokomotiven und Schienen entstammen, nicht« — sein Auge schweifte nach einer Stelle im Saal, wo er die hohe Figur Mr. Elliots aus den Reihen der Versammelten aufragen sah, »nicht Mr. Elliot, sein Betriebsinspektor — kein M e n s c h ist schuld an der unerwarteten Kalamität, sondern d i e N a t u r ! «
Und nun, selber in Aufregung geratend, erzählte er seine Beobachtungen seit heute morgen, brannte ein Streichhölzchen an und ersuchte die ihm zunächst Stehenden, es auszublasen —
»Er ist verrückt«, sagte dieselbe gehässige Stimme von vorhin — »wer weiß, welchen Humbug er uns aufbinden will« —
Eben trat auch Mr. Bruckner in den Saal.
Von allen Seiten stürmte man auf ihn ein, Fäuste erhoben sich gegen ihn —
Mitten im Wort hörte Felix auf und stellte sich schützend vor Mr. Bruckner.
»Halt«, riefen da einige. »Wenn dieser Mr. Ridinger recht hat mit seiner Behauptung von dem veränderten Oxygengehalt der Atmosphäre, dann müßte die auf der WesternRailway eingetretene Kalamität auch in anderen Teilen der Union auftreten — nicht wahr, Mr. Ridinger?«
»Gewiß, Gentlemen — und Mr. Bruckner hat kurz vor seinem Erscheinen hier im Saal eine Anzahl Depeschen an benachbarte und fernere RailwayGesellschaften abgesandt, um dadurch meine Behauptungen bestätigen zu lassen! Nur solange bitte ich um Geduld, Gentlemen!«
»Wenn unsere California-Eisenwerke Ihnen schlechtes Material geliefert hätten, so würde sich das doch nicht bei allen Maschinen z u g l e i c h , a n d e m s e l b e n T a g e herausstellen«, setzte Mr. Bruckner hinzu.
Es wurde wieder etwas ruhiger im Saal. Langsam vergingen die Minuten. Einsam, von den übrigen durch einen Zwischenraum getrennt, stand Felix Ridinger. — Mr. Bruckner war von dem herzutretenden Inspektor Elliot beiseite genommen worden, der leise und leidenschaftlich auf ihn einsprach...
— Plötzlich ein kurzes Klopfen. Ein Diener brachte eine Depesche. »Aus San-Franzisko«, sagte Mr. Bruckner beim Öffnen des Telegramms. Dann las er, wurde dunkelrot und reichte dem jungen Chemiker das inhaltschwere Papier. Es enthielt nur wenige Worte:
»ALLE ZÜGE FAHREN WIE SONST!«
Felix Ridinger zuckte, wie von einem Schlage getroffen, zusammen. Man bemerkte seine Enttäuschung und riß ihm das Telegramm aus der Hand.
»Vorlesen, vorlesen!«, schrie man.
Und es war Mr. Elliot, der mit schneidender Schärfe die Worte der Depesche in die Menge hineinrief:
»Alle Züge fahren wie sonst!«
Ein unbeschreiblicher Lärm erhob sich —
Abermals öffnete sich die Saaltür. Ein neues Telegramm wurde hereingereicht. Der erste beste riß es auf und las es vor: »Aus Chicago! — »Auf den hiesigen Linien nichts vorgefallen!«
Der Tumult erhob sich nach Verlesung dieser neuen Botschaft zu lebensgefährlicher Höhe. Ein Schuß krachte, und dicht an des jungen Deutschen Ohr pfiff die Kugel vorüber!
Hier standzuhalten — einer im Oxygenrausch tobsüchtig gewordenen Menschenmenge gegenüber — wäre Selbstmord gewesen. Alle Vernunftgründe, alle wissenschaftlichen Demonstrationen wären für diese erhitzten Gehirne, die wie die überheizten Lokomotiven ihr eigenes Feuer nicht zu ertragen vermochten, ohne zwingenden Beweis geblieben! Der junge Deutsche riß die Saaltür auf, schob Mr. Bruckner vor sich her und folgte ihm. Mr. Elliot hatte heute so wenig die Partei seines Prinzipals genommen, daß man ihn getrost in der Mitte der Aktionäre lassen konnte.
Zum Glück lag der Saal des Direktoriums zu ebener Erde und dicht am Portal des großen Gebäudes, so daß die beiden Männer in wenigen Sekunden den Platz wieder erreicht hatten, wo das zur Herfahrt benutzte Automobil noch stand. Schon hörten sie hinter sich einige der wütendsten Verfolger schreien.
»Vorwärts, Mann!«, schrie Bruckner dem Fahrer zu und sprang in das Gefährt.
Der Fahrer rührte sich nicht. Er saß stumm und steif wie eine Wachsfigur — Felix rüttelte ihn am Arme. Ein tiefes Aufseufzen war seine Antwort. »OxygenVergiftung!«, rief der junge Deutsche. »Der Fahrer reagiert am heftigsten darauf. Er ist besinnungslos, als ob er sich einen Geneverrausch am SamstagAbend geholt hätte! Bitte, helfen Sie, Mr. Bruckner —«
Beide hoben den Betäubten von seinem Fahrersitz in den Fond des Wagens, und Felix drehte die Kurbel des Einschalters —
Es war höchste Zeit! Eben versuchten zwei der vordersten Verfolger in das Gefährt zu springen; Bruckner stieß den einen selbst vom Trittbrett, der andere verlor bei der rasenden Geschwindigkeit den Halt und kugelte abseits in den Staub.
Sie sausten davon — aber nun hatten die klügeren unter den feindlichen Aktionären auch einige Automobilfahrzeuge in Betrieb gesetzt, und bald verriet ihr immer näher kommendes »Töfftöff« dem jungen Deutschen die anrückende Gefahr. Ein halbes Dutzend Revolverschüsse knallten — zum Glück gingen sie alle ins Blaue!
Felix fuhr mit maximaler Stromstärke, immer den Blick halb rückwärts auf die näher und näher kommenden Verfolger gerichtet. Die Sache wurde bitterer Ernst!
»Haben Sie eine Waffe, Mr. Bruckner?«, fragte er.
»Selbstverständlich!«, rief Bruckner und brachte einen sechsläufigen Revolver zum Vorschein —
»Es ist nur für den Fall der äußersten Gefahr, Mr. Bruckner! Noch haben sie uns nicht, und ich denke, sie werden uns auch nicht kriegen!«
Und weiter ging die Hetzjagd. Schon war das vorderste der drei folgenden Automobile so nahe gekommen, daß man die wütenden Gesichter seiner Insassen deutlich erblicken konnte, als plötzlich ein gewaltiger Krach die Luft erschütterte. Eine riesige Staubwolke verfinsterte die Luft —
Als Felix wieder zu sehen vermochte, war das feindliche Automobil verschwunden —
»Wo ist es geblieben?«, fragte Mr. Bruckner erstaunt. »Hat sich die Erde geöffnet?«
»Es ist geplatzt, Mr. Bruckner, die Explosionszylinder haben dem Druck der Benzingase infolge des höheren Sauerstoffgehalts nicht länger zu widerstehen vermocht —«
Ein zweiter Knall erfolgte, fast ebenso heftig, als der erste.
»Nummer zwei!«, sagte der junge Deutsche. »Ich tat recht daran, für unsere Fahrt ein Elektromobil zu wählen!«
— Aber nach einer Weile erklang das Sausen eines näherkommenden Fahrzeugs von neuem hinter ihnen.
Bruckner erhob sich.
»Ich möchte sehen, wenn es platzt!«, rief er neugierig.
Aber es kam näher und näher — und platzte nicht.
»Teufel!«, rief Bruckner wütend — »diesmal wird's gefährlich!«
»Ja«, sagte Felix, »es hat auch elektrischen Antrieb, wie das unsere und, wie es scheint, einen leistungsfähigeren Motor als wir! Es kommt uns näher.«
»Was sollen wir tun, Mr. Ridinger?«
Felix schwieg. Er maß mit besorgten Blicken die immer kleiner werdende Distanz zwischen sich und dem Verfolger. Ein Wettfahren zwischen ihnen mußte mit dem Siege des feindlichen Automobils enden!
»Was kann uns retten?«, fragte Bruckner erregt.
Der junge Deutsche überlegte noch immer. Plötzlich sagte er:
»Sind Sie ein sicherer Schütze, Herr Bruckner?«
»Ich denke — ja!«, antwortete dieser. »Sie meinen, ich soll die verrückte Gesellschaft —«
»Nein, Mr. Bruckner, wir wollen nicht ohne die äußerste Not Menschenleben opfern, denke ich. Aber wenn Sie auf fünfzig Schritt mit Ihren sechs Revolverkugeln dem Gegner einen oder die beiden Pneumatikreifen der Vorderräder durchlöchern könnten —«
»Habe sonst auf sechs Schüsse fünf Treffer gehabt — allerdings nach der Scheibe —«
»Schön, Mr. Bruckner«, sagte Felix, die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs mindernd — »denken Sie, Sie schössen nach einer Scheibe —«
Die einhüllende Staubwolke wurde lichter. Das feindliche Automobil erschien — jetzt ganz nahe!
Bruckner zielte einen Moment. Der erste Schuß krachte.
»Gefehlt!«, rief Felix —
Als Antwort krachte der zweite Schuß —
»Gefehlt!«, schrie nun auch Bruckner — »Tod und Teufel!«
Der dritte Schuß wurde übertönt von mehreren Schüssen aus den Revolvern ihrer Gegner. Eine ihrer Kugeln traf das Leder ihres Rücksitzes.
»Noch drei Kugeln, Mr. Bruckner —«, sagte Felix ernst.
Nummer vier, fünf und sechs aus Bruckners Revolver knallten schnell hintereinander —
Ein kurzer Knall fiel mitten hinein in das Pistolenfeuer hüben und drüben —
Das Automobil ihrer Verfolger schien einen Augenblick lang still zu stehen in seiner rasenden Fahrt — dann überschlug es sich. — Felix sah noch, wie sich seine drei Insassen unter dem umgestürzten Vehikel mühsam emporarbeiteten — dann riß er die Kurbel wieder herum auf »volle Kraft« — und weiter ging die Fahrt.
»Welcher von meinen drei letzten Schüssen mag nun den Gummireifen getroffen haben?«, fragte Bruckner nach einer Weile.
»Nehmen Sie zur Beruhigung an, alle d r e i , Mr. Bruckner«, sagte Felix lächelnd.
Nach einigen Minuten drehte sich Bruckner wieder um. »Da kommt ja noch jemand hinter uns her — sehen Sie doch —«
»Das ist Mr. Elliot«, rief Felix, der seine Augen mit einem Glas bewaffnet hatte.
Er fährt auf einem Fahrrad der PostOffice«, setzte Mr. Bruckner hinzu. Mr. Elliot kam näher. Er hielt mit der Linken ein Papier hoch.
»Noch ein solch verdammtes Telegramm«, meine sein Chef.
Felix bremste das Automobil. Elliot kam heran.
»Mr. Bruckner — unser Hochofen brennt! Ein Telegramm von Miß Maud« — Er reichte es ihm. »Ich nahm es dem Postboten ab und habe sein Zweirad benutzt, um Ihnen nachfahren zu können«, setzte er hinzu.
»Nun, Mr. Ridinger, halten Sie immer noch fest an Ihrer Behauptung, daß die veränderte Atmosphäre schuld sei an all diesem Unheil?«
Mr. Elliot war mit in das Automobil gestiegen. »Lächerlich«, sagte Elliot darauf. »Schuld sind meiner Meinung nach die von Mr. Ridinger eingeführten neuen Flußmittel der HochofenMöllerung, schuld sowohl an der Kalamität mit unseren Lokomotiven als am Brande des neuen Hochofens, Mr. Bruckner!«
»Ihre Bemerkung macht Ihren chemischen Kenntnissen alle Ehre, Mr. Elliot«, spottete Felix, der nun auch der Wirkung des Oxygenrausches etwas unterlag.
»Sie Grünhorn wollen mich noch foppen — nach allen ihren heutigen Blamagen und Betrügereien?«
»Betrügereien, Elliot! Wahren Sie Ihre Zunge! Sonst, bei Gott — ich bin ein Deutscher und habe eine deutsche Ehre, und kein noch so stolzer Yankee soll sie mir antasten —«
»Ruhe, Mr. Elliot! Ruhe, Mr. Ridinger!«, donnerte Mr. Bruckner dazwischen, den der unausgesetzt dem Gehirn durch die Atmung zugeführte Sauerstoff-Überschuß am wenigsten zu beeinflussen schien — »glauben Sie, ich will hier stundenlang Ihre Streitereien mit anhören? Denken Sie lieber daran, wie der brennende Hochofen zu retten ist! — Hoffentlich hält unser Automobil aus, bis wir unser Eisenwerk erreicht haben! — Sahen Sie unterwegs nicht Spuren unserer Verfolger, Mr. Elliot?«
»An drei Stellen fand ich Automobiltrümmer, Mr. Bruckner, und um sie her saßen, rachgierigen Rothäuten ähnlich, ihre herausgeschleuderten Insassen! Sie rieben sich ihre gequetschten Glieder und fluchten! Gar zu gern hätten sie unsern Mr. Chemiker lebendig gehabt! Ich konnte ihnen leider nicht helfen — hätt's gern getan.«
— Felix Ridinger hörte die spöttischen Bemerkungen Elliots hinter seinem Rücken; aber er sagte nichts mehr darauf. Fest hielt seine Hand das Steuer. Immer weiter ging die rasende Fahrt — immer weiter, und es war dem jungen Deutschen zumut, als fahre er seinem Schicksal entgegen!
Unterdessen hatte man auf dem California-Eisenwerk alles versucht, den Hochofenbrand zu löschen. Die Feuerlöschvorrichtungen des Etablissements waren von den geschulten Arbeitern sofort in Tätigkeit gesetzt worden. Aber weder die riesenhaften Wassermengen, die man gegen den Brand schleuderte, noch die kühnen Versuche, mittels der in nächster Nähe des fast 30 Meter hohen Ofens befindlichen Krane und Aufzüge große Massen von Sand über die weißglühenden Steinmauern des Ofenmantels zu schütten, hatten bisher einen Erfolg gehabt. — —
— Als das Automobil mit seinen Insassen in die zum Californiawerk führende Landstraße einbog, leuchtete ihnen schon der brennende Hochofen wie ein riesiges Fanal entgegen.
Bei der Ankunft am Tor empfing sie Maud. Sie hatte ihr duftiges Promenadenkostüm von heute morgen mit einem dunklen, schlichten Kleide vertauscht. Unermüdlich hatte sie die Leute des Werkes zu neuen Versuchen angespornt, hatte Erfrischungen ausgeteilt, telephonisch die Orte der nächsten Umgebung um Hilfe gebeten —
Flüchtig küßte Mr. Bruckner sie auf die Stirn, dann eilte er an die Brandstätte.
»Ach, Mr. Ridinger, helfen Sie uns«, wandte sich die junge Dame an Felix, nachdem sie Mr. Elliot kurz die Hand gereicht — »die Wissenschaft kennt gewiß Mittel, einen solchen außergewöhnlichen Brand zu löschen!«
»Teuerste Miß Bruckner«, entgegnete Ridinger traurig, »die Mittel meiner Wissenschaft müssen und werden heute alle versagen! Wir stehen heute unter dem Einfluß einer veränderten Atmosphäre, die aus irgend welchen, mir unbekannten kosmischen Ursachen viel mehr Sauerstoff enthält als sonst — und ich habe Ihnen ja neulich durch Experimente zeigen dürfen, wie energisch jede Verbrennung in reinem Oxygen vor sich geht. Sehen Sie, bitte, einen Augenblick her!«
Und zum drittenmal wiederholte er sein Experiment mit dem angezündeten Streichhölzchen.
»Es brennt wie in reinem Oxygen! Wahrhaftig!«, rief sie überrascht aus. —
»Glauben Sie auch an das blödsinnige Märchen vom überschüssigen Sauerstoff in der Luft, liebste Miß?«, war die spöttische Einrede Mr. Elliots, der an ihrer Seite stehen geblieben war — »der sehr kluge Mr. Chemiker hat leider mit seinem niedlichen Experiment bei den Direktoren und Aktionären in Oregon-City kein Glück gehabt! Lassen Sie sich lieber von ihm erzählen, wieviel Revolverkugeln ihm um die Ohren geflogen sind —«
»Mr. Elliot!«, rief Felix erregt.
»Oder habe ich nicht recht, Mr. Ridinger? Haben Sie einen einzigen von uns überzeugt mit Ihrer Weisheit? Hat man jemals etwas davon gehört, daß unsre Luft ihre Zusammensetzung geändert hat? Sie glauben es ja selbst nicht und wollen sich hier nur noch einen erträglichen Abgang verschaffen; denn Sie fühlen, daß Ihre Stunden hier auf dem CaliforniaWerk gezählt sind, Mister! Ihre Schuld ist alles, Ihre Schuld allein war es, wenn Mr. Bruckner der Wut der Aktionäre zum Opfer gefallen wäre!« Dann, sich zu Miß Maud wendend: »Kommen Sie, liebste Miß — wir haben schon viel zu viel unnütze Zeit hier verloren!«
Sie sah den jungen Deutschen mit einem seltsamen Blick an — sie erwartete wohl, daß er auf die harten Anschuldigungen des BetriebsInspektors etwas erwidern würde —
Felix schaute ihr in die groß und fragend aufgeschlagenen, lichtblauen Augen ruhig und fest! Sie fühlte es — ohne seine Worte — so sah kein Schuldiger aus. Und sie reichte ihm stumm die Hand...
— Auch die unter Ridingers Anleitung gemachten Versuche, mit Hilfe der Gebläsevorrichtungen sauerstoffbindende Agentien durch die Düsen mitten hinein in den Brandherd des Hochofens zu blasen — das einzige Mittel, was bisher noch unversucht geblieben war, — blieben ergebnislos.
»Wir sind am Ende mit unsrer Kunst«, wandte er sich nach langem, vergeblichem Bemühen an seinen Chef; »wir haben es eben, wie ich immer wieder betonen muß, mit einem gänzlich veränderten Gaszustande unsrer Atmosphäre zu tun, der nach meiner Überzeugung aber nur ein vorübergehender Ausnahmezustand ist —«
»Sind Sie mit Ihrer Kunst am Ende?«, schrie ihn da mit einem Male der Eisenwerkbesitzer wütend an — »ich fange nun auch an zu glauben, daß nur Ihre verdammten neuen Flußmittel Schuld an all unserm Malheur sind, Mr. Ridinger!« —
»Papa, ich bitte dich —«, suchte ihn Miß Maud zu beruhigen.
»Du schweigst!«, herrschte er sie an.
Der junge Chemiker entgegnete nichts; er sah, daß Mr. Bruckner nun auch der Wirkung des Oxygens unterlag, und um so mehr, je länger er ihr bisher widerstanden hatte — und wandte sich stumm zur Seite. Da begegnete er dem höhnisch lachenden Inspektor... Elliot hatte, nachdem er Miß Maud zu ihrem Vater geleitet, im Auftrage des letzteren Mistreß Bruckner aufgesucht, um das Nichterscheinen aller drei beim Lunch zu melden. — Als Elliot eben im Begriff war, das Vorzimmer der Villa zu betreten, begegnete ihm Lizzie, die Zofe Miß Mauds.
»Heute habe ich etwas für Sie, Mr. Elliot«, sagte sie flüsternd, sich aus seiner Umarmung freimachend — »ich fand es in der Tasche von Miß Bruckners Promenadenkleid; sie mag denken, daß sie es in der Aufregung verloren hat —«
»Gib her, schöne Lizzie! Deinen Lohn sollst du dreifach erhalten!«, — und er riß ihr ein kleines, schwarzgebundenes Buch — Ridingers Notizbuch — begierig aus der Hand.
»Es sind allerlei kuriose Zeichen drin«, sagte die listige Zofe, »aber auch Verse, deutsche Verse —«
»Verdammt«, fluchte Elliot, »ich verstehe nicht Deutsch genug —«
»Aber ich, Mr. Elliot!«
»Du, süßeste Lizzie? Woher denn?«
»Ich habe an den Stunden teilgenommen, die Mistreß Bruckner Miß Maud hat erteilen lassen —«
»O, das ist ja herrlich! Nun, und was steht in den Versen? Schnell!«
»Sie sprechen von seiner Liebe zu Miß Maud —«
Mr. Elliot hatte das kleine Buch aufgeschlagen: »Felix Ridinger«, stand auf der Innenseite des Deckels. Er blätterte schnell über die vielen, mit chemischen Zeichen und Formeln gefüllten Seiten hinweg — es waren ihm Hieroglyphen! — und fand die kleinen Gedichte.
Mit häßlicher Gier durchflog er die Zeilen. Ab und zu war ihm ein Ausdruck verständlich. Die Schlußzeilen des dritten der oben erwähnten Gedichte aber verstand er vollständig:
»O Maud, ich hab' Dich lieb!«
Rasend vor Wut zerknitterte er das Blatt. »Übersetze mir diese Zeilen, schönste Lizzie, ich will dich fürstlich belohnen — aber schnell, schnell —«
Und Lizzie drückte in reimlosem Englisch die Gedanken aus, die der junge Deutsche in seinen schlichten Versen ausgesprochen.
Hämisch und boshaft lächelnd hörte Mr. Elliot zu, dann sagte er:
»Lies mir diese letzten sechs, acht Zeilen noch einmal deutsch vor, kluge Lizzie, bitte!«
»Wollen Sie sie auswendig lernen, Mr. Elliot?«, fragte Lizzie mit einem spöttischen Auflachen.
»Ja, mein liebes Schätzchen — ich will sie jemand vorsprechen.«
»Etwa meiner Miß?«
»Nein — aber jemand anders!«, sagte er voll Hohn.
Und eifrig und gelehrig — auch der Haß ist ein Lehrmeister — sprach er der Zofe die Verse nach:
»Jetzt frag' und prüf' ich nimmer
Der toten Stoffe Kraft; —
Aus Deiner Augen Schimmer
Strahlt bess're Wissenschaft!
Im schnellen Flug der Tage
Nur e i n e s treu mir blieb,
Mein Lied mit seiner Klage,
»O Maud, ich hab' Dich lieb!«
— Dann — nach beendeter Lektion — küßte er die vollen Lippen der hübschen Zofe, ließ sich bei Mistreß Bruckner melden und richtete ihr Mr. Bruckners Auftrag aus.
Schnell, — Haß, Eifersucht und Leidenschaft liehen ihm Flügel! — kehrte er dann zum Werk zurück, wo er, wie erwähnt, eben eintraf, als Mr. Bruckner dem jungen Deutschen den Vorwurf machte, er trage die Schuld an all seinem Unglück —
— »Und wenn Sie wüßten, Mr. Bruckner, wie tätig und eifrig unser Chemiker dabei in seinem Laboratorium ist!«, — setzte Elliot hinzu. Ridinger wandte sich die wenigen Schritte zurück, die er gegangen, und sagte eisig:
»Was soll diese Bemerkung, Mr. Elliot? Was wissen Sie von meiner Arbeit im Laboratorium, in dem Sie sich ja nie haben sehen lassen! Was verstehen Sie überhaupt von Chemie!«
»Soviel verstehe ich, daß der Chemiker eines großen Eisenwerkes nicht angestellt wird, um — Verse zu machen!«, rief Elliot mit schneidendem Hohn.
»Verse zu machen? — Ich verstehe Sie nicht, Mr. Elliot —«
»Jawohl, Verse, deutsche Verse«, fuhr jener sinnlos vor Wut und Aufregung fort — »oder ist dies nicht Ihr Eigentum, Mr. Ridinger?«
Triumphierend zog er das kleine Notizbuch aus der Tasche —
»Wie kommt das in Ihre Hände, Elliot?«, fragte der junge Deutsche statt einer Antwort, und auch Miß Maud, die alles mit angehört, sprach mit heftigem Erschrecken:
»Woher — woher haben Sie dieses Buch?«
»Das sollten S i e mich lieber nicht fragen, liebste Miß!«, sagte Mr. Elliot mit eigentümlicher Betonung und mit einem drohenden Blick seiner auflodernden Augen, »genug, ich habe es gefunden. — Hier!« er warf es Felix vor die Füße. »Ja ja, Mr. Bruckner, Ihr neuer Chemiker hat jetzt ganz andere Dinge im Kopfe!«
Und mit häßlichem Pathos, das durch seine halb englische Aussprache der deutschen Laute noch abstoßender klang, begann er:
»Jetzt frag' und prüf' ich nimmer
Der toten Stoffe Kraft; —«
»Schweigen Sie, Mr. Elliot«, rief Felix, fast flehend, »ich — bitte Sie! Schweigen Sie um — Miß Mauds willen —« Aber wie ein seelenloser Phonograph sprach Elliot weiter:
»Aus Deiner Augen Schimmer
Strahlt bess're Wissenschaft!
Im schnellen Flug der Tage
Nur e i n e s treu mir blieb —«
»Elliot«, sagte da das junge Mädchen, leise seine Hand fassend — aber er riß sich los und sprach mit spöttischer Geste zu Ende:
»Nur e i n e s treu mir blieb,
Mein Lied mit seiner Klage,
›O Maud, ich hab' Dich lieb!‹«
Mr. Bruckner, der das Deutsche beherrschte, den Zusammenhang der ganzen Sache aber offenbar nicht völlig durchschaute, schüttelte den Kopf — — Felix ging, ohne ein Wort, ohne jemand anzusehen, hinweg, nach seinem Laboratorium. Es war ihm, als ob man sein Heiligstes mit Füßen getreten, als ob man sein Geheimnis, das er so fest im innersten Schrein seines Herzens verschlossen, freventlich, mitleidlos, erbarmungslos herausgezerrt habe an das grelle Licht des Alltags! — Es dunkelte fast, als er an der Tür seines Laboratoriums, das mit seiner kleinen Behausung verbunden war, anlangte. Wie er vermutet, fand er die eisenbeschlagene Tür unverschlossen. »Der Schurke Elliot wird irgend eine seiner Kreaturen, — er hat ja hier auf dem Werk so manche — mir zum Aufpasser bestellt haben, und der hat ihm mein Notizbuch überbracht —«
Er griff nach seiner Brusttasche, wo er das kleine Buch vorhin geborgen, und zog es hervor. Wie entweiht kamen ihm die kleinen Lieder vor! Er versuchte zu lesen, — war es die beginnende Dunkelheit, waren es heimliche Tränen — die Zeilen schwammen ihm vor den Augen; er erhob sich, um Licht zu machen. Schon faßte er den Knopf des elektrischen Einschalters — aber er scheute sich förmlich in seiner Verlassenheit vor dem allzu hellen Lichtmeer der Glühlampen; er griff nach seinem Taschenfeuerzeug, um eine vor ihm stehende Kerze anzuzünden —
Erst beim Aufflammen des Streichhölzchens fiel ihm wieder der veränderte Sauerstoffgehalt der Atmosphäre ein —
Aber, siehe da! Das Streichhölzchen brannte wie sonst! Und auch die angezündete Stearinkerze des Tischleuchters leuchtete wie gewöhnlich!
»Gott sei Dank«, sagte er — »nun muß ja alles wieder in normaler Weise zugehen, und auch Mr. Bruckners Hochofen wird erlöschen!« — Aber was kümmert ihn jetzt das alles noch? — — Er wußte, daß der morgende Tag ihm alles nehmen würde, was ihm bis zu dieser Stunde sein Leben lebenswert gemacht hatte —
So saß er, die Augen mit der Hand bedeckend, träumend an seinem Experimentiertische. Niemand sah, daß er weinte. — An Miß Maud dachte er, und daß er sie nie mehr sehen würde! All die köstlichen Augenblicke fielen ihm ein, wo sie hier vor ihm gesessen und seinen Worten gelauscht! Das würde nie mehr geschehen! — —
Und da stand sie vor ihm! Als ob es eine Erscheinung wäre, hob er abwehrend die Hand —
Aber sie ergriff seine Rechte mit beiden Händen und sagte weich: »Ich bin's, Mr. Ridinger, — ich komme, um ein Unrecht einzugestehen und gutzumachen!«
Und sie erzählte ihm leise, demütig das schöne Haupt gesenkt, wie sie heute morgen hier in seinem Laboratorium gewesen, dessen Türe sie offen gefunden, daß sie auf diesem Platze sein Notizbuch entdeckt und darin geblättert, um irgend eine chemische Formel zu suchen, mit der sie ihn habe überraschen wollen, daß sie dabei auch seine Gedichte gelesen —
Und das stolze Menschenkind neigte sich bei diesen Worten hernieder und küßte des jungen Mannes Mund. Felix war es wie ein köstliches Märchen, wie ein Traum, und er schloß die Augen, weil er zu erwachen fürchtete. —
Und weiter berichtete sie, daß ihre Zofe Lizzie das kleine Buch, das sie in ihrem Kleid geborgen, um es vor unberufenen Augen zu hüten, entwendet und Mr. Elliot ausgehändigt habe. Das letztere habe ihr eben Mama erzählt, welche die beiden schon öfter beobachtet, aber ihr nichts davon habe sagen wollen. Elliot und Lizzie seien wohl auch sonst im Einverständnis miteinander gewesen, setze sie mit einem tiefen Erröten hinzu. Mama habe das alles gewußt, ihr jedoch deshalb nichts verraten, weil sie geglaubt habe, sie liebe Elliot. Aber — das schöne Mädchen richtete sich mit einer königlichen Bewegung auf — sie liebe ihn n i c h t , und niemals habe sie das so deutlich gefühlt als in dem Augenblicke, als Elliot jene deutschen Verse in herzlosem Spott preisgegeben.
— Sie unterbrach sich hier mitten im Wort —
»Hörten Sie das Geräusch eben auch, Mr. Felix?«, fragte sie unvermittelt.
»Ja, Miß Maud — es war der Pfiff einer Lokomotive, drüben vom Bahnhof her!«
»So fahren die Züge wieder?«
»Wahrscheinlich, teuerste Miß! Haben Sie denn noch gar nicht bemerkt, daß das Licht vor Ihnen auf dem Leuchter wie sonst brennt? Der merkwürdige Ausnahmezustand der Atmosphäre ist vorüber, und alles wird wieder in sein altes Geleis zurückkehren, — nur ich nicht!«
»Sie nicht? Warum Sie nicht?«
»Ich meine, es ist für Sie und für Ihren Herrn Vater besser, wenn ich meine Stellung hier aufgebe —«
»Sie wollen fort? Elliot wird Sie nicht mehr beleidigen, dafür lassen Sie mich sorgen, Mr. Ridinger —«
»Ich muß fort von hier«, sagte Ridinger, ihre Hand in die seine nehmend, »ich — ich — liebe Sie, Miß Maud, und nun Sie es wissen, muß ich scheiden! Was soll ich hier länger mit diesem hoffnungslosen Gefühl, mein angebetetes Mädchen?«
Sie sah ihm voll ins Antlitz — einen Augenblick lang — mit einem hinreißenden Ausdruck neckischer Schalkhaftigkeit und versteckter Zärtlichkeit in den jetzt tiefblau schimmernden Augen; dann sagte sie leise:
»Muß es denn hoffnungslos b l e i b e n , Mr. Felix?«
»Maud, liebe Maud!«, jauchzte da glückselig der junge Deutsche und wollte ihr nacheilen, die gazellenschnell sich ihm entwunden und die Tür erreicht hatte —
»Sst!«, rief sie, den Finger hebend, »hören Sie, wie die Eisenbahnzüge vorübersausen, — das muß ich schnell erst dem bösen Papa verkünden! Auf Wiedersehen — — morgen!« —
Sie huschte hinaus. Felix aber stand noch lange, und es war der Tau des Glückes, der ihm nun die bärtigen Wangen netzte.
— Am andern Morgen ließ sich der junge Deutsche bei Mr. Bruckner melden.
»Freut mich, daß Sie kommen, Mr. Ridinger! War gestern ein merkwürdig verrückter Tag! Da — lesen Sie! Alles ist wieder im Lot! Schon seit gestern Abend fahren alle Züge der WesternRailway wieder. Und auch unsre Schienenlieferung ist anstandslos von der Direktion angenommen; Direktor Jenkins telegraphiert sogar, daß das Material die Proben heute besser ausgehalten habe, als alle früheren Lieferungen —«
»Ich wußte es, Mr. Bruckner!«, sagte der junge Mann einfach. »Es war die Schuld der ungewöhnlich zusammengesetzten Atmosphäre, nicht meine Schuld —«
»Weiß es, lieber Freund, habe Ihnen manches abzubitten, — falls Sie es nicht lieber von meiner Tochter hören wollen —«
Ein Frauengewand rauschte hinter Felix —
»Miß Maud«, sagte er, sich errötend umwendend und die Hand des jungen Mädchens an die Lippen ziehend.
Mr. Bruckner sagte mit einem gütigen Lächeln: »Sie müssen für die nächste Zeit einen Teil der Inspektionsarbeiten hier im Werk übernehmen, Mr. Ridinger, — denn Mr. Elliot ist seit heute morgen verschwunden —«
»— und meine Zofe Lizzie auch!«, vollendete mit einem Erröten der schönen Wangen seine Tochter.
»Mr. Bruckner«, sagte der junge Deutsche, ernst und bewegt, Miß Mauds Hand loslassend und seinem Chef einen Schritt näher tretend — »noch wissen Sie nicht, daß der gestrige Tag ein Tag des Segens und der Gnade — für mich gewesen ist. O, wenn es gute Genien gäbe, die da oben über den Wolken die Schicksale armer Sterblicher an diamantnen Fäden lenken, so möchte ich glauben, daß gestern ein solcher himmlischer Genius mein Geschick durch Not und Verfolgung und Mißgunst zum Segen geführt hat!«
Mr. Bruckner sah ihn fragend an.
Ridinger wandte sich zu Miß Maud, die zärtlich ihres Vaters Arm erfaßt hatte:
»Darf ich weitersprechen, teuerste Miß? Darf ich verraten, was ich seit gestern weiß, was mich so namenlos glücklich macht?«
Statt der Antwort legt das schöne Mädchen fest und innig die Hand in die seine —
In ihren Augen liest er ihre Liebe. — Mr. Bruckner aber hat nichts einzuwenden, als seine Tochter dem jungen Deutschen den Mund zum Kusse reicht. Er hat mit Mrs. Bruckner diese Eventualität schon gestern abend erörtert, als Maud beim GuteNachtKuß den Eltern ihren letzten Besuch in Ridingers Laboratorium geschildert, und Mrs. Bruckner, die eben ins Zimmer tritt, kommt gerade recht, den beiden jungen, glücklichen Menschenkindern ihren mütterlichen Segen zu erteilen. Auch s i e hat ja ein Geschenk erhalten, das sie jahrzehntelang einst sich heiß ersehnt, wenn auch in anderm Sinne — einen Sohn!
Über den Wolken — im goldenen Äther!
»Habe tausendmal Dank, teuerste Tante Diffusio«, sagt der heranschwebende Oxygenius zu der Ätherfee, die ihm lächelnd die Stirn zum Kusse bietet — »alles ist gelungen!«
»Und die beiden Menschenkinder sind glücklich?«
»Schau' hinab!«, sagte der Genius.
Und vor seiner Götterkraft weichen wieder die verhüllenden Wolken, schieben sich die Dächer und Mauern des großen California-Eisenwerkes unter ihren Blicken auseinander — Fee Diffusio wird Zeuge des Kusses, den Miß Maud ihrem Geliebten im Beisein von Mrs. und Mr. Bruckner schenkt!
Sie lächeln beide, die ewigen Genien! Das Bewußtsein, Gutes gestiftet zu haben, erfreut und beseligt auch die Unsterblichen über uns im All!
Der Oxygenius aber breitet seine Ätherschwingen aus und steigt empor. Und es klingt sein Siegeslied hernieder:
»Unsichtbar auf luftigen Schwingen
Umkreis' ich den Erdenball —
Wo Wesen zum Lichte sich ringen,
Verlangen nach m i r sie all!
Ich nähre im wogenden Meere
Der Fische weißschimmernde Schar;
Mich saugen die zahllosen Heere,
Die je eine Mutter gebar!
Mich schlürft der Vogel im Fluge,
Regt in mir die Schwingen voll Lust;
Mich atmet in durstigem zuge
Der Mensch in die klopfende Brust!
Ich führe zum Bündnis zusammen,
Die Stoffe, die kalt sich und feind;
Ich schüre zu lodernden Flammen,
Was still sich zum Bunde vereint! —«
Roy Glashan's Library
Non sibi sed omnibus
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